Google
This is a digital copy of a bix>k lhat was preservcd for gcncralions on library sIil-Ivl-s before il was carcfully scanncd by Google as pari ol'a projeel
to makc the world's books discovcrable online.
Il has survived long enough Tor the Copyright lo expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subjeel
to Copyright or whose legal Copyright terni has expired. Whether a book is in the public domain niay vary country tocountry. Public domain books
are our gateways to the past. representing a wealth ol'history. eulture and knowledge that 's ol'ten dillicult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this lile - a reminder of this book's long journey from the
publisher lo a library and linally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries lo digili/e public domain malerials and make ihem widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their cuslodians. Neverlheless. this work is expensive. so in order lo keep providing this resource. we have laken Steps lo
prevent abuse by commercial parlics. iiicIiiJiiig placmg lechnical reslriclions on aulomatecl querying.
We alsoasklhat you:
+ Make non -commercial u.se of the fites We designed Google Book Search for use by individuals. and we reüuesl lhat you usc these files for
personal, non -commercial purposes.
+ Refrain from imtomuted qu erring Do not send aulomated üueries of any sorl to Google's System: If you are conducling research on machine
translation. optical characler recognilion or olher areas where access to a large amounl of lex! is helpful. please contacl us. We encourage the
use of public domain malerials for these purposes and may bc able to help.
+ Maintain attribution The Google "walermark" you see on each lile is essential for informing people about this projeel and hclping them lind
additional malerials ihrough Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use. remember that you are responsable for ensuring lhat what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in ihc United Siatcs. lhat ihc work is also in the public domain for users in other
counlries. Whelher a book is slill in Copyright varies from counlry lo counlry. and we can'l offer guidance on whelher any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be usec! in any manncr
anywhere in the world. Copyright infringemenl liability can bc quite severe.
About Google Book Search
Google 's mission is lo organize the world's information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover ihc world's books wlulc liclpmg aulliors and publishers rcacli new audiences. You can searcli ihrough llic lull lexl of this book on llic web
al |_-.:. :.-.-:: / / bööki . qooqle . com/|
Google
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches. Jas seil Generalionen in Jen Renalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Well online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat Jas Urlieberreclil ühcrdaucrl imJ kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich isi. kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheil und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar. das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren. Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Original band enthalten sind, linden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Niitmngsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichlsdcstoiroiz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sic diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sic keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zcichcncrkcnnung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist. wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google- Markende meinen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sic in jeder Datei linden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuchczu linden. Bitte entfernen Sic das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sic nicht davon aus. dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich isi. auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sic nicht davon aus. dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechlsverlelzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Wel t zu entdecken, und unlcrs lül/1 Aulmvii und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchlexl können Sic im Internet unter |htt : '- : / /-■:,■:,<.-: . .j -;.-;. .j _ ^ . .::-;. -y] durchsuchen.
Das ünbewnsste
vom Standpunkt der
Physiologie und Descendenztheorie.
Von
Eduard von Hartmaiin.
Zweite vermehrte Auflage,
Euch es recht zu machen, ihr Herrn,
Darauf verzichten wollt 1 ich gern,
H&tt' ich es nur so weit gebracht,
Dass ich mir selbst es recht gemacht.
Bflckert.
Berlin.
Carl Duncker's Verlag.
(C. Heymons.)
1877.
Vorwort zur zweiten Auflage*
Vorliegende Schrift erschien in der ersten Auflage bekanntlich
ohne Autornamen. Dass ich dieselbe, wenn ich sie überhaupt
schreiben nnd herausgeben wollte, zunächst nicht mit meinem Namen
veröffentlichen konnte, liegt auf der Hand. Denn entweder hätte
ich durch meinen Namen auf dem Tittelblatt den falschen Schein
hervorgerufen, als ob Alles in der Schrift Gesagte der Ausdruck
meiner persönlichen Ansichten und Ueberzeugungen wäre, oder ich
hätte durch eine hinzugefügte Bemerkung, etwa im Vorwort, diesem
Schein vorbeugen müssen. Im ersteren Falle wäre der irrthümliche
Glaube erweckt worden, als ob ich den Standpunkt der Philosophie
des Unbewussten im Princip verlassen hätte; im letzteren Falle
wäre das Buch gleich bei seinem Erscheinen vom Verfasser des-
avouirt worden, und hätte vermuthlich, als nicht ernsthaft gemeint,
auch keine ernsthafte Beachtung gefunden. Diese für die erste
Auflage geltenden Gründe der Anonymität hatten aber eben auch
nur für die erste Veröffentlichung des Buches Bedeutung. Entweder
war die Schrift ein verfehlter Versuch, der unbeachtet in der Masse
der Polemik gegen die Phil. d. Unb. unterging, — dann mochte
dieselbe ihrer verdienten Vergessenheit verfallen bleiben; oder aber
sie entsprach in ihren Erfolgen den Erwartungen des Verfassers,
dann musste sich über kurz oder lang bei einer neuen Auflage von
selbst eine passende Gelegenheit darbieten, den Schleier der Ano-
nymität zu lüften, und die Gründe anzugeben, welche für die Ab-
fassung der Schrift bestimmend gewesen waren.
4 Vorwort zur zweiten Auflage.
Solcher Gründe wirkten mehrere zusammen. Zunächst hatte
ich den Wunsch, verschiedene Gedanken zur Naturphilosophie aus-
zuarbeiten, welche theils weitere Ausführungen von schon anderwärts
Angedeutetem enthielten, theils auch neue Andeutungen, welchen
ich für die Zukunft einige Fruchtbarkeit zutraute. Um diese meist an
den naturphilosophischen Theil der Phil. d. Unb. sich anschliessen-
den Gedanken niederzulegen, fehlte es mir an einem geeigneten
Rahmen. Zugleich fand ich einige Punkte in der Phil. d. Unbew.
correkturbedürftig, ohne dass ich recht wusste, wie ich diese Cor-
recturen in das einmal architektonisch abgeschlossene Werk passend
einflechten sollte. In mehr als einer Hinsicht empfand ich die
Schwächen dieses architektonischen Aufbaues namentlich in Bezug
auf den physiologischen Theil, doch ohne dass ich mich schon
damals im Stande fühlte, eine neue und solidere Untermauerung
hinzuzufügen, wie mir dieselbe einige Jahre später in Gedanken
heranreifte und in dem Anhang des ersten Bandes der siebenten
Auflage ihren Platz fand. *) Unter diesen Umständen musste ich
darauf gefasst sein, früher oder später einer Kritik von naturwissen-
schaftlicher Seite zu begegnen, welche berechtigte Einwendungen
erhob, die mir selbst längst bekannt waren, und welche überdies
aus der Berechtigung solcher Einwände den Anschein schöpfen
konnte, auch da im Rechte zu sein, wo sie über das Ziel hinaus-
schoss.
Aus diesen Erwägungen entsprang mir der Gedanke, einer
solchen Kritik zuvorzukommen und die schwachen Punkte der natur-
philosophischen Grundlegung der Phil. d. Unbew. lieber selbst zu
signalisiren, bei welcher kritischen Arbeit ich dann zugleich den
vermissten Rahmen finden musste, um die oben erwähnten Erweite-
rungen und neuen Einfälle niederzulegen.
Eine Schrift innerhalb dieser Grenzen hätte nun noch ganz
wohl mit meinem Namen erscheinen können, obschon die Gedanken-
losigkeit des grossen Publikums, welches von dem organischen
Wachsen und Werden der Wahrheit keinen Begriff hat und in jeder
kleinsten Selbstcorrectur nur das Eingeständniss der Schwäche des
Autors und den Vorwand zur Missachtung seiner gesammten Leistun-
gen sieht, immerhin schon dagegen bedenklich machen konnte.
*) Vgl. Phil. d. Unbew. 7. Aufl. Vorwort S. XVII— XVIII.
Vorwort tut zweiten Auflage. 5
Das Publikum sieht nicht ein, dasg Philosophie Entwickelung ist,
die nothwendig durch relative Irrthümer hindnrchführen muss, um
za immer höheren Stufen relativer Wahrheit zu gelangen; es will
nicht forschen, sondern glauben, nicht selber denken, sondern sich
das Denken erspart sehen ; es will eine Wahrheit als gar gebackene
Pastete aufgetragen haben, die es ungekaut verschlingen kann, nm
dann das behagliche Gefühl der Sättigung mit Wahrheit zu gemes-
sen, und macht den Philosophen für sein weggeworfenes Geld ver-
antwortlieh, wenn sich herausstellen sollte, dass dies doch noch
nicht die letzte und absolute Wahrheit war. Solche Bücksichten
auf die Beschränktheit des Publikums hätten mich natürlich nicht
abgehalten, meinen Namen hinzuzufügen, wenn ich eine Schrift
innerhalb der oben bezeichneten Grenzen ausgeführt hätte; aber sie
gaben den ersten Anstoss zu dem Gedanken an Anonymität über-
haupt, und damit an eine Erweiterung des Entwurfs über die Grenze
meiner eigenen wissenschaftlichen Ueberzeugungen hinaus.
Es kam hinzu, dass aus dem Lager des gedankenlosen Mate-
rialismus einige Gegenschriften gegen die Phil. d. Unb. erschienen
waren, „welche den Standpunkt der Naturwissenschaften, den sie
zu vertreten behaupteten, auf das Aergste compromittirten" (Vorwort
der 1. Aufl.), und dass eine von mir anfangs erhoffte sachgemässe
Kritik aus dem naturwissenschaftlichen Lager bis zum Erscheinen
der 3. Auflage der Phil. d. Unb. ausgeblieben war. Hätte ich nun
eine so begrenzte Kritik mit meinem Namen herausgegeben, so
würden jene überaus beschränkten Materialisten darin den Schein
einer Goncession an ihre Einwürfe gesehen haben, und würde ich
einer wirklich naturwissenschaftlichen Kritik nur die Wege gebahnt
haben, ohne von Seiten der Naturwissenschaft eine Anerkennung
dafür zu finden. Da kam mir der Einfall, einmal ganz auf den
Standpunkt der modernen Naturwissenschaft mit allen seinen moder-
nen Vorurtheilen und der ganzen Enge seines Gesichtskreises hin-
ttberzutreten, ihre Maske zu leihen, und unter dieser Verkleidung
zu zeigen, wie eine Kritik der Phil. d. Unb. aus einseitig natur-
wissenschaftlichen Gesichtspunkten aussehen müsste.
Durch die Ausführung dieses Entwurfs musste ein mannichfacher
Nutzen entstehen. Erstens musste die Aufstellung eines derartigen
Musters von anständiger naturwissenschaftlicher Polemik durch den
blossen Contraafc die ganze Armseligkeit der unpassenden Angriffe
6 Vorwort zur iweiten Auflage.
des bornirten Materialismus enthüllen. Zweitens zeigte ich den
Naturforschern, welche Seiten meiner Lehren vom Unbewußten sie
sich ohne Verlassen ihres bisherigen Standpunktes aneignen konnten
and mussten, und setzte dadurch ein näheres Verhältnis zwischen
der Naturwissenschaft und meiner Philosophie an Stelle des spröden
und vornehmen Ignorirens, welches die letztere bis dahin von der
ersteren erfahren hatte. Drittens bereitete ich an Stelle dieses pro-
visorischen, noch mit einem unberechtigten negativen Gegensatz
behafteten Verhältnisses für später ein positives Verhältniss voll-
ständiger Versöhnung vor, indem ich durch das Gelingen meiner
Verkleidung den Beweis lieferte, dass ich wohl den Standpunkt der
modernen Naturwissenschaft gedanklich vollkommen beherrsche,
aber nicht umgekehrt, — dass ich von der ersteren in philosophi-
scher Hinsicht principiell nichts mehr zu lernen habe, wohl aber
diese von mir.
Das erste und zweite Ziel hat die erste anonyme Auflage dieser
Schrift vollständig erreicht; die letzte und. höchste der gestellten
Aufgaben kann selbstverständlich erst durch diese zweite mit meinem
Namen erscheinende Auflage angestrebt werden. Der Zweck der
Schrift wird erst dann vollständig erfüllt sein, wenn sie die Natur-
forscher dazu bewegt, ihr Vorurtheil gegen die speculative Philoso-
phie zu überwinden, sich ernstlich und eingehend in die Gedanken-
gänge eines Philosophen, der die Probe des vollen Verständnisses
ihrer Gesichtspunkte bestanden hat, zu vertiefen und die von ihm
erstrebte Versöhnung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft
als principiell gelungen anzuerkennen (vgl. Phil. d. Unb. 7. Aufl.
Vorw. S. XVIII— XIX). Sollte aber auch dieses letzte und höchste
Ziel gar nicht oder nur zum kleinsten Theil erreicht werden, so
würde ich doch durch die Lösung der beiden vorgenannten Aufgaben
meine Mühe für reichlich belohnt halten, ungerechnet die Förderung,
welche ich selbst durch das gründlichere Durchdenken und Bearbei-
ten der Probleme von verschiedenen Seiten her erhalten habe.
Nebenher wäre immer noch das Vergnügen in Anschlag zu bringen,
welches ich genossen habe, indem ich bei einer fünfjährigen Ver-
borgenheit vor dem Publikum die mannichfach wechselnden Mienen
der Neugier, der Verwunderung, des Zweifels, des Aergers u. s. w.
beobachten durfte, und endlich würde auch die Ehre zu berücksich-
tigen sein, dass bei der massenhaften Concurrenz von Gegen-
Vorwort rar zweiten Auflage. 7
schriften gegen meine Philosophie diejenige, welcher von den com-
petentesten Beurtheilern der Preis zuerkannt worden ist, die von mir
verfasste ist Diese Thatsache kann zugleich nach einer bestimmten
Richtung hin als Beweis für die anderwärts (Ges. Stud. u. Aufs.
S. 34) von mir aufgestellte Behauptung dienen, „dass keiner meiner
Gegner die wirklichen Mängel meines Systems so klar und bestimmt
erkannt hat wie ich" (vgl. ebenda S. 45).
War nun einmal die Maske des Naturforschers angenommen, so
musste die Bolle auch möglichst consequent durchgeführt werden.
Feinere Kenner haben zwar behauptet, dass die Arbeit für einen
Naturforscher zu viel philosophische Gedankenarbeit enthalte; in-
dessen dieser Vorwurf gegen die realistische Treue der Maske
musste um des verfolgten Zweckes willen mit in den Kauf genom-
men werden, und konnte höchstens die Zahl der Personen vermin-
dern, denen man die Autorschaft zutrauen durfte. In der That ist
der Verdacht derselben meines Wissens ausser auf mich auch nur
noch auf zwei Personen gefallen: auf die Professoren F. Zöllner
und E. HaeckeL Auf mich riethen nur drei Personen, welche durch
näheren persönlichen oder brieflichen Verkehr mit meinen intimeren
Gedanken vertraut waren: Prof. Zöllner, Dr. Carl Freiher du Prel
und Dr. Julius Bahnsen (der letzte war sich aber seiner Sache nicht
sicher). Im Uebrigen hielt man ein solches Maass von Objectivität
und gedanklicher Selbstentäusserung, wie es hier vorlag, für psycho-
logisch unmöglich, oder doch für so unwahrscheinlich, dass meine
Anonymität an dieser vermeintlichen Unglaublichkeit selbst dann
noch den besten Schutz hatte, als die Vermuthung meiner Autorschaft
durch dritte Hand bereits den Weg in die literarische Oeffentlichkeit
gefunden hatte, und sogar durch Scheingründe gestützt worden war,
welche jedes Gewichtes entbehrten. Wer die Schrift in ihrer
gegenwärtigen Gestalt in die Hand nimmt, der möge des Umstandes
eingedenk bleiben, dass trotz meines Namens auf dem Titelblatt der
den Anmerkungen zur zweiten Auflage vorhergehende Text ein
unveränderter Abdruck der ersten Auflage ist, also als die
Darlegung eines Dritten erscheint, der nicht aus seiner Rolle fallen
darf. Hieraus erklären sich denn verschiedene Stellen, welche in
diesem Zusammenhang nicht fehlen durften, obwohl sie nicht nur
nicht meine wahre Meinung enthalten, sondern auch in meinem
eignen Namen gesprochen nicht für passend gelten könnten.
8 Vorwort stur zweiten Auflage.
Was nun das Verhältniss meiner persönlichen wissenschaftlichen
Ueberzengnngen zu den in der anonymen Schrift niedergelegten
Ansichten betrifft, so habe ich in so klarer und unzweideutiger
Weise zu den letzteren Stellung genommen, dass niemand darüber
in Zweifel sein konnte, der sich die Mühe gab, meine späteren
Publicationen zu verfolgen.*) Zunächst hatte ich schon im Winter
1872—73 der fünften Auflage der Phil. d. Unb. mehrere Zusätze
gegeben, welche bestimmt waren, die Einseitigkeit des ursprünglichen
Ausdrucks zu mildern und gegen ungünstige Interpretationen zu
verwahren ; insbesondere aber bewiesen die namhaften Erweiterungen
und Vertiefungen der speculativen Abschnitte des Werkes, dass
meiner innersten Ueberzeugung nichts ferner lag, als eine Abwendung
van der speculativen und idealistischen Metaphysik. Alsdann hatte
ich bei der Polemik gegen Volkelt in den „Erläuterungen zur Meta-
physik des Unbewussten" (l.Aufl.) im Winter 1873 — 74 Gelegenheit
genommen, eine vorläufige Bemerkung in Bezug auf diesen Gegen-
stand einzuflechten (S. 67—69 ; 2. Aufl. S. 315—317), und etwa gleich-
zeitig erschien Dr. Moritz Venetianer/s Werk „Der Allgeist", in
welchem derselbe zeigte (S. 82—108, auch 18—54 und verschiedene
andere Einzelstellen), dass die anonyme Schrift überall im Unrecht
sei, wo sie an wesentliche und principielle Aufstellungen der Phil,
d. Unb. rühre, dass dagegen die Punkte, in welchen sie möglicher
Weise im Rechte sei, für das System unwesentlich seien und ohne
Aenderung seiner Grundlehren auch geändert oder beseitigt werden
können. Da dieses Werk unter formellen Vorwänden eine weit ge-
ringere Beachtung fand, als es sachlich beanspruchen konnte, so
fühlte ich mich veranlasst, die in der anonymen Schrift eröffnete
Discussion selbst weiter zu führen. Wenn jene den Titel führte :
„Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Des-
cendenztheorie" so musste es die Aufgabe der weiteren Dis-
cussion sein, die physiologische und darwinistische Basis ihrer Argu-
mentation einer erneuten und gründlichen Prüfung zu unterziehen.
Dies that ich in Bezug auf die letztere Seite in meiner Arbeit über
*) Wer sich über diese Frage ein Urtheil mit der Jahreszahl 1877 erlaubt,
während er nach eigenem Geständniss in die 7. Auflage der Phil. d. Unb. und
deren Zusätze nicht hineingeblickt hat, stellt damit nur sein Urtheil an den
Pranger.
Vorwort zur zweiten Auflage. 9
„Wahrheit und Irrthum im Darwinismus", in Bezug auf die erstere
in der Untersuchung „Zur Physiologie der Nervencentra", welche
zusammengenommen als vollständige Gegenschrift gegen das ano-
nyme „Unbewusste" zu betrachten sind. Dass beide ihren Gegen-
stand in mehr selbstständiger und positiver Weise behandeln und
die negative Polemik wesentlich durch kurze Seitenblicke von den
erlangten Resultaten aus erledigen, kann, wie ich glaube, für den
Fortschritt der Wissenschaft wie für das Behagen der Leser nur gleich
erspriesslich sein. Die im Frühjahr 1874 verfasste Arbeit über
„Wahrheit und Irrthum im Darwinismus" erschien zuerst im Sommer
und Herbst desselben Jahres in der von Paul Wislicenus heraus-
gegebenen Leipziger Wochenschrift „Die Literatur" und Anfangs
folgendes Jahres als Buch; die zu Anfang 1875 geschriebene Ab-
handlung „Zur Physiologie der Nervencentra" wurde zunächst im
Sommer desselben Jahres in der von Eduard Reich redigirten Mo-
natsschrift „Athenäum" (Jena bei Gostenoble) veröffentlicht, und
dann dem ersten Bande der 7. Auflage der Phil. d. Unb. als Anhang
einverleibt. Gleichzeitig enthielt die im October 1875 erschienene
7. Auflage mehrfache auf den Gegenstand bezügliche Nachträge,
welche theils im Allgemeinen zur Rechtfertigung des Standpunktes
der Phil. d. Unb. gegenüber der Naturwissenschaft dienten, theils
einzelne der discutirten Probleme vertieften, theils auch in einzelnen
Punkten die Behauptungen des Textes d. Phil. d. Unb. widerriefen
oder doch einschränkten.*) Aber selbst damit erachtete ich die
Rechtfertigung meines Standpunktes gegenüber den Angriffen der
anonymen Schrift noch nicht für abgeschlossen; denn gerade weil
ich in den beiden oben genannten Hauptschriften unter Ausschluss
von Detailpolemik nur die grundsätzliche Basis ihrer Argu-
mentation geprüft und theils unhaltbar befunden, theils positiv berichtigt
hatte, so blieben noch manche Einzelpunkte von grösserem oder geringe-
rem Interesse gelegentlicher Besprechung und Erledigung vorbehalten.
So gab ich zunächst eine populäre Ergänzung zu meiner Darwinis-
musschrift durch einen Ende 1874 verfassten, im Sommer 1875 in
der „Deutschen Rundschau" erschienenen und in meinen „Ges. Studien
*) Dergleichen war in Nachträgen zur Stereotypausgabe formell ausfuhrbar,
während es bei Bearbeitung der fünften Auflage ohne Umstossung des ursprüng-
lichen Textes no_ch nicht thunüch war.
10 Vorwort rar zweiten Auflage.
und Aufsätzen wieder abgedruckten Essay über Ernst Haeckel und
seinen Standpunkt Da ich in der anonymen Schrift wesentlich den
Häckel'schen Standpunkt zu Grunde gelegt und dessen weitere
Consequenzen gezogen hatte, so musste die Kritik desselben in den
Hauptpunkten auch auf die anonyme Schrift zutreffen. Ende 1874
bearbeitete ich die im Februar 1 875 erschienene zweite Auflage der
Schrift über „das Ding an sich", der ich im Sommer 1875 eine kri-
tische Studie über „J. H. v. Kirchmann's erkenntniss-theoretischen
Realismus" zur Ergänzung nachfolgen liess. Beide Arbeiten dienen
nicht nur einer realistischen Erkenntnisstheorie, sondern auch ebenso
sehr einer idealistischen Metaphysik zur Grundlegung; die erstere
wirft nebenbei auf das Verhältniss meiner Philosophie zur Natur-
wissenschaft wichtige Streiflichter, die letztere entzieht durch eine
genauere Untersuchung des metaphysischen Charakters der Gausalität
der mechanistischen Weltanschauung den Boden, auf welchem sie
festen Fuss gefasst zu haben glaubt. Im Winter 1875 — 76 schrieb
ich einige Aufsätze gegen Frauenstädt und Bahnsen, und im Sommer
1876 gegen Rehmke, Lange und Vaihinger, deren grösserer Theil
vorläufig in „Unsere Zeit", „Gegenwart" und „Wiener Abendpost"
publicirt und dann in dem Werk: „Neukantianismus, Schopen-
hauerianismus und Hegelianismus" mit der ersten Auflage der „Er-
läuterungen zur Metaphysik des Unbewussten" vereinigt wurden.
Dieses ganze Buch ist eine Apologetik meines Standpunktes gegen
die wichtigsten Richtungen der zeitgenössischen Philosophie, und
namentlich in den Entgegnungen auf die von Bahnsen, Eehmke
und Vaihinger gegen mich gerichteten Angriffe finden sich zahlreiche
Berührungspunkte mit den in der anonymen Schrift erhobenen Ein-
wendungen, auch da, wo der letzteren nicht ausdrücklich Erwähnung
gethan ist. Eine vollständige und detaillirte Entgegnung konnte
nach so reichlich gebotenen Hilfen wohl entbehrlich erscheinen, und
mindestens bis zum Erscheinen einer zweiten Auflage verschoben
werden. Um den Umfang und Preis dieser zweiten Auflage nicht
unnütz zu erhöhen, werde ich mich deshalb auch hier so weit als
thunlich mit Verweisungen auf bestimmte Stellen der vorerwähnten
Schriften begnügen, in der Hoflhung, dass die Leser dieses Buches,
denen es ernstlich um gründliche Untersuchung zu thun ist, sich die
Mühe des Nachschlagens nicht verdriessen lassen werden 1 , auch
wenn sie die citirten Werke früher schon im Ganzen gelesen haben.
Vorwort zur «weiten Auflage. 11
Für solche Leser aber, die mit meinen übrigen Schriften noch nicht
bekannt sind, erlaube ich mir, den Anmerkungen eine allgemeine
Orientirung vorauszuschicken, von welcher ich hoffe, dass sie ihnen
das Verständniss des Verhältnisses zwischen Text und Anmerkungen
erleichtern wird.
Wer alle diese Kundgebungen, einschliesslich der Anmerkungen
zur zweiten Auflage dieses Buches, im Zusammenhang betrachtet,
wird eine mehr als genügende Entgegnung gegen die erste anonyme
Auflage darin finden. Ohne Zweifel wird eine grosse Anzahl von
Lesern, welche dem Standpunkt Haeckel's näher stehen als dem
meinigen, sich durch alle meine Entgegnungen nicht bekehren lassen,
und es liegt mir fern, irgend wem das Recht bestreiten zu wollen,
dass er anderer Ansicht als ich sein könne, und dass diese Ansicht
dem in der anonymen Schrift vertretenen Standpunkt verwandt oder
gleich sein könne. Auf der andern Seite darf ich aber auch meiner-
seits das gleiche Recht in Anspruch nehmen.
Den einzig richtigen Gesichtspunkt für die Betrachtung meiner
Argumentationen pro et contra gewinnt man, wenn man dieselben
als eine zeitgemäss umgewandelte Form des Platoni-
schen Dialogs ansieht, in welcher die naturphilosophischen
Theile der älteren Auflagen der Phil. d. Unb., die anonyme Schrift
and die Schriften zum Darwinismus, zur Physiologie der Nerven-
centra und die nachfolgenden Anmerkungen Rede und Gegenrede
bilden* Aller Fortschritt der Philosophie vollzieht sich dialogisch
nm nicht zu sagen dialectisch*}, und die ganze Geschichte der
Philosophie ist objectiv betrachtet ein einziger Dialog von vielen
wechselnden Stimmen. Ursprünglich schrieben die Philosophen nur
Gedichte und docirten mündlich vor ihren Schülern; die ironische
oder fragende Methode des Sokrates war zuerst darauf gerichtet,
durch das Gespräch als solches die philosophische Wahrheit zu
ermitteln oder doch zu fördern. Zu einer Zeit, wo das ganze Leben
auf mündlichem Verfahren beruhte, finden wir dies ebenso natürlich,
als dass die ersten philosophischen Prosaschriften eine kunstmässige
Nachbildung des mündlichen Somatischen Verfahrens darstellen.
Aber schon in den Platonischen Gesprächen kann man erkennen,
*) Bei Piaton ist noch beides identisch, und erst später hat der letztere
Ansdruck eine andere Bedeutung angenommen.
12 Vorwort zur zweiten Auflage.
dass die eigentliche Wechselrede nur bei den Präliminarien der
Untersuchung inne gehalten wird, während überall da, wo die
Untersuchung den Principien auf den Leib rückt, eine Gesprächs-
pereon in's Dociren verfällt, und den Mitunterredner auf ein mono-
tones Jasagen beschränkt. So löst sich schon bei Piaton, namentlich
in seinen späteren Dialogen, die Gesprächsform in sich selbst auf,
und hat die Tendenz, die für philosophische UnterBuchungen passen-
dere Form der Abhandlung aus sieh zu gebären. Es war ein Ver-
kennen dieses geschichtlichen Entwickelungsganges, wenn zu allen
späteren Zeiten der Ruhm Piatons Philosophen dazu verführte, sich mit
einer Nachahmung der Gesprächsform abzuquälen. Was dem ersten
grossen philosophischen Prosaisten natürlich war, mt»s für uns
Nachgeborene unnatürlich sein, es sei denn, dass es sich um Popu-
larisirung anderweitig ermittelter und begründeter Wahrheiten han-
delt, für welchen Zweck die Gesprächsform immer einen gewissen
Werth behalten wird.
Während das Philosophiren zur Zeit des Piaton noch gewisser-
maassen voraussetzungslos war, und sich fast nur auf den utibe-
wussten Gedankenreichtum der Sprache stützte, erfordert dasselbe
heut eine erhebliche Grundlage von positiven Kenntnissen sowohl
in den Natur- und Geisteswissenschaften als auch in der Geschichte
der Philosophie, und bedarf ganz besonders alle Philosophie, welche
sich principiell zur induetiven Methode bekennt, einer gewissen
Breite der Auseinandersetzung, wenn ein Grad von. Vollständigkeit
und Gründlichkeit in der Untersuchung erreicht werden soll, bei
dem die Förderung der Wissenschaft erst beginnt Darum erfordert
gegenwärtig selbst ein eng begrenztes Specialthema eine Abhandlung
von einiger Ausdehnung zu seiner einigermaassea erschöpfenden
Behandlung, und selbst der Rahmen eines einstündigen Vortrags
erscheint schon so knapp bemessen, dass nur ein bedeutendes Talent
zu günstiger Stunde im Stande sein wird, der Wissenschaft durch
denselben einen wirklichen Zuwachs zuzuführen. Deshalb beschränkt
sich auch der Nutzen von philosophischen Einzelvorträgen fast ganz
auf populäre Verbreitung der anderweitig festgestellten Resultate.
Selbst innerhalb einer philosophischen Gesellschaft, wo die Mit-
glieder einander kennen, scheitert in den meisten Fällen der Ver-
such, durch einzelne Vorträge die Probleme zu vertiefen, weil
einerseits notwendige Prämissen und Argumente aus Zeitmangel
Vorwort zur «weiten Auflage. 13
unausgesprochen bleiben, und andrerseits Allgemeinheiten als Ersatz
geboten werden, die als solche ebenso wahr wie unwahr zu nennen
sind. Noch unfruchtbarer gestaltet sieh natürlich die auf solchen
Vortrag folgende Discussion, die wesentlich aus drei bis vier Dioai-
nutiworträgen besteht, von deren jedem das über den Hauptvertrag
Gesagte in noch erhöhtem Maasse gilt Dergleichen nachher ge-
druckt su lesen, macht einen geradezu niederschlagenden Eindruck,
ist aber um so lehrreicher fUr die Art und Weise, wie das Plato-
nische Ideal des philosophischen Dialogs für die Gegenwart nicht
erneuert werden darf.
In einer Zeit, wo das mündliche Verfahren in der Wissenschaft
nnr noch zum Theil das Gebiet der Jugendbelehrung eu behaupten ver-
mag und für gereifte Forscher bloss noch in persönlichen An-
regungen für ihre literarischen Arbeiten einigen Werth entfaltet,
kann auch das Wesen des Dialogs, die Discussion der philosophi-
schen Probleme sich nur noch in der schriftlichen Form von Ab-
handlungen vollziehen, gleichviel ob solche Abhandlungen ein eng
begrenztes Thema in möglichster Kürze untersuchen, oder ob sie
bei der Erörterung zahlreicher Probleme in ihrem systematischen
Zusammenhang zu Büchern anschwellen. Ist in solcher Weise eine
fruchtbare neue Idee veröffentlicht, so finden sich alsbald berufene
und unberufene Mitunterredner genug, die es der Mühe werth halten,
an der Discussion theilzunehmen ; und findet die so bestrittene Idee
in ihrem Urheber oder dessen Gesinnungsgenossen Vertheidiger, so
ist der moderne Dialog da. Die Bedingungen, welche erfüllt
sein müssen, um solche Wechselrede oder vielmehr Wechsel-
schriftstellerei fruchtbar zu machen, habe ich anderwärts erörtert*);
auch habe ich selbst in einem besonderen Werk**) eine Anzahl
von Beispielen gesammelt, in welchen ich in fruchtbarer Weise
eine gebotene Gelegenheit zur Discussion aufnehmen zu können ge-
glaubt habe.
Aber wie nun, wenn nach einer bestimmten Richtung hin die
dialogische Discussion hochwichtiger Probleme wünschenswert!)
*j Gesammelte Studien und Aufsätze A. II: „Ueber wissenschaftliche Po*
lemik."
**) Neukantianismus, Sehopenhauerianismus und Hegelianismus. Zweite
erweiterte Auflage der „Erläuterungen zur Metaphysik des Unbewussten."
14 Vorwort snr «weiten Auflage.
scheint, und die äussere Gelegenheit zu solcher ausbleibt, d. h. kein
berufener Mitunterredner seine Stimme erhebt, sondern statt seiner
nur widriges Unkengeschrei ertönt? Soll es dann dem Autor
verwehrt sein, diese bedauerliche Lücke selbst auszufallen, und da-
durch der Wissenschaft und den Mitlebenden und Mitstrebenden die
Förderung angedeihen zu lassen, welche aus einer solchen dialogi-
schen Discussion der Probleme entspringt? Wenn der Verfasser
eines Platonischen Dialoges das Recht hat, sich seiner Gedanken
zu solcher Objectivität zu entäussern, dass er im Namen mehrerer
typischer Vertreter verschiedener Standpunkte spricht, soll dann
der heutige Philosoph nicht befugt sein, sich seiner Gedanken zu
solcher Objectivität zu entäussern, dass er den typischen Vertreter
eines abweichenden Standpunktes seine Einwendungen in Gestalt
einer zusammenhängenden Abhandlung vorbringen lässt?
Man könnte zweierlei gegen diese Auffassung geltend machen:
erstens, dass im Platonischen Dialog nur fingirte Personen unter
einander, aber nicht fingirte Personen mit dem Autor selbst streiten,
und zweitens, dass der Autor sich dort von vornherein als Autor
der gesammten Wechselreden bekennt, ohne der Vermuthung Raum
zu lassen, dass die Gegenreden eines bestimmten Mitunterredners
von einem andern Verfasser herrühren. Beides ist jedoch nicht
stichhaltig.
Auch im Platonischen Gespräch und allen seinen Nachahmungen
kann die Objectivität des Verfassers nicht so weit gehen, um sich
mit dem blossen Ausdruck der entgegengesetzten Meinungen zu
begnügen und auf jedes eigentliche Ergebniss zu verzichten. Selbst
wo die Absicht des Autors eine skeptische ist, muss doch dem
Leser durch den Verlauf des Gespräches klar gemacht werden,
dass nach der Meinung des Autors dieser skeptische Standpunkt
von allen zur Sprache gekommenen der bestbegründete oder halt-
barste sei. Es muss also auf alle Fälle eine Person an dem Ge-
spräch theilnehmen, welche das Ergebniss des ganzen Gesprächs
formulirt und als logisches Resultat der Discussion zur Geltung
bringt; diese Person aber vertritt die Stelle des Autors selbst,
gleichviel ob sie im Gespräch einen andern Namen führt, und die
Einwendungen der Mitunterredner richten sich ganz ebenso gegen
den Standpunkt des Autors, als wenn sie gegen Reden, Vorträge,
Vorwort zur zweiten Auflage. 15
Abhandlungen oder Werke gerichtet wären, welche mit dessen Namen
herausgegeben worden sind.
Dass nun gegenwärtig ein Autor, soweit er im Namen eines
Mitunterredners spricht, seinen eignen Namen vor dem Publikum
verberge, dazu liegt in der That ein sachlicher Grand gar nicht vor.
Wäre das Publikum hinlänglich gebildet, um den Sinn und Werth eines
solchen Verfahrens zu verstehen und zu schätzen, und gerecht
genug, um die Motive zu demselben ohne Missdeutung zu würdigen,
so hätte die Anonymität in solchem Falle gar keinen Sinn. Da
ein solches Ereigniss aber allzu ungewöhnlich ist, um von der
Mehrzahl des Publikums von vornherein richtig gewürdigt zu wer-
den, so war in meinem Falle eine wenigstens vorläufige Anonymität
rathsam, zumal dieselbe für den Zweck der Arbeit jedenfalls un-
schädlich und indifferent war und für die Unbefangenheit der
Kritik sowohl bei meinen Freunden als bei meinen Gegnern ohne
Zweifel begünstigend wirken musste. Es ist dabei wohl zu be-
achten, dass in der anonymen Schrift nirgends gesagt war,
dass deren Verfasser nicht zugleich der Verfasser der Phil, des
Unbew. sei; der Vermuthung war in jeder Hinsicht freier Spiel-
raum gelassen, indem die Polemik nicht gegen meine Person,
sondern nur gegen den Standpunkt der Phil. d. Unbew. gerichtet
ist und der Name „Eduard von Hartmann" in der ganzen Schrift
nicht ein einziges Mal genannt wird. Es handelt sich also in
keiner Weise um Vorspiegelung falscher Thatsachen, sondern nur
um ein Verschweigen des Namens des Verfassers, d. h. um Offen-
haltung der Frage der Autorschaft für Jedermanns Ermessen und
Scharfsinn; es lag keine simulatio vor, sondern nur eine dis-
simulatio, zu welcher bekanntlich Jedermann in seinen persön-
lichen Angelegenheiten berechtigt ist, ohne auch nur einen
Grund anzugeben. Aber selbst diese dissimulatio war nur
eine vorläufige, die nicht länger dauern sollte, als bis zur
Feststellung des öffentlichen Urtheils über die Schrift, und bis zur
Veröffentlichung der Gegenreden des Autors in seinem eigenen
Namen. In der That ist das Geheimniss für die näher an dem
Gegenstand interessirten Kreise seit Erscheinen der Buchausgabe
meiner Schrift über den Darwinismus durch meine privaten Mit-
theilungen gelüftet, und mit dem Erscheinen der vorliegenden zwei*
ton Auflage auch für die Oeffentlichkeit definitiv beseitigt.
16 Vorwort zur zweiten Auflage.
Es darf nun nicht verkannt werden, welche Vorzüge ein solcher
literarischer Dialog durch verschiedene Schriften dem Platonischen
Gespräch gegenüber auch in Bezug auf das Maass von Objeetivität
besitzt, welche er der Vertretung der verschiedenen Standpunkte
verbürgt. Die Gründe hierfür sind zwiefacher Art. Um ein Ge-
spräch zu schreiben, in welchem verschiedene und entgegengesetzte
Standpunkte eine objectiv zutreffende Vertretung finden, muss man
mit der gedanklichen Verarbeitung der gesammten zu behandelnden
Gegenstände zum völligen Abschluss gelangt sein, so dass nirgends
mehr etwas Unfertiges besteht; d. h. es muss das Gespräch nur
das kunstgemässe Spiegelbild einer vor seinem Beginn bereits
abgeschlossenen Gedankenarbeit sein. Bei einem Dialog
literarischer Abhandlungen oder Bücher, dessen Abfassung und
Veröffentlichung sich auf den Verlauf mehrerer Jahre erstrecken
kann, braucht die Gedankenarbeit immer nur bis zu dem Funkt
fertig zu sein, bis zu welchem die zeitweilige Veröffentlichung des
Dialogs gediehen ist. Diese Form gestattet deshalb dem Autor,
einen Einblick in seine Gedankenwerkstatt selbst zu gewähren,
und ist dadurch nicht nur für jeden Anregung suchenden Selbst-
denker weit förderlicher und lehrreicher, sondern sie ist auch
weit treuer und realistischer trotz der auch hier unvermeidlichen
Adoption fremder Standpunkte. Der zweite Grund einer grösseren
Objeetivität ist aber noch wichtiger. Er besteht darin, dass bei
der Abfassung eines Gesprächs die verschiedenen zu vertretenden
Standpunkte vor dem geistigen Auge des Autors kaleidoskopisch
wechseln, während im literarischen Dialog der Verfasser sich Mo-
nate oder Jahre lang auf einen bestimmten objectiv zu vertreten-
den Standpunkt concentriren und in denselben einseitig vertiefen
kann. Das Verhältniss ist beim Gespräch etwa ein derartiges,
als ob ein Anwalt in derselben Instanz desselben Processes für
beide Parteien plaidiren sollte, während im literarischen Dialog
demselben nur das zugemuthet wird, in einem langjährigen Process
in zweiter Instanz die entgegengesetzte Partei zu vertreten, als der
er sich in erster und dritter Instanz gewidmet hat. Im ersteren
Falle wird sein Interesse und seine juristische Aufmerksamkeit
zersplittert, und kann er jeder Partei höchstens halbe Theilnahme
zuwenden; im letzteren Falle dagegen hat er Zeit, sich in die zu
Gunsten jeder Partei geltend zu machenden Thatsachen und Rechts**
Vorwort zur zweiten Auflage. 17
Interpretationen einzuarbeiten und ftir die jeweilig zu vertretende
Sache zu erwärmen. Im philosophischen Dialog liegt die Sache
darum noch günstiger, weil geschichtlich und sachlich bedeutende
Standpunkte immer auch ein gewisses Maass relativer Wahrheit
repräsentiren , das in der höheren Synthese zu seinem Rechte
kommen soll, wohingegen ein formaler Rechtsstreit schliesslich
nur zu Gunsten einer Partei entschieden werden kann. In meinem
Specialfall wurde das objective Hinübertreten auf den relativ geg-
nerischen Standpunkt noch durch den schon oben erwähnten Um-
stand begünstigt, dass das Resultat der ersten Instanz mir selbst
in einigen Punkten correkturbedürftig, in vielen ergänzungsfähig
aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten erschien, so dass mir
das Erwärmen für den zu vertretenden Standpunkt in den drei-
viertel Jahren, die ich ausschliesslich dieser Arbeit widmete, be-
sonders leicht gemacht war. Man könnte vielleicht eher geneigt
sein, zu behaupten, dass in dieser Erwärmung zu viel, als dass
in ihr zu wenig gethan wäre, — wenn nur nicht ein solches
Zuviel seiner Natur nach unmöglich wäre. Nur das wäre zu
tadeln, wenn ich in der dritten Instanz, welche hier zugleich die
höhere Synthese der beiden ersten divergirenden Resultate
darzustellen hat, ein gleiches Maass von Wärme und Eifer hätte
vermissen lassen, — ein bisher noch nicht erhobener Vorwurf,
von dem jedenfalls mein subjectives Gefühl mich freisprechen
würde.
Die Analogie meines fraglichen Schriftencomplexes mit dem
Platonischen Dialog kann endlich dazu dienen, den Leser daran zu
erinnern, dass das Ganze als Darstellung der sich entwickelnden
Wahrheit seinem Urtheil unterbreitet ist, dass er demnach Unrecht
thun würde, sein Urtheil ausschliesslich auf einzelne Partien des
Dialogs zu gründen, und dass auch derjenige, welcher mit meinen
Endergebnissen nicht einverstanden ist, vielmehr dem Standpunkt
des fingirten Mitunterredners näher steht als dem meinigen, billiger
Weise mehr Grund finden sollte, sich der empfangenen positiven
Anregungen zu freuen, als über die ihm gegen seine Ansicht
vorgeführten Schwierigkeiten und Bedenken zu ärgern. Wenn
die Wechselrede der sich befehdenden Standpunkte nichts weiter
nützte, als die Anhänger eines jeden derselben zu erneuter und
gründlicherer Erwägung der ihren Ansichten entgegenstehenden
& t. HartmaiLn.Dtt Unbewwwte. 2 Aufl. ^
18 Vorwort zur sweiten Auflage.
Einwürfe zu veranlassen, so wäre auch damit schon ihr Vorhanden-
sein gerechtfertigt Ich hoffe aber zuversichtlich, dass wenn auch
nicht alle Anhänger der entgegengesetzten Fahne sofort zu meiner
Lehre bekehrt werden, so doch der weitere Gewinn erreicht wird,
dass sie einsehen, die Grösse des Gegensatzes bisher überschätzt
nnd seine Relativität nicht hinreichend gewürdigt zn haben, nnd
dass sie zugestehen müssen, dass mein philosophischer Stand?
punkt den begründeten Anforderungen ihres naturwissenschaft-
lichen Credo weit verwandter ist, als von ihrer Seite im Durch-
schnitt bisher angenommen wurde. Mit einem Wort: wenn ich
es als eine Hauptaufgabe meines Lebens betrachtet habe, die
moderne speculative Philosophie und die moderne exacte Natur-
wissenschaft mit einander zu einer einheitlichen Wehanschauung
zu versöhnen, so glaube ich, dass auf keine andere Art und Weise
dieses Ziel hätte wirksamer gefördert werden können, als durch
den kühnen Versuch eines solchen literarischen Dialogs. Schon
aus diesem Grunde sollte die versuchte Umbildung des Platoni-
schen Dialogs bei allen, welche nicht jedem Gedanken an Ver-
söhnung zwischen den so lange Zeit feindlichen Sehwesterwissen-
sehaften von vornherein blindwüthig widerstreben, einer nachsich-
tigen Aufnahme theilhaftig werden, und sollte die in diesem
Gomplex vorliegende erhebliche Gedankenarbeit um ihrer Tendenz
willen auch bei denen einer . wohlwollenden Beurtheilung sicher
sein, welche die Endergebnisse derselben nicht billigen können.
Schliesslich bitte ich diejenigen Leser, welche mit dem Text
der ersten Auflage dieser Schrift noch nicht bekannt sind, den-
selben zunächst unbekümmert um die nachfolgenden Anmerkungen
im Zusammenhang durchzulesen, und dann erst nachträglich bei
der Leotüre der Anmerkungen die betreffenden Stellen des Textes
nachzuschlagen. Nur auf diese Weise wird die Einrede des fingir-
ten Gegners zu einer ungestörten, einheitlich geschlossenen Wirkung
gelangen.
Text der ersten Auflage.
2*
L
Descendenztheorie und natürliche
Zuchtwahl.
Die Lehre, dass alle Formen der organischen Schöpfung auf
der Erde in einem genealogischen Verwandtschaftsverhältnisse stehen
nnd auf gemeinsame Abstammung zurückgeführt werden müssen,
diese Lehre, welche schon früher von Geoffroy St. Hilaire, Lamarck,
Goethe, Oken und Anderen ausgesprochen war, hat erst durch Dar-
win's Lehre von der natürlichen Zuchtwahl eine so handgreifliche
Form gewonnen, dass sie in der Naturwissenschaft gegenwärtig als
fast allgemein acceptirt gelten kann, und in den Gebieten der Zoolo-
gie, Botanik, Paläontologie, vergleichenden Anatomie und Biologie
eine vollständige Revolution hervorgerufen hat. Nur einige ältere
Naturforscher, welche sich unfähig fühlten, noch einmal ganz um-
zulernen, verhalten sich jetzt noch ablehnend gegen die Descendenz-
theorie oder Abstammungslehre, und diese auf dem Aussterbeetat
stehenden Gegner vermögen natürlich nicht, den unaufhaltsamen
Siegeslauf der neuen Wahrheit zu hemmen. Wenn die deutsche
Naturphilosophie schon lange vor Darwin diese Lehre zu der ihrigen
gemacht hatte, wenn ein Oken sogar den lebendigen Urschleim (heut
Protoplasma genannt) und die einzelligen Infusorien als erste und
zweite Stufe der organischen Reihe aufstellte und die Anwendung
seines Princips auf den Menschen („der Mensch ist entwickelt,
nicht erschaffe n") nicht scheute, wenn Schopenhauer sich aus-
drücklich zu der Lamarck'schen Abstammungslehre bekannte, wenn
ferner diese Lehre nichts weiter ist als die Anwendung des Princips
22 Text der ersten Auflage.
der Entwickelang auf das organische Leben auf der Erde, also
auch eine nothwendige, wenn auch unausgesprochene Ergänzung
der Hegel'schen Philosophie bildet, deren Kern ja das Entwickelungs-
princip ist, — dann ist es wohl kein Wunder, wenn die jüngste
deutsche Philosophie, welche sich selbst als die höhere Einheit von
Hegel und Schopenhauer ankündigt, auch die Descendenztheorie
ausdrücklich in ihr System aufnimmt, und dieselbe auf ihre Weise
näher zu begründen sucht Sie erfüllt damit einerseits nur eine
Aufgabe, welche ihr durch den Entwicklungsgang der neuesten
Philosophie selbst unmittelbar vorgezeichnet und nahe gelegt war,
und sie thut damit andererseits gegenüber dem heutigen Standpunkt
der Wissenschaft überhaupt nur ihre Schuldigkeit; denn wenn die
Philosophie im Allgemeinen die Pflicht hat, anerkannten Wahrheiten
der empirischen Wissenschaften gegenüber keine Verstösse zu be-
gehen, so ist insbesondere heutzutage jedes philosophische System
als ein todtgebornes Kind, als ein kläglicher Anachronismus zu
betrachten, welches so blind ist , die Descendenztheorie negirend
von sich ausschliessen zu wollen. Es ist aber auch die Descendenz-
theorie in ihren Gonsequenzen eine in alle Gebiete so tief eingreifende
Lehre, dass die moderne Philosophie ebensowohl neue Befruchtung
als auch neue Aufgaben durch dieselbe erhält: Probleme, deren
Bearbeitung schon ausserhalb der Naturwissenschaft liegt, und doch
fttr die menschlichen Interessen von höchster Bedeutung ist In-
sofern nun der Naturforscher zugleich Mensch ist, und als gebildeter
Mensch an diesen Interessen Theil nimmt, erwächst auch ihm das
Recht und die Pflicht der Prüfung, ob und wie die Philosophie den
Gonsequenzen der Abstammungslehre bereits Bechnung getragen
habe. Bei dieser Untersuchung werden wir uns wesentlich an die
„Philosophie des Unbewussten" als an das einzige philosophische
System, welches zu der Descendenztheorie eine klare und entschie-
dene positive Stellung genommen hat, zu halten haben ; wir werden
ihren Standpunkt und dessen DetailausfUhrung einer kritischen Be-
trachtung unterwerfen, welche, als gestützt auf ein vom System selbst
adoptirtes Princip, der Anforderung einer „immanenten Kritik" ent-
sprechen dürfte, und werden überall da, wo die Phil. d. Unb. vor
dem Richterstuhl dieser Kritik nicht besteht, uns zu bemühen haben,
in Gestalt naturphilosophischer oder psychologischer Studien posi-
tive Anhaltspunkte zu Tage zu fördern, welche geeignet sind, die
I. Descendeaxtheorie und natürliche Zuchtwahl. 23
Erköbntniss übet den als unzureichend erkannten Standpunkt hinaus-
zuführen
Die Wahrheit der biologischen Descendenztheorie muss hierbei
natürlich als erwiesen vorausgesetzt werden, da ein Nachweis der-
selben zu viel Baum beanspruchen würde, und in zahlreichen
Schriften geliefert ist, von denen wir hier nur die drei wichtigsten
Quellenschriften hervorheben wollen: Darwin's „Entstehung der
Arten" deutsch von Bronn (4. Aufl. Stuttgart, Schweizerbart 1870);
Wallace's „Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl" deutsch
von Meyer (Erlangen, Besold 1870), und als systematischeste endlich
Häckel's „Natürliche Schöpfungsgeschichte" (2. Auflage. Berlin,
Reimer 1870).
Zur Beseitigung eines häufig vorkommenden Missverständnisses
muss ich hier mit besonderem Nachdruck darauf aufmerksam machen,
dass die biologische Descendenztheorie vor der Darwinschen Lehre
bestand, und ihre Wahrheit unabhängig ist von der Tragweite
und Zulänglichkeit der letzteren. Dieses Verhältniss wird von den
meisten Gegnern Darwin's verkannt; indem dieselben Gründe für
die Unzulänglichkeit der natürlichen Auslese im Kampf um's Dasein
vorbringen, glauben sie in der Regel ebenso viel Gründe gegen
die Stichhaltigkeit der Descendenztheorie vorgebracht zu haben.
Beides hat aber direct gar nichts mit einander zu thun; es wäre
ja möglich, dass Darwin's Theorie der natürlichen Zuchtwahl ab-
solut falsch und unbrauchbar und dennoch die Abstammungslehre
richtig wäre, dass nur die causale Vermittlung der Abstammung
einer Art von der andern eine andere als die von Darwin behauptete
wäre. Ebenso wäre es möglich, dass zwar theilweise die von Dar-
win entdeckten Vermittlungsursachen des Uebergangs statt hätten,
zum andern Theil aber Uebergangserscheinungen vorlägen, welche
bis jetzt nicht durch diese Annahmen erklärt werden könnten, und
daher entweder eine ergänzende Htilfshypothese zu der Darwinschen
verlangten, oder gar ein coordinirtes Erklärungsprincip erforderten,
das bis heute ebenso wenig entdeckt wäre, wie das Darwinsche es
vor zwanzig Jahren war. Eine solche theilweise Unkenntniss in
den wirkenden Ursachen des Ueberganges aus einer Form in die
andere kann die allgemeine Wahrheit der Descendenztheorie ebenso
wenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser Zwischenformen,
oder die in manchen Fällen noch bestehende Unsicherheit, von
24 Text der ersten Auflage.
welcher bestimmten Form eine gegebene andere abstamme. Wen
selbst früher, wo noch jede Kenntniss über die den Uebergang ver-
mittelnden Ursachen fehlte, die Abstammungslehre den bedeutendsten
Köpfen aus allgemeinen naturphilosophischen und apriorischen
Gründen gesichert erschien, so kann jetzt, wo durch Darwin und
Wallace die unzweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende
Ursache des Uebergangs l ) als überall wirksam und als für zahl-
reiche Fälle thatsächlich ausreichend klar und schlagend nach-
gewiesen ist, um so weniger mehr ein Zweifel an der Wahrheit der
Descendenztheorie bestehen.
Auch in dieser Trennung sind wir mit der Philosophie des
Unbewussten im Einklang; während dieselbe die Descendenztheorie
den Traditionen der deutschen Naturphilosophie gemäss bedingungs-
los acceptirt, und dem Darwinschen Erklärungsprincip ein hohes
Verdienst und eine vielseitige Verwendbarkeit willig einräumt, po-
lemisirt sie ebenso entschieden gegen die Ueberschätzung der Trag-
weite des Darwinschen Princips (Phil. d. Unbew. S. 578) *) und
gegen den Glauben, mit demselben alles leisten zu können ; nament-
lich wendet sie sich gegen die Erklärung der organischen Schön-
heit allein durch natürliche Zuchtwahl (S. 255—259)**), hebt das
Hand in Hand Gehen zweckmässiger Veränderungen bei demselben
Individuum und bei beiden Geschlechtern derselben Art hervor
(S. 577) ***), reproducirt die von Wallace aufgestellten Schwierigkeiten
hinsichtlich der Entstehung gewisser Abweichungen beim Menschen
(S. 578) f) , zeigt auf das Problem hin, wie sich typische Höhen-
bildungen zu einer neuen Ordnung entwickeln können (S. 585 bis
588) ff), und wiederholt die Einwürfe Nägeli'sttt)> dass die
*) 7. Aufl. II. 236. Wo nicht eine andere Auflage besonders angegeben
ist, beziehen sich die im Text citirten Seitenzahlen der Phil. d. Unb. stets auf
die gleichlautende 3. und 4. Auflage, wogegen die entsprechenden Seitenzahlen
der 7. Aufl. in Fussnoten beigefügt sind.
**) 7. Aufl. L 248-252.J
***) 7. Aufl. IL 234—235.
t) 7. Aufl. II. 235.
ff) 7. Aufl. IL 242—245.
fft) Dass die Phil. d. Unb. hiermit den Nagel auf den Kopf getroffen, zeigt
folgende Stelle in Darwin's neuestem Werk, welche uns erst mehrere Monate
nach der Niederschrift dieses Abschnittes zu Gesichte kam: „Man kann daher
I. Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl. 25
natürliche Zuchtwahl im Kampf um's Dasein nur physiologische,
nicht morphologische Veränderungen hervorrufen und daher auch
nur solche erklären könne (589 — 591)*). Wir möchten zu diesem
noch eine Schwierigkeit hinzufügen, welche unseres Erachtens sehr
schwer zu wiegen scheint.
Darwin und Wallace nehmen an, dass eine zufällige individuelle
Abweichung sich erhält, insofern sie für die Lebensbedingungen des
Wesens sich nützlich erweist, und dass Varietäten oder Specien,
welche von anderen wesentlich abweichen in einer Weise, die für
ihre Lebensweise einen besonderen Nutzen gewährt, als entstanden
zu denken sind durch eine Sumroation minimaler zufälliger Indivi-
dualabweichungen. Diese Erklärung setzt ausgesprochener Maassen
oder stillschweigend voraus, dass in der That jede dieser minimalen
Individualabweichungen sich unter den Lebensbedingungen der da-
mals bestehenden Art für das abweichende Individuum als nützlich
erwies; wo diese Voraussetzung nicht zutreffend wäre, würde der
ganze Erklärungsmodus hinfällig, gleichviel ob nach Summation
einer grösseren Anzahl gleichgerichteter Abweichungen sich eine
summarische Abweichung ergeben mag, welche nützlich ist oder
nicht; — nur wenn jeder einzelne der Summanden das betreffende
den directen und indirecten Resultaten natürlicher Zuchtwahl eine sehr betracht-
liche, wenn schon unbestimmte Ausdehnung geben ; doch gebe ich jetzt, nachdem
ich die Abhandlung von Nägel i über die Pflanzen und die Bemerkungen ver-
schiedener Schriftsteller, besonders die neuerdings von Professor Broca in Bezug
auf die Thiere geäusserten, gelesen habe, zu, dass ich in den früheren Ausgaben
meiner „Entstehung der Arten" wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen
Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben
habe. Ich habe die fünfte Auflage der „Entstehung" dahin geändert, dass ich
meine Bemerkungen nur auf die adaptiven Veränderungen des Körperbaues
beschränkte. Ich hatte früher die Existenz vieler Strukturverhältnisse nicht hin-
reichend betrachtet, welche, soweit wir es beurtheilen können, weder wohlthätig
noch schädlich zu sein scheinen, und ich glaube, dies ist eines der grössten
Versehen, welches ich bis jetzt in meinem Werke entdeckt habe" („Die Ab-
stammung des Menschen", deutsch von Carus, 2. Aufl., Bd. I, S. 132). Wenn
Darwin es als wahrscheinlich einräumt, dass er „den Einfluss der natürlichen
Zuchtwahl übertrieben habe" (ebd. S. 133), so giebt er eben damit zu, dass
die Anhänger der Descendenztheorie, auch wenn sie die Theorie der natürlichen
Zuchtwahl nicht gerade verwerfen (S. 132), doch dieselbe als zur Erklärung nicht
allein hinreichend ansehen müssen, befindet sich also principiell nunmehr mit der
Auffassung der Ph. d. Unb. und der unsrigen in Uebereinstimmung.
•) 7. Aufl. IL 245—248.
26 Text dar ersten Auflage.
Individuum concurrenzfähiger macht im Kampf um's Dasein, nur
dann wird diese Abweichung sieb vor dem sofortigen Wiederausgleich
mit entgegengesetzten zufälligen Abweichungen und vor dem Wieder-
untergang in die Stammform bewahren und die Grundlage für
weitergehende Abweichungen nach derselben Richtung in den fol-
genden Generationen bilden können. Diese Voraussetzung trifft nun
allerdings in vielen Fällen zu, in vielen andern aber auch nicht,
und Darwin und Wallace haben es unterlassen, jeden einzelnen Fall
auf das Zutreffen dieser Voraussetzung zu prüfen.
Wenn eine Schmarotzer-Milbe (Myobia), die darauf angewiesen
ist, auf thierischen Haaren herumzuspazieren, ihr vorderes Fusspaar
zu einem Klammerorgan umgebildet hat, so ist kein Zweifel, dass
jede noch so geringe individuelle Abweichung nach dieser Richtung
das betreffende Individuum besser befähigt, mit den Vorderflissen
ein Haar zu umfassen, und an demselben sicher auf und ab zu wan-
dern. Ganz anders liegt die Sache hingegen bei den von Wallace
mit Vorliebe behandelten Beispielen von natürlichen Masken, bei
welchen ein Thier das Aussehen einer ihm ganz fernstehenden,
durch irgend welche Eigenthtlmlichkeiten besser geschützten Gat-
tung täuschend nachahmt, und dadurch derselben Sicherheit gegen
seine Feinde theilhaftig wird wie die nachgeahmte Gattung, ohne
dass es dabei wirklich deren Schutzmittel gewinnt. So ahmen
z. B. gewisse weisse Schmetterlinge aus der Familie def Pieriden
(Leptalis) diejenigen Arten der Heliconiden, in deren Bezirk sie
leben, so täuschend nach, dass man sie äusserlich fast nur durch
die Strüctur der Füsse unterscheiden kann. Die copirten Heliconi-
den besitzen einen unangenehmen Geruch und Geschmack, welcher
sie vor den Verfolgungen der Vögel schützt, und da nur etwa ein
Leptalis auf tausend Heliconiden vorkommt, so reicht dieser Schutz
für die ersteren vollkommen mit aus. Nun stehen sich aber beide
Gattungen mindestens so fern wie etwa Fleischfresser und Wieder-
käuer unter den Vierflissern (Wallace „Beiträge zur Theorie der
natürlichen Zuchtwahl", S. 93), man kann sich daher leicht denken,
eine wie grosse Zahl von Zwischenstufen für den üebergang nöthig
war, wenn diese nur durch Addition zufälliger Individualabweichun-
gen erfolgen sollte. Flügel, Fühler und Abdomen haben sich ver- •
längert, die Farben der nachgeahmten Arten vom Gelb und Orange
bis Braun und Schwarz werden bis auf die Grade der Durch-
I. Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl. 27
sichtigkeit und die Zeichnung der kleinsten Flecke und Streifen
treulich copirt, und selbst die Gewohnheiten sind derart modificirt,
dass die Leptaliden dieselben Orte wie ihre Vorbilder besuchen
und sogar dieselbe Flugart Angenommen haben (ebd. S. 94 — 95).
Es ist klar, dass die Aehnlichkeit nützlich ist, aber eben so klar,
dass sie erst dann einen gewissen Schutz gewähren kann, wenn sie
gross genug wird, um die scharfen Augen der Vögel zu täu-
schen. Es würde also bei der grossen Differenz der äusseren
Erscheinung eine Zwischenstufe, welche immerhin dem Aussehen
der Heliconiden schon näher steht als dem der Leptaliden, doch
noch hinreichend deutliche Abweichungen von den Heliconiden
zeigen, um von den Vögeln deutlich erkannt zu werden, also den
Inhabern wenig oder gar nichts nützen, und jedenfalls würden
solche Zwischenstufen, welche den gewöhnlichen weissen Pieriden
noch näher stehen als dem Aussehen der Heliconiden, in keiner
Weise irgend welchen Schutz gemessen, also auch ihre Inhaber
nicht concurrenzfähiger im Verhältniss zur Stammform machen.
Hier ist also die obige Voraussetzung nicht erfüllt; das Princip ist
anf die ersten Stufen zufälliger Abweichungen, ja selbst auf in der
Mitte zwischen beiden Formen stehende Zwischenstufen nicht an-
wendbar, und kann deshalb die vorliegende Erscheinung nicht er-
klären. Nur da, wo die Stammform, von welcher die Umwandlung
zur natürlichen Maske ausgeht, der nachgeahmten Species ohnehin
schon so ähnlich sieht, dass eine Verwechslung von Seiten der
Feinde möglich ist, nur da ist die natürliche Zuchtwahl im Stande,
die Aehnlichkeit zu vervollkommnen und immer täuschender zu
machen. Da dies aber nur bei einem Theil der bis jetzt bekannten
Beispiele von Mimicry zutrifft, so müssen in den übrigen Fällen
noch andere bis jetzt unbekannte Ursachen thätig gewesen sein.
Nach diesen Ausstellungen gegen die Tragweite der natürlichen
Zuchtwahl können wir nicht umhin, auch noch einen Blick auf die
Gründe zu werfen, welche einerseits fttr die hohe Bedeutung der
natürlichen Zuchtwahl innerhalb eines weiten Geltungsgebietes und
andrerseits für die unzweifelhafte Wahrheit der Descendenztheorie
sprechen. — Was zunächst die natürliche Zuchtwahl betrifft, so ist
folgende einfache und nur auf allgemein bekannte Thatsachen
fassende Erwägung geeignet, uns einen Einblick in ihr Wirkungs-
zu verschaffen. Jede Species hat die Tendenz, sich in
28 Text der ersten Auflage.
geometrischer Progression zu vermehren; da aber die Individual-
zahl jeder Species im Ganzen durch lange Zeiträume hindurch
stationär bleibt, und nur ein kleiner Theil der meisten Arten
jährlich stirbt, so muss allemal von dem Nachwuchs so viel zu
Grunde gehen, als er keine Stellen in dem gegebenen Haushalt
des Lebens für sich vacant findet. Nun gleicht jedes Wesen im
Grossen und Ganzen seinen Vorfahren, deren Beschaffenheit es
erbt; aber es gleicht ihnen nur bis auf ein gewisses Haass indi-
vidueller Abweichung, welche entweder eine för seine Lebens-
bedingungen und Concurrenzfähigkeit gleichgültige sein kann (dann
erlischt sie durch Kreuzung), oder eine ungünstige, dann wirft sie
ihren Inhaber mit Sicherheit unter die grosse Masse des zu Grunde
gehenden Nachwuchses, oder aber eine günstige, dann erhöht sie
seine Chancen im Kampf der allgemeinen Concurrenz um's Dasein,
zu den Wenigen zu gehören, welche sich zu behaupten und ihre
Beschaffenheit auf Nachkommen zu vererben im Stande sind. Es
können sich also von allen individuellen Abweichungen vom
Stammestypus immer nur die im Kampf um's Dasein günstig wir-
kenden und die Art ihren Lebensbedingungen vollkommener an-
passenden erhalten und vererben, diese aber können sich durch
neue individuelle Abweichungen nach derselben Richtung in der
nächsten Generation auch addiren, und diese hereditäre Sum-
mati on der die Art concurrenzfähiger machenden individuellen
Abweichungen heisst eben „natürliche Zuchtwahl". Eine Species
kann nur bestehen und gedeihen, wenn sie sich im Anpassungs-
gleichgewicht zu den sie umgebenden Lebensbedingungen be-
findet, und die gerühmte Vollkommenheit der Organismen beruht
eben darin, dass die allermeisten sich in diesem Zustande des An-
passungsgleichgewichts unserm Blicke präsentiren. Wenn die Lebens-
bedingungen sich ändern, so kommt es darauf an, ob die Species
solche individuelle Abweichungen aus sich hervorbringt, dass aus
denselben durch Ueberleben des Passendsten und Vererbung seiner
Beschaffenheit auf die Nachkommen sich eine Abänderung der Art
entwickelt, Welche mit der Abänderung der Lebensumstände gleichen
Schritt hält. Ist obige Bedingung nicht erfüllt, oder ist die Aende-
rung der Verhältnisse zu gross oder zu plötzlich, so nimmt die Art
an Zahl ab, verkümmert und stirbt aus ; auch solche im Verfall und
im Aussterben begriffene Arten sind uns in der Gegenwart vielfach
L Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl. 29
bekannt. Da nun die physischen Verhältnisse auf jedem Theil der
Erdoberfläche, wie uns die Geologie lehrt, in einem beständigen
Wechsel befindlich waren und immer sein werden, so begreift es
sich, ein wie grosses Feld der Wirksamkeit der natürlichen Sichtung
des überreichen sich zum Leben drängenden Nachwuchses in allen
Arten und der durch Vererbung hieraus entspringenden natürlichen
Zuchtwahl zu allen Zeiten offen stand, und es stellt sich nunmehr
als eine Hauptaufgabe der Geologie und Biologie heraus, durch
wechselseitigen Vergleich der physischen Lebensbedingungen einer
gewissen Gegend zu einer gewissen Zeit und der Beschaffenheit der
daselbst florirenden Thier- und Pflanzenspecien eine Art ideologischer
Statik des Naturlebens, d. h. eine Eenntniss aller Arten von An-
passungsgleichgewichten kennen zu lernen, eine Kenntniss, welche
gestatten würde, von der Beschaffenheit einer Species genaue Schlüsse
auf seine Lebensbedingungen oder von einer Veränderung einer
Species auf die entsprechende Veränderung der Lebensbedingungen
zu machen, und ebenso umgekehrt Wenn man nun aber die Ein-
flüsse der geologischen Veränderungen der physischen Verhältnisse
der Erdoberfläche genetisch nachconstrairt hat, so muss man hierin
auch die hauptsächlichsten Ursachen für die Veränderung der die
Erdoberfläche bewohnenden Organisation begriffen haben. Dies führt
uns zu der Descendenztheorie hinüber.
Schon seit dem Entstehen der vergleichenden Anatomie war es
das eifrigste Bestreben der Zoologen und Botaniker, die gegenwärtig
lebenden Organisationsformen nach ihrer Verwandtschaft in ein
natürliches System zu ordnen, welches ungesucht mehr und
mehr die Gestalt eines, wenn auch vielfach lttckenförmigen Stamm-
baums annahm. Andrerseits erkannte man schon früh, dass die
Entwickelungsgeschichte des Individuums (Embryologie und Meta-
morphologie) eine bedeutende Analogie mit diesem Stammbaum zeige,
dass sie aber denselben doch immer nur unvollkommen in der
Weise recapitulire, dass sie nicht dem Ganzen, sondern nur einer
einzelnen Linie desselben entspreche. Die paläontologischen For-
schungen fügten diesen beiden Reihen eine dritte hinzu, indem
sie mehr und mehr ermittelten, welche Thierarten einer jeden geolo-
gischen Periode den Thierarten, Gattungen und Ordnungen der
Gegenwart systematisch entsprächen. Als Ganzes genommen
zeigte üun der paläontologische Stammbaum die vollkommenste
30 Text der ersten Auflage.
Übereinstimmung mit dem systematischen der vergleichenden
Anatomie, nur dass er die Lücken des letzteren in soweit ergänzte,
als die Vertreter vergangener geologischer Perioden sieh nicht bis
in die gegenwärtige Flora nnd Fauna hinein conservirt haben; im
Einzelnen betrachtet, d. h. eine paläontologische Vorfahrenreihe
einer bestimmten Thierart der Gegenwart ans dem Ganzen
herausgelöst, zeigt er wiederum die vollständigste Uebereinstimmung
mit dem Entwickelungsprocess des Individuums vom befruchte-
ten Ei bis zur endgültigen Form. Diese Uebereinstimmungen sind
nur so zu deuten, dass der systematische Stammbaum nur die histo-
rische Projection des paläontologischen Stammbaums auf die
Gegenwart ist, und dass die embryologische Entwickehmgsreihe
nur die abbrevirte individuelle Eecapitulation der paläontolo-
logischen Entwickelungsgeschichte der Species ist, zu welcher Ent-
wickelungsreihe natürlich nur ihre directen Vorfahren, also nur
eine einzige Linie des gesammten paläontologischen Stammbaums,
gehören. Nur indem der paläontologische Stammbaum
als wirkliche genealogische Descendenz gefasst wird, lösen
sich alle diese Räthsel, und wächst die Auffassung der gesammten
Biologie zu einer grossartigenEinheit zusammen. Unterstützt
wird diese Auffassung noch wesentlich durch die Fortschritte der
Lehre von der geographischen und topographischen Verbreitung der
Specien, und die Aenderung dieser Verbreitungsbezirke in den
früheren geologischen Perioden, ein Wissenschaftszweig, der ganz
unverkennbar flir jede Art auf eine Urheimath oder ein Aus-
breitungscentrum zurückführt. Zur weiteren Empfehlung
dient ihr die Lehre von den rudimentären Organen, welche
durch Nichtgebrauch verkümmert und entartet sind, aber trotz ihrer
nunmehrigen Unzweckmässigkeit immer fortbestehen, — eine Er-
scheinung, die durch Verweisung auf den allgemeinen Schöpfungs-
plan (Phil. d. Unb. S. 170)*) in Anbetracht der behaupteten All-
weisheit und Allmacht des Unbewussten keineswegs befriedigend
erklärt wird, während die Vererbung diese Constanz der morpho-
logischen Grundtypen sofort genügend begründet. Endlich bestätigt
sich die Descendenztheorie um so mehr, je tiefer man in den
Zusammenhang des Naturlebens, in die Wechselbeziehungen der
*) 7. Aufl. L 16?
I. Descendenztheorie and natürliche Zuchtwahl. 31
Organismen, ihrer Einrichtungen und Lebensgewohnheiten, ins-
besondere in die Erscheinungen des Commensalismus und Parasitis-
mus eindringt. Alle diese Betrachtungen im Zusammenhang müssen
die Wahrheit der Descendenztheorie zur vollkommenen Evidenz
bringen. Die Philosophie des Unbewussten fügt diesen inductiven
Beweisen einen deductiven hinzu, mit dem wir den nächsten Ab-
schnitt beginnen wollen.
IL
Die Teleologie vom Standpunkte der
Descendenztheorie.
Wenn schon die eigentümliche Begründung, welche die Phil,
d. Unb. für die Descendenztheorie beibringt, der Form nach deduc-
tiv ist, so entspricht sie doch ihrem Inhalt nach dem Geiste der
Naturwissenschaft vollständig, da sie, wie im Grunde alle natur-
wissenschaftliche Hypothesenbildung, aufderfortschreitenden
Elimination des Wunderbegriffs beruht. Der roheste
Wunderglaube wäre nämlich die Annahme unmittelbarer Erschaffung
aller Specien in erwachsenen Exemplaren; ein geringeres Wunder
wäre schon die Erschaffung derselben in Gestalt befruchteter Eier,
welche etwa geeigneten Pflegeeltern anvertraut wurden ; eine weitere
Reduction erlitte das Wunder, wenn diese Eier an ihrer natürlichen
Stelle, dem Eierstock der nächstverwandten Species, entständen
und der übernatürliche Eingriff sich auf Herstellung derjenigen Ab-
weichungen beschränkte, welche die Entwickelung zu der neuen
Species prädisponiren ; endlich werden diese Eingriffe auf ein Mini-
mum zurückgeführt durch die Annahme, dass die Uebergänge in
einer Addition von zufälligen individuellen Abweichungen bestehen,
zu deren Fixirung in den meisten Fällen die natürliche Zuchtwahl
ausreicht. Nach derselben Methode der Elimination des Wunders
hätte nun aber weiter geschlossen werden müssen, dass in allen
den Fällen, wo die natürliche Zuchtwahl nicht ausreicht, andere
noch unbekannte wirkende Ursachen vorhanden sein müssen, mecha-
EL Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheone. 33
nische Zusammenhänge! die nns bis jetzt verschlossen geblieben
sind. So schliesst aber die Phil. d. Unb! nicht, sondern sie statuirt
überall da directe übernatürliche Eingriffe eines intelligenten meta-
physischen Willens in den naturgesetzmässigen Verlauf der organi-
schen Processe, wo „die entstandenen Abweichungen, welche zum
Plane des Unbewussten gehören, aber den Organismen keine ge-
steigerte Concurrenzfähigkeit im Kampfe um's Dasein
verleihen, vor dem Wiederverlöschen durch Kreuzung bewahrt"
werden sollen (S. 593), *) und ebenso statuirt sie dort übernatürliche
Eingriffe, wo nicht zufällig entstehende und doch im Schöpfungsplan
liegende Abweichungen hervorgerufen werden sollen (ebenda),
obwohl sich doch gar nicht sagen lässt, dass irgend welche minimale
Individualabwcichungen nicht zufällig entstehen könnten, sondern
eigentlich auch hier nur das Fixiren solcher Abweichungen gemeint
ist, die erst nach längerer Addition in bestimmter Richtung eine
Bedeutung erlangen (z. B. Uebergang in neue Ordnungen und neue
morphologische Typen). Jedenfalls verlässt die Phil. d. Unb. bei
dieser Hypothese übernatürlicher Eingriffe die naturwissenschaft-
liche Anschauungsweise und Methode, und zieht metaphysische
Aushülfen heran, um thatsächlich vorhandene Lücken der natur-
wissenschaftlichen Erkenntniss auszufüllen. Dies kann die Natur-
wissenschaft nicht aeeeptiren ; *) so wenig sie sich darum zu be-
kümmern hat, ob die Naturgesetze und die Causalität letzten Endes
sich selbst wieder in Finalität und logische Kategorien auflösen, so
sehr muss sie doch darauf halten, dass ihr Gebiet rein von solchen
Beimengungen bleibt und dass die Lücken in der Erkenntniss der
causalen Zusammenhänge der objeetiven Erscheinungswelt offen als
solche anerkannt und der künftigen Ausfüllung durch rein causale
and mechanische Zusammenhänge offen gehalten werden, hinter
welchen dann immerhin die Metaphysik ihren ungestörten Tummel-
platz behalten mag. Wenn auf S. 790**) die Causalität als „lo-
gische Notwendigkeit" bestimmt wird, die durch einen Willen
realisirt wird, und wenn diese logische Nothwendigkeit als die
gemeinsame Wurzel von Causalität und Finalität bezeichnet wird,
so darf dies keinenfalls so gedeutet werden, als ob der metaphysisch-
*) 7. Aufl. H. 250.
**) 7. Aufl. IL 450-451.
E. t. Hart mann, Das Unbwufltfte, 2. Aufl.
34 Text der ersten Auflage.
teleologische Eingriff in einen naturgesetzlichen Process mit der in
dieser wirkenden Causalität auf gleicher Stufe stände. Die natur-
gesetzliche Causalität wirkt immer auf dieselbe Weise, unbekümmert
darum, ob im besonderen Falle ihr Wirken empfindenden und
lebenden Wesen nützlich oder verderblich wird, ob sie die
Naturzwecke des Weltenplanes unmittelbar fördert oder hemmt;
der teleologische Eingriff hingegen arbeitet immer und aus-
nahmslos direct auf den Zweck des Naturprocesses hin. 8 ) Die
naturgesetzliche Causalität richtet sich allein nach den gegebenen
Umständen und reagi,rt auf diese mit blinder Notwendig-
keit; der teleologische Eingriff richtet sich zwar auch nach den
gegebenen Umständen und erfolgt ebenso gleichmässig wie die
causale Wirkung, sobald die Umstände identisch wiederkehren,
aber diese Gleichmässigkeit ist bedingt durch das Sichgleichbleiben
des Endzweckes, und die momentane teleologische Berücksichti-
gung dieses Endzweckes ist das neu hinzutretende Moment,
welches eben eine Modification der vorliegenden Umstände
durch einen metaphysischen Willen in dem Sinne herbeiführen soll,
dass nunmehr die Wirkung der Naturgesetze eine dem Naturzweck
unmittelbar dienende wird, die ohne diesen Eingriff eine dem
Naturzweck wenigstens in diesem Falle zuwiderlaufende ge-
worden wäre (Phil d. Unb. S. J42— 143, 176—178).*) Weip die
naturgesetzliche Causalität zugleich eine möglichst zweckmässige
sein soll, so liegt doch diese Zweckmässigkeit nicht im einzelnen
Fall, sondern nur in dem vielfach von Rückschlägen und Hem-
mungen durchkreuzten Gesammtgange , und das Gesetz wird im
einzelnen Falle nur inne gehalten, weil die Constanz tfer Wirkungs-
weise teleologisch gefordert ist (S. 560 Anm.)**) und von ajlen
möglichen Gesetzen dieses das durchschnittlich zweckmässigste
oder das relativ zweckmässjgste in Bezug auf das G e 8a m nit-
re sul tat ist; der teleologische Eingriff hingegen wird als die
hinzutretende Correctur gedacht, welche deji durch const^nte
Gesetze teleologisch nicht zu leistenden Best auf ihre unmittel-
bare Action übernimmt. Dieser Unterschied darf nicht übersehen
werden; er ist deutlich genijg ausgesprochen, und ist gross genüg,
*) 7. Aufl. I. 137—138, 169-171.
**) 7. Aufl. II. 217—218.
IL Die Teleologie Tom Standpunkte de* Descendenstheorie. 35
um die (Naturwissenschaft m einem energischen Protest gegen den
etwaigen Versuch 'zu veranlassen, durch metaphysisch-teleologische
Auslegung der Causalit'ät zugleich den unmittelbaren teleologischen
Eingriff mit einschmuggeln zu wollen. Lässt man sich den letzteren
einmal gefallen, so ist das Wunder seinem Begriff nach (als meta-
physischer Eingriff in den gesötzmässigen (fang der physischen
Causalität) acceptirt, und es ist datin nur noch eine Differenz dem
ÖTa«de nach, welche das thetflogisdhe Wunder (insofern es nicht
naturw äderig gefasst wird) von diesem metaphysischen unterschei-
det; — <A> der unbewusste Wille Atome verschiebt und dadurch
Ströme im Organismus erzeugt, welche den Wachsthumsprocess in
eine neue Richtung drängen, oder ob Gott in der Transsubstantiation
die Uratome so umlagert, dass die chemischen Elemente sich in
andere verwandeln, »das ist kein Unterschied mehr im Wesen der
Sache, sondern -nur noch in der Intensität und Ausdehnung des
Eingriff». 4 )
Fragen wir nun, was flie Ursache eines solchen Abfalls von
der natarofesenschaftfiobea Anschauungsweise bei der Behandlung
einer naturwissenschaftlichen Präge gewesen sein mag, so zeigt sich
die Seiguftg dazu einerseits ctareh die Antecedentien der deutschen
Piölasophie voi#ezeieh»et, m*d muss andrerseits auf den Abschnitt
A. der Phii. 4. Unk verwiesen werden, welcher das Resultat ge-
geben &aKte, duss jeder Moment des Lebensprocesses
einie 6«mm« zahlloser teleologischer Eingriffe erfor-
dert. Die deutsche Philosophie war von jeher gewohnt, der Idee
eben maatssgebewden Eininss auf die Lebensprocesse der Organis-
men zuzuschreiben, welche als Träger der Realisationen der Idee
gelten sollten; den Kant-Fichte's&hen snbjectiven Idealismus gan£
bei Seite gelassen, findet sich auch bei Schelling, Schopenhauer und
Segel nirgends eine genügende Würdigung der Materie als einer
selbstständigen, jedes metaphysischen Eingriffs in ihre Gesetze und
Rechte spottenden Macht; überall werden vielmehr die organischen
Wesen als unmittelbare individuelle Realisationen der Idee behan-
delt. Hiergegen erscheint das Verfahren der Phil. d. Unb. in der
That als ein himmelweiter Fortschritt , welches der unbewussten
Idee als organisirendem Princip die Materie als selbststäudige
coordinirte Macht gegenüberstellt, deren Gesetze jene nicht über-
springen kann, sondern mit denen sie rechnen und die sie zu ihren
3*
36 Text der ersten Auflage.
Zwecken klug benutzen muss (S. 605),*) — wenngleich in letzter
Reihe die Materie mit ihren unverbrüchlichen Gesetzen auch hier
nur als Objectivation der Idee auf niederer Stufe erscheint. Diese
metaphysische Voreingenommenheit wirkte zusammen mit den Re-
sultaten des Abschnitts A. Dieser Abschnitt aber behandelt alle
vorkommenden Probleme ohne jede Rücksicht auf die Des-
cendenztheorie, während dieselben derart sind, dass sie einzig
und allein von dem Standpunkt der Descendenztheorie aus rich-
tig gestellt und annähernd gelöst werden können. 5 ) Werth-
voll ist hingegen der dort zur Evidenz gebrachte Satz, dass Instinct,
Reflexbewegungen, Naturheilkraft, selbstständige Functionen niederer
Nervencentra und organisches Bilden ein unmittelbar zusammen-
gehöriges Ganze darstellen (S. 164 — 165),**) eine Reihe, in der
jedes Glied mit jedem andern durch flüssige Uebergänge verbunden
ist, so wie ihre höchsten Glieder in ebenso flüssiger Weise in die
Erscheinungen des bewussten Geisteslebens hinüberleiten. Es kann
hiernach nur ein und dasselbe Erklärungsprincip sein,
welches in allen diesen Erscheinungsgebieten maassgebend ist.
Anstatt aber mit demjenigen Gliede der Reihe, welches durch die
Descendenztheorie am besten erklärt wird, zu beginnen und von
diesem, der Zweckmässigkeit der organischen Bildutagen, hinauf-
zusteigen zu den andern, beginnt die Phil. d. Unb. gerade umgekehrt
mit dem schwierigsten, dem Instinct, und thut dort der Möglichkeit
einer Erklärung durch die Descendenztheorie, wie sie Darwin in
seinem Gapitel Instinct bietet, nicht einmal Erwähnung. 6 ) Dies ist
nur so zu erklären, dass diese Abschnitte vor jeder Bekanntschaft
mit Darwin's Originalwerk und auch vor genauerer Bekanntschaft
mit der Bedeutung und Tragweite der Descendenztheorie überhaupt
verfasst sind, während die Cap. IX. und X***) des Abschnittes C,
namentlich der Schluss des Cap. X bereits eine Kenntniss der emi-
nenten Bedeutung der Descendenztheorie erkennen lassen. Durch
diesen Unterschied zwischen den Abschnitten A und G fällt das
Buch in naturwissenschaftlicher Hinsicht gleichsam in zwei Stücke
auseinander, die nicht zusammenpassen wollen, — eine Thatsache,
*) 7. Aufl. II. 261—262.
**) 7. Aufl. I. 158—159.
***) 7. Aufl. Cap. X. u. XL
II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie. 37
die meines Wissens keiner der zahlreichen Becensenten des Werkes
auch nur von Ferne geahnt hat Ist aber die Descendenztheorie
eine Wahrheit (wie die Phil. d. Unb. zugiebt), und ist sie im
Stande, für die Erscheinungsreihen des ersten Abschnitts, wenn auch
nur theilweise, wirkliche Erklärungen zu liefern (was zu untersuchen
die Phil. d. Unb. im Abschnitt A versäumt hat, während sie es im
Abschnitt C Cap. IX*) in vielen Punkten zugiebt), so wird dadurch
die ausschliessliche Geltung und das angenommene Wahrscheinlich-
keitsmaass des im Abschnitt A angewandten Erklärungsprincips
ebenso wie die mit Hülfe desselben erzielten Resultate in Frage
gestellt, also auch die Behauptung von den beständigen teleologischen
Eingriffen des organisirenden Unbewussten an den Lebensprocess
nicht ohne Weiteres als Aushülfe für die Lücken herangezogen
werden dürfen, welche die natürliche Zuchtwahl in dem Verständniss
der Descendenztheorie lässt.
Die weitere Ausführung des hier nur andeutungsweise zur vor-
läufigen Orientirung Vorangeschickten kann erst später folgen; da-
gegen wollen wir in diesem Capitel noch auf zwei Stellen eingehen,
in welchen die teleologischen Eingriffe aus allgemeinen Gesichts-
punkten besprochen werden. Die erste derselben ist der Aufsatz
„Ueber die Lebenskraft" in den „Gesammelten philos. Abhandlungen
zur Phil. d. Unb." (Berlin, Carl Duncker 1872),**) die andere das
zweite Einleitungscapitel der Phil. d. Unb. : „Wie kommen wir zur
Annahme von Zwecken in der Natur?"
Der Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" präcisirt nach einem histo-
rischen Bückblick die moderne Fassung der Frage in folgender
Alternative: „auf der einen Seite ein zweckmässig wirkendes
immaterielles Princip, welches die fragliche Anordnung der Um-
stände" (unter welchen aus den unorganischen Molecularkräften sich
sich die organischen Processe entfalten) „herbeiführt und dauernd
aufrecht erhält, auf der andern Seite ein einmaliger Zufall der
Urzeugung, und zwar solcher überaus merkwürdiger Zufall, dass
die ans ihm resultirenden combinirten Functionen die Aufhebung
dieser fraglichen Umstandsanordnung dauernd ausschliessen. Ist
der Zufall der Urzeugung nicht bloss einmal, sondern öfters ein-
*) 7. Aufl. Cap. X.
**) „Gesammelte ötudien und Aufsätze" C. IV«
38 Text der ersten, Auflage.
getreten, so ist es um so merkwürdiger,, das? er stets in einer
Weise eintrat, welche die Dan er- seiner Producte in sich schloss.
So bedenklich diese Zufallstheorie auch schon deshalb sein mnss,
weil bei den zahllosen denkbaren Umstandseorabinationen eine
ausserordentlich geringe apriorische Wahrscheinlichkeit fttr das Ein-«
treten der geforderten vorhanden war, so ist dieselbe doch i nur dann
überhaupt haltbar, wenn die» Thier- und Pflauzenphysiolcgie* im
Stande ist, nachzuweisen, dass wenm einmal durch jenem Urzeugmigs-.
zufall organisches Leben in. irgend einer, der uns bekannten Gestalten
geschaffen war, die so gegebenen Umstandscombinatioaeii wirklich
ausreichten, um mit alleiniger Hülfe » der unorganischen mate-
riellen Kräfte sich selbst und dadurch den vitalen Functionen ihren
Fortbestand zu sichern" (Ges. phil. Abhandl. S. 10»— 110).*)
Die Begründung zerfällt, wie wir &ehep, in zwei Tbeiley der
erste gegen die Urzeugung lebensfähiger Formen, der zweite,
gegen deren Erhaltung und Fortbildung gerichtet Der
zweite Theil giebt also nur eine Wiederholung unserer seeben be-
sprochenen Alternative : ob die natürliche Zuchtwahl* insofern sie
nicht ausreicht, durch ähnliche mechanische Vermittlungen, die uns
noch unbekannt sind, oder durch metaphysich-teleologische Eingriffe
so weit vervollständigt wird, um die fortschreitende Entwickehmg
der Organisation zu Stande zu bringen ; hierin • finden . wir mithin -
keinen neuen Gesichtspunkt. Dagegen ist dieser allerdings in dem
ersten auf die apriorische Wahrscheinlichkeit gestützten Argument
enthalten, — nur ist er entschieden unrichtig angewendet.
Die Phil. d. Unb. sagt S. 558 **) : „Es ist wahrscheinlich, . dass
vor der Entstehung der ersten Organismen schon organische Ver-
bindungen niederer Stufe vorhanden gewesen seien," welphe sich
(S. 556)***) „unter dem Einflüsse einer feuchten und sehr kohlen-
säurereichen Atmosphäre, so wie der höheren Wärme, des, Lichtes
und starker electrischer Einflüsse gebildet hatten." Eigpet mau sich
diese Voraussetzungen an, und fügt die Betrachtung, hinzu, dass
wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen » in früheren geolo-
gischen Perioden einmal, wie doch. , nothwendig* stattfanden, , sie .
~^^^m~m i 1tm+ !<■'■' » • f^»< »-»p n
*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 500-501.
**) 7. Aufl. H. 216.
***) 7. Aufl. IL 214.
* ■ , . ,. r »
II. Die Teleologie vom Standpunkte def Descendenztbeorie. 39
•
wohl auch durch ansehnliche geologische Zeiträume hindurch be-
standen, so ist in der That die Folgerung nicht zu umgehen, dass
im Laufe der Zeit und im Wechsel der Umstände diese organischen
Stoffe in zahllose Combinationen zu einander traten. Unter
diesen zahllosen Anordnungsweisen, Gruppirungen und Verbindungen
musste der bei weitem grösste Theil auf der Stuft unorganischer
Form stehen bleiben, weil er nicht die zu einer solchen notwen-
dige chemische Zusammensetzung und physikalischen Eigenschaften
erlangte ; ein sehr viel kleinerer Theil, der aus diesen Combinationen
organischer Materie hervorgegangenen Eesultate mochte vielleicht
vorübergehend sich der organischen Form nähern, oder auch wirk-
lich in dieselbe eintreten, *) dabei aber nicht die zur längeren Be-
hauptung derselben erforderliche Beschaffenheit besitzen; ein dritter
noch kleinerer Theil vermochte etwa für sich selbst diese Form im
Wechsel des Stoffes so lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die
ungefähre Lebensdauer der primitivsten Protistenarten beträgt, ent-
behrte aber derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und Fort-
pflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben des In-
dividuums erhalten; ein vierter Theil mochte sowohl die zur Selbsterhal-
tung als zur Gattungserhaltung nothwendigen Eigenschaften besitzen,
entbehrte aber jener eigentümlichen „Tendenz, abzuändern" (Phil,
d. Unb. S. 591),*) oder doch jener Tendenz, in der bestimmten
Richtung abzuändern, welche allein zur Entwickelung in höhere
Formen führen konnte; ein fünfter Theil endlich besass auch diese
Eigenschaft zu den übrigen. Die Nachkommen der vierten und
fünften Gasse unserer Unterscheidung sind es, welche noch heute
Meer und Erde bevölkern; von welcher Art von Moneren die Fort-
entwickelung zu Infusorien ausgegangen ist, ob von einer der jetzt
noch lebenden, oder von einer untergegangenen Art, davon wissen
wir noch nichts; das aber schon können wir als sicher annehmen,
dass die Mehrzahl der Protisten, die wir heute noch kennen, zu
jener entwickelungsfähigen vierten Classe gehört. Die ephemeren
Schöpfungen unserer zweiten und dritten Classe konnten natürlich
nur so lange ihren Bestand als Arten gesichert sehen, als die
günstigen Bedingungen ihrer stets erneuten Urzeugung fortdauerten ;
die erste Classe aber würde vom teleologischen Standpunkt aus
*) 7. Aufl. IL 248.
40 Text der ersten Auflage.
als die der gänzlich misslungenen Schöpfungsversuche zu bezeich-
nen sein.
Nehmen wir nun als durch die Thatsache vorhandener Orga-
nismen erwiesen an, dass die Möglichkeit der Entstehung des
Wirklichen in den Bedingungen früherer Schöpfungsperioden zu
irgend einer Zeit gegeben war 8 ) (Phil. d. Unb. S. 555 — 556),*) so
folgt aus unserer Annahme über die zahllosen Gombinationen der
vorausgesetzten organischen Materie die apriorische Wahrscheinlich-
keit und zwar als eine der 1 oder der Gewissheit sehr nahe kom-
mende, dass unter den zahllosen Combinationen mit der Zeit auch
solche vorkommen mussten, welche der in den Bedingungen ent-
haltenen Möglichkeit der Urzeugung entsprachen, und somit dieselbe
verwirklichten. Die von uns unterschiedenen Classen fordern in
aufsteigender Reihe ein mehr oder minder günstiges Zusammentreffen
mannichfacher Umstände, und gerade diesem entsprechend haben wir
die Häufigkeit der einschlägigen Fälle von Urzeugung in der Ge-
sammtzahl der Anläufe zu einer solchen überhaupt zu denken. Die
von dem Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" angezogene Wahrschein-
lichkeitsrechnung kehrt sich mithin, weit entfernt, die Theorie meta-
physischer Eingriffe zu unterstützen, ganz und gar gegen dieselben •)
und war das Verkennen dieser Sachlage nur dadurch möglich, weil
die zahllose Menge der möglichen Combinationen organischer Materie
im Laufe der Zeit unbeachtet gelassen war, von welchen nur einige
wenige auf die lebensfähigen, noch weniger auf die reproductions-
fähigen, und ganz wenige, vielleicht nur eine, auf die entwickelungs-
fähigen Formen kommen. Nicht nur, dass der Aufsatz: „Ueber die
Lebenskraft" die lebensunfähigen und fortpflanzungsunfähigen Com-
binationsresultate vollständig ignorirt, so confundirt er ausserdem
noch die beiden letzten Classen, die reproductionsfähigen und ent-
wickelungsfähigen miteinander, während doch auf der untersten
Stufe des Protistenreichs gewiss ganz ebenso und noch viel mehr
als auf allen Stufen des Thier- und Pflanzenreichs auf eine ent-
wicklungsfähige Art eine grosse Zahl entwickelungsunfähiger Arten
kommen mussten, da jede Höherbildung über das Niveau einer
breitverzweigten Stufe hinaus immer nur an einem oder höchstens
*) 7. Aufl. IL 213—214.
II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie. 41
zwei Punkten derselben ihren Ursprung nimmt, welche besonders
zur Abänderung in höhere Formen hinneigen.
Wir gehen nach Erledigung dieses Punktes zu dem schon er-
wähnten zweiten Einleitungscapitel der Phil. d. Unb. über. Dieses
Capitel ist mehrfach in dem Sinne missverstanden worden, als sollte
es allein und für sich die Existenz von Naturzwecken beweisen,
während doch deutlich genug ausgesprochen ist, dass es sich hier
nicht um materiale Erkenntniss, sondern „nur um die Feststellung
der formalen Seite des zweckerkennenden Denkprocesses handelt"
(S. 41),*) um Aufklärung der Principien, „nach welchen sich der
logische Process über diesen Gegenstand mehr oder minder un-
bewusst in jedem vollzieht, der hierüber richtig nachdenkt" (S. 48) **).
Nur die Anwendbarkeit dieses logischen Schemas auf „Beispiele in
Masse" soll den Gegner von der Wahrheit der Teleologie tiberzeugen
können, nicht etwa die wenigen in diesem Capitel „nur zur Erläu-
terung und Veranschaulichung der abstracten Darlegung" beigefügten
Beispiele. Wir können daher ruhig zugeben, dass die Art und
Weise, in welcher sich mehr oder minder unbewusst in jedem An-
hänger der Teleologie die Ueberzeugung von der Existenz wirkender
Naturzwecke herausbildet, hier richtig belauscht und wiedergegeben
sei, und werden damit doch noch nicht im Geringsten eine objective
Gültigkeit der so entstandenen Ueberzeugung eingeräumt haben.
Ob dieser Process zu positiv begründeten Resultaten führt oder
nicht, hängt ganz davon ab, ob die abstracten Voraussetzungen,
welche zum Rechnungsansatz der Wahrscheinlichkeitsrechnung be-
nutzt werden, in dem jedesmal gegebenen concreten Fajle zutreffen.
Nun ist aber das Hauptmittel zur Erlangung einer grösseren Wahr-
scheinlichkeit die Voraussetzung, dass zur Erzielung einer gewissen
zweckmässigen Wirkung (z. B. des menschlichen Sehens) eine grös-
sere Anzahl von einander unabhängiger Bedingungen (S. 41)***)
zusammenwirken müssen, von denen keine fehlen darf (z. B. hier
die vielen Einrichtungen des menschlichen Auges — S. 43) f). Die
Unabhängigkeit der Bedingungen von einander ist unbedingtes
•) 7. Aufl. I. 41.
**) 7. Aufl. L 47.
***) 7. Aufl. I. 43.
t) 7. Aufl. 1. 40 Anm.
42 Text der ersten Auflage.
Erforderniss; ohne welches die Rechnung falsch wird (S. 41 *) Anm.).
Gerade hier springt es recht deutlich in die Augen, dass dieses'
Capitel vor dem Bekanntwerden mit der vollen Bedeutung der Des-
cendenztheorie geschrieben sein muss; denn die Descendenztheorie
zeigt' eben, däss die verschiedenen demselben Zwecke dienenden
Einrichtungen desselben Organs oder desselben Organismus immer
Hand in Hand mit einander sich entwickeln, aus gemeinsamen In-
differenzpunkten heraus sich differenziren und in ihrer allmählichen
Vervollkommnung durch die gleichen Ursachen bestimmt werden,
also nichts weniger als unabhängig von einander genannt werden
können — Bleiben wir, um auch unsererseits eine Erläuterung zu
geben, bei dem Beispiel des menschlichen Auges , so dürfen wir
dasselbe nicht als etwas Fertiges ansehen, und seine wirkenden
Ursachen mit der Betrachtung der embryologischen Entwickelüngs-
momerite als abgeschlossen betrachten, wie jenes Oapitel es thut,
sondern wir müssen die Lehre der Descendenztheorie heranziehen,
dass die wirkenden Ursachen für die Beschaffenheit des Menschen-
auges in der ganzen Entwickelungsreihe seiner directen Vorfahren,
bis zur Urzelle und protoplasmatischen Monere hinab, zu suchen
seien. Man muss sich hierbei stets vergegenwärtigen, dass in der
Entwickelung des organischen Lebens jede Function früher da ist,
als das ihr specifisch dienende Organ entwickelt wird, eine That-
sache, welche wesentlich dazu beiträgt, viele Räthsel auf mechani-
schem Wege zu lösen, welche ohne dieselbe nur auf teleologischem
Wege lösbar scheinen. 10 ) Das Protoplasma selbst ist gleichsam
jenes Ur wunder, 11 ) welches alle Functionen der Sinneswahrnehmung,
Bewegungsfähigkeit, Theilungs- oder Fortpflanzungsvermögen, Assi-
milatioü&kraft u. s. w. in sich vereinigt ; denn die Versuche an den
einfachsten Moneren (Protoplasmaklümpchen ohne nachweisliche
Zellmembran) zeigen, dass es für alle Arten von Reizen (Electricität,
Licht, Wärme, Lufterschütterung, Berührung u. s. w.) empfindlich
ist, und auf dieselben mit Contraction, Formveränderung (welche
Locomotion oder Theilung im Gefolge haben kann), chemischer
Action (Verdauung) und Wachsthum reagirt, während das Wachs-
thum über eine gewisse Grösse hinaus nach physikalischen Gesetzen
das Zerfallen des Protoplasmatropfens in zwei kleinere (wie bei
*) 7. Aufl. L 41.
n. Die Teleologie vött ^nd^uükte deKIÜescendenztheoric. ¥$
einem* mehr and mehr vergrösSfertett Qtfecksilbertrrjpfett) ' nach si 3h
zieht. Das Protoplasma'' ist mithin der Ur-Itfdlfferenzpunkt 1
allfer organischen Lebenstbätigkeit, von welchem ans sich die v r-
s^hiedenen Organe und Systeme erst allmählich differenzircn,
indem gewisse T heile des Protoplasma"« eine für je eine od^r'
mekrere bestimmte Arten von« Functionen vorzugsweise ge-
eignet« Beschaffenheit annehmet*. Die so itn Organismus einge-
tretene Arbeit stbeilnnig wird iran durch Vererbung auf die
Nachkommen übertragen und im Laufe der zahllosen Geschlechter-
folgen verschiedenster Specien und Ordnungen immer mehr ver-
vollkommnet, d. h. immer stärker differenzirt. So z: B. besteht die '
erste Differenzirung behufs grosserer Liehtempfindliehkeit in Aggre-
gaten von Pigmentzellen, welche, ohne einen Sehnerven : zu besitzen,
auf einer Sarcodemasse aufliegen, and nach Jourdain als Sehorgane
dienen; Der nächste Fortschritt ist, dass eitfe Art Sehnerv steh
biWety. dessen Ende von einer durchscheinenden» Haut geschützt und'
von den Pigmentzellen umlagert wird. Von dieser Art ist selbst
noch das Auge des Afflphioras, des Urvaters des Wirbelthierreichs;
der als solcher auch zn den^directen Vorfahren des Menschen l ge-
hört; das Organ liegt hier in einer faltenartigen mit Pigmentzellen
ausgekleideten Hauteinsttilpung, in weichet der Nerv von durch-
seheinender) Haart, ohne irgend welchen andern Apparat bedeckt ist
Wenn sieh diese Vertiefung (wie schon bei manchen Seesternen) 1
mit gallertartiger, durchsichtiger, aussen gewölbter Masse ausfällt,
so wird dadurch; zunächst ein« Ooncentratkm, also eine Verstärkung
der Intensität: dar Lichtwirkang erzielt; man sieht ferner, dass durch
Herstellung eines ' entsprechenden * Zwischenraums zwischen Nerven-
ende und. ' linsenförmiger Gallertmasse das Entwerfen eines Bildes '
auf dem ersteren durch die letztere ermöglicht wird. (Auch beim
Mensehen entwickelt sich die Linse ursprünglich nur aus einer '
Aahäfefung von • Epidermiszellen in einer sackförmigen Haatfalte,
während der, Glaskörper sich ans dem embryonalen 1 subcutanen'
Gewebe bildöt). In: den beiden Cäassen der Fische und Reptilien
ist nun, wie oben bemerkt, die Reihe von Abstufungen der diöptfi-
ßohen, Bildungen sehr graray und auf einfetaWege, den 1 zu vörfbl^ecf
hiarizu wfcitdÄretawittrde, gelang* das 'Afcge^ erat gatifc'alliriähliötf
za denxjenigeüiGiadeiidepiVervollfoMnBQnung; welchen wir am riifenfcelfr*
liehen OrgjmiflBÄft: bbwunderaP Wie weit i entfernt abW autfh dftSöe
44 Text der ersten Auflage.
von einer makellosen Vollkommenheit ist, wie sehr sie den Charak-
ter zufälliger Anpassung und bedenklicher Compromisse an sich
trägt, und wie viel die unbewussten Schlüsse des Verstandes bei der
Entwickelung der Wahrnehmung aus dem gegebenen Empfindungs-
material vertuschen, corrigiren, ersetzen und hinzu erfinden müssen,
um uns den Schein eines vollkommenen Organs vorzugaukeln, hat
u. A. Helmholtz in der ersten Abhandlung des II. Bandes seiner
„Populären wissenschaftlichen Vorträge" auseinandergesetzt J *)
Die Nichtberücksichtigung aller dieser allein in das Verständniss
der Sache einführenden Umstände lässt die Anwendung des logischen
Schemas auf das vorliegende Beispiel als unstatthaft erscheinen.
Dieses Beispiel ist aber ebenso typisch für die in den Organismen
angestaunte Zweckmässigkeit, wie jenes logische Schema typisch ist
für die psychologische Entstehung des Glaubens an die Zweckmäs-
sigkeit als in der Natur wirksames Princip, wie solche in den
Köpfen derer vor sich geht, die ohne Eenntniss der Descendenz-
theorie über solche Probleme nachdenken. Es behält demnach
dieses Capitel nur insofern einen Werth, als es uns das Ver-
ständniss eines systematischen Irrthums und seiner
bis zum siegreichen Durchbruch der Descendenztheorie dauernden
Geltung erschliesst. 18 ) Dagegen wird es kaum möglich sein, Bei-
spiele aus dem Bereich der organischen Natur zu finden, welche
nicht durch die Anwendung der Descendenztheorie auf ihre Erklä-
rung in ein solches Licht gerückt wurden, dass die Anwendung
jenes logischen Schemas auf dieselben als ausgeschlossen erscheint.
Denn die Descendenztheorie lehrt uns, dass eine Unabhängigkeit
der bei einer organischen Erscheinung cooperirenden Bedingungen
nicht existirt, dass vielmehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten
aus gemeinsamem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben
Ursachen 14 ) war, und die Theorie der natürlichen Zuchtwahl^lehrt
uns eine von diesen Ursachen, und wohl unzweifelhaft die wichtigste
als eine solche kennen, welche durch rein mechanische Compensa-
tionsphänomene zweckmässige Resultate hervorbringt. Die Descen-
denztheorie stellt das teleologische Princip nur in Frage, indem
es ihm den Boden für einen positiven Beweis entzieht; die Lehre
von der natürlichen Zuchtwahl aber beseitigt dasselbe ganz
direct, so weit als sie selbst mit ihrer Erklärung reicht. Denn die
natürliche Auslese im Kampf um's Dasein, das Zugrundegehen des
II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie. 45
minder Zweckmässigen and das Ueberleben und Sichweitervererben
des Passendsten und Zweckmässigsten ist ein Vorgang von mecha-
nischer Causalität, in dessen gleichmässige Gesetzlich-
keit nirgends ein teleologisch bestimmendes meta-
physisches Princip eingreift, und doch geht ans ihm ein
Resultat hervor, das wesentlich der Zweckmässigkeit entspricht,
d. h. diejenige Beschaffenheit besitzt, welche den Organismen unter
den gegebenen Umständen die höchste Lebensfähigkeit verleiht. Die
natürliche Zuchtwahl löst das scheinbar unlösliche Problem, die
Zweckmässigkeit als Resultat zu erklären, ohne sie
dabei als Princip zu Hülfe zu nehmen. 16 )
Man konnte bisher zu der Zweckmässigkeit der organischen
Einrichtungen in der Natur eine zweifache Stellung nehmen: ent-
weder man erkannte die empirisch gegebene Thatsache dieser
Zweckmässigkeit an, oder man leugnete sie der Erfahrung zuwider.
Merkwürdigerweise hat die Philosophie meistentheils dieser empiri-
schen Thatsache Rechnung getragen, während gerade der natur-
wissenschaftliche Materialismus, der sich verpflichtet erklärte, einer
speculativen Philosophie gegenüber die Fahne der Empirie hoch-
zuhalten, sich durch Ableugnung aller Naturzweckmässigkeit bis
auf die allerneueste Zeit mit der Erfahrung in Widerspruch setzte.
Er beging aber diesen Verstoss gegen sein methodologisches Princip
deshalb, weil er fühlte, dass er sich nach Anerkennung der Natur-
zweckmässigkeit (vor dem Bekanntwerden der Darwinschen Be-
gründung der Descendenztheorie) consequenter Weise nicht der
Anerkennung eines teleologischen Princips neben dem der mechani-
schen Causalität entziehen konnte; ehe er aber auf diese Weise
sein materiales Princip preisgab, beging er lieber jenen Wider-
spruch gegen sein formales Princip, und ging mit krampfhaft
geschlossenen Augen gegen die überall sich aufdrängende Thatsache
der Zweckmässigkeit durch die Welt. Dieser naturwissenschaftliche
Materialismus, der zum letzten Mal als Reaction gegen den Hegelia-
nismus in den vierziger und fünfziger Jahren eine gewisse Blüthe
erlebte, erlitt einen totalen Umschwung durch die Darwinsche Mo-
dification der Descendenztheorie, welche ihm plötzlich die Augen
darüber aufechloss, dass gerade die Anerkennung und Verfolgung
dieser Zweckmässigkeit eines der wichtigsten Förderungs-
ini ttel für seine Aufgabe des Verständnisses der causalen
46 Te*t dflr .ernten Auflage.
Naturzusamwenbftnge werde. Vor Darwin hatte derjenige, wdoher
die Naturzweckmässigkeit anerkannte, nur die Wahl, entweder ein
teleologisches metaphysisches Princip als in der Natur wirksam zu
siqpponiren, oder sich dem für den Naturforscher völlig unbrauch-
baren und auch philosophisch längst überwundenen eubjectfoen
Idealismus (Kant, Fichte, Schopenhauer) in die Arme zu werfen,
welcher alle Erfahrung, also auch die empirisch wahrgenommene
Naturzweekmäsaigkeit, in vom Subject producirte Erscheinungen
ohne eine über das Gebiet des Subjectiven hinübergreifende Realität
verwandelt. Jetzt zum ersten Mal war die Möglichkeit gegeben,
die Zweckmässigkeit der Natur anzuerkennen, aber isie nur als
ein durch genau aufzeigbare mechanische Compensations-
processe entstandenes Resultat anzuerkennen.
Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet erhält die Leistung Darwin's
zugleich die Bedeutung einer eminenten philosophischen That,
deren Tragweite für die Umwandlung der philosophischen Systeme
sich jedenfalls in eine im Einzelnen bm jetet (Unabsehbare Perspective
ausdehnt. — Ein sehr gutes Beispiel zu den GompennationswirkuHgeii
oder Appaä&ungs- und Ausgleichsphänomenen, welche dorn dee Ent-
stehungsproecsses Unkundigen als zweckmässig erscheinen mtsaeii,
giebt Wallace (Beiträge S. 315 ff.) in der Besprechung eines Stroaa-
#ystems, lß ) welches dazu dient, das dureh Verdunstung vom
Meere aufgestiegene und als Regen auf das Festland niedergefallene
Wasser wieder zum Meere zurückzuführen, und so den Kreislauf
des Wassers zu schliessen ; ein solches Flussbett in seinen Verzwei-
gungen sieht ganz aus, als ob es für den Flnss gemaeht wäre,
während es doch durch denselben gemacht ist. „Setzen wir
voraus, dass Jemand, der von moderner Geologie absolut Nichts
weiss, sorgfältig ein grosses Flusssystem studirt. Er findet in seinem
niedriger gelegenen Theile einen tiefen breiten Ganal, der bis an
den Band gefüllt ist, dessen Wasser langsam durch eine flache
Gegend dabinfliesst und eine Menge von Sedimenten in die See
trägt. Höher hinauf verästelt er sich in eine Anzahl kleiner Canäte,
welche abwechselnd durch flache Thäler und hohe Uferhäpfce flies-
ten; manchmal findet er ein tiefes Felsenbett mit senkrechtem
Mauern, welche das Wasser durch eine Hügelkette leiten; wo der
Strom eng ist, findet er ihn tief, wo er weit ist, seicht Weiter
frinpgf fo>ipmt er in eine Berggegend mit hunderten ypn kleine»
II. Die Teleologie vom Standpunkte der Deecendenztheorie. 47
Strömen und Flüsschen, ein jeder mit geinen Seitenbächen and
Einnen, welche das Wasser aas jeder Quadratmeile Oberfläche
sammeln, und ein jeder Canal der Menge des Wassers, welches er
zu leiten hat, angepasst. Er findet, dass das Bett eines jeden
Zweiges and Stromes and Baches steiler und steiler wird, je mehr
er sich den Quellen nähert, und auf diese Weise in den Stand ge-
setzt ist, das Wasser nach heftigem Regen fortzuschaffen, und die
Steine, die Kiesel und den Sand zu entfernen, welche sonst seinen
Lauf hemmen würden. In jedem Theile dieses Systems würde sr
genaue Anpassung von Mitteln an einen Zweck finden. Er würde
sagen, 4&3S dieses Cajialsystem planmässig angelegt worden Beiß
müsse, da es seinem Zwecke so wirksam entspricht. Nur ein Geist
konnte so genau die Abschüssigkeit der Ganäle, ihre Capacität und
die Schnelligkeit ihres Laufes der Natur des Bodens und der Menge
des Regenfalles angepasst haben. Dann weiter würde er specielle
Anpassung an die Bedürfnisse des Menschen sehen, wenn breite
ruhige schiffbare Flüsse durch fruchtbare Ebenen fliessen, welche
eine grosse Bevölkerung enthalten, während die Felsenströme und
Bergwasser auf jene unfruchtbaren Gegenden begrenzt sind, welche
nur für eine kleine Bevölkerungsmenge von Schäfern und Hirten
passen. Er würde mit Ungläubigkeit auf den Geologen hören,
welcher ihm versicherte, dass Anpassung und Ausgleichung, welche
er so bewunderte, ein unvermeidliches Resultat der Thätigkeit all-
gemeiner Gesetze wären. Dass Regen und Flüsse durch #ater-
ixdische Kräfte unterstützt, das Land modellirt, die Hügel und
Thäler gebildet, die Flussbetten ausgehöhlt und die Ebenen pivellirt
hätten; — und nur nach vieler geduldiger Beobachtung und ein-
gehendeip Studium, nachdem er die unbedeutenden Veränderifijgen
tiberwacht haben würde, welche Jahr für Jahr entstehen, und nach-
dem er sie mit tausend und zehntausend multiplicirt, nachdem er
die verschiedenen Gegenden der Erde besjucht und die Veränderun-
gen, welche überall Platz greifen, und die unverkennbaren Zeichen
grösserer Veränderungen in vergangenen Reiten beobachtet h^tte
— würde er es verstehen, dass die Oberfläche der Erde, wie schön
und harmonisch sie auch aussieht, in jeder Einzelheit von der Thä-
tigkeit von Gräften abhängt, welche sich erwiesener Maassen selbst
ausgleichen."
48 Text der ersten Auflage.
„Und mehr noch, wenn er seine Untersuchungen genügend aus-
gedehnt hätte, so würde er finden, dass jeder üble Effect, welchen
er für das Resultat der Nichtausgleichung würde halten müssen,
hier oder da vorkommt, nur dass er nicht immer übel ist. Wenn
er auf ein fruchtbares Thal sieht, so würde er vielleicht sagen:
„„Wenn der Canal dieses Flusses nicht wohl adjustirt wäre, wenn
er einige wenige Meilen einen verkehrten Weg ginge, so würde
das Wasser nicht ablaufen können und all diese üppigen Thäler,
die voll von menschlichen Wesen sind, würde das Wasser ver-
wüsten." " Wohl, es giebt Hunderte solcher Fälle. Jeder See ist
ein Thal, „vom Wasser verwüstet", und in einigen Fällen (wie
beim todteil Meer) ist es ein positives Uebel, ein Fleck in der
Harmonie und Anpassung der Oberfläche der Erde. Und wieder
könnte er sagen: „„Wenn hier kein Regen fallt und die Wolken
über uns fort in eine andere Gegend ziehen, so würde dieses grüne
und hoch cultivirte Land eine Wüste werden." " Und es giebt solche
Wüsten, über einen grossen Theil der Erde hin, welche fruchtbarer
Regen in schöne Wohnplätze für den Menschen verwandeln würde.
Oder er könnte einen grossen schiffbaren Fluss beobachten, und
reflectiren, wie leicht Felsen oder ein steileres Bett an einer Stelle
ihn für den Menschen nutzlos machen würde; — und ein wenig
Forschung würde ihm zeigen, dass Hunderte von Flüssen in jedem
Theile der Erde existiren, welche auf diese Weise für die Schifffahrt
nutzlos geworden sind."
„Genau dasselbe findet in der organischen Natur statt, wir
sehen einen wunderbaren Fall von Ausgleichung, eine ungewöhnliche
Entwickelung eines Organes, aber wir tibergehen jene Hun-
derte von Fällen, in denen diese Ausgleichung und Entwicke-
lung nicht vor sich ging. Ohne Zweifel greift, wenn eine
Ausgleichung nicht statt hat, eine andere Platz, weil kein Orga-
nismus zu existiren fortfahren kann, der nicht seiner Umgebung
angepasst ist; und stetige Abänderungen mit unbegrenzter Kraft
der Vervielfältigung geben in den meisten Fällen die Mittel zur
Selbstausgleichung."
Wenn man erst auf diese Gompensationsphänomene achtet, so
kann man sie allerwärts beobachten, und sie sind sogar in einfache-
ren Fällen der mathematischen Behandlung nicht unzugänglich.
Denken wir uns z. B. auf einem gemeinsamen, die Erschütterungen
n. Die Teleologie vontf Standpunkte der Descendenztheorie. 49
fortpflanaenden Fundament eitö gröfese Anzahl Uhren von ganz ver-
schiedener Pendeltänge im Gange, so wird jede 1 der Uhren jede
andere in ihrem Peüdelgange beeinflussen, theils in beschleunigen-
dem, theils in verlangsamendem Sinne, je naehdem die Herstellung
möglichster Goineidenz deä Ganges auf die eitle oder auf die andere
Weise leichter erreichbar ist. Durch diese Einflüsse werden zunächst
die zufälligen Verschiedenheiten in der zeitlichen Lage der An-
fangspunkte der Undulationen beseitigt und in der Weise conform
gemacht, dass von Zeit zu Zeit eine Periode wiederkehren muss,
wo alle Pendel gleichzeitig einen Ausschlag machen. {Zweitens
aber bewirken diese Einflüsse dauernde Anpassungen in der
Undulatiönsgeschvnndigkeit der verschiedenen Pendel in dem Sinne,
dass die genannte Periode möglichst verkürzt wird, also der
gemeinsame Ausschlag aller und eine daz wischenfeilende möglichst
häufige Goineidenz möglichst vieler Pendel möglichst oft wiederkehrt.
So entsteht das Compensationsphänomen einer rhythmisch geglieder-
ten Periode, deren eigentümliche Architektonik sich auch empirisch
dem Ohr vernehmlich macht, so dass man fast an eine verborgene
Absicht in der Regulirung glauben könnte, wenn nicht die mathe-
matische Behandlung dieses mechanischen Problems die strenge
Notwendigkeit des Resultates ausser Frage stellte. Etwas Aehnliches
wie bei den Uhren in diesem Beispiel findet in der kosmischen
Mechanik in der gegenseitigen Beeinflussung der um die Sonne
laufenden Planeten statt, welche in Folge der elliptischen Beschaffen-
heit ihrer Bahnen ebenfalls wirkliche Oscillationen beschreiben ; nur
ißt das Resultat hier ein umgekehrtes, d. h. es wird jede Bildung
einer Goincidenzperiode auf die Dauer unmöglich, weil, wenn solche
stattfände, die Störungen bei jeder Wiederkehr beträchtlicher würden
und die Selbstständigkeit der betreffenden Planeten vernichten
würden. Bedenkt man nun, dass das Planetensystem durch all-
mähliche Zusammenziehung der Sonne unter Ablösung von Ring-
nebeln entstanden ist, so erhellt sofort, dass bei diesem überaus
langen Process nur solche Planeten als selbstständige Re-
sidua resultiren konnten, welche vor einer solchen Auf-
hebung ihrer Selbstständigkeit durch wiederkehrende Periodicität
der Störungen sicher sind, d. h. deren Bahnen in irrationalem
Verhältnis zu einander stehen. Betrachtet man diese Thatsache
und die Garantie des Bestehens, welche sie dem Planetensystem
E. t. Hart mann, Das Unfcewuaste» 2. Aufl. 4
50 Text der ersten Auflage.
gewährt, losgelöst von dem Entstehnngsprocess desselben, ans
welchem sie als Compensationsphänomen resultirte, so kann man
kaum umhin, eine unergründliche Weisheit in dieser Anordnung zu
bewundern.
Ist es schon in der unorganischen Natur oft schwierig genug,
die Compensationswirkungen im Naturhaushalt und das universale
Anpassungsgleichgewicht, welches derselbe repräsentirt, zu verstehen,
so ist es kein Wunder, dass wir mit unserm Verständniss der ana-
logen Erscheinungen auf dem unendlich viel complicirteren Gebiete
der organischen Natur noch bei den ersten schüchternen Versuchen
des Eindringens stehen. So weit aber sind wir durch Darwin in
der That schon geführt worden, dass die Richtung, in welcher
einzig und allein weitere Aufschlüsse zu erwarten sind, keinem
naturwissenschaftlich veranlagten Kopfe mehr zweifelhaft sein kann.
ffl.
Die Entwickelung vom Standpunkte der
Descendenztheorie.
— »^»w» » ^
Schopenhauer sucht eismal zu beweisen, dass diese Welt die
schlechteste von allen möglichen (d. h. existenzfähigen) sei („Welt
als Wille nnd Vorst." 3. Aufl. Bd. II. S. 667). Er sagt daselbst:
„Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein musste, um mit
genauer Noth bestehen zu können: wäre sie noch ein klein wenig
schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist
eine schlechtere, da sie nicht bestehen könnte, gar nicht möglich,
sie selbst also unter den möglichen die schlechteste." Die Ph. d. U.
nennt dies (S. 638)*) „ein offenbares Sophisma," und wir können
ihr nur darin beistimmen. Das „Bestehen" nämlich ist hier zu-
nächst doppelsinnig genommen ; denn wenn „diese Welt" nicht mehr
bestehen kann, so hört sie darum nicht auf, als Welt zu bestehen,
sondern nur als diese zu bestehen, d. h. sie wird insoweit eine
andere, dass ein neues Anpassungsgleichgewicht eintritt, welches
in seiner Art weder schlechter noch besser, sondern ebenso gut ist
ab das frühere. Dass es nun aber in der Natur dieser Welt liegt,
in jedem Moment eine andere zu werden, und dass der Begriff
„dieser Welt" die gesammte Reihenfolge der in ihr naturgemäss
zur Entfaltung kommenden Zustände und Veränderungen in sich
befasst, ist dabei übersehen, sonst könnten nicht auf S. 668 die
untergegangenen Faunen und Floren früherer geologischer Perioden
*) 7. Aufl. IL 295.
4*
52 Text der ersten Auflage.
als Welten bezeichnet werden, „die noch etwas schlechter waren,
als die schlechteste unter den möglichen." Wenn wirklich frühere
Welten schlechter waren, als die jetzige, so kann diese letztere nicht
die schlechteste aller möglichen sein; andererseits da auch die
gegenwätige nicht so bleiben kann, wie sie ist, sondern ebenso dem
Untergang verfallen ist wie die paläozoischen Fannen, masste auch
sie schlechter sein als die schlechteste aller möglichen, so dass das
Argument jedenfalls zu viel beweisen würde. Wenn die dem
jetzigen Weltzustande eventuell bevorstehende Veränderung zum
Schlechteren führte, so wäre damit eben der Gegenbeweis gegen
die Thejäis geführt; wenn sie za einem Zustand führen würde, der
in seiner Art gleich gut ist, so wäre Veränderung oder das Stationär-
bleiben indifferent für die Beurtheilung des Werthes der gegen-
wärtigen Welt; wäre endlich die Veränderung ein Uebergang zum
Besseren, so müsste ihr Werth als Durchgangsstufe mit in Rechnung
gestellt, werden. Auf alle Fälle ist Schopenhauers ÄTgumentations-
weise sophistisch, und haltlos. Aber wohlgemerkt gilt dies von ihr
nur in Bezug auf die Welt als Ganzes, nicht aber von. ihrer An-
wendung auf das Einzelne namentlich in Verbindung mit dem schon
von Schopenhauer daselbst angedeuteten allgemeinen Kampf um's
Dasein und dem unglaublich grossen Ueberschuss der Keime (S; 668).
So verstanden und zugleich: auf die Existenzfrage in» einem ganz
bestimmten Zeitpunkt und unter ganz bestimmten Verhältnissen be-
zogen, ist es allerdings richtig, däss. das. Anpassungsgleichgewicht
für jede Species eben nicht mehr als das Minimum der Existenz-
fähigkeit bedeutet, dessen- es bedarf, um nicht zu verkümmern
und auszusterben; aber es ist diese Bemerkung trotzdem auch so
noch einseitig und dadurch irreleitend; denn es ist die Kehr-
seite der Medaille vergessen, dass jedes Anpassungsgleicbgewioht
etwas in seiner Art Vollkommenes ist, welches jeder Speoies
alles zuweist, dessen sie zum Leben in den ihr gegebenen Ver-
hältnissen bedarf, — dass ein Mehr, in dieser Richtung das Be-
stehen dieser augenblicklich vorhandenen Welt ganz ebenso,
stören würde wie ein Weniger, da jedes Plus irgend einer Species
an Lebensfähigkeit ein Ue bergreifen derselben über ihr bis-
heriges Gebiet und die Zurttokdrängung oder; Vernichtung; anderer
Arten von Lebewesen und damit zugleich eine Umwandlung des
bestehenden Weltzustandes in einen andern zur Folge habe» würde.
m. Die Entwickelang Vota Standpunkte 'der Descendenztheorie» 53
Weil jede im Anpassungsgleichgewicht befindliche Art fiir ihre ge-
gebenen Lebensbedingungen vollkommen ausgerüstet ist, darum
würde ihr jedes Plus werthlos und nutzlos sein für diese
Lebensverhältnisse; und würde sie sofort zum Uebergreifen über ihre
Sphäre anspornen und zum Hinaustragen der Goncurrenz um's Da-
sein in andere Lebensverhältnisse zwingen, die ihr bisher, ver-
schlossen waren und längst von anderen Arten occupirt Bind; des-
halb können wir aber auch mit demselben Recht, wie wir oben die
Gaben und Einrichtungen einer Species als das Minimum ihrer
Existenzfähigkeit bezeichneten, sie nun auch ab das Maximum
bezeichnen, bei Ueberschreitung dessen die Art nothgedrungen die
ihr in diesem Weltzustande oder in dem vorliegenden Anpassungs-
gleichgewicht des Gesammtnaturhaushalts gezogenen Grenzen der
Lebensverhältnisse überschreitet und diese Welt zu einer anderen
macht.
In Wirklichkeit nun ändert sich, wie schon bemerkt, der Welt-
zustand beständig, und keine solche Aenderung ist denkbar, bei
welcher nicht, was auf der einen Seite eine oder mehrere Species
gewinnen, auf der andern Seite eine oder mehrere Species einbüssen.
Dieser Satz gilt für die organische Natur auf Erden wenigstens für
die unseren Blicken überschaubare Zeit eines ungefähren Sichgleich-
bleibens der Bewohnbarkeit der Erde ; er dürfte wohl, obgleich sich
dies vorläufig nicht inductiv erweisen lässt, auch für die Welt als
für ein Ganzes gelten, in welchem die gesammte unorganische Natur
and die Organisationen sämmtlicher hierzu geeigneter Weltkörper
in Eins gefasst sind. Allerdings gilt dieser Satz nicht genau, so-
bald wir die Geschichte der Erde von dem ersten Moment an, wo
Organisation möglich wurde, bis zu dem Augenblick, wo keine mehr
möglich sein wird, im Zusammenhange betrachten. Denken wir uns
die Zeit dieses Abkühlungsprocesses von dem Unbewohnbarkeits-
punkt vor Hitze bis zum Unbewohnbarkeitspünkt vor starrer Eälte
behufs graphischer Versinnbildlichung auf die Abscissenaxe auf-
getragen, auf dieser alsdann in gleichen Zeitabständen Ordinaten
errichtet, deren Höhe nach der Günstigkeit des betreffenden Zeit-
punktes für das Bewohntwerden durch organische Wesen bemessen
ist, und die oberen Endpunkte aller Ordinaten durch eine Gurve
verbunden, so repräsentirt diese Curve den quantitativen Verlauf
der Bewohnbarkeit der Erde während der Dauer derselben; sie muss
54 Text der ersten Auflage.
einen aufsteigenden und einen absteigenden Ast zeigen, die durch
ein ziemlich breites Stück in der Nähe des Maximums verbunden
sind. Diese Curve repräsentirt natürlich nur die Aenderung des
durchschnittlichen Bewohnbarkeitsmaasses der Erdoberfläche,
während die Bewohnbarkeit ihrer verschiedenen Stellen jederzeit
sehr verschieden ist, und theils aus kosmischen, theils aus tellurischen
Ursachen an jedem Punkte fortwährend sehr bedeutenden Schwan-
kungen unterworfen ist. In jeder dieser Schwankungen erfüllt sich
das Gesetz, dass, was eine Art verliert, die andre gewinnt, aber
nur mit der näheren Bestimmung, dass ein Wachsen oder Abnehmen
der durchschnittlichen Bewohnbarkeit der Erde zugleich auch dem
Gedeihen und der Organisation im Ganzen oder im Durchschnitt
zu Gute kommt, beziehungsweise zum Nachtheil gereicht Ver-
zeichnen wir in der graphischen Darstellung eine zweite Curve,
welche die Veränderung der durschnittlichen Höhe der Organisation
auf Erden repräsentirt, so muss diese Curve der ersteren ähnlich
sein, der Zeit nach aber etwas später liegen, da eine Veränderung
der Verhältnisse der Erdoberfläche eine gewisse Zeit braucht, um
ihren Einfluss in Herstellung eines neuen Anpassungsgleichgewichts
auszuwirken; namentlich wird die Verschiebung der zweiten Curve
gegen die erste in der Nähe des Maximums ziemlich be-
trächtlich sein, weil dort die grösste Widerstandskraft der
einmal entstandenen Organisation gegen Veränderungen der Um-
gebung vorliegt.
Die Veränderungen, welche jede locale Schwankung in der
Organisation der betreffenden Localität erzeugt, produciren die ver-
schiedenartigsten Formen neuer Anpassungsversuche, und im auf-
steigenden Ast der Curve werden solche neue Formen bei dem
allgemeinen Günstigerwerden der Bewohnbarkeitsverhältnisse meist
Gelegenheit finden, sich geographisch über ihren Entstehungsbezirk
hinaus auszubreiten, und wie viele von ihnen auch unterliegen und
bald wieder zu Grunde gehen, gerade die kräftigsten und lebens-
fähigsten der neuen Formen werden ganze Erdtheile für sich er-
obern. Dies ist die Entstehungsgeschichte aller gegenwärtig weit-
verbreiteten Arten, die stets auf einen engen Bezirk als auf ihr
Ausbreitungscentrum und ihre Entstehungsheimath hinweisen. Die
immer erneute Wiederholung dieses localen Höherbildungsprocesses
mit nachfolgender geographischer Ausbreitung und siegreicher Ver-
III. Die Entwickelang vom Standpunkte der Descendenztheorie. 55
drängung anderwärts bereits angesiedelter minder concurrenzfähiger
Arten ist es, wodurch die allmähliche Gesammthöherbildung der
Organisation sich vollzogen hat und noch beständig vollzieht, na-
mentlich in dem Höherbildungsprocess der Menschheit in sich durch
mmer von Neuem wiederholte Aasrottang der niederen Bacen durch
die von ihrem localen Entstehungsbezirk sich ausbreitenden höheren
Sacen und Stämme, — ein Process, den die Phil. d. U. ganz richtig
(ohne teleologische Eingriffe) zeichnet (S. 341—343 und 569).*)
Wenn die periodische Aenderung der Verhältnisse an einer be-
stimmten Stelle mit häufiger Wiederkehr schon früher stattgehabter
Zustände im Allgemeinen einen Kreislauf von Formen erzeugen
muss (z. B. periodische Wiederkehr von Eiszeiten), so wird doch
dieser Kreislauf niemals ein vollständig und genau in sich zurück-
kehrender sein, sondern einer Spirale gleichen, welche eine auf-
steigende Richtung zeigt, so lange die Gesammtversältnisse der
Erde noch im Günstigwerden begriffen sind, im umgekehrten Fall
aber absteigende Richtung besitzen muss. Dass das Maximum
günstiger Bedingungen für die Bewohnbarkeit der Erde schon jetzt
erreicht sei, ist nicht wahrscheinlich; wenn wir bedenken, dass von
den Menschenracen die höchsten Culturracen stets aus gemässigten
Elimaten hervorgegangen sind, und dass der Grundstock des irdi-
schen Festlandes noch ein mehr tropisches Klima besitzt, so dürfen
wir von einer weiteren Abkühlung der Erde erwarten, dass noch
grössere Landstriche als bisher einladend für die menschlichen
Culturracen werden dürften. Jedenfalls, mag nun die Bewohn-
barkeitscurve ihr Maximum schon erreicht haben oder nicht, liegt
doch das Maximum der Organisationscurve noch vor uns in
der Zukunft. Wir befinden uns mit anderen Worten noch im
aufsteigenden Ast der die Organisationshöhe bezeichnenden Curve;
nicht nur zeigt uns ein Blick nach rückwärts ein beständiges Höher-
bilden von der Urzelle bis zur jetzigen Organisation, sondern auch
der Blick nach vorwärts eröffnet uns noch eine weite Perspective
auf die Höherbildung derjenigen Species, welche den Gipfel der ir-
dischen Organisation repräsentirt und ihre allen anderen Formen
überlegene Lebensfähigkeit und Concurrenzkraft dadurch bewiesen
hat, dass sie entscheidender als irgend eine andere in das frühere
•) 7. Aufl. I. 381—333 u. IL 226—227.
56 Text 4er eisten Auflage.
Anpaa&ungsgleichgewicht eingegriffen, ja man kann sagen, in dem-
selben eine förmliche Revolution hervorgerufen bat (durch Ausrodung
der Wälder und Cultivirung des Bodens mit ihren Nahrungspilanzen,
durch Vertilgung der grossen Raubthiere und Ersetzung der Übrigen
grösseren Thiere durch ihr Zuchtvieh u. s. w. u s. w.)-
So sehen wir uns, mögen wir den Blick nach rückwärts od«
vorwärts wenden, innerhalb einer aufsteigenden Entwicke-
lungsreihe stehen, deren Voraussetzung die kosmische Ent-
wicklung unseres Planetensystems und die geologische Ent-
wicklung des sieh allmählich abkühlenden Erdkörpers ist, deren
ßlüthe aber die anthropologische Entwiekebwg ist, die Ent-
wiekelungsgeschichte der Menschheit, welche man in ihrem durch Be-
cumente aufgeschlossenen Theil Geschichte kurzweg nennt. Die
Ph. d. U. hat diese universelle Bedeutung der Entwiekeluog auf
S. 714 — 716*) nachdrücklich hervorgehoben, und die zweite der
schon oben erwähnten „Gesammelten philosophischen Abhandlungen
zur Ph. d. U."**) beschäftigt sich mit dem Nachweis, dass dts
bleibende G-rundprincip der Hegerschen Philosophie, an welchem
ihre einzelnen Theile und Behauptungen gemessen werden müssten
und von welchem eine Umbildung derselben ausgehen müsse, eben
der Begriff der Entwickelung sei. Sehen ohen hatten wir erwähnt,
dass gerade die Descendenztheprie die Forderung der Entwickelung
besser als irgend eine andre Anschauungsweise des organischen
Lebens auf Erden realisire. Wenn es die Autgabe der Philosophie
ist, die Stellung des Einzelnen in seinem Volke, des Volkes in der
Menschheit, der Menschheit in der Geschichte der Erde und ihres
organischen Lebens und so endlich die Stellung des Individuums im
Weltganzen zum klaren Verständniss zu bringen, wenn alle diese
Beziehungen sich so ergänzen und bedingen, dass das Verständniss
des Ferneren ohne das des Näheren unmöglich ist, so wird man
anzuerkennen haben, dass jede Philosophie zur Lösung ihrer Auf-
gabe unfähig ist, welche das Wesen der Entwickelung in der
Geschieht^ der Menschheit und der Organisation auf der Erde ver-
kennt Hegel hat das grosse Verdienst, die Menschheitsgeschichte
klarer als irgend einer seiner Vorgänger alfif Entwickelung erkannt
*) 7. Aufl. II. 368-370.
**) Ges. Stud. u. Aufs. D. III „Hegels Banlogfemus."
HL Die Entwickelung vom Standpunkte der Descendenztheorie. 57
zu haben; aber er leugnete die Entwickelang in der Natur, indem
er ihr die Geschichte absprach. Die Ph. d. U. verbessert diesen
Fehler, indem sie auf Grund der von ihr aeceptirten Descendenz-
theorie die Menschheitsentwiekelung nur als 'Glied — wenn auch
als höchstes Glied — in der Entwickelungsgesebiehte der Organi-
sation auf der Erde auffasst. Dieser Standpunkt steht auf der an-
dern Seite unvergleichlich viel höher als der gescbichtslose Process
bei Schopenhauer, der wegen der Unrealität der Zeit überhaupt nur
den subjectiven Schein einer Bewegung giebt.
Dass der Begriff der Entwicklung an dem des Zweckes
hängt, ist richtig, weil das Niedere und Höhere, zwischen welchen
sich das Aufsteigen bewegen seil, nur durch die Zweckmässigkeit
als solche bestimmt werden können. Wir haben aber oben gesehen,
wie anders der Begriff des Zweekes von der Descendenztheorie ge-
fasst wird, als von einer teleologischen Metaphysik, und hieraus er-
geben sich wiederum verschiedene Consequenzen. — „Fehlt der
objeetive Zweck, so ist der Naturprocess nur gleichgültige Ver-
änderung, zweckloser Uebergang vom Einen zum Andern; giebt es
objectiv nur Gleichberechtigtes und Gleichgültiges, das erst vom
subjectiv-mensehlichen Standpunkt aus als Höheres und
Niederes erseheint, so giebt es auch keine objeetive Ent Wickelung 1 '
(Ges. phil. Abhandl. S. 27).*) Von dem, was bloss vom subjeetiv
menschlichen Standpunkt als Naturzweckmässigkeit erscheint, ist
selbstverständlich durchaus abzusehen ; nur das objectiv Zweckmässige
kann objeetive Entwicklung ermöglichen. Aber die Descendenz-
theorie erkennt ja in der That die Zweckmässigkeit der Organismen
als eine objeetive Thatsaehe an, nur dass sie dieselbe als unbeab-
sichtigtes mechanisches Besultat betrachtet. Fragt man: wofür
Und die Organismen zweckmässig, so ist die Antwort: für das
Dasein, für die Existenz, und da ihr Dasein ein lebendiges ist,
ftr das L e b e n. Dieser Zweck ist aber kein metaphysisch-teleologiseh
gesetzter, sondern er ist nur die vorgefundene Voraussetzung, auf
welcher die Concurrenz, der Kampf um's Dasein mit unwillkürlicher
Naturnotwendigkeit entbrennen musste. Das Dasein ist das Funda-
ment för das entstandene Anpassungsgleichgewicht; das was da ist,
kann nichts anderem angepasst sein als dem Dasein. Nur weil das
*) Ges. Slud. u. Aufs. S. 605—606.
58 Text der ersten Auflage.
Dasein der letzte Grund der Concurrenz des einzelnen Daseienden
ist, stellt es sich hintennach auch wieder als der Zweck dar, wel-
chem die Anpassungsphänomene des ans dieser Concurrenz als
Sieger Besnltirenden dienen. In diesem Sinne bat also die that-
sächliche Zweckmässigkeit, welche von der Descendenztheorie zu-
gestanden wird, nur eine relative Bedeutung, nämlich relativ oder
rückbezüglich auf das Dasein, aus der Concurrenz um welches sie
mechanisch hervorgegangen. Die teleologische Metaphysik hingegen,
welche noch nicht aus der Descendenztheorie gelernt hat, dass und
wie es Zweckmässigkeit als Besultat geben kann ohne Zweck als
wirkendes Prinzip, und welche deshalb bei jeder vorliegenden Zweck-
mässigkeit sofort einen principiellen idealen Zweck als zu Grunde
liegend voraussetzt, muss nun nothgedrungen nach dem Zweck des
Zweckes fragen, also immer von einem Zweck auf den andern
weiter geführt werden, und kann sich nur bei einem absoluten Zweck
beruhigen, nicht wie die Descendenztheorie bei dem relativen Bück-
gang bis auf den Grund, welcher die Entstehung des zweckmässigen
Besultats zur Folge hatte, indem er sie sich (dem Dasein) an-
passte. 17 ) — Messen wir beide Auffassungen an der Wirklichkeit,
so zeigt sich die erstere als durchaus mit dem Gegebenen überein-
stimmend, während die letztere wesentliche Bedenken wachruft. Da
nämlich unter gegebenen Daseins-Bedingungen sehr oft die möglichste
Einfachheit der Organisation, welche die geringste Gefahr läuft, am
zweckmässigsten ist, so zeigt sich nicht selten die zweckmässige
Anpassung an die Lebensbedingungen in der Bückbildung einer
bereits mit reicher Specialisirung der Organe versehenen Art in
eine unvollkommenere Gestalt (z. B. bei gewissen Schmarotzer-
krebsen,: wo nur noch das Embryo die Abkunft der Art verräth).
Dieser Bückbildungs- oder Verkümmerungsprocess gewisser Zweige
des grossen Stammbaums ist das gerade Gegentheil dessen,
was der Mensch, der sich als Ziel der Entwickelungsreihe ansieht,
unter Entwickelung versteht, nämlich fortschreitende Differenzirung
und Specialisirung der Organe behufs vervollkommneter Arbeits-
theilung im Organismus. In Wahrheit aber zeigt sich, dass diese
nur für die Mehrzahl der Fälle das Höhere ist, wo sie der Con-
currenz um's Dasein besser dient, dass unter Umständen aber die
einfachere Organisation dem Zweck des Daseins besser dient. ' 8 )
Wie solche Bückbildungsprocesse aus der Entwickelungsreihe, die
III. Die Entwickelung vom Standpunkte der Descendenztheorie. 59
zum Menschen führt 9 herausfallen, ebenso streng genommen
auch schon alle Seitenzweige des Stammbaums, welche weder
zu der directen Vorfahrenlinie des Menschen gehören, noch auch
(wie z. B. die Pflanzenwelt), zur Herstellung des für den Menschen
erforderlichen Zustandes der Erdoberfläche mit ihrem Naturhaushalt
unerlässlich noth wendig sind. 19 ) Es erscheint vom Standpunkt der
natürlichen Descendenztheorie nicht zweifelhaft, dass die Knochen-
fische eine höhere Entwicklungsstufe der Knorpelfische repräsen-
tiren, weil sie ihre überlegene Concurrenzfähigkeit im Kampf um's
Dasein thatsächlich durch das Wachsthum ihrer relativen Anzahl
mit jeder geologischen Periode documentirt haben. Vom Stand-
punkt der teleologischen Metaphysik aber ist nicht ersichtlich,
warum es nicht bei den Knorpelfischen sein Bewenden hatte, da doch
nur aus diesen die Amphibien hervorgingen, und die Knochenfische
ganz ausserhalb der zum Menschen führenden Entwickelungsreihe
liegen. *°)
Nicht geringer als solche thatsächlichen Bedenken sind die
Schwierigkeiten, in welche die teleologische Metaphysik sich da-
durch verwickelt, dass sie bei jedem Zweck nach dem Zweck des
Zweckes zu fragen genöthigt ist, und somit die Entwickelung nur
als eine dem absoluten Zweck dienende und erst bei diesem ihr
Ende findende anzusehen vermag, ohne doch diesen Endzweck in
befriedigender Weise positiv bestimmen zu können. Während Hegel
sich gegen die hierin liegenden Schwierigkeiten durch nicht zu Ende
Denken und dialectische Unklarheit zu schützen wusste (vgl. „Ges.
ph. Abhandl." S. 50—55),*) zieht die Ph. d. Unb. mit Schärfe die
letzten Gonsequenzen des teleologischen Princips. Da nur ein, jeder
Freiheit von den instinctiven Illusionen entbehrendes Denken das
Dasein als absoluten Selbstzweck fassen kann, da im Gegentheil die
Ph. d. Unb. das Dasein als solches als etwas von Grund aus Un-
vernünftiges und zwar nicht nur als etwas Zweckloses, sondern als
etwas Zweckwidriges (Antilogisches), weil sich selbst zur Qual Ge-
reichendes, darstellt, so kann ihr als der letzte Zweck, dem das So-
und nicht anders Sein des Daseienden dient, nur die Negation
des Daseins als solchen gelten; oder mit anderen Worten das End-
ziel der absolut gefassten Entwickelung kann nur die Aufhebung
*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 029—634.
-60 Test der ersten Auflage.
de« Proeesses in der ITniversahrillensveniemung sein, mft welcher
die Welt erlöschen mttsste. Es ist der Ph. d. Unb. nicht gelangen,
es 'wahrscheinlich zu machen, SL ) dass die Summe der Bedingungen,
yon welchen die Möglichkeit einer solchen Univerealwillensverneinung
abhängen soll, innerhalb der Menschheit auf Erden eintreten werde,
während andererseits die von ihr gezogenen metaphysischen Con-
seqnenzen zugleich mit den metaphysischen Voraussetzungen der
durch die Descendenztheorie wohl unheilbar geschädigten Teleologie
hinfällig werden, ") Wir werden daher für unsere weiteren Be-
trachtungen davon absehen dürfen, dass der zu erwartende weitere
Gang der kosmischen und] geologischen Processe durch eine von
der Menschheit in Scene gesetzte Weltvernichtung vorzeitig ab-
geschnitten werde ; 28 ) wir werden vielmehr betrachten, wie sich der
Begriff der Entwicklung zu diesem weiteren Gange stellen muss.
80 gewiss die Erde einst ein integrirender Theil der über das
ganze Planetensystem als Nebelfleck ausgedehnten Sonne war, so
gewiss sie später als glühender Tropfen mit gasiger Hülle die Sonne
umkreiste, so gewiss wird sie einst vollständig erstarren, wie der
Mond (wenigstens auf der uns zugekehrten Seite) es schon jetzt ist
Auf wie viele Millionen Jahre auch die Wärme der Sonne, welche
sich vorläufig durch fortschreitende Gontraction derselben beständig
ersetzt, noch vorhalten möge, — unfehlbar wird in einer Zeit, welche
in der Oeeonomie der kosmischen Processe als kurze Spanne zu
bezeichnen ist, auch die Sonne so weit zusammengezogen und ab-
gekühlt sein, dass ihre Strahlen auf den erstarrten Planeten kein
neues Leben mehr zu entzünden vermögen. Dieser Verlauf der
Dinge, der mit derselben Sicherheit wie das Eintreten von Mond-
und Sonnenfinsternissen (nur bis jetzt noch nicht mit bestimmten
Zeitangaben) vorhergesagt werden kann, lehrt uns, dass auch die
Monde, Planeten, Sonnen und Planetensysteme als kosmische Indi-
viduen dem Gesetz der Vergänglichkeit aller Individualexistenz
unterworfen sind, dass auch sie zwischen Entstehen und Vergehen
Jugend und Alter durchmachen, dass auch in ihrem Individualleben
dem Aufsteigen ein Niedergang, der Entwickelung zum Gipfel ein
Verfall entspricht. In Bezug auf die Geschichte der irdischen Or-
ganisation haben wir nur an die vorhin besprochenen Gurven zu
erinnern, welche die Veränderung der Bewohnbarkeit und die Ver-
änderung der Organisationshöhe graphisch repräsentiren. Es ist
III. Die Entwicklung v#m Standpunkte 4er Descendenxtheorie. 61
wahr,, dass wir nicht bestimmen kämen, wi» weit wir gegenwärtig
noch von* dein Gipfelpunkte dar Entwicklung der Menschheit ent-
fernt sind, — es ist wahr, dass die bin jetzt unabsehbare Perspective
des naturnotbwendigen Aufsteigen» es allein sein kann,- welche
unser praktisches Verhalten zum Proeess bestimmt, —
aber es ist ebenso waiir, dass theoretisch genommen diese Enfc*
Wickelung keine abaolute, sondern eine relative, ausschliess-
lich von der mehr oder minder langen Dauer und der mehr oder
minder hohen Steigerung der Günstigkeit der Bedingungen
abhängt, welche die Erde 1 ihren Bewohnern darbietet, dass diese
Entwiokekmg weder; eine bis zu gegebenem Endziel aufsteigende
gerade Linie,, noch eine sich einem {Ideal unendlich annähernde
Asymptote ist, sondern nur den aufsteigenden Ast einer Welle
repräsentirt,. welcher unentrinnbar in den absteigenden Ast des zum
Untergänge führenden Verfalle hinüberleitet. Allen relativ noch so
berechtigten Hoflhungen blühender Mensobheitsentwickelung und
winkender Weltverbesserung gegenüber hält uns das Aussterben der
grönländischen Eskimo's, welche familienweise erfroren in ihren
Schneehütten gefunden worden, gleichsam als ein beständiges
memento mari für die Menschheit das dereinstige Lebensbild der
letzten Menschen in dem alsdann wärmsten Lande der Erde vor.
Wir wissen nicht, wie viele Planeten unseres oder anderer
Planetensysteme sich, unter solchen Bedingungen befinden,, dass* sie
eine Organisation entwickeln, aber das wissen wir, dass alle die-
jenigen, welche jemals im Laufe ihres Lebens in solche Bedingungen*
gelangen, auch eine ebensolohe Gurve ihrer Organisationsgeschichte
mit aufsteigendem und absteigendem Ast zeigen müssen, gleichviel
ob das Maximum dieser Curve hoch oder niedrig liegt. Nehmen
wir an,, dass die Planeten unseres Systems, wie es neuerdings wahr-
scheinlicher geworden ist, alle oder grossentheils zu einer gewissen
Zeit ihres Lebens eine gewisse Organisation tragen, so würde sich
aus der Zusammenstellung dieser einzelnen Gurven auf gemeinsamer
die Zeit darstellender Abscissenaxe ein Gesammtbild vom or-
ganischen Leben unseres Planetensystems ergeben, und
auch hier mttsste sich irgendwo ein absolutes Maximum heraus-
stellen, wenn auch. ausserdem noch mehrere untergeordnete Maihna
gezählt wesden (dürften: — Unsere Keantniss reicht noch nicht so
weit, um/ zte sagpn^ wbsl aus .erstarrten Sonaen und ElanötcmsystonftaQ.
62 Text der ersten Auflage.
wird, und ob und auf welche Weise sie von Neuem in den Process
der kosmischen Veränderung hereingezogen werden. Im Allgemeinen
kann man aber sagen, dass die Helmholtz'sche Annahme von der
allgemeinen Welterstarrung nicht mehr dem gegenwärtigen Stand
der Wissenschaft entspricht, dass vielmehr alles mehr und mehr auf
die Vermuthung eines kosmischen Kreislaufs der Veränderung
hindrängt, in welchem die Umwandlung der Spannkraft in lebendige
Kraft (durch Verdichtung der Nebelmassen, Erzeugung und Aus-
strahlung von Wärme) schliesslich auf irgend eine Weise wieder in
Spannkraft zurückkehrt (und sei es selbst mit Hülfe einer die Un-
endlichkeit beseitigenden, in sich geschlossenen vierten Dimension
des Baumes). Wenn schon in dem gegenwärtigen Augenblick die
ungeheure Zahl von Fixsternen in unserer Weltlinse, bei denen
wohl meistens dunkle Planeten vorausgesetzt werden dürfen, und
die Zahl von fernen, mehr oder minder in Sternhaufen verdichteten
Nebelflecken, welche ebensoviel andere Weltlinsen repräsentiren, die
Möglichkeit einer zahllosen Wiederholung solcher Bedingungen bietet,
von denen die Entwickelung planetarischer Organisation abhängt,
so wird bei Berücksichtigung der mit der Zeit von allen kosmischen
Individualitäten durchlaufenen verschiedenen Abkühlungsphasen die
Wahrscheinlichkeit noch sehr viel grösser, dass die Organisation
auf Erden nur einer unter zahllosen ähnlichen Fällen
ist, 84 ) bei denen die Bedingungen ebensowohl günstiger als
ungünstiger, also die Organisationsstufe der hochstehenden Organis-
men ebenso leicht eine höhere als eine niedrigere wie die
des Menschen sein kann. Gerade die Ungeheuern Perspectiven der
modernen Astronomie sind so recht geeignet, die Erde nicht bloss
ihrer Quantität nach als ein Atom in der unermesslichen Aus-
dehnung der kosmischen Massen erscheinen zu lassen, sondern auch
im Hinblick auf die spectralanalytisch erwiesene durchschnittliche
Gleichartigkeit aller kosmischen Materie an den Gedanken zu ge-
wöhnen, dass sie selbst qualitativ mit der von ihr getragenen Orga-
nisation nur ein Exemplar einer zahlreichen Species
repräsentirt. 25 ) Der falsche geocentrische Standpunkt der christ-
lichen Weltanschauung ist es wesentlich, der durch seine Eintrich-
terung von Jugend auf diese Einsicht erschwert; wir müssen an-
erkennen, dass der Buddhismus in seinen zahllosen Welten einer
viel gesunderen und erhabeneren Anschauung huldigte, ebenso wie
m. Die Entwickelang vom Standpunkte der Descendenztbeorie. 63
seine Ansicht über die periodische naturgesetzliche Auflösung und
Wiederentstehung dieser Welten von dem neueren wissenschaftlichen
Standpunkt mehr und mehr bestätigt wird; was ihm fehlte, war
nur die Einsicht, dass diese Welten nicht neben der Erdscheibe
jenseits des Oceans, sondern am Sternenhimmel zu suchen seien.
Die Phil. d. Unb. neigt in ihrem Anschluss an die moderne
Naturwissenschaft ursprünglich keineswegs zu einer geocentrischen
Anschauungsweise; aber sie sieht sich am Schlüsse unwillkürlich
und fast mit Widerstreben dadurch auf die Engherzigkeit dieses
Standpunktes zurückgeworfen, dass sie durch ihre teleologische
Metaphysik zur Aufstellung eines absoluten Zwecks gezwungen wird,
der draussen in der mechanischen Aeusserlichkeit des Kosmos, wie
auch das blödeste Auge sieht, schlechterdings nicht zu finden ist,
nnd deshalb dort gesucht werden muss, wo die längste Entwicke-
hmgsreihe nach rückwärts sich mit der grössten Entwickelungs-
perspective nach vorwärts verbindet: in der Menschheit, — die
zugleich das einzige uns bekannte Beispiel der Willensentscheidung
nach bewusster abstracter Reflexion darbietet. Nur am Menschen
kann eine Philosophie, welche die Negation zum absoluten Zweck
erhebt, ihre Hebel einsetzen wollen, denn nur in ihm kann sie ein
Wesen finden, das fähig ist, auf seinem Bewusstsein titanenhaft sich
gegen den unbewussten Weltwillen aufzulehnen; darum wird die
Phil, d. Unb. nothwendig anthropocentrisch, und hierdurch
wenigstens in qualitativem Sinne wiederum geocentrisch. 26 ) Reducirt
man die Bedeutung der Menschheit und der Erde auf ihr wahres
kosmisches Maass als eines atomistischen Individuums unter zahl-
losen ähnlichen, von einer nach kosmischem Maassstabe gemessen
verschwindend kurzen Gesammtlebensdauer, so reducirt sich auch
die in der Phil. d. Unb. als absolut dargestellte Entwickelung
der aufsteigenden Hälfte dieser Lebensdauer zu einer relativem
welche im kosmischen Process nicht mehr Bedeutung hat,
als etwa die aufsteigende Hälfte dieser bestimmten Meeres welle
in dem unaufhörlichen Wellenspiel des Oceans. 27 ) Nächst
der Erkenntniss ihrer thierischen Abstammung kann nichts so heil-
sam sein für den hohlen Dünkel der Menschheit von ihrer excep-
tionellen Würde als diese Erkenntniss von der wahren Bedeutung
ihrer Stellung im grossen Weltganzen und von der Relativität der
64 Text der ersten Auflage.
Entwicklung» welche ihre Geschichte in der Gesamrmtheifc des k<*-
miseben Processen repräsentirt.
Wenn wi* im vorigen Abschnitt sahen, dass die Descendenz-
theorie die 1 empirisch als Thatsache gegebene Zweckmässigkeit der
Organismen anerkennt nnd als Resultat mechanischer Compensations*
wirknngen erklärt, ahne des Zweckes als wirksamen idealen Prin-
oips zu bedürfen, so zeigte sich in diesem Abschnitt, dass die so
constatirte Zweckmässigkeit keine von einem absoluten Endeweck
oder Selbstzweck abgeleitete absolute Bedeutung habe, sondern
nur relativ oder rückbezüglich auf den einmal vorgefundenen
Boden des Daseins verstanden werden dürfe, wie sie nur aus diesem'
durch die naturnothwendig entsprungene Ccmcurrenz hervorgegangen
sei. Diese relative Bedeutung sahen wir weiter vom Begriff des
Zweckes auf den der Entwickelung sich tibertragen, welche nur
relativ in Bezug auf den Lebenslauf des kosmischen Individuums
eine solche ist, indem sie die aufsteigende Hälfte dieses Individual-
lebens repräsenthrt.
IV.
Gehirn uod Intellect.
%^/\/n/w^
Einer der Hauptgründe, welche die Popularität Schopenbauer's
bedingten, war seine unzweideutige Annäherung an die naturwissen-
schaftliche Denkweise hinsichtlich des menschlichen Intellects, dessen
Functionen er als Hirnfunctionen anerkannte. Kant und Fichte,
denen die Materie nur ein vom Subject gesetzter und mit der Vor-
stellung des Subjects auch wieder verschwindender Schein war,
standen natürlich einer solchen Auffassung fern, — ebenso fern wie
ihre Anschauung der Naturwissenschaft; Schellung und Hegel hin-
gegen bekümmerten sich nur zu wenig um Naturwissenschaft, um
sich mit derselben auseinanderzusetzen, während sie schon wesent-
lich mit ihr auf demselben Standpunkt in Bezug auf diese Fragen
stehen; denn in beider Naturphilosophie entspringt der Geist aus
der Entwicklung bewusstloser Naturkräfte, sei es, dass dieselben
als sich objectivirende und aus jeder Objectivation in höherer Sub-
jectivitätsstufe sich in sich zurücknehmende Potenzen (Schelling), sei
es, dass sie als die im dialectischen Process begriffenen auseinander-
gefallenen Momente der Idee in ihrem Anderssein (Hegel) angesehen
werden. Schelling macht dem Empirismus das ausdrückliche Zu-
geständniss, dass alles Bewusstsein einer Vorstellung durch
Affection eines Organismus bedingt sei (vgl. Ph. d. U. S. 399),*)
und der Grundgedanke der Hegel'schen Philosophie besteht darin,
*) 7. Aufl. IL 28.
E. v. Hartmann, Das Unbewusste. 2. Aufl.
66 Text der ersten Auflage.
dass der Geist als solcher, d. h. als Bewusstsein und Selbstbewusst-
sein, erst durch die Rückkehr der Idee aas ihrem Anderssein in
der Natur zu sich selber entstehe, ein Process der nach unserer
Eenntniss sich nur im thierischen, beziehungsweise menschlichen
Hirn erfüllt. Schelling wie Hegel reserviren sich aber die ver-
nünftige Vorstellung oder Idee abgesehen von der Form des Be-
wusstseins, die sie im menschlichen Geiste hat, als metaphysiches
Frincip. Auch Schopenhauer verzichtet nicht auf die platonische
Ideenwelt, welche auch ihm unzweifelhaft ein Jenseits und Prius
der durch Gehirnfunction erzeugten bewussten Vorstellung ist („Ges.
phil. Abhandle S. 61 — 65);*) aber ebensowenig wie Schelling und
Hegel die naturwissenschaftliche Auffassung mit ihren metaphysi-
schen Principien in deutliche Uebereinstimtnung zu bringen unter-
nommen haben, ebensowenig hat Schopenhauer die Discrepanz seiner
platonischen Ideenwelt mit den Producten des Gehirnintellects zu
beseitigen vermocht. Diese metaphysisch-transcendente Ideenwelt
vor und jenseits der Entstehung der bewussten Hirnvorstellung be-
ruht nun aber, insofern sie die Typen der Organismen als Urbilder
der Verwirklichung und den Plan des ganzen Weltprocesses als
einen zu bestimmtem Ziele führenden in sich enthalten und deren
Realisation durch metaphysische Eingriffe leiten soll, ganz und gar
auf der teleologischen Metaphysik. Wird diese letztere durch die
Descendenztheorie ihrer bisherigen Stützen beraubt und durch die
Theorie der natürlichen Zuchtwahl in der Hauptsache positiv ersetzt,
so fällt auch die platonische Ideenwelt der transcendenten Urbilder
als eine überlebte, überflüssig gewordene und durch anderweitige
Anschauungsweisen ersetzte Hypothese in sich zusammen. 28 ) Wo
die Typen der Organisationsformen mechanisch aus Compensations-
wirkungen resultiren, bedarf es keiner urbildlichen Idee mehr, um
ihre Entstehung mit Hülfe beständiger metaphysisch-teleologiseher
Eingriffe in den Naturprocess zu erklären. Diese „Idee" war nur
die Form, in welcher der als Princip supponirte Zweck existirend
gedacht wurde; fällt der Zweck als Princip fort, so fällt selbst-
verständlich auch die hypothetische Form seiner Existenz hinweg.
Da nach der Descendenztheorie alle Formen der Organisation allein
aus den physikalischen und chemischen Gesetzen der Materie heraus
*) „Gesammelte Studien und Aufsätze" S. 640—644.
IV. Gehirn und Ltfeüsct 67
entstanden gedacht werden, so bleibt freilieh in dieser gesetzmässig
wirkenden Beschaffenheit der Materie ein Raum für die Hypothese
idealer Anticipationen des Zukünftigen übrig (Ph. d. U. S. 484 -487), *)
aber diese würden alsdann jedenfalls gesetzmässig dnreh die jewei-
ligen Verhältnisse bestimmte, nicht teleologisch sieh selbst bestimmende
sein und würden nicht über den Wirkungsmodus der Atome hinaus-
gehen, so dass also alle zusammengesetzten Resultate aus
ihnen mechanisch hervorgehen würden, ohne von ihnen als solche
beabsichtigt zu sein. *•)
Um Mißsverständnissen vorzubeugen, bemerken wir hier von
vornherein, dass die theoretische Frage nach der metaphysichen
Bedeutung der Idee vollkommen unabhängig ist und getrennt ge-
halten werden muss von der praktischen Frage nach der ethischen,
ästhetischen und erkenntnisstheoretischen Bedeutung des Ideals.
Die letztere ist über allen Zweifel erhaben und unabhängig von
jedem metaphysischen Standpunkt; die erstere ist problematisch wie
alle Metaphysik und ist der Ausfall der schwankenden Entscheidung
ohne Einfluss auf das Leben der Menschheit und sein Streben nach
den Idealen, Von der Annahme der Idee leitet sich der theo-
retische Idealismus her, ein der manniehfaitigsten Formen
der Ausbildung, der verschiedensten Modificationen und Nuancen
fähiger Standpunkt; von der thätigen Hingabe an das von dem
Mensehengeist sich vorgesteckte Ideal leitet sich der praktische
Idealismus ab, der wahre Welteroberer, dessen Palladium von
keinem Volke ungestraft verlassen werden darf, wenn es nicht trotz
allen civilisatorischen Raffinements zu thierischer Stufe zurück-
sinken und idealere Völker über sich hinwegschreiten sehen will.
Der theoretische Idealismus gehört dem Streit der Gelehrten und
dem Gezänk der Schulen an, der praktische Idealismus ist der
wahre tiefinnerste Hebel alles Culturfortschritts, die Legitimation
der günstiger veranlagten Racen und Stämme für ihren historischen
Beruf, der sofort erlischt, sobald sie dieser ihrer Fahne untreu
werden. Wenn wir also den theoretischen Idealismus in seiner
bisherigen teleologischen Gestalt als einen durch die Descendenz-
theorie überwundenen Standpunkt betrachten müssen, so legen wir
doch entschiedene Verwahrung ein gegen etwaige unberechtigte
*) 7. Aufl. IL 116-120.
5*
gg Text der ersten Auflage.
Consequenzen in Bezug auf unsere Stellung zum praktischen
Idealismus. ••)
Nach dieser Abschweifung wollen wir dazu tibergehen, zu be-
trachten, wie die Ph. d. U. das Verhältnis der Hirnfunction zum
menschlichen Intellect auffasst.
Das Gap. II des Abschn. C beschäftigt sich mit dem Nach-
weis, dass Gehirn und Ganglien Bedingungen des thierischen Bewußt-
seins seien; es behauptet, dass alle bewusste Geistcsthätigkeit
eines materiellen Substrats bedürfe, an welchem sie entstehe, und
nur die unbewusste sich frei von einem solchen vollziehe (S. 388,
vgl. 402 — 3).*) Die letztere vollzieht sich niemals in den For-
men der Sinnlichkeit (374—375), **) wo wir also solchen begegnen,
wissen wir, dass sie aus der Mitwirkung der unmittelbar oder
mittelbar durch die Sinne erregten Hirnfunction herrührt. Das Un-
bewusste hat ferner kein Gedächtniss (379 unten);* 4 '*) es kann
keine Erfahrungen in sich aufnehmen, noch durch diese klüger
werden, als es ist (709), f) es kann sich durch Uebung und Ge-
wohnheit nicht vervollkommnen (S. 609 Z, 6— 8). ff) Wo wir also
einem Aufbewahren empfangener Eindrücke begegnen, wissen wir,
dass dasselbe nur vom Gehirn herrühren kann (379). ftt) Die so "
genannten schlummernden Gedächtnissvorstellungen sind also gar
keine Vorstellungen, weder bewusste noch unbewusste, sondern nur
latente Dispositionen des Gehirns zur leichteren Entstehung gewisser
Formen von Molecularschwingungen , denen dann gewisse Vor-
stellungen im Bewusstsein entsprechen (S. 268 X) Anm., S. 28). XX)
„Wie eine Saite auf alle Luftschwingungen, die sie treffen, wenn
sie von denselben überhaupt zum. Tönen gebracht wird, immer mit
demselben Tone resonirt, und zwar mit dem Ton a oder c, je nach-
dem sie auf a oder c gestimmt ist, so entsteht auch im Gehirn
leichter die eine oder die andere Vorstellung, je nachdem die Ver-
*)
7. Aufl. IL 18-19, vgl. 31-32
**\
7. Aufl. IL 4—5.
jtctafc\
7. Aufl. IL 9-10.
t)
7. Aufl. IL 364.
tt)
7. Aufl. IL 265. Z. 15 u. 16.
ttt)
7. Aufl. IL 9.
X)
7. Aufl. L 261 Anm.
XX)
7. Aufl. I. 28.
IV. Gehirn and Intellect. 69
theilung nnd Spannung der Hirnmolecnle so beschaffen ist, dass sie
leichter mit der einen oder mit der andern Art von Schwingungen
auf einen entsprechenden Beiz antwortet; und wie die Saite nicht
bloss auf Schwingungen, die ihren Eigenschwingungen homolog sind,
sondern auch auf solche, die entweder nur wenig von denselben
abweichen, oder aber in einem einfachen rationalen Verhältniss zu
denselben stehen, resonirt" (wenn auch mit geringerer Stärke), „so
werden auch die Schwingungen der prädisponirten Molecule einer
Hirnzelle nicht bloss durch Eine Art zugeleiteter Schwingungen
wachgerufen, sondern auch durch wenig abweichende oder in einem
einfachen Verhältniss zu der Prädisposition stehende Reize (dieser
Zusammenhang ist in den Gesetzen der Ideenassociation erkennbar).
Was bei der Saite das Stimmen ist, das ist für das Gehirn die
bleibende Veränderung, welche eine lebhafte Vorstellung nach ihrem
Verschwinden in Vertheilung und Spannung der Molecule hinter-
lasse (S. 28).*) Es ist unmöglich, dass irgend ein Sehwingungs-
process in den Moleculen eines so nachgiebigen Körpers, wie das
Gehirn ist, vor sich gehen sollte, ohne eine bleibende Veränderung
in demselben zu hinterlassen, und zwar eine Veränderung in dem
Sinne, dass künftig eine Wiederkehr gleicher Schwingungen an
derselben Stelle weniger Widerstand findet, als ein Auftreten ab-
weichender Schwingungen. Wie sehr alle stehenden Wellen danach
streben, eine veränderte Vertheilung der Materie hervorzurufen (und
zwar Verdichtung in den Knoten, Verdünnung in den Schwingungs-
maximis), zeigen schon die Chladni'schen Klangfiguren, und zeigen
in anderer Weise die chemischen Wirkungen der Licht- oder
Wärmeschwingungen, welche doch auch nur auf Umänderung der
molecularen Lagerungsverhältnisse beruhen (man denke insbesondere
an die Farbenphotographie, die von Zenker ganz richtig erklärt
worden ist).
Denkt man sich nun eine solche Aenderung der Dichtigkeits-
verhältnisse herbeigeführt, welche einer Verdichtung an den Schwin-
gungsknoten entspricht, so wird nunmehr eine solche Anordnung dahin
wirken, von aussen eintretende Schwingungen in solche umzuwandeln,
welche der bereits bestehenden Vertheilung entsprechen. In dieser
Weise wirken z. B. die Endglieder der Stäbchen und Zapfen in der
*) 7. Aufl. L 29,
70 Text der ersten Auflage.
Retina, welche alle eintretenden Liehtsohwingungen in eine oder
mehrere von drei bestimmten Wellenarten umsetzen (roth, grün,
violett), und diese weiter zum Bewusstseinsorgan leiten. Denken
wir also im Grosehirn ähnliche Prädispositionen zu bestimmten
Schwingungsformen tbeils dnrch Ererbung von den Vorfahren über-
nommen, theils durch die selbst empfangenen Eindrücke erworben, so
werden auch diese eine ähnliche Auswahl Ton der dnrch die Sinnes-
neryen oder aus anderen Hirntheilen zugeleiteten Schwingungen (Beize)
treffen; und um so leichter auf einen Beiz reagiren, je verwandter er
der eigentümlichen Schwingungsform ißt, d. h. je leichter er in
dieselbe umgewandelt werden kann. Je ferner diese Verwandtschaft
ist, desto schwächer wird die Beaction sein, und wird bald so
schwach werden, dass sie unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleibt,
wofern nicht der Beiz durch Intensität die Unzulänglichkeit seiner
qualitativen Verwandtschaft ersetzt. Bei einem gewissen Maass
qualitativer Abweichung reicht dann aber keine praktisch mögliche
Intensität aus, um die Beaction über die Schwelle zu heben. Wenn
die ererbten Prädispositionen mehr Anlagen und Fähigkeiten be-
treffen, so ist das Gedächtniss recht eigentlich unter das Gebiet der
erworbenen Hirndispositionen zu setzen, es ist die Summe aller
£indrüoke 9 die von früher gehabten lebhaften oder wiederholten
Vorstellungen hinterlassen sind. Da nun jede gegenwärtige Vor-
stellung mit ihren actuellen Hirnschwingungen zugleich auf alle
vorhandenen Prädispositionen als erregender Beiz wirkt, so wird es
wesentlich von dem Grade der Verwandtschaft abhängen, welche
der vorhandenen Prädispositionen am kräftigsten auf die bestehende
Vorstellung reagirt; diese wird alsdann, wenn die bestehende Vor-
stellung sich so weit abschwächt, um in dem beschränkten Baum
bewusster Aufmerksamkeit einer neuen Platz zu machen, sich mit
ihrem Inhalt in das Bewusstsein als Nachfolgerin jener Vorstellung
eindrängen und hierbei die Goncurrenz aller übrigen (ebenfalls, aber
nicht in gleichem Maasse verwandten) Prädispositionen siegreich
bestehen. Diese so in's Bewusstsein getretene neue Vorstellung
schwächt sich aber nach dem Gesetz der Ermüdung bald ebenfalls
ab und zieht nun ihrerseits wiederum die ihr verwandteste der vor-
handenen Prädißpositiooen als Nachfolgerin herbei Man erkennt
hierin leicht den Process der durch kein bestimmtes Interesse ge-
leiteten Ideenassociation. Dass die Gesetze derselb« auf (fem mecha-
IV. Gehirn and Intellect. 71
nischen Zusammenhang der molecularen Schwingungsprocesse im
Hirn mit den daselbst vorhandenen Prädispositionen beruhen, wird
auch tob der Ph. d. U. S. 253 *) anerkannt. Dagegen wird ebendort
der Einflnss der Stimmung und des Interesses auf die Ideenassocia-
tion als etwas ganz heterogenes dargestellt. 81 ) Dies scheint uns
nicht richtig.
Von den Stimmungen ist es hinlänglich bekannt, wie sehr
gerade sie auf constitutioneller Grundlage und auf vorübergehen-
den Zuständen des Organismus beruhen. Die wechselnden Ver-
bältnisse des Blutumlaufs und der mehr oder minder sauerstoff-
reichen Beschaffenheit des das Hirn umspülenden Blutes, die ver-
schiedenen Phasen des Verdauungsprocesses und des Geschlechts-
lebens und die von beiden abhängigen Zustände des sympathischen
Nervensystems nebst vielen anderen somatischen Bedingungen, die
uns vielleicht noch unbekannt sind, sind ebenso viele Einflüsse,
welche theils die Erregbarkeit, Impressionabilität und Beagibilität
des Gehirns im Allgemeinen steigern oder deprimiren, theils in
besonderen Parthien desselben eigentümliche Modificationen her-
vorrufen (vgl. „Philosophische Monatshefte" Bd. IV, Hft. 5, S. 389,
Z. 5 — 3 von unten,**) wo der Verfasser zugesteht, dass die Stim-
mung augenscheinlich durch vorübergehende Beschaffenheit des
Hirns verursacht wird, wie das Temperament durch dauernde).
Wie die Erregung gewisser Hirnparthien gewisse Nerven in Mit-
leidenschaft zieht, welche dann ihrerseits wieder körperliche Pro-
tease hervorrufen (z. B. Rührung das Weinen, Angst das Herz-
klopfen u. s. w.), so ist rückwärts durch körperliche Zustände, die
durch Nerven zum Gehirn geleitet werden, eine ungleichmässige
Erregung gewisser Hirnparthien bedingt, und eine solche hat dann
zur nothwendigen Folge, dass die in denselben vorhandenen Prä-
dispositionen schon bei geringerer Intensität der Reize als sonst
Reactionen liefern, die oberhalb der Schwelle liegen, und dass sie
mithin in der Concurrenz der verschiedenen Prädispositionen
(schlummernden Gedächtnissvorstellungen) um das Hineingelangen
in's Bewusstsein einen Vorrang erlangen. So werden z. B. bei ge-
*) 7. AufL L 245-246.
*) Neuk, Schop. u. Hegelianismus S. 190 Z. 6-9.
72 Text der. ersten Auflage.
schlechtlichem Erregungszustände alle Vorstellungen , welche dem
Bewusstsein vorschweben, durch die Ideenassoeiation solche Nach-
folger herbeizuziehen bemüht scheinen, welche mit dem Geschlechts-
leben in näherer Beziehung stehen; bei allgemeiner Erregung des
Gehirns durch massigen Weingenuss ergiebt sich ein Zustand von
Heiterkeit, der dem Auffinden von Scherzworten und Witzen gün-
stig ist, (Ph. d. U. S. 255)*) und der Zustand der geistigen Trun-
kenheit, der Begeisterung, des Enthusiasmus oder wie man ihn im
Gegensatz zum Zustand der Nüchternheit nennen will, ist aus ähn-
lichen Gründen der Entstehung von künstlerischen, namentlich poe-
tischen Gonceptionen günstig (247 — 248).**) — Wenn wir somit
sehen, dass der unwillkürliche Einfluss der Stimmung auf die Ideen-
association wesentlich auf somatischen Ursachen vorübergehender
Hirnzustände beruht, so werden wir bei dem flüssigen Uebergange
von hier zu den bewussten Interessen kaum etwas anderes er-
warten dürfen, als dass auch der maassgebende Einfluss bewusster
Absicht körperlich vermittelt gedacht werden muss, welche eine
Gedankenreihe zu einem vorgesetzten Ziele geflissentlich hinleitet.*')
Dieses Ziel muss, wenn auch nicht in seiner völligen Bestimmtheit,
doch wenigstens den Umrissen nach dem Bewusstsein vorschweben,
oder in bestimmter bekannter Sichtung gesucht werden; kurz es
müssen Anhaltpunkte gegeben sein, auf welche sich erfahr ungs-
mässig bei solchem Suchen eine gespannte Aufmerksamkeit richtet
Diese Aufmerksamkeit greift gleichsam über diese Anhaltpunkte
hinaus in's Blinde, wie eine augenlose Baupe in Bankenwindungen
einen neuen Stützpunkt sucht. Aber eben der Umstand, dass diese
gespannte Aufmerksamkeit nach ganz bestimmter, aber der Zeit
nach versuchsweise wechselnder Richtung hinausgesandt wird, wie
ein Eclaireur zur Becognoscirung des Gedächtnissterrains, eben die-
ser Umstand macht es erklärlich, dass von den ruhenden Hirnprä-
dispositionen nunmehr die in der Richtung dieser Aufmerksamkeit
gelegenen leichter erregt werden als alle anderen; denn die Auf-
merksamkeit ist ein in den Sinnesnerven centrifugaler, hier aber
innerhalb des Gentralorgans verbleibender und nur noch in Bezug
auf die Stelle der actuellen erregenden Vorstellung als centrifugal
*) 7. Aufl. I. 247—248.
*•) 7. Aufl. I. 238—240.
IV. Gehirn und InteUect. 73
zu bezeichnender Innervationsstrom, welcher die Wirkung hat,
die von ihm betroffenen Partien für jede Art von Reizen erreg-
barer zu machen, als sie im rahenden normalen Zustande sind
(vgl. Ph. d. ünb. S. 116, 155-156, 419—421, auch 246—247).*)
Wäre die Richtung der Aufmerksamkeit eine vollkommen dem
Ziele entsprechende, so würde auch beim ersten Versuch die ent-
sprechende Vorstellung aus ihrer Prädisposition ausgelöst werden;
sind aber die Anhaltpunkte zu unbestimmt und tastet in Folge
dessen die Aufmerksamkeit erst nach einigen falschen Richtungen,
so tauchen auch zunächst einige als unbrauchbar zu verwerfende
i Vorstellungen auf; sind endlich die Anhaltpunkte ganz ungenügend,
so dass sie nicht einmal die ungefähre Richtung vorschreiben, oder
hat die Aufmerksamkeit sich einmal in eine irrthümliche Richtung
verrannt, so ist alles Herumtasten derselben erfolglos. — Diese
Betrachtung erscheint geeignet, die Argumente der Ph. d. U. auf
S. 253 und 254**) wesentlich zu modificiren, die Erforderlichkeit
der dort behaupteten metaphysisch-teleologischen Eingriffe behufs
der Erklärung der Probleme der Ideenassociation mindestens in
Frage zu stellen und vorläufig den Glauben an die Möglichkeit
einer zureichenden Erklärung derselben aus mechanischen Ursachen
festhalten zu lassen. 88 )
Die Ph. d. U. huldigt in Bezug auf die Entstehung der be-
wussten Empfindung ebenso entschieden einer Theorie der Decen-
tralisation wie in Bezug auf die Lebensfunctionen des Organismus ;
wenn sie in letzterer Hinsicht nur die von den Coryphäen der Na-
turwissenschaft (Vircbow u. a. m.) eingeschlagene Bahn verfolgt, so
wird die Physiologie andererseits nicht umhin können, ihre Ueber-
tragung von der Aeusserlichkeit der Lebensfunctionen auf die Inner-
lichkeit bewusster Empfindung zu acceptiren, wie die Analogie der
constituirenden Theile eines höheren Organismus mit niederen indi
viduellen Organismen einerseits und ununterbrochene Stetigkeit der
absteigenden Thier-, Pflanzen- und Protisten-Reihe andrerseits es
gebieterisch fordert und die graduell abnehmende morphologische
und chemische Verwandtschaft der Gehirnzellen und Ganglienzellen
der niederen Nervencentralorgane und den lebenden Zellen des
*) 7. Aufl. I. 112, 151—152; IL 54-55, auch L 238—239.
**) 7. Aufl. L 245-246.
74 T«rt der ersten Auflag*
Körpers überhaupt es ohnehin schon wahrscheinlich macht (vgl. Ph.
<L Unb. S. 456—461;*) auch 52—56 und 58 ff.**) Wir werden
daher die Annahme zu der unserigen machen dürfen, dass Empfin-.
düng (welche als solche allemal schon Bewusstsein in sich schliesst)
nicht bloss dem grossen Gehirn des Menschen zukommt, sondern
auch allen seinen untergeordneten Nervencentralorganen (Klein-
hirn, verlängertem Mark, Bückenmark und sämmüichen Ganglien),
ja sogar jeder einzelnen protoplasmahaltigen Zelle im Körper, eben-
sogut wie wir dieselbe nicht nur den höheren, sondern auch den
niederen Thieren, ja selbst den Protisten und ebenso den proto-
plasmahaltigen Zellen in niederen und höheren Pflanzen zuerkennen.
Selbstverständlich ist der Inhalt dieses Empfindens auf den ver-
schiedenen Stufen sehr verschieden an Beichthum und Feinheit
(Ph. d.U. 424 — 426),***) und dadurch scheinbar auch dem Grade
des Bewusstseins nach. Alles Empfinden entspringt aus Schwin-
gungen, aus Bewegungen von Moleculen, welche denselben von
aussen (durch Beize) aufgenöthigt werden; die Zeitlichkeit dieser
Schwingungen setzt die bestimmte zeitliche Form der Empfindung
(308— 309), f) und die Geschwindigkeit, Intensität, Gestalt und
sonstige eigentümliche Beschaffenheit bestimmt die Qualität der
Empfindung, welche unter der Voraussetzung gleicher Schwingungs-
arten von der Stelle im Gehirn ganz unabhängig ist (299 — 301 und
302). ff) Nur insofern verschiedene Hirnstellen mit verschiedenen
Prädispositionen behaftet sind und deshalb auf gleiche Beize mit
verschiedenen Schwingungs a r t e n antworten, sind sie von Einfluss
auf die Empfindung. Ist jede protoplasmatische Zelle empfindungs-
begabt, und nur von der Verschiedenheit der Molecularschwingungen,
zu denen sie geneigt und fähig sind, die Verschiedenheit ihrer Em-
pfindungen abhängig, und gilt dieser Satz wie für alle lebenden
Zellen so insbesondere auch für alle Gehirnzellen, so muss das Ge-
hirnbewusstsein als Summationsphänomen sämmtiicher Ge-
hirnzellen aufgefasst werden, wie die Ph. d. U. unter Verwerfung
*) 7. Aufl. H. 8&-94.
**) 7. Aufl. I. 53—56 u. 58.
***) 7. Aufl. H. 58—60.
t) 7. Aufl. I. 209—800.
ff) 7. Aufl. I. 291—293 u. 294.
IV. Gehirn and Intttteet. 75
aller physiologisch ganz unhaltbarer Hypothesen von Centrahellen*)
und Centralpnnkten auch wirklich thut (S. 299),**) indem sie ganz
richtig die thatsächlich in demselben vorhandene Einheit auf die
ebenfalls in demselben vorhandene Güte der Leitung nach allen
Richtungen zurückführt 34 ) (8. 429—430).***) Denn die Leitung
ist es, duroh welche die in einer Empfindungszelle statthabenden
Empfindungsschwingungen mit den in einer andern Zelle des Ge-
hirns statthabenden communiciren, sich mittheilen und dadurch für
den Standpunkt der Innerlichkeit oder Empfindung in die höhere
Einheit des nebeneinanderstehenden Inhalts eines gemeinsamen Be-
wnsstseins verschmelzen. Diese Verschmelzung findet zunächst in
höchst affallender Weise zwischen den Empfindungen und Vor-
stellungen der beiden durch eine ziemlich schmale Brücke verbun-
denen Gehirnhemisphären, ebenso aber auch zwischen verschiedenen
Tbeilcn des Gesammthirns (z. B. zwischen dem Grosshirn und den
Vierhügeln als Centralorgan der Gesichtswahrnehmung) statt. Wäh-
rend also zwischen den Empfindungen entfernterer Gentralorgane
desselben Organismus nur eine so dürftige Verbindung besteht, dass
nur dumpfe Mittheilungen von einem Bewusstsein zum andern ge-
langen und von einer höheren Bewusstseinseinheit aller in
einem Organismus enthaltenen Bewusstseine eigentlich nicht ge-
sprochen werden kann, so ist dooh das Hirnbewusstsein, welches
das bei weitem höchste im Organismus ist und darum gewöhnlich
schlechtweg als Vertreter seines Bewusstseins überhaupt angesehen
wird, selbst wieder eine höhere Einheit vieler in ihm umfasster
Bewusstseine, nur dass in ihm die Einheit so sehr dominirt, dass
sie bei allen über der Schwelle des Gesammtbewusstseins liegen-
den deren Besonderheit in sich aufhebt.
Dasjenige Bewusstsein, mit welchem erst meine Erfahrung
beginnt, ist dasjenige, welches auch die Vorstellung meines Ich
umfasst und welches die Möglichkeit besitzt, seinen Inhalt mit allen
Sinneswahrnehmungen und all seinem Gedächtnissinhalt zu ver-
gleichen. Auf dieses Bewusstsein, auf dieses die gesammte Masse
des grossen Gehirns umspannende Summationsphänomen, bezieht
*) Vgl. Fechner's „Psychophysik" Bd. IL S. 392—421.
**) 7. Aufl. I. 299.
***) 7. Aufl. II. 62—64.
76 Tert der ersten Auflage.
sich jede Angabe, dass eine Empfindang oder Wahrnehmung in
meinBewusstsein eintritt auf dieses allein also auch die erfahrungs-
mässige Angabe, dass ein gegebener Reiz unterhalb der Schwelle
liege (vgl. Ph. d. U. S. 29—31).*) Keineswegs aber können wir
behaupten, dass Empfindungen unterhalb der Schwelle dieses
Gesammthirnbewusstseins auch unterhalb der Schwelle ihres
Z e 1 1 e n bewusstseins liegen; sondern wie sehr wahrscheinlich ein
Sinnesnerv an jeder Stelle eine gewisse Empfindang von den ihn
durchlaufenden Schwingungen hat, ohne dass doch diese Empfindung
als solche weiter geleitet würde und zum Hirnbewusstsein gelangte,
ganz ebenso kann und muss auch jede Zelle im Hirn ihre Privat-
empfindungen haben, welche unterhalb der Schwelle des Gesammt-
hirnbewusstseins liegen. So erst erhalten die negativen /s Fechner's
eine positive Bedeutung und verschiedene Fälle (z. B. Beeinflussung
der Klangfarbe durch Obertöne, die unterhalb 'der Schwelle liegen,
— Beeinflussung des Charakters der Gefühle durch Vorstellungs-
oder Empfindungsschwingungen, die unterhalb der Schwelle liegen
— vgl. Ph. d. ü. S, 229—231)**) machen es direct wahrscheinlich,
dass sie als Empfindungen existiren, also als Zellenempfindungen,
da sie eingestandener Maassen nicht Gesammthirnempfindungen sein
sollen. So erlangt der Begriff der Schwelle eine ganz andere Be-
deutung, er wird nämlich auf eine Belation zu einem Summations-
phänomen von bestimmtem Umfang reducirt Während er sonst
wohl teleologisch begreiflich (ebd. S. 30),***) in causaler Hinsicht
aber völlig räthselhaft war, wird er nun erklärlich als Function
des inneren Leitungswiderstandes desjenigen Complexes von
organischer Materie, welchen das Summationsphänomen utnfasst, auf
das er sich bezieht. 85 ) Denn allein auf der Leitung im Hirn
beruht, wie wir sahen, das Summationsphänomen des Hirnbewusst-
seins; da nun jede Leitung Widerstände bietet, so kann sie als
Leitung erst wirksam werden, wenn die Oscillationen eine solche
Intensität gewinnen, dass diese Widerstände überwunden werden,
und erst in diesem Falle kommt das Gesammtbewusstsein zu
*) 7. Aufl. J. 29—32.
**) 7. Aufl. I. 221-222.
***) 7. Aufl. 30-31.
IV. Gehirn und InteUect 77
Stande, welches ich mein Bewusstsein nenne, und auf welches sieh
die gewöhnlich so genannte Bewusstseinsschwelle bezieht.*)
Nun können wir aber ohne Zweifel die soeben in Bezug auf
Hirn, Grosshirnhemisphären und Hirnzelle angestellte Betrachtang
in analoger Weise wiederholen, wenn wir auf den lebendigen (pro-
toplasmatischen) Qesammtinhalt einer solchen Zelle and seine ein-
zelnen organischen Partikelchen (oder auf die Molecule des be-
treffenden Proteinstoffs) reflectiren. So wenig das Gehirn als Ganzes
zur Empfindung kommen kann, es sei denn durch Summation der
Empfindungen seiner organischen Elemente, ebensowenig kann der
protoplasmatische Zellinhalt als Ganzes zur Empfindung kommen,
es sei denn durch Summation der Empfindungen seiner organischen
Elemente. Dass wir die Zelle klein nennen, ist ein ganz zufalliges
und subjectives Urtheil; dem Molecule gegenüber ist sie von so
ungeheurer Grösse, dass es auf den Unterschied der Grösse des
Gehirns und der Zelle danach kaum noch anzukommen scheint
Dennoch kommt es auf die absolute Grösse der Zelle an; denn
dieselbe ist .eine solche, dass die Leitungswiderstände innerhalb
derselben zu klein werden, um besonderer Leitungsvorrichtungen zu
bedürfen; das Protoplasma selbst reicht zur Leitung auf die Ent-
fernungen innerhalb der Zelle und damit zur Herstellung des Ge-
sammtzellenbewusstseins als eines Summationsphänomens aus den
Separatempfindangen der organischen Molecule aus. Freilich wird
auch hier noch ein gewisser innerer Leitungswiderstand vorhanden
bleiben, der von Beizen unterhalb einer gewissen Grösse nicht über-
wunden wird; wir werden also auch hier eine Zellenbewusstseins-
*) Durch diese Auffassung löst sich unter anderm auch der scheinbare
Widerspruch zwischen der Behauptung der Phil. d. Unb., dass alle Empfindung
«0 ipso bewusste Empfindung sein müsse, und dass doch die Empfindungen, aus
welchen unbewusst die Anschauungen des Auges construirt werden, jenseits des
Bewusstseins liegen (vgl. auch „Das Ding an sich und seine Beschaffenheit'*,
Berlin, C.Duncker, 1871, S. 67) ;t) die Lösung liegt darin, dass das Bewusstsein,
welches ich mein Bewusstsein nenne, nur die fertige Anschauung kennenlernt,
und die Empfindungen, welche dieser Anschauung zu Grunde liegen, nur in einem
niedern Bewusstsein bestehen, welches mein Bewusstsein nur durch künstliche
Hülfemittel der Steigerung behufs Erleichterung der Communication und selbst
da noch bloss unvollständig in sich hereinzuziehen vermag.
f) Krit Grundl. des transc. Realismus (Berlin, C. Dnncker 1876) S. 97.
78 T«tt 4*r «nttn Auflage.
schwelle Staturen müssen, obwohl dieselbe sieb nicht leicht empirisch
dürfte nachweisen lassen.
Zum dritten Male werden wir dieselbe Betrachtung wiederholen
müssen, wenn wir ron dem höchst zusammengesetzten organischen
Molecule des protoplasmatischen Zelleninhalts auf dessen chemische
Elementarnxriecule und auf die gleichmässigen Uratonie zurück-
gehen« Wir sehen von dem hier erreichten Standpunkte, dass
die von der Ph. d. Unb. betonte Relativität des Indivi-
dualitätsbegriffes (Abschn. C. Cap. VI. S. 495 ff)*) nicht
nur für äusseriiebe organische Individuen, sondern auch für Be-
wiisstseinsindividuen eine in noch viel strengerem Sinne zu nobmende
Wahrheit ist, als es nach den dort gegebenen Ausführungen scheinen
konnte«
Nachdem wir die Schwelle als Function des inneren Lehnngs-
widerstandes des entsprechenden Complexes verstehen gelernt haben,
müssen wir schliessen, dass bei den einfachen Uratomen jeder Grund
zur Amiahme einer Empfindungsschwelle wegfällt, da de eben
einfach sind, also von einem inneren Leitungswiderstand keine
Bede sein kann. Hierdurch würde sich das Hauptbedenken der
Ph. d. Unb, gegen die Annahme einer Empfindung der Atom«
(S. 490)**) erledigen und dieser fast unvermeidlichen Hypothese
eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Unvermeidlich scheint uns
diese Hypothese deshalb, weil, wenn die Empfindung nicht eine
allgemeine Urei genschaft der constituirenden Elemente der
Materie wäre, schlechterdings nicht einzusehen wäre, wie durch
formelle Potenzirung und Integration derselben das uns bekannte
Empfindungslebcn der Organismen sollte entstehen können. Dass
die Materie, bis in ihre letzten Principien verfolgt, aus dem Ge-
biete der Physik hinaus und durch den dunklen Kraft begriff in
das der Metaphysik hinüberführt, ist einmal nicht zu leugnen; so
bleibt denn auch nichts übrig, als an jener Stelle die gemein-
same metaphysische Wurzel der in ihren höheren Stei-
gerungen als stets sich wechselseitig bedingenden und doch schein-
bar so heterogen und unvermittelt neben einanderstehenden Sphären
der Innerlichkeit (Empfindung, Bewnssteein) und Aeusserliebkeit
*) 7. Aufl. IL 127 ff.
•*) 7. Aufl. n. 122—123.
IT. Gehirn und Iatelket 79
(räumlichen Wirkens und Daseins) zu »neben und vorauszusetzen. se )
Es ist unmöglich, dass ans rein äusserlichen Elementen, die jeder
Innerlichkeit entbehren, plötzlich bei einer gewissen Art der Zu*
sammensetzung eine Innerlichkeit hervorbrechen sollte, die sich immer
reicher und reicher entfaltet; so gewiss vielmehr die Naturwissen-
schaft überzeugt ist, dass in der Sphäre der Aeusserlichkeit die
höheren (organischen) Erscheinungen doch nur Combinationsresnltate
oder Summationsphänomene der elementaren Atomkräfte sind, ebenso
gewiss kann sie, wenn sie sich einmal ernstlich mit dieser andern
Frage beschäftigt, sich der Ueberzeugung nicht verschliessen, dass
auch die Empfindungen höherer Bewusstseinsstufen nur Combinations»
resultate oder Summationsphänomene der Elementarempfindungen
der Atome sein können, wenngleich leztere als solche immer unter-
halb der Schwelle der höheren Grnppenbewusstseine bleiben. In
dem Verkennen dieser Doppelseitigkeit der objectiven Erscheinung,
deren innere und äussere Seite sich wie die Concavität und Con*
vexität einer und derselben Kreislinie gegenseitig bedingen und doch
wie diese nur jede von je einem Standpunkte aufgefasst werden
können, — in dem Verkennen dieser Doppelseitigkeit, welche alles
Dasein von seinen niedrigsten bis zu seinen höchsten Erscheinungs-
formen durchzieht, liegt der Grundfehler alles Materialismus und
alles subjectiven Idealismus. So unmöglich der Versuch des letzteren
ist, die äusserlichen Erscheinungen des räumlichen Daseins aus
Functionen der Innerlichkeit und deren Combinationen zu construiren,
ebenso unmöglich ist das Bestreben des ersteren, aus irgend welchen
Combinationen äusserlicher räumlicher Eraftfunctionen eine inner-
liehe Empfindung aufzubauen, — ein Bestreben, an dem selbst der
talentvolle Herbert Spencer gescheitert ist. *) Es leuchtet nunmehr
auch ein, weshalb unser Standpunkt ebensowenig als Materialismus,
wie als subjectiver Idealismus bezeichnet werden kann; denn wenn
wir in den Atomen, aus welchen die Materie besteht, die einheit-
liche metaphysische Wurzel der äusserlichen und innerlichen
Erscheinung des Weltwesens oder der Weltsubstanz (nämlich
der Welt als räumlich gesetzten Daseins und der Welt als Vor-
*) Vgl. A. P. Barnard's Rede über die neueren Fortschritte der Wissen
Schäften, deutsch von Klöden, Berlin 1869, S. 42—52, und TyndalTs Aeusserungeu
in Anhang.")
80 Toct der ersten Auflage.
Stellung) zu suchen haben, so haben wir eben damit anerkannt,
dass Innerlichkeit (Empfindung, Vorstellung, Bewusstsein) keines-
wegs als blosse Folge der in der Sphäre der materiellen Aeusser-
lichkeit vorgehenden Functionen angesehen werden kann (ebenso-
wenig wie umgekehrt), sondern dass sie als ebenso ursprünglich
wie diese gesetzt werden muss, und als eine der Aeusserlichkeit
schon in den primitivsten Elementen des Daseins gleichberechtigte
und coordinirte Erscheinungssphäre aus der gemeinsamen metaphy-
sischen Wurzel der Welt resultiren muss. 88 j Unser Standpunkt
kann aber auch schon deshalb nimmermehr Materialismus heissen,
weil uns die Materie selbst gar kein an und für sich subsistirendes
Princip, d. h. keine Substanz im strengen Sinne sein kann, sondern
uns selbst nur als ein Gombinationsresultat oder Sum-
mationsphänomen immaterieller Atomkräfte gilt, weil
das, was wir Materie als äusserlich gesetzte räumliche Existenz
nennen, seinerseits ebenso sehr nur ein Phänomen einer metaphy-
sischen Wesenheit ist wie die Empfindung, bloss mit dem Unter-
schied, dass erstere Phänomen in der Sphäre der Aeusserlichkeit
oder Objectivität, letztere Phänomen in der Sphäre der Innerlichkeit
oder Subjectivität ist.
Wenn wir sagten, dass die Empfindung als ursprüngliche Eigen-
schaft der die Materie constituirenden individualisirten Elemente
(Atome) angesehen werden müsse, welche nicht durch die anderen
Eigenschaften derselben in secundärer Weise verursacht sei, sondern
als coordinirte Sphäre zu betrachten sei, so schliesst dies doch, wie
schon erwähnt, die Wechselwirkung zwischen dem bestimmten je-
weiligen Inhalt beider Sphären nicht aus. Die Bestimmtheit des
Inhalts der Empfindung durch die Vorgänge in der Aeusserlichkeit
ist jedenfalls über allen Zweifel erhaben ; der umgekehrte Einflnss
der Empfindung auf die äusseren Vorgänge ist mindestens als höchst
wahrscheinlich anzusehen, aber nicht etwa so, als ob die Gesetze
des äusseren Geschehens dadurch Ausnahmen und Eingriffe erlitten,
sondern so, dass diese Einflüsse sich innerhalb des Rahmens der
naturgesetzlichen Notwendigkeit halten, indem sie mitbestimmend
auf das unter gleichen Umständen regelmässig wiederkehrende Ver-
halten der Atome wirken, aus welchem wir erst das Gesetz abstra-
hlen. Gerade dass wir bei unsern Abstractionen der Gesetze des
äusseren Geschehens bis jetzt nicht im Stande sind, das Moment
TV. Gehirn and Intellect. gl
der Innerlichkeit mit in die Formeln einzufahren, gerade dieser
Umstand giebt den meisten Naturgesetzen noch eine nnserm Ver-
ständnis so fremdartige Physiognomie, weil zwar die äussern Um-
stände und das äussere Resultat richtig aufgezeichnet sind, aber die
innerliche Vermittelung fehlt, welche erst gleichsam die lebendige
Seele des im Gesetz ausgedrückten realen Zusammenhanges bildet.
Es ist dies ganz dasselbe Verhältniss wie im umgekehrten Falle in
einer subjecti vis tischen Psychologie, welche von den Einflüssen der
durch die realen Vorgänge des äusserlichen Daseins erregten Hirn-
schwingungen völlig Abstand nimmt und sich darauf beschränkt,
aus den empirisch beobachteten Zusammenhängen zwischen Vor-
stellungs- oder Empfindungs-Elementen Gesetze zu abstrahiren. Diese
Gesetze können vollständig richtig aufgestellt werden (z. B. über die
Ideenassociation) und doch fehlt jede Einsicht, wie so gerade diese
Zusammenhänge zu Stande kommen, bis die Rücksichtnahme auf die
Wechselwirkung mit der Sphäre der Aeusserlichkeit (wie wir oben
sahen) Licht in die Sache bringt (vgl. auch als anderes Beispiel die
Erörterung über immanente und transcendente Cau sali tat im „Ding
an sich", insbesondere S. 77).*)
Wenn Spinoza bemerkt, dass ein fallender Stein, wenn er Be-
wusstsein hätte, frei zu handeln glauben würde, so können wir hin-
zufügen, dass er Lust oder Behagen an dieser freien unbehinderten
Betätigung seiner Willensnatur empfinden würde, dass er aber Un-
lust empfinden würde, wenn die seiner Tendenz gemässe Fall-
bewegung (etwa durch Aufschlagen auf den Erdboden) gehemmt und
verhindert würde, — denn der in ihm lebendige Wille würde im
ersteren Falle im Zustande der Befriedigung, im letzteren Falle im
Zustande der Nichtbefriedigung befindlich sein. Wenn nun auch die
Atomempfindung zu tiefstehend für ausgiebige Vergleichungen und
deutliches ßewusstsein der Lust gedacht werden müsste, so würde
sie doch jedenfalls von jeder Störung der naturgemässen Intentionen
unangenehm afficirt werden und ohne Zweifel auch von dem
Contrast einer nach längerer Hemmung wieder freiwerdenden Be-
tätigung angenehm berührt werden. Hiermit wären auch für
das Empfindungsleben ausgedehnterer materieller Complexe die be-
stimmenden Elemente gegeben, welche sich auf den verschiedenen
*) Krit Grundl. d. transc. Realism. S. 109—111.
K. t. IIa itm an n, Du Unbewusste. 2* Aufl.
82 Text 4er ernteji Auflage
Stufen organischen Aufbaues auch innerhalb desselben Organismus
wiederholen (Ph, d. ü. 225—226 *) und Lotze „Medtcin. PsychoL"
2. Buch, 2. Cap.). Ob ein Molecule sich in Buhe oder Bewegung
befindet, ist an und fttr sich — schon wegen der Relativität der
Bewegung — gleichgültig; eine Aenderung des Zustandes der Be-
wegung wird daher in demselben Sinne, wie eine Aenderung des
Zustandes der Buhe als. Störung durch äusseren Eingriff aufzufassen
sein, vorausgesetzt; natürlich, dass diese Aenderung wirklich von
aussen durch mechanische Uebertragung lebendiger Kraft und nicht
durch eine aus der Action der eigenen Kräfte herrührende Beschleu-
nigung hervorgerufen, wird Der Bewegungszustand, in welchem
sich ein Molecule befindet, ist gleichsam der indifferente Nullpunkt
seines Empfindens, der gewohnheitsmässige Zustand, dessen Contrast
mit einem früher einmal vorangegangenen anderen Zustand, mochte
derselbe nun eine angenehme oder unangenehme Empfindung reprä-
sentiren, längst verklungen ist. Deshalb macht es nach Beseitigung
dieses Gontrastes auch keinen Unterschied mehr für die Empfindung
des Atom/3, ob die innehabende Bewegung durch eine frühere
Bethätigung der eigenen Kraft (nicht durch gegenwärtige, denn
diese würde Beschleunigung, mithin Veränderung des Bewegungs-
znstandes bringen) oder durch eine frühere Uebertragung lebendiger
Kraft von aussen herrührt, und wird mithin auch die Störung des
Bewegungszustandes, als des nunmehr natürlichen, in gleicher Weise
empfunden werden, welches auch sein Ursprung sei. Wenn nun,
wie wir sehen, die Störung des Bewegungszustandes, der aus Be-
thätigung der eigenen Kraft herstammt, unangenehm empfunden
wird, so müssen wir schliessen, dass ganz ebenso auch jede Störung
eines aus fremder lebendiger Kraft herstammenden Bewegungszu-
standes unangenehm empfunden wird, ausgenommen, wenn die
Störung dahin wirkt, die gebundene Action der eigenen Kraft frei
zu machen. Ferner wird es in gleicher Weise empfunden werden,
ob die als Störung von aussen eingreifende Geschwindigkeitsänderung
im positiven oder negativen Sinne, als Beschleunigung oder Ver-
langsamung wirkt.
Nun werden aber alle» Schwingungen, von Hirnmcriecalen in
erster Reihe durch ausserhalb , ihrer selbst liegende, von anderen
*) 7. Aufl. I. 217—218.
IV. Gehört üödlÄtenfect. 83
Hirn- oder Nerven-Molectlffcn an sie herantretende 1 Bewegüngsreize
erregt ; wenn anch die Art und' Weise oder Form ihrer Schwingungen
zum Theil durch die Prädispositionen ihrer Lage und Vertheilung
bedingt ist, so ist doch das Entstehen der Schwingung immer Folge
eines herantretenden Reizes, d. h. Übertragener lebendiger Kraft
von anderen schwingenden Nerventheilen, die sie letzten Endes
beim Wahrnehtoungsprocess durch die lebendige Kraft der Licht-,
Schall- und anderen Schwingungen erhalten haben. Dies wäre
wenigstens beim rein passiven Percipiren die einzige Kraftquelle,
angenommen, dass ein solches passives Percipiren ohne actives
Appercipiren oder Einordnen in bekannte Vorstellungsreihen in aller
Strenge vorkäme. Das Appercipiren, das sich mehr oder minder
dem Percipiren immer beimengt, ist aber schon ein Beginn der
activen Verarbeitung von empfangenen Vorstellungen und erfordert
als solches eine Aufwendung der im Gehirn aufgespeicherten che-
mischen Kraft (welche aus den Nahrungsmitteln herstammt). Diese
actfre Kraftbethätigung ist nur das Allgemeinere dessen, was wir
bereits als Aufmerksamkeit kennen lernten und was bei allem
Wahrnehmen, Appercipiren, Lenken einer Gedankenreihe zu be-
stimmtem Ziele, kurz bei jeder geistigen Arbeit und namentlich bei
prödUetiver Arbeit eine so dbminirende Rolle spielt. Auch diese
eigentümliche Actövität des Gehirns aus dem aufgespeicherten
Kräffcvorrath bedarf zu ihrem Eintreten eines von aussen heran-
tretenden Beizes, aber die lebendige Kraft, welche er auslöst, ist
viel gröss<er als die, welche er mitbringt (etwa wie die lebendige
Kraft der Luft in den Pfeifen einer gespielten Orgel, die vom Balgen-
treter herrührt, weit grösser ist als die lebendige Kraft der die
Tasten bewegenden Finger des Orgelspielers, welche doch für die
Pfeifen als auslösender Keiz wirkt). Nur die Aufmerksamkeit und
geistige Activität ermüdet das Gehirn, nicht die passive Aufnahme,
weil nur in ersterem Falle die eigene Kraft verzehrt wird. Das
ohne jede Aufmerksamkeit den Sinneseindrücken träumerisch hin-
gegebene Gehirn ermüdet ebenso wenig, wie es von den Bildern
dte wirklichen Traumes erinüdet. Wohl aber können dabei noch'
die Sinnesorgane , die Sinnesnerven und die Centrälorgane der
Sintiebpbtcieptiöä ertnüden, weil in ihnen unwillkürlich und reflecto :
nach* cWrfeh die eintretenden Reize immer eine gewisse Reaction
errfcgf tffrfl, welchö als eine ermüdende active Aufmerksamkeit
6*
84 Text der ersten Auflage.
(aber nicht als Gehirnaufmerksämkeit, sondern als untergeordnete
Nervenaufmerksamkeit) zu bezeichnen ist, — eine Activität, deren
Kraftverbrauch bis zn eingetretenem Ersatz wie überall eine Ab-
stumpfung gegen den Reiz zur Folge hat Auch beim Gehirn selbst
ist die Aufmerksamkeit auf die meisten Reize von gewisser Grösse
zum Theil unwillkürlicher Reflex, zum andern Theil aber Resultat
eines Ueberlegungsprocesses, der die betreffenden Reize mit den
Interessen des Individuums confrontirt und danach erst sich zur
Aufmerksamkeit in höherem oder geringerem Grade entschliesst ;
bei gewissen Stimmungen kann aber der unwillkürliche Reflex auf
lange Reihen gewisser Reizclassen sehr gering werden, und dann
darf er praktisch vernachlässigt werden, weil die beständige Alimen-
tation des Gehirns (wie im Traum) mehr als genügt, um den dabei
stattfindenden Eraftverbrauch zu ersetzen. Umgekehrt scheint bei
gespanntem, aufmerksamem Suchen nach einer Vorstellung (siehe oben
S. 72 — 73) der die vorhandenen verwandten Dispositionen erregende
centrifugale Innervationsstrom das allein Bestimmende zu sein, und
doch ist nicht zu vergessen, dass die actuell im Bewusstsein vor-
handene Vorstellung für die neu entstehende als äusserer Reiz wirkt,
welcher ein gewisses Maass von lebendiger Kraft überträgt, ganz
wie die Schallwellen lebendige Kraft auf die Cortischen Organe
übertragen. Wir sehen also, dass streng genommen die lebendige
Kraft des Reizes und die aus der aufgespeicherten Nervenkraft
herrührende reflectorisch (sei es unwillkürlich oder durch bewussten
Reflectionsprocess) ausgelöste lebendige Kraft als Quellen der leben-
digen Kraft einer Vorstellung immer Hand in Hand gehen, dass
aber bald der eine Factor, bald der andere verschwindend klein
werden kann, je nachdem die Productivität oder die Receptivität
dominirend hervortritt.
Wenn es sich um die Frage der Entstehung des Bewusst-
sein s oder der Empfindung handelt, so liegt es auf der Hand, dass
wir es mit jenem extremen Falle zu thun haben, wo die Receptivi-
tät dominirt; denn erst nachdem wir von den primitiven Ur-
sprüngen der Empfindung einen langen Weg aufsteigender Ent-
wickelung zurückgelegt haben, kommen wir in Regionen, wo von
einer geistigen Verarbeitung der Empfindungen die Rede sein kann.
Dies gilt ebenso von den untersten Stufen der Empfindung im
menschlichen Organismus, wie von denen in der aufsteigenden Reihe
IV. Gehirn und Intellect. g5
des Protisten- and Thierreichs als Ganzen. Wir werden also bei
den Anfängen der Empfindung die reflectorische Entfaltung eigener
Kraft vernachlässigen dürfen und uns an den erregenden Beiz als
die wesentliche Quelle der lebendigen Kraft der Empfindungs-
schwingungen halten dürfen. Diese vom Beiz übertragene lebendige
Kraft ist nun aber für jedes davon betroffene Molecule ein störender
Eingriff in seinen bestehenden Zustand; von dem es sich nach den
obigen Erörterungen unangenehm afficirt fühlen muss. Es findet
sich in eine Bewegung versetzt, zu welcher in seinem Willen, cL h.
in seiner ihm eigentümlichen Kraft sammt den Gesetzen, nach
denen sie sich äussert, keine Veranlassung gegeben war; diese
Bewegung empfindet es als eine seinem Naturwillen nicht gemässe,
aufgezwungene, widerwärtige. Hier wenn irgendwo ist der Ursprung
der actuellen * Empfindung und damit zugleich der Ursprung des
Bewusstseins zu suchen, das nur durch den Contrast des eigenen
Willens mit dem eigenen Thun entstehen kann, während die
behagliche Empfindung der dem eigenen Willen gemässen Betäti-
gung erst durch den Contrast mit der bereits vorhandenen ent-
gegengesetzten Empfindung entstehen kann. Wir glauben uns —
bis auf die Herleitung und Ausdrucks weise — hier in völliger Ueber-
einstimmung mit der Ph. d. U. zu befinden (S. 404—406 und 409
bis 410).*)
Wenn wir oben die Empfindung als allgemeine ursprüngliche
Eigenschaft der constituirenden Elemente der Materie in Anspruch
nahmen, so war doch damit natürlich nicht die actuelle Empfindung
gemeint, welche erst durch den äussern Beiz hervorgerufen wird,
sondern das latente Vermögen, auf einen solchen Eingriff durch
äussern Beiz mit der Empfindung zu antworten. Diese metaphysische
Wurzel des Atoms, welche zugleich seine Kraft, äusserlich nach
bestimmten Gesetzen zu wirken, und seine Fähigkeit, auf eine
Aenderung seiner äusseren Bewegungszustände mit Empfindung zu
reagiren, umfasst und welche natürlich jenseits alles Bewusstseins
liegt, kann man als das Unbewusste des Atoms bezeichnen, welches
die primitivsten Urformen von Wille und Vorstellung in seinem
Schoosse trägt. Dieses Unbewusste ist der metaphysische Hinter-
grund, auf welchem durch die Aenderung der äusseren Vorgänge
*) 7. Aufl. IL 33- 35 u. 44- 45.
86 Te;st dqr praten Auflage.
das Wunderbild dqr bewussljep Empfindung eitf?ropf$p wir4, gleich-
sam die Wand für die Zauberlaterne, deren Bild .ohne solphe nicht
zur Erscheinung käme, der unveränderlich bleibende Hu*tergpw4>
auf welchem die wandelnden Erscheinungen der Empfindung?- und
Vorstellungswelt sich abspielen (vgl. „Philosophische Monatshefte";
herausg. vqn J. Bergmann, Bd. JV. Heft J, S. 47). Le^^r hat ,die
Fh. d. U. diese Betrachtung picht für 4*& einzelne Atpm durph-
geführt, W) sondern gleich mit dem Hjurnbewupstpein tagomteii ; da-
djurch ist ^e jln eine unberechtigte Gegenüberstellung yon unbewuß-
tem Geist und Materie hineingerathen, gleich als ob d#r nnhewassie
Geist als ein abgetrennte^ Weisen 4en Atomen 4w Iftrterie etwa 90
gegenüberstände, wie dies? sich untereinander *°) (z. B. S. 403
Z. 17— 19; S. 404 Z. 9—7 von unten).*) Sine Betrachtung der
Empfindung zunächst am Atom würde hingegei* haben $rtannen
lassen, dass das Unbewussfc, welches empfindet, nicht etwjas dem
Atom fremd Gegenüberstehemjes, von ihn* Getrenntes, ftondera ebw
dieses selbst ist; 41 ) das eben dargelegte Anerkenntnis^, dass Einheit
des Bewusstseins in einer Gruppe von mit Einzelbewusftteein be-
gabten Elementen nur durch Leitung befUpgt i/tf ($• 426—430,**)
und dass das so entstandene einheitliche Bewusptsein in der That
ein Summationsphänomen ist, 48 ) also z. B. d^§ Hir#bewus&t-
sein ein Summationsphänomen aus Zellenbewusstseinen \at (S. 299
Z. 11 — 12),***) würde dann in Verbindung ruft 4ew Vertfäfldniss
des Vorganges am Atom verhindert haben, den unbewußten meta-
physischen Hintergrund, auf welchem das einheitliche Bewußtsein
entworfen wird, noch in etwas anderem zu suchen $$ dem Unbe-
wussten der Atome des materiellen Complpxes, in welchem das
einheitliche Bewusstsein stattfindet. 49 )
Was jedoch die scheinbare Differenz zwischen unserer Dar-
stellung und der Ph. d. U. wiederum vermindert, ist der Monismus
der letztererj, d. h. ihre Behauptung, dass das Unbewusste in Allem
substantiell identisch und Eines und nur in phänomenaler Hinsicht
(sowohl in der äusserlich realen Existenz, uls in der innerlichen
Abgeschlossenheit des Bewtusfypuy?) eine Vielheit de* Daseins
*) 7. Aufl. H 32 Z. 21—24; IL 34 Z. 7 u. ff.
**) 7. Aufl. IL 60-64.
***) 7. Aufl. L 290 Z. 15-16 v. u.
IT. t G&i*h MM TnteHfe6t. 8*7
nächgewiesen werden könne. In der That hat die Naturwissenschaft
als solche nicht nur kein Interesse, sich diesem Monismus zu wider-
setzen, da er ja die Teale Vielheit der physischen Erscheinung un-
angetastet lässt, sondern sie darf sogar anerkennen, dass der
Hintergrund dieser metaphysischen Hypothese in vieler Hinsicht fttr
das Verständniss der Naturgesetze vorteilhaft ist. Wenn die Natur-
wissenschaft nur erst Aber das Vor artheil eines substantiellen Stoffs
in den Atomen neben und ausser den Atomkräften hinweggekommen
tot (S. 475 ff.)*) und die potentielle Kraft (gewöhnlich von den
Physikern Spannkraft genannt) als etwas Unräumliches erkannt hat
(487— 489), **) so wird ihr auch der Schein, iÄ den Atomen getrennte
Substanzen zu besitzen, verschwinden, uhd sie wird sich vom rein
physikalischen Standpunkt nunmehr ganz gleichgültig gegen die
Frage verhalten, ob die Atome substantiell oder nur functionell
verschieden seien, ob sie selbstständig jedes für sich subsistirende
Monaden, oder ob sie nur verschiedene Functionen einer identischen
absoluten Kraftsubstanz (eines Weltwillens) seien. Sobald man sich
dessen bewusst ist, dass man mit dem Begriff der potentiellen Kraft
(nicht zu verwechseln mit der lebendigen Kraft, welche nur mecha-
nisches Moment der Bewegung ist) bereits das Gebiet der Physik
tiberschritten und das der Metaphysik betreten hat, so wird man
sich auch nicht zu sträuben brauchen, weiteren metaphysischen
Erwägungen und Hypothesen Baum zu geben und in der meta-
physischen Wurzel eines jeden physikalischen Atoms nur eine
einzelne Verzweigung der grossen metaphysischen Wurzel der Welt
anzuerkennen (490 — 491). ***) Ich will hier nur auf eine Erwägung
der Ph. d. U. aufmerksam machen, nach welcher bei getrennten
Substanzen jede reale Beziehung, also auch jeder causale Einfluss
auf einander unverständlich wäre, wenn nicht ein metaphysisches
Band denselben vermittelt, welches den Atomen nicht, wie diese
sich untereinander, getrennt gegenübersteht (denn dann wäre auch
wieder der mfluxus zwischen Band und Atomen unverständlich),
sondern dieselben als höhere Einheit in sich enthält (526— 527). f)
*) Aufl. IL 108 ff.
**) 7. Aufl. IJ. 120— 12L
**») 7. Aufl. Ü. 122-123.
t) 7. Atifl. IL 162-161
88 Text der ersten Auflage.
Aber auch wem diese metaphysische Erwägung nicht stichhaltig
erscheint, dürfte doch sich zu einer Art Monismus getrieben sehen,
wenn er von den äusseren Beziehungen der Atome untereinander
zu ihren innerlichen Beziehungen, d. h. zu dem Summationsphänomen
eines einheitlichen Bewusstseins mit seiner Betrachtung tibergeht
Wenn mein Vorstellungsleben ausser Stande ist, auf die Bewusst-
seinssphäre eines andern Menschen einen Einfluss zu üben, es sei
denn durch Vermittlung der für beide zugänglichen Sphären des
äusserlichen Geschehens, so findet zweifelsohne dasselbe Verhältniss
auch bei Atomen statt: die Empfindung eines Atoms kann auf die
Empfindung eines andern Atoms influiren nur durch die Sphäre des
äusserlichen Geschehens, durch Veränderung des fremden Bewegungs-
zustandes durch den eigenen. Dies drückt sich auch darin aus,
dass die Leitung, d. h. die Möglichkeit der Uebertragung des Be-
wegungszustandes, Bedingung für die Goncrescenz der getrennten
Empfindungen zu einem einheitlichen Bewusstsein ist, weil ohne
dieselbe jede Beeinflussung unmöglich wäre. Aber wenn sie auch
Bedingung ist, so kann sie doch nicht vollständige oder zureichende
Ursache sein ; denn wenn gleich die Empfindung eines Atoms durch
das andere alterirt werden kann, so muss man doch erwarten, dass
die alterirte Empfindung von der Empfindung des alterirenden
Atoms nach wie vor atomistisch gesondert bleibt. Wie auf Grund
blosser Leitung eine Verschmelzung mehrerer Bewusstseine zu einem
oder der Aufbau eines höheren Bewusstseins aus den niederen sollte
zu Stande kommen können, wird nicht ersichtlich, so lange wir
nicht die Hypothese einer metaphysichen unbewussten Einheit der
empfindenden Atome hinzufügen. Dann natürlich hat das Summa-
tionsphänomen des einheitlichen Bewusstseins keine Schwierigkeit
mehr, weil der metaphysische Hintergrund, auf welchem die be-
wusste Empfindung entworfen wird, nicht mehr ein atomistisch-
zersplitterter, sondern ein einheitlicher ist, — nämlich das Eine
Unbewusste, welches sich nur functionell (als viele Atomkräfte und
Atomempfindungen) in die Vielheit begeben hatte. 44 ) — Fügen wir
hinzu, dass auch wir z. B. im Hirnbewusstsein das Eine und abso-
lute Unbewusste nur insofern als Hintergrund voraussetzen, als
es in den Atomen dieses Gehirns functionirt, und dass anderer-
seits auch die Ph. d. U. das Eine und absolute Unbewusste nur
insofern als Individualgeist individualisirt denkt, als es auf diesen
IT. Gehirn und Intellect. gg
Organismus hin functionirt, so scheint der vorhin urgirte Unter-
schied fast gänzlich wieder zu verschwinden. Dennoch ist er vor-
handen und lässt sich dahin präcisiren, dass wir keine Functionen
des Unbewussten kennen, welche auf diesen Organismus Bezug
hätten, als diejenigen, welche in den Atomen desselben sich offen-
baren, wohingegen die Ph. d. U. die beständigen metaphysisch-
teleologischen Eingriffe in den Lebensprocess des Organismus sowohl
auf physischem wie auf psychischem Gebiete behauptet und deshalb
einen viel weiteren Begriff hat als wir von „dem Unbewussten, in-
sofern es in Bezug auf diesen Organismus functionirt." Allerdings
haben auch wir durch das Zugeständnis», dass höhere Bewusstseins-
einheiten durch blosse Atomempfindungen ohne das metaphysische
Band des Einen absoluten Unbewussten nicht möglich seien, schon
implicite zugegeben, dass dieses doch noch ausser seinen Functio-
nen in den Atomen als solchen bei dem Zustandekommen des ein-
heitlichen Bewusstseins betheiligt sei; aber diese Betheiligung ist
eine rein passive, jede active Bethätigung ausschliessende und ganz
besonders alle Eingriffe in den naturgesetzlichen Gang der Ereig-
nisse ausschliessende; es ist eben nur die einheitliche Wand, die
still hält, und nur dadurch zum Zustandekommen der von ihr auf-
gefangenen Bilder mitwirkt, dass sie da ist, und zwar als Eine
und ganze da ist. ")
Es hängt mit der erörterten Differenz eine andere Schwierigkeit
eng zusammen, in welche die Ph. d. U. durch ihre teleologischen
Vellettäten sich verwickelt. Wir sahen . schon oben, dass die Art
und Weise einer entstehenden Empfindung unabhängig ist von dem
Ort, wo sie entsteht, nur abhängig von der Form und Modalität der
sie hervorrufenden Schwingungen, dass also genau gleiche Schwin-
gungen nicht nur an jeder Stelle desselben Gehirns, sondern auch
in verschiedenen Gehirnen genau gleiche Empfindungen hervorrufen
müssen. Dies ist nur möglich, wenn die Reaction des Unbewussten
(Empfindungsvermögens) auf die Schwingungen mit der entsprechen-
den Empfindung eine durch ausnahmslose Naturgesetze bestimmte
ist, welche jede Willkür und Freiheit ebenso wie jede Zufälligkeit
unbedingt ausschliesst. Nur wenn die Reaction der Innerlichkeit
auf den äusserlichen Vorgang eine durch äusserlichen Zwang auf-
genöthigte ist, tritt jener Contrast zwischen dem nicht selbst-
gesetzten und doch vorgefundenen Empfindungs- oder Vorstellung»-
90 Ttott der ersten Auflage.
inhftlt und zwischen dem naturgemässen eigenen Wiüensinhatt ein,
welcher durch die unlusterweckende Opposition seiner Elemente
zugleich der Entstehungsmoment des Bewusstseins sein soll.
Die Ph. d. U. erkennt dies ausdrücklich an und spricht es so aus:
„Der Gegensatz zwischen Wille" (eigenem Naturwillen) „und Vor-
stellung" (hervorgerufener Empfindung) wird noch dadurch erhöht,
dass die Vorstellung nicht unmittelbar durch die materielle
Bewegung gegeben ist, sondern erst durch die gesetzmässige
Beaction des Unbewussten auf diese Einwirkung; es tritt also
noch hinzu, dass das Unbewusste mit einer Thätigkeit ant-
worten muss, welche ihm gleichsam aufgenöthigt wird. Auf
diese Weise entstehen zunächst die einfachen Qualitäten der
Sinneseindrücke, wie Ton, Farbe, Geschmack u. s. w., aus deren
Beziehungen zu einander rieh dann die ganze Wahrnehmung
aufbaut, aus welcher wieder durch Reproduction der Gehirn-
schwingungen die Erinnerungen, und durch theil weises Fallen-
lassen des Inhalts der letzteren die abstracten Begriffe entstehen"
(B. 406). •) Wenn es unzweifelhaft richtig ist, dass die Empfindung
nicht als unmittelbare und ausschliessliche Folge der äusseren
Bewegung, sondern nur als Beaction des Unbewussten (Empfindungs-
vermögens) auf diese Bewegung zu verstehen ist, wenn es ferner
richtig ist, dass die so als Beaction aus dem Unbewussten selbst
hervorquellende Empfindung nur dann die Entstehung des Bewusst-
seins begreiflich macht, wenn sie als aufgenöthigte, naturnothwendige,
nicht aus der eigenen Willensnatur hervorgehende gefasst wird, so
darf auch nimmermehr diese Beaction als eine* vom Unbewussten
teleologisch zum Zweck der Entstehung des Bewusstseins ge-
setzte und bestimmte gedacht werden, wie die Ph. d. U. es thut;
denn dann läge nur eine Taschenspielerei vor, dass das Unbewusste
über eine Beaction als nicht von ihm gewollte oder be-
absichtigte stutzt, die es doch mit der andern Hand sich selbst
mit wohlberechneter Absieht unter den Zauberbecher geschoben
hat, aus dem sie nun zum Vorschein kommt. 48 ) Solche Selbst-
begaukelung des Unbewussten ist ganz unmöglich; entweder ist die
teleologische Metaphysik richtig, und die Bewusstseinsentstehung
der hauptsächliche Mittelpunkt des Unbewussten, dann ist die obige
«) 7. Aufl. iL 41.
IV. Gehirn und Intellect. 91
Theorie der Bewusstseinsentstehung falsch ; oder aber diese Theorie
ist, wie wir glauben, richtig, dann kann die Bewusstseinsentstehung
nimmermehr der Zweck, sondern nur die unbeabsichtigte
Folge des Vorganges gewesen sein, aus dem sie resultirt. Da
wir ohnehin schon unsern Standpunkt gegenüber der Teleologie
klargestellt haben, so kann natürlich dieses Dilemma uns nur in
unserer Auffassung bestärken.
V.
Charakter und Wille*
„Wenn dem Materialismus einmal das bewusste Vorstellen und
Denken eingeräumt ist, so hat er volles Recht, auch das bewusste
Fühlen und damit das bewusste Begehren und Wollen in Anspruch
zu nehmen, da die physiologischen Erscheinungen für alle bewussten
Geistesthätigkeiten das Gleiche aussagen. Es ist völlig inconsequent
von Schopenhauer, den Gedächtnisschatz des Geistes sammt den
intellectuellen Anlagen, Talenten und Fertigkeiten des Individuums
auf die Constitution des Hirns zurückzuführen und den Charakter
des Individuums, der sich ebenso leicht, wo nicht noch leichter,
dieser Erklärung unterwirft, von derselben auszuschliessen und zu
einer individuellen metaphysischen Essenz zu bypostasfren, welche
seinem monistischen Grundprincip in's Gesicht schlägt." (Ph. d. U.
S. 387—388).*) „Der Charakter ist der Reactionsmodus (des Indi-
viduums) auf jede besondere Classe von Motiven, oder, was dasselbe
sagt, die Zusammenfassung der Erregungsfähigkeiten jeder beson-
deren Classe von Begehrungen" (234). **) Die verschiedenen Seiten
oder Grundrichtungen des Charakters, welche als innere Triebfedern
des Handelns den verschiedenen Motivclassen als äusseren ent-
sprechen, sind die Triebe (61 u. 233).***) „Der Trieb hat also
*) 7. Aufl. IL 17—18.
**) 7. Aufl. I. 226.
***) 7. Aufl. L 60—61. I. 225.
V. Charakter und Wille. 93
als solcher nothwendig einen bestimmten ooncreten Inhalt, welcher
durch die physischen Prädispositionen der allgemeinen Körper-
Constitution und der molecularen Constitution des Centraineryen-
systems bedingt ist" (61). Diese theils ererbten, theils im Laufe
des Individuallebens erworbenen molecularen Hirnprädispositionen
sind es also, welche nicht nur das Gedächtniss und die intellec-
tuellen Anlagen, sondern auch den Charakter bestimmen (28)*),
indem sie in beiden Fällen sich als das Substrat bekunden, durch
welches die Macht der Gewohnheit sich bethätigt (608).**) Die
Temperamente werden in ganz analoger Weise durch eine dauernde,
wie die Stimmungen durch eine vorübergehende Gesammtdisposition
des Gehirns bedingt (Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5 S. 389).***)
Die Thatsache der Vererbung von Charaktereigenschaften wie von
intellectuellen Anlagen wäre, da der Befruchtungsact ein rein ma-
terieller (physikalisch-chemischer) Vorgang zwischen sperrna und
omm ist, schlechterdings unbegreiflich, wenn nicht alle die so ver-
erbten Charaktereigenschaften wie intellectuellen Anlagen ausschliess-
lich von der Constitution des Organismus abhängig 47 ) wären, dessen
Beschaffenheit allerdings durch die Beschaffenheit der Zeugungsstoffe
bedingt zu denken ist (ebend. S.388).f) Indem der Mensch durch
Ererbung der constitutionellen Anlage und der charakterologischen
Hirnprädispositionen als Besultat einer zahllose Generationen um-
spannenden charakterologischen Entwickelungsreihe dasteht, ist es
kein Wunder, dass das Resultat so undenklich langer Processe nicht
ohne Weiteres umgestossen oder corrigirt werden kann durch die
Einwirkungen, welche während eines Menschenlebens auf dieses
Gehirn influiren, und dass die Modificabilität des Charakters
in einer Generation in ziemlich enge Grenzen eingeschlossen ist,
welche dennoch Spielraum genug gewähren, um diese Modificabilität
zu einem praktisch und ethisch höchst bedeutsamen Moment zu
machen (ebend. S. 383, 391). ff) Denn als Endglied einer langen
Ahnenreihe, in der alle möglichen Charaktere vorgekommen sind,
enthält auch jeder Mensch in sich die Anlagen zu allen Trieben
*) 7. Aufl. I. 29.
**) 7. Aufl. IL 264.
***) Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus S. 189—190.
t) Ebend. 188.
tt) Ebend. 181, 191—192.
94 Itaf dtr enteil Auflage.'
ohne jede Ausnahme, und nnr in den versehiedbnen eine quaritita
oder graduell verschiedene Prädisposition (ebend. 390).*) Je n:
den Motiven, welche am häufigsten an den Menschen herantre
wird die Gewohnheit durch quantitative Steigerung gewisser hä
erregter Triebe und Depression anderer durch Verkümmerung
Nichtgebrauch eine Aenderung des Stärkeverhältnisses der Tri
oder Charakteranlagen untereinander hervorbringen und dadi eh
den Charakter als Ganzes modificiren (ebend. 390 — 391; Ph. d. U.
608, 610—611).**) Wenngleich die Thatsache, dass der Charakter
in Hirndispositionen besteht, jede Aenderung des Charakters durch
einen einmaligen, noch so energischen Willensentschluss unmöglich
macht, weil eben die Hirnconstitution nicht so leicht' und am wenig-
sten durch plötzlichen WUlensentschluss zu ändern ist, so bietet sich
doch durch die Gewohnheit einer bestimmten Handlungsweise die
Möglichkeit, mit der Zeit den Charakter nach bewussten Grund-
sätzen zu modificiren (Ph. d. U. 358),***) und die Möglichkeit, ge-
wissen Motivclassen aus dem Wege zu gehen und andere Motiv-
classen häufig und mit Lebhaftigkeit sieh zu vergegenwärtigen ' und
auf sich wirken zu lassen, giebt wiederum die Mittel an die Hand,
um seine Handlungen annähernd naeh Prineipien zu regeln (356 bis
358). f) Diese Aiiffassuüg bietet mithin eine' auf ^tatsächlichen
Grundlagen erwachsende Handhabe der sittlichen Selbstzucht und
der Erziehung Anderer, was sich von keiner auf dem Freiheitsbegriff
beruhenden Ethik behaupten lässt.
Das Motiv ist allemal Vorstellung, besteht also in Hirn-
schwingungen, 48 ) der Inhalt des resultirenden Willens besteht eben-
falls in einer Vorstellung (Phil. Monatshefte Bd. IV. Heft 5, S. 396
bis 401), ft) also in Hirnschwingungen, und die blosse Vorstellung
(welche nicht Willensinhalt ist) unterscheidet sich von der gewollten
Vorstellung oder der Vorstellung als Willensinhalt doch auch nnr
dadurch, dass erstere nur innerhalb des Groööhirns (als Erreger
anderer Vorstellungen) als Reiz fungirt, während letztere ihre er-
regende Kraft auch auf die centralen Endigtmgen der motorischen
*) Ebend. 190.
**) Ebend. 190—191. Ph. d. ü. 7. Aufl. IL 264, 266—267.
***) 7. Aufl. 1. 347—348.
f) 7. Aufl. II. 346—348.
tt) Neukant., Schopenh. und Hegelianismus S. 196— 201'.
V. Charakter und Wille. 95»
u ausdehnt und so Handlangen hervorruft. Niemand, der
einräumt, dass Vorstellungen in Hirnschwingungen bestehen!
bestreiten, dass jede Vorstellung eben deshalb auch eine
> lebendige Kraft repräsentirt, und es erscheint deshalb nicht
qualitativer, sondern nur als ein gradueller Unterschied, ob»
Sendige Kraft ausreicht, um centrale Endigungen motorischer
xibiv u erregen, oder ob sie zur Ueberwindung der dazwischen
[ liegenden Leitungs widerstände zu schwach ist und nur andere latente
, Hirndispostionen zu erregen vermag. Dass die Grenze eine durch*
aus flüssige ist, zeigen die durch blosse Vorstellungen unwillkürlich'
hervorgerufenen Bewegungen (Cap. A. VII. Nr. 2, S. 159 — 163),*)»
bei denen dann die Ph. d. U. eitlen unbewussten Willen voraussetzt!
den wir eben als die lebendige Kraft der Vorstellungsschwingungen
bezeichnen, 49 ) woftlr auch das zu sprechen scheint, dass die Stärke
der unwillkürlich erregten Bewegungstendenzen proportional der
Lebhaftigkeit der Vorstellungen, d. h. der lebendigen Kraft ihrer
Schwingungen ist. Ausser dem graduellen Unterschied zwischen
der blossen und der gewollten Vorstellung kann jedoch sehr wohl
noch bei letzterer direct ein (der Aufmerksamkeit verwandter) cen~
trifagaler Innervationsstrom hinzutreten, welcher die Uebertragung
> der lebendigen Kraft der Vorstellungsschwingungen nach bestimmten
Richtungen oder in bestimmte Bahnen (nach den centralen En-
digungen gewisser motorischer Nerven) hinlenkt, durch Erregung
der auf der Leitungsbahn gelegenen Nervenpartien den Leitungs-
widerstand in dieser Richtung vermindert und die lebendige Kraft
der geleiteten Schwingungen wohl gar noch positiv verstärkt. Ein
solcher positiver Innervationsstrom würde überall da vorauszusetzen
sein, wo eine Vorstellung nicht unwillkürlich die motorischen Ner-
venenden erregt, sondern wo die bewusste Absicht des Handelns
vorliegt; die positive Verstärkung der Energie der erregenden
Schwingungen würde namentlich da zu erwarten sein, wo es sich
nicht nur um einen motorischen Innervationsstrom überhaupt handelt,
sondern um einen sehr energischen, der die Muskeln zu kräftigster
Contraction anregt.
Wir haben oben der Einfachheit wegen einen Punkt über-
sprungen, den wir jetzt nachholen wollen. Eine als Motiv wirkende
*) Ph. d. U. Cap. A. VII. Nr. 2, S. 154—157.
96 Text der ersten Auflage.
Vorstellung erregt nämlich nicht nur Eine latente Hirndisposition,
sondern immer mehrere zugleich, aber in verschiedenem Grade,
gerade wie wir dies schon im vorigen Abschnitt sahen. Wenn dort
unter den blossen Vorstellungen ein Kampf nm das Vordrängen in
das Bewusstsein, in die eng begrenzte Sphäre der gleichzeitigen
Aufmerksamkeit entstand, so entsteht hier unter den aufs Handeln
gelichteten Vorstellungen oder den aus der Erregung der Triebe
entspringenden Begehrungen ein analoger Kampf, in welchem eines-
teils partielle oder totale Interferenzen der Schwingungen stattfinden
können, theils auch Hereinziehen neu angesprochener Dispositionen
oder Umbildungen und Zusammensetzungen sich ergeben können,
die durch ihr Endresultat uns häufig sehr überraschen (235),*) da
sie grossentheils jenseits des Bewusstseins sich vollziehen (234,
236)**) und uns die Gesetze dieser Vorgänge noch nichts weniger
als bekannt sind. Abstrahirt man von den wirklichen mechanischen
Vorgängen bei dem Zusammenstoss verschiedener Schwingungen,
die aus verschiedenen gleichzeitig und in ungleicher Stärke erregten
Dispositionen hervorgehen, und fasst man nur die empirischen Ge-
setze in's Auge, welche die empirische Psychologie aus der innern
Selbstbeobachtung über den Kampf und die Zusammensetzung der
Begehrungen ableitet, so kann man diese Processe graphisch ver-
sinnbildlichen durch die mechanischen Gesetze aus der Statik des
Atoms, indem man die Begehrungen als Kräfte, die auf einen Punkt
wirken, aufzeichnet, und den Willen als die aus ihnen hervorgehende
Kraftresultante construirt (vgl. Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5,
S. 406 — 408).***) Aber auch abgesehen von dieser graphischen
Darstellung ist es streng richtig, dass das wirkliche Wollen jeden
Moments die Resultante aller in diesem Moment erregten Begehrungen
ist (Ph. d. U. 234, 357), f) und dass mithin, da streng genommen
niemals nur eine einzige Disposition allein, sondern höchstens
eine einzige vorwiegend durch ein Motiv erregt werden kann,
alles wirkliche Wollen im Menschenhirn Summationsphänomen
in ganz demselben Sinne wie alles bewusste Vorstellen ist. 60 ) Im
*) 7. Aufl. I. 227.
**) 7. Aufl. i. 225, 228.
***) Neukant, Schopenh. u. Hegelianismus S. 208—211.
t) 7. Aufl. I. 225, 347.
V. Charakter und Wille. 97
einen wie im andern Falle bleiben die conatituirenden Elemente
unterhalb der Bewußtseinsschwelle, nnd wenn die wichtigeren der
erregten Begehrnngen hiervon eine Ausnahme zu machen scheinen,
so ist es doch nur scheinbar, denn einzeln bewusst werden diese
streitenden Interessen doch eben nur in präliminarischen Reflexionen
über die wahre Bedeutung der Motive und der Folgen dieser oder
jener Handlungsweise (236),*) welche noch weit von dem Moment
des notwendigen Entschlusses abstehen und deshalb nur in Vel-
leftäten und Vorsätzen arbeiten, die nicht selten von dem wirklich
eintretenden Wollen zum Erstaunen des Intellects völlig über den
Haufen geworfen werden (235).**) Aber auch wenn sie sich als
richtig erweisen, so ist doch das wirkliche Wollen, das mit der
Inauguration der That zusammenfällt 61 ) (769 ff.),***) in dem Mo-
ment seiner Realität Summationsphänomen aus unbewussten
Componenten, mögen dieselben immerhin zu früheren Zeiten öfters
das Bewusstsein einzeln durchlaufen haben. Die unbewussten, d. h.
hier nur unterhalb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins ge-
legenen Componenten sind aber die Reactionen der einzelnen charak-
terologischen Hirnprädispositionen auf die Hirnschwingungen der
Vorstellung des Motivs, d. h. sie sind wiederum Summationsphäno-
mene, deren Leistungsvermögen der lebendigen Kraft der schwingen-
den Hirnmolecule entstammt und sich aus dieser ganz ebenso zu-
sammensetzt, wie die Zellenempfindung aus den Empfindungen der
Zellenmolecule. Ueberspringen wir demnach die Zwischenglieder,
so ist der Hirnwille ganz ebenso ein Summationsphänomen der vielen
Atomwillen des Gehirns, wie die Hirnempfindung ein Summations-
phänomen der Atomempfindungen des Hirns ist. So unmöglich, wie
eine Entstehung der Empfindung in irgendwelchem Atomcomplexe
ohne Empfindungsvermögen der Einzelatome wäre, ebenso unmöglich
wäre auch die Entstehung eines Willens in einem Atomcomplex,
ohne dass schon die Einzelatome den Willen hätten, aus dem der
Gesammtwille sich aufbaut. 68 ) Wenn das Atom zuerst ein Meta-
physisches und dann ein Physisches ist, so kann man es sich auch
wohl gefallen lassen, seine Kraft, die ebensowohl zugleich etwas
*) 7. Aufl. L 228.
**) 7. Aufl. I. 227.
***) 7. Aufl. IL 427 ff.
E. Y.Hartmaim, Das Unlwnusta. 2 Aufl.
98 Text der ersten Auflag«.
Innerliche» als etwas Aeusserliches ist, in erster Reihe ab Wille
zu bestimmen (S. 486),*) nachdem einmal erkannt ist, dass das,
was als Hirnwille herauskommt, doch schon im Atom drin gesteckt
haben mnss. Aber freilich werden wir uns damit nicht begnügen
dürfen, den Willen eines Menschen nur in dem den Atomen seines
Gehirns abstract gemeinsamen Formalprincip der Bewegung und
Veränderung zu suchen, welches hinter den conereten Hirndisposi-
tionen gleichsam anf Bethätigung lauert (61),**) sondern wir werden
über die Bedeutung dieser bloss formalen Abs traetion hinaus zu
einem concreten Collectivum gehen müssen, welches die unbe-
wussten Willen der einzelnen Atome nicht bloss unter sich, sondern
i n sich begreift (S. 4). ***) Wie wir die Möglichkeit der Empfindung
als Summationsphänomen nur unter dieser Voraussetzung einer
metaphysischen substantiellen Einheit der Atome begreifen konnten,
ganz ebenso auch den Willen. Dann aber werden wir auch ebenso,
wie vorher bei der Empfindung, der Notwendigkeit enthoben sein,
einen andern Willen im Individuum anzuerkennen als den, welcher
in den Atomen desselben als Atomwille naturgesetzmässig sich
auswirkt, 58 ) und werden alle Theorien von metaphysisch teleologi-
schen W i 1 1 e n s eingriffen des Unbewussten in den Process des
physischen und psychischen Individuallebens entschieden verwerfen,
wie wir es auf intellectuellem Gebiete bereits gethan habea.
Es giebt keinen Individualwillen als die Willen der Atome des
Individuums und die aus diesen naturgesetzmässig resultirenden
Summationsphänomene ; es giebt keine Thätigkeit des absoluten
Unbewussten in Bezug auf dieses Individuum, als welche sich in
den naturgesetzmässigen Atomfunctionen erschöpft.
Die Ph. d. U. supponirt nun aber ausser den auf t die natur-
gesetzmässigen Actionen der Atome gerichteten Functionen des
absoluten Unbewussten in Bezug auf jedes Individuum noch ein
ganzes Strahlenbündel von Functionen, welche in metaphysisch-
teleologischen Eingriffen in den physischen und psychischen Lebens*
process des Individuums bestehen, und sucht in diesen erst den
eigentlichen und wahren Individualwillen. Wenn die metaphysisch-
*) 7. Aufl. IL 119.
**) 7. Aufl. L 60—61.
***) 7. Aufl. I. 4.
V. Charakter and Wille. 99
teleologischen Eingriffe ohnehin gestrichen werden, so fällt jeder
metaphysische Vorwand für eine solche Behauptung fort, welche
empirische und indnctive Anhaltpunkte überhaupt nicht besitzt. 64 )
Wenn Schopenhauer den Individualwillen als einfachen metaphysi-
schen Wesenskern jeder individuellen Existenz hypostasirte, so that
er es in dem guten Glauben, im Besitz einer von allen sonstigen
Vorstellungsarten prinoipiell verschiedenen Erkenntnissweise zu sein,
mit welcher er sich dureh unmittelbare innere Selbstwahrnehmung
von der metaphysischen Willenssubstanz in jedem Augenblick über-
zeugen könne. Im „Ding an sich" (S. 28—33)*) sind die Trug-
schlüsse, durch welche er zu diesem Glauben kam, und die Selbst-
widersprüche , in welche er sich nothwendig durch denselben
verwickeln musste, deutlich dargelegt und die Ph. d. U. beweist
(S.410 — 417)**) a priori und a posteriori den Satz, dass das Wollen
an und für sich immer unbewusst sein müsse, und der Sehein
einer Bewusstheit des Wollens nur durch die Gewöhnung an eine
Selbsttäuschung entstehe, indem der Mensch des Wollens auf drei-
fache Weise unmittelbar inne zu werden glaubt: „1. aus seiner
Ursache, dem Motiv, 2. aus seinen begleitenden und nachfolgenden
Gefühlen, und 3. aus seiner Wirkung, der That, und dabei 4. noch
den Inhalt oder Gegenstand des Willens als Vorstellung wirklich
im Bewusstsein hat" (414). ***) Wir möchten noch hinzufügen, dass
unter den begleitenden Gefühlen auch solche sind, welche von dem
oben besprochenen verstärkenden centrifugalen Innervationsstrom
herrühren und, wie erwähnt, sich besonders bei bewusster Concen-
tration der Energie auf die vorgesetzte Handlung einstellen werden
(vgl. 415 oben) ; f ) ganz dem analog ruft bekanntlich auch der als
Species in diesem Genus enthaltene centrifugale Innervationsstrom
der Aufmerksamkeit eigentümliche Empfindungen hervor, welche
es möglich machen, dass man sagen kann, die Aufmerksamkeit
selbst könne Gegenstand der Wahrnehmung und folglich des Be-
wusstseins sein (419). ft) — I*t nun aber einmal die undurchdring-
liche Unbewusstheit des Wollens an und für sich eingestanden,
*) Krit. Grundl. d. transcend. Realismus S. 43—50.
**) 7. Aufl. IL 45—61.
***) 7. Aufl. H. 49.
t) 7. Aufl. IL 49.
tt) 7. Aufl. II. 53—54.
7*
100 Text der ersten Auflage.
so hört jede Möglichkeit auf, über die Natur desselben dem dog-
matischen Schein des Instincts gemäss unmittelbare Behauptungen
aufzustellen, und man sieht sich gänzlich auf das reducirt, was die
Wissenschaft durch indirecte Schlüsse als das Wahrscheinliche
inductiv zu reconstruiren sich genöthigt sieht 66 ) (417).*) Wenn
nun diese wissenschaftliche Beconstruction eine wesentlich andere
Physiognomie gewinnt, so hat der instinctive Glaube hiergegen so
wenig mehr ein Recht zum Einspruch, als z. B. in der von der
Naturwissenschaft an Stelle des instinctiven sinnlichen Scheins re-
construirten räumlichen Aussenwelt; wie die Körper dieser Aussen-
welt in der subjectiven Erscheinung sich als solide und compact
darstellen, während sie räumliche Zusammenordnungen punctueller
Atomkräfte sind, gerade so erscheinen die Individualwillen der
instinctiven Selbstauffassung einfach, solide und compact, während
sie complicirte Summationsphänomene von zahllosen Atomwillen
sind. Dennoch scheint es ein Rest von diesem dogmatischen Schein
des unmittelbaren Instinctglaubens gewesen zu sein, was die PL d.
Unb. verhindert bat, die einfachen Gonsequenzen aus dem Satze zu
ziehen, dass das jedesmalige Wollen die Resultante aller gleichzeitig
erregten Begehrungen sei (234, 357) **) und dass diese Begehrungen
die durch das Motiv zur Actualität erregten molecularen Hirndispo-
sitionen (Triebe) seien 56 ) (61,28,608—9).***) Ja auch noch andere
Stellen der Ph. d. U. weisen auf unser Resultat als auf ihre un-
ausweichliche Gonsequenz hin, so z. B. die ganz richtige Erklärung,
dass das Wollen selbst die That sei (769), f) insofern die That
definirt werde nicht als das äussere Sichtbarwerden der Handlung,
sondern als diejenigen Bewegungsprocesse der centralen Hirn-
molecule, welche den organischen Ursprungsherd der Handlung
bilden (vorausgesetzt, dass die Ausführung auf dem Leitungswege
nicht durch interferirende Schwingungen gekreuzt wird — 770). ff)
Ist das Wollen mit der That in diesem Sinne identisch, so ist eben
auch die That — d. h. die centralen Hirnschwingungen, welche bei
ungestörtem Verlauf die Handlung hervorrufen — mit dem Wollen
*) 7. Aufl. IL 51.
**) 7. Aufl. II. 225, 347.
***) 7. Aufl. I. 60-61, 28; IL 264-265.
t) 7. Aufl. H. 427.
tt) 7. Aufl. EL 428.
V. Charakter und Wille. 101
identisch, und wir dürfen sie mithin als Definition des Hirnwillens
(als Summationsphänomens) ansehen. 57 ) So meint es aber die
Ph. d. U. nicht, sondern die betrachtet den psychischen Willensact
als ein zu den Atomwillen des Hirns und ihrer Combination Hin-
zukommendes, als einen metaphysischen Eingriff in den natur-
gesetzmässigen 58 ) Process zwischen Reiz and Beaction, wie wir ihn
oben besprochen haben. 5Ö ) Gleichwohl erkennt sie an, dass jede
Leistung des Organismus, gleichviel ob sie in Muskelcontractionen
oder geistiger Arbeit besteht (393)*), aus einem äquivalenten Ver-
brauch aufgespeicherter chemischer Kraft herrührt, welche durch
den Stoffumsatz aus den chemischen Kräften der zugeführten Nah-
rung wieder ersetzt werden muss (153);**) sie erkennt ferner an,
dass sowohl das Muskelsystem als das ganze Nervensystem, ins-
besondere aber auch die [Centralorgane des letzteren, als Kraft-
maschinen zu betrachten sind, dass, wenn der ganze Organismus
mit einer Dampfmaschine zu vergleichen ist, die Oscillationen der
centralen Nervenmolecule die Bewegungen der Ventile und Stellhebel
repräsentiren würden, welche den Gang der Maschine und die Art
ihrer Leistungen regeln, — nur dass der Organismus 60 ) selber zu-
gleich Heizer und Maschinist (ja auch Separatem* und Maschinen-
baumeister) ist und folglich keines Hebelstellers ausser ihm bedarf
(153).***)
Ein solcher dem Organismus fremder fil ) Hebelsteller wäre aber
gerade das Unbewusste in seinen metaphysischen Eingriffen, welche
den Uebergang aufgespeicherter chemischer Kraft in mechanische
Muskelkraft in ganz bestimmter Weise und Richtung veranlassen
sollen. Wenn das Unbewusste eine und sei es auch relativ noch
so kleine Kraft 62 ) zu der im Organismus aufgespeicherten Kraft
durch metaphysisch bewirkte, physisch nicht verursachte Drehungen
von Gehirnmoleculen hinzufügen könnte (151 — 1 52), f) so wäre
damit das Gesetz der Erhaltung der Kraft für die organische Welt
ausser Geltung gesetzt, denn die Summe 68 ) der (inneren und äusse-
ren) Kraftausgaben des Organismus müsste gegen die Summe seiner
*) 7. Aufl. II. 23.
**) 7. Aufl. I. 147—148.
***) 7. Aufl. I. 147-148.
t) 7. Aufl. I. 146—148.
102 Text der ersten Auflage.
Krafteinnahme einen Ueberschuss aufweisen, welche der Kraftsumme
der metaphysischen Eingriffe gleichkommt Wäre auch dieser Ueber-
schuss relativ zum Ganzen noch so unbedeutend, so dürfte er doch
nicht verschwindend klein sein, wenn man noch ferner an eine
reale und entscheidende Beeinflussung der Vorgänge im Gehirn
durch unmittelbares Eingreifen eines metaphysischen Princips glauben
soll. In der That können diese Eingriffe, wenn sie das entscheidende
Moment für die Handlung des Organismus bilden sollen, keineswegs
etwa blosse Differentiale sein, sondern müssen ebenso wie bei den
Beispielen der Dampfmaschinen u. s. w. als Grössen derselben
mathematischen Ordnung gedacht werden 64 ) und in ihrer
Summe für's Leben eines Individuums eine ganz ansehnliche Grösse,
in ihrer Summe für das gleichzeitige Leben der Erde aber schon
ein ganz colossales Quantum repräsentiren, welches also anbedingt
das Gesetz der Erhaltung der Kraft aufheben würde. Freilich
können wir bis jetzt die Richtigkeit des Gesetzes der Erhaltung
der Kraft für die organischen Wesen keineswegs mit solcher Ge-
nauigkeit nachweisen, dass nicht in den wahrscheinlichen Fehlern
für solche Hypothesen Platz bliebe; aber gerade die metaphysische
Evidenz dieses Gesetzes leuchtet für jeden an naturwissenschaftliche
Denkweise Gewöhnten so sehr a priori ein, dass die exacte Er-
bringung des Beweises für ein einzelnes Gebiet der Sicherheit der
Geltung des Gesetzes kaum ein Erhebliches hinzuzufügen vermöchte. 65 )
Der Verf. erkennt dies auch selber an, indem er für die Motivation
auf physischem Gebiet ein Analogon des Gesetzes der Erhaltung
der Kraft herzustellen versucht (Phil. Monatshefte Bd. IV Heft V
S. 403);*) wenn aber einmal die Motivation als Process zwischen
erregender bewusster Vorstellung und bewusstem Willensinhalt
(ebd. S. 396 unten), **) und diese beiden als durch Hirnschwingungen
bestimmt, also der ganze Process wesentlich als ein Process von
Hirnschwingungen anerkannt ist, so läuft ein solches Gesetz der
Erhaltung der Kraft für die Motivation auf immateriell-psychischem
Gebiet ganz in derselben Weise als fünftes Bad am Wagen neben-
her, 66 ) wie etwa der intelligible Charakter neben dem durch die
Körper- und Hirnconstitution bestimmten empirischen Charakter
*) Neukant., Schopenh. und Hegelianismus S. 204—205.
**) Neukant., Schopenh. und Hegelianismus S. 106 u. 197.
Y. Charakter und Wille. 103
(ebend. S. 382— 3Ö5),*) «ad die Bedingtheit des Resultate jedes
einzelnen Motivationsactes sowohl durch den materiellen Hirnprocess,
als auch durch den immateriellen Motivationsprocess ergäbe eine
ebenso unvereinbare Concurrenz 67 ) wie die Bedingtheit jeder ein-
zelnen Handlung sowohl durch die immanente Causalität des em-
pirischen Charakters, als auch durch die transeendente Causalität
des inteüigiblen Charakters (vgl. „Ding an sich" S. 51 ff.).**) Das
mit Recht Angestrebte — die Anwendung des Gesetzes der Erhal-
tung der Kraft auf den Motivationsprocess — wird aber thatsächlich
erreicht durch Beseitigung aller metaphysischen Eingriffe des Un-
bewnssten 68 ) und das Anerkenntniss, dass der Motivationsprocess
in dem Process der Hirnschwingungen ohne jeden metaphysischen
Rest erschöpft ist und dass in den Leistungen und Handlungen
des Organismus keine Kraft zu Tage tritt, als welche entweder
durch die erregenden Beize oder durch die Nahrungsmittel in den-
selben eingeführt ist, wobei erstere als Auslösungsmittel der durch
den AssimilationsfNrocess aufgespeicherten chemischen Spannkraft
dienen.
Von welcher Seite wir auch die metaphysischen Eingriffe in
die Lehensprooesse der Organismen betrachten mögen, überall er-
weisen sie sich als unstichhaltig. 69 ) Wenn die Ph. d. Unb. den
Charakter ebenso wie das Gedächtniss als die Summe der im Hirn
vorhandenem latenten Dispositionen zu gewissen Schwingungsarten
anerkennt, so werden wir nicht umhin können, äusserlich angesehen
im Wollen ganz ebenso wie im Vorstellen die actueUen Schwingungen
zu erkennen, welche nach mechanischen Gesetzen durch adäquate
Beize aus diesen Dispositionen ausgelöst sind, und werden ebenso-
wenig bezweifeln dürfen, dass das Wollen innerlich genommen
ebenso wie das bewusste Empfinden oder Vorstellen ein Summations-
phänomen aus gleichartigen Elementarfunctionen (letzten Endes der
Atome) darstellt. So allein werden wir die brauchbaren Anläufe
der PL d. Unb. richtig zu Ende gedacht und eine einfache und
natnrgemässe Grundlage für unsere weiteren Betrachtungen gewonnen
haben. Wenn mit der Causalität im Sinne einer ausnahmslosen
aaturgesetzlichen Notwendigkeit mit Ausschluss 70 ) aller metaphy-
*) Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus S. 187—194.
**) JKrit firundL <d. trjmsc. üealiam. S. 72 ff.
104 Text der ersten Auflage.
sisch-teleologischen Eingriffe Ernst gemacht werden soll, so bleibt
für rein psychische Functionen eines Unbewnssten jenseits der aas
den Atomen sich entwickelnden Processe kein Platz; wenn wir
aber einmal Wille und Vorstellung als Summationsphänomene aus
entsprechenden Elementarfanctionen der Atome anerkennen, so ver-
schwindet für die Erklärung jedes Bedürfniss, 71 ) ausser der
gemeinsamen metaphysischen Wurzel dieser constitnirenden Elemente
des Organismus noch andere metaphysische Factoren herbeizuziehen.
Wenn die Phil. d. Unb. anerkennt, dass nur in der Besonderheit
des Organismus die Besonderheit auch der geistigen Individualität
begründet liegen kann und jeder eigenthümliche Zug in einem In-
dividualgeiste durch eine entsprechende Eigentümlichkeit seines
Organismus bedingt sein muss, so müssen wir nunmehr noch einen
Schritt weiter gehen und sagen, dass der Organismus selbst das
Individuum i s t. 72 ) Denn wenn die Phil. d. Unb. aus dem grossen
Urquell des Einen absoluten Unbewnssten noch ein Strahlenbündel
von Functionen ausser den blossen Atomfunctionen auf den Orga-
nismus gerichtet dachte und mit zu dem geistigen Individuum
rechnete, so müssen wir jetzt annehmen, dass die metaphysische
oder innerliche Seite der constitnirenden Elemente des Organismus
hinreicht, um die geistige Individualität in demselben Sinne zu con-
stituiren, wie die äussere Seite derselben die leibliche constituirt. 73 )
Eine hieraus folgende Consequenz, die sehr fruchtbar werden
könnte, will ich hier zum Schluss nur andeuten. Bekanntlich ruht
alles organische Leben auf der Erhaltung und Steigerung der Form
in und durch den Wechsel des Stoffs, und die Identität der Indivi-
dualität wird nicht durch die Identität der Substanz, sondern durch
die Continuität des Processes bedingt. Erhaltung der Form durch
Erhaltung des Stoffs ist Mumification, alles Leben beruht auf dem
Stoffwechsel, auf der Mauserung. Die Erkenntniss dieses wichtigen
Satzes ist noch ziemlich jung, so jung, dass man sich nicht wundern
darf, dass noch Niemand gewagt hat, die so nahe liegende Ueber-
tragung auf das geistige Gebiet zu machen. Leben ist Leben, und
die allgemeinsten Gesetze des Lebens als solchen können auf dem
Gebiete der Innerlichkeit nicht entgegengesetzt lauten wie auf dem
Gebiete der Aeusserlichkeit. Diese Annahme machen aber diejeni-
gen, welche von der Seele des Individuums als von einer die ganze
Lebenszeit hindurch identischen Substanz sprechen. Die Phil. d.
Y. Charakter und Wille. 105
Unb. macht sich dieses Fehlers zwar nicht in gleicher Weise
schuldig, indem sie die Seele nur als einen Complex immer neu aus
dem gemeinsamen metaphysischen Urquell ausstrahlender Functionen
auffasst, 74 ) aber dennoch fehlt auch hier die durchgreifende Analogie
zwischen innerlicher und äusserlicher Sphäre, da doch die Be-
schaffenheit des sich beständig mausernden Gehirns nur Gelegen-
heitsursache für die metaphysischen Eingriffe des Unbewussten,
nicht die substantielle Basis der geistigen Summationsphänomene
selbst vorstellt 76 ) Aber das erkennt wenigstens die Ph. d. Unb.
an, dass die Identität des Selbstbewusstseins nur von der Möglich-
keit der Erinnerung, also, von der formellen Existenz der Hirndispo-
sitionen, abhängt, und dass die wesentliche Identität des Charakters
zu verschiedenen Zeiten, analog wie die wesentliche Identität der
Physiognomie, unabhängig ist von der Mauserung der Theile des
Organismus, auf denen Charakter, resp. Physiognomie, beruht. Wie
das Leben jeder Species und insbesondere der Menschheit nur
möglich ist durch ihre beständige Mauserung, d. h. durch beständiges
Ausstossen von Individuen und Ersatz durch frische, jugendliche,
weil ohne dies das Menschheitsbewusstsein verknöchern, verzweifeln
und absterben mtisste (vgl. „Ges. phil. Abhdl." S. 79), *) so ist auch
das geistige Leben des Individuums nur dadurch möglieb, dass bei
jedem Vorstellungsact ein Stoffwechsel in den thätigen Hirnpar-
tieen stattfindet, ein Ausstossen abstrapezirter Molecule und ein
Eintreten frischer durch das Blut zugeführter an Stelle derselben.
Jedes neu eintretende Molecule ist nicht nur äusserlich, sondern
auch innerlich genommen dem austretenden gleichwerthig und mit-
hin geeignet, dieselben Functionen auch ebensogut zu vollziehen,
und bringt ausserdem die Frische mit, die jenes während des Ge-
brauches eingebüsst hatte. Indem aber bei diesem Stoffwechsel die
bestehende Form (wie bei allem organischen Bilden) gewahrt bleibt,
dauern auch die auf molecularen Lagerungsverhältnissen beruhenden
Hirnprädispositionen fort, d. h. Gedächtniss und Charakter bleiben
von der geistigen Mauserung unangetastet. Die Frische und Elasti-
cität des geistigen Lebens ist aber ^llein durch die geistige Mau-
serung möglich; ohne dieselbe träte geistige Mumification ein, in
der alles Leben erstürbe.
*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 154.
VI.
Die Vererbung insbesondere des Charakters.
Der Begriff der Vererbung bietet eines der schwierigsten
Probleme für die Naturwissenschaft. Wir werden den gegenwär-
tigen Stand der Frage am richtigsten bezeichnen, wenn wir sagen,
dass die Vererbung auf allen Gebieten des organischen Lebens
T hat sache ist, dass diese Thatsache aber bis jetzt jeder natur-
wissenschaftlichen Erklärung spottet 76 ) und dass die teleologiseh-
metaphysische Erklärung hier am allerwenigsten im Stande ist, den
Mangel an Verständniss des naturgesetelichen Zusammenhangs zu
ersetzen. 77 )
Wenn in einer Baumart mit aufrechtstehenden Zweigen sich
ein Exemplar vorfindet, welches aus unbekannten Ursachen hän-
gende Zweige bekommen hat, so haben zugleich alle diese Zweige
die Eigenschaft, wenn sie als Steckreiser neue Bäume aus sich er-
zeugen, diese Eigentümlichkeit ihres mütterlichen Organismus, an
der sie selbst theilnahmen, fortzupflanzen. Dasselbe gilt von den
durch einen rothen Farbstoff in den Blättern ausgezeichneten „Blut-
bäumen". Bei geschlechtlicher Fortpflanzung solcher Spielarten ge-
lingt es dagegen nicht, sie zu conserviren ; die Abweichung von der
durch lange Generationen inveterirten Constitution ist zu bedeutend,
um sieh bei der Vererbung durch eisen so kleinen Theil des mütter-
lichen Organismus, wie der Same ist, gegen die Tendenz des Rück-
schlags durchzusetzen. Man ersieht hieraus, um wie viel leichter
die ungeschlechtliche Vererbung als die geschlechtliche ist, und
VI. Die Vererbung insbeaondere des Charakters. 107
braucht sieh nun nicht mehr zu wundern, dass die Entstehung der
geschlechtlichen Vererbung des Artcharakters erst möglich wurde
auf der Basis einer lange fortgesetzten ungeschlechtlichen Fortpflan-
zung im Protißtenreich, durch welche gleichsam schon eine durch
die Dauer befestigte constitutionelle Vererbungsfähigkeit als Grund-
lage der geschlechtlichen Vererbung geschaffen worden war. Je
grösser der die Vererbung, vermittelnde materielle Complex im Ver-
hältniss zum mütterlichen Organismus ist, desto leichter müssen die
eigentümlichen Dispositionen der künftigen Bildung in demselben
Platz finden, und daher sehen wir auch im Durchschnitt dieses
Grössenverhältniss beim Herabsteigen in der Stufenreihe der Organi-
sation wachsen, bis der junge Süsswasserpolyp sich endlich als
fertiger Diminutivorganismus vom Mutterthier loslöst (wie der Gärtner
es mit dem Zweig der Blutbuche künstlich thut), oder gar die proto-
plasmatische Monere sich einfach in zwei gleiche Organismen
halbirt, sobald sie durch Ernährung so weit gewachsen ist, dass sie
als einfacher Tropfen für die natürliche physikalische Tropfengrösse
des protoplasmatischen Proteinstoffs zu gross geworden. 78 ) Ohne
Frage musste die Möglichkeit der Vererbung überhaupt in der
physikalisch-chemischen Beschaffenheit der Materie gegeben sein,
sonst hätte sie nicht, wie die Erfahrung es lehrt, zur Wirklich-
keit werden können; wenn aber diese Möglichkeit vorhanden
war, 79 ) so kam es nur darauf an, dass unter den vielen Urzeu-
gangsproducten sich auch eines oder wenige befanden, welche durch
Zufall eine solche Beschaffenheit erlangt hatten, dass sie zur Selbst-
theilung bei Ueberschreitung einer gewissen Grösse hinneigten.
Setzen wir diese Voraussetzung als erfüllt, so mussten alle anderen
Urzeugungsproducte nach Ablauf ihrer (notwendigerweise beschränk-
ten) individuellen Lebensdauer ohne Hinterlassung von Sparen ihres
Daseins zu Grunde gehen, während einzig und allein jene zur
Selbsttheilung tendirenden fortbestanden, weil nämlich diese Be-
schaffenheit ihrer Constitution beiden Hälften nach dem ersten
Selbsttheilungsacte verblieben war und diese nothwendig zur
abermaligen Selbsttheilung nach hinreichendem Wachsthum und zur
abermaligen Uebertragung ihrer Tendenz auf ihre Theilungspro-
ducte führen musste (vgl. oben Abschn. II, S. 39).
Wenn wir oben (Abschn, II, S. 42 — 43) sahen, dass alle Fort-
entwickelung der niederen Formen darin besteht, dass die verschie*
108 Text der ersten Auflage.
denen Lebensfunctionen, welche ursprünglich alle gleichmäßig Ton
ein und demselben Protoplasmatröpfchen besorgt werden, allmählich
an verschiedene Theile des für die verschiedenen Verrichtungen sich
differenzirenden and specialirenden Protoplasmas vertheilt werden,
so findet diese Arbeitsteilung auch auf die Function der Fortpflan-
zung Anwendung. Im Kampf um's Dasein mussten nothwendig die-
jenigen Arten Moneren den Vorsprung gewinnen, welche für das
Geschäft der Fortpflanzung sich passender constituirt erwiesen; ihre
Nachkommen wurden zunächst relativ häufiger und verdrängten
endlich die minder günstig zur Vermehrung veranlagten vollständig.
So haben wir uns zu denken, dass aus der einfachen Selbsttheilung
heraus sich durch den blossen Einfluss der natürlichen Zuchtwahl
zunächst die feineren Formen der ungeschlechtlichen und aus die-
ser endlich durch den Durchgangspunkt der Sporenkoppelung hin-
durch die geschlechtliche Fortpflanzung entwickelt habe, welche,
beiläufig bemerkt, bei den Infusorien schon in hoher Vollkommen-
heit angetroffen wird. Wenn auf diese Weise vermittelst der natür-
lichen Zuchtwahl erklärlich wird, wie die ersten Anfänge der Ver-
erbung oder Uebertragung der constitutionellen Veranlagung Hand
in Hand mit den ersten Anfängen der Fortpflanzung oder Vermeh-
rung entstehen mussten, und wie sich aus diesen Anfängen eine
stufenweise Höherbildung derselben, aus dem Weniger ein Mehr
allmählich herausbilden musste, so bleibt doch bei alledem dasVer-
ständniss für das Detail des Mechanismus der Vererbung auf
höheren 80 ) Stufen des Fortpflanzungsprocesses — namentlich jeder
Einblick in die Art und Weise, der Niederlegung der gesammten
constitutionellen Eigentümlichkeiten in die winzigen Zellen der
Zeugungsstoffe und in die Art und Weise der Wiederentfaltung die-
ser Prädispositionen zur Wirklichkeit im neuen Individuum — vor-
läufig durchaus verschlossen. Nur soviel muss uns als feststehend
gelten: erstens dass alle geistigen und körperlichen Eigentümlich-
keiten wirklich in den Zeugungsstoffen und in der unendlichen
Feinheit ihrer eiweissartigen Materie molecular prädisponirt sind
(Ph. d. Unb. S. 511 und 546),*) und zweitens, dass die Niederlegung
der molecularen Prädispositionen zu allen diesen elterlichen Eigen-
tümlichkeiten in den Nachkommen nicht das Resultat metaphysisch-
*) 7. Aufl. EL 147 u. IL 203—204.
YL Die Vererbung insbesondere des Charakters. 109
teleologischer Eingriffe, sondern das Endresultat einer langen genea-
logischen Vererbungsreihe ist, welche durch natürliche Zuchtwahl
in den elterlichen Organismen die Fähigkeit und Tendenz zur Bil-
dung so beschaffener Zeugungsstoffe als befestigte constitutionelle
Prädisposition entwickelt hat. 81 ) Wenn auch die Ph. d. Unb. Recht
hat, dass die Vererbung und die in den Organismen liegende Fähig-
keit zu derselben eine qmlitas occülta bleibt (256), *) so kann doch
auch sie nicht umhin, die Thatsache ihres Bestehens und die
immense Ausdehnung ihrer Wirksamkeit anzuerkennen, und ist am
wenigsten im Stande, durch die Hinzufügung ihrer teleologischen
Eingriffe die Sache verständlicher zu machen. 8 *) Sie gesteht
(S. 568)**) zu, dass jeder Keim in seiner materiellen Constitution die
Prädisposition trägt, sich leichter nach der durch die elterlichen
Organismen vorgezeichneten ^Richtung als nach irgend einer andern
zu entwickeln; z. B. „die Gruppirung der Molecule in diesem
Weizenkeim ist eine solche, dass leichter eine Weizenpflanze als
eine andere Pflanze daraus entstehen kann, leichter die Varietät
der Mutterpflanze als eine andere, und leichter ein Individuum,
welches der Mutterpflanze (oder durch Bückschlag einer früheren
Generation) ähnelt als ein anderes" (Ges. phil. Abhandl. S. 36).***)
Sind die äusseren Umstände für das Leben des Keimes und der
aus ihm entstehenden Pflanze die normalen, so werden diese Prä-
dispositionen zu ungestörter Entwickelung gelangen; treten aber
abnorme Umstände ein, so werden sich Abweichungen von der nor-
malen Entwickelungsrichtung ergeben. In beiden Fällen hat das
Unbewusste als Oberaufseher des Wachsthums oder als „organi-
sirendes Princip" (Ph. d. Unb. 560 Anm.)f) eigentlich gar nichts
bei der Sache zu thun; es läuft jedenfalls so lange als fünftes Bad
am Wagen nebenher, als es bei der Sinecure dieser allgemeinen
„psychischen Leitung" keinen besonderen Grund findet, es sich
nicht bequem zu machen, d. h. „der dispositionell vorge-
zeichneten Entwickelungsrichtung, als der im Allgemeinen seinen
vorgesetzten Zwecken entsprechenden und die geringsten Reali-
sationswiderstände bietenden Richtung" zu folgen 83 ) (S, 568).**)
*) 7. Aufl. L 248—249.
**) 7. Aufl. IL 226.
***) Ges. Stud* u. Aufs. S. 615.
t) 7. Aufl. II. 217—218 Aum.
HO Text der ersten Auflage.
Wenn das „organisirende Princip" fllr gewöhnlieh sieh selbst zu
dieser passiven Rolle verurtheilt, ein blosses „Plaeet" zn dem ohne-
hin schon Geschehenden zn ertheilen, nnd wenn man ausserdem
allen Grund hat, der Behauptung positiver teleologischer Eingriffe
in den Process in Ausnahmefällen zu misstrauen, so liegt der Ge-
danke nahe, dass diese ganze Hypothese unbegründet sein dürfte
und dass dieselbe ihr Entstehen nur verdankt einerseits der mangel-
haften Ausnutzung der Consequenzen der Descendenztheorie und
Theorie der natürlichen Zuchtwahl und andererseits den thatsäch-
lichen Lücken unserer Erkenntniss, welche aber einer Ausfüllung
durch fortschreitende Erkenntniss des natürlichen Causalzusammen-
hangs offen gehalten werden müssen. 84 ) Je weiter diese Kenntniss
fortschreitet, desto mehr zeigt sich alle Zweckmässigkeit durch das
Functioniren von Mechanismen bedingl, 85 ) welche die Ph. d. Unb.
ja auch so willig anerkennt, welche aber nicht, wie sie meint, durch
teleologisch-metaphysische Eingriffe des Unbewussten, sondern durch
mechanische Compensationsprocesse (vgl. oben Abschn. IL) ent-
standen sind. Zu diesen Mechanismen gehört nun auch einerseits
der Keim mit allen seinen molecularen Prädispositionen der künftigen
Entwickelung und andererseits die Prädisposition der elterlichen
Organismen zur Bildung eines solchen Keimes — zwei ganz ver-
schiedene Dinge, welche als Wirkung und Ursache wohl auseinander
zu halten sind, und beide doch nur Zwischenglieder in dem Process
der Vererbung zwischen der constitutionellen Beschaffenheit der
Eltern und der des Kindes bilden.
Wenn schon die molecularen Vorgänge bei der Vererbung
hinsichtlich ihrer Beschaffenheit im Einzelnen und der Art und
Weise ihrer mechanischen Gesetzmässigkeit bis jetzt für uns in
Dunkel gehüllt sind, so sind wir noch weit mehr im Unklaren über
die besonderen Eigentümlichkeiten, welche der Process der Ver-
erbung bei näherer Betrachtung zeigt, wie z. B. die Unterschiede
der actuellen und latenten, der monomorphen und polymorphen Ver-
erbung oder auch die eigentümliche Erscheinung, dass besondere
Charaktere, welehe an dem elterlichen Organismus nur an gewissen
Stellen oder nur zu gewissen Zeiten oder Phasen des Lebens
oder der Entwickelungsdauer vorhanden sind, auch bei dem er-
zeugten Organismus nur an denselben Stellen,, beziehungsweise
in denselben Zeitabschnitten der Lebenseütwickelung hervorzutreten
Tl. Die Vererbung insbesondere des Charakters. 111
pflegen. Die Haut und Haare bieten nach ihrer allgemeinen Be-
schaffenheit wie nach besonderen localen Merkmalen eines der
sichtbarsten Beispiele der Vererbung. Auswüchse, Flecke und
Kginentablagerungen an gewissen Stellen der Haut vererben sich
oft so regelmassig, dass sie als Familienerkennungszeichen gelten
können. Organische Leiden z. B, Krankheiten der Leber, der
Nieren, des Gehirns, der Athmtrngsorgane, der Verdauungs Werkzeug 3
vererben sich auf dieselben Theile in den Nachkommen und halten
auch gewisse Grenzen in Betreff der Lebensperiode nme, wo sie
aas ihrer Latenz hervortreten; z. B. Krebs nicht vor dem 30sten
Lebensjahre, Wahnrinn nicht vor der Pubertät. Das Kind entwickelt
seine geschlechtliche Activität in demselben Lebensalter wie seine
Eltern, es bringt die echten Zähne in entsprechendem Alter hervor,
ja es zeigt sogar ererbte Zahnkrankheiten in demselben Alter, wie
seine Eltern sie gehabt haben. Die Beifezeit gewisser Obstvarietäten
wird von den Nachkömmlingen selbst in abweichendem Klima inne
zu halten gesucht, und erst allmählich tritt die nothwendige Accom-
modation ein.
Im Keim sind noch alle Dispositionen zn der Eigentümlich-
keit der elterlichen Organismen latent; erst im Laufe der Lebens-
entwickelung treten dieselben zu verschiedenen- Zeiten hervor. Nun
ist es aber nicht durchaus nothwendig, dass sie im Laufe eines
Individuallebens hervortreten ; unter Umständen sind die Dispositionen
so beschaffen, dass sie erst gewisser äusserer Einflüsse oder G&-
legenheitsursachen bedürfen, um actuell zu werden. Derart sind
z. B. viele ererbte Krankheitsanlagen (Blutarmnth, chronische Nerven-
leiden, Tuberculose, Wahnsinn, Krebs u. s. w.), welche nieht gerade
in so excessivem Maasse vorhanden sind, dass sie unter allen Um*
ständen zum Ausbruch gelangen müssen. Kommt nun ein mit
soleher Anlage Behafteter in Lebensumstände oder in zufällige Er«
eignisse, welche dem Ausbruch der Krankheit günstig sind, so wird
irrtümlicherweise häufig die Gelegenheitsursache des Ausbruchs als
alleinige und zureichende Ursache angesehen (z. B. Druck für Krebs>
Gemüthserschütterungea für Wahnsinn, Erkältung für Lungeataber-
caioBe, mangelhafte Ernährung für Blutarmnth u. &. w.) und die
»erbte Disposition, welche doch die eigentliche Ursache alter dieser
Krankheiten bildet, dabei ausser Acht gelassen. Bleibt hingegen
der Betreffende während der Dauer seines Lebeais vom Aufbruch
112 Text der ersten Auflage.
seiner ererbten Krankheits- Anlage verschont, so kann er sie trotz-
dem auf seine Nachkommen weiter vererben, nnd dies ist die la-
tente Vererbung. Man kann sich dies auch so klar machen : wenn
ein Mann Disposition zum Krebs ererbt hat und zeugt mit 25 Jahren
ein Kind, so kann es für die Beschaffenheit dieses Kindes nicht mehr
darauf ankommen, ob er mit 26 Jahren von einem Dachziegel er-
schlagen wird, oder ob er mit 30 Jahren vom Krebs befallen wird,
oder ob seine Anlage bis zu seinem anderweitigen Tode im 60sten
Lebensjahre latent bleibt; jedenfalls ist das Kind zu einer Zeit ge-
zeugt, wo seine Disposition zum Krebs noch latent war, und dennoch
erbt es dieselbe von ihm. Da ist es denn nur noch ein, Schritt
weiter zur latenten Vererbung solcher Eigenschaften, die ihrer Natur
nach in dem Vererbenden niemals aus der Latenz heraustreten
können, wie wenn z. B. eine Frau die schöne Bassstimme und
den starken rothen Bart ihres Vaters auf ihren Sohn vererbt (PL d.
Unb. S. 140). *) Ein eclatantes Beispiel der latenten Vererbung ist
der Generationswechsel der niederen Thiere, wo die 1. Generation
mit der 3., 5. u. s. w., und die 2. mit der 4., 6. u. 8. w. überein-
stimmt; manchmal, z. B. bei dem Seetönnchen (Doliolum), ist sogar
die 1. Generation gleich der 4., 7. u. s. w., die 2. gleich der 5., 8.
u. s. w., und die 3. gleich der 6., 9. u. s. w. Man sieht hieraus,
dass die Vererbung auch mehr als eine Generation hindurch
latent bleiben und dann doch wieder zum Vorschein kommen kann,
wie man es auch bei Aehnlichkeiten in einer Galerie von Familien-
bildern wohl zu beobachten Gelegenheit hat. Bei Varietäten nennt
man ein solches Auftreten latent gewordener Charaktere Bück-
schlag oder Atavismus, eine den Thierzüchtern wohlbekannte Er-
scheinung. — Wenn bei der geschlechtlichen Fortpflanzung ohnehin
schon die Eigentümlichkeiten beider Eltern concurriren, um sich in
dem Erzeugten zur Geltung zu bringen (wie dies besonders deutlich
bei Bastardzeugungen hervortritt), so wird die Complication durch
den Bückschlag noch grösser, da nun ausser den Charakteren der
beiden Eltern noch die in ihnen latent vorhandenen Charaktere der
4 Grosseltern, 8 Urgrosseltern u. s. w. zur Geltung zu gelangen be-
strebt sind. Je nachdem nun bei der Concurrenz entgegengesetzter
Eigentümlichkeiten die eine die andere gänzlich zurückdrängt, oder
*) 7. Aufl. L 13&— 186.
VI. Die VererbuDg insbesondere des Charakters. 113
beide sich aufbeben, oder aber ein Compromiss in einer neuen
Eigentümlichkeit schliessen, kann aus dieser Complication die aller-
grösste Mannigfaltigkeit entspringen, und man mag danach ermessen,
wie gross die Schwierigkeit im concreten Falle sein muss, analytisch
zu bestimmen, in welcher Weise alle Eigentümlichkeiten eines
Kindes aus Vererbung entsprungen sind; zugleich geht aber auch
daraus hervor, wie wenig diese Schwierigkeit der Analyse im con-
creten Falle als Instanz gegen die Thatsache der Vererbung über-
haupt geltend gemacht werden darf.
Bisher sind wir immer noch von der stillschweigenden Voraus-
setzung ausgegangen, dass eine Species auch einen in sich mono-
morphen oder eingestaltigen Typus repräsentiren müsse. Diese
Voraussetzung wird aber durch die Thatsache des Polymorphismus
oder der Vielgestaltigkeit widerlegt, welche viele Specien in auf-
fallendem Grade zeigen. Man kann sich eine polymorphe Species
etwa wie eine dem Generationswechsel unterworfene Species vor-
stellen, wo aber die verschiedenen Typen der Generationen nicht
nach, sondern neben einander bestehen, und jeder dieser Typen
nicht nur den andern, sondern auch seinesgleichen, beides unter-
mischt, hervorbringt. Wir finden aber den Polymorphismus nicht
nur, wie den Generationswechsel, bei niederen Seethieren (z. B. See-
federn), sondern auch bei höherstehenden Thieren, (vgl. Wallace
„Beiträge zur Th. d. nat. Zuchtwahl", deutsch von Meyer S. 165 -179)
insbesondere solcher Arten, bei denen ein Theil natürliche Masken
(Mimicry) trägt, oder bei welchen ein Genossenschaftsleben mit
weitgeführter Arbeitstheilung besteht (Bienen, Ameisen); streng ge-
nommen ist alle Zweigeschlechtlichkeit an und für sich
sehon Polymorphismus, auch wenn sie nicht mit sonstigen
correlativen Modificationen verknüpft wäre. Diese finden sich aber
überall vor und gehen bei manchen Specien, wo die Lebens-
verhältnisse der Geschlechter sehr verschieden sind, bis zu Ab-
weichungen, welche im Männchen und Weibchen nimmermehr die-
selbe Thierart vermuthen lassen. Aller Polymorphismus ist nun
als ein System correlativer Modificationen zu betrachten,
and die Vererbung innerhalb polymorpher Specien zeigt die Ten-
denz, neu hinzutretende (z. B. durch Anpassung erworbene) Ab-
weichungen in einem der Typen eher auf die Nachkommen mit
denselben als auf die mit dem entgegengesetzten Typus zu
S. t. üartmann, Daa Unbewiuste. 2« Aufl. 8
114 Text der eroten Auflage.
übertragen ; oder genauer ausgedrückt : solche zu einem Typus neu
hinzutretende Abweichungen werden bei der Vererbung auf dessen
vielgestaltige Nachkommen nur bei den Individuen mit demselben
Typus hervortreten, bei denen mit andern Typus aber latent
bleiben und erst bei deren Nachkommen, welche den entsprechenden
Typus zeigen, wieder hervortreten« Wir erinnern an das obige
Beispiel von der Bassstimme und dem rothen Barte. In dieser
Weise können die ersten Ursprünge eines durch allmähliche Tren-
nung der Lebensverhältnisse sich bildenden Polymorphismus nach und
nach durch fortschreitende Anpassung der Einzeltypen sich steigern,
z. B. eine abweichende Färbung zwischen den Gefiedern der beiden
Geschlechter einer Vogelart sich entwickeln, wenn nur das eine
Geschlecht brütet und hierzu besseren Schutz durch Aehnlichkeit
mit dem Nest und dessen Umgebung braucht als sein flüchtig
umhereilender Gatte (vgl. Wallace a. a. 0. S. 130—134). Welche
individuelle Abweichungen in Correlation zu demjenigen System
von Modificationen stehen, das die Eigentümlichkeit des polymorphen
Typus ausmacht, ist natürlich a priori nicht zu bestimmen, und es
ist daher auch nicht vorher zu bestimmen, welche individuelle
Abweichungen z. B. beim Menschen sich auf beide Geschlechter
vererben und welche sich nur auf die männlichen oder nur auf
die weiblichen Nachkommen vererben. Nicht selten tritt jedoeh
eine Vererbung nur in männlicher oder nur in weiblicher Linie
ein, wo man es nicht erwarten sollte, z. B. bei gewissen physiogno-
mischen Eigentümlichkeiten, oder bei gewissen Krankheiten; so
z. B. vererbte Edward Lambert (geb. 1717) seine zolldicke krusten-
artige Epidermis mit schuppenartigen und stachelförmigen Fort-
sätzen nur auf seine Söhne und Enkel, aber nicht auf die Enkelin-
nen. Uebermässige Fettentwickelung an bestimmten Körperteilen
vererbt sich häufig nur in weiblicher Linie; Hautmale bald in
männlicher, bald in weiblicher, bald in gemischter Linie. (Vgl. zu
der ganzen Lehre von der Vererbung HäckeFs nat. Schöpfongsgesoh.
2. Aufl. S, 158—163, 178—197).
Wo sich alles an der Constitution des Organismus vererbt,
ist von der Constitution des Gehirns mit seinen molecularen Dich
Positionen keine Ausnahme zu erwarten. Der ererbte Charakter,
welcher, wie wir wissen, in einer Summe bestimmter Hirndispositio-
nen besteht, gehört mit zum Typus der menschlichen Constitution,
VL Die Vererbung insbesondere de* Charakters. 115
modificirt darch den Typus der Kaee, des Volkes, des Stammes,
der Familie, des Geschlechts; der Grundstock des Charakters ist
also Resultat einer durch mehr oder minder lange Generationenfolge
constituirten und befestigten Vererbung, und die concurrirendep
individuellen Eigentümlichkeiten der zwei Eltern, vier Grosseltern
and acht Urgrosseltern, und die zufälligen Umstände der Zeugung,
des embryonalen Lebens, sowie die Einflüsse während der Kindheit
und Jugend u. s. w. sind nur Nebenumstände, welche zu dem durch
befestigte Vererbung überkommenen Grundstock des Charakters
Modifieationen hinzufügen. Je öfter eine Eigentümlichkeit schon
in der Generationenfolge vererbt worden ist, desto grösser ist die
Wahrscheinlichkeit, dass sie auch auf die nächste Generation sich
vererben wird; dieses Gesetz der constituirten oder befestigten
Vererbung ist der Grund, dass einerseits der Charakter sich strenger
and sicherer als die intellectuellen Anlagen von mehr individueller
Natur vererbt und dass andererseits die durch die neu erworbenen
individuellen Eigentümlichkeiten der Eltern und durch die zufälligen
Umstände der Zeugung und Kindheit hervorgerufenen Modifieationen
doch immer nur von aeeundärer Bedeutung (gegenüber demjenigen
Theil des Charakters erscheinen, welcher auch bei den Eltern schon
ererbte Anlage war. In Bürgerfamilien ist das Material für den
Nachweis fortgesetzter Charaktervererbung nur schwerer zu be-
schaffen, sonst würde dieselbe sich auch dort herausstellen; in
Adelsgeschlechtern, wo die Familientradition auf lange Geschlechter-
folgen sorgfältig bewahrt wird, findet sich aber auch ebenso
häufig und noch häufiger Vererbung von Charaktereigenschaften
bestätigt, als die schon angeführte Vererbung von körperlichen
Aehnlichkeiten oder Absonderlichkeiten. In Fürstengeschlechtern
bietet auch die Geschichte Material, um eine solche Vererbung
deutlich genug zu erkennen; man denke an die Julier, Claudier,
Borghia's, Bourbonen, Habsburger u. s. w. Wenn der gute Charak-
ter mehr aus einem harmonischen Gleichgewicht der Triebe unter-
einander und mit dem Intellect, der böse hingegen aus der Mon-
strosität einseitiger Triebe hervorgeht, so liegt es auf der Hand,
dass böse Charaktere weit mehr t Chancen zur Vererbung darbieten,
und so findet man auch weit häufiger in einer längeren Geschlechter-
folge gleiche Laster (Blutdurst, Grausamkeit, Wollust, Leichtsinn,
Ehrgeiz, Hochmutb, tyrannische Herrschsucht u, s. w.) als gleiche
8*
116 Text der ersten Auflage.
Tagenden. — Die Laster aus Monstrosität einseitiger Triebe grenzen
unmittelbar an die erbliehen Geistesstörungen. ••)
Keine Art von Krankheiten ist in so grauenerregender Weise
fast ausschliesslich in erblicher Disposition begründet wie die Geistes-
krankheiten und zwar von jenen leichteren Störungen # an, welche
einerseits als Schrullen und Wunderlichkeiten, andererseits als krank-
hafter Hang zu gewissen Lastern zu bezeichnen sind, durch die
ausgesprocheneren Formen der fixen Ideen, der Schwermuth, der
Narrheit und des Wahnsinns hindurch bis endlich zu den Extremen
der Tobsucht und des Blödsinns. Wenn es noch irgend einer Be-
stätigung dafür bedürfte, dass die bekannte Thatsache der Ver-
erbung der Charaktereigenschaften rein auf Vererbung von constitu-
tionellen organischen Eigentümlichkeiten und speciell von .Gehirn-
prädispositionen beruht, so muss dieser flüssige Uebergang von
Geisteskrankheiten in Charakteranlagen, oder von excessiven und
monströsen Hirndispositionen in bloss quantitativ und graduell inner-
halb der normalen Grenzen hervorragende, den letzten Zweifel be-
seitigen. Da auch das gesunde Geistesleben aus Factoren besteht,
deren quantitatives Verhältniss sehr bedeutenden Schwankungen
unterworfen ist, so ist eine Grenze, wo das quantitative Verhältniss
zu einem abnormen oder krankhaften wird, schlechterdings nicht zu
ziehen, und deshalb sind auch für den Psychologen nicht diejenigen
Irren die interessantesten, welche hinter Gitter und Riegel unschäd-
lich gemacht werden mussten, sondern diejenigen, welche sich frei
in der Gesellschaft bewegen, weil in ihnen die Uebergangszustände
zwischen gesundem und krankem Geistesleben rückwärts ein Licht
auf die Grundlagen der normalen psychischen Processe zu werfen
geeignet sind.
Wenn wir anerkennen mussten, dass die befestigten Eigen-
tümlichkeiten oder Charaktere in der Concurrenz um die Ver-
erbung vor den neu hinzu erworbenen einen entschiedenen Vor-
sprung haben, so ist doch die Bedeutung der letzteren keineswegs
zu unterschätzen, denn auf ihr beruht die Modificabilität und Ent-
wickelungsfähigkeit des constitutionellen Typus der Species, die
Veränderlichkeit des Artcharakters, — eine Thatsache, welche ohne
Vererbung individuell erworbener Abweichungen vom bisherigen Typus
schlechterdings unmöglich wäre. Aus der Ehe eines durch Zufall
mit sechs Fingern geborenen Mannes und einer fünffingerigen Frau
VL Die Vererbung insbesondere des Charakters. 117
in Spanien hatten sämmtliche Kinder sechs Finger bis auf das
Jüngste, welches der Vater deshalb nicht als das seinige anerkennen
wollte. In einer andern spanischen Familie vererbte sich die Sechs-
zahl der Finger auf 40 Individuen. Durch blosse Inzucht sechs-
fingriger Individuen Hesse sich eine sechsfingrige Menschenrace
erzielen, bei der dies Merkmal bald befestigt sein würde; durch
Kreuzung gehen aber solche individuelle Abweichungen immer wieder
in der fttnfBngrigen Bace unter (Häckel a. a. 0. S. 159). In
Massachusetts züchtete i. J. 1791 Setd Wirght aus einem zufällig
mit auffallend langem Leib und ganz kurzen krummen Beiuen ge-
borenen Lamme eine entsprechende Schafrace (Otterschafe), welche
ihm den Vortheil bot, die Becken nicht überspringen zu können.
Aehnlich wurde in Paraguay von einem im Jahre 1770 geborenen
hörnerlosen Stiere eine hörnerlose Bindviehrace gezüchtet (Häckel
S. 193). „Niemand wird bezweifeln, dass die in gewissen Familien
erblichen Krankheitsanlagen, wenn man im Stammbaum rückwärts
geht, auf einen Vorfahren hinführen müssen, der sie nicht mehr
ererbt, sondern erworben hat Dass sich amputirte Arme und
Beine und dergleichen Verstümmelungen in der Begel nicht ver-
erben, beweist gegen unsere Behauptung gar nichts, denn es sind
zu grobe und handgreifliche Eingriffe in die typische Idee der Gat-
tung, als dass man ihre Realisation im Kinde erwarten könnte; und
doch giebt es selbst hier merkwürdige Ausnahmen. Nach Häckel
zeugte ein Zuchtstier, dem durch Zufall der Schwanz an der Wurzel
abgeklemmt wurde, lauter schwanzlose Kälber, und hat man durch
consequentes Schwanzabschneiden während mehrerer Generationen
eine schwanzlose Hunderace erzielt. Meerschweinchen, welche durch
künstliche Verletzung des Rückenmarks epileptisch gemacht worden
waren, vererbten die Krankheit auf ihre Nachkommen. Im All-
gemeinen vererben sich erworbene Eigenschaften um so leichter, je
weniger sie den Arttypus stören, in je minutiöseren organischen
Veränderungen sie bestehen. Letzteres ist aber bei allen Disposi-
tionen des Gehirnes zu gewissen Schwingungszuständen der Fall«
Es ist eine bekannte Erfahrung, dass die Jungen von gezähmten
Thieren zahmer werden, als die jung eingefangenen von wilden,
dass von Hausthieren wieder diejenigen Jungen am zahmsten, folg-
samsten, gelehrigsten u. s. w. zu werden versprechen, die von den
118 Ttet der enten Anfluge.
zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten Eltern stammen. *) Jede Dressur
eines Thieres nach einer bestimmten Richtung bietet um so mehr
Aussicht auf Erfolg, je weiter die Dressur der Eltern in derselben
Richtung gediehen war. Junge undressirte Jagdhunde vta aus-
gezeichneten Eltern machen bei der Jagd von selbst Alles ziemlich
richtig, während bei Hunden, die von Eltern stammen, welche nie
zur Jagd gebraucht wurden, die Jagddressur eine furchtbare Arbeit
ist Söhne aus Reiterfatnilie* bringen Sita und Balance schon zm
erste» Versuch mit (Ph. d. IL S. 611—612).**)
Nach dem Angeführten unterliegt es keinem Zweifel, dass
Charaktereigenschaften sehr wohl t er erbt werden können, aaeh
wenn sie nicht ererbt, sondern nur individuell erworben waren.
„Wenn wir die Laster aus gewissen inveterirten Anomalien auf dem
Boden der Constitution erwachsen sehen" (z. B. Trunksucht, ge-
schlechtliche Verirrungen, Blutdurst u. s. w.), „wenn wir unzweifel-
haft die Vererbung von Lastern oonstatiren können, so liegt auf
der Hand, dass die Vererbung der vom Vater erworbenen Consti-
tution im Sohne die Ursache des Lasters ist" (Phil* Monatshefte
Bd. IV. Hft.5. S. 389 -390).***) Dasselbe gilt aber auoh fflr feinere
Nuancen des Charakters, die in den Eltern habituell actualiart
sind; es gilt sogar ftfcr die unscheinbarsten Aeusserliehbeiten in
Haltung, Bewegungen, Benehmen (PL cL Unb. S. 6 1 3) f) und ha-
bituelle Modificatkmen in der Art und Weise der Ideenassociation,
— Dinge, bei denen sich freilich oft schwer der Eiaflusa der Ver-
erbung von dem Einfluss des Beispiels trennen Ulssi Dass die
aristokratische Tournure wesentlich auf einer angeborenen Grund-
lage beruht, ist bekannt; es kommt dies nicht selten in Bastarden
Kur Erscheinung, die, ohne von ihrer Abstammung zu wissen, in
keineswegs aristokratischer Umgebung erwachsen sind. In ähnlicher
Weise ist es Katzen angeboren, ihre Exeremente, wenn irgend
möglich, zu verscharren; jedes höhere Thier hat eine mehr oder
*) Zu Aristoteles Zeiten musste unser Hofgeflügel noch unter Netzen und
Körben gehalten werden, wie heute bei uns die Fasanen, und doch ging jenem
Zustand eine schon viele Jahrtausende lange Domestication voran, Während es
nun nach abermals 2006 Jahren gelungen ist, die flüchtigen Natnrinsti&et* voll-
kommen au bezähmen.
**) 7. Aufl. IL 267—268.
***) Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus S. 189—190.
t) 7. Aufl. II. 269-
VI. Die Vererbung insbesondere des Charakters. 119
minder aristokratische oder plebejische Tournure mit auf die Welt
gebracht, welche es von seinen Vorfahren durch Vererbung über-
kommen hat und welche ihm sein änsserliehes Verhalten in allen
Lebenslage«, die ihm naturgemäss vorkommen, bis auf die kleinste
Geste und Bewegung vorzeichnet. Aber anch im eigentlich geistigen
Sinne haben die Thiere einen Charakter, der z. B. bei Hunden und
Pferden sich zum entschiedenen Individualcharakter ausprägt, wäh-
rend bei tieferstehenden Thierarten die Abweichungen des Individual-
charakters vom typischen Artcharakter so gering sind, dass man
sagen kann: beide fallen zusammen, — ein Umstand, durch den die
Vererbung nur um so mehr zu einer befestigten wird. Nur der
Charakter der ersten protoplasmatischen Monere, die aus Urzeugung
entstanden, war eine tabula rasa; strenggenommen war selbst hier
schon die zufällige Zusammensetzung der Stoffe entscheidend. Von
da an aber hat die Entwicklung der geistigen Artcharaktere mit
der Entwickelung der organischen Typen gleichen Schritt gehalten;
beide sind durch das gleiche Princip gefördert: durch die Ver-
erbung der hinzuerworbenen Eigentümlichkeiten, durch welche eine
beständige Erweiterung und Bereicherung des Charakters mit der
aufsteigenden Entwickelungsreihe entstehen musste. So empfing der
erste Mensch schon einen reich angelegten Charakter, welcher sich
dann in der anthropologischen Höherentwickelung der Menschheit
immer vielseitiger differenzirte und immer reicher entfaltete. Wie
auf äusserlich organischem, so auch auf innerlich psychischem Gebiet
ist es immer erst die Vererbung der individuell erworbenen Eigen-
schaften, welche die Entstehung von Typen und Charakteren mit
befestigter Vererbung möglich macht.
Wenn wir oben (S. 94) gesehen haben, dass die Beeinflussung
des Handelns durch willkürlich vorgehaltene oder ferngehaltene Mo-
tive die Möglichkeit bietet, durch Erziehung an Anderen und durch
sittliche Selbstzucht an sich selbst, vermittelst der Gewöhnung an
gewisse sittliche Handlungsweisen und Entwöhnung von unsittlichen,
nennenswerthe charakterologische Modifikationen hervorzurufen, so
musste doch damals der Gedanke deprimirend wirken, dass diese
Modifikationen dem ererbten Grundstock des Charakters gegenüber
immerhin von seeundärer Natur blieben. Jetzt aber eröffnet uns die
Descendenztheorie durch die Vererbung solcher individuell er-
worbenen Modifikationen des Charakters die tröstliche Perspective
120 Text der ersten Auflage.
auf die Möglichkeit einer progressiven Veredelung des
menschliehen Charakters durch Snmmation der durch
Erziehung und Selbstzucht erzielten individuellen Abweichungen,
ein Gedanke, der wohl geeignet scheint, an einer Reform der bisher
theoretisch so traurig bestellten und praktisch so unwirksamen und
wertMosen Wissenschaft der Ethik mitzuwirken.
VE
Die Vererbung von Anlagen und
Fertigkeiten.
WVWVA
Wir haben im letzten Abschnitt gesehen, wie gross der Unter-
schied zwischen der constituirten Vererbung und der Vererbung
neuerworbener Eigenschaften hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit,
Festigkeit und Dauerhaftigkeit der Uebertragung ist. Es verhalten
sich z. B. im Charakter die durch constituirte Vererbung angeborenen
Eigenschaften zu den in der Kindheit und Jugend durch Erziehung,
Verhältnisse und Schicksale hinzuerworbenen gleichsam wie zwei
verschiedene Schichten, von denen die oberflächliche unter gewöhn-
lichen Umständen die wichtigere scheinen kann, weil sie die tiefer
liegende verhüllt und die Beize früher als diese und leichter als
diese in Empfang nimmt; erst wenn grosse Motive an den Menschen
herantreten, welche nicht bloss seine oberflächlichen Gewohnheiten
und Interessen berühren, sondern sein Innerstes ergreifen und durch-
wühlen, erst dann wird diese Hülle durchbrochen und der an-
geborene Charakter macht sich in seinem dominirenden Rechte
geltend. Dieses Verhältniss kann natürlich nur da sich der Be-
achtung aufdrängen, wo die Einflüsse des Lebens dahin gewirkt
haben, den Charakter nach einer andern Bichtung hin zu entwickeln,
als die angeborenen Anlagen von selbst eingeschlagen hätten; wenn
aber auch ein mehr oder minder entschiedener Gegensatz zwischen
122 Text der ersten Auflage.
dem angeborenen und erworbenen Theil des Charakters zu den
Seltenheiten gehören wird, so wird man doch bei den meisten
Menschen auf gewisse specielle Richtungen stossen, wo ein solcher
Gegensatz sich entwickelt hat und gerade das Hervorbrechen des
Ursprünglichen, Angeborenen bei wichtigen Veranlassungen ist es,
was uns in anscheinend bekannten Charakteren plötzlich als ein
Widersprach gegen die ftlr gewöhnlich documentirte and deshalb
für charakteristisch angenommene Verhaltungsweise überrascht. Die
angeborenen Dispositionen sind tief eingegraben, aber nicht scharf
and sauber, ausser wenn sie durch Uebung und Gewohnheit nach-
gemeisselt sind; die neu hinzuerworbenen Dispositionen and Modi-
ficationen besitzen hingegen wohl die Schärfe und Distinction des
Schnitts, welche sie auf verwandte schwache Beize leicht ansprechen
läßst, aber nicht die nachhaltige Tiefe des Eindrucks, welche sie
eine Concurrenz mit den angeborenen Dispositionen aushalten Hesse,
wenn letztere einmal erregt sind. Auf schwache Reize resoniren
die angeborenen aber nicht geübten Dispositionen deshalb nicht,
weil sie zu verwittert, zu undeutlich sind, um das bei schwachen
Beizen nothwendige Maass qualitativer Uebereinstimmung zu be-
sitzen; je stärker aber der Beiz wird, um so grössere Differenzen
zwischen sich selbst und der Disposition überwindet er im Hervor-
rufen der Resonanz. So rufen denn grossartige Motive auch latente
Dispositionen, die man längst erstorben glaubte, zu neuem Leben
wach, wie etwa die grelle Beleuchtung schnell auf einander folgen-
der nächtlicher Blitze die alte verwitterte Bieseninschrift einer Fels-
wand plastisch hervortreten lässt, auf der der Forscher bei Tages-
licht und in nächster Nähe betrachtend bis dahin nur die darüber
gekritzelten Bemerkungen moderner Touristen erkannt hatte.
Wie die angeborene Sphäre des Charakters zur erwor-
benen, so ungefähr verhält sich die erworbene Charaktersphäre
zum Gedächtnis s. Dies scheint paradox, und doch ist es kein
heterogenes Gebiet, auf das wir hinübergehen, sondern nur ein gra-
duell verschiedenes (vgl. oben S. 94 — 95). Das Motiv ist, wie wir
wissen, Vorstellung, und der Inhalt des Willensactes, welcher als
Beaction auf das Motiv folgt, ist ebenfalls Vorstellung; ganz ebenso
ist beim Process der Ideenassociation der hervorrufende Beiz Vor-
stellung und der Inhalt der Beaction Vorstellung; im einen wie im
andern Falle haben wir es mit molecularen Hirnschwingungen zu
VE Die Vererbung von Anlage* ald Fertigkeiten. 123
thun, welche vorhandene Dispositionen zn seilen Schwingungen er-
regen, tob welchem Prooess sowohl Anfangs- wie Endglied als Vor-
steüing in's Bewusstsein treten. Der Unterschied liegt wesentlich
-nur in dem Maass der Willensbetheiligung, oder anders ausgedrückt :
theite in der absoluten Intensität der erregten Schwingungen, theils
in der relativen Intensität, mit welcher sie auf die Centralorgane
der Bewegung influiren und hierdurch zur Handlung intendirea. 67 )
Die Ueberiegeaheit der Intensität der tieferen Sphäre tritt selbst-
verständlich nur dann hervor, wenn sie dnreh einen entsprechenden
Reiz wirklich erregt worden ist; dann aber verhält sieh die In-
tensität der angeborenen zur erworbenen Charaktersphäre ganz
ebenso wie die Intensität der letzteren zu der Sphäre der Ge-
dächtnissdispositionen. Denn man würde sehr irren, wenn man
glaubte, daas die Gedächtnissvorsteüungen jeder Willensbetbeilignng
entbehrten. **) Wir sahen schon oben, dass jede noch so abstraflte
Vorstellung mindestens die Tendenz zu den ihr entsprechenden Be-
wegungen der Sfxraehorgane mit sieh führt; 89 ) in einer andern Weise
sich handelnd «n äussern, dazn fehlt es ihr nicht aowohl an In-
tensität, als an Gelegenheit, 90 ) d. h. es ist ihrer Natur nach nicht
abzasehen, welche Art von Handlung eine blosse gleichgültige Ge-
dächtnissvorstellung unmittelbar herbeiführen sollte. Sie befindet
sich dabei in einer ähnlichen Lage wie eine charakterologisohe Dis-
position, welche beim Mangel einer gegenwärtigen Gelegenheit zum
Handeln sich auf die Vorstellung der künftig bevorstehenden Ge-
legenheit hin als Vorsatz und Verlangen äussert, nur dass in diesem
Falle die Möglichkeit des Ueberganges in wirkliche Handlung von
einer erfüllbaren Bedingung abhängt, bei der blossen Gedächtniss-
vorstellung aber selbst das nicht Anatomisch muss sich dieser
Unterschied in einer verschiedenen Lage der Partien aussprechen,
in welchen die Gedäcbtnissdispositionen und in welchen die cha-
tackterolQgischen Dispositionen niedergelegt sind; die letzteren
müssen den Centralorganen der Bewegung näher liegen, oder doch
durch bessere Leitung mit ihnen verbunden sein; in demselben
Maasse aber müssen sie derjenigen Hirnschicht ferner liegen, in
welcher das hellste und klarste Bewusstsein erzeugt wird. 91 ) Wenn
eher unser Ausdruck, dass die Sphäre der erworbenen Charakter-
eigenschaften gleichsam eine Hülle um den Kern der angeborenen
bilde, zunächst nur bildlich zu nehmen war, so dürfte die ße-
124 Text der ersten Auflage.
hauptung, dass die Sphäre des Gedächtnisses am meisten periphe-
risch (von den Centralorganen der Bewegung ans gerechnet) zu
suchen sei, einigen Anspruch auf reale Bedeutung haben, um so
mehr als auch pathologische Erfahrungen (Substanzverlust des Ge-
hirns, Aphasie durch Schlagfluss u. s. w.) auf einen Sitz des Ge-
dächtnisses in den unter der Stirn gelegenen Theilen des Grosshirns
hinweisen.
Wenn nun auch die relative Intensität, mit welcher die Ge-
dächtnissvorstellungen auf die Gentralorgane der Bewegung influiren»
gering genannt werden muss, so braucht deshalb ihre absolute
Energie im Verhältniss zu erregten charakterologischen Dispo-
sitionen keineswegs unbedeutend zu sein. Dies beweist schon die
Lebhaftigkeit und Klarheit des Bewusstseins, durch welche sie
jenen entschieden überlegen sind. Die Leitungswiderstände in der
Richtung auf die Centralorgane der Bewegung verhindern sie nur,
ihre Intensität nach dieser Richtung hin zur Geltung zu bringen, 9t )
während sie dadurch Gelegenheit erhalten, dieselbe innerhalb der
Sphäre des Gedächtnisses selbst fruchtbar zu verwerthen, indem sie
dieselbe im Process der Ideenassociation fortwährend auf neue Vor-
stellungen übertragen. Erst durch dieses in sich Abgeschlossensein
der Sphäre des Gedächtnisses wird die Beweglichkeit und Le-
bendigkeit des Vorstellungsprocesses möglich, welche im bedeutungs-
vollen Gegensatz steht zu der Schwerfälligkeit und Stabilität des
Begehrungs- und Gefühlslebens (Phil, d. Unb. S. 374). *) Während
die Dauerhaftigkeit der Gefühle, Bestrebungen und Interessen allein
das Leben vor Zerfahrenheit und unstäter Zersplitterung schützen
kann, ist die schnelle Beweglichkeit des Vorstellungslebens die not-
wendige Voraussetzung für jede intellectuelle Leistung, sei es auf
dem theoretischen Gebiete der Erfindungen und Entdeckungen, sei
es auf dem praktischen Gebiet der Auswahl der richtigen Mittel
für die vom Gefühlsleben gesteckten Ziele. So kann man die
dynamische Leistung der Vorstellungssphäre auf die charaktero-
logische Sphäre des Begehrungs- und Gefühlslebens auch dahin de-
finiren, dass sie in der angemessenen Verarbeitung der Mo-
tive der letzteren besteht, während sie zugleich bei dieser ihrer
anscheinend rein intellectuellen Arbeit doch wieder unter dem be-
*) 7. Aufl. IL 4.
VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 125
stimmenden Einfluss der mehr centralen Sphäre der charaktero-
logischen Dispositionen steht, wie dies Schopenhauer (W. a. W. u.
V. Bd. II.) in dem Capitel : „Der Primat des Willens im Selbst-
bewnsstsein" näher ausgeführt hat. Einen directen Einfluss auf das
Handeln gewinnt die Vorstellungssphäre erst dann, wenn die Vor-
stellung einer willkürlich auszufahrenden Bewegung oder Handlung
mit einem activen centrifugalen Innervationsstrom (vgl. oben S. 78)
verbunden auftritt, was wiederum nur möglich ist, wenn entweder
diese bewutste Absicht mit dem unbewussten Resultat der Moti-
vation übereinstimmt, 98 ) oder aber wenn die betreffende Handlung
eine für den Charakter und die Lebensinteressen völlig gleich-
gültige ist 94 ) •
Wenn wir nach dieser Auseinandersetzung an unserm obigen
Ausspruch festhalten dürfen, dass die Gedächtnisssphäre sich zur
Sphäre der erworbenen Charakterdispositionen ungefähr so verhält,
wie diese zu der Sphäre der ererbten Charakterdispositionen, so werden
wir uns nicht wundern dürfen, dass, da doch schon die Vererbung
erworbener Charaktereigenschaften so viel schwieriger und unsicherer
ist als die der angeborenen, durch constituirte Vererbung befestigten
Charakteranlagen, dass nunmehr die Sphäre der Gedächtnissdispo-
sitionen, welche hinsichtlich der Tiefe ihrer Eindrücke sich als
noch weit oberflächlicher erweist, für gewöhnlich gar nicht mehr
zur Vererbung gelangt, oder wenn man so sagen darf, bereits unter-
halb der Schwelle der Vererbung liegt. Sind doch die Eindrücke
oft so schwach, dass sie in demselben Individuum nicht mehr zur
Beproduction gelangen können, d. h. radical vergessen bleiben,
— wie sollten sie da eine über das Individuum auf seine Nach-
kommen hinübergreifende Wirksamkeit äussern können ? Aber selbst
solche Gedäshtniss Vorstellungen, welche durch häufige Beproduction
fester eingeprägt werden, wie z. B. der Vocabelschatz der Mutter-
sprache, zeigen keine Spuren von Vererbung; man hat wenigstens
noch nirgends constatirt, dass ein von Deutschen geborenes Kind in
seiner Kindheit die deutsche Sprache leichter erlernte als irgend
eine andere mit der deutschen auf gleicher Stufe der formalen Ent-
wicklung stehende Sprache. Für dieses unterhalb der Vererbungs-
sehwelle gelegene Gebiet von Hirndispositionen, insoweit es für das
menschliche Culturleben Bedingung ist, muss dann eben die Er-
ziehung namentlich in frühester Kindheit vicarirend eintreten, um
126 Tut dtr «Wien Auflage.
gleichsam die organisch begonnene Modellirang des Gehirns im
Embryo durch systematisch regulirte Vorstellungszufubr und Uebuug
zum Absehluss zu bringen. Dass derartige Gedächhrissdispositionen,
wie Vocabeln, zu oberflächlich zur Vererbung sind, kommt offenbar
daher, dass die Gedächtnissvorstellungen dieser Art mehr oder
minder conventioneile Begriffszeichen sind, die nichts
Typisohes an sich haben und deren conventioneil so oder so be-
stimmte Qualität (ob ,#ere" oder „Vater") für die intellectneUe Be-
deutung ebenso gleichgültig ist wie für das Interesse und Gefühls-
leben. Ganz anders, wo es sich nicht bloss um gleichgültige Zeichen
oder um Erfhhrungswissen, sondern entweder um eine typische
Form der Vorstellungs weise, oder um einen Vorstellungsinhalt
handelt, dessen Qualität zugleich das Begehrungs- und Gefühlsleben
afficirt, also in das Gebiet Charakter ologischer Prädisposi-
tionen hinübergreift. Beides haben wir gesondert zu betrachten, wie
innig es auch in sich wiederum zusammenhängen mag. Nur die
letztere Seite betrachten wir in diesem Abschnitt, während die erstere,
die typischen Formen des Denkens und Anschauens, dem folgenden
Abschnitt vorbehalten bleibt
Wir sahen schon oben, dass die Hirnprädispositionen des Ge-
dächtnisses nicht sowohl speoifiseh als graduell von den charaktero-
logischen Hirnprädispositionen verschieden sind, dass der Uebergang
zwischen beiden ein durchaus flüssiger, durch die mannigfachsten
Verbindungsglieder vermittelter ist, und dass die blosse interesselos
gleichgültige Gedächtnissvorstellung nur das eine Endglied dieser
Reihe ist, deren anderes Ende die angeborene, aber durch
erworbene Modificationen entgegengesetzter Art latentgewordene
Charakteranlage ist Jede charakterologische Prädisposition ist ein
vorausbestimmter Reactionsmodus des Begehrens auf eine gewisse
Art von Motiven, und jeder Reactionsmodus wird nur dadurch zu
einem eigenthümlichen, dass das bei einem gegebenen Motiv resul-
tirende Wollen einen eigenthümlichen (von dem anderer Individuen
abweichenden) Vorstellungsinhalt besitzt. Ist also der Cha-
rakter angeboren (d. h. ererbt), so ist auch der eigentümliche Vor-
stellungsinhalt angeboren, dessen Gewolltwerden bei gegebenem
Motiv die Eigentümlichkeit des angeborenen Reactionsmodus aus-
macht. Ein Vorstellungsinhalt kann aber nur angeboren sein als
ererbte schlummernde Gedächtnissvorstellung, d. h. „als moleculace
VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 127
Hirndisposition zu gewissen Sehwingungsarten" (Ph. d. D. S. 613). *)
Wir können hinzufügen, dass gar nichts als dieser Vorstellung«-
iuhalt qualitative Unterschiede des Begehrens oder Wollens be»
wirken kann, 9& ) da ja die leere Form des Wollens, abgesehen von
diesem Vorstellungsinhalt, überhaupt nur quantitative Unter*
schiede der Intensität zulässt (ebenda S. 105),**) und ohnehin als
Wollen gar nicht zum Bewusstsein gelangt (vgl. oben Abschn. V.)«
Die Ph. d. U. fährt fort : „In dieser Art ist z. B. das Verhalten
des undressirten jungen Jagdhundes (seine Aufmerksamkeit auf
Wild, sein Stutzen, seine Neigung zum Apportiren geworfener Gegen-
stände) durch ein von seinen Vorfahren ererbtes Gedächtnies zu er-
klären, so aber, dass die aus den ererbten Hirndispositionen auf
geeignete Veranlassung auftauchenden (Erinnerung«-) Vorstellungen
nicht als Erinnerungen bewusst werden, sondern nur als Inhalt der
durch jene Veranlassungen (Motive) hervorgerufenen Willensacte
auftreten" (S. 613)*) Hiermit ist zugleich das psychologische Eri-
terion für den Unterschied individuell erworbener und ererbter Ge-
dächtnissdispositionen ausgesprochen: bei der fteproduction der
enteren taucht das Bewusstsein, die Vorstellung schon früher gehabt
zu haben, mit auf; und das Fehlen dieses Bewusstseins lässt bei
den letzteren den Charakter der Erinnerung nicht zur Geltung
kommen. Der junge Jagdhund wird von der Gesichtswahrnehmung
des Wildes oder des geworfenen Steins zwar ebenso afficirt wie
etwa ein junger Wachtelhund; aber er reagirt mit änderen Vor*
Stellungen auf diese Wahrnehmungen, wenngleich seine Vorstellungs-
reactionen nicht als blosse Vorstellungen, sondern als Vorstellungs-
inhalt von Willensacten hervortreten. (Beiläufig sei hier bemerkt,
dass Darwin das anderartige Verhalten junger Hunde, die von gut
dre8sirten Jagdhunden abstammen, bestätigt.) Wenn blindtaubstumme
Mädchen mit dem Eintritt der Pubertät die volle Schamhaftigkeit
ihres Geschlechts gegen die Berührung männlicher Personen ent-
wickeln (Ph. d. U. S. 186 -187),***) so treten Vorstellungsmassen
aus zuvor latenten Dispositionen heraus, welche bei dem Mangel
entsprechender Belehrung und Erziehung nur als Gedächtnis«*
*) 7. Aufl. IL 269.
**) 7. Aufl. I. 102.
*■*) 7. Aufl. I. 180—181.
128 Text der enien Auflage.
dispositionell zu bezeichnen sind, die von der constituirten Ver-
erbung ähnlicher Vorstellungsmassen in weiblicher Linie herrühren
und, wie alle Vererbungen, sich zu derselben Zeit zur Actualität
entfalten, wie dies in den Vorfahren der Fall war. Von der Patz-
sucht dieser unglücklichen Geschöpfe lässt sich nur dieselbe Er-
klärung geben. Diese Beispiele eröffnen aber zugleich eine weite
Perspective auf den grundlegenden Einfluss ererbter Vorstellungs-
massen in solchen Fällen, wo der Einfluss von Erziehung, Gewohn-
heit und Uebung verstärkend oder modificirend hinzutritt
Wenn ein aus einer Reiterfamilie stammender Jüngling nicht
selten Sitz und Balance zu seinem ersten Keitversuch in einer
anderen Anfängern überlegenen Weise mitbringt, so zeigt sich auch
hier eine Summe ererbter Vorstellungen und Kenntnisse über die
den jeweiligen Störungen der Balance entgegenzustellenden Muskel-
bewegungen, nur dass diese Vorstellungen hier noch weniger als
bei dem Apportiren des jungen Jagdhundes als solche zum Bewusst-
sein kommen, sondern in den Ausftlhrungsimpulsen zu den ent-
sprechenden combinirten Muskelbewegungen involvirt bleiben. Diese
Vorstellungsmassen treten im gegebenen Beispiel um so weniger in's
Bewusstsein, als die entsprechenden molecularen Dispositionen grossen-
theils im Kleinhirn und verlängerten Mark zu suchen sind. Die
vererbte Disposition aller Thiere zu den ihrem Leben nöthigen Be-
wegungen des Gehens, Schwimmens, Fliegens u. s. w. entspricht
ganz und gar dieser Reiterdisposition ; sie tritt um so deutlicher
hervor, in je fertigerem Zustande das Thier in's Leben eintritt, und
entzieht sich der Beobachtung in um so höherem Grade, je länger
die Dauer der jugendlichen Unreife ist, die bekanntlich beim Men-
schen und demnächst bei den antropoYden Affen am grössten ist.
Beim Menschen scheint das Kind gar nichts mitzubringen, sondern
alles erst zu lernen; in der That aber bringt es alles oder doch
unendlich viel mehr als das fix und fertig aus dem Ei kriechende
Thier mit, aber es bringt alles in unreifem Zustande mit, weil des
zu Entwickelnden bei ihm so viel ist, dass es in den 9 Monaten des
Embryolebens nur erst im Keime vorgebildet sein kann. So geht
nun das Reifen der Dispositionen bei fortschreitender Ausbildung
des Säuglinggehirns mit dem Lernen, d. h. mit dem Nachmeisseln
dieser Dispositionen durch Uebung Hand in Hand und erzielt da-
durch ein weit reicheres und saubereres Endresultat, als die blosse
VH Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 129
Vererbung bei den Thieren vermag (vgl. Ph. d. Unb. S. 314).*)
Aber selbst das menschliche Kind würde mit dem wundervollen
Mechanismus seiner Gliedmaassen and seiner Sinneswerkzenge gar
nichts anzufangen wissen, wenn es nicht die Hirnprädispositionen
zum Gebrauch derselben als ererbten Besitz mitbrächte;
der Unterschied ist nur, dass es wegen der noch breiartigen Be-
schaffenheit seines Gehirns, das sich erst allmählich consolidirt, lange
Zeit braucht, um von seinem Eigenthum vollen Besitz zu ergreifen,
während das Thier von Anfang an in seiner beschränkteren Domäne
wie zu Hause ist. Bei dem Reichthum der menschlichen Erbschaft
aber heisst es:
„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen".
Das Lernen des Kindes ist dieser Erwerbungs- oder Aneignungs-
process des Ererbten. Während das Thier niemals zu der abstracten
Vorstellung gelangt, diese oder jene Bewegung vollziehen zu wollen,
sondern immer nur Bewegungen auf entsprechende praktische Motive
oder aus unmittelbarem Bewegungstrieb vornimmt, gelangt der
Mensch dazu, die Ausführungsimpulse zu den Bewegungen der
wichtigeren, quergestreiften Muskeln unter Umständen auch von den
anmittelbaren praktischen Motiven ablösen zu können und mit
der abstracten Vorstellung der Ausführung einer solchen Bewegung
zu associiren. Diese Ablösung findet nicht plötzlich statt, sondern
allmählich, Schritt vor Schritt, durch Selbstbeobachtung und Be-
lauschung der nur mit schwachen begleitenden Empfindungen in's
Bewusstsein fallenden Impulse. Wie die Uebung und Vererbung
im Thierreich die Verbindung zwischen der Wahrnehmung oder
Vorstellung des praktischen Motivs mit der Ausführungsbewegung
dem Hirn eingegraben, Dispositionen gegründet und Leitungsbahnen
für den Willensimpuls geschaffen hatte, so schafft Uebung und Ver-
erbung in der Menschheit (und schon in den intelligentesten Thieren)
ähnliche Associationen zwischen gewissen abstracten Vorstellungen
und den entsprechenden Ausfiihrungsbewegungen, — vorausgesetzt,
dass die Vorstellungen intensiv genug sind und dass die unmittel-
bare Ausführung der Bewegung in imperativer Form in ihnen
enthalten ist Insoweit diese Associationen ererbt oder fest eingeübt
*) 7. Aufl. I. 304-305.
k ▼. Hart manu, Das Unbewuarte, 2, Aufl.
130 Text der ersten Auflage.
sind, geschehen sie mit einer ziemlichen Sicherheit; doch können
sie niemals dasjenige Maass nahezu unfehlbarer Sicherheit erlangen,
was die durch befestigte Ererbung constituirten instinctiven Be-
wegungsreactionen auf bestimmte für das Leben des betreffenden
Wesens wichtige Motive besitzen ; denn das eine Glied der Associa-
tion, die abstracte Vorstellung, entzieht sich der Vererbung, und
deshalb muss das Band in jedem Individuum' gleichsam neu geknüpft
werden. Wir können hiernach der Ph. d. Unb. nicht zugeben, dass
die Möglichkeit des Fehlgreifens die Hypothese eines mechanischen
Zusammenhangs zwischen Vorstellung und Ausfthrungsimpuls diß-
creditire (S. 66);*) diese Möglichkeit beweist eben nur, dass dieser
Zusammenhang nicht dermaassen durch lange Vererbung befestigt
ist, um praktisch unfehlbar geworden zu sein, sondern dass diese
mechanische Leitung sich noch wie die mangelhaft isolirte Leitung
einer electrischen Batterie verhält, welche gelegentlich einen Funken
seitwärts überspringen lässt. Je dauernder eine bestimmte Associa-
tion zwischen Vorstellung und Ausführung geübt wird, um so besser
wird die Leitungsbahn eingegraben und um so seltener die Fälle
des Fehlgreifens.
Hieraus folgt, dass die praktische Unfehlbarkeit der instinctiven
und reflectorischen Bewegungen durch die befestigte Vererbung
des Leitungsmechanismus zwischen Motiv und Ausführung hin-
reichend erklärt ist, ohne dass man für diesen Zweck eine meta-
physische Unfehlbarkeit des Unbewussten zu Hülfe zu nehmen
brauchte; es folgt ferner daraus, dass eine Vervollkommnung
der Association durch Gewohnheit und Uebung wirklich stattfindet,
und dass mithin dieser ganze Associationsprocess nur auf materiel-
lem Gebiete zu erklären gesucht werden kann, da das Unbewusste
weder in seinem Wesen, noch in seinen Functionen einer Vervoll-
kommnung durch Gewohnheit und Uebung fähig ist (vgl. oben S. 68).
Die Phil. d. Unb. muss sich in einem solchen Falle, wo Uebnng
einen Process ermöglicht, der anfänglich mit vergeblichen An-
strengungen versucht wurde, zu der Behauptung Zuflucht nehmen,
dass der metaphysisch-teleologiscbe Eingriff des Unbewussten in
dem nicht zu dieser Art von Functionen prädisponirten Organ zu
grossen Widerstand finde, um sich geltend machen zu können, und
*) 7. Aufl. L 65.
VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 131
dass die vom Organ durch Uebung oder Vererbung erlangte Prä-
disposition dem Unbewossten den Eingriff erleichtere (vgl. Phil,
d. Unb. S. 284, Z. 8—11).*) Wenn aber das Vorhandensein der
molecnlaren Prädisposition doch einmal als Bedingung zugegeben
ist, und zugleich als die Bedingung, auf deren Vervollkommnung
die Vervollkommnung der Association zwischen Vorstellung und
Ausführung beruht, dann gleicht der darüber schwebende meta-
physische Eingriff doch stark einem fünften Bad am Wagen, das
zur Erklärung nichts mehr beiträgt. 96 ) Was das Wahre an dem
Capitel A. II der Phil. d. Unbew. ist, das ist der Nachweis des
schon oben zugestandenen Satzes, dass ohne vorgefundene an-
geborene Prädispositionen behufs Association gewisser Vorstellungen
(Motive) mit gewissen Bewegungen der ganze Apparat von Mus-
keln, motorischen Nerven und Centralorganen der Bewegung für
den Besitzer werthlos und unbrauchbar sein würde, weil er nichts
mit ihm anzufangen wüsste. Die Summe der angeborenen Prä-
dispositionen dieser Art ist eben das, was die Phil. d. Unbew. die
unbewusste Eenntniss der Lage der centralen Endigungen der
motorischen Nerven nennt; sie sind Prädispositionen zu gewissen
Reactionen, welche den Bewegungsimpuls auf gewisse centrale
Nervenendigungen richten, und ihre Reactionen bestehen in mole-
cnlaren Schwingungen, welche denen der Vorstellung zwar analog,
aber doch noch so weit von ihnen (schon durch die Lage im Gehirn)
verschieden sind, dass sie nicht als Vorstellungen bewusst
werden.
Die Phil. d. Unbew. sperrt sich letzten Endes nur deshalb
dagegen, diese Erklärung zu acceptiren, weil sie durch dieselbe
das Problem nicht gelöst, sondern nur nach rückwärts ver-
schoben erachtet, da dieselbe die Frage nach der Entstehung
der Prädisposition in den Vorfahren offen lasse (S. 66—67). **)
Nun ist aber aus der Beobachtung am Menschen bekannt, dass mit
Hülfe des mehr oder weniger blinden, auf gut Glück herumtappen-
den Probirens die ersten Versuche zur Association einer gewissen
Bewegung mit der VorstelluDg dieser Bewegung vorgenommen
*) 7. Aufl. L 276 Z. 18-21.
**) 7. Aufl. I. 65—66.
9*
132 Text der ersten Auflage.
werden, und dass der centrifugale Innervationsstrom*) dabei mit-
unter gar keine, mitunter nur sehr dürftige Anhaltspunkte hat Im
enteren Falle sind nicht selten alle Versuche erfolglos (z. B. die
Versuche zur Bewegung der menschlichen Ohrenmuskeln, zu deren
Ausführung wir die Prädisposition nur in sehr abgeschwächter und
verkümmerter Gestalt überkommen haben). Ist aber ein solcher
Versuch erst ein Mal gelungen, 97 ) so bleibt ein Eindruck von der
dem Innervationsstrom ertheilten Richtung haften, welcher für den
zweiten Versuch schon einen Anhaltspunkt gewährt. Auf diese
Weise ist ein Zuwachs 98 ) solcher Prädispositionen und eine feinere
Durcharbeitung und Vervollkommnung der ererbten in der That
ohne alle metaphysisch-teleologischen Eingriffe des Unbewuasten
erklärlich, und da wir vom Menschen rückwärts durch seine ganze
Ahnenreihe bis herab zur Urmonere nirgends einen Punkt finden,
wo mehr als dies verlangt würde, so werden wir auch in der
Entstehungsgeschichte dieses Prädispositionscomplexes von den
ersten mechanischen Gontractionen des Protoplasmas auf die ver-
schiedenen Beize bis herauf zu den eomplicirtesten Bewegungs-
fertigkeiten der höheren Thiere und Menschen nichts finden, was
die mechanische Erklärungsweise als principieil unzulänglich er-
scheinen Hesse, wenngleich wir gern zugeben, dass wir damit noch
weit entfernt sind von der eigentlichen Erklärung eines einzelnen
concreten Vorgangs.
Nachdem wir uns über das Princip verständigt haben, welches
bei der Erklärung der sogenannten körperlichen Fertigkeiten zu
Grunde zu legen ist, können wir um so weniger zweifeln, dass es
sich bei der Erklärung der rein geistigen Fertigkeiten um dasselbe
Princip handeln kann; denn hier können die Gehirndispositionen
viel unmittelbarer wirken, weil die Schwierigkeit der einzugraben-
den Leitungsbahnen von den vorstellenden Grosshirnpartien zu den
Centralorganen der Bewegung hinwegfällt. Die geistigen Fertig-
keiten können sich nur auf die Verarbeitung von Vorstellungsmassen
einer gewissen Qualität (mathematische, musikalische u. s. w. Ta-
lente) oder auf Verarbeitung aller oder doch der meisten auf-
stossenden Vorstellungen in gewissem Sinne und in gewisser Richtung
(philosophische, poetische u. s. w. Talente) beziehen, wobei nicht
*) Vgl. oben S. 95 u. 72—73.
VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 133
»»geschlossen ist, dass die fruchtbringende Ausübung verschiedener
dieser Anlagen eine gewisse Combination von rein geistigen und
geistig-körperlichen Fertigkeiten erfordert (z. B. ausübend-musika-
lische, mimische, bildnerische Talente). In diesem Gebiet kann
kein Zweifel obwalten, dass die Phil. d. Unb. mit unserer Auf-
fassung übereinstimmt, 99 ) auch wenn sie es nicht ausdrücklich
ausspräche (3. Aufl. 8. 612 Z. 12—5 von unten; 1. Aufl. S. 517);*)
schon das klare und entschiedene Auftreten der Schopenhauer'schen
Philosophie Hess in dieser Frage kaum einen Rückfall befürchten.
Um so wunderbarer aber ist es, dass die Phil. d. Unb. bei dem
engen und flüssigen Zusammenhang der reingeistigen, gemischten
und körperlichen Fertigkeiten für die letzteren, die doch ihrer
Natur nach dem materiellen Mechanismus weit näher liegen, ein
abweichendes metaphysisches Erklärungsprincip aufstellt, und ist
diese Inconsequenz (wie schon oben S. 36—37 bemerkt) nur da-
durch erklärlich, dass das Gap. A. II einige Jahre früher als Cap.
C. X**) verfasst ist Auf S. 613***) der 3. Aufl. wird geradezu
-eingeräumt, dass „auch bei Menschen sich ein grosser Theil der
äusserlichen Manieren und Eigenthümlichkeiten der Haltung, der
Bewegung und des Benehmens aus ererbten Hirnprädispositionen
der mit denselben Eigenthümlichkeiten behafteten Vorfahren zu-
sammensetzt", d. h. also doch, dass auch körperliche Gewohnheiten
und Fertigkeiten aus ererbten Hirnprädispositionen erklärt werden
können.
Dass gewisse geistige Talente durch mehrere Generationen in
einer Familie erblich sind, beweisen zahlreiche Beispiele (Maler,
Mathematiker, Astronomen, Schauspieler, Feldherren tu s. w.) (Phil.
d. Unb. S. 613).***) Die Familie Bach producirte nicht weniger
als 22 hervorragende musikalische Talente. Der Kampf um's Da-
sein unter Völkern und Individuen wirkt auf beständige Steigerung
der durchschnittlichen intellectuellen Fähigkeiten im Menschen-
geschlecht hin, während der Charakter sich wohl reicher und
reicher differenzirt, aber nicht in dem Maasse von Wichtigkeit für
den Kampf um's Dasein ist wie der Intellect (Phil. d. Unb. S. 613
*) 7. Aufl. II. 268 Z. 12—5 v. u.
**) 7. Aufl. II. Cap. XI.
) 7. Aufl. IL 269.
134 Text der ersten Auflage.
bis 614). *) Dazu kommt noch, dass mit der Zeit immer neue Ge-
biete de» Geistes erschlossen und damit neue Fertigkeiten und
Anlagen zur Handhabung und Bearbeitung der einschlagenden
Vorstellungsmassen entwickelt werden, während zugleich anderer-
seits trotz der auch auf geistigem Gebiete beständig wachsenden
Arbeitstheilung doch die Durchschnittsmasse des jedem einzelnen
Individuum einer Culturnation zugefiihrten geistigen Bildungs-
materials ebensowohl im beständigen Wachsen ißt, wie die auf
die Erziehung eines Individuums durchschnittlich verwendete Arbeit.
Die Phil. d. ünb. sagt S. 340—341**) hierüber Folgendes:
„Wie jeder Körpertheil durch den Gebrauch und die Uebung ge-
stärkt und zu neuen ähnlichen Leistungen geschickter gemacht
wird, so auch das grosse Gehirn; wie bei jedem Körpertheil ist
aber auch beim grossen Gehirn die von den Eltern erworbene
Kräftigung und materielle Vervollkommnung durch Vererbung auf
das Kind übertragbar. Diese Vererbung ist nicht in jedem einzel-
nen Falle direct nachweisbar, aber als Durchschnitt von einer
Generation auf die folgende genommen ist sie Thatsache und ebenso
ist es Thatsache, dass es eine latente Vererbung giebt, welche erst
in der zweiten oder dritten Generation ihre Früchte offenbart (z.B.
wenn Jemand von seinem Grossvater mütterlicherseits starken rothen
Bartwuchs und schöne Bassstimme geerbt hat). Da jede Generation
ihren bewussten Intellect weiter ausbildet, also auch dessen ma-
terielles Organ weiter vervollkommnet, so summiren sich im Laute der
Generationen diese für Eine Generation immerhin unmerklich kleinen
Zuwachse zu deutlich sichtbar werdenden Grössen. Es ist keine
blosse Redensart, dass die Kinder jetzt klüger geboren werden und
dass sie, minder kindlich als sonst, schon in der Kindheit Neigung
zeigen, vorzeitig altklug zu werden. Wie Junge dressirter Thiere
zu der gleichen Dressur geeigneter sind, als wild eingefangene
Junge, so sind auch die Kinder einer menschlichen Generation um
so geschickter zur Erlernung bestimmter Könnens- und Wissens-
gebiete, je weiter jene es darin bereits gebracht hatte. Ich bezweifle
z. B., dass ein Helenenknabe jemals ein tüchtiger productiver Mu-
siker im modernen Sinne geworden wäre, weil sein Gehirn derjeni-
*) 7. Aufl. II. 269—270.
**) 7. Aufl. I. 330—331.
VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 135
gen ererbten Prädispositionen für das weite Gebiet der musikalischen
Harmonie entbehrte, welche erst die moderne westeuropäische
Menschheit sich durch eine historische Entwickelungsreihe von mehr
als fünfzehn Generationen erworben hat. Ein Archimedes oder
Euklid möchte trotz seines relativen mathematischen Genies sich
recht unbeholfen als Schüler eines Unterrichts in der höheren Ma-
thematik erwiesen haben.
„So erzeugt jeder geistige Fortschritt eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit des materiellen Organs des Intellects, und diese
wird durch Vererbung (im Durchschnitt) dauernder Besitz der
Menschheit^ — eine erklommene Stufe, welche das Weiteraufsteigen
zur nächsten erleichtert, d. h. die Fortschritte des geistigen Besitzes
der Menschheit gehen Hand in Hand [mit der anthropologischen
Entwickelung der Race, und stehen in Wechselwirkung mit der-
selben; jeder Fortschritt der einen Seite kommt der andern Seite
zu Gute; es muss also auch eine anthropologische Veredelung der
Race, die aus anderen Ursachen als aus geistigen Fortschritten
entspringt, die intellectuelle Entwickelung fördern. Von letzterer
Art ist z. B. die Veredelung der Bace durch geschlechtliche Aus-
wahl (Cap. B. ü), welche unaufhörlich ihre unbeachteten aber mäch-
tigen Wirkungen übt, oder die Concurrenz der Bacen und Nationen
im Kampf um's Dasein, welcher unter den Menschen sich nach
ebenso unerbittlichen Naturgesetzen vollzieht wie unter Thieren und
Pflanzen."
Wir sehen -also, dass die Vererbung ebensowohl auf intellec-
tuellem wie auf charakterologischem Gebiete wirksam ist, und zwar
auf ersterem noch weit wirksamer, theils deshalb, weil, wie schon be-
merkt, die charakterologischen Differenzirungen sich leichter durch
Kreuzung wieder ausgleichen, die intellectuellen aber im Kampf
der Individuen und Völker um's Dasein sich potenziren, theils des-
halb, weil der jeweilige intellectuelle Gesammtbesitz der Menschheit
im Gedächtniss der Lebenden und in der Literatur eine substan-
tielle Existenz hat, welche an die nachkommenden Generationen
durch Unterricht übertragbar ist, während hingegen in charakte-
rologischer Beziehung nur ein dürftiges Analogon im System der
Ethik vorhanden ist, und hierbei nicht die Aufnahme dieses Vor-
handenen in's Gedächtniss, sondern nur die Einprägung der
praktischen Principien in den Charakter (durch Erziehung oder
136 Tert der ersten Auflage.
Selbstzucht), welche unendlich viel schwieriger ißt, zur Sprache
kommen kann. Soviel wirksamer, wie der intellectuelle Unterricht
als die charakterologiscbe Erziehung ist, soviel wirksamer ist die
Unterstützung des Menschheitsfortschritts, welche der intellectuellen
Entwicklung als die, welche der charakterologischen Entwickelung
über die Leistungen der blossen Vererbung hinaus durch Ueber-
tragung auf Lebende erwächst
Vffl.
Die Abkürzung der Ideenassociation und
die Vererbung der Denkformen.
Wir hatten oben (S. 132 — 133) darauf hingedeutet, dass die
sogenannten Talente oder geistigen Anlagen wesentlich in der
Fertigkeit der Handhabung und Bearbeitung gewisser Vorstellungs-
massen, oder der Bearbeitung beliebiger Vorstellungen in einer be-
stimmten Richtung bestehen und dass diese Fertigkeiten aus er-
erbten oder durch Uebung erworbenen Gehirnprädispositionen erklärt
werden müssen. Wenn nun bei aller geistigen Arbeit, gleichviel ob
sie in der Auswahl geeigneter Mittel zu praktischen Zwecken, oder
in künstlerischer Conception, oder in wissenschaftlichem Erfinden
und Entdecken besteht, die Pointe des Gelingens immer darin liegt,
dass einem „die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt"
(Ph. d. ü. S. 255, 269 ff.),*) so wird das eigentlich Productive
in der Geistesarbeit ausschliesslich in der activen Ideenassociation
(ygl. oben S. 72—73) zu suchen sein, keineswegs etwa in formal-
logischen Processen, wie dem Schlussverfahren, bei dem nichts heraus-
kommt, als was man vorher hineingesteckt hatte (Ph. d. U. 276—276). **)
Selbst wo es sich nur um Herstellung einer gewissen Ordnung ge-
*) 7. Aufl. L 247, 262.
**) 7. Aufl. I. 269—270.
138 Text der ersten Auflage.
gebener Vorstellungsmassen handelt, wird doch das maassgebende
Princip, nach welchem das Ordnen vorgenommen wird, Sache eines
glücklichen Griffes, also Resultat einer productiven Ideenassociation
sein. Alle formellen Forschungsmethoden der deductiven und in-
ductiven Logik dienen doch nur dazu, das durch kühne und glück-
liche Ideenassociation Concipirte objectiv sicher zu stellen, resp. als
Irrthum zu erweisen ; der physikalische Experimentator wie der pro-
ductive Mathematiker leisten beide doch eigentlich nur dann Be-
deutendes, wenn sie der Hauptsache nach schon vorher wissen, was
bei ihrer Arbeit herauskommen muss; andernfalls bleiben sie ewig
fleissige Stümper. Die Ideenassociation ist die allgemeingültige,
ewig unersetzliche Urform, in welcher jeder Vorstellungsprocess
verläuft, und alle Regeln der Methodik des Denkens sind doch nichts
als Abstractionen von gewissen bequemer systematisirbaren Unter-
arten dieser Urform. Diese Urform hat in der Psychologie der
meisten Philosophen noch keineswegs ihre verdiente Beachtung
gefunden.
Einer der wichtigsten Vorgänge im gesammten Gebiete der
Psychologie, die bisher kaum geahnt ist, ist nun die Abkürzung
der Ideenassociation, deren Resultat Lazarus „Verdichtung
des Denkens" genannt hat (Ph. d. U. 262).*) Wenn ich zu irgend
einem mir gesteckten Ziel, von der Vorstellung A ausgehend, die
Vorstellungen B und G passiren muss, um zur gesuchten Vorstellung
D zu gelangen, dann braucht sich die Lösung dieser Aufgabe mit
denselben Mitteln nur einigemal in meiner Praxis zu wiederholen,
so werden die Zwischenglieder B und C sich von selbst elidiren.
Das erste Mal muss ich den centrifugalen Innervationsstrom der
Aufmerksamkeit bei j e dem der Glieder aussenden, um zum nächsten
zu gelangen, bei jeder Wiederholung des Processes sind aber die
Prädispositionen besser eingegraben und sprechen auf den Beiz der
hervorrufenden Vorstellung leichter an; dadurch vermindert sich
sowohl die erforderliche active Energie der Aufmerksamkeit,
als auch die zwischen A und D verfliessende Zeit Nach öfteren
Wiederholungen bedarf es gar keines activen Suchens mehr und
rückt D an A der Zeit nach so nahe heran, dass das Bewusstsein
nicht mehr die nöthige Zeit erhält, um auf B und G als
*) 7. Aufl. L 2
Vm. Die Abktirz. d. Ideenassociation u* die Vererbung d. Denkformen. 139
solchen zu verweilen; ohnehin besitzen B und C kein Interesse,
wohl aber D, welches eben das gesuchte Ziel ist. Sind in dieser
Weise B und G erst einmal unter die Bewusstseinsschwelle gesunken,
so sinken sie schnell immer weiter, so dass man nun sagen kann,
D sei mit A unmittelbar associirt. Die Verbindung von
A mit D durch B und G hindurch, war vielleicht eine wohlbegrün-
dete, logisch vermittelte, während die unmittelbare Verbindung von
A mit D eben wegen der fehlenden logischen Verbindungsform als
eine logisch unbegründete, zufällige oder willkürliche erscheint, so
lange man nicht diese genetischen Verbindungsglieder restituirt —
Nun kann dieser Process der Abkürzung aber noch weiter gehen.
Man denke sich, dass eine neue Reihe activer Ideenassociationen
die Vorstellungen A, D, G und E durchläuft (wobei die Association
ron D und G und von G und E selbst schon eine abgekürzte sein
kann) und dass diese Reihe auf bestimmte Veranlassung hin eben-
falls häufiger wiederkehrt, so wird sich durch denselben Elisions-
process zuletzt A mit E unmittelbar associiren. Wenn bei dem ersten
Abkürzungsverfahren zwischen A und D die logisch vermittelnden
Zwischenglieder noch durch leichtes Besinnen zu restituiren waren,
so kann bei einem weiter fortgeführten Abkürzungsverfahren diese
Restitution der Zwischenglieder zuletzt sehr schwierig, ja bei einer
vererbten Tendenz oder Prädisposition zu solchen abgekürzten Asso-
ciationen zuletzt ganz unmöglich werden.
Nun beruht aber alle Fertigkeit und Anlage zur Gedanken-
verarbeitung in einer bestimmten Richtung auf solchen erwor-
benen oder ererbtenPrädispositionen zu abgekürzter
Ideenassociation. Wo die Fertigkeit eine durch Uebung
individuell erworbene ist, wird man sich in der Regel des Unter-
schiedes mit einer früheren Zeit, wo man sie noch nicht besass, be-
wusst sein, indem man sich dessen erinnert, wie man früher viele
Schritte der Ideenassociation zu demselben Ziele brauchte, wo man
jetzt mit einem ausreicht. Am frappantesten ist aber die Erschei-
nung der abgekürzten Ideenassociation oder des Ueberspringens
mehrerer logischer Zwischenglieder in solchen Fällen, wo man sich
der Zeit vor erlangter Uebung nicht mehr bewusst ist, und wo
dann in der Regel schon ererbte Dispositionen zu Grunde
lagen, welche der Uebung nur das Nachmeisseln überliessen
und dadurch die Periode der Unbeholfenheit sehr abkürzten. In
140 Text der ersten Auflage.
solchen Fallen, wenn man nicht ihren flüssigen Uebergang zu denen,
wo der Abkflrzungsprocess zu Tage liegt, beachtet, seheint es dann
in der That, als läge eine höhere metaphysische Eingebung vor.
Die Ph. d. U. bemerkt ganz richtig, dass auch in dem discursiyen
Denken, wo alle logischen Zwischenstationen in bewussten Halte-
punkten, also in Hirnschwingungen, vollständig ausgeführt
worden, doch der Uebergang von einer Vorstellung zur andern ein
unbewusster Process ist, und somit die neue Vorstellung intuitiv
eintritt — dass man aber im Unterschiede von diesem in kurzen
Schritten sich bewegenden Denken ein intuitives im engeren
Sinne erst dann anerkennt, wenn eine discursive Vermittelang
durch actuell vorhandene, in möglichste Nähe an einander gerückte
Zwischenglieder nicht mehr ersichtlich ist (S. 282—283)*). Man
braucht zu diesem Anerkenntnis der Oleichartigkeit des Vor-
stellungsprocesses in beiden Fällen nur noeh das in der Ph. d. U.
fehlende Verständniss Aber die allmählich wachsende Abkürzung
des Processes der Ideenassociation hinzuzufügen, um ein Erklärongs-
princip für das sogenannte intuitive Denken zu gewinnen, welches,
wenn es auch nicht mit einem Schlage alle Bäthsel der Gonceptionen
des Genies löst, doch einen Fingerzeig giebt, auf welchem Wege
von dem Verständniss der gewöhnlich vorkommenden abgekürzten
Denkprocesse zu den selteneren productivsten Formen derselben
aufzusteigen sei. 10 °) Es lag dies der Ph. d. U. um so näher, als
sie selbst wenigstens andeutungsweise die analoge Erscheinung der
abgekürzten Vererbung berührt (8. 570 Anm.)**), nämlich
die Thatsache, dass in der embryonalen Entwickelung da* niederen
Thiere je zwei Stufen mehr Zwischenglieder zeigen, als dieselben
Stufen in der embryonalen Entwickelung eines zu derselben directen
Descendenzlinie gehörigen höheren Thieres zeigen, dass mit
anderen Worten bei höheren Thieren die durch lang andauernde
Vererbung fester und fester constituirte Entwickelungsfähigkeit des
Ei's eine Elision von Uebergangsstufen gestattet, welche bei der
Entwickelung der niederen Thiere noch unerlässlich sind.
Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so lernen wir sie mit
Hülfe von Regeln. Aber um eine Sprache zu können, muss durch
*) 7. Aufl. I. 274—276.
*) 7. Aufl. H. 228.
VÜL Die Abkürz. d. Ideenassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 141
den Abkürzungsprocess der Ideenassociation die Regel bereits wieder
eliminirt sein, muss der concreto Fall anmittelbar diejenige Vor-
stellung hervorrufen, welche der Anwendung der Regel auf diesen
Fall entspricht. Wer eine Sprache auf diese Weise kann, der
yergisst mit der Zeit die früher erlernten Regeln vollständig, weil
die Gedächtnisseindrücke derselben nicht mehr im Bewusstsein
reproducirt werden; er kann alsdann über den logischen Grund
seiner abgekürzten Ideenassociation nicht mehr Auskunft geben,
wenn dieselbe ungerechtfertigter Weise einmal angefochten wird, —
er besitzt wohl diese logische Begründung implicite oder immanenter
Weise in seinem concreten Vorstellen, aber weil sie ihm eben un-
bewusst geworden ist, so kann er sich nur noch auf sein
Sprach-Gefühl berufen. Kinder lernen ihre Muttersprache aller-
dings ohne Regeln, aber sie machen auch dafür den genetischen
Entwickelungsprocess, den ihre Sprache in Jahrtausenden zurück-
gelegt hat, in abgekürzter Weise in einigen Monaten durch, d.h. sie
fangen mit der Wurzelsprache an, gehen dann zur aggluti-
nir enden Wort Sprache über und gelangen erst ganz allmählig
zum Verständniss der Flexionen und Syntax. Bei alledem aber
wären sie doch ausser Stande, die Sprache auf diese Weise und
noch dazu im Laufe weniger Jahre, ja fast nur Monate, vollständig
zu erlernen, wenn sie nicht die molecularen Hirnprädispositionen zu
den typischen Formen des Sprachbaues und zu den typischen Ver-
knüpfungsweisen der Vorstellungen in unseren flectirenden Sprachen
schon als ererbten Besitz mitbrächten. Dass die Kinder
von Wilden, deren Sprachsystem auf niedrigerer Stufe der formalen
Entwickelung steht, unsere modernen europäischen Sprachen (mit
Ausnahme des Englischen, das kaum noch Flexionssprache zu nennen
ist) schwerer lernen als ihre Muttersprache und schwerer als unsere
Kinder, ist durch mehrfache Beispiele wahrscheinlich gemacht; wir
glauben, dasselbe auch von chinesischen Kindern voraussetzen zu
dürfen.
Alle Sprache beruht auf dem Begriff des Zeichens; in ihm
kommt Geberdensprache, Lautsprache und Schriftsprache zusammen.
Das Zeichen ist eine besondere Art der Association einer Vorstel-
lung mit einer andern, so dass die erstere keinen andern Zweck
und keine andere Aufgabe hat, als die zweite hervorzurufen. Eine
solche Verknüpfung ist selbst schon etwas so Eigentümliches, dass
142 Text der ersten Auflage.
sie als typische Form der Association betrachtet werden mnss. Dass
die Prädisposition zn derselben angeboren, d. h. ererbt ist, erhellt
wieder am besten aus der Beobachtung an Blindtaubstummen. Man
muss sich nur einmal recht deutlich in die Lage eines solchen un-
glücklichen Geschöpfes versetzen, um die Schwierigkeit, sie zur
Zeichensprache zu führen, nach ihrem ganzen Umfang zu ermessen.
Man gebe ihnen z. B. in die eine Hand ein Ei und führe die Finger
der andern Hand über ein Zeichen, etwa über die eingravirten
Schriftzeichen, so oft man diese Procedur auch wiederholen mag,
wird man doch nie dadurch den Begriff des Zeichens und des Be-
zeichneten in dem Intellect des Schülers hervorrufen, wenn die
Prädisposition des Gehirns für diese Verknüpfung (wie etwa bei
einem geistig tiefstehenden Thiere) fehlt.
Wie bei der Erlernung einer fremden Sprache die gramma-
tische Regel aus der Ideenassociation elidirt werden muss, so
beim Erlernen der Mathematik die mathematische Kegel. Welche
Qual verursacht den Kindern nicht schon das Rechnen mit Brüchen,
und welche Menge von Regeln erlernen sie zu diesem Zweck, die
alle bestimmt sind, vergessen zu werden, wenn diese Hantirungen
zur Fertigkeit geworden sind! Und so geht es weiter durch alle
Stufen der Mathematik. Niemand kann erfolgreich eine höhere
Stufe beschreiten, er habe denn zuvor die Verfahrungsweisen der
vorhergehenden Stufen in's Gefühl aufgenommen, d. h. die ab-
stracten Regeln aus der Association des gegebenen besonderen Falles
mit der regelrecht entsprechenden Operation elidirt. In der Mathe-
matik enthält aber selbst schon die Aufstellung der Regel eine
Abkürzung der Ideenassociation, nämlich die Elision der logischen
Begründung der Regel in ihrer AllgemeingiltigkeH
welche wohl beim tyrannischen Usus der Sprache, niemals aber
beim mathematischen Denken fehlen darf, und welche dennoch —
allerdings nicht ohne das Bewusstsein, sie jederzeit reproduciren zn
können — zu den* Acten des Unbewussten gelegt wird, indem die
Regel dem Gedächtniss eingeprägt wird. Die mathematischen
Begriffe selbst (z. B. schon die im dekadischen Zahlensystem ge-
schriebene Zahl, die negative Grösse, das Product, der Bruch, die
Potenz, die Wurzel, der Logarithmus, die imaginäre Grösse, das
unendlich Grosse und Kleine, die Ereisfunctionen, das Differential
und Integral, die elliptischen und Abel'schen Functionen, die stets
Yin. Die Abkürz. d. Ideenassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 143
wiederkehrenden Constanten, wie g, n } e 11. s. w.) sind sämmtlich
doch nur Zeichen für das Resultat eines genetischen Gedanken-
processes, den es keinem Mathematiker einfällt beim Arbeiten sich
beständig zu wiederholen, obwohl das Zeichen ohne Wiederholung
dieses Processes leer ist. Nun sind aber für jeden dieser Begriffe
gewisse Formen der Association mit anderen mathematischen Be-
griffszeichen, welche die Beziehung der ersteren zu den letzteren
nnd die durch solche Beziehung zu bestimmten Zwecken geforderten
praktischen Verfahrungsweisen in sich enthalten, ein- für allemal
aus dem Entstehungsprocess der Begriffe logisch abgeleitet und dem
Gedächtniss als abgekürzte Associationen eingeprägt. Diese im
Gedächtniss mit dem begleitenden Bewusstsein logischer Begründung
niedergelegten nothwendigen Beziehungen zu anderen Begriffszeichen
sind nun der eigentliche und bleibende Inhalt jedes
mathematischen Begriffszeichens, jedoch noch mit der
einschränkenden Bestimmung, dass in jedem concreten Falle nur
soviel davon zum Bewusstsein kommt, als durch die jeweiligen
Verbindungen mit anderen Begriffszeichen praktisch erfordert
wird. Bedenkt man, dass der Entstehungsprocess eines höheren
mathematischen Begriffszeichens zunächst auf niedere, und die Ge-
nesis dieser wieder auf niedere führt u. s. f., ehe man bei der an-
schaulichen Grösse als unteren Grenze ankommt, so mag man
ermessen, welche Masse von verdichtetem oder compri-
mirtem Denken in einem einzigen höheren mathema-
tischen Begriffszeichen steckt und welches Maass von
Abkürzung der Ideenassociation die höheren Operationen der Mathe-
matik voraussetzen (Ph. d. Unb. S. 262).*) Es kann hiernach auch
nicht Wunder nehmen, wenn diese höheren mathematischen Opera-
tionen nur in verhältnissmässig wenigen Gehirnen eine Prädisposition
vorfinden, welche sie ohne allzu grosse Anstrengungen des Denkens
ermöglicht; Thatsache ist, dass bei der gewöhnlichen Weise des
Unterrichts nur etwa ein Drittel von der männlichen Jugend der
gebildeten Gesellschaftsschichten die oberen Gebiete der niederen
Analysis mit ihrem Verständniss durchdringt, während es von diesem
wieder höchstens 10 Procent gelingt, in der höheren Mathematik
heimisch zu werden. Je entschiedener die reinen Spiritualisten die
*) 7. Aufl. I. 255.
144 Text der ersten Auflage.
Vernunft als die göttliebe Prärogative der Menschheit behaupten,
um so williger müssen sie zugeben, dass die Anwendung dieser
Vernunft auf die Gegenstände der höheren Mathematik nur an einer
mangelnden Gehirnprädisposition seheitern kann, dass also auch der
Vorzag einer spedfisch-mathematischen Befähigung nur in dem
angeborenen Besitz solcher prädispositioneller Gehirnanlagen begrün-
det sein könne und nicht etwa in individuell bevorzugenden Inspi-
rationen eines metaphysischen Unbewussten zu suchen sei. 101 ) Dass
übrigens diese angeborene Anlage zur Mathematik als durch Ver-
erbung entstanden zu denken sei, spricht die Ph. d. Unb. S. 341*)
deutlich genug aus (vgl. oben S. 134—135), sowie sie S. 613**)
auf die Erblichkeit des mathematischen Talents in gewissen Fami-
lien hinweist Energie des denkenden Studiums und Uebung kann
auch hier den Mangel ererbter Anlage zum Theil ersetzen und die
Vererbung der so erworbenen Prädispositionen ist es, welche die
Anlage der Nachkommen constituirt, die alsdann in diesen abermals
gesteigert werden kann.
Was wir bei den mathematischen Begriffen in so hohem Grade
nachgewiesen haben, gilt in geringerem Grade von allen abstraften
Begriffen, und in -um so beträchtlicherem Maasse, je abstracter die-
selben sind. Wenn wir oben (S. 140) den Unterschied zwischen
discursivem und intuitivem Denken als einen relativen erkannten,
so gilt dasselbe von den Resultaten dieses Denkens, der dis-
cursiven und intuitiven Vorstellung, oder dem Begriff und der An-
schauung. Was an dem abstractesten Begriff positiv ist, ist
Anschauung („Ding an sich" S. 105) ***) und andrerseits sind die
Anschauungen, von denen die Abstraetion der Begriffe ausgeht,
selbst schon Resultate einer ererbten und erworbenen abgekürzten
Ideenassociation, in denen die logische Arbeit der elidirten Zwischen-
glieder und Vorstufen unbewusst geworden ist. „Die Anschauung
im engeren Sinne ist nur ein Begriff von niedrigerer Abstractions-
(und Combinations-) Stufe ; der Begriff ist nur eine Anschauung von
höherer Abstractions- (und Combinations-) Stufe" („Ding an sich"
S. 107). f) Der Begriff hat seinen ihn von der Anschauung unter-
*) 7. Aufl. I. 331.
**) 7. Aufl. IL 269.
***) Krit. Grundl. d. transc. Realism. S. 149.
t) Krit. Grundl. d. transc. Realism. S. 151.
VIII, Die Abkflrz. d. Jdeenasaociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 145
scheidenden Charakter in dem begleitenden Bewusstsein der
Negativität in Bezug auf dasjenige, wovon abßtrahirt ist;
je wichtiger aber in einem Begriffe das combinirende oder
synthetische Element im Verh<niss zum negirenden oder ab-
strahlenden ist und je mehr sein Qedächtnisseindruck zur typi-
schen Form des Vorstellens wird, die sich durch Vererbung
befestigt, desto mehr schwindet für das Bewusstsein sein Unter-
schied von der Anschauung; sobald die Abkürzung der Ideenasso-
ciation so weit gediehen ist, dass die Vorstufen der Genesis des
Begriffs unbewusst geworden sind, ist der Begriff für das Be-
wusstsein zur Anschauung selbst geworden, gleichviel wie
lang und beschwerlich der Weg seiner Genesis vor vollendeter
Abkürzung der Ideenassociation war. Für den echten Mathematiker
sind Differential und Integral ganz ebenso entschiedene Anschauungen,
wie etwa für den niederen mathematischen Verstand das „Producta
zur Anschauung geworden ist, nachdem die Genesis des Begriffs
ans der .Summe von n gleichen Summanden unbewusst geworden
ist. Was Schopenhauer für die Geometrie richtig herausgefunden
hat, gilt ganz ebenso auch für die Algebra, wenngleich die Prär
dispositionen für das eine Gebiet vorhanden sein können, ohne die
für das andere, und umgekehrt; auf alle Fälle aber darf man sich
nicht auf die angeborenen Prädispoeitionen blind verlassen, ohne
dieselben im discursiven Durchdenken der Sache zu controliren und
nachzumeisseln (PL d. ünb. S. 279—282).*)
Wenn wir uns ein wenig besinnen, was wir bei dem gedank-
lichen Operiren mit einem Begriff oder einer abstracten allgemeinen
Vorstellung (z. B. Hund, Haus, Liebe) eigentlich im Bewusstsein
haben, so ist das etwas höchst Wunderliches« Zunächst haftet der
Inhalt an der Vorstellung des Wortes als Begriffszeichens;
Taubstumme und Thiere bilden zwar auch Begriffe ohne Worte,
aber sie gewinnen niemals die Leichtigkeit der Handhabung der-
selben wie der sprechende Mensch und bleiben in Folge dessen
auch auf ziemlich niedrigen Stufen des Abstractionsprocesses stehen,
ohne die höheren zu erreichen. An die Wortvorstellung knüpft sich
nun beim Operiren mit dem Begriff noch ein gewisser schattenhafter,
nebuloser, flüchtig vorüberhuschender Vorsteüungsinhalt, der schwer
*) 7. Aufl..I. 271-274.
I» t. Hartmann, Dm Unbewnasto. 2. Aufl. 10
146 Text der ersten Auflage.
festzuhalten und zu definiren ist Beim Sprechenhören oder zusam-
menhängenden Lesen, ja selbst beim sehneilen Selbstdenken wird
das Wort im Bewnsstsein so schnell von den nachfolgenden Worten
verdrängt, dass dieser Inhalt neben dem Wort als solchen gar keine
Zeit hat, zur Geltang zu kommen, es sei denn, dass das Wort eine
dominirende Bedeutung im Satze in der Weise einnimmt, dass die
ihm zukommende Vorstellung als Orgelpunkt die folgenden Vor-
stellungen begleitet und in der Gesammtanschauung von dem Inhalt
des Satzes den Kern des Vorstellungsbildes abgiebt. Insoweit dies
nicht der Fall ist, wird gerade wie bei einem mathematischen Be-
griffszeichen von allen Hirnprädispositionen, welche mit diesem
Zeichen associirt sind, nur derjenige Theil actualisirt werden, wel-
cher durch die anderen Worte, mit denen das fragliche im Satze
in Beziehung gesetzt ist, wachgerufen werden. Dieser wachgerufene
Theil fügt dann dem Kern des Vorstellungsbildes im Satze eine
neue Bestimmtheit hinzu. Es verliert durch diese Beschränkung
des in's Bewnsstsein tretenden Inhalts jeder Begriff durch Ver-
bindung mit anderen an Abstractheit, und nur diesem
Umstand ist es zuzuschreiben, dass die Sprache als Mittel einer
Kunst, der Poesie, verwendbar ist, welche doch nur in concreter
Anschaulichkeit ihre Aufgabe erfüllen kann. Die Beziehungen der
Worte untereinander in einer wissenschaftlichen Untersuchung, z. B.
einem Paragraphen der Hegel'schen Logik, sind natürlich ganz
andere als in einer poetischen Schilderung, und demgemäss wird
bei denselben Worten, selbst wenn sie mit denselben oder ähnlichen
verbunden sind, doch ein ganz anderer Theil des mit ihnen asso-
ciirten Vorstellungsinhalts in's Bewnsstsein gerufen werden. Wer
nur in der einen Art von Beziehungen zu operiren geübt und ge-
wohnt ist, für den bleibt der wahre Sinn der andern Art leicht
ganz unverständlich, obwohl er die Worte und Satzconstructionen
ganz gut zu kennen glaubt
Sehen wir nun von der Verbindung eines Wortes mit anderen
im Satze ab und fragen nach der Vorstellung, die man mit dem
Worte verknüpft, wenn man es allein für sich hinstellt, so ist es
klar, dass dieselbe ganz abhängig sein wird von den Beziehungen,
unter welchen man dem Worte am häufigsten zu begegnen gewohnt
ist Von entscheidendem Einfluss bleiben dabei die Gedanken-
processe, durch welche der Begriff in |der Kindheit zuerst gebildet
VÜL Die Abkürz. d. IdeenagBociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 147
wurde, und die concreten Gegenstände, von denen er zufällig zuerst
abstrahirt wurde. Das kleine Mädchen, das zuerst den Wachtelhund
ihrer Grossmutter „Hund" nennt, wird ihr Leben lang eine andere
Vorstellung mit dem Worte „Hund" verbinden, als der Knabe, dessen
Kindheit von einem Neufundländer behütet ist; das Dorfkind wird
das Abstractum „Haus" stets anders reproduciren, als der dem städti-
schen Palast Entsprossene. Will man ein Abstractum deutlich und
vollständig vorstellen, so bleibt nichts übrig, als den vollständigen
genetischen Abstractionsprocess desselben zu reproduciren; da man
dies aber fast niemals, ausser in entscheidenden Begriffsunter-
suchungen, thut, so folgt daraus eben, dass man sich in allen ande-
ren Fällen mit einer abgekürzten Ideenassociation zwischen
dem sprachlichen Begriffszeichen einerseits und derjenigen be-
schränkten Seite von dem Resultat des genetischen Abstractions-
processes begnügt, welche für die Beziehungen des Wortes in dem
vorliegenden Falle von Bedeutung ist Je niedriger die Abstractions-
stufe des Begriffs, um so kleiner ist die bei diesem Abktirzungsprocess
elidirte Vorstellungsmasse; je höher die Abstractionsstufe, um so
grösser ist der Ausfall an Gliedern, um so höher der Grad der
Abkürzung, um so schwerer zu erfüllen auch die Voraussetzung
aller Verständigung durch die Sprache, dass verschiedene Personen
mit denselben Wortverbindungen denselben Sinn verbinden, da sich
nicht nur der genetische Abstractionsprocess, sondern auch der
Abktirzungsprocess bei jedem Individuum etwas anders gestaltet
Wo der Spielraum individueller Abweichung so beträchtlich ist,
kann die Aussicht auf Vererbung von vornherein nicht gross sein
und so sehen wir denn auch nicht, dass die Auffassungen sehr
abstracter Begriffe von Seiten der Eltern anders als durch die Er-
ziehung einen Einfluss auf die des Kindes haben. Eine völlige
Ausnahmestellung nehmen aber diejenigen abstracten Begriffe ein,
welche typische Formen der Vorstellungsweisen bezeichnen; so
gross auch die individuellen Verschiedenheiten in der bewussten
Auffassung des Inhalts dieser Begriffe sind, so identisch bei
allen Menschen gleicher Sprachstufe erweisen sich die ererbten
Prädispositionen zur formell so und so bestimmten Vorstellungs-
weise und Verknüpfungsweise der Vorstellungen. Zum Theil sind
diese typischen Denkformen das durch die Gewalt der Thatsachen
octroyirte subjective Nachbild von den Formen des Daseins und
10»
148 Teart der Osten Auflage.
Geschehen» („Ding an sich" S. 86—89),*) zum Theil Bind eil formale
Beziehungen, in welche das Denken die gegebenen Objeete theils
unter einander, theils zu sieh selbst and seinem Erkennen setzen
musste, um sich in denselben soweit orientiren zn können, dass das
praktische Handeln möglich wurde. Von der ersten Art sind die
Kategorien der SubstantiaBtät und Inhärenz, der CausftKtät und
Notwendigkeit, der Einheit und Vielheit (Zahl), der Gleichheit
und Ungleichheit; letztere stehen schon auf dem Uebergange zu
den Befeiehungsbegriffen der Allheit, der Negation und Limitation,
der Möglichkeit, Unmöglichkeit und Zufälligkeit („Ding an sich"
S. 81).**) Hiermit sind die typischen Denkformen oder Kategorien
keineswegs erschöpft ; jeder Versuch einer vollständigen Aufzählung
derselben ist von vornherein als verfehlt anzusehen deshalb, weil
diese allgemeinsten Denkfortiten stetig und flüssig in formale Prä-
dispositiorien der Vorstellungsweise und Verknttpfungsweise der
Vorstellungen von minderer Allgemeinheit übergehen und sich ein
spedfischer Unterschied zwischen ihnen und z. B. den Prädisposi-
tionen für mathematisches Denken oder musikalische Oomposition
gar nicht angeben lässt. Zum Theil, aber doch auch nur zum
kleineren Theil, fallen die Kategorien der Logik mit den Elementen
der Grammatik, die allgemeinsten typischen Denkformen mit den
allgemeinsten typischen Sprachformen zusammen, oder haben
wenigstens in diesen ihr äusseres Analogon, wie das Denken über-
haupt an der Sprache ein seinen Leibesformen accurat angepasstes
Gewand besitzt. Der typischen Sprachformen sind aber andererseits
wieder mehr als der bisher statuirten typischen Denkformen (vgl.
Ph. d. Unb. S. 262—263),***) so dass also auch nach dieser Seite
die Prädispositionen von formaler typischer Bedeutung einen all-
mählichen Uebergang zu concreteren Dispositionen bilden. Gleich-
wohl ist die Verwandtschaft der typischen Sprachformen mit den
typischen Denkformen ebenso geeignet, wie die Verwandtschaft der
speciellen formalen Denkanlagen auf einseitigen Gebieten mit den
allgemeinen Kategorien, um dafür zu sprechen, dass auch die
letzteren in moleculareh Hirnprädispositionen ihren
*) Krit. Grün dl. d. transcend. Realismus S. 119—125.
**) Krit. GrundL d. transcend. Realismus S. 114—115.
«**) 7. Aufl. I. Ü55.
VIII. Die Abkürz. d. Ideenasaociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 149
Grand haben, welche von den Vorfahren ererbt und von diesen
durch allmählichen durch yiele Jahrtausende vertheilien Zuwachs
Band in Hand mit der Entwickelung der Sprache und dessen, was
wir jetzt anter menschlicher [Intelligenz verstehen, erworben
worden sind 10 *) (Ph. d. Unb. S. 614).*) Das Princip dieser Fort-
bildung kann nichts anderes gewesen sein, als das Bedttrfhiss, die
Welt der umgebenden Ob jecte mit dem Verständniss zu durchdringen
und den in ihr sich darbietenden Verhältnissen ebensowohl wie den
Beziehungen zwischen ihr und den eigenen praktischen Lebens-
interessen bestens Rechnung zu tragen.
Von den vielen möglichen Arten der Vorstellungsver-
kntipfung wurden auf jeder Stufe der Entwickelung diejenigen beibe-
halten! welche sich für die praktischen Consequenzen des Denkens
als nützlich bewährten; diese wurden wiederholt und prägten
sich dadurch ein, während etwaige andere versuchte Verknüpfungs-
formen wegen ihrer minder guten Anpassung an die Zwecke des
Lebens keine oder schwächere Aufforderungen zur Wiederholung in
sich enthielten und sich deshalb verloren. Die in diesem ideellen
Kampf um's Dasein siegreichen VorsteUungsformen konnten aber
eben nur dadurch die praktisch sich als nützlich bewährenden
sein, weil sie den thatsäohlichen Verhältnissen der Aussen weit
besser entsprachen, weil sie ein adäquateres subjek-
tives Abbild derselben gaben als andere ; denn nur unter dieser
Voraussetzung waren sie im Stande, die richtigeren Conse-
quenzen für praktische Handlungen zu ergeben, welche
auf ihnen ftssten. In diesem Sinne besitzen ja sogar schon die
Thiere die Kategorien, sie henrtheilen die kommenden Ereignisse
nach dem Princip der Causalität und richten ihre Handlungen dar-
nach ein; sie besitzen die Kategorie der Zahl (wenn auch nur in
ihren niederen Stufen) und unterscheiden auf das allerschär&te nach
der Kategorie der Gleichheit und Ungleichheit; sie denken nach
dem Satz der Identität und des Widerspruchs, weil eine andere
Form der Vorstellungsverknüpfung falsche Voraussetzungen in ihnen
hervorrufen würde, die ihren Interessen schädlich werden müssten.
So ist z. B. die Krähe tiberzeugt, dass die Zahl 7 der in die Schiess-
httte gegangenen Jäger sich selbst identisch bleibt und noch nach
*) 7. Aul. IL 270.
150 Text der ersten Auflage.
einer Stande sich identisch ist; dächte sie anders und käme, wenn
erst 6 davon die Hütte verlassen haben, an den Lockvogel heran,
so würde sie den Schaden davon haben. — Die so von den thieri-
schen Vorfahren ererbten Denkformen und Denkgesetze brauchte der
Mensch nur strenger und sicherer auszuprägen, feiner durchzubilden
und mit neuen zu bereichern ; aber trotz der Sprache, welche die
Reflexion auf dieselben und das Bewusstwerden derselben ab solcher
ermöglicht, dauert es doch noch sehr lange, ehe der Mensch auf
inductivem Wege sich den Besitz dieser typischen Denkformen and
Denkgesetze, deren er sich beständig bedient, zum Bewusstsein
bringt; zeigt doch ein Homer, Pindar und Aeschylos noch keine
Ahnung davon und war es nach dem Vorgang platonischer An-
deutungen dem Aristoteles vorbehalten, den Grundstein zu dem
menschlichen Bewusstsein Aber die synthetischen Formen seiner
Denkoperationen zu legen. Und während die praktische An-
wendung dieser dem Gehirn durch Vererbung imprägnirten
Prädispositionen zu gewissen Formen der Vorstellungsverknüpfung
bei allen Menschen seit Jahrtausenden dieselbe ist, streiten
sich noch heute, Jahrtausende nach Aristoteles, die Philosophen über
die Natur und das Wesen dieser synthetischen Formen, cL h. ist
noch heute die bewusste Erkenntniss dieses unbewussten
Eigenthums nicht zum Abschluss gelangt und ein Tummelplatz
der widersprechendsten Ansichten. Hieraus geht aber
auch rückwärts hervor, dass die A n w e n d u n g der angeborenen
Formen von der Ansicht des Bewusstseins über dieselben gänzlich
unabhängig ist, ebenso unabhängig beim Civilisirten wie beim
Wilden, beim Menschen wie beim Thier. Diese Thatsache sollte
doch diejenigen Theologen und starren Spiritualisten etwas stutzig
machen, welche wähnen, dass die Kategorien und Denkgesetze,
welche den Kanon des Logischen bilden, eine Gabe seien, welche
einen specifischen Unterschied des Menschen vomThiere
begründeten, oder dass der göttliche Funke der Vernunft es sei, der
den Menschen in eine völlig heterogene Geistessphäre erhebe, als
das „vernunftlose" Thier. Nicht in der Sphäre des Bewusstseins
liegt die Vernunft, sondern in der der unbewussten, angeboraeo,
formalen Prädisposition; 109 ) unbewusste Vernunft hat aber
das Thier gerade so gut wie der Mensch, nur auf einer
graduell verschiedenen Stufe der Entwicklung, je nach der Stufe
YIIL Die Abkürz. d. Ideenassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 151
der Intelligenz des Thieres, das man ans der Reihe heraus-
greift.
Es ist allerdings die stärkste Zumuthung, die man dem Philo-
sophen stellen kann, dass er die typischen Denkformen nnd Denk-
gesetze auf psychologischem Gebiet als Resultate eines allmählichen
Anpassnngsprocesses zwischen den Gehirneindrticken der Voretel-
lungsverknüpfungen der Thiere nnd den gegebenen Verhältnissen
der Anssenwelt betrachten solle, nnd dennoch dürfte bei näherer
Betrachtung selbst für den Metaphysiker das Paradoxe dieser Be-
hauptung verschwinden. Zunächst ist zu beachten, dass die Ge-
nesis der logischen Prädispositionen auf psychologischem
Gebiet nicht das Mindeste aussagt oder gar entscheidet über das
ontologische Wesen der logischen Formen und Gesetze auf
metaphysischem Gebiet, also auch ihrer metaphysischen Be-
deutung keinen Eintrag thun kann. 104 ) Jede Philosophie, welche die
Beschränktheit des subjectiven Idealismus überwunden und die Be-
deutung der logischen Formen und Gesetze für die Welt der Dinge
an sich für das reale Dasein und Geschehen zugegeben hat, muss
anerkennen, dass die logischen Formen und Gesetze in dem thie-
rischen und menschlichen Intellect letzten Endes nur deshalb Gül-
tigkeit haben können, weil dieser Intellect selbst eine reale Existenz
hat, weil er zur Welt des realen Daseins gehört und mit unter
deren Formen und Gesetzen steht. Ist es aber einmal zugestanden,
dass die subjective Logik nur ein Ausfluss der objectiven Logik
sein kann, 106 ) so bleibt nur noch die Frage zu entscheiden, ob die
Begründung der psychologischen logischen Formen und Ge-
setze in den ontologisehen eine unmittelbare oder mittel-
bare sei. Wenn man früher, gestützt auf eine teleologische Meta-
physik, der scheinbar einfacheren Annahme einer unmittelbaren
Begründung den Vorzug gab, so muss gegenwärtig die Analogie
der gesammten übrigen Schöpfungsgebiete hiervon abmahnen,
welche durchgehends eine sehr allmähliche Vermittlung durch
langwierige Entwickelungsprocesse zeigen, wo man früher an un-
mittelbare Constituirung aus der Hand der schöpferischen Natur
oder Gottes geglaubt hatte. Ist der ganze Mensch und speciell
das Organ seines Geistes das Resultat einer solchen langwierigen
Entwickelung, so lässt die Analogie erwarten, dass auch die logi-
schen Formen seiner Vorstellungen und seiner Vorstellungs-
152 Text der ersten Auflage.
Verknüpfungen nur das Bonität eines Eaiwiokelungsprooesses in
seiner Ahnenreihe seien.
Diese Vermuthung findet ihre Bestätigung darin, dass wir die
verschiedenen Entwiekelungsstdfen der psychologischen Logik in
den nns erhaltenen Besten der menschlichen Ahnenreihe handgreif-
lich vor nns haben ; wir brauchen nur z. B. den VorsteUungsproons
eines Warmes, eines niederen Fisches, einer Amphibie, eines niede-
ren und eines höheren Sängethieres, eines Buschmanns, eines Kosaken
und eines gebildeten Europäers zu vergleichen. Eine weitem Be-
stärkung erhält unsere Annahme in der nahen Verwandtschaft der
Denkformen mit den Anschauungsfonnen, welehe wir sogleich näher
betrachten werden und für welche dieselbe Annahme kanm m
umgehen ist. Zu einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit
wird sie endlich erhoben durch den Verzicht auf teleologische Ein-
griffe in die organischen Melecularprocesse des Gehirns, durch welche
also auch eine unmittelbare logische Bestimmung der Verknttpfungs-
weise zweier Vorstellungen ausgeschlossen bleibt, insofern dieselbe
nicht nach den mechanischen Gesetzen der Gehirnschwingungen sieh
schon von selbst aus den vorhandenen Prädispositionen und den
auf diese einwirkenden Bewegungsreizen ergiebt. 106 ) Da wir die
bewusste Vorstellung überhaupt als Summatioaspbänomen aas den
Empfindungs- oder Vorstellungsfunctionen der Atome betrachten und
einen andern Geist als die Innerlichkeit der Atome des Gehirns
selbst als im Menschen wirksam anzuerkennen keinen Grund ge-
funden haben, so kann auch das objectiv reale Dasein, in welchem
die subjectiv-logischen Formen ihre Begründung haben sollen, in
nichts anderm als im Gehirn gesucht werden, und kann die gesetz-
mässige Bestimmtheit der synthetischen Formen des Voratellungs-
processes im Sinne der objectiv gültigen logischen Formen und
Gesetze durch keine andere Eigenschaft dieses realen Daseins
bedingt sein, als durch die ererbten Prädispositionen des Gehirns,
in welchen allein die Vorstellungsverknüpfung prädeterminirt sein
kann. 107 ) — Die ausnahmslose Sicherheit, mit welcher z. B. die
Prädispositionen der logischen Grundgesetze der Identität und des
Widerspruchs psychologisch functioniren, würde hiernach herrühren
von der unendlich langen Generationenreihe des Thierreichs, durch
welche die Vererbung dieser Verknüpfungsform zu einer überaus
befestigten geworden ist Während bei allen anderen als den rein
ym. Die Abkürz, d Ideeaassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 153
logischen Formen in der Ahnenreihe de» Mensehen ein öfter wieder-
holter Wechsel stattfindet, bleiben diese immer und immer dieselben
und werden niemals durch die Nöthigung zn einer VorsteUangs-
Verknüpfung gestört, welche diese Disposition abschwächen könnte,
wie dies bei allen typischen Formen der InstinctForstellungen mehr
oder minder häufig der Fall ist Schon die Ideenassociation, welche
ohne jede ererbte Anlage bloss durch GewöhnuAg während eines
Menschenlebens erworben ist, kann eine Gewalt bekommen, der
gegenüber alles abstracte Besserwissen ohnmächtig wird (z. B. die
Association der Vorstellung der Unreinheit mit der Vorstellung eines
Porcellangefässes von der Gestalt eines Nachtgeschirres; oder die
Association der Vorstellung der Todsünde mit der Vorstellung der
Tödtnng einer Kuh, wie sie im Kopfe aller gläubigen Brahminen
besteht); wie darf man sich da solchen Thatsachen gegenüber noch
wajodern, wenn eine durch Millionen Jahre ohne jede Störung be-
festigte Vererbung, welche in der Erfahrung und Gewöhnung des
individuellen Lebens nichts als Bestätigung und Bestärkung findet,
das Resultat einer 90 unerschütterlich befestigten Prädispositioh zu
Stande bringt, dass es gegen das Funotioniren derselben keine
Appellation mehr im Bewusstsein des Individuums giebt!
Indem die besprochenen Prädispositionen die Vorstellungsweise
und Verknüpfungsweise von Vorstellungen nach bestimmten typischen
Normen prädeterminiren , ohne selbst dabei in'e Bewusstsein zu
treten, sind sie das Prius des allein in'« Bewusstsein tretenden
Resultats. Nun ist aber nur dasjenige, was im Bewusstsein vor-
gefunden wird, für das Individuum empirisch gegeben, was aber
jenseits des Bewusstseins in dem vorbewussten Entstefoungsprocess
des Smpirischen liegt, ist nickt mehr empirisch zu nennen, sondern
steht, insofern es von der begrifflichen Untersuchung als wirklich
vorhanden constatirt ist, in einem begrifflichen Gegensatz zu dem
Empirischen. Als Prius des Empirischen heisst es in der Philosophie
seit Kant „das Apriorische 11 (vgl. „Ding an sich" S. 37).*)
Schon Plato hatte erkannt, dass der menschliche Intellect nichts
weniger als eine leere Tafel, eine tabula rasa sei (wie Locke be-
hauptet), sondern dass alles Lernen ein dem Auftauchen von Er-
innerungen ganz analoger Process sei Sein Irrthum bestand nur
*) Krit. Grundl. d. transcoad. Beslisn. 8. £7—99.
154 Text der ersten Auflage.
darin, dass er die Prädispositionen zu diesen Erinnerungen in einem
früheren Leben der mit sich identischen Individualseelensabstanz,
anstatt in der Vererbung von den Vorfahren des Individuums her
begründet wähnte (Ph. d. Unb. S. 613). *) Dass die Denkfonnen
nicht individuell erworben, sondern angeboren seien, wurde mit
Recht von Descartes so scharf prononcirt, aber Locke hatte ebenso
sehr Recht, zu bestreiten, dass es angeborene Ideen oder Vor-
stellungen gäbe, da in der That die Prädispositionen zu gewissen
Denkfonnen ebenso wenig und noch weniger Ideen oder Vorstel-
lungen heissen können, als die individuell erworbenen Prädisposi-
tionen des Gedächtnisses (Ph. d. ünb. S.613, 27—28, 263, 268),**)
denn diese geben doch beim Functioniren eine wirkliche Vorstellung,
jene aber nur constituirende formale Elemente einer Vorstellung
oder den Associationsmodus zwischen mehreren. Indem Kant den
Ausdruck „a priori" als den Gegensatz zu „empirisch" bestimmte,
traf er den Nagel auf den Kopf und gab dem Dilemma eine neue
Fassung; der nachkantische Empirismus konnte nur noch mit offen-
barem Unrecht bestreiten, dass unsere Denkformen a priori seien.
Kant bestimmt in seiner Polemik gegen Eberhard's Kritik (Kant's
Werke ed. Rosenkranz Bd. I. S. 445 — 446) die apriorischen Formen
(es ist hier zufällig von den sinnlichen Anschauungsformen die
Rede) als keineswegs in Gestalt fertiger Ideen oder Bilder an-
geborene, sondern als innewohnende passive Beschaffenheiten (Re-
ceptivitäten) des Gemttths, auf gewisses Afficirtwerden hin Vorstel-
lungen von einer gewissen Vorstellungsform zu bekommen; nicht
sie selbst, sondern der erste formale Grund ihrer Möglichkeit sei
uns angeboren (vgl. „Ding an sich" S. HO).***) Es ist klar, dass
diese Erklärung ganz mit dem übereinstimmt, was wir Prädisposi-
tionen nennen, nur dass Kant die Entscheidung offen lässt, ob diese
Prädispositionen als in der Substanz des materiellen Organs der
Denkfunctionen niedergelegt oder als in der metaphysischen Natur
einer spirituaüstischen Seelensubstanz begründet zu betrachten
seien. 108 ) Im Stillen scheint Kant selbst in Betreff der sinnlichen
Anschauungsformen mehr zu der ersteren, in Betreff der logischen
*) 7. Aufl. IL 269.
**) 7. Aufl. H. 269, L 28-30, I. 245-246, I. 261.
***) Krit. Grundl. <L transcend. Realismus S. 154.
VIII. Die Abkürz. d. Ideenassociation tu d. Vererbung d. Denkformen. 155
Denkfonnen mebr zu der letzteren Annahme sich hingeneigt zu
haben (vgl. „Ding an sich" S. 82—83),*) aber Kant's Bedenken
wegen der allgemeingültigen Bedeutung der logischen Formen, die
durch Fichte's Deduction and Hegel's Dialectik zum System aus-
gesponnen wurde, sind für uns dnrch die vorangeschickten Betrach-
tungen über die psychologische Genesis der logischen Denkformen
beseitigt. Der erste nachkantische Philosoph, der die von Kant
gelassene Zweideutigkeit im modernen physiologischen Sinne er-
ledigte, war Schopenhauer, welcher die intellectuellen Functionen
überhaupt und ohne Ausnahme für Functionen des Gehirns er-
klärte, und wir haben gesehen, dass jede andere metaphysische
Seelensubstanz ausser der inneren Seite der das Gehirn constituiren-
den Atome eine durch kein Erklärungsbedür&iss legitimirte Hypothese
ist. Wir müssen also Schopenhauers Annahme, dass die apriorischen
Formen Functionen des Gehirns seien, unbedingt billigen und können
den „angeborenen formalen Grund" des so und nicht anders Func-
tionirens nur in der zu einer solchen Functionsweise prädisponirten
molecularen Beschaffenheit des Gehirns suchen.
Haben die nachkantischen Philosophen den Empirikern gegen-
über darin Becht, dass alles Vorstellen im Individuum a priori
entspringe, so hat doch die empiristische Anschauungsweise den
Philosophen gegenüber insoweit Becht behalten, als sich heraus-
gestellt hat, dass für die Stufenreihe der Organismen als
Ganzes genommen das Empirische das Prius des Apriori-
schen ist, indem die Hirnprädispositionen, aus welchen die apriori-
schen Functionen entspringen, selbst wieder nur das Endresultat
eines langen Anpassungsprocesses sind, in welchem Fortschritte
durch empirisches Tasten 109 ) und Befestigung der nützlichen Ver-
suche durch natürliche Zuchtwahl Hand in Hand gehen. Diese neu
errungene Auffassungsweise ist aber bis jetzt von verschiedenen
Seiten erst angedeutet, noch nirgends durchgeführt worden; unsere
bisherigen Ausführungen in Verbindung mit denen des folgenden
Abschnitts werden hinreichen, dieselbe als mit demjenigen Maasse
von Wahrscheinlichkeit bewiesen erachten zu lassen, dessen solche
Fragen in der Gegenwart überhaupt fähig sind. Zugleich erhellt
aus unseren Untersuchungen, dass einzig und allein die von der
*) Krit GrundL d. transcend. Realismus S. 115 -117.
156 Text der eisten AriUge.
biologischen Descendenztheorie nen in die Wissenschaft -eingefthrte»
Perspectiven im Stande waren, den principiellen Gegensatz von
philosophischen Aprioristen und naturwissenschaftlichen Empiristen
in einer höheren Einheit zu versöhnen, welche die relative Wahrheit
beider Standpunkte in sich vereint nnd die unwahre Einseitigkeit
beider den Blicken der Gegenwart enthüllt Die Ph. d. U. aoeepört,
indem sie sich die Descendenztheorie einverleibt, auch das Ecktt-
rungsprincip, welches die letztere für die bisher als metaphysisches
Wunder angestaunte Thatsache des ,/* priori" darbietet (vgl S. 613),*)
wie dies aus dem Zusammenhang unserer bisherigen Erörterungen
hinreichend hervorgeht ; indem aie aber andererseits von der Hypo-
these der beständigen metaphysiseh-teleologisehen Eingriffe in den
naturgesetzlichen Verlauf der organischen und insbesondere der
Gehimproeesse nicht loskommen kann, confundirt sie das rich-
tige Erklärungsprincip des „a priori' 1 zugleich auch mit jenem
unerweislichen speculativen, welches bisher, so lange es
das einzige existirende war, eine gewisse Beachtung verdiente,
aber gerade durch das allen Anütoderungen glänzend entsprechende
der Descendenztheorie als endgültig beseitigt zu betrachten ist, so
dass von einem Nebeneinanderfortbestehen beider mit vicarirendem
Fttreinandereintreten (im Sinne d. Ph. d. Unb.) keinenfalls mehr die
Bede sein kann. 110 )
*) 7. Aufl. IL 269.
IX.
Die Entstehung der Anschauungsform der
Räumlichkeit
Wir werden die Genesis der Anschauungsform der Räumlichkeit
in der Weise zu ergründen suchen, dass wir die im genetischen
Process der Wirklichkeit zuletzt hinzugefügten Entwickelungsstufen
zuerst abhandeln, also den Weg der Natur rückwärts durchmessen.
Wir werden dem entsprechend zunächst das flächenhafte Gesichts-
feld in zwei Dimensionen, wie es der operirte Blindgeborene schon
bei den ersten Sehversuchen mitbringt, als gegeben voraussetzen,
und die Entstehung der Anschauung der dritten oder Tiefendimension
auf dieser Grundlage untersuchen.
Tritt ein leuchtender Punkt in das vorausgesetzte flächenhafte
Sehfeld, so stellen beide Augenaxen sich reflectorisch so ein, dass
die Stellen des deutlichsten Sehens (die gelben Flecke) beider Netz-
häute das Bild des leuchtenden Punktes aufnehmen. Treten mehrere
leuchtende Punkte hinzu, so wechselt die Augenstellung mit den
fixirten Punkten nach dem Gesetz der Ermüdung. Bei dieser
successiven Fixation sind nun zwei Fälle möglich: entweder die
realen leuchtenden Punkte liegen in einer zur Sehaxe senkrechten
Fläche, dann fallen ihre Bilder auf den Netzhäuten beider Augen
auf correspondirende Stellen;*) oder aber die realen leuchtenden
Punkte liegen in verschiedener Entfernung vom Auge, dann ändert
*) Die Abweichungen sind wenigstens so gering, dass sie praktisch zu ver-
tauten sind.
nachlatsigen sind.
158 Text der ersten Auflage.
sich bei der Fixirung jedes Punktes die Convergenz der Sehaxen
und dadurch das Lagenverhältniss der Bildpunkte auf den Netz*
häuten in der Weise, dass nicht mehr correspondirende Stellen von
ihnen getroffen werden. Die Abweichung von der Correspondenz
wird um so grösser, je grösser der Unterschied in den Entfernungen
der realen Lichtpunkte vom Auge ist. Wenn der Blick von einem
Lichtpunkt zu einem gleich weit entfernten tibergeht, so haben die
Augen nur die Muskelempfindung des zurückgelegten Weges ; wenn
er aber zu einem Lichtpunkt von verschiedener Entfernung übergeht,
so haben die Augen ausser dieser Muskelempfindung des zurück-
gelegten Weges noch zweitens die der veränderten Convergenz und
drittens die der veränderten Correspondenz der Lage der übrigen
im Sehfeld befindlichen Punkte. (Wundt, Beiträge zur Theorie der
Sinneswahrnehmung, Leipzig 1862, S. 291—293). Der Intellect
sucht diese Thatsachen mit dem Yerständniss zu durchdringen; der
Tastsinn kommt ihm hierbei auf kurze Entfernungen zu Hülfe; auf
grössere Entfernungen wird er durch die Veränderungen im Sinne
perspectivischer Verschiebung unterstützt, welche in seinen Wahr-
nehmungen vorgehen, wenn er seinen Körper von der Stelle bewegt
Dazu kommt noch die Veränderung der scheinbaren Grösse eines
Gegenstandes, der durch seine Bewegung auf den Beobachter zu
oder von demselben hinweg ihn nöthigt, bei der Fixation die Con-
vergenz der Sehaxen stetig zu vergrössern resp. zu verringern,
und viele andere ähnliche Erscheinungen, die sich dem Intellect als
zu lösende Probleme aufdrängen. Jede falsche Deutung dieser
Veränderungen in den Wahrnehmungen hat den Misserfolg des auf
sie gebauten Handelns zur Folge, jede richtige Deutung wird durch
das Gelingen der auf solche Voraussetzungen hin vorgenommenen
Handlungen belohnt; hierdurch wird jede falsche Deutung eine
Warnung vor Wiederholung derselben, jede richtige eine Ermunte-
rung zum Festhalten der eingeschlagenen Richtung des Denkens
und zum Weiterschreiten auf derselben.
So zwingt die Notwendigkeit des Handelns von selbst zu
einer allmählich fortschreitenden richtigen Deutung, d. h. zu
einer solchen, die der wirklichen Beschaffenheit der Dinge ent-
sprechend ist. — Bei diesen Vorstellungsverknüpfungen haben
nun jedesmal nur das Anfangsglied (die gegebenen Organempfindungen)
und das Endglied (das jeweilige Resultat des Verständigung*-
EL Die Entstehung der AnschauungBfonn der Räumlichkeit 159
bemtthens) ein Interesse, die gleichgültigen Verbindungsglieder aber
werden durch Abkürzung der Ideenassociation elidirt. In demselben
Maasse als das Verständniss fortschreitet, schreitet auch der Process
dieser Abkürzung der Ideenassociation fort, und bei demjenigen
Maass von eingeübtem Verständniss, welches ein erwachsener Mensch
von seinen Gesichtswahrnehmungen besitzt, hat diese Abkürzung
einen solchen Grad erreicht, dass für denjenigen, welcher den an«
gegebenen Entstehungsprocess nicht beachtet, die schlagfertige
Festigkeit der Association zwischen Vorstellungen, welche sich so
fern zu liegen scheinen, in der That höchst überraschend ist. Wir
haben eine ziemlich ebenso genaue Schätzung von relativen Ent-
fernungsverschiedenheiten in der Tiefendimension wie in der Breiten-
dimension und für unser Bewusstsein ist die Tiefe der räumlichen
Wahrnehmung von nicht minder anschaulicher Natur als
die Höhe und Breite. Es wäre ein so absolut sicheres Functioniren
der Association zwischen den complicirten Organempfindungen und
den complicirten Raumvorstellungen, welche wir an dieselben knüpfen,
es wäre eine solche Unmittelbark eit der Anschauung der dritten
Dimension, eine so vollständige Elision der vermittelnden Verbin-
dungsglieder zwischen diesen Endgliedern einer höchst complicirten
Ideenassociation für die Uebungszeit eines Menschenlebens entschie-
den unmöglich, wenn nicht eine durch befestigte Vererbung über-
kommene Gehirnprädisposition zu dieser Art von abgekürzter Vor-
Stellungsverknüpfung uns angeboren wäre, welche nur durch die
Uebung der Kindheit aufgefrischt und nachgemeisselt zu werden braucht.
Auch hier ist es wesentlich der unreife Zustand des Kinder-
gehirns bei der Geburt, der diese Sachlage den Blicken des Phy-
siologen und Psychologen verhüllt, so lange dieselben ihre Be-
obachtung nicht auf das Thierreich ausdehnen; in letzterem aber
zeigt sich die erforderliche Zeit der Uebung um so kürzer, je reifer
das Gehirn des Thieres bei der Geburt resp. bei der Oeffhung der
Augen ist — Das Thierreich als Ganzes muss aber die dritte Di-
mension und die Prädisposition zu derselben auf ganz demselben
Wege, nur langsamer, erworben haben, wie wir es oben von der
Uebung des Individuums gezeigt haben. Wenn der Mensch ohne
Augen ein ganz hülf loses Geschöpf ist, so hatte das Thierreich den
Vortheii, die Augen zunächst nur als nebensächliche Hülfsorgane
zu entwickeln und dieselben erst allmählich so zu vervollkommnen,
160 Text der ersten Auflage.
dass sie an einem wichtigen und zuletzt unentbehrlichen Htilfemittel
im Kampf um's Dasein wurden ; hier konnte und musste nun natür-
lich der allmähliche Fortschritt des Verständnisses der Sinnes-
Wahrnehmungen Hand in Hand gehen mit dem allmählichen Fort-
schritt der Entwickelung des Sinnesorgans; und jeder solche
gemeinsame Fortschritt vervollkommnete zugleich die an die Nach-
kommen vererbte Prädisposition zu dem richtigen Verständniss.
So steht endlich unsere menschliche Anschauung als das letzte Glied
einer durch lange Vererbung gesteigerten Fertigkeit da, welche
als wesentliches Moment in sich die dritte räumliche Dimension als
typische Form der Anschauung enthält. Nur so wird die
Illusion erklärlich, in der wir uns befinden, wenn wir die Tiefen-
dimension der Gegenstände unmittelbar und anschaulieb
wahrzunehmen glauben, während wir doch wissen, dass dies nur
eine hinzugethane Vorstellung ist, welche mit gewissen
Complicationen von Organempfindungen des Auges (Muskelempfin-
dungen und Correspondenzverschiebungen) vermöge einer ererbten
und individuell nachgettbten Gehimprädisposition in unwillkürlicher
und notwendiger Weise verknüpft wird. Die Abkürzung der Ideen-
association geht hier so weit, dass sogar das Anfangsglied, die
Organempfindungen, als interesselos mit elidirt wird und in's Un-
bewusstsein versinkt, 111 ) und dass auf den zum Gehirn geleiteten
Beiz sofort und unmittelbar jene assoeiirte Vorstellung eintritt, weil
sie allein von praktischem Interesse ist
Wir finden hier eine eclatante Bestätigung des oben (S. 128)
präliminarisch aufgestellten Satzes, dass selbst begriffliche Vor-
stellungsgebilde (wie die Tiefendimension bei ihrer ersten Construc-
tion ohne Zweifel eines ist) sich um so mehr der Anschauung
nähern, je mehr sie zu vererbten typischen Vorstellungsformen
werden, und dass sie zur wirklichen Anschauung werden,
sobald die Vorstufen ihrer Genesis vollständig unbewusst geworden
sind. Da die Gesichtsanschauung der Prototyp aller Anschauung
ist, von dem dieselbe sogar ihren Namen dureh Generalisation ent-
lehnt hat, so dürfen wir wohl auch die hier evident gewordene
Genesis der Anschauung als solchen generalisiren und sagen,
dass alle Anschauung, die wir besitzen, auf dieselbe Weise
entstanden zu denken sei, nämlich durch Unbewusstwerden
der Zwischenglieder in dem Ideenassociationsprocess, durch
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 161
welchen sie sich aus den elementaren Empfindungen mit Hülfe
begrifflicher constructiver Deutungsversuche derselben all-
mählich entwickelt hat. Die elementare Empfindung (welche Kant
die Materie der Anschauung nennt) unterscheidet sich von der
Anschauung durch den Mangel des begrifflich-synthetischen Antheils ;
der discursive Begriff unterscheidet sich von ihr durch den Mangel
an intuitiver Unmittelbarkeit; der Begriff schliesst das Bewusstsein
der Möglichkeit, seine Genesis durch alle Vermittelungsstufen hin-
durch jeden Augenblick reproduciren zu können, als notwendiges
Moment, als integrirenden Bestandteil seines Wesens in sich ein
und weiss sich somit als vermittelt, — der Anschauung ist dieses
Bewusstsein abhanden gekommen und der so erzeugte Schein der
Unmittelbarkeit kann selbst durch die bessere discursive begriffliche
Einsicht in die Genesis derselben nicht mehr alterirt werden, weil
er organisch begründet ist; die Anschauung ist sonach die
höhere Einheit von Empfindung und Begriff, in welcher
beide Bestandteile unbewusst geworden sind durch den Abkürzungs-
process der Ideenassociation ; die Anschauung ist die allein
übrig gebliebene F'rucht des Baumes, dessen Wurzel die
Empfindung, dessen Stamm, Aeste und Blätter die begriffliche
Construction war. 112 ) Auch die Philosophie hatte bereits das syn-
thetische Element in der Anschauung anerkannt und hatte verstan-
den, dass sowohl die elementare Grundlage als auch der begriffliche
Aufbau nur als unbewusste Voraussetzungen in der als solchen un-
mittelbar dem Bewusstsein gegebenen Anschauung enthalten sei
(vgl. „Ding an sich" S.66— 68, 71—72, 82—83, 89—91;*) Ph.d.ü.
S. 275, 303 — 304) ; **) sie hatte nur die Genesis der Anschauung
nicht als Abkürzungsprocess der Ideenassociation begriffen 113 ) und
deshalb war ihr das synthetisch- Constructive, welches unbewusster
Weise in dem über den ursprünglichen Empfindungsstoff hinaus in
der Anschauung enthaltenen Plus an Vorstellungselementen implicite
drinsteckt, ein unverstandener metaphysisch-teleologischer Eingriff
geblieben, anstatt darin das Functioniren der Gehirnprädispositionen
zu erkennen, welche den formalen Niederschlag des genetischen
Entwickelungsprocesses der Anschauung in der Ahnenreihe des
*) Krit. Grundl. d. transc. Realism. S. 96—91, 101—102, 115—117, 125—127.
**) 7. Aufl. L 268, 294-295.
E. v. Hartmann, Dos Unbewusste, 2. Aufl. 11
162 Text der ersten Auflage.
Individuums repräsentiren. Dass solche beständig in typischer Form
wiederholte Functionen einen Eindruck im Gehirn hinterlassen
müssen, welcher als Prädisposition für wieder vorkommende Fälle
sich geltend macht, nimmt ja die Ph. d. Unb. selbst an; dass solche
Prädispositionen sich vererben und durch langandauernde Vererbung
sich immer mehr befestigen, gesteht sie ebenfalls zu (S. 614 — 615);*)
dann haben wir aber auch in dieser ererbten Prädisposition eine
thatsächliche Erklärung des synthetisch-constructiven Elements**)
in der Anschauung, welche den metaphysisch-teleologischen Eingriff
überflüssig macht, und dies bestreitet die Ph. d. Unb. wunderbarer
Weise sogar für die dritte Dimension (S. 312),***) von der wir
bisher allein gesprochen haben. 1U )
Der tiefere Grund dieser anscheinenden Inconsequenz liegt in
dem Mangel des Verständnisses der Abkürzung der Ideenassopiation;
dieser Mangel verhindert den Einblick in die wahre Genesis der
Anschauung und lässt deshalb mindestens bei Entstehung der
Hirnprädisposition an metaphysisch-teleologische Eingriffe glauben,
weil das Resultat ein teleologisch werthvolles ist. Wir wissen aber,
dass Zweckmässigkeit als Resultat sehr wohl möglich ist ohne
Zweckmässigkeit als Princip (vgl. oben S. 44 — 46), und haben diesen
Satz bei der Entstehung der Fertigkeiten der Centralorgane im Ge-
brauch der willkürlichen Muskeln (vgl. oben S. 129—132) an einem
concreten, bereits in's psychische Gebiet hinüberführenden Beispiel
genau geprüft und bestätigt gefunden, wo ähnliche Bedenken wie
hier obwalteten. So wenig die Ph. d. Unb. auf den ihr nahe genug
liegenden Gedanken verfällt, die Entstehung zweckmässiger äusserer
Einrichtungen als Resultat von Anpassungs- und Compensations-
processen ohne metaphysisch-teleologische Eingriffe anzusehen, so
wenig kommt sie auf den Gedanken, zweckmässige Gehirnmecha-
nismen als Resultate von psychischen Anpassungs- und Compensa-
tionsprocessen ohne metaphysisch-teleologische Eingriffe anzusehen.
*) 7. Aufl. IL 270—271.
**) Dieses synthetisch-constructive Element in der Anschauung ist, da es nur
unbewusst und implicite in dem Resultate drinsteckt, an und für sich genommen
eben als Prius des allein in's Bewusstsein fallenden Resultats (d. i. der An-
schauung selbst) zu bezeichnen, und fällt deshalb mit dem zusammen, was die
Philosophie das Apriorische nennt (vgl. oben 153—156).
***) 7. Aufl. I. 302-303.
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit 163
Wo sie eine prädisponirte Association von Vorstellungen vorfindet,
welche den logischen Zuschauer auffordert, eine Verknüpfung durch
logische Zwischenglieder zu ergänzen, da nimmt sie sofort und ohne
Weiteres an, dass diese Zwischenglieder in unbewusst metaphysischer
Actualität als gegenwärtig wirksame bei dem Vorgang der
Association betheiligt seien, anstatt 115 ) daran zu denken, dass diese
prädisponirte Association das Resultat eines Abkürzungsprocesses
sein müsse, in welchem die — früher einmal allerdings actuell vor-
handenen — Zwischenglieder als überflüssiger Ballast elidirt
worden sind und bloss der äusserliche, mechanische, prädispositionelle
Zusammenhang zwischen Anfangs- und Endglied übrig geblieben
ist (vgl. oben 138 — 140). Wo die Resultate des Vorstellungs-
processes logisch sind, da setzt die Ph. d. Unb. sofort ein a c t i v e s,
logisch bestimmendes metaphysisches Princip als Grund dieser
Erscheinung, während doch gerade die in der subjectiven Vor-
stellungsassociation sich entfaltende Logik zunächst eine passive, 116 )
durch die praktisch gebotene Anpassung an die thatsäohlich ge-
gebenen Verhältnisse äusserlich erzwungene U7 ) ist und erst später
im Kopfe des gebildeten Menschen eine sich activ betätigende
werden kann, wenn die Prädispositionen zur logischen Verknüpfung
der Vorstellungen durch befestigte Vererbung bereits so fest ein-
gewurzelt sind, dass sie zu einer selbstständigen Macht im
Denken geworden sind. Nicht deshalb haben im Kampf der Asso-
ciationsformen im Denken die logischen Associationsformen den
Sieg davon getragen, weil sie logisch, sondern weil sie praktisch
sind, weil sie allein den thatsächlichen Verhältnissen ent-
sprechen, — und dass sie hintennach sich als logisch herausstellen,
ist ganz ausschliesslich dadurch bedingt, dass die thatsächlichen
Verhältnisse, aus der Anpassung, an welche sie entstanden sind,
ebenfalls logisch sind u8 ) (vgl. oben S. 149 ff.).
Aus dem praktischen Bedürfniss U9 ) allein ist auch
jene Deutung der Gesichtswahrnehmungen erwachsen und befestigt,
welche die dritte Dimension zu den zwei Dimensionen der Fläche
hinzufügt; die Nothwendigkeit, sich der Aussenwelt behufs der Er-
haltung des Daseins anzupassen, drängte jedes Wesen dahin, mit
fortschreitender Vervollkommnung des Auges auch die Deutung der
Gesichtswahrnehmungen . in dem Sinne fortzubilden, dass die räum-
liche Ordnung der realen Aussendinge so supponirt wurde, wie de
11*
164 Text der ersten Auflage.
wirklich sein musste, um die Sinnesorgane so afiiciren zu können.
Auch hier war der Fortschritt im Thierreich ein tastendes Probiren,
von welchem nur jene Associationsarten beibehalten wurden,
welche durch den Erfolg bestätigt und belohnt wnrden (vergl.
oben S. 158), keineswegs aber ein activ logisches Moment, 12 °) ausser
in soweit schon vorhandene Prädispositionen zur logischen Vor-
stellungsassociation sich an diesem tastenden Probiren nützlich be-
theiligten. Hätte in derselben Weise, wie die Sinnesaffectionen durch
die Aussenwelt ihre Deutung im Sinne einer dritten Dimension er-
heischten, ein praktisches Bedürfoiss sich herausgestellt, gewisse
problematische Modificationen der Gesichtswahrnehmungen im Sinne
einer vierten Dimension des Raumes zu deuten, und hätten die
hieraus gezogenen Consequenzen und die auf dieselbe gebauten
Handlungen und Experimente dieselbe eclatante Bestätigung ge-
funden, wie es bei den auf die dritte Dimension gebauten der Fall
ist, so würde ohne Zweifel mit den fraglichen Modificationen der
Gesichtswahrnehmungen sich die Vorstellung einer vierten Dimension
in derselben Weise associirt haben, wie mit den oben (S. 157 — 158)
angegebenen Modificationen die Vorstellung einer dritten Dimension;
wenn ferner dieses Bedürfhiss einer vierten Dimension sich in einer
entsprechend frühen Stufe unserer Ahnenreihe herausgestellt hätte,
so würde diese Ideenassociation nicht nur eine ebenso starke Ab-
kürzung erlitten haben, sondern auch die Prädisposition zu der-
selben ebenso sehr durch Vererbung befestigt sein, wie es jetzt die
der dritten ist, und wir würden alsdann die vierte Dimension ebenso
unmittelbar in der Anschauung zu besitzen glauben, wie jetzt die
dritte. Rückwärts können wir darauf schliessen, dass die Ord-
nung der realen Dinge, in soweit sie für das Afficiren unserer
Sinnesorgane von Einfluss ist, sich thatsächlich in drei Dimensionen
erschöpft, weil noch nirgends in unseren jetzt sehr genau und
sorgfältig durchforschten Sinneswahrnehmungen sich Modificationen
gefunden haben, welche nicht durch die Annahme von drei Dimen-
sionen ausreichend erklärt würden. Im reinen Begriff hindert
uns nichts, eine vierte Dimension des Raumes zu denken (wie durch
Gauss, Riemann und Helmholtz zur Genüge dargethan); in der An-
schauung aber können wir einfach deshalb nicht über die drei
Dimensionen hinaus, weil die Anschauung nach unserer obigen De-
finition (S. 160—161 u. 144 — 145) überhaupt nur die Function einer aus
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 165
stark abgekürzter Ideenassociation erwachsenen Prädisposition ist,
nnd die Voraussetzungen zur Genesis einer solchen in Bezug auf
eine vierte Dimension fehlen. m )
Ganz anders als bei einer problematischen vierten Dimension
stellt sieh die Sache, wenn wir zu der Betrachtung der ersten
und zweiten Dimension des Raumes übergehen, denn hier
ist ebenso wie bei der dritten Dimension einerseits die Anschauung
als Resultat einer .unbewusst synthetischen Function und anderer-
seits die vor und jenseits der Baumanschauung gelegenen unräum-
lichen elementaren Organempfindungen (intensiv und qualitativ durch
Localzeichen verschiedene Netzhauteindrücke und Muskelbewegungs-
empfindungen) gegeben; die Anschauung ist das Endglied, die
Organempfindung das Anfangsglied eines Vorstellungassociations-
verlaufs, welcher ursprünglich nur in der den praktischen Bedürf-
nissen angepassten Deutung der gegebenen Empfindungen bestanden
haben kann, welcher aber, ebenso wie der bei der dritten Dimension,
einer so starken Abkürzung unterlegen hat, dass nicht nur die
Zwischenglieder, sondern auch das Anfangsglied der Organempfin-
dangen als solches aus dem Bewusstsein entschwunden ist. Auch
hier muss nothwendig die oft wiederholte Function eine (durch Ver-
erbung gesteigerte und befestigte) Prädisposition zu dieser synthe-
tischen Function im Hirn zurückgelassen haben (vgl. oben S. 162).
In Bezug auf Anschaulichkeit stehen die erste und zweite Di-
mension keineswegs höher als die dritte, sondern dieser ganz gleich
(S. 159), und die Vorstellungsverknüpfungen, durch welche das In-
dividuum seine Gesichtswahrnehmungen in Bezug auf die dritte
Dimension verstehen lernt, sind auf das Innigste verwebt mit jenen,
durch welche es das feinere Verständniss und die sichere Uebung
in der Beurtheilung der flächenhaften Dimensionen erlangt (vgl.
Wandt, Beitr. zur Theorie der Sinneswahrn. S. 289). Gleichwohl
besteht zwischen der Hirnprädisposition zur Flächenwahrnehmung
und der zur Tiefenwabrnehmung ein Unterschied, welcher beweist,
dass die erstere viel stärker durch Vererbung befestigt ist,
also viel weiter in der Ahnenreihe des Menschen hinaufreicht als
die letztere; es funetionirt nämlich die erstere in ihrer einfachsten
Gestalt ohne alle Uebung, wie die Operationen von Blind-
geborenen beweisen, während die letztere erst durch individuelles
Experimentiren geweckt und durch individuelle Uebung nach-
166 Text der ersten Auflage.
gemeisselt werden muss. Dieser Unterschied ist für die teleologisch-
metaphysischen Eingriffe der Ph. d. U. ein unerklärliches Problem, "*)
während er sich vom Standpunkt der Descendenztheorie ganz leicht
durch das höhere Alter erklärt. Wie viel Millionen Jahre mögen
unsere Ahnen als Infusorien, Würmer and Knorpelfische in bloss
zwei Dimensionen gesehen haben, ehe sie das Veretändniss der
dritten auch für den Gesichtssinn erlangten, die sie für den Tastsinn
und Muskelbewegungssinn schon viel früher besassenl Auch die
richtige Deutung der Gesichtsempfindungen in Bücksicht auf Flächen-
ausbreitung ist ein teleologisches Resultat, aber auch dieses werden
wir analog dem Vorgang bei der dritten Dimension nicht als aus
einem telelogischen Princip durch metaphysische Eingriffe ent-
standen denken, sondern als aus einem allmählich Hand in Hand
mit der Vervollkommnung des Organs von dem leicht empfindlichen
Protoplasma der Monere bis zum Menschenaugenpaar fortschreitenden
Anpassung an das gegebene Empfindungsmaterial unter dem Druck
der praktischen Bedürfhisse des Lebens und der allgemeinen Con-
currenz um die Erlangung der Bedingungen desselben. Weil wir
die Prädisposition zur Fläohenanschauung so fertig überkommen,
dass wir sie für ihre Fundamentalftmction gar nicht mehr zu üben
brauchen, deshalb stehen wir so viel rathloser vor der Aufgabe, die
elidirten Glieder des ursprünglichen Associationsproeesses zwischen
Empfindung und Anschauung wissenschaftlich zu restituiren; bei
der dritten Dimension ist die Sache so sehr viel leichter, weil die
hier erforderliche individuelle Uebung den Abkürzungsproeess der
Associationskette wenigstens in seinen hauptsächlichsten Stadien in-
dividuell wiederholt und man sich hierbei unter abnorm günstigen
Umständen selbst belauschen kann, sei es, dass diese Umstände
pathologisch gegeben, sei es, dass sie durch sinnvoll erdachte (meist
stereoskopische) Experimente herbeigeführt sind. Die Zeiten, in
welchen die Abkürzung der Associationskette für die Genesis der
Flächenanschauung vor sich ging, liegen Millionen Jahre hinter uns,
und selbst wenn sie sich heute noch wiederholen, so wäre es doch
höchstens in niederen Thieren, in deren Seele uns kein Einblick
vergönnt ist. Gleichviel nun, ob die Schwierigkeiten dieses Problems
für uns überhaupt lösbar sind oder nicht, so steht doch so viel fest,
dass wir in unserm menschlichen Intellect die Ursache der Flächen-
anschauung ebenso wie die der Tiefenanschauung lediglich in einer
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 167
angeborenen Prädisposition des Gehirns zn suchen haben, wie
Schopenhauer dies ganz richtig anticipirt hat (Ph. d. U. S. 305 — 306),*)
ohne jedoch die Art der Genesis dieser Prädisposition als Ererbung
eines in früheren Stufen unserer Ahnenreihe erworbenen und ge-
steigerten Besitzes zu vermuthen, Keinenfalls werden wir fernerhin
mit der Ph. d. ü. (S. 307)**) die Unmöglichkeit behaupten
dürfen, dass die Umwandlung der qualitativ verschiedenen Empfin-
dungen in ein extensiv räumliches Bild ohne Beihülfe metaphysischer
Inspiration geschehen könne, nachdem wir unsererseits die Möglich-
keit erkannt haben, dass auch hier das Teleologische Resultat
sein könne, ohne Princip zu sein, 123 ) und dass auch hier ein
allmählich entstandenes und allmählich vervollkommnetes, aus der
Concurrenz vielleicht zahlreich verfehlter Versuche siegreich hervor-
gegangenes End-Resultat eines langen Entwickelungsprocesses vor-
liegt m ) Wir wollen in dem Folgenden versuchen, den Schwierig-
keiten des Problems durch einige ihrer Natur nach ziemlich subtile
Betrachtungen näher zu treten.
Man liest noch oft in den neuesten Schriften gebildeter Natur-
forscher eine verwunderte Hindeutung darauf, was das wohl für eine
wunderliche Gesichtsanschauung der Welt sein müsse, welche den
Insekten als Empfindungsmosaik durch ihre Facettenaugen
zugeführt wird. Eine solche Bemerkung beweist nur, wie gross
häufig noch bei Physiologen die Unklarheit über die psychologischen
Probleme der Wahrnehmung ist. Denn da die Gesichtsempfindungen
ebenso wie alle anderen Sinneswahrnehmungen durch isolirte Nerven-
primitivfasern vom Sinnesorgan zum Bewusstsein geleitet werden
müssen, so wird sich durch diese Uebertragung überall und in jedem
Sinne nothwendig ein Mosaik von Empfindungen ergeben, gleich-
viel ob der Reiz auf der ersten Schicht von Nervensubstanz, welcher
er im Organ begegnet, als continuirliche Extension oder als mosaik-
artige Summe von Beizen zur Geltung kommt. Ersteres Arrangement
würde demnach gar keinen Werth für die Wahrnehmungen haben
und ist deshalb auch in keinem Auge höherer Thiere benutzt. Im
menschlichen Auge wirken die Stäbchen und Zapfen der Retina
ganz ebenso wie die Facetten im Insectenauge ; auch bei uns sind
die Endglieder der den Reiz recipirenden Nerven so arrangirt, dass
*) 7. Aufl. I. 296—297. **) 7. Aufl. I. 297.
168 Text der ersten Auflage.
sie die Oesammtmasse der auf sie eindringenden Lichtwellen in
discrete Grnppen gesondert, d. h. mosaikartig abgetheilt, recipiren.
Der ganze Unterschied zwischen unserm Auge und dem der Insecten
ist der, dass unsere den Reiz recipirende Schicht concav gebildet
ist, die des Insectenauges hingegen convex, und dass diese besseren
Schutz gewährende Gestaltung bei uns dadurch ermöglicht ist, dass
wir nicht wie die Insecten die von den Dingen ausgehenden Licht-
strahlen unmittelbar, sondern durch eine Linse gebrochen recipiren.
Gesetzt den Fall, die Summe der Lichtstrahlen besässe wirkliche
Continuität, was nach der atomistischen Annahme unserer Physik
bekanntlich nicht der Fall ist, so würde doch die Ueberftihrung
dieser objectiv- realen Continuität der Extension in die subjectiv-
ideale unter allen Umständen eine Zerlegung in discrete Theile
nothwendig machen, da die Zusammendrängung einer wirklich
unendlichen Anzahl von discreten Nervenelementen in den be-
grenzten Baum des Organs schlechterdings unmöglich ist. Sonach
muss alle subjectiv- ideale Extension mit Nothwendigkeit eine
Beconstruction aus einer endlichen Zahl discreter Empfindungs-
elementen, d. h. ein Mosaik sein, und dieser allgemeingültige Satz
findet sich empirisch am Menschenauge ebenso bestätigt, als am
Facettenauge der Insecten. Die Thatsachen, dass wir dieses Mosaik
discreter Empfindungen als extendirtes Gontinuum anschauen,
lässt nach Analogie schliessen, dass die Insecten das Empfindungs-
mosaik ihrer Facettenaugen ganz ebenso nur und ausschliesslich als
continuirliches Bild anschauen. Die Stetigkeit, die wir in unsere
Flächenanschauung hineinlegen, ist factisch eine Illusion in Bezug
auf das gegebene Empfindungsmaterial, dem wir dieselbe aufheften;
die Frage ist nur, ob diese Illusion der Anschauung, welche teleo-
logisch unseren praktischen Bedürfnissen entspricht, eine active
oder passive Illusion, ob sie eine künstlich zu dem Zweck des
Sehens erzeugte, weise berechnete Selbsttäuschung, oder ob sie eine
unwillkürlich durch die Unvollkommenheit der Perception and
Distinction sich ergebende Erscheinung ist, die nur deshalb niemals
eine Berichtigung erfahren hat, weil sie zufällig 126 ) gerade so am
besten geeignet ist, uns das Verständniss der Aussenwelt zu ver-
mitteln m ). Die erstere Annahme wird stillschweigend von der Ph.
d. Unb. vorausgesetzt, und sie ist es eigentlich, welche die Schwierig-
keit der Erklärung erzeugt; wäre aber die zweite Annahme die
DL. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 169
richtige, so würde mit dieser Erkenntniss eine Hauptschwierigkeit
des Problems der Entstehung der Baumanschauung hinwegfallen.
Wir glauben nun in der That die zweite Annahme für die
natürlichere und wahrscheinlichere halten zu müssen. Wir wissen,
dass wir pathologische Lücken des Gesichtsfeldes ebensowenig be-
merken, wie die normalen Lücken der blinden Flecke. Nach der
gewöhnlichen Annahme werden diese Lücken mit der Farbe und
Helligkeit der Umgebung activ ergänzt 197 ); wir halten hingegen
die Annahme für ausreichend, dass das Unterscheidungsvermögen
der Perception von Natur zu stumpf sei, um diese Lücken in der
Continuität des Gesichtsfeldes ohne specielle Richtung der Aufmerk-
samkeit zum Bewusstsein zu bringen und dass diese Stumpfheit
dadurch zur bleibenden Unfähigkeit geworden sei, weil sich
niemals das praktische Bedürfhiss einer Beachtung dieser Lücken
der Continuität geltend gemacht hat. Ist einmal begriffen, dass die
Continuität doch nur eine wie immer entstandene Illusion sei, so
handelt es sich bei den blinden Stellen nur darum, dass die Unter-
brechungen weder an sich so gross und auffallend seien, um die
vorhandene Illusion zu stören, noch auch, dass durch praktische
Interessen die Aufmerksamkeit auf diese Lücken gelenkt werde.
Wird die einmal bestehende Illusion der Continuität durch keine der
beiden Ursachen alterirt, so besteht sie fort, auch ohne jede active
Ergänzung der Empfindungslücken.
Es ist von Helmholtz darauf aufmerksam gemacht worden, wie
vielerlei Unvollkommenheiten unser Gesichtsorgan besitze, von denen
allen wir nichts merken, und wie viele subjective Störungen der
richtigen Wahrnehmungen aus denselben hervorgehen, die uns gar
nicht zum Bewusstsein kommen. Die Ursache hiervon liegt allemal
darin, dass wir nur Air solche Combinationen Hirnprädispositionen
besitzen, welche uns zum Verständniss der Aussenwelt nützlich sind,
dass wir nur diejenigen Anlagen der Perception üben und die Auf-
merksamkeit nur für solche Vorgänge im Organ schärfen, welche
geeignet sind, uns über die Vorgänge der uns allein wichtigen
Aussenwelt zu unterrichten, und dass wir in Bezug auf solche Modi-
fikationen der Organempfindungen, welche für diesen praktischen
Zweck werthlos sind, niemals dazu gelangen, die ursprüngliche
Stumpfheit und Unvollkommenheit unserer Hirnperception in Bezug
auf die vom Organ zugeführten Beize durch Aufmerksamkeit zu
170 Text der ersten Auflage.
verschärfen und durch Uebung zu vervollkommnen und die so er-
worbenen Prädiapositionen dann weiter zu vererben. Wir befinden
uns hinsichtlich der Perception der für das Verständnis der Aussen-
welt werthlosen Zustände der Organempfindung heute noch ungefähr
auf derselben Stufe) wie ein Individuum hinsichtlich der werthvollen
und wichtigen Organempfindungen einnehmen würde, welches gar
keine Gehirnprädispositionen fiir die Wahrnehmungsprocesse ererbt
hätte, die Aussenwelt zu verstehen, um in derselben leben zu können.
Stellt man sich den unter dieser Voraussetzung selbstverständlichen
Grad von Stumpfheit der Perception vor, so wird man sich nicht
wundern, dass in uns die werthlosen Organempfindungen ebenso
spurlos dem Bewusstsein verloren gehen, wie in einem solchen
Individuum überhaupt alle dem Bewusstsein verloren gehen wür-
den. (Auch ein Thier nimmt nur einen sehr geringen Theil der
ihm zufliessenden Wahrnehmungen in sein Bewusstsein auf, weil
seine Interessen so beschränkt sind.) Nachdem wir diese Unter-
schiede in Feinheit und Stumpfheit der Perception für Empfindungen
desselben Organs constatirt haben, verschwindet jedes Bedürfnis,
eine active Ergänzung des Gesichtsfeldes zu Hülfe zu nehmen,
um die Thatsache zu erklären, dass die bestehende Illusion der
Continuität des Gesichtsfeldes durch die blinden Stellen nicht be-
einträchtigt wird.
Erwägen wir nun aber, wie gross der Durchmesser der Lücke
bei dem blinden Fleck ist im Verhältniss zu der Kleinheit der Lücke
zwischen den Mittelpunkten der zwei benachbarten Nervenprimitiv-
fasern entsprechenden Empfindungsstellen des Gesichtsfeldes, so
leuchtet ein, dass diese letzteren Differenzen noch für ein sehr viel
schärferes Perceptions- und Distinctionsvermögen, als das unserige
nach obigem Beispiel ist, unpercipirbar bleiben müssen, so lange
nicht die allerdringendsten Aufforderungen von Seiten des praktischen
Bedürfnisses die Aufmerksamkeit nach dieser Richtung schärfen.
Da solche nicht vorliegen, so dürfen wir unsere obige Annahme als
berechtigt ansehen, dass nämlich unsere Perception viel zu stumpf
und unvollkommen ist, um die mosaikartig in einer Fläche nach
ihren Localzeichen geordneten Empfindungen, welche durch sämmt-
liohe Primitivfasern eines Sehnerven hervorgerufen werden, von
einer wirklich continuirlichen Fläche zu unterscheiden; da sie zu
stumpf ist, um die Lücken zwischen den discreten qualitativ be-
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 171
stimmten Empfindungen als solche aufzufassen, so muss die Per-
ception als continuirlich extensive in's Bewusstsein treten. Schon
durch die recht ansehnliche Zahl der isolirten Nervenelemente
(namentlich an der Stelle des deutlichsten Sehens) ist dafür gesorgt,
dass der überwältigende Beichthum der gleichzeitig anf die Per-
ception des Gehirns einströmenden Summe von Empfindungen dieses
nicht dazu kommen lasse, das Manko in der Stetigkeit nach beiden
Dimensionen sich zum Bewusstsein zu bringen. 128 )
Nachdem wir die anscheinende Continuität der Baum-
anschauung als eine passive, aus der Unvollkommenheit unserer
Auffassung herrührende Illusion erkannt haben, die zu ihrer Er-
klärung keines activen Zuthuns der Seele bedarf, haben wir weiter
zu betrachten, wie die Entstehung eines zweidimensionalen Em-
pfindungsmosaiks möglich sei.
Wir haben hierbei zunächst daran zu erinnern, dass der Begriff
der Dimension w e i t e r ist als der der räumlichen Dimension. Im ma-
thematischen Sinne versteht man unter einer Dimension die eindeutige
Bestimmungsfähigkeit durch e i n e Variable, so dass also die Anzahl
der zur eindeutigen Bestimmung erforderlichen Variabein der Anzahl
der Dimensionen gleich ist. Auch der einfache Ton ist eine Em-
pfindung von zwei Dimensionen, denn er braucht zu seiner Bestim-
mung zwei Variable: Tonstärke und Tonhöhe. Zwischen dieser
zweidimensionalen Empfindung und den zweidimensionalen Empfin-
dungen der Looalzeichen der Netzhauteindrücke besteht nun aber
ein wesentlicher, bisher nicht in seiner fundamentalen Bedeutung
beachteter Unterschied: von Tönen sind stets nur einer oder einige
wenige zugleich im Bewusstsein, von den Localzeichen der Netz-
haut sind zu jederzeit alle zugleich im Bewusstsein. Die Töne
liegen so weit von einander ab, dass sie als discrete Empfindungen
mit Lücken zwischen sich percipirt werden; die Empfindungen der
Netzhaut aber liegen so nahe an einander, dass ihre Lücken sich
der Perception entziehen und die Illusion der Continuität entsteht.
Bei Tönen hat der Intellect ein Interesse daran, selbst nahe an
einander gelegene Empfindungen als discrete auseinander zu
halten; bei den Netzhautempfindungen hat er im Gegentheil Vor-
theil von der Illusion der Continuität. Bei naheliegenden
Tönen geben die heftig sich bemerkbar machenden Schwebungen
ein Hülfomittel, die Discretion festzuhalten; bei den Netzhaut-
172 Text der ersten Auflage.
empfindungen fehlt etwas Aehnliches. Gesetzt den Fall, es gäbe
keine Schwebungen and keine Combinationstöne, gesetzt ferner, es
gäbe die Möglichkeit, zwei einfache Töne von gleicher Höhe aber
verschiedener Stärke auseinander zu halten (was nicht angeht), ge-
setzt endlich, jede Pfeife einer Orgel gäbe statt eines zusammen-
gesetzten Klanges einen einfachen Ton, so würde man sich das
Analogon der beständigen im Wachen nie aufhörenden Empfindung
des Gesichtsfeldes (ganz abgesehen von seinem concreten Inhalt)
dadurch für den Gehörsinn vergegenwärtigen können, dass man auf
einigen tausend gleichen Orgeln gleichzeitig die sämmtlichen Pfeifen
einer jeden dauernd ertönen lässt, aber so, dass jeder Ton auf jeder
Orgel in einer andern Intensität erklingt. Dies Beispiel hinkt in-
sofern, als die in zwei Dimensionen geordneten Localzeichen zu-
sammengenommen nur eine intensiv schwache Nervenerregung
geben, während die Ausführung des Analogons auch bei dem Zu-
treffen aller unmöglichen Voraussetzungen doch noch eine so ge-
waltige Nervenerschtttterung bewirken würde, dass sie nicht lange
auszuhalten wäre. Ferner ist in den zwei Dimensionen der Ton-
empfindung schon jener concrete Inhalt mit aufgenommen, der bei
der Gesichtsempfindung erst in der Erfüllung der verschiedenen
Stellen des Gesichtsfeldes mit Licht von verschiedener Intensität
und Schwingungsgeschwindigkeit (Farbe) hinzukommt. Diese zwei
Dimensionen der Lichtstärke und Farbe bleiben für das Auge ebenso
discret wie Tonstärke und Tonhöhe für das Ohr, weil einerseits
auch bei ihnen das praktische Interesse an die discrete Sonderung
und nicht an die continuirliche Verschmelzung geknüpft ist, und
weil andererseits auch sie nur in grossen Intervallen und sporadisch
vorzukommen pflegen (die anscheinende Continuität des Spectrums
ist eine einflusslose und praktisch werthlose Ausnahme). Diejenigen
Empfindungen der Netzhaut hingegen, welche unabhängig von der
Qualität des äusseren Reizes als in zwei Dimensionen gegebene
Localzeichenempfindungen uns in dem nie verschwindenden Gesichts-
feld beständig vor Augen stehen (sowohl in den belichteten, wie
in den schwarzen Stellen desselben), diese haben neben dem Vorzug
ihrer ununterbrochenen Einwirkung auf den Intellect zugleich
den Vorzug, in einer unverändert bleibenden Summe gegeben zu
sein, welche alle möglichen Werthe der beiden in ihnen enthaltenen
Variabein innerhalb gewisser Grenzen (nämlich von Null bis auf
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 173
das Maass der den Bandempfindungen der Retina zukommenden
Localzeichen) in solcher Vollständigkeit erschöpft, dass die
Lücken zwischen den einzelnen Stufen nicht zur Perception ge-
langen. Die Folge hiervon ist, dass, wenn man eine beliebige Em-
pfindung herausgreift, dieselbe unter allen Umständen in jeder
der beiden Dimensionen zwei unmittelbare Nachbar-
empfindungen hat, welche gleichzeitig mit ihr actuell sind
und deren Abstand von ihr (im Sinne des Maasses der quantitativen
Veränderung des Localzeichens, also noch nicht im räumlichen
Sinne zu verstehen) nicht so gross ist, um als Lücke pereipirt
werden zu können. Diese Vollständigkeit des Empfin-
dungscomplexes, welche in der überall bestehenden vier-
fachen Nachbarschaft für jede Einzelempfindung gewährleistet ist,
nnd welche auch bei dem Nullpunkt — oder dem Punkt des mittle-
ren Abstandes (wie oben zu verstehen) von den Empfindungen mit
maximalen Localzeichen (Bandempfindungen) — nicht unterbrochen
wird, verleiht diesem Empfindungscomplex eine Geschlossen-
heit, welche ausser bei dem Tastempfindungscomplex bei keinem
andern Sinne auch nur in annähernder Aehnlichkeit wieder
vorkommt
Erwägen wir nun, dass die oben (S. 168—171) aufgestellten
Betrachtungen über die nothwendige Entstehung der Illusion der
Continuitäf eine ganz allgemeine Geltung haben, welche oben nur
der Deutlichkeit wegen auf ein räumliches Mosaik bezogen
wurde, aber von der Räumlichkeit oder extensiven Beschaffenheit des
zweidimensionalen Empfindungscomplexes ganz unabhängig ist, li9 )
so sieht man sofort, dass unser in sich geschlossener zweidimensio-
naler Empfindungscomplex zugleich als lückenlos continuirlicher
erscheinen muss. Erinnern wir uns endlich daran, dass in diesem
Complex doch schon die constructive Arbeit der Ordnung der
Localzeichen nach zwei Dimensionen vorausgesetzt ist, dass also
das so erlangte Resultat etwas ganz anderes ist, als die noch
rohe Summe der gegebenen Elementarempfindungen, dass mit
einem Wort auf der jetzt erklommenen Stufe schon eine An-
schauung vorliegt, in welcher elementare Empfindung und con-
8trnctive Vorstellungsarbeit durch einen Abkürzungsprocess der
Association unbewusst geworden sind, so haben wir eine solche
Combination erlangt, dass wir sehr wohl sagen können: wir haben
174 Text der ersten Auflage.
die extensive Flächenanschauung in ihrer Genesis begriffen. Denn
was sollte für ein Merkmal zu derselben fehlen, wenn wir hinstellen:
einen in sich geschlossenen/ anscheinend lückenlos-continuirlichen,
zweidimensionalen Empfindungscomplex von bestimmter Maximal-
grenze, welcher als Anschauung, d. h. als fertiges Resultat vor's
Bewusstsein tritt. Letzten Endes lässt sich keine Anschauung so
beschreiben, dass einer sie verstehen kann, der nicht selbst diese
Anschauung schon besitzt; aber dieses Specifische der Anschauung,
was wir als in der Genesis derselben begründet erkannt haben, ist
eben schon in diesen Empfindungscomplex durch die nähere Be-
stimmung mit hineingelegt worden, dass derselbe als fertige An-
schauung vor's Bewusstsein tritt. In gewissem Sinne ist hiermit die
räumliche Flächenanschauung als solche für eine Illusion erklärt;
wer sich aber erinnert, dass wir auch die Tiefenanschauung und
ebenso die Continuität der Extensionen für Illusionen erklären
mussten, ja sogar, dass wir in gewissem Sinne jede Anschauung
für eine Illusion in Bezug auf ihren wirklichen Empfindungsstoff er-
klären mussten, der kann für die Flächenanschauung nichts anderes
mehr erwartet haben. Was wir Flächenanschauung nennen, das
ist eben jene genetisch mit Notwendigkeit so und nicht anders
erwachsene Form der Illusion, die wir durch nothwendige Associa-
tion mit diesem zweidimensionalen geschlossenen Empfindungscomplex
der Netzhautlocalzeichen verknüpfen. 180 ) Diese Illusion ist uns
nützlich, weil sie in Verbindung mit der dritten Dimension nach
Umständen gut genug der in sich geschlossenen dreidimensionalen
Ordnung der realen Dinge entspricht, welche letztere mindestens
hinsichtlich der realen Bewegung eine wirklich continuirliche
ist Die letzten Endes aus der Unvollkommenheit unserer Auffassung
entspringende Illusion ist es also allein, welche uns die auf keine
andere Weise für uns zu erlangende Möglichkeit verschafft, unser
subjectives Abbild der Ordnung der wirklichen Dinge einer wichti-
gen Eigenschaft derselben conform zu machen.
Das Einzige > was bei der vorangehenden Erörterung noch
zweifelhaft geblieben ist, ist der Vorgang des Ordnens der rohen
Empfindungsmasse nach den quantitativen Verhältnissen ihrer Local-
zeichen in den zwei Dimensionen. Zunächst ist das Missverständniss
auszuschliessen, als wäre dieses Ordnen als ein räumliches Um-
stellen zu verstehen; davon kann vor Fertigstellung der Baum-
181. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 175
anschauung natürlich nicht die Rede sein; ein solches Missverständniss
würde das andere voraussetzen, dass die discreten Empfindungs-
elemente vor ihrer Ordnung nach den Dimensionen einen gewissen
Platz im Bewusstsein hätten, welchen es zu ändern gälte. Dies
ist natürlich ganz verkehrt; das Zugleichsein der elementaren Em-
pfindungen im Bewusstsein kann nur ein durchaus raumloses sein,
und der Begriff des Ordnens ist nicht als das Schaffen eines noch
nicht Vorhandenen zu verstehen, sondern als das Entdecken des
bereits durch die Organeinrichtung Gegebenen mit Hülfe eines idea-
len Durchlaufens der Empfindungen in der durch die gesetzmässige
Aenderung ihrer Localzeichen bedingten Reihenfolge, als ein geistiger
Orientirungsprocess des Bewusstseins in der gegebenen
Empfindungsmasse, als dessen dauerndes Resultat durch Abkürzung
der Ideenassociation die Neigung zurückbleibt, beim künftigen
Durchlaufen dieser Massen mit der Aufmerksamkeit von jeder Em-
pfindung immer nur auf ihren unmittelbaren Nachbarn und von
diesem wieder nur auf den nach demselben Aenderungsgesetz sich
anreihenden Nachbarn überzugehen, oder mit anderen Worten beim
Durchlaufen der Empfindungsmasse mit der Aufmerksamkeit keine
Sprünge zu machen und Richtung zu halten (nach demselben
Aenderungsgesetz der Localzeichen fortzuschreiten). Hat sich diese
Prädisposition hinlänglich befestigt, so ist dasjenige erreicht, was
wir unter dem Namen des Ordnens der Empfindungen als erste
Voraussetzung der Entstehung der Raumanschauung fordern muss-
ten, 131 ) und alsdann geht der Abkürzungsprocess der Ideenassocia-
tion in der eben ausgeführten Weise weiter, isa ) so dass die Auf-
merksamkeit sich mit dieser hergestellten oder richtiger entdeckten
Ordnung der Empfindungen gar nicht mehr beschäftigt, sondern
sich der Totalität dieses nun ordnungsmässig beherrschten Empfin-
dungscomplexes zuwendet.
Wer in diesem Orientirungsprocess des Bewusstseins am Leit-
faden der schrittweisen Aenderung der Localzeichen etwa eine
Leistung sehen wollte, welche die intellectuelle Fähigkeit der nie-
deren Thiere, in denen dieser Process sich vollzieht, tiberstiege, der
ist daran zu erinnern, dass solches nur wahr sein würde von einem
Intellect, der ohne ererbte Prädisposition einem solchen Reichthum
gegenübergestellt würde, wie ihn etwa das Auge des Säugethieres
oder auch schon das der Fliege bietet, dass aber obige Behauptung
176 Text der ersten Auflage.
sofort hinfällig wird, wenn man bedenkt, dass das Organ und die
prädispositionelle Fertigkeit zur Benutzung der von ihm gelieferten
Empfindungen Hand in Hand gehen und sich gemeinschaftlieh ganz
allmählich Schritt vor Schritt vervollkommnen, so dass also auch
jedes Wesen die der Complication seines Sinnesorgans
entsprechenden Prädispositionen des Centralorgans unfehlbar
mit auf die Welt bringt und seinerseits nur die Aufgabe vorfindet,
bei der Concurrenz um möglichst vorteilhafte Ausnutzung (und zu
dem Zweck um möglichst genaues Verständniss der Aussenwelt)
die ererbten Prädispositionen durch Probiren und Uebung um
einen minimalen Zusatz zu steigern und zu vervollkomm-
nen — und diese Aufgabe geht wahrlich nicht über -seine Kräfte. 133 )
Die vergleichende Anatomie lehrt uns ferner, dass die einfachsten
Formen von Augen bei niederen Thieren zunächst durchaus nur der
Unterscheidung von hell und dunkel dienen können, und dass schon
eine gewisse Vervollkommungsstufe des Organs dazu gehört, um
Lichteindrücke, welche von rechts oder links, von oben oder unten
her das Organ treffen, als qualitativ verschieden auffassen zu können,
und so die erste primitive Grundlage zu einer Ausbildung von
Localzeichen zu gewinnen. In solchem Organ wird der gerade von
vorn kommende Eindruck als der häufigste und deshalb normale
und die von rechts, links, oben oder unten kommenden als specifische
qualitative Modificationen der normalen Helligkeitsempfindung
percipirt werden. Sie werden mit einem positiven oder negativen
Localzeichen der einen oder der andern Dimension behaftet auf-
treten. Die Beaction des Thieres auf jede dieser Modificationen
wird sich verschieden entwickeln, weil mit dem Leuchtenden für
jedes Tbier verschiedene praktische Interessen verknüpft sind, und
es wird sich für jede Empfindung eine prädispositionelle Association
mit gewissen Bewegungsreactionen herausbilden, auch ohne dass
das Thier zu einer extensiven Baumanschauung gelangt So sehen
wir, dass der Gesichtssinn der niederen Thiere schon lange
vorher von erheblichem Nutzen werden kann, ehe seine Elemen-
tarempfindungen so discret gesondert und so zahlreich neben-
einandergestellt sind, um eine Baumanschauung zu erzeugen. 184 )
Auf dem Fundament jener Associationen von modificirten Gesichts-
empfindungen mit bestimmten reflectorischen Handlungsweisen kann
sich aber das Organ durch natürliche Zuchtwahl weiter entwickeln
IX. Die Entstehung der Anschauungsfonn der Räumlichkeit. 177
«und immer mehr and immer feiner unterschiedene Elementarempfin-
dungen liefern. Dann wird irgend einmal ein gewisser Punkt
eintreten, wo die immer noch massige Zahl modificirter Elementar-
empfindungen als geschlossener continuirlicher Empfindungscomplex
sich darstellt und dadurch die Illusion der räumlichen Flächen-
anschauung erzengte; denn soviel geringer als die Zahl der dis-
creten Empfindungselemente des Gesichtsfeldes, und soviel grösser
als die Lücken zwischen je zwei benachbarten Empfindungen (resp.
der quantitative Sprung zwischen ihren Localzeichen) bei einem
solchen niederen Thiere ist, nm mindestens ebenso viel stumpfer ist
auch das Perceptionsvermögen des Gentralorgans seines Intellects
als beim Menschen, so dass auch hier der Illusion der Gontinuität
kein Hinderniss im Wege steht. 186 )
So verschwinden die Schwierigkeiten des Problems mehr und
mehr, je eingehender man dieselben aus dem Gesichtspunkt der
Descendenztheorie und der prädispositionellen Vererbung zerglie-
dert. 136 ) Wenngleich im Einzelnen noch immer vieles dunkel blei-
ben wird, so glauben wir doch den Weg angedeutet zu haben, auf
welchem weitere Forschungen mehr und mehr Licht über diese
Fragen verbreiten werden.
Es sei gestattet, am Schluss dieses Capitels eine kurze Bemer-
kung über die apriorische Denkform der Causalität hinzuzufügen,
welche Schopenhauer mit Recht die wichtigste (wenn auch mit
Unrecht die einzige) Kategorie nennt, und welche er ebenso richtig
(wie Raum und Zeit) als Gehirnfun et ion ansieht, deren speeifische
Qualität natürlich als in der Beschaffenheit des funetionirenden
Gehirns prädisponirt werden muss. Wir haben im Allgemeinen die
apriorischen Denkformen schon am Schluss des VIII. Abschnitts
behandelt, und hätten nicht nöthig, hier noch einmal auf einen
speciellen Fall zurückzukommen, wenn nicht die hervorragende Be-
deutung der Causalität und ihre nahe Zusammengehörigkeit mit
den Anscbauungsformen des Baumes und der Zeit dazu aufforderte,
an die Betrachtung der letzteren beiden noch einen Hinblick auf
die erstere anzuschliessen.
Schopenhauer begnügte sich damit, die Causalität für eine Hirn-
funetion zu erklären, für die das Gehirn in demselben Sinne con«
struirt sei, wie das Auge für das Sehen; auf die Genesis dieser
Hirnprädisposition ging er ebenso wenig näher ein wie Kant, und
fc. t. Hart mann, Das Unlewusste. 2. Aufl. 12
178 Text <tar ersten Auflage.
erklärte sieh mit der allgemeinen metaphysischen Behauptung einer
Objeotivation des Willens zum Leben zufriedengestellt. Wir haben
aber gesehen, dass der Wille eines Individuums ein Summations-
phänomen aus den Atomkräften der Gentralorgane des Nerven-
systems ist (vgl. oben S. 96—98), and dass der Wille zum Leben
oder Dasein eben auch nur das Resultat eines Anpassungs-
proeesses an das als Ausgangspunkt desselben gegebene Dasein
ist i' 7 ) (vgl. oben S. 57—58). Somit sind also „Wille zum Leben"
und „Hirnprädisposition der Causalität" coordinirte Wirkungen einer
und derselben Ursache: „des Anpassungsprocesses an's Dasein in
der Goncurrenz um dasselbe", und nimmermehr kann die eine dieser
Folgen ohne näheres Verständniss als wirkende Ursache der andern
behauptet werden. — Aber obwohl Schopenhauer die CausaHtät ab
Gehirnfunction anerkennt, so verkennt er doch den himmelweiten
Unterschied einer solchen aus bestehenden Prädispositionen heraus
blind (d. h. unbewusster Weise) wirkenden Function und des durch
den Abstractionsprooess herauspräparirten Elements, welches als
integrirender Bestandteil complioirterer Vorstellungsmassen durch
jene Function in diese letzteren hineingebracht ist, mit andern
Worten er verwechselt die unbewusste mechanische Hirafanetion,
welche zur eausalen Association von Vorstellungen nöthigt, mit dem
logisch herauspräparirten Begriff der Causalität. Die Ph. d. U.
sagt (S. 312—313)*): „Deshalb ist es falsch, den Causalitite-
be griff als Vermittler für eine bewusste Ausscheidung des Ob-
jecto»" (aus der Summe der gegebenen Empfindungen) „zu setzen,
denn die Objecte sind lange vorher da, ehe der Cau-
salitätsbegriff aufgegangen ist; und wäre dies auch nicht
der Fall, so müsste auch dann das Subject gleichzeitig mit
dem Object gewonnen werden. Allerdings ist fllr den philoso-
phischen Standpunkt die Causalität das einzige Mittel, um
über den blossen Vorstellungsprocess hinaus zum S objecte und
Objecte zu gelangen (vgl. „das Ding an sich" Abschn. IV und V);
allerdings ist für das Bewusstsein des gebildeten Verstandes das
Object in der Wahrnehmung nur als deren äussere Ursache
enthalten; allerdings mag(?) der unbewusste Prooess, welcher dem
ersten Bewusstwerden des Objeots au Grunde liegt, diesem bewassten
*) ?. AuÄ. I. 302-304.
IX. Die Entstehung dir Anschauungsfoitn der Räumlichkeit. 179
philosophischen Processe analog sein, — so viel ist gewiss» dass
der Process, als dessen Resultat das äussere Otyeot dem Bewußtsein
fertig entgegentritt, ein durchaus unbewusster i*t, und mithin, wenn
die CausaEt&t in ihm eine Bolle spielt, was wir übrigens nie direet
oonstatiren können, darum dooh keinenfalk gesagt werden kann,
wie Schopenhauer thut, dass der apriorisch gegebene Cau-
salitätsbegriff das äussere Object schaffe, weil man in
dieser Ausdrucksweise den Begriff als einen bewussten auffassen
mttsste, was er entschieden nicht sein kann, weil et viel, viel später
gebildet wird, und zwar zuerst aus Beziehungen der bereits
fertigen Objecto untereinander." (Vgl. auch „das Ding an sich"
S. 66—74).*)
Halten wir daran fest, dass der Process, als dessen Resultat
das äussere Object dem Bewusstsein fertig entgegentritt, ein Process
von Hirnsehwingnngen ist, l8S ) die durch die Moleeularbeschaffenheit
des Gehirns formell prädisponirt sind, so ist die in dem Citat offen
gelassene Frage, ob die Cautalität in demselben eine Bolle spielt,
sehr leicht zu entscheiden. Es kommt nur darauf an, was hier unter
Cansalhät verstanden wird. Verstehen wir darunter die oansalen
Einwirkungen der Hirnmolecnle auf einander, so ist ihre Betheiligung
selbstverständlich; verstehen wir darunter jene gleichviel wie be-
schaffene, nioht selbst Begriff seiende, sondern erst das Material zur
Bildung des Caugalitätsbegriff* erzeugende apriorische psychologische
Function, so wird man dieser psychologischen Function darum ihren
Namen nicht entziehen dürfen, weil wir sie als Function des
materiellen Denkorgans näher bestimmen gelernt haben. 189 )
Versteht man aber unter der unbewussten Causalität eine metaphy-
sisch spirituatistische Intuition, die über dem materiellen Penkorgau
schweben soll, 140 ) und das getreue Abbild oder vielmehr Vorbild
des philosophischen (bewussten) Causalitäts b e g r i f f 3 darstellen
soll, 1 **) dann ist die Frage allerdings zu verneinen! denn zu
einer solchen Hypothese liegt nicht nur keine Nöthigung vor, sie
wird vielmehr durch die genügende physiologische Erklärung
entschieden discreditirt- u2 )
Bei einer solchen Auffassung erhält freilich auqh die Behaup-
tung Schopenhauer^, dass auch das niedrigste Thier schou der
■ H ■ 1 9 9 ■ ^
*) gfft. Qnmdl. d. trwc. Realiwn. S. 96-105.
12*
180 Text der ersten Auflage.
Causalität' bedürfe, am zu leben, eine modificirte Bedentang. Zu-
nächst gilt dieselbe jedenfalls nur mit Einschränkung auf diejenigen
Thiere, deren Verstandeskräfte hoch genug entwickelt sind, am von
Objecten der Wahrnehmung bei ihnen reden zu können; denn
nur bei solchen ist das Problem der Entstehung des Objects der
Wahrnehmung gegeben, zu dessen Lösung Schopenhauer die Cau-
salität fordert ; bei ganz tief stehenden Thieren wird ebenso wie bei
Protisten und Pflanzen wohl von Empfindung, aber nicht mehr
von Wahrnehmung im Sinne der Anschauung eines Wahr-
nehmungsobjects die Bede sein können. Weiterhin aber gilt auch
bei den wirklich wahrnehmenden Thieren Schopenhauers Behauptung
nur in dem Sinne, dass in den Nervencentralorganen dieser Thiere
auch schon ererbte Prädispositionen enthalten sein müssen, welche
durch ihr Functioniren eine gewisse Associationsform von Vorstel-
lungen zu Stands bringen, nicht aber in dem Sinne, als wäre ein
bewusster oder unbewnsster Begriff oder Idee der Causalität bei
dem Vorgang hn Spiele. Schopenhauer deutet mit Recht darauf
hin, dass die Hirnfunction der Causalität als Verselbstständigungsact
der Wahrnehmungen zu Objecten mit der Hirnfunction der dritten
Dimension des Raumes in einer nahen Beziehung steht; haben
wir nun vorhin gesehen, dass die dritte Dimension der Raum-
anschauung im Thierreich erst ziemlich spät auftreten kann
(jedenfalls lange nach der zweidimensionalen Raumanschauung,
welche ebenfalls noch den niedrigsten Thieren fehlen dürfte), so
haben wir hieran schon einen ungefähren Anhalt ftlr die Beurtei-
lung der Entstehung der Prädisposition der Causalfunction. Wie
wir oben (S. 176) erkannten, dass die durch verschiedene Local-
zeichen gefärbten Sinnesempfindungen auch dann schon durch Asso-
ciation von bestimmten Vorstellungen und Verhaltungsweisen einem
Thiere nützlich werden können, wenn es noch nicht die räum-
liche Ausbreitung dieser Empfindungen zur Anschauung vollzogen
hat, ebenso werden wir zugestehen müssen, dass verschiedene Em-
pfindungen überhaupt ohne alle Verselbstständigung
derselben zu Wahrnehmungsobj ecten hinreichen kön-
nen, um einem Wesen von einfacheren Lebensverhältnissen die ftlr
seine Lebenszwecke nöthigen Reize und Warnungen zu ertheilen,
dass also auch durch natürliche Zuchtwahl solche Wesen prä-
dispositionelle Associationen zwischen bestimmten Em-
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 181
pfindungen und bestimmten Handlungsweisen erwerben and vererben
können, ohne das ihrem Bewusstsein eine objective Aussen-
weit aufgegangen wäre. Wie das Ordnen der dureh Localzeichen
gefärbten Tast- oder Gesichts- Empfindungen nur als Erleichte-
rung für eine übersichtliche und zusammenfassende Orientirung
dient, und deshalb erst dann nützlich wird, wenn der Reichthum
der betreffenden Empfindungen ein gewisses Ma&ss überschreitet,
ebenso ist auch die Construction einer objectiven Aussenwelt nur
ein ebensolches Hülfs mittel der Uebersichtlichkeit, um die stets
wachsende Totalsumme von Sinnesempfindungen unter solche ein
heitliche Gesichtspunkte zu ordnen, welche den ererbten Prädispo-
sitionen der instinctiven Verhaltungsweise auf diese Empfindungen
am besten entsprechen; dies geschieht aber durch Zusammenfassung
der qualitativ verschiedensten Empfindungen in die Anschauung
eines selbstständigen und wirkenden Objects. Nach Entstehung der
dreidimensionalen Baumanschauung vollzieht sich dieser Frocess
ganz von selbst dadurch, dass alle Begriffe von Causalität, Sub-
stautialität» Phänomenalität u. s. w. fehlen, also das Begriflsmate-
rial zu einer Unterscheidung des eigenen Vorstellungsgespinnstes
von der transcendenten Wirklichkeit mangelt, während anderer-
seits die instinctiven Prädispositionen des Handelns ganz so func-
tioniren, als ob das eigene subjective Wahrnehmungsbild selbst
ein Wirkendes, Handelndes, feindlich oder freundlich in das Leben
Eingreifendes wäre. Wie die Baumanschauung aus der Stumpfheit
der Wahrnehmung entspringt, welche von den Lücken nichts merkt,
so entspringt der naive Bealismus aus der Stumpfheit des
Denkens! welchem noch die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen
subjectiv-phänomenal und transcendent-real fehlt 143 ) (vgl. „das Ding
an sich" S. 70 — 71),*) eine Unterscheidung, gegen die sich be-
kanntlich heute noch ganze Philosophenschulen mit unbegreiflicher
Verblendung und Hartnäckigkeit versperren.
*) Krit GrundL d. transc. Realism. 8. 100—102.
X.
Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien'
Prädisposition.
Wie wir oben (S. 45—46) gesehen haben, daes gerade der
naturwissenschaftliche Materialismus sich gegen die empirische Tbat-
saehe der Natarzweokmässigkeit, welebe die Philosophie meistens
anerkannte» eigenwillig deshalb verscbloss* weil ihm das Rüstzeug
seines Wissens kein Erklärungsmittel Air eine solche Erscheinung
bot, ebenso skeptisch, negirend oder ignorirend verhielt sieh der-
selbe bisher meistenteils auch dem besonderen Fall 4er Natafr-
aweekmässigkeit gegenüber* welcher in den Handlungen der
Naturwesen »u Tage tritt und welchen wir, insofern der Zweck
der Handlung dem Bewusstsein des Thieres nicht gegenwärtig sein
kann, mit dem Worte Instinct bezeichnen. Obwohl in der That
über den Instinct der Thiere viel gefabelt worden is% und auch
wohl heute noch manche auf Treu und Glauben angenommene Be-
hauptungen der genaueren Beobachtung und Bestätigung^ beriebaugs-
weise Berichtigung bedürfen, so ist doch die Zahl unzweifelhafter
Thatsachen auf diesem Gebiet so massenhaft und die Autopsie für
jeden unbefangenen Beobachter der Natur überall so leicht zugäng-
lich, dass wirklich nur systematische Voreingenommenheit das Vor-
handensein des gebieterisch sich aufdrängenden Problems leugnen
kann. Freilich findet man diese Voreingenommenheit heutzutage
noch öfters selbst bei den Naturforschern, welche die Descendenz-
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und GÄÜ&lien-Prädisposition. lg}
theoriö willig accepHrt haben, aber durch die theoretischen Anti-
pathien ihrer Vergangenheit beeinflusst sind. Zu dieser Olasse ge-
hört sogar Wallace, der den Einfluss der Gewohnheit bei der
Entstehung des Instincts mit Recht hervorhebt, aber von der Psy-
chologie des Menschen und der Thiere yiel zu wenig versteht, utn
die sensuattstisohe Erklärungsmanier solcher Probleme, wie sie bei
seinen Landsleuten besonders beliebt ist, in ihrer armseligen Plattheit
zu durchschauen und die Grösse des Fortschritts zu ermessen, welcher
durch Darwin's Ausbildung der Descendenltheorie auch auf psycho-
logischem Gebiete angebahnt worden ist Der Nachweis, dass
eine Function durch ein gewisses Maass von Uebung in sich ge-
festigt und gestärkt wird, genügt diesem Standpunkte sofort, um
das Vorhandensein einer angeborenen Disposition zu leugnen, ohne
Rücksicht darauf, dass die Uebung nur den letzten Schliff und die
volle Sicherheit der Beherrschung liefert, und dass ohne das An-
geborensein der Disposition ein solches Resultat in so kurzer Zeit
und mit so geringen Mitteln gar nicht erzielt werden konnte- So
erlernt z. B. der junge Singvogel den Gesang seiner Art erst durch
eine gewisse Uebung, aber der ältere Vogel braucht nach jedem
Rauhen eine ganz ebensolche Periode der Uebung, um wieder die
Herrschaft über die Stimme zu erlangen, ohne dass er seine Sanges-
weise vergessen hätte, wie sein einsames Wiedereintiben derselben
beweist; kann also unter solchen Umständen die dem jungen Vogel
nöthige Uebung gegen die angeborene Prädisposition zu seiner
Sangesweise sprechen? Es ist ferner wahr, dass erst die Nach-
ahmung der Artgenossen dem Gesang des jungen Vogels die letzte
Vollendung giebt, also als Hilfe für die Nachmeisselung seiner
Hirnprädisposition dient, aber ungefähr denselben Gesang übt er
sich auch einsam aufwachsend ein, es müsste denn zufällig ein
talentloses und träges Individuum sein. Ebenso ist es wahr, dass
der Nach&hmungsinstinct im Stande ist, die Functionsweise der
ererbten Gesangs-Prädispositionen zu modificiren, d. h. ein Singvogel
lernt den Schlag anderer Specien imitiren; dies ist um so weniger
zu verwundern, als ja manche Vogelarten ihr musikalisches Bedürf-
nis ganz und gar durch erborgte Weisen befriedigen; je schärfer
andrerseits die eigentümliche Sangesweise einer Species ausgeprägt
ist, um «o grosseren Widerstand wird die ererbte Prädisposition der
Modiflcation durch den Nachahmungstrieb entgegensetzen. Bei dem
184 Text der ersten Auflage.
Sänger der Sänger, der Nachtigall, haben wir noch nichts von
nennenswerthen Imitationen gehört; nur die von Natur schlechtesten
Sänger lernen menschliche Melodien nachpfeifen, and allen eigent-
lichen Singvögeln gefällt doch immer ihr eigenes Lied am besten.
Ohne Zweifel bestehen auch in dem Vogelsang neben angeborenen
Elementen typischer Bildungß- und Yerknttpfungsformen der Töne
andere Elemente, welche der willkürlichen Modification des Gesanges
einen gewissen Spielraum lassen, ganz wie wir dies bei der mensch-
lichen Sprache gesehen haben (vgl oben S. 140 — 142).
Es kann nicht unsere Absicht sein, uns hier auf eine längere
Polemik gegen diejenigen einzulassen, welche die Thatsache des
Instincts bestreiten, sondern wir nehmen das Problem, ebenso wie
es die Ph. d. Unb. aufstellt, als gegeben an und wollen nun sehen,
was die Descendenztheorie für Mittel zur Erklärung der wunderbaren
Erscheinung an die Hand giebt.
Wir haben in den vorhergehenden Abschnitten die Bedeutung
der Vererbung hinlänglich erörtert; wir haben (S. 129—132) gesehen,
wie der Organismus die Fähigkeit erwirbt, gewisse vorgestellte
Bewegungen zur Ausführung zu bringen und wie diese Fähigkeit
durch Vererbung und Zuwachs sich befestigt und steigert; wir haben
ferner betrachtet (S. 128 — 129), wie die körperlichen Fertigkeiten
im weiteren Sinne auf ererbten Prädispositionen sowohl des Gehirns
als der untergeordneten Centralorgane des Nervensystems beruhen,
wie man bei typischen Denkformen (S. 146 — 149) und bei anderen
wichtigen Vorstellungselementen mit Recht von ererbten schlummern-
den Gedächtnissdispositionen (S. 126—128) sprechen kann, und wie
die geistigen Fertigkeiten, Anlagen und Talente, über deren An-
geborensein alle Welt einverstanden ist, ebenfalls nur aus molecu-
laren Prädispositionen des Gehirns für gewisse Arten und Formen
des Functionirens erklärt werden können (S. 132—134). Wir sahen
weiterhin (S. 153— 156), dass in der ererbten Hirnprädisposition für
bestimmte psychische Functionsweisen jenes Element zu suchen ist,
welches die Philosophie mit dem Worte a priori bezeichnet und
dessen Bedeutung von der empirischen Psychologie so lange mit
Unrecht verkannt worden war; wir erkannten insbesondere (S. 138
bis 140), dass diejenigen Vorstellungsverknüpfungen zur prädisposi-
tionellen Vererbung tendiren und besonders geeignet scheinen, welche
aus einem Abkttrzungsprocess der Ideenassociation regulären und
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien-Präilisposition. 185
wir fanden endlich (S. 118 — 120) r dass der Charakter im weitesten
Sinne sammt allen dem Individuum in Handlungsweise, Benehmen,
Manieren, Bewegung und Haltung anhaftenden Eigentümlichkeiten
gleichsam den Grundstock der psychischen Vererbung bildet —
Alle diese getrennt betrachteten Elemente finden wir nun vereinigt
im Instinct wieder. Der Instinct ist zunächst „der innerste Kern
jedes Wesens", wie sich schon daraus zeigt, dass er das Individuum
zu den höchsten Opfern, sogar seiner Existenz, bringt (Phil, d. Unb.
S. 101);*) beim Menschen aber nennen wir den tiefinnersten Kern
des Wesens, der für all sein Thun und Lassen bestimmend ist, den
Charakter (ebd. S. 236).**) „Wir werden später (Cap. ß. IV)
sehen, dass man die Summe der individuellen Reactionsmodificationen
auf alle möglichen Arten von Motiven den individuellen Charakter
nennt und (Gap. C. X. 2) dass dieser Charakter wesentlich auf
einer — zum kleineren Theil individuell durch Gewohnheit erwor-
benen, zum grösseren Theil ererbten — Hirn- und Körperconstitution
beruht; da es sich nun auch beim Instinct um den Beactionsmodus
auf gewisse Motive handelt, so wird man auch hier von Charakter
sprechen können, wenngleich es sich hier nicht sowohl um den
Individual- als den Gattungscharakter handelt, also im Charakter
hinsichtlich des Instinct» nicht das zur Sprache kommt, wodurch
ein Individuum sich vom andern, sondern wodurch eine Thiergattung
sich von der andern unterscheidet" (Phil. d. Unb. S. 79).***)
Indem nun der Instinct ein prädisponirter Reactionsmodus auf
gewisse Arten von Motiven ist, muss in der prädisponirten Willens-
function zugleich die Vorstellung mit enthalten sein, welche den
Inhalt des Ausführungswillens bildet (vgl oben 122—123 und 126
bis 127); hierdurch stellt sich der Instinct als ererbtes Gedächtniss
dar, was um so entschiedener hervortritt, je eigenthümlicher der
Vorstellungsinhalt einer Instincthandlung in ideeller Hinsicht geformt
und in sich abgeschlossen ist (z. B. die stereometrische Gestalt der
Bienenzelle, oder die Form des Netzes der Kreuzspinne, oder die
künstliche Construction des Cocons und seines Verschlusses durch
manche Baupen). Wo sich der Vorstellungsinhalt einer Instinct*
*) 7. Aufl. I 9S.
«*) 7. Aufl. 1. 228.
**) 7. Aufl. L 77.
188 Ten* der enten Auflag*.
handlang in so ausgeprägter, unverändert wiederkehrender Form
darstellt, da kann man ihn mit Recht als eine typische Vorstellungs-
form bezeichnen, welche sich in der Species durch Vererbung be-
festigt hat
Aller Instinct hat die Form des a priori, da eben der Inhalt
seines Functionirens etwas setzt, was dem Individuum nicht von
aussen empirisch gegeben ist, sondern durch eine ihm selbst un-
verständliche unbewusste Function seines Nervenoentralorgans in
fertiger Gestalt vor sein Bewnsstsein hingestellt wird; nur ist hier
zugleich der unwiderstehliche Zwang der praktischen Ausführung
mitgesetzt, Was bei dem theoretischen a priori nicht der Fall ist
Wir werden später sehen, eine wie grosse Bolle bei der Entstehung
solcher vererbter Gedächtnissprädispositionen die Abkürzung der
IdeenasBodation spielt Jeder Instinct setzt eine Fähigkeit des Ge-
brauchs der willkürlich bewegbaren Körpertheile voraus, und die
meisten fordern speeifische Fertigkeiten* in oomplicirten Combinationen
von Bewegungen (so z. B, das Schwimmen, Gehen, Klettern, Fliegen,
Springen u. s. w.). Immer verbindet sich auch mit den Prädispo-
sitionen zu solchen körperlichen Fertigkeiten ein gewisses Maass
specifischer intellectueller Befähigung für Thätigkeitssphären ; mit
der körperlichen Geschicklichkeit der Termiten, Biber, Vögel im
Bauen ist unzweifelhaft eine gewisse geistige Anlage für dieses
Gebiet verknüpft zu denken : man könnte sagen, diese Thiere haben
eine Art Bau sinn. Ebenso kann man den Singvögeln ein ge-
wisses musikalisches Talent, den Zugvögeln einen hochentwickelten
Ortssinn zur Orientirung im Terrain nicht absprechen und doch
stehen diese Befähigungen, welche nur durch ererbte Hirnprädispo-
sitionen entstanden zu denken sind, im unmittelbaren Dienste der
betreffenden Instinote und sind nur um derentwillen zur besseren
Befriedigung der instinctiven Bedürfnisse vorhanden. Eine andere
Reihe von Instincten, wie Nachahmungstrieb, Verheimlichungstrieb,
Bosheit, Mitleid, Vergeltungstrieb, Geschlechtstrieb u. s. w., führen
uns unmittelbar aus den Instincten, wie sie bei den höchsten Thieren
sich darstellen, zu den Charaktereigenschaften hinüber, zu welches
dieselben bei den Menschen sich entfaltet haben (Ph. d. U. Gap. B I),
und bei welchen die Bedingtheit durch moleculare Hirnprädisposi-
tionen nicht mehr zweifelhaft ist
X Der Instinct als ererbte Hirn- and GkngUen-Prädispogition. 187
Dass die Ph. d. U. alle wesentlichen Punkte unserer ParalleH-
situng einrftumt, geht aus denjenigen Theilen unserer Untersuchungen,
auf welche ver Kurzem zurückgewiesen wurde, deutlich genug her-
vor, und können wir uns deshalb die Wiederholung dieses Nach-
weise« hier ersparen. Zum Ueberfluss spricht die Ph. d. Unb, in
diesem Gap. selbst 8. 78 und 79*) der dritten Auflage (die Stelle
kam erst in der zweiten Auflage als Zusatz hinein) ihre Ueberein-
stimmung mit unseren Grundsätzen deutlich genug aus und giebt
zu, dass die Instincte durch „morphologische oder moleoularphysio-
logiache Pr&dfspositionen" verursacht sein könne*, indem diese „die
unbewusste Vermittelung zwischen Motiv und Instincthandlung leichter
und bequemer in die eine Bahn als in die andere lenken« (8, 78), *)
Mit diesem aus dem Abschnitt herübergekommenen Zugeständnis»
ist nun aber ein Keil in den Abschnitt A getrieben, welcher dienen
vollständig aus seinen Fugen drängt; denn es ist hiermit ein natur-
wissenschaftliche*! Erkl&rungsprincip für das Problem des Instinots
gegeben, welches dem Princip des unmittelbaren teleologischen Ein-
griffs von Seiten eines neben den Atomen des Organismus suppo-
nirten metaphysischen Wesens vermittelst einer unbewussten hell-
sehenden Intuition schnurstracks entgegengesetzt ist *") War das
naturwissenschaftliche Erkl&runggprincip der molecularen Hirji- und
Nervenprädisposition überhaupt einmal zugelassen, so lag der Ph.
di Unb. auch die Pflicht oh, zu untersuchen, wie weit mit dieseib
Prineip allein in der Erklärung der Erscheinungen des Instinets zu
kommen war* und ob der als unerklärbar etwa übrig bleibende Best
beglaubigter Thatsachen denn auch wirklich hinreichte, um neben
dieeem naturwissenschaftlichen Erklärungsprincip das metaphysische
des teleologischen Eingriff* supponiren zu müssen, 146 ) Diese Ver-
pflichtung war um so dringender; 14e ) je fundamentalere Bedeutung
diesem Capitel vom Instinct zukommt, je mehr die Resultate dieses
Capitels es sind, - auf deren Schultern in Wahrheit die Hypothese
der teleologischen Bmgriffe vermittelst unbewusster Intuition be-
ruht '**) Wir haben sehen oben (& 36—37) darauf hingedeutet,
dass hier der schwache Punkt der Ph. d. Unb« ?u suchen ist« Dass
die zeitgenössische Kritik, welche sich mit diesem Werke in Ab-
hätiähfflgta und Streitschriften eingehender als vielleicht Mit langer
«i
*) 7. AofL L 76—77.
188 Text der ersten Auflage.
Zeit mit irgend einem beschäftigt hat, von diesem klaffenden Riss
im Fundament des Gebäudes selbst nach Erscheinen der zweiten
Auflage mit dem erwähnten Zugatz, ja sogar nach Erseheinen der
dritten Auflage mit der verhängnissvollen Anmerkung auf S. 12,*)
auch nicht das allergeringste gemerkt hat, zeigt von Neuem, wie
sehr sie die Geringschätzung verdient, mit welcher hervorragende
Männer, wie Schopenhauer, sie stets behandelt haben.
Betrachten wir nun, wie die Ph. d. U. das in der zweiten Auf-
lage mit in dieses Capitel hineingeschobene Zugeständnis soweit zu
verclausuliren versucht, um den Riss nothdtirftig zu verkleistern und
nicht das ganze Buch von A bis Z umarbeiten zu müssen. Dieser
Verclausirungen sind auf S. 79**) der 3. Auflage fünf angegeben,
von denen aber nur die erste und fünfte wirklich die Behauptung
einer Einschränkung für das Erklärungsprincip enthalten! während
die 2, 3. und 4. Bedenken sind) welche sich nicht gegen die
Brauchbarkeit des Princips zur Erklärung) sondern gegen die
Schwierigkeiten richten, welchen die Frage nach der Entstehung
der fraglichen Prädispositionen in gewissen Fällen oder in früheren
Stadien der Entwickelungsgeschichte begegnet Beides ist jedoch
wohl auseinander zu halten ; zunächst ist zu untersuchen, wie weit
die Sphäre des durch diese Hypothese zu Erklärenden sich er-
streckt, "*) und dann erst in zweiter Reihe ist nach Aufhellung der
Genesis dessen zu streben, was zunächst als Thatsache behufs der
Erklärung der Erscheinungen hypothetisch vorausgesetzt wurde.
Dunkelheiten, welche in der Genesis bleiben dürften, würden bei
dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss durchaus keine ent-
scheidende Instanz gegen die Hypothese selbst abgeben können,
falls nur das in dieser Supponirte wirklich zur Erklärung der Erschei-
nungen in der Hauptsache hinreicht. Und dies ist in der That der FalL
Die erste Glausel hat zu bemerken, „dass alle Abweichungen
von den gewöhnlichen Grundformen des Instincts, insofern sie nicht
bewusster Ueberlegung zugeschrieben werden können, in diesem
(molecularen Hirn-) Mechanismus nicht prädisponirt sind" (S. 79)« *)
Man kann dies zugeben, wenn man sich erstens Ober die „Grund-
*) In der 7. Aufl. ist diese Anmerk. nicht enthalten, weil ihr Inhalt durch
den Anhang des L Bandes und durch die Schrift: „W. u. I. im Darwinismus"
inzwischen seine Erfüllung und Erledigung gefunden hatte.
**) 7. Aufl. 1. 77.
X. Der Instinct als fertige Ganglien- und Hirn-Prfidisposition. 189
formen" des Jnstificts richtig verständigt und wenn man zweitens
die Hodifioationen der bewussten zweckmässigen Ueberlegnng bei
Thieren nicht zu gering anschlägt, denn dann bleibt in der That
nichts von unerklärten Erscheinungen übrig. 149 ) Wenn die Bienen
an den Wänden und der Decke nicht sechsseitige, sondern fünf-
seitige Prismen bauen, so ist das nicht eine einmalige, unter ganz
abnormen Umständen vorkommende, sondern eine stetig sich wieder-
holende, gesetzmässige Modification des Instincts und demgemäss die
fünfseitige Zelle am Rande ebensogut als typische Grundform der
Instinctthätigkeit anzusehen wie die sechsseitige im Innern. Jeden
Instinct auf eine einzige Grundform beschränken, hiesse der Natur
eine Armuth aufzwingen, über die sie erhaben ist; überall, wo mo-
dificirte Umstände in congruenter Form unter den natürlichen Lebens-
verhältnissen wiederkehren, werden auch in den betreffenden In-
8tincten mit Sicherheit sich typische Modificationen des Verfahrens
herausbilden. Erst so gefasst wird das Bild einer Claviatur von
Prädispositionen im Gehirn, wo die Tasten die Motive, die klingen-
den Saiten die Instincte sind (Ph. d. U. S. 73—74),*) einiger-
maassen der Fülle des Lebens entsprechend; so bleibt aber auch
nichts Wunderbare» dabei und ist die Forderung vollständig ge-
wahrt, dass die gewöhnliche und die modificirte Handlungsweise
(insofern beide gesetzmässig auf gleiche Motive wiederkehren) aus
derselben Quelle stammen (S. 76 oben).**) Betrachten wir tiefer
stehende Thiere, bei denen ein nennenswertes Maass bewusster
Ueberlegnng nicht vorauszusetzen ist, so werden sich die Functionen
des gesammten Lebens in einem ziemlich engen Kreise typischer
Formen bewegen, wenden wir aber unsern Blick auf klügere und
höher stehende Thiere (oder selbst nur auf die klugen Arten der
Insecten), so wird der Kreis von typisch modificirten Iustinct-
handlungen in immer wachsendem Maasse durch immer feinere
Modificationen und Accommodationen an die Beschaffenheit der
concreten Fälle bereichert, welche aus der Mitwirkung der bewussten
zweckmässig eingreifenden Ueberlegnng herrühren (vgl. S. 75 unten
bis 76 oben), **) und durch diese oft schwer zu entwirrenden und ver-
mittelst Gewohnheit und Vererbung flüssig in einander übergehenden
*) 7. Aufl. L 71—72.
**) 7. Aufl. I. 74.
190 Text der erste* Auflage.
Gombifcationen von Instinci und bewusster Ueberlegung erhalt erst
die Lebenssphäre der höheren Thlere jene Breite und Manniob-
faltigkeit, die im Menschen ihr Maximum auf der Erde erreicht
Hiermit fallen aber die Einwendungen in sich ansammen, welche die
Ph. d. U. gegen die Erklärung des Instincts duroh einen molecularen
Gehirnmeehanismus aaf S. 73—77*) vorbringt, und mit der Not-
wendigkeit der Elimination dieser Hypothese fällt wiederum der
Antrieb hinweg, zu der anderartigen Hypothese eines rein spirituellen
Processes ohne materielles Substrat tiberzugehen, wo die unbewusste
hellsehende Intuition des Zwecks als Vermittelungsglied zwischen
dem Motiv und der Instincthandlung dienen soll. ,5 °) Dass die
„mechanische Leitung und Umwandlung der Schwingung» des vor-
gestellten Motivs in die Schwingungen der gewollten Handlung im
Gehirn", welche Umwandlung eben durch die eingegrabene mole-
culare Prädisposition bestimmt ist, nicht als solche, sondern nur nach
ihrem Resultat in's Bewusstsein fällt, ist gar nicht „wunderbar"
(S. 77),**) sondern entspricht vollständig allen gleichen Vorgängen
der Motivation im menschlichen Charakter; alle Prooesse der Art,
auch die mächtigten, bleiben unbewusst, und nur ihre Resultate
drängen sich dann mit solcher Kraft ins Bewusstsein, dass jeder
Widerstand der bewussten Vernunft gegen dieselben mitunter ver-
geblich wird. Ist die typische Vorstellungsform, die den Inhalt der
Instincthandlung bildet, nicht eingestaltig , sondern mehrgestaltig,
d. h. m verschiedenen, an modificirte Motive angepassten Modiäoa-
tlonen vorhanden, so ist natürlich der moleculare Umwandlung*-
process der Schwingungen nur vermittelst einer Mehrheit von Hirn*
prädispositionen, welche verschiedenen Tasten der Claviatur ent-
sprechen, zu erklären (S. 77).**)
Supponirt man nun aber auf diese Weise polymorphe Instincte
für verschiedene modificirte Mutive, so hat man keinen Grund mehr,
mit der Ph. d. Unb. in der fünften Clausel zu behaupten, „dass der
unbewusste Zweck stets stärker bleibt, als die Ganglien*- (oder
Hirn-) Prädisposition" (S. 80) ***) denn dieser unbewusste Zweck wird
in der That nur da erfüllt, wo die entsprechenden Prädispositionen
*) 7. Aufl. I. 71—75.
'**) 7. Aufl. I. 75.
**♦) 7. Aufl. I. 77.
X. Der Instinct al8 ererbte Hirn- und Ganglien-Prädisposition. 101
bereits vorhanden sind, oder wo die bewusste Ueberlegung aus-
reicht, für den von dem Bewusstsein erkannten nächsten Zweck
oder Mittelzweck zweckmässige Modificationen an den Instinct
functionen anzubringen. 151 ) Unter den gewöhnlichen Verhält-
nissen des Thierlebens reichen diese beiden Bedingungen zu, am
das Verhalten des Thieres zweckmässig zn regeln, d. h. den unbe»
wnssten Zweck (des Daseins als solchen) zn erfüllen; thäten
sie es bei einer Species nicht, so hätte dieselbe ja längst aussterben
müssen.
Treten aber ausnahmsweise Verhältnisse an ein Thier heran,
welche sein bewusstes Verständniss nicht zu bewältigen vermag, ttnd
für welches es keine Prädispositionen zu instinctiv-richtigem Ver-
halten besitzt, so erweist sich in solchem Fall der „unbewusste
Zweck" als nicht stark genug, sich durchzusetzen, oder wie
die Pb. d. Unb. es ausdrücken würde, die individuelle Vorsehung
des Thieres lässt dasselbe im Stich, die teleologische Eingebung
des Unbewussten, welche ja keine Verpflichtung hat, immer zu
erscheinen, bleibt aus (S. 377 unten),*) kurz das Thier verhält
sich unzweckmässig, und verfehlt den Instinctzweck, wofern es nicht
gar an den Folgen seines unzweckmässigen Verhaltens zu Grunde
geht. Ein Mechanismus, wie künstlich er sein mag, passt eben
immer nur für gewisse Umstandscombinationen , und versagt für
Fälle, auf die er nicht construirt ist, den Dienst, oder wirkt un-
zweckmässig, es sei denn, dass seine Leistung durch bewusste
Ueberlegung corrigirt wird. Gewiss kann man dabei nicht sagen,
dass der Instinct irre, aber man kann ebensowenig sagen, dass
er unfehlbar sei; er verrichtet wie jeder Mechanismus mit Zu-
verlässigkeit eben nur den mehr oder minder eng begrenzten Kreis
von Aufgaben, fftr die er construirt ist. Hiernach ist das zu corri-
giren, was die Ph. d. Unb. über das Nicht irrenkönnen des
Instincts vorbringt 1Äa ) (vergl. S. 87 und 377—379).**) Dass ein
Mechanismus, wenn er wirkt, ohne Schwanken, Zögern und Zwei-
feln mit mechanischer Sicherheit und Präcision wirkt, ist selbst-
verständlich; dieser Umstand war am wenigsten geeignet, für eine
metaphysisch - spiritualistische Hypothese ausgebeutet zu werden
*) 7. Aufl. II. 8 oben.
**) 7. Aufl. I. 84 u. H. 7-9.
192 Text der ersten Auflage.
(S. 87\ *) sobald nur erst einmal der Begriff des molecularen Hirn-
mechanismus mit der za erklärenden Thatsache eonfrontirt worden
war ; 15S ) denn diese besinnungslos zupackende Sicherheit wirkt für
solche concreto Fälle, für die der Mechanismus nicht passt, ebenso
verderblich (S. 1 25), **) wie in den Fällen der Zweckmässigkeit
nützlich. Mit Recht aber wurde das Merkmal der Rapidität der
Reaction auf das Motiv als ein solches angesehen, welches einen
8pecifischen Unterschied zwischen Handeln aus Instinct und Ueber-
legung begründet (S. 81 u. 87),***) oder genauer zwischen solchem
Handeln, wo die Reaction auf das Motiv ausschliesslich durch
das Functioniren instinctiver oder charakterologischer Prädisposi-
tionen verursacht ist, und solchem, wo sich zwischen die instinctiv
wirksamen Elemente eine mehr oder minder lange Erwägung von
Motiven, Zwecken und Mitteln einschiebt, wo also das discur-
sive Denken eine Menge Schritte machen muss, die bei der
blossen einfachen Instinctreaction wegfallen. Immerhin aber wird
auch bei letzterer der mechanische Umwandlungsprocess der Schwin-
gungen des Motivs in die Schwingungen des instinctiven Wollens
eine gewisse, wenn auch kurze, d. h. auf Bruchtheile einer Secunde
beschränkte Zeit erfordern; bei unserer physiologischen Auffassung
des Vorganges ist die Zeitlosigkeit oder Momentanität der Reaction
unmöglich, und die Thatsachen geben für eine solche Annahme
gar keinen Anhalt, da sie eben nur eine gewisse Rapidität der
Reaction, d. h. eine relativ kurze Dauer, bei blossen Instinct-
handlungen aussagen. Die Verantwortung für die Annahme einer
zeitlosen Momentanität der unbewußten Intuition (S. 376) f) ist
demnach lediglich der metaphysischen Speculation zu überweisen
und findet in der Erfahrung keine Stütze. 154 )
Wenn die Ph. d. Unb. S. 79 tt) ™ der fünften Clausel sagt,
dass auch der fertige Hülfsmechanismus nicht etwa zu einer be-
stimmten Instincthandlung necessitirt, sondern nur prädispo-
nirt, so ist dies ganz richtig, insofern nämlich eine Goncurrenz
mit anderen ebenfalls erregten Prädispositionen des Gehirns statt-
*) 7. Aufl. ü. 84L
**) 7. Aufl. I. 121.
•**) 7. Aufl. 1. 79 u. 84.
t) 7. Aufl. IL 6.
tt) 7. AuA. I. 77.
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien-PrAdispositlon. 193
findet, mögen dies nun ebenfalls instinctive und charakterologische
oder zunächst Gedächtnissprädispositionen sein, welche neue Motiv-
reihen ans der Erinnerung in's Bewusstsein einfahren und so den
Process aufs Neue compliciren. Gleichwohl wird die Ph. d. Unb.
auf ihrem entschieden deterministischen Standpunct am we-
nigsten bestreiten wollen, dass das Endresultat aller durch das
zuerst auftretende Motiv angeregten Processe ein im strengen
Sinne neeessirtes sei, und nur, wenn man ein einzelnes Ele-
ment dieses dynamischen Gompromisses herausgreift, kann man von
dieser künstlichen Abstraction sagen, dass sie allein nicht
necessitire, sondern nur prädisponire. Wäre ein Fall denkbar, wo
durch ein Motiv nicht mehr als eine einzige Prädisposition er-
regt würde, so würde diese auch für sich allein necessitirend wir-
ken. 156 ) So viel ist aber klar, dass, wenn man neben und hinter
diesem mit naturgesetzlicher Notwendigkeit vor sich gehenden dy-
namischen Process der Motivation im Gehirn noch ein metaphy-
sisches Wesen als Superintendenten angestellt denken wollte (Ph. d.
Unb. S. 80 oben),*) dieses die ganz klägliche Rolle des fünften
Bades am Wagen spielen würde lö6 ) (vgl. das oben über den Moti-
vationsprocess im Abschn. V. Gesagte).
Die Ph. d. Unb. setzt in dem Gapitel „Instinct" noch ohne
weiteres voraus, dass ein solcher molecularer Gehirnmechanismus
dadurch entstanden gedacht werden müsse, dass die Vorsehung oder
Natur ein- für allemal bewusst oder unbewusst den Instinctzweck
im Voraus gedacht und mit Bücksicht auf diesen Zweck den be-
treffenden Mechanismus dem Individuum eingepflanzt habe 157 ) (S. 73
Mitte) **) Nach dem Abschnitt C der Ph. d. Unb. ist es aber
selbstverständlich, dass, wenn ein solcher Gehirnmechanismus indi-
viduelle Existenz hat, er ebenso wie die gesammte innere und äussere
typische Organisation des Thieres, zu welcher er als integrirender
Bestandteil gehört, ererbt ist, so dass dann die weitere Frage
nur lauten kann, wie die Vorfahren zu diesem Besitz gelangt
sind, den sie durch Vererbung auf ihre Nachkommen übertragen
haben. — Dass jeder Instinct einen integrirenden Bestandteil des
Gattungstypus bildet, erkennt auch die Ph. d. Unb. mehrfach an
♦) 7. Aufl. I. 77 u.
**) 7. Aufl. I. 71 Mitte.
E, v. Hartmann, Das Unbowusate. 2« Aufl. 13
194 Test der ersten Auflage.
(z. B. S. 165);*) dass die Constanz des Gattungstypus aas der
befestigten Vererbung entspringt, wird sie gewiss nicht in Abrede
stellen wollen; da liegt es doch nahe, auch die Constanz der In-
stincte in derselben Species ans der befestigten Vererbung zu er-
klären und in dem fraglichen Zusatz (S. 78 unten bis 79 oben)**)
wird in der That dieser Weg angedeutet. Nichtsdestoweniger
steht am Schluss des Capitels (S. 102)***) zu lesen, dass die Con-
stanz der Instincte aus der Constanz des Zweckes bei gleichen
äusseren Verhältnissen folge. Hier haben wir, wie oben, zwei Er-
klärungsprincipien für dieselbe Sache, von denen schon eines allein
ausreicht. 168 ) Da das physiologische Erklärungsprincip der Ver-
erbung ohnehin unabweisbar ist, so werden wir das teleologische
um so mehr zurückweisen dürfen, als das actuelle Vorhandensein
einer unbewussten Zweckvorstellung in den Instincten noch gar
nicht erwiesen ist, im Oegentheil durch das Erklärungsprincip der
ererbten Hirnprädispositionen selbst zu einer überflüssigen Hypothese
geworden ist.
Fragen wir nun nach der Entstehung der Hirnprädisposition
im Individuum, so stehen wir in erster Reihe dem Problem der Ver-
erbung gegenüber und hiergegen richtet sich die zweite der er-
wähnten Clausein, indem sie besagt, „dass die Vererbung nur mög-
lich ist unter beständiger Leitung der embryonalen Entwicklung
durch die zweckmässige unbewusste Bildungsthätigkeit, allerdings
wieder beeinflusst durch die im Keim gegebenen Prädispositionen"
(S. 79). f) Wir haben oben im Abschnitt VI die Vererbung zu aus-
führlich behandelt, um hier noch einmal darauf zurückzukommen
und können hier nur recapituliren, dass die in der Erklärung der
Thatsachen noch vorhandenen Schwierigkeiten und Dunkelheiten
durch die Annahme unmittelbarer metaphysischer Eingriffe nicht ge-
hoben oder aufgehellt werden können. 159 )
Hiernach bleibt nur die Frage übrig, wie in den Vorfahren
die zu vererbenden Gehirnprädispositionen entstanden seien, und
dieser Frage, gegen welche die 3te und 4te Clausel sich richtet,
*) 7. Aufl. I. 159.
**) 7. Aufl. I. 76 unt bis 77 oben.
***) 7. Aufl. I. 99.
t) 7, Aufl. I. 77.
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Gabglien-Prädisposition. 195
haben wir nunmehr näher zn treten. Die Ursache dieser Entstehung
ist unzweifelhaft in einer alimählichen Steigerung der vererbten Prä-
dispositionen zu suchen, und, wie wir es an einzelnen concreten
Beispielen schon in früheren Abschnitten (S. 37 fg., 128 fg., 176 fg.,
ISO fg.) erläutert haben, bietet die lange Generationenreihe von der
niedrigsten protoplasmatischen Monere bis zu den höchsten Thieren
Zeit und Spielraum genug, um ein solches Wachsthum frei von allen
plötzlichen Sprüngen zu denken. 160 ) Das in der Urmonere durch
die physikalischen und chemischen Gesetze gegebene Verhalten
gegen die verschiedenartigen Beize bildet den Ausgangspunkt für
diese Entwickelungsreihe, wie für jede andere, und die von der
PL d. Unb. mit Recht so stark betonte Uebereinstimmung von or-
ganischem Bilden und Instinct wird durch diesen gemeinsamen Aus-
gangspunkt und die gemeinsamen Ursachen der Abänderung und
Steigerung erklärlich; ebenso wird aber durch die inductiven Beweise
fbr diese Uebereinstimmung das für das organische Bilden aner-
kannte Erklärungsprincip der Descendenztheorie auf den Instinct
übertragbar und so dienen die betreffenden Ausführungen der Ph.
d. Unb. (S. 170-172, 435—440, 446-448)*) ganz direct zur Unter-
Stützung unserer Behauptungen. 161 ) Noch deutlicher als bei
Thieren treten die vermittelnden Uebergänge bei den Pflanzen her-
vor, wo einerseits die bewusste Ueberlegung gar nicht modifi-
cirend eingreifen kann und andererseits ausgebildete Centralorgane
fehlen. 162 ) Hier springt der mechanische Charakter der instinc-
tiven Prädispositionen natürlich viel greller in die Augen und ver-
weisen wir deshalb besonders auf die zuletzt citirten Stellen aus
dem Capitel C IV. der Ph. d. Unb. —
Haben wir die natürliche Zuchtwahl als die wichtigste Ursache
für die fortschreitende physiologische Differenzirung der Organismen
erkannt, so wird sie es eben so gut für die fortschreitende Gewandt-
heit in der Benutzung der differenzirten Organe sein. Dies ist um
so einleuchtender, als auf den niederen Stufen des Thierreichs, wo
bewusste Ueberlegung noch nicht weiter als Bestimmungsgrund des
Handelns berücksichtigt zu werden verdient, jede Aenderung des
instinctiven Verhaltens mit einer Aenderung der physiologischen
Differenzirung der Organe Hand in Hand geht. 168 ) Die letztere
*) 7- Aufl. L 16±-166; II. 69—74; EL 79-81.
13<
196 Text der ersten Auflage.
wäre für die Lebenszwecke desThieres in vielen Fällen wer th los,
wenn nicht die rechte instinctive Benutzung hinzuträte; die na-
türliche Zuchtwahl würde dann also auf die Differenzirung und
Vervollkommnung der Organe gar nicht wirken können, wenn sie
nicht vermittelst einer damit Hand in Hand gehenden Verän-
derung der Instincte auf sie wirkte, denn erst durch eine solche
wird der Vortheil ausgenutzt, den jene im Kampf um's Dasein
zu bieten vermögen. Da es sich bei allen solchen Abänderungen
nur um minimale Modificationen handelt, m ) wie sie durch die
natürlichen Differenzen der Individuen innerhalb derselben Art ge-
geben sind, so scheint das Zuhülferufen teleologischer Eingriffe
nicht erforderlich, d. h. es kann die Behauptung der Ph. d. Unb. in
der 3ten Clausel, dass der Instinct ohne ererbten Hülfemechanismus
die Ursache der Entstehung des molecularen Hülfsmechanismns
in früheren Generationen gewesen sein müsse, nicht zugegeben
werden. 166 ) Die Ph. d. Unb. verkennt in dieser Behauptung wie-
derum die Möglichkeit höchst complicirter zweckmässiger Resul-
tate ohne teleologisches Princip wie durch allmähliche Addition
nützlicher zufälliger Abweichungen unter dem Einflass der natür-
lichen Zuchtwahl
In der That tritt aber zur Production individueller Differenzen
durch zufällige Einflüsse und zur natürlichen Auslese derselben im
Kampf um's Dasein noch ein anderes Princip von höchster Wichtig-
keit hinzu, ohne welche die Entstehung des Instincts nicht zu ver-
stehen wäre; dies ist bei geistig höher stehenden Thieren (also
schon bei Insecten, vielleicht auch noch weiter abwärts) der Einflass
der bewussten Ueberlegüng auf zweckmässige Modificationen
des ererbten Instincts. 166 ) Solche durch bewusste Ueberlegüng
herbeigeführte Modificationen werden alsdann, wenn sie sich als
nützlich erprobt haben, den nachfolgenden Generationen theils durch
Vererbung, theils durch Beispiel tiberliefert 167 ) und befestigen sich
so durch Gewohnheit, 168 ) dass sie zum integrirenden Bestandteil
des zu vererbenden Instincts werden. Sie addiren sich durch Ge-
nerationen hindurch ganz ebenso wie die durch natürliche Zuchtwahl
begünstigten zufälligen individuellen Abweichungen, und stellen
sich ebenso wie diese vorzugsweise dann «in, wenn das Anpassungs-
gleichgewicht der bisherigen Instincte einer Art an ihre Umgebung
durch irgend welche Aenderungen (Einwanderung neuer Thier- oder
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien*Pradisposition. 197
Pflanzenarten, Aenderung des Klimas, Wechsel des Wohnorts u. s. w.)
alterirt wird, wo dann alle geistigen Kräfte der Species in Be-
wegung gesetzt werden müssen, um ein nenes, möglichst günstiges
Anpassungsgleichgewicht der Lebensgewohnheiten an die neuen Ver-
hältnisse herzustellen. Wie bei menschlichen Stämmen und Staaten
werden dann auch bei thierischen Specien gerade solche Katastrophen,
welche den Bestand der Arten bedrohen, zu Vehikeln beschleunigten
Fortschritts, indem sie die im Schlendrian der Gewohnheit ein-
geschlummerten Geisteskräfte zu energischer Bethätigung an-
spornen.
Im concreten Falle mag es bei tieferstehenden Thieren, in deren
Seelenvorgänge wir keinen rechten Einblick haben, schwer genug
zu entscheiden sein, wie viel von den Aenderungen der Instincte
dem blossen Erfolg der natürlichen Zuchtwahl und wie viel der
Addition von zweckmässigen Modificationen aus bewusster Ueberlegung
zuzuschreiben sei ; es dürfte dies um so schwieriger sein, als in der
That meistens eine enge Verquickung beider Ursachen stattgehabt
haben mag, und als die Erprobung, Bewährung und Erhaltung der
zweckmässigen Modificationen aus bewusster Ueberlegung selbst eine
natürliche Auslese der glücklichsten Gedanken 169 ) aus den minder
glücklichen oder ganz unbrauchbaren genannt werden kann. Aber
R
gleichviel, ob im besonderen Falle die Abänderungen mehr aus der
Erhaltung zufälliger individueller Differenzen oder mehr aus ratio-
nellen Modificationen durch bewusste Ueberlegung herstammen, auf
alle Fälle ist es das zur Gewohnheitwerden neu auftretender
kleiner Abweichungen, was die alten ererbten Formen der Instincte
modificirt und bei der Addition durch Generationen hindurch völlig
umgestalten oder höher entwickeln kann. In diesem Sinne kann
man sagen, jeder Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter
Instanz ererbte Gewohnheit, und das alte Sprüchwort „Ge-
wohnheit ist die zweite' Natur" erhält dadurch die unerwartete Er-
gänzung, dass die Gewohnheit zugleich auch das Prius und der
Ursprung der ersten Natur, d. h. des Instincts ist. Denn immer
ist es die Gewohnheit, d.h. die häufige Wiederholung der nämlichen
Function, was die gleichviel wie hervorgerufene Handlungsweise
den Centralorganen des Nervensystems so fest eingräbt, dass die
so entstandene Prädisposition vererbungsfähig wird. 17 °)
198 Text der ersten Auflage.
Was die empirischen Beläge zu den vorgetragenen Ansichten
betrifft, so verweise ich vor Allem auf Darwin's Gapitel über den
Instinct in seiner „Entstehung der Arten" und nebenbei auch auf
das Gapitel „Philosophie der Vogelnester" in Wallace's „Beiträgen
zur Th. <L nat. Zuchtwahl". Letzterer hebt den Einfluss der be-
wnssten Ueberlegung auf die Modificationen des Nestbauinstincts
bei Vögeln gut hervor, nur befindet er sich in dem Irrthum, als
würde die so erlangte Gewohnheit bloss durch Lehre und Beispiel
auf die folgenden Generationen überliefert; von einer gleichzeitigen
Vererbung der durch diese Gewohnheit eingegrabenen Hirnprädispo-
sition weiss er nichts und sncht deshalb, wie oben erwähnt, den
angeborenen Instinct möglichst zu leugnen.
Wir können hier nicht daran denken, ein vollständiges empi-
risches Material herbeizuschaffen, sondern fügen nur einige Beispiele
zur Erläuterung des im Allgemeinen Gesagten bei.
Der amerikanische Kukuk baut ein eigenes Nest nnd finden
sich in diesem Jnnge in verschiedenen Altersstadien und noch be-
brütete Eier. Zugleich sind aber auch sichere Beispiele bekannt,
dass dieser Vogel ausnahmsweise, wie es auch von manchen anderen
Vogelarten constatirt ist, seine Eier in fremde Nester lege. Dass
anch bei unserm Kukuk neuerdings Fälle bemerkt sind, wo er seine
Eier selbst bebrütet und die Jungen selbst füttert, scheint zu be-
weisen, dass die früheren Vorfahren desselben ähnlich dem ameri-
kanischen Kukuk gelebt haben. Letzterer legt Eier, die seiner
Grösse angemessen sind, ersterer hingegen viel kleinere Eier. Die
Vermittelung bildet der australische Broncekukuk, dessen Eier so-
wohl in Grösse wie in Farbe bedeutende individuelle Verschieden-
heiten zeigen. Da nun unser Kukuk vorwiegend in den Nestern
kleinerer Vögel Gelegenheit fand, seine Eier abznlegen, so mussten
diejenigen Individuen, welche die kleinsten Eier legten, am meisten
Nachkommenschaft erzielen, und die aus den kleinsten Eiern ent-
sprossenen jungen Kukuke erbten die Eigenschaft, kleine Euer zu
legen. Ebenso wenn sich von den individuellen Abweichungen der
Färbung der Eier einige durch Aehnlichkeit mit den entsprechenden
Nesteiern der Pflegeeltern nützlich erwiesen, so musste die natür-
liche Zuchtwahl die Aehnlichkeit dieser Färbung steigere. Ob
wirklich ein und dasselbe Kukuk weichen <föe Fähigkeit beaitst,
Eier von ganz verschiedener Imitation der Färbung zu legen,
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und GangUen-Frädisposition. 199
oder ob diese Unterschiede sieh nicht vielmehr auf verschiedene
Individuen als Familienerbeigenthümlichkeit vertheilen; ob ferner
der Eukuk sein Eli nach den betreffenden Nesteiern bildet, oder ob
er nicht vielmehr sich ein Nest nach der feststehenden, also ihm
bekannten Färbung seiner Eier aussucht, dies alles sind Fragen,
welche zu ihrer Lösung erst noch genaueren Studiums bedürfen.
Ein anderes Beispiel bietet die typische Form der Bienenzelle.
Die Hummeln verwenden ihre alten Gocons zur Aufnahme von Honig,
indem sie ihnen zuweilen kurze Wachsröhren anfügen ; auch fertigen
sie einzelne abgesonderte und sehr unregelmässig abgerundete Zellen
von Wachs an. Zwischen der Hummel und unserer Biene, wenn-
gleich der ersteren etwas näher, steht nach Körperbau und Zellen-
structur die mexikanische Melipona dornest ica, welche einen fast
regelmässigen wächsernen Zellkuchen mit cylindrischen Zellen bildet,
in denen die Jungen gepflegt werden, der aber ausserdem einige
grosse annähernd kugelförmige Zellen zur Honigaufnahme enthält.
Letztere sind so nahe aneinander gerückt, dass an den aneinander-
stossenden Stellen Kugelabschnitte fehlen, und hier eine ebene
Wachsschiebt die Scheidewand bildet. Manche Zellen haben zwei,
andere auch drei solche ebene Berührungsflächen, und in letzterem
Falle gruppiren sich diese drei Flächen zu einer dreiseitigen Pyra-
mide, welche nach Huber offenbar als ein rohes Abbild der drei-
seitigen Basalpyramide an der Zelle unserer Korbbiene zu betrachten
ist. Denkt man sich nun die Zellen der Mdipona regelmässig in
mehreren Schichten so gruppirt, dass sie sämmtlich drei Schnitt-
flächen auf der einen Seite und drei Schnittflächen auf der andern
Seite hervorbringen, in der Mitte aber zur Aufnahme von Honig
oder Jungen hinreichend verlängert sind, so muss diese Mitte not-
wendig die Gestalt eines sechsseitigen Prismas annehmen, und
sämmtliche Winkel müssen sich unter den gegebenen Voraussetzungen
von selbst ergeben, da sie durch die Zusammenlagerung und gegen-
seitige Pressung und Abflachung der ursprünglich cylindrisch mit
zwei halbkugelförmigen Enden gedachten Zellen rein stereometrisch
bestimmt sind. Bedenkt man nun, dass Bienen ihre Arbeit stets
mit rundlichem Aushöhlen eines massiven Walles von Wachs be-
ginnen und erst zu guterletzt die Winkel scharf ausarbeiten, um
das Maximum von innerem Baum zur Honigaufnahme zu gewinnen
und das kostbare Material des Wachses nicht unnütz stark in
200 Text der ersten Auflage.
abgerundeten Ecken stehen zu lassen, bringt man ferner in Anschlag,
dass die mathematische Genauigkeit ihres Arbeitsresultats denn
doch auch wohl häufig tibertrieben worden ist, so wird man es
nicht unwahrscheinlich finden, das frühere Vorfahren unserer Bienen
dereinst in ähnlich unvollkommener Weise wie heute noch die
Mexikanischen gebaut haben mögen und sich allmählich zur jetzigen
vervollkommneten Bauart heraufgearbeitet haben mögen. 171 ) Dass
die bewusste Ueberlegung, der in den Dienst des Bautalents genom-
mene Scharfsinn dieser klugen Thiere dabei keine kleine Bolle ge-
spielt haben mag, ist aus der verständigen Art und Weise zu
schliessen, mit welcher sich gegenwärtig die Eorbbienen künstlich
veränderten Verhältnissen innerhalb ihres Korbes zu accommodiren
wissen.
Mit Becht ist beim Bauen der Bienen und überhaupt im Leben
der Insectenstaaten das wunderbare Ineinandergreifen der Instmete
der einzelnen Individuen hervorgehoben (Ph. d. U. S. 97—99)*)
und betont worden, dass ein so einträchtiges Znsammenwirken nicht
von Antrieben der bewussten Ueberlegung, sondern nur von instinc-
tiven Functionen zu erwarten sei Andrerseits wird man sich aber
auch hüten müssen, die Mitwirkung der bewussten Verstandes-
thätigkeit bei der Ausführung solcher instinetiven Functionen zn
unterschätzen. Wir wissen, dass die betreffenden höheren Insecten
eine ziemlich ausgebildete Zeichensprache besitzen, dass die In-
dividuen derselben Gesellschaft sich persönlich kennen, dass eine
gewisse hierarchische Bangordnung unter ihnen besteht, welche in
den Kasten der Ameisenstaaten und in der Anstellung von Aufsehern
und Ordnern bei der Arbeit sichtbar wird. Wir müssen ferner
berücksichtigen, dass die Störung, welche bei modernen Menschen
das einträchtige Zusammenwirken durch das prätentiöse Hervor-
kehren der Individualitäten und durch die eitle Besserwisserei der
Einzelnen erleidet, bei der Gemeinschaft von Wesen, die ein derartig
ausgebildetes Gefühl der Persönlichkeit noch gar nicht besitzen,
kaum zu erwarten steht, und wir werden uns den Unterschied
schon an einem uns näher liegenden Beispiel klar machen können,
wenn wir an die instinetive Eintracht des Zusammenwirkens bei
einem auf dem Eriegspfade befindlichen Trupp Indianer denken,
*) 7. Aufl. L 94-97.
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Granglien-Prftdisposition. 201
wie sie durch die Gemeinsamkeit des Zweckes, die Gleichheit der
gewohnten Mittel in seiner Verfolgung und die Stärke des Zu-
gehörigkeitsgeflihls zu dem socialen Ganzen geschaffen wird. Je
enger and beschränkter der Kreis der zu verrichtenden Functionen
ist, je fester diese und die bestimmte Form der Arbeitsteilung
als schlummernde Gedächtnissvorstellungen und instinctive Triebe
dem Centralorgan des Nervensystems imprägnirt sind, je weniger
das Gefühl der Individualität und das Bestreben, diese als solche
zur- Geltung zu bringen, entwickelt ist, desto einfachere Zeichen
werden zur Verständigung über die der Willkür überlassenen
Elemente der Cooperation genügen, und desto grösser wird die
Eintracht des Zusammenwirkens und die Zweckmässigkeit des
heinandergreifens der Functionen der Einzelnen sein. Da alle
diese Bedingungen in den Insectenstaaten in hohem Maasse erfüllt
sind, so scheint es nicht erforderlich, ausser den prädispositionellen
Instincten und der Verständigung durch Zeichensprache noch spe-
ciale teleologische Inspirationen eines metaphysischen Unbewussten
als Regulator der Cooporation zu supponiren. 17t )
„Jedes Thier wählt gerade diejenigen pflanzlichen oder thieri-
schen Stoffe zu seiner Nahrung aus, welche seiner Verdauungs-
einrichtung entsprechen" (Ph. d. U. S. 89). *) Der Gesichtseindruck,
häufiger noch der Geruchseindruck, erweckt in dem Thier instinctiv
ein Verlangen nach der Speise oder einen Widerwillen gegen die-
selbe. Offenbar haben wir es hier mit ererbten Prädispositionen zu
thun, mag nun die Nahrung des Thieres auf eine einzige Pflanzen-
art oder Thierart beschränkt sein, oder zahlreiche Glassen von
Naturproducten umfassen. Ebenso gewiss ist es, dass diese instinc-
tive Zu- oder Abneigung, die durch den Gesichts- oder Geruchs-
eindruck erweckt wird, ein Resultat desselben Processes natürlicher
Zuchtwahl ist, aus welchem die genaue Anpassung der Fress- und
Verdauungswerkzeuge an die Art der Nahrung hervorgegangen ist
Im Allgemeinen frisst jedes Thier nur die Art von Nahrung, an die
es selbst oder seine Vorfahren gewöhnt sind, und verschmäht alle
andere (der Bauer macht es ja nach dem Sprüchwort ebenso) ; er-
weisen sich nun gar gewisse Classen von Nahrungsmitteln, die dem
vorwitzigen Versuch des Abweichens vom Gewohnten nahe liegen,
*) 7. Aufl. L 86.
n
202 Text der ersten Auflage.
als schädlich, so wird sieh der Widerwille gegen diese steigern,
einestheils dadurch, dass Individuen nach ihren flblen Erfahrungen
weiter leben und den so erworbenen positiven Widerwillen auf ihre
Nachkommen vererben, anderntheils aber dadurch, dass die vor-
witzigen ihren Abfall von der ererbten Tradition mit dem Leben
bezahlen müssen und somit nur die in dieser Hinsieht vorsichtigeren
ihre Vorsicht und ihre Abneigung vererben. 17S ) Der erstere Fall
findet statt bei giftigen Kräutern auf der Weide oder giftigen Früch-
ten im Walde; 174 ) der letztere Fall beim Verhalten der Hechte und
anderer Raubfische gegen Stichlinge oder der Raubvögel gegen
giftige Schlangen; beide Formen der Variation wirken zusammen,
um die Scheu der verfolgten Thiere vor den sie verfolgenden Raub-
thieren oder Menschen zu constituiren. Dass solche instinctive Ab-
neigung, Scheu oder Furcht in Bezug auf Nahrungsmittel oder Feinde
Resultat eines natürlichen Processes und nicht einer metaphysischen
Inspiration ist, 176 ) geht schon daraus hervor, dass alle Thiere nur
vor denjenigen giftigen Naturproducten oder gefährlichen Gegnern
Scheu haben, welche ihre Species Gelegenheit gehabt hat, durch
lange Erfahrung als schädlich und gefährlich kennen zu lernen.
Wird eine Familie dann durch Domestication oder Ortswechsel die-
sen Einflüssen entrückt, so bleibt die instinctive Prädisposition zwar
noch längere Zeit in der Vererbung erhalten, schwächt sich aber
nach und nach mehr und mehr ab, um dafür den unter den neuen
Verhältnissen hinzuerworbenen (z. B. domesticirten oder zahmen)
Instincten Platz zu machen. Daraus, dass minder scheue, furcht-
same oder vorsichtige Individuen gewissen Gefahren gegenüber
allemal ihrem Vorwitz zum Opfer fallen und dass hierdurch eine
natürliche Auslese der vorsichtigeren stattfindet, die ihre Sehen
vererben, erklärt sich sehr wohl die Entstehung 176 ) von instinetiver
Scheu vor gewissen verderblichen Gefahren, ohne dass die Entstehung
der Prädispositionen zu solchen „Unterlassungen, bei denen Zuwider-
handhingen stets den Tod zur Folge haben", nothwendig ein zweck-
thätiges Bilden zur Erklärung erforderte, wie die Ph. d. U. in der
vierten der vorerwähnten Clausein behauptet (S. 79).*)
Noch weniger kann man dies bei den auf die Fortpflanzung
(beziehungsweise bei niederen Thieren auch auf die Metamorphose)
*) 7. Aufl. L 77.
X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien-Pr&disposition. 203
bezüglichen Instincten zugeben, welche, wie es bei niederen Thieren
gewöhnlich ist, nur Ein Mal in jedem individuellen Lebenslauf zum
Functioniren gelangen (Ph. d. U. S. 79) ; *) kann auch die Gewohn-
heit hier nicht in dem gebräuchliehen Sinne einer öfteren Wieder-
holung der Function von Seiten desselben Individuums wirken,
so tritt an ihre Stelle eine durch die Ausnahmslosigkeit des Vor-
gangs durch lange Generationenreihen hindurch um so stärker be-
festigte Vererbung, m ) und grade bei den Fortpflanzungsinstincten
erklärt sich die modificirte Form derselben sehr leicht durch natür-
liche Zuchtwahl aus derjenigen Form, welche diese Instinete in
der Stammform der betreffenden Species besassen (wie wenn z. B.
Specien, in welchen Männchen und Weibchen sich durchaus un-
ähnlich sehen, sich allmählich aus einer Stammform entwickeln, in
welcher dies nicht der Fall ist, durch welche allmähliche Umwand-
lang aber eben das Wunderbare einer instinktiven Begattungstendene
zwischen ganz unähnlichen Organismen verschwindet). Aus dieser
Entstehungsart ergiebt sich aber, dass auch hier das Hellsehen 178 )
des Instincts in Bezug auf den Zweck, dem es unbewußter Weise
dient, blosser Schein für den Beobachter ist, während in der That
die instinctive Handlungsweise nur der Ausfluss einer ererbten Hirn-
oder Ganglienprädisposition ist, die sich in den Vorfahren dadurch
entwickelt hat, dass sich individuelle Abweichungen addirten, welche
BämmtUch, sowohl einzeln als zusammengenommen, die Species im
Kampf um's Dasein günstiger stellten, als sie vorher stand.
Ganz dasselbe gilt in Bezug auf das Verhalten der Thiere zu
künftigen Witterungsänderungen, welche in die Oekonomie ihres
Lebens mächtig eingreifen (Ph. d. ü. S. 90—91).**) Die Ph. d. U.
gesteht zu, dass irgend ein Motiv da sein müsse, auf welches der
Instinct reagirt, und dass in solchen Fällen dieses Motiv in einer
Gefühlswahrnehmung gegenwärtiger atmosphärischer Zustände ge-
sucht werden müsse, welche, wenn wir sie ebenso wahrnehmen
könnten, uns als Symptom der bevorstehenden Witterungsänderung
gelten würden. Obwohl nun die meisten Thiere, welche sich durch
solche Einflüsse bestimmen lassen, unzweifelhaft nicht eine solche
Folgerung an ihre Gefühlswahrnehmung knüpfen, so handeln sie
*) 7. Aufl. I. 77.
**) 7. Aufl. I. 87-88.
204 Text der ersten Auflage.
doch instinctiv so, als ob sie die Folgen der wahrgenommenen
Symptome im Bewusstsein hätten und ihre Vorkehrungen dagegen
träfen. Hieraus folgt aber nur, dass sie in ihrem Gehirn eine
ererbte Prädisposition zu solchen für das Bestehen ihrer Species
nützlichen, vielleicht gar unentbehrlichen Handlungsweisen besitzen,
welche auf das eintretende Motiv sofort mit dem Triebe zu der
entsprechenden Instincthandlung reagirt; es folgt aber nicht daraus,
dass sie den Zweck des Instincts, den ihr Bewusstsein nicht kennt,
durch unbewusstes Hellsehen actuell erschauen. i79 )
Wenn die Erklärung der Erscheinungen des Instincts nach dem
Schelling'schen Ausspruch als „wahrer Prqbirstein ächter Philosophie"
zu betrachten ist (Ph. d. Unb. S. 102), *) so müssen wir das Besmnä
dieses Abschnittes dahin ziehen, dass die Ph. d. Unb. sich in diesem
Capitel an diesem Probirstein nicht als acht erwiesen hat, da sie
ein unhaltbares teleologisch - metaphysisches Erklärungsprincip als
das wesentliche (in der ersten Auflage als das alleinige) hinstellt
und das wahre naturwissenschaftliche Erklärungsprincip nur als
untergeordnete Hülfshypothese aus dem Abschnitt G in die späteren
Auflagen mit hereinzieht, ohne durch diese Concession mehr zu
erreichen, als eine deutlichere Enthüllung der Discrepanz zwischen
den Abschnitten A und G. Nur derjenige Leser der Ph. d. Unb.,
welcher die fundamentale Bedeutung des Gapitels über den
Instinct Ar die gesammten Entwickelungen des Werkes erkannt
hat, wird die Tragweite einer kritischen Elimination des metaphy-
sisch-teleologisehen Erklärungsprincips aus der Auflösung dieses
Problems und der Substitution desselben durch ein physiologisches
Erklärungsprincip zu ermessen vermögen. 180 )
*) 7. Aufl. I. 99.
XL
Die Instincte der untergeordneten Central
organe des Nervensystems.
Die Ph. d. Unb. plaidirt in dem Cap. A I mit Recht Ar An-
erkennung einer relativen Selbstständigkeit der untergeordneten
Centralorgane des Nervensystems unbeschadet der Thatsache, dass
in der aufsteigenden Reihe des Thierreichs die Centralisation
für die willkürlichen Bewegungen beständig wächst (S. 56).*)
Die Analogie der niederen Thiere, bei welchen die Selbstständigkeit
und Unabhängigkeit der einzelnen Ganglien von einander sehr
gross ist, macht zum Theil erst die physiologischen und patho-
logischen Thatsachen beim Menschen und den höheren Säugethieren
verständlich. Wenn ein Insect, dem man das Hintertheil abschneidet,
nichtsdestoweniger den Act des Fressens fortsetzt, „wenn sogar
Fangheuschrecken mit abgeschnittenen Köpfen noch gerade wie un-
versehrte tagelang ihre Weibchen aufsuchen, finden und sich mit
ihnen begatten, so ist wohl klar, dass der Wille zum Fressen ein
Act des Schlundringes, der Wille zur Begattung aber wenigstens
in diesen Fällen ein Act anderer Ganglienknoten des Rumpfes ge-
wesen sei" (S. 54).**) Die betreffenden Willensacte waren aber
zugleich Functionen der beiden wichtigsten und allgemeinsten In-
stincte und wir müssen somit folgern, dass auch die Instincte,
*) 7. AufL I. 56.
**) 7. Aufl. I. 51
206 Text der eisten Auflage.
d h. die molecularen Prädispositionen zu gewissen Handlungs-
weisen, in den gegebenen Beispielen ihren Sitz in verschiedenen
Centraltheilen des Nervensystems hatten. Als solche Instinete unter-
geordneter Nervencentra sind nun auch alle die in dem Cap. A I
angeführten selbstständigen Functionen des Bückenmarks und der
Ganglien in höheren Thieren und im Menschen zu betrachten. Wenn
ein ausgeschnittenes und ausgespritztes Froschherz noch Stunden
lang weiter schlägt, so ist die Ursache nirgends anders zu suchen,
als in den Prädispositionen der Herzganglien zu einer rhythmischen
Functionsweise, welche die Muskelfasern des Herzens zu Contrac-
tionen von demselben Bythmus anregt (Ph. d. U. S. 109.)*) Eine
solche Ganglienprädisposition, deren typische Bethätigung so sehr
den Charakter der Spontaneität trägt, als die instinctive Willeng-
äusserung eines Thieres es nur immer vermag, muss ebenso un-
zweifelhaft In st inet genannt werden, als ihre Function Wille,
da die unbewusste Zweckmässigkeit ihrer Leistungen nicht in Frage
zu ziehen ist Zweifelsohne wird auch hier die Perception irgend-
welchen Reizes, d. h. eine Empfindung als Motiv für das Eintreten
und die Fortdauer der Function vorhanden sein (ebd. S. 124),**)
wenn wir den betreffenden Beiz auch noch nicht genauer angeben
können; ob und in wiefern aber eine aotuelle Vorstellung des
Willensinhalts als Summationsphänomen der den Ganglienwillen
constituirenden Molecularwillen zu Stande kommt, das möchte schwer
zu behaupten sein, da uns alle Anhaltspunkte zu einer solchen Be-
hauptung fehlen. 181 ) Keinenfalls kann die Berufung der Ph. d U.
(S. 109)***) auf „die unbewusste Vorstellung bei Ausführung der
willkürlichen Bewegung" einen solchen Anhaltpunkt gewähren, da
wir diese Hypothese der Ph. d. Unb., wie sie in Cap. A II ent-
wickelt ist, schon oben (Abschn. VII, S. 129 bis 132) als unbegründet
nachgewiesen haben.
Dasselbe wie von der Herzbewegung gilt natürlich von den
Bewegungen des Magens und Darms und von dem Tonus der Ein-
geweide, Gefässe und Sehnen in Bezug auf das sympathische Nerven-
system, sowie von den Athembewegungen in Bezug auf das ver-
*) 7. Aufl. I. 106.
**) 7. Aufl. I. 120—121.
***) 7. Aufl. L 106.
XI. Die Instincte der untergeorda. Gentralorgane d. Nervensystems. 207
längerte Mark; ebenso gilt es in Bezug auf das kleine Gehirn von
jenen spontanen Bewegungen und Handlungen, welche Vögel und
Säugethiere mit exstirpirtem Grosshirn vornehmen, wie das Unter-
stecken des Kopfes unter den Flügel beim Schlafen, das Schütteln
und Putzen des Gefieders nach dem Erwachen, das Umherlaufen etc.
(Ph. d. U. S, 58) *) Das Kleinhirn leistet aber noch weit mehr, da
es überhaupt das Gentralorgan der willkürlichen Bewegungen ist
und diese instinctiv richtig besorgt, sobald ihm eine allgemein
gehaltene telegraphische Ordre vom Grosshirn zugekommen ist,
welche als ein die Instinctfunction auslösender Beiz oder Motiv
dient (ebd. S. 118—119).**) Erstreckt sich die Ordre auf eine
dauernde Thätigkeit, so kann diese auch dann noch fortgesetzt
werden, wenn das Grosshirn durch Schlaf oder Bewusstlossigkeit
depotenzirt ist (z. B. das Weitermarschiren von Soldaten, die auf
dem Marsch eingeschlafen sind, das Nachtwandeln, bewusstloses
Abspielen von auswendig gelernten Ciavierstücken u. s. w.) ; hierin
offenbart sich ganz deutlich die Selbstständigkeit des Kleinhirns
und seine relative Unabhängigkeit vom Grosshirn (S. 120),***) und
zugleich bestätigt sich die mechanische Sicherheit und das rapide
Functioniren der mechanischen Instinctprädispositionen im Gegensatz
zu den bewussten detaillirten Intentionen des Grosshirns mit der
Schwerfälligkeit und Aengstlichkeit seiner discursiven Reflexion
(8. 117 und 119). f) Wie unrichtig die Ph. d. Unb. diesen wohl-
beachteten Gegensatz deutet, davon scheint sie auf S. 120 ff) selbst
etwas zu ahnen, indem sie die Aehnlichkeit der so durch allmähliches
Einüben und Gewöhnung der Nervencentra zu erlangenden Fähig-
keiten und Fertigkeiten mit Instincthandlungen anerkennt, da sie
„einem zur Natur werden" wie diese und „für das Hirn unbewusst
werden" wie diese, dennoch aber nicht nur ihre Identität mit dem
Instinct bestreitet, sondern sie als „das gerade Geg entheil"
desselben betrachten zu müssen glaubt, 182 ) weil nämlich hier das
„zur Naturwerden" und „Unbewusstwerden" auf Uebung und Ge-
wöhnung, also auf einem Ged acht niss der niederen Nervencentra,
*) 7. Aufl. I. 57-58.
**) 7. Aufl. I. 114-116.
***) 7. Aufl. I. 117.
t) 7. Aufl. I. 113-116.
tt) 7. Aufl. L 116—117.
208 Text der ersten Auflage.
d. h. auf von denselben erworbenen Prädispositionen beruht, während
der Instinct auf dem teleologischen Eingriff eines metaphysischen
Unbewussten beruhen soll, das durch Uebung und Gewohnheit gar
nicht berührt werden kann. In Wahrheit besteht ein Unterschied
nicht in der Ursache der Fertigkeit (der molecularen Prädisposi-
tion), sondern nur in der Art und Weise, wie man zu derselben
gekommen ist, ob man sie nämlich selber erworben oder von
den Vorfahren ererbt hat, oder ob man sie theils ererbt, theik selber
weiter ausgebildet hat
Hiermit sind wir schon in das Capitel von den Reflexbewegungen
hinübergerathen, und in der That lässt sich Instinct und Reflex-
function gar nicht trennen. Denn auch beim Instinct muss irgend
„ein äusseres Motiv zum Handeln immer vorhanden sein, und die
Handlung erfolgt auf dieses Motiv mit Notwendigkeit, also reflec-
torisch, wenn auch (unter Umständen) erst mittelbar durch ver-
schiedene Reflexionen vermittelt" (Ph. d. Unb. S. 164).*) Anderer-
seits ist das Resultat des Capitels über die Reflexbewegungen, dass
diese „die Instincthandlungen untergeordneter Nervencentra" sind
(S. 126),**) — wobei der Zusatz nicht als unbedingte Beschränkung
zu verstehen ist, wie die Anerkennung von „Reflexwirkungen des
grossen Gehirns" beweist (S. 111 und 121).***) Gerade die letzte-
ren sind sehr lehrreich, weil ihre Beobachtung viele Vortheile vor
den pathologischen Experimenten an Thieren bietet (S. 114)f), und
wir wollen sie deshalb noch etwas näher in's Auge fassen. — Wenn
ein Knabe zum ersten Mal in seinem Leben ein Glas von dem
Tische fallen sieht, an dem er sitzt, so wird er sich vielleicht mit
Ueberlegung dazu entschliessen, nach demselben zu greifen, aber er
wird mit seinem Entschluss sicher zu spät kommen (S, 117 Z. 1). ff)
Begegnet ihm die Sache aber öfter, so wird seine Ideenassociation
sich abkürzen und der Sinneseindruck des fallenden Glases endlich
unmittelbar die schnelle Handbewegung hervorrufen; d. h. die
Uebung wird in seinem Gehirn eine Prädisposition zu reflectori-
s ehern Handeln erzeugen. Wenn auch dieses Ereigniss nicht
*) 7. Aufl. I. 158.
**) 7. Aufl. I. 122.
***) 7. Aufl. I. 117—118.
f) 7. Aufl. I. 111.
tt) 7. Aufl. I. 113 Z. 10-11 v. unten.
XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 209
allgemein and wichtig genüg ist, um auf die Vererbung einer so
erlangten Prädisposition mit Sicherheit rechnen zn können, so wird
doch eine ähnlich entstandene Prädisposition, das reflectorische Er-
heben des Armes zum Schutze des Auges gegen einen dasselbe
bedrohenden Schlag, unzweifelhaft vererbt, ebenso wie die reflecto-
rischen Bewegungen der Augenlider, die sich schliessen, wenn das
Auge bedroht ist; letztere Bewegung insbesondere kann man schon
bei Säuglingen beobachten. Wie wir von allen körperlichen Fertig-
keiten gesehen haben, dass sie erworben, vererbt und als ererbte
durch Uebung gesteigert werden (vgl. Abschn. VII), so werden wir
es auch von allen jenen Fertigkeiten annehmen müssen, welche,
gleichviel ob sie im Grosshirn oder in niederen Nervencentren ihren
Sitz haben, in hervorragendem Grade einen reflectorischen Charakter
an sich tragen und deshalb im engeren Sinne als Reflexbewegungen
bezeichnet werden. Zum Theil sind dieselben für die Lebensöcono-
mie der betreffenden Thiere von der grössten Wichtigkeit, zum
Theil tragen sie den Charakter schützender oder abwehrender
Thätigkeiten an sich; alle aber sind in ihrer normalen Gestalt
Dützlieh, zweckmässig für die Besitzer, und lässt sich deshalb sehr
wohl der Einfluss der natürlichen Zuchtwahl auf die Ausbildung
und Steigerung derselben begreifen.
Bei höheren Thieren aber werden dieselben auch schon dadurch
entwickelt, dass das Gehirn auf eine Sinneswahrnehmung hin sich
einen bestimmten Zweck vorsetzt, die zu seiner Erreichung nöthigen
Bewegungen erst einzeln anordnet, dann combinirt in kleineren und
grösseren Gruppen befiehlt, bis endlich die Einübung der niederen
Nervencentra so weit gediehen ist, dass es nur noch eines einzigen
Impulses vom Gehirn bedarf, um die gesammte Bewegung zur Aus-
führung zu bringen (S. 119,*) vgl. auch oben S. 128—130). Es ist
diese Elimination von Zwischengliedern ein analoger Process wie
bei der Abkürzung der Ideenassociation, nur dass es sich hier um
mehr als blosse Vorstellungen, um Bewegungsimpulse handelt. Ist
die Sinneswahrnehmung, welche als erster Anstoss oder Beiz zu
der Handlung wirkt, von der Art, dass sie auch in niederen Nerven-
eentris zur Perception gelangt, so kann die Elimination noch weiter
gehen und auch die Thätigkeit des Gehirns ganz und gar ausscheiden;
*) 7. Aufl. I. 115-116.
K t. Hattmann, Das Untowusste. 2. Aufl. 14
210 Text der ersten Auflage.
denn wenn z. B. ein bestimmter Theil des Rückenmarks oder Klein-
hirns so und so oft eine bestimmte Wahrnehmung des Moskelsinns
der Beine pereipirt and weiter geleitet hat, nnd jedesmal vom Gross-
hirn als Bückantwort die Ordre zn einer gewissen Bewegung der
Beine (etwa zur Wahrung der Balance) darauf erhalten hat, so
wird sich eine prädispositionelle Association der Pereeption jener
Sensation mit der Tendenz zu dieser Bewegung in dem betreffenden
Centraltheil entwickeln, und nach der nöthigen Anzahl von Wieder-
holungen wird dieselbe hinreichend befestigt sein, um von selbst
ohne eingreifenden Impuls des Grosshirns in dem gewohntem Sinne
zu funetioniren ; sobald das Grosshirn dies bemerkt; hört es ganz
von selbst auf; sich mit der Sache noch weiter zu bemühen. 183 )
Die Zweckmässigkeit der reflectorischen Instincte der niederen
Nervencentra erklärt sich demnach einesteils als ein durch natür-
liche Zuchtwahl oder sonstige mechanische Compensationsprocesse
entstandenes zweckmässiges Resultat ohne teleologisches Princip, m )
anderntheils als ein Ausflugs oder als ein ca$ut nwrtmm früherer
bewusster Zweckthätigkeit des Grosshirns. Die von
letzterer angebahnten und eingeübten Associationen zwischen Beiz
und Beaction werden durch gewohnbeitsmäsrige Eingrabung zn
festen erblichen Prädispositionen oder Instincten; je näher die nie-
deren Nervencentra dem Grosshirn liegen, durch je bessere Leitung
sie mit demselben verbunden sind; je leichter sie detaillirte Ordres
vom Grosshirn empfangen können, desto mehr zweckthätige In-
telligenz wird aus dem Grosshirn in sie überstrahlen und in Gestalt
instinetiver und reflectorischer Prädispositionen sich ablagern; desto
complicirtere und zweckmässigere und desto mehr Instincte
und Reflexanlagen werden sie also enthalten (S. 113),*) und desto
bedeutender werden sie auch physiologisch nach Quantität und
Qualität entwickelt sein, — immer vorausgesetzt natürlich, dass wir
es mit Wesen zu thun haben, deren Grosshirn bereits einer erheb-
lichen Entfaltung bewusster Zweckthätigkeit fähig ist. Diese Be-
trachtungsweise stimmt wohl mit der thatsächlichen Anordnung der
Nervencentralorgane in den höheren Thieren vom Grosshirn bis
herunter zum Ende des Rückenmarks und dem lose angefügten
*) 7. Aufl. I. 110.
XI. Die Instincte der uatergeordn. Centralorg&ne d. Nervensystems. 211
sympathischen Nervensystem tiberein, und dürfte unvermuthetes
Licht auf die ursächlichen Momente dieser Anordnung werfen.
Gerade an den Reflexbewegungen kommt der mechanische
Charakter des Instincts, die auf ein enges, vorherbestimmtes Gebiet
von Aufgaben beschränkte Zweckmässigkeit eines Mechanismus, am
unmittelbarsten und deutlichsten zur Anschauung, und deshalb dienen
gerade diese Ausführungen der Ph. d. U. über die Reflexbewegungen
bei Tbieren (Cap. A. Y) und insbesondere bei den Pflanzen (S. 441
bis 444)*) recht schlagend zur Unterstützung unserer Auffassung.
Nur die an dieses Problem schon mitgebrachte verkehrte Ansicht
über den Instinct konnte den Blick für das einfache Sachverhaltes»
trüben. 185 )
Die Ph. d. IL erkennt unter dem Hinweiss auf den unmittel-
baren flüssigen Uebergang zwischen Hirnreflex und bewusster Seelen-
thätigkeit mit Recht die Einheiten des allen diesen Erscheinungen
zu Grunde liegenden Erklärungsprincips an und fährt fort: „Darum
giefct es nur zwei consequente Betrachtungsweisen dieser Dinge:
entweder die Seele ist überall nur letztes Resultat materieller
Vorgänge" (genauer: Summationsphänomen psychischer oder inner-
licher Atomfunctionen) „sowohl im Hirn als im übrigen Nervenleben,
dann müssen aber auch die Zwecke überall geleugnet werden, wo
sie nicht durch bewusste Nerventhätigkeit gesetzt worden" (wir
haben die Berichtigung dieses hier offenbar für die Entscheidung
maassgebend gewordenen vordarwinschen Vorurtheils schon oft genug
in's Auge gefasst), — „oder die Seele" (als ein immaterielles, d. h.
von der Materie geschiedenes, exclusiv spiritualistisches , nicht
atomistisch gegliedertes und mit den Atomen des Gehirns zusammen-
fallendes, sondern einheitlich über denselben schwebendes Princip)
„ist überall das den materiellen Nervenvorgängen zu Grunde
liegende, sie schaffende und regelnde Princip" (S. 122).**) Wir
sind der Ansicht, dass die materiellen Nervenvorgänge durch die
ihnen immanenten Kräfte und durch die von Aussen empfangenen
Impulse geschaffen und durch die den Atomen immanenten Gesetze
geregelt werden, dass alle Zweckmässigkeit für bestimmte Glassen
von Fällen nicht durch unmittelbare teleologische Eingriffe, sondern
■ ■ ** i
*) 7. Aufl. IL 75—78.
**) 7. Aufl. L 118.
14»
212 Text der ersten Auflage.
durch Mechanismen hervorgerufen wird, welche aus Anpassungs-
processen (sei es durch natürliche Zuchtwahl, sei es durch bewusste
Accommodation) resultiren und dass diese Auffassung, wie wir oben
(S. 62—63) gezeigt haben, keineswegs mit dem die Phänomenalst
der Materie und die subjeetive Innerlichkeit der metaphysischen
Atome verkennenden Materialismus zu vermengen ist. Dass die
Fh. d. U. vor der Alternative eines metaphysiklosen Materialismus
oder einer teleologischen Metaphysik sich für die letztere entschied,
ist kein Wunder; dass sie aber vor dieser Alternative zu stehen
glaubte, kam nur daher, weil sie den richtigen Mittelweg einer —
trotz aller Anerkennung resultirender phänomenaler Zweckmässigkeit
— ateleologischen Metaphysik übersah, und sie übersah den-
selben deshalb, weil sie, wenigstens in ihrer ersten Hälfte, die Trag-
weite und die philosophischen Consequenzen der Descendenztheorie 186 )
nicht verstand.
Was nun speciell bei den Reflexbewegungen die Gründe be-
trifft, weshalb die Ph. d. Unb. die Erklärung durch eigentümliche
Mechanismen der Leitungsverhältnisse für unmöglich hält, so ist es,
weil „sich gar keine Gesetze und Einrichtungen mehr denken lassen,
welche ein und denselben Strom bald auf nahe, bald auf ferne
Theile überspringen, bald in dieser, bald in jener Reihenfolge die
Reactionen auf einander folgen lassen, ja sogar auf einen einfachen
Reiz ein abwechselndes Spiel der Antagonisten eintreten lassen könn-
ten" (S. 123).*) Was das Spiel der Antagonisten betrifft, so erin-
nern wir an die Ganglieninstincte zu rhythmischen Bewegungen, wie
z. B. der Herzschlag eine ist; werden rhythmische Bewegungen der
Streckmuskeln und der Beugemuskeln eines Gliedes so combinirt,
dass sie im Rhythmus ihrer Functionen alterniren, so ist das Spiel
der Antagonisten fertig. Auch beim Herzschlag, ja bei allen com-
plicirteren Instincten der niederen Nervenontra pflegt ein einfacher
Reiz nicht eine einfache Reaction auszulösen, sondern den Impuls
zur Auslösung einer ganzen geordneten Reihe von Actionen zu
geben, mögen nun diese so eng aneinandergerückt sein, dass sie
dem oberflächlichen Beobachter den Schein einer einzigen Totalaction
vorspiegeln, oder mögen sie auch für den Augenschein in eine
ausgedehntere Reihe auseinandergezogen sein (z. B. gedankenlos
*) 7. Aufl. I. 119.
XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 213
mechanisches Gehen einer ausgedehnten Strecke auf einmaligen
Befehl des Orosshims). Eine verschiedene Reihenfolge der Reactio-
nen wird nur bei Verschiedenheit des Reizes eintreten, für welchen
Fall eben diesen reflectorischen Instincten ebenso wie den Instincten
des Thierlebens ein gewisser Polymorphismus zuzugestehen ist.
Ebenso hängt es von der Beschaffenheit des Reizes ab, welchen
Weg der Reiz nach Perception durch das nächste Gentralorgan
nimmt, ob dieses die Reaction selber besorgt, oder ob er weiter
geleitet wird zu höheren Gentren, die dann ihrerseits die Reaction
in die Hand nehmen; dies alles wird bei gegebenem Reiz von der
Gewöhnung und den ererbten Prädispositionen fest bestimmt, wenn-
gleich Stimmung und andere physiologische und pathologische Um-
stände einen gewissen Einfluss darauf haben und das Resultat unter
Umständen modificiren werden. Ein „unerschöpflicher Reichthum
von Combinationen" in der Accommodation der Bewegungen an die
Umstände findet im strengen Wortsinn keinenfaUs statt, wie die
Ph. d. Unb. S. 124*) behauptet; vielmehr zeigt die Beobachtung
bei den tieferstehenden Nervencentris (Rückenmark und Ganglien)
in der That der Erwartung gemäss (S. 124) *) nur die „stete Wieder-
kehr weniger und immer sich gleichbleibender Bewegungs-
complicationen" und erst das verlängerte Mark, besonders aber das
kleine Gehirn, entfaltet einen grösseren Reichthum von Reflex-
actionen, wie z. B. die Wahrung der Balance zeigt. Bedenkt man
aber, dass aus einer massigen Zahl vorhandener Prädispositionen
sich durch Reize, welche verschiedene derselben gleichzeitig afficiren,
auf rein mechanischem Wege schon eine sehr grosse Zahl von
Combinationen reflectorischer Wirkungen ergeben muss, erwägt man
ferner, dass, wie schon angedeutet, die meisten dieser Prädispositio-
nen selbst schon eine Anzahl von Modificationen als polymorphe
Reflexe unter sich begreifen werden, berücksichtigt man endlich, eine
wie colossale Menge von intellectuellen und charakterologischen Prä-
dispositionen im Grosshirn zusammengehäuft sind, so wird man keinen
Anstoss mehr daran nehmen können, dem Kleinhirn die jedenfalls
unendlich viel geringere Zahl molecularer Prädispositionen
zuzuerkennen, welche zur instinctiven und reflectorischen Centralregu-
lation der Bewegungen der willkürlichen Muskeln erforderlich ist. m )
*) 7. Aufl. I. 120.
214 Text der ersten Auflage.
EOnnen wir sonach den allgemeinen Argumenten der Ph. & U.
gegen die mechanische Erklärung der Reflexwirkungen durch mole-
culare Prädispositionen keine Beweiskraft zugestehen, so vermögen
wir dies ebenso wenig in Bezug auf das specielle pathologische
Beispiel auf S. 123—124.*) Dieses Beispiel beweist allerdings,
„dass. die motorische Reaction nicht eine Folge der vorgezeichneten
Bahnen der Leitung des Reizes ist, sondern dass der Strom, um(?)
die zweckmässigen Reflexbewegungen zu Stande zu bringen, nach
Zerstörung der gewöhnlichen Leitungsbahnen sich neue Bahnen
schafft, wenn nur nicht völlige Isolation der Theile bewirkt
ißt" (S. 123).**) Die neue Leitungsrichtung bestand vor Zerstörung
der alten auch, und wird nach den allgemeinen Gesetzen der Fort-
pflanzung dynamischer Bewegungserscheinungen auch früher
schon einen Nebenstrom von dem Hauptstrom des fortgepflanz-
ten Reizes abgelenkt haben, jedoch einen Nebenstrom, der bei dem
Verhältniss seines Leitungswiderstandes zu dem des Hauptstroms
ausser Acht gelassen werden kann. Wird nun dieses Verhältniss
der Leitungswiderstände plötzlich dadurch geändert, dass der Lei-
tungswiderstand, den der bisherige Hauptstrom findet, unendlich
gross wird, d. h. tritt für den Hauptsstrom Isolation ein, so muss
die bisher auf Haupt- und Nebenstrom vertheilte lebendige Kraft
des Reizes nunmehr auf die Richtung des Nebenstroms allein wirken
und wird hier in vielen Fällen gross genug sein, um den vorhan-
denen Leitungswiderstand bequem zu überwinden, welcher vielleicht
den Nebenstrom in der bisherigen Stärke vollständig absorbirte. So
erklärt sich das Entstehen neuer Leitungsbahnen auf rein mechani-
schem Wege ohne alle teleologischen Eingriffe. In der That befindet
sich aber die Ph. d. U. im Irrtbum, wenn sie voraussetzt, dass eine
mechanische Erklärung der Reflexbewegungen den Hauptaceent auf
die fest vorgezeichneten Bahnen der Leitung des Reizes legen
müsse, im Gegentheil erscheint der Weg, auf welchem der Reiz
von der Einmündung der sensiblen Nerven in das Gentralorg^n zu
den molecularen Prädispositionen seiner Reflexfunctionen geleitet
wird, alp unmittelbar gleichgültig und kojjamt es nur darauf an,
4,a sa er zu dieser Stelle des Centralorgans gleichviel wie hingelangt
*) 7. Aufl. I. 120-121.
♦•) 7. Aufl. I. 120.
XI. Die Instincte der untergeerdn» Ceatralorgane d. Nervensystems. 215
und hiev das Functiomren der inolecularen Prädisposition pro-
yocirt 188 )
Nachdem wir ao die Instincte der niederen Nervencentra er-
ledigt haben, welche Contraction von quergestreiften oder einfachen
Muskelfasern zur Folge haben, also zur ^Erzeugung von Bewegungen
oder Tonus dienen, haben wir uns noch mit der zweiten Hauptclasse
voa Ganglierinstinete» zn beschäftigen, nämlich denjenigen, welche
der Regulation der vegetativen Functionen vorstehen (PL d. Unb.
S. 56 unten)**) „Die organischen Functionen, insoweit sie über-
haupt von Nerven abhängig sind, werden durch sympathische
Nervenfasern geleitet, welche dem bewussten Willen nicht direct
unterworfen sind, sondern von den Ganglienknoten aus innervirt
werden, von denen sie entspringen" (S. 149, **) vgl. S. 128 oben).***)
Wie allen Nerven ohne Ausnahme solche sympathische Nervenfasern
beigemischt sind, so finden sich auch überall im Körper Ganglien-
knoten vertheilt, welche den vegetativen Processen vorstehen, ja
sogar, wir müssen annehmen, dass diesem Zweck dienende und für
diesen Zweek prädisponirte Ganglienzellen im Bückenmark und in
den dem Bückenmark näher liegenden Theilen des Gehirns ein-
gelagert sind. Diese Ganglien und Ganglienzellen sind sämmtlich
direet oder indirect durch Leitung mit einander und mit dem Gross-
hirn und den Centralorganen der Sinneswahrnehmungen verbunden.
Die Verbindung mit dem Grosshirn muss auch aus dem mittelbaren
Einfluss bewusster Absichten, Vorstellungen und Gefühle auf die
vegetativen Functionen (S. 158— 162) f) gefolgert werden, da das
Grosshirn eine directe Einwirkung auf diese Vorgänge keinenfalls
haben kann, sondern nur vermittelst eines Einflusses auf die
betreffenden Ganglien. Jedenfalls hat man sich davor zu hüten,
den Einfluss der Ganglien auf die vegetativen Functionen in zu
ausgedehntem Sinne zu fassen, da für einen grossen und gewiss
den grössten Theil derselben die rein physikalischen und chemischen
Vorgänge in Verbindung mit der gegebenen anatomisch-physiologi-
schen Organisation hinreichen, um das Leben im Gange zu erhalten.
Diese Bemerkung erhält noch besonderen Nachdruck durch die Ver-
*) 7. Aufl. L 56.
**) 7. Aufl. I 144.
***) 7. Aufl. I. 12S unten u. 124 oben,
t) 7. Aufl. I. 152-166.
216 Text der ersten Auflage.
Weisung auf das Leben der Pflanze, wo die Ganglien und Nerven
fehlen, und nur ein schwacher Ersatz durch den protoplasmatischen
Inhalt der lebenden Zellen stattfindet ; hier tritt die blosse Mechanik
der biologischen Processe viel deutlicher hervor, und hier wird es
auch jedenfalls viel früher als in der Thierphysiologie gelingen,
den causalen Zusammenhang der Lebenserscheinungen mit ihren
physikalischen und chemischen Grundlagen genauer zu . erforschen.
Erst wenn dies auch im thierischen Leben geschehen sein wird,
wird es möglich werden, den wirklichen Antheil der Ganglien ver-
mittelst der von ihnen ausgehenden sympathischen Nervenfasern
festzustellen; vorläufig müssen wir uns mit dem Schluss begnügen,
dass diese Apparate nicht entwickelt worden wären, wenn sie nicht
den sie besitzenden Organismen nützlich und nothwendig wären.
Zugleich müssen wir aber auch jetzt schon im Hinblick auf die
bereits erwähnte mittelbare Einwirkung des Grosshirns auf vegetative
Functionen, sowie auf viele andere schnelle Aenderungen derselben
von instinctivem oder reflectorischem Charakter, anerkennen, dass
wir ausser den physikalischen und chemischen Gesetzen zur Er-
klärung vieler Lebenserscheinungen noch eines andern Erklärungs-
princips bedürfen, welches vermittelst der sympathischen Nerven-
fasern aus den Ganglien heraus wirkt Wenngleich manche der
Detailangaben in dem Capitel über „Naturheilkraft" (A. VI) Berich-
tigung von Seiten der exacten Forschung erheischen, so ist doch im
Allgemeinen jenes Mehrbedürfniss daselbst hinreichend dargethan.
Dass aber der Einfluss der Ganglien und der in denselben für
diese wichtigsten Lebensfunctionen niedergelegten instinctiven oder
reflectorischen Prädispositionen unzureichend sei, um die
Leistungen der physikalischen und chemischen Gesetze an Ort und
Stelle des Vorgangs zur vollen Erklärung zu ergänzen, dass ist
dort nirgends dargethan; es ist im Gegentheil an entscheidenden
Stellen der Einfluss der Nerven und Ganglien übersprungen,
um sofort zu einem influxus idealis zu gelangen, so z. B. S. 143
oben*), wenn die die Veränderung der Secrete bestimmenden Ver-
änderungen der Beschaffenheit der secernirenden Häute und Organe
sofort als nur eine einzige endgültige Erklärung, nämlich in
idealer Richtung, zulassend bezeichnet wird, während doch an
*) 7. Aufl. L 138 oben.
XI. Die Instincte der untergeordn. Centratorgane d. Nervensystems. 217
anderer Stelle mit Recht der Einfluss des sympathischen Nerven-
systems gerade auf die secernirenden Häute der Secretionsorgane
hervorgehoben wird. Ohne Zweifel ändern sich die vegetativen
Functionen (z. B. die Secrete) je nach dem Entwickelungsstadiom
des Organismus (S. 142);*) hierin ist aber nur das schon oben be-
sprochene Gesetz der Vererbung wiederzuerkennen, dass eine be-
stimmte (sei es typische, sei es functionelle) Eigentümlichkeit der
elterlichen Organismen bei den Nachkommen in demselben Entwicke-
lnngsstadium des individuellen Lebens aus der Latenz in die Er-
scheinung tritt, in welchem sie bei den Eltern sich eingestellt hat.
Lebensfunctionen, welche in ihren Veränderungen gewissen Rythnien
(sei es nach Jahreszeiten, Mondwechsel, Tageslauf oder unabhängig
von diesen) unterworfen sind, werden natürlich in demselben Sinne
stets als Prädispositionen vererbt werden, welche das Gesetz des
rythmischen Wechsels ihres Functionirens schon latent in sich ent-
halten und werden sogar unter Umständen, wenn ihnen durch pa-
thologische Verhältnisse das Functioniren eine Zeitlang unmöglich
gemacht ist, nach Ablauf dieser Suspension mit derjenigen Modifica-
tion der Functionen wieder einsetzen, welche sie entfalten würden,
wenn sie auch in der Zwischenzeit weiter functionirt hätten
(S. 129).**) Dies alles erfordert aber noch keine teleologischen
Eingriffe, sondern wie die rythmische Herzfunction und Darmfunction
durch moleculare Ganglienprädispositionen erklärbar sind, so sind
es auch die vegetativen ; wenn wir zum Hohlwerden der Zähne oder
zum Auftreten des Wahnsinns in dem nämlichen Lebensalter wie
bei dem Vater keine teleologischen Eingriffe brauchen, so brauchen
wir sie auch nicht für das Eintreten derjenigen Summe von Modifi-
cationen der vegetativen Functionen, welche wir als Pubertät be-
zeichnen. 18f )
Die selbstständigen Ganglienfunctionen , welche vegetativen
Zwecken dienen, haben grossentheils einen ebenso ausgesprochen
reflektorischen Charakter, wie die eigentlichen Reflex bewegungen.
Wenn der Speisebissen durch Berührung der Mundschleimhaut und
Zungenwarzen eine reichlichere Absonderung der Speicheldrüsen
hervorruft, so ist dies ein ebenso reflectorischer Process, als wenn
*) 7. Aufl. L 137.
**) 7. Aufl. 1. 125.
218 Text 4er ersten Auflage.
er durch Berührung mit den Schlundwänden Schlingbewegungen
provoeirt; wenn da« letztere Folge der Reaction einer molecularen
Prädisposition in einem untergeordneten Nervencentrum (verlängerten
Mark) ist, so ist kein Grund, zn bezweifeln, dass dasselbe Erklä-
rungsprineip auch auf den ersteren Vorgang Anwendung findet.
Wenn die steigende Blutwärme reflectorisch gleichzeitig verstärkte
Respirationsbewegungen und vermehrte Absonderung der Schweiß-
drüsen der Haut bewirkt (S. 140 — 14L),*) so ist die centrale Ursache
in beiden parallelen Folgeerscheinungen offenbar eine analoge. Je
Wichtiger solche Vorgänge für die Lebensöconomie eines Thieres
sind, oder für die seiner Vorfahren waren, desto grösser ist die
Wahrscheinlichkeit, dass solche instinetive oder reflectorische Ganglien-
prädispositionen , von denen ein Theil unter dem Gesichtspunkt
der Naturheilkraft, ein anderer Theil unter dem der Lebenskraft
oder organischen Bildungsthätigkeit zueammengefasst zu werden
pflegen, sich durch natürliche Zuchtwahl entwickeln mussten.
Dem entsprechend sind die zur Regelung des Ersatzes verloren
gegangener Körpertheile dienenden Prädispositionen um so mehr
ausgebildet, je nothwendiger dieser Ersatz in der Lebensöconomie
des Thieres ist; es sind aber die Prädispositionen für Neubildung
von Eövpertheilen um so nothwendiger fttr einen Organismus,
erstens je leichter und je häufiger eine Beschädigung oder ein Ver-
lust derselben in Folge ihrer Structur und der gesammten Lebens-
beziehungen zu erwarten steht, und zweitens je wichtiger der be-
treffende Körpertheil für den Organismus in seinem Kampf um die
Existenz ist Beide bestimmenden Einflüsse zeigen sich in der
empirischen Beobachtung bestätigt: der erstere in der stärkeren
Reproductionskraft wenig widerstandsfähiger , also weicher oder
gebrechlicher niederer Thiere (S. 131),**) insbesondere in Bezog
auf ihre am meisten der Verletzung exponirten Theile (S. 130),***)
der letztere in der verschiedenen Stärke der Ganglienprädispositionen
in demselben Thier, welche sich in der Verschiedenheit der auf
mehrere gleichzeitig verloren gegangene Theile von ungleicher
Wichtigkeit gerichteten Innervationsenergie offenbart (ä 129)* f)
*) 7. Aufl. I. 135—137.
**) 7. Aufl. L 127.
♦♦♦) 7. Aufl. I. 125.
f) 7. Aufl. I. 125.
XI. Die Instincte der unteigeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 219
Die Ph. d. Unb. bringt auf S. 127 und 130*) hinlänglich frap-
pante Beispiele bei, welche die Wesensgleichheit und die Flüssigkeit
des Ueberganges zwischen Instinct und Naturheilkraft beweisen
*
and es in der That unmöglich erscheinen lassen, für beide ein ver-
schiedenes Erklärungsprincip zu statniren. Da wir für den Instinct
ein anderes als die Ph. d. U. acceptirt haben, müssen wir es auch
fltr die Naturheilkraft, und die Uebereinstimmung mit den durch
unser Princip so wohl erklärbaren selbständigen Bewegungsfunc-
tionen, die von niederen Nervencentris spontan oder reflectorisch
innervirt werden, läset es keinem Zweifel unterliegen, dass auch
die vegetativen Functionen, mag es sich nun um Secretion, Assimi-
lation, Regeneration oder Zeugung handeln, insoweit sie nicht blosse
Resultate der wirksam werdenden chemischen und physikalischen
Gesetze sind, durch Innervationsströme regulivt werden, die von
ererbten und in früheren Generationen durch natürliche Zuchtwahl
oder durch sonstige Compensations- und Aceomodationsprocesse ent-
wickelten Ganglienprädispositionen ausgehen. Das Resultat dieser
Ganglienftmctionen ist die restituirende Realisation des Qattungs-
typus, der vorher durch äussere Störung alterirt war.
Wenn jeder Eörperring eines Wasserregenwurms die Fähigkeit
besitzt, den Typus des ganzen Wurms zu restituiren, so- folgt daraus
ohne Zweifel, dass dieser Typus in dem Ganglion jedes Ringes
irgendwie enthalten sein mnss; nur ist die Alternative (S. 128)**)
unrichtig, dass es entweder als äussere Realisation oder als aotuelle
ideale Vorstellung darin enthalten sein müsse, denn es ist eine dritte
Möglichkeit vergessen, welche dessenungeachtet aus der Ph. cL U.
selbst zu entnehmen ist Dieselbe Stelle (S. 128) **) besagt nämlich
sein* treffend weiter, dass der Typus, nach welchem die Regeneration
vollzogen wird, in dem sich regenerirenden Thierbruehstölck genau
in derselben Weise oder Form enthalten sein müsse, wie der Typus
der sechsseitigen Bienenzelle in der Biene vor seiner ersten Bethä-
tigung, oder wie der Typus seines specifischen Nestbaues oder seiner
Sangesweise im Vogel.
Auf S. 78—79) ***) (in dem mehrfach erwähnten Zusatz) ist aber
*) 7. Aufl. I. 121 u. 125—126.
**) 7. Aufl. I. 124.
•••) 7. Aufl. I. 76-77,
220 Text der ersten Auflage.
zu lesen, dass durch Gewohnheit eingegrabene und durch Vererbung
befestigte Prädispositionen in Hirn und Ganglien besonders den
„immer wiederkehrenden Grundformen (Typen) der Instincte, wie
z. B. der sechsseitigen Gestalt der Bienenzelle", zu Grunde liegen.
Als eine durch Vererbung befestigte moleculare Ganglienprädis-
position ist demnach auch die Art und Weise zu bezeichnen, wie
in dem Ganglion des sich regenerirenden Wurmringes der Typus
des ganzen Wurms enthalten ist Diese Form der Deponirung ist
ebenso wenig eine actuelle (gleichviel ob bewusste oder unbewusste)
Vorstellung wie eine im Hirn des Menschen schlummernde Gedächt-
nissvorstellung (S. 268 Anm.) ; *) sie ist noch weniger bereits äussere
Realisation des Typus, wie ea der fertige Wurm ist; sondern sie
ist nur ein materieller Keim, welcher unter günstigen Umständen
aus der Latenz hervortritt und zur Realisation des Typus sich ent-
faltet, sie ist moleculare Vorausbestimmung eventuell eintretender
Functionen in dem Sinne, dass die Realisation dessen, was wir
Gattungstypus nennen, als Resultat der Functionen sich ergiebt
Ein solcher Regenerationsact aus einem Bruchstück ist dem Wachs-
thum des Thieres aus dem Embryo oder dem eben befruchteten Ei
sehr verwandt ; hier wie dort stehen wir vor einer materiellen Masse,
die die stoffliche Grundlage für den weiteren Aufbau durch Assimi-
lation fremden Stoffe bietet und zugleich in sich die Prädispositionen
enthält, um diese Processe zu einem vorausbestimmten Ziele zu
leiten. Weil aber diese Prädispositionen keine actuellen Vorstel-
lungen sind, und weil in ihnen unmittelbar nur die Specification
der auszuübenden Functionen, mittelbar durch diese das Resultat,
aber in keiner Weise der Zweck als solcher enthalten ist, deshalb
kann hier von einem Hellsehen (S. 170)**) ebenso wenig die Bede
sein als beim Instinct 190 ) (vgl. oben S. 202—204).
Welchen Ausgangspunkt man auch bei der Betrachtung der zu
erklärenden Lebenserscheinungen wählen möge, immer wird man
beim Rückwärts verfolgen der Ursachen (S. 176)***) auf das eben
befruchtete Ei als letzte innerhalb des betrachteten Individuums
gelegene Ursache geführt (S, 178). f) Während nun die Ph. d. U.
*) 7. Aufl. I. 261 Anm.
**) 7. Aufl. I. 164.
***) 7. Aufl. L 169.
t) 7, Aufl. L 172.
XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 221
hier auf S. 179*) anerkennt, dass „das aus dem Ei hervorbrechende
Junge bei höheren Thieren schon fast alle (Gebilde und) Differenzen
des erwachsenen Thieres in sich enthält" sucht sie dasselbe Zu-
geständnis dem eben befrachteten Ei vorzuenthalten, obwohl sie
es ihm später auf S. 511**) willig einräumt. Hier aber (S. 178
unten) ***) wird die Thatsache, dass das eben befruchtete Ei unseren
Sinneswerkzeugen und Beobachtungsmitteln eine „in sich durchaus
gleichmässige Structur darbietet", zu dem Schlüsse benutzt, dass die
in der Zwischenzeit von der Befruchtung bis zur Geburt entstehen-
den Differenzirungcn ein Maximum an teleologisch -metaphysischen
Eingriffen erkennen lassen (S. 178 Mitte), f) dass die Seele in dieser
Zeit „mit Herstellung der Mechanismen beschäftigt sei, welche ihr
später im Leben die Stoffbeherrschung zum grössten Theil ersparen
sollen" (S. 179). ff) Nimmt man hingegen mit dem Abschnitt C
an, dass im eben befruchteten Ei trotz der scheinbaren molecularen
Homogenität doch alle diejenigen Differenzen vorhanden sein müssen,
aus denen sich später die gesammten ererbten Eigentümlichkeiten
von feinster körperlicher oder geistiger Natur entfalten (S. 511),fff)
dann fällt mit der unrichtigen Voraussetzung auch der darauf ge-
baute Schluss mit seinen Wundern. Denn die im befruchteten Ei
gegebenen Differenzen sind von den elterlichen Organismen vererbt 191 )
(vgl. oben den Abschnitt VI).
Nichts ist wichtiger für die Erhaltung der Arten im Kampf
um's Dasein, als das Festhalten des im Entwickelungsprocess ein-
mal Errungenen, das Behaupten der mühsam errungenen Entwicke-
lung88tufen, und dies kann nur durch möglichst vollkommene Ver-
erbung geschehen; die Niederlegung der elterlichen Eigentümlich-
keiten in den Zeugungsstoffen muss also ein Hauptpunkt gewesen
sein, an welchem die natürliche Zuchtwahl ihre Macht bethätigt hat.
Wie sehr die Beschaffenheit der Zeugungsstoffe unter dem Einfluss
von Stimmungen und Affecten steht, ist bekannt; hierdurch ist aber
auch zugleich der Einfluss der Innervation auf ihre Bildung bewiesen.
*) 7. Aufl. I. 172.
**) 7. Aufl. II. 147.
***) 7. Aufl. I. 171 unten.
t) 7. Aufl. I. 171 Mitte.
tt) 7. Aufl. I. 172.
ttt) 7. Aufl. II. 147.
222 Test der ersten Auflage.
Es kann mithin keine* Bedenken unterliegen, für die Regulirung
der Ausbildung der Eier und Spermatozoiden — der grössten und
feinsten Kunstwerke im ganzen Reiche der Organisation — in den
Ganglien, welche den vegetativen Geschlechtsfunctionen vorstehen,
Prädispositionen in demselben Sinne zu supponiren, wie die ftr
Regeneration verloren gegangener Körpertheile oder für den Zellen-
bau der Bienen oder das Netz der Spinne oder die Schale des
Nautilus. 1M ) Wir wissen sehr wohl, dass die Schwierigkeiten im
Einzelnen hiermit keineswegs gehoben sind und haben dies schon
oben (im Abschn. VI) bei Besprechung der Vererbung angedeutet,
aber eben dort auch betont, dass das Hinzufügen teleologischer
Eingriffe keinenfalls das Dunkel zu erhellen vermag.
Wie das Bttckwärtsverfolgen der Ursachen im individuellen
Organismus allemal auf das eben befruchtete Ei mit all 1 seiner
inneren prädispositionellen Differenziruug zurückführt und dieses
Aber sich hinausweist auf die Beschaffenheit der Eltern als Ursache^
so führt das Rückwärtsverfolgen der Vererbungskette in der Ahnen-
reihe allemal auf die niedrigsten durch Urzeugung entstandenen
Organismen zurück, und hier schliesst sich unsere Betrachtung an
die oben (Abschn. IL S. 37—40, vgl. auch S. 42—43) gegebene
Kritik des kleinen Aufsatzes „Ueber die Lebenskraft" an. — Neben
den inneren, in den früheren Zuständen des individuellen Organis-
mus und seiner directen Ahnenreihe gelegenen Ursachen laufen
natürlich beständig die äusseren Ursachen der Veränderung her,
denn wie ohne Luft und Nahrungsmittel, so wäre ohne Verände-
rungen der Erdoberfläche die biologische Entwicklung unmöglich,
wie dies aus Abschn. III deutlich hervorgeht (vgl. oben S. 54 ig.).
Die Ph. d. U. räumt ein, dass wir „überall im Körper zweck-
mässigen Mechanismen begegnen", und dass das Leben überhaupt
nur dadurch möglich wird, dass diese zweckmässigen Mecha-
nismen den grössten Theil der Arbeit leisten und den unmittelbaren
teleologischen Eingriffen nur ein M i n i m u m von Arbeit übrig lassen
(S. 177).*) Dieses Minimum unmittelbaren Eingreifens glaubt sie
deshalb aufrecht erhalten zu müssen, weil eine prädestinirte (mecha-
nische) Zweckmässigkeit als alleiniges Erklärungsprincip „in An-
betracht dessen unmöglich erscheint, dass streng genommen jede
*) 7. Aufl. L 170.
XI. Die Inatincte der unttsgeordn. Centraloxgane d. Nervensystems. 22S
Gruppirung von Verhältnissen im ganzen Leben nur Einmal vor-
kommt und doch jede Gruppirung von Verhältnissen eine andere
Reaction fordert» u n d gerade diese geforderte hervorruft"
(S. 180).*) Diese Behauptung muss aber entschieden übertrieben
genannt werden. Man kann zugeben, dass jede Gruppirung von
Verhältnissen de facto eine andere Reaction hervorruft (was bei der
variablen Combination einer grossen Anzahl von Mechanismen nicht
anders sein kann), ebenso dass vom teleologischen Standpunkt jede
Gruppirung eine andere Reaction erfordert; aber das ist nicht zu-
zugeben, dass in allen Fällen die factische und die teleologisch
geforderte Reaction sich decken, vielmehr ist dies nur dann der
Fall, wenn die Verhältnisscombinatkm eine solche ist, für welche
die Mechanismen des Organismus vollkommen angepasst sind, und
enthält die Reaction des Organismus in dem Maasse mehr unzweck-
mäßige Elemente, als in der Gruppirung der Verhältnisse, denen er
ausgesetzt ist, die Zahl derjenigen Umstände wächst, für welche er
noch keine passenden Mechanismen besitzt 1 * 3 ) Da jede Species
sich im Allgemeinen im Anpassungsgleichgewicht an die sie um-
gebenden Lebensumstände befindet, so werden solche Unzweckmässig-
keiten wesentlich erst dann hervortreten, wenn sich ein Individuum
plötzlich in abweichende Lebensverhältnisse versetzt sieht. Aber
auch unter den gewohnten Verhältnissen erstreckt sich die Anpassung
doch meistens nur auf Elemente von irgend welcher Erheblichkeit
ftlr den Kampf um's Dasein, und kleinere Unzweckmässigkeiten, die
nicht Lebensfrage für das Thier sind, laufen häufig mit unter, und
werden dann aus Mangel an einer Ursache zur Ausbildung ent-
sprechender zweckmässiger Mechanismen mitunter zahllose Genera-
tionen hindurch conservirt. 194 ) Dies kann man besonders da be-
obachten, wo ähnliche Arten auf verschiedenen Erdtheilen einem
verschieden heftigen Kampf um's Dasein ausgesetzt waren, in Folge
dessen die bequemer lebende Art in ihrer Lebensweise offenbare
Unzweckmässigkeiten conservirt hat, welche die stärker zur An-
passung gezwungene Art überwunden und durch zweckmässigere
Inötincte und Organisation ersetzt hat. Die Pathologie zeigt ferner
Beispiele genug, wo die Reaction des Körpers auf von aussen
herangetretene Krankheitserscheinungen durchaus nicht den vom
*) 7. AufL L 173.
224 Text der ersten Auflage.
Arzte vertretenen teleologischen Forderungen entspricht, sondern
convulsivische Anstrengungen entfaltet, die, weil sie nach verkehrter
Richtung gehen, das Uebel nicht abwehren, sondern die Schädigung
des Gesammtbefindens verstärken, resp. die Auflösung beschleunigen. 195 )
Unter denselben Gesichtspunkt unzweckmässiger Organisation
fallen die rudimentären Organe (Ph. d. U. S 170),*) welche als
Ueberreste partieller Rtlckbildungsprocesse (vgl oben S. 58) zu be-
trachten sind, also Organe repräsentiren, welche früheren Vorfahren
unter anderen Lebensverhältnissen einmal nützlich waren, seitdem
aber nutzlos geworden sind. Es kann vom teleologischen Stand-
punkte nimmermehr gerechtfertigt erscheinen, dass die meisten
Specien mehr oder weniger solcher nutzloser Stummel mit sich
herumschleppen, und dass das metaphysische Unbewusste sich mit
dem organischen Bilden derselben und der Vererbung auf die Nach-
kommen bemühen musste. Vom Standpunkt der Descendenztheorie
hingegen, wo die Vererbung ein bloss mechanischer Process ist, und
die natürliche Zuchtwahl nur so weit Modificationen fixiren kann,
als dieselben positiv nützlich sind, begreift sich das Stehenbleiben
werthloser Reste, deren Beseitigung keinen positiven Vortheil mehr
gewähren würde, ganz von selbst 19< ) (vgl. Haeckel's Nat. Schöpfungs-
gesch." 2. Aufl. S. 255—260).
Wenn die Ph. d. U. (S. 170)*) sich auf die ideale Einheit im
ganzen Schöpfungsplan beruft, so ist dagegen zu erwidern, dass
diese Einheit, als möglichste Constanz, Einfachheit und Gleichheit
der morphologischen Grundtypen gefasst, eher auf A r m u t h als auf
Reichthum in dem schöpferischen Geiste schliessen lässt; uns we-
nigstens kann das allweise Unbewusste damit nicht imponiren, dass
es rudimentäre Organe stehen lässt, um damit die Einheitlichkeit
seiner Gonceptionen zu beweisen. Die wahre Harmonie besteht
nicht in der Gleichheit und der möglichst geringen Abweichung von
der Identität des Einen Grundtypus, sondern in der Mannichfaltig-
keit und Verschiedenheit, wo gerade aus dem ergänzenden Zu-
einanderpassen des Entgegengesetztesten die Uebereinstimmung als
concreto entspringt 197 )
Die Ph. d. ü. schliesst (S. 180)**) den Abschnitt A. mit dem
*) 7. Aufl. I. 164.
**) 7. Aufl. I. 173.
XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 225
Worte Schopenhauers: „So steht auch empirisch jedes Wesen als
sein eigenes Werk vor uns." Wir sind dem gegenüber aus
unseren empirisch-inductiven Betrachtungen zu dem Resultate ge-
langt, dass jedes Wesen als das Werk seiner directen Ahnenreihe
vor uns steht m ) In der Verschiedenheit dieser Aussprüche liegt
der ganze himmelweite Unterschied zwischen Schopenhauer und der
modernen Descendenztheorie, den manche Anhänger des ersteren
gegenwärtig gern verwischen möchten. Schopenhauer steht mit
Schelling und Hegel darin auf ganz demselben Standpunkte, dass
es ein metaphysisches immaterielles Wesen ist, welches sich in dem
organischen Individuum objectivirt, d. h. seinen idealen Gehalt reali-
sirt. Wenn Schopenhauer dieses Wesen „Wille", Schelling es „Sub-
ject-Object", Hegel es „Idee" nannte, so sind damit nur Differenzen
betont, die ausserhalb des gemeinsamen Gegensatzes zur natur-
wissenschaftlichen Anschauungsweise liegen. Die äusserliche Ob-
jectivation eines metaphysischen Wesens, die jene nur im Allgemei-
nen behaupteten, suchte die Ph. d. U. im Einzelnen nachzuweisen
and die verschiedenen Richtungen und Etappen der Realisations-
functionen zu belauschen. Sie trat zu dem Zweck im weiteren
Verlauf der Untersuchung mit einem Fuss auf den Standpunkt der
Descendenztheorie hinüber, in dem Glauben, sich diese als Hülfe-
mittel dienstbar machen* zu können, bemerkte aber nicht, dass die
herbeigerufenen Geister ihr über den Kopf wuchsen und ihren eige-
nen ursprünglichen Standpunkt unhaltbar machten. 199 ) Es war gut,
dass sie erschienen ist, so wie sie ist, dass die alte teleologische
Metaphysik zum letzten Male ihre Kräfte zusammenraffte, um zu
zeigen, was sie leisten könne — und was nicht; wäre sie nicht
spätestens in der Mitte der 60er Jahre geschrieben, so hätte sie
überhaupt nicht •mehr geschrieben werden können, da jetzt die
Tragweite der Descendenztheorie allen klarer Blickenden zu offen
liegt, um eine Arbeit zu verfassen, wie der Abschnitt A ist, d. h.
ohne jede Rücksicht auf die Descendenztheorie. 200 )
&▼. Hart maii u. Das Unfaewusste» 2. Aufl. 15
XIL
Das Unbewusste.
Wir haben nunmehr den naturphilosophischen Theil der Ph.
d. Unb. kritisch durchmustert and widerstehen der Versuchung,
auch auf den psychologischen, historischen oder metaphysischen
Theil näher einzugehen, z. B. den Kampf um's Dasein zwischen den
mythologischen oder den theogonischen Ideen, oder den Sprach-
wurzeln, Wortern und Sprachformen, oder den Process der Ent-
wickelung der Menschheit durch die Concurrenz der Bacen und
Völker, oder die Ausbildung der nützlichen Illusionen durch die
natürliche Zuchtwahl hier näher zu behandeln, da zum Theil schon
Gesagtes wiederholt werden müsste, zum andern Theil aber diese
Gebiete für eine Behandlung im Sinne der Descendenztheorie noch
zu wenig aufgeschlossen und vorbereitet sind, als dass nicht ein
solcher voreiliger Versuch dem im naturwissenschaftlichen Gebiet
nicht mehr anzutastenden Princip mehr Schaden als Nutzen zu
bringen drohe.
Wir knüpfen demnach hier wieder an die eoste Hälfte unseres
IL Abschnitts an (vgl. speciell S. 33—37) und wiederholen den
Protest der Naturwissenschaft gegen die teleologischen Eingriffe,
deren die Leistungen der sich selbst überlassenen Naturgesetze
alterirende Wirkungen vom Begriff des Wunders nicht verschieden
sind und dazu dienen sollen, die Lücken unserer Eenntniss des
naturgesetzmässigen Gausalzusammenhanges vorläufig zuzustopfen
und zu verkleistern, damit das philosophische System sich als ein
geschlossenes Ganzes, als ein lückenlos das Universum umfassendes
und durchdringendes Verstehen präsentiren kann. So ist der teleo-
Xu. Das Unbewuflgte. 227
logische Eingriff von jeher dazu verurtheilt, in jenen dunklen Re-
gionen sein Dasein zu fristen, wohin das Licht der exacten Wissen-
schaft noch nicht gedrungen ist; er ist das asylum ignorantiae der
philosophischen und theologischen Speculation. Durch die Fort-
schritte der Physik aus dem Reiche des Unorganischen verbannt,
wo er sich früher es hatte wohl sein lassen können, und wo heute
nur noch fanatische Priester unter dem Gelächter der Gebildeten
ihn als Schreckbild des rohen Haufens zu citiren wagen (namentlich
heim Auftreten ungewöhnlicher und verderblicher Naturerscheinungen),
sieht der teleologische Eingriff sich in der Ph. d. Unb. bereits auf
das Reich des Organischen beschränkt ; hier, wo eben erst die ersten
schüchternen Versuche zum Eindringen in das Verständniss des
causalen Zusammenhangs der Erscheinungen begonnen haben, hat
er noch ein verhältnissmässig gutes Leben, das ihm aber auch schon
durch jeden neuen Fortschritt, jede neue Entdeckung verkümmert
wird und durch die Sicherstellung der Descendenztheorie vermittelst
der Darwinschen Begründung der Theorie der natürlichen Zucht-
wahl in tausend Aengste gerathen ist. Der teleologische Eingriff
verhält sich zur Wissenschaft als ein würdiges Seitenstück seines
Gegenfüsslers, des Stoffs. Wie dieser als stehen gebliebenes für die
Praxis ausreichendes und bequemes Vorurtheil früherer unwissen-
schaftlicher Anschauungsweisen zu betrachten ist (vgl. Ph. d. Unb.
S. 473 — 476 u. ff.),*) ebenso auch der teleologische Eingriff; beide
zusammen, als kritiklos hypostasirte Sinnenfälligkeit und kritiklos
hypostasirter Wunderglaube, erfüllen den ganzen Baum einer un-
wissenschaftlichen Weltanschauung, in die sich die exacte Wissen-
schaft wie ein Keil hineinschiebt oder wie ein Lichtkegel, vor dem
das Dunkel blinden Heinens und speculativen Wunderglaubens mehr
und mehr zurückweichen muss, je breiter er sich entfaltet. * 01 )
Wir haben in unseren Untersuchungen gesehen, dass der Ab-
schnitt A der Ph. d. Unb. der Annahme des teleologischen Eingriffs
die Stütze, welche er ihm gewähren soll, nicht gewähren kann und
muss daher, bis andere und bessere Gründe für denselben aufgestellt
Bein werden, dieses asylwn ignorantiae von der Wissenschaft aus-
geschlossen und die bis jetzt der Erklärung noch übrig bleibenden
Lücken für künftige Erfüllung durch Erforschung des gesetzmässigen
*) 7. Aufl. IL 106—110.
15*
228 Text der ersten Auflage.
Causalzusammenhanges offen gehalten bleiben. **') Mit dieser An-
nahme fällt aber auch der metaphysische Träger oder das Subject
des teleologischen Eingriffe, das teleologisch Eingreifende selbst hin-
weg, d. h. es fällt das Unbewusste, insofern es als
Subject der teleologischenEingriffe gedacht wird;* 04 )
es ist die Annahme zu streichen, dass ausser denjenigen Functionen
des unbewussten Absoluten, welche in den naturgesetzmässigen
innerlichen und äusserlichen Actionen der Atome eines Organismus
(als Summationsphänomene des Vorstellens, Wollens, Lebens und
Handelns) zu Tage treten, noch andere Strahlenbttndel von auf
diesen Organismus gerichteten Functionen des unbewussten Abso-
luten hinzukommen, welche als teleologische Eingriffe in den
innerlichen und äusserlichen Lebensproeess der im Organismus com-
binirten Elemente ein qualitativ auf ganz neuer und höherer Stufe
stehendes Plus hinzubrächten. m ) Wir haben diese Differenz unserer
Auffassung von der der Ph. d. Unb. schon oben, in Bezug auf die
Vorstellung im Abschn. IV (S. 85—89), in Bezug auf den Willen
im Abschn. V (S. 96 — 103) auseinandergesetzt und haben hier nur
deshalb noch einmal auf jene Darlegungen zurückzuverweisen, weil
die Unhaltbarkeit der teleologischen Eingriffe, die oben nur erst be-
hauptete Voraussetzung war, in den zwischenliegenden Abschnitten
detaillirt nachgewiesen ist, 205 ) so dass erst jetzt die oben ent-
wickelten Ansichten ihre volle Begründung erhalten haben. Populär
gesprochen könnte man unserem Resultat etwa folgende Fassung
geben : Wenn wir unter „Seele" psychische Innerlichkeit verstehen,
so ist jedes Atom beseelt; jeder Organismus, also auch der Mensch,
hat gerade soviel „Seele", aber auch nicht ein Atom mehr,
als die ihn constituirenden Atome zusammengenommen
„Seele" haben; wie durch die Gombination der äusserlichen
Atomkräfte Naturkräfte von potenzirter Qualität entstehen, so ent-
stehen durch Gombination von Atomseelen psychische Summations-
phänomene, welche man in demselben Sinne Seelen von potenzirter
Qualität nennen könnte; damit aber solche Summations- oder Com-
binations-Phänomene innerlicher oder äusserlicher Art möglich seien,
dürfen die Atome nach beiderlei Hinsicht nur functionell, nicht sub-
stantiell verschieden und getrennt sein, müssen sie atomisirte
Functionen der Einen absoluten Substanz sein. Im Gegensatz zu
dem pantheisti sehen Monismus der Ph. d. Unb. wird man
XII. Das Uijbewasste. 229
diesen Standpunkt als naturalistischen Monismus bezeichnen
können. * 06 )
Es entsteht nun die Frage, welche Bedeutung denn für unsern
Standpunkt noch „das Unbewusste" habe, da doch die Ph. d. Unb.
mit diesem Ausdruck gerade, vorzugsweise das Subject der teleo-
logischen Eingriffe bezeichnet, welches für uns bedeutungslos ge-
worden ist Wir dürfen diese Frage nicht mit dem Hinweis auf
den Schluss des Cap. C VII (S. 543)*) von der Hand weisen, wo
diesem inadäquaten negativen Ausdruck nur ein vorläufiger prophy-
lactischer Werth dem theistischen Standpunkt gegenüber beigelegt
wird; denn es handelt sich für uns eben nicht darum, ob dieses
negative Prädicat eine wohlgewählte substantivische Bezeichnung
sei, sondern darum, welche positive Bedeutung dem hinter diesem
negativen Prädicat verborgenen Subject 'von unserem Standpunkt
ans noch zukommen könne. Es war nichts Zufälliges, dass die
Ph. d. U. gerade dieses Stichwort wählte, denn dasselbe lag in der
Luft und war von allen Seiten vorbereitet; es war aber zugleich
auch eine Forderung des Fortschritts in der Selbstbesinnung und
dem Selbstverständniss der Menschheit, und nur weil es dies alles
war, konnte es eine so schnelle und willige Aufnahme im Publicum
finden, dass man es jetzt schon beinahe die Spatzen von den Dächern
rufen hört Dieser Fortschritt in dem „sich auf sich selbst Besinnen"
der Menschheit bestand eben darin, dass überall ' das in die Er-
scheinung Tretende als ein Ausfluss des im Wesen Vorherbestimmten,
das im Bewusstsein sich Manifestirende als ein notwendiges Re-
sultat der unbewussten, durch die Beschaffenheit des dunklen Grundes
der Seele bestimmten Processe nachgewiesen wurde, und dass
hiermit ebenso dem plattrationalistischen Sensualismus, der die Seele
flir eine tabula rasa ansieht, wie der schablonenhaft ein Bewusstseins-
moment aus dem andern herausspinnenden und dabei aller cha-
rakteristischen Individualität fern bleibenden Dialectik das Garaus
gemacht wurde. In diesem Bestreben, alles auf der Oberfläche des
Lebens zu Tage Kommende aus den inneren dunklen Tiefen abzu-
leiten, liegt der bleibende Werth der Neuerung, welcher dadurch
nicht alterirt wird, wenn die Principien, in welchen das Bestimmende
*) 7. Aufl. IL 173-174.
230 Text der ersten Auflage.
des dunklen Seelengrandes gesucht wurde, zum Tbeil als irrth timlich
sich erweisen.
In der That confundirt die Ph. d. Unb. unter diesem den ganzen
dunklen Urgrund des Lebens zusammenfassenden Ausdruck: „Das
Unbewusste" eine Menge der verschiedensten Dinge, welche not-
wendig einer sondernden Analyse bedürfen. Das Unterlassen einer
solchen hat offenbar wesentlich dazu beigetragen, die Incongruenz
der Abschnitte A und G den Augen des Verfassers selbst, sowie bis
jetzt auch denen der Kritik zu verhüllen.
Zunächst ist zu unterscheiden das relativ, d. h. in Bezug auf
das Gesammtbewusstsein des Grosshirns, Unbewusste, und das
absolut, d. h. in jeder Beziehung genommen, Unbewusste. Diese
Unterscheidung ist zum Schluss der Gapitel A I und II (S. 59 — 60
und 69)*) zwar deutlich angegeben, aber im Verlauf des Werkes
nicht überall klar erkennbar festgehalten und scharf durchgeführt,
so dass beides häufig in den gemeinsamen Nebel des Einen Un-
bewussten verschwimmt, und auf diese Weise dem absolut Un-
bewussten manches zu Gute zu kommen scheint, was von dem relativ
Unbewussten gesagt sein sollte. m ) Wir können aus den Resultaten
unserer Untersuchungen (Abschn. IV S. 73—78) hinzufügen, dass
nicht nur die Bewusstseinssphären der niederen Centralorgane des
thierischen Nervensystems in diese Kategorie des relativ Un-
bewussten fallen, sondern dass für das Gesammtbewusstsein des
Grosshirns, welches allein ich mein Bewusstsein nenne, auch die
Zellenbewusstseine resp. Molecularbewusstseine im Grosshirn selbst,
d. h. diejenigen Functionen und Nervenprocesse unbewusst sind,
welche unterhalb der Reizschwelle des Gesammthirnbewusstseins
aber oberhalb der Reizschwellen der entsprechenden Zellen- oder
Molecularbewusstseine liegen. In dieser Region können sich Func-
tionen von höchster Wichtigkeit für die Oeconomie des Geisteslebens
vollziehen, die etwa durch häufige Wiederholung dasjenige an Ein
fluss auf Prädispositionenbildung ersetzen, was ihnen an Intensität
abgeht und kann man in diesem Sinne wohl mit Wundt („Beiträge zur
Theorie der Sinneswahrnehmung" S. 188) von (relativ) „unbewusster
U e b u n g", oder mit) Schopenhauer : („Parerga" 2. Aufl. S. 59) von
„unbewusster Rumination" sprechen 808 ) (vgl. Ph. d. Unb.
*) 7. Aufl. L 59—60 u. 67.
XU. Das Unbewusste. 231
S. 285—287).*) In diesen Regionen unterhalb der Schwelle des
Gesammthirnbewusstseins kann ferner ein grosser Theil der un-
bewusst mitbestimmenden Momente der Gefühle liegen (vgl. oben
S. 76). Zugleich aber ist dabei in Erwägung zu nehmen, dass
die eigentliche intellectuelle Sphäre in der Gehirnrinde zu liegen
scheint, während die Sphäre der Molecularprocesse, welche innerlich
als Gefühle sich darstellen, dem Kleinhirn (dem Centralorgan der
Bewegungen) näher, also in Bezug auf dieses weniger peripherisch
liegt, als die reine Vorstellungssphäre (vgl. oben S. 122 — 125). Wie
die Molecularschwingungen einer blossen Vorstellung an sich sehr
intensiv und doch dabei von sehr geringem Einfluss auf die Gentral-
organe der Bewegungen und auf die Bestimmung des Handelns sein
können, so können umgekehrt die Molecularschwingungen von tiefen
und mächtigen Gefühlen an sich sehr intensiv sein und doch für
das Gesammtbewusstsein der intellectuellen Sphäre des Grosshirns
entweder ganz unter der Schwelle bleiben, oder doch in schwer
fassbarer und vergleichbarer Form, in dunkler, nebelhafter Gestalt
in dasselbe eintreten. Da beide Erscheinungen von der Güte der
Leitung zwischen beiden Sphären abhängig, also eoordinirte Wir-
kungen derselben Ursache sind, so ist, wenn selbst nur die eine
derselben (wie oben im Abschn. VII) constatirt ist, die andere
a priori zu erwarten. Jene Gefühle mögen in ihren betreffenden
Zellen oder Hirnpartien zu hinlänglich starkem Bewusstsein gelangen ;
sie communiciren nur nicht vollkommen genug mit demjenigen Haupt-
summationsbewusstsein, welches, zu gedanklichen Reflexionen in be-
sonderem Maasse befähigt, allein im Menschen die Stufe des Selbst-
bewußtseins errungen hat.
Nachdem wir so aus dem allgemeinen Begriff des Unbewussten
zunächst die umfassende Sphäre des relativ Unbewussten aus-
geschieden haben, haben wir in der übrigbleibenden Sphäre des
absolut Unbewussten abermals eine strenge Trennung durchzuführen
zwischen dem physiologischen und metaphysischen Un-
bewussten. Unter dem physiologischen Unbewussten verstehen wir
die moleculare Hirn- und Ganglienprädisposition als Ursache der
charakteristischen Bestimmtheit der physiologischen und psychologi-
schen Functionen eines Individuums ; 809 ) unter dem metaphysischen
*) 7. Aufl. I. 277—279.
232 Text der ersten Auflage.
Unbewnssten das in den Atomen naturgesetzmässig fnnctionirende
Wesen der Welt, in welchen Functionen aber (im Unterschiede von
der hierin zweifelhaften Ph. d. U.) die psychische Innerlichkeit mit
inbegriffen ist.
Eine wie grosse Bolle auch in der Ph. d. U. dasjenige, was
wir hier das physiologische Unbewusste nennen, spielt, ergiebt sich
aus unseren früheren Erörterungen, wonach Gedftchtniss und Cha-
rakter ganz in dieses Gebiet fallen (Ph. d. Unb. S. 27 unten bis
28, 387 unten bis 388 oben, 608—610),*) der Process der Ideen-
association als ein den mechanischen Gesetzen folgender molecularer
Hirnprocess aufgefasst wird (S. 253),**) und nicht nur ererbte
Charakteranlagen und Fertigkeiten, sondern auch ererbte Ge-
dächtnissdispositionen statuirt werden (S. 613, S. 78 unten bis 79
oben). ***)
Auf S. 609 f) wird sogar darauf hingewiesen, es sei kein Wider-
spruch, dass der Charakter „im Unbewnssten liegt und doch
seine Beschaffenheit durch das Hirn, das specifische Organ des
Bewusstseins, mit bedingt werden soll; denn das Organ des
Bewusstseins sammt allen seinen molecularen Lagerungsverhältnissen,
die als latente Dispositionen zu gewissen Schwingungs-
zuständen dieser oder jener Art betrachtet werden müssen, liegt
selbst so sehr jenseits alles Bewusstseins, dass zwischen seiner
materiellen Function und der bewussten Vorstellung erst der ganze
Complex jener unbewnssten psychischen Functionen" (d. h. der
teleologischen Eingriffe) „sich einschaltet, mit denen wir uns bisher
beschäftigt haben". Streichen wir nun auch jene von der Ph. d. IL
zwischen die mechanische Reaction der molecularen Hirnprädisposi-
tionen und das Summationsphänomen der bewussten Vorstellung
oder des Begehrens eingeschalteten teleologischen Eingriffe, so bleibt
es doch immer richtig, dass Charakter und Gedächtniss, als specielle
Beschaffenheiten des Gehirns, jenseits alles Bewusstseins, & h.
im Unbewnssten, liegen.
Wir haben gesehen, wie sehr der Erklärungsbereich des phy-
siologischen Unbewussten sich erweitert durch consequentes Zu-Ende-
*) 7. Aufl. L 28, II. 16 unten bis 17 oben, II. 264-266.
**> 7 b Aufl. II. 246—246.
***) 7. Aufl. II. 269, I. 76 unten bis 77 oben.
t) 7. Aufl. II. 265 unten.
XII. Das UnbevusBte. 233
Denken der von der Ph. d. U. seihst (S. 78—79)*) zugestandenen
Möglichkeit, dieses Erklärungsprindp auf den Inetinct anzuwenden ;
denn die Wesensgleichheit des Instincts mit den tfbrigen problema-
tischen Processen des organischen Lebens lässt die Uebertragong
des für den Instinct adoptirten Erklärungsprincips auf alle übrigen
als unausweichbare Forderung erscheinen.
So hat uns das physiologische Unbewusste eine Bedeutung ge-
wonnen, in welcher es (in Verbindung mit der natürlichen Zucht-
wahl und einer richtigeren Schätzung des Einflusses der bewussten
Ueberlegung, Uebung und Gewohnheit auf Modifikationen des In-
stincts) dasjenige zu ersetzen vermag, was in der Ph. d. U. das
metaphysische Unbewusste als Subject der teleologischen Eingriffe
für die Erklärung leisten soll. Wie in der recht verstandenen
Physiologie die ganze Psychologie enthalten ist, so enthält das
physiologische Unbewusste alles das in sich, was unter dorn Unbe-
wussten als dunklem Hintergrunde des psychischen Lebens
verstanden wird, gleichzeitig aber schliesst es auch die Ursachen
der nicht aus bloss physikalischen und chemischen Processen an
Ort und Stelle verständlichen biologischen Processe in sich.
Das physiologische Unbewusste ist es also, dessen Studium zu-
nächst noth tbut, um alle Räthsel des psychischen und organischen
Lebens zu lösen ; denn in ihm liegt der ganze Reüehthum derselben
beschlossen. 2l °)
Gehen wir nun zu der andern Seite des absolut Unbewussten,
dem metaphysischen Unbewussten über, so ist dies eben durch
die Streichung des Subjects der teleologischen Eingriffe sehr viel
ärmer als das metaphysische Unbewusste der Ph. d. Unb., welches
das gemeinsame Subject der naturgesetzmässigen Atomfunctionen
nur unter sich begreift, während dieses bei uns den ganzen
Platz des metaphysischen Unbewussten einnimmt. Es ist keine
Frage, dass die einfachste Atomfunction einp Anticipation eines Zu-
künftigen, erst noch durch die Action selbst in die Wirklichkeit zu
Seilenden enthält (Ph. d. Unb. S. 484—485),**) ebenso unbedingt
ist zuzugeben, dass der formell« Modus dieser Anticipation in den
einfachen, die. Materie erst constitujrenden, also selbst immateriellen
*) 7. Aufl. I. 76—77.
**) 7. Aufl. IL 116-118.
234 Text der ersten Auflage.
Elementen selbst immateriell genannt werden müsse (S. 105);*)
ob aber eine solebe inhaltliche Bestimmtheit eines noch nicht Seien-
den in immaterieller Form, d. h. solche metaphysische Anticipation
der Verwirklichung durchaus ideale Bestimmtheit genannt wer-
den müsse, wäre immerhin noch zu erwägen, sobald man einmal
mit der Annahme präexistirender typischer Gattungsideen vor ihrer
Realisation in Thier- und Pflanzenreich gebrochen hat. 211 ) Schwächt
man durch Entkleidung von aller anthropopathischen Nebenbedeu-
tung den Sinn des Wortes „ideal" so weit ab, dass er nichts
mehr als die uns schlechterdings unbekannte (S. 375, Z. 19 — 23)**)
Form der immateriellen metaphysischen Anticipation innerhalb der
diesen Inhalt verwirklichenden Function ist (Phil. Monatshefte
Bd. IV, Heft 1, Schluss der Erwiderung gegen J. Bergmannes
Kritik der Phil. d. Unb.), dann kann man diese Bedeutung des
Aasdrucks ideal zwar nicht mehr bekämpfen, aber das Wort
hat dann auch nichts Significantes mehr an sich, es fördert das
Verständniss nicht mehr, sondern bringt es eher durch die nahe-
liegende Versuchung unfreiwilligen anthropopathischen Rückfalls in
Gefahr. 818 )
So lange man das Unbewusste als Träger der teleologischen
Eingriffe gelten lässt, liegt die Sache in sofern etwas anders, als
man in der Anticipationsform im Atom nur die Species eines grossen
Genus metaphysischer Anticipationen erblickt, welche ihrer Form
nach zwar ebenfalls unbekannt, aber ihrem Inhalt nach zum
grösseren Theil mit demjenigen identisch sind, was die Philosophie
von Plato bis Hegel unter Ideen verstanden hat. Nachdem wir
aber (vgl. oben S. 50—51) gesehen haben, dass die Typen der
Organisation sich allmählich durch mechanische Compensionspro-
cesse herausgebildet haben, ohne einem teleologischen Princip Baum
zur Erklärung zu gestatten, haben wir auch von der Annahme der
Präexistenz solcher Typen in Gestalt unbewnsster Naturideen oder
bewusster göttlicher Ideen als einer fernerhin grundlosen und un-
berechtigten Hypothese Abstand zu nehmen. 813 ) Die Hypothese
einer hellsehenden unbewussten Intuition des Instincts mit ihrer
Ausbreitung auf alle Gebiete des psychischen und organischen Lebens
*) 7. Aufl. I. 102.
**) 7. Aufl. II. 5, Z. 24—29.
XII. Dm ünbewusBte. 235
war für die Ph. d. Unb. das willkommene Zwischenglied, oder viel-
mehr eine lange Stufenreihe von Bindegliedern zwischen der In-
tuition des klarsten menschlichen Bewnsstseins und der anticipiren-
den Fanction des Atoms ; iu ) nach Wegnahme dieser Kette würden
die durch sie verknüpft gewesenen Endglieder völlig auseinander-
fallen, wenn nicht anf der andern Seite die Restitution der in der
Ph. d. Unb. zweifelhaften Atom-Epfindung ,16 ) und das ge-
nauere Verständniss des Bewnsstseins als eines Summations-
phänomens von organischem Uebereinanderbau analog der ln-
einanderschachtelung der relativen Individuen eine neue Verbindung
herstellte. * li )
Leider giebt nur diese neue Kette nicht, wie die zerstörte,
scheinbare Aufschlüsse über die Natur der immateriellen metaphy-
sischen Anticipation des Atoms bei seinem Functioniren. Man weiss
von dieser Anticipation nur so viel, dass sie jenseits und vor aller
Atomempfindung, d. h. Atombewusstsein, liegt, also eine absolut un-
bewusste ist, und dass sie nach Eintreten und Inhalt unabänder-
lichen Gesetzen folgt. Will man nun den Ausdruck „unbewusste
Anticipation" deutsch durch „unbewusste Vorstellung" wiedergeben,
so ist dagegen natürlich wiederum nichts als die Gefahr des Rück-
falls in anthropopathische Nebenbedeutungen geltend zu machen.
Die Erkenntniss wird dadurch ebenso wenig positiv gefördert, als
wenn man die Spannkraft des Atoms Wille, den Umsatz derselben
in lebendige Kraft Wollen nennt, da Wille und Wollen nur bestimmte
Erscheinungsformen des Zusammenwirkens von Atomfunctionen sind,
oder die Bezeichnungen, welche wir den uns aus psychologischen
Schlüssen indirect bekannten Summationsphänomenen unseres thä-
tigen Gehirns ertheilen (vgl. oben S. 96—98); der Werth solcher
Bezeichnungen liegt ebenso wie bei dem der Atom-Empfindung
nur in dem Wecken und Wachhalten des Bewnsstseins von der
wesentlichen Identität alles Lebens und aller seiner activen und
receptiven Functionen in der gesammten organischen und unorgani-
schen Natur. 117 )
Wenn wir oben iß. 33) bemerkten, dass die Naturwissenschaft
als solche sich um die Frage nicht zu kümmern habe, ob letzten
Endes auch die Naturgesetze und die Gausalität selbst sich, wie die
Ph. d. Unb. behauptet, in Finalität, d. h. in Teleologie, auflösen, so
haben wir jetzt, wo wir uns mit dem Unbewussten in den Atomen
286 Text der ersten Auflage.
beschäftigen) dieser Frage näher zu treten. — Zunächst haben wir
daran zu erinnern, dass alle Naturkräfte als Combinationen der ein-
fachen Atomkräfte, alle Naturgesetze als secundäre Gesetze oder als
aus den einfachen Gesetzen der Atomfunctionen abgeleitete Folge-
erscheinungen anzusehen sind (vgl. „Ges. phil. Abhandle S. 123 bis
124);*) dieses Folgen der complicirteren Naturgesetze aus den ein-
fachen Gesetzen der Mechanik des Atoms aufzuweisen (was natürlich
nur auf mathematischem Wege möglich ist) ist die letzte und höchste
Aufgabe der Physik, und die mechanische Wärmetheorie, die mathe-
matische Behandlung der akustischen und optischen Schwingungs-
processe, sowie endlich das mathematische Eindringen in das Gebiet
der Electricität haben in neuester Zeit glänzende Proben der wissen-
schaftlichen Leistungsfähigkeit gegeben und unabsehbare Hoffnungen
für die Zukunft erweckt. Es ist, unumwunden gesprochen, das Ziel
der Naturwissenschaft, alle die mannigfachen Naturerscheinungen
als Resultate zu begreifen, die aus der Mechanik der Atome
hervorgegangen sind; alles Beobachten, Experimentiren und Indu-
ciren ist durchaus nur Mittel zu diesem Einen, letzten, alles be-
stimmenden Zweck, dessen Erreichung allein die Naturwissenschaft
zur Wissenschaft im höchsten Grade zu erheben und abzuschliessen
vermag. Die letzten Functionen der Atome werden wir uns ebenso
einfach zu denken haben wie die Atome selbst; die Combination
derselben zu den complicirten Naturerscheinungen muss aber mathe-
matisch durchaus beweisbar sein. Nur ist freilich die Mathematik
auch nur eine angewandte Logik, angewandt auf gegebene Existenzen
in Bezug auf die Kategorie der Quantität; aber wohlgemerkt ist
unter der hier in Anwendung kommenden Logik nur der Satz vom
Widerspruch (oder seine modificirten Ausdrucksweisen), nicht aber
die Teleologiezu verstehen ; die Mathematik deducirt alles so
und so nur deshalb, weil es ohne Widerspruch nicht anders sein
kann, nicht weil das Sosein irgendwie zweckmässig wäre. * 18 ) Soll
also irgendwo eine vorausbestimmte Einheit von causaler und finaler
Notwendigkeit stecken (Ph. d. U. S. 790),**) so muss sie bereits
ganz und ohne Rest in der Einrichtung der Elementarfunctionen der
einfachen Uratome und in der Beschaffenheit der in ihnen als Gesetz
*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 536—637.
*») 7. Aufl. IL 450.
Xu. Dm Uabe*utst& 287
erkennbaren Constanz der Wirkungsweise gegeben sein.* 19 ) Je ein-
facher wir genöthigt sind, ans diese Gesetze zu denken, um so
unwahrscheinlicher wird eine solche Annahme, am so entbehrlicher
and werthloser für die Erklärung der Welt wird sie aber zugleich.
Das volle Verständniss der mechanischen Notwendigkeit solcher
Gesetze kann oft lange aasbleiben, bis plötzlich ein klarer Kopf das
Ei des Colambus auf die Spitze stellt, wie es Kant mit dem alten
Probleme des Parallelogramms der Kräfte gelang (vgl. Ph. d. Unb.
S. 468). *) So bleibt man zuletzt nur bei dem Problem der Existenz,
lind zwar einer in bestimmter Essenz gegebenen Existenz, als dem
ewig uplösbaren stehen, für das die teleologische Metaphysik eben-
sowenig ein Recept haben kann als irgend eine andere (S. 796 bis
797},**) Solchen Ausgangspunkt aber einmal zugegeben, haben
wir schon nach dem jetzigen Stande der Physik keinen Grund mehr
zu der Annahme, dass die Elementarfunctionen der Atome aus-
schliesslich oder theilweise durch teleologische Rücksichten auf den
Weltprocess und sein etwaiges Ziel bestimmt worden seien. Jeder
Fortschritt in der mathematischen Physik wird solchen Glauben un-
wahrscheinlicher machen. m )
Wir haben so eben eingeräumt, dass auch die Mathematik nur
angewandte Logik sei, also die complicirten Naturgesetze und alle
natürliche Causalität in diesem Sinne allerdings mit dem, was
wir unter logischer Notwendigkeit verstehen, identisch seien*, wir
haben nur bestritten, dass diese logische Notwendigkeit die teleo-
logische Vorsehung oder Finalität in sich schliesse. 221 ) Die Finalität
ist, wie die Pb. d. ünb. (S. 782—783)***) zugesteht, ebenfalls an-
gewandte Logik, aber in noch anderem Sinne als die Mathematik,
welche eben nur die Existenz von Grössen voraussetzt. m ) Die
Finalität setzt ein Antilogisches voraus, welches nicht zu negiren
widersinnig, d. h. der Natur des Logischen widersprechend wäre,
sie setzt aber auch ausserdem voraus, dass die Existenz dieses Anti-
logischen als Antilogischen dem Logischen (oder der gemeinsamen
Substanz beider) empfindlich werde, und deshalb braucht die
Ph. d. Unb. die vorweltliche und ausserweltliche Unlustempfindung
*) 7. Aufl. II. 101-102.
**) 7. Aufl. II. 458—460.
***) 7. Aufl. IL 440-441.
238 Text der ersten Auflage.
des unerfüllten oder leeren Wollene (S. 785— -786),*) mit welcher
kühnen 888 ) Hypothese die Möglichkeit ihrer ganzen teleologischen
Metaphysik steht und fällt. — Diese Hypothese ist jedoch deshalb
nicht haltbar, weil sie die Unendlichkeit des leeren Wollens
gegenüber dem endlichen erfüllten Wollen znr Voraussetzung hat " 4 )
Nun ist aber ein unendliches Wollen ebenso unmöglich, wie jede
andere existirende Unendlichkeit; m ) die Potentialität kann hier
nicht zur Entschuldigung dienen, weil 1 * 6 ) der Wille sein Wollen-
können durch zeitliches Wollen nicht erschöpft, also ein endlicher
Wille für unendlich lange Dauer des Wollens ausreichen würde. '")
Der Wille ist nur 888 ) deshalb unersättlich, weil jede Befriedigung sein
Wollenkönnen nicht vernichtet und er nach derselben deshalb immer
weiter will, aber seine Unersättlichkeit beweist gar nichts gegen
die Endlichkeit seiner Intensität. Eine potentielle Unendlichkeit des
Willens bedeutet nur dann überhaupt etwas, wenn sie das Vermögen
bedeutet, in demselben Moment ein unendliches actuelles Wollen
entfalten zu können; 889 ) dann bedeutet sie aber etwas Falsches,
weil Widersinniges. Der Wille kann also ebensowenig unendlich
heissen als das Wollen und am wenigsten das als der Moment der
Initiative erklärte (S. 773—774)*») leere Wollen, welches weder
endlich noch unendlich, weil einer Quantitätsbestimmung überhaupt
so wenig wie der mathematische Punkt fähig sein kann. 88 °) Ist
nun der Wille keinenfalls unendlich, sondern endlich, so muss sich
die intensive Grösse der Welt, d. h. die Summe der in derselben
zur Erscheinung gelangenden Kraft, nach ihm richten; es wird also
kein Ueberschuss eines leeren über das erfüllte Wollen bleiben, also
eine ausserweltliche Unseligkeit unmöglich sein. 8S1 ) Damit fällt die
Grundlage der beständig sich erneuernden Finalität. Es bliebe
höchstens noch die Möglichkeit einer v o r weltlichen Unseligkeit des
leeren Wollens im Moment der Weltinitiative, durch welche die
Atomgesetze einmal teleologisch bestimmt wären. So schwer auch
der Grund einzusehen wäre, weshalb das der teleologischen Grund-
lage beraubte metaphysiche Unbewusste den früher von ihm be-
stimmten Naturgesetzen, für die es doch kein Gedächtnis? hat, auch
fernerhin folgen solle, so ergeben sich doch noch grössere Schwierig-
*) 7. Aufl. II. 184—186.
**) 7. Aufl. IL 431-438.
XIL Das Unbewusste. 239
keiten von anderen Seiten her, welche den ganzen Einfluss teleo-
logischer Erwägungen auf die Installirung des Processes zu einer
höchst unwahrscheinlichen Hypothese machen. — Finalität braucht
nämlich einen letzten Endzweck, ein Ziel, zu welchem der ganze
übrige Process als Mittel gesetzt wird. So sehr wir mit den in-
ductiven und deductiven Erwägungen der Ph. d. Unb. (Cap. G. XII
u. XHI;») vgl. „Ges. phiL Abhandle S. 50-55)**) über die Un-
möglichkeit eines positiven Endziels des Weltprocesses überein-
stimmen, so wenig können wir ihren Glauben an die Möglichkeit
eines negativen Weltziels beipflichten (vgl. oben Abschn. III), um
so mehr als sie die Wahrscheinlichkeit ihrer Annahme irgend
welcher Pointe im Weltlauf, oder irgend welchen Endzwecks (für
den dann natürlich nach Elimination aller positiven nur ein nega-
tiver übrig bliebe) erst aus der Hypothese einer all weisen Vorsehung
herleitet, sss ) die selbst nur wieder, wie wir gleich sehen werden,
auf das bereits beseitigte System der beständigen teleologischen
Eingriffe sich stützt Wir können nicht umhin, den Glauben an die
Möglichkeit einer endlichen Universalwillensverneinung ebenso für
eine Dlusion zu erklären, wie die PhiL d. Unb. den Glauben Schopen-
hauer'» an die Möglichkeit einer Individualwillensverneinung für
eine Illusion erklärt. Beides sind am Ende nur Gemttthspostulate,
um aus der Aussichtslosigkeit des Pessimismus einen erlösenden
Ausweg zn finden, also Illusionen von derselben Classe, wie die
Instincte der charakterologischen Hoffnung, der Liebe, der Ehre
u. s. w., welche durch natürliche Auslese im Kampf um's Dasein
sich entwickelt haben, indem nur diejenigen Menschen übrig blieben
und sich fortpflanzten, welche das Leben erträglich fanden und
sich leidlich mit demselben abzufinden wussten. Der geringe An-
klang, welchen gerade dieser Gedanke einer schliesslichen Universal-
Willensverneinung gefunden hat, scheint darauf hinzudeuten, dass es
nicht nöthig sein dürfte, den drei von der Ph. d. U. aufgestellten
Stadien der Illusionen ein viertes in diesem Sinne hinzuzufügen. m )
Aber nehmen wir selbst einen Augenblick an, die Universal-
Willensverneinung sei als Endziel des Processes zu fassen und als
solches erreichbar, so liegt einem allweisen Unbewussten offen-
*) 7. Aufl. Cap. C. XIII u. XIV.
*) Ges. Stud. u. Aufs. 629-634.
240 Text der ersten Anfluge.
bar die Auifeabe ob, dieses Ziel so bald als möglich und so schnell
als möglich zu erreichen, um die Qual des Processes nach Möglich-
keit abzukürzen.
Das allmächtige Unbewusste, sollte man nun meinen,
könnte sich durch nichts gehindert sehen, im Moment der Erhebung
des Weltwillens zum Frocess sofort denjenigen Znstand zu reali-
siren, in welchem sich die Welt im Moment der UniversalwtUens-
verneinung am Ende des Processes dereinst befinden soll; denn es
steht ja der Idee frei, welchen Inhalt sie dem Willen giebt, und
dieser realisirt ihn unbesehens. ,M ) Es ist bei einem allweisen nnd
allmächtigen Unbewnssten die Notwendigkeit einer dem Endznstande
der Welt vorausgehenden Entwicklung schlechterdings nicht einzu-
sehen. Aber selbst auch eine solche Notwendigkeit zugegeben, so
soll doch das Maass der Entwickelungsgeschwindigkeit rein von der
Idee abhängen, und nichts vermöchte bei der Relativität des Zeit-
maasses sie zu hindern, den ganzen Entwickelungs-Process mit un-
endlicher Geschwindigkeit absehnurren zu lassen, d. h. ihn in eine
unendlich kleine Zeit zusammenzudrängen, was praktisch dasselbe
Resultat wie die unmittelbare Herstellung des Endzustandes der
Welt ergeben würde. Da diese Gonsequenzen sämmtlich der Er-
fahrung widersprechen, * 35 ) müssen die Voraussetzungen falsch sein,
d. h. es kann gar kein Endziel des Weltprocesses geben, nach
welchem dieser von einer Vorsehung hingcleitet würde. (Vgl. auch
oben S. 89 — 91). Kann es aber kein Endziel geben, so ist eine
teleologische Prädestination des Weltprocesses durch eine diesem
Endzweck angepasste Einrichtung der elementaren Naturgesetze
unmöglich. Dann kann die Causalität wohl noch als identisch mit
logischer Nothwendigkeit, aber nicht mehr als identisch mit teleo-
logischer Nothwendigkeit oder Finalität behauptet werden.
Aber auch diese Identität von Causalität und logischer Noth-
wendigkeit muss uns in einem andern Lichte als der Ph. d. Unb.
erscheinen, weil das Apriorische und damit auch das Logische uns
ein psychophysisch oder physiologisch Gegebenes, der Ph. d. Unb.
hingegen ein metaphysisch-spiritualistisch Gesetztes ist. Im letzteren
Falle kann über die Identität der logischen Nothwendigkeit im
Process des dinglichen Geschehens und im Process des bewussten
Denkens kaum ein Zweifel bestehen; im ersteren Falle aber, wo
die Prädispositionen der Vorstellungsverknüpfung sich durch ver-
XII. Das Unbewusste. 241
vererbte Anpassung an die Verknttpfungsweisen oder Zusammenhänge
des realen Geschehens herausgebildet haben (vgl. oben S. 151 — 153),
drängt sich unabweisbar die weitere Frage auf, ob denn nicht am
Ende der Charakter des Logischen, d. h. des für alle Fälle des
Denkens Zwingenden, erst gerade ein subjectiv zu Stande ge-
kommenes Moment sei, das denjenigen tatsächlichen Zusammen-
hängen, durch Anpassung an welche die subjectiv logischen Ver-
knttpfungsformen sich entwickelt haben, durchaus nicht in derselben
Weise zukommt. 286 ) Diese wichtige Frage (vgl. Ph. d. U. S. 791
und 108)*) können wir hier nicht weiter verfolgen.
Nachdem wir die Analyse des Unbewussten in 1) das relativ
(für das Gesammthirnbewusstsein) Unbewusste, 2) das physiologische
Unbewusste und 3) das metaphysische Unbewusste durchgeführt
haben, 237 ) dürfte es angemessen sein, noch einmal recapitulirend
uns vorzuführen, welche unter den von der Ph. d. U. dem Un-
bewussten schlechthin zugeschriebenen Eigenschaften auf die ver-
schiedenen Elemente dieses Begriffs anwendbar bleiben. Wir schlagen
hierzu Cap. C, I auf. Dort ist gesagt:
1) „Das Unbewusste erkrankt nicht." 888 ) Dieser Satz
*
ist ebensowenig wie die folgenden auf das relativ Unbewusste be-
zogen zu nehmen, sondern von vornherein auf das absolut Unbewusste
beschränkt zu denken. Auf unsern Begriff des metaphysischen
Unbewussten finden natürlich die Begriffe der Krankheit und Ge-
sundheit gar keine Anwendung; das physiologische Unbewusste
kann sehr wohl erkranken, — nur nicht spontan, sondern in Folge
irgend welcher functionellen Störung. Das physiologische Unbewusste
ist es ja gerade, welches die Erblichkeit der Geisteskrankheiten zu
Stande bringt.
2) „Das Unbewusste ermüdet nicht." Für das meta-
physische Unbewusste behält der Satz volle Geltung, denn die Atome
der Himmelskörper gravitiren nun schon recht lange auf einander
zu, ohne irgend welchen Nachlass in ihrer Kraftentfaltung zu zeigen.
Für das physiologische Unbewusste hingegen ist der Satz unrichtig ;
gerade hier ist die Ermüdung ganz frappant wahrnehmbar, und die
Erscheinungen, welche dagegen zu sprechen scheinen, beruhen stets
auf einer Ablösung der functionirenden Theile, die ein Ausruhen
*) 7. Aufl. IL 451 u. I. 105.
E. v. Hartman n, Das Unbewusste. 2 Aufl. 16
242 Text der ersten Auflage.
und einen Kraftersatz ohne Unterbrechung der Function gestattet
(z. B. gegenseitige Ablösung der den Herzschlag oder die Athmung
bewirkenden Ganglien und Bückenmarkspartien.) Dass beim be-
wussten Wahrnehmen und Denken eine Ablössung in dem erforder-
lichen Maasse nicht zu Stande kommen kann, muss darauf beruhen,
dass der Innervationsstrom der Aufmerksamkeit eine so bedeutende
Menge von Kraftvorrath des Gehirns consumirt, dass die gesammte
Oeconomie der Gehirnernährung für den Ersatz desselben bei
dauernder Anspannung der Aufmerksamkeit nicht ausreichen würde.
Auf diesen starken Kraftverbrauch deutet auch die active Spontaneität
der Aufmerksamkeit im Gegensatz zu dem passiven Charakter der
Gefühle oder dem gleichsam latenten der Leidenschaften, welche
nur in den kürzeren Ausbrüchen der Affecte ein grösseres Quantum
von Kraft consumiren.
3) „Alle bewusste Vorstellung hat die Form der Sinnlich-
keit, das unbewusste Denken kann nur von unsinnlicher
Art sein." — Die Form der Sinnlichkeit ist selbst nur ein Summa-
tionsphänomen aus Atomempfindungen, es würde also der all-
gemeinere Ausdruck lauten: Form der Empfindung. Letzterer
umfasst dann auch das Bewusstsein niederer Nervenoentra und unter-
geordneter Sphären im Grosshirn in Betreff ihrer unterhalb der
Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegenden Functionen mit in
sich, d. h. aber das relativ Unbewusste hat ebenfalls die Form
der Empfindung.
Das physiologische Unbewusste als latente Disposition ist
eine ruhende Beschaffenheit, die nicht unbewusstes Denken
heissen kann; insofern es aber functionirt, erzeugt es eben allemal
Bewusstseinsfunctionen. Selbst dann, wenn diese Functionen unter-
halb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegen, müssen wir
doch annehmen, dass sie in einzelnen Hirnpartien, Hirnzellen, Mole-
culen oder auch nur Atomen irgend welches Bewusstsein erzeugen,
welches alsdann immer die Form der Empfindung haben muss.
Insoweit also das physiologische Unbewusste functionirt, schlägt es
sofort in das Gebiet des relativ Unbewussten oder Bewussten über, 239 )
und kann dann sein Denken nicht unsinnlicher Art sein; insoweit
es nicht functionirt, kann von einem Denken bei ihm nicht die
Rede sein. Somit bleibt die Verneinung des Charakters der Sinn-
lichkeit oder Empfindung nur gültig für die anticipirenden Functionen
Xil. Das ünbewusste. 243
des metaphysischen Unbewussten, die aber wieder nur sehr
cum grano salis als Vorstellen oder Denken bezeichnet werden
können.
4) „Das Unbewnsste schwankt und zweifelt nicht,
es braucht keine Zeit zur Ueberlegung, sondern erfasst momen-
tan das Resultat." „Das Denken des Unbewussten ist zeitlos"
(S. 376). *) Was die Rapidität der mechanischen Reactionen des
physiologischen Unbewussten betrifft, so haben wir schon oben
(S. 192) gesehen, dass dieselben nur wegen des Fehlens aller
Zwischenglieder eine relativ kurze Zeit erfordern, aber keinenfalls
in Null-Zeit verlaufen können. Letzteres müssen wir sogar von
den Functionen des metaphysischen Unbewussten bestreiten, denn
Function ohne Zeit ist ebenso wenig denkbar, wie etwa Gausalität
ohne Zeit ; 240 ) während die Ph. d. U. den letzteren Widerspruch
der Eant'schen Philosophie beseitigt, lässt sie sich von dem ersteren
kritiklos gefangen nehmen (S. 376).*) Wenn die ünbewusste Idee
dasjenige sein soll, was die Zeit, oder wenigstens die bestimmte
Zeit (S. 777, Z. 25—27)**) setzt, indem sie das „Was" der Welt
in jedem Augenblick bestimmt, wenn aber dieses „Was" ein sich
8t et ig veränderndes ist, so muss jedenfalls auch die ünbewusste
Idee eine sich stetig verändernde sein; sie kann dann nicht bloss
intermittirend einsetzen, sondern muss dauernd actuell sein,
d. h. sie muss zeitlich, nicht zeitlos sein, um als Erklärungs-
prineip irgendwie brauchbar zu sein 241 ) (vgl. S. 384, Z. 3—4 von
unten).***)
5) „Das Ünbewusste irrt nicht." Wir haben in Bezug
auf das physiologische Ünbewusste die Unanwendbarkeit der Kate-
gorien der Wahrheit und des Irrthums ebenfalls schon oben (S. 191 fg.)
besprochen; es ist klar, dass dieselben auf das metaphysische Ün-
bewusste nach Streichung des Hellsehens und der teleologischen
Eingriffe noch weniger passen. 242 )
6) „Dem Unbewussten können wir kein Gedächtniss zu-
schreiben." Dies ist für das metaphysische Ünbewusste unbedingt
richtig, wenn auch nicht aus den S. 379 — 380 f) angegebenen
*) 7. Aufl. T. 6.
**> 7. Aufl. II. 435 Z. 1—2 v. unten u. 436 Z. 1 oben.
***) 7. Aufl. IL 14, Z. 11—13 v. unten,
t) 7. Aufl. II. 9.
16*
244 Text der ersten Auflage.
teleologischen Gründen ; dem physiologischen Unbewussten hingegen
können wir nur deshalb kein Oedächtniss zuschreiben, weil es selber
auch das Gedächtniss ist (S. 379, Z. 19—14 von unten).*)
7) „Im Unbewussten ist Wille und Vorstellung in untrennbarer
Einheit verbunden." In Bezug auf das metaphysische Unbewusste
bleibt dieser Satz bestehen, insoweit man eben die Ausdrücke Wille
und Vorstellung daselbst gelten lässt. Für das physiologische Un-
bewusste hat der Satz deshalb keine Geltung, weil in der ruhen-
den Hirnprädisposition von Wille und Vorstellung überhaupt keine
Bede sein kann, während das Functioniren der Prädisposition 243 )
sofort Bewusstsein (sei es gesammthirnbewusstes oder relativ un-
bewusstes) hervorruft, also in die Emancipation der Vorstellung vom
Willen vermittelst der bewussten Empfindung umschlägt (vgl. oben
S. 242, auch 89 fg.)
Wir fügen mit fortlaufender Nummer einige weitere Eigenschaf-
ten des Unbewussten aus späteren Gapiteln hier an, bei welchen es
sich ausschliesslich um das Unbewusste als Princip des Monismus,
d. h. also um das metaphysische Unbewusste handelt:
8) „Das Unbewusste packt das Leben, wo es dasselbe nur
packen kann" (S. 550). **) Wo immer in einer gewissen Combina-
tion organischer Stoffe die Möglichkeit des Lebens gegeben ist,
ergreift das Unbewusste als psychisches Princip die Gelegenheit,
um den Körper zu beleben und zu beseelen (S. 555);***) ob es
auch millionenmal bei dieser Gier der Belebung verunglücken mag,
es lässt sich dadurch nicht stören (S. 559). f ) Es geht bei dieser
Belebungsgier so blind darauf los, dass es keineswegs bloss solche
Gelegenheiten benutzt, welche in dem directen Stammbaume des
Menschen (als dem den Endzweck des Processes erfüllen sollenden
Organismus) gelegen sind, sondern es nimmt auch alle seitwärts
vom Wege liegenden Gelegenheiten, sich auszuleben, eifrig mit, and
verrennt sich dabei häufig in Sackgassen der Entwickelnng
(S. 569), ff) die dem angeblichen Endzweck des Processes in keiner
Weise dienen. m ) Nur ein kleiner Theil des Thierreichs liegt im
*) 7. Aufl. II. 9, Z. 13—17 v. unten.
**) 7. Aufl. II. 208.
***) 7. Aufl. II. 213.
t) 7. Aufl. II. 217.
tt) 7. Aufl. II. 226.
XII. Das tlnböwusBte. 245
directen Stammbaum des Menschen und nur ein kleiner Theil der
draussen liegenden Arten des Thierreichs wäre nöthig für die
Oeconomie der Natur in Bezug auf die Aufgaben der Menschheit ;
ebenso wäre ein viel Weniger reichhaltiges Pflanzenreich ausreichend,
um die Aufgaben <J es Pflanzenreichs im Naturhaushalt in Bezug auf
den Endzweck des Processes zu erfüllen ; alles übrige sieht aus wie
ein lusus ingenii, wie ein metaphysischer Uebermuth des Unbewuss-
ten über seine teleologischen Aufgaben hinaus. * 45 ) Da alles „Was"
der Welt aber rein teleologisch durch die Idee bestimmt
sein soll, so wäre ein solcher blinder Ueberdrang, das Leben all-
überall und in allen nur möglichen Gestalten zu haschen und zu
packen, selbst dann unerklärlich, wenn, wie die Ph. d. U. unrichtig
annimmt, das Wollen im unendlichen Ueberschuss gegen die Idee
vorhanden wäre. Obige Eigenschaft des Unbewussten ist eben aus
der*thatsächlichen Welt empirisch aufgenommen, ohne sich mit den
Principien der Ph. d. U. vereinigen zu lassen. 24 *) Aus der Des-
cendenztheorie, welche die gesammte Organisation als Resultat eines
grossen mechanischen Compensationsprocesses im Kampf um's Da-
sein betrachtet, ergiebt sie sich hingegen ganz ungezwungen, denn
hier gelangt eben ohne alle Rücksichten auf teleologische Leitung
des ProcesseB alles zur Existenz, für dessen Existenz die Bedingungen
vorhanden sind.
9) Das Unbewusste sucht seine Leistungen mit einem Mini-
mum von Kraftaufwand zu vollbringen (S. 560, 568).*) Dieser
ebenso empirisch wie der vorige der Natur der Thatsachen ent-
nommene Satz passt ebenso wenig wie jener zu den Principien der
Ph. d. U. War dort der extensive Ueberschuss des Kraftaufwandes
über das Maass des teleologisch Notwendigen hinaus unverständ-
lich, so muss hier die Knauserei mit der Intensität der aufzuwen-
denden Kraft anstössig erscheinen. Beim schwachen Menschen,
dessen Kräfte unverhältnissmässig gering sind zu den Aufgaben,
die er sich selber stellt und der ausserdem bequem und träge ist,
weil ihm die Anstrengung Unlust bereitet, da ist es sehr begreiflich,
dass er Erleichterung der Arbeit sucht, und dass die Herstellung
kraftersparender Maschinen und Leistungen selbstthätig verrichtender
Mechanismen als zweckmässig (nämlich als den Zwecken und
*) 7. Aufl. H. 218, 225.
246 Text der ersten Auflage.
Verhältnissen des Menschen gemäss) gerühmt wird (S. 154, 620
unten);*) ein metaphysisches Unbewnsstes hingegen kann gar keinen
Grand haben, sich seine Aufgaben zu erleichtern 147 ) oder durch
Conßtmction selbstthätiger Mechanismen theilweise von sich abzu-
wälzen, denn der grössere Kraftaufwand kann ihm ja keinen Ver-
lust bereiten, also auch die Ersparniss an Kraft keinen Gewinn
bringen, da .vielmehr im Gegentheil im Fall eines bestehenden Ueber-
schusses an leerem Wollen die ausserweltliche Unseligkeit desselben
durch Verminderung der im Process zur Betbätigung gelangenden
Kraft vermehrt werden müsste. * 48 ) Selbst dann, wenn man von
einem unendlichen Willen absieht, muss doch das Eine Unbewusste
immer in dem Sinne allmächtig bleiben, wie das Absolute in
jedem Monismus so heissen muss, nämlich als Besitzer aller Macht
oder Kraft, die überhaupt in der Welt existirt. Da nun die Grösse
der Welt von ihm abhängt und eine allzu grosse extensive Aus-
breitung gewiss zwecklos im Sinne einer teleologischen Metaphysik
ist, so braucht er nur der Welt eine passende Grösse zu geben,
um innerhalb derselben auf alle „Erleichterungen" vermittelst Hülfs-
mechanismen verzichten zu können. Am Ende ist aber der ganze
Process der kosmischen Entwickelung nur als ein solcher Hülfs-
mechanismus zur mittelbaren bequemeren Herbeiführung des End-
zustandes der Welt zu betrachten, von welchen nicht einzusehen
ist, weshalb das allmächtige Unbewusste mit ihm die Zeit vertrödelt,
anstatt den Endzustand der Welt (vor der universalen Willens-
verneinung) unmittelbar herbeizuführen. 8i9 ) — Ganz anders, wenn
wir von der teleologischen Metaphysik absehen. Dann stellt sich
in der Mechanik das Princip des minimalen Kraftaufwandes als
ein mathematisch beweisbarer Satz dar 260 ) und ergiebt sich, dass
im Reiche des Organischen nothwendig diejenigen Individuen einen
Vorsprung in der Concurrenz um's Dasein gewinnen müssen, welche
mit den besten Mechanismen zur Ersparniss an ihren höchst be-
schränkten individuellen Kräften ausgerüstet sind, dass also
solche kraftersparende Mechanismen und Erleichterungen durch
natürliche Zuchtwahl ganz von selbst sich in den Organismen
herausbilden müssen. m )
10) Das Unbewusste ist allmächtig (S. 776, vergl. auch
*) 7. Aufl. L 149, II. 276.
XII. Das Unbewusßte. 247
163)*) und a 1 1 ge g e n w ä r t i g (S. 620). **) Dass wir die Allmacht
nicht als Unendlichkeit der Kraft oder des Willens, sondern nur als
Ineinsfassung aller überhaupt existirenden Macht gelten lassen
können, ist schon erwähnt. Ebenso aber können wir die Allgegen-
wart nicht als „ein unaufhörliches (teleologisches) Eingreifen in
jedem Moment und an jeder Stelle" fc (S. 620)**) gelten lassen, son-
dern nur als das in allen Atomen zugleich Wirken der Einen
identischen unräumlichen Substanz der Welt (S. 491).***) Beides
ist unmittelbar mit dem monistischen Princip verknüpft und giebt
in unserer Fassung nicht den geringsten Anspruch auf eine Apotheose
des Unbewussten.
11) Das Unbewusste ist allwissend (S. 620).**) Die
Allwissenheit wird identificirt mit „absolutem Hellsehen" (S. 620),**)
oder mit der reinen Materie der Vorstellung oder des Wissens in
überbewusster Form (S. 537 -538). f) Das Hellsehen wird ein ab-
solutes genannt, weil ihm „alle nur irgend zur Sprache kom-
menden Data immer und momentan zu Gebote stehen" (S. 618, vgl.
auch S. 380). ff) Diese Behauptung ist aber durch nichts zu er-
weisen versucht, 268 ) auch dann nicht, wenn wir die Existenz eines
Hellsehens, ja sogar eines irrthümsunfähigen Hellsehens zugeben
wollten; es sind vielmehr negative Instanzen gegen obige Behaup-
tung in der Ph. d. Unb. zugestanden, nämlich die Möglichkeit des
gänzlichen Ausbleibens der hellsehenden Eingebung des Unbe-
wussten zum Verderben des auf sie angewiesenen Individuums 258 )
(S. 377). ftf ) Selbst ohne solche negative Instanzen könnte doch eine
noch so grosse Summe von positiven Instanzen für die Existenz
eines Hellsehens nimmermehr zum Beweise etwas helfen, dass zu
jeder Zeit und an jeder Stelle alle irgend erforderlichen Data 254 )
dem Unbewussten intuitiv gegenwärtig sein müssen. Es bleibt ein
unendlicher Sprung über eine unausf tillbare Kluft hinüber, w&m
man vom Hellsehen zum absoluten Hellsehen, von einem ge-
wissen Wissen zur Allwissenheit übergeht. 255 ) Wäre auch alles
*) 7. Aufl. II. 434, Z. 9-5 v. u.$ L 157 Schluss.
*») 7. Aufl. H. 276.
***) 7. Aufl. H. 123.
t) 7. Aufl. IL 176—177.
tt) 7. Aufl. II. 271, vgl. auch II. 10.
ttt) 7. Aufl. IL 7-8.
248 Text der ersten Auflage.
unantastbar, was die Ph. d. U. über das Hellsehen vorbringt, so
wäre es doch ein unendlich dürftiges Material för das kühne Ge-
bäude von Schlüssen, welches es tragen soll. Dieser Gedanken-
sprung wäre sogar psychologisch unerklärlich, wenn nicht die Ver-
muthung nahe läge, dass hier wieder einmal der Einfluss theolo-
gischer Jugendreminiscenzen sein Spiel mit dem Philosophen ge-
trieben hat, jener unselige Einfluss, der schon so viel der besten
Köpfe corrumpirt, so viel Schweiss der Edlen vergeudet hat —
Nun ist aber ausserdem selbst das ungenügende Material, welches
zur Stütze dienen soll, unhaltbar; denn die ganze Lehre vom unbe-
wussten Hellsehen ist nur aus einer falschen Erklärung des Instincts
hervorgegangen, und ebenso die Behauptung von der Unfehlbarkeit
der durch dieses Hellsehen bestimmten Eingriffe des Unbewussten,
wie wir beides oben ausführlich erörtert haben. * 66 ) Hiernach ist
die Behauptung der Allwissenheit des Unbewussten als eine
nach jeder Beziehung grundlose und unhaltbare zu streichen.
12) Das Unbewusste ist allweise (S. 620).*) Die All-
weisheit besteht aus zwei Elementen: erstens der Allwissenheit und
zweitens der absoluten Zweckmässigkeit der allzeitlich -allgegen-
wärtigen teleologischen Eingriffe (S. 620) ; *) die Allwissenheit liefert
die erförderlichen Data, auf welche die teleologische Thätigkeit sich
richtet, und die absolute Vollkommenheit der letzteren macht, dass
jedestnal die dem gesammten Zweckgertist der Welt möglichst ange-
messene Vorstellung im möglichst angemessenen Moment ah mög-
lichst angemessener Stelle als teleologischer Eingriff in den natar-
gesetzlichen Gang des Processes zu Tage tritt (S. 618).**) Wir
haben über die teleologischen Eingriffe dasselbe zu bemerken, wie so
eben über das Hellsehen; selbst wenn sie constatirt wären, würde
doch der Uebergang von einer solchen Thatsache zu der Behauptung
einer absolut vollkommenen Z weckthätigkeit des Unbewussten
in dem angegebenen Sinne ein unmotivirter Sprung bleiben. Hell-
sehen und teleologische Eingriffe zusammen würden nur die Annahme
eines gewissen Maasses von Weisheit des Unbewussten be-
gründen und rechtfertigen können, niemals die Annahme einer
*) 7. Aufl. II. 276.
**) 7. Aufl. IL 271.
XII Das ünbewusste. 249
absoluten 257 ) Weisheit oder All Weisheit*) N&chddm wir
aber Hellsehen und teleologische Eingriffe überhaupt als unhaltbare
Hypothesen erkannt haben, müssen wir auch nicht bloss die All-
weisheit, sondern schon die Weisheit des Unbewußten als eine
unhaltbare Behauptung bezeichnen. 858 ) Wie nur eine theologische
Reminiscenz die philosophischen Denkresultate in solchem Maasse
fälschen konnte, so muss auch nach dieser kritischen Purification
die Aehnlichkeit des theologisch corrumpirten Unbewussten mit dem
Gott der Theologie wieder verschwinden. Die Ph. d. U. ist insoweit
dem monistischen Princip treu geblieben, um dem Prädicat der
Güte oder Allgüte, welches nur einem rein ausserweltlichen Gott
zukommen kann, keine Concessionen zu machen, womit denn freilich
auch der Gott des Gebets, der den menschlichen Leiden ein gleich-
fühlendes Herz und Trost entgegenbringt und mit dem man sich
auf Du und Du stellen kann, ausgeschlossen bleiben musste (S.540).**)
War aber somit das Ünbewusste kein Gott für's menschliche Ge-
müth, so konnte es doch wenigstens noch einen Gott für den
menschlichen Verstand vorstellen, eben wegen des ihm vindicirten
Prädicats der Allweisheit; nimmt man ihm auch dieses, so bleibt
nur die monistische Substanz mit Attributen übrig, welche zwar
noch den metaphysischen Urgrund der Geistigkeit und Materialität
als coordinirter Existenzsphären in sich enthalten, aber nichts von
alledem mehr besitzen, was dem Alles seienden Einen den Charakter
der Göttlichkeit oder Gottheit verleihen könnte. Es ist dies noch
besser verständlich, wenn wir einen Blick auf die drei Hauptbeweise
vom Dasein Gottes werfen : der ontologische führt höchstens bis zum
abstracten Begriff der unbestimmten Substanz, der kosmologische
höchstens zum Begriff der substantiellen Weltursache oder wirkenden
Weltsubstanz, und erst der physikotheologische oder teleologische
Beweis verleiht dieser substantiellen Ursache jenen Charakter der
Weisheit, ohne den der Mensch sich die Gottheit, das verabsolutirte
Menschenideal, nicht zu denken vermag. Dieser letzte Beweis steht
und fällt nun aber mit der teleologischen Metaphysik, und deshalb
steht und fällt mit der letzteren auch der letzte Anker des Gottes-
glaubens. 2 * 9 )
*) Vgl. Hume „Untersuch, über den menschlichen Verstand". Deutsch ton
J. H. y. Kirchmann (Berlin, L. Heimann 1869), Abschn. B. XL S. 120—130.
**) 7. Aufl. II. 191.
250 Text der ersten Auflage.
Die Ph. d. U. als der letzte überhaupt mögliche Versuch zur
Rettung der teleologischen Metaphysik ist zugleich der letzte Ver-
such zur Bettung des Gottesglaubens, wenn schon in wissenschaftlich
modificirter Gestalt. Die Theologie hat davon natürlich nichts ge-
merkt, aber sie wird vielleicht nach Jahrhunderten die Ph. d. U.
als letzte Stütze ihrer Dogmen citiren, wenn der Schatten des Autors
längst diese Citate desavouiren würde. Ein Dichter der Zukunft
wird dann vielleicht eine Elegie über die entgottete Welt singen,
wie Schiller sie über Hellas 7 entgötterte Welt sang, ohne doch
mit dieser poetischen Klage über entschwundene Schönheiten einer
kindlichen Glaubenswelt die Restitution des auf ewig Verlorenen
fllr möglich zu halten oder auch nur zu wünschen. Denn die
Wissenschaft wird unaufhaltsam fortschreiten und der Menschheit
inzwischen mit einem tieferen Verständniss der Natur und ihrer
selbst ein werthvolleres Geschenk gemacht haben, als die Träume
waren, aus denen sie dieselbe mit rauher Hand erweckt hat. 860 )
Anmerkungen zur zweiten Auflage.
Allgemeine Vorbemerkungen.
Die Alten theilten die Philosophie in Dialectik, Physik und
Ethik ; bei Hegel kehrt diese Eintheilung als Logik, Naturphilosophie
und Geistesphilosophie wieder, und wird in dieser Gestalt festzuhal-
ten sein, wenn man Logik durch Erkenntnisstheorie und Methodologie
ersetzt. Ein principieller philosophischer Standpunkt kann nur dann
als systematisch begründet gelten, wenn er in allen drei Sphären
sich bewährt ; jede einseitige Entwicklung aus einem dieser Gebiete
kann wohl schätzbares Material zu philosophischen Principienfragen
liefern, aber niemals für dieselben entscheidend sein. In der Fichte-
Schelling - Hegel'schen Philosophie dominirt die Philosophie des
Geistes, während Erkenntnisstheorie und Naturphilosophie entweder
ganz bei Seite geschoben oder doch in unzulänglicher Weise be-
handelt werden. Im Neukantianismus bildet die Erkenntnisstheorie
den fast ausschliesslichen Gegenstand der Bearbeitung. In den
philosophischen Anläufen der modernen Naturwissenschaft handelt
es sich lediglich um Naturphilosophie, während über die Erkenntniss-
theorie völlige Verwirrung herrscht, und die Geistesphilosophie als
ausserhalb der Wissenschaft stehend betrachtet wird. Bei Schopen-
hauer ist äusserlich ein gewisses Gleichgewicht der drei Gebiete
hergestellt, aber so, dass seine falsche Erkenntnisstheorie im Wider-
spruch steht mit seiner Naturphilosophie und die Geistesphilosophie
gegen beide doch noch zu kurz kommt. Ich selbst habe nicht nur
ein äusseres Gleichgewicht, sondern auch eine innere Harmonie der
254 Anmerkungen zur iweiten Auflage.
drei Sphären angestrebt und hoffe dieselbe wenigstens in höherem
Grade als meine Vorgänger erreicht zu haben.
Die Gegenschrift verzichtet auf ein solches Bestreben; während
sie den erkenntnisstheoretischen Boden des transcendentalen Realis-
mus mit der Philosophie des Unbewassten stillschweigend theilt,
setzt sie sich schon dadurch zn ihr in einen scharfen Contrast, dass
sie in einseitig naturphilosophischen Betrachtungen die ausreichende
Grundlage für die Lösung der metaphysischen Principienfragen
sucht. In Wahrheit ist das Verhältniss ein umgekehrtes ; nicht nur
müssen Naturphilosophie und Geistesphilosophie beständig Hand in
Hand gehen, um gegenseitig ihren Gang zu stützen und ihre Schritte
zu leiten, sondern die Geistesphilosophie ist wichtiger, umfassender
als die Naturphilosophie, und steht ebensowohl dem metaphysischen
Kern der Welt wie auch unserm auffassenden Bewusstsein näher
als jene. Wenn mithin von einer Rangordnung beider gesprochen
werden darf, so ist sie das Höhere der Naturphilosophie; sie geht
uns so viel näher an, wie das Hemd uns näher ist als der Rock,
und bildet zugleich einen sichereren Führer zum metaphysischen
Verständniss der Welt, weil der Geist eine weit unmittelbarere
Verknüpfung zwischen unserm Bewusstsein und dem Weltwesen
herstellt als die Natur.*) Eine bloss gegen den naturphilosophischen
Theil eines Systems gerichtete Kritik kann daher von vornherein
nicht ausreichend scheinen, um dessen Principien umzustürzen;
höchstens kann sie dieselben erschüttern, da sie die wichtigsten
ihrer Grundpfeiler unberührt lässt. Diese Bemerkungen werden
naturwissenschaftlichen Lesern vielleicht überraschend sein, und es
dürfte deshalb gerathen scheinen, noch einen Augenblick bei ihrer
Begründung zu verweilen, die für philosophisch Gebildete selbst-
verständlich sein muss.
I. Die Transcendenz der Natur.
Bevor der Geist beginnt, sich auf sich selbst zu besinnen, lebt
er doch schon ein Leben im Geiste. Die Befriedigung der rein
natürlichen Bedürfnisse gilt auch dem unphilosophisch dahinlebenden
*) Vgl. meine Schrift: „Neukantianismus, Schopenhauerianismus u. Hegelia-
nismus" S. 69 und 73.
Allgemeine Vorbemerkungen. 255
Menschen als eine blosse Grundlage, als der Bauhorizont, auf dem
er sein eigentliches Leben erst zu errichten bemüht ist. Letzteres
bewegt sich in den Gemttthsbeziehungen der Familie und dem
Streben nach bestimmender Wirksamkeit im Gemeinwesen. Der
Erwerbstrieb findet seinen Abschluss erst in der Förderung des
Behagens der Familie, der Ehrgeiz erst in der Förderung des Ge-
meinwohls, und die angestrebte Herrschaft über die Natur dient
indirect den Bedürfnissen des Geistes, ohne welche das Ringen des
Menschen nach Macht in jedem Sinne so unmöglich wäre wie bei
den Thieren. So ist es unbewusster Weise schon das Leben im
Geiste, welches dem Menschen seine Stellung in der Natur ge-
schaffen hat.
Erwacht nun aber gar das philosophische Bewusstsein, so bricht
sich mehr und mehr die Einsicht Bahn, dass der Mensch unmittelbar
genommen nur im Geiste lebt, dass sein specifisch menschliches
Leben nur das Leben in seiner Bewusstseinssphäre genannt werden
kann, und dass diese schlechterdings keinen andern als geistigen
Inhalt zulässt Der Mensch kennt unmittelbar nur seinen eignen
idealen Bewusstseinsinhalt, der ein Product seiner eignen unbewuss-
ten Geistesthätigkeit ist; er empfindet nichts als seine Empfindungen,
nimmt nichts wahr als seine Vorstellungen, denkt nichts als seine
Gedanken. Er ist also schlechthin eingeschlossen in die Welt des
Geistes und zwar seines Geistes. Alle fremden Geister kennt er
nur aus den Reflexen, die ihm sein eigner Geist von denselben
widerspiegelt. Wäre er nicht durch die Beschaffenheit seines Be-
wusstseinsinhalts genöthigt, anzunehmen, dass seinen Vorstellungen
von andern Menschen wirkliche transcendente Menschen entsprächen,
so würde er wahrscheinlich niemals einen philosophischen Grund
ausfindig machen, der stark genug wäre, um seine instinctive trans-
cendentale Beziehung von materiellen Vorstellungsobjecten auf ma-
terielle Dinge an sich erkenntnisstheoretisch zu rechtfertigen.
Bekanntlich bestreitet die idealistische Seite der Kantischen
Schule so wie so, dass es solche Gründe zur positiven Annahme
von Dingen an sich gebe oder geben könne, und setzt damit die
ßubjective Erscheinungswelt des menschlichen Bewusstseins zu einem
objectiv unbegründeten, d. h. wahrheitslosen Schein herab. Der
subjective Idealismus kennt mithin die Natur nur als ein vom sub-
jectiven Geiste erzeugtes Phänomen, das für jedeä Bewusstsein ein
266 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
anderes, von dem der Mitmenschen völlig unabhängiges igt. Er
leugnet demnach die reale Existenz Einer Natur, und lässt nur den
Schein so vieler Naturen gelten, als Geister sich solchen vorspiegeln.
Die „Naturgesetze" können auf diesem Standpunkt selbstverständlich
nur als die Gesetze des Geistes verstanden werden, nach welchen
dieser sich seinen subjectiven Schein unbewusster Weise producirt
Die Natur ist hier schlechthin bloss eine Spiegelfechterei des sub-
jectiven Geistes, seine illusorische und vergängliche Schöpfung ohne
alle eigne Realität. Davon, dass eine so verstandene Natur rück-
wärts den Geist sollte real beeinflussen können, kann natürlich keine
Rede sein; jeder solche scheinbare Einfluss kann selbst nur eine
subjective Illusion sein, die mit derjenigen der Natur auf gleicher
Stufe steht. Die Naturphilosophie bildet hier nur einen, nicht ein-
mal auszulösenden Theil der Geistesphilosophie; die Natur wird
erklärt durch Erklärung der sie producirenden Thätigkeit des sub-
jectiven Geistes, kann aber ihrerseits zur Erklärung der Beschaffen-
heit des subjectiven Geistes nicht das Geringste beitragen. Dass
eine selbstständige Naturwissenschaft hierbei unmöglich ist, bedart
keiner weiteren Versicherung, und es ist nur Mangel an philosophi-
schem Verständniss, wenn Naturforscher geglaubt haben, dass ihre
Wissenschaft mit dieser idealistischen Erkenntnisstl^orie (wie sie
in Fichte, Schopenhauer, einem Theil der Hegel'schen Schule, und
dem grösseren Theil des Neukantianismus, namentlich F. A. Lange
vorliegt) irgendwie vereinbar sei.*)
Aber in einem Punkte hat der subjective Idealismus Recht,
nämlich darin, dass wir unmittelbar nur unser eigenes Geistesleben
kennen. Hierin hat die Naturwissenschaft noch von ihm zu lernen,
insoweit in ersterer der naive Realismus noch ein breites Feld be-
hauptet. Der naive Realismus hat aber wieder darin Recht, dass
es in der That eine für alle Beobachter numerisch identische reale
Natur giebt, welche nach selbstständigen, vom subjectiven Geist un-
abhängigen Gesetzen lebt und sich verändert, und den letzteren causal
beeinflusst. Beide Wahrheiten sind vereinigt im transcendentalen
Realismus, der da anerkennt, dass wir in der subjectiven Er-
scheinungswelt nur denReflex der Natur im eigenen Geiste
*) Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus" S. 60
bis 64.
Allgemeine Vorbemerkungen. 257
besitzen, und die Beschaffenheit und die Veränderungen der Einen
realen Natur nur indirect aus der Beschaffenheit und den Ver-
änderungen unsres idealen Bewusstseinsinhalts erschliessen
können. Dieser erkenntnisstheoretische Standpunkt ist nicht nur der
allein haltbare, er ist auch zugleich der einzige fttr die Naturwissen-
schaft brauchbare und bricht sich deshalb auch neuerdings mit Macht
in Naturforscherkreisen Bahn.
Durch den transcendentalen Realismus ist nun aber die ge-
wöhnliche Meinung der Naturforscher, dass ihre Wissenschaft vor
den Geisteswissenschaften den Vorzug der Gewissheit wegen der
Grundlage der unmittelbaren Erfahrung voraus habe, als ein falsches
Vorurtheil des naiven Realismus enthüllt ; denn wir wissen jetzt,
dass die Natur, d. h. die Eine reale Natur, mit welcher allein es
die Naturwissenschaft zu thun hat, unserm Bewusstsein transcendent
ist, also niemals Gegenstand unmittelbarer Erfahrung werden kann.
Jede Aussage der Naturwissenschaft über die Beschaffenheit und
Gesetze der Natur beruht auf Schlussfolgerungen, welche sie aus
geistigen Erfahrungen auf die sie verursachenden äusseren Dinge
an sich zieht. Die gesammten Naturwissenschaften sind so wenig
empirisch im philosophischen Sinne, dass sie sich vielmehr aus-
schliesslich im transcendenten Gebiet bewegen, und die immanenten
Erfahrungen des Geistes nur als Schwungbrett brauchen, um sich
über die Erfahrung, d. h. die subjective Erscheinungswelt hinauszu-
schwingen in die Welt der Dinge an sich, welche der subjective
Idealismus für unerkennbar, streng genommen sogar für nicht
existirend hält. Die Geisteswissenschaften dagegen brauchen die
Sphäre der unmittelbaren Erfahrung nicht erst zu verlassen, um in
das ihnen eigentümliche Gebiet zu gelangen; denn wenn letzteres
auch weiter ist als erstere, so umfassen sie diese doch mit. Die
Empirie ist somit nicht nur in dem Sinne Grundlage der Geistes-
wissenschaften, wie sie es für die Naturwissenschaften ist, sondern
die irrthumsunfähige Gewissheit der unmittelbaren Erfahrung haftet
wirklich in dem Sinne den Elementen der Geisteswissenschaften an,
in welchem die Naturwissenschaften dieselbe bisher irrthümlicher
Weise für sich in Anspruch genommen haben.
E. r. IIa rt mann. Das Unbe wüste« 2, Aufl. JJ
258 Anmerkungen aar zweiten Auflage.
2. Der Getet als Schlüssel zur Natur*
Was ist nun diese so indirect erschlossene Natur ? Ein grosser
Mückenschwarm, hier dichter, dort dünner, hier schneller, dort träger
durch einander schwirrend, and die Mticken darin sind ausdehnungs-
lose Punkte oder Atome. Kann es etwas Trockeneres, Uninteressan-
teres, Einförmigeres, an and für sich Gleichgültigeres geben, als
diesen gespenstischen Schwann tanzender mathematischer Punkte?
Was kann ärmer sein, als ein solches stereometrisches Weltschema,
die dürrste Abstraction unserer Quantitätsbegriffe in Baum, Zeit und
Bewegung! Was diesem abstracten Schema die Möglichkeit realer
Existenz gewährt, ist erst der Kraftbegriff, der die tanzenden
Atome von abstracten Baumpunkten zu wirkenden, d. h. wirklichen
Individuen erhebt; was diese und den Quantitätsbegriff der Wir-
kungsintensität bereicherte Natur erst belebt, ist die Uebertragung
des Begriffs der Empfindung aus unsenA Geist in die sie con-
stituirenden Individuen niedrigster Ordnung, wodurch die rein quan-
titative Wirklichkeit zuerst eine qualitative Färbung erhält.
Ueberblicken wir die so erlangte reale Natur, so zeigt sich anf
den ersten Blick, dass alles, was wir ihr zuschreiben, lediglich
Uebertragungen aus unserm eignen Geist sind und nach Abzug
dieser Nichts übrig bleibt Realität, Existenz, Substanzialität u. s. w.
sind Kategorien unseres subjectiven Denkens, Baum, Zeit und Be-
wegung sind Anschauungsformen unserer Sinnlichkeit. Das drei-
dimensionale Baumschema, in welchem wir die Natur construiren,
ist dem dreidimensionalen Baumschema der in unserm Bewusstsein
enthaltenen subjectiven Erscheinungswelt entlehnt. Auf den Begriff
der Kraft wären wir nie gekommen, wenn wir nicht den eignen
Willen verallgemeinert hätten, und der Kraftbegriff ist uns heute
noch absolut unverständlich, ausser wenn wir ihm stillschweigend
oder offenkundig den Begriff des Willens zu Grunde legen. Kraft
und Empfindung sind als Wille und Vorstellung die Elementarbegriffe
der Geisteswissenschaft; sind sie es erst, die dem abstracten Raum-
Schema Energie und Leben einhauchen, so ist damit zugestanden,
dass wir eine reale lebendige Natur nur nach Analogie unseres
Geistes zu denken vermögen. So construiren wir die Natur ans
zwei Factor eh: der erste besteht in den schematischen Formen
unseres Bewusstseinsinhalts, der zweite in den Grundfunctionen der
Allgemeine Vorbemerkungen. 359
Geistigkeit selbst. Ist eine dieser Uebertragungen oder Analogien
ungerechtfertigt, so ist unsere Vorstellung von einer realen Natur
eine Illusion, so giebt es keine Natur für uns.
Streichen wir die anthropopathische Uebertragung von Kraft
und Empfindung, so behalten wir nur ein gespenstisches abstractes
Raumscbema mit bewegten kraftlosen Punkten, das unfähig ist, irgend
welche reale Einwirkungen auf den Geist zu üben, und deshalb
nicht nur aufhört, irgend etwas erklären zu können, sondern aueh
aufhört, durch berechtigte Rückschlüsse aus seinen Wirkungen
anf unsern Geist erschliessbar zu sein. Streichen wir hingegen die
Uebertragung der Denk- und Anschauungsformen auf die an sich
seiende reale Natur, so büssen nicht nur die auf Quantitäts Verhält-
nisse und raumzeitliche Beziehungen gestützten naturwissenschaft-
lichen Erklärungen durchweg jede Bedeutung ein, sondern sie ver-
lieren auch (mit den Begriffen Substanz, Gausalität etc.) das trans-
cendente Subject oder den Träger, auf den sich ihre Aussagen
beziehen könnten. Ist eine dieser Uebertragungen oder sind gar
beide unberechtigte Anthropomorphismen , so giebt es für uns
schlechterdings keine Natur, und die angebliche Wissenschaft der
Natur ist dann mit Alchymie, Astrologie und Theologie in die
Rumpelkammer der vorkritischen Illusionen zu werfen* Bestreitet
also die Naturwissenschaft jene anthropomorphischen Analogien, so
hebt sie damit sich selbst auf; lässt sie dieselben gelten, so erkennt
sie damit an, dass wir eine reale Natur uns schlechterdings nur nach
geistigen Vorbildern denken können, und dass wir in die Natur
grade nur so weit Einblick und Verständniss zu erlangen hoffen
dürfen, als diese anthropomorphischen Analogien reichen und der
Wahrheit gemäss sind.
Dieses Resultat muss jedem Philosophen, der auf dem Boden
des transcendentalen Realismus steht, a priori selbstverständlich
sein. Niemand kann aus seiner Haut herausfahren, also auch nicht
der menschliche Geist. Ist aber die Natur ihm nur etwas indirect
aus ihren Wirkungen auf den Geist Erschlossenes, so kann der
Geist die Natur eben nur aus ihm selbst verstehen, und hat
keinen andern Schlüssel zur Natur, als sich, den Geist. Er kann
der Natur nichts geben, als aus seinem Vorrath; aber von den
Schätzen seines Reichthums muss er das Meiste und Edelste für
sich behalten, und nur das Einfachste und Aermste aus denselben
17»
260 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
darf er der Natur leihen, wenn er nicht in unberechtigte an-
thropomorphische Uebertragnngen verfallen will.
Dennoch haben wir allen Grund, anzunehmen, dass diese Bro-
samen vom Tische des Geistes, aus denen wir die Natur construiren,
diese wirklich erschöpfen, d. h. dass die Natur nicht wesentlich
reicher ist, als wir dieselbe heut schätzen. Nicht als ob wir extensiv
auch nur den kleinsten Theil der Natur erforscht, oder innerhalb
dieses uns zugänglichen Theils alle Bewegungen und Gruppirungen
der Atome ergründet hätten, — daran fehlt viel; aber das ist ein
Axiom der modernen Naturwissenschaft, dass alle unsere fünf Sinne
übersteigenden Einwirkungen, welche ein anders organisirter Geist
von der Natur erfahren könnte, doch immer nur von bewegten
Atomen ausgehen könnten, und dass die Bewegungen und Gruppi-
rungen der Atome, in welchen alle Naturprocesse sich erschöpfen,
in allen noch so entlegenen Theilen des Kosmos nach denselben
Gesetzen sich vollziehen. Wir sind noch weit entfernt zu verstehen,
wie alle Naturerscheinungen durch Mechanik der Atome zu er-
klären seien; dass aber alle nur hieraus und aus keinen andern
Eigenschaften der Natur zu erklären seien, ist als das sicherste
Resultat zu betrachten, dessen die moderne Naturwissenschaft sich
zu rühmen hat. Wenn anders nicht 'diese angeblich exacteste aller
Wissenschaften sich gänzlich auf dem Irrwege befindet, so brauchen
wir nicht zu fürchten, dass wir der Natur Unrecht thun, wenn wir
sie auf die ärmsten und dürftigsten Bestimmungen beschränken, die
wir aus den Geisteswissenschaften entlehnen konnten.
3. Die Natur als Mittel für den Geist.
Was ist uns nun die so erschlossene und durch Analogien des
Geistes construirte Natur ? Kann ein stummes, licht- und farbloses
Spiel punktueller Atome an und für sich ein Interesse für uns
haben ? Muss uns nicht davor grauen wie vor dem gespenstischen
Todtentanz verwunschner Monaden? Was kann unschöner sein als
solch' eine Natur aus mechanischen Eraftwirkungen imaginärer
Baumpunkte? Wem leuchtet der Sternenhimmel wenn nicht dem
Geiste? Ihm nur glänzt das Gluthmeer der Morgenröthe, ihm nur
duftet die Linde, ihm nur tönt die Harfe! Die reale Natur als
solche erschöpft sich in dem einförmigen Mückentanz der Atome,
Allgemeine Vorbemerkungen. 261
und alle Pracht and Herrlichkeit, die der entzückte Geist der Natur
zuschreibt, gehört nur ihm selbst an, dem farb'gen Abglanz der
kahlen Wirklichkeit, den er selbst als subjective Erscheinungswelt
sich unbewusst hervorzaubert und seinem Bewusstsein zum Inhalt
giebt. *) Alle Wunder der Natur, welche die Dichter aller Zungen
von jeher tausendfältig preisen, sind nur die Wunder des Geistes,
die er selbst in sich hervorbringt.
Was geht uns also eigentlich die objectiv-reale, Eine Natur
an? Sie würde uns gar nichts angehen, wenn nicht ihre Einwir-
kungen es wären, welche den Geist zur Production der subjectiven
Erscheinungswelt anregen, und dadurch erst seine leere Form des
Bewusstseins mit dem ganzen Reichthum ihres Inhalts erfüllen. Wie
der elektrische Funke aus der Berührung verschieden elektrischer
Körper hervorspringt, so resultirt das Leben des Geistes aus seiner
Wechselwirkung mit dieser an und für sich nüchternen und stummen
Natur. Sie ist es, die den schlummernden prometheischen Funken
der Selbstbesinnung in ihm weckt, sie auch, welche ihn aus der
Isolirung seiner Einzelhaft befreit, indem sie ihm die Communi-
cation mit andern Geistern eröffnet. Darum ist es nicht die
Natur als solche, welche uns interessirt, sondern lediglich die
Natur als Mittel zur Bereicherung des geistigen Lebens. Wie
wir das Oel nur pressen und das Petroleum nur bohren, damit
beide sich als Brennstoff in unsern Lampen verzehren, so versenken
wir uns in die Natur und suchen dieselbe als unsern Besitz zu er-
obern, nur um sie als Natur, d. h. in ihrer uns transcendenten Na-
türlichkeit zu vernichten, und sie als Brennstoff für die Flamme
unseres Geistes zu verbrauchen. Der Menschheit ist die Natur nur
als Mittel des Geistes von Werth, an und für sich dagegen völlig
werthlos. Der Naturforscher vergisst nur zu leicht diese Beziehung,
wenn er in wohlverstandner Arbeitstheilung seine wissenschaft-
liche Lebensaufgabe dahin abgrenzt, die Natur als solche zu er-
gründen. Insofern er aber zugleich Mensch, Lehrer, Familienvater,
Staatsbürger, und empfänglich für alles Gute, Schöne und Wahre
ist, desavouirt er in seinem gesammten Leben den Irrthum, dem
er in seinem Beruf in verzeihlicher Weise verfallen sein kann.
*) Vgl. Prof. Dubois Reymond's Vortrag „Ueber die Grenzen des Natur-
erkennens" (Leipzig 1872).
262 Anmerkungen mr zweiten Auflage.
Was ist nun aber das Eine, ewige, nicht genug zu bewundernde
Wnnder an der Natur? Das» sie, die kahle nüchterne! poesielose
und anscheinend geistlose es ist, welche dem Geiste seinen unend-
lichen Reichthum erschließet, und durch ihre Impulse ihn zur Pro-
duetion der subjectiven Erscheinungswelten veranlasst, in denen «if
einmal die ganze Pracht und Herrlichkeit der Idee Fleisch und
Blut, Klang und Farbe gewinnt. Daas sie wie eine unsichtbare
Geheimschrift des Geistes uns anmuthet, die im subjectiven Spiegel-
bild des Bewusstseins auf einmal ihre leuchtenden Zttge entfaltet
und von der Schönheit und Weisheit der Schöpfung Zeugnis» ab-
legt! — Freilich ist es der Geist, der in sich die Schönheit und
Fülle der subjectiven Erscheinung producirt, aber er producirt sie
doch nicht rein aus sich, sondern ist in dem Inhalt seines Produ-
cirens ganz und gar abhängig von den Einwirkungen, welche die
reale Natur auf ihn ausübt. So ist ohne Zweifel der Geist von der
Beschaffenheit, auf das Afficirtwerden von Seiten der Natur so zu
reagiren; aber ebenso zweifellos würde er nicht so reagiren, wenn
die Natur nicht eine solche Beschaffenheit beaässe, um ihn in dieser
bestimmten Weise zu afficiren. Die Harmonie ist eine gegenseitige.
Die Natur aber ist das Prius oder die Voraussetzung des Geistes;
sie scheint so kahl und nüchtern zu sein, und doch ist sie es, welche
beständig die Funken des Schönen, Wahren und Guten aus dem
schlummernden Geiste schlägt. Dieses Wunder wird nur verständ-
lich, wenn die Natur von Anfang an darauf veranlagt ist, zur Brut-
stätte des Geistes zu dienen. Das Wunder der Natur löst sich
nur, wenn der Geist sieb unbewusster Weise in ihr seine Stätte be-
reitet bat, d. h. durch eine teleologische Naturphilosophie. Diese
Nöthigung zur teleologischen Auffassung wird nicht nur nicht ge-
ringer, sondern noch stärker, wenn man annimmt, dass der unbe-
wusste Geist während des Weltprocesses keine andern Aeussemngen
von sich gebe als in den Atomfunctionen ; denn dann muss die ur-
sprüngliche Veranlagung der Natur zur Erzeugung der Wunder des
Geistes eine absolut vollkommene und allein ausreichende sein,
die keiner unmittelbaren Mitwirkung des Geistes, keiner Nachhilfe
mehr bedarf.
So lange der Geist des Menschen sich in der Natur bewegt
und ergeht, kommt er sich vor wie Peter in der Fremde, und hei-
misch fühlt er sich doch erst wieder, wenn er von seinen Natur-
AlIgopMiMe Vorbemerkungen. 263
ansfltigen in die Heimath des Geistes zurückgekehrt ist. Wie im
einzelnen concreten Fall das locale Spiel Atome mir nur als Mittel
eine Bedentang hat, welches mich zur Produktion der bestimmten
subjectiven Erscheinung anregt und nöthigt, so hat die Natur als
Ganzes einen Werth für uns nur als das Mittel für die Bereicherung
und Steigerung unseres Geisteslebens. Wie die Naturphilosophie
nur wichtig ist als ein Durchgangspunkt von der Erkenntnisstheorie
zur Metaphysik, so haben auch die Naturwissenschaften ihre Be-
deutung für den menschlichen Geist nur als Durchgangspunkt von
der unmittelbaren Selbsterfassung des Geistes zu seinem eultur-
geschichtlichen Verständnis. Das Studium der Natur dient
dem Geist als Mittel zum Verständnis seiner Stellung im Welt-
ganzen ; es lehrt ihn sich als Geist im Gegensatz zur blossen Natur
schätzen und würdigen, und alle Hilfsmittel, welche die Natur bietet,
zur Förderung seiner geistigen Cultur verwerthen. Die geistige
Gultur des Menschengeschlechts ist aber ein geschichtlicher Proeess,
d. h. Culturgeschichte, und so verstanden ist die Culturgeschichte
der Inbegriff der Entwickelung des Geistes. Das Studium der Natur
lehrt die Culturgeschichte einerseits rückwärts in die Entwickelungg-
geschichte der Natur verfolgen und andrerseits ihren vollen Gegen-
satz gegen diese verstehen ; es lehrt uns die Naturentwickelung als
den Sockel begreifen, dessen die Culturgeschichte bedurfte! um sich
als Statue zu präsentiren.
Das Besultat dieser Betrachtungen ist, dass wir mit dem Geiste
beginnen und beim Geiste endigen, und dass die Naturerkenntniss
nur ein mittelbar erschlossenes Durchgangsstadium für die Selbst-
besinnung des Geistes bildet, das nur als Mittel, nicht als Zweck
einen Werth für uns besitzt „Vom Geist durch die Natur zum
Geist!" So lautet der Spruch, in den wir unsre Erörterungen zu-
sammenfassen können.
4« Die Natur al» Dureltgangspirakt des absoluten Geistes.
„Vom Geist durch die Natur zum Geist" ist aber nicht bloss
ein für uns gültiges Motto, sondern es hat zugleich eine absolute
Wahrheit Die Natur ist nicht bloss für uns, sondern sie ist an und
fttr sich blosse Durcbgangsstufe, blosses Mittel ohne selbstständige
Bedeutung. Nicht bloss der Menschengeist, sondern auch der abso-
264 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
lute Geist gleicht dem Peter in der Fremde, während er in der
Natur sich herumtreibt; auch er ringt nach seiner Befreiung aus
den Banden der Natur, und auch er findet sie in der Naturent-
wickelung, Dank der Veranlagung, welche er selbst dieser Natur
von Anbeginn verliehen hat Auch der absolute Geist entfaltet nur
ärmliche Brosamen des in seiner Unbewusstheit verschlossenen un-
endlichen Reichthums in der Natur als solchen ; indem er aber diese
an sich so armselige Natur so veranlagt, dass sie dem Geiste An-
lass wird, seine Schätze an's Licht des Bewusstseins zu gebären,
lässt er in dieser Armuth für den vorahnenden Beurtheiler den
ganzen Beichthum seines Geistes in verhüllter Gestalt durch-
schimmern.
Niemand wird bestreiten wollen, dass das, was bei der Ex-
piration des All-Einen im Weltprocess herauskommt, von Ewig-
keit her in diesem All-Einen implicite enthalten gewesen sein
muss. Es ist ja gerade das Hauptaxiom des naturwissenschaft-
lichen Monismus, dass das Weltwesen oder die Weltsubstanz ebenso
wohl Grund der bewusst-geistigen wie der materiellen Welt sei;
also kann auch die Naturwissenschaft am allerwenigsten bestreiten
wollen, dass der in der bewusstgeistigen Welt explicirte Inhalt,
ebenso gut wie der in der materiellen Welt entfaltete, in dem Welt-
wesen als All-Einen implicite und unbewusster Weise schon vor
Beginn des Weltprocesses eingeschlossen gewesen sein müsse. Ist
nun der Inhalt der bewusstgeistigen Welt ein unendlich reicher im
Verhältniss zu demjenigen der materiellen Welt, so ist damit schon
zugestanden, dass das Weltwesen in der Natur als solchen nur einen
sehr dürftigen und untergeordneten Theil seines impliciten unbe-
wussten Inhalts entfaltet habe und seine eigentlichen Schätze der
Entwicklung der geistigen Welt vorbehalten habe. In der Natur
ohne Beziehung auf den bewussten Geist, der in ihr seine Geburts-
stätte und Erziehung finden soll, hätte dasselbe etwas unsäglich
Armseliges, Geistloses, und deshalb geradezu Sinnloses producirt;
in der Natur, welche lediglich Mittel ist für den Geist, hat es das
trotz oder gerade wegen seiner Unscheinbarkeit sinnreichste Werk-
zeug geschaffen, das uns mit immer tieferem und tieferem Staunen
erfüllt, je mehr wir von seiner Wirkungsweise verstehen lernen.
Ebenso wie es uns bei dem Studium der Vibrationen der Luftmole'
cule oder Aetheratome nur darauf ankommt, die Ursachen für die
Allgemeine Vorbemerkungen. 265
geistigen Empfindungen des Sehalls, des Lichts und der Wärme
verstehen zu lernen, so liegt auch dem Weltwesen bei der Her-
stellung dieser vibrirenden Körper- und Aether-Atome nur daran,
durch sie die äusseren Ursachen zu setzen zu dem reichen und
mannichfaltigen Inhalt der subjectiven Erscheinungswelten des
Geistes, Mag der Zweck der bewusstgeistigen Welt sein, welcher
er wolle, oder möge auch jeder Endzweck derselben fehlen und sie
nur Ausfluss einer blinden Nöthigung des Weltwesens zu seiner
Explication sein, unter allen Umständen steht das fest, dass die
Natur nur Durchgangspunkt des absoluten Geistes von der impliciten
Unbewusstheit zu der expliciten Bewusstheit seines Inhalts ist, d. h.
dass ihre Stellung im Weltprocess, ebenso wie ihre Bedeutung für
ans, lediglich die eines unselbstständigen Mittels ist.
Jede Naturphilosophie, welche diese allersicherste Wahrheit
verkennt, und unter Nichtbeachtung der Beziehungen der Natur
zum Geiste die Natur nach ihrem eignen Dasein abschätzt, muss
in schwerwiegende Irrthümer und in eine das wahre Verhältniss
der kosmischen Sphären zu einander verkehrende Einseitigkeit
verfallen. Diese Einseitigkeit muss zu potenzirten Fehlern fahren,
wenn eine solche irrthümliche Naturphilosophie ihrerseits die Geistes-
philosophie meistern und derselben die Gonsequenzen ihrer Irrthümer
für das Gebiet des Geistes als Wahrheiten aufdrängen will, vor
welchen die Resultate der Geisteswissenschaften sich beugen müssten.
Insoweit es uns nicht gelingen sollte, die volle Harmonie zwischen
Naturphilosophie und Geistesphilosophie herzustellen, ist als Grund-
satz festzuhalten, dass wohl die Resultate der ersteren die Oorrectur
durch die letztere, aber nicht umgekehrt gestatten. Dies folgt
daraus, dass die Natur uns nur indirect aus dem Geiste, der Geist
selbst aber uns unmittelbar bekannt ist, dass die Geisteswissen-
schaften die unmittelbare Erfahrung und deshalb eine grössere Zu-
verlässigkeit vor den Naturwissenschaften voraus haben, und dass
sie endlich sowohl für uns wichtiger und höher sind als auch einen
an sich wichtigeren und höheren Gegenstand behandeln als jene.
Dieses Verhältniss bewahrheitet sich auch geschichtlich da*
durch, dass die Naturwissenschaften durch nichts kräftigere Anstösse
zu neuen Theorien und Entwickelungsrichtungen erhalten haben,
als durch die Naturphilosophie, welche ihrerseits wieder weit mehr
durch die Geistesphilosophie und die vorzugsweise auf der letzteren
266 Anmerkungen sur zweiten Auflage.
fassende Metaphysik als durch die Naturwissenschaften geltet
begründet und gefördert worden ist. So kommt es denn gar leicht,
dass die Naturwissenschaften einer Periode auf einer Naturphilosophie
basiren, welche einer rückständigen Metaphysik entlehnt ist, und
dass sie sich deshalb in einem reactionären Widerstand gegen die
inzwischen errungenen Fortschritte der Metaphysik befinden. Als
in England der rationalistische Empirismus eines Locke, in
Frankreich der rationalistische Deismus und Materialismus der
Encyclopädisten, in Deutschland der rationalistische Theismus eines
Wolff bereits die tonangebende Metaphysik waren, bewegten sieh
die Naturwissenschaften derselben Zeit noch in den abergläubischen
Besten einer Yor-rationalistischen Naturphilosophie. Jetzt, wo längst
die nachkantische deutsche Metaphysik diesen dürftigen und seichten
Rationalismus positiv überwunden hat, sind die Naturwissenschaften
noch gänzlich in der Naturphilosophie eines sensuaüstiscben Ratio-
nalismus stecken geblieben, und beginnen soeben erst, sich mit dem
Durchgangspunkt von der Metaphysik des 18. zu der des 19. Jahr-
hunderts, d. h. mit Kant, näher bekannt zu machen.*) Gegen die
Metaphysik des 19. Jahrhunderts und deren Naturphilosophie da-
gegen verhalten sie sich entschieden reactionär im Sinne derjenigen
des 18. Jahrhunderts, und finden sich in dieser Rückständigkeit noch
durch den unglücklichen Umstand bestärkt, dass sie sich auf die
Uebereiustimmung mit der Naturwissenschaft der ausserdeutaohen
Culturländer berufen können, welche durchweg den philosophischen
Staudpunkt des 18. Jahrhunderts noch nicht überwunden haben.
Im 20. Jahrhundert werden sie sich vielleicht ebenso reactionär anf
die Metaphysik des 19. stützen, auch wenn diese dann bereits über-
wundener Standpunkt sein sollte.
5. Theoretischer und praktischer Idealismus.
Nun beruht aber diese specifiseh deutsche Geistescultur der
Gegenwart, insoweit sie den geistigen Entwiekelungsstadien der
übrigen Völker überlegen ist, durchweg «uf der Philosophie des
19. Jahrhunderte. Die Ethik Kaufs und Fichte's, die Geschichte-
*) Vgl. meine „Ges. Studien und Aufsätze" C. II „Anfänge naturwiasen-
schaftlicher Selbsterkenntniss 4 '.
Allgemeine Vorbemerkungen. 267
Philosophie Hegers, die ästhetische und historische Weltanschauung
Schelling's, die Naturphilosophie und der Pessimismus Schopenhauer'*,
das sind die Grundzttge der Physiognomie unserer heutigen eigen-
tümlich deutschen Geistescultur, das sind zugleich die idealen Prin-
oipien, auf deren Erhaltung und kräftiger Fortentwickelung der ge-
deihliche Culturfortschritt der Menschheit Air die nächste Zeit beruht.
Wenn es einer rückständigen Naturphilosophie gelänge, diese idealen
Bildungsfactoren zu stürzen oder auch nur ihre Energie durch Unter-
grabung des Glaubens an dieselben zu schwächen, so wäre das ein
nicht wieder gut zu machender culturgeschichüicher Schade, ein
unermesslioher Verlust des Menschheitsgeistes an idealen Gutem,
und deshalb liegt in der Ueberhebung einer einseitigen Natur-
philosophie und in ihrem Ankämpfen gegen die idealen Errungen-
schaften der neuesten deutschen Gcistesentwickelung nicht nur ein
prineipieller theoretischer Irrthum, sondern auch eine schwere
praktische Gefahr. Die theoretische Verkennung und Verkehrung
des wahren Verhältnisses zwischen Natur und Geist muss zweifels-
ohne eine praktische Schädigung der Stellung des Geistes gegen-
über der Natur zur Folge haben. Und darum ist es Pflicht Aller,
welche den tiefen Riss und die unüberbrückbare Kluft zwischen der
materialistischen und mechanistischen Naturansicht unserer Tage
und den edelsten und höchsten idealen Gütern der deutschen Geistes-
cultur erkennen, Partei zu ergreifen gegen die versuchte Meisterung
des Geistes durch eine aus ihrer dienenden Beziehung zum Geiste
herausgerissene und auf den Thron gesetzte Natur, und die Schlachten
des Geistes zu schlagen nicht bloss gegen pfäffische Verdammung,
sondern auch gegen naturvergötternde Eqtgeistigung des Universums.
Schon grassirt unter uns ein epidemischer Unglaube an den
Geist, gegen den als erklärliche, ja ich wage zu sagen: heilsame
Reaction der Aberglaube an Geister im Schwange geht Denn der
Aberglaube an Geister verkennt zwar die natürliche Bedingtheit
des individuellen Geistes, aber er rüttelt doch nicht an der Existenz
des Geistes selbst, wie der naturalistische Unglaube an den Geist,
der da vergessen hat, dass er die Existenz einer Natur erst be-
haupten darf, weil und insofern er die Existenz des Geistes be-
hauptet, aus der die erstere erschlossen werden kann. Das letztere
ist also eine weit gröbere Verkehrtheit als das erstere, und deshalb
muss namentlich die studirende Jugend vor jener noch weit dringender
268 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
gewarnt werden als vor dieser, da sie ihre Einseitigkeit and Verkehrt-
heit in den Schein der wissenschaftlichen Exactheit einhüllt, und unter-
stützt durch die blendende Neuheit des Darwinismus zur Zeit eine
epidemische Ansteckungskraft erlangt hat, durch die schon mancher
nicht ganz sattelfeste philosophische Kopf in Verwirrung gesetzt worden
ist Um sich diesem modernen Zauber zu entziehen, dazu braucht es
aber nichts weiter, als eine Besinnung auf das wahre Verhältnis
yon Geist und Natur, das in der mechanistischen Weltanschauung
auf den Kopf gestellt ist, und eine Erinnerung an die Folgen für die
Geistescultur, welche solch' eine theoretische Verkehrung auf die
Dauer auch in praktischer Hinsicht nach sich ziehen müsste.
Aller praktische Idealismus, möge er in ethischer, ästhetischer,
religiöser oder wissenschaftlicher Gestalt auftreten, stammt allein
und ausschliesslich aus theoretischem Idealismus. Der Glaube ist's,
der den Willen beschleusst; der Glaube an die objective Wahrheit
der Ideen führt zu Handlungen, die durch Gewöhnung Gemüths-
dispositionen hinterlassen, welche auch nach dem Schwinden
jenes sie erzeugenden Glaubens noch kürzere oder längere Zeit
fortbestehen und für das praktische Verhalten maassgebend bleiben.
Darum ist es wahr, dass in unserer Generation thatsächlich viel
praktischer Idealismus zu finden ist, der dem Mangel an theore-
tischem Idealismus zum Trotz besteht und edle Früchte zeitigt. Aber
es ist falsch, aus dieser Thatache eine voreilige Verallgemeinerung
zu ziehen, und den Satz aufzustellen, dass der praktische Idealismus
ganz wohl ohne die Basis eines theoretischen Idealismus bestehen
könne. Denn diese Materialisten und Naturforscher vergessen da-
bei nur den einen Umstand in Rechnung zu stellen, dass sie bloss
darum Dispositionen zum praktischen Idealismus haben, weil ihre
Väter und Grossväter noch theoretische Idealisten waren, und dass
ihre Söhne und Enkel eben deshalb, weil sie selbst den theoretischen
Idealismus ihnen als Illussion darstellen, auch authören werden,
praktische Idealisten zu sein und dafür zu praktischen Materialisten
und Nihilisten werden müssen. Es ist widersinnig, Ideen, die der
Verstand als Illusionen durchschaut zu haben glaubt, doch praktisch
mit dem Herzen als Ideale festhalten zu wollen, als ob sie nicht
Illusionen, sondern Wahrheit wären, und eben weil dies wider-
sinnig ist, muss entweder der Verstand sich von Neuem dem theo-
retischen Idealismus zuwenden, oder er muss die Ideale des
Allgemeine Vorbemerkungen. 269
Herzens allmählich zersetzen und zerfressen, bis nur noch der rohe
oder verschlagene Eudämonismus übrig bleibt, der endlich durch
den Pessimismus zum Nihilismus verflüchtigt wird. Dieser Process
ist unvermeidlich, und schon jetzt dient der praktische Idealismus
nur zu oft als blosses künstlich vorgeklebtes Feigenblatt, um aus
einem Rest idealistischer Schaam die Blosse einer ideenlosen Welt-
anschauung nothdttrftig zu verdecken.*)
6. Mechanistische und idealistische Naturphilosophie.
Nun hat aber in der That der Verstand alle Ursache, von
seiner mechanistischen, naturvergötternden Opposition gegen den
theoretischen oder objeetiven Idealismus Abstand zu nehmen, sobald
er sich das oben auseinandergesetzte Verhältniss • von Natur und
Geist vergegenwärtigt. Ist die Natur an und für sich betrachtet
etwas Geistloses und Armseliges, so ist es kein Wunder, dass eine
Naturphilosophie, welche die Natur ohne Beziehung auf den Geist
betrachtet, in Verlegenheit geräth, wenn sie in derselben Ideen ent-
decken soll Ist aber die Natur bloss der Durchgangspunkt oder
das Mittel für den Geist zur bewussten Entfaltung des ihm implicite
und unbewusst eigenen Inhalts, so braucht man sie nur als das
Werkzeug für diese Leistung zu betrachten, um allen idealen Reich-
thum des Geistes in ihr vorauszuahnen und als bestimmend für ihre
Beschaffenheit in ihr durchschimmern zu sehen. Dann erscheint die
Natur sofort als höchst geistvoll und ideenreich, da der ganze ideale
Gehalt der Geisteswelt in ihr teleologisch vorgebildet ist. Hierbei ist
es ganz gleichgültig, ob alle Phänomene des bewussten Geistes-
lebens blosse Summationsphänomene aus den Subjecti vi täten der
Gehirnatome sind oder ob noch andere psychische Functionen in
dieselben eingehen, die nicht in den Atomen als solche enthalten
sind. Jedenfalls ist die Natur das Werkzeug zur Entfaltung des
Geistes, und so gewiss der theoretische Idealismus in einer durch
falsche Naturphilosophie nicht corrumpirten Geistesphilosophie eine
selbstverständliche Sache ist, so gewiss muss er auch in jeder
*) Vgl. die genauere Begründung dieser Behauptungen in meiner Schrift
„Neukantianismus, SchopenhauerianismuB und Hegelianismus" IL Lange-Vai-
htager's ßubjeetivistischer Skepticismus, B. die Philosophie als Dichtung.
270 Anmerkungen rar zweiten Anlage.
Naturphilosophie seine Anerkennung finden, insofern dieselbe ihre
Augen nicht halsstarrig gegen die Beziehung der Natur zum Geiste
verschliesst, welche allein den Sinn und die Bedeutung der Natur
im Weltganzen ausmacht.
Wer an dem- Grundsatz festhält, dass in der Explication des
AU-Einen Weltwesens nichts herauskommen kann, was nicht schon
implicite drinsteckte, der kann auch nicht leugnen, dass die idealen
Schätze des Menschengeistes, die doch gewiss noch nicht die höchst-
mögliche Geistesentfaltung repräsentiren, allein schon hinreichen,
um die in ihnen zu Tage tretenden Grundideen als Eckpfeiler des
idealen Inhalts des AU-Einen anzuerkennen, die für den ganzen
Gang seiner Explication und Entwickelung bestimmend sind. Wer
sich ferner vergegenwärtigt, dass auch der Inhalt der realen Natur
durch Bestimmungen constituirt wird, die aus dem idealen Inhalt
des Geistes entlehnt sind, dass sie aber erat die ärmsten und
dürftigsten Grundlagen dieses reichen Gesammtinhalts bilden, der
wird auch kein Bedenken mehr haben, die Idealität des Inhalts der
realen Natur anzuerkennen und nur sich klar zu machen haben,
dass die Natur eine weit niedrigere Objectivationsstufe der Idee
repräsentirt als der Geist, welcher uns aus unmittelbarer Erfahrung
zum Vergleichsobject geboten ist. Die Frage nach dem Antheil der
Atome und ihrer Willens- und Vorstellungs Functionen bei dem
Zustandekommen der höheren Individualgeister reducirt sich dann
auf die Frage nach dem Verhältniss der verschiedenen Ob-
jectivationsstufen der Idee zu einander, welche ich anderwärts *) be-
handelt habe. Es erglebt sich dabei, dass eher die höheren Stufen
der Idee in den niederen enthalten gedacht werden können als um-
gekehrt, obwohl die Bealisirung der niederen Stufen die Vor-
bedingung für die Bealisirung der höheren ist, dass aber alle zu-
sammen als Partialideen in der absoluten Idee aufgehoben sind,
deren actueller Inhalt in jedem Moment des Processes eine einheit-
liche Totalität bildet, ebenso wie der substantielle Träger dieses
Processes Einer ist. Sonach behält in jedem Falle der theoretische
Idealismus seine Wahrheit nicht nur unabhängig von aller Natur-
philosophie, sondern auch in der Naturphilosophie selbst, mag die-
selbe sich noch so antiidealistisch und materialistisch geberden.
*) ^cukantianiamufl, Schopenhauerianismus und Hegelianißmu*" VI. Nr. 1
Allgemeine Vorbemerkungen. 271
Unter solchen Umständen ist es ein vergebliches Bemühen, die
materialistische Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts heute noch
aufrecht erhalten zu wollen, welche den Geist als ein zufälliges
Appendix der Natur betrachtet, das den Naturforscher nichts weiter
angehe, anstatt die Natur als Organon des Geistes zu begreifen.
Ebenso vergeblich ist aber das Zurückgreifen auf Spinoza, dessen
Metaphysik als erste principielle Identitätsphilosophie zwar immer von
unschätzbarem Werthe bleiben wird, der aber durchaus keine
Ahnung von dem wahren Verhältniss von Natur und Geist besass.
Indem er die Natur ausschliesslich unter der Kategorie der Aus-
dehnung, den Geist lediglich unter denjenigen des Denkens be-
fasste, und die Kraft und den Willen vergass, erstarrte ihm die
Naturphilosophie zu einem energielosen schematischen Mechanismus
und verflüchtigte sich die Geistesphilosophie zu einem einseitigen
Intellectualismus, und Natur und Geist rückten durch das Fehlen
des verbindenden Willens zu einer völligen Beziehungslosigkeit
auseinander, die nur durch das formelle Band der Einen Substanz
wieder verknüpft wurde. Den Identitätsbegriff seiner Metaphysik
überspannte er zu einer abstracten Einerleiheit der Verknüpfung
und Ordnung der Dinge in der Natur und der Ideen im bewussten
Geist, und setzte diese an Stelle der lebendigen Wechselwirkung.
Dadurch machte er es sich unmöglich, die Bedingtheit des Geistes
durch die Natur und seine Rückwirkung auf die letztere, kurz die
Wechselwirkung beider Sphären zu würdigen, und darum konnte
er die ganze Bedeutung der Natur als Mittel für die Verwirklichung
und Entfaltung der Idee im Lichte des Bewusstseins nicht verstehen.
Obwohl er sonach die Ordnung und Verknüpfung der Erscheinungen
in beiden Sphären als eine mathemathisch oder logisch nothwendige,
<L h. ideal bedingte, anerkannte, so hatte er sich doch den Gesichts-
punkt versperrt, um den teleologischen Charakter dieser logischen
Gesetzmässigkeit zu ergreifen, und deshalb blieb auch seine Ethik
in einer eudämonistischen Pseudomoral stecken, deren abstossender
Charakter nur durch seinen naturwidrigen Intellectualismus einiger-
maassen gemildert wird.
Nicht Spinoza allein, sondern die Synthese von Spinoza und
Leibniz bildet die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Will die Natur-
wissenschaft von der Philosophie des 18. Jahrhunderts durchaus
rückwärts statt vorwärts gehen, um bessere naturphilosophische
272 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
Anlehnungen zu suchen, so darf sie von Spinoza nur den Grund-
gedanken seines Monismus und seiner Identitätsphilosophie, muss
aber deren Ausführung von Leibniz entlehnen, bei welchem die
Spinozistische Identitätsphilosophie ihre individualistische Durch-
arbeitung und teleologische Vertiefung gefunden hat. Wenn sie
dies thut, wenn sie die Monadenlehre des Leibniz nach dem heuti-
gen Stand unserer naturwissenschaftlichen Kenntnisse interpretirt,
und als relative, phänomenologische Wahrheit dem Monismus Spi-
noza's ein- und unterordnet; dann wird sie zu eben dem Standpunkt
gelangen, den ich heute vertrete, und der nur nach Seiten der
Geistesphilosophie durch die neuere philosophische Entwickelung
bedeutend bereichert und vertieft ist.
Halten wir daran fest, dass die Natur und der Naturprocess
nur die Yennittelung bildet vom unbewussten, unentfalteten Geist
zum bewussten, entfalteten Geist, so haben wir damit zwei Sätze
in Eins gefasst: erstens, die Natur hat ihre Bedeutung nicht in sich,
sondern in dem, was sie vermittelt, dem Geist, — und zweitens,
der Geist, als bewusster, entfalteter, kann nicht sein ohne natürliche
Vermittelung. Fasst man den zweiten Satz in's Auge, ohne den
ersten mit zu berücksichtigen, so klingt er materialistisch, und eine
ihn einseitig betonende Naturphilosophie setzt sich lediglich durch
diese negative Einseitigkeit in Opposition zu einer allseitigen Meta-
physik. Nimmt man den ersten Satz hinzu, so verliert der zweite
nicht nur seinen materialistischen Anstrich, sondern schlägt in das
Gegentheil um. Die Naturwissenschaft beschränkt sich darauf, die
Bedingtheit des geistigen Lebens durch Naturprocesse zu betonen,
die Naturphilosophie aber hat sich zu erinnern, dass eben darin die
Bedeutung der Natur besteht, dass sie dieses bewusst-geistige Leben
dem unbewussten Geiste ermöglicht und vermittelt, und dass sie
selbst nur die niedrigste Gestalt des Geisteslebens ist. Der Natur-
process ist die harte Arbeit des Zusichselberkommens des Geistes
und weiter ist er nichts. Der Geist ist das Centrum der Natur,
denn aus dem Geist als unbewussten strömt sie aus und zu dem
Geist als bewussten strömt sie hin. Deshalb habe ich meine Welt-
anschauung noocentrisch genannt, während sie anthroprocentrisch
nur vorläufig und faute de mieux genannt werden kann, insofern
der Menschengeist die einzige und höchste uns bis jetzt be-
kannt gewordene Form des Geistes ist, in welcher dieser zu
Allgemeine Vorbemerkungen. 273
sich selbst gekommen ist. Anthropocentrisch ist das Universum
zunächst nur für uns, — ob auch an und für sich, bleibt vorläufig
unlösbare Frage; noocentrisch aber ist es au und für sich, seinem
Wesen wie seiner Erscheinung nach.
Diese allgemeinen Betrachtungen dürften bereits ausreichend
sein, um zu hoch gespannte Ansprüche einer einseitig naturwissen-
schaftlichen Weltansicht auf das ihnen gebührende Maass einzu-
schränken; doch wird es nützlich sein, noch einige speciellere
Punkte herauszugreifen.
7. Ideelle Resultate und natürliche Yermlttelung.
Ohne Zweifel sind Eisenbahnen und Telegraphen natürliche
Dinge , und ebenso zweifellos haben sie das geistige Leben der
Menschheit auf das Erheblichste gefördert. Die Vertreter der me-
chanistischen Weltansicht werden daraus folgern, dass die vermeint-
lich geistigen Fortschritte der Menschheit eigentlich nur natürliche
Fortschritte der mechanischen Technik seien, weil sie ersichtlich
nur durch diese letzteren vermittelt sind. Dabei wäre nur vergessen,
erstens dass die Fortschritte des geistigen Lebens der Menschheit
doch nur eine selbstständige Beaotion des Menschheitsgeistes waren,
auf den die technischen Fortschritte nur als äussere Beize wirkten,
und zweitens, dass der Menschengeist es war, der sich diese äusse-
ren Reize selber geschaffen (vgl. Ernst Kapp: „Grundlinien einer Philos.
d. Technik", Braunschw. 1877); indem er seine Erfindungskraft bethä-
tigte oder bei zufälligen Entdeckungen den Werth derselben begriff
und ihre Tragweite vorausahnte. Eisenbahnen und Telegraphen sind
also geistige Errungenschaften der Menschheit, obgleich sie an sich
rein mechanische Vorrichtungen sind, und die weiteren aus ihnen
hervorgehenden Fortschritte des Menschheitsgeistes sind darum nicht
weniger Früchte der eigensten activen Entwickelung des Geistes,
weil sie durch die Fortschritte der Technik auf natürliche Weise
vermittelt sind. Die natürliche Vermittelung schliesst weder die
spontane Activität des Geistes als [reactive Mitwirkung beim Zu-
standekommen des Resultats aus, noch verkümmert sie irgendwie
die ideale Bedeutung des letzteren ; das sind zwei wohleinzuprägende
Wahrheiten, welche von der mechanistischen Weltansicht nur zu
leicht ausser Acht gelassen werden.
£• t. Hartmann, Das Unbewnsete. 2. Aufl. 18
274 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
Wenn bei den menschlichen Entdeckungen und Erfindungen
das Element des Zufalls scheinbar noch eine bedeutende Bolle spielt,
so fällt dieses sicher fort in dem Naturprocess, der nach ehernen
Gesetzen in vorauszubestimmenden Bahnen sich vollzieht. Hier
entfällt demnach der im obigen Beispiel gegen die Schöpfung der
mechanischen Fortschritte durch den Geist etwa noch zu erhebende
Einwand, der freilich auch dort bedeutungslos ist Ist es die Be-
schaffenheit der ursprünglichen Elemente der Natur und ihrer un-
veränderlichen Gesetze, durch welche 'das Leben des Geistes ver-
mittelt wird, so ist diese Vermittelung selbst zweifelsohne ein
Au8fluss unbewusster, immaterieller Principien, d. h. des unbewussten
Geistes. Wenn nun beispielsweise aus dem Naturprocess auf der
Erde sich die Menschheit mit dem ganzen Beichthum ihres Geistes-
lebens entwickelt hat, kann dann die natürliche Vermittelung dieses
Resultats irgend etwas gegen den idealen Werth und die geistige
Bedeutung desselben ausmachen? Ist der Mensch nicht das, was
er ist, gleichviel ob er von Göttern oder Würmern abstammt ? Kann
die Erhabenheit und Fülle der im Menschengeist realisirten Objec-
tivationsstufe der Idee irgendwie eine Schmälerung dadurch erleiden,
wenn der erste Mensch nicht durch ein Wunder plötzlich erschaffen,
sondern aus affenähnlichen Vorfahren entwickelt ist? Kann z. B.
die Hoheit und Beinheit der ethischen Ideen dadurch beeinträchtigt
werden, dass das Menschheitsbewusstsein dieselben erst sehr all-
mählich aus zum Theil recht unlauteren socialen Instincten heraus-
gebildet hat, und noch heute danach ringt, dieselben in rein idealer,
d. h. rein vernünftiger Gestalt zum Ausdruck zu bringen? Wer
diese Fragen bejahen wollte, würde jenen Bauern in der Dorf-
schenke gleichen, welche die Künste des reisenden Taschenspielers
mit glotzenden Augen und aufgerissenen Mäulern bewunderten, so
lange sie dieselben für Zauberei hielten, aber den Hexenmeister
durchprügelten, als er ihnen erklärte, dass alles natürlich zuginge.
Das Gleichniss hinkt nur darum, weil Taschenspielerkunststücke
ihren Werth nur in der geschickten Verhüllung der natürlichen
Vermittelung besitzen, und ausserdem keine selbstständige Bedeutung
beanspruchen können, während der bewusste Geist seinen Werth
darin hat, dass er eine höhere Objectivationsstufe der Idee reprä-
sentirt als die Natur.
In der That geht in der Welt alles natürlich zu; aber der
Allgemeine Vorbemerkungen. 275
Sinn aller dieser natürlichen Vorgänge ist doch nur der, dass in
jedem Augenblick ein übernatürliches Resultat aus ihnen hervorgeht.
Die Natur selbst grenzt an jedem ihrer Punkte rückwärts und
vorwärts an die Sphäre des Uebernatürlichen ; rückwärts, indem
die sie constituirenden Elemente, sowie die Gesetze, denen dieselben
unterworfen sind, etwas schlechthin Uebernatürliches sind, — vor-
wärts, indem sie überall die Subjectivität der Empfindung und die
Idealität des Bewusstseins aus sich gebiert, welche gleichfalls als
über der Natur stehend zu bezeichnen sind. Denn der Geist ist
zwar insofern natürlich, als er durch natürliche Vermittelung be-
dingt ist; aber dies betrifft ihn nicht als seienden, sondern als
werdenden, d. h. noch nicht seienden, — oder mit andern Worten:
es betrifft nicht ihn als Geist, sondern nur seine Genesis. Als Geist
dagegen ist er über die Natur thurmhoch erhaben, weil eben in
ihm eine weit höhere Objectivationsstufe der Idee repräsentirt ist
als in der Natur. Er hat die Natur nicht nur hinter sich, sondern
auch unter sich, obschon er in seinem Leben und Wirken überall
an die Basis natürlicher Vermittelungen und dadurch auch an die
in der Natur geltenden Gesetze indirect gebunden ist.
8. Die Kritik vom Standpunkt der Physiologie.
Ich habe schon in der ersten Auflage der Ph. d. U. anerkannt,
dass es die Schuldigkeit des Naturforschers ist, die näheren
und ferneren wirkenden Ursachen der Erscheinungen aufzu-
suchen, dass er aber nicht glauben dürfe, mit dieser mechanischen
Erklärung Alles gethan und eine vollständige Erklärung geliefert zu
haben (vgl. 7. Aufl. S. 449—451). Ebenso habe ich schon dort darauf
aufmerksam gemacht (7. Aufl. II. 242), dass die Wahrheit der Teleologie
keineswegs dadurch beeinträchtigt werden würde, wenn mechanische
materielle Vorgänge die causale Erklärung der zweckmässigen
Organismen ohne Rest lieferten, und dass nicht um der Teleologie
willen, sondern nur weil die zu erklärenden Thatsachen weit reicher
seien als die Tragweite des Erklärungsprincips, von mir bestritten
werde, dass mit dem Selectionsprincip die Entstehungsgeschichte
der organischen Welt zu erschöpfen sei. Insoweit wirklich mecha-
nische Ursachen zur Entstehung zweckmässiger Resultate mitwirken,
sind sie doch selbst nur als die natürliche Vermittelung der Resultate
18*
276 Anmerkungen tot zweiten Auflage.
anzusehen, die wiederum als Natureinrichtungen (z. B. Organismen)
nur deshalb zweckmässig heissen können, weil sie der Vermittelung
des Bewnsstseins oder des bewussten Geistes dienen.
ImPrincip habe ich also auch schon in den ersten Auflagen
der Ph. d. U. die Notwendigkeit und logische Berechtigung einer
natürlichen oder mechanischen Vermittelung der zweckmässigen
Resultate oder der Realisirung der Ideen anerkannt, und die Gegen-
schrift muss einräumen, dass diese prinzipielle Anerkennung in der
Ph. d. U. vorhanden sei. In der Durchführung dagegen habe
ich mich vielfach verleiten lassen, die mechanische Vermittelung
zu unterschätzen öder ganz zu übersehen, und manches als alleinige
und directe Folge teleologischer unbewusst- psychischer Functionen
anzusehen, wobei mechanische Ursachen die wichtige Bolle der
natürlichen Vermittelung spielen. Dies ist der correcturbedürftige
Punkt der Ph. d. IL, und in seiner Aufdeckung und der theilweisen
Ausfüllung der dort übersprungenen Lücken liegt der positive Werth
der Gegenschrift. Letztere aber schiesst dadurch über das Ziel
hinaus, dass sie sich auf den Standpunkt einer mechanistischen
Naturphilosophie stellt, und durch den Nachweis natürlicher Ver-
mittelungen die ideale Bedeutung der Resultate und die Wirksamkeit
teleologischer Principien in und neben der mechanischen Ver-
mittelung widerlegt zu haben beansprucht.
In den auf diese Gegenschrift folgenden Arbeiten habe ich nun
aber stets meinen naturphilosophischen Standpunkt dahin präcisirt,
dass ich einerseits die Nothwendigkeit einer mechanischen Ver-
mittelung durchaus anerkannte, andrerseits jedoch den teleologischen
Charakter dieser Vermittelung als eines prädeterminirten Mittels zur
Realisirung idealer Zwecke festhielt. In diesem Sinne ist der in
meinen späteren naturphilosophischen Schriften vertretene Standpunkt ^
als die höhere Synthese der Standpunkte der älteren Auflagen der
Ph. d. Unb. und der Gegenschrift anzusehn, und sind in dieser
höheren Synthese die Fehler und Einseitigkeiten beider überwun-
denen Standpunkte vermieden, nämlich die Unterschätzung und das
theilweise Ueberspringen der mechanischen Vermittelung auf Seiten
des Abschn. A. der. Ph. d. Unb., und die Verkennung des teleolo-
gischen Charakters der mechanischen Vermittelung als Mittels zu
idealen Zwecken auf Seiten der Gegenschrift.
Allgemein« Verbetnerkttägea. 277
Es ist wohl zu beachten, dass diese höhere Synthese ihre Gültig-
keit behält, gleichviel ob man der Ansicht ist, dass die Wirkung der
unbewussten teleologischen Principien sich nur in, oder dass sie
sich sowohl in als auch neben der natürlichen mechanischen
Vermittelung äussert, ob man mit andern Worten dafür hält, dass
alle unbewusst-psychischen Functionen, welche die Welt aasmachen,
blosse Snmmationsphänomene aus Atomfunctionen seien, oder ob man
sie für Sammationsphänomene einerseits ans Atomfunctionen und
andrerseits ans hinzukommenden unbewusst-psychischen Functionen
höherer Ordnungen hält. Ich habe an verschiedenen Orten erklärt,
dass und aus welchen Gründen ich die letztere Ansicht für die nach
dem gegenwärtigen Stande unsrer Kenntnisse bei weitem wahr-
scheinlichere halten muss. Wer mir aber in diesem Punkte nicht
beipflichtet, ist meines Erachtens dennoch durch die vorgetragenen
Erwägungen gebunden, meinen synthetischen Standpunkt als den
richtigen anzuerkennen, und ich habe darauf aufmerksam gemacht,
dass diese ganze Frage von nur secundärer Bedeutung ist und die
letzten und höchsten Principien meines philosophischen Systems gar
nicht berührt.
Die Gegenschrift, welche sich auch hier auf den Standpunkt
einer einseitig mechanistischen Weltansicht stellt, erkennt allerdings
diese über ihren Standpunkt hinausgehende Synthese nicht an, und
ignorirt demgemäss, dass schon in den von ihr bekämpften Auf-
lagen der Ph. d. Unb. diese Synthese deutlich genug als principielles
Ziel hingestellt, obschon in der Ausführung nicht überall festgehalten
ist Die Tactik der Gegenschrift besteht einfach darin, nach Art
der Naturforscher gegen den Gedanken dieser Synthese die Augen
zu verschliessen und die Gegensätze als nackte Alternative
aufrecht zu erhalten. Entweder teleologische Metaphysik, oder
mechanische Yermittelung ! Eines schliesst das andere aus, und in
dem Grade, als es ihr gelingt, die letztere wahrscheinlich zu machen,
glaubt sie demnach die erstere widerlegt zu haben. Man braucht
sich nur darauf zu besinnen, dass dem relativen Gegensatz ganz
willkürlich der Charakter einer Alternative beigelegt ist, und dass
an Stelle . des „Entweder oder" das „Sowohl als auch" zu setzen ist,
so erlischt jede Beweiskraft dieses Verfahrens, und es bleibt von
den ganzen vermeintlichen Gegenbeweisen gegen die teleologische
Metaphysik nichts übrig als einige schätzbare Bereicherungen unserer
278 Anmerkungen xur zweiten Auflage.
Kenntniss in Betreff der mechanischen Vermittelung einiger ideellen
Aufgaben.
Ebenso wie bei der Bekämpfung der teleologischen Metaphysik
überhaupt, so schöpfen auch bei der Frage nach der Zulassung
oder Ausschliessung unbewusst - psychischer Functionen neben den
Gombinationen der Atomfunctionen die Argumentationen der Gegen-
schrift ihre ganze Beweiskraft aus dem unerwiesenen und still-
schweigend als zugestanden betrachteten Vorurtheil, dass es sieb
um eine Alternative handle, und dass jeder Zuwachs an Wahr-
scheinlichkeit für die eine Seite eine gleichgrosse Wahrscheinlichkeits-
verminderung der andern sei. Entweder unmittelbare Folge einer
teleologischen unbewusst-psychiseben Function, oder Wirkung mecha-
nischer materieller Vorrichtungen, — eine dritte Möglichkeit wird von
der Gegenschrift ignorirt. Die dritte Möglichkeit ist aber die
Cooperation beider Seiten, und grade diese wird von der FL d.
Unb. als der normale Fall angesehen, während die unmittelbare
teleologische Function allein nur da oder insoweit als Ursache gilt,
wo oder insofern die mechanischen materiellen Vorkehrungen oder
Hilfsmechanismen (z. B. molecularen Hirn- und Ganglien-Prädispo-
sitionen) nicht vorhanden sind, z. B. wo sie erst gebildet werden
sollen. Ist aber die Cooperation beider Factoren der normale Fall,
so beweist der Nachweis der Mitwirkung des einen Factors im
concreten Falle nicht das Geringste gegen die Mitwirkung des
andern Factors, d. h. alle Beweisversuehe gegen das Vorhandensein
unbewusst-psychischer Functionen, die sich nur auf die Hervorhebung
der mitwirkenden mechanischen Factoren stützen, sind in ihren
Grundlagen verfehlt. Dieser principielle Irrthum entspricht dem
naturwissenschaftlichen Vorurtheil, als ob in der Physiologie eigent-
lich die ganze Psychologie schon enthalten sei (vgl. oben S. 233),
während doch die Physiologie für die Psychologie niemals mehr als
eine Hülfswissenschaft sein kann. Eine Richtigstellung des Ver-
hältnisses von Natur und Geist genügt allein schon zur Zurück-
weisung solcher Ansprüche, die Psychologie oder Geisteslehre vom
Standpunkt der Physiologie meistern zu wollen.
9« Die Kritik vom Standpunkte der Deaeendenstheorie«
Die Gegenschrift will aber das Unbewusste nicht bloss vom
Standpunkt der Physiologie, sondern auch von dem der Descendenz-
Allgemeine Vorbemerkungen. 279
theorie ans beleuchten, und behauptet, bei einer Beurtheilung der
Ph. d. Unb. vom Standpunkt der Descendenztheorie die Grenzen
einer „immanenten Kritik" innezuhalten, weil die Descendenztheorie
ein vom System selbst adoptirtes Princip sei (S. 22 — 23). Hiergegen
ist zweierlei zu bemerken.
Zunächst ist die Descendenztheorie kein Princip im Sinne der
einem philosophischen System zu Grunde liegenden metaphysischen
Principien, sondern ist innerhalb des Systems eine nebensächliche
Bestimmung von noch nicht einmal secundärer Bedeutung, welche
allerdings für die Naturphilosophie von hohem Werth ist, und nach
meiner Ansicht aus den Principien der Ph« d. Unb. sich folgerichtig
ergiebt. Nur deshalb, weil die Abstammungslehre als folgerichtige
Consequenz der Principien und als harmonisches Glied des ganzen
Systems erschien, durfte und musste dieselbe vom System adoptirt
werden. Sollte sich dagegen ergeben, dass diese Harmonie und
folgerichtige Einordnung ein irrthümlicher Schein war, so würde die
Frage eine erneute Prüfung erfordern, ob bei constatirter Unverein-
barkeit des Systems mit der Descendenztheorie das erstere oder die
letztere zu weichen habe, und keinenfalls würde in diesem Fall die
Berufung auf die Adoption der letzteren durch das System von
Gewicht sein, weil ja letztere wesentlich auf der Voraussetzung der
harmonischen Uebereinstimmung beruhte. Eine Kritik der metaphy-
sischen Principien eines Systems, welche sich lediglich auf ein
Aussenwerk des Systems von so untergeordnetem Range stützt,
kann deshalb, wie schon von Venetianer hervorgehoben worden ist,
keinenfalls den Anspruch erheben, immanente Kritik des Systems
zu sein, d. h. letzteres aus sich selbst zu bekämpfen und darum bei
erfolgreichem Kampfe in's Herz zu treffen.
Zweitens aber ist zu bemerken, dass die Behauptung der Gegen-
schrift, die Ph. d. Unb. aus dem Standpunkt der Descendenztheorie
zu kritisiren, sich bei näherem Zusehen als eine falsche Vorspiegelung
erweist, deren Scheinbarkeit durch die im Darwinismus so beliebte
Escamotage von Descendenztheorie und Selectionstheorie erreicht
wird. Nicht die Descendenztheorie hat jemals den Anspruch erheben
können, ein mechanisches Erklärungsprincip zu sein, sondern nur
die Selectionstheorie. In der That kämpft die Gegenschrift nicht
vom Standpunkt der Descendenztheorie, sondern von dem der
Selectionstheorie gegen die teleologische Metaphysik der Ph. d. Unb.;
280 Anmerk u ngen cor zweiten Anlage.
weil es aber mit der Selectionstheorie, ihrem Werth und ihrer Trag-
weite, weit bedenklicher steht als mit der Descendenztheorie, so sagt
sie „Descendenztheorie", wo sie in Wahrheit nur die „Selections-
theorie" meint Sie begeht damit nicht nur die von ihr selbst (auf
S. 23) gertigte, aber im Lager des Darwinismus allgemein übliche,
and deshalb für diesen Standpunkt typische Confusion, sondern sie
bekämpft auch die Phil. d. Unbew. thatsächlich von zwei Voraus-
setzungen aus, welche von der Ph. d. Unb. nicht nur nicht zuge-
standen, sondern geradezu bestritten werden.
Diese Voraussetzungen sind: erstens, dass die Selectionstheorie
ein rein mechanisches Erklärungsprincip sei, und zweitens, dass
dasselbe „die unzweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende
Ursache des Uebergangs" aus einer organischen Form in die
andere sei (S. 24). Diese Voraussetzungen sind von der Ph. d. Unb.
natürlich nur durch Andeutungen bekämpft, da in einem philosophi-
schen Werk dieser Art für weiteres kein Raum war; dieselben sind
aber von der Gegenschrift in keiner Weise zu begründen versucht,
wenn man nicht die unstatthafte Analogie vom unorganischen Gebiet
der Natur auf das organische (S. 46—50) für eine solche Begründung
nehmen will. Diese Grundlagen der Kritik sind also nicht nur nicht
von der Ph. d. Unb. adoptirt, sondern sie schweben überhaupt in
der Luft, und mit ihnen die ganze Kritik. In meiner Schrift
Aber „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus" habe ich die gründ-
lichere Prüfung dieser Voraussetzungen nachgeholt; die dort ge-
wonnene Bestätigung und Verschärfung der Ablehnung derselben
durch die Ph. d. Unb. würde demnach ganz allein zur Abwehr der
geflammten Kritik genügen, auch wenn letztere nicht ohnehin schon
durch die oben dargethanen Haltlosigkeiten in der Argumentations-
weise gerichtet wäre.
In diesem Punkte kann demnach nicht von einer Synthese
zwischen dem Standpunkt der Ph. d. Unb. und der Gegenschrift
die Bede sein, sondern konnten meine späteren Arbeiten (ebenso
wie in Betreff der Auffassung des Verhältnisses von Natur und Geist)
nur die Aufgabe haben, den Standpunkt der Ph. d. Unb. gegenüber
diesen typischen Vorurtheilen der modernen Naturwissenschaft (oder
doch der grossen Mehrzahl ihrer Vertreter) fester zu begründen und
weiter auszuführen. Um eine höhere Synthese handelt es sieh nur
in dem Einen Punkte, der allerdings den eigentlichen Angelpunkt
Allgemeine Vorbemerkungen. 281
der ganzen Gegenschrift bildet, in der Betonung der Notwendigkeit
und Wichtigkeit der natürlichen mechanischen Vermittelnng für die
Realisirung der teleologischen Ideen, wie dies oben besprochen ist.
Diese allgemeinen Erörterungen möchten ausreichend sein, um
meine Stellung zu der Gegenschrift ebenso in inhaltlicher Beziehung
zweifellos zu präcisiren, wie die» durch das Vorwort in formeller
Hinsicht geschehen ist, und glaube ich, dass nach dem Voraus-
geschickten eine kurze Fassung der meisten Anmerkungen genügen
wird, um dem denkenden und stets auf den Zusammenhang des
Ganzen blickenden Leser auch meine Stellung zu den Einzelheiten
klar zu legen.
Anmerkungen zu Capitel I.
Der Inhalt dieses Gapitels im Allgemeinen hat in dem Ver-
gehenden (Allgem. Vorbemerkungen Nr. 9) seine Besprechung ge-
funden.
Nr. 1 (S. 24): Es ist ein Irrthum, dass die natürliche Zucht-
wahl irgendwie wirkende Ursache des Ueberganges sei.
Die Ursachen sind eine bestimmt gerichtete Variation, welche ge-
wisse Modificationen des Typus erzeugt, und eine Fortdauer dieser
Variationsrichtung in der Vererbung, welche diese Modificationen fort-
dauern, beziehungsweise sich steigern läset. Diese Ursachen sind
nach dem Eingeständniss des Darwinismus schlechthin unbekannte
Factoren. Die Auslese im Kampf um's Dasein ist niemals causa
efficiens davon, dass eine bestimmte Abänderung hervorgebracht
wird, sondern nur negative Bedingung derselben, insofern ohne
dieselbe die teleologisch bestimmten Abänderungen leichter wieder
zu Grunde gehen könnten. Wigand (IL 391) erläutert dies Ver-
hältniss treffend durch das Gleichniss des Mäcenatenthums : Wenn
ein Gönner einem jungen Mann durch seine Unterstützungen die
Ausbildung und Entfaltung eines bestimmten Talents ermöglicht, so
ist der Gönner zwar negative Bedingung, aber nicht positive wir-
kende Ursache der künstlerischen Leistungen seines Schützlings;
vielmehr entspringen letztere rein aus dessen persönlichen Anlagen.
Gewiss ist jede mitwirkende Bedingung solcher Art von höchster
Wichtigkeit und nicht zu vernachlässigen, aber ebenso wenig darf
sie mit der positiven causa efficiens des Vorgangs verwechselt wer-
den. Wenn nun in gewissen Fällen die negative Bedingung ein
Anmerkungen zu Gap. I. 283
mechanisches Vehikel ist, so beweist das mithin noch gar nichts
dafür, dass auch die positive treibende Ursache ein rein mechani-
scher Factor sei ; diese Frage bleibt völlig offen, und kann von den
Darwinisten nur unter der Voraussetzung bejaht werden, dass sie
auf Erkenntniss von Ursachen dabei völlig verzichten und an Stelle
der causalen Notwendigkeit den Begriff des Zufalls setzen, der
mit dem Verzicht auf naturwissenschaftliche Erklärung gleichbedeu-
tend, philosophisch unhaltbar, und den Thatsachen widersprechend
ist. Andernfalls ist in der planmässigen Bichtung der Variabilität
und deren Fortdauer in der Vererbung ein Product aus der Wirkung
mechanischer Ursachen und metaphysischer Principien zu sehen;
mindestens hat der Darwinismus nicht das Geringste dazu ge-
than, um diese Frage einer Entscheidung im Sinne der mecha-
nistischen Weltanschauung näher zu rücken, als sie es vor seinem
Auftreten war. (Vgl. Wigand: „Der Darwinismus und die Natur-
forschung Newton's und Cuvier's" Bd. IL Cap. VI.: „Der Darwinis-
mus und das Causalprincip" S. 364 — 399.) Somit sind beide Prä-
tensionen der Selectionstheorie gleich unhaltbar, sowohl diejenige,
die Ursache des Uebergangs erklärt zu haben, als auch die, sie
als ein rein mechanisches Princip enthüllt zu haben, und des-
halb sind auch alle Folgerungen hinfällig, welche an diese Präten
sionen geknüpft werden, insbesondere der Analogieschluss, dass
auch die etwa noch zur Ergänzung der Selectionstheorie erforder-
lichen und künftig zu entdeckenden weiteren Ursachen der Typen-
umwandlung rein mechanische Principien sein würden.
Anmerkungen zu Gapitel IL
Nr. 2 (S. 33): Die Naturwissenschaft als Naturwissenschaft
kann dies darum nicht acceptiren, weil sie damit aus ihrer Sphäre
herausträte ; aber nichts hindert die Naturforscher als Menschen und
Denker, die vorweggenommenen metaphysischen Erklärungen auch von
solchen Erscheinungen und Erscheinungsgebieten zu acceptiren, wo
die naturwissenschaftlichen Erklärungen noch fehlen. Nur wenn
die metaphysische Erklärung die naturwissenschaftliche ausschlösse!
wäre sie dem Naturforscher unannehmbar ; da aber, wie ich stets be-
tone, dies nicht der Fall ist, sondern die Naturwissenschaft ruhig
weiter zu forschen hat nach den mechanischen Vermittelungen, so
284 Anmerkungen cor zwölften Auflage.
macht die metaphysische Erklärung die naturwissenschaftliche keines-
wegs überflüssig oder entbehrlich. Wollte der Naturforscher jede
metaphysische Erklärung als unannehmbar abweisen, bloss darum,
weil sie keine naturwissenschaftliche Erklärung ist, so würde er
damit erklären, dasß er die Naturwissenschaft für die alleinige?
alles Erklärbare erschöpfende Wissenschaft halte. Dies wäre ebenso
beschränkt , als wenn der Philosoph alle naturwissenschaftlichen
Erklärungen ablehnen wollte, weil sie keine metaphysischen Erklä-
rungen sind. — Man denke sich einen Augenblick Raphael's Ma-
donna dio San Sisto als zu erklärendes Object. Der Philosoph
sacht dasselbe dadurch zu erklären, dass er die religiösen und
ethischen Ideen entwickelt, auf denen das Werk beruht, die cultur-
geschichtlichen Verhältnisse,] durch welche es bedingt ist, und die
ästhetischen Grundbegriffe, welche seine Wirkung auf das Gemüth
des Beschauers verständlich machen. Ja, sagt der Naturforscher,
das alles ist doch keine Erklärung im Sinne der Naturwissenschaft,
und deshalb kann ich es als solche nicht acceptiren. Darin hat
er zweifellos Recht, aber Unrecht hat er, wenn er hinzufügt: darum
kann ich es überhaupt nicht acceptiren. Er hat Recht, wenn er
sich bemüht, die Adhäsion der Farbstoffe an der Leinewand, die
chemische Constitution derselben, und die aus ihr folgende Absorp-
tion, Reflexion und Dispersion der weissen Lichtstrahlen zu erfor-
schen, die Gesetze der Perspective und die Reconstruction körper-
licher Vorstellungen durch die Wahrnehmung des flächenhaften
Bildes zu ermitteln, u. s. w. Er hat aber Unrecht, wenn er mit
allen diesen naturwissenschaftlichen Erklärungen die Wirkung des
Bildes auch nur annähernd erschöpfen zu können glaubt, wenn er
sich einbildet, durch alle seine exacten Untersuchungen dem Ver-
ständniss der eigentlichen und wesentlichen Bedeutung seines Ge-
genstandes auch nur näher zu kommen. Das, worauf es ankam,
hatte der Philosoph ohne alle naturwissenschaftliche Kenntnisse
jedenfalls weit besser erklärt als der Naturforscher, und es war für
den Wahrheitsgehalt der philosophischen Erklärungen ganz gleich*
gültig, ob zu der Zeit, wo sie aufgestellt wurden, die Physik schon
irgend welche Erklärungen der Farbenwirkung zu geben vermochte,
oder ob dieses Feld damals noch eine grosse Lücke in ihr bildete.
Nun ist aber der Mensch als Mikrokosmos wahrlieh kein kleineres,
sondern ein weit grösseres Kunstwerk als jedes von Menschenhand
Anmerkungen zu C*p. II. 285
vollbrachte; seine geistige Bedeutung im Verhältniss zu seiner ma-
teriellen Grundlage ist eine noch unverhältnissmässig grössere als
bei der idealsten Schöpfung, welche er selbst hervorzubringen ver-
mag. Nehmen wir auch eines der höchsten menschlichen Geistes-
werke zum Beispiel, wie wir es gethan haben, so ist doch dieses
Werk nur Ein Ausfluss dieses Ettnstlergeistes neben vielen andern,
erschöpft also nicht entfernt auch nur sein künstlerisches Vermögen,
und seine künstlerische Thätigkeit ist wiederum nur Ein«, wenn
auch bevorzugte, so doch einseitige Sichtung seines gesammten
Geisteslebens. Ein Genie ersten Banges, gleichviel auf welchem
Gebiet, ist immer ein unendlich viel reicherer Mensch, als man aus
seinen Werken schliessen kann. Gilt dies nun schon für den Mi-
krokosmos, der nur ein Exemplar einer bestimmten, noch unvoll-
kommenen Entwicklungsstufe des bewussten Geistes ist, in wie viel
höherem Grade muss es nicht erst von dem Makrokosmos gelten,
wenn man denselben als die einheitliche Totalität aller Phasen
seines Processes betrachtet. Die Prätension des Naturforschers,
durch seine exacten. Forschungen in der materiellen Grundlage der
Welt die philosophische Erklärung derselben überflüssig und ent-
behrlich machen zu können, muss daher auf den denkenden Menschen
noch weit komischer wirken als in dem angefahrten Beispiel der
sixtinischen Madonna, und ist jedenfalls eine weit gröbere und
unentschuldbarere Einseitigkeit als die entgegengesetzte des ein-
seitigen Idealismus, der durch seine philosophischen Erklärungen
die naturwissenschaftlichen entbehrlich machen und ersetzen will. .
Nr. 3 (S. 34): Unrichtig; vgl. W. u. I. im Darwinismus S. 170
bis 172.
Nr. 4 (S. 35): Vgl. W. u. I. 165-166.
Nr. 5 (S. 36): Vgl. W. u. I. 174—176, Ph. d. ünb. 7. Aufl. I.
454—455.
Nr. 6 (S. 36) : Der Instinct findet bei Gelegenheit des Cap. X
genaue Erörterung, wo sich zeigen wird, dass für die darwinistisehe
Erklärung des Instincts dasselbe gilt wie für diejenige der Typen-
Umwandlung; sie giebt statt der positiven Ursache des Vorgangs
nur eine negative Bedingung desselben, welche nicht einmal in
allen Fällen zur Geltung gelangen kann, also keineswegs conditio
sine qua non ist, sondern nur ein technischer Behelf, von secundärer
Bedeutung. Die positive Ursache des Instincts bleibt bestehen, wie
286 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
die Ph. d. U. sie angegeben. Richtig ist, dass eine genauere Aus-
einandersetzung mit dem Darwinismus schon in dem betreffenden
Gapitel des Abschnittes A der Ph. d. U. wünschenswert gewesen
wäre, obschon sie ohne vorausgeschickte Gesammtkritik des Darwi-
nismus dort kaum anzubringen war. Unrichtig dagegen ist die
Hindeutung, als ob Darwin in seinem Capitel über den Instinct eine
wirkliche Erklärung desselben gegeben hätte, oder auch nur hätte
geben wollen, wie dies von Seiten der minder besonneren Darwinia-
ner als zweifellos vorausgesetzt wird. Darwin verwahrt sich (Ent-
stehung der Arten, deutsch von V. Garns, 4. Aufl. S. 234) ausdrück-
lich dagegen, als wenn er bei der Untersuchung der Organisation
eine Erklärung über den Ursprung des Lebens, oder bei der
Untersuchung des Instincts eine solche über den Ursprung der
geistigen Grundkräfte zu geben beanspruchte, und beschränkt
den Gegenstand seiner Betrachtungen durchaus auf die Verschie-
denheiten des Instincts in einer und der nämlichen
Classe. Was er bietet, ist eine Untersuchung über den Einfluss
der natürlichen Zuchtwahl zur Befestigung und Häufung der kleinen
Abänderungen (ebenda S. 270 Z. 11 — 13) der als bestehend voraus-
gesetzten Instincte, während er die positiven Ursachen (sowohl der
Grundthatsache des Instincts als auch) seiner Abänderungen aus-
drücklich als unbekannt bezeichnet (ebenda S. 236 Z. 26). Da
die Ph. d. U. den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl zur Befestigung
und (bei Fortdauer der Wirkung der unbekannten Ursachen in
gleicher Richtung) zur Häufung jener kleinen Abänderungen der
bestehenden Instincte gar nicht bestreitet, so befindet sie sich auch
in keiner Weise in einer Meinungsdifferenz mit Darwin, wenn sie
jene unbekannten positiven Ursachen des Instincts und seiner
Modificationen zu ergründen sucht, obschon es möglich ist, dass die
Hypothese, welche sie in dieser Richtung aufstellt, nicht die Zu-
stimmung Darwin's finden würde. Nur das sei hier noch bemerkt,
dass Darwin die positiven Ursachen für die Abänderungen der In-
stincte nicht etwa im Lamarck'schen Princip (des Gebrauchs und
Nichtgebrauchs) sucht; er giebt zu, dass dieses Princip in einigen
Fällen mitgewirkt haben möge (S. 270 Z. 14—15), erachtet aber
dessen Wirkungen beim Instinct von ganz untergeordneter
Bedeutung gegenüber den Wirkungen der natürlichen Zuchtwahl
(S. 236 Z. 22—25.).
Anmerkungen zu Gap. n. 287
Nr. 7 (S. 39): Hier liegt die petitio principii der ganzen Ar-
gumentation versteckt. Die specifische Differenz des Unorganischen
und Organischen, die jedenfalls weit grösser ist als diejenige zwi-
schen verschiedenen Specien oder Ordnungen von Organismen, ist
hier dnrch ein blosses „oder auch" übersprungen. Es handelt sich
aber dabei um eine fievdßaatg elg äX?*6 y£vog } und diese kann nie-
mals durch Summation zahlloser unerheblicher Minimalschritte er-
schlichen werden. Bei einem ganz bestimmten Punkt tritt der
Unterschied des lebendigen Organismus von der unorganischen ge-
formten Materie ein ; ein todtes Eiweissklümpchen und eine lebendige
Monere sind einmal heterogene Dinge, deren himmelweiter
Unterschied durch keine Summation minimaler Schritte zu vertuschen
oder zu überbrücken ist. Mögen die einfachsten Elemente des
organischen Lebens noch weit tiefer hinab verfolgt werden, so wird
doch bei noch so grosser scheinbarer Annäherung immer eine
scharfe Kluft zwischen den Begriffen des unorganischen Aggregats
und des lebendigen Organismus bestehen bleiben, die jeder Identifi-
cation der Grenzrepräsentanten beider heterogenen Gebiete spottet.
Nr. 8 (S. 40): Hier haben wir die nämliche petitio principii
wie oben in etwas anderer Gestalt. Wenn die Ph. d. U. von der
gegebenen Möglichkeit der Entstehung von Organismen in einer
gewissen Phase der geologischen Entwickelung spricht, so meint sie
selbstverständlich nur erstens das Fehlen von hindernden Umständen
und zweitens das Vorhandensein der unorganischen Kräfte in einer
Gestalt, welche dem organisirenden Princip brauchbares Material
zur Herstellung von Organismen bot. Die Gegenschrift aber schliesst
so: aus dem Wirklichwerden der Organisation ist zu schliessen,
dass die Bedingungen ihrer Möglichkeit gegeben waren, und diese
Möglichkeit genügte, um unter einer hinlänglichen grossen Zahl
erfolgloser Combinationen auch die Chance erfolgreicher Constella-
tionen darzubieten. Dabei ist aber Möglichkeit verstanden als Mög-
lichkeit der Verwirklichung der Organisation aus unorganischen
Kräften allein. Dies ist eben die ? petitio principii, die Verwechse-
lung von negativen Bedingungen mit positiver Ursache, welche bei
dem Darwinismus ebenso wie bei dem älteren Materialismus stereotyp
wiederkehrt.
Nr. 9 (S. 40): Dieser Schlusssatz ruht lediglich auf obiger
petitio principii. Giebt man einmal zu, dass aus zufälligen Com-
288 Anmerkungen rar uralten Auflage.
binationen unorganischer Kräfte allein die Entstehung des Organi-
schen möglieh »ei, dann braucht freilich der Zufall bloss noch
beliebig lange Zeiträume zu seinem Spiel zugemessen zu bekommen.
Richtig ist an der Polemik nur soviel, dass auch für das Gegentheil
die Wahrscheinlichkeitsrechnung in diesem Falle nichts beweisen
kanu, weil das hypothetische Hinübertreten auf den Boden des
Materialismus nicht, wie beabsichtigt, dazu führt, den Gegner auf
seinem eigenen Boden zu schlagen. Indem ich diesen Versuch in
dem Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" als misslangen anerkenne,
halte ich um so entschiedener daran fest, dass die Voraussetzung,
auf welehe jene materialistischen Schlussfolgerungen sich gründen,
als petitio principii zu perhorresciren ist. Dem Aufsatz über die
Lebenskraft lege ich wenig Werth bei, und ich würde denselben
in meinen „Ges. Stud. u. Aufs." gar nicht wieder haben mit ab-
drucken lassen, wenn ich nicht den Lesern dieser Schrift den Ver-
gleich des hier bekämpften Aufsatzes hätte offen halten wollen.
Nr. 10 (ß. 42): Weit entfernt, dass diese Thatsaohe irgend ein
Bäthsel auf mechanischem Wege lösen konnte, ist sie vielmehr
selbst nichts weiter als die naturwissenschaftliche, empirische Con-
statirung der mechanischen Unerklärbarkeit der Function. Denn da
alle mechanische Erklärung bestimmter Functionen sich auf die
Dispositionen der Organe stützt, so kann mechanische Erklärung
sieh nur auf solche Functionen erstrecken $ welche später sind als
die Organe mit ihren bestimmten Dispositionen; dagegen fällt jede
Function, welche früher als jene ist, ausserhalb des Bereichs mecha-
nischer Erklärbarkeit, da das Prios nicht durch das Posterius causal
erklärt werden kann. Wir werden hierauf noch öfters zurückkommen
müssen, und ich füge deshalb schon hier die Bemerkung hinzu, dass
eine Erklärung, welche für einige Fälle eine gewisse Erscheinung
zu erklären scheint, für andere aber entschieden nicht, entweder eine
falsche und irrthümliche Erklärung sein muss, oder doch blos eine
secundäre Bedeutung für die Erklärung (als Hülfsmechanismus) haben
kann, aber jedenfalls die Frage nach der principiellen, allgemein-
gültigen, primären Erklärung, nach der eigentlichen positiven Grund-
ursache der Erscheinung, offen lässt.
Nr. 11 (S. 42): Die Entwickelung aller specifisohen Disposi-
tionen und Organe aus dem „Ur-Indifferenzpunkt" des Protoplasmas
scheint nur deshalb eine Erklärung in sich zu enthalten, weil die
Anmerkungen zu Cap. £1. 289
Fähigkeit des letzteren zu allen möglichen Leistungen, d. h. zn allen
Functionen, welche die Dispositionen und Organe erst hervorbringen
sollen, als gegebene Thatsache vorausgesetzt wird. Die Wunder
werden aber nicht dadurch erklärt, dass man sie aus einem noch
unendlich wunderbareren „Urwunder" ableitet und dieses als selbst-
verständlich und keiner Erklärung bedürftig gelten lässt. Hier ist
die mechanische Vermittelung mit dem schöpferischen Princip ver-
wechselt. Denn letzteres bedarf zwar einer materiellen Basis zu
seiner organisirenden Thätigkeit und findet dieselbe im Protoplasma,
das noch aller specifischen Dispositionen entbehrt, also gleichsam
noch tabula rasa ist; aber je leerer und unbeschriebener die Tafel
ist, desto weniger kann die Function des Schreibens und die durch
sie entstehenden Schriftzüge aus dem Vorhandensein und der Be-
schaffenheit der Tafel erklärt werden, desto mehr bedarf es dazu
der Annahme eines Schreibers.
Nr. 12 (S. 44) : Das Vorstehende giebt ein treffendes Beispiel
zu dem (in den Allg. Vorbemerkungen Nr. 7 gerügten) Irrthum,
als ob die Aufzeigung der allmählichen mechanischen Vermittelung
des zweckmässigen Resultats irgend etwas gegen seinen teleologischen
und idealen Charakter oder gegen seinen Ursprung aus einem idealen
Princip bewiese. Da die mechanische Vermittelung in der Natur
nicht zu umgehen ist, so wäre es ein unzweckmässiger Mehraufwand
von bildender Energie, wenn ein Organ einen höheren Grad teleo-
logischer Entwickelung zeigte, als die Lebensbedingungen des
Organismus erfordern.
Nr. 13 (S. 44): Zuzugeben ist, dass die Verhältnisse in der
Wirklichkeit nicht so einfach für den Rechnungsansatz liegen, als
die Ph. d. Unb. in diesem Capitel zum Zweck der didactischen
schematischen Illustration annimmt. Irrthümlich aber ist, wie ge-
sagt, die Meinung, als ob die Aufzeigung der schrittweisen Heraus-
bildung der höheren Entwickelungsstufen eines Organs aus den
niederen und aus dem Indifferenzpunkt des Protoplasmas jemals
eine Instanz abgeben könne gegen die Zweckmässigkeit und gegen
die Mitwirkung teleologischer Factoren bei den einzelnen Schritten
der organisatorischen Vervollkommnung.
Nr. 14 (S. 44): Das ist unrichtig; die einzige in vielen Fällen
identische Ursache, welche die Gegenschrift namhaft machen kann,
ißt das Selectionsprincip, und dieses ist gar keine wirkende Ursache
E. v. Hartniauii, Das Unbewusste. 2. Aufl. 19
290 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
im naturwissenschaftlichen Sinne (vgl. Anm. 1), und am allerwenigsten
eine Ursache der organisatorischen Vervollkommnung im mor-
phologischen Sinne. Die einzige Ursache, die bei dem Process
wirklich überall identisch ist, ist eben die durch jene Wahrschein-
lichkeitsrechnung zu erschliessende, nämlich das teleologische Prin-
cip, das sich selber gleich bleibt tro.tz seiner nach den Umständen
wechselnden Bethätigang.
Nr. 15 (S. 45): Hier tritt es deutlich zu Tage, dass nicht die
Descendenztheorie, sondern lediglich die Selectionstheorie den Boden
bildet, von welchem ans vermeintlich die bisherige Teleologie soll
über den Haufen geworfen werden können.
Nr. 16 (S. 46) : Vgl. „W. u. I. im Darwinismus« S. 162—164.
Anmerkungen zu Capitel HI-
Nr. 17 (S. 58) : Diese Argumentation mit der Concurrenz um's
Dasein ist ebenso falsch wie blendend; eine gewisse Bedeutung
könnte ihr nur auf der Basis eines metaphysischen Individualismus
zukommen, während sie auf der Basis eines hylozoistischen Natu-
ralismus gar keinen Sinn hat. Nirgends in der Natur ist das
abstracte Dasein Gegenstand der Concurrenz, sondern immer nur
eine bestimmte Beschaffenheit des Daseins, d. h. das Dasein in einer
gewissen Form oder auf einer bestimmten Individualisationsstufe.
Die Uratome kämpfen nicht um das Dasein als Atome, denn dieses
ist ihnen unverlierbar, sondern um die Erringung eines bestimmten
Platzes in den primitivsten chemischen Verbindungen. Die kosmischen
Massen kämpfen ebensowenig um ihr Dasein, denn als Materie sind
sie für die Dauer des Weltprocesses unzerstötbar, sondern sie kämpfen
um ihre Formation zu kosmischen Individuen (Fixsternen, Planeten,
Monden u. s. w.). Molecule concurriren mit Moleculen, Moneren mit
Moneren, Algen mit Algen, Pilze mit Pilzen, Fische mit Fischen,
Bäume mit Bäumen und Raubvögel mit Raubvögeln um ihr Dasein
auf der fraglichen Individuationsstufe ; dagegen findet, wie der
Darwinismus ausdrücklich anerkennt, zwischen Individuen von ganz
verschiedener Organisationshöhe keine Concurrenz statt. Wenn nun
den Individuen höherer Ordnungen metaphysische Wesenskerne zu
Grunde lägen, welche ebenso unvergängliche Monaden wären wie die
Atome als Individuen niedrigster Ordnung, so könnte man von einer
Anmerkungen zu Gap. IIL 291
CoDcurrenz um's Dasein unter diesen Monaden höherer Ordnungen
wenigstens in dem Sinne reden, dass die un vernichtbaren Individual-
wesen danach ringen, einen Platz in der objectiv- realen Erscheinungs-
welt zu erobern. Aber wenn in den Individuen höherer Ordnungen
kein substantieller Kern der Individualität zugestanden wird, wenn
dieselben lediglich als Combinationsresultate aus Atomkräften gelten,
dann sind auf allen Individuationsstufen die alleinigen Träger des
Daseins die Atome; eine bestimmte Anzahl von Atomen kann aber
nicht mehr da sein, wenn sie zu einem organischen Individuum
höherer Ordnung gruppirt ist, als wenn sie ein unorganisches Aggre-
gat in einem Schmutzhaufen bildet. Wenn also die Materie durch
Organisirung und durch Steigerung der Organisationshöhe kein
Plus an Dasein gewinnt, so kann es auch nicht die Concurrenz
um das Dasein oder die Anpassung an's Dasein sein, wodurch die-
selbe sich von den Individuationsstufen niederer Ordnung zu denen
höherer Ordnung hinaufarbeitet, — so kann auch das Dasein nicht
der Zweck sein, welcher der Entwickelung als Ziel zu Grunde
liegt. Der Anpassungsprocess bezieht sich niemals auf das Dasein
als solches oder in abstracto, sondern auf das Dasein auf einer
bestimmten Organisations- und Individuationsstufe ; die Materie als
Träger aller Individuationsformen kann aber gar kein Interesse
daran haben, in welcher dieser Formen sie ihr Dasein hat, da sie
doch nicht mehr als dasein kann. Eher könnte man denken, die
Materie müsste ein Interesse daran haben, sich die Unlust des
Kampfes um das Dasein in höheren Individuationsformen durch
Verharren auf der niedrigsten zu ersparen, als dass man die Mög-
lichkeit einer Entwickelung durch fortgesetzte Anpassung an das
von Anfang an besessene Dasein begreifen könnte. Handelt es sich
aber um die Behauptung des Daseins in den einmal zufällig ergrif-
fenen Formen, so kann noch weniger ein Zweifel obwalten, dass
das Gegentheil von Entwickelung aus der blossen Rücksicht aufs
Dasein hervorgehen müsste; denn jede Individuationsform ist um
so leichter zu behaupten und vor dem Wiederuntergang zu bewah-
ren, je niedriger ihre Ordnung und je geringer ihre Organisations-
höhe ist. Dass jegliches Ding und jegliches Individuum auf der
Individuations- und Organisationsstufe, auf welche es sich nun ein-
mal gestellt findet, nur existiren kann, wenn es seine Existenz-
bedingungen in sich realisirt findet, d. h. wenn es sich in einem
19*
292 Anmerkungen cur «weiten Auflage.
gewissen Anpassungsgleichgewicht zu seiner Umgebung befindet, ist
zunächst eine blosse Tautologie, gegen die Niemand etwas einwen-
den wird (es sei denn ihre Trivialität) ; wenn aber diese Tautologie
benutzt werden soll, um aus der Thatsache, dass das Nichtexistenz-
fähige nicht existiren kann, jenes Dasein und die concurrirende
Anpassung an dasselbe zum treibenden Grund der Entwickelung zu
machen, so ist das wiederum die schon oben (in Anm. 1) gerügte
Verwechselung von negativer Bedingung und wirkender Ursache.
Die Selectionstheorie sagt nur: 1. das Existenzunfähige wird zu
Grunde gehen ; 2. das Existenzfähige wird bestehen (seil, wenn es
entstanden ist); 3. existenzfähig ist nur, was sich im Anpassung*
gleichgewicht zu seiner Umgebung befindet. Nur wenn man den
Conditionalsatz („wenn es entstanden ist") und mit ihm die positiven
wirkenden Ursachen dieser Entstehung ausser Acht lässt, kann man
in die Verwirrung gerathen, die negative Bedingung der Existenz-
fähigkeit für die wirkende Ursache der Entstehung und das un-
bestimmte Dasein für den positiven Grund der zweckvoll bestimmten
Existenz auszugeben. Wem das Gesagte noch nicht ausreichend
scheint, der denke daran, dass das Ziel der natürlichen Entwicke-
lung das geistige Leben ist, dass die natürlichen Individuen jeder
Ordnung nur deshalb um das Dasein kämpfen, damit aus diesem
Kampf der Geist resultire, der den Kampf u m ' s Dasein nur als die
Vorübung und den Fechtboden anerkennt zur Aufnahme des geisti-
gen Kampfes mit dem Dasein. So lange und so weit der Geist sieb
noch dazn hergiebt, im Kampf um's Dasein mitzuwirken, so lange
und soweit ist er selbst bloss Werkzeug im Naturprocess ; sobald
aber der Geist sich auf sich selbst besinnt, in dem Augenblick, wo
er beginnt, sich als Geist im Unterschiede von der Natur zu erken-
nen, und an den Problemen des Geistes zu arbeiten, da schlägt der
Kampf um's Dasein in den Kampf der Vernunft mit der brutalen
Thatsache des unlogischen Daseins um. Wie wenig auch anfänglich
dieser letzte Kern des geistigen Bingens dem Bewusstsein klar sein
möge, so kommt doch der Geist in letzter Instanz mit Naturnotwen-
digkeit dahin, den Kampf um's Dasein zum Zweck der Erhaltung
der natürlichen Basis der Individualität lediglich noch als bewusstes
Mittel fortzusetzen, welches ihm die Fortführung des geistigen
Bingens mit dem Dasein als dem Nichtseinsollenden ermöglichen
soll. Weit entfernt also, dass das Dasein Grund und Ziel der
Anmerkungen sra Cap. III. 293
Entwicklung wäre, ist vielmehr der Kampf um's Dasein nur teleo-
logisches Mittel für den Kampf des Geistes um die Ueberwindung
des Daseins.
Nr. 18 (S. 58) : Hier zeigt sich, dass am Maassstab des Daseins
gemessen es kein Höheres und Niederes giebt, weil Alles dem Da-
sein Angepasste gleich hoch steht, and Anderes als solches nieht
existirt. Ist das Dasein der einzige Zweck, so stehen Wurm und
Mensch gleich hoch und haben nach dem einzig für zulässig aus-
gegebenen Maassstab genau gleichen Werth. Entwickelung und
Rückbildung verlieren dann jede transcendente Wahrheit, und sinken
zu objectiv bedeutungslosen Maassstäben des subjeotiven mensch-
lichen Denkens herab ; der Mensch hält sich bloss noch aus leerem
Dünkel Air höher und werthvoller als den Wurm, und betrachtet
den Process nur darum als Entwickelung, weil er bei ihm mündet.
Diese Ansicht ist die streng folgerichtige Gonsequenz einer Natur-
betrachtung, welche vom Geist als dem Zweck der Natur abstrahirt
Sieht man davon ab, dass der Menschengeist höher und werthvoller
ist als der Geist eines Wurmes, und dass der Menschenleib als
Mittel des Menschengeistes höher und werthvoller ist als der Leib
des Wurmes, der nur Mittel für einen Wurmgeist ist, so schwindet
in der That jede Berechtigung, den menschlichen Organismus wegen
seiner grösseren Complication und Arbeitsteilung als etwas Höheres
wie den einfacher combinirten, aber dem Dasein ebenso gut an-
gepassten Organismus des Wurmes hinzustellen.
Nr. 19 (S. 59): Von vielen Gliedern erkennen wir diese Not-
wendigkeit sehr wohl, z. B. von der Pflanzenwelt; von vielen an-
deren können wir solche bisher nur vermuthen; von allen übrigen
können wir sie wenigstens nach dem gegenwärtigen Stand unserer
Kenntnisse nicht a priori verneinen, — im Gegentheil lässt das
zum Verständniss der makrokosmischen Harmonie erweiterte Gorre-
lationsgesetz des Darwinismus uns a priori daran festhalten, dass
kein Glied im Haushalt des Universums entbehrlich ist, wenn die
für das Leben des Geistes wesentlichen Theile desselben nicht in
einer ihre Zweckmässigkeit schädigenden Weise correlativ alterirt
werden sollen.
Nr. 20 (S. 59): Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus
und Hegelianismus" S. 217—224 u. 226—227« Wir wissen nicht,
ob die Knorpelfische allein das Gleichgewicht des maritimen Haus-
294 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
halte bei der heutigen Beschaffenheit des Meerwassers noch auf-
recht zu erhalten im Stande sein würden, und ob für diesen Zweck
nicht die Entstehung der Knochenfische nothwendig war.
Nr. 21 (S. 60): Die Ph. d. U. hat nicht beansprucht, die
Wahrscheinlichkeit davon zu erweisen, sondern nur die
Möglichkeit denkbar zu machen.
Nr. 22 (S. 60) : Diese Behauptung wird hinfällig mit der angeb-
lichen unheilbaren Schädigung der Teleologie durch die Descendenz-
theorie. Die Ph« d. U. sucht zu beweisen, dass wir uns mit einer
an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überzeugt halten
dürfen, dass der Process einen absoluten Zweck habe, und diese
Wahrheit bleibt ganz unberührt von allen Meinungsverschieden-
heiten darüber, erstens was -dieser Zweck sei, und zweitens, wie
er schliesslich werde erreicht werden. Die Ph. d. U. sucht als
wahrscheinlich zu erweisen, dass der Endzweck die Ueberwindung
des Unlogischen durch das Logische sei, und dass dieser Endzweck
durch den Act einer Universalwillensverneinung werde erreicht
werden. Wer weder diesen Ansichten beipflichen, noch sich andere
bestimmte Ueberzeugungen über beide Fragen zu bilden vermag,
filr den bleibt darum doch die Wahrheit unerschüttert bestehen,
dass der Weltprocess einen absoluten Zweck haben müsse; es
bleibt einem solchen nichts übrig, als sich zu bescheiden und abzu-
warten, dabei aber ebenso, als ob ihm das Was des Endzwecks be-
kannt wäre, diejenigen unbewussten Mittelzwecke zu Zwecken seines
Bewusstseins zu machen, welche als Zwecke desProcesses von uns
inductiv erkannt werden, obschon wir in ihnen keinen Selbstzweck
oder Endzweck zu sehen vermögen (vor Allem also die Steigerung
des bewussten Geisteslebens). Dass die für einen solchen ver-
bleibenden Schwierigkeiten auf keine Weise dadurch gelöst werden
können, dass man das Dasein als Grund und Zweck des Processes
annimmt, geht zur Genüge aus Anm. 17 u. 18 hervor.
Nr. 23 (S. 60): Vgl. Ph. d. U. II. 401—402. Die Ph. d. ü.
constatirt drei denkbare Fälle : 1) Universalwillensverneinung durch
die Menschheit, 2) Universalwillensverneinung durch andere Ent-
wickelungsformen des bewussten Geistes, 3) allseitiges Missglttcken
der teleologisch angestrebten Universalwillensverneinung. In den
Fällen 2 und 3 behalten die hier für die Erde und ihre Bewohner
gezogenen Consequenzen ihre volle Giftigkeit Die Ph. d. U. urgirt
Anmerkungen zu Gap. III und IV. 295
aber, dass die Menschheit, so lange sie nicht als unzureichend zum
Erlösungswerkzeug erwiesen ist, sich so verhalten müsse, als ob ihr
die Erreichung des Endzwecks gelingen müsse, und auch für den
Fall, dass dies ein Irrthum wäre, bleiben teleologische Perspectiven
offen, dass diese Arbeit der Menschheit dem Endzweck, wenn nicht
directy so doch indirect zu Gute kommen könne (vgl. „Neukant.,
Schop. u. Hegelianismus" S. 232—235).
Nr. 24 (S. 62) : Vgl. dagegen Ph. d. ü. IL 405—406.
Nr. 25 (S. 62) : Diese Behauptung ist bisher mindestens ebenso
unerwiesen wie ihr Gegentheil ; aber auch wenn die Annahme von
der zahllosen Vielheit gleichzeitiger Schauplätze eines höheren be-
wussten Geisteslebens richtig wäre, so bliebe doch die Möglichkeit
offen, dass in einer von uns noch nicht geahnten Weise die Paitial-
arbeitsleistungen aller dieser Theile des geistigen Universums alle
oder doch grösstenteils in einen Strom der geistigen Entwickelung
zusammenfliessen.
Nr. 26 (S. 63): Vgl. „Neuk., Schop. u. Hegelianismus" S. 234.
Nr. 27 (S. 63): Hierbei ist stillschweigend die Unmöglichkeit
vorausgesetzt, dass die irdische Entwickelung jemals in den Strom
einer Entwickelung von höherer Individualitätsstufe einmünden und
in letzterer aufgehobenes Moment werden könne. Uns scheint dies
bis jetzt ungefähr ebenso unglaublich und fabelhaft, wie vor hundert
Jahren die Behauptung, dass zwei Personen in Berlin und New- York
mit nicht nennenswerthem Zeitverlust sich schriftlich unterreden
können, oder wie vor einem Menschenalter die Prophezeiung er-
schienen wäre, dass man die fernen Urnebel des Himmels einer
chemischen Analyse unterwerfen und die Bewegungsgeschwindigkeit
eines auf die Erde zu oder von dieser hinweg sich bewegenden
Fixsterns werde messen können.
Anmerkungen zn Capitel IT.
Nr. 28 (S. 66) : Auch wenn die gemachten Voraussetzungen richtig
wären, würde keineswegs die ganze Platonische Ideenwelt ihrer
Stützen beraubt, sondern nur insofern sie die Typen der Organismen
als Naturideen und als Mittel zur Verwirklichung der Geistesideen in
sich enthalten sollte. Es ist eben in diesem Satze das einschränkende
„Insofern 1 ' des vorhergehenden Satzes ausser Acht gelassen.
296 Anmerkungen iur zweiten Auflage.
Nr. 29 (S. 67): Wenn die Teleologie in irgend welcher Ge-
stalt (gleichviel ob mit oder ohne metaphysische Eingriffe) bestehen
bleibt, so bleibt es auch wahr, dass alles causal Entstehende in
teleologischer Hinsicht vorherbestimmt, d. h. ideell anticipirt, oder
vor seiner Verwirklichung als blosse Idee (wenn auch nur implicite
in den jeweilig actualisirten anderen Ideen) gegeben gewesen ist.
Auch hier treffen wir auf den Fehlschluss, als ob die causale oder
mechanische Yermittelung der Resultate ihre ideale Bedeutung und
ihre teleologische Prädetermination irgendwie ausschlösse oder auch
nur weniger wahrscheinlich machte. Dass die Atome nicht in der
Lage sind, die Resultate ihres gesetzmässigen Zusammenwirkens
ideell zu anticipiren, wird gewiss jeder zugeben. Wenn aber die
Atomfunctionen als solche die idealen teleologischen Anticipationen
nicht in sich enthalten können, so folgt daraus nicht, dass letztere
nicht in anderweitigen Functionen desselben all-Einen Unbewussten
enthalten sein können, von welchem auch die Atomwirkungen nur
Functionen besonderer Art sind, und es ist für diese Frage ganz
indifferent, ob die Realisation jener idealen Anticipationen allein
und ausschliesslich durch das gesetzmässige Wirken der Atomkräfte
(als zureichendes Mittel für den Zweck) herbeigeführt wird, oder
ob dieselbe erst durch ein Zusammenwirken der Atome mit ander-
weitigen Functionen des All-Einen von höherer Ordnung zu Stande
kommen kann. (Vgl. oben „Allgemeine Vorbemerkungen" Nr. 6:
„Mechanistische und idealistische Naturphilosophie.")
Nr. 30 (S. 68) : Vgl. oben „Allg. Vorbem." Nr. 5 : „Theoretischer
und praktischer Idealismus" und „Neuk., Schop. u. Hegelianismus"
S. 82—116.
Nr. 31 (S. 71): Hinsichtlich der Stimmung ist diese Behauptung
nicht zutreffend, wie schon die im Text folgenden Citate zur Ge-
nüge beweisen. Hinsichtlich der Interessen ist sie mindestens un-
genau zu nennen, wie aus der zweitfolgenden Seite des Textes
hervorgeht; in Wahrheit ist auch hier die Plausibilität des Ein-
wands nur eine scheinbare.
Nr. 32 (S. 72): Die körperliche Vermittelung habe ich nie in
Abrede gestellt, in dieser Hinsicht ist also obige Behauptung (S. 54)
ungenau; ist aber der körperliche Vorgang dabei nur Vermittelung,
so muss sie doch Vermittelung von etwas Unkörperlichem sein.
Dies ist eben das Willensinteresse oder die Intention ; da diese eine
Anmerkungen zu Cap. IV. 297
bestimmte ist, muss sie auch idealen Inhalt haben. Folglich sind
Wille und Vorstellung gleichermaassen prima intentione unkörperlich
zu denken, unbeschadet der Notwendigkeit irgend welcher körper-
licher Vermittelung zur Realisirung dieser Intentionen.
Mr. 33 (S. 73): Die Annahme dieser Vermittelung macht die
immateriellen Willensimpulse keineswegs überflüssig. Das Gross-
hirn kann den Aufmerksamkeitsstrom nach den Sinnesganglien und
peripherischen Sinnesorganen entsenden, wer entsendet aber den
Aufmerksamkeitsstrom innerhalb der Gedächtnisssphäre des Gross-
birns, es sei denn ein immaterieller Impuls, welcher nicht bloss die
Spannkraft auslöst, sondern auch derselben ihre Richtung anweist?
Denn thatsächlich tastet die Aufmerksamkeit nicht blind wie eine
Raupe, sondern in glücklichen Augenblicken wahrhaft ingeniös,
d. h. hellsehend. Die schöpferische Conception ist noch etwa* ganz
anderes, als blosse Direction der Aufmerksamkeit ; sie ist eine Wirk-
samkeit neuer logischer Verknüpfungen, welche erst dadurch, dass
sie unbewusst thätig waren, nachträglich auch zum Bewusstsein
kommen. (Vgl. Ph. d U. I. 402 — 6). Das gedankenlose Alltags-
denken fährt freilich in ausgetretenen Geleisen, aber dieses mecha-
nische Nachdenken ist nur dadurch so commode geworden, dass es
seinerzeit auf geniale, schöpferische Weise vorgedacht worden ist
Dieses schöpferische selbstständige Denken allein ist Denken zu
nennen. Dieses allein ist es, um dessen Erklärung es sich handelt
In Modificationen der angelernten Gedankencombinationen bethätigt
sich aber auch dieses selbstständige Denken bei jedem Menschen
mehr oder minder.
Nr. 34 (S. 75): Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus
und Hegelianismus" S. 300—302.
Nr. 35 (S. 76) : Diese Bemerkung über das Wesen der Schwelle
erlaube ich mir den Physiologen zu besonderer Beachtung zu em-
pfehlen.
Nr. 36 (S. 79): Vgl. Ph. d. U. I. 392. Dietrich hat in seiner
Schrift „Philosophie und Naturwissenschaft" diese Darlegungen als
nothwendige, wenn auch von Haeckel noch uneingestandene Conse-
quenzen des Haeckerschen Standpunktes aufgeführt und Haeckel
hat in seiner neuesten Schrift: „Die Perigenesis der Plastidule"
S. 37—38 sich nunmehr selbst mit Entschiedenheit zu dieser Hypo-
these bekannt, welche unter Anderen auch von Zöllner, Aloys Riehl
298 Anmerkungen cor zweiten Auflage.
und Carl du Prel vertreten wird. Hylozoismus wird diese Lehre
erst dann, wenn man die als lebendig wollend und empfindend
aufgefassten Atome verselbstständigt, von ihrem gemeinsamen sub-
stantiellen Kern (dem nnbewussten absoluten Geist) losreisst und
an nnd fllr sich als zureichende Ursache alles höheren geistigen
Lebens betrachtet.
Nr. 37 (S. 79): Ph. d. ü. L 380—385, 391—392, 432^433.
Nr. 38 (S. 80): Vgl. auch Dubois-Reymond „Ueber die Grenzen
des Naturerkennens" (Leipzig 1872).
Nr. 39 (S. 86): Vgl. die Zusätze der 5. und 7. Aufl. der Phil,
d. ü. n. 37—38 und 468—471.
Nr. 40 (S. 86) : Unberechtigt erscheint diese Gegenüberstellung
der Materie (als Einheit der objectiven und subjectiven Seite an
ihr) und des individuellen nnbewussten Geistes (als Summe der
hinzukommenden psychischen Functionen über die Innerlichkeit der
Atome hinaus) nur dann, wenn man letztere schlechtweg leugnet.
Ist aber diese Leugnung unberechtigt, so ist jene Gegenüberstellung
eine berechtigte, welche auf den höheren Individualitätsstufen eine
Analogie bildet für die Gegenüberstellung von Atomen unter einan-
der auf der untersten Individualitätsstufe. (Vgl. Fh. d. U. IL 35 — 40
u. „Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus" S..353 — 354 u. 360—361).
Nr. 41 (S. 86) : Für die Atomempfindung erkennt die Ph. d. U.
dies an; für höhere Stufen der Individualität folgt das nicht aus
der Art und Weise, wie sich die Sache bei den untersten gestaltet
Nr. 42 (S. 86): Dass ein Individualbewusstsein höherer Ordnung
ein Summationsphänomen aus Individualbewusstseinen niederer Ord-
nung ist, erkennt die Ph. d. U. allerdings an, aber die Frage ist,
ob es ein blosses Summationsphänomen ist, oder ob noch etwas
Höheres hinzukommen muss.
Nr. 43 (S. 86): Es ist begreiflich, wenn auf einem Standpunkt,
der das organische Individuum höherer Ordnung als blosses Com-
binationsresultat aus Atomkräften ohne hinzukommende höhere
Functionen des AU-Einen betrachtet, auch versucht wird, das Be-
wusstseinsindividuum höherer Ordnung als blosses Summations-
phänomen aus Individualbewusstseinen niederer Ordnung zu begreifen,
obwohl dabei die in der nächsten Anmerkung zu besprechenden
Schwierigkeiten ausser Acht gelassen werden. Wenn aber umgekehrt
für das organische Individuum höherer Ordnung ein über die zu-
Anmerkungen zu Cap. IV. 299
sammenwirkenden Atomkräfte hinzukommendes Plus, ein organisi-
rendes Princip, ein dirigirendes und einigendes Centrum, ein Strahlen-
bttndel von Functionen des All-Einen, die höherer Ordnung sind
als die Atomkräfte, ein psychischer Träger für die Zwecke der
höheren Individualitätsstufe einmal ohnehin als nothwendig erkannt
worden ist, dann erscheint es auch selbstverständlich, dass man bei
der Frage nach dem, die vielen Bewusstseinsstrahlen niederer Ord-
nung zum Individualbewusstsein höherer Ordnung einigenden Hohl-
Spiegel, diese bereits individualisirte Summe psychischer Functionen
nicht tiberspringt. (Vgl. Ph. d. ü. I. 395—396).
Nr. 44 (S. 88): Die Deduction ist richtig, aber sie tiberspringt
eine Stufe. Die Einheit des Bewusstseins soll sein 1) eine inner-
liche, 2) in der Sphäre der Individuation gelegen. Die Leitung ist
ersteres nicht, die Einheit der absoluten Substanz letzteres nicht.
Beide sind allerdings nothwendige Bedingungen für die Entstehung
des Bewusstseins, aber sie erschöpfen die Summe der nothwendigen
Bedingungen der Entstehung des Bewusstseins nicht. Es gehört
drittens dazu als Hauptsache eine functionelle psychische Einheit,
wie das organisirende Princip oder der Träger des Individualzwecks
sie bietet, denn diese erst ist innerlich und zugleich noch in der
Sphäre der Individuation belegen. Ein Naturalismus, wie er im Text
vertreten wird, gleichviel ob er nach der materialistischen, hylozoisti-
schen oder monistischen Seite gewendet wird, ist der Tod alles
Individualismus in demselben Grade, wie es der alles verschlingende
dialectische Process Hegels nur irgend sein kann. Gegen diese
extreme Einseitigkeit muss die individualistische Beaction mit vollem
Rechte ihr Haupt erheben (vgl. z. B. Lazar B. Hellenbach's „Phil,
d. gesund. Menschenverstandes"), wenngleich sie ihrerseits wiederum
in das entgegengesetzte Extrem fällt, die centralen psychischen
Functionen in den Individuen höherer Ordnung als ebenso unzer-
störbar für die Dauer des Weltprocesses anzusehen wie die psychi-
schen Functionen in den Individuen niedrigster Ordnung, Die Ph,
d. U- hält auch in dieser Frage die rechte Mitte und vermeidet
beide Einseitigkeiten (vgl. Ph. d. U. II. 254—256). Sie schreibt
die Constanz für die Dauer des Weltprocesses (welche die Voraus-
setzung für die Constanz der Naturgesetze bildet) nur den Individuen
unterster Ordnung zu, in deren gesetzmässigem Zusammenwirken
die höheren Individualitätsstufen ihre natürliche Basis und teleologische
300 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
Vermittelung finden, und betrachtet die individualisirten Strahlen-
btindel des All-Einen, welche auf die Zusammenfassung der Indivi-
duen niederer zu solchen höherer Ordnung gerichtet sind, also
einerseits das activ organisirende, andererseits das receptive psy-
chische Centrum für die höhere Individualitätsstufe bilden, bloss als
functionelle Individualisationen ad hoc, welche keinen über die
Lebensdauer des organischen Combinationsresultates hinausgehenden
individuellen Bestand haben. Hierdurch behält sie einerseits die
nöthige Fühlung zwischen der physiologischen und psychologischen
(ethischen etc.) Betrachtung des menschlichen Individuums und ent-
geht andrerseits den nutzlos heraufbeschworenen Schwierigkeiten,
in welche die Annahme einer den Atomen gleichkommenden Constanz
der Individualseelen angesichts der negativen Ergebnisse der Er-
fahrung in dieser Richtung verwickelt.
Nr. 45 (S. 89): Eine blosse Passivität eines zum Zustande-
kommen eines gewissen Resultats unentbehrlichen Factors ist ein
philosophisch unzulässiger Begriff. Auch die anscheinend ganz
passive Perception ist nothwendig eine active Function, bei welcher
nur die Activität als solche sich dem Bewusstsein entzieht. Die
Perception eines Individualbewusstseins höherer Ordnung setzt
ausser den zu percipirenden Empfindungen der umspannten
Individualbewusstseine niederer Ordnung nothwendig noch eine ein-
heitliche unbewusst-psychische Function voraus, welche die niederen
Bewusstseinsinhalte in den Brennpunkt des einen sie umspannenden
Bewusstseins vereinigt. Dass diese Function ebensogut wie die
primitivste Atomempfindung Function des All-Einen ist, ist selbst-
verständlich ausser Frage; aber worauf es hier ankommt, das ist,
einzusehen, dass die unbewusst-psychische Function des All-Einen,
welche die einheitliche Perception des Bewusstseins in mir bewirkt,
eine numerisch und zum Theil auch inhaltlich verschiedene ist von
derjenigen Function, welche die entsprechende Perception in einem
andern Menschen erzeugt. Alle menschlichen Bewusstseine ruhen
so gut wie alle Atombewusstseine schliesslich auf der einen Wand
des Absoluten, oder sind Functionen des Einen absoluten Subjects;
aber erstens ist letzteres in diesen Functionen keineswegs passiv,
sondern activ, und zweitens sind seine bezüglichen Thätigkeiten
nicht Thätigkeiten seiner qua Absoluten, sondern fallen schon in
die Sphäre der Individuation hinein, so gut wie die Atomkraft-
Aumerkungen zu Cap. IV. und V. 301
äusserungen oder die individuellen organisirenden Functionen. Ihre
Individualisirung besteht in allen Fällen darin, dass sie sieh auf
concrete Gruppen bestimmter Atome beziehen.
Nr. 46 (S. 90): Bei dieser Argumentation liegt die stillschwei-
gende Voraussetzung zu Grunde, dass das Subject einer concreten
Bewusst werdung das Unbewusste als AU-Eines sei; diese Voraus-
setzung ist aber, wie wir schon in der vorhergehenden Anmerkung
sahen, nicht weniger als eine Ignorirung der Individuation, und es
würde aus ihr ebenso gut zu beweisen sein, dass alle Empfindungen
in der Welt in einem und demselben Bewusstsein aufgehoben sein
müssen. Da dieser Schluss thatsächlich unrichtig ist, da die Be-
wusstseine individuell getrennte sind, so muss auch die Voraus-
setzung, aus der er folgt, unrichtig sein. Damit werden auch die
anderweitigen Folgerungen hinfällig. Bewusstseinssubject ist das
Unbewusste niemals als AU-Eines, sondern nur als Träger der con-
creten, Widerstand findenden Function. Für diese Function aber
ist der vorgefundene Widerstand oder die erlittene Repression
allerdings ein fremder äusserer Zwang, ganz genau so wie Air
einen bestimmten Atomwillen der vorgefundene Widerstand eines
andern Atoms ein fremder äusserer Zwang ist.
Anmerkungen zu Capitel V.
Nr. 47 (S. 93): Bedingt, ja; verursacht, nein.
Nr. 48 (S. 94): Motiv und Vorstellung bestehen nicht in
Hirnschwingungen, sondern sind von solchen begleitet und bedingt.
Nr. 49 (S. 95) : Auch diese Differenz findet ihren erschöpfenden
Ausdruck in der Formulirung: ist der Gesammthirnwille blosses
Summationsphänomen aus Atomwillen, oder Summationsphänomen
aus Atomwillen plus Individual-Zellenwillen plus Individualganglien-
willen plus Individual-Hirntheilwillen?
Nr. 50 (S. 96): Unstreitig; ob es aber bloss dies ist, das ist
hier wie dort die Frage, und zwar hier in doppeltem Sinne : erstens
in wie weit die Anregung der bestimmten, das Summationsphänomen
constituirenden Hirnzellen, oder doch einzelner unter ihnen, aus
unbewussten psychischen Einflüssen entspringt, und zweitens, ob
nicht ein actuelles Wollen, das nicht das Wollen eines Atoms oder
einer Summe von Atomen ist, schon in das Zellenwollen und noch
802 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
mehr in das Hirnwollen als integrirender Bestandteil mit eingeht,
unbeschadet dessen, dass die äusseren motorischen Actionen des
Organismas als mechanische Arbeitsleistang lediglich aas Summations-
phänomenen von Atomen resultiren.
Nr. 51 (S. 97): An der That ist zu unterscheiden die mecha-
nische Arbeitsleistung and die Gestalt, in welcher sie sich darbietet.
Erstere resultirt nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft nur aas
Atomkräften, in letzterer aber findet neben jener auch das psychische
Wollen seinen Ausdruck, welches als solches nicht mechanische
Kraft ist, also auch nicht mit dem Maass mechanischer Aequivalente
messbar sein kann (vgl. Ph. d. Unb. I, 393 — 394). Mechanische
Maassstäbe bestehen immer in Atomkräften and können darum auch
wieder nur ihres Gleichen messen, d. h. Combinationsresultate aus
Atomkräften , aber nicht ein geistiges Wollen , das über die räum-
lichen mechanischen Kraftwirkungen der Atomwillen hoch hinaus-
liegt.
Nr. 52 (S. 97): D. h. die psychische Innerlichkeit der Indi-
viduen niederer Ordnung ist conditio sine qua non für die Entstehung
eines Bewusstseinsindividuums höherer Ordnung. Sehr richtig; nur
darf man nicht Bedingung mit zureichende Ursache verwechseln.
Nr. 53 (S. 98) : Dieser Notwendigkeit wird man darum niemals
überhoben, weil die Individualwillen der Individuen niederer Ordnung
selbstsüchtig sind, d. h. ihre eigenen Individualzwecke verfolgen,
und ausserhalb dieser Willen ein Wille da sein muss, der ihren
centrifugalen Parti.cularismus bändigt und der Bealisirung der
Zwecke des Individuums höherer Ordnung dienstbar macht (Ph. d.
Unb. I. 394 — 395). So lange die gesetzmäßige Herrschaft dieses
höheren Willens, der zugleich das psychische Centrum des Indivi-
duums höherer Ordnung repräsentirt, in voller Kraft besteht, so lange
ist das Individuum organisch gesund; sobald diese teleologische
Herrschaft des lndividual willens höherer Ordnung ihre Macht ein-
büsst, gewinnen die selbstsüchtigen Tendenzen der Individuen niederer
Ordnung die Oberhand und die Krankheit ist da. Krankheit ist
nichts weiter als organische Anarchie. Dieser Begriff der Krankheit
ist eine nothwendige Consequenz von der Einsicht in den Aufbau
der Organismen aus Individuen verschiedener Ordnung; er findet
sich schon in Virchow's Cellularpathologie bei Gelegenheit des
Parasitismus angedeutet (vgl. Ph. d. Unb. IL 138), und in der That
Anmerkungen zu Gap. V. 303
«
ist der Parasitismus ein Gebiet, wo die organische Anarchie d. h.
der krankhafte Sieg der centrifugalen Tendenzen besonders deutlich
zu Tage tritt. Die ganze Pathologie wird aber einen Umschwung
erfahren, wenn dieser Begriff der Krankheit durch alle ihre Gebiete
durchgeführt wird. Hiergegen sträubt sich bis jetzt das materia-
listische Vorurtheil der heutigen Medicin, dem jede teleologische
Herrschaft, jede planvolle Verfassung in der Wechselwirkung
der Individuen verschiedener Ordnung zuwider ist. Die mecha-
nistischen Vorurtheile der herrschenden Physiologie werden aber
den Sieg der Wahrheit auf dem Felde der Pathologie nicht
aufhalten können, und wie das Verständniss der pathologischen
Zustände so oft schon bahnbrechend gewesen ist für die bessere
Einsicht in die physiologischen Zusammenhänge, so wird auch der
berichtigte Begriff der Krankheit neues Licht bringen in das Leben
des gesunden Organismus. Ist die Krankheit Anarchie in Folge
der egoistischen, d. h. centrifugalen Tendenzen irgend welcher
Individuen niederer Ordnung, so muss die Gesundheit Euarchie sein,
und zwar kann dann das Archon dieser planvoll geordneten Herr-
schaft nicht mehr in Individuen niederer Ordnung gesucht werden,
sondern nur in einem selbstständigen Individualwillen höherer Ord-
nung. Denn die Individualwillen niederer Ordnung sind ja das,
dessen Sieg die Krankheit erzeugt; jeder von ihnen ist ausserdem
theilweise Combinationsresultat aus Individualwillen noch tieferer
Stufe; zuletzt von Atomen, deren jedes wieder seinerseits selbst-
süchtige Tendenzen verfolgt. Das Archon kann also weder ein
einzelner Atomwille, noch ein selbstständiger Individualwille niederer
Ordnung, noch auch ein Combinationsresultat aus Atomwillen und
anderen selbstständigen Individualwillen niederer Ordnung sein,
sondern es muss ein selbstständiger Individualwille höherer Ordnung
sein, der alle diese ihm unterstehenden Willen so leitet und lenkt,
dass sie ihre Energie nicht zu selbstsüchtigen Partialinteressen ver-
wenden, sondern den höheren Individualzwecken dienstbar machen.
Es gilt für die Physiologie, sich des alten Aristotelischen Grund-
satzes zu erinnern, dass im Organismus das Ganze früher ist als
die Theile, und diese bestimmt; dies kann beispielweise durch
Ausbau des sogenannten Gorrelationsgesetzes geschehen, das wesent-
lich ein moderner Ausdruck dieses Gedankens ist, und selbst in
304 Anmerkungen cur «weiten Auflage.
seiner Darwinistischen Verwendung eine deutliche Ahnung von
der tibergreifenden Macht des Ganzen über seine Theile zeigt
Nr. 54 (S. 99) vgl. die vorhergehende Anmerkung (Nr. 53).
Nr. 55 (S. 100): In der That sind es indirecte Schlüsse, wenn
wir uns genöthigt sehen, erstens Individualwillen der Individuen
verschiedener Ordnungen zu statuiren, zweitens die theilweise Gegen-
sätzlichkeit der von diesen Willen verfolgten Individualzwecke nie-
derer und höherer Ordnungen anzuerkennen, und drittens daraus zti
folgern, dass die Willensträger der Individualzwecke höherer Ord-
nungen nicht in einem oder mehreren Individuen niederer Ordnung
gesucht werden können. Die vollständige wissenschaftliche
Induction restituirt auch hier in dem, worauf es praktisch ankommt,
den unmittelbaren naiven Glauben des theoretischen Insüncts ebenso
wie in der Frage nach den Dingen an sich (vgl. meine Schrift über
„Kirchmann's erkenntnisstheoretischen Realismus" S. 47 — 48).
Nr. 56 (S. 100): Jede Zellengruppe, die mit einer bestimmten
Prädisposition behaftet ist, repräsentirt in dieser Hinsicht ein
Individuum von tieferer Stufe als der Hirntheil, dem sie angehört,
aber von höherer als die Zellen, aus denen sie besteht. Demnach
gilt für jede specifische Disposition das, was wir allgemein für das
Verhältniss des Individualwillens höherer Ordnung zu dem Combi-
nationsresultat aus den Individualwillen niederer Ordnung festgestellt
haben. Ist die fragliche Gruppe von Zellen in einem oder mehreren
Hirntheilen verstreut und in andern Beziehungen ala dieser einen
nicht zur functionellen Einheit zusammengefasst, so wird man sie
zwar nicht im strengeren Sinne als Zwischenstufe der Individuali-
sation auffassen können, aber es werden nichtsdestoweniger gewisse
Functionen der höheren Individualisationsstufe , welcher sie als
integrirender Bestandteil angehört, auf sie gerichtet sein, also das
bei der Reaction einer solchen Hirndisposition hervortretende Wollen
allemal als Product aus dem Combinationsresultat der Zellenwillen
einerseits und der hinzukommenden Bethätigung des Individual-
willens höherer Ordnung andrerseits zu betrachten sein. Dass die
Hirnprädisposition nicht der Trieb selbst, sondern nur die natürliche
Vermittelung, die materielle Basis oder der technische Behelf für den
psychischen Trieb des Individualwillens höherer Ordnung ist, geht
unwiderleglich daraus hervor, dass auch hier die actuelle Function
der Erzeuger der materiellen Disposition, also das Prius der
Anmerkungen zu Gap. V. 305
letzteren ist, mitbin nicht, ihre Wirkung sein kann, wenngleich die
Richtung der Aeusserung des Individualwillens höherer Ordnung
durch die einmal eingegrabenen Prädispositionen rückwärts wieder
mit beeinflusst wird.
Nr. 57 (S. 101): Vgl. Anm. 51.
Nr. 58 (S. 101): Naturgesetzmässig ist sowohl die Reaction
des Individualwillens höherer als die desjenigen niederer Ordnung.
Es ist ein Conflict zwischen den psychischen Trägern verschiedener
Naturgesetze, in welchem kein absoluter, sondern nur ein relativer
Sieg errungen wird. Der Sieg ist Eingriff in das, was sich bei
Herrschaft des niederen Gesetzes allein vollzogen haben würde.
(Vgl. „Wahrh. u. Irrth. im Darw." S. 166—170.) Dieses Eingreifen
eines gesetzmässigen Individualwillens in die Leistungen der übrigen
findet selbst auf ein und derselben Individuationsstufe beständig
statt. Alle Körperatome würden sich zusammenballen zn einem
Punkt, wenn nicht die zwischen ihnen vertheilten Aetheratome dnrch
ihre gesetzmässige Abstossung eingriffen und einen stabilen Gleich-
gewichtsznstand des Universums herstellten. Da aber die Kraft-
wirkungen der Aetheratome doch anch nur Functionen des AU-Einen
oder Unbewussten sind, so kann man in philosophischer Bedeweise
mit vollem Recht sagen, dass das Unbewusste in die gesetzmässige
Gravitation der Körperatome eingreift und deren Gonsequenzen ver-
hindert. Wenn es einmal neben den Combinationsresultaten der
Atomwillen noch selbstständige Individualwillen höherer Ordnung
giebt, so ist es selbstverständlich, dass diese Willen bei ihrer Aeusse-
rung eine Wirkung entfalten müssen, dass diese Wirkung eine
gesetzmässige sein muss, dass die Gesetze, nach denen sie sich
äussert, zwar logisch und teleologisch nothwendig, aber anderer
Art sind als die Gesetze für die Wirksamkeit der Atomwillen, dass
die Wirkung jener gesetzmässigen Aeusserungen der Individualwillen
höherer Ordnung den Ablanf des Weltprocesses qualitativ anders
gestalten muss, als er sich ohne ihre Mitwirkung gestaltet haben
würde, und dass endlich dieses ihr Wirken, trotzdem es als Ein-
greifen in das blosse Spiel der Atome erscheint, doch seiner Natur
nach nicht nach mechanischen Aequivalenten gemessen werden kann,
also nicht die Summe der im Universum vorhandenen mechanischen
Kraft, sondern nur die Qualität ihrer Erscheinungsweise alterirt.
Alles dies ist selbstverständlich, wenn es einmal selbstständige
E. v. Hartmans, Dos Unbewusste. 2. Aufl. 20
306 Anmerkungen sur zweiten Auflage.
Individualwilien höherer Ordnung giebt; nur ob es solehe giebt,
kann demnach in Frage kommen, nicht aber, oh sie, wenn sie
existiren, anoh einen Antheil haben an der Gestaltung des Welt*
processes, oder in denselben activ mit eingreifen.
Nr. 59 (S. 101) : Da diese Auffassung eine schiefe Unterstellung
war, fällt sie auch hier in sich zusammen (vgl. Ph. d. Unb. I 393
bis 395).
Nr. 60 (S. 101) : Nicht der Organismus ist dies alles, sondern
das organisch-psychische Individuum, dessen objective Erscheinung
der Organismus ist.
Nr. 61 (6. 101): Keineswegs; vielmehr der Einheitspunkt des
Individuums höherer Ordnung, also recht eigentlich das organisch-
psychische Centrum des Organismus.
Nr. 62 (S. 101): Wille ist das Genus, Kraft die Species; die
Willensfunctionen des organisirenden Princips gehören eben nicht
zu dieser Species Kraft, worunter hier nur die durch Kilogramm-
meter messbare mechanische Straft der Atome verstanden ist Letz-
tere ist selbst von den eventuellen räumlich wirkenden psychischen
Willensäußerungen dadurch streng unterschieden, dass alle ihre
Wirkungsrichtungen erstens geradlinig sind und zweitens sich nach
rückwärts in einem mathematischen Punkte, dem sogenannten Sitz
der Kraft, schneiden, während die psychischen Willensäusserungen,
auch wenn sie räumliche Wirkungen erzielen, einer solchen Locali-
sation in einem imaginären Ausgangspunkt der Energie entbehren
(Ph. d. ü. II. 151 Z. 6 v. u. bis 152 Z. 1).
Nr. 63 (S. 101) : Materielle Kraft und psychische Willensfonction
sind als verschiedene Specien gar nicht zu summiren, so wenig wie
drei Pfund und sieben Hexameter. Vergleichbar sind sie nur unter
dem Gattungsbegriff, nicht unter dem Begriff der einen seiner beiden
Specien, d. h. sie sind nur unter der Voraussetzung vergleichbar,
dass man bei beiden Specien von deren specifischen Differenzen
abstrahirt, also beim Willen die geistigen Beziehungen seines In-
halts, bei der Kraft die mechanische Messbarkeit durch bewegte
Massen ausser Acht lässt und sie als rein innerliche Intensitäten der
functionellen psychischen Energie vergleicht.
Nr. 64 (S. 102): In diesem Punkte ist die Ph. d. Unb. I. 146
Z. 2 v. u. bis 147 Z. 1 correcturbedürftig: nicht der Wille direct
ist der auslösende mechanische Impuls, sondern der zugeleitete Beiz
Anmerkungen zu Cap. V. 307
und der Wille ist nur mitbestimmend für die Art der aus-
gelösten Beaction. Wie der Wille diesen Einfluss geltend macht,
wissen wir nicht. Wenn ich vermuthungsweise äusserte, dass es
durch Drehung von Moleculen in Centralstellen geschehe, so
hatte ich dabei die Vorstellung, dass bei der ausserordentlichen
Kleinheit der Molecule die zu ihrer Drehung nothwendige mecha-
nische Kraft nur ein Differential der sonst in Betracht kommenden
mechanischen Arbeitsquanten sei, also bei der Summirung der
Kräfte = sei, d. h. das Gesetz der Erhaltung der Kraft nicht
alterire. Es ist fraglich, ob das zulässig, und ich bestehe nicht
darauf.
Nr. 65 (S. 102): Wenn diese Impulse nicht von andrer mathe-
matischer Ordnung sein können, so entfällt natürlich diese Hypothese
als mit dem Gesetz der Erhaltung der Kraft im Widerspruch.
Nr. 66 (S. 102): Da die vorangeschickte Bedingung nicht er-
wiesen ist, so ist auch die Folgerung haltlos.
Nr. 67 (S. 103): Nein, denn wenn der Anspruch fortfällt, dass
der materielle Hirnprocess die vollständige Ursache sei, so tritt
an Stelle der Concurrenz die gesetzmässige Cooperation.
Nr. 68 (S. 103): Wenn aber diese Beseitigung eine übereilte ist,
so bleibt der Versuch in seinem Recht, auch für die andere Species
des Genus Wille, welche nicht mechanische Kraft ist, ein Analogon
der Gonstanz des actuellen Weltwollens zu statuiren.
Nr. 69 (S. 103): Nur deshalb, weil überall Bedingung und
Ursache confundirt, und das Summationsphänomen sofort in ein
blosses Summationsphänomen degradirt wird.
Nr. 70 (S. 103): In der exclusiven Fassung dieses Gegensatzes
(als Widerspruch) liegt eben der Irrthum.
Nr. 71 (S. 104): Wille und Vorstellung konnten nur deshalb
als blosse Summationsphänomene anerkannt werden, weil das Be-
dürfniss nach selbstständigen Individualwillen höherer Ordnung, wie
es in früheren Anmerkungen (Nr. 43 — 45 u. 53) gezeigt ist, ignorirt
wurde.
Nr. 72 (S. 104): Er ist vielmehr nur dessen objective Er-
scheinung.
Nr. 73 (S. 104): Vgl. „Neuk., Schop. und Hegelianismus" V.
S. 354—359.
20*
308 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
Nr. 74 (S. 106): In diesem Complex sind aber auch die Func-
tionen der niederen Individuen, welche den Organismus constituiren,
mit inbegriffen ; die Summe der unbewussten psychischen Functionen
höherer Ordnung im Gegensatz zu den Functionen der constituiren-
den Individuen niederer Ordnung ist nur das Centrum, das alle
übrigen zu einer Individualseele vereint, das Archon, das sie zur
Bealisirung des höheren Individualzweckes zwingt (vgl. Änm. 53).
Nr. 75 (S. 105): Substantielle Basis ist nur die absolute Sub-
stanz, da aber nicht das Summationsphänomen, sondern nur das
blosse Summationsphänomen von mir bestritten wird, da ich die
Innerlichkeit der psychischen Individuen niederer Ordnung als in
die der höheren eingehend anerkenne, so bleibt auch das hier
über psychische Mauserung Gesagte richtig, und ist nur zu vervoll-
ständigen durch die Erinnerung, dass die unbewussten psychischen
Functionen höherer Ordnung immer nur Individualisationen ad hoc
sind, d. h. nur veranlasst durch die Motivation aus der psychischen
Innerlichkeit der Individuen niedrigster Ordnung und ihrer Summa-
tionsphänomene.
Anmerkungen zu Gapitel TL
N. 76 (S. 106) : Um das dunkle Problem der Vererbung einigcr-
maassen aufzuhellen, sind bisher drei Hypothesen aufgestellt worden:
Darwin's Pangenesis, Elsberg's Präsentation der Plastidnle und
Haeckel's Perlgenesis. Darwin nimmt an, dass in jedem Organismus
alle Zellen zahllose Eeimchen erzeugen, welche im Strom der Er-
nährungsflüssigkeit fortgeführt werden, und von denen ein voll-
ständiges Assortiment zusammentritt, um in den Fortpflanzungszellen
die Tendenz zur Vererbung aller Eigentümlichkeiten des ganzen
Organismus materiell zu deponiren. Diese Hypothese hat aus ver-
schiedenen Gründen keine Anhänger gefunden. Erstens glaubten
die Mikroscopiker, dass ihnen solche Eeimchen nicht wohl voll-
ständig entgehen könnten, wenn sie als organisirte Individuen ge-
dacht werden sollten. Zweitens liess diese Annahme das Problem
völlig unerklärt und verlegte es nur um eine Stufe rückwärts,
nämlich aus der Uebertragung der Eigenschaften des elterlichen
Organismus in das Ei zurück in die Uebertragung der Eigenschaften
einer Zelle in ihre Keimchen, und fügte ausserdem die Schwierig-
Anmerkungen zu Cap. VI. 309
keit des richtigen Zusammenfinden der Keimchen in den Fort-
pflanzungszellen neu hinzu. Drittens entsprach diese ganze Auf-
fassung der Vererbung als einer rein stofflichen Uebertragung nicht
der dynamischen Anschauungsweise, welche in der modernen Physik
und Nervenphysiologie herrschend ist und mit der Umwandlung der
sogenannten imponderablen Stoffe in verschiedene Undulationsformen
begann. — Eisberg suchte das erste dieser Bedenken zu erledigen,
indem er an Stelle der organisirten Eeimchen die organischen Mole-
cule oder Plastidule einsetzte, die sich allerdings der mikroskopischen
Beobachtung entziehen. Auch der zweite Einwand verliert dieser
Aenderung gegenüber sein Gewicht, denn die Plastidule brauchen
nicht mehr (wie Darwin's Eeimchen) von der Zelle gebildet zu
werden, sondern sind die constituirenden Elemente derselben. Desto
gewichtiger erhebt sich aber hier die bei Darwin's Hypothese nur
nebenherlaufende Schwierigkeit, wie diese Plastidule, wenn sie sich
wirklich aus den Zellen losgelöst haben, zu einer neuen Aggrega-
tion in der richtigen Zahl und Auswahl gelangen sollen, oder wie
die als constant gedachten organischen Molecule einer ganzen Vor-
fahrenreihe es anfangen sollen, sich in dem heute entstehenden Keim
eines neuen Individuums zusammenzufinden. Die so formulirte
Schwierigkeit leitet unmittelbar auf das dritte der obigen Bedenken
hin, dass es überhaupt nicht thunlich sei, die Vererbung der orga-
nischen und psychischen Eigenthümlichkeiten durch stoffliche Ueber-
tragung von materiellen Theilchen zu erklären, sondern dass es nur
eine Art dynamischer Ansteckung sein kann, welche durch die mini-
malen Zeugungsstoffe von der Materie des elterlichen auf diejenige
des kindlichen Organismus vermittelt wird. — Diese zweifellos ge-
botene Wendung nimmt Haeckel in seiner Hypothese der Peri-
genesis,*) in welcher er von Eisberg die Plastidule als Träger der
dynamischen Uebertragung übernimmt, aber unter Ablehnung sowohl
der Pangenesis als der Präservation der Molecule als solchen. An
Stelle der mit den Lehren vom Stoffwechsel im Widerspruch stehen-
den Fortdauer der vererbenden Molecule tritt die durch sie ver-
mittelte dynamische Uebertragung oder fermentartige Uebermittelung
bestimmter Formen von Atomundulationen und Atomlagerungsver-
*) Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebens-
theilchen. Berlin, Reimer 1876.
810 Anmerkungen aar zweiten Auflage.
hältnissen ; an Stelle der Aggregation der verschiedenartigen Zellen-
Plastidulen tritt ein Generationswechsel der Zellenarten, der sich bei
der Weitsohiehtigkeit seines Cyklus als Strophogenesis bezeichnen
lägst. Der Generationswechsel getrennt lebender Individuen wurde
von Owen als Metagenesis bezeichnet Von hier aber führt ein
flüssiger Uebergang zu solchen Fällen, wo die in wechselnder
Generationsfolge stehenden Individuen nicht mehr räumlich getrennt
und selbstständig leben, sondern zu einem Individuum höherer
Ordnung verbunden bleiben (so z. B. bei den Siphonophoren im
Gegensatz zu anderen Hydromedusen). Da auch bei den höchsten
Organismen jede Zelle durch Zelltbeilung aus einer Mutterzelle ent-
steht und schliesslich alle aus der befruchteten Eizelle hervorgehen,
so sind alle Wachsthnms- und Beproductionsprocesse des Organismus
unter dem Gesichtspunkt der Cellularphysiologie als Generationsacte
von Zellen zu betrachten, die unter einander im Verhältniss eines
weitschichtigen Generationswechsels stehen, so dass erst die Pro-
duktion der Fortpflanzungszellen deren Cyklus schliesst. — Ohne
Zweifel ist Haeckel mit dieser Auffassung auf dem allein richtigen
Wege, nur ist einerseits vor dem Missverständniss zu warnen, als
ob das Beschreiten des rechten Weges schon in irgend welchem
Grade ein Erreichen des Zieles in sich schlösse, und andererseits
darauf aufmerksam zu machen, dass die organischen Plastidule noch
keineswegs mit Plasmamoleculen im chemischen Sinne zusammenzu-
fallen brauchen, sondern vielleicht noch recht complicirte Verbin-
dungen von Plasmamoleculen darstellen können. Endlich aber ist
zu beachten, dass diese Auffassung der Vererbung als einer dyna-
mischen Uebertragung im Cyklus eines mehr oder minder langen
Generationswechsels von Zellen durchaus noch keinen Schimmer
einer Erklärung für die Individualität höherer Ordnung bietet, zu
welcher in höheren Organismen so zahlreiche Zellengenerationen
zusammentreten. Ohne Zweifel sind die zum Zweck der Arbeits-
teilung eintretenden Anpassungen und Variationen der Zellen oder
Piastiden durch entsprechende Variationen ihrer constituirenden Ele-
mente oder Plastidule bedingt; aber warum diese Variationen solche
sind, dass aus ihrer Zusammenstellung die planvolle Einheit eines
Organismus von höherer Individualitätsstufe resultirt, das bleibt
dabei ein völlig unberührtes Problem. — Der entscheidende Punkt,
durch welchen der reine Generationswechsel oder die Metagenesis
Anmerkungen za Cap. VI. 311
sich von der Fortpflanzung höherer Organismen unterscheidet, ist
nicht die räumliche Trennung oder Vereinigung der verschieden-
artigen Generationsfolgen, auch nicht die Selbstständigkeit oder Un-
selbstständigkeit ihrer individuellen Lebenserhaltung, sondern die
Selbstständigkeit oder Cooperation ihrer gegenseitigen Hervor-
bringung. Zur Selbstständigkeit im letzteren Sinne gehört, dass
jedes einzelne Individuum niederer Ordnung, also in letzter Instanz
jede Zelle oder Plastide, befähigt ist, aus sich allein die Generations-
folge an der ihr zukommenden Stelle des Cyklus fortzusetzen, ohne
dazu der Mitwirkung irgend welcher anders gearteten Zellen zu be-
dürfen. Es ist dabei begrifflich gleichgültig, ob eine solche Zelle
zur Selbsterhaltung befähigt ist; nur darauf kommt es an, ob sie
alle Bedingungen in sich vereinigt hat, um aus sich allein den
Generationswechsel fortzusetzen, für den Fall, dass ihr die Basis
ihres Individuallebens in reeller oder fingirter Weise sicher gestellt
würde. In diesem Sinne kann nun aber von einem Generations-
wechsel nur bei solchen Organismen die Rede sein, deren consti-
tuirende Elemente noch in einer demokratischen Gleichberech-
tigung neben einander stehen, d. h. wo noch kein Anlauf zu
monarchischer Gentralisation genommen ist. In voller Strenge wird
diese Bedingung nirgends erfüllt, weder bei Pflanzen noch bei Pro-
tisten; denn wo immer Zellen ein Aggregat bilden, stellt sich auch
Arbeitsteilung, mit dieser Wechselwirkung differenzirter Einflüsse
auf einander, hiermit ein Unterschied in der Wichtigkeit dieser
gegenseitigen Beziehungen der Zellen in Bezug auf den Gesammt-
organismus, d. h. ein Uebergewicht einiger über die andern heraus,
und das Vorhandensein solcher Wechselbeziehungen, welches wesent-
lich auch die vegetativen Functionen betrifft, kann nicht umhin, sich
auch auf die reproductiven Functionen zu erstrecken, die ja nur
einen Theil der ersteren bilden. — Man wird sich denken müssen, dass
auf den frühesten Entwickelungsstufen dieser Einfluss der übrigen
Zellen auf die reproductiven Functionen einer jeden Zelle zunächst
ein bloss auxiliärer ist, der zwar das Resultat begünstigt, aber unter
Umständen auch entbehrt werden kann, ähnlich wie die Befruchtung
bei der Entwickelung parthenogenetischer Eier oder ähnlich wie
die Aggregation zu einer Golonie zunächst selbst nur eine faculta-
tive, nicht obligatorische Bedingung für das Leben der betreffenden
Zellen gebildet haben muss. Auf höheren Stufen der Organisation
312 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
wird der gegenseitige Einfluss auf die reproductive Th&tigkeit der
Zellen schon so weit vorgeschritten sein, dass die Summe der er-
forderlichen Bedingungen zur Fortsetzung der Generationsreihe nicht
mehr in irgend welcher einzelnen Zelle (mit Ausnahme der Fort-
pflanznngszellen), sondern nur noch in einer grösseren Gruppe von
Zellen gefunden werden kann, welche immerhin noch einen ziemlich
kleinen firuchtheil des gesammten Organismus ausmachen kann,
und unter denen es auch bisweilen eine einzige Zelle sein kann,
welche mit dynamischer Unterstützung der übrigen die Reproduction
tibernimmt. So werden z. B. bei gesteckten Begoniablättern neue
Pflanzen aus einzelnen Epidermiszellen erzeugt, und kann fast jede
peripherische Zelle eines Laubmooses zu Protonema auswachsen und
somit durch Vermittelung der letzteren neuen Pflanzen den Ursprung
geben (Strassburger, Studien über Protoplasma S. 49). Ob es
richtig ist, dass bei Planarien der Organismus selbst aus ganglien-
losen Stücken noch reproducirt werden kann, mag dahin gestellt
bleiben; im Allgemeinen wird man annehmen müssen, dass, wo die
Entwicklung des Nervensystems zu einiger Bedeutung gelangt ist,
die dynamischen Einflüsse der Theile des Organismus auf einander
ebensowohl bei der reproductiven, wie bei der nutritiven und mo-
torischen Thätigkeit nicht ohne wesentliche Betheiligung der Nerven
stattfinden, und dass die vegetativen Functionen der Zellen in mehr
oder minder centralisirter Weise von Ganglienzellen oder Ganglien-
knoten aus geleitet werden. So sehen wir bei den Anneliden die
reproductiven Functionen von der unversehrten Erhaltung mindestens
eines Ringes mit seinem Nervencentrum abhängig, und bei den Wirbel-
thieren scheint die Reproductionsfähigkeit der Zellen nur bei peri-
pherischen Substanzverlusten erhalten zu bleiben, welche die centrali-
sirenden Functionen des einheitlichen Centralnervensystems intact
lassen. — Je weiter also die Centralisation von demokratischer Coor-
dination zu monarchischer Subordination vorschreitet, desto stärker
zeigt sich auch empirisch der Einfluss der herrschenden Central-
theile des Organismus in Bezug auf die reproductiven Functionen
aer Zellen, desto mehr wird der reine Begriff des Generations-
wechsels aufgehobenes Moment in einer höheren Form der Repro-
duction, in welcher nicht mehr die einzelnen Zellen oder Piastiden
als solche functioniren , sondern jede nur als Vollstrecker eines
Auftrages erscheint, den sie von dem Individuum höherer Ordnung
Anmerkungen zu Cap.VI. 313
erhält, und den sie nur mit seiner activen Unterstützung vollziehen
kann. Wie bei den willkürlichen Handlungen und wie bei der Er-
nährung, so ist auch bei der Zellenvermehrung oder Fortpflanzung
im weiteren Sinne vornehmlich das Nervensystem als der Träger
der dynamischen Einflüsse anzusehen, welche der bewusste oder
unbewusste Individualwille höherer Ordnung in ihm auslöst, um so
seine Zwecke zu erreichen, d. h. seine Idee zu realisiren. — Wenn
schon bei der Ernährung der Particularwille der einzelnen Zellen
ein centrifugaler, den Individualzwecken höherer Ordnung entgegen-
gesetzter ist, so ist das in noch höherem Grade bei ihrer Fort-
pflanzungsthätigkeit der Fall; der Egoismus der Zelle neigt in der
Ernährung zur Hypertrophie, in der Fortpflanzung zur Hyperplasie,
in beiden Richtungen zur Mehrung ihres particulären Daseins ohne
Rücksicht auf das Wohl des Gesammtorganismus. Es ist wahr,
dass im Allgemeinen für das Wohl der Zellen am besten gesorgt
ist, wenn sie Dir das Wohl des Gesammtorganismus sorgen, wie für
das Wohl der Bürger im Ganzen am besten gesorgt ist, wenn sie
für das Staatswohl sorgen; aber es wäre ein grosser Irrthum, zu
glauben, dass diese Wahrheit als solche die Sonderinteressen und
den Egoismus aufhöbe. Zunächst ist der Satz nur im Allgemeinen,
im Durchschnitt wahr, nicht in jedem einzelnen Falle, da der Or-
ganismus wie der Staat im Einzelnen von seinen Gliedern nur zu
oft das Opfer individuellen Wohlseins und Daseins fordert ; der Satz
kann also erst dann für den Particularwillen praktische Motivations-
kraft erhalten, wenn die Zwecke des Ganzen im Voraus als die
höheren anerkannt sind, welche ein Recht darauf haben, sich die
Individualzwecke niederer Ordnung zu unterwerfen. Dieses Zu-
geständniss setzt aber bereits jene Unterordnung des Eigenwillens
unter höhere Zwecke, die nicht die eigenen sind, voraus, welche
wir unter Sittlicheit verstehen, und auch das Vorhandensein von
Sittlichkeit hindert nicht das zeitweilige oder stellenweise Ueber-
gewicht des Egoismus, wie Verbrechen, Aufruhr u. s. w. im Leben
des Staates beweisen. Dahei handelt es sich im Staat um intelligente
Bürger, welche über den Zusammenhang ihres Privatwohls mit dem
Gemeinwohl reflectiren können, während die Piastiden im Organismus
zu solcher Reflexion ganz unfähig sind. Deshalb kann bei letzteren
eine solche allgemeine Wahrheit in keiner Weise im Stande sein,
ihren Egoismus durch Rücksichten auf das Gesammtwohl des Or-
314 Anmerkungen zur «weiten Auflage.
ganismus zu beschränken, und sie brauchen deshalb in noch weit
höherem Grade eine active Regierangsgewalt wie die Bürger im
Staat. — Diese Regierung wird nun grösstenteils durch die Nerven-
centra vermittelt, welche auch die lebendige Kraft für die erforder-
lichen dynamischen Einflüsse hergeben; aber die Nervencentra
können diese Leistung nicht in eigenem Auftrage vollziehen, weil
sie selbst auch nur Zellengruppen mit egoistischen Interessen bilden,
— sie können nur der Gerichtsvollstrecker eines höheren Richters
sein, des einheitlichen Individualwillens als psychischen Trägers der
Individualzwecke höherer Ordnung. Insofern dieser höhere Wille sieh
unmittelbar in den Zellen willen versenkt, erzeugt er in letzterem
eine instinctive Sittlichkeit im Sinne des über die Individualzwecke
niederer Ordnung übergreifenden Correlationsgesetzes, und diese Art
des Einflusses wird besonders im Pflanzenreich wichtig sein, wo es
an Nerven zur mechanischen Vermittelung dynamischer Einflüsse
fehlt. Insofern solche directe oder indirecte Einwirkungen sieh
öfters wiederholt haben, werden sich im Protoplasma der Piastiden
moleculare Dispositionen zu fernerem ähnlichem Verhalten eingraben,
und künftigen Einflüssen den Weg bereiten. Je länger aber der
Cyklus des Generationswechsels der Zellen in höheren Organismen
wird, desto schwieriger wird es, an eine rein mechanische Vererbung
solcher Dispositionen zu glauben, welche durch zahllose Genera-
tionen latent bleiben und endlich im rechten Moment durch Atavis-
mus wieder hervortreten müssten. Die Auffassung der organisirenden
Thätigkeit überhaupt muss auch für die Auffassung der organisiren-
den Thätigkeit bei der Uebertragung von molecularen Dispositionen
maassgebend sein. Besonders deutlich zeigt sich das Uebergreifen
des Individualwillens höherer Ordnung bei Transmutationsprocessen;
wenn hier die Portdauer der producirten Abweichungen, d. h. die
Vererbung, nur als eine correlative Fortsetzung der teleologisch ge-
richteten Variation, welche die Abweichung zuerst erzeugte, zu ver-
stehen ist („W. u. I. im Darwinism." S. 103—108), so wird dasselbe
auch für die Niederlegung von Prädispositionen im Keim gelten
müssen, welche erst nach langer latenter Uebertragung wieder an's
Licht gezogen zu werden bestimmt sind. — Festzuhalten ist, dass
jeder einzelne Generationsact dieser Serie nur unter der activen
Betheiligung des Gesammtorganismus vor sich geht, und dass diese
letztere jedesmal der Ausdruck und die Vermittelung des Individual-
Anmerkungen zu Cap. VI. 315
willens höherer Ordnung gegenüber dem Zellenegoismus ist. So fällt
auch neues Licht auf die Thatsache pathologischer Vererbung. Besteht
die Krankheit in einer Anarchie, in einer relativen Energie derParticular-
interessen und einer relativen Schwäche der Vermittelungswerkzeuge
des Individualwillens höherer Ordnung (vgl Anm. 53), so wird die Ver-
erbung der Krankheit dadurch zu Stande kommen, dass auch bei der
Beproduction der Fortpflanzungszellen die sich überhebende Zellen-
gruppe einen grösseren dynamischen Einfluss geltend macht, als ihr im
Sinne des Individualzwecks höherer Ordnung gebührt, und dass in
Folge dessen in den Fortpflanzungszellen latente Dispositionen nieder-
gelegt werden, welche bei ihrem späteren Zutagetreten nach längerem
Generationswechsel wiederum zu einer entsprechenden Zellengruppe
von relativ zu starkem lndividualwillen (im Verhältniss zu den
organischen Bealisirungsmitteln des Individualzwecks höherer Ord-
nung) führen. So stellt sich heraus, dass die Haeckel'sche Auffassung
der Vererbung weit entfernt ist, einer naturphilosophischen Betrach-
tung des organischen Lebens im teleologischen Sinne Abbruch zu
thun, sondern vielmehr durch ihre dynamische Richtung (im Gegen-
satz zur materialistischen Darwin's) derselben Vorschub leistet.
Nr. 77 (S. 106): Ersetzen kann sie die causale naturwissen-
schaftliche Erklärung nirgends, ergänzen muss sie dieselbe überall,
wenn anders ein Verständniss der Natur im vollen Sinne erreicht
werden soll (vgl. Anm. 2 und „Neuk., Schop. und Hegelianismus"
S. 62—64).
Nr. 78 (S. 107): Es ist entschieden irrthttmliob, und besonnene
Forscher wie Brücke, Max Schultze, Ed. Strassburger warnen immer
wieder davor, „die an leblosen Flüssigkeiten gemachten Beob-
achtungen ohne Weiteres auf eine lebende Substanz zu übertragen,
welche fortwährenden Veränderungen in ihrer ganzen Masse aus-
gesetzt ist." So ist zwar das physikalisch zulässige Maximum der
Tropfengrösse eine negative Bedingung für das weitere Wachsthum,
aber man kann ihre Ueberschreitung keineswegs als zureichende Ur-
sache der Theilung gelten lassen, vielmehr wird man letztere auch bei
den allerniedrigsten Protisten als die Blüthe des organischen Lebens-
und Entwickelungsprocesses aufzufassen haben, deren Eintritt nicht
sowohl durch äussere Verhältnisse als durch den inneren Verlauf
der individuellen Entwickelungs- und Altersstufen vorausbestimmt ist.
Auch die einfachsten Lebewesen zeigen — im Unterschied von den
316 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
des Stoffwechsels entbehrenden und darum nnalternden Krystallen —
den Wechsel der Lebensalter: Jagend, Vollkraft and Verfall, und
auch bei ihnen ist das erste Entwickelungsstadiam noch nicht, das
letzte nicht mehr zur Fortpflanzung fähig. Auch bei ihnen sehen
wir ferner, dass die Fortpflanzung ein ernstes und wichtiges Geschäft
für sie ist, bei dem der Organismus seine Beziehungen zur Aussen-
weit zeitweilig einstellt und alle seine Kräfte in höchster Concen-
tration in sich sammelt, um ein Maximum von Activität zu entfalten;
dies ist aber das grade Oegentheil eines bloss passiven Zerfalls
wegen Ueberschreitung der physikalisch zulässigen Tropfengrösse.
Wir wissen ferner, dass es sehr primitive Organismen giebt, welche
gleichwohl sehr complicirte Fortpflanzungsverhältnisse zeigen (z. B.
Pelomyxa palustris Greeff und auch die echten Amöben *), und wir
dürfen daraus schliessen, dass auch bei den durch blosse Theilung
sich vermehrenden Amöben im Innern des Protoplasma weit com-
plicirtere Vorgänge stattfinden, als unsere optischen Httlfsmittel uns
bisher haben erkennen lassen. Die kernlosen und die kernhaltigen
Organismen der untersten Stufen stehen sich sehr nahe, und wenn
wir an den letzteren erkennen können, dass die Zelltheilung schon
im Kern mit höchst verwickelten Vorgängen verbunden ist, so wer
den wir annehmen müssen, dass auch in kernlosen Moneren bei der
Theilung vieles vorgeht, was sich bisher unserer Eenntniss entzieht.
Wenn Strassburger (Stud. üb. Protoplasma S. 39) aus jenen Vorgängen
schliesst, dass der Zellkern selbst wieder aus verschiedenen Sub-
stanzen zusammengesetzt sein müsse, sicher noch differenter als
diejenigen, welche man als Haut- und Körnerplasma unterscheidet,
so lässt uns das vermuthen, dass auch in kernlosen Moneren die
anscheinend gleichartigen Theile in einer Weise differenzirt sind,
welche eine präcursorische Analogie der Differenzirung in Zell-
substanz und Kernsubstanz (und der ersteren in Haut- und Körner-
plasma, der letzteren in divergente Bestandteile des Kerns) bildet
und sie dadurch befähigt, in ähnlicher polarer Entgegensetzung zu
wirken und analoge Resultate zu erzielen. Dass das optische Ver-
halten für diese Fragen nichts beweist, ist hinlänglich bekannt;
*) Vgl. Wigand, Der Darwinismus etc. Bd. IL S. 456-457, wo die Originsl-
queUen citirt sind.
Anmerkungen zu Cap. VI. 317
Niemand vermag dem Plasma einer kernlosen Plastide anzusehen,
ob dasselbe die Bestandteile eines aufgelösten Kernes in sich ent-
hält oder nicht, und doch hat man in beiden Fällen Organismen von
ganz verschiedenem Inhalt vor sich, der sich in der Verschiedenheit
der von ihnen eingeschlagenen Entwickelnngsrichtung enthüllt. So
ist auch der Schein einer optischen Homogenität, und mag er auch
durch gleichmässige Durchdringung mit Farbstoffen unterstützt sein,
nicht der geringste Beweis für die organische, geschweige denn
chemische Homogenität des beobachteten Plasma. Es ist zu be-
dauern, dass Haeckel in der Absicht, die mechanische Continuität
des Organischen und Unorganischen zu beweisen, jene optische
Homogenität in einer einseitigen und den Laien verwirrenden Weise
betont hat, und es scheint dem gegenüber nützlich, noch einen
Augenblick bei der Constitution des Protoplasma zu verweilen. —
Homogen in organischer Hinsicht kann man das Protoplasma nur
da nennen , wo es in Krystallgestalt auftritt (z. B. in Klebermehl-
körnchen eingeschlossen als Reservestoff für die Keimung), aber auch
bei diesen quellungsfähigen Kry stallen lässt sich sehr wohl denken,
dass die krystallographisch gleichwertigen Bestandteile derselben
chemische Differenzen besitzen, welche aus ihrem verschiedenen
Ursprung herrühren und sie nach ihrem Wiedereintritt in lebendes
Protoplasma verschiedene Rollen spielen lassen. Homogen in
optischer Hinsicht erscheint uns eigentlich nirgends eine ganze
Plastide, sondern nur gewisse Theile derselben, namentlich die Haut-
schicht (nicht mit chemischer Niederschlagsmembran oder physi-
kalischem Oberflächenhäutchen zu verwechseln). Diese Hautschicht,
welche bei einigen Organismen (z. B. den Arcellen) auch die Fort-
sätze oder Pseudopodien bildet, bei anderen (z. B. Rhizopoden) ganz
zu fehlen scheint, ist dichter als der von ihr umhüllte Theil des
Plasma, aber sie ist auch keine blosse Verdichtungsschicht des
letzteren, sondern „eine aus der Differenzirung desselben hervor-
gegangene, mit besonderen Eigenschaften begabte Schicht." Der
niemals fehlende innere Theil des Plasma heisst nun das Körner-
plasma, weil in ihm kleine Körner vertheilt sind, die das erste
nie fehlende Differenzirungsproduct des Plasma bilden. Die Grund-
masse, in welche dieselben eingelagert sind, erscheint optisch fast
homogen, oder lässt doch nur noch allenfalls kleine Stippchen in
318 Anmerkungen lur zweiten Auflage.
sich erkennen. — Rud. Arndt*) erachtet die letzteren fftr die embryo-
nalen Anlagen der Körnchen oder Kügelchen, indem er sich dabei
anf die allmählichen Uebergänge zwischen beiden and deren
peripherisch zunehmende Yertheilang in embryonalen BildungszeUen,
sowohl nervösen wie bindegewebigen, stützt Die Stippchen wachsen
nach ihm zu deutlich erkennbaren dunklen Punkten, diese zu Körn-
chen, und letztere vergrössern nicht nur ihren Durchmesser mit
zunehmendem Lebensalter, sondern lassen auch deutlich erkennen,
dass diese 8 Wachsthum sich nicht sowohl auf ihren centralen Theil
als auf die den letzteren umhüllenden Kapseln bezieht. Der centrale
Theil erscheint auch im reifen Kügelchen als dunkler Punkt und
bietet die nämlichen chemischen Reactionen dar wie die protoplas-
matische Grundsubstanz; die Kapseln sind hell oder durchsichtig,
glasartig glänzend, haben eine erheblich grössere Widerstandsfähigkeit
gegen chemische Einflüsse und zeigen in dem Plasma verschiedener
Organismen oder Gewebe eine sehr verschiedene Dicke. Wenn
durch chemische Seagentien die plasmatische Grundsubstanz zerstört
wird, oder wenn dieselbe dem natürlichen Zerfall entgegengeht, so
wird sie von diesen Körnchen, oder wie Arndt sagt, Elementar-
kügelchen, überdauert, welche dann in Freiheit gesetzt noch längere
oder kürzere Zeit selbstständige Bewegungen ausführen, yibriren, in
Curven oder Zickzacklinien einhertanzen und mit ihresgleichen sich
suchen und fliehen (so z. B. beim Zerfall von Eiterkörperchen zu
beobachten), bis sie endlich zur Ruhe kommen.**) Je stärker die
Lebensenergie des Protoplasma, um so zahlreicher und grösser sind
in ihm die Körnchen; gleichwohl gehen losgetrennte Stücke Körner-
plasma bald zu Grunde, indem sie durch Wasseraufnahme bersten,
während auch umgekehrt abgetrennte Stücke der Hautschicht mit
zu wenig körnigem Inhalt sich nicht zu erhalten vermögen. An
*) Vortrag gehalten in Greifswald am 6. November 1875, abgedruckt in dar
Berliner klinischen Wochenschrift 1876 Nr. 19.
**) Der Botaniker H. Karsten behauptet, dass diese Elementarkügelclien
nicht nur nach dem Tode der Zelle als solchen eine Zeitlang fortleben, sondern
dass sie auch fortwachsen, sich zu Bakterien, Vibrionen, Mikrokocken, Hefezellen
u. s. w. entwickeln und als solche sich einige Generationen hindurch fortpflanzen.
Diese Behauptungen, Bowie die auf sie gestützte Theorie der „Fäulniss und An-
steckung" oder „Nekrobiose" finden aber bei andern competenten Forschern so
entschiedenen Widerspruch, dass sie hier nur erwähnt, nicht benutzt werden
können.
Anmerkungen zu Gap. VI. 319
gewissen als Nutritionscentren anzusehenden Stellen (z. B. an ge-
wissen Punkten der zn Nervenfasern aaswachsenden Nervenzellen)
finden sie sich zn kernartigen Gebilden angehäuft ; an andern Stellen
treten sie in Gruppen von dreien oder mehreren auf. Nach Arndt
wären die Kerne der Zellen und Piastiden „in Wirklichkeit nichts
anderes als Protoplasmaklümpchen mit zahlreich entwickelten und
stark conglobirten Elementarkügelchen". Wenn nun der Kern in
den kernhaltigen Zellen zweifellos als Fortpflanzungscentrum gilt,
und selbst nur ein Differenzirungsproduct aus Elementarkügelchen
und Grundsubstanz ist, so erhält dadurch meine schon anderwärts
geäusserte Vermuthung eine Verstärkung, dass in den kernlosen
Zellen und Piastiden wohl unter den Körnchen oder Elementar-
kügelchen der Ersatz für die sonst dem Kern zufallenden Functionen
zu suchen sein möchte. In diesen ist wiederum nicht die schützende
Kapsel, sondern der plasmatische Centraltheil als der active Factor
anzusehen, cL h. der vor Entstehung der Kapsel schon vorhandene
dunkle Punkt. Dieser würde das primitivste Organ der kernlosen
Organismen repräsentiren, so dass man Haeckel widersprechen muss,
wenn er die Moneren Organismen ohne Organe nennt. Diese
Pünktchen sind gewiss noch Gruppen aus zahlreichen chemischen
Plasmamoleculen, also nicht Plastidulen im Sinne Haeckel's ; sie sind
Differenzirungsproducte aus denjenigen Plastidulen, welche die
plasmatische Grundsubstanz constituiren, aber doch solche Differen-
zirungsproducte, die schon im jugendlichen Zustande des Plasma als
Keime enthalten sind. Der Jugendzustand neugebildeter Plasma-
substanz darf übrigens nicht mit der Jugendphase des Organismus,
dem sie angehört, verwechselt werden; denn wir finden in eben
abgeschnürten Zellen, in Sporen und Eiern überall die Elementar-
kügelchen schon als Mitgift vor, und nur in dem Assimilations-
zuwachs dieser Embryonen geht ihre Neubildung nach unbekannten
Gesetzen und zweifelsohne unter dem dynamischen Einfluss der
schon vorhandenen Körnchen vor sich. — Mit der Betrachtung der
Körnchen ist aber diejenige der Constitution des Plasma keineswegs
erledigt; wenn wir die Körnchen den Blutkörperchen der höheren
Organismen vergleichen können, so entspricht das plasmatische
Maschen- und Netzwerk, an dessen Wänden die Körnchen sich ent-
lang bewegen, dem Gefösssystem und der flüssige Inhalt dieses
Maschen- und Netzwerks mit seinen mannichfaltigen Strömungen
320 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
dem Blutserum. Man darf sieb den Unterschied der Dichtigkeit
zwischen dem Netzwerk und seinem flüssigen Inhalt freilich nicht
zu gross vorstellen; beide haben eine halbflüssige oder festflüssige
Consistenz, d. h. bestehen ans Plasmamoleculen, die in einer grösseren
oder kleineren Hülle von Wasser schwimmen. Der Dichtigkeits-
unterschied reicht selten zu einer unmittelbaren optischen Erkenn-
barkeit, meist wird derselbe erst wahrnehmbar durch allerlei phy-
sikalische und chemische Manipulationen, welche den beiden Theilen
ein etwas verschiedenes Ansehen geben. Wo aber auch durch solche
Mittel das Netzwerk bisher nicht erkennbar wird, da braucht man
darum doch nicht an dem Vorhandensein eines solchen zu zweifeln;
man wird dasselbe nach Analogie vermuthen müssen, und höchstens
annehmen, dass der Unterschied der Dichtigkeiten in solchen Fällen
ein noch geringerer sein wird. Vielleicht gelingt es der Zukunft,
durch geeignete Behandlungsweisen die mikroskopische Forschung
in dem Maasse weiter nutzbar zu machen, wie dieselbe jetzt gegen
ihren Stand vor einigen Decennien vorgerückt ist. In dem Maasse,
als sich diese Hoffnung erfüllt, wird aber auch sicherlich der irr-
thümliche Schein der Homogenität verschwinden, und werden auch
in kernlosen Piastiden Erscheinungen sichtbar werden, welche ihre
Theilung als einen aus dem inneren Entwickelungsgesetz ihres
Lebens heraus bestimmten Vorgang erweisen.
Nr. 79 (S. 107): Vgl. Anm. 8.
Nr. 80 (S. 108): Nicht bloss auf höheren, sondern auf allen;
vgl. Anm. 78.
Nr. 81 (S. 109): Dass das eine Alternative sei, das ist der
Irrthum ; die Wahrheit liegt in der Synthese, im „sowohl als auch."
Vgl. Ph. d. U. I. 454—455. Das physiologische Problem liegt in
erster Reihe in der individuellen Entwickelung aus dem gegebenen
Keim, in zweiter Reihe in der Entwickelung eines solchen Keims
aus den gegebenen Eltern und erst in dritter Reihe tritt die phylo-
genetische Frage ein, wie die in den Eltern liegende Disposition zur
Entwickelung solcher Keime entstanden sein mag. Wer da glaubt,
durch Beantwortung der dritten Frage das erste und zweite Problem
mit erledigt zu haben, befindet sich in einem starken Irrthum. Der
Darwinismus neigt zu diesem Irrthum vielleicht mit aus dem Grunde,
weil er vorwiegend von Zoologen und Morphologen (nicht von
Physiologen) eultivirt wird. Dies macht auch die Reaction der
Anmerkungen zu Cap. VI. 321
Embryologie gegen den Darwinismus verständlich, wie sie z. B. von
His vertreten wird.
Nr. 82 (S. 109): Die Sache, d. h. das Resultat wird in der
That erst dadurch verständlich, wenn auch die mechanische Ver-
mittelung desselben um nichts verständlicher wird. Letzteres habe
ich nie prätendirt ; ersteres zu übersehen ist der Fehler der Mecha-
nisten (Vgl. Anm. 2).
Nr. 83 (S. 109): Durch die gegebenen Dispositionen ist die
Ent wickelungsrichtung nur insofern vorgezeichnet, als diese
Sichtung der Bealisirung des Individualzweckes höherer Ordnung
ein Minimum von centrifugalen Widerständen entgegensetzt, aber
nicht in dem Sinne, als ob ohne jede Leitung durch ein zu ein-
heitlicher Thätigkeit zwingendes Archon die Entwickelung sich von
selbst vollziehen müsse. Das organisirende Princip ist daher nie-
mals ein passives fünftes Bad am Wagen, sondern in jedem Moment
activ, um die centrifugalen Tendenzen der selbstsüchtigen Individuen
niederer Ordnungen im Zaume zu halten und zu paralysiren. Jede
Passivität desselben ist Erkrankung, d. h. beginnende Auflösung des
Organismus, die mit Zerfall endet, wenn das organisirende Princip
nicht dem gegenüber als Naturheilkraft eine gesteigerte Activität
entfaltet.
Nr. 84 (S. HO): Dies zu negiren ist mir niemals eingefallen.
(Ph. d. U. I. 138 u. 449—451).
Nr. 85 (S. 110): Diese gehören immer nur zur mechanischen
Vermittelung der teleologischen Aufgaben oder Ziele und sprechen
deshalb in keiner Weise gegen die letzteren (Vgl. Ph. d. U. IL 242
oben; 1. Aufl. S. 497). Vgl. oben die allgemeinen Vorbemerkungen
Nr. 7.
Nr. 86 (S. 116): Solche pathologische Vererbungen sind viel-
leicht zu betrachten als Hyperplasien einzelner Hirntheile oder
Zellengruppen, d. h. subordinirter Individuen ; sie sind also ent-
standen in Folge einer mangelhaften Herrschaft des höheren Indi-
vidualzwecks über die Individualzwecke niederer Ordnung und ihre
Vererbung ist durch eine ähnliche Monstrosität im Keim vermittelt,
die gleichfalls durch eine relative Schwäche des Archon ermöglicht
ist (vgl. Anm. 76). Vielleicht sind die Widersprüche im Charakter
des Weibes darauf zurückzuführen, dass der Individualzweck höherer
Ordnung minder energisch vertreten ist, und deshalb die antago-
E,v. Hart mann, Das Unbcwusste. 2. Aufl. 21
322 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
nistischen Individualzwecke niederer Ordnung, wie sie von zwei
Eltern, vier Grosseltern, acht Urgrosseltern u. s. w. zusammen ge-
erbt sind, sich unbehinderter geltend machen, während im männ-
lichen Charakter durch grössere Stärke des Archon diese Gegensätze
gebändigt und bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen sind.
Anmerkungen zu Capitel VII.
N. 87 (S. 123): Auch starke Gemttthsbewegungen können ohne
Einfluss auf die Centralorgane der Bewegung sein, obschon der
Wille als Leidenschaft und Affect in ihnen heftig erregt ist Anderer-
seits können die motorischen Impulse des Athleten aus sehr gering-
fügigen Willenserregungen entspringen. Die Sphäre der physischen
Willenserregung und die der mechanischen Action des Organismas
dürfen ebensowenig mit einander confundirt werden, als mit der
Sphäre der uninteressirten Vorstellung.
Nr. 88 (S. 123): Offenbar ist die Freiheit der Vorstellung vom
Wollen nur relativ zu verstehen, wie ich dies auch bei der Er-
klärung des Ausdrucks „Emancipation der Vorstellung" betont habe.
(Ph. d. U. IL 33. Anm.).
Nr. 89 (S. 123): Dies ist nicht eine essentielle, zu dem Vor-
stellungsinhalt in directer Beziehung stehende, sondern nur eine
accessorische Willensbetheiligung.
Nr. 90 (S. 123): Psychologisch ausgedruckt heisst das nur:
Jede Vorstellung kann unter Umständen Motiv werden, aber
an und für sich ist sie keins, d. h. an und für sich ist sie essentiell
willenlos, trotz aller Intensität als Vorstellung. Dies genügt, am
jeder Tendenz auf Verwischung des Unterschiedes energisch ent-
gegenzutreten.
Nr. 91 (S. 123): Diese Erklärung kann nur so lange als aus-
reichend erscheinen, als der Unterschied psychischer Willenß-
erregung und motorischer Action nicht beachtet wird.
Nr. 92 (S. 124): Dass diese Leitungswiderstände nicht der ent-
scheidende Grund sein können, ergiebt sich daraus, dass sie mit
Leichtigkeit Oberwunden werden, sobald die nämlichen Vorstellungen
zu Motiven des Willens werden. Eine psychologisch ausreichende
Erklärung für diesen Unterschied erhält man erst dann, wenn man
annimmt, dass das, was wir die Totalität der Erscheinung des
Annwkuiige* «u Cap. VH 323
Willens nennen, erst durch MitbetheiUgung eines rein psychischen
Willenaactes an den Sohwingungaintensitäten 4er Hirnmolecule sieh
ergiebt, für deren Eintreten vorzugsweise die Erregung der eha-
rakterologischen Dispositionen als Motiv dient; während die blossen
Vorstellungen mehr eine rein intoilectuelle Betätigung der Psyche
wachrufen.
Nr. 93 (S. 124) : Dann ist doch wohl die letztere und nicht die
erstere als Ursache der Handlung anzusehen.
Nr. 94 (S. 124): Solche motorische Actionen wird man wohl
schwerlich noch „Handlungen" im psychologischen Sinne des Worts
nennen wollen; es sind nicht mehr Manifestationen des Indiyidual-
willens höherer Ordnung, sondern einseitige, unoontrollirte Aeusserungen
der von ihm beherrschten Individualwillen niederer Ordnung.
Nr. 95 (S. 127): Hier ist wieder zu wanden vor Verwechselung
der moleoularen Dispositionen und Schwingungsarten mit Vor-
stellungen, d. h. vor Verwechselung der äusseren und inneren
Erscheinung. Nicht die Schwingungsart ist der Vorstellungsinhalt,
sondern sie ist nur mit der Bewusstseinsform dieses Vor-
stellungsinhalts verknüpft. Ohne diese Bewusstseinsform dagegen
kann der Vorstellungsinhalt auch unabhängig von dieser Schwingungs-
art bestehen, und deshalb ist auch das Wollen nicht von solchen
Schwingungen abhängig. Alle Motivationserklärung aus Hjrpdispo-
ßitionen beruht doch schliesslich auf der Motivirung eines Atom-
willens durch die Willensäusserung eines anderen Atoms ; d. h. auch
die scheinbar physikalische Erklärung ist im Grunde eine Resultante
aus psychologischen Motivationscomponenten ; denn im Atom hören
die materiellen Dispositionen auf. Diese Grundlage der Erklärung
ist erst das Urphänomen der Motivation (das früher ist als die ihm
dienenden Hilfsmechanismen). Dieses Urphänomen, die ursprüng-
liche Bedeutung der Motivation, halte ich fest, wenn ich von der
Motivation des immateriellen Individualwillens durch die Willens-
äusserungen der Individualwillen niederer Ordnung (im Hirn) rede,
in welchem auch die Summationsphänomene der Atomwillen mit-
befasst sind.
Nr. 96 (S. 131): Dies ist schon aus dem Grunde unrichtig,
weil die Disposition aus Uebung entstehen soll; Uebung aber ist
häufige Wiederholung der Function. Die Function ist also auch
hi«r 4o3 Pftu# der Disposition, d. h. die Function kann nicht ^us
21*
324 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
der Disposition erklärt werden, welche ans ihr erst resultirt. Ist
aber die Function möglich vor Entstehung der Disposition, so ist
schwer zn glauben, dass die Ursache, aus welcher sie damals ent-
sprang, aufhöre zu wirken. Vielmehr muss man annehmen, dass
dieselbe als die eigentliche Ursache der Function fortwirkt,
und in ihrem Wirken von der durch sie geschaffenen Prä-
disposition nur unterstützt wird. Ist nun aber die materielle Dis-
position die einzige mechanische Erklärung, die bisher ver-
sucht worden ist, so muss eben die wahre Ursache der Function
nicht auf dem materiellen Gebiet mechanischer Bewegungen ge-
sucht werden, sondern in derjenigen Sphäre, welche das Wesen
auch dieser materiellen Erscheinung enthält (vgl. Ph. d. Unb. I.,
445—446).
Nr. 97 (S. 132): Das ist aber gerade das zu Erklärende, wie
ein solcher Versuch überhaupt einmal gelingen kann, und über
das eigentliche Problem wird mit diesem scheinbar harmlosen Con-
ditionalsatz hinweggeschlüpft.
Nr. 98 (S. 132): Der kleinste Zuwachs verlangt als sein Prius
einen entsprechenden Zuwachs an der Function, der als solcher anf
keine Disposition gestützt ist ; es gilt also von jedem Zuwachs das-
selbe wie von den ersten Anfängen.
Nr. 99 (S. 133): Die Uebereinstimmung bezieht sich nur auf
die Anerkennung der körperlichen Vermittelung ; dass die Ph. d. U.
auf diesem Gebiet ebenso wie auf dem der motorischen Muskelaction
ein metaphysisches Princip annimmt, welches der körperlichen Ver-
mittelungen sich als technischer Behelfe bedient, dass also dieses
metaphysische Princip von ihr als die wahre und eigentliche
Ursache angesehen wird, ist dabei ausser Acht gelassen. Die er-
erbten Hirndispositionen können mitbestimmend werden für den
Modus der Function des metaphysischen Princips, aber sie können
ohne ein solches als activen Factor niemals die geistigen Phänomene
hervorbringen, um deren Erklärung es sich hier handelt.
r
Anmerkungen zu Gapitel VIII.
Nr. 100 (S. 140): Wie werthvoll auch die Abkürzung der
Ideenassociation für das Verständniss des discursiven Denkens sein
mag, so ist doch ihre Bedeutung hier mindestens insofern überschätzt;
/
Anmerkungen zu Cap. VIII. 325
als diese Abkürzung erst durch längere Gewöhnung eintritt, also
nur bekannte und geläufig gewordene Vorstellungsverknttpf un-
gen betrifft, nicht aber neue ungewohnte, zum ersten Male auf-
tretende, welche um so mehr naga dogav laufen, je bedeutender
sie sind. Da nun aber erstere nur reproductiv sind, und pro-
ductiv nur die letzteren sein können, so sieht man, dass für das
Verständniss der productiven Ideenassociation (um deren Erklä-
rung allein es sich handelt, S. 138 Z. 3) durch die Theorie
der Abkürzung unmittelbar nichts gewonnen wird, so dass die Ph.
d.U. yon den hier angestellten Betrachtungen über die reproductive
Ideenassociation nicht alterirt wird.
Nr. 101 (S. 144): Auch hier ist die Antithese irrig, und durch
Synthese zu ersetzen. Der Besitz von Gehirnprädispositionen zu
starken Associationsabkürzungen ist freilich Bedingung für ein
productives Denken, aber er allein würde doch seiner Natur nach
niemals über ein reproductiv es Nachdenken des von Anderen
Vor gedachten hinausfuhren. Da nun aber die Vernunft sich erst
in productivem Denken bethätigt, und da ohne productive Associa-
tion aus Vernunftgründen auch das reproductive Erlernen des Ma-
terials für die Associationsabkürzungen unmöglich ist, so erhellt,
dass auch die beste erbliche Anlage des Gehirns ohne productives
logisches Denken nicht einmal zum reproductiven Erlernen der
Mathematik ausreichen würde. Das Gleiche gilt für alle anderen
Gebiete des Denkens.
Nr. 102 (S. 149): Ihren Grund können die typischen Denk-
formen nur in der logischen Natur des Denkens selbst haben, gleich-
viel ob dasselbe durch einen molecularen Hülfsmechanismus unterstützt
wird oder nicht Letzterer ist ja selbst nur ein Niederschlag oder
Abdruck von psychischen immateriellen Denkfunctionen und dient nur
zur Herstellung einiger Erleichterung der so überaus schwerfälligen
Form des discursiven Denkens. Ist die absolute Vernünftigkeit der
unbewussten Idee einmal in das zerhackte discursive Denken ent-
äussert, um der Form des Bewusstseins theilhaftig zu werden, so
besteht die Tendenz der Entwickelung in der möglichsten Wieder-
gewinnung des raschen Ueberblicks ohne (für das Resultat wenigstens)
auf das Bewusstsein zu verzichten« So ähnelt das Ziel des Pro-
cesses dem Ausgangspunkt, nur dass im letzteren dieselben Momente
noch in impliciter Indifferenz schlummern, welche im ersteren als
326 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
exrilicite versöhnt sind« Diese Aehnlichkeit von Anfang und Ende
im Vergleich zu der die Mitte bildenden Differenz kehrt bei so
vielen Processen wieder, und führt leicht dazu, dea Unterschied bei
aller Aehnlichkeit zu verkennen, welcher eben in dem Durchgang
des Resultats durch den discursiven Process zu suchen ist.
Nr. 103 (S. 150): In diese kann sie nur durch die Veralnftig-
keit der psychischen Functionen hineingerathen sein, deren Abdruck
sie ist; in den psychischen Functionen aber ist sie ebenso wie in
der objectiv realen Welt Documentirung der logischen Gesetze,
welche alle innere und äussere Erscheinung des Wesens durch-
dringen, und darum nur die Manifestation der logischen Natur des
Wesens selbst sein können.
Nr. 104 (S. 151): In der That wäre für den Idealismus lachte
zu beBorgen, wenn die allmähliche Entwickelang des Intellects im
Thier- und Menschenreich lediglich ein Reflex der objectiven Logik
der materiellen Welt wäre, denn die Art und Weise der natürlichen
Vermittelung entscheidet eben gar nicht über die ideelle Bedeutung
der Entwicklung und die in ihr sich auswirkenden metaphysischen
Prmcipien. Es sind nur die schon mehrfach formnlirten Bedenken,
däss die Function das Prius der Disposition ist, und die Function
als psychische nicht aus materiellen Vorgängen zu erklären ist,
welche gegen diese Annahme sprechen.
Nr, 105 (S. 151): Die Entwickelung der subjectiven Logik ist
ohne Zweifel durch die von der objectiven Logik der Thatöachen
erhaltenen Eindrücke mitbedingt ; aber umgekehrt ist auch die Logik
des objectiven Geschehens (schon in den Atomen) durch die sutyec-
tive Logik der Motivation bedingt. Deshalb besteht Wechsel-
wirkung und beide sind nur coordinirte Ausflüsse des absolut
Logischen im gemeinsamen Wesen.
Nr. 106 (S. 152) : Da die Gesetze sich nur durch Atombewegüngen
verwirklichen, und diese die Resultate der Motivationsacte in den
Atomen sind, so ist die Vernünftigkeit der psychologischen Gesetze
doch factisch auch auf diesem Standpunkt noch das Prius von der Ver-
nünftigkeit der mechanischen Gesetze. Jede Action eines Atoms ist
im strengsten Wortsinn ein metaphysischer Eingriff in das mecha-
nische Spiel der übrigen Atome, diese Eingriffe also würde man
doch nicht los, wenn man sie auch im blossen Summatiobsphäno-
men auf die Action der Atome reduciren wollte.
Anmerkungen zu Cap. Till. 327
Nr. 107 (S. 152): Ganz recht; nur ist nicht za vergessen, das»
Dasein wie Ichsein, objective wie subjective Erscheinung, nur Aus-
fluss des gemeinsamen Wesens sind, und dass demnach der Aus-
druck, den eine Eigenschaft des objectiven Daseins in der Sphäre
der Subjectivität findet, und umgekehrt einerseits nur eine co r re-
lative Aeusserang ihres gemeinsamen Wesens ist, und doch andrer-
seits keineswegs erschöpfend zu sein braucht, ja sogar es nicht
einmal sein kann, weil gewisse Seiten jeder Erseheinungssphäre
sich ihrer Natur nach der correlativen Wiedergabe in der entgegen-
gesetzten Erseheinungssphäre entziehen.
Nr. 108 (S. 154): Aach hier ist an Stelle der Antithese die
Synthese zu setzen. Die Thatsache, dass die psychischen Functio-
nen das Prius der durch sie gebildeten Dispositionen sind, beweist,
dass die Functionen auch ohne die materielle Disposition bestehen
konnten, wenn sie auch ohne diese für den Intellect des Individuums
nicht die wünschenswerte Leichtigkeit des Ansprechens und Sicher-
heit des Bewusstwerdens mit sich führten (Ph. d. U. I. 297). Ist
die Beschränkung der Geistesfunction auf ein blosses Summations-
phänomen unrichtig, so ist anzunehmen, dass das zu der Summe der
Atomempfindungen hinzutretende psychische Plus insbesondere auch
bei jeder synthetischen Gonstruction ein unentbehrlicher Factor ist,
dass also der Hülfsmechanismus der Disposition erst dann zur
apriorischen Function des synthetischen Aufbaues einer An-
schauung oder eines Urtheils führt, wenn jenes psychische Plus
durch seine mechanische Erregung zur Thätigkeit motivirt wird.
Danach wäre also jede höhere apriorische Function Produ et eines
psychischen Factors und einer materiellen Hirnprädisposition. Dass
von beiden Factoren der letztere entbehrlich ist, zeigt obige
Erwägung; dass von ihnen der erstere jemals entbehrlich wäre,
kann ich nicht annehmbar finden. Setzt man die psychische
Beaction des zum blossen Summationsphänomen hinzukommenden
Plus als selbstverständlich, weil regelmässig eintretend, voraus, so
kann man freilich die Prädisposiflonen als den Grund des Äpriori
bezeichnen; aber man darf dabei nie vergessen, dass man dabei
nur den einen Factor eines Productes nennt, und zwar den Factor,
der nur eine seeundäre, subsidiäre Bedeutung hat.
Nr. 109 (S. 155): Das Tasten mag noch so empirisch sein, es
bliebe resultatlos ohne Eintritt der apriorischen psychischen Function,
328 Anmerkungen nur zweiten Auflage.
die ihm die zum Ziele führende Richtung giebt. Der Ausdruck ist
also unrichtig, dass das Empirische der phylogenetische Grund des
Apriorischen sei.
Nr. 110 (S. 156): Das Nebeneinanderbestehen ist kein gleich-
berechtigtes, sondern die Disposition ist nur der selbstgeschaffene
technische Behelf der psychischen apriorischen Function (und so
stellt auch die Ph. d. U. es dar); die actuelle apriorische Function
entsteht nicht aus dem einen oder dem andern, sondern aus der
Cooperation beider, soweit der Hilfsmechanismus schon gebildet
ist. Bei dieser Cooperation ist die Disposition erstens passiver
Uebertrager des äusseren Reizes auf die Psyche, und zweitens mit-
bestimmend für die Art der ßeaction der letzteren. Das actiy
Functionirende ist die Psyche als hinzukommendes Plus des Sum-
mationsphänomens der Atome des Hirns.
Anmerkungen zu Capitel IX.
Nr. 111 (S. 160): Vgl. oben S. 77 die Fussnote. Die Organ-
empfindungen des Auges gelangen nur bis zum Vierhügelbewusstsein,
aber nicht zu dem der grossen Hirnhemisphären.
Nr. 112 (S. 161): Diese Auffassung dürfte sich für die Bearbei-
tung der Psychologie als fruchtbar erweisen.
Nr. 113 (S. 161): Dass diese in vielen Fällen passende Er-
klärung in allen Fällen passe, also eine principiell ausreichende
Erklärung sei, ist in den Anmerkungen zu Cap. VIII. als Irrthum
dargethan.
Nr* 114 (S. 162): Sie bestreitet die principielle Brauchbarkeit
der Erklärung mit Recht, weil die Function das Prius der durch
sie gebildeten Hilfsmechanismen ist; sie erkennt dagegen den
auxiliären Werth der letzteren bereitwillig an, und glaubt nur nicht,
dass durch selbige die unbewasste psychische Function überflüssig
gemacht werde, insofern moleculare Dispositionen und Schwingungen
noch nicht psychische synthetische Function sind, sondern eine
solche nur in bestimmter Richtung erleichtern und ihr Eintreten
sicherer machen»
Nr. 115 (S. 163): Hier zeigt sich wiederum das Verkennen,
dass die Synthese und nicht die antithetische Alternative die Wahr-
heit enthält, und dass die Ph. d. U. in der That die erstere fest-
Anmerkungen zu Gap. IX. 329
zuhalten sucht, wennschon sie nicht überall der Seite der mecha-
nischen Vermittelang die genügende Beachtung schenkt
Nr. 116 (S. 163): Diese Bezeichnungen haben nur eine relative
Wahrheit. Insofern die discursive Logik der Monere nicht ein
gleiches M a a s s von Activität entfaltet, als die des Menschen, kann
man sie im Vergleich mit der letzteren passiv nennen; an und
für sich aber muss sie activ sein, soweit sie überhaupt ist.
Nr. 117 (S. 163): Keine Gompensation ohne Anpassung; An-
passung aber ist spontane zweckmässige Modifikation, motivirt durch
den Individualzweck und die Erfordernisse der gegebenen Verhält-
nisse. Der unleugbar vorhandene Zwang istMotivationszwang,
d. h. subjective, active Logik.
Nr. 118 (S. 163): Gewiss kann die subjective discursive Logik
sich nur entwickeln, insofern sie praktisch, d. h. den Individual-
zwecken der Subjecte entsprechend (teleologisch) ist, und sie könnte
dies nicht sein, wenn nicht auch die Gesetze der realen Welt logisch
wären, und durch ein Conformitätssystem der absoluten Vernunft
die Harmonie zwischen Objectivem und Subjectivem verbürgt wäre.
Aber diese negativen Bedingungen sind nicht die positiv erzeugende
Ursache, sondern diese letztere ist in der Activität der subjectiven
Logik zu suchen.
Nr. 119 (S. 163): Dass im Allgemeinen die Blüthe des Geistes
aus der Befriedigung der individuellen practischen Bedürfnisse ent-
spriesst, ist nie bestritten, ist aber selbst ein teleologisches Verhält-
niss; es wäre ein grosser Irrthum, aus dieser Genesis heraus ihre
selbstständige ideale Bedeutung bemängeln zu wollen (vgl die all-
gemeinen Vorbemerkungen).
Nr. 120 (S. 164) : Das tastende Probiren des Infusoriums würde
nichts ausrichten, wenn ihm nicht ein activ logisches Moment die
Richtung des Gelingens wiese.
Nr. 121 (S. 165): Vgl. Transc. Realism. S. 129—132,
Nr. 122 (S. 166) : Dies ist keineswegs der Fall. Ph. d. U. I,
412 — 413, auch oben S. 77 Fussnote.
Nr. 123 (S. 167): Wir haben oben gesehen,, dass die Behaup-
tung, diese Möglichkeit erwiesen zu haben, unbegründet ist.
Nr. 124 (S. 167): Dies wird von Niemand bestritten; aber so-
wohl der erste Anfang, als auch jeder Fortschritt in diesem Process
k
330 Anmerkungen cor zweites Auflage.
fordert active eubjective Logik, die psychisch und doch unbewasrt
fdngirt.
Nr« 185 (S. 168) : Die Zufälligkeit dieser Beschaffenheit wäre
nur aufrecht zu erhalten, wenn man die teleologische Einrichtung
aller Naturgesetze und die aus ihr entspringende Harmonie der
Natur ausser Acht Hesse.
Nr. 126 (8. 168): Die Ph. d. U. hat immer betont, dass teleo-
logische Eingriffe vom Unbewussten erspart werden, wo der be-
absichtigte Zweck schon durch das Spiel der übrigen Naturgesetze
erreicht wird. Wenn also auch die nachfolgenden Deduetionen
zweifellos richtig' wären, und die Ph. d. U. übersehen hätte, dass
in diesem Specialfall der Zweck (die Flächenausbreitung) schon
ob&e active darauf gerichtete besondere Thätigkeit erreicht würde,
so würde das doch nur eine Berichtigung dieses einen Punktes
nothwendig machen, aber die Prindpienfrage gar nicht berühren.
Nr. 12? (S. 169): Eine entschiedene Widerlegung dieser ge-
wöhnlichen Annahme ist nicht beigebracht.
Nr. 128 (S. 171): Das bisherige Ergebnis* der Erörterung im
Texte ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass, wenn einmal erst
die Empfindungen in eine räumliche Fläche ausgebreitet sind, dann
keine besondere active Function der Seele mehr erforderlich sei,
um dem Bewnsstsein zu verbergen, dass diese Fläche nur mit einem
discreten Mosaik empfundener Punkte besetzt, aber keineswegs con-
tinuirlioh ausgefüllt sei. Ein Gegensatz gegen die Ph. d. IL findet
bis hierher aus dem einfachen Grunde nicht statt, weil in der Ph.
d. U. diese Frage mit keiner Silbe erwähnt, also auch nicht be-
hauptet ist, dass zur Erzeugung der Illusion der Continuität zwischen
den discreten Empfindungen ergänzende active Functionen erforder-
lich seien. Das von der Ph. d. U. behandelte Problem beschränkt
sich auf das Zustandekommen der hier noch als erfüllt voraus-
gesetzten Bedingung (Ausbreitung der Empfindungen in eine Fläche),
die erst von jetzt an erörtert wird.
Nr. 129 (S. 173): In diesem Ordnen liegt also die active und
construetive Thätigkeit, sie ist der Uebergang von der einheitlichen
Umspanunng durch das Bewusstsein (die Wundt Oolligation
nennt) m der Verknüpfung derselben in einer bestimmte» Art
und Weise, d. h. zur Synthese. Ob aber die geordnete
Synthese an und für sich schon räumliche Synthese ist, oder ob
Anmerkungen m. Gap. IX. 331
dabei noch eine weitere active Function erforderlich iat^ ist
wiederum eine Frage für sich.
Nr. 130 (S. 174): Diese Untersuchung wurde oben (S. 167)
ftlr eine ihrer Natur nach ziemlich subtile erklärt; die Schwierigkeit
derselben schliesst desshalb auch einen höheren Grad von Gewissheit
aus und lässt der subjectiven Plausibilität einen beträchtlichen Spiel-
raum. Schon aus diesem Gesichtspunkt allein erscheint ihr Resultat
nicht geeignet, Principienfragen mit entscheiden zu helfen, wie
interessant der Versuch an sich betrachtet auch «ein mag.
Nr. 131 (S. 175): Auch diese Prädisposition kann nicht rück-
wärts die Function erklären, deren Niederschlag sie erat ist.
Nr. 132 (S. 175): Keine Sprünge machen und Richtung halten,
sind Resultate, bei denen es nicht mehr ersichtlieh ist, wie über sie
hinausgegangen werden soll. Für das Durchlaufen des Empfinduügs-
complexes mit der Aufmerksamkeit sind sie ein Letztes und Höchstes.
Die ruhende Anschauung der Fläche als solchen ist aber etwas
spezifisch Anderes als die Bewegung in der Fläche and ist
so sehr die Voraussetzung der Letzteren, dass der Versuch,
durch ein „Undsoweiter" die Flächenanschauung aus der Bewegung
der Aufmerksamkeit abzuleiten, als Erschleichung feu verwerfen ist.
Schon an diesem einen Punkte mttsste die ganze Deduction scheitern,
insofern sie ohne activ-logische Function auszukommen gedenkt.
Nr. 133 (S. 176): Sie verlangt aber doch immerhin eine Aoti-
vität der subjectiven Logik, ein Plus an synthetischer Function, zu
dem keine Prädisposition vorhanden ist.
Nr. 134 (S. 176): Das ist richtig, und ist in der Thai ein
wesentlich erleichterndes Moment für die präcursorisohe Entwicklung
des Gesichtsorgans bis zu dem Ausbildüngsgrade, wo dasselbe für
Entstehung einer flächenhaften Raümanschauung brauchbar wird.
Aber ftlr diese Entstehung selbst ist damit nichts gewonnen.
Nr. 135 (S. 177): Vorausgesetzt nämlich, dass die Extension
der Empfindungen in eine Fläche einmal erst stattgefunden hat (vgl
Anm. 128).
Nr. 136 (S. 177): Zwei Punkte bleiben zu beachten, erstens:
dass die synthetische Leistung des Ordnen s, gleichviel ob sie von
Prädispositionen unterstützt ist, doch immer eine psychische Function
voraussetzt, und zweitens, dass die Anschauung des zweidimen-
sionalen EmptinduDgseomplexes als räumliche Fläche, gleichviel ob
332 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
sie durch die Ordnung bereits eo ipso gegeben ist oder nicht auf
alle Fälle eine einheitliche psychische Totalperception voraussetzt,
welche weder in einer einzelnen Zellenf unction , noch in einem
blossen Summationsphänomen aus Zellenfunctionen gefunden werden
kann, also aus materiellen Prädispositionen allein nicht zu er-
klären ist.
Nr. 137 (S. 178): Vgl. Anm. 17.
Nr. 138 (S. 179): Der psychologische Process des Erkenneng
ist nicht ein Process von Hirnschwingungen , sondern diese Hirn-
schwingungen sind nur dasjenige, womit der erstere sich in der
objectiven Erscheinungswelt des materiellen Daseins darstellt,
und die Correlation ist nicht a priori als eine solche zu bestimmen,
dass nicht auf einer der beiden Seiten ein Plus von Function ge-
funden werden könnte, welches auf der andern keine Vertretung hat
(vgl. Anm. 107).
Nr. 139 (S. 179): Diese materialistische Wendung ist auch auf
dem Standpunkt des naturalistischen Monismus unzulässig und irre-
leitend. Das materielle Denkorgan ist objective Erscheinung der
nämlichen Wesensfunctionen, welche subjectiv genommen als Denken
und Wollen erscheinen. Individualistisch betrachtet ist alle Causa-
lität nichts anderes als Motivation und sind die Bewegungsreactionen
der Atome lediglich Folgen ihrer psychologischen Motivation, d. h.
ihrer subjectiven Logik in Gestalt der apriorischen psychologischen
Function der Causalität.
Nr. 140 (S. 179): Insofern die materielle Erscheinung aus
Atombewegungen resultirt und diese aus Atommotivationen folgen,
kann man wohl diese vormaterielle (also metaphysisch-spiritualistische)
unbewusste Function über der Erscheinung schwebend nennen.
Nr. 141 (S. 179): Wenn der philosophische Causalitätsbegriff
wahr sein will, so muss er den wirklichen Process getreu abbilden
und keinen seiner Adspecte vergessen. Ein bloss von der materiellen
Erscheinung abgezogener Causalitätsbegriff kann nie erschöpfend
und tief genug sein, ebensowenig wie einer, der bloss aus der
psychischen Selbstbeobachtung des Bewusstseins abstrahirt ist. Um
wahr zu sein, muss der philosophische Causalitätsbegriff so beschaffen
sein, dass er die causalen Beziehungen in beiden Erscheinungssphären
unter sich befasst, und um letzteres zu ermöglichen, muss er zu der
Wurzel beider hinabsteigen, d. h, zu denjenigen unbewussten Func-
Anmerkungen zu Gap. IX. und X. 333
tionen, welche die materielle wie die bewusste Erscheinung erst
setzen.
Nr. 142 (S. 179): Die Frage ist nach den vorhergehenden
Anmerkungen zu bejahen (selbst unabhängig von der Frage,
ob die innere bewusste Erscheinung blosses Summationsphänomen
ist oder nicht), weil eben die auf die materielle Erscheinung ge-
stützte physiologische Erklärung nicht genügt. Dass die Form
des abstracten discursiven Begriffs aus der unbewussten synthe-
tischen Intuition auszuscheiden ist, ist für den Kenner der Ph. d. U.
selbstverständlich.
Nr. 143 (S. 181): Wenn auch die Erklärung für den naiven
Realismus richtig ist, dass seine Gonfusion auf der mangelnden
Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Ding an sich und Wahr-
nehmungsobject beruht, so bleibt doch die Thatsache bestehen, dass
von ihm das Ding an sich als existirend und wirkend angenommen
wird. Denn wäre es nicht als existirend angenommen, so könnte
ja auch nicht einmal von seiner Verwechselung mit dem Wahr-
nehmungsobject die Rede sein. Auch die anschauenden Thiere be-
trachten die Dinge an sich als etwas sie causal Afficirendes, und
diese Thatsache wird dadurch nicht berührt, dass sie die Dinge an
sich in ihren Wahrnehmungsobjecten zu besitzen glauben, indem
ihnen der in diesem Irrthum enthaltene Widersinn einer realen
Affection durch ihre idealen Wahrnehmungsobjecte darum entgeht,
weil sie nicht wissen, dass sie die von ihnen für Dinge an sich
gehaltenen Vorstellungsobjecte unbewusster Weise selbst producirt
haben. Wenn ein Thier vom andern gefressen wird, so zweifelt es
nicht daran, dass seine Empfindungen dabei verursacht sind durch
die fressende Thätigkeit des anderen, unbeschadet des Irrthums,
dass es dieses fressende Thier mit seinem Wahrnehmungsobject
desselben identificirt. Das Problem bleibt also bestehen, wie das
Thier dazu kommt, überhaupt ein Ding an sich als Ursache seiner
Empfindungen zu supponiren, und die Erklärung der Confusion des
naiven Realismus aus Mangel an Unterscheidungsvermögen trägt zur
Lösung dieses Problems nichts bei.
Anmerkungen zu Capitel X.
Nr. 144 (S. 187): Der stets wiederkehrende Irrthum: Antithese
statt Synthese, Alternative statt Cooperation.
334 Anmerkungen mir weiten Auflage.
Nr. 145 (S. 187): Der Vorwurf ist begründet, insofern die
Pb. d. U. jedes scheinbare Fehlen eines Hilfsmechanismus sogleich
für den Schluss eines unmittelbaren teleologischen Eingriffs zu ver-
werten sucht ohne die Untersuchung auf die Möglichkeit einer Ent-
stehung von Hilismechanismen mit hinreichender Geduld zu Ende
zu führen und zu erschöpfen, aber der Vorwurf ist unbegründet, in-
sofern das „Neben" oder die Cooperation der unbewussten psychi-
schen Function nicht erst bei Fehlen des Hilfsmechanismus erforder-
lich ist, sondern auch bei seinem Vorhandensein. Bei dieser
Anschauung hat das Maass von Unterstützung, welche der Eintritt
der unbewussten Function an einem Hilfsmechanismus findet, nur
eine secundäre Bedeutung; zur Null sinkt dasselbe schon deshalb
niemals herab, weil mindestens das aus unorganischen Elementen
constituirte Protoplasma als Basis gegeben ist, und auch dieses
schon in seiner eigentümlichen Constitution als Hilfsmechanismus
für die psychischen Functionen der Zelle oder Plastide betrachtet
werden muss.
Nr. 146 (S. 187) : Dieselbe ist auch keineswegs ausser Acht
gelassen, nur im Abschnitt A nicht genügend berücksichtigt
Auf S. 78—79 der dritten Auflage (7. Aufl. I. 8. 77) sind die Haupt-
gründe angegeben, warum die physiologische Erklärung nicht für
den Instinct ausreicht. Die Darwinsche Erklärung des Instmets
zeigt nur, dass es in Herz und Ganglien Hilfsmechanismen giebt,
die das Functioniren der Instincte erleichtern und befördern, sie
rührt aber nicht an das Wesen des Instincts, lässt die Fälle un-
erklärt, in denen die Entstehung solcher Hilfsmechanismen aus-
geschlossen ist, und ebenso die Entstehung der Hilfsmechanismen
selbst, besonders bei solchen Instincten, die superflua des Lebens
betreffen und nicht nothwendig für die Erhaltung der Gattung sind
(vgl. Wahrh. u. Irrth. im Darwinismus S. 118—123; 137—138; 77
bis 79; auch oben Anm. 6).
Nr. 147 (S. 187): Allerdings hat im Abschn. A das Capitel
Instinct eine centrale Stellung, aber auch nur in diesem. Die Hy-
pothese der teleologischen Eingriffe dagen stützt sich eben so sehr
auch auf die übrigen Capitel und ganz besonders auf den Ab-
schnitt B. Ausserdem ist in dem Anhang die Lehre von den Reflex-
funetionen ab eine primitivere Form desselben Problems an Stelle
des Instincts in die Position des Centrums gerückt, und das fie-
Anmerkungen zu Gap. X. 335
sultat ist dasselbe: Die Unentbehrlichkeit der Cooperation des
Trägers des einheitlichen Individualzweeks höherer Ordnung.
Nr. 148 (S. 188) : Dabei ist immer vorausgesetzt, dass die mole-
cnlaren Prädispositionen wirklich für sich allein eine Erklärung
bieten und dies gerade wird durch die Betrachtung der Genesis am
entschiedensten widerlegt.
Nr. 149 (S. 189): Es ist wohl zu beachten, dass, wenn man
sowohl den Instinct, als auch die bewusste Reflexion als subjective
Phänomene auffasst, welche durch Cooperation von molecularen Dis-
positionen und psychischen Functionen geschaffen worden, dass dann
die sonst verschlossene Möglichkeit eines flüssigen Ueberganges
von einem zum andern Phänomen sich eröflhet, so dass eine scharfe
Grenze zwischen ihnen nicht mehr zu ziehen ist. So verstanden ist
allerdings der Polymorphismus der Instincte und die zweckthätige
Reflexion mit mehr oder minder abgekürzter Ideenassociation für die
gegebenen psychischen Phänomene erschöpfend; nur ist nicht zu
vergessen, dass das Teleologische in der bewussten Reflexion selbst
wieder auf eine unbewusste psychische Function hinweist, die mit
dem psychischen Factor des Instincts identisch ist Eine das Han-
deln teleologisch modificirende psychische Function, welche in einem
entwickelten Intellect als zweckthätige Reflexion erscheint, wird in
einem Intellect von niederer Stufe Instinct genannt werden müssen,
und zwar Instinct ohne specifische Prädisposition.
Nr. 150 (S. 190) : Der erste Theil dieses Satzes ist richtig, aber
nicht der letzte, der auf der irrthümlichen Antithese fusst.
Nr. 151 (S. 191): Hierbei ist verkannt, dass der unbewusste
Zweck sich auch da durchsetzt, wo die Prädispositionen noch nicht
vorhanden sind, nämlich als teleologische Function, welche zugleich
auch die Prädispositionen bildet. Gleichgültig ist dabei, inwieweit
diese teleologische Function in's Bewusstsein fällt; sie wird es um
so mehr, je höher der ganze Intellect entwickelt ist Aber auch im
letzteren Falle ist das Teleologische an dieser Function deshalb um
nichts erklärlicher, weil wir die Teleologie unserer bewussten Re-
flexion selbstverständlich zu finden gewohnt sind. Das an
uns selbst Gewöhnte übertragen wir in zu hohem Grade auf die
Thiere (Ph. d. U. I. 377), bei denen diese Function um so
sicherer unbewusst bleibt, je tiefer dieselben stehen (man denke
z. B. an eine spinnende Raupe). Auch die Teleologie der bewussten
336 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
Ueberlegung entspringt ans unbewussten teleologischen Functionen
(Ph. d. ü. I 388—389, 462-466); mögen noch so viele Zwischen-
resnltate vor dem Bewnsstwerden des Endresultats discursiv in's
Bewusstsein treten, so sind doch die Uebergänge von einem Rnhe-
pnnkt znm andern allemal nnbewusste Function, und doch steckt
nur in diesen Uebergängen das Leben des Gedankens, das Logische
und Teleologische seiner Bewegung. Da der thatsächlich gegebene
flttssige Uebergang zwischen Modificationen des Instincts und be-
wusster zwecktbätiger Reflexion niemals dazu führen kann, den
teleologischen Charakter der in der bewussten Reflexion wirk-
samen unbewusst logischen Function in Frage zu stellen, so muss
er umgekehrt als Beweis dafür betrachtet werden, dass die nn-
bewnssten Functionen die bei der Modification des Instincts auf-
treten, gleichfalls teleologische Aeusserungen des unbewusst-Logi-
schen sind.
Nr. 152 (S. 191): Der nnbewusste Zweck bleibt nicht aus, aber
er findet unter Umständen nicht die nöthigen Anhaltspunkte zu
seiner Bealisirung in dem betreffenden Nervencentrum, wobei die
Empfindungen und Gedächtnissprädispositionen als Material dienen.
So z. B. findet der Zweck erst im Protoplasma die Bedingung des
Lebens, aber nicht in einem unorganisirten Eiweisstropfen. Das
Vorhandensein der Bedingungen seiner Realisirung, (d. h. die Prä-
disposition im weiteren Sinne) ist die Garantie seines Zur-Er-
scheinung-Eommens.
Nr. 153 (S. 192): In der That kann dieser Umstand für die
Frage der Sufficienz oder Insufficienz der Atome nichts beweisen,
und ist auch dergleichen von der Ph. d. U. nicht behauptet worden.
Dass dieselbe die mechanische Vermittelung beim Instinct im Unter-
schied von derjenigen bei der abwägenden Reflexion auf die Zeit-
dauer zu betrachten unterliess, ist eine hier mit Recht gerügte Ver-
säumniss. Aber ihre Folgerung bleibt darum doch zweifellos richtig
für den Fall der Insufficienz der Atome. Denn wenn alle Zeit,
welche bei der Function vorkommt, auf Rechnung des Hilfsmecha-
nismus zu setzen ist, so bleibt doch ganz sicher für eine hinzu-
kommende psychische Function keine Separatzeit übrig. (Vgl. Pb.
d. U. IL 467—468).
Nr. 154 (S. 192) : Die zeitlose Momentaneität findet in der Er-
fahrung allerdings eine Stütze, aber nur indirect oder negativ,
Anmerkungen zu Cap. X, 337
insofern die Empirie alle Zeit auf Rechnung des Spiels der Mecha-
nismen schreibt. Vgl. PL d. IL 467—468.
Nr. 155 (S. 193): Dies wäre nur unter der Voraussetzung
richtig, dass der Individualwilie höherer Ordnung blosses Summa-
tionsphänomen der Atomwillen wäre, welche Voraussetzung von der
Fh. d. U. eben nicht getheilt wird. Auch die Motivation des zu
dem Summationsphänomen der Atome hinzukommenden Individual-
willens gilt ihr als streng determinirt; eben darum hängt das
Froduct yon der Bestimmtheit beider Factoren ab, d. h. jeder
einzelne prädisponirt nur zur Herstellung desselben.
Nr, 156 (S, 193): Wenn der Individualwilie als metaphysischer
Träger des Individualzwecks höherer Ordnung mit den particula-
ristischen und centrifugalen Interessen der Individualwillen niederer
Ordnung colli dir t, so ist er eben nicht fünftes Rad am Wagen,
sondern seine centripetalen Functionen sind nothwendig, um die
Leistungsfähigkeit der Glieder zur Einheit zu lenken, und durch
centripetale Einflüsse ihre centrifugalen Tendenzen zu paralysirqn
und zu überbieten.
Nr. 157 (S. 193): Diese Ansicht des älteren rationalistischen
Theismus wird dort gerade negirt. Uebrigens sind die Argumente
gegen die alleinige Zulänglichkeit eines solchen Mechanismus offen-
bar nicht davon abhängig, ob die Herstellung des letzteren als un-
mittelbare Schöpfung oder als eine natürlich vermittelte Entwickelung
gedacht wird.
Nr. 158 (S. 194): Das metaphysische allein reicht aus, wo es
sich um Herstellung einer Prädisposition handelt; das physio-
logische allein reicht nicht aus, da die psychische Zweckf unction
nicht bloss Summationsphänomen der Atomfunctionen ist. Auch bei
der Erklärung der Gonstanz der Instincte sind beide Erklärungen
wahr, und nur das falsch, dass eine die andere ausschliesst.
Die Gonstanz der Prädispositionen dient der Gonstanz der Individual-
zwecke als natürliche Vermittelung ; die Prädispositionen bleiben
gerade nur so lange constant, als die Individualzwecke es blei-
ben, und wandeln sich um, wenn diese sich modificiren. Die
Constanz der Individualzwecke ist deshalb der tiefere Grund, bei
dem aber die natürliche Vermittelung nicht ausser Acht gelassen
werden darf; die letztere bietet zwar die nächstliegende
E. v. Ilartmunn, Das Unbewnsste. 2. Aufl. 22
338 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
causale Erklärung, aber diese ist für sich allein unzureichend,
ein wirkliches Verständniss der Sache zu geben (vgl. Anm. 6 u. 1).
Nr. 159 (S. 194): Da jede materielle und immaterielle Function
in letzter Instanz ein metaphysischer Eingriff in die Summe der
übrigen Individuen in der Welt ist, so gelangt alle Wissenschaft
nicht weiter als zu der Einsicht, dass jeder solche Eingriff
gesetzmässig determinirt ist, und sie hat die Erscheinung
erklärt, wenn sie das Determinationsgesetz derselben enthüllt
hat. Dies muss nur auch für die organischen Entwicklungsgesetze
geschehen, d. h. man darf solche nicht a priori leugnen.
Nr. 160 (S. 195): Inwieweit die unbestrittene natürliche Ver-
mittelung sich in allmählicher Umbildung, inwieweit sie sich in
Sprüngen bewegt, ist eine Frage von secundärer Bedeutung, und
jedenfalls noch offene Frage („W. u. I. in Darw. IIP 1 ).
Nr. 161 (S. 195): Wenn demnach sogar im organischen Bilden
das organisirende Princip (als Träger der teleologischen Bildungs-
und Entwickelungsgesetze) sich als unentbehrlich herausstellt (wie in
der Ph. d. U. u. W. u. I. im Darw.) so wird dies für den Instinct
erst recht zu erwarten sein; ebenso wird die Entscheidung der
Frage, ob allmähliche oder sprungweise Umwandlung auf dem Ge-
biet der phylogenetischen Entwickelung der Typen ein Präjudiz
abgeben können für die gleiche Frage bei Entwickelung des
Instincts.
Nr. 162 (S. 195): Hier sind die Principien der geschlechtlichen
Zuchtwahl und des Gebrauchs und Nichtgebrauchs nicht anwendbar,
welche bei höheren Thieren wesentlich die Genesis des Instincts
erklären sollen. Der unbewusst-teleologische Charakter der durch
natürliche Zuchtwahl zu fixirenden Variationen ist deshalb hier am
eclatantesten.
Nr. 163 (S. 195): Die Function geht vielmehr immer um einen
Schritt voran.
Nr. 164 (S. 196): Das ist eine unerwiesene Annahme.
Nr. 165 (S. 196): Doch! Gleichviel ob die Zuwachse minimal
sind oder nicht, so muss immer der Functionszuwachs das Prins
des Organzuwachses sein; insoweit also die Zuwachse nicht bloss
quantitative Steigerung, sondern auch qualitative Differenzirungen
betreffen, erfolgen sie ohne ererbten specifischen Hilfsmechanismns.
Nr. 166 (S. 196): Vgl. Anm. 149 und 151.
Anmerkungen zu Cap. X. 339
Nr. 167 (S. 196): Das Beispiel ist im Pflanzenreich und bei
den niederen Thieren ausgeschlossen, wo keine Erziehung der
Jungen und keine Geselligkeit besteht und doch sind die Instincte
gerade dort am mächtigsten.
Nr. 168 (S. 196): Durch Gewohnheit befestigen kann sich nur
eine häufig im Leben wiederkehrende Handlung. Viele Instincte,
(besonders bei niederen Thieren und Pflanzen) treten aber nur
einmal im Individualleben auf, z. B. das Einspinnen der Baupen,
die Fortpflanzungsinstincte der Insecten. Wir kennen kein Beispiel,
dass eine einmalige Handlung genüge, um eine vererbbare Dispo-
sition auszuprägen oder auch nur vorhandene Dispositionen merklich
und in vererbbarer Weise zu modificiren. Die individuelle Be-
festigung durch Gewohnheit (d. h. häufige Wiederholung) ist also
Vorbedingung der Vererbung und um so mehr der Addition durch
Vererbung.
Nr. 169 (S. 197): Von solchen kann bei niederen Thieren und
Pflanzen doch wohl überhaupt noch nicht die Bede sein. Hieraus
geht hervor, dass die Modificationen der Instincte durch das La-
marck'sche Princip überhaupt nur eine auxiliäre und secundäre Be-
deutung haben, und erst verhältnissmässig spät in der Entwickelungs-
geschichte der Organisation auf Erden einsetzen; dass also das
eigentliche Erklärungsprincip des Instincts ein anderes sein muss.
(Vgl. Darwin's „Entstehung der Arten" S. 236 und oben Anm. 6.)
Die Selection setzt immer die zweckmässigen Instincte oder Modi-
ficationen voraus, welche durch sie befestigt werden, also ist auch
sie nicht das Fundamentalprincip, sondern letzteres ist nur in dem-
jenigen zu suchen, was da macht, dass solche zweckmässige Func-
tionen oder Modificationen auftreten. Dass die Auslese aus den
Besultaten einer völlig zufälligen, also allseitigen und unbestimmten
Modificabilität der Function stattfinde, ist ein schwerer principieller
Irrthum des mechanistischen Darwinismus, der noch schlagender als
im Bereich des organischen' Bildens in dem des Instincts seine that-
sächliche Widerlegung findet.
Nr. 170 (S. 197): Vgl. Anm. 168.
Nr. 171 (S. 200): Da zwischen den angeführten Beispielen eine
genealogische Descendenz keineswegs zu behaupten ist, so ist auch
durch die Zusammenstellung dieser systematisch verwandten Instincte
nichts weiter dargethan als die Möglichkeit, dass der Bau-
22*
340 » Anmerkungen zur zweiten Auflage.
inBtinct unserer Biene ahn liehe Vorstufen durchlaufen haben
könne. Aber auch dann, wenn diese Möglichkeit zur Gewissheit
erhoben werden könnte, würde das Verständniss dieses natürlichen
Vermittelungsganges nicht das Geringste gegen dessen teleologische
Bestimmung beweisen. Ausserdem ist bei diesem Beispiel zu be-
achten, dass alle Individuen, die der Einwirkung der Gewohnheit
unterworfen sind, nicht an der Fortpflanzung theilnehmen, also auch
ihre erworbenen Prädispositionen nicht vererben können. Darwin
sieht diese Schwierigkeit wohl, aber er glaubt irrthümlicher Weise,
sie durch Verweisung auf das Correlationsgesetz und die Selection
in Familien mildern zu können, obwohl doch die Erhaltung und
Steigerung der erworbenen Fertigkeiten durch Vererbung hier völlig
unmöglich ist. („Entst. d. Arten" S. 265—266).
Nr. 172 (S. 201): Für die Wespen und Bienen ist das Vor-
handensein einer nennenswerthen Zeichensprache durch neuere
sorgfältige Untersuchungen wieder stark in Frage gestellt worden.
Wie dem auch sei, so wird die Analogie eines Indianertrupps
keinenfalls hinreichen, um die Cooperationen eines Bienenschwarms
hinreichend positiv verständlich zu machen, wenngleich er das
Fehlen störender Factoren zu erläutern geeignet ist. Das Wesent-
liche ist der Polymorphismus der Bauinstincte und die Reaction der
verschiedenen Formen je nach den Motiven; polymorphe Instincte
sind aber offenbar noch schwieriger zu erklären als monomorphe.
Ausserdem ist bei der Vertheilung der polymorphen Formen an
verschiedene Individuen an das Correlationsgesetz zu denken, das
nicht bloss bei verwachsenen, sondern auch bei getrennten Indivi-
duen (ja sogar bei verschiedenen Gattungen) wirksam ist. Auch
die socialen Instincte der Menschheit (z. B. Sittlichkeit) sind wie
alle trans-egoistischen Functionen und Prädispositionen darwinistisoh
als Ausflüsse des Correlationsgesetzes zu bezeichnen. Ueberall aber,
wo das Correlatio&sgesetz getrennte Individuen betrifft, ist der Ge-
danke an eine mechanische Erklärung der correlativen Variationen
und Einrichtungen ausgeschlossen.
Nr. 173 (S. 202) : Woher diese letzteren ihre Abneigung und
Vorsicht haben, bleibt dabei unerklärt, und besonders gegenüber den
schädlichen Pflanzen auf der Weide ist diese Abneigung auffallend.
Nr. 174 (S. 202): Bei dieser Erklärung ist die unannehmbare
Voraussetzung gemacht, dass ein Thier, welches auf der Weide
Anmerkungen zu Gap. X. 341
allerlei Pflanzen durcheinander gefressen hat und naehher unwohl
wird, dieses Unwohlsein auf einige der gefressenen Pflanzen von
bestimmter Species in Gedanken causal bezieht und den Entschluss
fasst, diese Species künftig zu vermeiden. (Vgl. S. 203 Z. 3 v. unt.
bis 204 Z. 2).
' Nr. 175 (8. 202): Es ist kein Zweifel, dass eine Abneigung
des Geschmacks die natürliche Vermittelang für die teleologische
Vorsicht bildet und dass bei der Genesis dieser Geschmaekadisposition
die Selection eine mehr oder minder erhebliche Rolle spielt. Die
Hauptsache aber bleibt doch eine Gorrelation des organischen Bil
dens zwischen der Beschaffenheit der Organe, denen gewisse Stoffe
schädlich sind, nnd dem Geschmack, den diese Stoffe anwidern.
Erst auf der Basis dieser teleologischen Correlation kann die Selec-
tion etwas leisten. (Vgl. „W. iL I. im Darw." S. 79—81).
Nr. 176 (S. 202): Nicht die Entstehung solcher Instincte
erklärt sich auf diese Weise, sondern nur die Befestigung der
anderweitig entstandenen.
Nr. 177 (S. 203): Hierbei ist übersehen, dass zur Vererbung
Befestigung der Disposition, und zur Befestigung Gewöhnung durch
häufige Wiederholung unerlässlich ist (vgl Anm. 168). Die Ganglien-
disposition muss hier durch organische Bildungsgesetze erzeugt
werden, welche von Gewohnheit und Befestigung unabhängig sind.
Nr. 178 (S. 203): Ich erkenne an, dass der Ausdruck nicht
glücklich gewählt war; obwohl die Analogie mit dem somnambulen
Hellsehen ihre Geltung behält, so musste doch die weitgreifende
Verallgemeinerung eines aus einem so dunklen und bestrittenen
Gebiete entlehnten Ausdrucks vielseitig Anstoss erregen. Wo die
Disposition fertig vorliegt, ist das teleologische Resultat zwar durch
den Hilfsmechanismus vorbereitet, aber doch nicht ohne Mitwirkung
der psychischen Function vollziehbar, die zu den subjectiven Atom-
functionen hinzukommt Wo dagegen eine Disposition oder ein
Zuwachs an solcher erst gebildet wird, da ist die Unmittelbarkeit
des teleologischen Charakters der bildenden Function unbestreitbar,
und diese Unmittelbarkeit sollte durch den Ausdruck Hellsehen be-
zeichnet werden, nichts weiter.
Nr. 179 (S. 204): Die Unmittelbarkeit der teleologischen Be-
tätigung bleibt auch in diesem Falle beschränkt auf die teleolo-
gischen Functionen, respective Functionszuwachse , welche diese
342 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
Prädisposition herausgebildet haben, die durch Selection befestigt
wurde.
Nr. 180 (S. 204): Vorstehende Bemerkungen haben dargethan,
dass die Ph. d. U. das richtige Princip ergriffen, aber die Ver-
mittelung desselben theils übersehen, theils unterschätzt hat, während
die Gegenschrift den Fehler begeht, das eigentliche Princip zu
leugnen und die Vermittelung durch technische Behelfe für eine
prinzipielle Erklärung zu halten.
Anmerkungen zu Capitel XL
Nr. 181 (S. 206): Die Entscheidung dieser Frage hängt wesent-
lich davon ab, ob der betreffende Wille als blosses Summations-
phänomen der ihn constituirenden Atomwillen aufgefasst wird oder
nicht. Nur im ersteren Falle bleibt die Frage offen, wie die Gegen-
schrift mit Recht annimmt, im letzteren Falle aber ist sie zu Gunsten
einer actuellen unbewussten Vorstellung, wenigstens für das hinzu-
kommende Plus, entschieden.
Nr. 182 (S. 207): Die Ph. d. ü. versteht dabei unter Instinct
das Princip der teleologischen Function vor und über allen Hilfs-
mechanismen, die Gegenschrift versteht darunter den Hilfsmecha-
nismus selbst; beides ist einseitig, aber das letztere der Wahrheit
noch ferner. In der That ist die schroffe Entgegensetzung zwischen
Instinct und Uebung, wie die Ph. d. U. sie giebt, unrichtig; aber
nicht aus dem Grunde, den die Gegenschrift angiebt, weil die
gleichen Hilfsmechanismen in beiden Fällen benutzt werden, sondern
weil es die nämliche unmittelbare teleologische psychische Function
ist, welche sich im Instinct und in der bewussten Zweckthätigkeit
absichtlicher Einübung documentirt.
Nr. 183 (S. 210) : Dieser Vorgang kann eintreten, aber nur bei
Fertigkeiten, die ausserhalb des Anpassungsgleichgewichts der
Species liegen (wenn z. B. ein Mensch seiltanzen oder Schlittschuh-
laufen lernt). Die Generalisation desselben ist verfehlt, weil die
anderen Nervencentra im Thierreich längst die nöthigen Keflex-
functionen besitzen, ehe es ein Grosshirn giebt, welches ihnen die-
selben einüben könnte. Auch das Grosshirn hat sich aus einem
den übrigen coordinirten Centrum zum primus inier pares herauf-
gearbeitet, so dass die Verlegung der Erklärung in dieses nur eine
Anmerkungen zu Cap. XL 343
Verschiebung des Problems wäre, die seine Lösung im Princip nicht
fördert. Aus alledem geht hervor, dass, der Regel nach, die teleo-
logischen Functionen, welche die Reflexprädispostionen eingraben,
innerhalb jedes Centrums selbst zu suchen sind.
Nr. 184 (S. 210): Dass die Darwinsche Seleotion wie das
Lamarck'sche Princip hierfür ohne die Basis unmittelbarer teleologi-
scher psychischer Functionen unzureichend sind, ist zur Genüge
erörtert.
Nr. 185 (S. 211): Die Abhandlung „Zur Phys. der Nervencentra"
hat zur Genüge dargethan, dass auch ohne sich auf eine vorher-
gehende teleologische Auffassung des Instiiicts zu stützen, der teleo-
logische Charakter und die psychische Innerlichkeit der Reflexfunc-
tion im Sinne des spiritualistischen Monismus aufrecht zu erhalten sind.
Nr. 186 (S 212): Hier ist, wie oben (Allg. Vorbemerk. Nr. 9)
gezeigt, der Descendenztheorie zugeschrieben, was nur von der
Selectionstheorie gelten könnte, wenn nämlich sie eine Wahrheit
im Sinne Haeckel's wäre.
Nr. 187 (S. 213): Das Vorstehende ist eine berechtigte Correc-
tur der Unterschätzung der Tragweite und Leistungsfähigkeit me-
chanischer Vermittelungen im Abschn. A. der PL d. U.
Nr. 188 (S. 215): Vgl. Ph. d. ü. I. 448—449.
Nr. 189 (S. 217): Auch diese Darlegungen enthalten das Rich-
tige, dass die Ph. d. U. die natürliche Vermittelung bei der Reali-
sation ideeller Typen theils unterschätzt, theils übersehen und
übersprungen hat. Zwar ist daran zu erinnern, dass in Pflanzen
und niederen Thieren diese Vermittelung eine einfachere ist, aber
doch nur im Zusammenhang mit der grösseren Einfachheit der
Aufgaben. Es ist festzuhalten, dass in Organismen, wo einmal
Ganglien- und Nervencentren entwickelt sind, diese Organe zur Ver-
mittelung der Idee (in Production und Beproduction) auch sicher
nicht übergangen werden. Wie weit für solche vegetative Functio-
nen Prädispositionen in den Centren vorgebildet werden und wie
weit (etwa bei abnormen Verletzungen) eine unmittelbare teleologische
Function eintritt, bleibt offene Frage. Ein gewisser Polymorphis-
mus der vegetativen Prädispositionen wird auch hier gute Dienste
leisten (z. B. Kopf und Schwanz des Regenwurms). Für die Ent-
stehung der Prädispositionen bleiben aber die allgemeinen Erwä-
gungen auch hier maassgebend (vgl. auch Anm. 76).
344 Anmerkungen rar zweiten Auflage.
Nr. 190 (S. 220) : Nicht sofern die Prädispoeitionen mechanisch
fonctioniren, wohl aber, sofern eine unbewegte psychische Function
mitwirkend zu ihnen hinzukommt, ganz besonders insoweit letztere
modificirend im teleologischen Sinne eingreift, und so zur Entstehung
und Modification der Dispositionen Anlass giebt, ist dabei von
Hellsehen zu sprechen. Gerade bei diesen Vorgängen ist die Un-
bewusstheit der psychischen Functionen ausser Zweifel, und ebenso
gewiss ist es, dass sie Individualzwecke höherer Ordnung verfolgen,
deren Erfüllung zugleich die Realisimng der Idee auf einer be-
stimmten Stufe repräsentirt
Nr. 191 (S. 221): Sie bedürfen aber, um aus dem Zustand des
Keimes in das entwickelte Leben zu treten, einer fortlaufenden
Reihe von Betätigungen des Individualwillens höherer Ordnung
gegen die centrifugalen Individualwillen niederer Ordnung, und
nichts anderes ist es, was die Ph. d. U. als teleologische Eingriffe
bezeichnet (vgl. Anm. 81).
Nr. 192 (S. 222) : Diese Andeutung ist insofern von Wichtigkeit,
als sie schon vor Haeckel's Perigenesis in directem Gegensatz gegen
Darwin's Pangenesis und ihrer stofflichen Uebertragung, den dyna-
mischen Einfluss zur Geltung bringt (vgl. Anm. 76). Findet die
Idee zu ihrer Realisirung keinen geeigneteren Angriffspunkt als
das Nervensystem, so ist anzunehmen, dass auch bei der Bildung
der Fortpflanzungszellen die Oentralorgane des ganzen Nerven-
systems unbewusst dynamisch betheiligt sind und so die Reproduc-
tion desselben Typus im Keim anstreben, den sie bisher als ent-
wickeltes Dasein zu producireri und zu erhalten bestrebt waren
(vgl. Anm. 189).
Nr. 193 (S. 223): Die vorhandenen Mechanismen und die Ge-
wöhnung des Organismus an die Zulänglichkeit ihres Spiels unter
normalen Umständen wirkt wie das Verrennen in eine Sackgasse
bei der Ausbildung starker einseitiger Differenzirungen. Um des
teleologischen Fortschritt zu ermöglichen, ist dann erst eine gewisse
Umkehr erforderlich« Die Befestigung einer prädkponirenden Be-
actionsrichtung wirkt präoccupirend (wie im Denken das Vorurtheil)
und macht den Boden für den Eintritt der unmittelbaren teleologi-
schen Function ungünstig. Günstiger ist derselbe bei relativer
tabula ram (ebenso wie im organischen Entwickelungsgange), wo
keine Vorurtheile mechanischer Anpassung zu überwinden sind.
Anmerkungen zu Gap. XI. 345
Uebrigens zeigt die Erfahrung, dass dieselben, wo es noth thut,
von der unmittelbaren teleologischen Function überwunden werden
(Aenderung der Instinete) und jedenfalls immer noch leichter als in
der organischen Typenentwickelung.
Nr. 194 (S. 223): Das sind dann teleologisch genommen Adia-
phora, bei denen das Fehlen einer Correctur durch unmittelbare
teleologische Function nichts gegen das Vorhandensein und die
Wirksamkeit einer solchen beweist.
Kr. 195 (S. 224); Solche Reactionen sind dann eben selbst
secundäre pathologische Symptome, die ebenso wenig wie die pri-
mären etwas gegen die Teleologie der Organisation beweisen. Wäre
die Naturheilkraft stärker als alle Krankheit (wozu auch Alters-
schwäche gehört), so müssten die Organismen unsterblich sein, was
gar nicht den teleologischen Intentionen der Natur entspräche.
Nr. 196 (S. 224): Vgl. „Wahrh. und Irrth, im Darwinismus"
S. 119—120.
Nr. 197 (S. 224): Harmonie erfordert fundamentale Einheit in
der Blannichfaltigkeit, ohne diese ist concrete Uebereinstimmnng des
Entgegengesetzten nicht möglich. Dass bei aller fundamentalen
Einheit in den Organisationstypen die Mannichfaltigkeit nicht zu
kurz gekommen ist, darin zeigt sich gerade die volle künstlerische
Genialität der schöpferischen Idee; denn solche besteht nicht in
planloser Vielheit, sondern in der erschöpfenden Durchbildung de»
einmal vorgenommenen Grundgedankens oder Themas (nan mutta
sed muüum).
Nr. 198 (S. 225): Diese Antithese ist nur Durchgangspunkt
für die Synthese: eignes Werk auf der Basis und mit den techni-
schen Htilfsmitteln der Ahnen, ebenso wie jedes technische Werk
oder jede geistige Leistung individuelle Schöpfung auf der Grund-
lage des ganzen überkommenen Besitzes der geistigen Errungen-
schaften d^r Vorfahren ist. — Wenn Jemand mittelst einer Leiter
einen Balkon erklettert, so wird man doch sagen müssen, dass er
es war, der sich von der obersten Sprosse der Leiter auf den Bal-
kon hinaufgeschwungen; ohne die Leiter hätte er es freilich
nicht gekonnt; aber selbst die Leiter würde ihm nichts genützt
haben, wenn er nicht durch eigene Kraft Sprosse für Sprosse an
Ihr hinaufgestiegen wäre.
346 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
Nr. 199 (S. 225): Verwechselung von Descendenztheorie nnd
Selectionstheorie (vgl. Allg. Vorbemerk. Nr. 9).
Anmerkungen zu Cap. XIL
Nr. 200 (S. 225) : Heute würde das Werk gleich im Sinne einer
solchen Synthese geschrieben worden sein, wie die Abhandlung
„Zur Phys. d. Nervencentra" es ist, und wie diese Anmerkungen es
näher erläutern (vgl. Allg. Vorbemerk. Nr. 8).
Nr. 201 (S. 227): Es ist alles Dreies richtig, nur unter ver-
schiedenen Gesichtspunkten : in der Welt der subjectiven Erscheinung,
sofern dieselbe naiv-realistisch für eine an sich seiende Welt gehal
ten wird, ist der Stoff das Maassgebende; in der objectiv realen
Welt des transcendentalen Realismus regelt sich das Spiel der Kräfte
nach causalen Gesetzen; aus der Perspective der Metaphysik
erscheinen die causalen Gesetze selbst wieder als Ausdruck teleologi-
scher Functionen, die in ihrer Vertheilung auf verschiedene Indivi-
duen zugleich individuelle Eingriffe sind. Vom subjectiv phänomenalen
Standpunkt bleibt der Stoff, obwohl Illusion, unantastbar; vom ob-
jectiv phänomenalen Standpunkt löst er sich in causale Gesetze auf
und bildet die Domäne der Naturwissenschaft; diese Gesetze sind
selbst wieder philosophisch betrachtet lauter motivirte Beactionen
von Individuen verschiedener Ordnungen, deren jede als Eingriff in
die Summe der Thätigkeiten der übrigen sich darstellt; diese Moti-
vationsprocesse sammt ihren Resultaten endlich sind Manifestationen
des unbewusst-Logischen in diesen Individuen, und wenn man sie
monistisch statt individualistisch betrachtet, so sind sie logische
Momente der absoluten Idee, welche durch ihre teleologische Spe-
cialisirung erst die Individuation erzeugen.
Nr. 202 (S. 228): Dass die vorhandenen Lücken der weiteren
Erforschung mechanischer Vermittelungen offen bleiben sollen, habe
ich wiederholt gesagt, sogar die Möglichkeit zugestanden, dass
die mechanische Vermittelung zuletzt keine Lücken mehr übrig lasse;
eben darin liegt aber auch, dass individualistisch genommen die
teleologische Function mir kein asylum ignorantiae ist, sondern
etwas, das durch den Nachweis mechanischer Vermittelung eher
unterstützt als geschädigt wird. Dagegen habe ich die vollständige
Ausfüllung solcher Lücken allerdings für unwahrscheinlich erachten
Anmerkungen zu Gap. XII. 347
müssen, und ans beiden Gründen sind die auf das asylum ignorantiae
gebauten nachfolgenden Schlüsse grandlos.
Nr. 203 (S. 228): Wenn Alles teleologische Eingriffe sind, so
bleibt auch deren Subject bestehen, obschon vom monistischen Stand-
punkt des Absoluten betrachtet nichts ein Eingriff genannt wer-
den kann.
Nr. 204 (S. 228): Vgl. die Anm. 40—46 und 53—75,
Nr. 205 (S. 228): Nicht deren Unhaltbarkeit ist nachgewiesen,
sondern nur das Vorhandensein mechanischer Vermittelungen, die
von der Ph. d. U. übersehen waren.
Nr. 206 (S. 229): Dieser Gegensatz wird dauernde Bedeutung
behalten, und wie der Hegelianismus eine Rechte und eine Linke
gehabt hat, so wird auch die Anhängerschaft der Ph. d. U. sich in
solche Richtungen sondern. Da nun aber „Eingriff' überhaupt nur
eine Bezeichnung vom individualistischen Standpunkt aus ist und
von diesem genommen auch die gesetzmässigen Atomfunctionen
Eingriffe sind, so ist der Unterschied doch wieder geringer als er
scheint (vgl. Anm. 201). Das metaphysische Unbewusste bleibt
jedenfalls bestehen, und seine individualisirten Actionen sind einer-
seits teleologisch motivirt, andrerseits ihrem Effect nach Eingriffe
in die Summe der übrigen Actionen. Das Subject der teleologischen
Eingriffe ist selbst das metaphysische Unbewusste, und es ist eine
secundäre Frage, ob zu den Atomfunctionen und deren Summations-
phänomen noch Functionen hinzukommen, welche die Individual-
zwecke der Individuen höherer Ordnung realisiren, indem sie deren
Einheit gegen die egoistischen Individualzwecke der Individuen
niederer Ordnung vertreten. Metaphysisch betrachtet ist dies eine
Frage nach den Beziehungen der verschiedenen Objectivationsstufen
der Idee untereinander, und ist aus diesem Gesichtspunkt nicht zu
Gunsten der Gegenschrift zu lösen (vgl. „Neukant., Schopenh. und
Hegelianismus" S. 350—353).
Nr. 207 (S. 230): Wennschon an manchen Stellen der Ph. d. U.
eine schärfere Auseinanderhaltung des relativ und des absolut Un-
bewussten zu empfehlen gewesen wäre, so ist doch eine völlige
Sonderung und getrennte Durchführung nicht thunlich. Denn erstens
wissen wir gar nicht, und haben kein Mittel, zu constatiren, wie
viel vom absolut Unbewussten in untergeordneten Centralorganen
oder in Zellen der organischen Moleculen zum Bewusstsein kommt
348 Anmerkungen zar zweiten Auflage.
und wie viel nicht, und zweitens ist bei allem Bewusstwerden doch
immer nur das Resultat des Empfindung^-, Motivations- oder
Vorstellungsprocesöes beleuchtet, während die dasselbe produeirende
psychische Function absolut unbewusst bleibt. Gerade in letzterer
liegt aber das Teleologische, sowohl in den Denkprocessen der
Hirnrinde wie in den einfachsten Reflexen der Protisten.
Nr. 208 (S. 280): Was daran teleolgische Function ist, bleibt
absolut unbewusst.
Nr. 209 (S. 281) : Einen materiellen Mechanismus als solchen
kann man nicht einem Begriffe (dem Unbewussten) als Species sub-
sumiren, der durchaus nur als psychische Function gemeint und
verstanden ist. Nur das actuelle Functioniren dieses Mechanismus
kann, insofern es zugleich innerliche psychische und doch noch
nicht bewusste Function ist, dem Unbewussten subsumirt werden.
Dann kann aber wieder nicht mehr vom physiologischen Un-
bewussten gesprochen werden, höchstens vom psycbo-physischen
und auch das nur im Hinblick auf dessen innerliche psychische
Seite. Die Ph. d. U. hat immer nur die unbewusste psychische
Function im Auge, mag dieselbe nun auf einfachere oder complicir-
tere mechanische Hülfsmittel sich stützen (auf Protoplasma, das noch
tabula rasa ist, oder auf solches mit befestigten Prädispositionen).
Die Function ist immer psychischer, teleologischer, unbewusster Art,
mag sie die Prädisposition erst zu bilden bemüht sein, oder auf
eine schon gebildete sich stützen. Dies würde genügen, um die
Ph. d. U. zur Ablehnung der hier verlangten schroffen Scheidung
zu berechtigen, auch wenn nicht an einem zu dem Summations-
phänomen der Atome hinzukommenden Plus festzuhalten wäre.
Nr. 210 (S. 233) : So wichtig das Studium der prädispositionellen
Hilfsmittel des Unbewussten, und so fruchtbar die hierdurch für
die zu erwartenden Functionsrichtungen gewonnenen Fingerzeige
zu erachten sind, so ist doch nochmals dringend vor Verwechselung
dieser technischen Behelfe mit der psychischen Function selbst zu
warnen, ebenso wie vor einer in Naturforscherkreisen beliebten
Verwechselung von Physiologie und Psychologie. Es ist immer
wieder darauf hinzuweisen, dass jede Function das Prius ihres
Organismus ist, und deshalb niemals durch Studium des Organs
allein das Verständniss und die Erklärung der es bildenden und
benutzenden Function gewonnen werden kann.
AnmerkuDgea au Gap. XIL 349
Nr. 211 (S. 234): Hütet man sich, jenes „Vor" im zeitlichen
Sinne zu missdeuten, so kann das Perhorresciren typischer Gattungs-
ideen als des idealen Prius ihrer Realisation dnreh natürliche Vermit-
teluDg nur als natnrforscherliches Vorurtheil ans dem Gesichtspunkte
der einseitigen mechanistischen Weltanschauung bezeichnet werden.
Nr. 212 (S. 234): Der Ausdruck „ideale Anticipation" oder
„unbewusste Vorstellung" ist deshalb der beste, weil er einerseits
die Analogie mit der Form, zu der diese ideale Anticipation in
unserm Denken gelangt, festhält, andererseits aber jeden anthro-
pomorphischen Beigeschmack abwehrt. Vgl. Ph. d U. IL 412 — 414,
und „Neukant, Schopenh. u. Hegelianism." S. 329—331.
Nr. 213 (S. 234): Vgl. Anm. 29 und Allg. Vorbemerk. Nr. 6.
Da die technischen Behelfe durch unmittelbare teleologische Func-
tionen gebildet werden, so liegt in letzteren der positive und princi-
pielle Grund ihrer Entstehung; jene Functionen sind die ersten Ver-
mittler der Realisation der Ideen, wie die Prädispositionen die
zweiten Vermittler.
Nr. 214 (8.235): Zwischen der unbewussten, psychischen Func-
tion, welche die Intuition des klarsten menschlichen Bewusstseins
als teleologisches Resultat erzeugt und der idealen Anticipation des
Atoms, welche dessen gesetzmässige Reaction motivirt, bilden das
Zwischenglied die lange Stufenreihe teleologischer Functionen mehr
oder minder instinctiven oder reflectorischen Charakters, welche die
Prädispositionen des Ganglienprotoplasmas formiren und modificiren.
Nr. 215 (S. 235) : Die Empfindung ist das erste Glied, die un-
bewusste teleologische Function (Motivation) das zweite, die Kraft-
äusserung oder der Wille (reflectorische Reaction) das dritte. In
allen Dreien ist die Kette der Continuität festzuhalten.
Nr. 216 (S. 235) : Die alte Kette, recht verstanden, besteht fort,
verstärkt durch die Betonung jener zweiten. Als Summations-
phänomen aus Atomempfindungen und Atomreactionen ist die Em-
pfindung und Reaction des Gehirns mit dem innerlich lebendigen
Organismas organisch geeint ; als Pias dieses Summationsphänomens
ist sie aus dem absoluten Centrum heraus zu einer Individualität
höherer Ordnung innerlich geschlossen und gegen die centrifugalen
Tendenzen der Atomfunctionen im normalen Verlauf des Lebens
gesichert.
Nr. 217 (S, 235): Dieser Werth ist aber auch gar nicht zu
350 Anmerkungen wir zweiten Auflage.
überschätzen ; nur so wissen wir, dass das Erkennen der Natur ans
Analogie unseres eigenen innersten Wesens in der Hauptsache keine
subjective Täuschung ist.
Nr. 218 (S. 236): Die Logik kann zur Teleologie, wie ich oft
bemerkt habe, nur dadurch werden, dass sie auf das Unlogische
angewandt wird, das zu vernichten und aufzuheben ihr dann Zweck
wird. In der reinen Mathematik (sowohl der abstracten Quantität,
als der Baum- und Zeitgrössen) ist ein solches Unlogische nicht
vorhanden, es tritt erst in der angewandten Mathematik der Mecha-
nik mit dem Kraftbegriff ein. Diesen sucht sich nun aber die
Mechanik vom Halse zu schaffen, indem sie mit Masse, Bewegung,
Geschwindigkeit und Beschleunigung operirt. Sie kann dies, weil
sie eine rein formale und hypothetische Wissenschaft ist, die sich
nicht darum kümmert, ob den Begriffen, mit denen sie operirt, eine
reale Existenz entspricht oder nicht, und was eine solche reale
Existenz für Voraussetzungen erschliessen lassen würde. Die Natur-
philosophie dagegen hat dessen eingedenk zu bleiben, dass jenseits
dieser formalen Beziehungen empirisch aufgenommener Bestimmungen
eine andere Ordnung der Dinge angenommen werden muss, welche
jene erst trägt (vgl. Zöllner „Principien einer electrodynamischen
Theorie der Materie" Vorwort S. XXXIV— LXIII). In dieser hinter
Physik liegenden Ordnungder Dinge muss aber auch der meta-
physische Kraftbegriff seinenPlatz finden, und mit ihm das Un-
logische, welches das Logische zum Teleologischen werden lässt.
Nr. 219 (S. 237) : Dies ist nur dann richtig, wenn die Functio-
nen der Individuen höherer Ordnung blosse Summationsphänomene
der niederen sind. Bis jetzt ist die Mechanik des Atoms noch ganz
auf das Gebiet anorganischer Vorgänge beschränkt.
Nr. 220 (S. 237): Diese Betrachtung ignorirt nicht nur den
Unterschied zwischen organischer und anorganischer Natur, sondern
bleibt überhaupt auf Seite der äusseren materiellen Erscheinung
stehen. Da ist denn freilich von der Teleologie der logischen Na-
turgesetze nichts zu merken, denn ihr ganzer und alleiniger Zweck
liegt ja auf der anderen Seite, in der Innerlichkeit, im Geist. Das
ganze gesetzmässige Spiel der Atome wäre trotz aller logischen
Gesetzmässigkeit völlig sinnlos, wenn es nicht das Mittel für die
Selbstbesinnung des Geistes wäre. Indem es sich aber als Mittel
hierzu erweist, erweist es seine teleologische Beschaffenheit. Wer
Anmerkungen zu Gap. XII. 351
ein Mittel betrachtet, während er die Augen gegen seinen Zweck
und seine Beziehung auf denselben verschliesst, braucht sich nicht
zu wundern, wenn er von der Zweckmässigkeit des Mittels nichts
mehr gewahr wird (vgl. Allg. Vorbemerk. Nr. 4).
Nr. 221 (S. 237) : Rückschritt von Hegel und Leibniz zu Spi-
noza (vgl. Allg. Vorbem. Nr. 6 S. 271—272).
Nr. 222 (S. 237) : Grössen sind Abstractionen ; Raum- und Zeit-
grossen sind Abstractionen von den Erzeugnissen von Kraftgrössen,
„Kraft" aber ist als Wille das Unlogische. Die reine Mathematik
behandelt Möglichkeiten, die erst unter Voraussetzung des Unlogi-
schen aufhören reell unmöglich zu sein. Die realistische Wahr-
heit der formalistischen Mathematik ist die Mechanik.
Nr. 223 (S. 238) : Kühn ist diese Hypothese deshalb nicht, weil
die Empfindungsfähigkeit der metaphysischen Substanz ja auch von
der Naturwissenschaft beigelegt wird, und es fragt sich nur, ob
dieselbe sich vor Eintritt der Individuation äussern kann oder nicht.
Für den bestimmten Fall der Unlust des leeren Wollens sind nun
aber die Verhältnisse (Opposition) schon gegeben, zu deren Herbei-
führung in allen andern Fällen die Individuation erst dienen soll.
Nr. 224 (S. 238): Dies ist nicht richtig; auch wenn das leere
Wollen endlich wäre, müsste seine Unbefriedigung als Unlust em-
pfindlich werden. Ueber die Unendlichkeit des Absoluten und seine
Attribute vgl. „Neuk., Schop. u. Hegel." S. 340—344.
Nr. 225 (S. 238) : Das leere Wollen ist kein actuelles Wollen.
Nr. 226 (S. 238): Dieses „Weil" enthält keine Begründung, da
der Gedanke eine andere Sichtung nimmt.
Nr. 227 (S. 238): Ist richtig, beweist aber gar nichts für die
UnStatthaftigkeit der Annahme eines unendlichen Ver-
mögens.
Nr. 228 (S. 238) : Wenn man „schon" statt „nur" setzt, ist gegen
den Satz nur noch das einzuwenden, dass der Wille nicht bloss
immer weiter, sondern auch immer mehr will.
Nr. 229 (S. 238): Nein; potentielle Unendlichkeit bedeutet das
Vermögen, jede gegebene endliche Intensität des Wollens noch ver-
stärken zu können.
Nr. 230 (S. 238): Einer Quantitätsbestimmung ist das leere
Wollen nur als Potenz fähig (daher unendlich) ; der Unterschied des
reinen Willens und des leeren Wollens besteht nur darin, dass in
350 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
ersterem die Potenz noch in Ruhe, in letzterem in Erhebung ißt,
dass das Vermögen im letzteren Falle von sich Gebrauch macht,
im ersteren nicht Vgl. „Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus"
S. 344—345.
Kr. 231 (S. 238): Dies ist ebenfalls unrichtig. Die intensive
Grösse der Welt richtet sich nach der Intensitätsgrösse des actuellen
erfüllten Wollens, nicht des leeren; diese aber richtet sich nach
dem Inhalt, den das leere Wollen zu seiner Actualisiruog vorfindet
Es ist also auf alle Fälle die Idee, welche die Grösse der Welt
bestimmt, nicht der Wille. Dann wäre aber eine CoYncidenz zwischen
Idee und Wille auch sogar bei endlicher Potenz des letzteren nicht
wahrscheinlich, sondern eine Nichterschöpfung der Potenz, d. h. ein
Ueberschuss der Potenz über das actualisirte Wollen.
Nr. 232 (S. 239) : Es giebt neben dieser Deduction eine zweite,
inductive Begründung, d. i. die Ineinanderschachtelung der Indivi-
dualitätsstufen und Individualitätszwecke, d. h. die Aufhebung der
Individualzwecke niederer Ordnung in denen höherer Ordnung,
welche auf die Aufhebung aller Zwecke in den Individualzwecken
höchster Ordnung, d. h. denen des absoluten Individuums, des AU-
Einen als Trägers der objectiven Erscheinungswelt schliessen läset,
gleichviel welches und welcher Art diese Zwecke sein mögen ; ob
sie von uns erkannt sind oder nicht, oder ob sie uns überhaupt
erkennbar sind oder nicht. Die Induction allein schon lehrt, dass
ein Ziel des Weltprocesses sein müsse ; die metaphysische Deduction
wird nur zu Hülfe genommen, um das Was dieses Zieles zu be-
stimmen (vgl. Anm. 22).
Nr. 233 (S. 239): Den „geringen Anklang" habe ich dadurch
erklärt, dass die Menschheit im Ganzen noch im dritten Stadium
der Illusion befindlich ist, und noch lange darin bleiben muss, um
alle Versuche zur Verbesserung ihrer Glückseligkeit durch Ver-
besserung der äusseren Verhältnisse erschöpfend durchzufahren
(vgl. auch Anm. 23).
Nr. 234 (S. 240): Hierbei ist übersehen, dass es sich darum
handelt, den Willen gegen sich selbst zu kehren, ihn durch Selbst-
zerspaltung sich selbst annihiliren (nicht re'alisiren) zu lassen. Da
die Idee als solche keine Macht ist, so bedarf sie dazu der List,
sie muss den Willen seiner Unvernunft überfuhren, und das gebt
nur durch Erfahrung, also nicht mit einem Sahlage. Der Wille muss
Anmerkungen zu Gap. XII. 363
Zeit haben, sich auszutoben, damit die Erfahrung gewonnen wird,
dass keine Art und Weise der Bejahung des Willens zu dem
führt, was der Wille erstrebt : Frieden, sondern nur die Verneinung.
Um zu lernen, dass aller Glaube, durch Aenderung äusserer Um-
stände des Lebens der Unseligkeit des Daseins entrinnen zu können,
eitler Wahn ist, dazu müssen alle Täuschungen und Enttäuschungen
der geschichtlichen Entwickelttng durchgemacht werden, und es darf
dem Weltwillen keine erspart werden, damit das Bewusstsein endlieh
die alleinige Quelle der Unseligkeit in der inneren Natur des
Willens selbst erkennen lernt.
Nr. 235 (S. 240): Das ist unrichtig, denn gerade die Relativität
des Zeitmaasses macht es uns unmöglich, vom Standpunkt der Er-
fahrung aus irgend ein Urtheil über die absolute Geschwindigkeit
des Ablaufs der Ent Wickelung zu fällen. Ob diese Geschwindigkeit
in Wirklichkeit unendlich gross oder unendlich klein ist* können
wir gar nicht ermessen, da wir nur relative Maasse innerhalb dieses
Ablaufs besitzen. Also ist auch die obige Schlussfolgerüflig falsch.
Nr. 236 (S. 241): Vgl. Anm. 102—107 ferner „Nöttk, Sehop.
u. Hegel." 8. 238—239 u. 240, „J. H. v. Kirchmann's erkomtniss-
tbeoretiscber Realismus" 8. 38—53.
Nr. 237 (S. 241): Nr. 1 fällt unter die Sphäre des Bewusst-
werdens, welche das stricte Gegentbeil des UnbeWussten ist; Nr. 2
fällt ütiter die Sphäre ruhender materieller Einrichtungen, Welche
das Gregentheil des Psychischen und seiner immateriellen Functionen
(vgl. Anm. 209 — 210) bilden. Nur Nr. 3 ist das wahre Unbewusste,
dessen Geltungsbereich nur von der Gegenschrift in unberechtigter
Weise zu Gunsten von Nr. 1 u. 2 eingeschränkt worden ist. Alle
nachfolgenden Aussagen der Ph. d. U. über das Unbewusste sind
durchaus nur und ausschliesslich auf das metaphysische Unbewusste
zu beziehen.
Nr. 238 (S. 241): Diese Aussage, ebenso wie 2, 4, 5 und 6,
wären bei deductiver Darstellung eine triviale und einfältige Tauto-
logie, bei inductiver Darstellung aber sind diese alle werthvolle
Irrthumsausschliessungen, welche das Verständniss für die Identität
des psychischen Unbewussten mit dem metaphysischen Wesen der
Welt vorbereiten (vgl. „Neuk., Schop., Hegel." S. 361—362).
Nr. 239 (S. 242) : Die bewusste Empfindung ist Resultat der
unbewusst psychischen Functionen, sowohl derjenigen der Atome
£• t. Hartmann Dos Unbewusste. 2. Aufl. 23
354 Anmerkungen cor zweiten Auflage.
als auch der hinzukommenden Willensfunctionen verschiedener höherer
Individualitätsstufen. Alle diese verschiedenen psychischen Func-
tionen sind metaphysisch betrachtet Functionen des metaphysischen
All-Einen Unbewussten.
Nr. 240 (S. 243): Es ist auch nicht behauptet, dass die Func-
tion des Unbewussten als solche keine Zeit erfülle (da ja durch sie
erst alle Zeit gesetzt und bestimmt sein soll), sondern nur, dass sie
als solche eine besondere Zeit für sich nicht beanspruche.
Stoss und Geschwindigkeitsänderung, Motiv und Beaction bean-
spruchen ihre Zeit; aber der eigentliche Umsatz, der Uebergang von
einem zum andern, worin erst die unbewusste Function zu suchen
ist, erfordert keine. Der Causalitätsprocess steckt in jenen ; die un-
bewusste Function aber bestimmt, welcher Inhalt bei diesem Process
herauskommt, und diese Bestimmung beansprucht keine Zeit für sich
(vgl. Anm. 153 u. 154).
Nr. 241 (S. 243): Gewiss, aber indem sie erst die Zeit setzt
und bestimmt, ist sie über der Zeit; sie hat die Zeit in sich, also
ist sie nicht in der Zeit (vgl. „Neuk. Schop. u. Heg." S. 347).
Nr. 242 (S. 243): Diese Streichung ist aber eben nicht richtig.
Nr. 243 (S. 244) : Vielmehr das Functioniren des metaphysischen
Unbewussten auf Grundlage der gegebenen organischen Dispositionen.
Nr. 244 (S. 245): Was heute als Sackgasse erscheint, braucht
nicht immer eine solche gewesen zu sein, sondern kann Bückstand
eines in früheren Perioden für die Oeconomie des Ganzen notwen-
dig gewesenen Gliedes sein. Vgl. „Neuk., Schop. u. Heg." S. 220—221.
Nr. 245 (S. 245): Vgl. Anm. 19 u. 20.
Nr. 246 (S. 245) : Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus,
dass die fragliche Behauptung, so weit sie mit den Principien der
Ph. d. IL, insbesondere deren teleologischer und idealistischer Meta-
physik, nicht vereinbar ist, auch nur scheinbar empirisch aus der
thatsächlichen Welt aufgenommen ist, und in Wahrheit eine voreilige
und schlechte Induction darstellt. Erfahrungsmässig sehen wir in
vielen Fällen die Möglichkeit des organischen Lebens in einer
Weise benutzt, wo wir uns bei dem gegenwärtigen Stande unserer
Kenntnisse keine Bechenschaft von deren teleologischer Bedeutung
flir den Naturhaushalt im Ganzen zu machen vermögen; aber dass
das Unbewusste das Leben in allen Fällen packt, wo es dasselbe
packen kann, das ist eine Behauptung, welche sich der empirischen
Anmerkungen zu Cap. XU 355
Wahrnehmung ihrer Natur nach entziehen muss, nnd nur einer vor-
eiligen Verallgemeinerung der „vielen" Fälle zu „allen" ihr Dasein
verdankt. Wie viele Fälle das Unbewusste thatsächlich unbenutzt
lässt, können wir gar nieht wissen; ich erinnere nur daran, dass
das Unbewusste alle Gelegenheiten zur Urzeugung auf Erden un-
benutzt lässt, seit es über Elternzeug verfügt, und dass es alle Ge-
legenheiten zur Umwandlung niederer Organisationstypen in höhere
unbenutzt lässt, sobald es einmal die betreffenden Schritte gethan
und hinter sich hat. Dass jede Gelegenheit zum organischen Leben
in irgend welcher Form nicht unbenutzt bleibt, daß dürfen wir
allerdings annehmen ; dies ist aber auch teleologisch ganz begreiflich,
da nur durch volle Ausnutzung der Möglichkeit organischen Lebens
auf einem Planeten diejenigen Formen des Stoffwechsels hergestellt
werden können, welche nothwendig sind, um für die Entstehung
höherer Organismen die nöthigen Bedingungen zu gewähren. In
welcher Form aber die gegebene Gelegenheit jeweilig benutzt
wird, das wird theils von den äusseren Verhältnissen, tbeils von
den verfolgten Zwecken abhängen. Inwieweit auch bei den un-
bewussten psychischen Functionen höherer Ordnung sich ebenso wie
bei den Atomfunctionen die teleologische Entfaltung des Logischen
in constanten Gesetzen (organischen Entwicklungsgesetzen)
äussert, welche unbekümmert um besondere Unzweckmässigkeiten
das im Allgemeinen Zweckmässige anstreben, das werden wir
erst näher untersuchen können, wenn uns diese Gesetze genauer
bekannt geworden sind. Nebenher aber hat die Untersuchung
zu laufen, inwieweit schon die Constanz der unorganischen Natur-
gesetze ausreicht, um zwecklose Rückstände und Widerstände der
Entwickelung zu erklären, wozu dieselben möglicher Weise allein
schon ausreichend sein werden, wenn unsere Kenntniss der teleo-
logischen Bedeutung der Einzelnheiten für den Naturhaushalt im
Ganzen weitere Fortschritte gemacht haben wird. Jedenfalls bie-
ten sich in diesen verschiedenen Perspectiven schon jetzt Gründe
genug dar, um einen U e b e r d r a n g des Unbe wussten, eine Lebens-
gier des erfüllten Weltwillens über den ihm von der Idee vor-
gezeichneten Inhalt hinaus, entschieden abzulehnen. Diese in der
Ph. d. U. allerdings nicht ganz ausgeschlossene Nebenbedeutung
des Satzes: „Das Unbewusste packt das Leben, wo es dasselbe
packen kann," ist nichts weniger als eine empirisch aufgenommene
23*
356 Anmerkungen nur zweiten Auflage.
Bestimmung, vielmehr ein apriorisches metaphysisches Vorurtheil,
das sich als eine unwillkürliche und ungebührliche Reminiscenz aas
dem Sohopenhauerianismus in die Ph. d. U. eingeschlichen hat
Innerhalb dieser ist sie zu bezeichnen als eine Verwechselung der
Eigenschaften des erfüllten Wollens mit denen des leeren Wollens
und als eine falsche Hineintragung des unendlichen Vermögens-
Uebersohusses aus dem vor- und ausserweltlichen Zustande des
Willens in den lediglich durch die Idee bestimmten Inhalt des Welt-
processes. Streicht man aber die von der Gegenschrift urgirte
Nebenbedeutung des gierigen Ueberdranges und Ueberschwanges,
welche der Ideebestimmtheit des Weltinhalts und seiner maassvollen
Kraftbegrenzung widerspricht, so bleibt der Satz richtig, dass das
Unbewusste die Möglichkeit des organischen Lebens im Allgemeinen
und abgesehen von der teleologisch zu bestimmenden Form desselben
nicht unbenutzt lassen wird, weil nur die möglichst breite Basis des
organischen Stoffwechsels die für das Leben höherer Organismen
notwendigen Bedingungen vorzubereiten vermag.
Nr. 247 (S. 246): Diese Argumentation setzt stillschweigend
voraus, dass das Unbewusste als All- Eines das Organisirende
oder das Archon im Organismus sei; diese Voraussetzung ist aber
ebenso unrichtig (vgl. Anm. 44) wie die parallele Annahme, dass
das Unbewusste als AU-Eines das Percipirende eines Individual-
bewusstseins höherer Ordnung sei (vgl, Anm. 45 u. 46). In beiden
Fällen bildet das Strahlenbündel von Functionen, welches als un-
bewusste Psyche eines Individuums zu bezeichnen ist und als solche
der Summe von Atomfunctionen des Organismus als ihrem Leibe
gegenübersteht, eine psychische Individualisation ad hoc, eine ener-
gische Partialidee oder einen ideeerföHten Partialwillen innerhalb der
absoluten Idee und des absoluten Willens, welcher Partialwille als ge-
sondertes Moment der Manifestation des Absoluten (zwar nicht dem
Absoluten gegenüber aber doch) den übrigen Partialmomenten seiner
Manifestation gegenüber in demselben Sinne eine (wenngleich zeit-
lich enger begrenzte) Selbstständigkeit besitzt wie das Atom. Wie
nun der concrete Inhalt der individuellen unbewussten Psyche durch
die concrete Besonderttng der in ihr vom Willen realisirten Pattial-
idee seine Bestimmtheit und damit zugleich seine Beschränkung
empfängt, so muss auch das Maass von Willensintensität, welches
der Realisiruflg dieser Partialidee zugewandt wird, d. h. die Maximal-
Anmerkung«» zu Cap. XII. 357
entfaltang von Willensenergie, welche dieser indiTiduellen Fsyohe
zu Gebote steht, eine teleologisch bestimmte und beschränkte sein,
da eine Welt aus unendlich willenskräftigen Individuen der Wirk-
samkeit jedes Gesetzes entrtiekt wäre und ein unberechenbares
indeterministisches Chaos darbieten würde. Hiermit ist noch keines-
wegs gesagt, dass der Wille in allen Individuen gleicher Gattung
(ebenso wie in den Atomen) ein gleiches Maass von Energie haben
müsse; vielmehr lässt sich wohl denken, daes verschiedenen Per-
sonen das Maximum der möglichen Willensentfaltung ziemlich ver-
schieden gestockt sei. Wir sehen im Leben Personen von unbeug-
samer Willensstärke und Energie und andere von einer Schwäche,
die sie zum steten Spielball fremden Willens macht, — geborene
Herrseher und geborene Sclaven; ähnlich finden wir, dass bei man-
chen Menschen die stärksten äusseren Eingriffe und Schädigungen
des Organismus von demselben gleichsam spielend überwunden wer-
den, während bei anderen jede Störung dauernde Nachwirkungen
hinterläßt und hinreicht, um die centrifugalen Tendenzen der den
Organismus eonstituirenden Individuen niederer Ordnung stellenweise
über die Individualzwecke höherer Ordnung triumphiren zu lassen.
Wenn es endlich magische Willenswirkungen auf fremde Individuen
giebt, so werden dieselben nur willensstarken Personen zu Gebote
stehen, und auch auf diesem Gebiet wird das Maass der Willens-
entfaltung und der daraus folgenden Leistung ein sehr verschiedenes
sein. Die Ph. d. U. betont wiederholentlich, dass die Macht des
individuellen Willens eine beschränkte ist (I. S. 143 Z. 25) und
dass dieselbe den anderen widerstrebenden Willensrichtungen (z. B.
dem Widerstand der Materie) gegenüber sehr oft eine unzurei-
chende sein kann (ebenda Z. 13—14); sie ist also weit entfernt,
die Leistungsfähigkeit des individuellen Willens mit der Allmacht
des absoluten Willens zu identificiren, oder die in dem ooncrcten,
individualisirten Strahlenbündel enthaltene Willensintensität mit der-
jenigen des Unbewussten als All-Einen zu verwechseln, wie die
Gegenschrift hier thut.*) Die Anerkennung der Beschränktheit des
*) Wenn die Ph. d. U. (I. S. 15?) dem Satze Je mehr Willen, je mehr Macht' 1
eine buchstäbliche Geltung für den unbewussten Willen zuschreibt und ihn als den
Schlüssel der Magie bezeichnet, so Hegt darin keineswegs (vgl. II. S. 222 Z. 14
bis 12 v. uni) die von einigen Gegnern hineingelegte sinnlose Behauptung, dass
358 Anmerkungen zur zweiten Auflage.
Individnalwillens ist fiberaas wichtig; sie erklärt auch, dass das
organisirende Princip als individnalisirtes nur über eine beschränkte
Macht verfügt, dass der Individnalwille sich anspannen nnd an-
strengen mnss, nm den Widerstand der anorganischen Natur-
gesetze seines Leibes zu überwinden (Ph. d. U. IL 217 — 218), nnd
dabei oft noch nicht einmal Erfolg hat. Die empirisch-inductive
Anerkennung der Beschränktheit des Individnalwillens durch die
Ph. d. U. ist für sich allein schon der sicherste Beweis, dass die-
selbe sich nicht in einen abstracten Monismus verirrt hat (wie der
Hegelianismus), sondern dem Individualismus das ihm gebührende
Recht angedeihen lässt, d. h. die Individualwillen als relativ (d. h. in
Bezug auf einander) selbstständige Individualisationen des AU-Einen,
wenn auch nur als vorübergehende Individualisationen ad hoc (d. h.
in Bezug auf diesen Organismus) betrachtet (vgl. Phil. d. Unb.
IL 262).
Nr. 248 (S. 246): Da der Ueberschuss unendlich bleibt, so ist
die Grösse des endlichen actualisirten Willens hierfür gleichgültig.
Ausserdem würde es sich, da die Idee den Inhalt des Weltprocesses
bestimmt, in erster Reihe um Idee- Vergeudung und erst in zweiter
um Verschwendung von Willensintensität handeln.
Nr. 249 (S. 246): Vgl. Anm. 236.
Nr. 250 (S. 246); Das Princip des minimalen Kraftaufwandes
ist ein aus der Natur des Willens für alle seine Individualisationen
und nicht bloss für die mechanischen Kraftindividuen (die Atome)
a priori folgendes Princip; seine Geltung reicht also viel weiter.
es im Belieben eines Jeden stehe, alles zu verwirklichen, was ihm einfalle, wenn
er nur stark geuug wolle, sondern es bedeutet dreierlei: 1) dass jeder Mensch
um so mehr leisten werde, je energischer er seinen Willen innerhalb der ihm
gesteckten Maximalgrenzen brauche, 2) dass von verschiedenen Menschen der
mit stärkerem Willen Begabte auch an Leistungskraft überlegen sein werde,
und 3) dass, wenn es Wesen anderer Gattungen, etwa auf anderen Weltkörpern
geben sollte, welche mit stärkerem durchschnittlichen Individualwillen ausgerüstet
sind, diese auch auf allen Gebieten (also auch eventuell auf dem magischen)
grössere durchschnittliche Leistungen zu Stande bringen werden als wir Men-
schen. Was speciell die magischen Wirkungen betrifft, so ist wohl zu beachten,
dass dieselben hier ausschliesslich aus unb ewusstem Willen abgeleitet werden,
also dem directen Einfluss der Willkür ausdrücklich entzogen sind. Nach
keiner Richtung ist in dieser Stelle etwas zu finden, was die anderweitig betonte
und überall als Voraussetzung zu Grunde liegende Beschränktheit des individuel-
len Willens aufhöbe.
Anmerkungen zu Gap. XII. 359
als die Geltang der mechanischen Gesetze, nämlich so weit wie die
Individuation des Willens. Giebt es Individualwillen höherer Ord-
nung, so ist die Geltang dieses Princips für die Intensität der ihnen
entfliessenden Willensfunctionen ebenso selbstverständlich, wie für die
Combinatiopsresnltanten der von ihnen beherrschten and mit ihnen
cooperirenden Atomwillen.
Nr. 251 (S. 246): Dass kraftersparende Mechanismen durch den
Kampf am's Dasein befestigt werden und ihre Erhaltung begünstigt
wird, ist ausser Zweifel, aber darum kann man doch nicht sagen,
dass sie durch natürliche Zuchtwahl sich „ganz von selbst", d. h.
ohne die organisirenden Functionen von Individualwillen höherer
Ordnung herausbilden müssen. Denn, dass eine Einrichtung nützlich
sein würde, wenn sie entstanden wäre, kann doch nimmermehr der
Grund für ihre Entstehung sein, es sei denn ideell durch teleolo-
gische Vermittelung einer bewussten oder unbewussten Psyche.
Letzteres gerade ist das, was ich behaupte.
Nr. 252 (S. 247): Der Beweis ist unnöthig, weil die Thatsaehe
selbstverständlich ist im Monismus, soweit derselbe nicht völlig ein-
seitiger Materialismus ist. Die Daten, um welche es sich bei der
teleologischen Entwickelung handeln kann, sind (abgesehen von
dem constanten Endzweck) alle gegebenen Weltverhältnisse des
gegenwärtigen Moments. Wenn aber die Welt in jedem Augen-
blick nichts ist, als die vom Willen realisirte jeweilige Entfaltung
der absoluten Idee, so können der actuellen Idee gar keine Daten
fehlen, die im jeweiligen Weltzustand vorkommen, denn sonst
könnten sie auch in diesem nicht verwirklicht sein. Die Allwissen-
heit als Fähigkeit einer willkürlichen Reflexion auf alles Mögliche
ist entschieden zu verneinen; als unbewusster Besitz des idealen
Inhalts des jeweilig Wirklichen ist sie auch für die Naturwissen-
schaft und den Spinozismus unantastbar (gleichviel ob Alles durch
Atome erschöpft ist oder nicht).
Nr. 253 (S. 247) : Das Ausbleiben der Betätigung des Hell-
sehens im Individuum beweist gar nichts gegen das Nichtvorhanden-
sein dieser Partialideen in der absoluten Idee desselben Augenblicks,
es beweist nur, dass der Boden des organisch-psychischen Indivi-
duums nicht hinlänglich vorbereitet war, um der unbewussten Vor-
stellung — sei es das Hineinscheinen in's Bewusstsein als Ahnung —
30Q Anmerkungen zur weiten Auflage.
sei es die praktische Betätigung als Anregung einer instinctiveji
Handlung — hinlänglich zu erleichtern.
Nr. 254 (S. 247): Es können keine anderen Data erforderlieh
sein! als die flr den Fortgang der teleologischen Entwicklung
erforderten, d. h. die in Anm. 252 bezeichneten»
Nr. 255 (S. 247): Hier würde die Inductlon also ohnmächtig
sein, wann ihr nicht die Deduption (d. h. die Gonsequenz ander-
weitiger allgemeinerer Inductionen) zu Hülfe käme» Der inductive
Nachweis des Hellsehens ist selbst nur eine empirische Bestätigung
jener Deduction für besondere Fälle und als solche yon hohem
Werth.
Nr. 256 (8. 248): Vgl. Anm. 178—180.
Nr. 257 (6. 249): Auch hier wirkt der inductive Nachweis
der weisen Zweckthätigkeit nur als Bestätigung und empirische Be-
währung. Der entscheidende Grund dafür, dass dem metaphysischen
Unbewussten, wenn überhaupt eine Intelligenz, nur eine abso-
lut 9 Intelligenz angeschrieben werden kann, liegt darin, dass eine
der aptropomorpbisoheu Schranken entkleidete Intelligenz
qberbaapt keiner Grade mehr fähig ist, also Intelligenz schlecht-
hin, und ftl* anbepehränkte Intelligenz eben absolute Intelligenz ist
Alfc Gra4untewWede unserer Intelligenz liegen in dem Mehr oder
Mfodw 49? Beschränkung, welcher die auch in um wirkende abso-
lute InteJligen* (das Logisehe) unterworfen ist* Absolut darf nicht
iftit wendlieh im quantitativen Sinne verwechselt werden ; quantitativ
TUWUUi^k ist die Intelligenz eo wenig wie die Maeht. Let&tere
kann ei nicht sein, weil daß actnell Unendliche in sich wider-
sprechend iet, eretere aber sowohl dosbalb nicht, als auch weil sie
keiner Grade fähig ist (ygl. „Neukant., Schopenh. und Hegelianis-
mns" S. 335—345),
Nr. 258 (S. 249): Weisheit im philosophischen Sinne bedeutet
nichts anderes als den teleologischen Charakter jener unbewußtes
psychischen Funetionen des AU-Eiuep, welche den gemeinsamen
Grund sowohl der objeetiveu wie der subjeetiv^n Erscheinung, der
Materie wie de« Bewußtsein* bilden,
Nr. 259 (S, 249): Insofern also eine teleologische Metaphysik
unbedingt aufreebt gu erhalten ist, bleibt ^ueb 4w Absoluta
die absolute intelligent gewahrt, und gs i# 4»bei ganz glmk
Anmerkungen zu Gap. XII. 361
gültig, ob man annimmt, dass der ganze Inhalt der bewusst-
geistigen Welt blosses Summationsphänomen aas Atomfanctionen sei
oder nicht.
Nr. 260 (S. 250) : Dieser ganze Schluss darf nur aus der Rolle
des Mitunterredners beurtheilt werden, insofern eine solche ab-
schliessende Kennzeichnung seines Standpunkts zur Wahrung des
Bollencharakters unerlässlich schien (vgl. das Vorwort S. 7 unten).
Anhang.
Oskar Schmidt's Kritik
der
naturwissenschaftlichen Grundlagen der
Philosophie des Unbewussten.
-♦♦♦-
Nach Beendigung der Redaction der zweiten Auflage kam mir
eine kleine Brochure zu Gesicht, betitelt „Die naturwissenschaftlichen
Grundlagen der Philosophie des Unbewussten" von Oskar Schmidt,
Professor der Zoologie und vergleichenden Anatomie in Strassburg
(Leipzig bei Brockhaus 1877, 86 Seiten). Die Arbeit in ihrer ganzen
Ausdehnung beschränkt sich auf eine äusserliche negative Kritik
zur Wahrung des eignen Standpunkts, ohne irgend welche Aus-
einandersetzungen oder Excursionen von positivem Werth beizufügen.
Der Standpunkt Schmidt' 8 ist der eines darwinistischen Materialis-
mus. Im Gegensatz zu Haeckel und Zöllner, welche eine Identitäts-
philosophie, wenn auch nur im Sinne eines hylozoistischen Natura-
lismus bekennen, acceptirt er ausdrücklich die Bezeichnung eines
Materialisten, und stellt sich damit etwa mit Louis Büchner in eine
Reihe. „Wir fragen jeden Unparteiischen, ob diese rein mate-
rialistische Auffassung nicht ansprechender ist als die mit
dem Apparat des Unbewussten?" (S.61.) Auf einen solehen Appell an
die Plausibilität beschränkt sich seine Argumentation für seinen
Standpunkt. Er polemisirt gegen die Empfindung der Zelle und
des Protoplasmas (57), also in noch höherem Grade gegen die
Atomempfindnngen (80), wie Haeckel, Zöllner und ich sie annehmen.
Nicht Empfindung, sondern höchstens Gedäcbtniss soll dem Moleeule
beigelegt werden dürfen, und aus dem empfindungslosen, bewusst-
losen Gedächtniss, d. b. ans Atomlagerungsverhältnissen ohne alle
Subjectivität, soll der Geist construirt werden, während mein um-
gekehrter Weg der herabsteigenden Analogie „eine sophistische,
keine philosophische Leistung" genannt wird (57). Diese Probe
charakterisirt wohl zur Gentige Schmidts naturphilosophisches
366 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
Niveau. Er begnügt sich aber nicht etwa damit, diesen seinen be-
schränkten Standpunkt für den richtigen zu erklären, sondern er
ist dreist genug, zu behaupten, dass dieser bornirte Materialismus
das sichere Ergebniss der modernen Naturwissenschaft sei, woraus
dann sofort folgt, dass jeder, der sich gegen denselben auflehnt, ein
naturwissenschaftlicher Ignorant sein müsse, — also auch ich, q. e. d.
1. Teleologle und Causalftüt.
„Dies ist der Grundwiderspruch, in den er (Hartmann)
sich mit der Naturwissenschaft setzt. Der Zweckbegriff ist aus der
modernen Naturwissenschaft ausgemerzt, die ihn nicht braucht,
oder deren Resultate sich mit ihm sogar nicht vertragen."
Nun operirt gerade der Darwinismus unaufhörlich mit der Utilität,
d. h. einer niederen Form des Zweckbegriffs, und die Aufgabe der
Selectionstbeorie ist, zu zeigen, dass die Resultate der Naturprocesse
trotz ihrer Natürlichkeit die Teleologie nicht nur nicht ausmerzen,
sondern geradezu einschliessen. Nicht ich, sondern Herr Schmidt
erweist sich hiernach als naturwissenschaftlicher Ignorant, indem er
einen so verkehrten Satz drucken lässt, und meine Abweichung von
demselben als meinen Grundwiderspruch mit der Naturwissenschaft
hinstellt.
Was er sagen will, ist nämlich etwas ganz anderes als der
Unsinn, den er in obigem Satze sagt. Er will sagen, dass die
Naturwissenschaft die Zweckmässigkeit nur als Resultat mechani-
scher Gausalreihen kennt, während meine Philosophie sie zugleich
als Princip gelten lässt. So hört aber diese Differenz auf, ein
Widerspruch zu sein, und entspricht nur der Verschiedenheit der
Gebiete von Naturwissenschaft und Philosophie. Die Philosophie
darf nur nicht bestreiten, dass alle Ziele „auf natürlichem Wege"
erreicht werden (13), dass „alle Schaffung innerhalb der natürlichen
Gesetze vor sich gehe" (62) ; da aber meine Philosophie, wie Schmidt
ausdrücklich anerkennt, dies zugesteht, so kann von einem Wider-
spruch derselben mit den berechtigten Forderungen der Naturwissen-
schaft keine Rede sein. Ob die auf natürlichem Wege resultirende
Zweckmässigkeit eine ideelle Bedeutung habe oder nicht, ob sie
nothwendig oder zufällig, prädeterminirt oder accidentiell eintrete,
sind Fragen, welche die Naturwissenschaft als solche gar nichts
der naturwißßenschaftl. Grundlagen der FhiL d. Unb. 367
angehen, ans deren verschiedener Beantwortung also auch niemals
eine Collision mit der Naturwissenschaft entspringen kann.
Weil Schmidt dieses einfache Yerhältniss nicht begreift, ver-
schiebt er die Gegensätze so, dass er die Berechtigung der Philo-
sophie neben und hinter der Naturwissenschaft negirt und die
Naturwissenschaft an die Stelle der Naturphilosophie setzt (86).
Durch eine solche Ueberhebung und Ausschreitung fordert die
Naturwissenschaft aber nothwendig die Beaction der Philosophie
heraus, und das Bestreben der letzteren, die erstere in die ihr ge-
bührenden Grenzen zurückzuweisen, erscheint Herrn Schmidt als
Grundwiderspruch gegen das Wesen der Naturwissenschaft.
Es wäre unbillig, Herrn Schmidt einen Vorwurf daraus zu
machen, dass er unter „Einsicht" lediglich naturwissenschaftliche
Einsicht versteht (81 — 82); aber es ist ebenso unbillig von ihm,
philosophische Bücher mit der Absicht einer Bereicherung seiner
naturwissenschaftlichen Einsicht zu lesen, und den Verfassern der-
selben aus dem negativen Erfolge einen Vorwurf zu machen (S. 38
Z. 16—21, S. 43 letzte Zeile, S. 59 Z. 20—24). Ich habe niemals
den Anspruch erhoben, neue naturwissenschaftliche Erklärungen zu
bieten, sondern nur den, philosophische Erklärungen auf Grund der
Naturwissenschaften zu geben. Wer keine andere als naturwissen-
schaftliche Einsicht verlangt, der soll sich auch hüten, andere als
naturwissenschaftliche Bücher zu lesen, oder gar philosophische
Bücher zu beurtheilen. Wenn ich mich sowohl vor dem natur-
wissenschaftlichen als vor dem philosophischen Forum der Kritik
gestellt habe, so doch nicht einer solchen, die den philosophischen
Werth eines Buches nach Maassgabe der in ihm enthaltenen För-
derung der naturwissenschaftlichen Einsicht zu messen unternimmt,
und die Selbstbehauptung der Philosophie gegen eine sie negirende
Ueberhebung der Naturwissenschaft als Grundwiderspruch der erste-
ren gegen die letztere tadelt.
Diese Selbstbehauptung der Philosophie gegen eine ihre natür-
lichen Grenzen verkennende und überschreitende Naturwissenschaft
entstellt Schmidt zu einer monströsen Ueberhebung der Philosophie.
Er behauptet, dass ich die darwinistische Richtung der Biologie
auf einen Minimalwerth herabdrücken (65) und die organischen
Naturwissenschaften unter meinen Flügel, oder unter meine Protec-
tion nehmen wolle (86), und erklärt, dass er für den Fall, dass die
368 Anhang. - Oskar Schmidts Kritik
Fh. d. U. im Rechte wäre, „vorziehen würde, sein Mikroskop zu-
sammenzupacken, statt sich die Anerkennung dureh Handlangere!
zu erwerben" (6). Wer irgend meine Philosophie kennt, den brauche
ich nicht auf die in jenen Behauptungen liegende Entstellung auf-
merksam zu machen. Ich habe niemals mir angemaasst, die Natur-
wissenschaft protegiren zu wollen, obwohl ich sie zur Stütze gesuebt,
und sie nicht ohne kritische Gontrole meinerseits verwerthet habe,
wie es Pflicht des kritischen Philosophen ist. Sich meiner Benutzung
und Verwerthung in diesem Sinne zu entziehen, ist die Naturwissen-
schaft bei der Oeffentlichkeit ihrer Arbeiten gar nicht im Stande;
wenn sie ihrerseits die Versöhnung mit der Philosophie noch ferner-
hin verschmähen will, so thut sie es zu ihrem, nicht zu meinem
Schaden, sowohl was das Ansehen ihrer Stellung in der wissen-
schaftlichen Welt, als auch was ihre Befruchtung durch eine auf
der Höhe der Zeit stehende Naturphilosophie und Metaphysik betrifft.
Handlanger sind wir alle an der grossen Einheit der menschliehen
Ge8ammtwissenscbaft, deren Plan von einem unbewnssten Baumeister
entworfen ist. Handlanger sind wir alle, gleichviel an welchem
Stockwerk wir handlangem, und wie viel Uebersicht über den
zeitweiligen Stand des Gesammtbaues wir zufällig geniessen. Wenn
Schmidt sich zu rornehm dttnkt zur Handlangerei, so ist das eine
dünkelhafte Ueberhebung des Specialisten, bei der man nur verwun-
dert fragen kann, was in aller Welt er denn sonst zu sein sich
einbilde.
Ich wiederhole: jeder Philosoph ist mit der Naturwissenschaft
im Einklang, der die Notwendigkeit einer natürlichen Vermittdung
und die natürliche Gesetzmässigkeit dieser Vermittelungswege an-
erkennt, ganz gleichgültig, welche Ansichten er sonst über die
ideale Bedeutung der Entwickelungsziele und über das metaphysische
Verhältniss der natürlichen Vermittelung zu den teleologischen Re-
sultaten haben mag. Der Naturforscher weiss nicht, was er redet,
wenn er behauptet, dass eine teleologische Auffassung dieses Ver-
hältnisses mit der Naturwissenschaft als solchen im Widerspruch
stehe. Ist aber die natürliche Entwickelung ideell prädeterminirt
und ihre Rcalisirung durch einen Naturwillen gesetzt, cL h. mit
anderen Worten: ist die Entwickelung Aeusserung eines idealen
Bildungstriebes auf der Basis der Naturgesetze, so wird die Natur-
wissenschaft davon gar nicht berührt. Ihre specielle Aufgabe bleibt
der natorwissenschaftl. Grandlagen der FhiL d. Unb. 369
so wie so darauf beschränkt, die mechanischen Vermittelangen zu
untersuchen, gleichviel ob in denselben ein idealer Bildungstrieb
zur Erscheinung gelangt oder nicht, und alle philosophischen Er-
klärungen dieser Art können, wie ich oft genug hervorgehoben
habe, niemals die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung
entbehrlich machen. Wenn Schmidt dabei nicht begreifen kann,
wozu dann der „Luxus natürlicher Gesetze" gut sei, die „als Mittel
zum Zweck in ganz untergeordneter Weise neben dem unbewussten
Willen herlaufen" (34), so ist das kein naturwissenschaftlicher, son-
dern ein philosophischer Einwurf, den ich anderwärts beantwortet
habe. Aber nichts berechtigt Herrn Schmidt „die Alternative zu
stellen: naturwissenschaftliche Erklärung, resp. vorläufiges Ver-
zichten auf die Erklärung, oder ideelles Princip" (32); denn bei
mir handelt es sich immer um beides zugleich, und die Be-
deutung des ideellen Principe leuchtet nur um so heller auch für
blöde Augen, wo die Naturwissenschaft ihre Ohnmacht bekennen
mnss. Niemals habe ich den Naturforschern zugemuthet, anstatt
nach naturwissenschaftlichen Erklärungen ihre Hände nach meta-
physischen Principien auszustrecken, wie Schmidt mir unterstellt
(76 Z. 24 — 27) ; aber gerade weil neben der naturwissenschaft-
lichen Betrachtungsweise überall die metaphysische berechtigt und
gefordert ist (vgl. oben Anm. 2), ist auch das Herbeiziehen der
metaphysischen Erklärung durchaus kein Widerspruch gegen die
Behauptung, auf der Höhe der naturwissenschaftlichen Anschauungen
zu stehen (33).
Was diesen ganzen Angriff objectiv komisch wirken lässt, ist
der Umstand, dass Schmidt nach Splittern in fremden Augen sucht
und den Balken im eigenen nicht bemerkt. Wenn ein Darwinist
der Phil. d. Unb. vorwirft, dass sie die teleologischen Gesichts-
punkte in unkritischer Weise in die naturwissenschaftlichen Er-
klärungen einmenge, so ist dieser Vorwurf nicht nur, wie gezeigt,
thatsächlich unbegründet, sondern er trifft gerade den Darwinisten,
der ihn erhebt. Denn während die Phil. d. Unb. die Notwendig-
keit cansaler mechanischer Vermittelungen neben den teleologischen
Principien ausdrücklich anerkennt, verkennt der Darwinismus
dieselbe und vermengt und verwechselt die teleologischen
Principien mit causalen naturwissenschaftlichen Erklärungen. Denn
der Darwinismus ist utilitaristische Naturphilosophie (vgl. „W. u. I.
£. r„ Hart mann. Das Unbewusste. 2. Aufl. 24
370 Anhang, — Oskar Schmidts Kriiflc
im Darwinismus" S. 92 u. 93), er macht die Utilität, d. h. eine
untergeordnete Form der Teleologie, zum naturwissenschaftlichen
Erklärungsprincip, indem er sie für eine mechanisch wirkende Ur-
sache hält, and übersieht in dieser Verwechselung, dass er nur eine
natarphilosophische, aber durchaus noch keine naturwissenschaftliche
Erklärung gegeben hat, so lange er die eigentlichen wirkenden
Ursachen der Entstehung nützlicher Abweichungen bei Seite liegea
lässt, oder gar durch Berufung auf den Zufall ausdrücklich auf
eine Erklärung derselben verzichtet (vgl Wigand's „Darwinismus n.
Naturforsohung etc." Band U. 3. 377—396). Nicht ich, sondern
Schmidt selbst stockt also in der Confusion, welche er mir vor-
wirft.
2. Weehanisehe und organisatorische Ursachen.
Schmidt schreibt mit gesperrter Schrift: „Die moderne Physio-
logie sieht ihren wichtigsten Triumph darin, dem Bildungstriebe, der
Lebenskraft jeden Vorwand zur Existenz abgeschnitten zu haben.
Die Phil d. Unb. führt diesen Begriff mit Pauken und Trompeten
wieder ein" (41). Diese Formulirung des vermeintlichen „Grund-
widerspruohs" zwischen Naturwissenschaft und Philosophie des Un-
bewußten ist ebenso schief und haltlos wie die frühere, auf die
Teleologie gestützte. .,
Eie moderne Physiologie siebt ihren Triumph darin, die in der
älteren Naturforschung Übliche unklare Vermengung mechanisch»'
und idealer, causaler und teleologischer, naturwissenschaftlicher und
philosophischer Gesichtspunkte nach Anleitung des Philosophen
Baco beseitigt und sich streng auf die Erforschung der mechanischen
Causalitftt beschränkt zu haben; sie hat damit dem Bildungstrieb
im Sinne der früheren Annahme einer Lebenskraft, d. h. einer
mit den mechanischen Atomkräften in gleiche Ordnung gehörenden
Kraft die Existenz abgeschnitten, und diese Bewegung hat ihren
Abschluss gefunden in der Formulirung des Gesetzes der Erhaltung
der Kraft. Da die Phil, d, Unb. dieses Gesetz anerkennt und aus-
drücklich die ältere Fassung des Bildungstriebes als Lebenskraft
bekämpft, so ist es einfach eine Unwahrheit, dass die Phil, d
Unb. dasjenige mit Pauken und Trompeten zu rehabilitiren ver-
buche, was die moderne Physiologie beseitigt hat
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 371
Dass der philosophische Gesichtspunkt neben dem naturwissen-
schaftlichen, die teleologische Betrachtung neben der causalen, der
Bildungstrieb als Realisirungswille der Idee in einer oberhalb und
jenseits aller mechanischen Kraftwirkungen liegenden Sphäre keinen
Raum mehr habe, das sind nichts weniger als Errungenschaften der
modernen Naturwissenschaft, sondern unberechtigte Ausschreitungen
ihrer Vertreter; und gegen diese oberflächlichen Tagesströmungen
einen weithin sohallenden und nicht wirkungslos verhallten Wider-
spruch erhoben zu haben, darf die Phil. d. Unb. sich zur Ehre an-
rechnen. Wenn Herr Schmidt unter diesen die Grenzen ihrer Spe-
cialität verkennenden Forschern einer der Enragirtesten ist, so ist
es sehr begreiflich, dass er meinen Einspruch gegen die Ausschrei-
tungen und die Ueberhebung der von ihm vertretenen Richtung zu
einem Widerspruch gegen die Errungenschaften der Naturwissen-
schaft selbst aufzubauschen und dadurch meinen ganzen Einspruch
zu diskreditiren sucht. Ich kann dabei getrost an das Urtbeil der
unbefangenen Urtheüsfäbigen, und wenn die materialistische Strö-
mung in der Gegenwart übermächtig werden sollte, an den Richter-
Spruch der Geschiebte appelliren.
Nur in einem Punkt befindet sich Schmidt in einem Gegensatz
zu mir, wo er sich mit einigem Anschein des Rechts auf die ge-
sammte Grundtendenz der modernen Naturwissenschaft berufen kann,
nämlich in dem dogmatischen Glauben, dass die mechanische
Causalität, d. h, das Spiel der mechanischen Kräfte allein aus-
reichen müsse, um als völlig zureichende Ursache alle Natur-
erscheinungen ohne Ausnahme zu erklären, gleichviel wie weit wir
von diesem vollen Verständniss entfernt sein mögen. Aber dieser
Glaube ist ein dogmatisches Vorurtheil ohne jeden Schein einer
Begründung als die hohe Meinung von der unbegrenzten Leistungs-
fähigkeit der Mittel des eigenen Berufs. Ich habe wiederholentlich
betont, dass die Bewahrheitung dieses Glaubens nur Modificationen
von seeundärer Bedeutung in meinem System hervorrufen und dessen
Grundprincipien nicht alteriren würde. Aber dieser Glaube ist kein
Bestandteil der Naturwissenschaft, weil er blosser Glaube, d. h.
keiner wissenschaftlichen Begründung fähig ist, und deshalb kann
mir die Naturwissenschaft das Recht gar nicht bestreiten, diesem
Glauben den entgegengesetzten gegenüber zu stellen, nämlich den,
dass die mechanische Causalität der Atome nur unentbehrlicher
24*
372 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
mitwirkender Factor, aber nicht allein ausreichende Ursache für die
organischen Natnrprocesse sei. Für meinen Glauben habe ich we-
nigstens Wahrscheinlichkeitsbeweise beigebracht, was die Gegenpartei
der Natur der Sache nach gar nicht im Stande ist.*)
Die Lücken in der mechanischen Erklärung sind nicht nur
heute vorhanden, sondern sie werden immer vorhanden bleiben, da
die menschliche Wissenschaft immer Stückwerk bleiben wird; die-
selben haben aber zugleich eine mehr als subjective und zufällige,
sie haben eine objective und systematische Bedeutung. Es ist, wie
schon' oben bemerkt, unrichtig, wenn Schmidt (S. 38) sagt, dass ich
für systematische Vermittelung wenig Sinn hätte, weil mein Princip
der Vermittelung nicht bedürfe ; in der That bedarf mein Princip
der Vermittelung der gesetzmässig wirkenden Atomkräfte, weil es
ohne diese seinen Zweck, die Entfaltung des bewussten Geistes-
lebens nicht errreichen könnte, und ich glaube, obwohl Philosoph,
doch „in der Schule der Naturwissenschaften" Sinn genug für solche
systematische Vermittelung erworben zu haben. Aber ich bin auch
Philosoph genug, um die Augen dafür offen zu behalten, dass diese
mechanische Vermittelung die Totalität der wirkenden Ursachen
des organischen Naturprocesses nicht .erschöpft, sondern des Prin-
cipe, das sich dieser Vermittelung bedient, als direct mitwirkenden
Factors bedarf.
Die Naturwissenschaft, die es berufsmässig nur mit mecha-
nischer Gausalität zu thun hat, muss nothwendig jenes andere
Princip als ein für sie transcendentes unberücksichtigt lassen, wenn
sie sich nicht ungehörige Grenzverwischungen zu Schulden kommen
lassen will; aber die Philosophie muss jenes Princip, das zugleich
der Herr der Atomkräfte ist, deren es sich als Vermittelung be-
dient, in den Hittelpunkt der naturphilosophischen Betrachtung
*) Der Versuch einer Berufung der Naturforscher auf die apriorische
Gewissheit der Ausnabmslosigkeit des Causalitätsgesetzes würde völlig am Ziel
vorbeischiessen, da ja nach meiner Ansicht die neben den mechanistischen Atom-
kräften im organischen Naturprocess mitwirkenden Factoren (die psychischen
Individualwillen höherer Ordnung) gleichfalls wirkende Ursachen sind, also mit
unter das Causalitätsgesetz fallen. Es wäre vielleicht gut, das Wort immechanisch
in den philosophischen Sprachgebrauch einzuführen, und die causae efficicntes
(die immer Willensacte sein müssen, um etwas wirken zu können) in mechanische
und immechanische zu unterscheiden (vgl. oben Anm. 51, 62, 63).
der naturwissentchaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 373
rücken. Für die Naturwissenschaft als solche sind also in der That
«
„die Umstände die Hauptsache, nicht das Unbewusste" (34) ; für
die Philosophie aber ist das Frincip die Hauptsache, welches in
und durch diese Umstände seine Ziele realisirt, beziehungsweise
unter Umständen die locale Realisirung durch Störungen bedroht
findet, die es um der allgemeinen Gesetzmässigkeit willen hin-
nehmen muss.
Indem die Naturwissenschaft unsere Eenntniss der mechanischen
Vermittelung zu fördern bemüht ist, gleicht sie einem Rechner, .der
eine irrationale Zahl auf immer mehr und mehr Decimalstellen be-
rechnet, während die Philosophie auf die unvertilgbare Incongruenz
dieses Decimalbruchs mit der irrationalen Zahl hinweist. Die Phi-
losophie leugnet keineswegs, dass das fortgesetzte Rechnen die
Lücke verkleinert; aber wenn die Naturwissenschaft sich einbildet,
aus dieser fortgesetzten Annäherung den Schluss ziehen zu dürfen,
dass sie im Princip die irrationale Zahl erschöpfen könne, so weist
die Philosophie mit Recht darauf hin, dass dieser Schluss fehlerhaft
ist und den Begriff der Irrationalität aufheben würde. In
demselben Sinne steht auch der organische Naturprocess in einem
irrationalen Yerhältniss zu dem Mechanismus der. Atome, und die
Hoffnung durch fortgesetzte Annäherung diesen principiellen Unter-
schied umzustossen, beruht meiner Ansicht nach auf einer Ver-
kennung des Wesens der Sache, wie werthvoll auch die einseitige
Durchforschung der mechanischen Vermittelung zum Verständniss
des Naturprocesses sein mag.
Die fragliche Differenz über die künftige Tragweite der
mechanischen Erklärungsweise ist aber jedenfalls der Art, dass nur
ein rechthaberischer dogmatischer Eigensinn aus ihr einen Grund
zur Verhinderung eines gegenwärtigen guten Einvernehmens
und Hand-in-Hand-Gehens von Naturwissenschaft und Philosophie
entnehmen kann. Oscar Schmidt, der lieber sein Mikroskop zu-
sammenpacken will (S. 6), gleicht einem eigensinnigen Knaben, der
nicht mehr mitzuspielen droht, wenn er nicht im Spiele der Erste
sein kann und Alle nach seiner Pfeife tanzen.
Das Ergebniss dieser allgemeinen Betrachtungen ist folgendes:
Schmidts Behauptung, dass zwischen der Naturwissenschaft und
der Phil. d. Unb. principielle Widersprüche bestehen, ist irrthümlich
und beruht theils auf einem Miss verständniss des Standpunkts der
374 Anhing. — Oskar Schmidts Kritik
Phil d. Unb., theils und hauptsächlich aber auf einer falschen
Identificirung seiner materialistischen Dogmen nnd Vorurtheile mit
den Ergebnissen nnd Forderungen der modernen Naturwissenschaft.
Völlig grundlos ist die Annahme Schmidt'«, däss durch meine Philo-
sophie der Werth oder das Ansehen der Naturwissenschaft als
solcher irgend wie geschädigt oder herabgedrückt werde; richtig
ist nnr das, dass ich gegen die fehlerhafte Verquickung von Natur-
wissenschaft und materialistischem Dogmatismus Einspruch erhebe,
und durch Beschränkung der Naturwissenschaft auf die in ihrem
Begriff liegenden Grenzen freie Bahn für die Bewegung der Philo-
sophie zurückgewinne* Darob aber ergrimmet Herr Schmidt, nud
um seinem Aerger eine kleine Genugtuung zu verschaffen, verschreit
er mich als naturwissenschaftlichen Ignoranten und schreibt seine
Brochure, um mich in den Augen des naturwissenschaftlichen Publi-
kums zu disereditiren. Da ihm die Enthüllung der oben besproche-
nen j,Grundwidersprüche" zu diesem Zweck doch nicht genügend
erschienen sein mag, so legt er sein Mikroskop zeitweilig bei Seite,
und giebt sich die Mühe, die »naturwissenschaftlichen Grund-
lagen" meiner Philosophie im Einzelnen zu kritisiren, um nach
jedem verfehlten Versuch der Detailkritik zu Declamationen über
jene „Grundwidersprüche" zurückzugreifen»
3« Der Darwinismus nnd die Philosophie des Unhewnssten.
Seine Brochure zerfällt in zwei Theile: S. 64—85 beschäftigt
sieh mit meiner Schrift über „Wahrheit und Irrthum im Darwinis-
mus^ a 6—64 mit der Phil. d. Unb., und zwar kritisirt S. 12—17
das iL Einleitungscapitel derselben, S. 17 — 50 den Abschnitt A und
S. 60—64 das IV. nnd IX. Capitel des Abschnitts C.
Wir betrachten zuerst Schmidt's Stellungnahme zu meiner
Schrift über den Darwinismus, weil diese letztere der äussere Anlass
war, welcher ihn dazu bewog, sich überhaupt mit einer Kritik
meiner Naturphilosophie zu beschäftigen. „Beide Strömungen, die
darwinistische und die des Unbewussten, konnten so trotz ihrer
Gegensätze nebeneinanderlaufen, bis jüngst Eduard von
Hartmann sich das Ziel setzte, zur Krönung seines Hauptwerkes
den speciellen Beweis de? Unzulänglichkeit und Nichtigkeit des
Darwinismus au führen und ihm in seinem System etwa die Bolle
der naturwiäsöttschAftl. Grundlagen der Phil, d Unb. 375
des Küchenjungen anzuweisen" (S. 3). Die Brochure des Strass-
btirger Professors ist also wesentlich ein Schmerzensschrei wegen
Geschäftsstörung; die Generalagentur des Darwinismus für die
Reichslande fühlt sich beschwert, weil ich ihre Werthanpreistmg
eines so wie so gangbaren Artikels als übertrieben enthülle nnd
auf ein solides nnd reelles Maass zurückführe, bei dem das Geschäft
noch sehr wohl gedeihen kann. Dass ich die Selectionstheorie für
ein auxiliäres Princip erkläre, das für sich allein nicht im Stande
sei, alle Welträthsel zu lösen, das heisst doch nicht die Nichtig-
keit des Darwinismus proclamiren! Im Oegentheil stehe ich der
darwinistisohen Richtung der heutigen Naturforschung um sehr viel
nähet als dem noch immer sehr zahlreichen (und z. B. in Frank-
reich völlig dominirenden) antidarwinistischen Lager, welches den
genealogiechen Znsammenhang der organischen Typen leugnet. Ich
erkenne mit dem Darwinismus die Flüssigkeit des Artbegriffs nnd
die Abstammung der Arten von einander unbedingt an; ebenso er-
kenne ich die allmähliche Transmutation, die natürliche und ge-
schlechtliche Zuchtwahl und die Darwinschen Hilfserklärungen
bereitwillig an, nnd streite nur über die Tragweite dieser Erklärunngs-
principien mit dem Darwinismus, nicht, wie dessen Gegner, übet
ihre Wahrheit. Als unwahr muss ich dieselben nur insofern be-
trachten, als dieselben für rein mechanische Erklärungen der
organischen Natur ausgegeben werden, nicht insofern sie als Erklä-
rungsprincipien auf Grundlage innerer organischer Entwicklungs-
gesetze gelten. Die erstere Auffassung ist aber selbst schon ein
methodologischer Irrthum vom Standpunkte der Naturwissenschaft,
eine Grenzverletzung derselben, d. h. eine Ueberhebung derselben
über ihre Sphäre und ein unberechtigter Einbruch in das Gebiet
der Naturphilosophie. Wigand hat im dritten Bande seines Werkes
über den Darwinismus gezeigt, dass in den mannichfachen Strö-
mungen in der Darwinschen Schule in allen andern Fragen die
Meinungsverschiedenheiten zunehmen, und nur in einem Punkte eine
deutliche Gonvergenz der Ansichten erkennbar ist, nämlich in der
Anerkennung der Nothwendigkeit, auf ein inneres Entwicklungs-
gesetz zurückzugehen
Schmidt hat demnach meine Auseinandersetzungen über meinen
Standpunkt gar nicht verstanden, oder er erachtet auch die geringste
Abweichung von der orthodoxen Lehre Darwin's für hinreichend,
376 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
am ein Anathema gegen den Ketzer zu schleudern, unbekümmert
darum, dass er ihm weit näher steht als seinen principiellen Geg-
nern. Das letztere könnte man vielleicht Geschmackssache nennen,
insofern er sich darauf beschränkte, solchen abweichenden Stand-
punkt bloss als unrichtig zu verwerfen; aber damit begnügt er
sich nicht, sondern er verschreit dessen Vertreter als naturwissen-
schaftlichen Ignoranten, der es sich fälschlich anmaasst, auf der
Höhe der modernen Naturwissenschaft zu stehen. Herr Schmidt
mag des Glaubens leben, dass er die Naturwissenschaft der Zukunft
vertritt, aber er kann nicht bestreiten, dass in der Gegenwart der
Darwinismus auch innerhalb der europäischen Naturwissenschaft
eine sehr bestrittene Stellung hat, und dass es eine unerhörte An-
maassung ist, jede abweichende Meinung eben wegen dieser Ab-
weichung als unwissenschaftlich zu verunglimpfen. Da bei
scharfen Gegensätzen in der Regel auf beiden Seiten Recht und
Unrecht vertheilt ist, so wird eine vorsichtige Mittelstrasse die meiste
Aussicht haben, sich als auf der Höhe ihrer Zeit stehend zu be-
haupten, und die meinige trägt, wie gesagt, der aufstrebenden
Richtung in höherem Grade Rechnung, als den Protesten ihrer
Gegner.
So vermessen es von Schmidt war, Naturwissenschaft und. Ma-
terialismus zu identificiren, ebenso vermessen ist es von ihm,
Naturwissenschaft und Darwinismus zu confundiren, zumal einen
Darwinismus, dem nicht nur Darwin selbst, sondern sogar Haeckel
zu zahm ist. Beide Gonfusionen spielen übrigens auch hier durch-
einander; Schmidt bestreitet mir nur deshalb, auf der Höhe der
modernen Naturwissenschaft zu stehen, weil mein Standpunkt weder
streng darwinistisch, noch materialistisch ist; einen andern Grund
zur Rechtfertigung seines verwerfenden Urtheils besitzt er nicht,
und doch beweisen jene beiden Gründe nichts als die begriffliche
Verwirrung und den herrschsüchtigen Unfehlbarkeitsdünkel im Kopfe
des Ketzerrichters.
Dass eine Vermittlerrolle stets von beiden extremen Parteien
angefeindet wird, darüber war ich mir bei dem Erscheinen meiner
Schrift über den Darwinismus ganz klar, und deshalb auch voll-
kommen gefasst auf polemische Entgegnungen aus dem darwinisti-
schen Lager. Wer sich erinnert, wie anerkannte Grössen der Na-
tur Wissenschaft von gewissen Schildknappen des Darwinismus neuer-
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 377
dings behandelt worden sind, wie schulknabenmässig E. E. v. Baer,
wie unwürdig L. Agassiz wegen ihrer letzten, mehr oder minder
antidarwinistischen Schriften herantergekanzelt und gemisshandelt
worden sind, der wird sich höchstens noch darüber wundern, dass
ich verhältnissmässig so glimpflich davongekommen bin. Leider
lässt nur Schmidt's Kritik meiner Schrift jeden Anlauf zu sachlicher
Widerlegung vermissen, und beschränkt sich lediglich auf einen ge-
harnischten Protest und höhnisches Schelten.
Schmidt protestirt (66) gegen meine Behauptung, dass alle
Vertreter des Darwinismus mehr oder minder, auch diejenigen,
welche sich mit Worten einer strengen Sonderung rühmen,
(z. B. Schmidt selbst) thatsächlich Descendenztheorie und Se-
lectionstheorie insofern confundiren, als sie einerseits die Bewährung
der ersteren auch der letzteren gut zu schreiben geneigt sind, und
andererseits den mechanischen Charakter der natürlichen Auslese
auf die ganze Descendenztheorie übertragen. Ich bedaure, diese
Behauptung in aller Strenge aufrecht erhalten zu müssen. Schmidt
protestirt ferner gegen die sprungweise Artenumwandlung neben
der allmählichen (70), beachtet aber dabei z. B. nicht die von Moritz
Wagner im „Ausland" (1875 Nr. 25 u. 26) zusammengestellten
Fälle wirklich beobachteter heterogener Beugungen, während
alle natürliche Artentstehung durch allmähliche Transmutation nur
erschlossen, also hypothetisch ist. Er protestirt endlich da-
gegen, dass ich Nägeli's Unterscheidung physiologischer und mor-
phologischer Abweichungen, welche von zahlreichen Naturforschern,
u. a. von Darwin selbst als richtig und höchst wichtig anerkannt
worden ist, urgire, nennt dies „eine Sottise, die ihn eigent-
lich der Antwort überhebe", schilt Darwin, dass er mit dem Zu-
geständniss, in diesem Funkte gefehlt zu haben, sehr unrecht
gethan habe (77), und erklärt dem gegenüber, dass aus physio-
logischer Adaption, wie jeder vergleichende Anatom weiss,
ganz von selbst der Fortsehritt zu höherer Organisationsstufe
folgt (68). Ich condolire Herrn Darwin zu dem erhaltenen Wischer
und gratulire Herrn Schmidt zu seinem „Wissen". Gründe fehlen
natürlich, da es sich ja nur um eine „Sottise" handelt.
Mit diesen Protesten ist die Widerlegung meiner Schrift er-
schöpft, deren ruhig abwägende, klar gegliederte, und nach bei-
den Seiten gleicher Gerechtigkeit beflissene Auseinandersetzung in
378 Anhang. — Oskar Schmidts Kritik
keiner Weise zu einer Bolchen gereizten and nnsaehlieben Ent-
gegnnng einen Vorwand geboten hatte. Wer so kämpft, erweckt
damit den Argwohn, dass er zum Scheltwort greift, weil es ihm an
Argumenten gebricht. Mit welch' unredlicher Sophistik aber Schmidt
seine Polemik führt, geht aus der Behauptung (S. 65) hervor, dass
seine vorhergehende Kritik des Abschnitts A der Phil d. Unb. ihn
eigentlich der Kritik meiner Darwinismusschrift überhöbe, während
doch letztere eine völlig selbstständige Arbeit ist, welche, weit ent-
fernt, die Phil. d. Unb. zur Voraussetzung zu nehmen, vielmehr
dieser einen selbstständigen Stützpfeiler aufmauern will Gesezt den
Fall, die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Philosophie
des Unbewussten wären als völlig haltlos dargethan, so wäre
damit nichts, aber auch rein gar nichts über den Werth oder
Unwerth einer völlig selbstständigen, neun Jahre später verfassten
Arbeit erwiesen, welche, wie Schmidt selbst hervorhebt (S. 3—6)
hinter der anonoymen Gegenschrift steht, und den darwinistischen
Naturforschern „den Standpunkt definitiv klar machen soll". Die
ganze Brochure Schmidt's macht hiernach den Eindruck, als ob er
sich ausser Stande gefühlt hätte, seinen Aerger über meine Dar-
winismusschrift an dieser selbst gehörig auszulassen, und deshalb
sich auf den Abschn. A der Phil. d. Unb. geworfen hätte, um durch
Bemängelung des letzteren wo möglich die erstere mit verdächtig
zu machen.
Diese sophistische Anschwärzung von hinten herum war um so
Unedler, als ich selbst den Abschn. A der Phil. d. Unb. in mancher
Hinsicht für obsolet erklärt hätte,*) aber nicht in dem Sinne, ab
ob ein besserer naturphilosophischer Unterbau der Metaphysik des
Unbewussten unmöglich sei (wie Schmidt auf S. 5 mir fälschlich
unterschiebt), sondern unter ausdrücklicher Verweisung auf die
anderweitig gebotenen Ergänzungen und Ersatzstücke (was Schmidt
geflissentlich ignorirt). Den Abschnitt A neben diesen letzteren
in den späteren Auflagen unverändert stehen zu lassen, konnte nach
den vorausgeschickten Erläuterungen nur so übelwollenden Lesern
gegenüber „gewagt" erscheinen, wie Schmidt einer ist, welcher das
Bessere entweder ganz ignorirt (wie die Abhandlung „zur Phy-
siologie der Nervencentra") oder durch die Kritik des von mir
*) Vorwort der 7. Aufl. S. XVII, vgl. auch Ges. Stud. u. Aufe. 8. 39.
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 379
Desävouiften mit vernichtet zu haben glaubt (wie die
Darwinismusschrift). Nach meinem Tode würde mau die Fassung
der ersten Auflage der Phil d. Unb* in meinen sämmtlichen Werken
doch mit zum Abdruck gebracht haben, und das von Rechtswegen ;
da konnte ich sie denn unter Beifügung der nöthigen Erläuterungen
auch gleich selber stehen lassen. Doppelt nothwendig war dies
mit Rücksicht auf meine Gegenschrift! welche wesentlich gegen die-
sen Abschn. A gerichtet war, und zum Theil ihre Verständlichkeit
verloren hätte für die Käufer späterer Auflagen der PhiL d. Unb.,
wenn in letzterer der Abschn. A eine Umarbeitung erfahren hätte.
Die ganze Kunstform meines literarischen Dialogs wäre zerstört
worden, wenn ich die Auslassungen des ersten Sprechers verun-
staltet hätte. Diese Gründe konnte ich im October 1875 natürlich
noch nicht veröffentlichen, weil der Zeitpunkt dieser zweiten Auf-
lage noch nicht zu bestimmen war. Da Schmidt wusste (S. 5 — 6),
dass ich „zur Ausgleichung" auf die genannten beiden Arbeiten
verweise, welche später sind als die anonyme Gegenschrift, und da
er zugesteht (S. 3 — 4), dass alle wesentlichen Momente seiner Kritik
in letzterer bereits ausführlich entwickelt und begründet sind, so
hätte er, wenn er ein ehrliches Spiel spielen wollte, sich mit
seiner Kritik auf den von mir in meinen späteren naturphilo-
sophischen Arbeiten entwickelten Standpunkt beschränken müssen
und den Abschn. A der Phil. d. Unb. nur zur Ergänzung und Ver-
vollständigung jener Schriften heranziehen dürfen.
Sein umgekehrtes Verhalten würde mich weiterer Bemerkungen
überheben, wenn er nicht ausserdem seine Angriffe in einer ganz
verkehrten Richtung führte. Hätte er sich nämlich bloss darauf be-
schränken wollen, die kritischen Einwendungen der anonymen
Gegenschrift zu excerpiren, so wäre in der That nicht abzusehen
gewesen, womit er dann die Veröffentlichung einer besonderen
Brochure hätte rechtfertigen wollen. Er bezeichnet es deshalb als
seine Aufgabe, jene Schrift nach einer Richtung hin zu ergänzen,
welche er bei ihr vermisst, nämlich „ein Eingehen auf diejenigen
naturwissenschaftlichen Thatsachen, aufweiche die PhiL d. Unb.
sich stützt" (S. 4). Er bedauert, dass die anonyme Schrift „nicht
den vollen Erfolg gehabt" hat (das soll wohl heissen: die Phil. d.
Unb. und ihre Erfolge nicht geschädigt hat), und er beabsichtigt,
durch seine ergänzende Kritik der meiner Naturphilosophie zu
380 Anhang. — Oakar Schmidts Kritik
Grunde liegenden Thatsachen diesen Erfolg herbeizuführen. Da er
sich aber in Wirklichkeit nicht auf diese Aufgabe beschränkt, son-
dern mit der Kritik der Thatsachen anch eine Kritik der aus ihnen
gezogenen Folgerungen vereinigt, so enthält seine Brochure zwei
Bestandteile, erstens eine fteproduction eines Theils der in
der anonymen Gegenschrift erhobenen Einwendungen, die aber
durch ungeschickte Wiedergabe und maasslose Uebertreibung bei
Schmidt jeder Beweiskraft beraubt sind, und zweitens seine eigene
Zuthat, die Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen. Was an
seiner Kritik einigen Schein von Plausibilität besitzt, hat er von
dem Anonymus, d. h. von mir, abgeschrieben; was er aus
eigenen Mitteln hinzugethan hat, damit macht er glänzendes
Fiasco. Letztere Behauptung bleibt mir nun noch näher zu er-
härten.
4; Wahrheit und Torartheil in der Naturwissenschaft.
Zunächst ist zu bemerken, dass Schmidt eine ganz verkehrte
Vorstellung davon hat, wie der Philosoph die Naturwissenschaft
verwenden soll und darf. Bekanntlich wechseln gerade in unserm
Jahrhundert die naturwissenschaftlichen Ansichten so rasch, dass
man sagen kann, jedes Jahrzehnt bringe neue naturwissenschaftliche
Moden mit sich und betrachte die der früheren Jahrzehnte als zu
den Todten geworfen. Wollte nun eine neue Philosophie sich auf
die in ihrem Jahrzehnt gang und gäben naturwissenschaftlichen
Anschauungen stützen, so könnte sie, wenn nicht alle historischen
Analogien trügen, darauf rechnen, nach einem weiteren Jahrzehnt
mit den Grundlagen veraltet zu sein, auf die sie sich stützte. Unter
solchen Umständen wäre es den Philosophen nicht zu verdenken,
wenn sie es vorzögen, auch fernerhin wie bisher die Naturwissen-
schaften zu ignoriren, um ihren rein philosophischen Speculationen
eine Bedeutung für Jahrhunderte und Jahrtausende offen zu halten.
Es giebt aber noch eine andere Art, sich zu den Naturwissen-
schaften zu stellen, das ist die möglichste Umspannung der Natur-
ansichten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese ist
nur denkbar, wenn man sich gegen die augenblicklichen natur-
wissenschaftlichen Moden die volle Freiheit des Urtheils wahrt!
wenn man aus den Ansichten der Gegenwart die zukunftsreichsten
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. ünb. 381
anter Vermeidung der ihnen anhaftenden Uebertreibung bevorzugt,
and die Lücken der zeitgenössischen Theorien durch Zurückgreifen
auf ältere Perioden ergänzt, deren zeitweilig ignorirte Wahrheits-
keime nach der gesetzmässigen Wellenbewegung des menschlichen
Erkenntnissfortschritts in künftigen Zeitaltern wieder neu an's Licht
gezogen werden müssen. Wer so die vorurtheilsvolle Enge des
Gesichtskreises seiner meisten Zeitgenossen überwindet, der erst
steht wahrhaft auf der naturwissenschaftlichen Höhe seiner Zeit,
ohne damit aus dem Rahmen einer naturwissenschaftlichen An-
schauungsweise herauszutreten. Alle Koryphäen der Natur-
wissenschaft haben in diesem Sinne in mehr als einer Richtung
über ihrer Zeit gestanden, und es ist das Vorrecht des Nachbeter-
trosses, gerade die vorübergehenden Vorurtheile der Zeit zu urgiren
and zum Maassstab der Wissenschaftlichkeit bei ihrem Ketzerrichter-
geschäft zu machen.
Der Philosoph kann und darf nur unter der Bedingung mit der
Naturwissenschaft eine Verbindung eingehen, dass es ihm vergönnt
wird, seine Freiheit gegen die naturwissenschaftlichen Modevorurtheile
zu behaupten und die Erforschung der Natur von einer höheren
Warte zu betrachten, als der der augenblicklich herrschenden Partei.
In je grösserem Stil er dieser Bedingung gerecht wird, desto hefti-
ger muss er natürlich von den bornirten Fanatikern dieser Partei
verketzert werden; es wäre das Todesurtheil seiner Philosophie,
wenn solche Anfeindung ausbliebe, weil damit deren rasche Ver-
gänglichkeit besiegelt wäre. In diesem Sinne habe ich alle Ursache,
dem Darwinisten Schmidt dankbar zu sein für die gute Meinung
über meine naturwissenschaftliche Qualification zum Natur philosophen,
welche die Heftigkeit seines Angriffs bei denkenden Beurtheilern
hervorbringen muss, und meine Dankbarkeit muss um so grösser
sein, mit je schlechteren Waffen er mich bekämpft und je sichtbarer
er seinen Aerger über meine Existenz kundgiebt.
Es gehört zu den beliebtesten Kunstgriffen herrschender Theo-
rien, dass sie sich gegen die umfassendsten problematischen Er-
scheinungsgebiete, wenn sie dieselben nicht zu erklären vermögen,
blind und taub stellen, und diejenigen als Schwindler, Narren und
Mystiker, kurz als unwissenschaftliche Menschen verhöhnen, welche
nicht geneigt sind, solchen Erscheinungsgebieten die Existenz ab-
zustreiten, weil sie in den Kram der Modetheorien nicht passen.
382 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
Die Koryphäen der Naturforsebtmg haben sich in solchen Dingen
ans einfacher wissenschaftlicher Ehrlichkeit oft genug zu Zugeständ-
nissen herbeigelassen, die ihren Trabanten sehr unbequem waren,
mindestens aber sich reservirt verhalten. In dem Verhältniss, als
die positiven Leistungen geringer sind, wächst naturgemäss die
Neigung, durch Schimpfen und Belfern für die verfochtene Theorie
seiner Person einige Wichtigkeit aufzuheften. Die positiven Leistungen
des Herrn Schmidt sind mir gänzlich unbekannt; nach obigem
Haassstab bemessen müssen sie jedoch bisher recht unbedeutend
gewesen sein.
Ein gehäufter Zorn muss sich natürlich über einen Menschen
entladen, der sich gleich mir unterfängt, die Selbstzufriedenheit der
herrschenden Vorurtheile durch Zusammenstellung einer ganzen
Reihe von Erscheinungsgebieten zu erschüttern, welche von den-
selben bisher hartnäckig ignorirt wurden. Dabei wird eine Ab-
stufung des Zorns nach Maassgabe des Grades der Unbequemlichkeit
der verschiedenen Ersoheinungsgebiete zu Tage treten, und letzterer
wird von der Grösse der Wahrscheinlichkeit abhängen, mit welcher
die herrschende Ansicht die betreffenden Erscheinungsgebiete mit
ihren Mitteln zu bewältigen hoffen darf., Wo diese subjective Hoff-
nung grösser ist, tritt an Stelle der bisherigen Verleugnung wider-
willige Anerkennung der Thatsachen (so z. B. in Betreff des Wieder-
auflebens eingetrockneter und gefrorener Organismen, oder der
wunderbaren Erscheinungen der Naturheilkraft) ; wo hingegen diese
Hoffnung verschwindend klein ist, dauert die Ableugnung der
Thatsachen der Theorie zu Liebe fort, und wird die ganze Schale
des Hohns und der ohnmächtigen Wuth über diejenigen Fachgenos-
sen ausgeschüttet, welche nicht Corpsgeist genug besitzen, um sich
an diesem gewissenlosen Treiben zu betheiligen, sondern die Fahne
der Partei verrathen. Sind es anerkannte Berühmtheiten, so kommen
sie gnädiger weg, so Burdach und Wallace; von ersterem war,
„wie die Physiologie weiss, das Capitel Ahnungen eine schwache
Seite" (27), und letzterer hat aufgehört, in Urtheilen und Folge-
rungen eine Autorität zu sein, seit er unter die Spiritisten gegangen
(52). Steht ihnen aber nicht ein solches unantastbares Renommß
zur Seite, so schützt selbst einen anerkannten Naturforscher wie
Reichenbach nichts vor dem Vorwurf eines „entlarvten Schwindlers"
(8), obwohl seine Untersuchungen den Eindruck der redlichsten
der naturwisBenBchaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 383
Wahrheitsforschung machen, und von „Entlarvung" eines „Schwin-
dels" auch ftlr den Fall einer gänzlichen Wertlosigkeit und Irr-
thümlichkeit seiner Forschungen keine Bede sein kann.
Mich selbst bedauert Schmidt bloss wegen der „lächerlichen
Angaben", die ich mir habe „aufbinden" lassen (78), und wegen
meiner „wahrhaft verblüffenden Gonfusion in naturwissenschaftlichen
Dingen" (70); aber er sieht sich doch durch meine Zusammen-
stellung zur Anerkennung verschiedener Erscheinungsgebiete ge-
zwungen, für die er das gänzliche Fehlen eines naturwissenschaft-
lichen Verständnisses und einer mechanisch-physiologischen Erklä-
rung einräumen muss, so z. ß. für den Umsatz von Wille und
Vorstellung in moleculare Nervenbewegung (22 — 23), für den Ersatz
verlorener Körpertheile (37 u. 40), für den Process der Fortpflanzung
und Vererbung (79—81). Das« bei solchen Zugeständnissen die
Bemängelung der Einzelangaben, aus denen ich dasselbe Resultat
gefolgert habe, ein zweckloses Bemühen ist, weil die philosophischen
Folgerungen durch die Specialkritik auf diesen Gebieten gar nicht
mehr alterirt werden können, ist ein anscheinend naheliegender
Gedanke; glücklicher Weise ist derselbe Herrn Schmidt nicht ein-
gefallen, denn sonst hätte er seine Brochure ungeschrieben lassen
müssen, welche ja nur den Zweck haben sollte, die anonyme Gegen-
schrift durch Kritik der zu Grunde liegenden naturwissenschaftlichen
Thatsachen zu ergänzen.
5« Schmidt'* Kritik der Quellen der Philosophie des
Unbewussten«
Bevor Schmidt in die Kritik der Thatsachen selbst eintritt,
unternimmt er es, „auf die Glaubwürdigkeit und den Grad des Zu-
trauens, den die Resultate eines Schriftstellers verdienen, daraus
einen vorläufigen Schluss zu ziehen, wie er selbst sich seinen
Quellen gegenüber kritisch verhält" (7). Zu dem Zweck prüft er
in einem besondern Abschnitt „einige Gewährsmänner der Philosophie
des Unbewussten", wobei er zu folgendem Resultat gelangt: Die
Schriften von Carus sind geradezu die Hauptquelle für den
biologisch-psychischen Theil der Ph. d. Unb." (8); „die Physiologie
und Psychologie eines Carus sind absolut unverträglich mit
der eines Dubois-Reyniond, Virchow, Goltz und Wundt; wem die
384 Anhang. - Oskar Schmidts Kritik
einen Autorität sind, dem kann es jener nieht sein" (12); Hart-
mann verweist „alles Ernstes auf einen entlarvten Schwindler mit
derselben Zuversicht wie auf die Physiologie von Johannes
Müller" (8). Dies beweist, „dass die Ph. d. Unb. nicht im Stande
gewesen, die ihr zu Gebote seienden Angaben nnd Thatsachen zu
sichten, das Zweifelhafte vom Beglaubigten zu unterscheiden" (85),
wie das Endurtheil über meine Naturphilosophie lautet.
Da ich mich nicht berechtigt erachte, Herrn Schmidt einen
Grad von Insipidität zuzutrauen, welche mit der Stellung eines
deutschen Universitätsprofessors unverträglich erscheint, so bleibt
mir nur übrig, in dieser indirecten Argumentation ein Muster von
sophistischer Unredlichkeit zu sehen. Erstens verwirrt Schmidt
fünf ganz verschiedene Begriffe, nämlich Autoritäten, Thatsachen-
quellen, Gedankenquellen, Gitatenquellen und Vorgänger, und zwei-
tens greift er „zur Charakteristik der Gewährsmänner der Philo-
sophie des Unbewussten" aus dem reichen Namenregister
nur drei Personen heraus, von denen einer, wie er selbst hervorhebt
(7), in der Ph. d. Unb. gar nicht vorkommt, und die alle drei
in keinem Sinne für mich Autoritäten, Gewährsmänner oder
Quellen sind (abgesehen davon, dass ich von Carus ein Motto und
ein Gitat zum rhetorischen Schmuck der Diction anführe). Schmidt's
Kritik hat also hier nur den Zweck, mich dadurch zu discreditiren,
dass er den Lesern, die seine Verdrehungen und Entstellungen
nicht durch Nachschlagen meiner Schriften controliren, Sand in die
Augen streut.
Autoritäten kennt der Philosoph überhaupt nicht. Für Herrn
Schmidt mögen Dubois-Reymond, Virchow etc. Autoritäten sein, für
mich sind sie es ebenso wenig wie Carus oder Beichenbach. Ge-
dankenquellen, d. h. Anreger von Ideen, Hypothesen, Principien,
Begriffen, Vorstellungen und Urtheilen, sind die Naturforscher nur in
sehr beschränktem Grade für mich gewesen, und können in dieser Hin-
sicht im Vergleich zu den Philosophen gar nicht in Betracht kommen.
Da Schmidt von Philosophen nur Piaton (und auch diesen nur dem
Namen nach) zu kennen scheint, so besitzt er beispielsweise die
köstliche Naivität, alles Ernstes zu behaupten, dass ich den Begriff
der typischen Naturidee von Carus herübergenommen habe (71), —
als ob nicht dieser Begriff den gesammten Vertretern des objectiven
und absoluten Idealismus gemeinsam wäre ! Da Schmidt die Schrift-
der naturwissenschaftl. Grandlagen der Phil. d. Unb. 385
steller, denen ich einmal ein Gitat entlehnt habe, benutzt, am mich
durch deren Kritik zu discreditiren, so wandert mich nur, dass er
sich den Hinweis darauf hat entgehen lassen, wie viel ich aus der
Bibel citire, was doch vom naturwissenschaftlichen Standpunkte
gewiss eine verwerfliche „Quelle" sein muss. Wenn ich endlich aus
historischer Gerechtigkeit es nicht unterlasse, Vorgänger namhaft zu
machen, welche in bestimmten Punkten auch von mir verwerthete
Gedanken in mehr oder minder ähnlicher Gestalt ausgesprochen
oder entwickelt haben, so genügt dieser Zoll historischer Würdigung
zu der perfiden Insinuation, dass ich mich auf solche Männer von
anderweitig vielleicht sehr anfechtbarem Standpunkt als auf Autori-
täten oder Gewährsmänner „berufen" hätte (so z. B. S. 7 Z. 8—9).
Was nun die drei von Schmidt gewählten Namen betrifft, so
habe ich Baumgärtner erst zwei Jahre nach Erscheinen der Phil,
d. Unb. durch sein Buch „Natur und Gott" (Leipzig 1870) kennen
gelernt, das ich in den Bl. f. lit. Unt. 1871 Nr. 34 angezeigt habe.
Seine Erwähnung in meiner Darwinismusschrift S. 27 war lediglich
ein Act historischer Gerechtigkeit gegen einen von naturwissen-
schaftlicher Seite geflissentlich ignorirten Physiologen, von dem ich
übrigens gar nichts weder gelernt noch entlehnt habe.
Von Carus habe ich nur Ein Buch, die „Psyche" gelesen, und
zwar während der Ausarbeitung des Abschnitts A der Ph. d. IL, als
derselbe in meinem Kopfe schon feststand. Ueber die Bestätigung
meiner durch philosophische Gedankenquellen angeregten Ansichten
durch die Uebereinstimmung mit Carus habe ich mich gefreut ; aber
ich bekam das Buch zu spät in die Hand, um noch etwas daraus
lernen zu können. Die greisenhafte Weitschweifigkeit und Red-
seligkeit, der Mangel logischer Präcision und beweiskräftiger Schnei-
digkeit in der „Psyche" benahmen mir bis heute jede Lust, mehr
von diesem Schriftsteller zu lesen. Eine von mir aus Carus' Schrif-
ten entlehnte Thatsache hat Schmidt nicht anzugeben gewusst;
wenn er die Uebereinstimmung in den negativen Aussagen über das
metaphysische Unbewusste („erkrankt, ermüdet, zweifelt und irrt
nicht") für genügend hält, um meine Entlehnung dieser Aussagen
von Carus zu beweisen (11), so ist er ebenso im Irrthum, als wenn
er glaubt, dass ich die „Naturideen" von Carus übernommen hätte.
Jene Sätze sind negative Prädicabilia a priori von jedem Absoluten,
die für den Philosophen selbstverständlich bis zur Trivialität sind
E. t. Hartmann, Dm Unbewuute. 2. Aufl. 25
386 Anhang. — Oskar Schmidts Kritik
(vgl. „Neuk., Schop. u. Heg/' S. 361—362); hatte ich einmal an-
abhängig von Garns das Absolute als das Unbewnsste ergriffen, so
brauchte ich auch nicht mehr seine Anleitung zu diesen selbst-
verständlichen Folgerungen. Aber selbst wenn Schmidt in der
Entlehnungsfrage in diesem Punkte Recht hätte, so hätte er
doch noch Unrecht, zu behaupten, dass Carus mein Gewährs-
mann sei, da ich mich eben nirgends auf ihn berufe. Ich
beweise diese Sätze selbstständig, da bei Carus jeder Versuch eines
Beweises fehlt. Es ist also eine ebenso unmotivirte als that-
sächlich unrichtige Behauptung Schmidt's, dass Carus geradezu
die Hauptquelle für den betreffenden Theil der Ph. cL Unb.
sei (8); er ist weder Hauptquelle noch überhaupt Quelle für mich
gewesen, ich habe ihn vielmehr nur als Vorgänger aus historischer
Gerechtigkeit angeführt, und aus Bescheidenheit mich eines Urtheils
über diesen Quasi- Concurrenten enthalten.
Was endlich den dritten „Gewährsmann" angeht, so sagt Schmidt
wörtlich folgendes: „Bedenklicher ist es, wenn wir erfahren, dass
der Freiherr von Beichenbach eine Autorität für Hartmann ist"
(8); „wer, gleich Hartmann, zur ernsthaften Anerkennung
eines von Physik und Physiologie einstimmig in das Gebiet des
Humbug verwiesenen Gebiets" (nämlich des Od) „sich veranlasst
sieht, rühmt sich vergeblich der inductiv - naturwissenschaftlichen
Methode" (49). Es ist unwahr, dass ich Beichenbach als eine
Autorität in meinen Augen kenntlich gemacht hätte, denn ich habe
nur Ein Mal seine Schriften mit einem „Vgl." in Klammer angeführt
und das Urtheil des durch sie kennen zu lernenden Gebiets gänzlich
dem Leser überlassen; es ist unwahr, dass ich „durch meine
Neigung für den Mesmerismus" zur „ernsthaften Anerkennung 1 ' der
Beichenbach'schen Odlehre geführt worden sei (49), da mir dieselbe
in der von Beichenbach vorgetragenen Gestalt stets sehr zweifelhaft
und bedenklich erschienen ist, und deshalb weder das Wort Od
noch sonst welche Hindeutung auf Beichenbach's Theorie in meinen
Schriften zu finden ist. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Ge-
sichts-Sensitivität und Gefühls-Sensitivität principiell getrennt behan-
delt werden müssen, wenngleich sie sehr wohl vereinigt anftreten
können, dass die Gesichts-Sensitivität oder Nachtdichtigkeit, durch
welche die geringen Lichtausstrahlungen verschiedener schwach
leuchtender, bisher für dunkel geltender Körper dem Auge wahr-
der naturwissenschaftl Grundlagen der Phil. d. Unb. 387
nehmbar werden, mit dem hypothetischen Od gar nichts zn thun
hat, und dass die von Gefühls- Sensitiven percipirten abnormen
Wahrnehmungen mit mehr Wahrscheinlichkeit auf mehrere verschie-
dene (theils bekannte, theils auch wohl noch unbekannte) Undula-
tionsweisen der Materie und des Aethers zu beziehen seien als auf
ein einziges neues hypothetisches Agens, das Od.
Nicht auf die Theorien ßeichenbach's, sondern auf die von
ihm gesammelten, zum Theil höchst merkwürdigen und wahrschein-
lich folgenreichen Thatsachen habe ich meine Leser verwiesen,
ohne irgendwie dafür einzutreten, dass bei diesen mit subjectiven
Fehlerquellen so sehr behafteten Versuchen nicht mannichfache
Täuschungen und Irrthümer bisher mit untergelaufen sind. Wer
die Kritiklosigkeit der älteren mesmerischen und der neueren spi-
ritistischen Literatur kennt, der wird es mir Dank wissen, auf einen
wenig beachteten Naturforscher aufmerksam gemacht zu haben, der
in ähnliche Erscheinungsgebiete mit verhältnissmässigem Geschick,
redlicher Mühe und geduldigem Fleiss einzudringen versucht hat
Meine persönlichen Erfahrungen über das freihändige Magnetisiren
reichen gerade weit genug, um das Urphänomen einer durch den
Willen eines Menschen in einem andern Menschen hervorgerufenen
abnormen localen Geftihlswahrnehmung in exaeter Weise zu con-
statiren, und scheinen mir genügend, um die weitere Erforschung
dieses Erscheinungsgebietes für eine unabweisliche Aufgabe der
exaeten Wissenschaft zu erklären, und um mich in der apriorischen
Ableugnung von unglaublich klingenden Angaben vorsichtig zu
machen. Selbst Schmidt bekennt: „Die Naturwissenschaft hat sich
oft zur Anerkennung von Thatsachen bequemen müssen, welche
unglaublich schienen, und gegen allgemein anerkannte Gesetze
sprachen" (47); wenn er das einsieht, so sollte er sich doch mit
dem Schimpfen und Verhöhnen von Erscheinungsgebieten etwas
niefor in Acht nehmen, welche durch das, was er auf S. 47—49
gegen dieselben vorbringt, gar nicht berührt werden. Das
Urtheil der Geschichte über das straussenartige Kopfverstecken
unserer heutigen Naturwissenschaft vor den ihr unbequemen Er-
scheinungsgebieten dürfte einmal härter ausfallen, als die Selbst-
zufriedenheit unserer modernen Naturforscher sich träumen lässt.
Diese Differenzen lassen jedoch den Vorwurf unangetastet be-
stehen, dass Schmidt's Versuch, meine Urteilsfähigkeit durch Kritik
25*
388 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
einiger angeblichen Gewährsmänner zn discreditiren, auf einer gröb-
lichen Täuschung seiner Leser durch Vorspiegelung falscher That-
sachen beruht Dass Schmidt sich genöthigt sah, in diesem Punkte
zu solchen Verdrehungen des Thatbestandes zu greifen, ist der
beste indirecte Beweis, dass er meinen wirklichen Gewährs-
männern gegenüber in der That in Verlegenheit um triftige Aus-
stellungen war, und das Fehlen solcher bei ihm nicht bloss zufällig
ist. Dagegen muss Schmidt häufig genug in solchen Fällen das
Ansehen meiner Quellen anerkennen, wo ihm dasselbe sehr un-
bequem ist (so z. B. S. 19 Pflüger und Goltz, S. 25 Th. Engelmann),
und wo er Gewährsmänner für eine von den meinigen abweichende
Auffassung aufführt, da sind es fast ausnahmslos solche Schriften,
die später als die älteren Auflagen der Ph. d. Unb. erschienen sind,
z. B. S. 25 Hermann Müller (1876), S. 19 Goltz (1871) und Wundt
(1874), und die ich zum Theil-in späteren Arbeiten berücksichtigt,
beziehungsweise widerlegt habe. Dies Alles ist ein hinreichender
Beweis, dass die Phil. d. Unb. auch in Bezug auf die Kenntniss
des Materials vollständig auf der Höhe der Zeit ihres Erscheinens
stand ; dass der Abschn. A nicht mehr durchweg auf der Höhe der
Zeit des Erscheinens der 7. Auflage steht, habe ich daselbst (im
Vorwort S. XVII) selbst zuerst ausgesprochen, und die zur Erhärtung
meines Ausspruchs von Schmidt unternommene Beweisführung er-
scheint demnach ebenso überflüssig, als sie ihm factisch durch-
weg missglückt ist.
6. Angefochtene Deutungen von Thateachen.
Wenn meine Entgegnung erst jetzt zur Besprechung der Schmidt'-
schen Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen gelangt, so be-
weist das, wie viel Baum mein Kritiker mit Bemerkungen gefüllt
hat, die nicht dem Titel seiner Brochure entsprechen.
Derselbe erläutert auf S. 4 den Titel dahin, dass die Aufgabe
der Schrift die Kritik derjenigen naturwissenschaftlichen That-
sachen sei, auf welche die Phil. d. Unb. sich stützt, im Gegen-
satz zu meiner anonymen Gegenschrift, welche die Thatsachen im
Allgemeinen hinnimmt und nur ihre Deutung kritisirt. Aber
diese Beschränkung des Wortes „Grundlagen" auf „zu Grunde lie-
gende Thatsachen" ist in der Brochure selbst völlig ausser Acht
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 389
gelassen; es macht fast den Eindruck, als wenn Schmidt nicht im
Stande wäre, im besonderen Falle zwischen Thatsachen und Deu-
tungen zu unterscheiden. Dieser Unterschied ist aber sehr wichtig;
denn Thatsachen sind Daten, an denen nicht zu rütteln ist, während
bei ihren Deutungen sofort die wissenschaftlichen Meinungsverschieden-
heiten in Kraft treten können. Ich werde deshalb beides ausein-
ander halten, und zuerst dfe speciellen Beilspiele berücksichtigen,
in welchen Schmidt meine Deutung der Thatsachen anficht, bevor
ich zu den in Zweifel gezogenen thatsächlichen Angaben übergehe.
Schon im zweiten Einleitungscapitel der Phil. d. Unb. bekämpft
Schmidt meinen Satz, dass das Behrüten des Ei's die Ursache vom
Auskommen des jungen Vogels sei, durch die Bemerkung, dass
nicht das Bebrüten, sondern die Temperatur die Ursache sei (15).
Da ich an der Stelle ausdrücklich die nicht brütenden Vögel in war-
men Ländern und Treibhäusern erwähne, so spreche ich eben nur
von der Ursache, welche bei brütenden Vögeln dem Ei die zur
Entwickelung nöthige Temperatur verschafft, und dass diese das
Brüten sei, wird wohl Schmidt nicht bestreiten. Die Frage muss
nicht bloss objectiv gestellt werden : „Welche Umstände veranlassen
den Vogel zum Brüten?", sondern auch subjectiv: „Welcher psy-
chische Process muss in einem Vogel vorgehen, um denselben durch
solche Umstände zum Brüten zu veranlassen, dessen Zweck ihm
meist unbekannt sein wird?" Worauf die Antwort nicht die von
Schmidt gegebene sein kann. Wenn derselbe übrigens behauptet,
dass mit diesem Gapitel „die Erkenntniss der Finalität als fast voll-
ständig begründet erachtet" wird (16), so widerspricht dies meinen
ausdrücklichen Erklärungen am Schluss des Gapitels.
Auf S. 19 erkennt Schmidt an, dass ich mich in meiner Stel-
lung zur Frage der Seelenthätigkeit des Rückenmarks mit Pflüger
in Uebereinstimmung befinde, behauptet aber, dass dieser Standpunkt
durch Goltz überwunden sei, dem auch Wundt in seinem neuesten
Werke gefolgt ist. Schmidt thut dabei so, als wenn ich von diesen
gegnerischen Ansichten von Goltz und Wundt nichts wüsste, und
ignorirt dabei nur, dass ich dieselben in der Abhandlung „Zur
Physiologie der Nervencentra" ausführlich erörtert und den Grund
ihrer Irrthümlicheit in dem Vourtheil aufgezeigt habe, als ob Reflex-
mechanismus ein ausschliessender Gegensatz zu Seelenthätigkeit sei,
während er doch nur deren correlative objective Erscheinungsform
390 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
bildet (Ph. d. Unb. I. 377—389). Da ich mich dort mit der Be-
sprechung Wundfs begnügt habe, so will ich hier noch einiges
über Goltz bemerken, da der Gegenstand mir dazu wichtig genug
erscheint.
Goltz sagt in seinen „Beiträgen zur Lehre von den Functionen
der Nervencentra" : *) „Das, was wir gewöhnlich Seele nennen, ist
theilbar, wie das Organ, durch dessen Thätigkeit sie sich äussert"
(S. 80). „Weil ich erwiesen habe, dass nach Verstümmelung des
Gehirns Seelenvermttgen in gewissen Sphären bleibt, in anderen
erlischt, bin ich an sich dem Gedanken durchaus nicht abhold,
dass auch das geköpfte Thier noch für eine kleine Sphäre, nämlich
für die der Abwehrbewegungen, mit Anpassungsvermögen, d. i. mit
Seelenvermögen ausgestattet sein könne. Aber ich verlange, um
das annehmen zu können, allerdings überzeugende Beweise" (113).
Diese überzeugenden Beweise bringt nun Goltz selbst in den Ver-
suchen Auerbachs und in seinen eigenen bei (111—113 u. 116 — 120),
aus denen für jeden unbefangenen Leser klar hervorgehen dürfte,
dass das Bückenmark des geköpften Frosches ein eclatantes An-
passungsvermögen besitzt. Goltz hingegen findet diese Beweise aus
dem Grunde nicht überzeugend, weil die bei diesen Versuchen zu
Tage tretenden Selbstregulirungen nicht die menschliche Fassungs-
kraft übersteigen. Erst wenn ein Thier oder Nervencentrum „aueh
in den Fällen zweckentsprechend handelt, welche ais unberechen-
bar nach menschlicher Fassungskraft unmöglich in einer
Maschinenvorrichtung vorgesehen sein konnten, dann schreibe ich
dem Thier Seelenvermögen zu" (115). Diese Grenzbestimmung ist
aber ganz unwissenschaftlich. Denn sie ist zunächst völlig will-
kürlich, und mit dem Fortschritt unsrer mechanischen Kenntniss ver-
schiebbar; sie ist aber auch principiell verkehrt, weil sie voraus-
setzt, dass in den Fällen zweifelloser intelligenter Willkürhandlungen
kein Reflexmechanismus vorhanden sei. Goltz selbst erklärt (S. 92)
die sogenannten freiwilligen Bewegungen für eine blosse Glasse der
„Antwortbewegungen" (d. h. Reflexbewegungen im weiteren Sinne),
oder wie Volkmannes ausdrückt: jede willkürliche Bewegung fllr
eine reflectirte, und nennt es mit Recht „einen Streit um Worte, ob
*) In Berlin bei Hirschwald i. J. 1869, also nach der ersten Auflage der
Ph. d. Unb. erschienen.
der naturwisseuschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 391
jemand den Frosch ohne Grosshirn ein beseeltes Thier, oder einen
Mechanismus von unbegreiflicher Vollkommenheit nennen will" (68).
Mit beiden giebt er aber zu, dass auch die eigentliche Seelen-
thätigkeit unter dem physiologischen Gesichtspunkt mechanische
Beflexfunction sein muss, vernichtet also sein eigenes Kriterium
zur Unterscheidung beider. Es bleiben ihm hiernach nur
zwei Wege offen: entweder er erklärt auch das menschliche
Grosshirn mit seinen scheinharen Aeusserungen von Seelenvermögen
bloss für einen höchst complicirten Gomplex von Reflexmechanismen,
oder er erkennt an, dass auch das Bückenmark in den höchst
complicirten Selbstregulirungen seiner Reflexmechanismen Seelen-
thätigkeit entfaltet. Da erstere Ansicht mit der Leugnung all' und
jeder Seelenthätigkeit gleichbedeutend ist, also der unmittelbaren
Erfahrung widerspricht, so bleibt nur der letztere Weg offen, so
lange überhaupt die Alternative aufrecht erhalten wird. Sobald
man hingegen die mechanischen Vorgänge in den Nervenmoleculen
als blosse objective (der psychischen subjectiven Erscheinung cor-
respondirende) Erscheinung auffasst, fallen diese beiden scheinbar
entgegengesetzten Ansichten in Eine zusammen (vgl. auch oben
Anm. 183).
Goltz sucht seine Bedenken gegen das Seelenvermögen des
Bückenmarks noch durch negative Versuchsinstanzen zu erhärten,
verunglückt aber vollständig mit denselben. Die auf S. 121 mit-
geteilte Versuchsreihe ergab allerdings ein negatives Resultat, aber
der Controlversuch mit unversehrten Fröschen zeigte ; dass dieselben
in der fraglichen Bichung ebensoviel oder ebensowenig Seelen-
vermögen äussern, wie die enthirnten Thiere (122, 125). Zwei an-
dere Versuche mussten negative Resultate liefern, weil die Aufgabe-
stellung eine falsche war, weil an das Bückenmark des geköpften
Frosches als Probe seines Anpassungsvermögens Forderungen ge-
stellt wurden, zu deren Erfüllung ihm das Organ fehlte. Wenn die
Auseinanderwickelung der künstlich über dem Bücken verschränkten
Beine (101 — 105), oder das Forthüpfen vor den angethanen Mar-
tern (127—130) Aufgaben sind, die das Kleinhirn oder die Vierhügel
zu ihrer Ausführung (als Mittel zur Goordination der Bewegungen)
erfordern,, so kann man aus der Nichtausführung der Aufgabe eben-
sowenig auf ein gänzliches Fehlen des Anpassungsvermögens oder
der Empfindungsfähigkeit im Bückenmark schliessen, als wenn man
392 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
auf den Mangel an freundschaftlichen Gesinnungen eines Menschen
ohne Arme daraus schliessen wollte, dass er in meine dargebotene
Hand nicht einschlägt (101). „Wollen wir erforschen, ob das
Rückenmark noch Seelenvermögen besitzt, so müssen wir uns an
diejenigen Thätigkeiten halten, die es noch zu leisten vermag" (101).
Weil Goltz das selbst nicht beachtet hat, darum sind seine negativen
Instanzen nichts-beweisend. Wenn ein geköpfter Frosch in einem
allmählich erwärmten Wasserbade selbst die motorischen Schmerz-
äusserungen des Gliederzuckens vermissen lässt, so muss es dafür
einen andern Grund geben, als den, dass der geköpfte Frosch keine
Empfindung mehr besitze ; letzterer Grund wird durch einen andern
Versuch von Goltz ausgeschlossen, nach welchem ein solches Thier
dem peinigenden Bade einer concentrirten Salzlösung zwar nicht
durch Fortspringen zu entrinnen vermag, aber doch durch wilde
Wischbewegungen die erlittene Pein kundgiebt (S. 76 — 77).
Wenn Schmidt die Goltz'schen Untersuchungen mit kritischer
Besonnenheit anstatt mit blinder Unterwerfung unter die Autorität
seines Namens gelesen hätte, so würde er sich das hier Bemerkte
selber haben sagen können, selbst ohne Kenntnissnahme meiner
ausführlichen Erörterungen des Gegenstandes in der erwähnten Ab-
handlung. Es war ihm aber nur darum zu thun, mich vor seinen
Lesern als unwissenschaftlichen Ignoranten erscheinen zu lassen,
und darum musste er von einer Beurtheilung der Goltz'schen Schluss-
folgerungen ebenso Abstand nehmen wie von einer Berücksichtigung
meiner Auseinandersetzungen, in welcher ich das Losungswort für
die fernere Betrachtung des Rückenmarks mit dem Satze ausgegeben
zu haben glaube: „Das Bückenmark der höheren Thiere ist durch
seine beständige Nöthigung zu Handlangerdiensten für das Gehirn
gleichsam versimpelt; aber daraus ist immer noch nicht zu
schliessen, dass es Bewusstsein und Willen (die es bei den niederen
Thieren offenbar besitzt) verloren habe" (Ph. d. U. I. 390 Anm.).
Dass Schmidt überhaupt die psychische Innerlichkeit der niederen
Nervencentra zum Gegenstand seines Angriffs zu wählen kein Be-
denken trägt, ist nur ein Beweis, wie wenig er von den unabweis-
baren naturphilosophischen Consequenzen der Descendenztheorie eine
Ahnung hat ; denn sonst müsste ihm klar sein, dass unser Intellect-
organ nur ein modificirter Ganglienknoten, und ein Ganglienknoten
nur modificirtes Protoplasma ist, dass also auch die Functionen
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 393
unserer Hemisphären nur Modificationen der Grundfunctionen der
Ganglienknoten und des Protoplasma^ sein können. Ich bin also
hier von Schmidt gerade deshalb angegriffen, weil ich eine auf der
der Hand liegende Consequenz der Descendenztheorie vertrete.
S. 22—23 gesteht Schmidt einerseits zu, dass der Umsatz von
Wille und Vorstellung in moleculare Nervenerregung ein un-
erschlossener Vorgang ist, bestreitet aber andererseits, dass das
Räthselhafte des Vorgangs in der Erregung der richtigen Nerven-
fasern als Mittel für die Muskelverkürzung liege, indem er unter
Hinweis auf die Bogenfaserzttge des Gehirns sagt: „Denn die von
der Vorstellung der Bewegung in Anspruch genommene Hirnpartie
kannunfehlbardie erhaltene Erregung auf continuirlichen Bahnen
zu den motorischen Fasern fortpflanzen." Dieses „kann unfehlbar"
ist charakteristisch für Schmidt' s logische Präcision, und zeigt, auf
wie schwachen Füssen der Einspruch steht. Die Möglichkeit un-
mittelbarer Fortleitung des Reizes auf unzweifelhaft vorhandenen
continuirlichen Bahnen zu leugnen, ist mir nicht eingefallen; aber
diese Möglichkeit für jeden einzelnen Fall einer bestimmten Be-
wegung ist eine hohe Unwahrscheinlichkeit für die Gesammtheit
aller Fälle willkürlicher Bewegung, deren Auswahl der Willkür
unterstellt ist, und darum ist diese „unfehlbare Möglichkeit" nichts
weniger als eine Erklärung (vgl. Phil. d. Unb. I. 64—65).
S. 29—30 bestreitet Schmidt meine Behauptung, dass die Zu-
sammensetzung eines Gesammtreflexes aus Einzelreflexen um so
complicirter wird, je grössere Umwege ein Beiz einschlägt, bevor
er als motorische Beaction wieder austritt ; er behauptet das Gegen-
theil, dass „man, wenn die Leitung auf Nebenwegen geschieht, von
einer Vermehrung der Reflexe überhaupt gar nicht sprechen" kann.
Herr Schmidt scheint hiernach entweder die Thalsache nicht zu
kennen, dass die Hauptleitungen durch weisse Nervenstränge und
ein Minimum grauer Substanz, die Nebenleitungen aber durch um
so mehr graue Substanz führen, je grössere Umwege sie einschlagen,
oder aber derselbe verkennt, dass der Durchgang durch graue Sub-
stanz, d. h. durch Ganglienzellen etwas anderes ist als blosse Lei-
tung in Fasern, und stets eine reflectorische Beaction dieser Ganglien*
zellen als Grund der Weiterbeförderung voraussetzt
Dass ein Vogel an gebrochenem Herzen zu Grunde gehen kann,
stellt Schmidt nicht in Abrede, dass ich aber behauptet haben soll,
394 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
auch die Weinbergsschnecke, der man den Winterschlaf versage,
sterbe an Verzweiflung, beruht auf einer Interpretation meines
Textes, die wohl Schmidt selbst nur als einen schlechten Witz be-
trachtet wissen will (27).
Die Angabe über das Verhalten der Hunde gegen Hundeesser
verdanke ich einer brieflichen Mittheilung des Herrn Dr. Carl Frei-
herrn du Prel.*) Wenn es sich um nichts weiter handelte, als um
die Bemerkung, dass Hunde, welche ihre Gollegen öfters durch
einen Menschen haben auffangen sehen, durch dieses Schicksal ihrer
Genossen gewitzigt werden, wie Schmidt meint (27), so wäre daran
nichts Bemerkenswerthes. Aber er vergisst, dass Hundediebe nicht
so öffentlich zu gehen und zu rauben pflegen wie angestellte Hunde-
fänger, und dass deshalb die Hunde schwerlich durch Gesichts-
wahrnehmungen über die Liebhabereien der Hundeesser Erfahrungen
zu sammeln Gelegenheit haben dürften. Vielmehr ist anzunehmen,
dass häufige Ernährung mit Hundefleisch der menschlichen Aus-
dünstung eine veränderte Beschaffenheit giebt; und dass diese ge-
nügt, um die Hunde feindlich gegen solche Menschen zu stimmen,
das ist eben die interessante Thatsache, welche mit der ander-
weitigen instinctiven Erkennung von Feinden in eine Reihe gehört.
Auf S. 20 findet Schmidt dasjenige, was ich aus den bei-
gebrachten Beispielen herauslese, „im höchsten Grade un-
kritisch." Er bestreitet nicht, dass die vordere Hälfte zer-
schnittener Wespen, Ohrwürmer und Ameisen noch lange das Be-
wusstsein behält und in alle möglichen Gegenstände einbeisst, eben-
sowenig, dass das Hintertheil so weit es mit Stachel versehen ist,
mit den Stachelmuskeln heftig arbeitet; aber er bezweifelt, dass
Kampftrieb und Zorn und Wuth, d. h. Affecte des Willens, mit die-
sen Erscheinungen etwas zu thun haben, und substituirt bei dem
Hintertheil blosse „Reizung des Nervensystems" als Ursache der
Muskelcontractionen, während er vermuthet, dass das Vordertheil
„wohl vor Schmerz" um sich beisst. Wenn Herr Schmidt von einem
Menschen einen Schlag in's Gesicht erhält und denselben sofort mit
der Faust zu Boden streckt, so wird man ohne Unrichtigkeit sagen
können, dass sein Faustschlag eine aus „Reizung des Nerven-
systems" entspringende reflectorische Action war; dies beweist aber
*) Verfasser von „Der Kampf um's Dasein am Himmel" 2. Aufl. Berlin 1876.
der naturwissenschaftl. Grandlagen der Phil. d. Unb. 395
nichts dagegen, dass sein Wille sich dabei im Affect des Zornes
und der Kampflust befand. Wenn schon das gemarterte Insect
zweifelsohne Schmerz empfindet, so habe ich doch noch nie gehört,
dass es eine Aenssernng des Schmerzes sei, wflthend auf jeden
vorgehaltenen Gegenstand loszubeissen , vielmehr pflegt man ans
einem solchen Verhalten auf einen durch den Schmerz erregten
Affect des Zorns, des Vergeltungstriebes, der Selbstverteidigung
durch Kampf u. 8. w. zu schliessen. Dieser Schluss ist um so mehr
gerechtfertigt, wenn es sich um Thiergattungen handelt, welche,
wie die Ameisen, durch ihren hochorganisirten Kampftrieb, oder
wie die Wespen, durch ihren zornigen Vergeltungstrieb gegen An-
griffe jeder Art bekannt sind; denn man hat keinen Grund, anzu-
nehmen, dass die Affecte eines ungetheilten Insects bei der Theilung
plötzlich aus der Welt verschwinden. Da nur das Vordertheil des
so gemarterten Insects Bewusstsein und Sinneswahrnehmung behält,
so wird es, wenn das abgeschnittene Hintertheil in den Bereich
seiner Gesichts Wahrnehmung gelangt, dasselbe für ein fremdes leben-
des Wesen halten, und da sein Verstand nicht ausreicht, um den
Urheber seiner Schmerzen deutlich zu unterscheiden, so wird es
seine Wuth auch an diesem Object auslassen, d. h. es mit seiner
Zange anfallen, und in dieser Kampflust um so mehr bestärkt wer-
den, als letzteres den Kampf mit dem Stachel aufnimmt. Ich sehe
in dieser naturgemässen Auffassung nichts Unkritisches, wohl aber
in derjenigen Schmidt's, welcher die Affecte in einem so gemiss-
handelten Insect leugnet, und ein Beissen vor Schmerz ohne Willens-
betheiligung annimmt.
S. 51 nennt Schmidt es einen „colossalen Unsinn", dass ich
von primitiven Fischformen spreche, die neben äusserem Schalgertist
ein primitives inneres Knochengerüst besassen (Ph. d. Unb. II. 235).
Er bestreitet zwar nicht, dass „die ältesten bekannten fischartigen
Thiere" so eingerichtet waren (52), aber er bestreitet ihre Abstam-
mung von den Grustaceen, obwohl er zugiebt, dass man zur Ver-
meidung dieser Annahme für diese ältesten bekannten Fische unter
Darwin „eine Beihe von Tausenden von Urahnen", eine „in den
metamorphischen Gesteinen spurlos begrabene Ahnenreihe" als voraus*
gegangen postuliren müsse (52). — Man kann Darwin die Be-
hauptung, dass diese Primordialfauna keineswegs die Urfauna ge-
wesen sei, bereitwilligst als selbstverständlich zugeben, ohne dass
396 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
doch damit irgend etwas über die Frage entschieden wäre, ob diese
primitiven Fischformen sich ans Grnstaceen oder ans nackten (von
Weichthieren abstammenden) Fischen entwickelt haben. Es wird
schwer sein, diese Frage zu einer sicheren indnctiven Entscheidung
zu bringen, da zn weiter zurückgreifenden paläontologischen Funden
nur sehr geringe Aussicht vorhanden ist. Thatsächlich wurde der
Cephalaspsis anfäglich für einen Trilobiten angesehen, weil sein
Kopf mit einem halbmondförmigen Schilde besetzt ist, und die vor-
handenen Schuppen wie die Ringe eines Trilobitenrumpfes über-
einanderliegen. Auch die Ruderorgane des Pterickthys, eines andern
Panzerfisches der devonischen Zeit, gleichen den Krebsfüssen, nnd
der Kopf dieses Thieres zeigt eine bewegliche Einlenkung in
den Rumpf, wie sie sonst bei Fischen nie vorkommt. Wenn keine
genealogische Verwandtschaft zwischen Panzerfischen und Krebsen
besteht, so bietet der Fall mindestens ein sehr interessantes Beispiel
von ideeller Verwandtschaft durch analoge Entwickelung auf ganz
verschiedenen Stufen. Es mag sein, dass die von Schmidt vertretene
Ansicht aus systematischen Rücksichten auf die vermuthlich mono-
phyletische Abstammung des Wirbelthierenreichs mehr Wahrschein-
lichkeit für sich hat, und dieses Bedenken war mir auch stark
genug, um mich von der Aufnahme einer ähnlichen Bemerkung in
meine Darwinismusschrift abzuhalten. Um so weniger hätte dieser
Punkt von Schmidt zum Angriffspunkt gewählt werden sollen, als
derselbe einer empirischen oder streng inductiven Entscheidung
kaum fähig scheint, und uns auf rein hypothetische Vermuthungen
und Postulate anweist. Bekanntlich sind die Anhänger der Des-
cendenztheorie unter einander über nichts weniger einig als über
die Stammbäume des Wirbelthierreichs ; die Mehrzahl hält die Frage
überhaupt noch nicht für spruchreif, und von den übrigen gehört
ein beträchtlicher Theil gleich Schmidt zur Haeckel'schen Schule,
aber doch nicht, ohne dem Widerspruch ganz entgegengesetzter
Aufstellungen zu begegnen.*) In solchen Fragen mit „colossalem
Unsinn" und „lächerlichen Angaben" (78) um sich zu werfen, beweist
ebenso viel Mangel an guter Erziehung als Ueberfluss an verblen-
detem Parteifanatismus. Ich selbst neige, wie gesagt, seit der
*) Ich erinnere nur an den neuerlichen Versuch Semper's, die Abstammung
der Wirbelthiere von den Ringelwürmern nachzuweisen.
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 397
Veröffentlichung von Haeckers Gasträatheorie zu dessen monophy-
letischer Hypothese, zu welcher vorher keinerlei zwingende Gründe
vorlagen. Uebrigens erkläre ich mich zur Entscheidung von Streitig-
keiten zwischen Vertretern verschiedener Richtungen des Descendenz-
theorie incompetent, und überlasse den Austrag solcher Differenzen
gern den Fachmännern. Ich verlange aber auch von den Fach-
männern, dass sie nicht aus Parteifanatismus meine Wissenschaftlich-
keit in Frage stellen, wenn ich die Ansichten der verschiedenen
Sichtungen unparteiisch zusammengefasst habe, wie in dem Satz
(Ph. d. Unb. S. 227), dass die Fische sich aus Ascidiern, Würmern
und Grustaceen entwickelt haben, den ich übrigens, wie gesagt, heute
nicht mehr schreiben würde, und in meiner Darwinismusschrift that-
sächlich verlassen habe.
Ich habe somit gezeigt, dass die Einwendungen Schmidt's gegen
specielle Deutungen zum Theil auf Mangel an Ueberlegung beruhen,
zum Theil sich gegen Deutungen richten, die ich selbst in meinen
späteren Schriften zu vertreten aufgehört habe, in keinem Falle
aber das Maass wissenschaftlicher Meinungsverschiedenheit, wie es
zwischen den Vertretern der Naturwissenschaft unter einander be-
steht, überschreitet, und dass die von ihm angefochtenen Deutungen
allemal auch von namhaften Naturforschern vertreten werden. —
Wir gelangen nunmehr endlich zu der eigentlichen Aufgabe der
Schmidt'schen Brochure der Kritik der Thatsachen, auf welche die
Phil. d. Unb. sich stützt. Wenn ich bisher alles irgend Erwähnens-
werthe erwähnt habe, so mache ich es mir für das folgende zur
Pflicht, unbedingte Vollständigkeit in der Aufzählung der
bemängelten Thatsachen zu beobachten.
7. Angefochtene thatsitchliche Angaben.
Der Vollständigkeit halber geschieht es, wenn ich zunächst
erwähne, dass Schmidt mir vorwirft, bei der Auseinandersetzung
der für die Flüssigkeit der Grenzen von T hier reich, Pflanzenreich
und Protistenreich angeführten Thatsachen liefen zahlreiche (!) Miss-
verständnisse und Unrichtigkeiten mitunter, welche er aber selbst
als unerheblich für das Ganze bezeichnet (56). Es ist aber
daraus beiläufig zu schliessen, dass die weiterhin aufzuzählenden
Thatsachen, welche er als unrichtig zu kennzeichnen der Mühe
398 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
werth findet, ihm nicht als unerheblich für das Ganze erscheinen
müssen, was, wie wir bald sehen werden, auf Schmidt's Urteils-
vermögen in Betreff der Erheblichkeit oder Unerheblichkeit ein
eigentümliches Licht wirft. Nun hat aber Schmidt im Text bei
dem Worte „Unrichtigkeiten" ein Verweisungszeichen auf eine Fuss-
note eingeschaltet, so däss man dort einige Andeutungen zu finden
hofft, wo die Unrichtigkeiten stecken. Leider wird diese Hoffnung
getäuscht; nicht den Vorwurf von Unrichtigkeiten, sondern nur den
von Missverständnissen sucht er zu begründen, und zwar durch die
Vermuthung, dass ihm schiene, als ob mir die Identität
zweier an verschiedenen Stellen mit verschiedenen Worten bezeich-
neten Organismen unbekannt wäre. Bei einem Autor von den
schriftstellerischen Qualitäten des Herrn Schmidt dürfte dieses Ver-
halten einen hinreichend sicheren Schluss darauf gestatten, dass es
mit der Behauptung von „Unrichtigkeiten" an der fraglichen Stelle
selbst in seinen eigenen Augen eitel Wind sei.
Auf S. 36 bestreitet Schmidt eine Thatsache, die ich nirgends
behauptet habe. Er sagt: „Von einem Ersatz der Flossen, wenn
Musculatur- und Skeletttheile in Mitleidenschaft gezogen
werden, woran nach Hartmann's Worten doch gedacht
werden müsste, ist keine Rede." Da ich bloss ganz allgemein
von der Reihenfolge des Ersatzes abgeschnittener Flossen ge-
sprochen (Ph. d. Unb. I. 125), und die Frage, inwieweit die Mit-
leidenschaft von Musculatur- und Skeletttheilen den Ersatz der
Flossen beeinträchtigt oder verhindert, ganz unberührt gelassen habe,
so ist unersichtlich, was Herrn Schmidt dazu berechtigt, mir zn
unterstellen, dass ich das Abschneiden der Flossen in einem Sinne
gemeint hätte, bei welchem die Behauptung des Wiederersatzes
unbegründet wird. Das bei den Haaren herbeigezogene Missverständ-
niss ist um so unbegreiflicher, als Schmidt den Wortlaut meines be-
treffenden Satzes abdruckt (34—35). Wie tief der Schnitt bei Fischen
geführt werden darf, wenn noch Regeneration der Extremitäten ein-
treten soll, *) das ist für meine Zwecke ganz unerheblich, und deshalb
*) Nach Philippeaux darf man bei Tritonen (also einer höheren Thier-
ordnung) freilich nicht die Extremität im Gelenk auslösen, aber man braucht
doch nur einen unbedeutenden Stummel, z. fi. ein Stück Schulterblatt, stehen
zu lassen, wenn man den Ersatz offen halten will.
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 399
wäre es fehlerhaft von mir gewesen, meine Darstellung mit specia-
len Angaben darüber zu belasten. Was ich in der Stelle allein
behauptet habe, die bestimmte Reihen folge im Ersatz der Flossen,
hat Schmidt nicht nur nicht bestritten, sondern sogar acceptirt, in-
dem er es zu erklären versucht.*)
Wir kommen nun zum ersten Fall, wo Schmidt einer von mir
behaupteten Thatsache widerspricht, und hier zeigt sich, dass sein
Widerspruch nicht auf neueren und besseren naturwissenschaftlichen
Erfahrungen, sondern auf einer Verwechselung beruht. Da es
sich hierbei also nicht einmal um wissenschaftliche Meinungsverschie-
denheit, sondern einfach um ein begriffliches Versehen Schmidt's
bei der Auffassung und Wiedergabe von Erfahrungen handelt, so
würde es, auch wenn die Ph. d. Unb. nicht stereotypirt wäre, doch
jedenfalls in der nächsten Auflage derselben heissen: „Dass solche
Pflanzen durch von den Blättern resorbirte animalische Verwesungs-
producte üppiger wachsen, ist bei der Dionäa experimentell nach-
gewiesen." Wäre es wahr, was Schmidt (54) behauptet, dass das
grade Gegentheil nachgewiesen sei, so würde dies mindestens
ebenso „entmuthigend" für den Darwinismus und seine utilitaristische
Selectionstheorie wie für die Ph. d. Unb. und ihre Teleologie sein.
Dass die Dionäa bei Ausschluss jeder thierischen Nahrung
gedeihen kann, beweist nicht im Mindesten, dass sie mit Einschluss
derselben nicht noch besser gedeihen sollte. Dass die einzelnen
Blätter sich an zu viel thierischer Nahrung den Magen verderben
und in Folge dessen absterben können, darin gleichen sie ebenfalls
den Thieren. Dass aber das Absterben überanstrengter Einzelorgane
irgend etwas gegen den Nutzen ihrer normalen Function für den
Gesammtorganismus bewiese, das hat auch Schmidt's Gewährsmann **)
sicherlich nicht glaubhaft gemacht. Schmidt verwechselt also einfach
Förderung und Schädigung eines Organs (des Blattes) mit der-
jenigen des Organismus (der Pflanze). Die Dionäa wäre wahrlich
nicht der einzige Fall im Haushalt der Natur, dass die Individuen
niederer Ordnung sich opfern müssen, um die Zwecke des Indivi-
duums höherer Ordnung zu fördern.
*) In Betreff der von ihm vermissten Quellenangabe verweise ich ihn auf
das Vorwort der Ph. d. ü. S. XVU. Z. 9—12, zu vergleichen mit I 449, Z. 9— JO.
**) Munk, „Die electrischen und Bewegungserscheinungen am Blatte der
Dionaea museipula" (Leipzig 1876).
400 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
Darwin's gründliches Werk über die „Insectenfressenden Pflan-
zen" hat meine Angaben in jeder Hinsicht nicht nur bestätigt,
sondern in vielen Einzelheiten sogar übertroffen.*) Es sollte einem
so eifrigen Darwinianer wie Schmidt nicht unbekannt sein, was
Darwin zu dieser Frage in Betreff der Dionäa sagt. Derselbe macht
auf den Unterschied zwischen Drosera und Dionäa aufmerksam,
deren erstere viele Insecten nach kürzeren Zeitintervallen fängt und
verdaut, während das Blatt der Dionäa in der Regel über einem
gefangenen Insect viele Tage lang eingeschlagen bleibt, und dann
torpide ist und erst wiederum nach Verlauf vieler folgender Tage
seine Reizbarkeit zurückgewinnt (Deutsche Ausgabe S. 282 oben).
Es scheint demnach auch hier von der Natur dafür gesorgt zu sein,
dass im Durchschnitt Appetit und Verdauungsvermögen im angemes-
senen Verhältniss stehen. Dass aber die in den Nahrungssaft der
Pflanze resorbirten stickstoffhaltigen thierischen Verbindungen bei
der Dionäa ebenso wie bei Drosera für die Pflanze einen ganz er-
heblichen Nährwerth haben, das giebt Darwin durch folgenden Satz
deutlich genug zu verstehen : „Sie (die Wurzeln) dienen wahrschein-
lich, wie bei Drosera, nur zur Aufsaugung von Wasser;
denn ein Gärtner, welcher mit der Cultur dieser Pflanze sehr erfolg-
reich gewesen ist, zieht sie, wie eine schmarotzende Orchidee, in
gut durchlassendem feuchtem Moose ohne irgend welche Erde"
(ebdas. S. 259). Schmidt hat sich also (auch ganz abgesehen von
seiner gedankenlosen Verwechselung von Blatt und Pflanze) mit
diesem Versuch, mich zu berichtigen, bloss auf seinem eigensten
*) Es scheint hier der geeignete Ort, einen Angriff F. A. Lange's gegen
meine Auffassung und Darstellung des Pflanzeninstincts zu erwähnen. Derselbe
wirft mir vor (Gesch. d. Materialismus II. 279), ich hätte „mit meinen botanischen
Studien zufällig an einem Punkte Halt gemacht, welcher das Mysterium
noch in voller Unverletztheit bestehen lässt", und verweist mich in der Anmer-
kung (S. 307) auf das Journal „Der Naturforscher" und eine Anzahl Angaben,
die er zweifelsohne aus diesem Journal excerpirt hat. Abgesehen davon, dass
ich die für meine Zwecke geeigneten unter diesen Angaben in den späteren Auf-
lagen bereits verwerthet habe, kann ich versichern, dass ich den „Naturforscher 1 '
ebenso gut wie Lange seit seinem Entstehen gelesen habe (neben andern natur-
wissenschaftlichen und medicinischen Journalen), also solcher Hinweise nicht be-
darf. Es ist immer wieder der alte Irrthum der Parteiverblendung, jede von
der eigenen abweichende Schlussfolgerung für so unmöglich zu halten, dass nur
Unwissenheit im Thatsächlichen als Erklärungsgrund der vorhandenen Divergenz
übrig bleibt.
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 401
Gebiet eine arge Blosse gegeben; denn einem Darwinianer
muss die Nützlichkeit so kunstvoller Vorrichtungen zu dem
Fang und der Verdauung von Insecten von vornherein selbst-
verständlich sein.
Auf S. 20 sagt Schmidt, es sei zwar nicht zu bezweifeln, dass
geköpfte Heuschrecken die ihnen zufällig in den Weg gerathenden
Weibchen begatten, aber er bestreitet erstens die hieraus von mir
gezogene Folgerung, dass in den Rumpfganglien ein Wille zur
Begattung angenommen werden müsse, und bestreitet zweitens
die thatsächliche Angabe, dass solche geköpfte Männchen ihre Weib-
chen zum Zweck der Begattung noch längere Zeit hindurch auf-
suchen. Mir gentigt die erstere, von Schmidt eingesäumte Thatsache
vollständig zum Beweise, dass der in der unversehrten Heuschrecke
vorhandene Wille zur Begattung mit Abtrennung des Kopfes nicht
erloschen ist, also auch nicht in den Ganglien des Kopfes, sondern
in denen des Rumpfes seinen Sitz haben muss, und es ist für die
Constatirung dieses Ganglienwillens ganz gleichgültig, ob die herum-
htipfenden geköpften Heuschrecken ihre Weibchen mit Hülfe des
ihnen verbliebenen Tastsinns aufsuchen, oder ob sie nur zufällig
ihnen in den Weg kommende wahrnehmen und zur Befriedigung
ihres Geschlechtstriebes benutzen. Es käme also gar nicht darauf
an, wenn Schmidt mit der Leugnung des „Aufsuchens" als einer
unglaublichen und unkritischen „Zumuthung" Recht hätte. Aber
worauf stützt er seinen Einspruch ? Unglaublich zu sagen : lediglich
•auf die Versuche von Goltz über die Begattung geköpfter Frösche.
Voit's Tauben äusserten nach Wegnahme des Grosshirns noch
lebhaften Geschlechtstrieb durch Gurren, ohne denselben aber mit
Individuen anderen Geschlechts zu befriedigen. Geköpfte, also
sämmtlicher Hirntheile mit Ausnahme des verlängerten Marks be-
raubte Frösche vollziehen noch den Begattungskrampf, aber ohne
hinlängliches Unterscheidungsvermögen für den ihnen vorgehaltenen
Gegenstand, den sie umklammern, und ohne die Fähigkeit der Lo-
comotion. Heuschrecken dagegen besitzen die Locomotion nach
dem Verlust des Kopfes und damit die Möglichkeit, ihres Gleichen
aufzusuchen, falls die ihnen gebliebene Sinneswahrnehmung aus-
reichend ist, um diese Aufsuchung erfolgreich zu machen. Wie
kann bei solchen Unterschieden durch Experimente an Fröschen
etwas für das Verhalten der Heuschrecken bewiesen werden?
E. y. Hartmann, Das Unbewusste. 2. Aufl. 26
402 Anhang. - Oskar Schmidt'» Kritik
Es wird einem Professor der vergleichenden Anatomie nicht un-
bekannt sein, dass der Ban des Frosches dem eines Menschen weit
ähnlicher ist als dem einer Heuschrecke, dass man also ans den
Froschversuchen immer noch eher auf das Verhalten geköpfter
Menschen als auf dasjenige geköpfter Heuschrecken Schlüsse ziehen
dürfte, und doch treibt er die gedankenlose Leichtfertigkeit seiner
Kritik so weit, mich durch eine solche Verhöhnung der vergleichen-
den Anatomie meistern zu wollen, und mir vorzuwerfen, dass ich
die Lehren der beutigen Physiologie „in den Wind schlage".
Thatsächlich ergiebt sich aus den Froschversuchen von Goltz
(ebd. S. 28) nur das Eine, dass das Centrum der Begattungsfunctionen
nicht im Gehirn, sondern im Rückenmark in der Höhe der drei
obersten Wirbel liegt, und dass der Wille zur Vollziehung der Be-
gattung auch dem geköpften Frosch verbleibt, obwohl der Verlust
der Locomotionsfähigkeit und des sinnlichen Unterscheidungsvermö-
gens das Zustandekommen der normalen Befriedigung des Triebes
in die Gunst äusserer Umstände stellt. Dies stimmt damit tiberein,
dass auch bei den höheren Säugethieren das Gentrum für die Erec-
tion und Ejaoulation im verlängerten Mark liegt. Beides bestätigt
meine Behauptung, dass der potentielle Geschlechtstrieb und dessen
Actualität, d. h. der Wille zur Begattung, ihren Sitz nicht im Ge-
hirn, sondern in untergeordneten Nervencentris hat, wie dies bei
Blödsinnigen und Wahnsinnigen recht deutlich zu Tage tritt, insofern
die Herrschaft der höheren Triebe über die niederen, oder physio-
logisch ausgedrückt: die Hemmungsströme des Grosshirns auf die
Reflexe des verlängerten Marks, geschwächt oder aufgehoben sind.
Gilt dies schon für das centralisirte Nervensystem der Wirbelthiere,
so wird es in noch weit höherem Grade bei Wirbellosen der Fall
sein, wo die verschiedenen Ganglien weit selbstständiger von einan-
der fungiren. Wenn nach Goltz ein des Grosshirns und der höheren
Sinneswahrnehmung zugleich beraubter männlicher Frosch noch den
ihm mit ausgestopften Männchen gespielten Betrug durch die Fein-
heit seines Tastsinnes und seines Unterscheidungsvermögens entdeckt
(Goltz S. 33—36), so ist es sehr wohl möglieb, dass auch geköpfte
Heuschrecken, welche, wie Herrn Schmidt nicht ganz unbekannt sein
dürfte, weder Grosshirn noch Vierhügel, noch Kleinhirn besitzen,
ähnliche Leistungen des Tastsinns mit den ihnen verbliebenen Ganglien
zu vollbringen vermögen, obwohl sie solcher zur Wahrnehmung
der naturwisse nschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 403
der bei ihrem Herumsachen angetroffenen Weibchen kaum in glei-
chem Grade bedürfen.
Auf S. 17 — 18 druckt Schmidt die über den Stisswasserpolypen
(Hydra) handelnde Stelle der Ph. d. Unb. (I. 54) ab, mit dem Be-
merken, dass er zu seinem Bedauern die Quelle, der ich „diesen
kleinen Roman" entlehnt, nicht habe finden können. Der einzige
Gewährsmann, welchen er bei seinem Widerspruch an dieser Stelle
namhaft macht, ist Trembley. Nun ist aber gerade Trembley die
Quelle dieses „Romans", obschon nicht direct, sondern durch Ver-
mittelung Burdach's und Fechner's. Theils weil mir von Trembley's
Werk nur die französische Ausgabe*) zugänglich geworden ist, theils
der Kürze halber führe ich die Stellen aus Burdach und Fechner
an, aus denen ich seinerzeit selbst geschöpft habe, und in deren
ersterer auf die Seitenzahlen der deutschen Ausgabe Trembley's
verwiesen ist. Burdach's „Blicke in's Leben" (Leipzig 1842)
Bd. I. S. 143 — 144: „Der Armpolyp, dem jedes besondere
Sinnesorgan abgeht, nährt sich von allerhand kleinen Thieren, die
im Wasser schwimmen; er bemerkt sie schon, wenn sie noch sechs
bis acht Zoll von ihm entfernt sind, sobald sie sich be-
wegen, indem er den dadurch auf das Wasser hervorgebrachten
Druck fühlt, und macht dann einen Strudel, um sie herbei-
zuziehen und sie dann mit seinen Armen packen zu können
(A. Trembley's Abhandlungen zur Geschichte einer Polypenart des
süssen Wassers. Uebers. u. mit Zus. von J. A. C. Göze. Quedlin-
burg 1775 S. 115). Steht das Glas, worin man ihn hält, ganz im
Dunkeln oder Hellen, so ändert er seinen Platz nicht ; steht es aber
so, dass nur die eine Hälfte beleuchtet ist, so begiebt er sich aus
der dunklen dahin (ebenda S. 96 fg.); er erhält also, während er
im Dunkeln ist, einen Eindruck von dem fernen beleuchteten Raum ;
und dass nicht eine einzelne Stelle seiner Oberfläche eine solche
Empfindlichkeit besitzt, zeigt sich, wenn man ihn durchschneidet,
indem dann das eine, wie das andere Stück dem Lichte nachgeht
(ebenda S. 326). — Der Polyp sieht seine Beute nicht, denn er
verhält sich ganz passiv gegen sie, sobald man eine Glastafel da-
*) Memoire pour servir a l'histoire dun genre de polypes d'eau douce,
h bras en forme de corne. Par M. Trembley, de la socie'te' royale de Londres.
2 vol. Paris chez Durand 1744.
26*
404 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik
zwischen hält; aber er unterscheidet wohl, ob die im Wasser
entstehende Bewegung von einem lebendigen Thiere herrührt,
das ihm zur Nahrung dienen kann, oder nicht." Gleichfalls auf
Trembley als seine Quelle beruft sich Fechner in seiner Schrift „Nanna"
(Leipzig 1848) S 247: „Wird ein ausgestreckter Armpolyp (Hydra) be-
rührt, oder das Wasser, in dem er sich befindet, erschüttert, so zieht er
sich plötzlich zu einem kleinen Klümpchen zusammen, gewiss ein
Zeichen lebhafter Empfindlichkeit. Er geht dem Lichte nach, und
stellt man ein Glas mit mehreren Polypen hin, so findet man nach
einiger Zeit alle an der Lichtseite hängen. Der Polyp hat also
mehrererlei Sinnesempfindungen. Er ist ungeheuer gefrässig, hascht
begierig mit seinen Fangarmen umher nach Beute, und zwei Polypen
streiten sich öfters um selbige. Das sind doch Zeichen lebhafter
Begierden. Er wählt und unterscheidet sehr bestimmt seine Kost,
indem er bloss thierische Kost geniesst, Pflanzenkost zurückweist;
auch unter der thierischen Kost macht er Unterschiede, indem er
namentlich Polypen der eignen Art gar nicht ergreift, auch wenn
man ihn hungern und diese auf seine ausgebreiteten Arme fallen
lässt, während er Thierchen, die er gern frisst, bei der ersten Be-
wegung ergreift. Hier zeigt sich deutliche Unterscheidungsgabe."
(Vergl. hierzu die französische Ausgabe Band I., p. 222—239).
Ist dies „ein kleiner Roman", so sind es Naturforscher, die ihn ge-
dichtet haben, und nicht ein Philosoph. Die Autorität Oskar Schmidt's
allein wird nach den gegebenen Proben seiner Talente und seiner
Sorgsamkeit wohl schwerlich ausreichend scheinen, diese Angaben so
bewährter Forscher *) umzustossen. Uebrigens würden meine Schluss-
folgerungen durch eine etwaige Ungenauigkeit der zusammengestell-
ten Beobachtungen umsoweniger berührt werden, als Schmidt's
*) Wer etwa meinen sollte, dass Trembley, weil eine alte, auch eine ver-
altete Quelle sei, der sei durch folgenden Ausspruch Kleinenberg's in seinem
Werke „Hydra" (Leipzig bei Engelmann 1872) eines Besseren belehrt: „Mit Recht
bezeichnet daher Carl Ernst von Baer in einer seiner schönen Heden das Er-
scheinen der meisterhaften Trembley 'sehen Arbeit als den Beginn einer neuen
Epoche der gesammten Physiologie. Und so genau waren die Beobachtungen
Trembley's, so umfassend und von so strenger Kritik geleitet seine Ver-
suche, dass alle die vielen Nachfolger seine Untersuchungen kaum in ihrer Voll-
ständigkeit zu wiederholen, noch weniger aber Neues ihnen hinzuzufügen ver-
mochten. Nur der Nachweis der geschlechtlichen Fortpflanzung des Thieres durch
Pallas und Ehrenberg ist als ein wesentlicher Fortschritt zu betrachten" (S. 1).
der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 405
eigne Darstellung des Verhaltens des Armpolypen (S. 18)
mehr als ausreicht) um dieselben zu stützen, so dass seine
Einwendungen auch hier nur den Charakter einer zwecklosen
Nörgelei haben.
Wir sind mit der Durchwanderung der Schmidt'schen Brochure
zu Ende. Von allen Ergänzungen, welche er zu der anonymen
Schrift über das Unbewusste beizubringen versprochen, hat sich
nichts als stichhaltig erwiesen, ganz abgesehen davon, dass seine
sachlichen Einwendungen fast ausnahmslos Punkte betreffen, welche
für die philosophischen Folgerungen unerheblich sind. Dagegen hat
der Naturforscher sich dem Laien gegenüber mehr als eine Blosse
gegeben, also wie der Richter im „zerbrochenen Krug" nur seine
eigenen Schwächen herausinquirirt, und hat insbesondere an mehre-
ren Stellen gezeigt, dass er den Geist der Descendenztheorie, welche
er zu vertreten vorgiebt, in verständnissloser Weise verleugnet.
Sollte also die ganze Arbeit Schmidts resultatlos sein ? nein ;
die Gerechtigkeit erfordert das Eingeständniss, dass er doch wirk-
lich einen Fehler der Philosophie des Unbewussten nachgewiesen
hat, nämlich den, dass der Polyp sich zwar nach dem Lichte hin
bewegt, aber nicht rudernd sondern kriechend, und diese
Berichtigung scheint allerdings wichtig genug, um eine Brochure
von 86 Seiten über „die naturwissenschaftlichen Grundlagen der
Phil. d. Unb." in die Welt zu setzen.
Ziehen wir das Resum6 unserer Betrachtung, so möchte niemals
Mühe und Zeit eines Schriftstellers so vergeudet worden sein, als
bei dieser Widerlegung der Schmidt'schen Kritik, wenn man dieselbe
lediglich nach ihrem positiven inneren Werthe betrachtet, der gleich
Null ist. Wenn ich gleichwohl einem so gedankenlosen und leicht-
fertigen Machwerk eine Ehre angethan habe, die es nicht verdient,
so geschah es wesentlich aus Dankbarkeit gegen den Verfasser.
Denn, so sagte ich mir, wenn das hier Vorgebrachte Alles, oder
auch nur das Wichtigste von dem ist, was gegen die natur-
wissenschaftlichen Grundlagen der Phil. d. Unb. von fachmännischer
Seite vorgebracht werden kann, so müssen dieselben sich einer
nahezu unantastbaren Solidität erfreuen, wie ich es bisher
nicht entfernt zu hoffen gewagt hätte. Und diese wohlthuende Be-
ruhigung meinem naturwissenschaftlichen Laiengemüth verschafft zu
haben, dafür fühle ich mich Herrn Professor Schmidt aufrichtig
406 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik d. naturw. Grund!, d. Ph d. ü.
verpflichtet Zugleich aber wollte ich nicht unterlassen, den Fach-
genossen des Herrn Schmidt klar zu machen, dass diese erste
ausführliche Kritik der Phil. d. Unb. ans der Feder eines „wirk-
lichen Naturforschers" ein trauriges testimonium paupertatis für die
gesammte heutige Vertreterschaft der Naturwissenschaft ist und eine
dringende Aufforderung für dieselbe enthält, die erlittene Scharte
so bald als möglich auszuwetzen, d. h. zu den zeitbewegenden
Problemen der Philosophie eine minder unfähige Stellung zu gewin-
nen. Möge dieses ganze Buch wie sein Anhang dazu beitragen,
ihnen die Erfüllung dieser Aufgabe — gleichviel ob in zustimmendem
oder gegnerischem Sinne — zu erleichtern, dann wird es nicht ver-
gebens geschrieben sein.
II. Sltlln». ftatibiliirg.
Inhaltsverzeichnis^
Seite
Vorwort zur zweiten Auflage , . . . . 3
I. Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl 21
Die deutsche Philosophie und die Descendenztheorie 21
Unabhängigkeit der Descendenztheorie von der Theorie der natür-
lichen Zuchtwahl . . , 23
Unzulänglichkeit der Theorie der natürlichen Zuchtwahl 25
Hauptgründe für die Descendenztheorie 28
II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie .... 32
Fortschreitende Elimination des Wunderbegriffs 32
Die teleologischen Eingriffe der Philosophie des Unbcwussten ... 35
Die natürliche Zuchtwahl bei der Urzeugung 37
„Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur?" . . 41
Die Zweckmässigkeit als Resultat mechanischer Compensations-
processe 45
HL Die Entwickelang vom Standpunkte der Descendenztheorie . . 51
Der Weltzustand als Anpassungs-Gleichgewicht 51
Der Verlauf der Bewohnbarkeit der Erde 53
Die „Entwickelung" der irdischen Organisation als Folge des Günstiger-
werdens der Bewohnbarkeitsverhältnisse der Erde 55
Die Relativität der Entwickelung 57
Unhaltbarkeit des geocentrischen und anthropocentrischen Stand-
punktes 61
IT. Gehirn nnd Intelleet 65
Idee und Idealismus 65
Entstehung und Functionirung von Vorstellungsprädispositionen im
Gehirn . ' 68
Stimmungen, Interesse und Aufmerksamkeit bei der Ideenassociation 71
408 InbaltsverzeichnisB.
Säte
Das Bewusstsein als Summationsphanomen 73
Die Ineinanderschachtelung der Bewusstseine verschiedener Ordnung 75
Die Innerlichkeit oder Subjectivit&t der Atome 77
Lust und Unlust in den Atomen 81
Entstehung der Empfindung im Gehirn 82
Unnahbarkeit eines psychischen Hintergrundes der Vorstellungen
ausser der Subjectivität der Atome des Hirns 85
Ausschluss der Teleologie bei der Theorie der Bewusstseinsentstehung 89
T. Charakter und Wille 92
Die charakterologischen Triebe als Hirnprädispositionen 92
Der Individualwille als Summationsphanomen der Atomwillen des
Gehirns 95
Unnahbarkeit hinzukommender metaphysischer Willenseingriffe . . 98
Psychische Mauserung 104
Tl. Die Vererbung, insbesondere des Charakters 106
Mechanische Entstehung der Vererbung 106
Latente Vererbung 110
Polymorphismus 113
Vererbung geistiger Eigenschaften 116
Vererbung individuell erworbener Eigentümlichkeiten 118
VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten 121
Ererbter und erworbener Charakter 121
Charakter und Gedächtniss 122
Ererbte schlummernde Gedächtnissvorstellungen als Inhalt charakte-
rologischer Prädispositionen 126
Ererbte körperliche Fertigkeiten 128
Unhaltbarkeit einer metaphysisch-teleologischen Erklärung derselben 129
Erererbte geistige Fertigkeiten und Talente 132
VIII. Die Abkürzung der Ideenassociation und die Vererbung der
Denkformen 137
Die praktische Bedeutung der Ideenassociation und derProcess ihrer
Abkürzung 137
Die abgekürzte Ideenassociation im Sprachgefühl 140
Dieselbe in der Mathematik 142
Dieselbe in den abstracten Begriffen und Worten 144
Die typischen Denkformen und Denkgesetze 147
Die Genesis der subjeetiven Vernunft durch mechanische Compensa-
tionspiocesse 151
Die physiologische Begründung des A priori 153
IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit ... 157
Die Entwickelung der Tiefen dimeosion 157
Die Anschauung als unbewusste Einheit von Empfindung und synthe-
tischer Construction 160
Inhalt*verzeichniss. 409
S«it«
Teleologischer Eingriff oder allm&bllche Anpassung an* das praktische
Bedürfniss? 162
Aeltere und stärkere Befestigung der Prädispositionen für die erste
und zweite Dimension . . . ... . . . * 165
Umwandlung des discreten Empfindungsmosaiks in- das continuiriiche
Anschauungsbild 167
Unterschied des Empfindungsmosaiks des Auges von anderen zwei-
dimensionalen . Empfindungscompteien V71
Die räumliche Flächenanschauung als anschauliche Perceptlon eines
scheinbar continuirlichen zweidimensionalen Empfinduagscomplexe/B 173
Das Ordnen des Empfindungscomplexes nach zwei Dimensionen . . 174
Gesichtsempfindungen bei niederen Thieren 175
Die Causalität als ererbte Hirnfunction 177
Die Causalitätsfunctjon bei niederen Thieren . . 179
X. Der Instinet als ererbte Hirn« und Ganglienprädisposition . . 182
Jnstinct und Uebung . 182
Der Instinet als Resume* der bisherigen Resultate 184
Der Grundfehler der Philosophie des Unbewussten . . ..... . . 187
Polymorphe Instincte 188
Relativität der Zweckmässigkeit des Instincts 190
Ueberflüssigkeit teleologischer Eingriffe . . . . 192
Einflups der natürlichen Zuchtwahl auf die Entstehung des Instincts 194
Einfluss der bewussten Ueberlegung auf die Modificationen der In-
stincte , . 196
Kukuksei und Bienenzelle 198
Cooperative Instincte ..*.,.,., 200
Instincte der Nahrungswahl, Feindesfurcht, Fortpflanzung und des
Witterungsvorgefühls 201
XI. Die Instincte der untergeordneten Centralorgane des Nerye,n->
Systems . , 205
Selbstständige Functionen niederer Nervencentra 205
Die Reflexbewegungen als Functionen von Hirn- und Ganglien-Prä-
dispositionen 308
Nachweis teleologischer Irrthümer in Bezug auf Reflexbewegungen .' ill
Einfluss der Ganglien auf vegetative Functionen 214
Die Naturheilkraft als ererbte Ganglienprädispositionen zu bestimmten
vegetativen Functionen . 218
Die vegetativen Functionen im Embryo bedingt durch ererbte Prä-
dispositionen der Zeugungsstoffe , . . 220
Unvollkommenheit der zweckmässigen Mechanismen 222
XII. Das Unbcwusste 226
Das Unbewusste als Subject der teleogischen Eingriffe 226
Das relativ Unbewusste (Bewusstsein niederer Ordnung) 230
Das physiologische Unbewusste (Hirn- und Ganglien-Präsdisposition) 231
Das metaphysische Unbewusste (Subject der physischen und psychischen
Atomfunctionen) 233
410 Inkalteteraeichniss.
Seite
Sind die Naturgesetze teleologisch oder bloss logisch noth wendig? . 235
Kritik der Eigenschaften des Unbewussten nach Cap. C. I der Philo-
sophie des Unbewussten 241
Lebensgier und Kraftknauserei des Unbewussten 244
Allwissenheit und Allweisheit des Unbewussten 247
Anmerkungen zur zweiten Auflage .251
Allgemeine Yorbemerkungen 253
1. Die Transcendenz der Natur 254
2. Der Geist als Schlüssel zur Natur 258
3. Die Natur als Mittel für den Oeist 260
4. Die Natur als Durchgangspunkt des absoluten Geistes 263
5. Theoretischer und praktischer Idealismus 206
6. Mechanistische und idealistische Naturphilosophie 269
7. Ideelle Resultate und natürliche Vermittelung 273
8. Die Kritik vom Standpunkt der Physiologie 275
9. Die Kritik vom Standpunkt der Descendenztheorie 278
Anmerkungen zu Capitel 1 282
Anmerkungen zu Capitel II. 283
Anmerkungen zu Capitel III 290
Anmerkungen zu Capitel IY 295
Anmerkungen zu Capitel Y 301
Anmerkungen zu Capitel YI; . 308
Anmerkungen zu Capitel YII 322
Anmerkungen zu Capitel VIII 324
Anmerkungen zu Capitel IX 328
Anmerkungen zu Capitel X 333
Anmerkungen zu Capitel XL , 342
Anmerkungen zu Capitel XII 346
Anhang 363
Oskar Schmidt's Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen
der Philosophie des Unbewussten 363
1. Teleologie und Causalitat 366
2. Mechanische und organisatorische Ursachen . .' 370
3. Der Darwinismus und die Philosophie des Unbewussten . . % . . 374
4. Wahrheit und Yorurtheil in der Naturwissenschaft 380
5. Schmidt's Kritik der Quellen der Philosophie des Unbewussten . 383
6. Angefochtene Deutungen von Thatsachen 388
7. Angefochtene thatsächliche Angaben 391
Druck Ton H. Sieling in Naumburg.