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Full text of "Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie"

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Das ünbewnsste 



vom Standpunkt der 



Physiologie und Descendenztheorie. 



Von 



Eduard von Hartmaiin. 



Zweite vermehrte Auflage, 



Euch es recht zu machen, ihr Herrn, 
Darauf verzichten wollt 1 ich gern, 
H&tt' ich es nur so weit gebracht, 
Dass ich mir selbst es recht gemacht. 

Bflckert. 



Berlin. 
Carl Duncker's Verlag. 

(C. Heymons.) 
1877. 



Vorwort zur zweiten Auflage* 



Vorliegende Schrift erschien in der ersten Auflage bekanntlich 
ohne Autornamen. Dass ich dieselbe, wenn ich sie überhaupt 
schreiben nnd herausgeben wollte, zunächst nicht mit meinem Namen 
veröffentlichen konnte, liegt auf der Hand. Denn entweder hätte 
ich durch meinen Namen auf dem Tittelblatt den falschen Schein 
hervorgerufen, als ob Alles in der Schrift Gesagte der Ausdruck 
meiner persönlichen Ansichten und Ueberzeugungen wäre, oder ich 
hätte durch eine hinzugefügte Bemerkung, etwa im Vorwort, diesem 
Schein vorbeugen müssen. Im ersteren Falle wäre der irrthümliche 
Glaube erweckt worden, als ob ich den Standpunkt der Philosophie 
des Unbewussten im Princip verlassen hätte; im letzteren Falle 
wäre das Buch gleich bei seinem Erscheinen vom Verfasser des- 
avouirt worden, und hätte vermuthlich, als nicht ernsthaft gemeint, 
auch keine ernsthafte Beachtung gefunden. Diese für die erste 
Auflage geltenden Gründe der Anonymität hatten aber eben auch 
nur für die erste Veröffentlichung des Buches Bedeutung. Entweder 
war die Schrift ein verfehlter Versuch, der unbeachtet in der Masse 
der Polemik gegen die Phil. d. Unb. unterging, — dann mochte 
dieselbe ihrer verdienten Vergessenheit verfallen bleiben; oder aber 
sie entsprach in ihren Erfolgen den Erwartungen des Verfassers, 
dann musste sich über kurz oder lang bei einer neuen Auflage von 
selbst eine passende Gelegenheit darbieten, den Schleier der Ano- 
nymität zu lüften, und die Gründe anzugeben, welche für die Ab- 
fassung der Schrift bestimmend gewesen waren. 



4 Vorwort zur zweiten Auflage. 

Solcher Gründe wirkten mehrere zusammen. Zunächst hatte 
ich den Wunsch, verschiedene Gedanken zur Naturphilosophie aus- 
zuarbeiten, welche theils weitere Ausführungen von schon anderwärts 
Angedeutetem enthielten, theils auch neue Andeutungen, welchen 
ich für die Zukunft einige Fruchtbarkeit zutraute. Um diese meist an 
den naturphilosophischen Theil der Phil. d. Unb. sich anschliessen- 
den Gedanken niederzulegen, fehlte es mir an einem geeigneten 
Rahmen. Zugleich fand ich einige Punkte in der Phil. d. Unbew. 
correkturbedürftig, ohne dass ich recht wusste, wie ich diese Cor- 
recturen in das einmal architektonisch abgeschlossene Werk passend 
einflechten sollte. In mehr als einer Hinsicht empfand ich die 
Schwächen dieses architektonischen Aufbaues namentlich in Bezug 
auf den physiologischen Theil, doch ohne dass ich mich schon 
damals im Stande fühlte, eine neue und solidere Untermauerung 
hinzuzufügen, wie mir dieselbe einige Jahre später in Gedanken 
heranreifte und in dem Anhang des ersten Bandes der siebenten 
Auflage ihren Platz fand. *) Unter diesen Umständen musste ich 
darauf gefasst sein, früher oder später einer Kritik von naturwissen- 
schaftlicher Seite zu begegnen, welche berechtigte Einwendungen 
erhob, die mir selbst längst bekannt waren, und welche überdies 
aus der Berechtigung solcher Einwände den Anschein schöpfen 
konnte, auch da im Rechte zu sein, wo sie über das Ziel hinaus- 
schoss. 

Aus diesen Erwägungen entsprang mir der Gedanke, einer 
solchen Kritik zuvorzukommen und die schwachen Punkte der natur- 
philosophischen Grundlegung der Phil. d. Unbew. lieber selbst zu 
signalisiren, bei welcher kritischen Arbeit ich dann zugleich den 
vermissten Rahmen finden musste, um die oben erwähnten Erweite- 
rungen und neuen Einfälle niederzulegen. 

Eine Schrift innerhalb dieser Grenzen hätte nun noch ganz 
wohl mit meinem Namen erscheinen können, obschon die Gedanken- 
losigkeit des grossen Publikums, welches von dem organischen 
Wachsen und Werden der Wahrheit keinen Begriff hat und in jeder 
kleinsten Selbstcorrectur nur das Eingeständniss der Schwäche des 
Autors und den Vorwand zur Missachtung seiner gesammten Leistun- 
gen sieht, immerhin schon dagegen bedenklich machen konnte. 



*) Vgl. Phil. d. Unbew. 7. Aufl. Vorwort S. XVII— XVIII. 



Vorwort tut zweiten Auflage. 5 

Das Publikum sieht nicht ein, dasg Philosophie Entwickelung ist, 
die nothwendig durch relative Irrthümer hindnrchführen muss, um 
za immer höheren Stufen relativer Wahrheit zu gelangen; es will 
nicht forschen, sondern glauben, nicht selber denken, sondern sich 
das Denken erspart sehen ; es will eine Wahrheit als gar gebackene 
Pastete aufgetragen haben, die es ungekaut verschlingen kann, nm 
dann das behagliche Gefühl der Sättigung mit Wahrheit zu gemes- 
sen, und macht den Philosophen für sein weggeworfenes Geld ver- 
antwortlieh, wenn sich herausstellen sollte, dass dies doch noch 
nicht die letzte und absolute Wahrheit war. Solche Bücksichten 
auf die Beschränktheit des Publikums hätten mich natürlich nicht 
abgehalten, meinen Namen hinzuzufügen, wenn ich eine Schrift 
innerhalb der oben bezeichneten Grenzen ausgeführt hätte; aber sie 
gaben den ersten Anstoss zu dem Gedanken an Anonymität über- 
haupt, und damit an eine Erweiterung des Entwurfs über die Grenze 
meiner eigenen wissenschaftlichen Ueberzeugungen hinaus. 

Es kam hinzu, dass aus dem Lager des gedankenlosen Mate- 
rialismus einige Gegenschriften gegen die Phil. d. Unb. erschienen 
waren, „welche den Standpunkt der Naturwissenschaften, den sie 
zu vertreten behaupteten, auf das Aergste compromittirten" (Vorwort 
der 1. Aufl.), und dass eine von mir anfangs erhoffte sachgemässe 
Kritik aus dem naturwissenschaftlichen Lager bis zum Erscheinen 
der 3. Auflage der Phil. d. Unb. ausgeblieben war. Hätte ich nun 
eine so begrenzte Kritik mit meinem Namen herausgegeben, so 
würden jene überaus beschränkten Materialisten darin den Schein 
einer Goncession an ihre Einwürfe gesehen haben, und würde ich 
einer wirklich naturwissenschaftlichen Kritik nur die Wege gebahnt 
haben, ohne von Seiten der Naturwissenschaft eine Anerkennung 
dafür zu finden. Da kam mir der Einfall, einmal ganz auf den 
Standpunkt der modernen Naturwissenschaft mit allen seinen moder- 
nen Vorurtheilen und der ganzen Enge seines Gesichtskreises hin- 
ttberzutreten, ihre Maske zu leihen, und unter dieser Verkleidung 
zu zeigen, wie eine Kritik der Phil. d. Unb. aus einseitig natur- 
wissenschaftlichen Gesichtspunkten aussehen müsste. 

Durch die Ausführung dieses Entwurfs musste ein mannichfacher 
Nutzen entstehen. Erstens musste die Aufstellung eines derartigen 
Musters von anständiger naturwissenschaftlicher Polemik durch den 
blossen Contraafc die ganze Armseligkeit der unpassenden Angriffe 



6 Vorwort zur iweiten Auflage. 

des bornirten Materialismus enthüllen. Zweitens zeigte ich den 
Naturforschern, welche Seiten meiner Lehren vom Unbewußten sie 
sich ohne Verlassen ihres bisherigen Standpunktes aneignen konnten 
and mussten, und setzte dadurch ein näheres Verhältnis zwischen 
der Naturwissenschaft und meiner Philosophie an Stelle des spröden 
und vornehmen Ignorirens, welches die letztere bis dahin von der 
ersteren erfahren hatte. Drittens bereitete ich an Stelle dieses pro- 
visorischen, noch mit einem unberechtigten negativen Gegensatz 
behafteten Verhältnisses für später ein positives Verhältniss voll- 
ständiger Versöhnung vor, indem ich durch das Gelingen meiner 
Verkleidung den Beweis lieferte, dass ich wohl den Standpunkt der 
modernen Naturwissenschaft gedanklich vollkommen beherrsche, 
aber nicht umgekehrt, — dass ich von der ersteren in philosophi- 
scher Hinsicht principiell nichts mehr zu lernen habe, wohl aber 
diese von mir. 

Das erste und zweite Ziel hat die erste anonyme Auflage dieser 
Schrift vollständig erreicht; die letzte und. höchste der gestellten 
Aufgaben kann selbstverständlich erst durch diese zweite mit meinem 
Namen erscheinende Auflage angestrebt werden. Der Zweck der 
Schrift wird erst dann vollständig erfüllt sein, wenn sie die Natur- 
forscher dazu bewegt, ihr Vorurtheil gegen die speculative Philoso- 
phie zu überwinden, sich ernstlich und eingehend in die Gedanken- 
gänge eines Philosophen, der die Probe des vollen Verständnisses 
ihrer Gesichtspunkte bestanden hat, zu vertiefen und die von ihm 
erstrebte Versöhnung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft 
als principiell gelungen anzuerkennen (vgl. Phil. d. Unb. 7. Aufl. 
Vorw. S. XVIII— XIX). Sollte aber auch dieses letzte und höchste 
Ziel gar nicht oder nur zum kleinsten Theil erreicht werden, so 
würde ich doch durch die Lösung der beiden vorgenannten Aufgaben 
meine Mühe für reichlich belohnt halten, ungerechnet die Förderung, 
welche ich selbst durch das gründlichere Durchdenken und Bearbei- 
ten der Probleme von verschiedenen Seiten her erhalten habe. 
Nebenher wäre immer noch das Vergnügen in Anschlag zu bringen, 
welches ich genossen habe, indem ich bei einer fünfjährigen Ver- 
borgenheit vor dem Publikum die mannichfach wechselnden Mienen 
der Neugier, der Verwunderung, des Zweifels, des Aergers u. s. w. 
beobachten durfte, und endlich würde auch die Ehre zu berücksich- 
tigen sein, dass bei der massenhaften Concurrenz von Gegen- 



Vorwort rar zweiten Auflage. 7 

schriften gegen meine Philosophie diejenige, welcher von den com- 
petentesten Beurtheilern der Preis zuerkannt worden ist, die von mir 
verfasste ist Diese Thatsache kann zugleich nach einer bestimmten 
Richtung hin als Beweis für die anderwärts (Ges. Stud. u. Aufs. 
S. 34) von mir aufgestellte Behauptung dienen, „dass keiner meiner 
Gegner die wirklichen Mängel meines Systems so klar und bestimmt 
erkannt hat wie ich" (vgl. ebenda S. 45). 

War nun einmal die Maske des Naturforschers angenommen, so 
musste die Bolle auch möglichst consequent durchgeführt werden. 
Feinere Kenner haben zwar behauptet, dass die Arbeit für einen 
Naturforscher zu viel philosophische Gedankenarbeit enthalte; in- 
dessen dieser Vorwurf gegen die realistische Treue der Maske 
musste um des verfolgten Zweckes willen mit in den Kauf genom- 
men werden, und konnte höchstens die Zahl der Personen vermin- 
dern, denen man die Autorschaft zutrauen durfte. In der That ist 
der Verdacht derselben meines Wissens ausser auf mich auch nur 
noch auf zwei Personen gefallen: auf die Professoren F. Zöllner 
und E. HaeckeL Auf mich riethen nur drei Personen, welche durch 
näheren persönlichen oder brieflichen Verkehr mit meinen intimeren 
Gedanken vertraut waren: Prof. Zöllner, Dr. Carl Freiher du Prel 
und Dr. Julius Bahnsen (der letzte war sich aber seiner Sache nicht 
sicher). Im Uebrigen hielt man ein solches Maass von Objectivität 
und gedanklicher Selbstentäusserung, wie es hier vorlag, für psycho- 
logisch unmöglich, oder doch für so unwahrscheinlich, dass meine 
Anonymität an dieser vermeintlichen Unglaublichkeit selbst dann 
noch den besten Schutz hatte, als die Vermuthung meiner Autorschaft 
durch dritte Hand bereits den Weg in die literarische Oeffentlichkeit 
gefunden hatte, und sogar durch Scheingründe gestützt worden war, 
welche jedes Gewichtes entbehrten. Wer die Schrift in ihrer 
gegenwärtigen Gestalt in die Hand nimmt, der möge des Umstandes 
eingedenk bleiben, dass trotz meines Namens auf dem Titelblatt der 
den Anmerkungen zur zweiten Auflage vorhergehende Text ein 
unveränderter Abdruck der ersten Auflage ist, also als die 
Darlegung eines Dritten erscheint, der nicht aus seiner Rolle fallen 
darf. Hieraus erklären sich denn verschiedene Stellen, welche in 
diesem Zusammenhang nicht fehlen durften, obwohl sie nicht nur 
nicht meine wahre Meinung enthalten, sondern auch in meinem 
eignen Namen gesprochen nicht für passend gelten könnten. 



8 Vorwort stur zweiten Auflage. 

Was nun das Verhältniss meiner persönlichen wissenschaftlichen 
Ueberzengnngen zu den in der anonymen Schrift niedergelegten 
Ansichten betrifft, so habe ich in so klarer und unzweideutiger 
Weise zu den letzteren Stellung genommen, dass niemand darüber 
in Zweifel sein konnte, der sich die Mühe gab, meine späteren 
Publicationen zu verfolgen.*) Zunächst hatte ich schon im Winter 
1872—73 der fünften Auflage der Phil. d. Unb. mehrere Zusätze 
gegeben, welche bestimmt waren, die Einseitigkeit des ursprünglichen 
Ausdrucks zu mildern und gegen ungünstige Interpretationen zu 
verwahren ; insbesondere aber bewiesen die namhaften Erweiterungen 
und Vertiefungen der speculativen Abschnitte des Werkes, dass 
meiner innersten Ueberzeugung nichts ferner lag, als eine Abwendung 
van der speculativen und idealistischen Metaphysik. Alsdann hatte 
ich bei der Polemik gegen Volkelt in den „Erläuterungen zur Meta- 
physik des Unbewussten" (l.Aufl.) im Winter 1873 — 74 Gelegenheit 
genommen, eine vorläufige Bemerkung in Bezug auf diesen Gegen- 
stand einzuflechten (S. 67—69 ; 2. Aufl. S. 315—317), und etwa gleich- 
zeitig erschien Dr. Moritz Venetianer/s Werk „Der Allgeist", in 
welchem derselbe zeigte (S. 82—108, auch 18—54 und verschiedene 
andere Einzelstellen), dass die anonyme Schrift überall im Unrecht 
sei, wo sie an wesentliche und principielle Aufstellungen der Phil, 
d. Unb. rühre, dass dagegen die Punkte, in welchen sie möglicher 
Weise im Rechte sei, für das System unwesentlich seien und ohne 
Aenderung seiner Grundlehren auch geändert oder beseitigt werden 
können. Da dieses Werk unter formellen Vorwänden eine weit ge- 
ringere Beachtung fand, als es sachlich beanspruchen konnte, so 
fühlte ich mich veranlasst, die in der anonymen Schrift eröffnete 
Discussion selbst weiter zu führen. Wenn jene den Titel führte : 
„Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Des- 
cendenztheorie" so musste es die Aufgabe der weiteren Dis- 
cussion sein, die physiologische und darwinistische Basis ihrer Argu- 
mentation einer erneuten und gründlichen Prüfung zu unterziehen. 
Dies that ich in Bezug auf die letztere Seite in meiner Arbeit über 



*) Wer sich über diese Frage ein Urtheil mit der Jahreszahl 1877 erlaubt, 
während er nach eigenem Geständniss in die 7. Auflage der Phil. d. Unb. und 
deren Zusätze nicht hineingeblickt hat, stellt damit nur sein Urtheil an den 
Pranger. 



Vorwort zur zweiten Auflage. 9 

„Wahrheit und Irrthum im Darwinismus", in Bezug auf die erstere 
in der Untersuchung „Zur Physiologie der Nervencentra", welche 
zusammengenommen als vollständige Gegenschrift gegen das ano- 
nyme „Unbewusste" zu betrachten sind. Dass beide ihren Gegen- 
stand in mehr selbstständiger und positiver Weise behandeln und 
die negative Polemik wesentlich durch kurze Seitenblicke von den 
erlangten Resultaten aus erledigen, kann, wie ich glaube, für den 
Fortschritt der Wissenschaft wie für das Behagen der Leser nur gleich 
erspriesslich sein. Die im Frühjahr 1874 verfasste Arbeit über 
„Wahrheit und Irrthum im Darwinismus" erschien zuerst im Sommer 
und Herbst desselben Jahres in der von Paul Wislicenus heraus- 
gegebenen Leipziger Wochenschrift „Die Literatur" und Anfangs 
folgendes Jahres als Buch; die zu Anfang 1875 geschriebene Ab- 
handlung „Zur Physiologie der Nervencentra" wurde zunächst im 
Sommer desselben Jahres in der von Eduard Reich redigirten Mo- 
natsschrift „Athenäum" (Jena bei Gostenoble) veröffentlicht, und 
dann dem ersten Bande der 7. Auflage der Phil. d. Unb. als Anhang 
einverleibt. Gleichzeitig enthielt die im October 1875 erschienene 
7. Auflage mehrfache auf den Gegenstand bezügliche Nachträge, 
welche theils im Allgemeinen zur Rechtfertigung des Standpunktes 
der Phil. d. Unb. gegenüber der Naturwissenschaft dienten, theils 
einzelne der discutirten Probleme vertieften, theils auch in einzelnen 
Punkten die Behauptungen des Textes d. Phil. d. Unb. widerriefen 
oder doch einschränkten.*) Aber selbst damit erachtete ich die 
Rechtfertigung meines Standpunktes gegenüber den Angriffen der 
anonymen Schrift noch nicht für abgeschlossen; denn gerade weil 
ich in den beiden oben genannten Hauptschriften unter Ausschluss 
von Detailpolemik nur die grundsätzliche Basis ihrer Argu- 
mentation geprüft und theils unhaltbar befunden, theils positiv berichtigt 
hatte, so blieben noch manche Einzelpunkte von grösserem oder geringe- 
rem Interesse gelegentlicher Besprechung und Erledigung vorbehalten. 
So gab ich zunächst eine populäre Ergänzung zu meiner Darwinis- 
musschrift durch einen Ende 1874 verfassten, im Sommer 1875 in 
der „Deutschen Rundschau" erschienenen und in meinen „Ges. Studien 



*) Dergleichen war in Nachträgen zur Stereotypausgabe formell ausfuhrbar, 
während es bei Bearbeitung der fünften Auflage ohne Umstossung des ursprüng- 
lichen Textes no_ch nicht thunüch war. 



10 Vorwort rar zweiten Auflage. 

und Aufsätzen wieder abgedruckten Essay über Ernst Haeckel und 
seinen Standpunkt Da ich in der anonymen Schrift wesentlich den 
Häckel'schen Standpunkt zu Grunde gelegt und dessen weitere 
Consequenzen gezogen hatte, so musste die Kritik desselben in den 
Hauptpunkten auch auf die anonyme Schrift zutreffen. Ende 1874 
bearbeitete ich die im Februar 1 875 erschienene zweite Auflage der 
Schrift über „das Ding an sich", der ich im Sommer 1875 eine kri- 
tische Studie über „J. H. v. Kirchmann's erkenntniss-theoretischen 
Realismus" zur Ergänzung nachfolgen liess. Beide Arbeiten dienen 
nicht nur einer realistischen Erkenntnisstheorie, sondern auch ebenso 
sehr einer idealistischen Metaphysik zur Grundlegung; die erstere 
wirft nebenbei auf das Verhältniss meiner Philosophie zur Natur- 
wissenschaft wichtige Streiflichter, die letztere entzieht durch eine 
genauere Untersuchung des metaphysischen Charakters der Gausalität 
der mechanistischen Weltanschauung den Boden, auf welchem sie 
festen Fuss gefasst zu haben glaubt. Im Winter 1875 — 76 schrieb 
ich einige Aufsätze gegen Frauenstädt und Bahnsen, und im Sommer 
1876 gegen Rehmke, Lange und Vaihinger, deren grösserer Theil 
vorläufig in „Unsere Zeit", „Gegenwart" und „Wiener Abendpost" 
publicirt und dann in dem Werk: „Neukantianismus, Schopen- 
hauerianismus und Hegelianismus" mit der ersten Auflage der „Er- 
läuterungen zur Metaphysik des Unbewussten" vereinigt wurden. 
Dieses ganze Buch ist eine Apologetik meines Standpunktes gegen 
die wichtigsten Richtungen der zeitgenössischen Philosophie, und 
namentlich in den Entgegnungen auf die von Bahnsen, Eehmke 
und Vaihinger gegen mich gerichteten Angriffe finden sich zahlreiche 
Berührungspunkte mit den in der anonymen Schrift erhobenen Ein- 
wendungen, auch da, wo der letzteren nicht ausdrücklich Erwähnung 
gethan ist. Eine vollständige und detaillirte Entgegnung konnte 
nach so reichlich gebotenen Hilfen wohl entbehrlich erscheinen, und 
mindestens bis zum Erscheinen einer zweiten Auflage verschoben 
werden. Um den Umfang und Preis dieser zweiten Auflage nicht 
unnütz zu erhöhen, werde ich mich deshalb auch hier so weit als 
thunlich mit Verweisungen auf bestimmte Stellen der vorerwähnten 
Schriften begnügen, in der Hoflhung, dass die Leser dieses Buches, 
denen es ernstlich um gründliche Untersuchung zu thun ist, sich die 
Mühe des Nachschlagens nicht verdriessen lassen werden 1 , auch 
wenn sie die citirten Werke früher schon im Ganzen gelesen haben. 



Vorwort zur «weiten Auflage. 11 

Für solche Leser aber, die mit meinen übrigen Schriften noch nicht 
bekannt sind, erlaube ich mir, den Anmerkungen eine allgemeine 
Orientirung vorauszuschicken, von welcher ich hoffe, dass sie ihnen 
das Verständniss des Verhältnisses zwischen Text und Anmerkungen 
erleichtern wird. 

Wer alle diese Kundgebungen, einschliesslich der Anmerkungen 
zur zweiten Auflage dieses Buches, im Zusammenhang betrachtet, 
wird eine mehr als genügende Entgegnung gegen die erste anonyme 
Auflage darin finden. Ohne Zweifel wird eine grosse Anzahl von 
Lesern, welche dem Standpunkt Haeckel's näher stehen als dem 
meinigen, sich durch alle meine Entgegnungen nicht bekehren lassen, 
und es liegt mir fern, irgend wem das Recht bestreiten zu wollen, 
dass er anderer Ansicht als ich sein könne, und dass diese Ansicht 
dem in der anonymen Schrift vertretenen Standpunkt verwandt oder 
gleich sein könne. Auf der andern Seite darf ich aber auch meiner- 
seits das gleiche Recht in Anspruch nehmen. 

Den einzig richtigen Gesichtspunkt für die Betrachtung meiner 
Argumentationen pro et contra gewinnt man, wenn man dieselben 
als eine zeitgemäss umgewandelte Form des Platoni- 
schen Dialogs ansieht, in welcher die naturphilosophischen 
Theile der älteren Auflagen der Phil. d. Unb., die anonyme Schrift 
and die Schriften zum Darwinismus, zur Physiologie der Nerven- 
centra und die nachfolgenden Anmerkungen Rede und Gegenrede 
bilden* Aller Fortschritt der Philosophie vollzieht sich dialogisch 
nm nicht zu sagen dialectisch*}, und die ganze Geschichte der 
Philosophie ist objectiv betrachtet ein einziger Dialog von vielen 
wechselnden Stimmen. Ursprünglich schrieben die Philosophen nur 
Gedichte und docirten mündlich vor ihren Schülern; die ironische 
oder fragende Methode des Sokrates war zuerst darauf gerichtet, 
durch das Gespräch als solches die philosophische Wahrheit zu 
ermitteln oder doch zu fördern. Zu einer Zeit, wo das ganze Leben 
auf mündlichem Verfahren beruhte, finden wir dies ebenso natürlich, 
als dass die ersten philosophischen Prosaschriften eine kunstmässige 
Nachbildung des mündlichen Somatischen Verfahrens darstellen. 
Aber schon in den Platonischen Gesprächen kann man erkennen, 



*) Bei Piaton ist noch beides identisch, und erst später hat der letztere 
Ansdruck eine andere Bedeutung angenommen. 



12 Vorwort zur zweiten Auflage. 

dass die eigentliche Wechselrede nur bei den Präliminarien der 
Untersuchung inne gehalten wird, während überall da, wo die 
Untersuchung den Principien auf den Leib rückt, eine Gesprächs- 
pereon in's Dociren verfällt, und den Mitunterredner auf ein mono- 
tones Jasagen beschränkt. So löst sich schon bei Piaton, namentlich 
in seinen späteren Dialogen, die Gesprächsform in sich selbst auf, 
und hat die Tendenz, die für philosophische UnterBuchungen passen- 
dere Form der Abhandlung aus sieh zu gebären. Es war ein Ver- 
kennen dieses geschichtlichen Entwickelungsganges, wenn zu allen 
späteren Zeiten der Ruhm Piatons Philosophen dazu verführte, sich mit 
einer Nachahmung der Gesprächsform abzuquälen. Was dem ersten 
grossen philosophischen Prosaisten natürlich war, mt»s für uns 
Nachgeborene unnatürlich sein, es sei denn, dass es sich um Popu- 
larisirung anderweitig ermittelter und begründeter Wahrheiten han- 
delt, für welchen Zweck die Gesprächsform immer einen gewissen 
Werth behalten wird. 

Während das Philosophiren zur Zeit des Piaton noch gewisser- 
maassen voraussetzungslos war, und sich fast nur auf den utibe- 
wussten Gedankenreichtum der Sprache stützte, erfordert dasselbe 
heut eine erhebliche Grundlage von positiven Kenntnissen sowohl 
in den Natur- und Geisteswissenschaften als auch in der Geschichte 
der Philosophie, und bedarf ganz besonders alle Philosophie, welche 
sich principiell zur induetiven Methode bekennt, einer gewissen 
Breite der Auseinandersetzung, wenn ein Grad von. Vollständigkeit 
und Gründlichkeit in der Untersuchung erreicht werden soll, bei 
dem die Förderung der Wissenschaft erst beginnt Darum erfordert 
gegenwärtig selbst ein eng begrenztes Specialthema eine Abhandlung 
von einiger Ausdehnung zu seiner einigermaassea erschöpfenden 
Behandlung, und selbst der Rahmen eines einstündigen Vortrags 
erscheint schon so knapp bemessen, dass nur ein bedeutendes Talent 
zu günstiger Stunde im Stande sein wird, der Wissenschaft durch 
denselben einen wirklichen Zuwachs zuzuführen. Deshalb beschränkt 
sich auch der Nutzen von philosophischen Einzelvorträgen fast ganz 
auf populäre Verbreitung der anderweitig festgestellten Resultate. 
Selbst innerhalb einer philosophischen Gesellschaft, wo die Mit- 
glieder einander kennen, scheitert in den meisten Fällen der Ver- 
such, durch einzelne Vorträge die Probleme zu vertiefen, weil 
einerseits notwendige Prämissen und Argumente aus Zeitmangel 



Vorwort zur «weiten Auflage. 13 

unausgesprochen bleiben, und andrerseits Allgemeinheiten als Ersatz 
geboten werden, die als solche ebenso wahr wie unwahr zu nennen 
sind. Noch unfruchtbarer gestaltet sieh natürlich die auf solchen 
Vortrag folgende Discussion, die wesentlich aus drei bis vier Dioai- 
nutiworträgen besteht, von deren jedem das über den Hauptvertrag 
Gesagte in noch erhöhtem Maasse gilt Dergleichen nachher ge- 
druckt su lesen, macht einen geradezu niederschlagenden Eindruck, 
ist aber um so lehrreicher fUr die Art und Weise, wie das Plato- 
nische Ideal des philosophischen Dialogs für die Gegenwart nicht 
erneuert werden darf. 

In einer Zeit, wo das mündliche Verfahren in der Wissenschaft 
nnr noch zum Theil das Gebiet der Jugendbelehrung eu behaupten ver- 
mag und für gereifte Forscher bloss noch in persönlichen An- 
regungen für ihre literarischen Arbeiten einigen Werth entfaltet, 
kann auch das Wesen des Dialogs, die Discussion der philosophi- 
schen Probleme sich nur noch in der schriftlichen Form von Ab- 
handlungen vollziehen, gleichviel ob solche Abhandlungen ein eng 
begrenztes Thema in möglichster Kürze untersuchen, oder ob sie 
bei der Erörterung zahlreicher Probleme in ihrem systematischen 
Zusammenhang zu Büchern anschwellen. Ist in solcher Weise eine 
fruchtbare neue Idee veröffentlicht, so finden sich alsbald berufene 
und unberufene Mitunterredner genug, die es der Mühe werth halten, 
an der Discussion theilzunehmen ; und findet die so bestrittene Idee 
in ihrem Urheber oder dessen Gesinnungsgenossen Vertheidiger, so 
ist der moderne Dialog da. Die Bedingungen, welche erfüllt 
sein müssen, um solche Wechselrede oder vielmehr Wechsel- 
schriftstellerei fruchtbar zu machen, habe ich anderwärts erörtert*); 
auch habe ich selbst in einem besonderen Werk**) eine Anzahl 
von Beispielen gesammelt, in welchen ich in fruchtbarer Weise 
eine gebotene Gelegenheit zur Discussion aufnehmen zu können ge- 
glaubt habe. 

Aber wie nun, wenn nach einer bestimmten Richtung hin die 
dialogische Discussion hochwichtiger Probleme wünschenswert!) 



*j Gesammelte Studien und Aufsätze A. II: „Ueber wissenschaftliche Po* 
lemik." 

**) Neukantianismus, Sehopenhauerianismus und Hegelianismus. Zweite 
erweiterte Auflage der „Erläuterungen zur Metaphysik des Unbewussten." 



14 Vorwort snr «weiten Auflage. 

scheint, und die äussere Gelegenheit zu solcher ausbleibt, d. h. kein 
berufener Mitunterredner seine Stimme erhebt, sondern statt seiner 
nur widriges Unkengeschrei ertönt? Soll es dann dem Autor 
verwehrt sein, diese bedauerliche Lücke selbst auszufallen, und da- 
durch der Wissenschaft und den Mitlebenden und Mitstrebenden die 
Förderung angedeihen zu lassen, welche aus einer solchen dialogi- 
schen Discussion der Probleme entspringt? Wenn der Verfasser 
eines Platonischen Dialoges das Recht hat, sich seiner Gedanken 
zu solcher Objectivität zu entäussern, dass er im Namen mehrerer 
typischer Vertreter verschiedener Standpunkte spricht, soll dann 
der heutige Philosoph nicht befugt sein, sich seiner Gedanken zu 
solcher Objectivität zu entäussern, dass er den typischen Vertreter 
eines abweichenden Standpunktes seine Einwendungen in Gestalt 
einer zusammenhängenden Abhandlung vorbringen lässt? 

Man könnte zweierlei gegen diese Auffassung geltend machen: 
erstens, dass im Platonischen Dialog nur fingirte Personen unter 
einander, aber nicht fingirte Personen mit dem Autor selbst streiten, 
und zweitens, dass der Autor sich dort von vornherein als Autor 
der gesammten Wechselreden bekennt, ohne der Vermuthung Raum 
zu lassen, dass die Gegenreden eines bestimmten Mitunterredners 
von einem andern Verfasser herrühren. Beides ist jedoch nicht 
stichhaltig. 

Auch im Platonischen Gespräch und allen seinen Nachahmungen 
kann die Objectivität des Verfassers nicht so weit gehen, um sich 
mit dem blossen Ausdruck der entgegengesetzten Meinungen zu 
begnügen und auf jedes eigentliche Ergebniss zu verzichten. Selbst 
wo die Absicht des Autors eine skeptische ist, muss doch dem 
Leser durch den Verlauf des Gespräches klar gemacht werden, 
dass nach der Meinung des Autors dieser skeptische Standpunkt 
von allen zur Sprache gekommenen der bestbegründete oder halt- 
barste sei. Es muss also auf alle Fälle eine Person an dem Ge- 
spräch theilnehmen, welche das Ergebniss des ganzen Gesprächs 
formulirt und als logisches Resultat der Discussion zur Geltung 
bringt; diese Person aber vertritt die Stelle des Autors selbst, 
gleichviel ob sie im Gespräch einen andern Namen führt, und die 
Einwendungen der Mitunterredner richten sich ganz ebenso gegen 
den Standpunkt des Autors, als wenn sie gegen Reden, Vorträge, 



Vorwort zur zweiten Auflage. 15 

Abhandlungen oder Werke gerichtet wären, welche mit dessen Namen 
herausgegeben worden sind. 

Dass nun gegenwärtig ein Autor, soweit er im Namen eines 
Mitunterredners spricht, seinen eignen Namen vor dem Publikum 
verberge, dazu liegt in der That ein sachlicher Grand gar nicht vor. 
Wäre das Publikum hinlänglich gebildet, um den Sinn und Werth eines 
solchen Verfahrens zu verstehen und zu schätzen, und gerecht 
genug, um die Motive zu demselben ohne Missdeutung zu würdigen, 
so hätte die Anonymität in solchem Falle gar keinen Sinn. Da 
ein solches Ereigniss aber allzu ungewöhnlich ist, um von der 
Mehrzahl des Publikums von vornherein richtig gewürdigt zu wer- 
den, so war in meinem Falle eine wenigstens vorläufige Anonymität 
rathsam, zumal dieselbe für den Zweck der Arbeit jedenfalls un- 
schädlich und indifferent war und für die Unbefangenheit der 
Kritik sowohl bei meinen Freunden als bei meinen Gegnern ohne 
Zweifel begünstigend wirken musste. Es ist dabei wohl zu be- 
achten, dass in der anonymen Schrift nirgends gesagt war, 
dass deren Verfasser nicht zugleich der Verfasser der Phil, des 
Unbew. sei; der Vermuthung war in jeder Hinsicht freier Spiel- 
raum gelassen, indem die Polemik nicht gegen meine Person, 
sondern nur gegen den Standpunkt der Phil. d. Unbew. gerichtet 
ist und der Name „Eduard von Hartmann" in der ganzen Schrift 
nicht ein einziges Mal genannt wird. Es handelt sich also in 
keiner Weise um Vorspiegelung falscher Thatsachen, sondern nur 
um ein Verschweigen des Namens des Verfassers, d. h. um Offen- 
haltung der Frage der Autorschaft für Jedermanns Ermessen und 
Scharfsinn; es lag keine simulatio vor, sondern nur eine dis- 
simulatio, zu welcher bekanntlich Jedermann in seinen persön- 
lichen Angelegenheiten berechtigt ist, ohne auch nur einen 
Grund anzugeben. Aber selbst diese dissimulatio war nur 
eine vorläufige, die nicht länger dauern sollte, als bis zur 
Feststellung des öffentlichen Urtheils über die Schrift, und bis zur 
Veröffentlichung der Gegenreden des Autors in seinem eigenen 
Namen. In der That ist das Geheimniss für die näher an dem 
Gegenstand interessirten Kreise seit Erscheinen der Buchausgabe 
meiner Schrift über den Darwinismus durch meine privaten Mit- 
theilungen gelüftet, und mit dem Erscheinen der vorliegenden zwei* 
ton Auflage auch für die Oeffentlichkeit definitiv beseitigt. 



16 Vorwort zur zweiten Auflage. 

Es darf nun nicht verkannt werden, welche Vorzüge ein solcher 
literarischer Dialog durch verschiedene Schriften dem Platonischen 
Gespräch gegenüber auch in Bezug auf das Maass von Objeetivität 
besitzt, welche er der Vertretung der verschiedenen Standpunkte 
verbürgt. Die Gründe hierfür sind zwiefacher Art. Um ein Ge- 
spräch zu schreiben, in welchem verschiedene und entgegengesetzte 
Standpunkte eine objectiv zutreffende Vertretung finden, muss man 
mit der gedanklichen Verarbeitung der gesammten zu behandelnden 
Gegenstände zum völligen Abschluss gelangt sein, so dass nirgends 
mehr etwas Unfertiges besteht; d. h. es muss das Gespräch nur 
das kunstgemässe Spiegelbild einer vor seinem Beginn bereits 
abgeschlossenen Gedankenarbeit sein. Bei einem Dialog 
literarischer Abhandlungen oder Bücher, dessen Abfassung und 
Veröffentlichung sich auf den Verlauf mehrerer Jahre erstrecken 
kann, braucht die Gedankenarbeit immer nur bis zu dem Funkt 
fertig zu sein, bis zu welchem die zeitweilige Veröffentlichung des 
Dialogs gediehen ist. Diese Form gestattet deshalb dem Autor, 
einen Einblick in seine Gedankenwerkstatt selbst zu gewähren, 
und ist dadurch nicht nur für jeden Anregung suchenden Selbst- 
denker weit förderlicher und lehrreicher, sondern sie ist auch 
weit treuer und realistischer trotz der auch hier unvermeidlichen 
Adoption fremder Standpunkte. Der zweite Grund einer grösseren 
Objeetivität ist aber noch wichtiger. Er besteht darin, dass bei 
der Abfassung eines Gesprächs die verschiedenen zu vertretenden 
Standpunkte vor dem geistigen Auge des Autors kaleidoskopisch 
wechseln, während im literarischen Dialog der Verfasser sich Mo- 
nate oder Jahre lang auf einen bestimmten objectiv zu vertreten- 
den Standpunkt concentriren und in denselben einseitig vertiefen 
kann. Das Verhältniss ist beim Gespräch etwa ein derartiges, 
als ob ein Anwalt in derselben Instanz desselben Processes für 
beide Parteien plaidiren sollte, während im literarischen Dialog 
demselben nur das zugemuthet wird, in einem langjährigen Process 
in zweiter Instanz die entgegengesetzte Partei zu vertreten, als der 
er sich in erster und dritter Instanz gewidmet hat. Im ersteren 
Falle wird sein Interesse und seine juristische Aufmerksamkeit 
zersplittert, und kann er jeder Partei höchstens halbe Theilnahme 
zuwenden; im letzteren Falle dagegen hat er Zeit, sich in die zu 
Gunsten jeder Partei geltend zu machenden Thatsachen und Rechts** 



Vorwort zur zweiten Auflage. 17 

Interpretationen einzuarbeiten und ftir die jeweilig zu vertretende 
Sache zu erwärmen. Im philosophischen Dialog liegt die Sache 
darum noch günstiger, weil geschichtlich und sachlich bedeutende 
Standpunkte immer auch ein gewisses Maass relativer Wahrheit 
repräsentiren , das in der höheren Synthese zu seinem Rechte 
kommen soll, wohingegen ein formaler Rechtsstreit schliesslich 
nur zu Gunsten einer Partei entschieden werden kann. In meinem 
Specialfall wurde das objective Hinübertreten auf den relativ geg- 
nerischen Standpunkt noch durch den schon oben erwähnten Um- 
stand begünstigt, dass das Resultat der ersten Instanz mir selbst 
in einigen Punkten correkturbedürftig, in vielen ergänzungsfähig 
aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten erschien, so dass mir 
das Erwärmen für den zu vertretenden Standpunkt in den drei- 
viertel Jahren, die ich ausschliesslich dieser Arbeit widmete, be- 
sonders leicht gemacht war. Man könnte vielleicht eher geneigt 
sein, zu behaupten, dass in dieser Erwärmung zu viel, als dass 
in ihr zu wenig gethan wäre, — wenn nur nicht ein solches 
Zuviel seiner Natur nach unmöglich wäre. Nur das wäre zu 
tadeln, wenn ich in der dritten Instanz, welche hier zugleich die 
höhere Synthese der beiden ersten divergirenden Resultate 
darzustellen hat, ein gleiches Maass von Wärme und Eifer hätte 
vermissen lassen, — ein bisher noch nicht erhobener Vorwurf, 
von dem jedenfalls mein subjectives Gefühl mich freisprechen 
würde. 

Die Analogie meines fraglichen Schriftencomplexes mit dem 
Platonischen Dialog kann endlich dazu dienen, den Leser daran zu 
erinnern, dass das Ganze als Darstellung der sich entwickelnden 
Wahrheit seinem Urtheil unterbreitet ist, dass er demnach Unrecht 
thun würde, sein Urtheil ausschliesslich auf einzelne Partien des 
Dialogs zu gründen, und dass auch derjenige, welcher mit meinen 
Endergebnissen nicht einverstanden ist, vielmehr dem Standpunkt 
des fingirten Mitunterredners näher steht als dem meinigen, billiger 
Weise mehr Grund finden sollte, sich der empfangenen positiven 
Anregungen zu freuen, als über die ihm gegen seine Ansicht 
vorgeführten Schwierigkeiten und Bedenken zu ärgern. Wenn 
die Wechselrede der sich befehdenden Standpunkte nichts weiter 
nützte, als die Anhänger eines jeden derselben zu erneuter und 
gründlicherer Erwägung der ihren Ansichten entgegenstehenden 

& t. HartmaiLn.Dtt Unbewwwte. 2 Aufl. ^ 



18 Vorwort zur sweiten Auflage. 

Einwürfe zu veranlassen, so wäre auch damit schon ihr Vorhanden- 
sein gerechtfertigt Ich hoffe aber zuversichtlich, dass wenn auch 
nicht alle Anhänger der entgegengesetzten Fahne sofort zu meiner 
Lehre bekehrt werden, so doch der weitere Gewinn erreicht wird, 
dass sie einsehen, die Grösse des Gegensatzes bisher überschätzt 
nnd seine Relativität nicht hinreichend gewürdigt zn haben, nnd 
dass sie zugestehen müssen, dass mein philosophischer Stand? 
punkt den begründeten Anforderungen ihres naturwissenschaft- 
lichen Credo weit verwandter ist, als von ihrer Seite im Durch- 
schnitt bisher angenommen wurde. Mit einem Wort: wenn ich 
es als eine Hauptaufgabe meines Lebens betrachtet habe, die 
moderne speculative Philosophie und die moderne exacte Natur- 
wissenschaft mit einander zu einer einheitlichen Wehanschauung 
zu versöhnen, so glaube ich, dass auf keine andere Art und Weise 
dieses Ziel hätte wirksamer gefördert werden können, als durch 
den kühnen Versuch eines solchen literarischen Dialogs. Schon 
aus diesem Grunde sollte die versuchte Umbildung des Platoni- 
schen Dialogs bei allen, welche nicht jedem Gedanken an Ver- 
söhnung zwischen den so lange Zeit feindlichen Sehwesterwissen- 
sehaften von vornherein blindwüthig widerstreben, einer nachsich- 
tigen Aufnahme theilhaftig werden, und sollte die in diesem 
Gomplex vorliegende erhebliche Gedankenarbeit um ihrer Tendenz 
willen auch bei denen einer . wohlwollenden Beurtheilung sicher 
sein, welche die Endergebnisse derselben nicht billigen können. 

Schliesslich bitte ich diejenigen Leser, welche mit dem Text 
der ersten Auflage dieser Schrift noch nicht bekannt sind, den- 
selben zunächst unbekümmert um die nachfolgenden Anmerkungen 
im Zusammenhang durchzulesen, und dann erst nachträglich bei 
der Leotüre der Anmerkungen die betreffenden Stellen des Textes 
nachzuschlagen. Nur auf diese Weise wird die Einrede des fingir- 
ten Gegners zu einer ungestörten, einheitlich geschlossenen Wirkung 
gelangen. 



Text der ersten Auflage. 



2* 



L 

Descendenztheorie und natürliche 

Zuchtwahl. 



Die Lehre, dass alle Formen der organischen Schöpfung auf 
der Erde in einem genealogischen Verwandtschaftsverhältnisse stehen 
nnd auf gemeinsame Abstammung zurückgeführt werden müssen, 
diese Lehre, welche schon früher von Geoffroy St. Hilaire, Lamarck, 
Goethe, Oken und Anderen ausgesprochen war, hat erst durch Dar- 
win's Lehre von der natürlichen Zuchtwahl eine so handgreifliche 
Form gewonnen, dass sie in der Naturwissenschaft gegenwärtig als 
fast allgemein acceptirt gelten kann, und in den Gebieten der Zoolo- 
gie, Botanik, Paläontologie, vergleichenden Anatomie und Biologie 
eine vollständige Revolution hervorgerufen hat. Nur einige ältere 
Naturforscher, welche sich unfähig fühlten, noch einmal ganz um- 
zulernen, verhalten sich jetzt noch ablehnend gegen die Descendenz- 
theorie oder Abstammungslehre, und diese auf dem Aussterbeetat 
stehenden Gegner vermögen natürlich nicht, den unaufhaltsamen 
Siegeslauf der neuen Wahrheit zu hemmen. Wenn die deutsche 
Naturphilosophie schon lange vor Darwin diese Lehre zu der ihrigen 
gemacht hatte, wenn ein Oken sogar den lebendigen Urschleim (heut 
Protoplasma genannt) und die einzelligen Infusorien als erste und 
zweite Stufe der organischen Reihe aufstellte und die Anwendung 
seines Princips auf den Menschen („der Mensch ist entwickelt, 
nicht erschaffe n") nicht scheute, wenn Schopenhauer sich aus- 
drücklich zu der Lamarck'schen Abstammungslehre bekannte, wenn 
ferner diese Lehre nichts weiter ist als die Anwendung des Princips 



22 Text der ersten Auflage. 

der Entwickelang auf das organische Leben auf der Erde, also 
auch eine nothwendige, wenn auch unausgesprochene Ergänzung 
der Hegel'schen Philosophie bildet, deren Kern ja das Entwickelungs- 
princip ist, — dann ist es wohl kein Wunder, wenn die jüngste 
deutsche Philosophie, welche sich selbst als die höhere Einheit von 
Hegel und Schopenhauer ankündigt, auch die Descendenztheorie 
ausdrücklich in ihr System aufnimmt, und dieselbe auf ihre Weise 
näher zu begründen sucht Sie erfüllt damit einerseits nur eine 
Aufgabe, welche ihr durch den Entwicklungsgang der neuesten 
Philosophie selbst unmittelbar vorgezeichnet und nahe gelegt war, 
und sie thut damit andererseits gegenüber dem heutigen Standpunkt 
der Wissenschaft überhaupt nur ihre Schuldigkeit; denn wenn die 
Philosophie im Allgemeinen die Pflicht hat, anerkannten Wahrheiten 
der empirischen Wissenschaften gegenüber keine Verstösse zu be- 
gehen, so ist insbesondere heutzutage jedes philosophische System 
als ein todtgebornes Kind, als ein kläglicher Anachronismus zu 
betrachten, welches so blind ist , die Descendenztheorie negirend 
von sich ausschliessen zu wollen. Es ist aber auch die Descendenz- 
theorie in ihren Gonsequenzen eine in alle Gebiete so tief eingreifende 
Lehre, dass die moderne Philosophie ebensowohl neue Befruchtung 
als auch neue Aufgaben durch dieselbe erhält: Probleme, deren 
Bearbeitung schon ausserhalb der Naturwissenschaft liegt, und doch 
fttr die menschlichen Interessen von höchster Bedeutung ist In- 
sofern nun der Naturforscher zugleich Mensch ist, und als gebildeter 
Mensch an diesen Interessen Theil nimmt, erwächst auch ihm das 
Recht und die Pflicht der Prüfung, ob und wie die Philosophie den 
Gonsequenzen der Abstammungslehre bereits Bechnung getragen 
habe. Bei dieser Untersuchung werden wir uns wesentlich an die 
„Philosophie des Unbewussten" als an das einzige philosophische 
System, welches zu der Descendenztheorie eine klare und entschie- 
dene positive Stellung genommen hat, zu halten haben ; wir werden 
ihren Standpunkt und dessen DetailausfUhrung einer kritischen Be- 
trachtung unterwerfen, welche, als gestützt auf ein vom System selbst 
adoptirtes Princip, der Anforderung einer „immanenten Kritik" ent- 
sprechen dürfte, und werden überall da, wo die Phil. d. Unb. vor 
dem Richterstuhl dieser Kritik nicht besteht, uns zu bemühen haben, 
in Gestalt naturphilosophischer oder psychologischer Studien posi- 
tive Anhaltspunkte zu Tage zu fördern, welche geeignet sind, die 



I. Descendeaxtheorie und natürliche Zuchtwahl. 23 

Erköbntniss übet den als unzureichend erkannten Standpunkt hinaus- 
zuführen 

Die Wahrheit der biologischen Descendenztheorie muss hierbei 
natürlich als erwiesen vorausgesetzt werden, da ein Nachweis der- 
selben zu viel Baum beanspruchen würde, und in zahlreichen 
Schriften geliefert ist, von denen wir hier nur die drei wichtigsten 
Quellenschriften hervorheben wollen: Darwin's „Entstehung der 
Arten" deutsch von Bronn (4. Aufl. Stuttgart, Schweizerbart 1870); 
Wallace's „Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl" deutsch 
von Meyer (Erlangen, Besold 1870), und als systematischeste endlich 
Häckel's „Natürliche Schöpfungsgeschichte" (2. Auflage. Berlin, 
Reimer 1870). 

Zur Beseitigung eines häufig vorkommenden Missverständnisses 
muss ich hier mit besonderem Nachdruck darauf aufmerksam machen, 
dass die biologische Descendenztheorie vor der Darwinschen Lehre 
bestand, und ihre Wahrheit unabhängig ist von der Tragweite 
und Zulänglichkeit der letzteren. Dieses Verhältniss wird von den 
meisten Gegnern Darwin's verkannt; indem dieselben Gründe für 
die Unzulänglichkeit der natürlichen Auslese im Kampf um's Dasein 
vorbringen, glauben sie in der Regel ebenso viel Gründe gegen 
die Stichhaltigkeit der Descendenztheorie vorgebracht zu haben. 
Beides hat aber direct gar nichts mit einander zu thun; es wäre 
ja möglich, dass Darwin's Theorie der natürlichen Zuchtwahl ab- 
solut falsch und unbrauchbar und dennoch die Abstammungslehre 
richtig wäre, dass nur die causale Vermittlung der Abstammung 
einer Art von der andern eine andere als die von Darwin behauptete 
wäre. Ebenso wäre es möglich, dass zwar theilweise die von Dar- 
win entdeckten Vermittlungsursachen des Uebergangs statt hätten, 
zum andern Theil aber Uebergangserscheinungen vorlägen, welche 
bis jetzt nicht durch diese Annahmen erklärt werden könnten, und 
daher entweder eine ergänzende Htilfshypothese zu der Darwinschen 
verlangten, oder gar ein coordinirtes Erklärungsprincip erforderten, 
das bis heute ebenso wenig entdeckt wäre, wie das Darwinsche es 
vor zwanzig Jahren war. Eine solche theilweise Unkenntniss in 
den wirkenden Ursachen des Ueberganges aus einer Form in die 
andere kann die allgemeine Wahrheit der Descendenztheorie ebenso 
wenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser Zwischenformen, 
oder die in manchen Fällen noch bestehende Unsicherheit, von 



24 Text der ersten Auflage. 

welcher bestimmten Form eine gegebene andere abstamme. Wen 
selbst früher, wo noch jede Kenntniss über die den Uebergang ver- 
mittelnden Ursachen fehlte, die Abstammungslehre den bedeutendsten 
Köpfen aus allgemeinen naturphilosophischen und apriorischen 
Gründen gesichert erschien, so kann jetzt, wo durch Darwin und 
Wallace die unzweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende 
Ursache des Uebergangs l ) als überall wirksam und als für zahl- 
reiche Fälle thatsächlich ausreichend klar und schlagend nach- 
gewiesen ist, um so weniger mehr ein Zweifel an der Wahrheit der 
Descendenztheorie bestehen. 

Auch in dieser Trennung sind wir mit der Philosophie des 
Unbewussten im Einklang; während dieselbe die Descendenztheorie 
den Traditionen der deutschen Naturphilosophie gemäss bedingungs- 
los acceptirt, und dem Darwinschen Erklärungsprincip ein hohes 
Verdienst und eine vielseitige Verwendbarkeit willig einräumt, po- 
lemisirt sie ebenso entschieden gegen die Ueberschätzung der Trag- 
weite des Darwinschen Princips (Phil. d. Unbew. S. 578) *) und 
gegen den Glauben, mit demselben alles leisten zu können ; nament- 
lich wendet sie sich gegen die Erklärung der organischen Schön- 
heit allein durch natürliche Zuchtwahl (S. 255—259)**), hebt das 
Hand in Hand Gehen zweckmässiger Veränderungen bei demselben 
Individuum und bei beiden Geschlechtern derselben Art hervor 
(S. 577) ***), reproducirt die von Wallace aufgestellten Schwierigkeiten 
hinsichtlich der Entstehung gewisser Abweichungen beim Menschen 
(S. 578) f) , zeigt auf das Problem hin, wie sich typische Höhen- 
bildungen zu einer neuen Ordnung entwickeln können (S. 585 bis 
588) ff), und wiederholt die Einwürfe Nägeli'sttt)> dass die 



*) 7. Aufl. II. 236. Wo nicht eine andere Auflage besonders angegeben 
ist, beziehen sich die im Text citirten Seitenzahlen der Phil. d. Unb. stets auf 
die gleichlautende 3. und 4. Auflage, wogegen die entsprechenden Seitenzahlen 
der 7. Aufl. in Fussnoten beigefügt sind. 

**) 7. Aufl. L 248-252.J 
***) 7. Aufl. IL 234—235. 

t) 7. Aufl. II. 235. 

ff) 7. Aufl. IL 242—245. 

fft) Dass die Phil. d. Unb. hiermit den Nagel auf den Kopf getroffen, zeigt 
folgende Stelle in Darwin's neuestem Werk, welche uns erst mehrere Monate 
nach der Niederschrift dieses Abschnittes zu Gesichte kam: „Man kann daher 



I. Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl. 25 

natürliche Zuchtwahl im Kampf um's Dasein nur physiologische, 
nicht morphologische Veränderungen hervorrufen und daher auch 
nur solche erklären könne (589 — 591)*). Wir möchten zu diesem 
noch eine Schwierigkeit hinzufügen, welche unseres Erachtens sehr 
schwer zu wiegen scheint. 

Darwin und Wallace nehmen an, dass eine zufällige individuelle 
Abweichung sich erhält, insofern sie für die Lebensbedingungen des 
Wesens sich nützlich erweist, und dass Varietäten oder Specien, 
welche von anderen wesentlich abweichen in einer Weise, die für 
ihre Lebensweise einen besonderen Nutzen gewährt, als entstanden 
zu denken sind durch eine Sumroation minimaler zufälliger Indivi- 
dualabweichungen. Diese Erklärung setzt ausgesprochener Maassen 
oder stillschweigend voraus, dass in der That jede dieser minimalen 
Individualabweichungen sich unter den Lebensbedingungen der da- 
mals bestehenden Art für das abweichende Individuum als nützlich 
erwies; wo diese Voraussetzung nicht zutreffend wäre, würde der 
ganze Erklärungsmodus hinfällig, gleichviel ob nach Summation 
einer grösseren Anzahl gleichgerichteter Abweichungen sich eine 
summarische Abweichung ergeben mag, welche nützlich ist oder 
nicht; — nur wenn jeder einzelne der Summanden das betreffende 



den directen und indirecten Resultaten natürlicher Zuchtwahl eine sehr betracht- 
liche, wenn schon unbestimmte Ausdehnung geben ; doch gebe ich jetzt, nachdem 
ich die Abhandlung von Nägel i über die Pflanzen und die Bemerkungen ver- 
schiedener Schriftsteller, besonders die neuerdings von Professor Broca in Bezug 
auf die Thiere geäusserten, gelesen habe, zu, dass ich in den früheren Ausgaben 
meiner „Entstehung der Arten" wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen 
Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben 
habe. Ich habe die fünfte Auflage der „Entstehung" dahin geändert, dass ich 
meine Bemerkungen nur auf die adaptiven Veränderungen des Körperbaues 
beschränkte. Ich hatte früher die Existenz vieler Strukturverhältnisse nicht hin- 
reichend betrachtet, welche, soweit wir es beurtheilen können, weder wohlthätig 
noch schädlich zu sein scheinen, und ich glaube, dies ist eines der grössten 
Versehen, welches ich bis jetzt in meinem Werke entdeckt habe" („Die Ab- 
stammung des Menschen", deutsch von Carus, 2. Aufl., Bd. I, S. 132). Wenn 
Darwin es als wahrscheinlich einräumt, dass er „den Einfluss der natürlichen 
Zuchtwahl übertrieben habe" (ebd. S. 133), so giebt er eben damit zu, dass 
die Anhänger der Descendenztheorie, auch wenn sie die Theorie der natürlichen 
Zuchtwahl nicht gerade verwerfen (S. 132), doch dieselbe als zur Erklärung nicht 
allein hinreichend ansehen müssen, befindet sich also principiell nunmehr mit der 
Auffassung der Ph. d. Unb. und der unsrigen in Uebereinstimmung. 
•) 7. Aufl. IL 245—248. 



26 Text dar ersten Auflage. 

Individuum concurrenzfähiger macht im Kampf um's Dasein, nur 
dann wird diese Abweichung sieb vor dem sofortigen Wiederausgleich 
mit entgegengesetzten zufälligen Abweichungen und vor dem Wieder- 
untergang in die Stammform bewahren und die Grundlage für 
weitergehende Abweichungen nach derselben Richtung in den fol- 
genden Generationen bilden können. Diese Voraussetzung trifft nun 
allerdings in vielen Fällen zu, in vielen andern aber auch nicht, 
und Darwin und Wallace haben es unterlassen, jeden einzelnen Fall 
auf das Zutreffen dieser Voraussetzung zu prüfen. 

Wenn eine Schmarotzer-Milbe (Myobia), die darauf angewiesen 
ist, auf thierischen Haaren herumzuspazieren, ihr vorderes Fusspaar 
zu einem Klammerorgan umgebildet hat, so ist kein Zweifel, dass 
jede noch so geringe individuelle Abweichung nach dieser Richtung 
das betreffende Individuum besser befähigt, mit den Vorderflissen 
ein Haar zu umfassen, und an demselben sicher auf und ab zu wan- 
dern. Ganz anders liegt die Sache hingegen bei den von Wallace 
mit Vorliebe behandelten Beispielen von natürlichen Masken, bei 
welchen ein Thier das Aussehen einer ihm ganz fernstehenden, 
durch irgend welche Eigenthtlmlichkeiten besser geschützten Gat- 
tung täuschend nachahmt, und dadurch derselben Sicherheit gegen 
seine Feinde theilhaftig wird wie die nachgeahmte Gattung, ohne 
dass es dabei wirklich deren Schutzmittel gewinnt. So ahmen 
z. B. gewisse weisse Schmetterlinge aus der Familie def Pieriden 
(Leptalis) diejenigen Arten der Heliconiden, in deren Bezirk sie 
leben, so täuschend nach, dass man sie äusserlich fast nur durch 
die Strüctur der Füsse unterscheiden kann. Die copirten Heliconi- 
den besitzen einen unangenehmen Geruch und Geschmack, welcher 
sie vor den Verfolgungen der Vögel schützt, und da nur etwa ein 
Leptalis auf tausend Heliconiden vorkommt, so reicht dieser Schutz 
für die ersteren vollkommen mit aus. Nun stehen sich aber beide 
Gattungen mindestens so fern wie etwa Fleischfresser und Wieder- 
käuer unter den Vierflissern (Wallace „Beiträge zur Theorie der 
natürlichen Zuchtwahl", S. 93), man kann sich daher leicht denken, 
eine wie grosse Zahl von Zwischenstufen für den üebergang nöthig 
war, wenn diese nur durch Addition zufälliger Individualabweichun- 
gen erfolgen sollte. Flügel, Fühler und Abdomen haben sich ver- • 
längert, die Farben der nachgeahmten Arten vom Gelb und Orange 
bis Braun und Schwarz werden bis auf die Grade der Durch- 



I. Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl. 27 

sichtigkeit und die Zeichnung der kleinsten Flecke und Streifen 
treulich copirt, und selbst die Gewohnheiten sind derart modificirt, 
dass die Leptaliden dieselben Orte wie ihre Vorbilder besuchen 
und sogar dieselbe Flugart Angenommen haben (ebd. S. 94 — 95). 
Es ist klar, dass die Aehnlichkeit nützlich ist, aber eben so klar, 
dass sie erst dann einen gewissen Schutz gewähren kann, wenn sie 
gross genug wird, um die scharfen Augen der Vögel zu täu- 
schen. Es würde also bei der grossen Differenz der äusseren 
Erscheinung eine Zwischenstufe, welche immerhin dem Aussehen 
der Heliconiden schon näher steht als dem der Leptaliden, doch 
noch hinreichend deutliche Abweichungen von den Heliconiden 
zeigen, um von den Vögeln deutlich erkannt zu werden, also den 
Inhabern wenig oder gar nichts nützen, und jedenfalls würden 
solche Zwischenstufen, welche den gewöhnlichen weissen Pieriden 
noch näher stehen als dem Aussehen der Heliconiden, in keiner 
Weise irgend welchen Schutz gemessen, also auch ihre Inhaber 
nicht concurrenzfähiger im Verhältniss zur Stammform machen. 
Hier ist also die obige Voraussetzung nicht erfüllt; das Princip ist 
anf die ersten Stufen zufälliger Abweichungen, ja selbst auf in der 
Mitte zwischen beiden Formen stehende Zwischenstufen nicht an- 
wendbar, und kann deshalb die vorliegende Erscheinung nicht er- 
klären. Nur da, wo die Stammform, von welcher die Umwandlung 
zur natürlichen Maske ausgeht, der nachgeahmten Species ohnehin 
schon so ähnlich sieht, dass eine Verwechslung von Seiten der 
Feinde möglich ist, nur da ist die natürliche Zuchtwahl im Stande, 
die Aehnlichkeit zu vervollkommnen und immer täuschender zu 
machen. Da dies aber nur bei einem Theil der bis jetzt bekannten 
Beispiele von Mimicry zutrifft, so müssen in den übrigen Fällen 
noch andere bis jetzt unbekannte Ursachen thätig gewesen sein. 

Nach diesen Ausstellungen gegen die Tragweite der natürlichen 
Zuchtwahl können wir nicht umhin, auch noch einen Blick auf die 
Gründe zu werfen, welche einerseits fttr die hohe Bedeutung der 
natürlichen Zuchtwahl innerhalb eines weiten Geltungsgebietes und 
andrerseits für die unzweifelhafte Wahrheit der Descendenztheorie 
sprechen. — Was zunächst die natürliche Zuchtwahl betrifft, so ist 
folgende einfache und nur auf allgemein bekannte Thatsachen 
fassende Erwägung geeignet, uns einen Einblick in ihr Wirkungs- 
zu verschaffen. Jede Species hat die Tendenz, sich in 



28 Text der ersten Auflage. 

geometrischer Progression zu vermehren; da aber die Individual- 
zahl jeder Species im Ganzen durch lange Zeiträume hindurch 
stationär bleibt, und nur ein kleiner Theil der meisten Arten 
jährlich stirbt, so muss allemal von dem Nachwuchs so viel zu 
Grunde gehen, als er keine Stellen in dem gegebenen Haushalt 
des Lebens für sich vacant findet. Nun gleicht jedes Wesen im 
Grossen und Ganzen seinen Vorfahren, deren Beschaffenheit es 
erbt; aber es gleicht ihnen nur bis auf ein gewisses Haass indi- 
vidueller Abweichung, welche entweder eine för seine Lebens- 
bedingungen und Concurrenzfähigkeit gleichgültige sein kann (dann 
erlischt sie durch Kreuzung), oder eine ungünstige, dann wirft sie 
ihren Inhaber mit Sicherheit unter die grosse Masse des zu Grunde 
gehenden Nachwuchses, oder aber eine günstige, dann erhöht sie 
seine Chancen im Kampf der allgemeinen Concurrenz um's Dasein, 
zu den Wenigen zu gehören, welche sich zu behaupten und ihre 
Beschaffenheit auf Nachkommen zu vererben im Stande sind. Es 
können sich also von allen individuellen Abweichungen vom 
Stammestypus immer nur die im Kampf um's Dasein günstig wir- 
kenden und die Art ihren Lebensbedingungen vollkommener an- 
passenden erhalten und vererben, diese aber können sich durch 
neue individuelle Abweichungen nach derselben Richtung in der 
nächsten Generation auch addiren, und diese hereditäre Sum- 
mati on der die Art concurrenzfähiger machenden individuellen 
Abweichungen heisst eben „natürliche Zuchtwahl". Eine Species 
kann nur bestehen und gedeihen, wenn sie sich im Anpassungs- 
gleichgewicht zu den sie umgebenden Lebensbedingungen be- 
findet, und die gerühmte Vollkommenheit der Organismen beruht 
eben darin, dass die allermeisten sich in diesem Zustande des An- 
passungsgleichgewichts unserm Blicke präsentiren. Wenn die Lebens- 
bedingungen sich ändern, so kommt es darauf an, ob die Species 
solche individuelle Abweichungen aus sich hervorbringt, dass aus 
denselben durch Ueberleben des Passendsten und Vererbung seiner 
Beschaffenheit auf die Nachkommen sich eine Abänderung der Art 
entwickelt, Welche mit der Abänderung der Lebensumstände gleichen 
Schritt hält. Ist obige Bedingung nicht erfüllt, oder ist die Aende- 
rung der Verhältnisse zu gross oder zu plötzlich, so nimmt die Art 
an Zahl ab, verkümmert und stirbt aus ; auch solche im Verfall und 
im Aussterben begriffene Arten sind uns in der Gegenwart vielfach 



L Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl. 29 

bekannt. Da nun die physischen Verhältnisse auf jedem Theil der 
Erdoberfläche, wie uns die Geologie lehrt, in einem beständigen 
Wechsel befindlich waren und immer sein werden, so begreift es 
sich, ein wie grosses Feld der Wirksamkeit der natürlichen Sichtung 
des überreichen sich zum Leben drängenden Nachwuchses in allen 
Arten und der durch Vererbung hieraus entspringenden natürlichen 
Zuchtwahl zu allen Zeiten offen stand, und es stellt sich nunmehr 
als eine Hauptaufgabe der Geologie und Biologie heraus, durch 
wechselseitigen Vergleich der physischen Lebensbedingungen einer 
gewissen Gegend zu einer gewissen Zeit und der Beschaffenheit der 
daselbst florirenden Thier- und Pflanzenspecien eine Art ideologischer 
Statik des Naturlebens, d. h. eine Eenntniss aller Arten von An- 
passungsgleichgewichten kennen zu lernen, eine Kenntniss, welche 
gestatten würde, von der Beschaffenheit einer Species genaue Schlüsse 
auf seine Lebensbedingungen oder von einer Veränderung einer 
Species auf die entsprechende Veränderung der Lebensbedingungen 
zu machen, und ebenso umgekehrt Wenn man nun aber die Ein- 
flüsse der geologischen Veränderungen der physischen Verhältnisse 
der Erdoberfläche genetisch nachconstrairt hat, so muss man hierin 
auch die hauptsächlichsten Ursachen für die Veränderung der die 
Erdoberfläche bewohnenden Organisation begriffen haben. Dies führt 
uns zu der Descendenztheorie hinüber. 

Schon seit dem Entstehen der vergleichenden Anatomie war es 
das eifrigste Bestreben der Zoologen und Botaniker, die gegenwärtig 
lebenden Organisationsformen nach ihrer Verwandtschaft in ein 
natürliches System zu ordnen, welches ungesucht mehr und 
mehr die Gestalt eines, wenn auch vielfach lttckenförmigen Stamm- 
baums annahm. Andrerseits erkannte man schon früh, dass die 
Entwickelungsgeschichte des Individuums (Embryologie und Meta- 
morphologie) eine bedeutende Analogie mit diesem Stammbaum zeige, 
dass sie aber denselben doch immer nur unvollkommen in der 
Weise recapitulire, dass sie nicht dem Ganzen, sondern nur einer 
einzelnen Linie desselben entspreche. Die paläontologischen For- 
schungen fügten diesen beiden Reihen eine dritte hinzu, indem 
sie mehr und mehr ermittelten, welche Thierarten einer jeden geolo- 
gischen Periode den Thierarten, Gattungen und Ordnungen der 
Gegenwart systematisch entsprächen. Als Ganzes genommen 
zeigte üun der paläontologische Stammbaum die vollkommenste 



30 Text der ersten Auflage. 

Übereinstimmung mit dem systematischen der vergleichenden 
Anatomie, nur dass er die Lücken des letzteren in soweit ergänzte, 
als die Vertreter vergangener geologischer Perioden sieh nicht bis 
in die gegenwärtige Flora nnd Fauna hinein conservirt haben; im 
Einzelnen betrachtet, d. h. eine paläontologische Vorfahrenreihe 
einer bestimmten Thierart der Gegenwart ans dem Ganzen 
herausgelöst, zeigt er wiederum die vollständigste Uebereinstimmung 
mit dem Entwickelungsprocess des Individuums vom befruchte- 
ten Ei bis zur endgültigen Form. Diese Uebereinstimmungen sind 
nur so zu deuten, dass der systematische Stammbaum nur die histo- 
rische Projection des paläontologischen Stammbaums auf die 
Gegenwart ist, und dass die embryologische Entwickehmgsreihe 
nur die abbrevirte individuelle Eecapitulation der paläontolo- 
logischen Entwickelungsgeschichte der Species ist, zu welcher Ent- 
wickelungsreihe natürlich nur ihre directen Vorfahren, also nur 
eine einzige Linie des gesammten paläontologischen Stammbaums, 
gehören. Nur indem der paläontologische Stammbaum 
als wirkliche genealogische Descendenz gefasst wird, lösen 
sich alle diese Räthsel, und wächst die Auffassung der gesammten 
Biologie zu einer grossartigenEinheit zusammen. Unterstützt 
wird diese Auffassung noch wesentlich durch die Fortschritte der 
Lehre von der geographischen und topographischen Verbreitung der 
Specien, und die Aenderung dieser Verbreitungsbezirke in den 
früheren geologischen Perioden, ein Wissenschaftszweig, der ganz 
unverkennbar flir jede Art auf eine Urheimath oder ein Aus- 
breitungscentrum zurückführt. Zur weiteren Empfehlung 
dient ihr die Lehre von den rudimentären Organen, welche 
durch Nichtgebrauch verkümmert und entartet sind, aber trotz ihrer 
nunmehrigen Unzweckmässigkeit immer fortbestehen, — eine Er- 
scheinung, die durch Verweisung auf den allgemeinen Schöpfungs- 
plan (Phil. d. Unb. S. 170)*) in Anbetracht der behaupteten All- 
weisheit und Allmacht des Unbewussten keineswegs befriedigend 
erklärt wird, während die Vererbung diese Constanz der morpho- 
logischen Grundtypen sofort genügend begründet. Endlich bestätigt 
sich die Descendenztheorie um so mehr, je tiefer man in den 
Zusammenhang des Naturlebens, in die Wechselbeziehungen der 



*) 7. Aufl. L 16? 



I. Descendenztheorie and natürliche Zuchtwahl. 31 

Organismen, ihrer Einrichtungen und Lebensgewohnheiten, ins- 
besondere in die Erscheinungen des Commensalismus und Parasitis- 
mus eindringt. Alle diese Betrachtungen im Zusammenhang müssen 
die Wahrheit der Descendenztheorie zur vollkommenen Evidenz 
bringen. Die Philosophie des Unbewussten fügt diesen inductiven 
Beweisen einen deductiven hinzu, mit dem wir den nächsten Ab- 
schnitt beginnen wollen. 



IL 

Die Teleologie vom Standpunkte der 

Descendenztheorie. 



Wenn schon die eigentümliche Begründung, welche die Phil, 
d. Unb. für die Descendenztheorie beibringt, der Form nach deduc- 
tiv ist, so entspricht sie doch ihrem Inhalt nach dem Geiste der 
Naturwissenschaft vollständig, da sie, wie im Grunde alle natur- 
wissenschaftliche Hypothesenbildung, aufderfortschreitenden 
Elimination des Wunderbegriffs beruht. Der roheste 
Wunderglaube wäre nämlich die Annahme unmittelbarer Erschaffung 
aller Specien in erwachsenen Exemplaren; ein geringeres Wunder 
wäre schon die Erschaffung derselben in Gestalt befruchteter Eier, 
welche etwa geeigneten Pflegeeltern anvertraut wurden ; eine weitere 
Reduction erlitte das Wunder, wenn diese Eier an ihrer natürlichen 
Stelle, dem Eierstock der nächstverwandten Species, entständen 
und der übernatürliche Eingriff sich auf Herstellung derjenigen Ab- 
weichungen beschränkte, welche die Entwickelung zu der neuen 
Species prädisponiren ; endlich werden diese Eingriffe auf ein Mini- 
mum zurückgeführt durch die Annahme, dass die Uebergänge in 
einer Addition von zufälligen individuellen Abweichungen bestehen, 
zu deren Fixirung in den meisten Fällen die natürliche Zuchtwahl 
ausreicht. Nach derselben Methode der Elimination des Wunders 
hätte nun aber weiter geschlossen werden müssen, dass in allen 
den Fällen, wo die natürliche Zuchtwahl nicht ausreicht, andere 
noch unbekannte wirkende Ursachen vorhanden sein müssen, mecha- 



EL Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheone. 33 

nische Zusammenhänge! die nns bis jetzt verschlossen geblieben 
sind. So schliesst aber die Phil. d. Unb! nicht, sondern sie statuirt 
überall da directe übernatürliche Eingriffe eines intelligenten meta- 
physischen Willens in den naturgesetzmässigen Verlauf der organi- 
schen Processe, wo „die entstandenen Abweichungen, welche zum 
Plane des Unbewussten gehören, aber den Organismen keine ge- 
steigerte Concurrenzfähigkeit im Kampfe um's Dasein 
verleihen, vor dem Wiederverlöschen durch Kreuzung bewahrt" 
werden sollen (S. 593), *) und ebenso statuirt sie dort übernatürliche 
Eingriffe, wo nicht zufällig entstehende und doch im Schöpfungsplan 
liegende Abweichungen hervorgerufen werden sollen (ebenda), 
obwohl sich doch gar nicht sagen lässt, dass irgend welche minimale 
Individualabwcichungen nicht zufällig entstehen könnten, sondern 
eigentlich auch hier nur das Fixiren solcher Abweichungen gemeint 
ist, die erst nach längerer Addition in bestimmter Richtung eine 
Bedeutung erlangen (z. B. Uebergang in neue Ordnungen und neue 
morphologische Typen). Jedenfalls verlässt die Phil. d. Unb. bei 
dieser Hypothese übernatürlicher Eingriffe die naturwissenschaft- 
liche Anschauungsweise und Methode, und zieht metaphysische 
Aushülfen heran, um thatsächlich vorhandene Lücken der natur- 
wissenschaftlichen Erkenntniss auszufüllen. Dies kann die Natur- 
wissenschaft nicht aeeeptiren ; *) so wenig sie sich darum zu be- 
kümmern hat, ob die Naturgesetze und die Causalität letzten Endes 
sich selbst wieder in Finalität und logische Kategorien auflösen, so 
sehr muss sie doch darauf halten, dass ihr Gebiet rein von solchen 
Beimengungen bleibt und dass die Lücken in der Erkenntniss der 
causalen Zusammenhänge der objeetiven Erscheinungswelt offen als 
solche anerkannt und der künftigen Ausfüllung durch rein causale 
and mechanische Zusammenhänge offen gehalten werden, hinter 
welchen dann immerhin die Metaphysik ihren ungestörten Tummel- 
platz behalten mag. Wenn auf S. 790**) die Causalität als „lo- 
gische Notwendigkeit" bestimmt wird, die durch einen Willen 
realisirt wird, und wenn diese logische Nothwendigkeit als die 
gemeinsame Wurzel von Causalität und Finalität bezeichnet wird, 
so darf dies keinenfalls so gedeutet werden, als ob der metaphysisch- 



*) 7. Aufl. H. 250. 
**) 7. Aufl. IL 450-451. 

E. t. Hart mann, Das Unbwufltfte, 2. Aufl. 



34 Text der ersten Auflage. 

teleologische Eingriff in einen naturgesetzlichen Process mit der in 
dieser wirkenden Causalität auf gleicher Stufe stände. Die natur- 
gesetzliche Causalität wirkt immer auf dieselbe Weise, unbekümmert 
darum, ob im besonderen Falle ihr Wirken empfindenden und 
lebenden Wesen nützlich oder verderblich wird, ob sie die 
Naturzwecke des Weltenplanes unmittelbar fördert oder hemmt; 
der teleologische Eingriff hingegen arbeitet immer und aus- 
nahmslos direct auf den Zweck des Naturprocesses hin. 8 ) Die 
naturgesetzliche Causalität richtet sich allein nach den gegebenen 
Umständen und reagi,rt auf diese mit blinder Notwendig- 
keit; der teleologische Eingriff richtet sich zwar auch nach den 
gegebenen Umständen und erfolgt ebenso gleichmässig wie die 
causale Wirkung, sobald die Umstände identisch wiederkehren, 
aber diese Gleichmässigkeit ist bedingt durch das Sichgleichbleiben 
des Endzweckes, und die momentane teleologische Berücksichti- 
gung dieses Endzweckes ist das neu hinzutretende Moment, 
welches eben eine Modification der vorliegenden Umstände 
durch einen metaphysischen Willen in dem Sinne herbeiführen soll, 
dass nunmehr die Wirkung der Naturgesetze eine dem Naturzweck 
unmittelbar dienende wird, die ohne diesen Eingriff eine dem 
Naturzweck wenigstens in diesem Falle zuwiderlaufende ge- 
worden wäre (Phil d. Unb. S. J42— 143, 176—178).*) Weip die 
naturgesetzliche Causalität zugleich eine möglichst zweckmässige 
sein soll, so liegt doch diese Zweckmässigkeit nicht im einzelnen 
Fall, sondern nur in dem vielfach von Rückschlägen und Hem- 
mungen durchkreuzten Gesammtgange , und das Gesetz wird im 
einzelnen Falle nur inne gehalten, weil die Constanz tfer Wirkungs- 
weise teleologisch gefordert ist (S. 560 Anm.)**) und von ajlen 
möglichen Gesetzen dieses das durchschnittlich zweckmässigste 
oder das relativ zweckmässjgste in Bezug auf das G e 8a m nit- 
re sul tat ist; der teleologische Eingriff hingegen wird als die 
hinzutretende Correctur gedacht, welche deji durch const^nte 
Gesetze teleologisch nicht zu leistenden Best auf ihre unmittel- 
bare Action übernimmt. Dieser Unterschied darf nicht übersehen 
werden; er ist deutlich genijg ausgesprochen, und ist gross genüg, 



*) 7. Aufl. I. 137—138, 169-171. 
**) 7. Aufl. II. 217—218. 



IL Die Teleologie Tom Standpunkte de* Descendenstheorie. 35 

um die (Naturwissenschaft m einem energischen Protest gegen den 
etwaigen Versuch 'zu veranlassen, durch metaphysisch-teleologische 
Auslegung der Causalit'ät zugleich den unmittelbaren teleologischen 
Eingriff mit einschmuggeln zu wollen. Lässt man sich den letzteren 
einmal gefallen, so ist das Wunder seinem Begriff nach (als meta- 
physischer Eingriff in den gesötzmässigen (fang der physischen 
Causalität) acceptirt, und es ist datin nur noch eine Differenz dem 
ÖTa«de nach, welche das thetflogisdhe Wunder (insofern es nicht 
naturw äderig gefasst wird) von diesem metaphysischen unterschei- 
det; — <A> der unbewusste Wille Atome verschiebt und dadurch 
Ströme im Organismus erzeugt, welche den Wachsthumsprocess in 
eine neue Richtung drängen, oder ob Gott in der Transsubstantiation 
die Uratome so umlagert, dass die chemischen Elemente sich in 
andere verwandeln, »das ist kein Unterschied mehr im Wesen der 
Sache, sondern -nur noch in der Intensität und Ausdehnung des 
Eingriff». 4 ) 

Fragen wir nun, was flie Ursache eines solchen Abfalls von 
der natarofesenschaftfiobea Anschauungsweise bei der Behandlung 
einer naturwissenschaftlichen Präge gewesen sein mag, so zeigt sich 
die Seiguftg dazu einerseits ctareh die Antecedentien der deutschen 
Piölasophie voi#ezeieh»et, m*d muss andrerseits auf den Abschnitt 
A. der Phii. 4. Unk verwiesen werden, welcher das Resultat ge- 
geben &aKte, duss jeder Moment des Lebensprocesses 
einie 6«mm« zahlloser teleologischer Eingriffe erfor- 
dert. Die deutsche Philosophie war von jeher gewohnt, der Idee 
eben maatssgebewden Eininss auf die Lebensprocesse der Organis- 
men zuzuschreiben, welche als Träger der Realisationen der Idee 
gelten sollten; den Kant-Fichte's&hen snbjectiven Idealismus gan£ 
bei Seite gelassen, findet sich auch bei Schelling, Schopenhauer und 
Segel nirgends eine genügende Würdigung der Materie als einer 
selbstständigen, jedes metaphysischen Eingriffs in ihre Gesetze und 
Rechte spottenden Macht; überall werden vielmehr die organischen 
Wesen als unmittelbare individuelle Realisationen der Idee behan- 
delt. Hiergegen erscheint das Verfahren der Phil. d. Unb. in der 
That als ein himmelweiter Fortschritt , welches der unbewussten 
Idee als organisirendem Princip die Materie als selbststäudige 
coordinirte Macht gegenüberstellt, deren Gesetze jene nicht über- 
springen kann, sondern mit denen sie rechnen und die sie zu ihren 

3* 



36 Text der ersten Auflage. 

Zwecken klug benutzen muss (S. 605),*) — wenngleich in letzter 
Reihe die Materie mit ihren unverbrüchlichen Gesetzen auch hier 
nur als Objectivation der Idee auf niederer Stufe erscheint. Diese 
metaphysische Voreingenommenheit wirkte zusammen mit den Re- 
sultaten des Abschnitts A. Dieser Abschnitt aber behandelt alle 
vorkommenden Probleme ohne jede Rücksicht auf die Des- 
cendenztheorie, während dieselben derart sind, dass sie einzig 
und allein von dem Standpunkt der Descendenztheorie aus rich- 
tig gestellt und annähernd gelöst werden können. 5 ) Werth- 
voll ist hingegen der dort zur Evidenz gebrachte Satz, dass Instinct, 
Reflexbewegungen, Naturheilkraft, selbstständige Functionen niederer 
Nervencentra und organisches Bilden ein unmittelbar zusammen- 
gehöriges Ganze darstellen (S. 164 — 165),**) eine Reihe, in der 
jedes Glied mit jedem andern durch flüssige Uebergänge verbunden 
ist, so wie ihre höchsten Glieder in ebenso flüssiger Weise in die 
Erscheinungen des bewussten Geisteslebens hinüberleiten. Es kann 
hiernach nur ein und dasselbe Erklärungsprincip sein, 
welches in allen diesen Erscheinungsgebieten maassgebend ist. 
Anstatt aber mit demjenigen Gliede der Reihe, welches durch die 
Descendenztheorie am besten erklärt wird, zu beginnen und von 
diesem, der Zweckmässigkeit der organischen Bildutagen, hinauf- 
zusteigen zu den andern, beginnt die Phil. d. Unb. gerade umgekehrt 
mit dem schwierigsten, dem Instinct, und thut dort der Möglichkeit 
einer Erklärung durch die Descendenztheorie, wie sie Darwin in 
seinem Gapitel Instinct bietet, nicht einmal Erwähnung. 6 ) Dies ist 
nur so zu erklären, dass diese Abschnitte vor jeder Bekanntschaft 
mit Darwin's Originalwerk und auch vor genauerer Bekanntschaft 
mit der Bedeutung und Tragweite der Descendenztheorie überhaupt 
verfasst sind, während die Cap. IX. und X***) des Abschnittes C, 
namentlich der Schluss des Cap. X bereits eine Kenntniss der emi- 
nenten Bedeutung der Descendenztheorie erkennen lassen. Durch 
diesen Unterschied zwischen den Abschnitten A und G fällt das 
Buch in naturwissenschaftlicher Hinsicht gleichsam in zwei Stücke 
auseinander, die nicht zusammenpassen wollen, — eine Thatsache, 



*) 7. Aufl. II. 261—262. 
**) 7. Aufl. I. 158—159. 
***) 7. Aufl. Cap. X. u. XL 



II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie. 37 

die meines Wissens keiner der zahlreichen Becensenten des Werkes 
auch nur von Ferne geahnt hat Ist aber die Descendenztheorie 
eine Wahrheit (wie die Phil. d. Unb. zugiebt), und ist sie im 
Stande, für die Erscheinungsreihen des ersten Abschnitts, wenn auch 
nur theilweise, wirkliche Erklärungen zu liefern (was zu untersuchen 
die Phil. d. Unb. im Abschnitt A versäumt hat, während sie es im 
Abschnitt C Cap. IX*) in vielen Punkten zugiebt), so wird dadurch 
die ausschliessliche Geltung und das angenommene Wahrscheinlich- 
keitsmaass des im Abschnitt A angewandten Erklärungsprincips 
ebenso wie die mit Hülfe desselben erzielten Resultate in Frage 
gestellt, also auch die Behauptung von den beständigen teleologischen 
Eingriffen des organisirenden Unbewussten an den Lebensprocess 
nicht ohne Weiteres als Aushülfe für die Lücken herangezogen 
werden dürfen, welche die natürliche Zuchtwahl in dem Verständniss 
der Descendenztheorie lässt. 

Die weitere Ausführung des hier nur andeutungsweise zur vor- 
läufigen Orientirung Vorangeschickten kann erst später folgen; da- 
gegen wollen wir in diesem Capitel noch auf zwei Stellen eingehen, 
in welchen die teleologischen Eingriffe aus allgemeinen Gesichts- 
punkten besprochen werden. Die erste derselben ist der Aufsatz 
„Ueber die Lebenskraft" in den „Gesammelten philos. Abhandlungen 
zur Phil. d. Unb." (Berlin, Carl Duncker 1872),**) die andere das 
zweite Einleitungscapitel der Phil. d. Unb. : „Wie kommen wir zur 
Annahme von Zwecken in der Natur?" 

Der Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" präcisirt nach einem histo- 
rischen Bückblick die moderne Fassung der Frage in folgender 
Alternative: „auf der einen Seite ein zweckmässig wirkendes 
immaterielles Princip, welches die fragliche Anordnung der Um- 
stände" (unter welchen aus den unorganischen Molecularkräften sich 
sich die organischen Processe entfalten) „herbeiführt und dauernd 
aufrecht erhält, auf der andern Seite ein einmaliger Zufall der 
Urzeugung, und zwar solcher überaus merkwürdiger Zufall, dass 
die ans ihm resultirenden combinirten Functionen die Aufhebung 
dieser fraglichen Umstandsanordnung dauernd ausschliessen. Ist 
der Zufall der Urzeugung nicht bloss einmal, sondern öfters ein- 



*) 7. Aufl. Cap. X. 
**) „Gesammelte ötudien und Aufsätze" C. IV« 



38 Text der ersten, Auflage. 

getreten, so ist es um so merkwürdiger,, das? er stets in einer 
Weise eintrat, welche die Dan er- seiner Producte in sich schloss. 
So bedenklich diese Zufallstheorie auch schon deshalb sein mnss, 
weil bei den zahllosen denkbaren Umstandseorabinationen eine 
ausserordentlich geringe apriorische Wahrscheinlichkeit fttr das Ein-« 
treten der geforderten vorhanden war, so ist dieselbe doch i nur dann 
überhaupt haltbar, wenn die» Thier- und Pflauzenphysiolcgie* im 
Stande ist, nachzuweisen, dass wenm einmal durch jenem Urzeugmigs-. 
zufall organisches Leben in. irgend einer, der uns bekannten Gestalten 
geschaffen war, die so gegebenen Umstandscombinatioaeii wirklich 
ausreichten, um mit alleiniger Hülfe » der unorganischen mate- 
riellen Kräfte sich selbst und dadurch den vitalen Functionen ihren 
Fortbestand zu sichern" (Ges. phil. Abhandl. S. 10»— 110).*) 

Die Begründung zerfällt, wie wir &ehep, in zwei Tbeiley der 
erste gegen die Urzeugung lebensfähiger Formen, der zweite, 
gegen deren Erhaltung und Fortbildung gerichtet Der 
zweite Theil giebt also nur eine Wiederholung unserer seeben be- 
sprochenen Alternative : ob die natürliche Zuchtwahl* insofern sie 
nicht ausreicht, durch ähnliche mechanische Vermittlungen, die uns 
noch unbekannt sind, oder durch metaphysich-teleologische Eingriffe 
so weit vervollständigt wird, um die fortschreitende Entwickehmg 
der Organisation zu Stande zu bringen ; hierin • finden . wir mithin - 
keinen neuen Gesichtspunkt. Dagegen ist dieser allerdings in dem 
ersten auf die apriorische Wahrscheinlichkeit gestützten Argument 
enthalten, — nur ist er entschieden unrichtig angewendet. 

Die Phil. d. Unb. sagt S. 558 **) : „Es ist wahrscheinlich, . dass 
vor der Entstehung der ersten Organismen schon organische Ver- 
bindungen niederer Stufe vorhanden gewesen seien," welphe sich 
(S. 556)***) „unter dem Einflüsse einer feuchten und sehr kohlen- 
säurereichen Atmosphäre, so wie der höheren Wärme, des, Lichtes 
und starker electrischer Einflüsse gebildet hatten." Eigpet mau sich 
diese Voraussetzungen an, und fügt die Betrachtung, hinzu, dass 
wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen » in früheren geolo- 
gischen Perioden einmal, wie doch. , nothwendig* stattfanden, , sie . 



~^^^m~m i 1tm+ !<■'■' » • f^»< »-»p n 



*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 500-501. 
**) 7. Aufl. H. 216. 
***) 7. Aufl. IL 214. 



* ■ , . ,. r » 

II. Die Teleologie vom Standpunkte def Descendenztbeorie. 39 

• 

wohl auch durch ansehnliche geologische Zeiträume hindurch be- 
standen, so ist in der That die Folgerung nicht zu umgehen, dass 
im Laufe der Zeit und im Wechsel der Umstände diese organischen 
Stoffe in zahllose Combinationen zu einander traten. Unter 
diesen zahllosen Anordnungsweisen, Gruppirungen und Verbindungen 
musste der bei weitem grösste Theil auf der Stuft unorganischer 
Form stehen bleiben, weil er nicht die zu einer solchen notwen- 
dige chemische Zusammensetzung und physikalischen Eigenschaften 
erlangte ; ein sehr viel kleinerer Theil, der aus diesen Combinationen 
organischer Materie hervorgegangenen Eesultate mochte vielleicht 
vorübergehend sich der organischen Form nähern, oder auch wirk- 
lich in dieselbe eintreten, *) dabei aber nicht die zur längeren Be- 
hauptung derselben erforderliche Beschaffenheit besitzen; ein dritter 
noch kleinerer Theil vermochte etwa für sich selbst diese Form im 
Wechsel des Stoffes so lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die 
ungefähre Lebensdauer der primitivsten Protistenarten beträgt, ent- 
behrte aber derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und Fort- 
pflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben des In- 
dividuums erhalten; ein vierter Theil mochte sowohl die zur Selbsterhal- 
tung als zur Gattungserhaltung nothwendigen Eigenschaften besitzen, 
entbehrte aber jener eigentümlichen „Tendenz, abzuändern" (Phil, 
d. Unb. S. 591),*) oder doch jener Tendenz, in der bestimmten 
Richtung abzuändern, welche allein zur Entwickelung in höhere 
Formen führen konnte; ein fünfter Theil endlich besass auch diese 
Eigenschaft zu den übrigen. Die Nachkommen der vierten und 
fünften Gasse unserer Unterscheidung sind es, welche noch heute 
Meer und Erde bevölkern; von welcher Art von Moneren die Fort- 
entwickelung zu Infusorien ausgegangen ist, ob von einer der jetzt 
noch lebenden, oder von einer untergegangenen Art, davon wissen 
wir noch nichts; das aber schon können wir als sicher annehmen, 
dass die Mehrzahl der Protisten, die wir heute noch kennen, zu 
jener entwickelungsfähigen vierten Classe gehört. Die ephemeren 
Schöpfungen unserer zweiten und dritten Classe konnten natürlich 
nur so lange ihren Bestand als Arten gesichert sehen, als die 
günstigen Bedingungen ihrer stets erneuten Urzeugung fortdauerten ; 
die erste Classe aber würde vom teleologischen Standpunkt aus 



*) 7. Aufl. IL 248. 



40 Text der ersten Auflage. 

als die der gänzlich misslungenen Schöpfungsversuche zu bezeich- 
nen sein. 

Nehmen wir nun als durch die Thatsache vorhandener Orga- 
nismen erwiesen an, dass die Möglichkeit der Entstehung des 
Wirklichen in den Bedingungen früherer Schöpfungsperioden zu 
irgend einer Zeit gegeben war 8 ) (Phil. d. Unb. S. 555 — 556),*) so 
folgt aus unserer Annahme über die zahllosen Gombinationen der 
vorausgesetzten organischen Materie die apriorische Wahrscheinlich- 
keit und zwar als eine der 1 oder der Gewissheit sehr nahe kom- 
mende, dass unter den zahllosen Combinationen mit der Zeit auch 
solche vorkommen mussten, welche der in den Bedingungen ent- 
haltenen Möglichkeit der Urzeugung entsprachen, und somit dieselbe 
verwirklichten. Die von uns unterschiedenen Classen fordern in 
aufsteigender Reihe ein mehr oder minder günstiges Zusammentreffen 
mannichfacher Umstände, und gerade diesem entsprechend haben wir 
die Häufigkeit der einschlägigen Fälle von Urzeugung in der Ge- 
sammtzahl der Anläufe zu einer solchen überhaupt zu denken. Die 
von dem Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" angezogene Wahrschein- 
lichkeitsrechnung kehrt sich mithin, weit entfernt, die Theorie meta- 
physischer Eingriffe zu unterstützen, ganz und gar gegen dieselben •) 
und war das Verkennen dieser Sachlage nur dadurch möglich, weil 
die zahllose Menge der möglichen Combinationen organischer Materie 
im Laufe der Zeit unbeachtet gelassen war, von welchen nur einige 
wenige auf die lebensfähigen, noch weniger auf die reproductions- 
fähigen, und ganz wenige, vielleicht nur eine, auf die entwickelungs- 
fähigen Formen kommen. Nicht nur, dass der Aufsatz: „Ueber die 
Lebenskraft" die lebensunfähigen und fortpflanzungsunfähigen Com- 
binationsresultate vollständig ignorirt, so confundirt er ausserdem 
noch die beiden letzten Classen, die reproductionsfähigen und ent- 
wickelungsfähigen miteinander, während doch auf der untersten 
Stufe des Protistenreichs gewiss ganz ebenso und noch viel mehr 
als auf allen Stufen des Thier- und Pflanzenreichs auf eine ent- 
wicklungsfähige Art eine grosse Zahl entwickelungsunfähiger Arten 
kommen mussten, da jede Höherbildung über das Niveau einer 
breitverzweigten Stufe hinaus immer nur an einem oder höchstens 



*) 7. Aufl. IL 213—214. 



II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie. 41 

zwei Punkten derselben ihren Ursprung nimmt, welche besonders 
zur Abänderung in höhere Formen hinneigen. 

Wir gehen nach Erledigung dieses Punktes zu dem schon er- 
wähnten zweiten Einleitungscapitel der Phil. d. Unb. über. Dieses 
Capitel ist mehrfach in dem Sinne missverstanden worden, als sollte 
es allein und für sich die Existenz von Naturzwecken beweisen, 
während doch deutlich genug ausgesprochen ist, dass es sich hier 
nicht um materiale Erkenntniss, sondern „nur um die Feststellung 
der formalen Seite des zweckerkennenden Denkprocesses handelt" 
(S. 41),*) um Aufklärung der Principien, „nach welchen sich der 
logische Process über diesen Gegenstand mehr oder minder un- 
bewusst in jedem vollzieht, der hierüber richtig nachdenkt" (S. 48) **). 
Nur die Anwendbarkeit dieses logischen Schemas auf „Beispiele in 
Masse" soll den Gegner von der Wahrheit der Teleologie tiberzeugen 
können, nicht etwa die wenigen in diesem Capitel „nur zur Erläu- 
terung und Veranschaulichung der abstracten Darlegung" beigefügten 
Beispiele. Wir können daher ruhig zugeben, dass die Art und 
Weise, in welcher sich mehr oder minder unbewusst in jedem An- 
hänger der Teleologie die Ueberzeugung von der Existenz wirkender 
Naturzwecke herausbildet, hier richtig belauscht und wiedergegeben 
sei, und werden damit doch noch nicht im Geringsten eine objective 
Gültigkeit der so entstandenen Ueberzeugung eingeräumt haben. 
Ob dieser Process zu positiv begründeten Resultaten führt oder 
nicht, hängt ganz davon ab, ob die abstracten Voraussetzungen, 
welche zum Rechnungsansatz der Wahrscheinlichkeitsrechnung be- 
nutzt werden, in dem jedesmal gegebenen concreten Fajle zutreffen. 
Nun ist aber das Hauptmittel zur Erlangung einer grösseren Wahr- 
scheinlichkeit die Voraussetzung, dass zur Erzielung einer gewissen 
zweckmässigen Wirkung (z. B. des menschlichen Sehens) eine grös- 
sere Anzahl von einander unabhängiger Bedingungen (S. 41)***) 
zusammenwirken müssen, von denen keine fehlen darf (z. B. hier 
die vielen Einrichtungen des menschlichen Auges — S. 43) f). Die 
Unabhängigkeit der Bedingungen von einander ist unbedingtes 



•) 7. Aufl. I. 41. 

**) 7. Aufl. L 47. 

***) 7. Aufl. I. 43. 

t) 7. Aufl. 1. 40 Anm. 



42 Text der ersten Auflage. 

Erforderniss; ohne welches die Rechnung falsch wird (S. 41 *) Anm.). 
Gerade hier springt es recht deutlich in die Augen, dass dieses' 
Capitel vor dem Bekanntwerden mit der vollen Bedeutung der Des- 
cendenztheorie geschrieben sein muss; denn die Descendenztheorie 
zeigt' eben, däss die verschiedenen demselben Zwecke dienenden 
Einrichtungen desselben Organs oder desselben Organismus immer 
Hand in Hand mit einander sich entwickeln, aus gemeinsamen In- 
differenzpunkten heraus sich differenziren und in ihrer allmählichen 
Vervollkommnung durch die gleichen Ursachen bestimmt werden, 
also nichts weniger als unabhängig von einander genannt werden 
können — Bleiben wir, um auch unsererseits eine Erläuterung zu 
geben, bei dem Beispiel des menschlichen Auges , so dürfen wir 
dasselbe nicht als etwas Fertiges ansehen, und seine wirkenden 
Ursachen mit der Betrachtung der embryologischen Entwickelüngs- 
momerite als abgeschlossen betrachten, wie jenes Oapitel es thut, 
sondern wir müssen die Lehre der Descendenztheorie heranziehen, 
dass die wirkenden Ursachen für die Beschaffenheit des Menschen- 
auges in der ganzen Entwickelungsreihe seiner directen Vorfahren, 
bis zur Urzelle und protoplasmatischen Monere hinab, zu suchen 
seien. Man muss sich hierbei stets vergegenwärtigen, dass in der 
Entwickelung des organischen Lebens jede Function früher da ist, 
als das ihr specifisch dienende Organ entwickelt wird, eine That- 
sache, welche wesentlich dazu beiträgt, viele Räthsel auf mechani- 
schem Wege zu lösen, welche ohne dieselbe nur auf teleologischem 
Wege lösbar scheinen. 10 ) Das Protoplasma selbst ist gleichsam 
jenes Ur wunder, 11 ) welches alle Functionen der Sinneswahrnehmung, 
Bewegungsfähigkeit, Theilungs- oder Fortpflanzungsvermögen, Assi- 
milatioü&kraft u. s. w. in sich vereinigt ; denn die Versuche an den 
einfachsten Moneren (Protoplasmaklümpchen ohne nachweisliche 
Zellmembran) zeigen, dass es für alle Arten von Reizen (Electricität, 
Licht, Wärme, Lufterschütterung, Berührung u. s. w.) empfindlich 
ist, und auf dieselben mit Contraction, Formveränderung (welche 
Locomotion oder Theilung im Gefolge haben kann), chemischer 
Action (Verdauung) und Wachsthum reagirt, während das Wachs- 
thum über eine gewisse Grösse hinaus nach physikalischen Gesetzen 
das Zerfallen des Protoplasmatropfens in zwei kleinere (wie bei 



*) 7. Aufl. L 41. 



n. Die Teleologie vött ^nd^uükte deKIÜescendenztheoric. ¥$ 

einem* mehr and mehr vergrösSfertett Qtfecksilbertrrjpfett) ' nach si 3h 
zieht. Das Protoplasma'' ist mithin der Ur-Itfdlfferenzpunkt 1 
allfer organischen Lebenstbätigkeit, von welchem ans sich die v r- 
s^hiedenen Organe und Systeme erst allmählich differenzircn, 
indem gewisse T heile des Protoplasma"« eine für je eine od^r' 
mekrere bestimmte Arten von« Functionen vorzugsweise ge- 
eignet« Beschaffenheit annehmet*. Die so itn Organismus einge- 
tretene Arbeit stbeilnnig wird iran durch Vererbung auf die 
Nachkommen übertragen und im Laufe der zahllosen Geschlechter- 
folgen verschiedenster Specien und Ordnungen immer mehr ver- 
vollkommnet, d. h. immer stärker differenzirt. So z: B. besteht die ' 
erste Differenzirung behufs grosserer Liehtempfindliehkeit in Aggre- 
gaten von Pigmentzellen, welche, ohne einen Sehnerven : zu besitzen, 
auf einer Sarcodemasse aufliegen, and nach Jourdain als Sehorgane 
dienen; Der nächste Fortschritt ist, dass eitfe Art Sehnerv steh 
biWety. dessen Ende von einer durchscheinenden» Haut geschützt und' 
von den Pigmentzellen umlagert wird. Von dieser Art ist selbst 
noch das Auge des Afflphioras, des Urvaters des Wirbelthierreichs; 
der als solcher auch zn den^directen Vorfahren des Menschen l ge- 
hört; das Organ liegt hier in einer faltenartigen mit Pigmentzellen 
ausgekleideten Hauteinsttilpung, in weichet der Nerv von durch- 
seheinender) Haart, ohne irgend welchen andern Apparat bedeckt ist 
Wenn sieh diese Vertiefung (wie schon bei manchen Seesternen) 1 
mit gallertartiger, durchsichtiger, aussen gewölbter Masse ausfällt, 
so wird dadurch; zunächst ein« Ooncentratkm, also eine Verstärkung 
der Intensität: dar Lichtwirkang erzielt; man sieht ferner, dass durch 
Herstellung eines ' entsprechenden * Zwischenraums zwischen Nerven- 
ende und. ' linsenförmiger Gallertmasse das Entwerfen eines Bildes ' 
auf dem ersteren durch die letztere ermöglicht wird. (Auch beim 
Mensehen entwickelt sich die Linse ursprünglich nur aus einer ' 
Aahäfefung von • Epidermiszellen in einer sackförmigen Haatfalte, 
während der, Glaskörper sich ans dem embryonalen 1 subcutanen' 
Gewebe bildöt). In: den beiden Cäassen der Fische und Reptilien 
ist nun, wie oben bemerkt, die Reihe von Abstufungen der diöptfi- 
ßohen, Bildungen sehr graray und auf einfetaWege, den 1 zu vörfbl^ecf 
hiarizu wfcitdÄretawittrde, gelang* das 'Afcge^ erat gatifc'alliriähliötf 
za denxjenigeüiGiadeiidepiVervollfoMnBQnung; welchen wir am riifenfcelfr* 
liehen OrgjmiflBÄft: bbwunderaP Wie weit i entfernt abW autfh dftSöe 



44 Text der ersten Auflage. 

von einer makellosen Vollkommenheit ist, wie sehr sie den Charak- 
ter zufälliger Anpassung und bedenklicher Compromisse an sich 
trägt, und wie viel die unbewussten Schlüsse des Verstandes bei der 
Entwickelung der Wahrnehmung aus dem gegebenen Empfindungs- 
material vertuschen, corrigiren, ersetzen und hinzu erfinden müssen, 
um uns den Schein eines vollkommenen Organs vorzugaukeln, hat 
u. A. Helmholtz in der ersten Abhandlung des II. Bandes seiner 
„Populären wissenschaftlichen Vorträge" auseinandergesetzt J *) 

Die Nichtberücksichtigung aller dieser allein in das Verständniss 
der Sache einführenden Umstände lässt die Anwendung des logischen 
Schemas auf das vorliegende Beispiel als unstatthaft erscheinen. 
Dieses Beispiel ist aber ebenso typisch für die in den Organismen 
angestaunte Zweckmässigkeit, wie jenes logische Schema typisch ist 
für die psychologische Entstehung des Glaubens an die Zweckmäs- 
sigkeit als in der Natur wirksames Princip, wie solche in den 
Köpfen derer vor sich geht, die ohne Eenntniss der Descendenz- 
theorie über solche Probleme nachdenken. Es behält demnach 
dieses Capitel nur insofern einen Werth, als es uns das Ver- 
ständniss eines systematischen Irrthums und seiner 
bis zum siegreichen Durchbruch der Descendenztheorie dauernden 
Geltung erschliesst. 18 ) Dagegen wird es kaum möglich sein, Bei- 
spiele aus dem Bereich der organischen Natur zu finden, welche 
nicht durch die Anwendung der Descendenztheorie auf ihre Erklä- 
rung in ein solches Licht gerückt wurden, dass die Anwendung 
jenes logischen Schemas auf dieselben als ausgeschlossen erscheint. 
Denn die Descendenztheorie lehrt uns, dass eine Unabhängigkeit 
der bei einer organischen Erscheinung cooperirenden Bedingungen 
nicht existirt, dass vielmehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten 
aus gemeinsamem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben 
Ursachen 14 ) war, und die Theorie der natürlichen Zuchtwahl^lehrt 
uns eine von diesen Ursachen, und wohl unzweifelhaft die wichtigste 
als eine solche kennen, welche durch rein mechanische Compensa- 
tionsphänomene zweckmässige Resultate hervorbringt. Die Descen- 
denztheorie stellt das teleologische Princip nur in Frage, indem 
es ihm den Boden für einen positiven Beweis entzieht; die Lehre 
von der natürlichen Zuchtwahl aber beseitigt dasselbe ganz 
direct, so weit als sie selbst mit ihrer Erklärung reicht. Denn die 
natürliche Auslese im Kampf um's Dasein, das Zugrundegehen des 



II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie. 45 

minder Zweckmässigen and das Ueberleben und Sichweitervererben 
des Passendsten und Zweckmässigsten ist ein Vorgang von mecha- 
nischer Causalität, in dessen gleichmässige Gesetzlich- 
keit nirgends ein teleologisch bestimmendes meta- 
physisches Princip eingreift, und doch geht ans ihm ein 
Resultat hervor, das wesentlich der Zweckmässigkeit entspricht, 
d. h. diejenige Beschaffenheit besitzt, welche den Organismen unter 
den gegebenen Umständen die höchste Lebensfähigkeit verleiht. Die 
natürliche Zuchtwahl löst das scheinbar unlösliche Problem, die 
Zweckmässigkeit als Resultat zu erklären, ohne sie 
dabei als Princip zu Hülfe zu nehmen. 16 ) 

Man konnte bisher zu der Zweckmässigkeit der organischen 
Einrichtungen in der Natur eine zweifache Stellung nehmen: ent- 
weder man erkannte die empirisch gegebene Thatsache dieser 
Zweckmässigkeit an, oder man leugnete sie der Erfahrung zuwider. 
Merkwürdigerweise hat die Philosophie meistentheils dieser empiri- 
schen Thatsache Rechnung getragen, während gerade der natur- 
wissenschaftliche Materialismus, der sich verpflichtet erklärte, einer 
speculativen Philosophie gegenüber die Fahne der Empirie hoch- 
zuhalten, sich durch Ableugnung aller Naturzweckmässigkeit bis 
auf die allerneueste Zeit mit der Erfahrung in Widerspruch setzte. 
Er beging aber diesen Verstoss gegen sein methodologisches Princip 
deshalb, weil er fühlte, dass er sich nach Anerkennung der Natur- 
zweckmässigkeit (vor dem Bekanntwerden der Darwinschen Be- 
gründung der Descendenztheorie) consequenter Weise nicht der 
Anerkennung eines teleologischen Princips neben dem der mechani- 
schen Causalität entziehen konnte; ehe er aber auf diese Weise 
sein materiales Princip preisgab, beging er lieber jenen Wider- 
spruch gegen sein formales Princip, und ging mit krampfhaft 
geschlossenen Augen gegen die überall sich aufdrängende Thatsache 
der Zweckmässigkeit durch die Welt. Dieser naturwissenschaftliche 
Materialismus, der zum letzten Mal als Reaction gegen den Hegelia- 
nismus in den vierziger und fünfziger Jahren eine gewisse Blüthe 
erlebte, erlitt einen totalen Umschwung durch die Darwinsche Mo- 
dification der Descendenztheorie, welche ihm plötzlich die Augen 
darüber aufechloss, dass gerade die Anerkennung und Verfolgung 
dieser Zweckmässigkeit eines der wichtigsten Förderungs- 
ini ttel für seine Aufgabe des Verständnisses der causalen 



46 Te*t dflr .ernten Auflage. 

Naturzusamwenbftnge werde. Vor Darwin hatte derjenige, wdoher 
die Naturzweckmässigkeit anerkannte, nur die Wahl, entweder ein 
teleologisches metaphysisches Princip als in der Natur wirksam zu 
siqpponiren, oder sich dem für den Naturforscher völlig unbrauch- 
baren und auch philosophisch längst überwundenen eubjectfoen 
Idealismus (Kant, Fichte, Schopenhauer) in die Arme zu werfen, 
welcher alle Erfahrung, also auch die empirisch wahrgenommene 
Naturzweekmäsaigkeit, in vom Subject producirte Erscheinungen 
ohne eine über das Gebiet des Subjectiven hinübergreifende Realität 
verwandelt. Jetzt zum ersten Mal war die Möglichkeit gegeben, 
die Zweckmässigkeit der Natur anzuerkennen, aber isie nur als 
ein durch genau aufzeigbare mechanische Compensations- 
processe entstandenes Resultat anzuerkennen. 

Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet erhält die Leistung Darwin's 
zugleich die Bedeutung einer eminenten philosophischen That, 
deren Tragweite für die Umwandlung der philosophischen Systeme 
sich jedenfalls in eine im Einzelnen bm jetet (Unabsehbare Perspective 
ausdehnt. — Ein sehr gutes Beispiel zu den GompennationswirkuHgeii 
oder Appaä&ungs- und Ausgleichsphänomenen, welche dorn dee Ent- 
stehungsproecsses Unkundigen als zweckmässig erscheinen mtsaeii, 
giebt Wallace (Beiträge S. 315 ff.) in der Besprechung eines Stroaa- 
#ystems, lß ) welches dazu dient, das dureh Verdunstung vom 
Meere aufgestiegene und als Regen auf das Festland niedergefallene 
Wasser wieder zum Meere zurückzuführen, und so den Kreislauf 
des Wassers zu schliessen ; ein solches Flussbett in seinen Verzwei- 
gungen sieht ganz aus, als ob es für den Flnss gemaeht wäre, 
während es doch durch denselben gemacht ist. „Setzen wir 
voraus, dass Jemand, der von moderner Geologie absolut Nichts 
weiss, sorgfältig ein grosses Flusssystem studirt. Er findet in seinem 
niedriger gelegenen Theile einen tiefen breiten Ganal, der bis an 
den Band gefüllt ist, dessen Wasser langsam durch eine flache 
Gegend dabinfliesst und eine Menge von Sedimenten in die See 
trägt. Höher hinauf verästelt er sich in eine Anzahl kleiner Canäte, 
welche abwechselnd durch flache Thäler und hohe Uferhäpfce flies- 
ten; manchmal findet er ein tiefes Felsenbett mit senkrechtem 
Mauern, welche das Wasser durch eine Hügelkette leiten; wo der 
Strom eng ist, findet er ihn tief, wo er weit ist, seicht Weiter 
frinpgf fo>ipmt er in eine Berggegend mit hunderten ypn kleine» 



II. Die Teleologie vom Standpunkte der Deecendenztheorie. 47 

Strömen und Flüsschen, ein jeder mit geinen Seitenbächen and 
Einnen, welche das Wasser aas jeder Quadratmeile Oberfläche 
sammeln, und ein jeder Canal der Menge des Wassers, welches er 
zu leiten hat, angepasst. Er findet, dass das Bett eines jeden 
Zweiges and Stromes and Baches steiler und steiler wird, je mehr 
er sich den Quellen nähert, und auf diese Weise in den Stand ge- 
setzt ist, das Wasser nach heftigem Regen fortzuschaffen, und die 
Steine, die Kiesel und den Sand zu entfernen, welche sonst seinen 
Lauf hemmen würden. In jedem Theile dieses Systems würde sr 
genaue Anpassung von Mitteln an einen Zweck finden. Er würde 
sagen, 4&3S dieses Cajialsystem planmässig angelegt worden Beiß 
müsse, da es seinem Zwecke so wirksam entspricht. Nur ein Geist 
konnte so genau die Abschüssigkeit der Ganäle, ihre Capacität und 
die Schnelligkeit ihres Laufes der Natur des Bodens und der Menge 
des Regenfalles angepasst haben. Dann weiter würde er specielle 
Anpassung an die Bedürfnisse des Menschen sehen, wenn breite 
ruhige schiffbare Flüsse durch fruchtbare Ebenen fliessen, welche 
eine grosse Bevölkerung enthalten, während die Felsenströme und 
Bergwasser auf jene unfruchtbaren Gegenden begrenzt sind, welche 
nur für eine kleine Bevölkerungsmenge von Schäfern und Hirten 
passen. Er würde mit Ungläubigkeit auf den Geologen hören, 
welcher ihm versicherte, dass Anpassung und Ausgleichung, welche 
er so bewunderte, ein unvermeidliches Resultat der Thätigkeit all- 
gemeiner Gesetze wären. Dass Regen und Flüsse durch #ater- 
ixdische Kräfte unterstützt, das Land modellirt, die Hügel und 
Thäler gebildet, die Flussbetten ausgehöhlt und die Ebenen pivellirt 
hätten; — und nur nach vieler geduldiger Beobachtung und ein- 
gehendeip Studium, nachdem er die unbedeutenden Veränderifijgen 
tiberwacht haben würde, welche Jahr für Jahr entstehen, und nach- 
dem er sie mit tausend und zehntausend multiplicirt, nachdem er 
die verschiedenen Gegenden der Erde besjucht und die Veränderun- 
gen, welche überall Platz greifen, und die unverkennbaren Zeichen 
grösserer Veränderungen in vergangenen Reiten beobachtet h^tte 
— würde er es verstehen, dass die Oberfläche der Erde, wie schön 
und harmonisch sie auch aussieht, in jeder Einzelheit von der Thä- 
tigkeit von Gräften abhängt, welche sich erwiesener Maassen selbst 
ausgleichen." 



48 Text der ersten Auflage. 

„Und mehr noch, wenn er seine Untersuchungen genügend aus- 
gedehnt hätte, so würde er finden, dass jeder üble Effect, welchen 
er für das Resultat der Nichtausgleichung würde halten müssen, 
hier oder da vorkommt, nur dass er nicht immer übel ist. Wenn 
er auf ein fruchtbares Thal sieht, so würde er vielleicht sagen: 
„„Wenn der Canal dieses Flusses nicht wohl adjustirt wäre, wenn 
er einige wenige Meilen einen verkehrten Weg ginge, so würde 
das Wasser nicht ablaufen können und all diese üppigen Thäler, 
die voll von menschlichen Wesen sind, würde das Wasser ver- 
wüsten." " Wohl, es giebt Hunderte solcher Fälle. Jeder See ist 
ein Thal, „vom Wasser verwüstet", und in einigen Fällen (wie 
beim todteil Meer) ist es ein positives Uebel, ein Fleck in der 
Harmonie und Anpassung der Oberfläche der Erde. Und wieder 
könnte er sagen: „„Wenn hier kein Regen fallt und die Wolken 
über uns fort in eine andere Gegend ziehen, so würde dieses grüne 
und hoch cultivirte Land eine Wüste werden." " Und es giebt solche 
Wüsten, über einen grossen Theil der Erde hin, welche fruchtbarer 
Regen in schöne Wohnplätze für den Menschen verwandeln würde. 
Oder er könnte einen grossen schiffbaren Fluss beobachten, und 
reflectiren, wie leicht Felsen oder ein steileres Bett an einer Stelle 
ihn für den Menschen nutzlos machen würde; — und ein wenig 
Forschung würde ihm zeigen, dass Hunderte von Flüssen in jedem 
Theile der Erde existiren, welche auf diese Weise für die Schifffahrt 
nutzlos geworden sind." 

„Genau dasselbe findet in der organischen Natur statt, wir 
sehen einen wunderbaren Fall von Ausgleichung, eine ungewöhnliche 
Entwickelung eines Organes, aber wir tibergehen jene Hun- 
derte von Fällen, in denen diese Ausgleichung und Entwicke- 
lung nicht vor sich ging. Ohne Zweifel greift, wenn eine 
Ausgleichung nicht statt hat, eine andere Platz, weil kein Orga- 
nismus zu existiren fortfahren kann, der nicht seiner Umgebung 
angepasst ist; und stetige Abänderungen mit unbegrenzter Kraft 
der Vervielfältigung geben in den meisten Fällen die Mittel zur 
Selbstausgleichung." 

Wenn man erst auf diese Gompensationsphänomene achtet, so 
kann man sie allerwärts beobachten, und sie sind sogar in einfache- 
ren Fällen der mathematischen Behandlung nicht unzugänglich. 
Denken wir uns z. B. auf einem gemeinsamen, die Erschütterungen 



n. Die Teleologie vontf Standpunkte der Descendenztheorie. 49 

fortpflanaenden Fundament eitö gröfese Anzahl Uhren von ganz ver- 
schiedener Pendeltänge im Gange, so wird jede 1 der Uhren jede 
andere in ihrem Peüdelgange beeinflussen, theils in beschleunigen- 
dem, theils in verlangsamendem Sinne, je naehdem die Herstellung 
möglichster Goineidenz deä Ganges auf die eitle oder auf die andere 
Weise leichter erreichbar ist. Durch diese Einflüsse werden zunächst 
die zufälligen Verschiedenheiten in der zeitlichen Lage der An- 
fangspunkte der Undulationen beseitigt und in der Weise conform 
gemacht, dass von Zeit zu Zeit eine Periode wiederkehren muss, 
wo alle Pendel gleichzeitig einen Ausschlag machen. {Zweitens 
aber bewirken diese Einflüsse dauernde Anpassungen in der 
Undulatiönsgeschvnndigkeit der verschiedenen Pendel in dem Sinne, 
dass die genannte Periode möglichst verkürzt wird, also der 
gemeinsame Ausschlag aller und eine daz wischenfeilende möglichst 
häufige Goineidenz möglichst vieler Pendel möglichst oft wiederkehrt. 
So entsteht das Compensationsphänomen einer rhythmisch geglieder- 
ten Periode, deren eigentümliche Architektonik sich auch empirisch 
dem Ohr vernehmlich macht, so dass man fast an eine verborgene 
Absicht in der Regulirung glauben könnte, wenn nicht die mathe- 
matische Behandlung dieses mechanischen Problems die strenge 
Notwendigkeit des Resultates ausser Frage stellte. Etwas Aehnliches 
wie bei den Uhren in diesem Beispiel findet in der kosmischen 
Mechanik in der gegenseitigen Beeinflussung der um die Sonne 
laufenden Planeten statt, welche in Folge der elliptischen Beschaffen- 
heit ihrer Bahnen ebenfalls wirkliche Oscillationen beschreiben ; nur 
ißt das Resultat hier ein umgekehrtes, d. h. es wird jede Bildung 
einer Goincidenzperiode auf die Dauer unmöglich, weil, wenn solche 
stattfände, die Störungen bei jeder Wiederkehr beträchtlicher würden 
und die Selbstständigkeit der betreffenden Planeten vernichten 
würden. Bedenkt man nun, dass das Planetensystem durch all- 
mähliche Zusammenziehung der Sonne unter Ablösung von Ring- 
nebeln entstanden ist, so erhellt sofort, dass bei diesem überaus 
langen Process nur solche Planeten als selbstständige Re- 
sidua resultiren konnten, welche vor einer solchen Auf- 
hebung ihrer Selbstständigkeit durch wiederkehrende Periodicität 
der Störungen sicher sind, d. h. deren Bahnen in irrationalem 
Verhältnis zu einander stehen. Betrachtet man diese Thatsache 
und die Garantie des Bestehens, welche sie dem Planetensystem 

E. t. Hart mann, Das Unfcewuaste» 2. Aufl. 4 



50 Text der ersten Auflage. 

gewährt, losgelöst von dem Entstehnngsprocess desselben, ans 
welchem sie als Compensationsphänomen resultirte, so kann man 
kaum umhin, eine unergründliche Weisheit in dieser Anordnung zu 
bewundern. 

Ist es schon in der unorganischen Natur oft schwierig genug, 
die Compensationswirkungen im Naturhaushalt und das universale 
Anpassungsgleichgewicht, welches derselbe repräsentirt, zu verstehen, 
so ist es kein Wunder, dass wir mit unserm Verständniss der ana- 
logen Erscheinungen auf dem unendlich viel complicirteren Gebiete 
der organischen Natur noch bei den ersten schüchternen Versuchen 
des Eindringens stehen. So weit aber sind wir durch Darwin in 
der That schon geführt worden, dass die Richtung, in welcher 
einzig und allein weitere Aufschlüsse zu erwarten sind, keinem 
naturwissenschaftlich veranlagten Kopfe mehr zweifelhaft sein kann. 



ffl. 

Die Entwickelung vom Standpunkte der 

Descendenztheorie. 



— »^»w» » ^ 



Schopenhauer sucht eismal zu beweisen, dass diese Welt die 
schlechteste von allen möglichen (d. h. existenzfähigen) sei („Welt 
als Wille nnd Vorst." 3. Aufl. Bd. II. S. 667). Er sagt daselbst: 
„Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein musste, um mit 
genauer Noth bestehen zu können: wäre sie noch ein klein wenig 
schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist 
eine schlechtere, da sie nicht bestehen könnte, gar nicht möglich, 
sie selbst also unter den möglichen die schlechteste." Die Ph. d. U. 
nennt dies (S. 638)*) „ein offenbares Sophisma," und wir können 
ihr nur darin beistimmen. Das „Bestehen" nämlich ist hier zu- 
nächst doppelsinnig genommen ; denn wenn „diese Welt" nicht mehr 
bestehen kann, so hört sie darum nicht auf, als Welt zu bestehen, 
sondern nur als diese zu bestehen, d. h. sie wird insoweit eine 
andere, dass ein neues Anpassungsgleichgewicht eintritt, welches 
in seiner Art weder schlechter noch besser, sondern ebenso gut ist 
ab das frühere. Dass es nun aber in der Natur dieser Welt liegt, 
in jedem Moment eine andere zu werden, und dass der Begriff 
„dieser Welt" die gesammte Reihenfolge der in ihr naturgemäss 
zur Entfaltung kommenden Zustände und Veränderungen in sich 
befasst, ist dabei übersehen, sonst könnten nicht auf S. 668 die 
untergegangenen Faunen und Floren früherer geologischer Perioden 



*) 7. Aufl. IL 295. 

4* 



52 Text der ersten Auflage. 

als Welten bezeichnet werden, „die noch etwas schlechter waren, 
als die schlechteste unter den möglichen." Wenn wirklich frühere 
Welten schlechter waren, als die jetzige, so kann diese letztere nicht 
die schlechteste aller möglichen sein; andererseits da auch die 
gegenwätige nicht so bleiben kann, wie sie ist, sondern ebenso dem 
Untergang verfallen ist wie die paläozoischen Fannen, masste auch 
sie schlechter sein als die schlechteste aller möglichen, so dass das 
Argument jedenfalls zu viel beweisen würde. Wenn die dem 
jetzigen Weltzustande eventuell bevorstehende Veränderung zum 
Schlechteren führte, so wäre damit eben der Gegenbeweis gegen 
die Thejäis geführt; wenn sie za einem Zustand führen würde, der 
in seiner Art gleich gut ist, so wäre Veränderung oder das Stationär- 
bleiben indifferent für die Beurtheilung des Werthes der gegen- 
wärtigen Welt; wäre endlich die Veränderung ein Uebergang zum 
Besseren, so müsste ihr Werth als Durchgangsstufe mit in Rechnung 
gestellt, werden. Auf alle Fälle ist Schopenhauers ÄTgumentations- 
weise sophistisch, und haltlos. Aber wohlgemerkt gilt dies von ihr 
nur in Bezug auf die Welt als Ganzes, nicht aber von. ihrer An- 
wendung auf das Einzelne namentlich in Verbindung mit dem schon 
von Schopenhauer daselbst angedeuteten allgemeinen Kampf um's 
Dasein und dem unglaublich grossen Ueberschuss der Keime (S; 668). 
So verstanden und zugleich: auf die Existenzfrage in» einem ganz 
bestimmten Zeitpunkt und unter ganz bestimmten Verhältnissen be- 
zogen, ist es allerdings richtig, däss. das. Anpassungsgleichgewicht 
für jede Species eben nicht mehr als das Minimum der Existenz- 
fähigkeit bedeutet, dessen- es bedarf, um nicht zu verkümmern 
und auszusterben; aber es ist diese Bemerkung trotzdem auch so 
noch einseitig und dadurch irreleitend; denn es ist die Kehr- 
seite der Medaille vergessen, dass jedes Anpassungsgleicbgewioht 
etwas in seiner Art Vollkommenes ist, welches jeder Speoies 
alles zuweist, dessen sie zum Leben in den ihr gegebenen Ver- 
hältnissen bedarf, — dass ein Mehr, in dieser Richtung das Be- 
stehen dieser augenblicklich vorhandenen Welt ganz ebenso, 
stören würde wie ein Weniger, da jedes Plus irgend einer Species 
an Lebensfähigkeit ein Ue bergreifen derselben über ihr bis- 
heriges Gebiet und die Zurttokdrängung oder; Vernichtung; anderer 
Arten von Lebewesen und damit zugleich eine Umwandlung des 
bestehenden Weltzustandes in einen andern zur Folge habe» würde. 



m. Die Entwickelang Vota Standpunkte 'der Descendenztheorie» 53 

Weil jede im Anpassungsgleichgewicht befindliche Art fiir ihre ge- 
gebenen Lebensbedingungen vollkommen ausgerüstet ist, darum 
würde ihr jedes Plus werthlos und nutzlos sein für diese 
Lebensverhältnisse; und würde sie sofort zum Uebergreifen über ihre 
Sphäre anspornen und zum Hinaustragen der Goncurrenz um's Da- 
sein in andere Lebensverhältnisse zwingen, die ihr bisher, ver- 
schlossen waren und längst von anderen Arten occupirt Bind; des- 
halb können wir aber auch mit demselben Recht, wie wir oben die 
Gaben und Einrichtungen einer Species als das Minimum ihrer 
Existenzfähigkeit bezeichneten, sie nun auch ab das Maximum 
bezeichnen, bei Ueberschreitung dessen die Art nothgedrungen die 
ihr in diesem Weltzustande oder in dem vorliegenden Anpassungs- 
gleichgewicht des Gesammtnaturhaushalts gezogenen Grenzen der 
Lebensverhältnisse überschreitet und diese Welt zu einer anderen 
macht. 

In Wirklichkeit nun ändert sich, wie schon bemerkt, der Welt- 
zustand beständig, und keine solche Aenderung ist denkbar, bei 
welcher nicht, was auf der einen Seite eine oder mehrere Species 
gewinnen, auf der andern Seite eine oder mehrere Species einbüssen. 
Dieser Satz gilt für die organische Natur auf Erden wenigstens für 
die unseren Blicken überschaubare Zeit eines ungefähren Sichgleich- 
bleibens der Bewohnbarkeit der Erde ; er dürfte wohl, obgleich sich 
dies vorläufig nicht inductiv erweisen lässt, auch für die Welt als 
für ein Ganzes gelten, in welchem die gesammte unorganische Natur 
and die Organisationen sämmtlicher hierzu geeigneter Weltkörper 
in Eins gefasst sind. Allerdings gilt dieser Satz nicht genau, so- 
bald wir die Geschichte der Erde von dem ersten Moment an, wo 
Organisation möglich wurde, bis zu dem Augenblick, wo keine mehr 
möglich sein wird, im Zusammenhange betrachten. Denken wir uns 
die Zeit dieses Abkühlungsprocesses von dem Unbewohnbarkeits- 
punkt vor Hitze bis zum Unbewohnbarkeitspünkt vor starrer Eälte 
behufs graphischer Versinnbildlichung auf die Abscissenaxe auf- 
getragen, auf dieser alsdann in gleichen Zeitabständen Ordinaten 
errichtet, deren Höhe nach der Günstigkeit des betreffenden Zeit- 
punktes für das Bewohntwerden durch organische Wesen bemessen 
ist, und die oberen Endpunkte aller Ordinaten durch eine Gurve 
verbunden, so repräsentirt diese Curve den quantitativen Verlauf 
der Bewohnbarkeit der Erde während der Dauer derselben; sie muss 



54 Text der ersten Auflage. 

einen aufsteigenden und einen absteigenden Ast zeigen, die durch 
ein ziemlich breites Stück in der Nähe des Maximums verbunden 
sind. Diese Curve repräsentirt natürlich nur die Aenderung des 
durchschnittlichen Bewohnbarkeitsmaasses der Erdoberfläche, 
während die Bewohnbarkeit ihrer verschiedenen Stellen jederzeit 
sehr verschieden ist, und theils aus kosmischen, theils aus tellurischen 
Ursachen an jedem Punkte fortwährend sehr bedeutenden Schwan- 
kungen unterworfen ist. In jeder dieser Schwankungen erfüllt sich 
das Gesetz, dass, was eine Art verliert, die andre gewinnt, aber 
nur mit der näheren Bestimmung, dass ein Wachsen oder Abnehmen 
der durchschnittlichen Bewohnbarkeit der Erde zugleich auch dem 
Gedeihen und der Organisation im Ganzen oder im Durchschnitt 
zu Gute kommt, beziehungsweise zum Nachtheil gereicht Ver- 
zeichnen wir in der graphischen Darstellung eine zweite Curve, 
welche die Veränderung der durschnittlichen Höhe der Organisation 
auf Erden repräsentirt, so muss diese Curve der ersteren ähnlich 
sein, der Zeit nach aber etwas später liegen, da eine Veränderung 
der Verhältnisse der Erdoberfläche eine gewisse Zeit braucht, um 
ihren Einfluss in Herstellung eines neuen Anpassungsgleichgewichts 
auszuwirken; namentlich wird die Verschiebung der zweiten Curve 
gegen die erste in der Nähe des Maximums ziemlich be- 
trächtlich sein, weil dort die grösste Widerstandskraft der 
einmal entstandenen Organisation gegen Veränderungen der Um- 
gebung vorliegt. 

Die Veränderungen, welche jede locale Schwankung in der 
Organisation der betreffenden Localität erzeugt, produciren die ver- 
schiedenartigsten Formen neuer Anpassungsversuche, und im auf- 
steigenden Ast der Curve werden solche neue Formen bei dem 
allgemeinen Günstigerwerden der Bewohnbarkeitsverhältnisse meist 
Gelegenheit finden, sich geographisch über ihren Entstehungsbezirk 
hinaus auszubreiten, und wie viele von ihnen auch unterliegen und 
bald wieder zu Grunde gehen, gerade die kräftigsten und lebens- 
fähigsten der neuen Formen werden ganze Erdtheile für sich er- 
obern. Dies ist die Entstehungsgeschichte aller gegenwärtig weit- 
verbreiteten Arten, die stets auf einen engen Bezirk als auf ihr 
Ausbreitungscentrum und ihre Entstehungsheimath hinweisen. Die 
immer erneute Wiederholung dieses localen Höherbildungsprocesses 
mit nachfolgender geographischer Ausbreitung und siegreicher Ver- 



III. Die Entwickelang vom Standpunkte der Descendenztheorie. 55 

drängung anderwärts bereits angesiedelter minder concurrenzfähiger 
Arten ist es, wodurch die allmähliche Gesammthöherbildung der 
Organisation sich vollzogen hat und noch beständig vollzieht, na- 
mentlich in dem Höherbildungsprocess der Menschheit in sich durch 
mmer von Neuem wiederholte Aasrottang der niederen Bacen durch 
die von ihrem localen Entstehungsbezirk sich ausbreitenden höheren 
Sacen und Stämme, — ein Process, den die Phil. d. U. ganz richtig 
(ohne teleologische Eingriffe) zeichnet (S. 341—343 und 569).*) 
Wenn die periodische Aenderung der Verhältnisse an einer be- 
stimmten Stelle mit häufiger Wiederkehr schon früher stattgehabter 
Zustände im Allgemeinen einen Kreislauf von Formen erzeugen 
muss (z. B. periodische Wiederkehr von Eiszeiten), so wird doch 
dieser Kreislauf niemals ein vollständig und genau in sich zurück- 
kehrender sein, sondern einer Spirale gleichen, welche eine auf- 
steigende Richtung zeigt, so lange die Gesammtversältnisse der 
Erde noch im Günstigwerden begriffen sind, im umgekehrten Fall 
aber absteigende Richtung besitzen muss. Dass das Maximum 
günstiger Bedingungen für die Bewohnbarkeit der Erde schon jetzt 
erreicht sei, ist nicht wahrscheinlich; wenn wir bedenken, dass von 
den Menschenracen die höchsten Culturracen stets aus gemässigten 
Elimaten hervorgegangen sind, und dass der Grundstock des irdi- 
schen Festlandes noch ein mehr tropisches Klima besitzt, so dürfen 
wir von einer weiteren Abkühlung der Erde erwarten, dass noch 
grössere Landstriche als bisher einladend für die menschlichen 
Culturracen werden dürften. Jedenfalls, mag nun die Bewohn- 
barkeitscurve ihr Maximum schon erreicht haben oder nicht, liegt 
doch das Maximum der Organisationscurve noch vor uns in 
der Zukunft. Wir befinden uns mit anderen Worten noch im 
aufsteigenden Ast der die Organisationshöhe bezeichnenden Curve; 
nicht nur zeigt uns ein Blick nach rückwärts ein beständiges Höher- 
bilden von der Urzelle bis zur jetzigen Organisation, sondern auch 
der Blick nach vorwärts eröffnet uns noch eine weite Perspective 
auf die Höherbildung derjenigen Species, welche den Gipfel der ir- 
dischen Organisation repräsentirt und ihre allen anderen Formen 
überlegene Lebensfähigkeit und Concurrenzkraft dadurch bewiesen 
hat, dass sie entscheidender als irgend eine andere in das frühere 



•) 7. Aufl. I. 381—333 u. IL 226—227. 



56 Text 4er eisten Auflage. 

Anpaa&ungsgleichgewicht eingegriffen, ja man kann sagen, in dem- 
selben eine förmliche Revolution hervorgerufen bat (durch Ausrodung 
der Wälder und Cultivirung des Bodens mit ihren Nahrungspilanzen, 
durch Vertilgung der grossen Raubthiere und Ersetzung der Übrigen 
grösseren Thiere durch ihr Zuchtvieh u. s. w. u s. w.)- 

So sehen wir uns, mögen wir den Blick nach rückwärts od« 
vorwärts wenden, innerhalb einer aufsteigenden Entwicke- 
lungsreihe stehen, deren Voraussetzung die kosmische Ent- 
wicklung unseres Planetensystems und die geologische Ent- 
wicklung des sieh allmählich abkühlenden Erdkörpers ist, deren 
ßlüthe aber die anthropologische Entwiekebwg ist, die Ent- 
wiekelungsgeschichte der Menschheit, welche man in ihrem durch Be- 
cumente aufgeschlossenen Theil Geschichte kurzweg nennt. Die 
Ph. d. U. hat diese universelle Bedeutung der Entwiekeluog auf 
S. 714 — 716*) nachdrücklich hervorgehoben, und die zweite der 
schon oben erwähnten „Gesammelten philosophischen Abhandlungen 
zur Ph. d. U."**) beschäftigt sich mit dem Nachweis, dass dts 
bleibende G-rundprincip der Hegerschen Philosophie, an welchem 
ihre einzelnen Theile und Behauptungen gemessen werden müssten 
und von welchem eine Umbildung derselben ausgehen müsse, eben 
der Begriff der Entwickelung sei. Sehen ohen hatten wir erwähnt, 
dass gerade die Descendenztheprie die Forderung der Entwickelung 
besser als irgend eine andre Anschauungsweise des organischen 
Lebens auf Erden realisire. Wenn es die Autgabe der Philosophie 
ist, die Stellung des Einzelnen in seinem Volke, des Volkes in der 
Menschheit, der Menschheit in der Geschichte der Erde und ihres 
organischen Lebens und so endlich die Stellung des Individuums im 
Weltganzen zum klaren Verständniss zu bringen, wenn alle diese 
Beziehungen sich so ergänzen und bedingen, dass das Verständniss 
des Ferneren ohne das des Näheren unmöglich ist, so wird man 
anzuerkennen haben, dass jede Philosophie zur Lösung ihrer Auf- 
gabe unfähig ist, welche das Wesen der Entwickelung in der 
Geschieht^ der Menschheit und der Organisation auf der Erde ver- 
kennt Hegel hat das grosse Verdienst, die Menschheitsgeschichte 
klarer als irgend einer seiner Vorgänger alfif Entwickelung erkannt 



*) 7. Aufl. II. 368-370. 
**) Ges. Stud. u. Aufs. D. III „Hegels Banlogfemus." 



HL Die Entwickelung vom Standpunkte der Descendenztheorie. 57 

zu haben; aber er leugnete die Entwickelang in der Natur, indem 
er ihr die Geschichte absprach. Die Ph. d. U. verbessert diesen 
Fehler, indem sie auf Grund der von ihr aeceptirten Descendenz- 
theorie die Menschheitsentwiekelung nur als 'Glied — wenn auch 
als höchstes Glied — in der Entwickelungsgesebiehte der Organi- 
sation auf der Erde auffasst. Dieser Standpunkt steht auf der an- 
dern Seite unvergleichlich viel höher als der gescbichtslose Process 
bei Schopenhauer, der wegen der Unrealität der Zeit überhaupt nur 
den subjectiven Schein einer Bewegung giebt. 

Dass der Begriff der Entwicklung an dem des Zweckes 
hängt, ist richtig, weil das Niedere und Höhere, zwischen welchen 
sich das Aufsteigen bewegen seil, nur durch die Zweckmässigkeit 
als solche bestimmt werden können. Wir haben aber oben gesehen, 
wie anders der Begriff des Zweekes von der Descendenztheorie ge- 
fasst wird, als von einer teleologischen Metaphysik, und hieraus er- 
geben sich wiederum verschiedene Consequenzen. — „Fehlt der 
objeetive Zweck, so ist der Naturprocess nur gleichgültige Ver- 
änderung, zweckloser Uebergang vom Einen zum Andern; giebt es 
objectiv nur Gleichberechtigtes und Gleichgültiges, das erst vom 
subjectiv-mensehlichen Standpunkt aus als Höheres und 
Niederes erseheint, so giebt es auch keine objeetive Ent Wickelung 1 ' 
(Ges. phil. Abhandl. S. 27).*) Von dem, was bloss vom subjeetiv 
menschlichen Standpunkt als Naturzweckmässigkeit erscheint, ist 
selbstverständlich durchaus abzusehen ; nur das objectiv Zweckmässige 
kann objeetive Entwicklung ermöglichen. Aber die Descendenz- 
theorie erkennt ja in der That die Zweckmässigkeit der Organismen 
als eine objeetive Thatsaehe an, nur dass sie dieselbe als unbeab- 
sichtigtes mechanisches Besultat betrachtet. Fragt man: wofür 
Und die Organismen zweckmässig, so ist die Antwort: für das 
Dasein, für die Existenz, und da ihr Dasein ein lebendiges ist, 
ftr das L e b e n. Dieser Zweck ist aber kein metaphysisch-teleologiseh 
gesetzter, sondern er ist nur die vorgefundene Voraussetzung, auf 
welcher die Concurrenz, der Kampf um's Dasein mit unwillkürlicher 
Naturnotwendigkeit entbrennen musste. Das Dasein ist das Funda- 
ment för das entstandene Anpassungsgleichgewicht; das was da ist, 
kann nichts anderem angepasst sein als dem Dasein. Nur weil das 



*) Ges. Slud. u. Aufs. S. 605—606. 



58 Text der ersten Auflage. 

Dasein der letzte Grund der Concurrenz des einzelnen Daseienden 
ist, stellt es sich hintennach auch wieder als der Zweck dar, wel- 
chem die Anpassungsphänomene des ans dieser Concurrenz als 
Sieger Besnltirenden dienen. In diesem Sinne bat also die that- 
sächliche Zweckmässigkeit, welche von der Descendenztheorie zu- 
gestanden wird, nur eine relative Bedeutung, nämlich relativ oder 
rückbezüglich auf das Dasein, aus der Concurrenz um welches sie 
mechanisch hervorgegangen. Die teleologische Metaphysik hingegen, 
welche noch nicht aus der Descendenztheorie gelernt hat, dass und 
wie es Zweckmässigkeit als Besultat geben kann ohne Zweck als 
wirkendes Prinzip, und welche deshalb bei jeder vorliegenden Zweck- 
mässigkeit sofort einen principiellen idealen Zweck als zu Grunde 
liegend voraussetzt, muss nun nothgedrungen nach dem Zweck des 
Zweckes fragen, also immer von einem Zweck auf den andern 
weiter geführt werden, und kann sich nur bei einem absoluten Zweck 
beruhigen, nicht wie die Descendenztheorie bei dem relativen Bück- 
gang bis auf den Grund, welcher die Entstehung des zweckmässigen 
Besultats zur Folge hatte, indem er sie sich (dem Dasein) an- 
passte. 17 ) — Messen wir beide Auffassungen an der Wirklichkeit, 
so zeigt sich die erstere als durchaus mit dem Gegebenen überein- 
stimmend, während die letztere wesentliche Bedenken wachruft. Da 
nämlich unter gegebenen Daseins-Bedingungen sehr oft die möglichste 
Einfachheit der Organisation, welche die geringste Gefahr läuft, am 
zweckmässigsten ist, so zeigt sich nicht selten die zweckmässige 
Anpassung an die Lebensbedingungen in der Bückbildung einer 
bereits mit reicher Specialisirung der Organe versehenen Art in 
eine unvollkommenere Gestalt (z. B. bei gewissen Schmarotzer- 
krebsen,: wo nur noch das Embryo die Abkunft der Art verräth). 
Dieser Bückbildungs- oder Verkümmerungsprocess gewisser Zweige 
des grossen Stammbaums ist das gerade Gegentheil dessen, 
was der Mensch, der sich als Ziel der Entwickelungsreihe ansieht, 
unter Entwickelung versteht, nämlich fortschreitende Differenzirung 
und Specialisirung der Organe behufs vervollkommneter Arbeits- 
theilung im Organismus. In Wahrheit aber zeigt sich, dass diese 
nur für die Mehrzahl der Fälle das Höhere ist, wo sie der Con- 
currenz um's Dasein besser dient, dass unter Umständen aber die 
einfachere Organisation dem Zweck des Daseins besser dient. ' 8 ) 
Wie solche Bückbildungsprocesse aus der Entwickelungsreihe, die 



III. Die Entwickelung vom Standpunkte der Descendenztheorie. 59 

zum Menschen führt 9 herausfallen, ebenso streng genommen 
auch schon alle Seitenzweige des Stammbaums, welche weder 
zu der directen Vorfahrenlinie des Menschen gehören, noch auch 
(wie z. B. die Pflanzenwelt), zur Herstellung des für den Menschen 
erforderlichen Zustandes der Erdoberfläche mit ihrem Naturhaushalt 
unerlässlich noth wendig sind. 19 ) Es erscheint vom Standpunkt der 
natürlichen Descendenztheorie nicht zweifelhaft, dass die Knochen- 
fische eine höhere Entwicklungsstufe der Knorpelfische repräsen- 
tiren, weil sie ihre überlegene Concurrenzfähigkeit im Kampf um's 
Dasein thatsächlich durch das Wachsthum ihrer relativen Anzahl 
mit jeder geologischen Periode documentirt haben. Vom Stand- 
punkt der teleologischen Metaphysik aber ist nicht ersichtlich, 
warum es nicht bei den Knorpelfischen sein Bewenden hatte, da doch 
nur aus diesen die Amphibien hervorgingen, und die Knochenfische 
ganz ausserhalb der zum Menschen führenden Entwickelungsreihe 
liegen. *°) 

Nicht geringer als solche thatsächlichen Bedenken sind die 
Schwierigkeiten, in welche die teleologische Metaphysik sich da- 
durch verwickelt, dass sie bei jedem Zweck nach dem Zweck des 
Zweckes zu fragen genöthigt ist, und somit die Entwickelung nur 
als eine dem absoluten Zweck dienende und erst bei diesem ihr 
Ende findende anzusehen vermag, ohne doch diesen Endzweck in 
befriedigender Weise positiv bestimmen zu können. Während Hegel 
sich gegen die hierin liegenden Schwierigkeiten durch nicht zu Ende 
Denken und dialectische Unklarheit zu schützen wusste (vgl. „Ges. 
ph. Abhandl." S. 50—55),*) zieht die Ph. d. Unb. mit Schärfe die 
letzten Gonsequenzen des teleologischen Princips. Da nur ein, jeder 
Freiheit von den instinctiven Illusionen entbehrendes Denken das 
Dasein als absoluten Selbstzweck fassen kann, da im Gegentheil die 
Ph. d. Unb. das Dasein als solches als etwas von Grund aus Un- 
vernünftiges und zwar nicht nur als etwas Zweckloses, sondern als 
etwas Zweckwidriges (Antilogisches), weil sich selbst zur Qual Ge- 
reichendes, darstellt, so kann ihr als der letzte Zweck, dem das So- 
und nicht anders Sein des Daseienden dient, nur die Negation 
des Daseins als solchen gelten; oder mit anderen Worten das End- 
ziel der absolut gefassten Entwickelung kann nur die Aufhebung 



*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 029—634. 



-60 Test der ersten Auflage. 

de« Proeesses in der ITniversahrillensveniemung sein, mft welcher 
die Welt erlöschen mttsste. Es ist der Ph. d. Unb. nicht gelangen, 
es 'wahrscheinlich zu machen, SL ) dass die Summe der Bedingungen, 
yon welchen die Möglichkeit einer solchen Univerealwillensverneinung 
abhängen soll, innerhalb der Menschheit auf Erden eintreten werde, 
während andererseits die von ihr gezogenen metaphysischen Con- 
seqnenzen zugleich mit den metaphysischen Voraussetzungen der 
durch die Descendenztheorie wohl unheilbar geschädigten Teleologie 
hinfällig werden, ") Wir werden daher für unsere weiteren Be- 
trachtungen davon absehen dürfen, dass der zu erwartende weitere 
Gang der kosmischen und] geologischen Processe durch eine von 
der Menschheit in Scene gesetzte Weltvernichtung vorzeitig ab- 
geschnitten werde ; 28 ) wir werden vielmehr betrachten, wie sich der 
Begriff der Entwicklung zu diesem weiteren Gange stellen muss. 
80 gewiss die Erde einst ein integrirender Theil der über das 
ganze Planetensystem als Nebelfleck ausgedehnten Sonne war, so 
gewiss sie später als glühender Tropfen mit gasiger Hülle die Sonne 
umkreiste, so gewiss wird sie einst vollständig erstarren, wie der 
Mond (wenigstens auf der uns zugekehrten Seite) es schon jetzt ist 
Auf wie viele Millionen Jahre auch die Wärme der Sonne, welche 
sich vorläufig durch fortschreitende Gontraction derselben beständig 
ersetzt, noch vorhalten möge, — unfehlbar wird in einer Zeit, welche 
in der Oeeonomie der kosmischen Processe als kurze Spanne zu 
bezeichnen ist, auch die Sonne so weit zusammengezogen und ab- 
gekühlt sein, dass ihre Strahlen auf den erstarrten Planeten kein 
neues Leben mehr zu entzünden vermögen. Dieser Verlauf der 
Dinge, der mit derselben Sicherheit wie das Eintreten von Mond- 
und Sonnenfinsternissen (nur bis jetzt noch nicht mit bestimmten 
Zeitangaben) vorhergesagt werden kann, lehrt uns, dass auch die 
Monde, Planeten, Sonnen und Planetensysteme als kosmische Indi- 
viduen dem Gesetz der Vergänglichkeit aller Individualexistenz 
unterworfen sind, dass auch sie zwischen Entstehen und Vergehen 
Jugend und Alter durchmachen, dass auch in ihrem Individualleben 
dem Aufsteigen ein Niedergang, der Entwickelung zum Gipfel ein 
Verfall entspricht. In Bezug auf die Geschichte der irdischen Or- 
ganisation haben wir nur an die vorhin besprochenen Gurven zu 
erinnern, welche die Veränderung der Bewohnbarkeit und die Ver- 
änderung der Organisationshöhe graphisch repräsentiren. Es ist 



III. Die Entwicklung v#m Standpunkte 4er Descendenxtheorie. 61 

wahr,, dass wir nicht bestimmen kämen, wi» weit wir gegenwärtig 
noch von* dein Gipfelpunkte dar Entwicklung der Menschheit ent- 
fernt sind, — es ist wahr, dass die bin jetzt unabsehbare Perspective 
des naturnotbwendigen Aufsteigen» es allein sein kann,- welche 
unser praktisches Verhalten zum Proeess bestimmt, — 
aber es ist ebenso waiir, dass theoretisch genommen diese Enfc* 
Wickelung keine abaolute, sondern eine relative, ausschliess- 
lich von der mehr oder minder langen Dauer und der mehr oder 
minder hohen Steigerung der Günstigkeit der Bedingungen 
abhängt, welche die Erde 1 ihren Bewohnern darbietet, dass diese 
Entwiokekmg weder; eine bis zu gegebenem Endziel aufsteigende 
gerade Linie,, noch eine sich einem {Ideal unendlich annähernde 
Asymptote ist, sondern nur den aufsteigenden Ast einer Welle 
repräsentirt,. welcher unentrinnbar in den absteigenden Ast des zum 
Untergänge führenden Verfalle hinüberleitet. Allen relativ noch so 
berechtigten Hoflhungen blühender Mensobheitsentwickelung und 
winkender Weltverbesserung gegenüber hält uns das Aussterben der 
grönländischen Eskimo's, welche familienweise erfroren in ihren 
Schneehütten gefunden worden, gleichsam als ein beständiges 
memento mari für die Menschheit das dereinstige Lebensbild der 
letzten Menschen in dem alsdann wärmsten Lande der Erde vor. 

Wir wissen nicht, wie viele Planeten unseres oder anderer 
Planetensysteme sich, unter solchen Bedingungen befinden,, dass* sie 
eine Organisation entwickeln, aber das wissen wir, dass alle die- 
jenigen, welche jemals im Laufe ihres Lebens in solche Bedingungen* 
gelangen, auch eine ebensolohe Gurve ihrer Organisationsgeschichte 
mit aufsteigendem und absteigendem Ast zeigen müssen, gleichviel 
ob das Maximum dieser Curve hoch oder niedrig liegt. Nehmen 
wir an,, dass die Planeten unseres Systems, wie es neuerdings wahr- 
scheinlicher geworden ist, alle oder grossentheils zu einer gewissen 
Zeit ihres Lebens eine gewisse Organisation tragen, so würde sich 
aus der Zusammenstellung dieser einzelnen Gurven auf gemeinsamer 
die Zeit darstellender Abscissenaxe ein Gesammtbild vom or- 
ganischen Leben unseres Planetensystems ergeben, und 
auch hier mttsste sich irgendwo ein absolutes Maximum heraus- 
stellen, wenn auch. ausserdem noch mehrere untergeordnete Maihna 
gezählt wesden (dürften: — Unsere Keantniss reicht noch nicht so 
weit, um/ zte sagpn^ wbsl aus .erstarrten Sonaen und ElanötcmsystonftaQ. 



62 Text der ersten Auflage. 

wird, und ob und auf welche Weise sie von Neuem in den Process 
der kosmischen Veränderung hereingezogen werden. Im Allgemeinen 
kann man aber sagen, dass die Helmholtz'sche Annahme von der 
allgemeinen Welterstarrung nicht mehr dem gegenwärtigen Stand 
der Wissenschaft entspricht, dass vielmehr alles mehr und mehr auf 
die Vermuthung eines kosmischen Kreislaufs der Veränderung 
hindrängt, in welchem die Umwandlung der Spannkraft in lebendige 
Kraft (durch Verdichtung der Nebelmassen, Erzeugung und Aus- 
strahlung von Wärme) schliesslich auf irgend eine Weise wieder in 
Spannkraft zurückkehrt (und sei es selbst mit Hülfe einer die Un- 
endlichkeit beseitigenden, in sich geschlossenen vierten Dimension 
des Baumes). Wenn schon in dem gegenwärtigen Augenblick die 
ungeheure Zahl von Fixsternen in unserer Weltlinse, bei denen 
wohl meistens dunkle Planeten vorausgesetzt werden dürfen, und 
die Zahl von fernen, mehr oder minder in Sternhaufen verdichteten 
Nebelflecken, welche ebensoviel andere Weltlinsen repräsentiren, die 
Möglichkeit einer zahllosen Wiederholung solcher Bedingungen bietet, 
von denen die Entwickelung planetarischer Organisation abhängt, 
so wird bei Berücksichtigung der mit der Zeit von allen kosmischen 
Individualitäten durchlaufenen verschiedenen Abkühlungsphasen die 
Wahrscheinlichkeit noch sehr viel grösser, dass die Organisation 
auf Erden nur einer unter zahllosen ähnlichen Fällen 
ist, 84 ) bei denen die Bedingungen ebensowohl günstiger als 
ungünstiger, also die Organisationsstufe der hochstehenden Organis- 
men ebenso leicht eine höhere als eine niedrigere wie die 
des Menschen sein kann. Gerade die Ungeheuern Perspectiven der 
modernen Astronomie sind so recht geeignet, die Erde nicht bloss 
ihrer Quantität nach als ein Atom in der unermesslichen Aus- 
dehnung der kosmischen Massen erscheinen zu lassen, sondern auch 
im Hinblick auf die spectralanalytisch erwiesene durchschnittliche 
Gleichartigkeit aller kosmischen Materie an den Gedanken zu ge- 
wöhnen, dass sie selbst qualitativ mit der von ihr getragenen Orga- 
nisation nur ein Exemplar einer zahlreichen Species 
repräsentirt. 25 ) Der falsche geocentrische Standpunkt der christ- 
lichen Weltanschauung ist es wesentlich, der durch seine Eintrich- 
terung von Jugend auf diese Einsicht erschwert; wir müssen an- 
erkennen, dass der Buddhismus in seinen zahllosen Welten einer 
viel gesunderen und erhabeneren Anschauung huldigte, ebenso wie 



m. Die Entwickelang vom Standpunkte der Descendenztbeorie. 63 

seine Ansicht über die periodische naturgesetzliche Auflösung und 
Wiederentstehung dieser Welten von dem neueren wissenschaftlichen 
Standpunkt mehr und mehr bestätigt wird; was ihm fehlte, war 
nur die Einsicht, dass diese Welten nicht neben der Erdscheibe 
jenseits des Oceans, sondern am Sternenhimmel zu suchen seien. 

Die Phil. d. Unb. neigt in ihrem Anschluss an die moderne 
Naturwissenschaft ursprünglich keineswegs zu einer geocentrischen 
Anschauungsweise; aber sie sieht sich am Schlüsse unwillkürlich 
und fast mit Widerstreben dadurch auf die Engherzigkeit dieses 
Standpunktes zurückgeworfen, dass sie durch ihre teleologische 
Metaphysik zur Aufstellung eines absoluten Zwecks gezwungen wird, 
der draussen in der mechanischen Aeusserlichkeit des Kosmos, wie 
auch das blödeste Auge sieht, schlechterdings nicht zu finden ist, 
nnd deshalb dort gesucht werden muss, wo die längste Entwicke- 
hmgsreihe nach rückwärts sich mit der grössten Entwickelungs- 
perspective nach vorwärts verbindet: in der Menschheit, — die 
zugleich das einzige uns bekannte Beispiel der Willensentscheidung 
nach bewusster abstracter Reflexion darbietet. Nur am Menschen 
kann eine Philosophie, welche die Negation zum absoluten Zweck 
erhebt, ihre Hebel einsetzen wollen, denn nur in ihm kann sie ein 
Wesen finden, das fähig ist, auf seinem Bewusstsein titanenhaft sich 
gegen den unbewussten Weltwillen aufzulehnen; darum wird die 
Phil, d. Unb. nothwendig anthropocentrisch, und hierdurch 
wenigstens in qualitativem Sinne wiederum geocentrisch. 26 ) Reducirt 
man die Bedeutung der Menschheit und der Erde auf ihr wahres 
kosmisches Maass als eines atomistischen Individuums unter zahl- 
losen ähnlichen, von einer nach kosmischem Maassstabe gemessen 
verschwindend kurzen Gesammtlebensdauer, so reducirt sich auch 
die in der Phil. d. Unb. als absolut dargestellte Entwickelung 
der aufsteigenden Hälfte dieser Lebensdauer zu einer relativem 
welche im kosmischen Process nicht mehr Bedeutung hat, 
als etwa die aufsteigende Hälfte dieser bestimmten Meeres welle 
in dem unaufhörlichen Wellenspiel des Oceans. 27 ) Nächst 
der Erkenntniss ihrer thierischen Abstammung kann nichts so heil- 
sam sein für den hohlen Dünkel der Menschheit von ihrer excep- 
tionellen Würde als diese Erkenntniss von der wahren Bedeutung 
ihrer Stellung im grossen Weltganzen und von der Relativität der 



64 Text der ersten Auflage. 

Entwicklung» welche ihre Geschichte in der Gesamrmtheifc des k<*- 
miseben Processen repräsentirt. 

Wenn wi* im vorigen Abschnitt sahen, dass die Descendenz- 
theorie die 1 empirisch als Thatsache gegebene Zweckmässigkeit der 
Organismen anerkennt nnd als Resultat mechanischer Compensations* 
wirknngen erklärt, ahne des Zweckes als wirksamen idealen Prin- 
oips zu bedürfen, so zeigte sich in diesem Abschnitt, dass die so 
constatirte Zweckmässigkeit keine von einem absoluten Endeweck 
oder Selbstzweck abgeleitete absolute Bedeutung habe, sondern 
nur relativ oder rückbezüglich auf den einmal vorgefundenen 
Boden des Daseins verstanden werden dürfe, wie sie nur aus diesem' 
durch die naturnothwendig entsprungene Ccmcurrenz hervorgegangen 
sei. Diese relative Bedeutung sahen wir weiter vom Begriff des 
Zweckes auf den der Entwickelung sich tibertragen, welche nur 
relativ in Bezug auf den Lebenslauf des kosmischen Individuums 
eine solche ist, indem sie die aufsteigende Hälfte dieses Individual- 
lebens repräsenthrt. 



IV. 

Gehirn uod Intellect. 



%^/\/n/w^ 



Einer der Hauptgründe, welche die Popularität Schopenbauer's 
bedingten, war seine unzweideutige Annäherung an die naturwissen- 
schaftliche Denkweise hinsichtlich des menschlichen Intellects, dessen 
Functionen er als Hirnfunctionen anerkannte. Kant und Fichte, 
denen die Materie nur ein vom Subject gesetzter und mit der Vor- 
stellung des Subjects auch wieder verschwindender Schein war, 
standen natürlich einer solchen Auffassung fern, — ebenso fern wie 
ihre Anschauung der Naturwissenschaft; Schellung und Hegel hin- 
gegen bekümmerten sich nur zu wenig um Naturwissenschaft, um 
sich mit derselben auseinanderzusetzen, während sie schon wesent- 
lich mit ihr auf demselben Standpunkt in Bezug auf diese Fragen 
stehen; denn in beider Naturphilosophie entspringt der Geist aus 
der Entwicklung bewusstloser Naturkräfte, sei es, dass dieselben 
als sich objectivirende und aus jeder Objectivation in höherer Sub- 
jectivitätsstufe sich in sich zurücknehmende Potenzen (Schelling), sei 
es, dass sie als die im dialectischen Process begriffenen auseinander- 
gefallenen Momente der Idee in ihrem Anderssein (Hegel) angesehen 
werden. Schelling macht dem Empirismus das ausdrückliche Zu- 
geständniss, dass alles Bewusstsein einer Vorstellung durch 
Affection eines Organismus bedingt sei (vgl. Ph. d. U. S. 399),*) 
und der Grundgedanke der Hegel'schen Philosophie besteht darin, 



*) 7. Aufl. IL 28. 

E. v. Hartmann, Das Unbewusste. 2. Aufl. 



66 Text der ersten Auflage. 

dass der Geist als solcher, d. h. als Bewusstsein und Selbstbewusst- 
sein, erst durch die Rückkehr der Idee aas ihrem Anderssein in 
der Natur zu sich selber entstehe, ein Process der nach unserer 
Eenntniss sich nur im thierischen, beziehungsweise menschlichen 
Hirn erfüllt. Schelling wie Hegel reserviren sich aber die ver- 
nünftige Vorstellung oder Idee abgesehen von der Form des Be- 
wusstseins, die sie im menschlichen Geiste hat, als metaphysiches 
Frincip. Auch Schopenhauer verzichtet nicht auf die platonische 
Ideenwelt, welche auch ihm unzweifelhaft ein Jenseits und Prius 
der durch Gehirnfunction erzeugten bewussten Vorstellung ist („Ges. 
phil. Abhandle S. 61 — 65);*) aber ebensowenig wie Schelling und 
Hegel die naturwissenschaftliche Auffassung mit ihren metaphysi- 
schen Principien in deutliche Uebereinstimtnung zu bringen unter- 
nommen haben, ebensowenig hat Schopenhauer die Discrepanz seiner 
platonischen Ideenwelt mit den Producten des Gehirnintellects zu 
beseitigen vermocht. Diese metaphysisch-transcendente Ideenwelt 
vor und jenseits der Entstehung der bewussten Hirnvorstellung be- 
ruht nun aber, insofern sie die Typen der Organismen als Urbilder 
der Verwirklichung und den Plan des ganzen Weltprocesses als 
einen zu bestimmtem Ziele führenden in sich enthalten und deren 
Realisation durch metaphysische Eingriffe leiten soll, ganz und gar 
auf der teleologischen Metaphysik. Wird diese letztere durch die 
Descendenztheorie ihrer bisherigen Stützen beraubt und durch die 
Theorie der natürlichen Zuchtwahl in der Hauptsache positiv ersetzt, 
so fällt auch die platonische Ideenwelt der transcendenten Urbilder 
als eine überlebte, überflüssig gewordene und durch anderweitige 
Anschauungsweisen ersetzte Hypothese in sich zusammen. 28 ) Wo 
die Typen der Organisationsformen mechanisch aus Compensations- 
wirkungen resultiren, bedarf es keiner urbildlichen Idee mehr, um 
ihre Entstehung mit Hülfe beständiger metaphysisch-teleologiseher 
Eingriffe in den Naturprocess zu erklären. Diese „Idee" war nur 
die Form, in welcher der als Princip supponirte Zweck existirend 
gedacht wurde; fällt der Zweck als Princip fort, so fällt selbst- 
verständlich auch die hypothetische Form seiner Existenz hinweg. 
Da nach der Descendenztheorie alle Formen der Organisation allein 
aus den physikalischen und chemischen Gesetzen der Materie heraus 



*) „Gesammelte Studien und Aufsätze" S. 640—644. 



IV. Gehirn und Ltfeüsct 67 

entstanden gedacht werden, so bleibt freilieh in dieser gesetzmässig 
wirkenden Beschaffenheit der Materie ein Raum für die Hypothese 
idealer Anticipationen des Zukünftigen übrig (Ph. d. U. S. 484 -487), *) 
aber diese würden alsdann jedenfalls gesetzmässig dnreh die jewei- 
ligen Verhältnisse bestimmte, nicht teleologisch sieh selbst bestimmende 
sein und würden nicht über den Wirkungsmodus der Atome hinaus- 
gehen, so dass also alle zusammengesetzten Resultate aus 
ihnen mechanisch hervorgehen würden, ohne von ihnen als solche 
beabsichtigt zu sein. *•) 

Um Mißsverständnissen vorzubeugen, bemerken wir hier von 
vornherein, dass die theoretische Frage nach der metaphysichen 
Bedeutung der Idee vollkommen unabhängig ist und getrennt ge- 
halten werden muss von der praktischen Frage nach der ethischen, 
ästhetischen und erkenntnisstheoretischen Bedeutung des Ideals. 
Die letztere ist über allen Zweifel erhaben und unabhängig von 
jedem metaphysischen Standpunkt; die erstere ist problematisch wie 
alle Metaphysik und ist der Ausfall der schwankenden Entscheidung 
ohne Einfluss auf das Leben der Menschheit und sein Streben nach 
den Idealen, Von der Annahme der Idee leitet sich der theo- 
retische Idealismus her, ein der manniehfaitigsten Formen 
der Ausbildung, der verschiedensten Modificationen und Nuancen 
fähiger Standpunkt; von der thätigen Hingabe an das von dem 
Mensehengeist sich vorgesteckte Ideal leitet sich der praktische 
Idealismus ab, der wahre Welteroberer, dessen Palladium von 
keinem Volke ungestraft verlassen werden darf, wenn es nicht trotz 
allen civilisatorischen Raffinements zu thierischer Stufe zurück- 
sinken und idealere Völker über sich hinwegschreiten sehen will. 
Der theoretische Idealismus gehört dem Streit der Gelehrten und 
dem Gezänk der Schulen an, der praktische Idealismus ist der 
wahre tiefinnerste Hebel alles Culturfortschritts, die Legitimation 
der günstiger veranlagten Racen und Stämme für ihren historischen 
Beruf, der sofort erlischt, sobald sie dieser ihrer Fahne untreu 
werden. Wenn wir also den theoretischen Idealismus in seiner 
bisherigen teleologischen Gestalt als einen durch die Descendenz- 
theorie überwundenen Standpunkt betrachten müssen, so legen wir 
doch entschiedene Verwahrung ein gegen etwaige unberechtigte 



*) 7. Aufl. IL 116-120. 

5* 



gg Text der ersten Auflage. 

Consequenzen in Bezug auf unsere Stellung zum praktischen 
Idealismus. ••) 

Nach dieser Abschweifung wollen wir dazu tibergehen, zu be- 
trachten, wie die Ph. d. U. das Verhältnis der Hirnfunction zum 
menschlichen Intellect auffasst. 

Das Gap. II des Abschn. C beschäftigt sich mit dem Nach- 
weis, dass Gehirn und Ganglien Bedingungen des thierischen Bewußt- 
seins seien; es behauptet, dass alle bewusste Geistcsthätigkeit 
eines materiellen Substrats bedürfe, an welchem sie entstehe, und 
nur die unbewusste sich frei von einem solchen vollziehe (S. 388, 
vgl. 402 — 3).*) Die letztere vollzieht sich niemals in den For- 
men der Sinnlichkeit (374—375), **) wo wir also solchen begegnen, 
wissen wir, dass sie aus der Mitwirkung der unmittelbar oder 
mittelbar durch die Sinne erregten Hirnfunction herrührt. Das Un- 
bewusste hat ferner kein Gedächtniss (379 unten);* 4 '*) es kann 
keine Erfahrungen in sich aufnehmen, noch durch diese klüger 
werden, als es ist (709), f) es kann sich durch Uebung und Ge- 
wohnheit nicht vervollkommnen (S. 609 Z, 6— 8). ff) Wo wir also 
einem Aufbewahren empfangener Eindrücke begegnen, wissen wir, 
dass dasselbe nur vom Gehirn herrühren kann (379). ftt) Die so " 
genannten schlummernden Gedächtnissvorstellungen sind also gar 
keine Vorstellungen, weder bewusste noch unbewusste, sondern nur 
latente Dispositionen des Gehirns zur leichteren Entstehung gewisser 
Formen von Molecularschwingungen , denen dann gewisse Vor- 
stellungen im Bewusstsein entsprechen (S. 268 X) Anm., S. 28). XX) 
„Wie eine Saite auf alle Luftschwingungen, die sie treffen, wenn 
sie von denselben überhaupt zum. Tönen gebracht wird, immer mit 
demselben Tone resonirt, und zwar mit dem Ton a oder c, je nach- 
dem sie auf a oder c gestimmt ist, so entsteht auch im Gehirn 
leichter die eine oder die andere Vorstellung, je nachdem die Ver- 



*) 


7. Aufl. IL 18-19, vgl. 31-32 


**\ 


7. Aufl. IL 4—5. 


jtctafc\ 


7. Aufl. IL 9-10. 


t) 


7. Aufl. IL 364. 


tt) 


7. Aufl. IL 265. Z. 15 u. 16. 


ttt) 


7. Aufl. IL 9. 


X) 


7. Aufl. L 261 Anm. 


XX) 


7. Aufl. I. 28. 



IV. Gehirn and Intellect. 69 

theilung nnd Spannung der Hirnmolecnle so beschaffen ist, dass sie 
leichter mit der einen oder mit der andern Art von Schwingungen 
auf einen entsprechenden Beiz antwortet; und wie die Saite nicht 
bloss auf Schwingungen, die ihren Eigenschwingungen homolog sind, 
sondern auch auf solche, die entweder nur wenig von denselben 
abweichen, oder aber in einem einfachen rationalen Verhältniss zu 
denselben stehen, resonirt" (wenn auch mit geringerer Stärke), „so 
werden auch die Schwingungen der prädisponirten Molecule einer 
Hirnzelle nicht bloss durch Eine Art zugeleiteter Schwingungen 
wachgerufen, sondern auch durch wenig abweichende oder in einem 
einfachen Verhältniss zu der Prädisposition stehende Reize (dieser 
Zusammenhang ist in den Gesetzen der Ideenassociation erkennbar). 
Was bei der Saite das Stimmen ist, das ist für das Gehirn die 
bleibende Veränderung, welche eine lebhafte Vorstellung nach ihrem 
Verschwinden in Vertheilung und Spannung der Molecule hinter- 
lasse (S. 28).*) Es ist unmöglich, dass irgend ein Sehwingungs- 
process in den Moleculen eines so nachgiebigen Körpers, wie das 
Gehirn ist, vor sich gehen sollte, ohne eine bleibende Veränderung 
in demselben zu hinterlassen, und zwar eine Veränderung in dem 
Sinne, dass künftig eine Wiederkehr gleicher Schwingungen an 
derselben Stelle weniger Widerstand findet, als ein Auftreten ab- 
weichender Schwingungen. Wie sehr alle stehenden Wellen danach 
streben, eine veränderte Vertheilung der Materie hervorzurufen (und 
zwar Verdichtung in den Knoten, Verdünnung in den Schwingungs- 
maximis), zeigen schon die Chladni'schen Klangfiguren, und zeigen 
in anderer Weise die chemischen Wirkungen der Licht- oder 
Wärmeschwingungen, welche doch auch nur auf Umänderung der 
molecularen Lagerungsverhältnisse beruhen (man denke insbesondere 
an die Farbenphotographie, die von Zenker ganz richtig erklärt 
worden ist). 

Denkt man sich nun eine solche Aenderung der Dichtigkeits- 
verhältnisse herbeigeführt, welche einer Verdichtung an den Schwin- 
gungsknoten entspricht, so wird nunmehr eine solche Anordnung dahin 
wirken, von aussen eintretende Schwingungen in solche umzuwandeln, 
welche der bereits bestehenden Vertheilung entsprechen. In dieser 
Weise wirken z. B. die Endglieder der Stäbchen und Zapfen in der 



*) 7. Aufl. L 29, 



70 Text der ersten Auflage. 

Retina, welche alle eintretenden Liehtsohwingungen in eine oder 
mehrere von drei bestimmten Wellenarten umsetzen (roth, grün, 
violett), und diese weiter zum Bewusstseinsorgan leiten. Denken 
wir also im Grosehirn ähnliche Prädispositionen zu bestimmten 
Schwingungsformen tbeils dnrch Ererbung von den Vorfahren über- 
nommen, theils durch die selbst empfangenen Eindrücke erworben, so 
werden auch diese eine ähnliche Auswahl Ton der dnrch die Sinnes- 
neryen oder aus anderen Hirntheilen zugeleiteten Schwingungen (Beize) 
treffen; und um so leichter auf einen Beiz reagiren, je verwandter er 
der eigentümlichen Schwingungsform ißt, d. h. je leichter er in 
dieselbe umgewandelt werden kann. Je ferner diese Verwandtschaft 
ist, desto schwächer wird die Beaction sein, und wird bald so 
schwach werden, dass sie unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleibt, 
wofern nicht der Beiz durch Intensität die Unzulänglichkeit seiner 
qualitativen Verwandtschaft ersetzt. Bei einem gewissen Maass 
qualitativer Abweichung reicht dann aber keine praktisch mögliche 
Intensität aus, um die Beaction über die Schwelle zu heben. Wenn 
die ererbten Prädispositionen mehr Anlagen und Fähigkeiten be- 
treffen, so ist das Gedächtniss recht eigentlich unter das Gebiet der 
erworbenen Hirndispositionen zu setzen, es ist die Summe aller 
£indrüoke 9 die von früher gehabten lebhaften oder wiederholten 
Vorstellungen hinterlassen sind. Da nun jede gegenwärtige Vor- 
stellung mit ihren actuellen Hirnschwingungen zugleich auf alle 
vorhandenen Prädispositionen als erregender Beiz wirkt, so wird es 
wesentlich von dem Grade der Verwandtschaft abhängen, welche 
der vorhandenen Prädispositionen am kräftigsten auf die bestehende 
Vorstellung reagirt; diese wird alsdann, wenn die bestehende Vor- 
stellung sich so weit abschwächt, um in dem beschränkten Baum 
bewusster Aufmerksamkeit einer neuen Platz zu machen, sich mit 
ihrem Inhalt in das Bewusstsein als Nachfolgerin jener Vorstellung 
eindrängen und hierbei die Goncurrenz aller übrigen (ebenfalls, aber 
nicht in gleichem Maasse verwandten) Prädispositionen siegreich 
bestehen. Diese so in's Bewusstsein getretene neue Vorstellung 
schwächt sich aber nach dem Gesetz der Ermüdung bald ebenfalls 
ab und zieht nun ihrerseits wiederum die ihr verwandteste der vor- 
handenen Prädißpositiooen als Nachfolgerin herbei Man erkennt 
hierin leicht den Process der durch kein bestimmtes Interesse ge- 
leiteten Ideenassociation. Dass die Gesetze derselb« auf (fem mecha- 



IV. Gehirn and Intellect. 71 

nischen Zusammenhang der molecularen Schwingungsprocesse im 
Hirn mit den daselbst vorhandenen Prädispositionen beruhen, wird 
auch tob der Ph. d. U. S. 253 *) anerkannt. Dagegen wird ebendort 
der Einflnss der Stimmung und des Interesses auf die Ideenassocia- 
tion als etwas ganz heterogenes dargestellt. 81 ) Dies scheint uns 
nicht richtig. 

Von den Stimmungen ist es hinlänglich bekannt, wie sehr 
gerade sie auf constitutioneller Grundlage und auf vorübergehen- 
den Zuständen des Organismus beruhen. Die wechselnden Ver- 
bältnisse des Blutumlaufs und der mehr oder minder sauerstoff- 
reichen Beschaffenheit des das Hirn umspülenden Blutes, die ver- 
schiedenen Phasen des Verdauungsprocesses und des Geschlechts- 
lebens und die von beiden abhängigen Zustände des sympathischen 
Nervensystems nebst vielen anderen somatischen Bedingungen, die 
uns vielleicht noch unbekannt sind, sind ebenso viele Einflüsse, 
welche theils die Erregbarkeit, Impressionabilität und Beagibilität 
des Gehirns im Allgemeinen steigern oder deprimiren, theils in 
besonderen Parthien desselben eigentümliche Modificationen her- 
vorrufen (vgl. „Philosophische Monatshefte" Bd. IV, Hft. 5, S. 389, 
Z. 5 — 3 von unten,**) wo der Verfasser zugesteht, dass die Stim- 
mung augenscheinlich durch vorübergehende Beschaffenheit des 
Hirns verursacht wird, wie das Temperament durch dauernde). 
Wie die Erregung gewisser Hirnparthien gewisse Nerven in Mit- 
leidenschaft zieht, welche dann ihrerseits wieder körperliche Pro- 
tease hervorrufen (z. B. Rührung das Weinen, Angst das Herz- 
klopfen u. s. w.), so ist rückwärts durch körperliche Zustände, die 
durch Nerven zum Gehirn geleitet werden, eine ungleichmässige 
Erregung gewisser Hirnparthien bedingt, und eine solche hat dann 
zur nothwendigen Folge, dass die in denselben vorhandenen Prä- 
dispositionen schon bei geringerer Intensität der Reize als sonst 
Reactionen liefern, die oberhalb der Schwelle liegen, und dass sie 
mithin in der Concurrenz der verschiedenen Prädispositionen 
(schlummernden Gedächtnissvorstellungen) um das Hineingelangen 
in's Bewusstsein einen Vorrang erlangen. So werden z. B. bei ge- 



*) 7. AufL L 245-246. 

*) Neuk, Schop. u. Hegelianismus S. 190 Z. 6-9. 



72 Text der. ersten Auflage. 

schlechtlichem Erregungszustände alle Vorstellungen , welche dem 
Bewusstsein vorschweben, durch die Ideenassoeiation solche Nach- 
folger herbeizuziehen bemüht scheinen, welche mit dem Geschlechts- 
leben in näherer Beziehung stehen; bei allgemeiner Erregung des 
Gehirns durch massigen Weingenuss ergiebt sich ein Zustand von 
Heiterkeit, der dem Auffinden von Scherzworten und Witzen gün- 
stig ist, (Ph. d. U. S. 255)*) und der Zustand der geistigen Trun- 
kenheit, der Begeisterung, des Enthusiasmus oder wie man ihn im 
Gegensatz zum Zustand der Nüchternheit nennen will, ist aus ähn- 
lichen Gründen der Entstehung von künstlerischen, namentlich poe- 
tischen Gonceptionen günstig (247 — 248).**) — Wenn wir somit 
sehen, dass der unwillkürliche Einfluss der Stimmung auf die Ideen- 
association wesentlich auf somatischen Ursachen vorübergehender 
Hirnzustände beruht, so werden wir bei dem flüssigen Uebergange 
von hier zu den bewussten Interessen kaum etwas anderes er- 
warten dürfen, als dass auch der maassgebende Einfluss bewusster 
Absicht körperlich vermittelt gedacht werden muss, welche eine 
Gedankenreihe zu einem vorgesetzten Ziele geflissentlich hinleitet.*') 
Dieses Ziel muss, wenn auch nicht in seiner völligen Bestimmtheit, 
doch wenigstens den Umrissen nach dem Bewusstsein vorschweben, 
oder in bestimmter bekannter Sichtung gesucht werden; kurz es 
müssen Anhaltpunkte gegeben sein, auf welche sich erfahr ungs- 
mässig bei solchem Suchen eine gespannte Aufmerksamkeit richtet 
Diese Aufmerksamkeit greift gleichsam über diese Anhaltpunkte 
hinaus in's Blinde, wie eine augenlose Baupe in Bankenwindungen 
einen neuen Stützpunkt sucht. Aber eben der Umstand, dass diese 
gespannte Aufmerksamkeit nach ganz bestimmter, aber der Zeit 
nach versuchsweise wechselnder Richtung hinausgesandt wird, wie 
ein Eclaireur zur Becognoscirung des Gedächtnissterrains, eben die- 
ser Umstand macht es erklärlich, dass von den ruhenden Hirnprä- 
dispositionen nunmehr die in der Richtung dieser Aufmerksamkeit 
gelegenen leichter erregt werden als alle anderen; denn die Auf- 
merksamkeit ist ein in den Sinnesnerven centrifugaler, hier aber 
innerhalb des Gentralorgans verbleibender und nur noch in Bezug 
auf die Stelle der actuellen erregenden Vorstellung als centrifugal 



*) 7. Aufl. I. 247—248. 
*•) 7. Aufl. I. 238—240. 



IV. Gehirn und InteUect. 73 

zu bezeichnender Innervationsstrom, welcher die Wirkung hat, 
die von ihm betroffenen Partien für jede Art von Reizen erreg- 
barer zu machen, als sie im rahenden normalen Zustande sind 
(vgl. Ph. d. ünb. S. 116, 155-156, 419—421, auch 246—247).*) 
Wäre die Richtung der Aufmerksamkeit eine vollkommen dem 
Ziele entsprechende, so würde auch beim ersten Versuch die ent- 
sprechende Vorstellung aus ihrer Prädisposition ausgelöst werden; 
sind aber die Anhaltpunkte zu unbestimmt und tastet in Folge 
dessen die Aufmerksamkeit erst nach einigen falschen Richtungen, 
so tauchen auch zunächst einige als unbrauchbar zu verwerfende 
i Vorstellungen auf; sind endlich die Anhaltpunkte ganz ungenügend, 
so dass sie nicht einmal die ungefähre Richtung vorschreiben, oder 
hat die Aufmerksamkeit sich einmal in eine irrthümliche Richtung 
verrannt, so ist alles Herumtasten derselben erfolglos. — Diese 
Betrachtung erscheint geeignet, die Argumente der Ph. d. U. auf 
S. 253 und 254**) wesentlich zu modificiren, die Erforderlichkeit 
der dort behaupteten metaphysisch-teleologischen Eingriffe behufs 
der Erklärung der Probleme der Ideenassociation mindestens in 
Frage zu stellen und vorläufig den Glauben an die Möglichkeit 
einer zureichenden Erklärung derselben aus mechanischen Ursachen 
festhalten zu lassen. 88 ) 

Die Ph. d. U. huldigt in Bezug auf die Entstehung der be- 
wussten Empfindung ebenso entschieden einer Theorie der Decen- 
tralisation wie in Bezug auf die Lebensfunctionen des Organismus ; 
wenn sie in letzterer Hinsicht nur die von den Coryphäen der Na- 
turwissenschaft (Vircbow u. a. m.) eingeschlagene Bahn verfolgt, so 
wird die Physiologie andererseits nicht umhin können, ihre Ueber- 
tragung von der Aeusserlichkeit der Lebensfunctionen auf die Inner- 
lichkeit bewusster Empfindung zu acceptiren, wie die Analogie der 
constituirenden Theile eines höheren Organismus mit niederen indi 
viduellen Organismen einerseits und ununterbrochene Stetigkeit der 
absteigenden Thier-, Pflanzen- und Protisten-Reihe andrerseits es 
gebieterisch fordert und die graduell abnehmende morphologische 
und chemische Verwandtschaft der Gehirnzellen und Ganglienzellen 
der niederen Nervencentralorgane und den lebenden Zellen des 



*) 7. Aufl. I. 112, 151—152; IL 54-55, auch L 238—239. 
**) 7. Aufl. L 245-246. 



74 T«rt der ersten Auflag* 

Körpers überhaupt es ohnehin schon wahrscheinlich macht (vgl. Ph. 
<L Unb. S. 456—461;*) auch 52—56 und 58 ff.**) Wir werden 
daher die Annahme zu der unserigen machen dürfen, dass Empfin-. 
düng (welche als solche allemal schon Bewusstsein in sich schliesst) 
nicht bloss dem grossen Gehirn des Menschen zukommt, sondern 
auch allen seinen untergeordneten Nervencentralorganen (Klein- 
hirn, verlängertem Mark, Bückenmark und sämmüichen Ganglien), 
ja sogar jeder einzelnen protoplasmahaltigen Zelle im Körper, eben- 
sogut wie wir dieselbe nicht nur den höheren, sondern auch den 
niederen Thieren, ja selbst den Protisten und ebenso den proto- 
plasmahaltigen Zellen in niederen und höheren Pflanzen zuerkennen. 
Selbstverständlich ist der Inhalt dieses Empfindens auf den ver- 
schiedenen Stufen sehr verschieden an Beichthum und Feinheit 
(Ph. d.U. 424 — 426),***) und dadurch scheinbar auch dem Grade 
des Bewusstseins nach. Alles Empfinden entspringt aus Schwin- 
gungen, aus Bewegungen von Moleculen, welche denselben von 
aussen (durch Beize) aufgenöthigt werden; die Zeitlichkeit dieser 
Schwingungen setzt die bestimmte zeitliche Form der Empfindung 
(308— 309), f) und die Geschwindigkeit, Intensität, Gestalt und 
sonstige eigentümliche Beschaffenheit bestimmt die Qualität der 
Empfindung, welche unter der Voraussetzung gleicher Schwingungs- 
arten von der Stelle im Gehirn ganz unabhängig ist (299 — 301 und 
302). ff) Nur insofern verschiedene Hirnstellen mit verschiedenen 
Prädispositionen behaftet sind und deshalb auf gleiche Beize mit 
verschiedenen Schwingungs a r t e n antworten, sind sie von Einfluss 
auf die Empfindung. Ist jede protoplasmatische Zelle empfindungs- 
begabt, und nur von der Verschiedenheit der Molecularschwingungen, 
zu denen sie geneigt und fähig sind, die Verschiedenheit ihrer Em- 
pfindungen abhängig, und gilt dieser Satz wie für alle lebenden 
Zellen so insbesondere auch für alle Gehirnzellen, so muss das Ge- 
hirnbewusstsein als Summationsphänomen sämmtiicher Ge- 
hirnzellen aufgefasst werden, wie die Ph. d. U. unter Verwerfung 



*) 7. Aufl. H. 8&-94. 
**) 7. Aufl. I. 53—56 u. 58. 
***) 7. Aufl. H. 58—60. 

t) 7. Aufl. I. 209—800. 
ff) 7. Aufl. I. 291—293 u. 294. 



IV. Gehirn and Intttteet. 75 

aller physiologisch ganz unhaltbarer Hypothesen von Centrahellen*) 
und Centralpnnkten auch wirklich thut (S. 299),**) indem sie ganz 
richtig die thatsächlich in demselben vorhandene Einheit auf die 
ebenfalls in demselben vorhandene Güte der Leitung nach allen 
Richtungen zurückführt 34 ) (8. 429—430).***) Denn die Leitung 
ist es, duroh welche die in einer Empfindungszelle statthabenden 
Empfindungsschwingungen mit den in einer andern Zelle des Ge- 
hirns statthabenden communiciren, sich mittheilen und dadurch für 
den Standpunkt der Innerlichkeit oder Empfindung in die höhere 
Einheit des nebeneinanderstehenden Inhalts eines gemeinsamen Be- 
wnsstseins verschmelzen. Diese Verschmelzung findet zunächst in 
höchst affallender Weise zwischen den Empfindungen und Vor- 
stellungen der beiden durch eine ziemlich schmale Brücke verbun- 
denen Gehirnhemisphären, ebenso aber auch zwischen verschiedenen 
Tbeilcn des Gesammthirns (z. B. zwischen dem Grosshirn und den 
Vierhügeln als Centralorgan der Gesichtswahrnehmung) statt. Wäh- 
rend also zwischen den Empfindungen entfernterer Gentralorgane 
desselben Organismus nur eine so dürftige Verbindung besteht, dass 
nur dumpfe Mittheilungen von einem Bewusstsein zum andern ge- 
langen und von einer höheren Bewusstseinseinheit aller in 
einem Organismus enthaltenen Bewusstseine eigentlich nicht ge- 
sprochen werden kann, so ist dooh das Hirnbewusstsein, welches 
das bei weitem höchste im Organismus ist und darum gewöhnlich 
schlechtweg als Vertreter seines Bewusstseins überhaupt angesehen 
wird, selbst wieder eine höhere Einheit vieler in ihm umfasster 
Bewusstseine, nur dass in ihm die Einheit so sehr dominirt, dass 
sie bei allen über der Schwelle des Gesammtbewusstseins liegen- 
den deren Besonderheit in sich aufhebt. 

Dasjenige Bewusstsein, mit welchem erst meine Erfahrung 
beginnt, ist dasjenige, welches auch die Vorstellung meines Ich 
umfasst und welches die Möglichkeit besitzt, seinen Inhalt mit allen 
Sinneswahrnehmungen und all seinem Gedächtnissinhalt zu ver- 
gleichen. Auf dieses Bewusstsein, auf dieses die gesammte Masse 
des grossen Gehirns umspannende Summationsphänomen, bezieht 



*) Vgl. Fechner's „Psychophysik" Bd. IL S. 392—421. 
**) 7. Aufl. I. 299. 
***) 7. Aufl. II. 62—64. 



76 Tert der ersten Auflage. 

sich jede Angabe, dass eine Empfindang oder Wahrnehmung in 
meinBewusstsein eintritt auf dieses allein also auch die erfahrungs- 
mässige Angabe, dass ein gegebener Reiz unterhalb der Schwelle 
liege (vgl. Ph. d. U. S. 29—31).*) Keineswegs aber können wir 
behaupten, dass Empfindungen unterhalb der Schwelle dieses 
Gesammthirnbewusstseins auch unterhalb der Schwelle ihres 
Z e 1 1 e n bewusstseins liegen; sondern wie sehr wahrscheinlich ein 
Sinnesnerv an jeder Stelle eine gewisse Empfindang von den ihn 
durchlaufenden Schwingungen hat, ohne dass doch diese Empfindung 
als solche weiter geleitet würde und zum Hirnbewusstsein gelangte, 
ganz ebenso kann und muss auch jede Zelle im Hirn ihre Privat- 
empfindungen haben, welche unterhalb der Schwelle des Gesammt- 
hirnbewusstseins liegen. So erst erhalten die negativen /s Fechner's 
eine positive Bedeutung und verschiedene Fälle (z. B. Beeinflussung 
der Klangfarbe durch Obertöne, die unterhalb 'der Schwelle liegen, 

— Beeinflussung des Charakters der Gefühle durch Vorstellungs- 
oder Empfindungsschwingungen, die unterhalb der Schwelle liegen 

— vgl. Ph. d. ü. S, 229—231)**) machen es direct wahrscheinlich, 
dass sie als Empfindungen existiren, also als Zellenempfindungen, 
da sie eingestandener Maassen nicht Gesammthirnempfindungen sein 
sollen. So erlangt der Begriff der Schwelle eine ganz andere Be- 
deutung, er wird nämlich auf eine Belation zu einem Summations- 
phänomen von bestimmtem Umfang reducirt Während er sonst 
wohl teleologisch begreiflich (ebd. S. 30),***) in causaler Hinsicht 
aber völlig räthselhaft war, wird er nun erklärlich als Function 
des inneren Leitungswiderstandes desjenigen Complexes von 
organischer Materie, welchen das Summationsphänomen utnfasst, auf 
das er sich bezieht. 85 ) Denn allein auf der Leitung im Hirn 
beruht, wie wir sahen, das Summationsphänomen des Hirnbewusst- 
seins; da nun jede Leitung Widerstände bietet, so kann sie als 
Leitung erst wirksam werden, wenn die Oscillationen eine solche 
Intensität gewinnen, dass diese Widerstände überwunden werden, 
und erst in diesem Falle kommt das Gesammtbewusstsein zu 



*) 7. Aufl. J. 29—32. 
**) 7. Aufl. I. 221-222. 
***) 7. Aufl. 30-31. 



IV. Gehirn und InteUect 77 

Stande, welches ich mein Bewusstsein nenne, und auf welches sieh 
die gewöhnlich so genannte Bewusstseinsschwelle bezieht.*) 

Nun können wir aber ohne Zweifel die soeben in Bezug auf 
Hirn, Grosshirnhemisphären und Hirnzelle angestellte Betrachtang 
in analoger Weise wiederholen, wenn wir auf den lebendigen (pro- 
toplasmatischen) Qesammtinhalt einer solchen Zelle and seine ein- 
zelnen organischen Partikelchen (oder auf die Molecule des be- 
treffenden Proteinstoffs) reflectiren. So wenig das Gehirn als Ganzes 
zur Empfindung kommen kann, es sei denn durch Summation der 
Empfindungen seiner organischen Elemente, ebensowenig kann der 
protoplasmatische Zellinhalt als Ganzes zur Empfindung kommen, 
es sei denn durch Summation der Empfindungen seiner organischen 
Elemente. Dass wir die Zelle klein nennen, ist ein ganz zufalliges 
und subjectives Urtheil; dem Molecule gegenüber ist sie von so 
ungeheurer Grösse, dass es auf den Unterschied der Grösse des 
Gehirns und der Zelle danach kaum noch anzukommen scheint 
Dennoch kommt es auf die absolute Grösse der Zelle an; denn 
dieselbe ist .eine solche, dass die Leitungswiderstände innerhalb 
derselben zu klein werden, um besonderer Leitungsvorrichtungen zu 
bedürfen; das Protoplasma selbst reicht zur Leitung auf die Ent- 
fernungen innerhalb der Zelle und damit zur Herstellung des Ge- 
sammtzellenbewusstseins als eines Summationsphänomens aus den 
Separatempfindangen der organischen Molecule aus. Freilich wird 
auch hier noch ein gewisser innerer Leitungswiderstand vorhanden 
bleiben, der von Beizen unterhalb einer gewissen Grösse nicht über- 
wunden wird; wir werden also auch hier eine Zellenbewusstseins- 



*) Durch diese Auffassung löst sich unter anderm auch der scheinbare 
Widerspruch zwischen der Behauptung der Phil. d. Unb., dass alle Empfindung 
«0 ipso bewusste Empfindung sein müsse, und dass doch die Empfindungen, aus 
welchen unbewusst die Anschauungen des Auges construirt werden, jenseits des 
Bewusstseins liegen (vgl. auch „Das Ding an sich und seine Beschaffenheit'*, 
Berlin, C.Duncker, 1871, S. 67) ;t) die Lösung liegt darin, dass das Bewusstsein, 
welches ich mein Bewusstsein nenne, nur die fertige Anschauung kennenlernt, 
und die Empfindungen, welche dieser Anschauung zu Grunde liegen, nur in einem 
niedern Bewusstsein bestehen, welches mein Bewusstsein nur durch künstliche 
Hülfemittel der Steigerung behufs Erleichterung der Communication und selbst 
da noch bloss unvollständig in sich hereinzuziehen vermag. 

f) Krit Grundl. des transc. Realismus (Berlin, C. Dnncker 1876) S. 97. 



78 T«tt 4*r «nttn Auflage. 

schwelle Staturen müssen, obwohl dieselbe sieb nicht leicht empirisch 
dürfte nachweisen lassen. 

Zum dritten Male werden wir dieselbe Betrachtung wiederholen 
müssen, wenn wir ron dem höchst zusammengesetzten organischen 
Molecule des protoplasmatischen Zelleninhalts auf dessen chemische 
Elementarnxriecule und auf die gleichmässigen Uratonie zurück- 
gehen« Wir sehen von dem hier erreichten Standpunkte, dass 
die von der Ph. d. Unb. betonte Relativität des Indivi- 
dualitätsbegriffes (Abschn. C. Cap. VI. S. 495 ff)*) nicht 
nur für äusseriiebe organische Individuen, sondern auch für Be- 
wiisstseinsindividuen eine in noch viel strengerem Sinne zu nobmende 
Wahrheit ist, als es nach den dort gegebenen Ausführungen scheinen 
konnte« 

Nachdem wir die Schwelle als Function des inneren Lehnngs- 
widerstandes des entsprechenden Complexes verstehen gelernt haben, 
müssen wir schliessen, dass bei den einfachen Uratomen jeder Grund 
zur Amiahme einer Empfindungsschwelle wegfällt, da de eben 
einfach sind, also von einem inneren Leitungswiderstand keine 
Bede sein kann. Hierdurch würde sich das Hauptbedenken der 
Ph. d. Unb, gegen die Annahme einer Empfindung der Atom« 
(S. 490)**) erledigen und dieser fast unvermeidlichen Hypothese 
eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Unvermeidlich scheint uns 
diese Hypothese deshalb, weil, wenn die Empfindung nicht eine 
allgemeine Urei genschaft der constituirenden Elemente der 
Materie wäre, schlechterdings nicht einzusehen wäre, wie durch 
formelle Potenzirung und Integration derselben das uns bekannte 
Empfindungslebcn der Organismen sollte entstehen können. Dass 
die Materie, bis in ihre letzten Principien verfolgt, aus dem Ge- 
biete der Physik hinaus und durch den dunklen Kraft begriff in 
das der Metaphysik hinüberführt, ist einmal nicht zu leugnen; so 
bleibt denn auch nichts übrig, als an jener Stelle die gemein- 
same metaphysische Wurzel der in ihren höheren Stei- 
gerungen als stets sich wechselseitig bedingenden und doch schein- 
bar so heterogen und unvermittelt neben einanderstehenden Sphären 
der Innerlichkeit (Empfindung, Bewnssteein) und Aeusserliebkeit 



*) 7. Aufl. IL 127 ff. 
•*) 7. Aufl. n. 122—123. 



IT. Gehirn und Iatelket 79 

(räumlichen Wirkens und Daseins) zu »neben und vorauszusetzen. se ) 
Es ist unmöglich, dass ans rein äusserlichen Elementen, die jeder 
Innerlichkeit entbehren, plötzlich bei einer gewissen Art der Zu* 
sammensetzung eine Innerlichkeit hervorbrechen sollte, die sich immer 
reicher und reicher entfaltet; so gewiss vielmehr die Naturwissen- 
schaft überzeugt ist, dass in der Sphäre der Aeusserlichkeit die 
höheren (organischen) Erscheinungen doch nur Combinationsresnltate 
oder Summationsphänomene der elementaren Atomkräfte sind, ebenso 
gewiss kann sie, wenn sie sich einmal ernstlich mit dieser andern 
Frage beschäftigt, sich der Ueberzeugung nicht verschliessen, dass 
auch die Empfindungen höherer Bewusstseinsstufen nur Combinations» 
resultate oder Summationsphänomene der Elementarempfindungen 
der Atome sein können, wenngleich leztere als solche immer unter- 
halb der Schwelle der höheren Grnppenbewusstseine bleiben. In 
dem Verkennen dieser Doppelseitigkeit der objectiven Erscheinung, 
deren innere und äussere Seite sich wie die Concavität und Con* 
vexität einer und derselben Kreislinie gegenseitig bedingen und doch 
wie diese nur jede von je einem Standpunkte aufgefasst werden 
können, — in dem Verkennen dieser Doppelseitigkeit, welche alles 
Dasein von seinen niedrigsten bis zu seinen höchsten Erscheinungs- 
formen durchzieht, liegt der Grundfehler alles Materialismus und 
alles subjectiven Idealismus. So unmöglich der Versuch des letzteren 
ist, die äusserlichen Erscheinungen des räumlichen Daseins aus 
Functionen der Innerlichkeit und deren Combinationen zu construiren, 
ebenso unmöglich ist das Bestreben des ersteren, aus irgend welchen 
Combinationen äusserlicher räumlicher Eraftfunctionen eine inner- 
liehe Empfindung aufzubauen, — ein Bestreben, an dem selbst der 
talentvolle Herbert Spencer gescheitert ist. *) Es leuchtet nunmehr 
auch ein, weshalb unser Standpunkt ebensowenig als Materialismus, 
wie als subjectiver Idealismus bezeichnet werden kann; denn wenn 
wir in den Atomen, aus welchen die Materie besteht, die einheit- 
liche metaphysische Wurzel der äusserlichen und innerlichen 
Erscheinung des Weltwesens oder der Weltsubstanz (nämlich 
der Welt als räumlich gesetzten Daseins und der Welt als Vor- 



*) Vgl. A. P. Barnard's Rede über die neueren Fortschritte der Wissen 
Schäften, deutsch von Klöden, Berlin 1869, S. 42—52, und TyndalTs Aeusserungeu 
in Anhang.") 



80 Toct der ersten Auflage. 

Stellung) zu suchen haben, so haben wir eben damit anerkannt, 
dass Innerlichkeit (Empfindung, Vorstellung, Bewusstsein) keines- 
wegs als blosse Folge der in der Sphäre der materiellen Aeusser- 
lichkeit vorgehenden Functionen angesehen werden kann (ebenso- 
wenig wie umgekehrt), sondern dass sie als ebenso ursprünglich 
wie diese gesetzt werden muss, und als eine der Aeusserlichkeit 
schon in den primitivsten Elementen des Daseins gleichberechtigte 
und coordinirte Erscheinungssphäre aus der gemeinsamen metaphy- 
sischen Wurzel der Welt resultiren muss. 88 j Unser Standpunkt 
kann aber auch schon deshalb nimmermehr Materialismus heissen, 
weil uns die Materie selbst gar kein an und für sich subsistirendes 
Princip, d. h. keine Substanz im strengen Sinne sein kann, sondern 
uns selbst nur als ein Gombinationsresultat oder Sum- 
mationsphänomen immaterieller Atomkräfte gilt, weil 
das, was wir Materie als äusserlich gesetzte räumliche Existenz 
nennen, seinerseits ebenso sehr nur ein Phänomen einer metaphy- 
sischen Wesenheit ist wie die Empfindung, bloss mit dem Unter- 
schied, dass erstere Phänomen in der Sphäre der Aeusserlichkeit 
oder Objectivität, letztere Phänomen in der Sphäre der Innerlichkeit 
oder Subjectivität ist. 

Wenn wir sagten, dass die Empfindung als ursprüngliche Eigen- 
schaft der die Materie constituirenden individualisirten Elemente 
(Atome) angesehen werden müsse, welche nicht durch die anderen 
Eigenschaften derselben in secundärer Weise verursacht sei, sondern 
als coordinirte Sphäre zu betrachten sei, so schliesst dies doch, wie 
schon erwähnt, die Wechselwirkung zwischen dem bestimmten je- 
weiligen Inhalt beider Sphären nicht aus. Die Bestimmtheit des 
Inhalts der Empfindung durch die Vorgänge in der Aeusserlichkeit 
ist jedenfalls über allen Zweifel erhaben ; der umgekehrte Einflnss 
der Empfindung auf die äusseren Vorgänge ist mindestens als höchst 
wahrscheinlich anzusehen, aber nicht etwa so, als ob die Gesetze 
des äusseren Geschehens dadurch Ausnahmen und Eingriffe erlitten, 
sondern so, dass diese Einflüsse sich innerhalb des Rahmens der 
naturgesetzlichen Notwendigkeit halten, indem sie mitbestimmend 
auf das unter gleichen Umständen regelmässig wiederkehrende Ver- 
halten der Atome wirken, aus welchem wir erst das Gesetz abstra- 
hlen. Gerade dass wir bei unsern Abstractionen der Gesetze des 
äusseren Geschehens bis jetzt nicht im Stande sind, das Moment 



TV. Gehirn and Intellect. gl 

der Innerlichkeit mit in die Formeln einzufahren, gerade dieser 
Umstand giebt den meisten Naturgesetzen noch eine nnserm Ver- 
ständnis so fremdartige Physiognomie, weil zwar die äussern Um- 
stände und das äussere Resultat richtig aufgezeichnet sind, aber die 
innerliche Vermittelung fehlt, welche erst gleichsam die lebendige 
Seele des im Gesetz ausgedrückten realen Zusammenhanges bildet. 
Es ist dies ganz dasselbe Verhältniss wie im umgekehrten Falle in 
einer subjecti vis tischen Psychologie, welche von den Einflüssen der 
durch die realen Vorgänge des äusserlichen Daseins erregten Hirn- 
schwingungen völlig Abstand nimmt und sich darauf beschränkt, 
aus den empirisch beobachteten Zusammenhängen zwischen Vor- 
stellungs- oder Empfindungs-Elementen Gesetze zu abstrahiren. Diese 
Gesetze können vollständig richtig aufgestellt werden (z. B. über die 
Ideenassociation) und doch fehlt jede Einsicht, wie so gerade diese 
Zusammenhänge zu Stande kommen, bis die Rücksichtnahme auf die 
Wechselwirkung mit der Sphäre der Aeusserlichkeit (wie wir oben 
sahen) Licht in die Sache bringt (vgl. auch als anderes Beispiel die 
Erörterung über immanente und transcendente Cau sali tat im „Ding 
an sich", insbesondere S. 77).*) 

Wenn Spinoza bemerkt, dass ein fallender Stein, wenn er Be- 
wusstsein hätte, frei zu handeln glauben würde, so können wir hin- 
zufügen, dass er Lust oder Behagen an dieser freien unbehinderten 
Betätigung seiner Willensnatur empfinden würde, dass er aber Un- 
lust empfinden würde, wenn die seiner Tendenz gemässe Fall- 
bewegung (etwa durch Aufschlagen auf den Erdboden) gehemmt und 
verhindert würde, — denn der in ihm lebendige Wille würde im 
ersteren Falle im Zustande der Befriedigung, im letzteren Falle im 
Zustande der Nichtbefriedigung befindlich sein. Wenn nun auch die 
Atomempfindung zu tiefstehend für ausgiebige Vergleichungen und 
deutliches ßewusstsein der Lust gedacht werden müsste, so würde 
sie doch jedenfalls von jeder Störung der naturgemässen Intentionen 
unangenehm afficirt werden und ohne Zweifel auch von dem 
Contrast einer nach längerer Hemmung wieder freiwerdenden Be- 
tätigung angenehm berührt werden. Hiermit wären auch für 
das Empfindungsleben ausgedehnterer materieller Complexe die be- 
stimmenden Elemente gegeben, welche sich auf den verschiedenen 



*) Krit Grundl. d. transc. Realism. S. 109—111. 

K. t. IIa itm an n, Du Unbewusste. 2* Aufl. 



82 Text 4er ernteji Auflage 

Stufen organischen Aufbaues auch innerhalb desselben Organismus 
wiederholen (Ph, d. ü. 225—226 *) und Lotze „Medtcin. PsychoL" 
2. Buch, 2. Cap.). Ob ein Molecule sich in Buhe oder Bewegung 
befindet, ist an und fttr sich — schon wegen der Relativität der 
Bewegung — gleichgültig; eine Aenderung des Zustandes der Be- 
wegung wird daher in demselben Sinne, wie eine Aenderung des 
Zustandes der Buhe als. Störung durch äusseren Eingriff aufzufassen 
sein, vorausgesetzt; natürlich, dass diese Aenderung wirklich von 
aussen durch mechanische Uebertragung lebendiger Kraft und nicht 
durch eine aus der Action der eigenen Kräfte herrührende Beschleu- 
nigung hervorgerufen, wird Der Bewegungszustand, in welchem 
sich ein Molecule befindet, ist gleichsam der indifferente Nullpunkt 
seines Empfindens, der gewohnheitsmässige Zustand, dessen Contrast 
mit einem früher einmal vorangegangenen anderen Zustand, mochte 
derselbe nun eine angenehme oder unangenehme Empfindung reprä- 
sentiren, längst verklungen ist. Deshalb macht es nach Beseitigung 
dieses Gontrastes auch keinen Unterschied mehr für die Empfindung 
des Atom/3, ob die innehabende Bewegung durch eine frühere 
Bethätigung der eigenen Kraft (nicht durch gegenwärtige, denn 
diese würde Beschleunigung, mithin Veränderung des Bewegungs- 
znstandes bringen) oder durch eine frühere Uebertragung lebendiger 
Kraft von aussen herrührt, und wird mithin auch die Störung des 
Bewegungszustandes, als des nunmehr natürlichen, in gleicher Weise 
empfunden werden, welches auch sein Ursprung sei. Wenn nun, 
wie wir sehen, die Störung des Bewegungszustandes, der aus Be- 
thätigung der eigenen Kraft herstammt, unangenehm empfunden 
wird, so müssen wir schliessen, dass ganz ebenso auch jede Störung 
eines aus fremder lebendiger Kraft herstammenden Bewegungszu- 
standes unangenehm empfunden wird, ausgenommen, wenn die 
Störung dahin wirkt, die gebundene Action der eigenen Kraft frei 
zu machen. Ferner wird es in gleicher Weise empfunden werden, 
ob die als Störung von aussen eingreifende Geschwindigkeitsänderung 
im positiven oder negativen Sinne, als Beschleunigung oder Ver- 
langsamung wirkt. 

Nun werden aber alle» Schwingungen, von Hirnmcriecalen in 
erster Reihe durch ausserhalb , ihrer selbst liegende, von anderen 



*) 7. Aufl. I. 217—218. 



IV. Gehört üödlÄtenfect. 83 

Hirn- oder Nerven-Molectlffcn an sie herantretende 1 Bewegüngsreize 
erregt ; wenn anch die Art und' Weise oder Form ihrer Schwingungen 
zum Theil durch die Prädispositionen ihrer Lage und Vertheilung 
bedingt ist, so ist doch das Entstehen der Schwingung immer Folge 
eines herantretenden Reizes, d. h. Übertragener lebendiger Kraft 
von anderen schwingenden Nerventheilen, die sie letzten Endes 
beim Wahrnehtoungsprocess durch die lebendige Kraft der Licht-, 
Schall- und anderen Schwingungen erhalten haben. Dies wäre 
wenigstens beim rein passiven Percipiren die einzige Kraftquelle, 
angenommen, dass ein solches passives Percipiren ohne actives 
Appercipiren oder Einordnen in bekannte Vorstellungsreihen in aller 
Strenge vorkäme. Das Appercipiren, das sich mehr oder minder 
dem Percipiren immer beimengt, ist aber schon ein Beginn der 
activen Verarbeitung von empfangenen Vorstellungen und erfordert 
als solches eine Aufwendung der im Gehirn aufgespeicherten che- 
mischen Kraft (welche aus den Nahrungsmitteln herstammt). Diese 
actfre Kraftbethätigung ist nur das Allgemeinere dessen, was wir 
bereits als Aufmerksamkeit kennen lernten und was bei allem 
Wahrnehmen, Appercipiren, Lenken einer Gedankenreihe zu be- 
stimmtem Ziele, kurz bei jeder geistigen Arbeit und namentlich bei 
prödUetiver Arbeit eine so dbminirende Rolle spielt. Auch diese 
eigentümliche Actövität des Gehirns aus dem aufgespeicherten 
Kräffcvorrath bedarf zu ihrem Eintreten eines von aussen heran- 
tretenden Beizes, aber die lebendige Kraft, welche er auslöst, ist 
viel gröss<er als die, welche er mitbringt (etwa wie die lebendige 
Kraft der Luft in den Pfeifen einer gespielten Orgel, die vom Balgen- 
treter herrührt, weit grösser ist als die lebendige Kraft der die 
Tasten bewegenden Finger des Orgelspielers, welche doch für die 
Pfeifen als auslösender Keiz wirkt). Nur die Aufmerksamkeit und 
geistige Activität ermüdet das Gehirn, nicht die passive Aufnahme, 
weil nur in ersterem Falle die eigene Kraft verzehrt wird. Das 
ohne jede Aufmerksamkeit den Sinneseindrücken träumerisch hin- 
gegebene Gehirn ermüdet ebenso wenig, wie es von den Bildern 
dte wirklichen Traumes erinüdet. Wohl aber können dabei noch' 
die Sinnesorgane , die Sinnesnerven und die Centrälorgane der 
Sintiebpbtcieptiöä ertnüden, weil in ihnen unwillkürlich und reflecto : 
nach* cWrfeh die eintretenden Reize immer eine gewisse Reaction 

errfcgf tffrfl, welchö als eine ermüdende active Aufmerksamkeit 

6* 



84 Text der ersten Auflage. 

(aber nicht als Gehirnaufmerksämkeit, sondern als untergeordnete 
Nervenaufmerksamkeit) zu bezeichnen ist, — eine Activität, deren 
Kraftverbrauch bis zn eingetretenem Ersatz wie überall eine Ab- 
stumpfung gegen den Reiz zur Folge hat Auch beim Gehirn selbst 
ist die Aufmerksamkeit auf die meisten Reize von gewisser Grösse 
zum Theil unwillkürlicher Reflex, zum andern Theil aber Resultat 
eines Ueberlegungsprocesses, der die betreffenden Reize mit den 
Interessen des Individuums confrontirt und danach erst sich zur 
Aufmerksamkeit in höherem oder geringerem Grade entschliesst ; 
bei gewissen Stimmungen kann aber der unwillkürliche Reflex auf 
lange Reihen gewisser Reizclassen sehr gering werden, und dann 
darf er praktisch vernachlässigt werden, weil die beständige Alimen- 
tation des Gehirns (wie im Traum) mehr als genügt, um den dabei 
stattfindenden Eraftverbrauch zu ersetzen. Umgekehrt scheint bei 
gespanntem, aufmerksamem Suchen nach einer Vorstellung (siehe oben 
S. 72 — 73) der die vorhandenen verwandten Dispositionen erregende 
centrifugale Innervationsstrom das allein Bestimmende zu sein, und 
doch ist nicht zu vergessen, dass die actuell im Bewusstsein vor- 
handene Vorstellung für die neu entstehende als äusserer Reiz wirkt, 
welcher ein gewisses Maass von lebendiger Kraft überträgt, ganz 
wie die Schallwellen lebendige Kraft auf die Cortischen Organe 
übertragen. Wir sehen also, dass streng genommen die lebendige 
Kraft des Reizes und die aus der aufgespeicherten Nervenkraft 
herrührende reflectorisch (sei es unwillkürlich oder durch bewussten 
Reflectionsprocess) ausgelöste lebendige Kraft als Quellen der leben- 
digen Kraft einer Vorstellung immer Hand in Hand gehen, dass 
aber bald der eine Factor, bald der andere verschwindend klein 
werden kann, je nachdem die Productivität oder die Receptivität 
dominirend hervortritt. 

Wenn es sich um die Frage der Entstehung des Bewusst- 
sein s oder der Empfindung handelt, so liegt es auf der Hand, dass 
wir es mit jenem extremen Falle zu thun haben, wo die Receptivi- 
tät dominirt; denn erst nachdem wir von den primitiven Ur- 
sprüngen der Empfindung einen langen Weg aufsteigender Ent- 
wickelung zurückgelegt haben, kommen wir in Regionen, wo von 
einer geistigen Verarbeitung der Empfindungen die Rede sein kann. 
Dies gilt ebenso von den untersten Stufen der Empfindung im 
menschlichen Organismus, wie von denen in der aufsteigenden Reihe 



IV. Gehirn und Intellect. g5 

des Protisten- and Thierreichs als Ganzen. Wir werden also bei 
den Anfängen der Empfindung die reflectorische Entfaltung eigener 
Kraft vernachlässigen dürfen und uns an den erregenden Beiz als 
die wesentliche Quelle der lebendigen Kraft der Empfindungs- 
schwingungen halten dürfen. Diese vom Beiz übertragene lebendige 
Kraft ist nun aber für jedes davon betroffene Molecule ein störender 
Eingriff in seinen bestehenden Zustand; von dem es sich nach den 
obigen Erörterungen unangenehm afficirt fühlen muss. Es findet 
sich in eine Bewegung versetzt, zu welcher in seinem Willen, cL h. 
in seiner ihm eigentümlichen Kraft sammt den Gesetzen, nach 
denen sie sich äussert, keine Veranlassung gegeben war; diese 
Bewegung empfindet es als eine seinem Naturwillen nicht gemässe, 
aufgezwungene, widerwärtige. Hier wenn irgendwo ist der Ursprung 
der actuellen * Empfindung und damit zugleich der Ursprung des 
Bewusstseins zu suchen, das nur durch den Contrast des eigenen 
Willens mit dem eigenen Thun entstehen kann, während die 
behagliche Empfindung der dem eigenen Willen gemässen Betäti- 
gung erst durch den Contrast mit der bereits vorhandenen ent- 
gegengesetzten Empfindung entstehen kann. Wir glauben uns — 
bis auf die Herleitung und Ausdrucks weise — hier in völliger Ueber- 
einstimmung mit der Ph. d. U. zu befinden (S. 404—406 und 409 
bis 410).*) 

Wenn wir oben die Empfindung als allgemeine ursprüngliche 
Eigenschaft der constituirenden Elemente der Materie in Anspruch 
nahmen, so war doch damit natürlich nicht die actuelle Empfindung 
gemeint, welche erst durch den äussern Beiz hervorgerufen wird, 
sondern das latente Vermögen, auf einen solchen Eingriff durch 
äussern Beiz mit der Empfindung zu antworten. Diese metaphysische 
Wurzel des Atoms, welche zugleich seine Kraft, äusserlich nach 
bestimmten Gesetzen zu wirken, und seine Fähigkeit, auf eine 
Aenderung seiner äusseren Bewegungszustände mit Empfindung zu 
reagiren, umfasst und welche natürlich jenseits alles Bewusstseins 
liegt, kann man als das Unbewusste des Atoms bezeichnen, welches 
die primitivsten Urformen von Wille und Vorstellung in seinem 
Schoosse trägt. Dieses Unbewusste ist der metaphysische Hinter- 
grund, auf welchem durch die Aenderung der äusseren Vorgänge 



*) 7. Aufl. IL 33- 35 u. 44- 45. 



86 Te;st dqr praten Auflage. 

das Wunderbild dqr bewussljep Empfindung eitf?ropf$p wir4, gleich- 
sam die Wand für die Zauberlaterne, deren Bild .ohne solphe nicht 
zur Erscheinung käme, der unveränderlich bleibende Hu*tergpw4> 
auf welchem die wandelnden Erscheinungen der Empfindung?- und 
Vorstellungswelt sich abspielen (vgl. „Philosophische Monatshefte"; 
herausg. vqn J. Bergmann, Bd. JV. Heft J, S. 47). Le^^r hat ,die 
Fh. d. U. diese Betrachtung picht für 4*& einzelne Atpm durph- 
geführt, W) sondern gleich mit dem Hjurnbewupstpein tagomteii ; da- 
djurch ist ^e jln eine unberechtigte Gegenüberstellung yon unbewuß- 
tem Geist und Materie hineingerathen, gleich als ob d#r nnhewassie 
Geist als ein abgetrennte^ Weisen 4en Atomen 4w Iftrterie etwa 90 
gegenüberstände, wie dies? sich untereinander *°) (z. B. S. 403 
Z. 17— 19; S. 404 Z. 9—7 von unten).*) Sine Betrachtung der 
Empfindung zunächst am Atom würde hingegei* haben $rtannen 
lassen, dass das Unbewussfc, welches empfindet, nicht etwjas dem 
Atom fremd Gegenüberstehemjes, von ihn* Getrenntes, ftondera ebw 
dieses selbst ist; 41 ) das eben dargelegte Anerkenntnis^, dass Einheit 
des Bewusstseins in einer Gruppe von mit Einzelbewusftteein be- 
gabten Elementen nur durch Leitung befUpgt i/tf ($• 426—430,**) 
und dass das so entstandene einheitliche Bewusptsein in der That 
ein Summationsphänomen ist, 48 ) also z. B. d^§ Hir#bewus&t- 
sein ein Summationsphänomen aus Zellenbewusstseinen \at (S. 299 
Z. 11 — 12),***) würde dann in Verbindung ruft 4ew Vertfäfldniss 
des Vorganges am Atom verhindert haben, den unbewußten meta- 
physischen Hintergrund, auf welchem das einheitliche Bewußtsein 
entworfen wird, noch in etwas anderem zu suchen $$ dem Unbe- 
wussten der Atome des materiellen Complpxes, in welchem das 
einheitliche Bewusstsein stattfindet. 49 ) 

Was jedoch die scheinbare Differenz zwischen unserer Dar- 
stellung und der Ph. d. U. wiederum vermindert, ist der Monismus 
der letztererj, d. h. ihre Behauptung, dass das Unbewusste in Allem 
substantiell identisch und Eines und nur in phänomenaler Hinsicht 
(sowohl in der äusserlich realen Existenz, uls in der innerlichen 
Abgeschlossenheit des Bewtusfypuy?) eine Vielheit de* Daseins 



*) 7. Aufl. H 32 Z. 21—24; IL 34 Z. 7 u. ff. 
**) 7. Aufl. IL 60-64. 
***) 7. Aufl. L 290 Z. 15-16 v. u. 



IT. t G&i*h MM TnteHfe6t. 8*7 

nächgewiesen werden könne. In der That hat die Naturwissenschaft 
als solche nicht nur kein Interesse, sich diesem Monismus zu wider- 
setzen, da er ja die Teale Vielheit der physischen Erscheinung un- 
angetastet lässt, sondern sie darf sogar anerkennen, dass der 
Hintergrund dieser metaphysischen Hypothese in vieler Hinsicht fttr 
das Verständniss der Naturgesetze vorteilhaft ist. Wenn die Natur- 
wissenschaft nur erst Aber das Vor artheil eines substantiellen Stoffs 
in den Atomen neben und ausser den Atomkräften hinweggekommen 
tot (S. 475 ff.)*) und die potentielle Kraft (gewöhnlich von den 
Physikern Spannkraft genannt) als etwas Unräumliches erkannt hat 
(487— 489), **) so wird ihr auch der Schein, iÄ den Atomen getrennte 
Substanzen zu besitzen, verschwinden, uhd sie wird sich vom rein 
physikalischen Standpunkt nunmehr ganz gleichgültig gegen die 
Frage verhalten, ob die Atome substantiell oder nur functionell 
verschieden seien, ob sie selbstständig jedes für sich subsistirende 
Monaden, oder ob sie nur verschiedene Functionen einer identischen 
absoluten Kraftsubstanz (eines Weltwillens) seien. Sobald man sich 
dessen bewusst ist, dass man mit dem Begriff der potentiellen Kraft 
(nicht zu verwechseln mit der lebendigen Kraft, welche nur mecha- 
nisches Moment der Bewegung ist) bereits das Gebiet der Physik 
tiberschritten und das der Metaphysik betreten hat, so wird man 
sich auch nicht zu sträuben brauchen, weiteren metaphysischen 
Erwägungen und Hypothesen Baum zu geben und in der meta- 
physischen Wurzel eines jeden physikalischen Atoms nur eine 
einzelne Verzweigung der grossen metaphysischen Wurzel der Welt 
anzuerkennen (490 — 491). ***) Ich will hier nur auf eine Erwägung 
der Ph. d. U. aufmerksam machen, nach welcher bei getrennten 
Substanzen jede reale Beziehung, also auch jeder causale Einfluss 
auf einander unverständlich wäre, wenn nicht ein metaphysisches 
Band denselben vermittelt, welches den Atomen nicht, wie diese 
sich untereinander, getrennt gegenübersteht (denn dann wäre auch 
wieder der mfluxus zwischen Band und Atomen unverständlich), 
sondern dieselben als höhere Einheit in sich enthält (526— 527). f) 



*) Aufl. IL 108 ff. 

**) 7. Aufl. IJ. 120— 12L 

**») 7. Aufl. Ü. 122-123. 

t) 7. Atifl. IL 162-161 



88 Text der ersten Auflage. 

Aber auch wem diese metaphysische Erwägung nicht stichhaltig 
erscheint, dürfte doch sich zu einer Art Monismus getrieben sehen, 
wenn er von den äusseren Beziehungen der Atome untereinander 
zu ihren innerlichen Beziehungen, d. h. zu dem Summationsphänomen 
eines einheitlichen Bewusstseins mit seiner Betrachtung tibergeht 
Wenn mein Vorstellungsleben ausser Stande ist, auf die Bewusst- 
seinssphäre eines andern Menschen einen Einfluss zu üben, es sei 
denn durch Vermittlung der für beide zugänglichen Sphären des 
äusserlichen Geschehens, so findet zweifelsohne dasselbe Verhältniss 
auch bei Atomen statt: die Empfindung eines Atoms kann auf die 
Empfindung eines andern Atoms influiren nur durch die Sphäre des 
äusserlichen Geschehens, durch Veränderung des fremden Bewegungs- 
zustandes durch den eigenen. Dies drückt sich auch darin aus, 
dass die Leitung, d. h. die Möglichkeit der Uebertragung des Be- 
wegungszustandes, Bedingung für die Goncrescenz der getrennten 
Empfindungen zu einem einheitlichen Bewusstsein ist, weil ohne 
dieselbe jede Beeinflussung unmöglich wäre. Aber wenn sie auch 
Bedingung ist, so kann sie doch nicht vollständige oder zureichende 
Ursache sein ; denn wenn gleich die Empfindung eines Atoms durch 
das andere alterirt werden kann, so muss man doch erwarten, dass 
die alterirte Empfindung von der Empfindung des alterirenden 
Atoms nach wie vor atomistisch gesondert bleibt. Wie auf Grund 
blosser Leitung eine Verschmelzung mehrerer Bewusstseine zu einem 
oder der Aufbau eines höheren Bewusstseins aus den niederen sollte 
zu Stande kommen können, wird nicht ersichtlich, so lange wir 
nicht die Hypothese einer metaphysichen unbewussten Einheit der 
empfindenden Atome hinzufügen. Dann natürlich hat das Summa- 
tionsphänomen des einheitlichen Bewusstseins keine Schwierigkeit 
mehr, weil der metaphysische Hintergrund, auf welchem die be- 
wusste Empfindung entworfen wird, nicht mehr ein atomistisch- 
zersplitterter, sondern ein einheitlicher ist, — nämlich das Eine 
Unbewusste, welches sich nur functionell (als viele Atomkräfte und 
Atomempfindungen) in die Vielheit begeben hatte. 44 ) — Fügen wir 
hinzu, dass auch wir z. B. im Hirnbewusstsein das Eine und abso- 
lute Unbewusste nur insofern als Hintergrund voraussetzen, als 
es in den Atomen dieses Gehirns functionirt, und dass anderer- 
seits auch die Ph. d. U. das Eine und absolute Unbewusste nur 
insofern als Individualgeist individualisirt denkt, als es auf diesen 



IT. Gehirn und Intellect. gg 

Organismus hin functionirt, so scheint der vorhin urgirte Unter- 
schied fast gänzlich wieder zu verschwinden. Dennoch ist er vor- 
handen und lässt sich dahin präcisiren, dass wir keine Functionen 
des Unbewussten kennen, welche auf diesen Organismus Bezug 
hätten, als diejenigen, welche in den Atomen desselben sich offen- 
baren, wohingegen die Ph. d. U. die beständigen metaphysisch- 
teleologischen Eingriffe in den Lebensprocess des Organismus sowohl 
auf physischem wie auf psychischem Gebiete behauptet und deshalb 
einen viel weiteren Begriff hat als wir von „dem Unbewussten, in- 
sofern es in Bezug auf diesen Organismus functionirt." Allerdings 
haben auch wir durch das Zugeständnis», dass höhere Bewusstseins- 
einheiten durch blosse Atomempfindungen ohne das metaphysische 
Band des Einen absoluten Unbewussten nicht möglich seien, schon 
implicite zugegeben, dass dieses doch noch ausser seinen Functio- 
nen in den Atomen als solchen bei dem Zustandekommen des ein- 
heitlichen Bewusstseins betheiligt sei; aber diese Betheiligung ist 
eine rein passive, jede active Bethätigung ausschliessende und ganz 
besonders alle Eingriffe in den naturgesetzlichen Gang der Ereig- 
nisse ausschliessende; es ist eben nur die einheitliche Wand, die 
still hält, und nur dadurch zum Zustandekommen der von ihr auf- 
gefangenen Bilder mitwirkt, dass sie da ist, und zwar als Eine 
und ganze da ist. ") 

Es hängt mit der erörterten Differenz eine andere Schwierigkeit 
eng zusammen, in welche die Ph. d. U. durch ihre teleologischen 
Vellettäten sich verwickelt. Wir sahen . schon oben, dass die Art 
und Weise einer entstehenden Empfindung unabhängig ist von dem 
Ort, wo sie entsteht, nur abhängig von der Form und Modalität der 
sie hervorrufenden Schwingungen, dass also genau gleiche Schwin- 
gungen nicht nur an jeder Stelle desselben Gehirns, sondern auch 
in verschiedenen Gehirnen genau gleiche Empfindungen hervorrufen 
müssen. Dies ist nur möglich, wenn die Reaction des Unbewussten 
(Empfindungsvermögens) auf die Schwingungen mit der entsprechen- 
den Empfindung eine durch ausnahmslose Naturgesetze bestimmte 
ist, welche jede Willkür und Freiheit ebenso wie jede Zufälligkeit 
unbedingt ausschliesst. Nur wenn die Reaction der Innerlichkeit 
auf den äusserlichen Vorgang eine durch äusserlichen Zwang auf- 
genöthigte ist, tritt jener Contrast zwischen dem nicht selbst- 
gesetzten und doch vorgefundenen Empfindungs- oder Vorstellung»- 



90 Ttott der ersten Auflage. 

inhftlt und zwischen dem naturgemässen eigenen Wiüensinhatt ein, 
welcher durch die unlusterweckende Opposition seiner Elemente 
zugleich der Entstehungsmoment des Bewusstseins sein soll. 
Die Ph. d. U. erkennt dies ausdrücklich an und spricht es so aus: 
„Der Gegensatz zwischen Wille" (eigenem Naturwillen) „und Vor- 
stellung" (hervorgerufener Empfindung) wird noch dadurch erhöht, 
dass die Vorstellung nicht unmittelbar durch die materielle 
Bewegung gegeben ist, sondern erst durch die gesetzmässige 
Beaction des Unbewussten auf diese Einwirkung; es tritt also 
noch hinzu, dass das Unbewusste mit einer Thätigkeit ant- 
worten muss, welche ihm gleichsam aufgenöthigt wird. Auf 
diese Weise entstehen zunächst die einfachen Qualitäten der 
Sinneseindrücke, wie Ton, Farbe, Geschmack u. s. w., aus deren 
Beziehungen zu einander rieh dann die ganze Wahrnehmung 
aufbaut, aus welcher wieder durch Reproduction der Gehirn- 
schwingungen die Erinnerungen, und durch theil weises Fallen- 
lassen des Inhalts der letzteren die abstracten Begriffe entstehen" 
(B. 406). •) Wenn es unzweifelhaft richtig ist, dass die Empfindung 
nicht als unmittelbare und ausschliessliche Folge der äusseren 
Bewegung, sondern nur als Beaction des Unbewussten (Empfindungs- 
vermögens) auf diese Bewegung zu verstehen ist, wenn es ferner 
richtig ist, dass die so als Beaction aus dem Unbewussten selbst 
hervorquellende Empfindung nur dann die Entstehung des Bewusst- 
seins begreiflich macht, wenn sie als aufgenöthigte, naturnothwendige, 
nicht aus der eigenen Willensnatur hervorgehende gefasst wird, so 
darf auch nimmermehr diese Beaction als eine* vom Unbewussten 
teleologisch zum Zweck der Entstehung des Bewusstseins ge- 
setzte und bestimmte gedacht werden, wie die Ph. d. U. es thut; 
denn dann läge nur eine Taschenspielerei vor, dass das Unbewusste 
über eine Beaction als nicht von ihm gewollte oder be- 
absichtigte stutzt, die es doch mit der andern Hand sich selbst 
mit wohlberechneter Absieht unter den Zauberbecher geschoben 
hat, aus dem sie nun zum Vorschein kommt. 48 ) Solche Selbst- 
begaukelung des Unbewussten ist ganz unmöglich; entweder ist die 
teleologische Metaphysik richtig, und die Bewusstseinsentstehung 
der hauptsächliche Mittelpunkt des Unbewussten, dann ist die obige 



«) 7. Aufl. iL 41. 



IV. Gehirn und Intellect. 91 

Theorie der Bewusstseinsentstehung falsch ; oder aber diese Theorie 
ist, wie wir glauben, richtig, dann kann die Bewusstseinsentstehung 
nimmermehr der Zweck, sondern nur die unbeabsichtigte 
Folge des Vorganges gewesen sein, aus dem sie resultirt. Da 
wir ohnehin schon unsern Standpunkt gegenüber der Teleologie 
klargestellt haben, so kann natürlich dieses Dilemma uns nur in 
unserer Auffassung bestärken. 



V. 

Charakter und Wille* 



„Wenn dem Materialismus einmal das bewusste Vorstellen und 
Denken eingeräumt ist, so hat er volles Recht, auch das bewusste 
Fühlen und damit das bewusste Begehren und Wollen in Anspruch 
zu nehmen, da die physiologischen Erscheinungen für alle bewussten 
Geistesthätigkeiten das Gleiche aussagen. Es ist völlig inconsequent 
von Schopenhauer, den Gedächtnisschatz des Geistes sammt den 
intellectuellen Anlagen, Talenten und Fertigkeiten des Individuums 
auf die Constitution des Hirns zurückzuführen und den Charakter 
des Individuums, der sich ebenso leicht, wo nicht noch leichter, 
dieser Erklärung unterwirft, von derselben auszuschliessen und zu 
einer individuellen metaphysischen Essenz zu bypostasfren, welche 
seinem monistischen Grundprincip in's Gesicht schlägt." (Ph. d. U. 
S. 387—388).*) „Der Charakter ist der Reactionsmodus (des Indi- 
viduums) auf jede besondere Classe von Motiven, oder, was dasselbe 
sagt, die Zusammenfassung der Erregungsfähigkeiten jeder beson- 
deren Classe von Begehrungen" (234). **) Die verschiedenen Seiten 
oder Grundrichtungen des Charakters, welche als innere Triebfedern 
des Handelns den verschiedenen Motivclassen als äusseren ent- 
sprechen, sind die Triebe (61 u. 233).***) „Der Trieb hat also 



*) 7. Aufl. IL 17—18. 
**) 7. Aufl. I. 226. 
***) 7. Aufl. L 60—61. I. 225. 



V. Charakter und Wille. 93 

als solcher nothwendig einen bestimmten ooncreten Inhalt, welcher 
durch die physischen Prädispositionen der allgemeinen Körper- 
Constitution und der molecularen Constitution des Centraineryen- 
systems bedingt ist" (61). Diese theils ererbten, theils im Laufe 
des Individuallebens erworbenen molecularen Hirnprädispositionen 
sind es also, welche nicht nur das Gedächtniss und die intellec- 
tuellen Anlagen, sondern auch den Charakter bestimmen (28)*), 
indem sie in beiden Fällen sich als das Substrat bekunden, durch 
welches die Macht der Gewohnheit sich bethätigt (608).**) Die 
Temperamente werden in ganz analoger Weise durch eine dauernde, 
wie die Stimmungen durch eine vorübergehende Gesammtdisposition 
des Gehirns bedingt (Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5 S. 389).***) 
Die Thatsache der Vererbung von Charaktereigenschaften wie von 
intellectuellen Anlagen wäre, da der Befruchtungsact ein rein ma- 
terieller (physikalisch-chemischer) Vorgang zwischen sperrna und 
omm ist, schlechterdings unbegreiflich, wenn nicht alle die so ver- 
erbten Charaktereigenschaften wie intellectuellen Anlagen ausschliess- 
lich von der Constitution des Organismus abhängig 47 ) wären, dessen 
Beschaffenheit allerdings durch die Beschaffenheit der Zeugungsstoffe 
bedingt zu denken ist (ebend. S.388).f) Indem der Mensch durch 
Ererbung der constitutionellen Anlage und der charakterologischen 
Hirnprädispositionen als Besultat einer zahllose Generationen um- 
spannenden charakterologischen Entwickelungsreihe dasteht, ist es 
kein Wunder, dass das Resultat so undenklich langer Processe nicht 
ohne Weiteres umgestossen oder corrigirt werden kann durch die 
Einwirkungen, welche während eines Menschenlebens auf dieses 
Gehirn influiren, und dass die Modificabilität des Charakters 
in einer Generation in ziemlich enge Grenzen eingeschlossen ist, 
welche dennoch Spielraum genug gewähren, um diese Modificabilität 
zu einem praktisch und ethisch höchst bedeutsamen Moment zu 
machen (ebend. S. 383, 391). ff) Denn als Endglied einer langen 
Ahnenreihe, in der alle möglichen Charaktere vorgekommen sind, 
enthält auch jeder Mensch in sich die Anlagen zu allen Trieben 



*) 7. Aufl. I. 29. 
**) 7. Aufl. IL 264. 

***) Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus S. 189—190. 
t) Ebend. 188. 
tt) Ebend. 181, 191—192. 



94 Itaf dtr enteil Auflage.' 

ohne jede Ausnahme, und nnr in den versehiedbnen eine quaritita 
oder graduell verschiedene Prädisposition (ebend. 390).*) Je n: 
den Motiven, welche am häufigsten an den Menschen herantre 
wird die Gewohnheit durch quantitative Steigerung gewisser hä 
erregter Triebe und Depression anderer durch Verkümmerung 
Nichtgebrauch eine Aenderung des Stärkeverhältnisses der Tri 
oder Charakteranlagen untereinander hervorbringen und dadi eh 
den Charakter als Ganzes modificiren (ebend. 390 — 391; Ph. d. U. 
608, 610—611).**) Wenngleich die Thatsache, dass der Charakter 
in Hirndispositionen besteht, jede Aenderung des Charakters durch 
einen einmaligen, noch so energischen Willensentschluss unmöglich 
macht, weil eben die Hirnconstitution nicht so leicht' und am wenig- 
sten durch plötzlichen WUlensentschluss zu ändern ist, so bietet sich 
doch durch die Gewohnheit einer bestimmten Handlungsweise die 
Möglichkeit, mit der Zeit den Charakter nach bewussten Grund- 
sätzen zu modificiren (Ph. d. U. 358),***) und die Möglichkeit, ge- 
wissen Motivclassen aus dem Wege zu gehen und andere Motiv- 
classen häufig und mit Lebhaftigkeit sieh zu vergegenwärtigen ' und 
auf sich wirken zu lassen, giebt wiederum die Mittel an die Hand, 
um seine Handlungen annähernd naeh Prineipien zu regeln (356 bis 
358). f) Diese Aiiffassuüg bietet mithin eine' auf ^tatsächlichen 
Grundlagen erwachsende Handhabe der sittlichen Selbstzucht und 
der Erziehung Anderer, was sich von keiner auf dem Freiheitsbegriff 
beruhenden Ethik behaupten lässt. 

Das Motiv ist allemal Vorstellung, besteht also in Hirn- 
schwingungen, 48 ) der Inhalt des resultirenden Willens besteht eben- 
falls in einer Vorstellung (Phil. Monatshefte Bd. IV. Heft 5, S. 396 
bis 401), ft) also in Hirnschwingungen, und die blosse Vorstellung 
(welche nicht Willensinhalt ist) unterscheidet sich von der gewollten 
Vorstellung oder der Vorstellung als Willensinhalt doch auch nnr 
dadurch, dass erstere nur innerhalb des Groööhirns (als Erreger 
anderer Vorstellungen) als Reiz fungirt, während letztere ihre er- 
regende Kraft auch auf die centralen Endigtmgen der motorischen 



*) Ebend. 190. 

**) Ebend. 190—191. Ph. d. ü. 7. Aufl. IL 264, 266—267. 
***) 7. Aufl. 1. 347—348. 

f) 7. Aufl. II. 346—348. 
tt) Neukant., Schopenh. und Hegelianismus S. 196— 201'. 



V. Charakter und Wille. 95» 

u ausdehnt und so Handlangen hervorruft. Niemand, der 
einräumt, dass Vorstellungen in Hirnschwingungen bestehen! 
bestreiten, dass jede Vorstellung eben deshalb auch eine 
> lebendige Kraft repräsentirt, und es erscheint deshalb nicht 
qualitativer, sondern nur als ein gradueller Unterschied, ob» 
Sendige Kraft ausreicht, um centrale Endigungen motorischer 
xibiv u erregen, oder ob sie zur Ueberwindung der dazwischen 
[ liegenden Leitungs widerstände zu schwach ist und nur andere latente 
, Hirndispostionen zu erregen vermag. Dass die Grenze eine durch* 
aus flüssige ist, zeigen die durch blosse Vorstellungen unwillkürlich' 
hervorgerufenen Bewegungen (Cap. A. VII. Nr. 2, S. 159 — 163),*)» 
bei denen dann die Ph. d. U. eitlen unbewussten Willen voraussetzt! 
den wir eben als die lebendige Kraft der Vorstellungsschwingungen 
bezeichnen, 49 ) woftlr auch das zu sprechen scheint, dass die Stärke 
der unwillkürlich erregten Bewegungstendenzen proportional der 
Lebhaftigkeit der Vorstellungen, d. h. der lebendigen Kraft ihrer 
Schwingungen ist. Ausser dem graduellen Unterschied zwischen 
der blossen und der gewollten Vorstellung kann jedoch sehr wohl 
noch bei letzterer direct ein (der Aufmerksamkeit verwandter) cen~ 
trifagaler Innervationsstrom hinzutreten, welcher die Uebertragung 
> der lebendigen Kraft der Vorstellungsschwingungen nach bestimmten 
Richtungen oder in bestimmte Bahnen (nach den centralen En- 
digungen gewisser motorischer Nerven) hinlenkt, durch Erregung 
der auf der Leitungsbahn gelegenen Nervenpartien den Leitungs- 
widerstand in dieser Richtung vermindert und die lebendige Kraft 
der geleiteten Schwingungen wohl gar noch positiv verstärkt. Ein 
solcher positiver Innervationsstrom würde überall da vorauszusetzen 
sein, wo eine Vorstellung nicht unwillkürlich die motorischen Ner- 
venenden erregt, sondern wo die bewusste Absicht des Handelns 
vorliegt; die positive Verstärkung der Energie der erregenden 
Schwingungen würde namentlich da zu erwarten sein, wo es sich 
nicht nur um einen motorischen Innervationsstrom überhaupt handelt, 
sondern um einen sehr energischen, der die Muskeln zu kräftigster 
Contraction anregt. 

Wir haben oben der Einfachheit wegen einen Punkt über- 
sprungen, den wir jetzt nachholen wollen. Eine als Motiv wirkende 



*) Ph. d. U. Cap. A. VII. Nr. 2, S. 154—157. 



96 Text der ersten Auflage. 

Vorstellung erregt nämlich nicht nur Eine latente Hirndisposition, 
sondern immer mehrere zugleich, aber in verschiedenem Grade, 
gerade wie wir dies schon im vorigen Abschnitt sahen. Wenn dort 
unter den blossen Vorstellungen ein Kampf nm das Vordrängen in 
das Bewusstsein, in die eng begrenzte Sphäre der gleichzeitigen 
Aufmerksamkeit entstand, so entsteht hier unter den aufs Handeln 
gelichteten Vorstellungen oder den aus der Erregung der Triebe 
entspringenden Begehrungen ein analoger Kampf, in welchem eines- 
teils partielle oder totale Interferenzen der Schwingungen stattfinden 
können, theils auch Hereinziehen neu angesprochener Dispositionen 
oder Umbildungen und Zusammensetzungen sich ergeben können, 
die durch ihr Endresultat uns häufig sehr überraschen (235),*) da 
sie grossentheils jenseits des Bewusstseins sich vollziehen (234, 
236)**) und uns die Gesetze dieser Vorgänge noch nichts weniger 
als bekannt sind. Abstrahirt man von den wirklichen mechanischen 
Vorgängen bei dem Zusammenstoss verschiedener Schwingungen, 
die aus verschiedenen gleichzeitig und in ungleicher Stärke erregten 
Dispositionen hervorgehen, und fasst man nur die empirischen Ge- 
setze in's Auge, welche die empirische Psychologie aus der innern 
Selbstbeobachtung über den Kampf und die Zusammensetzung der 
Begehrungen ableitet, so kann man diese Processe graphisch ver- 
sinnbildlichen durch die mechanischen Gesetze aus der Statik des 
Atoms, indem man die Begehrungen als Kräfte, die auf einen Punkt 
wirken, aufzeichnet, und den Willen als die aus ihnen hervorgehende 
Kraftresultante construirt (vgl. Phil. Monatshefte Bd. IV. Hft. 5, 
S. 406 — 408).***) Aber auch abgesehen von dieser graphischen 
Darstellung ist es streng richtig, dass das wirkliche Wollen jeden 
Moments die Resultante aller in diesem Moment erregten Begehrungen 
ist (Ph. d. U. 234, 357), f) und dass mithin, da streng genommen 
niemals nur eine einzige Disposition allein, sondern höchstens 
eine einzige vorwiegend durch ein Motiv erregt werden kann, 
alles wirkliche Wollen im Menschenhirn Summationsphänomen 
in ganz demselben Sinne wie alles bewusste Vorstellen ist. 60 ) Im 



*) 7. Aufl. I. 227. 
**) 7. Aufl. i. 225, 228. 
***) Neukant, Schopenh. u. Hegelianismus S. 208—211. 
t) 7. Aufl. I. 225, 347. 



V. Charakter und Wille. 97 

einen wie im andern Falle bleiben die conatituirenden Elemente 
unterhalb der Bewußtseinsschwelle, nnd wenn die wichtigeren der 
erregten Begehrnngen hiervon eine Ausnahme zu machen scheinen, 
so ist es doch nur scheinbar, denn einzeln bewusst werden diese 
streitenden Interessen doch eben nur in präliminarischen Reflexionen 
über die wahre Bedeutung der Motive und der Folgen dieser oder 
jener Handlungsweise (236),*) welche noch weit von dem Moment 
des notwendigen Entschlusses abstehen und deshalb nur in Vel- 
leftäten und Vorsätzen arbeiten, die nicht selten von dem wirklich 
eintretenden Wollen zum Erstaunen des Intellects völlig über den 
Haufen geworfen werden (235).**) Aber auch wenn sie sich als 
richtig erweisen, so ist doch das wirkliche Wollen, das mit der 
Inauguration der That zusammenfällt 61 ) (769 ff.),***) in dem Mo- 
ment seiner Realität Summationsphänomen aus unbewussten 
Componenten, mögen dieselben immerhin zu früheren Zeiten öfters 
das Bewusstsein einzeln durchlaufen haben. Die unbewussten, d. h. 
hier nur unterhalb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins ge- 
legenen Componenten sind aber die Reactionen der einzelnen charak- 
terologischen Hirnprädispositionen auf die Hirnschwingungen der 
Vorstellung des Motivs, d. h. sie sind wiederum Summationsphäno- 
mene, deren Leistungsvermögen der lebendigen Kraft der schwingen- 
den Hirnmolecule entstammt und sich aus dieser ganz ebenso zu- 
sammensetzt, wie die Zellenempfindung aus den Empfindungen der 
Zellenmolecule. Ueberspringen wir demnach die Zwischenglieder, 
so ist der Hirnwille ganz ebenso ein Summationsphänomen der vielen 
Atomwillen des Gehirns, wie die Hirnempfindung ein Summations- 
phänomen der Atomempfindungen des Hirns ist. So unmöglich, wie 
eine Entstehung der Empfindung in irgendwelchem Atomcomplexe 
ohne Empfindungsvermögen der Einzelatome wäre, ebenso unmöglich 
wäre auch die Entstehung eines Willens in einem Atomcomplex, 
ohne dass schon die Einzelatome den Willen hätten, aus dem der 
Gesammtwille sich aufbaut. 68 ) Wenn das Atom zuerst ein Meta- 
physisches und dann ein Physisches ist, so kann man es sich auch 
wohl gefallen lassen, seine Kraft, die ebensowohl zugleich etwas 



*) 7. Aufl. L 228. 
**) 7. Aufl. I. 227. 
***) 7. Aufl. IL 427 ff. 

E. Y.Hartmaim, Das Unlwnusta. 2 Aufl. 



98 Text der ersten Auflag«. 

Innerliche» als etwas Aeusserliches ist, in erster Reihe ab Wille 
zu bestimmen (S. 486),*) nachdem einmal erkannt ist, dass das, 
was als Hirnwille herauskommt, doch schon im Atom drin gesteckt 
haben mnss. Aber freilich werden wir uns damit nicht begnügen 
dürfen, den Willen eines Menschen nur in dem den Atomen seines 
Gehirns abstract gemeinsamen Formalprincip der Bewegung und 
Veränderung zu suchen, welches hinter den conereten Hirndisposi- 
tionen gleichsam anf Bethätigung lauert (61),**) sondern wir werden 
über die Bedeutung dieser bloss formalen Abs traetion hinaus zu 
einem concreten Collectivum gehen müssen, welches die unbe- 
wussten Willen der einzelnen Atome nicht bloss unter sich, sondern 
i n sich begreift (S. 4). ***) Wie wir die Möglichkeit der Empfindung 
als Summationsphänomen nur unter dieser Voraussetzung einer 
metaphysischen substantiellen Einheit der Atome begreifen konnten, 
ganz ebenso auch den Willen. Dann aber werden wir auch ebenso, 
wie vorher bei der Empfindung, der Notwendigkeit enthoben sein, 
einen andern Willen im Individuum anzuerkennen als den, welcher 
in den Atomen desselben als Atomwille naturgesetzmässig sich 
auswirkt, 58 ) und werden alle Theorien von metaphysisch teleologi- 
schen W i 1 1 e n s eingriffen des Unbewussten in den Process des 
physischen und psychischen Individuallebens entschieden verwerfen, 
wie wir es auf intellectuellem Gebiete bereits gethan habea. 
Es giebt keinen Individualwillen als die Willen der Atome des 
Individuums und die aus diesen naturgesetzmässig resultirenden 
Summationsphänomene ; es giebt keine Thätigkeit des absoluten 
Unbewussten in Bezug auf dieses Individuum, als welche sich in 
den naturgesetzmässigen Atomfunctionen erschöpft. 

Die Ph. d. U. supponirt nun aber ausser den auf t die natur- 
gesetzmässigen Actionen der Atome gerichteten Functionen des 
absoluten Unbewussten in Bezug auf jedes Individuum noch ein 
ganzes Strahlenbündel von Functionen, welche in metaphysisch- 
teleologischen Eingriffen in den physischen und psychischen Lebens* 
process des Individuums bestehen, und sucht in diesen erst den 
eigentlichen und wahren Individualwillen. Wenn die metaphysisch- 



*) 7. Aufl. IL 119. 
**) 7. Aufl. L 60—61. 
***) 7. Aufl. I. 4. 



V. Charakter and Wille. 99 

teleologischen Eingriffe ohnehin gestrichen werden, so fällt jeder 
metaphysische Vorwand für eine solche Behauptung fort, welche 
empirische und indnctive Anhaltpunkte überhaupt nicht besitzt. 64 ) 
Wenn Schopenhauer den Individualwillen als einfachen metaphysi- 
schen Wesenskern jeder individuellen Existenz hypostasirte, so that 
er es in dem guten Glauben, im Besitz einer von allen sonstigen 
Vorstellungsarten prinoipiell verschiedenen Erkenntnissweise zu sein, 
mit welcher er sich dureh unmittelbare innere Selbstwahrnehmung 
von der metaphysischen Willenssubstanz in jedem Augenblick über- 
zeugen könne. Im „Ding an sich" (S. 28—33)*) sind die Trug- 
schlüsse, durch welche er zu diesem Glauben kam, und die Selbst- 
widersprüche , in welche er sich nothwendig durch denselben 
verwickeln musste, deutlich dargelegt und die Ph. d. U. beweist 
(S.410 — 417)**) a priori und a posteriori den Satz, dass das Wollen 
an und für sich immer unbewusst sein müsse, und der Sehein 
einer Bewusstheit des Wollens nur durch die Gewöhnung an eine 
Selbsttäuschung entstehe, indem der Mensch des Wollens auf drei- 
fache Weise unmittelbar inne zu werden glaubt: „1. aus seiner 
Ursache, dem Motiv, 2. aus seinen begleitenden und nachfolgenden 
Gefühlen, und 3. aus seiner Wirkung, der That, und dabei 4. noch 
den Inhalt oder Gegenstand des Willens als Vorstellung wirklich 
im Bewusstsein hat" (414). ***) Wir möchten noch hinzufügen, dass 
unter den begleitenden Gefühlen auch solche sind, welche von dem 
oben besprochenen verstärkenden centrifugalen Innervationsstrom 
herrühren und, wie erwähnt, sich besonders bei bewusster Concen- 
tration der Energie auf die vorgesetzte Handlung einstellen werden 
(vgl. 415 oben) ; f ) ganz dem analog ruft bekanntlich auch der als 
Species in diesem Genus enthaltene centrifugale Innervationsstrom 
der Aufmerksamkeit eigentümliche Empfindungen hervor, welche 
es möglich machen, dass man sagen kann, die Aufmerksamkeit 
selbst könne Gegenstand der Wahrnehmung und folglich des Be- 
wusstseins sein (419). ft) — I*t nun aber einmal die undurchdring- 
liche Unbewusstheit des Wollens an und für sich eingestanden, 



*) Krit. Grundl. d. transcend. Realismus S. 43—50. 
**) 7. Aufl. IL 45—61. 
***) 7. Aufl. H. 49. 
t) 7. Aufl. IL 49. 
tt) 7. Aufl. II. 53—54. 

7* 



100 Text der ersten Auflage. 

so hört jede Möglichkeit auf, über die Natur desselben dem dog- 
matischen Schein des Instincts gemäss unmittelbare Behauptungen 
aufzustellen, und man sieht sich gänzlich auf das reducirt, was die 
Wissenschaft durch indirecte Schlüsse als das Wahrscheinliche 
inductiv zu reconstruiren sich genöthigt sieht 66 ) (417).*) Wenn 
nun diese wissenschaftliche Beconstruction eine wesentlich andere 
Physiognomie gewinnt, so hat der instinctive Glaube hiergegen so 
wenig mehr ein Recht zum Einspruch, als z. B. in der von der 
Naturwissenschaft an Stelle des instinctiven sinnlichen Scheins re- 
construirten räumlichen Aussenwelt; wie die Körper dieser Aussen- 
welt in der subjectiven Erscheinung sich als solide und compact 
darstellen, während sie räumliche Zusammenordnungen punctueller 
Atomkräfte sind, gerade so erscheinen die Individualwillen der 
instinctiven Selbstauffassung einfach, solide und compact, während 
sie complicirte Summationsphänomene von zahllosen Atomwillen 
sind. Dennoch scheint es ein Rest von diesem dogmatischen Schein 
des unmittelbaren Instinctglaubens gewesen zu sein, was die PL d. 
Unb. verhindert bat, die einfachen Gonsequenzen aus dem Satze zu 
ziehen, dass das jedesmalige Wollen die Resultante aller gleichzeitig 
erregten Begehrungen sei (234, 357) **) und dass diese Begehrungen 
die durch das Motiv zur Actualität erregten molecularen Hirndispo- 
sitionen (Triebe) seien 56 ) (61,28,608—9).***) Ja auch noch andere 
Stellen der Ph. d. U. weisen auf unser Resultat als auf ihre un- 
ausweichliche Gonsequenz hin, so z. B. die ganz richtige Erklärung, 
dass das Wollen selbst die That sei (769), f) insofern die That 
definirt werde nicht als das äussere Sichtbarwerden der Handlung, 
sondern als diejenigen Bewegungsprocesse der centralen Hirn- 
molecule, welche den organischen Ursprungsherd der Handlung 
bilden (vorausgesetzt, dass die Ausführung auf dem Leitungswege 
nicht durch interferirende Schwingungen gekreuzt wird — 770). ff) 
Ist das Wollen mit der That in diesem Sinne identisch, so ist eben 
auch die That — d. h. die centralen Hirnschwingungen, welche bei 
ungestörtem Verlauf die Handlung hervorrufen — mit dem Wollen 



*) 7. Aufl. IL 51. 

**) 7. Aufl. II. 225, 347. 
***) 7. Aufl. I. 60-61, 28; IL 264-265. 
t) 7. Aufl. H. 427. 
tt) 7. Aufl. EL 428. 






V. Charakter und Wille. 101 

identisch, und wir dürfen sie mithin als Definition des Hirnwillens 
(als Summationsphänomens) ansehen. 57 ) So meint es aber die 
Ph. d. U. nicht, sondern die betrachtet den psychischen Willensact 
als ein zu den Atomwillen des Hirns und ihrer Combination Hin- 
zukommendes, als einen metaphysischen Eingriff in den natur- 
gesetzmässigen 58 ) Process zwischen Reiz and Beaction, wie wir ihn 
oben besprochen haben. 5Ö ) Gleichwohl erkennt sie an, dass jede 
Leistung des Organismus, gleichviel ob sie in Muskelcontractionen 
oder geistiger Arbeit besteht (393)*), aus einem äquivalenten Ver- 
brauch aufgespeicherter chemischer Kraft herrührt, welche durch 
den Stoffumsatz aus den chemischen Kräften der zugeführten Nah- 
rung wieder ersetzt werden muss (153);**) sie erkennt ferner an, 
dass sowohl das Muskelsystem als das ganze Nervensystem, ins- 
besondere aber auch die [Centralorgane des letzteren, als Kraft- 
maschinen zu betrachten sind, dass, wenn der ganze Organismus 
mit einer Dampfmaschine zu vergleichen ist, die Oscillationen der 
centralen Nervenmolecule die Bewegungen der Ventile und Stellhebel 
repräsentiren würden, welche den Gang der Maschine und die Art 
ihrer Leistungen regeln, — nur dass der Organismus 60 ) selber zu- 
gleich Heizer und Maschinist (ja auch Separatem* und Maschinen- 
baumeister) ist und folglich keines Hebelstellers ausser ihm bedarf 
(153).***) 

Ein solcher dem Organismus fremder fil ) Hebelsteller wäre aber 
gerade das Unbewusste in seinen metaphysischen Eingriffen, welche 
den Uebergang aufgespeicherter chemischer Kraft in mechanische 
Muskelkraft in ganz bestimmter Weise und Richtung veranlassen 
sollen. Wenn das Unbewusste eine und sei es auch relativ noch 
so kleine Kraft 62 ) zu der im Organismus aufgespeicherten Kraft 
durch metaphysisch bewirkte, physisch nicht verursachte Drehungen 
von Gehirnmoleculen hinzufügen könnte (151 — 1 52), f) so wäre 
damit das Gesetz der Erhaltung der Kraft für die organische Welt 
ausser Geltung gesetzt, denn die Summe 68 ) der (inneren und äusse- 
ren) Kraftausgaben des Organismus müsste gegen die Summe seiner 



*) 7. Aufl. II. 23. 
**) 7. Aufl. I. 147—148. 
***) 7. Aufl. I. 147-148. 

t) 7. Aufl. I. 146—148. 



102 Text der ersten Auflage. 

Krafteinnahme einen Ueberschuss aufweisen, welche der Kraftsumme 
der metaphysischen Eingriffe gleichkommt Wäre auch dieser Ueber- 
schuss relativ zum Ganzen noch so unbedeutend, so dürfte er doch 
nicht verschwindend klein sein, wenn man noch ferner an eine 
reale und entscheidende Beeinflussung der Vorgänge im Gehirn 
durch unmittelbares Eingreifen eines metaphysischen Princips glauben 
soll. In der That können diese Eingriffe, wenn sie das entscheidende 
Moment für die Handlung des Organismus bilden sollen, keineswegs 
etwa blosse Differentiale sein, sondern müssen ebenso wie bei den 
Beispielen der Dampfmaschinen u. s. w. als Grössen derselben 
mathematischen Ordnung gedacht werden 64 ) und in ihrer 
Summe für's Leben eines Individuums eine ganz ansehnliche Grösse, 
in ihrer Summe für das gleichzeitige Leben der Erde aber schon 
ein ganz colossales Quantum repräsentiren, welches also anbedingt 
das Gesetz der Erhaltung der Kraft aufheben würde. Freilich 
können wir bis jetzt die Richtigkeit des Gesetzes der Erhaltung 
der Kraft für die organischen Wesen keineswegs mit solcher Ge- 
nauigkeit nachweisen, dass nicht in den wahrscheinlichen Fehlern 
für solche Hypothesen Platz bliebe; aber gerade die metaphysische 
Evidenz dieses Gesetzes leuchtet für jeden an naturwissenschaftliche 
Denkweise Gewöhnten so sehr a priori ein, dass die exacte Er- 
bringung des Beweises für ein einzelnes Gebiet der Sicherheit der 
Geltung des Gesetzes kaum ein Erhebliches hinzuzufügen vermöchte. 65 ) 
Der Verf. erkennt dies auch selber an, indem er für die Motivation 
auf physischem Gebiet ein Analogon des Gesetzes der Erhaltung 
der Kraft herzustellen versucht (Phil. Monatshefte Bd. IV Heft V 
S. 403);*) wenn aber einmal die Motivation als Process zwischen 
erregender bewusster Vorstellung und bewusstem Willensinhalt 
(ebd. S. 396 unten), **) und diese beiden als durch Hirnschwingungen 
bestimmt, also der ganze Process wesentlich als ein Process von 
Hirnschwingungen anerkannt ist, so läuft ein solches Gesetz der 
Erhaltung der Kraft für die Motivation auf immateriell-psychischem 
Gebiet ganz in derselben Weise als fünftes Bad am Wagen neben- 
her, 66 ) wie etwa der intelligible Charakter neben dem durch die 
Körper- und Hirnconstitution bestimmten empirischen Charakter 



*) Neukant., Schopenh. und Hegelianismus S. 204—205. 
**) Neukant., Schopenh. und Hegelianismus S. 106 u. 197. 



Y. Charakter und Wille. 103 

(ebend. S. 382— 3Ö5),*) «ad die Bedingtheit des Resultate jedes 
einzelnen Motivationsactes sowohl durch den materiellen Hirnprocess, 
als auch durch den immateriellen Motivationsprocess ergäbe eine 
ebenso unvereinbare Concurrenz 67 ) wie die Bedingtheit jeder ein- 
zelnen Handlung sowohl durch die immanente Causalität des em- 
pirischen Charakters, als auch durch die transeendente Causalität 
des inteüigiblen Charakters (vgl. „Ding an sich" S. 51 ff.).**) Das 
mit Recht Angestrebte — die Anwendung des Gesetzes der Erhal- 
tung der Kraft auf den Motivationsprocess — wird aber thatsächlich 
erreicht durch Beseitigung aller metaphysischen Eingriffe des Un- 
bewnssten 68 ) und das Anerkenntniss, dass der Motivationsprocess 
in dem Process der Hirnschwingungen ohne jeden metaphysischen 
Rest erschöpft ist und dass in den Leistungen und Handlungen 
des Organismus keine Kraft zu Tage tritt, als welche entweder 
durch die erregenden Beize oder durch die Nahrungsmittel in den- 
selben eingeführt ist, wobei erstere als Auslösungsmittel der durch 
den AssimilationsfNrocess aufgespeicherten chemischen Spannkraft 
dienen. 

Von welcher Seite wir auch die metaphysischen Eingriffe in 
die Lehensprooesse der Organismen betrachten mögen, überall er- 
weisen sie sich als unstichhaltig. 69 ) Wenn die Ph. d. Unb. den 
Charakter ebenso wie das Gedächtniss als die Summe der im Hirn 
vorhandenem latenten Dispositionen zu gewissen Schwingungsarten 
anerkennt, so werden wir nicht umhin können, äusserlich angesehen 
im Wollen ganz ebenso wie im Vorstellen die actueUen Schwingungen 
zu erkennen, welche nach mechanischen Gesetzen durch adäquate 
Beize aus diesen Dispositionen ausgelöst sind, und werden ebenso- 
wenig bezweifeln dürfen, dass das Wollen innerlich genommen 
ebenso wie das bewusste Empfinden oder Vorstellen ein Summations- 
phänomen aus gleichartigen Elementarfunctionen (letzten Endes der 
Atome) darstellt. So allein werden wir die brauchbaren Anläufe 
der PL d. Unb. richtig zu Ende gedacht und eine einfache und 
natnrgemässe Grundlage für unsere weiteren Betrachtungen gewonnen 
haben. Wenn mit der Causalität im Sinne einer ausnahmslosen 
aaturgesetzlichen Notwendigkeit mit Ausschluss 70 ) aller metaphy- 



*) Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus S. 187—194. 
**) JKrit firundL <d. trjmsc. üealiam. S. 72 ff. 



104 Text der ersten Auflage. 

sisch-teleologischen Eingriffe Ernst gemacht werden soll, so bleibt 
für rein psychische Functionen eines Unbewnssten jenseits der aas 
den Atomen sich entwickelnden Processe kein Platz; wenn wir 
aber einmal Wille und Vorstellung als Summationsphänomene aus 
entsprechenden Elementarfanctionen der Atome anerkennen, so ver- 
schwindet für die Erklärung jedes Bedürfniss, 71 ) ausser der 
gemeinsamen metaphysischen Wurzel dieser constitnirenden Elemente 
des Organismus noch andere metaphysische Factoren herbeizuziehen. 
Wenn die Phil. d. Unb. anerkennt, dass nur in der Besonderheit 
des Organismus die Besonderheit auch der geistigen Individualität 
begründet liegen kann und jeder eigenthümliche Zug in einem In- 
dividualgeiste durch eine entsprechende Eigentümlichkeit seines 
Organismus bedingt sein muss, so müssen wir nunmehr noch einen 
Schritt weiter gehen und sagen, dass der Organismus selbst das 
Individuum i s t. 72 ) Denn wenn die Phil. d. Unb. aus dem grossen 
Urquell des Einen absoluten Unbewnssten noch ein Strahlenbündel 
von Functionen ausser den blossen Atomfunctionen auf den Orga- 
nismus gerichtet dachte und mit zu dem geistigen Individuum 
rechnete, so müssen wir jetzt annehmen, dass die metaphysische 
oder innerliche Seite der constitnirenden Elemente des Organismus 
hinreicht, um die geistige Individualität in demselben Sinne zu con- 
stituiren, wie die äussere Seite derselben die leibliche constituirt. 73 ) 
Eine hieraus folgende Consequenz, die sehr fruchtbar werden 
könnte, will ich hier zum Schluss nur andeuten. Bekanntlich ruht 
alles organische Leben auf der Erhaltung und Steigerung der Form 
in und durch den Wechsel des Stoffs, und die Identität der Indivi- 
dualität wird nicht durch die Identität der Substanz, sondern durch 
die Continuität des Processes bedingt. Erhaltung der Form durch 
Erhaltung des Stoffs ist Mumification, alles Leben beruht auf dem 
Stoffwechsel, auf der Mauserung. Die Erkenntniss dieses wichtigen 
Satzes ist noch ziemlich jung, so jung, dass man sich nicht wundern 
darf, dass noch Niemand gewagt hat, die so nahe liegende Ueber- 
tragung auf das geistige Gebiet zu machen. Leben ist Leben, und 
die allgemeinsten Gesetze des Lebens als solchen können auf dem 
Gebiete der Innerlichkeit nicht entgegengesetzt lauten wie auf dem 
Gebiete der Aeusserlichkeit. Diese Annahme machen aber diejeni- 
gen, welche von der Seele des Individuums als von einer die ganze 
Lebenszeit hindurch identischen Substanz sprechen. Die Phil. d. 



Y. Charakter und Wille. 105 

Unb. macht sich dieses Fehlers zwar nicht in gleicher Weise 
schuldig, indem sie die Seele nur als einen Complex immer neu aus 
dem gemeinsamen metaphysischen Urquell ausstrahlender Functionen 
auffasst, 74 ) aber dennoch fehlt auch hier die durchgreifende Analogie 
zwischen innerlicher und äusserlicher Sphäre, da doch die Be- 
schaffenheit des sich beständig mausernden Gehirns nur Gelegen- 
heitsursache für die metaphysischen Eingriffe des Unbewussten, 
nicht die substantielle Basis der geistigen Summationsphänomene 
selbst vorstellt 76 ) Aber das erkennt wenigstens die Ph. d. Unb. 
an, dass die Identität des Selbstbewusstseins nur von der Möglich- 
keit der Erinnerung, also, von der formellen Existenz der Hirndispo- 
sitionen, abhängt, und dass die wesentliche Identität des Charakters 
zu verschiedenen Zeiten, analog wie die wesentliche Identität der 
Physiognomie, unabhängig ist von der Mauserung der Theile des 
Organismus, auf denen Charakter, resp. Physiognomie, beruht. Wie 
das Leben jeder Species und insbesondere der Menschheit nur 
möglich ist durch ihre beständige Mauserung, d. h. durch beständiges 
Ausstossen von Individuen und Ersatz durch frische, jugendliche, 
weil ohne dies das Menschheitsbewusstsein verknöchern, verzweifeln 
und absterben mtisste (vgl. „Ges. phil. Abhdl." S. 79), *) so ist auch 
das geistige Leben des Individuums nur dadurch möglieb, dass bei 
jedem Vorstellungsact ein Stoffwechsel in den thätigen Hirnpar- 
tieen stattfindet, ein Ausstossen abstrapezirter Molecule und ein 
Eintreten frischer durch das Blut zugeführter an Stelle derselben. 
Jedes neu eintretende Molecule ist nicht nur äusserlich, sondern 
auch innerlich genommen dem austretenden gleichwerthig und mit- 
hin geeignet, dieselben Functionen auch ebensogut zu vollziehen, 
und bringt ausserdem die Frische mit, die jenes während des Ge- 
brauches eingebüsst hatte. Indem aber bei diesem Stoffwechsel die 
bestehende Form (wie bei allem organischen Bilden) gewahrt bleibt, 
dauern auch die auf molecularen Lagerungsverhältnissen beruhenden 
Hirnprädispositionen fort, d. h. Gedächtniss und Charakter bleiben 
von der geistigen Mauserung unangetastet. Die Frische und Elasti- 
cität des geistigen Lebens ist aber ^llein durch die geistige Mau- 
serung möglich; ohne dieselbe träte geistige Mumification ein, in 
der alles Leben erstürbe. 



*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 154. 



VI. 

Die Vererbung insbesondere des Charakters. 



Der Begriff der Vererbung bietet eines der schwierigsten 
Probleme für die Naturwissenschaft. Wir werden den gegenwär- 
tigen Stand der Frage am richtigsten bezeichnen, wenn wir sagen, 
dass die Vererbung auf allen Gebieten des organischen Lebens 
T hat sache ist, dass diese Thatsache aber bis jetzt jeder natur- 
wissenschaftlichen Erklärung spottet 76 ) und dass die teleologiseh- 
metaphysische Erklärung hier am allerwenigsten im Stande ist, den 
Mangel an Verständniss des naturgesetelichen Zusammenhangs zu 
ersetzen. 77 ) 

Wenn in einer Baumart mit aufrechtstehenden Zweigen sich 
ein Exemplar vorfindet, welches aus unbekannten Ursachen hän- 
gende Zweige bekommen hat, so haben zugleich alle diese Zweige 
die Eigenschaft, wenn sie als Steckreiser neue Bäume aus sich er- 
zeugen, diese Eigentümlichkeit ihres mütterlichen Organismus, an 
der sie selbst theilnahmen, fortzupflanzen. Dasselbe gilt von den 
durch einen rothen Farbstoff in den Blättern ausgezeichneten „Blut- 
bäumen". Bei geschlechtlicher Fortpflanzung solcher Spielarten ge- 
lingt es dagegen nicht, sie zu conserviren ; die Abweichung von der 
durch lange Generationen inveterirten Constitution ist zu bedeutend, 
um sieh bei der Vererbung durch eisen so kleinen Theil des mütter- 
lichen Organismus, wie der Same ist, gegen die Tendenz des Rück- 
schlags durchzusetzen. Man ersieht hieraus, um wie viel leichter 
die ungeschlechtliche Vererbung als die geschlechtliche ist, und 



VI. Die Vererbung insbeaondere des Charakters. 107 

braucht sieh nun nicht mehr zu wundern, dass die Entstehung der 
geschlechtlichen Vererbung des Artcharakters erst möglich wurde 
auf der Basis einer lange fortgesetzten ungeschlechtlichen Fortpflan- 
zung im Protißtenreich, durch welche gleichsam schon eine durch 
die Dauer befestigte constitutionelle Vererbungsfähigkeit als Grund- 
lage der geschlechtlichen Vererbung geschaffen worden war. Je 
grösser der die Vererbung, vermittelnde materielle Complex im Ver- 
hältniss zum mütterlichen Organismus ist, desto leichter müssen die 
eigentümlichen Dispositionen der künftigen Bildung in demselben 
Platz finden, und daher sehen wir auch im Durchschnitt dieses 
Grössenverhältniss beim Herabsteigen in der Stufenreihe der Organi- 
sation wachsen, bis der junge Süsswasserpolyp sich endlich als 
fertiger Diminutivorganismus vom Mutterthier loslöst (wie der Gärtner 
es mit dem Zweig der Blutbuche künstlich thut), oder gar die proto- 
plasmatische Monere sich einfach in zwei gleiche Organismen 
halbirt, sobald sie durch Ernährung so weit gewachsen ist, dass sie 
als einfacher Tropfen für die natürliche physikalische Tropfengrösse 
des protoplasmatischen Proteinstoffs zu gross geworden. 78 ) Ohne 
Frage musste die Möglichkeit der Vererbung überhaupt in der 
physikalisch-chemischen Beschaffenheit der Materie gegeben sein, 
sonst hätte sie nicht, wie die Erfahrung es lehrt, zur Wirklich- 
keit werden können; wenn aber diese Möglichkeit vorhanden 
war, 79 ) so kam es nur darauf an, dass unter den vielen Urzeu- 
gangsproducten sich auch eines oder wenige befanden, welche durch 
Zufall eine solche Beschaffenheit erlangt hatten, dass sie zur Selbst- 
theilung bei Ueberschreitung einer gewissen Grösse hinneigten. 
Setzen wir diese Voraussetzung als erfüllt, so mussten alle anderen 
Urzeugungsproducte nach Ablauf ihrer (notwendigerweise beschränk- 
ten) individuellen Lebensdauer ohne Hinterlassung von Sparen ihres 
Daseins zu Grunde gehen, während einzig und allein jene zur 
Selbsttheilung tendirenden fortbestanden, weil nämlich diese Be- 
schaffenheit ihrer Constitution beiden Hälften nach dem ersten 
Selbsttheilungsacte verblieben war und diese nothwendig zur 
abermaligen Selbsttheilung nach hinreichendem Wachsthum und zur 
abermaligen Uebertragung ihrer Tendenz auf ihre Theilungspro- 
ducte führen musste (vgl. oben Abschn. II, S. 39). 

Wenn wir oben (Abschn, II, S. 42 — 43) sahen, dass alle Fort- 
entwickelung der niederen Formen darin besteht, dass die verschie* 



108 Text der ersten Auflage. 

denen Lebensfunctionen, welche ursprünglich alle gleichmäßig Ton 
ein und demselben Protoplasmatröpfchen besorgt werden, allmählich 
an verschiedene Theile des für die verschiedenen Verrichtungen sich 
differenzirenden and specialirenden Protoplasmas vertheilt werden, 
so findet diese Arbeitsteilung auch auf die Function der Fortpflan- 
zung Anwendung. Im Kampf um's Dasein mussten nothwendig die- 
jenigen Arten Moneren den Vorsprung gewinnen, welche für das 
Geschäft der Fortpflanzung sich passender constituirt erwiesen; ihre 
Nachkommen wurden zunächst relativ häufiger und verdrängten 
endlich die minder günstig zur Vermehrung veranlagten vollständig. 
So haben wir uns zu denken, dass aus der einfachen Selbsttheilung 
heraus sich durch den blossen Einfluss der natürlichen Zuchtwahl 
zunächst die feineren Formen der ungeschlechtlichen und aus die- 
ser endlich durch den Durchgangspunkt der Sporenkoppelung hin- 
durch die geschlechtliche Fortpflanzung entwickelt habe, welche, 
beiläufig bemerkt, bei den Infusorien schon in hoher Vollkommen- 
heit angetroffen wird. Wenn auf diese Weise vermittelst der natür- 
lichen Zuchtwahl erklärlich wird, wie die ersten Anfänge der Ver- 
erbung oder Uebertragung der constitutionellen Veranlagung Hand 
in Hand mit den ersten Anfängen der Fortpflanzung oder Vermeh- 
rung entstehen mussten, und wie sich aus diesen Anfängen eine 
stufenweise Höherbildung derselben, aus dem Weniger ein Mehr 
allmählich herausbilden musste, so bleibt doch bei alledem dasVer- 
ständniss für das Detail des Mechanismus der Vererbung auf 
höheren 80 ) Stufen des Fortpflanzungsprocesses — namentlich jeder 
Einblick in die Art und Weise, der Niederlegung der gesammten 
constitutionellen Eigentümlichkeiten in die winzigen Zellen der 
Zeugungsstoffe und in die Art und Weise der Wiederentfaltung die- 
ser Prädispositionen zur Wirklichkeit im neuen Individuum — vor- 
läufig durchaus verschlossen. Nur soviel muss uns als feststehend 
gelten: erstens dass alle geistigen und körperlichen Eigentümlich- 
keiten wirklich in den Zeugungsstoffen und in der unendlichen 
Feinheit ihrer eiweissartigen Materie molecular prädisponirt sind 
(Ph. d. Unb. S. 511 und 546),*) und zweitens, dass die Niederlegung 
der molecularen Prädispositionen zu allen diesen elterlichen Eigen- 
tümlichkeiten in den Nachkommen nicht das Resultat metaphysisch- 



*) 7. Aufl. EL 147 u. IL 203—204. 



YL Die Vererbung insbesondere des Charakters. 109 

teleologischer Eingriffe, sondern das Endresultat einer langen genea- 
logischen Vererbungsreihe ist, welche durch natürliche Zuchtwahl 
in den elterlichen Organismen die Fähigkeit und Tendenz zur Bil- 
dung so beschaffener Zeugungsstoffe als befestigte constitutionelle 
Prädisposition entwickelt hat. 81 ) Wenn auch die Ph. d. Unb. Recht 
hat, dass die Vererbung und die in den Organismen liegende Fähig- 
keit zu derselben eine qmlitas occülta bleibt (256), *) so kann doch 
auch sie nicht umhin, die Thatsache ihres Bestehens und die 
immense Ausdehnung ihrer Wirksamkeit anzuerkennen, und ist am 
wenigsten im Stande, durch die Hinzufügung ihrer teleologischen 
Eingriffe die Sache verständlicher zu machen. 8 *) Sie gesteht 
(S. 568)**) zu, dass jeder Keim in seiner materiellen Constitution die 
Prädisposition trägt, sich leichter nach der durch die elterlichen 
Organismen vorgezeichneten ^Richtung als nach irgend einer andern 
zu entwickeln; z. B. „die Gruppirung der Molecule in diesem 
Weizenkeim ist eine solche, dass leichter eine Weizenpflanze als 
eine andere Pflanze daraus entstehen kann, leichter die Varietät 
der Mutterpflanze als eine andere, und leichter ein Individuum, 
welches der Mutterpflanze (oder durch Bückschlag einer früheren 
Generation) ähnelt als ein anderes" (Ges. phil. Abhandl. S. 36).***) 
Sind die äusseren Umstände für das Leben des Keimes und der 
aus ihm entstehenden Pflanze die normalen, so werden diese Prä- 
dispositionen zu ungestörter Entwickelung gelangen; treten aber 
abnorme Umstände ein, so werden sich Abweichungen von der nor- 
malen Entwickelungsrichtung ergeben. In beiden Fällen hat das 
Unbewusste als Oberaufseher des Wachsthums oder als „organi- 
sirendes Princip" (Ph. d. Unb. 560 Anm.)f) eigentlich gar nichts 
bei der Sache zu thun; es läuft jedenfalls so lange als fünftes Bad 
am Wagen nebenher, als es bei der Sinecure dieser allgemeinen 
„psychischen Leitung" keinen besonderen Grund findet, es sich 
nicht bequem zu machen, d. h. „der dispositionell vorge- 
zeichneten Entwickelungsrichtung, als der im Allgemeinen seinen 
vorgesetzten Zwecken entsprechenden und die geringsten Reali- 
sationswiderstände bietenden Richtung" zu folgen 83 ) (S, 568).**) 



*) 7. Aufl. L 248—249. 
**) 7. Aufl. IL 226. 
***) Ges. Stud* u. Aufs. S. 615. 
t) 7. Aufl. II. 217—218 Aum. 



HO Text der ersten Auflage. 

Wenn das „organisirende Princip" fllr gewöhnlieh sieh selbst zu 
dieser passiven Rolle verurtheilt, ein blosses „Plaeet" zn dem ohne- 
hin schon Geschehenden zn ertheilen, nnd wenn man ausserdem 
allen Grund hat, der Behauptung positiver teleologischer Eingriffe 
in den Process in Ausnahmefällen zu misstrauen, so liegt der Ge- 
danke nahe, dass diese ganze Hypothese unbegründet sein dürfte 
und dass dieselbe ihr Entstehen nur verdankt einerseits der mangel- 
haften Ausnutzung der Consequenzen der Descendenztheorie und 
Theorie der natürlichen Zuchtwahl und andererseits den thatsäch- 
lichen Lücken unserer Erkenntniss, welche aber einer Ausfüllung 
durch fortschreitende Erkenntniss des natürlichen Causalzusammen- 
hangs offen gehalten werden müssen. 84 ) Je weiter diese Kenntniss 
fortschreitet, desto mehr zeigt sich alle Zweckmässigkeit durch das 
Functioniren von Mechanismen bedingl, 85 ) welche die Ph. d. Unb. 
ja auch so willig anerkennt, welche aber nicht, wie sie meint, durch 
teleologisch-metaphysische Eingriffe des Unbewussten, sondern durch 
mechanische Compensationsprocesse (vgl. oben Abschn. IL) ent- 
standen sind. Zu diesen Mechanismen gehört nun auch einerseits 
der Keim mit allen seinen molecularen Prädispositionen der künftigen 
Entwickelung und andererseits die Prädisposition der elterlichen 
Organismen zur Bildung eines solchen Keimes — zwei ganz ver- 
schiedene Dinge, welche als Wirkung und Ursache wohl auseinander 
zu halten sind, und beide doch nur Zwischenglieder in dem Process 
der Vererbung zwischen der constitutionellen Beschaffenheit der 
Eltern und der des Kindes bilden. 

Wenn schon die molecularen Vorgänge bei der Vererbung 
hinsichtlich ihrer Beschaffenheit im Einzelnen und der Art und 
Weise ihrer mechanischen Gesetzmässigkeit bis jetzt für uns in 
Dunkel gehüllt sind, so sind wir noch weit mehr im Unklaren über 
die besonderen Eigentümlichkeiten, welche der Process der Ver- 
erbung bei näherer Betrachtung zeigt, wie z. B. die Unterschiede 
der actuellen und latenten, der monomorphen und polymorphen Ver- 
erbung oder auch die eigentümliche Erscheinung, dass besondere 
Charaktere, welehe an dem elterlichen Organismus nur an gewissen 
Stellen oder nur zu gewissen Zeiten oder Phasen des Lebens 
oder der Entwickelungsdauer vorhanden sind, auch bei dem er- 
zeugten Organismus nur an denselben Stellen,, beziehungsweise 
in denselben Zeitabschnitten der Lebenseütwickelung hervorzutreten 



Tl. Die Vererbung insbesondere des Charakters. 111 

pflegen. Die Haut und Haare bieten nach ihrer allgemeinen Be- 
schaffenheit wie nach besonderen localen Merkmalen eines der 
sichtbarsten Beispiele der Vererbung. Auswüchse, Flecke und 
Kginentablagerungen an gewissen Stellen der Haut vererben sich 
oft so regelmassig, dass sie als Familienerkennungszeichen gelten 
können. Organische Leiden z. B, Krankheiten der Leber, der 
Nieren, des Gehirns, der Athmtrngsorgane, der Verdauungs Werkzeug 3 
vererben sich auf dieselben Theile in den Nachkommen und halten 
auch gewisse Grenzen in Betreff der Lebensperiode nme, wo sie 
aas ihrer Latenz hervortreten; z. B. Krebs nicht vor dem 30sten 
Lebensjahre, Wahnrinn nicht vor der Pubertät. Das Kind entwickelt 
seine geschlechtliche Activität in demselben Lebensalter wie seine 
Eltern, es bringt die echten Zähne in entsprechendem Alter hervor, 
ja es zeigt sogar ererbte Zahnkrankheiten in demselben Alter, wie 
seine Eltern sie gehabt haben. Die Beifezeit gewisser Obstvarietäten 
wird von den Nachkömmlingen selbst in abweichendem Klima inne 
zu halten gesucht, und erst allmählich tritt die nothwendige Accom- 
modation ein. 

Im Keim sind noch alle Dispositionen zn der Eigentümlich- 
keit der elterlichen Organismen latent; erst im Laufe der Lebens- 
entwickelung treten dieselben zu verschiedenen- Zeiten hervor. Nun 
ist es aber nicht durchaus nothwendig, dass sie im Laufe eines 
Individuallebens hervortreten ; unter Umständen sind die Dispositionen 
so beschaffen, dass sie erst gewisser äusserer Einflüsse oder G&- 
legenheitsursachen bedürfen, um actuell zu werden. Derart sind 
z. B. viele ererbte Krankheitsanlagen (Blutarmnth, chronische Nerven- 
leiden, Tuberculose, Wahnsinn, Krebs u. s. w.), welche nieht gerade 
in so excessivem Maasse vorhanden sind, dass sie unter allen Um* 
ständen zum Ausbruch gelangen müssen. Kommt nun ein mit 
soleher Anlage Behafteter in Lebensumstände oder in zufällige Er« 
eignisse, welche dem Ausbruch der Krankheit günstig sind, so wird 
irrtümlicherweise häufig die Gelegenheitsursache des Ausbruchs als 
alleinige und zureichende Ursache angesehen (z. B. Druck für Krebs> 
Gemüthserschütterungea für Wahnsinn, Erkältung für Lungeataber- 
caioBe, mangelhafte Ernährung für Blutarmnth u. &. w.) und die 
»erbte Disposition, welche doch die eigentliche Ursache alter dieser 
Krankheiten bildet, dabei ausser Acht gelassen. Bleibt hingegen 
der Betreffende während der Dauer seines Lebeais vom Aufbruch 



112 Text der ersten Auflage. 

seiner ererbten Krankheits- Anlage verschont, so kann er sie trotz- 
dem auf seine Nachkommen weiter vererben, nnd dies ist die la- 
tente Vererbung. Man kann sich dies auch so klar machen : wenn 
ein Mann Disposition zum Krebs ererbt hat und zeugt mit 25 Jahren 
ein Kind, so kann es für die Beschaffenheit dieses Kindes nicht mehr 
darauf ankommen, ob er mit 26 Jahren von einem Dachziegel er- 
schlagen wird, oder ob er mit 30 Jahren vom Krebs befallen wird, 
oder ob seine Anlage bis zu seinem anderweitigen Tode im 60sten 
Lebensjahre latent bleibt; jedenfalls ist das Kind zu einer Zeit ge- 
zeugt, wo seine Disposition zum Krebs noch latent war, und dennoch 
erbt es dieselbe von ihm. Da ist es denn nur noch ein, Schritt 
weiter zur latenten Vererbung solcher Eigenschaften, die ihrer Natur 
nach in dem Vererbenden niemals aus der Latenz heraustreten 
können, wie wenn z. B. eine Frau die schöne Bassstimme und 
den starken rothen Bart ihres Vaters auf ihren Sohn vererbt (PL d. 
Unb. S. 140). *) Ein eclatantes Beispiel der latenten Vererbung ist 
der Generationswechsel der niederen Thiere, wo die 1. Generation 
mit der 3., 5. u. s. w., und die 2. mit der 4., 6. u. 8. w. überein- 
stimmt; manchmal, z. B. bei dem Seetönnchen (Doliolum), ist sogar 
die 1. Generation gleich der 4., 7. u. s. w., die 2. gleich der 5., 8. 
u. s. w., und die 3. gleich der 6., 9. u. s. w. Man sieht hieraus, 
dass die Vererbung auch mehr als eine Generation hindurch 
latent bleiben und dann doch wieder zum Vorschein kommen kann, 
wie man es auch bei Aehnlichkeiten in einer Galerie von Familien- 
bildern wohl zu beobachten Gelegenheit hat. Bei Varietäten nennt 
man ein solches Auftreten latent gewordener Charaktere Bück- 
schlag oder Atavismus, eine den Thierzüchtern wohlbekannte Er- 
scheinung. — Wenn bei der geschlechtlichen Fortpflanzung ohnehin 
schon die Eigentümlichkeiten beider Eltern concurriren, um sich in 
dem Erzeugten zur Geltung zu bringen (wie dies besonders deutlich 
bei Bastardzeugungen hervortritt), so wird die Complication durch 
den Bückschlag noch grösser, da nun ausser den Charakteren der 
beiden Eltern noch die in ihnen latent vorhandenen Charaktere der 
4 Grosseltern, 8 Urgrosseltern u. s. w. zur Geltung zu gelangen be- 
strebt sind. Je nachdem nun bei der Concurrenz entgegengesetzter 
Eigentümlichkeiten die eine die andere gänzlich zurückdrängt, oder 



*) 7. Aufl. L 13&— 186. 



VI. Die VererbuDg insbesondere des Charakters. 113 

beide sich aufbeben, oder aber ein Compromiss in einer neuen 
Eigentümlichkeit schliessen, kann aus dieser Complication die aller- 
grösste Mannigfaltigkeit entspringen, und man mag danach ermessen, 
wie gross die Schwierigkeit im concreten Falle sein muss, analytisch 
zu bestimmen, in welcher Weise alle Eigentümlichkeiten eines 
Kindes aus Vererbung entsprungen sind; zugleich geht aber auch 
daraus hervor, wie wenig diese Schwierigkeit der Analyse im con- 
creten Falle als Instanz gegen die Thatsache der Vererbung über- 
haupt geltend gemacht werden darf. 

Bisher sind wir immer noch von der stillschweigenden Voraus- 
setzung ausgegangen, dass eine Species auch einen in sich mono- 
morphen oder eingestaltigen Typus repräsentiren müsse. Diese 
Voraussetzung wird aber durch die Thatsache des Polymorphismus 
oder der Vielgestaltigkeit widerlegt, welche viele Specien in auf- 
fallendem Grade zeigen. Man kann sich eine polymorphe Species 
etwa wie eine dem Generationswechsel unterworfene Species vor- 
stellen, wo aber die verschiedenen Typen der Generationen nicht 
nach, sondern neben einander bestehen, und jeder dieser Typen 
nicht nur den andern, sondern auch seinesgleichen, beides unter- 
mischt, hervorbringt. Wir finden aber den Polymorphismus nicht 
nur, wie den Generationswechsel, bei niederen Seethieren (z. B. See- 
federn), sondern auch bei höherstehenden Thieren, (vgl. Wallace 
„Beiträge zur Th. d. nat. Zuchtwahl", deutsch von Meyer S. 165 -179) 
insbesondere solcher Arten, bei denen ein Theil natürliche Masken 
(Mimicry) trägt, oder bei welchen ein Genossenschaftsleben mit 
weitgeführter Arbeitstheilung besteht (Bienen, Ameisen); streng ge- 
nommen ist alle Zweigeschlechtlichkeit an und für sich 
sehon Polymorphismus, auch wenn sie nicht mit sonstigen 
correlativen Modificationen verknüpft wäre. Diese finden sich aber 
überall vor und gehen bei manchen Specien, wo die Lebens- 
verhältnisse der Geschlechter sehr verschieden sind, bis zu Ab- 
weichungen, welche im Männchen und Weibchen nimmermehr die- 
selbe Thierart vermuthen lassen. Aller Polymorphismus ist nun 
als ein System correlativer Modificationen zu betrachten, 
and die Vererbung innerhalb polymorpher Specien zeigt die Ten- 
denz, neu hinzutretende (z. B. durch Anpassung erworbene) Ab- 
weichungen in einem der Typen eher auf die Nachkommen mit 
denselben als auf die mit dem entgegengesetzten Typus zu 

S. t. üartmann, Daa Unbewiuste. 2« Aufl. 8 



114 Text der eroten Auflage. 

übertragen ; oder genauer ausgedrückt : solche zu einem Typus neu 
hinzutretende Abweichungen werden bei der Vererbung auf dessen 
vielgestaltige Nachkommen nur bei den Individuen mit demselben 
Typus hervortreten, bei denen mit andern Typus aber latent 
bleiben und erst bei deren Nachkommen, welche den entsprechenden 
Typus zeigen, wieder hervortreten« Wir erinnern an das obige 
Beispiel von der Bassstimme und dem rothen Barte. In dieser 
Weise können die ersten Ursprünge eines durch allmähliche Tren- 
nung der Lebensverhältnisse sich bildenden Polymorphismus nach und 
nach durch fortschreitende Anpassung der Einzeltypen sich steigern, 
z. B. eine abweichende Färbung zwischen den Gefiedern der beiden 
Geschlechter einer Vogelart sich entwickeln, wenn nur das eine 
Geschlecht brütet und hierzu besseren Schutz durch Aehnlichkeit 
mit dem Nest und dessen Umgebung braucht als sein flüchtig 
umhereilender Gatte (vgl. Wallace a. a. 0. S. 130—134). Welche 
individuelle Abweichungen in Correlation zu demjenigen System 
von Modificationen stehen, das die Eigentümlichkeit des polymorphen 
Typus ausmacht, ist natürlich a priori nicht zu bestimmen, und es 
ist daher auch nicht vorher zu bestimmen, welche individuelle 
Abweichungen z. B. beim Menschen sich auf beide Geschlechter 
vererben und welche sich nur auf die männlichen oder nur auf 
die weiblichen Nachkommen vererben. Nicht selten tritt jedoeh 
eine Vererbung nur in männlicher oder nur in weiblicher Linie 
ein, wo man es nicht erwarten sollte, z. B. bei gewissen physiogno- 
mischen Eigentümlichkeiten, oder bei gewissen Krankheiten; so 
z. B. vererbte Edward Lambert (geb. 1717) seine zolldicke krusten- 
artige Epidermis mit schuppenartigen und stachelförmigen Fort- 
sätzen nur auf seine Söhne und Enkel, aber nicht auf die Enkelin- 
nen. Uebermässige Fettentwickelung an bestimmten Körperteilen 
vererbt sich häufig nur in weiblicher Linie; Hautmale bald in 
männlicher, bald in weiblicher, bald in gemischter Linie. (Vgl. zu 
der ganzen Lehre von der Vererbung HäckeFs nat. Schöpfongsgesoh. 
2. Aufl. S, 158—163, 178—197). 

Wo sich alles an der Constitution des Organismus vererbt, 
ist von der Constitution des Gehirns mit seinen molecularen Dich 
Positionen keine Ausnahme zu erwarten. Der ererbte Charakter, 
welcher, wie wir wissen, in einer Summe bestimmter Hirndispositio- 
nen besteht, gehört mit zum Typus der menschlichen Constitution, 



VL Die Vererbung insbesondere de* Charakters. 115 

modificirt darch den Typus der Kaee, des Volkes, des Stammes, 
der Familie, des Geschlechts; der Grundstock des Charakters ist 
also Resultat einer durch mehr oder minder lange Generationenfolge 
constituirten und befestigten Vererbung, und die concurrirendep 
individuellen Eigentümlichkeiten der zwei Eltern, vier Grosseltern 
and acht Urgrosseltern, und die zufälligen Umstände der Zeugung, 
des embryonalen Lebens, sowie die Einflüsse während der Kindheit 
und Jugend u. s. w. sind nur Nebenumstände, welche zu dem durch 
befestigte Vererbung überkommenen Grundstock des Charakters 
Modifieationen hinzufügen. Je öfter eine Eigentümlichkeit schon 
in der Generationenfolge vererbt worden ist, desto grösser ist die 
Wahrscheinlichkeit, dass sie auch auf die nächste Generation sich 
vererben wird; dieses Gesetz der constituirten oder befestigten 
Vererbung ist der Grund, dass einerseits der Charakter sich strenger 
and sicherer als die intellectuellen Anlagen von mehr individueller 
Natur vererbt und dass andererseits die durch die neu erworbenen 
individuellen Eigentümlichkeiten der Eltern und durch die zufälligen 
Umstände der Zeugung und Kindheit hervorgerufenen Modifieationen 
doch immer nur von aeeundärer Bedeutung (gegenüber demjenigen 
Theil des Charakters erscheinen, welcher auch bei den Eltern schon 
ererbte Anlage war. In Bürgerfamilien ist das Material für den 
Nachweis fortgesetzter Charaktervererbung nur schwerer zu be- 
schaffen, sonst würde dieselbe sich auch dort herausstellen; in 
Adelsgeschlechtern, wo die Familientradition auf lange Geschlechter- 
folgen sorgfältig bewahrt wird, findet sich aber auch ebenso 
häufig und noch häufiger Vererbung von Charaktereigenschaften 
bestätigt, als die schon angeführte Vererbung von körperlichen 
Aehnlichkeiten oder Absonderlichkeiten. In Fürstengeschlechtern 
bietet auch die Geschichte Material, um eine solche Vererbung 
deutlich genug zu erkennen; man denke an die Julier, Claudier, 
Borghia's, Bourbonen, Habsburger u. s. w. Wenn der gute Charak- 
ter mehr aus einem harmonischen Gleichgewicht der Triebe unter- 
einander und mit dem Intellect, der böse hingegen aus der Mon- 
strosität einseitiger Triebe hervorgeht, so liegt es auf der Hand, 
dass böse Charaktere weit mehr t Chancen zur Vererbung darbieten, 
und so findet man auch weit häufiger in einer längeren Geschlechter- 
folge gleiche Laster (Blutdurst, Grausamkeit, Wollust, Leichtsinn, 
Ehrgeiz, Hochmutb, tyrannische Herrschsucht u, s. w.) als gleiche 

8* 



116 Text der ersten Auflage. 

Tagenden. — Die Laster aus Monstrosität einseitiger Triebe grenzen 
unmittelbar an die erbliehen Geistesstörungen. ••) 

Keine Art von Krankheiten ist in so grauenerregender Weise 
fast ausschliesslich in erblicher Disposition begründet wie die Geistes- 
krankheiten und zwar von jenen leichteren Störungen # an, welche 
einerseits als Schrullen und Wunderlichkeiten, andererseits als krank- 
hafter Hang zu gewissen Lastern zu bezeichnen sind, durch die 
ausgesprocheneren Formen der fixen Ideen, der Schwermuth, der 
Narrheit und des Wahnsinns hindurch bis endlich zu den Extremen 
der Tobsucht und des Blödsinns. Wenn es noch irgend einer Be- 
stätigung dafür bedürfte, dass die bekannte Thatsache der Ver- 
erbung der Charaktereigenschaften rein auf Vererbung von constitu- 
tionellen organischen Eigentümlichkeiten und speciell von .Gehirn- 
prädispositionen beruht, so muss dieser flüssige Uebergang von 
Geisteskrankheiten in Charakteranlagen, oder von excessiven und 
monströsen Hirndispositionen in bloss quantitativ und graduell inner- 
halb der normalen Grenzen hervorragende, den letzten Zweifel be- 
seitigen. Da auch das gesunde Geistesleben aus Factoren besteht, 
deren quantitatives Verhältniss sehr bedeutenden Schwankungen 
unterworfen ist, so ist eine Grenze, wo das quantitative Verhältniss 
zu einem abnormen oder krankhaften wird, schlechterdings nicht zu 
ziehen, und deshalb sind auch für den Psychologen nicht diejenigen 
Irren die interessantesten, welche hinter Gitter und Riegel unschäd- 
lich gemacht werden mussten, sondern diejenigen, welche sich frei 
in der Gesellschaft bewegen, weil in ihnen die Uebergangszustände 
zwischen gesundem und krankem Geistesleben rückwärts ein Licht 
auf die Grundlagen der normalen psychischen Processe zu werfen 
geeignet sind. 

Wenn wir anerkennen mussten, dass die befestigten Eigen- 
tümlichkeiten oder Charaktere in der Concurrenz um die Ver- 
erbung vor den neu hinzu erworbenen einen entschiedenen Vor- 
sprung haben, so ist doch die Bedeutung der letzteren keineswegs 
zu unterschätzen, denn auf ihr beruht die Modificabilität und Ent- 
wickelungsfähigkeit des constitutionellen Typus der Species, die 
Veränderlichkeit des Artcharakters, — eine Thatsache, welche ohne 
Vererbung individuell erworbener Abweichungen vom bisherigen Typus 
schlechterdings unmöglich wäre. Aus der Ehe eines durch Zufall 
mit sechs Fingern geborenen Mannes und einer fünffingerigen Frau 



VL Die Vererbung insbesondere des Charakters. 117 

in Spanien hatten sämmtliche Kinder sechs Finger bis auf das 
Jüngste, welches der Vater deshalb nicht als das seinige anerkennen 
wollte. In einer andern spanischen Familie vererbte sich die Sechs- 
zahl der Finger auf 40 Individuen. Durch blosse Inzucht sechs- 
fingriger Individuen Hesse sich eine sechsfingrige Menschenrace 
erzielen, bei der dies Merkmal bald befestigt sein würde; durch 
Kreuzung gehen aber solche individuelle Abweichungen immer wieder 
in der fttnfBngrigen Bace unter (Häckel a. a. 0. S. 159). In 
Massachusetts züchtete i. J. 1791 Setd Wirght aus einem zufällig 
mit auffallend langem Leib und ganz kurzen krummen Beiuen ge- 
borenen Lamme eine entsprechende Schafrace (Otterschafe), welche 
ihm den Vortheil bot, die Becken nicht überspringen zu können. 
Aehnlich wurde in Paraguay von einem im Jahre 1770 geborenen 
hörnerlosen Stiere eine hörnerlose Bindviehrace gezüchtet (Häckel 
S. 193). „Niemand wird bezweifeln, dass die in gewissen Familien 
erblichen Krankheitsanlagen, wenn man im Stammbaum rückwärts 
geht, auf einen Vorfahren hinführen müssen, der sie nicht mehr 
ererbt, sondern erworben hat Dass sich amputirte Arme und 
Beine und dergleichen Verstümmelungen in der Begel nicht ver- 
erben, beweist gegen unsere Behauptung gar nichts, denn es sind 
zu grobe und handgreifliche Eingriffe in die typische Idee der Gat- 
tung, als dass man ihre Realisation im Kinde erwarten könnte; und 
doch giebt es selbst hier merkwürdige Ausnahmen. Nach Häckel 
zeugte ein Zuchtstier, dem durch Zufall der Schwanz an der Wurzel 
abgeklemmt wurde, lauter schwanzlose Kälber, und hat man durch 
consequentes Schwanzabschneiden während mehrerer Generationen 
eine schwanzlose Hunderace erzielt. Meerschweinchen, welche durch 
künstliche Verletzung des Rückenmarks epileptisch gemacht worden 
waren, vererbten die Krankheit auf ihre Nachkommen. Im All- 
gemeinen vererben sich erworbene Eigenschaften um so leichter, je 
weniger sie den Arttypus stören, in je minutiöseren organischen 
Veränderungen sie bestehen. Letzteres ist aber bei allen Disposi- 
tionen des Gehirnes zu gewissen Schwingungszuständen der Fall« 
Es ist eine bekannte Erfahrung, dass die Jungen von gezähmten 
Thieren zahmer werden, als die jung eingefangenen von wilden, 
dass von Hausthieren wieder diejenigen Jungen am zahmsten, folg- 
samsten, gelehrigsten u. s. w. zu werden versprechen, die von den 



118 Ttet der enten Anfluge. 

zahmsten, folgsamsten, gelehrigsten Eltern stammen. *) Jede Dressur 
eines Thieres nach einer bestimmten Richtung bietet um so mehr 
Aussicht auf Erfolg, je weiter die Dressur der Eltern in derselben 
Richtung gediehen war. Junge undressirte Jagdhunde vta aus- 
gezeichneten Eltern machen bei der Jagd von selbst Alles ziemlich 
richtig, während bei Hunden, die von Eltern stammen, welche nie 
zur Jagd gebraucht wurden, die Jagddressur eine furchtbare Arbeit 
ist Söhne aus Reiterfatnilie* bringen Sita und Balance schon zm 
erste» Versuch mit (Ph. d. IL S. 611—612).**) 

Nach dem Angeführten unterliegt es keinem Zweifel, dass 
Charaktereigenschaften sehr wohl t er erbt werden können, aaeh 
wenn sie nicht ererbt, sondern nur individuell erworben waren. 
„Wenn wir die Laster aus gewissen inveterirten Anomalien auf dem 
Boden der Constitution erwachsen sehen" (z. B. Trunksucht, ge- 
schlechtliche Verirrungen, Blutdurst u. s. w.), „wenn wir unzweifel- 
haft die Vererbung von Lastern oonstatiren können, so liegt auf 
der Hand, dass die Vererbung der vom Vater erworbenen Consti- 
tution im Sohne die Ursache des Lasters ist" (Phil* Monatshefte 
Bd. IV. Hft.5. S. 389 -390).***) Dasselbe gilt aber auoh fflr feinere 
Nuancen des Charakters, die in den Eltern habituell actualiart 
sind; es gilt sogar ftfcr die unscheinbarsten Aeusserliehbeiten in 
Haltung, Bewegungen, Benehmen (PL cL Unb. S. 6 1 3) f) und ha- 
bituelle Modificatkmen in der Art und Weise der Ideenassociation, 
— Dinge, bei denen sich freilich oft schwer der Eiaflusa der Ver- 
erbung von dem Einfluss des Beispiels trennen Ulssi Dass die 
aristokratische Tournure wesentlich auf einer angeborenen Grund- 
lage beruht, ist bekannt; es kommt dies nicht selten in Bastarden 
Kur Erscheinung, die, ohne von ihrer Abstammung zu wissen, in 
keineswegs aristokratischer Umgebung erwachsen sind. In ähnlicher 
Weise ist es Katzen angeboren, ihre Exeremente, wenn irgend 
möglich, zu verscharren; jedes höhere Thier hat eine mehr oder 



*) Zu Aristoteles Zeiten musste unser Hofgeflügel noch unter Netzen und 
Körben gehalten werden, wie heute bei uns die Fasanen, und doch ging jenem 
Zustand eine schon viele Jahrtausende lange Domestication voran, Während es 
nun nach abermals 2006 Jahren gelungen ist, die flüchtigen Natnrinsti&et* voll- 
kommen au bezähmen. 

**) 7. Aufl. IL 267—268. 

***) Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus S. 189—190. 
t) 7. Aufl. II. 269- 



VI. Die Vererbung insbesondere des Charakters. 119 

minder aristokratische oder plebejische Tournure mit auf die Welt 
gebracht, welche es von seinen Vorfahren durch Vererbung über- 
kommen hat und welche ihm sein änsserliehes Verhalten in allen 
Lebenslage«, die ihm naturgemäss vorkommen, bis auf die kleinste 
Geste und Bewegung vorzeichnet. Aber anch im eigentlich geistigen 
Sinne haben die Thiere einen Charakter, der z. B. bei Hunden und 
Pferden sich zum entschiedenen Individualcharakter ausprägt, wäh- 
rend bei tieferstehenden Thierarten die Abweichungen des Individual- 
charakters vom typischen Artcharakter so gering sind, dass man 
sagen kann: beide fallen zusammen, — ein Umstand, durch den die 
Vererbung nur um so mehr zu einer befestigten wird. Nur der 
Charakter der ersten protoplasmatischen Monere, die aus Urzeugung 
entstanden, war eine tabula rasa; strenggenommen war selbst hier 
schon die zufällige Zusammensetzung der Stoffe entscheidend. Von 
da an aber hat die Entwicklung der geistigen Artcharaktere mit 
der Entwickelung der organischen Typen gleichen Schritt gehalten; 
beide sind durch das gleiche Princip gefördert: durch die Ver- 
erbung der hinzuerworbenen Eigentümlichkeiten, durch welche eine 
beständige Erweiterung und Bereicherung des Charakters mit der 
aufsteigenden Entwickelungsreihe entstehen musste. So empfing der 
erste Mensch schon einen reich angelegten Charakter, welcher sich 
dann in der anthropologischen Höherentwickelung der Menschheit 
immer vielseitiger differenzirte und immer reicher entfaltete. Wie 
auf äusserlich organischem, so auch auf innerlich psychischem Gebiet 
ist es immer erst die Vererbung der individuell erworbenen Eigen- 
schaften, welche die Entstehung von Typen und Charakteren mit 
befestigter Vererbung möglich macht. 

Wenn wir oben (S. 94) gesehen haben, dass die Beeinflussung 
des Handelns durch willkürlich vorgehaltene oder ferngehaltene Mo- 
tive die Möglichkeit bietet, durch Erziehung an Anderen und durch 
sittliche Selbstzucht an sich selbst, vermittelst der Gewöhnung an 
gewisse sittliche Handlungsweisen und Entwöhnung von unsittlichen, 
nennenswerthe charakterologische Modifikationen hervorzurufen, so 
musste doch damals der Gedanke deprimirend wirken, dass diese 
Modifikationen dem ererbten Grundstock des Charakters gegenüber 
immerhin von seeundärer Natur blieben. Jetzt aber eröffnet uns die 
Descendenztheorie durch die Vererbung solcher individuell er- 
worbenen Modifikationen des Charakters die tröstliche Perspective 



120 Text der ersten Auflage. 

auf die Möglichkeit einer progressiven Veredelung des 
menschliehen Charakters durch Snmmation der durch 
Erziehung und Selbstzucht erzielten individuellen Abweichungen, 
ein Gedanke, der wohl geeignet scheint, an einer Reform der bisher 
theoretisch so traurig bestellten und praktisch so unwirksamen und 
wertMosen Wissenschaft der Ethik mitzuwirken. 



VE 

Die Vererbung von Anlagen und 

Fertigkeiten. 



WVWVA 



Wir haben im letzten Abschnitt gesehen, wie gross der Unter- 
schied zwischen der constituirten Vererbung und der Vererbung 
neuerworbener Eigenschaften hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, 
Festigkeit und Dauerhaftigkeit der Uebertragung ist. Es verhalten 
sich z. B. im Charakter die durch constituirte Vererbung angeborenen 
Eigenschaften zu den in der Kindheit und Jugend durch Erziehung, 
Verhältnisse und Schicksale hinzuerworbenen gleichsam wie zwei 
verschiedene Schichten, von denen die oberflächliche unter gewöhn- 
lichen Umständen die wichtigere scheinen kann, weil sie die tiefer 
liegende verhüllt und die Beize früher als diese und leichter als 
diese in Empfang nimmt; erst wenn grosse Motive an den Menschen 
herantreten, welche nicht bloss seine oberflächlichen Gewohnheiten 
und Interessen berühren, sondern sein Innerstes ergreifen und durch- 
wühlen, erst dann wird diese Hülle durchbrochen und der an- 
geborene Charakter macht sich in seinem dominirenden Rechte 
geltend. Dieses Verhältniss kann natürlich nur da sich der Be- 
achtung aufdrängen, wo die Einflüsse des Lebens dahin gewirkt 
haben, den Charakter nach einer andern Bichtung hin zu entwickeln, 
als die angeborenen Anlagen von selbst eingeschlagen hätten; wenn 
aber auch ein mehr oder minder entschiedener Gegensatz zwischen 



122 Text der ersten Auflage. 

dem angeborenen und erworbenen Theil des Charakters zu den 
Seltenheiten gehören wird, so wird man doch bei den meisten 
Menschen auf gewisse specielle Richtungen stossen, wo ein solcher 
Gegensatz sich entwickelt hat und gerade das Hervorbrechen des 
Ursprünglichen, Angeborenen bei wichtigen Veranlassungen ist es, 
was uns in anscheinend bekannten Charakteren plötzlich als ein 
Widersprach gegen die ftlr gewöhnlich documentirte and deshalb 
für charakteristisch angenommene Verhaltungsweise überrascht. Die 
angeborenen Dispositionen sind tief eingegraben, aber nicht scharf 
and sauber, ausser wenn sie durch Uebung und Gewohnheit nach- 
gemeisselt sind; die neu hinzuerworbenen Dispositionen and Modi- 
ficationen besitzen hingegen wohl die Schärfe und Distinction des 
Schnitts, welche sie auf verwandte schwache Beize leicht ansprechen 
läßst, aber nicht die nachhaltige Tiefe des Eindrucks, welche sie 
eine Concurrenz mit den angeborenen Dispositionen aushalten Hesse, 
wenn letztere einmal erregt sind. Auf schwache Reize resoniren 
die angeborenen aber nicht geübten Dispositionen deshalb nicht, 
weil sie zu verwittert, zu undeutlich sind, um das bei schwachen 
Beizen nothwendige Maass qualitativer Uebereinstimmung zu be- 
sitzen; je stärker aber der Beiz wird, um so grössere Differenzen 
zwischen sich selbst und der Disposition überwindet er im Hervor- 
rufen der Resonanz. So rufen denn grossartige Motive auch latente 
Dispositionen, die man längst erstorben glaubte, zu neuem Leben 
wach, wie etwa die grelle Beleuchtung schnell auf einander folgen- 
der nächtlicher Blitze die alte verwitterte Bieseninschrift einer Fels- 
wand plastisch hervortreten lässt, auf der der Forscher bei Tages- 
licht und in nächster Nähe betrachtend bis dahin nur die darüber 
gekritzelten Bemerkungen moderner Touristen erkannt hatte. 

Wie die angeborene Sphäre des Charakters zur erwor- 
benen, so ungefähr verhält sich die erworbene Charaktersphäre 
zum Gedächtnis s. Dies scheint paradox, und doch ist es kein 
heterogenes Gebiet, auf das wir hinübergehen, sondern nur ein gra- 
duell verschiedenes (vgl. oben S. 94 — 95). Das Motiv ist, wie wir 
wissen, Vorstellung, und der Inhalt des Willensactes, welcher als 
Beaction auf das Motiv folgt, ist ebenfalls Vorstellung; ganz ebenso 
ist beim Process der Ideenassociation der hervorrufende Beiz Vor- 
stellung und der Inhalt der Beaction Vorstellung; im einen wie im 
andern Falle haben wir es mit molecularen Hirnschwingungen zu 



VE Die Vererbung von Anlage* ald Fertigkeiten. 123 

thun, welche vorhandene Dispositionen zn seilen Schwingungen er- 
regen, tob welchem Prooess sowohl Anfangs- wie Endglied als Vor- 
steüing in's Bewusstsein treten. Der Unterschied liegt wesentlich 
-nur in dem Maass der Willensbetheiligung, oder anders ausgedrückt : 
theite in der absoluten Intensität der erregten Schwingungen, theils 
in der relativen Intensität, mit welcher sie auf die Centralorgane 
der Bewegung influiren und hierdurch zur Handlung intendirea. 67 ) 
Die Ueberiegeaheit der Intensität der tieferen Sphäre tritt selbst- 
verständlich nur dann hervor, wenn sie dnreh einen entsprechenden 
Reiz wirklich erregt worden ist; dann aber verhält sieh die In- 
tensität der angeborenen zur erworbenen Charaktersphäre ganz 
ebenso wie die Intensität der letzteren zu der Sphäre der Ge- 
dächtnissdispositionen. Denn man würde sehr irren, wenn man 
glaubte, daas die Gedächtnissvorsteüungen jeder Willensbetbeilignng 
entbehrten. **) Wir sahen schon oben, dass jede noch so abstraflte 
Vorstellung mindestens die Tendenz zu den ihr entsprechenden Be- 
wegungen der Sfxraehorgane mit sieh führt; 89 ) in einer andern Weise 
sich handelnd «n äussern, dazn fehlt es ihr nicht aowohl an In- 
tensität, als an Gelegenheit, 90 ) d. h. es ist ihrer Natur nach nicht 
abzasehen, welche Art von Handlung eine blosse gleichgültige Ge- 
dächtnissvorstellung unmittelbar herbeiführen sollte. Sie befindet 
sich dabei in einer ähnlichen Lage wie eine charakterologisohe Dis- 
position, welche beim Mangel einer gegenwärtigen Gelegenheit zum 
Handeln sich auf die Vorstellung der künftig bevorstehenden Ge- 
legenheit hin als Vorsatz und Verlangen äussert, nur dass in diesem 
Falle die Möglichkeit des Ueberganges in wirkliche Handlung von 
einer erfüllbaren Bedingung abhängt, bei der blossen Gedächtniss- 
vorstellung aber selbst das nicht Anatomisch muss sich dieser 
Unterschied in einer verschiedenen Lage der Partien aussprechen, 
in welchen die Gedäcbtnissdispositionen und in welchen die cha- 
tackterolQgischen Dispositionen niedergelegt sind; die letzteren 
müssen den Centralorganen der Bewegung näher liegen, oder doch 
durch bessere Leitung mit ihnen verbunden sein; in demselben 
Maasse aber müssen sie derjenigen Hirnschicht ferner liegen, in 
welcher das hellste und klarste Bewusstsein erzeugt wird. 91 ) Wenn 
eher unser Ausdruck, dass die Sphäre der erworbenen Charakter- 
eigenschaften gleichsam eine Hülle um den Kern der angeborenen 
bilde, zunächst nur bildlich zu nehmen war, so dürfte die ße- 



124 Text der ersten Auflage. 

hauptung, dass die Sphäre des Gedächtnisses am meisten periphe- 
risch (von den Centralorganen der Bewegung ans gerechnet) zu 
suchen sei, einigen Anspruch auf reale Bedeutung haben, um so 
mehr als auch pathologische Erfahrungen (Substanzverlust des Ge- 
hirns, Aphasie durch Schlagfluss u. s. w.) auf einen Sitz des Ge- 
dächtnisses in den unter der Stirn gelegenen Theilen des Grosshirns 
hinweisen. 

Wenn nun auch die relative Intensität, mit welcher die Ge- 
dächtnissvorstellungen auf die Gentralorgane der Bewegung influiren» 
gering genannt werden muss, so braucht deshalb ihre absolute 
Energie im Verhältniss zu erregten charakterologischen Dispo- 
sitionen keineswegs unbedeutend zu sein. Dies beweist schon die 
Lebhaftigkeit und Klarheit des Bewusstseins, durch welche sie 
jenen entschieden überlegen sind. Die Leitungswiderstände in der 
Richtung auf die Centralorgane der Bewegung verhindern sie nur, 
ihre Intensität nach dieser Richtung hin zur Geltung zu bringen, 9t ) 
während sie dadurch Gelegenheit erhalten, dieselbe innerhalb der 
Sphäre des Gedächtnisses selbst fruchtbar zu verwerthen, indem sie 
dieselbe im Process der Ideenassociation fortwährend auf neue Vor- 
stellungen übertragen. Erst durch dieses in sich Abgeschlossensein 
der Sphäre des Gedächtnisses wird die Beweglichkeit und Le- 
bendigkeit des Vorstellungsprocesses möglich, welche im bedeutungs- 
vollen Gegensatz steht zu der Schwerfälligkeit und Stabilität des 
Begehrungs- und Gefühlslebens (Phil, d. Unb. S. 374). *) Während 
die Dauerhaftigkeit der Gefühle, Bestrebungen und Interessen allein 
das Leben vor Zerfahrenheit und unstäter Zersplitterung schützen 
kann, ist die schnelle Beweglichkeit des Vorstellungslebens die not- 
wendige Voraussetzung für jede intellectuelle Leistung, sei es auf 
dem theoretischen Gebiete der Erfindungen und Entdeckungen, sei 
es auf dem praktischen Gebiet der Auswahl der richtigen Mittel 
für die vom Gefühlsleben gesteckten Ziele. So kann man die 
dynamische Leistung der Vorstellungssphäre auf die charaktero- 
logische Sphäre des Begehrungs- und Gefühlslebens auch dahin de- 
finiren, dass sie in der angemessenen Verarbeitung der Mo- 
tive der letzteren besteht, während sie zugleich bei dieser ihrer 
anscheinend rein intellectuellen Arbeit doch wieder unter dem be- 



*) 7. Aufl. IL 4. 



VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 125 

stimmenden Einfluss der mehr centralen Sphäre der charaktero- 
logischen Dispositionen steht, wie dies Schopenhauer (W. a. W. u. 
V. Bd. II.) in dem Capitel : „Der Primat des Willens im Selbst- 
bewnsstsein" näher ausgeführt hat. Einen directen Einfluss auf das 
Handeln gewinnt die Vorstellungssphäre erst dann, wenn die Vor- 
stellung einer willkürlich auszufahrenden Bewegung oder Handlung 
mit einem activen centrifugalen Innervationsstrom (vgl. oben S. 78) 
verbunden auftritt, was wiederum nur möglich ist, wenn entweder 
diese bewutste Absicht mit dem unbewussten Resultat der Moti- 
vation übereinstimmt, 98 ) oder aber wenn die betreffende Handlung 
eine für den Charakter und die Lebensinteressen völlig gleich- 
gültige ist 94 ) • 

Wenn wir nach dieser Auseinandersetzung an unserm obigen 
Ausspruch festhalten dürfen, dass die Gedächtnisssphäre sich zur 
Sphäre der erworbenen Charakterdispositionen ungefähr so verhält, 
wie diese zu der Sphäre der ererbten Charakterdispositionen, so werden 
wir uns nicht wundern dürfen, dass, da doch schon die Vererbung 
erworbener Charaktereigenschaften so viel schwieriger und unsicherer 
ist als die der angeborenen, durch constituirte Vererbung befestigten 
Charakteranlagen, dass nunmehr die Sphäre der Gedächtnissdispo- 
sitionen, welche hinsichtlich der Tiefe ihrer Eindrücke sich als 
noch weit oberflächlicher erweist, für gewöhnlich gar nicht mehr 
zur Vererbung gelangt, oder wenn man so sagen darf, bereits unter- 
halb der Schwelle der Vererbung liegt. Sind doch die Eindrücke 
oft so schwach, dass sie in demselben Individuum nicht mehr zur 
Beproduction gelangen können, d. h. radical vergessen bleiben, 
— wie sollten sie da eine über das Individuum auf seine Nach- 
kommen hinübergreifende Wirksamkeit äussern können ? Aber selbst 
solche Gedäshtniss Vorstellungen, welche durch häufige Beproduction 
fester eingeprägt werden, wie z. B. der Vocabelschatz der Mutter- 
sprache, zeigen keine Spuren von Vererbung; man hat wenigstens 
noch nirgends constatirt, dass ein von Deutschen geborenes Kind in 
seiner Kindheit die deutsche Sprache leichter erlernte als irgend 
eine andere mit der deutschen auf gleicher Stufe der formalen Ent- 
wicklung stehende Sprache. Für dieses unterhalb der Vererbungs- 
sehwelle gelegene Gebiet von Hirndispositionen, insoweit es für das 
menschliche Culturleben Bedingung ist, muss dann eben die Er- 
ziehung namentlich in frühester Kindheit vicarirend eintreten, um 



126 Tut dtr «Wien Auflage. 

gleichsam die organisch begonnene Modellirang des Gehirns im 
Embryo durch systematisch regulirte Vorstellungszufubr und Uebuug 
zum Absehluss zu bringen. Dass derartige Gedächhrissdispositionen, 
wie Vocabeln, zu oberflächlich zur Vererbung sind, kommt offenbar 
daher, dass die Gedächtnissvorstellungen dieser Art mehr oder 
minder conventioneile Begriffszeichen sind, die nichts 
Typisohes an sich haben und deren conventioneil so oder so be- 
stimmte Qualität (ob ,#ere" oder „Vater") für die intellectneUe Be- 
deutung ebenso gleichgültig ist wie für das Interesse und Gefühls- 
leben. Ganz anders, wo es sich nicht bloss um gleichgültige Zeichen 
oder um Erfhhrungswissen, sondern entweder um eine typische 
Form der Vorstellungs weise, oder um einen Vorstellungsinhalt 
handelt, dessen Qualität zugleich das Begehrungs- und Gefühlsleben 
afficirt, also in das Gebiet Charakter ologischer Prädisposi- 
tionen hinübergreift. Beides haben wir gesondert zu betrachten, wie 
innig es auch in sich wiederum zusammenhängen mag. Nur die 
letztere Seite betrachten wir in diesem Abschnitt, während die erstere, 
die typischen Formen des Denkens und Anschauens, dem folgenden 
Abschnitt vorbehalten bleibt 

Wir sahen schon oben, dass die Hirnprädispositionen des Ge- 
dächtnisses nicht sowohl speoifiseh als graduell von den charaktero- 
logischen Hirnprädispositionen verschieden sind, dass der Uebergang 
zwischen beiden ein durchaus flüssiger, durch die mannigfachsten 
Verbindungsglieder vermittelter ist, und dass die blosse interesselos 
gleichgültige Gedächtnissvorstellung nur das eine Endglied dieser 
Reihe ist, deren anderes Ende die angeborene, aber durch 
erworbene Modificationen entgegengesetzter Art latentgewordene 
Charakteranlage ist Jede charakterologische Prädisposition ist ein 
vorausbestimmter Reactionsmodus des Begehrens auf eine gewisse 
Art von Motiven, und jeder Reactionsmodus wird nur dadurch zu 
einem eigenthümlichen, dass das bei einem gegebenen Motiv resul- 
tirende Wollen einen eigenthümlichen (von dem anderer Individuen 
abweichenden) Vorstellungsinhalt besitzt. Ist also der Cha- 
rakter angeboren (d. h. ererbt), so ist auch der eigentümliche Vor- 
stellungsinhalt angeboren, dessen Gewolltwerden bei gegebenem 
Motiv die Eigentümlichkeit des angeborenen Reactionsmodus aus- 
macht. Ein Vorstellungsinhalt kann aber nur angeboren sein als 
ererbte schlummernde Gedächtnissvorstellung, d. h. „als moleculace 



VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 127 

Hirndisposition zu gewissen Sehwingungsarten" (Ph. d. D. S. 613). *) 
Wir können hinzufügen, dass gar nichts als dieser Vorstellung«- 
iuhalt qualitative Unterschiede des Begehrens oder Wollens be» 
wirken kann, 9& ) da ja die leere Form des Wollens, abgesehen von 
diesem Vorstellungsinhalt, überhaupt nur quantitative Unter* 
schiede der Intensität zulässt (ebenda S. 105),**) und ohnehin als 
Wollen gar nicht zum Bewusstsein gelangt (vgl. oben Abschn. V.)« 
Die Ph. d. U. fährt fort : „In dieser Art ist z. B. das Verhalten 
des undressirten jungen Jagdhundes (seine Aufmerksamkeit auf 
Wild, sein Stutzen, seine Neigung zum Apportiren geworfener Gegen- 
stände) durch ein von seinen Vorfahren ererbtes Gedächtnies zu er- 
klären, so aber, dass die aus den ererbten Hirndispositionen auf 
geeignete Veranlassung auftauchenden (Erinnerung«-) Vorstellungen 
nicht als Erinnerungen bewusst werden, sondern nur als Inhalt der 
durch jene Veranlassungen (Motive) hervorgerufenen Willensacte 
auftreten" (S. 613)*) Hiermit ist zugleich das psychologische Eri- 
terion für den Unterschied individuell erworbener und ererbter Ge- 
dächtnissdispositionen ausgesprochen: bei der fteproduction der 
enteren taucht das Bewusstsein, die Vorstellung schon früher gehabt 
zu haben, mit auf; und das Fehlen dieses Bewusstseins lässt bei 
den letzteren den Charakter der Erinnerung nicht zur Geltung 
kommen. Der junge Jagdhund wird von der Gesichtswahrnehmung 
des Wildes oder des geworfenen Steins zwar ebenso afficirt wie 
etwa ein junger Wachtelhund; aber er reagirt mit änderen Vor* 
Stellungen auf diese Wahrnehmungen, wenngleich seine Vorstellungs- 
reactionen nicht als blosse Vorstellungen, sondern als Vorstellungs- 
inhalt von Willensacten hervortreten. (Beiläufig sei hier bemerkt, 
dass Darwin das anderartige Verhalten junger Hunde, die von gut 
dre8sirten Jagdhunden abstammen, bestätigt.) Wenn blindtaubstumme 
Mädchen mit dem Eintritt der Pubertät die volle Schamhaftigkeit 
ihres Geschlechts gegen die Berührung männlicher Personen ent- 
wickeln (Ph. d. U. S. 186 -187),***) so treten Vorstellungsmassen 
aus zuvor latenten Dispositionen heraus, welche bei dem Mangel 
entsprechender Belehrung und Erziehung nur als Gedächtnis«* 



*) 7. Aufl. IL 269. 
**) 7. Aufl. I. 102. 
*■*) 7. Aufl. I. 180—181. 



128 Text der enien Auflage. 

dispositionell zu bezeichnen sind, die von der constituirten Ver- 
erbung ähnlicher Vorstellungsmassen in weiblicher Linie herrühren 
und, wie alle Vererbungen, sich zu derselben Zeit zur Actualität 
entfalten, wie dies in den Vorfahren der Fall war. Von der Patz- 
sucht dieser unglücklichen Geschöpfe lässt sich nur dieselbe Er- 
klärung geben. Diese Beispiele eröffnen aber zugleich eine weite 
Perspective auf den grundlegenden Einfluss ererbter Vorstellungs- 
massen in solchen Fällen, wo der Einfluss von Erziehung, Gewohn- 
heit und Uebung verstärkend oder modificirend hinzutritt 

Wenn ein aus einer Reiterfamilie stammender Jüngling nicht 
selten Sitz und Balance zu seinem ersten Keitversuch in einer 
anderen Anfängern überlegenen Weise mitbringt, so zeigt sich auch 
hier eine Summe ererbter Vorstellungen und Kenntnisse über die 
den jeweiligen Störungen der Balance entgegenzustellenden Muskel- 
bewegungen, nur dass diese Vorstellungen hier noch weniger als 
bei dem Apportiren des jungen Jagdhundes als solche zum Bewusst- 
sein kommen, sondern in den Ausftlhrungsimpulsen zu den ent- 
sprechenden combinirten Muskelbewegungen involvirt bleiben. Diese 
Vorstellungsmassen treten im gegebenen Beispiel um so weniger in's 
Bewusstsein, als die entsprechenden molecularen Dispositionen grossen- 
theils im Kleinhirn und verlängerten Mark zu suchen sind. Die 
vererbte Disposition aller Thiere zu den ihrem Leben nöthigen Be- 
wegungen des Gehens, Schwimmens, Fliegens u. s. w. entspricht 
ganz und gar dieser Reiterdisposition ; sie tritt um so deutlicher 
hervor, in je fertigerem Zustande das Thier in's Leben eintritt, und 
entzieht sich der Beobachtung in um so höherem Grade, je länger 
die Dauer der jugendlichen Unreife ist, die bekanntlich beim Men- 
schen und demnächst bei den antropoYden Affen am grössten ist. 
Beim Menschen scheint das Kind gar nichts mitzubringen, sondern 
alles erst zu lernen; in der That aber bringt es alles oder doch 
unendlich viel mehr als das fix und fertig aus dem Ei kriechende 
Thier mit, aber es bringt alles in unreifem Zustande mit, weil des 
zu Entwickelnden bei ihm so viel ist, dass es in den 9 Monaten des 
Embryolebens nur erst im Keime vorgebildet sein kann. So geht 
nun das Reifen der Dispositionen bei fortschreitender Ausbildung 
des Säuglinggehirns mit dem Lernen, d. h. mit dem Nachmeisseln 
dieser Dispositionen durch Uebung Hand in Hand und erzielt da- 
durch ein weit reicheres und saubereres Endresultat, als die blosse 



VH Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 129 

Vererbung bei den Thieren vermag (vgl. Ph. d. Unb. S. 314).*) 
Aber selbst das menschliche Kind würde mit dem wundervollen 
Mechanismus seiner Gliedmaassen and seiner Sinneswerkzenge gar 
nichts anzufangen wissen, wenn es nicht die Hirnprädispositionen 
zum Gebrauch derselben als ererbten Besitz mitbrächte; 
der Unterschied ist nur, dass es wegen der noch breiartigen Be- 
schaffenheit seines Gehirns, das sich erst allmählich consolidirt, lange 
Zeit braucht, um von seinem Eigenthum vollen Besitz zu ergreifen, 
während das Thier von Anfang an in seiner beschränkteren Domäne 
wie zu Hause ist. Bei dem Reichthum der menschlichen Erbschaft 
aber heisst es: 

„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, 

Erwirb es, um es zu besitzen". 
Das Lernen des Kindes ist dieser Erwerbungs- oder Aneignungs- 
process des Ererbten. Während das Thier niemals zu der abstracten 
Vorstellung gelangt, diese oder jene Bewegung vollziehen zu wollen, 
sondern immer nur Bewegungen auf entsprechende praktische Motive 
oder aus unmittelbarem Bewegungstrieb vornimmt, gelangt der 
Mensch dazu, die Ausführungsimpulse zu den Bewegungen der 
wichtigeren, quergestreiften Muskeln unter Umständen auch von den 
anmittelbaren praktischen Motiven ablösen zu können und mit 
der abstracten Vorstellung der Ausführung einer solchen Bewegung 
zu associiren. Diese Ablösung findet nicht plötzlich statt, sondern 
allmählich, Schritt vor Schritt, durch Selbstbeobachtung und Be- 
lauschung der nur mit schwachen begleitenden Empfindungen in's 
Bewusstsein fallenden Impulse. Wie die Uebung und Vererbung 
im Thierreich die Verbindung zwischen der Wahrnehmung oder 
Vorstellung des praktischen Motivs mit der Ausführungsbewegung 
dem Hirn eingegraben, Dispositionen gegründet und Leitungsbahnen 
für den Willensimpuls geschaffen hatte, so schafft Uebung und Ver- 
erbung in der Menschheit (und schon in den intelligentesten Thieren) 
ähnliche Associationen zwischen gewissen abstracten Vorstellungen 
und den entsprechenden Ausfiihrungsbewegungen, — vorausgesetzt, 
dass die Vorstellungen intensiv genug sind und dass die unmittel- 
bare Ausführung der Bewegung in imperativer Form in ihnen 
enthalten ist Insoweit diese Associationen ererbt oder fest eingeübt 



*) 7. Aufl. I. 304-305. 

k ▼. Hart manu, Das Unbewuarte, 2, Aufl. 



130 Text der ersten Auflage. 

sind, geschehen sie mit einer ziemlichen Sicherheit; doch können 
sie niemals dasjenige Maass nahezu unfehlbarer Sicherheit erlangen, 
was die durch befestigte Ererbung constituirten instinctiven Be- 
wegungsreactionen auf bestimmte für das Leben des betreffenden 
Wesens wichtige Motive besitzen ; denn das eine Glied der Associa- 
tion, die abstracte Vorstellung, entzieht sich der Vererbung, und 
deshalb muss das Band in jedem Individuum' gleichsam neu geknüpft 
werden. Wir können hiernach der Ph. d. Unb. nicht zugeben, dass 
die Möglichkeit des Fehlgreifens die Hypothese eines mechanischen 
Zusammenhangs zwischen Vorstellung und Ausfthrungsimpuls diß- 
creditire (S. 66);*) diese Möglichkeit beweist eben nur, dass dieser 
Zusammenhang nicht dermaassen durch lange Vererbung befestigt 
ist, um praktisch unfehlbar geworden zu sein, sondern dass diese 
mechanische Leitung sich noch wie die mangelhaft isolirte Leitung 
einer electrischen Batterie verhält, welche gelegentlich einen Funken 
seitwärts überspringen lässt. Je dauernder eine bestimmte Associa- 
tion zwischen Vorstellung und Ausführung geübt wird, um so besser 
wird die Leitungsbahn eingegraben und um so seltener die Fälle 
des Fehlgreifens. 

Hieraus folgt, dass die praktische Unfehlbarkeit der instinctiven 
und reflectorischen Bewegungen durch die befestigte Vererbung 
des Leitungsmechanismus zwischen Motiv und Ausführung hin- 
reichend erklärt ist, ohne dass man für diesen Zweck eine meta- 
physische Unfehlbarkeit des Unbewussten zu Hülfe zu nehmen 
brauchte; es folgt ferner daraus, dass eine Vervollkommnung 
der Association durch Gewohnheit und Uebung wirklich stattfindet, 
und dass mithin dieser ganze Associationsprocess nur auf materiel- 
lem Gebiete zu erklären gesucht werden kann, da das Unbewusste 
weder in seinem Wesen, noch in seinen Functionen einer Vervoll- 
kommnung durch Gewohnheit und Uebung fähig ist (vgl. oben S. 68). 
Die Phil. d. Unb. muss sich in einem solchen Falle, wo Uebnng 
einen Process ermöglicht, der anfänglich mit vergeblichen An- 
strengungen versucht wurde, zu der Behauptung Zuflucht nehmen, 
dass der metaphysisch-teleologiscbe Eingriff des Unbewussten in 
dem nicht zu dieser Art von Functionen prädisponirten Organ zu 
grossen Widerstand finde, um sich geltend machen zu können, und 



*) 7. Aufl. L 65. 



VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 131 

dass die vom Organ durch Uebung oder Vererbung erlangte Prä- 
disposition dem Unbewossten den Eingriff erleichtere (vgl. Phil, 
d. Unb. S. 284, Z. 8—11).*) Wenn aber das Vorhandensein der 
molecnlaren Prädisposition doch einmal als Bedingung zugegeben 
ist, und zugleich als die Bedingung, auf deren Vervollkommnung 
die Vervollkommnung der Association zwischen Vorstellung und 
Ausführung beruht, dann gleicht der darüber schwebende meta- 
physische Eingriff doch stark einem fünften Bad am Wagen, das 
zur Erklärung nichts mehr beiträgt. 96 ) Was das Wahre an dem 
Capitel A. II der Phil. d. Unbew. ist, das ist der Nachweis des 
schon oben zugestandenen Satzes, dass ohne vorgefundene an- 
geborene Prädispositionen behufs Association gewisser Vorstellungen 
(Motive) mit gewissen Bewegungen der ganze Apparat von Mus- 
keln, motorischen Nerven und Centralorganen der Bewegung für 
den Besitzer werthlos und unbrauchbar sein würde, weil er nichts 
mit ihm anzufangen wüsste. Die Summe der angeborenen Prä- 
dispositionen dieser Art ist eben das, was die Phil. d. Unbew. die 
unbewusste Eenntniss der Lage der centralen Endigungen der 
motorischen Nerven nennt; sie sind Prädispositionen zu gewissen 
Reactionen, welche den Bewegungsimpuls auf gewisse centrale 
Nervenendigungen richten, und ihre Reactionen bestehen in mole- 
cnlaren Schwingungen, welche denen der Vorstellung zwar analog, 
aber doch noch so weit von ihnen (schon durch die Lage im Gehirn) 
verschieden sind, dass sie nicht als Vorstellungen bewusst 
werden. 

Die Phil. d. Unbew. sperrt sich letzten Endes nur deshalb 
dagegen, diese Erklärung zu acceptiren, weil sie durch dieselbe 
das Problem nicht gelöst, sondern nur nach rückwärts ver- 
schoben erachtet, da dieselbe die Frage nach der Entstehung 
der Prädisposition in den Vorfahren offen lasse (S. 66—67). **) 
Nun ist aber aus der Beobachtung am Menschen bekannt, dass mit 
Hülfe des mehr oder weniger blinden, auf gut Glück herumtappen- 
den Probirens die ersten Versuche zur Association einer gewissen 
Bewegung mit der VorstelluDg dieser Bewegung vorgenommen 



*) 7. Aufl. L 276 Z. 18-21. 

**) 7. Aufl. I. 65—66. 

9* 



132 Text der ersten Auflage. 

werden, und dass der centrifugale Innervationsstrom*) dabei mit- 
unter gar keine, mitunter nur sehr dürftige Anhaltspunkte hat Im 
enteren Falle sind nicht selten alle Versuche erfolglos (z. B. die 
Versuche zur Bewegung der menschlichen Ohrenmuskeln, zu deren 
Ausführung wir die Prädisposition nur in sehr abgeschwächter und 
verkümmerter Gestalt überkommen haben). Ist aber ein solcher 
Versuch erst ein Mal gelungen, 97 ) so bleibt ein Eindruck von der 
dem Innervationsstrom ertheilten Richtung haften, welcher für den 
zweiten Versuch schon einen Anhaltspunkt gewährt. Auf diese 
Weise ist ein Zuwachs 98 ) solcher Prädispositionen und eine feinere 
Durcharbeitung und Vervollkommnung der ererbten in der That 
ohne alle metaphysisch-teleologischen Eingriffe des Unbewuasten 
erklärlich, und da wir vom Menschen rückwärts durch seine ganze 
Ahnenreihe bis herab zur Urmonere nirgends einen Punkt finden, 
wo mehr als dies verlangt würde, so werden wir auch in der 
Entstehungsgeschichte dieses Prädispositionscomplexes von den 
ersten mechanischen Gontractionen des Protoplasmas auf die ver- 
schiedenen Beize bis herauf zu den eomplicirtesten Bewegungs- 
fertigkeiten der höheren Thiere und Menschen nichts finden, was 
die mechanische Erklärungsweise als principieil unzulänglich er- 
scheinen Hesse, wenngleich wir gern zugeben, dass wir damit noch 
weit entfernt sind von der eigentlichen Erklärung eines einzelnen 
concreten Vorgangs. 

Nachdem wir uns über das Princip verständigt haben, welches 
bei der Erklärung der sogenannten körperlichen Fertigkeiten zu 
Grunde zu legen ist, können wir um so weniger zweifeln, dass es 
sich bei der Erklärung der rein geistigen Fertigkeiten um dasselbe 
Princip handeln kann; denn hier können die Gehirndispositionen 
viel unmittelbarer wirken, weil die Schwierigkeit der einzugraben- 
den Leitungsbahnen von den vorstellenden Grosshirnpartien zu den 
Centralorganen der Bewegung hinwegfällt. Die geistigen Fertig- 
keiten können sich nur auf die Verarbeitung von Vorstellungsmassen 
einer gewissen Qualität (mathematische, musikalische u. s. w. Ta- 
lente) oder auf Verarbeitung aller oder doch der meisten auf- 
stossenden Vorstellungen in gewissem Sinne und in gewisser Richtung 
(philosophische, poetische u. s. w. Talente) beziehen, wobei nicht 



*) Vgl. oben S. 95 u. 72—73. 



VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 133 

»»geschlossen ist, dass die fruchtbringende Ausübung verschiedener 
dieser Anlagen eine gewisse Combination von rein geistigen und 
geistig-körperlichen Fertigkeiten erfordert (z. B. ausübend-musika- 
lische, mimische, bildnerische Talente). In diesem Gebiet kann 
kein Zweifel obwalten, dass die Phil. d. Unb. mit unserer Auf- 
fassung übereinstimmt, 99 ) auch wenn sie es nicht ausdrücklich 
ausspräche (3. Aufl. 8. 612 Z. 12—5 von unten; 1. Aufl. S. 517);*) 
schon das klare und entschiedene Auftreten der Schopenhauer'schen 
Philosophie Hess in dieser Frage kaum einen Rückfall befürchten. 
Um so wunderbarer aber ist es, dass die Phil. d. Unb. bei dem 
engen und flüssigen Zusammenhang der reingeistigen, gemischten 
und körperlichen Fertigkeiten für die letzteren, die doch ihrer 
Natur nach dem materiellen Mechanismus weit näher liegen, ein 
abweichendes metaphysisches Erklärungsprincip aufstellt, und ist 
diese Inconsequenz (wie schon oben S. 36—37 bemerkt) nur da- 
durch erklärlich, dass das Gap. A. II einige Jahre früher als Cap. 
C. X**) verfasst ist Auf S. 613***) der 3. Aufl. wird geradezu 
-eingeräumt, dass „auch bei Menschen sich ein grosser Theil der 
äusserlichen Manieren und Eigenthümlichkeiten der Haltung, der 
Bewegung und des Benehmens aus ererbten Hirnprädispositionen 
der mit denselben Eigenthümlichkeiten behafteten Vorfahren zu- 
sammensetzt", d. h. also doch, dass auch körperliche Gewohnheiten 
und Fertigkeiten aus ererbten Hirnprädispositionen erklärt werden 
können. 

Dass gewisse geistige Talente durch mehrere Generationen in 
einer Familie erblich sind, beweisen zahlreiche Beispiele (Maler, 
Mathematiker, Astronomen, Schauspieler, Feldherren tu s. w.) (Phil. 
d. Unb. S. 613).***) Die Familie Bach producirte nicht weniger 
als 22 hervorragende musikalische Talente. Der Kampf um's Da- 
sein unter Völkern und Individuen wirkt auf beständige Steigerung 
der durchschnittlichen intellectuellen Fähigkeiten im Menschen- 
geschlecht hin, während der Charakter sich wohl reicher und 
reicher differenzirt, aber nicht in dem Maasse von Wichtigkeit für 
den Kampf um's Dasein ist wie der Intellect (Phil. d. Unb. S. 613 



*) 7. Aufl. II. 268 Z. 12—5 v. u. 
**) 7. Aufl. II. Cap. XI. 
) 7. Aufl. IL 269. 



134 Text der ersten Auflage. 

bis 614). *) Dazu kommt noch, dass mit der Zeit immer neue Ge- 
biete de» Geistes erschlossen und damit neue Fertigkeiten und 
Anlagen zur Handhabung und Bearbeitung der einschlagenden 
Vorstellungsmassen entwickelt werden, während zugleich anderer- 
seits trotz der auch auf geistigem Gebiete beständig wachsenden 
Arbeitstheilung doch die Durchschnittsmasse des jedem einzelnen 
Individuum einer Culturnation zugefiihrten geistigen Bildungs- 
materials ebensowohl im beständigen Wachsen ißt, wie die auf 
die Erziehung eines Individuums durchschnittlich verwendete Arbeit. 
Die Phil. d. ünb. sagt S. 340—341**) hierüber Folgendes: 
„Wie jeder Körpertheil durch den Gebrauch und die Uebung ge- 
stärkt und zu neuen ähnlichen Leistungen geschickter gemacht 
wird, so auch das grosse Gehirn; wie bei jedem Körpertheil ist 
aber auch beim grossen Gehirn die von den Eltern erworbene 
Kräftigung und materielle Vervollkommnung durch Vererbung auf 
das Kind übertragbar. Diese Vererbung ist nicht in jedem einzel- 
nen Falle direct nachweisbar, aber als Durchschnitt von einer 
Generation auf die folgende genommen ist sie Thatsache und ebenso 
ist es Thatsache, dass es eine latente Vererbung giebt, welche erst 
in der zweiten oder dritten Generation ihre Früchte offenbart (z.B. 
wenn Jemand von seinem Grossvater mütterlicherseits starken rothen 
Bartwuchs und schöne Bassstimme geerbt hat). Da jede Generation 
ihren bewussten Intellect weiter ausbildet, also auch dessen ma- 
terielles Organ weiter vervollkommnet, so summiren sich im Laute der 
Generationen diese für Eine Generation immerhin unmerklich kleinen 
Zuwachse zu deutlich sichtbar werdenden Grössen. Es ist keine 
blosse Redensart, dass die Kinder jetzt klüger geboren werden und 
dass sie, minder kindlich als sonst, schon in der Kindheit Neigung 
zeigen, vorzeitig altklug zu werden. Wie Junge dressirter Thiere 
zu der gleichen Dressur geeigneter sind, als wild eingefangene 
Junge, so sind auch die Kinder einer menschlichen Generation um 
so geschickter zur Erlernung bestimmter Könnens- und Wissens- 
gebiete, je weiter jene es darin bereits gebracht hatte. Ich bezweifle 
z. B., dass ein Helenenknabe jemals ein tüchtiger productiver Mu- 
siker im modernen Sinne geworden wäre, weil sein Gehirn derjeni- 



*) 7. Aufl. II. 269—270. 
**) 7. Aufl. I. 330—331. 



VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten. 135 

gen ererbten Prädispositionen für das weite Gebiet der musikalischen 
Harmonie entbehrte, welche erst die moderne westeuropäische 
Menschheit sich durch eine historische Entwickelungsreihe von mehr 
als fünfzehn Generationen erworben hat. Ein Archimedes oder 
Euklid möchte trotz seines relativen mathematischen Genies sich 
recht unbeholfen als Schüler eines Unterrichts in der höheren Ma- 
thematik erwiesen haben. 

„So erzeugt jeder geistige Fortschritt eine Steigerung der 
Leistungsfähigkeit des materiellen Organs des Intellects, und diese 
wird durch Vererbung (im Durchschnitt) dauernder Besitz der 
Menschheit^ — eine erklommene Stufe, welche das Weiteraufsteigen 
zur nächsten erleichtert, d. h. die Fortschritte des geistigen Besitzes 
der Menschheit gehen Hand in Hand [mit der anthropologischen 
Entwickelung der Race, und stehen in Wechselwirkung mit der- 
selben; jeder Fortschritt der einen Seite kommt der andern Seite 
zu Gute; es muss also auch eine anthropologische Veredelung der 
Race, die aus anderen Ursachen als aus geistigen Fortschritten 
entspringt, die intellectuelle Entwickelung fördern. Von letzterer 
Art ist z. B. die Veredelung der Bace durch geschlechtliche Aus- 
wahl (Cap. B. ü), welche unaufhörlich ihre unbeachteten aber mäch- 
tigen Wirkungen übt, oder die Concurrenz der Bacen und Nationen 
im Kampf um's Dasein, welcher unter den Menschen sich nach 
ebenso unerbittlichen Naturgesetzen vollzieht wie unter Thieren und 
Pflanzen." 

Wir sehen -also, dass die Vererbung ebensowohl auf intellec- 
tuellem wie auf charakterologischem Gebiete wirksam ist, und zwar 
auf ersterem noch weit wirksamer, theils deshalb, weil, wie schon be- 
merkt, die charakterologischen Differenzirungen sich leichter durch 
Kreuzung wieder ausgleichen, die intellectuellen aber im Kampf 
der Individuen und Völker um's Dasein sich potenziren, theils des- 
halb, weil der jeweilige intellectuelle Gesammtbesitz der Menschheit 
im Gedächtniss der Lebenden und in der Literatur eine substan- 
tielle Existenz hat, welche an die nachkommenden Generationen 
durch Unterricht übertragbar ist, während hingegen in charakte- 
rologischer Beziehung nur ein dürftiges Analogon im System der 
Ethik vorhanden ist, und hierbei nicht die Aufnahme dieses Vor- 
handenen in's Gedächtniss, sondern nur die Einprägung der 
praktischen Principien in den Charakter (durch Erziehung oder 



136 Tert der ersten Auflage. 

Selbstzucht), welche unendlich viel schwieriger ißt, zur Sprache 
kommen kann. Soviel wirksamer, wie der intellectuelle Unterricht 
als die charakterologiscbe Erziehung ist, soviel wirksamer ist die 
Unterstützung des Menschheitsfortschritts, welche der intellectuellen 
Entwicklung als die, welche der charakterologischen Entwickelung 
über die Leistungen der blossen Vererbung hinaus durch Ueber- 
tragung auf Lebende erwächst 



Vffl. 

Die Abkürzung der Ideenassociation und 
die Vererbung der Denkformen. 



Wir hatten oben (S. 132 — 133) darauf hingedeutet, dass die 
sogenannten Talente oder geistigen Anlagen wesentlich in der 
Fertigkeit der Handhabung und Bearbeitung gewisser Vorstellungs- 
massen, oder der Bearbeitung beliebiger Vorstellungen in einer be- 
stimmten Richtung bestehen und dass diese Fertigkeiten aus er- 
erbten oder durch Uebung erworbenen Gehirnprädispositionen erklärt 
werden müssen. Wenn nun bei aller geistigen Arbeit, gleichviel ob 
sie in der Auswahl geeigneter Mittel zu praktischen Zwecken, oder 
in künstlerischer Conception, oder in wissenschaftlichem Erfinden 
und Entdecken besteht, die Pointe des Gelingens immer darin liegt, 
dass einem „die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt" 
(Ph. d. ü. S. 255, 269 ff.),*) so wird das eigentlich Productive 
in der Geistesarbeit ausschliesslich in der activen Ideenassociation 
(ygl. oben S. 72—73) zu suchen sein, keineswegs etwa in formal- 
logischen Processen, wie dem Schlussverfahren, bei dem nichts heraus- 
kommt, als was man vorher hineingesteckt hatte (Ph. d. U. 276—276). **) 
Selbst wo es sich nur um Herstellung einer gewissen Ordnung ge- 



*) 7. Aufl. L 247, 262. 
**) 7. Aufl. I. 269—270. 



138 Text der ersten Auflage. 

gebener Vorstellungsmassen handelt, wird doch das maassgebende 
Princip, nach welchem das Ordnen vorgenommen wird, Sache eines 
glücklichen Griffes, also Resultat einer productiven Ideenassociation 
sein. Alle formellen Forschungsmethoden der deductiven und in- 
ductiven Logik dienen doch nur dazu, das durch kühne und glück- 
liche Ideenassociation Concipirte objectiv sicher zu stellen, resp. als 
Irrthum zu erweisen ; der physikalische Experimentator wie der pro- 
ductive Mathematiker leisten beide doch eigentlich nur dann Be- 
deutendes, wenn sie der Hauptsache nach schon vorher wissen, was 
bei ihrer Arbeit herauskommen muss; andernfalls bleiben sie ewig 
fleissige Stümper. Die Ideenassociation ist die allgemeingültige, 
ewig unersetzliche Urform, in welcher jeder Vorstellungsprocess 
verläuft, und alle Regeln der Methodik des Denkens sind doch nichts 
als Abstractionen von gewissen bequemer systematisirbaren Unter- 
arten dieser Urform. Diese Urform hat in der Psychologie der 
meisten Philosophen noch keineswegs ihre verdiente Beachtung 
gefunden. 

Einer der wichtigsten Vorgänge im gesammten Gebiete der 
Psychologie, die bisher kaum geahnt ist, ist nun die Abkürzung 
der Ideenassociation, deren Resultat Lazarus „Verdichtung 
des Denkens" genannt hat (Ph. d. U. 262).*) Wenn ich zu irgend 
einem mir gesteckten Ziel, von der Vorstellung A ausgehend, die 
Vorstellungen B und G passiren muss, um zur gesuchten Vorstellung 
D zu gelangen, dann braucht sich die Lösung dieser Aufgabe mit 
denselben Mitteln nur einigemal in meiner Praxis zu wiederholen, 
so werden die Zwischenglieder B und C sich von selbst elidiren. 
Das erste Mal muss ich den centrifugalen Innervationsstrom der 
Aufmerksamkeit bei j e dem der Glieder aussenden, um zum nächsten 
zu gelangen, bei jeder Wiederholung des Processes sind aber die 
Prädispositionen besser eingegraben und sprechen auf den Beiz der 
hervorrufenden Vorstellung leichter an; dadurch vermindert sich 
sowohl die erforderliche active Energie der Aufmerksamkeit, 
als auch die zwischen A und D verfliessende Zeit Nach öfteren 
Wiederholungen bedarf es gar keines activen Suchens mehr und 
rückt D an A der Zeit nach so nahe heran, dass das Bewusstsein 
nicht mehr die nöthige Zeit erhält, um auf B und G als 

*) 7. Aufl. L 2 



Vm. Die Abktirz. d. Ideenassociation u* die Vererbung d. Denkformen. 139 

solchen zu verweilen; ohnehin besitzen B und C kein Interesse, 
wohl aber D, welches eben das gesuchte Ziel ist. Sind in dieser 
Weise B und G erst einmal unter die Bewusstseinsschwelle gesunken, 
so sinken sie schnell immer weiter, so dass man nun sagen kann, 
D sei mit A unmittelbar associirt. Die Verbindung von 
A mit D durch B und G hindurch, war vielleicht eine wohlbegrün- 
dete, logisch vermittelte, während die unmittelbare Verbindung von 
A mit D eben wegen der fehlenden logischen Verbindungsform als 
eine logisch unbegründete, zufällige oder willkürliche erscheint, so 
lange man nicht diese genetischen Verbindungsglieder restituirt — 
Nun kann dieser Process der Abkürzung aber noch weiter gehen. 
Man denke sich, dass eine neue Reihe activer Ideenassociationen 
die Vorstellungen A, D, G und E durchläuft (wobei die Association 
ron D und G und von G und E selbst schon eine abgekürzte sein 
kann) und dass diese Reihe auf bestimmte Veranlassung hin eben- 
falls häufiger wiederkehrt, so wird sich durch denselben Elisions- 
process zuletzt A mit E unmittelbar associiren. Wenn bei dem ersten 
Abkürzungsverfahren zwischen A und D die logisch vermittelnden 
Zwischenglieder noch durch leichtes Besinnen zu restituiren waren, 
so kann bei einem weiter fortgeführten Abkürzungsverfahren diese 
Restitution der Zwischenglieder zuletzt sehr schwierig, ja bei einer 
vererbten Tendenz oder Prädisposition zu solchen abgekürzten Asso- 
ciationen zuletzt ganz unmöglich werden. 

Nun beruht aber alle Fertigkeit und Anlage zur Gedanken- 
verarbeitung in einer bestimmten Richtung auf solchen erwor- 
benen oder ererbtenPrädispositionen zu abgekürzter 
Ideenassociation. Wo die Fertigkeit eine durch Uebung 
individuell erworbene ist, wird man sich in der Regel des Unter- 
schiedes mit einer früheren Zeit, wo man sie noch nicht besass, be- 
wusst sein, indem man sich dessen erinnert, wie man früher viele 
Schritte der Ideenassociation zu demselben Ziele brauchte, wo man 
jetzt mit einem ausreicht. Am frappantesten ist aber die Erschei- 
nung der abgekürzten Ideenassociation oder des Ueberspringens 
mehrerer logischer Zwischenglieder in solchen Fällen, wo man sich 
der Zeit vor erlangter Uebung nicht mehr bewusst ist, und wo 
dann in der Regel schon ererbte Dispositionen zu Grunde 
lagen, welche der Uebung nur das Nachmeisseln überliessen 
und dadurch die Periode der Unbeholfenheit sehr abkürzten. In 



140 Text der ersten Auflage. 

solchen Fallen, wenn man nicht ihren flüssigen Uebergang zu denen, 
wo der Abkflrzungsprocess zu Tage liegt, beachtet, seheint es dann 
in der That, als läge eine höhere metaphysische Eingebung vor. 
Die Ph. d. U. bemerkt ganz richtig, dass auch in dem discursiyen 
Denken, wo alle logischen Zwischenstationen in bewussten Halte- 
punkten, also in Hirnschwingungen, vollständig ausgeführt 
worden, doch der Uebergang von einer Vorstellung zur andern ein 
unbewusster Process ist, und somit die neue Vorstellung intuitiv 
eintritt — dass man aber im Unterschiede von diesem in kurzen 
Schritten sich bewegenden Denken ein intuitives im engeren 
Sinne erst dann anerkennt, wenn eine discursive Vermittelang 
durch actuell vorhandene, in möglichste Nähe an einander gerückte 
Zwischenglieder nicht mehr ersichtlich ist (S. 282—283)*). Man 
braucht zu diesem Anerkenntnis der Oleichartigkeit des Vor- 
stellungsprocesses in beiden Fällen nur noeh das in der Ph. d. U. 
fehlende Verständniss Aber die allmählich wachsende Abkürzung 
des Processes der Ideenassociation hinzuzufügen, um ein Erklärongs- 
princip für das sogenannte intuitive Denken zu gewinnen, welches, 
wenn es auch nicht mit einem Schlage alle Bäthsel der Gonceptionen 
des Genies löst, doch einen Fingerzeig giebt, auf welchem Wege 
von dem Verständniss der gewöhnlich vorkommenden abgekürzten 
Denkprocesse zu den selteneren productivsten Formen derselben 
aufzusteigen sei. 10 °) Es lag dies der Ph. d. U. um so näher, als 
sie selbst wenigstens andeutungsweise die analoge Erscheinung der 
abgekürzten Vererbung berührt (8. 570 Anm.)**), nämlich 
die Thatsache, dass in der embryonalen Entwickelung da* niederen 
Thiere je zwei Stufen mehr Zwischenglieder zeigen, als dieselben 
Stufen in der embryonalen Entwickelung eines zu derselben directen 
Descendenzlinie gehörigen höheren Thieres zeigen, dass mit 
anderen Worten bei höheren Thieren die durch lang andauernde 
Vererbung fester und fester constituirte Entwickelungsfähigkeit des 
Ei's eine Elision von Uebergangsstufen gestattet, welche bei der 
Entwickelung der niederen Thiere noch unerlässlich sind. 

Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so lernen wir sie mit 
Hülfe von Regeln. Aber um eine Sprache zu können, muss durch 



*) 7. Aufl. I. 274—276. 
*) 7. Aufl. H. 228. 



VÜL Die Abkürz. d. Ideenassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 141 

den Abkürzungsprocess der Ideenassociation die Regel bereits wieder 
eliminirt sein, muss der concreto Fall anmittelbar diejenige Vor- 
stellung hervorrufen, welche der Anwendung der Regel auf diesen 
Fall entspricht. Wer eine Sprache auf diese Weise kann, der 
yergisst mit der Zeit die früher erlernten Regeln vollständig, weil 
die Gedächtnisseindrücke derselben nicht mehr im Bewusstsein 
reproducirt werden; er kann alsdann über den logischen Grund 
seiner abgekürzten Ideenassociation nicht mehr Auskunft geben, 
wenn dieselbe ungerechtfertigter Weise einmal angefochten wird, — 
er besitzt wohl diese logische Begründung implicite oder immanenter 
Weise in seinem concreten Vorstellen, aber weil sie ihm eben un- 
bewusst geworden ist, so kann er sich nur noch auf sein 
Sprach-Gefühl berufen. Kinder lernen ihre Muttersprache aller- 
dings ohne Regeln, aber sie machen auch dafür den genetischen 
Entwickelungsprocess, den ihre Sprache in Jahrtausenden zurück- 
gelegt hat, in abgekürzter Weise in einigen Monaten durch, d.h. sie 
fangen mit der Wurzelsprache an, gehen dann zur aggluti- 
nir enden Wort Sprache über und gelangen erst ganz allmählig 
zum Verständniss der Flexionen und Syntax. Bei alledem aber 
wären sie doch ausser Stande, die Sprache auf diese Weise und 
noch dazu im Laufe weniger Jahre, ja fast nur Monate, vollständig 
zu erlernen, wenn sie nicht die molecularen Hirnprädispositionen zu 
den typischen Formen des Sprachbaues und zu den typischen Ver- 
knüpfungsweisen der Vorstellungen in unseren flectirenden Sprachen 
schon als ererbten Besitz mitbrächten. Dass die Kinder 
von Wilden, deren Sprachsystem auf niedrigerer Stufe der formalen 
Entwickelung steht, unsere modernen europäischen Sprachen (mit 
Ausnahme des Englischen, das kaum noch Flexionssprache zu nennen 
ist) schwerer lernen als ihre Muttersprache und schwerer als unsere 
Kinder, ist durch mehrfache Beispiele wahrscheinlich gemacht; wir 
glauben, dasselbe auch von chinesischen Kindern voraussetzen zu 
dürfen. 

Alle Sprache beruht auf dem Begriff des Zeichens; in ihm 
kommt Geberdensprache, Lautsprache und Schriftsprache zusammen. 
Das Zeichen ist eine besondere Art der Association einer Vorstel- 
lung mit einer andern, so dass die erstere keinen andern Zweck 
und keine andere Aufgabe hat, als die zweite hervorzurufen. Eine 
solche Verknüpfung ist selbst schon etwas so Eigentümliches, dass 



142 Text der ersten Auflage. 

sie als typische Form der Association betrachtet werden mnss. Dass 
die Prädisposition zn derselben angeboren, d. h. ererbt ist, erhellt 
wieder am besten aus der Beobachtung an Blindtaubstummen. Man 
muss sich nur einmal recht deutlich in die Lage eines solchen un- 
glücklichen Geschöpfes versetzen, um die Schwierigkeit, sie zur 
Zeichensprache zu führen, nach ihrem ganzen Umfang zu ermessen. 
Man gebe ihnen z. B. in die eine Hand ein Ei und führe die Finger 
der andern Hand über ein Zeichen, etwa über die eingravirten 
Schriftzeichen, so oft man diese Procedur auch wiederholen mag, 
wird man doch nie dadurch den Begriff des Zeichens und des Be- 
zeichneten in dem Intellect des Schülers hervorrufen, wenn die 
Prädisposition des Gehirns für diese Verknüpfung (wie etwa bei 
einem geistig tiefstehenden Thiere) fehlt. 

Wie bei der Erlernung einer fremden Sprache die gramma- 
tische Regel aus der Ideenassociation elidirt werden muss, so 
beim Erlernen der Mathematik die mathematische Kegel. Welche 
Qual verursacht den Kindern nicht schon das Rechnen mit Brüchen, 
und welche Menge von Regeln erlernen sie zu diesem Zweck, die 
alle bestimmt sind, vergessen zu werden, wenn diese Hantirungen 
zur Fertigkeit geworden sind! Und so geht es weiter durch alle 
Stufen der Mathematik. Niemand kann erfolgreich eine höhere 
Stufe beschreiten, er habe denn zuvor die Verfahrungsweisen der 
vorhergehenden Stufen in's Gefühl aufgenommen, d. h. die ab- 
stracten Regeln aus der Association des gegebenen besonderen Falles 
mit der regelrecht entsprechenden Operation elidirt. In der Mathe- 
matik enthält aber selbst schon die Aufstellung der Regel eine 
Abkürzung der Ideenassociation, nämlich die Elision der logischen 
Begründung der Regel in ihrer AllgemeingiltigkeH 
welche wohl beim tyrannischen Usus der Sprache, niemals aber 
beim mathematischen Denken fehlen darf, und welche dennoch — 
allerdings nicht ohne das Bewusstsein, sie jederzeit reproduciren zn 
können — zu den* Acten des Unbewussten gelegt wird, indem die 
Regel dem Gedächtniss eingeprägt wird. Die mathematischen 
Begriffe selbst (z. B. schon die im dekadischen Zahlensystem ge- 
schriebene Zahl, die negative Grösse, das Product, der Bruch, die 
Potenz, die Wurzel, der Logarithmus, die imaginäre Grösse, das 
unendlich Grosse und Kleine, die Ereisfunctionen, das Differential 
und Integral, die elliptischen und Abel'schen Functionen, die stets 



Yin. Die Abkürz. d. Ideenassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 143 

wiederkehrenden Constanten, wie g, n } e 11. s. w.) sind sämmtlich 
doch nur Zeichen für das Resultat eines genetischen Gedanken- 
processes, den es keinem Mathematiker einfällt beim Arbeiten sich 
beständig zu wiederholen, obwohl das Zeichen ohne Wiederholung 
dieses Processes leer ist. Nun sind aber für jeden dieser Begriffe 
gewisse Formen der Association mit anderen mathematischen Be- 
griffszeichen, welche die Beziehung der ersteren zu den letzteren 
nnd die durch solche Beziehung zu bestimmten Zwecken geforderten 
praktischen Verfahrungsweisen in sich enthalten, ein- für allemal 
aus dem Entstehungsprocess der Begriffe logisch abgeleitet und dem 
Gedächtniss als abgekürzte Associationen eingeprägt. Diese im 
Gedächtniss mit dem begleitenden Bewusstsein logischer Begründung 
niedergelegten nothwendigen Beziehungen zu anderen Begriffszeichen 
sind nun der eigentliche und bleibende Inhalt jedes 
mathematischen Begriffszeichens, jedoch noch mit der 
einschränkenden Bestimmung, dass in jedem concreten Falle nur 
soviel davon zum Bewusstsein kommt, als durch die jeweiligen 
Verbindungen mit anderen Begriffszeichen praktisch erfordert 
wird. Bedenkt man, dass der Entstehungsprocess eines höheren 
mathematischen Begriffszeichens zunächst auf niedere, und die Ge- 
nesis dieser wieder auf niedere führt u. s. f., ehe man bei der an- 
schaulichen Grösse als unteren Grenze ankommt, so mag man 
ermessen, welche Masse von verdichtetem oder compri- 
mirtem Denken in einem einzigen höheren mathema- 
tischen Begriffszeichen steckt und welches Maass von 
Abkürzung der Ideenassociation die höheren Operationen der Mathe- 
matik voraussetzen (Ph. d. Unb. S. 262).*) Es kann hiernach auch 
nicht Wunder nehmen, wenn diese höheren mathematischen Opera- 
tionen nur in verhältnissmässig wenigen Gehirnen eine Prädisposition 
vorfinden, welche sie ohne allzu grosse Anstrengungen des Denkens 
ermöglicht; Thatsache ist, dass bei der gewöhnlichen Weise des 
Unterrichts nur etwa ein Drittel von der männlichen Jugend der 
gebildeten Gesellschaftsschichten die oberen Gebiete der niederen 
Analysis mit ihrem Verständniss durchdringt, während es von diesem 
wieder höchstens 10 Procent gelingt, in der höheren Mathematik 
heimisch zu werden. Je entschiedener die reinen Spiritualisten die 



*) 7. Aufl. I. 255. 



144 Text der ersten Auflage. 

Vernunft als die göttliebe Prärogative der Menschheit behaupten, 
um so williger müssen sie zugeben, dass die Anwendung dieser 
Vernunft auf die Gegenstände der höheren Mathematik nur an einer 
mangelnden Gehirnprädisposition seheitern kann, dass also auch der 
Vorzag einer spedfisch-mathematischen Befähigung nur in dem 
angeborenen Besitz solcher prädispositioneller Gehirnanlagen begrün- 
det sein könne und nicht etwa in individuell bevorzugenden Inspi- 
rationen eines metaphysischen Unbewussten zu suchen sei. 101 ) Dass 
übrigens diese angeborene Anlage zur Mathematik als durch Ver- 
erbung entstanden zu denken sei, spricht die Ph. d. Unb. S. 341*) 
deutlich genug aus (vgl. oben S. 134—135), sowie sie S. 613**) 
auf die Erblichkeit des mathematischen Talents in gewissen Fami- 
lien hinweist Energie des denkenden Studiums und Uebung kann 
auch hier den Mangel ererbter Anlage zum Theil ersetzen und die 
Vererbung der so erworbenen Prädispositionen ist es, welche die 
Anlage der Nachkommen constituirt, die alsdann in diesen abermals 
gesteigert werden kann. 

Was wir bei den mathematischen Begriffen in so hohem Grade 
nachgewiesen haben, gilt in geringerem Grade von allen abstraften 
Begriffen, und in -um so beträchtlicherem Maasse, je abstracter die- 
selben sind. Wenn wir oben (S. 140) den Unterschied zwischen 
discursivem und intuitivem Denken als einen relativen erkannten, 
so gilt dasselbe von den Resultaten dieses Denkens, der dis- 
cursiven und intuitiven Vorstellung, oder dem Begriff und der An- 
schauung. Was an dem abstractesten Begriff positiv ist, ist 
Anschauung („Ding an sich" S. 105) ***) und andrerseits sind die 
Anschauungen, von denen die Abstraetion der Begriffe ausgeht, 
selbst schon Resultate einer ererbten und erworbenen abgekürzten 
Ideenassociation, in denen die logische Arbeit der elidirten Zwischen- 
glieder und Vorstufen unbewusst geworden ist. „Die Anschauung 
im engeren Sinne ist nur ein Begriff von niedrigerer Abstractions- 
(und Combinations-) Stufe ; der Begriff ist nur eine Anschauung von 
höherer Abstractions- (und Combinations-) Stufe" („Ding an sich" 
S. 107). f) Der Begriff hat seinen ihn von der Anschauung unter- 



*) 7. Aufl. I. 331. 
**) 7. Aufl. IL 269. 

***) Krit. Grundl. d. transc. Realism. S. 149. 
t) Krit. Grundl. d. transc. Realism. S. 151. 



VIII, Die Abkflrz. d. Jdeenasaociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 145 

scheidenden Charakter in dem begleitenden Bewusstsein der 
Negativität in Bezug auf dasjenige, wovon abßtrahirt ist; 
je wichtiger aber in einem Begriffe das combinirende oder 
synthetische Element im Verh&ltniss zum negirenden oder ab- 
strahlenden ist und je mehr sein Qedächtnisseindruck zur typi- 
schen Form des Vorstellens wird, die sich durch Vererbung 
befestigt, desto mehr schwindet für das Bewusstsein sein Unter- 
schied von der Anschauung; sobald die Abkürzung der Ideenasso- 
ciation so weit gediehen ist, dass die Vorstufen der Genesis des 
Begriffs unbewusst geworden sind, ist der Begriff für das Be- 
wusstsein zur Anschauung selbst geworden, gleichviel wie 
lang und beschwerlich der Weg seiner Genesis vor vollendeter 
Abkürzung der Ideenassociation war. Für den echten Mathematiker 
sind Differential und Integral ganz ebenso entschiedene Anschauungen, 
wie etwa für den niederen mathematischen Verstand das „Producta 
zur Anschauung geworden ist, nachdem die Genesis des Begriffs 
ans der .Summe von n gleichen Summanden unbewusst geworden 
ist. Was Schopenhauer für die Geometrie richtig herausgefunden 
hat, gilt ganz ebenso auch für die Algebra, wenngleich die Prär 
dispositionen für das eine Gebiet vorhanden sein können, ohne die 
für das andere, und umgekehrt; auf alle Fälle aber darf man sich 
nicht auf die angeborenen Prädispoeitionen blind verlassen, ohne 
dieselben im discursiven Durchdenken der Sache zu controliren und 
nachzumeisseln (PL d. ünb. S. 279—282).*) 

Wenn wir uns ein wenig besinnen, was wir bei dem gedank- 
lichen Operiren mit einem Begriff oder einer abstracten allgemeinen 
Vorstellung (z. B. Hund, Haus, Liebe) eigentlich im Bewusstsein 
haben, so ist das etwas höchst Wunderliches« Zunächst haftet der 
Inhalt an der Vorstellung des Wortes als Begriffszeichens; 
Taubstumme und Thiere bilden zwar auch Begriffe ohne Worte, 
aber sie gewinnen niemals die Leichtigkeit der Handhabung der- 
selben wie der sprechende Mensch und bleiben in Folge dessen 
auch auf ziemlich niedrigen Stufen des Abstractionsprocesses stehen, 
ohne die höheren zu erreichen. An die Wortvorstellung knüpft sich 
nun beim Operiren mit dem Begriff noch ein gewisser schattenhafter, 
nebuloser, flüchtig vorüberhuschender Vorsteüungsinhalt, der schwer 



*) 7. Aufl..I. 271-274. 

I» t. Hartmann, Dm Unbewnasto. 2. Aufl. 10 



146 Text der ersten Auflage. 

festzuhalten und zu definiren ist Beim Sprechenhören oder zusam- 
menhängenden Lesen, ja selbst beim sehneilen Selbstdenken wird 
das Wort im Bewnsstsein so schnell von den nachfolgenden Worten 
verdrängt, dass dieser Inhalt neben dem Wort als solchen gar keine 
Zeit hat, zur Geltang zu kommen, es sei denn, dass das Wort eine 
dominirende Bedeutung im Satze in der Weise einnimmt, dass die 
ihm zukommende Vorstellung als Orgelpunkt die folgenden Vor- 
stellungen begleitet und in der Gesammtanschauung von dem Inhalt 
des Satzes den Kern des Vorstellungsbildes abgiebt. Insoweit dies 
nicht der Fall ist, wird gerade wie bei einem mathematischen Be- 
griffszeichen von allen Hirnprädispositionen, welche mit diesem 
Zeichen associirt sind, nur derjenige Theil actualisirt werden, wel- 
cher durch die anderen Worte, mit denen das fragliche im Satze 
in Beziehung gesetzt ist, wachgerufen werden. Dieser wachgerufene 
Theil fügt dann dem Kern des Vorstellungsbildes im Satze eine 
neue Bestimmtheit hinzu. Es verliert durch diese Beschränkung 
des in's Bewnsstsein tretenden Inhalts jeder Begriff durch Ver- 
bindung mit anderen an Abstractheit, und nur diesem 
Umstand ist es zuzuschreiben, dass die Sprache als Mittel einer 
Kunst, der Poesie, verwendbar ist, welche doch nur in concreter 
Anschaulichkeit ihre Aufgabe erfüllen kann. Die Beziehungen der 
Worte untereinander in einer wissenschaftlichen Untersuchung, z. B. 
einem Paragraphen der Hegel'schen Logik, sind natürlich ganz 
andere als in einer poetischen Schilderung, und demgemäss wird 
bei denselben Worten, selbst wenn sie mit denselben oder ähnlichen 
verbunden sind, doch ein ganz anderer Theil des mit ihnen asso- 
ciirten Vorstellungsinhalts in's Bewnsstsein gerufen werden. Wer 
nur in der einen Art von Beziehungen zu operiren geübt und ge- 
wohnt ist, für den bleibt der wahre Sinn der andern Art leicht 
ganz unverständlich, obwohl er die Worte und Satzconstructionen 
ganz gut zu kennen glaubt 

Sehen wir nun von der Verbindung eines Wortes mit anderen 
im Satze ab und fragen nach der Vorstellung, die man mit dem 
Worte verknüpft, wenn man es allein für sich hinstellt, so ist es 
klar, dass dieselbe ganz abhängig sein wird von den Beziehungen, 
unter welchen man dem Worte am häufigsten zu begegnen gewohnt 
ist Von entscheidendem Einfluss bleiben dabei die Gedanken- 
processe, durch welche der Begriff in |der Kindheit zuerst gebildet 



VÜL Die Abkürz. d. IdeenagBociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 147 

wurde, und die concreten Gegenstände, von denen er zufällig zuerst 
abstrahirt wurde. Das kleine Mädchen, das zuerst den Wachtelhund 
ihrer Grossmutter „Hund" nennt, wird ihr Leben lang eine andere 
Vorstellung mit dem Worte „Hund" verbinden, als der Knabe, dessen 
Kindheit von einem Neufundländer behütet ist; das Dorfkind wird 
das Abstractum „Haus" stets anders reproduciren, als der dem städti- 
schen Palast Entsprossene. Will man ein Abstractum deutlich und 
vollständig vorstellen, so bleibt nichts übrig, als den vollständigen 
genetischen Abstractionsprocess desselben zu reproduciren; da man 
dies aber fast niemals, ausser in entscheidenden Begriffsunter- 
suchungen, thut, so folgt daraus eben, dass man sich in allen ande- 
ren Fällen mit einer abgekürzten Ideenassociation zwischen 
dem sprachlichen Begriffszeichen einerseits und derjenigen be- 
schränkten Seite von dem Resultat des genetischen Abstractions- 
processes begnügt, welche für die Beziehungen des Wortes in dem 
vorliegenden Falle von Bedeutung ist Je niedriger die Abstractions- 
stufe des Begriffs, um so kleiner ist die bei diesem Abktirzungsprocess 
elidirte Vorstellungsmasse; je höher die Abstractionsstufe, um so 
grösser ist der Ausfall an Gliedern, um so höher der Grad der 
Abkürzung, um so schwerer zu erfüllen auch die Voraussetzung 
aller Verständigung durch die Sprache, dass verschiedene Personen 
mit denselben Wortverbindungen denselben Sinn verbinden, da sich 
nicht nur der genetische Abstractionsprocess, sondern auch der 
Abktirzungsprocess bei jedem Individuum etwas anders gestaltet 

Wo der Spielraum individueller Abweichung so beträchtlich ist, 
kann die Aussicht auf Vererbung von vornherein nicht gross sein 
und so sehen wir denn auch nicht, dass die Auffassungen sehr 
abstracter Begriffe von Seiten der Eltern anders als durch die Er- 
ziehung einen Einfluss auf die des Kindes haben. Eine völlige 
Ausnahmestellung nehmen aber diejenigen abstracten Begriffe ein, 
welche typische Formen der Vorstellungsweisen bezeichnen; so 
gross auch die individuellen Verschiedenheiten in der bewussten 
Auffassung des Inhalts dieser Begriffe sind, so identisch bei 
allen Menschen gleicher Sprachstufe erweisen sich die ererbten 
Prädispositionen zur formell so und so bestimmten Vorstellungs- 
weise und Verknüpfungsweise der Vorstellungen. Zum Theil sind 
diese typischen Denkformen das durch die Gewalt der Thatsachen 
octroyirte subjective Nachbild von den Formen des Daseins und 

10» 



148 Teart der Osten Auflage. 

Geschehen» („Ding an sich" S. 86—89),*) zum Theil Bind eil formale 
Beziehungen, in welche das Denken die gegebenen Objeete theils 
unter einander, theils zu sieh selbst and seinem Erkennen setzen 
musste, um sich in denselben soweit orientiren zn können, dass das 
praktische Handeln möglich wurde. Von der ersten Art sind die 
Kategorien der SubstantiaBtät und Inhärenz, der CausftKtät und 
Notwendigkeit, der Einheit und Vielheit (Zahl), der Gleichheit 
und Ungleichheit; letztere stehen schon auf dem Uebergange zu 
den Befeiehungsbegriffen der Allheit, der Negation und Limitation, 
der Möglichkeit, Unmöglichkeit und Zufälligkeit („Ding an sich" 
S. 81).**) Hiermit sind die typischen Denkformen oder Kategorien 
keineswegs erschöpft ; jeder Versuch einer vollständigen Aufzählung 
derselben ist von vornherein als verfehlt anzusehen deshalb, weil 
diese allgemeinsten Denkfortiten stetig und flüssig in formale Prä- 
dispositiorien der Vorstellungsweise und Verknttpfungsweise der 
Vorstellungen von minderer Allgemeinheit übergehen und sich ein 
spedfischer Unterschied zwischen ihnen und z. B. den Prädisposi- 
tionen für mathematisches Denken oder musikalische Oomposition 
gar nicht angeben lässt. Zum Theil, aber doch auch nur zum 
kleineren Theil, fallen die Kategorien der Logik mit den Elementen 
der Grammatik, die allgemeinsten typischen Denkformen mit den 
allgemeinsten typischen Sprachformen zusammen, oder haben 
wenigstens in diesen ihr äusseres Analogon, wie das Denken über- 
haupt an der Sprache ein seinen Leibesformen accurat angepasstes 
Gewand besitzt. Der typischen Sprachformen sind aber andererseits 
wieder mehr als der bisher statuirten typischen Denkformen (vgl. 
Ph. d. Unb. S. 262—263),***) so dass also auch nach dieser Seite 
die Prädispositionen von formaler typischer Bedeutung einen all- 
mählichen Uebergang zu concreteren Dispositionen bilden. Gleich- 
wohl ist die Verwandtschaft der typischen Sprachformen mit den 
typischen Denkformen ebenso geeignet, wie die Verwandtschaft der 
speciellen formalen Denkanlagen auf einseitigen Gebieten mit den 
allgemeinen Kategorien, um dafür zu sprechen, dass auch die 
letzteren in moleculareh Hirnprädispositionen ihren 



*) Krit. Grün dl. d. transcend. Realismus S. 119—125. 
**) Krit. GrundL d. transcend. Realismus S. 114—115. 
«**) 7. Aufl. I. Ü55. 



VIII. Die Abkürz. d. Ideenasaociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 149 

Grand haben, welche von den Vorfahren ererbt und von diesen 
durch allmählichen durch yiele Jahrtausende vertheilien Zuwachs 
Band in Hand mit der Entwickelung der Sprache und dessen, was 
wir jetzt anter menschlicher [Intelligenz verstehen, erworben 
worden sind 10 *) (Ph. d. Unb. S. 614).*) Das Princip dieser Fort- 
bildung kann nichts anderes gewesen sein, als das Bedttrfhiss, die 
Welt der umgebenden Ob jecte mit dem Verständniss zu durchdringen 
und den in ihr sich darbietenden Verhältnissen ebensowohl wie den 
Beziehungen zwischen ihr und den eigenen praktischen Lebens- 
interessen bestens Rechnung zu tragen. 

Von den vielen möglichen Arten der Vorstellungsver- 
kntipfung wurden auf jeder Stufe der Entwickelung diejenigen beibe- 
halten! welche sich für die praktischen Consequenzen des Denkens 
als nützlich bewährten; diese wurden wiederholt und prägten 
sich dadurch ein, während etwaige andere versuchte Verknüpfungs- 
formen wegen ihrer minder guten Anpassung an die Zwecke des 
Lebens keine oder schwächere Aufforderungen zur Wiederholung in 
sich enthielten und sich deshalb verloren. Die in diesem ideellen 
Kampf um's Dasein siegreichen VorsteUungsformen konnten aber 
eben nur dadurch die praktisch sich als nützlich bewährenden 
sein, weil sie den thatsäohlichen Verhältnissen der Aussen weit 
besser entsprachen, weil sie ein adäquateres subjek- 
tives Abbild derselben gaben als andere ; denn nur unter dieser 
Voraussetzung waren sie im Stande, die richtigeren Conse- 
quenzen für praktische Handlungen zu ergeben, welche 
auf ihnen ftssten. In diesem Sinne besitzen ja sogar schon die 
Thiere die Kategorien, sie henrtheilen die kommenden Ereignisse 
nach dem Princip der Causalität und richten ihre Handlungen dar- 
nach ein; sie besitzen die Kategorie der Zahl (wenn auch nur in 
ihren niederen Stufen) und unterscheiden auf das allerschär&te nach 
der Kategorie der Gleichheit und Ungleichheit; sie denken nach 
dem Satz der Identität und des Widerspruchs, weil eine andere 
Form der Vorstellungsverknüpfung falsche Voraussetzungen in ihnen 
hervorrufen würde, die ihren Interessen schädlich werden müssten. 
So ist z. B. die Krähe tiberzeugt, dass die Zahl 7 der in die Schiess- 
httte gegangenen Jäger sich selbst identisch bleibt und noch nach 



*) 7. Aul. IL 270. 



150 Text der ersten Auflage. 

einer Stande sich identisch ist; dächte sie anders und käme, wenn 
erst 6 davon die Hütte verlassen haben, an den Lockvogel heran, 
so würde sie den Schaden davon haben. — Die so von den thieri- 
schen Vorfahren ererbten Denkformen und Denkgesetze brauchte der 
Mensch nur strenger und sicherer auszuprägen, feiner durchzubilden 
und mit neuen zu bereichern ; aber trotz der Sprache, welche die 
Reflexion auf dieselben und das Bewusstwerden derselben ab solcher 
ermöglicht, dauert es doch noch sehr lange, ehe der Mensch auf 
inductivem Wege sich den Besitz dieser typischen Denkformen and 
Denkgesetze, deren er sich beständig bedient, zum Bewusstsein 
bringt; zeigt doch ein Homer, Pindar und Aeschylos noch keine 
Ahnung davon und war es nach dem Vorgang platonischer An- 
deutungen dem Aristoteles vorbehalten, den Grundstein zu dem 
menschlichen Bewusstsein Aber die synthetischen Formen seiner 
Denkoperationen zu legen. Und während die praktische An- 
wendung dieser dem Gehirn durch Vererbung imprägnirten 
Prädispositionen zu gewissen Formen der Vorstellungsverknüpfung 
bei allen Menschen seit Jahrtausenden dieselbe ist, streiten 
sich noch heute, Jahrtausende nach Aristoteles, die Philosophen über 
die Natur und das Wesen dieser synthetischen Formen, cL h. ist 
noch heute die bewusste Erkenntniss dieses unbewussten 
Eigenthums nicht zum Abschluss gelangt und ein Tummelplatz 
der widersprechendsten Ansichten. Hieraus geht aber 
auch rückwärts hervor, dass die A n w e n d u n g der angeborenen 
Formen von der Ansicht des Bewusstseins über dieselben gänzlich 
unabhängig ist, ebenso unabhängig beim Civilisirten wie beim 
Wilden, beim Menschen wie beim Thier. Diese Thatsache sollte 
doch diejenigen Theologen und starren Spiritualisten etwas stutzig 
machen, welche wähnen, dass die Kategorien und Denkgesetze, 
welche den Kanon des Logischen bilden, eine Gabe seien, welche 
einen specifischen Unterschied des Menschen vomThiere 
begründeten, oder dass der göttliche Funke der Vernunft es sei, der 
den Menschen in eine völlig heterogene Geistessphäre erhebe, als 
das „vernunftlose" Thier. Nicht in der Sphäre des Bewusstseins 
liegt die Vernunft, sondern in der der unbewussten, angeboraeo, 
formalen Prädisposition; 109 ) unbewusste Vernunft hat aber 
das Thier gerade so gut wie der Mensch, nur auf einer 
graduell verschiedenen Stufe der Entwicklung, je nach der Stufe 



YIIL Die Abkürz. d. Ideenassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 151 

der Intelligenz des Thieres, das man ans der Reihe heraus- 
greift. 

Es ist allerdings die stärkste Zumuthung, die man dem Philo- 
sophen stellen kann, dass er die typischen Denkformen nnd Denk- 
gesetze auf psychologischem Gebiet als Resultate eines allmählichen 
Anpassnngsprocesses zwischen den Gehirneindrticken der Voretel- 
lungsverknüpfungen der Thiere nnd den gegebenen Verhältnissen 
der Anssenwelt betrachten solle, nnd dennoch dürfte bei näherer 
Betrachtung selbst für den Metaphysiker das Paradoxe dieser Be- 
hauptung verschwinden. Zunächst ist zu beachten, dass die Ge- 
nesis der logischen Prädispositionen auf psychologischem 
Gebiet nicht das Mindeste aussagt oder gar entscheidet über das 
ontologische Wesen der logischen Formen und Gesetze auf 
metaphysischem Gebiet, also auch ihrer metaphysischen Be- 
deutung keinen Eintrag thun kann. 104 ) Jede Philosophie, welche die 
Beschränktheit des subjectiven Idealismus überwunden und die Be- 
deutung der logischen Formen und Gesetze für die Welt der Dinge 
an sich für das reale Dasein und Geschehen zugegeben hat, muss 
anerkennen, dass die logischen Formen und Gesetze in dem thie- 
rischen und menschlichen Intellect letzten Endes nur deshalb Gül- 
tigkeit haben können, weil dieser Intellect selbst eine reale Existenz 
hat, weil er zur Welt des realen Daseins gehört und mit unter 
deren Formen und Gesetzen steht. Ist es aber einmal zugestanden, 
dass die subjective Logik nur ein Ausfluss der objectiven Logik 
sein kann, 106 ) so bleibt nur noch die Frage zu entscheiden, ob die 
Begründung der psychologischen logischen Formen und Ge- 
setze in den ontologisehen eine unmittelbare oder mittel- 
bare sei. Wenn man früher, gestützt auf eine teleologische Meta- 
physik, der scheinbar einfacheren Annahme einer unmittelbaren 
Begründung den Vorzug gab, so muss gegenwärtig die Analogie 
der gesammten übrigen Schöpfungsgebiete hiervon abmahnen, 
welche durchgehends eine sehr allmähliche Vermittlung durch 
langwierige Entwickelungsprocesse zeigen, wo man früher an un- 
mittelbare Constituirung aus der Hand der schöpferischen Natur 
oder Gottes geglaubt hatte. Ist der ganze Mensch und speciell 
das Organ seines Geistes das Resultat einer solchen langwierigen 
Entwickelung, so lässt die Analogie erwarten, dass auch die logi- 
schen Formen seiner Vorstellungen und seiner Vorstellungs- 



152 Text der ersten Auflage. 

Verknüpfungen nur das Bonität eines Eaiwiokelungsprooesses in 
seiner Ahnenreihe seien. 

Diese Vermuthung findet ihre Bestätigung darin, dass wir die 
verschiedenen Entwiekelungsstdfen der psychologischen Logik in 
den nns erhaltenen Besten der menschlichen Ahnenreihe handgreif- 
lich vor nns haben ; wir brauchen nur z. B. den VorsteUungsproons 
eines Warmes, eines niederen Fisches, einer Amphibie, eines niede- 
ren und eines höheren Sängethieres, eines Buschmanns, eines Kosaken 
und eines gebildeten Europäers zu vergleichen. Eine weitem Be- 
stärkung erhält unsere Annahme in der nahen Verwandtschaft der 
Denkformen mit den Anschauungsfonnen, welehe wir sogleich näher 
betrachten werden und für welche dieselbe Annahme kanm m 
umgehen ist. Zu einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit 
wird sie endlich erhoben durch den Verzicht auf teleologische Ein- 
griffe in die organischen Melecularprocesse des Gehirns, durch welche 
also auch eine unmittelbare logische Bestimmung der Verknttpfungs- 
weise zweier Vorstellungen ausgeschlossen bleibt, insofern dieselbe 
nicht nach den mechanischen Gesetzen der Gehirnschwingungen sieh 
schon von selbst aus den vorhandenen Prädispositionen und den 
auf diese einwirkenden Bewegungsreizen ergiebt. 106 ) Da wir die 
bewusste Vorstellung überhaupt als Summatioaspbänomen aas den 
Empfindungs- oder Vorstellungsfunctionen der Atome betrachten und 
einen andern Geist als die Innerlichkeit der Atome des Gehirns 
selbst als im Menschen wirksam anzuerkennen keinen Grund ge- 
funden haben, so kann auch das objectiv reale Dasein, in welchem 
die subjectiv-logischen Formen ihre Begründung haben sollen, in 
nichts anderm als im Gehirn gesucht werden, und kann die gesetz- 
mässige Bestimmtheit der synthetischen Formen des Voratellungs- 
processes im Sinne der objectiv gültigen logischen Formen und 
Gesetze durch keine andere Eigenschaft dieses realen Daseins 
bedingt sein, als durch die ererbten Prädispositionen des Gehirns, 
in welchen allein die Vorstellungsverknüpfung prädeterminirt sein 
kann. 107 ) — Die ausnahmslose Sicherheit, mit welcher z. B. die 
Prädispositionen der logischen Grundgesetze der Identität und des 
Widerspruchs psychologisch functioniren, würde hiernach herrühren 
von der unendlich langen Generationenreihe des Thierreichs, durch 
welche die Vererbung dieser Verknüpfungsform zu einer überaus 
befestigten geworden ist Während bei allen anderen als den rein 



ym. Die Abkürz, d Ideeaassociation u. d. Vererbung d. Denkformen. 153 

logischen Formen in der Ahnenreihe de» Mensehen ein öfter wieder- 
holter Wechsel stattfindet, bleiben diese immer und immer dieselben 
und werden niemals durch die Nöthigung zn einer VorsteUangs- 
Verknüpfung gestört, welche diese Disposition abschwächen könnte, 
wie dies bei allen typischen Formen der InstinctForstellungen mehr 
oder minder häufig der Fall ist Schon die Ideenassociation, welche 
ohne jede ererbte Anlage bloss durch GewöhnuAg während eines 
Menschenlebens erworben ist, kann eine Gewalt bekommen, der 
gegenüber alles abstracte Besserwissen ohnmächtig wird (z. B. die 
Association der Vorstellung der Unreinheit mit der Vorstellung eines 
Porcellangefässes von der Gestalt eines Nachtgeschirres; oder die 
Association der Vorstellung der Todsünde mit der Vorstellung der 
Tödtnng einer Kuh, wie sie im Kopfe aller gläubigen Brahminen 
besteht); wie darf man sich da solchen Thatsachen gegenüber noch 
wajodern, wenn eine durch Millionen Jahre ohne jede Störung be- 
festigte Vererbung, welche in der Erfahrung und Gewöhnung des 
individuellen Lebens nichts als Bestätigung und Bestärkung findet, 
das Resultat einer 90 unerschütterlich befestigten Prädispositioh zu 
Stande bringt, dass es gegen das Funotioniren derselben keine 
Appellation mehr im Bewusstsein des Individuums giebt! 

Indem die besprochenen Prädispositionen die Vorstellungsweise 
und Verknüpfungsweise von Vorstellungen nach bestimmten typischen 
Normen prädeterminiren , ohne selbst dabei in'e Bewusstsein zu 
treten, sind sie das Prius des allein in'« Bewusstsein tretenden 
Resultats. Nun ist aber nur dasjenige, was im Bewusstsein vor- 
gefunden wird, für das Individuum empirisch gegeben, was aber 
jenseits des Bewusstseins in dem vorbewussten Entstefoungsprocess 
des Smpirischen liegt, ist nickt mehr empirisch zu nennen, sondern 
steht, insofern es von der begrifflichen Untersuchung als wirklich 
vorhanden constatirt ist, in einem begrifflichen Gegensatz zu dem 
Empirischen. Als Prius des Empirischen heisst es in der Philosophie 
seit Kant „das Apriorische 11 (vgl. „Ding an sich" S. 37).*) 
Schon Plato hatte erkannt, dass der menschliche Intellect nichts 
weniger als eine leere Tafel, eine tabula rasa sei (wie Locke be- 
hauptet), sondern dass alles Lernen ein dem Auftauchen von Er- 
innerungen ganz analoger Process sei Sein Irrthum bestand nur 



*) Krit. Grundl. d. transcoad. Beslisn. 8. £7—99. 



154 Text der ersten Auflage. 

darin, dass er die Prädispositionen zu diesen Erinnerungen in einem 
früheren Leben der mit sich identischen Individualseelensabstanz, 
anstatt in der Vererbung von den Vorfahren des Individuums her 
begründet wähnte (Ph. d. Unb. S. 613). *) Dass die Denkfonnen 
nicht individuell erworben, sondern angeboren seien, wurde mit 
Recht von Descartes so scharf prononcirt, aber Locke hatte ebenso 
sehr Recht, zu bestreiten, dass es angeborene Ideen oder Vor- 
stellungen gäbe, da in der That die Prädispositionen zu gewissen 
Denkfonnen ebenso wenig und noch weniger Ideen oder Vorstel- 
lungen heissen können, als die individuell erworbenen Prädisposi- 
tionen des Gedächtnisses (Ph. d. ünb. S.613, 27—28, 263, 268),**) 
denn diese geben doch beim Functioniren eine wirkliche Vorstellung, 
jene aber nur constituirende formale Elemente einer Vorstellung 
oder den Associationsmodus zwischen mehreren. Indem Kant den 
Ausdruck „a priori" als den Gegensatz zu „empirisch" bestimmte, 
traf er den Nagel auf den Kopf und gab dem Dilemma eine neue 
Fassung; der nachkantische Empirismus konnte nur noch mit offen- 
barem Unrecht bestreiten, dass unsere Denkformen a priori seien. 
Kant bestimmt in seiner Polemik gegen Eberhard's Kritik (Kant's 
Werke ed. Rosenkranz Bd. I. S. 445 — 446) die apriorischen Formen 
(es ist hier zufällig von den sinnlichen Anschauungsformen die 
Rede) als keineswegs in Gestalt fertiger Ideen oder Bilder an- 
geborene, sondern als innewohnende passive Beschaffenheiten (Re- 
ceptivitäten) des Gemttths, auf gewisses Afficirtwerden hin Vorstel- 
lungen von einer gewissen Vorstellungsform zu bekommen; nicht 
sie selbst, sondern der erste formale Grund ihrer Möglichkeit sei 
uns angeboren (vgl. „Ding an sich" S. HO).***) Es ist klar, dass 
diese Erklärung ganz mit dem übereinstimmt, was wir Prädisposi- 
tionen nennen, nur dass Kant die Entscheidung offen lässt, ob diese 
Prädispositionen als in der Substanz des materiellen Organs der 
Denkfunctionen niedergelegt oder als in der metaphysischen Natur 
einer spirituaüstischen Seelensubstanz begründet zu betrachten 
seien. 108 ) Im Stillen scheint Kant selbst in Betreff der sinnlichen 
Anschauungsformen mehr zu der ersteren, in Betreff der logischen 



*) 7. Aufl. IL 269. 

**) 7. Aufl. H. 269, L 28-30, I. 245-246, I. 261. 
***) Krit. Grundl. <L transcend. Realismus S. 154. 



VIII. Die Abkürz. d. Ideenassociation tu d. Vererbung d. Denkformen. 155 

Denkfonnen mebr zu der letzteren Annahme sich hingeneigt zu 
haben (vgl. „Ding an sich" S. 82—83),*) aber Kant's Bedenken 
wegen der allgemeingültigen Bedeutung der logischen Formen, die 
durch Fichte's Deduction and Hegel's Dialectik zum System aus- 
gesponnen wurde, sind für uns dnrch die vorangeschickten Betrach- 
tungen über die psychologische Genesis der logischen Denkformen 
beseitigt. Der erste nachkantische Philosoph, der die von Kant 
gelassene Zweideutigkeit im modernen physiologischen Sinne er- 
ledigte, war Schopenhauer, welcher die intellectuellen Functionen 
überhaupt und ohne Ausnahme für Functionen des Gehirns er- 
klärte, und wir haben gesehen, dass jede andere metaphysische 
Seelensubstanz ausser der inneren Seite der das Gehirn constituiren- 
den Atome eine durch kein Erklärungsbedür&iss legitimirte Hypothese 
ist. Wir müssen also Schopenhauers Annahme, dass die apriorischen 
Formen Functionen des Gehirns seien, unbedingt billigen und können 
den „angeborenen formalen Grund" des so und nicht anders Func- 
tionirens nur in der zu einer solchen Functionsweise prädisponirten 
molecularen Beschaffenheit des Gehirns suchen. 

Haben die nachkantischen Philosophen den Empirikern gegen- 
über darin Becht, dass alles Vorstellen im Individuum a priori 
entspringe, so hat doch die empiristische Anschauungsweise den 
Philosophen gegenüber insoweit Becht behalten, als sich heraus- 
gestellt hat, dass für die Stufenreihe der Organismen als 
Ganzes genommen das Empirische das Prius des Apriori- 
schen ist, indem die Hirnprädispositionen, aus welchen die apriori- 
schen Functionen entspringen, selbst wieder nur das Endresultat 
eines langen Anpassungsprocesses sind, in welchem Fortschritte 
durch empirisches Tasten 109 ) und Befestigung der nützlichen Ver- 
suche durch natürliche Zuchtwahl Hand in Hand gehen. Diese neu 
errungene Auffassungsweise ist aber bis jetzt von verschiedenen 
Seiten erst angedeutet, noch nirgends durchgeführt worden; unsere 
bisherigen Ausführungen in Verbindung mit denen des folgenden 
Abschnitts werden hinreichen, dieselbe als mit demjenigen Maasse 
von Wahrscheinlichkeit bewiesen erachten zu lassen, dessen solche 
Fragen in der Gegenwart überhaupt fähig sind. Zugleich erhellt 
aus unseren Untersuchungen, dass einzig und allein die von der 



*) Krit GrundL d. transcend. Realismus S. 115 -117. 



156 Text der eisten AriUge. 

biologischen Descendenztheorie nen in die Wissenschaft -eingefthrte» 
Perspectiven im Stande waren, den principiellen Gegensatz von 
philosophischen Aprioristen und naturwissenschaftlichen Empiristen 
in einer höheren Einheit zu versöhnen, welche die relative Wahrheit 
beider Standpunkte in sich vereint nnd die unwahre Einseitigkeit 
beider den Blicken der Gegenwart enthüllt Die Ph. d. U. aoeepört, 
indem sie sich die Descendenztheorie einverleibt, auch das Ecktt- 
rungsprincip, welches die letztere für die bisher als metaphysisches 
Wunder angestaunte Thatsache des ,/* priori" darbietet (vgl S. 613),*) 
wie dies aus dem Zusammenhang unserer bisherigen Erörterungen 
hinreichend hervorgeht ; indem aie aber andererseits von der Hypo- 
these der beständigen metaphysiseh-teleologisehen Eingriffe in den 
naturgesetzlichen Verlauf der organischen und insbesondere der 
Gehimproeesse nicht loskommen kann, confundirt sie das rich- 
tige Erklärungsprincip des „a priori' 1 zugleich auch mit jenem 
unerweislichen speculativen, welches bisher, so lange es 
das einzige existirende war, eine gewisse Beachtung verdiente, 
aber gerade durch das allen Anütoderungen glänzend entsprechende 
der Descendenztheorie als endgültig beseitigt zu betrachten ist, so 
dass von einem Nebeneinanderfortbestehen beider mit vicarirendem 
Fttreinandereintreten (im Sinne d. Ph. d. Unb.) keinenfalls mehr die 
Bede sein kann. 110 ) 



*) 7. Aufl. IL 269. 



IX. 

Die Entstehung der Anschauungsform der 

Räumlichkeit 



Wir werden die Genesis der Anschauungsform der Räumlichkeit 
in der Weise zu ergründen suchen, dass wir die im genetischen 
Process der Wirklichkeit zuletzt hinzugefügten Entwickelungsstufen 
zuerst abhandeln, also den Weg der Natur rückwärts durchmessen. 
Wir werden dem entsprechend zunächst das flächenhafte Gesichts- 
feld in zwei Dimensionen, wie es der operirte Blindgeborene schon 
bei den ersten Sehversuchen mitbringt, als gegeben voraussetzen, 
und die Entstehung der Anschauung der dritten oder Tiefendimension 
auf dieser Grundlage untersuchen. 

Tritt ein leuchtender Punkt in das vorausgesetzte flächenhafte 
Sehfeld, so stellen beide Augenaxen sich reflectorisch so ein, dass 
die Stellen des deutlichsten Sehens (die gelben Flecke) beider Netz- 
häute das Bild des leuchtenden Punktes aufnehmen. Treten mehrere 
leuchtende Punkte hinzu, so wechselt die Augenstellung mit den 
fixirten Punkten nach dem Gesetz der Ermüdung. Bei dieser 
successiven Fixation sind nun zwei Fälle möglich: entweder die 
realen leuchtenden Punkte liegen in einer zur Sehaxe senkrechten 
Fläche, dann fallen ihre Bilder auf den Netzhäuten beider Augen 
auf correspondirende Stellen;*) oder aber die realen leuchtenden 
Punkte liegen in verschiedener Entfernung vom Auge, dann ändert 



*) Die Abweichungen sind wenigstens so gering, dass sie praktisch zu ver- 
tauten sind. 



nachlatsigen sind. 



158 Text der ersten Auflage. 

sich bei der Fixirung jedes Punktes die Convergenz der Sehaxen 
und dadurch das Lagenverhältniss der Bildpunkte auf den Netz* 
häuten in der Weise, dass nicht mehr correspondirende Stellen von 
ihnen getroffen werden. Die Abweichung von der Correspondenz 
wird um so grösser, je grösser der Unterschied in den Entfernungen 
der realen Lichtpunkte vom Auge ist. Wenn der Blick von einem 
Lichtpunkt zu einem gleich weit entfernten tibergeht, so haben die 
Augen nur die Muskelempfindung des zurückgelegten Weges ; wenn 
er aber zu einem Lichtpunkt von verschiedener Entfernung übergeht, 
so haben die Augen ausser dieser Muskelempfindung des zurück- 
gelegten Weges noch zweitens die der veränderten Convergenz und 
drittens die der veränderten Correspondenz der Lage der übrigen 
im Sehfeld befindlichen Punkte. (Wundt, Beiträge zur Theorie der 
Sinneswahrnehmung, Leipzig 1862, S. 291—293). Der Intellect 
sucht diese Thatsachen mit dem Yerständniss zu durchdringen; der 
Tastsinn kommt ihm hierbei auf kurze Entfernungen zu Hülfe; auf 
grössere Entfernungen wird er durch die Veränderungen im Sinne 
perspectivischer Verschiebung unterstützt, welche in seinen Wahr- 
nehmungen vorgehen, wenn er seinen Körper von der Stelle bewegt 
Dazu kommt noch die Veränderung der scheinbaren Grösse eines 
Gegenstandes, der durch seine Bewegung auf den Beobachter zu 
oder von demselben hinweg ihn nöthigt, bei der Fixation die Con- 
vergenz der Sehaxen stetig zu vergrössern resp. zu verringern, 
und viele andere ähnliche Erscheinungen, die sich dem Intellect als 
zu lösende Probleme aufdrängen. Jede falsche Deutung dieser 
Veränderungen in den Wahrnehmungen hat den Misserfolg des auf 
sie gebauten Handelns zur Folge, jede richtige Deutung wird durch 
das Gelingen der auf solche Voraussetzungen hin vorgenommenen 
Handlungen belohnt; hierdurch wird jede falsche Deutung eine 
Warnung vor Wiederholung derselben, jede richtige eine Ermunte- 
rung zum Festhalten der eingeschlagenen Richtung des Denkens 
und zum Weiterschreiten auf derselben. 

So zwingt die Notwendigkeit des Handelns von selbst zu 
einer allmählich fortschreitenden richtigen Deutung, d. h. zu 
einer solchen, die der wirklichen Beschaffenheit der Dinge ent- 
sprechend ist. — Bei diesen Vorstellungsverknüpfungen haben 
nun jedesmal nur das Anfangsglied (die gegebenen Organempfindungen) 
und das Endglied (das jeweilige Resultat des Verständigung*- 



EL Die Entstehung der AnschauungBfonn der Räumlichkeit 159 

bemtthens) ein Interesse, die gleichgültigen Verbindungsglieder aber 
werden durch Abkürzung der Ideenassociation elidirt. In demselben 
Maasse als das Verständniss fortschreitet, schreitet auch der Process 
dieser Abkürzung der Ideenassociation fort, und bei demjenigen 
Maass von eingeübtem Verständniss, welches ein erwachsener Mensch 
von seinen Gesichtswahrnehmungen besitzt, hat diese Abkürzung 
einen solchen Grad erreicht, dass für denjenigen, welcher den an« 
gegebenen Entstehungsprocess nicht beachtet, die schlagfertige 
Festigkeit der Association zwischen Vorstellungen, welche sich so 
fern zu liegen scheinen, in der That höchst überraschend ist. Wir 
haben eine ziemlich ebenso genaue Schätzung von relativen Ent- 
fernungsverschiedenheiten in der Tiefendimension wie in der Breiten- 
dimension und für unser Bewusstsein ist die Tiefe der räumlichen 
Wahrnehmung von nicht minder anschaulicher Natur als 
die Höhe und Breite. Es wäre ein so absolut sicheres Functioniren 
der Association zwischen den complicirten Organempfindungen und 
den complicirten Raumvorstellungen, welche wir an dieselben knüpfen, 
es wäre eine solche Unmittelbark eit der Anschauung der dritten 
Dimension, eine so vollständige Elision der vermittelnden Verbin- 
dungsglieder zwischen diesen Endgliedern einer höchst complicirten 
Ideenassociation für die Uebungszeit eines Menschenlebens entschie- 
den unmöglich, wenn nicht eine durch befestigte Vererbung über- 
kommene Gehirnprädisposition zu dieser Art von abgekürzter Vor- 
Stellungsverknüpfung uns angeboren wäre, welche nur durch die 
Uebung der Kindheit aufgefrischt und nachgemeisselt zu werden braucht. 
Auch hier ist es wesentlich der unreife Zustand des Kinder- 
gehirns bei der Geburt, der diese Sachlage den Blicken des Phy- 
siologen und Psychologen verhüllt, so lange dieselben ihre Be- 
obachtung nicht auf das Thierreich ausdehnen; in letzterem aber 
zeigt sich die erforderliche Zeit der Uebung um so kürzer, je reifer 
das Gehirn des Thieres bei der Geburt resp. bei der Oeffhung der 
Augen ist — Das Thierreich als Ganzes muss aber die dritte Di- 
mension und die Prädisposition zu derselben auf ganz demselben 
Wege, nur langsamer, erworben haben, wie wir es oben von der 
Uebung des Individuums gezeigt haben. Wenn der Mensch ohne 
Augen ein ganz hülf loses Geschöpf ist, so hatte das Thierreich den 
Vortheii, die Augen zunächst nur als nebensächliche Hülfsorgane 
zu entwickeln und dieselben erst allmählich so zu vervollkommnen, 



160 Text der ersten Auflage. 

dass sie an einem wichtigen und zuletzt unentbehrlichen Htilfemittel 
im Kampf um's Dasein wurden ; hier konnte und musste nun natür- 
lich der allmähliche Fortschritt des Verständnisses der Sinnes- 
Wahrnehmungen Hand in Hand gehen mit dem allmählichen Fort- 
schritt der Entwickelung des Sinnesorgans; und jeder solche 
gemeinsame Fortschritt vervollkommnete zugleich die an die Nach- 
kommen vererbte Prädisposition zu dem richtigen Verständniss. 
So steht endlich unsere menschliche Anschauung als das letzte Glied 
einer durch lange Vererbung gesteigerten Fertigkeit da, welche 
als wesentliches Moment in sich die dritte räumliche Dimension als 
typische Form der Anschauung enthält. Nur so wird die 
Illusion erklärlich, in der wir uns befinden, wenn wir die Tiefen- 
dimension der Gegenstände unmittelbar und anschaulieb 
wahrzunehmen glauben, während wir doch wissen, dass dies nur 
eine hinzugethane Vorstellung ist, welche mit gewissen 
Complicationen von Organempfindungen des Auges (Muskelempfin- 
dungen und Correspondenzverschiebungen) vermöge einer ererbten 
und individuell nachgettbten Gehimprädisposition in unwillkürlicher 
und notwendiger Weise verknüpft wird. Die Abkürzung der Ideen- 
association geht hier so weit, dass sogar das Anfangsglied, die 
Organempfindungen, als interesselos mit elidirt wird und in's Un- 
bewusstsein versinkt, 111 ) und dass auf den zum Gehirn geleiteten 
Beiz sofort und unmittelbar jene assoeiirte Vorstellung eintritt, weil 
sie allein von praktischem Interesse ist 

Wir finden hier eine eclatante Bestätigung des oben (S. 128) 
präliminarisch aufgestellten Satzes, dass selbst begriffliche Vor- 
stellungsgebilde (wie die Tiefendimension bei ihrer ersten Construc- 
tion ohne Zweifel eines ist) sich um so mehr der Anschauung 
nähern, je mehr sie zu vererbten typischen Vorstellungsformen 
werden, und dass sie zur wirklichen Anschauung werden, 
sobald die Vorstufen ihrer Genesis vollständig unbewusst geworden 
sind. Da die Gesichtsanschauung der Prototyp aller Anschauung 
ist, von dem dieselbe sogar ihren Namen dureh Generalisation ent- 
lehnt hat, so dürfen wir wohl auch die hier evident gewordene 
Genesis der Anschauung als solchen generalisiren und sagen, 
dass alle Anschauung, die wir besitzen, auf dieselbe Weise 
entstanden zu denken sei, nämlich durch Unbewusstwerden 
der Zwischenglieder in dem Ideenassociationsprocess, durch 



IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 161 

welchen sie sich aus den elementaren Empfindungen mit Hülfe 
begrifflicher constructiver Deutungsversuche derselben all- 
mählich entwickelt hat. Die elementare Empfindung (welche Kant 
die Materie der Anschauung nennt) unterscheidet sich von der 
Anschauung durch den Mangel des begrifflich-synthetischen Antheils ; 
der discursive Begriff unterscheidet sich von ihr durch den Mangel 
an intuitiver Unmittelbarkeit; der Begriff schliesst das Bewusstsein 
der Möglichkeit, seine Genesis durch alle Vermittelungsstufen hin- 
durch jeden Augenblick reproduciren zu können, als notwendiges 
Moment, als integrirenden Bestandteil seines Wesens in sich ein 
und weiss sich somit als vermittelt, — der Anschauung ist dieses 
Bewusstsein abhanden gekommen und der so erzeugte Schein der 
Unmittelbarkeit kann selbst durch die bessere discursive begriffliche 
Einsicht in die Genesis derselben nicht mehr alterirt werden, weil 
er organisch begründet ist; die Anschauung ist sonach die 
höhere Einheit von Empfindung und Begriff, in welcher 
beide Bestandteile unbewusst geworden sind durch den Abkürzungs- 
process der Ideenassociation ; die Anschauung ist die allein 
übrig gebliebene F'rucht des Baumes, dessen Wurzel die 
Empfindung, dessen Stamm, Aeste und Blätter die begriffliche 
Construction war. 112 ) Auch die Philosophie hatte bereits das syn- 
thetische Element in der Anschauung anerkannt und hatte verstan- 
den, dass sowohl die elementare Grundlage als auch der begriffliche 
Aufbau nur als unbewusste Voraussetzungen in der als solchen un- 
mittelbar dem Bewusstsein gegebenen Anschauung enthalten sei 
(vgl. „Ding an sich" S.66— 68, 71—72, 82—83, 89—91;*) Ph.d.ü. 
S. 275, 303 — 304) ; **) sie hatte nur die Genesis der Anschauung 
nicht als Abkürzungsprocess der Ideenassociation begriffen 113 ) und 
deshalb war ihr das synthetisch- Constructive, welches unbewusster 
Weise in dem über den ursprünglichen Empfindungsstoff hinaus in 
der Anschauung enthaltenen Plus an Vorstellungselementen implicite 
drinsteckt, ein unverstandener metaphysisch-teleologischer Eingriff 
geblieben, anstatt darin das Functioniren der Gehirnprädispositionen 
zu erkennen, welche den formalen Niederschlag des genetischen 
Entwickelungsprocesses der Anschauung in der Ahnenreihe des 



*) Krit. Grundl. d. transc. Realism. S. 96—91, 101—102, 115—117, 125—127. 
**) 7. Aufl. L 268, 294-295. 

E. v. Hartmann, Dos Unbewusste, 2. Aufl. 11 



162 Text der ersten Auflage. 

Individuums repräsentiren. Dass solche beständig in typischer Form 
wiederholte Functionen einen Eindruck im Gehirn hinterlassen 
müssen, welcher als Prädisposition für wieder vorkommende Fälle 
sich geltend macht, nimmt ja die Ph. d. Unb. selbst an; dass solche 
Prädispositionen sich vererben und durch langandauernde Vererbung 
sich immer mehr befestigen, gesteht sie ebenfalls zu (S. 614 — 615);*) 
dann haben wir aber auch in dieser ererbten Prädisposition eine 
thatsächliche Erklärung des synthetisch-constructiven Elements**) 
in der Anschauung, welche den metaphysisch-teleologischen Eingriff 
überflüssig macht, und dies bestreitet die Ph. d. Unb. wunderbarer 
Weise sogar für die dritte Dimension (S. 312),***) von der wir 
bisher allein gesprochen haben. 1U ) 

Der tiefere Grund dieser anscheinenden Inconsequenz liegt in 
dem Mangel des Verständnisses der Abkürzung der Ideenassopiation; 
dieser Mangel verhindert den Einblick in die wahre Genesis der 
Anschauung und lässt deshalb mindestens bei Entstehung der 
Hirnprädisposition an metaphysisch-teleologische Eingriffe glauben, 
weil das Resultat ein teleologisch werthvolles ist. Wir wissen aber, 
dass Zweckmässigkeit als Resultat sehr wohl möglich ist ohne 
Zweckmässigkeit als Princip (vgl. oben S. 44 — 46), und haben diesen 
Satz bei der Entstehung der Fertigkeiten der Centralorgane im Ge- 
brauch der willkürlichen Muskeln (vgl. oben S. 129—132) an einem 
concreten, bereits in's psychische Gebiet hinüberführenden Beispiel 
genau geprüft und bestätigt gefunden, wo ähnliche Bedenken wie 
hier obwalteten. So wenig die Ph. d. Unb. auf den ihr nahe genug 
liegenden Gedanken verfällt, die Entstehung zweckmässiger äusserer 
Einrichtungen als Resultat von Anpassungs- und Compensations- 
processen ohne metaphysisch-teleologische Eingriffe anzusehen, so 
wenig kommt sie auf den Gedanken, zweckmässige Gehirnmecha- 
nismen als Resultate von psychischen Anpassungs- und Compensa- 
tionsprocessen ohne metaphysisch-teleologische Eingriffe anzusehen. 



*) 7. Aufl. IL 270—271. 

**) Dieses synthetisch-constructive Element in der Anschauung ist, da es nur 
unbewusst und implicite in dem Resultate drinsteckt, an und für sich genommen 
eben als Prius des allein in's Bewusstsein fallenden Resultats (d. i. der An- 
schauung selbst) zu bezeichnen, und fällt deshalb mit dem zusammen, was die 
Philosophie das Apriorische nennt (vgl. oben 153—156). 

***) 7. Aufl. I. 302-303. 



IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit 163 

Wo sie eine prädisponirte Association von Vorstellungen vorfindet, 
welche den logischen Zuschauer auffordert, eine Verknüpfung durch 
logische Zwischenglieder zu ergänzen, da nimmt sie sofort und ohne 
Weiteres an, dass diese Zwischenglieder in unbewusst metaphysischer 
Actualität als gegenwärtig wirksame bei dem Vorgang der 
Association betheiligt seien, anstatt 115 ) daran zu denken, dass diese 
prädisponirte Association das Resultat eines Abkürzungsprocesses 
sein müsse, in welchem die — früher einmal allerdings actuell vor- 
handenen — Zwischenglieder als überflüssiger Ballast elidirt 
worden sind und bloss der äusserliche, mechanische, prädispositionelle 
Zusammenhang zwischen Anfangs- und Endglied übrig geblieben 
ist (vgl. oben 138 — 140). Wo die Resultate des Vorstellungs- 
processes logisch sind, da setzt die Ph. d. Unb. sofort ein a c t i v e s, 
logisch bestimmendes metaphysisches Princip als Grund dieser 
Erscheinung, während doch gerade die in der subjectiven Vor- 
stellungsassociation sich entfaltende Logik zunächst eine passive, 116 ) 
durch die praktisch gebotene Anpassung an die thatsäohlich ge- 
gebenen Verhältnisse äusserlich erzwungene U7 ) ist und erst später 
im Kopfe des gebildeten Menschen eine sich activ betätigende 
werden kann, wenn die Prädispositionen zur logischen Verknüpfung 
der Vorstellungen durch befestigte Vererbung bereits so fest ein- 
gewurzelt sind, dass sie zu einer selbstständigen Macht im 
Denken geworden sind. Nicht deshalb haben im Kampf der Asso- 
ciationsformen im Denken die logischen Associationsformen den 
Sieg davon getragen, weil sie logisch, sondern weil sie praktisch 
sind, weil sie allein den thatsächlichen Verhältnissen ent- 
sprechen, — und dass sie hintennach sich als logisch herausstellen, 
ist ganz ausschliesslich dadurch bedingt, dass die thatsächlichen 
Verhältnisse, aus der Anpassung, an welche sie entstanden sind, 
ebenfalls logisch sind u8 ) (vgl. oben S. 149 ff.). 

Aus dem praktischen Bedürfniss U9 ) allein ist auch 
jene Deutung der Gesichtswahrnehmungen erwachsen und befestigt, 
welche die dritte Dimension zu den zwei Dimensionen der Fläche 
hinzufügt; die Nothwendigkeit, sich der Aussenwelt behufs der Er- 
haltung des Daseins anzupassen, drängte jedes Wesen dahin, mit 
fortschreitender Vervollkommnung des Auges auch die Deutung der 
Gesichtswahrnehmungen . in dem Sinne fortzubilden, dass die räum- 
liche Ordnung der realen Aussendinge so supponirt wurde, wie de 

11* 



164 Text der ersten Auflage. 

wirklich sein musste, um die Sinnesorgane so afiiciren zu können. 
Auch hier war der Fortschritt im Thierreich ein tastendes Probiren, 
von welchem nur jene Associationsarten beibehalten wurden, 
welche durch den Erfolg bestätigt und belohnt wnrden (vergl. 
oben S. 158), keineswegs aber ein activ logisches Moment, 12 °) ausser 
in soweit schon vorhandene Prädispositionen zur logischen Vor- 
stellungsassociation sich an diesem tastenden Probiren nützlich be- 
theiligten. Hätte in derselben Weise, wie die Sinnesaffectionen durch 
die Aussenwelt ihre Deutung im Sinne einer dritten Dimension er- 
heischten, ein praktisches Bedürfoiss sich herausgestellt, gewisse 
problematische Modificationen der Gesichtswahrnehmungen im Sinne 
einer vierten Dimension des Raumes zu deuten, und hätten die 
hieraus gezogenen Consequenzen und die auf dieselbe gebauten 
Handlungen und Experimente dieselbe eclatante Bestätigung ge- 
funden, wie es bei den auf die dritte Dimension gebauten der Fall 
ist, so würde ohne Zweifel mit den fraglichen Modificationen der 
Gesichtswahrnehmungen sich die Vorstellung einer vierten Dimension 
in derselben Weise associirt haben, wie mit den oben (S. 157 — 158) 
angegebenen Modificationen die Vorstellung einer dritten Dimension; 
wenn ferner dieses Bedürfhiss einer vierten Dimension sich in einer 
entsprechend frühen Stufe unserer Ahnenreihe herausgestellt hätte, 
so würde diese Ideenassociation nicht nur eine ebenso starke Ab- 
kürzung erlitten haben, sondern auch die Prädisposition zu der- 
selben ebenso sehr durch Vererbung befestigt sein, wie es jetzt die 
der dritten ist, und wir würden alsdann die vierte Dimension ebenso 
unmittelbar in der Anschauung zu besitzen glauben, wie jetzt die 
dritte. Rückwärts können wir darauf schliessen, dass die Ord- 
nung der realen Dinge, in soweit sie für das Afficiren unserer 
Sinnesorgane von Einfluss ist, sich thatsächlich in drei Dimensionen 
erschöpft, weil noch nirgends in unseren jetzt sehr genau und 
sorgfältig durchforschten Sinneswahrnehmungen sich Modificationen 
gefunden haben, welche nicht durch die Annahme von drei Dimen- 
sionen ausreichend erklärt würden. Im reinen Begriff hindert 
uns nichts, eine vierte Dimension des Raumes zu denken (wie durch 
Gauss, Riemann und Helmholtz zur Genüge dargethan); in der An- 
schauung aber können wir einfach deshalb nicht über die drei 
Dimensionen hinaus, weil die Anschauung nach unserer obigen De- 
finition (S. 160—161 u. 144 — 145) überhaupt nur die Function einer aus 



IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 165 

stark abgekürzter Ideenassociation erwachsenen Prädisposition ist, 
nnd die Voraussetzungen zur Genesis einer solchen in Bezug auf 
eine vierte Dimension fehlen. m ) 

Ganz anders als bei einer problematischen vierten Dimension 
stellt sieh die Sache, wenn wir zu der Betrachtung der ersten 
und zweiten Dimension des Raumes übergehen, denn hier 
ist ebenso wie bei der dritten Dimension einerseits die Anschauung 
als Resultat einer .unbewusst synthetischen Function und anderer- 
seits die vor und jenseits der Baumanschauung gelegenen unräum- 
lichen elementaren Organempfindungen (intensiv und qualitativ durch 
Localzeichen verschiedene Netzhauteindrücke und Muskelbewegungs- 
empfindungen) gegeben; die Anschauung ist das Endglied, die 
Organempfindung das Anfangsglied eines Vorstellungassociations- 
verlaufs, welcher ursprünglich nur in der den praktischen Bedürf- 
nissen angepassten Deutung der gegebenen Empfindungen bestanden 
haben kann, welcher aber, ebenso wie der bei der dritten Dimension, 
einer so starken Abkürzung unterlegen hat, dass nicht nur die 
Zwischenglieder, sondern auch das Anfangsglied der Organempfin- 
dangen als solches aus dem Bewusstsein entschwunden ist. Auch 
hier muss nothwendig die oft wiederholte Function eine (durch Ver- 
erbung gesteigerte und befestigte) Prädisposition zu dieser synthe- 
tischen Function im Hirn zurückgelassen haben (vgl. oben S. 162). 
In Bezug auf Anschaulichkeit stehen die erste und zweite Di- 
mension keineswegs höher als die dritte, sondern dieser ganz gleich 
(S. 159), und die Vorstellungsverknüpfungen, durch welche das In- 
dividuum seine Gesichtswahrnehmungen in Bezug auf die dritte 
Dimension verstehen lernt, sind auf das Innigste verwebt mit jenen, 
durch welche es das feinere Verständniss und die sichere Uebung 
in der Beurtheilung der flächenhaften Dimensionen erlangt (vgl. 
Wandt, Beitr. zur Theorie der Sinneswahrn. S. 289). Gleichwohl 
besteht zwischen der Hirnprädisposition zur Flächenwahrnehmung 
und der zur Tiefenwabrnehmung ein Unterschied, welcher beweist, 
dass die erstere viel stärker durch Vererbung befestigt ist, 
also viel weiter in der Ahnenreihe des Menschen hinaufreicht als 
die letztere; es funetionirt nämlich die erstere in ihrer einfachsten 
Gestalt ohne alle Uebung, wie die Operationen von Blind- 
geborenen beweisen, während die letztere erst durch individuelles 
Experimentiren geweckt und durch individuelle Uebung nach- 



166 Text der ersten Auflage. 

gemeisselt werden muss. Dieser Unterschied ist für die teleologisch- 
metaphysischen Eingriffe der Ph. d. U. ein unerklärliches Problem, "*) 
während er sich vom Standpunkt der Descendenztheorie ganz leicht 
durch das höhere Alter erklärt. Wie viel Millionen Jahre mögen 
unsere Ahnen als Infusorien, Würmer and Knorpelfische in bloss 
zwei Dimensionen gesehen haben, ehe sie das Veretändniss der 
dritten auch für den Gesichtssinn erlangten, die sie für den Tastsinn 
und Muskelbewegungssinn schon viel früher besassenl Auch die 
richtige Deutung der Gesichtsempfindungen in Bücksicht auf Flächen- 
ausbreitung ist ein teleologisches Resultat, aber auch dieses werden 
wir analog dem Vorgang bei der dritten Dimension nicht als aus 
einem telelogischen Princip durch metaphysische Eingriffe ent- 
standen denken, sondern als aus einem allmählich Hand in Hand 
mit der Vervollkommnung des Organs von dem leicht empfindlichen 
Protoplasma der Monere bis zum Menschenaugenpaar fortschreitenden 
Anpassung an das gegebene Empfindungsmaterial unter dem Druck 
der praktischen Bedürfhisse des Lebens und der allgemeinen Con- 
currenz um die Erlangung der Bedingungen desselben. Weil wir 
die Prädisposition zur Fläohenanschauung so fertig überkommen, 
dass wir sie für ihre Fundamentalftmction gar nicht mehr zu üben 
brauchen, deshalb stehen wir so viel rathloser vor der Aufgabe, die 
elidirten Glieder des ursprünglichen Associationsproeesses zwischen 
Empfindung und Anschauung wissenschaftlich zu restituiren; bei 
der dritten Dimension ist die Sache so sehr viel leichter, weil die 
hier erforderliche individuelle Uebung den Abkürzungsproeess der 
Associationskette wenigstens in seinen hauptsächlichsten Stadien in- 
dividuell wiederholt und man sich hierbei unter abnorm günstigen 
Umständen selbst belauschen kann, sei es, dass diese Umstände 
pathologisch gegeben, sei es, dass sie durch sinnvoll erdachte (meist 
stereoskopische) Experimente herbeigeführt sind. Die Zeiten, in 
welchen die Abkürzung der Associationskette für die Genesis der 
Flächenanschauung vor sich ging, liegen Millionen Jahre hinter uns, 
und selbst wenn sie sich heute noch wiederholen, so wäre es doch 
höchstens in niederen Thieren, in deren Seele uns kein Einblick 
vergönnt ist. Gleichviel nun, ob die Schwierigkeiten dieses Problems 
für uns überhaupt lösbar sind oder nicht, so steht doch so viel fest, 
dass wir in unserm menschlichen Intellect die Ursache der Flächen- 
anschauung ebenso wie die der Tiefenanschauung lediglich in einer 



IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 167 

angeborenen Prädisposition des Gehirns zn suchen haben, wie 
Schopenhauer dies ganz richtig anticipirt hat (Ph. d. U. S. 305 — 306),*) 
ohne jedoch die Art der Genesis dieser Prädisposition als Ererbung 
eines in früheren Stufen unserer Ahnenreihe erworbenen und ge- 
steigerten Besitzes zu vermuthen, Keinenfalls werden wir fernerhin 
mit der Ph. d. ü. (S. 307)**) die Unmöglichkeit behaupten 
dürfen, dass die Umwandlung der qualitativ verschiedenen Empfin- 
dungen in ein extensiv räumliches Bild ohne Beihülfe metaphysischer 
Inspiration geschehen könne, nachdem wir unsererseits die Möglich- 
keit erkannt haben, dass auch hier das Teleologische Resultat 
sein könne, ohne Princip zu sein, 123 ) und dass auch hier ein 
allmählich entstandenes und allmählich vervollkommnetes, aus der 
Concurrenz vielleicht zahlreich verfehlter Versuche siegreich hervor- 
gegangenes End-Resultat eines langen Entwickelungsprocesses vor- 
liegt m ) Wir wollen in dem Folgenden versuchen, den Schwierig- 
keiten des Problems durch einige ihrer Natur nach ziemlich subtile 
Betrachtungen näher zu treten. 

Man liest noch oft in den neuesten Schriften gebildeter Natur- 
forscher eine verwunderte Hindeutung darauf, was das wohl für eine 
wunderliche Gesichtsanschauung der Welt sein müsse, welche den 
Insekten als Empfindungsmosaik durch ihre Facettenaugen 
zugeführt wird. Eine solche Bemerkung beweist nur, wie gross 
häufig noch bei Physiologen die Unklarheit über die psychologischen 
Probleme der Wahrnehmung ist. Denn da die Gesichtsempfindungen 
ebenso wie alle anderen Sinneswahrnehmungen durch isolirte Nerven- 
primitivfasern vom Sinnesorgan zum Bewusstsein geleitet werden 
müssen, so wird sich durch diese Uebertragung überall und in jedem 
Sinne nothwendig ein Mosaik von Empfindungen ergeben, gleich- 
viel ob der Reiz auf der ersten Schicht von Nervensubstanz, welcher 
er im Organ begegnet, als continuirliche Extension oder als mosaik- 
artige Summe von Beizen zur Geltung kommt. Ersteres Arrangement 
würde demnach gar keinen Werth für die Wahrnehmungen haben 
und ist deshalb auch in keinem Auge höherer Thiere benutzt. Im 
menschlichen Auge wirken die Stäbchen und Zapfen der Retina 
ganz ebenso wie die Facetten im Insectenauge ; auch bei uns sind 
die Endglieder der den Reiz recipirenden Nerven so arrangirt, dass 



*) 7. Aufl. I. 296—297. **) 7. Aufl. I. 297. 



168 Text der ersten Auflage. 

sie die Oesammtmasse der auf sie eindringenden Lichtwellen in 
discrete Grnppen gesondert, d. h. mosaikartig abgetheilt, recipiren. 
Der ganze Unterschied zwischen unserm Auge und dem der Insecten 
ist der, dass unsere den Reiz recipirende Schicht concav gebildet 
ist, die des Insectenauges hingegen convex, und dass diese besseren 
Schutz gewährende Gestaltung bei uns dadurch ermöglicht ist, dass 
wir nicht wie die Insecten die von den Dingen ausgehenden Licht- 
strahlen unmittelbar, sondern durch eine Linse gebrochen recipiren. 
Gesetzt den Fall, die Summe der Lichtstrahlen besässe wirkliche 
Continuität, was nach der atomistischen Annahme unserer Physik 
bekanntlich nicht der Fall ist, so würde doch die Ueberftihrung 
dieser objectiv- realen Continuität der Extension in die subjectiv- 
ideale unter allen Umständen eine Zerlegung in discrete Theile 
nothwendig machen, da die Zusammendrängung einer wirklich 
unendlichen Anzahl von discreten Nervenelementen in den be- 
grenzten Baum des Organs schlechterdings unmöglich ist. Sonach 
muss alle subjectiv- ideale Extension mit Nothwendigkeit eine 
Beconstruction aus einer endlichen Zahl discreter Empfindungs- 
elementen, d. h. ein Mosaik sein, und dieser allgemeingültige Satz 
findet sich empirisch am Menschenauge ebenso bestätigt, als am 
Facettenauge der Insecten. Die Thatsachen, dass wir dieses Mosaik 
discreter Empfindungen als extendirtes Gontinuum anschauen, 
lässt nach Analogie schliessen, dass die Insecten das Empfindungs- 
mosaik ihrer Facettenaugen ganz ebenso nur und ausschliesslich als 
continuirliches Bild anschauen. Die Stetigkeit, die wir in unsere 
Flächenanschauung hineinlegen, ist factisch eine Illusion in Bezug 
auf das gegebene Empfindungsmaterial, dem wir dieselbe aufheften; 
die Frage ist nur, ob diese Illusion der Anschauung, welche teleo- 
logisch unseren praktischen Bedürfnissen entspricht, eine active 
oder passive Illusion, ob sie eine künstlich zu dem Zweck des 
Sehens erzeugte, weise berechnete Selbsttäuschung, oder ob sie eine 
unwillkürlich durch die Unvollkommenheit der Perception and 
Distinction sich ergebende Erscheinung ist, die nur deshalb niemals 
eine Berichtigung erfahren hat, weil sie zufällig 126 ) gerade so am 
besten geeignet ist, uns das Verständniss der Aussenwelt zu ver- 
mitteln m ). Die erstere Annahme wird stillschweigend von der Ph. 
d. Unb. vorausgesetzt, und sie ist es eigentlich, welche die Schwierig- 
keit der Erklärung erzeugt; wäre aber die zweite Annahme die 



DL. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 169 

richtige, so würde mit dieser Erkenntniss eine Hauptschwierigkeit 
des Problems der Entstehung der Baumanschauung hinwegfallen. 

Wir glauben nun in der That die zweite Annahme für die 
natürlichere und wahrscheinlichere halten zu müssen. Wir wissen, 
dass wir pathologische Lücken des Gesichtsfeldes ebensowenig be- 
merken, wie die normalen Lücken der blinden Flecke. Nach der 
gewöhnlichen Annahme werden diese Lücken mit der Farbe und 
Helligkeit der Umgebung activ ergänzt 197 ); wir halten hingegen 
die Annahme für ausreichend, dass das Unterscheidungsvermögen 
der Perception von Natur zu stumpf sei, um diese Lücken in der 
Continuität des Gesichtsfeldes ohne specielle Richtung der Aufmerk- 
samkeit zum Bewusstsein zu bringen und dass diese Stumpfheit 
dadurch zur bleibenden Unfähigkeit geworden sei, weil sich 
niemals das praktische Bedürfhiss einer Beachtung dieser Lücken 
der Continuität geltend gemacht hat. Ist einmal begriffen, dass die 
Continuität doch nur eine wie immer entstandene Illusion sei, so 
handelt es sich bei den blinden Stellen nur darum, dass die Unter- 
brechungen weder an sich so gross und auffallend seien, um die 
vorhandene Illusion zu stören, noch auch, dass durch praktische 
Interessen die Aufmerksamkeit auf diese Lücken gelenkt werde. 
Wird die einmal bestehende Illusion der Continuität durch keine der 
beiden Ursachen alterirt, so besteht sie fort, auch ohne jede active 
Ergänzung der Empfindungslücken. 

Es ist von Helmholtz darauf aufmerksam gemacht worden, wie 
vielerlei Unvollkommenheiten unser Gesichtsorgan besitze, von denen 
allen wir nichts merken, und wie viele subjective Störungen der 
richtigen Wahrnehmungen aus denselben hervorgehen, die uns gar 
nicht zum Bewusstsein kommen. Die Ursache hiervon liegt allemal 
darin, dass wir nur Air solche Combinationen Hirnprädispositionen 
besitzen, welche uns zum Verständniss der Aussenwelt nützlich sind, 
dass wir nur diejenigen Anlagen der Perception üben und die Auf- 
merksamkeit nur für solche Vorgänge im Organ schärfen, welche 
geeignet sind, uns über die Vorgänge der uns allein wichtigen 
Aussenwelt zu unterrichten, und dass wir in Bezug auf solche Modi- 
fikationen der Organempfindungen, welche für diesen praktischen 
Zweck werthlos sind, niemals dazu gelangen, die ursprüngliche 
Stumpfheit und Unvollkommenheit unserer Hirnperception in Bezug 
auf die vom Organ zugeführten Beize durch Aufmerksamkeit zu 



170 Text der ersten Auflage. 

verschärfen und durch Uebung zu vervollkommnen und die so er- 
worbenen Prädiapositionen dann weiter zu vererben. Wir befinden 
uns hinsichtlich der Perception der für das Verständnis der Aussen- 
welt werthlosen Zustände der Organempfindung heute noch ungefähr 
auf derselben Stufe) wie ein Individuum hinsichtlich der werthvollen 
und wichtigen Organempfindungen einnehmen würde, welches gar 
keine Gehirnprädispositionen fiir die Wahrnehmungsprocesse ererbt 
hätte, die Aussenwelt zu verstehen, um in derselben leben zu können. 
Stellt man sich den unter dieser Voraussetzung selbstverständlichen 
Grad von Stumpfheit der Perception vor, so wird man sich nicht 
wundern, dass in uns die werthlosen Organempfindungen ebenso 
spurlos dem Bewusstsein verloren gehen, wie in einem solchen 
Individuum überhaupt alle dem Bewusstsein verloren gehen wür- 
den. (Auch ein Thier nimmt nur einen sehr geringen Theil der 
ihm zufliessenden Wahrnehmungen in sein Bewusstsein auf, weil 
seine Interessen so beschränkt sind.) Nachdem wir diese Unter- 
schiede in Feinheit und Stumpfheit der Perception für Empfindungen 
desselben Organs constatirt haben, verschwindet jedes Bedürfnis, 
eine active Ergänzung des Gesichtsfeldes zu Hülfe zu nehmen, 
um die Thatsache zu erklären, dass die bestehende Illusion der 
Continuität des Gesichtsfeldes durch die blinden Stellen nicht be- 
einträchtigt wird. 

Erwägen wir nun aber, wie gross der Durchmesser der Lücke 
bei dem blinden Fleck ist im Verhältniss zu der Kleinheit der Lücke 
zwischen den Mittelpunkten der zwei benachbarten Nervenprimitiv- 
fasern entsprechenden Empfindungsstellen des Gesichtsfeldes, so 
leuchtet ein, dass diese letzteren Differenzen noch für ein sehr viel 
schärferes Perceptions- und Distinctionsvermögen, als das unserige 
nach obigem Beispiel ist, unpercipirbar bleiben müssen, so lange 
nicht die allerdringendsten Aufforderungen von Seiten des praktischen 
Bedürfnisses die Aufmerksamkeit nach dieser Richtung schärfen. 
Da solche nicht vorliegen, so dürfen wir unsere obige Annahme als 
berechtigt ansehen, dass nämlich unsere Perception viel zu stumpf 
und unvollkommen ist, um die mosaikartig in einer Fläche nach 
ihren Localzeichen geordneten Empfindungen, welche durch sämmt- 
liohe Primitivfasern eines Sehnerven hervorgerufen werden, von 
einer wirklich continuirlichen Fläche zu unterscheiden; da sie zu 
stumpf ist, um die Lücken zwischen den discreten qualitativ be- 



IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 171 

stimmten Empfindungen als solche aufzufassen, so muss die Per- 
ception als continuirlich extensive in's Bewusstsein treten. Schon 
durch die recht ansehnliche Zahl der isolirten Nervenelemente 
(namentlich an der Stelle des deutlichsten Sehens) ist dafür gesorgt, 
dass der überwältigende Beichthum der gleichzeitig anf die Per- 
ception des Gehirns einströmenden Summe von Empfindungen dieses 
nicht dazu kommen lasse, das Manko in der Stetigkeit nach beiden 
Dimensionen sich zum Bewusstsein zu bringen. 128 ) 

Nachdem wir die anscheinende Continuität der Baum- 
anschauung als eine passive, aus der Unvollkommenheit unserer 
Auffassung herrührende Illusion erkannt haben, die zu ihrer Er- 
klärung keines activen Zuthuns der Seele bedarf, haben wir weiter 
zu betrachten, wie die Entstehung eines zweidimensionalen Em- 
pfindungsmosaiks möglich sei. 

Wir haben hierbei zunächst daran zu erinnern, dass der Begriff 
der Dimension w e i t e r ist als der der räumlichen Dimension. Im ma- 
thematischen Sinne versteht man unter einer Dimension die eindeutige 
Bestimmungsfähigkeit durch e i n e Variable, so dass also die Anzahl 
der zur eindeutigen Bestimmung erforderlichen Variabein der Anzahl 
der Dimensionen gleich ist. Auch der einfache Ton ist eine Em- 
pfindung von zwei Dimensionen, denn er braucht zu seiner Bestim- 
mung zwei Variable: Tonstärke und Tonhöhe. Zwischen dieser 
zweidimensionalen Empfindung und den zweidimensionalen Empfin- 
dungen der Looalzeichen der Netzhauteindrücke besteht nun aber 
ein wesentlicher, bisher nicht in seiner fundamentalen Bedeutung 
beachteter Unterschied: von Tönen sind stets nur einer oder einige 
wenige zugleich im Bewusstsein, von den Localzeichen der Netz- 
haut sind zu jederzeit alle zugleich im Bewusstsein. Die Töne 
liegen so weit von einander ab, dass sie als discrete Empfindungen 
mit Lücken zwischen sich percipirt werden; die Empfindungen der 
Netzhaut aber liegen so nahe an einander, dass ihre Lücken sich 
der Perception entziehen und die Illusion der Continuität entsteht. 
Bei Tönen hat der Intellect ein Interesse daran, selbst nahe an 
einander gelegene Empfindungen als discrete auseinander zu 
halten; bei den Netzhautempfindungen hat er im Gegentheil Vor- 
theil von der Illusion der Continuität. Bei naheliegenden 
Tönen geben die heftig sich bemerkbar machenden Schwebungen 
ein Hülfomittel, die Discretion festzuhalten; bei den Netzhaut- 



172 Text der ersten Auflage. 

empfindungen fehlt etwas Aehnliches. Gesetzt den Fall, es gäbe 
keine Schwebungen and keine Combinationstöne, gesetzt ferner, es 
gäbe die Möglichkeit, zwei einfache Töne von gleicher Höhe aber 
verschiedener Stärke auseinander zu halten (was nicht angeht), ge- 
setzt endlich, jede Pfeife einer Orgel gäbe statt eines zusammen- 
gesetzten Klanges einen einfachen Ton, so würde man sich das 
Analogon der beständigen im Wachen nie aufhörenden Empfindung 
des Gesichtsfeldes (ganz abgesehen von seinem concreten Inhalt) 
dadurch für den Gehörsinn vergegenwärtigen können, dass man auf 
einigen tausend gleichen Orgeln gleichzeitig die sämmtlichen Pfeifen 
einer jeden dauernd ertönen lässt, aber so, dass jeder Ton auf jeder 
Orgel in einer andern Intensität erklingt. Dies Beispiel hinkt in- 
sofern, als die in zwei Dimensionen geordneten Localzeichen zu- 
sammengenommen nur eine intensiv schwache Nervenerregung 
geben, während die Ausführung des Analogons auch bei dem Zu- 
treffen aller unmöglichen Voraussetzungen doch noch eine so ge- 
waltige Nervenerschtttterung bewirken würde, dass sie nicht lange 
auszuhalten wäre. Ferner ist in den zwei Dimensionen der Ton- 
empfindung schon jener concrete Inhalt mit aufgenommen, der bei 
der Gesichtsempfindung erst in der Erfüllung der verschiedenen 
Stellen des Gesichtsfeldes mit Licht von verschiedener Intensität 
und Schwingungsgeschwindigkeit (Farbe) hinzukommt. Diese zwei 
Dimensionen der Lichtstärke und Farbe bleiben für das Auge ebenso 
discret wie Tonstärke und Tonhöhe für das Ohr, weil einerseits 
auch bei ihnen das praktische Interesse an die discrete Sonderung 
und nicht an die continuirliche Verschmelzung geknüpft ist, und 
weil andererseits auch sie nur in grossen Intervallen und sporadisch 
vorzukommen pflegen (die anscheinende Continuität des Spectrums 
ist eine einflusslose und praktisch werthlose Ausnahme). Diejenigen 
Empfindungen der Netzhaut hingegen, welche unabhängig von der 
Qualität des äusseren Reizes als in zwei Dimensionen gegebene 
Localzeichenempfindungen uns in dem nie verschwindenden Gesichts- 
feld beständig vor Augen stehen (sowohl in den belichteten, wie 
in den schwarzen Stellen desselben), diese haben neben dem Vorzug 
ihrer ununterbrochenen Einwirkung auf den Intellect zugleich 
den Vorzug, in einer unverändert bleibenden Summe gegeben zu 
sein, welche alle möglichen Werthe der beiden in ihnen enthaltenen 
Variabein innerhalb gewisser Grenzen (nämlich von Null bis auf 



IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 173 

das Maass der den Bandempfindungen der Retina zukommenden 
Localzeichen) in solcher Vollständigkeit erschöpft, dass die 
Lücken zwischen den einzelnen Stufen nicht zur Perception ge- 
langen. Die Folge hiervon ist, dass, wenn man eine beliebige Em- 
pfindung herausgreift, dieselbe unter allen Umständen in jeder 
der beiden Dimensionen zwei unmittelbare Nachbar- 
empfindungen hat, welche gleichzeitig mit ihr actuell sind 
und deren Abstand von ihr (im Sinne des Maasses der quantitativen 
Veränderung des Localzeichens, also noch nicht im räumlichen 
Sinne zu verstehen) nicht so gross ist, um als Lücke pereipirt 
werden zu können. Diese Vollständigkeit des Empfin- 
dungscomplexes, welche in der überall bestehenden vier- 
fachen Nachbarschaft für jede Einzelempfindung gewährleistet ist, 
nnd welche auch bei dem Nullpunkt — oder dem Punkt des mittle- 
ren Abstandes (wie oben zu verstehen) von den Empfindungen mit 
maximalen Localzeichen (Bandempfindungen) — nicht unterbrochen 
wird, verleiht diesem Empfindungscomplex eine Geschlossen- 
heit, welche ausser bei dem Tastempfindungscomplex bei keinem 
andern Sinne auch nur in annähernder Aehnlichkeit wieder 
vorkommt 

Erwägen wir nun, dass die oben (S. 168—171) aufgestellten 
Betrachtungen über die nothwendige Entstehung der Illusion der 
Continuitäf eine ganz allgemeine Geltung haben, welche oben nur 
der Deutlichkeit wegen auf ein räumliches Mosaik bezogen 
wurde, aber von der Räumlichkeit oder extensiven Beschaffenheit des 
zweidimensionalen Empfindungscomplexes ganz unabhängig ist, li9 ) 
so sieht man sofort, dass unser in sich geschlossener zweidimensio- 
naler Empfindungscomplex zugleich als lückenlos continuirlicher 
erscheinen muss. Erinnern wir uns endlich daran, dass in diesem 
Complex doch schon die constructive Arbeit der Ordnung der 
Localzeichen nach zwei Dimensionen vorausgesetzt ist, dass also 
das so erlangte Resultat etwas ganz anderes ist, als die noch 
rohe Summe der gegebenen Elementarempfindungen, dass mit 
einem Wort auf der jetzt erklommenen Stufe schon eine An- 
schauung vorliegt, in welcher elementare Empfindung und con- 
8trnctive Vorstellungsarbeit durch einen Abkürzungsprocess der 
Association unbewusst geworden sind, so haben wir eine solche 
Combination erlangt, dass wir sehr wohl sagen können: wir haben 



174 Text der ersten Auflage. 

die extensive Flächenanschauung in ihrer Genesis begriffen. Denn 
was sollte für ein Merkmal zu derselben fehlen, wenn wir hinstellen: 
einen in sich geschlossenen/ anscheinend lückenlos-continuirlichen, 
zweidimensionalen Empfindungscomplex von bestimmter Maximal- 
grenze, welcher als Anschauung, d. h. als fertiges Resultat vor's 
Bewusstsein tritt. Letzten Endes lässt sich keine Anschauung so 
beschreiben, dass einer sie verstehen kann, der nicht selbst diese 
Anschauung schon besitzt; aber dieses Specifische der Anschauung, 
was wir als in der Genesis derselben begründet erkannt haben, ist 
eben schon in diesen Empfindungscomplex durch die nähere Be- 
stimmung mit hineingelegt worden, dass derselbe als fertige An- 
schauung vor's Bewusstsein tritt. In gewissem Sinne ist hiermit die 
räumliche Flächenanschauung als solche für eine Illusion erklärt; 
wer sich aber erinnert, dass wir auch die Tiefenanschauung und 
ebenso die Continuität der Extensionen für Illusionen erklären 
mussten, ja sogar, dass wir in gewissem Sinne jede Anschauung 
für eine Illusion in Bezug auf ihren wirklichen Empfindungsstoff er- 
klären mussten, der kann für die Flächenanschauung nichts anderes 
mehr erwartet haben. Was wir Flächenanschauung nennen, das 
ist eben jene genetisch mit Notwendigkeit so und nicht anders 
erwachsene Form der Illusion, die wir durch nothwendige Associa- 
tion mit diesem zweidimensionalen geschlossenen Empfindungscomplex 
der Netzhautlocalzeichen verknüpfen. 180 ) Diese Illusion ist uns 
nützlich, weil sie in Verbindung mit der dritten Dimension nach 
Umständen gut genug der in sich geschlossenen dreidimensionalen 
Ordnung der realen Dinge entspricht, welche letztere mindestens 
hinsichtlich der realen Bewegung eine wirklich continuirliche 
ist Die letzten Endes aus der Unvollkommenheit unserer Auffassung 
entspringende Illusion ist es also allein, welche uns die auf keine 
andere Weise für uns zu erlangende Möglichkeit verschafft, unser 
subjectives Abbild der Ordnung der wirklichen Dinge einer wichti- 
gen Eigenschaft derselben conform zu machen. 

Das Einzige > was bei der vorangehenden Erörterung noch 
zweifelhaft geblieben ist, ist der Vorgang des Ordnens der rohen 
Empfindungsmasse nach den quantitativen Verhältnissen ihrer Local- 
zeichen in den zwei Dimensionen. Zunächst ist das Missverständniss 
auszuschliessen, als wäre dieses Ordnen als ein räumliches Um- 
stellen zu verstehen; davon kann vor Fertigstellung der Baum- 



181. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 175 

anschauung natürlich nicht die Rede sein; ein solches Missverständniss 
würde das andere voraussetzen, dass die discreten Empfindungs- 
elemente vor ihrer Ordnung nach den Dimensionen einen gewissen 
Platz im Bewusstsein hätten, welchen es zu ändern gälte. Dies 
ist natürlich ganz verkehrt; das Zugleichsein der elementaren Em- 
pfindungen im Bewusstsein kann nur ein durchaus raumloses sein, 
und der Begriff des Ordnens ist nicht als das Schaffen eines noch 
nicht Vorhandenen zu verstehen, sondern als das Entdecken des 
bereits durch die Organeinrichtung Gegebenen mit Hülfe eines idea- 
len Durchlaufens der Empfindungen in der durch die gesetzmässige 
Aenderung ihrer Localzeichen bedingten Reihenfolge, als ein geistiger 
Orientirungsprocess des Bewusstseins in der gegebenen 
Empfindungsmasse, als dessen dauerndes Resultat durch Abkürzung 
der Ideenassociation die Neigung zurückbleibt, beim künftigen 
Durchlaufen dieser Massen mit der Aufmerksamkeit von jeder Em- 
pfindung immer nur auf ihren unmittelbaren Nachbarn und von 
diesem wieder nur auf den nach demselben Aenderungsgesetz sich 
anreihenden Nachbarn überzugehen, oder mit anderen Worten beim 
Durchlaufen der Empfindungsmasse mit der Aufmerksamkeit keine 
Sprünge zu machen und Richtung zu halten (nach demselben 
Aenderungsgesetz der Localzeichen fortzuschreiten). Hat sich diese 
Prädisposition hinlänglich befestigt, so ist dasjenige erreicht, was 
wir unter dem Namen des Ordnens der Empfindungen als erste 
Voraussetzung der Entstehung der Raumanschauung fordern muss- 
ten, 131 ) und alsdann geht der Abkürzungsprocess der Ideenassocia- 
tion in der eben ausgeführten Weise weiter, isa ) so dass die Auf- 
merksamkeit sich mit dieser hergestellten oder richtiger entdeckten 
Ordnung der Empfindungen gar nicht mehr beschäftigt, sondern 
sich der Totalität dieses nun ordnungsmässig beherrschten Empfin- 
dungscomplexes zuwendet. 

Wer in diesem Orientirungsprocess des Bewusstseins am Leit- 
faden der schrittweisen Aenderung der Localzeichen etwa eine 
Leistung sehen wollte, welche die intellectuelle Fähigkeit der nie- 
deren Thiere, in denen dieser Process sich vollzieht, tiberstiege, der 
ist daran zu erinnern, dass solches nur wahr sein würde von einem 
Intellect, der ohne ererbte Prädisposition einem solchen Reichthum 
gegenübergestellt würde, wie ihn etwa das Auge des Säugethieres 
oder auch schon das der Fliege bietet, dass aber obige Behauptung 



176 Text der ersten Auflage. 

sofort hinfällig wird, wenn man bedenkt, dass das Organ und die 
prädispositionelle Fertigkeit zur Benutzung der von ihm gelieferten 
Empfindungen Hand in Hand gehen und sich gemeinschaftlieh ganz 
allmählich Schritt vor Schritt vervollkommnen, so dass also auch 
jedes Wesen die der Complication seines Sinnesorgans 
entsprechenden Prädispositionen des Centralorgans unfehlbar 
mit auf die Welt bringt und seinerseits nur die Aufgabe vorfindet, 
bei der Concurrenz um möglichst vorteilhafte Ausnutzung (und zu 
dem Zweck um möglichst genaues Verständniss der Aussenwelt) 
die ererbten Prädispositionen durch Probiren und Uebung um 
einen minimalen Zusatz zu steigern und zu vervollkomm- 
nen — und diese Aufgabe geht wahrlich nicht über -seine Kräfte. 133 ) 
Die vergleichende Anatomie lehrt uns ferner, dass die einfachsten 
Formen von Augen bei niederen Thieren zunächst durchaus nur der 
Unterscheidung von hell und dunkel dienen können, und dass schon 
eine gewisse Vervollkommungsstufe des Organs dazu gehört, um 
Lichteindrücke, welche von rechts oder links, von oben oder unten 
her das Organ treffen, als qualitativ verschieden auffassen zu können, 
und so die erste primitive Grundlage zu einer Ausbildung von 
Localzeichen zu gewinnen. In solchem Organ wird der gerade von 
vorn kommende Eindruck als der häufigste und deshalb normale 
und die von rechts, links, oben oder unten kommenden als specifische 
qualitative Modificationen der normalen Helligkeitsempfindung 
percipirt werden. Sie werden mit einem positiven oder negativen 
Localzeichen der einen oder der andern Dimension behaftet auf- 
treten. Die Beaction des Thieres auf jede dieser Modificationen 
wird sich verschieden entwickeln, weil mit dem Leuchtenden für 
jedes Tbier verschiedene praktische Interessen verknüpft sind, und 
es wird sich für jede Empfindung eine prädispositionelle Association 
mit gewissen Bewegungsreactionen herausbilden, auch ohne dass 
das Thier zu einer extensiven Baumanschauung gelangt So sehen 
wir, dass der Gesichtssinn der niederen Thiere schon lange 
vorher von erheblichem Nutzen werden kann, ehe seine Elemen- 
tarempfindungen so discret gesondert und so zahlreich neben- 
einandergestellt sind, um eine Baumanschauung zu erzeugen. 184 ) 
Auf dem Fundament jener Associationen von modificirten Gesichts- 
empfindungen mit bestimmten reflectorischen Handlungsweisen kann 
sich aber das Organ durch natürliche Zuchtwahl weiter entwickeln 



IX. Die Entstehung der Anschauungsfonn der Räumlichkeit. 177 

«und immer mehr and immer feiner unterschiedene Elementarempfin- 
dungen liefern. Dann wird irgend einmal ein gewisser Punkt 
eintreten, wo die immer noch massige Zahl modificirter Elementar- 
empfindungen als geschlossener continuirlicher Empfindungscomplex 
sich darstellt und dadurch die Illusion der räumlichen Flächen- 
anschauung erzengte; denn soviel geringer als die Zahl der dis- 
creten Empfindungselemente des Gesichtsfeldes, und soviel grösser 
als die Lücken zwischen je zwei benachbarten Empfindungen (resp. 
der quantitative Sprung zwischen ihren Localzeichen) bei einem 
solchen niederen Thiere ist, nm mindestens ebenso viel stumpfer ist 
auch das Perceptionsvermögen des Gentralorgans seines Intellects 
als beim Menschen, so dass auch hier der Illusion der Gontinuität 
kein Hinderniss im Wege steht. 186 ) 

So verschwinden die Schwierigkeiten des Problems mehr und 
mehr, je eingehender man dieselben aus dem Gesichtspunkt der 
Descendenztheorie und der prädispositionellen Vererbung zerglie- 
dert. 136 ) Wenngleich im Einzelnen noch immer vieles dunkel blei- 
ben wird, so glauben wir doch den Weg angedeutet zu haben, auf 
welchem weitere Forschungen mehr und mehr Licht über diese 
Fragen verbreiten werden. 

Es sei gestattet, am Schluss dieses Capitels eine kurze Bemer- 
kung über die apriorische Denkform der Causalität hinzuzufügen, 
welche Schopenhauer mit Recht die wichtigste (wenn auch mit 
Unrecht die einzige) Kategorie nennt, und welche er ebenso richtig 
(wie Raum und Zeit) als Gehirnfun et ion ansieht, deren speeifische 
Qualität natürlich als in der Beschaffenheit des funetionirenden 
Gehirns prädisponirt werden muss. Wir haben im Allgemeinen die 
apriorischen Denkformen schon am Schluss des VIII. Abschnitts 
behandelt, und hätten nicht nöthig, hier noch einmal auf einen 
speciellen Fall zurückzukommen, wenn nicht die hervorragende Be- 
deutung der Causalität und ihre nahe Zusammengehörigkeit mit 
den Anscbauungsformen des Baumes und der Zeit dazu aufforderte, 
an die Betrachtung der letzteren beiden noch einen Hinblick auf 
die erstere anzuschliessen. 

Schopenhauer begnügte sich damit, die Causalität für eine Hirn- 
funetion zu erklären, für die das Gehirn in demselben Sinne con« 
struirt sei, wie das Auge für das Sehen; auf die Genesis dieser 
Hirnprädisposition ging er ebenso wenig näher ein wie Kant, und 

fc. t. Hart mann, Das Unlewusste. 2. Aufl. 12 



178 Text <tar ersten Auflage. 

erklärte sieh mit der allgemeinen metaphysischen Behauptung einer 
Objeotivation des Willens zum Leben zufriedengestellt. Wir haben 
aber gesehen, dass der Wille eines Individuums ein Summations- 
phänomen aus den Atomkräften der Gentralorgane des Nerven- 
systems ist (vgl. oben S. 96—98), and dass der Wille zum Leben 
oder Dasein eben auch nur das Resultat eines Anpassungs- 
proeesses an das als Ausgangspunkt desselben gegebene Dasein 
ist i' 7 ) (vgl. oben S. 57—58). Somit sind also „Wille zum Leben" 
und „Hirnprädisposition der Causalität" coordinirte Wirkungen einer 
und derselben Ursache: „des Anpassungsprocesses an's Dasein in 
der Goncurrenz um dasselbe", und nimmermehr kann die eine dieser 
Folgen ohne näheres Verständniss als wirkende Ursache der andern 
behauptet werden. — Aber obwohl Schopenhauer die CausaHtät ab 
Gehirnfunction anerkennt, so verkennt er doch den himmelweiten 
Unterschied einer solchen aus bestehenden Prädispositionen heraus 
blind (d. h. unbewusster Weise) wirkenden Function und des durch 
den Abstractionsprooess herauspräparirten Elements, welches als 
integrirender Bestandteil complioirterer Vorstellungsmassen durch 
jene Function in diese letzteren hineingebracht ist, mit andern 
Worten er verwechselt die unbewusste mechanische Hirafanetion, 
welche zur eausalen Association von Vorstellungen nöthigt, mit dem 
logisch herauspräparirten Begriff der Causalität. Die Ph. d. U. 
sagt (S. 312—313)*): „Deshalb ist es falsch, den Causalitite- 
be griff als Vermittler für eine bewusste Ausscheidung des Ob- 
jecto»" (aus der Summe der gegebenen Empfindungen) „zu setzen, 
denn die Objecte sind lange vorher da, ehe der Cau- 
salitätsbegriff aufgegangen ist; und wäre dies auch nicht 
der Fall, so müsste auch dann das Subject gleichzeitig mit 
dem Object gewonnen werden. Allerdings ist fllr den philoso- 
phischen Standpunkt die Causalität das einzige Mittel, um 
über den blossen Vorstellungsprocess hinaus zum S objecte und 
Objecte zu gelangen (vgl. „das Ding an sich" Abschn. IV und V); 
allerdings ist für das Bewusstsein des gebildeten Verstandes das 
Object in der Wahrnehmung nur als deren äussere Ursache 
enthalten; allerdings mag(?) der unbewusste Prooess, welcher dem 
ersten Bewusstwerden des Objeots au Grunde liegt, diesem bewassten 



*) ?. AuÄ. I. 302-304. 



IX. Die Entstehung dir Anschauungsfoitn der Räumlichkeit. 179 

philosophischen Processe analog sein, — so viel ist gewiss» dass 
der Process, als dessen Resultat das äussere Otyeot dem Bewußtsein 
fertig entgegentritt, ein durchaus unbewusster i*t, und mithin, wenn 
die CausaEt&t in ihm eine Bolle spielt, was wir übrigens nie direet 
oonstatiren können, darum dooh keinenfalk gesagt werden kann, 
wie Schopenhauer thut, dass der apriorisch gegebene Cau- 
salitätsbegriff das äussere Object schaffe, weil man in 
dieser Ausdrucksweise den Begriff als einen bewussten auffassen 
mttsste, was er entschieden nicht sein kann, weil et viel, viel später 
gebildet wird, und zwar zuerst aus Beziehungen der bereits 
fertigen Objecto untereinander." (Vgl. auch „das Ding an sich" 
S. 66—74).*) 

Halten wir daran fest, dass der Process, als dessen Resultat 
das äussere Object dem Bewusstsein fertig entgegentritt, ein Process 
von Hirnsehwingnngen ist, l8S ) die durch die Moleeularbeschaffenheit 
des Gehirns formell prädisponirt sind, so ist die in dem Citat offen 
gelassene Frage, ob die Cautalität in demselben eine Bolle spielt, 
sehr leicht zu entscheiden. Es kommt nur darauf an, was hier unter 
Cansalhät verstanden wird. Verstehen wir darunter die oansalen 
Einwirkungen der Hirnmolecnle auf einander, so ist ihre Betheiligung 
selbstverständlich; verstehen wir darunter jene gleichviel wie be- 
schaffene, nioht selbst Begriff seiende, sondern erst das Material zur 
Bildung des Caugalitätsbegriff* erzeugende apriorische psychologische 
Function, so wird man dieser psychologischen Function darum ihren 
Namen nicht entziehen dürfen, weil wir sie als Function des 
materiellen Denkorgans näher bestimmen gelernt haben. 189 ) 
Versteht man aber unter der unbewussten Causalität eine metaphy- 
sisch spirituatistische Intuition, die über dem materiellen Penkorgau 
schweben soll, 140 ) und das getreue Abbild oder vielmehr Vorbild 
des philosophischen (bewussten) Causalitäts b e g r i f f 3 darstellen 
soll, 1 **) dann ist die Frage allerdings zu verneinen! denn zu 
einer solchen Hypothese liegt nicht nur keine Nöthigung vor, sie 
wird vielmehr durch die genügende physiologische Erklärung 
entschieden discreditirt- u2 ) 

Bei einer solchen Auffassung erhält freilich auqh die Behaup- 
tung Schopenhauer^, dass auch das niedrigste Thier schou der 



■ H ■ 1 9 9 ■ ^ 



*) gfft. Qnmdl. d. trwc. Realiwn. S. 96-105. 

12* 



180 Text der ersten Auflage. 

Causalität' bedürfe, am zu leben, eine modificirte Bedentang. Zu- 
nächst gilt dieselbe jedenfalls nur mit Einschränkung auf diejenigen 
Thiere, deren Verstandeskräfte hoch genug entwickelt sind, am von 
Objecten der Wahrnehmung bei ihnen reden zu können; denn 
nur bei solchen ist das Problem der Entstehung des Objects der 
Wahrnehmung gegeben, zu dessen Lösung Schopenhauer die Cau- 
salität fordert ; bei ganz tief stehenden Thieren wird ebenso wie bei 
Protisten und Pflanzen wohl von Empfindung, aber nicht mehr 
von Wahrnehmung im Sinne der Anschauung eines Wahr- 
nehmungsobjects die Bede sein können. Weiterhin aber gilt auch 
bei den wirklich wahrnehmenden Thieren Schopenhauers Behauptung 
nur in dem Sinne, dass in den Nervencentralorganen dieser Thiere 
auch schon ererbte Prädispositionen enthalten sein müssen, welche 
durch ihr Functioniren eine gewisse Associationsform von Vorstel- 
lungen zu Stands bringen, nicht aber in dem Sinne, als wäre ein 
bewusster oder unbewnsster Begriff oder Idee der Causalität bei 
dem Vorgang hn Spiele. Schopenhauer deutet mit Recht darauf 
hin, dass die Hirnfunction der Causalität als Verselbstständigungsact 
der Wahrnehmungen zu Objecten mit der Hirnfunction der dritten 
Dimension des Raumes in einer nahen Beziehung steht; haben 
wir nun vorhin gesehen, dass die dritte Dimension der Raum- 
anschauung im Thierreich erst ziemlich spät auftreten kann 
(jedenfalls lange nach der zweidimensionalen Raumanschauung, 
welche ebenfalls noch den niedrigsten Thieren fehlen dürfte), so 
haben wir hieran schon einen ungefähren Anhalt ftlr die Beurtei- 
lung der Entstehung der Prädisposition der Causalfunction. Wie 
wir oben (S. 176) erkannten, dass die durch verschiedene Local- 
zeichen gefärbten Sinnesempfindungen auch dann schon durch Asso- 
ciation von bestimmten Vorstellungen und Verhaltungsweisen einem 
Thiere nützlich werden können, wenn es noch nicht die räum- 
liche Ausbreitung dieser Empfindungen zur Anschauung vollzogen 
hat, ebenso werden wir zugestehen müssen, dass verschiedene Em- 
pfindungen überhaupt ohne alle Verselbstständigung 
derselben zu Wahrnehmungsobj ecten hinreichen kön- 
nen, um einem Wesen von einfacheren Lebensverhältnissen die ftlr 
seine Lebenszwecke nöthigen Reize und Warnungen zu ertheilen, 
dass also auch durch natürliche Zuchtwahl solche Wesen prä- 
dispositionelle Associationen zwischen bestimmten Em- 



IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit. 181 

pfindungen und bestimmten Handlungsweisen erwerben and vererben 
können, ohne das ihrem Bewusstsein eine objective Aussen- 
weit aufgegangen wäre. Wie das Ordnen der dureh Localzeichen 
gefärbten Tast- oder Gesichts- Empfindungen nur als Erleichte- 
rung für eine übersichtliche und zusammenfassende Orientirung 
dient, und deshalb erst dann nützlich wird, wenn der Reichthum 
der betreffenden Empfindungen ein gewisses Ma&ss überschreitet, 
ebenso ist auch die Construction einer objectiven Aussenwelt nur 
ein ebensolches Hülfs mittel der Uebersichtlichkeit, um die stets 
wachsende Totalsumme von Sinnesempfindungen unter solche ein 
heitliche Gesichtspunkte zu ordnen, welche den ererbten Prädispo- 
sitionen der instinctiven Verhaltungsweise auf diese Empfindungen 
am besten entsprechen; dies geschieht aber durch Zusammenfassung 
der qualitativ verschiedensten Empfindungen in die Anschauung 
eines selbstständigen und wirkenden Objects. Nach Entstehung der 
dreidimensionalen Baumanschauung vollzieht sich dieser Frocess 
ganz von selbst dadurch, dass alle Begriffe von Causalität, Sub- 
stautialität» Phänomenalität u. s. w. fehlen, also das Begriflsmate- 
rial zu einer Unterscheidung des eigenen Vorstellungsgespinnstes 
von der transcendenten Wirklichkeit mangelt, während anderer- 
seits die instinctiven Prädispositionen des Handelns ganz so func- 
tioniren, als ob das eigene subjective Wahrnehmungsbild selbst 
ein Wirkendes, Handelndes, feindlich oder freundlich in das Leben 
Eingreifendes wäre. Wie die Baumanschauung aus der Stumpfheit 
der Wahrnehmung entspringt, welche von den Lücken nichts merkt, 
so entspringt der naive Bealismus aus der Stumpfheit des 
Denkens! welchem noch die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen 
subjectiv-phänomenal und transcendent-real fehlt 143 ) (vgl. „das Ding 
an sich" S. 70 — 71),*) eine Unterscheidung, gegen die sich be- 
kanntlich heute noch ganze Philosophenschulen mit unbegreiflicher 
Verblendung und Hartnäckigkeit versperren. 



*) Krit GrundL d. transc. Realism. 8. 100—102. 



X. 



Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien' 

Prädisposition. 



Wie wir oben (S. 45—46) gesehen haben, daes gerade der 
naturwissenschaftliche Materialismus sich gegen die empirische Tbat- 
saehe der Natarzweokmässigkeit, welebe die Philosophie meistens 
anerkannte» eigenwillig deshalb verscbloss* weil ihm das Rüstzeug 
seines Wissens kein Erklärungsmittel Air eine solche Erscheinung 
bot, ebenso skeptisch, negirend oder ignorirend verhielt sieh der- 
selbe bisher meistenteils auch dem besonderen Fall 4er Natafr- 
aweekmässigkeit gegenüber* welcher in den Handlungen der 
Naturwesen »u Tage tritt und welchen wir, insofern der Zweck 
der Handlung dem Bewusstsein des Thieres nicht gegenwärtig sein 
kann, mit dem Worte Instinct bezeichnen. Obwohl in der That 
über den Instinct der Thiere viel gefabelt worden is% und auch 
wohl heute noch manche auf Treu und Glauben angenommene Be- 
hauptungen der genaueren Beobachtung und Bestätigung^ beriebaugs- 
weise Berichtigung bedürfen, so ist doch die Zahl unzweifelhafter 
Thatsachen auf diesem Gebiet so massenhaft und die Autopsie für 
jeden unbefangenen Beobachter der Natur überall so leicht zugäng- 
lich, dass wirklich nur systematische Voreingenommenheit das Vor- 
handensein des gebieterisch sich aufdrängenden Problems leugnen 
kann. Freilich findet man diese Voreingenommenheit heutzutage 
noch öfters selbst bei den Naturforschern, welche die Descendenz- 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und GÄÜ&lien-Prädisposition. lg} 

theoriö willig accepHrt haben, aber durch die theoretischen Anti- 
pathien ihrer Vergangenheit beeinflusst sind. Zu dieser Olasse ge- 
hört sogar Wallace, der den Einfluss der Gewohnheit bei der 
Entstehung des Instincts mit Recht hervorhebt, aber von der Psy- 
chologie des Menschen und der Thiere yiel zu wenig versteht, utn 
die sensuattstisohe Erklärungsmanier solcher Probleme, wie sie bei 
seinen Landsleuten besonders beliebt ist, in ihrer armseligen Plattheit 
zu durchschauen und die Grösse des Fortschritts zu ermessen, welcher 
durch Darwin's Ausbildung der Descendenltheorie auch auf psycho- 
logischem Gebiete angebahnt worden ist Der Nachweis, dass 
eine Function durch ein gewisses Maass von Uebung in sich ge- 
festigt und gestärkt wird, genügt diesem Standpunkte sofort, um 
das Vorhandensein einer angeborenen Disposition zu leugnen, ohne 
Rücksicht darauf, dass die Uebung nur den letzten Schliff und die 
volle Sicherheit der Beherrschung liefert, und dass ohne das An- 
geborensein der Disposition ein solches Resultat in so kurzer Zeit 
und mit so geringen Mitteln gar nicht erzielt werden konnte- So 
erlernt z. B. der junge Singvogel den Gesang seiner Art erst durch 
eine gewisse Uebung, aber der ältere Vogel braucht nach jedem 
Rauhen eine ganz ebensolche Periode der Uebung, um wieder die 
Herrschaft über die Stimme zu erlangen, ohne dass er seine Sanges- 
weise vergessen hätte, wie sein einsames Wiedereintiben derselben 
beweist; kann also unter solchen Umständen die dem jungen Vogel 
nöthige Uebung gegen die angeborene Prädisposition zu seiner 
Sangesweise sprechen? Es ist ferner wahr, dass erst die Nach- 
ahmung der Artgenossen dem Gesang des jungen Vogels die letzte 
Vollendung giebt, also als Hilfe für die Nachmeisselung seiner 
Hirnprädisposition dient, aber ungefähr denselben Gesang übt er 
sich auch einsam aufwachsend ein, es müsste denn zufällig ein 
talentloses und träges Individuum sein. Ebenso ist es wahr, dass 
der Nach&hmungsinstinct im Stande ist, die Functionsweise der 
ererbten Gesangs-Prädispositionen zu modificiren, d. h. ein Singvogel 
lernt den Schlag anderer Specien imitiren; dies ist um so weniger 
zu verwundern, als ja manche Vogelarten ihr musikalisches Bedürf- 
nis ganz und gar durch erborgte Weisen befriedigen; je schärfer 
andrerseits die eigentümliche Sangesweise einer Species ausgeprägt 
ist, um «o grosseren Widerstand wird die ererbte Prädisposition der 
Modiflcation durch den Nachahmungstrieb entgegensetzen. Bei dem 



184 Text der ersten Auflage. 

Sänger der Sänger, der Nachtigall, haben wir noch nichts von 
nennenswerthen Imitationen gehört; nur die von Natur schlechtesten 
Sänger lernen menschliche Melodien nachpfeifen, and allen eigent- 
lichen Singvögeln gefällt doch immer ihr eigenes Lied am besten. 
Ohne Zweifel bestehen auch in dem Vogelsang neben angeborenen 
Elementen typischer Bildungß- und Yerknttpfungsformen der Töne 
andere Elemente, welche der willkürlichen Modification des Gesanges 
einen gewissen Spielraum lassen, ganz wie wir dies bei der mensch- 
lichen Sprache gesehen haben (vgl oben S. 140 — 142). 

Es kann nicht unsere Absicht sein, uns hier auf eine längere 
Polemik gegen diejenigen einzulassen, welche die Thatsache des 
Instincts bestreiten, sondern wir nehmen das Problem, ebenso wie 
es die Ph. d. Unb. aufstellt, als gegeben an und wollen nun sehen, 
was die Descendenztheorie für Mittel zur Erklärung der wunderbaren 
Erscheinung an die Hand giebt. 

Wir haben in den vorhergehenden Abschnitten die Bedeutung 
der Vererbung hinlänglich erörtert; wir haben (S. 129—132) gesehen, 
wie der Organismus die Fähigkeit erwirbt, gewisse vorgestellte 
Bewegungen zur Ausführung zu bringen und wie diese Fähigkeit 
durch Vererbung und Zuwachs sich befestigt und steigert; wir haben 
ferner betrachtet (S. 128 — 129), wie die körperlichen Fertigkeiten 
im weiteren Sinne auf ererbten Prädispositionen sowohl des Gehirns 
als der untergeordneten Centralorgane des Nervensystems beruhen, 
wie man bei typischen Denkformen (S. 146 — 149) und bei anderen 
wichtigen Vorstellungselementen mit Recht von ererbten schlummern- 
den Gedächtnissdispositionen (S. 126—128) sprechen kann, und wie 
die geistigen Fertigkeiten, Anlagen und Talente, über deren An- 
geborensein alle Welt einverstanden ist, ebenfalls nur aus molecu- 
laren Prädispositionen des Gehirns für gewisse Arten und Formen 
des Functionirens erklärt werden können (S. 132—134). Wir sahen 
weiterhin (S. 153— 156), dass in der ererbten Hirnprädisposition für 
bestimmte psychische Functionsweisen jenes Element zu suchen ist, 
welches die Philosophie mit dem Worte a priori bezeichnet und 
dessen Bedeutung von der empirischen Psychologie so lange mit 
Unrecht verkannt worden war; wir erkannten insbesondere (S. 138 
bis 140), dass diejenigen Vorstellungsverknüpfungen zur prädisposi- 
tionellen Vererbung tendiren und besonders geeignet scheinen, welche 
aus einem Abkttrzungsprocess der Ideenassociation regulären und 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien-Präilisposition. 185 

wir fanden endlich (S. 118 — 120) r dass der Charakter im weitesten 
Sinne sammt allen dem Individuum in Handlungsweise, Benehmen, 
Manieren, Bewegung und Haltung anhaftenden Eigentümlichkeiten 
gleichsam den Grundstock der psychischen Vererbung bildet — 
Alle diese getrennt betrachteten Elemente finden wir nun vereinigt 
im Instinct wieder. Der Instinct ist zunächst „der innerste Kern 
jedes Wesens", wie sich schon daraus zeigt, dass er das Individuum 
zu den höchsten Opfern, sogar seiner Existenz, bringt (Phil, d. Unb. 
S. 101);*) beim Menschen aber nennen wir den tiefinnersten Kern 
des Wesens, der für all sein Thun und Lassen bestimmend ist, den 
Charakter (ebd. S. 236).**) „Wir werden später (Cap. ß. IV) 
sehen, dass man die Summe der individuellen Reactionsmodificationen 
auf alle möglichen Arten von Motiven den individuellen Charakter 
nennt und (Gap. C. X. 2) dass dieser Charakter wesentlich auf 
einer — zum kleineren Theil individuell durch Gewohnheit erwor- 
benen, zum grösseren Theil ererbten — Hirn- und Körperconstitution 
beruht; da es sich nun auch beim Instinct um den Beactionsmodus 
auf gewisse Motive handelt, so wird man auch hier von Charakter 
sprechen können, wenngleich es sich hier nicht sowohl um den 
Individual- als den Gattungscharakter handelt, also im Charakter 
hinsichtlich des Instinct» nicht das zur Sprache kommt, wodurch 
ein Individuum sich vom andern, sondern wodurch eine Thiergattung 
sich von der andern unterscheidet" (Phil. d. Unb. S. 79).***) 

Indem nun der Instinct ein prädisponirter Reactionsmodus auf 
gewisse Arten von Motiven ist, muss in der prädisponirten Willens- 
function zugleich die Vorstellung mit enthalten sein, welche den 
Inhalt des Ausführungswillens bildet (vgl oben 122—123 und 126 
bis 127); hierdurch stellt sich der Instinct als ererbtes Gedächtniss 
dar, was um so entschiedener hervortritt, je eigenthümlicher der 
Vorstellungsinhalt einer Instincthandlung in ideeller Hinsicht geformt 
und in sich abgeschlossen ist (z. B. die stereometrische Gestalt der 
Bienenzelle, oder die Form des Netzes der Kreuzspinne, oder die 
künstliche Construction des Cocons und seines Verschlusses durch 
manche Baupen). Wo sich der Vorstellungsinhalt einer Instinct* 



*) 7. Aufl. I 9S. 
«*) 7. Aufl. 1. 228. 
**) 7. Aufl. L 77. 



188 Ten* der enten Auflag*. 

handlang in so ausgeprägter, unverändert wiederkehrender Form 
darstellt, da kann man ihn mit Recht als eine typische Vorstellungs- 
form bezeichnen, welche sich in der Species durch Vererbung be- 
festigt hat 

Aller Instinct hat die Form des a priori, da eben der Inhalt 
seines Functionirens etwas setzt, was dem Individuum nicht von 
aussen empirisch gegeben ist, sondern durch eine ihm selbst un- 
verständliche unbewusste Function seines Nervenoentralorgans in 
fertiger Gestalt vor sein Bewnsstsein hingestellt wird; nur ist hier 
zugleich der unwiderstehliche Zwang der praktischen Ausführung 
mitgesetzt, Was bei dem theoretischen a priori nicht der Fall ist 
Wir werden später sehen, eine wie grosse Bolle bei der Entstehung 
solcher vererbter Gedächtnissprädispositionen die Abkürzung der 
IdeenasBodation spielt Jeder Instinct setzt eine Fähigkeit des Ge- 
brauchs der willkürlich bewegbaren Körpertheile voraus, und die 
meisten fordern speeifische Fertigkeiten* in oomplicirten Combinationen 
von Bewegungen (so z. B, das Schwimmen, Gehen, Klettern, Fliegen, 
Springen u. s. w.). Immer verbindet sich auch mit den Prädispo- 
sitionen zu solchen körperlichen Fertigkeiten ein gewisses Maass 
specifischer intellectueller Befähigung für Thätigkeitssphären ; mit 
der körperlichen Geschicklichkeit der Termiten, Biber, Vögel im 
Bauen ist unzweifelhaft eine gewisse geistige Anlage für dieses 
Gebiet verknüpft zu denken : man könnte sagen, diese Thiere haben 
eine Art Bau sinn. Ebenso kann man den Singvögeln ein ge- 
wisses musikalisches Talent, den Zugvögeln einen hochentwickelten 
Ortssinn zur Orientirung im Terrain nicht absprechen und doch 
stehen diese Befähigungen, welche nur durch ererbte Hirnprädispo- 
sitionen entstanden zu denken sind, im unmittelbaren Dienste der 
betreffenden Instinote und sind nur um derentwillen zur besseren 
Befriedigung der instinctiven Bedürfnisse vorhanden. Eine andere 
Reihe von Instincten, wie Nachahmungstrieb, Verheimlichungstrieb, 
Bosheit, Mitleid, Vergeltungstrieb, Geschlechtstrieb u. s. w., führen 
uns unmittelbar aus den Instincten, wie sie bei den höchsten Thieren 
sich darstellen, zu den Charaktereigenschaften hinüber, zu welches 
dieselben bei den Menschen sich entfaltet haben (Ph. d. U. Gap. B I), 
und bei welchen die Bedingtheit durch moleculare Hirnprädisposi- 
tionen nicht mehr zweifelhaft ist 



X Der Instinct als ererbte Hirn- and GkngUen-Prädispogition. 187 

Dass die Ph. d. U. alle wesentlichen Punkte unserer ParalleH- 
situng einrftumt, geht aus denjenigen Theilen unserer Untersuchungen, 
auf welche ver Kurzem zurückgewiesen wurde, deutlich genug her- 
vor, und können wir uns deshalb die Wiederholung dieses Nach- 
weise« hier ersparen. Zum Ueberfluss spricht die Ph. d. Unb, in 
diesem Gap. selbst 8. 78 und 79*) der dritten Auflage (die Stelle 
kam erst in der zweiten Auflage als Zusatz hinein) ihre Ueberein- 
stimmung mit unseren Grundsätzen deutlich genug aus und giebt 
zu, dass die Instincte durch „morphologische oder moleoularphysio- 
logiache Pr&dfspositionen" verursacht sein könne*, indem diese „die 
unbewusste Vermittelung zwischen Motiv und Instincthandlung leichter 
und bequemer in die eine Bahn als in die andere lenken« (8, 78), *) 
Mit diesem aus dem Abschnitt herübergekommenen Zugeständnis» 
ist nun aber ein Keil in den Abschnitt A getrieben, welcher dienen 
vollständig aus seinen Fugen drängt; denn es ist hiermit ein natur- 
wissenschaftliche*! Erkl&rungsprincip für das Problem des Instinots 
gegeben, welches dem Princip des unmittelbaren teleologischen Ein- 
griffs von Seiten eines neben den Atomen des Organismus suppo- 
nirten metaphysischen Wesens vermittelst einer unbewussten hell- 
sehenden Intuition schnurstracks entgegengesetzt ist *") War das 
naturwissenschaftliche Erkl&runggprincip der molecularen Hirji- und 
Nervenprädisposition überhaupt einmal zugelassen, so lag der Ph. 
di Unb. auch die Pflicht oh, zu untersuchen, wie weit mit dieseib 
Prineip allein in der Erklärung der Erscheinungen des Instinets zu 
kommen war* und ob der als unerklärbar etwa übrig bleibende Best 
beglaubigter Thatsachen denn auch wirklich hinreichte, um neben 
dieeem naturwissenschaftlichen Erklärungsprincip das metaphysische 
des teleologischen Eingriff* supponiren zu müssen, 146 ) Diese Ver- 
pflichtung war um so dringender; 14e ) je fundamentalere Bedeutung 
diesem Capitel vom Instinct zukommt, je mehr die Resultate dieses 
Capitels es sind, - auf deren Schultern in Wahrheit die Hypothese 
der teleologischen Bmgriffe vermittelst unbewusster Intuition be- 
ruht '**) Wir haben sehen oben (& 36—37) darauf hingedeutet, 
dass hier der schwache Punkt der Ph. d. Unb« ?u suchen ist« Dass 
die zeitgenössische Kritik, welche sich mit diesem Werke in Ab- 
hätiähfflgta und Streitschriften eingehender als vielleicht Mit langer 



«i 



*) 7. AofL L 76—77. 



188 Text der ersten Auflage. 

Zeit mit irgend einem beschäftigt hat, von diesem klaffenden Riss 
im Fundament des Gebäudes selbst nach Erscheinen der zweiten 
Auflage mit dem erwähnten Zugatz, ja sogar nach Erseheinen der 
dritten Auflage mit der verhängnissvollen Anmerkung auf S. 12,*) 
auch nicht das allergeringste gemerkt hat, zeigt von Neuem, wie 
sehr sie die Geringschätzung verdient, mit welcher hervorragende 
Männer, wie Schopenhauer, sie stets behandelt haben. 

Betrachten wir nun, wie die Ph. d. U. das in der zweiten Auf- 
lage mit in dieses Capitel hineingeschobene Zugeständnis soweit zu 
verclausuliren versucht, um den Riss nothdtirftig zu verkleistern und 
nicht das ganze Buch von A bis Z umarbeiten zu müssen. Dieser 
Verclausirungen sind auf S. 79**) der 3. Auflage fünf angegeben, 
von denen aber nur die erste und fünfte wirklich die Behauptung 
einer Einschränkung für das Erklärungsprincip enthalten! während 
die 2, 3. und 4. Bedenken sind) welche sich nicht gegen die 
Brauchbarkeit des Princips zur Erklärung) sondern gegen die 
Schwierigkeiten richten, welchen die Frage nach der Entstehung 
der fraglichen Prädispositionen in gewissen Fällen oder in früheren 
Stadien der Entwickelungsgeschichte begegnet Beides ist jedoch 
wohl auseinander zu halten ; zunächst ist zu untersuchen, wie weit 
die Sphäre des durch diese Hypothese zu Erklärenden sich er- 
streckt, "*) und dann erst in zweiter Reihe ist nach Aufhellung der 
Genesis dessen zu streben, was zunächst als Thatsache behufs der 
Erklärung der Erscheinungen hypothetisch vorausgesetzt wurde. 
Dunkelheiten, welche in der Genesis bleiben dürften, würden bei 
dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss durchaus keine ent- 
scheidende Instanz gegen die Hypothese selbst abgeben können, 
falls nur das in dieser Supponirte wirklich zur Erklärung der Erschei- 
nungen in der Hauptsache hinreicht. Und dies ist in der That der FalL 

Die erste Glausel hat zu bemerken, „dass alle Abweichungen 
von den gewöhnlichen Grundformen des Instincts, insofern sie nicht 
bewusster Ueberlegung zugeschrieben werden können, in diesem 
(molecularen Hirn-) Mechanismus nicht prädisponirt sind" (S. 79)« *) 
Man kann dies zugeben, wenn man sich erstens Ober die „Grund- 



*) In der 7. Aufl. ist diese Anmerk. nicht enthalten, weil ihr Inhalt durch 
den Anhang des L Bandes und durch die Schrift: „W. u. I. im Darwinismus" 
inzwischen seine Erfüllung und Erledigung gefunden hatte. 

**) 7. Aufl. 1. 77. 



X. Der Instinct als fertige Ganglien- und Hirn-Prfidisposition. 189 

formen" des Jnstificts richtig verständigt und wenn man zweitens 
die Hodifioationen der bewussten zweckmässigen Ueberlegnng bei 
Thieren nicht zu gering anschlägt, denn dann bleibt in der That 
nichts von unerklärten Erscheinungen übrig. 149 ) Wenn die Bienen 
an den Wänden und der Decke nicht sechsseitige, sondern fünf- 
seitige Prismen bauen, so ist das nicht eine einmalige, unter ganz 
abnormen Umständen vorkommende, sondern eine stetig sich wieder- 
holende, gesetzmässige Modification des Instincts und demgemäss die 
fünfseitige Zelle am Rande ebensogut als typische Grundform der 
Instinctthätigkeit anzusehen wie die sechsseitige im Innern. Jeden 
Instinct auf eine einzige Grundform beschränken, hiesse der Natur 
eine Armuth aufzwingen, über die sie erhaben ist; überall, wo mo- 
dificirte Umstände in congruenter Form unter den natürlichen Lebens- 
verhältnissen wiederkehren, werden auch in den betreffenden In- 
8tincten mit Sicherheit sich typische Modificationen des Verfahrens 
herausbilden. Erst so gefasst wird das Bild einer Claviatur von 
Prädispositionen im Gehirn, wo die Tasten die Motive, die klingen- 
den Saiten die Instincte sind (Ph. d. U. S. 73—74),*) einiger- 
maassen der Fülle des Lebens entsprechend; so bleibt aber auch 
nichts Wunderbare» dabei und ist die Forderung vollständig ge- 
wahrt, dass die gewöhnliche und die modificirte Handlungsweise 
(insofern beide gesetzmässig auf gleiche Motive wiederkehren) aus 
derselben Quelle stammen (S. 76 oben).**) Betrachten wir tiefer 
stehende Thiere, bei denen ein nennenswertes Maass bewusster 
Ueberlegnng nicht vorauszusetzen ist, so werden sich die Functionen 
des gesammten Lebens in einem ziemlich engen Kreise typischer 
Formen bewegen, wenden wir aber unsern Blick auf klügere und 
höher stehende Thiere (oder selbst nur auf die klugen Arten der 
Insecten), so wird der Kreis von typisch modificirten Iustinct- 
handlungen in immer wachsendem Maasse durch immer feinere 
Modificationen und Accommodationen an die Beschaffenheit der 
concreten Fälle bereichert, welche aus der Mitwirkung der bewussten 
zweckmässig eingreifenden Ueberlegnng herrühren (vgl. S. 75 unten 
bis 76 oben), **) und durch diese oft schwer zu entwirrenden und ver- 
mittelst Gewohnheit und Vererbung flüssig in einander übergehenden 



*) 7. Aufl. L 71—72. 
**) 7. Aufl. I. 74. 



190 Text der erste* Auflage. 

Gombifcationen von Instinci und bewusster Ueberlegung erhalt erst 
die Lebenssphäre der höheren Thlere jene Breite und Manniob- 
faltigkeit, die im Menschen ihr Maximum auf der Erde erreicht 
Hiermit fallen aber die Einwendungen in sich ansammen, welche die 
Ph. d. U. gegen die Erklärung des Instincts duroh einen molecularen 
Gehirnmeehanismus aaf S. 73—77*) vorbringt, und mit der Not- 
wendigkeit der Elimination dieser Hypothese fällt wiederum der 
Antrieb hinweg, zu der anderartigen Hypothese eines rein spirituellen 
Processes ohne materielles Substrat tiberzugehen, wo die unbewusste 
hellsehende Intuition des Zwecks als Vermittelungsglied zwischen 
dem Motiv und der Instincthandlung dienen soll. ,5 °) Dass die 
„mechanische Leitung und Umwandlung der Schwingung» des vor- 
gestellten Motivs in die Schwingungen der gewollten Handlung im 
Gehirn", welche Umwandlung eben durch die eingegrabene mole- 
culare Prädisposition bestimmt ist, nicht als solche, sondern nur nach 
ihrem Resultat in's Bewusstsein fällt, ist gar nicht „wunderbar" 
(S. 77),**) sondern entspricht vollständig allen gleichen Vorgängen 
der Motivation im menschlichen Charakter; alle Prooesse der Art, 
auch die mächtigten, bleiben unbewusst, und nur ihre Resultate 
drängen sich dann mit solcher Kraft ins Bewusstsein, dass jeder 
Widerstand der bewussten Vernunft gegen dieselben mitunter ver- 
geblich wird. Ist die typische Vorstellungsform, die den Inhalt der 
Instincthandlung bildet, nicht eingestaltig , sondern mehrgestaltig, 
d. h. m verschiedenen, an modificirte Motive angepassten Modiäoa- 
tlonen vorhanden, so ist natürlich der moleculare Umwandlung*- 
process der Schwingungen nur vermittelst einer Mehrheit von Hirn* 
prädispositionen, welche verschiedenen Tasten der Claviatur ent- 
sprechen, zu erklären (S. 77).**) 

Supponirt man nun aber auf diese Weise polymorphe Instincte 
für verschiedene modificirte Mutive, so hat man keinen Grund mehr, 
mit der Ph. d. Unb. in der fünften Clausel zu behaupten, „dass der 
unbewusste Zweck stets stärker bleibt, als die Ganglien*- (oder 
Hirn-) Prädisposition" (S. 80) ***) denn dieser unbewusste Zweck wird 
in der That nur da erfüllt, wo die entsprechenden Prädispositionen 



*) 7. Aufl. I. 71—75. 
'**) 7. Aufl. I. 75. 
**♦) 7. Aufl. I. 77. 



X. Der Instinct al8 ererbte Hirn- und Ganglien-Prädisposition. 101 

bereits vorhanden sind, oder wo die bewusste Ueberlegung aus- 
reicht, für den von dem Bewusstsein erkannten nächsten Zweck 
oder Mittelzweck zweckmässige Modificationen an den Instinct 
functionen anzubringen. 151 ) Unter den gewöhnlichen Verhält- 
nissen des Thierlebens reichen diese beiden Bedingungen zu, am 
das Verhalten des Thieres zweckmässig zn regeln, d. h. den unbe» 
wnssten Zweck (des Daseins als solchen) zn erfüllen; thäten 
sie es bei einer Species nicht, so hätte dieselbe ja längst aussterben 
müssen. 

Treten aber ausnahmsweise Verhältnisse an ein Thier heran, 
welche sein bewusstes Verständniss nicht zu bewältigen vermag, ttnd 
für welches es keine Prädispositionen zu instinctiv-richtigem Ver- 
halten besitzt, so erweist sich in solchem Fall der „unbewusste 
Zweck" als nicht stark genug, sich durchzusetzen, oder wie 
die Pb. d. Unb. es ausdrücken würde, die individuelle Vorsehung 
des Thieres lässt dasselbe im Stich, die teleologische Eingebung 
des Unbewussten, welche ja keine Verpflichtung hat, immer zu 
erscheinen, bleibt aus (S. 377 unten),*) kurz das Thier verhält 
sich unzweckmässig, und verfehlt den Instinctzweck, wofern es nicht 
gar an den Folgen seines unzweckmässigen Verhaltens zu Grunde 
geht. Ein Mechanismus, wie künstlich er sein mag, passt eben 
immer nur für gewisse Umstandscombinationen , und versagt für 
Fälle, auf die er nicht construirt ist, den Dienst, oder wirkt un- 
zweckmässig, es sei denn, dass seine Leistung durch bewusste 
Ueberlegung corrigirt wird. Gewiss kann man dabei nicht sagen, 
dass der Instinct irre, aber man kann ebensowenig sagen, dass 
er unfehlbar sei; er verrichtet wie jeder Mechanismus mit Zu- 
verlässigkeit eben nur den mehr oder minder eng begrenzten Kreis 
von Aufgaben, fftr die er construirt ist. Hiernach ist das zu corri- 
giren, was die Ph. d. Unb. über das Nicht irrenkönnen des 
Instincts vorbringt 1Äa ) (vergl. S. 87 und 377—379).**) Dass ein 
Mechanismus, wenn er wirkt, ohne Schwanken, Zögern und Zwei- 
feln mit mechanischer Sicherheit und Präcision wirkt, ist selbst- 
verständlich; dieser Umstand war am wenigsten geeignet, für eine 
metaphysisch - spiritualistische Hypothese ausgebeutet zu werden 



*) 7. Aufl. II. 8 oben. 
**) 7. Aufl. I. 84 u. H. 7-9. 



192 Text der ersten Auflage. 

(S. 87\ *) sobald nur erst einmal der Begriff des molecularen Hirn- 
mechanismus mit der za erklärenden Thatsache eonfrontirt worden 
war ; 15S ) denn diese besinnungslos zupackende Sicherheit wirkt für 
solche concreto Fälle, für die der Mechanismus nicht passt, ebenso 
verderblich (S. 1 25), **) wie in den Fällen der Zweckmässigkeit 
nützlich. Mit Recht aber wurde das Merkmal der Rapidität der 
Reaction auf das Motiv als ein solches angesehen, welches einen 
8pecifischen Unterschied zwischen Handeln aus Instinct und Ueber- 
legung begründet (S. 81 u. 87),***) oder genauer zwischen solchem 
Handeln, wo die Reaction auf das Motiv ausschliesslich durch 
das Functioniren instinctiver oder charakterologischer Prädisposi- 
tionen verursacht ist, und solchem, wo sich zwischen die instinctiv 
wirksamen Elemente eine mehr oder minder lange Erwägung von 
Motiven, Zwecken und Mitteln einschiebt, wo also das discur- 
sive Denken eine Menge Schritte machen muss, die bei der 
blossen einfachen Instinctreaction wegfallen. Immerhin aber wird 
auch bei letzterer der mechanische Umwandlungsprocess der Schwin- 
gungen des Motivs in die Schwingungen des instinctiven Wollens 
eine gewisse, wenn auch kurze, d. h. auf Bruchtheile einer Secunde 
beschränkte Zeit erfordern; bei unserer physiologischen Auffassung 
des Vorganges ist die Zeitlosigkeit oder Momentanität der Reaction 
unmöglich, und die Thatsachen geben für eine solche Annahme 
gar keinen Anhalt, da sie eben nur eine gewisse Rapidität der 
Reaction, d. h. eine relativ kurze Dauer, bei blossen Instinct- 
handlungen aussagen. Die Verantwortung für die Annahme einer 
zeitlosen Momentanität der unbewußten Intuition (S. 376) f) ist 
demnach lediglich der metaphysischen Speculation zu überweisen 
und findet in der Erfahrung keine Stütze. 154 ) 

Wenn die Ph. d. Unb. S. 79 tt) ™ der fünften Clausel sagt, 
dass auch der fertige Hülfsmechanismus nicht etwa zu einer be- 
stimmten Instincthandlung necessitirt, sondern nur prädispo- 
nirt, so ist dies ganz richtig, insofern nämlich eine Goncurrenz 
mit anderen ebenfalls erregten Prädispositionen des Gehirns statt- 



*) 7. Aufl. ü. 84L 

**) 7. Aufl. I. 121. 

•**) 7. Aufl. 1. 79 u. 84. 

t) 7. Aufl. IL 6. 

tt) 7. AuA. I. 77. 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien-PrAdispositlon. 193 

findet, mögen dies nun ebenfalls instinctive und charakterologische 
oder zunächst Gedächtnissprädispositionen sein, welche neue Motiv- 
reihen ans der Erinnerung in's Bewusstsein einfahren und so den 
Process aufs Neue compliciren. Gleichwohl wird die Ph. d. Unb. 
auf ihrem entschieden deterministischen Standpunct am we- 
nigsten bestreiten wollen, dass das Endresultat aller durch das 
zuerst auftretende Motiv angeregten Processe ein im strengen 
Sinne neeessirtes sei, und nur, wenn man ein einzelnes Ele- 
ment dieses dynamischen Gompromisses herausgreift, kann man von 
dieser künstlichen Abstraction sagen, dass sie allein nicht 
necessitire, sondern nur prädisponire. Wäre ein Fall denkbar, wo 
durch ein Motiv nicht mehr als eine einzige Prädisposition er- 
regt würde, so würde diese auch für sich allein necessitirend wir- 
ken. 156 ) So viel ist aber klar, dass, wenn man neben und hinter 
diesem mit naturgesetzlicher Notwendigkeit vor sich gehenden dy- 
namischen Process der Motivation im Gehirn noch ein metaphy- 
sisches Wesen als Superintendenten angestellt denken wollte (Ph. d. 
Unb. S. 80 oben),*) dieses die ganz klägliche Rolle des fünften 
Bades am Wagen spielen würde lö6 ) (vgl. das oben über den Moti- 
vationsprocess im Abschn. V. Gesagte). 

Die Ph. d. Unb. setzt in dem Gapitel „Instinct" noch ohne 
weiteres voraus, dass ein solcher molecularer Gehirnmechanismus 
dadurch entstanden gedacht werden müsse, dass die Vorsehung oder 
Natur ein- für allemal bewusst oder unbewusst den Instinctzweck 
im Voraus gedacht und mit Bücksicht auf diesen Zweck den be- 
treffenden Mechanismus dem Individuum eingepflanzt habe 157 ) (S. 73 
Mitte) **) Nach dem Abschnitt C der Ph. d. Unb. ist es aber 
selbstverständlich, dass, wenn ein solcher Gehirnmechanismus indi- 
viduelle Existenz hat, er ebenso wie die gesammte innere und äussere 
typische Organisation des Thieres, zu welcher er als integrirender 
Bestandteil gehört, ererbt ist, so dass dann die weitere Frage 
nur lauten kann, wie die Vorfahren zu diesem Besitz gelangt 
sind, den sie durch Vererbung auf ihre Nachkommen übertragen 
haben. — Dass jeder Instinct einen integrirenden Bestandteil des 
Gattungstypus bildet, erkennt auch die Ph. d. Unb. mehrfach an 



♦) 7. Aufl. I. 77 u. 

**) 7. Aufl. I. 71 Mitte. 

E, v. Hartmann, Das Unbowusate. 2« Aufl. 13 



194 Test der ersten Auflage. 

(z. B. S. 165);*) dass die Constanz des Gattungstypus aas der 
befestigten Vererbung entspringt, wird sie gewiss nicht in Abrede 
stellen wollen; da liegt es doch nahe, auch die Constanz der In- 
stincte in derselben Species ans der befestigten Vererbung zu er- 
klären und in dem fraglichen Zusatz (S. 78 unten bis 79 oben)**) 
wird in der That dieser Weg angedeutet. Nichtsdestoweniger 
steht am Schluss des Capitels (S. 102)***) zu lesen, dass die Con- 
stanz der Instincte aus der Constanz des Zweckes bei gleichen 
äusseren Verhältnissen folge. Hier haben wir, wie oben, zwei Er- 
klärungsprincipien für dieselbe Sache, von denen schon eines allein 
ausreicht. 168 ) Da das physiologische Erklärungsprincip der Ver- 
erbung ohnehin unabweisbar ist, so werden wir das teleologische 
um so mehr zurückweisen dürfen, als das actuelle Vorhandensein 
einer unbewussten Zweckvorstellung in den Instincten noch gar 
nicht erwiesen ist, im Oegentheil durch das Erklärungsprincip der 
ererbten Hirnprädispositionen selbst zu einer überflüssigen Hypothese 
geworden ist. 

Fragen wir nun nach der Entstehung der Hirnprädisposition 
im Individuum, so stehen wir in erster Reihe dem Problem der Ver- 
erbung gegenüber und hiergegen richtet sich die zweite der er- 
wähnten Clausein, indem sie besagt, „dass die Vererbung nur mög- 
lich ist unter beständiger Leitung der embryonalen Entwicklung 
durch die zweckmässige unbewusste Bildungsthätigkeit, allerdings 
wieder beeinflusst durch die im Keim gegebenen Prädispositionen" 
(S. 79). f) Wir haben oben im Abschnitt VI die Vererbung zu aus- 
führlich behandelt, um hier noch einmal darauf zurückzukommen 
und können hier nur recapituliren, dass die in der Erklärung der 
Thatsachen noch vorhandenen Schwierigkeiten und Dunkelheiten 
durch die Annahme unmittelbarer metaphysischer Eingriffe nicht ge- 
hoben oder aufgehellt werden können. 159 ) 

Hiernach bleibt nur die Frage übrig, wie in den Vorfahren 
die zu vererbenden Gehirnprädispositionen entstanden seien, und 
dieser Frage, gegen welche die 3te und 4te Clausel sich richtet, 



*) 7. Aufl. I. 159. 
**) 7. Aufl. I. 76 unt bis 77 oben. 
***) 7. Aufl. I. 99. 

t) 7, Aufl. I. 77. 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Gabglien-Prädisposition. 195 

haben wir nunmehr näher zn treten. Die Ursache dieser Entstehung 
ist unzweifelhaft in einer alimählichen Steigerung der vererbten Prä- 
dispositionen zu suchen, und, wie wir es an einzelnen concreten 
Beispielen schon in früheren Abschnitten (S. 37 fg., 128 fg., 176 fg., 
ISO fg.) erläutert haben, bietet die lange Generationenreihe von der 
niedrigsten protoplasmatischen Monere bis zu den höchsten Thieren 
Zeit und Spielraum genug, um ein solches Wachsthum frei von allen 
plötzlichen Sprüngen zu denken. 160 ) Das in der Urmonere durch 
die physikalischen und chemischen Gesetze gegebene Verhalten 
gegen die verschiedenartigen Beize bildet den Ausgangspunkt für 
diese Entwickelungsreihe, wie für jede andere, und die von der 
PL d. Unb. mit Recht so stark betonte Uebereinstimmung von or- 
ganischem Bilden und Instinct wird durch diesen gemeinsamen Aus- 
gangspunkt und die gemeinsamen Ursachen der Abänderung und 
Steigerung erklärlich; ebenso wird aber durch die inductiven Beweise 
fbr diese Uebereinstimmung das für das organische Bilden aner- 
kannte Erklärungsprincip der Descendenztheorie auf den Instinct 
übertragbar und so dienen die betreffenden Ausführungen der Ph. 
d. Unb. (S. 170-172, 435—440, 446-448)*) ganz direct zur Unter- 
Stützung unserer Behauptungen. 161 ) Noch deutlicher als bei 
Thieren treten die vermittelnden Uebergänge bei den Pflanzen her- 
vor, wo einerseits die bewusste Ueberlegung gar nicht modifi- 
cirend eingreifen kann und andererseits ausgebildete Centralorgane 
fehlen. 162 ) Hier springt der mechanische Charakter der instinc- 
tiven Prädispositionen natürlich viel greller in die Augen und ver- 
weisen wir deshalb besonders auf die zuletzt citirten Stellen aus 
dem Capitel C IV. der Ph. d. Unb. — 

Haben wir die natürliche Zuchtwahl als die wichtigste Ursache 
für die fortschreitende physiologische Differenzirung der Organismen 
erkannt, so wird sie es eben so gut für die fortschreitende Gewandt- 
heit in der Benutzung der differenzirten Organe sein. Dies ist um 
so einleuchtender, als auf den niederen Stufen des Thierreichs, wo 
bewusste Ueberlegung noch nicht weiter als Bestimmungsgrund des 
Handelns berücksichtigt zu werden verdient, jede Aenderung des 
instinctiven Verhaltens mit einer Aenderung der physiologischen 
Differenzirung der Organe Hand in Hand geht. 168 ) Die letztere 



*) 7- Aufl. L 16±-166; II. 69—74; EL 79-81. 

13< 



196 Text der ersten Auflage. 

wäre für die Lebenszwecke desThieres in vielen Fällen wer th los, 
wenn nicht die rechte instinctive Benutzung hinzuträte; die na- 
türliche Zuchtwahl würde dann also auf die Differenzirung und 
Vervollkommnung der Organe gar nicht wirken können, wenn sie 
nicht vermittelst einer damit Hand in Hand gehenden Verän- 
derung der Instincte auf sie wirkte, denn erst durch eine solche 
wird der Vortheil ausgenutzt, den jene im Kampf um's Dasein 
zu bieten vermögen. Da es sich bei allen solchen Abänderungen 
nur um minimale Modificationen handelt, m ) wie sie durch die 
natürlichen Differenzen der Individuen innerhalb derselben Art ge- 
geben sind, so scheint das Zuhülferufen teleologischer Eingriffe 
nicht erforderlich, d. h. es kann die Behauptung der Ph. d. Unb. in 
der 3ten Clausel, dass der Instinct ohne ererbten Hülfemechanismus 
die Ursache der Entstehung des molecularen Hülfsmechanismns 
in früheren Generationen gewesen sein müsse, nicht zugegeben 
werden. 166 ) Die Ph. d. Unb. verkennt in dieser Behauptung wie- 
derum die Möglichkeit höchst complicirter zweckmässiger Resul- 
tate ohne teleologisches Princip wie durch allmähliche Addition 
nützlicher zufälliger Abweichungen unter dem Einflass der natür- 
lichen Zuchtwahl 

In der That tritt aber zur Production individueller Differenzen 
durch zufällige Einflüsse und zur natürlichen Auslese derselben im 
Kampf um's Dasein noch ein anderes Princip von höchster Wichtig- 
keit hinzu, ohne welche die Entstehung des Instincts nicht zu ver- 
stehen wäre; dies ist bei geistig höher stehenden Thieren (also 
schon bei Insecten, vielleicht auch noch weiter abwärts) der Einflass 
der bewussten Ueberlegüng auf zweckmässige Modificationen 
des ererbten Instincts. 166 ) Solche durch bewusste Ueberlegüng 
herbeigeführte Modificationen werden alsdann, wenn sie sich als 
nützlich erprobt haben, den nachfolgenden Generationen theils durch 
Vererbung, theils durch Beispiel tiberliefert 167 ) und befestigen sich 
so durch Gewohnheit, 168 ) dass sie zum integrirenden Bestandteil 
des zu vererbenden Instincts werden. Sie addiren sich durch Ge- 
nerationen hindurch ganz ebenso wie die durch natürliche Zuchtwahl 
begünstigten zufälligen individuellen Abweichungen, und stellen 
sich ebenso wie diese vorzugsweise dann «in, wenn das Anpassungs- 
gleichgewicht der bisherigen Instincte einer Art an ihre Umgebung 
durch irgend welche Aenderungen (Einwanderung neuer Thier- oder 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien*Pradisposition. 197 

Pflanzenarten, Aenderung des Klimas, Wechsel des Wohnorts u. s. w.) 
alterirt wird, wo dann alle geistigen Kräfte der Species in Be- 
wegung gesetzt werden müssen, um ein nenes, möglichst günstiges 
Anpassungsgleichgewicht der Lebensgewohnheiten an die neuen Ver- 
hältnisse herzustellen. Wie bei menschlichen Stämmen und Staaten 
werden dann auch bei thierischen Specien gerade solche Katastrophen, 
welche den Bestand der Arten bedrohen, zu Vehikeln beschleunigten 
Fortschritts, indem sie die im Schlendrian der Gewohnheit ein- 
geschlummerten Geisteskräfte zu energischer Bethätigung an- 
spornen. 

Im concreten Falle mag es bei tieferstehenden Thieren, in deren 
Seelenvorgänge wir keinen rechten Einblick haben, schwer genug 
zu entscheiden sein, wie viel von den Aenderungen der Instincte 
dem blossen Erfolg der natürlichen Zuchtwahl und wie viel der 
Addition von zweckmässigen Modificationen aus bewusster Ueberlegung 
zuzuschreiben sei ; es dürfte dies um so schwieriger sein, als in der 
That meistens eine enge Verquickung beider Ursachen stattgehabt 
haben mag, und als die Erprobung, Bewährung und Erhaltung der 
zweckmässigen Modificationen aus bewusster Ueberlegung selbst eine 
natürliche Auslese der glücklichsten Gedanken 169 ) aus den minder 
glücklichen oder ganz unbrauchbaren genannt werden kann. Aber 

R 

gleichviel, ob im besonderen Falle die Abänderungen mehr aus der 
Erhaltung zufälliger individueller Differenzen oder mehr aus ratio- 
nellen Modificationen durch bewusste Ueberlegung herstammen, auf 
alle Fälle ist es das zur Gewohnheitwerden neu auftretender 
kleiner Abweichungen, was die alten ererbten Formen der Instincte 
modificirt und bei der Addition durch Generationen hindurch völlig 
umgestalten oder höher entwickeln kann. In diesem Sinne kann 
man sagen, jeder Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter 
Instanz ererbte Gewohnheit, und das alte Sprüchwort „Ge- 
wohnheit ist die zweite' Natur" erhält dadurch die unerwartete Er- 
gänzung, dass die Gewohnheit zugleich auch das Prius und der 
Ursprung der ersten Natur, d. h. des Instincts ist. Denn immer 
ist es die Gewohnheit, d.h. die häufige Wiederholung der nämlichen 
Function, was die gleichviel wie hervorgerufene Handlungsweise 
den Centralorganen des Nervensystems so fest eingräbt, dass die 
so entstandene Prädisposition vererbungsfähig wird. 17 °) 



198 Text der ersten Auflage. 

Was die empirischen Beläge zu den vorgetragenen Ansichten 
betrifft, so verweise ich vor Allem auf Darwin's Gapitel über den 
Instinct in seiner „Entstehung der Arten" und nebenbei auch auf 
das Gapitel „Philosophie der Vogelnester" in Wallace's „Beiträgen 
zur Th. <L nat. Zuchtwahl". Letzterer hebt den Einfluss der be- 
wnssten Ueberlegung auf die Modificationen des Nestbauinstincts 
bei Vögeln gut hervor, nur befindet er sich in dem Irrthum, als 
würde die so erlangte Gewohnheit bloss durch Lehre und Beispiel 
auf die folgenden Generationen überliefert; von einer gleichzeitigen 
Vererbung der durch diese Gewohnheit eingegrabenen Hirnprädispo- 
sition weiss er nichts und sncht deshalb, wie oben erwähnt, den 
angeborenen Instinct möglichst zu leugnen. 

Wir können hier nicht daran denken, ein vollständiges empi- 
risches Material herbeizuschaffen, sondern fügen nur einige Beispiele 
zur Erläuterung des im Allgemeinen Gesagten bei. 

Der amerikanische Kukuk baut ein eigenes Nest nnd finden 
sich in diesem Jnnge in verschiedenen Altersstadien und noch be- 
brütete Eier. Zugleich sind aber auch sichere Beispiele bekannt, 
dass dieser Vogel ausnahmsweise, wie es auch von manchen anderen 
Vogelarten constatirt ist, seine Eier in fremde Nester lege. Dass 
anch bei unserm Kukuk neuerdings Fälle bemerkt sind, wo er seine 
Eier selbst bebrütet und die Jungen selbst füttert, scheint zu be- 
weisen, dass die früheren Vorfahren desselben ähnlich dem ameri- 
kanischen Kukuk gelebt haben. Letzterer legt Eier, die seiner 
Grösse angemessen sind, ersterer hingegen viel kleinere Eier. Die 
Vermittelung bildet der australische Broncekukuk, dessen Eier so- 
wohl in Grösse wie in Farbe bedeutende individuelle Verschieden- 
heiten zeigen. Da nun unser Kukuk vorwiegend in den Nestern 
kleinerer Vögel Gelegenheit fand, seine Eier abznlegen, so mussten 
diejenigen Individuen, welche die kleinsten Eier legten, am meisten 
Nachkommenschaft erzielen, und die aus den kleinsten Eiern ent- 
sprossenen jungen Kukuke erbten die Eigenschaft, kleine Euer zu 
legen. Ebenso wenn sich von den individuellen Abweichungen der 
Färbung der Eier einige durch Aehnlichkeit mit den entsprechenden 
Nesteiern der Pflegeeltern nützlich erwiesen, so musste die natür- 
liche Zuchtwahl die Aehnlichkeit dieser Färbung steigere. Ob 
wirklich ein und dasselbe Kukuk weichen <föe Fähigkeit beaitst, 
Eier von ganz verschiedener Imitation der Färbung zu legen, 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und GangUen-Frädisposition. 199 

oder ob diese Unterschiede sieh nicht vielmehr auf verschiedene 
Individuen als Familienerbeigenthümlichkeit vertheilen; ob ferner 
der Eukuk sein Eli nach den betreffenden Nesteiern bildet, oder ob 
er nicht vielmehr sich ein Nest nach der feststehenden, also ihm 
bekannten Färbung seiner Eier aussucht, dies alles sind Fragen, 
welche zu ihrer Lösung erst noch genaueren Studiums bedürfen. 

Ein anderes Beispiel bietet die typische Form der Bienenzelle. 
Die Hummeln verwenden ihre alten Gocons zur Aufnahme von Honig, 
indem sie ihnen zuweilen kurze Wachsröhren anfügen ; auch fertigen 
sie einzelne abgesonderte und sehr unregelmässig abgerundete Zellen 
von Wachs an. Zwischen der Hummel und unserer Biene, wenn- 
gleich der ersteren etwas näher, steht nach Körperbau und Zellen- 
structur die mexikanische Melipona dornest ica, welche einen fast 
regelmässigen wächsernen Zellkuchen mit cylindrischen Zellen bildet, 
in denen die Jungen gepflegt werden, der aber ausserdem einige 
grosse annähernd kugelförmige Zellen zur Honigaufnahme enthält. 
Letztere sind so nahe aneinander gerückt, dass an den aneinander- 
stossenden Stellen Kugelabschnitte fehlen, und hier eine ebene 
Wachsschiebt die Scheidewand bildet. Manche Zellen haben zwei, 
andere auch drei solche ebene Berührungsflächen, und in letzterem 
Falle gruppiren sich diese drei Flächen zu einer dreiseitigen Pyra- 
mide, welche nach Huber offenbar als ein rohes Abbild der drei- 
seitigen Basalpyramide an der Zelle unserer Korbbiene zu betrachten 
ist. Denkt man sich nun die Zellen der Mdipona regelmässig in 
mehreren Schichten so gruppirt, dass sie sämmtlich drei Schnitt- 
flächen auf der einen Seite und drei Schnittflächen auf der andern 
Seite hervorbringen, in der Mitte aber zur Aufnahme von Honig 
oder Jungen hinreichend verlängert sind, so muss diese Mitte not- 
wendig die Gestalt eines sechsseitigen Prismas annehmen, und 
sämmtliche Winkel müssen sich unter den gegebenen Voraussetzungen 
von selbst ergeben, da sie durch die Zusammenlagerung und gegen- 
seitige Pressung und Abflachung der ursprünglich cylindrisch mit 
zwei halbkugelförmigen Enden gedachten Zellen rein stereometrisch 
bestimmt sind. Bedenkt man nun, dass Bienen ihre Arbeit stets 
mit rundlichem Aushöhlen eines massiven Walles von Wachs be- 
ginnen und erst zu guterletzt die Winkel scharf ausarbeiten, um 
das Maximum von innerem Baum zur Honigaufnahme zu gewinnen 
und das kostbare Material des Wachses nicht unnütz stark in 



200 Text der ersten Auflage. 

abgerundeten Ecken stehen zu lassen, bringt man ferner in Anschlag, 
dass die mathematische Genauigkeit ihres Arbeitsresultats denn 
doch auch wohl häufig tibertrieben worden ist, so wird man es 
nicht unwahrscheinlich finden, das frühere Vorfahren unserer Bienen 
dereinst in ähnlich unvollkommener Weise wie heute noch die 
Mexikanischen gebaut haben mögen und sich allmählich zur jetzigen 
vervollkommneten Bauart heraufgearbeitet haben mögen. 171 ) Dass 
die bewusste Ueberlegung, der in den Dienst des Bautalents genom- 
mene Scharfsinn dieser klugen Thiere dabei keine kleine Bolle ge- 
spielt haben mag, ist aus der verständigen Art und Weise zu 
schliessen, mit welcher sich gegenwärtig die Eorbbienen künstlich 
veränderten Verhältnissen innerhalb ihres Korbes zu accommodiren 
wissen. 

Mit Becht ist beim Bauen der Bienen und überhaupt im Leben 
der Insectenstaaten das wunderbare Ineinandergreifen der Instmete 
der einzelnen Individuen hervorgehoben (Ph. d. U. S. 97—99)*) 
und betont worden, dass ein so einträchtiges Znsammenwirken nicht 
von Antrieben der bewussten Ueberlegung, sondern nur von instinc- 
tiven Functionen zu erwarten sei Andrerseits wird man sich aber 
auch hüten müssen, die Mitwirkung der bewussten Verstandes- 
thätigkeit bei der Ausführung solcher instinetiven Functionen zn 
unterschätzen. Wir wissen, dass die betreffenden höheren Insecten 
eine ziemlich ausgebildete Zeichensprache besitzen, dass die In- 
dividuen derselben Gesellschaft sich persönlich kennen, dass eine 
gewisse hierarchische Bangordnung unter ihnen besteht, welche in 
den Kasten der Ameisenstaaten und in der Anstellung von Aufsehern 
und Ordnern bei der Arbeit sichtbar wird. Wir müssen ferner 
berücksichtigen, dass die Störung, welche bei modernen Menschen 
das einträchtige Zusammenwirken durch das prätentiöse Hervor- 
kehren der Individualitäten und durch die eitle Besserwisserei der 
Einzelnen erleidet, bei der Gemeinschaft von Wesen, die ein derartig 
ausgebildetes Gefühl der Persönlichkeit noch gar nicht besitzen, 
kaum zu erwarten steht, und wir werden uns den Unterschied 
schon an einem uns näher liegenden Beispiel klar machen können, 
wenn wir an die instinetive Eintracht des Zusammenwirkens bei 
einem auf dem Eriegspfade befindlichen Trupp Indianer denken, 



*) 7. Aufl. L 94-97. 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Granglien-Prftdisposition. 201 

wie sie durch die Gemeinsamkeit des Zweckes, die Gleichheit der 
gewohnten Mittel in seiner Verfolgung und die Stärke des Zu- 
gehörigkeitsgeflihls zu dem socialen Ganzen geschaffen wird. Je 
enger and beschränkter der Kreis der zu verrichtenden Functionen 
ist, je fester diese und die bestimmte Form der Arbeitsteilung 
als schlummernde Gedächtnissvorstellungen und instinctive Triebe 
dem Centralorgan des Nervensystems imprägnirt sind, je weniger 
das Gefühl der Individualität und das Bestreben, diese als solche 
zur- Geltung zu bringen, entwickelt ist, desto einfachere Zeichen 
werden zur Verständigung über die der Willkür überlassenen 
Elemente der Cooperation genügen, und desto grösser wird die 
Eintracht des Zusammenwirkens und die Zweckmässigkeit des 
heinandergreifens der Functionen der Einzelnen sein. Da alle 
diese Bedingungen in den Insectenstaaten in hohem Maasse erfüllt 
sind, so scheint es nicht erforderlich, ausser den prädispositionellen 
Instincten und der Verständigung durch Zeichensprache noch spe- 
ciale teleologische Inspirationen eines metaphysischen Unbewussten 
als Regulator der Cooporation zu supponiren. 17t ) 

„Jedes Thier wählt gerade diejenigen pflanzlichen oder thieri- 
schen Stoffe zu seiner Nahrung aus, welche seiner Verdauungs- 
einrichtung entsprechen" (Ph. d. U. S. 89). *) Der Gesichtseindruck, 
häufiger noch der Geruchseindruck, erweckt in dem Thier instinctiv 
ein Verlangen nach der Speise oder einen Widerwillen gegen die- 
selbe. Offenbar haben wir es hier mit ererbten Prädispositionen zu 
thun, mag nun die Nahrung des Thieres auf eine einzige Pflanzen- 
art oder Thierart beschränkt sein, oder zahlreiche Glassen von 
Naturproducten umfassen. Ebenso gewiss ist es, dass diese instinc- 
tive Zu- oder Abneigung, die durch den Gesichts- oder Geruchs- 
eindruck erweckt wird, ein Resultat desselben Processes natürlicher 
Zuchtwahl ist, aus welchem die genaue Anpassung der Fress- und 
Verdauungswerkzeuge an die Art der Nahrung hervorgegangen ist 
Im Allgemeinen frisst jedes Thier nur die Art von Nahrung, an die 
es selbst oder seine Vorfahren gewöhnt sind, und verschmäht alle 
andere (der Bauer macht es ja nach dem Sprüchwort ebenso) ; er- 
weisen sich nun gar gewisse Classen von Nahrungsmitteln, die dem 
vorwitzigen Versuch des Abweichens vom Gewohnten nahe liegen, 



*) 7. Aufl. L 86. 



n 



202 Text der ersten Auflage. 

als schädlich, so wird sieh der Widerwille gegen diese steigern, 
einestheils dadurch, dass Individuen nach ihren flblen Erfahrungen 
weiter leben und den so erworbenen positiven Widerwillen auf ihre 
Nachkommen vererben, anderntheils aber dadurch, dass die vor- 
witzigen ihren Abfall von der ererbten Tradition mit dem Leben 
bezahlen müssen und somit nur die in dieser Hinsieht vorsichtigeren 
ihre Vorsicht und ihre Abneigung vererben. 17S ) Der erstere Fall 
findet statt bei giftigen Kräutern auf der Weide oder giftigen Früch- 
ten im Walde; 174 ) der letztere Fall beim Verhalten der Hechte und 
anderer Raubfische gegen Stichlinge oder der Raubvögel gegen 
giftige Schlangen; beide Formen der Variation wirken zusammen, 
um die Scheu der verfolgten Thiere vor den sie verfolgenden Raub- 
thieren oder Menschen zu constituiren. Dass solche instinctive Ab- 
neigung, Scheu oder Furcht in Bezug auf Nahrungsmittel oder Feinde 
Resultat eines natürlichen Processes und nicht einer metaphysischen 
Inspiration ist, 176 ) geht schon daraus hervor, dass alle Thiere nur 
vor denjenigen giftigen Naturproducten oder gefährlichen Gegnern 
Scheu haben, welche ihre Species Gelegenheit gehabt hat, durch 
lange Erfahrung als schädlich und gefährlich kennen zu lernen. 
Wird eine Familie dann durch Domestication oder Ortswechsel die- 
sen Einflüssen entrückt, so bleibt die instinctive Prädisposition zwar 
noch längere Zeit in der Vererbung erhalten, schwächt sich aber 
nach und nach mehr und mehr ab, um dafür den unter den neuen 
Verhältnissen hinzuerworbenen (z. B. domesticirten oder zahmen) 
Instincten Platz zu machen. Daraus, dass minder scheue, furcht- 
same oder vorsichtige Individuen gewissen Gefahren gegenüber 
allemal ihrem Vorwitz zum Opfer fallen und dass hierdurch eine 
natürliche Auslese der vorsichtigeren stattfindet, die ihre Sehen 
vererben, erklärt sich sehr wohl die Entstehung 176 ) von instinetiver 
Scheu vor gewissen verderblichen Gefahren, ohne dass die Entstehung 
der Prädispositionen zu solchen „Unterlassungen, bei denen Zuwider- 
handhingen stets den Tod zur Folge haben", nothwendig ein zweck- 
thätiges Bilden zur Erklärung erforderte, wie die Ph. d. U. in der 
vierten der vorerwähnten Clausein behauptet (S. 79).*) 

Noch weniger kann man dies bei den auf die Fortpflanzung 
(beziehungsweise bei niederen Thieren auch auf die Metamorphose) 



*) 7. Aufl. L 77. 



X. Der Instinct als ererbte Hirn- und Ganglien-Pr&disposition. 203 

bezüglichen Instincten zugeben, welche, wie es bei niederen Thieren 
gewöhnlich ist, nur Ein Mal in jedem individuellen Lebenslauf zum 
Functioniren gelangen (Ph. d. U. S. 79) ; *) kann auch die Gewohn- 
heit hier nicht in dem gebräuchliehen Sinne einer öfteren Wieder- 
holung der Function von Seiten desselben Individuums wirken, 
so tritt an ihre Stelle eine durch die Ausnahmslosigkeit des Vor- 
gangs durch lange Generationenreihen hindurch um so stärker be- 
festigte Vererbung, m ) und grade bei den Fortpflanzungsinstincten 
erklärt sich die modificirte Form derselben sehr leicht durch natür- 
liche Zuchtwahl aus derjenigen Form, welche diese Instinete in 
der Stammform der betreffenden Species besassen (wie wenn z. B. 
Specien, in welchen Männchen und Weibchen sich durchaus un- 
ähnlich sehen, sich allmählich aus einer Stammform entwickeln, in 
welcher dies nicht der Fall ist, durch welche allmähliche Umwand- 
lang aber eben das Wunderbare einer instinktiven Begattungstendene 
zwischen ganz unähnlichen Organismen verschwindet). Aus dieser 
Entstehungsart ergiebt sich aber, dass auch hier das Hellsehen 178 ) 
des Instincts in Bezug auf den Zweck, dem es unbewußter Weise 
dient, blosser Schein für den Beobachter ist, während in der That 
die instinctive Handlungsweise nur der Ausfluss einer ererbten Hirn- 
oder Ganglienprädisposition ist, die sich in den Vorfahren dadurch 
entwickelt hat, dass sich individuelle Abweichungen addirten, welche 
BämmtUch, sowohl einzeln als zusammengenommen, die Species im 
Kampf um's Dasein günstiger stellten, als sie vorher stand. 

Ganz dasselbe gilt in Bezug auf das Verhalten der Thiere zu 
künftigen Witterungsänderungen, welche in die Oekonomie ihres 
Lebens mächtig eingreifen (Ph. d. ü. S. 90—91).**) Die Ph. d. U. 
gesteht zu, dass irgend ein Motiv da sein müsse, auf welches der 
Instinct reagirt, und dass in solchen Fällen dieses Motiv in einer 
Gefühlswahrnehmung gegenwärtiger atmosphärischer Zustände ge- 
sucht werden müsse, welche, wenn wir sie ebenso wahrnehmen 
könnten, uns als Symptom der bevorstehenden Witterungsänderung 
gelten würden. Obwohl nun die meisten Thiere, welche sich durch 
solche Einflüsse bestimmen lassen, unzweifelhaft nicht eine solche 
Folgerung an ihre Gefühlswahrnehmung knüpfen, so handeln sie 



*) 7. Aufl. I. 77. 
**) 7. Aufl. I. 87-88. 



204 Text der ersten Auflage. 

doch instinctiv so, als ob sie die Folgen der wahrgenommenen 
Symptome im Bewusstsein hätten und ihre Vorkehrungen dagegen 
träfen. Hieraus folgt aber nur, dass sie in ihrem Gehirn eine 
ererbte Prädisposition zu solchen für das Bestehen ihrer Species 
nützlichen, vielleicht gar unentbehrlichen Handlungsweisen besitzen, 
welche auf das eintretende Motiv sofort mit dem Triebe zu der 
entsprechenden Instincthandlung reagirt; es folgt aber nicht daraus, 
dass sie den Zweck des Instincts, den ihr Bewusstsein nicht kennt, 
durch unbewusstes Hellsehen actuell erschauen. i79 ) 

Wenn die Erklärung der Erscheinungen des Instincts nach dem 
Schelling'schen Ausspruch als „wahrer Prqbirstein ächter Philosophie" 
zu betrachten ist (Ph. d. Unb. S. 102), *) so müssen wir das Besmnä 
dieses Abschnittes dahin ziehen, dass die Ph. d. Unb. sich in diesem 
Capitel an diesem Probirstein nicht als acht erwiesen hat, da sie 
ein unhaltbares teleologisch - metaphysisches Erklärungsprincip als 
das wesentliche (in der ersten Auflage als das alleinige) hinstellt 
und das wahre naturwissenschaftliche Erklärungsprincip nur als 
untergeordnete Hülfshypothese aus dem Abschnitt G in die späteren 
Auflagen mit hereinzieht, ohne durch diese Concession mehr zu 
erreichen, als eine deutlichere Enthüllung der Discrepanz zwischen 
den Abschnitten A und G. Nur derjenige Leser der Ph. d. Unb., 
welcher die fundamentale Bedeutung des Gapitels über den 
Instinct Ar die gesammten Entwickelungen des Werkes erkannt 
hat, wird die Tragweite einer kritischen Elimination des metaphy- 
sisch-teleologisehen Erklärungsprincips aus der Auflösung dieses 
Problems und der Substitution desselben durch ein physiologisches 
Erklärungsprincip zu ermessen vermögen. 180 ) 



*) 7. Aufl. I. 99. 



XL 

Die Instincte der untergeordneten Central 

organe des Nervensystems. 



Die Ph. d. Unb. plaidirt in dem Cap. A I mit Recht Ar An- 
erkennung einer relativen Selbstständigkeit der untergeordneten 
Centralorgane des Nervensystems unbeschadet der Thatsache, dass 
in der aufsteigenden Reihe des Thierreichs die Centralisation 
für die willkürlichen Bewegungen beständig wächst (S. 56).*) 
Die Analogie der niederen Thiere, bei welchen die Selbstständigkeit 
und Unabhängigkeit der einzelnen Ganglien von einander sehr 
gross ist, macht zum Theil erst die physiologischen und patho- 
logischen Thatsachen beim Menschen und den höheren Säugethieren 
verständlich. Wenn ein Insect, dem man das Hintertheil abschneidet, 
nichtsdestoweniger den Act des Fressens fortsetzt, „wenn sogar 
Fangheuschrecken mit abgeschnittenen Köpfen noch gerade wie un- 
versehrte tagelang ihre Weibchen aufsuchen, finden und sich mit 
ihnen begatten, so ist wohl klar, dass der Wille zum Fressen ein 
Act des Schlundringes, der Wille zur Begattung aber wenigstens 
in diesen Fällen ein Act anderer Ganglienknoten des Rumpfes ge- 
wesen sei" (S. 54).**) Die betreffenden Willensacte waren aber 
zugleich Functionen der beiden wichtigsten und allgemeinsten In- 
stincte und wir müssen somit folgern, dass auch die Instincte, 



*) 7. AufL I. 56. 
**) 7. Aufl. I. 51 



206 Text der eisten Auflage. 

d h. die molecularen Prädispositionen zu gewissen Handlungs- 
weisen, in den gegebenen Beispielen ihren Sitz in verschiedenen 
Centraltheilen des Nervensystems hatten. Als solche Instinete unter- 
geordneter Nervencentra sind nun auch alle die in dem Cap. A I 
angeführten selbstständigen Functionen des Bückenmarks und der 
Ganglien in höheren Thieren und im Menschen zu betrachten. Wenn 
ein ausgeschnittenes und ausgespritztes Froschherz noch Stunden 
lang weiter schlägt, so ist die Ursache nirgends anders zu suchen, 
als in den Prädispositionen der Herzganglien zu einer rhythmischen 
Functionsweise, welche die Muskelfasern des Herzens zu Contrac- 
tionen von demselben Bythmus anregt (Ph. d. U. S. 109.)*) Eine 
solche Ganglienprädisposition, deren typische Bethätigung so sehr 
den Charakter der Spontaneität trägt, als die instinctive Willeng- 
äusserung eines Thieres es nur immer vermag, muss ebenso un- 
zweifelhaft In st inet genannt werden, als ihre Function Wille, 
da die unbewusste Zweckmässigkeit ihrer Leistungen nicht in Frage 
zu ziehen ist Zweifelsohne wird auch hier die Perception irgend- 
welchen Reizes, d. h. eine Empfindung als Motiv für das Eintreten 
und die Fortdauer der Function vorhanden sein (ebd. S. 124),**) 
wenn wir den betreffenden Beiz auch noch nicht genauer angeben 
können; ob und in wiefern aber eine aotuelle Vorstellung des 
Willensinhalts als Summationsphänomen der den Ganglienwillen 
constituirenden Molecularwillen zu Stande kommt, das möchte schwer 
zu behaupten sein, da uns alle Anhaltspunkte zu einer solchen Be- 
hauptung fehlen. 181 ) Keinenfalls kann die Berufung der Ph. d U. 
(S. 109)***) auf „die unbewusste Vorstellung bei Ausführung der 
willkürlichen Bewegung" einen solchen Anhaltpunkt gewähren, da 
wir diese Hypothese der Ph. d. Unb., wie sie in Cap. A II ent- 
wickelt ist, schon oben (Abschn. VII, S. 129 bis 132) als unbegründet 
nachgewiesen haben. 

Dasselbe wie von der Herzbewegung gilt natürlich von den 
Bewegungen des Magens und Darms und von dem Tonus der Ein- 
geweide, Gefässe und Sehnen in Bezug auf das sympathische Nerven- 
system, sowie von den Athembewegungen in Bezug auf das ver- 



*) 7. Aufl. I. 106. 
**) 7. Aufl. I. 120—121. 
***) 7. Aufl. L 106. 



XI. Die Instincte der untergeorda. Gentralorgane d. Nervensystems. 207 

längerte Mark; ebenso gilt es in Bezug auf das kleine Gehirn von 
jenen spontanen Bewegungen und Handlungen, welche Vögel und 
Säugethiere mit exstirpirtem Grosshirn vornehmen, wie das Unter- 
stecken des Kopfes unter den Flügel beim Schlafen, das Schütteln 
und Putzen des Gefieders nach dem Erwachen, das Umherlaufen etc. 
(Ph. d. U. S, 58) *) Das Kleinhirn leistet aber noch weit mehr, da 
es überhaupt das Gentralorgan der willkürlichen Bewegungen ist 
und diese instinctiv richtig besorgt, sobald ihm eine allgemein 
gehaltene telegraphische Ordre vom Grosshirn zugekommen ist, 
welche als ein die Instinctfunction auslösender Beiz oder Motiv 
dient (ebd. S. 118—119).**) Erstreckt sich die Ordre auf eine 
dauernde Thätigkeit, so kann diese auch dann noch fortgesetzt 
werden, wenn das Grosshirn durch Schlaf oder Bewusstlossigkeit 
depotenzirt ist (z. B. das Weitermarschiren von Soldaten, die auf 
dem Marsch eingeschlafen sind, das Nachtwandeln, bewusstloses 
Abspielen von auswendig gelernten Ciavierstücken u. s. w.) ; hierin 
offenbart sich ganz deutlich die Selbstständigkeit des Kleinhirns 
und seine relative Unabhängigkeit vom Grosshirn (S. 120),***) und 
zugleich bestätigt sich die mechanische Sicherheit und das rapide 
Functioniren der mechanischen Instinctprädispositionen im Gegensatz 
zu den bewussten detaillirten Intentionen des Grosshirns mit der 
Schwerfälligkeit und Aengstlichkeit seiner discursiven Reflexion 
(8. 117 und 119). f) Wie unrichtig die Ph. d. Unb. diesen wohl- 
beachteten Gegensatz deutet, davon scheint sie auf S. 120 ff) selbst 
etwas zu ahnen, indem sie die Aehnlichkeit der so durch allmähliches 
Einüben und Gewöhnung der Nervencentra zu erlangenden Fähig- 
keiten und Fertigkeiten mit Instincthandlungen anerkennt, da sie 
„einem zur Natur werden" wie diese und „für das Hirn unbewusst 
werden" wie diese, dennoch aber nicht nur ihre Identität mit dem 
Instinct bestreitet, sondern sie als „das gerade Geg entheil" 
desselben betrachten zu müssen glaubt, 182 ) weil nämlich hier das 
„zur Naturwerden" und „Unbewusstwerden" auf Uebung und Ge- 
wöhnung, also auf einem Ged acht niss der niederen Nervencentra, 



*) 7. Aufl. I. 57-58. 
**) 7. Aufl. I. 114-116. 
***) 7. Aufl. I. 117. 

t) 7. Aufl. I. 113-116. 
tt) 7. Aufl. L 116—117. 



208 Text der ersten Auflage. 

d. h. auf von denselben erworbenen Prädispositionen beruht, während 
der Instinct auf dem teleologischen Eingriff eines metaphysischen 
Unbewussten beruhen soll, das durch Uebung und Gewohnheit gar 
nicht berührt werden kann. In Wahrheit besteht ein Unterschied 
nicht in der Ursache der Fertigkeit (der molecularen Prädisposi- 
tion), sondern nur in der Art und Weise, wie man zu derselben 
gekommen ist, ob man sie nämlich selber erworben oder von 
den Vorfahren ererbt hat, oder ob man sie theils ererbt, theik selber 
weiter ausgebildet hat 

Hiermit sind wir schon in das Capitel von den Reflexbewegungen 
hinübergerathen, und in der That lässt sich Instinct und Reflex- 
function gar nicht trennen. Denn auch beim Instinct muss irgend 
„ein äusseres Motiv zum Handeln immer vorhanden sein, und die 
Handlung erfolgt auf dieses Motiv mit Notwendigkeit, also reflec- 
torisch, wenn auch (unter Umständen) erst mittelbar durch ver- 
schiedene Reflexionen vermittelt" (Ph. d. Unb. S. 164).*) Anderer- 
seits ist das Resultat des Capitels über die Reflexbewegungen, dass 
diese „die Instincthandlungen untergeordneter Nervencentra" sind 
(S. 126),**) — wobei der Zusatz nicht als unbedingte Beschränkung 
zu verstehen ist, wie die Anerkennung von „Reflexwirkungen des 
grossen Gehirns" beweist (S. 111 und 121).***) Gerade die letzte- 
ren sind sehr lehrreich, weil ihre Beobachtung viele Vortheile vor 
den pathologischen Experimenten an Thieren bietet (S. 114)f), und 
wir wollen sie deshalb noch etwas näher in's Auge fassen. — Wenn 
ein Knabe zum ersten Mal in seinem Leben ein Glas von dem 
Tische fallen sieht, an dem er sitzt, so wird er sich vielleicht mit 
Ueberlegung dazu entschliessen, nach demselben zu greifen, aber er 
wird mit seinem Entschluss sicher zu spät kommen (S, 117 Z. 1). ff) 
Begegnet ihm die Sache aber öfter, so wird seine Ideenassociation 
sich abkürzen und der Sinneseindruck des fallenden Glases endlich 
unmittelbar die schnelle Handbewegung hervorrufen; d. h. die 
Uebung wird in seinem Gehirn eine Prädisposition zu reflectori- 
s ehern Handeln erzeugen. Wenn auch dieses Ereigniss nicht 



*) 7. Aufl. I. 158. 
**) 7. Aufl. I. 122. 
***) 7. Aufl. I. 117—118. 

f) 7. Aufl. I. 111. 
tt) 7. Aufl. I. 113 Z. 10-11 v. unten. 



XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 209 

allgemein and wichtig genüg ist, um auf die Vererbung einer so 
erlangten Prädisposition mit Sicherheit rechnen zn können, so wird 
doch eine ähnlich entstandene Prädisposition, das reflectorische Er- 
heben des Armes zum Schutze des Auges gegen einen dasselbe 
bedrohenden Schlag, unzweifelhaft vererbt, ebenso wie die reflecto- 
rischen Bewegungen der Augenlider, die sich schliessen, wenn das 
Auge bedroht ist; letztere Bewegung insbesondere kann man schon 
bei Säuglingen beobachten. Wie wir von allen körperlichen Fertig- 
keiten gesehen haben, dass sie erworben, vererbt und als ererbte 
durch Uebung gesteigert werden (vgl. Abschn. VII), so werden wir 
es auch von allen jenen Fertigkeiten annehmen müssen, welche, 
gleichviel ob sie im Grosshirn oder in niederen Nervencentren ihren 
Sitz haben, in hervorragendem Grade einen reflectorischen Charakter 
an sich tragen und deshalb im engeren Sinne als Reflexbewegungen 
bezeichnet werden. Zum Theil sind dieselben für die Lebensöcono- 
mie der betreffenden Thiere von der grössten Wichtigkeit, zum 
Theil tragen sie den Charakter schützender oder abwehrender 
Thätigkeiten an sich; alle aber sind in ihrer normalen Gestalt 
Dützlieh, zweckmässig für die Besitzer, und lässt sich deshalb sehr 
wohl der Einfluss der natürlichen Zuchtwahl auf die Ausbildung 
und Steigerung derselben begreifen. 

Bei höheren Thieren aber werden dieselben auch schon dadurch 
entwickelt, dass das Gehirn auf eine Sinneswahrnehmung hin sich 
einen bestimmten Zweck vorsetzt, die zu seiner Erreichung nöthigen 
Bewegungen erst einzeln anordnet, dann combinirt in kleineren und 
grösseren Gruppen befiehlt, bis endlich die Einübung der niederen 
Nervencentra so weit gediehen ist, dass es nur noch eines einzigen 
Impulses vom Gehirn bedarf, um die gesammte Bewegung zur Aus- 
führung zu bringen (S. 119,*) vgl. auch oben S. 128—130). Es ist 
diese Elimination von Zwischengliedern ein analoger Process wie 
bei der Abkürzung der Ideenassociation, nur dass es sich hier um 
mehr als blosse Vorstellungen, um Bewegungsimpulse handelt. Ist 
die Sinneswahrnehmung, welche als erster Anstoss oder Beiz zu 
der Handlung wirkt, von der Art, dass sie auch in niederen Nerven- 
eentris zur Perception gelangt, so kann die Elimination noch weiter 
gehen und auch die Thätigkeit des Gehirns ganz und gar ausscheiden; 



*) 7. Aufl. I. 115-116. 
K t. Hattmann, Das Untowusste. 2. Aufl. 14 



210 Text der ersten Auflage. 

denn wenn z. B. ein bestimmter Theil des Rückenmarks oder Klein- 
hirns so und so oft eine bestimmte Wahrnehmung des Moskelsinns 
der Beine pereipirt and weiter geleitet hat, nnd jedesmal vom Gross- 
hirn als Bückantwort die Ordre zn einer gewissen Bewegung der 
Beine (etwa zur Wahrung der Balance) darauf erhalten hat, so 
wird sich eine prädispositionelle Association der Pereeption jener 
Sensation mit der Tendenz zu dieser Bewegung in dem betreffenden 
Centraltheil entwickeln, und nach der nöthigen Anzahl von Wieder- 
holungen wird dieselbe hinreichend befestigt sein, um von selbst 
ohne eingreifenden Impuls des Grosshirns in dem gewohntem Sinne 
zu funetioniren ; sobald das Grosshirn dies bemerkt; hört es ganz 
von selbst auf; sich mit der Sache noch weiter zu bemühen. 183 ) 
Die Zweckmässigkeit der reflectorischen Instincte der niederen 
Nervencentra erklärt sich demnach einesteils als ein durch natür- 
liche Zuchtwahl oder sonstige mechanische Compensationsprocesse 
entstandenes zweckmässiges Resultat ohne teleologisches Princip, m ) 
anderntheils als ein Ausflugs oder als ein ca$ut nwrtmm früherer 
bewusster Zweckthätigkeit des Grosshirns. Die von 
letzterer angebahnten und eingeübten Associationen zwischen Beiz 
und Beaction werden durch gewohnbeitsmäsrige Eingrabung zn 
festen erblichen Prädispositionen oder Instincten; je näher die nie- 
deren Nervencentra dem Grosshirn liegen, durch je bessere Leitung 
sie mit demselben verbunden sind; je leichter sie detaillirte Ordres 
vom Grosshirn empfangen können, desto mehr zweckthätige In- 
telligenz wird aus dem Grosshirn in sie überstrahlen und in Gestalt 
instinetiver und reflectorischer Prädispositionen sich ablagern; desto 
complicirtere und zweckmässigere und desto mehr Instincte 
und Reflexanlagen werden sie also enthalten (S. 113),*) und desto 
bedeutender werden sie auch physiologisch nach Quantität und 
Qualität entwickelt sein, — immer vorausgesetzt natürlich, dass wir 
es mit Wesen zu thun haben, deren Grosshirn bereits einer erheb- 
lichen Entfaltung bewusster Zweckthätigkeit fähig ist. Diese Be- 
trachtungsweise stimmt wohl mit der thatsächlichen Anordnung der 
Nervencentralorgane in den höheren Thieren vom Grosshirn bis 
herunter zum Ende des Rückenmarks und dem lose angefügten 



*) 7. Aufl. I. 110. 



XI. Die Instincte der uatergeordn. Centralorg&ne d. Nervensystems. 211 

sympathischen Nervensystem tiberein, und dürfte unvermuthetes 
Licht auf die ursächlichen Momente dieser Anordnung werfen. 

Gerade an den Reflexbewegungen kommt der mechanische 
Charakter des Instincts, die auf ein enges, vorherbestimmtes Gebiet 
von Aufgaben beschränkte Zweckmässigkeit eines Mechanismus, am 
unmittelbarsten und deutlichsten zur Anschauung, und deshalb dienen 
gerade diese Ausführungen der Ph. d. U. über die Reflexbewegungen 
bei Tbieren (Cap. A. Y) und insbesondere bei den Pflanzen (S. 441 
bis 444)*) recht schlagend zur Unterstützung unserer Auffassung. 
Nur die an dieses Problem schon mitgebrachte verkehrte Ansicht 
über den Instinct konnte den Blick für das einfache Sachverhaltes» 
trüben. 185 ) 

Die Ph. d. IL erkennt unter dem Hinweiss auf den unmittel- 
baren flüssigen Uebergang zwischen Hirnreflex und bewusster Seelen- 
thätigkeit mit Recht die Einheiten des allen diesen Erscheinungen 
zu Grunde liegenden Erklärungsprincips an und fährt fort: „Darum 
giefct es nur zwei consequente Betrachtungsweisen dieser Dinge: 
entweder die Seele ist überall nur letztes Resultat materieller 
Vorgänge" (genauer: Summationsphänomen psychischer oder inner- 
licher Atomfunctionen) „sowohl im Hirn als im übrigen Nervenleben, 
dann müssen aber auch die Zwecke überall geleugnet werden, wo 
sie nicht durch bewusste Nerventhätigkeit gesetzt worden" (wir 
haben die Berichtigung dieses hier offenbar für die Entscheidung 
maassgebend gewordenen vordarwinschen Vorurtheils schon oft genug 
in's Auge gefasst), — „oder die Seele" (als ein immaterielles, d. h. 
von der Materie geschiedenes, exclusiv spiritualistisches , nicht 
atomistisch gegliedertes und mit den Atomen des Gehirns zusammen- 
fallendes, sondern einheitlich über denselben schwebendes Princip) 
„ist überall das den materiellen Nervenvorgängen zu Grunde 
liegende, sie schaffende und regelnde Princip" (S. 122).**) Wir 
sind der Ansicht, dass die materiellen Nervenvorgänge durch die 
ihnen immanenten Kräfte und durch die von Aussen empfangenen 
Impulse geschaffen und durch die den Atomen immanenten Gesetze 
geregelt werden, dass alle Zweckmässigkeit für bestimmte Glassen 
von Fällen nicht durch unmittelbare teleologische Eingriffe, sondern 



■ ■ ** i 



*) 7. Aufl. IL 75—78. 
**) 7. Aufl. L 118. 

14» 



212 Text der ersten Auflage. 

durch Mechanismen hervorgerufen wird, welche aus Anpassungs- 
processen (sei es durch natürliche Zuchtwahl, sei es durch bewusste 
Accommodation) resultiren und dass diese Auffassung, wie wir oben 
(S. 62—63) gezeigt haben, keineswegs mit dem die Phänomenalst 
der Materie und die subjeetive Innerlichkeit der metaphysischen 
Atome verkennenden Materialismus zu vermengen ist. Dass die 
Fh. d. U. vor der Alternative eines metaphysiklosen Materialismus 
oder einer teleologischen Metaphysik sich für die letztere entschied, 
ist kein Wunder; dass sie aber vor dieser Alternative zu stehen 
glaubte, kam nur daher, weil sie den richtigen Mittelweg einer — 
trotz aller Anerkennung resultirender phänomenaler Zweckmässigkeit 
— ateleologischen Metaphysik übersah, und sie übersah den- 
selben deshalb, weil sie, wenigstens in ihrer ersten Hälfte, die Trag- 
weite und die philosophischen Consequenzen der Descendenztheorie 186 ) 
nicht verstand. 

Was nun speciell bei den Reflexbewegungen die Gründe be- 
trifft, weshalb die Ph. d. Unb. die Erklärung durch eigentümliche 
Mechanismen der Leitungsverhältnisse für unmöglich hält, so ist es, 
weil „sich gar keine Gesetze und Einrichtungen mehr denken lassen, 
welche ein und denselben Strom bald auf nahe, bald auf ferne 
Theile überspringen, bald in dieser, bald in jener Reihenfolge die 
Reactionen auf einander folgen lassen, ja sogar auf einen einfachen 
Reiz ein abwechselndes Spiel der Antagonisten eintreten lassen könn- 
ten" (S. 123).*) Was das Spiel der Antagonisten betrifft, so erin- 
nern wir an die Ganglieninstincte zu rhythmischen Bewegungen, wie 
z. B. der Herzschlag eine ist; werden rhythmische Bewegungen der 
Streckmuskeln und der Beugemuskeln eines Gliedes so combinirt, 
dass sie im Rhythmus ihrer Functionen alterniren, so ist das Spiel 
der Antagonisten fertig. Auch beim Herzschlag, ja bei allen com- 
plicirteren Instincten der niederen Nervenontra pflegt ein einfacher 
Reiz nicht eine einfache Reaction auszulösen, sondern den Impuls 
zur Auslösung einer ganzen geordneten Reihe von Actionen zu 
geben, mögen nun diese so eng aneinandergerückt sein, dass sie 
dem oberflächlichen Beobachter den Schein einer einzigen Totalaction 
vorspiegeln, oder mögen sie auch für den Augenschein in eine 
ausgedehntere Reihe auseinandergezogen sein (z. B. gedankenlos 



*) 7. Aufl. I. 119. 



XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 213 

mechanisches Gehen einer ausgedehnten Strecke auf einmaligen 
Befehl des Orosshims). Eine verschiedene Reihenfolge der Reactio- 
nen wird nur bei Verschiedenheit des Reizes eintreten, für welchen 
Fall eben diesen reflectorischen Instincten ebenso wie den Instincten 
des Thierlebens ein gewisser Polymorphismus zuzugestehen ist. 
Ebenso hängt es von der Beschaffenheit des Reizes ab, welchen 
Weg der Reiz nach Perception durch das nächste Gentralorgan 
nimmt, ob dieses die Reaction selber besorgt, oder ob er weiter 
geleitet wird zu höheren Gentren, die dann ihrerseits die Reaction 
in die Hand nehmen; dies alles wird bei gegebenem Reiz von der 
Gewöhnung und den ererbten Prädispositionen fest bestimmt, wenn- 
gleich Stimmung und andere physiologische und pathologische Um- 
stände einen gewissen Einfluss darauf haben und das Resultat unter 
Umständen modificiren werden. Ein „unerschöpflicher Reichthum 
von Combinationen" in der Accommodation der Bewegungen an die 
Umstände findet im strengen Wortsinn keinenfaUs statt, wie die 
Ph. d. Unb. S. 124*) behauptet; vielmehr zeigt die Beobachtung 
bei den tieferstehenden Nervencentris (Rückenmark und Ganglien) 
in der That der Erwartung gemäss (S. 124) *) nur die „stete Wieder- 
kehr weniger und immer sich gleichbleibender Bewegungs- 
complicationen" und erst das verlängerte Mark, besonders aber das 
kleine Gehirn, entfaltet einen grösseren Reichthum von Reflex- 
actionen, wie z. B. die Wahrung der Balance zeigt. Bedenkt man 
aber, dass aus einer massigen Zahl vorhandener Prädispositionen 
sich durch Reize, welche verschiedene derselben gleichzeitig afficiren, 
auf rein mechanischem Wege schon eine sehr grosse Zahl von 
Combinationen reflectorischer Wirkungen ergeben muss, erwägt man 
ferner, dass, wie schon angedeutet, die meisten dieser Prädispositio- 
nen selbst schon eine Anzahl von Modificationen als polymorphe 
Reflexe unter sich begreifen werden, berücksichtigt man endlich, eine 
wie colossale Menge von intellectuellen und charakterologischen Prä- 
dispositionen im Grosshirn zusammengehäuft sind, so wird man keinen 
Anstoss mehr daran nehmen können, dem Kleinhirn die jedenfalls 
unendlich viel geringere Zahl molecularer Prädispositionen 
zuzuerkennen, welche zur instinctiven und reflectorischen Centralregu- 
lation der Bewegungen der willkürlichen Muskeln erforderlich ist. m ) 



*) 7. Aufl. I. 120. 



214 Text der ersten Auflage. 

EOnnen wir sonach den allgemeinen Argumenten der Ph. & U. 
gegen die mechanische Erklärung der Reflexwirkungen durch mole- 
culare Prädispositionen keine Beweiskraft zugestehen, so vermögen 
wir dies ebenso wenig in Bezug auf das specielle pathologische 
Beispiel auf S. 123—124.*) Dieses Beispiel beweist allerdings, 
„dass. die motorische Reaction nicht eine Folge der vorgezeichneten 
Bahnen der Leitung des Reizes ist, sondern dass der Strom, um(?) 
die zweckmässigen Reflexbewegungen zu Stande zu bringen, nach 
Zerstörung der gewöhnlichen Leitungsbahnen sich neue Bahnen 
schafft, wenn nur nicht völlige Isolation der Theile bewirkt 
ißt" (S. 123).**) Die neue Leitungsrichtung bestand vor Zerstörung 
der alten auch, und wird nach den allgemeinen Gesetzen der Fort- 
pflanzung dynamischer Bewegungserscheinungen auch früher 
schon einen Nebenstrom von dem Hauptstrom des fortgepflanz- 
ten Reizes abgelenkt haben, jedoch einen Nebenstrom, der bei dem 
Verhältniss seines Leitungswiderstandes zu dem des Hauptstroms 
ausser Acht gelassen werden kann. Wird nun dieses Verhältniss 
der Leitungswiderstände plötzlich dadurch geändert, dass der Lei- 
tungswiderstand, den der bisherige Hauptstrom findet, unendlich 
gross wird, d. h. tritt für den Hauptsstrom Isolation ein, so muss 
die bisher auf Haupt- und Nebenstrom vertheilte lebendige Kraft 
des Reizes nunmehr auf die Richtung des Nebenstroms allein wirken 
und wird hier in vielen Fällen gross genug sein, um den vorhan- 
denen Leitungswiderstand bequem zu überwinden, welcher vielleicht 
den Nebenstrom in der bisherigen Stärke vollständig absorbirte. So 
erklärt sich das Entstehen neuer Leitungsbahnen auf rein mechani- 
schem Wege ohne alle teleologischen Eingriffe. In der That befindet 
sich aber die Ph. d. U. im Irrtbum, wenn sie voraussetzt, dass eine 
mechanische Erklärung der Reflexbewegungen den Hauptaceent auf 
die fest vorgezeichneten Bahnen der Leitung des Reizes legen 
müsse, im Gegentheil erscheint der Weg, auf welchem der Reiz 
von der Einmündung der sensiblen Nerven in das Gentralorg^n zu 
den molecularen Prädispositionen seiner Reflexfunctionen geleitet 
wird, alp unmittelbar gleichgültig und kojjamt es nur darauf an, 
4,a sa er zu dieser Stelle des Centralorgans gleichviel wie hingelangt 



*) 7. Aufl. I. 120-121. 
♦•) 7. Aufl. I. 120. 



XI. Die Instincte der untergeerdn» Ceatralorgane d. Nervensystems. 215 

und hiev das Functiomren der inolecularen Prädisposition pro- 
yocirt 188 ) 

Nachdem wir ao die Instincte der niederen Nervencentra er- 
ledigt haben, welche Contraction von quergestreiften oder einfachen 
Muskelfasern zur Folge haben, also zur ^Erzeugung von Bewegungen 
oder Tonus dienen, haben wir uns noch mit der zweiten Hauptclasse 
voa Ganglierinstinete» zn beschäftigen, nämlich denjenigen, welche 
der Regulation der vegetativen Functionen vorstehen (PL d. Unb. 
S. 56 unten)**) „Die organischen Functionen, insoweit sie über- 
haupt von Nerven abhängig sind, werden durch sympathische 
Nervenfasern geleitet, welche dem bewussten Willen nicht direct 
unterworfen sind, sondern von den Ganglienknoten aus innervirt 
werden, von denen sie entspringen" (S. 149, **) vgl. S. 128 oben).***) 
Wie allen Nerven ohne Ausnahme solche sympathische Nervenfasern 
beigemischt sind, so finden sich auch überall im Körper Ganglien- 
knoten vertheilt, welche den vegetativen Processen vorstehen, ja 
sogar, wir müssen annehmen, dass diesem Zweck dienende und für 
diesen Zweek prädisponirte Ganglienzellen im Bückenmark und in 
den dem Bückenmark näher liegenden Theilen des Gehirns ein- 
gelagert sind. Diese Ganglien und Ganglienzellen sind sämmtlich 
direet oder indirect durch Leitung mit einander und mit dem Gross- 
hirn und den Centralorganen der Sinneswahrnehmungen verbunden. 
Die Verbindung mit dem Grosshirn muss auch aus dem mittelbaren 
Einfluss bewusster Absichten, Vorstellungen und Gefühle auf die 
vegetativen Functionen (S. 158— 162) f) gefolgert werden, da das 
Grosshirn eine directe Einwirkung auf diese Vorgänge keinenfalls 
haben kann, sondern nur vermittelst eines Einflusses auf die 
betreffenden Ganglien. Jedenfalls hat man sich davor zu hüten, 
den Einfluss der Ganglien auf die vegetativen Functionen in zu 
ausgedehntem Sinne zu fassen, da für einen grossen und gewiss 
den grössten Theil derselben die rein physikalischen und chemischen 
Vorgänge in Verbindung mit der gegebenen anatomisch-physiologi- 
schen Organisation hinreichen, um das Leben im Gange zu erhalten. 
Diese Bemerkung erhält noch besonderen Nachdruck durch die Ver- 



*) 7. Aufl. L 56. 
**) 7. Aufl. I 144. 

***) 7. Aufl. I. 12S unten u. 124 oben, 
t) 7. Aufl. I. 152-166. 



216 Text der ersten Auflage. 

Weisung auf das Leben der Pflanze, wo die Ganglien und Nerven 
fehlen, und nur ein schwacher Ersatz durch den protoplasmatischen 
Inhalt der lebenden Zellen stattfindet ; hier tritt die blosse Mechanik 
der biologischen Processe viel deutlicher hervor, und hier wird es 
auch jedenfalls viel früher als in der Thierphysiologie gelingen, 
den causalen Zusammenhang der Lebenserscheinungen mit ihren 
physikalischen und chemischen Grundlagen genauer zu . erforschen. 
Erst wenn dies auch im thierischen Leben geschehen sein wird, 
wird es möglich werden, den wirklichen Antheil der Ganglien ver- 
mittelst der von ihnen ausgehenden sympathischen Nervenfasern 
festzustellen; vorläufig müssen wir uns mit dem Schluss begnügen, 
dass diese Apparate nicht entwickelt worden wären, wenn sie nicht 
den sie besitzenden Organismen nützlich und nothwendig wären. 
Zugleich müssen wir aber auch jetzt schon im Hinblick auf die 
bereits erwähnte mittelbare Einwirkung des Grosshirns auf vegetative 
Functionen, sowie auf viele andere schnelle Aenderungen derselben 
von instinctivem oder reflectorischem Charakter, anerkennen, dass 
wir ausser den physikalischen und chemischen Gesetzen zur Er- 
klärung vieler Lebenserscheinungen noch eines andern Erklärungs- 
princips bedürfen, welches vermittelst der sympathischen Nerven- 
fasern aus den Ganglien heraus wirkt Wenngleich manche der 
Detailangaben in dem Capitel über „Naturheilkraft" (A. VI) Berich- 
tigung von Seiten der exacten Forschung erheischen, so ist doch im 
Allgemeinen jenes Mehrbedürfniss daselbst hinreichend dargethan. 
Dass aber der Einfluss der Ganglien und der in denselben für 
diese wichtigsten Lebensfunctionen niedergelegten instinctiven oder 
reflectorischen Prädispositionen unzureichend sei, um die 
Leistungen der physikalischen und chemischen Gesetze an Ort und 
Stelle des Vorgangs zur vollen Erklärung zu ergänzen, dass ist 
dort nirgends dargethan; es ist im Gegentheil an entscheidenden 
Stellen der Einfluss der Nerven und Ganglien übersprungen, 
um sofort zu einem influxus idealis zu gelangen, so z. B. S. 143 
oben*), wenn die die Veränderung der Secrete bestimmenden Ver- 
änderungen der Beschaffenheit der secernirenden Häute und Organe 
sofort als nur eine einzige endgültige Erklärung, nämlich in 
idealer Richtung, zulassend bezeichnet wird, während doch an 



*) 7. Aufl. L 138 oben. 



XI. Die Instincte der untergeordn. Centratorgane d. Nervensystems. 217 

anderer Stelle mit Recht der Einfluss des sympathischen Nerven- 
systems gerade auf die secernirenden Häute der Secretionsorgane 
hervorgehoben wird. Ohne Zweifel ändern sich die vegetativen 
Functionen (z. B. die Secrete) je nach dem Entwickelungsstadiom 
des Organismus (S. 142);*) hierin ist aber nur das schon oben be- 
sprochene Gesetz der Vererbung wiederzuerkennen, dass eine be- 
stimmte (sei es typische, sei es functionelle) Eigentümlichkeit der 
elterlichen Organismen bei den Nachkommen in demselben Entwicke- 
lnngsstadium des individuellen Lebens aus der Latenz in die Er- 
scheinung tritt, in welchem sie bei den Eltern sich eingestellt hat. 
Lebensfunctionen, welche in ihren Veränderungen gewissen Rythnien 
(sei es nach Jahreszeiten, Mondwechsel, Tageslauf oder unabhängig 
von diesen) unterworfen sind, werden natürlich in demselben Sinne 
stets als Prädispositionen vererbt werden, welche das Gesetz des 
rythmischen Wechsels ihres Functionirens schon latent in sich ent- 
halten und werden sogar unter Umständen, wenn ihnen durch pa- 
thologische Verhältnisse das Functioniren eine Zeitlang unmöglich 
gemacht ist, nach Ablauf dieser Suspension mit derjenigen Modifica- 
tion der Functionen wieder einsetzen, welche sie entfalten würden, 
wenn sie auch in der Zwischenzeit weiter functionirt hätten 
(S. 129).**) Dies alles erfordert aber noch keine teleologischen 
Eingriffe, sondern wie die rythmische Herzfunction und Darmfunction 
durch moleculare Ganglienprädispositionen erklärbar sind, so sind 
es auch die vegetativen ; wenn wir zum Hohlwerden der Zähne oder 
zum Auftreten des Wahnsinns in dem nämlichen Lebensalter wie 
bei dem Vater keine teleologischen Eingriffe brauchen, so brauchen 
wir sie auch nicht für das Eintreten derjenigen Summe von Modifi- 
cationen der vegetativen Functionen, welche wir als Pubertät be- 
zeichnen. 18f ) 

Die selbstständigen Ganglienfunctionen , welche vegetativen 
Zwecken dienen, haben grossentheils einen ebenso ausgesprochen 
reflektorischen Charakter, wie die eigentlichen Reflex bewegungen. 
Wenn der Speisebissen durch Berührung der Mundschleimhaut und 
Zungenwarzen eine reichlichere Absonderung der Speicheldrüsen 
hervorruft, so ist dies ein ebenso reflectorischer Process, als wenn 



*) 7. Aufl. L 137. 
**) 7. Aufl. 1. 125. 



218 Text 4er ersten Auflage. 

er durch Berührung mit den Schlundwänden Schlingbewegungen 
provoeirt; wenn da« letztere Folge der Reaction einer molecularen 
Prädisposition in einem untergeordneten Nervencentrum (verlängerten 
Mark) ist, so ist kein Grund, zn bezweifeln, dass dasselbe Erklä- 
rungsprineip auch auf den ersteren Vorgang Anwendung findet. 
Wenn die steigende Blutwärme reflectorisch gleichzeitig verstärkte 
Respirationsbewegungen und vermehrte Absonderung der Schweiß- 
drüsen der Haut bewirkt (S. 140 — 14L),*) so ist die centrale Ursache 
in beiden parallelen Folgeerscheinungen offenbar eine analoge. Je 
Wichtiger solche Vorgänge für die Lebensöconomie eines Thieres 
sind, oder für die seiner Vorfahren waren, desto grösser ist die 
Wahrscheinlichkeit, dass solche instinetive oder reflectorische Ganglien- 
prädispositionen , von denen ein Theil unter dem Gesichtspunkt 
der Naturheilkraft, ein anderer Theil unter dem der Lebenskraft 
oder organischen Bildungsthätigkeit zueammengefasst zu werden 
pflegen, sich durch natürliche Zuchtwahl entwickeln mussten. 

Dem entsprechend sind die zur Regelung des Ersatzes verloren 
gegangener Körpertheile dienenden Prädispositionen um so mehr 
ausgebildet, je nothwendiger dieser Ersatz in der Lebensöconomie 
des Thieres ist; es sind aber die Prädispositionen für Neubildung 
von Eövpertheilen um so nothwendiger fttr einen Organismus, 
erstens je leichter und je häufiger eine Beschädigung oder ein Ver- 
lust derselben in Folge ihrer Structur und der gesammten Lebens- 
beziehungen zu erwarten steht, und zweitens je wichtiger der be- 
treffende Körpertheil für den Organismus in seinem Kampf um die 
Existenz ist Beide bestimmenden Einflüsse zeigen sich in der 
empirischen Beobachtung bestätigt: der erstere in der stärkeren 
Reproductionskraft wenig widerstandsfähiger , also weicher oder 
gebrechlicher niederer Thiere (S. 131),**) insbesondere in Bezog 
auf ihre am meisten der Verletzung exponirten Theile (S. 130),***) 
der letztere in der verschiedenen Stärke der Ganglienprädispositionen 
in demselben Thier, welche sich in der Verschiedenheit der auf 
mehrere gleichzeitig verloren gegangene Theile von ungleicher 
Wichtigkeit gerichteten Innervationsenergie offenbart (ä 129)* f) 



*) 7. Aufl. I. 135—137. 
**) 7. Aufl. L 127. 
♦♦♦) 7. Aufl. I. 125. 

f) 7. Aufl. I. 125. 



XI. Die Instincte der unteigeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 219 

Die Ph. d. Unb. bringt auf S. 127 und 130*) hinlänglich frap- 
pante Beispiele bei, welche die Wesensgleichheit und die Flüssigkeit 
des Ueberganges zwischen Instinct und Naturheilkraft beweisen 

* 

and es in der That unmöglich erscheinen lassen, für beide ein ver- 
schiedenes Erklärungsprincip zu statniren. Da wir für den Instinct 
ein anderes als die Ph. d. U. acceptirt haben, müssen wir es auch 
fltr die Naturheilkraft, und die Uebereinstimmung mit den durch 
unser Princip so wohl erklärbaren selbständigen Bewegungsfunc- 
tionen, die von niederen Nervencentris spontan oder reflectorisch 
innervirt werden, läset es keinem Zweifel unterliegen, dass auch 
die vegetativen Functionen, mag es sich nun um Secretion, Assimi- 
lation, Regeneration oder Zeugung handeln, insoweit sie nicht blosse 
Resultate der wirksam werdenden chemischen und physikalischen 
Gesetze sind, durch Innervationsströme regulivt werden, die von 
ererbten und in früheren Generationen durch natürliche Zuchtwahl 
oder durch sonstige Compensations- und Aceomodationsprocesse ent- 
wickelten Ganglienprädispositionen ausgehen. Das Resultat dieser 
Ganglienftmctionen ist die restituirende Realisation des Qattungs- 
typus, der vorher durch äussere Störung alterirt war. 

Wenn jeder Eörperring eines Wasserregenwurms die Fähigkeit 
besitzt, den Typus des ganzen Wurms zu restituiren, so- folgt daraus 
ohne Zweifel, dass dieser Typus in dem Ganglion jedes Ringes 
irgendwie enthalten sein mnss; nur ist die Alternative (S. 128)**) 
unrichtig, dass es entweder als äussere Realisation oder als aotuelle 
ideale Vorstellung darin enthalten sein müsse, denn es ist eine dritte 
Möglichkeit vergessen, welche dessenungeachtet aus der Ph. cL U. 
selbst zu entnehmen ist Dieselbe Stelle (S. 128) **) besagt nämlich 
sein* treffend weiter, dass der Typus, nach welchem die Regeneration 
vollzogen wird, in dem sich regenerirenden Thierbruehstölck genau 
in derselben Weise oder Form enthalten sein müsse, wie der Typus 
der sechsseitigen Bienenzelle in der Biene vor seiner ersten Bethä- 
tigung, oder wie der Typus seines specifischen Nestbaues oder seiner 
Sangesweise im Vogel. 

Auf S. 78—79) ***) (in dem mehrfach erwähnten Zusatz) ist aber 



*) 7. Aufl. I. 121 u. 125—126. 
**) 7. Aufl. I. 124. 
•••) 7. Aufl. I. 76-77, 



220 Text der ersten Auflage. 

zu lesen, dass durch Gewohnheit eingegrabene und durch Vererbung 
befestigte Prädispositionen in Hirn und Ganglien besonders den 
„immer wiederkehrenden Grundformen (Typen) der Instincte, wie 
z. B. der sechsseitigen Gestalt der Bienenzelle", zu Grunde liegen. 

Als eine durch Vererbung befestigte moleculare Ganglienprädis- 
position ist demnach auch die Art und Weise zu bezeichnen, wie 
in dem Ganglion des sich regenerirenden Wurmringes der Typus 
des ganzen Wurms enthalten ist Diese Form der Deponirung ist 
ebenso wenig eine actuelle (gleichviel ob bewusste oder unbewusste) 
Vorstellung wie eine im Hirn des Menschen schlummernde Gedächt- 
nissvorstellung (S. 268 Anm.) ; *) sie ist noch weniger bereits äussere 
Realisation des Typus, wie ea der fertige Wurm ist; sondern sie 
ist nur ein materieller Keim, welcher unter günstigen Umständen 
aus der Latenz hervortritt und zur Realisation des Typus sich ent- 
faltet, sie ist moleculare Vorausbestimmung eventuell eintretender 
Functionen in dem Sinne, dass die Realisation dessen, was wir 
Gattungstypus nennen, als Resultat der Functionen sich ergiebt 
Ein solcher Regenerationsact aus einem Bruchstück ist dem Wachs- 
thum des Thieres aus dem Embryo oder dem eben befruchteten Ei 
sehr verwandt ; hier wie dort stehen wir vor einer materiellen Masse, 
die die stoffliche Grundlage für den weiteren Aufbau durch Assimi- 
lation fremden Stoffe bietet und zugleich in sich die Prädispositionen 
enthält, um diese Processe zu einem vorausbestimmten Ziele zu 
leiten. Weil aber diese Prädispositionen keine actuellen Vorstel- 
lungen sind, und weil in ihnen unmittelbar nur die Specification 
der auszuübenden Functionen, mittelbar durch diese das Resultat, 
aber in keiner Weise der Zweck als solcher enthalten ist, deshalb 
kann hier von einem Hellsehen (S. 170)**) ebenso wenig die Bede 
sein als beim Instinct 190 ) (vgl. oben S. 202—204). 

Welchen Ausgangspunkt man auch bei der Betrachtung der zu 
erklärenden Lebenserscheinungen wählen möge, immer wird man 
beim Rückwärts verfolgen der Ursachen (S. 176)***) auf das eben 
befruchtete Ei als letzte innerhalb des betrachteten Individuums 
gelegene Ursache geführt (S, 178). f) Während nun die Ph. d. U. 



*) 7. Aufl. I. 261 Anm. 
**) 7. Aufl. I. 164. 
***) 7. Aufl. L 169. 
t) 7, Aufl. L 172. 



XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 221 

hier auf S. 179*) anerkennt, dass „das aus dem Ei hervorbrechende 
Junge bei höheren Thieren schon fast alle (Gebilde und) Differenzen 
des erwachsenen Thieres in sich enthält" sucht sie dasselbe Zu- 
geständnis dem eben befrachteten Ei vorzuenthalten, obwohl sie 
es ihm später auf S. 511**) willig einräumt. Hier aber (S. 178 
unten) ***) wird die Thatsache, dass das eben befruchtete Ei unseren 
Sinneswerkzeugen und Beobachtungsmitteln eine „in sich durchaus 
gleichmässige Structur darbietet", zu dem Schlüsse benutzt, dass die 
in der Zwischenzeit von der Befruchtung bis zur Geburt entstehen- 
den Differenzirungcn ein Maximum an teleologisch -metaphysischen 
Eingriffen erkennen lassen (S. 178 Mitte), f) dass die Seele in dieser 
Zeit „mit Herstellung der Mechanismen beschäftigt sei, welche ihr 
später im Leben die Stoffbeherrschung zum grössten Theil ersparen 
sollen" (S. 179). ff) Nimmt man hingegen mit dem Abschnitt C 
an, dass im eben befruchteten Ei trotz der scheinbaren molecularen 
Homogenität doch alle diejenigen Differenzen vorhanden sein müssen, 
aus denen sich später die gesammten ererbten Eigentümlichkeiten 
von feinster körperlicher oder geistiger Natur entfalten (S. 511),fff) 
dann fällt mit der unrichtigen Voraussetzung auch der darauf ge- 
baute Schluss mit seinen Wundern. Denn die im befruchteten Ei 
gegebenen Differenzen sind von den elterlichen Organismen vererbt 191 ) 
(vgl. oben den Abschnitt VI). 

Nichts ist wichtiger für die Erhaltung der Arten im Kampf 
um's Dasein, als das Festhalten des im Entwickelungsprocess ein- 
mal Errungenen, das Behaupten der mühsam errungenen Entwicke- 
lung88tufen, und dies kann nur durch möglichst vollkommene Ver- 
erbung geschehen; die Niederlegung der elterlichen Eigentümlich- 
keiten in den Zeugungsstoffen muss also ein Hauptpunkt gewesen 
sein, an welchem die natürliche Zuchtwahl ihre Macht bethätigt hat. 
Wie sehr die Beschaffenheit der Zeugungsstoffe unter dem Einfluss 
von Stimmungen und Affecten steht, ist bekannt; hierdurch ist aber 
auch zugleich der Einfluss der Innervation auf ihre Bildung bewiesen. 



*) 7. Aufl. I. 172. 

**) 7. Aufl. II. 147. 

***) 7. Aufl. I. 171 unten. 

t) 7. Aufl. I. 171 Mitte. 

tt) 7. Aufl. I. 172. 

ttt) 7. Aufl. II. 147. 



222 Test der ersten Auflage. 

Es kann mithin keine* Bedenken unterliegen, für die Regulirung 
der Ausbildung der Eier und Spermatozoiden — der grössten und 
feinsten Kunstwerke im ganzen Reiche der Organisation — in den 
Ganglien, welche den vegetativen Geschlechtsfunctionen vorstehen, 
Prädispositionen in demselben Sinne zu supponiren, wie die ftr 
Regeneration verloren gegangener Körpertheile oder für den Zellen- 
bau der Bienen oder das Netz der Spinne oder die Schale des 
Nautilus. 1M ) Wir wissen sehr wohl, dass die Schwierigkeiten im 
Einzelnen hiermit keineswegs gehoben sind und haben dies schon 
oben (im Abschn. VI) bei Besprechung der Vererbung angedeutet, 
aber eben dort auch betont, dass das Hinzufügen teleologischer 
Eingriffe keinenfalls das Dunkel zu erhellen vermag. 

Wie das Bttckwärtsverfolgen der Ursachen im individuellen 
Organismus allemal auf das eben befruchtete Ei mit all 1 seiner 
inneren prädispositionellen Differenziruug zurückführt und dieses 
Aber sich hinausweist auf die Beschaffenheit der Eltern als Ursache^ 
so führt das Rückwärtsverfolgen der Vererbungskette in der Ahnen- 
reihe allemal auf die niedrigsten durch Urzeugung entstandenen 
Organismen zurück, und hier schliesst sich unsere Betrachtung an 
die oben (Abschn. IL S. 37—40, vgl. auch S. 42—43) gegebene 
Kritik des kleinen Aufsatzes „Ueber die Lebenskraft" an. — Neben 
den inneren, in den früheren Zuständen des individuellen Organis- 
mus und seiner directen Ahnenreihe gelegenen Ursachen laufen 
natürlich beständig die äusseren Ursachen der Veränderung her, 
denn wie ohne Luft und Nahrungsmittel, so wäre ohne Verände- 
rungen der Erdoberfläche die biologische Entwicklung unmöglich, 
wie dies aus Abschn. III deutlich hervorgeht (vgl. oben S. 54 ig.). 

Die Ph. d. U. räumt ein, dass wir „überall im Körper zweck- 
mässigen Mechanismen begegnen", und dass das Leben überhaupt 
nur dadurch möglich wird, dass diese zweckmässigen Mecha- 
nismen den grössten Theil der Arbeit leisten und den unmittelbaren 
teleologischen Eingriffen nur ein M i n i m u m von Arbeit übrig lassen 
(S. 177).*) Dieses Minimum unmittelbaren Eingreifens glaubt sie 
deshalb aufrecht erhalten zu müssen, weil eine prädestinirte (mecha- 
nische) Zweckmässigkeit als alleiniges Erklärungsprincip „in An- 
betracht dessen unmöglich erscheint, dass streng genommen jede 



*) 7. Aufl. L 170. 



XI. Die Inatincte der unttsgeordn. Centraloxgane d. Nervensystems. 22S 

Gruppirung von Verhältnissen im ganzen Leben nur Einmal vor- 
kommt und doch jede Gruppirung von Verhältnissen eine andere 
Reaction fordert» u n d gerade diese geforderte hervorruft" 
(S. 180).*) Diese Behauptung muss aber entschieden übertrieben 
genannt werden. Man kann zugeben, dass jede Gruppirung von 
Verhältnissen de facto eine andere Reaction hervorruft (was bei der 
variablen Combination einer grossen Anzahl von Mechanismen nicht 
anders sein kann), ebenso dass vom teleologischen Standpunkt jede 
Gruppirung eine andere Reaction erfordert; aber das ist nicht zu- 
zugeben, dass in allen Fällen die factische und die teleologisch 
geforderte Reaction sich decken, vielmehr ist dies nur dann der 
Fall, wenn die Verhältnisscombinatkm eine solche ist, für welche 
die Mechanismen des Organismus vollkommen angepasst sind, und 
enthält die Reaction des Organismus in dem Maasse mehr unzweck- 
mäßige Elemente, als in der Gruppirung der Verhältnisse, denen er 
ausgesetzt ist, die Zahl derjenigen Umstände wächst, für welche er 
noch keine passenden Mechanismen besitzt 1 * 3 ) Da jede Species 
sich im Allgemeinen im Anpassungsgleichgewicht an die sie um- 
gebenden Lebensumstände befindet, so werden solche Unzweckmässig- 
keiten wesentlich erst dann hervortreten, wenn sich ein Individuum 
plötzlich in abweichende Lebensverhältnisse versetzt sieht. Aber 
auch unter den gewohnten Verhältnissen erstreckt sich die Anpassung 
doch meistens nur auf Elemente von irgend welcher Erheblichkeit 
ftlr den Kampf um's Dasein, und kleinere Unzweckmässigkeiten, die 
nicht Lebensfrage für das Thier sind, laufen häufig mit unter, und 
werden dann aus Mangel an einer Ursache zur Ausbildung ent- 
sprechender zweckmässiger Mechanismen mitunter zahllose Genera- 
tionen hindurch conservirt. 194 ) Dies kann man besonders da be- 
obachten, wo ähnliche Arten auf verschiedenen Erdtheilen einem 
verschieden heftigen Kampf um's Dasein ausgesetzt waren, in Folge 
dessen die bequemer lebende Art in ihrer Lebensweise offenbare 
Unzweckmässigkeiten conservirt hat, welche die stärker zur An- 
passung gezwungene Art überwunden und durch zweckmässigere 
Inötincte und Organisation ersetzt hat. Die Pathologie zeigt ferner 
Beispiele genug, wo die Reaction des Körpers auf von aussen 
herangetretene Krankheitserscheinungen durchaus nicht den vom 



*) 7. AufL L 173. 



224 Text der ersten Auflage. 

Arzte vertretenen teleologischen Forderungen entspricht, sondern 
convulsivische Anstrengungen entfaltet, die, weil sie nach verkehrter 
Richtung gehen, das Uebel nicht abwehren, sondern die Schädigung 
des Gesammtbefindens verstärken, resp. die Auflösung beschleunigen. 195 ) 

Unter denselben Gesichtspunkt unzweckmässiger Organisation 
fallen die rudimentären Organe (Ph. d. U. S 170),*) welche als 
Ueberreste partieller Rtlckbildungsprocesse (vgl oben S. 58) zu be- 
trachten sind, also Organe repräsentiren, welche früheren Vorfahren 
unter anderen Lebensverhältnissen einmal nützlich waren, seitdem 
aber nutzlos geworden sind. Es kann vom teleologischen Stand- 
punkte nimmermehr gerechtfertigt erscheinen, dass die meisten 
Specien mehr oder weniger solcher nutzloser Stummel mit sich 
herumschleppen, und dass das metaphysische Unbewusste sich mit 
dem organischen Bilden derselben und der Vererbung auf die Nach- 
kommen bemühen musste. Vom Standpunkt der Descendenztheorie 
hingegen, wo die Vererbung ein bloss mechanischer Process ist, und 
die natürliche Zuchtwahl nur so weit Modificationen fixiren kann, 
als dieselben positiv nützlich sind, begreift sich das Stehenbleiben 
werthloser Reste, deren Beseitigung keinen positiven Vortheil mehr 
gewähren würde, ganz von selbst 19< ) (vgl. Haeckel's Nat. Schöpfungs- 
gesch." 2. Aufl. S. 255—260). 

Wenn die Ph. d. U. (S. 170)*) sich auf die ideale Einheit im 
ganzen Schöpfungsplan beruft, so ist dagegen zu erwidern, dass 
diese Einheit, als möglichste Constanz, Einfachheit und Gleichheit 
der morphologischen Grundtypen gefasst, eher auf A r m u t h als auf 
Reichthum in dem schöpferischen Geiste schliessen lässt; uns we- 
nigstens kann das allweise Unbewusste damit nicht imponiren, dass 
es rudimentäre Organe stehen lässt, um damit die Einheitlichkeit 
seiner Gonceptionen zu beweisen. Die wahre Harmonie besteht 
nicht in der Gleichheit und der möglichst geringen Abweichung von 
der Identität des Einen Grundtypus, sondern in der Mannichfaltig- 
keit und Verschiedenheit, wo gerade aus dem ergänzenden Zu- 
einanderpassen des Entgegengesetztesten die Uebereinstimmung als 
concreto entspringt 197 ) 

Die Ph. d. ü. schliesst (S. 180)**) den Abschnitt A. mit dem 



*) 7. Aufl. I. 164. 
**) 7. Aufl. I. 173. 



XI. Die Instincte der untergeordn. Centralorgane d. Nervensystems. 225 

Worte Schopenhauers: „So steht auch empirisch jedes Wesen als 
sein eigenes Werk vor uns." Wir sind dem gegenüber aus 
unseren empirisch-inductiven Betrachtungen zu dem Resultate ge- 
langt, dass jedes Wesen als das Werk seiner directen Ahnenreihe 
vor uns steht m ) In der Verschiedenheit dieser Aussprüche liegt 
der ganze himmelweite Unterschied zwischen Schopenhauer und der 
modernen Descendenztheorie, den manche Anhänger des ersteren 
gegenwärtig gern verwischen möchten. Schopenhauer steht mit 
Schelling und Hegel darin auf ganz demselben Standpunkte, dass 
es ein metaphysisches immaterielles Wesen ist, welches sich in dem 
organischen Individuum objectivirt, d. h. seinen idealen Gehalt reali- 
sirt. Wenn Schopenhauer dieses Wesen „Wille", Schelling es „Sub- 
ject-Object", Hegel es „Idee" nannte, so sind damit nur Differenzen 
betont, die ausserhalb des gemeinsamen Gegensatzes zur natur- 
wissenschaftlichen Anschauungsweise liegen. Die äusserliche Ob- 
jectivation eines metaphysischen Wesens, die jene nur im Allgemei- 
nen behaupteten, suchte die Ph. d. U. im Einzelnen nachzuweisen 
and die verschiedenen Richtungen und Etappen der Realisations- 
functionen zu belauschen. Sie trat zu dem Zweck im weiteren 
Verlauf der Untersuchung mit einem Fuss auf den Standpunkt der 
Descendenztheorie hinüber, in dem Glauben, sich diese als Hülfe- 
mittel dienstbar machen* zu können, bemerkte aber nicht, dass die 
herbeigerufenen Geister ihr über den Kopf wuchsen und ihren eige- 
nen ursprünglichen Standpunkt unhaltbar machten. 199 ) Es war gut, 
dass sie erschienen ist, so wie sie ist, dass die alte teleologische 
Metaphysik zum letzten Male ihre Kräfte zusammenraffte, um zu 
zeigen, was sie leisten könne — und was nicht; wäre sie nicht 
spätestens in der Mitte der 60er Jahre geschrieben, so hätte sie 
überhaupt nicht •mehr geschrieben werden können, da jetzt die 
Tragweite der Descendenztheorie allen klarer Blickenden zu offen 
liegt, um eine Arbeit zu verfassen, wie der Abschnitt A ist, d. h. 
ohne jede Rücksicht auf die Descendenztheorie. 200 ) 



&▼. Hart maii u. Das Unfaewusste» 2. Aufl. 15 



XIL 

Das Unbewusste. 



Wir haben nunmehr den naturphilosophischen Theil der Ph. 
d. Unb. kritisch durchmustert and widerstehen der Versuchung, 
auch auf den psychologischen, historischen oder metaphysischen 
Theil näher einzugehen, z. B. den Kampf um's Dasein zwischen den 
mythologischen oder den theogonischen Ideen, oder den Sprach- 
wurzeln, Wortern und Sprachformen, oder den Process der Ent- 
wickelung der Menschheit durch die Concurrenz der Bacen und 
Völker, oder die Ausbildung der nützlichen Illusionen durch die 
natürliche Zuchtwahl hier näher zu behandeln, da zum Theil schon 
Gesagtes wiederholt werden müsste, zum andern Theil aber diese 
Gebiete für eine Behandlung im Sinne der Descendenztheorie noch 
zu wenig aufgeschlossen und vorbereitet sind, als dass nicht ein 
solcher voreiliger Versuch dem im naturwissenschaftlichen Gebiet 
nicht mehr anzutastenden Princip mehr Schaden als Nutzen zu 
bringen drohe. 

Wir knüpfen demnach hier wieder an die eoste Hälfte unseres 
IL Abschnitts an (vgl. speciell S. 33—37) und wiederholen den 
Protest der Naturwissenschaft gegen die teleologischen Eingriffe, 
deren die Leistungen der sich selbst überlassenen Naturgesetze 
alterirende Wirkungen vom Begriff des Wunders nicht verschieden 
sind und dazu dienen sollen, die Lücken unserer Eenntniss des 
naturgesetzmässigen Gausalzusammenhanges vorläufig zuzustopfen 
und zu verkleistern, damit das philosophische System sich als ein 
geschlossenes Ganzes, als ein lückenlos das Universum umfassendes 
und durchdringendes Verstehen präsentiren kann. So ist der teleo- 



Xu. Das Unbewuflgte. 227 

logische Eingriff von jeher dazu verurtheilt, in jenen dunklen Re- 
gionen sein Dasein zu fristen, wohin das Licht der exacten Wissen- 
schaft noch nicht gedrungen ist; er ist das asylum ignorantiae der 
philosophischen und theologischen Speculation. Durch die Fort- 
schritte der Physik aus dem Reiche des Unorganischen verbannt, 
wo er sich früher es hatte wohl sein lassen können, und wo heute 
nur noch fanatische Priester unter dem Gelächter der Gebildeten 
ihn als Schreckbild des rohen Haufens zu citiren wagen (namentlich 
heim Auftreten ungewöhnlicher und verderblicher Naturerscheinungen), 
sieht der teleologische Eingriff sich in der Ph. d. Unb. bereits auf 
das Reich des Organischen beschränkt ; hier, wo eben erst die ersten 
schüchternen Versuche zum Eindringen in das Verständniss des 
causalen Zusammenhangs der Erscheinungen begonnen haben, hat 
er noch ein verhältnissmässig gutes Leben, das ihm aber auch schon 
durch jeden neuen Fortschritt, jede neue Entdeckung verkümmert 
wird und durch die Sicherstellung der Descendenztheorie vermittelst 
der Darwinschen Begründung der Theorie der natürlichen Zucht- 
wahl in tausend Aengste gerathen ist. Der teleologische Eingriff 
verhält sich zur Wissenschaft als ein würdiges Seitenstück seines 
Gegenfüsslers, des Stoffs. Wie dieser als stehen gebliebenes für die 
Praxis ausreichendes und bequemes Vorurtheil früherer unwissen- 
schaftlicher Anschauungsweisen zu betrachten ist (vgl. Ph. d. Unb. 
S. 473 — 476 u. ff.),*) ebenso auch der teleologische Eingriff; beide 
zusammen, als kritiklos hypostasirte Sinnenfälligkeit und kritiklos 
hypostasirter Wunderglaube, erfüllen den ganzen Baum einer un- 
wissenschaftlichen Weltanschauung, in die sich die exacte Wissen- 
schaft wie ein Keil hineinschiebt oder wie ein Lichtkegel, vor dem 
das Dunkel blinden Heinens und speculativen Wunderglaubens mehr 
und mehr zurückweichen muss, je breiter er sich entfaltet. * 01 ) 

Wir haben in unseren Untersuchungen gesehen, dass der Ab- 
schnitt A der Ph. d. Unb. der Annahme des teleologischen Eingriffs 
die Stütze, welche er ihm gewähren soll, nicht gewähren kann und 
muss daher, bis andere und bessere Gründe für denselben aufgestellt 
Bein werden, dieses asylwn ignorantiae von der Wissenschaft aus- 
geschlossen und die bis jetzt der Erklärung noch übrig bleibenden 
Lücken für künftige Erfüllung durch Erforschung des gesetzmässigen 



*) 7. Aufl. IL 106—110. 

15* 



228 Text der ersten Auflage. 

Causalzusammenhanges offen gehalten bleiben. **') Mit dieser An- 
nahme fällt aber auch der metaphysische Träger oder das Subject 
des teleologischen Eingriffe, das teleologisch Eingreifende selbst hin- 
weg, d. h. es fällt das Unbewusste, insofern es als 
Subject der teleologischenEingriffe gedacht wird;* 04 ) 
es ist die Annahme zu streichen, dass ausser denjenigen Functionen 
des unbewussten Absoluten, welche in den naturgesetzmässigen 
innerlichen und äusserlichen Actionen der Atome eines Organismus 
(als Summationsphänomene des Vorstellens, Wollens, Lebens und 
Handelns) zu Tage treten, noch andere Strahlenbttndel von auf 
diesen Organismus gerichteten Functionen des unbewussten Abso- 
luten hinzukommen, welche als teleologische Eingriffe in den 
innerlichen und äusserlichen Lebensproeess der im Organismus com- 
binirten Elemente ein qualitativ auf ganz neuer und höherer Stufe 
stehendes Plus hinzubrächten. m ) Wir haben diese Differenz unserer 
Auffassung von der der Ph. d. Unb. schon oben, in Bezug auf die 
Vorstellung im Abschn. IV (S. 85—89), in Bezug auf den Willen 
im Abschn. V (S. 96 — 103) auseinandergesetzt und haben hier nur 
deshalb noch einmal auf jene Darlegungen zurückzuverweisen, weil 
die Unhaltbarkeit der teleologischen Eingriffe, die oben nur erst be- 
hauptete Voraussetzung war, in den zwischenliegenden Abschnitten 
detaillirt nachgewiesen ist, 205 ) so dass erst jetzt die oben ent- 
wickelten Ansichten ihre volle Begründung erhalten haben. Populär 
gesprochen könnte man unserem Resultat etwa folgende Fassung 
geben : Wenn wir unter „Seele" psychische Innerlichkeit verstehen, 
so ist jedes Atom beseelt; jeder Organismus, also auch der Mensch, 
hat gerade soviel „Seele", aber auch nicht ein Atom mehr, 
als die ihn constituirenden Atome zusammengenommen 
„Seele" haben; wie durch die Gombination der äusserlichen 
Atomkräfte Naturkräfte von potenzirter Qualität entstehen, so ent- 
stehen durch Gombination von Atomseelen psychische Summations- 
phänomene, welche man in demselben Sinne Seelen von potenzirter 
Qualität nennen könnte; damit aber solche Summations- oder Com- 
binations-Phänomene innerlicher oder äusserlicher Art möglich seien, 
dürfen die Atome nach beiderlei Hinsicht nur functionell, nicht sub- 
stantiell verschieden und getrennt sein, müssen sie atomisirte 
Functionen der Einen absoluten Substanz sein. Im Gegensatz zu 
dem pantheisti sehen Monismus der Ph. d. Unb. wird man 



XII. Das Uijbewasste. 229 

diesen Standpunkt als naturalistischen Monismus bezeichnen 
können. * 06 ) 

Es entsteht nun die Frage, welche Bedeutung denn für unsern 
Standpunkt noch „das Unbewusste" habe, da doch die Ph. d. Unb. 
mit diesem Ausdruck gerade, vorzugsweise das Subject der teleo- 
logischen Eingriffe bezeichnet, welches für uns bedeutungslos ge- 
worden ist Wir dürfen diese Frage nicht mit dem Hinweis auf 
den Schluss des Cap. C VII (S. 543)*) von der Hand weisen, wo 
diesem inadäquaten negativen Ausdruck nur ein vorläufiger prophy- 
lactischer Werth dem theistischen Standpunkt gegenüber beigelegt 
wird; denn es handelt sich für uns eben nicht darum, ob dieses 
negative Prädicat eine wohlgewählte substantivische Bezeichnung 
sei, sondern darum, welche positive Bedeutung dem hinter diesem 
negativen Prädicat verborgenen Subject 'von unserem Standpunkt 
ans noch zukommen könne. Es war nichts Zufälliges, dass die 
Ph. d. U. gerade dieses Stichwort wählte, denn dasselbe lag in der 
Luft und war von allen Seiten vorbereitet; es war aber zugleich 
auch eine Forderung des Fortschritts in der Selbstbesinnung und 
dem Selbstverständniss der Menschheit, und nur weil es dies alles 
war, konnte es eine so schnelle und willige Aufnahme im Publicum 
finden, dass man es jetzt schon beinahe die Spatzen von den Dächern 
rufen hört Dieser Fortschritt in dem „sich auf sich selbst Besinnen" 
der Menschheit bestand eben darin, dass überall ' das in die Er- 
scheinung Tretende als ein Ausfluss des im Wesen Vorherbestimmten, 
das im Bewusstsein sich Manifestirende als ein notwendiges Re- 
sultat der unbewussten, durch die Beschaffenheit des dunklen Grundes 
der Seele bestimmten Processe nachgewiesen wurde, und dass 
hiermit ebenso dem plattrationalistischen Sensualismus, der die Seele 
flir eine tabula rasa ansieht, wie der schablonenhaft ein Bewusstseins- 
moment aus dem andern herausspinnenden und dabei aller cha- 
rakteristischen Individualität fern bleibenden Dialectik das Garaus 
gemacht wurde. In diesem Bestreben, alles auf der Oberfläche des 
Lebens zu Tage Kommende aus den inneren dunklen Tiefen abzu- 
leiten, liegt der bleibende Werth der Neuerung, welcher dadurch 
nicht alterirt wird, wenn die Principien, in welchen das Bestimmende 



*) 7. Aufl. IL 173-174. 



230 Text der ersten Auflage. 

des dunklen Seelengrandes gesucht wurde, zum Tbeil als irrth timlich 
sich erweisen. 

In der That confundirt die Ph. d. Unb. unter diesem den ganzen 
dunklen Urgrund des Lebens zusammenfassenden Ausdruck: „Das 
Unbewusste" eine Menge der verschiedensten Dinge, welche not- 
wendig einer sondernden Analyse bedürfen. Das Unterlassen einer 
solchen hat offenbar wesentlich dazu beigetragen, die Incongruenz 
der Abschnitte A und G den Augen des Verfassers selbst, sowie bis 
jetzt auch denen der Kritik zu verhüllen. 

Zunächst ist zu unterscheiden das relativ, d. h. in Bezug auf 
das Gesammtbewusstsein des Grosshirns, Unbewusste, und das 
absolut, d. h. in jeder Beziehung genommen, Unbewusste. Diese 
Unterscheidung ist zum Schluss der Gapitel A I und II (S. 59 — 60 
und 69)*) zwar deutlich angegeben, aber im Verlauf des Werkes 
nicht überall klar erkennbar festgehalten und scharf durchgeführt, 
so dass beides häufig in den gemeinsamen Nebel des Einen Un- 
bewussten verschwimmt, und auf diese Weise dem absolut Un- 
bewussten manches zu Gute zu kommen scheint, was von dem relativ 
Unbewussten gesagt sein sollte. m ) Wir können aus den Resultaten 
unserer Untersuchungen (Abschn. IV S. 73—78) hinzufügen, dass 
nicht nur die Bewusstseinssphären der niederen Centralorgane des 
thierischen Nervensystems in diese Kategorie des relativ Un- 
bewussten fallen, sondern dass für das Gesammtbewusstsein des 
Grosshirns, welches allein ich mein Bewusstsein nenne, auch die 
Zellenbewusstseine resp. Molecularbewusstseine im Grosshirn selbst, 
d. h. diejenigen Functionen und Nervenprocesse unbewusst sind, 
welche unterhalb der Reizschwelle des Gesammthirnbewusstseins 
aber oberhalb der Reizschwellen der entsprechenden Zellen- oder 
Molecularbewusstseine liegen. In dieser Region können sich Func- 
tionen von höchster Wichtigkeit für die Oeconomie des Geisteslebens 
vollziehen, die etwa durch häufige Wiederholung dasjenige an Ein 
fluss auf Prädispositionenbildung ersetzen, was ihnen an Intensität 
abgeht und kann man in diesem Sinne wohl mit Wundt („Beiträge zur 
Theorie der Sinneswahrnehmung" S. 188) von (relativ) „unbewusster 
U e b u n g", oder mit) Schopenhauer : („Parerga" 2. Aufl. S. 59) von 
„unbewusster Rumination" sprechen 808 ) (vgl. Ph. d. Unb. 



*) 7. Aufl. L 59—60 u. 67. 



XU. Das Unbewusste. 231 

S. 285—287).*) In diesen Regionen unterhalb der Schwelle des 
Gesammthirnbewusstseins kann ferner ein grosser Theil der un- 
bewusst mitbestimmenden Momente der Gefühle liegen (vgl. oben 
S. 76). Zugleich aber ist dabei in Erwägung zu nehmen, dass 
die eigentliche intellectuelle Sphäre in der Gehirnrinde zu liegen 
scheint, während die Sphäre der Molecularprocesse, welche innerlich 
als Gefühle sich darstellen, dem Kleinhirn (dem Centralorgan der 
Bewegungen) näher, also in Bezug auf dieses weniger peripherisch 
liegt, als die reine Vorstellungssphäre (vgl. oben S. 122 — 125). Wie 
die Molecularschwingungen einer blossen Vorstellung an sich sehr 
intensiv und doch dabei von sehr geringem Einfluss auf die Gentral- 
organe der Bewegungen und auf die Bestimmung des Handelns sein 
können, so können umgekehrt die Molecularschwingungen von tiefen 
und mächtigen Gefühlen an sich sehr intensiv sein und doch für 
das Gesammtbewusstsein der intellectuellen Sphäre des Grosshirns 
entweder ganz unter der Schwelle bleiben, oder doch in schwer 
fassbarer und vergleichbarer Form, in dunkler, nebelhafter Gestalt 
in dasselbe eintreten. Da beide Erscheinungen von der Güte der 
Leitung zwischen beiden Sphären abhängig, also eoordinirte Wir- 
kungen derselben Ursache sind, so ist, wenn selbst nur die eine 
derselben (wie oben im Abschn. VII) constatirt ist, die andere 
a priori zu erwarten. Jene Gefühle mögen in ihren betreffenden 
Zellen oder Hirnpartien zu hinlänglich starkem Bewusstsein gelangen ; 
sie communiciren nur nicht vollkommen genug mit demjenigen Haupt- 
summationsbewusstsein, welches, zu gedanklichen Reflexionen in be- 
sonderem Maasse befähigt, allein im Menschen die Stufe des Selbst- 
bewußtseins errungen hat. 

Nachdem wir so aus dem allgemeinen Begriff des Unbewussten 
zunächst die umfassende Sphäre des relativ Unbewussten aus- 
geschieden haben, haben wir in der übrigbleibenden Sphäre des 
absolut Unbewussten abermals eine strenge Trennung durchzuführen 
zwischen dem physiologischen und metaphysischen Un- 
bewussten. Unter dem physiologischen Unbewussten verstehen wir 
die moleculare Hirn- und Ganglienprädisposition als Ursache der 
charakteristischen Bestimmtheit der physiologischen und psychologi- 
schen Functionen eines Individuums ; 809 ) unter dem metaphysischen 



*) 7. Aufl. I. 277—279. 



232 Text der ersten Auflage. 

Unbewnssten das in den Atomen naturgesetzmässig fnnctionirende 
Wesen der Welt, in welchen Functionen aber (im Unterschiede von 
der hierin zweifelhaften Ph. d. U.) die psychische Innerlichkeit mit 
inbegriffen ist. 

Eine wie grosse Bolle auch in der Ph. d. U. dasjenige, was 
wir hier das physiologische Unbewusste nennen, spielt, ergiebt sich 
aus unseren früheren Erörterungen, wonach Gedftchtniss und Cha- 
rakter ganz in dieses Gebiet fallen (Ph. d. Unb. S. 27 unten bis 
28, 387 unten bis 388 oben, 608—610),*) der Process der Ideen- 
association als ein den mechanischen Gesetzen folgender molecularer 
Hirnprocess aufgefasst wird (S. 253),**) und nicht nur ererbte 
Charakteranlagen und Fertigkeiten, sondern auch ererbte Ge- 
dächtnissdispositionen statuirt werden (S. 613, S. 78 unten bis 79 
oben). ***) 

Auf S. 609 f) wird sogar darauf hingewiesen, es sei kein Wider- 
spruch, dass der Charakter „im Unbewnssten liegt und doch 
seine Beschaffenheit durch das Hirn, das specifische Organ des 
Bewusstseins, mit bedingt werden soll; denn das Organ des 
Bewusstseins sammt allen seinen molecularen Lagerungsverhältnissen, 
die als latente Dispositionen zu gewissen Schwingungs- 
zuständen dieser oder jener Art betrachtet werden müssen, liegt 
selbst so sehr jenseits alles Bewusstseins, dass zwischen seiner 
materiellen Function und der bewussten Vorstellung erst der ganze 
Complex jener unbewnssten psychischen Functionen" (d. h. der 
teleologischen Eingriffe) „sich einschaltet, mit denen wir uns bisher 
beschäftigt haben". Streichen wir nun auch jene von der Ph. d. IL 
zwischen die mechanische Reaction der molecularen Hirnprädisposi- 
tionen und das Summationsphänomen der bewussten Vorstellung 
oder des Begehrens eingeschalteten teleologischen Eingriffe, so bleibt 
es doch immer richtig, dass Charakter und Gedächtniss, als specielle 
Beschaffenheiten des Gehirns, jenseits alles Bewusstseins, & h. 
im Unbewnssten, liegen. 

Wir haben gesehen, wie sehr der Erklärungsbereich des phy- 
siologischen Unbewussten sich erweitert durch consequentes Zu-Ende- 



*) 7. Aufl. L 28, II. 16 unten bis 17 oben, II. 264-266. 
**> 7 b Aufl. II. 246—246. 

***) 7. Aufl. II. 269, I. 76 unten bis 77 oben. 
t) 7. Aufl. II. 265 unten. 



XII. Das UnbevusBte. 233 

Denken der von der Ph. d. U. seihst (S. 78—79)*) zugestandenen 
Möglichkeit, dieses Erklärungsprindp auf den Inetinct anzuwenden ; 
denn die Wesensgleichheit des Instincts mit den tfbrigen problema- 
tischen Processen des organischen Lebens lässt die Uebertragong 
des für den Instinct adoptirten Erklärungsprincips auf alle übrigen 
als unausweichbare Forderung erscheinen. 

So hat uns das physiologische Unbewusste eine Bedeutung ge- 
wonnen, in welcher es (in Verbindung mit der natürlichen Zucht- 
wahl und einer richtigeren Schätzung des Einflusses der bewussten 
Ueberlegung, Uebung und Gewohnheit auf Modifikationen des In- 
stincts) dasjenige zu ersetzen vermag, was in der Ph. d. U. das 
metaphysische Unbewusste als Subject der teleologischen Eingriffe 
für die Erklärung leisten soll. Wie in der recht verstandenen 
Physiologie die ganze Psychologie enthalten ist, so enthält das 
physiologische Unbewusste alles das in sich, was unter dorn Unbe- 
wussten als dunklem Hintergrunde des psychischen Lebens 
verstanden wird, gleichzeitig aber schliesst es auch die Ursachen 
der nicht aus bloss physikalischen und chemischen Processen an 
Ort und Stelle verständlichen biologischen Processe in sich. 
Das physiologische Unbewusste ist es also, dessen Studium zu- 
nächst noth tbut, um alle Räthsel des psychischen und organischen 
Lebens zu lösen ; denn in ihm liegt der ganze Reüehthum derselben 
beschlossen. 2l °) 

Gehen wir nun zu der andern Seite des absolut Unbewussten, 
dem metaphysischen Unbewussten über, so ist dies eben durch 
die Streichung des Subjects der teleologischen Eingriffe sehr viel 
ärmer als das metaphysische Unbewusste der Ph. d. Unb., welches 
das gemeinsame Subject der naturgesetzmässigen Atomfunctionen 
nur unter sich begreift, während dieses bei uns den ganzen 
Platz des metaphysischen Unbewussten einnimmt. Es ist keine 
Frage, dass die einfachste Atomfunction einp Anticipation eines Zu- 
künftigen, erst noch durch die Action selbst in die Wirklichkeit zu 
Seilenden enthält (Ph. d. Unb. S. 484—485),**) ebenso unbedingt 
ist zuzugeben, dass der formell« Modus dieser Anticipation in den 
einfachen, die. Materie erst constitujrenden, also selbst immateriellen 



*) 7. Aufl. I. 76—77. 
**) 7. Aufl. IL 116-118. 



234 Text der ersten Auflage. 

Elementen selbst immateriell genannt werden müsse (S. 105);*) 
ob aber eine solebe inhaltliche Bestimmtheit eines noch nicht Seien- 
den in immaterieller Form, d. h. solche metaphysische Anticipation 
der Verwirklichung durchaus ideale Bestimmtheit genannt wer- 
den müsse, wäre immerhin noch zu erwägen, sobald man einmal 
mit der Annahme präexistirender typischer Gattungsideen vor ihrer 
Realisation in Thier- und Pflanzenreich gebrochen hat. 211 ) Schwächt 
man durch Entkleidung von aller anthropopathischen Nebenbedeu- 
tung den Sinn des Wortes „ideal" so weit ab, dass er nichts 
mehr als die uns schlechterdings unbekannte (S. 375, Z. 19 — 23)**) 
Form der immateriellen metaphysischen Anticipation innerhalb der 
diesen Inhalt verwirklichenden Function ist (Phil. Monatshefte 
Bd. IV, Heft 1, Schluss der Erwiderung gegen J. Bergmannes 
Kritik der Phil. d. Unb.), dann kann man diese Bedeutung des 
Aasdrucks ideal zwar nicht mehr bekämpfen, aber das Wort 
hat dann auch nichts Significantes mehr an sich, es fördert das 
Verständniss nicht mehr, sondern bringt es eher durch die nahe- 
liegende Versuchung unfreiwilligen anthropopathischen Rückfalls in 
Gefahr. 818 ) 

So lange man das Unbewusste als Träger der teleologischen 
Eingriffe gelten lässt, liegt die Sache in sofern etwas anders, als 
man in der Anticipationsform im Atom nur die Species eines grossen 
Genus metaphysischer Anticipationen erblickt, welche ihrer Form 
nach zwar ebenfalls unbekannt, aber ihrem Inhalt nach zum 
grösseren Theil mit demjenigen identisch sind, was die Philosophie 
von Plato bis Hegel unter Ideen verstanden hat. Nachdem wir 
aber (vgl. oben S. 50—51) gesehen haben, dass die Typen der 
Organisation sich allmählich durch mechanische Compensionspro- 
cesse herausgebildet haben, ohne einem teleologischen Princip Baum 
zur Erklärung zu gestatten, haben wir auch von der Annahme der 
Präexistenz solcher Typen in Gestalt unbewnsster Naturideen oder 
bewusster göttlicher Ideen als einer fernerhin grundlosen und un- 
berechtigten Hypothese Abstand zu nehmen. 813 ) Die Hypothese 
einer hellsehenden unbewussten Intuition des Instincts mit ihrer 
Ausbreitung auf alle Gebiete des psychischen und organischen Lebens 



*) 7. Aufl. I. 102. 
**) 7. Aufl. II. 5, Z. 24—29. 



XII. Dm ünbewusBte. 235 

war für die Ph. d. Unb. das willkommene Zwischenglied, oder viel- 
mehr eine lange Stufenreihe von Bindegliedern zwischen der In- 
tuition des klarsten menschlichen Bewnsstseins und der anticipiren- 
den Fanction des Atoms ; iu ) nach Wegnahme dieser Kette würden 
die durch sie verknüpft gewesenen Endglieder völlig auseinander- 
fallen, wenn nicht anf der andern Seite die Restitution der in der 
Ph. d. Unb. zweifelhaften Atom-Epfindung ,16 ) und das ge- 
nauere Verständniss des Bewnsstseins als eines Summations- 
phänomens von organischem Uebereinanderbau analog der ln- 
einanderschachtelung der relativen Individuen eine neue Verbindung 
herstellte. * li ) 

Leider giebt nur diese neue Kette nicht, wie die zerstörte, 
scheinbare Aufschlüsse über die Natur der immateriellen metaphy- 
sischen Anticipation des Atoms bei seinem Functioniren. Man weiss 
von dieser Anticipation nur so viel, dass sie jenseits und vor aller 
Atomempfindung, d. h. Atombewusstsein, liegt, also eine absolut un- 
bewusste ist, und dass sie nach Eintreten und Inhalt unabänder- 
lichen Gesetzen folgt. Will man nun den Ausdruck „unbewusste 
Anticipation" deutsch durch „unbewusste Vorstellung" wiedergeben, 
so ist dagegen natürlich wiederum nichts als die Gefahr des Rück- 
falls in anthropopathische Nebenbedeutungen geltend zu machen. 
Die Erkenntniss wird dadurch ebenso wenig positiv gefördert, als 
wenn man die Spannkraft des Atoms Wille, den Umsatz derselben 
in lebendige Kraft Wollen nennt, da Wille und Wollen nur bestimmte 
Erscheinungsformen des Zusammenwirkens von Atomfunctionen sind, 
oder die Bezeichnungen, welche wir den uns aus psychologischen 
Schlüssen indirect bekannten Summationsphänomenen unseres thä- 
tigen Gehirns ertheilen (vgl. oben S. 96—98); der Werth solcher 
Bezeichnungen liegt ebenso wie bei dem der Atom-Empfindung 
nur in dem Wecken und Wachhalten des Bewnsstseins von der 
wesentlichen Identität alles Lebens und aller seiner activen und 
receptiven Functionen in der gesammten organischen und unorgani- 
schen Natur. 117 ) 

Wenn wir oben iß. 33) bemerkten, dass die Naturwissenschaft 
als solche sich um die Frage nicht zu kümmern habe, ob letzten 
Endes auch die Naturgesetze und die Gausalität selbst sich, wie die 
Ph. d. Unb. behauptet, in Finalität, d. h. in Teleologie, auflösen, so 
haben wir jetzt, wo wir uns mit dem Unbewussten in den Atomen 



286 Text der ersten Auflage. 

beschäftigen) dieser Frage näher zu treten. — Zunächst haben wir 
daran zu erinnern, dass alle Naturkräfte als Combinationen der ein- 
fachen Atomkräfte, alle Naturgesetze als secundäre Gesetze oder als 
aus den einfachen Gesetzen der Atomfunctionen abgeleitete Folge- 
erscheinungen anzusehen sind (vgl. „Ges. phil. Abhandle S. 123 bis 
124);*) dieses Folgen der complicirteren Naturgesetze aus den ein- 
fachen Gesetzen der Mechanik des Atoms aufzuweisen (was natürlich 
nur auf mathematischem Wege möglich ist) ist die letzte und höchste 
Aufgabe der Physik, und die mechanische Wärmetheorie, die mathe- 
matische Behandlung der akustischen und optischen Schwingungs- 
processe, sowie endlich das mathematische Eindringen in das Gebiet 
der Electricität haben in neuester Zeit glänzende Proben der wissen- 
schaftlichen Leistungsfähigkeit gegeben und unabsehbare Hoffnungen 
für die Zukunft erweckt. Es ist, unumwunden gesprochen, das Ziel 
der Naturwissenschaft, alle die mannigfachen Naturerscheinungen 
als Resultate zu begreifen, die aus der Mechanik der Atome 
hervorgegangen sind; alles Beobachten, Experimentiren und Indu- 
ciren ist durchaus nur Mittel zu diesem Einen, letzten, alles be- 
stimmenden Zweck, dessen Erreichung allein die Naturwissenschaft 
zur Wissenschaft im höchsten Grade zu erheben und abzuschliessen 
vermag. Die letzten Functionen der Atome werden wir uns ebenso 
einfach zu denken haben wie die Atome selbst; die Combination 
derselben zu den complicirten Naturerscheinungen muss aber mathe- 
matisch durchaus beweisbar sein. Nur ist freilich die Mathematik 
auch nur eine angewandte Logik, angewandt auf gegebene Existenzen 
in Bezug auf die Kategorie der Quantität; aber wohlgemerkt ist 
unter der hier in Anwendung kommenden Logik nur der Satz vom 
Widerspruch (oder seine modificirten Ausdrucksweisen), nicht aber 
die Teleologiezu verstehen ; die Mathematik deducirt alles so 
und so nur deshalb, weil es ohne Widerspruch nicht anders sein 
kann, nicht weil das Sosein irgendwie zweckmässig wäre. * 18 ) Soll 
also irgendwo eine vorausbestimmte Einheit von causaler und finaler 
Notwendigkeit stecken (Ph. d. U. S. 790),**) so muss sie bereits 
ganz und ohne Rest in der Einrichtung der Elementarfunctionen der 
einfachen Uratome und in der Beschaffenheit der in ihnen als Gesetz 



*) Ges. Stud. u. Aufs. S. 536—637. 
*») 7. Aufl. IL 450. 



Xu. Dm Uabe*utst& 287 

erkennbaren Constanz der Wirkungsweise gegeben sein.* 19 ) Je ein- 
facher wir genöthigt sind, ans diese Gesetze zu denken, um so 
unwahrscheinlicher wird eine solche Annahme, am so entbehrlicher 
and werthloser für die Erklärung der Welt wird sie aber zugleich. 
Das volle Verständniss der mechanischen Notwendigkeit solcher 
Gesetze kann oft lange aasbleiben, bis plötzlich ein klarer Kopf das 
Ei des Colambus auf die Spitze stellt, wie es Kant mit dem alten 
Probleme des Parallelogramms der Kräfte gelang (vgl. Ph. d. Unb. 
S. 468). *) So bleibt man zuletzt nur bei dem Problem der Existenz, 
lind zwar einer in bestimmter Essenz gegebenen Existenz, als dem 
ewig uplösbaren stehen, für das die teleologische Metaphysik eben- 
sowenig ein Recept haben kann als irgend eine andere (S. 796 bis 
797},**) Solchen Ausgangspunkt aber einmal zugegeben, haben 
wir schon nach dem jetzigen Stande der Physik keinen Grund mehr 
zu der Annahme, dass die Elementarfunctionen der Atome aus- 
schliesslich oder theilweise durch teleologische Rücksichten auf den 
Weltprocess und sein etwaiges Ziel bestimmt worden seien. Jeder 
Fortschritt in der mathematischen Physik wird solchen Glauben un- 
wahrscheinlicher machen. m ) 

Wir haben so eben eingeräumt, dass auch die Mathematik nur 
angewandte Logik sei, also die complicirten Naturgesetze und alle 
natürliche Causalität in diesem Sinne allerdings mit dem, was 
wir unter logischer Notwendigkeit verstehen, identisch seien*, wir 
haben nur bestritten, dass diese logische Notwendigkeit die teleo- 
logische Vorsehung oder Finalität in sich schliesse. 221 ) Die Finalität 
ist, wie die Pb. d. ünb. (S. 782—783)***) zugesteht, ebenfalls an- 
gewandte Logik, aber in noch anderem Sinne als die Mathematik, 
welche eben nur die Existenz von Grössen voraussetzt. m ) Die 
Finalität setzt ein Antilogisches voraus, welches nicht zu negiren 
widersinnig, d. h. der Natur des Logischen widersprechend wäre, 
sie setzt aber auch ausserdem voraus, dass die Existenz dieses Anti- 
logischen als Antilogischen dem Logischen (oder der gemeinsamen 
Substanz beider) empfindlich werde, und deshalb braucht die 
Ph. d. Unb. die vorweltliche und ausserweltliche Unlustempfindung 



*) 7. Aufl. II. 101-102. 

**) 7. Aufl. II. 458—460. 

***) 7. Aufl. IL 440-441. 



238 Text der ersten Auflage. 

des unerfüllten oder leeren Wollene (S. 785— -786),*) mit welcher 
kühnen 888 ) Hypothese die Möglichkeit ihrer ganzen teleologischen 
Metaphysik steht und fällt. — Diese Hypothese ist jedoch deshalb 
nicht haltbar, weil sie die Unendlichkeit des leeren Wollens 
gegenüber dem endlichen erfüllten Wollen znr Voraussetzung hat " 4 ) 
Nun ist aber ein unendliches Wollen ebenso unmöglich, wie jede 
andere existirende Unendlichkeit; m ) die Potentialität kann hier 
nicht zur Entschuldigung dienen, weil 1 * 6 ) der Wille sein Wollen- 
können durch zeitliches Wollen nicht erschöpft, also ein endlicher 
Wille für unendlich lange Dauer des Wollens ausreichen würde. '") 
Der Wille ist nur 888 ) deshalb unersättlich, weil jede Befriedigung sein 
Wollenkönnen nicht vernichtet und er nach derselben deshalb immer 
weiter will, aber seine Unersättlichkeit beweist gar nichts gegen 
die Endlichkeit seiner Intensität. Eine potentielle Unendlichkeit des 
Willens bedeutet nur dann überhaupt etwas, wenn sie das Vermögen 
bedeutet, in demselben Moment ein unendliches actuelles Wollen 
entfalten zu können; 889 ) dann bedeutet sie aber etwas Falsches, 
weil Widersinniges. Der Wille kann also ebensowenig unendlich 
heissen als das Wollen und am wenigsten das als der Moment der 
Initiative erklärte (S. 773—774)*») leere Wollen, welches weder 
endlich noch unendlich, weil einer Quantitätsbestimmung überhaupt 
so wenig wie der mathematische Punkt fähig sein kann. 88 °) Ist 
nun der Wille keinenfalls unendlich, sondern endlich, so muss sich 
die intensive Grösse der Welt, d. h. die Summe der in derselben 
zur Erscheinung gelangenden Kraft, nach ihm richten; es wird also 
kein Ueberschuss eines leeren über das erfüllte Wollen bleiben, also 
eine ausserweltliche Unseligkeit unmöglich sein. 8S1 ) Damit fällt die 
Grundlage der beständig sich erneuernden Finalität. Es bliebe 
höchstens noch die Möglichkeit einer v o r weltlichen Unseligkeit des 
leeren Wollens im Moment der Weltinitiative, durch welche die 
Atomgesetze einmal teleologisch bestimmt wären. So schwer auch 
der Grund einzusehen wäre, weshalb das der teleologischen Grund- 
lage beraubte metaphysiche Unbewusste den früher von ihm be- 
stimmten Naturgesetzen, für die es doch kein Gedächtnis? hat, auch 
fernerhin folgen solle, so ergeben sich doch noch grössere Schwierig- 



*) 7. Aufl. II. 184—186. 
**) 7. Aufl. IL 431-438. 



XIL Das Unbewusste. 239 

keiten von anderen Seiten her, welche den ganzen Einfluss teleo- 
logischer Erwägungen auf die Installirung des Processes zu einer 
höchst unwahrscheinlichen Hypothese machen. — Finalität braucht 
nämlich einen letzten Endzweck, ein Ziel, zu welchem der ganze 
übrige Process als Mittel gesetzt wird. So sehr wir mit den in- 
ductiven und deductiven Erwägungen der Ph. d. Unb. (Cap. G. XII 
u. XHI;») vgl. „Ges. phiL Abhandle S. 50-55)**) über die Un- 
möglichkeit eines positiven Endziels des Weltprocesses überein- 
stimmen, so wenig können wir ihren Glauben an die Möglichkeit 
eines negativen Weltziels beipflichten (vgl. oben Abschn. III), um 
so mehr als sie die Wahrscheinlichkeit ihrer Annahme irgend 
welcher Pointe im Weltlauf, oder irgend welchen Endzwecks (für 
den dann natürlich nach Elimination aller positiven nur ein nega- 
tiver übrig bliebe) erst aus der Hypothese einer all weisen Vorsehung 
herleitet, sss ) die selbst nur wieder, wie wir gleich sehen werden, 
auf das bereits beseitigte System der beständigen teleologischen 
Eingriffe sich stützt Wir können nicht umhin, den Glauben an die 
Möglichkeit einer endlichen Universalwillensverneinung ebenso für 
eine Dlusion zu erklären, wie die PhiL d. Unb. den Glauben Schopen- 
hauer'» an die Möglichkeit einer Individualwillensverneinung für 
eine Illusion erklärt. Beides sind am Ende nur Gemttthspostulate, 
um aus der Aussichtslosigkeit des Pessimismus einen erlösenden 
Ausweg zn finden, also Illusionen von derselben Classe, wie die 
Instincte der charakterologischen Hoffnung, der Liebe, der Ehre 
u. s. w., welche durch natürliche Auslese im Kampf um's Dasein 
sich entwickelt haben, indem nur diejenigen Menschen übrig blieben 
und sich fortpflanzten, welche das Leben erträglich fanden und 
sich leidlich mit demselben abzufinden wussten. Der geringe An- 
klang, welchen gerade dieser Gedanke einer schliesslichen Universal- 
Willensverneinung gefunden hat, scheint darauf hinzudeuten, dass es 
nicht nöthig sein dürfte, den drei von der Ph. d. U. aufgestellten 
Stadien der Illusionen ein viertes in diesem Sinne hinzuzufügen. m ) 
Aber nehmen wir selbst einen Augenblick an, die Universal- 
Willensverneinung sei als Endziel des Processes zu fassen und als 
solches erreichbar, so liegt einem allweisen Unbewussten offen- 



*) 7. Aufl. Cap. C. XIII u. XIV. 
*) Ges. Stud. u. Aufs. 629-634. 



240 Text der ersten Anfluge. 

bar die Auifeabe ob, dieses Ziel so bald als möglich und so schnell 
als möglich zu erreichen, um die Qual des Processes nach Möglich- 
keit abzukürzen. 

Das allmächtige Unbewusste, sollte man nun meinen, 
könnte sich durch nichts gehindert sehen, im Moment der Erhebung 
des Weltwillens zum Frocess sofort denjenigen Znstand zu reali- 
siren, in welchem sich die Welt im Moment der UniversalwtUens- 
verneinung am Ende des Processes dereinst befinden soll; denn es 
steht ja der Idee frei, welchen Inhalt sie dem Willen giebt, und 
dieser realisirt ihn unbesehens. ,M ) Es ist bei einem allweisen nnd 
allmächtigen Unbewnssten die Notwendigkeit einer dem Endznstande 
der Welt vorausgehenden Entwicklung schlechterdings nicht einzu- 
sehen. Aber selbst auch eine solche Notwendigkeit zugegeben, so 
soll doch das Maass der Entwickelungsgeschwindigkeit rein von der 
Idee abhängen, und nichts vermöchte bei der Relativität des Zeit- 
maasses sie zu hindern, den ganzen Entwickelungs-Process mit un- 
endlicher Geschwindigkeit absehnurren zu lassen, d. h. ihn in eine 
unendlich kleine Zeit zusammenzudrängen, was praktisch dasselbe 
Resultat wie die unmittelbare Herstellung des Endzustandes der 
Welt ergeben würde. Da diese Gonsequenzen sämmtlich der Er- 
fahrung widersprechen, * 35 ) müssen die Voraussetzungen falsch sein, 
d. h. es kann gar kein Endziel des Weltprocesses geben, nach 
welchem dieser von einer Vorsehung hingcleitet würde. (Vgl. auch 
oben S. 89 — 91). Kann es aber kein Endziel geben, so ist eine 
teleologische Prädestination des Weltprocesses durch eine diesem 
Endzweck angepasste Einrichtung der elementaren Naturgesetze 
unmöglich. Dann kann die Causalität wohl noch als identisch mit 
logischer Nothwendigkeit, aber nicht mehr als identisch mit teleo- 
logischer Nothwendigkeit oder Finalität behauptet werden. 

Aber auch diese Identität von Causalität und logischer Noth- 
wendigkeit muss uns in einem andern Lichte als der Ph. d. Unb. 
erscheinen, weil das Apriorische und damit auch das Logische uns 
ein psychophysisch oder physiologisch Gegebenes, der Ph. d. Unb. 
hingegen ein metaphysisch-spiritualistisch Gesetztes ist. Im letzteren 
Falle kann über die Identität der logischen Nothwendigkeit im 
Process des dinglichen Geschehens und im Process des bewussten 
Denkens kaum ein Zweifel bestehen; im ersteren Falle aber, wo 
die Prädispositionen der Vorstellungsverknüpfung sich durch ver- 



XII. Das Unbewusste. 241 

vererbte Anpassung an die Verknttpfungsweisen oder Zusammenhänge 
des realen Geschehens herausgebildet haben (vgl. oben S. 151 — 153), 
drängt sich unabweisbar die weitere Frage auf, ob denn nicht am 
Ende der Charakter des Logischen, d. h. des für alle Fälle des 
Denkens Zwingenden, erst gerade ein subjectiv zu Stande ge- 
kommenes Moment sei, das denjenigen tatsächlichen Zusammen- 
hängen, durch Anpassung an welche die subjectiv logischen Ver- 
knttpfungsformen sich entwickelt haben, durchaus nicht in derselben 
Weise zukommt. 286 ) Diese wichtige Frage (vgl. Ph. d. U. S. 791 
und 108)*) können wir hier nicht weiter verfolgen. 

Nachdem wir die Analyse des Unbewussten in 1) das relativ 
(für das Gesammthirnbewusstsein) Unbewusste, 2) das physiologische 
Unbewusste und 3) das metaphysische Unbewusste durchgeführt 
haben, 237 ) dürfte es angemessen sein, noch einmal recapitulirend 
uns vorzuführen, welche unter den von der Ph. d. U. dem Un- 
bewussten schlechthin zugeschriebenen Eigenschaften auf die ver- 
schiedenen Elemente dieses Begriffs anwendbar bleiben. Wir schlagen 
hierzu Cap. C, I auf. Dort ist gesagt: 

1) „Das Unbewusste erkrankt nicht." 888 ) Dieser Satz 

* 

ist ebensowenig wie die folgenden auf das relativ Unbewusste be- 
zogen zu nehmen, sondern von vornherein auf das absolut Unbewusste 
beschränkt zu denken. Auf unsern Begriff des metaphysischen 
Unbewussten finden natürlich die Begriffe der Krankheit und Ge- 
sundheit gar keine Anwendung; das physiologische Unbewusste 
kann sehr wohl erkranken, — nur nicht spontan, sondern in Folge 
irgend welcher functionellen Störung. Das physiologische Unbewusste 
ist es ja gerade, welches die Erblichkeit der Geisteskrankheiten zu 
Stande bringt. 

2) „Das Unbewusste ermüdet nicht." Für das meta- 
physische Unbewusste behält der Satz volle Geltung, denn die Atome 
der Himmelskörper gravitiren nun schon recht lange auf einander 
zu, ohne irgend welchen Nachlass in ihrer Kraftentfaltung zu zeigen. 
Für das physiologische Unbewusste hingegen ist der Satz unrichtig ; 
gerade hier ist die Ermüdung ganz frappant wahrnehmbar, und die 
Erscheinungen, welche dagegen zu sprechen scheinen, beruhen stets 
auf einer Ablösung der functionirenden Theile, die ein Ausruhen 



*) 7. Aufl. IL 451 u. I. 105. 

E. v. Hartman n, Das Unbewusste. 2 Aufl. 16 



242 Text der ersten Auflage. 

und einen Kraftersatz ohne Unterbrechung der Function gestattet 
(z. B. gegenseitige Ablösung der den Herzschlag oder die Athmung 
bewirkenden Ganglien und Bückenmarkspartien.) Dass beim be- 
wussten Wahrnehmen und Denken eine Ablössung in dem erforder- 
lichen Maasse nicht zu Stande kommen kann, muss darauf beruhen, 
dass der Innervationsstrom der Aufmerksamkeit eine so bedeutende 
Menge von Kraftvorrath des Gehirns consumirt, dass die gesammte 
Oeconomie der Gehirnernährung für den Ersatz desselben bei 
dauernder Anspannung der Aufmerksamkeit nicht ausreichen würde. 
Auf diesen starken Kraftverbrauch deutet auch die active Spontaneität 
der Aufmerksamkeit im Gegensatz zu dem passiven Charakter der 
Gefühle oder dem gleichsam latenten der Leidenschaften, welche 
nur in den kürzeren Ausbrüchen der Affecte ein grösseres Quantum 
von Kraft consumiren. 

3) „Alle bewusste Vorstellung hat die Form der Sinnlich- 
keit, das unbewusste Denken kann nur von unsinnlicher 
Art sein." — Die Form der Sinnlichkeit ist selbst nur ein Summa- 
tionsphänomen aus Atomempfindungen, es würde also der all- 
gemeinere Ausdruck lauten: Form der Empfindung. Letzterer 
umfasst dann auch das Bewusstsein niederer Nervenoentra und unter- 
geordneter Sphären im Grosshirn in Betreff ihrer unterhalb der 
Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegenden Functionen mit in 
sich, d. h. aber das relativ Unbewusste hat ebenfalls die Form 
der Empfindung. 

Das physiologische Unbewusste als latente Disposition ist 
eine ruhende Beschaffenheit, die nicht unbewusstes Denken 
heissen kann; insofern es aber functionirt, erzeugt es eben allemal 
Bewusstseinsfunctionen. Selbst dann, wenn diese Functionen unter- 
halb der Schwelle des Gesammthirnbewusstseins liegen, müssen wir 
doch annehmen, dass sie in einzelnen Hirnpartien, Hirnzellen, Mole- 
culen oder auch nur Atomen irgend welches Bewusstsein erzeugen, 
welches alsdann immer die Form der Empfindung haben muss. 
Insoweit also das physiologische Unbewusste functionirt, schlägt es 
sofort in das Gebiet des relativ Unbewussten oder Bewussten über, 239 ) 
und kann dann sein Denken nicht unsinnlicher Art sein; insoweit 
es nicht functionirt, kann von einem Denken bei ihm nicht die 
Rede sein. Somit bleibt die Verneinung des Charakters der Sinn- 
lichkeit oder Empfindung nur gültig für die anticipirenden Functionen 



Xil. Das ünbewusste. 243 

des metaphysischen Unbewussten, die aber wieder nur sehr 
cum grano salis als Vorstellen oder Denken bezeichnet werden 
können. 

4) „Das Unbewnsste schwankt und zweifelt nicht, 
es braucht keine Zeit zur Ueberlegung, sondern erfasst momen- 
tan das Resultat." „Das Denken des Unbewussten ist zeitlos" 
(S. 376). *) Was die Rapidität der mechanischen Reactionen des 
physiologischen Unbewussten betrifft, so haben wir schon oben 
(S. 192) gesehen, dass dieselben nur wegen des Fehlens aller 
Zwischenglieder eine relativ kurze Zeit erfordern, aber keinenfalls 
in Null-Zeit verlaufen können. Letzteres müssen wir sogar von 
den Functionen des metaphysischen Unbewussten bestreiten, denn 
Function ohne Zeit ist ebenso wenig denkbar, wie etwa Gausalität 
ohne Zeit ; 240 ) während die Ph. d. U. den letzteren Widerspruch 
der Eant'schen Philosophie beseitigt, lässt sie sich von dem ersteren 
kritiklos gefangen nehmen (S. 376).*) Wenn die ünbewusste Idee 
dasjenige sein soll, was die Zeit, oder wenigstens die bestimmte 
Zeit (S. 777, Z. 25—27)**) setzt, indem sie das „Was" der Welt 
in jedem Augenblick bestimmt, wenn aber dieses „Was" ein sich 
8t et ig veränderndes ist, so muss jedenfalls auch die ünbewusste 
Idee eine sich stetig verändernde sein; sie kann dann nicht bloss 
intermittirend einsetzen, sondern muss dauernd actuell sein, 
d. h. sie muss zeitlich, nicht zeitlos sein, um als Erklärungs- 
prineip irgendwie brauchbar zu sein 241 ) (vgl. S. 384, Z. 3—4 von 
unten).***) 

5) „Das Ünbewusste irrt nicht." Wir haben in Bezug 
auf das physiologische Ünbewusste die Unanwendbarkeit der Kate- 
gorien der Wahrheit und des Irrthums ebenfalls schon oben (S. 191 fg.) 
besprochen; es ist klar, dass dieselben auf das metaphysische Ün- 
bewusste nach Streichung des Hellsehens und der teleologischen 
Eingriffe noch weniger passen. 242 ) 

6) „Dem Unbewussten können wir kein Gedächtniss zu- 
schreiben." Dies ist für das metaphysische Ünbewusste unbedingt 
richtig, wenn auch nicht aus den S. 379 — 380 f) angegebenen 



*) 7. Aufl. T. 6. 

**> 7. Aufl. II. 435 Z. 1—2 v. unten u. 436 Z. 1 oben. 
***) 7. Aufl. IL 14, Z. 11—13 v. unten, 
t) 7. Aufl. II. 9. 

16* 



244 Text der ersten Auflage. 

teleologischen Gründen ; dem physiologischen Unbewussten hingegen 
können wir nur deshalb kein Oedächtniss zuschreiben, weil es selber 
auch das Gedächtniss ist (S. 379, Z. 19—14 von unten).*) 

7) „Im Unbewussten ist Wille und Vorstellung in untrennbarer 
Einheit verbunden." In Bezug auf das metaphysische Unbewusste 
bleibt dieser Satz bestehen, insoweit man eben die Ausdrücke Wille 
und Vorstellung daselbst gelten lässt. Für das physiologische Un- 
bewusste hat der Satz deshalb keine Geltung, weil in der ruhen- 
den Hirnprädisposition von Wille und Vorstellung überhaupt keine 
Bede sein kann, während das Functioniren der Prädisposition 243 ) 
sofort Bewusstsein (sei es gesammthirnbewusstes oder relativ un- 
bewusstes) hervorruft, also in die Emancipation der Vorstellung vom 
Willen vermittelst der bewussten Empfindung umschlägt (vgl. oben 
S. 242, auch 89 fg.) 

Wir fügen mit fortlaufender Nummer einige weitere Eigenschaf- 
ten des Unbewussten aus späteren Gapiteln hier an, bei welchen es 
sich ausschliesslich um das Unbewusste als Princip des Monismus, 
d. h. also um das metaphysische Unbewusste handelt: 

8) „Das Unbewusste packt das Leben, wo es dasselbe nur 
packen kann" (S. 550). **) Wo immer in einer gewissen Combina- 
tion organischer Stoffe die Möglichkeit des Lebens gegeben ist, 
ergreift das Unbewusste als psychisches Princip die Gelegenheit, 
um den Körper zu beleben und zu beseelen (S. 555);***) ob es 
auch millionenmal bei dieser Gier der Belebung verunglücken mag, 
es lässt sich dadurch nicht stören (S. 559). f ) Es geht bei dieser 
Belebungsgier so blind darauf los, dass es keineswegs bloss solche 
Gelegenheiten benutzt, welche in dem directen Stammbaume des 
Menschen (als dem den Endzweck des Processes erfüllen sollenden 
Organismus) gelegen sind, sondern es nimmt auch alle seitwärts 
vom Wege liegenden Gelegenheiten, sich auszuleben, eifrig mit, and 
verrennt sich dabei häufig in Sackgassen der Entwickelnng 
(S. 569), ff) die dem angeblichen Endzweck des Processes in keiner 
Weise dienen. m ) Nur ein kleiner Theil des Thierreichs liegt im 



*) 7. Aufl. II. 9, Z. 13—17 v. unten. 
**) 7. Aufl. II. 208. 
***) 7. Aufl. II. 213. 

t) 7. Aufl. II. 217. 
tt) 7. Aufl. II. 226. 



XII. Das tlnböwusBte. 245 

directen Stammbaum des Menschen und nur ein kleiner Theil der 
draussen liegenden Arten des Thierreichs wäre nöthig für die 
Oeconomie der Natur in Bezug auf die Aufgaben der Menschheit ; 
ebenso wäre ein viel Weniger reichhaltiges Pflanzenreich ausreichend, 
um die Aufgaben <J es Pflanzenreichs im Naturhaushalt in Bezug auf 
den Endzweck des Processes zu erfüllen ; alles übrige sieht aus wie 
ein lusus ingenii, wie ein metaphysischer Uebermuth des Unbewuss- 
ten über seine teleologischen Aufgaben hinaus. * 45 ) Da alles „Was" 
der Welt aber rein teleologisch durch die Idee bestimmt 
sein soll, so wäre ein solcher blinder Ueberdrang, das Leben all- 
überall und in allen nur möglichen Gestalten zu haschen und zu 
packen, selbst dann unerklärlich, wenn, wie die Ph. d. U. unrichtig 
annimmt, das Wollen im unendlichen Ueberschuss gegen die Idee 
vorhanden wäre. Obige Eigenschaft des Unbewussten ist eben aus 
der*thatsächlichen Welt empirisch aufgenommen, ohne sich mit den 
Principien der Ph. d. U. vereinigen zu lassen. 24 *) Aus der Des- 
cendenztheorie, welche die gesammte Organisation als Resultat eines 
grossen mechanischen Compensationsprocesses im Kampf um's Da- 
sein betrachtet, ergiebt sie sich hingegen ganz ungezwungen, denn 
hier gelangt eben ohne alle Rücksichten auf teleologische Leitung 
des ProcesseB alles zur Existenz, für dessen Existenz die Bedingungen 
vorhanden sind. 

9) Das Unbewusste sucht seine Leistungen mit einem Mini- 
mum von Kraftaufwand zu vollbringen (S. 560, 568).*) Dieser 
ebenso empirisch wie der vorige der Natur der Thatsachen ent- 
nommene Satz passt ebenso wenig wie jener zu den Principien der 
Ph. d. U. War dort der extensive Ueberschuss des Kraftaufwandes 
über das Maass des teleologisch Notwendigen hinaus unverständ- 
lich, so muss hier die Knauserei mit der Intensität der aufzuwen- 
denden Kraft anstössig erscheinen. Beim schwachen Menschen, 
dessen Kräfte unverhältnissmässig gering sind zu den Aufgaben, 
die er sich selber stellt und der ausserdem bequem und träge ist, 
weil ihm die Anstrengung Unlust bereitet, da ist es sehr begreiflich, 
dass er Erleichterung der Arbeit sucht, und dass die Herstellung 
kraftersparender Maschinen und Leistungen selbstthätig verrichtender 
Mechanismen als zweckmässig (nämlich als den Zwecken und 



*) 7. Aufl. H. 218, 225. 



246 Text der ersten Auflage. 

Verhältnissen des Menschen gemäss) gerühmt wird (S. 154, 620 
unten);*) ein metaphysisches Unbewnsstes hingegen kann gar keinen 
Grand haben, sich seine Aufgaben zu erleichtern 147 ) oder durch 
Conßtmction selbstthätiger Mechanismen theilweise von sich abzu- 
wälzen, denn der grössere Kraftaufwand kann ihm ja keinen Ver- 
lust bereiten, also auch die Ersparniss an Kraft keinen Gewinn 
bringen, da .vielmehr im Gegentheil im Fall eines bestehenden Ueber- 
schusses an leerem Wollen die ausserweltliche Unseligkeit desselben 
durch Verminderung der im Process zur Betbätigung gelangenden 
Kraft vermehrt werden müsste. * 48 ) Selbst dann, wenn man von 
einem unendlichen Willen absieht, muss doch das Eine Unbewusste 
immer in dem Sinne allmächtig bleiben, wie das Absolute in 
jedem Monismus so heissen muss, nämlich als Besitzer aller Macht 
oder Kraft, die überhaupt in der Welt existirt. Da nun die Grösse 
der Welt von ihm abhängt und eine allzu grosse extensive Aus- 
breitung gewiss zwecklos im Sinne einer teleologischen Metaphysik 
ist, so braucht er nur der Welt eine passende Grösse zu geben, 
um innerhalb derselben auf alle „Erleichterungen" vermittelst Hülfs- 
mechanismen verzichten zu können. Am Ende ist aber der ganze 
Process der kosmischen Entwickelung nur als ein solcher Hülfs- 
mechanismus zur mittelbaren bequemeren Herbeiführung des End- 
zustandes der Welt zu betrachten, von welchen nicht einzusehen 
ist, weshalb das allmächtige Unbewusste mit ihm die Zeit vertrödelt, 
anstatt den Endzustand der Welt (vor der universalen Willens- 
verneinung) unmittelbar herbeizuführen. 8i9 ) — Ganz anders, wenn 
wir von der teleologischen Metaphysik absehen. Dann stellt sich 
in der Mechanik das Princip des minimalen Kraftaufwandes als 
ein mathematisch beweisbarer Satz dar 260 ) und ergiebt sich, dass 
im Reiche des Organischen nothwendig diejenigen Individuen einen 
Vorsprung in der Concurrenz um's Dasein gewinnen müssen, welche 
mit den besten Mechanismen zur Ersparniss an ihren höchst be- 
schränkten individuellen Kräften ausgerüstet sind, dass also 
solche kraftersparende Mechanismen und Erleichterungen durch 
natürliche Zuchtwahl ganz von selbst sich in den Organismen 
herausbilden müssen. m ) 

10) Das Unbewusste ist allmächtig (S. 776, vergl. auch 



*) 7. Aufl. L 149, II. 276. 



XII. Das Unbewusßte. 247 

163)*) und a 1 1 ge g e n w ä r t i g (S. 620). **) Dass wir die Allmacht 
nicht als Unendlichkeit der Kraft oder des Willens, sondern nur als 
Ineinsfassung aller überhaupt existirenden Macht gelten lassen 
können, ist schon erwähnt. Ebenso aber können wir die Allgegen- 
wart nicht als „ein unaufhörliches (teleologisches) Eingreifen in 
jedem Moment und an jeder Stelle" fc (S. 620)**) gelten lassen, son- 
dern nur als das in allen Atomen zugleich Wirken der Einen 
identischen unräumlichen Substanz der Welt (S. 491).***) Beides 
ist unmittelbar mit dem monistischen Princip verknüpft und giebt 
in unserer Fassung nicht den geringsten Anspruch auf eine Apotheose 
des Unbewussten. 

11) Das Unbewusste ist allwissend (S. 620).**) Die 
Allwissenheit wird identificirt mit „absolutem Hellsehen" (S. 620),**) 
oder mit der reinen Materie der Vorstellung oder des Wissens in 
überbewusster Form (S. 537 -538). f) Das Hellsehen wird ein ab- 
solutes genannt, weil ihm „alle nur irgend zur Sprache kom- 
menden Data immer und momentan zu Gebote stehen" (S. 618, vgl. 
auch S. 380). ff) Diese Behauptung ist aber durch nichts zu er- 
weisen versucht, 268 ) auch dann nicht, wenn wir die Existenz eines 
Hellsehens, ja sogar eines irrthümsunfähigen Hellsehens zugeben 
wollten; es sind vielmehr negative Instanzen gegen obige Behaup- 
tung in der Ph. d. Unb. zugestanden, nämlich die Möglichkeit des 
gänzlichen Ausbleibens der hellsehenden Eingebung des Unbe- 
wussten zum Verderben des auf sie angewiesenen Individuums 258 ) 
(S. 377). ftf ) Selbst ohne solche negative Instanzen könnte doch eine 
noch so grosse Summe von positiven Instanzen für die Existenz 
eines Hellsehens nimmermehr zum Beweise etwas helfen, dass zu 
jeder Zeit und an jeder Stelle alle irgend erforderlichen Data 254 ) 
dem Unbewussten intuitiv gegenwärtig sein müssen. Es bleibt ein 
unendlicher Sprung über eine unausf tillbare Kluft hinüber, w&m 
man vom Hellsehen zum absoluten Hellsehen, von einem ge- 
wissen Wissen zur Allwissenheit übergeht. 255 ) Wäre auch alles 



*) 7. Aufl. II. 434, Z. 9-5 v. u.$ L 157 Schluss. 
*») 7. Aufl. H. 276. 
***) 7. Aufl. H. 123. 
t) 7. Aufl. IL 176—177. 
tt) 7. Aufl. II. 271, vgl. auch II. 10. 
ttt) 7. Aufl. IL 7-8. 



248 Text der ersten Auflage. 

unantastbar, was die Ph. d. U. über das Hellsehen vorbringt, so 
wäre es doch ein unendlich dürftiges Material för das kühne Ge- 
bäude von Schlüssen, welches es tragen soll. Dieser Gedanken- 
sprung wäre sogar psychologisch unerklärlich, wenn nicht die Ver- 
muthung nahe läge, dass hier wieder einmal der Einfluss theolo- 
gischer Jugendreminiscenzen sein Spiel mit dem Philosophen ge- 
trieben hat, jener unselige Einfluss, der schon so viel der besten 
Köpfe corrumpirt, so viel Schweiss der Edlen vergeudet hat — 
Nun ist aber ausserdem selbst das ungenügende Material, welches 
zur Stütze dienen soll, unhaltbar; denn die ganze Lehre vom unbe- 
wussten Hellsehen ist nur aus einer falschen Erklärung des Instincts 
hervorgegangen, und ebenso die Behauptung von der Unfehlbarkeit 
der durch dieses Hellsehen bestimmten Eingriffe des Unbewussten, 
wie wir beides oben ausführlich erörtert haben. * 66 ) Hiernach ist 
die Behauptung der Allwissenheit des Unbewussten als eine 
nach jeder Beziehung grundlose und unhaltbare zu streichen. 

12) Das Unbewusste ist allweise (S. 620).*) Die All- 
weisheit besteht aus zwei Elementen: erstens der Allwissenheit und 
zweitens der absoluten Zweckmässigkeit der allzeitlich -allgegen- 
wärtigen teleologischen Eingriffe (S. 620) ; *) die Allwissenheit liefert 
die erförderlichen Data, auf welche die teleologische Thätigkeit sich 
richtet, und die absolute Vollkommenheit der letzteren macht, dass 
jedestnal die dem gesammten Zweckgertist der Welt möglichst ange- 
messene Vorstellung im möglichst angemessenen Moment ah mög- 
lichst angemessener Stelle als teleologischer Eingriff in den natar- 
gesetzlichen Gang des Processes zu Tage tritt (S. 618).**) Wir 
haben über die teleologischen Eingriffe dasselbe zu bemerken, wie so 
eben über das Hellsehen; selbst wenn sie constatirt wären, würde 
doch der Uebergang von einer solchen Thatsache zu der Behauptung 
einer absolut vollkommenen Z weckthätigkeit des Unbewussten 
in dem angegebenen Sinne ein unmotivirter Sprung bleiben. Hell- 
sehen und teleologische Eingriffe zusammen würden nur die Annahme 
eines gewissen Maasses von Weisheit des Unbewussten be- 
gründen und rechtfertigen können, niemals die Annahme einer 



*) 7. Aufl. II. 276. 
**) 7. Aufl. IL 271. 



XII Das ünbewusste. 249 

absoluten 257 ) Weisheit oder All Weisheit*) N&chddm wir 
aber Hellsehen und teleologische Eingriffe überhaupt als unhaltbare 
Hypothesen erkannt haben, müssen wir auch nicht bloss die All- 
weisheit, sondern schon die Weisheit des Unbewußten als eine 
unhaltbare Behauptung bezeichnen. 858 ) Wie nur eine theologische 
Reminiscenz die philosophischen Denkresultate in solchem Maasse 
fälschen konnte, so muss auch nach dieser kritischen Purification 
die Aehnlichkeit des theologisch corrumpirten Unbewussten mit dem 
Gott der Theologie wieder verschwinden. Die Ph. d. U. ist insoweit 
dem monistischen Princip treu geblieben, um dem Prädicat der 
Güte oder Allgüte, welches nur einem rein ausserweltlichen Gott 
zukommen kann, keine Concessionen zu machen, womit denn freilich 
auch der Gott des Gebets, der den menschlichen Leiden ein gleich- 
fühlendes Herz und Trost entgegenbringt und mit dem man sich 
auf Du und Du stellen kann, ausgeschlossen bleiben musste (S.540).**) 
War aber somit das Ünbewusste kein Gott für's menschliche Ge- 
müth, so konnte es doch wenigstens noch einen Gott für den 
menschlichen Verstand vorstellen, eben wegen des ihm vindicirten 
Prädicats der Allweisheit; nimmt man ihm auch dieses, so bleibt 
nur die monistische Substanz mit Attributen übrig, welche zwar 
noch den metaphysischen Urgrund der Geistigkeit und Materialität 
als coordinirter Existenzsphären in sich enthalten, aber nichts von 
alledem mehr besitzen, was dem Alles seienden Einen den Charakter 
der Göttlichkeit oder Gottheit verleihen könnte. Es ist dies noch 
besser verständlich, wenn wir einen Blick auf die drei Hauptbeweise 
vom Dasein Gottes werfen : der ontologische führt höchstens bis zum 
abstracten Begriff der unbestimmten Substanz, der kosmologische 
höchstens zum Begriff der substantiellen Weltursache oder wirkenden 
Weltsubstanz, und erst der physikotheologische oder teleologische 
Beweis verleiht dieser substantiellen Ursache jenen Charakter der 
Weisheit, ohne den der Mensch sich die Gottheit, das verabsolutirte 
Menschenideal, nicht zu denken vermag. Dieser letzte Beweis steht 
und fällt nun aber mit der teleologischen Metaphysik, und deshalb 
steht und fällt mit der letzteren auch der letzte Anker des Gottes- 
glaubens. 2 * 9 ) 



*) Vgl. Hume „Untersuch, über den menschlichen Verstand". Deutsch ton 
J. H. y. Kirchmann (Berlin, L. Heimann 1869), Abschn. B. XL S. 120—130. 
**) 7. Aufl. II. 191. 



250 Text der ersten Auflage. 

Die Ph. d. U. als der letzte überhaupt mögliche Versuch zur 
Rettung der teleologischen Metaphysik ist zugleich der letzte Ver- 
such zur Bettung des Gottesglaubens, wenn schon in wissenschaftlich 
modificirter Gestalt. Die Theologie hat davon natürlich nichts ge- 
merkt, aber sie wird vielleicht nach Jahrhunderten die Ph. d. U. 
als letzte Stütze ihrer Dogmen citiren, wenn der Schatten des Autors 
längst diese Citate desavouiren würde. Ein Dichter der Zukunft 
wird dann vielleicht eine Elegie über die entgottete Welt singen, 
wie Schiller sie über Hellas 7 entgötterte Welt sang, ohne doch 
mit dieser poetischen Klage über entschwundene Schönheiten einer 
kindlichen Glaubenswelt die Restitution des auf ewig Verlorenen 
fllr möglich zu halten oder auch nur zu wünschen. Denn die 
Wissenschaft wird unaufhaltsam fortschreiten und der Menschheit 
inzwischen mit einem tieferen Verständniss der Natur und ihrer 
selbst ein werthvolleres Geschenk gemacht haben, als die Träume 
waren, aus denen sie dieselbe mit rauher Hand erweckt hat. 860 ) 



Anmerkungen zur zweiten Auflage. 



Allgemeine Vorbemerkungen. 



Die Alten theilten die Philosophie in Dialectik, Physik und 
Ethik ; bei Hegel kehrt diese Eintheilung als Logik, Naturphilosophie 
und Geistesphilosophie wieder, und wird in dieser Gestalt festzuhal- 
ten sein, wenn man Logik durch Erkenntnisstheorie und Methodologie 
ersetzt. Ein principieller philosophischer Standpunkt kann nur dann 
als systematisch begründet gelten, wenn er in allen drei Sphären 
sich bewährt ; jede einseitige Entwicklung aus einem dieser Gebiete 
kann wohl schätzbares Material zu philosophischen Principienfragen 
liefern, aber niemals für dieselben entscheidend sein. In der Fichte- 
Schelling - Hegel'schen Philosophie dominirt die Philosophie des 
Geistes, während Erkenntnisstheorie und Naturphilosophie entweder 
ganz bei Seite geschoben oder doch in unzulänglicher Weise be- 
handelt werden. Im Neukantianismus bildet die Erkenntnisstheorie 
den fast ausschliesslichen Gegenstand der Bearbeitung. In den 
philosophischen Anläufen der modernen Naturwissenschaft handelt 
es sich lediglich um Naturphilosophie, während über die Erkenntniss- 
theorie völlige Verwirrung herrscht, und die Geistesphilosophie als 
ausserhalb der Wissenschaft stehend betrachtet wird. Bei Schopen- 
hauer ist äusserlich ein gewisses Gleichgewicht der drei Gebiete 
hergestellt, aber so, dass seine falsche Erkenntnisstheorie im Wider- 
spruch steht mit seiner Naturphilosophie und die Geistesphilosophie 
gegen beide doch noch zu kurz kommt. Ich selbst habe nicht nur 
ein äusseres Gleichgewicht, sondern auch eine innere Harmonie der 



254 Anmerkungen zur iweiten Auflage. 

drei Sphären angestrebt und hoffe dieselbe wenigstens in höherem 
Grade als meine Vorgänger erreicht zu haben. 

Die Gegenschrift verzichtet auf ein solches Bestreben; während 
sie den erkenntnisstheoretischen Boden des transcendentalen Realis- 
mus mit der Philosophie des Unbewassten stillschweigend theilt, 
setzt sie sich schon dadurch zn ihr in einen scharfen Contrast, dass 
sie in einseitig naturphilosophischen Betrachtungen die ausreichende 
Grundlage für die Lösung der metaphysischen Principienfragen 
sucht. In Wahrheit ist das Verhältniss ein umgekehrtes ; nicht nur 
müssen Naturphilosophie und Geistesphilosophie beständig Hand in 
Hand gehen, um gegenseitig ihren Gang zu stützen und ihre Schritte 
zu leiten, sondern die Geistesphilosophie ist wichtiger, umfassender 
als die Naturphilosophie, und steht ebensowohl dem metaphysischen 
Kern der Welt wie auch unserm auffassenden Bewusstsein näher 
als jene. Wenn mithin von einer Rangordnung beider gesprochen 
werden darf, so ist sie das Höhere der Naturphilosophie; sie geht 
uns so viel näher an, wie das Hemd uns näher ist als der Rock, 
und bildet zugleich einen sichereren Führer zum metaphysischen 
Verständniss der Welt, weil der Geist eine weit unmittelbarere 
Verknüpfung zwischen unserm Bewusstsein und dem Weltwesen 
herstellt als die Natur.*) Eine bloss gegen den naturphilosophischen 
Theil eines Systems gerichtete Kritik kann daher von vornherein 
nicht ausreichend scheinen, um dessen Principien umzustürzen; 
höchstens kann sie dieselben erschüttern, da sie die wichtigsten 
ihrer Grundpfeiler unberührt lässt. Diese Bemerkungen werden 
naturwissenschaftlichen Lesern vielleicht überraschend sein, und es 
dürfte deshalb gerathen scheinen, noch einen Augenblick bei ihrer 
Begründung zu verweilen, die für philosophisch Gebildete selbst- 
verständlich sein muss. 



I. Die Transcendenz der Natur. 

Bevor der Geist beginnt, sich auf sich selbst zu besinnen, lebt 
er doch schon ein Leben im Geiste. Die Befriedigung der rein 
natürlichen Bedürfnisse gilt auch dem unphilosophisch dahinlebenden 



*) Vgl. meine Schrift: „Neukantianismus, Schopenhauerianismus u. Hegelia- 
nismus" S. 69 und 73. 



Allgemeine Vorbemerkungen. 255 

Menschen als eine blosse Grundlage, als der Bauhorizont, auf dem 
er sein eigentliches Leben erst zu errichten bemüht ist. Letzteres 
bewegt sich in den Gemttthsbeziehungen der Familie und dem 
Streben nach bestimmender Wirksamkeit im Gemeinwesen. Der 
Erwerbstrieb findet seinen Abschluss erst in der Förderung des 
Behagens der Familie, der Ehrgeiz erst in der Förderung des Ge- 
meinwohls, und die angestrebte Herrschaft über die Natur dient 
indirect den Bedürfnissen des Geistes, ohne welche das Ringen des 
Menschen nach Macht in jedem Sinne so unmöglich wäre wie bei 
den Thieren. So ist es unbewusster Weise schon das Leben im 
Geiste, welches dem Menschen seine Stellung in der Natur ge- 
schaffen hat. 

Erwacht nun aber gar das philosophische Bewusstsein, so bricht 
sich mehr und mehr die Einsicht Bahn, dass der Mensch unmittelbar 
genommen nur im Geiste lebt, dass sein specifisch menschliches 
Leben nur das Leben in seiner Bewusstseinssphäre genannt werden 
kann, und dass diese schlechterdings keinen andern als geistigen 
Inhalt zulässt Der Mensch kennt unmittelbar nur seinen eignen 
idealen Bewusstseinsinhalt, der ein Product seiner eignen unbewuss- 
ten Geistesthätigkeit ist; er empfindet nichts als seine Empfindungen, 
nimmt nichts wahr als seine Vorstellungen, denkt nichts als seine 
Gedanken. Er ist also schlechthin eingeschlossen in die Welt des 
Geistes und zwar seines Geistes. Alle fremden Geister kennt er 
nur aus den Reflexen, die ihm sein eigner Geist von denselben 
widerspiegelt. Wäre er nicht durch die Beschaffenheit seines Be- 
wusstseinsinhalts genöthigt, anzunehmen, dass seinen Vorstellungen 
von andern Menschen wirkliche transcendente Menschen entsprächen, 
so würde er wahrscheinlich niemals einen philosophischen Grund 
ausfindig machen, der stark genug wäre, um seine instinctive trans- 
cendentale Beziehung von materiellen Vorstellungsobjecten auf ma- 
terielle Dinge an sich erkenntnisstheoretisch zu rechtfertigen. 

Bekanntlich bestreitet die idealistische Seite der Kantischen 
Schule so wie so, dass es solche Gründe zur positiven Annahme 
von Dingen an sich gebe oder geben könne, und setzt damit die 
ßubjective Erscheinungswelt des menschlichen Bewusstseins zu einem 
objectiv unbegründeten, d. h. wahrheitslosen Schein herab. Der 
subjective Idealismus kennt mithin die Natur nur als ein vom sub- 
jectiven Geiste erzeugtes Phänomen, das für jedeä Bewusstsein ein 



266 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

anderes, von dem der Mitmenschen völlig unabhängiges igt. Er 
leugnet demnach die reale Existenz Einer Natur, und lässt nur den 
Schein so vieler Naturen gelten, als Geister sich solchen vorspiegeln. 
Die „Naturgesetze" können auf diesem Standpunkt selbstverständlich 
nur als die Gesetze des Geistes verstanden werden, nach welchen 
dieser sich seinen subjectiven Schein unbewusster Weise producirt 
Die Natur ist hier schlechthin bloss eine Spiegelfechterei des sub- 
jectiven Geistes, seine illusorische und vergängliche Schöpfung ohne 
alle eigne Realität. Davon, dass eine so verstandene Natur rück- 
wärts den Geist sollte real beeinflussen können, kann natürlich keine 
Rede sein; jeder solche scheinbare Einfluss kann selbst nur eine 
subjective Illusion sein, die mit derjenigen der Natur auf gleicher 
Stufe steht. Die Naturphilosophie bildet hier nur einen, nicht ein- 
mal auszulösenden Theil der Geistesphilosophie; die Natur wird 
erklärt durch Erklärung der sie producirenden Thätigkeit des sub- 
jectiven Geistes, kann aber ihrerseits zur Erklärung der Beschaffen- 
heit des subjectiven Geistes nicht das Geringste beitragen. Dass 
eine selbstständige Naturwissenschaft hierbei unmöglich ist, bedart 
keiner weiteren Versicherung, und es ist nur Mangel an philosophi- 
schem Verständniss, wenn Naturforscher geglaubt haben, dass ihre 
Wissenschaft mit dieser idealistischen Erkenntnisstl^orie (wie sie 
in Fichte, Schopenhauer, einem Theil der Hegel'schen Schule, und 
dem grösseren Theil des Neukantianismus, namentlich F. A. Lange 
vorliegt) irgendwie vereinbar sei.*) 

Aber in einem Punkte hat der subjective Idealismus Recht, 
nämlich darin, dass wir unmittelbar nur unser eigenes Geistesleben 
kennen. Hierin hat die Naturwissenschaft noch von ihm zu lernen, 
insoweit in ersterer der naive Realismus noch ein breites Feld be- 
hauptet. Der naive Realismus hat aber wieder darin Recht, dass 
es in der That eine für alle Beobachter numerisch identische reale 
Natur giebt, welche nach selbstständigen, vom subjectiven Geist un- 
abhängigen Gesetzen lebt und sich verändert, und den letzteren causal 
beeinflusst. Beide Wahrheiten sind vereinigt im transcendentalen 
Realismus, der da anerkennt, dass wir in der subjectiven Er- 
scheinungswelt nur denReflex der Natur im eigenen Geiste 



*) Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus" S. 60 
bis 64. 



Allgemeine Vorbemerkungen. 257 

besitzen, und die Beschaffenheit und die Veränderungen der Einen 
realen Natur nur indirect aus der Beschaffenheit und den Ver- 
änderungen unsres idealen Bewusstseinsinhalts erschliessen 
können. Dieser erkenntnisstheoretische Standpunkt ist nicht nur der 
allein haltbare, er ist auch zugleich der einzige fttr die Naturwissen- 
schaft brauchbare und bricht sich deshalb auch neuerdings mit Macht 
in Naturforscherkreisen Bahn. 

Durch den transcendentalen Realismus ist nun aber die ge- 
wöhnliche Meinung der Naturforscher, dass ihre Wissenschaft vor 
den Geisteswissenschaften den Vorzug der Gewissheit wegen der 
Grundlage der unmittelbaren Erfahrung voraus habe, als ein falsches 
Vorurtheil des naiven Realismus enthüllt ; denn wir wissen jetzt, 
dass die Natur, d. h. die Eine reale Natur, mit welcher allein es 
die Naturwissenschaft zu thun hat, unserm Bewusstsein transcendent 
ist, also niemals Gegenstand unmittelbarer Erfahrung werden kann. 
Jede Aussage der Naturwissenschaft über die Beschaffenheit und 
Gesetze der Natur beruht auf Schlussfolgerungen, welche sie aus 
geistigen Erfahrungen auf die sie verursachenden äusseren Dinge 
an sich zieht. Die gesammten Naturwissenschaften sind so wenig 
empirisch im philosophischen Sinne, dass sie sich vielmehr aus- 
schliesslich im transcendenten Gebiet bewegen, und die immanenten 
Erfahrungen des Geistes nur als Schwungbrett brauchen, um sich 
über die Erfahrung, d. h. die subjective Erscheinungswelt hinauszu- 
schwingen in die Welt der Dinge an sich, welche der subjective 
Idealismus für unerkennbar, streng genommen sogar für nicht 
existirend hält. Die Geisteswissenschaften dagegen brauchen die 
Sphäre der unmittelbaren Erfahrung nicht erst zu verlassen, um in 
das ihnen eigentümliche Gebiet zu gelangen; denn wenn letzteres 
auch weiter ist als erstere, so umfassen sie diese doch mit. Die 
Empirie ist somit nicht nur in dem Sinne Grundlage der Geistes- 
wissenschaften, wie sie es für die Naturwissenschaften ist, sondern 
die irrthumsunfähige Gewissheit der unmittelbaren Erfahrung haftet 
wirklich in dem Sinne den Elementen der Geisteswissenschaften an, 
in welchem die Naturwissenschaften dieselbe bisher irrthümlicher 
Weise für sich in Anspruch genommen haben. 

E. r. IIa rt mann. Das Unbe wüste« 2, Aufl. JJ 



258 Anmerkungen aar zweiten Auflage. 

2. Der Getet als Schlüssel zur Natur* 

Was ist nun diese so indirect erschlossene Natur ? Ein grosser 
Mückenschwarm, hier dichter, dort dünner, hier schneller, dort träger 
durch einander schwirrend, and die Mticken darin sind ausdehnungs- 
lose Punkte oder Atome. Kann es etwas Trockeneres, Uninteressan- 
teres, Einförmigeres, an and für sich Gleichgültigeres geben, als 
diesen gespenstischen Schwann tanzender mathematischer Punkte? 
Was kann ärmer sein, als ein solches stereometrisches Weltschema, 
die dürrste Abstraction unserer Quantitätsbegriffe in Baum, Zeit und 
Bewegung! Was diesem abstracten Schema die Möglichkeit realer 
Existenz gewährt, ist erst der Kraftbegriff, der die tanzenden 
Atome von abstracten Baumpunkten zu wirkenden, d. h. wirklichen 
Individuen erhebt; was diese und den Quantitätsbegriff der Wir- 
kungsintensität bereicherte Natur erst belebt, ist die Uebertragung 
des Begriffs der Empfindung aus unsenA Geist in die sie con- 
stituirenden Individuen niedrigster Ordnung, wodurch die rein quan- 
titative Wirklichkeit zuerst eine qualitative Färbung erhält. 

Ueberblicken wir die so erlangte reale Natur, so zeigt sich anf 
den ersten Blick, dass alles, was wir ihr zuschreiben, lediglich 
Uebertragungen aus unserm eignen Geist sind und nach Abzug 
dieser Nichts übrig bleibt Realität, Existenz, Substanzialität u. s. w. 
sind Kategorien unseres subjectiven Denkens, Baum, Zeit und Be- 
wegung sind Anschauungsformen unserer Sinnlichkeit. Das drei- 
dimensionale Baumschema, in welchem wir die Natur construiren, 
ist dem dreidimensionalen Baumschema der in unserm Bewusstsein 
enthaltenen subjectiven Erscheinungswelt entlehnt. Auf den Begriff 
der Kraft wären wir nie gekommen, wenn wir nicht den eignen 
Willen verallgemeinert hätten, und der Kraftbegriff ist uns heute 
noch absolut unverständlich, ausser wenn wir ihm stillschweigend 
oder offenkundig den Begriff des Willens zu Grunde legen. Kraft 
und Empfindung sind als Wille und Vorstellung die Elementarbegriffe 
der Geisteswissenschaft; sind sie es erst, die dem abstracten Raum- 
Schema Energie und Leben einhauchen, so ist damit zugestanden, 
dass wir eine reale lebendige Natur nur nach Analogie unseres 
Geistes zu denken vermögen. So construiren wir die Natur ans 
zwei Factor eh: der erste besteht in den schematischen Formen 
unseres Bewusstseinsinhalts, der zweite in den Grundfunctionen der 



Allgemeine Vorbemerkungen. 359 

Geistigkeit selbst. Ist eine dieser Uebertragungen oder Analogien 
ungerechtfertigt, so ist unsere Vorstellung von einer realen Natur 
eine Illusion, so giebt es keine Natur für uns. 

Streichen wir die anthropopathische Uebertragung von Kraft 
und Empfindung, so behalten wir nur ein gespenstisches abstractes 
Raumscbema mit bewegten kraftlosen Punkten, das unfähig ist, irgend 
welche reale Einwirkungen auf den Geist zu üben, und deshalb 
nicht nur aufhört, irgend etwas erklären zu können, sondern aueh 
aufhört, durch berechtigte Rückschlüsse aus seinen Wirkungen 
anf unsern Geist erschliessbar zu sein. Streichen wir hingegen die 
Uebertragung der Denk- und Anschauungsformen auf die an sich 
seiende reale Natur, so büssen nicht nur die auf Quantitäts Verhält- 
nisse und raumzeitliche Beziehungen gestützten naturwissenschaft- 
lichen Erklärungen durchweg jede Bedeutung ein, sondern sie ver- 
lieren auch (mit den Begriffen Substanz, Gausalität etc.) das trans- 
cendente Subject oder den Träger, auf den sich ihre Aussagen 
beziehen könnten. Ist eine dieser Uebertragungen oder sind gar 
beide unberechtigte Anthropomorphismen , so giebt es für uns 
schlechterdings keine Natur, und die angebliche Wissenschaft der 
Natur ist dann mit Alchymie, Astrologie und Theologie in die 
Rumpelkammer der vorkritischen Illusionen zu werfen* Bestreitet 
also die Naturwissenschaft jene anthropomorphischen Analogien, so 
hebt sie damit sich selbst auf; lässt sie dieselben gelten, so erkennt 
sie damit an, dass wir eine reale Natur uns schlechterdings nur nach 
geistigen Vorbildern denken können, und dass wir in die Natur 
grade nur so weit Einblick und Verständniss zu erlangen hoffen 
dürfen, als diese anthropomorphischen Analogien reichen und der 
Wahrheit gemäss sind. 

Dieses Resultat muss jedem Philosophen, der auf dem Boden 

des transcendentalen Realismus steht, a priori selbstverständlich 

sein. Niemand kann aus seiner Haut herausfahren, also auch nicht 

der menschliche Geist. Ist aber die Natur ihm nur etwas indirect 

aus ihren Wirkungen auf den Geist Erschlossenes, so kann der 

Geist die Natur eben nur aus ihm selbst verstehen, und hat 

keinen andern Schlüssel zur Natur, als sich, den Geist. Er kann 

der Natur nichts geben, als aus seinem Vorrath; aber von den 

Schätzen seines Reichthums muss er das Meiste und Edelste für 

sich behalten, und nur das Einfachste und Aermste aus denselben 

17» 



260 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

darf er der Natur leihen, wenn er nicht in unberechtigte an- 
thropomorphische Uebertragnngen verfallen will. 

Dennoch haben wir allen Grund, anzunehmen, dass diese Bro- 
samen vom Tische des Geistes, aus denen wir die Natur construiren, 
diese wirklich erschöpfen, d. h. dass die Natur nicht wesentlich 
reicher ist, als wir dieselbe heut schätzen. Nicht als ob wir extensiv 
auch nur den kleinsten Theil der Natur erforscht, oder innerhalb 
dieses uns zugänglichen Theils alle Bewegungen und Gruppirungen 
der Atome ergründet hätten, — daran fehlt viel; aber das ist ein 
Axiom der modernen Naturwissenschaft, dass alle unsere fünf Sinne 
übersteigenden Einwirkungen, welche ein anders organisirter Geist 
von der Natur erfahren könnte, doch immer nur von bewegten 
Atomen ausgehen könnten, und dass die Bewegungen und Gruppi- 
rungen der Atome, in welchen alle Naturprocesse sich erschöpfen, 
in allen noch so entlegenen Theilen des Kosmos nach denselben 
Gesetzen sich vollziehen. Wir sind noch weit entfernt zu verstehen, 
wie alle Naturerscheinungen durch Mechanik der Atome zu er- 
klären seien; dass aber alle nur hieraus und aus keinen andern 
Eigenschaften der Natur zu erklären seien, ist als das sicherste 
Resultat zu betrachten, dessen die moderne Naturwissenschaft sich 
zu rühmen hat. Wenn anders nicht 'diese angeblich exacteste aller 
Wissenschaften sich gänzlich auf dem Irrwege befindet, so brauchen 
wir nicht zu fürchten, dass wir der Natur Unrecht thun, wenn wir 
sie auf die ärmsten und dürftigsten Bestimmungen beschränken, die 
wir aus den Geisteswissenschaften entlehnen konnten. 



3. Die Natur als Mittel für den Geist. 

Was ist uns nun die so erschlossene und durch Analogien des 
Geistes construirte Natur ? Kann ein stummes, licht- und farbloses 
Spiel punktueller Atome an und für sich ein Interesse für uns 
haben ? Muss uns nicht davor grauen wie vor dem gespenstischen 
Todtentanz verwunschner Monaden? Was kann unschöner sein als 
solch' eine Natur aus mechanischen Eraftwirkungen imaginärer 
Baumpunkte? Wem leuchtet der Sternenhimmel wenn nicht dem 
Geiste? Ihm nur glänzt das Gluthmeer der Morgenröthe, ihm nur 
duftet die Linde, ihm nur tönt die Harfe! Die reale Natur als 
solche erschöpft sich in dem einförmigen Mückentanz der Atome, 



Allgemeine Vorbemerkungen. 261 

und alle Pracht and Herrlichkeit, die der entzückte Geist der Natur 
zuschreibt, gehört nur ihm selbst an, dem farb'gen Abglanz der 
kahlen Wirklichkeit, den er selbst als subjective Erscheinungswelt 
sich unbewusst hervorzaubert und seinem Bewusstsein zum Inhalt 
giebt. *) Alle Wunder der Natur, welche die Dichter aller Zungen 
von jeher tausendfältig preisen, sind nur die Wunder des Geistes, 
die er selbst in sich hervorbringt. 

Was geht uns also eigentlich die objectiv-reale, Eine Natur 
an? Sie würde uns gar nichts angehen, wenn nicht ihre Einwir- 
kungen es wären, welche den Geist zur Production der subjectiven 
Erscheinungswelt anregen, und dadurch erst seine leere Form des 
Bewusstseins mit dem ganzen Reichthum ihres Inhalts erfüllen. Wie 
der elektrische Funke aus der Berührung verschieden elektrischer 
Körper hervorspringt, so resultirt das Leben des Geistes aus seiner 
Wechselwirkung mit dieser an und für sich nüchternen und stummen 
Natur. Sie ist es, die den schlummernden prometheischen Funken 
der Selbstbesinnung in ihm weckt, sie auch, welche ihn aus der 
Isolirung seiner Einzelhaft befreit, indem sie ihm die Communi- 
cation mit andern Geistern eröffnet. Darum ist es nicht die 
Natur als solche, welche uns interessirt, sondern lediglich die 
Natur als Mittel zur Bereicherung des geistigen Lebens. Wie 
wir das Oel nur pressen und das Petroleum nur bohren, damit 
beide sich als Brennstoff in unsern Lampen verzehren, so versenken 
wir uns in die Natur und suchen dieselbe als unsern Besitz zu er- 
obern, nur um sie als Natur, d. h. in ihrer uns transcendenten Na- 
türlichkeit zu vernichten, und sie als Brennstoff für die Flamme 
unseres Geistes zu verbrauchen. Der Menschheit ist die Natur nur 
als Mittel des Geistes von Werth, an und für sich dagegen völlig 
werthlos. Der Naturforscher vergisst nur zu leicht diese Beziehung, 
wenn er in wohlverstandner Arbeitstheilung seine wissenschaft- 
liche Lebensaufgabe dahin abgrenzt, die Natur als solche zu er- 
gründen. Insofern er aber zugleich Mensch, Lehrer, Familienvater, 
Staatsbürger, und empfänglich für alles Gute, Schöne und Wahre 
ist, desavouirt er in seinem gesammten Leben den Irrthum, dem 
er in seinem Beruf in verzeihlicher Weise verfallen sein kann. 



*) Vgl. Prof. Dubois Reymond's Vortrag „Ueber die Grenzen des Natur- 
erkennens" (Leipzig 1872). 



262 Anmerkungen mr zweiten Auflage. 

Was ist nun aber das Eine, ewige, nicht genug zu bewundernde 
Wnnder an der Natur? Das» sie, die kahle nüchterne! poesielose 
und anscheinend geistlose es ist, welche dem Geiste seinen unend- 
lichen Reichthum erschließet, und durch ihre Impulse ihn zur Pro- 
duetion der subjectiven Erscheinungswelten veranlasst, in denen «if 
einmal die ganze Pracht und Herrlichkeit der Idee Fleisch und 
Blut, Klang und Farbe gewinnt. Daas sie wie eine unsichtbare 
Geheimschrift des Geistes uns anmuthet, die im subjectiven Spiegel- 
bild des Bewusstseins auf einmal ihre leuchtenden Zttge entfaltet 
und von der Schönheit und Weisheit der Schöpfung Zeugnis» ab- 
legt! — Freilich ist es der Geist, der in sich die Schönheit und 
Fülle der subjectiven Erscheinung producirt, aber er producirt sie 
doch nicht rein aus sich, sondern ist in dem Inhalt seines Produ- 
cirens ganz und gar abhängig von den Einwirkungen, welche die 
reale Natur auf ihn ausübt. So ist ohne Zweifel der Geist von der 
Beschaffenheit, auf das Afficirtwerden von Seiten der Natur so zu 
reagiren; aber ebenso zweifellos würde er nicht so reagiren, wenn 
die Natur nicht eine solche Beschaffenheit beaässe, um ihn in dieser 
bestimmten Weise zu afficiren. Die Harmonie ist eine gegenseitige. 
Die Natur aber ist das Prius oder die Voraussetzung des Geistes; 
sie scheint so kahl und nüchtern zu sein, und doch ist sie es, welche 
beständig die Funken des Schönen, Wahren und Guten aus dem 
schlummernden Geiste schlägt. Dieses Wunder wird nur verständ- 
lich, wenn die Natur von Anfang an darauf veranlagt ist, zur Brut- 
stätte des Geistes zu dienen. Das Wunder der Natur löst sich 
nur, wenn der Geist sieb unbewusster Weise in ihr seine Stätte be- 
reitet bat, d. h. durch eine teleologische Naturphilosophie. Diese 
Nöthigung zur teleologischen Auffassung wird nicht nur nicht ge- 
ringer, sondern noch stärker, wenn man annimmt, dass der unbe- 
wusste Geist während des Weltprocesses keine andern Aeussemngen 
von sich gebe als in den Atomfunctionen ; denn dann muss die ur- 
sprüngliche Veranlagung der Natur zur Erzeugung der Wunder des 
Geistes eine absolut vollkommene und allein ausreichende sein, 
die keiner unmittelbaren Mitwirkung des Geistes, keiner Nachhilfe 
mehr bedarf. 

So lange der Geist des Menschen sich in der Natur bewegt 
und ergeht, kommt er sich vor wie Peter in der Fremde, und hei- 
misch fühlt er sich doch erst wieder, wenn er von seinen Natur- 



AlIgopMiMe Vorbemerkungen. 263 

ansfltigen in die Heimath des Geistes zurückgekehrt ist. Wie im 
einzelnen concreten Fall das locale Spiel Atome mir nur als Mittel 
eine Bedentang hat, welches mich zur Produktion der bestimmten 
subjectiven Erscheinung anregt und nöthigt, so hat die Natur als 
Ganzes einen Werth für uns nur als das Mittel für die Bereicherung 
und Steigerung unseres Geisteslebens. Wie die Naturphilosophie 
nur wichtig ist als ein Durchgangspunkt von der Erkenntnisstheorie 
zur Metaphysik, so haben auch die Naturwissenschaften ihre Be- 
deutung für den menschlichen Geist nur als Durchgangspunkt von 
der unmittelbaren Selbsterfassung des Geistes zu seinem eultur- 
geschichtlichen Verständnis. Das Studium der Natur dient 
dem Geist als Mittel zum Verständnis seiner Stellung im Welt- 
ganzen ; es lehrt ihn sich als Geist im Gegensatz zur blossen Natur 
schätzen und würdigen, und alle Hilfsmittel, welche die Natur bietet, 
zur Förderung seiner geistigen Cultur verwerthen. Die geistige 
Gultur des Menschengeschlechts ist aber ein geschichtlicher Proeess, 
d. h. Culturgeschichte, und so verstanden ist die Culturgeschichte 
der Inbegriff der Entwickelung des Geistes. Das Studium der Natur 
lehrt die Culturgeschichte einerseits rückwärts in die Entwickelungg- 
geschichte der Natur verfolgen und andrerseits ihren vollen Gegen- 
satz gegen diese verstehen ; es lehrt uns die Naturentwickelung als 
den Sockel begreifen, dessen die Culturgeschichte bedurfte! um sich 
als Statue zu präsentiren. 

Das Besultat dieser Betrachtungen ist, dass wir mit dem Geiste 
beginnen und beim Geiste endigen, und dass die Naturerkenntniss 
nur ein mittelbar erschlossenes Durchgangsstadium für die Selbst- 
besinnung des Geistes bildet, das nur als Mittel, nicht als Zweck 
einen Werth für uns besitzt „Vom Geist durch die Natur zum 
Geist!" So lautet der Spruch, in den wir unsre Erörterungen zu- 
sammenfassen können. 



4« Die Natur al» Dureltgangspirakt des absoluten Geistes. 

„Vom Geist durch die Natur zum Geist" ist aber nicht bloss 
ein für uns gültiges Motto, sondern es hat zugleich eine absolute 
Wahrheit Die Natur ist nicht bloss für uns, sondern sie ist an und 
fttr sich blosse Durcbgangsstufe, blosses Mittel ohne selbstständige 
Bedeutung. Nicht bloss der Menschengeist, sondern auch der abso- 



264 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

lute Geist gleicht dem Peter in der Fremde, während er in der 
Natur sich herumtreibt; auch er ringt nach seiner Befreiung aus 
den Banden der Natur, und auch er findet sie in der Naturent- 
wickelung, Dank der Veranlagung, welche er selbst dieser Natur 
von Anbeginn verliehen hat Auch der absolute Geist entfaltet nur 
ärmliche Brosamen des in seiner Unbewusstheit verschlossenen un- 
endlichen Reichthums in der Natur als solchen ; indem er aber diese 
an sich so armselige Natur so veranlagt, dass sie dem Geiste An- 
lass wird, seine Schätze an's Licht des Bewusstseins zu gebären, 
lässt er in dieser Armuth für den vorahnenden Beurtheiler den 
ganzen Beichthum seines Geistes in verhüllter Gestalt durch- 
schimmern. 

Niemand wird bestreiten wollen, dass das, was bei der Ex- 
piration des All-Einen im Weltprocess herauskommt, von Ewig- 
keit her in diesem All-Einen implicite enthalten gewesen sein 
muss. Es ist ja gerade das Hauptaxiom des naturwissenschaft- 
lichen Monismus, dass das Weltwesen oder die Weltsubstanz ebenso 
wohl Grund der bewusst-geistigen wie der materiellen Welt sei; 
also kann auch die Naturwissenschaft am allerwenigsten bestreiten 
wollen, dass der in der bewusstgeistigen Welt explicirte Inhalt, 
ebenso gut wie der in der materiellen Welt entfaltete, in dem Welt- 
wesen als All-Einen implicite und unbewusster Weise schon vor 
Beginn des Weltprocesses eingeschlossen gewesen sein müsse. Ist 
nun der Inhalt der bewusstgeistigen Welt ein unendlich reicher im 
Verhältniss zu demjenigen der materiellen Welt, so ist damit schon 
zugestanden, dass das Weltwesen in der Natur als solchen nur einen 
sehr dürftigen und untergeordneten Theil seines impliciten unbe- 
wussten Inhalts entfaltet habe und seine eigentlichen Schätze der 
Entwicklung der geistigen Welt vorbehalten habe. In der Natur 
ohne Beziehung auf den bewussten Geist, der in ihr seine Geburts- 
stätte und Erziehung finden soll, hätte dasselbe etwas unsäglich 
Armseliges, Geistloses, und deshalb geradezu Sinnloses producirt; 
in der Natur, welche lediglich Mittel ist für den Geist, hat es das 
trotz oder gerade wegen seiner Unscheinbarkeit sinnreichste Werk- 
zeug geschaffen, das uns mit immer tieferem und tieferem Staunen 
erfüllt, je mehr wir von seiner Wirkungsweise verstehen lernen. 
Ebenso wie es uns bei dem Studium der Vibrationen der Luftmole' 
cule oder Aetheratome nur darauf ankommt, die Ursachen für die 



Allgemeine Vorbemerkungen. 265 

geistigen Empfindungen des Sehalls, des Lichts und der Wärme 
verstehen zu lernen, so liegt auch dem Weltwesen bei der Her- 
stellung dieser vibrirenden Körper- und Aether-Atome nur daran, 
durch sie die äusseren Ursachen zu setzen zu dem reichen und 
mannichfaltigen Inhalt der subjectiven Erscheinungswelten des 
Geistes, Mag der Zweck der bewusstgeistigen Welt sein, welcher 
er wolle, oder möge auch jeder Endzweck derselben fehlen und sie 
nur Ausfluss einer blinden Nöthigung des Weltwesens zu seiner 
Explication sein, unter allen Umständen steht das fest, dass die 
Natur nur Durchgangspunkt des absoluten Geistes von der impliciten 
Unbewusstheit zu der expliciten Bewusstheit seines Inhalts ist, d. h. 
dass ihre Stellung im Weltprocess, ebenso wie ihre Bedeutung für 
ans, lediglich die eines unselbstständigen Mittels ist. 

Jede Naturphilosophie, welche diese allersicherste Wahrheit 
verkennt, und unter Nichtbeachtung der Beziehungen der Natur 
zum Geiste die Natur nach ihrem eignen Dasein abschätzt, muss 
in schwerwiegende Irrthümer und in eine das wahre Verhältniss 
der kosmischen Sphären zu einander verkehrende Einseitigkeit 
verfallen. Diese Einseitigkeit muss zu potenzirten Fehlern fahren, 
wenn eine solche irrthümliche Naturphilosophie ihrerseits die Geistes- 
philosophie meistern und derselben die Gonsequenzen ihrer Irrthümer 
für das Gebiet des Geistes als Wahrheiten aufdrängen will, vor 
welchen die Resultate der Geisteswissenschaften sich beugen müssten. 
Insoweit es uns nicht gelingen sollte, die volle Harmonie zwischen 
Naturphilosophie und Geistesphilosophie herzustellen, ist als Grund- 
satz festzuhalten, dass wohl die Resultate der ersteren die Oorrectur 
durch die letztere, aber nicht umgekehrt gestatten. Dies folgt 
daraus, dass die Natur uns nur indirect aus dem Geiste, der Geist 
selbst aber uns unmittelbar bekannt ist, dass die Geisteswissen- 
schaften die unmittelbare Erfahrung und deshalb eine grössere Zu- 
verlässigkeit vor den Naturwissenschaften voraus haben, und dass 
sie endlich sowohl für uns wichtiger und höher sind als auch einen 
an sich wichtigeren und höheren Gegenstand behandeln als jene. 

Dieses Verhältniss bewahrheitet sich auch geschichtlich da* 
durch, dass die Naturwissenschaften durch nichts kräftigere Anstösse 
zu neuen Theorien und Entwickelungsrichtungen erhalten haben, 
als durch die Naturphilosophie, welche ihrerseits wieder weit mehr 
durch die Geistesphilosophie und die vorzugsweise auf der letzteren 



266 Anmerkungen sur zweiten Auflage. 

fassende Metaphysik als durch die Naturwissenschaften geltet 
begründet und gefördert worden ist. So kommt es denn gar leicht, 
dass die Naturwissenschaften einer Periode auf einer Naturphilosophie 
basiren, welche einer rückständigen Metaphysik entlehnt ist, und 
dass sie sich deshalb in einem reactionären Widerstand gegen die 
inzwischen errungenen Fortschritte der Metaphysik befinden. Als 
in England der rationalistische Empirismus eines Locke, in 
Frankreich der rationalistische Deismus und Materialismus der 
Encyclopädisten, in Deutschland der rationalistische Theismus eines 
Wolff bereits die tonangebende Metaphysik waren, bewegten sieh 
die Naturwissenschaften derselben Zeit noch in den abergläubischen 
Besten einer Yor-rationalistischen Naturphilosophie. Jetzt, wo längst 
die nachkantische deutsche Metaphysik diesen dürftigen und seichten 
Rationalismus positiv überwunden hat, sind die Naturwissenschaften 
noch gänzlich in der Naturphilosophie eines sensuaüstiscben Ratio- 
nalismus stecken geblieben, und beginnen soeben erst, sich mit dem 
Durchgangspunkt von der Metaphysik des 18. zu der des 19. Jahr- 
hunderts, d. h. mit Kant, näher bekannt zu machen.*) Gegen die 
Metaphysik des 19. Jahrhunderts und deren Naturphilosophie da- 
gegen verhalten sie sich entschieden reactionär im Sinne derjenigen 
des 18. Jahrhunderts, und finden sich in dieser Rückständigkeit noch 
durch den unglücklichen Umstand bestärkt, dass sie sich auf die 
Uebereiustimmung mit der Naturwissenschaft der ausserdeutaohen 
Culturländer berufen können, welche durchweg den philosophischen 
Staudpunkt des 18. Jahrhunderts noch nicht überwunden haben. 
Im 20. Jahrhundert werden sie sich vielleicht ebenso reactionär anf 
die Metaphysik des 19. stützen, auch wenn diese dann bereits über- 
wundener Standpunkt sein sollte. 



5. Theoretischer und praktischer Idealismus. 

Nun beruht aber diese specifiseh deutsche Geistescultur der 
Gegenwart, insoweit sie den geistigen Entwiekelungsstadien der 
übrigen Völker überlegen ist, durchweg «uf der Philosophie des 
19. Jahrhunderte. Die Ethik Kaufs und Fichte's, die Geschichte- 



*) Vgl. meine „Ges. Studien und Aufsätze" C. II „Anfänge naturwiasen- 
schaftlicher Selbsterkenntniss 4 '. 



Allgemeine Vorbemerkungen. 267 

Philosophie Hegers, die ästhetische und historische Weltanschauung 
Schelling's, die Naturphilosophie und der Pessimismus Schopenhauer'*, 
das sind die Grundzttge der Physiognomie unserer heutigen eigen- 
tümlich deutschen Geistescultur, das sind zugleich die idealen Prin- 
oipien, auf deren Erhaltung und kräftiger Fortentwickelung der ge- 
deihliche Culturfortschritt der Menschheit Air die nächste Zeit beruht. 
Wenn es einer rückständigen Naturphilosophie gelänge, diese idealen 
Bildungsfactoren zu stürzen oder auch nur ihre Energie durch Unter- 
grabung des Glaubens an dieselben zu schwächen, so wäre das ein 
nicht wieder gut zu machender culturgeschichüicher Schade, ein 
unermesslioher Verlust des Menschheitsgeistes an idealen Gutem, 
und deshalb liegt in der Ueberhebung einer einseitigen Natur- 
philosophie und in ihrem Ankämpfen gegen die idealen Errungen- 
schaften der neuesten deutschen Gcistesentwickelung nicht nur ein 
prineipieller theoretischer Irrthum, sondern auch eine schwere 
praktische Gefahr. Die theoretische Verkennung und Verkehrung 
des wahren Verhältnisses zwischen Natur und Geist muss zweifels- 
ohne eine praktische Schädigung der Stellung des Geistes gegen- 
über der Natur zur Folge haben. Und darum ist es Pflicht Aller, 
welche den tiefen Riss und die unüberbrückbare Kluft zwischen der 
materialistischen und mechanistischen Naturansicht unserer Tage 
und den edelsten und höchsten idealen Gütern der deutschen Geistes- 
cultur erkennen, Partei zu ergreifen gegen die versuchte Meisterung 
des Geistes durch eine aus ihrer dienenden Beziehung zum Geiste 
herausgerissene und auf den Thron gesetzte Natur, und die Schlachten 
des Geistes zu schlagen nicht bloss gegen pfäffische Verdammung, 
sondern auch gegen naturvergötternde Eqtgeistigung des Universums. 
Schon grassirt unter uns ein epidemischer Unglaube an den 
Geist, gegen den als erklärliche, ja ich wage zu sagen: heilsame 
Reaction der Aberglaube an Geister im Schwange geht Denn der 
Aberglaube an Geister verkennt zwar die natürliche Bedingtheit 
des individuellen Geistes, aber er rüttelt doch nicht an der Existenz 
des Geistes selbst, wie der naturalistische Unglaube an den Geist, 
der da vergessen hat, dass er die Existenz einer Natur erst be- 
haupten darf, weil und insofern er die Existenz des Geistes be- 
hauptet, aus der die erstere erschlossen werden kann. Das letztere 
ist also eine weit gröbere Verkehrtheit als das erstere, und deshalb 
muss namentlich die studirende Jugend vor jener noch weit dringender 



268 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

gewarnt werden als vor dieser, da sie ihre Einseitigkeit and Verkehrt- 
heit in den Schein der wissenschaftlichen Exactheit einhüllt, und unter- 
stützt durch die blendende Neuheit des Darwinismus zur Zeit eine 
epidemische Ansteckungskraft erlangt hat, durch die schon mancher 
nicht ganz sattelfeste philosophische Kopf in Verwirrung gesetzt worden 
ist Um sich diesem modernen Zauber zu entziehen, dazu braucht es 
aber nichts weiter, als eine Besinnung auf das wahre Verhältnis 
yon Geist und Natur, das in der mechanistischen Weltanschauung 
auf den Kopf gestellt ist, und eine Erinnerung an die Folgen für die 
Geistescultur, welche solch' eine theoretische Verkehrung auf die 
Dauer auch in praktischer Hinsicht nach sich ziehen müsste. 

Aller praktische Idealismus, möge er in ethischer, ästhetischer, 
religiöser oder wissenschaftlicher Gestalt auftreten, stammt allein 
und ausschliesslich aus theoretischem Idealismus. Der Glaube ist's, 
der den Willen beschleusst; der Glaube an die objective Wahrheit 
der Ideen führt zu Handlungen, die durch Gewöhnung Gemüths- 
dispositionen hinterlassen, welche auch nach dem Schwinden 
jenes sie erzeugenden Glaubens noch kürzere oder längere Zeit 
fortbestehen und für das praktische Verhalten maassgebend bleiben. 
Darum ist es wahr, dass in unserer Generation thatsächlich viel 
praktischer Idealismus zu finden ist, der dem Mangel an theore- 
tischem Idealismus zum Trotz besteht und edle Früchte zeitigt. Aber 
es ist falsch, aus dieser Thatache eine voreilige Verallgemeinerung 
zu ziehen, und den Satz aufzustellen, dass der praktische Idealismus 
ganz wohl ohne die Basis eines theoretischen Idealismus bestehen 
könne. Denn diese Materialisten und Naturforscher vergessen da- 
bei nur den einen Umstand in Rechnung zu stellen, dass sie bloss 
darum Dispositionen zum praktischen Idealismus haben, weil ihre 
Väter und Grossväter noch theoretische Idealisten waren, und dass 
ihre Söhne und Enkel eben deshalb, weil sie selbst den theoretischen 
Idealismus ihnen als Illussion darstellen, auch authören werden, 
praktische Idealisten zu sein und dafür zu praktischen Materialisten 
und Nihilisten werden müssen. Es ist widersinnig, Ideen, die der 
Verstand als Illusionen durchschaut zu haben glaubt, doch praktisch 
mit dem Herzen als Ideale festhalten zu wollen, als ob sie nicht 
Illusionen, sondern Wahrheit wären, und eben weil dies wider- 
sinnig ist, muss entweder der Verstand sich von Neuem dem theo- 
retischen Idealismus zuwenden, oder er muss die Ideale des 



Allgemeine Vorbemerkungen. 269 

Herzens allmählich zersetzen und zerfressen, bis nur noch der rohe 
oder verschlagene Eudämonismus übrig bleibt, der endlich durch 
den Pessimismus zum Nihilismus verflüchtigt wird. Dieser Process 
ist unvermeidlich, und schon jetzt dient der praktische Idealismus 
nur zu oft als blosses künstlich vorgeklebtes Feigenblatt, um aus 
einem Rest idealistischer Schaam die Blosse einer ideenlosen Welt- 
anschauung nothdttrftig zu verdecken.*) 



6. Mechanistische und idealistische Naturphilosophie. 

Nun hat aber in der That der Verstand alle Ursache, von 
seiner mechanistischen, naturvergötternden Opposition gegen den 
theoretischen oder objeetiven Idealismus Abstand zu nehmen, sobald 
er sich das oben auseinandergesetzte Verhältniss • von Natur und 
Geist vergegenwärtigt. Ist die Natur an und für sich betrachtet 
etwas Geistloses und Armseliges, so ist es kein Wunder, dass eine 
Naturphilosophie, welche die Natur ohne Beziehung auf den Geist 
betrachtet, in Verlegenheit geräth, wenn sie in derselben Ideen ent- 
decken soll Ist aber die Natur bloss der Durchgangspunkt oder 
das Mittel für den Geist zur bewussten Entfaltung des ihm implicite 
und unbewusst eigenen Inhalts, so braucht man sie nur als das 
Werkzeug für diese Leistung zu betrachten, um allen idealen Reich- 
thum des Geistes in ihr vorauszuahnen und als bestimmend für ihre 
Beschaffenheit in ihr durchschimmern zu sehen. Dann erscheint die 
Natur sofort als höchst geistvoll und ideenreich, da der ganze ideale 
Gehalt der Geisteswelt in ihr teleologisch vorgebildet ist. Hierbei ist 
es ganz gleichgültig, ob alle Phänomene des bewussten Geistes- 
lebens blosse Summationsphänomene aus den Subjecti vi täten der 
Gehirnatome sind oder ob noch andere psychische Functionen in 
dieselben eingehen, die nicht in den Atomen als solche enthalten 
sind. Jedenfalls ist die Natur das Werkzeug zur Entfaltung des 
Geistes, und so gewiss der theoretische Idealismus in einer durch 
falsche Naturphilosophie nicht corrumpirten Geistesphilosophie eine 
selbstverständliche Sache ist, so gewiss muss er auch in jeder 



*) Vgl. die genauere Begründung dieser Behauptungen in meiner Schrift 
„Neukantianismus, SchopenhauerianismuB und Hegelianismus" IL Lange-Vai- 
htager's ßubjeetivistischer Skepticismus, B. die Philosophie als Dichtung. 



270 Anmerkungen rar zweiten Anlage. 

Naturphilosophie seine Anerkennung finden, insofern dieselbe ihre 
Augen nicht halsstarrig gegen die Beziehung der Natur zum Geiste 
verschliesst, welche allein den Sinn und die Bedeutung der Natur 
im Weltganzen ausmacht. 

Wer an dem- Grundsatz festhält, dass in der Explication des 
AU-Einen Weltwesens nichts herauskommen kann, was nicht schon 
implicite drinsteckte, der kann auch nicht leugnen, dass die idealen 
Schätze des Menschengeistes, die doch gewiss noch nicht die höchst- 
mögliche Geistesentfaltung repräsentiren, allein schon hinreichen, 
um die in ihnen zu Tage tretenden Grundideen als Eckpfeiler des 
idealen Inhalts des AU-Einen anzuerkennen, die für den ganzen 
Gang seiner Explication und Entwickelung bestimmend sind. Wer 
sich ferner vergegenwärtigt, dass auch der Inhalt der realen Natur 
durch Bestimmungen constituirt wird, die aus dem idealen Inhalt 
des Geistes entlehnt sind, dass sie aber erat die ärmsten und 
dürftigsten Grundlagen dieses reichen Gesammtinhalts bilden, der 
wird auch kein Bedenken mehr haben, die Idealität des Inhalts der 
realen Natur anzuerkennen und nur sich klar zu machen haben, 
dass die Natur eine weit niedrigere Objectivationsstufe der Idee 
repräsentirt als der Geist, welcher uns aus unmittelbarer Erfahrung 
zum Vergleichsobject geboten ist. Die Frage nach dem Antheil der 
Atome und ihrer Willens- und Vorstellungs Functionen bei dem 
Zustandekommen der höheren Individualgeister reducirt sich dann 
auf die Frage nach dem Verhältniss der verschiedenen Ob- 
jectivationsstufen der Idee zu einander, welche ich anderwärts *) be- 
handelt habe. Es erglebt sich dabei, dass eher die höheren Stufen 
der Idee in den niederen enthalten gedacht werden können als um- 
gekehrt, obwohl die Bealisirung der niederen Stufen die Vor- 
bedingung für die Bealisirung der höheren ist, dass aber alle zu- 
sammen als Partialideen in der absoluten Idee aufgehoben sind, 
deren actueller Inhalt in jedem Moment des Processes eine einheit- 
liche Totalität bildet, ebenso wie der substantielle Träger dieses 
Processes Einer ist. Sonach behält in jedem Falle der theoretische 
Idealismus seine Wahrheit nicht nur unabhängig von aller Natur- 
philosophie, sondern auch in der Naturphilosophie selbst, mag die- 
selbe sich noch so antiidealistisch und materialistisch geberden. 



*) ^cukantianiamufl, Schopenhauerianismus und Hegelianißmu*" VI. Nr. 1 



Allgemeine Vorbemerkungen. 271 

Unter solchen Umständen ist es ein vergebliches Bemühen, die 
materialistische Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts heute noch 
aufrecht erhalten zu wollen, welche den Geist als ein zufälliges 
Appendix der Natur betrachtet, das den Naturforscher nichts weiter 
angehe, anstatt die Natur als Organon des Geistes zu begreifen. 
Ebenso vergeblich ist aber das Zurückgreifen auf Spinoza, dessen 
Metaphysik als erste principielle Identitätsphilosophie zwar immer von 
unschätzbarem Werthe bleiben wird, der aber durchaus keine 
Ahnung von dem wahren Verhältniss von Natur und Geist besass. 
Indem er die Natur ausschliesslich unter der Kategorie der Aus- 
dehnung, den Geist lediglich unter denjenigen des Denkens be- 
fasste, und die Kraft und den Willen vergass, erstarrte ihm die 
Naturphilosophie zu einem energielosen schematischen Mechanismus 
und verflüchtigte sich die Geistesphilosophie zu einem einseitigen 
Intellectualismus, und Natur und Geist rückten durch das Fehlen 
des verbindenden Willens zu einer völligen Beziehungslosigkeit 
auseinander, die nur durch das formelle Band der Einen Substanz 
wieder verknüpft wurde. Den Identitätsbegriff seiner Metaphysik 
überspannte er zu einer abstracten Einerleiheit der Verknüpfung 
und Ordnung der Dinge in der Natur und der Ideen im bewussten 
Geist, und setzte diese an Stelle der lebendigen Wechselwirkung. 
Dadurch machte er es sich unmöglich, die Bedingtheit des Geistes 
durch die Natur und seine Rückwirkung auf die letztere, kurz die 
Wechselwirkung beider Sphären zu würdigen, und darum konnte 
er die ganze Bedeutung der Natur als Mittel für die Verwirklichung 
und Entfaltung der Idee im Lichte des Bewusstseins nicht verstehen. 
Obwohl er sonach die Ordnung und Verknüpfung der Erscheinungen 
in beiden Sphären als eine mathemathisch oder logisch nothwendige, 
<L h. ideal bedingte, anerkannte, so hatte er sich doch den Gesichts- 
punkt versperrt, um den teleologischen Charakter dieser logischen 
Gesetzmässigkeit zu ergreifen, und deshalb blieb auch seine Ethik 
in einer eudämonistischen Pseudomoral stecken, deren abstossender 
Charakter nur durch seinen naturwidrigen Intellectualismus einiger- 
maassen gemildert wird. 

Nicht Spinoza allein, sondern die Synthese von Spinoza und 
Leibniz bildet die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Will die Natur- 
wissenschaft von der Philosophie des 18. Jahrhunderts durchaus 
rückwärts statt vorwärts gehen, um bessere naturphilosophische 



272 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

Anlehnungen zu suchen, so darf sie von Spinoza nur den Grund- 
gedanken seines Monismus und seiner Identitätsphilosophie, muss 
aber deren Ausführung von Leibniz entlehnen, bei welchem die 
Spinozistische Identitätsphilosophie ihre individualistische Durch- 
arbeitung und teleologische Vertiefung gefunden hat. Wenn sie 
dies thut, wenn sie die Monadenlehre des Leibniz nach dem heuti- 
gen Stand unserer naturwissenschaftlichen Kenntnisse interpretirt, 
und als relative, phänomenologische Wahrheit dem Monismus Spi- 
noza's ein- und unterordnet; dann wird sie zu eben dem Standpunkt 
gelangen, den ich heute vertrete, und der nur nach Seiten der 
Geistesphilosophie durch die neuere philosophische Entwickelung 
bedeutend bereichert und vertieft ist. 

Halten wir daran fest, dass die Natur und der Naturprocess 
nur die Yennittelung bildet vom unbewussten, unentfalteten Geist 
zum bewussten, entfalteten Geist, so haben wir damit zwei Sätze 
in Eins gefasst: erstens, die Natur hat ihre Bedeutung nicht in sich, 
sondern in dem, was sie vermittelt, dem Geist, — und zweitens, 
der Geist, als bewusster, entfalteter, kann nicht sein ohne natürliche 
Vermittelung. Fasst man den zweiten Satz in's Auge, ohne den 
ersten mit zu berücksichtigen, so klingt er materialistisch, und eine 
ihn einseitig betonende Naturphilosophie setzt sich lediglich durch 
diese negative Einseitigkeit in Opposition zu einer allseitigen Meta- 
physik. Nimmt man den ersten Satz hinzu, so verliert der zweite 
nicht nur seinen materialistischen Anstrich, sondern schlägt in das 
Gegentheil um. Die Naturwissenschaft beschränkt sich darauf, die 
Bedingtheit des geistigen Lebens durch Naturprocesse zu betonen, 
die Naturphilosophie aber hat sich zu erinnern, dass eben darin die 
Bedeutung der Natur besteht, dass sie dieses bewusst-geistige Leben 
dem unbewussten Geiste ermöglicht und vermittelt, und dass sie 
selbst nur die niedrigste Gestalt des Geisteslebens ist. Der Natur- 
process ist die harte Arbeit des Zusichselberkommens des Geistes 
und weiter ist er nichts. Der Geist ist das Centrum der Natur, 
denn aus dem Geist als unbewussten strömt sie aus und zu dem 
Geist als bewussten strömt sie hin. Deshalb habe ich meine Welt- 
anschauung noocentrisch genannt, während sie anthroprocentrisch 
nur vorläufig und faute de mieux genannt werden kann, insofern 
der Menschengeist die einzige und höchste uns bis jetzt be- 
kannt gewordene Form des Geistes ist, in welcher dieser zu 



Allgemeine Vorbemerkungen. 273 

sich selbst gekommen ist. Anthropocentrisch ist das Universum 

zunächst nur für uns, — ob auch an und für sich, bleibt vorläufig 
unlösbare Frage; noocentrisch aber ist es au und für sich, seinem 
Wesen wie seiner Erscheinung nach. 

Diese allgemeinen Betrachtungen dürften bereits ausreichend 
sein, um zu hoch gespannte Ansprüche einer einseitig naturwissen- 
schaftlichen Weltansicht auf das ihnen gebührende Maass einzu- 
schränken; doch wird es nützlich sein, noch einige speciellere 
Punkte herauszugreifen. 



7. Ideelle Resultate und natürliche Yermlttelung. 

Ohne Zweifel sind Eisenbahnen und Telegraphen natürliche 
Dinge , und ebenso zweifellos haben sie das geistige Leben der 
Menschheit auf das Erheblichste gefördert. Die Vertreter der me- 
chanistischen Weltansicht werden daraus folgern, dass die vermeint- 
lich geistigen Fortschritte der Menschheit eigentlich nur natürliche 
Fortschritte der mechanischen Technik seien, weil sie ersichtlich 
nur durch diese letzteren vermittelt sind. Dabei wäre nur vergessen, 
erstens dass die Fortschritte des geistigen Lebens der Menschheit 
doch nur eine selbstständige Beaotion des Menschheitsgeistes waren, 
auf den die technischen Fortschritte nur als äussere Beize wirkten, 
und zweitens, dass der Menschengeist es war, der sich diese äusse- 
ren Reize selber geschaffen (vgl. Ernst Kapp: „Grundlinien einer Philos. 
d. Technik", Braunschw. 1877); indem er seine Erfindungskraft bethä- 
tigte oder bei zufälligen Entdeckungen den Werth derselben begriff 
und ihre Tragweite vorausahnte. Eisenbahnen und Telegraphen sind 
also geistige Errungenschaften der Menschheit, obgleich sie an sich 
rein mechanische Vorrichtungen sind, und die weiteren aus ihnen 
hervorgehenden Fortschritte des Menschheitsgeistes sind darum nicht 
weniger Früchte der eigensten activen Entwickelung des Geistes, 
weil sie durch die Fortschritte der Technik auf natürliche Weise 
vermittelt sind. Die natürliche Vermittelung schliesst weder die 
spontane Activität des Geistes als [reactive Mitwirkung beim Zu- 
standekommen des Resultats aus, noch verkümmert sie irgendwie 
die ideale Bedeutung des letzteren ; das sind zwei wohleinzuprägende 
Wahrheiten, welche von der mechanistischen Weltansicht nur zu 
leicht ausser Acht gelassen werden. 

£• t. Hartmann, Das Unbewnsete. 2. Aufl. 18 



274 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

Wenn bei den menschlichen Entdeckungen und Erfindungen 
das Element des Zufalls scheinbar noch eine bedeutende Bolle spielt, 
so fällt dieses sicher fort in dem Naturprocess, der nach ehernen 
Gesetzen in vorauszubestimmenden Bahnen sich vollzieht. Hier 
entfällt demnach der im obigen Beispiel gegen die Schöpfung der 
mechanischen Fortschritte durch den Geist etwa noch zu erhebende 
Einwand, der freilich auch dort bedeutungslos ist Ist es die Be- 
schaffenheit der ursprünglichen Elemente der Natur und ihrer un- 
veränderlichen Gesetze, durch welche 'das Leben des Geistes ver- 
mittelt wird, so ist diese Vermittelung selbst zweifelsohne ein 
Au8fluss unbewusster, immaterieller Principien, d. h. des unbewussten 
Geistes. Wenn nun beispielsweise aus dem Naturprocess auf der 
Erde sich die Menschheit mit dem ganzen Beichthum ihres Geistes- 
lebens entwickelt hat, kann dann die natürliche Vermittelung dieses 
Resultats irgend etwas gegen den idealen Werth und die geistige 
Bedeutung desselben ausmachen? Ist der Mensch nicht das, was 
er ist, gleichviel ob er von Göttern oder Würmern abstammt ? Kann 
die Erhabenheit und Fülle der im Menschengeist realisirten Objec- 
tivationsstufe der Idee irgendwie eine Schmälerung dadurch erleiden, 
wenn der erste Mensch nicht durch ein Wunder plötzlich erschaffen, 
sondern aus affenähnlichen Vorfahren entwickelt ist? Kann z. B. 
die Hoheit und Beinheit der ethischen Ideen dadurch beeinträchtigt 
werden, dass das Menschheitsbewusstsein dieselben erst sehr all- 
mählich aus zum Theil recht unlauteren socialen Instincten heraus- 
gebildet hat, und noch heute danach ringt, dieselben in rein idealer, 
d. h. rein vernünftiger Gestalt zum Ausdruck zu bringen? Wer 
diese Fragen bejahen wollte, würde jenen Bauern in der Dorf- 
schenke gleichen, welche die Künste des reisenden Taschenspielers 
mit glotzenden Augen und aufgerissenen Mäulern bewunderten, so 
lange sie dieselben für Zauberei hielten, aber den Hexenmeister 
durchprügelten, als er ihnen erklärte, dass alles natürlich zuginge. 
Das Gleichniss hinkt nur darum, weil Taschenspielerkunststücke 
ihren Werth nur in der geschickten Verhüllung der natürlichen 
Vermittelung besitzen, und ausserdem keine selbstständige Bedeutung 
beanspruchen können, während der bewusste Geist seinen Werth 
darin hat, dass er eine höhere Objectivationsstufe der Idee reprä- 
sentirt als die Natur. 

In der That geht in der Welt alles natürlich zu; aber der 



Allgemeine Vorbemerkungen. 275 

Sinn aller dieser natürlichen Vorgänge ist doch nur der, dass in 
jedem Augenblick ein übernatürliches Resultat aus ihnen hervorgeht. 
Die Natur selbst grenzt an jedem ihrer Punkte rückwärts und 
vorwärts an die Sphäre des Uebernatürlichen ; rückwärts, indem 
die sie constituirenden Elemente, sowie die Gesetze, denen dieselben 
unterworfen sind, etwas schlechthin Uebernatürliches sind, — vor- 
wärts, indem sie überall die Subjectivität der Empfindung und die 
Idealität des Bewusstseins aus sich gebiert, welche gleichfalls als 
über der Natur stehend zu bezeichnen sind. Denn der Geist ist 
zwar insofern natürlich, als er durch natürliche Vermittelung be- 
dingt ist; aber dies betrifft ihn nicht als seienden, sondern als 
werdenden, d. h. noch nicht seienden, — oder mit andern Worten: 
es betrifft nicht ihn als Geist, sondern nur seine Genesis. Als Geist 
dagegen ist er über die Natur thurmhoch erhaben, weil eben in 
ihm eine weit höhere Objectivationsstufe der Idee repräsentirt ist 
als in der Natur. Er hat die Natur nicht nur hinter sich, sondern 
auch unter sich, obschon er in seinem Leben und Wirken überall 
an die Basis natürlicher Vermittelungen und dadurch auch an die 
in der Natur geltenden Gesetze indirect gebunden ist. 



8. Die Kritik vom Standpunkt der Physiologie. 

Ich habe schon in der ersten Auflage der Ph. d. U. anerkannt, 
dass es die Schuldigkeit des Naturforschers ist, die näheren 
und ferneren wirkenden Ursachen der Erscheinungen aufzu- 
suchen, dass er aber nicht glauben dürfe, mit dieser mechanischen 
Erklärung Alles gethan und eine vollständige Erklärung geliefert zu 
haben (vgl. 7. Aufl. S. 449—451). Ebenso habe ich schon dort darauf 
aufmerksam gemacht (7. Aufl. II. 242), dass die Wahrheit der Teleologie 
keineswegs dadurch beeinträchtigt werden würde, wenn mechanische 
materielle Vorgänge die causale Erklärung der zweckmässigen 
Organismen ohne Rest lieferten, und dass nicht um der Teleologie 
willen, sondern nur weil die zu erklärenden Thatsachen weit reicher 
seien als die Tragweite des Erklärungsprincips, von mir bestritten 
werde, dass mit dem Selectionsprincip die Entstehungsgeschichte 
der organischen Welt zu erschöpfen sei. Insoweit wirklich mecha- 
nische Ursachen zur Entstehung zweckmässiger Resultate mitwirken, 
sind sie doch selbst nur als die natürliche Vermittelung der Resultate 

18* 



276 Anmerkungen tot zweiten Auflage. 

anzusehen, die wiederum als Natureinrichtungen (z. B. Organismen) 
nur deshalb zweckmässig heissen können, weil sie der Vermittelung 
des Bewnsstseins oder des bewussten Geistes dienen. 

ImPrincip habe ich also auch schon in den ersten Auflagen 
der Ph. d. U. die Notwendigkeit und logische Berechtigung einer 
natürlichen oder mechanischen Vermittelung der zweckmässigen 
Resultate oder der Realisirung der Ideen anerkannt, und die Gegen- 
schrift muss einräumen, dass diese prinzipielle Anerkennung in der 
Ph. d. U. vorhanden sei. In der Durchführung dagegen habe 
ich mich vielfach verleiten lassen, die mechanische Vermittelung 
zu unterschätzen öder ganz zu übersehen, und manches als alleinige 
und directe Folge teleologischer unbewusst- psychischer Functionen 
anzusehen, wobei mechanische Ursachen die wichtige Bolle der 
natürlichen Vermittelung spielen. Dies ist der correcturbedürftige 
Punkt der Ph. d. IL, und in seiner Aufdeckung und der theilweisen 
Ausfüllung der dort übersprungenen Lücken liegt der positive Werth 
der Gegenschrift. Letztere aber schiesst dadurch über das Ziel 
hinaus, dass sie sich auf den Standpunkt einer mechanistischen 
Naturphilosophie stellt, und durch den Nachweis natürlicher Ver- 
mittelungen die ideale Bedeutung der Resultate und die Wirksamkeit 
teleologischer Principien in und neben der mechanischen Ver- 
mittelung widerlegt zu haben beansprucht. 

In den auf diese Gegenschrift folgenden Arbeiten habe ich nun 
aber stets meinen naturphilosophischen Standpunkt dahin präcisirt, 
dass ich einerseits die Nothwendigkeit einer mechanischen Ver- 
mittelung durchaus anerkannte, andrerseits jedoch den teleologischen 
Charakter dieser Vermittelung als eines prädeterminirten Mittels zur 
Realisirung idealer Zwecke festhielt. In diesem Sinne ist der in 
meinen späteren naturphilosophischen Schriften vertretene Standpunkt ^ 
als die höhere Synthese der Standpunkte der älteren Auflagen der 
Ph. d. Unb. und der Gegenschrift anzusehn, und sind in dieser 
höheren Synthese die Fehler und Einseitigkeiten beider überwun- 
denen Standpunkte vermieden, nämlich die Unterschätzung und das 
theilweise Ueberspringen der mechanischen Vermittelung auf Seiten 
des Abschn. A. der. Ph. d. Unb., und die Verkennung des teleolo- 
gischen Charakters der mechanischen Vermittelung als Mittels zu 
idealen Zwecken auf Seiten der Gegenschrift. 



Allgemein« Verbetnerkttägea. 277 

Es ist wohl zu beachten, dass diese höhere Synthese ihre Gültig- 
keit behält, gleichviel ob man der Ansicht ist, dass die Wirkung der 
unbewussten teleologischen Principien sich nur in, oder dass sie 
sich sowohl in als auch neben der natürlichen mechanischen 
Vermittelung äussert, ob man mit andern Worten dafür hält, dass 
alle unbewusst-psychischen Functionen, welche die Welt aasmachen, 
blosse Snmmationsphänomene aus Atomfunctionen seien, oder ob man 
sie für Sammationsphänomene einerseits ans Atomfunctionen und 
andrerseits ans hinzukommenden unbewusst-psychischen Functionen 
höherer Ordnungen hält. Ich habe an verschiedenen Orten erklärt, 
dass und aus welchen Gründen ich die letztere Ansicht für die nach 
dem gegenwärtigen Stande unsrer Kenntnisse bei weitem wahr- 
scheinlichere halten muss. Wer mir aber in diesem Punkte nicht 
beipflichtet, ist meines Erachtens dennoch durch die vorgetragenen 
Erwägungen gebunden, meinen synthetischen Standpunkt als den 
richtigen anzuerkennen, und ich habe darauf aufmerksam gemacht, 
dass diese ganze Frage von nur secundärer Bedeutung ist und die 
letzten und höchsten Principien meines philosophischen Systems gar 
nicht berührt. 

Die Gegenschrift, welche sich auch hier auf den Standpunkt 
einer einseitig mechanistischen Weltansicht stellt, erkennt allerdings 
diese über ihren Standpunkt hinausgehende Synthese nicht an, und 
ignorirt demgemäss, dass schon in den von ihr bekämpften Auf- 
lagen der Ph. d. Unb. diese Synthese deutlich genug als principielles 
Ziel hingestellt, obschon in der Ausführung nicht überall festgehalten 
ist Die Tactik der Gegenschrift besteht einfach darin, nach Art 
der Naturforscher gegen den Gedanken dieser Synthese die Augen 
zu verschliessen und die Gegensätze als nackte Alternative 
aufrecht zu erhalten. Entweder teleologische Metaphysik, oder 
mechanische Yermittelung ! Eines schliesst das andere aus, und in 
dem Grade, als es ihr gelingt, die letztere wahrscheinlich zu machen, 
glaubt sie demnach die erstere widerlegt zu haben. Man braucht 
sich nur darauf zu besinnen, dass dem relativen Gegensatz ganz 
willkürlich der Charakter einer Alternative beigelegt ist, und dass 
an Stelle . des „Entweder oder" das „Sowohl als auch" zu setzen ist, 
so erlischt jede Beweiskraft dieses Verfahrens, und es bleibt von 
den ganzen vermeintlichen Gegenbeweisen gegen die teleologische 
Metaphysik nichts übrig als einige schätzbare Bereicherungen unserer 



278 Anmerkungen xur zweiten Auflage. 

Kenntniss in Betreff der mechanischen Vermittelung einiger ideellen 
Aufgaben. 

Ebenso wie bei der Bekämpfung der teleologischen Metaphysik 
überhaupt, so schöpfen auch bei der Frage nach der Zulassung 
oder Ausschliessung unbewusst - psychischer Functionen neben den 
Gombinationen der Atomfunctionen die Argumentationen der Gegen- 
schrift ihre ganze Beweiskraft aus dem unerwiesenen und still- 
schweigend als zugestanden betrachteten Vorurtheil, dass es sieb 
um eine Alternative handle, und dass jeder Zuwachs an Wahr- 
scheinlichkeit für die eine Seite eine gleichgrosse Wahrscheinlichkeits- 
verminderung der andern sei. Entweder unmittelbare Folge einer 
teleologischen unbewusst-psychiseben Function, oder Wirkung mecha- 
nischer materieller Vorrichtungen, — eine dritte Möglichkeit wird von 
der Gegenschrift ignorirt. Die dritte Möglichkeit ist aber die 
Cooperation beider Seiten, und grade diese wird von der FL d. 
Unb. als der normale Fall angesehen, während die unmittelbare 
teleologische Function allein nur da oder insoweit als Ursache gilt, 
wo oder insofern die mechanischen materiellen Vorkehrungen oder 
Hilfsmechanismen (z. B. molecularen Hirn- und Ganglien-Prädispo- 
sitionen) nicht vorhanden sind, z. B. wo sie erst gebildet werden 
sollen. Ist aber die Cooperation beider Factoren der normale Fall, 
so beweist der Nachweis der Mitwirkung des einen Factors im 
concreten Falle nicht das Geringste gegen die Mitwirkung des 
andern Factors, d. h. alle Beweisversuehe gegen das Vorhandensein 
unbewusst-psychischer Functionen, die sich nur auf die Hervorhebung 
der mitwirkenden mechanischen Factoren stützen, sind in ihren 
Grundlagen verfehlt. Dieser principielle Irrthum entspricht dem 
naturwissenschaftlichen Vorurtheil, als ob in der Physiologie eigent- 
lich die ganze Psychologie schon enthalten sei (vgl. oben S. 233), 
während doch die Physiologie für die Psychologie niemals mehr als 
eine Hülfswissenschaft sein kann. Eine Richtigstellung des Ver- 
hältnisses von Natur und Geist genügt allein schon zur Zurück- 
weisung solcher Ansprüche, die Psychologie oder Geisteslehre vom 
Standpunkt der Physiologie meistern zu wollen. 

9« Die Kritik vom Standpunkte der Deaeendenstheorie« 

Die Gegenschrift will aber das Unbewusste nicht bloss vom 
Standpunkt der Physiologie, sondern auch von dem der Descendenz- 



Allgemeine Vorbemerkungen. 279 

theorie ans beleuchten, und behauptet, bei einer Beurtheilung der 
Ph. d. Unb. vom Standpunkt der Descendenztheorie die Grenzen 
einer „immanenten Kritik" innezuhalten, weil die Descendenztheorie 
ein vom System selbst adoptirtes Princip sei (S. 22 — 23). Hiergegen 
ist zweierlei zu bemerken. 

Zunächst ist die Descendenztheorie kein Princip im Sinne der 
einem philosophischen System zu Grunde liegenden metaphysischen 
Principien, sondern ist innerhalb des Systems eine nebensächliche 
Bestimmung von noch nicht einmal secundärer Bedeutung, welche 
allerdings für die Naturphilosophie von hohem Werth ist, und nach 
meiner Ansicht aus den Principien der Ph« d. Unb. sich folgerichtig 
ergiebt. Nur deshalb, weil die Abstammungslehre als folgerichtige 
Consequenz der Principien und als harmonisches Glied des ganzen 
Systems erschien, durfte und musste dieselbe vom System adoptirt 
werden. Sollte sich dagegen ergeben, dass diese Harmonie und 
folgerichtige Einordnung ein irrthümlicher Schein war, so würde die 
Frage eine erneute Prüfung erfordern, ob bei constatirter Unverein- 
barkeit des Systems mit der Descendenztheorie das erstere oder die 
letztere zu weichen habe, und keinenfalls würde in diesem Fall die 
Berufung auf die Adoption der letzteren durch das System von 
Gewicht sein, weil ja letztere wesentlich auf der Voraussetzung der 
harmonischen Uebereinstimmung beruhte. Eine Kritik der metaphy- 
sischen Principien eines Systems, welche sich lediglich auf ein 
Aussenwerk des Systems von so untergeordnetem Range stützt, 
kann deshalb, wie schon von Venetianer hervorgehoben worden ist, 
keinenfalls den Anspruch erheben, immanente Kritik des Systems 
zu sein, d. h. letzteres aus sich selbst zu bekämpfen und darum bei 
erfolgreichem Kampfe in's Herz zu treffen. 

Zweitens aber ist zu bemerken, dass die Behauptung der Gegen- 
schrift, die Ph. d. Unb. aus dem Standpunkt der Descendenztheorie 
zu kritisiren, sich bei näherem Zusehen als eine falsche Vorspiegelung 
erweist, deren Scheinbarkeit durch die im Darwinismus so beliebte 
Escamotage von Descendenztheorie und Selectionstheorie erreicht 
wird. Nicht die Descendenztheorie hat jemals den Anspruch erheben 
können, ein mechanisches Erklärungsprincip zu sein, sondern nur 
die Selectionstheorie. In der That kämpft die Gegenschrift nicht 
vom Standpunkt der Descendenztheorie, sondern von dem der 
Selectionstheorie gegen die teleologische Metaphysik der Ph. d. Unb.; 



280 Anmerk u ngen cor zweiten Anlage. 

weil es aber mit der Selectionstheorie, ihrem Werth und ihrer Trag- 
weite, weit bedenklicher steht als mit der Descendenztheorie, so sagt 
sie „Descendenztheorie", wo sie in Wahrheit nur die „Selections- 
theorie" meint Sie begeht damit nicht nur die von ihr selbst (auf 
S. 23) gertigte, aber im Lager des Darwinismus allgemein übliche, 
and deshalb für diesen Standpunkt typische Confusion, sondern sie 
bekämpft auch die Phil. d. Unbew. thatsächlich von zwei Voraus- 
setzungen aus, welche von der Ph. d. Unb. nicht nur nicht zuge- 
standen, sondern geradezu bestritten werden. 

Diese Voraussetzungen sind: erstens, dass die Selectionstheorie 
ein rein mechanisches Erklärungsprincip sei, und zweitens, dass 
dasselbe „die unzweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende 
Ursache des Uebergangs" aus einer organischen Form in die 
andere sei (S. 24). Diese Voraussetzungen sind von der Ph. d. Unb. 
natürlich nur durch Andeutungen bekämpft, da in einem philosophi- 
schen Werk dieser Art für weiteres kein Raum war; dieselben sind 
aber von der Gegenschrift in keiner Weise zu begründen versucht, 
wenn man nicht die unstatthafte Analogie vom unorganischen Gebiet 
der Natur auf das organische (S. 46—50) für eine solche Begründung 
nehmen will. Diese Grundlagen der Kritik sind also nicht nur nicht 
von der Ph. d. Unb. adoptirt, sondern sie schweben überhaupt in 
der Luft, und mit ihnen die ganze Kritik. In meiner Schrift 
Aber „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus" habe ich die gründ- 
lichere Prüfung dieser Voraussetzungen nachgeholt; die dort ge- 
wonnene Bestätigung und Verschärfung der Ablehnung derselben 
durch die Ph. d. Unb. würde demnach ganz allein zur Abwehr der 
geflammten Kritik genügen, auch wenn letztere nicht ohnehin schon 
durch die oben dargethanen Haltlosigkeiten in der Argumentations- 
weise gerichtet wäre. 

In diesem Punkte kann demnach nicht von einer Synthese 
zwischen dem Standpunkt der Ph. d. Unb. und der Gegenschrift 
die Bede sein, sondern konnten meine späteren Arbeiten (ebenso 
wie in Betreff der Auffassung des Verhältnisses von Natur und Geist) 
nur die Aufgabe haben, den Standpunkt der Ph. d. Unb. gegenüber 
diesen typischen Vorurtheilen der modernen Naturwissenschaft (oder 
doch der grossen Mehrzahl ihrer Vertreter) fester zu begründen und 
weiter auszuführen. Um eine höhere Synthese handelt es sieh nur 
in dem Einen Punkte, der allerdings den eigentlichen Angelpunkt 



Allgemeine Vorbemerkungen. 281 

der ganzen Gegenschrift bildet, in der Betonung der Notwendigkeit 
und Wichtigkeit der natürlichen mechanischen Vermittelnng für die 
Realisirung der teleologischen Ideen, wie dies oben besprochen ist. 
Diese allgemeinen Erörterungen möchten ausreichend sein, um 
meine Stellung zu der Gegenschrift ebenso in inhaltlicher Beziehung 
zweifellos zu präcisiren, wie die» durch das Vorwort in formeller 
Hinsicht geschehen ist, und glaube ich, dass nach dem Voraus- 
geschickten eine kurze Fassung der meisten Anmerkungen genügen 
wird, um dem denkenden und stets auf den Zusammenhang des 
Ganzen blickenden Leser auch meine Stellung zu den Einzelheiten 
klar zu legen. 



Anmerkungen zu Capitel I. 

Der Inhalt dieses Gapitels im Allgemeinen hat in dem Ver- 
gehenden (Allgem. Vorbemerkungen Nr. 9) seine Besprechung ge- 
funden. 

Nr. 1 (S. 24): Es ist ein Irrthum, dass die natürliche Zucht- 
wahl irgendwie wirkende Ursache des Ueberganges sei. 
Die Ursachen sind eine bestimmt gerichtete Variation, welche ge- 
wisse Modificationen des Typus erzeugt, und eine Fortdauer dieser 
Variationsrichtung in der Vererbung, welche diese Modificationen fort- 
dauern, beziehungsweise sich steigern läset. Diese Ursachen sind 
nach dem Eingeständniss des Darwinismus schlechthin unbekannte 
Factoren. Die Auslese im Kampf um's Dasein ist niemals causa 
efficiens davon, dass eine bestimmte Abänderung hervorgebracht 
wird, sondern nur negative Bedingung derselben, insofern ohne 
dieselbe die teleologisch bestimmten Abänderungen leichter wieder 
zu Grunde gehen könnten. Wigand (IL 391) erläutert dies Ver- 
hältniss treffend durch das Gleichniss des Mäcenatenthums : Wenn 
ein Gönner einem jungen Mann durch seine Unterstützungen die 
Ausbildung und Entfaltung eines bestimmten Talents ermöglicht, so 
ist der Gönner zwar negative Bedingung, aber nicht positive wir- 
kende Ursache der künstlerischen Leistungen seines Schützlings; 
vielmehr entspringen letztere rein aus dessen persönlichen Anlagen. 
Gewiss ist jede mitwirkende Bedingung solcher Art von höchster 
Wichtigkeit und nicht zu vernachlässigen, aber ebenso wenig darf 
sie mit der positiven causa efficiens des Vorgangs verwechselt wer- 
den. Wenn nun in gewissen Fällen die negative Bedingung ein 



Anmerkungen zu Gap. I. 283 

mechanisches Vehikel ist, so beweist das mithin noch gar nichts 
dafür, dass auch die positive treibende Ursache ein rein mechani- 
scher Factor sei ; diese Frage bleibt völlig offen, und kann von den 
Darwinisten nur unter der Voraussetzung bejaht werden, dass sie 
auf Erkenntniss von Ursachen dabei völlig verzichten und an Stelle 
der causalen Notwendigkeit den Begriff des Zufalls setzen, der 
mit dem Verzicht auf naturwissenschaftliche Erklärung gleichbedeu- 
tend, philosophisch unhaltbar, und den Thatsachen widersprechend 
ist. Andernfalls ist in der planmässigen Bichtung der Variabilität 
und deren Fortdauer in der Vererbung ein Product aus der Wirkung 
mechanischer Ursachen und metaphysischer Principien zu sehen; 
mindestens hat der Darwinismus nicht das Geringste dazu ge- 
than, um diese Frage einer Entscheidung im Sinne der mecha- 
nistischen Weltanschauung näher zu rücken, als sie es vor seinem 
Auftreten war. (Vgl. Wigand: „Der Darwinismus und die Natur- 
forschung Newton's und Cuvier's" Bd. IL Cap. VI.: „Der Darwinis- 
mus und das Causalprincip" S. 364 — 399.) Somit sind beide Prä- 
tensionen der Selectionstheorie gleich unhaltbar, sowohl diejenige, 
die Ursache des Uebergangs erklärt zu haben, als auch die, sie 
als ein rein mechanisches Princip enthüllt zu haben, und des- 
halb sind auch alle Folgerungen hinfällig, welche an diese Präten 
sionen geknüpft werden, insbesondere der Analogieschluss, dass 
auch die etwa noch zur Ergänzung der Selectionstheorie erforder- 
lichen und künftig zu entdeckenden weiteren Ursachen der Typen- 
umwandlung rein mechanische Principien sein würden. 

Anmerkungen zu Gapitel IL 

Nr. 2 (S. 33): Die Naturwissenschaft als Naturwissenschaft 
kann dies darum nicht acceptiren, weil sie damit aus ihrer Sphäre 
herausträte ; aber nichts hindert die Naturforscher als Menschen und 
Denker, die vorweggenommenen metaphysischen Erklärungen auch von 
solchen Erscheinungen und Erscheinungsgebieten zu acceptiren, wo 
die naturwissenschaftlichen Erklärungen noch fehlen. Nur wenn 
die metaphysische Erklärung die naturwissenschaftliche ausschlösse! 
wäre sie dem Naturforscher unannehmbar ; da aber, wie ich stets be- 
tone, dies nicht der Fall ist, sondern die Naturwissenschaft ruhig 
weiter zu forschen hat nach den mechanischen Vermittelungen, so 



284 Anmerkungen cor zwölften Auflage. 

macht die metaphysische Erklärung die naturwissenschaftliche keines- 
wegs überflüssig oder entbehrlich. Wollte der Naturforscher jede 
metaphysische Erklärung als unannehmbar abweisen, bloss darum, 
weil sie keine naturwissenschaftliche Erklärung ist, so würde er 
damit erklären, dasß er die Naturwissenschaft für die alleinige? 
alles Erklärbare erschöpfende Wissenschaft halte. Dies wäre ebenso 
beschränkt , als wenn der Philosoph alle naturwissenschaftlichen 
Erklärungen ablehnen wollte, weil sie keine metaphysischen Erklä- 
rungen sind. — Man denke sich einen Augenblick Raphael's Ma- 
donna dio San Sisto als zu erklärendes Object. Der Philosoph 
sacht dasselbe dadurch zu erklären, dass er die religiösen und 
ethischen Ideen entwickelt, auf denen das Werk beruht, die cultur- 
geschichtlichen Verhältnisse,] durch welche es bedingt ist, und die 
ästhetischen Grundbegriffe, welche seine Wirkung auf das Gemüth 
des Beschauers verständlich machen. Ja, sagt der Naturforscher, 
das alles ist doch keine Erklärung im Sinne der Naturwissenschaft, 
und deshalb kann ich es als solche nicht acceptiren. Darin hat 
er zweifellos Recht, aber Unrecht hat er, wenn er hinzufügt: darum 
kann ich es überhaupt nicht acceptiren. Er hat Recht, wenn er 
sich bemüht, die Adhäsion der Farbstoffe an der Leinewand, die 
chemische Constitution derselben, und die aus ihr folgende Absorp- 
tion, Reflexion und Dispersion der weissen Lichtstrahlen zu erfor- 
schen, die Gesetze der Perspective und die Reconstruction körper- 
licher Vorstellungen durch die Wahrnehmung des flächenhaften 
Bildes zu ermitteln, u. s. w. Er hat aber Unrecht, wenn er mit 
allen diesen naturwissenschaftlichen Erklärungen die Wirkung des 
Bildes auch nur annähernd erschöpfen zu können glaubt, wenn er 
sich einbildet, durch alle seine exacten Untersuchungen dem Ver- 
ständniss der eigentlichen und wesentlichen Bedeutung seines Ge- 
genstandes auch nur näher zu kommen. Das, worauf es ankam, 
hatte der Philosoph ohne alle naturwissenschaftliche Kenntnisse 
jedenfalls weit besser erklärt als der Naturforscher, und es war für 
den Wahrheitsgehalt der philosophischen Erklärungen ganz gleich* 
gültig, ob zu der Zeit, wo sie aufgestellt wurden, die Physik schon 
irgend welche Erklärungen der Farbenwirkung zu geben vermochte, 
oder ob dieses Feld damals noch eine grosse Lücke in ihr bildete. 
Nun ist aber der Mensch als Mikrokosmos wahrlieh kein kleineres, 
sondern ein weit grösseres Kunstwerk als jedes von Menschenhand 



Anmerkungen zu C*p. II. 285 

vollbrachte; seine geistige Bedeutung im Verhältniss zu seiner ma- 
teriellen Grundlage ist eine noch unverhältnissmässig grössere als 
bei der idealsten Schöpfung, welche er selbst hervorzubringen ver- 
mag. Nehmen wir auch eines der höchsten menschlichen Geistes- 
werke zum Beispiel, wie wir es gethan haben, so ist doch dieses 
Werk nur Ein Ausfluss dieses Ettnstlergeistes neben vielen andern, 
erschöpft also nicht entfernt auch nur sein künstlerisches Vermögen, 
und seine künstlerische Thätigkeit ist wiederum nur Ein«, wenn 
auch bevorzugte, so doch einseitige Sichtung seines gesammten 
Geisteslebens. Ein Genie ersten Banges, gleichviel auf welchem 
Gebiet, ist immer ein unendlich viel reicherer Mensch, als man aus 
seinen Werken schliessen kann. Gilt dies nun schon für den Mi- 
krokosmos, der nur ein Exemplar einer bestimmten, noch unvoll- 
kommenen Entwicklungsstufe des bewussten Geistes ist, in wie viel 
höherem Grade muss es nicht erst von dem Makrokosmos gelten, 
wenn man denselben als die einheitliche Totalität aller Phasen 
seines Processes betrachtet. Die Prätension des Naturforschers, 
durch seine exacten. Forschungen in der materiellen Grundlage der 
Welt die philosophische Erklärung derselben überflüssig und ent- 
behrlich machen zu können, muss daher auf den denkenden Menschen 
noch weit komischer wirken als in dem angefahrten Beispiel der 
sixtinischen Madonna, und ist jedenfalls eine weit gröbere und 
unentschuldbarere Einseitigkeit als die entgegengesetzte des ein- 
seitigen Idealismus, der durch seine philosophischen Erklärungen 
die naturwissenschaftlichen entbehrlich machen und ersetzen will. . 

Nr. 3 (S. 34): Unrichtig; vgl. W. u. I. im Darwinismus S. 170 
bis 172. 

Nr. 4 (S. 35): Vgl. W. u. I. 165-166. 

Nr. 5 (S. 36): Vgl. W. u. I. 174—176, Ph. d. ünb. 7. Aufl. I. 
454—455. 

Nr. 6 (S. 36) : Der Instinct findet bei Gelegenheit des Cap. X 
genaue Erörterung, wo sich zeigen wird, dass für die darwinistisehe 
Erklärung des Instincts dasselbe gilt wie für diejenige der Typen- 
Umwandlung; sie giebt statt der positiven Ursache des Vorgangs 
nur eine negative Bedingung desselben, welche nicht einmal in 
allen Fällen zur Geltung gelangen kann, also keineswegs conditio 
sine qua non ist, sondern nur ein technischer Behelf, von secundärer 
Bedeutung. Die positive Ursache des Instincts bleibt bestehen, wie 



286 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

die Ph. d. U. sie angegeben. Richtig ist, dass eine genauere Aus- 
einandersetzung mit dem Darwinismus schon in dem betreffenden 
Gapitel des Abschnittes A der Ph. d. U. wünschenswert gewesen 
wäre, obschon sie ohne vorausgeschickte Gesammtkritik des Darwi- 
nismus dort kaum anzubringen war. Unrichtig dagegen ist die 
Hindeutung, als ob Darwin in seinem Capitel über den Instinct eine 
wirkliche Erklärung desselben gegeben hätte, oder auch nur hätte 
geben wollen, wie dies von Seiten der minder besonneren Darwinia- 
ner als zweifellos vorausgesetzt wird. Darwin verwahrt sich (Ent- 
stehung der Arten, deutsch von V. Garns, 4. Aufl. S. 234) ausdrück- 
lich dagegen, als wenn er bei der Untersuchung der Organisation 
eine Erklärung über den Ursprung des Lebens, oder bei der 
Untersuchung des Instincts eine solche über den Ursprung der 
geistigen Grundkräfte zu geben beanspruchte, und beschränkt 
den Gegenstand seiner Betrachtungen durchaus auf die Verschie- 
denheiten des Instincts in einer und der nämlichen 
Classe. Was er bietet, ist eine Untersuchung über den Einfluss 
der natürlichen Zuchtwahl zur Befestigung und Häufung der kleinen 
Abänderungen (ebenda S. 270 Z. 11 — 13) der als bestehend voraus- 
gesetzten Instincte, während er die positiven Ursachen (sowohl der 
Grundthatsache des Instincts als auch) seiner Abänderungen aus- 
drücklich als unbekannt bezeichnet (ebenda S. 236 Z. 26). Da 
die Ph. d. U. den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl zur Befestigung 
und (bei Fortdauer der Wirkung der unbekannten Ursachen in 
gleicher Richtung) zur Häufung jener kleinen Abänderungen der 
bestehenden Instincte gar nicht bestreitet, so befindet sie sich auch 
in keiner Weise in einer Meinungsdifferenz mit Darwin, wenn sie 
jene unbekannten positiven Ursachen des Instincts und seiner 
Modificationen zu ergründen sucht, obschon es möglich ist, dass die 
Hypothese, welche sie in dieser Richtung aufstellt, nicht die Zu- 
stimmung Darwin's finden würde. Nur das sei hier noch bemerkt, 
dass Darwin die positiven Ursachen für die Abänderungen der In- 
stincte nicht etwa im Lamarck'schen Princip (des Gebrauchs und 
Nichtgebrauchs) sucht; er giebt zu, dass dieses Princip in einigen 
Fällen mitgewirkt haben möge (S. 270 Z. 14—15), erachtet aber 
dessen Wirkungen beim Instinct von ganz untergeordneter 
Bedeutung gegenüber den Wirkungen der natürlichen Zuchtwahl 
(S. 236 Z. 22—25.). 



Anmerkungen zu Gap. n. 287 

Nr. 7 (S. 39): Hier liegt die petitio principii der ganzen Ar- 
gumentation versteckt. Die specifische Differenz des Unorganischen 
und Organischen, die jedenfalls weit grösser ist als diejenige zwi- 
schen verschiedenen Specien oder Ordnungen von Organismen, ist 
hier dnrch ein blosses „oder auch" übersprungen. Es handelt sich 
aber dabei um eine fievdßaatg elg äX?*6 y£vog } und diese kann nie- 
mals durch Summation zahlloser unerheblicher Minimalschritte er- 
schlichen werden. Bei einem ganz bestimmten Punkt tritt der 
Unterschied des lebendigen Organismus von der unorganischen ge- 
formten Materie ein ; ein todtes Eiweissklümpchen und eine lebendige 
Monere sind einmal heterogene Dinge, deren himmelweiter 
Unterschied durch keine Summation minimaler Schritte zu vertuschen 
oder zu überbrücken ist. Mögen die einfachsten Elemente des 
organischen Lebens noch weit tiefer hinab verfolgt werden, so wird 
doch bei noch so grosser scheinbarer Annäherung immer eine 
scharfe Kluft zwischen den Begriffen des unorganischen Aggregats 
und des lebendigen Organismus bestehen bleiben, die jeder Identifi- 
cation der Grenzrepräsentanten beider heterogenen Gebiete spottet. 

Nr. 8 (S. 40): Hier haben wir die nämliche petitio principii 
wie oben in etwas anderer Gestalt. Wenn die Ph. d. U. von der 
gegebenen Möglichkeit der Entstehung von Organismen in einer 
gewissen Phase der geologischen Entwickelung spricht, so meint sie 
selbstverständlich nur erstens das Fehlen von hindernden Umständen 
und zweitens das Vorhandensein der unorganischen Kräfte in einer 
Gestalt, welche dem organisirenden Princip brauchbares Material 
zur Herstellung von Organismen bot. Die Gegenschrift aber schliesst 
so: aus dem Wirklichwerden der Organisation ist zu schliessen, 
dass die Bedingungen ihrer Möglichkeit gegeben waren, und diese 
Möglichkeit genügte, um unter einer hinlänglichen grossen Zahl 
erfolgloser Combinationen auch die Chance erfolgreicher Constella- 
tionen darzubieten. Dabei ist aber Möglichkeit verstanden als Mög- 
lichkeit der Verwirklichung der Organisation aus unorganischen 
Kräften allein. Dies ist eben die ? petitio principii, die Verwechse- 
lung von negativen Bedingungen mit positiver Ursache, welche bei 
dem Darwinismus ebenso wie bei dem älteren Materialismus stereotyp 
wiederkehrt. 

Nr. 9 (S. 40): Dieser Schlusssatz ruht lediglich auf obiger 
petitio principii. Giebt man einmal zu, dass aus zufälligen Com- 



288 Anmerkungen rar uralten Auflage. 

binationen unorganischer Kräfte allein die Entstehung des Organi- 
schen möglieh »ei, dann braucht freilich der Zufall bloss noch 
beliebig lange Zeiträume zu seinem Spiel zugemessen zu bekommen. 
Richtig ist an der Polemik nur soviel, dass auch für das Gegentheil 
die Wahrscheinlichkeitsrechnung in diesem Falle nichts beweisen 
kanu, weil das hypothetische Hinübertreten auf den Boden des 
Materialismus nicht, wie beabsichtigt, dazu führt, den Gegner auf 
seinem eigenen Boden zu schlagen. Indem ich diesen Versuch in 
dem Aufsatz „Ueber die Lebenskraft" als misslangen anerkenne, 
halte ich um so entschiedener daran fest, dass die Voraussetzung, 
auf welehe jene materialistischen Schlussfolgerungen sich gründen, 
als petitio principii zu perhorresciren ist. Dem Aufsatz über die 
Lebenskraft lege ich wenig Werth bei, und ich würde denselben 
in meinen „Ges. Stud. u. Aufs." gar nicht wieder haben mit ab- 
drucken lassen, wenn ich nicht den Lesern dieser Schrift den Ver- 
gleich des hier bekämpften Aufsatzes hätte offen halten wollen. 

Nr. 10 (ß. 42): Weit entfernt, dass diese Thatsaohe irgend ein 
Bäthsel auf mechanischem Wege lösen konnte, ist sie vielmehr 
selbst nichts weiter als die naturwissenschaftliche, empirische Con- 
statirung der mechanischen Unerklärbarkeit der Function. Denn da 
alle mechanische Erklärung bestimmter Functionen sich auf die 
Dispositionen der Organe stützt, so kann mechanische Erklärung 
sieh nur auf solche Functionen erstrecken $ welche später sind als 
die Organe mit ihren bestimmten Dispositionen; dagegen fällt jede 
Function, welche früher als jene ist, ausserhalb des Bereichs mecha- 
nischer Erklärbarkeit, da das Prios nicht durch das Posterius causal 
erklärt werden kann. Wir werden hierauf noch öfters zurückkommen 
müssen, und ich füge deshalb schon hier die Bemerkung hinzu, dass 
eine Erklärung, welche für einige Fälle eine gewisse Erscheinung 
zu erklären scheint, für andere aber entschieden nicht, entweder eine 
falsche und irrthümliche Erklärung sein muss, oder doch blos eine 
secundäre Bedeutung für die Erklärung (als Hülfsmechanismus) haben 
kann, aber jedenfalls die Frage nach der principiellen, allgemein- 
gültigen, primären Erklärung, nach der eigentlichen positiven Grund- 
ursache der Erscheinung, offen lässt. 

Nr. 11 (S. 42): Die Entwickelung aller specifisohen Disposi- 
tionen und Organe aus dem „Ur-Indifferenzpunkt" des Protoplasmas 
scheint nur deshalb eine Erklärung in sich zu enthalten, weil die 



Anmerkungen zu Cap. £1. 289 

Fähigkeit des letzteren zu allen möglichen Leistungen, d. h. zn allen 
Functionen, welche die Dispositionen und Organe erst hervorbringen 
sollen, als gegebene Thatsache vorausgesetzt wird. Die Wunder 
werden aber nicht dadurch erklärt, dass man sie aus einem noch 
unendlich wunderbareren „Urwunder" ableitet und dieses als selbst- 
verständlich und keiner Erklärung bedürftig gelten lässt. Hier ist 
die mechanische Vermittelung mit dem schöpferischen Princip ver- 
wechselt. Denn letzteres bedarf zwar einer materiellen Basis zu 
seiner organisirenden Thätigkeit und findet dieselbe im Protoplasma, 
das noch aller specifischen Dispositionen entbehrt, also gleichsam 
noch tabula rasa ist; aber je leerer und unbeschriebener die Tafel 
ist, desto weniger kann die Function des Schreibens und die durch 
sie entstehenden Schriftzüge aus dem Vorhandensein und der Be- 
schaffenheit der Tafel erklärt werden, desto mehr bedarf es dazu 
der Annahme eines Schreibers. 

Nr. 12 (S. 44) : Das Vorstehende giebt ein treffendes Beispiel 
zu dem (in den Allg. Vorbemerkungen Nr. 7 gerügten) Irrthum, 
als ob die Aufzeigung der allmählichen mechanischen Vermittelung 
des zweckmässigen Resultats irgend etwas gegen seinen teleologischen 
und idealen Charakter oder gegen seinen Ursprung aus einem idealen 
Princip bewiese. Da die mechanische Vermittelung in der Natur 
nicht zu umgehen ist, so wäre es ein unzweckmässiger Mehraufwand 
von bildender Energie, wenn ein Organ einen höheren Grad teleo- 
logischer Entwickelung zeigte, als die Lebensbedingungen des 
Organismus erfordern. 

Nr. 13 (S. 44): Zuzugeben ist, dass die Verhältnisse in der 
Wirklichkeit nicht so einfach für den Rechnungsansatz liegen, als 
die Ph. d. Unb. in diesem Capitel zum Zweck der didactischen 
schematischen Illustration annimmt. Irrthümlich aber ist, wie ge- 
sagt, die Meinung, als ob die Aufzeigung der schrittweisen Heraus- 
bildung der höheren Entwickelungsstufen eines Organs aus den 
niederen und aus dem Indifferenzpunkt des Protoplasmas jemals 
eine Instanz abgeben könne gegen die Zweckmässigkeit und gegen 
die Mitwirkung teleologischer Factoren bei den einzelnen Schritten 
der organisatorischen Vervollkommnung. 

Nr. 14 (S. 44): Das ist unrichtig; die einzige in vielen Fällen 
identische Ursache, welche die Gegenschrift namhaft machen kann, 
ißt das Selectionsprincip, und dieses ist gar keine wirkende Ursache 

E. v. Hartniauii, Das Unbewusste. 2. Aufl. 19 



290 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

im naturwissenschaftlichen Sinne (vgl. Anm. 1), und am allerwenigsten 
eine Ursache der organisatorischen Vervollkommnung im mor- 
phologischen Sinne. Die einzige Ursache, die bei dem Process 
wirklich überall identisch ist, ist eben die durch jene Wahrschein- 
lichkeitsrechnung zu erschliessende, nämlich das teleologische Prin- 
cip, das sich selber gleich bleibt tro.tz seiner nach den Umständen 
wechselnden Bethätigang. 

Nr. 15 (S. 45): Hier tritt es deutlich zu Tage, dass nicht die 
Descendenztheorie, sondern lediglich die Selectionstheorie den Boden 
bildet, von welchem ans vermeintlich die bisherige Teleologie soll 
über den Haufen geworfen werden können. 

Nr. 16 (S. 46) : Vgl. „W. u. I. im Darwinismus« S. 162—164. 

Anmerkungen zu Capitel HI- 
Nr. 17 (S. 58) : Diese Argumentation mit der Concurrenz um's 
Dasein ist ebenso falsch wie blendend; eine gewisse Bedeutung 
könnte ihr nur auf der Basis eines metaphysischen Individualismus 
zukommen, während sie auf der Basis eines hylozoistischen Natu- 
ralismus gar keinen Sinn hat. Nirgends in der Natur ist das 
abstracte Dasein Gegenstand der Concurrenz, sondern immer nur 
eine bestimmte Beschaffenheit des Daseins, d. h. das Dasein in einer 
gewissen Form oder auf einer bestimmten Individualisationsstufe. 
Die Uratome kämpfen nicht um das Dasein als Atome, denn dieses 
ist ihnen unverlierbar, sondern um die Erringung eines bestimmten 
Platzes in den primitivsten chemischen Verbindungen. Die kosmischen 
Massen kämpfen ebensowenig um ihr Dasein, denn als Materie sind 
sie für die Dauer des Weltprocesses unzerstötbar, sondern sie kämpfen 
um ihre Formation zu kosmischen Individuen (Fixsternen, Planeten, 
Monden u. s. w.). Molecule concurriren mit Moleculen, Moneren mit 
Moneren, Algen mit Algen, Pilze mit Pilzen, Fische mit Fischen, 
Bäume mit Bäumen und Raubvögel mit Raubvögeln um ihr Dasein 
auf der fraglichen Individuationsstufe ; dagegen findet, wie der 
Darwinismus ausdrücklich anerkennt, zwischen Individuen von ganz 
verschiedener Organisationshöhe keine Concurrenz statt. Wenn nun 
den Individuen höherer Ordnungen metaphysische Wesenskerne zu 
Grunde lägen, welche ebenso unvergängliche Monaden wären wie die 
Atome als Individuen niedrigster Ordnung, so könnte man von einer 



Anmerkungen zu Gap. IIL 291 

CoDcurrenz um's Dasein unter diesen Monaden höherer Ordnungen 
wenigstens in dem Sinne reden, dass die un vernichtbaren Individual- 
wesen danach ringen, einen Platz in der objectiv- realen Erscheinungs- 
welt zu erobern. Aber wenn in den Individuen höherer Ordnungen 
kein substantieller Kern der Individualität zugestanden wird, wenn 
dieselben lediglich als Combinationsresultate aus Atomkräften gelten, 
dann sind auf allen Individuationsstufen die alleinigen Träger des 
Daseins die Atome; eine bestimmte Anzahl von Atomen kann aber 
nicht mehr da sein, wenn sie zu einem organischen Individuum 
höherer Ordnung gruppirt ist, als wenn sie ein unorganisches Aggre- 
gat in einem Schmutzhaufen bildet. Wenn also die Materie durch 
Organisirung und durch Steigerung der Organisationshöhe kein 
Plus an Dasein gewinnt, so kann es auch nicht die Concurrenz 
um das Dasein oder die Anpassung an's Dasein sein, wodurch die- 
selbe sich von den Individuationsstufen niederer Ordnung zu denen 
höherer Ordnung hinaufarbeitet, — so kann auch das Dasein nicht 
der Zweck sein, welcher der Entwickelung als Ziel zu Grunde 
liegt. Der Anpassungsprocess bezieht sich niemals auf das Dasein 
als solches oder in abstracto, sondern auf das Dasein auf einer 
bestimmten Organisations- und Individuationsstufe ; die Materie als 
Träger aller Individuationsformen kann aber gar kein Interesse 
daran haben, in welcher dieser Formen sie ihr Dasein hat, da sie 
doch nicht mehr als dasein kann. Eher könnte man denken, die 
Materie müsste ein Interesse daran haben, sich die Unlust des 
Kampfes um das Dasein in höheren Individuationsformen durch 
Verharren auf der niedrigsten zu ersparen, als dass man die Mög- 
lichkeit einer Entwickelung durch fortgesetzte Anpassung an das 
von Anfang an besessene Dasein begreifen könnte. Handelt es sich 
aber um die Behauptung des Daseins in den einmal zufällig ergrif- 
fenen Formen, so kann noch weniger ein Zweifel obwalten, dass 
das Gegentheil von Entwickelung aus der blossen Rücksicht aufs 
Dasein hervorgehen müsste; denn jede Individuationsform ist um 
so leichter zu behaupten und vor dem Wiederuntergang zu bewah- 
ren, je niedriger ihre Ordnung und je geringer ihre Organisations- 
höhe ist. Dass jegliches Ding und jegliches Individuum auf der 
Individuations- und Organisationsstufe, auf welche es sich nun ein- 
mal gestellt findet, nur existiren kann, wenn es seine Existenz- 
bedingungen in sich realisirt findet, d. h. wenn es sich in einem 

19* 



292 Anmerkungen cur «weiten Auflage. 

gewissen Anpassungsgleichgewicht zu seiner Umgebung befindet, ist 
zunächst eine blosse Tautologie, gegen die Niemand etwas einwen- 
den wird (es sei denn ihre Trivialität) ; wenn aber diese Tautologie 
benutzt werden soll, um aus der Thatsache, dass das Nichtexistenz- 
fähige nicht existiren kann, jenes Dasein und die concurrirende 
Anpassung an dasselbe zum treibenden Grund der Entwickelung zu 
machen, so ist das wiederum die schon oben (in Anm. 1) gerügte 
Verwechselung von negativer Bedingung und wirkender Ursache. 
Die Selectionstheorie sagt nur: 1. das Existenzunfähige wird zu 
Grunde gehen ; 2. das Existenzfähige wird bestehen (seil, wenn es 
entstanden ist); 3. existenzfähig ist nur, was sich im Anpassung* 
gleichgewicht zu seiner Umgebung befindet. Nur wenn man den 
Conditionalsatz („wenn es entstanden ist") und mit ihm die positiven 
wirkenden Ursachen dieser Entstehung ausser Acht lässt, kann man 
in die Verwirrung gerathen, die negative Bedingung der Existenz- 
fähigkeit für die wirkende Ursache der Entstehung und das un- 
bestimmte Dasein für den positiven Grund der zweckvoll bestimmten 
Existenz auszugeben. Wem das Gesagte noch nicht ausreichend 
scheint, der denke daran, dass das Ziel der natürlichen Entwicke- 
lung das geistige Leben ist, dass die natürlichen Individuen jeder 
Ordnung nur deshalb um das Dasein kämpfen, damit aus diesem 
Kampf der Geist resultire, der den Kampf u m ' s Dasein nur als die 
Vorübung und den Fechtboden anerkennt zur Aufnahme des geisti- 
gen Kampfes mit dem Dasein. So lange und so weit der Geist sieb 
noch dazn hergiebt, im Kampf um's Dasein mitzuwirken, so lange 
und soweit ist er selbst bloss Werkzeug im Naturprocess ; sobald 
aber der Geist sich auf sich selbst besinnt, in dem Augenblick, wo 
er beginnt, sich als Geist im Unterschiede von der Natur zu erken- 
nen, und an den Problemen des Geistes zu arbeiten, da schlägt der 
Kampf um's Dasein in den Kampf der Vernunft mit der brutalen 
Thatsache des unlogischen Daseins um. Wie wenig auch anfänglich 
dieser letzte Kern des geistigen Bingens dem Bewusstsein klar sein 
möge, so kommt doch der Geist in letzter Instanz mit Naturnotwen- 
digkeit dahin, den Kampf um's Dasein zum Zweck der Erhaltung 
der natürlichen Basis der Individualität lediglich noch als bewusstes 
Mittel fortzusetzen, welches ihm die Fortführung des geistigen 
Bingens mit dem Dasein als dem Nichtseinsollenden ermöglichen 
soll. Weit entfernt also, dass das Dasein Grund und Ziel der 



Anmerkungen sra Cap. III. 293 

Entwicklung wäre, ist vielmehr der Kampf um's Dasein nur teleo- 
logisches Mittel für den Kampf des Geistes um die Ueberwindung 
des Daseins. 

Nr. 18 (S. 58) : Hier zeigt sich, dass am Maassstab des Daseins 
gemessen es kein Höheres und Niederes giebt, weil Alles dem Da- 
sein Angepasste gleich hoch steht, and Anderes als solches nieht 
existirt. Ist das Dasein der einzige Zweck, so stehen Wurm und 
Mensch gleich hoch und haben nach dem einzig für zulässig aus- 
gegebenen Maassstab genau gleichen Werth. Entwickelung und 
Rückbildung verlieren dann jede transcendente Wahrheit, und sinken 
zu objectiv bedeutungslosen Maassstäben des subjeotiven mensch- 
lichen Denkens herab ; der Mensch hält sich bloss noch aus leerem 
Dünkel Air höher und werthvoller als den Wurm, und betrachtet 
den Process nur darum als Entwickelung, weil er bei ihm mündet. 
Diese Ansicht ist die streng folgerichtige Gonsequenz einer Natur- 
betrachtung, welche vom Geist als dem Zweck der Natur abstrahirt 
Sieht man davon ab, dass der Menschengeist höher und werthvoller 
ist als der Geist eines Wurmes, und dass der Menschenleib als 
Mittel des Menschengeistes höher und werthvoller ist als der Leib 
des Wurmes, der nur Mittel für einen Wurmgeist ist, so schwindet 
in der That jede Berechtigung, den menschlichen Organismus wegen 
seiner grösseren Complication und Arbeitsteilung als etwas Höheres 
wie den einfacher combinirten, aber dem Dasein ebenso gut an- 
gepassten Organismus des Wurmes hinzustellen. 

Nr. 19 (S. 59): Von vielen Gliedern erkennen wir diese Not- 
wendigkeit sehr wohl, z. B. von der Pflanzenwelt; von vielen an- 
deren können wir solche bisher nur vermuthen; von allen übrigen 
können wir sie wenigstens nach dem gegenwärtigen Stand unserer 
Kenntnisse nicht a priori verneinen, — im Gegentheil lässt das 
zum Verständniss der makrokosmischen Harmonie erweiterte Gorre- 
lationsgesetz des Darwinismus uns a priori daran festhalten, dass 
kein Glied im Haushalt des Universums entbehrlich ist, wenn die 
für das Leben des Geistes wesentlichen Theile desselben nicht in 
einer ihre Zweckmässigkeit schädigenden Weise correlativ alterirt 
werden sollen. 

Nr. 20 (S. 59): Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus 
und Hegelianismus" S. 217—224 u. 226—227« Wir wissen nicht, 
ob die Knorpelfische allein das Gleichgewicht des maritimen Haus- 



294 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

halte bei der heutigen Beschaffenheit des Meerwassers noch auf- 
recht zu erhalten im Stande sein würden, und ob für diesen Zweck 
nicht die Entstehung der Knochenfische nothwendig war. 

Nr. 21 (S. 60): Die Ph. d. U. hat nicht beansprucht, die 
Wahrscheinlichkeit davon zu erweisen, sondern nur die 
Möglichkeit denkbar zu machen. 

Nr. 22 (S. 60) : Diese Behauptung wird hinfällig mit der angeb- 
lichen unheilbaren Schädigung der Teleologie durch die Descendenz- 
theorie. Die Ph« d. U. sucht zu beweisen, dass wir uns mit einer 
an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überzeugt halten 
dürfen, dass der Process einen absoluten Zweck habe, und diese 
Wahrheit bleibt ganz unberührt von allen Meinungsverschieden- 
heiten darüber, erstens was -dieser Zweck sei, und zweitens, wie 
er schliesslich werde erreicht werden. Die Ph. d. U. sucht als 
wahrscheinlich zu erweisen, dass der Endzweck die Ueberwindung 
des Unlogischen durch das Logische sei, und dass dieser Endzweck 
durch den Act einer Universalwillensverneinung werde erreicht 
werden. Wer weder diesen Ansichten beipflichen, noch sich andere 
bestimmte Ueberzeugungen über beide Fragen zu bilden vermag, 
filr den bleibt darum doch die Wahrheit unerschüttert bestehen, 
dass der Weltprocess einen absoluten Zweck haben müsse; es 
bleibt einem solchen nichts übrig, als sich zu bescheiden und abzu- 
warten, dabei aber ebenso, als ob ihm das Was des Endzwecks be- 
kannt wäre, diejenigen unbewussten Mittelzwecke zu Zwecken seines 
Bewusstseins zu machen, welche als Zwecke desProcesses von uns 
inductiv erkannt werden, obschon wir in ihnen keinen Selbstzweck 
oder Endzweck zu sehen vermögen (vor Allem also die Steigerung 
des bewussten Geisteslebens). Dass die für einen solchen ver- 
bleibenden Schwierigkeiten auf keine Weise dadurch gelöst werden 
können, dass man das Dasein als Grund und Zweck des Processes 
annimmt, geht zur Genüge aus Anm. 17 u. 18 hervor. 

Nr. 23 (S. 60): Vgl. Ph. d. U. II. 401—402. Die Ph. d. ü. 
constatirt drei denkbare Fälle : 1) Universalwillensverneinung durch 
die Menschheit, 2) Universalwillensverneinung durch andere Ent- 
wickelungsformen des bewussten Geistes, 3) allseitiges Missglttcken 
der teleologisch angestrebten Universalwillensverneinung. In den 
Fällen 2 und 3 behalten die hier für die Erde und ihre Bewohner 
gezogenen Consequenzen ihre volle Giftigkeit Die Ph. d. U. urgirt 



Anmerkungen zu Gap. III und IV. 295 

aber, dass die Menschheit, so lange sie nicht als unzureichend zum 
Erlösungswerkzeug erwiesen ist, sich so verhalten müsse, als ob ihr 
die Erreichung des Endzwecks gelingen müsse, und auch für den 
Fall, dass dies ein Irrthum wäre, bleiben teleologische Perspectiven 
offen, dass diese Arbeit der Menschheit dem Endzweck, wenn nicht 
directy so doch indirect zu Gute kommen könne (vgl. „Neukant., 
Schop. u. Hegelianismus" S. 232—235). 

Nr. 24 (S. 62) : Vgl. dagegen Ph. d. ü. IL 405—406. 

Nr. 25 (S. 62) : Diese Behauptung ist bisher mindestens ebenso 
unerwiesen wie ihr Gegentheil ; aber auch wenn die Annahme von 
der zahllosen Vielheit gleichzeitiger Schauplätze eines höheren be- 
wussten Geisteslebens richtig wäre, so bliebe doch die Möglichkeit 
offen, dass in einer von uns noch nicht geahnten Weise die Paitial- 
arbeitsleistungen aller dieser Theile des geistigen Universums alle 
oder doch grösstenteils in einen Strom der geistigen Entwickelung 
zusammenfliessen. 

Nr. 26 (S. 63): Vgl. „Neuk., Schop. u. Hegelianismus" S. 234. 

Nr. 27 (S. 63): Hierbei ist stillschweigend die Unmöglichkeit 
vorausgesetzt, dass die irdische Entwickelung jemals in den Strom 
einer Entwickelung von höherer Individualitätsstufe einmünden und 
in letzterer aufgehobenes Moment werden könne. Uns scheint dies 
bis jetzt ungefähr ebenso unglaublich und fabelhaft, wie vor hundert 
Jahren die Behauptung, dass zwei Personen in Berlin und New- York 
mit nicht nennenswerthem Zeitverlust sich schriftlich unterreden 
können, oder wie vor einem Menschenalter die Prophezeiung er- 
schienen wäre, dass man die fernen Urnebel des Himmels einer 
chemischen Analyse unterwerfen und die Bewegungsgeschwindigkeit 
eines auf die Erde zu oder von dieser hinweg sich bewegenden 
Fixsterns werde messen können. 

Anmerkungen zn Capitel IT. 

Nr. 28 (S. 66) : Auch wenn die gemachten Voraussetzungen richtig 
wären, würde keineswegs die ganze Platonische Ideenwelt ihrer 
Stützen beraubt, sondern nur insofern sie die Typen der Organismen 
als Naturideen und als Mittel zur Verwirklichung der Geistesideen in 
sich enthalten sollte. Es ist eben in diesem Satze das einschränkende 
„Insofern 1 ' des vorhergehenden Satzes ausser Acht gelassen. 



296 Anmerkungen iur zweiten Auflage. 

Nr. 29 (S. 67): Wenn die Teleologie in irgend welcher Ge- 
stalt (gleichviel ob mit oder ohne metaphysische Eingriffe) bestehen 
bleibt, so bleibt es auch wahr, dass alles causal Entstehende in 
teleologischer Hinsicht vorherbestimmt, d. h. ideell anticipirt, oder 
vor seiner Verwirklichung als blosse Idee (wenn auch nur implicite 
in den jeweilig actualisirten anderen Ideen) gegeben gewesen ist. 
Auch hier treffen wir auf den Fehlschluss, als ob die causale oder 
mechanische Yermittelung der Resultate ihre ideale Bedeutung und 
ihre teleologische Prädetermination irgendwie ausschlösse oder auch 
nur weniger wahrscheinlich machte. Dass die Atome nicht in der 
Lage sind, die Resultate ihres gesetzmässigen Zusammenwirkens 
ideell zu anticipiren, wird gewiss jeder zugeben. Wenn aber die 
Atomfunctionen als solche die idealen teleologischen Anticipationen 
nicht in sich enthalten können, so folgt daraus nicht, dass letztere 
nicht in anderweitigen Functionen desselben all-Einen Unbewussten 
enthalten sein können, von welchem auch die Atomwirkungen nur 
Functionen besonderer Art sind, und es ist für diese Frage ganz 
indifferent, ob die Realisation jener idealen Anticipationen allein 
und ausschliesslich durch das gesetzmässige Wirken der Atomkräfte 
(als zureichendes Mittel für den Zweck) herbeigeführt wird, oder 
ob dieselbe erst durch ein Zusammenwirken der Atome mit ander- 
weitigen Functionen des All-Einen von höherer Ordnung zu Stande 
kommen kann. (Vgl. oben „Allgemeine Vorbemerkungen" Nr. 6: 
„Mechanistische und idealistische Naturphilosophie.") 

Nr. 30 (S. 68) : Vgl. oben „Allg. Vorbem." Nr. 5 : „Theoretischer 
und praktischer Idealismus" und „Neuk., Schop. u. Hegelianismus" 
S. 82—116. 

Nr. 31 (S. 71): Hinsichtlich der Stimmung ist diese Behauptung 
nicht zutreffend, wie schon die im Text folgenden Citate zur Ge- 
nüge beweisen. Hinsichtlich der Interessen ist sie mindestens un- 
genau zu nennen, wie aus der zweitfolgenden Seite des Textes 
hervorgeht; in Wahrheit ist auch hier die Plausibilität des Ein- 
wands nur eine scheinbare. 

Nr. 32 (S. 72): Die körperliche Vermittelung habe ich nie in 
Abrede gestellt, in dieser Hinsicht ist also obige Behauptung (S. 54) 
ungenau; ist aber der körperliche Vorgang dabei nur Vermittelung, 
so muss sie doch Vermittelung von etwas Unkörperlichem sein. 
Dies ist eben das Willensinteresse oder die Intention ; da diese eine 



Anmerkungen zu Cap. IV. 297 

bestimmte ist, muss sie auch idealen Inhalt haben. Folglich sind 
Wille und Vorstellung gleichermaassen prima intentione unkörperlich 
zu denken, unbeschadet der Notwendigkeit irgend welcher körper- 
licher Vermittelung zur Realisirung dieser Intentionen. 

Mr. 33 (S. 73): Die Annahme dieser Vermittelung macht die 
immateriellen Willensimpulse keineswegs überflüssig. Das Gross- 
hirn kann den Aufmerksamkeitsstrom nach den Sinnesganglien und 
peripherischen Sinnesorganen entsenden, wer entsendet aber den 
Aufmerksamkeitsstrom innerhalb der Gedächtnisssphäre des Gross- 
birns, es sei denn ein immaterieller Impuls, welcher nicht bloss die 
Spannkraft auslöst, sondern auch derselben ihre Richtung anweist? 
Denn thatsächlich tastet die Aufmerksamkeit nicht blind wie eine 
Raupe, sondern in glücklichen Augenblicken wahrhaft ingeniös, 
d. h. hellsehend. Die schöpferische Conception ist noch etwa* ganz 
anderes, als blosse Direction der Aufmerksamkeit ; sie ist eine Wirk- 
samkeit neuer logischer Verknüpfungen, welche erst dadurch, dass 
sie unbewusst thätig waren, nachträglich auch zum Bewusstsein 
kommen. (Vgl. Ph. d U. I. 402 — 6). Das gedankenlose Alltags- 
denken fährt freilich in ausgetretenen Geleisen, aber dieses mecha- 
nische Nachdenken ist nur dadurch so commode geworden, dass es 
seinerzeit auf geniale, schöpferische Weise vorgedacht worden ist 
Dieses schöpferische selbstständige Denken allein ist Denken zu 
nennen. Dieses allein ist es, um dessen Erklärung es sich handelt 
In Modificationen der angelernten Gedankencombinationen bethätigt 
sich aber auch dieses selbstständige Denken bei jedem Menschen 
mehr oder minder. 

Nr. 34 (S. 75): Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus 
und Hegelianismus" S. 300—302. 

Nr. 35 (S. 76) : Diese Bemerkung über das Wesen der Schwelle 
erlaube ich mir den Physiologen zu besonderer Beachtung zu em- 
pfehlen. 

Nr. 36 (S. 79): Vgl. Ph. d. U. I. 392. Dietrich hat in seiner 
Schrift „Philosophie und Naturwissenschaft" diese Darlegungen als 
nothwendige, wenn auch von Haeckel noch uneingestandene Conse- 
quenzen des Haeckerschen Standpunktes aufgeführt und Haeckel 
hat in seiner neuesten Schrift: „Die Perigenesis der Plastidule" 
S. 37—38 sich nunmehr selbst mit Entschiedenheit zu dieser Hypo- 
these bekannt, welche unter Anderen auch von Zöllner, Aloys Riehl 



298 Anmerkungen cor zweiten Auflage. 

und Carl du Prel vertreten wird. Hylozoismus wird diese Lehre 
erst dann, wenn man die als lebendig wollend und empfindend 
aufgefassten Atome verselbstständigt, von ihrem gemeinsamen sub- 
stantiellen Kern (dem nnbewussten absoluten Geist) losreisst und 
an nnd fllr sich als zureichende Ursache alles höheren geistigen 
Lebens betrachtet. 

Nr. 37 (S. 79): Ph. d. ü. L 380—385, 391—392, 432^433. 

Nr. 38 (S. 80): Vgl. auch Dubois-Reymond „Ueber die Grenzen 
des Naturerkennens" (Leipzig 1872). 

Nr. 39 (S. 86): Vgl. die Zusätze der 5. und 7. Aufl. der Phil, 
d. ü. n. 37—38 und 468—471. 

Nr. 40 (S. 86) : Unberechtigt erscheint diese Gegenüberstellung 
der Materie (als Einheit der objectiven und subjectiven Seite an 
ihr) und des individuellen nnbewussten Geistes (als Summe der 
hinzukommenden psychischen Functionen über die Innerlichkeit der 
Atome hinaus) nur dann, wenn man letztere schlechtweg leugnet. 
Ist aber diese Leugnung unberechtigt, so ist jene Gegenüberstellung 
eine berechtigte, welche auf den höheren Individualitätsstufen eine 
Analogie bildet für die Gegenüberstellung von Atomen unter einan- 
der auf der untersten Individualitätsstufe. (Vgl. Fh. d. U. IL 35 — 40 
u. „Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus" S..353 — 354 u. 360—361). 

Nr. 41 (S. 86) : Für die Atomempfindung erkennt die Ph. d. U. 
dies an; für höhere Stufen der Individualität folgt das nicht aus 
der Art und Weise, wie sich die Sache bei den untersten gestaltet 

Nr. 42 (S. 86): Dass ein Individualbewusstsein höherer Ordnung 
ein Summationsphänomen aus Individualbewusstseinen niederer Ord- 
nung ist, erkennt die Ph. d. U. allerdings an, aber die Frage ist, 
ob es ein blosses Summationsphänomen ist, oder ob noch etwas 
Höheres hinzukommen muss. 

Nr. 43 (S. 86): Es ist begreiflich, wenn auf einem Standpunkt, 
der das organische Individuum höherer Ordnung als blosses Com- 
binationsresultat aus Atomkräften ohne hinzukommende höhere 
Functionen des AU-Einen betrachtet, auch versucht wird, das Be- 
wusstseinsindividuum höherer Ordnung als blosses Summations- 
phänomen aus Individualbewusstseinen niederer Ordnung zu begreifen, 
obwohl dabei die in der nächsten Anmerkung zu besprechenden 
Schwierigkeiten ausser Acht gelassen werden. Wenn aber umgekehrt 
für das organische Individuum höherer Ordnung ein über die zu- 



Anmerkungen zu Cap. IV. 299 

sammenwirkenden Atomkräfte hinzukommendes Plus, ein organisi- 
rendes Princip, ein dirigirendes und einigendes Centrum, ein Strahlen- 
bttndel von Functionen des All-Einen, die höherer Ordnung sind 
als die Atomkräfte, ein psychischer Träger für die Zwecke der 
höheren Individualitätsstufe einmal ohnehin als nothwendig erkannt 
worden ist, dann erscheint es auch selbstverständlich, dass man bei 
der Frage nach dem, die vielen Bewusstseinsstrahlen niederer Ord- 
nung zum Individualbewusstsein höherer Ordnung einigenden Hohl- 
Spiegel, diese bereits individualisirte Summe psychischer Functionen 
nicht tiberspringt. (Vgl. Ph. d. ü. I. 395—396). 

Nr. 44 (S. 88): Die Deduction ist richtig, aber sie tiberspringt 
eine Stufe. Die Einheit des Bewusstseins soll sein 1) eine inner- 
liche, 2) in der Sphäre der Individuation gelegen. Die Leitung ist 
ersteres nicht, die Einheit der absoluten Substanz letzteres nicht. 
Beide sind allerdings nothwendige Bedingungen für die Entstehung 
des Bewusstseins, aber sie erschöpfen die Summe der nothwendigen 
Bedingungen der Entstehung des Bewusstseins nicht. Es gehört 
drittens dazu als Hauptsache eine functionelle psychische Einheit, 
wie das organisirende Princip oder der Träger des Individualzwecks 
sie bietet, denn diese erst ist innerlich und zugleich noch in der 
Sphäre der Individuation belegen. Ein Naturalismus, wie er im Text 
vertreten wird, gleichviel ob er nach der materialistischen, hylozoisti- 
schen oder monistischen Seite gewendet wird, ist der Tod alles 
Individualismus in demselben Grade, wie es der alles verschlingende 
dialectische Process Hegels nur irgend sein kann. Gegen diese 
extreme Einseitigkeit muss die individualistische Beaction mit vollem 
Rechte ihr Haupt erheben (vgl. z. B. Lazar B. Hellenbach's „Phil, 
d. gesund. Menschenverstandes"), wenngleich sie ihrerseits wiederum 
in das entgegengesetzte Extrem fällt, die centralen psychischen 
Functionen in den Individuen höherer Ordnung als ebenso unzer- 
störbar für die Dauer des Weltprocesses anzusehen wie die psychi- 
schen Functionen in den Individuen niedrigster Ordnung, Die Ph, 
d. U- hält auch in dieser Frage die rechte Mitte und vermeidet 
beide Einseitigkeiten (vgl. Ph. d. U. II. 254—256). Sie schreibt 
die Constanz für die Dauer des Weltprocesses (welche die Voraus- 
setzung für die Constanz der Naturgesetze bildet) nur den Individuen 
unterster Ordnung zu, in deren gesetzmässigem Zusammenwirken 
die höheren Individualitätsstufen ihre natürliche Basis und teleologische 



300 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

Vermittelung finden, und betrachtet die individualisirten Strahlen- 
btindel des All-Einen, welche auf die Zusammenfassung der Indivi- 
duen niederer zu solchen höherer Ordnung gerichtet sind, also 
einerseits das activ organisirende, andererseits das receptive psy- 
chische Centrum für die höhere Individualitätsstufe bilden, bloss als 
functionelle Individualisationen ad hoc, welche keinen über die 
Lebensdauer des organischen Combinationsresultates hinausgehenden 
individuellen Bestand haben. Hierdurch behält sie einerseits die 
nöthige Fühlung zwischen der physiologischen und psychologischen 
(ethischen etc.) Betrachtung des menschlichen Individuums und ent- 
geht andrerseits den nutzlos heraufbeschworenen Schwierigkeiten, 
in welche die Annahme einer den Atomen gleichkommenden Constanz 
der Individualseelen angesichts der negativen Ergebnisse der Er- 
fahrung in dieser Richtung verwickelt. 

Nr. 45 (S. 89): Eine blosse Passivität eines zum Zustande- 
kommen eines gewissen Resultats unentbehrlichen Factors ist ein 
philosophisch unzulässiger Begriff. Auch die anscheinend ganz 
passive Perception ist nothwendig eine active Function, bei welcher 
nur die Activität als solche sich dem Bewusstsein entzieht. Die 
Perception eines Individualbewusstseins höherer Ordnung setzt 
ausser den zu percipirenden Empfindungen der umspannten 
Individualbewusstseine niederer Ordnung nothwendig noch eine ein- 
heitliche unbewusst-psychische Function voraus, welche die niederen 
Bewusstseinsinhalte in den Brennpunkt des einen sie umspannenden 
Bewusstseins vereinigt. Dass diese Function ebensogut wie die 
primitivste Atomempfindung Function des All-Einen ist, ist selbst- 
verständlich ausser Frage; aber worauf es hier ankommt, das ist, 
einzusehen, dass die unbewusst-psychische Function des All-Einen, 
welche die einheitliche Perception des Bewusstseins in mir bewirkt, 
eine numerisch und zum Theil auch inhaltlich verschiedene ist von 
derjenigen Function, welche die entsprechende Perception in einem 
andern Menschen erzeugt. Alle menschlichen Bewusstseine ruhen 
so gut wie alle Atombewusstseine schliesslich auf der einen Wand 
des Absoluten, oder sind Functionen des Einen absoluten Subjects; 
aber erstens ist letzteres in diesen Functionen keineswegs passiv, 
sondern activ, und zweitens sind seine bezüglichen Thätigkeiten 
nicht Thätigkeiten seiner qua Absoluten, sondern fallen schon in 
die Sphäre der Individuation hinein, so gut wie die Atomkraft- 



Aumerkungen zu Cap. IV. und V. 301 

äusserungen oder die individuellen organisirenden Functionen. Ihre 
Individualisirung besteht in allen Fällen darin, dass sie sieh auf 
concrete Gruppen bestimmter Atome beziehen. 

Nr. 46 (S. 90): Bei dieser Argumentation liegt die stillschwei- 
gende Voraussetzung zu Grunde, dass das Subject einer concreten 
Bewusst werdung das Unbewusste als AU-Eines sei; diese Voraus- 
setzung ist aber, wie wir schon in der vorhergehenden Anmerkung 
sahen, nicht weniger als eine Ignorirung der Individuation, und es 
würde aus ihr ebenso gut zu beweisen sein, dass alle Empfindungen 
in der Welt in einem und demselben Bewusstsein aufgehoben sein 
müssen. Da dieser Schluss thatsächlich unrichtig ist, da die Be- 
wusstseine individuell getrennte sind, so muss auch die Voraus- 
setzung, aus der er folgt, unrichtig sein. Damit werden auch die 
anderweitigen Folgerungen hinfällig. Bewusstseinssubject ist das 
Unbewusste niemals als AU-Eines, sondern nur als Träger der con- 
creten, Widerstand findenden Function. Für diese Function aber 
ist der vorgefundene Widerstand oder die erlittene Repression 
allerdings ein fremder äusserer Zwang, ganz genau so wie Air 
einen bestimmten Atomwillen der vorgefundene Widerstand eines 
andern Atoms ein fremder äusserer Zwang ist. 

Anmerkungen zu Capitel V. 

Nr. 47 (S. 93): Bedingt, ja; verursacht, nein. 

Nr. 48 (S. 94): Motiv und Vorstellung bestehen nicht in 
Hirnschwingungen, sondern sind von solchen begleitet und bedingt. 

Nr. 49 (S. 95) : Auch diese Differenz findet ihren erschöpfenden 
Ausdruck in der Formulirung: ist der Gesammthirnwille blosses 
Summationsphänomen aus Atomwillen, oder Summationsphänomen 
aus Atomwillen plus Individual-Zellenwillen plus Individualganglien- 
willen plus Individual-Hirntheilwillen? 

Nr. 50 (S. 96): Unstreitig; ob es aber bloss dies ist, das ist 
hier wie dort die Frage, und zwar hier in doppeltem Sinne : erstens 
in wie weit die Anregung der bestimmten, das Summationsphänomen 
constituirenden Hirnzellen, oder doch einzelner unter ihnen, aus 
unbewussten psychischen Einflüssen entspringt, und zweitens, ob 
nicht ein actuelles Wollen, das nicht das Wollen eines Atoms oder 
einer Summe von Atomen ist, schon in das Zellenwollen und noch 



802 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

mehr in das Hirnwollen als integrirender Bestandteil mit eingeht, 
unbeschadet dessen, dass die äusseren motorischen Actionen des 
Organismas als mechanische Arbeitsleistang lediglich aas Summations- 
phänomenen von Atomen resultiren. 

Nr. 51 (S. 97): An der That ist zu unterscheiden die mecha- 
nische Arbeitsleistung and die Gestalt, in welcher sie sich darbietet. 
Erstere resultirt nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft nur aas 
Atomkräften, in letzterer aber findet neben jener auch das psychische 
Wollen seinen Ausdruck, welches als solches nicht mechanische 
Kraft ist, also auch nicht mit dem Maass mechanischer Aequivalente 
messbar sein kann (vgl. Ph. d. Unb. I, 393 — 394). Mechanische 
Maassstäbe bestehen immer in Atomkräften and können darum auch 
wieder nur ihres Gleichen messen, d. h. Combinationsresultate aus 
Atomkräften , aber nicht ein geistiges Wollen , das über die räum- 
lichen mechanischen Kraftwirkungen der Atomwillen hoch hinaus- 
liegt. 

Nr. 52 (S. 97): D. h. die psychische Innerlichkeit der Indi- 
viduen niederer Ordnung ist conditio sine qua non für die Entstehung 
eines Bewusstseinsindividuums höherer Ordnung. Sehr richtig; nur 
darf man nicht Bedingung mit zureichende Ursache verwechseln. 

Nr. 53 (S. 98) : Dieser Notwendigkeit wird man darum niemals 
überhoben, weil die Individualwillen der Individuen niederer Ordnung 
selbstsüchtig sind, d. h. ihre eigenen Individualzwecke verfolgen, 
und ausserhalb dieser Willen ein Wille da sein muss, der ihren 
centrifugalen Parti.cularismus bändigt und der Bealisirung der 
Zwecke des Individuums höherer Ordnung dienstbar macht (Ph. d. 
Unb. I. 394 — 395). So lange die gesetzmäßige Herrschaft dieses 
höheren Willens, der zugleich das psychische Centrum des Indivi- 
duums höherer Ordnung repräsentirt, in voller Kraft besteht, so lange 
ist das Individuum organisch gesund; sobald diese teleologische 
Herrschaft des lndividual willens höherer Ordnung ihre Macht ein- 
büsst, gewinnen die selbstsüchtigen Tendenzen der Individuen niederer 
Ordnung die Oberhand und die Krankheit ist da. Krankheit ist 
nichts weiter als organische Anarchie. Dieser Begriff der Krankheit 
ist eine nothwendige Consequenz von der Einsicht in den Aufbau 
der Organismen aus Individuen verschiedener Ordnung; er findet 
sich schon in Virchow's Cellularpathologie bei Gelegenheit des 
Parasitismus angedeutet (vgl. Ph. d. Unb. IL 138), und in der That 



Anmerkungen zu Gap. V. 303 

« 

ist der Parasitismus ein Gebiet, wo die organische Anarchie d. h. 
der krankhafte Sieg der centrifugalen Tendenzen besonders deutlich 
zu Tage tritt. Die ganze Pathologie wird aber einen Umschwung 
erfahren, wenn dieser Begriff der Krankheit durch alle ihre Gebiete 
durchgeführt wird. Hiergegen sträubt sich bis jetzt das materia- 
listische Vorurtheil der heutigen Medicin, dem jede teleologische 
Herrschaft, jede planvolle Verfassung in der Wechselwirkung 
der Individuen verschiedener Ordnung zuwider ist. Die mecha- 
nistischen Vorurtheile der herrschenden Physiologie werden aber 
den Sieg der Wahrheit auf dem Felde der Pathologie nicht 
aufhalten können, und wie das Verständniss der pathologischen 
Zustände so oft schon bahnbrechend gewesen ist für die bessere 
Einsicht in die physiologischen Zusammenhänge, so wird auch der 
berichtigte Begriff der Krankheit neues Licht bringen in das Leben 
des gesunden Organismus. Ist die Krankheit Anarchie in Folge 
der egoistischen, d. h. centrifugalen Tendenzen irgend welcher 
Individuen niederer Ordnung, so muss die Gesundheit Euarchie sein, 
und zwar kann dann das Archon dieser planvoll geordneten Herr- 
schaft nicht mehr in Individuen niederer Ordnung gesucht werden, 
sondern nur in einem selbstständigen Individualwillen höherer Ord- 
nung. Denn die Individualwillen niederer Ordnung sind ja das, 
dessen Sieg die Krankheit erzeugt; jeder von ihnen ist ausserdem 
theilweise Combinationsresultat aus Individualwillen noch tieferer 
Stufe; zuletzt von Atomen, deren jedes wieder seinerseits selbst- 
süchtige Tendenzen verfolgt. Das Archon kann also weder ein 
einzelner Atomwille, noch ein selbstständiger Individualwille niederer 
Ordnung, noch auch ein Combinationsresultat aus Atomwillen und 
anderen selbstständigen Individualwillen niederer Ordnung sein, 
sondern es muss ein selbstständiger Individualwille höherer Ordnung 
sein, der alle diese ihm unterstehenden Willen so leitet und lenkt, 
dass sie ihre Energie nicht zu selbstsüchtigen Partialinteressen ver- 
wenden, sondern den höheren Individualzwecken dienstbar machen. 
Es gilt für die Physiologie, sich des alten Aristotelischen Grund- 
satzes zu erinnern, dass im Organismus das Ganze früher ist als 
die Theile, und diese bestimmt; dies kann beispielweise durch 
Ausbau des sogenannten Gorrelationsgesetzes geschehen, das wesent- 
lich ein moderner Ausdruck dieses Gedankens ist, und selbst in 



304 Anmerkungen cur «weiten Auflage. 

seiner Darwinistischen Verwendung eine deutliche Ahnung von 
der tibergreifenden Macht des Ganzen über seine Theile zeigt 

Nr. 54 (S. 99) vgl. die vorhergehende Anmerkung (Nr. 53). 

Nr. 55 (S. 100): In der That sind es indirecte Schlüsse, wenn 
wir uns genöthigt sehen, erstens Individualwillen der Individuen 
verschiedener Ordnungen zu statuiren, zweitens die theilweise Gegen- 
sätzlichkeit der von diesen Willen verfolgten Individualzwecke nie- 
derer und höherer Ordnungen anzuerkennen, und drittens daraus zti 
folgern, dass die Willensträger der Individualzwecke höherer Ord- 
nungen nicht in einem oder mehreren Individuen niederer Ordnung 
gesucht werden können. Die vollständige wissenschaftliche 
Induction restituirt auch hier in dem, worauf es praktisch ankommt, 
den unmittelbaren naiven Glauben des theoretischen Insüncts ebenso 
wie in der Frage nach den Dingen an sich (vgl. meine Schrift über 
„Kirchmann's erkenntnisstheoretischen Realismus" S. 47 — 48). 

Nr. 56 (S. 100): Jede Zellengruppe, die mit einer bestimmten 
Prädisposition behaftet ist, repräsentirt in dieser Hinsicht ein 
Individuum von tieferer Stufe als der Hirntheil, dem sie angehört, 
aber von höherer als die Zellen, aus denen sie besteht. Demnach 
gilt für jede specifische Disposition das, was wir allgemein für das 
Verhältniss des Individualwillens höherer Ordnung zu dem Combi- 
nationsresultat aus den Individualwillen niederer Ordnung festgestellt 
haben. Ist die fragliche Gruppe von Zellen in einem oder mehreren 
Hirntheilen verstreut und in andern Beziehungen ala dieser einen 
nicht zur functionellen Einheit zusammengefasst, so wird man sie 
zwar nicht im strengeren Sinne als Zwischenstufe der Individuali- 
sation auffassen können, aber es werden nichtsdestoweniger gewisse 
Functionen der höheren Individualisationsstufe , welcher sie als 
integrirender Bestandteil angehört, auf sie gerichtet sein, also das 
bei der Reaction einer solchen Hirndisposition hervortretende Wollen 
allemal als Product aus dem Combinationsresultat der Zellenwillen 
einerseits und der hinzukommenden Bethätigung des Individual- 
willens höherer Ordnung andrerseits zu betrachten sein. Dass die 
Hirnprädisposition nicht der Trieb selbst, sondern nur die natürliche 
Vermittelung, die materielle Basis oder der technische Behelf für den 
psychischen Trieb des Individualwillens höherer Ordnung ist, geht 
unwiderleglich daraus hervor, dass auch hier die actuelle Function 
der Erzeuger der materiellen Disposition, also das Prius der 



Anmerkungen zu Gap. V. 305 

letzteren ist, mitbin nicht, ihre Wirkung sein kann, wenngleich die 
Richtung der Aeusserung des Individualwillens höherer Ordnung 
durch die einmal eingegrabenen Prädispositionen rückwärts wieder 
mit beeinflusst wird. 

Nr. 57 (S. 101): Vgl. Anm. 51. 

Nr. 58 (S. 101): Naturgesetzmässig ist sowohl die Reaction 
des Individualwillens höherer als die desjenigen niederer Ordnung. 
Es ist ein Conflict zwischen den psychischen Trägern verschiedener 
Naturgesetze, in welchem kein absoluter, sondern nur ein relativer 
Sieg errungen wird. Der Sieg ist Eingriff in das, was sich bei 
Herrschaft des niederen Gesetzes allein vollzogen haben würde. 
(Vgl. „Wahrh. u. Irrth. im Darw." S. 166—170.) Dieses Eingreifen 
eines gesetzmässigen Individualwillens in die Leistungen der übrigen 
findet selbst auf ein und derselben Individuationsstufe beständig 
statt. Alle Körperatome würden sich zusammenballen zn einem 
Punkt, wenn nicht die zwischen ihnen vertheilten Aetheratome dnrch 
ihre gesetzmässige Abstossung eingriffen und einen stabilen Gleich- 
gewichtsznstand des Universums herstellten. Da aber die Kraft- 
wirkungen der Aetheratome doch anch nur Functionen des AU-Einen 
oder Unbewussten sind, so kann man in philosophischer Bedeweise 
mit vollem Recht sagen, dass das Unbewusste in die gesetzmässige 
Gravitation der Körperatome eingreift und deren Gonsequenzen ver- 
hindert. Wenn es einmal neben den Combinationsresultaten der 
Atomwillen noch selbstständige Individualwillen höherer Ordnung 
giebt, so ist es selbstverständlich, dass diese Willen bei ihrer Aeusse- 
rung eine Wirkung entfalten müssen, dass diese Wirkung eine 
gesetzmässige sein muss, dass die Gesetze, nach denen sie sich 
äussert, zwar logisch und teleologisch nothwendig, aber anderer 
Art sind als die Gesetze für die Wirksamkeit der Atomwillen, dass 
die Wirkung jener gesetzmässigen Aeusserungen der Individualwillen 
höherer Ordnung den Ablanf des Weltprocesses qualitativ anders 
gestalten muss, als er sich ohne ihre Mitwirkung gestaltet haben 
würde, und dass endlich dieses ihr Wirken, trotzdem es als Ein- 
greifen in das blosse Spiel der Atome erscheint, doch seiner Natur 
nach nicht nach mechanischen Aequivalenten gemessen werden kann, 
also nicht die Summe der im Universum vorhandenen mechanischen 
Kraft, sondern nur die Qualität ihrer Erscheinungsweise alterirt. 
Alles dies ist selbstverständlich, wenn es einmal selbstständige 

E. v. Hartmans, Dos Unbewusste. 2. Aufl. 20 



306 Anmerkungen sur zweiten Auflage. 

Individualwilien höherer Ordnung giebt; nur ob es solehe giebt, 
kann demnach in Frage kommen, nicht aber, oh sie, wenn sie 
existiren, anoh einen Antheil haben an der Gestaltung des Welt* 
processes, oder in denselben activ mit eingreifen. 

Nr. 59 (S. 101) : Da diese Auffassung eine schiefe Unterstellung 
war, fällt sie auch hier in sich zusammen (vgl. Ph. d. Unb. I 393 
bis 395). 

Nr. 60 (S. 101) : Nicht der Organismus ist dies alles, sondern 
das organisch-psychische Individuum, dessen objective Erscheinung 
der Organismus ist. 

Nr. 61 (6. 101): Keineswegs; vielmehr der Einheitspunkt des 
Individuums höherer Ordnung, also recht eigentlich das organisch- 
psychische Centrum des Organismus. 

Nr. 62 (S. 101): Wille ist das Genus, Kraft die Species; die 
Willensfunctionen des organisirenden Princips gehören eben nicht 
zu dieser Species Kraft, worunter hier nur die durch Kilogramm- 
meter messbare mechanische Straft der Atome verstanden ist Letz- 
tere ist selbst von den eventuellen räumlich wirkenden psychischen 
Willensäußerungen dadurch streng unterschieden, dass alle ihre 
Wirkungsrichtungen erstens geradlinig sind und zweitens sich nach 
rückwärts in einem mathematischen Punkte, dem sogenannten Sitz 
der Kraft, schneiden, während die psychischen Willensäusserungen, 
auch wenn sie räumliche Wirkungen erzielen, einer solchen Locali- 
sation in einem imaginären Ausgangspunkt der Energie entbehren 
(Ph. d. ü. II. 151 Z. 6 v. u. bis 152 Z. 1). 

Nr. 63 (S. 101) : Materielle Kraft und psychische Willensfonction 
sind als verschiedene Specien gar nicht zu summiren, so wenig wie 
drei Pfund und sieben Hexameter. Vergleichbar sind sie nur unter 
dem Gattungsbegriff, nicht unter dem Begriff der einen seiner beiden 
Specien, d. h. sie sind nur unter der Voraussetzung vergleichbar, 
dass man bei beiden Specien von deren specifischen Differenzen 
abstrahirt, also beim Willen die geistigen Beziehungen seines In- 
halts, bei der Kraft die mechanische Messbarkeit durch bewegte 
Massen ausser Acht lässt und sie als rein innerliche Intensitäten der 
functionellen psychischen Energie vergleicht. 

Nr. 64 (S. 102): In diesem Punkte ist die Ph. d. Unb. I. 146 
Z. 2 v. u. bis 147 Z. 1 correcturbedürftig: nicht der Wille direct 
ist der auslösende mechanische Impuls, sondern der zugeleitete Beiz 



Anmerkungen zu Cap. V. 307 

und der Wille ist nur mitbestimmend für die Art der aus- 
gelösten Beaction. Wie der Wille diesen Einfluss geltend macht, 
wissen wir nicht. Wenn ich vermuthungsweise äusserte, dass es 
durch Drehung von Moleculen in Centralstellen geschehe, so 
hatte ich dabei die Vorstellung, dass bei der ausserordentlichen 
Kleinheit der Molecule die zu ihrer Drehung nothwendige mecha- 
nische Kraft nur ein Differential der sonst in Betracht kommenden 
mechanischen Arbeitsquanten sei, also bei der Summirung der 
Kräfte = sei, d. h. das Gesetz der Erhaltung der Kraft nicht 
alterire. Es ist fraglich, ob das zulässig, und ich bestehe nicht 
darauf. 

Nr. 65 (S. 102): Wenn diese Impulse nicht von andrer mathe- 
matischer Ordnung sein können, so entfällt natürlich diese Hypothese 
als mit dem Gesetz der Erhaltung der Kraft im Widerspruch. 

Nr. 66 (S. 102): Da die vorangeschickte Bedingung nicht er- 
wiesen ist, so ist auch die Folgerung haltlos. 

Nr. 67 (S. 103): Nein, denn wenn der Anspruch fortfällt, dass 
der materielle Hirnprocess die vollständige Ursache sei, so tritt 
an Stelle der Concurrenz die gesetzmässige Cooperation. 

Nr. 68 (S. 103): Wenn aber diese Beseitigung eine übereilte ist, 
so bleibt der Versuch in seinem Recht, auch für die andere Species 
des Genus Wille, welche nicht mechanische Kraft ist, ein Analogon 
der Gonstanz des actuellen Weltwollens zu statuiren. 

Nr. 69 (S. 103): Nur deshalb, weil überall Bedingung und 
Ursache confundirt, und das Summationsphänomen sofort in ein 
blosses Summationsphänomen degradirt wird. 

Nr. 70 (S. 103): In der exclusiven Fassung dieses Gegensatzes 
(als Widerspruch) liegt eben der Irrthum. 

Nr. 71 (S. 104): Wille und Vorstellung konnten nur deshalb 
als blosse Summationsphänomene anerkannt werden, weil das Be- 
dürfniss nach selbstständigen Individualwillen höherer Ordnung, wie 
es in früheren Anmerkungen (Nr. 43 — 45 u. 53) gezeigt ist, ignorirt 
wurde. 

Nr. 72 (S. 104): Er ist vielmehr nur dessen objective Er- 
scheinung. 

Nr. 73 (S. 104): Vgl. „Neuk., Schop. und Hegelianismus" V. 

S. 354—359. 

20* 



308 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

Nr. 74 (S. 106): In diesem Complex sind aber auch die Func- 
tionen der niederen Individuen, welche den Organismus constituiren, 
mit inbegriffen ; die Summe der unbewussten psychischen Functionen 
höherer Ordnung im Gegensatz zu den Functionen der constituiren- 
den Individuen niederer Ordnung ist nur das Centrum, das alle 
übrigen zu einer Individualseele vereint, das Archon, das sie zur 
Bealisirung des höheren Individualzweckes zwingt (vgl. Änm. 53). 

Nr. 75 (S. 105): Substantielle Basis ist nur die absolute Sub- 
stanz, da aber nicht das Summationsphänomen, sondern nur das 
blosse Summationsphänomen von mir bestritten wird, da ich die 
Innerlichkeit der psychischen Individuen niederer Ordnung als in 
die der höheren eingehend anerkenne, so bleibt auch das hier 
über psychische Mauserung Gesagte richtig, und ist nur zu vervoll- 
ständigen durch die Erinnerung, dass die unbewussten psychischen 
Functionen höherer Ordnung immer nur Individualisationen ad hoc 
sind, d. h. nur veranlasst durch die Motivation aus der psychischen 
Innerlichkeit der Individuen niedrigster Ordnung und ihrer Summa- 
tionsphänomene. 

Anmerkungen zu Gapitel TL 

N. 76 (S. 106) : Um das dunkle Problem der Vererbung einigcr- 
maassen aufzuhellen, sind bisher drei Hypothesen aufgestellt worden: 
Darwin's Pangenesis, Elsberg's Präsentation der Plastidnle und 
Haeckel's Perlgenesis. Darwin nimmt an, dass in jedem Organismus 
alle Zellen zahllose Eeimchen erzeugen, welche im Strom der Er- 
nährungsflüssigkeit fortgeführt werden, und von denen ein voll- 
ständiges Assortiment zusammentritt, um in den Fortpflanzungszellen 
die Tendenz zur Vererbung aller Eigentümlichkeiten des ganzen 
Organismus materiell zu deponiren. Diese Hypothese hat aus ver- 
schiedenen Gründen keine Anhänger gefunden. Erstens glaubten 
die Mikroscopiker, dass ihnen solche Eeimchen nicht wohl voll- 
ständig entgehen könnten, wenn sie als organisirte Individuen ge- 
dacht werden sollten. Zweitens liess diese Annahme das Problem 
völlig unerklärt und verlegte es nur um eine Stufe rückwärts, 
nämlich aus der Uebertragung der Eigenschaften des elterlichen 
Organismus in das Ei zurück in die Uebertragung der Eigenschaften 
einer Zelle in ihre Keimchen, und fügte ausserdem die Schwierig- 



Anmerkungen zu Cap. VI. 309 

keit des richtigen Zusammenfinden der Keimchen in den Fort- 
pflanzungszellen neu hinzu. Drittens entsprach diese ganze Auf- 
fassung der Vererbung als einer rein stofflichen Uebertragung nicht 
der dynamischen Anschauungsweise, welche in der modernen Physik 
und Nervenphysiologie herrschend ist und mit der Umwandlung der 
sogenannten imponderablen Stoffe in verschiedene Undulationsformen 
begann. — Eisberg suchte das erste dieser Bedenken zu erledigen, 
indem er an Stelle der organisirten Eeimchen die organischen Mole- 
cule oder Plastidule einsetzte, die sich allerdings der mikroskopischen 
Beobachtung entziehen. Auch der zweite Einwand verliert dieser 
Aenderung gegenüber sein Gewicht, denn die Plastidule brauchen 
nicht mehr (wie Darwin's Eeimchen) von der Zelle gebildet zu 
werden, sondern sind die constituirenden Elemente derselben. Desto 
gewichtiger erhebt sich aber hier die bei Darwin's Hypothese nur 
nebenherlaufende Schwierigkeit, wie diese Plastidule, wenn sie sich 
wirklich aus den Zellen losgelöst haben, zu einer neuen Aggrega- 
tion in der richtigen Zahl und Auswahl gelangen sollen, oder wie 
die als constant gedachten organischen Molecule einer ganzen Vor- 
fahrenreihe es anfangen sollen, sich in dem heute entstehenden Keim 
eines neuen Individuums zusammenzufinden. Die so formulirte 
Schwierigkeit leitet unmittelbar auf das dritte der obigen Bedenken 
hin, dass es überhaupt nicht thunlich sei, die Vererbung der orga- 
nischen und psychischen Eigenthümlichkeiten durch stoffliche Ueber- 
tragung von materiellen Theilchen zu erklären, sondern dass es nur 
eine Art dynamischer Ansteckung sein kann, welche durch die mini- 
malen Zeugungsstoffe von der Materie des elterlichen auf diejenige 
des kindlichen Organismus vermittelt wird. — Diese zweifellos ge- 
botene Wendung nimmt Haeckel in seiner Hypothese der Peri- 
genesis,*) in welcher er von Eisberg die Plastidule als Träger der 
dynamischen Uebertragung übernimmt, aber unter Ablehnung sowohl 
der Pangenesis als der Präservation der Molecule als solchen. An 
Stelle der mit den Lehren vom Stoffwechsel im Widerspruch stehen- 
den Fortdauer der vererbenden Molecule tritt die durch sie ver- 
mittelte dynamische Uebertragung oder fermentartige Uebermittelung 
bestimmter Formen von Atomundulationen und Atomlagerungsver- 



*) Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebens- 
theilchen. Berlin, Reimer 1876. 



810 Anmerkungen aar zweiten Auflage. 

hältnissen ; an Stelle der Aggregation der verschiedenartigen Zellen- 
Plastidulen tritt ein Generationswechsel der Zellenarten, der sich bei 
der Weitsohiehtigkeit seines Cyklus als Strophogenesis bezeichnen 
lägst. Der Generationswechsel getrennt lebender Individuen wurde 
von Owen als Metagenesis bezeichnet Von hier aber führt ein 
flüssiger Uebergang zu solchen Fällen, wo die in wechselnder 
Generationsfolge stehenden Individuen nicht mehr räumlich getrennt 
und selbstständig leben, sondern zu einem Individuum höherer 
Ordnung verbunden bleiben (so z. B. bei den Siphonophoren im 
Gegensatz zu anderen Hydromedusen). Da auch bei den höchsten 
Organismen jede Zelle durch Zelltbeilung aus einer Mutterzelle ent- 
steht und schliesslich alle aus der befruchteten Eizelle hervorgehen, 
so sind alle Wachsthnms- und Beproductionsprocesse des Organismus 
unter dem Gesichtspunkt der Cellularphysiologie als Generationsacte 
von Zellen zu betrachten, die unter einander im Verhältniss eines 
weitschichtigen Generationswechsels stehen, so dass erst die Pro- 
duktion der Fortpflanzungszellen deren Cyklus schliesst. — Ohne 
Zweifel ist Haeckel mit dieser Auffassung auf dem allein richtigen 
Wege, nur ist einerseits vor dem Missverständniss zu warnen, als 
ob das Beschreiten des rechten Weges schon in irgend welchem 
Grade ein Erreichen des Zieles in sich schlösse, und andererseits 
darauf aufmerksam zu machen, dass die organischen Plastidule noch 
keineswegs mit Plasmamoleculen im chemischen Sinne zusammenzu- 
fallen brauchen, sondern vielleicht noch recht complicirte Verbin- 
dungen von Plasmamoleculen darstellen können. Endlich aber ist 
zu beachten, dass diese Auffassung der Vererbung als einer dyna- 
mischen Uebertragung im Cyklus eines mehr oder minder langen 
Generationswechsels von Zellen durchaus noch keinen Schimmer 
einer Erklärung für die Individualität höherer Ordnung bietet, zu 
welcher in höheren Organismen so zahlreiche Zellengenerationen 
zusammentreten. Ohne Zweifel sind die zum Zweck der Arbeits- 
teilung eintretenden Anpassungen und Variationen der Zellen oder 
Piastiden durch entsprechende Variationen ihrer constituirenden Ele- 
mente oder Plastidule bedingt; aber warum diese Variationen solche 
sind, dass aus ihrer Zusammenstellung die planvolle Einheit eines 
Organismus von höherer Individualitätsstufe resultirt, das bleibt 
dabei ein völlig unberührtes Problem. — Der entscheidende Punkt, 
durch welchen der reine Generationswechsel oder die Metagenesis 



Anmerkungen za Cap. VI. 311 

sich von der Fortpflanzung höherer Organismen unterscheidet, ist 
nicht die räumliche Trennung oder Vereinigung der verschieden- 
artigen Generationsfolgen, auch nicht die Selbstständigkeit oder Un- 
selbstständigkeit ihrer individuellen Lebenserhaltung, sondern die 
Selbstständigkeit oder Cooperation ihrer gegenseitigen Hervor- 
bringung. Zur Selbstständigkeit im letzteren Sinne gehört, dass 
jedes einzelne Individuum niederer Ordnung, also in letzter Instanz 
jede Zelle oder Plastide, befähigt ist, aus sich allein die Generations- 
folge an der ihr zukommenden Stelle des Cyklus fortzusetzen, ohne 
dazu der Mitwirkung irgend welcher anders gearteten Zellen zu be- 
dürfen. Es ist dabei begrifflich gleichgültig, ob eine solche Zelle 
zur Selbsterhaltung befähigt ist; nur darauf kommt es an, ob sie 
alle Bedingungen in sich vereinigt hat, um aus sich allein den 
Generationswechsel fortzusetzen, für den Fall, dass ihr die Basis 
ihres Individuallebens in reeller oder fingirter Weise sicher gestellt 
würde. In diesem Sinne kann nun aber von einem Generations- 
wechsel nur bei solchen Organismen die Rede sein, deren consti- 
tuirende Elemente noch in einer demokratischen Gleichberech- 
tigung neben einander stehen, d. h. wo noch kein Anlauf zu 
monarchischer Gentralisation genommen ist. In voller Strenge wird 
diese Bedingung nirgends erfüllt, weder bei Pflanzen noch bei Pro- 
tisten; denn wo immer Zellen ein Aggregat bilden, stellt sich auch 
Arbeitsteilung, mit dieser Wechselwirkung differenzirter Einflüsse 
auf einander, hiermit ein Unterschied in der Wichtigkeit dieser 
gegenseitigen Beziehungen der Zellen in Bezug auf den Gesammt- 
organismus, d. h. ein Uebergewicht einiger über die andern heraus, 
und das Vorhandensein solcher Wechselbeziehungen, welches wesent- 
lich auch die vegetativen Functionen betrifft, kann nicht umhin, sich 
auch auf die reproductiven Functionen zu erstrecken, die ja nur 
einen Theil der ersteren bilden. — Man wird sich denken müssen, dass 
auf den frühesten Entwickelungsstufen dieser Einfluss der übrigen 
Zellen auf die reproductiven Functionen einer jeden Zelle zunächst 
ein bloss auxiliärer ist, der zwar das Resultat begünstigt, aber unter 
Umständen auch entbehrt werden kann, ähnlich wie die Befruchtung 
bei der Entwickelung parthenogenetischer Eier oder ähnlich wie 
die Aggregation zu einer Golonie zunächst selbst nur eine faculta- 
tive, nicht obligatorische Bedingung für das Leben der betreffenden 
Zellen gebildet haben muss. Auf höheren Stufen der Organisation 



312 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

wird der gegenseitige Einfluss auf die reproductive Th&tigkeit der 
Zellen schon so weit vorgeschritten sein, dass die Summe der er- 
forderlichen Bedingungen zur Fortsetzung der Generationsreihe nicht 
mehr in irgend welcher einzelnen Zelle (mit Ausnahme der Fort- 
pflanznngszellen), sondern nur noch in einer grösseren Gruppe von 
Zellen gefunden werden kann, welche immerhin noch einen ziemlich 
kleinen firuchtheil des gesammten Organismus ausmachen kann, 
und unter denen es auch bisweilen eine einzige Zelle sein kann, 
welche mit dynamischer Unterstützung der übrigen die Reproduction 
tibernimmt. So werden z. B. bei gesteckten Begoniablättern neue 
Pflanzen aus einzelnen Epidermiszellen erzeugt, und kann fast jede 
peripherische Zelle eines Laubmooses zu Protonema auswachsen und 
somit durch Vermittelung der letzteren neuen Pflanzen den Ursprung 
geben (Strassburger, Studien über Protoplasma S. 49). Ob es 
richtig ist, dass bei Planarien der Organismus selbst aus ganglien- 
losen Stücken noch reproducirt werden kann, mag dahin gestellt 
bleiben; im Allgemeinen wird man annehmen müssen, dass, wo die 
Entwicklung des Nervensystems zu einiger Bedeutung gelangt ist, 
die dynamischen Einflüsse der Theile des Organismus auf einander 
ebensowohl bei der reproductiven, wie bei der nutritiven und mo- 
torischen Thätigkeit nicht ohne wesentliche Betheiligung der Nerven 
stattfinden, und dass die vegetativen Functionen der Zellen in mehr 
oder minder centralisirter Weise von Ganglienzellen oder Ganglien- 
knoten aus geleitet werden. So sehen wir bei den Anneliden die 
reproductiven Functionen von der unversehrten Erhaltung mindestens 
eines Ringes mit seinem Nervencentrum abhängig, und bei den Wirbel- 
thieren scheint die Reproductionsfähigkeit der Zellen nur bei peri- 
pherischen Substanzverlusten erhalten zu bleiben, welche die centrali- 
sirenden Functionen des einheitlichen Centralnervensystems intact 
lassen. — Je weiter also die Centralisation von demokratischer Coor- 
dination zu monarchischer Subordination vorschreitet, desto stärker 
zeigt sich auch empirisch der Einfluss der herrschenden Central- 
theile des Organismus in Bezug auf die reproductiven Functionen 
aer Zellen, desto mehr wird der reine Begriff des Generations- 
wechsels aufgehobenes Moment in einer höheren Form der Repro- 
duction, in welcher nicht mehr die einzelnen Zellen oder Piastiden 
als solche functioniren , sondern jede nur als Vollstrecker eines 
Auftrages erscheint, den sie von dem Individuum höherer Ordnung 



Anmerkungen zu Cap.VI. 313 

erhält, und den sie nur mit seiner activen Unterstützung vollziehen 
kann. Wie bei den willkürlichen Handlungen und wie bei der Er- 
nährung, so ist auch bei der Zellenvermehrung oder Fortpflanzung 
im weiteren Sinne vornehmlich das Nervensystem als der Träger 
der dynamischen Einflüsse anzusehen, welche der bewusste oder 
unbewusste Individualwille höherer Ordnung in ihm auslöst, um so 
seine Zwecke zu erreichen, d. h. seine Idee zu realisiren. — Wenn 
schon bei der Ernährung der Particularwille der einzelnen Zellen 
ein centrifugaler, den Individualzwecken höherer Ordnung entgegen- 
gesetzter ist, so ist das in noch höherem Grade bei ihrer Fort- 
pflanzungsthätigkeit der Fall; der Egoismus der Zelle neigt in der 
Ernährung zur Hypertrophie, in der Fortpflanzung zur Hyperplasie, 
in beiden Richtungen zur Mehrung ihres particulären Daseins ohne 
Rücksicht auf das Wohl des Gesammtorganismus. Es ist wahr, 
dass im Allgemeinen für das Wohl der Zellen am besten gesorgt 
ist, wenn sie Dir das Wohl des Gesammtorganismus sorgen, wie für 
das Wohl der Bürger im Ganzen am besten gesorgt ist, wenn sie 
für das Staatswohl sorgen; aber es wäre ein grosser Irrthum, zu 
glauben, dass diese Wahrheit als solche die Sonderinteressen und 
den Egoismus aufhöbe. Zunächst ist der Satz nur im Allgemeinen, 
im Durchschnitt wahr, nicht in jedem einzelnen Falle, da der Or- 
ganismus wie der Staat im Einzelnen von seinen Gliedern nur zu 
oft das Opfer individuellen Wohlseins und Daseins fordert ; der Satz 
kann also erst dann für den Particularwillen praktische Motivations- 
kraft erhalten, wenn die Zwecke des Ganzen im Voraus als die 
höheren anerkannt sind, welche ein Recht darauf haben, sich die 
Individualzwecke niederer Ordnung zu unterwerfen. Dieses Zu- 
geständniss setzt aber bereits jene Unterordnung des Eigenwillens 
unter höhere Zwecke, die nicht die eigenen sind, voraus, welche 
wir unter Sittlicheit verstehen, und auch das Vorhandensein von 
Sittlichkeit hindert nicht das zeitweilige oder stellenweise Ueber- 
gewicht des Egoismus, wie Verbrechen, Aufruhr u. s. w. im Leben 
des Staates beweisen. Dahei handelt es sich im Staat um intelligente 
Bürger, welche über den Zusammenhang ihres Privatwohls mit dem 
Gemeinwohl reflectiren können, während die Piastiden im Organismus 
zu solcher Reflexion ganz unfähig sind. Deshalb kann bei letzteren 
eine solche allgemeine Wahrheit in keiner Weise im Stande sein, 
ihren Egoismus durch Rücksichten auf das Gesammtwohl des Or- 



314 Anmerkungen zur «weiten Auflage. 

ganismus zu beschränken, und sie brauchen deshalb in noch weit 
höherem Grade eine active Regierangsgewalt wie die Bürger im 
Staat. — Diese Regierung wird nun grösstenteils durch die Nerven- 
centra vermittelt, welche auch die lebendige Kraft für die erforder- 
lichen dynamischen Einflüsse hergeben; aber die Nervencentra 
können diese Leistung nicht in eigenem Auftrage vollziehen, weil 
sie selbst auch nur Zellengruppen mit egoistischen Interessen bilden, 
— sie können nur der Gerichtsvollstrecker eines höheren Richters 
sein, des einheitlichen Individualwillens als psychischen Trägers der 
Individualzwecke höherer Ordnung. Insofern dieser höhere Wille sieh 
unmittelbar in den Zellen willen versenkt, erzeugt er in letzterem 
eine instinctive Sittlichkeit im Sinne des über die Individualzwecke 
niederer Ordnung übergreifenden Correlationsgesetzes, und diese Art 
des Einflusses wird besonders im Pflanzenreich wichtig sein, wo es 
an Nerven zur mechanischen Vermittelung dynamischer Einflüsse 
fehlt. Insofern solche directe oder indirecte Einwirkungen sieh 
öfters wiederholt haben, werden sich im Protoplasma der Piastiden 
moleculare Dispositionen zu fernerem ähnlichem Verhalten eingraben, 
und künftigen Einflüssen den Weg bereiten. Je länger aber der 
Cyklus des Generationswechsels der Zellen in höheren Organismen 
wird, desto schwieriger wird es, an eine rein mechanische Vererbung 
solcher Dispositionen zu glauben, welche durch zahllose Genera- 
tionen latent bleiben und endlich im rechten Moment durch Atavis- 
mus wieder hervortreten müssten. Die Auffassung der organisirenden 
Thätigkeit überhaupt muss auch für die Auffassung der organisiren- 
den Thätigkeit bei der Uebertragung von molecularen Dispositionen 
maassgebend sein. Besonders deutlich zeigt sich das Uebergreifen 
des Individualwillens höherer Ordnung bei Transmutationsprocessen; 
wenn hier die Portdauer der producirten Abweichungen, d. h. die 
Vererbung, nur als eine correlative Fortsetzung der teleologisch ge- 
richteten Variation, welche die Abweichung zuerst erzeugte, zu ver- 
stehen ist („W. u. I. im Darwinism." S. 103—108), so wird dasselbe 
auch für die Niederlegung von Prädispositionen im Keim gelten 
müssen, welche erst nach langer latenter Uebertragung wieder an's 
Licht gezogen zu werden bestimmt sind. — Festzuhalten ist, dass 
jeder einzelne Generationsact dieser Serie nur unter der activen 
Betheiligung des Gesammtorganismus vor sich geht, und dass diese 
letztere jedesmal der Ausdruck und die Vermittelung des Individual- 



Anmerkungen zu Cap. VI. 315 

willens höherer Ordnung gegenüber dem Zellenegoismus ist. So fällt 
auch neues Licht auf die Thatsache pathologischer Vererbung. Besteht 
die Krankheit in einer Anarchie, in einer relativen Energie derParticular- 
interessen und einer relativen Schwäche der Vermittelungswerkzeuge 
des Individualwillens höherer Ordnung (vgl Anm. 53), so wird die Ver- 
erbung der Krankheit dadurch zu Stande kommen, dass auch bei der 
Beproduction der Fortpflanzungszellen die sich überhebende Zellen- 
gruppe einen grösseren dynamischen Einfluss geltend macht, als ihr im 
Sinne des Individualzwecks höherer Ordnung gebührt, und dass in 
Folge dessen in den Fortpflanzungszellen latente Dispositionen nieder- 
gelegt werden, welche bei ihrem späteren Zutagetreten nach längerem 
Generationswechsel wiederum zu einer entsprechenden Zellengruppe 
von relativ zu starkem lndividualwillen (im Verhältniss zu den 
organischen Bealisirungsmitteln des Individualzwecks höherer Ord- 
nung) führen. So stellt sich heraus, dass die Haeckel'sche Auffassung 
der Vererbung weit entfernt ist, einer naturphilosophischen Betrach- 
tung des organischen Lebens im teleologischen Sinne Abbruch zu 
thun, sondern vielmehr durch ihre dynamische Richtung (im Gegen- 
satz zur materialistischen Darwin's) derselben Vorschub leistet. 

Nr. 77 (S. 106): Ersetzen kann sie die causale naturwissen- 
schaftliche Erklärung nirgends, ergänzen muss sie dieselbe überall, 
wenn anders ein Verständniss der Natur im vollen Sinne erreicht 
werden soll (vgl. Anm. 2 und „Neuk., Schop. und Hegelianismus" 
S. 62—64). 

Nr. 78 (S. 107): Es ist entschieden irrthttmliob, und besonnene 
Forscher wie Brücke, Max Schultze, Ed. Strassburger warnen immer 
wieder davor, „die an leblosen Flüssigkeiten gemachten Beob- 
achtungen ohne Weiteres auf eine lebende Substanz zu übertragen, 
welche fortwährenden Veränderungen in ihrer ganzen Masse aus- 
gesetzt ist." So ist zwar das physikalisch zulässige Maximum der 
Tropfengrösse eine negative Bedingung für das weitere Wachsthum, 
aber man kann ihre Ueberschreitung keineswegs als zureichende Ur- 
sache der Theilung gelten lassen, vielmehr wird man letztere auch bei 
den allerniedrigsten Protisten als die Blüthe des organischen Lebens- 
und Entwickelungsprocesses aufzufassen haben, deren Eintritt nicht 
sowohl durch äussere Verhältnisse als durch den inneren Verlauf 
der individuellen Entwickelungs- und Altersstufen vorausbestimmt ist. 
Auch die einfachsten Lebewesen zeigen — im Unterschied von den 



316 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

des Stoffwechsels entbehrenden und darum nnalternden Krystallen — 
den Wechsel der Lebensalter: Jagend, Vollkraft and Verfall, und 
auch bei ihnen ist das erste Entwickelungsstadiam noch nicht, das 
letzte nicht mehr zur Fortpflanzung fähig. Auch bei ihnen sehen 
wir ferner, dass die Fortpflanzung ein ernstes und wichtiges Geschäft 
für sie ist, bei dem der Organismus seine Beziehungen zur Aussen- 
weit zeitweilig einstellt und alle seine Kräfte in höchster Concen- 
tration in sich sammelt, um ein Maximum von Activität zu entfalten; 
dies ist aber das grade Oegentheil eines bloss passiven Zerfalls 
wegen Ueberschreitung der physikalisch zulässigen Tropfengrösse. 
Wir wissen ferner, dass es sehr primitive Organismen giebt, welche 
gleichwohl sehr complicirte Fortpflanzungsverhältnisse zeigen (z. B. 
Pelomyxa palustris Greeff und auch die echten Amöben *), und wir 
dürfen daraus schliessen, dass auch bei den durch blosse Theilung 
sich vermehrenden Amöben im Innern des Protoplasma weit com- 
plicirtere Vorgänge stattfinden, als unsere optischen Httlfsmittel uns 
bisher haben erkennen lassen. Die kernlosen und die kernhaltigen 
Organismen der untersten Stufen stehen sich sehr nahe, und wenn 
wir an den letzteren erkennen können, dass die Zelltheilung schon 
im Kern mit höchst verwickelten Vorgängen verbunden ist, so wer 
den wir annehmen müssen, dass auch in kernlosen Moneren bei der 
Theilung vieles vorgeht, was sich bisher unserer Eenntniss entzieht. 
Wenn Strassburger (Stud. üb. Protoplasma S. 39) aus jenen Vorgängen 
schliesst, dass der Zellkern selbst wieder aus verschiedenen Sub- 
stanzen zusammengesetzt sein müsse, sicher noch differenter als 
diejenigen, welche man als Haut- und Körnerplasma unterscheidet, 
so lässt uns das vermuthen, dass auch in kernlosen Moneren die 
anscheinend gleichartigen Theile in einer Weise differenzirt sind, 
welche eine präcursorische Analogie der Differenzirung in Zell- 
substanz und Kernsubstanz (und der ersteren in Haut- und Körner- 
plasma, der letzteren in divergente Bestandteile des Kerns) bildet 
und sie dadurch befähigt, in ähnlicher polarer Entgegensetzung zu 
wirken und analoge Resultate zu erzielen. Dass das optische Ver- 
halten für diese Fragen nichts beweist, ist hinlänglich bekannt; 



*) Vgl. Wigand, Der Darwinismus etc. Bd. IL S. 456-457, wo die Originsl- 
queUen citirt sind. 



Anmerkungen zu Cap. VI. 317 

Niemand vermag dem Plasma einer kernlosen Plastide anzusehen, 
ob dasselbe die Bestandteile eines aufgelösten Kernes in sich ent- 
hält oder nicht, und doch hat man in beiden Fällen Organismen von 
ganz verschiedenem Inhalt vor sich, der sich in der Verschiedenheit 
der von ihnen eingeschlagenen Entwickelnngsrichtung enthüllt. So 
ist auch der Schein einer optischen Homogenität, und mag er auch 
durch gleichmässige Durchdringung mit Farbstoffen unterstützt sein, 
nicht der geringste Beweis für die organische, geschweige denn 
chemische Homogenität des beobachteten Plasma. Es ist zu be- 
dauern, dass Haeckel in der Absicht, die mechanische Continuität 
des Organischen und Unorganischen zu beweisen, jene optische 
Homogenität in einer einseitigen und den Laien verwirrenden Weise 
betont hat, und es scheint dem gegenüber nützlich, noch einen 
Augenblick bei der Constitution des Protoplasma zu verweilen. — 
Homogen in organischer Hinsicht kann man das Protoplasma nur 
da nennen , wo es in Krystallgestalt auftritt (z. B. in Klebermehl- 
körnchen eingeschlossen als Reservestoff für die Keimung), aber auch 
bei diesen quellungsfähigen Kry stallen lässt sich sehr wohl denken, 
dass die krystallographisch gleichwertigen Bestandteile derselben 
chemische Differenzen besitzen, welche aus ihrem verschiedenen 
Ursprung herrühren und sie nach ihrem Wiedereintritt in lebendes 
Protoplasma verschiedene Rollen spielen lassen. Homogen in 
optischer Hinsicht erscheint uns eigentlich nirgends eine ganze 
Plastide, sondern nur gewisse Theile derselben, namentlich die Haut- 
schicht (nicht mit chemischer Niederschlagsmembran oder physi- 
kalischem Oberflächenhäutchen zu verwechseln). Diese Hautschicht, 
welche bei einigen Organismen (z. B. den Arcellen) auch die Fort- 
sätze oder Pseudopodien bildet, bei anderen (z. B. Rhizopoden) ganz 
zu fehlen scheint, ist dichter als der von ihr umhüllte Theil des 
Plasma, aber sie ist auch keine blosse Verdichtungsschicht des 
letzteren, sondern „eine aus der Differenzirung desselben hervor- 
gegangene, mit besonderen Eigenschaften begabte Schicht." Der 
niemals fehlende innere Theil des Plasma heisst nun das Körner- 
plasma, weil in ihm kleine Körner vertheilt sind, die das erste 
nie fehlende Differenzirungsproduct des Plasma bilden. Die Grund- 
masse, in welche dieselben eingelagert sind, erscheint optisch fast 
homogen, oder lässt doch nur noch allenfalls kleine Stippchen in 



318 Anmerkungen lur zweiten Auflage. 

sich erkennen. — Rud. Arndt*) erachtet die letzteren fftr die embryo- 
nalen Anlagen der Körnchen oder Kügelchen, indem er sich dabei 
anf die allmählichen Uebergänge zwischen beiden and deren 
peripherisch zunehmende Yertheilang in embryonalen BildungszeUen, 
sowohl nervösen wie bindegewebigen, stützt Die Stippchen wachsen 
nach ihm zu deutlich erkennbaren dunklen Punkten, diese zu Körn- 
chen, und letztere vergrössern nicht nur ihren Durchmesser mit 
zunehmendem Lebensalter, sondern lassen auch deutlich erkennen, 
dass diese 8 Wachsthum sich nicht sowohl auf ihren centralen Theil 
als auf die den letzteren umhüllenden Kapseln bezieht. Der centrale 
Theil erscheint auch im reifen Kügelchen als dunkler Punkt und 
bietet die nämlichen chemischen Reactionen dar wie die protoplas- 
matische Grundsubstanz; die Kapseln sind hell oder durchsichtig, 
glasartig glänzend, haben eine erheblich grössere Widerstandsfähigkeit 
gegen chemische Einflüsse und zeigen in dem Plasma verschiedener 
Organismen oder Gewebe eine sehr verschiedene Dicke. Wenn 
durch chemische Seagentien die plasmatische Grundsubstanz zerstört 
wird, oder wenn dieselbe dem natürlichen Zerfall entgegengeht, so 
wird sie von diesen Körnchen, oder wie Arndt sagt, Elementar- 
kügelchen, überdauert, welche dann in Freiheit gesetzt noch längere 
oder kürzere Zeit selbstständige Bewegungen ausführen, yibriren, in 
Curven oder Zickzacklinien einhertanzen und mit ihresgleichen sich 
suchen und fliehen (so z. B. beim Zerfall von Eiterkörperchen zu 
beobachten), bis sie endlich zur Ruhe kommen.**) Je stärker die 
Lebensenergie des Protoplasma, um so zahlreicher und grösser sind 
in ihm die Körnchen; gleichwohl gehen losgetrennte Stücke Körner- 
plasma bald zu Grunde, indem sie durch Wasseraufnahme bersten, 
während auch umgekehrt abgetrennte Stücke der Hautschicht mit 
zu wenig körnigem Inhalt sich nicht zu erhalten vermögen. An 



*) Vortrag gehalten in Greifswald am 6. November 1875, abgedruckt in dar 
Berliner klinischen Wochenschrift 1876 Nr. 19. 

**) Der Botaniker H. Karsten behauptet, dass diese Elementarkügelclien 
nicht nur nach dem Tode der Zelle als solchen eine Zeitlang fortleben, sondern 
dass sie auch fortwachsen, sich zu Bakterien, Vibrionen, Mikrokocken, Hefezellen 
u. s. w. entwickeln und als solche sich einige Generationen hindurch fortpflanzen. 
Diese Behauptungen, Bowie die auf sie gestützte Theorie der „Fäulniss und An- 
steckung" oder „Nekrobiose" finden aber bei andern competenten Forschern so 
entschiedenen Widerspruch, dass sie hier nur erwähnt, nicht benutzt werden 
können. 



Anmerkungen zu Gap. VI. 319 

gewissen als Nutritionscentren anzusehenden Stellen (z. B. an ge- 
wissen Punkten der zn Nervenfasern aaswachsenden Nervenzellen) 
finden sie sich zn kernartigen Gebilden angehäuft ; an andern Stellen 
treten sie in Gruppen von dreien oder mehreren auf. Nach Arndt 
wären die Kerne der Zellen und Piastiden „in Wirklichkeit nichts 
anderes als Protoplasmaklümpchen mit zahlreich entwickelten und 
stark conglobirten Elementarkügelchen". Wenn nun der Kern in 
den kernhaltigen Zellen zweifellos als Fortpflanzungscentrum gilt, 
und selbst nur ein Differenzirungsproduct aus Elementarkügelchen 
und Grundsubstanz ist, so erhält dadurch meine schon anderwärts 
geäusserte Vermuthung eine Verstärkung, dass in den kernlosen 
Zellen und Piastiden wohl unter den Körnchen oder Elementar- 
kügelchen der Ersatz für die sonst dem Kern zufallenden Functionen 
zu suchen sein möchte. In diesen ist wiederum nicht die schützende 
Kapsel, sondern der plasmatische Centraltheil als der active Factor 
anzusehen, cL h. der vor Entstehung der Kapsel schon vorhandene 
dunkle Punkt. Dieser würde das primitivste Organ der kernlosen 
Organismen repräsentiren, so dass man Haeckel widersprechen muss, 
wenn er die Moneren Organismen ohne Organe nennt. Diese 
Pünktchen sind gewiss noch Gruppen aus zahlreichen chemischen 
Plasmamoleculen, also nicht Plastidulen im Sinne Haeckel's ; sie sind 
Differenzirungsproducte aus denjenigen Plastidulen, welche die 
plasmatische Grundsubstanz constituiren, aber doch solche Differen- 
zirungsproducte, die schon im jugendlichen Zustande des Plasma als 
Keime enthalten sind. Der Jugendzustand neugebildeter Plasma- 
substanz darf übrigens nicht mit der Jugendphase des Organismus, 
dem sie angehört, verwechselt werden; denn wir finden in eben 
abgeschnürten Zellen, in Sporen und Eiern überall die Elementar- 
kügelchen schon als Mitgift vor, und nur in dem Assimilations- 
zuwachs dieser Embryonen geht ihre Neubildung nach unbekannten 
Gesetzen und zweifelsohne unter dem dynamischen Einfluss der 
schon vorhandenen Körnchen vor sich. — Mit der Betrachtung der 
Körnchen ist aber diejenige der Constitution des Plasma keineswegs 
erledigt; wenn wir die Körnchen den Blutkörperchen der höheren 
Organismen vergleichen können, so entspricht das plasmatische 
Maschen- und Netzwerk, an dessen Wänden die Körnchen sich ent- 
lang bewegen, dem Gefösssystem und der flüssige Inhalt dieses 
Maschen- und Netzwerks mit seinen mannichfaltigen Strömungen 



320 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

dem Blutserum. Man darf sieb den Unterschied der Dichtigkeit 
zwischen dem Netzwerk und seinem flüssigen Inhalt freilich nicht 
zu gross vorstellen; beide haben eine halbflüssige oder festflüssige 
Consistenz, d. h. bestehen ans Plasmamoleculen, die in einer grösseren 
oder kleineren Hülle von Wasser schwimmen. Der Dichtigkeits- 
unterschied reicht selten zu einer unmittelbaren optischen Erkenn- 
barkeit, meist wird derselbe erst wahrnehmbar durch allerlei phy- 
sikalische und chemische Manipulationen, welche den beiden Theilen 
ein etwas verschiedenes Ansehen geben. Wo aber auch durch solche 
Mittel das Netzwerk bisher nicht erkennbar wird, da braucht man 
darum doch nicht an dem Vorhandensein eines solchen zu zweifeln; 
man wird dasselbe nach Analogie vermuthen müssen, und höchstens 
annehmen, dass der Unterschied der Dichtigkeiten in solchen Fällen 
ein noch geringerer sein wird. Vielleicht gelingt es der Zukunft, 
durch geeignete Behandlungsweisen die mikroskopische Forschung 
in dem Maasse weiter nutzbar zu machen, wie dieselbe jetzt gegen 
ihren Stand vor einigen Decennien vorgerückt ist. In dem Maasse, 
als sich diese Hoffnung erfüllt, wird aber auch sicherlich der irr- 
thümliche Schein der Homogenität verschwinden, und werden auch 
in kernlosen Piastiden Erscheinungen sichtbar werden, welche ihre 
Theilung als einen aus dem inneren Entwickelungsgesetz ihres 
Lebens heraus bestimmten Vorgang erweisen. 

Nr. 79 (S. 107): Vgl. Anm. 8. 

Nr. 80 (S. 108): Nicht bloss auf höheren, sondern auf allen; 
vgl. Anm. 78. 

Nr. 81 (S. 109): Dass das eine Alternative sei, das ist der 
Irrthum ; die Wahrheit liegt in der Synthese, im „sowohl als auch." 
Vgl. Ph. d. U. I. 454—455. Das physiologische Problem liegt in 
erster Reihe in der individuellen Entwickelung aus dem gegebenen 
Keim, in zweiter Reihe in der Entwickelung eines solchen Keims 
aus den gegebenen Eltern und erst in dritter Reihe tritt die phylo- 
genetische Frage ein, wie die in den Eltern liegende Disposition zur 
Entwickelung solcher Keime entstanden sein mag. Wer da glaubt, 
durch Beantwortung der dritten Frage das erste und zweite Problem 
mit erledigt zu haben, befindet sich in einem starken Irrthum. Der 
Darwinismus neigt zu diesem Irrthum vielleicht mit aus dem Grunde, 
weil er vorwiegend von Zoologen und Morphologen (nicht von 
Physiologen) eultivirt wird. Dies macht auch die Reaction der 



Anmerkungen zu Cap. VI. 321 

Embryologie gegen den Darwinismus verständlich, wie sie z. B. von 
His vertreten wird. 

Nr. 82 (S. 109): Die Sache, d. h. das Resultat wird in der 
That erst dadurch verständlich, wenn auch die mechanische Ver- 
mittelung desselben um nichts verständlicher wird. Letzteres habe 
ich nie prätendirt ; ersteres zu übersehen ist der Fehler der Mecha- 
nisten (Vgl. Anm. 2). 

Nr. 83 (S. 109): Durch die gegebenen Dispositionen ist die 
Ent wickelungsrichtung nur insofern vorgezeichnet, als diese 
Sichtung der Bealisirung des Individualzweckes höherer Ordnung 
ein Minimum von centrifugalen Widerständen entgegensetzt, aber 
nicht in dem Sinne, als ob ohne jede Leitung durch ein zu ein- 
heitlicher Thätigkeit zwingendes Archon die Entwickelung sich von 
selbst vollziehen müsse. Das organisirende Princip ist daher nie- 
mals ein passives fünftes Bad am Wagen, sondern in jedem Moment 
activ, um die centrifugalen Tendenzen der selbstsüchtigen Individuen 
niederer Ordnungen im Zaume zu halten und zu paralysiren. Jede 
Passivität desselben ist Erkrankung, d. h. beginnende Auflösung des 
Organismus, die mit Zerfall endet, wenn das organisirende Princip 
nicht dem gegenüber als Naturheilkraft eine gesteigerte Activität 
entfaltet. 

Nr. 84 (S. HO): Dies zu negiren ist mir niemals eingefallen. 
(Ph. d. U. I. 138 u. 449—451). 

Nr. 85 (S. 110): Diese gehören immer nur zur mechanischen 
Vermittelung der teleologischen Aufgaben oder Ziele und sprechen 
deshalb in keiner Weise gegen die letzteren (Vgl. Ph. d. U. IL 242 
oben; 1. Aufl. S. 497). Vgl. oben die allgemeinen Vorbemerkungen 
Nr. 7. 

Nr. 86 (S. 116): Solche pathologische Vererbungen sind viel- 
leicht zu betrachten als Hyperplasien einzelner Hirntheile oder 
Zellengruppen, d. h. subordinirter Individuen ; sie sind also ent- 
standen in Folge einer mangelhaften Herrschaft des höheren Indi- 
vidualzwecks über die Individualzwecke niederer Ordnung und ihre 
Vererbung ist durch eine ähnliche Monstrosität im Keim vermittelt, 
die gleichfalls durch eine relative Schwäche des Archon ermöglicht 
ist (vgl. Anm. 76). Vielleicht sind die Widersprüche im Charakter 
des Weibes darauf zurückzuführen, dass der Individualzweck höherer 
Ordnung minder energisch vertreten ist, und deshalb die antago- 

E,v. Hart mann, Das Unbcwusste. 2. Aufl. 21 



322 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

nistischen Individualzwecke niederer Ordnung, wie sie von zwei 
Eltern, vier Grosseltern, acht Urgrosseltern u. s. w. zusammen ge- 
erbt sind, sich unbehinderter geltend machen, während im männ- 
lichen Charakter durch grössere Stärke des Archon diese Gegensätze 
gebändigt und bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen sind. 

Anmerkungen zu Capitel VII. 

N. 87 (S. 123): Auch starke Gemttthsbewegungen können ohne 
Einfluss auf die Centralorgane der Bewegung sein, obschon der 
Wille als Leidenschaft und Affect in ihnen heftig erregt ist Anderer- 
seits können die motorischen Impulse des Athleten aus sehr gering- 
fügigen Willenserregungen entspringen. Die Sphäre der physischen 
Willenserregung und die der mechanischen Action des Organismas 
dürfen ebensowenig mit einander confundirt werden, als mit der 
Sphäre der uninteressirten Vorstellung. 

Nr. 88 (S. 123): Offenbar ist die Freiheit der Vorstellung vom 
Wollen nur relativ zu verstehen, wie ich dies auch bei der Er- 
klärung des Ausdrucks „Emancipation der Vorstellung" betont habe. 
(Ph. d. U. IL 33. Anm.). 

Nr. 89 (S. 123): Dies ist nicht eine essentielle, zu dem Vor- 
stellungsinhalt in directer Beziehung stehende, sondern nur eine 
accessorische Willensbetheiligung. 

Nr. 90 (S. 123): Psychologisch ausgedruckt heisst das nur: 
Jede Vorstellung kann unter Umständen Motiv werden, aber 
an und für sich ist sie keins, d. h. an und für sich ist sie essentiell 
willenlos, trotz aller Intensität als Vorstellung. Dies genügt, am 
jeder Tendenz auf Verwischung des Unterschiedes energisch ent- 
gegenzutreten. 

Nr. 91 (S. 123): Diese Erklärung kann nur so lange als aus- 
reichend erscheinen, als der Unterschied psychischer Willenß- 
erregung und motorischer Action nicht beachtet wird. 

Nr. 92 (S. 124): Dass diese Leitungswiderstände nicht der ent- 
scheidende Grund sein können, ergiebt sich daraus, dass sie mit 
Leichtigkeit Oberwunden werden, sobald die nämlichen Vorstellungen 
zu Motiven des Willens werden. Eine psychologisch ausreichende 
Erklärung für diesen Unterschied erhält man erst dann, wenn man 
annimmt, dass das, was wir die Totalität der Erscheinung des 



Annwkuiige* «u Cap. VH 323 

Willens nennen, erst durch MitbetheiUgung eines rein psychischen 
Willenaactes an den Sohwingungaintensitäten 4er Hirnmolecule sieh 
ergiebt, für deren Eintreten vorzugsweise die Erregung der eha- 
rakterologischen Dispositionen als Motiv dient; während die blossen 
Vorstellungen mehr eine rein intoilectuelle Betätigung der Psyche 
wachrufen. 

Nr. 93 (S. 124) : Dann ist doch wohl die letztere und nicht die 
erstere als Ursache der Handlung anzusehen. 

Nr. 94 (S. 124): Solche motorische Actionen wird man wohl 
schwerlich noch „Handlungen" im psychologischen Sinne des Worts 
nennen wollen; es sind nicht mehr Manifestationen des Indiyidual- 
willens höherer Ordnung, sondern einseitige, unoontrollirte Aeusserungen 
der von ihm beherrschten Individualwillen niederer Ordnung. 

Nr. 95 (S. 127): Hier ist wieder zu wanden vor Verwechselung 
der moleoularen Dispositionen und Schwingungsarten mit Vor- 
stellungen, d. h. vor Verwechselung der äusseren und inneren 
Erscheinung. Nicht die Schwingungsart ist der Vorstellungsinhalt, 
sondern sie ist nur mit der Bewusstseinsform dieses Vor- 
stellungsinhalts verknüpft. Ohne diese Bewusstseinsform dagegen 
kann der Vorstellungsinhalt auch unabhängig von dieser Schwingungs- 
art bestehen, und deshalb ist auch das Wollen nicht von solchen 
Schwingungen abhängig. Alle Motivationserklärung aus Hjrpdispo- 
ßitionen beruht doch schliesslich auf der Motivirung eines Atom- 
willens durch die Willensäusserung eines anderen Atoms ; d. h. auch 
die scheinbar physikalische Erklärung ist im Grunde eine Resultante 
aus psychologischen Motivationscomponenten ; denn im Atom hören 
die materiellen Dispositionen auf. Diese Grundlage der Erklärung 
ist erst das Urphänomen der Motivation (das früher ist als die ihm 
dienenden Hilfsmechanismen). Dieses Urphänomen, die ursprüng- 
liche Bedeutung der Motivation, halte ich fest, wenn ich von der 
Motivation des immateriellen Individualwillens durch die Willens- 
äusserungen der Individualwillen niederer Ordnung (im Hirn) rede, 
in welchem auch die Summationsphänomene der Atomwillen mit- 
befasst sind. 

Nr. 96 (S. 131): Dies ist schon aus dem Grunde unrichtig, 
weil die Disposition aus Uebung entstehen soll; Uebung aber ist 
häufige Wiederholung der Function. Die Function ist also auch 
hi«r 4o3 Pftu# der Disposition, d. h. die Function kann nicht ^us 

21* 



324 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

der Disposition erklärt werden, welche ans ihr erst resultirt. Ist 
aber die Function möglich vor Entstehung der Disposition, so ist 
schwer zn glauben, dass die Ursache, aus welcher sie damals ent- 
sprang, aufhöre zu wirken. Vielmehr muss man annehmen, dass 
dieselbe als die eigentliche Ursache der Function fortwirkt, 
und in ihrem Wirken von der durch sie geschaffenen Prä- 
disposition nur unterstützt wird. Ist nun aber die materielle Dis- 
position die einzige mechanische Erklärung, die bisher ver- 
sucht worden ist, so muss eben die wahre Ursache der Function 
nicht auf dem materiellen Gebiet mechanischer Bewegungen ge- 
sucht werden, sondern in derjenigen Sphäre, welche das Wesen 
auch dieser materiellen Erscheinung enthält (vgl. Ph. d. Unb. I., 
445—446). 

Nr. 97 (S. 132): Das ist aber gerade das zu Erklärende, wie 
ein solcher Versuch überhaupt einmal gelingen kann, und über 
das eigentliche Problem wird mit diesem scheinbar harmlosen Con- 
ditionalsatz hinweggeschlüpft. 

Nr. 98 (S. 132): Der kleinste Zuwachs verlangt als sein Prius 
einen entsprechenden Zuwachs an der Function, der als solcher anf 
keine Disposition gestützt ist ; es gilt also von jedem Zuwachs das- 
selbe wie von den ersten Anfängen. 

Nr. 99 (S. 133): Die Uebereinstimmung bezieht sich nur auf 
die Anerkennung der körperlichen Vermittelung ; dass die Ph. d. U. 
auf diesem Gebiet ebenso wie auf dem der motorischen Muskelaction 
ein metaphysisches Princip annimmt, welches der körperlichen Ver- 
mittelungen sich als technischer Behelfe bedient, dass also dieses 
metaphysische Princip von ihr als die wahre und eigentliche 
Ursache angesehen wird, ist dabei ausser Acht gelassen. Die er- 
erbten Hirndispositionen können mitbestimmend werden für den 
Modus der Function des metaphysischen Princips, aber sie können 
ohne ein solches als activen Factor niemals die geistigen Phänomene 
hervorbringen, um deren Erklärung es sich hier handelt. 

r 

Anmerkungen zu Gapitel VIII. 

Nr. 100 (S. 140): Wie werthvoll auch die Abkürzung der 
Ideenassociation für das Verständniss des discursiven Denkens sein 
mag, so ist doch ihre Bedeutung hier mindestens insofern überschätzt; 



/ 



Anmerkungen zu Cap. VIII. 325 

als diese Abkürzung erst durch längere Gewöhnung eintritt, also 
nur bekannte und geläufig gewordene Vorstellungsverknttpf un- 
gen betrifft, nicht aber neue ungewohnte, zum ersten Male auf- 
tretende, welche um so mehr naga dogav laufen, je bedeutender 
sie sind. Da nun aber erstere nur reproductiv sind, und pro- 
ductiv nur die letzteren sein können, so sieht man, dass für das 
Verständniss der productiven Ideenassociation (um deren Erklä- 
rung allein es sich handelt, S. 138 Z. 3) durch die Theorie 
der Abkürzung unmittelbar nichts gewonnen wird, so dass die Ph. 
d.U. yon den hier angestellten Betrachtungen über die reproductive 
Ideenassociation nicht alterirt wird. 

Nr. 101 (S. 144): Auch hier ist die Antithese irrig, und durch 
Synthese zu ersetzen. Der Besitz von Gehirnprädispositionen zu 
starken Associationsabkürzungen ist freilich Bedingung für ein 
productives Denken, aber er allein würde doch seiner Natur nach 
niemals über ein reproductiv es Nachdenken des von Anderen 
Vor gedachten hinausfuhren. Da nun aber die Vernunft sich erst 
in productivem Denken bethätigt, und da ohne productive Associa- 
tion aus Vernunftgründen auch das reproductive Erlernen des Ma- 
terials für die Associationsabkürzungen unmöglich ist, so erhellt, 
dass auch die beste erbliche Anlage des Gehirns ohne productives 
logisches Denken nicht einmal zum reproductiven Erlernen der 
Mathematik ausreichen würde. Das Gleiche gilt für alle anderen 
Gebiete des Denkens. 

Nr. 102 (S. 149): Ihren Grund können die typischen Denk- 
formen nur in der logischen Natur des Denkens selbst haben, gleich- 
viel ob dasselbe durch einen molecularen Hülfsmechanismus unterstützt 
wird oder nicht Letzterer ist ja selbst nur ein Niederschlag oder 
Abdruck von psychischen immateriellen Denkfunctionen und dient nur 
zur Herstellung einiger Erleichterung der so überaus schwerfälligen 
Form des discursiven Denkens. Ist die absolute Vernünftigkeit der 
unbewussten Idee einmal in das zerhackte discursive Denken ent- 
äussert, um der Form des Bewusstseins theilhaftig zu werden, so 
besteht die Tendenz der Entwickelung in der möglichsten Wieder- 
gewinnung des raschen Ueberblicks ohne (für das Resultat wenigstens) 
auf das Bewusstsein zu verzichten« So ähnelt das Ziel des Pro- 
cesses dem Ausgangspunkt, nur dass im letzteren dieselben Momente 
noch in impliciter Indifferenz schlummern, welche im ersteren als 



326 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

exrilicite versöhnt sind« Diese Aehnlichkeit von Anfang und Ende 
im Vergleich zu der die Mitte bildenden Differenz kehrt bei so 
vielen Processen wieder, und führt leicht dazu, dea Unterschied bei 
aller Aehnlichkeit zu verkennen, welcher eben in dem Durchgang 
des Resultats durch den discursiven Process zu suchen ist. 

Nr. 103 (S. 150): In diese kann sie nur durch die Veralnftig- 
keit der psychischen Functionen hineingerathen sein, deren Abdruck 
sie ist; in den psychischen Functionen aber ist sie ebenso wie in 
der objectiv realen Welt Documentirung der logischen Gesetze, 
welche alle innere und äussere Erscheinung des Wesens durch- 
dringen, und darum nur die Manifestation der logischen Natur des 
Wesens selbst sein können. 

Nr. 104 (S. 151): In der That wäre für den Idealismus lachte 
zu beBorgen, wenn die allmähliche Entwickelang des Intellects im 
Thier- und Menschenreich lediglich ein Reflex der objectiven Logik 
der materiellen Welt wäre, denn die Art und Weise der natürlichen 
Vermittelung entscheidet eben gar nicht über die ideelle Bedeutung 
der Entwicklung und die in ihr sich auswirkenden metaphysischen 
Prmcipien. Es sind nur die schon mehrfach formnlirten Bedenken, 
däss die Function das Prius der Disposition ist, und die Function 
als psychische nicht aus materiellen Vorgängen zu erklären ist, 
welche gegen diese Annahme sprechen. 

Nr, 105 (S. 151): Die Entwickelung der subjectiven Logik ist 
ohne Zweifel durch die von der objectiven Logik der Thatöachen 
erhaltenen Eindrücke mitbedingt ; aber umgekehrt ist auch die Logik 
des objectiven Geschehens (schon in den Atomen) durch die sutyec- 
tive Logik der Motivation bedingt. Deshalb besteht Wechsel- 
wirkung und beide sind nur coordinirte Ausflüsse des absolut 
Logischen im gemeinsamen Wesen. 

Nr. 106 (S. 152) : Da die Gesetze sich nur durch Atombewegüngen 
verwirklichen, und diese die Resultate der Motivationsacte in den 
Atomen sind, so ist die Vernünftigkeit der psychologischen Gesetze 
doch factisch auch auf diesem Standpunkt noch das Prius von der Ver- 
nünftigkeit der mechanischen Gesetze. Jede Action eines Atoms ist 
im strengsten Wortsinn ein metaphysischer Eingriff in das mecha- 
nische Spiel der übrigen Atome, diese Eingriffe also würde man 
doch nicht los, wenn man sie auch im blossen Summatiobsphäno- 
men auf die Action der Atome reduciren wollte. 



Anmerkungen zu Cap. Till. 327 

Nr. 107 (S. 152): Ganz recht; nur ist nicht za vergessen, das» 
Dasein wie Ichsein, objective wie subjective Erscheinung, nur Aus- 
fluss des gemeinsamen Wesens sind, und dass demnach der Aus- 
druck, den eine Eigenschaft des objectiven Daseins in der Sphäre 
der Subjectivität findet, und umgekehrt einerseits nur eine co r re- 
lative Aeusserang ihres gemeinsamen Wesens ist, und doch andrer- 
seits keineswegs erschöpfend zu sein braucht, ja sogar es nicht 
einmal sein kann, weil gewisse Seiten jeder Erseheinungssphäre 
sich ihrer Natur nach der correlativen Wiedergabe in der entgegen- 
gesetzten Erseheinungssphäre entziehen. 

Nr. 108 (S. 154): Aach hier ist an Stelle der Antithese die 
Synthese zu setzen. Die Thatsache, dass die psychischen Functio- 
nen das Prius der durch sie gebildeten Dispositionen sind, beweist, 
dass die Functionen auch ohne die materielle Disposition bestehen 
konnten, wenn sie auch ohne diese für den Intellect des Individuums 
nicht die wünschenswerte Leichtigkeit des Ansprechens und Sicher- 
heit des Bewusstwerdens mit sich führten (Ph. d. U. I. 297). Ist 
die Beschränkung der Geistesfunction auf ein blosses Summations- 
phänomen unrichtig, so ist anzunehmen, dass das zu der Summe der 
Atomempfindungen hinzutretende psychische Plus insbesondere auch 
bei jeder synthetischen Gonstruction ein unentbehrlicher Factor ist, 
dass also der Hülfsmechanismus der Disposition erst dann zur 
apriorischen Function des synthetischen Aufbaues einer An- 
schauung oder eines Urtheils führt, wenn jenes psychische Plus 
durch seine mechanische Erregung zur Thätigkeit motivirt wird. 
Danach wäre also jede höhere apriorische Function Produ et eines 
psychischen Factors und einer materiellen Hirnprädisposition. Dass 
von beiden Factoren der letztere entbehrlich ist, zeigt obige 
Erwägung; dass von ihnen der erstere jemals entbehrlich wäre, 
kann ich nicht annehmbar finden. Setzt man die psychische 
Beaction des zum blossen Summationsphänomen hinzukommenden 
Plus als selbstverständlich, weil regelmässig eintretend, voraus, so 
kann man freilich die Prädisposiflonen als den Grund des Äpriori 
bezeichnen; aber man darf dabei nie vergessen, dass man dabei 
nur den einen Factor eines Productes nennt, und zwar den Factor, 
der nur eine seeundäre, subsidiäre Bedeutung hat. 

Nr. 109 (S. 155): Das Tasten mag noch so empirisch sein, es 
bliebe resultatlos ohne Eintritt der apriorischen psychischen Function, 



328 Anmerkungen nur zweiten Auflage. 

die ihm die zum Ziele führende Richtung giebt. Der Ausdruck ist 
also unrichtig, dass das Empirische der phylogenetische Grund des 
Apriorischen sei. 

Nr. 110 (S. 156): Das Nebeneinanderbestehen ist kein gleich- 
berechtigtes, sondern die Disposition ist nur der selbstgeschaffene 
technische Behelf der psychischen apriorischen Function (und so 
stellt auch die Ph. d. U. es dar); die actuelle apriorische Function 
entsteht nicht aus dem einen oder dem andern, sondern aus der 
Cooperation beider, soweit der Hilfsmechanismus schon gebildet 
ist. Bei dieser Cooperation ist die Disposition erstens passiver 
Uebertrager des äusseren Reizes auf die Psyche, und zweitens mit- 
bestimmend für die Art der ßeaction der letzteren. Das actiy 
Functionirende ist die Psyche als hinzukommendes Plus des Sum- 
mationsphänomens der Atome des Hirns. 

Anmerkungen zu Capitel IX. 

Nr. 111 (S. 160): Vgl. oben S. 77 die Fussnote. Die Organ- 
empfindungen des Auges gelangen nur bis zum Vierhügelbewusstsein, 
aber nicht zu dem der grossen Hirnhemisphären. 

Nr. 112 (S. 161): Diese Auffassung dürfte sich für die Bearbei- 
tung der Psychologie als fruchtbar erweisen. 

Nr. 113 (S. 161): Dass diese in vielen Fällen passende Er- 
klärung in allen Fällen passe, also eine principiell ausreichende 
Erklärung sei, ist in den Anmerkungen zu Cap. VIII. als Irrthum 
dargethan. 

Nr* 114 (S. 162): Sie bestreitet die principielle Brauchbarkeit 
der Erklärung mit Recht, weil die Function das Prius der durch 
sie gebildeten Hilfsmechanismen ist; sie erkennt dagegen den 
auxiliären Werth der letzteren bereitwillig an, und glaubt nur nicht, 
dass durch selbige die unbewasste psychische Function überflüssig 
gemacht werde, insofern moleculare Dispositionen und Schwingungen 
noch nicht psychische synthetische Function sind, sondern eine 
solche nur in bestimmter Richtung erleichtern und ihr Eintreten 
sicherer machen» 

Nr. 115 (S. 163): Hier zeigt sich wiederum das Verkennen, 
dass die Synthese und nicht die antithetische Alternative die Wahr- 
heit enthält, und dass die Ph. d. U. in der That die erstere fest- 



Anmerkungen zu Gap. IX. 329 

zuhalten sucht, wennschon sie nicht überall der Seite der mecha- 
nischen Vermittelang die genügende Beachtung schenkt 

Nr. 116 (S. 163): Diese Bezeichnungen haben nur eine relative 
Wahrheit. Insofern die discursive Logik der Monere nicht ein 
gleiches M a a s s von Activität entfaltet, als die des Menschen, kann 
man sie im Vergleich mit der letzteren passiv nennen; an und 
für sich aber muss sie activ sein, soweit sie überhaupt ist. 

Nr. 117 (S. 163): Keine Gompensation ohne Anpassung; An- 
passung aber ist spontane zweckmässige Modifikation, motivirt durch 
den Individualzweck und die Erfordernisse der gegebenen Verhält- 
nisse. Der unleugbar vorhandene Zwang istMotivationszwang, 
d. h. subjective, active Logik. 

Nr. 118 (S. 163): Gewiss kann die subjective discursive Logik 
sich nur entwickeln, insofern sie praktisch, d. h. den Individual- 
zwecken der Subjecte entsprechend (teleologisch) ist, und sie könnte 
dies nicht sein, wenn nicht auch die Gesetze der realen Welt logisch 
wären, und durch ein Conformitätssystem der absoluten Vernunft 
die Harmonie zwischen Objectivem und Subjectivem verbürgt wäre. 
Aber diese negativen Bedingungen sind nicht die positiv erzeugende 
Ursache, sondern diese letztere ist in der Activität der subjectiven 
Logik zu suchen. 

Nr. 119 (S. 163): Dass im Allgemeinen die Blüthe des Geistes 
aus der Befriedigung der individuellen practischen Bedürfnisse ent- 
spriesst, ist nie bestritten, ist aber selbst ein teleologisches Verhält- 
niss; es wäre ein grosser Irrthum, aus dieser Genesis heraus ihre 
selbstständige ideale Bedeutung bemängeln zu wollen (vgl die all- 
gemeinen Vorbemerkungen). 

Nr. 120 (S. 164) : Das tastende Probiren des Infusoriums würde 
nichts ausrichten, wenn ihm nicht ein activ logisches Moment die 
Richtung des Gelingens wiese. 

Nr. 121 (S. 165): Vgl. Transc. Realism. S. 129—132, 

Nr. 122 (S. 166) : Dies ist keineswegs der Fall. Ph. d. U. I, 
412 — 413, auch oben S. 77 Fussnote. 

Nr. 123 (S. 167): Wir haben oben gesehen,, dass die Behaup- 
tung, diese Möglichkeit erwiesen zu haben, unbegründet ist. 

Nr. 124 (S. 167): Dies wird von Niemand bestritten; aber so- 
wohl der erste Anfang, als auch jeder Fortschritt in diesem Process 



k 



330 Anmerkungen cor zweites Auflage. 

fordert active eubjective Logik, die psychisch und doch unbewasrt 
fdngirt. 

Nr« 185 (S. 168) : Die Zufälligkeit dieser Beschaffenheit wäre 
nur aufrecht zu erhalten, wenn man die teleologische Einrichtung 
aller Naturgesetze und die aus ihr entspringende Harmonie der 
Natur ausser Acht Hesse. 

Nr. 126 (8. 168): Die Ph. d. U. hat immer betont, dass teleo- 
logische Eingriffe vom Unbewussten erspart werden, wo der be- 
absichtigte Zweck schon durch das Spiel der übrigen Naturgesetze 
erreicht wird. Wenn also auch die nachfolgenden Deduetionen 
zweifellos richtig' wären, und die Ph. d. U. übersehen hätte, dass 
in diesem Specialfall der Zweck (die Flächenausbreitung) schon 
ob&e active darauf gerichtete besondere Thätigkeit erreicht würde, 
so würde das doch nur eine Berichtigung dieses einen Punktes 
nothwendig machen, aber die Prindpienfrage gar nicht berühren. 

Nr. 12? (S. 169): Eine entschiedene Widerlegung dieser ge- 
wöhnlichen Annahme ist nicht beigebracht. 

Nr. 128 (S. 171): Das bisherige Ergebnis* der Erörterung im 
Texte ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass, wenn einmal erst 
die Empfindungen in eine räumliche Fläche ausgebreitet sind, dann 
keine besondere active Function der Seele mehr erforderlich sei, 
um dem Bewnsstsein zu verbergen, dass diese Fläche nur mit einem 
discreten Mosaik empfundener Punkte besetzt, aber keineswegs con- 
tinuirlioh ausgefüllt sei. Ein Gegensatz gegen die Ph. d. IL findet 
bis hierher aus dem einfachen Grunde nicht statt, weil in der Ph. 
d. U. diese Frage mit keiner Silbe erwähnt, also auch nicht be- 
hauptet ist, dass zur Erzeugung der Illusion der Continuität zwischen 
den discreten Empfindungen ergänzende active Functionen erforder- 
lich seien. Das von der Ph. d. U. behandelte Problem beschränkt 
sich auf das Zustandekommen der hier noch als erfüllt voraus- 
gesetzten Bedingung (Ausbreitung der Empfindungen in eine Fläche), 
die erst von jetzt an erörtert wird. 

Nr. 129 (S. 173): In diesem Ordnen liegt also die active und 
construetive Thätigkeit, sie ist der Uebergang von der einheitlichen 
Umspanunng durch das Bewusstsein (die Wundt Oolligation 
nennt) m der Verknüpfung derselben in einer bestimmte» Art 
und Weise, d. h. zur Synthese. Ob aber die geordnete 
Synthese an und für sich schon räumliche Synthese ist, oder ob 



Anmerkungen m. Gap. IX. 331 

dabei noch eine weitere active Function erforderlich iat^ ist 
wiederum eine Frage für sich. 

Nr. 130 (S. 174): Diese Untersuchung wurde oben (S. 167) 
ftlr eine ihrer Natur nach ziemlich subtile erklärt; die Schwierigkeit 
derselben schliesst desshalb auch einen höheren Grad von Gewissheit 
aus und lässt der subjectiven Plausibilität einen beträchtlichen Spiel- 
raum. Schon aus diesem Gesichtspunkt allein erscheint ihr Resultat 
nicht geeignet, Principienfragen mit entscheiden zu helfen, wie 
interessant der Versuch an sich betrachtet auch «ein mag. 

Nr. 131 (S. 175): Auch diese Prädisposition kann nicht rück- 
wärts die Function erklären, deren Niederschlag sie erat ist. 

Nr. 132 (S. 175): Keine Sprünge machen und Richtung halten, 
sind Resultate, bei denen es nicht mehr ersichtlieh ist, wie über sie 
hinausgegangen werden soll. Für das Durchlaufen des Empfinduügs- 
complexes mit der Aufmerksamkeit sind sie ein Letztes und Höchstes. 
Die ruhende Anschauung der Fläche als solchen ist aber etwas 
spezifisch Anderes als die Bewegung in der Fläche and ist 
so sehr die Voraussetzung der Letzteren, dass der Versuch, 
durch ein „Undsoweiter" die Flächenanschauung aus der Bewegung 
der Aufmerksamkeit abzuleiten, als Erschleichung feu verwerfen ist. 
Schon an diesem einen Punkte mttsste die ganze Deduction scheitern, 
insofern sie ohne activ-logische Function auszukommen gedenkt. 

Nr. 133 (S. 176): Sie verlangt aber doch immerhin eine Aoti- 
vität der subjectiven Logik, ein Plus an synthetischer Function, zu 
dem keine Prädisposition vorhanden ist. 

Nr. 134 (S. 176): Das ist richtig, und ist in der Thai ein 
wesentlich erleichterndes Moment für die präcursorisohe Entwicklung 
des Gesichtsorgans bis zu dem Ausbildüngsgrade, wo dasselbe für 
Entstehung einer flächenhaften Raümanschauung brauchbar wird. 
Aber ftlr diese Entstehung selbst ist damit nichts gewonnen. 

Nr. 135 (S. 177): Vorausgesetzt nämlich, dass die Extension 
der Empfindungen in eine Fläche einmal erst stattgefunden hat (vgl 
Anm. 128). 

Nr. 136 (S. 177): Zwei Punkte bleiben zu beachten, erstens: 
dass die synthetische Leistung des Ordnen s, gleichviel ob sie von 
Prädispositionen unterstützt ist, doch immer eine psychische Function 
voraussetzt, und zweitens, dass die Anschauung des zweidimen- 
sionalen EmptinduDgseomplexes als räumliche Fläche, gleichviel ob 



332 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

sie durch die Ordnung bereits eo ipso gegeben ist oder nicht auf 
alle Fälle eine einheitliche psychische Totalperception voraussetzt, 
welche weder in einer einzelnen Zellenf unction , noch in einem 
blossen Summationsphänomen aus Zellenfunctionen gefunden werden 
kann, also aus materiellen Prädispositionen allein nicht zu er- 
klären ist. 

Nr. 137 (S. 178): Vgl. Anm. 17. 

Nr. 138 (S. 179): Der psychologische Process des Erkenneng 
ist nicht ein Process von Hirnschwingungen , sondern diese Hirn- 
schwingungen sind nur dasjenige, womit der erstere sich in der 
objectiven Erscheinungswelt des materiellen Daseins darstellt, 
und die Correlation ist nicht a priori als eine solche zu bestimmen, 
dass nicht auf einer der beiden Seiten ein Plus von Function ge- 
funden werden könnte, welches auf der andern keine Vertretung hat 
(vgl. Anm. 107). 

Nr. 139 (S. 179): Diese materialistische Wendung ist auch auf 
dem Standpunkt des naturalistischen Monismus unzulässig und irre- 
leitend. Das materielle Denkorgan ist objective Erscheinung der 
nämlichen Wesensfunctionen, welche subjectiv genommen als Denken 
und Wollen erscheinen. Individualistisch betrachtet ist alle Causa- 
lität nichts anderes als Motivation und sind die Bewegungsreactionen 
der Atome lediglich Folgen ihrer psychologischen Motivation, d. h. 
ihrer subjectiven Logik in Gestalt der apriorischen psychologischen 
Function der Causalität. 

Nr. 140 (S. 179): Insofern die materielle Erscheinung aus 
Atombewegungen resultirt und diese aus Atommotivationen folgen, 
kann man wohl diese vormaterielle (also metaphysisch-spiritualistische) 
unbewusste Function über der Erscheinung schwebend nennen. 

Nr. 141 (S. 179): Wenn der philosophische Causalitätsbegriff 
wahr sein will, so muss er den wirklichen Process getreu abbilden 
und keinen seiner Adspecte vergessen. Ein bloss von der materiellen 
Erscheinung abgezogener Causalitätsbegriff kann nie erschöpfend 
und tief genug sein, ebensowenig wie einer, der bloss aus der 
psychischen Selbstbeobachtung des Bewusstseins abstrahirt ist. Um 
wahr zu sein, muss der philosophische Causalitätsbegriff so beschaffen 
sein, dass er die causalen Beziehungen in beiden Erscheinungssphären 
unter sich befasst, und um letzteres zu ermöglichen, muss er zu der 
Wurzel beider hinabsteigen, d. h, zu denjenigen unbewussten Func- 



Anmerkungen zu Gap. IX. und X. 333 

tionen, welche die materielle wie die bewusste Erscheinung erst 
setzen. 

Nr. 142 (S. 179): Die Frage ist nach den vorhergehenden 
Anmerkungen zu bejahen (selbst unabhängig von der Frage, 
ob die innere bewusste Erscheinung blosses Summationsphänomen 
ist oder nicht), weil eben die auf die materielle Erscheinung ge- 
stützte physiologische Erklärung nicht genügt. Dass die Form 
des abstracten discursiven Begriffs aus der unbewussten synthe- 
tischen Intuition auszuscheiden ist, ist für den Kenner der Ph. d. U. 
selbstverständlich. 

Nr. 143 (S. 181): Wenn auch die Erklärung für den naiven 
Realismus richtig ist, dass seine Gonfusion auf der mangelnden 
Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Ding an sich und Wahr- 
nehmungsobject beruht, so bleibt doch die Thatsache bestehen, dass 
von ihm das Ding an sich als existirend und wirkend angenommen 
wird. Denn wäre es nicht als existirend angenommen, so könnte 
ja auch nicht einmal von seiner Verwechselung mit dem Wahr- 
nehmungsobject die Rede sein. Auch die anschauenden Thiere be- 
trachten die Dinge an sich als etwas sie causal Afficirendes, und 
diese Thatsache wird dadurch nicht berührt, dass sie die Dinge an 
sich in ihren Wahrnehmungsobjecten zu besitzen glauben, indem 
ihnen der in diesem Irrthum enthaltene Widersinn einer realen 
Affection durch ihre idealen Wahrnehmungsobjecte darum entgeht, 
weil sie nicht wissen, dass sie die von ihnen für Dinge an sich 
gehaltenen Vorstellungsobjecte unbewusster Weise selbst producirt 
haben. Wenn ein Thier vom andern gefressen wird, so zweifelt es 
nicht daran, dass seine Empfindungen dabei verursacht sind durch 
die fressende Thätigkeit des anderen, unbeschadet des Irrthums, 
dass es dieses fressende Thier mit seinem Wahrnehmungsobject 
desselben identificirt. Das Problem bleibt also bestehen, wie das 
Thier dazu kommt, überhaupt ein Ding an sich als Ursache seiner 
Empfindungen zu supponiren, und die Erklärung der Confusion des 
naiven Realismus aus Mangel an Unterscheidungsvermögen trägt zur 
Lösung dieses Problems nichts bei. 

Anmerkungen zu Capitel X. 

Nr. 144 (S. 187): Der stets wiederkehrende Irrthum: Antithese 
statt Synthese, Alternative statt Cooperation. 



334 Anmerkungen mir weiten Auflage. 

Nr. 145 (S. 187): Der Vorwurf ist begründet, insofern die 
Pb. d. U. jedes scheinbare Fehlen eines Hilfsmechanismus sogleich 
für den Schluss eines unmittelbaren teleologischen Eingriffs zu ver- 
werten sucht ohne die Untersuchung auf die Möglichkeit einer Ent- 
stehung von Hilismechanismen mit hinreichender Geduld zu Ende 
zu führen und zu erschöpfen, aber der Vorwurf ist unbegründet, in- 
sofern das „Neben" oder die Cooperation der unbewussten psychi- 
schen Function nicht erst bei Fehlen des Hilfsmechanismus erforder- 
lich ist, sondern auch bei seinem Vorhandensein. Bei dieser 
Anschauung hat das Maass von Unterstützung, welche der Eintritt 
der unbewussten Function an einem Hilfsmechanismus findet, nur 
eine secundäre Bedeutung; zur Null sinkt dasselbe schon deshalb 
niemals herab, weil mindestens das aus unorganischen Elementen 
constituirte Protoplasma als Basis gegeben ist, und auch dieses 
schon in seiner eigentümlichen Constitution als Hilfsmechanismus 
für die psychischen Functionen der Zelle oder Plastide betrachtet 
werden muss. 

Nr. 146 (S. 187) : Dieselbe ist auch keineswegs ausser Acht 
gelassen, nur im Abschnitt A nicht genügend berücksichtigt 
Auf S. 78—79 der dritten Auflage (7. Aufl. I. 8. 77) sind die Haupt- 
gründe angegeben, warum die physiologische Erklärung nicht für 
den Instinct ausreicht. Die Darwinsche Erklärung des Instmets 
zeigt nur, dass es in Herz und Ganglien Hilfsmechanismen giebt, 
die das Functioniren der Instincte erleichtern und befördern, sie 
rührt aber nicht an das Wesen des Instincts, lässt die Fälle un- 
erklärt, in denen die Entstehung solcher Hilfsmechanismen aus- 
geschlossen ist, und ebenso die Entstehung der Hilfsmechanismen 
selbst, besonders bei solchen Instincten, die superflua des Lebens 
betreffen und nicht nothwendig für die Erhaltung der Gattung sind 
(vgl. Wahrh. u. Irrth. im Darwinismus S. 118—123; 137—138; 77 
bis 79; auch oben Anm. 6). 

Nr. 147 (S. 187): Allerdings hat im Abschn. A das Capitel 
Instinct eine centrale Stellung, aber auch nur in diesem. Die Hy- 
pothese der teleologischen Eingriffe dagen stützt sich eben so sehr 
auch auf die übrigen Capitel und ganz besonders auf den Ab- 
schnitt B. Ausserdem ist in dem Anhang die Lehre von den Reflex- 
funetionen ab eine primitivere Form desselben Problems an Stelle 
des Instincts in die Position des Centrums gerückt, und das fie- 



Anmerkungen zu Gap. X. 335 

sultat ist dasselbe: Die Unentbehrlichkeit der Cooperation des 
Trägers des einheitlichen Individualzweeks höherer Ordnung. 

Nr. 148 (S. 188) : Dabei ist immer vorausgesetzt, dass die mole- 
cnlaren Prädispositionen wirklich für sich allein eine Erklärung 
bieten und dies gerade wird durch die Betrachtung der Genesis am 
entschiedensten widerlegt. 

Nr. 149 (S. 189): Es ist wohl zu beachten, dass, wenn man 
sowohl den Instinct, als auch die bewusste Reflexion als subjective 
Phänomene auffasst, welche durch Cooperation von molecularen Dis- 
positionen und psychischen Functionen geschaffen worden, dass dann 
die sonst verschlossene Möglichkeit eines flüssigen Ueberganges 
von einem zum andern Phänomen sich eröflhet, so dass eine scharfe 
Grenze zwischen ihnen nicht mehr zu ziehen ist. So verstanden ist 
allerdings der Polymorphismus der Instincte und die zweckthätige 
Reflexion mit mehr oder minder abgekürzter Ideenassociation für die 
gegebenen psychischen Phänomene erschöpfend; nur ist nicht zu 
vergessen, dass das Teleologische in der bewussten Reflexion selbst 
wieder auf eine unbewusste psychische Function hinweist, die mit 
dem psychischen Factor des Instincts identisch ist Eine das Han- 
deln teleologisch modificirende psychische Function, welche in einem 
entwickelten Intellect als zweckthätige Reflexion erscheint, wird in 
einem Intellect von niederer Stufe Instinct genannt werden müssen, 
und zwar Instinct ohne specifische Prädisposition. 

Nr. 150 (S. 190) : Der erste Theil dieses Satzes ist richtig, aber 
nicht der letzte, der auf der irrthümlichen Antithese fusst. 

Nr. 151 (S. 191): Hierbei ist verkannt, dass der unbewusste 
Zweck sich auch da durchsetzt, wo die Prädispositionen noch nicht 
vorhanden sind, nämlich als teleologische Function, welche zugleich 
auch die Prädispositionen bildet. Gleichgültig ist dabei, inwieweit 
diese teleologische Function in's Bewusstsein fällt; sie wird es um 
so mehr, je höher der ganze Intellect entwickelt ist Aber auch im 
letzteren Falle ist das Teleologische an dieser Function deshalb um 
nichts erklärlicher, weil wir die Teleologie unserer bewussten Re- 
flexion selbstverständlich zu finden gewohnt sind. Das an 
uns selbst Gewöhnte übertragen wir in zu hohem Grade auf die 
Thiere (Ph. d. U. I. 377), bei denen diese Function um so 
sicherer unbewusst bleibt, je tiefer dieselben stehen (man denke 
z. B. an eine spinnende Raupe). Auch die Teleologie der bewussten 



336 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

Ueberlegung entspringt ans unbewussten teleologischen Functionen 
(Ph. d. ü. I 388—389, 462-466); mögen noch so viele Zwischen- 
resnltate vor dem Bewnsstwerden des Endresultats discursiv in's 
Bewusstsein treten, so sind doch die Uebergänge von einem Rnhe- 
pnnkt znm andern allemal nnbewusste Function, und doch steckt 
nur in diesen Uebergängen das Leben des Gedankens, das Logische 
und Teleologische seiner Bewegung. Da der thatsächlich gegebene 
flttssige Uebergang zwischen Modificationen des Instincts und be- 
wusster zwecktbätiger Reflexion niemals dazu führen kann, den 
teleologischen Charakter der in der bewussten Reflexion wirk- 
samen unbewusst logischen Function in Frage zu stellen, so muss 
er umgekehrt als Beweis dafür betrachtet werden, dass die nn- 
bewnssten Functionen die bei der Modification des Instincts auf- 
treten, gleichfalls teleologische Aeusserungen des unbewusst-Logi- 
schen sind. 

Nr. 152 (S. 191): Der nnbewusste Zweck bleibt nicht aus, aber 
er findet unter Umständen nicht die nöthigen Anhaltspunkte zu 
seiner Bealisirung in dem betreffenden Nervencentrum, wobei die 
Empfindungen und Gedächtnissprädispositionen als Material dienen. 
So z. B. findet der Zweck erst im Protoplasma die Bedingung des 
Lebens, aber nicht in einem unorganisirten Eiweisstropfen. Das 
Vorhandensein der Bedingungen seiner Realisirung, (d. h. die Prä- 
disposition im weiteren Sinne) ist die Garantie seines Zur-Er- 
scheinung-Eommens. 

Nr. 153 (S. 192): In der That kann dieser Umstand für die 
Frage der Sufficienz oder Insufficienz der Atome nichts beweisen, 
und ist auch dergleichen von der Ph. d. U. nicht behauptet worden. 
Dass dieselbe die mechanische Vermittelung beim Instinct im Unter- 
schied von derjenigen bei der abwägenden Reflexion auf die Zeit- 
dauer zu betrachten unterliess, ist eine hier mit Recht gerügte Ver- 
säumniss. Aber ihre Folgerung bleibt darum doch zweifellos richtig 
für den Fall der Insufficienz der Atome. Denn wenn alle Zeit, 
welche bei der Function vorkommt, auf Rechnung des Hilfsmecha- 
nismus zu setzen ist, so bleibt doch ganz sicher für eine hinzu- 
kommende psychische Function keine Separatzeit übrig. (Vgl. Pb. 
d. U. IL 467—468). 

Nr. 154 (S. 192) : Die zeitlose Momentaneität findet in der Er- 
fahrung allerdings eine Stütze, aber nur indirect oder negativ, 



Anmerkungen zu Cap. X, 337 

insofern die Empirie alle Zeit auf Rechnung des Spiels der Mecha- 
nismen schreibt. Vgl. PL d. IL 467—468. 

Nr. 155 (S. 193): Dies wäre nur unter der Voraussetzung 
richtig, dass der Individualwilie höherer Ordnung blosses Summa- 
tionsphänomen der Atomwillen wäre, welche Voraussetzung von der 
Fh. d. U. eben nicht getheilt wird. Auch die Motivation des zu 
dem Summationsphänomen der Atome hinzukommenden Individual- 
willens gilt ihr als streng determinirt; eben darum hängt das 
Froduct yon der Bestimmtheit beider Factoren ab, d. h. jeder 
einzelne prädisponirt nur zur Herstellung desselben. 

Nr, 156 (S, 193): Wenn der Individualwilie als metaphysischer 
Träger des Individualzwecks höherer Ordnung mit den particula- 
ristischen und centrifugalen Interessen der Individualwillen niederer 
Ordnung colli dir t, so ist er eben nicht fünftes Rad am Wagen, 
sondern seine centripetalen Functionen sind nothwendig, um die 
Leistungsfähigkeit der Glieder zur Einheit zu lenken, und durch 
centripetale Einflüsse ihre centrifugalen Tendenzen zu paralysirqn 
und zu überbieten. 

Nr. 157 (S. 193): Diese Ansicht des älteren rationalistischen 
Theismus wird dort gerade negirt. Uebrigens sind die Argumente 
gegen die alleinige Zulänglichkeit eines solchen Mechanismus offen- 
bar nicht davon abhängig, ob die Herstellung des letzteren als un- 
mittelbare Schöpfung oder als eine natürlich vermittelte Entwickelung 
gedacht wird. 

Nr. 158 (S. 194): Das metaphysische allein reicht aus, wo es 
sich um Herstellung einer Prädisposition handelt; das physio- 
logische allein reicht nicht aus, da die psychische Zweckf unction 
nicht bloss Summationsphänomen der Atomfunctionen ist. Auch bei 
der Erklärung der Gonstanz der Instincte sind beide Erklärungen 
wahr, und nur das falsch, dass eine die andere ausschliesst. 
Die Gonstanz der Prädispositionen dient der Gonstanz der Individual- 
zwecke als natürliche Vermittelung ; die Prädispositionen bleiben 
gerade nur so lange constant, als die Individualzwecke es blei- 
ben, und wandeln sich um, wenn diese sich modificiren. Die 
Constanz der Individualzwecke ist deshalb der tiefere Grund, bei 
dem aber die natürliche Vermittelung nicht ausser Acht gelassen 
werden darf; die letztere bietet zwar die nächstliegende 

E. v. Ilartmunn, Das Unbewnsste. 2. Aufl. 22 



338 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

causale Erklärung, aber diese ist für sich allein unzureichend, 
ein wirkliches Verständniss der Sache zu geben (vgl. Anm. 6 u. 1). 

Nr. 159 (S. 194): Da jede materielle und immaterielle Function 
in letzter Instanz ein metaphysischer Eingriff in die Summe der 
übrigen Individuen in der Welt ist, so gelangt alle Wissenschaft 
nicht weiter als zu der Einsicht, dass jeder solche Eingriff 
gesetzmässig determinirt ist, und sie hat die Erscheinung 
erklärt, wenn sie das Determinationsgesetz derselben enthüllt 
hat. Dies muss nur auch für die organischen Entwicklungsgesetze 
geschehen, d. h. man darf solche nicht a priori leugnen. 

Nr. 160 (S. 195): Inwieweit die unbestrittene natürliche Ver- 
mittelung sich in allmählicher Umbildung, inwieweit sie sich in 
Sprüngen bewegt, ist eine Frage von secundärer Bedeutung, und 
jedenfalls noch offene Frage („W. u. I. in Darw. IIP 1 ). 

Nr. 161 (S. 195): Wenn demnach sogar im organischen Bilden 
das organisirende Princip (als Träger der teleologischen Bildungs- 
und Entwickelungsgesetze) sich als unentbehrlich herausstellt (wie in 
der Ph. d. U. u. W. u. I. im Darw.) so wird dies für den Instinct 
erst recht zu erwarten sein; ebenso wird die Entscheidung der 
Frage, ob allmähliche oder sprungweise Umwandlung auf dem Ge- 
biet der phylogenetischen Entwickelung der Typen ein Präjudiz 
abgeben können für die gleiche Frage bei Entwickelung des 
Instincts. 

Nr. 162 (S. 195): Hier sind die Principien der geschlechtlichen 
Zuchtwahl und des Gebrauchs und Nichtgebrauchs nicht anwendbar, 
welche bei höheren Thieren wesentlich die Genesis des Instincts 
erklären sollen. Der unbewusst-teleologische Charakter der durch 
natürliche Zuchtwahl zu fixirenden Variationen ist deshalb hier am 
eclatantesten. 

Nr. 163 (S. 195): Die Function geht vielmehr immer um einen 
Schritt voran. 

Nr. 164 (S. 196): Das ist eine unerwiesene Annahme. 

Nr. 165 (S. 196): Doch! Gleichviel ob die Zuwachse minimal 
sind oder nicht, so muss immer der Functionszuwachs das Prins 
des Organzuwachses sein; insoweit also die Zuwachse nicht bloss 
quantitative Steigerung, sondern auch qualitative Differenzirungen 
betreffen, erfolgen sie ohne ererbten specifischen Hilfsmechanismns. 

Nr. 166 (S. 196): Vgl. Anm. 149 und 151. 



Anmerkungen zu Cap. X. 339 

Nr. 167 (S. 196): Das Beispiel ist im Pflanzenreich und bei 
den niederen Thieren ausgeschlossen, wo keine Erziehung der 
Jungen und keine Geselligkeit besteht und doch sind die Instincte 
gerade dort am mächtigsten. 

Nr. 168 (S. 196): Durch Gewohnheit befestigen kann sich nur 
eine häufig im Leben wiederkehrende Handlung. Viele Instincte, 
(besonders bei niederen Thieren und Pflanzen) treten aber nur 
einmal im Individualleben auf, z. B. das Einspinnen der Baupen, 
die Fortpflanzungsinstincte der Insecten. Wir kennen kein Beispiel, 
dass eine einmalige Handlung genüge, um eine vererbbare Dispo- 
sition auszuprägen oder auch nur vorhandene Dispositionen merklich 
und in vererbbarer Weise zu modificiren. Die individuelle Be- 
festigung durch Gewohnheit (d. h. häufige Wiederholung) ist also 
Vorbedingung der Vererbung und um so mehr der Addition durch 
Vererbung. 

Nr. 169 (S. 197): Von solchen kann bei niederen Thieren und 
Pflanzen doch wohl überhaupt noch nicht die Bede sein. Hieraus 
geht hervor, dass die Modificationen der Instincte durch das La- 
marck'sche Princip überhaupt nur eine auxiliäre und secundäre Be- 
deutung haben, und erst verhältnissmässig spät in der Entwickelungs- 
geschichte der Organisation auf Erden einsetzen; dass also das 
eigentliche Erklärungsprincip des Instincts ein anderes sein muss. 
(Vgl. Darwin's „Entstehung der Arten" S. 236 und oben Anm. 6.) 
Die Selection setzt immer die zweckmässigen Instincte oder Modi- 
ficationen voraus, welche durch sie befestigt werden, also ist auch 
sie nicht das Fundamentalprincip, sondern letzteres ist nur in dem- 
jenigen zu suchen, was da macht, dass solche zweckmässige Func- 
tionen oder Modificationen auftreten. Dass die Auslese aus den 
Besultaten einer völlig zufälligen, also allseitigen und unbestimmten 
Modificabilität der Function stattfinde, ist ein schwerer principieller 
Irrthum des mechanistischen Darwinismus, der noch schlagender als 
im Bereich des organischen' Bildens in dem des Instincts seine that- 
sächliche Widerlegung findet. 

Nr. 170 (S. 197): Vgl. Anm. 168. 

Nr. 171 (S. 200): Da zwischen den angeführten Beispielen eine 
genealogische Descendenz keineswegs zu behaupten ist, so ist auch 
durch die Zusammenstellung dieser systematisch verwandten Instincte 
nichts weiter dargethan als die Möglichkeit, dass der Bau- 

22* 



340 » Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

inBtinct unserer Biene ahn liehe Vorstufen durchlaufen haben 
könne. Aber auch dann, wenn diese Möglichkeit zur Gewissheit 
erhoben werden könnte, würde das Verständniss dieses natürlichen 
Vermittelungsganges nicht das Geringste gegen dessen teleologische 
Bestimmung beweisen. Ausserdem ist bei diesem Beispiel zu be- 
achten, dass alle Individuen, die der Einwirkung der Gewohnheit 
unterworfen sind, nicht an der Fortpflanzung theilnehmen, also auch 
ihre erworbenen Prädispositionen nicht vererben können. Darwin 
sieht diese Schwierigkeit wohl, aber er glaubt irrthümlicher Weise, 
sie durch Verweisung auf das Correlationsgesetz und die Selection 
in Familien mildern zu können, obwohl doch die Erhaltung und 
Steigerung der erworbenen Fertigkeiten durch Vererbung hier völlig 
unmöglich ist. („Entst. d. Arten" S. 265—266). 

Nr. 172 (S. 201): Für die Wespen und Bienen ist das Vor- 
handensein einer nennenswerthen Zeichensprache durch neuere 
sorgfältige Untersuchungen wieder stark in Frage gestellt worden. 
Wie dem auch sei, so wird die Analogie eines Indianertrupps 
keinenfalls hinreichen, um die Cooperationen eines Bienenschwarms 
hinreichend positiv verständlich zu machen, wenngleich er das 
Fehlen störender Factoren zu erläutern geeignet ist. Das Wesent- 
liche ist der Polymorphismus der Bauinstincte und die Reaction der 
verschiedenen Formen je nach den Motiven; polymorphe Instincte 
sind aber offenbar noch schwieriger zu erklären als monomorphe. 
Ausserdem ist bei der Vertheilung der polymorphen Formen an 
verschiedene Individuen an das Correlationsgesetz zu denken, das 
nicht bloss bei verwachsenen, sondern auch bei getrennten Indivi- 
duen (ja sogar bei verschiedenen Gattungen) wirksam ist. Auch 
die socialen Instincte der Menschheit (z. B. Sittlichkeit) sind wie 
alle trans-egoistischen Functionen und Prädispositionen darwinistisoh 
als Ausflüsse des Correlationsgesetzes zu bezeichnen. Ueberall aber, 
wo das Correlatio&sgesetz getrennte Individuen betrifft, ist der Ge- 
danke an eine mechanische Erklärung der correlativen Variationen 
und Einrichtungen ausgeschlossen. 

Nr. 173 (S. 202) : Woher diese letzteren ihre Abneigung und 
Vorsicht haben, bleibt dabei unerklärt, und besonders gegenüber den 
schädlichen Pflanzen auf der Weide ist diese Abneigung auffallend. 

Nr. 174 (S. 202): Bei dieser Erklärung ist die unannehmbare 
Voraussetzung gemacht, dass ein Thier, welches auf der Weide 



Anmerkungen zu Gap. X. 341 

allerlei Pflanzen durcheinander gefressen hat und naehher unwohl 
wird, dieses Unwohlsein auf einige der gefressenen Pflanzen von 
bestimmter Species in Gedanken causal bezieht und den Entschluss 
fasst, diese Species künftig zu vermeiden. (Vgl. S. 203 Z. 3 v. unt. 
bis 204 Z. 2). 

' Nr. 175 (8. 202): Es ist kein Zweifel, dass eine Abneigung 
des Geschmacks die natürliche Vermittelang für die teleologische 
Vorsicht bildet und dass bei der Genesis dieser Geschmaekadisposition 
die Selection eine mehr oder minder erhebliche Rolle spielt. Die 
Hauptsache aber bleibt doch eine Gorrelation des organischen Bil 
dens zwischen der Beschaffenheit der Organe, denen gewisse Stoffe 
schädlich sind, nnd dem Geschmack, den diese Stoffe anwidern. 
Erst auf der Basis dieser teleologischen Correlation kann die Selec- 
tion etwas leisten. (Vgl. „W. iL I. im Darw." S. 79—81). 

Nr. 176 (S. 202): Nicht die Entstehung solcher Instincte 
erklärt sich auf diese Weise, sondern nur die Befestigung der 
anderweitig entstandenen. 

Nr. 177 (S. 203): Hierbei ist übersehen, dass zur Vererbung 
Befestigung der Disposition, und zur Befestigung Gewöhnung durch 
häufige Wiederholung unerlässlich ist (vgl Anm. 168). Die Ganglien- 
disposition muss hier durch organische Bildungsgesetze erzeugt 
werden, welche von Gewohnheit und Befestigung unabhängig sind. 

Nr. 178 (S. 203): Ich erkenne an, dass der Ausdruck nicht 
glücklich gewählt war; obwohl die Analogie mit dem somnambulen 
Hellsehen ihre Geltung behält, so musste doch die weitgreifende 
Verallgemeinerung eines aus einem so dunklen und bestrittenen 
Gebiete entlehnten Ausdrucks vielseitig Anstoss erregen. Wo die 
Disposition fertig vorliegt, ist das teleologische Resultat zwar durch 
den Hilfsmechanismus vorbereitet, aber doch nicht ohne Mitwirkung 
der psychischen Function vollziehbar, die zu den subjectiven Atom- 
functionen hinzukommt Wo dagegen eine Disposition oder ein 
Zuwachs an solcher erst gebildet wird, da ist die Unmittelbarkeit 
des teleologischen Charakters der bildenden Function unbestreitbar, 
und diese Unmittelbarkeit sollte durch den Ausdruck Hellsehen be- 
zeichnet werden, nichts weiter. 

Nr. 179 (S. 204): Die Unmittelbarkeit der teleologischen Be- 
tätigung bleibt auch in diesem Falle beschränkt auf die teleolo- 
gischen Functionen, respective Functionszuwachse , welche diese 



342 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

Prädisposition herausgebildet haben, die durch Selection befestigt 
wurde. 

Nr. 180 (S. 204): Vorstehende Bemerkungen haben dargethan, 
dass die Ph. d. U. das richtige Princip ergriffen, aber die Ver- 
mittelung desselben theils übersehen, theils unterschätzt hat, während 
die Gegenschrift den Fehler begeht, das eigentliche Princip zu 
leugnen und die Vermittelung durch technische Behelfe für eine 
prinzipielle Erklärung zu halten. 

Anmerkungen zu Capitel XL 

Nr. 181 (S. 206): Die Entscheidung dieser Frage hängt wesent- 
lich davon ab, ob der betreffende Wille als blosses Summations- 
phänomen der ihn constituirenden Atomwillen aufgefasst wird oder 
nicht. Nur im ersteren Falle bleibt die Frage offen, wie die Gegen- 
schrift mit Recht annimmt, im letzteren Falle aber ist sie zu Gunsten 
einer actuellen unbewussten Vorstellung, wenigstens für das hinzu- 
kommende Plus, entschieden. 

Nr. 182 (S. 207): Die Ph. d. ü. versteht dabei unter Instinct 
das Princip der teleologischen Function vor und über allen Hilfs- 
mechanismen, die Gegenschrift versteht darunter den Hilfsmecha- 
nismus selbst; beides ist einseitig, aber das letztere der Wahrheit 
noch ferner. In der That ist die schroffe Entgegensetzung zwischen 
Instinct und Uebung, wie die Ph. d. U. sie giebt, unrichtig; aber 
nicht aus dem Grunde, den die Gegenschrift angiebt, weil die 
gleichen Hilfsmechanismen in beiden Fällen benutzt werden, sondern 
weil es die nämliche unmittelbare teleologische psychische Function 
ist, welche sich im Instinct und in der bewussten Zweckthätigkeit 
absichtlicher Einübung documentirt. 

Nr. 183 (S. 210) : Dieser Vorgang kann eintreten, aber nur bei 
Fertigkeiten, die ausserhalb des Anpassungsgleichgewichts der 
Species liegen (wenn z. B. ein Mensch seiltanzen oder Schlittschuh- 
laufen lernt). Die Generalisation desselben ist verfehlt, weil die 
anderen Nervencentra im Thierreich längst die nöthigen Keflex- 
functionen besitzen, ehe es ein Grosshirn giebt, welches ihnen die- 
selben einüben könnte. Auch das Grosshirn hat sich aus einem 
den übrigen coordinirten Centrum zum primus inier pares herauf- 
gearbeitet, so dass die Verlegung der Erklärung in dieses nur eine 



Anmerkungen zu Cap. XL 343 

Verschiebung des Problems wäre, die seine Lösung im Princip nicht 
fördert. Aus alledem geht hervor, dass, der Regel nach, die teleo- 
logischen Functionen, welche die Reflexprädispostionen eingraben, 
innerhalb jedes Centrums selbst zu suchen sind. 

Nr. 184 (S. 210): Dass die Darwinsche Seleotion wie das 
Lamarck'sche Princip hierfür ohne die Basis unmittelbarer teleologi- 
scher psychischer Functionen unzureichend sind, ist zur Genüge 
erörtert. 

Nr. 185 (S. 211): Die Abhandlung „Zur Phys. der Nervencentra" 
hat zur Genüge dargethan, dass auch ohne sich auf eine vorher- 
gehende teleologische Auffassung des Instiiicts zu stützen, der teleo- 
logische Charakter und die psychische Innerlichkeit der Reflexfunc- 
tion im Sinne des spiritualistischen Monismus aufrecht zu erhalten sind. 

Nr. 186 (S 212): Hier ist, wie oben (Allg. Vorbemerk. Nr. 9) 
gezeigt, der Descendenztheorie zugeschrieben, was nur von der 
Selectionstheorie gelten könnte, wenn nämlich sie eine Wahrheit 
im Sinne Haeckel's wäre. 

Nr. 187 (S. 213): Das Vorstehende ist eine berechtigte Correc- 
tur der Unterschätzung der Tragweite und Leistungsfähigkeit me- 
chanischer Vermittelungen im Abschn. A. der PL d. U. 

Nr. 188 (S. 215): Vgl. Ph. d. ü. I. 448—449. 

Nr. 189 (S. 217): Auch diese Darlegungen enthalten das Rich- 
tige, dass die Ph. d. U. die natürliche Vermittelung bei der Reali- 
sation ideeller Typen theils unterschätzt, theils übersehen und 
übersprungen hat. Zwar ist daran zu erinnern, dass in Pflanzen 
und niederen Thieren diese Vermittelung eine einfachere ist, aber 
doch nur im Zusammenhang mit der grösseren Einfachheit der 
Aufgaben. Es ist festzuhalten, dass in Organismen, wo einmal 
Ganglien- und Nervencentren entwickelt sind, diese Organe zur Ver- 
mittelung der Idee (in Production und Beproduction) auch sicher 
nicht übergangen werden. Wie weit für solche vegetative Functio- 
nen Prädispositionen in den Centren vorgebildet werden und wie 
weit (etwa bei abnormen Verletzungen) eine unmittelbare teleologische 
Function eintritt, bleibt offene Frage. Ein gewisser Polymorphis- 
mus der vegetativen Prädispositionen wird auch hier gute Dienste 
leisten (z. B. Kopf und Schwanz des Regenwurms). Für die Ent- 
stehung der Prädispositionen bleiben aber die allgemeinen Erwä- 
gungen auch hier maassgebend (vgl. auch Anm. 76). 



344 Anmerkungen rar zweiten Auflage. 

Nr. 190 (S. 220) : Nicht sofern die Prädispoeitionen mechanisch 
fonctioniren, wohl aber, sofern eine unbewegte psychische Function 
mitwirkend zu ihnen hinzukommt, ganz besonders insoweit letztere 
modificirend im teleologischen Sinne eingreift, und so zur Entstehung 
und Modification der Dispositionen Anlass giebt, ist dabei von 
Hellsehen zu sprechen. Gerade bei diesen Vorgängen ist die Un- 
bewusstheit der psychischen Functionen ausser Zweifel, und ebenso 
gewiss ist es, dass sie Individualzwecke höherer Ordnung verfolgen, 
deren Erfüllung zugleich die Realisimng der Idee auf einer be- 
stimmten Stufe repräsentirt 

Nr. 191 (S. 221): Sie bedürfen aber, um aus dem Zustand des 
Keimes in das entwickelte Leben zu treten, einer fortlaufenden 
Reihe von Betätigungen des Individualwillens höherer Ordnung 
gegen die centrifugalen Individualwillen niederer Ordnung, und 
nichts anderes ist es, was die Ph. d. U. als teleologische Eingriffe 
bezeichnet (vgl. Anm. 81). 

Nr. 192 (S. 222) : Diese Andeutung ist insofern von Wichtigkeit, 
als sie schon vor Haeckel's Perigenesis in directem Gegensatz gegen 
Darwin's Pangenesis und ihrer stofflichen Uebertragung, den dyna- 
mischen Einfluss zur Geltung bringt (vgl. Anm. 76). Findet die 
Idee zu ihrer Realisirung keinen geeigneteren Angriffspunkt als 
das Nervensystem, so ist anzunehmen, dass auch bei der Bildung 
der Fortpflanzungszellen die Oentralorgane des ganzen Nerven- 
systems unbewusst dynamisch betheiligt sind und so die Reproduc- 
tion desselben Typus im Keim anstreben, den sie bisher als ent- 
wickeltes Dasein zu producireri und zu erhalten bestrebt waren 
(vgl. Anm. 189). 

Nr. 193 (S. 223): Die vorhandenen Mechanismen und die Ge- 
wöhnung des Organismus an die Zulänglichkeit ihres Spiels unter 
normalen Umständen wirkt wie das Verrennen in eine Sackgasse 
bei der Ausbildung starker einseitiger Differenzirungen. Um des 
teleologischen Fortschritt zu ermöglichen, ist dann erst eine gewisse 
Umkehr erforderlich« Die Befestigung einer prädkponirenden Be- 
actionsrichtung wirkt präoccupirend (wie im Denken das Vorurtheil) 
und macht den Boden für den Eintritt der unmittelbaren teleologi- 
schen Function ungünstig. Günstiger ist derselbe bei relativer 
tabula ram (ebenso wie im organischen Entwickelungsgange), wo 
keine Vorurtheile mechanischer Anpassung zu überwinden sind. 



Anmerkungen zu Gap. XI. 345 

Uebrigens zeigt die Erfahrung, dass dieselben, wo es noth thut, 
von der unmittelbaren teleologischen Function überwunden werden 
(Aenderung der Instinete) und jedenfalls immer noch leichter als in 
der organischen Typenentwickelung. 

Nr. 194 (S. 223): Das sind dann teleologisch genommen Adia- 
phora, bei denen das Fehlen einer Correctur durch unmittelbare 
teleologische Function nichts gegen das Vorhandensein und die 
Wirksamkeit einer solchen beweist. 

Kr. 195 (S. 224); Solche Reactionen sind dann eben selbst 
secundäre pathologische Symptome, die ebenso wenig wie die pri- 
mären etwas gegen die Teleologie der Organisation beweisen. Wäre 
die Naturheilkraft stärker als alle Krankheit (wozu auch Alters- 
schwäche gehört), so müssten die Organismen unsterblich sein, was 
gar nicht den teleologischen Intentionen der Natur entspräche. 

Nr. 196 (S. 224): Vgl. „Wahrh. und Irrth, im Darwinismus" 
S. 119—120. 

Nr. 197 (S. 224): Harmonie erfordert fundamentale Einheit in 
der Blannichfaltigkeit, ohne diese ist concrete Uebereinstimmnng des 
Entgegengesetzten nicht möglich. Dass bei aller fundamentalen 
Einheit in den Organisationstypen die Mannichfaltigkeit nicht zu 
kurz gekommen ist, darin zeigt sich gerade die volle künstlerische 
Genialität der schöpferischen Idee; denn solche besteht nicht in 
planloser Vielheit, sondern in der erschöpfenden Durchbildung de» 
einmal vorgenommenen Grundgedankens oder Themas (nan mutta 
sed muüum). 

Nr. 198 (S. 225): Diese Antithese ist nur Durchgangspunkt 
für die Synthese: eignes Werk auf der Basis und mit den techni- 
schen Htilfsmitteln der Ahnen, ebenso wie jedes technische Werk 
oder jede geistige Leistung individuelle Schöpfung auf der Grund- 
lage des ganzen überkommenen Besitzes der geistigen Errungen- 
schaften d^r Vorfahren ist. — Wenn Jemand mittelst einer Leiter 
einen Balkon erklettert, so wird man doch sagen müssen, dass er 
es war, der sich von der obersten Sprosse der Leiter auf den Bal- 
kon hinaufgeschwungen; ohne die Leiter hätte er es freilich 
nicht gekonnt; aber selbst die Leiter würde ihm nichts genützt 
haben, wenn er nicht durch eigene Kraft Sprosse für Sprosse an 
Ihr hinaufgestiegen wäre. 



346 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

Nr. 199 (S. 225): Verwechselung von Descendenztheorie nnd 
Selectionstheorie (vgl. Allg. Vorbemerk. Nr. 9). 

Anmerkungen zu Cap. XIL 

Nr. 200 (S. 225) : Heute würde das Werk gleich im Sinne einer 
solchen Synthese geschrieben worden sein, wie die Abhandlung 
„Zur Phys. d. Nervencentra" es ist, und wie diese Anmerkungen es 
näher erläutern (vgl. Allg. Vorbemerk. Nr. 8). 

Nr. 201 (S. 227): Es ist alles Dreies richtig, nur unter ver- 
schiedenen Gesichtspunkten : in der Welt der subjectiven Erscheinung, 
sofern dieselbe naiv-realistisch für eine an sich seiende Welt gehal 
ten wird, ist der Stoff das Maassgebende; in der objectiv realen 
Welt des transcendentalen Realismus regelt sich das Spiel der Kräfte 
nach causalen Gesetzen; aus der Perspective der Metaphysik 
erscheinen die causalen Gesetze selbst wieder als Ausdruck teleologi- 
scher Functionen, die in ihrer Vertheilung auf verschiedene Indivi- 
duen zugleich individuelle Eingriffe sind. Vom subjectiv phänomenalen 
Standpunkt bleibt der Stoff, obwohl Illusion, unantastbar; vom ob- 
jectiv phänomenalen Standpunkt löst er sich in causale Gesetze auf 
und bildet die Domäne der Naturwissenschaft; diese Gesetze sind 
selbst wieder philosophisch betrachtet lauter motivirte Beactionen 
von Individuen verschiedener Ordnungen, deren jede als Eingriff in 
die Summe der Thätigkeiten der übrigen sich darstellt; diese Moti- 
vationsprocesse sammt ihren Resultaten endlich sind Manifestationen 
des unbewusst-Logischen in diesen Individuen, und wenn man sie 
monistisch statt individualistisch betrachtet, so sind sie logische 
Momente der absoluten Idee, welche durch ihre teleologische Spe- 
cialisirung erst die Individuation erzeugen. 

Nr. 202 (S. 228): Dass die vorhandenen Lücken der weiteren 
Erforschung mechanischer Vermittelungen offen bleiben sollen, habe 
ich wiederholt gesagt, sogar die Möglichkeit zugestanden, dass 
die mechanische Vermittelung zuletzt keine Lücken mehr übrig lasse; 
eben darin liegt aber auch, dass individualistisch genommen die 
teleologische Function mir kein asylum ignorantiae ist, sondern 
etwas, das durch den Nachweis mechanischer Vermittelung eher 
unterstützt als geschädigt wird. Dagegen habe ich die vollständige 
Ausfüllung solcher Lücken allerdings für unwahrscheinlich erachten 



Anmerkungen zu Gap. XII. 347 

müssen, und ans beiden Gründen sind die auf das asylum ignorantiae 
gebauten nachfolgenden Schlüsse grandlos. 

Nr. 203 (S. 228): Wenn Alles teleologische Eingriffe sind, so 
bleibt auch deren Subject bestehen, obschon vom monistischen Stand- 
punkt des Absoluten betrachtet nichts ein Eingriff genannt wer- 
den kann. 

Nr. 204 (S. 228): Vgl. die Anm. 40—46 und 53—75, 

Nr. 205 (S. 228): Nicht deren Unhaltbarkeit ist nachgewiesen, 
sondern nur das Vorhandensein mechanischer Vermittelungen, die 
von der Ph. d. U. übersehen waren. 

Nr. 206 (S. 229): Dieser Gegensatz wird dauernde Bedeutung 
behalten, und wie der Hegelianismus eine Rechte und eine Linke 
gehabt hat, so wird auch die Anhängerschaft der Ph. d. U. sich in 
solche Richtungen sondern. Da nun aber „Eingriff' überhaupt nur 
eine Bezeichnung vom individualistischen Standpunkt aus ist und 
von diesem genommen auch die gesetzmässigen Atomfunctionen 
Eingriffe sind, so ist der Unterschied doch wieder geringer als er 
scheint (vgl. Anm. 201). Das metaphysische Unbewusste bleibt 
jedenfalls bestehen, und seine individualisirten Actionen sind einer- 
seits teleologisch motivirt, andrerseits ihrem Effect nach Eingriffe 
in die Summe der übrigen Actionen. Das Subject der teleologischen 
Eingriffe ist selbst das metaphysische Unbewusste, und es ist eine 
secundäre Frage, ob zu den Atomfunctionen und deren Summations- 
phänomen noch Functionen hinzukommen, welche die Individual- 
zwecke der Individuen höherer Ordnung realisiren, indem sie deren 
Einheit gegen die egoistischen Individualzwecke der Individuen 
niederer Ordnung vertreten. Metaphysisch betrachtet ist dies eine 
Frage nach den Beziehungen der verschiedenen Objectivationsstufen 
der Idee untereinander, und ist aus diesem Gesichtspunkt nicht zu 
Gunsten der Gegenschrift zu lösen (vgl. „Neukant., Schopenh. und 
Hegelianismus" S. 350—353). 

Nr. 207 (S. 230): Wennschon an manchen Stellen der Ph. d. U. 
eine schärfere Auseinanderhaltung des relativ und des absolut Un- 
bewussten zu empfehlen gewesen wäre, so ist doch eine völlige 
Sonderung und getrennte Durchführung nicht thunlich. Denn erstens 
wissen wir gar nicht, und haben kein Mittel, zu constatiren, wie 
viel vom absolut Unbewussten in untergeordneten Centralorganen 
oder in Zellen der organischen Moleculen zum Bewusstsein kommt 



348 Anmerkungen zar zweiten Auflage. 

und wie viel nicht, und zweitens ist bei allem Bewusstwerden doch 
immer nur das Resultat des Empfindung^-, Motivations- oder 
Vorstellungsprocesöes beleuchtet, während die dasselbe produeirende 
psychische Function absolut unbewusst bleibt. Gerade in letzterer 
liegt aber das Teleologische, sowohl in den Denkprocessen der 
Hirnrinde wie in den einfachsten Reflexen der Protisten. 

Nr. 208 (S. 280): Was daran teleolgische Function ist, bleibt 
absolut unbewusst. 

Nr. 209 (S. 281) : Einen materiellen Mechanismus als solchen 
kann man nicht einem Begriffe (dem Unbewussten) als Species sub- 
sumiren, der durchaus nur als psychische Function gemeint und 
verstanden ist. Nur das actuelle Functioniren dieses Mechanismus 
kann, insofern es zugleich innerliche psychische und doch noch 
nicht bewusste Function ist, dem Unbewussten subsumirt werden. 
Dann kann aber wieder nicht mehr vom physiologischen Un- 
bewussten gesprochen werden, höchstens vom psycbo-physischen 
und auch das nur im Hinblick auf dessen innerliche psychische 
Seite. Die Ph. d. U. hat immer nur die unbewusste psychische 
Function im Auge, mag dieselbe nun auf einfachere oder complicir- 
tere mechanische Hülfsmittel sich stützen (auf Protoplasma, das noch 
tabula rasa ist, oder auf solches mit befestigten Prädispositionen). 
Die Function ist immer psychischer, teleologischer, unbewusster Art, 
mag sie die Prädisposition erst zu bilden bemüht sein, oder auf 
eine schon gebildete sich stützen. Dies würde genügen, um die 
Ph. d. U. zur Ablehnung der hier verlangten schroffen Scheidung 
zu berechtigen, auch wenn nicht an einem zu dem Summations- 
phänomen der Atome hinzukommenden Plus festzuhalten wäre. 

Nr. 210 (S. 233) : So wichtig das Studium der prädispositionellen 
Hilfsmittel des Unbewussten, und so fruchtbar die hierdurch für 
die zu erwartenden Functionsrichtungen gewonnenen Fingerzeige 
zu erachten sind, so ist doch nochmals dringend vor Verwechselung 
dieser technischen Behelfe mit der psychischen Function selbst zu 
warnen, ebenso wie vor einer in Naturforscherkreisen beliebten 
Verwechselung von Physiologie und Psychologie. Es ist immer 
wieder darauf hinzuweisen, dass jede Function das Prius ihres 
Organismus ist, und deshalb niemals durch Studium des Organs 
allein das Verständniss und die Erklärung der es bildenden und 
benutzenden Function gewonnen werden kann. 



AnmerkuDgea au Gap. XIL 349 

Nr. 211 (S. 234): Hütet man sich, jenes „Vor" im zeitlichen 
Sinne zu missdeuten, so kann das Perhorresciren typischer Gattungs- 
ideen als des idealen Prius ihrer Realisation dnreh natürliche Vermit- 
teluDg nur als natnrforscherliches Vorurtheil ans dem Gesichtspunkte 
der einseitigen mechanistischen Weltanschauung bezeichnet werden. 

Nr. 212 (S. 234): Der Ausdruck „ideale Anticipation" oder 
„unbewusste Vorstellung" ist deshalb der beste, weil er einerseits 
die Analogie mit der Form, zu der diese ideale Anticipation in 
unserm Denken gelangt, festhält, andererseits aber jeden anthro- 
pomorphischen Beigeschmack abwehrt. Vgl. Ph. d U. IL 412 — 414, 
und „Neukant, Schopenh. u. Hegelianism." S. 329—331. 

Nr. 213 (S. 234): Vgl. Anm. 29 und Allg. Vorbemerk. Nr. 6. 
Da die technischen Behelfe durch unmittelbare teleologische Func- 
tionen gebildet werden, so liegt in letzteren der positive und princi- 
pielle Grund ihrer Entstehung; jene Functionen sind die ersten Ver- 
mittler der Realisation der Ideen, wie die Prädispositionen die 
zweiten Vermittler. 

Nr. 214 (8.235): Zwischen der unbewussten, psychischen Func- 
tion, welche die Intuition des klarsten menschlichen Bewusstseins 
als teleologisches Resultat erzeugt und der idealen Anticipation des 
Atoms, welche dessen gesetzmässige Reaction motivirt, bilden das 
Zwischenglied die lange Stufenreihe teleologischer Functionen mehr 
oder minder instinctiven oder reflectorischen Charakters, welche die 
Prädispositionen des Ganglienprotoplasmas formiren und modificiren. 

Nr. 215 (S. 235) : Die Empfindung ist das erste Glied, die un- 
bewusste teleologische Function (Motivation) das zweite, die Kraft- 
äusserung oder der Wille (reflectorische Reaction) das dritte. In 
allen Dreien ist die Kette der Continuität festzuhalten. 

Nr. 216 (S. 235) : Die alte Kette, recht verstanden, besteht fort, 
verstärkt durch die Betonung jener zweiten. Als Summations- 
phänomen aus Atomempfindungen und Atomreactionen ist die Em- 
pfindung und Reaction des Gehirns mit dem innerlich lebendigen 
Organismas organisch geeint ; als Pias dieses Summationsphänomens 
ist sie aus dem absoluten Centrum heraus zu einer Individualität 
höherer Ordnung innerlich geschlossen und gegen die centrifugalen 
Tendenzen der Atomfunctionen im normalen Verlauf des Lebens 
gesichert. 

Nr. 217 (S, 235): Dieser Werth ist aber auch gar nicht zu 



350 Anmerkungen wir zweiten Auflage. 

überschätzen ; nur so wissen wir, dass das Erkennen der Natur ans 
Analogie unseres eigenen innersten Wesens in der Hauptsache keine 
subjective Täuschung ist. 

Nr. 218 (S. 236): Die Logik kann zur Teleologie, wie ich oft 
bemerkt habe, nur dadurch werden, dass sie auf das Unlogische 
angewandt wird, das zu vernichten und aufzuheben ihr dann Zweck 
wird. In der reinen Mathematik (sowohl der abstracten Quantität, 
als der Baum- und Zeitgrössen) ist ein solches Unlogische nicht 
vorhanden, es tritt erst in der angewandten Mathematik der Mecha- 
nik mit dem Kraftbegriff ein. Diesen sucht sich nun aber die 
Mechanik vom Halse zu schaffen, indem sie mit Masse, Bewegung, 
Geschwindigkeit und Beschleunigung operirt. Sie kann dies, weil 
sie eine rein formale und hypothetische Wissenschaft ist, die sich 
nicht darum kümmert, ob den Begriffen, mit denen sie operirt, eine 
reale Existenz entspricht oder nicht, und was eine solche reale 
Existenz für Voraussetzungen erschliessen lassen würde. Die Natur- 
philosophie dagegen hat dessen eingedenk zu bleiben, dass jenseits 
dieser formalen Beziehungen empirisch aufgenommener Bestimmungen 
eine andere Ordnung der Dinge angenommen werden muss, welche 
jene erst trägt (vgl. Zöllner „Principien einer electrodynamischen 
Theorie der Materie" Vorwort S. XXXIV— LXIII). In dieser hinter 
Physik liegenden Ordnungder Dinge muss aber auch der meta- 
physische Kraftbegriff seinenPlatz finden, und mit ihm das Un- 
logische, welches das Logische zum Teleologischen werden lässt. 

Nr. 219 (S. 237) : Dies ist nur dann richtig, wenn die Functio- 
nen der Individuen höherer Ordnung blosse Summationsphänomene 
der niederen sind. Bis jetzt ist die Mechanik des Atoms noch ganz 
auf das Gebiet anorganischer Vorgänge beschränkt. 

Nr. 220 (S. 237): Diese Betrachtung ignorirt nicht nur den 
Unterschied zwischen organischer und anorganischer Natur, sondern 
bleibt überhaupt auf Seite der äusseren materiellen Erscheinung 
stehen. Da ist denn freilich von der Teleologie der logischen Na- 
turgesetze nichts zu merken, denn ihr ganzer und alleiniger Zweck 
liegt ja auf der anderen Seite, in der Innerlichkeit, im Geist. Das 
ganze gesetzmässige Spiel der Atome wäre trotz aller logischen 
Gesetzmässigkeit völlig sinnlos, wenn es nicht das Mittel für die 
Selbstbesinnung des Geistes wäre. Indem es sich aber als Mittel 
hierzu erweist, erweist es seine teleologische Beschaffenheit. Wer 



Anmerkungen zu Gap. XII. 351 

ein Mittel betrachtet, während er die Augen gegen seinen Zweck 
und seine Beziehung auf denselben verschliesst, braucht sich nicht 
zu wundern, wenn er von der Zweckmässigkeit des Mittels nichts 
mehr gewahr wird (vgl. Allg. Vorbemerk. Nr. 4). 

Nr. 221 (S. 237) : Rückschritt von Hegel und Leibniz zu Spi- 
noza (vgl. Allg. Vorbem. Nr. 6 S. 271—272). 

Nr. 222 (S. 237) : Grössen sind Abstractionen ; Raum- und Zeit- 
grossen sind Abstractionen von den Erzeugnissen von Kraftgrössen, 
„Kraft" aber ist als Wille das Unlogische. Die reine Mathematik 
behandelt Möglichkeiten, die erst unter Voraussetzung des Unlogi- 
schen aufhören reell unmöglich zu sein. Die realistische Wahr- 
heit der formalistischen Mathematik ist die Mechanik. 

Nr. 223 (S. 238) : Kühn ist diese Hypothese deshalb nicht, weil 
die Empfindungsfähigkeit der metaphysischen Substanz ja auch von 
der Naturwissenschaft beigelegt wird, und es fragt sich nur, ob 
dieselbe sich vor Eintritt der Individuation äussern kann oder nicht. 
Für den bestimmten Fall der Unlust des leeren Wollens sind nun 
aber die Verhältnisse (Opposition) schon gegeben, zu deren Herbei- 
führung in allen andern Fällen die Individuation erst dienen soll. 

Nr. 224 (S. 238): Dies ist nicht richtig; auch wenn das leere 
Wollen endlich wäre, müsste seine Unbefriedigung als Unlust em- 
pfindlich werden. Ueber die Unendlichkeit des Absoluten und seine 
Attribute vgl. „Neuk., Schop. u. Hegel." S. 340—344. 

Nr. 225 (S. 238) : Das leere Wollen ist kein actuelles Wollen. 

Nr. 226 (S. 238): Dieses „Weil" enthält keine Begründung, da 
der Gedanke eine andere Sichtung nimmt. 

Nr. 227 (S. 238): Ist richtig, beweist aber gar nichts für die 
UnStatthaftigkeit der Annahme eines unendlichen Ver- 
mögens. 

Nr. 228 (S. 238) : Wenn man „schon" statt „nur" setzt, ist gegen 
den Satz nur noch das einzuwenden, dass der Wille nicht bloss 
immer weiter, sondern auch immer mehr will. 

Nr. 229 (S. 238): Nein; potentielle Unendlichkeit bedeutet das 
Vermögen, jede gegebene endliche Intensität des Wollens noch ver- 
stärken zu können. 

Nr. 230 (S. 238): Einer Quantitätsbestimmung ist das leere 
Wollen nur als Potenz fähig (daher unendlich) ; der Unterschied des 
reinen Willens und des leeren Wollens besteht nur darin, dass in 



350 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

ersterem die Potenz noch in Ruhe, in letzterem in Erhebung ißt, 
dass das Vermögen im letzteren Falle von sich Gebrauch macht, 
im ersteren nicht Vgl. „Neukant., Schopenh. u. Hegelianismus" 
S. 344—345. 

Kr. 231 (S. 238): Dies ist ebenfalls unrichtig. Die intensive 
Grösse der Welt richtet sich nach der Intensitätsgrösse des actuellen 
erfüllten Wollens, nicht des leeren; diese aber richtet sich nach 
dem Inhalt, den das leere Wollen zu seiner Actualisiruog vorfindet 
Es ist also auf alle Fälle die Idee, welche die Grösse der Welt 
bestimmt, nicht der Wille. Dann wäre aber eine CoYncidenz zwischen 
Idee und Wille auch sogar bei endlicher Potenz des letzteren nicht 
wahrscheinlich, sondern eine Nichterschöpfung der Potenz, d. h. ein 
Ueberschuss der Potenz über das actualisirte Wollen. 

Nr. 232 (S. 239) : Es giebt neben dieser Deduction eine zweite, 
inductive Begründung, d. i. die Ineinanderschachtelung der Indivi- 
dualitätsstufen und Individualitätszwecke, d. h. die Aufhebung der 
Individualzwecke niederer Ordnung in denen höherer Ordnung, 
welche auf die Aufhebung aller Zwecke in den Individualzwecken 
höchster Ordnung, d. h. denen des absoluten Individuums, des AU- 
Einen als Trägers der objectiven Erscheinungswelt schliessen läset, 
gleichviel welches und welcher Art diese Zwecke sein mögen ; ob 
sie von uns erkannt sind oder nicht, oder ob sie uns überhaupt 
erkennbar sind oder nicht. Die Induction allein schon lehrt, dass 
ein Ziel des Weltprocesses sein müsse ; die metaphysische Deduction 
wird nur zu Hülfe genommen, um das Was dieses Zieles zu be- 
stimmen (vgl. Anm. 22). 

Nr. 233 (S. 239): Den „geringen Anklang" habe ich dadurch 
erklärt, dass die Menschheit im Ganzen noch im dritten Stadium 
der Illusion befindlich ist, und noch lange darin bleiben muss, um 
alle Versuche zur Verbesserung ihrer Glückseligkeit durch Ver- 
besserung der äusseren Verhältnisse erschöpfend durchzufahren 
(vgl. auch Anm. 23). 

Nr. 234 (S. 240): Hierbei ist übersehen, dass es sich darum 
handelt, den Willen gegen sich selbst zu kehren, ihn durch Selbst- 
zerspaltung sich selbst annihiliren (nicht re'alisiren) zu lassen. Da 
die Idee als solche keine Macht ist, so bedarf sie dazu der List, 
sie muss den Willen seiner Unvernunft überfuhren, und das gebt 
nur durch Erfahrung, also nicht mit einem Sahlage. Der Wille muss 



Anmerkungen zu Gap. XII. 363 

Zeit haben, sich auszutoben, damit die Erfahrung gewonnen wird, 
dass keine Art und Weise der Bejahung des Willens zu dem 
führt, was der Wille erstrebt : Frieden, sondern nur die Verneinung. 
Um zu lernen, dass aller Glaube, durch Aenderung äusserer Um- 
stände des Lebens der Unseligkeit des Daseins entrinnen zu können, 
eitler Wahn ist, dazu müssen alle Täuschungen und Enttäuschungen 
der geschichtlichen Entwickelttng durchgemacht werden, und es darf 
dem Weltwillen keine erspart werden, damit das Bewusstsein endlieh 
die alleinige Quelle der Unseligkeit in der inneren Natur des 
Willens selbst erkennen lernt. 

Nr. 235 (S. 240): Das ist unrichtig, denn gerade die Relativität 
des Zeitmaasses macht es uns unmöglich, vom Standpunkt der Er- 
fahrung aus irgend ein Urtheil über die absolute Geschwindigkeit 
des Ablaufs der Ent Wickelung zu fällen. Ob diese Geschwindigkeit 
in Wirklichkeit unendlich gross oder unendlich klein ist* können 
wir gar nicht ermessen, da wir nur relative Maasse innerhalb dieses 
Ablaufs besitzen. Also ist auch die obige Schlussfolgerüflig falsch. 

Nr. 236 (S. 241): Vgl. Anm. 102—107 ferner „Nöttk, Sehop. 
u. Hegel." 8. 238—239 u. 240, „J. H. v. Kirchmann's erkomtniss- 
tbeoretiscber Realismus" 8. 38—53. 

Nr. 237 (S. 241): Nr. 1 fällt unter die Sphäre des Bewusst- 
werdens, welche das stricte Gegentbeil des UnbeWussten ist; Nr. 2 
fällt ütiter die Sphäre ruhender materieller Einrichtungen, Welche 
das Gregentheil des Psychischen und seiner immateriellen Functionen 
(vgl. Anm. 209 — 210) bilden. Nur Nr. 3 ist das wahre Unbewusste, 
dessen Geltungsbereich nur von der Gegenschrift in unberechtigter 
Weise zu Gunsten von Nr. 1 u. 2 eingeschränkt worden ist. Alle 
nachfolgenden Aussagen der Ph. d. U. über das Unbewusste sind 
durchaus nur und ausschliesslich auf das metaphysische Unbewusste 
zu beziehen. 

Nr. 238 (S. 241): Diese Aussage, ebenso wie 2, 4, 5 und 6, 
wären bei deductiver Darstellung eine triviale und einfältige Tauto- 
logie, bei inductiver Darstellung aber sind diese alle werthvolle 
Irrthumsausschliessungen, welche das Verständniss für die Identität 
des psychischen Unbewussten mit dem metaphysischen Wesen der 
Welt vorbereiten (vgl. „Neuk., Schop., Hegel." S. 361—362). 

Nr. 239 (S. 242) : Die bewusste Empfindung ist Resultat der 
unbewusst psychischen Functionen, sowohl derjenigen der Atome 

£• t. Hartmann Dos Unbewusste. 2. Aufl. 23 



354 Anmerkungen cor zweiten Auflage. 

als auch der hinzukommenden Willensfunctionen verschiedener höherer 
Individualitätsstufen. Alle diese verschiedenen psychischen Func- 
tionen sind metaphysisch betrachtet Functionen des metaphysischen 
All-Einen Unbewussten. 

Nr. 240 (S. 243): Es ist auch nicht behauptet, dass die Func- 
tion des Unbewussten als solche keine Zeit erfülle (da ja durch sie 
erst alle Zeit gesetzt und bestimmt sein soll), sondern nur, dass sie 
als solche eine besondere Zeit für sich nicht beanspruche. 
Stoss und Geschwindigkeitsänderung, Motiv und Beaction bean- 
spruchen ihre Zeit; aber der eigentliche Umsatz, der Uebergang von 
einem zum andern, worin erst die unbewusste Function zu suchen 
ist, erfordert keine. Der Causalitätsprocess steckt in jenen ; die un- 
bewusste Function aber bestimmt, welcher Inhalt bei diesem Process 
herauskommt, und diese Bestimmung beansprucht keine Zeit für sich 
(vgl. Anm. 153 u. 154). 

Nr. 241 (S. 243): Gewiss, aber indem sie erst die Zeit setzt 
und bestimmt, ist sie über der Zeit; sie hat die Zeit in sich, also 
ist sie nicht in der Zeit (vgl. „Neuk. Schop. u. Heg." S. 347). 

Nr. 242 (S. 243): Diese Streichung ist aber eben nicht richtig. 

Nr. 243 (S. 244) : Vielmehr das Functioniren des metaphysischen 
Unbewussten auf Grundlage der gegebenen organischen Dispositionen. 

Nr. 244 (S. 245): Was heute als Sackgasse erscheint, braucht 
nicht immer eine solche gewesen zu sein, sondern kann Bückstand 
eines in früheren Perioden für die Oeconomie des Ganzen notwen- 
dig gewesenen Gliedes sein. Vgl. „Neuk., Schop. u. Heg." S. 220—221. 

Nr. 245 (S. 245): Vgl. Anm. 19 u. 20. 

Nr. 246 (S. 245) : Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, 
dass die fragliche Behauptung, so weit sie mit den Principien der 
Ph. d. IL, insbesondere deren teleologischer und idealistischer Meta- 
physik, nicht vereinbar ist, auch nur scheinbar empirisch aus der 
thatsächlichen Welt aufgenommen ist, und in Wahrheit eine voreilige 
und schlechte Induction darstellt. Erfahrungsmässig sehen wir in 
vielen Fällen die Möglichkeit des organischen Lebens in einer 
Weise benutzt, wo wir uns bei dem gegenwärtigen Stande unserer 
Kenntnisse keine Bechenschaft von deren teleologischer Bedeutung 
flir den Naturhaushalt im Ganzen zu machen vermögen; aber dass 
das Unbewusste das Leben in allen Fällen packt, wo es dasselbe 
packen kann, das ist eine Behauptung, welche sich der empirischen 



Anmerkungen zu Cap. XU 355 

Wahrnehmung ihrer Natur nach entziehen muss, nnd nur einer vor- 
eiligen Verallgemeinerung der „vielen" Fälle zu „allen" ihr Dasein 
verdankt. Wie viele Fälle das Unbewusste thatsächlich unbenutzt 
lässt, können wir gar nieht wissen; ich erinnere nur daran, dass 
das Unbewusste alle Gelegenheiten zur Urzeugung auf Erden un- 
benutzt lässt, seit es über Elternzeug verfügt, und dass es alle Ge- 
legenheiten zur Umwandlung niederer Organisationstypen in höhere 
unbenutzt lässt, sobald es einmal die betreffenden Schritte gethan 
und hinter sich hat. Dass jede Gelegenheit zum organischen Leben 
in irgend welcher Form nicht unbenutzt bleibt, daß dürfen wir 
allerdings annehmen ; dies ist aber auch teleologisch ganz begreiflich, 
da nur durch volle Ausnutzung der Möglichkeit organischen Lebens 
auf einem Planeten diejenigen Formen des Stoffwechsels hergestellt 
werden können, welche nothwendig sind, um für die Entstehung 
höherer Organismen die nöthigen Bedingungen zu gewähren. In 
welcher Form aber die gegebene Gelegenheit jeweilig benutzt 
wird, das wird theils von den äusseren Verhältnissen, tbeils von 
den verfolgten Zwecken abhängen. Inwieweit auch bei den un- 
bewussten psychischen Functionen höherer Ordnung sich ebenso wie 
bei den Atomfunctionen die teleologische Entfaltung des Logischen 
in constanten Gesetzen (organischen Entwicklungsgesetzen) 
äussert, welche unbekümmert um besondere Unzweckmässigkeiten 
das im Allgemeinen Zweckmässige anstreben, das werden wir 
erst näher untersuchen können, wenn uns diese Gesetze genauer 
bekannt geworden sind. Nebenher aber hat die Untersuchung 
zu laufen, inwieweit schon die Constanz der unorganischen Natur- 
gesetze ausreicht, um zwecklose Rückstände und Widerstände der 
Entwickelung zu erklären, wozu dieselben möglicher Weise allein 
schon ausreichend sein werden, wenn unsere Kenntniss der teleo- 
logischen Bedeutung der Einzelnheiten für den Naturhaushalt im 
Ganzen weitere Fortschritte gemacht haben wird. Jedenfalls bie- 
ten sich in diesen verschiedenen Perspectiven schon jetzt Gründe 
genug dar, um einen U e b e r d r a n g des Unbe wussten, eine Lebens- 
gier des erfüllten Weltwillens über den ihm von der Idee vor- 
gezeichneten Inhalt hinaus, entschieden abzulehnen. Diese in der 
Ph. d. U. allerdings nicht ganz ausgeschlossene Nebenbedeutung 
des Satzes: „Das Unbewusste packt das Leben, wo es dasselbe 

packen kann," ist nichts weniger als eine empirisch aufgenommene 

23* 



356 Anmerkungen nur zweiten Auflage. 

Bestimmung, vielmehr ein apriorisches metaphysisches Vorurtheil, 
das sich als eine unwillkürliche und ungebührliche Reminiscenz aas 
dem Sohopenhauerianismus in die Ph. d. U. eingeschlichen hat 
Innerhalb dieser ist sie zu bezeichnen als eine Verwechselung der 
Eigenschaften des erfüllten Wollens mit denen des leeren Wollens 
und als eine falsche Hineintragung des unendlichen Vermögens- 
Uebersohusses aus dem vor- und ausserweltlichen Zustande des 
Willens in den lediglich durch die Idee bestimmten Inhalt des Welt- 
processes. Streicht man aber die von der Gegenschrift urgirte 
Nebenbedeutung des gierigen Ueberdranges und Ueberschwanges, 
welche der Ideebestimmtheit des Weltinhalts und seiner maassvollen 
Kraftbegrenzung widerspricht, so bleibt der Satz richtig, dass das 
Unbewusste die Möglichkeit des organischen Lebens im Allgemeinen 
und abgesehen von der teleologisch zu bestimmenden Form desselben 
nicht unbenutzt lassen wird, weil nur die möglichst breite Basis des 
organischen Stoffwechsels die für das Leben höherer Organismen 
notwendigen Bedingungen vorzubereiten vermag. 

Nr. 247 (S. 246): Diese Argumentation setzt stillschweigend 
voraus, dass das Unbewusste als All- Eines das Organisirende 
oder das Archon im Organismus sei; diese Voraussetzung ist aber 
ebenso unrichtig (vgl. Anm. 44) wie die parallele Annahme, dass 
das Unbewusste als AU-Eines das Percipirende eines Individual- 
bewusstseins höherer Ordnung sei (vgl, Anm. 45 u. 46). In beiden 
Fällen bildet das Strahlenbündel von Functionen, welches als un- 
bewusste Psyche eines Individuums zu bezeichnen ist und als solche 
der Summe von Atomfunctionen des Organismus als ihrem Leibe 
gegenübersteht, eine psychische Individualisation ad hoc, eine ener- 
gische Partialidee oder einen ideeerföHten Partialwillen innerhalb der 
absoluten Idee und des absoluten Willens, welcher Partialwille als ge- 
sondertes Moment der Manifestation des Absoluten (zwar nicht dem 
Absoluten gegenüber aber doch) den übrigen Partialmomenten seiner 
Manifestation gegenüber in demselben Sinne eine (wenngleich zeit- 
lich enger begrenzte) Selbstständigkeit besitzt wie das Atom. Wie 
nun der concrete Inhalt der individuellen unbewussten Psyche durch 
die concrete Besonderttng der in ihr vom Willen realisirten Pattial- 
idee seine Bestimmtheit und damit zugleich seine Beschränkung 
empfängt, so muss auch das Maass von Willensintensität, welches 
der Realisiruflg dieser Partialidee zugewandt wird, d. h. die Maximal- 



Anmerkung«» zu Cap. XII. 357 

entfaltang von Willensenergie, welche dieser indiTiduellen Fsyohe 
zu Gebote steht, eine teleologisch bestimmte und beschränkte sein, 
da eine Welt aus unendlich willenskräftigen Individuen der Wirk- 
samkeit jedes Gesetzes entrtiekt wäre und ein unberechenbares 
indeterministisches Chaos darbieten würde. Hiermit ist noch keines- 
wegs gesagt, dass der Wille in allen Individuen gleicher Gattung 
(ebenso wie in den Atomen) ein gleiches Maass von Energie haben 
müsse; vielmehr lässt sich wohl denken, daes verschiedenen Per- 
sonen das Maximum der möglichen Willensentfaltung ziemlich ver- 
schieden gestockt sei. Wir sehen im Leben Personen von unbeug- 
samer Willensstärke und Energie und andere von einer Schwäche, 
die sie zum steten Spielball fremden Willens macht, — geborene 
Herrseher und geborene Sclaven; ähnlich finden wir, dass bei man- 
chen Menschen die stärksten äusseren Eingriffe und Schädigungen 
des Organismus von demselben gleichsam spielend überwunden wer- 
den, während bei anderen jede Störung dauernde Nachwirkungen 
hinterläßt und hinreicht, um die centrifugalen Tendenzen der den 
Organismus eonstituirenden Individuen niederer Ordnung stellenweise 
über die Individualzwecke höherer Ordnung triumphiren zu lassen. 
Wenn es endlich magische Willenswirkungen auf fremde Individuen 
giebt, so werden dieselben nur willensstarken Personen zu Gebote 
stehen, und auch auf diesem Gebiet wird das Maass der Willens- 
entfaltung und der daraus folgenden Leistung ein sehr verschiedenes 
sein. Die Ph. d. U. betont wiederholentlich, dass die Macht des 
individuellen Willens eine beschränkte ist (I. S. 143 Z. 25) und 
dass dieselbe den anderen widerstrebenden Willensrichtungen (z. B. 
dem Widerstand der Materie) gegenüber sehr oft eine unzurei- 
chende sein kann (ebenda Z. 13—14); sie ist also weit entfernt, 
die Leistungsfähigkeit des individuellen Willens mit der Allmacht 
des absoluten Willens zu identificiren, oder die in dem ooncrcten, 
individualisirten Strahlenbündel enthaltene Willensintensität mit der- 
jenigen des Unbewussten als All-Einen zu verwechseln, wie die 
Gegenschrift hier thut.*) Die Anerkennung der Beschränktheit des 



*) Wenn die Ph. d. U. (I. S. 15?) dem Satze Je mehr Willen, je mehr Macht' 1 
eine buchstäbliche Geltung für den unbewussten Willen zuschreibt und ihn als den 
Schlüssel der Magie bezeichnet, so Hegt darin keineswegs (vgl. II. S. 222 Z. 14 
bis 12 v. uni) die von einigen Gegnern hineingelegte sinnlose Behauptung, dass 



358 Anmerkungen zur zweiten Auflage. 

Individnalwillens ist fiberaas wichtig; sie erklärt auch, dass das 
organisirende Princip als individnalisirtes nur über eine beschränkte 
Macht verfügt, dass der Individnalwille sich anspannen nnd an- 
strengen mnss, nm den Widerstand der anorganischen Natur- 
gesetze seines Leibes zu überwinden (Ph. d. U. IL 217 — 218), nnd 
dabei oft noch nicht einmal Erfolg hat. Die empirisch-inductive 
Anerkennung der Beschränktheit des Individnalwillens durch die 
Ph. d. U. ist für sich allein schon der sicherste Beweis, dass die- 
selbe sich nicht in einen abstracten Monismus verirrt hat (wie der 
Hegelianismus), sondern dem Individualismus das ihm gebührende 
Recht angedeihen lässt, d. h. die Individualwillen als relativ (d. h. in 
Bezug auf einander) selbstständige Individualisationen des AU-Einen, 
wenn auch nur als vorübergehende Individualisationen ad hoc (d. h. 
in Bezug auf diesen Organismus) betrachtet (vgl. Phil. d. Unb. 
IL 262). 

Nr. 248 (S. 246): Da der Ueberschuss unendlich bleibt, so ist 
die Grösse des endlichen actualisirten Willens hierfür gleichgültig. 
Ausserdem würde es sich, da die Idee den Inhalt des Weltprocesses 
bestimmt, in erster Reihe um Idee- Vergeudung und erst in zweiter 
um Verschwendung von Willensintensität handeln. 

Nr. 249 (S. 246): Vgl. Anm. 236. 

Nr. 250 (S. 246); Das Princip des minimalen Kraftaufwandes 
ist ein aus der Natur des Willens für alle seine Individualisationen 
und nicht bloss für die mechanischen Kraftindividuen (die Atome) 
a priori folgendes Princip; seine Geltung reicht also viel weiter. 



es im Belieben eines Jeden stehe, alles zu verwirklichen, was ihm einfalle, wenn 
er nur stark geuug wolle, sondern es bedeutet dreierlei: 1) dass jeder Mensch 
um so mehr leisten werde, je energischer er seinen Willen innerhalb der ihm 
gesteckten Maximalgrenzen brauche, 2) dass von verschiedenen Menschen der 
mit stärkerem Willen Begabte auch an Leistungskraft überlegen sein werde, 
und 3) dass, wenn es Wesen anderer Gattungen, etwa auf anderen Weltkörpern 
geben sollte, welche mit stärkerem durchschnittlichen Individualwillen ausgerüstet 
sind, diese auch auf allen Gebieten (also auch eventuell auf dem magischen) 
grössere durchschnittliche Leistungen zu Stande bringen werden als wir Men- 
schen. Was speciell die magischen Wirkungen betrifft, so ist wohl zu beachten, 
dass dieselben hier ausschliesslich aus unb ewusstem Willen abgeleitet werden, 
also dem directen Einfluss der Willkür ausdrücklich entzogen sind. Nach 
keiner Richtung ist in dieser Stelle etwas zu finden, was die anderweitig betonte 
und überall als Voraussetzung zu Grunde liegende Beschränktheit des individuel- 
len Willens aufhöbe. 



Anmerkungen zu Gap. XII. 359 

als die Geltang der mechanischen Gesetze, nämlich so weit wie die 
Individuation des Willens. Giebt es Individualwillen höherer Ord- 
nung, so ist die Geltang dieses Princips für die Intensität der ihnen 
entfliessenden Willensfunctionen ebenso selbstverständlich, wie für die 
Combinatiopsresnltanten der von ihnen beherrschten and mit ihnen 
cooperirenden Atomwillen. 

Nr. 251 (S. 246): Dass kraftersparende Mechanismen durch den 
Kampf am's Dasein befestigt werden und ihre Erhaltung begünstigt 
wird, ist ausser Zweifel, aber darum kann man doch nicht sagen, 
dass sie durch natürliche Zuchtwahl sich „ganz von selbst", d. h. 
ohne die organisirenden Functionen von Individualwillen höherer 
Ordnung herausbilden müssen. Denn, dass eine Einrichtung nützlich 
sein würde, wenn sie entstanden wäre, kann doch nimmermehr der 
Grund für ihre Entstehung sein, es sei denn ideell durch teleolo- 
gische Vermittelung einer bewussten oder unbewussten Psyche. 
Letzteres gerade ist das, was ich behaupte. 

Nr. 252 (S. 247): Der Beweis ist unnöthig, weil die Thatsaehe 
selbstverständlich ist im Monismus, soweit derselbe nicht völlig ein- 
seitiger Materialismus ist. Die Daten, um welche es sich bei der 
teleologischen Entwickelung handeln kann, sind (abgesehen von 
dem constanten Endzweck) alle gegebenen Weltverhältnisse des 
gegenwärtigen Moments. Wenn aber die Welt in jedem Augen- 
blick nichts ist, als die vom Willen realisirte jeweilige Entfaltung 
der absoluten Idee, so können der actuellen Idee gar keine Daten 
fehlen, die im jeweiligen Weltzustand vorkommen, denn sonst 
könnten sie auch in diesem nicht verwirklicht sein. Die Allwissen- 
heit als Fähigkeit einer willkürlichen Reflexion auf alles Mögliche 
ist entschieden zu verneinen; als unbewusster Besitz des idealen 
Inhalts des jeweilig Wirklichen ist sie auch für die Naturwissen- 
schaft und den Spinozismus unantastbar (gleichviel ob Alles durch 
Atome erschöpft ist oder nicht). 

Nr. 253 (S. 247) : Das Ausbleiben der Betätigung des Hell- 
sehens im Individuum beweist gar nichts gegen das Nichtvorhanden- 
sein dieser Partialideen in der absoluten Idee desselben Augenblicks, 
es beweist nur, dass der Boden des organisch-psychischen Indivi- 
duums nicht hinlänglich vorbereitet war, um der unbewussten Vor- 
stellung — sei es das Hineinscheinen in's Bewusstsein als Ahnung — 



30Q Anmerkungen zur weiten Auflage. 

sei es die praktische Betätigung als Anregung einer instinctiveji 
Handlung — hinlänglich zu erleichtern. 

Nr. 254 (S. 247): Es können keine anderen Data erforderlieh 
sein! als die flr den Fortgang der teleologischen Entwicklung 
erforderten, d. h. die in Anm. 252 bezeichneten» 

Nr. 255 (S. 247): Hier würde die Inductlon also ohnmächtig 
sein, wann ihr nicht die Deduption (d. h. die Gonsequenz ander- 
weitiger allgemeinerer Inductionen) zu Hülfe käme» Der inductive 
Nachweis des Hellsehens ist selbst nur eine empirische Bestätigung 
jener Deduction für besondere Fälle und als solche yon hohem 
Werth. 

Nr. 256 (8. 248): Vgl. Anm. 178—180. 

Nr. 257 (6. 249): Auch hier wirkt der inductive Nachweis 
der weisen Zweckthätigkeit nur als Bestätigung und empirische Be- 
währung. Der entscheidende Grund dafür, dass dem metaphysischen 
Unbewussten, wenn überhaupt eine Intelligenz, nur eine abso- 
lut 9 Intelligenz angeschrieben werden kann, liegt darin, dass eine 
der aptropomorpbisoheu Schranken entkleidete Intelligenz 
qberbaapt keiner Grade mehr fähig ist, also Intelligenz schlecht- 
hin, und ftl* anbepehränkte Intelligenz eben absolute Intelligenz ist 
Alfc Gra4untewWede unserer Intelligenz liegen in dem Mehr oder 
Mfodw 49? Beschränkung, welcher die auch in um wirkende abso- 
lute InteJligen* (das Logisehe) unterworfen ist* Absolut darf nicht 
iftit wendlieh im quantitativen Sinne verwechselt werden ; quantitativ 
TUWUUi^k ist die Intelligenz eo wenig wie die Maeht. Let&tere 
kann ei nicht sein, weil daß actnell Unendliche in sich wider- 
sprechend iet, eretere aber sowohl dosbalb nicht, als auch weil sie 
keiner Grade fähig ist (ygl. „Neukant., Schopenh. und Hegelianis- 
mns" S. 335—345), 

Nr. 258 (S. 249): Weisheit im philosophischen Sinne bedeutet 
nichts anderes als den teleologischen Charakter jener unbewußtes 
psychischen Funetionen des AU-Eiuep, welche den gemeinsamen 
Grund sowohl der objeetiveu wie der subjeetiv^n Erscheinung, der 

Materie wie de« Bewußtsein* bilden, 

Nr. 259 (S, 249): Insofern also eine teleologische Metaphysik 

unbedingt aufreebt gu erhalten ist, bleibt ^ueb 4w Absoluta 
die absolute intelligent gewahrt, und gs i# 4»bei ganz glmk 



Anmerkungen zu Gap. XII. 361 

gültig, ob man annimmt, dass der ganze Inhalt der bewusst- 
geistigen Welt blosses Summationsphänomen aas Atomfanctionen sei 
oder nicht. 

Nr. 260 (S. 250) : Dieser ganze Schluss darf nur aus der Rolle 
des Mitunterredners beurtheilt werden, insofern eine solche ab- 
schliessende Kennzeichnung seines Standpunkts zur Wahrung des 
Bollencharakters unerlässlich schien (vgl. das Vorwort S. 7 unten). 



Anhang. 



Oskar Schmidt's Kritik 



der 



naturwissenschaftlichen Grundlagen der 
Philosophie des Unbewussten. 



-♦♦♦- 



Nach Beendigung der Redaction der zweiten Auflage kam mir 
eine kleine Brochure zu Gesicht, betitelt „Die naturwissenschaftlichen 
Grundlagen der Philosophie des Unbewussten" von Oskar Schmidt, 
Professor der Zoologie und vergleichenden Anatomie in Strassburg 
(Leipzig bei Brockhaus 1877, 86 Seiten). Die Arbeit in ihrer ganzen 
Ausdehnung beschränkt sich auf eine äusserliche negative Kritik 
zur Wahrung des eignen Standpunkts, ohne irgend welche Aus- 
einandersetzungen oder Excursionen von positivem Werth beizufügen. 
Der Standpunkt Schmidt' 8 ist der eines darwinistischen Materialis- 
mus. Im Gegensatz zu Haeckel und Zöllner, welche eine Identitäts- 
philosophie, wenn auch nur im Sinne eines hylozoistischen Natura- 
lismus bekennen, acceptirt er ausdrücklich die Bezeichnung eines 
Materialisten, und stellt sich damit etwa mit Louis Büchner in eine 
Reihe. „Wir fragen jeden Unparteiischen, ob diese rein mate- 
rialistische Auffassung nicht ansprechender ist als die mit 
dem Apparat des Unbewussten?" (S.61.) Auf einen solehen Appell an 
die Plausibilität beschränkt sich seine Argumentation für seinen 
Standpunkt. Er polemisirt gegen die Empfindung der Zelle und 
des Protoplasmas (57), also in noch höherem Grade gegen die 
Atomempfindnngen (80), wie Haeckel, Zöllner und ich sie annehmen. 
Nicht Empfindung, sondern höchstens Gedäcbtniss soll dem Moleeule 
beigelegt werden dürfen, und aus dem empfindungslosen, bewusst- 
losen Gedächtniss, d. b. ans Atomlagerungsverhältnissen ohne alle 
Subjectivität, soll der Geist construirt werden, während mein um- 
gekehrter Weg der herabsteigenden Analogie „eine sophistische, 
keine philosophische Leistung" genannt wird (57). Diese Probe 
charakterisirt wohl zur Gentige Schmidts naturphilosophisches 



366 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

Niveau. Er begnügt sich aber nicht etwa damit, diesen seinen be- 
schränkten Standpunkt für den richtigen zu erklären, sondern er 
ist dreist genug, zu behaupten, dass dieser bornirte Materialismus 
das sichere Ergebniss der modernen Naturwissenschaft sei, woraus 
dann sofort folgt, dass jeder, der sich gegen denselben auflehnt, ein 
naturwissenschaftlicher Ignorant sein müsse, — also auch ich, q. e. d. 



1. Teleologle und Causalftüt. 

„Dies ist der Grundwiderspruch, in den er (Hartmann) 
sich mit der Naturwissenschaft setzt. Der Zweckbegriff ist aus der 
modernen Naturwissenschaft ausgemerzt, die ihn nicht braucht, 
oder deren Resultate sich mit ihm sogar nicht vertragen." 
Nun operirt gerade der Darwinismus unaufhörlich mit der Utilität, 
d. h. einer niederen Form des Zweckbegriffs, und die Aufgabe der 
Selectionstbeorie ist, zu zeigen, dass die Resultate der Naturprocesse 
trotz ihrer Natürlichkeit die Teleologie nicht nur nicht ausmerzen, 
sondern geradezu einschliessen. Nicht ich, sondern Herr Schmidt 
erweist sich hiernach als naturwissenschaftlicher Ignorant, indem er 
einen so verkehrten Satz drucken lässt, und meine Abweichung von 
demselben als meinen Grundwiderspruch mit der Naturwissenschaft 
hinstellt. 

Was er sagen will, ist nämlich etwas ganz anderes als der 
Unsinn, den er in obigem Satze sagt. Er will sagen, dass die 
Naturwissenschaft die Zweckmässigkeit nur als Resultat mechani- 
scher Gausalreihen kennt, während meine Philosophie sie zugleich 
als Princip gelten lässt. So hört aber diese Differenz auf, ein 
Widerspruch zu sein, und entspricht nur der Verschiedenheit der 
Gebiete von Naturwissenschaft und Philosophie. Die Philosophie 
darf nur nicht bestreiten, dass alle Ziele „auf natürlichem Wege" 
erreicht werden (13), dass „alle Schaffung innerhalb der natürlichen 
Gesetze vor sich gehe" (62) ; da aber meine Philosophie, wie Schmidt 
ausdrücklich anerkennt, dies zugesteht, so kann von einem Wider- 
spruch derselben mit den berechtigten Forderungen der Naturwissen- 
schaft keine Rede sein. Ob die auf natürlichem Wege resultirende 
Zweckmässigkeit eine ideelle Bedeutung habe oder nicht, ob sie 
nothwendig oder zufällig, prädeterminirt oder accidentiell eintrete, 
sind Fragen, welche die Naturwissenschaft als solche gar nichts 



der naturwißßenschaftl. Grundlagen der FhiL d. Unb. 367 

angehen, ans deren verschiedener Beantwortung also auch niemals 
eine Collision mit der Naturwissenschaft entspringen kann. 

Weil Schmidt dieses einfache Yerhältniss nicht begreift, ver- 
schiebt er die Gegensätze so, dass er die Berechtigung der Philo- 
sophie neben und hinter der Naturwissenschaft negirt und die 
Naturwissenschaft an die Stelle der Naturphilosophie setzt (86). 
Durch eine solche Ueberhebung und Ausschreitung fordert die 
Naturwissenschaft aber nothwendig die Beaction der Philosophie 
heraus, und das Bestreben der letzteren, die erstere in die ihr ge- 
bührenden Grenzen zurückzuweisen, erscheint Herrn Schmidt als 
Grundwiderspruch gegen das Wesen der Naturwissenschaft. 

Es wäre unbillig, Herrn Schmidt einen Vorwurf daraus zu 
machen, dass er unter „Einsicht" lediglich naturwissenschaftliche 
Einsicht versteht (81 — 82); aber es ist ebenso unbillig von ihm, 
philosophische Bücher mit der Absicht einer Bereicherung seiner 
naturwissenschaftlichen Einsicht zu lesen, und den Verfassern der- 
selben aus dem negativen Erfolge einen Vorwurf zu machen (S. 38 
Z. 16—21, S. 43 letzte Zeile, S. 59 Z. 20—24). Ich habe niemals 
den Anspruch erhoben, neue naturwissenschaftliche Erklärungen zu 
bieten, sondern nur den, philosophische Erklärungen auf Grund der 
Naturwissenschaften zu geben. Wer keine andere als naturwissen- 
schaftliche Einsicht verlangt, der soll sich auch hüten, andere als 
naturwissenschaftliche Bücher zu lesen, oder gar philosophische 
Bücher zu beurtheilen. Wenn ich mich sowohl vor dem natur- 
wissenschaftlichen als vor dem philosophischen Forum der Kritik 
gestellt habe, so doch nicht einer solchen, die den philosophischen 
Werth eines Buches nach Maassgabe der in ihm enthaltenen För- 
derung der naturwissenschaftlichen Einsicht zu messen unternimmt, 
und die Selbstbehauptung der Philosophie gegen eine sie negirende 
Ueberhebung der Naturwissenschaft als Grundwiderspruch der erste- 
ren gegen die letztere tadelt. 

Diese Selbstbehauptung der Philosophie gegen eine ihre natür- 
lichen Grenzen verkennende und überschreitende Naturwissenschaft 
entstellt Schmidt zu einer monströsen Ueberhebung der Philosophie. 
Er behauptet, dass ich die darwinistische Richtung der Biologie 
auf einen Minimalwerth herabdrücken (65) und die organischen 
Naturwissenschaften unter meinen Flügel, oder unter meine Protec- 
tion nehmen wolle (86), und erklärt, dass er für den Fall, dass die 



368 Anhang. - Oskar Schmidts Kritik 

Fh. d. U. im Rechte wäre, „vorziehen würde, sein Mikroskop zu- 
sammenzupacken, statt sich die Anerkennung dureh Handlangere! 
zu erwerben" (6). Wer irgend meine Philosophie kennt, den brauche 
ich nicht auf die in jenen Behauptungen liegende Entstellung auf- 
merksam zu machen. Ich habe niemals mir angemaasst, die Natur- 
wissenschaft protegiren zu wollen, obwohl ich sie zur Stütze gesuebt, 
und sie nicht ohne kritische Gontrole meinerseits verwerthet habe, 
wie es Pflicht des kritischen Philosophen ist. Sich meiner Benutzung 
und Verwerthung in diesem Sinne zu entziehen, ist die Naturwissen- 
schaft bei der Oeffentlichkeit ihrer Arbeiten gar nicht im Stande; 
wenn sie ihrerseits die Versöhnung mit der Philosophie noch ferner- 
hin verschmähen will, so thut sie es zu ihrem, nicht zu meinem 
Schaden, sowohl was das Ansehen ihrer Stellung in der wissen- 
schaftlichen Welt, als auch was ihre Befruchtung durch eine auf 
der Höhe der Zeit stehende Naturphilosophie und Metaphysik betrifft. 
Handlanger sind wir alle an der grossen Einheit der menschliehen 
Ge8ammtwissenscbaft, deren Plan von einem unbewnssten Baumeister 
entworfen ist. Handlanger sind wir alle, gleichviel an welchem 
Stockwerk wir handlangem, und wie viel Uebersicht über den 
zeitweiligen Stand des Gesammtbaues wir zufällig geniessen. Wenn 
Schmidt sich zu rornehm dttnkt zur Handlangerei, so ist das eine 
dünkelhafte Ueberhebung des Specialisten, bei der man nur verwun- 
dert fragen kann, was in aller Welt er denn sonst zu sein sich 
einbilde. 

Ich wiederhole: jeder Philosoph ist mit der Naturwissenschaft 
im Einklang, der die Notwendigkeit einer natürlichen Vermittdung 
und die natürliche Gesetzmässigkeit dieser Vermittelungswege an- 
erkennt, ganz gleichgültig, welche Ansichten er sonst über die 
ideale Bedeutung der Entwickelungsziele und über das metaphysische 
Verhältniss der natürlichen Vermittelung zu den teleologischen Re- 
sultaten haben mag. Der Naturforscher weiss nicht, was er redet, 
wenn er behauptet, dass eine teleologische Auffassung dieses Ver- 
hältnisses mit der Naturwissenschaft als solchen im Widerspruch 
stehe. Ist aber die natürliche Entwickelung ideell prädeterminirt 
und ihre Rcalisirung durch einen Naturwillen gesetzt, cL h. mit 
anderen Worten: ist die Entwickelung Aeusserung eines idealen 
Bildungstriebes auf der Basis der Naturgesetze, so wird die Natur- 
wissenschaft davon gar nicht berührt. Ihre specielle Aufgabe bleibt 



der natorwissenschaftl. Grandlagen der FhiL d. Unb. 369 

so wie so darauf beschränkt, die mechanischen Vermittelangen zu 
untersuchen, gleichviel ob in denselben ein idealer Bildungstrieb 
zur Erscheinung gelangt oder nicht, und alle philosophischen Er- 
klärungen dieser Art können, wie ich oft genug hervorgehoben 
habe, niemals die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung 
entbehrlich machen. Wenn Schmidt dabei nicht begreifen kann, 
wozu dann der „Luxus natürlicher Gesetze" gut sei, die „als Mittel 
zum Zweck in ganz untergeordneter Weise neben dem unbewussten 
Willen herlaufen" (34), so ist das kein naturwissenschaftlicher, son- 
dern ein philosophischer Einwurf, den ich anderwärts beantwortet 
habe. Aber nichts berechtigt Herrn Schmidt „die Alternative zu 
stellen: naturwissenschaftliche Erklärung, resp. vorläufiges Ver- 
zichten auf die Erklärung, oder ideelles Princip" (32); denn bei 
mir handelt es sich immer um beides zugleich, und die Be- 
deutung des ideellen Principe leuchtet nur um so heller auch für 
blöde Augen, wo die Naturwissenschaft ihre Ohnmacht bekennen 
mnss. Niemals habe ich den Naturforschern zugemuthet, anstatt 
nach naturwissenschaftlichen Erklärungen ihre Hände nach meta- 
physischen Principien auszustrecken, wie Schmidt mir unterstellt 
(76 Z. 24 — 27) ; aber gerade weil neben der naturwissenschaft- 
lichen Betrachtungsweise überall die metaphysische berechtigt und 
gefordert ist (vgl. oben Anm. 2), ist auch das Herbeiziehen der 
metaphysischen Erklärung durchaus kein Widerspruch gegen die 
Behauptung, auf der Höhe der naturwissenschaftlichen Anschauungen 
zu stehen (33). 

Was diesen ganzen Angriff objectiv komisch wirken lässt, ist 
der Umstand, dass Schmidt nach Splittern in fremden Augen sucht 
und den Balken im eigenen nicht bemerkt. Wenn ein Darwinist 
der Phil. d. Unb. vorwirft, dass sie die teleologischen Gesichts- 
punkte in unkritischer Weise in die naturwissenschaftlichen Er- 
klärungen einmenge, so ist dieser Vorwurf nicht nur, wie gezeigt, 
thatsächlich unbegründet, sondern er trifft gerade den Darwinisten, 
der ihn erhebt. Denn während die Phil. d. Unb. die Notwendig- 
keit cansaler mechanischer Vermittelungen neben den teleologischen 
Principien ausdrücklich anerkennt, verkennt der Darwinismus 
dieselbe und vermengt und verwechselt die teleologischen 
Principien mit causalen naturwissenschaftlichen Erklärungen. Denn 
der Darwinismus ist utilitaristische Naturphilosophie (vgl. „W. u. I. 

£. r„ Hart mann. Das Unbewusste. 2. Aufl. 24 



370 Anhang, — Oskar Schmidts Kriiflc 

im Darwinismus" S. 92 u. 93), er macht die Utilität, d. h. eine 
untergeordnete Form der Teleologie, zum naturwissenschaftlichen 
Erklärungsprincip, indem er sie für eine mechanisch wirkende Ur- 
sache hält, and übersieht in dieser Verwechselung, dass er nur eine 
natarphilosophische, aber durchaus noch keine naturwissenschaftliche 
Erklärung gegeben hat, so lange er die eigentlichen wirkenden 
Ursachen der Entstehung nützlicher Abweichungen bei Seite liegea 
lässt, oder gar durch Berufung auf den Zufall ausdrücklich auf 
eine Erklärung derselben verzichtet (vgl Wigand's „Darwinismus n. 
Naturforsohung etc." Band U. 3. 377—396). Nicht ich, sondern 
Schmidt selbst stockt also in der Confusion, welche er mir vor- 
wirft. 

2. Weehanisehe und organisatorische Ursachen. 

Schmidt schreibt mit gesperrter Schrift: „Die moderne Physio- 
logie sieht ihren wichtigsten Triumph darin, dem Bildungstriebe, der 
Lebenskraft jeden Vorwand zur Existenz abgeschnitten zu haben. 
Die Phil d. Unb. führt diesen Begriff mit Pauken und Trompeten 
wieder ein" (41). Diese Formulirung des vermeintlichen „Grund- 
widerspruohs" zwischen Naturwissenschaft und Philosophie des Un- 
bewußten ist ebenso schief und haltlos wie die frühere, auf die 
Teleologie gestützte. ., 

Eie moderne Physiologie siebt ihren Triumph darin, die in der 
älteren Naturforschung Übliche unklare Vermengung mechanisch»' 
und idealer, causaler und teleologischer, naturwissenschaftlicher und 
philosophischer Gesichtspunkte nach Anleitung des Philosophen 
Baco beseitigt und sich streng auf die Erforschung der mechanischen 
Causalitftt beschränkt zu haben; sie hat damit dem Bildungstrieb 
im Sinne der früheren Annahme einer Lebenskraft, d. h. einer 
mit den mechanischen Atomkräften in gleiche Ordnung gehörenden 
Kraft die Existenz abgeschnitten, und diese Bewegung hat ihren 
Abschluss gefunden in der Formulirung des Gesetzes der Erhaltung 
der Kraft. Da die Phil, d, Unb. dieses Gesetz anerkennt und aus- 
drücklich die ältere Fassung des Bildungstriebes als Lebenskraft 
bekämpft, so ist es einfach eine Unwahrheit, dass die Phil, d 
Unb. dasjenige mit Pauken und Trompeten zu rehabilitiren ver- 
buche, was die moderne Physiologie beseitigt hat 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 371 

Dass der philosophische Gesichtspunkt neben dem naturwissen- 
schaftlichen, die teleologische Betrachtung neben der causalen, der 
Bildungstrieb als Realisirungswille der Idee in einer oberhalb und 
jenseits aller mechanischen Kraftwirkungen liegenden Sphäre keinen 
Raum mehr habe, das sind nichts weniger als Errungenschaften der 
modernen Naturwissenschaft, sondern unberechtigte Ausschreitungen 
ihrer Vertreter; und gegen diese oberflächlichen Tagesströmungen 
einen weithin sohallenden und nicht wirkungslos verhallten Wider- 
spruch erhoben zu haben, darf die Phil. d. Unb. sich zur Ehre an- 
rechnen. Wenn Herr Schmidt unter diesen die Grenzen ihrer Spe- 
cialität verkennenden Forschern einer der Enragirtesten ist, so ist 
es sehr begreiflich, dass er meinen Einspruch gegen die Ausschrei- 
tungen und die Ueberhebung der von ihm vertretenen Richtung zu 
einem Widerspruch gegen die Errungenschaften der Naturwissen- 
schaft selbst aufzubauschen und dadurch meinen ganzen Einspruch 
zu diskreditiren sucht. Ich kann dabei getrost an das Urtbeil der 
unbefangenen Urtheüsfäbigen, und wenn die materialistische Strö- 
mung in der Gegenwart übermächtig werden sollte, an den Richter- 
Spruch der Geschiebte appelliren. 

Nur in einem Punkt befindet sich Schmidt in einem Gegensatz 
zu mir, wo er sich mit einigem Anschein des Rechts auf die ge- 
sammte Grundtendenz der modernen Naturwissenschaft berufen kann, 
nämlich in dem dogmatischen Glauben, dass die mechanische 
Causalität, d. h, das Spiel der mechanischen Kräfte allein aus- 
reichen müsse, um als völlig zureichende Ursache alle Natur- 
erscheinungen ohne Ausnahme zu erklären, gleichviel wie weit wir 
von diesem vollen Verständniss entfernt sein mögen. Aber dieser 
Glaube ist ein dogmatisches Vorurtheil ohne jeden Schein einer 
Begründung als die hohe Meinung von der unbegrenzten Leistungs- 
fähigkeit der Mittel des eigenen Berufs. Ich habe wiederholentlich 
betont, dass die Bewahrheitung dieses Glaubens nur Modificationen 
von seeundärer Bedeutung in meinem System hervorrufen und dessen 
Grundprincipien nicht alteriren würde. Aber dieser Glaube ist kein 
Bestandteil der Naturwissenschaft, weil er blosser Glaube, d. h. 
keiner wissenschaftlichen Begründung fähig ist, und deshalb kann 
mir die Naturwissenschaft das Recht gar nicht bestreiten, diesem 
Glauben den entgegengesetzten gegenüber zu stellen, nämlich den, 

dass die mechanische Causalität der Atome nur unentbehrlicher 

24* 



372 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

mitwirkender Factor, aber nicht allein ausreichende Ursache für die 
organischen Natnrprocesse sei. Für meinen Glauben habe ich we- 
nigstens Wahrscheinlichkeitsbeweise beigebracht, was die Gegenpartei 
der Natur der Sache nach gar nicht im Stande ist.*) 

Die Lücken in der mechanischen Erklärung sind nicht nur 
heute vorhanden, sondern sie werden immer vorhanden bleiben, da 
die menschliche Wissenschaft immer Stückwerk bleiben wird; die- 
selben haben aber zugleich eine mehr als subjective und zufällige, 
sie haben eine objective und systematische Bedeutung. Es ist, wie 
schon' oben bemerkt, unrichtig, wenn Schmidt (S. 38) sagt, dass ich 
für systematische Vermittelung wenig Sinn hätte, weil mein Princip 
der Vermittelung nicht bedürfe ; in der That bedarf mein Princip 
der Vermittelung der gesetzmässig wirkenden Atomkräfte, weil es 
ohne diese seinen Zweck, die Entfaltung des bewussten Geistes- 
lebens nicht errreichen könnte, und ich glaube, obwohl Philosoph, 
doch „in der Schule der Naturwissenschaften" Sinn genug für solche 
systematische Vermittelung erworben zu haben. Aber ich bin auch 
Philosoph genug, um die Augen dafür offen zu behalten, dass diese 
mechanische Vermittelung die Totalität der wirkenden Ursachen 
des organischen Naturprocesses nicht .erschöpft, sondern des Prin- 
cipe, das sich dieser Vermittelung bedient, als direct mitwirkenden 
Factors bedarf. 

Die Naturwissenschaft, die es berufsmässig nur mit mecha- 
nischer Gausalität zu thun hat, muss nothwendig jenes andere 
Princip als ein für sie transcendentes unberücksichtigt lassen, wenn 
sie sich nicht ungehörige Grenzverwischungen zu Schulden kommen 
lassen will; aber die Philosophie muss jenes Princip, das zugleich 
der Herr der Atomkräfte ist, deren es sich als Vermittelung be- 
dient, in den Hittelpunkt der naturphilosophischen Betrachtung 



*) Der Versuch einer Berufung der Naturforscher auf die apriorische 
Gewissheit der Ausnabmslosigkeit des Causalitätsgesetzes würde völlig am Ziel 
vorbeischiessen, da ja nach meiner Ansicht die neben den mechanistischen Atom- 
kräften im organischen Naturprocess mitwirkenden Factoren (die psychischen 
Individualwillen höherer Ordnung) gleichfalls wirkende Ursachen sind, also mit 
unter das Causalitätsgesetz fallen. Es wäre vielleicht gut, das Wort immechanisch 
in den philosophischen Sprachgebrauch einzuführen, und die causae efficicntes 
(die immer Willensacte sein müssen, um etwas wirken zu können) in mechanische 
und immechanische zu unterscheiden (vgl. oben Anm. 51, 62, 63). 



der naturwissentchaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 373 

rücken. Für die Naturwissenschaft als solche sind also in der That 

« 

„die Umstände die Hauptsache, nicht das Unbewusste" (34) ; für 
die Philosophie aber ist das Frincip die Hauptsache, welches in 
und durch diese Umstände seine Ziele realisirt, beziehungsweise 
unter Umständen die locale Realisirung durch Störungen bedroht 
findet, die es um der allgemeinen Gesetzmässigkeit willen hin- 
nehmen muss. 

Indem die Naturwissenschaft unsere Eenntniss der mechanischen 
Vermittelung zu fördern bemüht ist, gleicht sie einem Rechner, .der 
eine irrationale Zahl auf immer mehr und mehr Decimalstellen be- 
rechnet, während die Philosophie auf die unvertilgbare Incongruenz 
dieses Decimalbruchs mit der irrationalen Zahl hinweist. Die Phi- 
losophie leugnet keineswegs, dass das fortgesetzte Rechnen die 
Lücke verkleinert; aber wenn die Naturwissenschaft sich einbildet, 
aus dieser fortgesetzten Annäherung den Schluss ziehen zu dürfen, 
dass sie im Princip die irrationale Zahl erschöpfen könne, so weist 
die Philosophie mit Recht darauf hin, dass dieser Schluss fehlerhaft 
ist und den Begriff der Irrationalität aufheben würde. In 
demselben Sinne steht auch der organische Naturprocess in einem 
irrationalen Yerhältniss zu dem Mechanismus der. Atome, und die 
Hoffnung durch fortgesetzte Annäherung diesen principiellen Unter- 
schied umzustossen, beruht meiner Ansicht nach auf einer Ver- 
kennung des Wesens der Sache, wie werthvoll auch die einseitige 
Durchforschung der mechanischen Vermittelung zum Verständniss 
des Naturprocesses sein mag. 

Die fragliche Differenz über die künftige Tragweite der 
mechanischen Erklärungsweise ist aber jedenfalls der Art, dass nur 
ein rechthaberischer dogmatischer Eigensinn aus ihr einen Grund 
zur Verhinderung eines gegenwärtigen guten Einvernehmens 
und Hand-in-Hand-Gehens von Naturwissenschaft und Philosophie 
entnehmen kann. Oscar Schmidt, der lieber sein Mikroskop zu- 
sammenpacken will (S. 6), gleicht einem eigensinnigen Knaben, der 
nicht mehr mitzuspielen droht, wenn er nicht im Spiele der Erste 
sein kann und Alle nach seiner Pfeife tanzen. 

Das Ergebniss dieser allgemeinen Betrachtungen ist folgendes: 
Schmidts Behauptung, dass zwischen der Naturwissenschaft und 
der Phil. d. Unb. principielle Widersprüche bestehen, ist irrthümlich 
und beruht theils auf einem Miss verständniss des Standpunkts der 



374 Anhing. — Oskar Schmidts Kritik 

Phil d. Unb., theils und hauptsächlich aber auf einer falschen 
Identificirung seiner materialistischen Dogmen nnd Vorurtheile mit 
den Ergebnissen nnd Forderungen der modernen Naturwissenschaft. 
Völlig grundlos ist die Annahme Schmidt'«, däss durch meine Philo- 
sophie der Werth oder das Ansehen der Naturwissenschaft als 
solcher irgend wie geschädigt oder herabgedrückt werde; richtig 
ist nnr das, dass ich gegen die fehlerhafte Verquickung von Natur- 
wissenschaft und materialistischem Dogmatismus Einspruch erhebe, 
und durch Beschränkung der Naturwissenschaft auf die in ihrem 
Begriff liegenden Grenzen freie Bahn für die Bewegung der Philo- 
sophie zurückgewinne* Darob aber ergrimmet Herr Schmidt, nud 
um seinem Aerger eine kleine Genugtuung zu verschaffen, verschreit 
er mich als naturwissenschaftlichen Ignoranten und schreibt seine 
Brochure, um mich in den Augen des naturwissenschaftlichen Publi- 
kums zu disereditiren. Da ihm die Enthüllung der oben besproche- 
nen j,Grundwidersprüche" zu diesem Zweck doch nicht genügend 
erschienen sein mag, so legt er sein Mikroskop zeitweilig bei Seite, 
und giebt sich die Mühe, die »naturwissenschaftlichen Grund- 
lagen" meiner Philosophie im Einzelnen zu kritisiren, um nach 
jedem verfehlten Versuch der Detailkritik zu Declamationen über 
jene „Grundwidersprüche" zurückzugreifen» 



3« Der Darwinismus nnd die Philosophie des Unhewnssten. 

Seine Brochure zerfällt in zwei Theile: S. 64—85 beschäftigt 
sieh mit meiner Schrift über „Wahrheit und Irrthum im Darwinis- 
mus^ a 6—64 mit der Phil. d. Unb., und zwar kritisirt S. 12—17 
das iL Einleitungscapitel derselben, S. 17 — 50 den Abschnitt A und 
S. 60—64 das IV. nnd IX. Capitel des Abschnitts C. 

Wir betrachten zuerst Schmidt's Stellungnahme zu meiner 
Schrift über den Darwinismus, weil diese letztere der äussere Anlass 
war, welcher ihn dazu bewog, sich überhaupt mit einer Kritik 
meiner Naturphilosophie zu beschäftigen. „Beide Strömungen, die 
darwinistische und die des Unbewussten, konnten so trotz ihrer 
Gegensätze nebeneinanderlaufen, bis jüngst Eduard von 
Hartmann sich das Ziel setzte, zur Krönung seines Hauptwerkes 
den speciellen Beweis de? Unzulänglichkeit und Nichtigkeit des 
Darwinismus au führen und ihm in seinem System etwa die Bolle 



der naturwiäsöttschAftl. Grundlagen der Phil, d Unb. 375 

des Küchenjungen anzuweisen" (S. 3). Die Brochure des Strass- 
btirger Professors ist also wesentlich ein Schmerzensschrei wegen 
Geschäftsstörung; die Generalagentur des Darwinismus für die 
Reichslande fühlt sich beschwert, weil ich ihre Werthanpreistmg 
eines so wie so gangbaren Artikels als übertrieben enthülle nnd 
auf ein solides nnd reelles Maass zurückführe, bei dem das Geschäft 
noch sehr wohl gedeihen kann. Dass ich die Selectionstheorie für 
ein auxiliäres Princip erkläre, das für sich allein nicht im Stande 
sei, alle Welträthsel zu lösen, das heisst doch nicht die Nichtig- 
keit des Darwinismus proclamiren! Im Oegentheil stehe ich der 
darwinistisohen Richtung der heutigen Naturforschung um sehr viel 
nähet als dem noch immer sehr zahlreichen (und z. B. in Frank- 
reich völlig dominirenden) antidarwinistischen Lager, welches den 
genealogiechen Znsammenhang der organischen Typen leugnet. Ich 
erkenne mit dem Darwinismus die Flüssigkeit des Artbegriffs nnd 
die Abstammung der Arten von einander unbedingt an; ebenso er- 
kenne ich die allmähliche Transmutation, die natürliche und ge- 
schlechtliche Zuchtwahl und die Darwinschen Hilfserklärungen 
bereitwillig an, nnd streite nur über die Tragweite dieser Erklärunngs- 
principien mit dem Darwinismus, nicht, wie dessen Gegner, übet 
ihre Wahrheit. Als unwahr muss ich dieselben nur insofern be- 
trachten, als dieselben für rein mechanische Erklärungen der 
organischen Natur ausgegeben werden, nicht insofern sie als Erklä- 
rungsprincipien auf Grundlage innerer organischer Entwicklungs- 
gesetze gelten. Die erstere Auffassung ist aber selbst schon ein 
methodologischer Irrthum vom Standpunkte der Naturwissenschaft, 
eine Grenzverletzung derselben, d. h. eine Ueberhebung derselben 
über ihre Sphäre und ein unberechtigter Einbruch in das Gebiet 
der Naturphilosophie. Wigand hat im dritten Bande seines Werkes 
über den Darwinismus gezeigt, dass in den mannichfachen Strö- 
mungen in der Darwinschen Schule in allen andern Fragen die 
Meinungsverschiedenheiten zunehmen, und nur in einem Punkte eine 
deutliche Gonvergenz der Ansichten erkennbar ist, nämlich in der 
Anerkennung der Nothwendigkeit, auf ein inneres Entwicklungs- 
gesetz zurückzugehen 

Schmidt hat demnach meine Auseinandersetzungen über meinen 
Standpunkt gar nicht verstanden, oder er erachtet auch die geringste 
Abweichung von der orthodoxen Lehre Darwin's für hinreichend, 



376 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

am ein Anathema gegen den Ketzer zu schleudern, unbekümmert 
darum, dass er ihm weit näher steht als seinen principiellen Geg- 
nern. Das letztere könnte man vielleicht Geschmackssache nennen, 
insofern er sich darauf beschränkte, solchen abweichenden Stand- 
punkt bloss als unrichtig zu verwerfen; aber damit begnügt er 
sich nicht, sondern er verschreit dessen Vertreter als naturwissen- 
schaftlichen Ignoranten, der es sich fälschlich anmaasst, auf der 
Höhe der modernen Naturwissenschaft zu stehen. Herr Schmidt 
mag des Glaubens leben, dass er die Naturwissenschaft der Zukunft 
vertritt, aber er kann nicht bestreiten, dass in der Gegenwart der 
Darwinismus auch innerhalb der europäischen Naturwissenschaft 
eine sehr bestrittene Stellung hat, und dass es eine unerhörte An- 
maassung ist, jede abweichende Meinung eben wegen dieser Ab- 
weichung als unwissenschaftlich zu verunglimpfen. Da bei 
scharfen Gegensätzen in der Regel auf beiden Seiten Recht und 
Unrecht vertheilt ist, so wird eine vorsichtige Mittelstrasse die meiste 
Aussicht haben, sich als auf der Höhe ihrer Zeit stehend zu be- 
haupten, und die meinige trägt, wie gesagt, der aufstrebenden 
Richtung in höherem Grade Rechnung, als den Protesten ihrer 
Gegner. 

So vermessen es von Schmidt war, Naturwissenschaft und. Ma- 
terialismus zu identificiren, ebenso vermessen ist es von ihm, 
Naturwissenschaft und Darwinismus zu confundiren, zumal einen 
Darwinismus, dem nicht nur Darwin selbst, sondern sogar Haeckel 
zu zahm ist. Beide Gonfusionen spielen übrigens auch hier durch- 
einander; Schmidt bestreitet mir nur deshalb, auf der Höhe der 
modernen Naturwissenschaft zu stehen, weil mein Standpunkt weder 
streng darwinistisch, noch materialistisch ist; einen andern Grund 
zur Rechtfertigung seines verwerfenden Urtheils besitzt er nicht, 
und doch beweisen jene beiden Gründe nichts als die begriffliche 
Verwirrung und den herrschsüchtigen Unfehlbarkeitsdünkel im Kopfe 
des Ketzerrichters. 

Dass eine Vermittlerrolle stets von beiden extremen Parteien 
angefeindet wird, darüber war ich mir bei dem Erscheinen meiner 
Schrift über den Darwinismus ganz klar, und deshalb auch voll- 
kommen gefasst auf polemische Entgegnungen aus dem darwinisti- 
schen Lager. Wer sich erinnert, wie anerkannte Grössen der Na- 
tur Wissenschaft von gewissen Schildknappen des Darwinismus neuer- 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 377 

dings behandelt worden sind, wie schulknabenmässig E. E. v. Baer, 
wie unwürdig L. Agassiz wegen ihrer letzten, mehr oder minder 
antidarwinistischen Schriften herantergekanzelt und gemisshandelt 
worden sind, der wird sich höchstens noch darüber wundern, dass 
ich verhältnissmässig so glimpflich davongekommen bin. Leider 
lässt nur Schmidt's Kritik meiner Schrift jeden Anlauf zu sachlicher 
Widerlegung vermissen, und beschränkt sich lediglich auf einen ge- 
harnischten Protest und höhnisches Schelten. 

Schmidt protestirt (66) gegen meine Behauptung, dass alle 
Vertreter des Darwinismus mehr oder minder, auch diejenigen, 
welche sich mit Worten einer strengen Sonderung rühmen, 
(z. B. Schmidt selbst) thatsächlich Descendenztheorie und Se- 
lectionstheorie insofern confundiren, als sie einerseits die Bewährung 
der ersteren auch der letzteren gut zu schreiben geneigt sind, und 
andererseits den mechanischen Charakter der natürlichen Auslese 
auf die ganze Descendenztheorie übertragen. Ich bedaure, diese 
Behauptung in aller Strenge aufrecht erhalten zu müssen. Schmidt 
protestirt ferner gegen die sprungweise Artenumwandlung neben 
der allmählichen (70), beachtet aber dabei z. B. nicht die von Moritz 
Wagner im „Ausland" (1875 Nr. 25 u. 26) zusammengestellten 
Fälle wirklich beobachteter heterogener Beugungen, während 
alle natürliche Artentstehung durch allmähliche Transmutation nur 
erschlossen, also hypothetisch ist. Er protestirt endlich da- 
gegen, dass ich Nägeli's Unterscheidung physiologischer und mor- 
phologischer Abweichungen, welche von zahlreichen Naturforschern, 
u. a. von Darwin selbst als richtig und höchst wichtig anerkannt 
worden ist, urgire, nennt dies „eine Sottise, die ihn eigent- 
lich der Antwort überhebe", schilt Darwin, dass er mit dem Zu- 
geständniss, in diesem Funkte gefehlt zu haben, sehr unrecht 
gethan habe (77), und erklärt dem gegenüber, dass aus physio- 
logischer Adaption, wie jeder vergleichende Anatom weiss, 
ganz von selbst der Fortsehritt zu höherer Organisationsstufe 
folgt (68). Ich condolire Herrn Darwin zu dem erhaltenen Wischer 
und gratulire Herrn Schmidt zu seinem „Wissen". Gründe fehlen 
natürlich, da es sich ja nur um eine „Sottise" handelt. 

Mit diesen Protesten ist die Widerlegung meiner Schrift er- 
schöpft, deren ruhig abwägende, klar gegliederte, und nach bei- 
den Seiten gleicher Gerechtigkeit beflissene Auseinandersetzung in 



378 Anhang. — Oskar Schmidts Kritik 

keiner Weise zu einer Bolchen gereizten and nnsaehlieben Ent- 
gegnnng einen Vorwand geboten hatte. Wer so kämpft, erweckt 
damit den Argwohn, dass er zum Scheltwort greift, weil es ihm an 
Argumenten gebricht. Mit welch' unredlicher Sophistik aber Schmidt 
seine Polemik führt, geht aus der Behauptung (S. 65) hervor, dass 
seine vorhergehende Kritik des Abschnitts A der Phil d. Unb. ihn 
eigentlich der Kritik meiner Darwinismusschrift überhöbe, während 
doch letztere eine völlig selbstständige Arbeit ist, welche, weit ent- 
fernt, die Phil. d. Unb. zur Voraussetzung zu nehmen, vielmehr 
dieser einen selbstständigen Stützpfeiler aufmauern will Gesezt den 
Fall, die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Philosophie 
des Unbewussten wären als völlig haltlos dargethan, so wäre 
damit nichts, aber auch rein gar nichts über den Werth oder 
Unwerth einer völlig selbstständigen, neun Jahre später verfassten 
Arbeit erwiesen, welche, wie Schmidt selbst hervorhebt (S. 3—6) 
hinter der anonoymen Gegenschrift steht, und den darwinistischen 
Naturforschern „den Standpunkt definitiv klar machen soll". Die 
ganze Brochure Schmidt's macht hiernach den Eindruck, als ob er 
sich ausser Stande gefühlt hätte, seinen Aerger über meine Dar- 
winismusschrift an dieser selbst gehörig auszulassen, und deshalb 
sich auf den Abschn. A der Phil. d. Unb. geworfen hätte, um durch 
Bemängelung des letzteren wo möglich die erstere mit verdächtig 
zu machen. 

Diese sophistische Anschwärzung von hinten herum war um so 
Unedler, als ich selbst den Abschn. A der Phil. d. Unb. in mancher 
Hinsicht für obsolet erklärt hätte,*) aber nicht in dem Sinne, ab 
ob ein besserer naturphilosophischer Unterbau der Metaphysik des 
Unbewussten unmöglich sei (wie Schmidt auf S. 5 mir fälschlich 
unterschiebt), sondern unter ausdrücklicher Verweisung auf die 
anderweitig gebotenen Ergänzungen und Ersatzstücke (was Schmidt 
geflissentlich ignorirt). Den Abschnitt A neben diesen letzteren 
in den späteren Auflagen unverändert stehen zu lassen, konnte nach 
den vorausgeschickten Erläuterungen nur so übelwollenden Lesern 
gegenüber „gewagt" erscheinen, wie Schmidt einer ist, welcher das 
Bessere entweder ganz ignorirt (wie die Abhandlung „zur Phy- 
siologie der Nervencentra") oder durch die Kritik des von mir 



*) Vorwort der 7. Aufl. S. XVII, vgl. auch Ges. Stud. u. Aufe. 8. 39. 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 379 

Desävouiften mit vernichtet zu haben glaubt (wie die 
Darwinismusschrift). Nach meinem Tode würde mau die Fassung 
der ersten Auflage der Phil d. Unb* in meinen sämmtlichen Werken 
doch mit zum Abdruck gebracht haben, und das von Rechtswegen ; 
da konnte ich sie denn unter Beifügung der nöthigen Erläuterungen 
auch gleich selber stehen lassen. Doppelt nothwendig war dies 
mit Rücksicht auf meine Gegenschrift! welche wesentlich gegen die- 
sen Abschn. A gerichtet war, und zum Theil ihre Verständlichkeit 
verloren hätte für die Käufer späterer Auflagen der PhiL d. Unb., 
wenn in letzterer der Abschn. A eine Umarbeitung erfahren hätte. 
Die ganze Kunstform meines literarischen Dialogs wäre zerstört 
worden, wenn ich die Auslassungen des ersten Sprechers verun- 
staltet hätte. Diese Gründe konnte ich im October 1875 natürlich 
noch nicht veröffentlichen, weil der Zeitpunkt dieser zweiten Auf- 
lage noch nicht zu bestimmen war. Da Schmidt wusste (S. 5 — 6), 
dass ich „zur Ausgleichung" auf die genannten beiden Arbeiten 
verweise, welche später sind als die anonyme Gegenschrift, und da 
er zugesteht (S. 3 — 4), dass alle wesentlichen Momente seiner Kritik 
in letzterer bereits ausführlich entwickelt und begründet sind, so 
hätte er, wenn er ein ehrliches Spiel spielen wollte, sich mit 
seiner Kritik auf den von mir in meinen späteren naturphilo- 
sophischen Arbeiten entwickelten Standpunkt beschränken müssen 
und den Abschn. A der Phil. d. Unb. nur zur Ergänzung und Ver- 
vollständigung jener Schriften heranziehen dürfen. 

Sein umgekehrtes Verhalten würde mich weiterer Bemerkungen 
überheben, wenn er nicht ausserdem seine Angriffe in einer ganz 
verkehrten Richtung führte. Hätte er sich nämlich bloss darauf be- 
schränken wollen, die kritischen Einwendungen der anonymen 
Gegenschrift zu excerpiren, so wäre in der That nicht abzusehen 
gewesen, womit er dann die Veröffentlichung einer besonderen 
Brochure hätte rechtfertigen wollen. Er bezeichnet es deshalb als 
seine Aufgabe, jene Schrift nach einer Richtung hin zu ergänzen, 
welche er bei ihr vermisst, nämlich „ein Eingehen auf diejenigen 
naturwissenschaftlichen Thatsachen, aufweiche die PhiL d. Unb. 
sich stützt" (S. 4). Er bedauert, dass die anonyme Schrift „nicht 
den vollen Erfolg gehabt" hat (das soll wohl heissen: die Phil. d. 
Unb. und ihre Erfolge nicht geschädigt hat), und er beabsichtigt, 
durch seine ergänzende Kritik der meiner Naturphilosophie zu 



380 Anhang. — Oakar Schmidts Kritik 

Grunde liegenden Thatsachen diesen Erfolg herbeizuführen. Da er 
sich aber in Wirklichkeit nicht auf diese Aufgabe beschränkt, son- 
dern mit der Kritik der Thatsachen anch eine Kritik der aus ihnen 
gezogenen Folgerungen vereinigt, so enthält seine Brochure zwei 
Bestandteile, erstens eine fteproduction eines Theils der in 
der anonymen Gegenschrift erhobenen Einwendungen, die aber 
durch ungeschickte Wiedergabe und maasslose Uebertreibung bei 
Schmidt jeder Beweiskraft beraubt sind, und zweitens seine eigene 
Zuthat, die Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen. Was an 
seiner Kritik einigen Schein von Plausibilität besitzt, hat er von 
dem Anonymus, d. h. von mir, abgeschrieben; was er aus 
eigenen Mitteln hinzugethan hat, damit macht er glänzendes 
Fiasco. Letztere Behauptung bleibt mir nun noch näher zu er- 
härten. 



4; Wahrheit und Torartheil in der Naturwissenschaft. 

Zunächst ist zu bemerken, dass Schmidt eine ganz verkehrte 
Vorstellung davon hat, wie der Philosoph die Naturwissenschaft 
verwenden soll und darf. Bekanntlich wechseln gerade in unserm 
Jahrhundert die naturwissenschaftlichen Ansichten so rasch, dass 
man sagen kann, jedes Jahrzehnt bringe neue naturwissenschaftliche 
Moden mit sich und betrachte die der früheren Jahrzehnte als zu 
den Todten geworfen. Wollte nun eine neue Philosophie sich auf 
die in ihrem Jahrzehnt gang und gäben naturwissenschaftlichen 
Anschauungen stützen, so könnte sie, wenn nicht alle historischen 
Analogien trügen, darauf rechnen, nach einem weiteren Jahrzehnt 
mit den Grundlagen veraltet zu sein, auf die sie sich stützte. Unter 
solchen Umständen wäre es den Philosophen nicht zu verdenken, 
wenn sie es vorzögen, auch fernerhin wie bisher die Naturwissen- 
schaften zu ignoriren, um ihren rein philosophischen Speculationen 
eine Bedeutung für Jahrhunderte und Jahrtausende offen zu halten. 

Es giebt aber noch eine andere Art, sich zu den Naturwissen- 
schaften zu stellen, das ist die möglichste Umspannung der Natur- 
ansichten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese ist 
nur denkbar, wenn man sich gegen die augenblicklichen natur- 
wissenschaftlichen Moden die volle Freiheit des Urtheils wahrt! 
wenn man aus den Ansichten der Gegenwart die zukunftsreichsten 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. ünb. 381 

anter Vermeidung der ihnen anhaftenden Uebertreibung bevorzugt, 
and die Lücken der zeitgenössischen Theorien durch Zurückgreifen 
auf ältere Perioden ergänzt, deren zeitweilig ignorirte Wahrheits- 
keime nach der gesetzmässigen Wellenbewegung des menschlichen 
Erkenntnissfortschritts in künftigen Zeitaltern wieder neu an's Licht 
gezogen werden müssen. Wer so die vorurtheilsvolle Enge des 
Gesichtskreises seiner meisten Zeitgenossen überwindet, der erst 
steht wahrhaft auf der naturwissenschaftlichen Höhe seiner Zeit, 
ohne damit aus dem Rahmen einer naturwissenschaftlichen An- 
schauungsweise herauszutreten. Alle Koryphäen der Natur- 
wissenschaft haben in diesem Sinne in mehr als einer Richtung 
über ihrer Zeit gestanden, und es ist das Vorrecht des Nachbeter- 
trosses, gerade die vorübergehenden Vorurtheile der Zeit zu urgiren 
and zum Maassstab der Wissenschaftlichkeit bei ihrem Ketzerrichter- 
geschäft zu machen. 

Der Philosoph kann und darf nur unter der Bedingung mit der 
Naturwissenschaft eine Verbindung eingehen, dass es ihm vergönnt 
wird, seine Freiheit gegen die naturwissenschaftlichen Modevorurtheile 
zu behaupten und die Erforschung der Natur von einer höheren 
Warte zu betrachten, als der der augenblicklich herrschenden Partei. 
In je grösserem Stil er dieser Bedingung gerecht wird, desto hefti- 
ger muss er natürlich von den bornirten Fanatikern dieser Partei 
verketzert werden; es wäre das Todesurtheil seiner Philosophie, 
wenn solche Anfeindung ausbliebe, weil damit deren rasche Ver- 
gänglichkeit besiegelt wäre. In diesem Sinne habe ich alle Ursache, 
dem Darwinisten Schmidt dankbar zu sein für die gute Meinung 
über meine naturwissenschaftliche Qualification zum Natur philosophen, 
welche die Heftigkeit seines Angriffs bei denkenden Beurtheilern 
hervorbringen muss, und meine Dankbarkeit muss um so grösser 
sein, mit je schlechteren Waffen er mich bekämpft und je sichtbarer 
er seinen Aerger über meine Existenz kundgiebt. 

Es gehört zu den beliebtesten Kunstgriffen herrschender Theo- 
rien, dass sie sich gegen die umfassendsten problematischen Er- 
scheinungsgebiete, wenn sie dieselben nicht zu erklären vermögen, 
blind und taub stellen, und diejenigen als Schwindler, Narren und 
Mystiker, kurz als unwissenschaftliche Menschen verhöhnen, welche 
nicht geneigt sind, solchen Erscheinungsgebieten die Existenz ab- 
zustreiten, weil sie in den Kram der Modetheorien nicht passen. 



382 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

Die Koryphäen der Naturforsebtmg haben sich in solchen Dingen 
ans einfacher wissenschaftlicher Ehrlichkeit oft genug zu Zugeständ- 
nissen herbeigelassen, die ihren Trabanten sehr unbequem waren, 
mindestens aber sich reservirt verhalten. In dem Verhältniss, als 
die positiven Leistungen geringer sind, wächst naturgemäss die 
Neigung, durch Schimpfen und Belfern für die verfochtene Theorie 
seiner Person einige Wichtigkeit aufzuheften. Die positiven Leistungen 
des Herrn Schmidt sind mir gänzlich unbekannt; nach obigem 
Haassstab bemessen müssen sie jedoch bisher recht unbedeutend 
gewesen sein. 

Ein gehäufter Zorn muss sich natürlich über einen Menschen 
entladen, der sich gleich mir unterfängt, die Selbstzufriedenheit der 
herrschenden Vorurtheile durch Zusammenstellung einer ganzen 
Reihe von Erscheinungsgebieten zu erschüttern, welche von den- 
selben bisher hartnäckig ignorirt wurden. Dabei wird eine Ab- 
stufung des Zorns nach Maassgabe des Grades der Unbequemlichkeit 
der verschiedenen Ersoheinungsgebiete zu Tage treten, und letzterer 
wird von der Grösse der Wahrscheinlichkeit abhängen, mit welcher 
die herrschende Ansicht die betreffenden Erscheinungsgebiete mit 
ihren Mitteln zu bewältigen hoffen darf., Wo diese subjective Hoff- 
nung grösser ist, tritt an Stelle der bisherigen Verleugnung wider- 
willige Anerkennung der Thatsachen (so z. B. in Betreff des Wieder- 
auflebens eingetrockneter und gefrorener Organismen, oder der 
wunderbaren Erscheinungen der Naturheilkraft) ; wo hingegen diese 
Hoffnung verschwindend klein ist, dauert die Ableugnung der 
Thatsachen der Theorie zu Liebe fort, und wird die ganze Schale 
des Hohns und der ohnmächtigen Wuth über diejenigen Fachgenos- 
sen ausgeschüttet, welche nicht Corpsgeist genug besitzen, um sich 
an diesem gewissenlosen Treiben zu betheiligen, sondern die Fahne 
der Partei verrathen. Sind es anerkannte Berühmtheiten, so kommen 
sie gnädiger weg, so Burdach und Wallace; von ersterem war, 
„wie die Physiologie weiss, das Capitel Ahnungen eine schwache 
Seite" (27), und letzterer hat aufgehört, in Urtheilen und Folge- 
rungen eine Autorität zu sein, seit er unter die Spiritisten gegangen 
(52). Steht ihnen aber nicht ein solches unantastbares Renommß 
zur Seite, so schützt selbst einen anerkannten Naturforscher wie 
Reichenbach nichts vor dem Vorwurf eines „entlarvten Schwindlers" 
(8), obwohl seine Untersuchungen den Eindruck der redlichsten 



der naturwisBenBchaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 383 

Wahrheitsforschung machen, und von „Entlarvung" eines „Schwin- 
dels" auch ftlr den Fall einer gänzlichen Wertlosigkeit und Irr- 
thümlichkeit seiner Forschungen keine Bede sein kann. 

Mich selbst bedauert Schmidt bloss wegen der „lächerlichen 
Angaben", die ich mir habe „aufbinden" lassen (78), und wegen 
meiner „wahrhaft verblüffenden Gonfusion in naturwissenschaftlichen 
Dingen" (70); aber er sieht sich doch durch meine Zusammen- 
stellung zur Anerkennung verschiedener Erscheinungsgebiete ge- 
zwungen, für die er das gänzliche Fehlen eines naturwissenschaft- 
lichen Verständnisses und einer mechanisch-physiologischen Erklä- 
rung einräumen muss, so z. ß. für den Umsatz von Wille und 
Vorstellung in moleculare Nervenbewegung (22 — 23), für den Ersatz 
verlorener Körpertheile (37 u. 40), für den Process der Fortpflanzung 
und Vererbung (79—81). Das« bei solchen Zugeständnissen die 
Bemängelung der Einzelangaben, aus denen ich dasselbe Resultat 
gefolgert habe, ein zweckloses Bemühen ist, weil die philosophischen 
Folgerungen durch die Specialkritik auf diesen Gebieten gar nicht 
mehr alterirt werden können, ist ein anscheinend naheliegender 
Gedanke; glücklicher Weise ist derselbe Herrn Schmidt nicht ein- 
gefallen, denn sonst hätte er seine Brochure ungeschrieben lassen 
müssen, welche ja nur den Zweck haben sollte, die anonyme Gegen- 
schrift durch Kritik der zu Grunde liegenden naturwissenschaftlichen 
Thatsachen zu ergänzen. 



5« Schmidt'* Kritik der Quellen der Philosophie des 

Unbewussten« 

Bevor Schmidt in die Kritik der Thatsachen selbst eintritt, 
unternimmt er es, „auf die Glaubwürdigkeit und den Grad des Zu- 
trauens, den die Resultate eines Schriftstellers verdienen, daraus 
einen vorläufigen Schluss zu ziehen, wie er selbst sich seinen 
Quellen gegenüber kritisch verhält" (7). Zu dem Zweck prüft er 
in einem besondern Abschnitt „einige Gewährsmänner der Philosophie 
des Unbewussten", wobei er zu folgendem Resultat gelangt: Die 
Schriften von Carus sind geradezu die Hauptquelle für den 
biologisch-psychischen Theil der Ph. d. Unb." (8); „die Physiologie 
und Psychologie eines Carus sind absolut unverträglich mit 
der eines Dubois-Reyniond, Virchow, Goltz und Wundt; wem die 



384 Anhang. - Oskar Schmidts Kritik 

einen Autorität sind, dem kann es jener nieht sein" (12); Hart- 
mann verweist „alles Ernstes auf einen entlarvten Schwindler mit 
derselben Zuversicht wie auf die Physiologie von Johannes 
Müller" (8). Dies beweist, „dass die Ph. d. Unb. nicht im Stande 
gewesen, die ihr zu Gebote seienden Angaben nnd Thatsachen zu 
sichten, das Zweifelhafte vom Beglaubigten zu unterscheiden" (85), 
wie das Endurtheil über meine Naturphilosophie lautet. 

Da ich mich nicht berechtigt erachte, Herrn Schmidt einen 
Grad von Insipidität zuzutrauen, welche mit der Stellung eines 
deutschen Universitätsprofessors unverträglich erscheint, so bleibt 
mir nur übrig, in dieser indirecten Argumentation ein Muster von 
sophistischer Unredlichkeit zu sehen. Erstens verwirrt Schmidt 
fünf ganz verschiedene Begriffe, nämlich Autoritäten, Thatsachen- 
quellen, Gedankenquellen, Gitatenquellen und Vorgänger, und zwei- 
tens greift er „zur Charakteristik der Gewährsmänner der Philo- 
sophie des Unbewussten" aus dem reichen Namenregister 
nur drei Personen heraus, von denen einer, wie er selbst hervorhebt 
(7), in der Ph. d. Unb. gar nicht vorkommt, und die alle drei 
in keinem Sinne für mich Autoritäten, Gewährsmänner oder 
Quellen sind (abgesehen davon, dass ich von Carus ein Motto und 
ein Gitat zum rhetorischen Schmuck der Diction anführe). Schmidt's 
Kritik hat also hier nur den Zweck, mich dadurch zu discreditiren, 
dass er den Lesern, die seine Verdrehungen und Entstellungen 
nicht durch Nachschlagen meiner Schriften controliren, Sand in die 
Augen streut. 

Autoritäten kennt der Philosoph überhaupt nicht. Für Herrn 
Schmidt mögen Dubois-Reymond, Virchow etc. Autoritäten sein, für 
mich sind sie es ebenso wenig wie Carus oder Beichenbach. Ge- 
dankenquellen, d. h. Anreger von Ideen, Hypothesen, Principien, 
Begriffen, Vorstellungen und Urtheilen, sind die Naturforscher nur in 
sehr beschränktem Grade für mich gewesen, und können in dieser Hin- 
sicht im Vergleich zu den Philosophen gar nicht in Betracht kommen. 
Da Schmidt von Philosophen nur Piaton (und auch diesen nur dem 
Namen nach) zu kennen scheint, so besitzt er beispielsweise die 
köstliche Naivität, alles Ernstes zu behaupten, dass ich den Begriff 
der typischen Naturidee von Carus herübergenommen habe (71), — 
als ob nicht dieser Begriff den gesammten Vertretern des objectiven 
und absoluten Idealismus gemeinsam wäre ! Da Schmidt die Schrift- 



der naturwissenschaftl. Grandlagen der Phil. d. Unb. 385 

steller, denen ich einmal ein Gitat entlehnt habe, benutzt, am mich 
durch deren Kritik zu discreditiren, so wandert mich nur, dass er 
sich den Hinweis darauf hat entgehen lassen, wie viel ich aus der 
Bibel citire, was doch vom naturwissenschaftlichen Standpunkte 
gewiss eine verwerfliche „Quelle" sein muss. Wenn ich endlich aus 
historischer Gerechtigkeit es nicht unterlasse, Vorgänger namhaft zu 
machen, welche in bestimmten Punkten auch von mir verwerthete 
Gedanken in mehr oder minder ähnlicher Gestalt ausgesprochen 
oder entwickelt haben, so genügt dieser Zoll historischer Würdigung 
zu der perfiden Insinuation, dass ich mich auf solche Männer von 
anderweitig vielleicht sehr anfechtbarem Standpunkt als auf Autori- 
täten oder Gewährsmänner „berufen" hätte (so z. B. S. 7 Z. 8—9). 

Was nun die drei von Schmidt gewählten Namen betrifft, so 
habe ich Baumgärtner erst zwei Jahre nach Erscheinen der Phil, 
d. Unb. durch sein Buch „Natur und Gott" (Leipzig 1870) kennen 
gelernt, das ich in den Bl. f. lit. Unt. 1871 Nr. 34 angezeigt habe. 
Seine Erwähnung in meiner Darwinismusschrift S. 27 war lediglich 
ein Act historischer Gerechtigkeit gegen einen von naturwissen- 
schaftlicher Seite geflissentlich ignorirten Physiologen, von dem ich 
übrigens gar nichts weder gelernt noch entlehnt habe. 

Von Carus habe ich nur Ein Buch, die „Psyche" gelesen, und 
zwar während der Ausarbeitung des Abschnitts A der Ph. d. IL, als 
derselbe in meinem Kopfe schon feststand. Ueber die Bestätigung 
meiner durch philosophische Gedankenquellen angeregten Ansichten 
durch die Uebereinstimmung mit Carus habe ich mich gefreut ; aber 
ich bekam das Buch zu spät in die Hand, um noch etwas daraus 
lernen zu können. Die greisenhafte Weitschweifigkeit und Red- 
seligkeit, der Mangel logischer Präcision und beweiskräftiger Schnei- 
digkeit in der „Psyche" benahmen mir bis heute jede Lust, mehr 
von diesem Schriftsteller zu lesen. Eine von mir aus Carus' Schrif- 
ten entlehnte Thatsache hat Schmidt nicht anzugeben gewusst; 
wenn er die Uebereinstimmung in den negativen Aussagen über das 
metaphysische Unbewusste („erkrankt, ermüdet, zweifelt und irrt 
nicht") für genügend hält, um meine Entlehnung dieser Aussagen 
von Carus zu beweisen (11), so ist er ebenso im Irrthum, als wenn 
er glaubt, dass ich die „Naturideen" von Carus übernommen hätte. 
Jene Sätze sind negative Prädicabilia a priori von jedem Absoluten, 
die für den Philosophen selbstverständlich bis zur Trivialität sind 

E. t. Hartmann, Dm Unbewuute. 2. Aufl. 25 



386 Anhang. — Oskar Schmidts Kritik 

(vgl. „Neuk., Schop. u. Heg/' S. 361—362); hatte ich einmal an- 
abhängig von Garns das Absolute als das Unbewnsste ergriffen, so 
brauchte ich auch nicht mehr seine Anleitung zu diesen selbst- 
verständlichen Folgerungen. Aber selbst wenn Schmidt in der 
Entlehnungsfrage in diesem Punkte Recht hätte, so hätte er 
doch noch Unrecht, zu behaupten, dass Carus mein Gewährs- 
mann sei, da ich mich eben nirgends auf ihn berufe. Ich 
beweise diese Sätze selbstständig, da bei Carus jeder Versuch eines 
Beweises fehlt. Es ist also eine ebenso unmotivirte als that- 
sächlich unrichtige Behauptung Schmidt's, dass Carus geradezu 
die Hauptquelle für den betreffenden Theil der Ph. cL Unb. 
sei (8); er ist weder Hauptquelle noch überhaupt Quelle für mich 
gewesen, ich habe ihn vielmehr nur als Vorgänger aus historischer 
Gerechtigkeit angeführt, und aus Bescheidenheit mich eines Urtheils 
über diesen Quasi- Concurrenten enthalten. 

Was endlich den dritten „Gewährsmann" angeht, so sagt Schmidt 
wörtlich folgendes: „Bedenklicher ist es, wenn wir erfahren, dass 
der Freiherr von Beichenbach eine Autorität für Hartmann ist" 
(8); „wer, gleich Hartmann, zur ernsthaften Anerkennung 
eines von Physik und Physiologie einstimmig in das Gebiet des 
Humbug verwiesenen Gebiets" (nämlich des Od) „sich veranlasst 
sieht, rühmt sich vergeblich der inductiv - naturwissenschaftlichen 
Methode" (49). Es ist unwahr, dass ich Beichenbach als eine 
Autorität in meinen Augen kenntlich gemacht hätte, denn ich habe 
nur Ein Mal seine Schriften mit einem „Vgl." in Klammer angeführt 
und das Urtheil des durch sie kennen zu lernenden Gebiets gänzlich 
dem Leser überlassen; es ist unwahr, dass ich „durch meine 
Neigung für den Mesmerismus" zur „ernsthaften Anerkennung 1 ' der 
Beichenbach'schen Odlehre geführt worden sei (49), da mir dieselbe 
in der von Beichenbach vorgetragenen Gestalt stets sehr zweifelhaft 
und bedenklich erschienen ist, und deshalb weder das Wort Od 
noch sonst welche Hindeutung auf Beichenbach's Theorie in meinen 
Schriften zu finden ist. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Ge- 
sichts-Sensitivität und Gefühls-Sensitivität principiell getrennt behan- 
delt werden müssen, wenngleich sie sehr wohl vereinigt anftreten 
können, dass die Gesichts-Sensitivität oder Nachtdichtigkeit, durch 
welche die geringen Lichtausstrahlungen verschiedener schwach 
leuchtender, bisher für dunkel geltender Körper dem Auge wahr- 



der naturwissenschaftl Grundlagen der Phil. d. Unb. 387 

nehmbar werden, mit dem hypothetischen Od gar nichts zn thun 
hat, und dass die von Gefühls- Sensitiven percipirten abnormen 
Wahrnehmungen mit mehr Wahrscheinlichkeit auf mehrere verschie- 
dene (theils bekannte, theils auch wohl noch unbekannte) Undula- 
tionsweisen der Materie und des Aethers zu beziehen seien als auf 
ein einziges neues hypothetisches Agens, das Od. 

Nicht auf die Theorien ßeichenbach's, sondern auf die von 
ihm gesammelten, zum Theil höchst merkwürdigen und wahrschein- 
lich folgenreichen Thatsachen habe ich meine Leser verwiesen, 
ohne irgendwie dafür einzutreten, dass bei diesen mit subjectiven 
Fehlerquellen so sehr behafteten Versuchen nicht mannichfache 
Täuschungen und Irrthümer bisher mit untergelaufen sind. Wer 
die Kritiklosigkeit der älteren mesmerischen und der neueren spi- 
ritistischen Literatur kennt, der wird es mir Dank wissen, auf einen 
wenig beachteten Naturforscher aufmerksam gemacht zu haben, der 
in ähnliche Erscheinungsgebiete mit verhältnissmässigem Geschick, 
redlicher Mühe und geduldigem Fleiss einzudringen versucht hat 
Meine persönlichen Erfahrungen über das freihändige Magnetisiren 
reichen gerade weit genug, um das Urphänomen einer durch den 
Willen eines Menschen in einem andern Menschen hervorgerufenen 
abnormen localen Geftihlswahrnehmung in exaeter Weise zu con- 
statiren, und scheinen mir genügend, um die weitere Erforschung 
dieses Erscheinungsgebietes für eine unabweisliche Aufgabe der 
exaeten Wissenschaft zu erklären, und um mich in der apriorischen 
Ableugnung von unglaublich klingenden Angaben vorsichtig zu 
machen. Selbst Schmidt bekennt: „Die Naturwissenschaft hat sich 
oft zur Anerkennung von Thatsachen bequemen müssen, welche 
unglaublich schienen, und gegen allgemein anerkannte Gesetze 
sprachen" (47); wenn er das einsieht, so sollte er sich doch mit 
dem Schimpfen und Verhöhnen von Erscheinungsgebieten etwas 
niefor in Acht nehmen, welche durch das, was er auf S. 47—49 
gegen dieselben vorbringt, gar nicht berührt werden. Das 
Urtheil der Geschichte über das straussenartige Kopfverstecken 
unserer heutigen Naturwissenschaft vor den ihr unbequemen Er- 
scheinungsgebieten dürfte einmal härter ausfallen, als die Selbst- 
zufriedenheit unserer modernen Naturforscher sich träumen lässt. 

Diese Differenzen lassen jedoch den Vorwurf unangetastet be- 
stehen, dass Schmidt's Versuch, meine Urteilsfähigkeit durch Kritik 

25* 



388 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

einiger angeblichen Gewährsmänner zn discreditiren, auf einer gröb- 
lichen Täuschung seiner Leser durch Vorspiegelung falscher That- 
sachen beruht Dass Schmidt sich genöthigt sah, in diesem Punkte 
zu solchen Verdrehungen des Thatbestandes zu greifen, ist der 
beste indirecte Beweis, dass er meinen wirklichen Gewährs- 
männern gegenüber in der That in Verlegenheit um triftige Aus- 
stellungen war, und das Fehlen solcher bei ihm nicht bloss zufällig 
ist. Dagegen muss Schmidt häufig genug in solchen Fällen das 
Ansehen meiner Quellen anerkennen, wo ihm dasselbe sehr un- 
bequem ist (so z. B. S. 19 Pflüger und Goltz, S. 25 Th. Engelmann), 
und wo er Gewährsmänner für eine von den meinigen abweichende 
Auffassung aufführt, da sind es fast ausnahmslos solche Schriften, 
die später als die älteren Auflagen der Ph. d. Unb. erschienen sind, 
z. B. S. 25 Hermann Müller (1876), S. 19 Goltz (1871) und Wundt 
(1874), und die ich zum Theil-in späteren Arbeiten berücksichtigt, 
beziehungsweise widerlegt habe. Dies Alles ist ein hinreichender 
Beweis, dass die Phil. d. Unb. auch in Bezug auf die Kenntniss 
des Materials vollständig auf der Höhe der Zeit ihres Erscheinens 
stand ; dass der Abschn. A nicht mehr durchweg auf der Höhe der 
Zeit des Erscheinens der 7. Auflage steht, habe ich daselbst (im 
Vorwort S. XVII) selbst zuerst ausgesprochen, und die zur Erhärtung 
meines Ausspruchs von Schmidt unternommene Beweisführung er- 
scheint demnach ebenso überflüssig, als sie ihm factisch durch- 
weg missglückt ist. 



6. Angefochtene Deutungen von Thateachen. 

Wenn meine Entgegnung erst jetzt zur Besprechung der Schmidt'- 
schen Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen gelangt, so be- 
weist das, wie viel Baum mein Kritiker mit Bemerkungen gefüllt 
hat, die nicht dem Titel seiner Brochure entsprechen. 

Derselbe erläutert auf S. 4 den Titel dahin, dass die Aufgabe 
der Schrift die Kritik derjenigen naturwissenschaftlichen That- 
sachen sei, auf welche die Phil. d. Unb. sich stützt, im Gegen- 
satz zu meiner anonymen Gegenschrift, welche die Thatsachen im 
Allgemeinen hinnimmt und nur ihre Deutung kritisirt. Aber 
diese Beschränkung des Wortes „Grundlagen" auf „zu Grunde lie- 
gende Thatsachen" ist in der Brochure selbst völlig ausser Acht 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 389 

gelassen; es macht fast den Eindruck, als wenn Schmidt nicht im 
Stande wäre, im besonderen Falle zwischen Thatsachen und Deu- 
tungen zu unterscheiden. Dieser Unterschied ist aber sehr wichtig; 
denn Thatsachen sind Daten, an denen nicht zu rütteln ist, während 
bei ihren Deutungen sofort die wissenschaftlichen Meinungsverschieden- 
heiten in Kraft treten können. Ich werde deshalb beides ausein- 
ander halten, und zuerst dfe speciellen Beilspiele berücksichtigen, 
in welchen Schmidt meine Deutung der Thatsachen anficht, bevor 
ich zu den in Zweifel gezogenen thatsächlichen Angaben übergehe. 

Schon im zweiten Einleitungscapitel der Phil. d. Unb. bekämpft 
Schmidt meinen Satz, dass das Behrüten des Ei's die Ursache vom 
Auskommen des jungen Vogels sei, durch die Bemerkung, dass 
nicht das Bebrüten, sondern die Temperatur die Ursache sei (15). 
Da ich an der Stelle ausdrücklich die nicht brütenden Vögel in war- 
men Ländern und Treibhäusern erwähne, so spreche ich eben nur 
von der Ursache, welche bei brütenden Vögeln dem Ei die zur 
Entwickelung nöthige Temperatur verschafft, und dass diese das 
Brüten sei, wird wohl Schmidt nicht bestreiten. Die Frage muss 
nicht bloss objectiv gestellt werden : „Welche Umstände veranlassen 
den Vogel zum Brüten?", sondern auch subjectiv: „Welcher psy- 
chische Process muss in einem Vogel vorgehen, um denselben durch 
solche Umstände zum Brüten zu veranlassen, dessen Zweck ihm 
meist unbekannt sein wird?" Worauf die Antwort nicht die von 
Schmidt gegebene sein kann. Wenn derselbe übrigens behauptet, 
dass mit diesem Gapitel „die Erkenntniss der Finalität als fast voll- 
ständig begründet erachtet" wird (16), so widerspricht dies meinen 
ausdrücklichen Erklärungen am Schluss des Gapitels. 

Auf S. 19 erkennt Schmidt an, dass ich mich in meiner Stel- 
lung zur Frage der Seelenthätigkeit des Rückenmarks mit Pflüger 
in Uebereinstimmung befinde, behauptet aber, dass dieser Standpunkt 
durch Goltz überwunden sei, dem auch Wundt in seinem neuesten 
Werke gefolgt ist. Schmidt thut dabei so, als wenn ich von diesen 
gegnerischen Ansichten von Goltz und Wundt nichts wüsste, und 
ignorirt dabei nur, dass ich dieselben in der Abhandlung „Zur 
Physiologie der Nervencentra" ausführlich erörtert und den Grund 
ihrer Irrthümlicheit in dem Vourtheil aufgezeigt habe, als ob Reflex- 
mechanismus ein ausschliessender Gegensatz zu Seelenthätigkeit sei, 
während er doch nur deren correlative objective Erscheinungsform 



390 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

bildet (Ph. d. Unb. I. 377—389). Da ich mich dort mit der Be- 
sprechung Wundfs begnügt habe, so will ich hier noch einiges 
über Goltz bemerken, da der Gegenstand mir dazu wichtig genug 
erscheint. 

Goltz sagt in seinen „Beiträgen zur Lehre von den Functionen 
der Nervencentra" : *) „Das, was wir gewöhnlich Seele nennen, ist 
theilbar, wie das Organ, durch dessen Thätigkeit sie sich äussert" 
(S. 80). „Weil ich erwiesen habe, dass nach Verstümmelung des 
Gehirns Seelenvermttgen in gewissen Sphären bleibt, in anderen 
erlischt, bin ich an sich dem Gedanken durchaus nicht abhold, 
dass auch das geköpfte Thier noch für eine kleine Sphäre, nämlich 
für die der Abwehrbewegungen, mit Anpassungsvermögen, d. i. mit 
Seelenvermögen ausgestattet sein könne. Aber ich verlange, um 
das annehmen zu können, allerdings überzeugende Beweise" (113). 
Diese überzeugenden Beweise bringt nun Goltz selbst in den Ver- 
suchen Auerbachs und in seinen eigenen bei (111—113 u. 116 — 120), 
aus denen für jeden unbefangenen Leser klar hervorgehen dürfte, 
dass das Bückenmark des geköpften Frosches ein eclatantes An- 
passungsvermögen besitzt. Goltz hingegen findet diese Beweise aus 
dem Grunde nicht überzeugend, weil die bei diesen Versuchen zu 
Tage tretenden Selbstregulirungen nicht die menschliche Fassungs- 
kraft übersteigen. Erst wenn ein Thier oder Nervencentrum „aueh 
in den Fällen zweckentsprechend handelt, welche ais unberechen- 
bar nach menschlicher Fassungskraft unmöglich in einer 
Maschinenvorrichtung vorgesehen sein konnten, dann schreibe ich 
dem Thier Seelenvermögen zu" (115). Diese Grenzbestimmung ist 
aber ganz unwissenschaftlich. Denn sie ist zunächst völlig will- 
kürlich, und mit dem Fortschritt unsrer mechanischen Kenntniss ver- 
schiebbar; sie ist aber auch principiell verkehrt, weil sie voraus- 
setzt, dass in den Fällen zweifelloser intelligenter Willkürhandlungen 
kein Reflexmechanismus vorhanden sei. Goltz selbst erklärt (S. 92) 
die sogenannten freiwilligen Bewegungen für eine blosse Glasse der 
„Antwortbewegungen" (d. h. Reflexbewegungen im weiteren Sinne), 
oder wie Volkmannes ausdrückt: jede willkürliche Bewegung fllr 
eine reflectirte, und nennt es mit Recht „einen Streit um Worte, ob 



*) In Berlin bei Hirschwald i. J. 1869, also nach der ersten Auflage der 
Ph. d. Unb. erschienen. 



der naturwisseuschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 391 

jemand den Frosch ohne Grosshirn ein beseeltes Thier, oder einen 
Mechanismus von unbegreiflicher Vollkommenheit nennen will" (68). 
Mit beiden giebt er aber zu, dass auch die eigentliche Seelen- 
thätigkeit unter dem physiologischen Gesichtspunkt mechanische 
Beflexfunction sein muss, vernichtet also sein eigenes Kriterium 
zur Unterscheidung beider. Es bleiben ihm hiernach nur 
zwei Wege offen: entweder er erklärt auch das menschliche 
Grosshirn mit seinen scheinharen Aeusserungen von Seelenvermögen 
bloss für einen höchst complicirten Gomplex von Reflexmechanismen, 
oder er erkennt an, dass auch das Bückenmark in den höchst 
complicirten Selbstregulirungen seiner Reflexmechanismen Seelen- 
thätigkeit entfaltet. Da erstere Ansicht mit der Leugnung all' und 
jeder Seelenthätigkeit gleichbedeutend ist, also der unmittelbaren 
Erfahrung widerspricht, so bleibt nur der letztere Weg offen, so 
lange überhaupt die Alternative aufrecht erhalten wird. Sobald 
man hingegen die mechanischen Vorgänge in den Nervenmoleculen 
als blosse objective (der psychischen subjectiven Erscheinung cor- 
respondirende) Erscheinung auffasst, fallen diese beiden scheinbar 
entgegengesetzten Ansichten in Eine zusammen (vgl. auch oben 
Anm. 183). 

Goltz sucht seine Bedenken gegen das Seelenvermögen des 
Bückenmarks noch durch negative Versuchsinstanzen zu erhärten, 
verunglückt aber vollständig mit denselben. Die auf S. 121 mit- 
geteilte Versuchsreihe ergab allerdings ein negatives Resultat, aber 
der Controlversuch mit unversehrten Fröschen zeigte ; dass dieselben 
in der fraglichen Bichung ebensoviel oder ebensowenig Seelen- 
vermögen äussern, wie die enthirnten Thiere (122, 125). Zwei an- 
dere Versuche mussten negative Resultate liefern, weil die Aufgabe- 
stellung eine falsche war, weil an das Bückenmark des geköpften 
Frosches als Probe seines Anpassungsvermögens Forderungen ge- 
stellt wurden, zu deren Erfüllung ihm das Organ fehlte. Wenn die 
Auseinanderwickelung der künstlich über dem Bücken verschränkten 
Beine (101 — 105), oder das Forthüpfen vor den angethanen Mar- 
tern (127—130) Aufgaben sind, die das Kleinhirn oder die Vierhügel 
zu ihrer Ausführung (als Mittel zur Goordination der Bewegungen) 
erfordern,, so kann man aus der Nichtausführung der Aufgabe eben- 
sowenig auf ein gänzliches Fehlen des Anpassungsvermögens oder 
der Empfindungsfähigkeit im Bückenmark schliessen, als wenn man 



392 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

auf den Mangel an freundschaftlichen Gesinnungen eines Menschen 
ohne Arme daraus schliessen wollte, dass er in meine dargebotene 
Hand nicht einschlägt (101). „Wollen wir erforschen, ob das 
Rückenmark noch Seelenvermögen besitzt, so müssen wir uns an 
diejenigen Thätigkeiten halten, die es noch zu leisten vermag" (101). 
Weil Goltz das selbst nicht beachtet hat, darum sind seine negativen 
Instanzen nichts-beweisend. Wenn ein geköpfter Frosch in einem 
allmählich erwärmten Wasserbade selbst die motorischen Schmerz- 
äusserungen des Gliederzuckens vermissen lässt, so muss es dafür 
einen andern Grund geben, als den, dass der geköpfte Frosch keine 
Empfindung mehr besitze ; letzterer Grund wird durch einen andern 
Versuch von Goltz ausgeschlossen, nach welchem ein solches Thier 
dem peinigenden Bade einer concentrirten Salzlösung zwar nicht 
durch Fortspringen zu entrinnen vermag, aber doch durch wilde 
Wischbewegungen die erlittene Pein kundgiebt (S. 76 — 77). 

Wenn Schmidt die Goltz'schen Untersuchungen mit kritischer 
Besonnenheit anstatt mit blinder Unterwerfung unter die Autorität 
seines Namens gelesen hätte, so würde er sich das hier Bemerkte 
selber haben sagen können, selbst ohne Kenntnissnahme meiner 
ausführlichen Erörterungen des Gegenstandes in der erwähnten Ab- 
handlung. Es war ihm aber nur darum zu thun, mich vor seinen 
Lesern als unwissenschaftlichen Ignoranten erscheinen zu lassen, 
und darum musste er von einer Beurtheilung der Goltz'schen Schluss- 
folgerungen ebenso Abstand nehmen wie von einer Berücksichtigung 
meiner Auseinandersetzungen, in welcher ich das Losungswort für 
die fernere Betrachtung des Rückenmarks mit dem Satze ausgegeben 
zu haben glaube: „Das Bückenmark der höheren Thiere ist durch 
seine beständige Nöthigung zu Handlangerdiensten für das Gehirn 
gleichsam versimpelt; aber daraus ist immer noch nicht zu 
schliessen, dass es Bewusstsein und Willen (die es bei den niederen 
Thieren offenbar besitzt) verloren habe" (Ph. d. U. I. 390 Anm.). 
Dass Schmidt überhaupt die psychische Innerlichkeit der niederen 
Nervencentra zum Gegenstand seines Angriffs zu wählen kein Be- 
denken trägt, ist nur ein Beweis, wie wenig er von den unabweis- 
baren naturphilosophischen Consequenzen der Descendenztheorie eine 
Ahnung hat ; denn sonst müsste ihm klar sein, dass unser Intellect- 
organ nur ein modificirter Ganglienknoten, und ein Ganglienknoten 
nur modificirtes Protoplasma ist, dass also auch die Functionen 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 393 

unserer Hemisphären nur Modificationen der Grundfunctionen der 
Ganglienknoten und des Protoplasma^ sein können. Ich bin also 
hier von Schmidt gerade deshalb angegriffen, weil ich eine auf der 
der Hand liegende Consequenz der Descendenztheorie vertrete. 

S. 22—23 gesteht Schmidt einerseits zu, dass der Umsatz von 
Wille und Vorstellung in moleculare Nervenerregung ein un- 
erschlossener Vorgang ist, bestreitet aber andererseits, dass das 
Räthselhafte des Vorgangs in der Erregung der richtigen Nerven- 
fasern als Mittel für die Muskelverkürzung liege, indem er unter 
Hinweis auf die Bogenfaserzttge des Gehirns sagt: „Denn die von 
der Vorstellung der Bewegung in Anspruch genommene Hirnpartie 
kannunfehlbardie erhaltene Erregung auf continuirlichen Bahnen 
zu den motorischen Fasern fortpflanzen." Dieses „kann unfehlbar" 
ist charakteristisch für Schmidt' s logische Präcision, und zeigt, auf 
wie schwachen Füssen der Einspruch steht. Die Möglichkeit un- 
mittelbarer Fortleitung des Reizes auf unzweifelhaft vorhandenen 
continuirlichen Bahnen zu leugnen, ist mir nicht eingefallen; aber 
diese Möglichkeit für jeden einzelnen Fall einer bestimmten Be- 
wegung ist eine hohe Unwahrscheinlichkeit für die Gesammtheit 
aller Fälle willkürlicher Bewegung, deren Auswahl der Willkür 
unterstellt ist, und darum ist diese „unfehlbare Möglichkeit" nichts 
weniger als eine Erklärung (vgl. Phil. d. Unb. I. 64—65). 

S. 29—30 bestreitet Schmidt meine Behauptung, dass die Zu- 
sammensetzung eines Gesammtreflexes aus Einzelreflexen um so 
complicirter wird, je grössere Umwege ein Beiz einschlägt, bevor 
er als motorische Beaction wieder austritt ; er behauptet das Gegen- 
theil, dass „man, wenn die Leitung auf Nebenwegen geschieht, von 
einer Vermehrung der Reflexe überhaupt gar nicht sprechen" kann. 
Herr Schmidt scheint hiernach entweder die Thalsache nicht zu 
kennen, dass die Hauptleitungen durch weisse Nervenstränge und 
ein Minimum grauer Substanz, die Nebenleitungen aber durch um 
so mehr graue Substanz führen, je grössere Umwege sie einschlagen, 
oder aber derselbe verkennt, dass der Durchgang durch graue Sub- 
stanz, d. h. durch Ganglienzellen etwas anderes ist als blosse Lei- 
tung in Fasern, und stets eine reflectorische Beaction dieser Ganglien* 
zellen als Grund der Weiterbeförderung voraussetzt 

Dass ein Vogel an gebrochenem Herzen zu Grunde gehen kann, 
stellt Schmidt nicht in Abrede, dass ich aber behauptet haben soll, 



394 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

auch die Weinbergsschnecke, der man den Winterschlaf versage, 
sterbe an Verzweiflung, beruht auf einer Interpretation meines 
Textes, die wohl Schmidt selbst nur als einen schlechten Witz be- 
trachtet wissen will (27). 

Die Angabe über das Verhalten der Hunde gegen Hundeesser 
verdanke ich einer brieflichen Mittheilung des Herrn Dr. Carl Frei- 
herrn du Prel.*) Wenn es sich um nichts weiter handelte, als um 
die Bemerkung, dass Hunde, welche ihre Gollegen öfters durch 
einen Menschen haben auffangen sehen, durch dieses Schicksal ihrer 
Genossen gewitzigt werden, wie Schmidt meint (27), so wäre daran 
nichts Bemerkenswerthes. Aber er vergisst, dass Hundediebe nicht 
so öffentlich zu gehen und zu rauben pflegen wie angestellte Hunde- 
fänger, und dass deshalb die Hunde schwerlich durch Gesichts- 
wahrnehmungen über die Liebhabereien der Hundeesser Erfahrungen 
zu sammeln Gelegenheit haben dürften. Vielmehr ist anzunehmen, 
dass häufige Ernährung mit Hundefleisch der menschlichen Aus- 
dünstung eine veränderte Beschaffenheit giebt; und dass diese ge- 
nügt, um die Hunde feindlich gegen solche Menschen zu stimmen, 
das ist eben die interessante Thatsache, welche mit der ander- 
weitigen instinctiven Erkennung von Feinden in eine Reihe gehört. 

Auf S. 20 findet Schmidt dasjenige, was ich aus den bei- 
gebrachten Beispielen herauslese, „im höchsten Grade un- 
kritisch." Er bestreitet nicht, dass die vordere Hälfte zer- 
schnittener Wespen, Ohrwürmer und Ameisen noch lange das Be- 
wusstsein behält und in alle möglichen Gegenstände einbeisst, eben- 
sowenig, dass das Hintertheil so weit es mit Stachel versehen ist, 
mit den Stachelmuskeln heftig arbeitet; aber er bezweifelt, dass 
Kampftrieb und Zorn und Wuth, d. h. Affecte des Willens, mit die- 
sen Erscheinungen etwas zu thun haben, und substituirt bei dem 
Hintertheil blosse „Reizung des Nervensystems" als Ursache der 
Muskelcontractionen, während er vermuthet, dass das Vordertheil 
„wohl vor Schmerz" um sich beisst. Wenn Herr Schmidt von einem 
Menschen einen Schlag in's Gesicht erhält und denselben sofort mit 
der Faust zu Boden streckt, so wird man ohne Unrichtigkeit sagen 
können, dass sein Faustschlag eine aus „Reizung des Nerven- 
systems" entspringende reflectorische Action war; dies beweist aber 



*) Verfasser von „Der Kampf um's Dasein am Himmel" 2. Aufl. Berlin 1876. 



der naturwissenschaftl. Grandlagen der Phil. d. Unb. 395 

nichts dagegen, dass sein Wille sich dabei im Affect des Zornes 
und der Kampflust befand. Wenn schon das gemarterte Insect 
zweifelsohne Schmerz empfindet, so habe ich doch noch nie gehört, 
dass es eine Aenssernng des Schmerzes sei, wflthend auf jeden 
vorgehaltenen Gegenstand loszubeissen , vielmehr pflegt man ans 
einem solchen Verhalten auf einen durch den Schmerz erregten 
Affect des Zorns, des Vergeltungstriebes, der Selbstverteidigung 
durch Kampf u. 8. w. zu schliessen. Dieser Schluss ist um so mehr 
gerechtfertigt, wenn es sich um Thiergattungen handelt, welche, 
wie die Ameisen, durch ihren hochorganisirten Kampftrieb, oder 
wie die Wespen, durch ihren zornigen Vergeltungstrieb gegen An- 
griffe jeder Art bekannt sind; denn man hat keinen Grund, anzu- 
nehmen, dass die Affecte eines ungetheilten Insects bei der Theilung 
plötzlich aus der Welt verschwinden. Da nur das Vordertheil des 
so gemarterten Insects Bewusstsein und Sinneswahrnehmung behält, 
so wird es, wenn das abgeschnittene Hintertheil in den Bereich 
seiner Gesichts Wahrnehmung gelangt, dasselbe für ein fremdes leben- 
des Wesen halten, und da sein Verstand nicht ausreicht, um den 
Urheber seiner Schmerzen deutlich zu unterscheiden, so wird es 
seine Wuth auch an diesem Object auslassen, d. h. es mit seiner 
Zange anfallen, und in dieser Kampflust um so mehr bestärkt wer- 
den, als letzteres den Kampf mit dem Stachel aufnimmt. Ich sehe 
in dieser naturgemässen Auffassung nichts Unkritisches, wohl aber 
in derjenigen Schmidt's, welcher die Affecte in einem so gemiss- 
handelten Insect leugnet, und ein Beissen vor Schmerz ohne Willens- 
betheiligung annimmt. 

S. 51 nennt Schmidt es einen „colossalen Unsinn", dass ich 
von primitiven Fischformen spreche, die neben äusserem Schalgertist 
ein primitives inneres Knochengerüst besassen (Ph. d. Unb. II. 235). 
Er bestreitet zwar nicht, dass „die ältesten bekannten fischartigen 
Thiere" so eingerichtet waren (52), aber er bestreitet ihre Abstam- 
mung von den Grustaceen, obwohl er zugiebt, dass man zur Ver- 
meidung dieser Annahme für diese ältesten bekannten Fische unter 
Darwin „eine Beihe von Tausenden von Urahnen", eine „in den 
metamorphischen Gesteinen spurlos begrabene Ahnenreihe" als voraus* 
gegangen postuliren müsse (52). — Man kann Darwin die Be- 
hauptung, dass diese Primordialfauna keineswegs die Urfauna ge- 
wesen sei, bereitwilligst als selbstverständlich zugeben, ohne dass 



396 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

doch damit irgend etwas über die Frage entschieden wäre, ob diese 
primitiven Fischformen sich ans Grnstaceen oder ans nackten (von 
Weichthieren abstammenden) Fischen entwickelt haben. Es wird 
schwer sein, diese Frage zu einer sicheren indnctiven Entscheidung 
zu bringen, da zn weiter zurückgreifenden paläontologischen Funden 
nur sehr geringe Aussicht vorhanden ist. Thatsächlich wurde der 
Cephalaspsis anfäglich für einen Trilobiten angesehen, weil sein 
Kopf mit einem halbmondförmigen Schilde besetzt ist, und die vor- 
handenen Schuppen wie die Ringe eines Trilobitenrumpfes über- 
einanderliegen. Auch die Ruderorgane des Pterickthys, eines andern 
Panzerfisches der devonischen Zeit, gleichen den Krebsfüssen, nnd 
der Kopf dieses Thieres zeigt eine bewegliche Einlenkung in 
den Rumpf, wie sie sonst bei Fischen nie vorkommt. Wenn keine 
genealogische Verwandtschaft zwischen Panzerfischen und Krebsen 
besteht, so bietet der Fall mindestens ein sehr interessantes Beispiel 
von ideeller Verwandtschaft durch analoge Entwickelung auf ganz 
verschiedenen Stufen. Es mag sein, dass die von Schmidt vertretene 
Ansicht aus systematischen Rücksichten auf die vermuthlich mono- 
phyletische Abstammung des Wirbelthierenreichs mehr Wahrschein- 
lichkeit für sich hat, und dieses Bedenken war mir auch stark 
genug, um mich von der Aufnahme einer ähnlichen Bemerkung in 
meine Darwinismusschrift abzuhalten. Um so weniger hätte dieser 
Punkt von Schmidt zum Angriffspunkt gewählt werden sollen, als 
derselbe einer empirischen oder streng inductiven Entscheidung 
kaum fähig scheint, und uns auf rein hypothetische Vermuthungen 
und Postulate anweist. Bekanntlich sind die Anhänger der Des- 
cendenztheorie unter einander über nichts weniger einig als über 
die Stammbäume des Wirbelthierreichs ; die Mehrzahl hält die Frage 
überhaupt noch nicht für spruchreif, und von den übrigen gehört 
ein beträchtlicher Theil gleich Schmidt zur Haeckel'schen Schule, 
aber doch nicht, ohne dem Widerspruch ganz entgegengesetzter 
Aufstellungen zu begegnen.*) In solchen Fragen mit „colossalem 
Unsinn" und „lächerlichen Angaben" (78) um sich zu werfen, beweist 
ebenso viel Mangel an guter Erziehung als Ueberfluss an verblen- 
detem Parteifanatismus. Ich selbst neige, wie gesagt, seit der 



*) Ich erinnere nur an den neuerlichen Versuch Semper's, die Abstammung 
der Wirbelthiere von den Ringelwürmern nachzuweisen. 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 397 

Veröffentlichung von Haeckers Gasträatheorie zu dessen monophy- 
letischer Hypothese, zu welcher vorher keinerlei zwingende Gründe 
vorlagen. Uebrigens erkläre ich mich zur Entscheidung von Streitig- 
keiten zwischen Vertretern verschiedener Richtungen des Descendenz- 
theorie incompetent, und überlasse den Austrag solcher Differenzen 
gern den Fachmännern. Ich verlange aber auch von den Fach- 
männern, dass sie nicht aus Parteifanatismus meine Wissenschaftlich- 
keit in Frage stellen, wenn ich die Ansichten der verschiedenen 
Sichtungen unparteiisch zusammengefasst habe, wie in dem Satz 
(Ph. d. Unb. S. 227), dass die Fische sich aus Ascidiern, Würmern 
und Grustaceen entwickelt haben, den ich übrigens, wie gesagt, heute 
nicht mehr schreiben würde, und in meiner Darwinismusschrift that- 
sächlich verlassen habe. 

Ich habe somit gezeigt, dass die Einwendungen Schmidt's gegen 
specielle Deutungen zum Theil auf Mangel an Ueberlegung beruhen, 
zum Theil sich gegen Deutungen richten, die ich selbst in meinen 
späteren Schriften zu vertreten aufgehört habe, in keinem Falle 
aber das Maass wissenschaftlicher Meinungsverschiedenheit, wie es 
zwischen den Vertretern der Naturwissenschaft unter einander be- 
steht, überschreitet, und dass die von ihm angefochtenen Deutungen 
allemal auch von namhaften Naturforschern vertreten werden. — 
Wir gelangen nunmehr endlich zu der eigentlichen Aufgabe der 
Schmidt'schen Brochure der Kritik der Thatsachen, auf welche die 
Phil. d. Unb. sich stützt. Wenn ich bisher alles irgend Erwähnens- 
werthe erwähnt habe, so mache ich es mir für das folgende zur 
Pflicht, unbedingte Vollständigkeit in der Aufzählung der 
bemängelten Thatsachen zu beobachten. 



7. Angefochtene thatsitchliche Angaben. 

Der Vollständigkeit halber geschieht es, wenn ich zunächst 
erwähne, dass Schmidt mir vorwirft, bei der Auseinandersetzung 
der für die Flüssigkeit der Grenzen von T hier reich, Pflanzenreich 
und Protistenreich angeführten Thatsachen liefen zahlreiche (!) Miss- 
verständnisse und Unrichtigkeiten mitunter, welche er aber selbst 
als unerheblich für das Ganze bezeichnet (56). Es ist aber 
daraus beiläufig zu schliessen, dass die weiterhin aufzuzählenden 
Thatsachen, welche er als unrichtig zu kennzeichnen der Mühe 



398 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

werth findet, ihm nicht als unerheblich für das Ganze erscheinen 
müssen, was, wie wir bald sehen werden, auf Schmidt's Urteils- 
vermögen in Betreff der Erheblichkeit oder Unerheblichkeit ein 
eigentümliches Licht wirft. Nun hat aber Schmidt im Text bei 
dem Worte „Unrichtigkeiten" ein Verweisungszeichen auf eine Fuss- 
note eingeschaltet, so däss man dort einige Andeutungen zu finden 
hofft, wo die Unrichtigkeiten stecken. Leider wird diese Hoffnung 
getäuscht; nicht den Vorwurf von Unrichtigkeiten, sondern nur den 
von Missverständnissen sucht er zu begründen, und zwar durch die 
Vermuthung, dass ihm schiene, als ob mir die Identität 
zweier an verschiedenen Stellen mit verschiedenen Worten bezeich- 
neten Organismen unbekannt wäre. Bei einem Autor von den 
schriftstellerischen Qualitäten des Herrn Schmidt dürfte dieses Ver- 
halten einen hinreichend sicheren Schluss darauf gestatten, dass es 
mit der Behauptung von „Unrichtigkeiten" an der fraglichen Stelle 
selbst in seinen eigenen Augen eitel Wind sei. 

Auf S. 36 bestreitet Schmidt eine Thatsache, die ich nirgends 
behauptet habe. Er sagt: „Von einem Ersatz der Flossen, wenn 
Musculatur- und Skeletttheile in Mitleidenschaft gezogen 
werden, woran nach Hartmann's Worten doch gedacht 
werden müsste, ist keine Rede." Da ich bloss ganz allgemein 
von der Reihenfolge des Ersatzes abgeschnittener Flossen ge- 
sprochen (Ph. d. Unb. I. 125), und die Frage, inwieweit die Mit- 
leidenschaft von Musculatur- und Skeletttheilen den Ersatz der 
Flossen beeinträchtigt oder verhindert, ganz unberührt gelassen habe, 
so ist unersichtlich, was Herrn Schmidt dazu berechtigt, mir zn 
unterstellen, dass ich das Abschneiden der Flossen in einem Sinne 
gemeint hätte, bei welchem die Behauptung des Wiederersatzes 
unbegründet wird. Das bei den Haaren herbeigezogene Missverständ- 
niss ist um so unbegreiflicher, als Schmidt den Wortlaut meines be- 
treffenden Satzes abdruckt (34—35). Wie tief der Schnitt bei Fischen 
geführt werden darf, wenn noch Regeneration der Extremitäten ein- 
treten soll, *) das ist für meine Zwecke ganz unerheblich, und deshalb 



*) Nach Philippeaux darf man bei Tritonen (also einer höheren Thier- 
ordnung) freilich nicht die Extremität im Gelenk auslösen, aber man braucht 
doch nur einen unbedeutenden Stummel, z. fi. ein Stück Schulterblatt, stehen 
zu lassen, wenn man den Ersatz offen halten will. 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 399 

wäre es fehlerhaft von mir gewesen, meine Darstellung mit specia- 
len Angaben darüber zu belasten. Was ich in der Stelle allein 
behauptet habe, die bestimmte Reihen folge im Ersatz der Flossen, 
hat Schmidt nicht nur nicht bestritten, sondern sogar acceptirt, in- 
dem er es zu erklären versucht.*) 

Wir kommen nun zum ersten Fall, wo Schmidt einer von mir 
behaupteten Thatsache widerspricht, und hier zeigt sich, dass sein 
Widerspruch nicht auf neueren und besseren naturwissenschaftlichen 
Erfahrungen, sondern auf einer Verwechselung beruht. Da es 
sich hierbei also nicht einmal um wissenschaftliche Meinungsverschie- 
denheit, sondern einfach um ein begriffliches Versehen Schmidt's 
bei der Auffassung und Wiedergabe von Erfahrungen handelt, so 
würde es, auch wenn die Ph. d. Unb. nicht stereotypirt wäre, doch 
jedenfalls in der nächsten Auflage derselben heissen: „Dass solche 
Pflanzen durch von den Blättern resorbirte animalische Verwesungs- 
producte üppiger wachsen, ist bei der Dionäa experimentell nach- 
gewiesen." Wäre es wahr, was Schmidt (54) behauptet, dass das 
grade Gegentheil nachgewiesen sei, so würde dies mindestens 
ebenso „entmuthigend" für den Darwinismus und seine utilitaristische 
Selectionstheorie wie für die Ph. d. Unb. und ihre Teleologie sein. 

Dass die Dionäa bei Ausschluss jeder thierischen Nahrung 
gedeihen kann, beweist nicht im Mindesten, dass sie mit Einschluss 
derselben nicht noch besser gedeihen sollte. Dass die einzelnen 
Blätter sich an zu viel thierischer Nahrung den Magen verderben 
und in Folge dessen absterben können, darin gleichen sie ebenfalls 
den Thieren. Dass aber das Absterben überanstrengter Einzelorgane 
irgend etwas gegen den Nutzen ihrer normalen Function für den 
Gesammtorganismus bewiese, das hat auch Schmidt's Gewährsmann **) 
sicherlich nicht glaubhaft gemacht. Schmidt verwechselt also einfach 
Förderung und Schädigung eines Organs (des Blattes) mit der- 
jenigen des Organismus (der Pflanze). Die Dionäa wäre wahrlich 
nicht der einzige Fall im Haushalt der Natur, dass die Individuen 
niederer Ordnung sich opfern müssen, um die Zwecke des Indivi- 
duums höherer Ordnung zu fördern. 



*) In Betreff der von ihm vermissten Quellenangabe verweise ich ihn auf 
das Vorwort der Ph. d. ü. S. XVU. Z. 9—12, zu vergleichen mit I 449, Z. 9— JO. 
**) Munk, „Die electrischen und Bewegungserscheinungen am Blatte der 
Dionaea museipula" (Leipzig 1876). 



400 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

Darwin's gründliches Werk über die „Insectenfressenden Pflan- 
zen" hat meine Angaben in jeder Hinsicht nicht nur bestätigt, 
sondern in vielen Einzelheiten sogar übertroffen.*) Es sollte einem 
so eifrigen Darwinianer wie Schmidt nicht unbekannt sein, was 
Darwin zu dieser Frage in Betreff der Dionäa sagt. Derselbe macht 
auf den Unterschied zwischen Drosera und Dionäa aufmerksam, 
deren erstere viele Insecten nach kürzeren Zeitintervallen fängt und 
verdaut, während das Blatt der Dionäa in der Regel über einem 
gefangenen Insect viele Tage lang eingeschlagen bleibt, und dann 
torpide ist und erst wiederum nach Verlauf vieler folgender Tage 
seine Reizbarkeit zurückgewinnt (Deutsche Ausgabe S. 282 oben). 
Es scheint demnach auch hier von der Natur dafür gesorgt zu sein, 
dass im Durchschnitt Appetit und Verdauungsvermögen im angemes- 
senen Verhältniss stehen. Dass aber die in den Nahrungssaft der 
Pflanze resorbirten stickstoffhaltigen thierischen Verbindungen bei 
der Dionäa ebenso wie bei Drosera für die Pflanze einen ganz er- 
heblichen Nährwerth haben, das giebt Darwin durch folgenden Satz 
deutlich genug zu verstehen : „Sie (die Wurzeln) dienen wahrschein- 
lich, wie bei Drosera, nur zur Aufsaugung von Wasser; 
denn ein Gärtner, welcher mit der Cultur dieser Pflanze sehr erfolg- 
reich gewesen ist, zieht sie, wie eine schmarotzende Orchidee, in 
gut durchlassendem feuchtem Moose ohne irgend welche Erde" 
(ebdas. S. 259). Schmidt hat sich also (auch ganz abgesehen von 
seiner gedankenlosen Verwechselung von Blatt und Pflanze) mit 
diesem Versuch, mich zu berichtigen, bloss auf seinem eigensten 



*) Es scheint hier der geeignete Ort, einen Angriff F. A. Lange's gegen 
meine Auffassung und Darstellung des Pflanzeninstincts zu erwähnen. Derselbe 
wirft mir vor (Gesch. d. Materialismus II. 279), ich hätte „mit meinen botanischen 
Studien zufällig an einem Punkte Halt gemacht, welcher das Mysterium 
noch in voller Unverletztheit bestehen lässt", und verweist mich in der Anmer- 
kung (S. 307) auf das Journal „Der Naturforscher" und eine Anzahl Angaben, 
die er zweifelsohne aus diesem Journal excerpirt hat. Abgesehen davon, dass 
ich die für meine Zwecke geeigneten unter diesen Angaben in den späteren Auf- 
lagen bereits verwerthet habe, kann ich versichern, dass ich den „Naturforscher 1 ' 
ebenso gut wie Lange seit seinem Entstehen gelesen habe (neben andern natur- 
wissenschaftlichen und medicinischen Journalen), also solcher Hinweise nicht be- 
darf. Es ist immer wieder der alte Irrthum der Parteiverblendung, jede von 
der eigenen abweichende Schlussfolgerung für so unmöglich zu halten, dass nur 
Unwissenheit im Thatsächlichen als Erklärungsgrund der vorhandenen Divergenz 
übrig bleibt. 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 401 

Gebiet eine arge Blosse gegeben; denn einem Darwinianer 
muss die Nützlichkeit so kunstvoller Vorrichtungen zu dem 
Fang und der Verdauung von Insecten von vornherein selbst- 
verständlich sein. 

Auf S. 20 sagt Schmidt, es sei zwar nicht zu bezweifeln, dass 
geköpfte Heuschrecken die ihnen zufällig in den Weg gerathenden 
Weibchen begatten, aber er bestreitet erstens die hieraus von mir 
gezogene Folgerung, dass in den Rumpfganglien ein Wille zur 
Begattung angenommen werden müsse, und bestreitet zweitens 
die thatsächliche Angabe, dass solche geköpfte Männchen ihre Weib- 
chen zum Zweck der Begattung noch längere Zeit hindurch auf- 
suchen. Mir gentigt die erstere, von Schmidt eingesäumte Thatsache 
vollständig zum Beweise, dass der in der unversehrten Heuschrecke 
vorhandene Wille zur Begattung mit Abtrennung des Kopfes nicht 
erloschen ist, also auch nicht in den Ganglien des Kopfes, sondern 
in denen des Rumpfes seinen Sitz haben muss, und es ist für die 
Constatirung dieses Ganglienwillens ganz gleichgültig, ob die herum- 
htipfenden geköpften Heuschrecken ihre Weibchen mit Hülfe des 
ihnen verbliebenen Tastsinns aufsuchen, oder ob sie nur zufällig 
ihnen in den Weg kommende wahrnehmen und zur Befriedigung 
ihres Geschlechtstriebes benutzen. Es käme also gar nicht darauf 
an, wenn Schmidt mit der Leugnung des „Aufsuchens" als einer 
unglaublichen und unkritischen „Zumuthung" Recht hätte. Aber 
worauf stützt er seinen Einspruch ? Unglaublich zu sagen : lediglich 
•auf die Versuche von Goltz über die Begattung geköpfter Frösche. 
Voit's Tauben äusserten nach Wegnahme des Grosshirns noch 
lebhaften Geschlechtstrieb durch Gurren, ohne denselben aber mit 
Individuen anderen Geschlechts zu befriedigen. Geköpfte, also 
sämmtlicher Hirntheile mit Ausnahme des verlängerten Marks be- 
raubte Frösche vollziehen noch den Begattungskrampf, aber ohne 
hinlängliches Unterscheidungsvermögen für den ihnen vorgehaltenen 
Gegenstand, den sie umklammern, und ohne die Fähigkeit der Lo- 
comotion. Heuschrecken dagegen besitzen die Locomotion nach 
dem Verlust des Kopfes und damit die Möglichkeit, ihres Gleichen 
aufzusuchen, falls die ihnen gebliebene Sinneswahrnehmung aus- 
reichend ist, um diese Aufsuchung erfolgreich zu machen. Wie 
kann bei solchen Unterschieden durch Experimente an Fröschen 
etwas für das Verhalten der Heuschrecken bewiesen werden? 

E. y. Hartmann, Das Unbewusste. 2. Aufl. 26 



402 Anhang. - Oskar Schmidt'» Kritik 

Es wird einem Professor der vergleichenden Anatomie nicht un- 
bekannt sein, dass der Ban des Frosches dem eines Menschen weit 
ähnlicher ist als dem einer Heuschrecke, dass man also ans den 
Froschversuchen immer noch eher auf das Verhalten geköpfter 
Menschen als auf dasjenige geköpfter Heuschrecken Schlüsse ziehen 
dürfte, und doch treibt er die gedankenlose Leichtfertigkeit seiner 
Kritik so weit, mich durch eine solche Verhöhnung der vergleichen- 
den Anatomie meistern zu wollen, und mir vorzuwerfen, dass ich 
die Lehren der beutigen Physiologie „in den Wind schlage". 

Thatsächlich ergiebt sich aus den Froschversuchen von Goltz 
(ebd. S. 28) nur das Eine, dass das Centrum der Begattungsfunctionen 
nicht im Gehirn, sondern im Rückenmark in der Höhe der drei 
obersten Wirbel liegt, und dass der Wille zur Vollziehung der Be- 
gattung auch dem geköpften Frosch verbleibt, obwohl der Verlust 
der Locomotionsfähigkeit und des sinnlichen Unterscheidungsvermö- 
gens das Zustandekommen der normalen Befriedigung des Triebes 
in die Gunst äusserer Umstände stellt. Dies stimmt damit tiberein, 
dass auch bei den höheren Säugethieren das Gentrum für die Erec- 
tion und Ejaoulation im verlängerten Mark liegt. Beides bestätigt 
meine Behauptung, dass der potentielle Geschlechtstrieb und dessen 
Actualität, d. h. der Wille zur Begattung, ihren Sitz nicht im Ge- 
hirn, sondern in untergeordneten Nervencentris hat, wie dies bei 
Blödsinnigen und Wahnsinnigen recht deutlich zu Tage tritt, insofern 
die Herrschaft der höheren Triebe über die niederen, oder physio- 
logisch ausgedrückt: die Hemmungsströme des Grosshirns auf die 
Reflexe des verlängerten Marks, geschwächt oder aufgehoben sind. 
Gilt dies schon für das centralisirte Nervensystem der Wirbelthiere, 
so wird es in noch weit höherem Grade bei Wirbellosen der Fall 
sein, wo die verschiedenen Ganglien weit selbstständiger von einan- 
der fungiren. Wenn nach Goltz ein des Grosshirns und der höheren 
Sinneswahrnehmung zugleich beraubter männlicher Frosch noch den 
ihm mit ausgestopften Männchen gespielten Betrug durch die Fein- 
heit seines Tastsinnes und seines Unterscheidungsvermögens entdeckt 
(Goltz S. 33—36), so ist es sehr wohl möglieb, dass auch geköpfte 
Heuschrecken, welche, wie Herrn Schmidt nicht ganz unbekannt sein 
dürfte, weder Grosshirn noch Vierhügel, noch Kleinhirn besitzen, 
ähnliche Leistungen des Tastsinns mit den ihnen verbliebenen Ganglien 
zu vollbringen vermögen, obwohl sie solcher zur Wahrnehmung 



der naturwisse nschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 403 

der bei ihrem Herumsachen angetroffenen Weibchen kaum in glei- 
chem Grade bedürfen. 

Auf S. 17 — 18 druckt Schmidt die über den Stisswasserpolypen 
(Hydra) handelnde Stelle der Ph. d. Unb. (I. 54) ab, mit dem Be- 
merken, dass er zu seinem Bedauern die Quelle, der ich „diesen 
kleinen Roman" entlehnt, nicht habe finden können. Der einzige 
Gewährsmann, welchen er bei seinem Widerspruch an dieser Stelle 
namhaft macht, ist Trembley. Nun ist aber gerade Trembley die 
Quelle dieses „Romans", obschon nicht direct, sondern durch Ver- 
mittelung Burdach's und Fechner's. Theils weil mir von Trembley's 
Werk nur die französische Ausgabe*) zugänglich geworden ist, theils 
der Kürze halber führe ich die Stellen aus Burdach und Fechner 
an, aus denen ich seinerzeit selbst geschöpft habe, und in deren 
ersterer auf die Seitenzahlen der deutschen Ausgabe Trembley's 
verwiesen ist. Burdach's „Blicke in's Leben" (Leipzig 1842) 
Bd. I. S. 143 — 144: „Der Armpolyp, dem jedes besondere 
Sinnesorgan abgeht, nährt sich von allerhand kleinen Thieren, die 
im Wasser schwimmen; er bemerkt sie schon, wenn sie noch sechs 
bis acht Zoll von ihm entfernt sind, sobald sie sich be- 
wegen, indem er den dadurch auf das Wasser hervorgebrachten 
Druck fühlt, und macht dann einen Strudel, um sie herbei- 
zuziehen und sie dann mit seinen Armen packen zu können 
(A. Trembley's Abhandlungen zur Geschichte einer Polypenart des 
süssen Wassers. Uebers. u. mit Zus. von J. A. C. Göze. Quedlin- 
burg 1775 S. 115). Steht das Glas, worin man ihn hält, ganz im 
Dunkeln oder Hellen, so ändert er seinen Platz nicht ; steht es aber 
so, dass nur die eine Hälfte beleuchtet ist, so begiebt er sich aus 
der dunklen dahin (ebenda S. 96 fg.); er erhält also, während er 
im Dunkeln ist, einen Eindruck von dem fernen beleuchteten Raum ; 
und dass nicht eine einzelne Stelle seiner Oberfläche eine solche 
Empfindlichkeit besitzt, zeigt sich, wenn man ihn durchschneidet, 
indem dann das eine, wie das andere Stück dem Lichte nachgeht 
(ebenda S. 326). — Der Polyp sieht seine Beute nicht, denn er 
verhält sich ganz passiv gegen sie, sobald man eine Glastafel da- 



*) Memoire pour servir a l'histoire dun genre de polypes d'eau douce, 
h bras en forme de corne. Par M. Trembley, de la socie'te' royale de Londres. 
2 vol. Paris chez Durand 1744. 

26* 



404 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik 

zwischen hält; aber er unterscheidet wohl, ob die im Wasser 
entstehende Bewegung von einem lebendigen Thiere herrührt, 
das ihm zur Nahrung dienen kann, oder nicht." Gleichfalls auf 
Trembley als seine Quelle beruft sich Fechner in seiner Schrift „Nanna" 
(Leipzig 1848) S 247: „Wird ein ausgestreckter Armpolyp (Hydra) be- 
rührt, oder das Wasser, in dem er sich befindet, erschüttert, so zieht er 
sich plötzlich zu einem kleinen Klümpchen zusammen, gewiss ein 
Zeichen lebhafter Empfindlichkeit. Er geht dem Lichte nach, und 
stellt man ein Glas mit mehreren Polypen hin, so findet man nach 
einiger Zeit alle an der Lichtseite hängen. Der Polyp hat also 
mehrererlei Sinnesempfindungen. Er ist ungeheuer gefrässig, hascht 
begierig mit seinen Fangarmen umher nach Beute, und zwei Polypen 
streiten sich öfters um selbige. Das sind doch Zeichen lebhafter 
Begierden. Er wählt und unterscheidet sehr bestimmt seine Kost, 
indem er bloss thierische Kost geniesst, Pflanzenkost zurückweist; 
auch unter der thierischen Kost macht er Unterschiede, indem er 
namentlich Polypen der eignen Art gar nicht ergreift, auch wenn 
man ihn hungern und diese auf seine ausgebreiteten Arme fallen 
lässt, während er Thierchen, die er gern frisst, bei der ersten Be- 
wegung ergreift. Hier zeigt sich deutliche Unterscheidungsgabe." 
(Vergl. hierzu die französische Ausgabe Band I., p. 222—239). 
Ist dies „ein kleiner Roman", so sind es Naturforscher, die ihn ge- 
dichtet haben, und nicht ein Philosoph. Die Autorität Oskar Schmidt's 
allein wird nach den gegebenen Proben seiner Talente und seiner 
Sorgsamkeit wohl schwerlich ausreichend scheinen, diese Angaben so 
bewährter Forscher *) umzustossen. Uebrigens würden meine Schluss- 
folgerungen durch eine etwaige Ungenauigkeit der zusammengestell- 
ten Beobachtungen umsoweniger berührt werden, als Schmidt's 



*) Wer etwa meinen sollte, dass Trembley, weil eine alte, auch eine ver- 
altete Quelle sei, der sei durch folgenden Ausspruch Kleinenberg's in seinem 
Werke „Hydra" (Leipzig bei Engelmann 1872) eines Besseren belehrt: „Mit Recht 
bezeichnet daher Carl Ernst von Baer in einer seiner schönen Heden das Er- 
scheinen der meisterhaften Trembley 'sehen Arbeit als den Beginn einer neuen 
Epoche der gesammten Physiologie. Und so genau waren die Beobachtungen 
Trembley's, so umfassend und von so strenger Kritik geleitet seine Ver- 
suche, dass alle die vielen Nachfolger seine Untersuchungen kaum in ihrer Voll- 
ständigkeit zu wiederholen, noch weniger aber Neues ihnen hinzuzufügen ver- 
mochten. Nur der Nachweis der geschlechtlichen Fortpflanzung des Thieres durch 
Pallas und Ehrenberg ist als ein wesentlicher Fortschritt zu betrachten" (S. 1). 



der naturwissenschaftl. Grundlagen der Phil. d. Unb. 405 

eigne Darstellung des Verhaltens des Armpolypen (S. 18) 
mehr als ausreicht) um dieselben zu stützen, so dass seine 
Einwendungen auch hier nur den Charakter einer zwecklosen 
Nörgelei haben. 

Wir sind mit der Durchwanderung der Schmidt'schen Brochure 
zu Ende. Von allen Ergänzungen, welche er zu der anonymen 
Schrift über das Unbewusste beizubringen versprochen, hat sich 
nichts als stichhaltig erwiesen, ganz abgesehen davon, dass seine 
sachlichen Einwendungen fast ausnahmslos Punkte betreffen, welche 
für die philosophischen Folgerungen unerheblich sind. Dagegen hat 
der Naturforscher sich dem Laien gegenüber mehr als eine Blosse 
gegeben, also wie der Richter im „zerbrochenen Krug" nur seine 
eigenen Schwächen herausinquirirt, und hat insbesondere an mehre- 
ren Stellen gezeigt, dass er den Geist der Descendenztheorie, welche 
er zu vertreten vorgiebt, in verständnissloser Weise verleugnet. 
Sollte also die ganze Arbeit Schmidts resultatlos sein ? nein ; 
die Gerechtigkeit erfordert das Eingeständniss, dass er doch wirk- 
lich einen Fehler der Philosophie des Unbewussten nachgewiesen 
hat, nämlich den, dass der Polyp sich zwar nach dem Lichte hin 
bewegt, aber nicht rudernd sondern kriechend, und diese 
Berichtigung scheint allerdings wichtig genug, um eine Brochure 
von 86 Seiten über „die naturwissenschaftlichen Grundlagen der 
Phil. d. Unb." in die Welt zu setzen. 

Ziehen wir das Resum6 unserer Betrachtung, so möchte niemals 
Mühe und Zeit eines Schriftstellers so vergeudet worden sein, als 
bei dieser Widerlegung der Schmidt'schen Kritik, wenn man dieselbe 
lediglich nach ihrem positiven inneren Werthe betrachtet, der gleich 
Null ist. Wenn ich gleichwohl einem so gedankenlosen und leicht- 
fertigen Machwerk eine Ehre angethan habe, die es nicht verdient, 
so geschah es wesentlich aus Dankbarkeit gegen den Verfasser. 
Denn, so sagte ich mir, wenn das hier Vorgebrachte Alles, oder 
auch nur das Wichtigste von dem ist, was gegen die natur- 
wissenschaftlichen Grundlagen der Phil. d. Unb. von fachmännischer 
Seite vorgebracht werden kann, so müssen dieselben sich einer 
nahezu unantastbaren Solidität erfreuen, wie ich es bisher 
nicht entfernt zu hoffen gewagt hätte. Und diese wohlthuende Be- 
ruhigung meinem naturwissenschaftlichen Laiengemüth verschafft zu 
haben, dafür fühle ich mich Herrn Professor Schmidt aufrichtig 



406 Anhang. — Oskar Schmidt's Kritik d. naturw. Grund!, d. Ph d. ü. 

verpflichtet Zugleich aber wollte ich nicht unterlassen, den Fach- 
genossen des Herrn Schmidt klar zu machen, dass diese erste 
ausführliche Kritik der Phil. d. Unb. ans der Feder eines „wirk- 
lichen Naturforschers" ein trauriges testimonium paupertatis für die 
gesammte heutige Vertreterschaft der Naturwissenschaft ist und eine 
dringende Aufforderung für dieselbe enthält, die erlittene Scharte 
so bald als möglich auszuwetzen, d. h. zu den zeitbewegenden 
Problemen der Philosophie eine minder unfähige Stellung zu gewin- 
nen. Möge dieses ganze Buch wie sein Anhang dazu beitragen, 
ihnen die Erfüllung dieser Aufgabe — gleichviel ob in zustimmendem 
oder gegnerischem Sinne — zu erleichtern, dann wird es nicht ver- 
gebens geschrieben sein. 



II. Sltlln». ftatibiliirg. 



Inhaltsverzeichnis^ 



Seite 

Vorwort zur zweiten Auflage , . . . . 3 

I. Descendenztheorie und natürliche Zuchtwahl 21 

Die deutsche Philosophie und die Descendenztheorie 21 

Unabhängigkeit der Descendenztheorie von der Theorie der natür- 
lichen Zuchtwahl . . , 23 

Unzulänglichkeit der Theorie der natürlichen Zuchtwahl 25 

Hauptgründe für die Descendenztheorie 28 

II. Die Teleologie vom Standpunkte der Descendenztheorie .... 32 

Fortschreitende Elimination des Wunderbegriffs 32 

Die teleologischen Eingriffe der Philosophie des Unbcwussten ... 35 

Die natürliche Zuchtwahl bei der Urzeugung 37 

„Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur?" . . 41 
Die Zweckmässigkeit als Resultat mechanischer Compensations- 

processe 45 

HL Die Entwickelang vom Standpunkte der Descendenztheorie . . 51 

Der Weltzustand als Anpassungs-Gleichgewicht 51 

Der Verlauf der Bewohnbarkeit der Erde 53 

Die „Entwickelung" der irdischen Organisation als Folge des Günstiger- 
werdens der Bewohnbarkeitsverhältnisse der Erde 55 

Die Relativität der Entwickelung 57 

Unhaltbarkeit des geocentrischen und anthropocentrischen Stand- 
punktes 61 

IT. Gehirn nnd Intelleet 65 

Idee und Idealismus 65 

Entstehung und Functionirung von Vorstellungsprädispositionen im 

Gehirn . ' 68 

Stimmungen, Interesse und Aufmerksamkeit bei der Ideenassociation 71 



408 InbaltsverzeichnisB. 

Säte 

Das Bewusstsein als Summationsphanomen 73 

Die Ineinanderschachtelung der Bewusstseine verschiedener Ordnung 75 

Die Innerlichkeit oder Subjectivit&t der Atome 77 

Lust und Unlust in den Atomen 81 

Entstehung der Empfindung im Gehirn 82 

Unnahbarkeit eines psychischen Hintergrundes der Vorstellungen 

ausser der Subjectivität der Atome des Hirns 85 

Ausschluss der Teleologie bei der Theorie der Bewusstseinsentstehung 89 

T. Charakter und Wille 92 

Die charakterologischen Triebe als Hirnprädispositionen 92 

Der Individualwille als Summationsphanomen der Atomwillen des 

Gehirns 95 

Unnahbarkeit hinzukommender metaphysischer Willenseingriffe . . 98 

Psychische Mauserung 104 

Tl. Die Vererbung, insbesondere des Charakters 106 

Mechanische Entstehung der Vererbung 106 

Latente Vererbung 110 

Polymorphismus 113 

Vererbung geistiger Eigenschaften 116 

Vererbung individuell erworbener Eigentümlichkeiten 118 

VII. Die Vererbung von Anlagen und Fertigkeiten 121 

Ererbter und erworbener Charakter 121 

Charakter und Gedächtniss 122 

Ererbte schlummernde Gedächtnissvorstellungen als Inhalt charakte- 

rologischer Prädispositionen 126 

Ererbte körperliche Fertigkeiten 128 

Unhaltbarkeit einer metaphysisch-teleologischen Erklärung derselben 129 

Erererbte geistige Fertigkeiten und Talente 132 

VIII. Die Abkürzung der Ideenassociation und die Vererbung der 

Denkformen 137 

Die praktische Bedeutung der Ideenassociation und derProcess ihrer 

Abkürzung 137 

Die abgekürzte Ideenassociation im Sprachgefühl 140 

Dieselbe in der Mathematik 142 

Dieselbe in den abstracten Begriffen und Worten 144 

Die typischen Denkformen und Denkgesetze 147 

Die Genesis der subjeetiven Vernunft durch mechanische Compensa- 

tionspiocesse 151 

Die physiologische Begründung des A priori 153 

IX. Die Entstehung der Anschauungsform der Räumlichkeit ... 157 

Die Entwickelung der Tiefen dimeosion 157 

Die Anschauung als unbewusste Einheit von Empfindung und synthe- 
tischer Construction 160 



Inhalt*verzeichniss. 409 

S«it« 

Teleologischer Eingriff oder allm&bllche Anpassung an* das praktische 

Bedürfniss? 162 

Aeltere und stärkere Befestigung der Prädispositionen für die erste 

und zweite Dimension . . . ... . . . * 165 

Umwandlung des discreten Empfindungsmosaiks in- das continuiriiche 

Anschauungsbild 167 

Unterschied des Empfindungsmosaiks des Auges von anderen zwei- 
dimensionalen . Empfindungscompteien V71 

Die räumliche Flächenanschauung als anschauliche Perceptlon eines 

scheinbar continuirlichen zweidimensionalen Empfinduagscomplexe/B 173 

Das Ordnen des Empfindungscomplexes nach zwei Dimensionen . . 174 

Gesichtsempfindungen bei niederen Thieren 175 

Die Causalität als ererbte Hirnfunction 177 

Die Causalitätsfunctjon bei niederen Thieren . . 179 

X. Der Instinet als ererbte Hirn« und Ganglienprädisposition . . 182 

Jnstinct und Uebung . 182 

Der Instinet als Resume* der bisherigen Resultate 184 

Der Grundfehler der Philosophie des Unbewussten . . ..... . . 187 

Polymorphe Instincte 188 

Relativität der Zweckmässigkeit des Instincts 190 

Ueberflüssigkeit teleologischer Eingriffe . . . . 192 

Einflups der natürlichen Zuchtwahl auf die Entstehung des Instincts 194 
Einfluss der bewussten Ueberlegung auf die Modificationen der In- 
stincte , . 196 

Kukuksei und Bienenzelle 198 

Cooperative Instincte ..*.,.,., 200 

Instincte der Nahrungswahl, Feindesfurcht, Fortpflanzung und des 

Witterungsvorgefühls 201 

XI. Die Instincte der untergeordneten Centralorgane des Nerye,n-> 

Systems . , 205 

Selbstständige Functionen niederer Nervencentra 205 

Die Reflexbewegungen als Functionen von Hirn- und Ganglien-Prä- 
dispositionen 308 

Nachweis teleologischer Irrthümer in Bezug auf Reflexbewegungen .' ill 

Einfluss der Ganglien auf vegetative Functionen 214 

Die Naturheilkraft als ererbte Ganglienprädispositionen zu bestimmten 

vegetativen Functionen . 218 

Die vegetativen Functionen im Embryo bedingt durch ererbte Prä- 
dispositionen der Zeugungsstoffe , . . 220 

Unvollkommenheit der zweckmässigen Mechanismen 222 

XII. Das Unbcwusste 226 

Das Unbewusste als Subject der teleogischen Eingriffe 226 

Das relativ Unbewusste (Bewusstsein niederer Ordnung) 230 

Das physiologische Unbewusste (Hirn- und Ganglien-Präsdisposition) 231 
Das metaphysische Unbewusste (Subject der physischen und psychischen 

Atomfunctionen) 233 



410 Inkalteteraeichniss. 

Seite 

Sind die Naturgesetze teleologisch oder bloss logisch noth wendig? . 235 
Kritik der Eigenschaften des Unbewussten nach Cap. C. I der Philo- 
sophie des Unbewussten 241 

Lebensgier und Kraftknauserei des Unbewussten 244 

Allwissenheit und Allweisheit des Unbewussten 247 



Anmerkungen zur zweiten Auflage .251 

Allgemeine Yorbemerkungen 253 

1. Die Transcendenz der Natur 254 

2. Der Geist als Schlüssel zur Natur 258 

3. Die Natur als Mittel für den Oeist 260 

4. Die Natur als Durchgangspunkt des absoluten Geistes 263 

5. Theoretischer und praktischer Idealismus 206 

6. Mechanistische und idealistische Naturphilosophie 269 

7. Ideelle Resultate und natürliche Vermittelung 273 

8. Die Kritik vom Standpunkt der Physiologie 275 

9. Die Kritik vom Standpunkt der Descendenztheorie 278 

Anmerkungen zu Capitel 1 282 

Anmerkungen zu Capitel II. 283 

Anmerkungen zu Capitel III 290 

Anmerkungen zu Capitel IY 295 

Anmerkungen zu Capitel Y 301 

Anmerkungen zu Capitel YI; . 308 

Anmerkungen zu Capitel YII 322 

Anmerkungen zu Capitel VIII 324 

Anmerkungen zu Capitel IX 328 

Anmerkungen zu Capitel X 333 

Anmerkungen zu Capitel XL , 342 

Anmerkungen zu Capitel XII 346 



Anhang 363 

Oskar Schmidt's Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen 

der Philosophie des Unbewussten 363 

1. Teleologie und Causalitat 366 

2. Mechanische und organisatorische Ursachen . .' 370 

3. Der Darwinismus und die Philosophie des Unbewussten . . % . . 374 

4. Wahrheit und Yorurtheil in der Naturwissenschaft 380 

5. Schmidt's Kritik der Quellen der Philosophie des Unbewussten . 383 

6. Angefochtene Deutungen von Thatsachen 388 

7. Angefochtene thatsächliche Angaben 391 



Druck Ton H. Sieling in Naumburg.