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Full text of "Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich : aus Anlass der Weltausstellung un St. Louis unter Mitwirkung zahlreicher Fachmänner"

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THE  LIBRARY 


The  Ontario  Institute 


for  Studies  in  Education 


Toronto,  Canada 


Das 

Volkssehulwesen 

und  das 

Lehrerbildungswesen 

im  Deutschen  Reich 

von 

P.  V.  Gizycki,  E.  Clausnitzer,  E.  Walther,  J.  Matthies 


W.  LEXIS 


BERLIN 

Verlag    von    A.    Asher    &    Co. 

1904 


Inhalt. 


Seite 

\'orbe  merkung V 

Purste  Abteilung. 

Das  Volksschulwesen 

von  Dr.  Paul  von  Gizycki,  Stadt-  und  Kreis-^chulinspeklor  in  Berlin    .    .  1 

Einleitung 1 

Kapitel  I.     Zur  Geschichte  der  deutschen  \'olksschule 16 

1.  Die  Zeit  vor  der  Reformation 16 

2.  Das  Zeitalter  der  Reformation 19 

3.  Das  Zeitalter  des  dreißigjährigen  Krieges 24 

4.  Das  pädagogische  Jahrhundert 27 

5.  Die  Begründung  der  preußischen  Volksschule 35 

Schlußbemerkung 55 

Kapitel  IL     Allgemeine  Übersicht  und  konfessionelle  \'erhäl  tnisse  .    .  57 

1.  Allgemeine  Übersicht 57 

2.  Konfessionelle  Verhältnisse 60 

Kapitel  III.     Schulgesetze     und     Schulbehörden,     Schulpflichten     und 

Schullasten 64- 

1.  Die  Volksschulgesetze 64 

2.  Die  Schulbehörden 74 

3.  Die  Schulpflicht 89 

4.  Die  Schullasten 92 

Kapitel  IV.     Die  Organisation  der  \'olks  schule,   Lehrpläne,   Methoden, 

Disziplin  und  Lehrmittel 104 

1.  Die  Organisation  der  Volksschule 104 

2.  Die  Lehrpläne 110 

3.  Die  Methoden  des  Unterrichts 125 

4.  Die  Schulzucht 128 

5.  Die  Lehr-  und  Lernmittel 132 

Kapitel  V.     Die  Schulhäuser 142 

Kapitel  VI.     Die  Lehrkräfte  der  Volksschule 165 

1.  Die  Anstellung  und  Besoldung  der  Lehrkräfte 165 

2.  Die  Pensionsverhältnisse 179 

3.  Die  Fürsorge  für  die  Witwen  und  Waisen  der  Volksschullehrer     ....  182 

4.  Lehrer\-ereinigungen 186 

a)  Amtliche  I-ehrerkonferenzen 186 

b)  Freie  Vereinigungen  von  Lehrern  und  Lehrerinnen 186 

Lehrervereine 186 

Lehrerinnenvereine 189 


II  Inhalt. 

Seite 

5.    Pädagogische   Zeitschriften 189 

1.  Wissenschafthche  Zeitschriften 189 

2.  Schulpohtische  Zeitschriften 190 

Kapitel  \'1I.     Die  \'olksschnle  in  den  größeren  deutschen    Städten     .    .  193 

1.  Rückblicke  auf  die  bisherige  Entwicklung  der    größeren  deutschen  Städte  193 

2.  Gegenwärtiger  Stand  des  städtischen  Volksschulwesens 200 

Kapitel  VIII.     Die  Mittelschulen 214 

Zweite   Abteilung. 

Die  Volksschullehrerbildung 

von  Dr.  Ed.  Clausnitzer,  Kgl.  Seminar-' )berlehrer  in  Oranienburg    .    .  233 

Einleitung 233 

Erster  Abschnitt:   Geschichte  des  Lehrerbildungswesens 234 

1.  Die  Zeit  bis   1800 234 

2.  Das  19.  Jahrhundert 240 

Zweiter  Abschnitt:   Die  Lehrerbildungsanstalten 245 

A.  Preußen 245 

I.  Allgemeines 245 

II.  Das  Lehrpersonal 248 

III.  Die  Erziehung  der  Seminaristen 255 

1.  Die  Erziehung  durch  ()rt  und   Wohnung 255 

2.  Die  Erziehung  durch  den  Unterricht 260 

a)  Der  Charakter  des  Unterrichts 260 

b)  Die  Allgemeinbildung 263 

c)  Die  Berufsausbildung 272 

IV.  Der  Unten-ichtsstofi" 272 

1.  Allgemeines 272 

2.  Die  wissenschaftlichen  Eächer 275 

a)  Die  Geisteswissenschaften 275 

1.  Pädagogik 275 

2.  Evangelische  Religion 277 

3.  Katholische  Religion 281 

4.  Deutsch 281 

5.  Geschichte 284 

6.  Eremde  Sprachen 287 

b)  Die  Naturwissenschaften 289 

1.  Mathematik 289 

2.  Naturkunde 291 

3.  Erdkunde 293 

3.  Die  künstlerischen  Eächer 295 

4.  Die  Schulung  für  den  Unterricht 300 

5.  Der  Unterrichtsstoff  des  Seminars  und  der  hölieren  Lehranstalten  303 
V.  Die  Lehrmittel 304 

B.  Die  anderen  Bundesstaaten 306 

Dritter  Abschnitt:   Die  Prüfungen 308 

A.  Preußen 308 

1.  Die  Pflichtprüfungen 308 

2.  Prüfungen  zur  Erlangung  höherer  Amter 311 

B.  Die  anderen  Bundesstaaten 315 


Inhalt.  III 

Seite 

Vierter  Abschnitt:  Die  Fortbildung 316 

1.  Die  unmittelbare  Fürsorge  des  Staates 316 

a)  Konferenzen  und  Bibliotheken 316 

b)  Sonderkurse 318 

2.  Die  Veranstaltungen  des  Staates  und  von  X'ereinigungen  im   Interesse  des 
Fortbildungsschulwesens 320 

3.  Die  Tätigkeit  der  Lehren-ereine 322 

4.  Die  Universität 325 

l>iteratur 327 

Statistische  Übersicht  über  die  staatlichen    Anstalten    für    N'olksschul- 

lehrer-  und  Lehrerinnenbildung  im  Deutschen   Reich 329 

I.  Königi'eich  Preußen 330 

II.  Königreich  Bayern 335 

III.  Königreich  Sachsen 335 

IV.  Königreich  Württemberg 336 

V.   Großherzogtum  Baden 336 

VI.  Großherzogtum  Hessen 337 

VII.  Großherzogtum  Mecklenburg-Schwerin 337 

VIII.  Großherzogtum  Mecklenburg-Strelitz 337 

IX.  Großherzogtum  Sachsen 338 

X.  Großherzogtum  Oldenburg 338 

XI.   Herzogtum  Braunschweig 338 

XII.  Herzogtum  Sachsen-Meiningen 339 

XIII.  Herzogtum  Sachsen-Altenburg 339 

XIV.  Herzogtum  Sachsen-Coburg  und  Gotha 339 

XV.  Herzogtum  Anhalt 339 

XVI.  Fürstentum  Schwarzburg-Rudolstadt 339 

XVII.  Fürstentum  Schwarzburg-Sondershausen 339 

XVIII.  Fürstentum  Reuß  älterer  Linie 339 

XIX.  P'ürstentum  Reuß  jüngerer  Linie 339 

XX.  Fürstentum  Schaumburg-Lippe 340 

XXI.  Fürstentum  Lippe 340 

XXII.  Freie  und  Hansestadt  Lübeck 340 

XXIII.  Freie  und  Hansestadt  Bremen .■ 340 

XXIV.  Freie  und  Hansestadt  Hamburg 341 

XXV.   Reichsland  Elsaß-Lothringen 342 

XX\T.   Lehrerseminare,    staatliche  Lehrerinnenseminare    und  staatliche  l'räpa- 

randenanstalten  im  Deutschen  Reich  im  Jahre   1902 342 

Dritte  Abteilung. 

Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

Erster    Abschnitt:     Das     Taubstummenbildungswesen     im     Deutschen 
Reich    von  E.  Walt  her,    Direktor    der   Taubstummenanstalt  und  Schulrat  in 

Berlin 347 

1 .  Geschichtliche  Entwicklung  des  Taubstummenbildungswesens    in  Deutsch- 
land  .' 347 

2.  Der  gegenwärtige  Zustand  der  Taubstummenbildung  bezüglich  der  äußeren 
Organisation 354 

3.  Der  Unterricht  der  Taubstummen 366 

4.  Die  Fürsoi-ge  für  die  aus  den  Taubstummenanstalten  entlassenen  Zöglinge  377 

5.  Taubstummen-Statistik 385 


IV  Inhalt. 

Seite 

Zweiter  Abschnitt:  Das  Blindeniinterrichtswesen  im  Deutschen  Reich 

von  J.  Matthias,  Direktor  der  Kgl.  Bhndenanstalt  in  Steglitz  bei   Berlin     .    .  391 

1.  Anfänge  des  Bhndenunterrichts 391 

2.  Die  Gründung  weiterer  Anstalten 392 

3.  Ausbreitung  der  Blindenanstalten  in  Deutschland 393 

4.  Äußere  Entwicklung  der  Anstalten 393 

5.  Äußere  Stellung  der  Anstalten  und  weitere  Ausgestaltung 394 

6.  Beziehungen  zum  Auslande,  besonders  zu  Amerika 396 

7.  Innere  Entwicklung  der  Blindenanstalten 396 

8.  Entwicklungshemmvmgen  und  Rückschläge 398 

9.  Aufschwung  des  Blindenwesens  seit  1871 400 

10.  Gesetzhche  Bestimmungen  bezüglich  der  Blindenbildung 403 

1 1 .  Der  Blinde  in  der  Volksschule 404 

12.  Notwendigkeit  des  Anstaltszwanges  für  blinde  Kinder 405 

13.  Einführung  des  Anstaltszwauges 406 

14.  Das  Bürgerhche  Gesetzbuch  und  die  Fürsorgeerziehung 406 

15.  Kostenaufbringung 407 

16.  Staatliche  Aufsicht ^ 410 

17.  Einteilung  der  Blindenanstalten 410 

18.  Übersicht  der  Anstalten 414 

19.  Lage  der  Anstalten 414 

20.  Bauliche  \'erhältnisse 415 

21.  Aufnahmebedingungen 416 

22.  .\ufgabe  und  Gliederung  der  Blindenbildungsanstalt 418 

23.  Lehrplan 419 

24.  Zweck  und  Arbeitsplan  der  Blindenvorschule 421 

25.  Der  Lese-  und  Schreibunterricht 424 

26.  Bücherschätze  in  Punktschrift 426 

27.  Leihbibliotheken 427 

28.  Die  Pflege  des  Anschauungsunterrichtes 427 

29.  Lehrmittel  für  die  übrigen  Fächer 428 

30.  Musikunterricht 428 

31.  Hausordnung 429 

32.  Berufsbildung 430 

33.  Handwerk 431 

34.  Die  Musik  als  Erwerbsfocli 431 

35.  Höhere  Bildung 431 

36.  Umfang  der  handwerksmäßigen  Ausbildung 432 

37.  Das  Lehr-  und  Beamtenpersonal 433 

38.  Vorbereitung  und  Hilfsmittel 433 

39.  Werkmeister  und  Pfleger 434 

40.  Die  Fürsorge  für  Entlassene 434 

41.  Beispiele  der  Fürsorge 435 

42.  Die  Blindenheime 436 

43.  Die  selbständigen  Schützlinge 437 

44.  Schwierigkeiten  und  Erfolge 438 

45.  Invaliditäts-  und  .\lter.sversorgung 438 

46.  Konfessionelles 439 

47.  Statistisches 439 

48.  Schluß 441 


Vorbemerkung. 


Auf  dem  Gebiete  des  Volksschuhvesens  und  der  Lehrerbildung 
ist  die  Zahl  der  schwebenden  und  umstrittenen  Fragen  größer  als  in 
dem  ganzen  übrigen  Bereiche  des  Unterrichtswesens.  Solche  Fragen 
konnten  auch  in  diesem  Werke  nicht  unberührt  bleiben  und  daher 
ist  hier  noch  besonders  daran  zu  erinnern,  daß  in  den  folgenden  Ab- 
handlungen nur  die  persönlichen  Ansichten  der  Verfasser  aus- 
gesprochen sind  und  aus  diesen  kein  Schluß  auf  den  Standpunkt  der 
Unterrichtsverwaltung  zu  ziehen  ist. 

Die  Darstellung  des  Blinden-  und  Taubstummenwesens  könnte 
im  Verhältnis  zu  dem  übrigen  Inhalt  des  Bandes  vielleicht  als  zu  aus- 
gedehnt erscheinen.  Jedoch  sind  diese  Zweige  des  Unterrichtswesens 
in  weiteren  Kreisen  am  wenigsten  bekannt,  und  etwas  ausführlichere 
Mitteilungen  über  sie  dürften  daher  erwünscht  sein. 

Auch  für  Beihilfe  bei  diesem  Bande  bin  ich  Herrn  Geheimrat 
Waetzoldt  zu  Dank  verpflichtet. 

Göttingen,  im  März  1904. 

W.  Lexis. 


ERSTE  ABTEILUNG, 

DAS    VOLKSSCHULWESEN 


VON 

Dr.  P.  V.  GIZYCKI. 


Einleitung. 


Wenn  hier  von  der  Volksschule  als  einem  Ganzen  gesprochen 
wird,  so  muß  sich  besonders  der  Ausländer  darüber  klar  bleiben, 
daß  die  Schule  in  Deutschland  keineswegs  eine  Einrichtung  des 
Reiches  ist,  sondern  von  den  einzelnen  Staaten  selbständig  verwaltet 
wird.  Wir  haben  zwar  ein  deutsches  Heer,  eine  deutsche  Marine 
und  eine  einheitliche  Justiz-  und  Postverwaltung,  aber  kein  Reichs- 
ministerium für  die  Volksschulen.  Wenn  nun  trotzdem  gewisse  Urteile 
über  die  deutsche  Schule  als  solche  gefällt  werden,  so  kann  dieses 
deshalb  geschehen,  weil  ein  einheitlicher  Geist  und  eine  gleiche  Auf- 
fassung von  der  Aufgabe  der  Schule,  der  Lehrerbildung  und  den 
Pflichten  seines  Berufes  überall  in  Deutschland  vorherrscht.  Hin- 
sichtlich der  äußeren  Verhältnisse  bestehen  mancherlei  Verschieden- 
heiten zwischen  den  einzelnen  Bundesstaaten,  ja  innerhalb  desselben 
Staates  zwischen  den  einzelnen  Landesteilen,  vor  allem  zwischen 
Land-  und  Stadtbezirken.  Die  übersichtliche  Darstellung  des  äußeren 
Zustandes  des  deutschen  Schulwesens  wird  vor  allen  Dingen  dadurch 
erschwert,  daß  es  eine  einheitliche  Statistik  für  Schulangelegenheiten 
im  Deutschen  Reiche  nur  hinsichtlich  einiger,  weniger  Hauptgesichts- 
punkte gibt,  daß  die  vorhandenen  Einzelstatistiken  sich  weder  auf 
dieselbe  Zeit  beziehen,  noch  nach  denselben  Gesichtspunkten  und 
Grundsätzen  angelegt  sind.  Es  wird  daher  unmöglich  sein,  in  dem 
vorliegenden  Werke  vollständige  Zahlenangaben  hinsichtlich  des  ge- 
samten deutschen  Volksschulwesens  zu  geben.  Für  Preußen  liegt  in 
den  bisher  erschienenen  Teilen  (II  und  III)  des  1 76.  Heftes  der  Ver- 
öffentlichungen des  Königlich  preußischen  statistischen  Bureaus  ein 
zuverlässiges    und    ausführliches    Zahlenmaterial    \-or    und    wird     auf 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich     IIF.  1 


2  \'()lksschuhvesen. 

dieses  in  allen  Punkten  zurückgegriffen  werden,  auch  wo  bestimmte 
Angaben  über  die  anderen  Staaten  nicht  gemacht  werden 
können. 

Ehe  wir  jedoch  auf  die  einzelnen  Gebiete  der  Statistik  eingehen, 
wird  es  von  Nutzen  sein,  sich  im  allgemeinen  die  großen  Züge  zu 
vergegenwärtigen,  welche  für  das  preußische  und  deutsche  Volks- 
schulwesen charakteristisch  sind,  welche  unsere  Volksschule  von  der 
anderer  Kulturvölker  unterscheiden. 

Hinsichtlich  der  äußeren  Einrichtung  unserer  Volksschulen  ist, 
wie  schon  bemerkt  wurde,  eine  Übereinstimmung  durchaus  nicht  vor- 
handen. Die  einklassige  Dorfschule,  wie  sie  in  schwach  bevölkerten 
Gegenden  aus  den  örtHchen  Verhältnissen  erwachsen  ist  und  sich  den 
Bedürfnissen  der  Gegend  angepaßt  hat,  zeigt  sowohl  in  ihrer  Ein- 
richtung im  Schulgebäude  selbst  und  in  der  Ausstattung  der  Klassen 
mit  Utensilien  und  Lehrmitteln  wie  auch  in  ihrem  Lehrplan,  in  der 
Besoldung  ihrer  Lehrkräfte  und  dem  Aussehen  der  Kinder  eine  ganz 
andere  Physiognomie  als  die  Gemeindeschule  der  Großstadt  mit  ihren 
schloßartigen  Schulhäusern,  ihren  breiten  Treppenaufgängen  und 
Fluren,  ihren  geschmackvoll  ausgestatteten  Aulen  und  Turnhallen  und 
ihrem  reichen  Schatz  von  Anschauungsmitteln  und  physikalischen 
Apparaten.  Eine  so  strenge  Zentralisation  des  gesamten  Volks- 
schulwesens wie  beispielsweise  in  Frankreich  existiert  weder  im 
Deutschen  Reiche  als  solchem,  noch  auch  in  den  Einzelstaaten,  und 
wenn  auch  diese  letzteren  das  Gebiet  der  Volksschule  in  allen  seinen 
Teilen  durch  die  Gesetzgebung  oder  auf  dem  Wege  der  Verord- 
nungen regeln  und  durch  ihre  Aufsichtsbeamten  in  allen  Zweigen 
kontrollieren  lassen,  so  gestattet  diese  Staatsaufsicht  doch  fast  überall 
den  Orts-  und  Gemeindebehörden  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Maß 
von  Bewegungsfreiheit  und  beschränkt  ihre  Initiative  nur  insofern,  als 
dieselbe  zum  Schaden  der  Volksschule  gemißbraucht  werden  könnte. 
Von  dieser  ihnen  gewährten  Aktionsfreiheit  haben  besonders  die 
deutschen  Städte  und  unter  ihnen  wiederum  die  großen,  wohlhabenden 
Gemeinden  reichen  Gebrauch  gemacht,  so  daß  die  Schulanlagen  und 
Wohlfahrtseinrichtungen,  welche  sie  unter  starker  Inanspruchnahme 
der  Steuerkraft  der  Bürger  aus  freiem  Antriebe  geschaffen  haben, 
sich  mit  den  besten  Volksschulanlagen  anderer  Kulturstaaten  messen 
können. 

Einige  Staaten  Deutschlands,  und  unter  ihnen  gerade  der 
größte,    das  Königreich  Preußen,    haben    bisher  ihr  Schulwesen  noch 


Einleitunjj.  3 

nicht  durch  ein  alles  umfassendes,  einheitliches  Schulgesetz  geregelt. 
In  den  folgenden  Abschnitten  dieses  Werkes  wird  zwar  nachgewiesen 
werden,  inwieweit  gerade  in  Preußen  wichtige  Gebiete  des  Volks- 
schulwesens bereits  durch  gesetzliche  Bestimmungen  geordnet  worden 
sind,  aber  trotzdem  bleiben  viele  Fragen  übrig,  welche  auch  heute 
noch  durch  die  Verfügungen  der  Provinzialregierungen  und  durch 
Erlasse  des  Unterrichtsministers  entschieden  werden.  Wie  sehr  auch 
dieser  Umstand  seit  langer  Zeit  von  Politikern  und  Pädagogen  be- 
klagt worden  ist,  und  wie  mancherlei  Nachteile  aus  dem  Fehlen 
eines  Schulgesetzes  gerade  für  den  Lehrerstand  sich  ergeben  haben 
mögen,  dieser  Mangel  an  einheitlicher  Organisation  und  an  gleich- 
mäßigen bindenden  Vorschriften  für  alle  Landesteile  hat  auch  zweifel- 
los seine  guten  Wirkungen  gehabt.  Fa-  hat  den  Kommunalbehörden 
ein  verhältnismäßig  weites  Feld  freier  Tätigkeit  und  einen  starken 
Antrieb  zu  selbständiger  Initiative  auf  dem  Gebiete  des  Volksschul- 
wesens gegeben  und  sie  zu  weniger  kostspieligen  Versuchen  und 
Verbesserungen  in  kleineren,  abgegrenzten  Bezirken  ermutigt,  welche 
auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung  für  alle  Landesteile  zugleich  nie- 
mals hätten  durchgeführt  werden  können.  Auf  diese  Weise  ist  es 
möglich  geworden,  mit  Hilfe  privater  und  kommunaler  Geldmittel 
und  unter  Mitwirkung  von  Vereinen  gewisse  neue  Unterrichtszweige 
der  Volksschule  anzugliedern,  wie  den  Handfertigkeitsunterricht  für 
Knaben,  den  Hauswirtschaftsunterricht  für  Mädchen  und  die  Hilfs- 
schulen für  geistig  schwache  Kinder.  Alle  diese  neuen  Gebiete  der 
Pädagogik  befinden  sich  noch  heute  im  Stadium  des  Versuches  und 
stützen  sich  in  ihren  Fortschritten  größtenteils  auf  das  liebevolle 
Interesse  einzelner  Persönlichkeiten  und  Gemeinden.  Aus  eben  dem- 
selben Grunde  und  unter  ähnlichen  Umständen  sind  auch  manche 
hygienischen  Wohlfahrtseinrichtungen,  wie  die  ärztliche  Untersuchung 
und  Überwachung  sämtlicher  Kinder  der  Volksschule,  zuerst  frei- 
willig von  einzelnen  Stadtgemeinden  eingeführt  worden,  segensreiche 
P^inrichtungen,  welche  hoffentlich  nach  und  nach  ihre  Siegeslaufbahn 
bis  in  die  Volksschulen  der  äußersten  Gebirgsdörfer  fortsetzen 
werden. 

Wenn  somit  die  äußere  Organisation  der  deutschen  Volksschulen 
mancherlei  augenfällige  Unterschiede  aufweist,  so  gibt  es  doch  ge- 
wisse große  Züge  innerer  Verwandtschaft,  welche  sich  in  allen 
deutschen  Schulen  nahezu  in  gleicher  Weise  erkennen  lassen,  ob 
man  nun  in  die  niedere  Schulstube  eines  einsamen  Dorfes  auf 
meerumrauschter     Hallig      oder      in      die      lichten     Schulsäle     einer 

1* 


4  Volksschulwesen. 

Münchener,  Frankfurter  oder  Berliner  Volksschule  eintritt.  Das 
sind  die  spezifisch  deutschen  Züge  unserer  Volksschule,  Züge, 
welche  ihr  jenen  besonderen  Charakter  verleihen,  den  man  bei 
keiner  anderen  Kulturnation  in  diesem  Umfange  und  dieser  Be- 
stimmtheit wiederfindet. 

In  allen  deutschen  Volksschulen  liegt  der  Unterricht  aus- 
schließlich in  der  Hand  streng  methodisch  für  ihren  Beruf  aus- 
gebildeter und  staatlich  geprüfter  Lehrkräfte.  Alle  diese 
Lehrkräfte  befinden  sich,  abgesehen  von  verhältnismäßig  jungen 
Hilfslehrern,  in  festen,  unkündbaren  Stellungen.  Alle  haben  Anspruch 
auf  ein  festes  Gehalt  und  nach  einer  gewissen  Dienstzeit  bei  ein- 
tretender Dienstunfähigkeit  auf  eine  Pension.  Im  Falle  des  Ablebens 
eines  Lehrers  wird  auf  Grund  gesetzlich  feststehender  Normen  für 
seine  Hinterbliebenen  gesorgt.  Wenn  auch  die  Gehalts-  und  Pen- 
sionsbezüge der  deutschen  Lehrer  dem  Ausländer  teilweise  gering 
erscheinen,  besonders  wenn  er  sie  mit  den  Verhältnissen  in  solchen 
Ländern  vergleicht,  in  denen  das  Geld  eine  geringere  Kaufkraft  be- 
sitzt als  bei  uns,  so  ist  doch  durch  diese  Einrichtungen  dem  deutschen 
Lehrer  eine  gesicherte  Existenz  geschaffen,  in  welcher  er  bei  treuer 
Erfüllung  seiner  Pflichten  ohne  Sorge  in  die  Zukunft  blicken  kann. 
Diese  gesicherte,  lebenslängliche  Stellung  des  deutschen  Lehrers  ist 
die  Wurzel,  aus  der  ein  Lehrerstand  erwachsen  konnte,  ein  ehren- 
werter Stand  von  technisch  aufs  beste  für  ihren  Beruf  ausgebildeten, 
in  ihren  Kenntnissen  und  ihrer  Lebensführung  geprüften  Persönlich- 
keiten, ein  Stand,  in  welchem  sich  gesunde  pädagogische  Traditionen 
fortpflanzen  können,  neue  Erfahrungen  sammeln  und  feste  Methoden 
des  Unterrichts  und  der  Erziehung  ausbilden  lassen.  Die  reichhaltige 
pädagogische  Fachpresse,  die  Überfülle  der  alljährlich-  erscheinenden 
pädagogischen  Werke,  die  zahlreichen  wissenschaftlichen  Lehrer- 
vereine, die  rege  Beteiligung  der  Lehrerschaft  an  allen  vom  Staate 
oder  von  den  Gemeinden  veranstalteten  Kursen  und  Vortragszyklen 
beweisen,  daß  unser  Lehrerstand  nicht  nur  von  einem  durchaus  an- 
erkennenswerten Standesgefühl,  sondern  auch  von  dem  regsten 
Streben  nach  Fortbildung  durchdrungen  ist. 

An  Männer  und  Frauen,  die  in  dieser  Weise  gründlich  für  ihre 
Aufgabe  vorbereitet  und  wirtschaftlich  sichergestellt  sind,  die  eine  so 
hohe  Meinung  von  der  Bedeutung  ihres  Berufes  und  das  lebendige 
Streben,  sich  in  ihm  zu  vervollkommnen,  besitzen,  können  Staat 
und     Gemeinde     hohe     .Anforderungen     stellen.       Von      ihnen      darf 


Einleitung.  5 

man  erwarten,  daß  sie  durch  Lehre  und  Vorbild  dcu  Geist 
treuer  Arbeit  und  Pflichterfüllun<:^  in  der  Jugend  wecken  und  aus- 
bilden werden. 

Ein  zweiter  Hauptzug  des  deutschen  Schulwesens  ist  die  tat- 
sächliche Durchführung  der  Schulpflicht.  Die  darauf  bezüg- 
lichen Gesetze  stehen  in  Deutschland  nicht  nur  auf  dem  Papier. 

Erfüllung  der  Schulpflicht  bedeutet  zuerst  Ausdehnung  derselben 
auf  sämtliche  Kinder.  Alle  geistig  und  körperlich  unterrichtsfähigen 
Kinder,  welche  in  dem  in  den  verschiedenen  deutschen  Staaten  nicht 
genau  dieselben  Jahresstufen  umfassenden  Schulalter  stehen,  werden, 
sofern  sie  nicht  nachweislich  zweckentsprechenden  und  ausreichenden 
Privatunterricht  genießen  oder  höhere  Lehranstalten  besuchen,  durch 
die  Staats-  oder  Gemeindebehörden,  denen  das  Geschäft  der  P^in- 
schulung  obliegt,  unweigerlich  der  Volksschule  zugev/iesen. 

Die  Zahl  derjenigen  Kinder,  welche  sich  trotz  dieser  Bestim- 
mungen dennoch  dem  Unterricht  zu  entziehen  wissen,  ist  so  gering, 
daß  sie  gegenüber  der  Ziffer  der  eingeschulten  Kinder  völlig  ver- 
schwindet. Sie  rekrutiert  sich  hauptsächlich  aus  Familien  von  umher- 
ziehenden Künstlern,  Akrobaten  und  der  fluktuierenden  Bevölkerungs- 
klasse der  Flußschiffer.  Von  den  5  317  037  eingeschulten  Kindern  in 
36138  öffentlichen  preußischen  Volksschulen  entzogen  sich  nach  der 
Zählung  von  1P)9v5  im  ganzen  487  Kinder  widerrechtlich  der  Schul- 
pflicht. Im  Jahre  1 90 1  war  diese  Zahl  bei  5  754  728  eingeschulten 
Kindern  in  36  756  öffentlichen  preußischen  Volksschulen  auf  548 
gestiegen. 

Zur  vollständigen  Durchführung  der  Schulpflicht  gehört  ferner 
die  Durchführung  der  Schulpflicht  während  der  ganzen  Dauer  des 
schulpflichtigen  Alters.  Wenn  auch  diese  Dauer  in  den  einzelnen 
Landesteilen  nicht  gleich  lang  bemessen  ist,  wenn  auch  in  /Vusnahme- 
fällen  der  Beginn  der  Schulpflicht  bei  kränklichen  und  schwachen 
Kindern,  besonders  wenn  die  Schulwege  weit  sind,  mit  behördlicher 
Genehmigung  hinausgeschoben  werden  kann,  wenn  auch  unter  Um- 
ständen vor  Schluß  der  Schulpflicht,  sofern  die  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse der  Eltern  es  dringend  notwendig  machen,  eine  vorzeitige 
Dispensation  der  Kinder  eintritt,  so  wird  doch  von  den  Behörden  im 
allgemeinen  mit  unnachsichtlicher  Strenge  auf  die  Erfüllung  der  in 
den  einzelnen  Landesteilen  vorgeschriebenen  Schulpflicht  in  ihrem 
vollen  Umfange  gehalten.  Gegen  säumige  Eltern  oder  F>ziehungs- 
verpflichtete    wird    mit   Geld-,    ja    mit    Gefängnisstrafen    vorgegangen. 


5  Volksschulwesen. 

Auch  die  Erlaubnis  zur  späteren  Einschulung  sowie  die  vorzeitige 
Dispensation  der  Kinder  ruht,  wie  schon  angedeutet  wurde,  lediglich 
in  der  Hand  der  Behörden,  und  der  Willkür  oder  Nachlässigkeit  der 
Eltern  ist  in  den  gesetzlichen  Bestimmungen  ein  starker  Riegel  vor- 
geschoben. Von  den  im  Jahre  1901  in  Preußen  eingeschulten  Kindern 
konnten  wegen  geistiger  oder  körperlicher  Gebrechen  10  672  Kinder 
die  Schule  nicht  besuchen.  16  109  konnten  nach  vollendetem  6.  Lebens- 
jahre nicht  sogleich  in  die  Volksschule  aufgenommen  werden,  und 
53  794  wurden  vor  vollendetem  14.  Lebensjahre  vom  Schulbesuch 
dispensiert. 

Ebenso  wie  über  die  Erfüllung  der  Schulpflicht  in  ihrer  ganzen 
Dauer  muß  natürlich  auch  übsr  die  Regelmäßigkeit  des  Schulbesuchs 
an  allen  Schultagen  gewacht  werden,  und  es  wird  nicht  bloß  gegen 
solche  Eltern  und  Erziehungsverpflichtete,  welche  die  Kinder  der 
Schulpflicht  ganz  entziehen,  sondern  auch  gegen  solche,  welche 
sie  unregelmäßig  schicken,  mit  gesetzlichen  Zwangsmitteln  vor- 
gegangen. 

Damit  die  Erfüllung  der  Schulpflicht  auch  nicht  durch  äußere 
Verhältnisse  unmöglich  gemacht  werde,  wird  nach  Kräften  überall 
dahin  gewirkt,  daß  die  notwendigen  Schulräume  vorhanden  sind,  und 
daß  die  Schulwege  nicht  zu  weit  werden.  Die  Gefahr,  zeitweise  nicht 
die  nötigen  Schulräume  zur  Unterbringung  der  schulpflichtigen  Kinder 
beschaffen  zu  können,  tritt  besonders  in  aufblühenden  Städten  in  die 
P^rscheinung.  Die  P'.röffnung  neuer  industrieller  Anlagen  verursacht 
gar  nicht  selten  ein  plötzliches  Zuströmen  der  Arbeiterbevölkerung 
nach  bestimmten  Orten  oder  Stadtteilen,  und  nicht  immer  wird  es 
den  Gemeinden  leicht,  an  geeigneter  Stelle  durch  Schulbauten  mit 
der  rapiden  P^ntwicklung  gleichen  Schritt  zu  halten.  Die  weiten 
Wege  zum  Schulhause  bilden  besonders  in  schwachbevölkerten  länd- 
lichen Bezirken  eine  Kalamität.  Während  nach  der  neuesten  preußi- 
schen Statistik  von  1901  die  Zahl  derjenigen  Kinder,  welche  wegen 
Überfüllung  der  Schulräume  vom  Schulbesuch  ausgeschlossen  werden 
mußten,  nur  2735  betrug  (im  Jahre  1891  3239),  hatten  214  289  Kinder, 
davon  190  159  in  ländlichen  Bezirken,  einen  Schulweg  von  mehr  als 
2V2  l<ni  zurückzulegen. 

Die  Anforderungen,  welche  die  Volksschule  an  die  körper- 
lichen und  geistigen  Pähigkeiten  der  Schüler  wie  der  Lehrer 
stellt,  sind  in  Deutschland  im  allgemeinen  hoch.  Dij  Zahl  der  Schul- 
tage im  Jahre  dürfte  höher  sein  als  in  irgend  einem  anderen  Kultur- 


Einleitung.  7 

lande.  Die  Woche  hat  6  Arbeitstage,  und  die  Zahl  der  wöchentlichen 
Arbeitsstunden,  wenigstens  in  den  oberen  Klassen,  überschreitet  nicht 
selten  30.  Die  Ferien  dauern,  wenn  auch  ihre  Lage  und  Begrenzung  in 
den  einzelnen  Staaten  und  Landesteilen  verschieden  sind,  insgesamt 
höchstens  12  Wochen,  so  daß  im  Jahre,  nach  Abzug  einzelner  Feier- 
tage, etwa  230 — 240  Arbeitstage  herauskommen.  Die  Ferien  schließen 
sich  an  die  hohen  kirchhchen  Feste,  an  Weihnachten,  Ostern  und 
Pfingsten  an  und  bilden  außerdem  gewöhnlich  zwei  besondere  Gruppen 
im  Sommer  und  im  Herbst. 

Die  Unterrichtsziele,  welche  die  Lehrpläne  unserer  Volksschulen 
vorschreiben,  bedürfen  zu  ihrer  Erreichung  der  vollen  Zeit  des  schul- 
pflichtigen Alters  und  eines  regelmäßigen  Schulbesuches.  Sie  setzen 
aber  auch  bei  Lehrern  wie  bei  Schülern  Fleiß  und  gewissenhafte 
Pflichterfüllung  und  guten,  redlichen  Willen  voraus.  Weil  es  an  diesen 
Voraussetzungen  den  Kindern  bei  ihrem  Eintritt  in  die  Schule  viel- 
fach fehlt,  so  werden  sie  von  Anfang  an  dazu  durch  konsequente 
Gewöhnung  an  bestimmte  feste  Ordnungen  erzogen,  welche  mit 
Freundlichkeit  und  zugleich  mit  Fernst  durchgeführt  werden.  Auf 
diese  Weise  lernen  Schüler  und  Schülerinnen  schon  früh,  es  mit 
ihren  Pflichten  ernst  zu  nehmen  und  sich  als  Glieder  eines  großen 
Ganzen  zu  fühlen. 

Die  Erfolge  des  Schulunterrichts  lassen  sich  fast  niemals  genau 
ziffernmäßig  feststellen.  Die  Jugenderziehung  ist  einer  der  wichtigsten 
Faktoren,  welche  den  Charakter  des  Menschen  bilden  und  seine 
Erfolge  im  Leben  schaffen,  aber  es  läßt  sich  selten  genau  nachweisen, 
welcher  Anteil  an  seinem  Charakter  und  seinen  Erfolgen  der  Anlage, 
der  Erziehung  im  Elternhause,  dem  Einflüsse  der  Schule  zuzuschreiben 
ist.  Einen  verhältnismäßig  groben  äußerlichen  Maßstab  für  die 
Leistungen  der  Volksschule  bildet  die  Verbreitung  der  einfachsten 
Anfangsgründe  der  Schulbildung,  der  Kunst  des  Lesens  und  Schreibens 
unter  der  erwachsenen  Bevölkerung  eines  Landes.  In  Deutschland 
besteht  seit  geraumer  Zeit  die  Prüfung  der  jährlich  zum  Militär  ein- 
gestellten Mannschaften  auf  ihre  Schulbildung.  Über  die  Ergebnisse 
der  diesbezüglichen  letzten  Erhebungen  vom  Jahre  1 90 1  im  Deutschen 
Reiche  gibt  folgende  Tafel  Auskunft,  deren  Gesamtergebnis  umso 
erfreulicher  ist,  wenn  wir  damit  die  Ziffern  der  Jahre  1881  und  1891 
vergleichen.  Diese  Zahlen  reden  eine  deutliche  Sprache,  und  sie 
sagen  uns,  daß  die  pädagogische  Arbeit  der  deutschen  Lehrer  nicht 
erfolglos  geblieben  ist. 


8 


Volksschulwesen. 


Die  Herkunft')  und  Schulbildung  der  im  Ersatzjahr  1901  eingestellten 

Bekruten.-j 

(Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches  1902,  IV.) 


Eingestellte  Mann- 

Eingestellte Mann- 

Staaten 

und 

Landesteile 

schaften 

Staaten 

und 

Landesteile 

schaften 

überhaupt 

darunter  ohne 
Schulbildung 

überhaupt 

darunter  ohne  1 
Schulbildung 

ab- 

in O/o 
d.  Ge- 

ab- 

in O/o 
d.  Ge- 

solut 

samt- 
zahl 

i 

solut 

samt- 
zahl 

Ostpreußen      . 

12  287 

21 

0,17 

Oldenburg     . 

1845 



Westpreußen    . 

3)  9  036 

27 

0,30 

Braunschweig 

1747 

2 

0,11     i 

Brandenburg 

Sachsen-Meining 

1  267 

— 

— 

u.  Berlin      . 

16  686 

3 

0,02 

Sachsen  -  Alten- 

Pommern   .     . 

8  302 

2 

0,02 

burg 

784 

— 

Posen     .     .     . 

4)10  529 

20 

0,19 

Sachsen-Coburg- 

Schlesien     .     . 

20  825 

15 

0,07 

(rotha    .     . 

1056 

— 

Sachsen .     .     . 

14  381 

4 

0,03 

Anhalt       .     . 

1439 

1 

0,07 

Schleswig-Hol- 

Schwarzburg- 

1 
i 

stein    .     . 

6116 

3 

0,05 

Sondershausen               386 

— 

— 

Hannover   .     . 

12126 

6 

0,05 

Schwarzburg- 

■ 

Westfalen    .     . 

15  161 

5 

0,03 

Rudolstadt 

475 

— 

Hessen-Nassau 

8  695 

3 

0,03 

Waldeck    .      . 

275 

— 

— 

Rheinland  .     . 

27  460 

5 

0,02 

Reuß  ä.  L.     . 

286 

— 

— 

Hohenzollern  . 

293 

— 

— 

Reuß  j.  L.     . 

569 

— , 

-     1 

Preußen    .     .     . 

161  897 

114 

0,07 

Schaumburg- 

1 

Bayern       .     .     . 

28  546 

3 

0,01 

Lippe    .     . 

[           235 

— 

— 

Sachsen     .     .     . 

15  707 

— 

— 

Lippe  .     .     . 

!           589 

— 

— 

'  Württemberg 

11373 

1 

0,01 

Lübeck      .     . 

;           379 

— 

I  Baden  .... 

,       9  277 

3 

0,03 

Bremen     .     . 

1  152 

— 

— 

Hessen      .     .     . 

5  846 

1 

0,02 

Hamburg 

2  098 

1 

0,05 

Mecklenburg- 
Schwerin    .     . 
'  Sachsen -Weimar 
: .  Mecklenburg- 
Strelitz  .     .     . 

2  936 
1  547 

i 

,         505 



Elsaß-Lothringe 

1    •')     8  200 

5 

0,06 

Deutsches  Reicl 
1891      .     . 
1881      .     . 

'  <i)260  416 
'1182  827 
8)150  130 

131 

824 

2332 

0,05 
0,45 
1,55 

1)  Unter  dem  Ort  der  Herkunft  ist  hier  im  allgemeinen  der  Geburtsort  zu  ver- 
stehen, der  durchweg  für  die  zum  Dienstbereich  des  j^-eußischen  Kriegsministeriums 
gehörenden  Armeekorps  (Gardekorps,  1. — 11.,  14. — 18.  Armeekorps  einschließlich  der 
hessischen  Division),  für  das  13.  (württembergische)  Armeekorps  und  für  die  Marine  zur 
Nachweisung  gelangt  und  wenigstens  in  der  Regel  für  das  12.  u.  19.  (1.  u.  2.  sächsische) 
Armeekorps  angegeben  wird.  Für  die  drei  bayerischen  Armeekorj^is  wird  hingegen  der 
Aufenthaltsort  zur  Zeit  des  Schulbesuchs  nachgewiesen.  —  -)  Unter  den  eingestellten 
Rekruten  (Mannschaften)  sind  hier  sowohl  die  Ausgehobenen  als  auch  die  freiwillig  zu 
zwei-,  drei-  oder  vierjährigem  Dienst  in  das  Heer  oder  in  die  Marine  oder  auch  zu  fünf- 
oder  sechsjährigem  Dienst  in  die  Marine  Eingetretenen  zu  verstehen,  nicht  aber  die  Ein- 
jährig-Freiwilligen. —  3j  Darunter  23  —  4)  48  —  ■^)  34  mit  Schulbildung  in  fremder 
Sprache;  auf  das  übrige  Gebiet  des  Reichs  entfallen  23  solcher.  —  6)  Außerdem  116  — 
7)  32  —    8)  7  aus  dem  Auslande,  darunter  ohne  Schulbildung  1901  :  2,  1891  :  1. 


Einleilung.  9 

Der  Ausländer,  der  die  gewaltigen  Suiiinien  erfährt,  welehe  das 
Deutsche  Reich  jährlich  dem  Unterhalt  und  der  Vermehrung  seines 
Heeres  und  seiner  Flotte  opfert,  verfällt  leicht  in  den  Irrtum,  als 
ließen  diese  durch  unsere  Geschichte  und  die  geographische  Lage 
unseres  Landes  bedingten  Aufwendungen  für  unsere  Kriegsbereitschaft 
dem  deutschen  Volke  wenig  Mittel  zur  Förderung  idealer  Interessen 
übrig.  Das  mag  einen  Schein  von  Berechtigung  haben,  wenn  man 
lediglich  das  Verhältnis  ins  Auge  faßt,  in  welchem  die  staatlichen 
Aufwendungen  für  Armee  und  Schule  zu  einander  stehen.  Trotzdem 
aber  sind  die  Summen,  die  in  Deutschland  von  Staat  und  Gemeinden 
zusammen  für  Bildungszwecke  und  insbesondere  für  die  Volksschule 
verausgabt  werden,  nicht  gering.  Die  gesamten  Aufwendungen  für 
Volksschulzwecke  betrugen  im  Jahre  1901  im  Deutschen  Reiche  (mit 
Ausnahme  des  Großherzogtums  Mecklenburg-Schwerin,  für  welches 
Angaben  nicht  vorlagen)  412886  000  M.,  von  denen  120  357  000  M. 
aus  Staatsmitteln  gedeckt  wurden. 

Diese  Ziffern  von  1901  stellen  die  letzte  bisher  erreichte,  augen- 
blicklich wahrscheinlich  nicht  unerheblich  überschrittene  Stufe  einer 
stetig  fortschreitenden  Entwicklung  dar.  Und  wenn  sich  dieses  Fort- 
schreiten infolge  des  bereits  erwähnten  Mangels  einer  einheitlichen 
Reichsstatistik  für  das  Schulwesen  nicht  bei  allen  Staaten  in  gleicher 
Weise  übersichtlich  nachweisen  läßt,  so  mögen  in  den  folgenden 
Zusammenstellungen  einige  Zahlen  wenigstens  für  den  dauernden 
Fortschritt  des  preußischen  Volksschulwesens  Zeugnis  ablegen. 

Deutsches  Reich. 

Öffentliche  Volksschulen   1891/2  und   1900/1. 

1891/2  1900/1 

1 .  Öffentliche  Volksschulen     ....  56  563  58  I  ()4 

2.  Vollbeschäftigte   Lehrkräfte   (männ- 

liche und  weibliche) 120  032  144  484*) 

3.  Schüler     der     öffentlichen      Volks- 

schulen         7  025  688        8  829  812 

4.  Kostenaufwand  für  öffentliche  Volks- 

schulen  M.  242  399  000     412  886  000 

5.  Staatsleistungen ,      69  310  000     120  357  000 


9  Darunter  22  339  Lehrerinnen. 


•jQ  Volksschuhvesen. 

6.  Es  entfielen:  1891/2  1900/1 

a)  Einwohner  auf  eine  öffentliche 

Volksschule 874  969 

b)  Volksschüler    auf  je    100  Ein- 
wohner         16,03  15,66 

c)  Volksschüler     auf    eine     voll- 
beschäftigte Lehrkraft     ...  66  61 

d)  Schulunterhaltungskosten      auf 

einen  Volksschüler     ....  M.  'M  47 

e)  Staatsleistungen     auf    einen 

Volksschüler „  8,75  13,63 

f)  Schulunterhaltungskosten      auf 

eine  Volksschule „         4  285  7  159 

g)  Staatsleistungen     auf    eine 

Volksschule ,         I  225  2  075 

Die  Lehrkräfte  .sind  ordnungsmäßig  geprüft,  fest  angestellt  bezw.  mit  Anwartschaft 
auf  feste  Anstellung  versehen,  pensionsberechtigt  und,  soweit  sie  fest  angestellt  sind,  nur 
auf  dem  Wege  eines  gesetzlich  geordneten  Disziplinarverfahrens  absetzbar. 

Die  Aufwendungen  zu  4  und  5  sind  Mindestbeträge;  nicht  einbegriffen  sind  die 
Kosten  der  allgemeinen  Schulverwaltung,  der  Schulaufsicht  und  der  Lehrerbildung.  Die 
Staatsleistungen  zu  5  sind  in  dem  Kostenaufwande  zu  4  mitenthalten. 

Königreich  Preußen. 

1.    Erfüllung   der   Schulpflicht    1871,    1891    und    1901. 

1871  1891  llJOl 

Schulpflichtige  Kinder 4  464  906     5  401566     6  103  7-15 

davon : 

1.  unterrichtet  in  öffentlichen  Volksschulen    ....     3900655     4916476     5670870 

o/o 87,36  91,oj  92,!)i 

2.  „  „    anderen  l  nterrichtsanstalten  .     .      .        222  211         390  500        339  017 

% 4,98  7,-2:3  5,55 

3.  vorübergellend   vom    L'nterricht    freigelassen,    sonst 

aber  ordnungsmäßig  beschult 312  219  83  604  82  638 

% 6,09  1,5.j  1,35 

4.  wegen  Gebrechen  nicht  eingeschult 9  038  10  041  10  672 

O/i, 0,-20  0,1S  0,18 

5.  dem  Schulunterricht  widerrechtlich  entzogen      .     .  20  783  945  548 

t'/o 0,17  0,0-2  0,01 


Einleitung. 


1.  Schulen: 

1871 33130 

1891 34  742 

1901 36  756 

2.  Klassenräume : 

1886 64  688 

1891 70  950 

1901 88  399 

3.  Klassen : 

1871 52  747 

1891 82  746 

1901 104  082 


II.    Öffentliche  Volksschulen. 
4.    Schüler: 


1871 
1891 
1901 


3  900  655 

4  916  476 

5  754  728 


5.  VuUbeschäftigte  Lehrkräfte: 

1871 52059 

1891 71  731 

1901 90  208 

6.  Hilfslehrkräfte  (nicht  vollbeschäftigte): 

1891 4  376 

1901 .3  505 


7.    Handarbeitslehrerinnen : 

1891 37  129 

(darunter  258   vollbeschäftigte) 

1901 33  062 

(Außerdem   1036  unter  5  mitgezählte  vollbeschäftigte  technische  Lehrerinnen.) 

III.     Lehrplanmäßige    Einrichtung    der    öffentlichen    Volksschulen 
1891    und    1901. 


Es  waren  im  ganzen  vorhanden: 
1.    einklassige  Schulen  und  Ilalbtagsschulen 


2.  zwei-  bis  vierklassige  Schulen 

3.  fiinf-  und  sechsklassige  Schulen    . 

4.  sieben-  und  achtklassige  Schulen 


22  478 
64,70 
9  596 
27,6;i 
2  243 

6,4ü 

425 

1,-22 


1901 

21488 

58,4(3 

11068 
30,12 
2  581 

7,02 

1  619 

4,40 


Es  wurden  unterrichtet: 
1 .    in  einklassigen  und  Halbtagsschulen 


zusammen     34  742 
1891 


36  756 
1901 


1  537  833       1  373  442 

31 ,28  42,22 


2.  in  zwei-  bis  vierklassigen  Schulen 1806  058  1902  404 

0/^ 36,7:i  33,5.5 

3.  in  fünf-  und  sechsklas.sigen   Schulen 1269  364  1254  672 

o/„ 25,81  22,12 

4.  in  sieben-  und  achtklas.sigen  Schulen 303  221  1  140  3d_. 

1%^ 6,18  20,11 


IV.    Kosten  der  offen  tl 
1.    Kosten  der   öflentlichen  Volksschulen: 

1871        

1891 


zusammen     4  916  476       5  670870 

len  Volksschulen. 


55  648  398  Mark 

146  225  312      „ 

1901 269917  418      „ 

2.    Von  diesen  Kosten  wurden  gedeckt : 
a)   aus  Staatsmitteln: 

1871 2  895  186  Mark  =    5,20% 

1891 46495831      „     =  31,79% 

1901 73  066142     „     =27,07% 


•1 2  Volksschulwesen. 

b)   .lurcli   Scliuli.-<-ld: 

1871 10  498  794  Mark  =  18,87% 

1891 1378  983     „     =    0,94% 

1901 826  763     „     =    0,30  "/o 

der  Rest   von  den  Gemeinden  und  sonstigen  Verpflichteten  sowie  aus  dem   Ertrage 
des  Schulvermögens. 

3.  Ein  Volksschüler  kostete: 

1871 14,27  Mark 

1891 29,74  „ 

1901 47,59  „ 

4.  Eine  \'olksschule  be/.w.  Schulklasse  kostete  durchschnittlich: 

1871 1679  bezw.  1055  Mark 

1891 4209      „     1767      „ 

1901 7343      „     2593      „ 

5.  Auf  je  tausend  Einwohner  kamen   Volksschul-Kosten: 

1871 2262  Mark 

1891 4881       „ 

1901 7830      „ 

V.     Einkommen  der  Volksschull ehrer. 

1.  Durchschnittliches  (lesamteinkommen  der  Lehrer: 

1S21    18(51     1871      1891      191)1 

M.  U.            M.  M.     M. 

in  den  Städten 638  846  1042  1702  2175 

auf  dem  Lande 258  548  678  1253  1609 

überhaupt 323  634  797  1418  1835 

2.  Abstufung  des  Lehrereinkommens: 

Von  je  hundert  Lehrern  bezogen  ein   Einkommen 

a)  in  den  Städten:  1821       1874       1891       1901 

bis  450  M 36,24  1,-2i  0,05  — 

über   450—  900  M 43,8ö  30,84  6,69         1,05*.) 

„      900—1200    , 11,18  29,21  21,44  8,04 

„    1200—2100    , 8,66  34,01  48,4:3  44,38 

„    2100—3000   „ 0,08  4,74  19,52  31,50 

„    3000  M —  —  3,87  15,03 

b)  auf  dem  Lande: 

bis  450  M 86,28        3,06  0,')ö         — 

über    450—  900  M 12,42  64,96  17,:32         8,90*) 

„     900—1200   , 1,20  24,42  36,no  22,35 

„    1200—2100   „ 0,10        7,13  42,89  48,78 

„    2100—3000   „ —          0,12  3,59  17,74 

„    3000  M —          —  0,15         2,23 

c)  ülierhaupt: 

bis  450  M 77,72  2,46  0,05  — 

iiber    450—  900  M 17,81  53,78  I3,i2  5,77*) 

^^      900—1200   „ 2,911  26,01  30,66  16,65 

„    1200—2100   , 1,56  16,16  44,92  47,02 

„    2100-3000   „ 0,01  1,60  9,44  23,23 

„    3000  M —  —  1,51  7,:33 

*;   1901  :  700—900  M. 


Einleitung.  13 

VI.    Öffentliche    Mittelschulen*)  1891    und    1901. 

1.  .Schulen:  1891  icjyi 

a)  Knabenschulen 184  217 

b)  Mädchenschulen 92  137 

c)  gemischte  Schulen 68  102 

zusammen 344  456 

2.  Schulkinder: 

a)  Knaben 48  763  73  549 

davon  in  Knabenschulen        37  931  57  082 

„   Mädchenschulen 23  96 

„   gemischten  Schulen 10  809  16  371 

b)  Mädchen 37  572  61192 

davon  in  Mädchenschulen 28  679  47  680 

„    gemischten  Schulen 8  893  13  512 

zusammen 86  335  134  741 

3.  \'ollbeschäftigte  Lehrkräfte: 

SL)  Lehrer 2  024  3  137 

b)  Lehrerinnen 448  913 

zusammen 2  472  4  050 

4.  Gesamtkcsten 6  427  585  M.  12  516  631    M. 

5.  \'on  den  Gesamtkosten   wurden  aufgebracht : 

a)  aus  Staatsmitteln 81  992   M.  119  287  ^L 

O/o K-2.  0,95 

b)  durch  Schulgeld 2  729  283    „  5  198  203    „ 

% 42,4(;  41,5::i 

c)  von  den  Gemeinden  und  sonstigen  \erpflichteten  3  436  287    „  6  903  418    „ 

% 53,46  55,ifi 

d)  aus  dem  Schulvermögen 140  019    ,.  53  992    „ 

% 2,ls  0,4:? 

e)  aus  sonstigen  Quellen 40  004    „  241  731    „ 

7o 0,6-2  1,9:3 

6.  Ein  Schulkind  kostete  durchschnittlich 75    „  93    „ 

VIL    Das  gesamte  niedere    und  Mi  ttelschuhvesen   1891    und   1901. 

Lehrkräfte. 

L    Vollbeschäftigte:  Lehrer  Lehrerinnen 

1.  der  öflentl.  \'olks.schulen 1891             63  237  8  494 

1901             76  342  13  866 

2.  „         „       Mittelschulen 1891                2  997  1314 

1901               4  211  2  077 

*)  Gehobene  \'ulksschulen. 


14 


Volksscluihvesen. 


3.  der  Privatscluilen  mit  Volksschulziel    .     .      .      .      1891 

1901 

4.  „  „  „    .Mittelschulziel  ....     1891 

1901 

5.  „     Seniinariibungsschulen 1891 

1901 

6.  „     Schulen  in   Blindenanstalten 1891 

1901 

7.  „  „  „    Taubstummenanstalten     .     .     .     1891 

1901 

8.  „  „  „    Idiotenanstalten 1891 

1901 

9.  „  „  „    Rettungshäusern 1891 

1901 

10.     ,,  „  „    Waisenhäusern 1891 

1901 

überhaupt:   1891 

1901 


Lehrer 
424 
256 
900 
991 


57 

59 

390 

428 

62 

68 

207 

211 

115 

126 


Lehrerinnen 
283 
202 

3  159 

4  567 


68  389 
82  692 


13421 
20  929 


II.    Nicht  vollbeschäftigte  Ilillslehrkrät'te 


1891 
1901 


1891 
1901 

7  054 
3  570 


81810 

103  621 

1  101 

1  459 

39  735 

33  351 


III.    Handarbeitslehrerinnen 1891  — 

1901  — 

Der  Rückgang  in  der  Zahl  der  Handarbeitslehrerinnen  erklärt  sich  durch  den 
Umstand,  daß  der  Handarbeitsunterricht  mehr  und  mehr  von  vollbeschäftigten  technischen 
Lehrerinnen  erteilt  wird. 


Die  in  diesen  Ziffern  zutage  tretende  gesunde  Entwicklung 
unseres  Volksschuhvesens,  die  beständig  zunehmende  Menge  der  ein- 
geschulten Kinder,  die  in  größerem  Verhältnis  wachsende  Zahl  der 
Kla.ssen,  Klassenräume  und  Lehrkräfte,  die  Verminderung  der  niederen 
Schulorganismen  gegenüber  den  höher  organisierten  mehrklassigen 
Schulsystemen,  die  bedeutende  Zunahme  der  sieben-  und  acht- 
klassigen  Schulen  und  der  in  ihnen  unterrichteten  Kinder,  die  be- 
ständig sich  mehrenden  Aufwendungen  für  die  Gehälter  der  Lehr- 
personen, das  Ansteigen  der  Durchschnittssätze  für  ihre  Bezüge, 
schließlich  das  beständige  Anwachsen  der  Gesamtaufwendungen  für 
das  Volksschulwesen  geben  uns  w^ohl  ein  Recht,  mit  Befriedigung  auf 
die  durchme.ssene  Bahn  zurückzublicken. 

Dieses  scheinbar  so  erfreuliche  Resultat  darf  uns  aber  keines- 
wegs mit  jener  trägen  Selbstgenügsamkeit  erfüllen,  welche  die 
schlimmste  Feindin  wahren  Fortschritts  ist.  Wenn  wir  eine  Be- 
friedigung   über    die  angeführten  günstigen  Ziffern  äußern  dürfen,  so 


Einleitung.  ]  5 

gründet  sich  diese  nicht  auf  die  Überzeugung,  als  ob  wir  wirkhch 
etwas  Großes  erreicht  hätten,  sondern  auf  das  Bewußtsein,  daß  wir 
rüstig  v^orwärts  schreiten.  Unser  Auge  ruht  nicht  mit  Behagen  auf 
der  geleisteten  Arbeit  aus,  sondern  blickt  suchend  und  forschend  und 
vielleicht  nicht  ohne  Selbstvertrauen  und  gute  Hoffnung  in  die  Zukunft. 
Neue  Aufgaben,  neue  Arbeit  warten  unser,  aber  die  bisherigen  Erfolge 
erfüllen  uns  mit  dem  festen  Glauben,  daß  wir  ihnen  gewachsen  sein 
werden.  Die  Grundsätze,  welche  bisher  unser  Volk  vorwärts  und 
aufwärts  geführt  haben,  gewissenhafte  Vorbildung  jedes  Mannes  für 
seinen  Beruf,  strenge  Pflichterfüllung  des  einzelnen  in  Unterordnung 
unter  die  Interessen  der  Gesamtheit  und  die  Anordnungen  der 
autoritativen  Persönlichkeiten,  Einsetzung  aller  Kraft  für  das  Werk, 
das  jedem  obliegt,  werden  auch  in  Zukunft  die  leitenden  Ideen  für 
die  Erziehung  der  Jugend,  die  Ausbildung  der  geistigen  und 
technischen  Arbeiter  auf  allen  Gebieten  sein. 

Freilich  können  die  höchsten  materiellen  Erfolge  auf  den  Gebieten 
des  Geschäftslebens  und  der  Politik  nicht  die  letzten  Ziele  sein,  welche 
dem  Lehrer  der  Jugend  vorschweben.  Seine  Kulturmission  ist  damit 
noch  nicht  erfüllt,  daß  er  der  Jugend  eine  Vorbereitung  gibt,  die  sie  be- 
fähigt, dereinst  ihrem  Vaterlande  als  tapfere  Krieger  oder  fleißige 
Arbeiter  zu  dienen,  zu  pflügen  und  zu  bauen,  Erze  zu  schürfen  und  Meere 
zu  durchfurchen,  zu  forschen  und  zu  erfinden  und  den  Erdball  mit  einem 
Netz  von  Eisenbahnschienen  und  Telegraphendrähten  zu  umspannen 
—  seine  Aufgabe  ist  höherer  Art.  Er  soll  seine  Schüler  nicht  nur  zu 
Arbeitern  oder  Kriegern,  sondern  zu  Menschen  bilden  und  ihnen  nicht 
nur  Geschicklichkeit  und  Kenntnisse  mitteilen,  sondern  durch  Pflege 
echter  Religiosität  und  wahrer  Sittlichkeit  den  heiligen  Funken  der 
Nächstenliebe  und  Barmherzigkeit  in  ihnen  entfachen,  sie  zu  jener 
schönen  Harmonie  von  Hochsinn  und  Kraft  erziehen,  der  allein  die 
letzte  dauernde  Herrschaft  auf  dieser  Erde  zufallen  muß. 

Möge  es  der  deutschen  Volksschule  beschieden  sein,  unser  V^olk 
im  Streben  nach  diesem  hohen  und  reinen  Ziele  zu  kräftigen,  damit 
es  imstande  sei,  jene  große  Mission  zu  erfüllen,  welche  unser  Kaiser 
in  einer  kürzlich  in  Hamburg  gehaltenen  Rede  mit  den  begeisterten 
Worten  gezeichnet  hat: 

,,So  wird  unser  Vaterland  vorangehen  auf  der  Bahn  der  Auf- 
klärung, der  Bahn  der  Erleuchtung,  der  Bahn  des  praktischen  Christen- 
tums, ein  Segen  für  die  Menschheit,  ein  Hort  des  Friedens,  eine 
Bewunderung-  für  alle  Länder." 


KAPITEL  I. 
Zur  Geschichte  der  deutschen  Volksschule. 


1.  Die  Zeit  vor  der  Reformation. 

Die  Anfänge  der  deutschen  Volksschule  reichen  bis  in  die  Zeit 
des  ausgehenden  Mittelalters  zAu-ück.  Schon  im  13.  Jahrhundert 
entstanden  in  den  blühenden  Städten  der  Niederlande  und  der 
deutschen  Hansa  neben  den  Kloster-  und  Domschulen  neue  lateinische 
Stadtschulen,  auch  Rats-  oder  Pfarr-Schulen  genannt.  Diese  unter- 
schieden sich  zunächst  in  ihren  Lehrplänen  und  Unterrichtszielen  nicht 
von  den  älteren  geistlichen  Lehranstalten,  sie  waren  aber,  vielfach 
erst  nach  heftigen  Kämpfen  mit  dem  Klerus,  durch  die  Bürgerschaft 
ins  Leben  gerufen  worden,  um  der  städtischen  Verwaltung  und  dem 
Kaufmannsstande  die  erforderlichen  Beamten  und  gebildeten  Ange- 
stellten zu  liefern.  Der  \\'achsende  Umfang  und  die  \\'eitgehenden 
politischen  Verbindungen  der  Städte  erforderten  ein  geschultes  Personal 
zur  Ausfertigung  der  Urkunden,  Protokolle,  Verträge,  Abrechnungen 
und  Stadtbücher,  und  auch  der  Kaufmannsstand  bedurfte  für  die 
Erledigung  seiner  Geschäfte  der  Gehilfen,  welche  nicht  nur  des  Lesens 
und  Schreibens,  sondern  auch  der  damaligen  Weltsprache,  des  Lateins, 
kundig  waren. 

Die  städtischen  Lateinschulen  ersetzten,  da  sie  auch  die  Elemente 
des  Lesens  und  Schreibens  lehrten,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die 
Volksschule.  Daneben  aber  entstanden  schon  früh  sogenannte  deutsche 
Schulen,  in  denen  lateinischer  Unterricht  nicht  erteilt  wurde,  ja  nicht 
erteilt  werden  durfte.  Wir  müssen  sie  uns  zum  Teil  als  Vorbereitungs- 
anstalten für  die  Lateinschulen  denken  und  als  die  einzigen  Stätten 
für  die  Bildung  der  weiblichen  Jugend. 

Schon  um  das  Jahr  1400  wird  in  Memmingen  eine  Maidlin- 
Schule  erwähnt,    und   1469  verbietet  der  Rat  dieser  Stadt,    daß  mehr 


Zur  (jcscliichte  der  deutsclien   X'olksschulo.  17 

als  zwei  deutsche  Schulen  gehalten  werden  sollten.  Die  Mädchen 
wurden  schon  in  dieser  Zeit  von  Lehrfrauen  (Lehrerinnen)  unterrichtet. 
Als  Gegenstände  des  Unterrichts  in  den  deutschen  Knaben-  und 
Mädchenschulen  werden  Lesen  und  Schreiben,  zuweilen  auch  Rechnen 
und  Singen  erwähnt.  Die  Mädchen  scheinen  auch  in  weiblichen 
Handarbeiten  unterrichtet  worden  zu  sein.  Die  Lehrer  dieser  von 
den  Behörden  nur  geduldeten,  ja  oft  ausdrücklich  verbotenen  Privat- 
anstalten bildeten  natürlich  anfangs  keinen  festen  Stand,  obgleich  sie 
sich  später  in  einzelnen  Städten  zu  Gilden  vereinigt  haben.  Sie  mögen 
sich  aus  dem  Stande  der  fahrenden  Schüler,  aus  Stadtschreibern  und 
Handlungsdienern,  aus  Handwerkern  und  anderem  noch  weniger 
geeignetem  Volke  rekrutiert  haben. 

Noch  ungünstiger  wird  es  um  den  Elementarunterricht  in  der 
Muttersprache  auf  dem  Lande  gestanden  haben.  Die  Nachrichten 
über  das  ländliche  Schulwesen  in  Deutschland  vor  der  Reformation 
sind  überaus  spärlich.  Johannes  Müller,  einer  der  besten  Kenner  der 
Vorgeschichte  des  deutschen  Volksschulwesens,  äußert  sich  zu  dieser 
hrage  folgendermaßen*): 

„Ob  in  den  Dörfern  deutsche  Schulen  vor  der  Reformation 
bestanden,  darüber  läßt  sich  bei  den  geringen  Nachrichten  über  das 
mittelalterliche  Dorfschulwesen  überhaupt  wenig  Bestimmtes  sagen. 
Die  Existenz  von  Dorfschulen  vor  der  Reformation  zu  bezweifeln,  wie 
es  manche  sonst  verdienstvolle  Forscher  tun,  ist  nicht  gerechtfertigt. 
Es  gab,  wenn  auch  die  urkundlichen  Aufzeichnungen  darüber  spärlich 
sind,  wirklich  Schulen  für  die  Jugend  der  Landbewohner;  nur  dürfen 
wir  sie  uns  keinesfalls  überall  und  nicht  oder  nur  sehr  selten  in  einem 
besonderen  Schulhause,  das  ja  auch  in  den  Städten  vielfach  fehlte, 
oder  unter  Leitung  eines  eigenen  Schulrektors  denken  und  müssen 
sowohl  die  letzten  2—3  Jahrhunderte  des  Mittelalters  und  besonders 
das  \5.  mit  seiner  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  von  den  früheren, 
als    auch    das    nordöstliche    Deutschland    bis    an    die  Elbe    von    dem 

übrigen,  namentlich  von  den  Rheingegenden,  unterscheiden Erst 

mit  der  Vermehrung  der  Pfarreien  und  Geistlichen  und  deren 
Organisation,  mit  der  zahlreichen  Bildung  von  stärker  bevölkerten 
Dorf-  und  Stadtgemeinden  und  mit  dem  durch  die  Kreuzzüge  und 
durch  den  Aufschwung  des  Handels  und  Verkehrs  gesteigerten 
Unterrichtsbedürfnisse    ward    die  Sorge    für    den  Jugendunterricht  so 

*)  Quellenschriften  zur  Geschichte  des  deutschsprachUchen  Unterrichtes  bis  zur 
Mitte  des   16.  Jahrhunderts.     Gotha  1882.     S.  325  f. 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  2 


\  ^  Volksschuhvesen. 

lebendig,  daß  diesem  eine  wachsende  Tätigkeit  zugewandt  wurde. 
Der  am  frühesten  christianisierte  Westen  Deutschlands  ging  den 
anderen  Gegenden  voran.  Auf  den  Dörfern  waren  die  ersten  Schulen 
jedenfalls  meist  Pfarrschulen,  oder  der  Unterricht  way  Privatunterricht 
einzelner.  \on  einzelnen  Geistlichen  oder  deren  Gehilfen,  in  den  letzten 
Jahrhunderten  des  Mittelalters  wohl  auch  von  fahrenden  Spielleuten 
oder  fahrenden  Scholaren,  Schreibern  oder  anderen  Laien  erteilt." 

Aber  auch  diese  Pfarrschulen  auf  dem  Lande  dürfen  wir  uns 
keineswegs  als  Volksschulen  in  heutigem  Sinne  vorstellen.  Sie  setzten 
sich  wohl  kaum  die  Verbreitung  allgemeiner  Bildung  zum  Ziele, 
sondern  suchten  hauptsächlich  Kleriker  und  Sänger  für  den  Kirchen- 
dienst vorzubilden.  P^in  elementarer  Lateinunterricht  stand  auch  bei 
ihnen  neben  den  Anfangsgründen  des  Lesens  und  Schreibens  im 
Mittelpunkt  des  Interesses.  ¥Än  lebendiges  Bild  aus  dem  Leben  von 
Lehrern  und  Schülern  zu  Beginn  des  U).  Jahrhunderts  gibt  die 
Selbstbiographie  von  Thomas  Platter,  später  Rektor  in  Basel,  und  ein 
anderer  Gelehrter,  der  Kantor  Nicolaus  Hermann  zu  Joachimsthal 
(t  I5()1),  entwirft  in  der  Widmung  seines  Buches  ,,Die  Historien  von 
der  Sintflut,  Joseph,  Mose  usw.  in  Reyme  gefasset,  für  christliche 
Hausväter  und  ihre  Kinder"  folgende  vielleicht  etwas  zu  stark  gefärbte 
Schilderung,  und  zwar  nicht  von  den  Zuständen  der  deutschen,  sondern 
der  höher  bewerteten  Lateinschulen  jener  Zeit: 

„Wenn  ich  zurückdenke,  wie  es  in  meiner  Jugend  vor  fünfzig 
Jahren  und  vorher  in  Kirchen  und  in  Schulen  gestanden  ist,  und  wie 
man  darin  gelehrt  hat,  so  stehen  mir  die  Haare  zu  Berge  und  schaudert 
mir  die  Haut,  kann  es  auch  unbeseufzt  und  beklagt  nicht  lassen,  und 
es  wäre  zu  wünschen,  daß  die  jetzige  Jugend  und  Schüler  nur  den  halben 
Teil  wissen  sollten,  was  zu  derselben  Zeit  die  armen  Schülerlein  für 
Elend,  Jammer,  Frost,  Hunger  und  Kummer  haben  erleiden  und  erdulden 
müssen,  und  wie  sie  dagegen  so  gar  übel  und  unrichtig  sind  gelehrt 
und  unterwiesen  worden,  ja  noch  einmal,  sage  ich,  wäre  es  zu 
wünschen,  daß  sie  es  wissen  sollten,  so  würden  sie  ihre  Hände  auf- 
heben und  Gott  von  Herzen  für  die  großen  Wohltaten  und  gnaden- 
reiche Zeit,  darinnen  sie  geboren  sind,  danken  und  ihn  loben,  ehren 
und  preisen.  Denn  in  gemeinen  Schulen  war  eine  solche  Barbarei 
und  Unrichtigkeit  im  Lehren,  daß  mancher  bis  20  Jahre  alt  wurde, 
ehe  er  seine  Grammatik  lernte  und  ein  wenig  Latein  verstand  und 
reden  konnte,  welches  doch  gegen  das  jetzige  Latein  lautet  wie  ein 
altes  RumpeLscheid  oder  Strohfiedel  gegen  die  allerbeste  und 
bestgestimmte  Orgel.  W^elches  man  denn  mit  den  ungelehrten  Priestern, 


Zur  (".cschichto  der  deutsrhen   Xolksschule.  19 

SO  zur  selben  Zeit  viel  Tausend  waren,  leicht  bezeugen  und  beweisen 
könnte.  Zudem  wurden  die  armen  Knaben  mit  dem  Singen  dermaßen 
beschwert  und  gepeinigt,  daß  man  von  einem  Feste  zum  andern  kaum 
Zeit  genug  haben  konnte,  die  Gesänge  anzurichten  und  zu  übersingen, 
wenn  man  gleich  in  der  Schule  sonst  nichts  zu  lernen  und  zu  lehren 
bedurft  hätte,  und  mußten  oft  die  Knaben  bei  nächtlicher  Zeit  in 
einer  Mette  in  dem  kalten  Winter  drei  ganze  Zeigerstunden  aneinander 
in  der  Kirche  frieren,  daß  mancher  sein  Lebelang  ein  Krüppel  und 
ungesunder  Mensch  sein  mußte.  Die  armen  Kinder,  die  nach  Parteken 
(Brotstücken)  herum  sungen,  das  waren  recht  natürliche  Märtyrer. 
Wenn  sie  in  der  Schule  genugsam  gemartert  waren  und  in  der  Kirche 
erfroren,  mußten  sie  dann  erst  hinaus  auf  die  Gart  (die  Bettelei),  und 
wenn  sie  mit  großer  Mühe  im  Regen,  Wind  und  Schnee  etwas 
ersungen,  mußten  sie  dasselbige  den  alten  Bacchanten,  welche  daheim 
auf  der  Bärenhaut  lagen,  wie  einem  Drachen  in  den  Hals  stecken, 
und  sie,  die  Knaben,  mußten  Maul  ab  sein  und  darben.  Dagegen 
sollten  die  Bacchanten  sie  unterweisen  und  mit  ihnen  repetieren  und 
konnten  oft  selber  nichts  denn  scamnum  deklinieren,  das  magister  und 
nuisa  hatten  sie  nicht  gelernt.  Und  wie  die  Lehrer  und  Schulmeister 
waren,  so  waren  auch  gemeiniglich  die  Schulen  die  garstigsten,  un- 
flätigsten Häuser,  daß  Bütteleien,  Schindereien  und  Henkereien  lauter 
Schlösser  und  Paläste  dagegen  waren.  In  solchen  garstigen,  unflätigen 
Häusern,  mitten  unter  den  Katzen  und  Mäusen,  Flöhen,  Wanzen  und 
Läusen,  und  was  der  Bursalia  (Burschensachen)  mehr  waren,  mußte 
die  liebe  Jugend  erzogen  werden,  die  einst  sollte  Lehrer  und  Regenten 
geben." 

2.    Das  Zeitalter  der  Reformation. 

Wenn  wir  sonach  von  einem  allgemeinen  Volksunterricht  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Mittelalters  weder  in  den  deutschen  Städten  noch 
auf  dem  Lande  reden  können,  so  begann  sich  doch  mit  dem  Zeit- 
alter der  FIrfindungen  und  FLntdeckungen,  mit  der  Verbreitung  der 
Buchdruckerkunst,  dem  Wiederaufleben  der  klassischen  Schriftsteller, 
mit  der  Reformation  allmählich  in  allen  Kreisen  des  Volkes  ein 
-Stärkeres  Bedürfnis  nach  der  Kenntnis  des  Lesens  und  Schreibens 
und  nach  einem  tieferen  Verständnis  der  göttlichen  und  weltlichen 
Dinge  geltend  zu  machen.  Martin  Luther  hatte  auch  den  Laien  in 
seiner  Bibelübersetzung  die  Quelle  des  Glaubens  und  der  Erkenntnis 
Gottes  durch  die  Muttersprache  eröffnet  und  in  seinen  Katechismen, 
seinen    Sendschreiben,    Streitschriften    und    Liedern    hochbedeutsame 


20  X'ülksschuhvesen. 

literarische  Werke  in  der  Sprache  des  V^olkcs  geschaffen.  Er  hatte 
schließlich  einen  neuen  Glauben  und  damit  die  Notwendigkeit  be- 
gründet, die  Kinder  des  Volkes  in  diesem  Glauben  z.u  unterrichten. 
Alle  diese  Momente  trugen  dazu  bei,  die  protestantischen  Fürsten 
und  Städte  zu  veranlassen,  für  den  Unterricht  auf  breiterer  Grundlage 
als  bisher  Fürsorge  zu  treffen,  und  die  P>inziehung  der  katholischen 
Kirchengüter  in  protestantischen  Ländern  bot  teilweise  die  erforder- 
lichen Mittel  zur  Erfüllung  dieser  Pflicht  dar.  Die  Stellung  Luthers 
zur  Volksschule,  wie  man  sie  damals  auffassen  konnte,  ist  oft  ge- 
schildert worden.  Es  ist  sein  großes  Verdienst,  die  Eltern,  Bürger 
und  Obrigkeiten  seines  Landes  auf  die  Bedeutung  der  Kindererziehung 
mit  kraftvollen  und  zuweilen  leidenschaftlichen  Worten  hingewiesen 
zu  haben,  wenn  auch  sein  Standpunkt  in  dieser  Frage  ein  vorzugs- 
weise theologischer  blieb. 

Die  Einführung  der  Reformation  in  einer  großen  Anzahl 
deutscher  Staaten  hatte  naturgemäß  die  Neuorganisation  der  gesamten 
kirchlichen  Verhältnisse  in  ihnen  zur  Folge.  Die  diese  Organisation 
regelnden  Kirchenordnungen  sind,  da  sie  sich  auch  mit  der  Erziehung 
der  Kinder  in  dem  neuen  Glauben  beschäftigen,  wichtige  Dokumente 
für  die  Geschichte  des  deutschen  Schulwesens.  Freilich  richten 
auch  sie  ihr  Hauptaugenmerk  auf  den  gelehrten  Unterricht,  aber 
einige  gedenken  doch  auch  mit  einiger  Ausführlichkeit  der  deutschen 
Schulen.  Es  lassen  sich  unter  diesen  Kirchenordnungen,  sofern  sie 
noch  dem  l().  Jahrhundert  angehören,  vorzugsweise  zwei  Gruppen 
unterscheiden,  diejenigen,  welche  Johannes  Bugenhagen  (1485 — 1558) 
zum  Verfasser  haben,  und  jene,  welche  auf  die  große  Württem- 
bergische Kirchenordnung  des  Herzogs  Christoph  von  1559  zurück- 
weisen. Bugenhagens  Einfluß  erstreckte  sich  besonders  auf  den 
deutschen  Norden,  und  er  verfaßte  außer  der  Braunschweigischen 
Kirchenordnung  von  1 528  auch  solche  für  Hamburg  1 529,  für  Lübeck 
1530,  Pommern  1534  und  Dänemark  1537.  Seine  Schulordnung, 
welche  sich  auf  Philipp  Melanchthons  ,, Unterricht  der  Visitatoren  an 
die  Pfarrherren  im  Kurfürstentum  Sachsen  1528"  stützt,  wendet  den 
deutschen  Schulen  nur  geringes  Interesse  zu.  Seine  Fürsorge  gilt 
hauptsächlich  den  Lateinschulen.  Seine  Stadt-Braunschweigische 
Schulordnung,  von  welcher  die  Hamburger  und  Lübecker  nur  wenig 
abweichen,  verlangt  neben  einer  größeren  Zahl  von  verhältnismäßig 
wohl  dotierten  öffentlichen  Lateinschulen  nur  zwei  halb  private 
deutsche  Knabenschulen  und  vier  Mädchenschulen.  Die  Lehrer 
dieser    Knabenschulen    sollen    kein    festes    Gehalt,    sondern    nur    ein 


Zur  Geschiclite  der  deutschen  Volksschule.  21 

Geschenk  jährlich  vom  Rate  erhalten,  im  übrigen  aber  auf  das  Schul- 
geld angewiesen  sein.  Dasselbe  gilt  von  den  Lehrerinnen  der 
Mädchenschulen.  Die  Ansprüche,  welche  an  diese  letzteren  Schulen 
gestellt  werden,  sind  dadurch  charakterisiert,  daß  die  Schulordnung 
einen  Schulbesuch  von  höchstens  zwei  Jahren  in  höchstens  zwei  Stunden 
täglich  für  die  Mädchen  vorschreibt. 

Die  Kirchenordnung  des  Herzogs  Christoph  von  Württemberg 
vom  Jahre  1559  geht  auf  Johannes  Brenz  (1499 — 1570)  als  ihren 
geistigen  Urheber  zurück,  der  für  Süddeutschland  eine  ähnliche  Be- 
deutung besitzt  wie  Bugenhagen  für  Norddeutschland,  und  hat  ihrer- 
seits der  Braunschweigischen  Schulordnung  von  1569  und  der  Kur- 
sächsischen von  1586  als  Vorbild  gedient.  Auch  in  dieser  Kirchen- 
ordnung wird  das  lateinische  Schulwesen  mit  besonderer  Breite  be- 
handelt. Doch  findet  auch  die  deutsche  Schule  gebührende  Berück- 
sichtigung.    Es  heißt  da: 

,,Als  wir  auch  etliche  namhafte  und  volkreiche  Flecken  in 
unscrm  Fürstentum  und  gemeiniglich  hart  schaffende  Untertanen 
haben,  so  ihrer  Arbeit  halber  nit  allezeit,  wie  not,  ihre  Kinder  unter- 
richten und  weisen  können,  damit  denn  derselben  arbeitenden  Kinder 
nit  versäumet,  fürnemlich  aber  mit  dem  Gebet  und  Katechismus  und 
daneben  Schreibens  und  lesens  ihrer  selbs  und  gemeinen  Nutzens 
wegen,  desgleichen  mit  Psalmsingen  dester  baß  Unterricht  und 
christenlich  aufgezogen  (werdenj,  wollen  wir,  wo  bis  anher  in  solchen 
Flecken  Mesnereien  gewesen,  daß  derselben  deutsche  Schulen  mit 
den  Mesnereien  zusammen  eingericht  und  darauf  von  unsern  ver- 
ordneten Kirchenvätern  geschickte  und  zuvor  examinierte  Personen, 
so  Schreibens  und  lesens  wohl  bericht,  auch  die  Jugend  im  Katechismus 
und  Kirchengesang  unterrichten  könnten,  verordnet  werden." 

Die  Anforderungen  an  die  Befähigung  des  Lehrers  sind,  wie  wir 
sehen,  gering.  Knaben  und  Mädchen  sollen  in  der  Schule  getrennt 
sitzen.  Das  Rechnen  ist  nicht  als  Gegenstand  des  Unterrichts  ge- 
nannt, doch  soll  der  Lehrer  in  diesem  Fache  geprüft  sein.  Die 
Kinder  sollen  in  drei  Gruppen  (Häuflein)  geteilt  werden.  Die  erste 
soll  aus  denjenigen  bestehen,  welche  anfangen  die  Buchstaben  zu 
lernen,  die  zweite  aus  denen,  welche  schon  Silben  zusammenfügen, 
die  dritte  endlich  aus  jenen,  welche  anfangen  zu  lesen  und  zu  schreiben. 
Auch  innerhalb  dieser  Gruppen  sollen  noch  Unterabteilungen  ge- 
schaffen werden,  damit  die  Kinder  zum  Fleiß  angereizt  und  die  Arbeit 
des  Schulmeisters  erleichtert  werde.  Die  vSchulaufsicht  wird  von  der 
Kirche  geführt,  von  Pfarrern,  Superintendenten   und    schließlich    vom 


22  Volksschuhveseu. 

Kirchenrat.  lüir  den  Katechismusunterricht  ist  die  Schulpflicht  vor- 
geschrieben und  sollen  die  Eltern  für  unbegründete  Schulversäumnisse 
der  Kinder  bestraft  werden. 

Gegen  Ende  des  Jahrhunderts  gewinnen  die  Vorschriften  für  die 
deutsche  Schule  in  den  Kirchenordnungen  an  Bestimmtheit  und 
Umfang.  Die  Anforderungen  an  die  Befähigung  des  Lehrers  sowie 
die  Ziele  des  Unterrichts  werden  teilweise  etwas  höhere.  Die  Sachsen- 
Lauenburgische  Kirchenordnung  von  1585  fordert  gute  lateinische 
Knabenschulen,  auch  Schulen  für  die  Mädchen,  in  denen  sie  Schreiben, 
Lesen,  Katechismus,  Sprüche  der  heiligen  Schrift,  Psalmen,  Singen, 
dazu  ferner  Nähen,  Stricken,  Wirken  und  dergleichen  lernen  sollen. 
Auf  den  Dörfern  sollen  Knaben  und  Mädchen  von  dem  Küster  oder 
dem  Pastor  und  deren  Frauen  unterrichtet  werden,  und  auch  hier 
wird  gesonderter  Unterricht  für  Knaben  und  Mädchen  gefordert. 
Sollten  die  Eltern  sich  den  Anordnungen  des  Herzogs  widersetzen,  so 
wird  amtliches  Einschreiten  seinerseits  in  Aussicht  gestellt. 

In  Lübeck  bestanden  zu  jener  Zeit,  ungerechnet  die  Kirchen- 
schulen, die  Privat-  und  Winkelschulen  sowie  die  Schulen  der  Schreib- 
und Rechenmeister,  12  öffentliche  Schulen  für  Knaben  und  ebenso 
viele  für  Mädchen,  und  die  Stadt  Straßburg  i.  H  bestimmt  in  einer 
Kirchenordnung  von  1598,  daß  neben  der  Lateinschule  bei  jeder 
Pfarre  eine  deutsche  Schule  für  Knaben  und  Mädchen  gehalten 
werden  sollte.  Als  Lehrgegenstände  werden  hier  Lesen,  Schreiben 
und  bisweilen  Rechnen  angeführt,  vornehmlich  aber  Katechismus, 
Latein  und  Kirchengesang. 

Inwieweit  die  auf  die  Schule  bezüglichen  Vorschriften  der 
Kirchenordnungen  dieser  Zeit  im  übrigen  praktisch  durchgeführt 
wurden,  läßt  sich  nicht  mit  Sicherheit  beurteilen.  Irgend  welche 
zuverlässige  P>hebungen  über  den  Stand  der  Schulverhältnisse  wurden 
damals  natürlich  nicht  angestellt,  und  wenn  wir  den  Äußerungen 
zeitgenössischer  Schriftsteller  Glauben  schenken,  so  stand  es  noch  um 
das  Jahr  1600  trotz  mancher  wohlmeinender  Anordnungen  von 
Fürsten  und  Stadtbehörden  dennoch  recht  übel  um  die  Schule  in 
deutschen  Landen.  Schulrat  Sander  entwirft  in  seiner  Geschichte  der 
Volksschule  besonders  in  Deutschland  [K.  Schmid,  Geschichte  der 
Erziehung  vom  Anfang  an  bis  auf  unsere  Zeit  V.  'A,  S.  53)  folgende 
Schilderungen  der  damaligen  Schulhäuser: 

,,An  die  äußere  Ausstattung  der  Schulen  stellte  ein  Geschlecht, 
das  für  sich  selbst  auf  dem  Lande  dürftig  und  unbehaglich,  in  den 
Städten  warm  und  sicher,  aber  eng  und  finster  wohnte,    das  fast  nur 


Zur  Geschichte  der  deulschen  Volksschule.  23 

für  (las  öftciilliclic  Leben  in  Kirchen,  Rathäusern,  Schüttingen  oder 
Hochzeithäusern  große,  stattliche,  kunstreich  gebaute  und  geschmückte 
Räume  kannte,  sehr  geringe  x'lnsprüche.  Thomas  Platter  (I4W — 15U2) 
in  seiner  vielbenutzten  Autobiographie  erzählt  aus  eigner  Erfahrung, 
wie  in  der  Schule  bei  St.  Elisabeth  zu  Breslau  neun  Baccalarien 
gleichzeitig  in  einer  Stube  zu  lesen  (d.  i.  zu  lehren)  pflegten.  Über- 
dies dienten  dort  die  Schulstuben  den  Schülern  noch  teilweise  als 
Nachtquartier.  Zwei  Menschenalter  später  ergießt  der  streitbare 
Humanist  Nikodemus  Frischlin  (1588)  scharfe  Zorneslauge  über  Braun- 
schweigs  städtisches  Schulwesen,  namentlich  auch  in  dieser  Hinsicht: 
,Sehe  ich  auf  die  A-B-C-Schule,  worin  der  Väter  Augäpfel,  der  Mütter 
Lieblinge  sitzen,  so  erbarmt  mich  dieses  zarten  Häufleins.  Sie  müssen 
in  einem  Räume,  wo  kaum  die  Hälfte  gehörig  Platz  hätte,  so  eng 
aufeinander  sitzen,  daß  sie  sich  drücken  und  pressen.  Da  überdies 
das  Schulhaus  in  einem  finstern  Winkel  der  Stadt  steht,  keinem 
Winde,  keiner  Luft  zugängig,  wie  sollten  in  der  l^nge,  in  dem 
Gestanke,  besonders  sommers,  die  zarten  Kleinen  nicht  in  allerlei 
Krankheiten  fallen?'  ,Die  Männer,  welche  den  ganzen  Tag  im  Lärm 
und  Stanke  der  Knaben  stecken  müssen,  werden  darin  halb  schwind- 
süchtig und  halb  taubl'  Ebenda  klagen  1590  einige  Bürger  dem  Rate 
bitterlich,  daß  große  und  kleine  Schüler  den  gar  kalten  Winter  über 
in  den  Schulen  großen  Frost  erlitten  haben,  und  daß  in  den 
Wohnungen  des  Rectoris,  Conrectoris  und  anderer  Schuldiener  .bis- 
weilen alle  Unordnung  fürfellet.' 

Man  beachte,  daß  hier  Wohnung  der  Lehrer  und  Schulzimmer 
nicht  scharf  voneinander  getrennt  werden.  Nicht  selten  fehlte  es  an 
jedem  Unterschiede  zwischen  beiden  und  fand  der  Unterricht  in  den 
W^ohnräumen  der  Lehrer  statt.  Zu  Bau  und  Besserung  entschloß 
man  sich  oft  genug  erst  dann,  wenn  ,ohne  Leib-  und  Lebensgefahr 
die  functiones  in  die  Länge  nicht  zu  verrichten  waren.'  Gab  es 
eigene  Schulzimmer  oder  gar  Schulsäle,  so  war  es  noch  um  1600 
nicht  unerhört,  dafi  in  ihnen  mehrere  Klassen  von  verschiedenen 
Lehrern  oder  die  Knaben  vom  Schulmei.ster,  die  Mädchen  von  der 
Lehrerin  gleichzeitig  unterrichtet  wurden. 

Man  mag  hieraus  ermessen,  wie  schlimm  es  auf  dem  Lande  mit 
der  Unterkunft  der  Schulen  gestanden  haben  wird.  Zwar  gab  es  an 
manchen  alten  und  wohlhäbigen  Kirchorten  Küstereien,  Wohn- 
häuser für  die  Opferleute,  Mesner,  Sigristen  oder  wie  diese  niederen 
Kleriker  hießen.  Doch  schwerlich  werden  sie  in  vielen  Fällen  bequem 
zur  Aufnahme    von  Schulen    eingerichtet    gewesen    sein.      In  solchen 


24  Volksschulwesen. 

Fällen  und  gar,  wo  der  wohlfeilste  verfügbare  Raum  aus  Not  ge- 
nommen werden  mußte,  teilte  dann  wohl  des  Lehrers  Familie  und 
gesamter  Haushalt  das  Zimmer  mit  Lehrer  und  Schülern  —  zum 
Ungemach  für  beide  Teile,  wie  man  sich  leicht  ausmalt." 

Die  Methode  des  Unterrichts  war,  so  wenig  Bestimmtes  wir  auch 
aus  den  Schilderungen  des  16.  Jahrhunderts  darüber  erfahren, 
jedenfalls  wenig  ausgebildet,  schwerfällig  und  mechanisch.  Der  reich- 
lich vorhandene  Memorierstoff:  der  Katechismus,  die  Sprüche,  die 
Kirchenlieder,  bot  nur  zu  viel  Gelegenheit  zu  geistlosem  Auswendig- 
lernen. Die  hier  und  da  in  den  Schulordnungen  an  die  Lehrer  ge- 
richteten Warnungen,  sich  bei  ihren  Strafen  alles  Fluchens  und 
ungebührlichen  Redens  zu  enthalten,  ihre  Schüler  nicht  mit  Schlüsseln, 
Büchern  oder  Fäusten  ins  Gesicht  zu  schlagen,  sie  nicht  gräulich 
über  die  Bänke  zu  werfen,  ihre  Glieder  zu  verrenken,  sie  nicht  an 
den  Ohren  zu  ziehen  und  im  Gesicht  zu  verletzen,  kurz  sie  nicht 
wie  Henker  zu  stäupen,  sondern  väterlich  zu  züchtigen,  gestatten 
kaum  eine  allzu  günstige  Meinung  über  die  Handhabung  der  Schul- 
zucht. Die  in  dieser  Hinsicht  gewiß  oft  vorkomnienden  Aus- 
schreitungen dürfen  uns  nicht  wundern,  wenn  wir  bedenken,  daß  es 
auch  um  1600  einen  für  seinen  Beruf  ausgebildeten  Lehrerstand  nicht 
gab,  daß  die  Erzieher  der  Jugend  auch  jetzt  noch  aus  dem  Stande 
der  Handwerker,  der  Schreiber  und  Rechenmeister  oder  gar  aus  ver- 
kommenen Studenten  hervorgingen,  daß  es  diesen  Leuten  zum  großen 
Teil  an  einer  festen  F^xistenz  und  gesichertem  Lebensunterhalt  fehlte, 
so  daß  viele  das  Lehramt  als  Nebenbeschäftigung  trieben,  und  daß 
es  eine  streng  durchgeführte,  sachkundige  Schulaufsicht  und  Kontrolle 
der  Schuleinrichtungen  nicht  gab. 

.S.    Das  Zeitalter  des  dreii.Mgjährigen  Krieges. 

Das  siebzehnte  Jahrhundert  ist  das  Zeitalter  jenes  großen  Krieges, 
welcher  nicht  nur  den  materiellen  Wohlstand  des  deutschen  Landes 
in  allen  seinen  Gauen  zerstörte,  unzählige  Dörfer  und  Städte  in 
Ruinen  und  fruchtbare  Gefilde  in  Einöden  verwandelte,  sondern  auch 
der  sittlichen  Kultur  des  Volkes  und  besonders  allen  Schuleinrichtungen 
die  schwersten  Wunden  schlug.  So  wenig  es  unter  diesen  traurigen 
Verhältnissen  möglich  war,  daß  die  Volksschule  praktische  Fort- 
schritte machen  konnte,  so  ist  doch  gerade  das  siebzehnte  Jahr- 
hundert reich  an  hervorragenden  Theoretikern,  Leuten,  welche  berufen 
waren,    der  Jugenderziehung    ganz    neue  Bahnen    zu    weisen.     Es  ist 


Zur  Geschichte  der  deutschen  \''olksschule.  25 

natürlich  liier  nicht  der  Ort,  auf  die  Bedeutung  von  Männern  wie 
Ratichius,  Conienius,  Spener  u.  a.  näher  einzugehen;  dieser  Bericht  muß 
sich  ausschließlich  darauf  beschränken,  die  Tätigkeit  der  Pädagogen 
dort  zu  erwähnen,  wo  sie  persönlich  oder  durch  ihre  Schriften  die 
Schulgesetzgebung   ihres  Landes  unmittelbar  beeinflußt  haben. 

Eine  so  unmittelbare  Beziehung  läßt  sich  in  der  Tat  zwischen 
den  pädagogischen  Theorien  des  eigenartigen  Schwärmers  Ratke, 
genannt  Ratichius  (1v57l — 1635)  und  der  Weimarer  Schulordnung 
von  1619  nachweisen.  Diese  Schulordnung  zeichnet  sich  vor  den 
früheren  durch  Hervorhebung  einiger  neuer  Gesichtspunkte  aus.  Die 
allgemeine  Schulpflicht  wird  nachdrücklich  eingeschärft,  und  An- 
weisungen über  ihre  Erfüllung  werden  gegeben.  Sie  fordert  für  die 
Knaben  Unterricht  im  Rechnen  und  gibt  hinsichtlich  der  Disziplin 
Anweisungen,  welche  dem  rauhen  Geiste  der  Zeit  weit  vorauseilen. 
Der  Abschnitt  über  die  Schulpflicht  lautet  folgendermaßen: 

„Es  sollen  soviel  müglich,  alle  Kinder,  Knaben  und  Mägdlein  ,  mit  allem 
Ernst  und  Fleiß  zur  Schulen  gehalten  werden,  damit  sie  je  zum  wenigsten,  nebenst  dem 
heiligen  Catechismo,  Christlichen  (jesängen  und  Gebeten  recht  lernen  lesen  und  etwas 
schreiben.  Denn  es  ist  zu  erbarmen,  das  aufl'  den  Dörfern,  ja  auch  wol  in  Städten  unter 
den  Handwerksleuten,  Gesinde  und  Taglöhnem  so  wenig  Leute  gefunden  werden,  welche 
lesen  und  schreiben  können.  Dadurch  werden  sie  nicht  wenig  gehindert  an  dem  Er- 
kentniß  Gottes  und  seines  seligmachenden  Worts,  anderes  Schadens  und  Verlusts  in 
zeitlichen  Sachen  zu  geschweigen;  da  sonst  eines,  das  da  hat  lesen  gelernt,  nicht  alleine 
mit  desto  besserem  \'erstande  die  Predigten  göttliches  Worts  hören,  sondern  auch  den 
lieben  Catechismum  desto  leichler  und  bestendiger  lernen,  sich  darinnen  üben,  darneben 
auf  anderen  feinen  und  nützlichen  Gebet-,  Gesang-,  Trost-  und  Spruchbüchlein  sich  in 
seinem  t'hristentumb  wol  erbauen,  stercken  und  gründen  kann.  —  Sollen  demnach 
hinführo  die  Pfarherren  und  Schulmeister  an  einem  jeden  Ort  über  alle  Knaben  und 
Mägdlein,  die  vom  6.  Jahr  an  biß  ins  12.  Jahr  bey  ihrer  Christlichen  Gemeinde 
gefunden  werden,  fleißige  Verzeichnüß  und  Register  halten,  auff  das  mit  denen 
Eltern,  welche  ihre  Kinder  nicht  wollen  zur  Schulen  halten,  könne  geredet  werden, 
auch  aufl^n  Bedarfl'  durch  Zwang  der  weltlichen  Obrigkeit  dieselben,  in  diesem  Fall 
ihre  schuldige  Pflicht  inacht  zu  nehmen,  angehalten  werden  mögen.  — •  Und  lest 
sichs  damit  nicht  entschuldigen,  das  mann  fürwendet,  die  Eltern  köndten  jhrer 
Kinder  nicht  entrathen,  sondern  müsten  sie  haben  zum  Gense-  oder  Pferdehüten  und 
dergleichen:  denn  an  dem  Schuelgehen  den  armen  Kindern  ein  mehrers  gelegen  ist,  alß 
den  Eltern  an  jhren  Ciensen,  Pferden  u.  dgl.,  inmaßen  sie  dann  gemeinighch  hernach, 
wenn  sie  erwachsen  sind,  selbst  bekennen  wie  man  von  manchem  ßawersmann  höret, 
das  sie  gerne  alle  Gense  und  wol  ein  oder  mehr  Pferde  und  anderes  darumb  geben 
wollten,  das  sie  hetten  lesen  und  schreiben  gelernet.  —  Dazu  kan  man  solcher  Notdurft 
auch  noch  wol  rathen,  wenn  die  Kinder  flugs  im  6.  Jahr  zur  Schulen  gehalten  werden, 
das  sie  nicht  eben  allzeit  biß  in  das  12.  Jahr  dürfl'en  in  der  Schulen  zubringen,  sondern 
zum  Lesen  und  Schreiben  durch  ( Jottes  Segen  wol  ehe  gelangen  und  alßdenn  eins  nach 
dem    andern  zum  Gense-  oder  Pferdehüten  noch  zeitlich  genugsam  kommen  mögen." 

Unter  dem  Einflüsse  der  Schriften  des  Ratichius  und  Comenius 
(1592 — 1670)  entstand  in  dem  Herzog  Ernst  von  Gotha  der  Wunsch, 


26  ^'olksschul  Wesen. 

trotz  der  Wirrnisse  des  30jährigen  Krieges  seinem  Volke  durch  die 
Verbesserung  der  Schulen  zu  helfen.  In  seinem  Auftrage  verfaßte 
der  Rektor  des  Gymnasii  illustris,  D.  Andreas  Reyher  (|()01 — 1673) 
im  Jahre  1642  den  ,,Spezial  und  sonderbahren  Bericht,  wie  nechst  gött- 
licher Verleyhung  die  Knaben  und  Mägdlein  auff  den  Dorfschaften 
und  in  den  Städten  die  unter  dem  untersten  Haufen  der  Jugend  be- 
griffene Kinder  im  Fürstentum  Gotha  kurz  und  nützlich  unterrichtet 
werden  sollen",  jene  berühmte  Volksschulordnung,  welche  unter  dem 
Namen  Gothaischer  Schulmethodus  der  deutschen  Schulgesetzgebung 
in  der  Folge  lange  als  Vorbild  gedient  hat.  T3iese  ihrer  Zeit  weit 
vorauseilende  Schulordnung  ist  im  Laufe  der  Jahre  verschiedentlich 
umgearbeitet  und  neu  herausgegeben  worden.  Sie  zerfällt  nach  der 
Ausgabe  von  1 662  in  folgende  1 3  Kapitel : 

Das  I.  Kapitel  handelt  von  dem,  was  insgemein  bei  der  Schule  in  acht  zu  nehmen 
ist  und  erfordert  wird.  Es  setzt  den  Beginn  der  Schulpflicht  für  alle  Kinder  ohne  Un- 
terschied des  Geschlechts  auf  das  5.  Lebensjahr  fest  und  verlangt  den  Schulbesuch  gleich- 
mäßig im  Sommer  und  Winter,  „bis  sie  dasjenige,  was  ihnen  zu  wissen  nötig  ist,  und 
nachgehens  in  diesem  Bericht  stückweise  erzählet  ist,  gelernt  haben".  Es  schreibt  die 
Trennung  der  Geschlechter  vor  und  beschränkt  die  Ferien  im  wesentlichen  auf  die  Ernte- 
zeit (in  Städten  4,  auf  Dörfern  6  Wochen).  Es  nennt  die  vorgeschriebenen  Lernbücher: 
A-B-C-Täfelein,  Syllabenbüchlein,  Teutsches  Lese-Büchlein,  Evangelien-Büchlein,  Psalmen, 
so  in  der  Schule  zu  lernen  neben  etlichen  (rebeten,  (iesang-Büchlein,  Musica,  Rechen- 
Büchlein  „und  was  sonsten  mehr  verordnet  ist".  Das  Dreiklassensystem  wird  angeordnet 
und  bestimmte  Jahrespensen  vorgeschrieben. 

Das  IL  Kapitel  fixiert  den  Lehiplan  der  untersten  Klasse,  das  III.  den  der  mitt- 
leren, das  I\'.  den  der  oberen  Klasse.  Das  \'.  Kapitel  setzt  die  Stundenzahl  fest  :  Mitt- 
wuchs und  Sonnabends  .sollen  täglich  3  Stunden  sein,  sonst  täglich  6  einschließlich  der 
Predigtstunde,  wenn  sie  in  die  Schulstunden  fällt.  Eine  Verminderung  dieser  Zahl  be- 
darf der  (renehmigung  des  Konsistoriums.  Das  VI.  Kapitel  handelt  von  der  Schulzucht 
und  dem  Betragen  der  Kinder  in  der  Schule  und  außerhalb  derselben,  das  VII.  „von  der 
Schuldiener  Amt".  Der  Lehrer  soll  sich  der  Schimpfsvorte  enthalten  und  bei  körperlichen 
Züchtigungen  nicht  mit  Stecken,  Büchern,  Schlüsseln  oder  Fäusten  dreinschlagen,  die 
Kinder  raufen,  stoßen  oder  treten.  Seine  Strafen  sollen  mit  einer  Rute  erfolgen  und  so 
ausgeführt  werden,  daß  die  Kinder  dabei  väterliche  Liebe  verspüren.  F>  soll  den  Unter- 
richt ohne  triftigen  Grund  nicht  versäumen,  sich  auf  seine  Lektionen,  besonders  auf  den 
Katechismus  vorbereiten,  die  Schulversäumnis  der  Kinder  täglich  notieren.  Entschuldigtes 
und  unentschuldigtes  F"ehlen  ist  besonders  zu  vermerken,  damit  die  säumigen  Eltern  zur 
Rechenschaft  gezogen  werden  können.  Er  soll  über  die  Ausrüstung  der  Kinder  mit 
Lehrmitteln  wachen  und  dergl.  mehr.  Das  VIII.  Kapitel  handelt  von  dem  Amt  der 
Eltern  und  ihrer  Stellvertreter  und  bezieht  sich  hauptsächlich  auf  die  Erfüllung  der  Schul- 
]irticht,  die  Erstattung  des  Schulgeldes  und  den  Verkehr  der  Eltern  mit  dem  Lehrer. 
Das  IX.  Kapitel  handelt  vom  Amt  und  der  Aufsicht  der  Pfarrer,  von  ihrer  Pflicht,  den 
Schulbesuch  zu  kontrollieren,  das  \'erzeichnis  aller  schulpflichtigen  Kinder  vom  5.  bis  zum 
14.  Jahre  zu  führen,  das  Schulinventar  zu  beaufsichtigen,  über  vorzeitige  Dispensation  der 
Kinder  vom  Schulbesuch  zu  entscheiden.  Das  X.  Kapitel  handelt  von  der  Obacht  welt- 
licher Herren,  soweit  ihnen  die  Schulinspektion  mit  aufgetragen  ist,  das  XI.  Kapitel  vom 
Amt  und  Oberaufsicht  der  Superintendenten  und  Adjunkten,  über  ihre  regelmäßigen  und 
außerordentlichen  Schulrevisionen  und  über  ihre  an  das   Konsistorium  zu  erstattenden  Be- 


Zur  Geschichte  der  deutschen   Volksschule.  27 

richte,  das  XII.  Kapitel  von  der  Verrichtung  der  geistlichen  L'iitergerichte,  der  Diszipli- 
narinstanz  der  Lehrer,  welche  befugt  war,  dieselben  mit  Vorenthaltung  der  Besoldung 
zu  bestrafen  bezw.  ihre  Dienstentlassung  bei  dem  Konsistorium  zu  beantragen.  Auch  die 
Mängel  hinsichtlich  der  Schulgebäude  und  der  Lehrerbesoldung  sollte  diese  Behörde  ab- 
stellen und  ungehorsame  Eltern  in  Strafe  nehmen.  Das  letzte  Kapitel  behandelt  die  all- 
jährlich vorzunehmenden  Schul-  und  Entlassungsprüfungen. 

Die  Unterrichtsgegenstände,  welche  in  diesem  Methodus  aufgeführt  werden,  sind 
Religion,  Kirchengesang,  Lesen,  Rechnen  und  Realien.  Es  soll  kein  Kind  aus  der  Schule 
entlassen  werden,  das  nicht  fertig  deutsch  lesen  kann,  den  Katechismus  Luthers  vollständig 
beherrscht  und  versteht,  eine  ziemliche  Handschrift  schreibt  und  etwas  Arithmetik  und 
Musik  gelernt  hat.  Im  deutschen  L'nterricht  soll  in  der  obersten  Klasse  nicht  nur  die 
P'ertigkeit  im  Lesen  der  Druckschrift  geübt  werden,  sondern  es  .sollen  auch  Abschnitte 
im  Schreibheft,  zuerst  in  leserlicher,  dann  in  weniger  leserlicher  Schrift,  den  Kindern 
vorgelegt  werden.  Wo  die  Lehrkräfte  dazu  befähigt  sind,  soll  auch  ein  Unterricht  über 
natürliche  Dinge  (Realien)  gegeben  werden,  d.  h.  z.  B.  über  das  Zeitmaß  nach  Sand-  oder 
Sonnenuhr,  über  den  Auf-  und  Untergang  der  Gestirne,  die  Himmelsgegenden,  Pflanzen, 
Tiere,  über  weltliche  und  geistliche  Sachen,  über  Staatseinrichtungen,  Geschäfte  und  allerlei 
(Gebiete  der  Heimatskunde  mid  der  Physik. 

Cbei"  die  Durchführung  aller  dieser  ihrer  Zeit  vorau-seilenden 
Anordnungen  wachte  Herzog  Ernst  mit  Sorgfalt.  Er  unterstützte 
mit  wahrer  landesväterlicher  Güte  die  Gemeinden  beim  Bau  der 
Schulhäuser,  sorgte  für  ein  auskömmliches  Gehalt  der  Lehrer  und 
gewährte  auch  ihren  Hinterbliebenen  Unterstützungen. 

Gingen  in  dieser  Weise  protestantische  Fürsten  in  der  Förderung 
des  Volksunterrichts  mit  vollem  Verständnis  für  die  Bedürfnisse  ihres 
Landes  und  die  Forderungen  der  Zeit  vor,  so  blieb  auch  in  katholischen 
Landen  das  Schulwesen  nicht  völlig  zurück,  und  es  ist  das  besondere 
Verdienst  der  Patres  piarum  scholarum,  der  Piaristen,  sich  im  I  7.  Jahr- 
hundert der  Sache  der  Volksschule  angenommen  zu  haben.  Die 
Gegenstände  des  von  ihnen  erteilten  Unterrichts  waren  im  allgemeinen 
dieselben,  welche  auch  in  protestantischen  Ländern  in  der  deutschen 
Schule  gelehrt  wurden. 

In  dieser  Zeit  der  schweren  Not  und  der  physischen  Erschöpfung 
unseres  Vaterlandes  begann,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Gedanke 
der  allgemeinen  Schulpflicht  bei  den  Fürsten  und  Regierungen  Wurzel 
zu  fassen  und  sich  einzubürgern.  Im  Volke  selbst  fehlte  die  Einsicht 
von  der  Notwendigkeit  und  dem  Segen  dieser  Einrichtung  vorläufig 
noch  gänzlich. 

4.  Das  pädagogische  Jahrhundert. 

(Die  Zeit  des  Pietismus  und  des  Philanthropismus.. i 

Der  Pietismus  knüpft  sich  an  die  Namen  Spener  und  Franckc. 
Die  Bedeutung   dieser    religiösen    Richtung    für    die    Wiederbelebung 


28  Volksschulwesen. 

einer  tieferen,  innerlicheren  Auffassung  des  Christentums  kann  hier  na- 
türlich nicht  ausreichend  gewürdigt  werden.  Einen  mittelbaren  Ein- 
fluß auf  die  Organisation  der  deutschen  Volksschule  gewann  Philipp 
Jakob  Spener  (1635—1705)  dadurch,  daß  er  mit  Erfolg  für  die  all- 
gemeine Durchführung  bezw.  Wiedereinführung  der  Konfirmation  in 
protestantischen  Ländern  eintrat.  Diese  Einrichtung  setzte  dem  reli- 
giösen Schulunterricht  ein  gewisses  erkennbares  Ziel,  die  Mündig- 
werdung  des  jungen  protestantischen  Christen,  und  dieses  Ziel  ließ 
sich  nicht  wohl  vor  dem  14.  Jahre  erreichen.  So  trug  denn  die  Sitte 
der  Konfirmation  viel  dazu  bei,  daß  in  protestantischen  Landen  das 
14.  Jahr  als  der  natürliche  Abschluß  der  Schulpflicht  angesehen  wurde. 
August  Hermann  Francke  (1663 — 1727)  erhielt  seine  Erziehung 
auf  dem  Gymnasium  zu  Gotha  und  steht  auf  diese  Weise  unter  dem 
Einfluß  des  gothaischen  Schulwesens.  Er  schuf  1 695  in  seiner  Armen- 
schule in  Halle  den  Keim  zu  dem  Waisenhause,  dem  Pädagogium  und 
all  den  großartigen,  für  die  Schulgeschichte  so  hoch  bedeutsamen 
Unterrichtsanstalten,  welche  noch  heute  in  Halle  bestehen.  Seine 
Armenschule  und  sein  Waisenhaus  haben  im  18.  Jahrhundert  den 
nachhaltigsten  PLinfluß  auf  Deutschland  und  selbst  auf  das  Ausland 
ausgeübt.  Francke  darf  wohl  mit  Recht  als  der  Begründer  dieser 
beiden  Arten  von  Fürsorgeanstalten  für  die  bedürftige  Jugend  ange- 
sehen werden,  und  wenn  auch  die  Armenschule  in  unseren  Tagen 
mit  Recht  als  eine  glücklicherweise  überwundene  P'^rscheinung  ange- 
sehen wird,  so  darf  doch  nicht  vergessen  werden,  daß  Francke  das 
Verdienst  zukommt,  sich  in  vorbildlicher  Fürsorge  zuerst  der  ärmsten 
Kinder  angenommen  und  ihnen  Erziehung  an  Stelle  eines  flüchtigen 
Almosens  geboten  zu  haben.  Vielleicht  noch  größer  ist  Franckes 
Verdienst  auf  einem  anderen  Gebiete,  dem  der  Lehrerausbildung. 
Sein  Lehrerseminar  wurde  das  Vorbild  vieler  anderer  ähnlicher  An- 
stalten, welche  der  Volksschule  im  18.  Jahrhundert  eine  Fülle  von 
brauchbaren  Lehrkräften  lieferten.  Johann  Julius  Hecker  (1707  bis 
1768),  welcher  als  Student  längere  Zeit  an  dem  Franckeschen  Päda- 
gogium unterrichtet  hatte,  wurde  durch  sein  im  Jahre  1748  in  Berlin 
begründetes  und  im  Jahre  1753  zu  einem  königlichen  histitut  er- 
hobenes und  von  Friedrich  dem  Großen  gefördertes  Küster-  und 
Schulmeisterseminar  der  Schöpfer  eines  Instituts,  welches  in  ganz 
Deutschland  Nachahmung  fand.  Ähnliche  Seminare  wurden  im  Laufe 
weniger  Jahrzehnte  in  Hannover,  Wolfenbüttel,  in  der  Grafschaft  Glatz, 
in  Breslau  und  Karlsruhe  eröffnet.  Auch  der  katholische  Abt  h'el- 
bicfer  hatte,  angeregt  durch  die  Bestrebungen  Heckers,  (1762)  in  Sagan 


Zur  CJescliiclite  der  (Icut.schen   \()lksschiile.  29 

eine  verbesserte  Schule  gcL^ründet,  und  diese  verbesserte  Methode 
wurde  dann  der  Einrichtung  des  katholischen  Lehrerseminars  zu 
Breslau  (1765)  zugrunde  gelegt.  Das  1703  von  Friedrich  dem  Großen 
erlassene  General-Land-Schulreglement,  das  erste  Volksschulgesetz, 
welches  das  Gebiet  des  ganzen  preußischen  Staates  umfaßt  und  die 
Grundlage  der  noch  heute  bestehenden  Ordnung  der  preußischen 
"Volksschule  bildet,  ist  im  Auftrage  des  Königs  von  Hecker  ausge- 
arbeitet worden. 

Auch  in  den  übrigen  deutschen  Landen  lassen  sich,  wie  ,,in  der 
Instruktion  und  Verordnung  vor  die  deutschen  Schulen  auf  dem  Lande 
in  dem  Fürstentum  Eisenach"  von  1705  und  in  der  ,, erneuten  Ordnung 
für  die  deutschen  Schulen"  in  Württemberg  von  1 729,  die  Einflüsse 
des  Pietismus  auf  das  Volksschulwesen  deutlich  nachweisen. 

Der  Philanthropismus  steht  in  innerer  Beziehung  zu  der  englischen 
und  französischen  Aufklärungsphilosophie  des  18.  Jahrhunderts  und 
trägt  die  charakteristischen  Züge  des  Rationalismus  und  Utilitarismus 
deutlich  an  sich.  Die  Erziehung  verfolgt  das  Ziel,  den  Menschen 
durch  Aufklärung  über  die  Dinge  dieser  Welt  zur  Erkenntnis  seines 
wohlverstandenen  Vorteils,  zur  Erfüllung  seiner  Pflichten  gegen  seinen 
Nächsten,  zur  Glückseligkeit  zu  führen.  Der  Staat  und  die  Regierungen 
haben  das  lebhafte  Interesse,  die  Untertanen  von  Vorurteilen  und 
Aberglauben  zu  befreien,  sie  zu  verständigen  und  denkenden  Menschen 
heranzubilden.  Nur  auf  diesem  Wege  kann  eine  dauernde  Wohlfahrt 
der  Gesamtheit  erreicht  werden.  Die  Lösung  dieser  Aufgabe  stellte 
man  sich  damals  verhältnismäßig  leicht  vor  und  gab  sich  hochfliegenden 
optimistischen  Erwartungen  auf  die  baldige  Erreichung  dieser  Ziele 
hin.  Die  wichtigsten  pädagogischen  Vertreter  des  Philanthropismus 
standen,  mit  Ausnahme  von  Basedow,  auf  dem  Boden  des  Christen- 
tums, aber  ihr  christliches  Denken  wandte  sich  vorzugsweise  den 
Fragen  der  praktischen  Moral  zu.  Welche  Gesichtspunkte  für  diese 
Männer  maßgebend  waren,  erkennen  wir  am  besten  aus  der 
charakteristischen  Äußerung,  welche  der  Herr  von  Rochow  seiner 
Geschichte  der  von  ihm  begründeten  Schulen  in  Reckan  und  anderen 
Orten  vorausschickt.     Er  sagt: 

„Als  in  den  Jahren  1771  und  1772  sehr  nasse  Sommer  einfielen,  viel  Heu  und 
Getraide  verdarb,  Theui-ung  entstand,  auch  lödtliche  Krankheiten  unter  Menschen  und 
\'ieh  wütheten,  da  that  ich  nach  meiner  Obrigkeitspflicht  mein  mögliches,  den  Landleuten 
auf  alle  Weise  mit  Rath  und  That  beyzustehen.  Ich  nahm  einen  ordentlichen  Arzt  für 
die  Einwohner  auf  meinen  Gütern  an,  der  unentgeltlich  von  ihrer  Seite  sie,  gegen  ein 
jährliches  Gehalt  von  mir,  mit  freyer  Medizin  versehen  und  heilen  sollte.  Sie  erhielten 
schriftliche  Anweisungen    und    mündlichen  Rath,    wie    durch    allerley  N'orkehrungen    und 


30  Volksschulwesen. 

Mittel  (vvohey  sie  freilich  auch  ihrer  Seits  thatiir  sevn  mußten)  dem  Fortgang  der  Epidemie 
/.u  steuern  sey.  Aber  l)öse  XOrurtheile,  \  erwühnung  und  Aberglauben,  nebsl  gänzlicher 
L'nwissenheit  an  Lesen  und  Schreiben,  machten   fast  alle  meine  guten  Absichten  fruchtlos. 

Sie  empHengen  zwar  die  Mittel,  die  ich  bezahlte,  nahmen  sie  aber  nicht  ein,  und 
^cheuten  sogar  die  Mühe,  dem  nur  eine  kleine  Meile  in  Brandenburg  entfernt  wohnenden 
Arzte  von  dem  jedesmaligen  Zustande  der  Patienten  etc.  Nachricht  zu  geben. 

Die  einfachsten  N'orkehrungen  und  Reinigungsanstalten,  die  ich  ihnen  mündlich 
und  schriftlich  empfohl,  waren  ilmen  theils  zu  müh.sam,  theils  hatten  sie  solche  vergessen, 
und  das  Schriftliche  konnten  sie  nicht  le.sen. 

Dagegen  brauchten  sie  heimlich  die  verkehrtesten  Mittel,  liefen  zu  (Jiuacksalbern, 
Wunderdoktoren,  sogenannten  klugen  Frauen,  Schäfern  und  Abdeckern,  bezahlten  dorl 
reichlich,  und  starben  häufig  dahin. 

In  tiefer  Demuth  möchte  ich  an  diesem  kundbaren  Beyspiel  denen  Kegenten  und 
Landesvätern  der  ^'ölker  den  hohen  und  unschätzbaren  Werth  der  .Vufklärung  durch 
bessere  Schulen  hier  nochmals  an  das  Herz   legen  I 

Schon  bloß  von  Seiten  der  Finanz  betrachtet,  die  durch  Entvölkerung  der  liinder 
verliert  und  bei  Wohlstand  und  F^rhaltung  nützlicher  Individuen  gewinnt,  fallen  alle 
Einwürfe  der  Aufklärungsfeinde  dahin.  ()der  gehört  etwa  nicht  zu  jedem  Thun  und 
Lassen  und  Gewerbe  Nachdenken  und  X'ordenken,  damit  es  gelinge?  Der  Dumme  denkt 
aber  nicht  gehörig  weder  nach  noch  vor,  weiß  sich  nicht  zu  helfen,  kann  guten  Ralh 
nicht   würdigen,  und  wird  eben  darum  ein  Opfer  der  Ereignisse. 

In  bittern  (iram  versenkt  über  diese  schrecklichen  P'olgen  der  Dummheit  und 
Unwissenheit,  saß  ich  einstmals  (es  war  am  14.  Februar  1772)  an  meinem  Schreibtische, 
und  zeichnete  einen  Löwen,  der  in  einem  Netze  verwickelt  da  liegt.  —  „So,  dacht  ich, 
liegt  auch  die  edle  kräftige  Gottesgabe,  Vernunft,  die  doch  jeder  Mensch  hat,  in  ein 
Ciewebe  von  Vorurtheilen  und  L'nsinn  dermaßen  verstrickt,  daß  sie  ihre  Kraft  so  wenig, 
wie  hier  der  Löwe  die  seinige,  brauchen  kann.  Ach  wenn  doch  eine  Maus  wäre,  die 
einige  Ma.schen  dieses  Netzes  zei-nagte,  vielleicht  würde  dann  dieser  Löwe  seine  Kraft 
äußern  und  sich  los  machen  können!" 

Und  nun  zeichnete  ich  gleichfalls,  als  Gedankenspiel,  auch  die  Maus  hin,  die  schon 
einige  Maschen  des  Netzes,  worin  der  Löwe  verwickelt  liegt,  zernagt  hat. 

Wie  ein   Blitzstrahl  fuhr  mir  der  Gedanke  durch  die  Seele: 

„Wie,   wenn  du  diese  Maus  würdest?" 

Und  nun  enthüllte  sich  mir  die  ganze  Kette  von  Ursachen  und  Wirkungen,  warum 
der  Landmann  so  sey  als  er  ist:  Er  wächst  auf,  als  ein  Thier  unter  Thieren.  Sein 
Unterricht  kann  nichts  Gutes  wirken.  Der  gröbste  Mechanismus  herrscht  in  seinen  Schulen. 
Sein  Prediger  spricht  hoch-  und  er  plattdeutsch.  Beide  verstehen  sich  nicht.  Die  Predigt 
ist  eine  zusammenhängende  Rede,  die  er  wie  zur  Frohne  hört,  weil  sie  ihn  ermüdet,  indem 
er,  an  Aufmerken  und  Periodenbau  nicht  gewöhnt,  ihr  nicht  folgen  kann,  ja  selbst  wenn 
sie  gut  ist,  (und  wie  oft  ist  .sie  das?)  das  Bündige  derselben  bey  ihm  nicht  Überzeugung 
wirkt.  Niemand  bemüht  sich,  die  Seelen  seiner  Jugend  zu  veredlen.  Ihre  Lehrer  sind 
gewöhnlich,  wie  Christus  es  nennt,  blinde  Leiter,  und  so  leidet  denn  der  Staat  bey  diesem 
Zustande  der  Sachen  (nach  welchem  sein  Flor  sich  in  einem  beständigen  Kriege  gegen 
die  verheerende  und  zerstörende  Dummheit  befindet)  mehr  X'erlust  als  in  der  blutigsten 
Schlacht. 

„Gottl  dachte  ich,  muß  denn  das  so  seyn?  Kann  der  Landmann,  diese  eigentliche 
Stärke  des  Staats-Körpers,  nicht  auch  verhältnißmäßig  gebildet,  und  zu  allem  guten  Werk 
geschickt  gemacht  werden?  \Me  viel  tüchtige  Menschen  hätte  z.  ß.  ich  in  diesen  Jahren 
nicht  meinem  Vaterlande  gerettet,  die  jetzt  ein  Raub  ihrer  entsetzlichen  Stupidität  ge- 
worden sind!     Jal    ich  will  die  Maus  seyn.     Gott  helfe  mirl" 


Zur  {leschichte  der  deutschen    N'olkssduile.  ^\ 

Der  l^egründcr  der  ganzen  philanthropischen  Richtung,  welcher 
ihr  auch  den  Namen  gegeben  hat,  Johann  Bernhard  Basedow 
n  723 — \T)()i,  schuf  in  seiner,  mit  Unterstützung  des  Fürsten  Leopold 
Franz  Friedrich  \'on  Anhalt-Dessau  im  Jahre  1774  begründeten 
iM'ziehungsanstalt  Philanthropin,  d.  h.  einer  ,, Werkstätte  der  Menschen- 
freundschaft", eine  Musteranstalt,  an  welcher  später  auch  die  beiden 
anderen  Führer  dieser  Richtung,  Campe  und  Salzmann,  vorübergehend 
tätig  gewesen  sind. 

Wenn  auch  diese  Anstalt  vorzugsweise  für  die  Erziehung  der 
Kinder  höherer  Stände  bestimmt  war  und  nicht  eigentlich  der 
Volksschulbildung  diente,  so  verbreitete  sie  doch  die  Keime  gesunder 
pädagogischer  Anschauungen  im  deutschen  Volke,  welche  schließlich 
auch  der  Volksschule  zugute  kommen  mußten.  Die  vielfachen  An- 
regungen, welche  er  von  J.  J.  Rousseau  empfangen  hat,  sind  in  seinen 
Schriften  ebenso  wie  in  den  Einrichtungen  seiner  Schule  deutlich  zu 
erkennen.  Der  Abhärtung  und  Kräftigung  des  Körpers  durch  Turnen, 
Baden,  weite  Spaziergänge,  Handwerks-  und  Feldarbeit  wurde  große 
Sorgfalt  zugewendet.  Die  Disziplin  war  milde,  dafür  suchte  der 
Unterricht  durch  neue  verbesserte  Methoden  das  lebendige  Interesse 
der  Schüler  und  die  Begeisterung  der  Lehrer  zu  erwecken.  Der 
Hauptzweck  der  Erziehung  sollte  sein :  „die  Kinder  zu  einem  gemein- 
nützigen, patriotischen  und  glückseligen  Leben  vorzubereiten.  Ein 
ansehnlicher  Stand  hingegen,  ein  reichliches  Auskommen,  Gelehr- 
samkeit, Kunstfertigkeit  und  ein  angenehmes  äußerliches  Wesen  sind 
V^orteile,  welche  man  seinen  Kindern  auf  solche  Art  verschaffen  darf, 
daß  dem  Hauptzwecke  nicht  geschadet  werde."  Wenn  auch  Basedow 
als  Charakter  keine  vorbildliche  Persönlichkeit  war  und  durch  über- 
triebene Reklame  sowie  mancherlei  Absonderlichkeiten  der  W^irkung 
seiner  Ideen  schadete,  wenn  auch  das  von  ihm  begründete  Philan- 
thropin sich  trotz  der  Mitwirkung  vieler  tüchtiger  Pädagogen  nur  bis 
zum  Jahre  1 19'A  halten  konnte,  so  hat  er  doch  in  dieser  F.rziehungs- 
an.stalt  ein  Werk  geschaffen,  welches  zahlreichen  ähnlichen  Schulen 
zum  Vorbild  gedient  hat,  und  dessen  Ideen  noch  heute  Lebenskraft 
besitzen,  wie  die  in  jüngster  Zeit  neu  gegründeten  Land-Erziehungs- 
heime in  Ilsenburg,  Haubinda,  Schloß  Glarisegg  am  Bodensee  be- 
weisen. 

Johann  Heinrich  Campe  (1746 — 1818),  der  Erzieher  der  Brüder 
Wilhelm  und  Alexander  von  Humboldt,  wirkte  eine  kurze  Zeit  als 
P^dukationsrat,  Lehrer  und  Leiter  an  dem  Basedowschen  Philanthropin 
und  führte  die  Richtung  des  Philanthropismus   in    die   Jugendliteratur 


32  Volksschulwesen. 

ein.  Sein  berühmte.ste.s  Werk  auf  diesem  Gebiete  ist  seine  noch  heute 
in  Deutschland  viel  gelesene  Bearbeitung  des  Defoeschen  Robinson 
Crusoe  (Robinson  der  Jüngere  1779).  Das  Buch  erlebte  1894  bereits 
die  1  l().  Auflage,  und  schon  wenige  Jahre  nach  seinem  Erscheinen 
konnte  Campe  sich  rühmen,  daß  es  in  alle  europäischen  Sprachen 
übersetzt  sei.  Allerdings  gewinnt  die  Erzählung  der  Abenteuer 
Robinsons  nach  dem  heutigen  Geschmack  nicht  durch  die  ein- 
geschobenen wissenschaftlichen  und  moralischen  Exkurse. 

Der  vorzüglichste  Schriftsteller  der  philanthropischen  Richtung 
war  Chri.stian  Gotthilf  Salzmann  (1744 — 1811),  ein  Mann,  dessen 
Werke  zum  grollen  Teile  nicht  nur  der  Pädagoge,  sondern  auch  der 
Laie,  sofern  er  für  Kindererziehung  überhaupt  Interesse  besitzt,  nicht 
ohne  Nutzen  und  Vergnügen  lesen  wird.  j\uch  er  war  eine  Zeitlang 
als  Religionslehrer  und  Liturg  an  der  Basedowschen  Anstalt  tätig, 
begründete  aber  später  (1784)  auf  dem  Gute  Schnepfenthal,  nicht 
weit  von  Gotha,  eine  eigene  Erziehungsanstalt,  welche  er  im  philan- 
thropischen Sinne,  doch  mit  Vermeidung  der  zahlreichen  Über- 
treibungen   des  Dessauer  Philanthropins,    bis  zu  seinem  Tode  leitete. 

Diese  Anstalt  hat  den  Wechsel  der  Zeiten  überdauert  und 
besteht  noch  heute.  Das  Ziel,  welches  Salzmann  bei  der  Begründung 
der  Schnepfenthaler  Schule  vorschwebte,  war,  wie  er  es  in  der  Schrift 
„Noch  etwas  über  Erziehung"  ausspricht,  gesunde,  verständige,  gute 
und  frohe  Menschen  zu  bilden,  sie  dadurch  in  sich  selbst  glücklich 
zu  machen  und  zu  befähigen,  zur  Förderung  des  Wohles  ihrer  Mit- 
menschen kräftig  mitzuwirken.  Wie  er  sich  die  Aufgabe  des  Erziehers 
vorstellt,  geht  aus  den  Worten  hervor,  in  denen  er  sich  in  dem 
„Ameisenbüchlein"  an  den  Erzieher  selbst  wendet.     Es  heiik  da: 

,,An  Hermann!  So  nenne  ich  dich,  lieber,  junger  Mann,  der 
du  in  deiner  Brust  ein  Streben  fühlst,  durch  Tätigkeit  für  Menschen- 
wohl dich  in  der  Welt  auszuzeichnen. 

Gib  mir  die  Hand!  wenn  du  nicht  vorzügliche  Talente  und 
entschiedene  Neigung  zu  einem  anderen  Geschäfte  in  dir  fühlst,  — 
so  widme  dich  der  Erziehung! 

Diese  schafft  dir  Gelegenheit,  für  Menschen  wohl  recht  tätig  zu 
sein.  Wer  Moräste  austrocknet,  Heerstraßen  anlegt,  Tausenden 
Gelegenheit  gibt,  sich  ihre  Bedürfnisse  zu  verschaffen,  Gärten 
pflanzt,  Krankenhäuser  stiftet,  wirkt  auch  für  Menschenwohl,  aber 
nicht  so  unmittelbar  und  durchgreifend  als  der  Erzieher.  Jener  ver- 
bessert den  Zustand  der  Menschen,  dieser  veredelt  den  Menschen 
selbst.     Und  ist  der  Mensch  erst  veredelt,    so  geht  aus  ihm  die  Ver- 


7.ur  (lescliichtc  <lor  deutschen  Volksschule.  33 

besserung  von  selbst  hervor,  und  der  Zögling,  dessen  Veredelung  dir 
gelungen  ist,  hat  Anlage,  auf  dem  Platze,  wohin  ihn  die  Vorsehung 
stellt,  den  Zustand  von  Tausenden  seiner  Brüder  angenehmer  und 
behaglicher  zu  machen." 

Der  größte  Pädagoge  dieser  Zeit  gehört  zwar  seiner  Geburt 
und  dem  größten  Teile  seines  Lebens  nach  dem  115.  Jahrhundert  an, 
reicht  aber  mit  seinem  unmittelbaren  und  mittelbaren  P^influß  bis  tief 
in  das  PJ.  Jahrhundert,  ja  bis  in  die  Gegenwart  hinein.  Die  Be- 
deutung des  Schweizers  Johann  Heinrich  Pestalozzi  (1746 — 1827)  für 
die  Volksschule  kann  hier  nicht  entsprechend  gewürdigt  werden.  Er 
hat  durch  seine  Erziehungsanstalten  in  Neuhof,  Stanz,  Burgdorf  und 
Iferten,  sowie  durch  seine  Schriften  und  seinen  persönlichen  Verkehr 
mit  zahllosen  Lehrern,  Menschenfreunden  und  Staatsmännern  den 
nachhaltigsten  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der  Pädagogik  in  allen 
Kulturländern  ausgeübt.  Sein  Ideal  war  die  Ausbildung  des  ganzen 
Menschen  und  sein  Weg  zu  diesem  Ziele  die  Liebe  zu  den  Kindern. 

Sein  Leben  war  reich  an  Not,  Sorge  und  Mißerfolgen,  aber  er 
hat  die  hohe  Befriedigung  genossen,  daß  er  in  seinem  .\lter  wie  selten 
ein  Pädagoge  Anerkennung  und  Bewunderung  von  aller  Welt  er- 
fahren hat.  Sein  Schloß  in  Iferten  am  Neuchateller  See  wurde  der 
Mittelpunkt  der  pädagogischen  Interessen  von  ganz  P^uropa,  und  er 
wurde  nicht  müde,  Rat  und  Belehrung  all  den  unzähligen  Besuchern 
zu  spenden,  welche  bei  ihm  zusammenströmten,  um  ihn  persönlich 
kennen  zu  lernen  und  die  Wunder  seiner  Methode  zu  schauen. 

Als  nach  der  Schlacht  bei  Jena  in  der  Zeit  der  tiefsten 
Demütigung  Preußens  durch  Napoleon  I.  König  Friedrich  Wilhelm  III. 
und  seine  Räte  an  der  W'iedergeburt  der  Monarchie  arbeiteten,  wußte 
man  keinen  besseren  Rat,  um  die  sittliche  Kraft  des  Volkes  neu  zu 
beleben,  als  daß  man  junge  Gelehrte  zu  Pestalozzi  sendete,  damit  sie 
seine  Methoden  in  das  preußische  Schulwesen  einführten.  Der 
Minister  von  Altenstein  schrieb  damals  am  II.  September  1808  an 
Pestalozzi : 

,,Die  jungen  Männer  sollen  den  Geist  Ihrer  ganzen  Erziehungs- 
und Lehrart  unmittelbar  an  der  reinsten  Quelle  schöpfen,  nicht  bloß 
einzelne  Teile  davon  kennen  lernen,  sondern  alle  in  ihrer  wechsel- 
seitigen Beziehung  und  ihrem  tiefsten  Zusammenhange  auffassen,  unter 
Anleitung  ihres  ehrwürdigen  Urhebers  und  seiner  achtung-swerten 
Gehilfen  sie  üben  lernen,  im  Umgange  mit  Ihnen  nicht  ihren  Gei.st 
allein,  sondern  auch  ihr  Herz  zum  vollkommenen  Erziehung.sberufe 
ausbilden  und  von  demselben  lebendigen  Gefühle  der  Heiligkeit  dieses 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.    III.  "^ 


34  Volksschulwesen. 

Berufes  und  demselben  feurigen  Triebe  erfüllt  werden,  von  welchem 
beseelt  Sie  Ihr  ganzes  Leben  ihm  widmen." 

Pestalozzi  blieb  sich  trotz  dieser  vielfachen  Ehrungen  und  Aus- 
zeichnungen wohl  bewußt,  daß  die  Frage  der  Jugenderziehung  durch 
ihn  noch  nicht  gelöst  sei.  Aber  er  war  auch  überzeugt,  daß  spätere 
Generationen  auf  seinem  Werke  weiterbauen  würden.  Er  sagt  in 
seinem  Schwanengesang  am  Schluß:  „Prüfet  alles,  behaltet  das  Gute, 
und  wenn  etwas  Besseres  in  euch  selber  gereift,  so  setzet  es  zu  dem, 
was  ich  euch  in  diesen  Bogen  in  Wahrheit  und  Liebe  zu  geben  ver- 
suchte, in  Wahrheit  und  Liebe  hinzu,  und  werfet  wenigstens  das 
Ganze  meiner  Lebensbestrebungen  nicht  als  einen  Gegenstand  weg, 
der,  schon  abgetan,  keiner  weiteren  Prüfung  bedürfe.  —  Er  ist  wahr- 
lich noch  nicht  abgetan  und  bedarf  einer  ernsten  Prüfung  ganz  sicher, 
und  zwar  nicht  um  meiner  und  um  meiner  Bitte  willen." 

Seine  Schüler  und  seine  Werke  trugen  seine  Ideen  weiter,  und 
wenn  auch  die  bedeutenden  deutschen  Schulmänner  des  19.  Jahr- 
hunderts, Dinter,  Harnisch,  Fröbel,  Diesterweg  und  andere  mehr,  nicht 
unentwegt  auf  seinem  Standpunkte  stehen  bleiben  konnten,  so 
schritten  sie  doch  auf  der  von  ihm  eingeschlagenen  Bahn  rüstig  weiter, 
zum  Segen  der  deutschen  Jugend  und  zum  Vorteil  des  Vaterlandes. 

Das  19.  Jahrhundert  kann  sich  in  Deutschland  an  großen 
Pädagogen  mit  dem  1 8.  nicht  messen,  aber  es  hat  Bedeutendes  darin 
geleistet,  die  Ideen  der  großen  Jugenderzieher  zu  verwirklichen.  Was 
jenen  als  Hoffnungen  und  Wünsche  vorschwebte:  die  sorgfältige 
Ausbildung  eines  tüchtigen  Lehrerstandes,  die  Durchführung  der 
Schulpflicht  für  sämtliche  Kinder,  von  der  Großstadt  bis  zu  den  ent- 
ferntesten Gebirgsdörfern,  die  Versorgung  des  ganzen  Landes  mit 
zweckentsprechenden  Schulhäusern,  eine  sachkundige  Schulaufsicht, 
gesetzliche  Regelung  der  Lehrergehälter  und  Fürsorge  für  ihre  Hinter- 
bliebenen —  das  alles  ist  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  WirkHchkeit 
geworden.  Überdies  hat  sich  die  Methode  des  Unterrichts  wie  seine 
belehrenden  und  erziehlichen  Erfolge  in  hohem  Maße  vervollkommnet. 
Die  Gesamtbildung  der  Bevölkerung  sowie  das  Interesse  für  die 
Schulen    in    allen  Stufen  der  Gesellschaft  ist  beständig  im  Zunehmen. 

Um  die  methodischen  Erfolge  der  Pädagogik  im  Laufe  des 
letzten  Jahrhunderts  an  einer  drastischen  Tatsache  zu  erläutern,  kann 
man  darauf  hinweisen,  daß  die  Unterrichtsziele,  welche  seinerzeit  dem 
Freiherrn  von  Rochow  für  seine  Schulen  als  Ideal  vorschwebten, 
heutzutage  von  allen  besseren  deutschen  Hilfsschulen  für  schwach- 
sinnige Kinder  tatsächlich  erreicht  oder  überflügelt  werden. 


Zur  Geschichte  der  deutschen  Volk.sscliule.  35 

5.    Die  Begründung  der  preußischen  Volksschule. 

Seit  dem  Beginn  des  11'..  Jahrhunderts  gewann  das  Volksschul- 
wesen in  den  meisten  deutschen  Staaten  feste .  Gestalt.  Auch  die 
katholischen  Länder  standen  den  protestantischen  gegenüber  nicht 
mehr  zurück,  auch  sie  erhielten  ihre  Schulordnungen,  und  auch  bei 
ihnen  spielte  die  Verteidigung  des  rechten  Glaubens  wie  in  den 
protestantischen  Kirchenordnungen  die  wichtigste  Rolle.  Wir  dürfen 
uns  (trotz  der  verheerenden  Wirkungen  des  30jährigen  Krieges;  die 
Zahl  der  Volksschulen  um  1700  in  allen  deutschen  Landen  größer 
vorstellen  als   100  Jahre  zuvor. 

Wie  sich  im  Laufe  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  aus  den  ver- 
schiedenen Schulgesetzen  und  Schuleinrichtungen  in  den  zahlreichen 
weltlichen  und  geistlichen  Fürstentümern,  freien  Städten  und  Herr- 
schaften das  heutige  Volksschulwesen  der  deutschen  Bundesstaaten 
entwickelt  hat,  das  zu  verfolgen,  würde  weit  über  den  dieser  Ab- 
handlung gesteckten  Rahmen  hinausgehen.  Die  großen  pädagogischen 
Strömungen  dieser  Zeit,  der  Pietismus,  der  Philanthropismus  und  die 
Ideenwelt  Pestalozzis,  gingen  nicht  ohne  Einwirkungen  auf  das  Schul- 
wesen der  einzelnen  Staaten  vorüber.  Besonders  stark  prägte  sich  die 
Herrschaft  des  Philanthropismus  in  den  gesamten  Schuleinrichtungen 
der  deutschredenden  Länder  aus.  Selbst  die  katholischen  Territorien 
des  Reiches  wurden  von  dem  philanthropischen  Geiste  stark  ergriffen. 
Die  Kaiserin  Maria  Theresia  und  Joseph  II.  wandten  der  Reform 
der  Volksschulen  in  diesem  Sinne  allen  Eifer  zu.  Der  bereits  er- 
wähnte Abt  Felbiger  wurde  1774  nach  Wien  berufen  und  veranlaßte 
dort  den  Erlaß  der  allgemeinen  Schulordnung,  welche  das  Land  mit 
einem  Netze  von  Pfarrschulen,  Hauptschulen  und  Normalschulen  be- 
decken sollte.  Geldmittel  wurden  für  die  Förderung  dieses  Werkes 
zur  Verfügung  gestellt,  für  die  Ausbildung  der  Lehrer  wurde  gesorgt 
und  strenge  Maßnahmen  zur  Erfüllung  der  Schulpflicht  angeordnet. 
Auch  in  Bayern  wurde  die  Reform  des  Schulwesens  durch  den  Bene- 
diktiner Dr.  Heinrich  Braun  in  Angriff  genommen.  Die  bayerischen 
Schulordnungen  vom  Jahre  1770  für  die  deutschen  oder  Trivial- 
schulen und  von  1778  für  die  Stadt-  und  Landschulen  sind  ganz  von 
philanthropischem  Geiste  durchdrungen.  Eben  dieselbe  Richtung  ver- 
folgten der  Fürstabt  Benedikt  Martin  in  seiner  Instruktion  für  die 
katholischen  Schulmeister  des  reichsfreien  Stiftes  Neresheim,  der 
Bischof  Heinrich  von  Bibra  im  Stifte  Fulda,  der  Fürsterzbischof  Hie- 
ronimus  von  Coloredo  in  Salzburg,    der  Fürstbischof  Adam  Friedrich 

3'= 


36  Volksschulwesen. 

von  Seinsheim  in  Würzburg,  die  Kurerz-  und  Bischöfe  Erzherzöge 
Maximilian    Friedrich    und    Maximilian    Ernst  von  Cöln  und  Münster. 

Trotz  aller  dieser  reformatorischen  Bestrebungen  dürfen  wir 
uns  die  tatsächlichen  Verhältnisse  der  Volksschule  keineswegs  als  zu 
günstig  vorstellen.  An  der  Wende  des  Jahrhunderts  im  Jahre  1 79<) 
richtet  der  angesehene  Pädagoge  August  Hermann  Niemeyer  ( 1 7v^4 
bis  1828)  folgende  Worte  an  den  König  Friedrich  Wilhelm  III.  von 
Preußen : 

,,Die  preußische  Monarchie  hat  schon  lange,  auch  von  selten 
der  öffentlichen  Erziehung,  die  Achtung  des  Auslandes  verdient  und 
genossen.  i\ber  noch  ist  viel  Verdienst  übrig.  Noch  erliegen  un- 
zählige Schullehrer  dem  Drucke  der  Armut.  Noch  verzehren  tätige 
junge  Männer  ihre  besten  Kräfte,  fern  vom  häuslichen  Glück,  in 
Schulstellen  ohne  Aussicht  auf  Beförderung.  Noch  gehen  Tausende 
von  Kindern  in  der  Irre,  und  niemand  erzieht  und  unterrichtet  sie.  — 
Der  Zeitpunkt  scheint  gekommen  zu  sein,  wo  oft  entworfene  Pläne 
zur  allgemeinen  Verbesserung  der  Ausführung  ganz  nahe  sind. 
Schöner  kann  sich  ein  an  sich  schon  pädagogisches  Jahrhundert  nicht 
endigen,  segenvoller  ein  neues  nicht  anfangen,  als  mit  der  Vollendung 
eines  Werks,  das  schon  so  lange  vorbereitet  ist." 

Auch  in  dem  größten  deutschen  Staate,  in  Preußen,  haben  die 
Hauptrichtungen  der  Pädagogik  ihren  Einfluß  auf  das  Schulwesen 
ausgeübt.  Freilich  waren  die  Könige  Friedrich  Wilhelm  I.  und 
Friedrich  II.  zu  selbständige  Naturen,  als  daß  sie  sich  bei  ihren  gesetz- 
geberischen Maßnahmen  durch  bloße  pädagogische  Theorien  hätten 
bestimmen  lassen,  aber  die  ganze  Geistesrichtung  des  Philosophen 
von  Sanssouci  harmonierte  so  vollkommen  mit  den  Anschauungen 
und  Bestrebungen  des  Philanthropismus,  daß  wir  den  Geist  dieser 
Richtung  deutlich  in  dem  General-Land-Schulreglement  und  später 
in  dem  preußischen  Landrecht  wiedererkennen.  Die  folgende  Dar- 
-stellung  der  P^ntwicklung  des  preußischen  Volksschulwesens  seit  dem 
Beginn  des  18.  Jahrhunderts  ist  bis  auf  geringe  Kürzungen  und  Zu- 
sätze dem  amtlichen  Ouellenwerk  der  Preußischen  Statistik  über  das 
gesamte  niedere  Schulwesen  im  preußischen  Staate  vom  Jahre  18% 
Teil  I  S.  ,'^l    ff.  entnommen. 

„Schon  in  seinem  ersten  Regierungsjahre  erlieft  König  Friedrich 
Wilhelm  I.  am  24.  Oktober  1713  ,,die  Königlich  Preußische  Evan- 
gelisch-Reformierte  Inspektions-Presbyterial-Classikal-Gymnasien-  und 
Schulordnung",  welche  für  die  gesamte  Monarchie  mit  Ausnahme  des 
Herzogtums  Kleve  sowie  der  Grafschaft  Mark  und  Ravensberg  gelten 


Z-ur  rieschichte  der  deulsclien   X'olksscliule.  37 

sollte,    das  erste,    wenn  auch   noch  recht    unvollkoniniene    ])reußische 
Schulgesetz. 

Am  28.  September  1717  folgte  mit  der  ,, Verordnung,  daß  die 
Kitern  ihre  Kinder  zur  Schule  und  die  Prediger  die  Catechisationes 
halten  sollten",  die  bestimmte  Einführung  der  allgemeinen  Schul- 
pflicht. 

,,\Vir  vernehmen  mißfällig,  und  wird  verschiedentlich  von  den 
Inspektoren  und  Predigern  bei  Uns  geklagt,  daß  die  Eltern,  ab- 
sonderlich auf  dem  Lande,  in  Schickung  ihrer  Kinder  zur  Schule  sich 
sehr  säumig  erzeigen  und  dadurch  die  arme  Jugend  in  großer  Un- 
wissenheit, sowohl  was  das  lesen,  schreiben  und  rechnen  betrifft,  als 
auch  in  denen  zu  ihrem  Heyl  und  Seligkeit  dienenden  höchstnöthigen 
Stücken  aufwachsen  lassen.  Weshalb  Wir,  umb  diesem  höchst  ver- 
derblichem Uebel  auff  ein  mahl  abzuhelffen,  in  Gnaden  resolviret, 
dieses  Unser  General-Edict  ergehen  zu  lassen  und  darum  AUer- 
gnädigst  und  ernstlich  zu  verordnen,  daß  hinkünfftig  an  denen  Orten, 
wo  Schulen  seyn,  die  Poltern  bei  nachdrücklicher  Straffe  gehalten  sein 
sollen,  Ihre  Kinder  gegen  Zwey  Dreyer  Wöchentliches  Schul-Geld 
von  einem  jeden  Kinde  im  Winter  täglich  und  im  Sommer,  wenn  die 
Eltern  die  Kinder  bey  ihrer  Wirthschaft  benöthiget  seyn,  zum 
wenigsten  ein  oder  zweymahl  die  Woche,  damit  sie  da.sjenige,  was 
im  Winter  erlernet  worden,  nicht  gänzlich  vergessen  mögen,  in  die 
Schule  zu  schicken " 

Damit  war  allerdings  nur  die  eine  Seite  der  allgemeinen  Schul- 
pflicht geordnet,  die  Verbindlichkeit  der  Eltern,  ihre  Kinder  den 
vorhandenen  Schulen  zuzuführen;  noch  galt  es,  auch  dafür  zu  sorgen, 
daß  überall  Schulen  bereit  stünden,  also  diejenigen  zu  bezeichnen, 
denen  es  obläge,  die  erforderlichen  Schulen  in  das  Leben  zu  rufen 
und  zu  erhalten.  Auch  dies  ließ  sich  der  König  angelegen  sein; 
doch  erließ  er  nach  dieser  Richtung  keine  allgemeinen  Edikte,  sondern 
ordnete  die  Sache  nach  Provinzen.  Am  erschöpfendsten  und  am 
klarsten  geschah  dies  im  „Königreich  Preußen".  Dieses  erhielt  durch 
den  ,, General-Schulenplan,  nach  welchem  das  Landschulwesen  im 
Königreich  Preußen  eingerichtet  werden  soll",  bekannter  unter  seiner 
anderen  Bezeichnung:  „principia  regulativa  vom  .'-iO.  Juli  I  7;^6",  ein  in 
seiner  Art  vollendetes  Schulunterhaltungsgesetz.  In  dem  folgenden 
Jahre  bewilligte  der  Monarch  mittels  Ordre  vom  21.  Februar  1737 
den  für  damalige  Verhältnisse  hohen  Betrag  von  50  000  Talern, 
welcher  unter  dem  Namen  mons  pietatis  verwaltet  werden  und  der 
Förderung  des  Schulwesens  dienen  sollte. 


23  Volksschulwesen. 

Friedrich  der  Große  verfolgte  die  Ziele  seines  Vaters  mit  der 
ihm  eigenen  Energie,  ließ  sie  auch  während  der  drei  schlesischen 
Kriege  nicht  aus  dem  Auge,  und  gab  unmittelbar  nach  deren  Been- 
digung am  12.  August  1763  der  gesamten  Monarchie  das  „General- 
Land-Schulreglement",  „damit  der  so  höchst  schädlichen  und  dem 
Christenthum  unanständigen  Unwissenheit  vorgebeuget  und  abgeholfen 
werde,  um  auf  die  folgende  Zeit  in  den  Schulen  geschicktere  und 
bessere  Unterthanen  bilden  und  erziehen  zu  können". 

Das  Reglement  gibt  ein  ziemlich  vollständiges  Bild  der  Ein- 
richtung, welche  die  Landschulen  nach  dem  Plane  des  großen 
Königs  haben  sollten.  An  die  Spitze  stellt  es  die  allgemeine  Schul- 
pflicht. 

„§  1 .  Zuvörderst  wollen  Wir,  daß  alle  Unsere  Unterthanen,  es 
mögen  seyn  Eltern,  Vormünder  oder  Herrschaften,  denen  die  Er- 
ziehung der  Jugend  obliegt,  ihre  eigne  sowohl,  als  ihrer  Pflege  an- 
vertraute Kinder,  Knaben  oder  Mädchen,  wo  nicht  eher,  doch 
höchstens  vom  Fünften  Jahre  ihres  Alters  in  die  Schule  schicken, 
auch  damit  ordentlich  in  das  dreizehnte  und  vierzehnte  Jahr  con- 
tinuiren  und  sie  so  lange  zur  Schule  halten  sollen,  bis  sie  nicht  nur 
das  Nöthigste  vom  Christenthum  gefasset  haben  und  fertig  schreiben 
und  lesen,  sondern  auch  von  demjenigen  Red'  und  Antwort  geben 
können,  was  ihnen  nach  den  von  Unseren  Consistoriis  verordneten 
und  approbirten  Lehrbüchern  beigebracht  werden  soll." 

Das  Einkommen  des  Lehrers  gründet  das  Reglement  wesentlich 
auf  die  Einnahme  aus  dem  Schulgelde. 

„5  7.  Was  das  Schulgeld  betrifft,  so  soll  für  jedes  Kind,  bis 
es  zum  Lesen  gekommen.  Neun  Pfennige,  und  wenn  es  schreibt  und 
rechnet,  Ein  Groschen  wöchentlich  gegeben  werden.  In  den  Sommer- 
monaten dagegen  wird  nur  zweidrittheil  von  diesem  angesetzten 
Schulgelde  entrichtet,  so,  daß  diejenigen,  welche  Sechs  Pfennige  im 
Winter  gegeben,  nach  dieser  Proportion  Vier,  welche  Neun  Pfennige 
gegeben  haben.  Sechs,  und  welche  sonst  einen  Groschen  gegeben, 
nunmehr  Acht  Pfennige  geben  sollen.  Ist  etwa  an  ein  und  dem 
anderen  Ort  ein  mehreres  an  Schulgeld  zum  Besten  der  Schulmeister 
eingeführt,  so  hat  es  dabei  auch  ins  künftige  sein  Bewenden." 

„j  8.  Wenn  aber  einige  Eltern  notorisch  so  arm  wären,  daß 
sie  für  ihre  Kinder  das  erforderliche  und  gesetzte  Schulgeld  nicht 
bezahlen  könnten,  oder  die  Kinder,  welche  keine  Eltern  mehr  haben, 
wären  nicht  im  Stande,  das  Schulgeld  zu  entrichten,  so  müssen  sie 
sich  deshalb   bei   den  Beamten,   Patronen,   Predigern  und  Kirchenvor- 


Zur  Geschichte  der  deutschen  Volksscliule.  39 

Stehern,  insofern  dieselben  über  die  Kirchenmittel  zu  disponieren 
haben,  melden,  da  dann,  wenn  kein  anderer  Weg  vorhanden,  entweder 
aus  dem  Klingebeutcl  oder  aus  einer  Armen-  oder  Dorfkasse  die 
Zahlung  geschehen  soll,  damit  den  Schulmeistern  an  ihrem  Unter- 
halte nichts  abgehe,  folglich  dieselbe  auch  beydes,  armer  und  reicher 
Leute  Kinder,  mit  gleichem  Fleiß  und  Treue  unterrichten  mögen." 

Das  Reglement  gibt  sodann  —  und  zwar  recht  strenge  —  Vor- 
schriften über  die  Bestrafung  der  Schulversäumnisse,  über  die  Kon- 
trolle sowohl  der  Einschulung  wie  des  Schulbesuches,  über  die 
Prüfung  und  die  Beaufsichtigung  der  Lehrer,  über  die  Beseitigung 
der  Winkelschulen,  über  die  Gegenstände  und  den  Gang  des  Unter- 
richts, über  die  Lehrbücher,  über  das  Verfahren  bei  deren  Einführung, 
über  Beschaffung  derselben  für  die  armen  Kinder  und  über  die  Schul- 
zucht. 

Es  darf  behauptet  werden,  daß  in  diesem  General-Laudschul- 
reglement,  neben  welchem  übrigens  noch  andere  Provinzialverord- 
nungen,  so  beispielsweise  das  Reglement  vom  3.  November  1 765 
,,für  Unsre  Römisch-Katholische  Unterthanen  von  Schlesien  und  der 
Grafschaft  Glatz",  erlassen  wurden,  die  Linien  vorgezeichnet  sind,  in 
welchen  sich  das  preußische  Volksschulwesen'  seitdem  weiter  be- 
wegt hat. 

Zunächst  erhielt  es  eine  festere  Grundlage  in  den  Vorschriften 
des  allgemeinen  Landrechts.  In  kaum  mehr  als  vierzig  Sätzen 
(§§  1 2 — 53  Titel  1 2  Teil  II)  werden  Bestimmungen  über  Aufsicht  und 
Direktion  der  gemeinen  Schulen,  über  deren  Rechte,  die  Bestellung 
der  Lehrer,  den  Unterhalt  der  Schulen  und  der  Schulgebäude,  über 
Rechte  und  Pflichten  der  Schulmeister,  der  Schulaufseher,  der  Prediger, 
über  die  allgemeine  Schulpflicht  und  die  Schulzucht  getroffen.  Zum 
erstenmale  wird  die  allgemeine  Schulpflicht  nach  ihren  beiden  Seiten 
durch  Gesetz  klar  und  bestimmt  ausgesprochen. 

Die  einschlägigen  Bestimmungen  lauten: 

„§  29.  Wo  keine  Stiftungen  für  die  gemeinen  Schulen  vor- 
handen sind,  liegt  die  Unterhaltung  der  Lehrer  den  sämtlichen  Haus- 
vätern jedes  Ortes,  ohne  Unterschied,  ob  sie  Kinder  haben  oder 
nicht  und  ohne  Unterschied  des  Glaubensbekenntnisses,  ob." 

,,5  34.  Auch  die  Unterhaltung  der  Schulgebäude  und  Schul- 
meisterwohnungen muß  als  gemeine  Last  von  allen  zu  einer  solchen 
Schule  gewiesenen  Einwohnern   ohne   Unterschied  getragen  werden." 

,,§  43.  Jeder  Einwohner,  welcher  den  nötigen  Unterricht  für 
seine  Kinder    in    seinem    Hause    nicht    besorgen    kann  oder   will,    ist 


40 


nui  Wesen. 


schuldig,  dieselben  nach  zurückgelegtem  fünften  Jahre  zur  Schule  zu 
schicken." 

„§  46.  Der  Schulunterricht  muß  so  lange  fortgesetzt  werden, 
bis  ein  Kind  nach  dem  Befunde  seines  Seelsorgers  die  einem  jeden 
vernünftigen  Menschen  seines  Standes  notwendigen  Kenntnisse  ge- 
faßt hat." 

Die  auf  den  Erlaß  des  allgemeinen  Landrechts  folgenden  Jahre 
waren  der  Entwicklung  des  Volksschulwesens  in  Preußen  nicht 
besonders  günstig.  Der  Stillstand  allerdings,  welchen  die  Verwaltung 
des  Staatsministers  von  Wöllner  in  diese  zu  bringen  versuchte,  und 
welcher  seinen  Ausdruck  in  der  ,, Anweisung  für  die  Schullehrer  in 
den  Land-  und  niederen  Stadtschulen  zu  zweckmäßiger  Besorgung  des 
Unterrichts  der  ihnen  anvertrauten  Jugend  vom  16.  Dezember  1794" 
fand,  war  nur  vorübergehend,  da  König  Friedrich  Wilhelm  III.  vom 
ersten  Tage  seiner  Regierung  an  der  Förderung  des  Volkswohles  die 
lebhafteste  Teilnahme  zuwendete.  Ein  Zeugnis  für  diese  gibt  bei- 
spielsweise das  ,, Reglement  für  die  niederen  katholischen  Schulen  in 
den  Städten  und  auf  dem  platten  Lande  von  Schlesien  und  der  Graf- 
schaft Glatz  vom  18.  Mai  1801".  Die  politischen  Bewegungen  aber, 
welche  den  Wechsel  des  Jahrhunderts  begleiteten,  bittere  Not,  welche 
über  unser  deutsches  Vaterland  und  ganz  besonders  über  den 
preußischen  Staat  kam,  erschwerte  jeden  Fortschritt  des  öffentlichen 
Lebens  und  beraubte  das  Volk  der  Mittel,  um  die  Werke  des  Friedens 
zu  fördern. 

Dennoch  hatten  jene  Jahre  der  schwersten  Trübsal  das  Gute 
daß  sich  das  Auge  der  Regierenden  im  Lande  auf  die  Punkte  richtete, 
von  welchen  die  Wiedergeburt  des  X^jlkes  ausgehen  sollte.  So 
wurden  gesetzgeberische  Taten  vollzogen,  durch  welche  die  Voraus- 
setzungen für  eine  gedeihliche  Entwicklung  des  Staates  überliaupt, 
mittelbar  auch  für  eine  solche  auf  dem  Gebiete  der  V^olksschule 
gegeVjen  wurden.  Dies  geschah  namentlich  durch  die  Edikte  vom 
I .  Juni  und  vom  27.  Juli  1 808  und  vom  1 4.  September  181  I ,  welche 
einen  freien  Bauernstand  in  das  Leben  riefen,  und  durch  das  Gesetz 
vom  10.  November  1808,  welches  den  Städten  die  Selbstverwaltung 
gab.  Die  Verwertung  dieser  Gesetze  für  das  Schulwesen  ließ  nicht 
lange  warten.  Am  26.  Juni  1811  erschien  die  Instruktion  über  die 
Zusammensetzung  der  Schuldeputationen  in  den  Städten,  und  am 
28.  Oktober  1812  folgte  das  Reskript  des  königlichen  Departements 
für  den  Kultus  und  öffentlichen  Unterricht,  betreffend  die  Anord- 
nungen von  Schulvorständen  auf  dem  Lande. 


Zur  rreschidite  der  deutsclien   Volksschule.  4-1 

Wenige  Jahre  nach  deni  Friedensschlüsse  wurden  dann  noch 
die  höheren  und  höchsten  Unterrichtsbehörden  neu  gestaltet  und  niit 
Vollmachten  versehen.  Durch  die  Dienstinstruktionen  vom  2^^.  Oktober 
1817  wurde  dem  Konsistorium,  dessen  Obliegenheiten,  soweit  sie  das 
Schulwesen  betreffen,  durch  Allerhöchste  Ordre  vom  'A\.  Dezember 
1825  auf  eine  eigene  neu  geschaffene  Behörde,  das  königliche  Pro- 
vinzialschulkoUegium,  übertragen  worden  sind,  neben  der  Leitung  und 
Beaufsichtigung  des  gesamten  höheren  Schulwesens  die  Sorge  für  die 
Ausbildung  der  Lehrer  sowie  die  Bearbeitung  aller  allgemeinen  An- 
gelegenheiten des  Schulunterrichts  überwiesen,  während  den  Regie- 
rungen die  besondere  Leitung  und  Beaufsichtigung  der  Volksschulen, 
sowohl  nach  ihrer  inneren  wie  nach  ihrer  äußeren  Seite,  die  Bestäti- 
gung und  Beaufsichtigung  der  Lehrer,  endlich  die  Einrichtung  und 
Verteilung  der  Schulsozietäten  zufiel. 

Den  Schlußstein  des  mühsam  von  unten  nach  (jben  geführten 
Gebäudes  bildete  die  Allerhöchste  V^erordnung  vom  'A.  November 
1817,  welche  unter  III  bestimmt: 

,,Der  Minister  des  Innern  gibt  das  Departement  für  den  Kultus 
und  öffentlichen  Unterricht  und  das  damit  in  Verbindung  stehende 
Medizinalwesen  ab.  Die  Würde  und  Wichtigkeit  der  geistlichen  und 
der  Erziehungs-  und  Schulsachen  macht  es  rätlich,  diese  einem 
eigenen  Minister  anzuvertrauen." 

So  war  die  Form  \ollendet,  und  es  war  die  Aufgabe  des  neu 
gebildeten  Ministeriums,  ihr  den  richtigen  Inhalt  zu  geben. 

Die  Aufgabe  war  keine  leichte.  Der  preußische  Staat  war 
durch  den  Wiener  Vertrag  vom  10.  Februar  11)10  wesentlich  um- 
gebildet worden;  sein  Gebiet,  welches  durch  den  Frieden  von  Tilsit 
auf  rund  2071)  Quadratmeilen  herabgesunken  war,  hatte  sich  auf  rund 
5040  Ouadratmeilen  erweitert,  seine  Einwohnerzahl  sich  um  etwa 
0  000  000  erhöht.  Es  war  aber  nicht  etwa  der  Staat  in  der  Gestalt, 
welche  er  vor  1807  gehabt  hatte,  wieder  hergestellt  worden,  sondern 
es  waren  alte  Gebiete  abgezweigt,  ganz  neue  hinzugefügt  worden.  Die 
natürliche  Folge  hiervon  war,  daß  sich  die  einzelnen  Teile  des  Staates 
durch  die  verschiedenartigsten  Einrichtungen,  Sitten  und  Gesetze  von 
einander  schieden.  Diese  Mannigfaltigkeit,  wir  dürfen  sagen  innere 
Zerrissenheit,  machte  sich  namentlich  auf  dem  Gebiete  des  Volksschul- 
wesens geltend.  Die  wohltätigen  Gesetze,  welche  die  preußischen 
Könige  ihren  Ländern  gegeben  hatten,  standen  in  weiten  Strecken 
des  Landes  nicht  in  Kraft,  und  es  war  die  Aufgabe   der  Vervvaltuner, 


42  Volksschulwesen. 

wenn  auch  nicht  GleichtVirmigkeit,  so  doch  Gleichartigkeit  der  Schul- 
einrichtungen auf  dem  Wege  der  Verordnungen  herbeizuführen. 

Ein  großes  Hemmnis  für  eine  gedeihliche  Entwicklung  des 
Volksschulwesens  war  die  Verarmung  der  Bevölkerung  infolge  des 
Krieges.  Die  Unruhen  hatten  alle  Kulturarbeit  unterbrochen  und 
jeden  Fortschritt  zum  Stehen  gebracht.  Unter  den  Einwirkungen 
der  Philanthropen,  namentlich  aber  der  Anhänger  Pestalozzis,  waren  an 
vielen  Stellen  des  deutschen  Landes  Lehrerbildungsanstalten  ins  Leben 
getreten,  bessere  Schulen  errichtet  worden;  fast  alle  diese  Einrich- 
tungen waren  im  Keime  erstickt,  und  die  Verwaltung  stand  vor  ganz 
neuen  Aufgaben.  Wer  einen  Blick  in  die  Urkunden  über  die  Schul- 
zustände jener  Zeit,  etwa  in  Beckedorffs  Jahrbücher,  Rosseis  Rheinisch- 
Westfälische  Monatsschrift,  Krügers  und  Harnisch'  ,, Schulrat  an  der 
Oder"  tut,  begegnet  überall  denselben  Klagen:  schlechte  Schulhäuser, 
unzureichend  besoldete,  unfähige  Lehrer,  eine  verwilderte  Schuljugend, 
welche  noch  obenein  nur  sehr  unregelmäßig  zur  Schule  kommt. 

Der  verdienstvolle  spätere  Schulrat  Carl  Wilhelm  von  Türk  in 
Potsdam  schildert  in  seiner  im  Jahre  1804  erschienenen  Schrift:  ,,Cber 
zweckmäßige  Einrichtung  der  öffentlichen  Schul-  und  Unterrichts- 
anstalten als  eines  der  wirksamsten  Beförderungsmittel  einer  wesent- 
lichen Verbesserung  der  niederen  Volksklassen",  welche  er  als  mecklen- 
burgischer Ministerialreferent  für  das  Volksschulwesen  veröffentlichte, 
den  Zustand  seiner  Zeit  wie  folgt: 

,,Die  Schule,  die  öffentliche  Erziehung,  sollte  die  Mängel  der 
häuslichen  verbessern,  ihre  Lücken  ausfüllen,  der  Macht  des  Übeln 
Beispiels,  das  die  Eltern  geben,  entgegenarbeiten;  allein  wie  ent- 
sprechen die  Landschulen  diesen  Forderungen?  So,  daß  ich  keinen 
.Anstand  nehme  zu  behaupten,  es  wäre  den  meisten  Kindern  besser, 
sie  gingen  garnicht  in  die  Schule,  als  daß  sie  in  solche  Schulen,  zu 
solchen  Lehrern  gehen,  wie  die  meisten  es  sind.  Alles,  was  sich  dem 
nur  einigermaßen  aufmerksamen  Beobachter  in  den  meisten  der  jetzt 
vorhandenen  Landschulen  darstellt,  ist  unbeschreiblich  elend,  wider- 
sinnig, verderblich  in  seinem  Einflüsse  auf  die  Erziehung  der  Jugend. 

Elende,  enge,  niedrige  Schulzimmer,  —  denn  nicht  selten  ist 
das  Haus  des  Schulmeisters  das  schlechteste  im  Dorfe,  —  eine  ver- 
dorbene, verpestete  Luft,  der  höchste  Grad  der  Unreinlichkeit,  der 
nicht  selten  dadurch,  daß  die  Schulstube  zugleich  Wohnzimmer, 
Werkstätte  und  Stall  für  das  Federvieh  ist,  herbeigeführt  wird. 

Unwissende,  ungesittete,  unreinliche  Schulmeister,  welche  die 
Schule    als    einen    notwendigen    Nebenbehelf,    die    Betreibuncf    ihres 


7x\x  GescliiclUe  der  (leutsrheii   Volksschule.  43 

Handwerks  als  die  Hauptsache  betrachten  und  dieses  leider  nur  zu 
oft  tun  müssen,  wenn  sie  nicht  hungern  wollen.  Eine  Methode  fwenn 
man  anders  diesen  Ausdruck  mißbrauchen  will,  um  die  notdürftige, 
erbärmliche  Anwendung  eines  schon  an  sich  höch.st  widersinnigen 
Schlendrians  zu  bezeichnen),  die  nur  darauf  hinausläuft,  das  Ge- 
dächtnis des  Kindes  mit  ihm  unverständlichen  Stellen  und  Sätzen  des 
Katechismus  und  der  Bibel  zu  überladen,  es  notdürftig  buch.stabieren 
und  lesen  zu  lehren  fan  Schreiben  und  Rechnen  ist  oft  garnicht  zu 
denken),  während  Kopf  und  Herz  gleich  leer  bleiben  und  die  Hände 
unbeschäftigt  sind." 

Mögen  die  Farben  dieses  Bildes  auch  etwas  stark  aufgetragen 
sein,  so  ersieht  man  doch,  wie  richtig  im  ganzen  das  von  Herrn 
von  Türk  gegebene  Bild  ist,  wenn  man  an  einer  späteren  Stelle  seines 
Buches  liest,  daß  er  für  den  Schullehrer  neben  einigen  Naturalien 
und  dem  Schulgelde  ein  festes  Gehalt  von  jährlich  1 2  Talern  fordert, 
das  dem  Lehrer  zu  gewährende  Gesamteinkommen  auf  65  Taler  be- 
rechnet und  dabei  noch  Zweifel  an  der  Möglichkeit  ausspricht,  „diese 
beträchtlichen  Gehaltsverbesserungen  auszuführen".  Die  Verhältnisse 
waren  im  preußischen  Staate  nicht  wesentlich  anders;  gab  es  doch 
im  Jahre  1820  nicht  weniger  als  1 180  Landschullehrer.stellen  mit  einem 
jährHchen  Einkommen  von  unter  20  Talern. 

Seitens  des  preußischen  Ministeriums  wurde  die  Aufgabe,  hier 
Abhilfe  zu  schaffen,  unter  Aufbietung  aller  verfügbaren  Kräfte  ihrer 
Lösung  entgegengeführt.  Noch  während  der  Kriegsjahre  hatte  König 
Friedrich  Wilhelm  III.  eine  Anzahl  begabter  junger  Männer  nach  der 
Schweiz  gesendet,  damit  sie  in  Pestalozzis  Schule  sich  für  die  Volks- 
schulerziehung erwärmen  und  deren  zweckmäßigste  Betreibung  erlernen 
möchten.  Außerdem  hatte  er  einige  besonders  hervorragende  außer- 
preußische Schulmänner  in  das  Land  gezogen.  In  diesen  und  in  den 
heimgekehrten  Schülern  Pestalozzis  hatte  er  nun  die  Männer  ge- 
wonnen, welche  als  Schulräte  und  als  Seminardirektoren  die_Reor- 
ganisation  des  Volksschulwesens  durchführen  sollten.  Diese  fanden 
ihren  Führer  in  dem  Geheimen  (3ber-Regierungsrat  Dr.  Beckedorff, 
welcher  1810  als  vortragender  Rat  in  das  Mini.sterium  getreten  war. 
Das  Werk  wurde  jetzt  mit  frischem  Eifer  zielbewußt  in  Angriff  ge- 
nommen und  von  den  Gesichtspunkten  aus,  welche  von  der  höchsten 
Stelle  gegeben  wurden,  gefördert.  Die  von  Beckedorff  herausgegebenen 
,, Jahrbücher  des  Preußi-schen  Volksschulwesens"  dienten  der  gemein- 
samen Verständigung  und  berichteten  freimütig  über  die  zahlreich 
vorhandenen  Mängel  wie    über  die  erreichten  Erfolge,  vor  allem  aber 


44  Volksschiilwesen. 

hielten  sie  die  Freude  an  der  Arbeit  wach;  den  nachfolgenden  Ge- 
schlechtern sind  sie  eine  dankenswerte  Quelle  für  die  Kenntnis  eines 
der  wichtigsten  Abschnitte  in  der  Geschichte  des  preußischen  "V^olks- 
schulwesens. 

Es  sei  gestattet,  in  einigen  Bildern  die  Zustände  \^on  sonst  und 
jetzt  nebeneinander  zu  stellen. 

a)    Unregelmäßiger  Schulbesuch,    dessen  Ursachen    und  deren  Beseitigung. 

Der  Schulbesuch,  vorzugsweise  in  den  westlichen  Provinzen.  Das  Allgemeine 
Uandrecht  hatte  durch  die  \'orschriften  in  Teil  II,  Titel  12  §§  43 — 46  allen  Eltern, 
welche  ihre  Kinder  im  eigenen  Hause  nicht  unterrichten  können  oder  wollen,  die  Pflicht 
auferlegt,  sie  zur  öflentlichen  Schule  zu  schicken  und  sie  in  dieser  so  lange  zu  halten, 
bis  sie  die  einem  vernünftigen  Menschen  ihres  Standes  notwendigen  Kenntnisse  gefaßt 
hätten.  Diejenigen  Landesteile,  in  welchen  das  Allgemeine  Landrecht  nicht  eingeführt 
ist,  entbehrten  einer  entsprechenden  XOrschrift,  und  es  fand  infolgedessen  in  diesen  ein 
ganz  unregelmäßiger  Schulbesuch  statt.  Die  Bemühungen  der  Unterrichtsbehörden,  auf 
dem  Wege  einer  Verordnung  oder  durch  unmittelbare  Einwirkung  auf  die  Eltern  eine 
Besserung  herbeizuführen,  scheiterten  an  dem  Widerspruche  der  Eltern.  Der  N'ersuch, 
den  Schulbesuch  durch  polizeiliche  oder  gerichtliche  Strafen  zu  erzwingen,  mußte  miß- 
glücken, weil  es  an  (besetzen  fehlte,  auf  Cirund  deren  die  Gerichte  die  von  den  \'er- 
waltungsbehörden  auferlegten  Strafen  zu  Recht  bestehen  lassen  konnten.  So  kam  es,  daß 
im  Regierungsbezirke  Aachen,  über  welchen  uns  Beckedorfis  Jahrbücher  genauere  Aus- 
kunft geben,  von  1852  evangelischen  Kindern  zwischen  5 — 14  Jahren  nur  1600,  von 
64  401  katholischen  Kindern  nur  32  403  zur  Schule  kamen.  Allerdings  enthielten  die 
vorhandenen  Unterrichtsräume  nur  für  28  606  Kinder  Platz,  während  die  Gesamtzahl 
der  christlichen  und  jüdischen  Kinder  66  611  betrug.  Im  Jahre  1901  belief  sich  in  dem- 
selben Regierungsbezirk  die  Zahl  der  schulpflichtigen  Kinder  von  6 — 14  Jahren  auf 
108  042,  von  diesen  waren  104  903  in  der  Volksschule  eingeschult,  13  konnten  wegen 
i  berfülUmg  nicht  aufgenommen  werden,  192  waren  nach  vollendetem  6.  Lebensjahre  auf 
behördliche  Anordnung  vom  Schulbesuche  noch  zurückgestellt,  1676  vor  vollendetem 
14.  Jahre  dispensiert,  245  konnten  wegen  geistiger  oder  körperlicher  Gebrechen  die 
Schule  nicht  besuchen,   und  nur  6  Kinder  entzogen  sich  widerrechtlich  dem  Schulbesuch. 

Ein  ähnliches  Bild  boten  die  anderen  vormals  französischen  Bezirke.  Eine  gründ- 
liche Be.sserung  konnte  nur  auf  gesetzlichem  Wege  herbeigeführt  werden.  Dieser  Weg 
ist  durch  die  Allerhöchste  Ordre  vom  14.  Mai  1825  beschritten  worden,  welche  die  be- 
züglichen Vorschriften  des  Allgemeinen  Landrechts  über  die  Schulpflicht  auch  für  diejenigen 
Provinzen,  in  welchen  es  nicht  eingeführt  ist,  sogar  in  noch  etwas  schärferer  Eorm,  in 
Geltung  gebracht  hat.  Der  §  1  dieser  Verordnung  schrieb  vor:  „Eltern  oder  deren  ge- 
setzliche \'ertreter,  welche  nicht  nachweisen  können,  daß  sie  für  den  nötigen  l'nterricht 
der  Kinder  in  ihrem  Hause  sorgen,  sollen  erforderlichenfalls  durch  Zwangsmittel  und 
Strafen  angehalten  werden,  jedes  Kind  nach  zurückgelegtem  5.  Jalire  zur  Schule  zu 
schicken".  *) 

Einigermaßen  überraschte  es,  daß  die  §§4,  5,  6  der  \'erordnung  die  .\usübung 
der  Schulzucht  regeln,  weil  doch  ein  innerer  Zusammenhang  zwischen  der  allgemeinen 
Schulpflicht    und  dem  Züchtigungsrechte    des    Lehrers    nicht    zu    bestehen    scheint,     l'nd 

*l  Bekanntlich  hat  die  Unterrichtsverwaltung  im  Laufe  der  Zeit  den  Schulbesuch 
der  Kinder  zwischen  5  und  6  Jahren  nicht  mehr  gefordert,  aber  desto  strenger  darauf 
gehalten,  daß  er  bis  zum  vollendeten  14.  Jahre  ausgedehnt  werde. 


Zur  Geschichte  der  deutschen   \'olksscliulc.  45 

dennoch  liat  dieser  Zusammenhang  bestanden;  die  Akten  des  Kultusministeriums  wie 
die  Mitteihingen  der  pädagogischen  Zeitschriften  jener  Zeit  enthalten  die  Beweise  dafür. 
Der  Widerwille  vieler  Eltern  gegen  den  regelmäßigen  Schulbesuch,  dessen  Einführung 
zumeist  auf  dem  Wege  der  bloßen  N'erordnung  versucht  wurde,  war  stellenweis  so  stark, 
daß  sie  ihre  Kinder  dazu  verführten,  den  Lehrer  zur  Züchtigung  zu  reizen  und  ihn  dann, 
wenn  er  eine  solche  ausübte,  zur  Verantwortung  vor  den  Ricliter  zogen.  Einige  Ver- 
urteilungen, welche  auf  diese  Weise  erreicht  wurden,  schüchterten  die  Lehrer  ein  und 
hatten  einen  sehr  ungünstigen  Einfluß  auf  das  Leben  der  Schule.  Lm  eine  Besserung 
herbeizuführen  und  das  Ansehen  der  I-ehrer  zu  stärken,  hielt  die  Unterrichtsverwaltung 
eine  gesetzliche  Vorschrift  für  geboten,  durch  welche  ausgesprochen  wurde,  daß  Züchti- 
gungen, welche  der  Gesundheit  des  Kindes  keinen  Schaden  täten,  gegen  den  Lehrer 
nicht  als  strafliare   Mißhandlungen  oder  Injurien  behandelt  werden  dürften,     (i;  5.) 

b)    Schulpflichtige   Kinder  in   den   Fabriken. 

Der  Aufmerksamkeit  der  Unterrichtsbehörden  konnte  es  nicht  entgehen,  daß  das 
Wegbleiben  einer  so  großen  Anzahl  von  Kindern  aus  der  Schule  seinen  Grund  in  ihrer 
Ausnützung  durch  che  allerdings  in  vielen  Fällen  sehr  armen  Poltern,  ganz  besonders  in 
der  Fabrikarbeit  der  Kinder  hatte.  Der  Minister  erließ  daher  schon  unterm  26.  Juni  1824 
folgendes  Zirkular-Reskript : 

„Bei  der  Unterrichts-Abteilung  des  Ministerii  ist  zufällig  zur  Sprache  gekommen, 
daß  hin  und  wieder  Kinder  in  Fabriken  und  Manufakturen,  sowohl  bei  Tage  als  zur 
Nachtzeit,  beschäftigt  werden.  Dieser  Gegenstand  ist  in  medizinisch-polizeilicher  Hinsicht 
so  wichtig,  daß  anscheinend  eine  nähere  gesetzliche  Bestimmung  darüber  notwendig 
wird.  Um  aber  die  erforderlichen  Materialien  dazu  zuvörderst  zu  .sammeln,  wird  die 
Königliche  Regierung  hierdurch  veranlaßt,  nachstehende  Fragen,  insofern  es  die  Umstände 
und  Verhältnisse  gestatten,  baldmöglichst  zu  beantworten. 

1.  \\erden  in  den  Fabriken  dortiger  Gegend  auch  Kinder  beschäftigt?  und  weini 
dies  der  Fall  ist, 

2.  zu  welcher  Arbeit? 

3.  in  welchem  Alter? 

4.  täglich   wieviel  Stunden   und  in  welchen  Stunden  des  Tages  oder  der  Nacht? 

5.  Wie  ist  im  übrigen  die  Lebensart  dieser  sogenannten  P'abrikkinder  beschaffen, 
und  in  welcher  Art  ist  sie  verschieden  von  der  Lebensart  derjenigen  Kinder 
gleichen  Standes,  welche  nicht  in  Fabriken  beschäftigt  werden? 

6.  Wie  ist  der  Gesundheitszustand  dieser  Kinder  an  sich  und  im  Verhältnisse 
zu  den  nicht  in  Fabriken  arbeitenden  Kindern  derselben  Volkskla.sse? 

7.  Wenn  der  Gesundheitszustand  der  Fabrikkinder  im  ganzen  schlechter  ist  als 
derjenige  der  übrigen  Kinder,  worin  ist  der  Grund  hiervon  zu  suchen,  in  den 
Arbeiten  oder  in  anderen  Umständen? 

8.  Wie  verhalten  sich  hinsichtlich  der  Gesundheit  diejenigen  Erwachsenen,  die  in 
ihrer  Kindheit  in  Fabriken  gearbeitet  haben,  zu  denen,  die  dazu  nicht  gebraucht 
worden  sind? 

9.  Welche  gesetzliche  Bestimmungen  über  Benutzung  der  Kinder  zu  Fabrikarbeiten 
würde  die  Königliche  Regierung  nach  dem  Resultate  der  hinsichtlich  obiger 
Punkte    angestellten  Untersuchung    für  wünschenswert  und  zweckmäßig  halten? 

10.  Wie  wird  für  den  nötigen  Schulunterricht  dieser  Kinder  gesorgt?  und 

11.  wie  ist  ihr  sittlicher  Zustand?" 

Diese  Verfügung  erging  zunächst  an  die  rheinischen  und  westfälischen  Regierungen 
und  an  diejenigen  zu  Liegnitz  imd  Breslau  in  Schlesien. 

Die  von  den  betreflenden  Königlichen  Regierungen  eingegangenen  Bericlue 
wurden  in  Beckedorffs  Jahrbüchern   veröffentlicht,  zum  Teil  deshalb,    weil    ein   Aufsatz    in 


46  Volksschulwesen. 

der  Rheinisch-Westfälischen  Monatsschrift  von  Rössel  der  Vorstellung  Raum  gegeben 
hatte,  als  habe  die  Unterrichtsverwaltung  kein  ofl'enes  Auge  für  die  vorhandenen 
Übelstände. 

In  einem  sehr  beachtenswerten  Artikel  im  5.  Bande  der  Rheinisch-Westfälischen 
Monatsschrift  lenkte  der  Seminardirektor  Adolf  Diesterweg  die  allgemeine  Aufmerksamkeit 
auf  die  Not  der  in  den  P'abriken  beschäftigten  Kinder.  Wir  entnehmen  seinem  Aufsatze 
folgende  Stellen  : 

a)  „Vergegenwärtigen  wir  uns  die  Art  der  Beschäftigung  der  Kinder  in  den 
Fabriken,  und  vergleichen  wir  sie  mit  dem,  was  die  Natur  des  Kindes  will,  und  was 
geachtet  werden  muß,  wenn  das  .spätere  Alter  mit  einem  gesunden  Leib  und  einem  ge- 
sunden Geist  ausgerüstet  sein  soll!  Wir  .sprachen  hier  immer  von  dem,  was  als  Regel  gilt, 
die  Möglichkeit  und  Wirksamkeit  einzelner  seltener  Ausnahmen  gern  und  mit  Freuden 
gestattend  und  preisend. 

Im  Sommer  um  5  oder  6  Uhr,  im  Winter  um  6  oder  7  oder  sobald  es  Tag  ist, 
ruft  die  Glocke  das  Kind  in  die  Fabrik.  An  den  meisten  Fabrikaten  kann  das  Kind 
vom  8.  oder  9.  Jahre  an  gebraucht  werden.  Sobald  es  in  dem  Fabrikhause  angekommen 
ist,  geht  es  an  die  Maschine  und  verrichtet  sein  Geschäft.  Meist  ist  es  eine  Arbeit,  ein- 
fach und  leicht,  immer  eine  und  dieselbe,  vom  Morgen  bis  zum  Mittage.  Wo  noch  eine 
kleine  Abwechselung  stattfmdel,  da  ist  sie  doch  so  unbedeutend,  daß  sie  nach  wenigen 
Tagen  zum  einförmigsten  Mechanismus  wird.  Nur  im  Anfange  bedarf  es  zur  genügenden 
V^errichtung  seiner  Geschäfte  der  Aufmerksamkeit;  nach  kurzer  Zeit  spinnt  und  spult, 
klopft  und  hämmert  es  maschinenmäßig  fort,  von  Minute  zu  Minute,  von  Stunde  zu 
Stunde,  bis  die  Mittagglocke  die  Arbeiter  eine  Stunde  entläßt.  Das  Kind  eilt  nach 
Hause,  verzehrt  sein  mageres  Mittagbrot,  wandert  um  1  Uhr  wieder  seinem  Kerker  zu, 
beginnt  da  und  damit,  wo  es  eine  Stunde  vorher  aufhörte,  und  setzt  seine  Tätigkeit  von 
Minute  zu  Minute,  von  Stunde  zu  Stunde,  bis  um  7  oder  8  Uhr  am  Abend  fort.  Die 
meisten  Arbeiten  fordern  entweder  ein  beständiges  Sitzen  oder  ein  beständiges  Stehen, 
zuweilen,  im  besseren  Falle,  wechselt  Sitzen  und  Stehen  ab. 

b)  „Aber,  wie  lange,"  fragte  ich  einen  Fabrikherrn,  bei  welchem  in  einem  großen 
Saale  mehr  als  70  Kinder  eng  zusammen  sitzend  spannen,  „wie  lange  arbeiten  die  Kinder 
täglich?"  —  „Zehn  Stunden",  antwortete  er.  „Da  haben  Sie  wohl  Mühe,  bis  Sie  die 
unruhige  Jugend  zum  Schweigen  und  Arbeiten  bringen?"  „Ja  wohl,  anfänglich  wollen  sie 
nicht  d'ran,  aber  dann  bekommen  sie  bisweilen  etwas  (er  machte  eine  gewisse  Be- 
wegung mit  der  Hand),  und  in  einem  halben  Jahre  sind  sie  gewöhnt,  wie  Sie  sehen!"  — 
Ich  sah!  Verlumpt  und  bleich  und  krüppelhaft  saßen  die  Kinder  da!  Durch  die  Seele 
ging  mir  des  Mannes  kaltes,  hartes  Wort  und  dieser  Anblick! 

c)  Ein  gebildeter  Fabrikherr  aus  der  Ruhr-Gegend,  welcher  gerade  zu  mir  kam, 
als  ich  diesen  Aufsatz  durchsah,  erzählte  mir,  daß  in  seiner  eigenen  P'abrik  che  Kinder 
von  morgens  4  bis  8,  von  9  bis  12  und  nachmittags  1  bis  8  Uhr,  also  täglich  14  Stunden, 
arbeiteten.  ¥.r  bestätigte  die  Roheit  der  Fabrikarbeiter  und  gestand  alles  zu,  was  in  dem 
vorhergehenden  Aufsatze  über  den  Zustand  der  Fabrikkinder  gesagt  wurde.  Auch  wünscht 
er  eine  Abänderung  des  Zustandes  dieser  Kinder  und  ist  bereit,  dazu  Hand  zu  bieten, 
nur  müsse  es  gemeinsam  geschehen,  weil  der  einzelne  sonst  gegen  alle  anderen  Fabrik- 
herren in  großen  Nachteil  käme.  Sein  Vorschlag  war  der,  die  Kinder  erst  nach 
vollendetem  10.  Jahre  jeden  Tag  einen  halben  Tag  (4  Stunden)  in  die  Schule  zu 
schicken,  jedoch  so,  daß  ein  Teil  des  Morgens,  der  andere  des  Nachmittags  in  die- 
selbe ginge." 

Das  \erhalten  der  örtlichen  Behörden  zeigte  vielfach  stumpfe  Ergebung  oder 
Freude  an  kleinen  Fortschritten.  So  wird  hinsichtlich  der  Kinder  bei  einem  Berg-  und 
Hüttenwerk  im  Standesgebiet  Wied-Runkel  bemerkt:  „Da  sie  aus  der  ärmsten  Klasse 
genommen  werden,  so  würden  sie  ohnehin  die  Schule  nicht  besuchen,"  und  aus  dem 
Düsseldortischen   wird   gerühmt:   ,J>ic  Zahl  der  steten  Nachtarbeiter  beträgt  jetzt    nur  125." 


Zui-  Geschichte  der  deutschen  Volksschule.  47 

Die  meisten  Regierungen  machten  in  ihren  Berichten  geltend,  daß  die  Fabriken 
den  Wettbetrieb  mit  dem  Auslande  nicht  würden  behaupten  können,  wenn  sie  der 
Kinderarbeit  entbehren  sollten,  und  daraus  mag  es  sich  wohl  erklären,  daß  der  Minister 
sich  in  seinen  Erlassen  vom  27.  April  1827  und  vom  15.  Dezember  1828  darauf  be- 
schränkte, die  allgemeinen  \'orschriften  über  den  Schulbesuch  einzuschärfen  und  jiolizeilirhe 
Revisionen  der  Fabriken  anzuordnen. 

Am  9.  März  IU;^9  wurde  endlich  der  er.ste  Schritt  zur  Abhilfe 
getan.  Es  erging  ein  Regulativ  über  die  Beschäftigung  jugendlicher 
Arbeiter  in  den  Fabriken,  welches  König  Friedrich  Wilhelm  IIL  am 
().  April  1839  mit  dem  Bemerken  bestätigte,  daß  es  einem  längst 
gefühlten  Bedürfnisse  entspreche.  Das  Regulativ  hielt  sich  in  sehr 
bescheidenen  Grenzen,  verbot  aber  die  Nachtarbeit  und  die  Sonntags- 
arbeit und  ordnete  an,  daß  Kinder  erst  nach  zurückgelegtem  9.  Leben.s- 
jahre  und  nach  3jährigem  regelmäßigen  Schulbesuch  zur  Fabrikarbeit 
zugelassen  werden  durften.  Ein  weiteres  Gesetz  vom  U).  Mai  1853 
setzte  das  zurückgelegte  12.  Leben.sjahr  als  Grenze.  Die  Gewerbe- 
ordnung von  1869  und  ihre  Novellen  haben  den  eingeschlagenen 
Weg  weiter  verfolgt,  und  durch  das  Reichsgesetz,  betreffend  Ab- 
änderung der  Gewerbeordnung  vom  1.  Juni  1891,  sind  wir  an  das 
Ziel  gelangt.  §  1.35  Abs.  I  dieses  Gesetzes  schreibt  nämlich  vor: 
Kinder  unter  13  Jahren  dürfen  in  Fabriken  nur  beschäftigt  werden, 
wenn  sie  nicht  mehr  zum  Besuche  der  Volksschule  verpflichtet  sind. 
Diese  Vorschrift  ist  für  alle  Kinder,  welche  nach  dem  1.  Juni  1891 
in  Arbeit  getreten  sind,  am  1.  April  1892,  für  die  übrigen  Kinder 
am  1.  April  1894  in  Kraft  getreten.  —  Von  jetzt  an  haben  also  die 
Kinder  unserer  ärmsten  Volksschichten  vollen  Schutz,  und  die  Wohltat 
der  Schule  ist  ihnen  ganz  in  demselben  Maße  gesichert,  wie  ihren 
glücklicheren  Altersgenossen. 

Mit  der  Ausschließung  der  schulpflichtigen  Kinder  von  der 
Arbeit  in  den  Fabriken  ist  aber  leider  der  Ausnutzung  ihrer  Kräfte 
durch  den  Eigennutz  Fremder,  ja  selbst  der  eigenen  Eltern,  bei  weitem 
noch  nicht  völlig  gewehrt.  Noch  findet  eine  Heranziehung  der  Kinder 
zu  landwirtschaftlichen  Arbeiten,  besonders  zum  Hüten  des  Viehes, 
in  vielen  Gegenden  in  solchem  Umfange  statt,  daß  dadurch  die  Arbeit 
der  Schule  ernstlich  erschwert  wird;  auch  Gefahren  für  die  sittliche 
Haltung  der  Kinder  sind  dabei  nicht  ausgeschlossen.  Einen  gleich 
schweren  Übelstand  führt  die  Beschäftigung  der  Kinder  in  der  Haus- 
industrie und  ihre  Verwendung  als  Laufburschen,  Zeitungsträger  und 
in  ähnlichen  Dienstverhältnissen  mit  sich.  Seitens  der  Staatsregierung 
sind  neuerdings  die  nötigen  Schritte  geschehen,  um  zunäch.st  den 
Umfang  des  Übels  festzustellen." 


48  Volksscliuhvesen. 

Soweit  der  Bericht.  Von  dem  Umfange  der  gewerblichen 
Kinderarbeit  im  Deutschen  Reiche  erhielt  man  zunächst  eine  an- 
nähernde, wenn  auch  sehr  unvollständige  Vorstellung  durch  die  Er- 
gebnisse der  Berufs-  und  Gewerbestatistik  vom  14.  Juni  lo<)5.  Aller- 
dings beschränkte  sich  diese  Erhebung  nur  auf  solche  Kinder,  welche 
im  Hauptberuf  gewerblich  tätig  oder  im  Hausgesindedienst  beschäftigt 
waren.  Es  ergaben  sich  dabei  folgende  Ziffern,  welche,  wie  das  der 
Bericht  selbst  andeutet,  wohl  nur  als  Minimalzahlen  angesehen  werden 
können. 

j         Kinder  unter  14  Jaliren 
I  B  e  r  u  f  s  a  b  t  e  i  1  u  n  g  e  n  n 

I  männlich  ,  weiblich    zusammen  ' 

II  !  I  ' 

■  \\  ^         ^  ' 

I  A.   Landwirtschaft J!      94  121  41004  135  125 

i  B.  Industrie 30  618  7  649  38  267 

'  C.  Handel 3  506  1790  5  296 

D.  Lohnarbeit  wechselnder   Art jj           325  1  487  1  812 

E.  1.  Armee  und  Marine         —  —  — 

F.  2—8.     Sonst,  öffentl.   Dienst    u.    freie    ßerufsarten  867  86  953 

Hierzu: 
Cj.  Häusliche  Dienstboten       !|  848  ]      32  653        33  501 

zusannuen     ...    1!    130285         84669       214954 

Bemerkenswert  ist  hier  die  grolie  Zahl  der  in  der  Landwirt- 
schaft beschäftigten  Kinder  und  ebenso  die  i\rt  der  gewerblichen 
Betriebe,  in  welchen  man  die  Arbeit  von  Kindern  unter  14  Jahren 
verwenden  zu  dürfen  glaubte.  Besonders  häufig,  d.  h.  in  mehr  als 
1000  Fällen,    waren    Kinder    in    folgfenden    Berufsarten    beschäftigt:'! 


e  r  u  f  s  a  r  t  e  n 


Maurerarbeit 

Weberei 

Schneiderei 

Tischlerei   . 

Schlosserei 

Bäckerei     . 

Ziegelei 

Näherei 

Spinnerei    . 

ScliuhmacluT 


Zahl  der  Kinder 
männlich  ,   weiblicli    zusammen 


2  152 

120 

2  272 

1057 

1  142 

2  199 

1729 

427 

2  156 

2  078 

29 

2  107 

2  062 

13 

2  075 

1  803 

116 

1919 

I  453 

122 

1  575 

— 

1223 

1  223 

459 

689 

1  148 

1962 

64 

2  026 

*)  Statistik  des  Deutschen  Reichs.  Herausgegel)en  vom  Kais.  Stat.  .\mt.  —  Neue 
Folge  Band  111  S.  155  (berufliche  und  soziale  Gliederung  des  deutschen  NOlkes).  Nach 
der  Volkszählung  vom   14.    luni    1895. 


Zur  (leschichte  der  cleutsclien   Volksschule.  49 

Inzwischen  hatte  sich  auch  auf  Anregung  des  verdienstvollen  Lehrers 
Conrad  Agahd  der  deutsche  Lehrerverein  mit  der  Frage  der  gewerb- 
lichen Kinderarbeit  beschäftigt,  und  ebenso  waren  von  verschiedenen 
Gemeinden  wie  von  Altenburg,  Rixdorf,  Brandenburg  a.  H.,  Char- 
lottenburg, Halle,  Gera,  Hanau,  Altona,  Hannover,  Mühlhausen,  Stettin, 
Stolp,  Posen,  Cöln,  Düsseldorf,  Leipzig,  Schmölln,  Liegnitz,  Langen- 
bielau,  Hohenstein-Emsthal,  Cassel,  Dresden,  Barmen  usw.  und  min- 
destens 100  rheinischen  Industrieorten  diesbezügliche  statistische  Erhe- 
bungen angestellt  worden.  Dieselbe  Sache  nahm  mittlerweile  die  Reichs- 
regierung in  die  Hand  und  der  Reichskanzler  richtete  am  9.  Sep- 
tember 1897  an  die  Bundesregierungen  ein  Rundschreiben,  in  welchem 
er  um  die  Beantwortung  folgender  Fragen  und  Unterfragen  ersuchte: 

1 .  Wie  hoch  ist  die  Gesamtzahl  der  außerhalb  der  Fabriken  gewerblich  tätigen 
Kinder  unter  14  Jahren? 

Dabei  sind  als  gewerblich  tätig  alle  Kinder  zu  zählen,  die  eine  auf  Erwerb  ge- 
richtete Tätigkeit  ausüben,  sofern  es  sich  nicht  um  eine  Beschäftigung  in  der  Landwirt- 
schaft, dem  Garten-,  Obst-  und  Weinbau  oder  im  Gesindedienst  handelt,  auch  wenn  sie 
Bezahlung  für  ihre  Dienste  nicht  erhalten  und  in  keinem  Vertragsverhältnis  zu  einem  Ge- 
werbetreibenden stehen,  sondern  nur  ihren  Angehörigen  bei  der  Arbeit  helfen. 

2.  In  welchen  Gewerbszweigen  und  mit  welcher  Art  gewerbUcher  Arbeit  sind  die 
Kinder  tätig? 

Dabei  ist  das  Augenmerk  insbesondere  auf  die  einzelnen  zur  Herstellung  des  Ge- 
samtprodukts dienenden  Hilfsleistungen  zu  richten,  bei  denen  die  Kinder  vorzugsweise 
Verwendung  finden. 

3.  Wie  hoch  ist  annähernd  die  Zahl 

a)  der  in  den  einzelnen  Gewerbszweigen, 

b)  der  innerhalb  der  einzelnen  Gewerbszweige  mit  den    nach    Ziffer  2  ermittelten 
Arten  gewerblicher  Arbeit  beschäftigten  Kinder? 

Über  die  Ausführungen  der  Erhebungen  sagt  das  Rundschreiben  folgendes: 
Was  die  Ausfühnmg  der  hiernach  erforderlichen  vorbereitenden  Erhebungen  be- 
trifft, so  spricht  manches  dafür,  die  Volksschullehrer  zur  Mitwirkung  heranzuziehen,  weil 
diese  durch  Beobachtungen  an  den  Schulkindern  während  des  Unterrichts  Anhaltspunkte 
für  eine  Beurteilung  gewinnen  werden,  ob  die  Kinder  während  der  schulfreien  Zeit  ge- 
werblich beschäftigt  imd  dadurch  übermäßig  angestrengt  werden.  Für  diesen  Fall  ist 
indessen  in  besonders  hohem  Grade  damit  zu  rechnen,  daß  viele  Eltern  aus  Besorgnis, 
infolge  der  Erhebungen  in  der  Verwendung  ihrer  Kinder  beschränkt  zu  werden,  die 
letzteren  zu  unrichtigen  Angaben  veranlassen  werden,  welche  die  Verhältnisse  in  mög- 
lichst günstigem  Lichte  erscheinen  lassen.  Ich  möchte  daher  Wert  darauf  legen,  daß  die 
Angelegenheit,  soweit  die  Mitwirkung  der  Schullehrer  in  Betracht  kommt,  bis  auf 
weiteres  geheim  behandelt  und  hierdurch  einer  unzulässigen  Beeinflussung  der  Kinder 
durch  ihre  Eltern  tunlichst  vorgebeugt  wird. 

Wenn  auch  die  von  den  Bundesregierungen  eingehenden  Ant- 
worten nicht  ganz  vollständig  und  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten 
gegeben  wurden,  so  übertrifft  doch  diese  Reichsenquete  an  Bedeutung 
bei  weitem  alle  früheren  Zusammenstellungen.  Es  muß  allerdings  im 
Auge  behalten  werden,  daß  das  gesamte  Gebiet    der    Landwirtschaft 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.    111.  4 


50 


Volksschulwesen. 


ebenso  wie  die  eigentliche  Fabriktätigkeit  der  Kinder  in  dieser  Sta- 
tistik ausfällt.  Nach  diesen  vom  Januar  bis  April  1898  erfolgten  Er- 
hebungen belief  sich  die  Zahl  der  gewerblich  tätigen  Kinder  unter 
1 4  Jahren  im  Deutschen  Reiche  auf  344  283,  und  zwar  verteilte  sich 
diese  Zahl  folgendermaßen  auf  die  einzelnen  Staaten: 

Aus  der  nachfolgenden  Tabelle  darf  nicht  der  Schluß  gezogen  ^\•erden,  daß  die 
gewerblich  beschäftigten  Kinder  dadurch  von  einem  ordnungsmäßigen  Schulbesuch  aV)- 
gehalten  werden.     Auch  sie  haben  alle  den  vorschriftsmäßigen  Unterricht  genossen. 

Gewerbliche  Kinderarbeit  nach  der  Erhebung  von  1898. 

I.    Umfang    der    Beschäftigung. 


I 


Staaten 


Zahl  der 

gewerblich 

beschäftigten 

Ivinder 


Zahl  der 
volksschul- 
pflichtigen 
Kinder 


Preußen  

Bayern     

Sachsen    

Württemberg 

Baden       

Hessen 

Mecklenburg-Schwerin    .... 

Sachsen-Weimar 

Mecklenburg-Strelitz        .... 

Oldenburg    

Braunschweig 

Sachsen-Meiningen 

„       Altenburg 

„       Coburg-Gotha    .... 

Anhalt 

Schwarzburg-Sondershausen     . 

„  Rudolstadt      .     .     . 

Waldeck 

Reuß  ä.  Linie  .     .  ' 

"     j-        " 

Schaumburg-Lip])e 

Lippe       

Lübeck     

Bremen 

Hamburg 

Elsaß-Lothringen 

Deutsches  Reich 


269  598 

12  997 

137  831 

19  546*) 

28  788 

8  868 

2  235 

5  660 
213 

1  927 

2  932 

6  684 
5  686 
5  455 
1  382 

1  456 

2  487 

62 

1488 

1502 

417 

1687 

1218 

867 

5419 

17  878 


5  209  518 

822  165 

604  600 

299  632 

295  624 

156  391 

96  918 

55  943 

16  684 

65  035 

74  104 

40  754 

29  548 

35  974 

48  2.36 

13  676 

15  148 

10  777 

10  988 

21  232 

6  867 

25  322 

12  706 

25  627 

95  574 

245  876 


544  283^ 


8  334  919 


Von  je  100 
volksschul- 
pflichtigen 
Kindern 
waren 
gewerblich 
beschäftigt 


5,18 

1,58 

22,80 

6,52 

9,74 

5,67 

2,31 

10,12 

1,28 

2,96 

3,96 

16,40 

19,24 

15,16 

2,87 

10,65 

16,42 

0,58 

13,54 

7,07 

6,07 

6,66 

9,59 

3,38 

5,67 

7,27 


6,53 


*)  Einschließlich  der  in  40  Oberämtern  Württembergs  zwar  nicht  ermittelten,  aber 
auf  12000  geschätzten  gewerblich  beschäftigten  Schulkinder. 


Zur  (JeschiclUe  der  deutschen   \'i)lksscluile. 


51 


Auf  Preußen  allein  kamen  269  598   Kinder,  welche  sich   l"uli;;endermaßen  auf  die  ein- 
zelnen Provinzen  verteilten: 


Von  je  100 

Zahl  der 

Zahl  der 

volksschul- 

Landesteile 

gewerblich 
beschäftigten 

volksschul- 
pflichtigen 

pflichtigen 
Kindern  waren 

Kinder 

Kinder 

gewerblich 
beschäftigt 

Provinz  Ostpreußen 

5  781 

323  360 

1,79 

Westpreußen 

5515 

257  029 

2,15 

Stadt 
Provii 

Berlin 

25  146 
23165 

196  050 
425  976 

12,83 
5,44 

iz  Brandenburs; 

Pommern 

7  008 

252  966 

2,77 

" 

5  771 
48  456 

320  550 
741  352 

1,80 
6,54 

Schlesien 

Sachsen    

26  092 

452  298 

5,77 

Schleswig-Holstein 

12  643 

21 1  825 

5,97 

Hannover 

17518 

392  551 

4,46 

Westfalen 

26  286 

492  875 

5,33 

„ 

Hessen-Nassau 

15  191 

268102 

5,66 

Rheinland 

50  183 

863  977 

5,81 

Hohe 

843 

10607 

7,95 

Königreich  Preußen     .     .     .  269  598  5  209  518  5,18 

IL    Art  der  Beschäftigung. 


Es  wurden  beschäftigt ; 


absolut                           1 

in  Prozent 

Kinder 

ohne 

In  der  Abteilung 

Knaben 

Mäd- 
chen 

ohne 
Angabe 
des  Ge- 
schlechts 

Im 

ganzen 

Kna- 
ben 

Mäd- 
chen 

An- 
gabe 
des  Ge- 
schl. 

Im 
ganzen 

A.  Industrie    .     .     . 

72  428 

59  318 

175  077 

306  823 

37,82 

55,09 

75,11 

57,64 

B.  Handel      .     .     . 

7  507 

4  540 

5  576 

17  623 

3,92 

4,22 

2,39 

3,31 

C.  Verkehr     .     .     . 

2  014 

163 

514 

2691 

1,05 

0,15 

0,22 

0,51 

D.  Gast-  u.  Schank- 

wirtschaft    .     . 

12  757 

2  168 

6  695 

21620 

6,66 

2,01 

2,87 

4,06 

E.  Austragedienste 

67188 

36  966 

31676 

135  830 

35,09 

34,33 

13,59 

25,52 

F.  Gewöhnl.     Lauf- 

dienste   .     .     . 

23  321 

2  134 

10  454 

35  909 

12,18 

1,98 

4,48 

6,75 

G.  Sonstige     gew. 

1 

Tätigkeit      .     . 

6  281 

2  387 

3  119      11  787 

3,28 

2,22 

1,34 

2,21 

Summe 

191  496 

107  676 

233  111 

532  283 

100 

,00 

100 

100 

Über   den  Unterschied    der  Gesamtsummen    in  Tabelle  I  und  II  vergl.  Bemerkung 
zu  Tabelle  I. 

4* 


52  \'olksschul\vesen. 

Diese  besorgniserregenden  Zahlen,  deren  Bedeutung  dadurch 
nur  um  so  ernster  wird,  wenn  man  nicht  nur  die  Gefahren  für  Ge- 
sundheit und  intellektuelle  Ausbildung  der  Kinder,  sondern  auch  die 
bei  der  gewerblichen  Tätigkeit  unvermeidlichen  schweren  Schädigungen 
ihrer  sittlichen  Erziehung  ins  Auge  faßt,  führten  zur  gesetzlichen 
Regelung  der  Kinderarbeit  in  gewerblichen  Betrieben.  Die  wichtigsten 
Bestimmungen  dieses  31  Paragraphen  umfassenden  Reichsgesetzes 
sind  folgende: 

Nachdem  in  §  2  der  Begriff  „Kinder  im  Sinne  dieses  Gesetzes"  folgendermaßen 
festgelegt  ist:  Knaben  und  Mädchen  unter  13  Jahren,  sowie  solche  Knaben  und  Mädchen 
über  13  Jahre,  welche  noch  zum  Besuche  der  Volksschule  verpflichtet  sind,  wird  in  §  3 
ausgeführt,  welche  Kinder  als  eigene  und  welche  als  fremde  im  Sinne  des  Gesetzes  an- 
zusehen sind. 

Es  folgen  dann  §§  4 — ^11  die  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  fremder 
Kinder  und  §§  12 — 17  die  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  eigener  Kinder,  und  zwar: 

Beschäftigung  fremder  Kinder. 

§  4.  Verbotene  Beschäftigungsarten.  Bei  Bauten  aller  Art,  im  Betriebe 
derjenigen  Ziegeleien  und  über  Tage  betriebenen  Brüche  und  Gruben,  auf  welche  die 
Bestimmungen  der  §§  134 — 139  b  der  Gewerbeordnung  keine  Anwendung  finden,  und 
der  in  dem  anliegenden  Verzeichnis  aufgeführten  Werkstätten*),  sowie  beim  Steinklopfen, 
im  Schornsteinfegergewerbe,  in  dem  mit  dem  Speditionsgeschäfte  verbundenen  Fuhr- 
werksbetriebe, beim  Mischen  und  Mahlen  von  Farben,  beim  Arbeiten  in  Kellereien 
dürfen  Kinder  nicht  beschäftigt  werden. 

Der  Bundesrat  ist  ermächtigt,  weitere  ungeeignete  Beschäftigungen  zu  untersagen 
und  das  Verzeichnis  abzuändern.  Die  beschlossenen  Abänderungen  sind  durch  das 
Reichs-Gesetzblatt  zu  veröflentlichen  und  dem  Reichstage  sofort  oder,  wenn  derselbe  nicht 
versammelt  ist,  bei  seinem  nächsten  Zusammentritte  zur  Kenntnisnahme  vorzulegen. 

§5.  Beschäftigung  im  Betriebe  von  Werkstätten,  im  Handelsgewerbe 
und  in  Verkehrsgewerben.  Im  Betrieb  von  Werkstätten  (§  18),  in  denen  die  Be- 
schäftigung von  Kindern  nicht  nach  §  4  verboten  ist,  im  Handelsgewerbe  und  in  Ver- 
kehrsgewerben dürfen  Kinder  unter  zwölf  Jahren  nicht  beschäftigt  werden. 

Die  Beschäftigung  von  Kindern  über  zwölf  Jahren  darf  nicht  in  der  Zeit  zwischen 
8  Uhr  abends  und  8  Ulir  morgens  und  nicht  vor  dem  Vormittagsunterrichte  stattfinden. 
Sie  darf  nicht  länger  als  drei  Stunden  und  während  der  von  der  zuständigen  Behörde 
bestimmten  Schulferien  nicht  länger  als  vier  Stunden  täglich  dauern.  Um  Mittag  ist  den 
Kindern  eine  mindestens  zweistündige  Pause  zu  gewähren.  Am  Nachmittage  darf  die 
Beschäftigung  erst  eine  Stunde  nach  vollendetem  Unterrichte  beginnen. 

§  6.  Beschäftigung  bei  öffentlichen  theatralischen  Vorstellungen 
und  an  deren  Schaustellungen.  Bei  öfi'entlichen  theatralischen  Vorstellungen  und 
anderen  öffentlichen  Schaustellungen,  bei  denen  ein  höheres  Interesse  der  Kunst  oder 
Wissenschaft  obwaltet,  kann  die  untere  \'er\valtungsbehörde  nach  Anhörung  der  Schul- 
aufsichtsbehörde Ausnahmen  zulassen. 

§  7.  Beschäftigung  im  Betriebe  von  Gast-  und  von  Schankwirt- 
schaften.     Im    Betriebe    von    Gast-    und    von  Schankwirtschaften    dürfen  Kinder    unter 

*)  Es  handelt  sich  hauptsächlich  um  solche  Betriebe,  in  denen  die  Kinder  der 
Gefahr  ausgesetzt  sind.  Staub  oder  Dämpfe  einzuatmen,  welche  entweder  mechanisch  oder 
chemisch  auf  den  jugendlichen   Organismus  schädlich  einwirken. 


Zur  ( ieschiclite  der  deutschen  \'olk.s<chule.  53 

zwölf  Jahren  überhaupt  nicht  und  Mädchen  (ij  2i  nicht  bei  der  Bedienung  der  Giste 
beschäftigt  werden.  Im  übrigen  finden  auf  die  Beschäftigung  von  Kindern  über  zwölf 
Jahre  die  Bestimmungen  des  §  5  Abs.  2  Anwendung. 

§  8.  Beschäftigung  beim  Austragen  von  Waren  und  bei  sonstigen 
Botengängen.  Auf  die  Beschäftigung  von  Kindern  beim  Austragen  von  Waren  und 
bei  sonstigen  Botengängen  in  den  in  §§  4 — 7  bezeichneten  und  in  anderen  gewerbhchen 
Betrieben   finden  die  Bestimmimgen  des  §  5  entsprechende  Anwendung. 

Für  die  ersten  zwei  Jahre  nach  dem  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  kann  die  untere 
\'erwaltungsbehörde  nach  Anhöning  der  Schulaufsichtsbehörde  für  ihren  Bezirk  oder  Teile 
desselben,  allgemein  oder  für  einzehie  Gewerbszweige  gestatten,  daß  die  Beschäftigung 
von  Kindern  über  zwölf  Jahre  bereits  von  6'  .3  Uhr  morgens  an  und  vor  dem  Vormittags- 
unterrichte stattfindet;  jedoch  darf  sie  vor  dem  \'ormittagsunterrichte  nicht  länger  als 
eine  Stunde  dauern. 

vj  9.  Sonntagsruhe.  An  Sonn-  und  Festtagen  dürfen  Kinder,  vorbehaltlich  der 
Bestimmungen  in  Abs.  2,  3,  nicht  beschäftigt  werden. 

Für  die  öffentlichen  theatralischen  \'orstellungen  und  sonstigen  öffentlichen  Schau- 
stellungen bewendet  es  auch  an  Sonn-  und  Festtagen  bei  den  Bestimmungen  des  §  6. 

Für  das  Austragen  von  Waren  sowie  für  sonstige  Botengänge  bewendet  es  bei 
den  Bestimmungen  des  §  8.  Jedoch  darf  an  Sonn-  und  Festtagen  die  Beschäftigung  die 
Dauer  von  zwei  Stunden  nicht  überschreiten  und  sich  nicht  über  ein  Uhr  nachmittags 
erstrecken;  auch  darf  sie  nicht  in  der  letzten  halben  Stunde  vor  Beginn  des  Hauptgottes- 
dienstes und  nicht  während  desselben  stattfinden. 

§  10.  Anzeige.  Sollen  Kinder  beschäftigt  werden,  so  hat  der  Arbeitgeber  vor 
dem  Beginne  der  Beschäftigung  der  Ortspolizeibehörde  eine  schriftliche  Anzeige  zu  machen. 
In  der  Anzeige  sind  die  Betriebsstätte  des  Arbeitgebers  sowie  die  Art  des  Betriebs  an- 
zugeben. 

Die  Bestimmung  des  Abs.  1  findet  keine  Anwendung  auf  eine  bloß  gelegentliche 
Beschäftigung  mit  einzelnen  Dienstleistungen. 

§  11.  Arbeitskarte.  Die  Beschäftigung  eines  Kindes  ist  nicht  gestattet,  wenn 
dem  Arbeitgeber  nicht  zuvor  für  dasselbe  eine  Arbeitskarte  eingehändigt  ist.  Diese  Be- 
stimmung findet  keine  Anwendung  auf  eine  bloß  gelegentliche  Beschäftigung  mit  einzelnen 
Dienstleistungen. 

Die  Arbeitskarten  werden  auf  Antrag  oder  mit  Zustimmung  des  gesetzlichen  \'er- 
treters  durch  die  Ortspolizeibehörde  desjenigen  Ortes,  an  welchem  das  Kind  zuletzt  seinen 
dauernden  Aufenthaltsort  gehabt  hat,  kosten-  und  stempelfrei  ausgestellt;  ist  die  Erklärung 
des  gesetzlichen  Vertreters  nicht  zu  beschaffen,  so  kann  die  Gemeindebehörde  die  Zu- 
stimmung ergänzen.  Die  Karten  haben  den  Namen,  Stand  und  letzten  Wohnort  des 
gesetzlichen  \'ertreters  zu  enthalten. 

Der  Arbeitgeber  hat  die  Arbeitskarte  zu  verwahren,  auf  amtliches  Verlangen  vor- 
zulegen und  nach  rechtmäßiger  Lösung  des  Arbeitsverhältnisses  dem  gesetzlichen  Vertreter 
wieder  auszuhändigen.  Ist  die  Wohnung  des  gesetzlichen  Vertreters  nicht  zu  ermitteln, 
so  erfolgt  die  Aushändigung  der  Arbeitskarte  an  die  im  Abs.  2  bezeichnete  Ortspolizei- 
behörde. 

Beschäftigung  eigener  Kinder. 

^  12.  Verbotene  Beschäftigungsarten.  In  Betrieben,  in  denen  gemäß  den 
Bestimmungen  des  §  4  fremde  Kinder  nicht  beschäftigt  werden  dürfen,  sowie  in  Werk- 
stätten, in  welchen  durch  elementare  Kraft  (Dampf,  Wind,  Wasser,  Gas,  Luft,  Elek- 
trizität usw.)  bewegte  Triebwerke  nicht  bloß  vorübergehend  zur  Verwendung  kommen, 
ist  auch  die  Beschäftigung  eigener  Kinder  untersagt 

v:j  13.  Beschäftigung  im  Betriebe  von  Werkstätten,  im  Handels- 
gewerbe   und    in  \'erkeh rsgew  erben.      Im  Betriebe  von  Werkstätten,  in  denen  die 


54  Volksschulweseii. 

Beschäftigung  von  Kindern  nicht  nach  §  12  verboten  ist,  im  Handelsgewerbe  und  in 
Verkehrsgewerben  dürfen  eigene  Kinder  unter  zehn  Jahren  überhaupt  nicht,  eigene  Kinder 
über  zehn  Jahre  nicht  in  der  Zeit  zwischen  8  Uhr  abends  und  8  Uhr  morgens  und  nicht 
vor  dem  Vormittagsunterricht  beschäftigt  werden.  Um  JMittag  ist  den  Kindern  eine 
mindestens  zweistündige  Pause  zu  gewähren.  Am  Nachmittage  darf  die  Beschäftigung 
erst  eine  Stunde  nach  beendetem  Unterrichte  beginnen. 

Eigene  Kinder  unter  zwölf  Jahren  dürfen  in  der  Wohnung  oder  Werkstätte  einer 
Person,  zu  der  sie  in  einem  der  im  §  3  Abs.  1  bezeichneten  Verhältnisse  stehen,  für 
Dritte  nicht  beschäftigt  werden. 

An  Sonn-  und  Festtagen  dürfen  auch  eigene  Kinder  im  Betriebe  von  Werkstätten 
und  im  Handelsgewerbe  sowie  im  Verkehrsgewerbe  nicht  beschäftigt  werden. 

§  14.  Besondere  Befugnisse  des  Bundesrats.  Der  Bundesrat  ist  ermächtigt, 
für  die  ersten  zwei  Jahre  nach  dem  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  für  einzelne  Arten  der 
in  §  12  bezeichneten  Werkstätten,  in  denen  durch  elementare  Kraft  bewegte  Triebwerke 
nicht  bloß  vorübergehend  zur  Verwendung  kommen,  und  der  im  §  13  Abs.  1  be- 
zeichneten Werkstätten  Ausnahmen  von  den  daselbst  vorgesehenen  Bestimmungen  zu- 
zulassen. 

Nach  Ablauf  dieser  Zeit  kann  der  Bundesrat  für  einzelne  Arten  der  in  §  12 
bezeichneten  Werkstätten  mit  Motorbetrieb  die  Beschäftigung  eigener  Kinder  nach  Maßgabe 
der  Bestimmungen  im  §  13  Abs.  1  unter  der  Bedingung  gestatten,  daß  die  Kinder  nicht 
an  den  durch  che  Triebkraft  bewegten  Maschinen  beschäftigt  werden  dürfen.  Auch  kann 
der  Bundesrat  für  einzelne  Arten  der  im  §  13  Abs.  1  bezeichneten  Werkstätten  Aus- 
nahmen von  dem  Verbote  der  Beschäftigung  von  Kindern  unter  zehn  Jahren  zulassen, 
sofern  die  Kinder  mit  besonders  leichten  und  ihrem  Alter  angemessenen  Arbeiten  be- 
schäftigt werden;  die  Beschäftigung  darf  nicht  in  der  Zeit  zwischen  8  Uhr  abends  und 
8  Uhr  morgens  stattfinden;  um  Mittag  ist  den  Kindern  eine  mindestens  zweistündige 
Pause  zu  gewähren;  am  Nachmittage  darf  die  Beschäftigung  erst  eine  Stunde  nach  be- 
endetem Unterrichte  beginnen.  Die  Ausnahmebestimmungen  können  allgemein  oder  für 
einzelne  Bezirke  erlassen  werden. 

§  15.  Beschäftigung  bei  öffentlichen  theatralischen  Vorstellungen 
und  anderen  öffentlichen  Schaustellungen.  Auf  die  Beschäftigung  eigener 
Kinder  bei  öffentlichen  theatralischen  Vorstellungen  und  anderen  öffentlichen  Schau- 
stellungen finden  die  Bestimmungen  des  §  6  Anwendung. 

§  16.  Beschäftigung  im  Betriebe  von  Gast-  und  Schankwirtschaften. 
Im  Betriebe  von  Gast-  und  von  Schankwirtschaften  dürfen  Kinder  unter  zwölf  Jahren 
überhaupt  nicht  und  Mädchen  (§  2)  nicht  bei  der  Bedienung  der  Gäste  beschäftigt  werden. 
Die  untere  Verwaltungsbehörde  ist  befugt,  nach  Anhörung  der  Schulaufsichtsbehörde  in 
Orten,  welche  nach  der  jeweilig  letzten  Volkszählung  weniger  als  20  000  Einwohner 
haben,  für  Betriebe,  in  welchen  in  der  Regel  ausschließlich  zur  Familie  des  Arbeitgebers 
gehörige  Personen  beschäftigt  werden,  Ausnahmen  zuzulassen.  Im  übrigen  finden  auf  die 
Beschäftigung  von  eigenen  Kindern  die  Bestimmungen  des  §   13  Abs.    1    Anwendung. 

§  17.  Beschäftigung  beim  Austragen  von  Waren  und  bei  sonstigen 
Botengängen.  Auf  die  Beschäftigung  beim  Austragen  von  Zeitungen,  Milch  und  Back- 
waren finden  die  Bestimmungen  im  v<  8,  §  9  Abs.  3  daim  Anwendung,  wenn  die  Kinder 
füf  Dritte  beschäftigt  werden. 

Im  übrigen  ist  die  Beschäftigung  von  eigenen  Kindern  beim  Austragen  von  Waren 
und    bei    sonstigen  Botengängen    gestattet.      Durch  Pohzeiverordnungen  der  zum  Erlasse 
solcher  berechtigten  Behörden  kann  die  Beschäftigung  beschränkt  werden. 
In  §  18  wird  der  Begriff  der  „Werkstätten  im  Sinne  des  Gesetzes", 
in  §  19  der  der  gesetzlichen  Zeit  im  Verhältnis  zur  Ortszeit  näher  bestimmt. 
tj  20    handelt    über    die    Befugnis    der    zuständigen   Polizeibehörden,    gewisse    Fie- 


Zur  Geschichte  der  deutschen  Volksschule.  55 

schäftigungen,  sofern  dabei  erhebliche  Mißstände  zutage  getreten  sind,  im  Wege  der  Ver- 
fügung einzuschränken,  §  21  von  der  Aufsicht  über  die  Befolgung  der  gesetzlichen  Be- 
stimmungen, §  22  über  die  zuständigen  Behörden,  §§  23 — 29  geben  die  Strafbestimmungen 
im  Falle  des  Zuwiderhandelns  gegen  diese  gesetzliche  Bestimmungen  an,  und  §  31  setzt 
den  Termin  für  das  Inkrafttreten  des  Gesetzes  auf  den  1.  Januar  1904  fest. 

Dieses  Gesetz  wird  voraussichtlich  einen  großen  Teil  der 
schweren  Schädigungen  beseitigen,  welche  heute  die  deutsche  Jugend 
zu  tragen  hat.  Aber  auch  bei  der  strengsten  Durchführung  aller 
Paragraphen  wird  noch  ein  weites  Feld  für  neue  gesetzgeberische 
Maßnahmen  auf  diesem  Gebiete,  besonders  auch  zugunsten  der  in 
der  Landwirtschaft  erwerbstätigen  Schulkinder  übrig  bleiben. 

S  c  h  1  u  ß  b  e  m  e  r  k  u  n  g. 

Der  gesetzgeberischen  Arbeit  des  19.  Jahrhunderts  auf  dem  Gebiete 
der  preußischen  Volksschule  und  der  Volksschule  in  den  anderen 
deutschen  Staaten,  aus  welcher  der  gegenwärtige  Zustand  der  Schule 
hervorgegangen  ist,  wird  noch  in  einem  der  folgenden  Kapitel  dieses 
Werkes  gedacht  werden.  Wenn  wir  den  Werdegang,  welchen  dieser 
große  Zweig  der  öffentlichen  Verwaltung  im  19.  Jahrhundert  durch- 
laufen hat,  mit  früheren  Perioden  der  deutschen  Schulgeschichte  ver- 
gleichen, so  drängen  sich  uns  mit  aller  Deutlichkeit  folgende  Er- 
scheinungen auf:  Das  Volksschulwesen  verdankte  in  früheren  Jahr- 
hunderten seine  Fortschritte  und  sein  Gedeihen  ausschließlich  der 
Einsicht  und  dem  Wohlwollen  erleuchteter  Fürsten  und  Regierungen. 
Es  fehlte  an  der  Sicherheit  einer  stetig  fortschreitenden  Entwicklung. 
Der  Gothaische  Schulmethodus  konnte  zu  einer  segensreichen 
Wirkung  nicht  gelangeii,  weil  die  Nachfolger  des  ehrwürdigen 
Herzogs  Ernst  das  Geschaffene  vernachlässigten  und  in  der  Nach- 
ahmung des  Versailler  Hofes  die  Befriedigung  ihres  Ehrgeizes  suchten. 
Die  dürftigen  Mittel,  welche  den  Fürsten  jener  Zeit  die  vielfachen 
Kriegshändel  und  zuweilen  die  Unterhaltung  eines  üppigen  Hofstaates 
übrig  ließen,  reichten  nur  selten  dazu  aus,  um  einen  ehrenwerten 
Lehrerstand  vorzubilden  und  zu  ernähren,  um  die  notwendigen  Schul- 
häuser zu  bauen  und  für  genügende  Kontrolle  des  Schulbesuchs  zu 
sorgen.  Die  breiten  Schichten  der  Bevölkerung  waren  arm  und 
unwissend  und  nahmen  kein  selbständiges  Interesse  an  der  Förderung 
des  Volksschulwesens. 

Jetzt  ruht  der  Fortschritt  der  Volksschule  in  den  deutschen 
Staaten  wie  in  den  anderen  Kulturländern  auf  sicherer,  verfassungs- 
mäßiger Grundlage,  die  Schuleinrichtung'en  sind  als  ein    untrennbares 


56  \'olksschul\vesen. 

Glied  der  geordneten  Staatsverwaltung  eingefügt,  die  finanziellen 
Leistungen,  an  denen  sich  Staat  und  Gemeinden  beteiligen,  sind  durch 
feststehende  Schuletats  dauernd  gesichert,  ein  \'on  der  Größe  seiner 
Aufgabe  tief  durchdrungener  Stand  v^on  Volksschullehrern  bietet  in 
seinem  Bestehen  eine  sichere  Garantie  für  die  stetige  Fortent- 
wicklung aller  Schuleinrichtungen,  schließlich,  und  das  ist  das 
wichtigste,  ist  das  gesamte  Volk  ebenso  wie  seine  Herrscher  und 
Regierungen  fest  überzeugt  von  der  Notwendigkeit  einer  allgemein  ver- 
breiteten, stetig  fortschreitenden  Jugend-  und  Volkserziehung. 


KAPITEL  II. 
Allgemeine  Übersicht  und  konfessionelle  Verhältnisse. 


1.    Allgemeine  Übersicht. 

Wenn  wir  nun  dazu  übergehen,  ein  Bild  von  dem  heutigen 
Stande  des  deutschen  Volksschuhvesens  zu  zeichnen,  so  wollen  wir, 
um  die  ersten  Umrißlinien  zu  gewinnen,  zunächst  einige  leicht  über- 
sehbare runde  Zahlen  geben,  denen  wir  später  im  einzelnen  ge- 
nauere Angaben  folgen  lassen  werden. 

Das  Deutsche  Reich  hatte  nach  der  letzten  Zählung  vom 
1.  Dezember  1900  eine  Gesamtbevölkerung  von  fast  561/.2  Millionen. 
Davon  waren  27-^/4  Millionen  männlich  und  nahezu  28'V4  Millionen 
weiblich.  Schulpflichtige  Kinder  (im  Alter  von  () —  1 4  Jahren  i  wurden 
im  ganzen  9,8  Millionen  gezählt,  die  sich  auf  Knaben  und  Mädchen 
in  der  Weise  verteilen,  daß  die  ersteren  um  rund  20  000  überwogen. 
Der  weitaus  größte  Teil  der  schulpflichtigen  Jugend,  nämlich  8,9  Mil- 
lionen oder  90,80',,,  erhält  Unterricht  und  Erziehung  in  den  öflent- 
lichen  Volksschulen,  während  der  Rest  (0,9  Millionen  oder  9,2%)  in 
anderen  Anstalten  (mittleren  und  höheren  Schulen,  Privatschulen, 
Taubstummen-  und  Blindenanstalten  usw. )  untergebracht,  bezw.  bei 
siebenjährigem  Schulbesuch  der  Schule  noch  nicht  überwiesen  oder 
vor  dem  1 4.  Jahre  bereits  entlassen  ist.  Im  ganzen  Reiche  sind  nahezu 
60  000  öffentliche  Volksschulen  vorhanden,  an  denen  144  000  Lehr- 
kräfte (122  000  Lehrer  und  22  000  Lehrerinnen  i  tätig  sind,  so  daß  im 
Durchschnitt  auf  je  ()1    Schüler  eine  Lehrkraft  kommt. 

Die  gesamten  Unterhaltungskosten  der  deutschen  V^olksschule 
beliefen  sich  auf  über  415  Millionen  M.,  oder  auf  durchschnittlich 
47  M.  für  jedes  Schulkind.  Von  diesen  Kosten  wurden  aus  Staats- 
mitteln   über    120  Millionen  M.  gezahlt,    während    nahe    an    295  Mil- 


58 


Volksschulwesen. 


Zahl      d 


Staat 


Gesamt- 

bevölke- 

ning 


Schüler  in 
öffentlichen 

Volks- 
schulen 


öffent- 
lichen 
Volks- 
schulen 


Lehrkräfte 


weib- 
lich 


überhaupt 


Preußen |  34  472  509]    5670870     36  756 

Bayern 6  176  057         873399        7  280 

Königreich  Sachsen    .  4  202  216         685  771         2  273 

Württemberg 2  169  480        295  325        2  353 

Baden 1  867  944         273149        1  677 

Hessen     1  119  893         165  707           984 

jMecklenburg-Schwerin  607  770 

Sachsen-Weimar     .   .   .  362  873 

T^Iecklenburg-Strelitz    .  102  602 

Oldenburg 399  180 

Braunschweig 464  333 

Sachsen-^Ieiningen  .  .  250  731 

Sachsen-Altenburg    .  .  194  914 

Sachsen-Coburg-Gotha  229  550 

Anhalt 316  085 

Schwarzb.-Sondershaus.  80  898 

Schwarzb.-Rudolstadt  .  93  059 

Waldeck 57  918 

Reuß  alt.  L 68  396 

Reuß  j.  1 139  210 

Schaumburg-Lippe    .  .  43  132 

Lippe 138  952 

Lübeck 96  775 

Bremen 224  882 

Hamburg 768  349 

Elsaß-Lothringen    ...  1719470 

Deutsches  Reich    .   .   .  56  367  178      8  829  812      58  164 


5670  870 
873399 
685  771 
295  325 
273149 
165  707 

59  528 
16  057 
66  721 
81396 
44  011 
34  448 
39  422 
52  684 
13  918 
16  222 

10  294 
13  206 
21  702 

7  648 
23  895 

11  897 
27  830 
98610 

226  102 


629 
233 
614 
453 
318 
197 
244 
253 

94 
138 
124 

60 
117 

44 
128 

53 

57 

182 

2  903 


76  342 

13  866 

12  184 

2715 

10  003 

401 

4  615 

494 

3  631 

418 

2  525 

222 

979 

15 

348 

34 

1  101 

120 

1  142 

151 

656 

54 

495 

23 

625 

79 

814 

154 

211 

7 

263 

2 

166 

6 

162 

19 

317 

20 

72 
')61 

5 

187 
498 

1  653 

2  895 


158 

97 

950 

2  329 


89  208 

14  899 
10  404 
5  109 
4  049 
2  747 

994 
382 

1  221 
1293 

710 
518 
704 
968 
218 
265 
172 
181 
337 
79 
261 
345 
595 

2  603 
5  224 


122  145     22  339       144  484 


lionen  ^l.  au.s  andern  Quellen    (Beiträge  der    Gemeinden,    Stiftungen, 
Schulgeld)  gedeckt  wurden. 

Auf  das  Tau.send  der  Bevölkerung  kamen  im   Durch.schnitt    des 
ganzen  Deutschen  Reichs: 

schulpflichtige  Kinder 1 74,4 

Schüler  öffentlicher  Volksschulen  .     .     .  156,6 

öffentliche  Volksschulen 1,03 

Lehrkräfte 2,56 

Volksschul-Unterhaltungsko.sten      .     .     .  7325  M. 


Allgemeine  Übersicht  und  konfessionelle  Verhältnisse. 


59 


' 

' 

Auf  das  Tausend  d.  Bevölk 

kommen 

Auf 

Volks^f'^'diintprVialtnnorsl.-nstpn 

1  Lehr- 

 & ' 

Schülerin 
öffentHch. 

öfifent- 
liche 

Lehr- 

Volksschul-1 

kraft 

aus  Staats- 

Aus 

auf  1 

Unter- 

kommen 
Schüler 

mitteln 
1000  M. 

anderen 
Quellen 

■K     1           . 

überhaupt 
1000  M. 

Schüler 
M. 

Volks- 
schulen 

Volks- 
schulen 

kräfte 

haltungs- 
kosten 
M. 

63 

73066 

196  851 

269  917 

48 

1 

1      164,8 

1,06 

2,6 

7  830 

59 

14  206 

35  560 

39  766 

46 

141,4 

1,02 

2,4 

6  439 

66 

4  773 

29  550 

34  323 

50 

163,2 

0,54 

2,5 

8  168 

58 

3  748 

8517 

12  265 

42 

136,1 

1,08 

2,4 

5  654 

67 

2  396 

8  603 

10  999 

40 

146,2 

0,90 

2,2 

5  888 

60 

2  506 

5  369 

7  875 

48 

147,9 

0,88 

2,5 

7  031 

60 

977 

1  590 

2  567 

43 

163,9 

1,73 

2,7 

7  071 

42 

372 

164 

536 

33 

156,6 

2,27 

3,7 

5  229 

55 

990 

1945 

2  935 

44 

167,0 

1,53 

3,1 

7  356 

63 

754 

2  867 

3  621 

44 

175,2 

0,97 

2,7 

7  798 

62 

592 

1371 

1963 

45 

175,5 

1,26 

2,8 

7  829 

67 

269 

1  104 

1373 

40 

176,6 

1,01 

2,6 

7  041 

56 

494 

1271 

1765 

45 

171,7 

1,06 

3,0 

7  691 

54 

2312 

371 

2  683 

50 

166,7 

0,80 

3,0 

8  490 

64 

201 

378 

579 

42 

171,7 

1,16 

2,6 

7  148 

61 

155 

377 

532 

33 

174,4 

1,48 

2,8 

5  720 

60 

107 

252 

359 

35 

177,5 

2,14 

2,9 

6  189 

73 

33 

359 

392 

30 

193,0 

0,87 

2,6 

5  731 

64 

286 

532 

818 

38 

155,9 

0,84 

2,4 

5  876 

99 

34 

179 

213 

28 

177,6 

1,02 

1,8 

4  953 

92 

303 

305 

608 

25 

171,9 

0,92 

1,1 

4  374 

34 

648 

124 

772 

65 

122,9 

0,54 

3,6 

7  975 

47 

1  597 

550 

2  147 

77 

123,7 

0,25 

2,6 

9  546 

38 

6  908 

413 

7  321 

74 

128,3 

0,24 

3,4 

9  529 

43 

2  630 

6  239 

8  869 

39 

131,5 

1,10 

3,0 

5  159 

120  357      294  841        415  1' 


47 


Über  die  bezüglichen  Verhältnisse  in  den  einzelnen  Staaten  gibt 
vorstehende  Tabelle  Aufschluß,  die  auf  Grund  von  Veröffentlichungen 
des  Kaiserlichen  statistischen  Amts  (Statistisches  Jahrbuch  für  das 
Deutsche  Reich,  24.  Jahrgang  1903)  aufgestellt  ist. 

Den  Zahlen  über  die  Bevölkerung  im  allgemeinen  liegen  die 
Ergebnisse  der  Volkszählung  vom  I.  Dezember  1900  zugrunde.  Die 
übrigen  Angaben  beziehen  sich  bei  den  meisten  Staaten  auf  das 
Jahr  1901.  Bei  dem  Königreich  Sachsen  auf  1(S99,  bei  Baden  und 
Lippe  auf  1900,  bei  Hamburg  auf  1902. 


60 


\'olksschul\vesen. 


2.    Konfessionelle  Verhältnisse. 

Über    die     Religionsveihältnisse    der     Bevölkerung    des    Deutschen     Reiches    gihi 
folgende   Übersicht  auf  Clrund  der  Xolkszählung  vom   1.  Dezember  1900  Auskunft. 

(Statistisches  Jahrbuch  für  das  Deutsche  Reich,  24.  Jahrgang   1903,  S.  7). 


Am  1. 

Dezember 

1900  wurden  gezählt 

Untei 

lOOOortsanv 

•esen- 

Staaten 

den  Personen  sind 

Bekenner 
anderer 

Reli- 
gionen 

und  Per- 

und 
Landesteile 

Christen 

Israe- 
hten 

Christen 

Israe- 

Evang. 

Kathol. 

Sonst. 

b'ek.  "Re- 

Ev. 

Kath. 

Sonst. 

liten 

ligionen 

Preußen    

21817  577 

12113670 

1 
139  127  392  322 

9  813 

633 

351 

4,0 

11 

i  Bavern 

1749  206 

4  363  178 

7  607 

54  928 

1  138 

283 

706 

1,2 

8,9 

Sachsen    

3  972  063 

198  265 

19  103 

12416 

369 

945 

47 

4,6 

3,0 

Württemberg    .   .   . 

1  497  299 

650  392 

9  426 

11916 

447 

690 

300 

4,3 

5,5 

Baden    

704  058 

1  131  639 

5  563 

26132 

552 

377 

606 

3,0 

14 

Hessen 

746  201 

341  570 

7  368 

24  486 

268 

666 

305 

6,6 

22 

Meckl.-Schwerin     . 

597  268 

8  182 

487 

1763 

70 

983 

13 

0,8 

2,9 

Sachsen-Weimar 

347  144 

14  158 

361 

1  188 

22 

957 

39 

1,0 

3,3 

Meckl.-Strelitz  .  .  . 

100  568 

1  612 

62 

331 

29 

980 

16 

0,6 

3,2 

Oldenburg  

309  510 

86  920 

1334 

1359 

57 

775 

218 

3,3 

3,4 

Braunschweig  .   .   . 

436  976 

24  175 

1271 

1  824 

87 

941 

52 

2,7 

3,9 

1   Sachsen-Meiningen 

244  810 

4  170 

395 

1351 

5 

976 

17 

1,6 

5,4 

j   Sachsen-Altenburg 

189  885 

4  723 

206 

99 

1 

974 

24 

1,1 

0,5 

Sachsen  -  Coburg  - 

(iotha 

225  074 

3  330 

515 

608 

23 

981 

15 

2,2 

2,7 

Anhalt 

301  953 

11699 

794 

1605 

34 

955 

37 

2,5 

5,1 

27 


166 


48 


164  637 

444  48 

466  178 

177  257 


Seh  warzb. -Sonders- 
hausen       79  593  1  110 

Schwarzb.  -  Kudol- 

stadt 1  92  298  676 

^\■aldeck !  55  285  1  831 

Reuß  alt.  Linie  .  .   '  66  860  1  043 

Reuß  jung.  Linie  .  135  958  2  579 

Schaumburg-Lippe  41  908  785 

Lippe 132  708  5157 

Lübeck 93  671  2  190 

Bremen 208  815  13  506 

Hamburg 712  338  30  903 

Elsaß-Lothringen.  372  078     1310  450       4  416     32  264 

Deutsches  Reich    .    35  23 1  1 04  20  327  91 3  203  793  586  833     1 7  535      625      361       siö"  10 


205 
213 


879 
670 


2  984  I  14  1    0,3  i    2,1 

I  I  ! 

992  7,3  0,4      0,5 

1    i  955  32  2,8     11 

1      978  15  6,5      0,7 

29     977  19  3,4       1.3 

5      972  18  4,1       6,0 

3  955  37  1,5       6,3 


31      968 


23 


2,2       7,0 


876       1409         276     929       60      3,9      6,3 
3  149     17  949      4010     927  i     40      4,1     23 
262      216     762       2,6     19 


Über  die  konfessionellen  \'erhältnisse  in  den  \"olksschulen  liegen  für  das  ganze 
Reich  ausführliche  Zahlen  nicht  vor.  Solche  sind  nur  für  Preußen  und  Bayern  und  in 
beschränktem  Maße  auch  für  einige  andere  Staaten  vorhanden. 


Allgemeine  t  bersicht  und  konfessionelle   V'eihiiltnisse.  ^  | 

Im  Königreich  Preußen  wurden  am  27.  Juni   1901    gezählt: 


Schulen 


Schülern  Klassen  Lehrern         Lehrerinnen 


evangelische  24  9 1 0  (67,77  %)  3  443  088  66  034  51017  5  069 

kathohsche  .  1 0  799  (29,38  %)  1936  268  32  677  21083  6  882 

jüdische.     .        244    (0,66  0/,,)  5939  305  290  9 

paritätische.        803    (2,18%;  284  575  5  066  3  943  870 


\'on  den  76  333  Lehrern  waren  53  260  oder  69,77  %  evangelisch,  22  735  oder 
29,78  %  katholisch  und  338  oder  0,44  O/q  jüdisch,  von  12  830  Lehrerinnen  5634  oder 
43,91%  evangelisch,  7140  oder  55,65  7o  katholisch  und  56  oder  0,44%  jüdisch. 

Unter  den  3943  Lehrern  an  paritätischen  Schulen  waren  2243  oder  56,88  "/g 
evangelisch,  1652  oder  41,89%  katholisch  und  48  oder  1,22%  jüdisch,  von  den  870 
Lehrerinnen  565  oder  64,94 "  ij  evangelisch,  258  oder  29,65  0,1  katholisch  und  47  otler 
5,40  0,,  jüdisch.     Unter  den  5  670  870  Schulkindern  waren: 

evangelisch 3  520  743     (62,09  0/,,) 

katholisch 2118815     (37,36  O/o) 

sonst  chrisdich  ....  7  290       (0,1 1  0/^) 

jüdisch 24  022       (0,43  0/0). 

\'on  den  3  443  088  Schülern  evangelischer  Schulen  waren  : 

evangehsch 3  365  916     (97,75  0^,,) 

katholisch 61541       (1,79  0/^) 

sonst  christlich  ....  6991        (0,200/o) 

jüdisch 8  640       i0,25  0/n). 

Von  den   1  936  268  Schülern  katholischer  Schulen  waren : 

evangelisch 16  342       (0,84",|l 

katholisch 1916  527     (98,98  0  „| 

sonst  christlich  ....  39  — 

jüdisch 3  283       (0,17  o^). 

\'on  den  6939  Schülern  jüdischer  Schulen  waren: 

katholisch 2  — 

jüdisch 6  937       (100o/y). 

Von  den  284  575  Schülern  paritätischer  Schulen  waren: 

evangelisch 138  408     (48,64  0/0) 

katholisch 140  745     (49,45  o/„) 

sonst  christlich  ....  260       (0,09  O/q) 

jüdisch 5  162       (1,810/,,). 

\  on   100  evangelischen  .Schulkindern  befanden  sich   in: 

evangelischen  Schulen 95,60 

katholischen  „         0,47 

paritätischen  „         3,93. 

Von  100  katholischen  Schulkindern  befanden  sich  in: 

katholischen  Schulen 90,45 

evangelischen       „  2,90 

paritätischen         „  6,65. 


^2  \'olks.schuhvesen. 

Von   100  jüdischen  Schulkindern  befanden  sich  in: 

jüdischen  Schulen 28,88 

evangelischen  Schulen 35,97 

katholischen        „  13,66 

paritätischen        „  21,49. 

In  Bayern  waren  von  den  7353  \'olksschulen  im  Schuljahre  1899/00: 

evangelisch 1915     (26,0«^' „t 

kathohsch 5193     (70,6  %l 

jüdisch 86       (1,2  0  q) 

paritätisch 159       (2,2  0/ol. 

Von  insgesamt   18  883  männlichen  Lehrkräften  (ordentliche  Lehrer,  Fachlehrer  und 
Religionslehrer)  waren : 

evangelisch 5759 

katholisch 12  955 

jüdisch 164 

anderer  Konfession 5. 

Von    insgesamt   7688   weiblichen    Lehrkräften    (ordentliche    Lehrerinnen    und  Fach- 
lehrerinnen) waren : 

evangelisch        1 1 89 

katholisch 6488 

jüdisch 9 

anderer  Konfession 2. 

Unter   den    männlichen   Lehrkräften   waren   außer   den   6464    Religionslehrern  noch 
30  ordentliche  Lehrer  (0,2  %  aller  ordentlichen  Lehrer),  unter  den  weiblichen  Lehrkräften 
1153  ordentliche  Lehrerinnen  (7,8%  aller  ordentlichen  Lehrerinnen)    geistlichen  Standes. 
Von  864  030  Schülern  der  Werktagsschulen  waren : 

evangelisch 242  302     (28,04 0,0) 

kathohsch 615  964     (71,29  o/qI 

jüdisch 5  039       (0,58%) 

anderer  Konfession   .     .     .  725       (0,09  O/q). 

Von  286  259  Schülern  der  Feiertagsschulen  waren: 

evangehsch 74  162     (25,91  o,,! 

katholisch 210  971     (73,70  0/,,) 

jüdisch     .  • 969      (0,34  0/,,) 

anderer  Konfession    ...  157       (0,05  0/^). 

Im  Königreich  Sachsen  gab  es  nach  dem  „Handbuch  der    Schulstatistik     für  das 
Königreich  Sachsen,  19.  Ausgabe,"  am   1.  Mai  1903: 

öffentliche  evangelische  Volksschulen       .     2251      (97,91  0  q) 
katholische  „  .         48       (2,09  O;,,). 

Außerdem  waren  noch   12  \'ereins-  und  Stiftungsschulen  und  54  Privatschulen  vor- 
handen,   über    deren    konfessionellen    Charakter    keine    Angaben    vorliegen.      Öffentliche 
paritätische  Schulen  gibt  es  nach  der  angeführten  Quelle  nicht. 
Von  den  Schülern  waren: 

evangehsch 714  395     (96,66  0/^) 

katholisch 21  163       (2,86  o/y) 

sonstig 3  518       (0,48  o/q). 

Unter  den  Lehrkräften  gab    es: 
evangelische:   11  151    Lehrer  und  481  Lehrerinnen,  zusammen   11  632    ( 97,97  0/q) 
katholische:  216        „         „       25  „  „  241      (2,03  0/o). 


Alliremeine   l'hersiclu  und  konfessionelle   X'erhältnissc.  63 

Im    Königreich    Württemberg   gab    es    nach    der   amtlichen    „Statistik   des    Unter- 
richts- und  Erziehungswesens  im  Königreich  Württemberg  auf  das  Schuljahr  1901/2": 
evangelische  Volksschulen      .     1429     (63,97  o,,! 
katholische  „  .       878     (34,82%) 

israelitische  „  .         27       (1,21  O/q). 

Eigentliche    paritätische    Schulen    gibt    es    gesetzlich    nicht;    doch    werden    vielfach 
Schulen  des  einen  Bekenntnisses  von  einzelnen   Schülern  des  andern  gastweise  besucht. 

Die  Zahl  der  Schüler  betrug  in  den 
evangelischen  Volksschulen   100  277  Kn.,    111685  Mädch.,  zusammen    211962    (70,49  O/i,) 
kathohschen  „  42  485     „         46  080        „  „  88  565   (29,42%) 

israelitischen  „  196     „  275        „  „  471       (0,16%). 

Über  die  Konfession  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  liegen  keine  Angaben  vor. 
Im  Großherzogtum  Hessen    gab    es    nach    den  „Mitteilungen    der  Großherzoglich 
Hessischen  Zentralstelle  für  die  Landesstatistik": 

evangelische  Volksschulen      .         45       (4,58%)") 
katholische  „  .         46       (4,68%) 

paritätische  „  .       892     (90,74%)). 

Besondere  israelitische  Schulen  gibt  es  nicht. 
Von  den  Schulkindern  waren: 

evangelisch 114  040     (67,23%) 

kathoHsch 52  757     (31,10  o/q) 

israehtisch 2  037       (1,20%) 

sonstiger  Konfession     .     .  792       (0,47%). 

Über  den  Bekenntnisstand  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  liegen  keine  Angaben  vor. 
Elsaß-Lothringen    hatte    im    Schuljahre    1901/2   unter    2817    öflentlichen   Volks- 
schulen : 

kathoHsche    ....    2322  (82,43%)  mit  3919  Klassen  und  166032  Schülern 
evangelische.     .     .     .      393(13,95%)     „      783         „  „       37  121 

israelitische    ....       58     (2,06  o/q)     „        63        „  „         1469 

gemischter  Konfession       44     (1,56  O/q)     „      292         „  „        13  277 

Von  den  88  Privatvolksschulen  waren: 

katholisch 67  (76,14  O/q)    mit  103  Klassen  und  3394  Schülern 

evangelisch       ....       9  (10,23%)     „        9         „  „      396 

israelitisch 2     (2,27  »/u)     „         2         „  „        26 

gemischter     Konfession      10  (11,36%)     „       21  „  „      539 

Angaben  über  das  Bekenntnis  der  Schüler  in  den  konfessionell  gemischten  Schulen 
liegen  nicht  vor,  ebensowenig  über  das  Bekenntnis  der  Lehrkräfte.  Doch  gehört  hierher 
wohl  die  Angabe,  daß  von  2809  Lehrern  an  den  öflentlichen  Schulen  18  (0,64%),  von 
35  Lehrern  an  den  Privatschulen  3  (8,57  0/1)),  von  2300  Lehrerinnen  an  den  öffenüichen 
Schulen  1305  (56,74%)  und  von  den  109  Lehrerinnen  an  den  Privatschulen  82  (75,23  O/q) 
geistlichen  Standes  waren. 

Im  Hamburgischen  Staate  waren  von  den  Schülern  der  (sämtlich  konfessionell 
gemischten)  öffentlichen  Volksschulen  im  Schuljahr  1901/2: 

evangelisch 93  395  (95,14%) 

katholisch 908     (0,93%) 

israelitisch         111      (0,11%) 

sonst   christlich    oder   eines   anderen    Bekenntnisses     3  750     (3,82  %). 


KAPITEL  III. 

Schulgesetze  und  Schulbehörden,  Schulpflichten  und 
Schullasten. 


I.  Die  Volksschulgesetze. 

Die  wichtigsten  Gebiete  des  Volksschuhvesens,  welche  in  Deutsch- 
land durch  die  Gesetzgebung  geregelt  worden  sind,  lassen  sich  etwa 
folgendermaßen  zusammenfassen : 

Zunächst  haben  die  Gesetzgeber  es  meistens  für  notwendig  ge- 
halten, das  Ziel  festzulegen,  dem  die  gesamte  Tätigkeit  der  Volks- 
schule dienen  soll.  Solche  Zielbestimmungen  richten  sich  natürlich 
nach  dem  zeitweiligen  Vorherrschen  gewisser  politischer  und  religiöser 
Strömungen,  aber  sie  tragen  doch  in  den  meisten  deutschen  Staaten 
ein  ziemlich  einheitliches  Gepräge.  Für  Preußen  gibt  es  bekanntlich 
ein  einheitliches  Schulgesetz  nicht,  aber  die  beiden  Entwürfe  der 
Minister  v.  Goßler  und  v.  Zedlitz  präzisieren  in  ihrem  ersten  Paragraphen 
das  Ziel  der  Volksschule  übereinstimmend  folgendermaßen: 

„Aufgabe  der  Volksschule  ist  die  religiöse,  sittliche  und  vater- 
ländische Bildung  der  Jugend  durch  Erziehung  und  Unterricht  sowie 
die  Unterweisung  derselben  in  den  für  das  bürgerliche  Leben  nötigen 
allgemeinen  Kenntnissen  und  Fertigkeiten." 

Auch  Bayern  besitzt  kein  einheitliches  Schulgesetz,  doch  bringt 
die  folgende  Definition  in  dem  Handbuch  des  bayerischen  Volksschul- 
rechtes von  Dr.  Joh.  Anton  Englmann  (1888j  §  I  den  herrschenden 
Geist  des  bayerischen  Volksschulwesens  und  die  Anschauungen  der 
maßgebenden  Kreise  zum  Ausdruck.     Es  heißt  da: 

„Die  Volksschulen  sind  öffentliche  Anstalten,  welche  die  für  das 
häusliche,  bürgerliche  und  kirchliche  Leben  insgemein  notwendige 
Bildung  (Elementarbildung)  zu  vermitteln  bestimmt  sind.  Sie  sollen 
die  im  Elternhause  begonnene  religiös-sittliche  Erziehung  der  Jugend 
während    eines    gewissen  Lebensalters    fortsetzen    und   zur  Erlangung 


Schulgesetze  und  Scliulljeliörden,  Schuliitlichten   und  ScluiUasteii.  55 

jener  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  verhelfen,  welche  für  jedermann 
ohne  Unterschied  der  Berufsarten  zur  Erreichung  der  Lebenszwecke 
erfordert  werden  und  daher  Gemeinbesitz  aller  Klassen  des  Volkes 
sein  sollen,  gleichwie  sie  auch  die  Grundlage  für  alle  Weiterbildung 
in  den  einzelnen  Berufszweigen  sind." 

Die  Zielbestimmungen  in  den  Schulgesetzen  einer  Anzahl 
anderer  deutscher  Staaten  lassen  wir  folgen: 

J.Zweck  der  Volksschulen  ist  religiös-sittliche  Bildung  und  Unterweisung  der  Jugend 
in  den  für  das  bürgerliche  Leben  nötigen  allgemeinen  Kenntnissen  und  Fertigkeiten." 
(Württemberg,      (besetz  vom  29.  September   1836  Art.   1.) 

„Die  \'olksschule  hat  die  Aufgabe,  der  Jugend  durch  Unterricht,  Übung  und  Er- 
ziehung die  Grundlagen  sittlich-religiöser  Bildung  und  die  für  das  bürgerliche  Leben 
nötigen  allgemeinen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  zu  gewähren."  (Sachsen.  Gesetz  vom 
26.  April  1873  §  1.) 

„Der  Unterricht  in  der  Volk.sschule  soll  die  Kinder  zu  verständigen,  religiös- 
sittlichen Menschen  und  dereinst  tüchtigen  Mitgliedern  des  Gemeinwesens  heranbilden." 
(Baden.     Gesetz  vom  8.  März  1868  §  25.) 

„Die  Volksschule  hat  die  Aufgabe,  der  Jugend  durch  Unterricht,  Übung  und 
Erziehung  die  Grundlage  religiös-sittlicher  und  nationaler  }5ildung  und  die  für  das  bürger- 
liche Leben  nötigen  allgemeinen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  zu  gewähren."  (Hessen. 
Ciesetz  vom  6.  Juni  1874  Art.   1.) 

„Die  \'olksschule  hat  die  .\ufgabe,  der  Jugend  durch  Unterricht  und  Ei-ziehung 
die  Grundlagen  sittlich-religiöser  Bildung  und  die  für  das  bürgerliche  Leben  nötigen 
allgemeinen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  zu  gewähren."  (Sachsen-Weimar.  Gesetz  vom 
24.  Juni  1874  §  1.) 

„Alle  Volksschulen  sind  so  einzurichten,  daß  die  Jugend  in  denselben  eine  allgemein 
menschliche  und  bürgerliche  sowie  eine  religiös-konfessionelle  Bildung  erhält."  (Olden- 
burg.    Revidiertes  Staatsgrundgesetz  vom  22.  November  1852  Art.  87.) 

„Die  Volksschulen  sind  öffentliche  Lehranstalten,  welche  die  Aufgabe  haben,  der 
Jugend  durch  Unterricht,  Übimg  und  Erziehung  die  Grundlagen  sittlich-religiöser  Bildung 
und  die  für  das  bürgerliche  Leben  nötigen  allgemeinen  Kenntnisse  und  P'ertigkeiten  zu 
gewähren."     (Coburg.      Gesetz  vom  27.  Oktober  1874  Abs.   1.) 

„Die  Volksschule  soll  die  Kinder  zum  bewußten  sitthchen  Handeln  erziehen  und 
die  geistigen  Kräfte  derselben  gleichmäßig  entwickeln.  Nichts  soll  gelehrt  werden,  was 
das  Fa-ssungsvermögen  der  Kinder  übersteigt,  nichts  soll  dem  Gedächtnis  derselben  ein- 
geprägt werden,  was  nicht  zum  Verständnis  der  Kinder  gebracht  worden  ist."  (Gotha. 
(iesetz  vom  26.  Juni  1872  §  3.) 

„Die  niedere  oder  Elementar- Volksschule  hat  die  Aufgabe,  zu  der  für  das  Leben 
im  Staat  und  in  der  Kirche  sowie  für  das  Berufsleben  erforderlichen  Bildung  die  all- 
gemeinen Grundlagen  durch  Unterricht,  Übung  und  gemeinsame  Ordnung  zu  schaffen." 
(Waldeck.     Gesetz  vom  9.  Juli   1855  ^    '■) 

Wenn  wir  von  der  Zielsetzung  im  gothaischen  Schulgesetz  ab- 
sehen, so  werden  der  Volksschule  im  wesentlichen  zwei  Aufgaben 
ge.stellt,  die  sittlich-religiöse  Bildung  und  die  Einprägung  der  für  das 
bürgerliche  Leben  erforderlichen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten.  Die 
Pflege  vaterländischer  Gesinnung  bildet  die  selbstverständliche  Vov- 
aussetzung  für  die  Behandlung  aller  Lehrgegenstände. 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.         III.  S 


66  Volksscluilwesen. 

In  dem  gothaischen  Schulgesetz  tritt  das  konfessionell-religiöse 
Element  in  den  Hintergrund,  und  seine  Stelle  wird  durch  die  Er- 
ziehung der  Kinder  zum  bewulsten  sittlichen  Handeln  ersetzt. 

Wir  haben  gesehen,  daß  bereits  in  den  Schulordnungen  des 
1o.  und  19.  Jahrhunderts  die  Idee  der  allgemeinen  Schul- 
pflicht in  verschiedenen  deutschen  Staaten  ausgesprochen  wurde. 
In  Preußen  finden  sich  erst  in  den  Principia  regulativa  vom 
1 .  August  1 736,  nach  welchen  das  Landschulwesen  im  Königreich 
Preußen  eingerichtet  werden  sollte,  eingehendere  Vorschriften,  die 
dann  durch  das  Königlich  Preußische  Landschulreglement  vom 
12.  August  1763  und  später  durch  das  Allgemeine  Landrecht  für  die 
preußischen  Staaten  von  1 794  näher  ausgeführt  und  bestimmt  wurden. 
Die  Punkte,  auf  welche  es  bei  diesem  Gebiet  der  Gesetzgebung  an- 
kommt, sind:  Beginn  und  Schluß  der  Schulpflicht,  späterer  Eintritt 
wegen  Krankheit  oder  weiten  Schulweges,  vorzeitige  Entlassung  oder 
Dispensation,  die  Kontrolle  des  Schulbesuchs  und  die  den  Schul- 
aufsichtsbehörden zustehenden  Zwangsmittel,  um  die  säumigen  Eltern 
oder  deren  Stellvertreter  zu  veranlassen,  für  den  regelmäßigen  Schul- 
besuch der  ihnen  anvertrauten  Kinder  zu  sorgen. 

„Die  Schulpflicht,  welche  auch  in  den  einzelnen  Landesteilen  Preußens  nicht  immer 
mit  gleichen  Lebensjahren  beginnt  und  endet,  erstreckt  sich  in  Bayern  vom  6.  bis  zum 
zurückgelegten  13.  Jahre,  ebenso  in  Elsaß-Lothringen  für  Mädchen,  in  ^^'ürttemberg  und 
Lippe-Detmold  vom  7.  bis  zum  14.,  in  den  übrigen  Bundesstaaten  vom  6.  bis  14.  Lebens- 
jahre. Li  einzelnen  Staaten,  wie  in  Elsaß-Lothringen,  Bayern  und  Württemberg,  ist  die 
Entlassung  aus  der  Volksschule  von  einer  Abgangsprüfung  abhängig.  Geistig  und  sittlich 
nicht  genügend  reife  Volksschüler  können  überall  (in  Baden  wenigstens  die  Knaben)  ein 
Jahr,  in  Württemberg  sogar  zwei  Jahre  über  die  gesetzliche  Schulpflicht  hinaus  in  der 
^'olksschule  zurückgehalten  werden.  Manche  der  deutschen  Staaten  haben  auch  eine  über 
das  schulpflichtige  Alter  hinausgehende  Verpflichtung  zum  Besuche  von  Fortbildungs-, 
Sonntags-  und  Feierabendschulen  eingeführt.  So  verlangt  Baden  einen  solchen  Schul- 
besuch von  den  Knaben  zwei  Jahre  lang,  von  den  Mädchen  ein  Jahr;  Bayern,  Sachsen 
und  Hessen  fordern  ihn  drei  Jahre  hindurch;  Württemberg  hat  das  18.  Lebensjahr  als 
Grenze  hierfür  festgesetzt;  in  .Sachsen-Coburg-Gotha,  Schwarzburg-Sondershausen  und 
Waldeck  (nur  im  Winter)  besteht  ein  zweijähriger  Kursus  für  Knaben,  in  Sachsen- 
Meiningen  (im  Winter,  in  den  Städten  auch  im  Sommer)  für  beide  Geschlechter. 

Zeitliche  oder  vorübergehende  Befreiungen  von  der  Ableistung  der  allgemeinen 
Schulpflicht  in  der  Volksschule  werden  aus  gesundheitlichen,  wirtschaftlichen  und  ähnlichen 
Rücksichten  überall  gestattet,  haben  aber  einen  Beschluß  der  Schulbehörden  zur  Voraus- 
setzung, so  daß  ein  Mißbrauch  der  Schulpflichtbefreiungen  ausgeschlossen  ist.  Selbst- 
verständlich fällt  der  Zwang  zum  Besuche  der  Volksschulen  fort,  wenn  und  soweit  für 
die  ordnungsmäßige  Beschulung  der  Pflichtigen  anderweit  gesorgt  ist  und  dafür  der  Nach- 
weis erbracht  wird."  *) 


*)  A.  Petersilie.  Das  öftentliche  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reiche  und  in 
den  übrigen  europäischen  Kulturländern.  Leipzig  1897.  Bd.  II  S.  126—127.  (Hand- und 
Lehrbuch  der  Staatsvvissenschaften,  herausgegeben  von  Kuno  Frankenstein.     3.  Abt.,  Bd.  III.) 


Schulgesetze  und  Scluill)fliör(lcu,  SchulptliclUen   und  SchuUasten.  57 

Über  die  Organisation  der  Volksschule,  d.  h.  über  Umfang 
und  Ausbau  der  gesetzlich  gebotenen  Volksschuleinrichtungen  ent- 
sprechend den  örtlichen  V^erhältnissen,  bestehen  in  den  meisten 
deutschen  Staaten  keine  allgemeingültigen  Vorschriften.  Den 
Gemeinden  wird  bei  der  Ausgestaltung  ihrer  Schulorganismen  ver- 
hältnismäßig große  Freiheit  gewährt.  Nur  in  Sachsen  verlangt  das 
Schulgesetz,  daß  an  Orten,  in  welchen  die  Kinderzahl  hierzu  aus- 
reicht und  die  örtlichen  Verhältnisse  es  gestatten,  eine  gegliederte 
Volksschule  eingerichtet  wird. 

Über  die  Normalzahl  der  den  einzelnen  Klassen  zuzuweisenden 
Schulkinder  bestehen  in  einigen  Staaten  gesetzliche  Vorschriften. 
Diese  normalen  Klassenfrequenzen  sind:  für  Hamburg,  Lübeck  und 
Waldeck  50  Kinder,  für  Bremen  50 — 60,  für  Sachsen,  Lübeck-Land 
und  Meiningen  60,  für  Preußen  in  einklassigen  Schulen  80,  in 
mehrklassigen  nicht  über  70,  in  Elsaß-Lothringen,  Hessen,  Reuß 
j.  Linie  80. 

„Die  Lehrgegenstände  der  Volksschulen  sind  im  allgemeinen  in  allen  Staaten 
dieselben  wie  in  Preußen:  Religion,  Lesen,  Schreiben,  Rechnen,  Anfänge  der  Raumlehre, 
Zeichnen,  Geschichte,  Geographie,  Naturkunde,  Gesang,  Turnen,  weibliche  Handarbeiten. 
Nur  Mecklenburg-Schwerin  hat  auf  dem  Lande  für  Geschichte  und  Naturkunde  keine 
besonderen  Stunden  angesetzt  und  betreibt  Deutsch  und  Geographie  nur  in  den  Domanial- 
schulen  (ursprünglich  landesherrlichen  Patronates).  Raumlehre  hat  neben  dem  Rechnen 
keine  Stelle  in  Bayern,  wo  der  Unterricht  in  weiblichen  Handarbeiten  auch  nur  in  Unter- 
franken und  der  Oberpfalz  obligatorisch  ist.  Andererseits  hat  Braunschweig  neben 
geordnetem  Religionsunterricht  noch  Bibelkunde  und  Rehgionsgeschichte  sowie  Welt- 
geschichte und  „die  Lehre  vom  menschlichen  Körper  und  der  menschlichen  Seele", 
Hamburg  außer  den  übrigen  Gegenständen  des  Volksschulunterrichts  Geometrie  und 
Algebra,  Englisch  und  Französisch,  Physik  und  Chemie ,  da  nur  bei  den  Wenigst- 
bemittelten  die  Aneignung  fremder  Sprachen  als  entbehrlich  erachtet  wird. 

Die  Volksschulen  sind  in  einzelnen  Staaten  ihrer  lehrplanmäßigen  Einrichtung  nach 
in  verschiedene  Grade  geteilt;  so  bestehen  neben  den  „einfachen"  in  Sachsen  „mittlere" 
und  „höhere",  in  Baden,  Hessen,  Oldenburg  und  Anhalt  erweiterte  bezw.  „gehobene", 
die  nicht  nur  klassenmäßig,  sondern  auch  nach  ihren  Lehrzielen  (durch  Hinzunahme 
fremder  Sprachen  usw.)  und  ihrer  Lernzeit  über  den  Rahmen  eigentlicher  \'olksschulen 
hinausgehen."*) 

Auch  das  V^erhältnis  der  Volksschule  zu  der  Fortbildungsschule 
ist  ein  Gebiet  der  Gesetzgebung.  Ein  Fortbildung.szwang  besteht  nur 
in  Bayern,  wo  die  Feiertagsschule  obligatorisch  ist.  Die  Regelung  des 
Verhältnisses  zwischen  Kirche  und  Schule  spielt  in    den  Staaten    mit 

*)  Petersilie  a.  a.  O.  S.  128—129.  \gl.  auch  W.  Rein.  Encyklopädisches  Hand- 
buch der  Pädagogik.  Bd.  VIL  Langensalza  1899.  S.  1027  f.  —  Eine  neue  zweite  Aus- 
gabe dieser  wertvollen  pädagogischen  Encyklopädie  ist  augenblicklich  im  l-"rscheinen  be- 
grifien,  der  erste  Band  (bis  „Degeneration")  liegt  bereits  vor. 


58  Volksschulwesen. 

Stark  konfessionell  gemischter  Bevölkerung  eine  bedeutende  Rolle. 
Die  Simultanschule  ist  gesetzlich  in  Baden,  Hessen,  Weimar  und 
Meiningen  eingeführt.  Die  Erteilung  des  Religionsunterrichts  und  die 
Mitwirkung  der  Geistlichkeit  der  verschiedenen  Konfessionen  bei  der 
Leitung  und  Beaufsichtigung  dieses  Unterrichtsgegenstandes  ist  in  den 
meisten  Staaten  durch  Gesetze  geregelt. 

Die  Ausbildung  der  Lehrer,  ihre  Anstellung,  Besoldung, 
Pensionierung,  ihre  Disziplinarverhältnisse  sowie  die  Ver- 
sorgung ihrer  Hinterbliebenen  sind  in  fast  allen  Staaten  gesetz- 
lich geregelt. 

Die  Voraussetzung  für  die  Anstellung  als  Lehrer  oder  Lehrerin 
ist  überall  vollständige  und  planmäßige  Vorbildung  und  Ablegung 
der  staatlicherseits  verordneten  Prüfungen.  Bei  Lehrern  verleiht  sonst 
das  Bestehen  der  am  Schlüsse  der  Seminarzeit  abzulegenden  ersten 
Prüfung  (Entlassungsprüfung,  Seminarschlußprüfung  usw.)  das  Recht 
zur  vorläufigen  (widerruflichen,  provisorischen  usw.;  Anstellung  im 
Schulamte,  welche  in  Bayern  vier  Jahre,  in  Sachsen,  Württemberg 
und  Hessen  zwei  Jahre,  in  Baden  drei  bis  sechs  Jahre  dauert.  In 
Bayern  und  Hessen  ist  die  Ausbildung  auf  einem  staatlichen  Seminar 
obligatorisch.  In  Sachsen  müssen  nicht  seminarisch  vorgebildete  Lehr- 
amtskandidaten mindestens  19  (Lehrerinnen  lo)  Jahre  alt  sein,  wenn 
sie  zur  ersten  Prüfung  zugelassen  werden  wollen.  Mitglieder  geist- 
licher Orden  sind  in  Baden  und  Hessen  vom  Lehramte  ausgeschlossen. 
In  Bayern  müssen  Ordensschwestern,  um  zum  Lehramte  zugelassen 
zu  werden,  die  zweite  (Befähigungs-i  Prüfung  ablegen.  Die  Lehre- 
rinnen müssen  in  der  Regel  unverheiratet  sein  und  während  der 
Dauer  ihrer  Lehrtätigkeit  unverheiratet  bleiben. 

Die  Pflichten  der  Lehrer  regeln  sich  im  allgemeinen  nach  den 
für  Staatsbeamte  geltenden  Gesetzen,  da  die  Lehrer  zwar  in  der  Regel 
nicht  als  Staatsdiener,  wohl  aber  als  mittelbare  Staatsbeamte  angesehen 
werden.  Hieraus  ergeben  sich  mancherlei  Beschränkungen  ihrer  staats- 
bürgerlichen Rechte ;  so  dürfen  sie  Nebenbeschäftigungen  gegen  Ent- 
gelt nicht  oder  nur  unter  Zustimmung  der  Aufsichtsbehörde  über- 
nehmen, dürfen  nach  Reichsrecht  weder  zu  Schöffen  noch  zu  Ge- 
schworenen berufen  werden,  dürfen  hier  und  da  Ämter  (auch  unbe- 
soldete) der  Selbstverwaltung  nicht  führen,  dürfen  nicht  Jagdpächter 
im  Schulsprengel  (Bayern;  sein  u.  dergl.  m.  Dagegen  haben  sie  ge- 
wisse Rechte  auf  strafrechtlichen  Schutz,  auf  Schutz  bei  der  Zwangs- 
vollstreckung usw.  und  vor  allem  in  den  meisten  Staaten  das  wichtige 


Schulgesetze  und  Schulbehönlen,  Schulptlichten  und  Srluillasteu.  69 

Recht  auf  den  Gehaltsbezug,    die  Pension    und    die    Versori^ung    der 
Witwen  und  Waisen*). 

Die  Schulunterhaltungspflicht  liegt  für  die  Volksschule  in 
allen  deutschen  Staaten  der  politischen  oder  einer  besonders  gebildeten 
Schulgemeinde  ob.  Anteilweise  sind  auch  der  Staat,  in  wenigen 
Bundesstaaten  auch  die  größeren  Kommunalverbände  an  der  Auf- 
bringung beteiligt,  und  dieser  Verpflichtung  der  Gemeinden  entsprechen 
bestimmte  Rechte;  nur  im  Herzogtum  Anhalt  ist  die  Volksschule  aus- 
schließlich eine  staatliche  Anstalt.  Zu  den  Rechten  der  Gemeinde, 
die  der  Aufbringung  der  Schullasten  gegenüberstehen,  gehört  die 
Wahl  der  Lehrer  und  eine  gewisse  Mitwirkung  der  Gemeindekörper- 
schaften durch  ihre  Schulvorstände,  Schulkommissionen  oder  Schul- 
deputationen bei  der  Anlage,  Einrichtung  und  Ausstattung  der  Volks- 
schulen. Die  Stellung  dieser  Ortsschulbehörden  und  ihr  Verhältnis  zu 
den  Organen  der  staatlichen  Aufsicht  sind  in  den  meisten  Staaten 
gesetzlich  geregelt.  Es  ist  meist  Fürsorge  getroffen,  dai.^  in  den 
Schulvorständen  auch  der  Lehrerstand  vertreten  ist. 

An  der  Deckung  der  Schulunterhaltungskosten  ist  fast  in  allen 
Staaten  der  Ertrag  des  Schul  Vermögens  beteiligt,  oft  auch  der 
des  Kirchenvermögens.  „Örtliche  Stiftungen",  ,, Ortsfonds"  (so  in 
Raden),  „Landabfindungen"  und  dergl.  werden  nach  den  Gesetzen 
der  einzelnen  Staaten  überall  zunächst  zur  Deckung  der  Schulkosten 
herangezogen;  in  einzelnen  Fällen  ist  sogar  Vorsorge  getroffen,  daß 
die  Bestandteile  eines  vorhandenen  Schuh-ermögens  planmäßig  ver- 
mehrt, oder  daß  ein  solches  neu  begründet  werde. 

Ein  anderer  Teil  des  Bedarfes  wird  aus  dem  Schulgelde  ge- 
deckt. Wie  in  Preußen,  so  ist  dessen  Erhebung  neuerdings  in  einigen 
anderen  Staaten  des  Reiches  eingeschränkt  worden;  viele  haben  das 
Schulgeld  aber  beibehalten.  So  ist  es  in  Sachsen  eine  gesetzliche 
Einrichtung  und  darf  von  den  Gemeinden  nicht  abgeschafft  werden, 
ist  vielmehr  als  Deckungsmittel  der  Schulunterhaltungskosten  in  die 
erste  Stelle  gerückt.  In  Württemberg  muß  es  erhoben  werden,  so- 
bald der  Fall  des  ,, Gemeindeschadens"  eintritt,  d.  h.  sobald  Umlagen 
zur  Deckung  des  Schulbedarfs  notwendig  werden.  Das  Schulgeld 
wird  in  der  Regel  zur  Gemeinde-,  zuweilen  auch  zur  Staatskasse  er- 
hoben; in  Bayern  und  Elsaß-Lothringen  gebührt  es  aber  dem  Lehrer; 
in  Baden  erhält  der  Lehrer  ein  bestimmtes  Aversum,  welches  alle 
drei    Jahre    festgesetzt    wird    und    unter    einen    Mindestbetrag    nicht 


*)  Vergl.  Petersilie  a.a.O.  S.  132. 


YQ  Volksschulvveseii. 

hinabsinken  soll.  Das  Schulgeld  ist  in  Bayern  auch  für  Kinder,  welche 
die  Schule  nicht  besuchen  und  privatim  unterrichtet  werden,  zu  zahlen ; 
ebenso  kann  in  Sachsen  durch  die  Lokalschulordnungen  bestimmt 
werden,  daß  auch  Kinder,  welche  die  Ortsschule  nicht  besuchen,  zur 
Schulgeldzahlung  bis  zur  Hälfte  des  ortsüblichen  Schulgeldsatzes  heran- 
gezogen werden. 

Die  Schulaufsicht  liegt  in  Deutschland  grundsätzlich  in  den 
Händen  des  Staates.  Keines  der  neueren  Schulgesetze  kennt  eine 
andere  als  die  staatliche  Schulaufsicht,  allerdings  wird  dieselbe  in 
ihren  niederen  Instanzen  meistens  durch  GeistUche  ausgeübt.  Eine 
fachmännische  Aufsicht  durch  solche  Persönlichkeiten,  welche  aus 
dem  Stande  der  Volksschullehrer  selbst  hervorgegangen  sind,  ist  zur 
Zeit  nur  in  seltenen  Fällen  vorhanden.  Die  Ausübung  der  staatlichen 
Schulaufsicht  durch  Geistliche  ist  vorerst  in  Baden,  Hessen, 
Weimar,  Gotha,  Koburg,  Meiningen,  Anhalt,  Reuß  j.  L.,  Hamburg, 
Lübeck,  Bremen  beseitigt  worden.  Li  andern  Staaten  wird  außer  der 
Ortsschulaufsicht  auch  die  Kreisschulaufsicht  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  nebenamtlich  durch  Geistliche  ausgeübt. 

Die  staatlichen  Listanzen  der  Aufsicht  über  die  Volks- 
schule sind,  wenn  auch  die  Namen  der  Behörden  in  den  einzelnen 
Staaten  verschieden  sind,  der  Ortsschulinspektor,  der  Kreis- oder 
Bezirksschulinspektor  und  die  Provinzialbehörde,  über  welcher 
dann  das  Unterrichtsministerium  steht.  In  kleineren  Staaten  kommt 
die  Provinzialbehörde  in  Wegfall. 

Auch  gewisse  Nebenbeschäftigungen  der  Lehrpersonen,  be- 
sonders der  mit  dem  Schulamte  von  Alters  her  verbundene  niedere 
Kirchendienst  (Küsterdienst)  der  Volksschullehrer,  hat  zu  gesetz- 
lichen Maßnahmen  Anlaß  gegeben,  und  ebenso  ist  das  Privat- 
schulwesen vielfach  Gegenstand  der  Gesetzgebung  geworden. 

Die  wichtigsten  auf  das  Volksschulwesen  in  den 
deutschen  Staaten  bezüglichen  Gesetze  sind  in  folgender  Über- 
sicht verzeichnet: 

I.  Preußen.  Wie  schon  angedeutet,  besitzt  das  Königreich 
Preußen  z.  Z.  kein  einheitliches  Schulgesetz,  auch  die  Verhältnisse  der 
Volksschule  sind  nur  zum  Teil  gesetzlich  geregelt.  Die  zahlreichen 
Versuche,  diese  Aufgabe  zu  lösen,  die  Entwürfe  des  Staatsrats  Süvern 
vom  Jahre  1819,  des  Kultusministers  v.  Ladenberg  vom  Jahre  1849, 
der  Minister  v.  Bethmann-HoUweg  von  1 862,  v.  Mühler  1 869,  v.  Goßler 
1890,  Graf  V.  Zedlitz  1891/92  haben  sämtlich  Gesetzeskraft  nicht  er- 
halten.    Dagegen  sind  in  Preußen  wichtige  Spezialgebiete  des  Volks- 


Schulgesetze  und  Scliulbeliördeii,  Schulpilichteii  uiul  Schullasten.  71 

Schulwesens  gesetzlich  geregelt.  Von  diesen  Schulgesetzen  beziehen 
sich  jene,  welche  vor  dem  Jahre  1806  zustande  gekommen  sind, 
der  Mehrzahl  nach  nur  auf  einzelne  Teile  der  Monarchie  und  sind, 
wie  das  nicht  anders  geschehen  konnte,  in  einzelnen  Bestimmungen 
bereits  außer  Kraft  getreten.  In  den  neueren  Provinzen  sind  v^ielfach 
diejenigen  Schulgesetze  noch  in  Geltung,  welche  vor  der  Einverleibung 
derselben  in  den  preußischen  Staat  zu  Recht  bestanden;  das  gilt  bei- 
spielsweise im-  Schleswig-Holstein,  Hannover  und  Nassau. 

Durch  die  preußische  Verfassungsurkunde  vom  31.  Januar  1850 
Art.  20 — 26  wurden  gewisse  Grundlinien  für  die  Regelung  des  ge- 
samten preußischen  Schulwesens  gezogen.  Diese  Grundlinien  sollten 
allerdings  nach  Art.  26  durch  einen  weiteren  Akt  der  Gesetzgebung, 
durch  ein  Schulgesetz,  näher  ausgeführt  und  erläutert  werden,  aber 
dieses  Schulgesetz  ist  bisher  noch  nicht  zustande  gekommen. 

Aus  der  Zeit  vor  1866  sind  folgende  Gesetze  noch  heute 
■i'on  Wichtigkeit: 

A.  Ältere,  nur  für  einzelne  Landesteile  gültige  (besetze: 

1.  Das  allgemeine  Landrecht  von  1794  Teil  II  Titel  XII  (gültig  für  die  alten 
Provinzen  ( bezw.  Ost-  und  Westpreußen,  vergl.  auch  Ziffer  3). 

2.  Katholische  Schulreglements  für  Schlesien  vom  3.  November  1765  und 
18.  Mai    1801. 

3.  Schulordnung  für  die  Provinz  Preußen  (Ost-  und  WestpreußenJ  vom 
11.  Dezember   1845. 

4.  Regulativ  für  Xeuvorpommern  (Regierungsbezirk  Stralsund)  vom  29.  August  1831. 

5.  Allgemeine  Schulordnung  für  die  Herzogtümer  Schleswig  und  Holstein  vom 
24.  August  1814. 

6.  Volksschulgesetz  für  Hannover  vom  26.  jSIai  1845  (Zusätze  vom  14.  Oktober 
1848,  5.  November  1850  und  9.  Oktober  1864j. 

7.  Nassauisches  Schuledikt   vom  24.  Alärz  1817. 

8.  Hessen-Homburgisches  Edikt  vom  9.  Oktober  1838. 

9.  u.   10.    Hohenzollernsche    Schulordnungen    für    Sigmaringen    vom    8.    November  1809, 
für  Hechingen   vom  1.  Juni   1833. 

B.  Die  Preußische  Verfassung  vom  31.  Januar  1850  Artikel  20—26. 

C.  Neuere,  für  das  ganze  Staatsgebiet  gültige  Ciesetze: 

1.  Schulaufsichtsgesetz  vom  11.  März   1872. 

2.  Gesetz,  betrefifend  die  Pensionierung  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  den 
öffenthchen  Volksschulen  vom  6.  Juli   1885. 

3.  Gesetz  über  Ruhegehaltskassen  für  Lehrkräfte  öffentlicher  Volksschulen  vom 
23.  Juli   1893. 

4.  Gesetz,  betreffend  das  Ruhegehalt  der  Lehrer  an  den  öfl'entlichen  nichtstaat- 
lichen mittleren  Schulen  und  die  Fürsorge  für  ihre  Hinterbliebenen  vom 
11.  Juni  1894. 

5.  Gesetz,  betreffend  das  Diensteinkommen  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  den 
öfientlichen  Volksschulen  vom  3.   März  1897. 

6.  Gesetz,  betreffend  die  Fürsorge  für  die  Witwen  und  Waisen  der  Lehrer  an 
öfl'entlichen  Volksschulen  vom  4.  Dezember  1899. 


72  VolksschuUvesen. 

Auf  die  Scliulunterhaltuiigspflicht  beziehen  siclit 

7.  Gesetz,  betrefl'end  die  allgemeine  Landesverwaltung  vom  30.  Juli   1883. 

8.  Gesetz,  betreflend  die  Zuständigkeit    der  N'eiwaltungsbehördeu    ( Zuständigkeits- 
gesetz) vom  1.  August  1883. 

9.  Gesetz,  betreflend  die  Feststellung  der  Anforderungen  für  die  \olksschulen  vom 
26.  Mai  1887. 

10.  Gesetz,    betreffend    die    Erleichterung    der  \olksschullasten    vom   14.  Juni   1888 
und  Ergänzungen  dazu  vom  31.  Mai  1889. 

Aus     diesen     Gesetzen    sind     nur    noch    die    Bestimmungen    über    den 
Wegfall  des  Schulgeldes    und    die    zulässigen  Ausnahmen    davon  in  Kraft. 

In  indirekter  Beziehung  zur  Schule  stehen: 

11.  (besetz,  betreffend  die  Fürsorgeerziehung  Minderjähriger  vom  2.  Juli   1900 

und 

12.  das    Reichsgesetz,     betreffend    Kinderarbeit     in     gewerblichen    Betrieben    vom 
30.  März  1903. 

II.  Ba)'ern.  Auch  in  Bayern  fehlt  es  an  einem  einheitlichen 
Volksschulgesetz,  auch  hier  gelangte  ein  dem  Landtage  am  31.  Oktober 
1867  vorgelegter  Gesetzentwurf  nicht  zur  Annahme.  Nur  wenige 
Partien  des  bayerischen  Volksschulwesens  sind  durch  Spezialgesetze 
geregelt,  im  übrigen  gelten  lande.sherrliche  Verordnungen,  Ministerial- 
und  Regierungserlasse.  Nur  für  die  Gehaltsverhältnisse  der  Lehrer 
ist  durch  das  Schuldotationsgesetz  vom  10.  November  1861  eine 
Grundlage  geschaffen  worden.  Dasselbe  Gebiet  ist  neuerdings  durch 
das  Schulbedarfsgesetz  vom  28.  Juli  1902  von  neuem  geregelt  worden. 

III.  Württemberg.  Das  württembergische  V^olksschulgesetz 
vom  29.  September  1836  ordnet  sämtliche  Verhältnisse  der  Volks- 
schule. Dasselbe  hat  aber  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  wesentliche 
Abänderungen  durch  die  Gesetze  vom  ().  November  1858,  vom 
25.  Mai  1865,  vom  18.  April  1872  u.  a.  m.  erfahren.  Besondere 
Gebiete  regeln  die  Gesetze  vom  30.  Dezember  1877,  betreffend  die 
Rechtsverhältnisse  der  Volksschullehrer,  vom  13.  Juni  1891,  betreffend 
die  Orts.schulbehörde,  vom  31.  Juli  1899,  betreffend  die  Einkommens- 
verhältnisse der  Volksschullehrer,  die  Trennung  des  Mesnerdienstes 
vom  Schulamte  und  die  Rechts\'erhältnisse  der  Lehrerinnen  an  den 
Volksschulen. 

IV.  Sachsen.  Das  sächsische  Volksschulrecht  wurde  zum  ersten- 
mal durch  das  Gesetz  vom  6.  Juni  1835  geregelt,  das  gegenwärtig 
gültige  Schulgesetz    geht    aber  auf  das  Jahr   1873  zurück    (26.  April). 

Neben  diesem  allgemeinen  Schulgesetze  haben  noch 
heute  Gültigkeit: 

1.    Gesetze,    die  Gehaltsverhältnisse    der    I.elirer    an    den  \'olksschulen    betreffend, 
vom  4.  Mai   1892  und  vom  17.    Juni  1898. 


Schult^esetze   und  Scliullicliönlcii,   Schulpilichteii   und  Scliullaslen.  73 

2.  (leset/.,  die  Kmerilierung  ständiger  I.ehier  an  den  N'ulksschulen  betreffend, 
vom  31.   Mär/,   1870,  Nachträge  dazu  vom  9.  April   1872. 

3.  (leset/,  die  Errichtung  einer  Pen.sionskasse  für  die  Witwen  und  Waisen  der 
Lehrer  an  evangelischen  Schulen  betreffend,  vom  1.  Juli  1840.  Abänderung 
und  Ergänzung  desselben  vom  9.  April  1872. 

4.  Gesetz,  den  Wegfall  der  Pensionsbeiträge  der  Geistlichen  und  Lehrer  betreffend, 
vom  10.  März  1890. 

5.  Gesetz,  Abänderung  der  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Pensionsverhältnisse 
der  ständigen  Lehrer  an  den  \'olk.sschulen  und  an  den  höheren  Schulanstalten 
sowie  der  Hinterlassenen  derselben  betreffend,  vom  25.  März  1892. 

V.  Baden.  Das  badische  Volksschulgesetz  vom  8.  März  1868 
ist  durch  eine  Reihe  von  späteren  Maßnahmen  abgeändert  und 
ergänzt  worden.     Die  wichtigsten  Gesetze  sind  folgende: 

1.  Gesetz  vom   13.  Mai   1892  über  den  Elementarunterricht. 

2.  Gesetz  vom  18.  Februar  1874,   den  Fortbildungsunterricht  betreffend. 

3.  Gesetz  vom  4.  Mai  1886,  die  staathche  Fürsorge  für  die  Erziehung  verwahrloster 
jugendlicher  Personen  betreffend. 

4.  Beamtengesetz  vom  24.  Juli   1888. 

5.  Gehaltsordnung  (neueste)  vom  9.  Juli  1902  (4.  und  5.  regeln  auch  die 
\'erhältnisse   der  Lehrer  und  Lehrerinnen). 

6.  Gesetz  zur  Abänderung  des  Gesetzes,  die  Gehaltsverhältnisse  der  Lehrer  an  den 
Volksschulen  und  die  Gewährung  von  Staatsbeihilfen  zu  den  Alterszulagen 
derselben  betreffend,  vom  17.  Juni  1898,  sowie  zur  Abänderung  einer 
Bestimmung  des  Gesetzes,  das  N'olksschulwesen  betreffend  (vom  26.  April  1873), 
vom  26.  Februar  1900. 

VI.  Hessen.  Für  Hessen  sind  folgende  Gesetze  für  das 
X^olksschulvvesen  maßgebend : 

1.  Volksschulgesetz  vom  16.  Juni    1874. 

2.  Lehrergehaltsgesetze  vom  9.  März  1878  und  2.  Januar  190L 

3.  Gesetz,  betreffend  Pensionierung  der  Lehrer  und  Lehrerinnen,  vom  1 .  Oktober  1 870. 

4.  Gesetz,  betrefl'end  Versorgung  der  Witwen  und  Waisen  der  \'olksschullehrer, 
vom  21.  Juli    1900. 

VII.  Die  Übrigen  Staaten. 

1.  Großherzogtum  Oldenburg:  Staatsgrundgesetz  vom  22.  November  1852, 
\'.  Abschnitt:  Von  den  Unterrichts-  und  Erziehungsanstalten.  Gesetz,  betreffend 
Einrichtung  des  Schul-  und  Erziehungswesens  (Schulgesetz  vom  3.  April  1855, 
abgeändert  27.  Juli  1868,  5.  März   1888  und  1.  April  1897 1. 

Fürstentum  Lübeck:   Gesetz,  betreffend  das  Unterrichts-  und  Erziehungs- 
wesen, vom  15.  Januar  1873,    abgeändert  1.  April   1897. 

2.  Mecklenburg-Schwerin  und  Mecklenburg-Streli  tz:    Kein    Schulgesetz. 

3.  Sachsen- Weimar:  Gesetz  über  das  Volksschulwesen  vom  24.  Juni  1874, 
Nachtrag  vom  7.  März  1877,  27.  März   1889  und  1.  Januar  1899. 

4.  Braun  schweig:  Gesetz  über  die  Gemeindeschulen  vom  8.  Lezember  1851 
und  27.  Oktober  1898. 

5.  Anhalt:  Schulgesetz  vom  22.  April  1850,  vielfach  durch  Spezial-Gesetze  ergänzt, 
z.   B.  durch  die  Gesetze  vom  21.  Februar  1873,  24.  März  1883,   12.  April  1897. 

6.  Sachsen-Gotha:  Schulgesetz  vom  1.  Juli   1863  und  26.  Juni   1872. 

7.  Sachsen-Coburg:  Schulgesetz  vom  24.  Oktober  1874. 

8.  Sachsen -Meiningen:  Schulgesetz  vom  22.  März  1875. 


74  Volksschulwesen. 

9.    Sachsen-Altenbuig:    Schulgesetz  vom   12.  Februar  1889. 

10.  Reuß  ältere  Linie:  Schulgesetz  vom  4.  Dezember  1874. 

11.  Reuß  jüngere  Linie:  Schulgesetz  vom  4.  November  1870  und  31.  Juli  1900. 

12.  Schwarzburg-Sondershausen:  Gesetz  über  das  Volksschulwesen  vom 
6.  Mai  1852. 

13.  Schwarzburg-Rudolstadt:  Gesetz  üt)er  das  \\)lksschulwesen  vom 
22.  März  1861. 

14.  Lippe:  Volksschulgesetz  vom  14.  Juni  1885. 

15.  Schaumburg-Lippe:    Gesetz    über    das  N'olksschulvvesen  vom  4.  ]März   1875. 

16.  Waldeck:  Schulgesetz  vom  1.  Oktober  1846  und  Schulordnung  vom 
9.  Juli  1855. 

17.  Hamburg  (freie  Stadt):  Gesetz,  belreflend  das  l"nterrichtswesen,  vom 
n.  November  1870,  nebst  Zusätzen  vom  11.  Februar  1874  und  Abänderungen 
vom  8.  November  1876    und  vom  22.  Juni   1894. 

18.  Bremen  (freie  Stadt J:  Gesetz,  betrefiend  die  Lehrerprüfungen,  vom 
4.  Juli  1893. 

19.  Lübeck  (freie  StadtJ:  Unterrichtsgesetz  vom  20.  Oktober  1885. 

20.  Elsaß-Lothringen:  Gesetz,  betrefiend  das  L'nterrichtswesen,  vom 
12.  Februar   1873. 

2.    Die    Schulbehörden. 

Über  die  Staats-  und  Gemeinde-Behörden,  denen  die  Aufsicht 
und  Verwaltung  der  Volksschulen  in  Deutschland  obliegen,  ist  bereits 
an  einer  früheren  Stelle  gesprochen  worden.  Wie  sich  diese  Ver- 
hältnisse in  den  einzelnen  Bundesstaaten  historisch  entwickelt  haben, 
kann  hier  natürlich  nicht  erschöpfend  dargestellt  werden;  es  mag 
genügen,  wenn  wir  den  Leser  einen  Blick  in  die  wichtigsten  Be- 
stimmungen über  die  Schulaufsicht  in  Preußen  und  einigen  anderen 
größeren  deutschen  Staaten  werfen  lassen. 

I.  Preußen.  Die  Artikel  23  und  24  der  Preußischen  Ver- 
fassungs-Urkunde vom  ,31.  Januar   1850  lauten: 

„Alle  öffentlichen  und  Privatunterrichts-  und  Erziehungsanstalten 
stehen  unter  der  Aufsicht  vom  Staate  ernannter  Behörden.  Die 
öffentlichen  Lehrer  haben  die  Rechte  und  Pflichten  der  Staatsdiener. 

Bei  der  Einrichtung  der  öffentlichen  Volksschulen  sind  die 
konfessionellen  Verhältnisse  möghchst  zu  berücksichtigen.  Den 
religiösen  Unterricht  in  der  Volksschule  leiten  die  betreffenden 
Religionsgesellschaften. 

Die  Leitung  der  äußeren  ^Vngelegenheiten  der  Volksschule  steht 
der  Gemeinde  zu.  Der  Staat  stellt  unter  gesetzlich  geordneter  Be- 
teiligung der  Gemeinden  aus  der  Zahl  der  Befähigten  die  Lehrer  der 
öffentlichen  Volksschulen  an." 

Das  Gesetz  vom  I  1 .  März  1 872,  betreffend  die  Beaufsichtigung 
des  Unterrichts-  und  Plrziehungswesens,  fügt  in  §§  1—3  hinzu: 


.Schulgesetze  und   Scluilbehörclen,  SchulpHichteii   und   Schullasten.  75 

„Unter  .\.ufhcbun<^  aller  in  einzelnen  Lande.steilen  entgegen- 
.stehenden  Bestimmungen  steht  die  Aufsicht  über  alle  öffentlichen  und 
Privatunterrichts-  und  Erziehungsan.stalten  dem  Staate  zu. 

Demgemäß  handeln  alle  mit  dieser  Aufsicht  betrauten  Behörden 
und  Beamten  im  .Vuftrage  des  Staates. 

Die  Ernennung  der  Lokal-  und  Kreisschulinspektoren  und  die 
Abgrenzung  ihrer  Aufsichtsbezirke  gebührt  dem  Staate  allein. 

Der  vom  Staate  den  Inspektoren  der  Volksschule  erteilte  Auftrag 
ist,  sofern  sie  dies  Amt  als  Neben-  oder  Ehrenamt  verwalten,  jeder- 
zeit widerruflich. 

Alle  entgegenstehenden  Bestimmungen  sind  aufgehoben. 

Unberührt  durch  dieses  Gesetz  bleibt  die  den  Gemeinden  und 
deren  Organen  zustehende  Teilnahme  an  der  Schulaufsicht,  sowie  der 
Artikel  24  der  Verfassungsurkunde  vom  'A\ .  Januar    1850." 

Das  heutige  Ministerium  der  geistlichen,  Unterrichts-  und 
Medizinalangelegenheiten,  welchem  in  Preußen  auch  das  gesamte 
Volksschulwesen  untersteht,  i.st  im  Jahre  1817  von  dem  Mini.sterium 
des  Innern  abgezweigt  worden.  Nach  der  Allerhöchsten  Verordnung 
vom  \'A.  Mai  1867  umfaßt  die  Kompetenz  des  preußischen  Kultus- 
ministers für  das  ganze  Gebiet  der  Monarchie:  das  Prüfungswesen  an 
Schulen  jeden  Grades  einschließlich  der  Universitäten,  die  Fest- 
.stellung  der  an  Prüfungen  geknüpften  Berechtigungen,  die  Normierung 
der  Lehrerbesoldungen  und  des  Schulgeldes,  die  Feststellung  der 
Lehrpläne  für  Schulen  jeden  Grades  einschließlich  der  Schullehrer- 
seminare, die  Pensionierung  und  Emeritierung  der  Lehrer  u.  a. 

Seit  1882  besteht  im  preußischen  Kultusministerium  eine  be- 
sondere Abteilung  für  die  Unterrichtsangelegenheiten  des  niederen 
Schulwesens  (der  Volksschule)  einschHeßlich  der  Lehrerseminare, 
des  Unterrichts  für  NichtvoUsinnige ,  des  Mädchenschulwesens  und 
des  Turnunterrichts. 

Dem  Ministerium  sind  die  Provinzialschulkollegien  unterstellt. 
Zu  ihrer  Kompetenz  gehören  die  Gelehrtenschulen  und  die  Lehrer- 
seminare der  ganzen  Provinz  (in  Berlin  auch  das  Volksschulwesen). 
Die  Volksschulen  werden  gewöhnlich  durch  die  Abteilungen  für 
Kirchen-  und  Schulwesen  an  den  Regierungen  der  einzelnen  Re- 
gierungsbezirke beaufsichtigt. 

Für  die  Amtsbefugnisse  der  Provinzialschulkollegien  ist  die 
Dienstinstruk-tion  für  die  Kon.sistorien  vom  28.  Oktober  1817  noch  heute 
maßgebend,  für  die  Abteilungen    für    Kirchen-    und    Schulwesen    der 


75  \'olk.sschul\vesen. 

Bezirksregierungen  die  Geschäftsinstruktion    für  die  Regierungen    von 
demselben  Datum. 

Zur  Ausübung  ihres  Aufsichtsrechtes  über  die  Volksschule  be- 
dient sich  die  Regierung  der  Kreisschulinspektoren. 

Ihre  Amtspflichten  sind  von  verschiedenen  Provinzial-  und  Be- 
zirksregierungen zu  Dienstanweisungen  zusammengefaßt  worden.  Sie 
haben  Sorge  zu  tragen,  daß  alle  inbetreff  der  ihnen  unterstellten 
Schulen  ergangenen  Gesetze  und  Verordnungen  zur  Ausführung 
kommen.  Sie  haben  sich  von  dem  Zustande  der  Schulen  ihres  Amts- 
kreises  in  beständiger  und  genauer  Kenntnis  zu  erhalten,  auf  deren 
gedeihliche  Förderung  nach  besten  Kräften  hinzuwirken  und,  wenn 
sie  auf  Schäden  und  Mängel  stoßen,  nach  Maßgabe  der  bestehenden 
Bestimmungen  dieselben  selbst  zu  beseitigen  oder  die  erforderlichen 
Anträge  bei  der  vorgesetzten  Behörde  zu  stellen.  Bezüglich  ihrer 
Wahrnehmungen  auf  dem  äußeren  Schulgebiete  haben  sie  geeignete 
Anträge  an  den  zuständigen  Landrat  zu  richten.  Sie  haben  auch 
das  amtliche  und  außeramtliche  Verhalten  der  ihnen  unterstellten 
Lehrer  und  Lehrerinnen  zu  überwachen.  Sie  sind  berechtigt,  den- 
selben Warnungen  und  Verweise  zu  erteilen;  wo  das  aber  nicht  aus- 
reichend erscheint,  sind  sie  verpflichtet,  den  Sachverhalt  der  König- 
lichen Regierung  vorzutragen.  Ihre  Aufsicht  erstreckt  sich  auch  auf 
die  amtliche  Wirksamkeit  der  Ortsschulinspektoren;  es  steht  ihnen 
die  Befugnis  zu,  denselben  Anweisungen  zu  erteilen  und  Vorhaltungen 
zu  machen. 

Die  Kreisschulinspektoren  sind  nur  zum  kleineren  Teile  Staats- 
beamte im  Hauptamte;  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  werden  die 
Funktionen  des  Kreisschulinspektors  in  Preußen  nebenamtlich  durch 
Geistliche  versehen,  in  vereinzelten  Fällen  sind  auch  Stadtschulräte, 
Stadtschulinspektoren,  Magistrate,  Stadtschuldeputationen  u.  a.  wider- 
ruflich mit  der  Kreisschulaufsicht  beauftragt. 

Der  Kreisschulinspektor  ist  der  nächste  Vorgesetzte  des  Orts- 
schulinspektors. Diese  letztere  Stellung  wird  in  Preußen  gewöhnlich 
\on  Geistlichen  für  ihren  Amtsbezirk  oder  \on  Rektoren  für  ihre 
Schule  ausgeübt. 

Der  Ortsschulinspektor  ist  der  nächste  Vorgesetzte  des  Lehrers, 
wo  nicht  Rektoren  mit  voller  Rektoratsbefugnis  bestellt  sind,  für  welchen 
Fall  besondere  Bestimmungen  gelten. 

Die  Pflicht  des  Ortsschulinspektors  besteht  im  allgemeinen 
darin,  da1?>  er  die  Beobachtung  aller    auf   die    \'olksschule    überhaupt 


Schulgesetze  und  Schulbehörden,  Schulpflichten  und  Schuliasten.  77 

und  die  besondere  Schule  bezüt^dichen  höheren  Orts  erlassenen  Be- 
stimmungen überwacht. 

Die  Organe  der  Gemeinde,  welchen  eine  Mitwirkung  an  der 
Verwaltung  des  Volksschulwesens  zaisteht,  sind  in  Preußen  die  Schul- 
deputationen und  Schulvorstände. 

Für  die  Zusammensetzung  und  die  Befugnisse  der  Schuldepu- 
tationen ist  die  Instruktion  für  die  städtischen  Schuldeputationen  vom 
26.  Juni  1811  grundlegend.  Über  die  Zusammensetzung  bestimmt 
^  2  dieser  Instruktion: 

„Die  Schuldeputationen  sollen  nach  Maßgabe  der  Größe  der 
Städte  und  ihres  Schulwesens  bestehen  aus  1 .  einem  bis  höchstens 
drei  ^Mitgliedern  des  Magistrats,  2.  ebensoviel  Deputierten  des  Stadt- 
verordnetenkollegii,  3.  einer  gleichen  Anzahl  des  Schul-  und  Erziehungs- 
wesens kundiger  Männer  und  4.  einem  besonderen  Vertreter  der- 
jenigen Schulen,  welche,  ungeachtet  sie  nicht  städtischen  Patronats 
sind,  den  Schuldeputationen  werden  untergeordnet  werden.  Außer- 
dem sollen  in  den  größeren  Städten  die  Superintendenten,  inwiefern 
sie  nicht  schon  zu  ordentlichen  Mitgliedern  der  Schuldeputationen 
gewählt  sind,  das  Recht  haben,  in  denselben  die  Schulangelegenheiten 
ihrer  resp.  Diözesen  vorzutragen  und  darüber  ihre  Stimme  abzu- 
geben." 

Der  Wirkungskreis  der  Schuldeputationen  sowie  das  von  ihnen 
auszuübende  Aufsichtsrecht  wird  durch  die  §§  10 — 21  näher  um- 
schrieben.    Die  wichtigsten  Bestimmungen  daraus  sind  folgende: 

10.  Der  Wirkungskreis  der  städtischen  Schuldeputationen  dehnt  sich  zunächst  auf 
sämtliche  I.ehr-  und  Erziehungsanstalten  innerhalb  der  Städte  und  deren  Vorstädte  aus, 
welche  städtischen  Patronats  sind,  ohne  Unterschied  der  Konfessionen  und  der  ver- 
schiedenen Arten  und  Grade  der  Schulen.  Die  städtischen  Waisenhäuser,  Armen-  und 
milden  Stiftungsschulen  sind  mit  darunter  begriflen,  und  nur  in  Ansehung  der  \'erwaltung 
konkurriert  bei  ihnen  die  Armendirektion. 

Ferner  werden  sämthche  Elementarschulen  in  den  Städten,  welche  nicht  städtischen 
Patronats  sind,  und  zwar  die  königlichen  ganz  uneingeschränkt,  die  übrigen  mit  Vorbehalt 
der  Lehrerwahlen  und  der  Vermögensverwaltung  für  die  Patrone,  den  städtischen  Schul- 
deputationen untergeordnet,  imgleichen  die  .Schulen  der  jüdischen  Gemeinden. 

Über  alle  Privatschulen  und  Institute  führen  unter  der  Leitung  der  Regierung  die 
Schuldeputationen  die  Aufsicht,  welche  der  Staat  in  Ansehung  derselben  ausübt. 

1L  Das  den  Schuldeputationen  zugestandene  Recht  der  Aufsicht  erstreckt  sich 
dahin,  daß  sie  auf  genaue  Befolgung  der  Gesetze  und  Anordnungen  des  Staats  in  An- 
sehung des  ihnen  untergebenen  Schulwesens  halten,  auf  die  zweckmäßigste  und  den 
Lokalverhältnissen  angemessenste  Art  sie  auszuführen  suchen,  darauf  sehen,  daß  das 
Personal  derer,  die  am  Schulwesen  arbeiten,  seine  Pflicht  tue,  und  es  dazu  anhalten,  daß 
sie  das  Streben  zum  Bessern  in  demselben  anzufachen,  endlich  daß  sie  regelmäßigen  und 
ordentlichen  Schulbesuch  .sämtlicher  schulfähigen  Kinder  des  Orts  zu  bewirken  und  zu 
befördern  suchen. 


78  Volksschulwesen. 

12.  Sie  haben  deswegen  nicht  nur  die  Befugnis,  den  Prüfungen  und  Zensuren 
der  Schulen  beizuwohnen,  sondern  sind  auch  veipflichtet,  diese  von  Zeit  zu  Zeit  außer- 
ordentlich zu  besuchen  und  sich  aufs  genaueste  in  ununterbrochener  Kenntnis  ihres 
ganzen  inneren  und  äußeren  Zustandes  zu  erhalten.  Vorzüglich  liegt  dies  den  sach- 
kundigen Mitgliedern  der  Deputation  ob. 

In  Beziehung  auf  die  Rektoren  def  größeren  Schulen  müssen  aber  die  Deputationen 
den  Gesichtspunkt  fassen,  daß  diesen  innerhalb  des  dui-ch  die  Gesetze  und  Vorschriften 
des  Staates  gezogenen  oder  noch  zu  bestimmenden  Geschäftskreises  die  freieste  Wirksam- 
keit zu  lassen  sei.  Obwohl  sie  daher  berechtigt  sind,  denselben  über  Gegenstände  der 
Schuleinrichtung  und  Verwaltung,  worin  Verbesserungen  möglich  oder  nötig  sind,  Vor- 
stellungen zu  machen,  auch  erforderlichenfalls  sie  dazu  sowie  überhaupt  zu  ihrer  Pflicht 
ernstlich  zu  ermuntern,  so  haben  sie  sich  doch  einer  jjositiven  Einmiscliung  in  ihren 
amtlichen  \\  irkungskreis  gänzlich  zu  enthalten. 

16.  Ebenso  sehr  aber  wie  auf  die  Tätigkeit  der  Schuldeputationen  in  der  .\ufsicht 
über  das  Schulwesen  wird  auf  ihren  Eifer  in  der  Fürsorge  für  dasselbe,  um  es  in  guten 
Zustand  zu  bringen  und  darin  zu  erhalten,  gerechnet.  Sie  haben  daher  dafür  zu  sorgen, 
daß  jeder  Ort  die  seiner  Bevölkerung  und  seiner  Bedeutsamkeit  angemessene  Anzahl  und 
Art  von  Schulen  erhalte,  daß  das  Vermögen,  die  Gebäude  und  sonstigen  Pertinenzien 
der  Schulen  ungeschmälert  in  guter  Verfassung  und  möglichst  geschont  bleiben,  auch  daß 
sie  nach  den  Bedürfnissen  vermehrt,  verbessert,  zweckmäßiger  eingerichtet  und  verwaltet 
■werden.  Nach  den  Bedürfnissen  der  Schulen  in  Ansehung  des  Unterrichts  und  seiner 
Hilfsmittel  haben  sie  sich  sorgfältig  zu  erkundigen  und,  so  oft  sie  dergleichen  wahr- 
nehmen oder  sie  ihnen  angezeigt  werden,  ihnen  nach  Möglichkeit  entweder  selbst  abzu- 
helfen oder  den  kompetenten  Behörden  darüber  Anträge  zu  machen.  Das  Ansehen  der 
.Schulen  und  ihrer  Lehrer  haben  sie  aufrecht  zu  erhalten  und  dahin  zu  streben,  daß  diesen 
durch  eine  sorgenfreie  Lage  die  zur  Erfüllung  ihres  verdienstlichen  und  schweren 
Berufes  nötige  Heiterkeit  und  Muße  erhalten  werde.  Das  Interesse  ihrer  Mitbürger  für 
das  Schulwesen  sollen  sie  zu  beleben  und  dasselbe  zu  einem  der  wichtigsten  Gegenstände 
ihrer  Aufmerksamkeit  und  Pflege  zu  machen  sich  bemühen. 

20.  Die  Lehrerwahlen  bleiben  bei  den  Schulen,  die  rein  städtischen  Patronats 
sind,  noch  bei  den  Magistraten,  nur  daß  das  Gutachten  der  sachverständigen  Mitglieder 
der  Schuldeputation  jedesmal  eingezogen  werden  muß. 

21.  Die  Verhältnisse  der  Mitglieder  der  Schuldeputation  untereinander  bestimmen 
sich  nach  §  176  der  Städteordnung.  Sie  halten  ihre  ordentlichen  Zusammenkünfte  alle 
vierzehn  Tage  auf  dem  Rathause  jedes  Orts.  Außerdem  aber  versammeln  sie  sich,  so  oft 
es  nötig  ist. 

Es  steht  ihnen  frei,  Geistliche  oder  andere  sachverständige  Männer  außer  den 
Deputationen  in  vorkommenden  Fällen  zuzuziehen,  auch  bei  außerordentlichen  Veran- 
lassungen größere  Versammlungen  der  Prediger,  Lehrer  oder  Schulvorsteher  eines  Ortes 
zu  veranstalten. 

Durch  .spätere  Mini.sterialerlasse  und  Instruktionen  sind  diese 
Funktionen  der  städtischen  Schuldeputationen  näher  umschrieben  und 
insbesondere  gegenüber  den  Rechten  der  anderen  staatlichen  Auf- 
sichtsbeamten, wie  der  Regierung,  des  Landrats,  der  Kreis-  und  Orts- 
schulin-spektoren,  abgegrenzt  worden. 

Den  Schuldeputationen  der  größeren  Städte  entsprechen  in 
ihren  Funktionen  auf  dem  Lande  die  Schulvorstände.  Der  Vorstand 
.setzt  sich,  wofern  die  Schule  nicht  königlichen  Patronats  ist,  aus 
ihrem   Patron,    immer    aber    aus    dem  Prediger    und    nach  Verhältnis 


Schulgesetze  und  Scliulheliörden,  Scliulpllichtcn   und   Scluillasten.  79 

der  Schulsozietät  aus  2 — 4  Familieiu'ätern  zusammen,  unter  denen, 
wo  es  angeht,  der  Schulze  des  Ortes  sein  muß.  Ist  die  Schule 
königlichen  Patronats,  so  bedarf  es  in  dem  Vorstande  keines  Ver- 
treters des  Patrons.  Der  Prediger,  als  Lokalschulinspektor,  soll  v^or- 
nehmlich  für  das  Innere  des  Schulwesens  Sorge  tragen,  die  übrigen 
Vorstandsmitglieder  für  das  Äußere  (Rundverfügung  des  Unterrichts- 
ministers vom  28.  Oktober  1812). 

In  neuerer  Zeit  hat  der  Minister  in  mehreren  Erlassen  an  die 
Regierungen  die  Aufnahme  eines  Rektors  oder  Lehrers  in  die  Schul- 
deputationen und  Schulvorstände  als  erwünscht  bezeichnet.  Bemerkens- 
wert ist  besonders  der  Erlaß  vom  22.  Februar  1902,  aus  dem  folgende 
Bestimmungen  hier  eine  Stelle  finden  mögen: 

„Ich  mache  es  den  Regierungen  wiederholt  zur  PHicht,  daliin  zu  wirken  und 
jedenfalls  überall  da,  wo  gesetzliche  Bestimmungen  nicht  entgegenstehen,  Maßregeln  zu 
trefl'en,  daß  die  Teilnahme  der  Lehrerschaft  an  der  Verwaltung  der  Schule  gesichert 
wird.  Wenn  nur  ein  Lehrer  vorhanden  ist,  wird  dieser,  vorausgesetzt,  daß  er  endgiltig 
angestellt  ist,  dem  Schulvorstande  als  Mitglied  beizutreten  haben  .  .  .  Sind  mehrere  Lehrer 
vorhanden,  so  wird  die  Bestimmung  darüber,  welcher  Lehrer  dem  Schulvorstande  beizu- 
treten hat,  den  Regierungen  vorzubehalten  sein.  In  der  Regel  ist  der  erste  oder  älteste 
Lehrer  hierfür  in  Aussicht  zu  nehmen. 

Durch  den  Hinzutritt  eines  Lehrers  in  den  Schulvorstand  soll  indes  nicht  ein 
t'hergewicht  der  amtlichen  Vertreter  gegenüber  den  Gemeindevertretern  herbeigeführt 
werden.  Es  würde  sonach  keine  Bedenken  finden,  daß  gegebenenfalls  die  Zahl  der  zu 
wählenden  Gemeindevertreter,  soweit  erforderlich,  vermehrt  wird. 

Die  Teilnahme  der  Lehrer  an  den  Beratungen  und  Entscheidungen  der  Schulvor- 
stände wird  in  allen  Fällen  ausgeschlossen  sein,  in  denen  es  sich  um  ihre  rein  persön- 
lichen Angelegenheiten  handelt." 

II.  Bayern.  Für  die  Beaufsichtigung  und  Leitung  des  Volks- 
schulwesens besteht  in  Bayern   folgender  Schulbehörden -Organismus: 

„1.  Die  nächste  Aufsicht  über  die  Schulen  der  einzelnen  Schul- 
sprengel führen  in  den  einem  Bezirksamte  untergeordneten  (mittel- 
baren) Gemeinden  als  Ortsschulbehörden  die  Lokalschulinspektionen 
im  rechtsrheinischen  Bayern,  die  Ortsschulkommissionen  in  der  Pfalz; 
in  den  unmittelbaren  Städten  rechts  des  Rheins  führen  die  Stadt- 
bezirksschulinspektionen die  .Aufsicht  über  die  Schulen  der  einzelnen 
Schulbezirke  des  Stadtschulsprengels. 

2.  Über  den  Lokalschulinspektionen  und,  Ortsschulkommissionen 
.stehen  als  Distriktsschulbehörden  die  Distriktsschulinspektionen,  welche 
gemeinsam  mit  den  einschlägigen  Bezirksämtern  die  Aufsicht  über 
die  zu  einem  Schuldistrikt  vereinigten  Schulen  führen.  Über  den 
Stadtbezirksschulinspektionen  rechts  des  Rheins  .stehen  in  gleicher 
Weise  die  Stadtschulkommissionen,  von  denen  ein  Mitglied  Stadt- 
schulreferent ist. 


80  Volksschulwesen. 

'A.  Die  Oberleitung  der  sämtlichen  Schulen  eines  Kreises  kommt 
der  Kreisregierung  zu,  welche  einen  eigenen  Kreisschulreferenten  und 
einen  oder  mehrere  Kreisschulinspektoren  hat  und  in  gewissen  Schul- 
angelegenheiten durch  das  Kreisscholarchat  unterstützt  wird. 

4.  Die  oberste  Leitung  des  Schulwesens  im  ganzen  Königreiche 
führt  das  Staatsministerium  des  Innern  für  Kirchen-  und  Schulan- 
gelegenheiten, bei  welchem  ein  besonderer  Referent  für  das  Volks- 
schulwesen aufgestellt  ist. 

Inbezug  auf  die  rehgiöse  Aufgabe  der  Volksschulen  kommt  den 
kirchlichen  Behörden  die  Aufsicht  und  Leitung  zu."*) 

Das  erwähnte  Kreisscholarchat  besteht  aus  4  Kreisscholarchen 
und  2  Ersatzmännern.  Dieselben  werden  aus  den  in  der  Kreishaupt- 
stadt oder  in  deren  nächster  Nähe  wohnenden  Rektoren,  Professoren, 
Distrikts-  und  Lokalschulinspektoren  und  sonstigen  durch  Kenntnisse, 
Grundsätze  und  Moralität  ausgezeichneten  Pädagogen  von  dem 
Regierungspräsidenten  vorgeschlagen;  vom  Staatsministerium  wird  bei 
dem  Könige  ihre  Ernennung  beantragt,  und  sie  versehen  ihre  F"unktion 
unentgeltlich  und  widerruflich.  Sie  haben  den  Sitzungen  der  Kreis- 
regierung über  prinzipielle  Fragen  des  öffentlichen  Unterrichts  mit  kolle- 
gialer Stimme  beizuwohnen  und  als  eigenes  Komitee  unter  dem  Vorsitz 
des  Regierungspräsidenten  oder  des  Regierungsdirektors  und  unter  Teil- 
nahme des  Kreisschulreferenten  jene  Beschlüsse  zu  beraten,  welche 
auf  die  jährlichen  Visitationsprotokolle  der  Volksschulen  zu  erlassen 
sind  (vgl.  Englmann  a.  a.  O.  S.   107— 108). 

III.  Württemberg.  Die  oberste  Aufsicht  über  alle  Unterrichts- 
und P>ziehungsangelegenheiten  führt  das  Ministerium  des  Kirchen- 
und  Schulwesens.  Als  Oberschulbehörden  wirken  unter  dem  Ministerium 
das  evangelische  Konsistorium  und  der  katholische  Kirchenrat,  welchen 
das  gesamte  niedere  Schulwesen  je  nach  seinem  konfessionellen  Cha- 
rakter nachgeordnet  ist,  jedoch  mit  der  P^inschränkung,  daß  die  Leitung 
des  katholischen  Religionsunterrichts  dem  Bischof  zusteht.  Beide  Be- 
hörden setzen  sich  aus  geistlichen  und  weltlichen  Mitgliedern  und 
besonderen,  vom  Ministerium  ernannten  fachmännischen  Beiräten  zu- 
sammen und  führen  die  Aufsicht  über  Prüfung  und  Anstellung  der 
Lehrer  sowie  über  die  Einrichtungen  des  Unterrichts  und  lassen  durch 
ihre  Referenten  die  Zustände  einzelner  Schulen  und  ganzer  Bezirke 
persönlich  untersuchen.     Als    Organe    der    Oberschulbehörden  haben 

*)  Job.  Anton  Kni;lmann.  Handbuch  des  Bayerischen  \'olksschiiheclits.  I\'.  Autl. 
von  Dr.  Eduard  Stingl.     München    1897.     S.   12. 


Schulgesetze  und  Scliulbehöiden,   Scluilpflichten  und  Schullasten.  ßl 

die  Bezirksschulinspektoren  (ausnahmslos  Geistliche;  das  Volksschul- 
wesen ihres  Kreises  nach  seinetn  ganzen  Umfange  zu  beaufsichtigen 
und  zu  leiten.  In  Verbindung  mit  dem  Oberamtmann  bildet  der  Be- 
zirksschulinspektor das  gemeinschaftliche  Betriebsamt  in  Schulsachen, 
welchem  die  äußere  Leitung  der  Schulangelegenheiten  und  die  Dis- 
ziplin über  die  Lehrer  zusteht.  Die  örtliche  Schulaufsicht  in  tech- 
nischer Hinsicht  führt  der  Pfarrer  der  Konfession,  welcher  der  Schul- 
lehrer angehört.  Neben  ihm  handhabt  die  Ortsschulbehörde,  be- 
stehend aus  dem  Kirchenkonvent,  einem  bis  drei  Lehrern  und  eben- 
soviel Mitgliedern  der  Schulgemeinde,  die  äußere  Leitung  des  örtlichen 
Volksschulwesens,  indem  die  Geschäfte  durch  die  Geistlichen  und 
Ortsvorsteher  gemeinschaftlich  geführt  werden  f Gesetz  von  1836; 
Schulgesetznovelle  vom  25.  Mai  1865;  Gesetz  vom  1.  Juli  1876.)*) 

IV.  Sachsen.  Von  der  Verwaltung  und  Beaufsichtigung  der 
Volksschulen  in  Sachsen  handeln  die  Paragraphen  24 — 38  des  Ge- 
setzes, das  Volksschulwesen  betreffend,  vom  26.  April  1873. 

Oberste  Schulbehörde  ist  das  Ministerium  des  Kultus  und  öffent- 
lichen Unterrichts.  Der  Bezirksschulinspektion,  welche  in  größeren 
Städten  aus  dem  Stadtrat  und  dem  Bezirksschulinspektor,  im  übrigen 
aus  dem  Amtshauptmann  und  dem  letztgenannten  besteht,  liegt  die 
Sorge  für  Ausführung  der  schulgesetzlichen  Bestimmungen  sowie  die 
Leitung  der  äußeren  Schulangelegenheiten  ob,  während  der  Bezirks- 
schulinspektor die  Aufsicht  über  das  Unterrichts-  und  Erziehungswesen 
seines  Kreises  führt.  Die  örtliche  Aufsicht  über  die  Volksschul- 
anstalten steht  dem  Schulvorstande  zu,  welcher  sich  auf  dem  Lande 
und  in  kleineren  Städten  aus  Gemeindevertretern,  Lehrern  und  dem 
Ortspfarrer  oder  Ortsschulin.spektor  zusammensetzt,  in  größeren  Städten 
aber  als  eine  dem  Stadtrat  untergeordnete  Deputation  darstellt.  Die 
Beaufsichtigung  des  Unterrichts  selbst  wird  in  beiden  Kategorien  im 
Auftrage  des  Staates  von  dem  Ortsschulinspektor  wahrgenommen. 
Die  Aufsicht  über  den  Religionsunterricht  führen  die  kirchlichen  Or- 
gane**). 

V.  Baden.  Für  die  Schulaufsicht  im  Großherzogtum  Baden 
sind  in  erster  Linie  maßgebend  das  Gesetz  vom  1 3.  Mai  1 892  über  den 
Elementarunterricht,  die  landesherrliche  Verordnung  vom  26.  Juni  1 892, 
die  Zuständigkeit  der  Verwaltungsbehörden  bezüglich  auf  das  Gesetz 
über  den  Elementarunterricht    betreffend  die   Verordnung  des   Groß- 


*)  Vgl.  Petersilie  a.  a.  O.  Bd.  I.  S.  446. 

**)  Vgl.  Petersilie  a.  a.  O.  Bd.  1.  S.  44.i  I 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III. 


g2  Volksschiilwesen. 

herzoglichen  Ministeriums  der  Justiz,  dc^  Kultus  und  Unterrichts  \om 
26.  Februar  I U94,  die  Aufsichtsbehörde  der  Volksschule  betreffend. 
Dem  Ministerium  ist  der  Oberschulrat  (Oberschulbehörde  j  untergeordnet, 
welcher  die  Gelehrtenanstalten  unmittelbar,  die  Volksschulen  durch 
die  Kreisschulräte  als  Mittelbehörde  leitet.  Die  örthche  Aufsicht  über 
die  Volksschule  sowie  die  Verwaltung  des  gesamten  Schulvermögens 
wird  durch  den  Gemeinderat  unter  Zustimmung  eines  Ortspfarrers 
jedes  in  der  Schulgemeinde  vertretenen  Bekenntnisses  sowie  des  ersten 
Lehrers  jeder  in  ihr  bestehenden  Ortsschule  geführt.  Durch  Ge- 
meindebeschlul.\  welcher  der  Staatsgenehmigung  bedarf,  kann  für  An- 
gelegenheiten der  Volksschule  eine  besondere  (Schul-)  Kommission 
bestellt  werden,  deren  Einrichtung  und  Wirkungskreis  in  gleicher 
Weise  näher  zu  bestimmen  ist.  Der  Kommission  muß  jedenfalls  ein 
Mitglied  des  Gemeinderats  als  \"orsitzender  angehören,  und  es  sollen 
in  ihr  die  Ortspfarrer  der  vorhandenen  Bekenntnisse  sowie  die  Volks - 
schullehrer  Vertretung  erhalten.  Zur  Beaufsichtigung  einer  größeren 
Anzahl  von  Schulen  und  zur  Vermittlung  des  dienstlichen  Verkehrs 
der  Ortsschulbehörde  mit  der  Oberschulbehörde  werden  Kreisschul- 
räte ernannt.  Die  Ortsschulbehörde  überwacht  und  besorgt  für  die 
ihrer  Aufsicht  unterstellte  Volksschule  den  Vollzug  der  das  Schul- 
wesen betreffenden  Gesetze  und  Verordnungen  sowie  die  Ausführung 
der  behördlichen  \>rfügungen.  Die  Pflege  der  Schulaufsicht  ist  als 
eine  allen  Mitgliedern  gemeinsame  Obliegenheit  zu  behandeln.  Die 
Ortsschulbehörde  vermittelt  den  dienstlichen  Verkehr  zwischen  den 
Lehrern  und  den  .staatlichen  Aufsichtsbehörden  *  i. 

VI.  B  r  a  u  n  s  c  h  w  e  i  g.  Jede  evangelisch-lutherische  Gemeinde- 
schule soll  einen  Vorstand  haben,  dessen  Mitglieder  sich  zur  evan- 
gelisch-lutherischen Konfession  bekennen  müssen.  Bestehen  in  einer 
Gemeinde  mehrere  Schulen,  so  sollen  dieselben  einen  gemeinschaft- 
lichen Vorstand  haben  (Gesetz  über  die  Gemeindeschulen,  Neu- 
Redaktion  vom  27.  Oktober  1898,  5  9j. 

In  den  Landgemeinden  besteht  der  Schulvorstand,  wenn  mehr 
als  zwei  Gemeinden  eine  gemeinschaftliche  Schule  haben,  aus  dem 
Vorsitzenden  des  Kirchenvorstandes  der  eigentlichen  Schulortsgemeinde, 
den  Gemeindevorstehern  des  Schulverbandes  und  dem  Schullehrer. 
Wenn  zwei  Gemeinden  eine  gemeinschaftliche  Schule  haben,  so  wird 
der  Schulvor.stand  durch  den  Vorsitzenden  des  Kirchenvorstandes  der 
Schulortsgemeinde,    die    beiden    Gemeindevor.steher,    den  Schullehrer 


*)  Vgl.  Petersilie  a.  a.  O.  Bd.  I.  S.  432  f. 


Schulgesetze  und   Scliulheli<)rden,  Schulpflichten   und  Schulhisten.  33 

und  ein  in  gemcinschattlichcr  Sitzung  beider  Getneinderäte  auf  drei 
Jahre  zu  wählendes  GemeinderatsmitgHed  gebildet.  Wenn  die  Schule 
nur  für  eine  Gemeinde  besteht,  ist  der  Schulvorstand  zusammengesetzt 
aus  dem  Vorsitzenden  des  Kirchenvorstandes,  dem  Gemeindevor- 
steher, je  einem  Mitgliede  des  Kirchenvorstandes  und  des  Gemeinde- 
rats nach  deren  Wahl  und  dem  Schullehrer.  Wird  die  Schulstelle 
von  einem  Privatpatron  besetzt,  so  ist  auch  dieser  Mitglied  des  Schul- 
vorstandes, kann  jedoch  für  sich  einen  geeigneten  Vertreter  bestellen. 
Sind  an  einer  Schule  mehrere  Lehrer  angestellt,  so  ist  der  den  Dienst- 
jahren nach  älteste  Mitglied  des  Schulvorstandes  (^  10). 

In  den  Städten  und  den  mit  einer  Bürgerschule  versehenen 
Flecken  besteht  der  Schuh'orstand  aus  dem  Vorsitzenden  des  Magistrats 
('dem  Gemeinde\orsteher)  oder,  falls  sich  dieser  nicht  zur  evangelischen 
Konfession  bekennt,  einem  anderen  Mitgliede  des  Magistrats  be- 
ziehungsweise des  Gemeinderats,  welches  dieser  Konfession  angehört, 
aus  dem  ersten  Geistlichen,  je  einem  Mitgliede  der  Stadtverordneten 
('des  Gemeinderats)  und  des  Kirchenkonvents  oder,  wo  nur  eine 
Kirchengemeinde  sich  findet,  des  Kirchenv^or.standes,  dem  Schuldiri- 
genten und,  so  oft  es  sich  um  die  inneren  Angelegenheiten  einer 
einzelnen  Schule  handelt,  dem  ersten  Lehrer  derselben  (5  11). 

Den  Vorsitz  in  dem  Schulvorstande  führt  in  den  Landgemeinden 
und  den  Flecken  der  Vorsitzende  des  Kirchenvorstandes,  in  den 
Städten  der  Vorsitzende  des  Stadtmagistrats  oder  der  erste  Geistliche, 
je  nach  ihrem  Dienstalter  (§  1  7). 

Der  nächste  Vorgesetzte  einer  jeden  Landschule  und  des  bei  ihr 
angestellten  Lehrers  ist  der  Geistliche  (Ortsprediger)  (§  19). 

Die  Stadt-  und  Bürgerschulen  stehen  in  der  Regel  unter  einem 
dazu  besonders  ernannten  Dirigenten  (§  20). 

Für  die  Landschulen  einer  jeden  Spezial-Inspektion  wird  ein 
Schulinspektor  bestellt.  In  der  Regel  wird  ein  Superintendent  mit 
dieser  Funktion  beauftragt. 

Die  städtischen  Schulen  sind  der  unmittelbaren  Inspektion  des 
Herzoglichen  Konsistoriums  unterworfen  (§  22). 

Die  Leitung  und  Beaufsichtigung  der  Gemeindeschulen  für  das 
ganze  Herzogtum  führt  unter  der  Oberaufsicht  und  obersten  Leitung 
des  Staatsministeriums  das  Herzogliche  Konsistorium  zu  Wolfenbüttel, 
dem  stets  ein  hauptsächlich  für  das  Gemeindeschulwesen  bestimmtes 
Mitglied  angehört  Cj  24j. 

VII.  Hamburg.  Das  Gesetz,  betreffend  das  Unterrichtswesen,  vom 
11.  November  1870  bestimmt  55  1—3: 

6* 


34  Volksschulwesen. 

„Das  gesamte  öffentliche  Unterrichts-  und  Erziehungswesen  im 
Hamburgischen  Staat  wird  durch  die  Oberschulbehörde  teils  unmittelbar, 
teils  mittelbar  geleitet,  verwaltet  und  beaufsichtigt.  Auch  das  gesamte 
nicht  öffentliche  Unterrichtswesen  für  die  im  schulpflichtigen  Alter 
stehende  Jugend  fällt    in  den  Bereich  der  Aufsicht  dieser  Behörde. 

Die  Oberschulbehörde  besteht  aus  drei  Mitgliedern  des  Senats, 
sechs  von  der  Bürgerschaft  gewählten  Mitgliedern,  von  denen  nicht 
mehr  als  zwei  dem  Lehrerstande  angehören  dürfen,  zwei  Deputierten 
des  Ministeriums,  je  einem  vom  Senat  ernannten  Vertreter  des 
Gelehrtenschulwesens  und  des  Real-  und  Gewerbeschulwesens,  dem 
Schulrat,  dem  Seminardirektor  und  zwei  aus  der  Zahl  der  Leiter  von 
öffentlichen  oder  Privatschulen  erwählten  Deputierten  der  Schulsynode. 
Besoldete  Beamte  können  MitgHeder  dieser  Behörde  sein. 

Die  nicht  dem  Senat  angehörenden  MitgHeder,  mit  Ausnahme 
des  Schulrats  und  des  Seminardirektors,  bekleiden  ihr  Amt  sechs 
Jahre.  Von  den  durch  die  Bürgerschaft  erwählten  Mitgliedern  treten 
alle  drei  Jahre  drei,  von  den  Deputierten  des  Ministeriums  und  der 
Schulsynode  tritt  alle  drei  Jahre  einer  aus. 

Dem  Schulrat  liegt  vorzugsweise  die  Förderung  des  Volksschul- 
wesens und  die  Übernahme  der  auf  dasselbe  bezüglichen  Arbeiten 
ob,  ohne  daß  deshalb  seine  Mitwirkung  in  den  übrigen  V^erwaltungs- 
zweigen  der  Oberschulbehörde  ausgeschlossen  wäre." 

Der  Geschäftskreis  der  Oberschulbehörde  sowie  der  Schul- 
kommissionen, die  für  die  einzelnen  Stadtbezirke  gebildet  worden 
sind,  wird  in  den  §§  ^^ — -*^  des  Gesetzes  näher  bestimmt.  Der  Ober- 
schulbehörde steht  eine  aus  den  Vorstehern  und  fest  angestellten 
Lehrern  der  öffentlichen  und  den  Vorstehern  der  nicht  öffentlichen 
Schulen  des  Hamburger  Staates  zusammengesetzte  Schulsynode  als 
fachmännischer  Beirat  zur  Seite. 

Zur  Ergänzung  der  vorstehenden  Darlegungen  möge  hier  eine 
Zusammenstellung  über  den  tatsächlichen  gegenwärtigen 
Stand  der  Schulaufsicht  in  den  deutschen  Staaten  folgen.  Sie  ist 
das  Ergebnis  einer  Umfrage,  die  im  Januar  1903  von  der  „Statistischen 
Zentralstelle  des  deutschen  Lehrervereins"  veranstaltet  und  uns  von 
dieser  zur  Verfügung  gestellt  worden  ist.  Der  Fragebogen,  welcher 
der  Zusammenstellung  zugrunde  lag,  erstreckte  sich  auf  fünf  Punkte. 
Die  erste  Frage  bezog  sich  auf  den  obersten  Schulherrn. 
Die  Ergebnisse,  welche  sich  im  wesentlichen  auf  die  bereits  an- 
geführten gesetzlichen  Bestimmungen  in  den  einzelnen  Staaten  gründen, 
können  hier  übergangen  werden. 


Schulgesetze  und  Schulbehörden,  Scliulpflichten   und  Schullasten.  ß5 

Frage  2 — 4  handelten  von  der  Kreis-  bezw.  Bezirksschulaufsicht, 
und  zwar  sollte  zunächst  festgestellt  werden,  ob  für  größere  Kreise 
oder  Bezirke  besondere  Schulinspektoren  im  Hauptamte  bestellt  sind, 
oder  ob  die  Kreis-  (Bezirks- 1  Schulaufsicht  andern  Beamten  im  Neben- 
amte übertragen  ist.  Nur  hauptamtliche  Kreis-  (Bezirks-j  Schul- 
inspektoren gibt  es  in  Bayern*),  Königreich  Sachsen,  Baden,  Hessen, 
Sachsen-Weimar,  Sachsen-Altenburg,  Coburg-Gotha  (gegenwärtig  ist 
noch  ein  nebenamtlicher  Bezirksschulinspektor  im  Landratsamtsbezirk 
Oberdorf  vorhanden;  sobald  jedoch  hier  eine  Veränderung  eintritt, 
ist  die  gesamte  Inspektion  einem  Schulmann  im  Hauptamte  zu  über- 
tragen), Sachsen-Meiningen,  Schaumburg  -  Lippe  (für  das  ganze 
Fürstentum  ein  Landesschulinspektor),  Bremen,  Hamburg,  Lübeck  und 
Elsaß-Lothringen.  Nur  nebenamtlich  wird  die  Kreisschulinspektion 
\'ersehen  in  Württemberg,  Oldenburg,  Fürstentum  Lübeck,  Birkenfeld, 
beiden  Mecklenburg,  Anhalt,  Braunschweig,  Reuß  ä.  L.,  Reuß  j.  L., 
Schwarzburg-Sondershausen,  Schwarzburg-Rudolstadt  und  Waldeck. 
Im  Fürstentum  Lippe  gibt  es  eine  eigentliche  Kreisschulaufsicht  nicht. 
Die  Oberaufsicht  über  das  Schulwesen  des  Landes  führt  ein 
,,Konsistorialrat";  im  übrigen  gibt  es  nur  Lokalschulinspektoren.  In 
Preußen  herrscht  gemischtes  System,  d.  h.  die  Kreisschulaufsicht  ist 
teils  ständigen,  teils  nebenamtlich  angestellten  Krei.sschulinspektoren 
übertragen.  Im  ganzen  Staate  gibt  es  .316  ständige  und  927  Kreis- 
schulinspektoren im  Nebenamte.  Für  die  einzelnen  Provinzen  stellt 
sich  das  Verhältnis  wie  folgt: 

1.  Ostpreußen     ...     25  ständige,    40  nebenamtliche, 

2.  Westpreußen  ...     42         ,,  11  „ 

3.  Brandenburg  ...       7         ,,  137  „ 

4.  Pommern  ....       2         ,,  97  ,, 

5.  Po.sen 67         ,,  —  „ 

6.  Schlesien    ....     53         ,,  «VI  ,, 

7.  Sachsen      ....       3         ,,         139  ,, 

8.  Schle-swig-Holstein  .11  „  36 

9.  Hannover  ....       3         „         191 
11).    Westfalen  ....     37         „  32 

11.  He-ssen-Nassau    .     .        I  ,.  13!; 

12.  Rheinprovinz.     .     .     (m         ,,  25 

13.  Hohenzollern  .     .     .       2         ,,  —  ,, 

*)  Doch  besteht  in  Bayern  als  Zwischeninstanz  zwischen  Kreis-  und  Lokalschul- 
aufsicht noch  eine  Distriktsschulinspektion,  die  von  Geistlichen  im  Xebenamte  ver- 
sehen wird. 


86  Volksschulwesen. 

Was  die  Vorbildung  der  hauptamtlich  angestellten  Kreis- 
(Bezirks-j  Schulinspektoren  betrifft,  so  können  leider  für  Preußen  und 
Elsaß-Lothringen  keine  Angaben  gemacht  werden,  da  in  dem  be- 
züglichen amtlichen  Material  keinerlei  Mitteilungen  hierüber  ent- 
halten sind. 

In  Bayern  sind  sämtliche  14  Kreisschulinspektoren  seminarisch 
gebildet.  Unter  den  U)  weltlichen  Schulräten  der  Städte  sind 
6  Philologen  und  10  Männer  mit  Seminarbildung.  Im  Königreich 
Sachsen  haben  von  31  Bezirksschulinspektoren  4  nur  Seminar- 
bildung, 14  Seminarbildung  und  späteres  Universitätsstudium  und 
13  Universitätsstudium  ohne  Seminarbildung  aufzuweisen.  In  Baden  sind 
von  den  13  Kreisschulräten  2  Theologen,  6  Philologen  und  5  ehemalige 
Volksschullehrer,  in  Hessen  von  19  Kreisschulinspektoren  4  Theologen, 
2  anderweit  akademisch  und  13  seminarisch  gebildet.  In  Sachsen- 
Weimar  sind  sämtHche  Bezirksschulräte  Theologen,  waren  aber  gleich 
nach  bestandenem  Examen  im  Schuldienste  tätig.  In  Sachsen-Altenburg 
gibt  es  1  akademisch  (Theologe)  und  2  seminarisch  gebildete,  in 
Gotha  ebenfalls  1  akademisch  und  2  seminarisch  gebildete  Bezirks- 
Schulinspektoren.  Der  Landesschulinspektor  für  das  Herzogtum 
Coburg  ist  seminarisch  gebildet  und  hat  später  die  Universität  besucht. 
Sachsen-Meiningen  hat  3  akademisch  (2  Theologen,  I  Philologe)  und 
1  seminarisch  gebildeten  Schulinspektor.  In  Bremen  ist  der  Schul- 
inspektor, der  die  Aufsicht  über  sämtliche  Volksschulen  führt,  und 
in  Hamburg  sind  sämtliche  4  Schulinspektoren  seminarisch  gebildet. 
Lübeck  hat  einen  akademisch  gebildeten  Schulrat  (Philologe).  Der 
Landesschulinspektor  in  Schaumburg-Lippe  ist  seminarisch  gebildet. 
In  Anhalt  ist  der  Hilfsarbeiter  in  der  Herzoglichen  Regierung,  Ab- 
teilung für  das  Schulwesen,  der  die  Schulrevisionen  zumeist  ausführt, 
ein  seminarisch  gebildeter  Fachmann,  der  lange  Jahre  Rektor  eines 
größeren  Schulsystems  war. 

Die  nebenamtlich  angestellten  Kreis-  (Bezirks-)  Schul 
Inspektoren  sind  sämtlich  Geistliche  in  Württemberg,  Fürstentum 
Lübeck,  beiden  Mecklenburg,  Anhalt,  Braunschweig,  Reul,^  ä.  L., 
Schwarzburg-Sondershausen,  Schwarzburg-Rudolstadt  und  Waldeck. 
In  Preußen  ist  die  nebenamtliche  Schulaufsicht  in  29  Fällen  einem 
Stadtschulrat  bez\\-.  Stadtschulinspektor,  in  6  Fällen  dem  Magistrat, 
der  Schuldeputation  bezw.  dem  Schulvorstande,  in  3  Fällen  einem 
Seminardirektor  bezw.  Seminaroberlehrer,  in  13  Fällen  einem  Schul- 
direktor bezw.  Rektor,  in  2  Fällen  dem  ständigen  Kreisschulinspektor 
eines  andern  Bezirks  und  in   1    Falle  einem  Reg^ierungs-  und  Schulrat 


Schulgesetze  und  Schulbehörden,  Schulpflichten   und  Schnllasten.  ^7 

übcrtr;i<^en.  Alle  übrigen  nebenamtlich  angestellten  Kreis-Schiil- 
inspektoren  sind  Geistliche. 

In  Oldenburg  finden  sich  unter  den  nebenamtlich  beschäftigten 
Kreisschulinspektoren  I  Seminardirektor,  1  Seminarlehrer,  6  Volks- 
schullehrer und  7  Geistliche,  in  Birkenfeld  1  Gymnasialprofessor 
und  1  Theologe,  in  Reui?^  j.  L.  2  Rektoren,  2  Lehrer  und  6  (oder 
7)  Geistliche. 

Frage  5  und  6  endlich  behandelten  die  noch  neben  der  Kreis- 
schulaufsicht bestehende  Ortsschulaufsicht.  Eine  solche  besteht 
in  sämtlichen  Staaten  außer  Hamburg.  Sie  wird  ausgeübt  in  Preußen 
(der  Regel  nach).  Rayern,  Württemberg,  Königreich  Sachsen, 
S. -Weimar,  Oldenburg,  I^'ürstentum  Lübeck,  Birkenfeld,  beiden 
Mecklenburg,  Anhalt,  Braunschweig,  S. -Altenburg,  Reuß  ä.  L., 
Schwarzburg  -  Sondershausen,  Schwarzburg  -Rudolstadt,  Fürstentum 
Lippe,  Schaumburg-Lippe,  Bremen-Land  und  Lübeck-Land  vom  Orts- 
geistlichen, in  Baden,  Hessen,  Coburg,  Gotha,  Reuß  j.  L.,  Waldeck 
und  Elsaß-Lothringen  vom  Ortsschulvorstande.  In  S. -Meiningen 
kann  sie  von  ,, jedem  intelligenten,  unbescholtenen  Mann"  ausgeübt 
werden.  Die  Ortsschulaufsicht  erstreckt  sich  auch  auf  die  mehr- 
klassigen,  unter  einem  besonderen  Leiter  stehenden  Schulen  in 
Württemberg,  Hessen,  Oldenburg,  Fürstentum  Lübeck,  Birkenfeld, 
beiden  Mecklenburg  (,,nur  die  4  Städte  Rostock,  Schwerin,  Wismar  und 
Parchim  bilden  vielleicht  eine  Ausnahme"),  Coburg,  Gotha,  Reuß  ä.  L., 
Reuß  j.  L.,  Schwarzburg-Sondershausen,  Schwarzburg-Rudolstadt, 
Lippe,  Schaumburg-Lippe,  Waldeck  und  PLlsaß-Lothringen,  doch  ist 
dabei  zu  beachten,  dals  in  Hessen,  Coburg  und  Gotha  die  vom  Orts- 
schulvorstande ausgeübte  Aufsicht  sich  nur  auf  die  äußeren  Verhält- 
nisse der  Schule  bezieht.  In  Preußen,  Bayern,  Königreich  Sachsen, 
Baden,  S. -Weimar,  S.-Altenburg  und  S. -Meiningen  sind  für  diese 
Schulen  entweder  die^Befugnisse  des  Lokalschulinspektors  dem  Rektor 
übertragen,  oder  sie  stehen  (ohne  besondere  örtliche  Aufsicht)  direkt 
unter  dem  Kreisschulinspektor.  In  Anhalt  und  Braunschweig  stehen 
die  Leiter  der  mehrklassigen  Schulen  direkt  unter  der  Regierung 
bezw.  dem  Konsistorium,  haben  also  weder  einen  Orts-  noch  einen 
Kreisschulinspektor. 

Auch  den  Rektoren  und  Flauptlehrern,  welche  die  Ortsschul- 
inspektion nicht  ausüben,  steht  ein  gewisses  Aufsichtsrecht  über  die 
Lehrer  ihrer  .Anstalt  zu,  soweit  ein  solches  zur  Aufrechterhaltung  der 
Schulordnung  und  Schulzucht  erforderlich  ist.  Das  Maß  der  ihnen 
übertragenen  Rechte  und  Pflichten   ist    an    den    verschiedenen  Orten 


88  Volksschulwesen. 

natürlich  verschieden  und  wird  im  einzahlen  meistens  durch  Dienst- 
instruktionen näher  umschrieben.  Als  Beispiel  einer  solchen  möge 
hier  die  durch  die  Regierung  in  Magdeburg  für  die  Hauptlehrer 
(Rektoren),  welche  nicht  der  Kreisschulinspektion  unmittelbar  unter- 
stellt sind,  am  22.  März  1898  erlassene  Dienstanweisung  folgen: 

„§  1 .  Der  Hauptlehrer  (Rektor)  steht  gleich  den  übrigen  Lehrern 
unter  der  Ortsschulaufsichtsbehörde  und  hat  alle  Anzeigen,  Be- 
richte usw.  durch  Vermittlung  des  Ortsschulinspektors  einzureichen. 
Er  ist  das  Organ,  dessen  sich  die  Vorgesetzten  für  ihre  die  Schule 
betreffenden  Anordnungen   und  Ermittlungen  in  der  Regel  bedienen. 

Die  Lehrer  haben  sich  in  allen  amtlichen  Angelegenheiten 
zunächst  an  den  Hauptlehrer  (Rektor)  zu  \\enden.  Ihre  Eingaben  an 
die  vorgesetzte  Behörde  nimmt  er  in  Empfang  und  befördert  sie  mit 
seiner  Äußerung  an  den  Ortsschulinspektor. 

§  2.  Über  das  Schulgebäude  und  alle  der  Schule  zugehörigen 
Gebrauchsgegenstände  steht  dem  Hauptlehrer  (Rektor)  die  Aufsicht 
zu.  Zu  diesem  Zwecke  hat  er  die  ordnungsmäßige  Führung  der 
von  den  Klassenlehrern  aufzustellenden  und  auf  dem  Laufenden  zu 
erhaltenden  Inventarienverzeichnisse  zu  überwachen  und  sich  durch 
gelegenthche  Prüfung  von  deren  Richtigkeit  und  Vollständigkeit  zu 
überzeugen. 

Er  hat  darauf  zu  sehen,  daß  in  allen  Diensträumen  sowie  auch 
auf  dem  Hofe,  dem  Turn-  und  dem  Spielplatze  und  in  den  Aborten 
Reinlichkeit  und  Ordnung  herrscht,  daß  die  Schulzimmer  ordnungs- 
mäßig geheizt,  gereinigt  und  gelüftet  werden. 

In  baulichen  und  allen  das  Äußere  der  Anstalt  betreffenden  An- 
gelegenheiten sowie  hinsichtlich  der  Ergänzung  des  Inventars  und 
der  Lehrmittel  hat  er  die  nötigen  Anträge  zu  stellen  und  Vorschläge 
zu  machen. 

§  3.  Die  Aufnahme  der  Schüler  und  deren  Zuweisung  in  die 
einzelnen  Klassen  ist  Obliegenheit  des  Hauptlehrers  (Rektors). 

Ebenso  hegt  dem  Hauptlehrer  (Rektor)  die  Vornahme  der  jähr- 
lichen Versetzungen  in  die  nächst  höhere  Klasse  auf  Vorschlag  und 
unter  Mitwirkung  der  betreffenden  Klassenlehrer  ob,  soweit  der  Orts- 
schulinspektor  sich  dieser  Tätigkeit  nicht  selbst  unterzieht. 

§  4.  Für  die  sorgfältige  Beachtung  aller  die  Schulversäumnisse 
regelnden  Bestimmungen  ist  der  Hauptlehrer  (Rektor)  in  erster  Linie 
verantwortlich. 

§  5.  Der  Hauptlchrer  (Rektor)  hat  für  die  .Xufrcchtcrhaltung  der 
äußeren  Schulordnun"-  zu   sorgen.     Insbesondere    hat    er    darüber    zu 


Schulgesetze  und  Schulbehörden,  Schulpflichten   und  Schullasten.  39 

wachen,  daß  jeder  Lehrer  zehn  Minuten  vor  Beginn  der  Schulzeit  in 
seiner  Klasse  sich  befindet,  daß  die  Kinder  auf  dem  Schulhofe  vor 
Beginn  des  Unterrichts  und  während  der  Pausen  beaufsichtigt  werden, 
daß  der  Unterricht  in  allen  Klassen  pünktlich  begonnen  und  ge- 
schlossen wird,  dal.^  die  Pausen  zwischen  den  einzelnen  Stunden  nicht 
über  das  zulässige  Maß  verlängert,  und  daß  die  mit  Nachsitzen  be- 
straften Kinder  nicht  ohne  Aufsicht  gelassen  \\'erden. 

§  6.  Der  Hauptlehrer  (Rektor)  hat  sich  durch  P'.insichtnahme 
der  Klassenbücher  und  der  Schülerhefte  sowie  durch  den  Besuch  der 
Schulklassen  die  Überzeugung  zu  verschaffen,  daß  der  genehmigte 
Lehr-  und  Stundenplan  von  dem  Lehrer  gewissenhaft  ausgeführt  und 
eine  angemessene  Schulzucht  gehandhabt  wird.  Sofern  besondere 
Umstände  es  erfordern,  kann  er  sich  in  derselben  Stunde  verschiedene 
Lehrfächer  vorführen  lassen.  Zum  eigenen  Eingreifen  in  den  Unter- 
richt ist  er  nicht  befugt. 

Über  seine  Wahrnehmungen  ist  er  berechtigt,  nach  Schluß  der 
Schulstunde  mit  dem  Lehrer  Rücksprache  zu  nehmen. 

§  7.  Werden  plötzliche  Vertretungen  einzelner  Lehrkräfte  not- 
^\•endig,  so  hat  der  Hauptlehrer  (Rektor)  das  Erforderliche  anzuordnen 
und  binnen  längstens  2  Tagen  dem  Ortsschulinspektor  von  seinen 
Anordnungen  Kenntnis  zu  geben. 

§  B.  Schulzeugnisse  jeder  Art  sind  von  dem  jedesnialigen 
Klassenlehrer  auszufertigen  und  von  dem  Hauptlehrer  (Rektor)  mit 
zu  unterzeichnen. 

§  9.  Die  Entwürfe  seiner  amtlichen  Berichte  und  Anzeigen 
sowie  alle  die  Schule  betreffenden  Verfügungen  der  Behörden  und 
andere  für  das  Schulleben  wichtige  Schriftstücke  oder  Drucksachen 
hat  der  Hauptlehrer  gehörig  aufzubewahren  und  zu  ordnen. 

Ihm  liegt  die  Führung  der  Schulchronik  ob. 

§  10.  Bei  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  dem  Hauptlehrer 
und  anderen  Lehrern  hat  der  Oitsschulinspektor  zu  entscheiden." 

;->.     Schulpflicht. 

Inir  Preußen  verordnet  das  Allgemeine  Landrecht  (Teil  II 
Titel  12  j  4;V),  daß  jeder  Einwohner,  welcher  den  nötigen  Unterricht 
für  seine  Kinder  in  seinem  Hause  nicht  besorgen  kann  oder  will, 
schuldig  sei,  dieselben  nach  ziu-ückgelegtem  fünften  Jahre  zur  Schule 
zu  schicken.  Ebenso  bestimmt  die  Allerhöchste  Kabinettsordre  vom 
14.  Mai   1825    Absatz    I:    „Eltern    oder    deren    gesetzliche    Vertreter, 


90  Volksschulwesen. 

welche  nicht  nachweisen  können,  daß  sie  für  den  nötigen  Unterricht 
der  Kinder  in  ihrem  Hause  sorgen,  sollen  erforderlichenfalls  durch 
Zwangsmittel  und  Strafen  angehalten  werden,  jedes  Kind  nach  zurück- 
gelegtem fünften  Jahre  zur  Schule  zu  schicken."  In  Ausnahmefällen 
war  jedoch  damals .  schon  die  Schulaufsichtsbehörde  befugt,  den  An- 
fangstermin hinauszuschieben;  durch  Ministerialerlaß  vom  14.  Januar 
1862  werden  die  Verwaltungsbehörden  allgemein  ermächtigt,  ,,in 
Fällen  des  Bedürfnisses  den  Beginn  der  Schulpflicht  auf  ein  späteres 
Lebensjahr  hinauszurücken".  Dies  geschieht  in  der  Regel  bei  Kindern, 
die  einen  mehr  als  2  km  w^eiten  Weg  zur  Schule  haben,  und  bei 
solchen,  die  in  der  körperlichen  oder  gei.stigen  Entwicklung  zurück- 
geblieben sind.  Endlich  bezeichnet  es  der  Ministerialerlaß  vom 
14.  Juli  1870  als  ,, unzulässig,  die  Eltern  zu  zwingen,  ihre  Kinder  früher 
als  nach  vollendetem  sechsten  Jahre  in  die  Schule  zu  schicken". 

Die  Schulpflicht  dauert  in  der  Regel  8  Jahre,  sodaß  sie  im 
allgemeinen  nach  Vollendung  des  14.  Lebensjahres  aufhört.  Da 
jedoch  gesetzHch  die  Entlassung  aus  der  Schule  von  keinem  be- 
stimmten Alter  abhängig  gemacht  wird,  vielmehr  nach  der  im  ganzen 
Staate  (mit  Ausnahme  der  Provinzen  Ost-  und  Westpreul.^en)  geltenden 
Bestimmung  des  Allgemeinen  Landrechts  ,,der  Schulunterricht  solange 
fortgesetzt  werden  soll,  bis  ein  Kind  nach  dem  Befunde  seines  Seel- 
sorgers (nach  Erlaßt  des  Schulaufsichtsgesetzes:  des  Kreisschulinspektors  i 
die  einem  jeden  vernünftigen  Menschen  seines  Standes  notwendigen 
Kenntnisse  gefalk  hat",  so  hat  die  Behörde  einerseits  das  Recht, 
unter  besonderen  Umständen  Kinder  schon  vor  zurückgelegtem 
14.  Lebensjahre  zu  entlassen,  andererseits  sie  auch  nach  zurück- 
gelegtem 14.  Leben.sjahre  in  der  Schule  festzuhalten. 

Vermöge  des  in  Bayern  bestehenden  Schulzwanges  bezw. 
Unterrichtszwanges  ist  den  Eltern  und  deren  Stellvertretern  unter 
Strafandrohung  die  gesetzliche  Pflicht  auferlegt,  ihre  Kinder  und 
Pflegebefohlenen  während  gewisser  Lebensjahre  (Schulpflichtigkeits- 
alter)  zum  Besuche  der  Volksschule  anzuhalten,  wenn  nicht  ausnahms- 
weise durch  entsprechenden  Privatunterricht  ausreichende  Fürsorge 
für  Erwerbung  der  Elementarbildung  getroffen  werden  will  und  kann, 
und  ist  zu  dem  Zwecke,  um  die  P'.rfüUung  der  Schulpflicht  oder  einen 
geordneten  Schulbesuch  zu  ermöglichen  und  erleichtern,  das  ganze 
Land  in  Schulsprengel  mit  einer  oder  mehreren  Schulen  abgeteilt. 

Die  Schulpflicht  beginnt  für  Knaben  und  Mädchen  mit  dem 
zurückgelegten  (>.  Lebensjahre  und  umfallt  regelmäl.Mg  10  Jahre, 
nämlich     7  Jahre    als    Werktagsschulpflicht,    li  Jahre    als    Sonn-    und 


Schulgesetze  und  Schulbehönleii,  Schulpflichten  und  Schullasten.  91 

Feiertagsschulpflicht.  Alle  in  diesem  Alter  stehenden  Kinder  beiderlei 
Geschlechts  sind  zum  Besuche  der  einschlägigen  Werktags-  oder 
Feiertagsschule  verpflichtet;  nur  diejenigen  sind  ausgenommen,  welche 
mit  Erlaubnis  der  Ortsschulbehörde  einen  den  öffentlichen  Unterricht 
ersetzenden  Privatunterricht  genießen,  welche  einer  höheren  öffent- 
lichen Lehranstalt  angehören  oder  eine  landwirtschaftliche  oder 
gewerbliche  Fortbildungsschule  besuchen.  Obwohl  als  Normalalter 
für  die  Aufnahme  in  die  Schule  das  vollendete  0.  Lebensjahr  gilt, 
genügt  doch  als  Minimalalter  (nach  Verfügung  vom  2b.  April  1882) 
schcni  das  Alter  von  ca.  5-\/.i  Jahren  in  Stadtschulen  und  von  5'/;^ 
Jahren  in  Landschulen ;  andererseits  kann  die  Behörde  wegen  zurück- 
gebliebener Entwicklung,  Schwäche  oder  Gebrechen  eine  Zurück- 
stellung vom  Schulbesuche  bewilligen. 

hl  Württemberg  beginnt  die  Schulpflicht  im  7.  Lebensjahre, 
und  zwar  werden  am  1.  Mai  diejenigen  Kinder  schulpflichtig,  welche 
im  Laufe  des  Kalenderjahres  das  7.  Lebensjahr  vollenden.  Es  steht 
den  Eltern  frei,  ihre  Kinder,  wenn  sie  gehörig  entwickelt  sind,  schon 
im  ().  Lebensjahr  zur  Schule  zu  schicken. 

Die  Dauer  der  Schulpflicht  beträgt  7  Jahre;  sie  hört  auf  an 
Georgii  (Ende  April)  desjenigen  Kalenderjahres,  in  welchem  der 
Schüler  das  14.  Lebensjahr  zurücklegt. 

Bei  Kindern,  welche  bei  der  der  Entlassung  aus  der  Volksschule 
vorangehenden  Prüfung  ganz  ungenügende  Kenntnisse  und  Fertig- 
keiten zeigen,  kann  die  Dauer  der  Schulpflicht  um  I  — 2  Jahre  ver- 
längert werden. 

Im  Königreich  Sachsen  beginnt  die  Schulpflicht  mit  dem 
v^oUendeten  6.  Lebensjahre,  und  zwar  sind  beim  Beginn  eines  neuen 
Schuljahres  —  zu  Ostern  —  jedesmal  diejenigen  Kinder  der  Schule 
zuzuführen,  welche  bis  dahin  das  6.  Lebensjahr  vollendet  haben;  auch 
dürfen  auf  Wunsch  der  Eltern  oder  Erzieher  solche  Kinder  auf- 
genommen werden,  welche  bis  zum  30.  Juni  desselben  Jahres  das 
6.  Lebensjahr  vollenden. 

Die  Dauer  der  Schulpflicht  beträgt  8  Jahre.  Nur  in  besonders 
dringenden  Fällen  und  in  der  Regel  nur  nach  vollendetem  1 4.  Lebens- 
jahre kann  mit  Genehmigung  des  Lehrers  und  Ortsschulvorstandes 
schon  nach  siebenjährigem  Schulbesuche  die  Entlassung  aus  der  ein- 
fachen Volksschule  vom  Bezirksschulinspektor  gestattet  werden.  Nach 
vollendetem  14.  Lebensjahre  hört  die  Schulpflicht  auf.  Solche  Kinder, 
welche  das  Ziel  der  einfachen  Volksschule  in  den  wesentlichen  Unter- 
richtsgegenständen, namentlich  in  Religion,  deutscher  Sprache,  Lesen, 


92  Volksschuhvesen. 

Schreiben  und  Rechnen,  bis  zum  Ablaufe  des  8.  Schuljahres  nicht 
erreichen,    haben  die  Schule   aioch  ein  Jahr  lang  weiter  zu  besuchen. 

In  Baden  beginnt  die  Schulpflicht  zu  Ostern  jedes  Jahres  für 
diejenigen  Kinder,  die  bis  zum  30.  Juni  einschließHch  das  6.  Lebens- 
jahr vollenden.  Sie  dauert  in  der  Regel  8  Jahre  und  hört  auf  Ostern 
jedes  Jahres  für  diejenigen  Kinder,  die  bis  zum  'AO.  Juni  einschließlich 
das  14.  Lebensjahr  vollenden.  Mädchen  müssen  auf  Verlangen  der 
Poltern  auch  dann  am  Schlüsse  des  Schuljahres  entlassen  werden, 
wenn  sie  bis  zum  3L  Dezember  das  14.  Lebensjahr  vollenden. 

Ähnlich  wie  für  das  Königreich  Sachsen  sind  die  Bestimmungen 
für  Hessen,  Oldenburg,  Sachsen-Weimar,  Sachsen-Altenburg,  Sachsen- 
Coburg-Gotha,  Sachsen-Meiningen,  Anhalt,  Schwarzburg-Sonders- 
hausen, Reuß  ä.  L.,  Reuß  j.  I>.,  Schaumburg-Lippe,  Lübeck,  Bremen 
und  Hamburg.  Auch  in  Mecklenburg-Schwerin  und  Mecklenburg- 
Strelitz  dauert  die  Schulpflicht  bestimmungsgemäß  8  Jahre.  —  Braun- 
schweig knüpft  bei  achtjähriger  Schulpflicht  den  Beginn  an  die 
Zurücklegung  des  5.  Lebensjahres.  Lippe-Detmold  hat  wie  Württem- 
berg eine  siebenjährige  Schulpflicht  vom  7. — 14.  Lebensjahre.  Waldeck 
und  Elsaß-Lothringen  schreiben  für  Knaben  eine  achtjährige,  für  Mädchen 
eine  siebenjährige  Schulpflicht  vor.  In  Schwarzburg-Rudolstadt  be- 
ginnt die  Schulpflicht  mit  dem  Alter  von  5Vj  Jahren  und  dauert  für 
Knaben  8,  für  Mädchen  7V2  Jahre.  Das  Fürstentum  Lübeck  setzt 
für  Knaben  eine  neunjährige  ivom  6. — 15.  Lebensjahr),  für  Mädchen 
eine  achtjährige  Schulpflicht  fest. 

4.   Schullasten. 

Die  Schullasten  bestehen  im  wesentlichen  aus  den  Gehältern 
und  Pensionen  der  Lehrkräfte  sowie  der  Versorgung  ihrer  Hinter- 
bliebenen, den  Kosten  für  den  Unterhalt  der  Schulhäuser,  die 
Beschaffung  der  Lehrmittel  und  anderer  Schulbedürfnisse,  endlich  aus 
den  durch  die  Erweiterungs-  und  Neubauten  der  Schulhäuser  ent- 
stehenden Ausgaben.  Der  Träger  aller  dieser  Schullasten  ist,  wie 
bereits  erwähnt  worden  ist,  in  Deutschland,  abgesehen  von  gewissen 
besonderen  kirchlichen  Fonds  und  Schulstiftungen,  in  erster  Linie  die 
Gemeinde,  welcher  der  Staat  mit  seinen  Mitteln  unter  gewissen 
Umständen  Beistand  leistet.  Die  Zuschüsse,  welche  das  teilweise 
noch  bestehende  Schulgeld  zur  Deckung  der  Schulunterhaltungskosten 
liefert,  sind,  wie  wir  sehen  werden,  unbedeutend. 

Als  Beispiel  für  die  Art  der  Aufbringung  der  Schullasten  und 
für   die  Verwendung    der    aufeebrachten  Summen    auf   die    einzelnen 


Schulgeset/f   und   Schulbt-liördcn,  Schulpflichten   und  Scluillasten.  93 

ordentlichen  und  aul^erordentlichen  Ausgaben  der  Volksschule   sollen 
hier  die  bezüglichen  Verhältnisse  in  Preußen  dargelegt  werden. 

Die  grundlegenden  Bestimmungen  sind  bereits  im  Preußischen  Landrecht  enthahen: 

i^  29.  Wo  keine  Stiftungen  für  die  gemeinen  Schulen  vorhanden  sind,  liegt  die 
<  )rtsunterhaltung  der  Lehrer  den  sämtlichen  Hausvätern  jedes  Orts  ohne  Unterschied,  ob 
sie  Kinder  haben  oder  niclit,  und  ohne   Unterschied  des  Glaubensbekenntnisses  ob. 

i<  30.  Sind  jedocli  für  die  Einwohner  verschiedenen  Glaubensbekenntnisses  an 
einem  Orte  mehrere  gemeine  Schulen  errichtet,  so  ist  jeder  Einwohner  nur  zur  Unter- 
haltung des  Schullehrers  von  seiner  Religionspartei  beizutragen  verbunden. 

§  31 .  Die  Beiträge,  sie  bestehen  nun  in  Gelde  oder  Naturalien,  müssen  unter  die 
Hausväter  nach  Verhältnis  ihrer  Besitzungen  und  Nahrungen  billig  verteilt  und  von  der 
( lerichtsobrigkeit  ausgeschrieben  werden. 

§  32.  Gegen  Erlegung  dieser  Beiträge  sind  alsdann  die  Kinder  der  Kontribuenten 
von  Entrichtung  eines  Schulgeldes  für  immer  frei. 

ij  33.  Gutsherrschaften  auf  dem  Lande  sind  verpflichtet,  ihre  Untertanen,  welche 
/.ur  Aufbringung  ihres  schuldigen  Beitrages  ganz  oder  zum  Teil  auf  eine  Zeitlang  unver- 
mögend sind,  dabei  nach  Notdurft  zu  unterstützen  (die  Bestimmungen  des  Allgemeinen 
i.andrechts  Teil  II  Titel   12j. 

Spätere  Ministerialerlasse  und  Entscheidungen  des  Ober-Vervvaltungsgerichts  haben 
diese  Grundsätze  näher  ausgelegt  und  folgendermaßen   bestimmt: 

Als  Haus\'äter  sind  diejenigen  Personen  anzusehen,  welche  rechtlich  selbständig 
sind,  innerhalb  des  betreflenden  Schulbezirks  ihren  Wohnsitz  liaben  und  ein  eigenes 
Einkommen  beziehen  (Ministerial-Erlaß  vom  4.  September  1872). 

Von  dem  Eingehen  einer  Ehe  ist  die  Eigenschaft  als  Hausvater  im  Sinne  des 
.\llgemeinen  Landrechts  I1 12  §  29  nicht  abhängig  (Ministerial-Erlaß  vom  27.  Januar  1860J. 

Das  Vorhandensein  schulpflichtiger  Kinder  ist  nicht  die  Voraussetzung  für  die 
/.ugehörigkeit    zu    den     Hausvätern     (Entscheidung     des    Ober- Verwaltungsgerichts     vom 

I.  Mai   1878). 

Zu  den  Hausvätern,  denen  die  L'nterhaltung  der  Sozietätsschulen  obliegt,  gehören 
alle  Personen,  welche  ein  eigenes  Einkommen  haben  und  selbständig  sind  (Entscheidung 
des  Ober- Verwaltungsgerichts  vom  23.  Februar  1878). 

Auch  weibliche  Personen  sind  schulsteuerpflichtig,  wenn  sie  wirtschaftlich  selbständig 
sind  (Entscheidung  des  Ober- Verwaltungsgerichts  vom  30.  September  1882). 

Der  Gutsherr  des  Schulortes  gehört  nicht  zu  den  Hausvätern,  welchen  die  Unter- 
haltung   einer    Sozietätsschule    obliegt    (Entscheidung    des  Ober- Verwaltungsgerichts    vom 

II.  Oktober  1882). 

An  die  Stelle  der  Schulsozietäten  können  unter  gewissen  Umständen  die  politischen 
CJemeinden  treten:  Die  politischen  Gemeinden  sind  befugt,  auf  Grund  eines  ordnungs- 
mäßig zustandegekommenen  Gemeindebeschlusses  diejenigen  Lasten,  welche  den  in  ihrem 
Bezirk  liegenden  Schulsozietäten  obliegen,  auf  den  Kommunaletat  zu  übernehmen 
(Ministerial-Erlaß  vom  20.  Juni  1874).  Nach  gemeinem  deutschen  Rechte  gehören  zu 
den  Aufgaben  der  Gemeinde  nicht  allein  die  rein  ökonomischen  Angelegenheiten,  sondern 
namentlich  auch  das  Schulwesen.  Auf  diesem  Gebiete  wird  die  Autonomie  der  Gemeinde 
nur  durch  das  staatliche  x\ufsichtsrecht  begrenzt.  Die  staatlichen  Aufsichtsbehörden  haben 
demgemäß  in  konstanter  Praxis  und  unter  Zustimmung  des  Gerichtshofes  zur  Entscheidung 
der  Kompetenzkonflikte  angenommen,  daß  die  politischen  Gemeinden  vermöge  ihrer 
.Vutonomie  mit  Zustimmung  der  Kommunalaufsichtsbehörde  befugt  sind,  die  Schullasten 
den  Schulsozietäten  abzunehmen  und  in  Kommunallasten  zu  verwandeln. 

Macht  eine  Gemeinde  von  der  Befugnis,  die  Schule  als  Kommunalanstalt  zu  über- 
nehmen, unter  Zustimmung  der  Aufsichtsbehörde  Gebrauch,  so  werden  damit  die  Schul- 
lasten Kommunallasten,  und  alle  diejenigen,    welche    zu  den  Kommunallasten  beizutragen 


94  ^'olksschul\\■esen. 

haben,  sind  verptlirlitet,  nacli  dem  Kommunalsteuerfuße  auch  zu  den  Kosten  der  Schule 
beizutragen  (Entscheidung  des  (,)ber-\erwaltungsgerichls  vom  28.  November  1877).  Es 
ist  bei  der  Übernahme  der  Schullasten  auf  den  Kommunaletat  zu  unterscheiden,  ob  die 
Schulsozietäten  bestehen  bleiben  und  nur  das  sogenannte  Schulkassendetizit  auf  den 
Kommunaletat  übergehen  soll,  oder  ob  die  Schulsozietät  aufgelöst  und  unter  Übereignung 
des  Schulvermögens  an  die  bürgerliche  Gemeinde  die  Schule  als  Anstalt  der  (Gemeinde 
und  die  Kosten  der  l'nterhaltung  der  Schule  als  (iemeindelast  von  der  bürgerlichen 
Gemeinde  übernommen   werden  soll. 

Im  ersten  Falle  bedarf  es  lediglich  der  Genehmigung  des  Beschlusses  der  bürger- 
lichen Gemeinde  durch  die  Kommunalaufsichtsbehörde.  Eine  Zustimmung  der  Schulsozietät 
ist  in  solchen  Fällen  überhaupt  nicht  erforderlich. 

Im  letzten  Falle  ist  außerdem  eine  \'erhandlung  mit  der  Schulsozietät  über  ihre 
Aufhebung  und  Übereignung  des  Schulvermögens  und  die  Genehmigung  seitens  der 
Schulaufsichtsbehörde  herbeizuführen  (Ministerial-Erlaß  vom   1.  Juni   1883). 

i'ber  die  Unterhaltung  der  Schulbaulichkeiten  bestimmt  das  Allgemeine 
Landrecht  Teil  II  Titel   12: 

§  34.  Auch  die  Unterhaltung  der  Scliulgebäude  und  Schulmeisterwohnungen  muß 
als  gemeine  Last  von  allen  zu  einer  solchen  Schule  gewiesenen  Einwohnern  ohne 
unterschied  getragen  werden. 

§  35.  Doch  trägt  das  Mitglied  einer  fremden  zugeschlagenen  Gemeinde  zur 
Unterhaltung  der  Gebäude  nur  halb  so  viel  bei  als  ein  Einwohner  von  gleicher  Klasse 
an  dem  Orte,  wo  die  Schule  befindlich  ist. 

§  36.  Bei  Bauen  und  Reparaturen  der  Schulgebäude  müssen  die  Magistrate  in 
den  Städten  und  die  Gutsherrschaften  auf  dem  Lande  die  auf  dem  Gute  oder 
Kämmereieigentum,  wo  die  Schule  sich  befindet,  gewachsenen  oder  gewonnenen 
Materiahen,  soweit  selbige  hinreichend  vorhanden  und  zum  Bau  notwendig  sind,  unent- 
geltlich verabfolgen. 

§  37.  Wo  das  Schulhaus  zugleich  die  Küsterwohnung  ist,  muß  in  der  Regel  die 
Unterhaltung  desselben  auf  eben  diese  Art,  wie  bei  Pfarrbauten  vorgeschrieben  ist,  besorgt 
werden. 

§  38.  Doch  kann  kein  Mitglied  der  Gemeinde  wegen  Verschiedenheit  des 
Religionsbekenntnisses  dem  Beitrage  zur  Unterhaltung  solcher  Gebäude  sich  entziehen. 

Das  Gesetz  vom  21.  Juli  1846,  betreffend  den  Bau  und  die  Unterhaltung  der 
Schul-  und  Küsterhäuser,  fügt  hinzu: 

Da  die  Bestimmungen  des  Allgemeinen  Landrechts  II  12  §  37  wegen  des  Baues 
und  der  Unterhaltung  derjenigen  Schulhäuser,  welche  zugleich  Küsterwohnungen  sind, 
dem  mit  der  Entwicklung  des  Schulwesens  erweiterten  Bedürfnisse  nicht  mehr  überall 
entsprechen,  so  verordnen  Wir  auf  den  Antrag  Unseres  Staatsministeriums,  nach  Anhörung 
unserer  getreuen  Stände  und  nach  vernommenen  Gutachten  L'nseres  Staatsrats  für  die 
Landesteile,  in  welchen  das  Allgemeine  Landrecht  Gesetzeskraft  hat,  was  folgt: 

§  1.  Die  Bestimmung  des  Allgemeinen  Landrechts  II  12  §  37,  nach  welcher  der 
liau  und  die  Unterhaltung  derjenigen  Schulhäuser,  die  zugleich  Küsterwohnungen  sind, 
auf  eben  die  Art,  wie  bei  Pfarrbauten  vorgeschrieben,  zu  besorgen  ist,  soll  fortan  nur 
unter  nachstehenden  Beschränkungen  und  Maßgaben  (§§  2—5)  zur  Anwendung  kommen. 

§  2.  Einzelne  Ortschaften,  Gemeinden,  Teile  von  Gemeinden  oder  Einwohner- 
klassen, welche  innerhalb  der  Parochie,  zu  der  die  Küsterei  gehört,  mit  Genehmigung 
der  Behörden  eine  eigene  öffentliche  Schule  haben,  sind  von  Beiträgen  zu  denjenigen 
Bauten  und  Reparaturen  an  dem  Schul-  und  Küsterhause  frei,  welche  allein  durch  das 
Bedürfnis  der  Schulanstalt  veranlaßt  werden. 


Schulgesetze  und   Scliulb.'lKinleii,   Schulpllicht.-n   und   Scluillastcn.  95 

$  'A.  Tritt  bei  dem  mit  der  Küsterwolinung-  verbundenen  Scliullokale  das  ücdürfnis 
ein,  die  Schulstube  zu  erweitern  oder  Räume  für  neue  Schulklassen  oder  zu  Wohnungen 
fiir  Lehrer  zu  beschafien,  so  können  weder  die  Kirchenkasse  noch  der  Patron  und  die 
l'.ingepfarrten  angehalten  werden,  die  liierzu  erforderlichen  Bauten  zu  bewirken.  In  einem 
solchen  Falle  sind  vielmehr  diejenigen,  welchen  in  Ermangelung  eines  Küsterhauses  der 
r>au  und  die  L'nterhaltung  einer  gemeinen  Schule  am  Orte  obliegen  würde,  veq)flichtet, 
jene  Bauten  nötigenfalls  durch  Herstellung  besonderer  ( iebäude  auszuführen  und  auch 
künftig  zu  unterhalten. 

Insbesondere  müssen  dieselben,  wenn  ein  solcher  Erweiterungsbau  mit  dem  be- 
stehenden Schul-  und  Küsterhause  in  Verbindung  gebracht  wird,  nach  \'erhältnis  dieses 
Erweiterungsbaues  zur  Unterhaltung  des  Schul-  und  Küsterhauses  sowie  im  Falle  eines 
Neubaues  dieses  Hauses  zu  dessen  Wiederherstellung  beitragen. 

i>  4.  Ist  eine  Schule  in  Oemäßheit  des  §  101  der  Gemeinheits-Teilungsordnung 
vom  7.  Juni  1 821  mit  Land  dotiert  worden,  so  sind  nur  die  zur  Unterhaltung  der  Schule 
\'erpflichteten  schuldig,  die  dem  Schullehrer  zur  Benutzung  seines  Landes  etwa  nötigen 
Wirtschaftsräume,  als  Scheune  und  Stallung,  zu  bauen  und  zu  unterhalten. 

§  5.  Die  der  Schulanstalt  vorgesetzte  Regierung  ist  befugt,  in  den  F'ällen  der 
ijij  2 — 4  das  Beitrag.sverhältnis  der  verschiedenen  Verpflichteten  bei  dem  Mangel  einer 
gütlichen  Einigung,  auf  Grund  sachverständiger  Ermittlungen,  durch  ein  Resolut  vorläufig 
festzusetzen  und  in  Vollzug  zu  bringen.  Gegen  diese  Festsetzung  ist  der  Rekurs  an  das 
Ministerium  der  geistlichen  und  L'nten-ichtsangelegenheiten  zulä.ssig.  Findet  sich  ein  Teil 
durch  solche  Entschlüsse  der  Verwaltungsbehörden  verletzt,  so  steht  ihm  frei,  gegen  den 
anderen  Teil  auf  Entscheidung  im  Rechtswege  anzutragen. 

Die  Beiträge  de.s  Staates  zur  Aufbringung  der  Schullasten  in 
Preußen  lassen  sich  im  ^\'esentlichen  unter  folgenden  Gesichtspunkten 
zusammenfassen : 

Zur  Unterstützung  unvermögender  Gemeinden  und 
Schulver'bände  bei  Elementarschulbauten  besteht  im  preußischen 
Staatshaushaltsetat  ein  Fonds,  über  dessen  Verwendung  ein  Ministerial- 
erlaß vom  4.  Juni  1883  folgende  Grundsätze  aufstellt: 

„Der  Fonds  soll  nach  den  Allerhöchst  genehmigten  Bestimmungen 
über  dessen  Verwendung  zur  Gewährung  von  Beihilfen  an  un- 
vermögende Gemeinden  und  Schulverbände  für  Neu-,  Erweiterungs- 
und Reparaturbauten  von  Elementarschulen  dienen  und  tritt  in  dieser 
Hinsicht  an  die  Stelle  des  Allerhöchsten  Dispositionsfonds  bei  der 
Generalstaatskasse,  aus  welchem  fortan  Gnadengeschenke  zu  dem  ge- 
dachten Zwecke  nicht  mehr  gewährt  werden.  Die  Beihilfen  aus  dem 
neuen  Fonds  sollten  als  subsidiäre  Beihilfen  gegeben  werden,  d.  h.  nur 
insoweit  zur  Auszahlung  gelangen,  als  sich  Ersparnisse  gegen  den 
Ko.stenanschlag  bei  der  Bauausführung  ergeben.  Da  die  baupflichtigen 
Gemeinden  es  als  Härte  empfanden,  daß  die  in  Aussicht  gestellte 
Gnadenbeihilfe  gegebenenfalls  nicht  in  voller  Höhe  zur  Auszahlung 
gelangte,  wurde  durch  den  Erlaß  vom  30.  März  1897  der  Grundsatz 
der  subsidiären  Natur  der  Gnadenbeihilfe  beseitigt;  es  werden  seitdem 


Q^  Volksschulwesen. 

diese  Gnadenbeihilfen  im  allgemeinen  in  festen  Beträgen  gewährt. 
Das  Bedürfnis  zur  Unterstützung  der  Gemeinden  und  Schulverbände 
wird  —  in  analoger  Weise  wie  bei  der  Gewährung  von  Zuschüssen 
aus  Staatsfonds  zu  den  Lehrerbesoldungen  —  nach  Anhörung  der  Lokal- 
und  Kreisbehörden  von  der  zuständigen  Provinzialbehörde  unter  Mit- 
wirkung der  betreffenden  Finanzstation  geprüft. 

Um  zu  verhüten,  daß  Unterstützungssachen  in  größerer  Zahl 
und  mit  größeren  Bedarfssummen,  als  die  vorhandenen  Mittel  ge- 
statten, vorbereitet  und  von  den  Provinzialbehörden  an  die  Zentral- 
stelle gebracht  werden,  wird  jeder  zuständigen  Provinzialbehörde 
diejenige  Summe  bezeichnet,  innerhalb  welcher  sie  sich  jährlich  mit 
ihren  Unterstützungsanträgen  zu  halten  hat." 

Die  bedeutsamste  Rolle  spielt  die  staatliche  Beihilfe  bei  der 
Aufbringung  der  Gehälter  und  der  Pensionen  der  Lehrkräfte, 
sowie  bei  der  Versorgung  ihrer  Hinterbliebenen.  Die  Beiträge 
des  Staates  für  die  Lehrerbesoldung  sind  durch  das  Lehrer- 
besoldungsgesetz vom  3.  März  1897  geregelt.   Es  heißt  daselbst  im  §  27: 

I.  Aus  der  Staatskasse  wird  ein  jährlicher  Beitrag  zu  dem  Diensteinkommen  der 
Lehrer  und  Lehrerinnen  und,  soweit  er  hierzu  nicht  erforderlich  ist,  zur  Deckung  der 
Kosten  für  andere  Bedürfnisse  des  betreffenden  Schulverbandes  an  die  Kasse  desselben 
gezahlt. 

Der.  Beitrag  wird  so  berechnet,  daß  für  die  Stelle  eines  alleinstehenden  sowie 
eines  ersten  Lehrers  500  M.,  eines  anderen  Lehrers  300  M.,  einer  Lehrerin  150  M.  jährlich 
bezahlt  werden.  Bei  der  Berechnung  kommen  nur  Stellen  für  vollbeschäftigte  Lehrkräfte 
in  Betracht.  Darüber,  ob  eine  Lehrkraft  vollbeschäftigt  ist,  entscheidet  ausschließlich  die 
Schulaufsi  eh  tsbehörde . 

IL  Der  Staatsbeitrag  wird  bis  zur  Höchstzahl  von  25  Schulstellen  für  jede  politische 
Gemeinde  gewährt. 

Sind  für  die  Einwohner  einer  politischen  Gemeinde  mehr  als  25  Schulstellen  vor- 
handen, so  wird  der  Staatsbeitrag  innerhalb  der  Gesamtzahl  von  25  Stellen  für  so  viele 
erste  Lehrerstellen,  andere  Lehrerstellen  und  Lehrerinnenstellen  gewährt,  als  dem  Ver- 
hältnis der  Gesamtzahl  dieser  Stellen  untereinander  entspricht. 

Wo  die  Grenzen  der  politischen  Gemeinde  sich  mit  denen  des  Schulverbandes 
nicht  decken,  dergestalt,  daß  der  Schulverband  aus  mehreren  politischen  Gemeinden  oder 
Teilen  von  solchen  besteht  und  für  die  Einwohner  einer  dieser  politischen  Gemeinden 
mehr  als  25  Stellen  vorhanden  sind,  wird  durch  Beschluß  der  Schulaufsichtsbehörde  nach 
Anhörung  der  Beteiligten  mit  Rücksicht  auf  die  Zahl  der  Einwohner  des  Schulverbandes 
und  der  Schulkinder,  welche  den  einzelnen  politischen  Gemeinden  angehören,  sowie  mit 
Rücksicht  auf  die  Einrichtung  der  -Schule  festgesetzt,  wie  viele  ganze  der  im  Schulverbande 
bestehenden  (ersten,  andern  Lehrer-,  Lehrerinnen-)  Stellen  auf  jede  zum  Schulverbande 
gehörende  politische  Gemeinde  oder  Teile  von  Gemeinden  zu  rechnen  sind,  für  wie  viele 
Stellen  demgemäß  an  den  Schulverband  der  Staatsbeitrag  zu  zahlen  ist.  Der  Beschluß  ist 
den  beteiligten  Schulverbänden  zuzustellen.  Denselben  steht  binnen  vier  "Wochen  nach 
der  Zustellung  die  Beschwerde  an  den  Ober-Präsidenten  (in  den  Hohenzollernschen 
I>anden    an    den  Ünterrichtsminister)    zu,    welcher  endgültig    entscheidet.      Bei    einer   er- 


Schulgesetze  und  Schulbeliönlen,  Schulpflichten   und  Schullasten.  97 

heblichen  Änderung  der  \'erhältnisse  kann  eine  neue  Berechnung  von  den  beteiligten 
Schulverbänden  beantragt  oder  von  der  Schulaufsichtsbehörde  von  Amtswegen  beschlossen 
werden. 

Gehören  die  Einwohner  einer  politischen  Gemeinde  verschiedenen  Schulverbänden 
an,  so  werden  die  für  die  politische  Gemeinde  zu  berechnenden  Staatsbeiträge  für  erste, 
andere  Lehrer-  und  Lehrerinnenstellen  auf  die  einzelnen  Schulverbände  durch  die  Schul- 
aufsichtsbehörde nach  dem  Verhältnis  derjenigen  Staatsbeiträge  verteilt,  welche  den  Schul- 
verbänden bei  Gewährung  der  Staatsbeiträge  für  säradiche  Schulstellen  zu  zahlen  sein 
würden. 

IIL  In  Schulverbänden,  in  denen  der  Staatsbeitrag  für  alle  Schulstellen  gezahlt 
wird,  ist  er  für  einstweilig  angestellte  Lehrer  und  für  Lehrer,  welche  noch  nicht  vier 
Jahre  im  öfientlichen  Schuldienst  gestanden  haben,  um  100  M.  jährlich  zu  kürzen. 

I\'.  Für  diejenigen  Lehrerstellen  ,  für  welche  der  Staat  den  Besoldungsbeitrag 
(Xo.  I)  an  den  Schulverband  gewährt,  wird  aus  der  Staatskasse  ein  jährlicher  Zuschuß 
von  337  i\L,  für  die  Lehrerinnenstellen  dieser  Art  ein  jährlicher  Zuschuß  von  184  M.  an 
die  Alterszulagekasse  des  betrefl'enden  Bezirks  gezahlt  und  dem  Schulverbande  auf  seinen 
Beitrag  zur  Kasse  angerechnet. 

Über  die  Beiträi^e  des  Staates  zu  den  Ruhegehältern  der 
Lehrer  und  Lehrerinnen  bestimmt  §  26  des  Gesetzes,  betreffend 
die  Pensionierung  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  den  öffenthchen 
Volksschulen,  vom  6.  Juli  1885  folgendes: 

§  26.  Die  Pension  wird  bis  zur  Höhe  von  600  M.  aus  der  Staatskasse,  über 
diesen  Betrag  hinaus  von  den  sonstigen  bisher  zur  Aufbringung  der  Pension  des  Lehrers 
Verpflichteten,  sofern  solche  nicht  vorhanden  sind,  von  den  bisher  zur  Unterhaltung  des 
Lehrers  während  der  Dienstzeit  Verpflichteten  gezahlt.  Die  auf  besonderen  Rechtstiteln 
beruhenden  Verpflichtungen  Dritter  bleiben  bestehen. 

Die  Beiträge  des  Staates  für  die  Hinterbliebenen  der 
Lehrer  sind  in  §  14  des  Gesetzes,  betreffend  die  Fürsorge  für  die 
Witwen  und  Waisen  der  Lehrer  an  öffentlichen  Volksschulen,  vom 
4.  Dezember  1899  näher  festgesetzt.  Dieser  Paragraph  hat  folgenden 
Wortlaut: 

§  14.  Das  Witwengeld  wird  bis  zur  Höhe  von  420  M.,  das  Waisengeld  für  Halb- 
waisen bis  zur  Höhe  von  84  M.,  für  \'ollwaisen  bis  zur  Höhe  von  140  M.  jährlich  aus 
der  Staatskasse  gezahlt. 

Diese  Vorschrift  findet  auf  die  Hinterbliebenen  derjenigen  Lehrer  keine  Anwendung, 
welche  zur  Zeit  ihres  Todes  oder  ihrer  \ersetzung  in  den  Ruhestand  an  einer  öflfendichen 
\olksschule  der  Stadt  Berlin  angestellt  waren. 

Zur  Aufbringung  des  nicht  durch  Staatsbeitrag  gedeckten  Witwen-  und  Waisen- 
gekies sind  die  zur  Aufbringung  des  nicht  durch  Staatsbeitrag  gedeckten  Teils  des  Ruhe- 
gehalts des  Lehrers  Verpflichteten  verbunden. 

Über  die  laufenden  Unterhaltungskosten  der  öffentlichen  Volks- 
schulen in  Preußen  im  Jahre  1901,  die  Aufbringung  derselben  und 
die  Aufwendungen  für  Neu-  und  Erweiterungsbauten  von  öffentlichen 
Volksschulen,  sowie  deren  Aufbringung  im  Jahre  1900  geben  die 
folgenden  Tabellen  Aufschluß  (Tabelle   1a,    I  b,  2,  3). 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  7 


98 


Volksschuhvesen. 


Tabelle  la:   Die  laufenden  Unterhaltungskosten*)  für  die  öffentlichen 
Volksschulen  in  Preußen  1901. 


Stadt 
M. 

Land 
M. 

Zusammen 
M. 

I.  Diensteinkommen  (Grundgehalt,  Alterszulagen, 

Wert  der  Dienstwohnung  bezw.  Mietsentschädigung) 

der  Lehrer  und  Lehrerinnen,  und  zwar : 

l.der  Lehrerstellen,    einschließlich    der   z.  Z.  nicht 

63  997  123  81  123  409 

145120  532 
20  404  842 

2.  der  Lehrerinnenstellen,   einschließlich    der    z.    Z. 

14  299  663     6105  179 

78  296  786  87  228  588 

165  525  374 

7  209442 
536  287 

18  746 
243759 

2  658  439 

1  139  591 

284176 

1  251  645 

n.  Sonstige  Aufwendungen  für  persönliche 
Kosten,  und  zwar: 

1.  laufende   Beiträge    der   Schuh-erbände    zur  Ruhe- 
gehaltskasse     

2.  laufende  Beiträge  der  Schulverbände  zur  Bezirks- 
Witwen-    und  Waisenkasse    und  zu  anderen  der- 
gleichen Kassen             

3492  475 
418118 

11593 
25  703 

1  139  427 

725  047 

1136 

761  439 

3  716  967 
118169 

7  153 
218  056 

1519012 
414544 
283  040 

490  206 

3.  Aufwendungen  f  besondere  Religionslehrer,  welche 
a)  den  schulplanmäßigen  Religionsunterricht  er- 

b)  den  Religionsunterricht    der   konfessionellen 

4.  Aufwendungen    für   die   technischen  Unterrichts- 
gegenstände (Handarbeits-,  Turn-,  Gesang-,  Haus- 
wirtschaftsunterricht),   soweit    für  Festangestellte 
nicht  schon  unter  dem  Diensteinkommen  (1, 1  u.  2) 

S.Kosten     der    Stellvertretung    von    Lehrern    und 
Lehrerinnen  im  Etatsjahre  1900 

6.  Wert  der  freien  Feuerung,  soweit  dieser  auf  das 
Grundgehalt  nicht  angerechnet  worden  ist  .    .    . 

7.  sonstige     Aufwendungen     für     Remunerationen, 
Unterstützungen    der  Lehrpersonen  und  ähnliche 

zusammen 

6  574  938 

6  767  147 

13  342  085 

*)  Bei  der  Feststellung  der  Summe  der  laufenden  Schulunterhaltungskosten  in  dieser 
Tabelle  durften  die  laufenden  Beiträge  der  Schulverbände  sowie  die  Zuschüsse  des  Staates 
zur  Alterszulagekasse,  soweit  sie  zur  Zahlung  der  Alterszulagen  Verwendung  finden,  nicht 
berücksichtigt  werden,  da  die  Alterszulagen  als  ein  Bestandteil  des  Diensteinkommens 
bereits  unter  I.   1.  bezw.  2.  enthalten  sind. 


Schuli^esetze  und  Sclnilheliorden,  Schulpllichten  und  Schullasten. 


99 


Tabelle  Ib:    Die  laufenden  Unterhaltungskosten  für  die  öffentlichen 
Volksschulen  in  Preußen  1901. 


Stadt 

Land 

Zusammen 

M. 

M. 

M. 

III.    Sächliche  Kosten, 

und   zwar  Aufwendungen: 

1 .  für    Heizung    und   Reinigung    der    Schulräume, 

Gehalt  bezw.  Lohn  des  Schuldieners  einschl.  des 

Wertes  seiner  Wohnung  und  dergl 

5  259  111 

5  036  518 

10  295  629 

2.  für  Lehr-  und  Lernmittel  und  innere  Ausstattung 

2  030  095 

1  926  839 

3  956  934 

3.  für    die    laufende    Unterhaltung    der  Schul- 

gebäude, für  Reparaturen  usw. 

a)  bar 

3  502  270 

4  534  366 

8  036  636 

b)  Wert  etwaiger  Naturalleistungen 

3  934 

201  115 

205049 

4.  für  laufende  Verzinsung  und  Abtragung  (Tilgung) 

etwa     angeliehener  Kapitalien    für    Schulbauten 

mit  Einschluß  der  etwa  aus  laufenden  Einnahmen 

gedeckten  Kosten  für  Schulbauten 

7139  621 

6  886124 

14  025  745 

5.  für  sonstige  unter  1    bis  4  nicht   nachgewiesene 

sächliche  Aufwendungen,    mit  Ausschluß  jedoch 

der    nicht    aus   laufenden  Einnahmen  gedeckten 

Kosten  für  Schulbauten 

1  890  065 

2  277  675 

4167  740 

Summe    der    persönlichen  Kosten,    soweit    solche 

unter  I  und  II    nachgewiesen  sind 

84  871  724 

93  995  735 

178  867  459 

Summe  der  sächlichen  Kosten,  soweit  solche  unter 

III.  1   bis  5  nachgewiesen  sind 

19  825  096 

20  862  637 

40687  733 

Gesamtbetrag*)  der   laufenden  Schulunterhaltungs- 

kosten,   soweit    solche    in    den    beiden  vorher- 

gehenden Summen  nachgewiesen  sind 

104  696  820 

114  858  372 

219  5551921 
1 

*)  Außer  den  hier  nachgewiesenen  Schulunterhaltungskosten  sind  im  Jahre  1901 
bezw.  1900  aus  Staatsmitteln  noch  folgende  Beträge  für  die  Zwecke  der  offen thchen 
Volksschulen  verausgabt : 

Beiträge  des  Staates  zu  den  Pensionen  für  Lehrer  und  Lehrerinnen    .    .  5  284  404  M. 
sonstige  staatüche  Aufwendungen  für  pensionierte  Lehrer  und  Lehrerinnen      812  812  „ 
Beiträge  des  Staates  für  die  Witwen-  und  Waisenversorgung  der  Hinter- 
bliebenen von  Volksschullehrem 640  024  „ 

sonstige  staatliche  Aufwendungen  für  Hinterbhebene  von  Volksschullehrem      606  648  „ 

persönliche  Unterstützungen  für  Lehrer  und  Lehrerinnen 636455  „ 

auf  Grund  des  §22  Abs.  1  u.  2  des  Lehrerbesoldungsgesetzes  vom3.März1897 

aus  Staatsmitteln  im  Jahre  1900  gezahlte  Umzugskosten 60  672  „ 

zusammen 8  041  015  M. 

7* 


100 


\^olksschul\vesen. 


Tabelle  2 :   Die  Aufbringung  der  laufenden  Unterhaltungskosten 
für  die  öffentlichen  Volksschulen  in  Preußen  1901. 


Stadt 

Land        Zusammen 

M. 

M. 

1        ^• 

Von  den  219  555192  M.  der  laufenden  Schul- 

unterhaltungskosten werden  aufgebracht: 

1 .  durch  die  gesetzlichen    Staatsbeiträge    (§    27,  I, 

II    und    III    des  Lehrerbesoldungsgesetzes   vom 

3.  März  1897) 

4913  232 

20  442  090 

25  355322 

2.  durch     dauernde     Zuschüsse    usw.    aus    Staats- 

mitteln   (§  27,  VI  des  Lehrerbesoldungsgesetzes 

vom  3.  März  1897) 

2  024  570         47  230 

2  071800 

3.  durch  laufende  widerrufliche  Staatsbeihilfen    .    . 

1983552    8  910  675 

10  894  227 

4.  durch  einmalige  Beihilfen  aus  Staatsmitteln   .    . 

28  503       280  126 

308  629 

5.  aus     dem    Ertrage     des    Schul-,    Kirchen-    und 

I 

Stiftungsvermögens 

2108  732 

12  878  216 

14  986  948 

6.  durch   Zuschüsse    der   Kirchenkassen    und   von 

Kirchengemeinden    sowie    durch  sonstige  Ein- 

nahmen aus  dem  Kirchendienste 

449  522 

1  661  361 

!    2  110883 

7.  durch     die    Schulunterhaltungspflichtigen     (den 

Schulverband)  einschl.  etwaiger  freiwilliger  Bei- 

träge   der  politischen   Gemeinden,    Gutsherren, 

Privatpatrone,  Grundherren   überhaupt     .... 

84  376  453 '54  352  010 

138  728  463 

davon  entfallen: 

a)  auf  die  laufenden  Beiträge  der  Schulverbände 

zur     Alterszulagekasse     (§    8     des     Lehrer- 

besoldungsgesetzes vom  3.  März   1897) .    .    . 

14  251  712 

4  589  499 

18  841211 

b)  auf  gutsherrliche,  Privatpatronats-  und  grund- 

herrliche Leistungen 

91  802 

2  271747 

2  363  549 

8.  durch    sonstige    Verpflichtete     (rechtliche    Ver- 

pflichtungen Dritter  usw.) 

412  957 

388  917 

801  874 

9.  durch  Schulgeld 

620125 

206  638 

826  763 

1 0.  aus  dem  Patronats-Baufonds 

2  064 
21508  057 

21973 
19  921  101 

24  037 
41429158 

1 1 .  aus  der  Alterszulagekasse  überhaupt 

davon     werden     gedeckt     durch    Zuschüsse 

des  Staates    zur  Alterszulagekasse  (§  27,  IV 

und  VII   des  Lehrerbesoldungsgesetzes   vom 

3.  März  1897) 

4  946  981 

16  956195 

21  903  176  1 

12.  aus  sonstigen  Ouellen 

520  765 

337  534 

858  299 

1 

Schulgesetze  und  Schulbeliönleii,  Schuljiflichten  und  Scliullasten. 


101 


Tabelle  3:   Die  Aufwendungen  für  Neu-  (Ersatz-)  und  Erweiterungs- 
bauten  von   öffentlichen  Volksschulen   und   deren  Aufbringung  im 
Jahre    1900   sowie   die   durch   Volksschulbauten   entstandenen  und 
noch  vorhandenen  Bauschulden  in  Preußen. 


Stadt 
M. 


Land 

M. 


Zusammen 
M. 


I,  Die  Schul-Neu  (Ersatz-)  und 
Erweiterungsbauten. 

I.Gesamtbetrag  der  im  Etatsjahr  1900  tat- 
sächlich aufgewendeten  Kosten  für 
Schul-Neu-  (Ersatz-)    und    Erweiterungsbauten 

a)  in  bar 

b)  Wert  der  Naturalleistungen 

c)  zusammen  (a  und  b) 

2.  Von  dem  Gesamtbetrage  (1,  c)  entfallen 
auf 

a)  Neubauten  einschl.  Ersatzbauten  (Barer 
Betrag  mit  Einschluß  des  Wertes  der 
Naturalleistungen) 

b)  Erweiterungsbauten  (Barer  Betrag  mit 
Einschluß  des  Wertes  der  Natural- 
leistungen)     

3.  Der  Betrag  unter  1 ,  c  ist  gedeckt : 

a)  durch  besondere  Schulbau-  oder  all- 
gemeine Anleihe  mit 

b)  aus  dem  angesammelten  Schulbaufonds 
mit 

c)  aus  dem  Etat  der  politischen  Gemeinde 
bezw.  der  Schulgemeinde  für  das  Etats- 
jahr 1900  mit 

d)  aus  dem  Patronatsbaufonds  mit    .... 

e)  durch  Gnadenbewilligung  mit 

f)  durch  gutsherrliche,  Privatpatronats-  und 
grundherrliche  Leistungen  mit      .... 

g)  durch  sonstige  Mittel  mit 

n.  Bauschulden  für  Volksschulbauten. 

1 .  Betrag  der  ursprünglich  für  Schulbauten  an- 
gehehenen  und  noch  nicht  völlig  getilgten 
Bauschulden  bezw.  Teilbetrag  der  für  Schul- 
bauten verwendeten  allgemeinen  Gemeinde- 
anleihen     


20  482  631 
20  482  631 


21  200  181 

613  009 

21813190 


41682  812 

613  009 

42  295  821 


18  507  530      18  089  039      36  596  569 


1975101 


8  699  990 
1  208  675 


9  860  525 

3  285 
243  700 


466  456 


3  724151 


10  849  458 


5  699  252 


19  549  448 


1  241  372        2  450  047 


3100  790 

396  648 

3  954  814 

809  089 
1  461  019 


96  969  959'  102  787  922 


2.  Betrag  der  gegenwärtig  (Juni  1901)  noch 
vorhandenen  durch  Schulbauten  verursachten 
Bauschulden 76  575  627 


12961315 

399  933 

4  198  514 

809  089  ! 
1  927  475  \ 


199  757; 


78  712  767;' 155; 


394 


"1 02  ^^olksschul\vesen. 

In  den  anderen  deutschen  Staaten,  mit  Ausnahme  von 
Anhalt,  liegen  die  Verhältnisse  ähnlich;  es  \\'ürde  jedoch  zu  weit 
führen,  näher  auf  die  im  einzelnen  recht  verschiedenen  Einrichtungen 
und  gesetzlichen  Bestimmungen  einzugehen.  Es  mögen  hier  nur  noch 
einige  kurze  Angaben  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Schul- 
geldfrage in  einigen  der  größeren  deutschen  Staaten  ihren  Platz  finden: 

Für  Preußen  bestimmt  §  4  des  Gesetzes  vom  14.  Juni  1888: 
,,Die  Erhebung  eines  Schulgeldes  findet  fortan  nicht  statt.    Aus- 
nahmen sind  nur  gestattet: 

1 .  für  solche  Kinder,  welche  innerhalb  des  Bezirks  der  von  ihnen 
besuchten  Schule  nicht  einheimisch  sind; 

2.  soweit  das  gegenwärtig  (d.  h.  im  Jahre  1888)  bestehende 
Schulgeld  durch  den  Staatsbeitrag  zur  Lehrerbesoldung  nicht  gedeckt 
wird  und  andernfalls  eine  erhebliche  Vermehrung  der  Kommunal- 
oder Schulabgaben  eintreten  müßte." 

Die  Erhebung  des  Schulgeldes  im  Falle  2  bedarf  besonderer 
Genehmigung,  die  von  fünf  zu  fünf  Jahren  erneut  nachzusuchen  ist. 

Nach  der  Statistik  von  1901  wurden  im  ganzen  preußischen 
Staate  826  763  M.  an  Schulgeld  erhoben  (nicht  voll  24  M.  auf  das 
Tausend  der  Bevölkerung  oder  etwa  14,5  Pf  durchschnittlich  für  jeden 
Volksschüler).  Davon  kamen  620  125  M.  auf  die  Städte,  206  638  M. 
auf  das  Land. 

In  Bayern  ist  die  Erhebung  des  Schulgeldes  als  allgemeine 
Regel  vorgeschrieben.  Doch  machen  die  Gemeinden  mehr  und  mehr 
von  der  Befugnis  Gebrauch,  das  Schulgeld  auf  die  Gemeindekasse  zu 
übernehmen. 

Im  Schuljahre  1899/1900  wurden  von  5454  Schulen  (gleich  74,2  % 
der  Gesamtzahl)  1  603  083  M.  an  Schulgeld  erhoben  (nicht  voll  260  M. 
auf  das  Tausend  der  Bevölkerung  oder  1,83  M.  durchschnittlich  für 
jeden  Schüler).  Von  der  Gesamtsumme  fielen  67  360  M.  (gleich  4,2  %) 
auf  die  Städte,  1  535  723  M.  (gleich  95,8  %)  auf  das  Land. 

Im  Königreich  Sachsen  ist  das  Schulgeld  eine  gesetzliche 
Einrichtung.  Den  Gemeinden  ist  zwar  gestattet,  es  nach  den  Ver- 
mögens- und  Familienverhältnissen  der  Beitragspflichtigen  abzustufen, 
nicht  aber,  es  gänzlich  aufzuheben.  Über  den  tatsächlich  auf- 
kommenden Betrag  des  Schulgeldes  liegen  keine  Angaben  vor. 

In  Württemberg  wird,  sobald  Umlagen  erforderlich  sind,  ein 
Schulgeld  zur  Gemeindekasse  erhoben,  und  zwar  für  jeden  Schüler 
1,40  M.    bis    2,40  M.,    je    nach    der  Größe   der   Ortschaft.      Zur  Ein- 


Schulgesetze  und  Schulbehönlen,  Schulpflicliten  und  Schullaslen.  ]()[] 

führung,  Erhöhung  oder  Aufhebung  des  Schulgeldes  ist  ein  Gemeinde- 
beschluß und  die  Genehmigung  der  Kreisregierung  erforderlich. 

Im  Großherzogtum  Baden  sind  für  jedes  die  Schule  be- 
suchende Kind  3,20  M.  an  die  Gemeinde  zu  steuern.  Unvermögende 
werden  von  dieser  Pflicht  befreit,  ohne  daß  der  Nachlaß  als  Armen- 
unterstützung gilt.  Ausfälle  werden  von  der  Gemeinde  gedeckt. 
Auch  kann  die  Gemeinde  durch  einen  mit  Zweidrittelmehrheit  ge- 
faßten Beschluß  auf  die  Erhebung  des  Schulgeldes  verzichten. 

Im  Großherzogtum  Hessen  hängt  die  Erhebung  von  Schul- 
geld in  den  Gemeinden  von  dem  Beschlüsse  des  Gemeindevorstandes 
ab;  es  darf  je  nach  der  Einwohnerzahl  3,43  M.  bis  10,86  M.  jährlich 
für  jedes  Kind  betragen.  Die  in  bezug  auf  das  Schulgeld  gefaßten 
Beschlüsse  bedürfen  der  Genehmigung  des  Kreisamts.  Im  Frühjahr  1902 
gab  es  im  ganzen  Großherzogtum 

mit  Schulgeld  291   Schulen, 
ohne        „         692         ,, 

Das  Weimarische  Gesetz  schließt  die  Gemeinden,  die  kein 
„angemessenes"  Schulgeld  erheben,  von  der  Staatsunterstützung  aus. 
Auch  in  den  übrigen  Staaten  ist  die  Erhebung  von  Schulgeld  Re«-el. 


KAPITEL  IV. 

Die  Organisation  der  Volksschule.    Lehrpläne,  Methoden, 
Disziplin  und  Lehrmittel. 


I.    Die  Organisation    der  Volksschule. 

Die  x'Yufgabe,  welche  die  Gesetzgebung  in  den  einzelnen  deut- 
schen Staaten  der  Volksschule  gestellt  hat,  ist  bereits  in  einem 
früheren  Abschnitt  dieses  Werkes  charakterisiert  worden,  die  Wege, 
auf  denen  diese  Aufgabe  gelöst  werden  soll,  werden  in  diesem  Kapitel 
darzulegen  sein. 

Die  Lehrgegenstände  sind  nicht  in  allen  Bundesstaaten  genau 
dieselben,  und  ebensowenig  sind  die  zu  erreichenden  Ziele  in  Kennt- 
nissen und  Fertigkeiten  und  die  Unterrichtsmethoden  in  gleicher 
Weise  bestimmt.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  in  gut  ausgestatteten 
sieben-  oder  achtklassigen  Stadtschulen  höhere  Unterrichtsziele  erreicht 
werden  können  und  müssen  als  in  Dorfschulen  mit  Halbtagsunter- 
richt. Trotzdem  besteht  aber,  wenn  wir  von  der  Mittelschule,  welche 
sich  durch  ihren  eigenartigen  Lehrplan  mit  einer  obligatorischen 
Fremdsprache  von  der  Volksschule  unterscheidet,  absehen,  in  den 
meisten  deutschen  Staaten  kein  gesetzlich  anerkannter  Unterschied 
zwischen  der  einfachen  und  der  erweiterten  Volksschule.  Im  König- 
reich Sachsen  wird  allerdings  durch  das  Volksschulgesetz  vom 
26.  April  IU73  eine  solche  Scheidung  zwischen  einfachen,  mittleren 
und  höheren  Volksschulen,  welche  letzteren  aber  den  preußischen 
Mittelschulen  entsprechen,  statuiert,  und  in  Baden  gestattet  das 
Gesetz  vom  1 3.  Mai  1 892  über  den  Elementarunterricht  den  Gemeinden, 
neben  den  durch  das  Gesetz  gebotenen  Volksschulen  oder  statt  der- 
selben erweiterte  Volksschulen  zu  errichten. 

Wie  die  deutschen  Volksschulen  in  ihrem  j\ufbau  organisiert 
sind,  darüber  geben  die  amtlichen  Übersichten   nicht  in  allen  Staaten 


Organisation  der  Volksschule.    Lehr^iläne,  Methoden,  Disziplin  ii.  I-ehrmittel.      |()5 

in  gleicher  Weise  Auskunft,  doch  werden  die  folgenden  Zusammen- 
stellungen über  Preußen,  Bayern,  Württemberg,  Sachsen,  Hessen, 
Elsaß-Lothringen  und  Hamburg  dem  Leser  eine  annähernde  Vor- 
stellung auch  von  den  Verhältnissen  der  übrigen  Bundesstaaten 
ermöglichen. 

Preußen:  Über  die  normalen  Volksschuleinrichtungen  sprechen 
sich  die  ,, Allgemeinen  Bestimmungen  des  Königlich  Preußischen 
Ministers  der  geistlichen,  Unterrichts-  und  Medizinal- Angelegenheiten, 
betreffend  die  Volks-  und  Mittelschule,  vom  15.  Oktober  1872" 
folgendermaßen  aus: 

,,§  1.  Die  normalen  Volksschuleinrichtungen.  Normale 
Volksschuleinrichtungen  sind  die  mehrklassige  Volksschule,  die  Schule 
mit  2  Lehrern  und  die  Schule  mit  einem  Lehrer,  welche  entweder 
die  einklassige  Volksschule  oder  die  Halbtagsschule  ist. 

5  2.  Die  einklassige  Volksschule.  In  der  einklassigen  Volks- 
schule werden  Kinder  jedes  schulpflichtigen  Alters  in  ein  und  dem- 
selben Lokale  durch  einen  gemeinsamen  Lehrer  gleichzeitig  unter- 
richtet.    Die  Zahl  derselben  soll  nicht  über  achtzig  steigen. 

In  der  einklassigen  Volksschule  erhalten  die  Kinder  der  Unter- 
stufe in  der  Regel  wöchentlich  20,  der  Mittel-  und  Oberstufe  30  Lehr- 
stunden, einschließlich  des  Turnens  für  die  Knaben  und  der  weib- 
lichen Handarbeiten  für  die  Mädchen. 

5  3.  Die  Halbtagsschule.  Wo  die  Anzahl  der  Kinder  über 
achtzig  steigt  oder  das  Schulzimmer  auch  für  eine  geringere  Zahl  nicht 
ausreicht  und  die  Verhältnisse  die  Anstellung  eines  zweiten  Lehrers 
nicht  gestatten,  sowie  da,  wo  andere  Umstände  dies  notwendig  er- 
scheinen lassen,  kann  mit  Genehmigung  der  Regierung  die 
Halbtagsschule  eingerichtet  werden,  für  deren  Klassen  zusammen 
wöchentlich  32  Stunden  angesetzt  w^erden. 

§  4.  Die  Schule  mit  zwei  Lehrern.  Sind  zwei  Lehrer  an  einer 
Schule  angestellt,  so  ist  der  Unterricht  in  zwei  gesonderten  Klassen  zu 
erteilen.  Steigt  in  einer  solchen  Schule  die  Zahl  der  Kinder  über 
hundertundzwanzig,  so  ist  eine  dreiklassige  Schule  einzurichten.  In 
dieser  kommen  auf  die  dritte  Klasse  wöchentlich  12,  auf  die  zweite 
Klasse  wöchentlich  24,  auf  die  erste  Klasse  wöchentlich  28  Lehr- 
stunden. 

§  5.  Die  mehrklassige  Volksschule.  In  Schulen  von  drei  und 
mehr  Klassen,  soweit  dieselben  nicht  unter  4.  fallen,  erhalten  die 
Kinder  der  unteren  Stufe  wöchentlich  22,  die  der  mittleren  28,  die 
der  oberen  30 — 32  Unterrichtsstunden." 


106 


Volksschuhvesen. 


Über  die  Zahl  der  einzelnen  Schulgattungen  gibt  folgende 
Tabelle,  \\'elche  sich  auf  die  preußische  Schulstatistik  von  1901  stützt, 
Auskunft. 


Bezeichnung 

In  den  Städten 

Auf  dem  Lande 

Überhaupt 

der  Schulorganismen 

Schulen 

mit 
Schülern 

Schulen 

mit 
Schülern 

Schulen 

mit 
Schülern 

einklassige  Schulen       .     .     . 

410 

16516 

13  205     687  893 

1                1 
13  615     704  409 

Halb-  u.  Dritteltags-Schulen  . 

79 

6  332 

:     7  794     662  701 

:    7  873     669  033 

zweiklassige  Sei 

ulen     .     .     . 

226 

24  556 

:     3  750     463  274 

3  976     487  830 

drei-      „ 

404 

78  759 

4  854     832  230 

5  258     910  989 

vier-      „ 

432 

132  094 

}     1  402     371  491 

1  834     503  585 

fünf-      „ 

362 

131  161 

606     213  386 

968     344  547 

sechs-    „ 

1118 

645  908 

495     264  217 

1  613     910125 

sieben-  „ 

1  118 

757138 

218     154  141 

1  336     91 1  279 

acht-      „ 

265 

212  670 

18 

16  403 

283 

229  073  1 

Von  je    100  Kindern  wurden  im  Durchschnitt 
24  in  einer  einklassigen  oder  Halbtagsschule, 
34  in  einer  zwei-  bis  vierklassigen  Schule, 
22  in  einer  fünf-  oder  sechsklassigen  Schule  und 
20  in  einer  sieben-  oder  achtklassigen  Schule  unterrichtet. 
Dabei  ist  noch    zu  bemerken,    daß    die    Zahl    der    achtklassigen 
Schulen  seit  1901,  besonders  durch    die   Einführung  des  Achtklassen- 
sy.stems    in    den    Berliner    Gemeindeschulen,    nicht    unerheblich    ge- 
stiegen ist. 

Insgesamt  gab  es: 

in  den  Städten  4  414  Schulen  mit       35  733  Klassen, 

auf  dem  Lande       32  332         „  ,.         68  349         „      , 

im  ganzen  Staate   36  746         .,  ..       104  082         „      . 

Im  Durchschnitt  zählte  jede  Schule 

in  den  Städten         8,09  Klassen, 
auf  dem  Lande        2,1 1         ,,      , 
im  ganzen  Staate     2,83         ,, 
Sachsen.     Im  Königreich    Sachsen    gibt    es    keine    einklassigen 
Schulen,    sondern    an    ihrer    Stelle    nur    zweiklassige   Halbtagsschulen 
(vgl.  Volksschulgesetz  vom  26.  April  1873,  §  12). 

Nach  der  statistischen  Aufnahme  vom     1 .  Dezember  1 899    (eine 
neuere  liegt  nicht  vor)  gab  es  daselbst  folgende  Schularten: 


Organisation  der  Volksschule.    Lehrpläne,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.      |  07 


Einfache 

Mittlere 

" 

Höhere 

Bezeichnung 

der 

^ 

'olksschulen 

\'olksschulen 

Volksschulen 

1 

c   1 

Schulorganismen 

mit 
Klassen 

mit 
Schülern 

g 

-  s 

-  ^ 

1 

c 

•^  1  ' 

X 
^ 

1 

5 

i 

3 

-i 

zweiklassige  Schulen 

! 

mit  1  Lehrer(Halbtagssch.) 

'  803 

1606   64  297 

— 

—       — 

~ 

— 

— 

„  2  Lehrern      .... 

1 

2          60 

3 

6         178 

— 

„  3      „            .... 

— 

i      1 

2           72 

— 

— 

— 

dreiklassige  Schulen 

mit  1   Lehrer    .... 

102 

306    13  268 

— 

— 

— 

— 

— 

„     2  Lehrern  .... 

3 

9        389 

1 

3 

50 

— 

— 

— 

»3        „        .... 

1 

3        164 

— 

— 

1 

3 

104 

vierklassige  Schulen 

mit  2  Lehrern       .     .     . 

517 

2  070   90  823 

— 

— 

— 

„3         „            ... 

3 

14        768 

1 

4          59 

— 

— 

— 

„     4  und  mehr  Lehrern 

1 

11         526 

16 

66      1  774 

1 

4 

103 

fünfklassige  Schulen      .     . 

51 

276    12  880 

5 

25        677 

1 

10 

255 

sechs-    „             „            .     . 

201 

1411    66  065 

18 

157      5  655 

6 

35 

543 

sieben-  „             „            .     . 

212 

3  212148  506 

55 

784   30  474 

5 

39 

1058 

acht-      „ 

111 

1  844   83  485 

141 

3812  150427 

24 

438 

13218 

neun-     „             „            .     . 

— 

—          — 

_ 

—          — 

6 

69 

1729 

zehn-     „             „            .     . 

- 

-          - 

- 

- 

1 

18 

450 

zusammen     .     .     . 

2  006 

10  764  481  231 

241 

4  859  189  366 

45 

616 

17  460 

Von  je  100  Kindern  wurden  unterrichtet: 

a)  wenn    alle    Volksschulen    einschließlich     der     mittleren     und 
höheren  zusammengefaßt  werden, 

in  zwei-  und  dreiklassigen  Schulen  mit  einem  Lehrer  1  I  Kinder 

in  zwei-  bis  vierklassigen  Schulen 14      „ 

in  fünf-  oder  sechsklassigen  Schulen     ....     13      ,, 
in  sieben-  und  mehrklassigen  Schulen  ....     62      ,, 

b)  wenn    nur    die    einfachen  Volksschulen    in  Betracht    gezogen 
werden, 

in  zwei-  und  dreiklassigen  Schulen  mit  einem  Lehrer  16Kinder 

in  zwei-  bis  vierklassigen  Schulen 19      ,, 

in  fünf-  oder  sechsklassigen  Schulen     ....     1 7      „ 
in  sieben-  oder  achtklassigen  Schulen  ....     48      „ 
Im  Durchschnitt  zählte  jede  Schule,  wenn  alle  Volksschulen  (ein- 
schließlich   der    mittleren    und    höheren)   berücksichtigt  werden,  7,04, 
wenn    nur    die    einfachen  Volksschulen    in  Betracht   gezogen  werden, 
5,o6  Klas.sen. 


\  Q3  Volksschulwesen. 

Bayern    und  Württemberg.      Aus  Bayern  und  Württemberg 
liegen  nur  einige  allgemeine  bezw.  Durchschnittszahlen  vor. 
In  Bayern  gab  es  im  Schuljahre   1899/1900 

in  den  Städten  .     .      398  Schulen  mit    3  545  Klassen 
auf  dem  Lande  .     .    6  955        „  „     I  I  1 82 

zusammen       .     .     .    7  353        ,,  ,,    14  727        „ 

Im  Durchschnitt  zählte  jede  Schule 

in  den  Städten     .     .     .     8,90  Klassen 
auf  dem  Lande    .     .     .     1,61 
im  ganzen  Staate     .     .     2,00         ,, 
Unter  den  Klassen  waren    1460  Parallelklassen,    von  denen  1310 
auf  die  Städte,  156  auf  das  Land  entfielen. 

In  Württemberg  betrug  die  Gesamtzahl  der  Volksschulen  2334, 
die  der  Klassen  4890,  so  daß  durchschnittlich  jede  Schule  2,09  Klassen 
zählte.  Klassen  mit  besonders  bezahltem  Abteilungsunterricht  waren 
im  ganzen   1234  vorhanden. 

Für  die  bezüglichen  Verhältnisse  im  Großherzogtum  Baden 
sind  keine  Angaben  vorhanden. 

Im  Großherzogtum  Hessen  gab  es  im  Frühjahr   1902: 
481    einklassige  Volksschulen, 
243  zweiklassige 
106  dreiklassige  „ 

79  vierklassige  ,, 

74  fünf-  und  mehrklassige  Volksschulen. 
Die  Gesamtzahl  der  Schulen  betrug  983,    die  der  Klassen  2821. 
Auf  eine  Schule  kamen  also  im  Durchschnitt  2,87  Klassen. 
In  Elsaß-Lothringen  waren  im  Schuljahre  1901/2: 
1  928  einklassige  Volksschulen, 
515  zweiklassige 
384  drei-  und  mehrklassige  Volksschulen. 

Die  Gesamtzahl  der  Schulen  betrug  2827,  die  der  Kla.ssen  5057, 
so  daß  im  Durchschnitt  auf  jede  Schule   1,75  Klassen  entfielen. 

Im  Hamburger  Staatsgebiet  gab  es  im  Schuljahre    1901/2: 
a)  in  der  Stadt  Hamburg 

37  siebenklassige  Volksschulen  mit  Selekten, 
88  „  „  ohne       „ 

6  sechsklassicfe  Hilfsschulen  für  Schwachbefähigte; 


Organisation  der  X'olksschule.    Lehrpläne,   Methoden,  Disziphn  u.  Lehrmittel.       |  09 

b)  im  Landgebiet 

8  einklassige,  4  vierklassige, 

13  zweiklassige,  3  fünfklassige, 

12  dreiklassige,  9  siebenklassige  Volksschulen. 

Über  die  Trennung  der  Geschlechter  ordnen  die  , .All- 
gemeinen Bestimmungen"  vom   15.  Oktober  1872  in  Preußen  in  §  6  an: 

„Für  mehrklassige  Schulen  ist  rücksichtlich  der  oberen  Klassen 
eine  Trennung  der  Geschlechter  w^ünschenswert.  Wo  nur  zwei  Lehrer 
angestellt  sind,  ist  eine  Einrichtung  mit  zwei  beziehungsweise  drei 
aufsteigenden  Klassen  derjenigen  zweier  nach  den  Geschlechtern  ge- 
trennten einklassigen  Volksschulen  vorzuziehen." 

Im  allgemeinen  gilt  überhaupt  in  der  deutschen  Volksschule  der 
Grundsatz,  daß  ein  höher  entwickelter  Organismus  mit  gemischten 
Geschlechtern  einem  weniger  ausgebauten  mit  getrennten  Geschlechtern 
vorzuziehen  ist,  daß  jedoch,  sobald  die  Zahl  der  Schüler  zwei-  oder 
mehrklassige  Organismen  ermöglicht,  die  Trennung  der  Geschlechter 
den  Vorzug  verdient.  Nur  in  Elsaß-Lothringen  wird  die  Rücksicht 
auf  möglichste  Trennung  der  Geschlechter,  vor  allem  in  den  älteren 
Jahrgängen,  der  auf  den  stufenmäßigen  Aufbau  in  der  Regel  voran- 
gestellt. Über  die  bez.  Verhältnisse  in  den  größeren  Staaten 
orientieren  folgende  Zahlen: 

In  Preußen  gab  es  nach  der  Statistik  von  1901  neben  69  722 
gemischten  17  11 0  reine  Knaben-  und  1 7  250  reine  Mädchenklassen, 
und  zwar  waren 

Gemischte  Klassen 

in  den  Städten  .     .     9  337 
auf  dem  Lande  .     .  60  385 
vorhanden. 

Im  Königreich  Sachsen  gab  es  am   1.  Dezember  1899 

einfache  mittlere  höhere  zusammen 

besondere    Knabenschulen        13  14  6  33 

besondere  Mädchenschulen        13  14  11  38 

gemischte  Schulen  mit  ge- 
trennten Knaben-  und 
Mädchenklassen     .     .       48  103  13  164 

Schulen  mit  teilweise  ge- 
mischten Klassen  .     .     207  88  9  304 

Schulen  mit  lauter  ge- 
mischten Klassen  .     .  1725  22  6  1753. 


[vnabenklassen 

Mädchenklassen 

13  141 

13  255 

3  969 

3  995 

]]Q  Volksschuhvesen. 

In  Bayern  waren  im  Schuljahre  1899/1900 

6  3 1 8  Schulen  in  allen  Klassen  gemischt, 

115         „  „   einzelnen  „  „ 

457         ,,  reine  Knabenschulen  und 
463         „  ,,     Mädchenschulen. 

Württemberg  hatte  am  1.  Januar  1903 

2  205  Schulen  mit  4  086  Klassen   mit    nicht    oder   nicht  vollständig 

getrennten  Geschlechtern, 
62         „  „        369        „      ,  die  reine  Knabenschulen  und 

67         „  „        434        „      ,  die  reine  Mädchenschulen   waren. 

Aus  Baden  liegen  keine  Angaben  vor. 
Im  Großherzogtum  Hessen  waren 

897  Schulen  nach  den  Geschlechtern  ganz, 
58         ,,  ,,        ,,  „  zum  Teil  gemischt  und 

28         ,,  „        „  „  vollständig  getrennt. 

In  Elsaß-Lothringen  gab  es  1901/2 

einklassige       zweiklassige       drei-  und  mehrklassige      zusammen 

reine  Knabenschulen      476  85  143  704 

„     Mädchenschulen    465  86  142  693 

Schulen  mit  gemischten  Unterklassen  u.  getrennten  Oberklassen      283 

„  „  lauter  gemischten  Klassen 1  1 47. 

2.    Die  Lehrpläne. 

Über  Gliederung  und  Lehrgegenstände  der  Volksschule  in 
Preußen  sprechen  sich  die  „Allgemeinen  Bestimmungen"  folgender- 
maßen aus: 

㤠 12.  Die  Volksschule,  auch  die  einklassige,  gliedert  sich  in 
drei  Abteilungen,  welche  den  verschiedenen  Alters-  und  Bildungs- 
stufen der  Kinder  entsprechen.  Wo  eine  Volksschule  vier  Klassen 
hat,  sind  der  Mittelstufe  zwei,  wo  sie  deren  sechs  hat,  jeder  Stufe 
zwei  Klassen  zuzuweisen. 

§  13.  Die  Lehr  gegenstände  der  Volksschule  sind  Religion, 
deutsche  Sprache  (Sprechen,  Lesen,  Schreiben),  Rechnen  nebst  den 
Anfängen  der  Raumlehre,  Zeichnen,  Geschichte,  Geographie,  Natur- 
kunde, Singen  und  für  die  Knaben  Turnen,  für  die  Mädchen  weibliche 
Handarbeiten. 


Organisation  der  Volksschule.    Lehrpläne,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.      ]  \  j 

Die  Stunden    verteilen    sich  auf  die  einzelnen  Gegenstände  und 
Stufen  wie  folo-t: 


Unterstufe 

Mittelstufe 

Oberstufe 

ein- 

mehr- 

ein- 

mehr- 

ein- 

mehr- 

klassige 

klassige 

klassige 

klassige 

klassige 

klassige 

Schulen 

Schulen 

Schulen 

Schulen 

Schulen 

Schulen 

Religion    .... 

4 

4 

5-6 

4 

5-6 

4 

Deutsch    .... 

11 

11 

10—9 

8 

8-7 

8 

Rechnen       ) 
Raumlehre   ' 

4 

/        4 
\      _ 

}   ^ 

/       4 
l     _ 

}   = 

/    4 
\    2 

Zeichnen  .... 



1 

2 

2 

2 

Realien      .... 

— 

— 

6 

6 

6 

6(8) 

Singen       .... 

1 

1 

2 

2 

2 

2 

Turnen              \ 
(Handarbeit)    (  '     " 

- 

2 

2 

2 

2 

2 

1 

20 

22 

30 

28 

30 

30  (32) 

In  der  Halbtagsschule  und  in  der  Schule  mit  zwei  Lehrern  und 
drei  Klassen  treten  die  nötigen  Veränderungen  nach  Maßgabe  des 
Bedürfnisses  ein." 

In  Bayern  werden  durch  die  Erläuterungen  des  Lehrplanes  vom 
3.  Mai  1811  die  Lehrgegenstände  nach  ihrer  relativen  Wichtigkeit 
folgendermaßen  in  zwei  Hauptklassen  gruppiert: 

„Die  erste  Hauptklasse  begreift  die  unbedingt  notwendigen 
Gegenstände,  deren  Aneignung  von  jedem  Mitgliede  eines  zivilisierten 
Staates  gefordert  werden  müsse,  in  sich  und  besteht  aus  den  3  Artikeln 
„Gott",  „Sprache",  „Zahl  und  Maß",  d.  h.  Religionslehre,  Lesen^ 
Schreiben  und  Rechnen.  Die  zweite  Hauptklasse  begreift  die 
gemeinnützlichen  Gegenstände  in  sich,  so  genannt,  weil  die 
betreffenden  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  zu  mancherlei  Zwecken 
und  Vorteilen  des  Lebens  und  des  Berufes  tauglich  seien,  und  enthält 
die  drei  Artikel  „Mensch",  „Natur"  und  „Kunst",  also  vornehmlich 
Geschichte,  Geographie,  Naturgeschichte,  auch  Zeichnen,  wozu  noch, 
zwar  nicht  als  eigentlicher  Lehrgegenstand  aber  als  regelmäßiger 
Übungsgegenstand,  der  Gesang  kommt. 

In  allen  Perioden  des  Schulunterrichts  ist  die  Kenntnis  der 
notwendigen  Lehrgegenstände  immer  als  Hauptaufgabe  zu  behandeln. 


widmen,    als    ohne    wesentlichen  Nachteil  für  die  ersteren    geschehen 
kann,    und    es  sollen  die  Schüler  zu  denselben  nicht  eher  fortgeführt 


■j  ■]  2  Volksschuhvesen. 

werden,  als  nachdem  sie  in  den  notwendigen  Gegenständen  einen 
hinlänglichen  Grund  gelegt  haben.  Im  allgemeinen  sind  die  früheren 
Schuljahre  auf  die  notwendigen  Lehrgegenstände  zu  beschränken, 
dagegen  die  gemeinnützlichen  vorzugsweise  den  späteren  Schuljahren 
zuzuweisen;  es  soll  jedoch  durch  diese  im  allgemeinen  nötig  befundene 
Beschränkung  nicht  verwehrt  sein,  bei  rascherem  Fortschreiten  der 
Schüler  in  den  notwendigen  Kenntnissen  mit  ihnen  auch  schon  in 
früheren  Jahren  zu  den  gemeinnützlichen  Gegenständen  überzugehen. 
Übrigens  dürfen  die  gemeinnützlichen  Gegenstände  wegen  der  ihnen 
angewiesenen  untergeordneten  Stellung  und  der  angeordneten  Be- 
schränkung derselben  nicht  etwa  als  geringfügig  oder  wohl  gar  als 
unnütz  angesehen  und  in  den  Volksschulen  ganz  vernachlässigt 
werden,  sondern  sie  bleiben  vorschriftsmäßig  und  sollen  nur  nicht 
zum  Nachteil  der  notwendigen  Lehrgegenstände  und  mit  deren 
Vernachlässigung  betrieben  werden."  (Dr.  Joh.  Anton  Englmanns 
Handbuch  des  Bayerischen  Volksschulrechtes.  4.  Auflage.  München 
1897.     Seite  473—474.) 

Die  einzelnen  Unterrichtsgegenstände  der  Werktagsschule  sind: 
Religion,  Sprachunterricht  (Lesen,  Schreiben,  Sprachlehre),  Rechnen, 
Weltkunde  (Geographie,  Geschichte,  Naturgeschichte,  Naturlehre), 
Gesang,  Zeichnen,  Turnen,  Obstbaumzucht,  weibliche  Handarbeiten. 
Der  Volksschule  in  Bayern  gliedert  sich  die  dreijährige 
obligatorische  Feiertagsschule  an,  welche  auch  noch  zur  Volksschule 
gerechnet  wird  und  sich  von  der  obligatorischen  Fortbildungsschule 
anderer  Staaten  auch  dadurch  unterscheidet,  daß  eine  Verpflichtung 
zum  Besuch  der  Feiertagsschule  auch  für  die  schulentlassenen  Mädchen 
besteht.  ,,Die  Unterrichtsgegenstände  für  die  Feiertagsschule  sind 
im  allgemeinen  dieselben  wie  für  die  Werktagsschule.  Denn  der 
Feiertagsschulunterricht  soll  an  den  Werktagsschulunterricht  anknüpfen 
und  hat  die  Hauptbestimmung,  den  letzteren  fortzusetzen  und  die  in 
der  Werktagsschule  unvollendet  gebliebenen  Kenntnisse  zu  ergänzen 
sowie  das  Gelernte  nach  seiner  praktischen  Richtung  hin  auszubilden. 
Derselbe  ist  demnach  teils  zur  zweckmäßigen  Steigerung  des  Werk- 
tagsschulunterrichtes (was  freilich  nur  in  besseren  Schulen  besonders 
größerer  Städte  möglich  ist),  teils  zur  Nachhilfe  des  mangelhaft 
gebliebenen  Werktagsschulunterrichtes  und  zur  Nachholung  des 
Versäumten  bestimmt  oder  soll  doch  wenigstens  das  baldige  Wieder- 
vergessen des  in  der  Werktagsschule  Erlernten  verhindern,  vorzüglich 
aber  die  religiöse  Ausbildung  der  Jugend  zur  möglichen  Vollendung 
führen    und    nach  Tunlichkeit  zur  Anwendunsr  des  Erlernten    in    den 


Organisation  der  \'olksschule.    Lehiplane,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.       \\',^ 

künftigen  bürgerlichen  Verhältnissen  und  Berufsgeschäften  der  Schüler 
Anleitung  geben."     ( J.  A.  Englmann  a.  a.  O.  Seite  520.) 

„Die  Entlassung  aus  der  Werktagsschule  findet  nach  sieben- 
jährigem Schulbesuche  und  erfolgreicher  Bestehung  der  Jahresschluß- 
prüfung statt."     (J.  A.  Englmann  a.  a.  O.  Seite  v387.) 

„Übrigens  können  die  Eltern  ihre  Kinder  auch  nach  bestandener 
Prüfung  noch  länger  freiwillig  in  die  Werktagsschule  schicken,  in 
welchem  Falle  sie  nur  das  Feiertagsschulgeld  zu  bezahlen  haben." 
(J.  A.  Englmann  a.  a.  O.  Seite  388.) 

„So  wurden  in  München  und  Nürnberg  achte  Klassen  der 
Werktagsschule  errichtet  für  solche,  welche  sie  freiwillig  besuchen 
wollen. 

Für  diese  neu  errichteten  achten  Klassen  an  den  Nürnberger 
Volksschulen  sind  von  den  städtischen  Kollegien  Satzungen  und 
Lehrplan  festgestellt  und  vom  Königlichen  Kultusministerium  bestätigt 
worden,  deren  Hauptbestimmungen  sind:  Bedingung  für  die  Auf- 
nahme in  eine  achte  Volksschulklasse  ist  der  Nachweis  eines  sieben- 
jährigen Schulunterrichts,  und  zwar  entweder  des  erfolgreichen  Besuches 
einer  siebenten  Klasse  der  Volksschule  oder  eines  diese  letztere  er- 
setzenden Unterrichts.  Die  achten  Klassen  sind  nach  Geschlechtern 
getrennt,  nehmen  jedoch  Schüler  und  Schülerinnen  verschiedener 
Konfessionen  auf  und  stehen  unter  der  Aufsicht  derjenigen  Simultan- 
Schulinspektion,  in  deren  Bezirk  sie  sich  befinden.  Der  Besuch  der 
achten  Klassen  ist  zwar  ein  freiwilliger,  jedoch  sind  die  in  dieselben 
aufgenommenen  Schüler  und  Schülerinnen  verpflichtet,  sie  regelmäßig 
und  bis  zum  Schlüsse  des  Schuljahres  zu  besuchen;  sie  erhalten  auch 
beim  Austritt  ein  Zeugnis  über  den  Besuch  ausgestellt.  Dieselben 
brauchen  die  Fortbildungs-  bezw.  Sonntagsschule  nur  noch  ein  Jahr 
zu  besuchen.  Die  Lehrgegenstände  der  achten  Klasse  sind  folgende: 
a)  für  Knaben:  Religion,  Lesen  und  Turnen  je  2  Stunden,  deutscher 
Aufsatz  und  Zeichnen  je  4  Stunden,  Rechnen  und  Buchführung, 
Natur-  und  Gewerbekunde  je  5  Stunden,  Geschichte  und  Geographie 
3  Stunden,  Singen  1  Stunde,  in  Summa  28  Stunden;  b)  für  Mädchen: 
Religion,  Lesen,  Geschichte  mit  Geographie  je  2  Stunden,  Rechnen 
und  Buchführung,  Natur-  und  Haushaltungskunde  je  5  Stunden, 
deutscher  Aufsatz  4  Stunden,  weibliche  Handarbeiten  3  Stunden, 
Singen  1  Stunde,  in  Summa  24  Stunden.  Der  Unterricht  in  den 
Knabenklassen  wird  sowohl  vormittags  wie  nachmittags,  in  den 
Mädchenklassen  nur  vormittags  erteilt."  (J.  A.  Englmann  a.  a.  O. 
Seite  388—389.) 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  8 


^-14  \'olksschuKvesen. 

In  Württemberg  sind  die  Unterrichtsgegenstände  der  ein- 
klassigen  Volksschule : 

I.  Religion.  II.  Sprache:  M.Lesen,  2.  Schönschreiben,  3.  Recht- 
schreiben, 4.  Aufsatz,  5.  das  Nötigste  aus  der  Sprachlehre.  III.  Rechnen. 
(Raumlehre.)  IV.  ReaUen:  1.  Geographie,  2.  Naturlehre,  'A.  Natur- 
geschichte, 4.  Geschichte.  V.  Singen.  VI.  Zeichnen.  VII.  Turnen. 
„Der  Unterricht  an  den  einklassigen  \^olksschulen  ist  nach 
Maßgabe  des  Normallehrplans  zu  erteilen. 

Für  den  Unterricht  an  mehrklassigen  Schulen  sind  die  in  diesem 
Lehrplan  enthaltenen  Grundsätze,  welche  den  Unterrichtsstoff  im 
allgemeinen  und  dessen  Behandlung  sowie  die  Proportionen  des 
Zeitquantums  betreffen,  das  den  einzelnen  Fächern  im  Verhältnis  zu- 
einander zuzuteilen  ist,  gleichfalls  maßgebend.  Je  mehr  Klassen  aber 
eine  Volksschule  umfaßt,  um  so  höher  soll  das  Ziel  des  Unterrichts 
in  derselben  durch  Erweiterung  des  Stoffes  gesetzt  und  dabei  ein 
entsprechend  größerer  Teil  der  Schulzeit  zu  dem  unmittelbaren 
Unterricht  der  Schüler  verwendet  werden."  (Normallehrplan  für  die 
württembsrgischen  Volksschulen,  Stuttgart  1902.  Seite  3  und  4  und 
Seite  2.) 

Nach  dem  Volksschulgesetz  §  20  soll  sich  der  Unterricht  in 
Baden  auf  folgende  Gegenstände  erstrecken:  „Religion,  Lesen  und 
Schreiben,  deutsche  Sprache,  Rechnen,  Gesang,  Zeichnen,  das  Wissens- 
würdigste aus  der  Geometrie,  der  Erdkunde,  der  Naturgeschichte  und 
Naturlehre  und  aus  der  Geschichte. 

Dazu  kommen  für  Knaben  Leibesübungen,  für  IMädchen  Unterricht 
in  weiblichen  Arbeiten. 

Für  Kinder,  welche  durch  ihre  Eltern  oder  deren  Stellvertreter 
zur  Teilnahme  bestimmt  w^erden,  kann  ferner  erteilt  werden  an  Knaben: 
Handfertigkeitsunterricht,  an  Mädchen:  Unterweisung  in  der  Haus- 
haltungskunde. 

Noch  weitere  Gegenstände  können  in  den  Unterrichtsplan  für 
Volksschulen  oder  Volksschulabteilungen  aufgenommen  werden,  welche 
als  erweiterte  eingerichtet  sind  (§  93  ff.  dieses  Gesetzes.)"  (Die 
badische  Volksschulgesetzgebung  nebst  den  zum  Vollzuge  dieser 
erlassenen  Vorschriften  usw.,  zusammengestellt  von  K.  A.  Kopp. 
4.  Auflage.  Karisruhe  1898.  Seite  12.) 
In  §  92  desselben  Gesetzes  heißt  es: 

„Den  Gemeinden  steht  es  frei,  neben  den  durch  dieses  Gesetz 
gebotenen  Volksschulen  oder  statt  derselben  erweiterte  Volksschulen 
zu  errichten,  in  welchen  bei  verlängerter  Unterrichtszeit  der  Unterricht 


Organisation  der  Volksschule.    Lehrpläne,   Methoden,  Diszii)lin  u.  Lehrmittel.      115 

in  den  nach  ^  -^^  vorgeschriebenen  Gegen.ständen  weiter,  als  im 
Lehrplan  für  einfache  Volksschulen  geboten  ist,  verfolgt  oder  noch 
auf  andere  zu  einer  vollständigeren  Elementarbildung  gehörige 
Unterrichtsgegenstände  erstreckt  wird.  Auch  einzelne  Klassen  einer 
Volksschule  können  mit  erweitertem  Unterrichtsplan  eingerichtet 
werden,  sei  es  für  alle  schulpflichtigen  Kinder,  sei  es  neben 
entsprechenden  Klassen  mit  einfachem  Unterrichtsplan.  Ebenso 
können  besondere  Abteilungen  gebildet  werden  für  einzelne 
Unterrichtsgegenstände  (z.  B.  für  Fremdsprachen,  für  Zeichnen)." 
(a.  a.  O.  Seite  48  und  49.) 

§  93  sagt: 

„Der  Unterrichtsplan  der  erweiterten  Volksschule  ( Volksschul- 
Abteilung)  —  für  welche  eine  besondere  Benennung  (z.  B.  Bürger- 
schule für  Knaben,  Bürgerschule  für  Mädchen)  gewählt  werden  kann  — 
kann  sich  über  das  Alter  der  gesetzlichen  Schulpflicht  (§  2  dieses 
Gesetzes)  hinaus  erstrecken."     (a.  a.  O.  Seite  49.) 

Für  die  sächsischen  Volksschulen  schreibt  das  Volk.sschulgesetz 
vom  26.  April  1873,  §  2  folgende  Unterrichtsgegenstände  vor: 

„Religions-  und  Sittenlehre,  deutsche  Sprache  mit  Lesen  und 
Schreiben,  Rechnen,  Formenlehre,  Geschichte,  Erdkunde,  Natur- 
geschichte und  Naturlehre,  Gesang,  Zeichnen,  Turnen  und,  wo  die 
erforderlichen  Einrichtungen  getroffen  werden  können,  für  die  Mäd- 
chen weibliche  Handarbeiten." 

j  12  desselben  Gesetzes  sagt: 

,,Die  einfache  Volksschule  unterrichtet  ihre  Zöglinge  in  zwei 
oder  mehreren  nach  Altersstufen  geschiedenen  Klassen  in  den  §  2 
angeführten  Lehrfächern. 

Der  Unterricht  beschränkt  sich  in  der  Religion  auf  biblische 
Geschichte  und  christliche  Glaubens-  und  Sittenlehre,  in  den  übrigen 
Lehrfächern  auf  iVneignung  der  für  das  bürgerliche  Leben  unentbehr- 
lichen Kenntnisse  und  Fertigkeiten. 

An  Orten,  in  welchen  die  Kinderzahl  hierzu  ausreichend  ist  und 
die  örtlichen  Verhältnisse  es  gestatten,  ist  eine  gegliederte  Volks- 
schule zu  errichten." 

§  13  bestimmt  den  Begriff  der  mittleren  und  höheren  Volks- 
schulen.    Es  heißt  da: 

„Wo  es  das  örtliche  Bedürfnis  erheischt,  hat  die  Gemeinde 
neben  der  einfachen  Volksschule  oder  anstatt  derselben  mittlere  und 
höhere  Volksschulen  zu  errichten. 

Mittlere     Volksschulen    sind    unter    entsprechender    Klassenein- 


\]()  Volksschulwesen. 

teilung,  Vermehrung  der  Unterrichtsstunden,  nach  Befinden  auch 
Verlängerung  der  Schulzeit  so  einzurichten,  daß  ihre  Zöglinge  in 
bezug  auf  alle  im  §  2  genannten  Lehrfächer  eine  nach  Inhalt  und 
Umfang  das  Ziel  der  einfachen  Volksschule  überragende  Bildung 
erreichen. 

Höhere  Volksschulen  erstrecken  ihren  Unterricht  noch  auf  andere 
Lehrfächer,  z.  B.  fremde  Sprachen,  ohne  jedoch  damit  die  Pflege  der 
deutschen  Sprache  und  Literatur  zu  beeinträchtigen  oder  die  Zwecke 
einer  Fachschule  zu  verfolgen.  Ihr  Lehrplan  stuft  sich  nach  wenigstens 
fünf  Klassen  ab,  und  die  Schulzeit  wird  entsprechend  verlängert. 

Eine  Nötigung  zum  Besuche  solcher  Schulen  findet  an  Orten, 
wo  eine  einfache  Volksschule  besteht,  nicht  statt.  Ist  keine  einfache 
Volksschule  vorhanden,  so  haben  die  Kinder  ihrer  Schulpflicht  (§  4) 
nach  Wahl  der  Erziehungspflichtigen  in  der  mittleren  oder  höheren 
Volksschule  zu  genügen."  (Das  Königlich  sächsische  Volksschulgesetz 
vom  26.  April  187o  nebst  Ausführungsverordnung  usw.,  mit  erläutern- 
den Anmerkungen  und  Sachregister  herausgegeben  von  P.  von  Seyde- 
witz.     III.  Aufl.  Leipzig  1899.     SS.  2,  52,  54—55). 

Über  die  Lehrgegenstände  der  Volksschule  in  einigen  anderen  deutschen  Staaten 
mögen  folgende  kurze  Mitteilungen  geniigen.     Diese  sind 

in  Hessen:  „Religion  (Rehgionslehre,  biblische  Geschichte,  Lied  und  Sprüche), 
deutsche  Sprache  (Sprechen,  Lesen,  Schreiben,  deutsche  Sprachlehre,  Aufsatz),  Rechnen, 
Raumlehre,  Zeichnen,  Geographie,  Geschichte,  Naturbeschreibung  und  Naturlehre,  Singen 
und  für  die  Knaben  Turnen,  für  die  Mädchen  weibliche  Handarbeiten."  (Verordnung 
vom  2.  Dezember  1874,  §  6); 

in  Sachsen-Weimar:  „Religions-  und  Sittenlehre,  deutsche  Sprache  mit  Lesen 
und  Schreiben,  Rechnen  mit  Zahlen  und  Raumgrößen,  Natur-  und  Erdkunde,  Geschichte, 
Gesang,  Turnen  und  Zeichnen  für  Knaben.  Hierzu  können  nach  Bedürfnis  und  Füglich- 
keit  Obstbaumzucht  für  Knaben,  weibliche  Handarbeit,  Turnübungen  und  Zeichnen  für 
Mädchen  treten."     (Ministerialverordnung  vom  20.  März  1875,  §  2); 

in  Oldenburg:  „Religion  und  biblische  Geschichte,  Lesen,  Schreiben,  deutsche 
Sprache,  Rechnen,  Singen,  Weltkunde.  Hierzu  kommen,  soweit  die  Verhältnisse  es  ge- 
statten und  wünschenswert  erscheinen  lassen,  die  nicht  unbedingt  notwendigen  Lehr- 
gegenstände: Zeichnen,  Turnen  und  Handarbeiten."  (Grundlinien  für  die  Lehrpläne  der 
evangelischen  Volksschulen  vom  20.  Juni  1859,  §  7); 

in  Koburg:  „Religion  und  Sittenlehre,  deutsche  Sprache  mit  Lesen  und  Schreiben, 
Rechnen,  Formenlehre,  Erdkunde,  Geschichte,  Naturgeschichte,  Naturlehre,  Gesang, 
Zeichnen  und  Turnen.  Wo  die  erforderlichen  Einrichtungen  dazu  getroflen  werden 
können,  soll  den  Mädchen  Unterweisung  in  weiblichen  Handarbeiten  erteilt  werden.'' 
(Gesetz  vom  27.  Oktober  1874,  .\rt.  2.) 

Für  Hamburg  gibt  das  Gesetz,  betrefiend  das  l'nterrichtswesen,  vom  11.  No- 
vember 1870  (Abschnitt  3,  §  32)  folgende  Vorschriften: 

„Die  Lehrgegenstände  der  öflentlichen  Volksschulen  sind:  Religion,  deutsche  Sprache, 
Lesen,  Schreiben,  Rechnen,  Geometrie  und  Algebra,  Geographie,  Geschichte,  Natur- 
geschichte, Physik,  Chemie,  Englisch,  Zeichnen,  Gesang  und  Turnen.  Soweit  es  die 
Verhältnisse  gestatten,  wird  auch  Unterricht  in   der  französischen  Sprache  erteilt  werden. 


Organisation  der  \'o]lvSScliule.    Lelirplane,  Methoden,  Disziplin   u.  Lehrmittel.       ]  ]  7 


In  Mädclienschulen  treten  die  durch  die  N'erscliiedenheit  des  Geschlechts  bedingten 
Modifikationen  des  Unterrichts  ein;  jedenfalls  wird  l'nterricht  in  weiblichen  Hand- 
arbeiten erteilt." 

„Die  öflentlichen  Volksschulen  haben  in  der  Regel  sieben  aufeinander  folgende 
Klassen.  Die  Bildung  von  Parallelklassen  ist  gestattet.  Die  Zahl  von  50  Schülern  gilt 
als  die  durchschnittliche  Xornialzahl  einer  Klasse.  Diese  Zahl  darf  in  der  untersten 
Klasse  ohne  Genehmigung  der  betrefilenden  Schulkommission  nicht  überschritten    werden. 

An  einigen  öffentlichen  \'olksschulen  werden  Oberklassen  eingerichtet,  in  welche 
die  fähigeren  und  fleißigeren  Schüler  sämlhcher  Volksschulen  nach  Beendigung  der 
gewöhnlichen  Schulkurse  zum  Zwecke  der  Erweiterung  und  Erhöhung  ihrer  Ausbildung 
aufgenommen  werden." 

Wie  sich  auf  Grund  dieser  Bestimmungen  die  Vierteil ung  der 
Lehrgegenstände  nach  Wochenstunden  in  einzelnen  größeren 
Schulorganismen  des  Reiches  gestaltet,  wird  aus  folgenden  Lektions- 
plänen ersichtlich  sein: 

In  Preußen: 

Siebenstufige    Volksschule    in    Hannover  (Bürgerschule). 
Knaben  (Mädchen). 


Lehreegenstände 


II.         III.        IV.    !     V.         VI.  VII. 


I.  Religion 4(4) 

II.  Deutsch: 

1 .  Anschauungsunterricht, 
Heimatkunde    .... 

2.  Lesen,  Deklam.,  Literatur 

3.  Sprachliche  Grammat., 
Rechtschreibung,  Auf- 
satz, Diktat 

4.  Schreiben  u.  Geschäfts- 
aufsätze      

III.  Rechnen  u.   Raumlehre: 

L  Rechnen  

2.  Raumlehre 3  (— ) 

IV.  Zeichnen '2(2) 

V.  Geschichte 2(2) 

VI.  Geographie 2(2) 

VII.  Naturkunde: 

1 .  Naturbeschreibung     .     .      3  ( —  ) 

2.  Physik  und  Chemie  .     .         (2) 


3(  2) 


4(4) 


1(  1) 


4(  4) 


4(  4);  4(  4)    4(  4)1  4(4)    4(  4)'    3  (  3)  i 


-(—)  —  (  —  )—(  —  )  —  (-)    2(2)     3(3) 
2(2)    2(2)    3(3)    4(4)    5(   5) 


9(   9) 


4(3)    4(  3)    3(3)    4(   3i    2(  2i 
2(  IV  2(  2);  3(  2)[  3(  3)    4(  4) 


4(  3)    4(  3):  4(  4);  4(   4)    4(  4)  4(  4) 

2  (— )  —  (—V—  (~^  —  (  — )  —  (  — )  —  (-) 

2(2)    2(   2i    2(2)    1  (    n  — (  — )  — (  — ) 

2(2)    2(2)    1  (—)  —  (  —  )  —  (  —  )  —(-) 

2(  2)    2(  2)    2(  2)    1  (  1)  — (- I  —  (— ) 


VIII.  Singen 2(2) 

IX.  Turnen 2(2) 

X.  Weibliche  Handarbeiten      .  •—  (  3) 


2(  1)    2(   2)    2(  2)    1  (  1j  — (— )   —  (— ) 

2  (  2)  —  (— )  —  (— )  —  (—)  —  (— )   —  (— ) 

2(  2)    2(  2)    2(  2)    1(  1)-^(— )'  —  (— ) 

2(  2)    2(  2)    2(  2)    2(    11    1(1)      1(1) 
-(   4>  — (   4i  — I   2)— (   4i  — (    2t   —  (-) 


*)  In  der  VI.  und  \1I.  Klasse    ist 
unterrichte  verbunden. 


Sa.  .     .     .  '  32  (30)  32  (31 )  28  (30)  28  (30)  25  (27)  22  (24)   20  (20) 
der    Gesangunterricht    mit    dem   Anschauungs- 


118 


\'olksschul\veseii . 


Sechsslufige  \olk.sschule  in  Dan; 
Knaben  (Mädchen). 


Klasse 


Lehrgegenstände 


IL        in. 


VI. 


a)  Rehgion 

b)  Deutsch      . 

c)  Rechnen 

d)  Raumlehre 

e)  Geschichte 
{)  Geographie 

gj  Xaturgeschicht 
h)  Xaturlehre 

i)  Singen   .     . 
k)  Zeichnen    . 

1)  Turnen  .     . 
m)  Handarbeiten 


f    4(4) 

4(4)      4(41 

4  (  4)       4 (  4) 

4(4) 

8(  8) 

8(  8)      8(   8)     10(10j     10(11) 

11(11) 

4(4) 

4(41      4(4)       5(5)       4  (  4) 

4(4) 

2(-) 

—  {—)    —  1  — > 

—  ( — )     —  ( — ) 

-  (— ) 

1    2(2) 

2(2)      2  (  2) 

K   11     -(-) 

-(-) 

1    2(2) 

2(2)      2(2) 

1(1)     —  ( — ) 

-(-) 

.    .    . 

1    2(2) 

2(2)      2(2) 

U  1)    -I-) 

-(-) 

:    2(2) 

2(2)-  (-) 

—  (— )    —  (— ) 

-(-) 

2(2) 

2  (  2)  1    2(2) 

2(2);       1(1) 

K   1) 

2(  2) 

2  (  2)  1    2(2)'    2  (  2)  1     l(-) 

—  (— ) 

,2(2) 

2(2)      2  (~)       2  (— )       2  (—) 

2(-) 

i|-(2) 

-  (  2)    -  (   2)     -{   2)     -  (.  2 ) 

—  '  — 1 

'|32r32) 

30(32)     28(281     28(28)     22(22) 

22 (20) 

e  VoU 

.sschule 

in  Berlin  (Gemeindeschule). 

Knaben  (Mädchen). 


Lehrgegenstände 

1 

Klasse 

1 

L 

„. 

1     I"- 

IV.     1      V. 

VI. 

VII. 

VIII. 

1 

1.  Rehgion 

4 

4 

4 

1 
4          '    4 

3 

3 

3 

2.  Deutsch      .     . 

6 

6 

6 

6             6 

7 

7 

8     1 

3.  Anschauung     . 

— 

— 

— 

—            — 

2 

2 

2     i 

4.   Geschichte 

3 

(2) 

2 

2 

2             2 

— 

—     j 

5.  Rechnen      .     . 

4 

(2) 

4    (2) 

4 

4             4 

4 

4 

4    ! 

6.   Raumlehre        .  j 

3 

(2) 

3    (2) 

3    (0) 

—            — 

— 

— 

7.  Naturkunde      .  j 

3 

4    (3) 

4 

2             2 

— 

— 

—     j 

8.  Erdkunde    .     . 

2 

2 

2 

2             2 

— 

_ 

—     1 

9.  Zeichnen     .     . 

2 

2 

2 

2             2 

2    (1) 

1 

—     1 

10.  Schreiben    .     . 

1 

1 

1 

2             2 

2 

2 

—     1 

11.  Gesang  .     .     . 

2 

2 

2 

2             2 

2 

1 

1  ; 

12.  Turnen   .     .     . 

2 

2 

2 

2             2 

2    (1) 

2 

2 

13.  Handarbeil 

- 

i4i 

—    i4) 

—    (3) 

—    (2i    —    i2i 

i2) 

— 

—     , 

32 

32 

32 

28(30)    28(30) 

24 

22 

20 

I  Oberstufe  Mittelstufe  Unterstufe 

Es  bleibt  den  einzelnen  Schulen  vorbehalten,  in  den  beiden  untersten  Klassen  die 
Unterrichtszeit  in  Religion,  Anschauung,  Rechnen,  Gesang  und  Turnen  auf  halbe  Stunden 
zu  verteilen. 


Organisation  der  \'olkssclnile.    Lebrpliine,  Mellioden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.       \](^) 


Sieben  stufige  X'olkssc  hule  in  München  (Werktagsschule). 
Knaben  (Mädchen). 


Lehrgegenstände 

Klasse  (aufsteigend  von  I  bis  '' 

m). 

I. 

n.            III.      '      IV.      '       V. 

1                 '                i 

VI.      j 

VII. 

1.  Religion       .     .     . 

2.  Deutsche  Sprache 

3.  Rechnen       .      .     . 

V 

2 
10 
6 

2              3              3 

10             10  (9)    W  (  9) 
6              6              6 

3 

8  (  7) 
6 

3 

8  (  7) 
6 

2 

8  (  7) 
6 

4.  (leographie       .     . 

5.  Geschichte  .     .     . 

6.  Naturgeschichte     . 

7.  Xaturlehre  .     .     . 

8.  Schönschreiben     . 

9.  Freihandzeichnen 

~ 

—             j    Heimatkunde 
2              2  (   1)      2  (  1) 

}  3  (  2) 
2 

4  (  2) 

^    { 

2 

2  (  1) 

3  (  2) 

2;(  3) 

2 

2  (  1) 

3  (  2) 

10.  Singen     .... 

1 1 .  Turnen    .... 

12.  Handarbeiten    .     . 

1 
2 

-  (  21 

1  1               1 

2  2              2 

—  (  2 '    -  (  3)    -   (  3) 

1 
2 

-  (  4) 

1 

2 
-  (  3) 

1 

2 

-  (4) 

Sa. 

21   (23) 

23  (25)    26  (27)    26  (27) 

29  (29) 

30  (30) 

30  (30) 

\'IIL   Knabenklasse. 

Std. 

1.  Religion 2 

2.  Aufsatz  mit  Lesen       ......     4j 

3.  Bürgerkunde     (auf    Grund    der    Ge-        i 
schichte  des  19.  Jahrhunderts)  .     2 

a)  Abriß  der  Geschichte  des  Hand- 
werks vor  der  französischen  Re- 
volution ; 

b)  Entwicklung  von  Industrie,  Han- 
del und  Verkehr  im  19.  Jahrhun- 
dert; 

c)  Gewerbe-  und  Sozialgesetzgebung 
am  Schlüsse  des  19.  Jahrhun- 
derts; bayeri.sche  und  deutsche 
\'erfassung. 

4.  Natur-  und  Gewerbekunde  ....     5 

a)  Gesundheitslehre  ...       1    Std. 

b)  Material-  und  Werkzeug- 
kunde       2      „ 

c)  Einrichtungen  und  ^hv- 
schinen  eines  gewerb- 
lichen Betriebes  und  ihre 
ph)  sikaUschen  Grund- 
lagen        2      ,, 

5.  Rechnen    einschl.     Geometrie     und 
Buchführung 6 


Std. 

6.  Zeichnen 7 

a)  Freihandzeichnen       .     .      3  Std. 

b)  Meßbilderzeichnen  (Pro- 
jektionszeichnen) ...      3      ,, 

c)  Werkzeichnen  ....       1 

7.  Handfertigkeit 6 

8.  Turnen 2 


Sa.  34 
(vgl.    Münchner    Schulwesen,  Vervvaltungs- 
bericht  1900.) 

Vm.  Mädchenklasse.  Std. 

1.  Religion 2 

2.  Haushaltungskunde  und  Schulküche  8 

3.  Weibliche  Handarbeiten 4 

4.  Deutsche  Sprache 6 

5.  Rechnen 4 

6.  Singen 1 

7.  Zeichnen 2 

8.  Turnen   und  Spiele  mit  Gesang    .      .  2 


Sa.  29 
Neben  diesen  obligaten  L'nterrichts- 
gegenständen  wird  noch  wahlfrei  je  ein  vier- 
stündiger Unterricht  entweder  in  französischer 
Sprache  oder  im  gewerblichen  Zeichnen  ge- 
boten, jedoch  um  eine  Arbeitsüberbürdung 
der  Mädchen  zu  verhindern,  nur  alternativ. 
Der  Besuch  des  einen  Unterrichts  schließt 
den  des  anderen  aus. 

(vgl.    Münchner    Schulwesen,    \'erwaltungs- 
bericht  1897.) 


120 


Volksschuhvesen. 


Achtstufige   Volksschule  in  Dresden  (Bezirksschule). 
Knaben  (Mädchen). 


Lehrgegenstände 


Klasse  (aufsteigend  von  ^1II  bis  I). 


I.       II.      III.      IV.      V.      ^^.      vn.     ^^II, 


Biblische  Geschichte 
bezw.  Bibelkunde 
Katechismuslehre 
Anschauungsübunge: 
Lesen  .... 
Rechtschreibung  . 
Sprachlehre     .     . 

Sül 

Rechnen     .     .     . 

Geometrie  . 

Naturbeschreibung 

Naturlehre 

Erdkunde 

Geschichte 

Schreiben 

Zeichnen 

Singen    . 

Turnen  . 

Nadelarbeit 


Sa. 


2 

2 

2 

2 

2 

2 

1 

1 

1 

1 

2 

2 

2 
2 

2 
1 

1 
2 

4(  3)  4(  3) 
2(0)1  2(0), 
1         !  1         I 


4 

K  0) 

2 


2         j  2 

2         i  2 

2         I  2 
1 

4(  2)!  2 

i(  2);  2(  i; 

2  2 


2(  1) 


(1) 


2(1)12(1)- 

1  I   1         I  2(  1) 

2  2         i  2  (  0) 


(  4)-(  4)-(  4)-(4)— (4):-(4). 


(4) 


(2), 


30  (30)  30  (30):28  (30)  28  (30)  2+  (24)  20  (24)  18*) (20)  18*)(18) 


)  Die  Lektionen  in  Klasse  VII  und  VIII  dauern  in  der  Regel  30  bis  40  Minuten. 


Die  Stoffe,  welche  in  den  einzelnen  Unterrichtsfächern  be- 
handelt werden,  näher  anzugeben,  wird  im  Rahmen  dieser  Schrift 
nicht  möglich  sein,  ebensowenig  werden  die  Methoden  des  Unterrichts 
im  einzelnen  näher  erörtert  werden  können.  Ein  Urteil  über  die 
Leistungen  deutscher  Volksschulen  ließe  sich  vielleicht  am  ersten  aus 
dem  Studium  der  Lehrstoffe  gewinnen,  welche  das  Pensum  der 
obersten  Klassen  bilden.  Aber  auch  hier  gibt  der  Lektionsplan  kein 
zutreffendes  Bild  dafür,  was  wirklich  erreicht  wird.  Besonders  trifft 
das  für  die  ethischen  Unteri-ichtsfächer  zu.  Den  Grad  der  Bildung, 
den  unsere  Schüler  im  mündlichen  und  schriftlichen  Gebrauch  der 
Muttersprache  und  im  Verständnis  der  ihnen  durch  den  deutschen 
Unterricht  zugeführten  Gedanken  und  Anschauungen  erreichen,  wird 
sich    nur    durch    häufiges  Hospitieren    im  Unterricht    selbst  gewinnen 


Organisation  der  \olk.sschule.    Lehi-])läne,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.      ]2\ 

Achtstufige  evangelische  Volksschule  in  Stuttgart. 
Knaben  (Mädchen). 


Klasse  (aufsteigend  von  I  bis  VIII). 

!      Lehrgegenstände 

i 

I. 

IL           III.          IV. 

V. 

VI. 

VII. 

vm*) 

Religionsunter- 

1                      ""'cht 

j       '1   des  Geistlichen 

j         l  des  Lehrers     . 

^ 

— 

—            — 

— 

1 

2 

1 

2 

1    4 

41/2      1    41/2 

5 

5 

4 

5 

2 

2.  Lesen       .     .     . 

5             2 

1 

1 

1 

2 

I     3.  Schönschreiben 

:    21/2      '    2 

3 

3 

3 

1 

1     4.  Rechtschreiben 

10 

101/0 

2V2         2 

2 

2 

2 

2 

j     5.  Aufsatz    .     .     . 

IV2         2 

2 

2 

3 

2 

!     6.  Sprachlehre  .     . 

11/2          11/2 

IV2 

11/2 

IV2 

1 

7.  Rechnen  .     .     . 

3 

4             5             5 

•5 

5 

5 

5 

8.  Realien    .     .     . 

2 

2             2             4 

4 

4 

4 

7 

9.  Singen      .     .     . 

1 

1 

IV2 

IV2 

IV2 

IV2 

IV2 

— 

10.  Zeichnen       .     . 

— 

- 

— 

2(  0) 

2(0) 

2(0) 

2 

11.  Turnen     .     .     . 

— 

—            — 

2          1 

2 

2 

2 

2 

12.  Handarbeit  .     . 

-(4): 

-  (  4)  1  -  (  4) 

-(4); 

-(4) 

-(4) 

-(4) 

2 

Sa. 

20(24)^22(26) 

26  (30) 

27(31) 

30  (3g) 

30  (32) 

30  (32) 

30 

*)  Nur  für  Knaben.     Die  ]\Iädchenschulen  haben  nur  7  Klassen. 

lassen.  Das  gleiche  gilt  vielleicht  in  noch  höherem  Maße  vom 
Religionsunterricht  und  in  gewissem  Sinne  auch  von  den  technischen 
Fächern,  wie  Singen,  Zeichnen  und  Handarbeit.  Wir  werden  uns 
daher  in  den  folgenden  Darlegungen  auf  einige  wenige  Fächer  aus 
dem  Gebiete  des  Rechnens,  der  Raumlehre  und  der  Realien  be- 
schränken, deren  Unterrichtsziele  sich  genauer  präzisieren  lassen  und 
daher  dem  Ausländer  auch  Gelegenheit  zu  Vergleichen  mit  den 
Leistungen  seiner  einheimischen  Schulen  bieten. 


Rechnen.     (Raumlehre  und  Algebra.) 

Die  „Allgemeinen  Bestimmungen"  schreiben  in  Preußen  als  Lehrstoff  für  die 
Oberstufe  der  Volksschule  vor:  㤠 28.  Die  Bruchrechnung,  welche  bereits  auf  den 
unteren  Stufen  in  der  geeigneten  Weise  vorbereitet  werden  muß,  und  deren  Anwendung 
in  den  bürgerhchen  Rechnungsarten  sowie  eingehende  Behandlung  der  Dezimalbrüche. 

In  der  mehrklassigen  Schule  erweitert  sich  das  Pensum  in  den  bürgerlichen 
Rechnungen  durch  Aufnahme  der  schwierigen  Arten  und  das  in  der  Rechnung  mit 
Dezimalen  durch  die  Lehre  von  den  Wurzelextraktionen." 

BezügUch  der  Raumlehre  heißt  es  daselbst  §  29:  „Das  Pensum  der  Raumlehre 
bilden:    die  Linie     (gerade,  gleiche,    ungleiche,  gleichlaufende),    der  Winkel    und    dessen 


j  9*2  Volksschuhvesen. 

Arten,  Dreiecke,  Vierecke,  regelmäßige  Figuren,  der  Kreis  und  dessen  Hilfslinien,  die 
regelmäßigen  Körper. 

In  der  mehrklassigen  Schule  kommt  die  Lehre  von  den  Linien  und  \Vinkeln  und 
von  der  Gleichheit  und  Kongruenz  der  Figuren  in  elementarer  Darstellung  hinzu." 

Das  Pensum  für  die  Hamburger  Selekten  ist  für  Mädchen  (wöchentlich 
4  Stunden,  keine  Raumlehre):  „Übungen  in  allen  bürgerlichen  Rechnungsarten  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  häuslichen  Verhältnisse." 

Für  Knaben  (Rechnen  und  Algebra  wöchentlich  5  Stunden):  „Rechnen:  Schwierigere 
Aufgaben  aus  dem  Gebiete  des  bürgerlichen  Rechnens  mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  vaterstädtigen  Verhältnisse. 

Algebra:  Gleichungen  ersten  Grades  mit  mehreren  Unbekannten.  Potenzen  und 
Wurzeln.     Quadratische  Gleichungen. 

Geometrie  (wöchentlich  2  Stunden):  Befestigung  und  Vertiefung  des  früher  be- 
handelten Stoffes  durch  Lösung  von  Konstruktionsaufgaben.  Proportionalität  und  Ähnlich- 
keit der  P'iguren.     Flächen-  und  Körperberechnung." 

Etwas  genauer  spricht  .sich  der  neue  Berliner  Lehrplan  aus  (4  Stunden):  „Die 
Kurs-,  Diskont-  und  Gesellschaftsrechnung.  L^mfassende  und  abschließende  Verwertung 
der  weltkundlichen  Stoffe.  Zwei  Stunden  Arithmetik  und  Algebra:  die  Lehre  von  den 
absoluten  Zahlen;  die  algebraische  Addition,  Subtraktion,  Multiplikation  und  Division;  die 
Proportionen;  die  Gleichungen  ersten  Grades  mit  einer  und  mehreren  Unbekannten.  (In 
den  Mädchenschulen  kommt  die  Arithmetik  und  Algebra  in  Wegfall.)" 

„(Raumlehre  für  Knaben  3  Stunden.)  Die  Lehre  vom  Kreise,  vom  \ielecke,  vom 
Flächenraume  ger.ulliniger  Figuren  und  von  der  Proportionalität  der  Geraden. 

(Raumlehre  für  Mädchen  2  Stunden.)  Anschauliche  Entwicklung  der  Gesetze  für 
Flächen-  und  Köqierberechnung.     Übungen  im  Linearzeichnen." 

Erdkunde. 

Frankfurt  a.  M.  (Siebenstufige  Bürgerschule):  „I.  Kl.  (2  Stunden  wöchentlich). 
L  Tahr:  Frankfurt  a.  M.  und  die  heimatliche  Provinz  (besonders  inbezug  auf  die  politischen 
Einrichtungen,  Verwaltungen  usw.).  Deutschland,  (iestalt  und  Bewegung  der  Erde;  die 
Pole.  Erdachse,  Äquator,  Länge  und  Breite,  Zonen,  Jahreszeiten,  Finsternisse,  Sonnensystem. 
2.  Jahr:  Die  außerdeutschen  Länder  Europas.     Die  außereuropäischen  Erdteile. 

Achtstufige  mittlere  Volksschule  (Bürger-  und  Bezirksschulen).  L  Kl.  (wöchentlich 
2  Stunden):  Unser  engeres  und  weiteres  Vaterland.  Industrie  und  Handel.  Die  großen 
\'erkehrswege.  Weltstellung,  Volksstämme,  Verfassung,  Rechtspflege,  Wehrmacht  usw. 
Die  deutschen  Kolonien.  An  geeignetem  Orte  sind  zu  behandeln:  Meeresströmungen  und 
ihre  Bedeutung.  Die  Menschen  nach  ihrer  leiblichen  und  geistigen  Natur  und  in 
Wechselwirkung  zum  Boden  und  Klima,  zur  Pflanzen-  und  Tierwelt.  Zusammenfassung 
der  betrachteten  erdgeschichtlichen  Momente  im  Hinblick  auf  die  Kräfte,  welche  die 
Oberfläche  unseres  Vaterlandes  umgestaltet  haben  und  noch  gegenwärtig  verändern. 

Kartenlesen:  Karte  mit  wachsenden  Breiten.  Die  0°-  und  20°  -  Isotherme.  \'er- 
breitung  wichtiger  Pflanzen  und  Tiere.  Deutsche  Schiflahrtslinien  und  wichtige  Eisen- 
bahnen des  In-  und  Auslandes. 

Fortgesetzte  Beachtung  der  Witterungsberichte  und  Wetterkarten.  Chemische 
Wirkungen  des  Wassers  usw.  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  als  Ursache  der  jähr- 
lichen Erscheinungen  am   Himmel.     Planetensystem,  Kometen,  Meteorite." 

(Jeschichte. 

Der  Geschichtsunterricht  gestaltet  sich  in  den  einzelnen  deutschen  Staaten  aus 
dem   (Irunde    verschieden,    weil  jeder  Staat    seine  eigene  Landesgeschichte  neben  der  des 


( )rgani.sation  (Itr  \'olksschuIe.     1  ,ehr])l;üie,  Methoden,  Disziplin   ii.  Lehrmittel.       |  2o 

großen  tleiitschen  X'aterliuicles  in  den  \'ordergnind  rückt  uiul  niil  besonderer  Liebe 
behandelt.  Die  Geschichte  der  außerdeutschen  Länder  findet  auch  in  den  Oberklassen 
der  Volksschule  nur  ausnahmsweise  und  nur  insoweit  Berücksichtigung,  als  das  Ausland 
durch  die  politischen,  wirtschaftlichen  oder  sonstigen  Kulturverhältnisse  unmittelbar  oder 
mittelbar  die  Geschicke  unseres  Landes  beeinflußt  hat;  die  Geschichte  des  Altertums  ist 
nur  in  seltenen  Fällen  Lehrgegenstand  der  deutschen  \'olksschule.  Belehrungen  über  die 
politische  Verfassung  unseres  Landes  sowie  über  die  geschichtliche  Entwicklung  der 
gegenwärtigen  sozialen  Verhältnisse  und  der  bestehenden  Gesellschaftsordnung  werden 
häufig  in  den  Lehrplan  der  oberen  Klassen  mit  aufgenommen. 

Dem  Geschichtsuntenicht  fällt  in  Deutschland  wie  in  den  meisten  modernen 
Kulturländern  ein  wichtiger  Teil  der  Aufgabe  zu,  das  Nationalgefühl  und  die  Vaterlands- 
liebe der  heranwachsenden  Generation  zu  wecken  und  zu  kräftigen.  Er  soll  auch  jenen 
Bestrebungen  entgegenarbeiten,  welche  auf  den  L^msturz  der  bestehenden  Gesellschafts- 
ordnung abzielen.  Für  Preußen  ist  diese  Aufgabe  des  Geschichtsunterrichts  ausdrücklich 
in  dem  Allerhöchsten  Erlaß  des  Kaisers  und  Königs  vom  l.  Mai  1889  ausgesprochen 
worden.     Es  heißt  daselbst: 

,,Die  Vaterländische  Geschichte  wird  insonderheit  auch  die  Ge- 
schichte unserer  sozialen  und  wirtschaftlichen  Gesetzgebung  und  Ent- 
wicklung seit  dem  Beginne  dieses  Jahrhunderts  bis  zu  der  gegen- 
wärtigen sozialpolitischen  Gesetzgebung  zu  behandeln  haben,  um  zu 
zeigen,  wie  die  Monarchen  Preußens  es  von  jeher  als  ihre  besondere 
Aufgabe  betrachtet  haben,  der  auf  die  Arbeit  ihrer  Hände  ange- 
wiesenen Bevölkerung  den  landesväterlichen  Schutz  angedeihen  zu 
lassen  und  ihr  leibliches  und  geistiges  Wohl  zu  heben,  und  \\'ie  auch 
in  Zukunft  die  Arbeiter  Gerechtigkeit  und  Sicherheit  ihres  Erwerbes 
nur  unter  dem  Schutze  und  der  Fürsorge  des  Königs  an  der  Spitze 
eines  geordneten  Staates  zu  erwarten  haben.  Insbesondere  vom 
Standpunkte  der  Nützlichkeit,  durch  Darlegung  einschlagender  prak- 
tischer Verhältnisse,  wird  schon  der  Jugend  klar  gemacht  werden 
können,  dais  ein  geordnetes  Staatswesen  mit  einer  sicheren  monarchischen 
Leitung  die  unerläßliche  Vorbedingung  für  den  Schutz  und  das  Ge- 
deihen des  einzelnen  in  seiner  rechtlichen  und  wirtschaftlichen 
Existenz  i.st,  daß  dagegen  die  Lehren  der  Sozialdemokratie  praktisch 
nicht  ausführbar  sind,  und  wenn  sie  es  wären,  die  Freiheit  des  einzelnen 
bis  in  seine  Häuslichkeit  hinein  einem  unerträglichen  Zwang  unter- 
worfen würde.  Die  angeblichen  Ideale  der  Sozialisten  sind  durch 
deren  eigene  Erklärung  hinreichend  gekennzeichnet,  um  den  Gefühbn 
und  dem  praktischen  Sinne  auch  der  Jugend  als  abschreckend  ge- 
schildert werden  zu  können." 

Naturkunde. 

Der  Unterricht  gliedert  sich  in  Naturbeschreibung  oder  Naturgeschichte  (Botanik, 
Zoologie  usw.)  und  Naturlehre  (Physik  und  Chemie). 

Bremen  (achtstufige  öffentliche  Volksschule)  Naturlehre  L  Kl.:  „Wärme:  Die  Dampf- 
maschine.   —    Magnetismus:  Magnetische    Verteilung.     Erdmagnetismus.     Deklination. 


1 24  Volksschulwesen. 

Inklination.  Das  Nordlicht.  —  Elektrizität  (Galvanismus):  Der  elektrische  Strom. 
Da.s  galvanische  Element  und  seine  ^^■irkungen.  Der  Induktionsapparat.  Wirkungen  des 
elektrischen  Stromes:  Physiologische  Wirkungen.  Wärme-  und  Lichtwirkungen. 
Magnetische  Wirkungen,  Telegraph  und  Telephon.  Chemische  Wirkungen,  Galvano- 
plastik. —  Mechanik:  Gleichmäßige  Fortpflanzung  des  Druckes  in  Flüssigkeiten. 
Hydraulische  Presse.  Gewichtsverlust  untergetauchter  Körper  (Archimedisches  Prinzip). 
Das  .spezifische  Gewicht  der  Köiper.  Aräometer.  Luftpumpe.  Heber,  Wasserpumpe. 
Heronsball,  Feuerspritze.  —  Schall:  Der  Ton.  Musikalische  Instrumente.  Das  mensch- 
Hche  Stimmorgan  und  das  Ohr.  —  Licht:  Hohlspiegel  und  erhabene  Spiegel.  Doppelte 
Brechung  des  Lichtstrahls.  Lichtbrechung  durch  Prismen  und  Linsen.  Farbenzerstreuung 
des  Lichts.  Der  Regenbogen.  Optische  Instrumente.  Das  menschliche  Auge.  Der 
\organg  des  Sehens.  Die  Brillen.  —  Aus  der  Chemie:  Der  Kalk  und  seine  Ver- 
wendung. Kreide.  Kalkstein.  Marmor,  Gips.  Der  Ton  und  seine  Verwendung.  Tonarten. 
Fabrikation  von  Ziegel,  Tonwaren  und  Porzellan.  Der  Quarz  und  seine  Verwendung. 
Quarzarten.  Glasfabrikation.  Das  Eisen.  Flochofenprozeß.  Zink.  Blei.  Zinn.  Kupfer. 
Quecksilber.  Silber.  Gold.  Piatina.  Granit.  Poiphyr.  Basalt.  Tonschiefer.  Sandstein.  Die 
wichtigsten  Nahrungs-  und  Genußmittel.     Die  Gährung." 

Naturgeschichte  I.  KL:  „Fremdländische  Kulturpflanzen.  Allgemeiner 
Rückblick  auf  den  Natm-haushalt.  Übersicht  über  das  Tier-,  Pflanzen-  und  Mineralreich.  — 
Der  Bau  des  menschlichen  Körpers:  Die  Werkzeuge  der  Bewegung.  Knochen, 
Muskeln.  Die  Werkzeuge  der  Empfindung:  Nerven,  Sinnesorgane.  Die  Ernährung:  Der 
\'erdauungsvorgang  (Mundhöhle,  Zähne,  Speiseröhre,  Magen,  Darm).  Der  Blutumlauf 
(Blut,  Herz,  Adern).  Die  Ausscheidungsorgane  (Nieren,  Haut).  Die  Atmung  (Nase, 
Luftröhre,  Lunge).  Gesundheitslehre  (Nahrungs-  und  Genußmittel.  Kleidung  und 
Wohnung).     Erste  Hilfeleistung  bei  Unglücksfällen." 

Berlin  (achtstufige  Volksschule).  Naturlehre  I.  Kl.  Knaben.  3  Stunden. 
L  Vierteljahr:  Vgl.  Naturgeschichte.  —  2.  Merteljahr:  „Abschluß  der  anorganischen 
Chemie;  Belehrungen  aus  der  organischen  Chemie.  —  2.  Halbjahr:  Abschluß  der 
Mechanik;  die  Lehre  vom  Schall  und  vom  Lichte.  —  Mädchen.  3  Stunden. 
Die  Lehre  vom  Magnetismus,  von  der  Elektrizität,  vom  Galvanismus,  vom  Schalle  und 
vom  Lichte." 

Naturgeschichte  I.  Kl.  (ein  Vierteljahr,  3  Stunden  wöchenthch):  „Einiges 
übe?  den  inneren  Bau  der  Werkzeuge  des  Pflanzen-  und  des  Tierkörpers.  Aus  den 
Lebensvorgängen  bei  Pflanze  und  Tier:  der  Saftstrom,  der  Blutumlauf,  die  Stoffaneignung 
und  die  Atmung.  Für  Mädchenschulen  sind  folgende  Bestimmungen  zu  beachten: 
a)  Bei  der  Auswahl  der  Naturkörper  ist  durchweg  auf  den  Gedankenkreis  und  die  häus- 
liche Beschäftigung  der  Mädchen  Rücksicht  zu  nehmen,  b)  Bei  der  Lehraufgabe  des 
Sommerhalbjahres  der  2.  Klasse  ist  die  hauswirtschaftliche  Bedeutung  der  betreflenden 
Pflanzen  in  den  Vordergrund  zu  stellen." 

Wie  in  dem  Berliner  Lehrplan  für  Naturgeschichte  angedeutet 
ist,  x'ersucht  man  auf  der  Oberstufe  der  Mädchenschule  diesen  Unter- 
richtszweig den  Anforderungen  der  Hauswirtschaft  dienstbar  zu 
machen.  Das  geschieht  selbst  dort,  wo  ein  Haushaltungsunterricht 
für  INIädchen  noch  nicht  eingeführt  ist,  und  es  liegen  zahlreiche  sorg- 
fältig ausgearbeitete  Lehrpläne  vor,  welche  den  naturkundlichen  Unter- 
richt auf  der  Oberstufe  der  Volksmädchenschule  eingehend  regeln. 
Unter  anderem  möge  hier  auf  den  Lehrplan  für  den  naturkundlichen 
Unterricht    der    ersten    Mädchenklasse    der  Bürgerschulen    Hannovers 


Organisation  der  \'olk.s.schule.    Lehq)länt',   Methoden,   Disziplin  u.  Lehrmittel.       |2ri 

hingewiesen  werden,    wo    zur  Zeit    ein  hauswirtschaftlicher  Unterricht 
für  Volksschülerinnen  noch  nicht  besteht. 

3.    Methoden    des    Unterrichts. 

Hinsichtlich  der  Methoden  des  Unterrichts  geben  die  Lehr- 
pläne besondere  Vorschriften,  die  natürlich  hier  nicht  einmal  kurz 
skizziert  werden  können,  wenn  sie  auch  im  einzelnen  den  Pädagogen 
eine  Fülle  reifen  Urteils  und  reicher  praktischer  Erfahrung  darbieten 
würden. 

Das  gilt  besonders  für  den  von  dem  Stadtschulrat  Dr.  Kerschen- 
steiner  in  München  ausgearbeiteten  Lehrplan  für  den  Unterricht 
in  der  Weltkunde  an  den  Werktags-(Volks)schulen.  Dieser  Plan 
umfaßt  die  sämtlichen  Realien,  Heimatkunde,  Geographie,  Geschichte 
und  Naturkunde,  und  versteht  es,  diese  Disziplinen  zu  einem 
organischen  Ganzen  zu  verschmelzen,  diesem  Unterrichte  das  gesamte 
Anschauungs-  und  Vorstellungsgebiet  des  Kindes  dienstbar  zu  machen, 
mit  der  Benutzung  aller  landläufigen  Anschauungsmittel  den  Schul- 
garten, das  Terrarium,  das  Aquarium  und  vor  allem  die  Schüleraus- 
flüge in  engste  Verbindung  zu  setzen  und  an  die  Denkmäler  und 
Kunstschätze,  die  historischen  Bauwerke  der  Residenzstadt  München 
sowie  die  landschaftliche  Gestaltung  der  Umgegend  und  die  Industrien 
der  Heimat  anzuknüpfen. 

An  der  Hand  dieses  Lehrplanes  muß  es  einem  einigermalsen 
geschickten  Lehrer  gelingen,  den  Kindern  nicht  nur  eine  positive 
Summe  von  Kenntnissen  einzuprägen,  sondern  auch  in  ihnen  die 
Fähigkeit  zu  entwickeln,  aus  den  an  der  heimatlichen  Landschaft  *ind 
Geschichte  gew^onnenen  Erfahrungen  durch  eigene  Beobachtung  zu 
einem  reifen  Verständnis  der  sie  umgebenden  Naturerscheinungen  und 
der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnisse  zu  gelangen. 

Als  ganz  besonders  erfreulich  muß  hervorgehoben  werden,  dalA 
dieser  so  eminent  praktische  Lehrplan  in  seiner  Zielsetzung  für  die 
Naturkunde  ethische  und  ästhetische  Gesichtspunkte  in  den  Vorder- 
grund stellt.  Es  heißt  da:  „Der  naturkundliche  Unterricht  hat  den 
Schüler  so  in  die  Natur  einzuführen,  daß  er  die  einfachen  Vorgänge 
und  Gesetze  in  den  Erscheinungen  der  Natur  beobachten,  verstehen 
und  auf  seine  sittliche  Lebensführung  anwenden  lerne.  In  Verfolgung 
dieses  Zieles  wird  zugleich  erreicht,  daß  der  Schüler  die  Natur  als 
einen  weisen  Ratgeber  und  als  eine  Quelle  der  Erhebung  und  edler 
Genüsse  schätzen  und  lieben  lernt.  Der  Unterricht  in  der  Naturkunde 
hat  also  weder  den  Zweck,  den    Schülern    umfangreiche    theoretische 


•j  26  \'olksschul\vesen. 

Kenntnisse  des  Systems  zu  übermitteln,  noch  die  Aufgabe,  sie  mit 
vorwiegend  praktischen  Kenntnissen  aus  dem  Gebiete  der  Technik, 
des  Handels  und  Gewerbes  auszurüsten.  Er  wird  diese  beiden 
Forderungen  nicht  \'öllig  vernachlässigen,  aber  auch  nur  so  weit  be- 
rücksichtigen, als  dies  im  Rahmen  der  Hauptaufgabe  zweckmäi.Mg 
erscheint." 

Unter  den  neueren  Lehrplänen  verdient  der  kürzlich  eingeführte 
Lehrplan  für  die  achtstufigen  Berliner  Gemeindeschulen  hin- 
sichtlich seiner  methodischen  V^orschriften  besondere  Beachtung. 

Die  methodischen  Grundsätze  für  den  Zeichenunterricht  in 
diesem  Berliner  Lehrplane  bedeuten  die  Einführung  eines  ganz 
neuen  Verfahrens  und  eine  Umwälzung  auf  diesem  Unterrichtsgebiete, 
deren  Tragweite  nur  derjenige  ermessen  kann,  der  längere  Zeit  nach 
dem  bisherigen  Verfahren  gearbeitet  hat. 

Die  seit  1887  in  den  preußischen  Volksschulen  eingeführte 
Methode  gründet  sich  auf  das  Werk  des  Schulrats  für  das  Gewerbe- 
Schulwesen  in  Hamburg,  Dr.  A.  Stuhlmann,  ,, Leitfaden  für  den 
Zeichenunterricht  in  den  preußischen  Volksschulen  mit  drei  und 
mehr  aufsteigenden  Klassen".  Diese  Schrift  besteht  aus  3  Teilen;  der 
erste  behandelt  das  Netzzeichnen,  der  zweite  das  freie  Zeichnen  ebener 
Gebilde,  der  dritte  das  freie  Zeichnen  nach  körperlichen  Gegen- 
ständen. Als  Lehrmittel  für  den  2.  Teil  dienen  Wandtafeln  mit 
geradlinigen  Formen,  mit  krummlinigen  Formen,  welche  sich  auf 
das  regelmäßige  Sechseck  und  Achteck  zurückführen  lassen,  und 
Wandtafeln  mit  gerad-  und  krummlinig  begrenzten  und  krummlinig- 
ornamentalen Flächenformen.  Zum  3.  Teile  gehören  regelmäßige 
Holzkörper  und  Schattierungsmodelle.  Ein  später  erschienener  4.  Teil 
bringt  Stickmuster  für  Leinenstickerei  in  Kreuz-  und  Plattstich  und 
Muster  für  Holbein.stickerei.  Das  Charakteristische  dieser  Methode 
ist,  daß  sie  sich  nahezu  au.sschließlich  auf  die  Nachahmung  von 
Kunstformen  beschränkt,  daß  sie  besonders  für  die  Unterstufe  den 
Kindern  zumutet,  in  ein  quadratisches  Liniennetz  regelmäßige  Figuren 
einzuzeichnen,  welche  abgesehen  von  anderen  Unzuträglichkeiten  für 
das  kindliche  Vorstellungsvermögen  ohne  Reiz  und  tieferes  Interesse 
bleiben  müssen. 

Die  neue  Methode  \erwirft  dieses  Nachbilden  geometrischer 
und  ornamentaler  Kunstformen,  verwirft  die  Anwendung  von  Vor- 
lagen und  Gipsmodellen;  sie  knüpft  an  die  psychologische  Ent- 
wicklung und  an  den  künstlerischen  Schafifenstrieb  des  Kindes  an,  sie 
will    nicht    der    technischen    Ausbilduno'    für  o-ewisse  Zwecke  der  In- 


'Jrganisution  der  \'oIksschuIe.     I. einplane,   Methoden,  Disziplin   u.  Lehrmittel.       |27 

dustrie,  sondern  der  ethischen  und  ästhetischen  FLrziehung  der  Jugend 
dienen.  Auf  welche  Weise  man  diese  Ziele  zu  erreichen  sucht,  ist 
aus  den  hier  folgenden  methodischen  Grundsätzen  des  Berliner  Lehr- 
plans ersichtlich.     Es  heiik  dort: 

„I.    Freihandzeichnen. 

Der  Zweck  der  Zeicheniibungen  auf  der  L'nter.stufe  ist,  die  Erziehung  des 
Auges  und  der  Hand  anzubahnen.  Die  Zeichnung  soll  dartun,  ob  der  Schüler  das 
Wesentliche  der  Form  des  dargestellten  Gegenstandes  klar  erfaßt  hat.  Das  Abzeichnen 
bestim.mter  Vorbilder  ist  noch  nicht  Aufgabe  des  Unterrichts.  Alle  Formen  sind  frei 
und  ohne  Auflegen  der  Hand  zu  zeichnen.  Hilfslinien  sind  bei  der 
Wiedergabe  einfacher  Formen  nicht  anzuwenden.  Die  Schüler  sind  anzuhalten, 
die  zu  zeichnende  Form  mögliclist  in  einem  Zuge  rasch  auszuführen  und  das  Verfehlte  so 
lange  stehen  zu  lassen,  bis  durch  Wiederholung  der  Übung  das  Richtige  getroffen  ist. 
^'orlagen  jedweder  Art  sind  hier  wie  überhaupt  ausgeschlossen. 

Bei  der  Behandlung  des  oben  angegebenen  Lehrstoffes  ist  im  allgemeinen  folgender 
^^  eg  einzuschlagen : 

LJer  Lehrer  läßt  den  darzustellenden  Gegenstand  von  den  Kindern  aus  dem  Ge- 
dächtnisse zeichnen.  An  der  Hand  dieser  Zeichnungen  stellt  er  mit  ihnen  zusammen 
die  Hauptmerkmale  des  Gegenstandes,  der  dabei  nicht  unbedingt  vorgeführt  werden 
muß,  fest.  Alsdann  wird  dieser  von  mehreren  Ivindern  an  die  Schultafel  gezeichnet. 
Hierbei  sich  ergebende  Fehler  werden  berichtigt.  Alle  Schüler  zeichnen  .sodann  den 
Gegenstand  aus  dem  Gedächtnisse  auf  das  Papier. 

Als  Ziel  des  Unterrichts  der  Mittelstufe  ist  ins  Auge  zu  fassen,  daß  der  Schüler 
lernt,  selbständig  Beobachtungen  vor  der  Natur  zu  machen,  das  Beobachtete  in  der  Zeich- 
nung sicher  darzustellen  und  eine  klare  \orstellung  des  gezeichneten  (Gegenstandes  im 
Gedächtnisse  zu  behalten.  Bei  dem  Zeichnen  nach  der  Natur  kommt  es  vor  allem  darauf  an, 
daß  der  als  Vorbild  gewählte  Naturgegenstand  in  seiner  eigentümlichen  Erscheinung 
richtig  aufgefaßt  und  lebendig  wiedergegeben  wird. 

Bei  der  Behandlung  dieses  Lehrstoffes  ist  im  allgemeinen  folgender  Weg  ein- 
zuschlagen : 

Nachdem  die  Schüler  einzeln  oder  gruppenweise  mit  Vorbildern  versehen  sind, 
werden  die  für  die  bildliche  Wiedergabe  wichtigen  Merkmale  durch  gemeinsame  Be- 
sprechung festgestellt.  Der  Lehrer  gibt  den  Weg  der  Darstellung  an,  indem  er  ihn  an 
der  Schultafel  mit  klaren,  sicheren  Strichen  entwirft.  Es  wird  zunächst  die  Gesamtform 
des  \'orbildes  und  die  seiner  Hauptteile  in  einfachen  Linienzügen  entworfen  und  erst, 
nachdem  dies  geschehen,  auf  die  F2inzelformen  eingegangen.  Hierbei  ist  besonders  darauf 
zu  achten,  daß  der  Schüler  nicht  flüclitig  über  eigenartige  Formen  hinweggeht,  und  daß 
er  andererseits  nicht  in  zu  äußerlicher  Nachahmung  unwichtige  Einzelheiten  nach- 
zeichnet. Nachdem  die  Aufgabe  vor  der  Natur  gelöst  ist,  wird  sie  aus  dem  Gedächtnisse 
wiederholt. 

Als  die  eigentliche  Aufgabe  des  L'nterrichts  der  Oberstufe  ist  ebenso  wie  auf 
der  Lnter-  und  Mittelstufe  fest  im  Auge  zu  behalten,  daß  der  Schüler  selbständig 
beobachten,  das  richtig  Erfaßte  sicher  wiedergeben  und  ein  klares  Bild  des  gezeichneten 
Gegenstandes  in  seinem  Gedächtnisse  bewahren  lernt.  Die  perspektivischen,  Beleuch- 
tungs-  und  Farbenerscheinungen  sind  daher  nicht  durch  Erörterungen  und  Konstruktionen, 
.sondern  durch  Übungen  im  Beobachten  bestimmter  Gegenstände  dem  Schüler  zum  Be- 
wußtsein zu  bringen.  Die  Gegenstände  sind  so  aufzustellen,  daß  der  Schüler 
die  Erscheinungen,  die  er  beachten  soll,  auch  wirklich  wahrnehmen  kann. 
r)as  richtige  Erfassen  der    jierspektivischen,    Beleuchtungs-    und    Farbenerscheinungen    ist 


]  28  \ülksschul\vesen. 

die  Hauptsache,    nicht   die  glatte  Ausführung  und  das  unfreie  Nachbilden    unwesentlicher 
Einzelheiten. 

Beim  Skizzieren  kommt  es  darauf  an,  daß  das  \"orbild  zwar  mit  geringen  Mitteln, 
aber  getreu  wiedergegeben  wird. 

Im  allgemeinen  ist  folgender  Weg  des  Unterrichtes  einzuschlagen: 

Der  Schüler  wird  angeleitet,  das  Vorbild  aufmerksam  zu  betrachten  und  auf 
Grund  seiner  Beobachtungen  die  Gesamtform  frei  zu  entwerfen.  Seine  Zeichnungen 
vergleicht  er  mit  dem  Vorbilde,  indem  er  sie  senkrecht  daneben  stellt  oder  möglichst 
weit  von  sich  entfernt  hält.  Die  Fehler,  die  ihm  hierbei  nicht  zum  Bewußtsein  kommen, 
werden  durch  Visieren,  durch  Lot  und  Wage  unter  Anleitung  des  Lehrers  festgestellt 
vmd  verbessert.  Zugleich  werden  die  Hauptschatten  eingesetzt.  Erst  nachdem  auf  diese 
Weise  der  plastische  Eindruck  des  Vorbildes  gewonnen  ist,  kann  zur  weiteren  Durch- 
bildung geschritten  werden.  Hierbei  ist  besonders  darauf  zu  achten,  daß  die  geschlossene 
Gesamtwirkung  nicht  durch  übermäßiges  Betonen  von  Einzelheiten  (Reflexen,  Spiege- 
lungen usw.)  zerstört  wird. 

Auch  bei  dem  Malen  sind  die  Schüler  anzuleiten,  zunächst  die  Haupttöne  einzu- 
setzen, ihre  Richtigkeit  durch  \'ergleichen  mit  dem  Vorbild  in  der  oben  angegebenen 
Weise  zu  prüfen  und  bei  weiterer  Durchbildung  immer  den  Gesamteindruck  im  Auge 
zu  behalten. 

II.    Linearzeichnen. 

Die  Benutzung  von  Vorlagen  und  Wandtafeln  ist  ausgeschlossen.  Der 
Unterricht  der  Klassen  2  und  1  hat  vom  körperlichen  Modell  auszugehen.  Er  darf  aber 
nicht  dabei  stehen  bleiben.  Vielmehr  sind  tunhchst  bald  Aufgaben  zu  stellen,  die  nicht 
durch  ein  besonderes  Modell  veranschaulicht,  sondern  nur  durch  eine  Skizze  des  Lehrers 
angedeutet  werden.  Der  Schüler  soll  auf  diese  Weise  Projektionszeichnungen  lesen  lernen. 
Die  Modelle  sind  im  Grundriß,  Aufriß  und,  wenn  nötig,  auch  im  Seilenriß 
zu  zeichnen.  Ferner  sind  die  im  Modell  angenommenen  Schnittebenen  und  der  Älantel 
des  Objektes  darzustellen.  Sämtliche  Modelle  sind  in  recht-  und  schiefwinkliger 
Parallelprojektion  wiederzugeben.  Die  Zeichnungen  sind  mit  Ziehfeder  und  Tusche  auszu- 
führen und  mit  einem  ruhigen,  lichten  P'arbenton  zu  überlegen." 

4.    Die  Schulzucht. 

Die  Schulzucht  wird  in  den  deutschen  Volksschulen  in  erster 
Linie  mit  denselben  Mitteln  ausgeübt,  die  auch  in  anderen  Kultur- 
ländern zur  Anwendung  kommen.  Die  vorbildliche  Persönlichkeit 
des  Lehrers,  sein  freundlicher  Zuspruch,  seine  geschickte  Anleitung 
und  ein  Unterricht,  welcher  das  Interesse  der  Kinder  zu  fesseln  weiß, 
werden  immer  am  besten  der  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  in  der 
Schule  dienen  und  die  Arbeitsfreudigkeit  der  Kinder  am  wirksamsten 
beleben. 

Eigentliche  Belohnungen  spielen  im  Leben  der  deutschen  Volks- 
schule nur  eine  geringe  Rolle.  Der  Platz  des  Schülers  in  der  Klasse 
(die  Rangordnung),  das  am  Schlüsse  des  Halbjahrs  verteilte  Zeugnis, 
die  Versetzung  in  eine  höhere  Klasse  sind  neben  gelegentlich  münd- 
lich oder  schriftlich  von  dem  Lehrer  ausgesprochener  Anerkennung 
für    gute    Leistungen    die    gebräuchlichsten    Formen    der    Belohnunef. 


Organisation  der  Volksschule.    Lehrpläne,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.       |  29 

Zur  Gewährung  von  Geschenken  an  fleißige  Schüler  .sind  in  manchen 
Ortschaften  Geldmittel  vorhanden,  und  es  bestehen  diese  Gaben  mei.st 
in  guten  Büchern  oder  in  Gerätschaften  für  weibliche  Handarbeit.  Im 
allgemeinen  steht  die  Lehrerschaft  diesen  Auszeichnungen  ohne  gt-oße 
Sympathie  gegenüber.  Sie  ist  meist  der  Ansicht,  daß  die  Schule 
auch  ohne  Prämienverteilung  das  Streben  der  Schüler,  sich  durch 
Fleiß  und  gutes  Betragen  auszuzeichnen,  erwecken  und  erhalten  kann. 

Eine  weit  größere  Bedeutung  für  die  Aufrechterhaltung  der 
Schuldisziplin  als  die  Prämien  nehmen  in  Deutschland  noch  immer 
die  Schulstrafen  ein.  Strafarbeiten  werden  meistens  gänzlich  ver- 
worfen, und  auch  Nachsitzen  und  körperliche  Züchtigung  werden, 
obwohl  in  einer  oder  der  anderen  Form  überall  geduldet  und  ange- 
wendet, durch  die  Aufsichtsbehörden  tunlichst  auf  die  Pralle  beschränkt, 
in  denen  grobe  Verletzungen  der  Schulordnung,  Widersetzlichkeit, 
Roheit  gegen  Schwächere  oder  noch  schwerere  Vergehungen  vor- 
liegen. Besonders  streng  sind  überall  die  Maßregeln  gegen  den  Miß- 
brauch des  dem  Lehrer  zustehenden  Rechtes,  körperliche  Züchtigungen 
vorzunehmen.  Peinige  auf  dieses  Gebiet  bezügliche  Gesetze  und  Ver- 
ordnungen mögen  hier  ihren  Platz  finden. 

Preußen.  Die  Grundlage  für  das  Züchtigungsrecht  des  Lehrers 
bildet  das  Allgemeine  Landrecht  vom  5.  Februar  1 794,  IL  1 2  §  50 — 53. 

„Die  Schulzucht  darf  niemals  bis  zu  Mißhandlungen,  welche  der 
Gesundheit  der  Kinder  auch  nur  auf  entfernte  Art  schädlich  werden 
könnten,  ausgedehnt  werden. 

Glaubt  der  Schullehrer,  daß  durch  geringe  Züchtigungen  der 
eingewurzelten  Unart  eines  Kindes  oder  dem  überwiegenden  Hange 
desselben  zu  Lastern  und  Ausschweifungen  nicht  hinlänglich  gesteuert 
werden  könne,  so  muß  er  der  Obrigkeit  und  dem  geistlichen  Schul- 
vorsteher davon  Anzeige  machen. 

Diese  müssen  alsdann  mit  Zuziehung  der  Eltern  oder  Vormünder 
die  Sache  näher  prüfen  und  zweckmäßige  Besserungsmittel   verfügen. 

Aber  auch  dabei  dürfen  die  der  elterlichen  Zucht  vorgeschriebenen 
Grenzen  nicht  überschritten  werden." 

Auch  die  Eltern  sind  nach  dem  Allgemeinen  Landrecht  II.  2  §  86 
zur  Bildung  ihrer  Kinder  nur  zur  Anwendung  solcher  Zwangsmittel 
berechtigt,  welche  die  Gesundheit  derselben  nicht  schädigen  : 

,,Die  Eltern  sind  berechtigt,  zur  Bildung  der  Kinder  alle  der 
Gesundheit  derselben  unschädlichen  Zwangsmittel  zu  gebrauchen." 

Auch  die  Kabinettsorder  vom  14.  Mai  1825  §  4—6  spricht 
sich  in  demselben  Sinne  aus: 

Das  Uuterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     HI.  " 


1 30  Volksschulwesen. 

„Die  Schulzucht  darf  niemals  bis  zu  Mißhandlungen  ausgedehnt 
werden,  die  der  Gesundheit  des  Kindes  auch  nur  auf  entfernteste 
Art  schädlich  werden  können; 

Züchtigungen,  welche  in  diesen  der  Schulzucht  gesetzten 
Schranken  verbleiben,  sollen  gegen  die  Lehrer  nicht  als  strafbare  Miß- 
handlungen oder  Injurien  behandelt  werden; 

wird  das  Maß  der  Züchtigung  ohne  wirkliche  Verletzung  des 
Kindes  überschritten,  so  soll  dieses  von  der  dem  Schulwesen  vor- 
gesetzten Provinzialbehörde  durch  angemessene  Disziplinarstrafen  an 
dem  Lehrer  geahndet  werden.  Wenn  dagegen  dem  Kinde  durch  den 
Mißbrauch  des  Züchtigungsrechts  eine  \\irkliche  Verletzung  zugefügt 
wird,  soll  der  Lehrer  nach  den  bestehenden  Gesetzen  im  gerichtlichen 
Wege  bestraft  werden." 

Ebenso  kommen  die  §§  223—226  und  228  sowie  §§  230-232 
und  340  des  Strafgesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich  vom 
26.  Februar  1876  hier  zur  Anwendung,  sofern  es  sich  um  Körper- 
verletzungen im  eigentlichen  Sinne  handelt. 

Auf  Grund  dieser  gesetzlichen  Bestimmungen  haben  die  Pro- 
vinzialregierungen  sowie  die  Preußischen  Unterrichtsminister  eine 
Reihe  von  Verfügungen  erlassen,  von  denen  wir  hier  nur  den  jüngsten 
Ministerialerlaß  vom  19.  Januar  1900  anführen  wollen.  Es  heißt 
daselbst: 

„Überschreitungen  oder  unangemessene  Anwendung  der  den 
Lehrern  hiernach  zustehenden  Befugnisse  haben  auf  eine  milde  Be- 
urteilung bei  mir  nicht  zu  rechnen.  Ich  erwarte  gleich  meinem  Herrn 
Amtsvorgänger  von  der  Pflichttreue  der  Königlichen  Regierungen  und 
allen  mit  der  Schulaufsicht  oder  Schulleitung  betrauten  Personen 
(Schulräte,  Kreisschulinspektoren,  Ortsschulinspektoren,  Rektoren  und 
Hauptlehrerj,  daß  sie  auf  eine  maßvolle,  die  gesetzlichen  Grenzen 
streng  achtende  Handhabung  des  nur  für  Ausnahmefälle  bestimmten 
Züchtigungsrechtes  seitens  der  Lehrer  ihr  stetes  Augenmerk  richten, 
jedem  Mißbrauche  des  fraglichen  Rechtes  unnachsichtlich  entgegen- 
treten und  zugleich  durch  zweckentsprechende  Belehrung  und  An- 
leitung der  jungen  Lehrkräfte  der  ungerechtfertigten  oder  über- 
triebenen Anwendung  körperlicher  Strafen  vorbeugen  werden. 

Lehrer  und  Lehrerinnen  haben  jede  vollzogene  Züchtigung  nebst 
einer  kurzen  Begründung  ihrer  Notwendigkeit  in  ein  anzulegendes 
Strafverzeichnis  sofort  nach  der  Unterrichtsstunde  einzutragen.  Die 
Schulaufsichtsbeamten  und  Schulleiter  haben  bei  jedem  Besuche  der 
Schulklasse  von  dem  Inhalte  des  Strafverzeichnisses  durch  Unterschrift 


Organisation  der  N'olksscliule.    Lehrpläne,   Methoden,  Disziplin   u.  Lehrmittel.       1  .'VI 

ZU  bescheinigende  Kenntnis  zu  nehmen  und,  sofern  sich  dabei  Be- 
denken ergeben,  letztere  zum  Gegenstande  der  Besprechung  mit  dem 
betreffenden  Lehrer  zu  machen. 

Solchen  Lehrern  und  Lehrerinnen,  welche  die  vorgeschriebene 
Eintragung  der  vollzogenen  Züchtigungen  in  das  Strafverzeichnis 
unterlassen,  oder  welche  sich  einer  Überschreitung  oder  trotz  er- 
folgter Ermahnung  fortgesetzt  einer  unangemessenen  Anwendung  des 
Züchtigungsrechtes  schuldig  machen,  wird  neben  der  disziplinaren 
Ahndung  der  Regel  nach  die  selbständige  Ausübung  dieses  Rechtes 
dauernd  oder  zeitweise  zu  entziehen  sein." 

In  Süddeutschland  findet  außer  der  körperlichen  Züchtigung 
bei  schwereren  Vergehungen  der  Schüler  auch  noch  die  Arreststrafe 
im  Schulleben  Anwendung.  In  welcher  Weise  diese  zur  Ausführung 
gebracht  wird,  ist  aus  der  Verfügung  des  Königlich  Württembergischen 
Ministeriums  für  Kirchen-  und  Schulwesen  vom  25.  März  1895  er- 
sichtlich.     Es  heißt  daselbst   im  §  4  von  den  zulässigen  Schulstrafen: 

„Neben  Ermahnungen,  Veru'arnungen,  Noten,  Zurechtweisungen, 
Verweisen,  der  Auflage,  versäumte  oder  mangelhaft  geleistete  Schüler- 
arbeiten nachzuholen  (vgl.  §  6  Abs.  2),  und  neben  der  Zurücksetzung 
in  der  Klassenordnung  sind  als  Schulstrafen  zuläs.sig: 

Gegen  Werktagsschüler:  I.  Strafstehen  oder  Strafsitzen,  d.  h. 
Anweisung  eines  Strafplatzes  im  Schulzimmer  während  des  Unterrichts 
(vgl.  §  6  Abs.  3);  2.  Strafarbeiten  mittels  vermehrter  Hausaufgaben 
(vgl.  §  6  Abs.  1  und  2);  3.  einfacher  Schularrest,  d.  h.  Einweisung 
ins  Schullokal  oder  Zurückbehalten  in  demselben  außer  der  Schulzeit 
unter  angemessener  Beschäftigung  (vgl.  §  6  Abs.  4);  4.  körperliche 
Züchtigung;  5.  strengerer  Schularrest  (§  7;." 

Diese  Strafen  werden  in  den  §§  6  und  7  näher  charakterisiert, 
und  heißt  es  dort  in  '^  7  über  die  Anwendung  des  strengeren  Arrestes : 

,,Der  strengere  Schularrest  besteht  in  der  einsamen  Einsperrung 
in  einem  dazu  geeigneten,  womöglich  zum  Schulgebäude  gehörigen 
Gelasse  bis  zur  Dauer  von  höchstens  zwölf  Stunden. 

Derselbe  ist  nur  zulässig  gegen  Schüler  von  mehr  als  zwölf  Jahren. 

Die  Maximaldauer  von  zwölf  Stunden  darf  durch  Verteilung  einer 
größeren  Stundenzahl  auf  verschiedene  Tage  oder  Tageszeiten  nicht 
überschritten  werden.  Bei  Werktagsschülern  ist  die  Ausdehnung  in 
die  Nachtzeit  hinein  (vom  I.  Oktober  bis  31.  März  in  die  Zeit  nach 
abends  6  Uhr,  vom  1.  April  bis  30.  September  in  die  Zeit  nach 
abends  9  Uhr)  nicht  gestattet.  —  Wenn  ein  geeignetes  Lokal  nicht 
zur  Verfügung  steht,  darf  der  strengere  Schularrest  nicht  angewendet 

9* 


1 32  Volksschulwesen. 

werden.  —  Das  Schulzimmer  soll  in  der  Regel  nicht  dazu  benutzt 
werden,  außer  bei  Einsperrungen  in  der  Dauer  von  nicht  über  drei 
Stunden." 

5.    Lehr-  und  Lernmittel. 

Als  die  unentbehrUchsten  Lehrmittel  der  preußischen  V'olks- 
schulen  werden  in  §  9  der  „Allgemeinen  Bestimmungen"  folgende 
Gegenstände  aufgeführt : 

,,1.  je  ein  Exemplar  von  jedem  in  der  Schule  eingeführten 
Lehr-  und  Lernbuche;  —  2.  ein  Globus;  —  3.  eine  Wandkarte  von 
der  Heimatsprovinz;  —  4.  eine  Wandkarte  von  Deutschland;  — 
5.  eine  Wandkarte  von  Palästina;  — •  6.  einige  Abbildungen  für  den 
weltkundlichen  Unterricht;  —  7.  Alphabete  weithin  erkennbarer,  auf 
Holz-  oder  Papptäfelchen  geklebter  Buchstaben  zum  Gebrauch  beim 
ersten  Leseunterricht;  —  8.  eine  Geige;  —  9.  Lineal  und  Zirkel;  — 
10.  eine  Rechenmaschine. 

In  evangelischen  Schulen  kommen  noch  hinzu:  II.  eine  Bibel 
und  12.  ein  Exemplar  des  in  der  Gemeinde  eingeführten  Gesang- 
buches. —  Für  die  mehrklassigen  Schulen  sind  diese  Lehrmittel  an- 
gemessen zu  ergänzen." 

Dazu  kommen  dann  noch  außer  der  Schulchronik,  dem  Schüler- 
verzeichnis (§  10),  welche  der  Lehrer  führen  soll,  und  dem  Lehrplan, 
dem  Lektionsplan  und  der  Pensenverteilung  für  das  laufende  Semester 
folgende  Schulbücher  und  Schulhefte,  welche  von  den  Kindern  zu 
beschaffen  bezw.  mitzubringen  sind: 

„§  1 1 .  Lernmittel  für  die  Schüler  der  Volksschule  mit  einem 
oder  zwei  Lehrern  sind  folgende:  a)  Bücher:  1.  die  Lesefibel  und 
das  Schullesebuch,  2.  ein  Schülerheft  für  den  Rechenunterricht,  3.  ein 
Liederheft,  außerdem  die  für  den  Religionsunterricht  besonders  ein- 
geführten Bücher;  b)  eine  Schiefertafel  nebst  Griffel,  Schwamm,  Lineal 
und  Zirkel;  c)  Hefte  mindestens:  1.  ein  Diarium,  2.  ein  Schön- 
schreibheft, 3.  ein  Heft  zu  orthographischen  und  Aufsatzübungen;  auf 
den  oberen  Stufen:  4.  ein  Zeichenheft. 

Den  Schülern  der  mehrklassigen  Volksschule  darf  die  Anschaffung 
besonderer  kleiner  Leitfäden  für  den  Unterricht  in  den  Realien  sowie 
diejenige  eines  stufenweise  fortschreitenden  mehrbändigen  Lesebuches 
und  eines  Handatlas  zugemutet  werden.  Ebenso  haben  diese  für  die 
einzelnen  Lehrgegenstände  besondere  Hefte  zu  führen." 

Diese  Mindestforderungen  werden  natürlich  in  allen  größeren 
Volksschulen  in  der  Stadt  und  auf  dem  Lande  wesentlich  übertroffen. 


Organisation  der  \olksschule.    Lehrpläne,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.      ]  33 

Wer  sich  eine  Vorstellung  von  der  Fülle  und  Reichhaltigkeit  des 
jedes  Jahr  durch  neue  Erfindungen  anwachsenden  Schatzes  von  Lehr- 
und  Lernmitteln,  auf  welche  hier  natürlich  nicht  näher  eingegangen 
werden  kann,  verschaffen  will,  der  wird  gut  tun,  die  deutschen 
Schulmuseen  zu  besuchen.  Wenn  es  uns  auch  bisher  an  einem 
Reichsschulmuseum  fehlt,  so  werden  doch  die  durch  Privat-  und 
Gemeindeaufwendungen  zusammengebrachten  Sammlungen  in  einigen 
deutschen  Städten  mit  so  großer  Sachkenntnis  und  Liebe  ver\\^altet, 
daß  sie  wenigstens  vorläufig  einen  Ersatz  für  eine  große  Reichsanstalt 
dieser  Art  bieten  können. 

Als    die    wichtigsten    Schulmuseen     bezw.    Lehrerbiblio- 
theken in  Deutschland  mögen  hier  folgende  genannt  werden: 

1.  Die  pädagogische  Zentralbibliothek  (Comenius-Stiftung) 
in  Leipzig  mit  30  000  Werken. 

2.  Die  permanente  Ausstellung  des  Kreisvereins  von 
Oberbayern  für  Lehrmittel  und  Schuleinrichtungsgegenstände 
in  München  (Staatsanstalt). 

3.  Das  deutsche  Schulmuseum  in  Berlin  ist  Eigentum  des 
Berliner  Lehrervereins,  wird  aber  vom  preußischen  Unterrichts- 
ministerium und  der  Stadt  Berlin  durch  Beihilfen  unterstützt. 
Die  pädagogische  Bibliothek  umfaßt  30  000  Bände  aus  der 
Zeit  von  1500  bis  zur  Gegenwart.  Die  Lehrmittelsammlung 
ist  noch  wenig  ausgebaut,  da  es  an  den  erforderlichen  Räum- 
lichkeiten fehlt. 

4.  Das  städtische  Schulmuseum  in  Berlin.  Hauptsächlich 
Lehrerbibliothek  von  zirka  1 6  000  Bänden.  Sämtliche  Lehr- 
mittel, die  an  den  Berliner  Volksschulen  gebraucht  werden, 
sind  vorhanden. 

5.  Die  Lehrmittelausstellung  des  Lehrervereins  der  Pro- 
vinz Sachsen  in  Magdeburg. 

6.  Das  Mecklenburgische  Volksschulmuseum  in  Rostock. 

7.  Das  Schul museum  in  Jena.  Bestandteil  des  pädagogischen 
Universitätsseminars. 

8.  Das  Schulmuseum  in  Hildesheim  (Leverkühn-Stiftung). 

9.  Das  Schleswig-Holsteinische  Schulmuseum  in  Kiel. 

10.  Das  Schulmuseum  in  Braunschweig. 

11.  Das  städtische  Schulmuseum  in  Breslau. 

12.  Das  Schulmuseum  in  Hamburg. 

13.  Das  städtische  Schulmuseum  in  Hannover. 


"1 34  Volksschulwesen. 

Um  eine  Vorstellung  von  den  pädagogischen  Gebieten  zu  geben, 
auf  welche  sich  die  Lehrmittelsammlungen  erstrecken,  möge  hier  eine 
kurze  Bemerkung  über  Inhalt  und  Anlage  des  Breslauer  Schulmuseums, 
einer  kleinen  aber  gut  geleiteten  und  geordneten  Anstalt  dieser  Art, 
gestattet  sein. 

Die  Sammlungen  sind  nach  folgenden  Gruppen  geordnet: 

I.  Schulbau  und  Schuleinrichtung.  —  II.  Schulhygiene  jund  Schul- 
statistik. —  III.  Unterrichtsmittel, 

„Die  Lehrmittelsammlung,  und  dieses  ist  die  wertvollste  und 
reichhaltigste  Abteilung  des  Schulmuseums,  umfaßt  die  eigentlichen 
Lehrmittel  und  die  Hilfsmittel  für  die  technischen  Unterrichtsfächer. 
Sie  ghedert  sich  in  eine  allgemeine  Sammlung,  die  den  Bedürfnissen 
der  Volks-  und  Mittelschulen  Rechnung  trägt,  aber  auch  die  Blinden- 
unterrichtsanstalten,  die  Hilfsschulen  für  schwachbefähigte  Kinder  und 
den  Kindergarten  berücksichtigt,  und  in  eine  der  wissenschaftlichen 
Fortbildung  der  Lehrer  dienende  Studiensammlung  naturwissenschaft- 
lichen Inhalts.  Die  beiden  Zweige  sind  räumlich  von  einander  nicht 
getrennt. 

Die  allgemeine  Sammlung  enthält  Lehr-  und  Hilfsmittel  für  alle 
Unterrichtsfächer,  für  Religion  und  Geschichte,  für  den  vereinigten 
Sach-  und  Sprachunterricht,  die  Heilung  von  Sprachgebrechen,  das 
Lesen,  Schreiben  und  Rechnen,  für  die  Raumlehre,  die  Erd-  und 
Himmelskunde,  die  naturwissenschaftlichen  Fächer  und  die  Gewerbe- 
lehre, für  das  Zeichnen,  die  Knabenhandarbeit,  den  Handarbeitsunter- 
richt für  Mädchen,  den  Haushaltungsunterricht  und  den  Gesang  und 
außerdem  Unterrichtsmittel  für  Blinde  und  die  Beschäftigungsmittel 
des  Kindergartens  —  alles  in  Gruppen  zusammengefaßt  und  wohl- 
geordnet. 

Die  Studiensammlung  besteht  aus  einer  Reihe  sehr  wertvoller 
Zusammenstellungen,  einigen  Druckwerken  und  einer  kleinen  Zahl 
guter  physikahscher  Apparate,  namentlich  aus  dem  Gebiete  der 
Elektrizität. 

Beide  Abteilungen  der  Lehrmittelsammlung,  die  allgemeine  und 
die  Studiensammlung,  zählten  am  31.  März  1901  1022  zum  Teil  sehr 
inhaltreiche  Nummern."  (Städtisches  Schulmuseum  zu  Breslau.  Seine 
Einrichtung,  Verwaltung  und  Entwicklung  in  den  ersten  zehn  Jahren 
seines  Bestehens  von  1891   bis  1901   von  Max  Hübner.     Breslau  1903.) 

Einen  etwas  anderen  Charakter  als  die  Breslauer  Anstalt  trägt 
das  Schulmuseum  in  Hannover.  Es  verrät  in  seiner  Anlage  und 
in  seinem  Bestände  deutlich,  daß  es  nicht  für  Lehrer  und  Erwachsene 


Organisation  der  Volksschule.    Lehrpläne,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.      ^35 

allein,  sondern  auch  für  den  Besuch  der  Schulkinder  bestimmt  i.st. 
Demgemäß  ist  denn  auch  ein  Hauptaugenmerk  auf  die  Vollständigkeit 
des  Anschauungsmaterials  für  Heimatkunde  gerichtet.  Die  geologische 
Formation  des  Landes,  sein  Relief,  die  Tiere:  die  Haustiere,  das  ein- 
heimische Wild,  die  Vögel,  Fische  und  Insekten  der  Gegend,  die 
geschichtliche  Vergangenheit  bis  zu  den  prähistorischen  Funden  in 
den  Torfmooren,  die  Bodenprodukte  und  Industrien  der  Heimat 
breiten  sich  übersichtlich  und  in  guter  Auswahl  vor  dem  Auge  der 
Besucher  aus,  und  so  bieten  denn  die  Schätze  der  heimatkundlichen 
Abteilung  auch  den  oberen  Klassen  der  Volksschulen,  welche  von 
ihren  Lehrern  dorthin  geführt  werden,  eine  willkommene  Bereicherung 
des  in  der  Schule  vorhandenen  naturkundlichen  und  geschichtlichen 
Lehrmaterials. 

Wie  sich  die  Ausstattung  einer  größeren  deutschen  Volksschule  mit  Lehr- 
und  Anschauungsmitteln  in  der  Praxis  gestaltet,  möge  der  Leser  aus  der  folgenden 
Übersicht  über  die  pädagogischen  Hilfsmittel  zweier  auf  demselben  Grundstück  belegener, 
gut  ausgestatteter  Berliner  Gemeindeschulen,  einer  Knaben-  und  einer  Mädchen- 
schule (Xo.  190/198),  ersehen: 

Lehrmittel  der  190.   Gemeindeschule  für  Knaben.     19  Klassen, 
951    Schulkinder. 

I.  Religion:  1.  Ehrenberg,  Bilder  für  den  biblischen  Geschichtsunterricht. 
2.  Lehmann,  Jerusalem  (geographisches  Charakterbild).  3.  Bamberg,  Karte  von  Palästina. 
4.  Kiepert,  Karte  von  Palästina.  5.  Kiepert,  Karte  zur  Apostelgeschichte  und  biblischen 
Erdkunde. 

IL  Deutsch:  1.  Born,  Lesemaschine  (3  Exemplare).  2.  Gindler,  Lesemaschine 
(2  Exemplare).     3.  Rein,  Anschauungskarte  zu  Schillers  „Teil". 

IIL  Rechnen:  1.  Rechenmaschine  (russische)  (7  Exemplare).  2.  Hohmann, 
Zahlenbilder  (9  Tafeln).  3.  Gebhardt,  Metrischer  Lehrapparat  (zur  Veranschaulichung 
der  Maße  und  Gewichte). 

IV.  Anschauungsunterricht:  1.  Kehr-Pfeifler,  12  Bilder.  2.  Winckelmann. 
8  Bilder.      3.  Kafemann,  4  Bilder.      4.  Antenen,  9  Bilder.     5.  Leutemann,   18  Tierbilder. 

Im  Anschauungsunterricht  werden  natürlich  auch  zahlreiche  geologische,  botanische, 
technologische  Präparate,  Bilder  und  Tafeln  verwendet. 

V.  Geschichtsunterricht:  1.  Lentze,  20  HohenzoUern  im  Bilde.  2.  Lehmann, 
12  Bilder  aus  der  Kulturgeschichte.  3.  Lange,  Bilder  aus  der  Geschichte  aller  Kultur- 
epochen (10  Stück  ausgewählt  für  die  Volksschule). 

VI.  Raumlehre:  1.  Eine  Kollektion  geometrischer  Körper  (mit  Kasten). 
2.  1 1  große  Zirkel.  3.  26  Reißschienen.  4.  2  Dreiecke.  5.  8  Transporteure.  6.  Wienecke, 
bewegliche  geometrische  Figuren. 

VII.  Erdkunde:  A.  Anschauungsmittel:  1.  Schotte,  Erd-Globus.  2.  Albrecht, 
Armillarsphäre  (astronomischer  Tisch).  3.  Mang,  Tellurium-Lunarium.  —  B.  Wand- 
karten: 1.  Brüllow,  Berhn.  2.  Kießling,  Berlin.  3.  Weidt,  Berlin  mit  Vororten- 
4.  Käding  (Handzeichnung),  Rosenthaler  Vorstadt.  4.  Öser,  Verkehrsplan  von  Berlin  und 
Umgegend.  6.  Bamberg,  Brandenburg.  7.  Schade-Handtke,  Brandenburg.  8.  Bamberg, 
Östliche   Halbkugel.     9.  Bamberg,  Westliche  Halbkugel.     10.  Sydow,  Europa  (physikalisch). 


"1 36  Volksschulwesen. 

11.  Bamberg,  Euro])a.  12.  Bamberg,  Deutschland  (physikalisch),  2  Exemplare.  13.  Alger- 
missen, Deutschland  (politisch).  14.  Gabler,  Deutschland  (politisch).  15.  Bamberg,  Deutsch- 
land (politisch).  16.  Leeder,  Preußischer  Staat.  17.  Gabler,  Preußischer  Staat.  18.  Bam- 
berg, Afrika.  19.  Derselbe,  Nord-Amerika.  20.  Derselbe,  Süd- Amerika.  21.  Haardt, 
Asien.  22.  Bamberg,  Australien.  —  C.  Bild  er  werke:  1.  Lehmann,  Geographische 
Charakterbilder,  6  Stück  ausgewählt.  2.  Hölzel,  Geographische  Charakterbilder,  6  Stück 
ausgewählt.  3.  Lehmann-Leutemann,  Völkertypen,  3  Stück  ausgewählt.  4.  Hirt,  Haupt- 
formen der  Erdoberfläche. 

\'TII.  Naturkunde:  A.  Wandtafeln  und  Bilderwerke:  1.  Leutemann, 
Zoologischer  Atlas  (41  Wandtafeln).  2.  Göhring-Schmidt,  Ausländische  Kulturpflanzen 
(7  Tafeln  mit  Textbuch).  3.  Fiedler,  Anatomische  Wandtafeln  (4  Tafeln  nebst  Textbuch). 
4.  Eschner,  Technologische  Wandtafeln  (25  Tafeln  mit  Erläuterungen).  —  B.  Präparate: 

1.  Ausgestopfte  Säugetiere:  Iltis,  Maulwurf,  Eichhörnchen,   Igel,  Fledermaus,  Fuchs. 

2.  Ausgestopfte  Vögel:  Taube,  Drossel  mit  Nest,  Bussard,  Eule,  Buntspecht,  Kuckuck, 
Rotkehlchen,  Feldlerche,  Haubenlerche,  Goldammer,  Buchfink,  Distelfink  (Stieglitz),  Star, 
Elster,  Wachtel,  Zaunkönig,  Hänfling,  Zeisig,  Meise,  Schwalbe  mit  Nest.  3.  Spiritus- 
Präparate:  Ringelnatter,  Kreuzotter,  Froschentwicklung,  Maikäferentwicklung,  Fluß- 
krebsentwicklung. 4.  Trockene  Präparate:  Insektensammlung,  Leben  der  Biene,  Leben 
des  Seidenspinners,  Fischgerippe,  iSeenadel,  Straußenei,  Taschenkrebs,  Seeigel,  Seestern, 
Seepferdchen,  Koralle,  Muschelschale  der  Perlmuttermuschel.     5.  Mineraliensammlung. 

6.  Modelle    aus     Gips    resp.    Papiermache:    Zerlegbares    Ohr.      Zerlegbares   Auge. 

7.  Mikroskopische  Präparate:  Maulwurfshaar,  Vogellaus,  Fischschuppe,  Kolibrifeder, 
Federung  vom  Haushuhn,  Schmetterlingsfühler,  Schmetterlingsrüssel,  Fliegenfuß,  Fliegen- 
flügel, junge  Spinne,  Schneckenzunge,  Blasenfuß,  Holzfaser.  —  C.  Physikalische 
Apparate:  1.  Mechanik,  a)  Statik:  Lot,  Setzwage,  Wasserwage,  Hebel,  Wage, 
Dezimalwage,  Stativ  mit  fester  Rolle,  bewegliche  Rolle,  Flaschenzug,  Difl"erenzialflaschen- 
zug,  Keil,  schiefe  Ebene,  Fallrinne,  Metronom,  Parallelogramm  der  Kräfte,  Zentrifugal- 
maschine mit  9  Nebenapparaten,  Pendel,  Pendeluhr,  Werkzeugkasten,  b)  Hydrostatik: 
Kommunizierende  Röhren,  Paskalscher  Apparat  für  Bodendruck,  Segnersches  Wasserrad, 
hydrostatische  Wage  nebst  Gewichtsatz,  Aräometer,  c)  Pneumatik:  Heronsball, 
Stechheber,  Kartesianischer  Taucher,  Saugpumpe  (oder  Brunnen),  Druckpumpe  (oder 
Feuerspritze),  Blasebalg,  Barometer,  Anei^oidbarometer,  Luftpumpe  mit  1 0  Nebenapparaten. 
2.  Schall:  Sprachrohr,  Monochord,  1  Paar  Diapasonen,  Treveljaninstrument,  Windlade 
mit  Blasebalg  und  6  Pfeifen,  Phonograph,  zerlegbares  Ohr.  3.  Wärme:  Thermometer, 
Pulshammer,  Retortenhalter,  Dreifuß,  Spirituslampe,  Berzeliuslampe,  Bunsenbrenner,  Koch- 
flasche, Korkbohrer,  Drahtnetz,  Kugel  mit  Ring,  Kugel  im  kalten  Wasser  schwimmend, 
im  warmen  untergehend,  Kontraktionsapparat,  Schiebersteuerung.  4.  Magnetismus: 
Natürlicher  Magnet,  2  Magnetstäbe  nebst  Eisenfeilspänen  und  Eisenstückchen,  Magnetisches 
Magazin  in  Hufeisenform,  Inklinationsnadel,  2  Deklinationsnadeln,  Kompaß.  5.  Elek- 
trizität: Glasstange,  Kautschukstange,  Elektroskop,  Elektrophor,  Elektrisiermaschine, 
Kleistsche  Flasche,  elektrisches  Pendel,  Isolierschemel,  elektrisches  Glockenspiel,  Stativ 
mit  Zinkschirm,  Stativ  mit  2  abnehmbaren  Halbkugeln,  Influenzmaschine.  6.  Gal- 
vanischer Strom:  2  Flaschenelemente,  2  Trockenelemente,  1  Meidingerelement, 
1  Leclanchesches  Element,  Galvanoskop,  Elektromagnet,  elektrische  Klingel,  elektrische 
Glühlichtbirne  nach  Edison,  Bogenlichtkohle,  Telegraphenapparat  nach  Ernecke,  Morsescher 
Drucktelegraph,  1  Stück  Kabel,  Induktionsapparat,  Telephon,  Plattenblitzableiter,  Um- 
schalter, Pendelmikrophon,  Fernsprechrelais,  Weckerrelais,  Siemenssche  Dynamomaschine 
mit  Galvanometer,  Glühlampe,  Alagnetinduktor,  Holzzylinder,  Holzring,  Elektromagnet  und 
Motor,  Geißlersche  Röhre,  Klingel  zur  drahtlosen  Elektrizitätsleitung,  Galvanoplastischer 
Apparat,  Wasserzersetzungsapparat.  7.  Optik:  Lupe,  Optische  Bank  mit  folgenden  Teilen: 
Ausziehbare  Holzbank,  5  Stative,  Träger  für  1  Kerze,  Träger  für  4  Kerzen,  Linsenapparat, 
Hohlspiegel,    Planspiegel,    Prisma,    Glaswürfel,    Glasplatten,  Papierschirm  usw.;  Steroskop, 


Organisation  der  \'olk.sschule.    Lehrpläiie,  Methoden,  Disziplin  u.  Lehrmittel.      |  37 

Camera    obscura,    zerlegbares    Auge,    Mikroskop.    —    D.    Chemie:    1.    Eine    Kollektion 
chemischer  Gerätschaften.     2.  Eine  Kollektion  Chemikalien. 

IX.  Zeichenunterricht:  1.  Ein  Kasten  mit  Schmetterlingen.  2.  Ein  Kasten  mit 
gepreßten  Pflanzenblättern.  (In  den  Klassen,  in  welchen  die  neue  Methode  noch  nicht 
zur  Geltung  gekommen  ist,  werden  noch  die  früheren  Lehrmittel  gebraucht,  nämlich: 
3.  Stuhlmann,  Wandtafeln.  Serie  A,  B  und  Reihe  C.  4.  1  Satz  Holzmodelle  (einfache 
Formen).  5.  4  Stück  Übergangsmodelle  von  Zergiebel.  6.  6  Gefäßformen,  Holzmodelle 
von  Zergiebel.  7.  35  Gipsmodelle  (Blumenstücke,  Ornamente).  8.  Schulze,  Farbige 
Ornamente. 

X.  Gesangunterricht:  \.  7  Stück  Geigen.  2.  Hauer,  Skalaschlüssel  (zur  Ver- 
anschaulichung der  Tonarten). 

Außerdem  besitzt  die  Schule  eine  Lehrerbücherei  von  100  Werken,  welche 
folgende  Abteilungen  umfaßt:  I.Religion.  2.  Pädagogik.  3.  Deutsch,  Literatur.  4.  Natur- 
kunde.    5.  Geschichte.     6.  Geographie.     7.  Verschiedenes. 

Die  Kosten  für  die  Beschaffung  dieser  Lehr-  und  Lernmittel  einschließlich  der 
Lehrerbibliothek  betragen  etwas  über  5000  Mark. 

Die  Lehrmittel  der  198.  Gemeindeschule  für  Mädchen  mit  19  Klassen 
und  970  Schulkindern  unterscheiden  sich  in  ihrem  Bestände  nicht  wesentlich  von 
denen  der  Knabenschule ;  es  wird  daher,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  auf  eine  Auf- 
zählung im  einzelnen  wohl  verzichtet  werden  können,  doch  ist  die  Mädchenschule  ent- 
sprechend der  geringeren  Stundenzahl  für  Raumlehre  und  den  naturkundlichen  Unterricht 
in  ihrem  Lehrplane  nicht  so  reich  mit  Apparaten  und  Anschauungsmitteln  für  Geometrie, 
Physik  und  Chemie  ausgestattet  wie  die  Knabenschule.  Dafür  besitzt  sie  aber  eine  z.  T. 
von  dem  Lehrerkollegium  gestiftete  reichhaltige  Sammlung  von  naturgeschichtlichen  und 
geographischen  Objekten,  wie  zoologischen  und  botanischen  Präparaten,  Mineralien, 
Kolonialwaren  und  Medikamenten  und  einige  Anschauungsmittel  für  den  Unterricht  in 
den  weiblichen  Handarbeiten. 

Die  Lehr-  und  Anschauungsmittel  im  einzehien  nach  ihrem 
Zweck  oder  Werte  zu  beurteilen,  ist  nicht  die  Aufgabe  dieses  Werkes. 
Es  muß  jedoch  wohl  eines  Hilfsmittels  für  den  Unterricht  eingehender 
gedacht  werden,  das  eine  grundlegende  Bedeutung  für  die  ganze 
Jugenderziehung  beanspruchen  darf  —  des  Lesebuches. 

Die  Bedeutung  des  Werkes,  an  dem  die  Kinder  die  schwierige 
Kunst  des  Lesens  und  die  Gesetze  ihrer  Muttersprache  lernen,  aus 
welchem  sie  die  ersten  Anregungen  zum  selbständigen  Denken  und 
zur  Gestaltung  ihrer  ethischen  und  politischen  Weltanschauung  schöpfen, 
braucht  hier  nicht  dargelegt  zu  werden.  Leider  müssen  wir  einge- 
stehen, daß  die  augenblicklich  in  Deutschland  gebräuchlichen  Volks- 
schullesebücher nicht  ganz  auf  der  Höhe  der  besten  ausländischen 
Werke  dieser  Art  stehen.  Weder  nach  Inhalt  noch  nach  äußerer 
Ausstattung  kann  sich  die  Mehrzahl  unserer  Volksschullesebücher 
mit  den  besten  amerikanischen  und  englischen  Readers  messen.  Ich 
denke  dabei  beispielsweise  an  die  nach  Inhalt  und  Ausstattung  vor- 
treffliche Sammlung:  „School  Reading  by  Grades,  by  James  Baldwin," 
American  Book  Company,  und  an  „The  King  Alfred  Readers,"  London, 
Edw.  Arnold. 


i  38  Volksschulwesen. 

Die  deutschen  Lesebücher  sind  nach  dem  herrschenden  Urteil 
unserer  Pädagogen,  dem  auch  die  Staatsbehörden  meistens  zustimmen, 
in  den  letzten  Jahrzehnten  zum  großen  Teile  hinter  den  Anforderungen 
der  Zeit  zurückgeblieben  und  bedürfen  einer  Neugestaltung,  wenn  sie 
unserer  Jugend  ein  Erziehungsmittel  in  die  Hand  geben  sollen,  wie 
es  das  20.  Jahrhundert  verlangt.  Die  Stoffe,  die  in  den  oft  sehr 
voluminösen  Werken  dargeboten  werden,  sind  teilweise  veraltet,  teil- 
weise entsprechen  sie  nicht  den  Bedürfnissen  der  Kindesseele.  Sie 
sind  nur  zum  kleinsten  Teile  geeignet,  das  Interesse  des  jungen 
Lesers  zu  fesseln  und  in  ihm  die  Liebe  zur  Lektüre  und  jenen 
heiligen  Wissensdurst  zu  erwecken,  welche  die  edelsten  Früchte  eines 
guten  Schulbuches  sein  müssen.  Abgesehen  von  einzelnen  Aus- 
nahmen fehlt  es  den  Büchern  an  einer  fest  ausgeprägten  Lebensauf- 
fassung und  Weltanschauung,  es  fehlt  auch  an  jenen  Stoffen,  welche 
geeignet  sind,  männliche  Tatkraft  und  persönliche  Selbständigkeit 
auf  sittlichem  und  wirtschaftlichem  Gebiet  zu  ermutigen.  Der  Adel 
der  Arbeit  und  die  Pflicht  jedes  Menschen,  von  klein  an  selbständig 
an  seiner  sittlichen  Erziehung  zu  arbeiten,  sich  selbst  Rechenschaft 
über  seine  Taten  zu  geben,  werden  zu  wenig  in  den  Vordergrund 
gerückt. 

Jener  eigentümliche  Zug,  der  sich  wie  ein  roter  Faden  durch 
alle  angelsächsischen  Lesebücher  hindurchzieht,  die  Try  again-Moral, 
wenn  ich  so  sagen  darf,  findet  in  deutschen  Lesebüchern  höchst 
selten  einen  Ausdruck.  Und  doch  stellt  der  Wettbewerb  mit  den 
anderen  großen  Kulturvölkern  in  unserer  Zeit  an  die  Bürger  jeder 
aufstrebenden  Nation  gerade  in  dieser  Richtung  die  höchsten  An- 
forderungen. 

Auch  wir  werden  mehr  als  früher  darauf  bedacht  sein  müssen, 
ethische  Stoffe,  Stoffe,  welche  der  Bildung  männlicher  Charaktere 
dienen,  und  zwar  nicht  bloß  die,  welche  kriegerische  Tüchtigkeit 
verherrlichen,  sondern  auch  jene,  welche  das  Evangelium  ehrlicher 
Arbeit  und  den  Heroismus  ihrer  Großtaten  predigen,  in  unsere  Lese- 
bücher aufzunehmen. 

Von  größter  Bedeutung  für  die  Weiterentwicklung  dieses  Zweiges 
der  pädagogischen  Literatur  sind  die  von  dem  Minister  der  geist- 
lichen, Unterrichts-  und  Medizinalangelegenheiten  in  Preußen  unter 
dem  28.  Februar  1902  erlassenen  Vorschriften  über  die  Beschaffen- 
heit der  neu  einzuführenden  Lesebücher.  F>s  sind  dort  folgende 
allgemeine  Gesichtspunkte  für  die  Beurteilung  bezw.  Genehmigung 
neuer  Volksschullesebücher  aufeestellt: 


Organisation  der  Nolksschule.    Lelirpläne,  Methoden,  Disziplin  u.  I.elirmittel.      ■]  39 

„1.  Das  Volksschullesebuch  muß  die  Eigenart  der  durch  natürhche  wie  geschicht- 
hche  Kräfte  entwickelten  Landschaften  zeigen,  für  welche  es  bestimmt  ist.  Es  ist  dabei 
nicht  zu  übersehen,  daß  eine  beträchtliche  Zahl  von  Regierungsbezirken  und  Provinzen, 
ja  selbst  weite  Gebiete  mehrerer  Provinzen  landschaftliche  Einheiten  bilden.  Durch 
die  Rücksicht  auf  diese  dürfen  die  notwendigen  allgemeinen  Gesichtspunkte:  Der 
preußische  Staat,  das  deutsche  Vaterland  und  das  allgemein  Menschliche,  nicht  beein- 
trächtigt werden. 

Die  Bedeutung  der  Religion  für  die  Erziehung  verlangt,  daß  durch  die  Lese- 
bücher auch  ein  Zug  religiöser  Wärme  hindurchgehe.  Fernzuhalten  dabei  ist  aber  alles, 
was  den  Forderungen  der  Duldsamkeit  nicht  entspricht,  oder  was  an  Bekenntnisstreitig- 
keiten erinnern  könnte.  Lesestücke,  deren  Inhalt  sie  der  ausschließlichen  Behandlung 
im  Religionsunterrichte  zuweist,  gehören  überhaupt  nicht  in  das  Lesebuch. 

Das  Lesebuch  muß  ferner  der  Beschäftigung  und  Lebensweise  der  Bevölkerung 
gerecht  werden,  deren  Kinder  es  benutzen.  Landwirtschaft,  Industrie,  Gewerbe  und 
Handel  geben  hier  die  Richtlinien. 

Ohne  in  Plattheiten  zu  verfallen,  müssen  die  Dinge  gebracht  werden,  wie  sie 
wirkhch  sind.  Die  Lesestücke  dürfen  nach  Inhalt  und  Ton  dem  praktisch-nüchternen 
Bedürfnis  nicht  ganz  abgewandt  sein;  es  herrsche  in  ihnen  ein  gesunder  Reahsmus. 

Ebenso  wie  das  Lesebuch  nach  seinem  Inhalte  dadurch  beeinflußt  wird,  daß  die 
Schule,  in  der  es  gebraucht  werden  soll,  ein-  oder  mehrklassig  ist,  darf  auch  nicht 
unberücksichtigt  bleiben,  ob  es  für  Knaben  oder  für  Mädchen  oder  für  beide  zugleich 
bestimmt  ist. 

2.  Das  Lesebuch  muß  ebensowohl  schöngeistigen  wie  realistischen  Stoff"  umfassen. 
Hauptaufgabe  beider  ist  die  Charakterbildung  des  Kindes.  Daneben  hat  das  Lesebuch 
noch  eine,  allerdings  in  den  richtigen  Grenzen  zu  haltende  mehr  literarisch-ästhetische 
Aufgabe,  der  auch  die  Stücke  realistischen  Stoffes  dienen.  Ebenso  ist  es  Mittel  für  die 
Vertiefung  und  Ergänzung  des  im  Sachunterrichte  Gelernten  und  gleichzeitig  Muster  guter 
sprachlicher  Darstellung.  Während  die  erste  Aufgabe  den  Lesebüchern  aller  Schulen 
gemeinsam  ist,  tritt  die  zweite  in  den  Lesebüchern  der  mehrklassigen,  die  dritte  in  den 
Lesebüchern  der  einklassigen  Schulen  mehr  in  den  Vordergrund,  ohne  daß  indes  die 
anderen  Aufgaben  dadurch  zu  stark  zurückgedrängt  werden. 

3.  Das  Lesebuch  hat  Beiträge  zu  bringen  aus  dem  Leben  des  Menschen,  wie  es 
der  einzelne  an  sich  und  als  Glied  der  verschiedenen  Lebenskreise  —  Familie,  Gemeinde, 
Kirche  und  Staat  —  durchläuft.  Der  preußische  Staat  in  seiner  geschichtlichen  Ent- 
wicklung und  das  Deutsche  Reich  mit  seinen  über  die  Reichsgrenzen,  insbesondere  über 
•das  Meer  hinausdrängenden  wirtschaftlichen  Bestrebungen  sind  hierbei  ausgiebig  zu  behandeln. 

Gemäß  der  erziehhchen  Aufgabe  der  Schule  gebührt  diesem  im  weitesten  Sinne 
des  Wortes  geschichtlichen  Stoffe  wegen  seiner  unmittelbar  wirkenden  ethischen  und 
religiösen  Kraft  der  breiteste  Raum  im  Lesebuche.  Auch  das  Leben  der  Natur  verlangt 
im  Lesebuche  eingehende  Berücksichtigung.  Es  hat  daher  Darstellungen  zu  bringen 
aus  dem  Gebiete  der  Geographie,  der  Zoologie,  der  Botanik,  der  Chemie  und  der  Physik. 

Haus-  und  volkswirtschaftliche,  staatsbürgerliche  und  gesundheitliche  Belehrungen, 
soweit  sie  dem  Kinde  aus  seinen  Lebenskreisen  verständlich  werden  können,  dürfen 
nicht  fehlen. 

4.  Diese  Stoflfe  des  Lesebuches  müssen  dem  auf  Grund  der  ergangenen  Be- 
stimmungen ausgearbeiteten  Lehrplane  der  Schule  in  deren  einzelnen  Abstufungen  sich 
anschließen.  Der  gebotene  Stoff"  hat  zwar  auch  der  Tätigkeit  der  Phantasie  und  der 
Anregung  des  Gefühls  zu  dienen,  in  erster  Linie  aber  muß  er  für  die  Erkenntnis  der 
Wirklichkeit  und  für  das  urteilende  Nachdenken  ausreichend  Gelegenheit  bieten. 

5.  Das  Lesebuch  vermeide  das  zerstreuende,  verwirrende  und  abstumpfende 
\'ielerlei  und  biete  mit  der  zunehmenden  geistigen  Reife  dem  Kinde  umfassendere  Lese- 
stücke einheitlichen  Inhaltes. 


\  40  Volksschuhvesen. 

6.  Die  Sprache  des  Lesebuchs  muß  volkstümhch  und  darum  einfach  sein,  weil 
sonst  die  engbegi'enzte  und  nicht  sehen  ungenaue  Sprache  des  Kindes  an  ihr  sich  nicht 
erweitern  und  berichtigen  kann. 

7.  Das  Lesebuch  biete  darum  Stücke  aus  den  besten  Schriften  unserer  Literatur, 
soweit  sie  dem  kindhchen  \'erständnisse  zugängig  sind.  Die  Ansprüche  an  Darstellungen, 
welche  eigens  für  dasselbe  angefertigt  werden,  dürfen  nicht  etwa  geringer  sein;  auch  bei 
ihnen  ist  das  Beste  zu  verlangen. 

Dürrer  Leitfadenstil  ist  streng  fernzuhalten. 

Die  Prüfung  erfolge  grade  in  diesem  Stücke  besonders  genau  und  unerbittlich. 

Es  sind  nicht  nur  die  Schriftsteller  der  älteren  Zeit  bis  zur  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zu  benutzen,  soweit  ihre  Arbeiten  noch  heute  Wert  haben,  sondern  auch  solche 
der  neuesten  literarischen  Entwicklung,  und  zwar  ist  ebenso  die  Buch-  wie  die 
Zeitschriften-  und  die  Zeitungsliteratur  mit  Stücken,  welche  durch  ihren  Inhalt  wie 
durch  die  Form  ihrer  Darstellung  den  gestellten  Forderungen  entsprechen,  zu  verwenden. 

Die  durch  Gesetz  erfolgte  Reglung  dieser  Frage  sowie  innere  Grunde  fordern,  daß 
die  Entlehnung  möglichst  wortgetreu  sei.  Das  Kind  soll  durch  das  Lesebuch  die  Be- 
fähigung gewinnen,  Bücher  und  dergl.  lesen  zu  lernen,  wie  sie  das  Leben  ihm  später 
bieten  wird.  Nur  in  den  dringendsten  Fällen  sind  Veränderungen  der  Form  angängig, 
welche  den  Sinn  nicht  beeinflussen.  Dichtungen  vertragen  solche  nicht  ohne  Einbuße 
ihres  poetischen  Gehaltes;  Änderungen  bleiben  darum  bei  ihnen  ganz  ausgeschlossen;  der 
Reichtum  unserer  Literatur  auf  diesem  Gebiete  gestattet  es. 

8.  Eingehendste  Sorgfalt  verlangt  die  Rechtschreibung  und  Interpunktion.  In  der 
Grammatik  sind  sogenannte  Verbesserungen  zu- vermeiden,  die  selbst  vor  unsern  Klassikern 
nicht  Halt  machen. 

9.  Der  Umfang  des  Lesebuchs  ist  auf  das  Maß  zu  beschränken,  welches  ein 
Heimischwerden  der  Kinder  in  ihm  ermöglicht,  weil  es  nur  so  seiner  erziehlichen  Auf- 
gabe gerecht  werden  kann.  Namentlich  das  abschließende  Lesebuch  gestatte  eine  lange 
Benutzung  durch  das  Kind.  Die  einklassige  und  die  Halbtagsschule  kennen  am  besten 
außer  der  Fibel  und  dem  sich  anschließenden  Lesebuche  für  die  Unterstufe  nur  das  ein- 
bändige Lesebuch. 

10.  Die  Anordnung  der  Stoffe  innerhalb  der  einzelnen  Bände  erfolge  nach  sach- 
licher Zusammengehörigkeit  und  Reihenfolge.  Daß  der  Stoff  der  Bände  für  die  höheren 
Stufen  ausschließlich  konzentrische  Kreise  zu  dem  Stoffe  der  niederen  Stufen  bildet, 
entspricht  nicht  dem  geistigen  Fortschritte  des  Kindes;  gewisse  Stofle  seien  auf  den 
unteren  Stufen  ein  für  alle  Male  abgetan. 

1 1 .  Der  Ausstattung  des  Lesebuches  mit  Bildern  ist  überall  da  eine  größere  Be- 
deutung nicht  beizulegen,  wo  die  Schulen  über  gute  Veranschaulichungsmittel  verfügen,  wie  in 
den  großen  Städten.  Bilder  von  Gegenständen  und  Vorgängen,  welche  in  dem  Vorstellungs- 
kreise des  Kindes  liegen,  gehören  nicht  in  das  Lesebuch.  Nur  wirklich  gute  Bilder,  welche 
für  das  Verständnis  eines  Lesestückes  unentbehrlich  sind,  können  Aufnahme  finden. 

12.  Daß  die  Verwendung  verschiedenartiger  Typen,  eine,  was  Größe  der  Buch- 
staben und  Breite  der  Zwischenräume  anbetrifft,  den  hygienischen  Ansprüchen  genügende 
Drucklegung,  kräftiges  Papier  von  guter  Farbe,  ein  dauerhafter  Einband  und  ein  für 
ärmere  Eltern  berechneter  niedriger  Preis  bei  der  Prüfung  des  Lesebuches  wie  jedes  anderen 
Volkslernbuches  nicht  zu  übersehen  sind,  braucht  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden." 

Als  ein  Werk,  welches  sich  den  von  dem  preußischen  Unter- 
richtsministerium gesteckten  Zielen  nicht  ohne  Erfolg  zu  nähern  bestrebt 
ist,  möge  hier  das  „Neue  Hamburger  Deutsche  Lesebuch",  herausge- 
geben von  der  Gesellschaft  der  Freunde  des  vaterländischen  Schul-  und 
Erziehungs Wesens,  Hamburg  im  Selbstverlag,  in  6  Teilen,  genannt  werden. 


Organisation  der  \'olksschule.    I>ehrpläne,  Methoden,  Disziplin   u.  I.clirniittel.      141 

Die  Wirkungen  eines  guten  Lesebuches  müssen  naturgemäß 
durch  geeignete  Privatlektüre  der  Schulkinder  unterstützt  und  er- 
gänzt werden.  Diesem  Zwecke  zu  dienen,  sind  in  erster  Linie  die 
mit  jeder  Volksschule  in  Verbindung  zu  setzenden  Schülerbiblio- 
theken geeignet.  Auch  auf  diesem  Gebiete  sind  die  Zustände  in 
Deutschland  von  Vollkommenheit  noch  weit  entfernt.  Weder  sind 
bisher  Schülerbibliotheken  allen  Volksschulen  angegliedert,  noch  ist 
der  vorhandene  Büchereibestand  nach  Zahl  und  Beschaffenheit  überall 
ausreichend. 

Gerade  auf  diesem  Gebiete  fehlt  es  in  den  einzelnen  Staaten  an 
bestimmten  gesetzlichen  Grundlagen,  wie  sie  beispielsweise  in  Frank- 
reich bestehen,  und  ebenso  an  einer  Statistik  über  die  von  den  Be- 
hörden, Gemeinden  oder  aus  Stiftungen  geschaffenen  Einrichtungen. 
Bestimmte  Angaben  über  Zahl  und  Umfang  der  Schülerbibliotheken 
so\\'ie  über  die  Benutzung  der  tatsächlich  vorhandenen  durch  die 
Volksschüler  lassen  sich  daher  nicht  machen.  Auch  über  die  Be- 
schaffenheit der  Werke,  welche  den  Kindern  dargeboten  werden,  kann 
nur  mit  der  größten  Vorsicht  ein  allgemeines  Urteil  gefällt  werden.  Die 
meisten  deutschen  Pädagogen,  die  sich  mit  dieser  Frage  beschäftigt 
haben,  werden  sich  wohl  darin  einig  sein,  daß  sich  in  dem  Bestände 
unserer  Volksschulbibliotheken  fast  überall  eine  große  Anzahl  von 
Büchern  befindet,  welche  sowohl  nach  ihrer  Ausstattung  wie  nach 
ihrem  Inhalt  als  minderwertig  bezeichnet  werden  müssen.  Es  ist  das 
nicht  hoch  genug  zu  schätzende  Verdienst  der  deutschen  Lehrer- 
vereine, den  Kampf  gegen  die  Überflut  jährlich  produzierter  unbrauch- 
barer Jugendschriften  aufgenommen  zu  haben.  In  verschiedenen 
deutschen  Städten,  wie  in  Hamburg,  Berlin,  Dresden,  Frankfurt  a.  M., 
haben  sich  Ausschüsse  von  Lehrern  gebildet,  um  unter  der  Fülle  des 
Dargebotenen  wirklich  empfehlenswerte  Jugendschriften  auszusondern. 
Alljährlich,  besonders  zur  Weihnachtszeit,  werden  auf  Grund  sorg- 
fältiger Prüfung  Verzeichnisse  neu  erschienener  guter  Bücher  ver- 
öffentlicht, sodaß  jeder  Lehrer  in  die  Lage  gesetzt  wird,  geeignete 
Anschaffungen  für  die  Schülerbibliothek  zu  machen  und  diejenigen 
Eltern  zu  beraten,  welche  für  ihre  Kinder  Bücher  als  Weihnachts- 
geschenke kaufen  wollen. 

Die  zum  Teil  recht  mangelhaften  Schülerbibliotheken  werden  an 
vielen  Orten  in  wirksamster  Weise  durch  die  sich  in  Deutschland 
immer  mehr  verbreitende  Einrichtung  der  Volksbibliotheken  ergänzt, 
in  denen  gewöhnlich  eine  größere  Anzahl  solcher  Werke  enthalten  ist, 
\\elche  sich  vorzugsweise  zur  Lektüre  für   die  reifere   Jugend   eignen. 


KAPITEL  V. 
Die   Schulhäuser. 


Die  zur  Zeit  in  Deutschland  bestehenden  Schulhäuser  sind 
naturgemäß  zu  verschiedenen  Zeiten  entstanden  und  entsprechen  aus 
diesem  Grunde  in  ihrer  Anlage  und  Ausstattung  nicht  sämtlich  den 
Voraussetzungen  moderner  Bautechnik  und  den  strengsten  Forderungen 
der  Schulhygiene.  Die  beschränkten  Mittel  der  Gemeinden  und  die 
Anspruchslosigkeit  des  Geschmackes  unserer  Vorfahren  verraten  sich 
in  älteren  Schulhäusern  ebenso  wie  in  den  Privatbauten  der  Ver- 
gangenheit. Es  besteht  daher  oft  sowohl  auf  dem  Lande,  wie  ganz 
besonders  in  den  Städten  ein  großer  Unterschied  in  Anlage  und  Aus- 
führung zwischen  älteren  und  neueren  Schulbauten  in  denselben 
Bezirken  oder  Gemeinden.  Die  Verschiedenheit  in  der  Größe  der 
Schulorganismen,  die  Lage  des  Bauplatzes,  die  Grund-  und  Boden- 
verhältnisse, der  Preis  des  Baumaterials,  die  zur  Verfügung  stehenden 
Mittel  und  die  Geschmacksrichtungen  der  maßgebenden  Verwaltungs- 
oder Baubeamten  sind  ebenso  viele  Momente,  welche  Unterschiede 
in  dem  Bauplan  bedingen.  Auch  auf  dem  Lande  machen  sich  dieselben 
Einflüsse  geltend,  und  in  vielen  ländlichen  Bezirken  wird  bei  Anlage 
des  Schulgrundstückes  besonders  dem  lokalen  Baustil  Rechnung 
getragen. 

Die  ländlichen  Volksschulanlagen  unterscheiden  sich  von  den 
städtischen  häufig  auch  dadurch,  daß  auf  dem  Schulgrundstück  nicht 
nur  Schulzimmer  und  Lehrerwohnung,  sondern  auch  die  Wirtschafts- 
gebäude des  Lehrers  zum  Betriebe  der  mit  der  Stelle  verbundenen 
Landwirtschaft  (Stallung  und  Scheune)  untergebracht  sind. 

Die  neueren  gesetzlichen  Bestimmungen  und  behördlichen  An- 
ordnungen drängen  diesen  vielgestaltigen  und  zum  Teil  nicht  völlig 
befriedigenden   Verhältnissen    gegenüber    auf   die    Durchführung    von 


Die  Schulhäuser.  143 

Reformen,  und  es  \\erden  für  Neu-,  Ersatz-  und  Umbauten  von 
Schulhäusern  jährUch  erhebliche  Summen  ausgegeben  (in  Preußen 
im  Jahre   1900  42  295  821   Mark). 

Welche  Anforderungen  in  Preußen,  dessen  36  756  Volksschulen 
von  den  58  164  des  gesamten  Deutschen  Reiches  nahezu  zwei  Dritt- 
teile bilden,  auch  an  Bau  und  Einrichtung  der  ländlichen  Volksschul- 
häuser gestellt  werden,  ergibt  sich  aus  dem  Erlaß  des  Ministers 
der  geistlichen,  Unterrichts-  und  Medizinal-Angelegenheiten  vom 
Jahre  1895. 

Die  wichtigsten  Bestimmungen  dieses  Ministerialerlasses  sind 
folgende : 

㤠 1.     Lage  und  Beschaffenheit  der  Baustelle. 

Bei  der  Wahl  des  Platzes  für  eine  Schulanlage  sind  folgende  Rücksichten  zu 
beobachten : 

Das  Grundstück  soll  tunlichst  in  der  Mitte  des  Schulbezirkes  liegen,  jedoch,  wenn 
mehrere  Orte  zu  einer  Schule  gehören,  nicht  etwa  isoliert  auf  freiem  Felde;  es  muß  auf 
bequemen  Wegen  ohne  Hemmung  und  Gefährdung  etwa  durch  Eisenbahn-  oder  Fluß- 
übergänge erreichbar  sein. 

Der  Platz  muß  einen  gesunden,  technisch  möglichst  günstigen  Baugrund  aufweisen 
und  die  Gewähr  bieten,  daß  durch  eine  Brunnenanlage  ohne  erhebliche  Kosten  gutes 
Trinkwasser  beschafft  werden  kann. 

Der  Boden  darf  weder  durch  Abfallstofife  verunreinigt  sein,  noch  aus  Bauschutt 
oder  abgelagertem  Müll  bestehen.  Er  darf  ferner  nicht  sumpfig  oder  im  Über- 
schwemmungsgebiet belegen,  sondern  muß  möglichst  trocken  und  durchlässig  sein. 

Zu  vermeiden  ist  die  Nachbarschaft  von  Teichen  oder  Gräben  mit  unreinem  Inhalt, 
von  gewerblichen  Anlagen  mit  übelriechenden  Ausdünstungen  oder  verunreinigten  Ab- 
wässern sowie  von  Betrieben,  welche  mit  Entwicklung  von  störendem  Geräusch,  Rauch, 
Staub  oder  giftigen  Gasen  verbunden  sind. 

Die  Lage  des  Schulhauses  muß  so  gewählt  werden,  daß  überall  reichlich  frische 
Luft  zutreten  und  Sonnenlicht  die  Schukimmer  sowie  die  Lehrerwohnungen  treffen  kann. 
Zimi  Schutze  gegen  rauhe  Winde  und  Sonnenhitze  ist  eine  mit  Bäumen  und  Sträuchern 
bestandene  Baustelle  erwünscht,  doch  darf  der  Baumbestand  die  Licht-  und  Luftzufuhr 
nicht  verkümmern  oder  die  Lage  dumpf  und  feucht  machen. 

Der  Platz  muß  eine  solche  Größe  haben,  daß  die  erforderlichen  Baulichkeiten  — 
Schulhaus,  Abtritt,  Wirtschaftsgebäude  und  Brunnen  —  in  angemessenen  Abständen  von- 
einander und  von  den  Xachbargrenzen  aufgeführt  werden  können,  außerdem  aber,  abge- 
sehen von  dem  für  wirtschafüiche  Zwecke  notwendigen  Hof  sowie  von  etwaigen  Vor- 
gärten und  Lehrergärten,  ein  Freiraum  verbleibt,  auf  dem  sich  alle  Schulkinder  gleich- 
zeitig ohne  gegenseitige  Behinderung  in  freier  Luft  bewegen  können.  Dieser  Bewegungs- 
raum soll  in  der  Regel  einen  Flächeninhalt  von  mindestens  3  Quadratmetern  für  jedes 
Schulkind  haben.  In  eng  angelegten  Ortschaften,  etwa  in  Gebirgsgegenden,  und  in  Vor- 
orten von  Großstädten  mit  hohen  Bodenpreisen  kann  dieses  Flächenmaß  ausnahmsw'eise 
eingeschränkt  werden,  darf  aber  niemals  weniger  als  1,5  Quadratmeter  für  jedes  Schul- 
kind betragen. 

§  2.     Anordnung  der  Gebäude  auf  der  Baustelle. 
Bei  der  Anordnung  der  Gebäude  auf  der  Baustelle  ist  in  erster  Linie  auf  die  durch 
die  Örtlichkeit    gegebenen  Himmelsrichtungen  Rücksicht    zu    nehmen,    ferner    darauf    zu 


■j  44  Volksschulvve'sen. 

achten,  daß  der  Bewegungsraum  und  die  Zugänge  zu  den  Abtritten  vom  Schulhaus  aus 
gut  übersehen  werden  können,  sowie  daß  alle  mit  Fenstern  versehenen  Wände  von  den 
Nachbargrenzen,  auch  wenn  diese  zur  Zeit  noch  nicht  bebaut  sind,  soweit  entfernt  ange- 
legt werden,  daß  keine  vorhandene  und  künftige  Bebauung  oder  Bepflanzung  des  Nachbar- 
gnmdstückes  diesen  Fenstern  Licht  und  Luft  entziehen  kann.  Insbesondere  gilt  dies  von 
solchen  Wänden,  deren  Fenster  zur  Beleuchtung  eines  Schtdzimmers  dienen.  Diese 
Fensterwände  müssen  auch  bei  den  beschränktesten  Platzverhältnissen  mindestens  8  Meter 
von  der  Nachbargrenze  sowie  von  allen  Baulichkeiten  auf  dem  Schulgrundstück  selbst 
entfernt  sein. 

In  der  Regel  sind  Schulzimmer  und  Lehrerwohnungen  in  einem  Gebäude  zu  ver- 
einigen. Dagegen  empfiehlt  es  sich,  die  Wirtschaftsgebäude  —  Stallungen  und  Scheunen  — 
sowie  die  Abtritte  von  dem  Schulhause  getrennt  in  solchem  Abstand  zu  errichten,  daß 
schädliche  Ausdünstungen  und  üble  Gerüche  das  Schulhaus  nicht  erreichen   können. 

Wenn  jedoch  in  einzelnen  Landesteilen  die  Gemeinden  besonderen  Wert  darauf 
legen,  daß  nach  ortsüblicher  Art  Stallung  und  Scheune  mit  dem  Schulhause  unmittelbar 
verbunden  wird,  soll  diesem  Herkommen  ohne  zwingende  Gründe  nicht  entgegengetreten 
werden." 

Der  Schluß  des  Abschnittes  gibt  Vorschriften,  wie  in  der  Anlage  und  Ausführung 
auch  dieser  Bauten  den  Forderungen  der  Hygiene  Rechnung  getragen  und  der  Feuers- 
gefahr vorgebeugt  werden  soll. 

„Die  Lage  des  Schulhauses  zu  den  Himmelsrichtungen  ist  so  zu  wählen,  daß 
unmittelbares  Sonnenlicht  in  die  Schulzimmer  tunlichst  nicht  während,  wohl  aber  außer- 
halb der  Unterrichtsstunden  scheinen  kann,  daß  zugleich  aber  auch  die  Stuben  und 
Kammern  "cler  Lehrerwohnungen  des  Sonnenlichtes  nirgends  ganz  entbehren.  Für  die 
Schulzimmer  empfiehlt  sich  deshalb  am  meisten  die  Lage  der  Fenster  nach  Westen,  weil 
die  Unterrichtszeit  in  Landschulen  in  der  Regel  schon  mit  den  frühen  Nachmittagsstunden 
aufhört,  die  flach  einfallenden  Strahlen  der  Nachraittagssonne  also  nicht  mehr  lästig 
werden,  oder  nach  Süden,  weil  die  Strahlen  der  Mittagssonne  unter  so  steilem  Winkel 
einfallen,  daß  sie  nicht  weit  in  das  Innere  des  Schulzimmers  eindringen.  Weniger  günstig 
ist  die  Lage  der  Fenster  nach  Osten  und  nach  Norden.  Wenn  aber  die  örtlichen  Ver- 
hältnisse diese  Lagen  nicht  vermeiden  lassen,  sind  bei  der  Ostlage  die  Nachteile  des 
unmittelbaren  Sonnenscheins  —  starke  Erhitzung  und  zu  grelle  Beleuchtung  —  durch 
passende  ^'o^•ichtungen,  z.  B.  durch  Vorhänge,   abzuschwächen." 

§  3.     Das  Schulhaus. 

A.  Bauart:  Bezüglich  der  Trennung  von  Schul-  und  Wohnungsverkehr  gibt  g  3 
des  Erlasses  folgende  Vorschriften: 

„Bei  der  Grundrißeinteilung  ist  besonderer  Wert  darauf  zu  legen,  daß  sowohl  bei 
eingeschossigen  als  bei  mehrgeschossigen  Schulhäusern  der  Schülerverkehr  von  dem 
Wohnungsverkehr  vollständig  getrennt  werden  kann,  um  die  Übertragung  ansteckender 
Krankheiten  aus  der  LehrerfamiUe  auf  die  Schulkinder  zu  verhüten.  Diese  wichtige 
Forderung  läßt  sich  bei  geschickter  Planbildung  erfüllen,  ohne  daß  gegen  die  bisher 
üblichen  Grundrisse  sich  ein  Mehr  an  bebauter  Grundfläche  ergibt.  Es  ist  deshalb  stets 
ein  Nebenflur  mit  besonderem  Zugang  und  mit  besonderer  Treppe,  welche  zugleich  die 
Verbindung  mit  dem  Keller  und  dem  Dachboden  herstellt,  für  die  Lehrerwohnungen 
anzulegen,  der  Schülerflur  aber  höchstens  durch  eine  in  Krankheitsfällen  abzuschheßende 
Tür  mit  dem  Wohnungsflur  oder  mit  einer  Stube  der  Lehrerwohnung  zu  verbinden. 

Zweckmäßig  ist  es,  wenn  ein  schnelles  Wachsen  der  Schülerzahl  vorauszusehen  ist, 
auf  die  Erweiterungsfähigkeit  des  Schulhauses  von  vornherein  Bedacht  zu  nehmen. 
Beispielsweise  würde  in  einem  einklassigen  Schulhause,  wenn  zunächst  etwa  nur  für 
40—50  Kinder  Platz    zu    schaflen,    ein    erhebliches  Anwachsen    der  Kinderzahl  aber  mit 


Die  Schulhäuser.  ■f45 

einiger  Sicherheit  zu  erwarten  wäre,  dem  Schulzimmer  gleich  die  für  diese  größere  Zahl 
von  Plätzen  ausreichende  Abmessung  zu  geben,  von  ihm  aber  durch  eine  Zwischenwand 
einstweilen  ein  für  Wohnzwecke  dienender  Teil  abzutrennen  sein.  Wird  später  das  größere 
Schulzimmer  nötig,  dann  würde  die  Zwischenwand  zu  beseitigen  und  die  ursprünglich 
nur  für  einen  jung  verheirateten  Lehrer  bemessene  Wohnung  durch  einen  Anbau  derartig 
zu  erweitern  sein,  daß  sie  für  einen  älteren  Lehrer  mit  zahlreicherer  Familie  genügt. 

Bei  der  Wahl  der  Materialien  und  Konstruktionen  für  die  Umfassungswände, 
Scheidewände  und  Dächer  soll  stets  in  erster  Linie  das  Ortsübliche  maßgebend  sein. 
Alles,  was  in  der  Bauweise  einer  Gegend  sich  eigenartig  aus  den  örtlichen  Verhältnissen 
entwickelt  hat,  herkömmlich  geworden  und  bewährt  erfunden  ist,  soll  mit  Sorgfalt  beob- 
achtet und  weiter  erhalten  werden. 

^Ven^  im  allgemeinen  auch  für  die  Herstellung  der  Umfassungswände  Massivbau 
mit  Werksteinen,  Bruchsteinen  oder  Ziegeln  seiner  Dauer  und  Feuersicherheit  wegen 
besonders  zu  empfehlen  ist,  so  soll  doch  P'achwerksbau,  zumal  wenn  P^ichenholz  ver- 
wendet werden  kann,  oder  die  Bekleidung  der  Wandflächen  mit  Schiefer  da,  wo  es 
landesüblich  ist,  keineswegs  als  ausgeschlossen  gelten.  In  Niederungen,  Moorgegenden 
und  im  Gebirge  ist  die  Zimmerung  der  Außen-  und  Innenwände  aus  Schurzholz  zulässig. 
Immer  aber  ist  je  nach  dem  verfügbaren  Material  den  Regeln  der  Technik  gemäß  so  zu 
konstruieren,  daß  die  Umfassungswände  standfest,  undurchlässig  für  Nässe  und  wärme- 
haltend wei-den." 

B.    Schulzimmer:  „Die  Abmessungen  eines  Schulzimmers  sind  abhängig 

1.  iiibezug  auf  die  Grundfläche: 

von     der  Zahl,    Anordnung    und  Abmessung    der  Plätze,    von    der  An- 
ordnung der  Freiräume,  von  der  Lage  der  Tür  und  der  Stellung  des  Ofens; 

2.  inbezug  auf  die  Höhe: 

von  der  Bedingung,    daß    bei    größtmöglicher  Besetzung  für  jedes  Kind 

ein  ausreichender  Luftraum    vorhanden    ist,    und    daß    die    von    den  Fenstern 

entferntest  gelegenen  Plätze  noch  gutes  Licht  erhalten. 

Als  Grundsatz  für  die  Größe  und  Zahl  der  Schulzimmer  gilt    die  Regel,    daß    ein- 

klassige  Schulen  im  allgemeinen  nicht  über  80  Kinder  zählen,  und  daß  bei  mehrklassigen 

Schulen  nicht  über  70  Kinder  gemeinsam  unterrichtet  werden  sollen. 


Für 

die  Plätze 

sind    nach 

der  Größe  der  Kinder 

in    drei  AI 

bsi 

Maße 

anzunehmen: 

Sitzlänge 

Bankabstar 

id 

für  kleine      Kinder:  0,50  m      .     .     . 

.     0,68  m 

„    mittlere 

„        0,52   „      .     .     . 

.     0,70   „ 

„    große 

0,54   „      .     .     . 

.     0,72   „ 

Nur 

wenn  die 

örtlichen  \"( 

erhältnisse  zur  größten  Sj 

larsamkeit  ; 

'.W 

Sitzlängen 

auf 

ingen,    dürfen  die 

0,48  m  für  kleine     Kinder, 
0,50   „     „    mittlere         „     , 
0,52    „     „    große 
herabgemindert  werden. 

Auf  einer  Bank  sollen  höchstens  5  Kinder  nebeneinander  sitzen.  Für  den  Lehrersitz 
sind  mindestens   1,20  m  Breite  und  2,50  m  Länge  zu  rechnen. 

Die  erste  Bankreihe  muß  von  der  Wand,  an  welcher  sich  der  Lehrersitz  befindet, 
mindestens  1,70  m,  die  letzte  Bank  von  der  Rückwand  mindestens  0,30  m  entfernt  sein 
und  der  Abstand  der  Bänke  von  der  Fensterwand  mindestens  0,40  m  betragen.  Der 
Mittelgang  zwischen  den  Bänken  soll  0,50  m  und  der  Gang  an  der  inneren  Längswand 
mindestens  0,60  m  breit  sein. 

Die  Tür  des  Schulzimmers  ist,  wenn  irgend  tunlich,  so  zu  legen,    daß  der  Lehren 

Das  Unierrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  10 


]  46  Volksschuhvesen. 

beim  Eintritt  den  Kindern  ins  (Besicht  s-ielit  und  daß  diese  möglichst  schnell  ihre  Platze 
einnehmen  und  verlassen  künntn.  I-'rw  iinscht  ist  es  auch,  daß  der  Lehi-er  von  seinem 
Sitz  aus  die  Tür  übersehen  kann.  Der  Ofen  ist  am  besten  an  der  den  Fenstern  gegen- 
überliegenden Längswand,  etwa  in  der  Mitte  derselben  aufzustellen.  Nur  bei  kleinen 
Klassen  empfiehlt  es  sich,  ihn  in  eine  Ecke  zu  rücken.  Der  nächste  Sitzplatz  muß  vom 
(_)fen  mindestens  0,80  m  entfernt  sein. 

Als  allgemeine  Regel  ist  zu  beachten,  daß  Tiefklassen  bei  ländlichen  Schulbauten 
grundsätzlich  ausgeschlossen  sind,  und  daß  ein  Schulzimmer  höchstens  9,70  m  lang  und 
höchstens  6,30  m  tief  sein  soll.  Die  äußerste  Grenze  von  9,70  m  für  die  Länge  des 
Schulzimmers  ist  nur  dann  zu  wählen,  wenn  eine  wesentliche  Ermäßigung  der  Elöhe  und 
damit  eine  leichtei-e  Erwärmung  des  Schulzimmers  erzielt  wird.*) 

Jedes  Schulzimmer  soll  mindestens  3,20  m  im  lichten  hoch  sein.  Dieses  Maß  ist 
aber  gegebenenfalls  je  nach  der  Schülerzahl  und  der  Zimmertiefe  um  soviel  zu  erhöhen, 
daß  auf  jedes  Kind  mindestens  2,25  cbm  Luftraum  entfallen  und  daß  der  senkrechte 
Abstand  der  Fenstersturze  vom  Fußboden  mindestens  doppelt  so  groß  ist,  als  der  wage- 
rechte Abstand  voll  der  inneren  Längswand.  Diese  beiden  aus  hygienischen  Gründen 
unerläßlichen  Forderungen  werden  sich  bei  geeigneter  Lage  und  Konstruktion  der  Fenster- 
sturze —  in  Gegenden  mit  rauhem  Klima  auch  bei  stark  besetzten  Klas.sen  mit  der 
Mindesthöhe  von  3,20  m  —  erfüllen  lassen,  sodaß  die  ausreichende  Erwärmung  solcher 
Schulzimmer  im  Winter  nicht  in  Frage  gestellt  wird. 

Die  Fläche  der  Fenster  soll,  im  lichten  Mauerwerk  gemessen,  mindestens  gleich 
1/5  der  Bodenfläche  des  Schulzimmers  sein.  Die  Fenster  sind  auf  der  linksseitigen  Längs- 
wand tunlichst  in  gleichen,  durch  höchstens  1,20  m  breite  Pfeiler  unterbrochenen  Ab- 
ständen anzulegen,  möglichst  nahe  an  die  Decke  zu  rücken  und  mit  einem  geradlinigen 
oder  flachbogigen  Sturz  abzuschließen.  Rundbogen  sind  zu  vermeiden.  Mit  Rücksicht 
auf  die  vielen  Durchbrechungen  sind  bei  Ziegelbau  die  Fensterwände  2  Stein  stark  ohne 
Luftschicht  anzulegen.     Die  Fensterbrüstungen  sollen  nicht   unter   1,0  m  hoch  sein. 

Wenn  die  linksseitiges  Licht  gebenden  Fenster  nach  Norden  gerichtet  sind, 
empfiehlt  sich  die  Anlage  eines  Fensters  im  Rücken  der  Kinder,  um  etwas  Sonnenlicht 
einzulassen.  Bei  der  Berechnung  der  zur  Erhaltung  des  Schulzimmers  erforderlichen 
Lichtfläche  bleiben  solche  rückseitigen  Fenster  aber  außer  Ansatz. 

Über  die  Frage,  ob  zur  besseren  Wärmehaltung  Doppelfenster  nötig  sind,  haljen 
die  Bezirksregierungen  im  einzelnen  Falle  zu  entscheiden. 

Die  Fußböden  sollen  aus  schmalen,  wenigstens  3,5  cm  starken,  gehobelten  und 
gespundeten  Brettern  von  hartem,  nicht  leicht  spUtterndem  Holz  hergestellt,  dicht 
schließend  verlegt  und  geölt  werden. 

Bei  der  Wahl  der  Öfen  ist  auf  die  ortsübliche  lleizungsart  und  auf  das  meist 
gebräuchliche  Brennmaterial  Rücksicht  zu  nehmen. 

Zweckmäßig  ist  es,  mit  der  Heizung  des  Schulzimmers  eine  Lufterneuerung  in  der 
Art  zu  verbinden,  daß  vom  Schülerflur  aus  frische  Luft  dem  Ofen  zugeführt  wird  und 
durch  diesen  vorgewärmt  in  das  Zimmer  eintritt.  Die  P^inführung  von  Frischluft  durch 
Kanäle  unter  dem  P'ußboden  empfiehlt  sich  nicht,  weil  diese  Kanäle  erfahrungsmäßig 
selten  rein  und  staubfrei  gehalten  werden.  Zur  Abführung  der  verbrauchten  Luft  ist  für 
jedes  Schulzimmer  ein  besonderes  Entlüftungsrohr  von  wenigstens  25  zu  25  cm  im 
Quadrat  neben  dem  Schornsteinrohr  anzulegen.  Zweckmäßig  ist  es,  die  Wandung  zwischen 
dem  Rauchrohr  und  dem  Lüftungsrohr  aus  P",isenplatten  herzustellen.  Es  muß  dann  aber 
mit  größter  Sorgfalt  darauf  gehalten  werden,  daß  die  F^isenplatten  möglichst  dicht 
schließen. 


*)  Dem  Ministerialerlaß  ist  eine   Reilie  von   Grundrißzeichnungen  beigefügt 
hier  der  Raumersparnis  wegen  nicht  aufgenonnnen  werden  können. 


Die  Scluilhäuser.  147 

Durch  verschließbare  Ötinungen  dicht  über  dem  Fußboden  einerseits  und  nahe  der 
Decke  andererseits  kann  dann  die  Abluft  je  nach  Bedarf  unten  oder  oben  abgesogen 
werden.  Im  Winter  wird  in  der  Regel  der  untere  Schieber  geöflnet  sein,  während  der 
obere  wesentlich  den  Zweck  hat,  bei  zu  hoher  Temj^eratur  die  wärmsten  an  der  Decke 
angesammelten  Luftschichten  entweichen  zu  lassen.  Zur  sonstigen  Lüftung  des  Schul- 
zimmers sind  die  oberen  Teile  der  Fenster  mit  Kippflügeln,  welche  um  eine  wagerechte 
.\chse  drehbar  nach  innen  aufschlagen,  zu  versehen. 

C.  Verkehrsräume:  Bei  eingeschossigen  Schulhäusern  kann  der  Flur,  welcher  dem 
Schülerverkehr  dient,  auch  als  Zugang  zur  Lehrerwohnung  benutzt  werden.  P:s  ist  jedoch 
außerdem  ein  dem  Wirtschaftsverkehr  des  Lehrers  dienender  Xebenflur  mit  besonderem 
Ausgang  erforderlich,  damit  bei  Krankheiten  in  der  Familie  des  Lehrers  der  Schulverkehr 
von  dem  Hausverkehr  der  Lehrerwohnung  vollständig  gesondert  werden  kann. 

Wenn  Schulzimmer  über  dem  Erdgeschoß  angelegt  werden,  muß  stets  außer  der 
für  den  Hausverkehr  der  Lehrerwohnung  bestimmten  Treppe  für  den  Schulverkehr  eine 
besondere  Treppe  in  Verbindung  mit  besonderem  Flur  und  Eingang  vorgesehen  werden. 
Schülerflure  sollen  in  der  Regel  keine  unmittelbare  \'erbindung  mit  dem  Keller  und  dem 
Dachboden  erhalten. 

Die  Anlage  von  \'erbindungstüreu  zwischen  dem  zu  den  Schulzimmern  führenden 
Flm-  und  dem  Bauteil,  in  welchem  die  Lehrerwohnung  liegt,  ist  gestattet,  die  Herstellung 
einer  unmittelbaren  Verbindung  zwischen  einem  Schulzimmer  und  einem  Wohn-  oder 
Wirtschaftsraume  dagegen  unzulässig. 

Die  Breite  des  Hauptflures  richtet  sich  nach  der  Anzahl  der  anliegenden  Schul- 
zimmer und  nach  der  Zahl  der  Schüler,  welche  in  diesen  unterrichtet  werden.  Als 
Mindestmaß  der  Breite  gilt  für  den  Fall,  daß  nur  ein  Schulzimmer  an  dem  Flur  liegt, 
2,0  m  und  für  den  Fall,  daß  mehrere  Schulzimmer  auf  ihn  münden,  2,50  m.  Im  übrigen 
ist  die  Flurbreite  derart  zu  bestimmen,  daß  nach  Abzug  des  Maßes,  welches  durch  die 
senkrecht  autstehenden  Türen  der  Schulzimmer  für  den  Verkehr  verloren  geht,  für  je 
100  Kinder  70  cm,  mindestens  aber  1,0  m  freie  Durchgangsbreite  verbleibt. 

Für  jedes  Schulzimmer  genügt  eine  einflügelige  Tür  von  1,0  m  lichter  Weite. 
Diese  Türen  müssen  stets  nach  außen  aufschlagen,  und  zwar  so,  daß  der  Austretende 
beim  Öffnen  der  Tür  das  nächste  Ausgangsziel,  die  Haustür  oder  die  hinabführende 
Treppe,  erblickt.  Bei  nebeneinanderliegenden  Schulzimmern  müssen  die  Türen  unter  sich 
einen  solchen  Abstand  erhalten,  daß  die  Türflügel,  ohne  sich  zu  berühren,  vollständig 
herumschlagen  können. 

Treppen  für  den  Schülerverkehr  müssen  eine  Lauf  breite  von  mindestens 
1,30  m  erhalten  und  außer  dem  Geländer  mit  Handläufern  an  der  Wandseite  versehen 
werden.  Letztere  sind  entweder  über  die  Podeste  ohne  Unterbrechung  fortzuführen  oder 
an  den  Enden  jedes  Laufes  mit  einer  den  ^'erkehr  nicht  hindernden  Krümmung  abzu- 
schließen. In  mehrstöckigen  Schulgebäuden  ist  die  Breite  der  Treppen  stets  nach  der 
Schülerzahl  im  stärkstbesetzten  Geschosse  mit  der  Verhältniszahl  von  70  cm  für  je  100 
Schüler  zu  berechnen.  Das  Maß  von  2  m  für  einen  Treppenlauf  soll  in  der  Regel  nicht 
überschritten  werden.  Als  erforderliche  Laufbreite  gilt  stets  das  Maß  zwischen  den  Ge- 
ländern und  den  Handläufern. 

\'ür  den  Antritten  und  Austritten  der  Schul  er  treppen  muß  ein  solcher  Frei- 
raum  verbleiben,  daß  che  Türen  der  in  der  Nähe  gelegenen  Schulzimmer  beim  Auf- 
sclilagen  den  Verkehr  nicht  hemmen. 

Die  Abmes.sungen  dieses  Freiraumes  sind  im  einzelnen  Fall  aus  den  Grundriß- 
zeichnungen durch  Eintragen  der  Kreisbögen,  welche  die  Türen  beim  Aufschlagen 
beschreiben,  zu  bestimmen. 

Bei  Schülertreppen  darf  die  Steigung  höchstens  17  cm  betragen.  Die  Anlage  von 
Wendelstufen  ist  unzulässig. 

10* 


■|48  Volksschulwesen. 

Freitreppen  vor  dem  Eingang  zum  Haupttiur  sind  besonders  bequem  anzulegen; 
sie  dürfen  nicht  unmittelbar  vor  der  Haustür  beginnen,  müssen  vielmehr  ein  geräumiges 
Podest  erhalten  und,  sobald  mehr  als  drei  Stufen  notwendig  sind,  mit  Seitenwangen  und 
Schutzgeländern  versehen  werden.  Übrigens  ist  bei  Freitreppen  die  Stufenzahl  möglichst 
einzuschränken.  Wo  die  örtlichen  Verhältnisse  zu  einer  mehr  als  gewöhnlichen  Erhöhung 
de.s  Erdgeschosses  über  den  umgebenden  Boden  zwingen,  sind  zur  Verminderung  der 
Stufenzahl  Rampen  anzuschütten. 

Für  die  Breite  der  Ausgangstüren  ist  nach  dem  oben  angegebenen  Verhältni-; 
von  70  cm  für  je  100  Schüler  die  Gesamtzahl  der  im  Schulgebäude  unterrichteten  Kinder 
maßgebend.  Die  Ausgangstüren  müssen  stets  nach  außen  aufschlagen  und  gegen  \\"\nd 
und  Wetter  entweder  durch  Aufführung  eines  Vorbaues  oder  durch  Zurücklegen  in  einen 
Vorraum  geschützt  werden. 

i?  4.     Brunnenanlage. 

Auf  jedem  Schulgehöft  soll,  abgesehen  von  Orten,  wo  das  Wasser  in  Zisternen 
gesammelt  wird,  wenn  irgend  angängig,  ein  eiserner  Röhrenbrunnen  angelegt  werden, 
welcher  gutes  Wa.sser  in  genügender  Menge  aus  einer  den  ^'^erunreinigungen  von  der 
Oberfläche  oder  den  oberen  Bodenschichten  her  nicht  ausgesetzten  Tiefe  bezieht.  Bei 
der  Wahl  der  Stelle  des  Brunnens  ist  nicht  allein  das  Maß  der  Entfernung  von  den 
nächsten  \erunreinigvmgsquellen,  wie  etwa  Düngeri)lätze,  Senkgruben  und  dergleichen, 
sondern  auch  die  Filtrationsfähigkeit  des  zwischengelegenen  Bodens  sowie  die  Gefälle- 
richtung etwaiger  undurchlässiger  Schichten  desselben  zu  berücksichtigen.  Kesselbrunnen 
mit  gemauerten  oder  hölzernen  Wandungen  und  hölzerne  Röhrenbrunnen  gewähren,  auch 
wenn  sie  anfangs  gutes  Wasser  liefern,  keine  hinreichende  Sicherheit  für  spätere  gute 
Leistungen   und  sind  stets  der  Gefahr  der  Verunreinigung  des  ^^"assers  ausgesetzt. 

§  5.     Abtritte. 

Für  jede  Schule  sind  Abtritte  außerhalb  des  .Schulhauses,  in  der  Regel  in  einem 
besonderen  Gebäude,  anzulegen;  sie  können  jedoch  auch,  wenn  sich  auf  dem  Schulgehöft 
ein  Stallgebäude  befindet,  mit  diesem  unter  einem  Dach  angeordnet  werden,  müssen  dann 
aber  gegen  die  Stallräume  völlig  abgeschlossen  sein. 

Das  Abtrittsgebäude  ist,  wenn  tunlich,  nicht  gegenüber  der  P'ensterfronl  der  Schul- 
zimmer, auch  nicht  in  der  Richtung,  aus  welcher  die  vorhenschende  Luftbewegung  das 
Schulhaus  trifft,  anzulegen.  Im  übrigen  muß  das  Abtrittsgebäude  vom  Schulhause  an- 
gemessen entfernt,  jedoch  auch  nicht  zu  entlegen,  seine  Stellung  so  erhalten,  daß  die 
Eingänge  vom  Schulhofe  aus  übersehen  werden  können. 

In  der  Regel  ist  für  je  40  Knaben  und  für  je  25  Mädchen  ein  Sitz  anzunehmen, 
außerdem  für  jeden  Lehrer,  welcher  im  Schulhause  wohnt,  ein  besonderer  abgeschlossener 
Sitz.  Die  einzelnen  Sitzzellen  müssen  gut  beleuchtet  sein;  sie  erhalten  durchschnittlich 
0,90  m  Breite  und  1,20  m  Tiefe  und  sind  durch  dichte  Bretterwände  von  einander  zu 
trennen.  Die  Sitzöffnungen  sind  mit  leicht  abwaschbaren,  gut  schließenden  und  bequem 
zu  handhabenden  Deckeln  zu  versehen. 

Für  die  Knaben  sind  Pissoirstände  anzulegen,  welche  durch  0,50  m  von  einander 
entfernte,  mindestens  1,20  m  hohe,  nicht  völlig  bis  zum  Fußboden  reichende  Zwischen- 
wände von  einander  getrennt  werden  müssen.  Die  Stände  sind  am  besten  in  einem  mit 
Schutzdach,  niedrigen  Umfassungswänden  und  Eingangsschirmwand  versehenen,  sonst  aber 
offen  und  luftig  zu  haltenden  Anbau  unterzubringen.  Auf  schickliche  Trennung  der 
Zugänge  für  die  Knaben  und  Mädchen  ist  besonders  Bedacht  zu  nehmen. 

Die  Abtrittsräume  müssen  überall  hell  und  gut  lüftbar  sein. 

Alle,  sowohl  die  festen  wie  die  flüssigen  Auswurfstofle  sollen  in  wasserdichte 
Behälter  aufgenommen  werden.  Am  besten  sind  hierzu  tragbare  Gefäße,  Tonnen  oder 
Kübel  geeignet,    jedoch   sind  auch    unbewegliche  Behälter,    größere    eiserne  Kästen    oder 


Die  Schulhäuser.  -149 

drüben  zulässig.*)  Bei  X'erwcndung  tragbarer  Gefäß;-  muß  der  IJodcu,  auf  <leni  sie  auf- 
gestellt werden,  gut  befestigt  sein  und  die  Einrichtung  so  getrofien  werden,  daß  ilie 
Auswechslung  der  (refäße  bequem  erfolgen  kann.  Die  unbeweglichen  Behälter  müssen 
derart  angeordnet  und  eingerichtet  sein,  daß  ihre  Entleerung  mit  Leichtigkeit  und  ohne 
Verschmutzung  der  Umgebung  staltfinden  kann.  Eiserne  Behälter  müssen  allseitig  zu- 
gänglich sein.  ^Venn  Gruben  angelegt  werden,  ist  mit  besonderer  Sorgfall  darauf  zu 
achten,  daß  die  Sohlen  und  Wandungen  für  Flüssigkeiten  möglichst  undurchlässig  sind 
und  bleiben.  Zweckmäßig  werden  sie  aus  hartgebrannten  Ziegeln  mit  Zementmörtel 
gemauert,  innen  mit  Zement  verputzt  luid  außen  ringsum  mit  einer  Schicht  festgestampften 
fetten  Tones  umgeben.  Als  <  Jrubenwandungen  dürfen  vorhandene  Gebäudemauern  nicht 
benutzt  werden,  jede  Grube  muß  vielmehr  Umfassungswände  für  sich  erhalten. 

Zur  l^indung  der  Auswurfstoffe  empfiehlt  sich  die  Verwendung  von  Torfmull. 
Jeder  Raum,  in  welchem  Auswurfstoffe  angesammelt  werden,  ist  mit  einem  Entlüftungs- 
rohr  von  gehöriger  Weite  zu  versehen,  welches  über  dem  Dache  des  Abtrittsgebäudes 
ausmünden  muß.  Damit  die  Ausdünstungen  leichter  durch  die  Lüftungsröhren  ins  Freie, 
als  durch  die  Sitzöfl'nungen  in  die  Abtrittszellen  ausströmen,  ist  von  den  letzteren  aus 
ein  Trichter  mit  Fallrohr  so  anzuordnen,  daß  die  untere  Öffnung  dieses  Fallrohres  tiefer 
in  den   Grubenraum  hinabreicht  als  die  unlere  Öffnung  des  Entlüftungsrohres." 

Diese  Vorschriften  für  den  Bau  und  die  Einrichtung  ländüchcr 
Vülksschulhäuser  stellen  gewisse  Mindestforderungen  auf,  welche  in 
den  wohlhabenden  Stadtgemeinden  nicht  nur  erfüllt,  sondern  in  vielen 
Punkten  übertroffen  werden.  Besonders  in  dem  letzten  Jahrzehnt 
des  19.  Jahrhunderts  hat  sich  unter  den  deutschen  Großstädten  ein 
löblicher  P^hrgeiz  entwickelt,  sich  gegenseitig  im  Bau  nicht  bloß  zweck- 
mäßiger und  hygienisch  einwandsfreier,  sondern  auch  architektonisch 
stattlicher  und  geschmackvoller  Schulbauten  zu  übertreffen. 

Von  den  in  den  letzten  Jahren  erbauten  Volksschulhäusern 
der  größeren  deutschen  Städte,  welche  kennen  zu  lernen  auch 
für  den  Ausländer  vielleicht  Interesse  bieten  würde,  soll  im  folgenden 
eine  Anzahl  hier  aufgeführt  werden.  Von  einer  eingehenden  Be- 
schreibung der  Gebäude  wird  allerdings  Abstand  genommen  werden 
müssen,  da  der  beschränkte  Umfang  dieses  Werkes  die  Beibringung 
von  Plänen  und  Grundrissen  nicht  gestattet. 

Aachen.  Volksschule  Beguinenstraße.  14  klassig.  Erbaut 
ir.97— 1898.     Baukosten  112  000  IM. 

Augsburg.  Schule  am  Roten  Tor.  Kombination  des  ein-  und 
zweireihigen  Systems.  Das  Gebäude  enthält  auch  eine  Suppenküche, 
einen  Handfertigkeitsunterrichtssaal,  eine  Schulküche  und  ein  Brause- 
bad.    Erbaut  1900.     Baukosten  600  000  M. 

Bamberg.  Luitpoldschule.  Eigenartige  Grundrißanlage,  ver- 
anlaßt durch    das    Bestreben,    den    Kindern  den  Ausblick    nach  dem 

*)  Auf  dem  Lande  sind  die  .\borlanlage;i  der  Schulhäuser  nur  selten  an  Kanali- 
salionsanlagen  angeschlossen,  wie  das  in  der  Mehrzahl  der  großen  Städte  der  Fall  ist. 


]  50  Volksschuhvesen. 

angrenzenden  Friedhof  '/.u  entziehen.  Gruppierung  sämtlicher  Schul- 
räunie  um  einen  gemeinschaftlichen  Hof.  Besonders  breite  Vor- 
plätze und  Treppen.     Erbaut   1900—1901.     Baukosten  1^15  000  M. 

Barmen.  Volksschule  an  der  Eichenstraße.  Dreigeschossiges 
Gebäude  für  15  Klassen,  für  Turnhalle  und  Rektorwohnung.  Im 
Kellergeschoß  Räume  für  Brausebadanlage  und  Haushaltungsunter- 
richt. Niederdruckdampflieizung.  Kosten  der  ganzen  Anlage 
257  000  M. 

Berlin.  Über  die  x^nlage  der  Berliner  Volksschulhäuser  spricht 
sich  der  Stadtbaurat  Ludwig  Hoffmann  folgendermaßen  aus*):  „Unter 
den  von  der  Stadt  zu  errichtenden  Gebäuden  nehmen  die  Schulbauten 
der  Zahl  nach  die  erste  Stelle  ein.  So  wurden  hier  in  den  letzten 
drei  Jahren  zusammen  1B  Gebäude  für  ;^l  Schulen  mit  ;^2  900  Schüler- 
plätzen vollendet  und  dem  Betrieb  übergeben. 

Die  Gemeindeschulen  sind  in  der  Regel  Doppelschulen;  in  einem 
Gebäude  ^^'erden  eine  Knaben-  und  eine  Mädchenschule  untergebracht. 
Sie  erhalten  gewöhnlich  je  16 — 20  Lehrräume,  gemeinschaftlich  eine 
.\ula  und  eine  Turnhalle  mit  Nebenräumen,  eine  Physikklasse  mit 
Apparatenzimmer,  zwei  Amtszimmer  für  die  beiden  Rektoren,  zwei 
Konferenzzimmer,  ein  Lehrerinnenzimmer  und    eine  Brausebadanlage. 

Wie  in  anderen  Städten,  so  wurden  auch  hier  in  den  letzten 
Jahren  die  Ansprüche  in  schultechnischer  und  sanitärer  Hinsicht  we- 
sentlich erhöht.  Statt  einer  Physikklasse  mit  Apparatenzimmer  werden 
jetzt  deren  zwei  verlangt,  zwei  Kinderhorte  mit  einem  Utensilienraum 
kamen  hinzu,  der  Turnhalle  wurde  ein  Garderobenraum  mit  Wasch- 
toilette beigefügt,  und  in  verschiedenen  Gemeindeschulen  wurden 
Schulkochküchen  eingerichtet.  Die  Aborte  werden  möglichst  nicht 
mehr  vom  Schulgebäude  entfernt  auf  den  Höfen  angelegt,  sie  werden 
vielmehr,  um  den  Kindern  den  Gang  im  Freien  bei  Regen  und 
Schnee  zu  ersparen,  im  Schulgebäude  selbst,  und  zwar  in  verschie- 
denen Geschossen  verteilt,  untergebracht.  Die  Mäntel,  Hüte  und 
Schirme  der  Kinder,  welche  in  früheren  Jahren  auch  in  nassem  Zu- 
stande in  den  Schulzimmern  aufbewahrt  wurden,  finden  jetzt  auf  den 
erweiterten  Korridoren  Platz." 

Unter  den  in  den  letzten  Jahren  hergestellten  Volksschulhäusern 
gehören  die  Doppelschulen  in  der  Wilmsstraße  (28.  und  217.  Ge- 
meindeschulc),  in  der  Glogauer  Straße  (219.  und  2.'^2.  Gemeindeschulej, 


*)  Neubauten  der  Stadt   Berlin.      JJil.  I.  .S.  7.      X'erLig  von   Bruno   Ilessling.     Berlin 
und  New- York.     1902. 


Die  Schulhäuser.  151 

in  der  W'attstral.^c  (241.  und  250.  Gemcindcschulc)  nach  Anlache  und 
AusstattuuL,''  zu  den  geschmackvollsten  Bauwerken.  Eine  Über- 
sicht ül^er  Umfang,  Einrichtung  und  Kosten  der  letzten  U)  unter 
Leitung  des  Stadtbau rats  Hoffmann  ausgeführten  Volksschulbauten 
wird  in  dem  Kapitel  über  die  Volk.sschulen  unserer  großen  Städte 
beigebracht  werden. 

Bielefeld.  Die  XI.  Bürgerschule.  Anordnung  der  Turnhalle 
im  Keller  und  Erdgeschoß  und  weitere  Ausnutzung  des  Kellers  zu 
Brausebädern  und  Milchküchen.  Versuch  mit  Terrazzofußböden  in 
einigen  Klassenräumen.     Erbaut  1901.     Baukosten  230000  M. 

Breslau.  Schulhaus  an  der  Kletschkauenstraße.  T-^s  sind  Räume 
für  Hau.shaltungsunterricht,  Knabenhandfertigkeit  und  Brausebäder- 
anlagen vorgesehen.  Die  Fußböden  der  Klassenzimmer  haben  Lino- 
leumbelag. 

Cassel.  Über  die  Grundsätze  für  den  Bau  und  die  .Ausstattung 
der  Casseler  Schulhäuser  hat  sich  der  Casseler  Stadtbaurat  Höpfner 
im  Jahre  1898  im  technischen  Gemeindeblatt  S.  9  und  10  eingehend 
ausgesprochen.  Unter  den  neuen  Volksschulen  verdient  die  XIV. 
l^ürgerschule  an  der  Graefestraße  ihrer  Anlage  und  Ausführung  nach 
hervorgehoben  zu  werden. 

Charlottenburg.  Es  möge  hier  das  neu.ste  1899/1900  erbaute 
Schulhaus  für  die  Gemeindeschulen  XIX  und  XX  in  der  Bleibtreu- 
straße Erwähnung  finden.  Dasselbe  enthält  außer  den  gewöhnlichen 
Nebenräumen  zwei  Schulküchen  mit  Nebengelassen  und  ein  Zimmer 
für  den  Schularzt.  Eine  Übersicht  über  die  seit  1881/82  in  Gebrauch 
genommenen  Volksschulhäuser  wird  an  einer  späteren  Stelle  gegeben 
werden. 

Chemnitz.  Die  II.  Mädchenbürgerschule  an  der  West-  und 
Kanzlerstraße.  Eckbau  mit  seiner  Langseite  freistehend,  an  der 
Kanzlerstraße  errichtet,  um  den  zweiseitig  angeordneten  Unterrichts- 
räumen die  erwünschte  Ost-  und  W^estlage  geben  zu  können.  Ein 
eingeschossiger  Zwischenbau  an  der  Weststraße,  welcher  an  der 
Straßenseite  den  Zeichensaal,  an  der  Hofseite  die  Schüleraborte  ent- 
hält, verbindet  den  besonders  als  Eckbau  hervorgehobenen  Teil  des 
Hauptgebäudes  mit  dem  durch  einen  großen  Giebel  geschmückten 
Turnhallenbau,  welcher  den  Übergang  zur  geschlossenen  Häuserreihe 
der  W^eststraße  vermittelt. 

Im  Hauptbau  sind  folgende  Räume  untergebracht:  17  Klassen- 
zimmer für  je  40  Kinder,  4  dergl.  für  je  84  Kinder,  1  Kombinations- 
zimmer,   I    Physikzimmer    mit  Sammlungs-    und  Vorbereitungszimmer, 


152  Yolksschuhvesen. 

I  Lehrer-  und  Beratungszimmer,  I  Direktorzimmer,  I  Expedition, 
I  Bibliothekzimmer,  1  Lehrerinnenzimmer,  o  weitere  Sammlungsräume, 
die  Abortanlagen  für  Lehrer,  Lehrerinnen  und  Hausmann,  ferner  die 
am  Haupteingang  gelegene  Hausmannswohnung,  welche  durch  Teilung 
der  Höhe  des  Erdgeschosses  mit  Hinzunahme  des  über  Gelände  ge- 
legenen Teiles  des  Kellergeschosses  in  2  Geschossen  angeordnet 
wurde.  Das  KellergescholA  enthält  die  Räume  für  die  Dampfheizungs- 
und Lüftungsanlagen  und  die  erforderlichen  Wirtschaftsräume.  Er- 
baut  1902/03.     Baukosten  .SnT  770  M. 

Cöln.  Volksschule  an  der  Georgstralie,  geschmackvoller  Bau 
im  romanischen  Stil,  Volksschule  am  Zugweg,  Volksschulen  an  der 
Vogelsangerstraße  und  Berrenratherstraße,  Neubau  an  der  Frankstraße. 
Räume  für  Kochschulen,  Brausebäder,  Volkslesehallen  und  Kinder- 
horte. Kosten  der  Anlage  für  ein  System  von  14  Klassen  und  Neben- 
räume 325  000-375  000  M. 

Dan  zig.  Volksschule  in  der  Weidengasse.  Schule  in  Verbin- 
dung mit  Turnhalle,  die  gleichzeitig  als  Aula  dient.  Baukosten 
154  000  M. 

Darm  Stadt.  Doppelschulhaus  für  Knaben  und  Mädchen  an  der 
Lagerhausstraße.     Erbaut  1901/02.     Baukosten  500  000  M. 

Essen.  Gewöhnlich  sind  alle  neueren  Schulhäuser  dreistöckig 
gebaut  worden,  wobei  dann  vier  Klassenräume  in  das  Erdgeschoß, 
fünf  in  den  ersten  und  fün(  in  den  zweiten  Stock  gelegt  worden 
sind.  Der  geräumige  Korridor  im  Erdgeschoß  wird  meistens 
mit  Garderobenhaltern  versehen;  außerdem  werden  im  ersten  und 
zweiten  Stock  besondere  verschließbare  Garderobenzimmer  einge- 
richtet. Sowohl  im  ersten  als  auch  im  zweiten  Stock  wird  ein  Amts- 
zimmer hergestellt.  Die  Schuldienerwohnung  wird  im  Erdgeschoß 
untergebracht.  Lehrerwohnungen  sind  in  den  neuen  Schulhäusern 
grundsätzlich  nicht  mehr  eingerichtet  worden.  Die  Kellergeschosse 
sind  bei  mehreren  Schulhäusern  in  solcher  Höhe  angelegt  worden, 
daß  Schulbrausebäder,  Schulküchen  u.  dergl.  ohne  besondere  Schwie- 
rigkeiten in  denselben  eingerichtet  werden  können*). 

Unter  den  neuesten  Volksschulhäusern  lohnt  der  sehr  freund- 
liche und  geschmackvolle  Bau  der  katholischen  (iemeindeschule  XXIV" 
eine  Besichtigung. 

Frankfurt  a.  M.  besitzt  seine  eigenen  Grundsätze  für  den  Bau 
von  Volksschulhäusern,  wie  diese  der  Stadtbauinspektor  Adolf  Koch 


")  Die  \ei\valtung  der  Stadt  Essen  im  XIX.  Jahriuindeil.     ]3d.  I,  S.  386.  190'J 


nie  S(-lHi]liausei-.  153 

s.  Z.  in  einem  X^ortrai^e,  „die  Bauart  und  die  I-'inrichlun^-  der  slädti- 
sehcn  Schulen",  gehalten  am  12.  Februar  1<)(H)  im  l'rankfurter  Archi- 
tekten- und  Ingenieur-Verein,  näher  ausgeRihrt  hat. 

Die  neuen  Volks.schulen  zeichnen  .sich  besonders  durch  weit- 
gehende Berücksichtigung  aller  Forderungen  der  Hygiene,  breite 
Treppen  und  Korridore,  gute  Hei/Amg  und  Beleuchtung,  praktische 
Schulbänke  usw.  aus.  Als  ein  Beispiel  eines  zweckentsprechend  und 
geschmackvoll  eingerichteten  Schulhauses  wird  dem  Ausländer  neben 
anderen  Frankfurter  Volksschulen  die  am  1.  Oktober  1902  der  Be- 
nutzung übergebene  Bonifatiusschule  zu  empfehlen  sein.  ,,Die  Ge- 
samtanlage enthält  auf  einem  Grundstück  von  5250  qm  das  vier- 
geschossige Klassengebäude  mit  einer  Grundfläche  von  700  qm,  die 
an  dieses  angebauten  Abortanlagen  (100  qm),  die  durch  einen  ge- 
deckten Gang  mit  dem  Hauptgebäude  verbundene  Turnhalle  von 
'A2V>  qm  und  das  Wohnhaus  mit  Rektor-  und  Schuldienerwohnung 
050  qmj.  Das  Grund.stück  enthält  einen  Spiel-  und  Turnplatz  von 
2800  qm,  einen  Schulgarten  von  300  qm  und  einen  Garten  für  den 
Rektor  von  300  qm. 

Die  Grundrißeinteilung  weicht  wenig  von  der  Grundform  ab,  die 
sich  in  Frankfurt  in  den  letzten  Jahren  herausgebildet  hat.  Sämtliche 
Räume  —  8  Klassen  für  Knaben,  8  für  Mädchen,  Rektorzimmer, 
Konferenz-,  zugleich  Lehrerzimmer,  Lehrerinnenzimmer,  Zeichen-  und 
Singsaal  —  liegen  einseitig  an  einem  3,5  m  i.  1.  breiten  Flur,  der 
durch  die  Kleiderablagen  auf  5,03  m  verbreitert  ist.  Von  diesem 
Flur  ist  in  den  drei  Obergeschossen  durch  Glaswände  je  ein  Raum 
abgetrennt,  der  im  I.  Obergeschoß  als  Vorzimmer  für  den  Rektor 
und  Wartezimmer,  im  II.  Obergeschoß  als  Sammlungszimmer  und  im 
III.  als  Modellzimmer  dient.  Die  Abteilung  mittels  Glaswänden 
ist  gewählt,  um  einerseits  die  Übersichtlichkeit  des  ganzen  Flures 
durch  den  Einbau  nicht  zu  beeinträchtigen,  und  um  andererseits  den 
Kindern  Einblick  in  die  mit  den  Glaswänden  verbundenen  Glas- 
schränke für  Sammlungen  und  dadurch  Gelegenheit  zur  Betrachtung 
der  Sammlungsgegenstände  während  der  Pause  zu  gewähren.  Im 
Dachgeschoß  befinden  sich  außerdem,  im  äußeren  durch  die  Giebel 
erkennbar,  drei  Säle  von  zusammen  255  qm  für  den  Handfertigkeits- 
unterricht in  der  Schreinerei,  Schlosserei  und  in  Papierarbeiten.  Die 
sich  an  der  Längsseitc  des  Flures  ergebenden  geräumigen  Dach- 
zwickel sind  zu  Kammern  und  Schränken  zur  Aufbewahrung  von 
Materialien  und  Handwerkszeug  ausgebaut. 

Der  Spielplatz  ist  2800  qm  groß,    bietet    also    bei    %0  Kindern 


"154  Volksschul  Wesen. 

für  ein  Kind  rund  ii.OO  cjm  freien  R;ium.  Im  Hofe  befinden  sich 
zwei  Trinkbrunnen.  Für  die  Bespren<^ung  des  Schulhofes  ist  die  Fkiß- 
wasserleitung  neben  der  Ouelhvasserleitung  eingeführt.  Außer  dem 
mit  Bäumen  bepflanzten  Spielhof  ist  noch  ein  Schulgarten  für  den 
Unterricht  in  der  Pflanzenkunde  vorgesehen."  (Sonderbericht  des  Er- 
bauers Stadtbaurat  Berg.t 

Halle  a.  S.  Volksschulen  an  der  Huttenstraße  und  an  der  Freiim- 
felderstraße.  Erbaut  1900/01.  Baukosten  jedes  Schulgebäudes  150  000 
Mark  einschließlich  innerer  Einrichtung. 

Hamburg.  Volksschule  an  der  Norderstraße. 
Hannover.  Die  Grundsätze  für  die  Einrichtung  der  Hannover- 
schen Volksschulhäuser  gibt  Stadtschulrat  Dr.  Wehrhahn  in  seinem 
Bericht  über  das  ,, Volksschulwesen  der  königlichen  Haupt-  und 
Residenzstadt  Hannover"  S.  15  (Hannover  1903)  folgendermaßen  an: 
„Als  Norm  für  die  neuen  Schulhäuser  gelten  Gebäude  mit  14  Klassen 
und  einigen  Reserveräumen,  1  Rektor-,  1  Lehrerzimmer  (bezw.  auch 
I  Lehrerinnenzimmer),  1  Zeichen-  und  I  Singsaal,  Turnhalle,  Brause- 
bad und  einigen  Lehrmittelzimmern.  Die  Schulvogtswohnung  enthält 
außer  einem  Dienstzimmer  'A  Wohnräume,  Küche  usw.  und  eine 
Bodenkammer.  Wohnungen  für  den  Rektor  und  für  Lehrer  sind 
nicht  vorgesehen. 

Die  Klassenräume  sind  7  m  tief  und  9  m  breit.  Erwärmt 
werden  sie  mittels  Niederdruckdampfheizung.  Die  Fußböden  sind  mit 
Linoleum  belegt.  Wo  der  Raum  es  gestattet,  wird  ein  Vorgarten 
hergerichtet.  Wenn  größere  Grundstücke  zur  Verfügung  stehen  und 
der  betreffende  Stadtteil  dicht  bevölkert  ist,  so  werden  auch  zwei 
Schulgebäude  nebeneinander  errichtet.  Wenn  irgend  möglich,  werden 
die  Spielplätze  so  groß  angelegt,  daß  auf  jedes  Kind  3  qm  entfallen. 
Wo  genügend  Platz  und  Licht  vorhanden  ist,  \\erden  kleine  Schul- 
gärten angelegt. 

Sämtliche  Grundstücke  mit  Ausnahme  der  in  den  ehemaligen 
Vororten  liegenden  Bürgerschulen  45  und  40/47  sind  an  die  Wasser- 
leitung und  Kanalisation  angeschlossen." 

Unter  den  neuen  Volksschulhäusern  ist  die  Schule  an  der  Halten- 
hoffstraße hervorzuheben.     Baukosten  420  000  M. 

Karlsruhe.  Die  Nebeniusschule,  benannt  nach  dem  Schöpfer 
der  badischen  Verfassung  Staatsrat  Nebenius,  eröffnet  am  15.  Ok- 
tober 1902. 

,,Das  dreistöckige  Schulhaus  besteht  aus  einem  Knaben-  und 
einem  Mädchenflüeel  und  enthält  außer  36  «-eräumicfen,  hellen  Schul- 


Die  Sdiiilliäiisfr.  ]^^ 

ziiiiincrn  uiul  breiten,  dm'ch  IniicnliclU  l;u1  beleuchteten,  n;ich  dem 
Mittelbau  zu  mündenden  Gängen  ein  großes  Konferenzzimmer  und 
ein  Lehrmittelzimmer  im  I.,  einen  Zeichen-  und  einen  Handarbeits- 
saal  im  II.  und  einen  Gesangs-  und  einen  Handarbeitssaal  im  III.  Stock 
des  Mittelbaues.  Im  Erdgeschoß  befinden  sich  außer  den  Kellern 
und  der  Heizungseinrichtung  ein  Schulbad  und  eine  Schulküche,  im 
Dachraum  ein  sehr  geräumiger,  luftiger  und  heller  Saal  für  Knaben- 
handfertigkeitsunterricht." (XXVI.  Jahresbericht  über  den  Stand  der 
dem  Rektorate  unterstellten  städtischen  .Schulen   1902/03.    S.  7.) 

Kiel.  Schule  an  der  Von  der  Tannstraße.  21  Klassen.  Bau- 
kosten einschließlich  Platz  usw.  220  513  M.  Doppelvolksschule  an 
der  Hansastraße  mit  25  Klassen.  Bauko.sten  183  250  M.  Das  zuletzt 
erbaute,  Ostern  1903  dem  Betrieb  übergebene  Schulhaus  mit 
21  Klassen  an  der  Hardenbergstraße. 

Königsberg  i.  Pr.  Sackheimer  Volksschule  für  Knaben  und 
Mädchen.  Gemeinsame  Turnhalle.  Erbaut  1896/97.  Baukosten 
343  000  M.  Roßgärter  Bürgerschule  für  Knaben  und  Mädchen.  Ge- 
meinsame Turnhalle.     Erbaut  1898/1900.     Baukosten  410  000  M. 

Leipzig.  X.  Bezirksschule  Leipzig — Lindenau  an  der  Kirch- 
straße und  Friesenstraße.  Bauplatz  5I-540  qm,  von  denen  1680  qm 
mit  dem  Schulgebäude  und  210  qm  mit  den  Abortanlagen  bebaut 
sind.  Es  enthält  in  4  Stockwerken  44  Klassenzimmer,  4  Zimmer  für 
Direktor,  Lehrer  und  Lehrerinnen,  Zeichensaal,  Nähsaal,  naturwissen- 
schaftliches Lehrzimmer  mit  Arbeitszimmer,  einen  Raum  für  Lehr- 
mittel, Prüfungssaal  mit  Galerie.  Im  Kellergeschoß  befinden  sich 
das  Kesselhaus  für  die  Niederdruckdampfheizung,  die  Frischluft-  und 
Vorwärmekammern,  Niederlagsräume  für  Brennmaterialien,  die  Stube 
für  den  Heizer  und  Waschküche.  Die  Kosten  der  gesamten  Anlage 
einschließlich  Mobiliar  und  Lehrmittel  wurden  auf  558  081  M.  ver- 
anschlagt. (Vgl.  Verwaltungsbericht  des  Rates  der  Stadt  Leipzig. 
Hochbauamt  1902.     S.  7.) 

Liegnitz.  Volksschule  an  der  Grünstraße.  Erbaut  1898/99. 
Bauko.sten  225  000  M. 

Magdeburg.     Wilhclmstaedter    II.    V^olksschule    am   Sedanring. 
Mannheim.      Schulhaus     auf     dem     Lindenhofe,     eröffnet     am 
7.  April  1902. 

„Die  3  Stockwerke  sind  je  4,50  m  hoch  und  enthalten  24 
normale  Klas.senzimmer,  2  größere  Klassenzimmer  von  12,58  x  7,12  m 
bezw.  12,58x6,20  m,  2  Industriesäle  und  I  Zeichensaal.  An  Neben- 
räumen sind  vorhanden :  im  Erdgeschoß  1  Oberlehrerzimmer,  1  Diener- 


156  Volksschulwesen. 

ziiimicr,  2  Karzer,  im  I.  Obergeschoß  1  Lehrerzimmer  und 
1  Lehrerinnenzimmer,  im  IL  Obergeschoß  2  Lehrmittelzimmer.  Das 
Gebäude  ist  zur  Aufnahme  von  Knaben  und  Mädchen  bestimmt  und 
hat  deshalb  getrennte  Eingänge  und  Treppenhäuser.  Im  Mittelgang 
ist  der  Abschluß  durch  einen  Glasverschlag  bewirkt,  üie  Dienst- 
wohnung, bestehend  aus  4  Zimmern  mit  einer  Küche,  liegt  im  Unter- 
geschoß, 1 ,80  m  unter  Straßenhöhe  an  einem  6  m  breiten  Licht- 
graben. Das  Untergeschoß  enthält  außerdem  noch  ein  Brausebad  für 
die  Schüler  und  Schülerinnen,  Räume  für  die  Milchabgabe  und  das 
Kesselhaus  für  die  Niederdruckdampfheizung.  In  einem  Abstand  von 
ö  m  vom  Hauptbau  und  durch  gedeckte  Gänge  leicht  erreichbar,  ist 
die  nach  Geschlechtern  getrennte,  freistehende  Abortanlage  an- 
geordnet. Die  Turnhalle  ist  20  m  lang,  10  m  breit  und  im  Büttel 
7,60  m  hoch;  sie  steht  etwa  20  m  vom  Hauptbau  entfernt  an  der 
Windeckstraße,  ihre  Beheizung  geschieht  durch  Dauerbrandöfen.  Der 
mit  Bäumen  bepflanzte  Spiel-  und  Tummelplatz  hat  eine  Größe  von 
rund  4300  qm.    Die  Baukosten  der  ganzen  Anlage  betragen  4lu000M." 

Die  neuesten  Schulbauten  sind  die  in  diesem  Jahre  fertig- 
gestellten Volksschulgebäude  Wohlgelegen  und  Neckarau. 

(Jahresbericht  über  den  Stand  der  dem  Volksschulrektorat  unter- 
stellten städtischen  Schulen  in  Mannheim  im  Schuljahr  1902/03.  S.  b.) 

München.  In  München  sind  seit  1898  folgende  den  Anforde- 
rungen unserer  Zeit  in  bezug  auf  Technik,  Hygiene  und  künstlerische 
Ausführung  in  \ollem  Maße  entsprechende  Volksschulbauten  fertig 
gestellt  worden: 

X^olksschule  an  der  Weilerstr.   Erbaut  1898/99,  Baukosten  617131,57  M. 


„     „    Stielerstr. 

1898/99 

607530,14 

am  DomPedro-Platz  ,, 

1898/1900       .. 

590000 

„    Kirchstein,  Ver- 

sailles.str. 

1899/1901 

601000 

,,    Elisabethplatz 

1900/02  Ges.  „ 

661714 

an  der  Martinstr. 

1900/02 

671887,72 

.Vis  ein  Beispiel  für  die  Anlage  der  Münchener  Schulhäuser 
möge  hier  eine  Übersicht  über  die  Räume  des  Schulgrundstückes  in 
der  Martinstraße  folgen: 

Zweireihiges  Gebäude,  enthaltend  in  Erdgeschoß  und  3  Ober- 
geschossen 32  Schulsäle  mit  Garderoben,  2  Turnsäle  mit  Garderoben, 
2  Säle  für  den  Kindergarten  mit  Nebenräumen,  2  Oberlehrerzimmer, 
1    Bibliothek-    und    Konferenzzimmer,    2   Lehrmittelzimmer,    I    Schul- 


Die  Schulhäuser.  157 

küche,  Hausmeisterwohnung,  getrennte  Aborte  für  Knaben  und 
Mädchen.  Im  Kellergeschol,^  Brausebadanlage,  Suppensäle  und 
Suppenküche,  je  I  Doppelsaal  Schülerwerkstätten  für  Holz-  und 
Metallbearbeitung  nebst  Nebenräumen,  Aborte  und  Räume  für  die 
Niederdruckdampfheizung.  Gebäudeausführung  in  Ziegelmauerwerk 
mit  Kalkmörtelputz.  Unverbrennliche  Deckenkon.struktionen,  Linoleum- 
belag. Schulhof  mit  besonderem  Kindergarten,  Spielplatz  und  Schul- 
küchengarten. 

Nürnberg.  Schule  am  Melanchthonplatz,  Schule  an  der  Goethe- 
•straße.  Schule  an  der  Bismarck.straße,  Schule  an  der  Knauerstraße, 
Schule  an  der  Holzgarten.straße,  Schule  an  der  Findelgasse. 

Jedes  Schulhaus  enthäh  ;^0— 32  Lehrzimmer,  Turnhalle,  Aula, 
Schulbad,  Schulküche,  Hausmeister-  und  Heizerwohnung.  Baukosten 
5(K)— 600  000  M. 

Schöneberg.  Gemeindeschule  an  der  Apo.stel  Paulus.straße. 
l^rausebadanlagen.     Erbaut  18%/97.     Baukosten  ()00  000  M. 

Straßburg.  Drachenschule.  Eigenartiger  Grundriß  als  Eckbau. 
Fassaden  im  Charakter  der  Bauten  des    16.  Jahrhunderts. 

Ruprechtsauer  Volksschule  (32  Klassen)  mit  Pfarrhaus  und  Schul- 
dienerwohnhaus.    Gesamtkosten  420  000  M. 

Stuttgart.  Schwabschule.  Dieser  sehr  geschmackvolle,  im 
Stil  der  norddeutschen  Backsteingotik  gehaltene  Bau  umfaßt  auf  einem 
3913  qm  großen  Bauplatze-  in  3  Stockwerken  24  Schulzimmer  mit 
den  erforderlichen  Nebenräumen,  wie  Zeichensaal,  Bibliothek,  Lehrer- 
und Schulinspektorzimmer,  Brausebad  usw.  Eine  Turnhalle  ist  vor- 
handen. Die  mit  Wasserspülung  versehenen  Schüleraborte  befinden 
sich  im  Untergeschoß  des  Schulhauses  bezw.  der  Turnhalle.  Bau- 
ko.sten  ohne  den  Bauplatz  etwa  380  000  M. 

Wiesbaden.  Gutenbergschule.  Sie  besteht  aus  einem  fertig- 
gestellten Flügel  mit  16  Kla.ssen,  I  Zeichensaal,  1  Rektorzimmer, 
2  Sammlungszimmern,  I  Bibliothek,  1  Konferenzzimmer,  1  Pedellen- 
zimmer, 2  Turnhallen  übereinander,  1  Volksbibliothek,  2  Frühstücks- 
räumen, 2  Frischlüftkammern,  1  Heizkeller,  1  Nebenkeller,  I  Baderaum 
mit  8  Brausen  und  1  Ankleidezimmer.  Die  Pedellenwohnung  liegt 
im  Dachstock.  Die  Schule  wird  durch  Niederdruckdampfheizung  er- 
wärmt. 

Das  Haus  Ist  ein  Backsteinverblendbau  im  Stile  der  flandrischen 
Gotik.  Die  Fußböden  in  den  Klassen  und  in  den  Gängen  sind  mit 
Xylopal  belegt,  die  Aborte  befinden  sich  im  Gebäude,  sind  jedoch 
durch  eine  Loggia  von  dem  Gange  getrennt. 


i  58  Volksschulwesen. 

Die  Kosten  für  die  hergestellten  Baulichkeiten  einschließlich  des 
Schulhofes  und  des  Mobiliars  betragen  388  000  M.  Der  zweite  Teil 
des  Gebäudes  mit  ebenfalls  16  Klassen  wird  jetzt  errichtet  und  kostet 
:U0  000  M.  Das  Grundstück  ist  4500  qm  groß.  Die  bebaute  Fläche 
wird   1  100  qm  betragen. 

Worms.  Neusatzschule,  Baukosten  313  000  M.  Nibelungen- 
schule, Baukosten  250  000  M. 

Würzburg.  Zentralschulhaus.  Volksschulhaus  für  20  Klassen 
zu  je  ()0  Kindern.  Einseitige  Korridorbebauung.  Gruppierung  sämt- 
licher Schulräume  um  einen  nach  der  Strafte  offenen  Hof  Bauart: 
massiv  aus  Stein  und  Eisen.  Fassaden  nach  der  Straße  mit  weil.^em 
Sandstein  verkleidet.     Bauko.sten  620  000  M. 

Nach  Anlage  und  Bauplan  sind  diese  neuen  Schulen  ebenso 
verschieden  wie  nach  Umfang  und  nach  den  aufgewendeten  Mitteln. 
Nach  der  Anordnung  der  Klassenzimmer  lassen  sie  sich  in  zwei  große 
Gruppen  scheiden,  in  solche,  deren  Schulsäle  zu  beiden  Seiten  der 
Korridore  liegen  und  in  solche  mit  einer  Flucht  von  Zimmern.  Die 
erstere  Anordnung  ist  die  billigere,  weil  sie  eine  ausgiebigere  Aus- 
nutzung des  Raumes  gestattet,  aber  sie  hat  gewöhnlich  schlechte 
Belichtung  der  Korridore  und  Treppenaufgänge  zur  F"olge,  wenn  auch 
dieser  ÜbeLstand  durch  große  Fenster  an  den  beiden  Enden  der 
Korridore,  Lichtflure,  die  zugleich  zur  Unterbringung  der  Garderoben 
dienen  können,  oder  Lichthöfe  vermindert  werden  kann.  Li  einigen 
Schulen  sind  beide  Gruppierungen  der  Klassen  an  den  Korridoren  in 
den  verschiedenen  Flügeln  desselben  Gebäudes  zur  Anwendung  ge- 
bracht. Die  einreihigen  Klassenfluchten  ermöglichen  eine  gute  Be- 
lichtung der  Korridore  und  eine  bessere  Durchlüftung  der  Klassen- 
zimmer nach  der  Schulzeit. 

Neben  einer  großen  Zahl  von  neuen,  schmucklosen,  in  schlichten, 
.symmetrischen  Formen  gehaltenen,  darum  aber  h}'gienisch  und 
technisch  keineswegs  minderwertigen  Bauten  werden  in  Deutschland 
in  den  letzten  Jahrzehnten  von  den  wohlhabenderen  Gemeinden  für 
ihre  großen  Schulorganismen  moderne  Monumentalbauten  geschaffen, 
welche  nach  Anlage  und  Ausführung  zu  den  stattlichsten  Gebäuden 
der  Städte  gehören.  München  gebührt  der  Ruhm,  in  diesem  Sinne 
vorangegangen  zu  sein,  aber  auch  Berlin  und  kleinere  Städte  haben 
diese  Bahn  mit  Erfolg  betreten. 

Diese  großen  Schulbauten  lehnen  sich  im  allgemeinen  an  Bau- 
.stile  der  Vergangenheit  an  und  sind  zum  großen  Teil  in  den  Formen 
der  nordischen  Ziegelsteingotik,  der  Renaissance  oder  eines  schlichten 


Die  Schulhäuser.  "159 

Barockstils  gehalten.  Der  Gedanke,  der  den  Schöpfern  dieser  Bauten 
\•orsch^^■ebtc,  ist  der  der  künstlerischen  Erziehung  der  heranwachsenden 
Jugend.  Zu  untersuchen,  inwiefern  dieser  Zweck  durch  die  Schul- 
bauten erreicht  werden  kann,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Für  den  Päda- 
gogen, der  in  seiner  täglichen  Praxis  so  manche  in  schulhygienischer 
Hinsicht  unvollkominene  Anlagen  zu  beobachten  Gelegenheit  hat, 
bleibt  die  erste  und  unabweisliche  Forderung,  die  er  an  ein  Schulhaus 
stellt,  Luft  und  Licht  für  unsere  Kinder,  luid  für  einen  Mangel 
in  dieser  Hinsicht  kann  uns  keine  nach  dem  heutigen  Geschmack 
bewunderungswürdige  Nachahmung  eines  Prachtbaues  aus  dem  15.  oder 
l().  Jahrhundert  entschädigen.  Ein  moderner,  aus  den  Bedürfnissen 
der  Schule  her\orgegangcner,  origineller  Baustil  für  Schulhäuser  hat 
sich  bisher  noch  nicht  entwickelt,  und  es  bleibt  der  FLrfindungsgabe 
der  Architekten  auf  diesem  Felde  noch  ein  weiter  Spielraum. 

Größere  Bedeutung  für  die  künstlerische  Erziehung  als  die  Ge- 
samtanlage des  Schulhauses  kann  wohl  die  Ausschmückung  der 
einzelnen  Teile  für  sich  beanspruchen.  Die  Künstler  versuchen  hier, 
durch  sinnige  Verzierung  der  Portale,  durch  anmutige  Friese  auf  den 
Korridoren,  in  den  Klassenzimmern,  in  der  Aula  und  der  Turnhalle 
das  Kunstempfinden  der  Kinder  zu  beleben.  Da  begrül.^en  uns  schon 
an  der  Tür  als  Reliefs  an  den  Portalen  anmutige  Knaben-  und 
Mädchengestalten,  welche  mit  der  Mappe  unter  dem  Arme  zur 
Schule  kommen  oder  das  Schulhaus  verlassen,  da  lächeln  uns  von 
den  Pfeilerbändern  im  Treppenhause  fröhliche  Kindergesichter  an,  da 
sehen  wir  die  Tiere  der  deutschen  Volkssage  und  Scenen  aus  unserem 
Märchenschatz  im  Bilderbuchstil  in  langen  Bändern  die  Wände  der 
Korridore  durchziehen.  Hansel  und  Gretel,  Rotkäppchen,  die  sieben 
Schwaben,  das  Märchen  vom  Froschkönig  atmen  in  diesen  Dar- 
stellungen den  naiven  Geist  und  den  halbunbewußten  Humor  der 
Kindheit  und  tragen  nicht  wenig  dazu  bei,  die  Schulräume  anheimelnd 
und  behaglich  zu  gestalten.  Gegenüber  der  in  älteren  Schulen  vor- 
herrschenden Nüchternheit  und  Eintönigkeit  macht  sich  in  der  Aus- 
.stattung  neuerer  Volksschulen,  ich  denke  dabei  besonders  an  Volks- 
und Mittelschulen  in  Halle  und  F'rankfurt  a.  M.  sowde  an  die  neu- 
erbauten Mittelschulen  in  Breslau,  eine  Freude  an  lebhaften  F'arben 
geltend.  Rote  Türeinfassungen,  dunkelblaue  Schulbänke,  grünlich 
gehaltene  Wände  und  mancherlei  frisches,  farbenfröhliches  Ornament 
erinnern  zuweilen  an    die  bunte  Pracht  oberbayerischer  Bauernmöbel. 

Die  Ausstattung  der  Schulhäuser  mit  Schul  Utensilien  ein- 
gehend darzulegen,  verbietet  der   beschränkte    Raum.     Das  Minimum 


1 50  V'olksschulwesen. 

dessen,  was  in  Preußen  in  dieser  Hinsicht  gefordert  wird,  geben  die 
Allgemeinen  Bestimmungen  des  Königl.  preußischen  Ministers  der 
geistlichen,  Unterrichts-  und  Medizinal-Angelegenheiten  betreffend  die 
Volks-  und  Mittelschule  vom    15.  Oktober  1872    folgendermaßen    an: 

,,Das  Schulzimmer  muß  mindestens  so  groß  sein,  daß  auf  jedes 
Schulkind  ein  Flächenraum  \on  0,6  qm  kommt;  auch  ist  dafür  zu 
sorgen,  daß  es  hell  und  luftig  sei,  eine  gute  Ventilation  habe,  Schutz 
gegen  die  Witterung  gewähre  und  ausreichend  mit  Fenstervorhängen 
versehen  sei.  Die  Schultische  und  Bänke  müssen  in  ausreichender 
Zahl  vorhanden  und  so  eingerichtet  und  aufgestellt  sein,  daß  alle 
Kinder  ohne  Schaden  für  ihre  Gesundheit  sitzen  und  arbeiten  können. 
Die  Tische  sind  mit  Tintenfässern  zu  versehen. 

Zur  ferneren  Ausstattung  des  Schulzimmers  gehört  namentlich 
eine  hinreichende  Anzahl  von  Riegeln  für  die  Mützen,  Tücher, 
Mäntel  u.  dergl;  ferner  eine  Schultafel  mit  Gestell,  eine  Wandtafel, 
ein  Katheder  oder  ein  Lehrertisch  mit  Verschluß,  ein  Schrank  für  die 
Aufbewahrung  von  Büchern  und  Heften,  Kreide  und  Schwamm." 

Übersichten  über  die  besten  eingeführten  Subsellien,  Schultafcln, 
Kartenständer  u.  dergl.  bieten  die  meisten  deutschen  Schulmuseen. 
Die  Frage,  welche  Schulbänke  in  den  Volksschulen  zu  verwenden 
sind,  beschäftigt  gegenwärtig,  \\o  man  in  den  Städten  überall  mit 
den  veralteten  drei-,  vier-  und  mehrsitzigen  Schulbänken  mit  Plus- 
distanz aufzuräumen  beginnt,  die  Schulverwaltungen  und  i\ufsichts- 
behörden.  Neue  Systeme  zweisitziger  Schulbänke,  zum  Teil  mit 
fester  Minusdistanz,  zum  Teil  mit  Klapptischen  und  Pendelsitzen  oder 
mit  diesen  beiden  Einrichtungen  zugleich,  dienen  fast  überall  zur 
Ausstattung  neuer  Schulbauten.  Bei  vielen  Gemeinden  spielt  bei  der 
Auswahl  der  Schulbänke  der  Gesichtspunkt  eine  Rolle,  daß  die  Sub- 
sellien, wenigstens  die  der  oberen  Volksschulklassen,  geeignet  sein 
müssen,  auch  die  Schüler  der  neuerdings  organisierten  obligatorischen 
Fortbildungsschule  für  Jünglinge  im  nachschulpflichtigen  Alter  aufzu- 
nehmen, für  welche  bisher  eigene  Schulhäuser  nur  in  den  seltensten 
Fällen  errichtet  worden  sind.  Für  diese  Zwecke  werden  dann  Bank- 
systeme mit  verstellbarer  Sitz-  und  Pulthöhe  bevorzugt.  Einige 
Städte  haben  ihre  eigenen  Schulbänke  eingeführt,  so  Hanno\'er  die 
freistehende  Spellmannsche  Bank  mit  Plusdistanz  und  verschiebbarer 
Tischplatte,  Frankfurt  a.  M.  die  Frankfurter  Schulbank  mit  P'.isen- 
konstruktion,  Pendelsitz  und  emporzuklappender  Tischplatte.  Meistens 
wird  in  neueren  Schulen  jede  Klasse  mit  3 — 4  dem  Wuchs  der 
Kinder  angepaßten  Bankgrößen  ausgestattet.     Für    alle    Banksysteme 


Die   Schulhäuser.  ]()] 

sind  zwei  Gesichtspunkte  in  erster  Linie  entscheidend,  erstens  inwie- 
fern sie  den  Kindern  eine  für  alle  ihre  Beschäftigungen  in  der  Schule 
hygienisch  einwandsfreie  Sitzgelegenheit  bieten,  und  zweitens  inwieweit 
sie  eine  gründliche  Reinigung  des  Fußbodens  der  Schulklasse  ermög- 
lichen. Besonders  das  letztere  Ziel  scheint  in  hervorragendem  Maße 
die  Rettigsche  Schulbank  zu  erreichen,  welche  zur  Zeit  bereits  in 
nahezu  100  deutschen  Gemeinden  zur  Einführung  gelangt  ist.  Ihr 
Hauptvorzug  besteht  darin,  daß  sich  Bank  und  Tisch  zugleich  ohne 
Mühe  seitwärts  umklappen  lassen,  und  daß  auf  diese  Weise  eine 
gründliche  Reinigung  des  Fußbodens  sehr  erleichtert  wird. 

Eine  der  wichtigsten  Bedingungen  für  die  Hygiene  der  Volks- 
schule i.st  die  Reinhaltung  der  Schulräume.  Diese  bildet  die 
Hauptobliegenheit  der  Schuldiener,  und  die  Vorschriften  bezüglich  der 
Häufigkeit  und  Gründlichkeit,  mit  der  diese  Reinigungen  vorgenommen 
werden  müssen,  sowie  die  Höhe  der  für  diesen  Zweck  bewilligten 
Mittel  sind  ein  ziemlich  zuverlässiger  Maßstab  für  die  Einsicht  und 
das  Interesse,  welche  die  lokalen  Organe  der  Verwaltung  der  Volks- 
schule entgegenbringen.  Die  wichtigsten  diesbezüglichen  Abschnitte 
aus  der  Dienstanweisung  für  die  Schuldiener  an  den  städtischen 
öffentlichen  Schulen  zu  Frankfurt  a.  M.  vom  17.  August  1900  mögen 
hier  folgen: 

,, Sämtliche  Räume  der  Schule,  soweit  sie  nicht  nachstehend 
ausgenommen  sind,  also  insbesondere  die  Klassenzimmer,  das  Amts- 
zimmer des  Dirigenten,  Konferenz-  und  Lehrerzimmer,  Stiegen,  Vor- 
plätze, Aborte,  Pissoirs  usw.  samt  den  darin  befindlichen  Gerät- 
schaften, sind  täglich  zu  reinigen.  Die  Reinigung  geschieht  durch 
gründliches  Auskehren  mit  feuchten  Sägespänen  und  darauffolgendes 
Abstauben. 

Das  Abwischen  des  Staubes  von  den  Tischen  und  Bänken  hat 
nach  jedem  Auskehren  zu  geschehen;  zweimal  in  der  Woche  (in  der 
Regel  Mittwochs  und  Samstags)  ist  der  Staub  auch  von  Bücher- 
brettern, Schränken,  Ofenkacheln  mit  feuchten  Tüchern  abzunehmen; 
die  eisernen  Bestandteile  sind  nur  mit  trockenen  Tüchern  abzuputzen. 

Die  vorhandenen  Spucknäpfe  .sind  zweimal  wöchentlich  zu  reinigen 
und  mit  Salzwasser  zu  füllen. 

Wöchentlich  einmal  sind  nach  dem  gründlichen  Auskehren 
sämtliche  Räume  aufzuwaschen.  Hierbei  sind  die  Beschläge  zu 
reinigen  und  die  Tischplatten  feucht  abzuwischen. 

Vierteljährlich  findet  eine  gründliche  Hauptreinigung  der  ge- 
nannten   Räume  mit  warmem  Wasser,    Seife,    Soda  und  Bürste  statt, 

L>as   Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  11 


■|(^2  Volksschulwesen. 

nachdem  zuvor  an  den  Decken  Und  Wänden  sow  eit  tunlich  der  Staub 
gekehrt  ist  und  die  beweglichen  Schulbänke  auseinandergerückt 
worden  sind.  Getäfel  und  Mobiliar  sind  alsdann  mit  warmem  Wasser 
und  Seife  abzuwaschen,  ebenso  die  Fenster  auf  der  Innen-  und 
Außenseite.  Auch  sind  hierbei  Türgriffe,  Schulbänke  und  Tisch- 
gestelle, Beschläge  usw.  sachgemäß  zu  reinigen;  Dachräume, 
Speicher  und  Kellerräume  sind  stets  besenrein  zu  halten. 

Die  Fenster,  auch  diejenigen  der  Turnhalle,  sind  außer  bei 
der  Hauptreinigung  noch  einmal  im  Vierteljahr  v^on  innen  und  außen 
zu  putzen. 

Die  Bibliothekräume  und  Sammlungszimmer  sind  mindestens 
einmal  wöchentlich  zu  kehren,  monatlich  feucht  aufzuziehen,  bei  der 
Hauptreinigung  zu  scheuern. 

Die  Reinigung  der  Aula  findet  regelmäßig  bei  der  viertel- 
jährlichen Hauptreinigung  und  vor  jeder  Benutzung  statt. 

Die  Böden  der  Turnhallen  sind  wöchentlich  einmal  aufzu- 
waschen  und  täglich  mit  feuchten  Sägespänen  gründlich  auszukehren. 
Bei  Bedarf  kann  öftere  Reinigung  am  Tage  angeordnet  werden.  Bei 
allen  diesen  Reinigungen  ist  der  Staub  von  den  Geräten  mit  feuchten 
Tüchern,  von  den  Außenteilen  eiserner  Öfen  mit  trockenem  Tuche 
abzunehmen." 

Gegenüber  den  großen  steinernen  Schulhäusern  der  V^ergangen- 
heit  und  der  Gegenwart  bilden  nun  die  Schulpavillons  ein  ganz 
eigenartiges  System  zur  Unterbringung  von  Schulkindern.  Dieses 
System,  dem  von  manchen  Pädagogen  eine  große  Zukunft  verheißen 
wird,  ist  bisher  in  Deutschland  in  zwei  besonderen  Formen  zur  An- 
wendung gekommen,  als  eigentliches  Pavillonsystem  und  als  Gruppe 
von  transportablen  Schulbaracken  aus  leichtem  Baumaterial.  Als 
Anlagen  der  ersten  Klasse  kommen  in  Deutschland  nur  die  Pavillon- 
schule zu  Ludwigshafen  am  Rhein  und  die  vierte  Gemeindeschule  zu 
Lichterfelde  bei  Berlin  in  Betracht. 

Die  einzelnen  Häuser,  welche  die  Klassenzimmer  und  Neben- 
räume einschließen,  sind  hier  aus  Stein  aufgeführt  und  können  daher 
•  nicht  transloziert  werden.  Unter  den  transportablen  Baracken  haben 
die  Döckerschen  in  Gießen,  Bremen,  Remscheid,  Worms,  Elberfeld, 
Hamburg,  Stuttgart,  Mainz,  Altona,  Straßburg,  München,  Bamberg 
und  kürzlich  auch  in  Berlin  VerAvendung  gefunden.  Sie.  werden  ihrer 
Konstruktion  nach  als  die  empfehlenswertesten  Anlagen  dieser  Art 
angesehen  werden  können.  Näheres  über  diese  Frage  vom  Stand- 
punkte der  fZmpfehlung  der  Schulbaracke  ist  zu  finden  in  der  Schrift 


Die  Schulhäuser.  "j  53 

von  H.  Th.  Matthias  Meyer  „Die  Schulstätten  der  Zukunft",  Leopold 
Voß,  Hamburg  1903.  Die  Momente,  welche  für  das  Pavillon-  bezw. 
Barackensystem  und  gegen  dasselbe  sprechen,  werden  von  dem  Stadt- 
baurat Höpfner  in  Kassel  in  dem  bereits  oben  zitierten  Vortrage 
kurz  folgendermaßen  zusammengefaßt  (S.  7): 

„Als  Vorteile  dieser  Bauweise  werden  u.  a.  angeführt  die  Mög- 
lichkeit, die  Größe  der  Schule  ganz  dem  jeweiligen  Bedürfnis  durch 
Erbauung  einzelner  Pavillons  anpassen  zu  können,  die  Möglichkeit 
einer  besonders  guten  Lüftung  und  Beleuchtung  der  Lehrräume,  der 
Fortfall  der  Treppen,  die  Möglichkeit,  beim  Auftreten  ansteckender 
Krankheiten  durch  Schließung  einzelner  Klassen  die  Schließung  der 
ganzen  Schule  zu  vermeiden,  die  Anordnung  getrennter  Spielplätze  usw. 
Wenn  nun  auch  die  Erfahrungen  über  dieses  Schulbausystem  noch 
keineswegs  als  abgeschlossen  gelten  können,  so  scheinen  doch  diesen 
vermeintlichen  Vorzügen  ebenso  große  Nachteile  entgegenzustehen, 
wie  z.  B.  das  Fehlen  von  Korridoren,  in  welchen  sich  die  Schüler 
während  der  Pausen  bei  ungünstigem  Wetter  auflialten  können,  die 
Unmöghchkeit,  Einrichtungen,  die  der  ganzen  Schule  dienen,  wie  z.  B. 
das  Schulbad,  zweckmäßig  unterzubringen,  und  die  hierin  liegende 
Unzuträglichkeit  bei  deren  Benutzung,  die  mit  dem  allmählichen  Aus- 
bau einer  Schule,  der  übrigens  in  rasch  wachsenden  Städten  wohl 
kaum  je  in  Frage  kommen  wird,  verbundenen  häufigen  Störungen 
des  Schulbetriebes  durch  die  Bauausführungen,  die  in  schultechnischer 
Hinsicht  bedenkliche  Unübersichtlichkeit  der  ganzen  Anlage,  nament- 
lich der  Spielplätze,  die  Schwierigkeit  der  Beheizung  einzelner  Schul- 
gebäude im  Vergleich  zu  der  eines  Massenschulhauses  und  was  der- 
gleichen mehr  ist.  Der  Hauptgrund  aber,  der  sich  der  weiteren 
Verbreitung  dieser  Bauweise  entgegensetzen  dürfte,  scheint  mir  der 
zu  sein,  daß  es  in  größeren  oder  auch  in  kleineren,  einigermaßen 
rasch  wachsenden  Städten  kaum  möglich  sein  möchte,  ohne  den 
Schuletat  ganz  erheblich  mehr,  als  jetzt  schon  der  Fall,  zu  belasten, 
das  erforderliche  Gelände  zu  erwerben,  das  beim  Pavillonsystem,  wie 
es  in  Ludwigshafen  zur  Ausführung  gekommen  ist,  etwa  die  drei- 
fache Größe  von  demjenigen  hat,  welches  zum  Bau  einer  Schule 
desselben  Umfanges  nach  dem  Korridorsystem  gebraucht  worden  wäre." 

Ob  die  von  bautechnischer  Seite  betonten  Mängel  des  Pavillon- 
systems sich  nicht  durch  geeignete  Maßnahmen  gänzlich  beseitigen 
lassen,  soll  hier  nicht  erörtert  werden.  Es  wird  aber  doch  zu  er- 
wägen sein,  ob  nicht  die  sich  rapide  entwickelnde  Technik  der  Ver- 
kehrsmittel,   insbesondere    die    Fortschritte    in    der    Anlage   der  elek- 

11* 


'1 54  \'olksschulwesen. 

trischen  Schnellbahnen,  in  Zukunft  die  Möglichkeit  schaffen  wird, 
die  Schulen  der  großen  Städte  weit  hinaus  aus  dem  von  Rauch  und 
Dunst  überlagerten  Weichbilde  der  Großstadt  in  Rerg,  Wiese  und 
Wald  zu  \'erlegen. 

Das  Singen  des  Windes  in  den  Tannen,  das  Rauschen  der 
Bäche,  das  Summen  der  Bienen  und  das  Zwitschern  der  Waldvögel 
würde  jedenfalls  eine  heilsamere  Musik  für  die  jungen  Seelen  der 
Kinder  sein,  als  der  Lärm  und  das  Geschrei  der  Grol'«tadt,  ihr 
Wagengerassel,  das  Donnern  der  elektrischen  Bahnen,  das  Geheul 
der  Dampfpfeifen  in  den  Fabriken  und  das  Tuten  vorbeirasender 
Automobile. 


KAPITEL  VI. 
Die  Lehrkräfte  der  Volksschule. 


I.    Anstellun*^   und  Besoldung   der   Lehrkräfte. 

Nach    der    Art    ihrer  AnsteUung  befanden    sich  die  preußischen 
Lehrer  und  Lehrerinnen  in  folgenden  Verhältnissen: 
Tabelle  1. 


Bezeichnung   der   amtlichen  Stellung 
und  der  Anstellungsart 

In  den 
Städten 

Auf  dem 
Lande 

Im  ganzen 
Staate        | 

A.  Rektoren  und  Hauptlehrer: 

ai  endgültig  angestellte 

b)  einstweilig  od.  auftragsweise  angestellte 
cl  unbesetzte  Stellen 

3147 
43 
56 

3  087 

7 
31 

6  234 
50 
87 

zusammen  . 
B.  Ordentliche  Lehrer: 

a)  endgültig  angestellte 

b)  einstweilig  angestellte 

c)  unbesetzte  Stellen 

3  246 

21  730 

1  500 

396 

3  125 

34  137 

10  928 

1  271 

6  371 

55  867 

12  428 

1          1  667 

zusammen  .     . 
C.  Ordentliche  Lehrerinnen : 

a)  endgültig  angestellte 

b)  einstweilig  angestellte        

c)  unbesetzte  Stellen 

1        23  626 

6  657 

1  404 

64 

46  336 

3  338 

1  323 

44 

1        69  962 

9  995 

■          2  727 
1             108 

zusammen   .     . 
D.  Technische  Lehrer: 

a)  endgültig  angestellte 

b)  einstweilig  angestellte 

1         8125 

'                8 
1 

4  705 

12  830 

8 

1 

zusammen  . 
E.  Technische  Lehrerinnen: 

a)  endgültig  angestellte 

b)  einstweilig  angestellte 

9 

772 
199 

39 
26 

9 

811 
225 

zusannnen   . 
F.  Hilfskräfte  für  einzelne  Fächer: 

a)  Lehrer 

971 

123 
3  272 

65 

8 

29  790 

1  036 

131 
33  062 

zusammen  .     . 
Lehrkräfte  bez.  Stellen  überhaupt: 
j       a)  vorhandene  vollbeschäftigte  Lehrkräfte 

b)  unbes.  Stellen  für      „ 

c)  Hilfskräfte 

3  395 

35  461 

516 

3  395 

29  798 

52  885 

1  346 

29  798 

33  193 

88  346 

1  862 

33  193 

zusammei 


84  029 


123  401 


166 


Volksschulwesen . 


Über  die  gleichen  Verhältnisse  in  Bayern,  Sachsen  und  Württem- 
berg geben  die  Tabellen  2  und  3  Auskunft: 


Tabelle  2.    Amtliche  Stellung  und  Anstellungsart  der  Lehrkräfte. 
1.   Im  Königreich  Bayern  im  Schuljahr  1899/1900. 


Bezeichnung  der  Anstellungsart 

männlich 

weiblich 

zusammen 

Ordentliche  Lehrer 

Fachlehrer 

12214 

114 

6  464 

2  623 
5  065 

14  837 
5179 

6  464 

Religionslehrer 

zusammen  .     .     . 
Hierzu  Lehrer  an  Privatschulen     .     . 
Lehrkräfte  überhaupt 

18  792 
91 

7  688 

26  480 
91 

18  883 

7  688 

26  571 

2.  Im  Königreich  Sachsen   (nach  der  Erhebung  vom  1.  Dezember   1899j 


Bezeichnung  der  amtlichen  Stellung  bezw. 
der  Anstellungsart 

männlich 

weiblich 

zusammen 

350 

902 

6  906 

1533 

71 

241 

1 

267 

99 

18 

16 

350 

903       1 

7  173       1 

1632       i 

89       1 

257 

121 

Oberlehrer  bezw.  dirigierende  Lehrer    .     . 
Ständige  Lehrer 

Hilfslehrer 

Fachlehrer 

Vikare 

Unbesetzte  Stellen        

zusammen  .     .     . 

Hierzu   Nadelarbeitslehrerinnen    (einschl. 

12  unbes.  Stellen) 

Lehrkräfte  bezw.  Stellen  überhaupt     . 

10  003 

401 
2  384 

10  525 
2  384       ■ 

10  003 

2  785 

12  909       1 

Tabelle  3. 

Im  Königreich  Württemberg  waren  am  1.  Januar  1903  vorhanden: 

1.  ständige  Stellen 

a)  mit  Lehrern  besetzt 3  494 

b)  mit  Lehrerinnen  besetzt 51 

c)  unbesetzt 171 

zusammen  3  716 

2.  sogenannte  ständige  Schulamtsverwesereien    .  77 

3.  Unterlehrerstellen 448 

4.  Lehrgehilfenstellen 833 

Stellen  überhaupt  5  074 

Über    das    Dienstalter    und    Lebensalter  der    preußischen    Lehr- 
kräfte geben  folgende  Übersichten  Rechenschaft: 


Die 

Lehrkräfte  c 

er  Volksschule. 

167 

Tabelle  4. 

Lehrer    und  Lehrerinnen    in  Preußen    nach    <1 

em 

Dienstalter 

*l 

Am  27.  Juni    1901    hatten 

i'm  Dienstalt 

er  von 

t—  4 

Jahren'   12  356  Lehrer  und 

2  951    Lehrerinnei 

,  zus 

15  307 

Lehrkräfte 

5—  7 

7  944 

2  850 

,, 

10  794 

„ 

8—10 

7619 

„ 

1  559 

„ 

9  178 

11—15 

1 1  306 

„ 

1  939 

„ 

13  245 

16—20 

11322 

„ 

1  733 

13  055 

, 

21-25 

8  501 

„ 

1  401            „ 

„ 

9  902 

, 

26-30 

5  648 

V 

769 

„ 

6417 

31—39 

7  473 

„ 

486 

„ 

7  959 

40—49 

2  264 

„         ,> 

60 

„ 

2  324 

50  und 

ne 

11-    „         97 

2 

„ 

99 

, 

zusammen    .  .     74  530  Lehrer  und   13  750  Lehrerinnen,  zus.  88  280  Lehrkräfte 

Hierzu  unbesetzte  Stellen       1754        „         „  108  „  „        1862 


im  ganzen 


76  284  Lehrer  und   13  858  Lehrerinnen,  zus.  90  1 42  Lehrkräfte 


Lehrer  und  Lehrerinnei 


Preußen  nach  dem  Lebensalter.**) 


Am  27.   Juni  1901    standen  im  Lebensalter  von 


unter  20 

Jahren 

130  Lehrer 

und 

86  Lehrerinnen,  zus.        216 

20—25 

12  020 

2  460 

„     14  480 

25—30 

13  803 

2  734 

,      16  537 

30-35 

„ 

10  248 

„ 

2151 

,     12  399 

35—40 

12  276 

2  237 

,      14513 

40—45 

8  672 

1  639 

,      10311 

45—50 

6  216 

1  142 

,       7  358 

50—55 

„ 

4  249 

„ 

675 

,       4  924 

55—60 

3  780 

398 

,       4178 

60—65 

„ 

2  300 

180 

,       2  480 

65—70 

709 

43 

752 

über  70 

„ 

185        „ 

13 

198 

.ehrkräfte 


zusammen  .     . 
Hierzu  unbesetzte  Stellen 


74  588  Lehrer  und  13  758  Lehrerinnen,  zus. 
1  754        „         „  108 


58  346  Lehrkräfte 
1  862 


im  ganzen  .     .     .     76  342  Lehrer  und    13  866  Lehrerinnen,  zus.  90  208  Lehrkräfte. 

Für  die  Besoldung  der  Lehrkräfte  in  Deutschland  gibt  es  keine 
einheitlichen  Gesichtspunkte,  doch  mögen  hier  die  wichtigsten  der  in 
einigen  deutschen  Staaten  geltenden  Bestimmungen  über  die  Lehrer- 
besoldung ihren  Platz  finden. 

In  Preußen  sind  durch  das  Lehrerbesoldungsgesetz  vom  o.  März 
1897  feste  Grundsätze  für  die  Gehaltsbezüge  der  Lehrer  geschaffen 
worden.  Die  wichtigsten  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  mögen  hier 
im  Wortlaut  folgen: 


*)  Ohne  technische  Lehrkräfte. 
**)  Mit  Einschluß  der  technischen  Lehrkräfte. 


1  (^g  Volksschulwesen . 

§  1 .  Diensteinkommen  der  Lehrer  mid  Lehrerinnen  an  den  öffentlichen  \  olks- 
schulen.  —  Die  an  einer  öffenüichen  Volksschule  endgültig  angestellten  Lehrer  und 
Lehrerinnen  erhalten  ein  festes,  den  örthchen  \'erhältnissen  und  der  besonderen  Amts- 
stellung angemessenes  Diensteinkommen.     Dasselbe  besteht: 

L  in  einer  festen,  ihrem  Betrage  nach  in  einer  bestimmten  Geldsumme  zu  be- 
rechnenden Besoldung  (Grundgehalt), 

2.  in  Alterszulagen, 

3.  in  freier  Dienstwohnung  oder  entsprechender  Mietsentschädigung. 

Auf  Lehrer  und  Lehrerinnen,  deren  Zeit  und  Kräfte  durch  die  ihnen  über- 
tragenen Geschäfte  nur  nebenbei  in  Anspruch  genommen  sind,  findet  diese  Vorschrift 
keine  Anwendung. 

Die  Entscheidung  darüber,  ob  ein  Lehrer  oder  eine  Lehrerin  nur  nebenbei  be- 
schäftigt ist,  steht  lediglich  der  Schulaufsichtsbehörde  zu. 

§  2.  Grundgehalt.  —  Das  Grundgehalt  darf  für  Lehrerstellen  nicht  weniger  als 
900  M.,  für  Lehrerinnenstellen  nicht  weniger  als  700  M.  jährhch  betragen. 

Rektoren,  sowie  solche  erste  Lehrer  an  Volksschulen  mit  drei  oder  mehr  Lehr- 
kräften, denen  Leitungsbefugnisse  übertragen  sind  (Hauptlehi-er),  erhalten  nach  Maßgabe 
der  örtlichen  und  amtlichen  X'erhältnisse  ein  höheres  Grundgehalt  als  die  andern  an  der- 
selben Schule  angestellten  Lehrer. 

§  3.  Besoldung  der  jüngeren  Lehrer  und  der  einstweilig  angestellten  Lehrer  und 
Lehrerinnen.  —  Die  Besoldung  der  einstweiHg  angestellten  Lehrer  und  Lehrerinnen,  so- 
wie derjenigen  Lehrer,  welche  noch  nicht  vier  Jahre  im  öffentlichen  Schuldienste  ge- 
standen haben,  beträgt  ein  Fünftel  weniger  als  das  Grundgehalt  der  betreffenden 
Schulstelle.  Jedoch  darf  die  Besoldung  der  Lehrerinnen  nicht  weniger  als  700  M.  jähr- 
lich betragen. 

Der  Minderbetrag  kann  ciuiL,h  iJeschluß  des  Schulverbandes  auf  einen  geringeren 
L-r  :chteil  beschränkt  werde::. 

§  4.  X'erbindLing  eines  Schul-  und  Kirchenamtes.  —  Bei  dauernder  Verbindung 
eines  Schul-  und  Kirchenamtes  soll  das  Grundgehalt  der  Stelle  entsprechend  der  mit 
dem  kirchlichen  Amte  verbundenen  Mühewaltung  ein  höheres  sein,    als  in  den  §§   1    und 

2  bestimmt  ist. 

§  5.  Alterszulagen.  —  Die  Alterszulagen  sind  nach  iVIaßgabe  der  örtlichen  Ver- 
hältnisse in  der  Weise  zu  gewähren,  daß  der  Bezug  nach  siebenjähriger  Dienstzeit  im 
öffentlichen  Schuldienst  beginnt,  und  daß  neun  gleich  hohe  Zulagen  in  Zwischenräumen 
von  je  drei  Jahren  gewährt  werden. 

§  6.  Höhe  der  Alterszulagen.  —  Die  Alterszulage  darf  in  keinem  Pall  weniger 
betragen  als: 

1.  für  Lehrer  jährlich  100  M.,  steigend  von  drei  zu  drei  Jahren  um  je  100  M. 
bis  auf  jähriich  900  M., 

2.  für  Lehrerinnen  jährlich  80  M.,  steigend  von  drei  zu  drei  Jahren  um  je  80  M. 
bis  auf  jähriich  720  M. 

§  8.  Alterszulagekassen.  —  Behufs  gemeinsamer  Bestreitung  der  Alterszulagen 
wird  für  die  zur  Aufbringung  verpflichteten  Schulverbände  in  jedem  Regierungsbezirk 
(ausschließlich  der  Stadt  Berlin)  eine  Kasse  gebildet. 

Die  Verwaltung  der  Alterszulagekasse  erfolgt  durch  die  ßezirksregierung. 

§  10.  Berechnung  der  Dienstzeit  für  die  Gewährung  des  vollen  Grundgehalts, 
der  Alterszulagen  und  der  Mietsentschädigung.  —  Bei  Berechnung  der  Dienstzeit  der 
Lehrer  und  Lehrerinnen  kommt  die  gesamte  Zeit  in  Ansatz,  während  welcher  sie  im 
öffentlichen  Schuldienst  in  Preußen  oder  in  den  nach  ihrem  Eintritt  in  den  öffenthchen 
Schuldienst  von  Preußen  erworbenen  Landesteilen  sich  befunden  haben. 

Ausgeschlossen  bleibt  die  .\nrechnung  derjenigen  Dienstzeit,  während  welcher  die 


Die  Lehrkräfte  der  \'olksschule.  |()9 

Z(,it  und  Kräfte  eines  Lelirers  oder  einer  Lehrerin  nach  der  Entscheidung  der  SchuL 
aufsiclitsbehörde  durch  die  ihnen  übertragenen  Geschäfte  nur  nebenbei  in  Anspruch  ge- 
nommen gewesen  sind. 

Die  Dienstzeit  wird  vom  Tage  der  ersten  eidlichen  \erpflichtung  für  den  öHent- 
liclien  Schuldienst  an  gerechnet. 

Der  Dienstzeit  im  Schulamt  wird  die  Zeil  des  aktiven  Militärdienstes  hinzu- 
gerechnet. 

Die  Dienstzeit,  welche  vor  I>eginn  des  einundzwanzigsten  Lebensjahres  fällt,  bleibt 
außer  Berechnung. 

§  12.  Dienstwohnung.  —  Wo  seither  Lehrern  oder  Lehrerinnen  freie  Dienst- 
wohnung gewährt  wurde,  ist  die  Einziehimg  der  Wohnung  nur  mit  Genehmigung  der 
Schulaufsichtsbehörde  zulässig. 

I^ie  Genehmigung  darf  nicht  versagt  werden,  wenn  die  Gemeinde  sich  bereit  er- 
klärt, die  feststehende  oder  eine  ausreichende  Mietsentschädigung  zu  zahlen,  und  wenn 
genügende  Mietswohnungen  in  der  Gemeinde  vorhanden  sind. 

§  13.  Dienstwohnung  auf  dem  Lande.  —  Auf  dem  Lande  sollen  erste  und 
alleinstehende  Lehrer  in  der  Regel,  bei  vorhandenem  Bedürfnis  auch  andere  Lehrer  und 
Lehrerinnen  eine  freie  Dienstwohnung  erhalten. 

§  16.  Mietsentschädigung.  —  Als  Mietsentschädigung  für  die  Lehrer  und  Lehre- 
rinnen ist  eine  Geldsumme  zu  gewähren,  die  eine  ausreichende  Entschädigung  für  die 
nicht  gewährte  Dienstwohnung  darstellt;  sie  soll  aber  in  der  Regel  ein  Fünftel  des 
(Grundgehalts  und  des  für  die  Schulstelle  von  dem  Schulverbande  zu  zahlenden  Alters- 
zulagekassenbeitrags  nicht  übersteigen. 

Einstweihg  angestellte  Lehrer  und  unverheiratete  Lehrer  ohne  eigenen  Hausstand, 
sowie  diejenigen  Lehrer,  welche  noch  nicht  vier  Jahre  im  öffentüchen  Schuldienst  ge- 
standen haben,    erhalten  in  der  Regel  eme  um  ein  Drittel  geringere  Mietsentschädigung. 

Über  die  sich  aus  diesen  Grundsätzen  ergebenden  Dienst- 
einkommensverhältnisse der  Lehrer  und  Lehrerinnen  bietet  die 
Tabelle  5  auf  Seite    1 70  eine  Übersicht. 

Für  Bayern  bietet  das  Schulbedarfsgesetz  vom  2o.  Juli  1902  die 
gesetzliche  Grundlage  für  die  Lehrerbesoldung.  Es  heißt  daselbst  im 
dritten  Abschnitt  Artikel  7: 

L    Die  Mindestgehalte  betragen 

für  Volksschullehrer      . 1200  M., 

„    Volksschullehrerinnen       ....      1000    „ 

„    Schulverweser 1000    „ 

„    Schulverweserinnen 900    „ 

„    Hilfslehrer 820    „ 

„     Hilfslehrerinnen 820    „ 

IL  Das  Einkommen  aus  einem  mit  dem  Schuldienste  verbundenen  Kirchendiensle 
( Meßner-,  Kantoren-,  Chorregenten-  und  Organistendienste)  wird  in  die  im  vorigen  Absätze 
festgesetzten  Mindestgehalte  nur  insoweit  eingerechnet,  als  es  die  Summe  von  200  M. 
jährlich  übersteigt. 

Artikel  8: 
L     Gemeinden  unter  2500  Seelen  sind  verpflichtet,  dem  Lehrj^ersonale  freie  Dienst- 
wohnungen zur  Verfügung  zu  stellen.     Diese  haben  zu  bestehen  bei  Volksschullehrern   in 
einer    für    den    Bedarf    einer    Familie    ausreichenden    Wohnung    mit    den    erforderlichen 
Wirtschaftsräumen,    bei  \olksschullehrerinnen,    ferner    bei    Schulverwesern    im    Falle    des 


170 


^'olksscllulweseI] 


Tabelle  5.    Tatsächliche  Besoldung  der  Lehrer  und  Lehrerinnen   in 
Preußen,  einschließlich  der  unbesetzten  Stellen.*) 


Es  bezogen  ein 
Einkommen  von 


Lehrer   (einschl.  Rektoren) 


Lehrerinnen 


in  den     I   auf  dem 
Städten    '     Lande 


zusammen 


in  den 
Städten 


zusammen  1 


700—  750 

■        — 

324 

324 

8 

34 

42 

751-  800 

o 

791 

793 

19 

82 

101 

801—  850 

14 

948 

962 

106 

196 

302 

851—  900 

52 

2  175 

2  227 

178 

294 

472 

901—  950 

122 

1  924 

2  046 

185 

218 

403 

951—1000 

117 

1  873 

1990 

284 

320 

604 

1001—1050 

189 

1508 

1697 

248 

326 

574 

1051—1200 

695 

5125 

5  820 

1050 

822 

1  872 

1201—1350 

1009 

4  661 

5  670 

1  115 

670 

1785 

1351—1500 

1  529 

4121 

5  650 

1  280 

692 

1972 

1501—1650 

1  396 

4  223 

5  619 

1  431 

432 

1863 

1651—1800 

2  005 

3  937 

5  942 

844 

322 

1  166 

1801—1950 

2  273 

3  609 

5  882 

699 

204 

903 

1951—2100 

1  973 

3  474 

5  447 

392 

92 

484 

2101—2250 

2176 

2  809 

4  985 

417 

24 

441 

2251-2400 

2  053 

2  169 

4  222 

330 

26 

356 

2401  -2550 

1  486 

1  596 

3  082 

207 

12 

219 

2551—2700 

1  728 

1340 

3  068 

58 

2 

60 

2701—2850 

1404 

947 

2  351 

234 

1 

235 

2851—3000 

1223 

678 

1  901 

3 

— 

3 

3001—3300 

1  643 

705 

2  348 

1 

— 

1 

3301—3600 

1572 

329 

1901 

— 

— 

— 

3601—3900 

868 

127 

995 

— 

— 

— 

3901—4200 

425 

29 

454 

— 

— 

— 

4201—4500 

528 

11 

539 

— 

— 

— 

4501—4800 

94 

4 

98 

— 

— 

— 

4801—5100 

67 

1 

68 

— 

— 

— 

über  5100 

201 

2 

203 

— 

— 

— 

zusammen         26  844 


49  440        76  284 


9  089 


4  769 


13  858 


Artikel  4  Absatz  I  in  einer  die  Führung  eines  selbständigen  Haushalts  ermöglichenden 
Wohnung,  bei  dem  übrigen  Lehrpersonal  in  einem  geräumigen  heizbaren  Wohnzimmer. 
Die  Gewährung  einer  Mietsentschädigung  an  Stelle  der  Dienstwohnung  ist  nm"  mit 
Genehmigung  der  Kreisregierung  zulässig. 

IL  Li  allen  übrigen  Fällen  sind  die  Gemeinden  zur  Gewähnmg  von  Miets- 
entschädigungen nach  den  ortsüblichen  Mietpreisen  für  Wohnungen  der  im  vorigen 
Absätze  bezeichneten  Beschaffenheit  verpflichtet. 


*)  Es  handelt  sich  bei  den  4  Abstufungen  von  700—900  M.  um  Lehrer,  die  noch 
nicht  endgiltig  angestellt  sind,  oder,  die  zwar  endgiltig  angestellt  sind,  aber  noch  kein 
Dienstalter  von  4  Jahren  haben. 


Die   Lehrkräfte  der  Volksschule.  I7i 

Artikel  9: 
I.  Zu  den  nach  Artikel  7  bestimmten  Anfangsgehalten  werden  den  Volksschullehrem 
und  Volksschullehrerinnen,  den  Schulverwesem  und  Schulverweserinnen  Dienstalterszulagen 
aus  der  Staatskasse  nach  jeweiliger  finanzgesetzlicher  Bewilligung  gewährt. 
Abschnitt  IV  Artikel  13  bestimmt: 

I.  Die  unmittelbaren  Städte  in  den  Landesteilen  diesseits  des  Rheins,  dann  alle 
Gemeinden  mit  5000  und  mehr  Einwohnern  im  Königreich  sind  verpflichtet,  alle  unter 
5000  Einwohner  zählenden  Gemeinden  sind  berechtigt,  die  Gehaltsverhältni.sse  des 
gesamten  Lehrpersonals  an  den  Volksschulen  durch  Ortsstatuten  zu  regeln. 

II.  Durch  diese  Ortsstatuten  sind  die  Anfangsgehalte  aller  in  der  betreffenden 
Gemeinde  zur  Anstellung  und  Verwendung  gelangenden  Lehrerkategorien  und  die 
Gehaltsvorrückungen  bestimmt  festzusetzen.  Die  in  den  vorstehenden  Artikeln  gegebenen 
Vorschriften  über  die  Mindestgehalte  (Art.  7  Abs.  I),  dann  über  Dienstwohnungen  und 
Wohnungsentschädigungen  (Art.  8)  haben  hierbei  nur  insofern  Maß  zu  geben,  als  die 
statutarischen  Anfangsgehalte  für  keine  Kategorie  geringer  bemessen  werden  dürfen,  als 
die  gesetzlichen  Mindestgehalte  unter  Hinzurechnung  des  in  der  betreffenden  Gemeinde 
ortsüblichen  Mietzinses  für  eine  Wohnung  von  der  in  Artikel  8  Absatz  I  bezeichneten 
Beschaffenheit  betragen.  Der  Zuschlag  für  die  Wohnung  darf  indes  in  keinem  Falle 
niederer  bemessen  werden,  als  der  Nutzungswert  einer  Wohnung  in  Artikel  8  Absatz  III 
angesetzt  ist.  Wenn  hierzu  nach  den  örtlichen  Verhältnissen  besonderer  Anlaß  besteht, 
ist  bei  Bemessung  der  statutarischen  Anfangsgehalte  von  höheren  als  den  nach  Artikel  7 
zu  gewährenden  Gehalten  auszugehen.  Dienstwohnungen  können  nach  dem  ortsüblichen 
Mietpreise  auf  die  Anfangsgehalte  in  Anrechnung  gebracht  werden. 

Eine  Übersicht  über  die  von  den  bayerischen  Lehrern  und 
Lehrerinnen    tatsächlich    bezogenen  Einkommenssätze  liegt  nicht  vor. 

Für  Sachsen  bieten  die  wichtigsten  Bestimmungen  die  §§  1,  2,  3,  4 
und  5  des  Gesetzes,  die  Gehalts  Verhältnisse  der  Lehrer  an  den  Volks- 
schulen und  die  Gewährung  von  Staatsbeihilfen  zu  den  Alterszulagen 
derselben  betreffend,  vom   17.  Juni   1898: 

§  1 .  Das  zu  Geldwert  angeschlagene  Gesamteinkommen  eines  ständigen  Lehrers 
an  einer  Volksschule  darf  nicht  unter  1200  M.  jährhch  betragen. 

Die  freie  Wohnung  oder  die  Wohnungsentschädigung  ist  in  dieses  Einkommen 
nicht  einzurechnen. 

§  2.  Den  Schuldirektoren,  welchen  zehn  oder  mehr  ständige  Lehrer  oder  Hilfslehrer 
unterstellt  sind,  ist  neben  freier  Wohnung  oder  Wohnungsentschädigung  ein  jährliches  Ein- 
kommen von  nicht  weniger  als  3000  M.,  den  übrigen  ein  solches  von  nicht  weniger  als 
2600  M.  gleichfalls  neben  freier  Wohnung  oder  einer  Wohnungsentschädigung  zu  gewähren. 

§  3.  Jedem  Hilfslehrer  ist  neben  freier  Wohnung  und  Heizung  oder  einer  von 
der  Bezirksschulinspektion  genehmigten  Entschädigung  dafür  ein  bares  Gehalt  von 
wenigstens  850  M.  jährlich  auszusetzen. 

§  4.  Das  Einkommen  der  Schuldirektoren  ist  durch  drei  von  der  Schulgemeinde 
zu  gewährende  Zulagen  von  je  300  M.  nach  fün^ähriger  beziehentlich  zehnjähriger  und 
fünfzehnjähriger  Dienstzeit  als  Schuldirektor  zu  erhöhen. 

Das  Einkommen  ständiger  Lehrer  an  Volksschulen,  welche  mehr  als  vierzig  Kinder 
zählen,  ist  durch  Zulagen,  welche  die  Schulgemeinde  zu  gewähren  hat,  folgendermaßen 
zu  erhöhen:  nach  einer  vom  erfüllten  25.  Lebensjahre  des  Lehrers  an  zu  rechnenden 
ständigen  Dienstzeit 

von     5  Jahren  bis  auf  1  400  M.  von  20  Jahren  bis  auf        .     1  900  M. 

„     10        „        „      „         .1  600    „  „     25        „        „      „         .     2  000    „ 

„     15        „        „      „         .     1750   „  „    30        „        „      „         .2100   „ 


172 


N'ülksschulwesen 


Der  Gehalt  ständiger  Lehrer  an  Volksschulen  von  40  und  weniger  Kindern  ist  in 
jedem  der  angegebenen  sechs  Abschnitte  ihrer  Dienstzeit  um   100  M.  zu  erhöhen. 

4j  5.  Unter  „Lehrer"  im  Sinne  dieses  Gesetzes  sind  auch  die-  Lehrerinnen  zu 
verstehen. 

Über  die  tatsächlichen  Lehrerbesolduiigsverhältnisse  in  Sachsen  am 
1.  Dezember   1899  gibt  die  folgende  Tabelle  Auskunft: 

Tabelle  6.    Tatsächliche  Besoldung  der  Lehrkräfte  im  Königreich 
Sachsen  am  1.  Dezember  1899. 


Es  bezogen  ein 
Einkommen  von 

M. 

Direk- 
toren 

ständige 
Lehrer 

Hilfs- 
lehrer 

Vikare 

ständige 
Lehre- 
rinnen 

HilfV 
lehre- 
rinnen 

\ika- 
rinnen 

bis  850 

_ 

354 

9 

1 

6 

1 

850-1000 

— 

— 

496 

19 

— 

21 

3 

1000—1200 

— 

91 

325 

123 

3 

35 

8 

1200—1400 

— 

476 

359 

59 

12 

41 

3 

1400-1600 

^ 

1  104 

12 

18 

44 

3 

1 

1600—1800 

_ 

1  143 

3 

7 

43 

— 

— 

1800-2000 

— 

741 

2 

5 

26 

— 

— 

2000—2200 

— 

827 

1 

1 

34 

— 

— 

2200-2400 

— 

997 

1 

— 

64 

— 

— 

2400-2600 

11 

688 

— 

— 

46 

— 

— 

2600—2800 

17 

511 

— 

— 

2 

— 

— 

2800-3000 

23 

568 

1 

— 

— 

— 

— 

3000—3300 

38 

430 

2 

— 

— 

— 

— 

3300—3600 

38 

210 

— 

— 

— 

— 

— 

3600—3900 

36 

36 

— 

— 

— 

— 

— 

3900—4200 

42 

24 

— 

— 

— 

— 

— 

4200-45C0 

51 

8 

— 

— 

— 

— 

— 

4500—4800 

33 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

4800-5100 

36 

1 

— 

— 

— 

— 

-- 

5100—5400 

20 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

5400—5700 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

5700—6000 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

über  6000 

3 

— 

— 

— 

— 

— 

^ 

zusammen 

350 

7  855 

1  556 

241 

275 

106 

16 

Für  Württemberg  ist  das  Gesetz,  betreffend  die  Einkommens- 
verhältnisse der  Volksschullehrer,  die  Trennung  des  Mesnerdienste.- 
vom  Schulamte  und  die  Rechtsverhältnisse  der  Lehrerinnen  an  Volks- 
schulen vom  31.  JuH  1899  maßgebend.     Es  heißt  daselbst: 

.\rtikel  1  :  Die  ständigen  Lehrer  an  den  \'olksschulen  erhalten  neben  einer  an 
gemessenen,     für    den    Bedarf    einer    Familie    ausreichenden    ^Vohnung    oder    einer    der 


rkräfie   der  N'olkssclnile.  '|  7,'^ 


luleii    Miflpreisen    entspreclieiuk-i 

1    Mi 

elzinsentscliäd 

^img    mindestens 

folj^ende    pen- 

berechtigte   ( '.ehalte: 

mit  der  ständigei 

An 

tellung    . 

.     1200  M., 

nach   vollendetem 

7. 
11. 
14. 

Dienstjahr    . 

.     1300    „ 
.     1400    „ 
.     1500    „ 

„                „ 

17. 

„ 

.     1600    „ 

" 

20. 
23. 
26. 

„ 

.     1700    „ 
.     1800    „ 
.     1900    „ 

„ 

29. 

„ 

.    2000    „ 

Artikel    2:     Die    Dienstjahre 

werden    von    dem 

vollendeten    25. 

Lebensjahr     an 

gerechnet. 

Artikel  3:    Die  Gehalte  des  Artikel   1     setzen    sich    zusammen    aus  Grundgehalten 
und  Dienstalterszulagen;    erstere    werden,    soweit    nicht    infolge  Herkommens    oder  eines 
anderen  Rechtstitels  eine  besondere  Verpflichtung  des  Staates  oder  eines  Dritten  besteht, 
von  den  Gemeinden,  letztere  vom  Staate  geleistet. 
Die  Grundgehalte   sollen  betragen: 

in  Schulgemeinden  mit  einer  Lehrstelle 1000  M., 

„  „  „     zwei     bis     sechs    Lehrstellen  für  jede  ständige  Stelle        1100    „ 

„  „  „     sieben  und  mehr  „  „       „  „  „  1200     „ 

Artikel  6:  Den  größeren  (Gemeinden  steht  es  zu,  mit  Genehmigung  der  Ober- 
schulbehörde ein  besonderes  Dienstaltersvorrückungssystem  einzuführen,  wobei  die  Anfangs- 
gehalte mindestens  1400  M.  betragen  und  nach  neunundzwanzig  Dienstjahren  unter 
Einhaltung  der  in  Artikel  1  festgesetzten  Dienstaltersstufen  bis  zu  mindestens  2500  M. 
steigen.      Hinsichtlich  der  Vorrückung  findet  Artikel  2  entsprechende  Anwendung. 

An  Stelle  der  den  Lehrern  bisher  gewährten  staatlichen  Alterszulagen  wird  solchen 
Gemeinden  künftig  für  jede  am  1.  April  bestehende  ständige  Stelle  ein  jährlicher  Staats- 
beitrag von  300  M.  gewährt. 

Artikel  8:  Die  unständigen  Lehrer  an  den  Volksschulen  erhalten  neben  einem 
heizbaren  Zimmer  mit  dem  unentbehrlichsten  Mobiliar  oder  einer  den  laufenden  Miet- 
preisen entsprechenden  Entschädigung  und  neben  2  rm  Buchen-Scheiterholz  oder  einem 
entsprechenden  Ersatz  in  einer  anderen  Holzgattung,  wofür  auch  eine  Geldentschädigung 
von  mindestens  20  M.  gereicht  werden  kann,  einen  Gehalt: 

als  Unterlehrer  oder  Schulamtsverweser 

in   (Gemeinden  mit  weniger  als  6000  Einwohnern  von  mindestens 800  M., 

„    6000  und  mehr  „  „  „  900    „ 

als   Lehrgehilfen 

in  Gemeinden  mit  weniger  als  6000  Einwohnern  von  mindestens 700    „ 

„     6000  und  mehr  „  „  „  800    „ 

Außerdem  wird  den  unständigen  Lehrern  nach  vollendetem  25.  Lebensjahr  eine 
staatliche   (Gehaltszulage  vf)n   100  M.  gewährt. 

Über  die  tatsächlichen  Besolduni^^sverhältni.sse  am  I.Januar  1903 
^ibt  die  folfjende  Tabelle  .Auskunft: 


174 


Volksschulweseii. 


Tabelle  7.     Tatsächliche  Besoldung  der  ständigen  Lehrkräfte  im 
Königreich  Württemberg  am  1.  Januar  1903. 


Es  bezogen  ein 

pensionsberechtigtes 

GehaU: 

/or 

i  1100—1199  M.  . 

.     .       —  Lehrer  ui 

id     1 

Lehrerin, 

zusammen        1 

Lehrkraft, 

1200—1299    „    . 

.     .     380        „ 

,       6 

Lehrerinnen, 

386 

Lehrkräfte, 

1300—1399   „    . 

.     .     350        „ 

,       7 

„ 

357 

1400—1499    „    . 

.     .     354 

,     12 

„ 

366 

1500—1599    „    . 

.     .     458        „ 

,     16 

„ 

474 

1600—1699    „    . 

.     .     386        „ 

2 

„ 

388 

1700—1799    „    . 

.     .     300        „ 

,       4 

„ 

304 

1800—1899    „    . 

.     .     256        „ 

,       3 

„ 

259 

1900—1999    „    . 

.     .    208 

,     — 

„ 

208 

2000—2099    „    . 

.     .    297 

,     — 

„ 

297 

2100—2199    „    . 

.     .     132 

,     — 

„ 

132 

2200—2299    „    . 

.     .     106        „ 

— 

,^ 

106 

2300—2399    „    . 

.     .       58 

'     — 

„ 

58 

2400^2499    „    . 

.     .       38 

— 

„ 

38 

2500—2599    „    . 

■     •       71 

,     — 

„ 

71 

2600—2699    „    . 

■       21 

,    — 

„ 

21 

2700-2799    „    . 

■     •       28        „ 

,     — 

„ 

28 

2800-2899    „    . 

.     .       41 

,     — 

„ 

41 

„ 

2900               „  un 

1  mehr  10         „ 

,     — 

„ 

10 

3494  Lehrer  und  51  Lehrerinnen,  zusammen  3545  Lehrkräfte. 

Besoldung    der    unständigen  Lehrkräfte    liegen    keine 


Über    die 
Angaben  vor. 

Im  Großherzop-tum  Baden    bieten  die 


39,  41,  44  und  45  des 


\:i    Mai     1892     di 


Gesetzes     über     den    Elementarunterricht    vom 
wichtigsten  Bestimmungen.     Dieselben  lauten: 
§  39. *J     Hauptlehrer  an  Volksschulen  erhalten: 

a)  einen  jährlichen  Gehalt,  welcher  —  ohne  Rücksicht  auf  den  Ort  ihrer  An- 
stellung —  von  1100  M.  (Anfangsgehalt)  bis  zu  2000  I\I.  (Höchstgehalt)  an- 
steigt. Die  Erhöhung  des  Gehalts  vom  Anfangs-  bis  zum  Höchstbetrag  tritt 
ein  durch  Zulagen  von  je  150  M.,  welche  nach  Maßgabe  der  Bestimmungen 
der  Gehaltsordnung  gewährt  werden,  und  zwar: 

die  erste  (Anfangszulage)    nach  Ablauf  von  zwei  Jahren  seit  dem  Zeitpunkt 

der  ersten  etatmäßigen  Anstellung; 
die  weiteren  (ordentlichen)  Zulagen  nach   'e  drei  weiteren  Dienstjahren; 

b)  freie  Wohnung  nach  §  42  des  Gesetzes. 

Hauptlehrerinnen  an  Volksschulen  erhalten  Gehalt  wie  Hauptlehrer,  jedoch 
nur  bis  zu  einem  Höchstbetrag  des  Gehaltes  von  1500  M.  für  das  Jahr. 
§  41.  An  Volksschulen  mit  mindestens  drei  Hauptlehrern  erhält  der  erste  der- 
selben für  die  Dauer  dieser  seiner  Stellung  eine  Dienstzulage  von  jährlich  100  M.,  wenn 
an  der  betreffenden  Schule  die  Gesamtzahl  der  Lehrerstellen  (Haupt-  und  Unterlehrer 
zusammengerechnet)  nicht  über  vier,  und  von  jährlich  200  M.,  wenn  dieselbe  mehr  als 
vier  beträgt. 


*)  Fassung  des  Gesetzes  vom   17.  September  1f 


Die  Lehrkräfte  der  Volksschule.  ]  75 

§  44.')  Lehrer  und  Lehrerinnen  in  nichtetatmäßiger  Stellung  erlialten  eine  Ver- 
gütung von  jährlich  900  M.  Die  Vergütung  erhöht  sich  auf  1000  M.  für  das  Jahr  für 
Lehrer  und  Lehrerinnen,  welche  die  Dienstprüfung  oder  eine  diese  vertretende  Prüfung 
bestanden  haben,  und  zwar  von  Anfang  des  auf  die  Ablegung  der  Prüfung  folgenden 
Monats  an.  Nach  Ablauf  von  drei  Jahren,  von  letzterem  Zeitpunkt  gerechnet,  tritt  hier 
eine  weitere  Erhöhung  von   100  M.  ein. 

§  45.     Neben  der  in  §  44  bestimmten  Vergütung  haben  anzusprechen : 

a)  Unterlehrer  (Unterlehrerinnen):  einen  mit  dem  erforderlichen  Schreinwerk  ein- 
gerichteten heizbaren  Wohnraum  von  mindestens  achtzehn  Quadratmeter  Grund- 
fläche. Das  Nähere  über  die  Einrichtung  des  Wohnraumes  wird  durch  \  er- 
ordnung  bestimmt. 

Mit  Zustimmung  der  Oberschulbehörde  kann  vorübergehend  oder  ständig 
statt  des  Wohnraumes  eine  Mietzinsentschädigung  gegeben  werden,  welche 
mindestens  drei  Fünftel  des  in  §  43  Absatz  1  bezeichneten  Wohnungsgeldes 
betragen  soll. 

b)  Hilfslehrer  (Hilfslehrerinnen):  Mietzinsentschädigung  im  Betrage  von  drei 
Fünftel  des  vorbezeichneten  Wohnungsgeldes. 

c)  Schulverwalter  (Schulverwalterinnen):  Benützung  der  Hauptlehrerwohnung, 
wenn  der  abgegangene  Hauptlehrer  im  Genuß  einer  freien  Wohnung  war  und 
über  dieselbe  nicht  anderweit  —  zugunsten  eines  anderen  Hauptlehrers  oder 
gemäß  §  26,  vierter  Absatz  (letzter  Satz)  des  Beamtengesetzes  ^  verfügt  ist ; 
andernfalls  Mietzinsentschädigung  im  Betrage  des  in  §  43  Absatz  1  bezeichneten 
Wohnungsgeldes. 

E.S  möge  hier  genügen,  nur  noch  die  wichtigsten  Re.stimmungen 
über  die  Besoldung  der  V^olksschuUehrer  im  Großherzogtum  Hessen 
anzuführen. 

Die  Gehaltsverhähnisse  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  den 
Volksschulen  sind  durch  das  Gesetz  vom  9.  März  1878,  soweit  es 
nicht  durch  spätere  Gesetze  aufgehoben  ist,  und  das  Gesetz  vom 
2.  Januar  1901    geregelt. 

Um  die  Übersichtlichkeit  zu  wahren,  sind  die  noch  gültigen  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  vom  9.  März  1878  in  gewöhnlicher,  die  des 
Gesetzes  vom  2.  Januar  1901    in  Cursivschrift  gedruckt. 

Das  erstere  bestimmt  Artikel  1  : 

Der  geringste  Gehalt  eines  detinitiv  angestellten  Lehrers  an  Volksschulen  soll  in 
Gemeinden  bis  10  000  Seelen  900  U.,  in  Gemeinden  von  10  000  und  mehr  Seelen  1200M. 
betragen. 

Vergütungen,  die  ein  Lehrer  für  Erteilung  von  Unterricht  an  der  Fortbildungs- 
schule oder  für  seine  Fimktionen  als  Oberlehrer  (Hauptlehrer)  zu  beziehen  hat,  bleiben 
bei  Berechnung  der  Größe  der  Lehrergehalte  außer  Betracht,  ebenso  bleiben  bei  dieser 
Berechnung  die  einzelnen  Lehrerstellen  zufließenden  Beträge  aus  dem  Mayschen  Legat 
ausgeschlossen. 

Bei  Bemessung  der  Seelenzahl  einer  Gemeinde  ist  das  Resultat  der  letzten  \'olks- 
zählung  maßgebend,  in  Gamisonorten  ist  bei  dieser  Berechnung  die  Garnison  mitzuzählen. 
Das  letztere  modifiziert  die  Bestimmungen  folgendermaßen  in  Artikel   1  : 


Fassung  des  Gesetzes  vom   17.  Juli   1902. 


176 


Volksschiüwesen. 

Tabelle  8.    Mindest-Gehälter 


1 

Name 

des 
Staates 

Anfangsgehalt 

Höchst- 
gehalt 

M. 

Wird 

freie  AA 

entschä 

ist  c 

Gehalt 

außer  dem   Gehalt 
'ohnung  oder  Miets- 

bei   einstweili- 
ger Anstellung 
M. 

bei   endgülti- 
ger Anstellung 
M. 

digung  gewährt,  oder 
ie  letztere  in  dem 
mit  eingeschlossen? 

Preußen  .     .     .    | 

L.    720 
Ln.  700 

L.    900 

Ln.  700 

L.    1800 
Ln.  1420 

äußere 
oder 

em  freie  Wohnung 
Mietsentschädigung 

Bayern    .     .     .    ! 

Ln.!-820 

L.    1200 
Ln. 1000 

L.    2130 
Ln.  1504 

do. 

Königreich           | 
Sachsen 

^.[3^0 

lli'2(« 

!  ■     1  1800 

Ln.  S 

do. 

Württemberg    . 

Ln.f700 

L.    1200 
Ln.  1100 

L.    2000 
Ln.  1500 

do. 

Baden      •     •     •    ! 

Ln.h00 

Ln.!l250 

L.    2150 
Ln.  1650 

do. 

Hessen    ... 

LJBOO 

L.    1100 
Ln. 1000 

L.    2800 
Ln. 2000 

do. 

Sachsen  -Weimar 

L.    800 

Ln.  750 

L.    1000 
Ln.    850 

L.    2000 
Ln.  1550 

do. 

Oldenburg  . 

L.    700 
Ln.  600 

L.    800 

Ln.  700 

L.    1550 
Ln.  13C0 

do. 

Fürstentum       i 
Lübeck          ! 

Lhoo 

llP^oo 

L.    1850 
Ln.  1640 

do. 

Fürstentum 
Birkenfeld 

L.    700 
Ln.600 

L.    1000 
Ln.    800 

L.    1750 
Ln.  1400 

do. 

Braunschweig  . 

L.    800 
Ln.900 

L.    1200 
Ln.    — 

L.    2700 
Ln.       - 

do. 

Sachsen-          ' 
Meiningen 

L.    900 
Ln.  850 

L.    1100 
Ln.    900 

L.    2200 
Ln.  1450 

do. 

Sachsen- 
Altenburg 

\:J^ 

L.    1100 
Ln.    840 

L.    1950 
Ln.  1460 

do. 

Sachsen-Coburg 

L.    800 
Ln.  750 

L.     1000 
Ln.    800 

L.    21C0 
Ln.  1500 

do. 

-(lotha 

L.    800 
Ln.660 

L.    1000 
Ln.    780 

L.    2100 
Ln. 1080 

do. 

Anhalt     .      .      . 

^ 

L.    1200 
Ln.    — 

L.    3000 
Ln.    — 

Uiens 
10%d( 

twohnung   wird  mit 
is  Gehalts  angerechnet 

Schwarzburg- 
Sondershausen 

L.    950 
Ln.  850 

L.    1050 

Ln.    950 

L.    2000 
Ln. 1550 

außerdem  freie  Wohnung 
ofler  Alietsentschädigung 

Reuß  ä.  L.  .     . 

L.    840 

]  ,1    

L.    1000 
Ln.    — 
L.    1000 

L.    2100 

do. 

Reuß  j.   L.  .     . 

L.    900 

L.    2000 

do. 

Ln.  — 

Ln.    — 

Ln.    — 

Schaumburg- 
Lippe 
Lübeck   .     .     . 

1           "" 

L.      850 

L.    1600 

Ln.    — 

L.    1750 
Ln.    — 
L.    3500 
Ln.    — 

do. 

keine    Dienstwohnung 
oder  Mietsentschädigung 

Bremen   .     .     . 

L.    1200 
Ln. 1100 

L.    1800 
Ln. 1400 

L.    3600 
Ln.  2000 

do. 

Hamburg-Stadt 

i     L.    1400 
Ln.1000 

L.    2000 
Ln.  1400 

L.    4400 
Ln.  2600 

do. 

Hamburg-Land 

L.    1100 
'     Ln.    900 

L.    1400 
Ln.1000 

L.    2900 
Ln.2000 

außerdem   freie  Wohnung 
oder  Mietsentschädigung 

IJie  Lehrkräfte  der  Volksschuk' 


177 


der  Volksschullehrer. 


Das  Höchstgehalt  wird  erreicht 

Sind  die  angegebenen      1 
Sätze  Mindestsätze,  über    i 
die  die  Gemeinden  hinaus- 

oder etwa 

nach  Dienst- 

gerechnet von 

mit  dem 

gehen  können,  oder 

jahren 

Lebensjahre 

Normalsätze?              | 

31 

der  ersten  Anstellung  im  öffent- 
lichen  Schuldienst 

52. 

^Mindestsätze 

i 

40 

der  bestandenen  .Seminar- 
schlußprüfung 

59.— 60. 

do. 

30 

der  ständigen  Anstellung 

frühestens 

do. 

bezw.  vom  25.  Lebensjahre 

55. 

1 
j 

29 

vom  25.  Lebensjahre 

54. 

do.                ! 

L.    17 

der  definitiven  Anstellung 

L.    47. 

„o. 

Ln.    8 

als  Hauptlehrer 

Ln.  38. 

L.    30 

der  bestandenen  Schlußpriifung 

L.    55. 

do. 

Ln.21 

bezw.  vom  25.  Lebensjahre 

Ln.  46. 

L.    25 

der  festen  Anstellung 

50. 

do. 

Ln.  30 

28 

der  festen  Anstellung 

51. 

do. 

30 

der  ersten  .\nstellung  im 
öffentlichen  Schuldienst 

50. 

do. 

28 

der  festen  Anstellung 

50.  ' 

do. 

27 

do. 

52. 

do. 

[,.    30 

do. 

L.    54. 

do. 

Ln.  25 

Ln.  45.-48. 

28 

der  ersten  Anstellung  im 
öfl'entlichen  Schuldienst 

48. 

do. 

30 

do. 

50. 

do. 

25 

der  bestandenen  zweiten 
Prüfung 

48.-  50. 

do. 

27 

der  festen  Anstellung 

49. 

Normalsätze 

25 

do. 

48.-50. 

Mindestsätze 

24 

do. 

48. 

do. 

24 

do. 

48. 

do. 

25 

der  festen  Anstellung 
bezw.  vom  25.  Lebensjahre 

50. 

do. 

20 

dem  Eintritt  in  die  erste 
Gehaltsklasse 

50. 

Xormalsätze 

18 

der  festen  Anstellung 

45. 

do. 

24 

do. 

49. 

do. 

15 

do. 

40. 

Mindestsätze 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich      III 


•/•- 

-  6. 

T~ 

-  9- 

w- 

-12. 

ij- 

-15- 

i6.- 

-18. 

ig.- 

-2J. 

22  — 

--V- 

25.- 

~27- 

28.- 

-30. 

votn 

31- 

i  78  Volksschulwesen. 

,,Die  definitiv  angestellten  Lelwer  an    \'olksschnlen  liaben 
im     I. —  j.  Dienstjalir  ein  Gehalt  von  i  ino  M. 

„  /  2j0  ,. 

..                    ,,              ■•              ).  1400  „ 

,,  1530  „ 

„  1700  „ 

.,  1850  „ 

.,                    ,,              ,,               ,,  2000  „ 

„                    „              ,.              ,,  2200  ,, 

,.               ,,               ,.  2400  ,, 

,,  2600  ,, 

„     an     ,,  ,,  ,,    3800    „ 

zu  beziehen.  Diese  Gehaliskala  hat  Gellung  bis  zum  i.  April  1^04.  Fiu-  die 
Zeit  nach  dem  i.  April  igo4  sind  die  Gehaltsbezüge  der  J'olksschullehrer  von 
neuem  zu  regeln.  Sollte  eine  Vereinbarung  zwischen  Regierung  und  Ständen 
bis  zu  dem.  bezeichneten  Zeitpunkte  nicht  zustande  kommen,  so  bleiben  die  in 
diesem  Gesetze  festgesetzten  Gehaltsbezüge  bis  auf  weiteres  in  Kraft. 

Die  Dienstzeit  zvird  von  der  ersten  dienstlichen  Verivendung  nach  be- 
standener Schbtssp7'üfiing  gerechnet."     Das  Gesetz  fü^t  hinzu: 

Artikel  2:  ,,  Ausser  dem  ih'in  zukommenden  Gehalte  hat  jeder  definitiv  an- 
gestellte Lehrer  an  einer   Volksschule  eine  angemessene  Wohmmg,  womöglich  mit 
Garten,  oder  eine  Mieientschädigung  anzzisprechen."     Und  Artikel  j: 
„Die  definitiv  angestellte7t  Lehrerinnen  an    Volksschulen  haben 
im.     I. —  j.  Dienstjahr  ein  Gehalt  von  i  000  M. 
,.      4. —  6.  ,,  ,,  ,,  ,,    /  200    ,, 

„      /.—  p.  „  ,,         ,.         „    fjoo    „ 

,,    10.  — 12.  „  ,,         .,         ,,    1400    ,, 

,>    ^3- — ^5-  ,,  „  „  ,,    1 500    ., 

,,    i(>. — 18.  „  „  .,  ,,    1 600    ,, 

„    ip. — 21.  ,,  „         „  ,,    1 800    ,, 

vom  22.  „     atz     „  „  „2  000    „ 

zu  beziehen." 

Bezüglich  der  Gehalte  der  Schulverwalter  und  Schulgehilfen  (Schulverwalterinnen 
und  Schulgehilfinnen)  behält  es  bei  den  durch  die  Ministerialverfiigung  vom  10.  Juli  1900 
abgeänderten  Bestimmungen  im  Artikel  12  des  Gesetzes  vom  9.  März  1878  sein  Be- 
wenden, welche  lauten: 

„Schulverwalter  und  Schulgehilfen,  sowie  die  Schulverwalterinnen  und  Scliul- 
gehilfinnen  haben  neben  der  ihnen  gesetzlich  zustehenden  Wohnung  oder  Mietsentschädi- 
gung (mit  Wirkung  vom   1.   April   1900)  an  zu  beziehen: 

a)  vor    bestandener    Schlußprüfung     eine    Jahresvergütung    von     mindestens    800 
Mark  und 

b)  nach  bestandener  Schlußprüfung    eine  Jahresvergütung  von  mindestens    900  M. 
Diese  Bestimmung  erstreckt  sich  auch  auf  solche  Gemeinden,    welchen  auf  Grund 

des  Artikel  17  Absatz  2  des  Gesetzes  vom  9.  März  1878  gestattet  ist,  nur  das  Gehalt 
eines  Schulverwalters  (in  bisheriger  Höhe)  aufzubringen, 

Schulgehilfen  bezw.  den  Verwaltern  (Verwalterinnen)  nicht  erledigter  und  auch 
nicht  ständig  offen  gelassener  Lehrerstellen  wird  eine  den  dienstlichen  und  örtlichen  Ver- 
hältnissen entsprechende   Remuneration  aus  Staatsmitteln  verwilligt." 

Über  die  Mindest-Gehaltsbezüge  der  deutschen  Lehrer  auf  Grund 
der  in  den  einzelnen  Staaten  geltenden  gesetzlichen  Bestimmungen  gibt 
vorstehende  Tabelle  8  Auskunft. 


Die   Lehrkräfte  der  Volksschule.  -|  79 

2.   Pensionsverhältniss e. 
Pensionierung   der  Volksschullehrer   und  Lehrerinnen. 

Die  V^ersorgung  der  wegen  Dienstunfähigkeit  oder  hohen  i\lters 
in  den  Ruhestand  tretenden  Lehrer  und  Lehrerinnen  ist  in  allen 
deutschen  Staaten  gesetzlich  geregelt,  doch  herrscht  auch  in  dieser 
Hinsicht,  was  den  Beginn  der  Pensionsberechtigung,  die  Höhe  der 
Ruhegehalte,  die  Heranziehung  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  zu  be- 
sonderen Beiträgen  anbetrifft,  eine  große  Mannigfaltigkeit.  Für 
Preußen  i.st  die  Regelung  durch  das  Gesetz,  betreffend  die  Pensionie- 
rung der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  den  öffentlichen  Volksschulen, 
vom  6.  Juli  1885,  erfolgt,  dessen  Inhalt  hier  auszugsweise  oder  im 
Wortlaute  mitgeteilt  werden  soll;  derselbe  entspricht  in  allen  wesent- 
lichen Stücken  den  auch  für  die  übrigen  Staatsbeamten  geltenden 
gesetzlichen  Bestimmungen. 

§  1  knüpft  die  Pensionsberechtigung  im  allgemeinen  an  die  Voll- 
endung des  1 0.  Dienstjahres  und  den  Nachweis  der  Dienstunfähigkeit, 
bestimmt  jedoch  einerseits,  daß,  wenn  die  Dienstunfähigkeit  die  Folge 
einer  Krankheit,  Verwundung  oder  son.stigen  Beschädigung  ist,  welche 
sich  der  Lehrer  bei  Ausübung  seines  Dienstes  oder  aus  Veranlassung 
desselben  ohne  eigene  Verschuldung  zugezogen  hat,  Pensionsberechti- 
gung auch  bei  kürzerer  als  zehnjähriger  Dienstzeit  eintritt,  und  ander- 
seits, daß  bei  Lehrern,  welche  das  65.  Lebensjahr  vollendet  haben, 
eingetretene  Dienstunfähigkeit  nicht  Vorbedingung  des  Anspruchs 
auf  Pension  ist. 

§  2  bestimmt  über  die  Höhe  der  Pension  folgendes:  „Die  Pension 
beträgt,  wenn  die  Versetzung  in  den  Ruhestand  nach  vollendetem 
zehnten,  jedoch  vor  vollendetem  elften  Dienstjahre  erfolgt,  ^^/eo  und 
steigt  von  da  ab  mit  jedem  weiter  zurückgelegten  Dienstjahre  um  Veo 
des  Diensteinkommens.  Über  den  Betrag  von  ^Veo  dieses  Einkommens 
hinaus  findet  eine  Steigerung  nicht  statt." 

Bei  der  Berechnung  der  Dienstzeit  kommt  die  gesamte  Zeit  in 
Anrechnung,  während  welcher  sich  ein  Lehrer  im  öffentlichen  Schul- 
dienste in  Preußen  befunden  hat  f^  5).  Die  Zahlung  der  Pension 
wird  bis  zur  Höhe  von  600  M.  aus  der  Staatskasse,  darüber  hinaus 
von  den  Gemeinden  oder  sonstigen  zur  Schulunterhaltung  Verpflichteten 
geleistet  (§  26). 

Von  den  Lehrern  und  Lehreriinien  werden  keine  Beiträge  er- 
hoben. 


•|80  Volksschuhvesen. 

Dieselben  Bestimmungen  wie  in  Preußen  gelten  bezüglich  der 
Pensionsberechtigung  und  der  Höhe  der  Pensionen  in  Elsaß- 
Lothringen. 

In  Bayern  ist  für  die  Aufbringung  der  Pensionen  in  jedem 
Kreise  (Regierungsbezirk)  eine  besondere  Kasse  gebildet,  deren  Mittel 
durch  Beiträge  der  Lehrer  und  Lehrerinnen,  sowie  der  Kreise  und 
des  Staates  aufgebracht  werden.  Außerdem  werden  von  den  Ge- 
meinden noch  besondere  Pensionen  gewährt.  Die  Höhe  der  Beiträge 
und  der  Pensionen  ist  deshalb  nicht  bloß  in  den  verschiedenen  Kreisen, 
sondern  auch  in  den  einzelnen  Orten  sehr  verschieden.  Bemerkens- 
wert ist  jedoch,  daß  in  ganz  Bayern  die  Pensionsberechtigung  so- 
gleich mit  dem  Dienstantritt  beginnt  (nicht  nur  die  festangestellten 
Lehrer  und  Lehrerinnen,  sondern  auch  die  Schulverweser  und 
Schulverweserinnen  sind  sogleich  pensionsberechtigt),  und  daß  viel- 
fach die  Pension  die  volle  Höhe  des  zuletzt  bezogenen  Gehaltes  er- 
reicht. 

Als  ein  Beispiel  für  die  Höhe  des  Ruhegehalts  und  der  von  den 
Lehrern  und  Lehrerinnen  zu  leistenden  Beiträge  in  den  größeren 
Städten  mögen  die  für  die  Haupt-  und  Residenzstadt  München  fest- 
gesetzten Beträge  hier  angeführt  sein. 

Nach  dem  Münchener  Ortsstatut  erhalten  im  Falle  der  \'er- 
setzung  in  den  Ruhestand: 

1 .  Schulverweser  und  Schulverweserinnen  65  ^\Iq, 

2.  Volksschullehrer  und  -Lehrerinnen : 

a)  70  °/o>    ^venn    die  Pensionierung  innerhalb    des    1 .    bis    1 0. 
Dienstjahres, 

b)  80  %,    wenn    die  Pensionierung    innerhalb  des    11.  bis  20. 
Dienstjahres, 

c)  90  *'/(!,    wenn  die  Pensionierung    innerhalb  des    21.  bis  30. 
Dienstjahres, 

d)  100  *^/o,    wenn  die  Pensionierung    nach  zurückgelegtem  40. 
Dienstjahre  erfolgt. 

Die  Dienstzeit  wird  von  der  Ernennung  zum  Volksschullehrer 
bezw.  zur  Volksschullehrerin  gerechnet,  die  frühestens  mit  dem  fünf- 
undzwanzigsten Lebensjahre  erfolgt. 

Für  die  Beiträge,  die  von  den  Lehrern  und  Lehrerinnen 
Münchens  an  die  Pensionsanstalt  zu  leisten  sind,  gelten  folgende  Be- 
stimmung-en : 


Die   Lehrkräfte  der  Volksschule.  \^] 

1 .  Die  Eintrittsbeiträge  werden 

a)    für  Volksschiillehrer  und  Schulverweser  auf  6%, 

bi    für     VolksschuUehrerinnen     und     Schulverweserinnen     auf 

2,5  "/o  des  ersten   Jahresgehaltsbezuges  sowie    der    späteren 

Gehaltsmehrungen  festgesetzt. 

2.  Die  Jahresbeiträge  werden 

a)  für  Volksschullehrer  und  Schulverweser  im  Falle  des  Ein- 
trittes in  die  Pensionsanstalt  mit  einem  Lebensalter  bis  zu 
fünfunddreißig  Jahren  einschließlich  auf  3%,  dagegen  im 
Falle  des  Eintrittes  in  die  Pensionsanstalt  nach  Über- 
schreitung der  genannten  Altersgrenze  auf  4%, 

b)  für  VolksschuUehrerinnen  und  Schulverweserinnen  im  Falle 
des  Eintrittes  in  die  Pensionsanstalt  mit  einem  Lebens- 
alter bis  zu  fünfunddreißig  Jahren  einschließlich  auf  1,2^/,,, 
dagegen  im  Falle  des  Eintrittes  in  die  Pensionsanstalt  nach 
Überschreitung  der  genannten  Altersgrenze  auf  2,2%  des 
jeweiligen  Jahresgehaltsbezuges  festgesetzt. 

Im  Königreich  Sachsen  gelten  in  Bezug  auf  die  Pensions- 
berechtigung ähnliche  Bestimmungen  wie  in  Preußen.  Nur  gilt  als 
Anfangspunkt  für  die  Erlangung  der  Pensionsberechtigung  und  für 
die  Berechnung  der  Pensionen  nicht  der  Zeitpunkt  der  ersten  dienst- 
lichen Verwendung  überhaupt,  sondern  der  Zeitpunkt  der  ersten 
Übertragung  einer  ständigen  Lehrerstelle.  Für  die  Höhe  der  Pen- 
sionen besteht  folgende  Skala: 

Die  jährliche  Pension  beträgt  nach  erfülltem  10.,  jedoch  vor  er- 
fülltem 15.  Dienstjahre  30%  des  Diensteinkommens,  steigt  dann  bis 
zum  vollendeten  17.  Dienstjahr  um  je  1%,  hierauf  bis  zum  voll- 
endeten 25.  Dienstjahr  um  je  2%,  dann  bis  zum  vollendeten  32.  um 
je  3%,  von  da  an  bis  zum  vollendeten  35.  wieder  um  je  2%,  vom 
vollendeten  35.  aber  nur  um  je  1%,  bis  sie  bei  dem  Dienstalter  von 
40  Jahren  den  Höchstbetrag  von  80%  erreicht. 

Beiträge  werden  von  den  Lehrern  und  Lehrerinnen  nicht  er- 
hoben. 

Li  Württemberg  beginnt  die  Pensionsberechtigung  mit  der 
Vollendung  des  neunten  Dienstjahres  (gerechnet  von  der  festen  An- 
stellung bezw.  vom  vollendeten  fünfundzwanzigsten  Lebensjahre  ab). 
Die  Pension  beträgt  beim  Eintritt  in  das  zehnte  Dienstjahr  40%  des 
Gehalts  und  steigt  mit  jedem  weiteren  bis  einschließlich  zum  vier- 
zigsten Dienstjahre 


]  82  Volksschulwesen. 

1.  um   rV4"/o,  wenn  das  Gehalt  nicht  mehr  als  2400  AI., 

2.  um  1V2%'  wenn  das  Gehalt  mehr  als  2400  AI.  beträgt. 
Dienstwohnung    bezw.  Mietsentschädigung    bleiben    bei    Berech- 
nung der  Pension  außer  Ansatz. 

Das  Badische  Gesetz  trifft  bezüglich  der  Pensionsberechtigung 
die  gleichen  Bestimmungen,  die  in  Preußen  gelten.  Über  die  Höhe 
der  Pension  ist  bestimmt,  daß  dieselbe  nach  zurückgelegtem  zehnten 
Dienstjahr  30%  des  Gehalts  betragen,  mit  jedem  weiteren  Dienst- 
jahre um  1V-2%  des  Gehalts  steigen  und  über  75%  des  Gehalts  nicht 
hinausgehen  soll. 

Die  Lehrer  und  Lehrerinnen  des  Großherzogtums  Hessen 
sind  von  der  festen  Anstellung  ab  pensionsberechtigt.  Die  Pension 
beträgt  bis  zur  Vollendung  des  zehnten  Dienstjahres  40%  und  steigt 
mit  jedem  folgenden  Dienstjahre  um  1^/2%  des  Gehalts  bis  zur 
vollen  Höhe  desselben.  Ähnlich  wie  in  den  angeführten  sind  die 
Verhältnisse  auch  in  den  übrigen  Staaten  geordnet. 

3.    Fürsorge  für  die  Witwen  und  Waisen  der  Volksschullehrer. 

Was  oben  über  die  Pensionierung  im  allgemeinen  bemerkt 
wurde,  gilt  auch  von  der  Reliktenversorgung.  Die  Verschiedenheiten 
zwischen  den  einzelnen  Staaten  zeigen  sich  besonders  darin,  daß  in 
manchen  neben  dem  Witwengeld  auch  W^aisengeld  (für  die  Halb- 
waisen), in  anderen  nur  Witwengeld  bezahlt  wird,  und  daß  ferner  die 
Pensionen  der  Witwen  und  Waisen  entweder  nach  der  dem  ver- 
storbenen Lehrer  an  seinem  Todestage  zustehenden  Pension  oder 
nach  dem  zuletzt  von  ihm  bezogenen  Gehalt  berechnet  werden,  oder 
drittens,  daß  für  dieselben  bestimmte  Beträge  ohne  Rücksicht  auf  die 
Höhe  der  Pension  oder  das  Gehalt  des  Mannes  festgesetzt  sind.  Wir 
geben  auch  hier  die  wichtigsten  gesetzlichen  Bestimmungen  aus  ein- 
zelnen größeren  Staaten  wieder. 

Für  die  Reliktenversorgung  der  Lehrer  in  Preußen  gelten  im 
allgemeinen  dieselben  gesetzlichen  Bestimmungen  wie  für  die  übrigen 
Staatsbeamten.  Das  Gesetz,  betreffend  die  Fürsorge  der  Witwen 
und  Waisen  der  Lehrer  an  öffentlichen  Volksschulen  vom  4.  De- 
zember 1899  bestimmt  darüber  folgendes: 

Die  Witwen  und  die  hinterbliebenen  ehelichen  oder  durch  nach- 
gefolgte Ehe  legitimierten  Kinder  eines  Lehrers,  welcher  zur  Zeit 
seines  nach  dem  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  erfolgten  Todes  ent- 
weder an  einer  öffentlichen  Volksschule  angestellt  war  und  Anspruch 


Die   Lehrkräfte  der  Xolksschule.  1  Ö3 

auf  lebenslängliches  Ruhegehalt  hn  Falle  der  Versetzung  in  den 
Ruhestand  erworben  hatte,  oder  aus  dem  Dienste  einer  öffentlichen 
Volksschule  mit  lebenslänglichem  Ruhegehalt  in  den  Ruhestand  ver- 
setzt war,  erhalten  Witwen-  und  Waisengeld  (§  1). 

Das  Witwengeld  besteht  in  vierzig  vom  Hundert  desjenigen 
Ruhegehaltes,  zu  welchem  der  Verstorbene  berechtigt  gewesen  ist 
oder  berechtigt  gewesen  sein  würde,  wenn  er  am  Todestage  in  den 
Ruhestand  versetzt  worden  wäre. 

Das  Witw^engeld  soll  jedoch,  vorbehaltlich  der  im  §  5  verord- 
neten Beschränkung,  mindestens  216  M.  jährlich  betragen  und  2000  M. 
nicht  übersteigen  (§  3). 

Das  Waisengeld  beträgt: 

1.  für  Kinder,  deren  Mutter  lebt  und  zur  Zeit  des  Todes  des 
Lehrers  zum  Bezüge  von  W'itwengeld  berechtigt  war,  ein 
Fünftel  des  Witwengeldes  für  jedes  Kind; 

2.  für  Kinder,  deren  Mutter  nicht  mehr  lebt  oder  zur  Zeit  des 
Todes  des  Lehrers  zum  Bezüge  von  Witwengeld  nicht  be- 
rechtigt war,  ein  Drittel  des  Witwengeldes  für  jedes  Kind 
(§4). 

Witwen-  und  Waisengeld  dürfen  weder  einzeln  noch  zusammen 
den  Betrag  des  Ruhegehalts  übersteigen,  zu  welchem  der  Ver- 
storbene berechtigt  gewesen  ist  oder  berechtigt  gewesen  sein  würde, 
wenn  er  am  Todestage  in  den  Ruhestand  versetzt  worden  wäre. 

Bei  Anwendung  dieser  Beschränkung  werden  das  Witwen-  und 
Waisengeld  verhältnismäßig  gekürzt  (§  5). 

In  Bayern  sind,  wie  für  die  Pensionierung  der  Lehrer  und 
Lehrerinnen,  auch  zum  Zweck  der  Witwen-  und  Waisenversorgung 
in  den  einzelnen  Kreisen  bezw.  Gemeinden  besondere  Kassen  ein- 
gerichtet, zu  deren  Unterhaltung  auch  die  Lehrer  gewisse  Beiträge 
zahlen  müssen.  Die  Waisenfürsorge  geschieht  in  der  Hauptsache, 
abgesehen  von  den  größeren  Städten,  durch  private,  von  der  Lehrer- 
schaft unterhaltene  Kassen,  unter  denen  das  Lehrerwaisenstift  des 
Bayerischen  Volksschullehrervereins  die  bedeutendste  ist.  Genauere 
Angaben  für  den  ganzen  Staat  können  bei  den  großen  Verschieden- 
heiten in  den  einzelnen  Kreisen  bezw.  Gemeinden  nicht  gemacht 
werden.  Als  Beispiel  seien  wieder  die  für  München  getroffenen 
Bestimmungen  angeführt,  die  folgenden  Wortlaut  haben: 


1 84  Volkssclmlwesen. 

A.  Der  jährliche  Pensionsbetrag  der  Witwe  wird  aus  dem 
pensionsfähigen  Jahresgehaltsbezuge,  welchen  der  Ehemann  zuletzt 
im  Aktivitätsstande  erhielt,  und  zwar: 

1.  für  die  Witwe  eines  Verwesers  mit  10%, 

2.  für  die  W''itwe  eines  Volksschullehrers 

a)  im  Falle  seines  Todes  nach  zurückgelegtem  zweiten  Dienst- 
jahre mit   l2"/o> 

b)  im  Falle  seines  Todes  nach  zurückgelegtem  zweiten  und 
vor  vollendetem  siebenten  Dienstjahre  mit   IS'^'/o' 

c)  im  Falle  seines  Todes  nach  vollendetem  siebenten  und  vor 
vollendetem  siebzehnten  Dienstjahre  mit   19%, 

d)  im  Falle  seines  Todes  nach  vollendetem  siebzehnten  Dienst- 
jahre (jeweils  gerechnet  vom  Tage  der  Anstellung  als 
Volksschullehrer)  mit  25*^/o  berechnet. 

B.  Die  jährlichen  Pensionsbeträge  der  ehelichen  Kinder  werden 
für  jedes  Kind 

a;    mit  '-/iQ  der  sich  für  ihre  Mutter  berechnenden  Pension,  wenn 

sie  einfache  Waisen  sind, 
b)    mit    "Vio   der    sich    für    ihre  Mutter    berechnenden  Pension, 
wenn  sie  Doppelwaisen  sind,  berechnet. 

Der  Gesamtbetrag  der  an  die  Witwe  und  die  Waisen  eines 
Schulverwesers  oder  Volksschullehrers  zu  leistenden  Pensionen  darf 
die  Höhe  des  Pensionsbetrages,  auf  welchen  das  verstorbene  Mitglied 
der  Pensionsanstalt  im  Falle  der  Dienstunfähigkeit  zu  Lebzeiten  An- 
spruch gehabt  hätte,  nicht  übersteigen. 

Im  Königreich  Sachsen  erhalten  a;  die  Witwen  den  fünften 
Teil  desjenigen  Diensteinkommens,  welches  ihr  Ehemann  zuletzt  im 
wirklichen  Dienste  bezog,  selbst  wenn  derselbe  zur  Zeit  seines  Ab- 
lebens in  Pension  gesetzt  war;  b)  jede  Waise,  wenn  und  solange  die 
Mutter  lebt,  ein  Fünftel,  nach  deren  Tode  drei  Zehnteile  der  Witwen- 
pension. 

Für  Württemberg  bestimmt  das  Gesetz  vom  ;V1.  Juli  1899, 
daß  jede  Witwe  eine  Pension  von  mindestens  360  M.  jährlich  als 
Normalpension  und  außerdem  einen  nach  dem  Ruhegehalt  ihres  \er- 
storbenen  Ehemannes  zu  berechr  enden  Zu.schuß  erhält,  der  vom 
Ministerium  des  Kirchen-  und  Schulwesens  in  Gemeinschaft  mit  dem 
Finanzministerium  festgesetzt  wird.     Für   jedes    Kind    unter    achtzehn 


Die  Lehrkräfte  der  Volksschule.  ][]^ 

Jaliren  beträ<^t  die  Pension,    wenn    die   'Mutter    lebt,    ein  Fünftel,    im 
anderen  Falle  ein  Viertel  des  Betrages  der  Witwenpension. 

In  Baden  beträgt  das  gesetzliche  Witwengeld  30"Vo  des  Dienst- 
einkommens, das  der  verstorbene  Lehrer  unmittelbar  vor  seinem 
Tode  oder,  falls  er  sich  im  Ruhestand  befand,  vor  seiner  Versetzung 
in  den  Ruhestand  bezogen  hat.  Das  gesetzliche  Waisengeld  beträgt: 
für  Kinder,  deren  Mutter  nicht  mehr  lebt,  wenn  nur  ein  Kind  dieser 
Art  vorhanden  ist,  */j,,,  wenn  zwei  Kinder  dieser  Art  vorhanden 
sind,  '/|„,  wenn  drei  oder  mehr  Kinder  dieser  Art  vorhanden  sind, 
für  jedes  derselben  'Yio  des  Witwengeldes. 

Im  Großherzogtum  Hessen  endlich  gelten  folgende  Bestim- 
mungen : 

Die  Höhe  des  Anspruchs  auf  Witwengeld  bemißt  sich  nach 
dem  Dienstalter  des  verstorbenen  Lehrers.     Das  Witwengeld  beträgt: 

vom   L  bis  einschließlich  10.  Dienstjahre  450  M. 

„    M.    ,.  „  20.  „  500    „ 

„   2L    „  „  30.  „  550    „ 

,,    31.  Dienstjahre  an  600    „ 

Das  Waisengeld  beträgt: 

I .    für  Kinder,  deren  Mutter  lebt,  ein  Fünftel  des  Witwengeldes 

für  jedes  Kind, 
2.    für  Kinder,  deren  Mutter  nicht  mehr  lebt, 

a)  beim  Vorhandensein  eines  bezugsberechtigten  Kindes  zwei 
Drittel  des  Witwengeldes, 

b)  beim  Vorhandensein  zweier    bezugsberechtigter  Kinder  die 
Hälfte  desselben  für  jedes  Kind, 

c)  beim    Vorhandensein    von  drei    oder    mehr    bezugsberech- 
tigten Kindern  ein  Drittel  desselben  für  jedes  Kind. 

Das  Waisengeld  für  sich  und  Witwen-  und  W^aisengeld  zu- 
sammen dürfen  den  Betrag  von  1200  M.  nicht  überschreiten.  Bei 
Anwendung  dieser  Beschränkung  wird  das  Waisengeld  entsprechend 
gekürzt.  — 

Die  Bestimmungen  in  den  übrigen  Staaten  weisen  zwar  gegen- 
über den  angeführten  im  einzelnen  noch  einige  Verschiedenheiten 
auf,  sind  aber  im  allgemeinen  ähnlich  gehalten.  Besonders  der  in 
Baden  geltende  Modus  findet  sich  mehrfach  auch  noch  in  anderen 
Staaten. 


\  35  Volksschulwesen. 

4.  Lehrervereiniguiigen. 
a)    Amtliche  LrJirerkonferenzcn. 

Der  weiteren  pädagogischen  Ausbildung  der  deutschen  Volks- 
schullehrer dienen  in  erster  Linie  amtliche  Konferenzen  unter  dem 
Vorsitz  von  Schulaufsichtsbeamten.  Die  Art,  in  welcher  diese  Kon- 
ferenzen abgehalten  und  die  Gegenstände,  welche  in  ihnen  ver- 
handelt werden,  sind  in  den  verschiedenen  Teilen  Deutschlands  im 
allgemeinen  dieselben.  In  Preußen  gliedern  sie  sich  in  Ortslehrer- 
Konferenzen,  Kreislehrer-Konferenzen,  Bezirkslehrer-Konferenzen  und 
Volksschullehrer-Konferenzen  an  den  Seminarien.  Die  ersten  ver- 
einigen einmal  im  Monat  sämtliche  Volksschullehrer  einer  Lokal- 
inspektion unter  dem  Vorsitz  des  Ortsschulinspektors  und  behandeln 
die  besonderen  Schulangelegenheiten  des  Ortes,  wie  Lehrpläne, 
Pensenverteilungen,  Schulversäumnisse,  disziplinarische  Vorkomm- 
nisse u.  dgl.  mehr. 

Die  Kreislehrer-Konferenzen  finden  einmal  im  Jahre  unter 
Leitung  des  Kreisschulinspektors  statt.  Es  werden  Vorträge  über 
Fragen  des  Unterrichts  und  der  Erziehung,  über  neu  hervorgetretene 
bedeutsame  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Unterrichtsmethode 
und  des  Schullebens,  über  allgemeine,  die  Schule  interessierende 
Zeitverhältnisse  und  Zeitströmungen  gehalten.  In  größeren  Schul- 
aufsichtskreisen  werden  für  gewisse  Konferenzbezirke  besondere  Be- 
zirkslehrer-Konferenzen abgehalten,  und  ebenso  finden  an  den 
Lehrer-Seminaren  alljährlich  Volksschullehrer  -  Konferenzen  unter 
Leitung  der  Seminar-Direktoren  und  unter  Mitwirkung  der  Seminar- 
lehrer statt. 

U)    Freie    Vereinigungen  von  Lehrern  und  Lehreniinen. 

Das  Lehrervereinswesen  ist  im  Deutschen  Reich  hoch  entwickelt 
und  liefert  einen  erfreulichen  Beweis  von  der  geistigen  Regsamkeit, 
dem  berechtigten  Standesgefühl  und  dem  ernsten  Bildungstriebe  unserer 
Lehrer  und  Lehrerinnen. 

Lehrervereine. 
Die  größte,  das  ganze  Gebiet  des  Deutschen  Reiches  umfassende 
Lehrervereinsorgani-sation  bildet  der  Deutsche  Lehrerverein,  der 
in  fünfundvierzig  Zweigvereinen,  die  sich  ihrerseits  wieder  in  rund 
3000  Einzelverbände  (Kreis- oder  Ortsvereine)  gliedern,  gegen  105  000 
Mitglieder  zählt.  Vorort  des  Deutschen  Lehrervereins  ist  Berlin, 
Vorsitzender  Lehrer  L.  Clausnitzer.  Friedrichsfelde  bei  Berlin. 


Die  Lehrkräfte  der  Volksschule. 


in? 


Die  fünfundvierzig  zum  Deutschen  Lehrerverein 
\'ereine  sind  in  folgender  Tabelle  aufgeführt*). 


'^ehöriijen  Zweig"- 


Niime  des  \'ereiiis 

1.  Anhaltischer  Lehrerverein  . 

2.  Badischer  Lehrerverein 

3.  Bayerischer  Volksschullehrer- 
verein        

4.  Braunschweigischer  Landes- 
Lehrerverein 

5.  Bremischer  Lehrerverein     .     . 

6.  Konferenz  Bremischer  \'olks- 
schullehrer 

7.  Gesellschaft  der  Freunde  des 
vaterländischen  Schul-  und  Er- 
ziehungswesens in  Hamburg  . 

8.  Schulwissenschaftl.  Bildungs- 
verein in  Hamburg    .... 

9.  Verein  Hamburger  Landschul- 
lehrer        

1 0.  Hessischer  Landes-Lehrerv^erein 

11.  Lippischer  Lehrer\'erein 

12.  Schaumburg- Lippischer  Lan- 
des-Lehrerverein 

13.  Lübecker  Lehrerverein  .     .     . 

14.  Mecklenburg-Schweriner  Lan- 
des-Lehrerverein 

15.  Mecklenburg-Strelitzer  Landes- 
Lehrerv-erein 

16.  Oldenburger  Landes-Lehrer- 
verein 

1 7.  Birkenfelder  Landes  -  Lehrer- 
verein        

18.  Lehrerverein  im  Fürstentmii 
Lübeck     

19.  Pädagogischer  Verein  zu  Greiz 

20.  Landes-Lehrerverein  Reuß  j.  L. 

2 1 .  Schwarzburg-Rudolstädter  Lan- 
des-Lehrerverein     

22.  Landes  -  Lehrerverein  im 
Fürstentum  Schwarzburg  -  Son- 
dershausen      

23.  Sächsischer  Lehrerverein 


Mitgl. 

(rund) 

850 

3  700 


Name  des  Vereins 


13  000 


1  200 
580 


110 


1  870 


350 


170 

2  850 

210 

70 
260 

1  500 

250 

770 

120 

130 
100 
430 

250 


210 

11  100 


Mitgl. 

Cr  und) 


Landes  -  Lehrer- 


Herzogtum 


460 

170 
550 

730 
960 
160 


34 


35, 


24.  .\ltenburger 
verein  .     .     . 

25.  Lehrerverein 
Coburg 

26.  Gothaischer  Lehrerverein    .     . 

27.  Allgem.  Meiningischer  Lehrer- 
verein        

28.  Weimarischer  Lehrerverein 

29.  Waldeckischer  Lehrerverein    . 

30.  Württembergischer  Volksschul- 
Lehrerverein 3  300 

31.  Berliner  Lehrerverein     .     .     .     2  700 

32.  Lehrerverband      der      Provinz 
Brandenburg 7  100 

33.  Hannoverscher  Provinzial-Leh- 

rerverein 6 1 00 

Hessischer  Provinzial  -  Lehrer- 
verein        

.allgemeiner    Lehrerverein    im 
Regierungsbezirk  Wiesbaden  . 

36.  Lehrer\erein  zu  Frankfurt  a.  M. 

37.  Pommerscher     Provinzial-Leh- 
rerverein 4  140 

38.  PosenerProvinzial-Lehrerverein     3  300 

39.  Ostpreußischer  Provinzial-Leh- 
rerverein       

40.  Westpreußischer        Provinzial- 
Lehrerverein 

41.  Rheinischer   Provinzial-Lehrer- 
verein 

42.  Lehrerverband      der      Provinz 
Sachsen 7  000 

43.  Schlesischer  Provinzial-Lehrer- 
verein 5  650 

44.  Allgemeiner     Schleswig  -  Hol- 
steinischer Lehrerverein      .     .     3  800 

45.  Westfälischer   Provinzial  -  Leh- 
rerverein        3  000 


2  170 


1  500 
700 


4  200 


2  600 


4  000 


Die  unter  31  bis  45  aufgeführten  preußischen  Zweigvereine  haben  sich  außerdem 
zu  einem  Landesverein,  dem  Preußischen  Lehr  er  verein,  zusammengeschlossen. 
Vorort  desselben  ist  Magdeburg. 


*)  Für  diese  Übersichten,  für  sachkundigen  Rat  und  fleißige  Mitarbeit  bei  der  Ab- 
fassung sämtlicher  Kapitel  dieses  Werkes  ist  der  Verfasser  dem  Vorsitzenden  der  sta- 
tistischen Zentralstelle  des  Deutschen  Lehrervereins,  Herrn  C.  L.  A.  Pretzel  in  Berlin,  zu 
größtem   Danke  verpflichtet. 


188 


Volksschuhvesen. 


Ihrem    Wesen    und    ihren    Einrichtungen    nach    dem  Deutschen  Lehrerverein  ver- 
wandt, aber  bislang  nicht  angeschlossen  sind  die  Vereine    in^Elsaß-Lothringen,    nämlich: 

1.  Ober-Elsässischer  Lehrerverein,  1100  Mitglieder, 

2.  L'nter-Elsässischer  Bezirkslehrer\-erein,   1100  Mitglieder, 

3.  Lothringischer  Lehrer\-erein,  850  Mitglieder,  femer 

4.  HohenzoUernscher  Lehren-erein,  200  Mitglieder. 

Außer  diesen  Vereinen,  die  in    bezug  auf   die  Konfession    ihrer    Mitgheder    keine 
besonderen  Vorschriften  haben,  gibt  es  auch  konfessionelle  Sonder\'ereine. 

Die  besonderen  katholischen  Lehrervereine  sind  größtenteils    organisiert    im 
tholischen  Lehrerverband    des    Deutschen    Reiches    mit    rund 
ordenthchen     Mitgliedern    und    4800    Ehrenmitgliedern 
Lehrerstande  angehören). 

Zum  Verbände  gehören  dreizehn  Zweig%-ereine,  di 
zeichnet  sind: 


Ka- 
9600 
(d.  h.   solchen,    die    nicht    dem 

e   in  der  folgenden  Tabelle    ver- 


Name des  Vereins  Mitgl. 

(rund) 

1.  Katholischer  Lehrerverband 
des  Deutschen  Reiches  (Pro- 
vinz Rheinland) 4000 

2.  Westfälischer  Provinzialverein 
des  Katholischen  Lehren-er- 
bandes  des  Deutschen  Reiches     1700 

3.  Katholischer  Lehrerverein  im 
Regierungsbezirk  Wiesbaden    .       500 

4.  Verein  katholischer  Lehrer  der 
Provinz  Sachsen  und  angren- 
zender Gebiete 275 

5.  Katholischer  Lehrerverein  Bran- 
denburg-Pommern      ....       200 

6.  Verband  katholischer  Lehrer 
Westpreußens 750 


Name  des  Vereins 

7.  Kathol.  Lehren-erein  Norden  . 

8.  ^'erein  katholischer  Lehrer  der 
Diözese  Fulda 

9.  Katholischer  Lehrerverein  der 
Diözese  Hildesheim    .... 

10.  Lehrer\erein  der  Diözese  Os- 
nabrück      

1  1 .  Katholischer  Lehrerverband  des 
Deutschen  Reiches  (Landes- 
\'erein  Elsaß-Lothringen)     .     . 

12.  Katholischer  Lehrerverein  der 
Pfalz 

13.  Katholischer  Lehrenerein  in 
Bayern      


Mitgl. 
("rundi 


340 


150 


340 


420 


280 


Nicht  zum  Verbände  gehören  folgende  Vereine  : 

1.  Verein  katholischer  Lehrer  Schlesiens,  ^Mitglieder  ca.  4000, 

2.  Bezirzks-Lehrerverein  Trier,  Mitglieder  ca.  400, 

3.  Kathohscher  Volksschul-Lehrerverein  in  Württemberg,  Mitglieder  ca.  500, 

4.  Katholischer   Lehrerverein  im  Gioßherzogtum  Hessen,  Mitglieder  ca.  800. 

Die  besonderen  evangelischen  Lehrervereine  bilden  den  Verband  deutscher  evan- 
gehscher  Schul-  und  Lehrervereine.  Derselbe  hat  zwanzig  Zweig\'ereine,  die  aber  meist 
eine  sehr  kleine  Zahl  von    Mitgliedern  haben.     Die  bedeutendsten  sind  : 

1.  Evangehscher  Lehrerbund  (im  Norden  Deutschlands),  1200  Mitgheder, 

2.  Verein  evangelischer  Lehrer  und  Schulfreunde    für    Rheinland    und    Westfalen, 
600  Mitglieder, 

3.  Evangelischer  Lehrerverein  für  Minden  und  Ravensberg,   150  Mitglieder, 

4.  Evangelischer  Schulverein  in  Bayern,  400  Mitglieder, 

5.  Mecklenburgischer  Lehrerbund,   100  Mitglieder. 
Nicht  zum  Verbände  gehören  : 

1.  Verein  evangelischer  Lehrer  in  Württemberg,  530  Mitglieder, 

2.  Deutscher  evangelisch-lutherischer  Schulverein,  225  Mitglieder. 


Die  Lehrkräfte  der  N'olksschule.  \^g 

Lehrerinnen  vereine. 

Die  größte  Vereinsorganisation  der  Lehrerinnen,  das  Seitenstück 
zum  Deutschen  Lehrerverein,  bildet  der  Allgemeine  Deutsche 
Lehrerinnenverein,  der  in  vierundsiebzig  über  das  ganze  Deutsche 
Reich  verbreiteten  und  teilweise  auch  im  Auslande  ansässigen  Zweig- 
vereinen rund   1 8  000  Mitglieder  zählt. 

Unter  den  Zweigvereinen  sind  als  die  bedeutendsten  zu  erwähnen  : 

1.  Landesverein  Preußischer  Volksschullehrerinnen,  Mitglieder  ca.  3000, 

2.  Landesverein  Preußischer  Technischer  Lehrerinnen,  Mitglieder  ca.  800, 

3.  Verband  Sächsischer  Lehrerinnen, 

4.  Württembergischer  Lehrerinnen-  und  Erzieherinnen-Verein,  Mitglieder    ca.  600. 
Neben  dieser  paritätischen  Organisation  besteht  der  Verein  katholischer  Deutscher 

Lehrerinnen,  Mitglieder  ca.  6000. 

5.    Pädagogische    Zeitschriften. 
I,    Wissenschaftliche  Zeitschriften. 

A.    Zeitscliriften,    die    das    ganze    Gebiet    der  Schul-  und  Erziehungsfragen 
behandeln. 

1.  Die  Deutsche  -Schule.  Herausgegeben  im  Auftrage  des  Deutschen  Lehrervereins  von 
Rob.  Rißmann  (Berlin).  Verlag:  Julius  Klinckhardt  (Leipzig).  Jährlich  12  Hefte, 
Preis  8  M. 

2.  Neue  Bahnen.  Herausgeber:  H.  Scherer  (Wormsj.  Verlag:  Haacke  (Leipzig). 
Jährlich   12  Hefte,   Preis  8  M. 

3.  EvangeHsches  Schulblatt  (begründet  von  F.  W.  Dörpfeldj.  Herausgeber:  Dr.  G.  v. 
Rohden  (Düsseldorf-Derendorf).  Verlag:  C.  F.  Bertelsmann  (Gütersloh).  Jährlich 
12  Hefte,  Jahrespreis  6  M. 

4.  Deutsche  Blätter  für  erziehenden  Unterricht.  Herausgeber:  Yr.  Mann  (Langensalza). 
Verlag:  H.  Beyer  &  Söhne  (Langensalza).     Jährlich  52  Nummern,   Jahrespreis  6,40  M. 

5.  Pädagogische  Studien.  Herausgeber:  Dr.  Schilling  (Rochlitz  i.  S.).  Verlag:  Bleyl  & 
Kämmerer  (Dresden).     Jährlich  6  Hefte,  Preis  6  M. 

6.  Der  deutsche  Schulmann.  Herausgeber:  Joh.  Meyer  (Krefeld).  Verlag:  Gerdes  & 
Hödel  (Berlin).     Jährlich  12  Hefte,  Preis  7,20  M. 

7.  Pädagogische  Monatshefte.  Herausgeber:  A.  Knöppel  (Rheydt).  Verlag:  Süddeutsche 
Verlagsbuchhandlung  (Stuttgart).  JährHch  12  Hefte,  Preis  5,60  M.  (Die  Zeitschrift 
betont  den  katholischen  Standpunkt.) 

B.     Zeitschriften,   die  vorwiegend  der  pädagogischen  Theorie  dienen. 

1.  Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie.  Herausgeber:  Dr.  Kemsies  und  Dr.  Hirschlaff 
(Berlin).     Verlag:    Hermann  Walther    (Berhn).     Jährlich  6  Hefte,    Jahrespreis  10  M. 

2.  Zeitschrift  für  Philosophie  und  Pädagogik.  Herausgeber:  O.  Flügel  (Wansleben)  und 
Prof.  Dr.  W.  Rein  (Jena).  Verlag:  Hermann  Beyer  &  Söhne  (Langensalza).  Jährlich 
6  Hefte,  Jahrespreis  6  M. 

C.    Zeitschriften    für    die  Geschichte    der  Pädagogik    und    des  Schulwesens. 

1.  Mitteilungen  der  (Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte.  Heraus- 
geber: Prof.  Dr.  K.   Kehrbach  (Berlinj.     Verlag:  A.  Hofmann  &  Co.  (Berlinj. 


1 90  \'olksschulwesen. 

2.  Monatshefte  der  Comeniusgesellschaft.  Herausgeber:  Geheimer  Archivrat  Dr.  Keller 
(Charlottenburg).  Verlag:  Weidmannsche  Buchhandlung  (Berhn).  Jährlich  12  Hefte, 
Jahrespreis  10  M. 

D.    Zeitschriften,  die  vorwiegend  der  Schulpraxis  dienen. 

1.  Der  praktische  Schulmann.  Herausgeber:  Rudolf  Schmidt  (Leipzig).  \'erlag: 
Fr.  Brandstetter  (Leipzig).     Jährlich  6  Hefte,  Jahrespreis  8  M. 

2.  Praxis  der  Erziehungsschule.  Herausgeber:  Prof.  Dr.  Just  (Altenburg).  N'erlag: 
Pierer  (AltenburgJ.     Jährlich  6  Hefte,  Jahrespreis  4  M. 

3.  Repertorium  der  Pädagogik.  Herausgeber:  J.  B.  Schubert  (Augsburg).  Verlag: 
J.  Ebner  (Ulm).     Jahrespreis  5,40  M. 

4.  Deutsche  Schulpraxis.  Herausgeber:  Dr.  R.  Seyfert  (Marienthal).  \  erlag:  Ernst 
Wmiderlich  (Leipzig).     Jährlich  52  Nummern,  Jahrespreis  6,40  'Sl. 

5.  Praxis  der  Landschule.  \erlag:  Richard  Danehl  (Goslar).  Jährlich  12  Hefte, 
Jahrespreis  6  iNL 

6.  Aus  der  Schule  für  die  Schule.  Herausgeber:  Falcke  (Rheydt).  \erlag:  Dürr 
(Leipzig).     JährHch   12  Hefte,  Jahrespreis  6  ^L 

7.  Pädagogische  Warte.  Herausgeber:  M.  Thurm  (Klostermansfeld)  und  K.  O.  Beetz 
(Gotha).    Verlag:   Zickfeldt  (Osterwieck,  Harz).    JährHch  24  Hefte,  Jahrespr eis  7,20  M. 

E.  Zeitschriften  für  besondere  Zweige  der  Pädagogik  und  des  Schulwesens. 

1.  Pädagogische  Blätter  für  Lehrerbildung  und  Lehrerbildungsanstalten.  Herausgeber: 
K.  Muthesius  (Weimar).  Verlag:  C.  F.  Thienemann  (Gotha).  Jährlich  12  Hefte, 
Jahrespreis  12  M. 

2.  Frauenbildung.  Herausgeber:  Prof.  Dr.  Wychgram  (Berlin).  \'erlag:  B.  G.  Teubner 
(Leipzig).     Jährlich   12  Hefte,  Jahrespreis  12  M. 

3.  Die  Kinderfehler.  Herausgeber:  J.  Trüper  (Jena)  u.  Chr.  Ufer  (Elberfeldj.  \erlag: 
Hermann  Beyer  &  Söhne  (Langensalza).     Jährlich  6  Hefte,  Jahrespreis  3  M. 

4.  Die  Jugendfürsorge.  Herausgeber:  Fr.  Pagel  (Berlin).  \'erlag:  Nicolai's  \  erlag 
(Berhn).     Jährlich  12  Hefte,  Jahrespreis   10  Mark. 

5.  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht.  Herausgeber:  Prof.  Dr.  Lyon  (Dresden). 
Verlag:  B.  G.  Teubner  (Leipzig).     JährHch  12  Hefte,  Jahrespreis  12  M. 

6.  Natur  und  Schule.  Herausgeber:  B.  Landsberg  (Allenstein),  H.  Schmeil  (Magdeburg) 
und  Schmidt  (Bautzen).  Verlag:  B.  G.  Teubner  (Leipzig).  Jährlich  8  Hefte, 
Jahrespreis  12  M. 

7.  Jugendschriftenwarte.  Organ  der  vereinigten  deutschen  Prüfungsausschüsse  für 
Jugendschriften.  Redakteur:  H.  Wolgast  (Hamburg).  Verlag:  Ernst  Wundei-lich 
(Leipzig).  JährHch  12  Nummern,  Jahrespreis  1,20  M.  (Erscheint  auch  als  Sonder- 
beilage der  meisten  Schulzeitungen.) 

II.  Sehulpolitische  Zeitschriften. 

Diese  Zeitschriften  sind  fast  durchgehends  Organe  bestimmter  Lehrervereine.  Sie 
behandeln  Fragen  der  Schul-  und  Vereinspolitik,  der  pädagogischen  Theorie  und  Praxis 
und  bringen  außerdem  regelmäßige  Berichte  über  bemerkenswerte  \"orgänge  im  Schul- 
wesen, wobei  jedes  Blatt  die  Verhältnisse  seines  Landes,  seiner  Provnnz  usw.  besonders 
berücksichtigt.  Das  vorliegende  ^"erzeichnis  enthält  nur  die  bedeutenderen  der  in  Frage 
kommenden  Blätter. 

Die  Interessen  der  im  Deutschen  Lehrerverein  zusammengeschlossenen  \'ereine 
vertreten  folgende  Zeitschriften: 


Die  Lehrkräfte  der  Volksscliule.  \g] 

A.    Wochen  tlicli   und  lialb  wöche n  t li  cli  erscliei  iiende. 

1.  Pädagogische  Zeitung.  Hauptorgan  des  Deutschen  Lehrervereins.  Redakteur: 
W.  Päßler  (Berhn).    Verlag :  R.  Scheibe  (Berhn  C.  22,  Auguststr.  49).     Jahrespreis  7  M. 

2.  Allgemeine  Deutsche  Lehrerzeitung.  Organ  der  Deutschen  Lehrerversammlungen. 
Redakteur:  H.  Arnold  u.  L.  Mittenzwey  (Leipzig).  Verlag:  Jul.  Klinckhardt  (Leipzig). 
Jahrespreis  8  M. 

3.  Schulblatt  für  die  Provinz  Sachsen.  Organ  des  Preußischen  (Landes-)  Lehrervereins. 
Redakteur:  P.  Mackeprang  (Magdeburg).  Verlag:  Heinrichshofensche  Buchhandlung 
(Magdeburg).     Jahrespreis  6  M. 

4.  Preußische  Schulzeitung.  Organ  des  Lehrerverbandes  der  Provinz  Brandenburg. 
Redakteur:  R.  Otto  (Charlottenburg).  Verlag:  Carl  Seyfiarth  (Liegnitz).  Jahres- 
preis 6  M.     (Erscheint  zweimal  wöchentlich.) 

5.  Schlesische  Schulzeitung.  Organ  des  Schlesischen  Provinzial-Lehrervereins.  Redakteur: 
W.  Grüttner  (Breslau).     Verlag:  Priebatsch  (Breslau).     Preis  7  M.  jährlich. 

6.  Posener  Lehrerzeitung.  Organ  des  Posener  Provinzial-Lehrervereins.  Redakteur: 
Otto  (Posen).     Verlag:  E.  Schober  (Posen).      Preis  6  M.  jährlich. 

7.  Lehrerzeitung  für  Ost-  und  Westpreußen.  Organ  des  Ostpreußischen  Provinzial- 
Lehrervereins.  Redakteur:  Ed.  Büttner  (Königsberg  i.  Pr.).  Verlag:  R.  Leupold 
(Königsberg  i.  Pr.).     Preis  6  M.  jährhch. 

8.  Poramersche  Blätter  für  die  Schule  und  ihre  Freunde.  Organ  des  Pommerschen 
Provinzial-Lehrervereins.  Redakteur:  H.  Juds  (Kolberg).  Verlag:  Job.  Burmeister 
(Stettin).     Preis  6  M.  jährhch. 

9.  Neue  Pädagogische  Zeitung.  Organ  des  Lehrerverbandes  der  Provinz  Sachsen  und 
des  Anhaltischen  Lehrervereins.  Redakteur:  Schreck  (Fermersleben  bei  Magdeburg). 
\'erlag:  H.  Jensch  (Magdeburg).     Preis  2,40  M.  jährlich. 

10.    Hessische  Schulzeitung.     Redakteur:  J.  W.  Lange  (Cassel).     Verlag:  A.  Bayer  &  Co. 

(Cassel).     Preis  4  M.  jährlich. 
1L    Hannoversche      Schulzeitung.         Redaktem":       K.     Brunotte      (Hannover).         Verlag: 

Helwingsche  Verlagsbuchhandlung  (Hannover).     Preis  6  M.  jährlich. 

12.  Schleswig-Holsteinische  Schulzeitung.     Redakteur:    A.  Stolley  (Kiel).     Verlag:    .\ug. 
Westphalen  (Flensburg).     Preis  6  M.  jährlich. 

13.  Neue  Westdeutsche  Lehrerzeitung.  Redakteur:  Alb.  Siepen  (Elberfeld).  Verlag: 
Sam.  Lucas  (Elberfeld).     Preis  6  M.  jährlich. 

14.  Bayerische  Lehrerzeitung.  Redakteur:  Darr  (Nürnberg).  Verlag  des  Bayerischen 
Volksschullehrerinnenvereins.      Preis  1    M.  jährlich. 

15.  Freie  Bayerische  Lehrerzeitung.     Redakteur:   Georg  Heydner  (Nürnberg). 

16.  Sächsische  Schulzeitung.  Redakteur:  Arthur  Ulrich  (Dresden).  Verlag:  Jul.  Klink- 
hardt  (Leipzig).    Prtis  8  M.  jährlich. 

17.  Badische  Schulzeitung.  Redakteur:  J.  Goldschmidt  (Karlsruhe).  \'erlag:  Konkordia- 
A.-G.  (Brühl).     Preis  5,60  M.  jährlich. 

18.  Lehrerzeitung  für  Thüringen  und  Mitteldeutschland.  Redakteur:  E.  Polz  (Weimar). 
Verlag:  R.  Wagner  Sohn  (Weimar).     Preis  8  M.  jährlich. 

19.  Mecklenburgische  Schulzeitung.  Redakteur:  H.  Voß  (Schwerin).  Verlag:  Eberhardtsche 
Hof-  und  Ratsbuchdruckerei  (Wismar).      Preis  5  M.  jährlich. 

20.  Oldenbiurgisches  Schulblatt.  Redakteur:  Grape  (Delmenhorst).  Verlag:  Rob.  Sußmaim 
(Oldenburg).     Preis  4  M.  jährhch. 

21.  Pädagogische  Reform.  Redakteur:  R.  Roß  (Hamburg).  Verlag:  H.  Köhncke  (Hamburg). 
Preis  7  M.  jährlich. 


1 92  Volksschulwesen. 

B.    Zwei-  oder  dreimal  monatlich  erscheinende  Zeitschriften. 

1.  Frankfurter  Schulzeitung.  Organ  des  Lehren'ereins  zu  Frankfurt  a.  M.  Redakteur: 
E.  Ries  (Frankfurt  a.  M.).  Verlag:  Kesselringsche  Hofbuchhandlung  (Frankfurt  a.  M.). 
Preis  5  M.  jährlich. 

2.  Die  Volksschule.  Organ  des  AVürttembergischen  \'oIksschullehrervereins.  Redakteur: 
G.  Honold  (Stuttgart-Berg).     Verlag:  Ad.  Bonz  &  Co.  (Stuttgart).     Preis  5  M.  jährlich. 

3.  Der  Schulfreund.  Organ  des  I.othringischen  Lehrervereins.  Redakteur:  G.  Sedelmayr 
(Metz).     Verlag:  Paul  Even  (Metz).      Preis  5  M.  jährlich. 

4.  Neues  Braunschweigisches  Schulblatt.  Organ  des  Braunschweigischen  Landes- 
Lehrer-  und  Lehrerinnen-Vereins.  Redakteur:  K.  Ernst  (Braunschweig).  Verlag: 
C.  Appelhans  &  Co.  (Braunschw^eig).     Preis  3  M.  jährhch.   ^ 

5.  Schulbote  für  Hessen.  Organ  des  Hessischen  Landes-Lehrervereins.  Redakteur: 
H.  Ruppel  (Düdelsheim  b.  Büdingen).    \'erlag:  Em.  Roth  (Gießen).    Preis  4  M.  jährlich. 

6.  Thüringer  Schulblatt.  Redakteur:  H.  Böttner  (Friedrichsroda).  Verlag:  Rieh.  Schmidt 
(Gotha).      Preis  3  M.  jährlich. 

7.  Ober  -  Elsässische  Lehrerzeitung.  Organ  des  Ober  -  Elsässischen  Lehrer-\"ereius. 
Redakteur:  P.  Stintzi  (Mülhausen).    \'erlag:  D.  NawTatil  (Mülhausen).  Preis  3  M.  jährlich. 

8.  Allgemeines  Schulblatt.  Redakteur  und  Verlag:  Rud.  Bechtold  (Wiesbaden).  Preis 
4,50  M.  jährlich.     (Erscheint  monatlich  dreimal.) 

Einen  ähnlichen  Charakter  wie  diese  Zeitschriften  hat  die  einzige  in  Deutschland 
erscheinende  pädagogische  (zugleich  auch  politische)  Tageszeitung,  die  Preußische 
Lelii-erzeitung,  Redakteur:  Th.  Gütlich  (Spandau).  \'erlag:  Hopfsche  \'erlagsdruckerei 
(Gebrüder  Jenne),  Spandau.     Preis  12  M.  jährlich. 

Den  Interessen  der  besonderen  katholischen  Lehrer  vereine  dienen: 

^.    Westdeutsche  Lehrerzeitung.     Verlag  J.  P.  Bachern  (Cöln). 

2.  Katholische  Schulzeitung  für  Mitteldeutschland.  Herausgegeben  von  Lehrer  Ritzel 
in  Fulda. 

3.  Kathohsche  Schulzeitung  für  Xorddeutschland.  \'erlag:  Goerlich  (Breslau).  Wöchentlich. 
Jahrespreis  6,40  M. 

4.  Katholisches  Schulblatt  für  die  Rheinpfalz.  Herausgegeben  von  Lehrer  Mistler 
in  Speyer. 

5.  Katholische  Schulzeitung  für  Elsaß-Lothringen.  Herausgegeben  von  Hauptlehrer 
Math.  Weber  in  Straßburg-Neuhof. 

6.  Katholische  Schulzeitung.     Herausgegeben  von  L.  Auer  in  Donauwörth. 

Den  Zwecken  der  besonderen  evangelischen  Lehrervereine  dient: 

Die    evangelische     Volksschule.       Redakteur:    H.     Liepe    (Pankow).       \'erlag: 
Fr.   Zillessen  (Berlin).     Zweimal  wöchentlich.     Jahrespreis  6  M. 

Die  Interessen  der  Lehrerinnenvereine  vertritt: 

Die  Lehrerin    in  Schule  und  Haus.      Herausgeberin:    Marie  Loeper-Housselle. 
Verlag:   Th.    Hofmann  (Leipzig).     Jährlich  52  Nummern,  Jahrespreis  8  M. 


KAPITEL  VII. 
Die  Volksschule  in  den  größeren  deutschen  Städten. 


1.    Rückblicke    auf  die   bisherige  Entwicklung  der  größeren 
deutschen  Städte. 

Das  Wachstum  zahlreicher  deutscher  Städte  in  der  zweiten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ist  ein  so  rapides  gewesen,  daß 
ihr  Fortschritt  in  manchen  Fällen  nur  mit  der  beschleunigten  Ent- 
wicklung neugegründeter  amerikanischer  Gemeinwesen  verglichen 
werden  kann,  und  daß  es  denjenigen,  welche  die  heute  bestehenden 
Verhältnisse  vor  Augen  haben,  oft  schwer  fällt,  sich  die  Zustände  im 
Geiste  auszumalen,  w^ie  sie  vor  fünfzig  Jahren  bestanden.  Die  Be- 
\'ölkerungszahl  und  Bevölkerungsdichtigkeit  der  Großstädte  ist  enorm 
gewachsen;  in  vielen  Fällen  hat  auch  ihr  Areal  durch  die  An- 
gliederung  dörfücher  Nachbargemeinden  einen  bedeutenden  Zuwachs 
erhalten,  und  andererseits  sind  auch  zahlreiche  Dorfgemeinden  in  die 
Reihe  der  Großstädte  aufgerückt. 

Mit  der  Zahl  der  Bevölkerung  wuchs  im  allgemeinen  im  gleichen 
Verhältnis  die  Zahl  der  schulpflichtigen  Kinder,  und  daraus  hätte  sich 
vielleicht  die  Notwendigkeit  ergeben  sollen,  im  gleichen  Prozentsatz 
die  Zahl  der  öffentlichen  Schulhäuser  zu  vermehren.  Aber  die  Ver- 
hältnisse erzwangen  eine  weit  schnellere  Zunahme  der  öffentlichen 
Unterrichtsanstalten.  Die  strengere  Durchführung  der  Schulpflicht, 
die  Einziehung  einer  großen  Anzahl  dürftiger  Privatschulen  beziehungs- 
weise die  Umwandlung  solcher  Anstalten  in  öffentliche  Schulen,  die 
Herabsetzung  der  Klassenfrequenzen  und  andere  Umstände  machten 
eine  viel  schnellere  Vermehrung  der  öffentlichen  Schulen,  besonders 
der  Volksschulen,  notwendig,  als  der  Zunahme  der  Bevölkerung  und 
dem  Wachsen  der  Zahl  der  Kinder  im  schulpflichtigen  Alter  ent- 
sprochen hätte. 

Über  die  Zunahme  der  Bevölkerung  der  Stadt  Berlin  und  der  in 
Berliner  Schulen  unterrichteten  Jugend  seit  dem  Jahre  1872  gil)t 
folgende  Tabelle   1    Auskunft: 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     HI.  13 


194 


Volksschuhvesen . 

Tabelle  1. 


Am 
:    Ende 
des 
Jahres 

Bevölke- 
rungszahl 
(einschl. 
Militär) 

Schüler  und  Schülerinnen 

lämtlicher  Berliner  Schulen 

Gesamt- 
zahl 

Kinder 

über 
14  Jahre 

Kinder 

von 
6—14 
Jahren 

Auf  100  Se 

kor 

insgesamt , 

elen  der  Bevölkerung 
amen  Schüler 

über 
14  Jahre 

von 
6—14 
Jahren 

1872 

864  300 

95  275 

7  309 

87  966 

11,03 

0,85 

10,18 

1875 

964  240 

108  904 

8  481 

100  423 

11,29 

0,88 

10,41 

1880 

1  123  680 

139934 

12381 

127  553 

'     1 2,45 

1,10 

11,35 

1885 

j     1315613 

190  474 

12  160 

178314 

1     14,48 

0,92 

13,56 

1890 

1     1  579  980 

'   221  216 

16105 

205111 

i     14,00 

1.02 

12,98 

1895 

:     1678  527 

1    233  319 

17  097 

216  222 

:      13,90     ! 

1,02 

12,88 

1900 

:     1888177 

255  921 

17112 

238  809 

'     13,55 

0,91 

12,64 

1902 

':     1926367 

'   258  832 

17518 

241  314 

13,44 

0,91 

12,53 

Auf  Kosten 

der  Gemein 

de  in  Gemei 

ndeschulen  usw.  unterrichtete  Kinder 

Am 

1 

Auf  100  Seelen  der  Bevölkerung 

Ende 
des 

Gesamt- 

Kinder 

Kinder 
von 

'                    kommen  Schul 

er 

über 

Jahres 

zahl 

14  Jahre 

6-14 

Jahren 

insgesamt 

über 
14  Jahre 

von 
6-14 

Jahren 

1872 

54  400 

467 

53  973 

1        6,29 

0,05 

6,24 

1875 

64  882 

603 

64  279 

6,73 

0,06 

6,67 

1880 

95  572 

1  981 

93  591 

8,51 

0,18 

8,33 

1885 

145  036 

2  054 

142  982 

11,02 

0,16 

10,87 

1890 

173183 

3  502 

169  681 

10,95 

0,22 

10,73 

1895 

185  690 

3  681 

182  009 

11,06 

0,22 

10,84 

1900 

21 1  391 

4  431 

206  960 

11,19 

0,23 

10,96 

1902 

214  325 

4  886 

209  439 

11,12 

0,25 

10,87 

Aus  der  Tabelle  ergibt  sich,  daß  im  Laufe  der  letzten  dreißig 
Jahre  die  Berliner  Bevölkerung  auf  wenig  mehr  als  das  Doppelte  ge- 
stiegen ist,  während  sich  die  Zahl  der  Kinder  in  den  Volksschulen 
nahezu  vervierfacht  hat.  Auffallender  haben  sich  noch  die  Verhältnisse 
in  der  Nachbarstadt  Berlins,  in  Charlottenburg,  gestaltet;  in  dieser  Stadt 
ist  im  letzten  halben  Jahrhundert  die  Einwohnerzahl  fast  auf  das  acht- 
zehnfache gestiegen,  während  sich  die  Zahl  der  Gemeindeschulkinder 
nahezu  auf  das  sechsundzu^anzigfache,  die  Zahl  der  Volksschulklassen 
aber  auf  mehr  als  das  vierzigfache  vermehrt  hat.    Folgende  Übersicht 


Die   Volksschule   in  den  fjröUeren   deulsclieii   Stiidtei 


1 95 


über    die  Zeit    \'on    1857    bis    1902    bietet    die    Cirundlagen    für    diese 

Berechnung  (Tabelle  2 1 : 

Tabelle  2.    Zahl  der  Klassen,  Lehrer  und  Schüler  in  den  Gemeinde- 
und  Hilfsschulen  von  Charlottenburg,  verglichen 'mit  der  Einwohner- 
zahl in  den  letzten  50  Jahren. 


Jahr     Klassen 


Rek- 
toren 
(Haupt- 
lehrerl 


Hand- 
Lehre-  arbeits- 
rinnen  '  Lehre- 


rinnen I  kräfte 

I 


Auf       Durch- 
Über-  1000       schnitt- 

^^'^^PV  Schüler       ^;"-  Ein-       ^^^f^^^ 

Lehr-  wohner     wohner     zahl  in 

kommen     einer 
Schüler     Klasse 


1857 

10 

1867 

12 

1880 

37 

1885 

50 

1890 

120 

1895 

220 

1900 

383 

1902 

416 

_ 

14 

1 

_ 

15 

5 

27 

6 

3 

41 

5 

42 

11 

2 

60 

9 

97 

20 

9 

135 

12 

158 

36 

15 

221 

20 

279 

78 

20 

397 

22 

315 

89 

24 

450 

710 

11400 

62 

71 

891 

15  000 

59 

74 

2  227 

30  500 

73 

60 

3  696 

42  400 

87 

74 

6319 

76  900 

82 

53 

11  082 

132  400 

84 

50 

16  807 

189  200 

89 

44 

18  397 

202  300 

91 

44 

Einen    noch    etwas  weiteren  Rückblick    auf    dii'    Berliner  Volks- 
schulverhältnisse läßt  uns  folgende  Übersicht  tun: 

Tabelle  3.    Übersicht  über  die  Zunahme  der  Bevölkerung,  der 


Volksschulen  und  Volksschulkinder  in  Berlin. 

Ende 

des 

Jahres 

Be- 
völkerung 

Zahl  der 
Kommu- 
nal- bezw. 
Gemeinde- 
schulen 

Klassen-     Schüler- 
zahl            zahl 

in  den  Gemeinde- 
schulen 

Zahl  der 

Privat- 

Elemen- 

tarschulen 

Klas-      Schüler- 
senzahl        zahl 

der  Privat- 
Elementarschulen 

Gesamt- 
summe 
der  Volks- 
schul- 
kinder 

1827 
1857 

230  413 
449  610 

1 
15 

4 
132 

ca.  300 
11  746 

1901) 

? 
255--') 

17  6889 
14  274 

26  020 

'  1860 

493  400 

20 

185 

13  703 

? 

277 

14  178 

27  881 

,  1865 

657  690 

33 

341 

20  344 

26 

185 

10  831 

31175 

1870 

774  310 

53 

615 

37  663 

20 

179 

11  979 

49  642 

^   1875 

964  240 

88 

1152 

62  019 

4 

46 

2812 

64  831 

1880 
,  1885 

1  123  608 
1315613 

114 
156 

1742 
2587 

94  067 
143  597 

2 
1 

24 
24 

1505 
1  439 

95  572    ! 
145  036    : 

1890 
1900 

1  579  980 
1888177 

183 
241 

3060 
4242 

173183 
211391 

— 

— 

173183    ! 
211391 

1901 

1  901  567 

249 

4342 

212  495 

— 

— 

— 

212  495 

')  190  ist  die  Zahl  der  überhaupt  vorhandenen  Privatschulen;  wie  viel  von  ihnen 
Elementarschulen  waren,  läßt  sich  nicht  feststellen.  Eingeschlossen  sind  die  6  Armen- 
schulen, die  allerdings  der  Aufsicht  des  Armendirektoriums  unterstanden,  aber  als  eigent- 
liche öiTentliche  Volksschulen  nicht  gelten  konnten. 

2)  Von  hier  ab  sind  nur  diejenigen  Privatelementarschulen  gezählt,  in  denen  Kinder 
auf  Kosten  der  Stadt  Unterricht  erhielten. 

13* 


-|  Qf)  Volksschulwcsen. 

Zur  Ergänzung  möge  hier  noeli  ein  Cberblick  über  das  Wachs- 
tum der  Hamburger  Volksschulen  seit  der  Übernahme  derselben 
durch  den  Staat  am  11.  Mai  1871   folgen: 


Tabelle  4.    Volksschulen  in  Hamburg. 


Bestand 
j        am 
31.  März 

1 

1 

Be-       , 

völkerung  [ 

Schu- 
len 

Klas- 
sen 

Schüler- 
zahl 

1 

Haupt- 
;  lehrer  i 

L  e  h  r  p  e  r  ; 

feste      Hilfs- 
Lehrer    lehrer 

;  o  n  e 

feste 
Lehre- 
rinnen 

n 

Hilfs- 
lehre- 
rinnen 

1872 

307  496  ' 

16 

126 

6  087 

17 

11 

77 



51 

1875 

343  453 

24 

201 

9  480 

25 

52 

94 

11 

48 

1880 

404  987 

45 

484 

25  042 

46 

152 

183 

36 

116 

1885 

466  319  ! 

68 

834 

42  094 

69 

289 

299 

80 

235 

1890 

559115 

85 

1203 

61991 

84 

516 

326 

151 

317 

1895 

618  944 

106 

1497 

67  697 

106 

966 

129 

397 

222 

1900 

699  489 

114 

1739 

79  579 

113 

1133 

132 

565 

240 

1902 

739  000 

126 

1914 

88  822 

126 

1178 

166 

638 

281 

Als  viel  bedeutsamer  noch  als  dieses  rein  ziffernmäßige  Wachsen 
der  Volksschule  muß  jedoch  die  Verbesserung  der  Einrichtung  und 
der  Unterrichtsmethoden  der  Volksschule  angesehen  werden.  Ein 
Berliner  Schulaufsichtsbeamter  faßt  das  Gesamtergebnis  der  Ent- 
wicklung der  Berliner  Volksschulen  in  den  letzten  75  Jahren  in 
folgenden  Worten  zusammen: 

„Ich  ziehe  das  Fazit,  indem  ich  kurz  das  Damals  dem  Jetzt 
gegenüberstelle.  Damals  (1827)  als  einzige  öffentliche  Volksschulen 
Berlins  sieben  ein-  bis  zweiklassige  Armenschulen  in  dürftigen  Schul- 
räumen ohne  festen  Lehrplan  unter  schlechtbezahlten  Lehrern  von 
mangelhafter  Vorbildung,  geringem  Wissen,  tiefer  gesellschaftlicher 
Stellung,  jetzt  ein  über  das  ganze  Weichbild  ausgebreitetes  Netz  von 
gleichmäßig  organisierten  achtstufigen,  sechzehn-  bis  zwanzigklassigen 
Gemeindeschulen  in  teilweise  schönen  Schulhäusern,  groß  genug,  um 
allen  Kindern  der  Stadt  den  kostenfreien  Zutritt  zu  gewähren,  zweck- 
mäßig und  wirksam  genug,  um  das  allgemeine  Vertrauen  zu  ver- 
dienen, mit  einem  Lehrpersonal,  das,  tüchtig  und  pflichttreu  zugleich, 
durch  rechte  Hingabe  an  seinen  Erzieherberuf  allen  Einrichtungen 
das  rechte  Leben  einzuhauchen  bemüht  ist.     Damals  ein  Fünftel  aller 


Die   X'olksschul 


Ifu   ^mLlcren  deulschcn   Stächen. 


107 


Tabelle  5.    Grundstücks-  und  Baukosten  der  Gemeinde-Schulen 
in  Charlottenburg. 


Benenn  u  n  g 

erbaut 

Größe 

des 
Grund- 
stücks 

Grund-         ,, 

l>au- 
stiicks-        , 

kosten 
kosten 

saiiimen 

i 

5 
1 

für  die 
Klasse  | 

mit 
Grund- 
stück 

qm 

M.            M.              M. 

< 

M. 

Gemeindeschulf        III 

1881,82 

1910 

131  000 

131  000 

22 

5  933*) 

I/II 

1884/86 

3  746 

39  611     274  665 

314  276 

36 

8  730 

VII/VIII 

1888/89 

3  296 

155  980    359  896 

516  876 

36 

14  358 

XI/XII 

1890/92 

4  487 

52  191     441027 

493  218 

36 

13  701 

V/VI 

1891/92 

3  761 

27  117     433  079 

460  196 

36 

12  783 

XIII/XIV 

1894/95 

4  338 

137  624    409  981 

547  605 

42 

13  038 

XV/XVI 

1890/98 

4619 

227  809    354  958 

582  767 

42 

13  875 

IX/X 

1899/00 

6  031 

180  701     442  097 

622  798 

39 

15  969 

,    XVII/XVIII 

1899/00 

5  275 

147  120    469  541 

616  661 

40 

15417 

XIX/XX 

1899/00 

5  489 

339  558     511272 

850  810 

39 

21  816 

*) 

Ohne  Grundstü 

;k. 

Tabelle  6. 


Neue   Schulhäuser  in  Berlin,   seit  1900   dem  Betrieb 
übergeben. 


Größe 

Kosten  des 

Straße  und  Hausnummer 

des 

Schul- 

1  grund- 

Davon 

bebaut 

be- 
rech- 
net auf 

Zahl 
der 

Schul- 
gebäudes, 
ohne  Grund- 

1  Stücks 

wieviel 
Kinder 

klassen 

stück 

qm 

qm 

M.           1 

Doppelschule    Wilmsstr.   10       .     . 

5  120 

2  094 

2  040 

36 

447  353 

Glogauerstr.   12/16 

4  988 

1925 

2010 

35 

409  569 

„             Rostockerstr.  31/32 

5169 

1  831 

1  990 

36 

391  877 

Dunckerstr.  65/66  . 

6  054 

2  155 

1  950 

36 

546  820 

Oderbergerstr.  57/59 

3  882 

1282 

1  730 

31 

467  738 

Wiclefstr.  53/54      . 

5160 

1  886 

1  920 

35 

573  918 

„              Christianiastr.      .     . 

6  768 

2  160 

2  050 

36 

527  893 

„              Straßmannstr.  6 

7  472 

3  154 

2  070 

36 

517  000 

Einfache  Schule  Grenzstr.  8     .     . 

2716 

1369 

1  010 

17 

213  365 

Doppelschule    Wattstr.   16    .     .     . 

5  463 

2  083 

1  880 

36 

477  636 

Waldenserstr.  25/26 

4  639 

2  067 

1  970 

36 

5%  105 

Görlitzer  Ufer  15    . 

5157 

2  058 

2  030 

38 

519  786 

Rigaerstr.   113/14    . 

6  057 

2169 

1  930 

36 

507  901 

Einfache  Schule    Waldemarstr.  77 

3  722 

1  323 

1  030 

19 

282  100 

Doppelschule    Stralauerallee       .     . 

5  632 

2  063 

1  990 

37 

469  000 

„              Bergmannstr.  60/65 

4  704 

2  030 

1  820 

37 

567  200 

198 


\"olk.v^clmKve> 


schulpflichtigen  Kinder  schuUos  aufwachsend,  jetzt  ein  durch  alle 
Bezirke  verzweigtes  System  von  Schulkommissionen,  gebildet  aus 
Bürgern  im  Ehrenamt,  im  Besitz  ausreichender  Befugnis  und  Personal- 
kenntnis, um  die  Erfüllung  der  Schulpflicht  jedem  Kinde  zu  ermög- 
lichen, ihre  völlige  Versäumnis  bei  keinem  zu  dulden;  damals  die 
Volksschulen  einer  Behörde  unterstellt,  die  mit  dem  Schulwesen  nur 
in  sehr  äußerHchem  Zusammenhange  stand,  jetzt  eine  besondere 
Schulbehörde,  ausgestattet  mit  solcher  Vollmacht  und  solcher  Technik, 
daß  sie    das    wachsende    Schulbedürfnis    zu    erfüllen  vermag,    wie    es 


Tabelle  7.    Die  Volks-(Elementar-)Schulen  in  einigen  deutsehen 


S  tä 

dtisc 

lie 

Lehrer 

-Schüler 

Städte 

voll              nicht 

voll 

beschäftigt       beschäftigt 

ll, 

1  .-f 
II 

L    cu 

II 

2 

:5 

1 

1 
■■s 

Altena .     .    .    . 

29 

i 
346 

149 

17 

17 

301 

9210 

9  693 

18  903 

Berlin    .... 

247 

4  621 
378 

1776 
82 

515 

504 

4  294 
339 

105  173 
8  428 

105  938 
8  659 

211  111 

Bremen     .    .    . 

22 

17  087 

Breslau     .    .    . 

136 

922 

255 

139 

139 

935 

25  046 

25  015 

50  061 

Charlottenburg 

24 

405 

106 

14 

14 

382 

8  874 

8  367 

17  241 

Chemnitz      .    . 

23 

459 

22 

63 

4 

692 

13  995 

15108 

29103 

Cöln      .... 

75 

846 

402 



— 

846 

23  505 

24  088 

47  593 

Dresden   .    .    . 

32 

767 

102 

98 

86 

874 

17  332 

18  560 

35  892 

Düsseldorf  .    . 

37 

445 

202 

— 

— 

443 

13  273 

12  938 

26  211 

Elberfeld      .    . 

51 

436 

72 

— 

429 

12011 

1 1  509 

23  520 

Frankfurt  a.  M. 

33 

499 

139 

27 

20 

441 

11082 

12  059 

23141 

Halle  a.  S.    .    . 

24 

358 

117 

9 

9 

330 

8  871 

9  599 

18  470 

Hamburg     .    . 

125 

2  299 

851 

~ 

1826 

42  359 

42  325 

84  684 

Hannover     .    . 

67 

485' 

150 

7 

7 

439 

12  230 

11988 

24  218 

Königsberg  i.  Pi 

.       32 

385  j 

143 

36 

34 

357 

9  162 

9  819 

18981 

Leipzig     .    .    . 

45 

1563 

143 

18 

17 

1494 

29  515 

30  604 

60  119 

Magdeburg  .    . 

41 

678 

99 

125 

125 

666 

16  974 

16919 

33  893 

München  .    .    . 

40 

1  358 

667 

— 

963 

24  156 

25  553 

49  709 

Nürnberg.    .    . 

-^ 

587 

27 

145 

87 

574 

14  781 

15118 

29  899 

Stettin.    .    .    . 

36 

472 

149 

— 

_ 

436 

11638 

1 1  725 

23  363 

Straßburg  i.  E. 

45 

248 

117 

6 

3 

245 

— 

— 

12  837 

Stuttgart  .    .    . 

— 

230 

46 

16 

16 

209 

— 

1 

9  880 

Die  Volksschule 


LTi  größeren   deutschen  Städten 


199 


entsteht."  Der  Verlaui  der  Entwicklung  von  der  dürftig  ausgestatteten 
Elementarprivatschule  oder  Armenschule  zur  wohleingerichteten  Ge- 
meinde- oder  Bürgerschule  oder  gar  zur  Mittelschule  ist  typisch  für 
die  Entwicklung  des  deutschen  Volksschulwesens  im  19.  Jahrhundert. 
Wer  diese  Entwicklung  an  einem  bestimmten  Beispiel  genauer  ver- 
folgen will,  der  möge  die  Geschichte  des  Schulwesens  der  Haupt- 
und  Residenzstadt  Königsberg  i/Pr.  von  Emil  Hollack  und  Friedr. 
Tromnau  (Königsberg  i/Pr.  1899)  zur  Hand  nehmen.  In  anderen 
Städten    bieten    die  Verwaltunesberichte    der  Magistrate   nicht    selten 


Städten  am  Ende  des  Winterhalbjahrs  1900/1901. 


Sonstige 


Lehrer 


voll  nicht  voll 

beschäftigt  beschäftigt 


•!r;   4?  ö 


Be- 

völkerungs  - 
!  stand  am 
;  31.  März  1901 


5  23  12 

14  91  — 

7  48  17 

9  45  II 


2  1b 
18  32 
2    11 


—     11 
3    32 


494 

1437 

939 

400 


351 
40 

458 

121 
23 

736 
42 


455  949 

1  543  2  980 

974  1  913 

486  886 


345 

696 

41 

81 

359 

817 

64 

185 

16 

39 

373 

1  109 

2 

1 

1 

7 

- 

7 

84 

89 

173 

1 

40 

9 

7 

2 

42 

705 

736 

1  441 

1 

4 

4 

4 

— 

4 

— 

85 

85 

6 

69 

33 

— 

— 

34 

185 

745 

930 

52  42  94 
433  469  902 
271      29     300 


162  056 
888  382 
161  782 
423  959 
189  338 
205  279 
375  323 
396  500 
214  927 
157  200 
291  500 
157  940 
712  105 
237  439 
187  684 
459  869 
229187 
500  000 
259  783 
213  450 
152  064 
V82  763 


200  \'olks.schul  Wesen. 

zusammenfassende  Darstellungen    über   kürzere  oder  längere  Perioden 
der  lokalen  Schulgesehichte. 

Einen  wichtigen  äußeren  Maßstab  für  die  Fortschritte  des  Volks- 
schuhvesens  einer  Stadt  geben  Zahl,  Umfang  und  Einrichtung  der 
Schulneubauten.  Nur  ausnahmsweise  und  im  Notfalle  verzichten 
wohlhabende  Gemeinden  auf  die  Errichtung  eigener,  allen  Bedürf- 
nissen der  Einschulung  entsprechender  Schulhäuser.  Die  Benutzung 
von  gemieteten  Räumlichkeiten  bietet  trotz  ihrer  größeren  Billigkeit 
Anlaß  zu  so  vielen  schultechnischen  und  hygienischen  Bedenken,  daß 
im  allgemeinen  nur  selten  zu  diesem  Auskunftsmittel  gegriffen  wird. 
Ebenso  findet  die  Benutzung  derselben  Schulräume  durch  zwei  Klassen 
zu  verschiedenen  Zeiten  (Halbtagsschulen,  überzählige  oder  fliegende 
Klassen)  in  den  Städten  nur  ausnahms\^eise  Anwendung.  Nach  dem 
Verwaltungsbericht  des  Magistrats  zu  Berlin  (Städtische  Schuldepu- 
tation) für  das  Etatsjahr  1902  gab  es  bei  258  Volksschulen  noch 
28  Mietsschulhäuser  für  23  Volksschulen  und  5  Filialabteilungen; 
die  Zahl  der  fliegenden  Klassen  betrug  im  Sommerhalbjahr  24,  im 
Winterhalbjahr  18. 

Über  die  Anlage  und  Einrichtung  der  städtischen  Volksschul- 
bauten ist  bereits  an  einer  anderen  Steile  ausführUch  gesprochen 
worden.  In  welchem  Tempo  diese  Bauten  vor  sich  gehen  müssen, 
um  mit  der  Entwicklung  gleichen  Schritt  zu  halten,  und  welche  An- 
forderungen an  Raum  und  Einrichtung  und  damit  an  Geldkosten  für 
neue  Schulanlagen  gestellt  werden,  möge  hier  aus  zwei  Übersichten 
über  die  Charlottenburger  (Tabelle  5  auf  Seite  197)  und  Berliner 
Volksschulneubauten  (Tabelle  6  auf  Seite  197)  ersehen  werden. 


2.    Gegenwärtiger    Stand  des  städtischen    Volksschulwesens. 

Über  den  Umfang  und  Zustand  des  Volksschulwesens  von 
deutschen  Städten  mit  mehr  als  15()()()0  Einwohnern  gibt  Tabelle  7 
(Seite  198  und  199)  Aufschluß. 

Über  die  Kosten,  \\elche  das  städtische  Volksschulwesen  ver- 
ursacht, und  die  Quellen,  aus  denen  diese  Kosten  gedeckt  werden, 
geben  die  Tabellen  8  und  9,  allerdings  aus  dem  Etatsjahr  1899/1900 
bezw.   1899,  für  eine  große  Anzahl  \on  Städten  Auskunft. 


Die   V'ulksst:luile  in  den  j^rößeren  deutschen  Städten 


201 


Tabelle  8.    Die  Kosten  der  städtischen  Volksschulen  im  Rechnungs- 
jahr 1899/1900  in  den  Städten   mit  mehr   als  100  000  Einwohnern,  i) 


V  e  r  s 

fiir 
aktive 
Lehr- 
kräfte 
über- 
liaupt-l 

M. 

ö  n  1  i  c  h  e     Koste  n 

Baukosten  3) 

'  fürUm- 
u.  Er- 
weite- 

rungs-         Ce- 
für       1  bauten,       ^amt- 
^.           !    sowie       , 
^^^^-     '  f.  bau-  1    ^""''^'^ 
Bauten        ijche    '                  1 
Unter- 
1  haltun- 
1     gen 
M.       1      M.      ,       M. 

S  t  ä  d  t  e 

für  nicht  aktive 
Lehrkräfte  2) 
(soweit  aus 
städtischen 
Mitteln  be- 
stritten) 

über- 
haupt 

M. 

Säch- 
liche 
i^osten 
(ohne 
Bau- 
kosten) 

M. 

Ruhe-    c  D 

hälter  ^-^g^ 
M.         M. 

Aachen   .     .     . 

684  773 

1 
48  180     1764 

734  717    72  476 

—       1  78  920      886113 

Altena     .     .     . 

726  463 

48  492     6  862     781817 

72916 

104  330    43  788   1  002  851 

Barmen  .     .     . 

1013910 

37  254     3  552  1054  716 

130  832 

406  292    39  083  1  630  923 

Bremen  .     . 

1  032  060 

26  65b     5  484 

1  064  200 

109  423 

15  034    99  892  1288  549 

Breslau    .     . 

2  395  621 

105  848  39  220 

2  540  689 

348  990 

909  510  104  463  3  903  652 

Cassel      .     .     . 

568  480 

29  800  16  270 

614  550 

52  000 

197  600    58  204      922  354 

Charlottenburg 

1071  119 

40  269     4  368 

1  115  756 

49  935 

616  379    76  399  1  858  469 

Chemnitz     .     . 

1  075  142 

5  47i      - 

1  080  614 

306  601 

129  843    95  005   1612  063 

Danzig    .     .     . 

596  651 

23  755    6  820 

627  226 

39  052 

170  000    37  860      874  138 

Dortmund  ^1     . 

809  395 

22  980     2  724 

835  099 

136  706 

—         45193  1  016  998 

Dresden  .     .     . 

1  855  360 

75  081      — 

1930  441 

454  723 

55  317  132  390  2  572  871 

Düsseldorf"  .     . 

1058  418 

33  390    3  362 

1  095170 

55161 

326  888    80  023   1  557  242 

Elberfeldä).     . 

1  459  290 

36  814    6  530 

1  502  634 

60  737 

188  197    50  200  1  801  768 

Essen       .     .     . 

660  732 

19  742     1968 

682  442 

44  363 

610780   60730  1398315 

Frankfurt  a.  M. 

1  41 1  091 

81  851   29  474 

1522  416 

112  018 

234  533  107  32611976  293 

Halle  a.  S.  .     . 

521  130 

20  207     2  160 

543  497 

49  040 

98  540    12  056'    703  153 

Hamburg     .     . 

5  627  302 

62  112      — 

— 

395  519 

142  000  126  500        — 

Hannover     .     . 

1  154  382 

44  608  43  310 

1  242  300 

103  126 

325  781    32  875  1  704  082 

Kiel    .... 

494  269 

32  469     3  167 

529  905 

58  447 

187  218    31  600     807  170 

Königsberg  i.Pr. 

807  671 

43  641     9  752 

861  064 

109  099 

260  347    42  086  1  272  596 

Leipzig  ^)     . 

3  751  223 

10  889        500 

3  762  612 

70  231  1  1 30  21 2  259  33 1   5  947  386 

Magdebm-g 

1  655  683 

75  499     8  593 

1  739  775 

118  290 

185  238    66  689  2  109  992 

München      .     . 

1  946  348 

124  459  25  919 

2  096  726 

285  764  1  002  360  213  085  3  597  935 

i  Nürnberg     .     . 

1307  015 

43  877  16  945 

1  367  837 

117  989 

846  297    25  617  2  357  740 

Posen       .      .      . 

331  355 

15  155     5  827 

352  337 

99  357 

—           8  405     460  099 

Stettin      .     .     . 

747  856 

47  892     9  198     804  946 

65  125 

387  540    20  565  1  278  176 

Straßburg    i.  E. 

525  850 

480      — 

52Ö  330 

51  685 

130115  105  756      813  886 

Ij  Außer  Braunschvveig,  Mannlieim  und  Stuttgart.  Bei  den  Städten  Chemnitz, 
Dresden,  Hambiu-g,  Leipzig,  München,  Nürnberg  beziehen  sich  die  Angaben  auf  das 
Kalenderjahr  1899.  —  -)  P^inschließlich  der  Schuldiener,  Kastellane  und  Heizer  und  des 
Wertes  der  Dienstwohnungen.  —  3)  Ohne  Berücksichtigung  der  Aufwendung  für  Ver- 
zinsung und  Tilgung,  —  "•)  Sozietätsschulen.  —  ^)  Einschließlich  der  5  Mittelschulen  für 
Knaben.  —  «J  Einschheßhch  der  4  Mittelschulen  für  beide  Geschlechter.  —  Die  Mehr- 
leistungen der  preußischen  Städte  an  die  Alterszulagekasse  sind  bei  den  vorstehenden 
Angaben  nicht  berücksichtigt. 


202 


\"olks.schul\vesen. 


Tabelle  9.    Die  Deckung   der  Kosten   der   städtischen  Volksschulen 
im  Eeehnungsjahre  1899/1900.  i) 


von  den  in  Tabelle  8  nachgewiesenen  Kosten  werden  gedeckt 


aus  dem 

Schul-, 

durcli     Kirchen- 

Schul-     und  Stif-     Staats-       ,  '  \  überhaupt 

_     chen-  ,      ffen      I  ' 

geld         tungs- 

ver- 

niögen 

M.  M.  M.  M.     I       M.  M. 


S  t  ä  d  1 1 


aus 

städti- 
schen 
Mitteln 


aus 

1 

aus 

aus 
Staats- 
mitteln-) 

Kir- 
chen- 
kassen 

sonsti-    1 

gen 
QueUen 

M. 

M. 

M. 

Aachen     .     . 

745  258 

1  406 

33  337 

97  762 

Altona      .     .     . 

891  033 

— 

12  730       99  088 

Barmen    .     . 

1494  427 

—        28  778     103  153 

Bremen    . 

1  154  418 

132931          -            - 

Breslau     .     .     . 

3  614  276 

6  088     22  698 

235  337 

Cassel       .     .     . 

858  960 

3  924 

2  420      56  755 

Charlottenburg 

3)1819  353 

25  984 

7  668 

31825 

Chemnitz 

1  253  305 

200  587 

4  250 

137  729 

Danzig 

771  158 

1  030 

8  273 

84  235 

Dortmund     .     . 

431  197 

438  981 

19  136 

116  752 

Dresden  . 

1  918  793 

152  388 

69  110 

413  202 

Düsseldorf    . 

1  430  269 

2  360 

31410 

86  623 

Elberfeld       .     . 

1  616615 

17  100 

34  400     128  887 

Essen  .... 

1  316  170 

— 

28  000      54  145 

Frankfiu-t  a.  M. 

1  893  772 

— 

32  150      46  565 

Halle  a/S.     .     . 

653  317 

5  550 

2  145       .39  987 

Hannover      .     . 

1  600  154 

3  863 

15  131 

82  093 

Kiel     .... 

'•)    756  451 

— 

5  930 

50  183 

Königsberg  i.  P. 

1084  660 

100  838 

13  922 

65  848 

Leipzig     .      .     . 

4  715  022 

554  339 

36  335 

630  224 

Magdeburg   .     . 

&)  1  695  471 

272  733 

29  077 

117  272 

München       .     . 

3  494  330       — 

26  237 

— 

Nürnberg      .     . 

2  227  204            35 

32  394 

4  302 

Posen  .... 

406  253 

693 

1  840 

47  213 

Stettin       .     .     . 

.    6ji  210  973 

3  663 

15  285 

46  700 

Straßburg  i.  E. 

748  193 

— 

15  990 

48017 

- 

8.350 



4  565 

— 

1  200 

— 

25  253 

— 

295 

— 

8  464 

— 

16  192 

215 

9  227 

1  493 

9  439 

6  590 

12  788 

— 

6  580 

— 

4  766 

_ 

3  806 

— 

2  134 

288 

2  553 

54 

1  261 

3  930 

3  398 

— 

11466 

3  401 

2  408 

— 

")77  368 

— 

93  805 

-- 

4  100 

— 

2  553 

— 

1  686 

886  1 13 
1  002  851 
1  630  923 
1  288  549 
3  903  652 

922354 

3)  1  893  29+ 

1  612  063 

874  138 

1  016  998 

2  572  871 
1  557  242 
1  801  768 
\  398  315 
1  976  293 

703  133 

1  704  082 

i)    813  879 

1  272  596 
5  947  386 

5)2  120  362 

3  597  935 

2  357  740 
460  099 

t-)!  279174 
813  886 


ij  Bei  den  Städten  Chemnitz,  Dresden,  Leipzig,  München,  Nürnberg  beziehen  sich 
die  .\ngaben  auf  das  Kalenderjahr  1899.  —  2)  Ohne  die  staatlichen  Leistungen  für  Ruhe- 
gehälter, Witwen-  und  Waisenversorgung,  für  die  preußischen  Städte  aber  einschließlich 
der  Mehrleistung  der  Alterszulagekasse.  Die  Mehrleistungen  der  preußischen  Städte  an 
die  Alterszulagekasse  .sind  in  den  vorstehenden  Zahlen  der  ersten  und  letzten  Spalte  ein- 
begriffen, daher  die  Abweichung  der  Endzahlen  für  Charlottenburg,  Kiel,  Magdeburg  und 
Stettin    von  Tabelle  8.  —  3j   Darunter    34  825  M.  Mehrleistung  der  Stadt    an  die  Alters- 


zulagekasse.   —    ■*)    Desgl. 
''l  Darunter    72  510  M.  au 


6709    M.    — 

Krei-mitteln. 


■^)    Desgl.    10  370  M.  —   '')  Desgl.    998   M. 


IMe   Volksschule  in   den  größeren  ileutschen  Städten.  203 

Da  die  vorstehende  Übersicht  über  den  Volksschuletat  der 
Stadt  Berlin  keine  Auskunft  gibt,  so  möge  hier  eine  kurze  Zu- 
sammenstellung der  Voranschläge  für  den  Berliner  Stadthaushaltsetat 
für  1904  (Spezialetat  No.  15,  Volksschule)  folgen,  und  zwar  an  Aus- 
gaben: 

1.    Ordinarium. 

A.  Persönliche  Kosten. 

Besoldungen  der  Rektoren 1  261  200  M. 

„     Lehrer 8  332  300    „ 

„  „     wissenschaftlichen    Lehrerinnen        3  307  128    „ 

„     Fachlehrerinnen 511  000    „ 

„     Schuldiener 223  400    „ 

13  635  478  M. 
Stundenhonorare,  Vertretungskosten  und  sonstige 
persönliche  Ausgaben  (darunter  72  OOO  M.  für 
Schulärzte)  556  781     „ 

14192  259  M. 

B.  Sächliche   Kosten. 

Tit.  L  Unterrichtsmittel  (Lehrbücher,  Schreib- 
materialien, Lehrmittel  für  den  wissenschaft- 
lichen, Gesang-  und  Turnunterricht,  Aversum 
für  die  Rektoren  zur  Beschaffung  der  kleinen 
Schulbedürfnisse,  Tinte,  Kreide  usw.)  .     .     .  237  000   M. 

Tit.  IL      Schulutensilien   und   Hausgeräte,  sowie 

Turngeräte 1,30  000    „ 

Tit.  III.  Heizung,  Erleuchtung  und  Wasser- 
verbrauch (Brennmaterial,  I^öhne  für  die 
Heizer,  Gas-  und  Wasserverbrauch  zu  (ie- 
meindeschulzwecken) 627  965    „ 

Tit.  I\.     Reinigung 155  500    „ 

Tit.  V.  Bauliche  Unterhaltung,  Abgaben,  Lasten 
und  Mieten  (Feuerkassenbeitrag,  Versiche- 
rungsprämien, Kanalisationsgebühr,  Mieten 
für  die  nicht  auf  städtischen  Grundstücken 
befindlichen  Schulenj 950  323    „ 

Tit.  VI.  Prämien,  Unterstützungen  für  Schul- 
kinder   und  Schülerbibliotheken    (16  800  M.)  ,35  800    „ 

Tit.  VII.  Verschiedene  Ausgaben  (für  die  \^er- 
waltung  der  Schulkommissionen,  Lohn  für 
die  Boten  derselben,  Drucksachen  und  Buch- 
binderarbeiten, für  das  „Städtische  Schul- 
rauseum",  für  den  Betrieb  der  Brausebäder, 
Zuschuß  an  den  „Allgemeinen  Unterstützungs- 
Fonds"  usw.) 118  730     ., 

Tit.   VIII.     Aus  Vermächtnissen 9  593    ,, 

Summe  der  sächlichen  Kosten         2  264  91 1    M. 

„     persönlichen    „     .        14  192  259    „ 

Summe  des  Ordinariums      .     .        16  457  170  M. 


204  \'olk.s.schul\vesen. 

2.    Extraordinarium. 

Zur  Beschaffung  neuer  Schulbänke 30  000  M. 

Summe  der  Ausgaben       16  487  170  M. 
Diesen  Ausgaben  stehen  folgende  Einnahmen  gegenüber: 

Tit.      I.     Grundeigentum 32  880  M. 

Tit.     IL     Aus  Vermächtnissen 30  592    ,, 

Tit.  in.     Verschiedene  Einnahmen 41  478    ,, 

104  950  M. 
Die  Gesamtaufwendungen  betragen  daher  16382220  M. 

Die  Summe  von  1 6  382  220  M.  umfaßt  allerdings  nicht  die  Ausgaben  für  Schul- 
haus-Neubauten, für  Dienstpensionen  der  Lehrer  sowie  Versorgung  ihrer  Witwen  und 
Waisen  und  die  Unterhaltung  der  der  Volksschule  dienenden  Bureaus  mit  ihren  Be- 
amten sowie  verschiedene  kleine  Ausgaben. 

Die  Beiträge,  welche  gemäß  dem  Gesetz  vom  3.  März  1897  betr.  das  Dienst- 
einkommen der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  den  öflentlichen  Volksschulen  aus  der 
Staatskasse  gewährt  werden,  sowie  die  Einnahmen  aus  Schulversävmmisstrafen  sind  in 
dem  Spezialetat  15  ebenfalls  nicht  in  Rechnung  gestellt;  ebenso  gewisse  Lasten,  welche 
der  Volksschulverwaltung  aus  der  unentgeltlichen  Überlassung  von  Schulräumlichkeiten 
an  andere  städtische  Verwaltungen  erwachsen. 

Den  größten  Bestandteil  aller  laufenden  Aufwendungen  für  das 
\'olksschuhvesen  bilden,  wie  wir  aus  den  vorstehenden  Zusammen- 
stellungen ersehen,  die  persönlichen  Kosten  und  unter  diesen  wiederum 
die  Gehälter  der  Lehrkräfte.  Die  Gehälter  der  einstweilig  und  der 
fest  angestellten  Lehrer  und  Lehrerinnen  sowie  der  Schulleiter  (Rek- 
toren, Direktoren,  Hauptlehrer)  gehen  nicht  selten  über  die  durch 
die  Gesetze  vorgeschriebenen  Mindestbezüge  bezw.  Normalsätze 
hinaus.  Diese  Gehälter  sind  aber  im  einzelnen  sehr  verschieden. 
Die  folgenden  Tabellen  bieten  eine  Zusammenstellung  über  die  zu 
Beginn  des  Jahres  IQO.S  in  einer  größeren  Anzahl  von  deutschen 
Städten  tatsächlich  bestehenden  Gehaltsverhältnisse  der  definiti\'  an- 
gestellten Lehrer  und  Lehrerinnen  sowie  der  Rektoren.  Die  Ta- 
belle 10  stützt  sich  auf  Ermittelungen  der  statistischen  Zentralstelle 
des  Deutschen  Lehrervereins.  (Statistische  Beilage  zur  Pädagogischen 
Zeitung  März  und  April  1903). 

Tabellen  (Seite  208  und  209)  gründet  sich  auf  die  Angaben  des 
statistischen  Jahrbuchs  deutscher  Städte  für  1903;  sie  bietet  in  sehr 
anschaulicher  Weise  eine  Übersicht  über  den  tatsächlich  erreichten 
Bildungsgrad  sämtlicher  in  den  genannten  Städten  nach  Absolvierung 
der  Schulpflicht  die  Volksschule  verlassender  Kinder. 

Aus  dieser  Tabelle  ergibt  sich,  daß  die  Schüler  acht-  und 
siebenstufiger,  ja  selbst  sechsstufiger  Volksschulen  nicht  immer  die 
oberste  Klasse  erreichen.  Dies  ist  ein  Umstand,  der  die  Aufmerk- 
samkeit der  Pädagogen  und  der  Vcrwaltungsbeamten  in  hohem  Maße 


Die   \olksscluil( 


len  größeren   deutschen   Städten. 


205 


auf  sich  lenken  muß;  es  bedeutet,  daß  so  und  soviel  Prozent  der 
Volksschüler  des  Unterrichts  in  der  Oberklasse  nie  teilhaftig  werden, 
und  das  ist  vom  pädagogischen  Standpunkt  aus  ein  sehr  bedauer- 
liches Resultat.  Denn  der  Lehrplan  des  Sy.stems,  mag  es  ein  sechs-, 
sieben-  oder  achtstufiges  sein,  bildet  auf  jeden  Fall  ein  in  sich  ab- 
geschlossenes Ganzes;  gewisse  höchst  wichtige  Stoffe  werden  nur  in 
der  obersten  Klasse  behandelt,  so  daß  diejenigen  Schüler,  die  ins 
Leben  hinaustreten,  ohne  dieselbe  erreicht  zu  haben,  bedeutende 
Lücken  in  ihren  Kenntnissen  aufweisen  müssen  und  eine  nicht  ab- 
geschlossene Bildung  mit  hinausnehmen. 
Tabelle  10. 

Es     erhalten     festanafe  stellte 


Xanien 

der 
Städte 


Lehrer 

Lehrerinnen 

Maxi- 
Miets-       miim 
.ntschä-       ^;;_ 
digung  ;   samt-  j 
bezüge 

ix 

2 

1  Maxi- 
Miets-    '   mum 
,    ,  ..        der 
entscha-       ,. 

digung      samt-  \ 
bezüge 

Schulleiter 


■^        ,,.  Maxi- 

^        Miets-i    ^^^ 

g.  ent-  der 
c  schädi-  Ge- 
samt- 


gung 


bezüge 


Preußische  Städte. 


Aachen 

1400        450 

3650 

Altona 

1300        540 

3640 

Barmen 

1500       450 

3750 

Berlin 

1200       648 

4248 

Breslau 

1300       400 

3500- 
3700 

Cassel 

1400        500 

3700 

Charlottenburg  . 

1250       650 

4150 

Cöln 

1500  250-500 

3550- 
3800 

Crefeld 

1400       250      3450- 
3650 

Üanzig 

1100  350—450 

3350 

Dortmund    .  .  . 

1500  250-500 

3550- 
3800 

Düsseldorf  .  .  . 

1450  450-550 

3800 

Elberfeld   .... 

1450  336—500 

3586- 
3750 

Essen 

1400  320—540 

3520- 
3740 

Frankfurt  a.  M. 

1600  550-720 

4300 

Halle 

1200  390-500 

3500 

Hannover  .... 

1400  350—600 

3550- 
3800 

Kiel 

1350       450        ;i6G0 

Königsberg  i.Pr. 

1100  400-500   3400 

Magdeburg  .   .  . 

1200  450—500   3500 

Posen  

1200  400-600 

3600 

Stettin 

1250  450-550 

3600 

1100 

300 

1000 

240 

1300 

300 

1000 

432 

1100 

300       L 

1200 

300 

1150 

450 

1200 

250 

1200 

300 

2300 
2320 
2500 
2732 
2840- 
2940 
2760 
2950 
2350 

2400 


900  300  2280 
1300  250-350  2630- 
2730 
1200  300  2400 
1300   336    2536 


1200 

320 

2420 

1300 

550-720 

3100 

980 

280 

2340 

1100 

300 

2750 

1060   300  2440 

950   300  2330 

1090   300  2470 

1050   300  2700 

1050  450—550  2490 


1700 

500 

4000 

1500 

570 

4500 

2O0O 

600 

4400 

2400 

800 

5600 

1900 

600 

4300 

2350 

650 

4800 

2350 

800 

5400 

2000 

450— 
800 

4250- 
4600 

1800 

360- 
550 

3%0— 
4150 

1700 

500 

4000 

1800 

550 

4150 

2100 

600 

4500 

2050 

600 

4450 

2000 

400- 
600 

4200- 
4400 

3600 

820 

6400 

2400 

600 

4800  ; 

2300 

500- 
700 

4600— 
4800 

1800 

600 

4200 

1700 

600 

4100 

2400 

660 

4860 

2500 

750 

5050 

2150 

650 

4600 

206 


\'olksschul\vesen 


, 

Namen 
der 

E 

s    e  r  h 

alte 

n    festangestell 

t  e 

Lehrer 

Lehrerinnen                        Schulleiter 



Maxi- 

^ 

Maxi- 

- 

Maxi- 

'3 

Miets- 

mum 

"3 

'S 

Miets- 

mum 

i 

Miets- 

mum 

Städte 

% 

entschä- 

der 
Ge- 

S 

entschä- 

der   '      äo 
Ge-         1 

ent- 

der 
Ge- 

5 

digung 

sarat- 

s 

digung 

samt-         2 

samt- 

6 

bezüge 

0 

bezüge      ^ 

gung 

bezüge 

Auß 

erpreu 

ßisch 

e  Städte 

1  Braunschweig.  . 

1600 

— 

3600 

1400 

— 

2100     3300 

— 

5100 

1   Bremen 

1800 

— 

3600 

1400 

— 

2000 

4000 

— 

5000 

Chemnitz  .... 

1300 

400—500 

3750 

1300 

350 

2750 

3200 

800 

5400 

!  l^-^-^i-^  }  ka'h. 

1300 

500-700 

4200 

1300 

400 

2600 

3600 

900 

6000 

1360 

250/0 

3600 

1360 

250/0 

2250 

250/0 

Hamburg  .... 

2000 

___ 

44C0 

1400 

— 

2600 

4100 

— 

6000 

Leipzig 

1300 

500-700 

4200 

1300 

400 

2800 

4500 

20  0/0 

6000 

Mannheim    .   .  . 

1600 

600 

3700 

1500 

300 

2400 

1600') 
+  400 

4100 

München    .  .  alt 

2070 

280 

4360 

1554 

180 

2964 

2070 

80 

5340 

neu 

2100 

280 

4020 

1560 

180 

2820 

2100 
+  900 

Nürnberg  .... 

2100 

— 

4230 

1560 

— 

2832 

2100^) 

-1-  5ri() 
-  1500 

— 

5730 

Stuttgart 

1600 

700 

3500 

1200 

400 

2200 

3200 

1200 

5400 

1)  Die    Schulleiter    beziehen    das  Gehalt    der    Lehrer    und    außerdem    400  M. 
Funktionszulage.   —  "-)  Desgl.  500  bis   1500  M.  Funktionszulage. 


Die  Ursachen  dieser  Erscheinung  sind  äußerst  mannigfaltig  und 
liegen,  abgesehen  von  etwaigen  Mängeln  des  Lehrplans  oder  des 
Unterrichts,  teils  auf  hygienischem,  teils  auf  volkswirtschaftlichem  Gebiet. 
Vielfach  sind  die  Großstadtkinder  nach  Ablauf  des  sechsten  Lebens- 
jahres körperlich  und  geistig  noch  gar  nicht  schulfähig  und  können  daher 
erst  später  eingeschult  werden;  obwohl  so  der  Anfangstermin  zuweilen 
um  ein  Jahr  hinausgeschoben  wird,  bleibt  doch  das  14.  Lebensjahr 
als  Endtermin  im  allgemeinen  bestehen;  es  ergibt  sich  daraus  eine 
nur  siebenjährige  Schulzeit,  so  daß  sogar  bei  regelmäßiger  Versetzung 
das  Kind  die  achte  Klasse  nicht  mehr  absolvieren  kann.  Andere  Kinder 
werden  durch  Erkrankungen  an  Masern,  Scharlach,  Diphtheritis  usw. 
während  der  Schulzeit  zuweilen  monatelang  am  Schulbesuch  verhindert 
und  bleiben  auf  diese  Weise  zurück.  Wieder  andere  sind  geistig 
anormal  und  vermögen  dem  Unterricht  überhaupt  nicht  zu  folgen; 
für  diese  wird  jetzt  meist  durch  besondere  Hilfsschulen  oder  Hilfs- 
klassen für  sch^\'achsinnige  Kinder  gesorgt.  Andere  sind  nicht 
gerade  anormal,  aber  doch  schwächer  begabt  als  der  Durchschnitt, 
und    brauchen    daher    zur    Verarbeituncf    des    Pensums    einer    Klasse 


Die  Volksschule   in   di-n  jrrößeren   deuuchen  SuitUen.  207 

bisweilen  mehr  als  ein  Jahr.  Soziale,  hyt^ienische  und  moralische 
Ursachen  wirken  in  vielen  Fällen  zusammen,  um  die  Leistungsfähii^keit 
•der  Schulkinder  herabzusetzen.  Schlecht  ernährte  Schüler  besitzen 
eine  weit  geringere  Leistungsfähigkeit  als  andere;  es  i.st  kein  Wunder, 
wenn  ihre  Aufmerksamkeit  bereits  nach  ein-  oder  zweistündiger 
Arbeitszeit  vollständig  erschöpft  ist  und  sie  dem  Rest  des  Unterrichts 
ganz  apathisch  und  teilnahmlos  beiwohnen.  Dasselbe  gilt  auch  von 
denen,  die  über  das  Maß  ihrer  Kräfte  zu  häuslichen  und  gewerblichen 
Nebenbeschäftigungen  herangezogen  werden;  das  Kind,  das  vor  Beginn 
des  Unterrichts  schon  mehrere  Stunden  auf  den  Beinen  war,  um 
Zeitungen,  Milch  oder  Backware  auszutragen,  oder  zu  spät  zu  Bett 
gegangen  ist,  kommt  naturgemäß  schon  müde  und  abgespannt  zur 
Schule,  und  alle  pädagogische  Weisheit  des  Lehrers  ist  an  ihm  ver- 
loren. Auf  das  die  gewerbliche  Nebenbeschäftigung  der  Schulkinder 
einschränkende  neue  Reichsgesetz  ist  bereits  in  einem  früheren  Kapitel 
dieses  Werkes  näher  eingegangen  worden.  Auch  der  häufige 
Wohnungswechsel  der  Eltern,  wie  man  ihm  in  der  Großstadt  unter 
■der  fluktuierenden  Arbeiterbevölkerung  vielfach  begegnet,  wirkt  nach- 
teilig auf  das  W'eiterkommen  des  Kindes  in  der  Schule.  Mangel  an 
Verständnis  für  die  Arbeit  der  Schule  und  die  hochgespannten  An- 
forderungen, welche  die  Erwerbsarbeit  nicht  nur  an  den  Familien- 
vater, sondern  auch  an  die  Mutter  stellt,  das  Leben  der  Straße,  die 
V^ersuchungen  der  Großstadt  und  andere  ungünstige  Verhältnisse 
führen  häufig  auch  zur  sittlichen  Verwahrlosung  der  Kinder,  welche 
dann  ihrerseits  wiederum  die  Erfolge  des  Unterrichts  herabsetzt.  In 
selteneren  Fällen  mag  die  Schuld  auch  an  den  Lehrkräften  liegen, 
insofern  schwache,  kränkliche  Lehrer  und  Lehrerinnen,  die  oft  fehlen 
und  vertreten  werden  müssen,  die  Kinder  nicht  in  genügender  Weise 
zu  fördern  vermögen. 

Manche  Gemeinden  suchen  nun  diesem  Übelstande  dadurch  ab- 
zuhelfen, daß  sie  den  gesamten  Lehrstoff  der  Volksschule  auf  sieben 
Jahresstufen  verteilen;  die  achte  Klasse  wollen  sie  dann  gewisser- 
maßen als  Selekta  angesehen  wissen,  die  entweder  ganz  neue,  über 
die  Anforderungen  der  Volksschule  hinausgehende  Stoffe  oder  eine 
vertiefende  Wiederholung  des  gesamten  Schulpensums  bieten  soll. 
Dieses  Verfahren  erweist  sich  schon  deshalb  offenbar  als  unzweck- 
mäßig, weil,  wie  die  vorausgeschickten  statistischen  Angaben  beweisen, 
die  oberste  Klasse  auch  in  solchen  Schulen  häufig  nicht  absolviert 
wird,  welche  das  gesamte  Schulpensum  auf  nur  sechs  Klassen  verteilen. 

Ein    mehrjähriges  Zurückbleiben    der  Kinder  auf  den   untersten 


20i 


Volksschulwesen. 


Tabelle     11.      Die   bei   Beendigung   der    Schulpflicht   im   normalen 

besuchten  Klasse  ini 


Stadt 


Bei  Beendigung  der  Schul-     ,    Von  den  Knaben  waren 
pflicht   im   normalen    Alter 
entlassen 


männlich  j   weiblich   ■  zusammen 


zweit- 

dritt- 

ober- 

ober- 

sten 

sten 

% 

% 

Altona  .  . 
Berlin  .  . 
Breslau  .  . 
Magdeburg 
Stettin    .   . 


Cassel 

Charlottenburg . 
Chemnitz  .  .  .  . 
Dortmund    .  .  . 

Essen 

Frankfurt  a.  M. 
Hannover .  .  .  . 
München  .  .  .  . 

Posen  

Stuttgart    .   .  .  . 


Dresden.  . 
Leipzig  .  . 
Mannheim 


Barmen 

Bremen 

Cöln 

Danzig 

Düsseldorf  .  .  . 
Halle  a.  S.  ... 
Hamburg  .... 

Kiel 

Königsberg  i.Pr. 
Straßburg  i.  E.  . 


a)    Sechsstufige 


973 

947 

1  920 

60,02 

29,19 

9,15 

10  282 

10  727 

21  009 

62,81 

24,36 

9,87 

1  65,3 

1  814 

3  467 

76,16 

16,76 

6,11 

1079 

1  112 

2  191 

50,88 

32,25 

13,81 

1  250 

1  240 

2  490 

61,44 

25„36 

11,04 

b)    Siebenstufige 


565 

647 

1  212 

64,96 

23,72 

8,49 

845 

844 

1689 

48,99 

28,88 

16,57 

1  561 

1783 

3  344 

71,81 

22,10 

6,09 

966 

949 

1915 

70,70 

19,05 

7,25 

1  046 

1  075 

2  121 

77,05 

17,30 

4,88 

2  237 

82,17 

12,29 

5,54 

1  049 

1  114 

2  163 

63,78 

27,45 

7,05 

2  178 

2  832 

5  010 

66,39 

23,09 

8,22 

484 

489 

973 

28,72 

23,14 

21,90 

709 

772 

1  481 

92,95 

6,77 
c)  Acht 

0,28 

stufig 

2  058 

2  288 

4  346 

60,64 

25,36 

11,08 

3  222 

3  562 

6  784 

71,69 

18,93 

7,39 

758 

918 

1676 

46,44 

32,98 

13,98 

dj    Verschiedene 


881 

912 

1  793 

68,56 

22,36 

6,92 

899 

945 

1  844 

74,86 

15,24 

7,12 

2  241 

2  246 

4  487 

75,90 

17,27 

5,76 

759 

786 

1  545 

50,85 

27,67 

15,55 

1200 

1  269 

2  469 

77,08 

17,08 

4,50 

1023 

1  118 

2  141 

48,29 

27,66 

17,30 

4  059 

41,38 

8  197 

60,14 

24,59 

11,65 

356 

433 

789 

60,96 

23,60 

10,95 

1098 

1  158 

2  256 

71,04 

18,49 

9,11 

393 

387 

780 

82,70 

13,49 

1,52 

Die  V'olksschulf  in  den  irrößeren  dt-iitschen   Städten. 


209 


Alter  entlassenen  Volksschüler   in   der  Gliederimg  nach   der  zuletzt 
Schuljahre  1900/1901. 


zuletzt 

in  der  .  . 

.  .  Klasse 

\'on  den  Mädchen  waren 

zuletzt  ii 

der  .   . 

Klasse 

viert- 

fiinft- 

sechst-     siebent- 

zweit- dritt- 
ober- 

ober-  ober- 
sten 

sten          sten 

viert- 

fünft- 

sechst- 

ober- 

ober- 

ober-       ober- 

ober- 

ober- 

ober- 

sten 

sten 

sten         sten 

sten 

sten 

sten 

% 

% 

%             % 

%     1     7o         % 

% 

% 

% 

Schulsvsteme. 


1,64 
2,65 
0,91 
2,88 
1,92 


— 

— 

—          57,34 

31,36 

9,61 

1,27 

0,42 

0,31 

— 

-      ,    62,89 

24,73 

9,82 

2,37 

0,19 

0,06 

— 

—      1    79,82 

14,94 

4,80 

0,39 

0,05 

0,09 

0,09 

—      [    51,26 

31,29 

13,67 

3,60 

0,09 

0,24 

— 

-      1    63,39 

20,89 

12,50 

3,06 

0,16 

0,09 


Schulsysteme. 


2,48 
4,97 

2,59 
0,48 

1,72 
2,30 
19,83 


0,35 
0,59 


0,41 
0,29 


5,79         0,62 


69,55 
50,00 
78,01 
73,45 

77,67 

65,17 
69,99 
26,18 
93,52 


19,32 
29,27 
15,14 
19,60 
15,54 

25,23 

20,90 

21,06 

6,35 


8,35 

2,78 

_ 

15,99 

4,27 

0,47 

6,79 

0,06 

— 

4,95 

2,00 

— 

5,30 

1,21 

0,28 

7,18 

2,42 



7,42 

1,69 

— 

26,79 

16,57 

8,79 

0,13 

— 

- 

0.6 


Schulsvsteme. 


2,53         0,34  — 

1,93         0,06  — 

4,49         2,11 


0,05       68,23        20,89 

—  77,85        14,60 

26,80        43,90 


8,74 

2,06 

0,04    i 

[      5,70 

1,77 

0,08    ' 

20,26 

6,75 

2,29 

0,04 


1,93 
2,11 
0,85 
5,93 
1,25 
6,26 
3,28 
3,65 
1,36 
2,29 


0,23 

— 



0,56 

0,11 

— 

0,22 

— 

0,09 





0,49 

— 

— 

0,29 

0,05 

— 

0,56 

— 

0,28 

- 

- 

69,19 
74,08 
76,63 
49,49 
79,98 
47,40 
61,04 
63,97 
66,24 
86,05 


22,26 

5,37 

2,74 

0,44 

'■    i 

15,87 

6,67 

2,43 

0,95 

—      1 

16,47 

5,52 

1,25 

0,13 

— 

26,59 

18,70 

5,09 

0,13 

— 

14,50 

4,65 

0,87 

— 

—      < 

29,16 

16,19 

6,89 

0,36 

—       ! 

23,37 

11,72 

3,50 

0,32 

0,05 

23,33 

9,47 

2,31 

0,92 

— 

23,83 

7,60 

2,33 

— 

— 

12,14 

1,03 

0,78 

— 

— 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III 


210  Volksschulwesen 

Stufen,  das  den  meisten  Anstoß  erregen  muß,  wird  wenigstens  zum 
Teil  durch  die  Hilfsschulen  beseitigt  werden,  denn  diejenigen  Kinder, 
welche  in  ziemlich  beträchtlicher  Anzahl  in  der  untersten  oder 
nächstuntersten  Klasse  zurückblieben,  waren  tatsächlich  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  nach  geistig  anormal  und  werden  jetzt  der 
Hilfsschule  überwiesen.  Aber  auch  für  jene,  welche,  ohne  geistig 
anormal  zu  sein,  wesentlich  um  äußerer  Verhältnisse  willen  nur 
bis  zur  Mittelstufe  oder  bis  zur  dritten  oder  zweiten  Klasse  ge- 
langten, beginnt  man  jetzt  Fürsorgemaßregeln  zu  treffen.  Der  Weg, 
den  man  vielleicht  auch  in  anderen  Großstädten  einzuschlagen  haben 
wird,  ist  durch  den  Versuch  des  Mannheimer  Stadtschulrats 
Dr.  Sickinger  vorgezeichnet.  Die  (erweiterte)  Volksschule  in  Mann- 
heim enthält  ein  Normalklassensystem,  aufsteigend  von  I  bis  VIII, 
und  ein  Sonderklassensystem,  dem  alle  diejenigen  Schüler  zeitweise 
oder  dauernd  zugewiesen  werden,  die  dem  Unterricht  in  den 
Normalklassen  nicht  zu  folgen  vermögen.  Je  nach  den  Ursachen 
des  Zurückbleibens  zerfallen  die  Sonderklassen  wieder  in  Hilfsklassen 
für  geistig  zurückgebliebene,  d.  h.  anormale,  und  in  Wiederholungs- 
und Abschlußklassen  für  Schwachbegabte  und  unregelmäßig  geförderte 
Kinder.  Die  Hilfsklassen  sowie  die  gleichfalls  eingerichteten  Sprach- 
heilkurse für  sprachgebrechliche  Kinder  werden  an  anderer  Stelle  Be- 
rücksichtigung finden;  hier  handelt  es  sich  besonders  um  die  Wieder- 
holungs-  und  Abschlußklassen.  Der  „Jahresbericht  über  den  Stand 
der  dem  Volksschulrektorat  unterstellten  städtischen  Schulen  in  Mann- 
heim im  Schuljahr  1902/03"  gibt  eine  Darstellung  dieser  Einrichtungen, 
der  wir  folgendes  entnehmen: 

,,Die  Wiederholungsklassen,  die  bis  zur  vierten  Klassenstufe  (ein- 
schließlich) fortgeführt  werden  sollen  und  als  deren  Ergänzung  von 
der  fünften  Klassenstufe  an  die  Abschlußklassen  anzusehen  sind,  haben 
die  gleichen  Lehrziele  wie  die  entsprechenden  normalen  Klassen.  In 
Wiederholungsklasse  I  ist  also  der  Stoff  der  normalen  I.  (untersten) 
Klasse  zu  behandeln,  in  Wiederholungsklasse  II  der  Stoff  der  normalen 
II.  Klasse  usw.,  jedoch  mit  der  Maßgabe,  daß  der  Lehrer,  sofern  es 
durch  die  Zusammensetzung  der  Klasse  geboten  erscheint,  sich  auf 
das  Wesentlichste  des  Unterrichtsstoffes  beschränkt.  Der  Lehrplan 
der  Abschlußklasse  V  i  enthält  das  Wesentlichste  aus  dem  Stoff  der 
Normalklassen  V  bis  VIII,  soweit  es  von  den  in  Betracht  kommenden 
Kindern  erfaßt  werden  kann,  der  Lehrplan  der  Abschlußklassen  V  ii  und 
VI  dasselbe  mit  weiteren  Ergänzungen  in  einem  zweijährigen  Turnus." 
Im  wesentlichen  bilden  die  Wiederholungs-  und  Abschlußklassen 


Dif   Volksschiik-   in  drii   i^röl.kien   deut-chcn   Stiultt'ii.  211 

ein  Kinf-  bis  sechsklassiges  Parallelsystem  der  Volksschule  für  solche 
Kinder,  welche  infolge  ihrer  geringeren  Begabung  (ohne  anormal  zu 
sein)  oder  um  äußerer  Hindernisse  willen  mit  den  besseren  Volks- 
schulkindern nicht  gleichen  Schritt  halten  können.  Diesen  schwächeren 
Kindern  werden  in  den  Wiederholungs-  und  Abschlußklassen  folgende 
Vorteile  geboten:  Die  Klassen  sind  nur  mit  ca.  30  Kindern  besetzt; 
auch  diese  Klassen  können  unter  Umständen  in  Abteilungen  zerlegt 
und  besonders  unterrichtet  werden;  man  wählt  die  erfahrensten  und 
leistungsfähigsten  Lehrkräfte  für  diesen  Zweck;  man  läi.U  den  Kindern 
in  erhöhtem  Maße  alle  jene  Wohlfahrtsein richtungen,  wie  Ferien- 
kolonien, Kinderhorte,  Darreichung  von  warmem  Frühstück,  von 
Kleidung,  von  unentgeltlichen  Schulmaterialien  u.  dergl.  zuteil  werden; 
man  beschränkt  das  Lehrziel  auf  das  Notwendigste  und  sucht 
durch  Verlängerung  der  Pausen  und  Einzelunterricht  jeder  Über- 
anstrengung vorzubeugen.  Die  auf  diese  Weise  geförderten  Schüler 
erhalten  schließlich  durch  geeignete  Verteilung  des  Wissenswertesten 
aus  dem  gesamten  Pensum  der  achtklassigen  Volksschule  auf  fünf 
bis  sechs  Stufen  eine  in  sich  abgeschlossene  Bildung,  die  freilich 
etwas  hinter  den  Gesamtleistungen  der  normalen  Volksschule  zurück- 
steht. Diese  Sondereinrichtungen  bieten  aber  nicht  nur  den  schwächeren 
Kindern  wesentliche  Vorteile,  sondern  sie  setzen  auch  die  Schule  in 
den  Stand,  an  die  in  den  Normalklassen  zurückbleibenden  Schüler, 
welche  von  dem  Ballast  der  Schwachen  befreit  sind,  höhere  Anforde- 
rungen zu  stellen. 

Über  die  Zahl  der  Kinder,  die  im  Schuljahr  l*J02/03  in  den 
Wiederholungs-  und  Abschlußklassen  unterrichtet  wurden,  möge 
folgende  Tabelle  Aufschluß   geben: 

Tabelle  12. 


! 

Zahl  der  Klassen 

für 

Schülerzah 

zu  Ende  des 

Schuljahrs 

'                                             1  Knaben 

Mädchen 

Knaben 

Mädchen 

Zusammen 

1  Wiederholungsklasse  I 

5 

■ 

;         76 

82 

158 

j           (1.  Schuljahr) 
Wiederholungsklasse  II 
!          (2.  Schuljahr) 
,       Abschlußkkisse  V  i 

6 

!          96 

26 

100 
38 

196 
64 

1 

1 

(5.  SchuljahrJ 
'      Abschlußklasse  V  n 

2 

5 

65 

159 

224 

1           (5.  Schuljahr) 
Abschlußklasse  \I 

3 

5 

87 

167 

254 

(6.   SchuljahrJ 

Gesamtzahl  der  Schüler  350  546  896 

14* 


212  Volksschulwesen. 

Es  ist  \-ielleicht  hier  der  Platz,    noch  kurz  auf  eine  Einrichtung 
einzugehen,  die  sich  ebenfalls  in  Mannheim  findet  und  in  das  Sonder- 
klassensystem eingegliedert  ist,  nämlich  die  Vorbereitungsklassen.    Sie 
hat  sich  als  notwendig  erwiesen,  da  in  den  meisten  deutschen  Staaten 
eine  organische  Verbindung  zwischen    der    höheren    und    der  Volks- 
schule fehlt.     In  vielen  Gegenden    sind    den  Gymnasien    und    gleich- 
wertigen Anstalten  dreiklassige  elementare    Vorschulen    angegliedert, 
welche  die  Schüler  vom  sechsten  bis  neunten  Jahre  für    die  unterste 
Klasse  des  Gymnasiums  vorbereiten.     Der  Übergang  von  den  unteren 
Klassen  der  Volksschule  in  die  höhere  Schule    wird    im    allgemeinen 
mit  dem  Verlust  eines  Lebensjahres  erkauft,  da  gewöhnlich    ein  vier- 
oder  mehrjähriger  Besuch  der  Volksschule  bezw.  die  diesem  Besuche 
entsprechenden  Kenntnisse  als  Vorbedingung    für    die    Aufnahme    in 
eine  höhere  Schule  angesehen  werden.      „Von    dem    Gedanken    aus- 
gehend, daß  in  dem    weiten    Rahmen    einer    großstädtischen    Volks- 
schule recht  wohl  besonderen  Bedürfnissen  verschiedenster  Art  Rech- 
nung getragen  werden  könne,  wurden  nun  in  Mannheim    seitens   der 
Schulleitung  im  Einverständnis  mit  der  Schulkommission  in  den  letzten 
drei  Jahren  diejenigen  Schüler    der    Volksschule,    die    später    in  eine 
höhere    Schule    überzutreten    beabsichtigten    und    nach    zweijährigem 
Schulbesuch  nach  Fähigkeit,  Fleiß    und    Leistungen    für    den   Besuch 
einer  höheren  Schule  geeignet  schienen,  auf  der  dritten   und    vierten 
Klassenstufe    in    besondere    Parallelklassen    zusammengefaßt    und    er- 
hielten so,  ohne   daß   hierdurch    ein  Mehraufwand    verursacht    wurde, 
eine  ihrer    höheren    Leistungskraft    entsprechende,    den    Bedürfnissen 
der  höheren  Schulen  angepaßte  Ausbildung.      Dadurch    wurde    nach 
dem  übereinstimmenden  Urteil  der  Direktionen    der    hiesigen    Mittel- 
schulen erreicht,  daß  die   jetzt  von    der    unentgeltlichen    Volksschule 
übertretenden  Schüler  in  keiner  Weise   hinter  den   aus    anderer  Vor- 
bereitung kommenden  Knaben    zurückstehen.     Im    Schuljahr  1901/02 
waren  sechs  Vorbereitungsklassen  eingerichtet    und    zwar    drei  dritte 
Klassen  (zusammen    132  Knaben;  und  drei  vierte  Klassen   (zusammen 
116  Knaben).     Die  Vorbereitungsklassen,  als  eine    besondere  Spezies 
neben  den  übrigen  bestehenden  Sonderklassen  (Hilfsklassen,   Wieder- 
holungsklassen, Abschlußklassen),  sind  ein  weiterer  Beweis  dafür,  wie 
zweckmäßig  das  Prinzip  der  Gruppierung  der  Schüler  in  Unterrichts- 
gemeinschaften nach  Maßgabe  der  Arbeits-  und  Bildungsfähigkeit  ist; 
sie  beweisen,    daß    die    Durchführung    dieses  Prinzips    innerhalb  der 
obligatorischen  Volksschule  nicht  bloß  den  Schwachen,  sondern  auch 
den  Begabten  und  denen,  die  besonderen  Zielen  zustreben,  eine   den 


Uie   \'olksschuIe  in  den  gröl.it'ien  deutsclicn   Städten 


213 


natürlichen  Voraussetzuni^cn  entsprechende  Übunt^  nnd  Ausbilduni^ 
der  geistigen  Kräfte  ermöglicht".  (Jahresbericht  über  den  Stand  der 
dem  Volksschulrektorat  unterstellten  städtischen  Schulen  in  Mannheim 
im  Schuljahr  1901/02.     S.  15—16). 

Den  Schluß  möge  hier  eine  Übersicht  über  die  Durchschnitts- 
frequenz der  Volksschulklassen  in  72  deutschen  Städten  bilden.  Sie 
gründet  sich  auf  eine  durch  den  Stadtschulrat  Dr.  Neufert  in  Char- 
lottenburg veranstaltete  Umfrage  im  Sommer  des  Jahres  1902.  Wir 
entnehmen  dieselbe  der  statistischen  Beilage  der  Pädagogischen  Zeitung 
vom  17.'Dezember   1903, 


Stadt 

Schüler- 

Stadt 

Schüler- 

Stadt 

Schüler- 

zahl 

zahl 

zahl 

Leipzig        .     .     . 

.     .     39 

Kassel    .     .     . 

.     .     .     50 

Elberfeld     .     . 

.     .     .     55 

Dresden      .     .     . 

.     .     41 

Osnabrück 

.     .     .     50 

Fürth     .     .     . 

.     .     .    55 

Freiburg  i.  B. 

.     .     41 

Potsdam      .     . 

.     .     .     50 

Rixdorf .     .     . 

.     .     .     55 

Lübeck        .     .     . 

.     .     41 

Straßburg  i.  E.     , 

.     .     .     50 

Cöln       .     .     .     . 

.     .     .     56 

Karlsruhe    .     .     . 

.     .     42 

Mülhausen       .     , 

.     .     .     51 

Hannover    .     . 

.     .     .     56 

Oldenburg       .     . 

.     .     42 

München     .     . 

.     .     .     51 

Hagen  i.  W^     . 

.     .     .     56 

Plauen  i.  V.    .     . 

.     .    43 

Augsburg    .     . 

,     .     .     51 

Frankfurt  a.  0. 

.     .     .     57 

Chemnitz    .     .     . 

.     .     43 

Frankfurt  a.  M. 

.     .     .     51 

Spandau       .     . 

.     .     .     57 

Mannheim 

.     .     43 

Würzburg   .     . 

.     .     .    51 

Düsseldorf .     . 

.     .     .     58 

Zwickau      .     .     . 

.     .     45 

Braunschweig 

.     .     .     52 

Ludwigshafen 

.     .     .     58 

Nürnberg    .     .     . 

.     .     46 

Gera       .     .     . 

.     .     .     52 

Aachen  .     .     . 

.     .     .     59 

Charlottenburg    . 

.     .     46 

Krefeld  .     .     . 

.     .     .    52 

Görlitz    .     .     . 

.     .     .     59 

Hamburg    .     .     . 

.     .     47 

Wiesbaden 

.     .     .     52 

Elbing    .     .     . 

.     .     .     60 

Berlin     .     .     .     . 

.     .     48 

Barmen       .     .     , 

.     .     .     52 

Bielefeld      .     . 

.     .     .     62 

Darmstadt  .     .     . 

.     .     48 

Breslau  . 

.     .     .     53 

Essen      .     .     . 

.     .     .     62 

Gotha     .     .     .     . 

.     .     48 

Kiel  .... 

.     .     .    53 

Altena    .     .     . 

.     .     .     63 

Metz       .     .     .     . 

.     .     48 

Königsberg 

.     .     .     53 

Erfurt     .     .     . 

.     .     .     63 

Stettin    .     .     .     . 

.     .     48 

Posen      .     .     . 

.     .     .    53 

Remscheid  .     . 

.     .     .     63 

Stuttgart      .     .     . 

.     .     48 

Weimar       .     . 

.     .     .    53 

Bochum       .     . 

.     .     .     64 

Bremen       .     .     . 

.     .     49 

Bromberg   .     . 

.     .     .     54 

Dortmund  .     . 

.     .     .     64 

Pforzheim  .     .     . 

.     .     49 

Bonn      ... 

.     .     .     54 

Linden   .     .     . 

.     .     .     65 

Rostock      .     .     . 

.     .    49 

Liegnitz       .     . 

.     .     .    54  ' 

Diüsburg     .     . 

.     .     .     66 

Schöneberg     .     . 

.     .     49 

Magdeburg 

.     .     .     54   ' 

Offenbach  .     . 

.     .     .     66 

Danzig  .     .     .     . 

.     .     50 

Mainz     .     .     .     , 

•     •     •     54 

Münster       .     . 

.     .     .     67 

KAPITEL   VIII. 
Die  Mittelschulen. 


Der  Name  Mittelschule  bezeichnet  in  Norddeutschland,  speziell 
in  Preußen,  eine  Schulgattung,  die  über  das  Ziel  der  Volksschule 
hinausfuhrt,  also  gewissermaßen  zwischen  dieser  und  den  höheren 
Schulen  (Realschule,  Gymnasium)  eine  Mittelstellung  einnimmt.  Außer 
in  Preußen  gibt  es  diese  Art  von  Schulen  mit  derselben  Bezeichnung 
nur  noch  in  einigen  norddeutschen  Staaten,  beispielsweise  im  Herzog- 
tum Anhalt.  Im  Königreich  Sachsen  bestehen  ähnliche  Einrichtungen 
unter  dem  Namen  mittlere  bezw^  höhere  Volksschulen. 
Hamburg  hat,  wie  bereits  früher  erwähnt  worden  ist,  an  einer  Anzahl 
von  Schulen  besondere,  über  das  Ziel  der  Volksschule  hinausführende 
Oberklassen,  Selekten  genannt.  Von  den  süddeutschen  Staaten 
weisen  Baden  (in  den  sogenannten  gehobenen  Abteilungen)  und 
Hessen  (in  den  in  einzelnen  Städten  bestehenden  erweiterten 
Volksschulen)  verwandte  Einrichtungen  auf.  Da  aber  diese  Schulen 
in  den  genannten  Staaten  sowohl  verwaltungsrechtlich  wie  in  den 
vorhandenen  statistischen  Übersichten  zu  den  Volksschulen  gezählt 
werden,  so  sind  sie  auch  in  dieser  Arbeit  als  zu  jenen  gehörig  be- 
handelt worden,  und  wir  beschränken  uns  hier  bezüglich  der  außer- 
preußischen Staaten  auf  ganz  wenige  die  Zahl  der  Schulen  und 
-Schüler  betreffende  Angaben. 

Im  Königreich  Sachsen  belief  sich  nach  der  Erhebung  \om 
1.  Dezember  1899  die  Zahl  der  mittleren  Volksschulen  auf  241  mit 
4859  Klassen  und  188  366  Schülern  und  die  der  höheren  Volksschulen 
auf  45  mit  616  Klassen  und    17  460  Schülern. 

Im  Großherzogtum  Baden  wurden  im  Jahre  1900  in  den  gehobenen 
Abteilungen  (an  wieviel  Schulen  solche  eingerichtet  waren,  ist  aus  der 


I)ie   Miltclschiikii.  215 

Statistik     nicht    ersichtlich)    259U    Knaben     und    38()4    Mädchen    von 
140  Lehrern  und  66  Lehrerinnen  unterrichtet. 

Im  Großherzogtum  Hessen  gab  es  im  Frühjahr  1902  in  vier 
Städten  6  erweiterte  Volksschulen  mit  88  Klassen  und  3695  Schülern 
(1784  Knaben  und  1911  Mädchen),  an  denen  72  Lehrer  und  18  Lehre- 
rinnen, zusammen  90  Lehrkräfte,  wirkten. 

In  Preußen  haben  Schulen  dieser  Art  schon  seit  alter  Zeit  in 
den  verschiedensten  Formen  und  unter  den  verschiedensten  Be- 
zeichnungen bestanden.  Man  nannte  sie  Bürger-,  Mittel-,  Rektor-, 
höhere  Stadtschulen.  Sie  bestanden  entweder  neben  der  Volksschule, 
die  dann  gewöhnlich  den  Charakter  der  Armenschule  trug,  oder 
zweigten  sich  nur  in  den  oberen  Klassen  von  derselben  ab.  Ihr 
Lehrplan  unterschied  sich  von  dem  der  Volksschule  gewöhnHch  nur 
dadurch,  daß  Unterricht  in  einer  Fremdsprache  (in  Knabenschulen 
meist  Latein,  in  Mädchenschulen  F'ranzösisch)  erteilt  wurde.  Oft  be- 
stand der  Unterschied  auch  nur  in  der  verschiedenen  Bemessung  des 
Schulgeldes.  All  diesen  Schulen  wurde  durch  die  „Allgemeinen 
Bestimmungen"  vom  15.  Oktober  1872  eine  einheitliche  Organisation 
gegeben. 

Die  wesentlichsten  Punkte  dieser  Bestimmungen  sind  folgende: 
„1.  Die  Schulen  sollen  neben  den  Volksschulen  des  Ortes  be- 
stehen und  mindestens  5  aufsteigende  Klassen  mit  einer  Maximalzahl 
von  je  50  Schülern  haben.  Es  kann  jedoch  gestattet  werden,  daß 
die  Oberklassen  einer  sechskla-ssigen  Volksschule  nach  dem  Lehrplane 
der  Mittelschule  arbeiten. 

2.  Der  Unterricht  in  der  Mittelschule  ist  im  Anschlüsse  an  einen 
beigefügten  Lehrplan*),  welcher  auf  eine  sechsklassige  Schule  berechnet 
ist,  zu  erteilen.  Bei  5  Klassen  sind  die  Pensa  der  drei  Unterklassen 
auf  2  Klassen  zu  verteilen.  Bei  mehr  als  6  Klassen  findet  eine  Er- 
weiterung des  Pensums  statt. 

Wo  die  lokalen  Verhältnisse  eine  besondere  Berücksichtigung 
des  Ackerbaues,  Fabrikwesens,  Bergbaues,  Handels  oder  der  Schiffahrt 
in  dem  Lehrplan  bedingen,  sind  die  erforderlichen  Änderungen  in 
demselben  v^orzunehmen.  Demgemäß  ist  es  auch  je  nach  dem  Be- 
dürfnisse zuzulassen,  nur  eine  der  im  Lehrplane  bezeichneten  neueren 
Sprachen  oder  statt  derselben  eine  andere  in  den  Lehrplan  auf- 
zunehmen. 

*)  Derselbe  wird  in  folgendem   wiedergegeben  werdc-n. 


21 6  Volksschulwesen. 

3.  Die  Inventarien  der  Mittelschulen  müssen  den  höheren  Lehr- 
zwecken derselben  entsprechen.  Insbesondere  sind  für  den  Unterricht 
in  der  Geographie  und  in  der  Naturkunde  die  erforderlichen  Lehr- 
mittel zu  beschaffen. 

Auch  ist  für  eine  Bibliothek  Sorge  zu  tragen,  welche  diejenigen 
größeren  wissenschaftlichen  Werke  enthält,  deren  Benutzung  für  die 
Lehrer  notwendig  ist. 

4.  Der  Unterricht  ist  nur  von  solchen  Lehrern  zu  erteilen, 
welche  hierzu  nach  Maßgabe  der  Prüfungsordnung  als  befähigt  an- 
erkannt sind." 

Der  durch  die  ,, Allgemeinen  Bestimmungen"  vorgeschriebene 
Lehrplan  setzt  besonders  für  den  Unterricht  im  Rechnen,  dem  auch 
die  Elemente  der  Buchstabenrechnung  und  Algebra  als  Aufgabe  ge- 
stellt werden,  und  in  der  Geometrie  sowie  in  den  Realien  höhere 
Ziele  als  für  die  Volksschule  fest.  Außerdem  soll  Unterricht  in  einer 
oder  in  zwei  fremden  Sprachen,  in  der  Regel  im  Französischen  und 
Englischen,  oder  in  einer  dieser  Sprachen  erteilt  werden.  Für  Knaben- 
schulen ist  auch  fakultativer  Unterricht  im  Lateinischen  zulässig. 

Von  der  durch  die  „Allgemeinen  Bestimmungen"  gewähr- 
leisteten Freiheit,  die  Mittelschulen  in  ihrer  Organisation  und  ihrem 
Lehrplan  den  örtlichen  Verhältnissen  möglichst  anzupassen,  ist  aus- 
giebig Gebrauch  gemacht  worden,  sodaß  auch  jetzt  noch,  wie  die 
weiter  unten  gegebene  statistische  Übersicht  des  näheren  erkennen 
läßt,  eine  große  Mannigfaltigkeit  der  Organisationsformen  vorhanden 
ist.  Während  in  größeren  und  mittleren  Städten  die  Schulen  meist 
selbständige,  weder  mit  den  Volksschulen  noch  mit  den  höheren  Lehr- 
anstalten in  irgend  welcher  Verbindung  stehende  Anstalten  sind, 
bauen  sie  sich  in  kleineren  Orten  meist  auf  die  Volksschule  auf,  und 
die  Knabenschulen  werden  in  ihrem  Lehrplan  durch  die  höheren 
Lehranstalten  insofern  beeinflußt,  als  sie  gleichzeitig  den  Zweck  ver- 
folgen, einen  Teil  der  Schüler  für  eine  bestimmte  Klasse  des 
Gymnasiums  oder  Realgymnasiums  (gewöhnlich  für  die  Quarta  oder 
Tertia)  vorzubereiten.  Die  in  den  „Allgemeinen  Bestimmungen"  als 
Norm  aufgestellte  Organisation  in  sechs  aufsteigenden  Klassen  hat  in 
den  als  selbständige  Organismen  bestehenden  Schulen  größtenteils 
dem  acht-  oder  neunklassigen  System  Platz  gemacht. 

Wie  sich  auf  Grund  der  angegebenen  Verhältnisse  im  einzelnen 
die  Organisation  der  Mittelschulen  gestaltet  hat,  soll  an  einigen  Bei- 
spielen gezeigt  werden. 


Die   Mittelschule 


217 


Der  Grundlehrplan  für  die  Mittelschule  in  Preu(?>)en  \oni    15.  Ok- 
tober  1872  stellt  folgende  Cbersicht  der  Lehrgegenstände  auf: 


Wöchentliche  Stundenzahl 


Lehrgegenstände 


ni. 


IV. 


Rehgion 

Deutsch,  inkl.  Lesen  und  Schreiben 

Rechnen       

Raumlehre 

Naturbeschreibung 

Physik  ("Chemie) 

Geographie  .... 
Geschichte  .... 
F"ranzösisch  .  .  . 
Zeichnen      .... 

Gesang 

Turnen    


2 
2 
5 
2 

2 

2 
2 
5 
2 
2 
2 

2 
2 
5 
2 

2 

2 

2 

2 

2 
2 

2 
2 

2 

2 

zusammen 

32 

32 

32 

28 

24 

24 

Dieser  Lehrplan  berücksichtigt  im  wesentlichen  nur  die  Knaben- 
schulen und  ist,  wie  schon  angedeutet  wurde,  den  örtlichen  Bedürf- 
nissen entsprechend  vielfach  modifiziert  worden.  Manche  Städte,  wie 
Berlin,  Charlottenburg  und  Hannover,  haben  sich  der  Einrichtung  be- 
sonderer Mittelschulen  im  Sinne  des  angeführten  Ministerialerlasses  gegen- 
über überhaupt  ablehnend  verhalten,  andere  haben  für  Knaben-  und 
Mädchenschulen  verschiedene  Organisationen  eingeführt,  einige  sogar 
verschiedene  Mittelschuleinrichtungen  für  dasselbe  Geschlecht.  Zum  Teil 
entspringt  diese  Verschiedenheit  der  verschiedenen  Entstehungszeit 
der  bezüglichen  Einrichtungen;  so  datiert  die  Knabenmittelschule  in 
Elberfeld  vom  Jahre  1873,  während  die  Mädchenmittelschulen  erst 
1886  begründet  wurden.  Die  Mittelschulklassen  für  Knaben  bilden 
im  wesentlichen  einen  dreistufigen  Aufbau  auf  die  ersten  6  Volks- 
schuljahre.  Nach  Vollendung  des  6.  Schuljahres  vollzieht  sich  für 
die  Schüler  eine  Gabelung,  die  einen,  welche  nicht  in  der  Lage  oder 
willens  sind,  Schulgeld  zu  zahlen,  treten  in  die  erste  Volksschulklässe 
ein,  während  die  anderen  in  die  unterste  Mittelschulklasse  aufgenommen 
werden.     Da    diese    Mittelschulklassen    nur    an    6  Volksschulen    ein- 


2  I }')  \'olksscliul\vt>sen. 

gerichtet  sind,  so  vereinigen  sie  regelmäßig  die  aus  der  ().  Klasse 
abgehenden  Schüler  mehrerer  Volksschulen  in  sich.  Die  Mädchen- 
mittelschulen in  Elberfeld  sind  selbständige  Organismen,  welche  die 
Schülerinnen  mit  Beginn  des  schulpflichtigen  Alters  aufnehmen  und 
sie  durch  volle  9  Schuljahre  weiterführen.  Beide  Einrichtungen,, 
sowohl  die  für  Knaben  als  die  für  Mädchen,  verlangen  einen  neun- 
jährigen Schulbesuch  und  haben  eine  Fremdsprache,  die  französische,, 
als  obligatorischen  Lehrgegenstand. 

Ein  ähnliches  Verhältnis  besteht  auch  in  Breslau  zwischen  den 
Knaben-  und  Mädchenmittelschulen.  Die  evangelische  Knabenmittel- 
schule auf  den  Teichäckern,  Malteserstraße  28,  umfaßt  5  aufsteigende 
Klassen;  sie  baut  sich  auf  die  untersten  4  Klassen  der  Breslauer. 
Volksschule  auf.  Die  Schüler,  welche  in  die  unterste  Mittelschulklasse 
eintreten  sollen,  müssen  die  dritte  Klasse  einer  Breslauer  Volksschule 
mit  Erfolg  besucht  haben  oder  eine  anderwärtig  erworbene  ent- 
sprechende Vorbildung  nachweisen.  Die  evangelische  Mädchenmittel- 
schule t  Katharinenschule)  dagegen  ist  eine  \'oll  organisierte  achtstufige 
Lehranstalt,  welche  keinerlei  Vorbildung  von  den  in  die  unterste 
Klasse  eintretenden  Schülerinnen  \'erlangt. 

In  Frankfurt  a.  M.  sind  sowohl  die  Knabenmittelschulen  wie  die 
Mädchenmittelschulen  achtstufige  Vollanstalten. 

hl  Kiel  gibt  es  eine  gehobene  Mittelschule  die  städtische 
Mädchenschule)  und  außerdem  4  Knaben-  und  3  Mädchenmittel- 
schulen, welche  sich  von  den  Volksschulen  in  betreff  ihrer  Lehrver- 
fassung, vornehmlich  durch  Einfügung  des  englischen  Unterrichts 
als  obligatorischen  Lehrgegenstandes,  unterscheiden.  Der  Lehrgang 
dieser  letzteren  Knabenmittelschule  ist  neunjährig,  der  der  Mädchen 
achtjährig,  der  der  gehobenen  Mädchenmittelschule  ebenfalls  achtjährig. 
Der  eigenartige  Charakter  dieser  Anstalt  kennzeichnet  sich  aber  vor- 
nehmlich durch  Aufnahme  zweier  Fremdsprachen,  des  Englischen  und 
Französischen,  welche  von  Klasse  5,  das  ist  vom  Beginn  des  vierten 
Schuljahres  ab,  mit  der  Malsgabe  betrieben  werden,  daß  die  Eltern 
für  ihre  die  Schule  besuchenden  Kinder  entweder  den  englischen 
oder  den  französischen  Unterricht  wählen  können. 

Zur  Veranschaulichung  der  Lehrpläne  der  deutschen  Mittel- 
schulen mögen  hier  einige  Beispiele  für  die  Verteilung  der  Wochen- 
.stunden  in  linigen  größeren  Mittelschulen  folgen: 


Die  MitlelschuU 


219 


S  lu n  ( l e  II V e r  t  e  i  I  u  n  g s p  1  a u    der    K  n a b  e  1 1  ni  i  1 1 1;  1  s c h  u  1  e ii . 


l.ehrgegeustände 


Wöcheutlichf   Stundenzahl 

I         II       III       I\         \         \l      VII  j  VIII I    DC 

_i ^._J 1 1 I \ \ 


Stettin     (Bamimschule). 


Religion 2 

Deutsch    einschl.  Lesen    und 

Schreiben 5 

Französisch 4 

Englisch 4 

Rechnen      3 

Raumlehre 2 

Naturbeschreibung    ....  3 

Geographie 2 

Geschichte 2 

Zeichnen 2 

Gesang 1 

Turnen  2 


32 


32        32 


32 


20 


Religion 2 

Deutsch 4 

Rechnen  einschl.  Algebra      .  4 

Raumlehre  .     .           ....  2 

Naturbeschreibung    ....  1 

Physik  (Chemie)       ....  4 

Geographie 2 

Geschichte 2 

Französisch 5 

Englisch 3 

Schreiben — 

Zeichnen 2 

Gesang 1 

Turnen 2 


9  


6  5  - 

2  3  3 

2  2  2 

•2  2  2 


34 


35        35 


Religion 2 

Deutsch 4 

Rechnen  einschl.  Algebra      .  3 

Raumlehre 2 

Naturbeschreibung    .     .     .     •  \  4 

Physik  (Chemie)       .     .     .     .  |/ 

Geographie 2 

Geschichte 2 

Französisch 5 

Englisch 4 

Schreiben 1    — 

Zeichnen 4 

Gesang '    (K 

Turnen 1     2 

Polnisch  fakultativ   für  Polen  '    — 


34 


34 


33 


4  4 

2  2 

(2) =- 


22 


(V2)| 
(2)     i 


34        34 


34     I  33(2)1  24(2)    24        22 


*1    Der    Raumlehreunterrichl    beginnt    in    Kl.    V 
dahin  werden  5  Rechenstunden  in  Kl.  V  erteilt. 


rst    im    zweiten    Halbjahre;    bis 


220 


Yolksschuhvesen. 


Zur  Vergleichung  mögen  hier  auch  die  Stundenpläne  einiger  den 
preußischen  Mittelschulen  gleichwertiger  Anstalten  außerpreußischer 
Städte  folgen: 

Dresden.    Un terrichtsgegenstäiide    und   Stundenzahl    der   evangelischen 
Bürgerschule    in    den    sechs^)    oberen    Knabenklassen^). 


Unterrichtsgegenstände 


Biblische   Geschichte  bezw.  Bibelkunde 

Katechismuslehre 

Anschauungsiibungen 

Lesen        

Rechtschreibung 

Sprachlehre 

Aufsatzübungen 

Französisch 

Rechnen  

Formenlehre 

Naturbeschreibung 

Naturlehre 

Erdkunde      

Geschichte 

Schreiben 

Zeichnen 

Singen'') 

Turnen      

Summa 


III 


IV 


32 


32 


32 


VI 


2  — 


24 


Für  Karlsruhe  sind  durch  Ortsstatut  für  die  Bürgerschule  und 
die  Töchterschule  folgende  Grundsätze  festgelegt: 

Die  Bürgerschule  ist  eine  erweiterte  Volksschule  im  Sinne 
der  §§  92  und  9'^  des  Elementarunterrichtsgesetzes  vom  1 3.  Mai  1 892. 
Dieselbe  umfaßt  die  letzten  5  Schuljahrgänge  und  hat  die  besondere 
Aufgabe,  die  Schüler  mit  den  für  das  praktische  Leben  notwendigen 


1)  Die  Zahl  der  Lektionen  in  Klasse  VII  und  VIII  beträgt  wöchenthch  22  bezw. 
18;  sie  dauern  in  der  Regel  30 — 40  Min.  Die  Verteilung  auf  die  einzelnen  Lehrfächer 
erfolgt  nach  Maßgabe  des  Lehrplans. 

2j  In  den  fünf  oberen  Mädchenklassen  wird  in  wöchentlich  je  4  Stunden  Unterricht 
in  Nadelarbeit  erteilt.  Daher  ist  der  Rechenunterricht  in  den  fünf  oberen  Klassen  um  je 
1  Stunde  vermindert,  der  Unterricht  in  der  Formenlehre  (Raumlehre)  fällt  ganz  weg,  und 
auch  der  sprachliche  Unterricht  ist  um  einzelne  Stunden  vermindert.  Die  gesamte 
Stundenzahl  in  der  VI.  Klasse  beträgt  26  statt  24  in  der  Knabenschule. 

'^)  Für  die  Klassen  I — III  ist    noch    wöcheiitlich    1   Stunde    Chorgesang   anzusetzen. 


Die  Mittelschulen. 


221 


Kenntnissen  und  Fertigkeiten  in  erhöhtem  Malie  auszurüsten;  sie  setzt 
den  erfolgreichen  Besuch  der  drei  ersten  Volksschulklassen  voraus. 


Lehrgegenstände 


Wöchentliche  Lehrstunden  in  Klasse*) 

VII  VIII 


Religion    .     .     .     . 
Deutsche  Sprache  . 
Schönschreiben  .     . 
Rechnen    .     .     .     . 
Geometrie 
Zeichnen  .     .     .      . 
Geographie    .     . 
Geschichte 
Naturgeschichte 
Xaturlehre      .     .     . 
Gesang      .     .     .     . 
Turnen      .     .     .     . 
Französisch    .     .     , 


VI 


2 

2 

3 

3 

3 

2 

2 
1 

!      3 

3 

3 

1 

2 

2 

9 

9 

'         2 

2 

2 

2 

;     -k 

\         2 

1         5 

5 

6 

6 

6 

Sumnaa 


32 


32 


32 


32 


In  der  VIII.  Klasse  können  der  deutschsprachliche  und  franzö- 
sische Unterricht  auf  je  5  Stunden  gemindert  und  dafür  Volkswirt- 
schaftslehre in  wöchentlich  2  Stunden  nach  folgenden  Gesichtspunkten 
erteilt  werden:  I.  Der  Mensch  in  der  Einzelstellung.  2.  Die  Familie. 
3.  Die  Gemeinde.  4.  Der  Staat  und  seine  Verfassung.  5.  Die  Arbeit 
und  die  Versicherungen.  6.  Das  Kapital.  7.  Wirtschaftliche  Gesell- 
schaften. 8.  Handel  und  Verkehr.  9.  Das  Geld.  10.  Der  Kredit. 
11.  Finanzen.     12.  Militär-  und  Marinewesen. 

Die  Töchterschule  ist  eine  erweiterte  Volksschule  im  Sinne 
der  55  92  und  93  des  Elementarunterrichtsgesetzes  vom  13.  Mai  1892. 
Die  Lehrgegenstände  und  Ziele  sind  diejenigen  des  Normallehrplanes, 
erweitert  durch  Französisch,  welches  vom  4.  Schuljahre  an  obliga- 
torischer Lehrgegenstand  ist,  durch  besondere  Pflege  des  Zeichnens 
in  Verbindung  mit  dem  Handarbeitsunterricht  und  durch  eine  den 
besonderen  Verhältnissen  der  Schule  entsprechende  Ausdehnung  der 
Realien. 

Die  Mittelschule  setzt  sich  das  Ziel,  ihre  Schüler  und  Schüle- 
rinnen weiter  zu  fördern,  als  dieses  in  der    gewöhnlichen  Volksschule 


'l   Die  Klassen  steigen  auf  von  IV — \'III. 


222  \  olksschulwesen. 

möglich  ist.  Abgesehen  von  dem  fremdsprachlichen  Unterricht  stellt 
sie  sich  auch  in  den  anderen  Unterrichtsfachern  höhere  Aufgaben. 
Inwieweit  es  jeder  einzelnen  Anstalt  gelingt,  diese  Aufgaben  wirklich 
zu  lösen,  das  hängt  natürlich  wesentlich  von  der  Tüchtigkeit  ihrer 
Lehrkräfte  ab  und  kann  nur  nach  dem  Besuche  des  Unterrichts  selbst 
beurteilt  werden.  Welche  Ziele  aber  im  einzelnen  erstrebt  werden, 
das  läßt  sich  aus  den  Lehrplänen  und  Stoffverteilungen  der  Mittel- 
schulen wohl  entnehmen.  Die  Stoffverteilungspläne,  welche  bei  ein- 
zelnen Anstalten  sehr  sorgfältig  ausgearbeitet  sind,  lassen  erkennen, 
was  man  erreichen  will,  und  welche  Wege  man  für  die  zweckmäßigsten 
hält.  Bei  der  Fülle  der  Unterrichtsstoffe  werden  wir  uns  auch  hier 
wie  bei  der  Beurteilung  der  Lehrpläne  der  Volksschule  nur  auf 
wenige  Gebiete  und  auch  dabei  nur  auf  die  recht  eigentlich  über  die 
Pensen  der  Volksschule  hinausgehenden  obersten  Klassen  beschränken 
müssen.  Wir  wählen  als  Gegenstand  der  Vergleichung  den  deutschen 
und  den  fremdsprachlichen  Unterricht,  besonders  die  Lektüre  in  der 
Oberstufe,  und  wollen  dann  noch  einen  kurzen  Blick  auf  einige  cha- 
rakteristische Unterrichtsgegenstände  oder  Behandlungsformen  in  den 
Oberklassen  der  Mittelschulen  werfen. 

Die  der  achtklassigen  Organisation  der  städtischen  Knabenmittcl- 
schule  in  Halle  a.  S.,  Klosterstraße  9,  aufgesetzte  Selekta  (9.  Schul- 
jahr) richtet  sich  in  ihrer  Stoffverteilung  für  die  deutsche  Lektüre 
wesentlich  nach  historischen  Gesichtspunkten.  Man  beginnt  mit  Dar- 
bietungen aus  Luthers  Schriften,  führt  die  Schüler  über  Lessing,  Herder, 
Goethe,  Schiller  zu  den  wichtigsten  Dichtern  des  19.  Jahrhunderts 
(Uhland,  Freiligrath,  Geibel)  und  endet  mit  Darbietungen  aus  der 
neueren  Literatur,  aus  den  Werken  \^on  Gustav  Freytag,  Felix  Dahn, 
Viktor  von  Scheffel,  Ernst  von  Wildenbruch,  um  die  Schüler  zur 
selbständigen  Lektüre  nach  der  Schulzeit  anzuleiten. 

Von  dramatischen  Werken  werden  in  dieser  Klasse  gelesen: 
Le-ssings  Minna  von  Barnhelm,  Goethes  Egmont,  Schillers  Jungfrau 
von  Orleans;  in  der  vorhergehenden  Klasse  sind  bereits  neben  Her- 
mann und  Dorothea  Wilhelm  Teil  und  in  der  zweiten  Klasse  neben 
Abschnitten  aus  dem  Nibelungenhed  und  Gudrun  Herzog  Ern.st  von 
Schwaben  von  Uhland  gelesen  worden. 

Der  Lektüre  treten  stilistische  Übungen  zur  Seite,  die  sich  dann 
zu  Vorträgen  und  .Aufsätzen  verdichten. 

In  Frankfurt  a.  M.  wird  in  der  ersten  Klasse,  sowohl  in  Knaben- 
ais auch  in  Mädchenschulen,  neben  der  (ilocke  und  Hermann  und 
Dorothea  Wilhelm  Teil  Lreles-^n. 


Die  Mitlclschulen.  223 

In  Düsseldorf  werden  in  der  ersten  Klasse  der  achtklassigen 
Mädchenmittelschule  an  der  Florastraße  das  Nibelungenlied,  das 
Gudrunlied,  das  Lied  von  der  (Blocke  und  Wilhelm  Teil  gelesen. 

In  der  Knabenmittelschule  in  Halle  ist  Französisch  von  der 
5.  Klasse  an  mit  wöchentlich  5  Stunden  obligatorischer  Unterrichts- 
gegenstand, F2nglisch  dagegen  fakultativ  von  der  2.  Klasse  an  mit 
wöchentlich  4  Stunden.  Es  wird  in  der  Abschluisklasse  besonderer 
Wert  darauf  gelegt,  die  Schüler  zu  befähigen,  leichte  französische 
Schriftsteller  mit  Verständnis  zu  lesen  und  sich  in  den  einfachen 
Formen  des  mündlichen  und  schriftlichen  Verkehrs  einigermaßen  zu 
verständigen.  Sie  sollen  mit  Frankreich,  dem  französischen  Volk, 
seiner  Geschichte  und  Kultur,  seinen  Bräuchen  und  Sitten  bekannt 
werden,  sich  Sicherheit  in  der  Formenlehre  und  einige  Vertrautheit 
mit  den  Hauptregeln  der  französischen  Syntax  aneignen.  Schon  in 
den  vorhergehenden  Klassen  ist  eine  große  Anzahl  von  prosaischen 
Lesestücken  und  Gedichten  gelesen  und  teilweise  gelernt  worden; 
daneben  wurde  die  Grammatik  .systematisch  durchgenommen.  Zur 
Lektüre  diente  gelegentlich  auch  eine  längere  Erzählung,  wie  Francinet 
von  Bruno.  In  der  oberen  Klasse  wird  diese  Lektüre  von  Prosa- 
stücken und  (Gedichten  ebenso  wie  die  grammatischen  Übungen  fort- 
gesetzt; zur  Lektüre  dient  hauptsächlich  ein  Werk,  welches  in  die 
Welt  des  Handels  und  Verkehrs  einführen  soll:  Pierre,  le  jeune  com- 
mer^ant  von  Chaillet-Bert.  Der  englische  Unterricht  kann  naturgemäß 
nur  bescheidenere  Erfolge  erzielen:  es  werden  zur  Lektüre  Lamb's 
Tales  from  Shakespeare  verwendet. 

Die  mündliche  und  schriftliche  Gewandtheit  in  der  Behandlung 
der  französischen  Sprache  bildet  in  den  Frankfurter  Mittelschulen,  in 
denen  der  Unterricht  in  wöchentlich  5  Stunden  von  der  V.  bis  I. 
Klasse  betrieben  wird,  die  Hauptaufgabe,  und  diese  Aufgabe  wird 
kaum  irgendwo  besser  in  gleichwertigen  deutschen  Anstalten  gelöst. 
Der  englische  Unterricht  wird  in  Frankfurt  nur  auf  der  Oberstufe  er- 
teilt und  ist  nicht  allgemein  verbindlich;  es  sind  dafür  3  Stunden 
wöchentlich  angesetzt.  Das  Lehrziel  ist,  die  Schüler  und  Schülerinnen 
7,u  befähigen,  einen  leichten  englischen  Schriftsteller  zu  verstehen  und 
die  englische  Sprache  in  den  einfachsten  Formen  des  täglichen  Ver- 
kehrs mündlich  und  schriftlich  mit  einiger  Gewandtheit  zu  gebrauchen. 

Dafi  die  Realien,  insbesondere  das  Zeichnen  und  der  natur- 
kundliche Unterricht,  in  den  Knabenmittelschulen  mit  ganz  besonderer 
Sorgfalt  und  Liebe  betrieben  werden,  läßt  sich  bei  dem  Charakter 
der  Anstalten  von  \ornherein   erwarten. 


224  \'olksscliul\vesen. 

Die  Einrichtungen  für  den  physikalischen  Unterricht  in  der 
Knabenmittelschule  in  Posen  würden  jeder  höheren  Lehranstalt  zur 
Ehre  gereichen;  die  Schule  ist  mit  einem  vorzüglichen  Skioptikon 
versehen,  an  die  elektrische  Leitung  angeschlossen  und  reich  mit  allen 
physikalischen  Apparaten,  mit  den  erforderlichen  Chemikalien  und 
mit  Präparaten  und  Anschauungsmitteln  für  den  naturkundlichen 
Unterricht  ausgestattet.  Sie  verfügt  übrigens  auch  über  einen  Schul- 
garten. 

Auch  die  Knabenmittelschule  in  Breslau  ist  mit  einer  reichen 
physikalischen  Sammlung  und  hervorragenden  technischen  Anlagen 
ausgestattet.  Der  naturkundliche  Unterricht  wird  hier  in  der  obersten 
Klasse  wesentlich  von  dem  Gesichtspunkte  der  Einführimg  in  die 
Technologie  betrieben  und  gruppiert  sich  um  folgende  Hauptgebiete: 

„Unser  Obdach  und  seine  Ausstattung:  Hausbau,  das  Holz  und  seine  ^^er\vertung, 
Holzbearbeitungsmaschinen,  Feuerzeuge  und  Zündhölzer,*)  Öfen,  Zentralheizungsanlagen, 
die  Wassen-ersorgung.  —  Verarbeitung  und  Verwertung  landwirtschaftlicher  Produkte: 
die  Mühle,  Fleischversorgung,  Eismaschinen,  Bierbrauerei,*)  Spiritusfabrikation,*)  Wein- 
bereitung,*) Zuckerfabrikation.*)  —  Unser  Gewand  und  seine  Herstellung:  GespinststoBe, 
Spinnrad  und  Spinnmaschinen,  Webstuhl  und  Webmaschinen,  Arten  des  Gewebes,  Färberei 
und  Farbstofle,  Teerfarben  und  ihre  Darstellung,  Zeugdruckerei,  Gerberei.  —  Der  Bergbau 
und  die  Veredelung  seiner  Produkte :  Geschichtliches,  Anlage  eines  Steinkohlenberg\verkes, 
Steinkohlen-  und  Braunkohlenbergbau,  Erzlagerstätten,  die  Eisenerze  und  ihre  \'erhüttung, 
Darstellung  des  Nickels,  Gewinnung  von  Zink,  Blei,  Zinn,  Kupfer,  Quecksilber,  Silber  und 
Gold,  Salzbergbau,  Sodafabrikation.  —  Der  Steinbruch  imd  ähnliche  Betriebe  und  ihre 
Produkte:  Kalkbrennerei,*)  Ziegelei, *J  Töpferei,*)  Porzellanfabrikation,*)  die  Glashütte,*) 
Glasschleiferei  und  Glasätzerei.  —  Die  Maschine  als  Kraftspenderin :  Wasserräder,  Turbinen, 
Windräder,  die  Dampfmaschine  (Newcomens  Maschine,  Watts  Niederdruckmaschine, 
die  Lokomotive*)  als  Hochdruckmaschine,  Expansionsmaschinen,  Maschinen  nach  Woolf- 
schem  System,  Receivermaschinen,  Heißdarapfmaschinen,  Manometer  und  Sicherheitsventile, 
Effekt  einer  einzylindrigen  Auspufl'maschine,  Gas-,  Petroleum-,  Benzin-  und  Spiritus- 
motoren. —  Die  Erzeugung  des  elektrischen  Stromes:  Galvanische  Elemente,*)  Akkumu- 
latoren, elektrische  Maschinen  (nur  die  Gleichstrommaschine  wurde  ausführlicher  behandelt), 
das  Ohmsche  Gesetz,  elektrische  Maße  und  Meßapparate  (Amperemeter,  \'oltnieter, 
Wheatstonesche  Brücke),  elektrische  Leitungen,  Elektromotoren,  elektrische  Kraftüber- 
tragung, Transformation.  —  Das  Beleuchtungswesen:  die  Kerzen,  Leuchtgasfabrikation,*) 
Gasglühlicht,  Petroleum,*)  elektrische  Beleuchtung,  Azetylen,*)  Spiritusglühlicht.  —  Der 
Verkehr  und  seine  Einrichtungen:  Eisenbahn,  Dampfschiffahrt,  Telegraphie  (Morses 
Schreibtelegraph,*)  überseeische  Telegraphie,  neuere  Telegraphen,  drahtlose  Telegi'aphie), 
Fernsprechwesen.  —  Die  Technik  im  Dienste  der  Kunst  und  der  W' issenschaft :  Galvano- 
plastik,*) Herstellung  von  Metallüberzügen  auf  galvanischem  Wege,  Herstellung  der  Cliches, 
Photographie*)  und  Lichtdruck,  Herstellung  von  Bildern,  der  Buchdruck,  Papier- 
fabrikation. —  Rolle." 

Daß  die  Mittelschule  sich  in  ihrer  äußeren  Ausgestaltung,  in  der 
Anlage  der  Schulhäuser,  in  der  Ausrüstung  mit  Schulutensilien,  der 
.Ausstattung    mit    Lehrmitteln,    der    Verwendung    von    künstlerischem 

*)   Die  besternten   Kajjitel   sind   Wiederholungen   aus  dem  Stoffe  der  Vorklassen. 


Die  :Mittelschiilen 


225 


Wandschmuck,  der  Reichhaltigkeit  der  Lehrer-  und  Schülerbibliotheken 
wesentlich  über  das  Niveau  der  Volksschule  erhebt,  ist  durch  ihre 
Aufgabe  bedingt.  Auch  fallen  die  durch  diese  gewähltere  Einrichtung 
entstehenden  Kosten  nicht  so  schwer  auf  die  Schultern  aller  steuer- 
zahlenden Bürger,  da  in  den  Mittelschulen  Schulgeld  erhoben  wird, 
mithin  ein  Teil  der  Kosten  von  den  zunächst  Beteiligten,  den  Eltern 
der  Schulkinder,  getragen  wird. 

Da  die  Mittelschulen  selten  den  Umfang  der  Volksschulen  er- 
reichen, so  sind  die  Schulhäuser  ihrer  Ausdehnung  nach  oft  nicht  so 
imposante  Gebäude  wie  die  Volksschulhäuser;  was  ihnen  aber  an 
äußerem  Umfang  entgeht,  das  ersetzen  sie  durch  die  innere  Ein- 
richtung.    Als    besonders    geschmackvoll    ausgeführter  Mittelschulbau 


Ausgaben 


Souchayschule  1) 

22  Kl.  776  Knaben  u.  Mädchen 

(Schulgeld  44  M.  jähriich) 

1902 


1901 


Gesamtsumme  . 
A.   Besoldungei 


97  894,80 


Gehälter  laut  Personaletat     87  670 
Vertretungen  u.  Hilfsstd.       2  946 

Summa  A. 


105630 


94  275 
3  605 


1903 


Bonifatiusschule 
16K1.  767 Knaben  u.  Mädchen 


1901 


1902 


1903 


114090 


1007,97  i  67530      67  710 


101  591,28;  56  231,94  '  58  080 
3  998,72      1710  2  600 


90  616 


599,21 


400 


650 


57  910 
2  400 


97  880    105590        57  941,94      60680    i  60  310 


L 


B.  Schulbedürfnisse 

Lehrmittel  und  Lehr 
apparate     .... 

Lehrerbibliothek    .     . 

Schülerbibliothek  . 

Druck-  und  Buchbinder 
arbeiten     .... 

Bureau-  und  Schreibarb. 
Schreibmaterialien  . 

Beleuchtung      .     .     . 

Heizung 

Reinigung     .... 

Kleine  bauliche  Her 
Stellungen  sowie  In 
standhaltung  und  Er 
gänzung   des  Inventars 

Insgemein     .... 

Summa  B 


1)  Das  in  der  Souchayschule  einkommende  Schulgeld  wurde  für  1903  mit  42  000  M. 
leranschlagt. 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  15 


149,82 

150 

150 

143,26 

150 

150 

93,47 

100 

100 

99,57 

100 

100 

257,17 

400 

400 

1     73,95 

200 

200 

145,24 

150 

200 

77,68 

150 

150 

424,58 

350 

480 

101,45  ' 

150 

150 

2  748,28  i 

3  400 

3400 

1  045,30 

3  500 

3  800 

1  688,02 

1  800 

1  900 

995,98 

1  100 

1  150 

725,01 

600 

720 

;   519,23 

500 

200 

448 

400 

500 

710,56 

700 

700 

7  278,80 

7  750 

8  500 

4  066,03 

6  850 

7  400 

226 


Volksschuhvesen. 


möge  hier  die  Knabenniittelschule  in  der  Klosterstraße  zu  Halle 
genannt  werden,  deren  farbenprächtige  innere  Ausstattung  auf  der 
Städte-Ausstellung  in  Dresden  Aufsehen  erregt  hat,  und  deren 
stimmungsvolle  Aula  einen  besonders  würdigen  Raum  für  Schulfeier- 
lichkeiten darbietet.  Es  möge  auch  die  zierlich  und  geschmackvoll 
ausgestattete  Knabenmittelschule  in  der  Malteserstraße  in  Breslau 
genannt  werden  und  unter  anderen  die  Fürstenberger  Mittelschule  in 
Frankfurt  a.  M. 

Wie  sich  der  Etat  der  Mittelschule  hinsichtlich  der  Kosten 
gegenüber  einer  Volksschule  von  annähernd  gleichem  Umfange  stellt, 
kann  man  aus  einer  Vergleichung  der  betreffenden  Aufwendungen 
für  die  Souchay-Mittelschule  und  die  Bonifatius-Volksschule,  beide  in 
Frankfurt  a.  M.,  ersehen.     (Seite  225.) 

Die  ordentlichen  Ausgaben  für  die  öffentlichen  Schulen  pro  Kopf 
eines  Schülers  betrugen  1901   in  Frankfurt  a.  M. 


Überhaupt 
M.     1     Pf. 

Davon 
durch  Schul- 
geld erbracht 

M.          Pf. 

Verbleibt 

städtischer 

Zuschuß 

M.     i     Pf 

I.    In  den  höheren  Schulen: 
a)  in  den  Gymnasien  (Goethe-  u.  Lessing- 

364 

294 
248 

224 
277 
204 

176 
119 

80 

95 

96 
30 

14 

18 
11 

46 

147 

149 
98 

97 

14 

94 
37 

217 

145 
149 

,27 
,54 
152 

61 
76 

78 

81 

b)  in    den    Realgymnasien     (Muster-    und 
Wöhlerschule) 

c)  in  der  Oberrealschide  (Klingerschule)  . 

d)  in    den  Realschulen   (Adlerflychtschule, 
Liebig-Realschule     und    Sachsenhäuser 
Realschule)                                            .     . 

02 
93 

35 

im  Durchschnitt  a — d 

in  der  Selektenschule 

IL  In  den  höheren  Mädchenschulen: 

Elisabethen-,     Humboldt-     und     Viktoria- 
schule im  Durchschnitt 

III.    In  den  Mittelschulen: 
im  Durchschnitt 

122    i     95 
51         83 

114    '     85 

42    1     24 
davon  durch 
Staatsbeiträge 
zu  den  Lehrer- 
besoldungen 
gedeckt 
2        32 

53 
31 

33 
87 

IV.  In  den  Bürger-(Volks-)Schuleu: 
einschl.  der  Hilfsschule  im  Durchschnitt  . 

14 

Die  MittelschuU'ii.  227 

Verteilt  man  noch  die  Einnahmen  und  Aus<^aben  der  Haupt- 
verwaltung, sowie  die  Ausgaben  für  Instandhaltung  der  Heizungen, 
welche  sich  nicht  für  die  einzelnen  Schulen  angeben  lassen,  gleich- 
mäßig auf  alle  Schüler,  so  würden  sich  die  Einnahmen  um  2,18  M., 
die  Ausgaben  um  5,24  M.  und  der  städtische  Zuschuß  um  3,06  M. 
pro  Kopf  eines  Schülers  erhöhen. 

Gegenwärtiger  Stand  der  Mittelschulen  in  Preußen. 

Nach  der  Erhebung  vom  27.  Juni  1901  gab  es  im  ganzen  Staate 
456  öffentliche  mittlere  Schulen  mit  3759  Schulklassen  und  134  741 
Schulkindern,  die  von  3571  Lehrern  und  1 192  Lehrerinnen,  insgesamt 
4763  Lehrkräften,  unterrichtet  wurden. 

Die  Schulen  verteilten  sich: 
a)  nach  dem  Geschlecht  der  Schulkinder  auf 

217  Knabenschul.,  besucht  von  57  082  Knb.  —      Mdch.,  zus.  57  082  Schulkind. 

137  Mädchenschul.,       „         „  96      „     u.  47  680       „  „     47  776 

102  gemischte  Schul.,    „         „      16  371      „     „    13512       „  „     29883 

zus.  456  Schulen,  ~,         ~,      73  549     ~,     „   61  192       ~,  „  134  741  „ 

bl  nach    dem    konfessicmellen  Charakter    auf    284  evangelische,    54  katholische,    59  pari- 
tätische und  59  ohne  besonderen  konfessionellen  Charakter. 

Von  den  Schulkindern  waren  der  Konfession  nach  117  863  evangelisch,  13  314 
katholisch,  393  sonst  christlich  und  3171  jüdisch. 

Von  den  wissenschaftlichen  Lehrkräften  waren 

3  621,  nämlich  2  896  Lehrer  und  725  Lehrerinnen,  evangelischen, 
526,         „  442        „  „       84  „  katholischen, 

1,  „  —  „  „  1  „  sonst  christlichen 

und     35,         „  27        „  „         8  „  jüdischen 

Bekenntnisses.    Über  die  Konfession  der  technischen  Lehrkräfte  liegen  keine  Angaben  vor. 
Unterhalten    werden    452  Schulen    von    den   Gemeinden,  2  vom  Staate  und  2  von 
Stiftungen. 

Selbständige  Schuleinrichtungen  waren  413  Schulen  mit  130  971  Schulkindern,  mit 
einer  Volksschule  verbunden  43  Schulen  mit  3770  Schulkindern. 

Von  den  letzteren  nahmen  5  die  Schüler  nach  dreijährigem,  18  nach  vierjährigem, 
1 1  nach  fünfjährigem,  4  nach  sechsjährigem  und  5  nach  siebenjährigem  Besuch  der  Volks- 
schule auf. 

Es  waren  lehrplanmäßig  eingerichtet  auf 

2  aufsteigende  Klassen 

8  Knabenschulen  mit   14  Klassen  und  272  Schülern 

7  Mädchenschulen  „12         „          „     201 

2  gemischte  Schulen  „       3         „           „       72          „ 

zusammen   17   Schulen  mit  29  Klassen  und  545  Schülern; 

3  aufsteigende  Klassen 

27  Knabenschulen  mit  67  Klassen  und   1  457  Schülern 

6  Mädchenschulen         „  17          „  „        424 

7  gemischte  Schulen     „  19         „  „        307          „ 
zusammen  40  Schulen  mit  103  Klassen  und  2  188  Schülern: 

15* 


228  \olks  Schulwesen. 

4  aufsteigende  Klassen 

48  Knabenschulen  mit  170  Klassen  und  3  939  Schülern 

3  Mädchenschulen         „  1 1  „  „        298 

31   gemischte  Schulen     „  99         „  „     2  270         „ 

zusammen  82  Schulen  mit  280  Klassen  und  6  507  Schülern ; 

5  aufsteigende  Klassen 

31    Knabenschulen  mit  133  Klassen  und  2  235  Schülern 

3  Mädchenschulen  „11  „  „        211 

11   gemischte  Schulen  „       58         „  „        927 

zusammen  45  Schulen  mit  202  Klassen  und  3  373  Schülern; 

6  aufsteigende  Klassen 

1 5  Knabenschulen         mit     83  Klassen  und  2  329  Schülern 

1 1  Mädchenschulen         „       67         „  „     1  992 

8  gemischte  Schulen     „       64  „  „1  805  „ 

zusammen  34  Schulen  mit  214  Klassen  und  6  126  Schülern; 

7  aufsteigende  Klassen 

39  Knabenschulen  mit  458  Klassen   und  19  744  Schülern 

30  Mädchenschulen         „     282         „  „     1 1  680 

15  gemischte  Schulen     „     169         „  „       6  262         „ 

zusammen  84  Schulen  mit  909  Klassen  und  37  686  Schülern; 

8  aufsteigende  Klassen 

31  Knabenschulen  mit      427  Klassen  und  17  164  Schülern 
65  Mädchenschulen         „        756        „         .,    28  693         „ 

28  gemischte  Schulen     „        463        „         „    18  240 
zusammen   124  Schulen  mit   1  646  Klassen  und  64  097  Schülern; 

9  aufsteigende  Klassen 

18  Knabenschulen  mit  253  Klassen  und     9  942  Schülern 

12  Mädchenschulen         „123         „  „       4  277 

zusammen  30  Schulen  mit  376  Klassen  und  14  219  Schülern. 

Den     fremdsprachlichen     Unterricht      in    den     Mittelschulen    kennzeichnen 
folgende  Zahlen: 

Unterricht  in  der  französischen  Sprache  wurde  erteilt: 

a.)  obligatorisch  in  183  Knbsch.,  103  Mdchsch.  u.  84  gem.  Seh.,  im   ganzen  in  370  Seh. 
b)  fakultativ  „       3  „  3  „  „     4       „        „         „         „         „10 

überhaupt  in   186  Knbsch.,   106  Mdchsch.  u.  88  gem.  Seh.,   im    ganzen  in  380  Seh. 

Unterricht  in  der  englischen  Sprache  wurde  erteilt: 

a)  obligatorisch  in     67  Knbsch.,    29  Mdchsch.    u.    48  gem.  Seh.,    im  ganzen  in    144  Seh. 

h)  fakultativ         „     38          „         39          „           „     28      „        „        „  „  „    105 

überhaupt  in  105  Knbsch.,   68  Mdchsch.    u.    76  gem.  Seh.,    im  ganzen  in  249  Seh. 
Unterricht  in  andern  Fremdsprachen  wurde  erteilt: 

a)  obligatorisch  in     76  Knbsch.,     1    Mdchsch.    u.    17    gem.  Seh.,   im  ganzen  in     94  Seh. 

b)  fakultativ          „     38          „         —          „           „    43      „        „        „  „  „      81 

überhaupt  in   114  Knbsch.,       1   Mdchsch.    u.    60    gem.  Seh.,    im   ganzen  in   175  Seh. 


Die  Mittelschulen.  229 

Nach  der  amtlichen  Stellung  gab  es  unter  den  Lehrern  al  Leiter  449, 
b)  vollbeschäftigte  wissenschaftliche  Lehrer  2643  (einschl.  25  unbesetzter  Stellen),  c)  nicht 
vollbeschäftigte  wissenschaftliche  Lehrer  298,  d)  vollbeschäftigte  technische  Lehrer  45, 
ei  nicht  vollbeschäftigte  technische  Lehrer  136,  zusammen  3571;  unter  den  Lehre 
rinnen  a)  Leiterinnen  7,  b)  vollbeschäftigte  wissenschaftliche  Lehrerinnen  761  (einschl 
1  unbesetzten  Stelle),  c)  nicht  vollbeschäftigte  wissenschaftliche  Lehrerinnen  51,  d)  voll 
beschäftigte  technische  Lehrerinnen  145,  e)  nicht  vollbeschäftigte  technische  Lehrerinnen  228 
zusammen   1 1 92. 

Lehrbefähigung  der  Lehrkräfte. 

Von  den  Leitern  besaßen  die  Befähigung  für  das  höhere  Lehramt  79,  für  das 
geistliche  Amt  68,  als  Rektor  281,  als  Mittelschullehrer  8,  als  Volksschullehrer  13,  zu- 
sammen 449. 

Von  den  vollbeschäftigten  wissenschafthchen  Lehrern  hatten  die  Befähigung  für 
das  höhere  Lehramt  121,  für  das  geistliche  Amt  54,  als  Mittelschullehrer  1260,  als  Volks- 
schullehrer 1183,  zusammen  2618;  hierzu  unbesetzte  Stellen  25,  gibt  2643. 

Von  den  Leiterinnen  hatten  die  Befähigung  als  Schulvorsteherin  6,  als  Lehrerin 
für  mittlere  und  höhere  Mädchenschulen   1,   zusammen  7. 

Von  den  vollbeschäftigten  wissenschaftlichen  Lehrerinnen  hatten  die  Befähigung 
als  Oberlehrerin  3,  als  Lehrerin  für  mittlere  und  höhere  Mädchenschulen  685,  als  Lehrerin 
für  Volksschulen  66,  als  Sprachlehrerin  6,  zusammen  760;  hierzu  unbesetzte  Stellen  1,  gibt  761 . 


Diensteinkommen  der  Lehrkräfte  an  den  Mittelschulen. 


Es  bezogen  ein 

Lehrer  mit 

Ein- 

Lehrerinnen 

Lehrkräfte 

Gesamteinkommen  von 

Schluß  der  Leiter 

einschl.  der  Leiterinnen 

überhaupt 

M. 

bis  zu  1000 

3 

45                   i 

48 

1001-1500 

155 

346 

501 

1501-2100 

654 

408                  1 

1062 

2101-2700 

1  000 

92 

1  092 

2701—3600 

979 

12 

991 

3601—4800 

225 

— 

225 

4801—6000 

33 

— 

33 

über  6000 

15 

— 

15 

ZWEITE  ABTEILUNG, 

DIE   VOLKSSCHULLEHRERBILDUNG 

VON 

DR.  EDUARD   CLAUSNITZER. 


Einleitung. 


Aus  dem  Interesse  des  Staates  an  der  Erziehung  der  künftigen 
Bürger  erklärt  sich  seine  Fürsorge  gegenüber  der  Aus-  und  Fort- 
biklung  der  Lehrer.  Das  Wort  , .Lehrer"  bezeichnet  deren  Tätigkeit 
nur  einseitig,  da  ihre  Aufgabe  im  Erziehen  besteht,  von  dem  allerdings 
das  Lehren  ein  sehr  wichtiger,  vielleicht  der  wichtigste  Teil  ist.  Man 
hat  es  als  eine  der  köstlichsten  und  verantwortungsreichsten  Aufgaben 
bezeichnet,  junge  Seelen  heranzubilden.  Das  erfordert  viel  Geschick, 
einen  gereiften  Charakter  und  hinreichende  Erfahrung.  Der  Lehrer- 
beruf ist  darum  ein  Lebensberuf,  der  eine  genau  geregelte  Allgemein- 
und  Fachausbildung  erfordert. 

Der  Staat  hat  deshalb  im  Deutschen  Reiche  nicht  bloß  die 
Bildung  der  Lehrer  für  höhere  Schulen  genau  geordnet,  sondern  auch 
seine  besondere  Fürsorge  den  Volksschullehrern  gewidmet,  denen 
neun  Zehntel  der  gesamten  schulpflichtigen  Kinder  zum  Erziehen  und 
Unterrichten  anvertraut  sind. 

Von  den  Lehrenden  ist  die  überwiegende  Mehrzahl  männlichen 
Geschlechts.  Mit  unbedeutenden  Ausnahmen  unterrichten  Lehrerinnen 
nur  an  Mädchenschulen  (die  übrigens  auch  eine  Anzahl  von  Lehrern 
aufweisen),  und  zwar  zumeist  auch  nur  in  den  Städten,  da  selten  ein 
Dorf  so  groß  ist,  eine  besondere  Mädchenschule  oder  wenigstens  ge- 
sonderte Mädchenklassen  einzurichten.  So  wird  denn  der  überwiegende 
Teil  der  männlichen  Schuljugend  von  männlichen  Lehrkräften  erzogen 
und  unterrichtet. 

Zur  Ausbildung  der  Lehrer  haben  die  deutschen  Bundesstaaten 
Seminare  gegründet  und  erhalten  sie,  ohne  dafür  ein  Entgelt  zu  er- 
heben. Auch  die  wenigen  privaten  Lehrerseminare,  meist  von  jüdischen 
Gemeinden  unterhalten,  unterstehen  wenigstens  der  staatlichen  Aufsicht. 
Die  Fortbildung  überwachen  die  Staaten  durch  Prüfungen,  von  denen  die 
sogenannte  zweite  Lehrerprüfung  jeder  Lehrer  ablegen  muß,  widrigen- 


234  Die  Volksschullehrerbildung. 

falls  er  den  Schuldienst  zu  verlassen  hat,  ferner  durch  Konferenzen,  sie 
fördern  sie  durch  Veranlassung  und  Unterstützung  von  wissenschaftlichen 
Vorlesungen,  durch  Bibliotheken  und  durch  Zulassung  als  „Hörer"  an 
Universitäten.  Zudem  gewähren  sie  reiche  Beihilfen  für  die  Sonder- 
ausbildung als  Lehrer  an  Blinden-  und  Taubstummenanstalten,  an 
Fortbildungs-  und  Fachschulen,  sowie  für  die  seitens  einzelner  Vereine 
im  Interesse  der  Lehrerweiterbildung  und  der  Volksbildung  überhaupt 
ins  Leben  gerufenen  Veranstaltungen. 

So  zeigt  sich  das  deutsche  Lehrerbildungswesen  als  ein  Unter- 
nehmen des  Staates.  Dem  Lehramte  kann  einzig  und  allein  ein 
Lebensberuf  gewidmet  werden.  Dies  wird  bedingt  durch  die  um- 
fangreichen Aufwendungen  aus  Staatsmitteln,  dann  aber  vor  allem 
durch  die  Wichtisfkeit  und  Verantwortlichkeit  der  Aufo-abe. 


ERSTER  ABSCHNITT. 
Geschichte  des  Lehrerbildungswesens. 

I.    Die  Zeit  bis  1800. 

Die  Fertigkeiten  des  Lesens,  Schreibens  und  Rechnens,  die 
heutzutage  bei  jedem  normal  veranlagten  Menschen  vorausgesetzt 
werden,  waren  ursprünglich  nur  im  Besitze  einiger  weniger,  in 
Deutschland  zumeist  nur  bei  Geistlichen  und  Mönchen.  So  ergab  es 
sich  von  selbst,  daß  in  ihren  Händen  das  Unterrichtswesen  lag. 
Kaiser  Karl  der  Große  (f  814)  hat  das  besondere  Verdienst,  gerade 
dem  Volke  das  Wissen  durch  die  Klöster  gegeben  zu  haben;  unter 
seinen  Nachfolgern  hörte  das  auf.  Eine  Ausbildung  zum  Lehrberuf 
gab  es  vor  dem  Reformationszeitalter  in  pädagogischer  Hinsicht  nicht. 
Den  Unterricht  versahen  meist  Leute,  die  als  Gelehrte  oder  sonstwie 
sich  keine  dauernde  Beschäftigung  erwerben  konnten,  und  aus  diesem 
wandernden  Lehrerstand  waren  die  oft  arg  verwilderten  Studenten 
bei  der  Schuljugend  nur  allzusehr  gefürchtet!  Besser  stand  es  um 
die  Kloster-,  Dom-  und  Stiftsschulen,  an  denen  häufig  hochgebildete 
Geistliche  den  Unterricht  erteilten;  aber  als  Stätte  der  Volksbildung, 
d.  h.  als  Bildungsstätte  der  großen  Menge,  haben  sie  keine  Rolle 
gespielt. 


Geschiclite  des  Lehrerbildungswesens.  235 

Mit  dem  Reforniationszeitalter  tritt  eine  wesentliche  Änderung 
ein.  An  den  seit  dem  13.  Jahrhundert  bestehenden  (städtischen) 
Schreibschulen ,  welche,  im  Gegensatz  zu  den  sogenannten  Stadt- 
(d.  i.  Latein-)  Schulen,  das  deutsche  Schulwesen  zum  Ausdruck 
bringen  und  als  Vorgänger  der  deutschen  Volksschule  gelten  können, 
unterrichten  jetzt  tüchtige  Lehrer,  vielfach  Schüler  der  Reformatoren; 
die  wandernden  Magister  verschwinden  aber  immer  mehr.  Das  Schul- 
wesen organisiert  sich  zum  Teil  in  Zünften,  der  Leiter  einer  Schule 
ist  der  , .Schulmeister",  der,  wie  in  Nürnberg  um  1613,  Lehrlinge  an- 
nimmt, zu  Gesellen  ausbildet,  die  dann  von  der  Zunft  zum  Meister 
gesprochen  werden.  Von  einem  Unterricht  auf  den  Dörfern  und 
kleinen  Städten  ist  allerdings  noch  nicht  viel  die  Rede.  Hier  treten 
die  Küster  oder  Glöckner  dem  Pfarrer  beim  Gottesdienst  und  in  der 
Gemeindetätigkeit  helfend  zur  Seite,  sie  unterstützen  ihn  bei  der 
Unterweisung  der  Jugend,  übernehmen  dann  selbständig  die 
Katechisationen ,  lehren  wohl  auch  etwas  Lesen,  vielleicht  auch 
Schreiben  und  Rechnen:  es  ist  der  Anfang  der  Volksschule  auf  dem 
Lande.  Ihre  Vorbildung  genossen  die  Küster,  welche  später  nicht 
selten  Pfarrer  wurden,  ebenso  wie  die  an  den  jetzt  deutsche  Schulen 
genannten  Schreibschulen  tätigen  Schreib-  und  Rechenmeister,  vielfach 
auf  den  Universitäten.  Zumeist  aber  hatten  sie  als  fahrende  Schüler 
auf  den  lateinischen  Stadtschulen  das  nötige  Wissen  erworben.  Der 
Charakter  dieser  Schulen  ist  meist  ein  religiöser,  selbst  Lesen  und 
Schreiben  wird  häufig  nur  im  Interesse  der  Religion  gelehrt,  das 
Kirchenamt  bleibt  zumeist  die  Hauptsache,  während  das  Schulamt 
untergeordnete  Bedeutung  hat. 

Das  Zeitalter  des  dreißigjährigen  Krieges  bedeutet  einen  Wende- 
punkt im  Volksschulwesen.  Die  Schule  ist  jetzt  nicht  mehr  ein 
Unternehmen  im  Interesse  der  Kirche,  sie  wird  von  den  Pädagogen 
als  etwas  Selbständiges  angesehen.  Nimmt  auch  die  Pflege  der 
Religion  einen  starken  Teil  des  Unterrichts  in  Anspruch,  so  tritt  doch 
energisch  der  Gedanke  der  Bildung  für  das  im  Leben  Notwendige 
hervor.  Das  klassische  Beispiel  dieser  Epoche  für  derartige  An- 
forderungen ist  der  1648  veröffentlichte  Schulmethodus  Herzog  Ernst 
des  Frommen  von  Gotha  (f  1675).  Außerdem  wird  aber  auch  eine 
verständige  Art  und  Weise  gefordert,  wie  den  Kindern  der  Unter- 
richtsstoff gegeben  werden  soll:  Comenius  (f  1670)  begründet  die 
Didaktik  und  Methodik  der  Schulen.  So  mußte  denn  auch  der 
Gedanke  entstehen,  daß  hierfür  eine  gesonderte  Vorbildung  der 
Lehrer  notwendig  sei. 


236  iJie  Volksschullehieibildung. 

In  seinem  1654  geschriebenen  Testamente  gibt  der  eben  ge- 
nannte Herzog  Ernst  diesem  Gedanken  Ausdruck,  nachdem  schon 
Ratke  (f  1635)  und  Comenius  dazu  angeregt  hatten.  Aber  erst 
1698  verwirklichte  Herzog  Friedrich  IL  von  Gotha  diese  Ab- 
sichten, indem  er  in  einer  Reihe  von  Orten  ,,seminaria  scholastica" 
anlegte;  zehn  geschickte  Lehrer  wurden  berufen,  um  andere  zum 
Unterricht  anzuweisen  und  heranzubilden.  In  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  hörte  diese  Einrichtung  allmählich  auf,  —  aber  es 
war  doch    der  erste  Anfang  eines  Volksschullehrerseminars    gewesen. 

Verwirklicht  hat  sich  die  Griuidung  von  Lehrerbildungsanstalten 
hauptsächlich  erst  seit  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts. 
Dem  Pietismus  gebührt  das  Verdienst,  die  Gründung  von 
Seminaren  energisch  gefördert  zu  haben.  August  Hermann 
Francke  (f  1727)  errichtete  in  Halle  beim  Waisenhause  ein  semi- 
narium  praeceptorum  und  bildete  hier  Lehrer  für  den  eigenen  Bedarf 
aus.  Seine  Schüler  Johann  Christian  Schienmeyer  und  Johann  JuUus 
Hecker  (f  1 768)  trugen  den  Seminargedanken  weiter.  Es  ist  der 
Ruhm  König  Friedrich  Wilhelms  I.  von  Preußen,  das  preußische  Volks- 
schulwesen begründet  zu  haben.  Er  ist  auch  der  Gründer  des  preußischen 
Volksschullehrerbildungswesens.  In  Stettin  entstand  1 732bezw.  1 736  unter 
Schienmeyers  Leitung  ein  Seminar,  1 735  ein  solches  in  Kloster  Bergen 
bei  Magdeburg  unter  dem  (evangelischen)  Abte  Steinmetz  (f  1762i. 
Kamen  diese  Anstalten  mit  staatlicher  Hilfe  zustande,  so  sah  sich  Hecker, 
der  1748  bei  der  ökonomischen  Realschule  (jetzt  Königliches  Kaiser 
Wilhelm-Realgymnasium)  ein  Seminar  (jetzt  in  Köpenick)  errichtet 
hatte,  zunächst  auf  private  Unterstützung  angewiesen:  durch  eine 
Buchhandlung,  Schullotterien  u.  dergl.  suchte  er  die  nötigen  Gelder 
zu  erhalten.  Späterhin  wurden  ihm  allerdings  zeitweise  staatliche  Zu- 
schüsse bewilligt. 

Etwa  gleichzeitig  entstanden  eine  Reihe  anderer  Seminare,  so 
1747  Rudolstadt,  1751  durch  den  Kaufmann  Böttcher,  der  sich  sehr 
für  eine  bessere  Erziehung  der  Kinder  verwandte,  Hannover,  im 
selben  Jahre  Braunschweig,  1753  Wolfenbüttel.  Nach  dem  sieben- 
jährigen Kriege  wurden  weitere  Anstalten  gegründet,  so  17()4  in 
Schlegel  bei  Glatz,  1765  in  Breslau,  beide  durch  den  Abt  Felbiger 
(f  1788)  eingerichtet,  1768  Karlsruhe,  1770  Würzburg,  1778  Halber- 
stadt, und  im  gleichen  Jahre  durch  den  Landesherrn  und  die  Frei- 
maurerloge unterstützt,  Meiningen,  1780  Gotha,  1781  Kassel,  Detmold 
und  Kiel,  1782  Schwerin,  1783  Köthen  und  Bückeburg,  1787  Alten- 
burg und  Dresden-Friedrichstadt,  1788  Weimar,   1701    Bamberg,    1793 


Geschichte  des  I.ehrerbildungswesens.  237 

Oldenburg  u.  a.,  sodaß  am  Ende  des  \[\.  Jahrhunderts  tast  alle  be- 
bedeutenden Staaten  Deutschlands  über  Lehrerbildungsanstalten  ver- 
fügen. Hatte  bis  etwa  1 760  der  Pietismus  geherrscht,  der  den  Gedanken 
der  Lehrerbildung  pflegt,  so  ist  es  die  Aufklärung,  welche  nunmehr 
zahlreiche  Seminare  entstehen  ließ. 

Eine  bedeutende  Entwicklung  hat  das  Lehrerbildungsvv^esen  bis 
zum  Jahre  1800  genommen,  und  als  ein  höchst  beachtenswerter  Erfolg 
muß  es  gelten,  wenn  nach  den  ersten  Versuchen  im  Herzogtum  Gotha 
das  beginnende  19.  Jahrhundert  eine  solche  Fülle  von  Seminaren  vor- 
findet; an  der  Stelle  des  Schulhandwerkers,  des  verkommenen  Studenten, 
des  Invaliden,  des  entlassenen  Soldaten,  der  nur  um  ein  Unterkommen 
zu  erhalten,  eine  Schulstelle  übernahm,  war  vielerorts  ein  Fachmann 
getreten,  der  sich  das  Lehramt  zum  Lebensberuf  erwählt  hatte. 

Aber  nicht  nur  an  Zahl  waren  die  Lehrerbildungsanstalten  ge- 
wachsen, sondern  auch  an  Umfang  der  Lehrpläne.  Der  Lehrplan  für 
die  seminaria  scholastica  von  1698  zählt  als  Lehrgegenstände :  An- 
leitung zum  Nachschreiben  der  Predigt,  Schön-  und  Rechtschreiben, 
Rechenkunst  und  Musik  auf;  die  Anleitung  zum  Unterrichten  steht 
stark  im  Vordergrund.  Der  Lehrplan  Heckers  von  1751  fordert 
zunächst  Anweisung  in  Katechisieren,  zum  Christentum  nach  der  Bibel 
und  der  Heilsordnung,  ferner  Buchstabieren  und  Lesen,  Katechismus 
unter  besonderer  Hervorhebung  der  Anwendung,  Recht-  und  Schön- 
schreiben, Rechnen,  Musik  und  Seidenbau.  Ähnlich  ist  der  1752  ver- 
öffentlichte Lehrplan  des  Seminars  zu  Kloster  Bergen,  hier  ist  der 
methodischen  Unterweisung  ein  breiter  Raum  gewährt,  und  die  Aus- 
bildung im  Unterrichten  bis  in  die  Einzelheiten  festgelegt. 

Liegt  bisher  der  Nachdruck  auf  der  Religion,  teilweise  sogar 
herrschend,  so  ist  dies  aus  dem  Einfluß  des  Pietismus  zu  erklären. 
Seit  dem  letzten  Drittel  des  18.  Jahrhunderts  erfahren  aber  die  Lehr- 
gegenstände durch  den  Einfluß  der  Aufklärung  eine  wesentliche  Er- 
weiterung nach  der  Seite  des  Wissens  von  der  Welt  und  der  Vor- 
gänge in  ihr.  Und  ebenso  wie  die  Kanzel  zur  x\ufklärung  des  Volkes 
in  allerlei  praktischen  Dingen  diente,  sollte  es  auch  die  Schule.  Der 
Lehrplan  des  von  Hecker  in  Berlin  begründeten  Seminars  von  1772 
weist  außer  Religion,  Lesen,  Schön-  und  Rechtschreiben  und  Rechnen  als 
neu  auf:  Geographie  und  Statistik  einschließlich  der  Landesverfassung, 
Geschichte,  Naturgeschichte,  sofern  sie  Einfluß  auf  die  Landes- 
ökonomie hat,  Meteorologie  und  die  wichtigsten  diätetischen  und 
medizinischen  Regeln,  eine  kurze  Pädagogik  und  Methodik,  Vokal- 
musik,   christliche  Moral,    Garten-    und    Seidenbau,    sowie    praktische 


238  Die  Volksschullehieibildung. 

LehranvveisLingen.  Zudem  war  freigestellt:  das  wichtigste  vom  Feld- 
messen, der  Mechanik,  physischen  Astronomie  und  bürgerlichen  Bau- 
kunst zu  erlernen.  Mehr  auf  den  eigentlichen  Zweck  der  Schule 
geht  der  Plan  des  Seminars  in  Köthen  aus  dem  Jahre  )783,  wenn 
er  auch  Latein  bietet;  er  zählt  als  Fächer  auf:  deutsche  und 
lateinische  Sprache,  Christentum,  Naturhistorie,  Geographie,  biblische 
und  Weltgeschichte,  Orthographie  und  Kalligraphie,  Rechnen  und 
Musik.  Der  Plan  des  1784  eröffneten  Seminars  ist  ähnlich,  auch  er 
führt  Latein  auf,  —  1791  kam  noch  Französisch  hinzu;  weiter  ist  be- 
sonders bemerkenswert:  Anweisung  zu  sittlichem  und  gesetzlichem 
Verhalten  mit  Darstellung  der  von  der  Befolgung  göttlicher  und 
landesherrlicher  Gesetze  abhängigen  zeitlichen  Vorteile  und  Strafen, 
Haushaltungswissenschaft,  endlich  einige  Kenntnisse  aus  der  Geometrie, 
Mechanik  und  Architektur. 

Johann  Gottfried  Herder  (f  1803),  der  als  universaler  Geist 
auch  der  Pädagogik  sein  regstes  Interesse  zugewandt  und  ihr  viele 
Anregungen  gegeben  und  mit  außerordentlichem  Geschick  das  Er- 
ziehungswesen im  Großherzogtum  Weimar  gefördert  hat,  fordert  1 788 
in  seinem  (zweiten)  „Entwurf  eines  Seminars  zu  Lehrern  für  Land- 
schulen" in  Weimar:  Methode  des  richtigen  Lesens  und  Vorlesens, 
Recht-  und  Schönschreiben,  Anfertigung  von  Aufsätzen,  gemein- 
nützige Kenntnisse  in  Geographie,  Naturgeschichte,  Naturlehre, 
bürgerlicher  Geschichte  usw.,  außerdem  noch  Methode  eines  guten 
Unterrichts  in  der  Religion  und  biblischen  Geschichte,  Kenntnis  der 
biblischen  Altertümer,  ,, durch  welche  der  künftige  Schullehrer  über 
hundert  Stellen  derSchriftLicht  erhält",  etwas  Geschichte  derReformation 
u.  dergl.  Der  Lehrplan  des  Seminars  in  Züllichau  im  Bezirke 
Frankfurt  a.  O.  von  1788  zählt  außer  den  allgemein  üblichen  Fächern 
wie  Religion,  Lesen  usw.  noch  auf:  Zeichnen,  Gesundheitslehre, 
Kräuterkunde,  Seidenbau,  Plantagensachen,  wie  Veredeln  der  Obst- 
bäume, Küchengärtnerei,  Feldmessen,  endlich  Unterricht  in  allerlei 
kleinen  Handarbeiten,  um  die  Kinder  auf  dem  Lande  nützlich  zu  be- 
schäftigen und  zur  Industrie  zu  gewöhnen. 

Einen  Musterplan  stellt  der  Lehrplan  des  Seminars  zu  Halber- 
stadt aus  dem  Jahre  1789  dar.  Verfasser  ist  höchstwahrscheinlich 
der  um  die  Hebung  der  Volksbildung  hochverdiente  Pädagoge  Eber- 
hard von  Rochow  auf  Rekahne  (f  1805).  Er  erklärt,  daß  es  falsch 
sei,  dem  Seminaristen  nur  Methodik  zu  lehren,  ohne  ihm  Kenntnisse 
zu  geben;  das  sei  einen  Armen  anweisen,  seine  Güter  zu  v^erwalten. 
Andererseits    köinie    der    Lehrer  wieder    mancherlei  Kenntnisse    ent- 


Geschichte  des  I.ehrerbildungswesens.  239 

behren,  so  z.  B.  gelehrte  Sprachen,  während  in  anderen  Dingen  eine 
Anleitung  genüge,  so  in  Geschichte,  Erdkunde  usw.,  da  hier  treffliche 
Hilfsmittel  zur  eigenen  Weiterbildung  beständen.  Den  Lehrplan  ge- 
staltet er  nach  den  Gesichtspunkten:  materieller  Unterricht,  formeller 
Unterricht,  Bildung  des  sittlichen  Charakters.  Der  materielle  Unter- 
richt umfaßt:  I.  , .Kenntnisse  der  Werke  Gottes,  insonderheit  des 
Menschen  und  dessen,  was  zunächst  Beziehung  auf  ihn  hat,  kurz  der 
wissenswürdigste  und  gemeinnützigste  Teil  der  Naturgeschichte"; 
2.  Einleitung  in  die  Bibel,  d.  h.  die  zum  Verständnisse  nötigen  Vor- 
kenntnisse, wie  jüdische  und  christliche  Religionsgeschichte,  Gebräuche 
der  \'orwelt,  Geschichte  und  Sprache  der  Bibel,  Sammlung  der 
Heiligen  Schriften;  3.  Religionsunterricht,  d.  h.  die  Wahrheiten  der 
Religion  im  Zusammenhang;  4.  Gesundheitslehre;  5.  Landesverfassung 
und  Landesgesetze;  6.  „Etwas  Erdbeschreibung  und  Geschichte,  be- 
sonders des  Vaterlandes,  als  eine  Anleitung,  diese  Kenntnisse  durch 
eigenen  Fleiß  zu  erweitern".  Der  formelle  Unterricht  umfaßt: 
1.  Sprachunterricht;  2.  Logik  oder  Vernunftlehre,  ,, nicht  die  philo- 
sophische Kunst  zu  denken,  sondern  die  praktische  Vernunft  des 
Menschenverstandes";  3.  Rechenunterricht,  „sowohl  als  vorzügliche 
Übung  des  Verstandes,  als  auch  um  die  Seminaristen  instand  zu 
setzen,  die  Jugend  auf  die  beste  Art  darin  unterrichten  zu  können"; 
4.  Methodik  des  Unterrichts;  5.  Übungen  der  Seminaristen  im  Auf- 
merken und  Beobachten,  im  Anfertigen  von  Aufsätzen,  in  der  Methode; 
().  Leitung  des  Privatfleißes.  Die  Bildung  des  sittlichen  Charakters 
soll  endlich  die  Seminaristen  frühzeitig  zu  der  Denkungsart  und 
Handlungsweise,  „welche  sie  in  ihrem  künftigen  Stande  in  sich  selbst 
glücklich  und  nützlich  für  die  menschliche  Gesellschaft  machen  kann", 
hinleiten.  Letztere  Absicht  des  Lehrplans  ist  um  so  bemerkens- 
w^erter,  als  der  Unterricht  in  damaliger  Zeit  sich  oft  in  eine 
theoretische  Tugendlehre  oder  einen  Unterricht  in  Höflichkeit,  wie  in 
dem  sonst  recht  tüchtigen  Lehrplan  des  Seminars  zu  Rostock,  verlor. 
Aber  man  blieb  bei  der  Vorbildung  der  Lehrer  nicht  stehen. 
Es  wurde,  wenn  auch  nur  vereinzelt,  der  Versuch  gemacht,  an  ihrer 
Weiterbildung  zu  arbeiten.  Nach  Einführung  des  Generalland- 
schulreglements in  Preußen  1763  versaramelte  der  Generalsuper- 
intendent Hahn  (t  1 780)  in  Magdeburg  wiederholentlich  die  Lehrer 
seines  Bezirks,  um  sie  mit  jenem  Reglement  vertraut  zu  machen  und 
ihnen  dessen  Verständnis  zu  erschließen.  In  den  letzten  Jahren  des 
18.  Jahrhunderts  werden  in  Oberhessen,  in  der  bergischen  Mark  und 
anderweitig  Lehrervereine  gegründet,   in    denen  Aufsätze    und    Kate- 


240  r^ie  \'olksschullehrerbildun,ti. 

diesen  vorgelesen  und  besprochen,  auch  pädagogische  Schriften  in 
Umlauf  gesetzt  wurden.  In  Württemberg  und  Lippe-Detmold 
werden  sogar  offizielle  Lehrerkonferenzen  und  Lehrerbibliotheken  ein- 
gerichtet. Auch  erscheinen  die  ersten  Zeitschriften  und  Taschenbücher 
für  Volksschullehrer. 

2.   Das  19.   Jahrhundert. 

Eine  neue  Periode  in  der  Lehrerbildung  beginnt  nach  den  Be- 
freiungskriegen unter  dem  Einflüsse  Pestalozzis.  Wenn  sich  auch  die 
Schulen  lange  mit  solchen  Lehrern  begnügen  mußten,  die  kein 
Seminar  besucht,  nicht  einmal  eine  Prüfung  abgelegt  hatten,  so  ge- 
winnen doch  allmählich  die  auf  dem  Seminar  ausgebildeten  Lehrer 
gegen  die  privatim  vorbereiteten  das  Übergewicht.  Li  Preußen  stieg 
die  Zahl  der  Seminare  von  1 1  im  Jahre  1 806  auf  28  im  Jahre  1 828 
und  im  Jahre  1 837  sogar  auf  45.  Daß  bis  1 859  nur  noch  drei 
Seminare  eröffnet  wurden,  erklärt  sich  leicht  daraus,  daß  Ende  der 
vierziger  Jahre  der  preußische  Staat  hinreichend  damit  versehen  war. 

Einblicke  in  den  Unterrichtsbetrieb  geben  die  Lehrpläne  der 
Seminare  Neuzelle  und  Mors.  Der  Plan  von  Neuzelle  fordert 
zunächst  Religion,  die  zur  Bewirkung  einer  möglichst  lebendigen  Er- 
kenntnis ihrer  Wahrheit  und  Göttlichkeit,  einer  fruchtbaren  Erkenntnis 
der  Schrift  und  besonders  der  heiligen  Geschichte,  sowie  der  ein- 
fachsten Regeln  der  Schriftauslegung  dienen  soll.  Der  Sprachunter- 
richt umfaßt  Poesie  und  Prosa,  Grammatik,  Orthographie  und  Stil- 
übungen. Das  Rechnen  und  die  Formenlehre  werden  als  vorzüg- 
liches Übungsmittel  des  Denkvermögens  bezeichnet.  Als  Fächer 
folgen  dann  Zeichnen,  Schönschreiben  und  Musik.  Aus  der  physischen, 
mathematischen  und  politischen  Geographie  ist  alles  zu  lehren,  was 
zum  Gebrauche  einer  Landkarte,  eines  Globus  und  zur  Kenntnis  des 
Vaterlandes,  besonders  der  Heimatsprovinz,  beiträgt.  Die  Natur- 
wissenschaft wird  in  Naturgeschichte  und  Naturlehre  geghedert.  x'lus 
der  Geschichte  wird  nur  das  Fachwerk  eingeprägt,  die  biblische 
dagegen  unter  Hinweis,  wie  die  großen  Männer  die  Ratschläge  der 
Vorsehung  vollzogen,  und  wie  sich  unter  ihrem  Einfluß  das  Böse 
zum  Beförderungsmittel  des  Guten  gestaltete.  Sodann  werden,  dem 
Zuge  der  Zeit  folgend,  gymnastische  Übungen  angeordnet,  da  die 
meisten  Seminaristen  vom  Lande  kommen,  und  durch  ein  fortwährendes 
angestrengtes  Stubenleben  ihrer  Gesundheit  Gefahr  drohen  würde. 
Ferner  wird  Didaktik  und  Schulmeisterklugheit  gelehrt,  indem  jeder- 
zeit praktische  Übungen  zur  Seite  gehen.    Um  den  gering  besoldeten 


Geschichte  des  Lehrerbildungswesens.  241 

Lehrern  die  Möglichkeit  zum  Nebenerwerb  zu  i^eben,  soll  die  Gelegen- 
heit zum  Erlernen  eines  mechanischen  Nebengeschäftes,  wie  Tischlern, 
Drechseln,  Korb-  und  Strohflechten  und  dergleichen  geboten  werden. 
Aulserdem  wird  Gärtnerei  und  Bienenzucht  getrieben.  Der  Lehrplan 
des  Seminars  Mors  aus  dem  Jahre  1823  weist  als  Lehrgegenstände 
auf:  Religion,  Sprachunterricht,  Zahlen-  und  Größenlehre,  Naturkunde, 
Geschichte  und  Geographie,  Pädagogik  und  Didaktik,  Zeichnen  und 
Schreiben,  Theorie  der  Musik  und  Gesang,  Übungen  im  Unterrichten, 
Obstbaumzucht.  In  Religion  wird  biblische  Geschichte,  Kenntnis  der 
Heiligen  Schriften  nach  Inhalt  und  nach  den  Lebensumständen  der 
Verfasser,  Glaubens-  und  Pflichtenlehre  geboten.  Der  Sprachunterricht 
zerfällt  in  einen  logischen  und  grammatischen  Teil,  nämlich  in  Sprach- 
fertigkeit und  Sprachrichtigkeit.  Die  Geschichte  beginnt  mit  der 
bibHschen  und  der  alten  Geschichte,  gibt  sodann  die  Weltgeschichte 
von  Ausbreitung  des  Christentums  bis  zum  dreißigjährigen  Kriege, 
und  von  da  an  in  größerer  Ausführlichkeit  die  Geschichte  Deutsch- 
lands und  Preußens. 

Eingehend  handelt  Wilhelm  Harnisch  (f  1864),  der  einen 
großen  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  deutschen  Volksschulwesens 
gehabt  hat,  über  die  .Schullehrerbildung  in  seinem  1836  erschienenen 
gleichnamigen  Buche  über  sie.  Er  verlangt  einen  gründlichen  kirch- 
lichen Unterricht  in  der  Christenlehre,  weiter  Sprachlehre  unter  Ver- 
arbeitung der  besten  Schriftsteller  der  Nation,  Weltkunde,  Mathematik, 
Musik,  Zeichnen,  Berufskenntnisse  und  Berufsfertigkeiten.  Die  Religion, 
Harnisch  nennt  sie  Gottseligkeit,  soll  ihren  Weg  durch  Bibel, 
Katechismus  und  Gesangbuch  nehmen  und  auf  das  Gefühl  und  den 
Willen  der  Seminaristen  einwirken.  Die  Weltkunde  umfaßt  Natur- 
geschichte, Naturlehre,  Geographie  und  Geschichte;  sie  soll  die 
einzelnen  Fächer  zu  einem  Ganzen  vereinen,  und  dadurch  eine 
Dienerin  der  Gottseligkeit  sein,  indem  sie  staunende  BUcke  in  die 
Weite  der  Welt  tun  läßt.  Die  Größeniehre  wird  als  Konstruktion 
der  Welt  in  Raum  und  Zeit  aufgefaßt.  Dazu  treten  dann  die  Übungen 
im  Unterrichten,  sowie  Erwerbstätigkeit  —  im  Sommer  Garten-  und 
Feldbau,  im  Winter  andere  Arbeiten  — ,  sie  soll  für  das  künftige 
leibliche  Beste  sowie  zur  Erholung  dienen. 

Auch  Diesterweg  (f  1866;  hat  einen  Entwurf  über  die  Ge- 
staltung der  Lehrerbildung  veröffentlicht  (1849).  Drei  Gedanken 
treten  scharf  hervor.  Zunächst  legt  er,  wie  auch  bei  der  Volksschule, 
größten  W'ert  auf  die  formale  Bildung.  Er  betont  weiter,  daß  die 
Allgemeinbildung  im  Seminar  weder  vollendet  noch  ausgebildet  werden 

Das   Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich       III.  16 


242  r)ie  Volksschullehrerbilduna. 

kann,  daß  es  vielmehr  Grundlagen  gibt,  auf  denen  der  Lehrer  später 
für  seine  Weiterbildung  zu  bauen  imstande  ist.  Auf  engste  Ver- 
bindung der  Übungsschule  mit  dem  Seminarunterricht,  für  den  im 
wesentlichen  der  Lehrplan  der  Volksschule  maßgebend  ist,  wird 
größter  Wert  gelegt,  ebenso  auf  eine  religiöse  und  vaterländische 
Erziehung.  Der  ästhetischen  Erziehung  sollen  Schreiben,  Zeichnen 
und  Musik  dienen.  In  Universitäts-  und  anderen  geeigneten  Städten 
sind  Kurse  zur  Weiterbildung  einzurichten.  Diestervveg  weist  somit 
dem  Seminar  nur  die  Grundlegung  der  Allgemeinbildung  und  die 
unmittelbare  Schulung  für  die  spätere  Praxis  sowie  die  formale  Bildung 
zu,    welche    die  Befähigung    zur  selbständigen  Weiterbildung  verleiht. 

Diese  Lehrpläne  geben  ein  Bild  von  dem  Stand  und  den  Forde- 
rungen der  Lehrerbildung.  Die  innere  Entwicklung  der  Seminare 
und  der  Volksschullehrer  von  1815 — 1848  ist  eine  gewaltige,  wohl 
die  größte,  die  sie  durchgemacht  haben.  Es  war  die  Folge  jener  im 
vollen  Umfange  jetzt  nur  noch  schwer  zu  ahnenden  Begeisterung,  die 
Pestalozzi  für  das  Volksschulwesen  bis  in  die  höchsten  Kreise  hinein 
erweckt  hatte.  So  fingen  denn  auch  die  Volksschullehrer  an,  sich  als 
besonderer  Stand  zu  fühlen;  hervorragende  Schulmänner  in  leitender 
Stellung  suchten  ihm  eine  Bildung  zu  geben,  die  umfassend  aber  auch 
in  die  Tiefe  gehend  war.  Nur  wenige  Namen  seien  genannt:  Dinter 
(t  1831),  der  Meister  der  Katechese,  weiter  der  Freiherr  Wilhelm 
von  Türk  (f  1846),  der  den  Grundsatz  verfocht,  der  Lehrer  müsse  mehr 
wissen,  als  der  Bauernknabe  zu  erfahren  habe,  der  auch  eine  Reihe 
von  Lehrbüchern  schrieb  und  von  seinem  Vermögen  ein  jetzt  noch 
bestehendes  Lehrerwaisenhaus  stiftete;  weiter  ist  hier  der  oben  er- 
wähnte Harnisch  aufzuführen,  der  mit  väterlichem  Wohlwollen  gegen 
seine  Seminaristen  die  Beziehungen  zwischen  Schule  und  Kirche  pflegte 
und  alle  aus  dem  Lehrerstande  ausschließen  wollte,  die  ,, seiner  Würde 
vorzüglich  geschadet  haben",  endlich  der  bereits  erwähnte  Di  est  er  weg 
(t  1 866),  der  „gegen  das  traurige  Vor-  und  Nachsprechen,  gegen  die 
traurige  Herrschaft  der  Autorität"  beim  Unterrichten  kämpfte,  dafür  aber 
verlangte,  ,,daß  der  Lehrer  sich  eigene  Ansichten  bilde  und  darum  alles 
näher  erwäge,  nichts  auf  Treue  und  Glauben  hinnehme,  sondern  prüfe 
und  untersuche".  Anregung  zur  Weiterbildung  gab  die  in  Preußen 
eingeführte  zweite  Lehrerprüfung;  freie  Konferenzen  und  Vereine  ent- 
standen und  entfalteten  eine  rege  Geistestätigkeit,  zu  der  auch  zahl- 
reiche neu  entstehende  pädagogische  Zeitschriften  beitrugen. 

Es  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  die  Seminare  und  der 
Volksschullehrerstand    sich    zum  Teil    sprungweise    entwickelt  hatten. 


I 


(beschichte  des  I.elirerbildungswesens.  243 

daß  man  mitunter  zu  weit  gegangen  war,  wie  es  bei  kräftigen  Vor- 
stößen oft  der  Fall  ist;  zudem  zeigte  sich  das  wohlberechtigte  Standes- 
bewußtsein mehr  als  nötig  war.  Aber  trotzdem  muß  die  Entwicklung 
als  eine  im  ganzen  gesunde  bezeichnet  werden.  Jedoch  die  Ereig- 
nisse von  1848  ließen  die  leitenden  Kreise  anders  darüber  denken: 
man  sah  nur  Schatten,  nur  Mißerfolge,  —  man  machte  den  Lehrer- 
stand und  die  Seminare  für  die  revolutionären  Ideen  verantwortlich. 
Die  Folge  hiervon  war  in  Preußen  die  Verlegung  der  Seminare 
in  kleine  Orte.  Auch  erschienen  Bestimmungen,  welche  zum  ersten 
Male,  und  dies  ist  sehr  wichtig,  das  Seminarwesen  einheitlich  ordneten: 
die  vielumstrittenen  Regulative  vom  1.,  2.  und  3.  Oktober  1854. 
Keinem  Zweifel  kann  es  unterliegen,  daß  die  Regulative  in  vielen 
Punkten  einen  wesentlichen,  die  Lehrerbildung  hart  einschnürenden 
Rückschritt  bedeuten.  Mit  Recht  ist  aber  hervorgehoben  worden, 
daß  durch  ihre  Herausgabe  weiteren  Rückschritten  ein  Halt  geboten 
und  Schlimmeres  verhütet  wurde.  Mag  auch  Inhalt  und  Sprache  der 
Regulative  heute  verurteilt  werden,  so  bleibe  nicht  unbeachtet,  daß 
sie  ein  bemerkenswertes  pädagogisches  Material  enthalten,  daß  jetzt  der 
Seminarkursus  überall  dreijährig  und  die  Übungsschule  auch  dem 
Seminar  angegUedert  wurde.  Jene  Erlasse  erfuhren  in  den  Jahren 
1859 — 1861  bedeutende  Abänderungen,  wodurch  teilweise  ihr  rück- 
schritthcher  Charakter  schwand,  blieben  aber  bis  1872  in  Geltung. 
Während  dieser  Zeit  hatten  sich  die  preußischen  Seminare  auf  64 
vermehrt. 

In  den  übrigen  deutschen  Staaten  ergingen  meist  ähnliche  Be- 
stimmungen. Jedoch  erließen  Bayern  bereits  1866  und  Württemberg 
und  Baden  1868  neue  Verordnungen  für  das  Lehrerbildungswesen. 
Für  Preußen  erschienen  am  15.  Oktober  1872  die  „Allgemeinen  Be- 
stimmungen", die  29  Jahre  ohne  wesentHche  Änderungen  in  Geltung 
bUeben.  Sollte  nach  den  Regulativen  der  Lehrer  ein  wenig  mehr 
wissen,  als  was  er  selbst  lehren  sollte,  so  glich  jetzt  der  allgemeine 
Bildungsstandpunkt  des  Seminaristen,  von  dem  Fehlen  der  Sprachen  ab- 
gesehen, wie  man  sich  auszudrücken  pflegte,  dem  eines  Obersekundaners 
einer  höheren  Lehranstalt  —  es  wurde  schließlich  auch  1 896  den  Semi- 
naren die  Berechtigung  verliehen,  das  Zeugnis  der  wissenschaftlichen  Be- 
fähigung zum  Einjährig-freiwilligen  Heeresdienst  auszustellen.  Ein  wesent- 
licher Mangel  war  bisher  das  fast  völlige  Fehlen  von  Präparanden- 
anstalten.  Die  Allgemeinen  Bestimmungen  hatten  zur  Folge,  daß  gegen- 
wärtig der  bei  weitem  größte  Teil  der  in  das  Seminar  Eintretenden 
seine    Ausbildung    nicht    mehr   in  privater  Vorbereitung,  sondern  auf 

16* 


244  Die  \'olksschiillehrerbildung. 

Präparandenanstalten  erhält.  In  dieser  Beziehung  verfuhr  die  1873 
erschienene  Seminarlehrordnung  für  das  Königreich  Sachsen  am 
durchgreifendsten  durch  Vereinigung  der  Präparandenanstalten  und 
Seminare  zu  sechsklassigen  Lehranstalten. 

Naturgemäß  können  Verordnungen  nur  eine  zeitlich  beschränkte 
Geltung  haben,  und  häufig  stellen  sie  nur  einen  Kompromiß  ent- 
gegenstehender Ansichten  dar.  Mag  man  auch  den  Allgemeinen  Be- 
stimmungen vorgeworfen  haben,  sie  wandelten  in  den  alten  Bahnen 
einer  ,, hierarchisch-feudalen  Pädagogik"  und  w^ären  zu  wenig  radikal 
vorgegangen,  so  muß  mit  allem  Nachdruck  betont  werden,  daß  sie 
durch  Rücksicht  auf  das  geschichtlich  Gewordene  eine  gesunde 
Weiterentwicklung  ermöglicht  haben.  Jedenfalls  aber  ist  es  verständ- 
lich, wenn  mit  Beginn  der  neunziger  Jahre  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts der  Ruf  nach  erweiterter  Lehrerbildung  erscholl.  Die  großen 
Fortschritte  der  Wissenschaften  hatten  auch  in  den  Volksschullehrern 
das  Verlangen  geweckt,  ihre  Ergebnisse  kennen  zu  lernen.  Ferner 
wurde  das  Bedürfnis,  Präparandenanstalt  und  Seminar  organisch  zu 
verbinden,  immer  dringender  und  die  Not\\-endigkeit  einer  Trennung 
von  Allgemein-  und  Fachbildung  nicht  mehr  abweisbar  (vergl.  S.  261  ff.). 
Schon  hatte  man  1 898  in  Bayern  und  Württemberg  Lehrpläne  aufgestellt, 
welche  jenen  Forderungen  teilweise  entgegenkamen,  als  in  Preußen  am 
1.  Juli  1901  neue  Bestimmungen  für  das  Lehrerbildungswesen  er- 
schienen. Der  größte  Fortschritt  liegt  in  dem  Satze:  ,, Der  Lehrplan 
der  Präparandenanstalt  und  der  des  Seminars  bilden  ein  organisches 
Ganze";  dadurch  wird  viel  Zeit  gewonnen,  die  Wissensgebiete  auf 
dem  Seminar  zu  erweitern.  Einige  Unterrichtsfächer  schließen  bereits 
mit  dem  vorletzten  Seminarjahr  ab,  sodaß  die  Fachausbildung  in  der 
Oberklasse  eine  gewisse  Selbständigkeit  erhält.  Das  freie  Arbeiten 
im  letzten  Seminarjahr  wird  stark  betont,  eine  Fremdsprache  ist 
obligatorisch,  ferner  sind  die  Unterrichtsziele  der  einzelnen  Lehrfächer 
ganz  außerordentlich   erweitert. 

Das  ist  die  große  Entwicklung,  die  die  Seminarbildung  von 
den  ersten  tastenden  Versuchen  im  Gothaschen  bis  zur  Gegenwart 
durchlaufen  hat. 


Die  Lehrerbildungsanstalten.  245 

ZWEITER  ABSCHNITT. 

Die  Lehrerbildungsanstalten. 

A.    Preußen. 
I.   Allgemeines. 

Das  Lehrerbildungswesen  wird  von  dem  Ministerium  der  geist- 
lichen, Unterrichts-  und  Medizinalangelegenheiten  geleitet.  Die  be- 
sondere Fürsorge  für  Seminare  und  Präparandenanstalten,  sowie  das 
Prütungswesen,  ist  den  Provinzial-Schulkollegien  übertragen,  während 
die  Regierungen  und  die  ihnen  unterstellten  Kreisschulinspektoren  die 
Weiterbildung  im  Amt  fördern.  Eine  wichtige  Tätigkeit  des 
Ministeriums  besteht  darin,  stets  für  das  Vorhandensein  der  zur  Volks- 
bildung nötigen  Lehrer  Vorkehrungen  zu  treffen.  Die  Bevölkerung 
ist  in  den  letzten  Jahrzehnten  dauernd  gewachsen,  und  damit  auch 
der  Bedarf  an  Lehrern.  Zudem  erwies  sich  die  noch  in  den  vierziger 
und  fünfziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  teilweise  übliche  private 
Vorbereitung  zum  Lehramt  als  nicht  sonderlich  nützlich.  Darum  hat 
das  Ministerium  seit  PLrlaß  der  Allgemeinen  Bestimmungen  eine 
ganze  Reihe  neuer  Seminare  eröffnet;  die  Zahl  stieg  von  64  im 
Jahre  1 872  auf  gegenwärtig  1 33.  Weitere  Neugründungen  sind  in  den 
nächsten  Jahren  zu  erwarten.  Treten  besondere  aber  vorübergehende 
Umstände  ein,  wie  eine  augenblicklich  auffallend  starke  Bevölkerungs- 
zunahme in  einem  Bezirk,  oder  vermehrte  Pensionierungen  älterer 
Lehrer,  dann  werden  an  den  Seminaren  sogenannte  Nebenkurse  ein- 
gerichtet, die  nach  Deckung  des  Bedarfs  an  Lehrern  wieder  aufhören. 
Zahlreiche  Nebenkurse  wurden  beispielsweise  eingerichtet,  als  1895 
die  Bestimmung  erging,  die  Lehrer  hätten  ihrer  Militärpflicht  statt 
10  Wochen  ein  Jahr  zu  genügen,  um  dem  dadurch  bedingten  augen- 
blicklichen Ausfall  vorzubeugen.  Außerdem  i.st  es  das  Bestreben  des 
Ministeriums,  die  Seminare  gleichmäßig  über  das  Land  zu  verteilen 
und  nicht  einen  einzelnen  Bezirk  besonders  zu  bevorzugen.  Auch  in 
den  nicht  so  stark  bevölkerten  Gegenden  finden  sich  hinreichend 
Seminare,  um  Gelegenheit  zu  geben,  den  Lehrerberuf  zu  ergreifen; 
denn  die  Möglichkeit  der  Ausbildung  ist  für  \'iele  eine  wichtige  Ver- 
anlassung, sich  ihm  zuzuwenden. 

Die  Ausbildungszeit  des  Volksschullehrers  beträgt  sechs  Jahre, 
von  denen  je  die  Hälfte  auf  Präparandenanstalt  und  Seminar  entfallen. 


246  Die  \'olksschullehreibildung. 

Sie  bilden,  wie  schon  erwähnt,  ein  organisches  Ganze  bezügHch  des 
Lehrplans,  nicht  aber  in  bezug  auf  die  äußere  Organisation,  wenn- 
gleich auch  hier  einige  Ausnahmen  bestehen. 

Die  Präparandenanstalten  sind  dreifacher  Natur,  entweder  sind 
sie  rein  staatlich,  oder  sie  werden  von  Städten  unterhalten,  oder  sie 
bestehen  als  Privatanstalten  bei  den  Seminaren.  Auch  bereiten  noch 
in  geringem  Umfange  einzelne  im  Amte  stehende  und  erfahrene 
Lehrer  Präparanden  zur  Seminaraufnahmeprüfung  vor,  wie  es  bis  zum 
Erlaß  der  Allgemeinen  Bestimmungen  die  Regel  war. 

Die  staatlichen  Präparandenanstalten  werden  von  einem  Vor- 
steher geleitet,  dem  einige  Präparandenlehrer  zur  Seite  stehen.  Ebenso 
sind  die  städtischen  Anstalten  organisiert,  zum  Teil  bekleidet  das  Amt 
der  Leitung  ein  vom  Staate  hierfür  bestimmter  Seminarlehrer.  Die 
Seminar-Präparandenanstalten  werden  von  den  betreffenden  Seminar- 
direktoren geleitet,  außerdem  sind  drei  Präparandenlehrer  angestellt, 
die  Seminarlehrer  ^erteilen  meist  auch  noch  einige  Stunden  gegen 
besondere  Entschädigung.  Für  den  Unterricht  ist  Schulgeld  zu  be- 
zahlen, bei  den  staatlichen  Anstalten  36  M.,  bei  den  privaten  meist 
100  IM.  Den  Präparanden  gewährt  der  Staat  Stipendien  je  nach  ihrer 
Würdigkeit  und  dem  Grade  ihrer  Bedürftigkeit  als  Beihilfe  zur  Be- 
schaffung von  Wohnung,  Kost  und  Unterrichtsmitteln.  Es  sind 
54  staatliche,  12  städtische  und  64  Seminar-Präparandenanstalten, 
insgesamt  also  130  vorhanden.  Die  dauernden  Ausgaben  für  das 
Präparandenwesen  seitens  des  Staates  betrugen  1  502  001  M.  im 
Rechnungsjahre  1903.  Dazu  kommen  noch  wesentliche  Summen  für 
einmalige  und  außerordentliche  Ausgaben.' 

Die  Seminare  sind,  von  verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen, 
staatlich.  Unter  staatlicher  Aufsicht  stehen  sechs  Privatseminare, 
nämlich  eins  der  evangelischen  Brüdergemeinde,  ein  bischöfliches 
(katholisches)  und  vier  jüdische.  Der  Unterricht  auf  den  staatlichen 
Seminaren  ist  unentgeltlich.  Ein  Teil  der  Seminaristen  wohnt  in  Semi- 
naren; sie  erhalten  zudem  freie  Wohnung,  Licht  und  Feuerung;  für  die 
Kost  dagegen  ist  zu  bezahlen.  Ebenso  wie  bei  den  Präparandenanstalten 
gewährt  der  Staat  den  Zöglingen  der  Seminare  Stipendien.  Dafür  müssen 
sie  sich  verpflichten,  innerhalb  von  fünf  Jahren  jede  ihnen  von  der  Be- 
hörde zugewiesene  Stelle  anzunehmen,  widrigenfalls  die  Stipendien 
zurückzuzahlen  und  1 80  M.  für  den  Unterricht  zu  erlegen  sind.  Diese 
V^erpflichtung  bestand  übrigens  schon  vor  150  Jahren  für  die  Zöglinge 
des  von  Hecker  gegründeten  Seminars. 


Die  Lehrerbilcluagsaiistalteii.  247 

Ursprünglich  lagen  die  Seminare  zumeist  in  den  Hauptstädten 
und  größeren  Orten  der  Provinzen.  Die  geistige  Strömung  jedoch, 
welche  1854  die  Regulative  zur  Folge  hatte,  sah  darin  eine  Gefahr 
für  den  Lehrerstand.  Man  glaubte,  der  Lehrer  werde  dort  seinem 
eigentHchen  Berufe,  nämlich  der  Unterweisung  des  niederen  Volkes 
zu  sehr  entzogen,  hier  träten  ihm  zuviel  Zerstreuungen  entgegen, 
hier  empfinge  er  einen  hochmütigen  Charakter,  Selbstüberhebung 
und  Standesdünkel  stelle  sich  ein.  Darum  wurden  fast  alle  derartigen 
Seminare  in  mögHchst  kleine  Orte  verlegt,  —  sehr  zum  Schaden  des 
Seminarwesens.  Den  Seminaristen  und  vor  allem  den  Seminarlehrern 
fehlte  zumeist  jede  geistige  Anregung,  sodaß  der  Unterricht  oft  in 
geistiger  Erstarrung  verlief.  Und  die  Absichten  bei  der  Verlegung 
wurden  nur  teilweise  oder  garnicht  erreicht;  denn  sehr  richtig  be- 
merkt der  Historiker  von  Treitschke:  die  jungen  Leute  gebärdeten 
sich  wie  die  sozialen  Löwen  des  Ortes!  So  liegen  denn  zahlreiche 
Seminare  Preußens  in  kleinen  Orten,  bei  den  Neugründungen  in  den 
letzten  25  Jahren  sind  jedoch  meist  Mittelstädte  berücksichtigt  worden. 
Für  diese  und  selbst  für  Großstädte  dürften  in  der  Tat  die  Interessen 
der  Lehrerbildung  am  meisten  sprechen.  Von  der  Bedeutung  des 
Ortes  der  Erziehung  wird  unten  noch  die  Rede  sein. 

Viele  der  älteren  Seminare  befinden  sich  in  alten  Schlössern 
oder  Klöstern,  die  überwiegende  Mehrzahl  ist  jetzt  allerdings  in  Neu- 
bauten untergebracht.  Es  hat  sich  ein  bestimmter  Seminargebäude- 
typus ausgebildet:  ein  langgestrecktes  Quergebäude,  an  den  Seiten 
zwei  hervortretende  Flügel.  Die  Räume  sind  als  Wohnungen  für  den 
Direktor  und  einige  Lehrer,  als  Wohnstuben,  Speisesaal,  Schlaf-  und 
Waschsäle  für  die  Seminaristen  eingerichtet.  Für  die  Unterrichts- 
zwecke sind  bestimmt  die  Aula,  Klassenräume,  Zeichen-  und  Musik- 
saal, das  physikalische  Zimmer,  Zimmer  für  naturwissenschaftliche 
Sammlungen,  für  Karten,  für  Anschauungsmittel  us\\'.,  ferner  eine 
Turnhalle,  Bibliotheks-  uud  Leseräume,  und  endlich  die  Klassen  für 
die  Cbungsschule.  Die  meisten  Seminare  besitzen  auch  eine  Brause- 
badeanstalt und,  sofern  Gelegenheit  sich  bietet,  eine  Flußschwimm- 
anstalt.   Vielfach  ist  endlich  ein  Park  oder  größerer  Garten  vorhanden. 

Die  Zahl  der  preußischen  Seminare  beträgt  jetzt  183,  davon 
sind  85  evangelisch,  44  katholisch,  4  paritätisch.  Die  dauernden  Aus- 
gaben des  Staates  hierfür  machten  (allerdings  1 2  Lehrerinnenseminare 
und  ein  mit  einem  Lehrerseminar  verbundener  Lehrerinnenkursus 
eingerechnet)  im  Rechnungsjahre  1903:  7  841050,30  M.  aus.  Dazu 
kommen  die  einmaligen  und  außerordentlichen  Ausgaben,  welche  für 


248  Die  Volksschullehrerbildung. 

Lehrer-  und  I>ehrerinnenseminare  sowie  für  Präparandenanstalten  im 
Rechnungsjahr  1903  I  717  540  M.  erforderten.  Im  Rechnungsjahre  1903 
gab  das  Ministerium  für  Lehrer-  und  Lehrerinnenbildung  6,01  ^/q  \'on 
den  dauernden,  von  den  einmaligen  und  außerordentlichen  Ausgaben 
9,56  %  seines  Gesamthaushaltes  aus. 

n.   Das  Lehrpersonal. 

Geleitet  \\ird  jedes  Seminar  von  einem  Direktor  —  ein  Teil  von 
ihnen  besitzt  den  Titel  Schulrat  — ,  ihm  zur  Seite  steht  der  Erste 
Seminarlehrer,  welcher  den  Titel  Seminaroberlehrer  führt,  sowie  5 
oder  6  Seminarlehrer. 

Man  hat  gesagt,  daß  die  Volksschullehrerbildung  einzig  von  der 
Bildung  der  Seminarlehrer  abhinge,  und  hat  als  alleinige  Lösung  jener 
seit  Jahren  schwebenden  Frage  diese  gegeben:  umfassende  wissen- 
schaftliche, künstlerische  und  pädagogische  Bildung  der  Seminar- 
lehrer! Diese  Lösung  drückt  einen  grundlegenden  Gedanken  in 
allerdings  recht  schroffer  Form  aus,  daß  es  nämlich  im  Seminar  ganz 
herv^orragend  auf  die  Lehrenden  ankommt.  Was  nutzen  alle  neuzeit- 
lich gestalteten  Lehrpläne  und  alle  vorzüglichen  Lehrmittel  und  das 
beste  Schülermaterial,  wenn  es  den  Seminarlehrern  am  nötigen 
Können,  vielleicht  auch  Wollen  fehlt.  Andererseits  vermag  ein  tüch- 
tiger Lehrer  auch  gering  veranlagte  Seminaristen  bei  einem  veralteten 
Lehrplan  und  dürftigen  Lehrmitteln  zu  höchst  beachtenswerten  Lei- 
stungen zu  führen.  Nach  zwei  Richtungen  muß  sich  die  Durchbildung 
der  Seminarlehrer  bewegen,  nach  der  pädagogischen  und  nach  der 
wissenschaftlich-künstlerischen  bezw.  technischen  Seite. 

Pädagogisch  gebildet  sein  heißt  für  den  Seminarlehrer  selbst 
ein  Erzieher  sein  und  andere  zum  L; ziehen  anleiten  zu  können. 
Keineswegs  sind  Lehrer  immer  rechte  Ei  zieher,  für  den  Seminarlehrer 
ist  es  jedoch  unerläßlich.  Alle  Forderungen,  die  an  einen  Erzieher 
gestellt  werden,  gelten  für  ihn  in  besonders  hohem  Maße,  aber  sie 
ei-weitern  sich.  Er  hat  nicht  mehr  Schüler  vor  sich,  die  noch  Kinder 
sind,  sondern  Zöglinge,  die  trotz  ihres  jugendlichen  Alters  bald  als 
Männer  vor  die  Schuljugend  treten  und  in  den  Gemeinden,  wo  sie 
wirken,  als  geachtete  Männer  dastehen  sollen.  Hier  ist  mit  den  all- 
gemeinen Erziehungsregeln  und  -mittein  nicht  mehr  viel  zu  machen, 
hier  ist  es  in  erster  Linie  ein  hervorragendes  Taktgefühl,  das  Erfolge 
erzielen  kann.  Der  Seminarlehrer  hat  im  Seminaristen  seinen  künf- 
tigen Kollegen  zu  sehen,  —  denn   mit  Stolz  darf  er  von  sich  sagen, 


Die  Lehrerbiklungsanstalteii.  249 

dal.s  seine  Arbeit  der  geistigen  und  sittlichen  Hebung  des  Volkes, 
d.  h.  der  großen  Massen,  gilt.  Der  rechte  Takt  wird  trotzdem  die 
Schranke  zu  ziehen  wissen,  die  auf  dem  Seminar  den  Lehrenden  von 
dem  Lernenden  trennt.  Nicht  minder  unerläßlich  ist  eine  reiche 
praktisch-psychologische  Erfahrung.  Eine  solche  ist  nicht  an  ein  be- 
stimmtes Lebensalter  gebunden,  die  Zahl  der  Lebens-  und  Amtsjahre 
tut  es  hier  nicht,  sondern  der  offene  BHck  für  die  Vorgänge  in  der 
Natur,  in  der  Welt,  in  der  einzelnen  Menschenseele:  hier  gilt  es, 
politische,  soziale,  wissenschaftlich -künstlerische  und  wirtschaftliche 
Ereignisse  nicht  allein  nach  ihren  Tatsachen,  vielmehr  auch  nach  ihren 
Zusammenhängen  und  Entwicklungsgängen  zu  verfolgen,  hier  sind  die 
einzelnen  Individuen  nach  ihren  Handlungen  und  Charakteren,  nach 
ihrem  Sein  und  Werden  zu  studieren.  Nicht  bloß  die  Wirklichkeit, 
sondern  auch  gerade  die  Literatur  bietet  davon  eine  Fülle  Materials. 
Das  Seminar  darf  nur  Persönlichkeiten  entlassen,  die  als  Mensch  und 
als  Lehrer  durchgebildet  sind.  Da  gilt  es  hineinzudringen  in  ver- 
schlossene Herzen,  widerwillig  sich  dem  Beruf  Widmende  für  ihn  zu 
gewinnen,  da  heißt  es  den  Prüfstein  ansetzen,  ob  hinreichend  geistige 
Kräfte  zur  Erreichung  des  Ziels  vorhanden  sind,  ob  der  Charakter 
und  die  sittliche  Befähigung  für  eine  erfolg-  und  segensreiche  Aus- 
übung des  Lehramtes  bürgen!  Es  ist  die  schwere  Aufgabe  des 
Seminarlehrers,  seine  Zöglinge  für  einen  der  verantwortungsvollsten 
Berufe  zu  erziehen,  er  muß  es  verstehen,  Freudigkeit  am  Amt  und 
Zufriedenheit  mit  einer  nicht  gerade  glänzenden  äußeren  Lage  zu 
fördern  und  zu  pflegen. 

Hierauf  beschränkt  sich  aber  die  pädagogische  Bildung  des 
Seminarlehrers  nicht,  er  ist  nicht  nur  Erzieher,  sondern  auch  Lehrer. 
V^ielfach  ist  bezüglich  der  höheren  Lehranstalten  und  Univ^ersitäten 
der  Vorwurf  erhoben  worden,  daß,  wiewohl  dort  hervorragend  wissen- 
schaftliche Männer  tätig  seien,  mancher  nicht  die  Gabe  besäße,  sein 
Wissen  fruchtbar  weiter  zu  geben.  Ob  dies  zutreffend  ist,  soll  nicht 
untersucht  werden.  Das  steht  indes  fest,  ein  umfassendes  Eigenwissen 
schließt  noch  nicht  die  Fähigkeit  in  sich,  es  mitzuteilen.  Darum 
wird  mit  Recht  Lehrfähigkeit  vom  Seminarlehrer  gefordert;  nicht 
wissenschaftliches  Arbeiten  bleibt  seine  Berufsaufgabe,  so  fördernd 
und  wünschenswert  jenes  für  das  Amt  auch  ist,  er  hat  zuerst  Lehrer, 
und  wie  oben  schon  ausgeführt,  Erzieher  zu  sein!  Bereitet  es 
Schwierigkeiten,  anderen  Wissen  zu  geben,  so  mehren  sich  die  Hinder- 
nisse, andere  zum  Unterrichten  fähig  zu  machen.  Das  bildet  aber 
eine  Spezialaufgabe,    die  für  den  Seminarlehrer   unerläßlich,    ohne  die 


250  Die  Volksschiillehrerbildung. 

eine  noch  so  erfreuliche  Erzieher-  und  Lehrfähigkeit  für  den  Seminar- 
dienst ziemhch  wertlos  ist. 

Schon  lange  wird  bezüglich  der  wissenschaftlich-künstlerischen 
Durchbildung  der  Seminarlehrer  die  Frage  erörtert,  ob  sich  für  die 
Seminare  das  Fachlehrersystem  empfiehlt  oder  nicht.  Im  Zeichnen, 
Turnen  und  in  der  Musik  wird  eine  Sonderausbildung  verlangt.  In 
den  anderen  Fächern  muß  nach  dem  jetzt  üblichen  Verfahren  jeder 
Seminarlehrer  unterrichten  können  und  keineswegs  ist  es  eine  Selten- 
heit, daß  eine  Reihe  von  ihnen  tatsächlich  bereits  alle  Fächer  ,, durch- 
unterrichtet" hat.  Früher  war  dies  sehr  wohl  erfolgreich  möghch ;  bei 
den  hohen  Zielen  der  neueren  Lehrpläne  mehren  sich  jedoch  erheb- 
lich die  Bedenken.  Daß  jemand  alle  Wissensfächer  des  Seminars 
völlig  beherrscht,  muß  als  ausgeschlossen  gelten.  Je  nach  Neigung 
und  amtlicher  Veranlassung  wird  sich  jeder  in  ein  oder  mehrere  Fächer 
vertiefen,  wird  sich  auch  in  allen  Seminarfächern  das  unbedingte 
Wissen  aneignen  können,  aber  von  einer  Durchbildung  und  Durch- 
dringung kann  nur  in  den  Spezialfächern  die  Rede  sein.  Jedoch  sollte 
nicht  verkannt  werden,  daß  in  der  nicht  leicht  durchzuführenden 
Forderung,  ein  Seminarlehrer  müsse  in  allen  Fächern  unterrichten 
können,  ein  recht  beherzigenswerter  Gedanke  liegt.  Gegenüber  dem 
Spezialistentum  in  der  wissenschaftlichen  Forschung  ist  dringend  eine 
mehr  universale  Bildung,  ein  harmonisches  Gesamtwissen  not\\'endig. 
Die  Gefahr,  dies  zu  verlieren,  ist  beim  Fachlehrersystem  stark  vor- 
handen, namendich  bei  scharfer  Trennung  der  Geistes-  und  Natur- 
wissenschaften. 

Die  Vorbildung  der  am  Seminar  Unterrichtenden  ist  eine  drei- 
fache, entweder  nur  auf  der  Universität,  oder  nur  auf  dem  Seminar, 
oder  auf  beiden.  Die  Lehrerbildungsanstalten  wurden  im  18.  Jahr- 
hundert und  im  19.  bis  vor  etwa  zwei  Jahrzehnten  fast  ausnahmslos 
von  Theologen  geleitet.  Auch  die  Lehrer  hatten  im  1 8.  Jahrhundert 
zumeist  eine  akademische  Bildung.  Erst  mit  dem  Aufschwung  des 
Seminarwesens  seit  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  war  es  möglich,  auch 
tüchtige  Volksschullehrer  als  Lehrerbildner  anzustellen.  Nicht  selten 
treten  aber  auch  Volksschullehrer  in  den  Seminardienst,  die  sich  nach- 
träglich das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums  erworben  und  darauf 
studiert  haben.  Als  Vorbedingung  zur  Übernahme  einer  Stellung 
am  Seminar  ist  die  Ablegung  der  Alittelschul-  und  der  Rektorprüfung 
notwendig. 

Seit  zwei  Jahrzehnten  haben  von  Akademikern  außer  den  Theo- 
logen   auch   Historiker,    Philologen,    Mathematiker    und    Naturwissen- 


Die  LehrerhiUkingsanslalten.  251 

schaftler  Anstelluni^  im  Seminardienst  gefunden.  Die  Frage,  welches 
denn  die  rechte  Vorbildung  eines  Seminarlehrers  sei,  wird  schon  seit 
langem  erörtert.  Zwei  Richtungen  stehen  teilweise  unvermittelt 
gegenüber.  Auf  der  einen  Seite  wird  behauptet,  ein  Volksschul- 
lehrer, der  tüchtig  weiter  gearbeitet  habe,  könne  der  Stellung  voll- 
kommen genügen,  sogar  die  Ablegung  der  Mittelschul-  und  der 
Rektorprüfung  sei  überflüssig,  —  fast  alle  Bundesstaaten  außer  Preußen 
verzichteten  darauf.  Dann  ist  andererseits  die  Frage  der  Vorbildung 
der  Seminarlehrer  in  engen  Zusammenhang  mit  der  Forderung  des 
Universitätsstudiums  der  Lehrer  gebracht  w^orden.  Wohl  besteht  die 
Tatsache,  daß  die  Akademiker  nicht  immer  die  volle  pädagogische 
und  methodische  Schulung  besaßen,  welche  das  Seminar  erfordert, 
während  den  seminaristisch  gebildeten  Lehrern  teilweise  die  wissen- 
schaftliche Vertiefung  fehlte.  Am  glücklichsten  erscheinen  die  semi- 
narisch und  zugleich  akademisch  Vorgebildeten. 

Auf  jeden  Fall  fordert  der  Seminarunterricht  eine  Reihe  solcher 
Kräfte,  die  eine  seminarische  Schulung  besitzen,  ebenso  bleibt  es  aus- 
geschlossen, das  akademische  Moment  zu  entbehren.  Keineswegs  ist 
es  aber  notwendig,  daß  beides  in  einer  Person  vereinigt  sei.  Die 
bisherige  gemeinsame  Wirksamkeit  von  Akademikern  und  Seminarikern 
hat  sich  für  eine  gesunde  Entwicklung  des  Lehrerbildungswesens  als 
brauchbar  erwiesen. 

Die  Notwendigkeit  einer  umfassenden  Bildung  für  Seminarlehrer  ist 
auch  von  selten  des  Ministeriums  anerkannt  worden.  Seit  1897  ver- 
anstaltet es  nämlich  in  Berlin  wissenschaftliche  Fortbildungskurse,  die 
erst  allgemein  der  Weiterbildung  der  Volksschullehrer,  jetzt  aber  zur 
Erlangung  tüchtiger  Seminarlehrer  bestimmt  sind.  Der  Zweck  des 
Kursus  ist,  wie  sein  Name  ausdrücklich  besagt,  eine  wissenschaftliche 
Behandlung  der  gebotenen  Gegenstände  zu  geben.  Zugleich  sollen 
auch  die  zahlreichen  Bildungsmittel  Berlins  erschlossen  werden,  wie 
Museen,  Sammlungen,  Einrichtungen  volkswirtschaftlicher,  gesundheit- 
licher, sozialer  und  humanitärer  Art.  Diesem  Zwecke  dienen  sowohl 
Vorlesungen  als  auch  Kolloquien  und  besondere,  den  Teilnehmern 
am  Kursus  vorbehaltene  Handbibliotheken  für  die  einzelnen  zur  Be- 
handlung kommenden  Fächer. 

Jeder  hat  an  folgenden  Vorlesungen  teilzunehmen :  i .  Pädagogik 
und  Philosophie,  2.  deutsche  Sprache  und  Literatur,  3.  Kultur-  und 
Kunstgeschichte,  4.  Hygiene,  5.  Volkswirtschaftslehre.  Als  wahlfreie 
Fächer  werden  Vorlesungen  gehalten  über  1 .  Mathematik,  2.  Geo- 
graphie, 3.  Physik,  4.  Chemie,  5.  Zoologie,  6.  Physiologie  der  Sprache 


252  Die  Volksschullehrerbildung. 

und  Stimme,  7.  Schulhygiene,  8.  Geschichte,  9.  Französisch, 
1 0.  Englisch,  1 1 .  Wohlfahrtskunde.  Dozenten  an  diesem  Kursus  sind 
höhere  Schulbeamte  und  Universitätslehrer;  er  dauert  ein  Jahr  und 
umfaßt  etwa  30  Hörer,  die  zumeist  schon  dem  Seminar-  oder 
Präparandenlehrerberuf  angehören  und  sich  zu  mindestens  achtjährigem 
Seminardienst  verpflichten  müssen.  Gebühren  sind  nicht  zu  zahlen; 
vielmehr  werden  noch  Stipendien  für  Bestreitung  der  Aufenthalts- 
kosten in  Berlin   gewährt. 

Die  Einrichtung  des  Kursus  ist  vielfach  angegriften  worden, 
man  verlangt  dafür  Universitätsstudium.  Es  muß  jedoch  beachtet 
werden  —  und  hervorragende,  besonnene  Pädagogen  aus  der  V^olks- 
schuUehrerschaft  stimmen  dem  zu,  —  daß  die  Entscheidung  über  die 
Frage  des  Universitätsstudiums  der  Lehrer  noch  lange  nicht  spruchreif  ist. 
Zudem  nehmen  die  Universitäten  bisher  gar  nicht  Rücksicht  auf  die 
Bedürfnisse  des  Seminars.  Es  handelt  sich  bei  diesem  Kursus  auch 
garnicht  um  eine  Ausbildung,  sondern  um  Fortbildung.  Durch  äußere 
vorläufig  nicht  zu  beseitigende  Gründe  ist  es  nicht  möglich,  für  diese 
Ausbildung  mehr  als  ein  Jahr  zu  gewähren;  darum  müssen  Vor- 
lesungen vorhanden  sein,  welche  die  gegebene  kurze  Frist  gründlichst 
ausnutzen.  Technik,  Landwirtschaft,  Forst-  und  Bergwesen  haben 
sich  von  der  Universität  losgelöst  und  besitzen  eigene  Hochschulen, 
da  jene  zu  sehr  überlastet  würden.  In  ähnlicher  Weise  haben  die 
wissenschafthchen  Fortbildungskurse  ihre  Berechtigung.  Unbenommen 
bleibt  es  ja  den  Kursusteilnehmern,  sofern  es  die  Zeit  erlaubt, 
Universitätsvorlesungen  anzunehmen,  da  jeder  Volksschullehrer  die 
Berechtigung  hat,  sich  als  Universitätshörer  einschreiben  zu  lassen. 
So  lange  ihnen  aber  nicht  das  Universitätsstudium  mit  der  Berech- 
tigung zur  Ablegung  der  dieses  Studium  voraussetzenden  Prüfungen 
offensteht,  sind  diese  Kurse  unentbehrlich.  Ob  sie  sich  zu  einer 
Lehrerakademie  entwickeln  werden,  ob  es  vorteilhaft  ist,  Sonder- 
vorlesungen für  künftige  Seminarlehrer  an  den  Universitäten  einzu- 
richten, wird  in  Lehrerkreisen  vielfach  erörtert.  Nur  das  steht  fest, 
die  Zukunft  fordert  für  die  Seminarlehrer  künftig  eine  Bildung,  die 
unmittelbar,  oder  als  Fortbildungskursus  bezw.  Akademie  mittelbar 
auf  die  Universität  zurückgeht. 

Für  den  Unterricht  in  den  technischen,  eigentlich  künstlerischen 
Fächern,  ist  eine  besondere  Vorbildung  nötig.  Zur  Erteilung  des 
Turnunterrichts  wird  das  Bestehen  einer  besonderen  Turnlehrer- 
prüfung vorgeschrieben.  Der  Seminarmusiklehrer,  der  weder  die 
AlittelschuUehrer-    noch    die  Rektorprüfung    abzulegen    braucht,    muß 


Die  Lehrerbildungsanstalten.  253 

auf  dem  Königlichen  Institut  für  Kirchenmusik  in  Berlin  mindestens 
ein  Jahr  studiert  haben.  Ein  Teil  der  Seminarlehrer  hat  eines  der  mit 
den  Königlichen  Kunstschulen  verbundenen  Zeichenlehrerseminare 
besucht  und  die  Zeichenlehrerprüfung  abgelegt.  Für  die,  bei  denen 
dies  nicht  zutrifft,  sind  seit  einigen  Jahren  an  der  Königlichen  Kunst- 
schule in  Berlin  fünfmonatliche  Zeichenkurse  eingerichtet.  Und  zur 
Ausbildung  für  den  landwirtschaftlichen  Unterricht  an  den  Lehrer- 
seminaren finden  Informationskurse  an  Landwirtschaftsschulen  statt. 
Der  Besuch  all  dieser  Kurse  ist  unentgeltlich;  der  Staat  gewährt 
sogar  noch  Beihilfen  zu  den  Aufenthaltskosten. 

Endlich  sei  auch  der  Seminarreisen  gedacht.  Etwa  alle  fünf 
Jahre  steht  es  jedem  Seminarlehrer  frei,  auf  14  Tage  unter  Ge- 
währung der  Reisekosten  drei  bis  vier  Seminare  zu  besuchen.  Der 
Zweck  ist,  den  Unterrichtsbetrieb  anderer  Seminare  kennen  zu 
lernen  und  daraus  Anregungen  zu  empfangen.  Vielfach  werden  diese 
Seminarreisen  als  Gelegenheit  benutzt,  Land  und  Leute  kennen  zu 
lernen.  Und  dies  ist  für  den  Seminarunterricht  mindestens  ebenso 
wichtig  als  etwaige  pädagogische  Anregung.  Der  Besuch  von  Museen, 
Sammlungen  usw.  bringt  dem  Seminarlehrer  und  durch  ihn  den 
Seminaristen  entschieden  ebenso  große  Vorteile  als  der  alleinige 
Besuch  des  Seminarunterrichts.  Auch  wenn  Seminarorte  in  land- 
schaftlich, geschichtlich  oder  kulturell  bedeutsamen  Gegenden  auf- 
gesucht \\erden,  so  trägt  das   reichliche  Früchte. 

Die  Seminardirektoren  sind  meist  Akademiker,  von  den  Ober- 
lehrern ist  etwa  je  die  Hälfte  akademisch  oder  seminarisch  gebildet, 
während  bei  den  ordentlichen  Seminarlehrern  das  akademische  Element 
wesentlich  in  der  Minderzahl  ist,  und  die  Seminariker  vorherrschen. 
Die  in  den  Seminardienst  eintretenden  Akademiker  bleiben  meist  nur 
wenige  Jahre  in  der  Stellung  eines  ordentlichen  Seminarlehrers;  sie 
werden  sodann  Oberlehrer,  um  wieder  nach  einigen  Jahren  das  Amt 
eines  Seminardirektors  zu  erhalten  oder  als  Kreisschulinspektor  zur 
Schulvenvaltung  überzugehen.  Von  beiden  Ämtern  aus  steht  die  Be- 
förderung zum  Regierungs-  und  Schulrat  bei  den  Königlichen  Re- 
gierungen, sodann  zum  Provinzialschulrat  in  den  Königlichen  Provinzial- 
schulkoUegien  offen. 

Für  die  Lehrer  an  Präparandenanstalten  wird  bisher  keine 
besondere  Prüfung,  außer  der  2.  Lehrerprüfung,  verlangt.  Doch 
erhebt  man  vielfach  die  Forderung,  daß  nur  solche,  welche  die 
Mittelschullehrerprüfung  abgelegt  haben,  angestellt  werden.  Zumeist 
widmen    sich    recht   jugendliche    Lehrkräfte    dem    Präparandendienst. 


254  r)ie  Volksschulleluerbilduns;. 

Selten  hat  sich  das  als  ein  Nachteil  erwiesen,  da  es  zumeist  lern- 
und  arbeitsfreudige  Persönlichkeiten  sind,  die  später  in  den  Seminar- 
dienst eintreten  wollen  und  sich  darum  auf  die  hierfür  nötigen 
Prüfungen  vorbereiten.  Dies  ist  ein  entschiedener  Vorzug,  da  die 
Präparandenanstalten  gegenüber  den  Seminaren,  wie  noch  später 
gezeigt  werden  wird,  hauptsächlich  den  Charakter  von  Lernanstalten 
tragen.  Die  Forderung  der  Mittelschulprüfung  wird  sich  auf  die 
Dauer  allerdings  nicht  abweisen  lassen. 

Zum  Schluß  dieser  Ausführung  über  das  Lehrpersonal  der 
Lehrerbildungsanstalten  sei  noch  die  Frage  gestellt,  was  soll  der 
Seminarlehrer  seinen  Zöglingen  an  Wissen  geben?  Alles,  was  er 
selbst  weiß!  Dieser  Satz  mag  recht  absurd  klingen,  und  doch  besteht 
er  zu  Recht!  Die  Zeiten  sind  noch  garnicht  solange  vorüber,  wo 
mancher  Seminarlehrer  glaubte,  daß  ganz  bestimmte  Grenzen  der 
Wissensmitteilung  an  die  Seminaristen  gezogen  seien,  daß  dadurch 
die  eigene  Autorität  (und  vielleicht  auch  Unfehlbarkeit)  am  sichersten 
gewahrt  bliebe,  wenn  man  sich  selbst  ein  höheres  Wissen  vorbehielte. 
Und  manche  Gesellschaftskreise,  welche  eine  Hebung  der  Volks- 
bildung für  ihre  Interessen  schädlich  halten,  fordern  often  eine 
möglichste  Beschränkung  des  Seminarwissens.  Wie  soll  aber  der 
Seminarlehrer  verfahren?  Die  neuen  Lehrpläne  weisen  ihm  den  Weg. 
Die  Zöglinge  sollen  in  der  Oberklasse  zum  ,, freien  Arbeiten" 
angehalten  werden.  Nur  ein  Bruchteil  des  Stoffes  vermag  in  der 
Unterrichtsstunde  durchgenommen  zu  werden,  da  muß  der  Lehrer 
verstehen,  Anregung  zum  selbständigen  Arbeiten  zu  geben  —  und 
auf  diese  Art  gibt  dann  der  Seminarlehrer  den  Seminaristen  sein 
ganzes  Wissen!  Versteht  er,  seine  Schüler  für  ihr  Amt,  aber  auch 
für  Wissenschaft  und  Kunst  anzuregen,  nennt  er  ihnen  die  nötigen 
Hilfsmittel,  vor  allem  Bücher,  die  für  eine  planvolle  Vertiefung  nötig 
sind,  antwortet  er  auf  Fragen,  die  an  ihn  gerichtet  werden,  soweit  es 
in  seinen  Kräften  steht  —  dann  ist  er  ein  wahrer  Lehrer.  Sehen  in 
ihm,  dem  Erzieher,  aber  seine  Zöglinge  einen  väterlichen  Freund,  so 
hat  er  seine  Aufgabe  als  Seminarlehrer  erfüllt!  Ihm  wird  der  Dank 
derer  folgen,  denen  er  Freund  und  Lehrer  geworden  ist.  Mit  Stolz 
werden  sie  ihn  als  ihren  Führer  in  das  schwere  und  \erantwortungs- 
reiche  Schulamt  bekennen.  Ihm  gelten  dann  gleiche  Gefühle  und 
Worte,  wie  .sie  vor  20  Jahren  der  Dichter  Paul  Heyse  einem  greisen 
Lehrer  widmete: 

,,Wie  es  keiner  je  vergaß, 
Der  zu  deinen  Füßen  saß!" 


Die  T.ehrerbildungsanstalten.  255 


m.  Die  Erziehung  der  Seminaristen. 

1.  Die  Erziehung  durch  Ort  und  Wohnung. 

Der  Nationalökonom  Gustav  Schmoller  schreibt:  „Man  hat  schon 
gesagt,  der  Mensch  sei  das,  was  er  esse;  jedenfalls  richtiger  ist  es  zu 
sagen,  er  sei  das,  was  ihn  seine  Wohnung  werden  lasse."  Und  so- 
dann führt  er  den  Nachweis,  wie  jene  aufs  äußerste  überfüllten 
Wohnungen  der  Großstädte  einer  der  schlimmsten  sozialen  und 
sittlichen  Schäden  sei.  Damit  ist  der  ungeheure  erziehliche  Einfluß 
\on  Ort  und  Wohnung  auf  den  Menschen  anerkannt. 

Auch  in  der  Erziehung  der  Seminaristen  und  Präparanden  spielt 
()rt  und  Wohnung  eine  große  Rolle,  Die  Forderungen,  welche  die 
Gegenwart  an  die  Lehrerbildung  stellt,  bedingen  einen  an  Bildungs- 
mitteln reichen  Ort,  nicht  aber  kommt  es  in  erster  Linie  auf  Größe 
und  Einwohnerzahl  an.  Wohl  bietet  das  städtische  Leben  und  Treiben 
einen  wichtigen  Erziehungsfaktor,  hier  wird  der  Blick  für  das  soziale 
Leben  geschärft.  Ein  offenes  Auge  vermag  dort  Lebenserfahrungen 
zu  sammeln,  hier  erhält  der  angehende  Volksbildner  einen  weiteren 
Blick  für  seinen  Beruf,  für  seine  nationalen  und  kulturellen  Aufgaben, 
da  vermag  er  sich  die  geistige  und  sittliche  Freiheit  und  Selbst- 
beherrschung zu  erwerben,  die  ihn  vor  der  großen  Gefahr  hindert, 
wenn  ihn  sein  Amt  in  ein  einsames  Dorf  führt,  daselbst  geistig  zu 
verkümmern  oder,  wie  man  es  nennt,  zu  verbauern. 

Aber  ausschlaggebend  bleiben  doch  die  geistigen  Bildungsmittel, 
welche  über  den  erziehlichen  Wert  eines  Seminarortes  entscheiden, 
und  die  werden  allerdings  mehr  in  den  mittleren  und  größeren  Städten 
vorhanden  sein;  darum  wurde  auch  bereits  oben  bemerkt,  daß  diesen  bei 
Neugründungen  von  Seminaren  meist  der  Vorzug  gegeben  wird.  Indes 
kommt  es  garnicht  darauf  an,  dals  die  Gegenstände  der  Geschichte, 
Kunst  und  Natur  fein  säuberlich  geordnet  in  Kästen  und  Schränken 
liegen.  Es  gilt  vielmehr,  das  Auge  zu  schärfen  und  einmal  sehen  zu 
lernen,  was  der  Ort  und  seine  Umgebung  bietet.  Oft  wird  entdeckt 
werden,  welche  Fülle  von  Anschauungsmaterial  vorhanden  ist  —  man 
muß  es  nur  zu  finden  und  zu  erkennen  wissen.  Dann  wird  sich  zeigen, 
wie  gerade  im  kleinen  und  kleinsten  sich  die  großen  Gesetze  der 
Geschichte,  Kunst  und  Natur  widerspiegein.  Verstehen  die  Seminar- 
lehrer, ihre  Seminaristen  sehen  zu  lehren,  so  kann  selbst  ein  kleiner 
Ort  unter  Umständen  von  großem  Segen  für  die  Lehrerbildung  sein. 
Aber  eine  Kleinstadt  hat  auch  entschieden  ganz   bestimmte  Vorzüge. 


256  Di^  Volkäschullehrerbildung. 

\'iel  Gelegenheit  zur  Ablenkung  von  ernster  Arbeit  ist  nicht  vor- 
handen, die  gesundheitlichen  Verhältnisse  sind  meist  weit  besser  als 
in  der  Großstadt,  Bei  geschickter  Leitung  gelingt  es  auch  hier, 
Anregungen  zu  selbständigem  Arbeiten  zu  geben  und  vor  allem  das 
Verlangen  zu  nähren,  die  Bildungsmittel  der  Großstadt  sich  später  in 
ernstem  Ringen  nutzbar  zu  machen.  Nicht  zu  leugnen  ist  auch  die 
Tatsache,  daß  der  Seminarist,  der  sich  in  der  Kleinstadt  viele  geistige 
Genüsse  versagen  mußte,  oft  viel  gewandter  und  für  die  eigene 
Individualität  vorteilhafter  die  Sammlungen  und  Büchereien  der 
Bildungsmittelpunkte  ausnutzt,  als  der  an  diesen  Orten  Ansässige,  der 
garnicht  selten  kein  Bedürfnis  kennt,  sie  sich  dienstbar  zu  machen. 
Trotzdem  bleibt  es  wünschenswert,  auf  jeden  Fall  die  Nachteile  der 
Kleinstadt  durch  Reisen  der  Seminaristen  einigermaßen  auszugleichen. 

Neben  dem  Seminarort  spielt  aber  die  Wohnung  eine  wichtige 
Rolle  in  der  Erziehung  der  künftigen  Lehrerbildner.  Zweierlei  kommt 
hierfür  in  Betracht:  Internat  und  Externat.  Unter  Internat  versteht 
man  das  Wohnen  und  die  Beköstigung  innerhalb  des  Seminargebäudes, 
unter  Externat  außerhalb  desselben.  Es  handelt  sich  hier  —  päda- 
gogisch ausgedrückt  —  um  das  Problem  der  Institutserziehung.  Das 
18.  Jahrhundert,  hauptsächlich  die  Philanthropen,  haben  dieser  allge- 
mein die  Wege  geöffnet  und  ihre  Vorzüge  in'  einem  besonders 
günstigen  Lichte  erscheinen  lassen;  das  Interesse,  das  sich  durch 
Pestalozzi  veranlaßt,  den  Waisen  und  Bedürftigen  zuwandte,  trug  auch 
dazu  bei.  Die  Institutserziehung  erschien  daher  bei  Neuordnung  des 
Seminarwesens  nach  den  Befreiungskriegen  als  selbstverständlich  zur 
Ausbildung  der  Volksschullehrer.  Dazu  kam  die  Notwendigkeit,  den 
zumeist  aus  recht  bescheidenen  Verhältnissen  stammenden  Seminaristen' 
die  Erreichung  des  Lehrerberufes  zu  erleichtern.  Den  Unterricht  bot 
der  Staat  unentgeltlich.  Es  handelte  sich  darum  für  die  Unterkunft 
zu  sorgen.     So  entstand  das  Internat. 

Die  gesamte  geistige  und  soziale  Entwicklung  ließ  allmählich 
das  Internat  als  ,, unmodern"  erscheinen.  W^as  immer  eine  mehr 
wirtschaftliche  Erleichterung  für  die  künftigen  Lehrer  gewesen  war, 
wurde  besonders  in  den  Zeiten  nach  1848  als  ein  unentbehrliches  und 
nachdrücklich  zu  handhabendes  Erziehungsmittel  betrachtet,  um  Be- 
scheidenheit, Demut  und  vor  allem  unbedingte  Unterordnung  gegen 
die  vorgesetzten  Organe  zu  erzwingen.  Die  Forderung  nach  größerer 
Freiheit  der  Seminaristen,  nach  einem  Externat  wurde  im  Laufe  der 
Jahre  immer  lauter,  und,  wie  es  leicht  erklärlich  ist,  verwarf  man 
cfleich    völlisr   das    Internat.      Es    gilt  aber    unbefangen    die  Vor-  und 


Die  Lelirerbilduiii^sanstalteii.  257 

Nachteile  des  Internats  und  Externats  für  die  künfti^^en  Volksschul- 
lehrer zu  erwägen.  Dabei  ist  scharf  zu  scheiden  zwischen  Präparanden 
und  Seminaristen,  zwischen  pädagogischen  und  wirtschaftlichen 
Gründen. 

Der  Präparand  tritt  mit  dem  14,  oder  15.  Lebensjahre  in  eine 
Präparandenanstalt  ein.  Selten  befindet  sie  sich  an  seinem  Heimats- 
ort, er  muß  daher  in  den  meisten  Fällen  das  Elternhaus  und 
dessen  erziehenden  PZinfluf?.  entbehren,  wo  er  ihn  noch  nicht  ent- 
behren kann.  Was  soll  nun  dafür  eintreten?  Worin  soll  die  Familien- 
erziehung  einen  Ersatz  finden?  Da  erscheint  es  selbstverständlich, 
diese  fortzusetzen  und  den  Präparanden  in  einer  Familie  unterzu- 
bringen. Ein  pädagogischer  und  ein  wirtschaftlicher  Grund  stellen 
dem  Bedenken  entgegen,  —  werden  sich  auch  geeignete  Familien 
finden  —  und  werden  die  Eltern  die  nicht  unerheblichen  Pensions- 
kosten tragen  können. 

Die  Gründe,  weshalb  solche  jungen  Leute  von  Familien  in 
Pension  genommen  werden,  sind  fast  ausschließlich  in  der  Notwendig- 
keit des  Gelderwerbes  zu  suchen.  Wohlhabende  werden  selten  dazu 
bereit  sein,  und  wegen  der  vielen  Umständlichkeiten  und  Mühen  ent- 
schließen sich  Familien,  die  den  gebildeten  Kreisen  angehören,  nicht 
gern  dafür.  Leicht  liegt  aber  die  Gefahr  vor,  daß  die  Bildungs- 
sphäre der  sogenannten  Pensionseltern  für  den  Präparanden  unge- 
eignet ist,  daß  aber  auch  Wohnung  und  Kost  minderwertig  sind. 
Dadurch  kann  aber  die  körperliche  und  geistige  Ausbildung  des 
Präparanden  leiden,  und  höchst  ungünstige  erziehliche  Einflüsse  ver- 
mögen sich  geltend  zu  machen.  Ferner  ist  die  Aufsicht  seitens  der 
Lehrer  über  die  Präparanden  recht  schwierig:  .S  bis  4  Präparanden- 
lehrer  sind  außerstande,  etwa  100  Zöglinge,  selb.st  wenn  sie  nur  auf 
15  bis  20  Pensionen  verteilt  sind,  hinreichend  zu  inspizieren.  Auch 
entschließen  sich  die  Pensionseltern  nur  zu  oft,  ihren  Pfleglingen 
unerlaubte  Dinge  zu  gewähren,  wie  Rauchen,  Nichtinnehalten  der 
Arbeitsstunden,  spätes  Zubettegehen,  Urlaubsüberschreitungen  und 
dergleichen,  damit  keine  Beschwerden  über  mangelhaftes  Essen  usw. 
erfolgen.  Auch  stellt  die  Pension  in  Familien  sich  wesentlich  teurer 
als  die  Kosten  im  Internat.  Andererseits  gewährt  dieses  dem  Präpa- 
randen weit  bessere  Aufsicht,  und  in  ihrem  Lebensalter  brauchen  sie 
diese  recht  dringend.  Das  gemeinsame  Leben  mit  einer  genau  ge- 
regelten Hausordnung,  die  auch  für  das  Flxternat  besteht,  sich 
dort  aber  schwer  durchführen  läßt,  bedeutet  ein  wichtiges  Erziehungs- 
element,   das    bei    manchem    verwöhnten     Muttersöhnchen     und     bei 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     HI.  17 


258  Die   N'olksschullehrerbildung. 

unverträglichen  oder  zur  Widersetzlichkeit  neigenden  Elementen  recht 
angebracht  ist. 

Bei  Erwägung  der  pädagogischen  und  wirtschaftlichen  Gründe 
und  Gegengründe  dürfte  die  Internatserziehung  den  Präparanden  nur 
zu  empfehlen  sein.  Bisher  findet  sich  allerdings  das  Präparanden- 
internat  nicht  häufig.  Bei  den  privaten  Anstalten  fehlt  meist  das 
nötige  Kapital,  ein  solches  einzurichten,  bei  den  städtischen  An- 
stalten wollen  die  Ortsbehörden  ihren  Einwohnern  durch  das  Ex- 
ternat  die  Möglichkeit  des  Gelderwerbs  geben,  und  die  gleiche  Ab- 
sicht liegt  vielfach  bei  den  staatlichen  Anstalten  vor.  Wenn  sich 
geeignete  Familien,  besonders  Lehrerfamilien,  finden,  so  liel^e  sich 
auch  das  Internat  entbehren. 

Wesentlich  anders  verhält  es  sich  mit  den  Seminaristen,  die  in 
einem  Alter  von  17  bis  22  Jahren  stehen.  Sie  sollen  nach  drei- 
jähriger Ausbildung  eine  selbständige  Stellung  einnehmen,  und  da^ 
bedeutet  eine  außerordentlich  schwierige  Aufgabe  für  einen  Zwanzig- 
bis  Zweiundzwanzigjährigen.  Deshalb  muß  die  Erziehung  im  Seminar 
besondere  Wege  einschlagen,  damit  der  junge  Lehrer  seine  Selb- 
ständigkeit recht  gebraucht.  Bei  zu  strenger  Erziehung  —  das  ist 
eine  alte  Erfahrung  —  zeigt  sich  leicht  die  Möglichkeit,  nach  er- 
langter Freiheit,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  über  die  Stränge  zu 
schlagen.  Dem  jungen  Lehrer  droht  diese  Gefahr  besonders  stark. 
Nach  jahrelanger  oft  strenger  Ausbildung  wird  er  in  einem  recht 
jugendlichen  Alter,  in  dem  sich  seine  meisten  Altersgenossen  noch 
längere  Zeit  für  den  Lebensberuf  vorbereiten,  mit  einem  Amte  be- 
traut, das  auf  der  einen  Seite  große  Pflichttreue  und  Arbeitskraft, 
auf  der  andern  aber  Selbständigkeit  und  Takt  fordert.  Wo  ihm,  wie 
namentlich  auf  dem  Dorfe,  seine  Vorgesetzten  nur  selten  an  der 
Seite  stehen,  muß  er  gewissenhaft  und  besonders  auch  recht  pünktlich 
seine  Pflicht  tun.  F.r  hat  den  gar  nicht  selten  auf  den  Lehrerberuf 
verächtlich  herabsehenden  Stadt-  und  Landbewohnern  das  nötige 
Selbst-  und  Standesbewußtsein,  aber  gepaart  mit  Zurückhaltung  und 
ohne  Überhebung  zu  zeigen;  er  muß  es  aber  auch  verstehen,  sich 
mit  Bescheidenheit  bewußt  zu  bleiben,  daß  ihm  noch  sehr  viel  an 
seiner  Ausbildung  fehlt,  selbst  wenn  er  an  seinem  Wohnort  der  erste 
in  bezug  auf  Wissen  ist.  Eine  große  Freiheit  gibt  ihm  das  neue 
Amt,  wie  er  sie  bisher  noch  nicht  kannte.  Wie  leicht  ist  da  ein 
Mißbraych  dieser  Freiheit,  ein  Verkennen  seiner  Stellung  möglich! 
Darum  hat  das  Seminar  hier  mit  seinen  Erziehung.sfaktoren  einzu- 
setzen.      Wie     unter    diesem    Gesichtspunkt    der    Seminarlehrer    sein 


Die   Lehrcrbiklung.san^t.illen.  259 

X'ci'hältnis  7.11  den  Zö^lini(en  ref^eln  muß,  ist  bereits  in  dem  iXbschnitt: 
Das  Lehrpersonal,  besprochen  worden,  hier  soll  nur  noch  von  der 
Bedeutung  der  Wohnung  hierfür  die  Rede  sein. 

Gegen  das  Elxternat  der  Seminaristen  machen  sich  gleiche 
Gründe  wie  unter  Umständen  bei  den  Präparanden  geltend:  geeignete 
Familien  lassen  sich  nicht  leicht  finden,  die  Kosten  sind  wesentlich 
höher  als  im  Internat.  Dem  gegenüber  sprechen  aber  andere  Er- 
wägungen ganz  wesentlich  für  das  Externat:  der  Seminarist  lernt 
hier  mit  der  Freiheit,  die  ihm  bald  das  Amt  bringt,  umgehen,  und 
lernen  muß  er  es,  will  er  den  eben  dargelegten  Forderungen  des 
Berufes  an  seine  Person  genügen  und  nicht  straucheln.  Es  ist  aber 
sehr  schwer  zu  vermeiden,  daß  selbst  dem  besten  Internat  der  Cha- 
rakter der  Unfreiheit  anhaftet.  In  der  Natur  der  Sache  liegt  es  be- 
gründet, daß  je  größer  die  Zahl  der  Zusammen  wohnenden  ist,  um 
so  beschränkender  die  Vorschriften  sein  müssen,  welche  durch  die 
gegenseitige  Rücksichtnahme  geboten  werden.  Im  Externat  \'ermag 
der  Seminarist  die  ihm  gewährte  Freiheit  gebrauchen  zu  lernen,  er 
vermag  hier  zu  tun,  was  Pflicht  und  gute  Sitte  heischt,  ohne  unter 
dauernder  Kontrolle  zu  stehen  wie  im  Internat.  Den  Präparanden 
muß  das  strenge  Geschlossensein,  als  seinem  Lebensalter  entsprechend, 
erziehen,  für  den  Seminaristen  ist  das  Gebundensein  in  der  Freiheit 
zu  fordern.  Wird  dem  Präparanden  gesagt,  du  sollst  dieses  tun, 
jenes  aber  lassen,  so  hat  sich  der  Seminarist  selbst  zuzurufen :  ich  will 
und  muß  dieses  mir  versagen,  jenes  aber  vollbringen.  Nicht  im  fast 
hermetischen  Abschließen  \-or  den  Gefahren  der  persönlichen  Be- 
wegungsfreiheit wird  der  Seminarist  vor  ihnen  behütet,  sondern  in- 
dem er  lernt,  ihnen  erfolgreich  entgegenzutreten.  Nicht  im  ängst- 
lichen Fliehen  vor  dem  Feinde,  sondern  im  trutzigen  Stirnebieten 
wird  der  Charakter  gestählt  und  gegen  Hieb  und  Stoß  gefeit.  W^er 
wie  der  junge  Lehrer  sofort  nach  Verlassen  des  Seminars  in  eine 
derartig  selbständige  Stellung  tritt,  muß  geschult  sein,  sich  ohne  fort- 
gesetzte Aufsicht  richtig  zu  bewegen,  ihm  muß  der  kategorische  Im- 
perativ der  Pflicht  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  sein  —  das  alles 
gibt  ihm  aber  das  Externat    in  ganz  anderm  Maße  als    das    Internat. 

Trotzdem  kann  unter  bestimmten  Umständen  das  Internat  den 
\^orzug  verdienen.  Gerade  in  der  Reichshauptstadt  hat  sich  das  In- 
ternat als  eine  Notwendigkeit  erwiesen,  da  bei  den  weiten  Entfer- 
nungen der  elterlichen  W'ohnungen,  die  teilweise  in  Vororten  liegen, 
die  Seminaristen  zu  viel  Zeit  durch  Hin-  und  Rückwege  —  mit- 
unter \-ier  Stunden  täglich   —    \-erlieren  und  sich  am  frühen  Morgen, 

17* 


250  l^'ip  N'olksschullehrerbilduiig. 

WO  Straßenbahnen  noch  nicht  fahren,  auf  Kosten  der  Gesundheit  ab- 
hetzen. Ebenso  ist  das  Internat  unbedingt  nötig,  wenn,  wie  gerade 
an  den  kleinen  und  kleinsten  Orten  geeignete  Familien  zur  Unter- 
bringung fehlen.  Wo  das  Internat  besteht,  muß  es  ebenso  wie  bei 
den  an  kleinen  Orten  befindlichen  Seminaren  sein  Bewenden  haben; 
denn  die  dafür  vorgesehenen  Räume  können  nicht  ungenutzt  leer 
stehen.  Es  kommt  aber  alles  darauf  an,  die  Hausordnung  so  zu  ge- 
stalten, daß  keine  weiteren  Grenzen  der  persönlichen  Bewegungs- 
freiheit gezogen  werden  als  durch  das  Zusammenwohnen  so  vieler 
junger  Leute  sich  von  selbst  ergeben.  Hierdurch  ist  es  bedingt,  be- 
stimmte Zeiten  für  das  Arbeiten,  Essen  und  Schlafen  festzusetzen. 
Jeder  Charakter  klösterlichen  Lebens  oder  einer  Zwangsanstalt  muß 
dem  Internat  fernbleiben.  Wünschenswert  erscheint  es,  der  1. 
(obersten)  Klasse  besondere  Vorrechte  und  Freiheiten  zu  gewähren. 
die  den  Übergang  zur  Selbständigkeit  nach  dem  Abgang  erleichtern. 
Am  besten  wäre  es,  diese  Klasse  nach  zwei  Jahren  Internats  aus  oben 
angeführten  Gründen  zu  externieren.  Etwa  die  Hälfte  der  Seminare 
verfügt  über  Internate,  ein  Drittel  dagegen  über  Externate,  der  Rest 
hat  ein  bis  zwei  Klassen  im  Internat,  die  andern  im  Externat.  Da 
die  Nebenkurse  fast  ausnahmslos  als  Externate  bestehen,  so  wohnt 
jetzt  bereits  die  reichliche  Hälfte  der  preußischen  Seminaristen  im 
Externat.  Bis  1872  existierten  fast  nur  Internate,  die  seitdem  be- 
gründeten Seminare  sind  fast  immer  Externate.  Wenn  nicht  ganz 
besondere  Gründe  vorliegen,  richtet  die  Unterrichtsverwaltung  bei 
neu  entstehenden  Seminaren  auch  kein  Internat  mehr  ein. 

2.    Die  Erziehung  durch  den  Unterricht. 
a)    Charakter  des  UiiterricJits. 

Über  die  Bedeutung  der  Seminarlehrer  für  die  Erziehung  der 
künftigen  V^olksschuUehrer  i.st  bereits  im  Abschnitte  ,, Lehrpersonal" 
gehandelt  worden.  Darum  erübrigt  es  nur  noch  auf  die  Bedeutung 
des  Unterrichts  für  die  Erziehung  einzugehen.  Zunächst  sei  die  Frage 
nach  der  Unterrichtsform  erörtert. 

Bis  zur  Einführung  der  Lehrpläne  vom  1.  Juli  1901  war  es 
durch  die  Allgemeinen  Bestimmungen  vom  15.  Oktober  1()72  ge- 
boten, die  gleiche  Form  zu  wählen,  wie  für  den  Volksschulunterricht: 
,,Der  Unterricht,  welchen  die  Seminaristen  empfangen,  soll  in  seiner 
Form  ein  Muster  desjenigen  sein,  welchen  sie  als  Lehrer  später  zu 
erteilen    haben    \\erden".      Die  Absicht    ist  also,    mit    dem  Stoff  des 


Die   I>chrerbilduii<^sanstalten.  261 

Seminarunterriclits  zugleich  eine  für  die  Volksschule  bezügliche 
methodische  Unterweisung  zu  geben,  damit  der  künftige  Volksschul- 
lehrer befähigt  ist,  selbst  später  in  der  rechten  Weise  zu  unterrichten. 
Die  Fachausbildung  wird  dadurch  mit  der  Allgemeinausbildung  ver- 
quickt. Es  muß  aber  einleuchten,  daß  für  einen  Seminaristen  von 
1 7  bis  22  Jahren  unmöglich  dieselbe  Lehrform  angebracht  sein  kann, 
wie  für  Kinder  von  6  bis  14  Jahren.  Die  neuen  Lehrpläne  haben 
diese  Forderung  fallen  lassen,  indem  sie  scharf  zwischen  der  Allge- 
mein- und  Fachausbildung  scheiden.  Die  Unterrichtsform  der 
Volksschule  wird  fortan  in  den  praktischen  und  theoretischen 
Methodikstunden  der  zweiten  und  ersten  Klasse  gelehrt. 

Die  Seminarmethodik  hat  sich  dem  Lebensalter  und  dem 
Rildungsstandpunkt  der  Seminaristen  gemäß  zu  gestalten.  Einen 
breiten  Raum  nimmt  im  Volksschulunterricht  die  Entwicklung  durch 
Frage  und  Antwort  und  sodann  das  Üben  und  Wiederholen  ein. 
Auch  das  Entwickeln  bleibt  für  den  Seminarunterricht  ein  Ideal, 
mangelnde  Zeit  wird  es  oft  unmöglich  machen.  Trotzdem  der 
Seminarlehrer  vielfach  zur  vortragenden  Form  greifen  muß,  kann  er 
doch  entwickeln,  er  muß  nur  nicht  pedantisch  auf  Frage  und  Ant- 
wort bestehen;  sein  Vortrag  soll  sogar  einen  durchaus  entwickelnden 
Charakter  tragen  und  keine  fertigen  Unterrichtsergebnisse  mitteilen. 
Um  den  durchgenommenen  Stoß'  zu  klären,  befestigen  und  einzu- 
üben, wird  er  in  der  Schule  zergliedert,  noch  einmal  abgefragt,  zu- 
sammengefaßt und  sofort  wiederholt.  Nur  in  Ausnahmefällen  dürfte 
dies  im  Seminar  zulässig  sein.  Der  geistige  Standpunkt,  die  infolge 
des  Lehrpensums  fehlende  Zeit  verbieten  es.  Auch  das  Üben  und 
Wiederholen  des  eben  durchgenommenen  Stoffes  in  derselben  Unter- 
richtsstunde ist  für  das  Seminar  ausgeschlossen;  der  Seminarist  muß 
von  selbst  den  nötigen  Trieb  haben,  sich  das  geforderte  Wissen  ein- 
zuprägen. 

Die  Wiederholung  auf  dem  Seminar  kann  sich  nur  als  Kontrolle, 
ob  das  Durchgenommene  eingeprägt  ist,  gestalten.  Wo  die  Erinne- 
rung an  die  Lehrstunde  nicht  mehr  ausreicht,  greift  das  Lehrbuch 
ein.  Wo  dieses  im  Stich  läßt,  ist  es  für  das  Seminar  sehr  wohl  an- 
gebracht, die  Hauptergebnisse  der  Unterrichtsstunde  in  wenigen  Stich- 
worten kurz  zu  diktieren,  um  der  Wiederholung  einigen  Anhalt  zu 
geben;  doch  darf  sich  das  nur  auf  Ausnahmefälle  beschränken.  Nach- 
schreiben während  der  ganzen  Stunde  ist  ausgeschlossen.  Statt  des 
Wiederholens  und  Übens  niuß  im  Seminar  in  umfassender  Weise  das 
Stellen  von  Aufgaben  eintreten,   sei  es,  daß  sie  sofort  gelöst  werden. 


262  rJie  Volksschullehrerbildung. 

sei    es    daß    sie    zu    Hause    auf  Grund    des    Selbsstudiums    bearbeitet 
werden. 

Die  entwickelnd-vortragende  und  Aufgaben  stellende  Lehrform 
ist  das  eine  Kennzeichen  der  Seminarmethodik,  das  andere  ist  das 
Selbststudium.  Es  kann  im  Unterricht  bei  den  Lernenden  leicht  das 
Bewußtsein  des  Fertigseins,  richtiger  des  vermeintlichen  Fertigseins 
mit  der  Bildung  entstehen,  und  nicht  ohne  Berechtigung  ist  mitunter 
dem  Volksschullehrerstand  der  Vorwurf  gemacht  worden,  er  käme 
vom  Seminar  mit  der  Überzeugung,  die  Unterrichtsgegenstände  wären 
,, erschöpfend"  behandelt;  und  diese  Überzeugung  kann  sehr  leicht 
aufkommen,  wenn  der  Zögling  nur  Wissen  und  keine  Bildung  erhält. 
Bei  dem  Bestreben,  den  Lehrerstand  geistig  zu  heben,  ihn  wenn 
möglich  für  das  Universitätsstudium  reif  zu  machen,  ist  es  notwendig, 
das  Bewußtsein  zu  wecken,  alles  menschliche  Wissen  ist  Bruchstück 
und  das  Seminar  kann  nur  einen  winzigen  Teil  des  Erforschten 
geben. 

Nur  als  einseitig  und  mangelhaft  muß  die  Bildung  gelten,  die 
allein  das  im  Unterricht  Angelernte  erworben,  die  sich  nicht  in  den 
einen  oder  anderen  Punkt  vertieft  hat.  Erst  selbsterworbenes  Spezial- 
wissen  —  wenn  auch  nur  in  bescheidenen  Grenzen  —  bewahrt  vor 
Oberflächlichkeit  und  vor  der  durch  Leitfadenweisheit  entstehenden 
Überzeugung  „alles  besser  zu  wissen".  Darum  ordneten  die  Be- 
stimmungen vom  1.  Juli  1901  das  freie  Arbeiten  an.  Je  nach 
Neigung  und  Veranlagung  vermag  sich  der  Seminarist  in  ein  Fach 
zu  vertiefen,  er  erarbeitet  sich  durch  eigene  Beobachtung  oder  durch 
Einblick  in  die  ihm  bezeichnete  Literatur  das  selbständig,  was  ihm 
im  Klassenunterricht  mundrecht  vorgetragen  und  entwickelt  wird. 
Durch  dieses  freie  Arbeiten  erwirbt  er  sich  einen  Freund,  der  ihm, 
wenn  ihn  auch  andere  Freunde  verlassen,  im  Leben  treu  zur  Seite 
bleibt,  nämlich  Lust  und  Liebe  zu  geistiger  Tätigkeit.  Mag  er  auf 
einem  öden  Dorfe  sitzen,  mag  ihm  das  Leben  hart  mitspielen,  so 
wird  er  sich  auch  in  Einsamkeit  und  Trübsal  durch  seine  geistigen 
Literessen  in  geistiger  Gemeinschaft  mit  anderen  befinden.  Außer 
diesem  allgemeinen  Erfolg  soll  das  freie  Arbeiten  noch  den  Sonder- 
zweck haben,  den  jungen  Lehrer  zu  befähigen  und  vorzubereiten,  sich 
für  die  2.  Prüfung  mit  Erfolg  in  einem  Spezialfach  fortzubilden. 

Dies  freie  Arbeiten  und  Selbstudium  darf  aber  nicht  mit  dem 
selb.ständigen  Forschen  in  wissenschaftlichem  Sinne  verwechselt  \\-erden, 
wie  es  auf  der  Universität  getrieben  wird.  Dazu  fehlt  dem  Semina- 
risten eine  hinreichende  Vorbildung,  die  erforderlichen  Hilfsmittel  und 


Die  Lehrerbiklim^sanstalten.  263 

vor  allem  die  nötige  Zeit.  Er  muß  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft 
mehr  oder  minder  hinnehmen,  wenn  seine  Eehrer  sie  ihm  im  ent- 
wickelnden Unterrichte  und  die  populär-wissenschaftliche  Literatur 
darüber  darbieten.  Im  Amte  stehend  möge  er,  wenn  Neigung  und  Be- 
fähigung vorhanden  ist,  selbständig  forschen.  Auf  jeden  Fall  ist  ihm 
aber  dringend  zu  raten,  sich  im  fleißigen  Selbststudium  erst  das  zu 
eigen  zu  machen,  was  die  Meister  auf  dem  Gebiete  der  einzelnen 
Wissenschaften  erarbeitet  haben. 

Die  neuere  Handhabung  des  Seminarunterrichts  birgt  eine  ge- 
wisse Gefahr  in  sich,  es  der  Universität  gleich  zu  tun.  Bezüglich  des 
freien  Forschens  war  das  schon  oben  abgelehnt  worden,  auch  für  den 
Unterricht  eignet  sich  das  , .Vorlesung  halten"  nicht,  wie  es  nach  den 
Berichten  alter  Lehrer  in  den  Seminaren  vor  1 848  garnicht  selten  geschah. 
Der  Seminarlehrer  soll,  wie  schon  früher  dargelegt,  entwickeln,  und  zwar 
wenn  möglich  auf  Grund  von  Quellen  und  Experimenten.  Die  Wieder- 
holung ist  zur  Kontrolle  des  Verstandenseins  und  der  Einprägung 
notwendig.  Sie  geschieht  meist  in  Form  des  Vortrags,  indem  nicht 
selten  alles  Durchgenommene  wörtlich  und  getreulich  vom  Semina- 
risten referiert  wird.  Bei  diesem  Verfahren  liegt  aber  leicht  das 
Unterrichtsergebnis  nicht  in  freier  Beherrschung  des  Stoffes,  sondern 
in  Dressur  und  angelerntem  Wissen.  Abgesehen  davon,  daß  bei  der 
außerordentlichen  Überlastung  der  Seminaristen  durch  den  , .Vortrag" 
übermäßige  Forderungen  an  die  Gedächtnis-  und  Nervenkraft  gestellt 
werden,  kommt  es  doch  nur  auf  das  wesentliche  an,  und  die  Be- 
herrschung des  Stoffes  zeigt  sich  am  besten  durch  Lösen  von  Auf- 
gaben, deren  Notwendigkeit  bereits  betont  wurde. 

b)    Die  Allgemeinbildung. 

Der  Seminarunterricht  verfolgt  sowohl  durch  die  Allgemein-  wie 
durch  die  Berufsbildung  bestimmte  Erziehungsziele.  Der  Allgemein- 
unterricht will  eine  religiöse,  nationale  und  soziale,  eine  ästhetische 
und  intellektuelle  und  endlich  eine  körperliche  Bildung  bezw.  Aus- 
bildung geben. 

Religion  und  Vaterland,  Thron  und  Altar,  wie  man  gesagt  hat, 
sind  die  Grundlagen  des  deutschen  Schulwesens.  Namentlich  die 
Religion  ist  einer  der  wichtigsten  Erziehungsfaktoren,  deren  Pflege 
der  Staat  sorgfältig  überwacht,  und  die  er  nicht  privatem  Beheben 
überläßt.  Solange  er  den  Anspruch  macht,  ein  christlicher  zu  sein, 
muß  er  auch  das  Christentum    in  das  von    ihm    geleitete  Schulwesen 


264  1-*'^  \'olk.s>chullelu-erbildung. 

eingliedern.  Darum  überläßt  er  die  religiöse  Erziehung  nicht  der 
Kirche  allein,  sondern  beteiligt  sich  daran  in  hervorragender  Weise. 
Seit  Jahren  wird  an  Stelle  des  ReUgions-  ein  Moralunterricht 
gefordert.  Es  ist  darauf  hingewiesen  worden,  daß  alle  Bürger  vor 
den  Staatsgesetzen  gleich  wären,  daß  daher  in  der  Schule  nur  das 
gelehrt  werden  dürfe,  was  allen  Religionen  gemeinsam  ist,  nämlich 
die  Sittenlehre.  Ferner  würden  durch  den  nach  Kirchengemein- 
schaften gesonderten  Religionsunterricht  Spaltungen  bereits  in  den 
jungen  Gemütern  hervorgebracht,  indem  das  Trennende  der  Be- 
kenntnisse und  nicht  das  einigende  Band  des  Glaubens  zu  sehr,  ja 
fast  ausschließHch  in  den  Vordergrund  trete.  Darum  möge  der 
Religionsunterricht  den  einzelnen  Religionsgemeinschaften  überlassen 
bleiben. 

Letzterer  Grund  ist  schlechterdings  nicht  zurückzuweisen,  — 
aber  darum  ist  es  doch  nicht  gleich  nötig,  die  Religion  aus  der 
Schule  zu  bannen!  Es  wird  hier  auf  die  rechte  Handhabung  des 
Unterrichts  ankommen;  gewiß  muß  das  Trennende  besprochen,  aber 
nicht  minder  scharf  darf  das  Gemeinsame  betont  werden,  stets  ist 
darauf  hinzuweisen,  daß  die  volle  Erkenntnis  der  religiösen  und 
christlichen  Wahrheit  erst  das  Jenseits  bringt.  Zudem  ist  ein  Moral- 
unterricht ohne  metaphysische  Grundlage  nicht  möglich,  oder  er  löst 
sich  in  eine  Sammlung  von  Sittenlehren  auf.  für  deren  Befolgen  der 
zwingende  Grund  fehlt.  Jenes  Kantische  Wort:  ,,Du  kannst,  denn 
du  sollst",  setzt  dagegen  notwendig  das  Postulat  eines  transzendenten 
Gottes  voraus.  Es  ist  aber  keine  Veranlassung,  weshalb  im  christ- 
lichen Staate  der  Unterricht  christlicher  Kinder  sich  auf  ein  höchstes 
Wesen  beschränken  soll,  das  auf  dem  Wege  der  Philosophie  gefun- 
den wird.  Gott  hat  sich  den  Christen  offenbart,  auf  dieser  Grund- 
lage baut  sich  auch  das  Glaubens-  und  Sittenleben  des  Menschen  auf 
Es  würde  eine  Verleugnung,  zum  mindesten  arge  Geringschätzung 
des  „Besten  in  der  Welt",  wie  der  englische  Naturforscher  Drummond 
das  Christentum  genannt  hat,  bedeuten,  wenn  die  Schule  einen 
kalten  Moralunterricht  verkünden  und  nicht  die  Religion  von  der 
göttlichen  Liebe  verkünden  würde.  Aber  noch  ein  pädagogischer 
Grund  kommt  dazu.  Durch  den  Religionsunterricht  wird  ein  Band 
zwischen  Lehrer  und  Schüler  geknüpft,  wie  es  im  Sittenunterricht  nie 
der  Fall  sein  kann.  Als  Beleg  dafür  möge  einzig  das  Wort  eines 
Lehrers,  der  einer  der  angesehensten  Führer  der  deutschen  Lehrer- 
schaft im  Vereinswesen  ist,  seine  Stelle  finden,  wie  er  es  gelegentlich 
eines    Vortrages    auf   dem    8.  Deutschen  Lehrertage    im  Jahre  189U 


Uie  Lehrerbildungsanstalten.  265 

sprach :  ,,Die  deutsche  Volksschullehrerschaft  sieht  im  Religions- 
unterricht das  vorzüglichste  Mittel,  um  auf  Herz  und  Gemüt  des 
Kindes  einzuwirken.  Gerade  die  Religionsstunde  ist,  recht  gegeben, 
eine  Weihestunde,  und  Sie  werden  vielleicht  oft  auch  schon  diesen 
unauslöschlichen  Eindruck  bekommen  haben  von  der  ReHgionsstunde, 
die  Siegegeben,  wo  Sie  körperlich  und  geistig  Ihren  Kindern  näher 
gerückt  sind,  wo  kein  Fremder  dabei  war,  wo  Sie  vielleicht  nicht 
nach  den  Regeln  der  Katechetik  unterrichtet  haben,  aber  das  Herz 
überquoll  zum  Herzen.  Solche  Stunden  müssen  wir  haben  in  der 
Volksschule,  wenn  sie  etwas  leisten  soll,  und  wir  reklamieren  solche 
Weihestunden  für  uns". 

Soll  der  Volksschullehrer  Religionslehrer  sein,  so  muii  er  auf 
dem  Seminar  eine  religiöse  Bildung  erhalten.  Das  geschieht  aber 
nicht  allein  durch  den  Unterricht,  sondern  durch  den  ganzen  Geist 
der  im  Seminar  weht.  Der  künftige  Lehrer  soll  nicht  allein  zum 
Religionslehrer  als  überhaupt  zu  einer  christlichen  Persönlichkeit  er- 
zogen werden.  In  jedem  Unterrichtsfache  ist.  Voraussetzung  und 
kommt  es  auch  mehr  oder  minder  zur  Geltung,  daß  das  Christentum 
die  Grundlage  im  Leben  des  einzelnen  wie  des  gesamten  Volkes  und 
jeder  Kultur  ist.  Die  gemeinsamen  Morgen-  und  Abendandachten, 
der  gemeinsame  Kirchgang  am  Sonntag,  und  vielerorts  ein  gemein- 
samer Abendmahlsgang  vor  der  Abschlußprüfung  fördern  die  religiöse 
Erziehung  des  Seminars.  Viel  trägt  dazu  auch  die  Musik  bei.  Die 
meisten  Seminaristen  nehmen  am  Orgelunterricht  teil  und  werden  so 
in  die  kirchliche  Musik  und  in  die  Gedanken  der  Großmeister  auf 
diesem  Gebiet,  eines  Johann  Krüger,  eines  Sebastian  Bach,  eines 
Friedrich  Händel  eingeführt.  Der  Gesangunterricht  lehrt  die  trutzig 
und  wuchtig  dahinschreitenden  Tonfolgen  des  Chorals  und  die  selbst 
starre  Herzen  umfangenden  und  überwindenden  Töne  des  geistlichen 
Volksliedes.  Es  ist  dem  Christen  offenbart:  »Wir  haben  keine 
bleibende  Stadt  sondern  die  zukünftige  suchen  wir.<  Darum  soll 
die  Schule  wie  es  schon  Comenius  lehrte,  als  trübe  Tage  über  Deutsch- 
land hereinbrachen,  auf  die  himmlische  Heimat  vorbereiten,  darum 
gibt  es  eine  religiöse  Erziehung. 

Aber  nicht  allein  für  die  himmlische,  auch  für  die  irdische 
Heimat  wird  der  Seminarist  erzogen.  \'or  1 00  und  mehr  Jahren  be- 
geisterten sich  die  Gebildeten  für  den  Gedanken  des  Weltbürgertums. 
Und  daß  dies  gleichfalls  in  Deutschland  geschah,  ist  nur  zu  erklärlich, 
—  es  gab  kein  deutsches  Vaterland.  Die  geistige  Einheit  schufen 
erst  wieder    die    deutschen  Dichter  mit  Klopstock    beginnend,  —  die 


2(36  ^''^  Volksscluillehreibilduiig. 

nationale  Einheit  beruhte  auf  dem  Ruhme  Friedrichs  des  Grollen! 
War  man  doch,  wie  Goethe  erzählt,  in  seinem  Vaterhause  > fritzisch  < 
gesonnen.  Erst  die  Geistesströmung  der  Romantik  und  die  Be- 
freiungskriege ließen  den  Gedanken  des  Vaterlandes  mit  Begeisterung 
emporlodern,  und  die  vaterländische  Erziehung  gewann  fortan  eine 
Stätte,  nachdem  bereits  Männer  wie  Zöllner  und  Stephani  im 
Jahre  1804  für  die  „Nationalerziehung"  eingetreten  waren.  Aus  der 
Erziehung  zum  Weltbürger  ward  die  Erziehung  zum  Patrioten.  Der 
Gedanke  reiner  Menschlichkeit  blieb,  aber  herrschend  wurden  die 
Worte,  die  Schiller  —  der  Weltbürger  —  vorahnend  gesprochen: 

»Ans  Vaterland,  ans  teure,  schheß  dich  an!« 

Dem  Deutschen  ist  mit  dem  Begriff  des  Vaterlandes  sein 
Herrscherhaus  untrennbar  verbunden,  und  in  seinen  Fürsten  sieht  er 
das  Vaterland  verkörpert.  Als  eine  besondere  Tugend  ward  schon 
den  alten  Germanen  die  Treue  gegen  ihren  Herzog  nachgerühmt, 
und  stolz  klingen  die  Worte,  welche  vor  bald  300  Jahren  ein  branden- 
burgischer Kanzler  den  kurmärkischen  Ständen  zurief:  »Es  hat  die 
Nation  der  Märker  den  Ruhm  vor  anderen  von  vielen  Jahren  daher 
geführt  und  erhalten,  daß  sie  ihre  Herrschaft  in  keiner  Not  verlassen.  < 
Wohl  ist  die  verstandesmäßige  Erkenntnis  der  Segnungen  des  Vater- 
landes und  der  landesväterHchen  Fürsorge  in  jetzigen  und  ver- 
gangenen Tagen  von  nicht  zu  unterschätzendem  Einfluß  auf  die 
Förderung  des  Patriotismus.  Aber  eine  nüchterne,  reine  venstandes- 
mäßige  Erkenntnis  kann  nur  ein  recht  kühles  Vaterlandsgefühl  er- 
zeugen, das  sich  unter  Umständen  als  Eigennutz  ausweist.  Die 
Vaterlandsliebe  ist  in  erster  Linie  ein  ideales  Gut,  das  ebenso  wie 
die  Religion  den  Menschen  aus  der  Alltäglichkeit  emporhebt,  seinen 
Blick  für  das  Große  schärft,  das  ihn  genießen  und  verstehen  heißt, 
was  frühere  Geschlechter  und  die  lebende  Generation  geschafft  und 
erworben  haben  an  „Gütern  und  Gaben  des  Friedens  auf  dem  Ge- 
biete nationaler  Wohlfahrt,  Freiheit  und  Gesittung",  aber  auch  an  den 
Gütern  und  Gaben  des  Schwertes  und  des  Geistes. 

Die  preußischen  Seminare  genießen  das  große  Glück,  einen 
Lehrplan  zu  besitzen,  der  durch  und  durch  national  ist.  Der  preußi- 
sche Volksschullehrer  erhält  eine  nationale  Bildung,  deren  sich  kein 
anderer  Stand  in  gleichem  Maße  rühmen  kann.  In  umfassender 
Weise  wird  deutsche  Literatur,  deutsche  Sprache  und  deutsche  Ge- 
schichte getrieben,  auch  Kenntnis  der  deutschen  Heimat  und  des 
deutschen  Wirtschaftslebens  erworben,  und  das  deutsche  Volkstum  und 
das  deutsche  Lied  finden  eine  eingehende  liebevolle  Pflege. 


Die  Lclirerbiklungsanstalten.  267 

Aber  jene  Gedanken  vom  Weltbürgertum,  von  Freiheit,  Gleich- 
heit, Rri^iderlichkeit«  sind  nicht  untergegangen,  nur  sind  sie  in  andere 
Formen  umgeprägt  worden.  Der  sich  absurd  gebärdende  Most  hat 
sich  in  einen  guten  Wein  verwandelt:  in  den  Gedanken  der  sozialen 
Gemeinschaft.  Das  Gemeinschaftsleben  der  Menschen,  sei  es  in  der 
Familie,  in  der  Gemeinde,  im  Staat  oder  in  der  Welt  des  Auslandes 
ist  nicht  nur  ein  Gegenstand  des  W^issens,  sondern  auch  ein  Erziehungs- 
faktor. Zur  Gemeinschaft  erzieht  den  künftigen  Lehrer  der  Klassen- 
unterricht, dann  vor  allem  das  Internat,  weniger  das  Externat.  Dazu 
tritt  die  Kenntnis  der  staatlichen  Verfassung  und  Verwaltung,  der 
wirtschaftlichen  Tatsachen  und  Gesetze,  der  Wohlfahrtspflege  und 
v.erktägigen  Nächstenliebe,  die  Bande  rein  menschlicher,  geistiger  wie 
praktisch-realer  Beziehungen  zu  den  Glaubensgenossen  und  zu  den 
^Mitmenschen  überhaupt,  sowohl  in  der  Heimat  wie  in  der  Fremde. 
Dies  alles  bedingt  und  fördert  die  soziale  Erziehung  der  Seminaristen. 

Bildet  die  religiöse,  nationale  und  soziale  Erziehung  eine  mehr 
praktische  Erziehung  so  erweist  sich  die  intellektuelle  und  ästhetische 
als  eine  mehr  theoretische. 

Nach  gangbarer  Einteilung  stellt  sich  die  intellektuelle  Aus- 
bildung als  eine  formelle  und  materielle  dar.  Die  formale  hat  die 
Auffassungs-  und  Aufnahmefähigkeit  des  Geistes  zu  erzielen,  und  das 
ist  die  schwierigste  Aufgabe  überhaupt,  da  sie  kein  gesondertes  Unter- 
richtsfach sein  kann,  da  ihre  Erfolge  erst  allmählich  und  oft  recht 
spät  sichtbar  werden.  Sie  erfordert  seitens  der  Seminarlehrer  viel 
Gewandtheit,  und  viel,  sehr  viel  Geduld,  auch  wenn  die  Arbeit  vor- 
läufig scheinbar  vergeblich  war.  Wohl  gibt  es  genug,  wie  man  zu 
sagen  pflegt,  geistig  geweckte  Seminaristen,  aber  gerade  da,  wo  zu- 
nächst mangelnde  Begabung  vorzuliegen  scheint,  findet  sich  oft  ein 
dankbares  Arbeitsfeld,  hier  gilt  es  gleichsam  die  unter  dem  Boden 
schlummernden  Kläfte  frei  und  dem  Unterricht  dienstbar,  den  Geist 
beweglich  und  gewandt  zu  machen.  Nur  hervorragendes  Material  für 
das  Seminar  zu  erhalten  ist  ausgeschlossen,  die  mittlere  Begabung 
ist  wie  in  allen  Berufen,  am  meisten  vertreten. 

In  der  Volksschule  sind  in  erster  Linie  Sprachlehre,  Raumlehre 
und  Rechnen  zur  besonderen  Förderung  der  formalen  Büdung  be- 
stimmt, aber  auch  das  statarische  Lesen,  Aufsatzübungen  usw.  tragen 
dazu  bei.  Zeitweise,  so  unter  Diesterweg  in  den  vierziger  und  fünf- 
ziger Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts,  sah  man  in  ihr  das  vornehmste  Ziel 
der  Schule  und  wählte  unter  diesem  Gesichtspunkte  die  Unterrichts- 
stoffe   aus.      All    das,    was    die  Volksschule    an    formaler  Bildung  zu 


268  ■  >ie  \'olksschullehrerbildung. 

leisten  hat,  muß  das  Seminar  in  weit  höherem  und  umfassenderem 
Maße  geben.  Zweierlei  tritt  neu  hinzu:  Die  Fähigkeit  der  selbstän- 
digen Weiterbildung  und  die  Urteilsfähigkeit. 

E?  war  bereits  berührt  worden,  daß  mitunter  der  mit  2ü  oder  21 
Jahren  ins  Amt  tretende  Lehrer  seine  Ausbildung  für  abgeschlossen  hält. 
Bei  den  meisten  ist  ein  reges  Bildungsstreben  vorhanden,  aber  die 
formelle  Fähigkeit,  die  eigene  Bildung  zu  leiten,  verspricht  allein  Er- 
folg. Der  Seminarist  muß  daher  nicht  nur  darin  unterwiesen  werden, 
was  er  später  arbeiten  kann,  sondern  auch,  wie  es  geschieht.  In 
erster  Linie  ist  notwendig,  das  Literesse  an  geistiger  Arbeit  überhaupt 
zu  wecken ,  damit  die  Arbeit  als  Freund  und  nicht  als  Feind  betrachtet 
werde.  Dem  jungen  Lehrer  muß  aber  auch  bekannt  sein,  daß  er 
nicht  allen  Fächern  des  Wissens  und  der  Kunst  gleichmäßig  seine 
Studien  zuwenden  kann,  daß  er  sich  ein  Sonderfach,  und  da  auch 
noch  meist  ein  Spezialgebiet  wählen  muß. 

Wohl  mögen  für  die  ersten  Jahre  die  Ratschläge  der  Seminar- 
lehrer bezüglich  der  durchzuarbeitenden  Bücher  und  Stoffe  genügen, 
wohl  werden  die  Schulaufsichtsbeamten  treffende  Ratschläge  und  Hin- 
weise geben,  aber  allmählich  soll  der  Lehrer  eigene  Bahnen  wandeln. 
Da  wird  es  notwendig  sein,  daß  seine  Urteilsfähigkeit  auf  dem  Semi- 
nar geweckt  und  geschärft  ist.  Er  muß  verstehen,  sich  geeignete 
Literatur  für  seine  Studien  auszuwählen,  aber  auch  das  Gelesene  zu 
beurteilen.  Die  Weiterbildung  manches  Lehrers  weist  darin  wesent- 
liche Schäden  auf,  daß  er  bei  seiner  Lektüre  es  nicht  vermag,  das 
Wesentliche  von  dem  minder  Wichtigen  zu  scheiden,  daß  er  den 
Hauptwert  der  Vertiefung  auf  mehr  Nebensächliches  legt,  und  ,,auf 
des  Meisters  Worte  schwört."  Urteilsfähigkeit  ist  dem  künftigen 
Lehrer  aber  auch  gegenüber  dem  Zeitungslesen  anzuerziehen.  Bei 
der  fast  unglaublichen  Autorität,  welche  heute  das  gedruckte  W^ort 
namentlich  in  der  Presse  besitzt,  muß  auch  gerade  der  Volkserzieher 
darnach  streben,  kritisch  zu  prüfen,  ^vas  ihm  die  Tagesblätter  an  Tat- 
sachen und  Urteilen  aufdrängen  wollen. 

Die  Urteilsfähigkeit  wird  auch  zur  Geltung  kommen,  wenn  er 
selbst  produzierend  tätig  ist.  Hat  er  V^orträge,  Referate  u.  dgl.  für 
amtliche  Konferenzen  oder  Vereinssitzungen  auszuarbeiten,  oder  sucht 
er  Geschichte  und  Natur  seines  Wohnortes  oder  Kreises  zu  erforschen 
dann  muß  er  die  eben  berührten  Seiten  der  Kritik  anwenden;  nur 
darf  nicht  vergessen  werden  —  leider  ein  Fehler  selbst  tüchtiger  Ge- 
lehrter — ,  daß  das  Wesen  der  Kritik  nicht  einzig  im  Be-  und  Aburteilen, 
sondern    auch    im   Verstehenlernen     und   Erklären     von    Ereignissen, 


Die  Li'hrcrhildiintrsanstalten.  269 

HandluiiLjen,  Beweggründen  usw.  besteht.  Es  hat  keinen  erfreulichen 
Eindruck  gemacht,  wenn  mitunter  gerade  jüngere  Lehrer  schnell  ihr 
Urteil  bei  der  Hand  hatten,  wenn  sie  sich  in  Schriften  und  Vorträgen 
über  Dinge  verbreiteten,  in  denen  nur  der  erfahrene  Fachmann 
heimisch  und  urteilsberechtigt  ist.  Darum  hat  dem  künftigen  Volks- 
schullehrer die  formale  Seite  der  intellektuellen  Bildung  bezüglich  des 
selbständigen  Arbeitens  und  der  Urteilskraft  die  nötige  Selbstbe- 
scheidenheit und  die  Erkenntnis  von  den  Grenzen  und  der  Unzuläng- 
lichkeit menschlicher  Forschung  zu  lehren,  die  denen  zu  eigen  sein 
pflegen,  welche  wahrhaft   Anspruch  auf  Bildung  machen  dürfen. 

Die  formale  Bildung  ist  das  Mittel  zur  Bewältigung  der  mate- 
riellen, sie  ist  gewissermaßen  das  Handwerkszeug  zur  Aufnahme  des 
Wissens.  Dieses  gliedert  sich,  wie  schon  bemerkt,  in  ein  doppeltes, 
nämlich  in  Allgemein-  und  in  Fachwissen.  Die  mannigfachen  hierin 
eingeschlossenen  Gebiete  sollen  in  dem  Abschnitt  ,, Unterrichtsstoff" 
erörtert  werden. 

Die  wichtigste  Aufgabe  der  materiellen  Bildung  besteht  darin, 
daß  sich  das  Wissen  zur  Bildung  umsetze.  Ein  vielverbreiteter  Irrtum 
meint,  Vielwissen  sei  Bildung,  und  gerade  in  Lehrerkreisen  hat  man 
lange  geglaubt,  durch  vieles  Auswendiglernen  von  Tatsachen  und 
stetes  Gegenwärtighalten  von  zahllosen  Einzelheiten  Bildung  zu  be- 
sitzen. Gegen  solche  blois  äußerliche  Aufnahme  der  Stoffe  ist  seit 
einiger  Zeit  energisch  Front  gemacht  worden.  Das  Seminar  bestrebt 
sich,  das  Wissen  durch  innere  Verarbeitung  und  Assimilation  zur 
Bildung  zu  verdichten,  die  Bestrebungen  der  Lehrerschaft  für  ihre 
tigene  Bildung  legen  gleichfalls  Zeugnis  davon  ab.  Wenn  sich  der 
Seminarunterricht  auch  aus  äußeren  Gründen  in  eine  Reihe  von  Un- 
terrichtsfächern gliedert,  darf  doch  das  einheitliche  Ziel:  AUgemein- 
und  Fachbildung  nie  außer  acht  bleiben. 

Wie  im  Leben  neben  der  Wissenschaft  die  Kunst  als  gleichbe- 
rechtigt genannt  wird,  so  kann  auch  im  Seminar  die  intellektuelle 
Erziehung  ohne  die  ästhetische  nicht  bestehen.  Gegenüber  dem  stark 
naturwissenschaftlichen  Sinne  des  19.  Jahrhunderts,  gegenüber  der 
materiellen  Richtung  der  letzten  Jahrzehnte  hat  sich  seit  einigen 
Jahren  der  Sinn  für  die  Gebiete  der  Ästhetik  —  Literatur  und  bil- 
dende Künste  — ,  wie  überhaupt  die  ideale  Geistesrichtung  stärker 
geltend  gemacht.  Das  Interesse  für  Literatur  war  in  dem  Ringen 
nach  einem  geeinten  Vaterlande  und  im  Jubel  über  das  neu  errichtete 
Deutsche  Reich,  zugleich  auch  durch  die  Weltwunder,  welche  der 
.staunenden  Menschheit  durch  die  Naturwissenschaften  in  der  zweiten 


270  l^ie  Wilksschullehrerbiklunu. 

Hälfte  des  vergangenen  Jahrhunderts  geschenkt  wurden,  stark  erkaltet. 
Die  gesunde  Entwicklung  der  bildenden  Kunst  verkümmerte  durch 
einen  falsch  verstandenen  Klassizismus  seit  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 
Um  so  reger  ist  in  der  Gegenwart  der  Sinn  für  Literatur  und  bil- 
dende Kunst,  vor  allem  das  Kunstgewerbe  und  die  zeichnenden 
Künste,  erwacht;  die  Musik  konnte  sich  erfreulicherweise  nie  über 
eine  Vernachlässigung  beklagen. 

Die  Gegenströmung  gegen  den  Materialismus,  der  noch  vor 
wenigen  Jahren  herrschte,  ist  nur  als  eine  recht  gesunde  zu  be- 
zeichnen. Physische  Gesetze  und  chemische  Formeln  allein  können 
dem  Geist  keine  Nahrung  gewähren;  sie  fordern  notwendig  eine  Er- 
gänzung im  Sinne  für  das  Künstlerische.  Hier  findet  der  Mensch 
seine  Erholung,  hier  sammelt  er  neue  Kraft  für  seine  Werktagsarbeit, 
hier  lernt  er,  seine  Gedanken  auch  auf  ideelle  Güter  zu  richten.  Hier 
bewahrheitet  es  sich,  daß  der  Mensch  „nicht  ist,  was  er  ilM",  sondern 
das,  was  die  Kultur  aus  ihm  macht.  Nicht  schwer  fällt  es,  den 
Deutschen  für  solche  Dinge  zu  begeistern,  ein  Heißhunger  nach 
Wissen,  nach  Kunstgenuß  herrscht  vielfach,  wenngleich  er  sich  mit 
unter  noch  in  eigentümlichen,  vielleicht  darf  man  sagen,  etwas  unge- 
schlachten Formen  zeigt.  Trefflich  rühmt  diesen  idealen  Sinn  des 
Deutschen  der  Dichter  Emil  Prinz  von  Schönaich-Carolath : 

„Im  schwarzen  Schachte  gleißt  das  Erz, 
Der  Hammer  dröhnt,  die  Funken  springen, 
Doch  heimUch  hört  das  deutsche  Herz 
Im  Hörselberg  die  Geigen  klingen; 
Vom  Zug  der  Esse  scharf  umbraust, 
Der  Meister  läßt  kein  Säumen  merken. 
Doch  immer  lebt  als  Sohn  des  Faust 
Er  über  seinen  Erdenwerken." 

Für  die  ästhetische  Erziehung  geschieht  im  Seminar  jetzt  sehr 
viel.  Zwar  sind  die  älteren  Seminare,  die  einer  recht  nüchternen 
Bauperiode  von  1860 — 1890  entstammen,  wenig  geeignet,  Kunstsinn 
zu  wecken,  indes  weisen  die  neuesten  Bauten  wesentliche  Fortschritte 
auf  Dazu  sorgt  jetzt  die  Unterrichtsverwaltung  für  Ausschmückung 
der  Räume  durch  Künstlersteinzeichnungen  und  dergl.  Oft  bieten,  wie 
schon  bemerkt,  die  Seminarorte  und  ihre  Umgebung  mannigfachen 
ästhetischen  Anschauungsstoff,  sei  es  in  der  Natur,  sei  es  in  Bauten, 
Denkmälern  u.  s.  f  Die  Neugestaltung  des  Zeichenunterrichts,  der 
nur  noch  Gegenstände  aus  echtem  Material  als  Vorbild  \-erwendet, 
die  Handhabung  des  Musikunterrichts  und  die  Betonung  der  Litei-atur- 
betrachtune    lassen  die  ästhetische  Erziehung  auf  dem  Seminar,    wie- 


Die  Lehieihildungsanstalten.  271 

wohl  noch  ein  gesonderter  Kunstunterricht  fehlt,  als  eine  anregende 
und  aussichtsreiche  erscheinen. 

Ein  gesunder  Geist  wohnt  aber  nur  in  einem  gesunden  Körper. 
So  pflegt  denn  das  Seminar  in  umfangreicher  Weise  das  Turnen. 
Dazu  kommt  der  Betrieb  der  Turn-  und  Ballspiele;  wo  es  die  Ver- 
hältnisse irgend  erlauben,  wird  Schwimmunterricht  erteilt  —  und  an 
heiteren  Tagen  geht  es  mit  Gesang  durch  Wald  und  Flur  zur  Turn- 
und  Wanderfahrt!  All  das  fördert  die  körperliche  Ausbildung  des 
Präparanden  und  Seminaristen  und  hält  das  Gleichgewicht  gegen  die 
zum  Teil  aulserordentlichen  geistigen  Anstrengungen.  Fördernd  tritt 
hier  noch  die  Beschäftigung  mit  der  Landwirtschaft  ein,  wenngleich 
ihr  nur  recht  wenig  Zeit  gewidmet  werden  kann. 

Diese  Allgemeinbildung  will  den  Seminaristen  nicht  bloß  als 
Menschen  erziehen,  sondern  ihn  auch  speziell  für  seinen  Beruf  aus- 
bilden. Eine  Zeitlang  meinte  man,  einzelne  Kreise  glauben  es  auch 
heute,  der  Volksschullehrer  brauche  nicht  viel  mehr  zu  wissen  als  die 
\-on  ihm  zu  unterrichtenden  Kinder,  —  Pestalozzi  erklärte  sogar  noch, 
der  Lehrer  müsse  stets  eine  Seite  weiter  im  Buche  sein  als  seine 
Zöglinge!  Die  erhöhte  Bildung  des  Lehrers  wurde  für  eine  direkte 
Schädigung  der  Volkserziehung  angesehen,  weil  man  meinte,  er 
werde  dadurch  dem  Volke,  insbesondere  der  Landbevölkerung,  ent- 
fremdet. Wenn  es  nur  darauf  ankäme,  den  Kindern  einiges  Wissen 
,,ein  bißchen  ABC  und  Rechnen"  wie  man  wohl  manchmal  hört,  bei- 
zubringen, so  wären  gewiß  nicht  so  viele  Kenntnisse  des  Lehrers 
nötig.  So  aber  soll  er  zugleich  ein  Erzieher  sein,  er  soll  nicht  nur 
einige  wenige  Kinder,  sondern  oft  stark  gefüllte  Klassen  unterrichten, 
jeder  seiner  Zöglinge  soll  möglichst  das  der  Volksschule  gesteckte 
Ziel  erreichen.  Die  Erfahrung  lehrt,  daß  dazu  eine  ganz  andere  Aus- 
bildung nötig  ist,  als  teilweise  erforderlich  erachtet  wird.  Sie  zeigt 
weiter,  daß  die  steigende  Bildung  auch  die  Höhe  der  Kultur  eines 
Volkes  bedingt,  daß  für  den  Wettbewerb  auf  dem  Weltmarkt  die 
überlegene  Bildung  den  Erfolg  davon  trägt.  Die  Schule  und  mit  ihr 
der  Staat  hat  somit  das  größte  Interesse,  möglichst  gut  vorbereitete 
Lehrer  zu  erhalten.  Nicht  der  gebildete,  der  halbgebildete  Lehrer 
hat  kein  Verständnis  für  das  Volk  und  seine  Interessen. 

Darum  ist  eine  umfassende  Allgemeinbildung  für  den  Beruf  des 
Lehrers  nötig,  sie  ist  aber  auch  nötig,  damit  der  Stand  des  Volks- 
schullehrers das  nötige  Ansehen  genieße.  Unverstand  und  böser 
W^ille  hat  ihnen  lange  die  Anerkennung  versagt,  welche  ihr  schweres 
Amt  fordert.    Die  früheren  Zeiten,  wo  Handwerker  zur  Aufbesserung 


272  ^*'^  Volksschullehrerbildung. 

ihrer  kümmerlichen  Nahrung  die  SteUung  eines  „Schulmeisters"  neben- 
bei bekleideten,  die  Jahre,  in  denen  man  nach  den  Stürmen  von  1848 
die  Lehrerbildung  auf  das  einschneidendste  verringerte,  waren  ge- 
eignet, ein  verächtliches  Herabsehen  und  eine  Geringschätzung  des 
Volksschullehrerstandes  hervorzurufen.  Sein  rastloses  Vorwärtsstreben 
seit  den  60  er  Jahren,  die  gewaltige  Bewegung,  die  seit  etwa  10  bis 
12  Jahren  darnach  strebt,  durch  eine  ausgezeichnete  Bildung  sich  die 
Achtung  zu  erwerben,  die  sonst  den  Gebildeten  gezollt  wird,  haben 
darin  schon  einen  großen  Umschwung  hervorgerufen.  Auch  äul^er- 
lich  fand  die  gesteigerte  Lehrerbildung  ihre  Anerkennung,  indem 
das  Abgangszeugnis  seit  1896  zum  Einjährig-freiwilligen  Heeresdienst 
berechtigt. 

c)    Die   Bernfsansbildiuig. 

Die  Erziehung  zum  Lehrer  vollendet  sich  erst  in  der  Berufs- 
ausbildung. Die  erziehende  und  lehrende  Tätigkeit  seines  Amtes 
lernt  der  Seminarist  theoretisch  in  der  Pädagogik  und  Methodik, 
praktisch  in  der  Übungsschule  kennen.  Hierdurch  wird  er  zum 
Lehrer  erzogen,  der  sich  bewußt  bleiben  muß,  so  umfassend  auch 
seine  Allgemeinbildung  ist,  daß  sie  der  Volksbildung  dienen  soll, 
nicht  in  den  engen  Grenzen  der  Unterrichtsstunde  allein,  sondern 
weit  darüber  hinaus  im  Hause,  in  der  Gemeinde,  im  Staat.  Er  darf 
aber  nicht  vergessen,  daß  der  V^olksschule  bestimmte  Richtlinien  ge- 
geben .sind,  er  hat  sein  Wissen  und  seine  Bildung  in  die  rechten, 
dem  Volke  verständlichen  Formen  umzugießen.  Diese  Befähigung 
hat  ihm  die  Berufsausbildung  auf  dem  Seminar  zu  geben. 

IV.    Der  Unterrichtsstoff. 

1.     Allgemeines. 

Wiederholt  wurde  betont:  Präparandenanstalt  und  Seminar  bilden 
ein  Ganzes.  Vielfach  ist  gefordert  worden,  daß  der  Seminarist  seine 
Vorbildung  nicht  auf  der  Präparandenanstalt,  sondern  auf  einer  Schule 
genießen  soll,  die  eine  Allgemein-  aber  noch  keine  Fachbildung  gibt. 
Am  geeignetsten  sei  die  Realschule.  Der  Gedanke  hat  manches  für 
sich:  die  Entscheidung  zum  Lehrerberuf  erfolgt  nicht  bereits  mit  14 
oder  15,  sondern  erst  mit  17  oder  18  Jahren,  mancher  junge  Mann 
kann  dann  viel  besser  seine  körperliche  und  geistige  Befähigung  zur 
Erreichung  des  Zieles  erkennen.  Weiter  darf  der  Vorteil  nicht  zu 
gering  veranschlagt  werden,  solche  Elemente  zu  erhalten,  welche  eine 


Die  Lehrerbildungsanstalten.  273 

höhere  Lehfanstalt  erfolgreich  bis  Untersekunda  besucht  haben,  und 
endlich  kommen  dem  künftigen  Volksbildner  die  Vorzüge  einer  mit 
anderen  Berufsständen  gemeinsamen  Schule  bis  7Air  Aufnahme  ins 
Seminar  zugute. 

Diese  Forderung  ist  in  den  Lehrplänen  von  1901  nicht  berück- 
sichtigt worden.  Der  Hauptgrund  dürfte  in  der  Vermeidung  einer 
radikalen  Umgestaltung  des  Lehrerbildungswesens  zu  suchen  sein- 
Die  Allgemeineinführung  der  Realschule  als  Vorbereitungsanstalt  für 
das  Seminar  ohne  Erfahrungen,  wie  sie  z.  B.  jetzt  im  höheren  Schul- 
wesen durch  versuchsweise  Gründungen  von  Reformgymnasien  ge- 
macht werden,  würde  eine  derartige  Umwälzung  bedeutet  haben,  daß 
von  einer  organischen  Entwicklung  der  vorhandenen  Zustände,  die 
doch  allein  Erfolg  verspricht,  schwerlich  die  Rede  sein  könnte.  Be- 
sondere Veranstaltungen  hätten  getroffen  werden  müssen,  um  das  oft 
vorzügliche  Schülermaterial  vom  Lande  und  aus  den  kleinen  Städten 
dem  Lehrerstande  zu  erhalten.  Zudem  dürfte  die  ganze  Forderung 
ohne  Lösung  der  Einheitsschulfrage  sich  schwerlich  erledigen  lassen. 
Es  erscheint  nötig,  sofern  die  Realschule  als  Vorbereitungsanstalt 
zum  Seminar  anerkannt  wird,  daß  der  Kursus  auf  ihm  um  ein  Jahr 
verlängert  wird.  Der  Unterrichtsstoff  der  Präparandenanstalt  trägt 
übrigens  seit  der  Neuordnung  von  1901  weit  weniger  den  Charakter 
einer  für  einen  bestimmten  Beruf  zurechtgeschnittenen  Bildung,  nur 
in  der  Pensenverteilung  kommt  das  zum  Ausdruck. 

Die  Präparandenanstalt  übernimmt  ihre  Zöglinge  aus  verschie- 
denen Schulen.  Da  ist  es  die  Aufgabe  der  untersten  Klasse,  jene 
zusammenzuschweißen,  zu  gleicher  Bildungs-  und  Leistungsfähigkeit 
zu  fördern  und  ein  sicheres  Fundament  für  den  weiteren  Unterricht 
zu  schaffen.  Deshalb  wird  besonders  in  Rechtschreiben,  Rechnen  und 
Raumlehre  der  Volksschullehrstoff  der  Oberstufe  zum  Ausgangspunkt 
und  Gegenstand  grundlegender  Behandlung  genommen.  In  der  Prä- 
parandenanstalt stehen  die  Lernstoffe  in  vorderster  Reihe,  um  das 
Seminar  von  ihnen  zu  entlasten  und  diesem  einen  breiten  Raum  für 
Vermittlung  und  Vertiefung  der  Bildungsstoffe  zu  verschaffen.  Sie 
soll  aber  trotzdem  die  Förderung  der  Bildung  nicht  unterlassen. 

Verschiedene  Lehraufgaben  werden  in  der  Präparandenanstalt 
abgeschlossen :  Biblische  Geschichte,  Katechismus,  Kirchenlied,  deutsche 
Elementar-Grammatik,  alte  Geschichte,  die  Kenntnis  der  einzelnen 
Naturkörper  sowie  das  Schreiben.  Auch  das  Seminar  beendet  die 
wissenschaftliche  Bildung  einiger  Fächer  schon  vor  Schluß  des  ganzen 
Kursus    am  Ablauf   des    zweiten    Seminarjahres:    Mathematik,    Natur- 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  18 


274  r^i^  \'olksschullehierbilcluny. 

und  Erdkunde.  Nur  in  Pädagogik,  Religion,  Deutsch,  Geschichte 
und  in  der  fremden  Sprache  findet  in  der  Oberklasse  eine  wissen- 
schaftHche  Fortbildung  statt.  Im  Abschluß  jener  Fächer  in  der  zweiten 
Klasse  wollte  man  eine  Zurücksetzung  dieser  mehr  naturkundlichen 
Fächer  sehen,  die  eines  naturwissenschaftlichen  Jahrhunderts  unwürdig 
sei  und  eine  ungebührHche  Bevorzugung  der  Geistesfächer  (Pädagogik. 
Religion,  Deutsch,  Geschichte,  fremde  Sprachen)  bedeute.  Nun  ist 
es  schon  von  einem  der  hervorragendsten  Philosophen  der  Gegen- 
wart, von  Wilhelm  Wundt,  bezweifelt  worden,  ob  das  19.  Jahrhundert 
nicht  statt  des  Namens  eines  naturwissenschaftlichen  Zeitalters  eher  den 
eines  Zeitalters  der  Geisteswissenschaften  verdiene.  Da  aber  weiter 
die  Lehrpläne  dem  künftigen  Lehrer  eine  fachwissenschaftliche  und 
eine  rehgiös-vaterländische  Bildung  in  V'erbindung  mit  einer  intellek- 
tuell-ästhetischen geben  wollen,  so  können  die  mehr  naturwissenschaft- 
lichen Fächer  früher  zum  Abschluß  kommen.  Die  religiös-literarisch- 
ästhetische Bildung,  die  im  sog.  naturwissenschafthchen  Zeitalter  oft 
über  Gebühr  vernachlässigt  wurde  und  in  ihrer  vermehrten  Hervor- 
hebung eine  gesunde  und  notwendige  Reaktion  gegen  die  einseitig 
naturkundliche  Bildung  darstellt,  kann  des  letzten  Seminarjahres  nicht 
entbehren.  Sie  aber  befähigt  erst  zu  einer  ,, sinnigen  Naturbetrach- 
tung", welche  nach  dem  Vorgange  der  Regulative  durch  die  Allge- 
meinen Bestimmungen  vom  15.  Oktober  1872  für  die  Volksschule 
gefordert  wird.  Zudem  soll  das  Seminar  nicht  Leute  erziehen,  die 
später  einmal  einen  auf  dem  Naturwissen  fußenden  Beruf  ergreifen 
wollen,  — -  es  sollen  vielmehr  Lehrer  erzogen  werden,  die  Liebe  zur 
Natur  und  Verständnis  für  sie  besitzen.  Im  übrigen  trägt  die  Ober- 
klasse den  Charakter  der  Fachschule.  Die  methodische  Ausbildung 
sowie  das  praktische  Unterrichten  stehen  im  Vordergrund.  Durch 
Abschluß  von  Mathematik,  Natur-  und  Erdkunde  wird  für  die  Ober- 
klasse die  Zeit  zum  freien  Arbeiten  gefunden,  dem  auch,  für  alle 
Zöglinge,  der  monatlich  mindestens  einmal  anzusetzende  unterrichts- 
freie Arbeitstag,  auch  Studientag  genannt,  dient. 

In  großen  Zügen  würde  sich  demgemäß  die  Ausbildung  der 
Lehrer  jetzt  folgendermaßen  gestalten:  In  der  Präparandenanstalt 
(15.  bis  17.  Lebensjahr;  hauptsächlich  die  Lernstoffe,  in  der  Unter- 
und  Mittelklasse  des  Seminars  (18.  und  19.  Lebensjahr)  die  Ver- 
mittlung und  Vertiefung  der  Bildungsstoffe,  in  der  Oberklasse  (20.  Lebens- 
jahr) die  Fachausbildung. 

So  sehr  auch  die  Lehrpläne  von  1901  vielfach  Anerkennung  ge- 
funden haben,    so   erfuhr   doch   die  Behandlung   der  einzelnen  Fächer 


Die  Lelii-fibiklungsanstalten.  275 

hier  und  da  :\ni^riffc.  Man  hat  z.  B.  den  Lehrgang  als  dem  Charakter 
einzehier  Unterrichtsfacher  und  dem  eigentüniHchen  methodischen 
Aufbau  derselben  nicht  entsprechend  bezeichnet.  Diese  Forderung 
ist  für  die  Schule,  auch  noch  für  die  Präparandenanstalt  berechtigt, 
bei  der  sie  übrigens  durchaus  Berücksichtigung  fand;  für  das  Seminar 
würde  sie  aber  nicht  mehr  zutreffend  sein.  Bei  dem  Lebensalter  der 
Seminaristen,  die  bald  in  den  praktischen  Beruf  treten  wollen,  bei 
den  Forderungen  der  Gegenwart  nach  einer  erhöhten  Bildung  hat  die 
Unterrichtsverwaltung  sich  bei  Aufstellung  der  Lehrpläne  in  den 
verschiedenen  Fächern  \-on  den  einzelnen  Wissenschaften,  wie  sie  sich 
gegenwärtig  gestalten,  leiten  lassen.  Das  Anlehnen  an  die  Wissenschaft 
kommt  auch  darin  zum  Ausdruck,  daß  auf  möglichst  umfangreiche 
Benutzung  der  Quellen  gedrungen  und  die  Mitteilung  der  für  die 
Weiterbildung  in  den  einzelnen  Fächern  empfehlenswerten  Literatur 
geboten  wird. 

Zum  Schluß  sei  noch  betont,  daß  die  Lehrpläne  durchaus  dem 
Leben  der  Gegenwart  angepaßt,  aktuell  sind,  wie  man  wohl  manchmal 
sich  ausdrückt.  Denn  stets  ist  großer  Nachdruck  auf  den  gegen- 
wärtigen Zustand  der  Kultur  und  auf  das  Lieinandergreifen  der  ein- 
zelnen Fächer  und  den  Zusammenhang  untereinander  gelegt. 

2.    Die   wissenschaftlichen   Fächer. 
aj    Die  Geis^esiuissenschaf/en, 

I.  Pädagogik.  An  der  Spitze  der  für  den  künftigen  Lehrer 
nötigen  Geisteswissenschaften  steht  die  Pädagogik.  Bisher  geschah 
die  Einführung  in  sie  auf  geschichtlichem  Wege.  Jetzt  wird  die 
Psychologie  als  Grundlage  der  pädagogischen  Unterweisung  an  den 
Anfang  gestellt.  Es  ist  naturgemäß,  daß  der  künftige  Lehrer  das 
Material,  auf  das  er  einwirken  soll,  erst  einmal  kenwen  lernen  muß. 
Jahrzehntelang  vernachlässigte  die  Pädagogik,  wie  übrigens  auch  andere 
Wissenschaften,  die  Psychologie.  Mit  praktischen  Unterrichts-  und 
Erziehungsregeln,  mit  einer  mehr  oder  minder  auf  dem  Zufall  be- 
ruhenden empirischen  Kenntnis  der  Kinderseele  ist  wenig  zu  er- 
reichen. Erst  die  eingehende  theoretische  Vertiefung  in  die  Vor- 
gänge und  Zusammenhänge  des  Seelenlebens  ermöglicht  die  für 
Unterricht  und  Erziehung  nötigen  Richtlinien  zu  geben  und  in  das 
Verständnis  der  Kinderseele  und  ihrer  Behandlung  einzudringen. 
Allerdings  liegt  die  Gefahr  vor,  daß  sich  die  Psychologie  von  der 
Praxis  leicht  zu  weit  entfernt.    Das  Seminar  darf  auch  seine  Aufgabe 


276  Die  Volksschullehrerbildung. 

nicht  in  einer  experimentellen  Psychologie  suchen,  wenngleich  der 
Zögling  nicht  in  Unkenntnis  über  sie  bleiben  soll.  Der  Schwerpunkt 
liegt  für  den  künftigen  Erzieher  nicht  auf  den  psychologischen 
Ursachen  des  Sinnen-  und  Seelenlebens,  sondern  auf  der  Entwicklung, 
den  Tatsachen  und  Gesetzen  des  seelischen  Lebens  des  Menschen. 
Besondere  Rücksicht  wird  dabei  auf  das  Kind  zu  nehmen  sein;  eine 
reine  Psychologie  der  Kinder  zu  geben  wäre  einseitig ;  erst  die  Kenntnis 
des  Seelenlebens  der  Erwachsenen  erschließt  das  nötige  Verständnis 
für  das  des  Kindes.  Der  oben  angedeuteten  Gefahr,  daß  die 
Psychologie  > graue  Theorie:  bleibt,  wird  durch  die  Bestimmung  be- 
gegnet, »reichliche  Veranschaulichungsmittel«  auf  Grund  von  Beobach- 
tung, Erfahrung  und  Beispielen  vorzuführen.  Auch  die  pathologische 
Psychologie  hat  eine  Stätte  gefunden.  Wie  die  Gegenwart  viele  ge- 
richtlich strafbare  Handlungen  auf  den  nicht  normalen  geistigen  Zu- 
stand des  Schuldigen  zurückführt  und  ihn  dann  straflos  läßt,  w^eil  er 
für  sein  Tun  die  Verantwortlichheit  nicht  besaß,  so  hat  auch  die  Er- 
ziehungswissenschaft erkannt,  daß  manche  Verfehlung  der  Kinder  in 
ihrem  Betragen  und  namentlich  in  bezug  auf  Fleiß  nicht  im  bösen 
Willen  sondern  in  Krankheitszuständen  zu  suchen  ist.  Gerade  hier 
müssen  dem  künftigen  Lehrer  die  Augen  geöffnet  werden,  sonst  wird 
er  leicht  trotz  angestrengtester  Arbeit  keine  Erfolge  aufweisen,  sonst 
wird  er  seine  Schüler  falsch  beurteilen  und  durch  unangebrachte 
Strafen  und  Worte  Verzagtheit  der  Kinder  und  Verbitterung  in  ihren 
Herzen  erzeugen.  Andererseits  vermag  die  Gefahr  einzutreten, 
Krankheitszustände  der  Kinder  arg  zu  überschätzen.  Darum  muß 
auch  hierfür  der  Lehrer  Verständnis  besitzen,  wie  er  ein  schwach 
veranlagtes  oder  durch  Krankheit  mitgenommenes  Kind  zum  Lernen 
anspornt,  Arbeitsfreudigkeit  und  Selbstvertrauen  in  ihm  weckt.  Auch 
um  der  Eltern  willen  ist  dies  sehr  notwendig,  da  diese  —  namentlich 
aus  den  sogenannten  gebildeten  Kreisen  —  die  Untugenden  ihrer 
Sprößlinge  gar  zu  gern  mit  > Nervosität«  entschuldigen,  während  oft 
weiter  nichts  als  höchst  mangelhafte  Erziehung  vorliegt. 

Der  Psychologie  werden  drei  Vierteljahre  in  der  3.  Seminarklasse,  der  Unterklasse, 
gewidmet,  der  allgemeinen  Unterrichtslehre  ist  ein  Vierteljahr  vorbehalten ;  in  der  2.,  der 
Mittelklasse,  bleibt  für  die  Erziehungslehre  ein  halbes  Jahr.  Da  sich  die  Erziehungs-  und 
Unterrichtslehre  durchaus  auf  der  Psychologie  aufbauen  soll,  so  wird  letztere  ein  und 
ein  halbes  Jahr,  also  die  Hälfte  der  Seminarzeit  getrieben,  während  die  andere  Hälfte  für 
die  Geschichte  der  Pädagogik  und  die  Schulkunde  aufgespart  bleibt.  Für  die  Pädagogik 
sind  in  allen  drei  Klassen  je  drei  Stunden  wöchentlich  festgesetzt. 

In  der  Seelen-,  Erziehungs-  und  allgemeinen  Unterrichtslehre  wird  dauernd  auf  die 
Quelle,  nämlich  die  menschliche  bezw.  Kindesseele,  zurückgegangen,  ebenso  stützt 
sich  die  Geschichte  der  Pädagogik  auf  die  Quellen.    Hier  entwirft  nämlich  der  Unterriclit 


Die  Lehrerhildungsaiislalten.  277 

iiiihl  bloß  lebensvolle  Bilder  der  bedeutungsvollsten  Persönlichkeiten,  sondern  ihre  Haupt- 
werke werden  ganz  oder  in  den  wichtigsten  Abschnitten  —  teilweise  unter  Zuhilfenahme 
der  Privatlektüre  —  gelesen  und  erklärt.  Die  Auswahl  ist  so  zu  treffen,  daß  die  päda- 
gogische Bedeutung  der  Persönhchkeit  klar  vor  Augen  steht,  daß  aber  auch  hervortritt, 
was  für  die  Gestaltung  des  Schulwesens  von  Einfluß  war  und  jetzt  noch  nachwirkt  und 
heute  noch  nachahmenswert  bleibt.  Zur  eingehenden  Behandlung  kommt  das  Schulwesen 
in  den  letzten  vier  Jahrhunderten,  nur  im  Überblick  dagegen  unter  Hervorhebung  des 
Hauptsächlichsten,  die  Zeit  vor  der  Reformation.  Aber  die  Beziehungen  der  Pädagogik 
zur  Kultur  der  Vergangenheit  und  Ciegenwart  dürfen,  gemäß  den  Vorschriften,  nie  ver- 
gessen werden.  Gerade  das  Suchen  der  Wechselwirkung  zwischen  Erziehung  und  Unter- 
richt zu  dem  Geistesleben  der  verschiedenen  Zeiten  vermag  über  die  wahre  Bedeutung 
der  Pädagogik,  die  keine  Sonderentwicklung,  vielmehr  ein  Teil  des  Geisteslebens  der 
Nationen  ist,  aufzuklären.  Die  Geschichte  der  Pädagogik  —  spezielle  Rücksicht  erfährt 
dabei  die  Volksschule  —  ist  bis  zur  Gegenwart  durchzuführen  und  mit  der  gegenwärtigen 
Kultur  in  Verbindung  zu  setzen.  Dadurch  soll  auch  im  künftigen  Lehrer  das  Verständnis 
und  das  Interesse  für  die  pädagogischen  Bestrebungen  und  Aufgaben  der  Gegenwart  hin- 
reichend geweckt  werden,  damit  er  später  mit  Erfolg  auf  diesem  (lebiete  weiter 
studieren  kann. 

Ihren  Abschluß  findet  die  Geschichte  der  Pädagogik  durch  die 
Schulkunde,  welche  die  jetzigen  Schuleinrichtungen,  die  Schul- 
verwaltung, die  behördlichen  Verordnungen  und  die  Anforderungen 
der  Schulgesundheitspflege  bespricht.  Letzterer  Zweig  der  Erziehungs- 
wissenschaft ist  sehr  wichtig.  Was  nützen  alle  theoretischen 
Forderungen  auf  diesem  Gebiete,  wenn  sie  nicht  verwirklicht  werden ; 
gerade  der  Lehrer  auf  dem  Lande  muß  hier  gut  orientiert  sein,  durch 
energisches  und  aufmerksames  Eingreifen  vermag  er  Epidemien  vor- 
zubeugen und  beizutragen,  entstehende  zu  beschränken.  Gerade  das 
Vorbild  des  Schulhauses  in  bezug  auf  Sauberkeit,  Licht  und  Luft  kann 
vorbildlich  auf  die  Landbevölkerung  wirken. 

2.  Evangelische  Religion.  Für  den  Religionsunterricht,  so- 
wohl für  den  evangelischen  wie  den  katholischen,  sind  in  der  3.  und 
2.  Klasse  der  Präparandenanstalt  je  vier,  in  der  1 .  (obersten)  dagegen 
drei  wöchentliche  Stunden  festgesetzt,  im  Seminar  je  drei  für  jede 
Klasse.  In  der  2.  Klasse  tritt  noch  eine  Stunde  zur  Abhaltung  von 
Religionslektionen  in  der  Übungsschule  hinzu,  während  in  der  1 .  Klasse 
eine  Stunde  der  theoretischen  Religionsmethodik  vorbehalten  ist. 

Als  Ziel  des  evangelischen  Religionsunterrichts  ist  bestimmt:  Vertrautheit  mit  der 
biblischen  Geschichte,  sicheres  Verständnis  des  Katechismus,  Kenntnis  des  Wichtigsten 
aus  der  evangelischen  Kirchenlieddichtung,  Einsicht  in  die  Geschichte  der  Gründung  und 
in  die  Haupttatsachen  der  äußeren  Entwicklung  der  Kirche. 

Die  Religion,  die  wichtigste  Angelegenheit  des  Menschen,  fordert  wie  kein  Fach 
auf  die  Quelle,  hier  die  Bibel,  zurückzugehen.  Die  Volksschule  vermag  sich  ihr  wegen 
des  noch  zu  geringen  Verständnisses  der  Kinder  nicht  direkt,  sondern  nur  auf  Hilfswegen 
oder  um  ein  Wort  Luthers  hierauf  anzuwenden,  durch  „Flüßlein,  die  zum  Brunnen  leiten", 
zu  nähern,  nämlich  durch  biblische  Geschichte,  Katechismus  und  Kirchenlied;  erst  der 
Oberstufe    kann    die    Bibel    in    die  Hand  gegeben  werden.     Die  Präparandenanstalt  gehl 


278  I^'<?  \'olksfchullelirerbildung. 

schon  ganz  anders  auf  sie  zurück.  Die  wichtigsten  beschichten  des  Alten  Testaments 
werden  in  der  Bibel  gelesen,  das  Leben  Jesu  schließt  sich  an  eins  der  Evangelien  unter 
Ergänzung  aus  den  andern  an,  während  als  Quelle  des  apostolischen  Zeitalters  die 
Apostelgeschichte  gelesen  wird.  Das  Seminar  arbeitet  sodann,  von  der  Kirchengeschichte 
abgesehen,  völlig  nach  der  Quelle,  der  Bibel.  Dies  geschieht  auch  bei  der  Glaubens- 
und Sittenlehre,  die  sich  in  ihrer  äußeren  (Irdnung  an  die  drei  (ilaubensartikel  des 
Eutherischen  Katechismus  anschließt. 

Auf  der  Präparandenanstalt  hat  der  biblische  C Geschichtsunterricht  eine  tbersicht 
über  die  Entwicklung  der  heiligen  Geschichte,  Einblick  in  den  inneren  Zusammenhang 
der  Ereignisse,  Erkenntnis  der  Eigenart  und  heilsgeschichtlichen  Bedeutung  der  einzelnen 
Zeitabschnitte  und  der  wichtigsten  Personen,  Verständnis  der  in  den  biblischen  Ge- 
schichten enthaltenen  religiös-sittlichen  Wahrheiten  zu  vermitteln.  Die  wichtigsten  Ge- 
schichten sind  eingehend  durchzunehmen  und  ist  ein  genaues  Verständnis  derselben  hin- 
sichtlich der  Worte  und  des  Sachinhalts,  wie  hinsichthch  der  religiös-sittlichen  Haupt- 
gedanken herbeizuführen.  Die  biblische  Geschichte  des  Alten  Testamentes  wird  in  der 
3.  Klasse,  die  des  Neuen  Testaments  unter  Einschluß  des  Lebens  Jesu  in  der  2.  Klasse 
behandelt.  Die  Präparanden  sind  zudem  mit  dem  Schauplatz  der  heiligen  Geschichte, 
sowie  mit  den  geschichtlichen  Verhältnissen  Palästinas  und  der  angrenzenden  Länder 
bekannt  zu  machen.  Für  die  1.  Klasse  ist  das  Lesen  der  Apostelgeschichte  vorgesehen. 
An  sie  schließen  sich  einige  Bilder  aus  der  Apostelgeschichte  an.  Dabei  liegt  der  Nach- 
druck darauf,  die  äußere  Entwicklung  der  christlichen  Kirche  in  den  Hauptzügen  zu  ver- 
mitteln. Man  hat  getadelt,  daß  die  Kirchengeschichte  zweimal  eine  Stätte  an  den  Lehrer- 
bildungsanstalten findet;  es  wäre  dies  eine  unnütze  Zerreißung  des  Stoffes  und  bei  dem 
Grundsatze,  daß  Präparandenanstalt  und  Seminar  ein  organisches  Ganze  bilden,  ein  Neu- 
aufnehmen des  durch  ihn  im  Seminarunterricht  mit  Fug  und  Recht  abgeschafften  Arbeitens 
in  konzentrischen  Kreisen.  Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  das  Seminar  in  gewissem 
Sinne  doch  in  konzentrischen  Kreisen  arbeitet,  indem  es  in  allen  Fächern,  von  der 
Pädagogik  abgesehen,  sich  auf  dem  Wissen  der  Volksschule  aufbaut  und  dieses,  allerdings 
ganz  wesentlich,  erweitert.  Soll  der  Seminarist  wirklich  einen  Einblick  in  die  innere 
Entwicklung  der  christlichen  Kirche  erhalten,  soll  er  ihre  Geschichte  als  den  Siegeslaui 
des  Christentums  erkennen,  dann  muß  er  in  der  Hauptsache  mit  den  äußeren  Ereignissen 
der  Kirchengeschichte  vertraut  sein,  aber  das  wenige,  was  die  Oberstufe  der  \'olksschule 
gibt,  dürfte  dazu  nicht  ausreichen. 

Auch  einen  Teil  der  inneren  Kirchengeschichte  behandelt  die  Präparandenanstalt, 
nämlich  die  Geschichte  des  evangelischen  Kirchenliedes.  Fast  scheint  es,  als  habe  die 
Gegenwart  ein  weit  geringeres  Verständnis  für  das  Gesangbuch  als  frühere  Zeiten: 
Kirchenpolitische  und  wissenschaftlich-theologische  Fragen  sowie  die  innere  Mission 
stehen  im  \'ordergrund,  und  in  der  Religionsmethodik  hat  sich  das  Interesse  auf  die 
Person  Jesu  Christi  konzentriert.  Auch  verursachte  das  früher  recht  beliebte  Herunter- 
plappern der  Dichterbiographien  eine  Geringschätzung  der  Geschichte  des  Kirchenliedes. 
Das  Kirchenlied  ist  ein  Teil  der  Geistesgeschichte  der  Kirche,  ja  es  ist  vielfach  das 
Geistesleben  der  evangelischen  Gemeinde.  Ein  Trostbuch  bietet  es,  wie  kein  zweites 
menschliches  Buch;  hier  haben  die  großen  Heilstatsachen  der  Bibel  in  den  Irrsalen  und 
Leiden  dieses  Lebens  eine  Form  gefunden,  hier  haben  sie  sich  bei  den  Gläubigen  be- 
währt. Der  Autoritätsbeweis  spielt  im  Menschenleben  eine  große  Rolle:  Kirchenlied  und 
Gesangbuch  sind  der  Erfahrungsbeweis  früherer  Generationen  von  der  Wahrheit  und  der 
einzigartigen  Kraft  der  christlichen  Religion.  Darum  verdient  das  Gesangbuch  höher 
geschätzt  zu  werden  als  es  in  der  Gemeinde  und  im  Unterricht  der  P'all  ist.  Die  Lehr- 
pläne kommen  dem  entgegen,  wenn  sie  die  Geschichte  des  Kirchenliedes  zu  einer  Lieder- 
kunde ausgestalten.  Nicht  nur  eine  Reihe  von  Kirchenliedern  sowie  von  Psalmen,  — 
man  hat  den  Psalter  das  Gesangbuch  des  Alten  Bundes  genannt  — ,  stehen  zur  Behandlung^ 
auch    sind    den  Lebensbildern    der    namhaftesten  Liederdichter    ihre    bedeutendsten   Zeit- 


Die  Lehrerbildiingsanstiihen.  2/9 

fjenossen  und  Geistesverwandten  anzureihen.  Durch  Lesung  selbst  von  nicht  zu  lernenden 
Liedern  und  indem  unter  Zuhilfenahme  dieser  Quellen  das  Wesen  und  die  Eigenart  der 
einzelnen  Abschnitte  des  Entwicklungsganges  der  Kirchenlieddichtung  zum  Verständnis 
gebracht  wird,  erweist  sich  die  oft  für  unfruchtbar  gehaltene  unterrichtliche  Behandlung 
der  Geschichte  des  evangelischen  Kirchenliedes  als  ein  Teil  der  Geistesgeschichte  der 
christlichen  Kirche,  insbesondere  der  evangelischen  (lemeinde,  zumal  auch  gerade  die 
neueste  Zeit  und  Gegenwart,  mit  einem  Wort  das  geistliche  Volkslied  des  19.  Jahr- 
hunderts, zur  Besprechung  konmit. 

Gleichfalls  in  die  innere  Cieschichte  der  Kirche  führen  die  Belehrungen  über  das 
Kirchenjahr,  wobei  die  Perikopen  besondere  Berücksichtigung  finden  sollen.  Hier  bietet 
-ich  eine  vorzügliche  Gelegenheit,  auf  die  Festgebräuche  des  \'olkes  nachdrücklichst  hin- 
zuweisen; der  künftige  Volksbildner  erhielte  dadurch  die  für  sein  Amt  so  wichtige  An- 
regung, den  Blick  auf  das  deutsche  Volkstum  zu  richten,  dessen  verständnisvoller  Pfleger 
er  gerade  auf  dem  Lande  sein  soll.  Gleichfalls  einen  Einbhck  in  das  innere  Leben  der 
Kirche  gibt  die  Einführung  in  das  Wesen  des  öffentlichen  Gottesdienstes.  Zahlreichen 
Christen  ist  die  Liturgie  weiter  nichts  als  eine  zusammenhangslose  Aneinanderreihung; 
da  gilt  es,  den  angehenden  Lehrer  zu  orientieren,  wie  der  evangelische  Gottesdienst  ein 
wohldurchdachtes,  sich  aus  dem  Wesen  der  evangelischen  Gemeinde  ergebendes  zu- 
^ammenhängendes  Ganze  bildet.  Der  lutherische  Katechismus  wird  ganz  durchgesprochen 
und  in  erweiterter  Form  und  größerer  Vertiefung  behandelt  als  in  der  Volksschule.  Die 
biljlische  Geschichte  als  solche,  Katechismus  und  Kirchenlied  gelangen,  wie  schon  er- 
wähnt, in  der   Präparandenanstalt  zum  Abschluß. 

Im  Seminar  wird  die  Hälfte  der  für  den  Religionsunterricht  angesetzten  Zeit  der 
Bibelkunde,  die  andere  der  Kirchengeschichte,  Glaubens-  und  Sittenlehre  gewidmet. 

Die  Bibelkunde  soll  eingehend  betrieben  werden.  Sie  umfaßt  sowohl  Entstehung 
wie  Sammlung  der  biblischen  Bücher  als  auch  ihren  Inhalt.  Die  theologische  Wissen- 
schaft hat  in  den  letzten  Jahrzehnten  Hervorragendes  auf  dem  Gebiete  der  Bibelkritik 
geleistet.  Lange  ist  die  Frage  erörtert  worden,  ob  der  künftige  Lehrer  davon  etwas  er- 
fahren solle.  Oft  ist  mit  „nein"  darauf  geantwortet  worden.  Man  hielt  ihn  für  unfähig, 
solchen  Ausführungen  zu  folgen,  man  befürchtete  allen  Ernstes,  ihn  durch  die  Bibelkritik 
zum  Irrgläubigen  zu  machen,  und  vergaß,  daß  die  Bibel  keine  Kritik  zu  fürchten  braucht, 
daß  Gottes  Wort  aus  allen  Angriffen  siegreich  hervorgehen  wird!  Das  war  das  Ergebnis 
der  Forschungen  über  die  Entstehung  der  biblischen  Bücher,  daß  die  Heilstatsachen,  die 
den  wahren  Inhalt  der  Bibel  ausmachen,  nicht  im  geringsten  erschüttert  sind.  Im  Gegen- 
teil gerade  nach  Scheidung  des  Wesentlichen  vom  Unwesentlichen,  tritt  die  Wucht  der 
göttlichen  Heilsratschläge  um  so  leuchtender  und  unanfechtbarer  hervor.  Indem  sie  das 
als  ein  menschliches  Gewand  erwies,  was  menschlich  an  der  Bibel  ist,  hat  die  Bibelkritik 
die  ewige,  unerschütterliche  Wahrheit  der  Heiligen  Schrift  um  so  gewaltiger  er- 
kennen lassen. 

In  den  rein  wissenschaftlichen  Büchern  der  Theologie  tritt  dies,  als  dem  Zwecke 
des  behandelten  Themas  nicht  entsprechend,  oft  nicht  hervor.  So  kam  es,  daß  der  auf  tlem 
Seminar  vor  der  neueren  theologischen  Forschung  sorgsamst  behütete  Lehrer,  wenn  er 
in  das  Amt  trat  und  zu  theologischen  Büchern  grifl'  —  und  der  in  der  deutschen  Lehrer- 
schaft wohnende  Geist  trieb  ihn  oft  dazu  — ,  oder  wenn  die  Zeitungen  unverstanden 
einige  Ergebnisse  der  Bibelkritik  mitteilten,  sich  verächtlich  vom  Christentum  abwandte, 
nur  weil  er,  und  mit  ihm  zahlreiche  •  Gebildete,  meinten,  wenn  die  fünf  Bücher  ISIose 
nicht  von  Mose,  oder  das  2L  Kapitel  des  Johannesevangeliums  nicht  von  Johannes  her- 
stammte, usw.,  dann  sei  alles,  was  die  christliche  Religion  lehre,  unwahr.  Darum  muß 
es  die  Aufgabe  des  Seminars  sein,  den  künftigen  Lehrer  in  die  Bibelkritik  einzuführen 
und  ihm  vor  allem  zu  zeigen,  daß  durch  sie  die  Heilstatsachen  nicht  im  geringsten  er- 
schüttert,  sie  vielmehr  gestützt  werden!     Hierdurch  wird  er  gewappnet,  den  Angriffen  auf 


280  r>ie  Volksschullehreibildung. 

die  Religion  nicht  nur  zu  seinem  eigenen  Nutzen,  sondern  im  Interesse  des  Christentums 
entgegenzutreten.  Die  Frage  aber,  soll  der  Seminarist  etwas  von  der  Bibelkritik  erfahren, 
haben  die  Lehrpläne  von  1901   bejaht. 

Die  Entstehung  des  Kanons  und  der  biblischen  Schriften  ist  meist  hochinteressant, 
und  damit  liegt  die  Gefahr  vor,  daß  der  Inhalt  der  Bibel  zurücktritt.  Er  muß  aber  stets 
die  Hauptsache  bleiben,  so  verlockend  es  auch  sein  mag,  der  Bibelkritik  einen  breiten 
Raum  zu  gew  ähren.  Aus  dem  Alten  Testament  —  ein  halbes  Jahr  ist  hierfür  vorgesehen  — 
sind  die  Psalmen  und  prophetischen  Schriften  genauer  zu  behandeln  unter  besonderer 
Rücksicht  auf  die  Entwicklung  der  Heilsideen.  Im  Anschluß  an  die  behandelten  Bibel- 
stellen ist  dann  eine  zusammenfassende  Darstellung  der  göttlichen  Heilsgeschichte  im 
Alten  Bund  zu  geben. 

Die  neutestamentliche  Bibelkunde  soll  in  die  Eigenart  der  Evangelien  und  in  ihr 
gegenseitiges  Verhältnis  einführen.  Hauptsächlich  ist  aber  eine  eingehende  und  zusammen- 
fassende Darstellung  der  Lehrtätigkeit  Jesu  auf  Grund  der  Bergpredigt,  der  Gleichnisse 
und  der  johanneischen  Reden  zu  bieten.  Hierfür  ist  ebenfalls  ein  halbes  Jahr  bestimmt. 
Der  Römerbrief  ist  ganz  zu  lesen,  möglichst  auch  andere  Briefe.  xA.us  den  nicht  ein- 
gehend behandelten  Briefen  sind  wichtige,  ihre  Eigenart  und  ihren  Zweck  erkennen- 
lassende Stellen  zu  lesen  und  zu  erklären.  Ein  Überblick  über  die  Heilsgeschichte  des 
Neuen  Bundes  bildet  den  naturgemäßen  Abschluß. 

Das  zweite  Halbjahr  der  2.  Klasse  ist  der  Kirchengeschichte  gewidmet,  besonderer 
Nachdruck  liegt  auf  der  Entwicklung  und  dem  Leben  der  Kirche  der  Gegenwart.  Gerade 
für  die  Jetztzeit  ist  die  oft  arg  vernachlässigte  Kirchengeschichte  hochwichtig.  Sie  bringt 
den  geschichtlichen  Beweis  von  der  Wahrheit  des  Christentums.  Dem  künftigen  Volks- 
erzieher muß  der  Siegeszug  des  Christentums  gezeigt,  ihm  muß  das  Auge  für  die  religiösen 
Aufgaben  und  Forderungen  der  heutigen  Zeit  geöffnet  werden,  dann  wird  er,  ausgestattet 
mit  tiefem  Bibelverständnis,  den  Angriffen  auf  die  christliche  Lehre,  auf  Sitte  und  Vater- 
land die  Stirn  bieten  können  I  Wichtig  ist  es,  die  Kirchengeschichte  stets  mit 
Rücksicht  auf  die  Weltgeschichte  und  die  geistigen  Strömungen  zu  behandeln.  Sie 
ist  keine  Sonderentwicklung,  sondern  ein  Teil  der  allgemeinen  Menschengeschichte,  die 
sich  in  verschiedenen  Richtungen  zeigt,  sei  es  als  äußere  Geschichte,  oder  als  Geschichte 
der  Kirche,  der  Literatur,  der  Kunst,  der  Wissenschaften  usw.  Und  so  wird  auch  sie  bei- 
tragen, den  geschichtlichen  Sinn  zu  wecken,  der  gerade  jetzt  so  notwendig  ist,  um  die 
Aufgaben  der  Gegenwart  zu  verstehen. 

Die  Glaubens-  und  Sittenlehre,  für  die  ein  Jahr  vorbehalten  ist,  soll  nach  keinem 
dogmatischen  System  oder  Hilfsbuch  sondern  im  Anschluß  an  die  drei  Glaubensartikel 
auf  Gnmdlage  des  aus  der  Bibel  erarbeiteten  Stoffes  gegeben  werden.  Damit  wird  der 
(jefahr  vorgebeugt,  daß  etwa  die  dogmatische  Anschauung  eines  Theologen  oder  einer 
theologischen  Richtung  einseitig  gelehrt  werde.  Glaube  und  Sitte  muß  sich  allein  auf 
der  Heihgen  Schrift  aufbauen.  Ein  Heranziehen  der  Augsburgischen  Konfession  wird  zu 
empfehlen  sein;  eine  oft  bedauernswerte  L'nkenntnis  dieses  wichtigsten  Symbols  der 
evangelischen  Kirche  ist  nur  zu  oft  zu  verspüren. 

Seit  Erlaß  der  neuen  Lehrpläne  hat  der  Religions-Ünterricht 
auf  dem  Seminar  einen  großen  Aufschwung  genommen  und  großes 
Interesse  seitens  der  Seminaristen  gefunden.  Aber  trotzdem  bleibt 
die  Hauptaufgabe  des  Unterrichts  Religionslehrer  heranzubilden,  die 
durch  und  durch  Christen  sind,  welche  die  Religion  nicht  nur  als  ein 
von  der  Behörde  zur  unterrichtlichen  Behandlung  vorgeschriebenes 
Fach  betrachten,  denen  vielmehr  die  Religion  Herzensangelegenheit 
ist,   die  es  verstehen,  auch  ihren  Schülern  und  Schülerinnen  Religion 


Die  Lehrerbildungsanstalten.  281 

ZU  geben.  Ausdrücklich  fordern  die  Lehrpläne  charaktervolle  Persön- 
lichkeiten heranzubilden,  welche  befähigt  sind,  als  Lehrer  und  Vor- 
bilder segensreich  auf  die  Jugend  einzuwirken.  Das  ist  die  schwerste 
Aufgabe  für  den  Religionslehrer  am  Seminar,  hierfür  lassen  sich  keine 
bestimmten  Regeln  aufstellen,  seine  Persönlichkeit  wird  das  meiste 
dazu  tun  müssen! 

3.  Katholische  Religion.  Als  Ziel  des  katholischen  Religions- 
unterrichts wird  bezeichnet: 

Die  Schüler  sind  zu  einer  gründlichen  Kenntnis  der  katholischen  Glaubens-,  Sitten- 
und  Gnadenlehre,  wie  sie  im  Katechismus  niedergelegt  ist,  zu  genauer  Bekanntschaft  mit 
der  biblischen  Geschichte  und  den  wichtigsten  Personen  und  Begebenheiten  der  Kirchen- 
geschichte, zur  Vertrautheit  mit  dem  Kirchenjahre,  den  gottesdienstlichen  Gebräuchen, 
Gesängen  und  Gebeten  zu  führen.  Die  biblische  Geschichte  des  Alten  und  Neuen 
Testaments  wird  in  der  Präparandenanstalt  unter  Herausarbeitung  der  in  ihnen  enthaltenen 
Glaubenswahrheiten  und  der  heilsgeschichtlichen  Entwicklung  vollständig  behandelt ;  auch 
die  biblische  Geographie  wird  erledigt.  Ebenso  erfolgt  vollständig  die  Behandlung  des 
Katechismus  unter  Heranziehung  der  biblischen  Geschichte,  der  Heiligenlegende,  des 
Kirchenliedes  und  der  gottesdienstlichen  Übungen.  Die  Schriftstellen  sind  zum  Ver- 
ständnis zu  bringen,  und  ihre  Beweiskraft  ist  klarzulegen.  P'erner  erfolgt  die  Einführung 
in  den  inneren  Zusammenhang  der  Hauptfeste  des  Kirchenjahres  und  in  das  praktisch- 
kirchliche Leben  durch  das  Lesen  und  Erklären  der  Sonntags-  und  Festevangelien  und 
die  Erklärung  des  Kirchenjahres.  Ebenso  werden  eine  Reihe  von  Kirchenliedern  und 
Hymnen  gelernt,  sowie  die  für  den  katholischen  Christen  aus  religiöser  Pflicht  in  Kirche, 
Schule  und  Haus  gebotenen  Gebete.  Außerdem  ist  eine  Reihe  von  Lebensbildern  hervor- 
ragender Heiligen,  vor  allem  von  den  Diözesan-  und  Schutzheiligen  zu  geben. 

Das  Seminar  vertieft  den  biblischen  Geschichtsunterricht  in  Verbindung  mit  der 
Bibelkunde  und  biblischen  Geographie  und  gibt  die  Glaubens-,  Sitten-  und  Gnadenlehre 
in  erweiterter  Form  und  größerer  Vertiefung.  Die  Liturgik  wird  im  Zusammenhang  er- 
örtert und  die  Kirchengeschichte  bis  zur  Gegenwart  behandelt. 

4.  Deutsch.  Gegen  die  höheren  Lehranstalten  wird  oft  der 
Vorwurf  erhoben,  sie  vernachlässigten  den  deutschen  Unterricht  zu 
Gunsten  der  Fremdsprachen.  Für  das  Seminar  trifft  dies  nicht  zu. 
Er  steht  als  der  nationalste  Bildung.sstoff  nach  Stundenzahl  und  nach 
Pensum  im  Mittelpunkte  des  Unterrichts,  wie  es  sich  für  eine  Lehrer- 
bildungsanstalt eigentlich  von  selbst  versteht.  In  den  Klassen  der 
Präparandenanstalt  und  in  der  3.  und  2.  Klasse  des  Seminars  werden 
je  fünf,  in  der  1.  Seminarklasse  drei  Stunden  wöchentlich  erteilt.  Je 
eine  Stunde  ist  in  der  2.  Klasse  für  das  praktische  Unterrichten  in 
der  Übungsschule,  in  der  1.  Klasse  für  die  Methodik  vorbehalten. 

Als  Ziel  des  Unterrichts  wird  bezeichnet:  Fertigkeit  im  richtigen  mündlichen  und 
schriftlichen  Gebrauche  der  Muttersprache,  Bekanntschaft  mit  den  wichtigeren  Abschnitten 
der  Muttersprache,  sowie  unserer  Literaturgeschichte  im  Anschluß  an  die  Lektüre,  Be- 
lebung des  vaterländischen  Sinnes  durch  Einführung  in  Meisterwerke  unserer  Literatur. 
Der  L'nterricht  gliedert  sich  demgemäß  in  Bekanntschaft  mit  der  Literatur  und  der  Sprache. 

Bei  der  Literatur  stehen  die  Quellen  im  Vordergrunde  und  die  Literatur- 
betrachtung macht  das  Wesen  dieses  Unterrichtszweiges  aus,  sowohl  in  der  Poesie  wie  in 


282  I^is  \olksschullehreibildung. 

der  Prosa.  Die  deutsche  Literatur  kann  mit  Stolz  auf  zwei  Blütezeiten  zurückblicken, 
und  mit  Recht  hat  man  das  deutsche  Volk  das  \'olk  der  Dichter  und  Denker  genannt. 
Darum  soll  der  künftige  Lehrer  gründlichst  in  die  Schätze  der  deutschen  Literatur  ein- 
geweiht werden,  damit  er  einen  Einblick  in  das  erhält,  was  die  Altvordern  schufen,  daß 
sein  Geschmack  gebildet  werde,  um  in  der  Fülle  der  literarischen  Ereignisse  die  Spreu 
von  dem  Weizen  zu  scheiden.  Es  gilt  das  mehr  oder  minder  geschwundene  Literesse 
an  der  Poesie  zu  wecken  und  emen  gesunden  Sinn  für  die  Prosa  zu  bilden,  damit  jene 
ungesunden  und  seichten  Romane  und  Erzählungen  aus  dem  letzten  Drittel  des  19.  Jahr- 
hunderts überwunden  werden  zu  gunsten  echt  deutscher  Erzähler.  Die  Literatur- 
betrachtung ist  der  ausgesprochene  Gegensatz  zu  der  früher  so  beliebten  Literaturgeschichte, 
welche  im  Herunterschnarren  der  Dichterbiographien  und  im  Herplappern  von  Urteilen 
über  häutig  nicht  gelesene  Dichterwerke  bestand. 

Die  Einführung  in  die  Poesie  geschieht  auf  der  Präparandenanstalt,  indem  ihre 
Erzeugnisse  in  Gruppen,  die  durch  die  Poetik  bedingt  sind,  zur  Behandlung  kommen, 
während  sie  im  Seminar  zumeist  gemäß  der  historischen  Entwicklung  erfolgt.  Li  der 
3.  Klasse  lernt  der  Präparand  Fabeln,  Märchen,  Sagen  und  Legenden  sowie  leichtere 
Lyrik  kennen.  Daneben  tritt  in  der  Prosalektüre  die  Erzählung.  Die  2.  Klasse  be- 
handelt Balladen,  Romanzen  und  aus  der  Lyrik  volkstümliche  weltliche  und  geistliche 
Dichter.  Die  schwierigeren  Balladen  und  Romanzen  bringt  die  L  Klasse,  außerdem  aber 
noch  aus  der  Lyrik  besonders  die  vaterländischen  Dichter,  Schillers  Glocke  und  Teil. 
Die  Prosalektüre  der  2.  und  1 .  Klasse  trägt  vorwiegend  realistischen  Charakter  (Geschicht- 
liches, Landschafts-  und  Kulturbilder,  Erdkundliches,  Charakterschilderungen).  Aus- 
drücklich wird  betont,  daß  neben  dem  bewährten  Alten  in  Poesie  und  namentlich  in 
Prosa  gute  Erzeugnisse  der  neuesten  Literatur  eine  Stätte  finden  sollen.  Bei  den 
Gedichten  muß  in  erster  Linie  \'erständnis  des  poetischen  Gehaltes  gegeben  werden, 
während  die  früher  so  beliebten  Erklärungen  und  Gliederungen  auf  das  unbedingt  nötige 
Alaß  zu  beschränken  sind.  Gerade  durch  Gliederungen  usw.  kann  leicht  jeder  poetische 
Hauch  eines  Gedichtes  und  jede  Freude  an  der  Poesie  zerstört  werden,  die  Rose  verliert 
ihre  Schönheit,  wenn  sie  zerpflückt  wird,  und  der  mächtigste  Dom  ist  nichts  als  ein 
Trümmerhaufen,  nimmt  man  die  festgefügten  Quadern  voneinander!  Gerade  jene  jahre- 
lang geübte  statarische  Behandlung  (richtiger  Mißhandlung)  von  Gedichten  in  Schule 
und  Seminar  hat  entschieden  dazu  mit  beigetragen,  eine  Abneigung  gegen  die  Dichtung 
in  Deutschland  zu  erzeugen,  die  erst  seit  wenigen  Jahren  in  allmählicher  Abnahme  be- 
griffen ist.  Die  Behandlung  der  Dichterwerke  in  der  Volksschule,  in  der  Präparanden- 
anstalt und  im  Seminar  fordert  eine  gute  poetische  Emptindung  und  viel  methodischen 
Takt  von  dem  Lehrenden.  Daß  die  Jugend  und  die  Volksbildner  sich  an  der  Dichtung 
erfreuen,  daß  unsere  Dichter  ihre  Lebensbegleiter  werden,  —  diese  Anregung  zu  geben 
dürfte  eine  der  vornehmsten,  vielleicht  die  vornehmste  Aufgabe  der  Literaturbetrachtung 
auf  den  Lehrerbildungsanstalten  sein. 

Das  Seminar  behandelt  im  ersten  Jahre  die  iltutsche  Literatur  bis  zum  Ausgang 
des  Mittelalters  auf  ( Irund  der  ^^'erke,  so  besonders  die  großen  \olks-  untl  höfischen 
Epen  und  die  höfische  Lyrik.  Außerdem  werden  Hermann  und  Dorothea,  Abschnitte 
aus  Homer  und  aus  neueren  epischen  Dichtungen  gelesen.  Die  2.  Klasse  bringt  die  be- 
deutendsten Persönlichkeitan  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  mit  Proben  aus  ihren  Werken 
dann  Klopstock,  Lessing,  Herder,  Goethe  und  Schiller  nach  ihren  Werken  und  im  Zu- 
sammenhang mit  ihrer  Zeit.  Eingehend  kommen  Klopstocks  Oden  sowie  Goethes  untl 
Schillers  Gedankenlyrik  zur  Besprechung.  Die  1.  Klasse  gibt  die  Literatur  des  19.  Jahr- 
hunderts und  das  Volkslied.  An  Dramen  werden  in  der  3.  Klasse  Götz  von  Berlichingen 
und  die  Jungfrau  von  Orleans,  in  der  2.  Klasse  Minna  von  Barnhelm  und  Egmont,  in 
der  1.  Klass2  Wallenstein  und  ein  Drama  von  Shakespeare,  oft  auch  eins  von  Grillparzer 
und  Hebbel  gelesen.  An  Prosa  bringt  die  3.  Klasse  Briefe,  die  2.  Klasse  Goethes  Dich- 
tung   und    Wahrheit,    seine    f?riefe    und    Lessings    Prosa,    die   1.   Klasse    Herdersche  und 


J 


Die  LelueibiklunirsunstaUen.  283 

Schillersche  Prosa.  Außerdem  sind  für  die  3.  und  2.  Klasse  Reden  und  wissenschaft- 
liche und  ästhetische  Prosa  der  Jetztzeit  vi)rgeschrieben,  und  zwar  aus  den  Gebieten  der  Ge- 
schichte, Kultur,  Kunst,  Natur-  und  Erdkunde.  Man  hat  letztere  Prosalektüre  als  einen 
Rückschritt  in  die  Regulativpädagogik  bezeichnet.  Im  Gegenteil,  wenn  Sachen  von 
Zeller,  \^'undt,  Harnack,  Hettner,  Gebr.  (Jrimm,  (rebr.  Humboldt^  Ranke,  Sybel,  Burk- 
hardt,  Mommsen,  Treitschke,  Ihering,  Heusler,  Schmoller,  K.  Ritter,  Richthofen,  Bastian, 
Ratzel,  Siemens,  Helmholtz,  du  Bois-Reymond,  II.  Grimm,  Riehl,  R.  Wagner  zur  Lektüre 
ausgewählt  werden,  so  heißt  es  in  die  Kultur  der  Gegenwart  eindringen,  so  heißt  es, 
verstehen,  daß  ein  wesentlicher  Teil  der  deutschen  Literatur  und  Sprache  des  19.  Jahr- 
hunderts sich  in  der  wissenschaftlichen  Prosa  findet,  —  dann  wird  dem  künftigen  Lehrer 
ein  Gesichtskreis  eröffnet,  der  ihm  ein  selbständiges  Weiterarbeiten,  wie  es  die  Lehr- 
pläne fordern,  ermöglicht  und  erleichtert.  Dadurch  wird  dem  jungen  Lehrer  Anregung 
gegeben,  sich  je  nach  Anlage  und  Neigung  auf  diesem  oder  jenem  Gebiet  weiter  umzu- 
schauen, indem  er  zu  den  Quellen  selbst  greift,  aus  denen  die  wissenschaftliche  Prosa 
ausgewählt  ist. 

Auf  Grund  dieser  quellenmäßigen  Literaturbetrachtungen  und  bei  fortwährender 
Heranziehung  der  politischen  und  kulturellen  Zeitgeschichte  wird  eine  Literaturkunde  und 
Literaturgeschichte  aufgebaut,  welche  die  Literatur  als  einen  Teil  der  Geistesgeschichte 
trkennen  läßt,  die  zeigt,  daß  die  deutsche  Literatur  nicht  etwas  einsam  und  von  andern 
Dingen  isoliert  Dastehendes,  sondern  ein  Teil  und  zwar  ein  äußerst  umfassender  des 
deutschen  Geisteslebens  ist.  Eine  derartige  Literaturgeschichte  ist  der  naturgemäße 
Abschluß  des  Literaturunterrichts;  ein  fortlaufender  Unterricht  in  ihr  wird  richtiger 
^\'eise  abgelehnt. 

Daß  die  hierfür  nötige  c|uellenmäßige  Kenntnis  nicht  allein  durch  den  l'nterricht 
in  der  Klasse  vermittelt  werden  kann,  ist  selbstverständlich,  darum  tritt  die  häusliche 
Lektüre  helfend  ein.  Selbst  die  von  den  Lehrplänen  genannten  größeren  Werke  werden 
zu  Hause  gelesen.  Daneben  findet  eine  geordnete  Privatlektüre  in  Präparandenanstalt 
und  Seminar  statt,  welche  besonders  auf  die  Klassiker  und  das  19.  Jahrhimdert  Rück- 
■^icht  nimmt. 

Poetik,  Metrik  und  Stilistik  werden  nicht  als  besondere  theoretische  Disziplinen 
getrieben;  die  Belehrungen  darüber  erfolgen  im  Anschluß  an  die  poetische  und 
prosaische  Lektüre,  sowie  an  die  Aufsatzübungen.  Eine  Zusammenfassung  gibt  die 
1.  Klasse. 

Der  deutsche  Unterricht  behandelt  weiter  die  S])rache,  und  zwar  sowohl  theoretisch 
als  Grammatik,  wie  praktisch  als  Übungen  im  mündlichen  und  schriftlichen  Gebrauch. 
Lange  hat  sich  der  Deutsche  seiner  Sprache  geschämt,  die  bäuerisch  und  ungelenk  sein 
sollte.  Die  ^\'frke  der  Klassiker,  die  unvergleichliche  Blüte  der  deutschen  Wissenschaft 
und  Technik  in  der  Jetztzeit,  die  politische  Einigung  und  die  Weltstellung  Deutschlands 
hat  die  Deutschen  sich  auf  ihre  -Sprache  besinnen  lassen.  Darum  muß  der  Lehrer  einen 
Einblick  in  sie  erhalten,  nicht  nur  in  die  Elementar-Grammatik  und  die  Etymologie,  viel- 
mehr auch  in  ihr  Werden  und  ihr  Wesen,  d.  h.  in  ihre  Geschichte,  ihren  Bestand  und 
wie  sie  in  den  Mundarten  verschiedene  Formen  angenommen  hat.  Eine  wichtige  Auf- 
gabe der  Sprachlehre,  aber  auch  aller  Unterrichtsfächer  bleibt  zudem  der  energische 
Kampf  gegen  die  entbehrlichen  Fremdwörter.  Es  ist  weiter  vielfach  verlangt,  aber 
ebenso  oft  bekämpft  worden,  den  Seminaristen  in  das  Mittelhochdeutsche  einzuführen 
und  ihn  das  Nibelungenlied  im  Originaltext  lesen  zu  lassen.  Die  Lehrpläne  von 
1901  haben  diese  Forderung  nicht  erfüllt;  es  war  schon  genug  der  Neuerungen, 
die  sie  brachten.  Vielleicht  liest  aber  in  absehbarer  Zeit  der  Seminarist  das  Nibelungen- 
lied im  l'rtext. 

Die  deutsche  (Grammatik  wird  nicht  wie  eine  Fremdsprache  behandelt,  sie  be- 
schränkt   sich     auf    das    zur    Bildung    des  Sprachverständnisses    und    für  den  P2inblick   in 


2Ö4  1*'^  \'olksschullehrerbiklung. 

ihren  Bau  Notwendige.  In  der  Präparandenanstalt  gibt  die  3.  Klasse  die  Satzlehre  mit 
Ausnahme  des  zusammengesetzten  Satzes,  die  2.  bespricht  diesen  und  die  Wortlehre,  die 
1.  behandelt  die  Wortbildung,  befestigt  und  schließt  die  Elementargrammatik  ab.  Das 
Seminar  führt  die  Sprachlehre  weiter,  indem  es  in  der  3.  Klasse  die  Phonetik  und  die 
deutschen  Mundarten,  in  der  2.  die  geschichtliche  innere  und  äußere  Entwicklung  der 
Sprache  im  allgemeinen,  im  besonderen  hinsichtlich  der  Veränderung  der  Laute  und 
P^ormen  als  auch  des  Wandels  der  Wortbedeutung  verfolgt. 

Die  Phonetik  bezweckt,  die  Erkenntnis  einer  lautrichtigen  und  lautschönen  Aus- 
sprache des  Hochdeutschen  herbeizuführen.  Hierbei  soll  auch  die  Beseitigung  der  in  ein- 
zelnen Landesteilen  besonders  häufig  vorkommenden  sprachlichen  Fehler  angestrebt 
werden.  Sowohl  hierdurch  als  auch  vermittels  ausdrucksvollen  Lesens  durch  Vortrag  des 
besprochenen  Stoßes,  durch  Stellen  von  Aufgaben  über  ihn  ist  die  L'bung  und  Gewandt- 
heit im  mündlichen  Ausdruck  zu  fördern;  hierzu  sollen  aber  außer  dem  Deutschen  alle 
Fächer  beitragen.  Im  Seminar,  vor  allem  in  der  Oberklasse,  werden  freie  Vorträge  über 
Gelesenes  und  über  besonders  gestellte  Aufgaben  auch  aus  anderen  Gebieten  gehalten. 
Dies  bedeutet  ebenfalls  eine  gute  Übung  für  den  mündlichen  Ausdruck,  zudem  veranlaßt 
es  ihn  zum  freien,  vom  Tagespensum  unabhängigen  Arbeiten.  Hiermit  kommt  die  früher 
viel  getriebene  jetzt  indes  über  Gebühr  vernachlässigte  Rhetorik  zu  einigem  Recht. 

Ihre  notwendige  Ergänzung  finden  die  mündlichen  Übungen  im  Gebrauch  der 
Sprache  an  den  schriftlichen.  Außer  Aufsätzen  auf  allen  Stufen  der  Lehrerbildungsanstalten 
werden  in  den  beiden  unteren  Klassen  der  Präparandenanstalt  freie  Niederschriften  vom 
Durchgenommenen,  Erlebten  u.  dgl.  angefertigt.  Der  Nachdruck  liegt  auf  sachlicher  und 
sprachlicher  Richtigkeit  und  klarer  übersichtlicher  Gedankenfolge.  Alle  Künstelei  und 
alles  Phrasenhafte  ist  verbannt,  gediegene  Einfachheit  energisch  gefordert.  Die  Aufgaben 
steigern  sich  allmählich  bezüglich  der  Schwierigkeit.  In  der  Präparandenanstalt  sind  — 
soweit  möglich  nach  Vorlagen  —  Erzählungen,  Beschreibungen,  Schilderungen,  Ver- 
gleichungen  und  dgl.  anzufertigen.  Dem  Seminar  fallen  dann  im  Anschluß  an  die  Lektüre 
schwierigere  Inhaltsangaben,  weiter  Charakteristiken  und  Beweisführungen  zu. 

Die  Aufgaben  sollen  dem  Stoß'  des  deutschen  Unterrichts  oder  anderen  Fächern 
entnommen  werden.  Themen  aus  der  Literatur  dürften  den  ^'orzug  finden.  Solche  aus 
Geschichte,  Erd-  und  Naturkunde  erfordern  in  ihrer  Formuherung  viel  Vorsicht,  da  leicht 
solch  ein  Aufsatz  zu  einer  aus  allen  möglichen  Büchern  zusammengetragenen  Stoflan- 
häufung  führt,  der  die  nötige  geistige  Verarbeitung  fehlt;  gerade  bei  diesen  Gebieten  ist 
die  Möglichkeit  der  Beweisarbeit,  welche  den  Zögling  zum  Nachdenken  z\vingt,  an  erster 
Stelle  anzustreben.  Die  Bearbeitung  sog.  freier  Themen,  die  ein  Sprichwort,  eine  Sentenz 
oder  eine  Frage  der  Lebensweisheit  erörtern,  bleibt  nicht  ausgeschlossen.  Für  die  Ober- 
klasse des  Seminars  sind  zudem  einige  Aufgaben  pädagogischen  Inhalts  zu  stellen.  Es 
gilt  zu  erwägen,  ob  sich  nicht  als  vorteilhaft  erweist,  derartige  Aufsätze  dem  pädagogischen 
Unterricht  zuzuweisen,  da  sonst  naturgemäß  die  literarischen  Themen  in  der  L  Klasse 
zurückgedrängt  werden.  Die  Lehrpläne  geben  eine  Handliabe  dafür,  wenn  sie  empfehlen, 
auch  im  Seminar  in  den  einzelnen  Fächern  kurze  Niederschriften  des  Behandelten  an- 
fertigen zu  lassen. 

5.  Geschichte.  Der  Geschichte  sind  in  der  ersten  Klasse  der 
Präparandenanstalten  drei,  in  den  anderen  Klassen  und  den  des  Se- 
minars je  zwei  wöchentliche  Stunden  gewidmet.  Als  Ziel  wird  be- 
zeichnet: Der  Unterricht  soll  genaue  Kenntnis  der  vaterländischen 
Geschichte  sowie  Bekanntschaft  mit  den  wichtigsten  Ereignissen 
der  alten  Geschichte  und  der  Geschichte   der  großen  modernen  Kul- 


Die  I.elirerbildungsan.stdteii.  285 

turvölker,  soweit  sie  für  die  vaterländische  (leschichte  von  Bedeutung 
ist,  vermitteln. 

Der  Hauptnachdiiick  liegt  also  auf  der  vaterländischen  Geschichte.  Wohl  hat  das 
Seminar  nie  den  verhängnisvollen  Fehler  anderer  Lehranstalten  begangen,  die  vaterlän- 
dische Cleschichte  nur  bis  1815,  vielleicht  auch  nur  bis  Friedrich  dem  Großen  und  dem 
dreißigjährigen  Krieg  zu  behandeln,  —  die  Schulen  des  18.  Jahrhunderts  schlössen  sogar 
mit  Karl  dem  Großen  ab'.  Indes  vertrug  der  Seminargeschichtsunterricht  doch  eine  Er- 
weiterung der  deutschen  Geschichte,  namentlich  des  19.  Jahrhunderts.  So  haben  die 
neuen  Lehrpläne  die  alte  Geschichte  mit  kühnem  Griff  der  1.  Präparandenklasse  zuge- 
wiesen und  dem  Seminar  allein  die  deutsche  Geschichte  vorbehalten,  und  zwar  der  3.  Klasse 
die  Geschichte  bis  1648,  der  2.  Klasse  die  Ereignisse  bis  1815,  der  1.  Klasse  außer  der 
Methodik  des  Geschichtsunterrichts  und  der  Einführung  in  die  Rechtsordnung  des  deut- 
schen Reiches  und  Preußens,  die  Geschichte  von  1815  bis  zur  Gegenwart.  Die  Präpa- 
randenanstalt  erledigt  in  der  3.  Klasse  die  deutsche  Geschichte  bis  1648,  in  der  2.  Klasse 
den  Rest  unter  Hervorhebung  der  brandenburgisch-preußischen. 

Man  hat  an  den  Lehrplänen  getadelt,  daß  dasselbe  Geschichtspensum  der  Präpa- 
randenanstalt  im  Seminar,  nur  konzentrisch  erweitert,  wiederkehre.  Aber  kaum  ein  zweites 
Fach  dürfte  es  geben,  wo  ein  derartiges  Verfahren  so  notwendig  ist,  als  gerade  hier. 
Süll  eine  einigermaßen  fruchtbare  Behandlung  der  Geschichte  nach  den  Ursachen  und 
Zusammenhängen  erfolgen,  soll  die  kulturelle  Entwicklung  zur  Geltung  kommen,  und  die 
Geschichte  die  gi"oße  Lehrmeisterin  der  Gegenwart  bleiben,  so  muß  eine  Kenntnis  der 
wichtigsten  Tatsachen  vorhanden  sein.  L'nd  die  Einprägung  der  Tatsachen  in  chrono- 
logischer Ordnung  wird  nachgerade  der  Präparandenanstalt  zugewiesen.  Sind  hier  die 
hauptsächlichsten  Namen  und  Zahlen  gelernt  worden,  dann  erst  hat  der  Seminarist  einen 
(ienuß  von  der  Geschichte,  —  und  Namen  und  Zahlen  (oft  wird  sie  darum  von  den 
Lernenden  arg  gehaßt)  sind  so  notwendig,  wie  das  Skelett  für  den  Bestand  des  mensch- 
lichen Körpers. 

Die  Pi-äparandenanstalt  knüpft  in  der  3.  und  2.  Klasse  meist  an  die  bedeutenden 
Persönlichkeiten  an.  Die  1 .  Präparandenklasse,  welche  die  alte  Geschichte  behandelt,  und 
das  Seminar  soll  den  Stoff  befestigen  und  vertiefen,  dann  aber  den  pragmatischen  oder 
wie  es  der  Geschichtswissenschaft  gemäß  richtiger  heißen  muß,  den  genetischen  Zusam- 
menhang der  Ereignisse  darlegen,  ferner  die  Entwicklung  der  poütischen,  sozialen  und 
kulturellen  Verhältnisse  vermitteln.  Auf  diese  Weise  vollzieht  sich  der  Geschichtsunter- 
richt in  der  Form  der  Geschichtsbetrachtung. 

Gerade  die  Betonung  der  Kultur  birgt  eine  große  Aufgabe  in  sich.  Wohl  ent- 
halten so  ziemlich  alle  neuen  Schulbücher  „Kulturgeschichtliches",  —  aber  es  ist  kaum 
mehr  als  ein  Anfang  zur  politischen  und  Kriegsgeschichte,  die  man  Jahrzehnte  einzig  als 
Geschichte  gelten  ließ.  Die  Kulturgeschichte  kann  aber  garnicht  von  der  anderen  Geschichte 
gelöst  werden,  sie  ist  mit  ihr  organisch  verknüpft.  Ja,  man  unterscheidet  in  der  Geschichts- 
wissenschaft teilweise  nur  noch  Sozial-  und  Geistesgeschichte,  indem  ersterer  die  Ge- 
schichte der  sozialen  Verbände  zufällt,  sei  es  als  Staat,  Kirche,  Volk,  Gemeinde,  Familie,  sei 
es  im  diplomatischen  oder  kriegerischen  Verkehr,  femer  Recht,  Wirtschaft  und  Wohlfahrt, 
der  Geistesgeschichte  dagegen  die  Entwicklung  von  Literatur,  Sprache,  Kunst,  Philosophie, 
Wissenschaft  und  alles  dessen,  was  man  bisher  unter  dem  Sammelnamen  Kultur  zusammen- 
faßte. Auch  im  Seminarunterricht  muß  der  Gedanke  der  Kulturgeschichte  als  Geistes- 
geschichte und  ihre  organische  Verbindung  mit  der  anderen  Geschichte  energisch  zur 
Geltung  kommen.  Die  Geschichte  der  Literatur,  in  obiger  Darlegung  auf  Grund  der 
Lehrpläne,  erweist  sich  in  dieser  Form  als  ein  Teil  der  allgemeinen  geschichtlichen  Ent- 
wicklung, ebenso  die  Geschichte  der  Sprache,  von  der  an  derselben  Stelle  die  Rede  war. 
Auch  die  Kirchengeschichte  gliedert  sich,  wie  bereits  erwähnt,  dem  geschichthchen 
Werden  ein. 


2B6  1*'^  Volksscliullehrerbildung. 

Der  Seminarunterricht  schließt  es  aus,  die  oben  berührten  Einzelteile  der  Geschichte 
gleichmäßig  zur  Behandlung  zu  bringen.  Im  N'ordergrunde  wird  von  der  Sozialgeschichte 
die  äußere  Geschichte  stehen,  aber  auch  die  andern  Disziplinen  sollen,  wenn  auch  im 
bescheidenen  Maße  eine  Stätte  finden,  namentlich  muß  sich  die  Kultur-  und  Geistes- 
geschichte organisch  eingliedern.  Bei  der  Kulturgeschichte  ist,  ebenso  wie  bei  der 
Kirchengeschichte,  auf  die  Heimatprovinz  Rücksicht  zu  nehmen,  —  die  Geschichts- 
betrachtung in  Schule  und  Seminar  hat  schon  längst  auf  historischem  Gebiete  gepflegt, 
was  für  das  ästhetische  jetzt  durch  die  sogenannte  Heimatkunst  gefordert  wii'd.  Auch 
auf  die  Vor-  und  Frühgeschichte  wäre  einzugehen;  ein  von  d?r  ünterrichtsverwaltuig 
herausgegebenes  „Merkbuch"  regt  dazu  an,  besonders  unterweist  es  den  künftigen  Lehrer, 
wie  er  sich  in  seinem  Amte  bei  Auffindung  vorgeschichtlicher  Altertümer  zu  verhalten 
hat,  um  der  Geschichtswissenschaft  einen  Dienst  zu  erweisen.  Aber  auch  der  Sinn  für 
die  heimischen  Denkmäler  der  Malerei,  Skulptur,  Bau-  und  Handwerkskunst  früherer  Zeit  soll 
geweckt  werden;  die  Seminare  sind  verpflichtet,  die  Zeitschrift  „Die  Denkmalspflege"  zu 
halten  und  den  vSeminaristen  zugänglich  zu  machen. 

Der  Geschichtsunterricht  der  Oberklasse  des  Seminars  erweitert  sich  zu  einer 
Staats-  und  A'olkswirtschaftskunde  der  Gegenwart,  ^''erfassung,  \'erwaltung.  Sozial-  und 
Wirtschaftspolitik  werden  nach  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  unter  besonderer  Rück- 
sicht auf  die  Verdienste  der  HohenzoUern,  sowie  nach  ihrem  Bestände  dargelagt.  Dadurch 
hat  die  schon  seit  ein  und  einem  halben  Jahrzehnt  erhobene  Forderung  nach  volkswirt- 
schafthchem  Unterricht  für  das  Seminar  eine  teilweise  Erfüllung  gefunden.  Ein  be- 
sonderes Lehrfach  ist  die  National-Ökonomie  noch  nicht,  sie  hat  in  der  Geschichte  und 
wie  bald  gezeigt  wird,  in  Mathematik  und  Erdkunde  ihren  Platz. 

Geschichte  ist  das  Fach,  in  dem  weiteren  Kreisen  der  Begrifl"  der  Quellen  am 
klarsten  vor  Augen  liegt  und  bekannt  ist.  Jene  großen  Quellenveröflentlichungen,  die 
mit  der  vom  Freiherrn  vom  Stein  angeregten  Herausgabe  der  Monumenta  Germaniae 
historica  1820  ihren  Anfang  nahm,  haben  eine  Hochflut  von  Urkunden-  und  Akten- 
publikationen im  deutschen  Vaterland  angeregt,  und  das  Ausland  ist  keineswegs  zurück- 
geblieben. Schier  unübersehbar  haben  sich  die  Schätze  der  Vergangenheit  geöfi'net.  Der 
Schule  ist  es  dadurch  leicht  gemacht,  sich  für  ihre  Zwecke  der  Geschichtsquellen  zu  be- 
dienen. Die  Quellen  jedoch,  die  für  Schule  und  Seminar  nutzbar  gemacht  werden 
können,  sind  naturgemäß  gewissen  Beschränkungen  unterworfen;  zudem  darf  man  nicht 
außer  acht  lassen,  daß  sie  oft  recht  nüchtern  und  trocken  sind.  Darum  sollen  nicht  nur 
Quellen  im  Unterricht  und  in  der  Privatlektüre  verwendet,  vielmehr  auch  die  Werke 
der  neueren  Geschichtsschreiber  in  einzelnen  Abschnitten  herangezogen  werden.  Deutsch- 
land besitzt  eine  Reihe  geradezu  klassischer  Schriften  auf  dem  Gebiete  der  historischen 
Forschung,  nur  an  Ranke,  Treitschke,  Mommsen  sei  erinnert.  Eine  Gefahr  birgt  die 
Quellenbenutzung.  Der  Seminarist  erhält  nämlich  eine  nach  den  Grundsätzen  der  geschicht- 
lichen Kritik  ausgewählte  Sammlung;  Gelegenheit,  wenn  auch  in  recht  bescheidenem 
Maße  an  den  Quellen  Kritik  zu  üben,  d.  h.  sie  nach  ihrem  Wert  und  ihrer  Wahrheit  zu 
beurteilen,  wird  sich  kaum  finden.  Zu  leicht  verwendet  der  im  Amte  stehende  junge 
Lehrer  die  in  seine  Hände  gelangenden  Quellen,  sei  es  solche  für  die  Ortsgeschichte 
oder  für  eine  andere  historische  Arbeit,  ohne  sie  zu  prüfen  und  ohne  sie  recht  zu  be- 
werten. Darum  ist  es  höchst  wünschenswert,  auch  Stücke  in  die  Quellensammlungen 
aufzunehmen,  an  denen  eine  Kritik,  wenn  auch  nur  in  mäßigem  Umfange  möglich  ist. 
Diese  Beschränkung  ist  naturgemäß,  da  zunächst  die  erforderliche  Zeit  fehlt,  sodann  ist 
es  nicht  Aufgabe  des  Seminars,  zünftige  Historiker  heranzubilden;  das  bleibt  der  Univer- 
sität vorbehalten.  Aber  Anregungen  möge  der  künftige  Lehrer  empfangen,  und  auf 
jeden  Fall  muß  der  Geschichtslehrer  betonen,  daß  die  Arbeit  des  Sichtens  und  Beurteilens 
bei  den  Quellenbüchern  schon  vom  Herausgeber  vollzogen  ist. 


Die  I>ehrerbiIdung.san.st;iUen.  287 

„Wohl  dem,  der  seiner  Väter  gern  gedenkt"  sagt  das  Dichter- 
wort,  und  es  darf  hinzugefügt  werden  „Wohl  dem,  der  seiner  Väter 
gern  gedenken  kann!"  Der  Deutsche  darf  mit  Stolz  auf  seine  Ver- 
gangenheit zurückblicken.  Darum  soll  der  künftige  Lehrer  und  Er- 
zieher durch  Vermittlung  der  Geschichte  sein  Vaterland  lieben  und 
dessen  Ordnungen  und  Einrichtungen  verstehen  lernen;  sie  soll  ihn 
befähigen,  in  seinen  Schülern  die  Liebe  zum  Vaterlande  und  zum 
Herrscherhause,  das  gerade  für  die  soziale  Wohlfahrt  des  Volkes  so 
Unvergleichliches  geleistet  hat,  wecken  und  pflegen.  Die  Ge- 
schichte ist  das  Wörterbuch  und  die  Grammatik  für  die  Gegen- 
wart, sie  befähigt  die  Jetztzeit  aus  der  Vergangenheit  heraus 
zu  begreifen.  ]Man  hat  es  längst  beklagt,  daß  großen  Kreisen  die 
politische  Bildung  fehle,  nämlich  den  staatlichen  und  sozialen  Ein- 
richtungen der  Vergangenheit  gerecht  zu  werden,  und  die  Möglich- 
keit und  Notwendigkeit  derartiger  Institutionen  in  der  Gegenwart  zu 
verstehen.  Eine  solche  auf  historischer  Grundlage  sich  aufbauende 
politische  Bildung  bringt  in  der  Tat  das  Verständnis  für  den  Staat 
und  seine  Bestrebungen  in  den  heutigen  Tagen,  es  warnt  vor  Über- 
stürzung und  lehrt,  sich  für  das  vorläufig  Erreichbare  zu  bescheiden. 
Die  Geschichte  ist  aber  auch  die  Weckerin  der  Dankbarkeit,  für  das, 
was  edle  Fürsten  und  treue  Freunde  des  Volkes  dereinst  taten,  sie 
begeistert  für  das  Vaterland  und  seine  große  Vergangenheit,  sie 
tröstet,  wenn  schwere  Zeiten  eintreten,  daß  dereinst  lichte  Tage 
wieder  kommen! 

b.  Fremde  Sprachen.  Als  Kennzeichen  eines  sogenannten 
Gebildeten  pflegt  man  unter  anderem  auch  die  Kenntnis  einer  Fremd- 
sprache zu  bezeichnen.  Und  in  der  Tat  haben  sich  so  zahlreiche 
Kreise  geweigert,  den  Volksschullehrer  als  Gebildeten  anzuerkennen, 
weil  er  meist  keine  Fremdsprache  kannte;  denn  zur  Teilnahme  am 
fremdsprachlichen  Unterricht  war  niemand  verpflichtet.  Vielfach 
wurden  auch  solche,  die  sich  gern  dazu  bereit  erklärten,  aber  nicht 
Hervorragendes  leisteten,  zurückgewiesen.  Mit  den  wenigen  Übrig- 
bleibenden ließen  sich  natürlich  nicht  selten  recht  beachtenswerte 
Resultate  erzielen. 

Die  Bestimmung  der  Lehrpläiie  von  1901,  daß  jeder  Seminarist  eine  Fremdsprache 
erlernen  muß,  bedeutet  den  größten  Fortschritt  bezüglich  des  Ünterrichtsstofles,  den 
zweitgrößten  überhaupt  nach  der  organischen  ^'ereinigung  des  Lehiplans  des  Seminars 
mit  dem  der  Präparandenanstalt.  Dieser  obligatorische  fremdsprachliche  Unterricht  ist  ge- 
eignet, die  Stellung  des  Volksschullehrerstandes  wesentlich  zu  verbessern  und  ihm  die 
Anerkennung  zu  bringen,  welche  sein  Wissen  und  sein  Streben  verdienen.  Doch  kommen 
außer  diesem  mehr  äußerlichen,  aber  nicht  zu  unterschätzenden    Grunde,   noch    innere  in 


28Q  J^>ie  Volksschullehrerbildung. 

Betracht.  Ein  oft  angeführtes  Wort  Goethes  besagt:  „Wer  fremde  Sprachen  nicht  kennt, 
weiß  nichts  von  seiner  eigenen".  Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  wie  gerade  das  Verständnis 
für  Wesen,  Bau  und  rechten  Gebrauch  der  Muttersprache  durch  die  Bekanntschaft  mit 
fremden  eine  außerordentliche  Zunahme  zu  verzeichnen  hat.  Neben  diesem  Sprachver- 
ständnis führt  die  P'remdsprache  in  die  Auffassung  und  Gedankenkreise  anderer  Völker 
ein  und  eröffnet  ein  sonst  unzugängliches  Gebiet.  Ist  dies  an  und  für  sich  äußerst 
wertvoll,  so  bildet  es  auch  ein  gesundes  Gegengewicht  gegen  oft  übertriebene  Forderungen 
einer  extrem  nationalen  Bildung.  Endlich  ist  auch  der  Wert  einer  Fremdsprache  für  die 
formale  Bildung  nicht  zu  unterschätzen. 

Es  fragt  sich,  in  welchem  Umfange  der  fremdsprachhche  Unterricht  auf  dem  Se- 
minar zu  treiben  ist.  An  den  höheren  Lehranstalten  werden  mindestens  zwei  Fremd- 
sprachen gelehrt.  Auch  für  das  Seminar  hat  man  diese  Forderung  erhoben.  Alle  Er- 
örterungen, ob  mehr  als  eine  Sprache  zu  erlernen  ist,  sind  gegenstandslos  durch  die  Un- 
möglichkeit, bisher  mehr  als  drei  bezw.  zwei  wöchentliche  Stunden  dafür  zu  erübrigen. 
Daher  bestimmen  auch  die  Lehrpläne,  daß  Französisch  oder  Englisch  gelehrt  werden 
soll,  und  überlassen  die  Wahl  den  Provinzialschulkollegien,  die  je  nach  den  Verhältnissen 
und  besonderen  Bedürfnissen  der  betreffenden  Provinz  entscheiden.  Hiermit  verzichtet  das 
Ministerium,  den  ideellen  Wert  einer  dieser  Sprachen  festzustellen  und  überläßt  die 
Auswahl  einzig  praktischen  Gesichtspunkten. 

Viel  ist  darüber  gestritten  worden,  ob  statt  einer  neueren  Sprache  nicht  das  La- 
teinische den  Vorzug  verdiene,  und  im  Königreich  Sachsen  hat  man  sich  auch  dafür 
entschieden.  Man  führt  gewöhnlich  die  sprachbildende  Kraft  des  Lateinischen  an,  dann 
seine  vielfache  Durchdringung  des  modernen  Geisteslebens  in  Kultur  und  Sprache; 
endlich  glaubt  man  der  gymnasialen  Bildung  dadurch  näher  zu  kommen,  da  in  wissen- 
schaftlichen Kreisen  nur  der  Latein  Verstehende  Anspruch  auf  Gleichberechtigung  be- 
sitze. Letzterer  Grund  dürfte  garnicht  zur  Erwägung  stehen,  da  das  Seminar  bei  seinen 
ganz  andern  Zielen  garnicht  die  Konkurrenz  mit  den  Gymnasien  aufnehmen  soll.  Es 
kann  mit  seinem  durch  und  durch  nationalen  und  modernen  Charakter  stolz  auf  seine 
Eigenart  und  auf  seine  selbständige  und  in  sich  geschlossene  Stellung  im  deutschen 
Bildungswesen  sein,  es  braucht  aber  nicht  sein  Ideal  in  einem  gymnasialen  Anstrich  zu 
suchen I  Gewichtig  sind  indes  die  beiden  ersten  Gründe,  jedoch  sprechen  die  Porde- 
rungen  der  modernen  Kultur  und  des  praktischen  Lebens  unbedingt  mehr  für  eine  neuere 
Sprache.  Die  Lehrpläne  gestatten  übrigens,  wo  bisher  Lateinisch  fakultativ  gelehrt 
wurde,  dies  neben  Französisch  bezw.  Englisch  beizubehalten.  Zu  erwägen  bliebe  indes 
immer,  ob  Lateinisch  allgemein  als  wahlfreies  Fach  zu  gestatten  wäre;  es  würde  sich 
aber  dann  noch  fragen,  ob  bei  Einführung  fakultativen  Sprachunterrichts  neben  dem 
obligatorischen  vielmehr  diejenige  neuere  Sprache  den  Vorzug  verdiente,  welche  nicht  als 
Pflichtfach  getrieben  wird. 

Als  Ziel  des  fremdsprachlichen  Unterrichts  setzen  die  Lehrpläne  fest:  \'erständnis 
nicht  zu  schwieriger  Schriftwerke  sowie  einige  Übung  im  mündlichen  und  schriftlichen 
Gebrauch  der  Sprache.  Das  Hauptgewicht  liegt  auf  der  Lektüre.  Im  Seminar  ist  für 
die  3.  Klasse  einfache  Prosa,  fih-  die  2.  ein  leichterer  Historiker  der  Neuzeit,  für  die  1 .  ein 
Prosaschriftsteller  der  Neuzeit  vorgeschrieben,  außerdem  sind  für  alle  Klassen  noch  Gedichte 
zu  wählen.  Hierbei  können  auch  kurze  literarkundliche  Mitteilungen  gegeben  werden,  eben- 
so Belehrungen  über  die  Metrik.  Die  mündlichen  Übungen  werden  an  die  Lektüre  an- 
geknüpft, sowie  an  Anschauungsbilder,  Vorgänge  und  Verhältnisse  des  täglichen  Lebens. 
Die  schriftlichen  Übungen  umfassen  Rechtschreibeübungen,  Diktate,  Niederschriften  und, 
zum  Zwecke  grammatischer  Übung,  Übersetzungen  in  die  Fremdsprache.  Da  die  Lektüre 
und  die  Übungen  im  Gebrauch  der  Fremdsprache  im  Vordergrund  stehen,  wird  Wert 
auf  Aneignung  und  Befestigung  eines  ausreichenden  Wort-  und  Phrasenschatzes  gelegt, 
femer  auf  die  wesentlichen  Unterschiede  der  Ausdrucksweise  und  des  Sprachbaus  der 
deutschen  und  der  fremden  Sprache,    sowie    auf    Aneignung    und  Übung    einer   richtigen 


Die   Lehrerbildungsanstiilten.  289 

und  guten  Aussprache.  Die  Anfangsgründe  sind  in  einem  Lautierkursus  zu  geben.  Die 
(irammatik  ist  deshalb  auf  das  nötigste  beschränkt.  Aus  Formenlehre  und  Syntax  wird 
nur  das  allgemein  Gebräuchliche  geboten,  auf  sichere  Einprägung  der  Formeln  und 
Regeln  Nachdruck  gelegt.  Auf  keinen  Fall  darf  durch  sprachliche  Belehrungen  und 
Übungen  die  Bedeutung  der  Lektüre  und  die  Einführung  in  das  \'erständnis  der  Schrift- 
steller beeinträchtigt  werden.  Damit  ist  verwehrt,  daß  die  Grammatik  einen  zu  breiten 
Kaum  einnimmt,  wie  das  früher  mitunter  der  Fall  war. 

Der  fremdsprachliche  Unterricht  beginnt  in  der  Präparandenanstalt  mit  den  Ele- 
menten der  Sprache.  Die  3.  Klasse  bringt  Aneignung  einer  richtigen  Aussprache,  Lese- 
übungen und  Erwerbung  eines  mäßigen  Wortschatzes.  Im  Französischen  wird  der  Indi- 
kativ  der  regelmäßigen  \'erben  und  Hilfsverben  erlernt,  im  Englischen  die  regelmäßige 
Formenlehre.  Die  2.  Klasse  erweitert  den  \N'ortschatz ;  im  Franzö.sischen  kommen  der 
Konjunktiv  der  Verben,  die  Deklination  des  Haupt-  und  Eigenschaftswortes,  die  Steige- 
rung und  die  Zahlwörter,  im  Englischen  die  unregelmäßige  Formenlehre  hinzu.  Die 
1.  Klasse  bringt  außer  Erwerbung  des  Wort-  und  Phrasenschatzes  im  Französischen  die 
notwendigsten  unregelmäßigen  Verben,  deren  gebräuchlichste  Formen  gründlich  aus- 
wendig zu  lernen  sind,  ferner  die  Fürwörter,  im  Englischen  die  Syntax  des  Verbums 
I außer  dem  Konjunktiv)  und  den  Gebrauch  der  Zeiten.  Das  Seminar  wiederholt  und 
ergänzt  in  der  3.  Klasse  im  Französischen  die  Formenlehre  und  den  Wort-  und  Phrasen- 
schatz und  bringt  die  Wortstellung  und  den  Gebrauch  der  Zeiten,  im  Englischen  das 
Unentbehrliche  aus  der  Lehre  vom  Konjunktiv,  die  Syntax  des  Artikels,  des  Substantivs 
und  des  Adjektivs.  Die  2.  Klasse  lehrt  im  Französischen  den  Gebrauch  der  Modi,  ferner 
Infinitiv  und  Partizip,  sowie  Kasusrektion,  im  Englischen  die  Syntax  des  Pronomens  und 
Adjektivs  sowie  die  wichtigsten  Präpositionen.  In  der  1.  Klasse  findet  eine  Ergänzung 
und  Zusammenfassung  der  Syntax  statt.  In  allen  Klassen  wird,  wie  schon  erwähnt, 
Lektüre  getrieben,  außerdem  werden  schriftliche  und  mündhche  Übungen  veranstaltet. 

In  den  Lehrplänen  hat  das  oft  empfohlene  Lesen  französischer  Pädagogen  keine 
Stätte  erhalten.  Was  der  Seminarist  aus  der  Pädagogik  der  Franzosen  und  Engländer 
wissen  muß,  lernt  er  in  den  diesem  P'ache  gewidmeten  Stunden.  Wenn  es  auch  des 
Reizes  nicht  entbehrt,  ausländische  Meister  im  Originaltext  zu  lesen,  so  ist  es  für  den 
Seminaristen  doch  wichtiger,  etwas  aus  der  Literatur  der  Franzosen  und  Engländer 
kennen  zu  lernen,  als  etwas  Pädagogisches  zu  lesen,  das  zufällig  französisch  oder 
englisch  geschrieben  ist. 

dj    Die  Naturwisseiischafteii. 

I.  Mathematik.  Den  Schlüssel  für  die  Naturwissenschaft 
bildet  die  Mathematik,  welche  ihre  Gesetze  nachweist.  Sie  ist  aber 
nicht  allein  deshalb  wichtig,  sondern  auch  wegen  ihrer  ungeheuren 
praktischen  Notwendigkeit  für  das  tägliche  Leben  und  wegen  ihrer 
formalen  Bildung.  Neben  der  Sprachlehre  kommt  ihr  in  erster  Linie 
die  Schulung  im  Denken  und  Schließen  zu.  Scharfes  Denken,  Kürze 
und  Bestimmtheit  im  Ausdruck  werden  besonders  in  der  Raumlehre 
erwartet. 

Der  mathematische  Unterricht  tritt  aber  auch  in  den  Dienst  der 
Staats-  und  Volkswirtschaft,  der  ja  auf  den  Lehrerbildungsanstalten 
noch  kein  besonderes  Fach  angewiesen  ist.  Im  Anschluß  an  die 
Aufgaben  sind  darüber  Belehrungen  zu  geben.    Es  kann  kein  Zweifel 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     HI.  1 9 


290  Die  Volksschullehrerbildung. 

darüber  bestehen,  daß  die  praktische  Anwendung  der  National- 
ökonomie besonders  geeignet  ist,  Verständnis  für  sie  zu  wecken  und 
sie  wenigstens  in  einzehien  Teilen  zu  fördern.  In  der  Geschichte 
haben  Belehrungen  über  Entwicklung  \'on  Verfassung  und  Wirtschaft 
und  deren  gegenwärtigen  Bestand  stattgefunden,  in  der  Geographie 
werden  Ergänzungen  über  Handel  und  Verkehr  gegeben.  Einen 
systematisch  zusammenhängenden  Unterricht  kann  das  natürlich  nicht 
ersetzen,  es  sei  denn,  daß  die  Sonderlehrpläne  der  einzelnen  Semi- 
nare bis  ins  einzelne  feststellen,  was  durchgenommen  werden  muß. 
Für  die  Einführung  ins  praktische  Leben  genügt  indes  schließlich, 
was  die  Lehrpläne  vorschreiben. 

Die  Mathematik  wird  auf  dem  Seminar  als  Rechnen  und  Raumlehre  erteilt.  Für 
die  drei  Klassen  der  Präparandenanstalt  sowie  für  die  beiden  untersten  Klassen  des 
Seminars  sind  im  Rechnen  wöchentlich  je  drei,  in  der  Raumlehre  je  zwei  Stunden 
wöchentlich  angesetzt.  Die  Oberklasse  hat  nur  eine  Stunde  Methodik  des  mathematischen 
Unterrichts.  Als  Ziel  des  Rechnens  wird  sichere  auf  klarem  Verständnis  beruhende 
Kenntnis  der  durch  die  Lehraufgaben  bezeichneten  Gebiete  und  Gewandtheit  im  Lösen 
von  Aufgaben  bezeichnet. 

Ganz  wie  bei  der  Rechtschreibung  nimmt  die  Präparandenanstalt  im  Rechnen 
(auch  in  der  Raumlehre)  zunächst  den  Stoff  der  Oberstufe  der  Volksschule  unter  ent- 
sprechenden Erweiterungen  durch,  um  die  Zöglinge,  welche  einen  verschiedenartigen 
Bildungsgang  durchlaufen  haben,  zu  gleicher  Bildungs-  und  Leistungsfähigkeit  zu  führen, 
zumal  gerade  in  Mathematik  eine  sichere  Grundlage  für  den  weiteren  erfolgreichen 
Unterricht  unbedingt  notwendig  ist.  So  weisen  im  Rechnen  die  beiden  untersten  Klassen 
hauptsächlich  die  bürgerlichen  Rechnungsarten  auf,  nachdem  die  Grundrechnungsarten 
mit  ganzen  Zahlen,  Dezimal-  und  gemeinen  Brüchen  wiederholt  sind.  Hierbei  sind 
vor  allem  praktische  Aufgaben  zu  stellen.  In  der  1.  Klasse  erfolgt  die  Einführung  in  die 
Buchstabenrechnung,  ferner  kommen  noch  die  Proportionen  und  die  Gleichungen 
1.  Grades  mit  einer  Unbekannten  zur  Behandlung.  Das  Seminar  bringt  sodann  in  der 
3.  Klasse  Potenzen,  Wurzeln,  Logarithmen,  Gleichungen  1 .  Grades  mit  mehreren  Unbe- 
kannten, in  der  2.  Klasse  Gleichungen  2.  Grades,  arithmetische  und  geometrische  Reihen 
sowie  die  Zinseszins-  und  Rentenrechnung. 

Es  wird  kaum  ein  zweites  Fach  geben,  wo  die  Übung  so  notwendig  ist  als  im 
Rechnen.  Darum  ist  auf  allen  Stufen  Selbständigkeit,  Sicherheit  und  Gewandtheit  im 
Lösen  von  Aufgaben  zu  erreichen.  Die  Schüler  müssen  nicht  nur  zur  klaren  Einsicht  in 
das  bei  jeder  Rechnungsart  anzuwendende  Verfahren  geführt  werden,  sondern  auch  be- 
fähigt sein,  mit  Fertigkeit  zu  rechnen  sowie  selbständig  das  Verfahren  zu  beschreiben  und  zu 
begründen.  Auf  Kopfrechnen  wird  besonderes  Gewicht  gelegt,  und  zwar  soll  nach 
Sicherung  des  Normalverfahrens  die  Ausnutzung  der  Rechenvorteile  geübt  und  die  Lösung 
von  algebraischen  Aufgaben  durch  einfache  Schlüsse  ohne  Gleichungen  betrieben  werden. 
Gerade  das  Kopfrechnen  auf  den  I>ehrerbildungsanstalten  hat  man  angegriffen,  aber  mit 
L'nrecht!  Hier  müssen  die  künftigen  Rechenlehrer  ihre  Ausbildung  erhalten;  denn  es  ist 
nichts  trauriger,  als  wenn  dann  in  der  Schule  ein  solcher  vor  der  Klasse  steht  und  mit 
den  Lösungen  der  Aufgaben  nachhinkt,  oder  sich  fort  und  fort  verrechnet,  sofern  er  es 
überhaupt  nicht  vorzieht,  das  Kopfrechnen  wenig  oder  garnicht  zu  treiben.  Zudem  ist 
dieses  in  der  oben  beschriebenen  Form  ein  hen-orragende»  Mittel  der  Geistesg)mnastik 
und  streng  logischen  Denkens. 

Die  Aufgaben    des    angewandten  Rechnens    sind    dem    praktischen  Leben    zu  ent- 


Die  LehrerbildungsanstaUeii.  291 

nehmen.  Die  Verhältnisse  des  Hauses,  der  Landwirtschaft,  des  Gewerbes,  Handels  und 
\erkehrs  sind  zu  berücksichtigen,  fej-ner  die  Wirtschafts-  und  Wohlfahrtseinrichtungen  des 
Staates  und  der  Gemeinden,  vor  allem  das  Versicherungswesen.  Hierbei  haben  die  oben 
erwähnten  volkswirtschaftlichen  Belehrungen  zu  erfolgen,  so  z.  B.  über  Arbeit,  Kapital, 
Preisbildung,  Lohn,  Miete,  Pacht,  Zins,  Wertpapiere,  Wechsel  und  Checkverkehr,  Märkte, 
Messen,  Börsen,  Haushalt  der  Familie,  des  Gewerbebetriebes,  der  Gemeinde,  des  Staates, 
Zölle,  Steuern,  Versicherungswesen  u.  a.  Weitere  Aufgaben  sind  einzelnen  Wissens- 
zweigen, so  der  Natur-  und  Erdkunde  zu  entnehmen.  Bei  diesen  angewandten  Aufgaben 
darf  aber  keine  willkürliche  Buntscheckigkeit  herrschen;  sie  sind  vielmehr  mit  Beziehung 
auf  die  bezeichneten  Gebiete  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  zu  ordnen.  Gerade  durch 
derartige  Übungen  wird  Abwechslung  in  das  leicht  tote  Rechnen  und  die  rein  formale 
Schulung  gebracht.  Die  .\nwendung  auf  das  Leben  —  politische  Arithmetik  hat  man  es 
neuerdings  genannt  —  und  auf  die  Wissenschaften,  für  welche  die  Mathematik  die  Grund- 
lage zu  ihrem  Aufbau  ist,  geben  ihr  den  Charakter  eines  der  für  das  tägliche  Leben 
und  die  wissenschaftliche  Forschung  wichtigsten  Fächer. 

Der  zweite  Teil  der  Mathematik,  die  Raumlehre  führt  von  der  Anschauung  aus- 
gehend die  Beweise  nicht  auf  elementarem  Wege  wie  die  \'olksschule,  sondern  auf 
logisch-wissenschaftlichem,  indem  sie  aus  dem  Gegebenen  ableitet  und  schließt,  und  durch 
\erknüpfung  bekannter  Sätze  neue  Wahrheiten  findet.  Die  Präparandenanstalt  erledigt 
in  der  3.  Klasse  die  Lehre  von  den  Linien,  Winkeln  und  Dreiecken,  in  der  2.  Klasse  die 
vom  Parallelogramm,  Trapez,  regelmäßigen  Viereck  und  vom  Kreise;  die  1.  Klasse  be- 
handelt die  Hächengleichheit  gradliniger  Figuren,  ihre  Berechnung  und  die  des  Kreises. 
Lii  Seminar  kommt  dazu  die  Proportionalität  gerader  Linien  und  die  Ähnlichkeit  der 
Figuren,  ferner  Stereometrie,  Trigonometrie  und  Konstruktion  algebraischer  Ausdrücke. 
Die  geometrischen  Lehrsätze  werden  auf  allen  Stufen  zur  Lösung  von  Konstruktions- 
und Berechnungsaufgaben  angewandt,  stets  unter  Berücksichtigung  des  praktischen  Lebens 
und  der  Wissenschaft. 

2.  Naturkunde.  Wie  .schon  früher  bemerkt,  will  der  natur- 
A\is.senschaftliche  Unterricht  keine  Fachleute  heranziehen,  er  will  die 
Natur  verstehen  lehren  und  für  .sie  begeistern.  Darum  liegt  das 
Hauptgewicht  nicht  auf  möglichst  großem  Umfang  der  zu  behandelnden 
Gebiete,  nicht  auf  endlosem  Wissen  von  Tatsachen,  sondern  auf 
gründlicher  Durcharbeitung  beschränkter  aber  um  so  \\ertvollerer 
Lehrstoffe.  Die  Lehrpläne  sprechen  als  Ziel  auch  nur  von  » Ein- 
führen <    in  die  verschiedenen  Disziplinen. 

Es  ist  ein  anziehendes  Kapitel  aus  der  Weltgeschichte,  die  Flucht  von  der  Kultur 
zur  Natur  zu  verfolgen.  Sie  ist  immer  wieder  die  große  Lehrmeisterin  geworden,  sei  es 
im  wissenschaftlichen  Erkennen  oder  im  künstlerischen  Empfinden,  sei  es  als  Weckerin 
oder  Beherrscherin  der  psychischen  Gefühle,  sei  es  im  Ansporn  zu  zielbewußtem  Wollen 
oder  im  ernsten  Selbstbescheiden,  ihr  ohnmächtig  gegenüber  zu  stehen.  Der  natur- 
wissenschafdiche  Unterricht  hat  darum  mit  rechtem  Nachdruck  auf  die  große  Bedeutung 
der  Natur  im  Geistesleben  der  Völker  und  im  Geistesdasein  des  einzelnen  hinzuwirken, 
Verständnis  und  Sinn  für  ihre  Großartigkeit,  Ordnung  und  Gesetzmäßigkeit  zu  wecken, 
er  hat  zuletzt  von  der  Schöpfung  und  dem  Geschöpf  zum  Schöpfer  hinzuleiten.  Die 
henorragendsten  Naturforscher  bis  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  erkannten  Gott  in  der 
Natur  —  den  Großen  im  Reiche  der  Geister  war  sie  eine  Förderin  der  Gedanken, 
eine  Freundin,  eine  Trösterin.  Es  sei  nur  an  Goethes  Gedankenlyrik  erinnert:  „Füllest 
wieder  Busch  und  Tal  Still  mit  Nebelglanz",  singt  er  in  seinem  Gedicht  „An  den  Mond" 
und    fährt    dann  fort:    „Lösest  endlich  auch  einmal  Meine  Seele  ganz".     Aber  der  natur- 

19* 


292  I>ie  Vülksschullehreibiklung. 

wissenschaftliche  Unterricht  läuft  Gefahr,  wie  es  die  Wissenschaft  von  der  Natur  Jahr- 
zehnte lang  getan  hat,  Icalt  die  Tatsachen  von  ihr  und  ihre  Gesetze  und  Ursachen  zu 
verzeichnen,  ohne  daß  der  glühende  Lebensodem  zu  verspüren  ist,  der  das  All  durch- 
weht.    Schillers  Worte  in  dem  Gedichte:  „Die  Götter  Griechenlands" 

„Wo  jetzt  nur,  wie  unsre  Weisen  sagen. 

Seelenlos  ein  P'euerball  sich  dreht. 

Lenkte  damals  seinen  goldnen  Wagen 

Helios  in  stiller  Majestät"  und 

„Gleich  dem   toten  Schlag  der  Pendeluhr, 

Dient  sie  knechtisch  dem   CJesetz  der  Schwere, 

Die  entgötterte  Natur"  — 
geben  dem  Naturgeschichtslehrer  der  Jetztzeit  eine  mahnende  Anregung! 

Je  größer  und  umfangreicher  sich  die  Naturerkenntnis  gestaltet,  um  so  demütiger 
hat  sich  der  Mensch  vor  der  Allmacht  und  Größe  Gottes  zu  bescheiden.  Dazu  mahnen 
ihn  auch  die  Grenzen,  welche  dem  Naturerkennen  gesetzt  sind.  Der  große  Physiologe 
du  Bois-Reymond  hat  es  verkündet,  daß  auf  viele  Dinge  der  Natur  noch  lange  die  Antwort 
lauten  muß:  ignoramus  —  daß  aber  bei  der  PVage,  was  Stoff,  was  Kraft  sei,  es  heißt: 
ignorabimus!  Und  doch  soll  der  naturgeschichtliche  Unterricht  den  Zögling  mit  Stolz  er- 
füllen, wie  der  Mensch  sich  die  Naturkräfte  dienstbar  gemacht  hat  —  „füllet  die  Erde 
und  machet  sie  euch  Untertan",  so  steht  im  L  Kapitel  der  Genesis!  Der  Mensch  hat 
sich  mit  Dampf  und  Elektrizität,  durch  Eisen  und  Dynamit  Wege  gebahnt  und  Wunder- 
werke geschaffen.  Die  „Weltwunder  der  Neuzeit",  welche  die  Technik  auf  Grund  von 
Mathematik  und  Naturwissenschaft  hat  entstehen  lassen,  sollen  die  Lebenden  mit  Ehrfurcht 
vor  Menschenkraft  und  Menschenweisheit  erfüllen,  sie  sollen,  wie  man  ausgeführt  hat, 
verstehen  lehren,  welch  eine  Bedeutung  das  Sophokleische  Chorlied  für  die  Gegenwart 
hat:  „Vieles  Gewaltige  lebt,  doch  nichts  ist  gewaltiger  als  der  Mensch".  —  Und  wieder, 
Sturm  und  Wasser  stürzen  die  Brücken  und  zerreißen  die  Telegraphendrähte  und  Eisen- 
bahnschienen, auf  denen  nach  dem  Worte  des  Ligenieurs  Max  Maria  von  Weber,  dem 
Sohne  des  Tondichters  aus  der  Romantik,  der  Menschheit  eine  neue  Sinfonia  eroica  auf- 
gespielt werden  soll.  —  Jene  Riesenkanonen  zerstören  in  einem  Augenblicke  das  Panzer- 
schiff, jene  schwimmende  Stadt,  an  der  tausend  fleißige  Hände  jahrelang  schufen,  und 
die  nicht  bewahrte  Kraft  zertrümmert  blühende  Menschenleben,  die  als  Prometheus- 
naturen im  Hochgefühl  ihres  Selbst  glaubten,  gerade  jene  Kräfte  zu  zwingen,  —  die 
glaubten,  wie  einst  die  Giganten  den  Ossa  auf  den  Pelion  türmen  zu  können,  um  den 
Olymp  zu  erstürmen!  Drum  hat  auch  hier  wieder  der  Unterricht  zu  betonen,  wie  es 
Justinus  Kerner  in  seinem  Gedichte  „Im  Eisenbahnhofe"  mahnend  zum  Ausdruck  bringt: 
Lahr  zu,  o  Mensch!  treib's  auf  die  Spitze, 
Vom  Dampfschifl'  bis  zum  Schiff  der  Luft, 
Elieg'  mit  dem  Aar,  flieg'  mit  dem  Bhtze! 

Kommst  weiter  nicht,  als  bis  zur  Gruft! 

Auch  in  der  Naturkunde  wird  auf  die  Quellen  zurückgegangen,  indem  Anschauung 
und  Versuche  die  Ausgangspunkte  bilden,  und  indem  dabei  die  Zöglinge  durch  Beob- 
achtung und  Nachdenken  die  Erscheinungen  und  Gesetze  erkennen.  Dazu  gehört 
weiter  die  Unterweisung  im  Gebrauch  von  Lupe  und  Mikroskop,  sowie  die  planmäßig 
geleitete  Beobachtung  in  der  Natur  selbst  dm-ch  diesem  Zwecke  dienende  Ausflüge,  und 
die  etwa  zu  ermöglichenden  Besichtigungen  von  Fabriken  und  Werkstätten. 

Behandelt  werden  Naturbeschreibung  (Pflanzen-,  Tier-  und  Menschenkunde), 
Physik,  Chemie  einschließlich  Mineralogie.  Zur  Verfügung  stehen  der  Präparandenanstalt 
in  der  3.  Klasse  zwei,  in  den  anderen  beiden  Klassen  und  in  den  beiden  unteren  Seminar- 
klassen je  vier  wöchentliche  Stunden.  Der  Unterricht  in  der  Pflanzenkunde  behandelt  in 
der  3.  und  2.  Präparandenklasse  die  heimatlichen  Samenj)flanzen,    in    der  L  dagegen  die 


Die  Lehrerbildungsanstalten.  293 

wichtigsten  auslandischen  Kultur|)tlan/.sn,  die  Sporenptlanzen  und  die  Pllanzensystematik; 
es  werden  ferner  Übungen  im  Bestimmen  von  Pllanzen  angestellt.  Die  Tierkunde  be- 
spricht in  der  Präparandenanstalt  die  gesamte  Tierwelt.  Im  Seminar  hat  nur  noch  die 
3.  Klasse  Naturbeschreibung.  Hier  kommen  die  Gestalt-  und  Gewebelehre  und  die 
Lelienserscheinungen  der  Pflanzen  und  Tiere  zur  Sprache,  außerdem  noch  der  Bau  und 
das  Leben  des  menschlichen  Körpers  unter  Berücksichtigung  der  Gesundheitspflege. 
Diese  gibt  die  Grundlage  für  die  in  der  Pädagogik  zu  behandelnde  Schulgesundheits- 
prtege  sowie  für  die  im  Turnunterricht  zu  erörternden  Gesundheitsregeln  bezüglich 
des  Turnens  und  Schwimmens  und  für  die  Unterweisung  im  Samariterdienst.  Eine  Kr- 
gäiizung  der  Gesundheitspflege  bildet  dann  die  in  der  2.  Seminarklasse  bei  der  Chemie 
besprochene  Nahrungsmittellehre.  Der  Unterricht  in  der  Pflanzen-  und  Tierkunde  be- 
ginnt mit  der  Beschreibung  einzelner  Wesen  und  führt  durch  Vergleichung  verwandter 
Formen  zum  Verständnis  des  Systems.  Der  Nachdruck  liegt  indes  auf  der  Biologie. 
Bau  und  Leben  der  Pflanze  und  des  Tieres  sollen  zum  Verständnis  kommen;  dann  soll 
aber  auch  stets  die  Bedeutung  der  Naturwesen  für  den  Menschen  und  im  Haushalte  der 
Natur  zur  Besprechung  gelangen. 

Der  Unterricht  in  Physik  setzt  erst  in  der  2.  Präparandenklasse  ein.  Hier  sowie 
in  der  1 .  Klasse  werden  die  allgemeinen  Eigenschaften  der  Körper,  die  Mechanik  und 
die  Lehre  vom  Schall  erörtert.  Die  3.  Seminarklasse  bringt  die  zusammengesetzten 
Eigenschaften  fester,  tropfbarflüssiger  und  gasförmiger  Körper,  Wärmelehre,  Magnetismus 
und  Witterungslehre  —  mancher  Lehi-er  hat  später  im  Auftrage  des  Königlichen  meteoro- 
logischen Listituts  an  seinem  Orte  Witterungsbecbachtungen  anzustellen,  welche  der 
meteorologischen  Wissenschaft  dienen.  Die  2.  Klasse  b3spricht  die  Lehre  vom  Licht  und 
die  Elektrizität.  Chemie  und  Mineralogie  wird  nur  auf  dem  Seminar  gelehrt,  und  zwar 
in  der  3.  Klasse,  die  Metalloide  und  Leichtmetalle,  in  der  2.  die  Metalle,  das  wich- 
tigste aus  der  organischen  Chemie  und  der  Technologie,  sowie  die  Nahrungsmittellehre. 
Ferner  kommen  hier  zur  Behandlung  die  für  die  Industrie  und  Technik  wichtigen 
^Mineralien,  ferner  die  für  Bildung  der  Erdrinde  hauptsächlichsten  Gesteine  und  Boden- 
arten. Ihre  Ergänzung  findet  dann  die  Geologie  in  der  Erdkunde.  Der  Nachdruck  beim 
Unterricht  in  der  Naturlehre  soll  in  einer  auf  Beobachtung  der  Erscheinungen  begründeten 
Erfassung  der  Naturgesetze,  auf  dem  Verständnis  ihres  Zusammenhanges  und  der 
Kenntnis  ihrer  Anwendung  liegen.  In  allen  Zweigen  der  Naturlehre  ist  genau  einzu- 
gehen auf  die  Bedeutung  und  Verwendung  der  Naturkörper  und  Naturkräfte  im  Haus- 
halte der  Natur  oder  im  täglichen  Leben,  in  Landwirtschaft  und  Gewerbe,  in  Technik 
und  Industrie,  Verkehrsleben  usw. 

In  enger  Beziehung  mit  dem  naturkundlichen  steht  der  landwirtschaftliche  Unter- 
richt, der  aber  nur  in  der  3.  und  2.  Seminarklasse  einmal  wöchentlich  erteilt  wird. 
Seine  Notwendigkeit  erklärt  sich  daraus,  daß  zahlreiche  Lehrer  Schulstellen  auf  dem 
Lande  haben.  Darum  beschränkt  er  sich  auf  Obst-  und  Gartenbau,  —  aber  auch  Unter- 
richt in  Seiden-  und  Bienenzucht  wird  aus  gleichem  Grunde  erteilt.  Es  liegt  aber  auch 
der  Zweck  vor,  das  zum  L'nterricht  an  ländlichen  Fortbildungsschulen  nötige  Verständnis 
der  ländhchen  Interessen  zu  erzielen.  Seine  Vorbereitung  findet  der  landwirtschaftliche 
L'nterricht,  indem  die  Naturbeschreibung  in  der  Pflanzenkunde  an  den  entsprechenden  Stellen 
die  Obstbäume  und  die  Gartenpflanzen  sowie  die  den  Ackerboden  bildenden  Gesteinsarten 
vorwiegend  behandelt.  Die  Unterweisung  is'  im  Winter  theoretisch,  im  Sommer 
vorwiegend  praktisch. 

3.  Erdkunde.  Die  Erdkunde  trägt  sehr  stark  den  Charakter 
einer  Naturwissenschaft,  seitdem  man  gelernt  hat,  die  Bedingungen 
der  Erde  auf  den  Gebieten  der  Mathematik.  Astronomie,  Geologie, 
Physik     und     der     Meteorologie     zu     finden.       So     wird    denn     die 


2<-)4  iJie  Volksschullehrerbildung. 

Geographie  im  wesentlichen  als  ein  Teil  des  großen  Feldes  der 
Naturwissenschaften  angesehen.  Indes  noch  andere  Bedingungen 
sind  in  ihr  maßgebend:  Geschichte,  Staats-  und  Volkswirtschaft, 
Ethnologie,  Volkskunde.  Sie  zeigt  sich  damit  als  eine  Disziplin, 
welche  an  viele  andere  Fächer  grenzt,  aber  für  diese  auch  einen 
Sammelpunkt  schafft. 

Wie  in  der  Geschichte,  so  fordei^n  die  Lehrpläne  in  der  Erdkunde  als  höchstes 
Ziel  die  Kenntnis  des  Vaterlandes,  und  zwar  nach  Natur,  politischer  Gliederung, 
materieller  Kultur  und  nach  den  Verkehrsbeziehungen  zum  Auslande.  Diese  Bestimmung 
ist  um  so  freudiger  zu  begrüßen,  da  die  Schulen  im  18.  und  noch  weit  im  19.  Jahr- 
hundert ihre  Stärke  in  der  Besprechung  der  außerdeutschen  Länder  suchten,  und  da  die 
Zeit  noch  gar  nicht  so  fern  ist,  daß  mancher  Schüler  in  Attika  und  Latium  weit  besser 
Bescheid  wußte,  als  im  eigenen  Vaterland.  Es  sollen  aber  auch  die  Grundlehren  der 
mathematischen  und  das  hauptsächlichste  aus  der  allgemeinen  physischen  Erdkunde  und 
der  Handelsgeographie  gegeben  werden.  Diese  Anordnungen  bedeuten  eine  erfreuliche 
Reaktion  gegen  den  übertriebenen  geologischen  Betrieb  der  Erdkunde,  wie  er  sich  in 
den  letzten  anderthalb  Jahrzehnten  über  Gebühr  breit  gemacht  hatte.  Jeder  Funke 
politischer  oder  Verkehrsgeographie  war  von  den  Fanatikern  der  erdkundlichen  Methodik 
verbannt.  Jedoch  ist  die  Erdkunde  ein  eminent  praktisches  Fach.  Der  angehende 
Staatsbürger  muß  über  die  Gliederung  des  Vaterlandes,  die  Kultur,  die  Lage  der  (Irt- 
schaften,  die  Verkehrswege  vertraut  sein  —  und  in  interessanter  Weise  ist  neuerdings 
gezeigt  worden,  wie  das  Kursbuch  erfolgreich  in  den  Dienst  der  Geographie  tritt.  Der 
angehende  Lehrer,  der  das  Volk  über  die  Weltstellung  Deutschlands  und  die  ihm 
dadurch  erwachsenden  Aufgaben  und  Pflichten  aufklären  soll,  muß  gerade  hinreichend 
in  politischer,  Kultur-  und  Verkehrsgeographie  gefördert  sein.  Deshalb  ist  auch  bei  der 
Handelsgeographie  Deutschlands  Anteil  am  Welthandel  und  Weltverkehr  zu  berücksich- 
tigen. Hierbei  findet  sich  übrigens,  wie  schon  bei  Besprechung  der  Geschichte  und  der 
Mathematik  erwähnt,  wieder  Anlaß,  volkswirtschaftliche  Belehrungen  zu  geben,  so  über  Ein- 
und  Ausfuhr,  Produktion  und  Konsumtion,  Rohstoff  und  fertige  Ware,  Austausch  der 
Güter,  Umlaufsmittel  des  Verkehrs  und  dergleichen. 

Für  die  Erdkunde  sind  in  den  drei  Klassen  der  Präparandenanstalt  je  zwei,  in 
der  3.  Seminarklasse  drei,  in  der  2.  Seminarklasse  zwei  wöchentliche  Stunden  angesetzt. 
Die  Präparandenanstalt  hat  die  Kenntnis  der  erdkundlichen  Gegenstände  zu  vermitteln 
und  den  unentbehrlichen  Gedächtnisstofl'  zu  sichern.  Dies  bedeutet  die  gleichen  \'or- 
teile  für  den  Unterricht  im  Seminar  wie  bei  der  Geschichte.  So  gibt  die  3.  Klasse  der 
Präparandenanstalt  das  allgemeinste  aus  der  physischen  Geographie  des  Erdkörpers  und 
das  Verständnis  des  Globus  und  der  Karte.  Ferner  wird  die  Heimatsprovinz  sowie  die 
physische  und  politische  Erdkunde  Deutschlands  besprochen.  Die  beiden  andern  Klassen 
erledigen  die  physische  und  pohtische  Erdkunde  der  außerdeutschen  Länder,  wie  der 
außereuropäischen  Erdteile  mit  Einschluß  der  deutschen  Kolonien.  Das  Seminar  widmet 
bei  wiederholender  Durchnahme  des  Stoffes  seine  Kraft  der  vergleichenden  Betrachtung 
der  inneren  Beziehungen  und  ursächlichen  Zusammenhänge  von  Lage,  Klima,  Boden- 
gestalt, Bodenkultur,  Menschenleben  u.  a.  Die  Ethnologie,  deren  Bedeutung  für 
Religion,  Geschichte,  Kultur,  Staats-  und  Volkswirtschaft  man  immer  mehr  erkennt, 
kommt  dabei  auch  zu  einigem  Recht.  Die  3.  Seminarklasse  behandelt  aus  der 
physischen  Geographie  die  Erde  als  Ganzes,  die  Erdgeschichte,  die  Wechselbeziehungen 
zwischen  Land  und  Meer,  die  Wasser-  und  die  Lufthülle,  sowie  (im  Überblick)  die 
Pflanzen-,  Tier-  und  Menschenwelt.  In  der  Länderkunde  werden  die  außereuropäischen 
und  außerdeutschen  Länder  besprochen.  Der  2.  Klasse  verbleiben  Deutschland,  die 
Handelsgeographie,  der  Weltverkehr,    die    mathematische  Erdkunde.      Hier    erfolgt    auch 


I 


Die  Lelirerbildungsaiistaltcn.  295 

eine  kurze  Eiiifiilirung  in  die  Kartographie.  Als  wichtigstes  Hilfsmittel  zur  Einprägung 
des  Kartenbildes  wird  auf  allen  Stufen  seitens  der  Zöglinge  das  Entwerfen  von  Karten- 
skizzen an  der  Wandtafel  und  im  Hefte  fleißig  geübt. 

'A.  Die  künstlerischen  Fächer. 

1.  Kunstunterricht.  Schreiben,  Zeichnen,  Turnen  und  Musik  pflegt  man 
gewöhnlich  als  technische  Fächer  zu  bezeichnen.  Darin  liegt  eine  arge  Unterschätzung, 
zu  der  die  Behandlung  nur  von  der  rein  technischen  Seite,  sowie  die  geringe  Einschätzung 
gegenüber  den  wissenschaftlichen  Fächern,  mit  einem  Wort,  ihre  Stellung  im  Gesamt- 
unterricht wesentlich  beigetragen  hat.  Musik  und  Gymnastik  —  sie  sollen  übrigens 
Beratungsgegenstände  des  kommenden  3.  deutschen  Kunsterziehungstages  bilden  —  waren 
bei  den  Griechen  künstlerisch  hoch  eingeschätzt,  während  die  zeichnenden  Künste  seit 
Albrecht  Dürers  Tagen  eine  echt  deutsche  Kunst  gewesen  sind,  und  die  Gegenwart  wieder 
die  Schwarzweißkunst,  auch  das  Schreiben  gehört  hierzu,  besonders  hoch  zu  schätzen  weiß. 
Bisher  hat  man  die  technische  Seite  der  künstlerischen  Fächer  zu  sehr  betont  und  ver- 
gessen, daß  jene  doch  dem  Gebiete  der  Kunst  angehören.  Mit  gleichem  Rechte  könnte 
man  Sprachlehre,  Geschichte,  Natur-  und  Erdkunde  als  technische  Fächer  bezeichnen,  nur 
weil  zu  ihrem  erfolgreichen  Betrieb  eine  gewisse  geistige  Handfertigkeit  notwendig  ist, 
nämlich  die  Kenntnis  der  Elemente.  Trotzdem  sind  sie  indes  als  wissenschaftliche  Fächer 
anerkannt.  Ebenso  müssen  Schreiben,  Zeichnen,  Musik  und  Turnen  als  künstlerische 
Fächer  eingeschätzt  werden,  wenn  auch  die  Aneignung  der  technischen  Fertigkeiten  hier 
einen  breiten  Raum  beansprucht,  und  obgleich  bisher  die  künstlerische  Seite  oft  nur  sparsam 
zum  Ausdruck  kam  und  wiewohl  auch  andere  Gründe  sehr  für  Pflege  einzelner  Fächer 
maßgebend  sind,  z.  B.  für  Musik  die  Notwendigkeit,  Kirchenorganisten  zu  haben,  oder 
für  das  Turnen,  den  Körper  und  den  Willen  zu  stählen. 

Die  bildenden  Künste  haben,  von  dem  Zeichnen  abgesehen,  bisher  noch  keine 
Stätte  im  Seminarunterricht.  Wohl  sollen  die  Besprechungen  in  der  Geschichte  auf  die 
kulturgeschichtlichen  Verhältnisse  Rücksicht  nehmen,  und  darin  ist  die  Kunst  eingeschlossen, 
ferner  sind  im  Deutschen  Aufsätze  über  Kunst  zu  lesen.  Doch  wird  ein  besonderer 
Kunstunterricht  empfohlen,  bei  dem  ganz  wie  in  der  Literatur  die  Betrachtung  im 
\'ordergrund  steht,  bei  dem  aber  auch  die  Kunstgeschichte  durch  Aufbau  auf  der  Kunst- 
betrachtung zu  einem  gewissen  Recht  kommt  und  sich  als  Teil  der  allgemeinen  Geistes- 
geschichte darstellt.  Die  Hauptsache  ist,  Kunstverständnis  durch  Einführung  in  die 
Probleme  der  Kunst  auf  Grund  ihrer  Werke  zu  wecken  und  das  Sehen  zu  lehren,  wie  es 
jetzt  schon  der  Zeichenunterricht  tut.  Ganz  wie  in  Geschichte  und  Erdkunde  müßte  der 
Nachdruck  auf  dem  deutschen  Vaterland  liegen;  das  schließt  natürlich  nicht  aus,  an 
geeigneter  Stelle  die  außerdeutsche  Kunst  heranzuziehen,  indes  ist  jene  Ansicht,  als  ob 
Griechenland  und  Italien  die  allein  maßgebenden  Vorbilder  der  Kunst  seien,  zurück- 
zuweisen. Die  Frage,  ob  sich  eine  Unterweisung  in  der  bildenden  Kunst  für  den 
\"olksschullehrer  geziemt,  ist  mit  den  gleichen  Gründen  zu  widerlegen,  wie  die  Angrifle 
gegen  seine  Ausbildung  in  den  wissenschaftlichen  Fächern.  Zudem  ist  die  Kunst  ein 
Lebensnerv  eines  jeden  einzelnen  und  eines  jeden  Volkes,  sie  ist  eine  Macht  gegenüber 
der  weite  Kreise  beherrschenden  materiellen  Gesinnung.  Der  Lehrer  braucht  sie  zu  seinem 
eigenen  Wohle,  zu  seiner  Charakterbildung  —  er  braucht  sie  als  Erzieher  des  Volkes! 

Mehr  als  eine  Wochenstunde  würde  sich  vorläufig  nicht  erübrigen  lassen;  aber  sie 
kann,  da  der  Zeichenunterricht  helfend  eintritt,  bei  geschickter  Ausnutzung  immerhin 
genügen.  In  der  3.  Klasse  des  Seminars  wären  Malerei  und  die  zeichnenden  Künste,  in 
der  2.  Klasse  Bildhauerei  und  Baukunst  sowie  das  große  Gebiet  des  Kunstgewerbes  zu 
besprechen.  Das  letzte  Seminarjahr  hätte  die  geschichtliche  Zusammenfassung  unter 
ergänzender  Einführung  kunstgeschichtlich  wichtiger,  aber  noch  nicht  betrachteter  Denk- 
mäler zu  geben.     Ferner  müßten  Übungen  im  selbständigen  Betrachten  von  Kunstwerken 


296  rjie  Volksschullehieibildung. 

stattfinden,  sowie  die  methodische  Unterweisung  zur  Behandlung  bei  Kindern.  Den 
Kunstunterricht  mit  Eintritt  in  die  1.  Klasse,  ebenso  wie  Mathematik,  Natur-  und  Erd- 
kunde abzuschließen  und  nur  die  Methodik  und  Übung  im  selbständigen  Betrachten  auf- 
zusparen, ist  nicht  gut  möglich,  weil  die  kunstgeschichtliche  Zusammenfassung  auf  die  im 
letzten  Seminarjahr  erst  zur  Behandlung  kommende  allgemeine  Geschichte  und  Literatur 
des  19.  Jahrhunderts  Rücksicht  nehmen  muß. 

2.  Schreiben.  Das  Ziel  des  Schreibens  ist  eine  deutliche,  sorgfältige  und 
geläufige  Handschrift,  aber  auch  die  Fähigkeit  der  sauberen  und  ordentlichen  Anfertigung 
schnell  geschriebener  Schriftsätze.  Die  Ergebnisse  des  Schreibunterrichts  dürfen  aber 
nicht  bloß  in  ihm  selbst,  sondern  sollen  in  allen  Fächern  sich  geltend  machen,  insbesondere 
auch  in  den  für  den  eigenen  Gebrauch  angefertigten  Entwürfen  und  Ausarbeitungen  der 
Zöglinge.  Für  die  3.  und  2.  Klasse  der  Präparandenanstalt  sind  je  zwei,  für  die  1 .  Klasse 
je  eine  Stunde  wöchentlich  angesetzt.  In  der  3.  Klasse  wird  deutsche  und  lateinische 
Schrift  in  genetischer  Folge  der  Buchstabenformen  geübt,  ebenso  das  Takt-  und  Ziflern- 
schreiben.  Die  2.  Klasse  treibt  Übungen  im  Schönschreiben  und  in  zusammenhängender 
deutscher  und  lateinischer  Schrift,  während  die  1.  Klasse  auf  Übungen  im  schnellen  und 
doch  guten  Schreiben  großen  Wert  legt.  Im  Seminar  wird  kein  Schreibunterricht  erteilt. 
Es  soll  aber  streng  darauf  geachtet  werden,  daß  sich  in  allen  Schriftsätzen  eine  gute, 
deutliche  und  sorgfältige  Handschrift  findet.  Zudem  haben  die  Seminaristen  der  3.  Klasse 
monatlich,  die  der  2.  und  1.  Klasse  vierteljährlich  eine  Probeschrift  zu  fertigen.  Viel 
hat  man  darüber  gestritten,  ob  die  deutschen  oder  die  lateinischen  Schriftzeichen  den 
Vorzug  verdienen  —  der  Hauptnachdruck  muß  vielmehr  auf  einer  Schrift  liegen,  die  trotz- 
der  gebotenen  Eile  die  künstlerische  Gestaltung  nicht  verleugnet. 

3.  Zeichnen.  Ein  großer  Schade  in  der  künstlerischen  Ausbildung  der  gegen- 
wärtigen Generation  ist  es,  daß  sie  das  Sehen  der  Formen  sowie  das  Schätzen  der  Farben 
nicht  gelernt  hat.  Die  Werke  der  neuesten  Kunst  werden  oft  falsch  beurteilt  und  ver- 
urteilt, nur  weil  der  Beschauer  keinen  Blick  für  die  Natur  besitzt,  weil  ihm  das  Verständnis 
für  leuchtende  Farben  fehlt.  Darum  bezeichnen  die  Lehrpläne  als  Ziel  des  Zeichen- 
unterrichts das  Sehen  von  Formen  und  Farben  sowie  das  Darstellen  einfacher  Gegenstände 
nach  der  Natur.  Es  gliedert  sich  in  Freihand-  und  Linearzeichnen.  In  ersterem  soll  der 
Zögling  Größenverhältnisse,  perspektivische  und  Beleuchtungserscheinungen  frei,  ohne- 
Vorlageblatt,  ohne  Messen  am  Modell  und  ohne  Benutzung  mechanischer  Hilfsmittel,  wie 
Zirkel,  Lineal  u.  s.  f.  auffassen  und  auf  Grimd  selbständiger  Beobachtung,  auch  in  den 
natürlichen  Farben  wiedergeben.  Hierbei  werden  auch  Skizzierübungen  veranstaltet,  die 
bezwecken,  zum  Erfassen  der  charakteristischen  Eigenschaften  eines  Gegenstandes  und  zur 
lebendigen  Wiedergabe  zu  führen.  Um  das  wesentliche  einer  Erscheinung  klar  zu  machen 
und  einzuprägen  wird  das  Zeichnen  aus  dem  Gedächtnis  gepflegt.  Das  Linearzeichen 
beabsichtigt  dagegen  ohne  \orlageblätter  mit  Hilfe  von  Lineal  und  Zirkel  das  konstruktive 
Darstellen  zu  üben. 

Das  Freihandzeichnen  sieht  im  \'ordergrund.  In  der  Präparandenanstalt  —  jede 
Klasse  erhält  zwei  Stunden  wöchentlich  —  werden  zunächst  ebene  Gebilde  und  flache 
Formen  aus  dem  Anschauungskreise  des  Schülers  gezeichnet,  besonders  Naturformen. 
Dann  kommt  in  der  2.  und  1.  Klasse  das  Darstellen  einfacher  Gebrauchsgegenstände, 
und  von  Naturformen  (Blätter,  Früchte,  Muscheln  u.  a.).  Das  Zeichnen  flacher  Formen, 
wie  es  bereits  in  der  3.  Klasse  geschah,  wird  fortgesetzt,  auch  aus  dem  Gedächtnis. 
Dazu  kommen  Übungen  im  Treflen  von  P'arben  nach  Naturblättern,  hauptsächlich  Herbst- 
laub, Schmetterlingen,  Fliesen,  Stoßen  usw.  Ferner  finden  Skizzierübungen  statt.  Im 
Seminar  —  die  3.  und  2.  Klasse  hat  je  zwei,  die  1.  Klasse  nur  eine  Stimde  —  werden 
in  der  3.  Klasse  einfache  Natur-  und  Kunstformen,  so  Geräte,  Gefäße,  plastische  Ornamente, 
Architekturteile  usw.  dargestellt,  Geräte,  Gefäße,  natürliche  Blumen,  Zweige,  Früchte, 
Tiere,  besonders  Vögel  und  Schmetterlinge,  u.  a.  mit  Wasserfarben  gemalt.  Einfache 
Gebrauchsgegenstände  sind  auch  an  der  Schultafel    aus  dem  Gedächtnis    zu  zeichnen.     In 


Die  Lehreil)ildung.sunstalten.  297 

der  2.  und  1.  Klasse  weiden  schwierige  Natur-  und  Kunstformen  mit  TJclu  und  Schatten 
wiedergegeben,  freie  perspekti\Hsche  Übungen  im  Darstellen  von  Teilen  des  Zeichensaals, 
des  Scluilgebäudes  usw.  veranstaltet,  das  Malen  mit  \Vasserfarben  und  die  Skizzieriibungen 
fortgesetzt. 

Dem  Linearzeichnen  soll  von  den  angesetzten  Zeichenstunden  in  der  Kegel  alle 
14  Tage  im  Winter  eine  Stunde  gewidmet  werden;  der  Nachdruck  liegt  auf  dem  Lösen 
praktischer  Aufgaben,  d.  h.  auf  dem  geometrischen  Zeichnen  einfacher  Modelle,  Geräte, 
Gebäudeteile  usw.  Es  setzt  in  der  1 .  Präparandenklasse  ein,  wo  einfache  Köi-per  nach 
Modellen,  Geräten,  Gebäudeteilen  usw.  zur  Bearbeitung  gelangen.  In  der  3.  Seminar- 
klasse geschieht  das  gleiche  aber  nach  verschiedenen  Ansichten  mit  Schnitten  und  Ab- 
wicklungen, während  in  der  2.  und  1.  Klasse  noch  Durchdringungen  und  sofern  die 
Zeit  reicht,  die  Elemente  der  Schattenkonstruktion  und  Perspektive  zur  Erläuterung 
kommen. 

Indem  der  Zeichenunterricht  keine  Nachahmungen  sondern  nur  Originale  benutzt, 
geht  er  ebenso  wie  die  wissenschaftlichen  Fächer  auf  die  Quellen  zurück.  Die  Schüler 
sollen  dadurch  einen  Sinn  für  die  Bedeutung  des  jNIaterials  bei  den  Gebrauchs-  und 
Kunstgegenständen  und  seinen  Einfluß  auf  ihre  Gestaltung  erhalten.  So  finden  denn 
Gebilde  der  Schnitz-  und  Schmiedekunst  —  jener  echt  deutschen  Künste  —  Verwendung, 
dann  aber  auch  Erzeugnisse  der  Ton-  und  Glasindustrie  mit  ihren  prachtvollen,  gerade 
für  das  Malen  geeigneten  Glasuren.  Holz-  und  Gipsmodelle  dagegen  —  Ornameutleichen 
wurden  letztere  treflend  genannt  — ,  bleiben  von  der  Benutzung  ausgeschlossen.  Dann 
sind  aber  außer  dem  Schulgebäude  und  dessen  Sammlungen  (hauptsächlich  Tiere,  Schädel, 
Pflanzen  usw.),  nahegelegene  Bau-  und  Kunstdenkmäler,  Museen  usw.  dienstbar  zu  machen. 
Die  Zeichnungen  werden  mit  Bleistift,  Kohle  und  Kreide  sowie  mit  dem  Pinsel  aus- 
geführt. Bei  \Viedergabe  kleinerer  Formen  (z.  B.  Knospen,  \"ogeIfüße)  kommt  auch 
noch  die  Feder  in  Betracht.  Die  Handhabung  des  im  Leben  zumeist  gebrauchten  Blei- 
stifts ist  in  erster  Linie  zu  fördern. 

Die  Benutzung  des  Zeichenunterrichts  zur  Anfertigung  von  Anschauungsbildern  für 
andere  Unterrichtsfächer  ist  unzulässig.  Das  schließt  nicht  aus,  daß  dies  bei  Bedarf 
außerhalb  der  Zeichenstunde  geschieht;  der  junge  Lehrer  wird  dies  später  im  Amte  oft 
tun  müssen.  Dagegen  wird  auf  das  Zeichnen  in  andern  Fächern  viel  Wert  gelegt,  in 
der  Mathematik  sind  die  nötigen  Zeichnungen  stets  genau  und  sauber  auszuführen,  in 
der  Naturkunde  ist  es  fleißig  anzuwenden,  ebenso  in  der  Erdkunde  beim  Entwerfen  von 
Kartenskizzen. 

4.  Turnen.  Ein  altes,  weit  bekanntes  Wort  besagt,  ein  gesunder  Geist  wohne 
nur  in  einem  gesunden  Leibe,  tierade  für  den  geistig  Arbeitenden  ist  die  Pflege  des 
Körjiers,  besonders  in  den  Jahren,  wo  er  sich  ausbildet,  dringend  notwendig.  Darum 
fordern  die  Lehrpläne  auch  das  Turnen  wegen  der  körperlichen  Ausbildung  der  Zöglinge 
und  ihrer  Kräftigung.  Es  soll  aber  weiter  Mut  und  Ausdauer,  Beherrschung  des  Willens 
und  Gewöhnung  an  Ordnung,  Pünktlichkeit  und  Unterordnung  unter  die  Zwecke  des 
(lanzen  erzeugen.  Aber  der  Betrieb  des  Turnens  kann  leicht  einen  harten,  rauhen 
Gharakter  annehmen.  Deshalb  hatten  schon  die  Griechen  die  Gymnastik  in  den  Dienst 
der  Kunst  gestellt  und  in  schöner  Harmonie  ihr  Ideal  gesehen,  und  nicht  minder  fängt 
die  Gegenwart  an,  dies  zu  tun.  Deshalb  fordern  auch  die  Lehrpläne  bei  allem  Streben 
nach  größeren  Leistungen  gerade  Genauigkeit  und  Schönheit  bei  Ausführung  der  ein- 
fachen Übungen.  Diese  Harmonie  und  Schönheit  kommt  besonders  in  den  Tumspielen 
zur  Geltung.  Freudig  darf  es  begrüßt  werden,  daß  sie  neben  den  Kraftleistungen  des 
Gerätturnens  seit  einigen  Jahren  eine  wesentlich  gesteigerte  Pflege  gefunden  haben;  auch 
die  Lehrpläne  bezeichnen  sie  als  notwendigen  Bestandteil  des  Turnens  und  behalten 
ihnen  eine  Stunde  wöchentlich  vor.  Der  Wunsch,  ihren  Betrieb  so  anregend  zu  ge- 
stalten, daß  die  Schüler  ihre  Erholung  in  den  freien  Stunden  darin  suchen,  hat  sich 
wohl  ausnahmslos  erfüllt.     Namentlich  finden  die  Ballspiele,    wie  Treib-  und  Fußball  und 


298  Die  Volksschullehrerbildung. 

das  Xetzballspiel  (lawn  tennis)  den  Vorzug.  Im  Winter  tritt  an  Stelle  der  Turnspiele 
möglichst  der  Eislauf.  Die  volkstümlichen  Übungen  des  Laufens,  Springens  und  Werfens 
können  auch  in  Form  von  Wettspielen  getrieben  werden.  Ebenso  erfährt  der  Reigen 
seine  Pflege,  wobei  sich  in  herv'orragender  Weise  die  harmonische  Verbindung  von 
Turnen  und  Musik  zeigt.  Dazu  treten  dann  die  Tum-  und  Wanderfahrten!  Freude  an 
der  Natur  zu  wecken,  Anstrengungen  zu  ertragen  lehren,  ist  ihre  Aufgabe.  Unter  frohem 
Liederklang  findet  der  Geist  Erholung  von  anstrengender  Arbeit.  Wenn  dann  noch  die 
empfohlenen  Schätzungen  von  Entfernungen  unternommen  werden,  so  ist  das  eine  nicht 
gering  zu  veranschlagende  Pflege  des  an  den  Blick  in  die  Weite  nicht  gewöhnten  Auges, 
das  sonst  immer  nur  im  Studierzimmer  über  den  Büchern  weilend  mehr  angestrengt 
wird  als  dieser  „edlen  Himmelsgabe",  wie  sie  der  Dichter  nennt,  frommt. 

Für  das  Geräteturnen  sind  in  jeder  Klasse  außer  der  Spielsiunde  noch  zwei 
."stunden  wöchentlich  festgesetzt;  in  der  L  Serainarklasse  ist  allerdings  eine  Wochen- 
stunde für  die  Methodik  bestimmt.  Die  3.  Präparandenklasse  wiederholt  die  Stoße  der 
Volksschule,  in  der  2.  und  1.  Klasse  werden  die  Stoffe  unter  Anwendung  der  für  die 
\'olksschule  nicht  vorgesehenen  Geräte,  wie  Bock,  Sturmlauf,  wagerechter  Leiter  ange- 
messen erweitert.  Im  Seminar  treten  Springkasten,  Pferd  und  Schaukelringe  hinzu,  hier 
sind  auch  gerade  die  volkstümlichen  Übungen  zu  pflegen. 

Wo  sich  irgend  die  Möglichkeit  bietet,  wird  im  Sommer  Schwimmunterricht  er- 
teilt. Alle  Zöglinge  sollen  im  Verlaufe  der  Seminarzeit  im  Schwimmen  und  in  den  not- 
wendigen Wassersprüngen  tüchtig  werden. 

5.  Musik.  Man  hat  gesagt,  daß  es  drei  Sprachen  gebe,  die  in  aller  Welt  jeder- 
mann verstände,  zuerst  der  Gedanke  der  christlichen  Erlösung,  weiter  die  Liebe,  endlich 
die  Musik.  Gerade  das  deutsche  Volk  hat  die  Musik  zu  pflegen  gewußt.  Martin  Luther, 
der  gewissermaßen  den  Typus  des  deutschen  Familienlebens  schuf,  erklärte  „Frau 
Musikam"  für  eine  „schöne,  herrliche  Gabe  Gottes  und  nahe  der  Theologie".  Und  wenn 
Ludwig  Richter,  einer  der  deutschesten  jNIeister,  uns  das  köstliche  Bild  „Hausmusik"  be- 
schert hat,  so  zeigt  er,  wie  draußen  der  Sturm  heult  und  der  Regen  auf  die  spitzen 
Giebeldächer  darniedergeht,  während  drinnen  der  Vater  am  einfachen  Tafelklavier  sitzt, 
und  Frau  und  Kinder  in  den  Gesang  einstimmen.  Oder  er  führt  uns  in  seinem  Bilde 
„Ehre  sei  Gott  in  der  Höhe"  auf  den  altersgrauen  Turm  der  gewuchtigen  Stadtkirche: 
Der  Stadtmusikus  und  seine  Gesellen  blasen  auf  ihren  Trompeten  und  Posaunen  vereint 
mit  den  Stimmen  der  jubelnden  Kinder  das  Lied  „Vom  Himmel  hoch,  da  komm  ich 
her"  hinein  in  die  heilige  Weihenacht  1 

Es  ist  das  große  Verdienst  des  Seminars,  daß  seit  langem  schon  die  Musik  im 
deutschen  Lehrerhause  heimisch  ist,  daß  der  Volksschullehrer  wesentlich  mitarbeitet,  die 
Liebe  zu  ihr  im  deutschen  Volke  wach  zu  halten,  keine  Kunst  hat  in  solchem  Umfange 
bisher  ihre  Pflege  gefunden  als  gerade  sie. 

Die  Lehrpläne  heben  allerdings  scharf  den  praktischen  Grund  für  ihren  Betrieb 
hervor,  d.  i.  die  Befähigung,  Gesangunterricht  zu  erteilen  und  ein  Kirchenamt  zu  ver- 
walten. Aber  die  ganze  Handhabung  ist  seit  Jahren  ein  Zeichen  dafür,  wie  die  ideale 
und  erzieherische  Seite  dieser  Kunst  erfolgreich  und  verständnisvoll  eine  Stätte  ge- 
funden hat. 

Keinem  Zweifel  unterliegt  es,  daß  die  Musik  einen  sehr  breiten  Raum  auf  den 
Lehrerbildungsanstalten  einnimmt.  In  der  Präparandenanstalt  hat  die  3.  Klasse  vier,  die 
2.  Klasse  fünf,  die  ^.  Klasse  sechs,  im  Seminar  in  jeder  Klasse  je  fünf  Unterrichts- 
stunden; dazu  kommt  eine  Reihe  außer  dieser  Zeit  liegender  Übungsstunden.  Der  große 
Umfang  ist  durch  die  Tatsache  bedingt,  daß  mit  den  meisten  Lehrerstellen  auf  dem 
Lande  und  mit  vielen  in  kleineren  oder  selbst  mittleren  Städten  ein  Kirchenamt,  d.  h. 
das  Kantor-  und  Organistenamt  verbunden  ist.  Schon  oft  und  nicht  immer  ohne  Grund 
ergeht  die  P'orderung,  bei  den  immer  mehr  gesteigerten  Anforderungen  der  wissenschaft- 
lichen Fächer    die  Musik    einzuschränken.     Es    ist  vorgeschlagen  worden,    besondere  ein- 


I 


Die  Lelirerl)il(lungsanstalten.  299 

jährige  Kurse  zur  Orgaiiistenausbildung  zu  veranstalten,  doch  l^lcibt  es  zweifelhaft,  ob 
sich  genug  junge  Lehrer  dafür  finden  werden.  Weiter  hat  man  zur  Erwägung  gestellt, 
ebenso  wie  es  seit  Jahrzehnten  mit  dem  Diakonissenamt  in  der  Kirche  geschehen  ist,  das 
Diakonenamt  auszubilden  und  in  den  Gemeinden  durchzuführen,  ihm  aber  den 
Organisten-  und  Kantordienst  anzugliedern.  Dieser  Gedanke  scheint  noch  am  meisten 
die  Möglichkeit  zu  bieten,  die  Seminare  von  der  Pflicht  der  Organistenausbildung  zu  befreien. 
Jedoch  scheitert  die  Durchführung  vorläufig  an  der  Unfähigkeit  der  vielen  Gemeinden, 
die  nötigen  Gelder  für  einen  Diakonen  aufzubringen.  Darum  ist  die  Unterrichtsverwal- 
tung bis  auf  weiteres  noch  gezwungen,  der  Musik  auf  den  Lehrerbildungsanstalten  einen 
breiten  Raum  zu  gewähren,  obwohl  sie  sich  schwerlich  der  Erkenntnis  verschließt,  daß  ihr  im 
Verhältnis  zum  Gesamtunterricht  doch  sehr  viel  Zeit  gewidmet  wird.  Allerdings  können 
die  musikalisch  zu  gering  Veranlagten  vom  Orgelspiel,  im  Seminar  außerdem  noch  von 
der  Harmonielehre  befreit  werden;  auch  nehmen  hier  nur  noch  diejenigen  am  Klavier- 
spiel teil,  die  in  den  anderen  Unterrichtsfächern  hinreichende  Leistungen  aufweisen.  Auch 
darf  nicht  vergessen  werden,  daß  die  Musik  von  den  Zöglingen  zumeist  recht  gern  be- 
trieben wird,  namentlich  in  den  Freistunden,  wo  sich  bald  Trios,  Quartette  usw.  zu- 
sammenfinden. Der  Gesang-  und  Violinunterricht,  von  dem  es  keine  Dispensation  gibt, 
ist  für  den  künftigen  Volksschullehrer  unerläßlich,  einmal  weil  er  den  Schulgesangsunter- 
richt erteilen,  sodann  weil  er  das  ^'olk  zur  Ffl;ge  des  Gesanges  anregen  soll.  Eine 
wesentliche  Erleichterung  würde  für  das  Seminar  die  Aufhebung  der  Verpflichtung  vom 
Orgelspiel  bedeuten.  Daß  es  aber  für  freiwillige  Teilnahme  beibehalten  bliebe,  wäre  nur 
zu  wünschen. 

Der  Unterricht  im  Gesang  und  in  der  Theorie  erfolgt  nach  den  vorhandenen 
Klassen;  für  Violin-,  Klavier-  und  Orgelspiel  sind  je  nach  den  Fertigkeiten  des  einzelnen 
Abteilungen  zu  bilden.  Der  Gesang-  und  Violinunterricht  hat  den  Zweck,  die  Melodien 
der  bekanntesten  Kirchen-  und  Volkslieder  einzuüben.  Im  vSeminar  wird  nach  Eintritt 
<les  Stimmwechsels  großer  Wert  auf  Stimmbildung,  Ausgleichung  der  Stimmregister  und 
auf  Treffsicherheit  gelegt,  Vokalisen  und  Solfeggien  kommen  zur  Übung.  Außer  dem 
Einzelgesang  gelangt  in  der  Präparandenanstalt  wie  im  Seminar  in  einer  für  alle  Klassen 
gemeinsamen  Gesangsstunde  der  Chorgesang  zu  seinem  Rechte:  mehrstimmige  Choräle, 
liturgische  Chöre,  Psalmen,  Motetten,  welthche  Lieder  (besonders  Volks-  und  Vaterlands- 
liederj  wechseln  einander  ab.  Beim  Geigenspiel  tragen  die  fortgeschritteneren  Schüler 
im  Seminar  auch  Sonaten  von  Haydn,  Mozart  u.  a.  vor.  Bei  diesen  ist  auch  auf  Bildung 
von  Trios  und  eines  kleinen  Streichorchesters  sowie  auf  die  wirkimgsvolle  Verbindung 
von  Violinchor  und  Orgel  Bedacht  zu  nehmen. 

Der  Klavierunterricht  bildet  hauptsächlich  die  Vorübung  für  das  Orgelspiel; 
darum  ist  er  nur  in  der  Präparandenanstalt  für  alle  Zöglinge  bindend.  Das  Orgelspiel 
beginnt  in  der  L  Präparandenklasse,  im  Seminar  schreitet  es  für  die  Begabteren  bis  zu 
den  Präludien  und  den  Fugen  Sebastian  Bachs  vor.  Die  Theorie  der  Musik  nimmt  ihren 
Anfang  in  der  2.  Präparandenklasse  in  besonderer  Stunde,  sie  endet  mit  dem  Harmonisieren 
des  Chorals  und  des  Volksliedes;  sie  lehrt  auch  die  Erfindung  von  Choralvor-  und 
Zwischenspielen.  Auch  Bau  und  Pflege  der  Orgel  wird  gelehrt,  ebenso  einiges  zur 
Kenntnis  der  wichtigsten  Formen  der  Instrumentalmusik. 

Der  jetzt  in  der  Literatur  zur  rechten  Geltung  gekommene  Gedanke  der  Be- 
trachtung, der  bei  einem  Unterricht  in  den  bildenden  Künsten  gleichfalls  die  Hauptsache 
sein  müßte,  ist  in  der  Musik  schon  längst  anerkannt  worden.  Nur  hierdurch  vermag 
naturgemäß  Verständnis  der  gespielten  Werke  erzeugt  zu  werden,  und  ausgeschlossen 
bleibt,  sie  ohne  geistige  Durcharbeitung  nur  annähernd  richtig  zum  Vortrag  zu  bringen. 
Ebenso  wie  in  Literatur  und  bildender  Kunst  müßte  sich  auf  der  Musikbetrachtung  die 
Musikgeschichte  aufbauen,  aber  nicht  als  etwas  Isoliertes,  sondern  unter  Wahrung  der 
Zusammenhänge  mit  der  allgemeinen  geschichtlichen  und  kulturellen  Entwicklung  als 
Teil    der    Geistesgeschichte.     W'enn    die  Lehrpläne    für    die  1.  Seminarklasse    im  Gesang 


300  Die  Volksschullehrerbildung. 

einiges  aus  der  Geschichte  der  Musik,  besonders  des  Chorals  oder  Volksliedes  vor- 
schreiben, so  kann  dies  sehr  wohl  in  der  angedeuteten  Form  geschehen;  nicht  auf  eine 
Fülle  von  Namen  kommt  es  an,  sondern  auf  die  Hauptströmungen  und  ihr  Verhältnis  zur 
allgemeinen  Kultur. 

4.      Die   Schulung   für  den  Untericht. 

Die  Allgemeinbildung  ist  die  Voraussetzung  der  Schulung  fin- 
den Unterricht.  Alle  ünterrichtsgebiete  des  Seminars  wollen  außer 
dem  Stoff  auch  die  Befähigung  zum  Unterrichten  in  der  Volksschule 
geben;  die  Lehrpläne  betonen  dies  ausdrücklich.  Aber  Stoff  allein 
genügt  noch  nicht,  wie  früher  viele  glaubten,  das  Wissen  vollendet 
sich  erst  durch  die  Methodik  zur  eigentlichen  Fachausbildung,  die 
eine  theoretische  und  eine  praktische  ist.  Der  künftige  Lehrer  muß 
gelernt  haben,  wie  er  das  ihm  gebotene  Material  handhaben  und  im 
Unterrichte  verarbeiten  soll. 

Über  den  Charakter  der  Schulung  für  den  Unterricht  ist  viel 
gestritten  worden,  sowohl  über  ihren  Umfang,  ihre  Handhabung  und 
ihre  Ziele.  Darüber  kann  kein  Zweifel  bestehen,  als  fertige  Lehrer 
können  die  Seminaristen  nicht  entlassen  werden.  Darum  ist  eine 
hinreichende  Grundlage  und  die  nötige  Anregung  zur  Weiterarbeit 
zu  geben.  Die  Anforderungen  an  die  praktische  Ausbildung  auf 
dem  Seminar,  werden  nicht  selten  zu  hoch  gespannt,  indem  man  ver- 
gißt, daß  sie  bei  der  Kürze  der  für  die  praktische  Ausbildung  ge- 
widmeten Zeit,  bei  der  Fülle  des  zu  verarbeitenden  Stoffes  schließlich 
nur  eine  begrenzte  sein  kann,  zumal  die  praktische  Erfahrung  noch 
eine  geringe  ist.  Durch  Abschluß  der  naturwissenschaftlichen  Fächer 
ist  zwar  mehr  Zeit  auch  für  die  praktische  Ausbildung  gewonnen, 
aber  eine  jahrelange  Erfahrung  kann  das  nicht  ersetzen.  Besser  stünde 
es  schon,  wenn,  wie  gefordert,  auf  dem  Seminar  noch  ein  weiteres 
Jahr  für  den  Unterricht  an  der  Übungsschule  hinzugelegt  würde.  Es 
fragt  sich  allerdings,  ob  nicht  eine  weit  häufigere  Revision  durch  den 
SchuHnspektor  in  der  Absicht,  die  Unterrichtsfähigkeit  zu  bilden, 
empfehlenswerter  wäre.  Diese  in  Zwischenräumen  von  höchstens  vier 
Wochen  zu  wiederholenden  Revisionen  müßten  aber  nicht  den  Charakter 
einer  Kontrolle,  sondern  einer  Förderung  der  Fachausbildung  tragen 
und  nach  Ablegung  der  2.  Lehrerprüfung  auihören.  Jedenfalls  sollte 
der  Seminarist  beim  Abgang  soweit  fähig  sein,  sich  im  Amte  be- 
züglich des  Unterrichtens  selbständig  theoretisch  und  praktisch  zu 
fördern.  Vor  allem  muß  er  geschult  sein,  auf  seine  Fehler  zu  achten 
und  seine  Leistungen  wenigstens  annähernd  zu  beurteilen.  Gerade 
auf  diese  kritische  Seite  hat  das  Seminar  größten  Nachdruck  zu  legen. 


I 


I 


Die  Lehrerbildungsanstalten.  301 

da  namentlich  dem  Landlehrer  von  den  gegenwärtig  etwa  nur  einmal 
im  Jahre  stattfindenden  Revisionen  abgesehen,  fast  jede  Kontrolle  fehlt. 
Von  der  Pädagogik  war  bereits  bei  den  wissenschaftlichen  Fächern 
die  Rede,  und  den  Charakter  einer  Wissenschaft,  nicht  einer  Fertigkeit, 
trägt  sie  in  vollstem  Maiie,  wie  man  jetzt  richtig  erkannt  hat.  Es  er- 
übrigt daher  hier  nur  noch  auf  die  Methodik  einzugehen.  Für  sie  ist  in 
Religion,  Deutsch,  Mathematik,  Naturkunde,  Erdkunde  und  Turnen  je 
eine  Stunde  ^\•öchentlich  festgesetzt.  Die  Methodik  der  Geschichte,  des 
Zeichnens  und  der  Musik  wird  in  den  der  Allgemeinbildung  ge- 
widmeten Fächern  erledigt,  während  die  Methodik  des  Schreibens  bei 
der  des  Zeichnens  oder  des  Deutschen  zur  F^rörterung  gelangt.  Diese 
methodischen  Besprechungen  sind  an  geeigneter  Stelle  mit  der  Wieder- 
holung des  Schullehrstoffes,  namentlich  des  gedächtnismäßigen 
zu  verbinden.  Sie  erstrecken  sich  sowohl  auf  die  Geschichte  des  be- 
treffenden Faches  als  auf  die  gegenwärtige  Handhabung.  Die 
Geschichte  wird  oft  für  überflüssig  erklärt,  sie  ist  es  auch,  wenn  sie 
weiter  nichts  als  Buchtitel  und  Namen  aufzählt.  Sie  "bietet  indes  eine 
vorzügliche  Gelegenheit  den  allgemeinen  kritischen  Sinn  der  angehenden 
Lehrer  und  seine  Anwendung  auf  die  Methodik  zu  schärfen.  Die 
Geschichte  der  einzelnen  Fächer  gibt  in  ihren  methodischen  Er- 
scheinungen reiche  Gelegenheit,  aus  den  vielen  Versuchen  die 
rechten  Gedanken  herauszusuchen,  die  aber  von  seiten  der  betreffenden 
Methodiker  nur  eine  unvollkommene  Ausführung  erhalten  haben; 
denn  kaum  ein  pädagogisch-methodischer  Gedanke  ist  vollkommen 
unrichtig  gewesen,  nur  durch  die  Zeit-  und  Geistesverhältnisse  gelang 
es  nicht,  ihm  rechten  Ausdruck  zu  verleihen  und  ihn  in  der  rechten 
Bedeutung  zu  erkennen  und  ihn  demgemäß  in  die  Praxis  umzusetzen. 
Dann  aber  lehrt  ein  rechter  Betrieb  der  Geschichte  der  Methodik  den 
bisweilen  mit  wenig  vornehmer  Reklame  angepriesenen  methodischen 
»Entdeckungen«  der  Gegenwart  ein  wenig  mißtrauisch  gegenüber  zu 
treten.  Gerade  auf  diesem  Gebiete  gilt,  daß  es  nichts  Neues  unter 
der  Sonne  gibt,  —  und  dal^  die  als  unfehlbar«  gepriesenen 
Neuerungen  nur  zu  bald  spurlos  verschwanden. 

Die  einzelnen  Zweige  des  Unterrichts  werden  nach  der 
methodischen  Seite  durchgesprochen,  stets  aber  unter  Vorführung 
der  wichtigsten  Hilfsmittel,  wie  Anschauungsbilder,  Lese-  und  Rechen- 
maschinen, Karten,  Globen,  Apparate,  Turngeräte  u.  dgi.  Im 
Deutschen  erhält  außerdem  der  Seminarist  eine  Übersicht  guter  Volks- 
und Jugendschriften,  von  denen  er  mittels  der  Privatlektüre  ge- 
nauere Kenntnis    nimmt.      In    der   Naturkunde    werden    die  Zöglinge 


302  L)ie  Vülksschullehierbildung. 

noch  besonders  im  Anstellen  \'on  Beobachtungen  und  von  Schul- 
versuchen, auch  in  der  Selbstanfertigung  einfacher  Apparate  planmäßig 
geübt.  Die  Anleitung  zum  Experimentieren  ist  umso  wichtiger,  als 
es  nicht  leicht  zu  lernen  und  nur  nach  gehöriger  Anleitung  mit 
Sicherheit  auszuführen  ist.  Der  landwirtschaftliche  Unterricht  soll 
zudem  Anweisung  zur  Anlage  eines  Schulgartens  geben.  Im  Turnen 
erhalten  außer  der  Geschichte  und  der  Handhabung  dieses  Faches 
die  Seminaristen  Belehrungen  über  die  beim  Turnen,  Spielen  und 
Schwimmen  zu  beobachtenden  Gesundheits-  und  Vorsichtsmaßregeln 
sowie  über  die  erste  Hilfe  bei  Unglücksfällen.  Zur  allgemeinen 
methodischen  Ausbildung  gehört  aber  auch  der  Gebrauch  der  Kreide 
an  der  Wandtafel;  die  Übung  darin  beginnt  im  Schreibunterricht  der 

1 .  Präparandenklasse. 

Es  sind  Bedenken  darüber  geäußert  worden,  daß  die  theoretische 
Methodik  jetzt  ganz  der  Oberklasse  überwiesen  wäve;  denn  jetzt 
müßte  der  Seminarist  ohne  die  nötige  methodische  Unterweisung 
sofort  praktisch  unterrichten.  Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  bei  der 
früheren  Behandlung  der  Methodik  in  der  Mittelklasse  vieles  verloren 
ging,  weil  die  praktische  unterrichtliche  Tätigkeit  und  somit  das  rechte 
Verständnis  für  vieles  der  Theoretik  fehlte.  Zudem  werden  nunmehr 
in  der  2.  Klasse  das  ganze  Jahr  hindurch  wöchentlich  je  vier  Lektionen 
gehalten,  und  da  es  gestattet  ist,  mehrere  Seminaristen  in  jeder 
Lektion  heranzuziehen,  so  sind  sie  bei  Eintritt  in  die  1.  Klasse  mit 
dem  wichtigsten  der  Methodik  praktisch  bekannt  geworden.  Außerdem 
sollen  sich  an  die  Lektionen  Erläuterungen  über  das  Methodische  an- 
schUeßen.  Als  durchaus  fruchtbar  und  gegenseitig  fördernd  muß  es 
vielmehr  angesehen  werden,  daß  jetzt  in  der  1.  Klasse  die  theoretische 
Methodik  mit  dem  praktischen  Unterrichten  Hand  in  Hand  geht. 
Jene  früher  einmal  in  Hannover  und  Holstein  übliche  Ausbildung, 
bei  einem  älteren  Lehrer  mitunter  jahrelang  zu  unterrichten,  dann  erst, 
oft  im  Alter  von  30  Jahren,  nicht  selten  mit  der  Familie,  das  Seminar 
zu  beziehen,  hatte  doch,  so  wenig  empfehlenswert  sie  auch  heutzutage 
ist,  den  Vorteil,  daß  die  theoretischen  Erörterungen  auf  einen 
günstigen,    durch    praktische  Erfahrung    gut  beackerten  Boden  fielen. 

Die    praktische    Ausbildung    beginnt   jetzt    also    bereits    in    der 

2.  Klasse,  wo  in  Religion,  Deutsch  und  Mathematik  je  eine  Sonder- 
stunde wöchentlich  angesetzt  ist.  Aus  den  andern  Fächern  wird 
nach  einem  genau  festzustellenden  Plane  wöchentlich  je  eine  Lektion 
gehalten.  Li  der  ersten  Klasse  unterrichtet  der  Seminarist  mit  Aus- 
nahme der  für  die  Prüfungsvorbereitung  gewidmeten  letzten  Wochen, 


Die  Lelireibildungsanstalten.  303 

wöchentlich  vier  bis  sechs  Stunden  in  der  Seminarübungsschule  unter 
Leitung-  der  Seminarlehrer.  Jeder  Zögling  soll  in  Religion,  Deutsch, 
Rechnen  und  mindestens  noch  einem  andern  Fache  unterrichten, 
dreimal  wenigstens  im  Jahre  hat  ein  Wechsel  der  Unterrichtsfächer 
stattzufinden.  Dieser  Handhabung  der  praktischen  Tätigkeit  gegen- 
über wird  mit  gewichtigen  Gründen  betont,  daß  ein  so  häufiger 
Wechsel  für  die  Kinder  der  Übungsschule  nicht  dienlich  ist,  und  daß 
dem  Seminaristen  weit  nützlicher  sei,  in  zwei  oder  drei  Fächern  das 
ganze  Jahr  hindurch  ohne  Wechsel  der  Klasse  tätig  zu  sein.  Nicht 
das  wäre  der  Kernpunkt  der  methodischen  Schulung,  in  möglichst 
vielen  Fächern  auf  möglichst  allen  Stufen  sich  versucht  zu  haben, 
sondern  in  einem  Fache  auf  einer  Stufe  heimisch  zu  sein.  Dann 
fiele  es  leicht,  sich  in  andere  Klassen  und  andere  Gebiete  einzuarbeiten. 
Die  Seminarlehrer  halten  für  die  Lehrseminaristen  wöchentlich 
besondere  Anweisungsstunden,  wobei  der  Stoff  der  kommenden 
Woche  und  der  Ausfall  der  bisherigen  Lektionen  eingehend  be- 
sprochen wird ;  jeder  Seminarist  bereitet  sich  schriftlich  für  seine 
Unterrichtsstunden  vor.  Der  Ordinarius  der  Übungsschule  —  ein 
Seminarlehrer,  der  ihre  äußeren  Angelegenheiten  besorgt,  sonst  aber 
in  mindestens  einem  wissenschaftlichen  Fache  am  Seminar  unter- 
richtet — ,  erteilt  eine  besondere  Pädagogikstunde,  in  welcher  die 
Lehrtätigkeit  der  Seminaristen,  deren  Beobachtungen  über  die  Eigenart 
der  Kinder  hinsichtlich  der  Anlagen,  des  Fleißes,  der  Führung  und 
ihrer  etwaigen  besonderen  EigentümHchkeiten  sowie  die  durch  solche 
Eigenart  bedingte  besondere  Behandlung  zur  Erörterung  kommt. 
Außerdem  finden  für  die  1 .  Klasse  \A'öchentlich  noch  zwei  Muster- 
lektionen seitens  der  Seminarlehrer  bezw.  besondere  Lehrproben  der 
Seminaristen  unter  Aufsicht  der  Fachlehrer  statt. 

5.  Der  Unterrichtsstoff  des  Seminars  und  der  höheren  Lehr- 
anstalten. 

Alan  hat  hervorgehoben,  daß  die  Seminarlehrpläne  an  die  der 
höheren  Lehranstalten  (Gymnasien,  Realgymnasien,  Oberrealschulen) 
Anschluß  gesucht  und  gefunden  haben.  Sie  mögen  jetzt  mit  den 
Lehrplänen  dieser  Anstalten,  insbesondere  dem  der  Gymnasien, 
welche  die  bei  weitem  überwiegende  Verbreitung  gefunden  haben, 
verglichen  werden.  Li  Religion  leistet  das  Seminar  gemäß 
der  Vorschriften  mindestens  dasselbe  wie  die  Gymnasien,  in  der 
Praxis  dürfte  jenes  zumeist  noch  weiter  gehen.  Im  Deutschen  ist  es 
entschieden    überlegen,    da    es    eine  weit  vertieftere  Sprachlehre  gibt 


304  l^ie  Volksschullehrerbildung. 

und  um  vieles  mehr  in  die  Literatur  eindringt.  Im  Französischen 
stehen  sich  Seminar  und  Gymnasium  ungefähr  gleich,  wenn  auch  für 
ersteres  die  in  diesem  geltende  Bestimmung,  Verständnis  der  be- 
deutendsten französischen  Schriftwerke  der  letzten  drei  Jahrhunderte 
fehlt.  In  alter  Geschichte  geht  das  Gymnasium  weiter,  während  in 
neuerer  und  neuester  Geschichte,  vor  allen  in  den  auf  verschiedene 
Fächer  verteilten  Staats-  und  volkswirtschaftlichen  Belehrungen  das 
Seminar  entschieden  voransteht.  Ihm  fehlt  in  der  Mathematik  der 
binomische  Satz  und  der  KoordinatenbegrifT;  es  treibt  aber  Geometrie 
in  weiterem  Umfange.  In  Erd-  und  vielen  Teilen  der  Naturkunde 
ist  das  Seminar  zum  Teil  erheblich  voraus,  ebenso  im  Zeichnen,  das 
im  Gymnasium  nur  bis  Obertertia  Pflichtfach  ist.  Ähnlich  steht  es 
mit  dem  Gesang.  Dagegen  fehlen  dem  Seminar  die  alten  Sprachen, 
welche  den  größten  Teil  des  Gymnasialunterrichts  einnehmen. 
Indes  bieten  aber  die  Seminare  eine  eingehende  Kenntnis  der  Päda- 
gogik unter  weitgehender  Begründung  auf  Psychologie  und  Logik, 
sowie  eine  umfassende  musikalische  Ausbildung. 

Seit  1900  ist  die  Gleichwertigkeit  der  Gymnasien,  Realgymnasien 
und  Oberrealschulen  für  das  Universitätsstudium  ausgesprochen  worden, 
obwohl  sie  verschiedene  Unterrichtsziele  verfolgen.  Hierin  liegt  das 
Anerkenntnis,  daß  nicht  das  Wissen  und  die  Bildung  in  bestimmten 
Fächern,  sondern  die  Höhe  der  allgemeinen  geistigen  Bildung  die 
Reife  für  die  Universität  bedinge,  daß  es  mithin  in  erster  Linie  nicht 
auf  den  Bildungsstoff  ankommt.  Da  das  Seminar  in  keinem  der  mit 
dem  Gymnasium  gemeinsamen  Fächern  wesentlich  hinter  ihm  zurück- 
bleibt, vielfach  sogar  mehr  bietet,  da  es  den  alten  Sprachen  seiner- 
seits Pädagogik,  Musik  und  eine  beachtenswerte  Nutzung  der  natio- 
nalen Bildungsstoffe  in  der  deutschen  Literatur  und  deutschen  Sprach- 
lehre, in  Geschichte  und  Erdkunde  entgegenstellt,  so  besteht  teilweise 
die  Ansicht,  die  Bildung  eines  Volksschullehrers,  wenn  natürlich  auch 
nicht  gleich,  so  doch  gleich\\'ertig  der  eines  Abiturienten  einer  höheren 
Lehranstalt  zu  bezeichnen.  Wer  die  fremdsprachliche  Bildung, 
namentlich  im  Lateinischen  und  Griechischen,  als  jeder  anderen 
Bildung  wesentlich  überlegen  betrachtet,  wird  diese  Gleichwertigkeit 
natürlich  nicht  zugestehen  können. 

V,   Die  Lehrmittel. 

Zu  den  Lehrmitteln,  welche  den  Unterricht  des  Seminars  unter- 
stützen, rechnen  in  erster  Linie  die  Bücher.  Infolge  der  neuen  Lehr- 
pläne sind  zahlreiche  Neubearbeitungen  älterer  und  eine  Reihe  neuer 


Die  Lehrerbildungsanstalten.  305 

Bücher  erschienen,  die  «großenteils  eine  erfreuliche  Ergänzung  des 
mündlichen  Wortes  bedeuten.  Als  Wiederholungsmittel  sind  sie  im 
Seminarunterricht  unentbehrlich,  ihn  selbst  dürfen  sie  nie  ersetzen 
wollen.  Darum  dürfen  sie  nicht  in  breitem  Rahmen  erzählend  oder 
entwickelnd  vorgehen,  nur  Tatsachen  müssen  geboten  werden, 
möglichst  kurz,  und  wo  es  der  Gegenstand  erfordert,  in  entwickelnder 
Reihenfolge.  Ein  solches  Buch  soll  ja  als  ein  Hilfsrnittel  für  den 
Unterricht  nie  dem  lebendigen  Worte  des  Lehrers  oder  den  Werken 
der  Meister  auf  den  verschiedenen  geistigen  Gebieten  Konkurrenz 
machen. 

Viel  ist  sodann  darüber  gestritten  worden,  ob  die  Bücher  nur 
das  enthalten  dürften,  was  im  Unterrichte  ,, wirklich"  durchgearbeitet 
werden  kann,  oder  auch  mehr.  Mitunter  hat  sich  eine  geradezu 
eigentümliche  Scheu  vor  dem  „zu  viel"  in  den  Lehrbüchern  entwickelt. 
Es  sei  aber  nicht  zu  vergessen,  daß  dieses  ,,zu  viel"  für  diejenigen 
Seminaristen  bestimmt  i.st,  die  dafür  Literesse  haben  und  es  sich  im 
freien  Arbeiten  aneignen  wollen.  Und  für  ein  Fach  zum  mindesten 
pflegt  jeder  Seminarist  Teilnahme  zu  besitzen!  Das  Lehrbuch  soll 
ihm  zudem  ein  Führer  sein,  wenn  er  in  das  Lehramt  eintritt,  das  ihn 
näher  über  die  Gebiete  orientiert,  auf  denen  eine  W^eiterbildung  emp- 
fehlenswert ist.  Nichts  erinnert  mehr  an  jene  Zeiten,  wo  man  dem 
Lehrer  die  Pforten  der  Büdung  verschließen  wollte,  als  ein  Buch, 
das  ängstlich  sucht,  ja  nicht  mehr  zu  bieten,  als  in  der  Abgangs- 
prüfung unbedingt  erfordert  wird.  Vorgeschrieben  werden  durch  die 
Lehrpläne  nur  ein  Lesebuch  für  die  Präparandenanstalten,  sowie 
Schulausgaben  für  die  deutsche  und  fremde  Literatur.  Li  betreff  der 
andern  Bücher  ist  nichts  weiter  bemerkt,  doch  ist  ihre  Notwendigkeit 
geboten,  da  das  Nachschreiben  im  Unterrichte  untersagt  ist. 

Die  Zuhilfenahme  wissenschaftlicher  oder  populärwissenschaft- 
licher Bücher,  zumal  solche  hervorragender  Stilisten,  wird  für  Ge- 
schichte, Natur-  und  Erdkunde  ausdrücklich  gefordert.  Sie  können 
wegen  der  teilweise  bedeutenden  Kosten  natürlich  nicht  von  den 
Seminaristen  angeschafft  werden,  hier  tritt  die  Seminarbibliothek  ein. 
Sie  ist  sowohl  für  die  Seminarlehrer  wie  für  die  Seminaristen  be- 
stimmt und  enthält  in  erster  Linie  pädagogische  und  methodische, 
sodann  fachwissenschaftliche  Werke,  aber  auch  die  F^rzeugnisse  der 
deutschen  und  fremden  Literaturen,  endlich  noch  Volks-  und  Jugend- 
schriften. Außerdem  werden  verschiedene  pädagogische  und  wissen- 
schaftliche Zeitschriften  gehalten.  Einzelne  Seminare  fangen  an,  Lese- 
zimmer für  die  Zöglinge  zur  leichteren  Benutzung  der  Bibliothek  ein- 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  20 


3Q5  Die  VolksschuUehrerbildung. 

zurichten,  die  entweder  täglich  oder  einige  Stunden  in  der  Woche 
geöffnet  sind.  Hier  legen  auch  vielfach  Seminarlehrer  die  von  ihnen 
empfohlenen  und  in  ihrem  Besitz  befindlichen  Werke  zur  allgemeinen 
Kenntnisnahme  seitens  der  Seminaristen  aus. 

Ferner  existieren  bei  den  Lehrerbildungsanstalten  eine  Reihe 
von  Sammlungen,  die  teilweise  im  Dienst  der  Übungsschule  stehen, 
aber  auch  den  künftigen  Volksschullehrer  orientieren  sollen.  Es  sind 
Lesemaschinen,  Bilder  für  den  Anschauungsunterricht,  die  Geschichte, 
die  Erd-  und  Naturkunde,  ferner  Globen  und  Karten  vorhanden, 
weiter  die  umfangreichen  Sammlungen  zur  Naturbeschreibung  und 
Naturlehre,  mitunter  auch  zur  Schulhygiene.  Vielerorts  finden  sich 
für  Weckung  des  künstlerischen  Sinnes  Original-Künstlersteinzeich- 
nungen, und  nicht  vergessen  seien  die  zahlreichen  Gegenstände, 
welche  der  jetzige  Betrieb  des  Zeichenunterrichtes  erfordert.  Be- 
sonderer Wert  wird  auf  möglichsten  Umfang  dieser  Sammlungen 
gelegt,  da  das  Seminar  auch  in  dieser  Beziehung  vorbildlich  zu 
wirken  hat. 

B.   Die  andern  Bundesstaaten. 

Die  außerpreußischen  Bundesstaaten  weisen  im  allgemeinen  die 
gleiche  Ausbildung  der  Lehrer  auf;  es  braucht  daher  nur  das 
wichtigste  Erwähnung  zu  finden.  Bemerkt  sei  jedoch,  dais  seit  Erlais 
der  preußischen  Lehrpläne  vom  L  Juli  1901,  welche  die  Lehrer- 
bildung so  wesentlich  steigerten,  eine  Reihe  von  Bundesstaaten  in  die 
Neubearbeitung  ihrer  Seminarlehrpläne  getreten  ist;  ein  Abschluß 
erfolgte  bisher  nicht. 

Bayern  besitzt  vier  evangelische  und  acht  katholische  Seminare, 
außerdem  noch  eine  Reihe  von  Präparandenanstalten,  alles  staatliche 
Institute.  Der  Kursus  auf  dem  Seminar  ist  zwei-,  auf  der  Präparanden- 
anstalt  dreijährig.  Pflichtfächer  sind  Religion,  Deutsch,  Arithmetik 
und  Mathematik,  Erdkunde,  Geschichte,  Naturwissenschaft,  Erziehungs- 
und Unterrichtslehre,  Zeichnen,  Schönschreiben,  Musik,  Turnen,  Ge- 
setzeskunde, Kirchendienst.  Als  Wahlfächer  gelten  Stenographie, 
Lateinisch  und  Französisch.  Seminarleiter  ist  ein  Direktor,  dem  ein 
Oberlehrer  zur  Seite  steht;  beide  sollen  akademische  Bildung  auf- 
weisen, meist  sind  es  Theologen.  Zu  Seminarlehrern  werden  tüchtige 
Volksschullehrer,  welche  die  2.,  aber  weiter  keine  Prüfung  bestanden 
haben  brauchen,  genommen.  Während  der  Sommerferien  1900  ver- 
anstaltete in  München  das  Ministerium  Fortbildungskurse  für  Seminar- 
lehrer in  Mathematik  und  Physik,  1901    in  Chemie    und  Mineralogie. 


Die  Lehrerhildunj^sanstalten.  307 

Württemberg  hat  \ier  evangelische  und  zwei  katholische  Lehrer- 
seminare, außerdem  noch  Präparandenanstalten ;  alles  ist  staatlich. 
Der  Kursus  in  der  Präparandenanstalt  dauert  zwei,  im  Seminar  drei 
Jahre.  Der  Präparandenlehrplan  bringt  wie  in  Preußen  einige  Fächer 
zum  Abschluß,  das  Internat  fordert  er  ausdrücklich  als  Erziehungsmittel. 
Den  Lehrplan  der  Seminare  bestimmt  die  1898  erlassene  Ordnung 
der  I .  Dienstprüfung.  Trigonometrie  wird  nicht  gelehrt,  wahlfrei  ist 
die  Prüfung  in  Französisch,  Lateinisch,  Handfertigkeitsunterricht  und 
Landwirtschaft  nebst  Obstbau. 

Das  Königreich  Sachsen  verfügt  über  20  staatliche  Seminare, 
von  denen  eins  katholisch,  die  andern  evangelisch  sind.  Die  Präpa- 
randenanstalten sind  mit  den  Seminaren  nicht  nur  durch  die  Lehr- 
pläne innerlich,  sondern  auch  äußerlich  organisch  verbunden,  sodaß 
der  Kursus  sechsjährig  ist.  Lateinisch  gilt  als  Pflichtfach,  es  wird 
hauptsächlich  um  der  logisch-grammatischen  Schulung  des  Geistes 
Avillen  gepflegt.  Die  Aufstellung  neuer  Lehrpläne  ist  in  Aussicht 
genommen.  Die  Seminare  tragen  den  Charakter  höherer  Lehr- 
anstalten. Die  Hälfte  der  Seminarlehrer  soll  mit  Rücksicht  auf  die 
Übungsschule  und  die  Schulpraxis  Volksschullehrer  sein,  die  andere 
Hälfte  dagegen  Akademiker,  welche  die  pädagogische  Prüfung  oder 
die  Prüfung  für  das  höhere  Lehramt  bestanden  haben. 

Von  den  andern  Staaten  besitzen  an  Seminaren:  Elsaß-Loth- 
ringen ein  evangelisches  und  vier  katholische,  Baden  drei  evangelische 
und  ein  katholisches,  Hessen  und  Sachsen-Weimar  je  drei  evangelische, 
Mecklenburg-Schwerin,  Sachsen-Coburg-Gotha,  Braunschweig  und 
Hamburg  je  zwei  evangelische,  Mecklenburg-Strelitz,  Oldenburg, 
Sachsen-Meiniugen,  Sachsen-Altenburg,  Anhalt,  Lippe-Detmold, 
Schaumburg-Lippe,  Schwarzburg-Rudolstadt,  Schwarzburg-Sonders- 
hausen, Reuß  jüngere  Linie,  Reuß  ältere  Linie  und  Bremen  je  ein 
evangelisches.  Insgesamt  sind  in  Deutschland  207  staatliche  Lehrer- 
seminare vorhanden,  von  denen  143  evangelisch,  60  katholisch, 
4  paritätisch  sind.  Die  Anzahl  der  Zöglinge  dürfte  18  000  bis  19  000 
betragen. 

Die  Ausgaben  für  das  Lehrerbildungswesen  machten  nach  einer 
Statistik  für  das  Rechnungsjahr  1900  aus: 

Preußen 7  891  048  AI. 

Bayern 1  200  139    „ 

Sachsen 2  058  124    „ 

Württemberg       ...        v38868l    „ 

Baden 264  549    „ 

20* 


308 


Die  Volksschullehrerbildung. 


Die  Ausgaben  für   das  Lehrerbildungswesen    betrugen    in    dem- 
selben Rechnungsjahre: 


! 

auf  den  Kopf 
der  Bevölkerung 

Durchschnittlich 

für  einen  Präpa- 

randen  jährl. 

Durchschnittlich 
für  einen  Semi- 
naristen jährl. 

Durchschnittl. 
f.  d.  ^'olksschul-  i 
lehrer  während 
d.  ganzen  Aus- 
bildungszeit 

M. 

M. 

M. 

M. 

Preußen  .     .      . 

0,25 

364 

599 

2889 

1   Bayern     .     .     . 

0,21 

338 

505 

2024 

Sachsen   .     . 

0,54 

— 

562 

3372 

Württemberg    . 

0,19 

276 

555 

2217 

Baden      .     .     . 

0,14 

217 

450 

1784 

DRITTER  ABSCHNITT. 


Die  Prüfungen. 
A.    Preußen. 

1.    Die  Pflichtprüfungen. 

Man  hat  von  Preußen  nicht  nur  gesagt,  es  sei  das  Land  der 
Schulen  und  Kasernen,  sondern  auch  das  Land  der  Prüfungen.  Ja, 
in  England  heißt  es:  Die  eine  Hälfte  der  deutschen  Bevölkerung  sei 
beschäftigt,  die  andere  zu  prüfen!  Hier  ist  nicht  die  Stelle,  die  Not- 
wendigkeit von  Prüfungen  zu  untersuchen,  auch  nicht,  ob  die  Examina,, 
welche  ein  Volksschullehrer  in  Preußen  zur  Erlangung  eines  höheren 
Amtes  ablegen  muß,  etwa  entbehrlich  sind,  wie  behauptet  wird,  — 
das  aber  muß  nachdrücklichst  festgestellt  werden:  Durch  jene  Prü- 
fungen ist  der  Lehrerschaft  ein  ungeheurer  Antrieb  zur  Selbstarbeit 
und  zum  Vorwärtsstreben  gegeben  worden!  Mit  Recht  wurde  beim 
fünfundzwanzigjährigen  Jubiläum  der  Allgemeinen  Bestimmungen  vom 
15.  Oktober  1872  betont,  daß  sie  durch  ihre  Prüfungsordnungen,, 
namentlich  durch  die  neu  eingeführte  Mittelschul-  und  Rektoren- 
prüfung, der  Fortbildung  "der  Lehrer  die  Bahn  gewiesen  und  die  Ziele 
dafür  festgestellt  haben. 

Ihren  Abschluß  findet  die  Seminarausbildung  in  der  Entlassungs- 
prüfung,   auch  1.  Lehrerprüfung  genannt,    die    zur    einstweiligen  An- 


I  )ie   Prüfungen.  300 

stellunt,^  im  X'olksschulclienst  bercchti<^t.  Die  Prüfungskommission 
wird  aus  dem  Seminarlehrerkollegium  gebildet,  außerdem  sendet  die 
Unterrichtsvcrwaltung  ihre  Kommissare,  so  das  zuständige  Provinzial- 
SchulkoUegium  einen  Provinzialschulrat  als  Vorsitzenden  der  Prüfungs- 
kommission, die  Regierung,  in  deren  Bezirk  das  betreffende  Seminar 
liegt,  einen  Regierungs-  und  Schulrat.  Außerdem  ist  es  den  kirch- 
lichen Behörden  gestattet,  einen  Vertreter  zur  Beiwohnung  an  der 
Religionsprüfung  zu  bestellen,  dem  auch  das  Recht  zusteht,  bei 
mangelhaften  Leistungen  eines  Prüflings  in  Religion,  P^inspruch  im 
Namen  der  Kirche  zu  erheben. 

Die  Prüfung  ist  schriftlich  und  mündlich;  an  schriftlichen,  unter 
Aufsicht  zu  fertigenden  Arbeiten  sind  zu  Hefern  1.  ein  Aufsatz  aus 
der  Pädagogik  oder  der  deutschen  Literatur,  2.  und  3.  je  eine  Auf- 
gabe aus  der  Religion  und  der  Geschichte,  4.  eine  Übersetzung  aus 
der  fremden  Sprache  ins  Deutsche,  5.  für  die  Teilnehmer  am  Orgel- 
spiel und  der  Harmonielehre  die  Bearbeitung  eines  Chorals.  Die 
dafür  zur  Verfügung  gestellte  Zeit  beträgt  beim  Aufsatz  vier,  bei  den 
anderen  Arbeiten  je  zwei  Stunden.  Ferner  hält  jeder  Prüfling  eine 
Lehrprobe  ab,  für  welche  die  schriftliche  Vorbereitung  einzureichen 
ist.  Die  mündliche  Prüfung  erstreckt  sich  auf  die  positiven  Kennt- 
nisse in  Pädagogik,  Religion,  Deutsch,  Geschichte  und  in  der  Fremd- 
sprache, bei  den  Zöglingen  die  in  Natur-  oder  Erdkunde  beim  Ein- 
tritt in  die  Oberklasse  kein  genügendes  Zeugnis  erhielten,  auch 
hierauf;  wessen  Leistungen  übrigens  in  Mathematik  in  der  2.  Seminar- 
klasse nicht  genügten,  durfte  nicht  in  die  L  Klasse  versetzt  werden. 
Ferner  wird  die  Methodik  sämtlicher  Gegenstände  des  Volksschul- 
unterrichts gefragt.  Die  Aufgaben  sind  so  gestaltet,  daß  die  Antwort 
entweder  in  kurzer  Form  oder  auch  in  zusammenhängendem  Vor- 
trage erfolgt.  Für  die  schnellere  Erledigung  der  mündlichen  Prüfung 
Avird  die  Kommission  in  mehrere  Gruppen  geteilt,  denen  mindestens 
drei  Mitglieder  angehören  müssen.  Zudem  wird  je  nach  Ermessen 
in  einem  oder  mehreren  Fächern  vor  der  ganzen  Kommission  ge- 
prüft. Über  das  Bestehen  entscheidet  die  Kommission  nach  dem 
Gesamtergebnis  des  Examens,  wobei  unter  Umständen  nicht  ge- 
nügende Leistungen  in  einem  Fache,  durch  gute,  in  einem  andern 
Fache  ausgeglichen  werden  können.  Auf  jeden  Fall  war  die  Prüfung 
erfolglos,  sobald  die  Leistungen  in  Pädagogik  oder  Religion  oder 
Deutsch  oder  Geschichte  nicht  hinreichten. 

Auch  solchen,  die  kein  Seminar  besuchten,  ist  die  Ablegung 
der   I.  Prüfung  gestattet.     Nur  werden  sie    in    allen  Fächern    geprüft; 


3  1  0  Die  \'olksschullehrerbildung. 

zudem  müssen  die  positiven  Kenntnisse  in  Mathematik  unbedingt  ge- 
nügen. Im  Gegensatze  zu  früheren  Zeiten  ist  es  nur  die  Ausnahme, 
wenn  sich  ein  Nicht-Zögling  zur  1 .  Lehrerprüfung  meldet,  da  die 
äußerst  gesteigerten  Anforderungen  ohne  Seminarbesuch  wenig  Aus- 
sicht auf  das  Bestehen  des  Examens  bieten.  Zudem  ist  durch  die 
vielen  Neugründungen  der  letzten  30  Jahre  hinreichend  Gelegenheit 
zur  Ausbildung  geboten. 

Außer  der  Seminarabgangsprüfung  gibt  es  im  Volksschulwesen 
nur  noch  eine  Pflichtprüfung,  die  sogenannte  2.  Lehrerprüfung,  ohne 
die  eine  endgültige  Anstellung  nicht  erfolgt.  Die  andern  Examina 
sind  freiwillige. 

Frühestens  zwei,  spätestens  fünf  Jahre  nach  dem  Abgang  hat 
sich  der  junge  Lehrer  jener  Prüfung  zu  unterziehen.  Vielfach  wurde 
sie  Wiederholungsprüfung  genannt  und  in  diesem  Sinne  auch  ge- 
handhabt. Die  Lehrpläne  von  1901  fordern  ausdrücklich  eine  andere 
Gestaltung:  ,,Die  Prüfung  soll  nicht  eine  Wiederholung  der  Seminar- 
entlassungsprüfung sein,  sie  hat  nicht  den  Zweck,  festzustellen,  ob  die 
Bewerber  das  in  der  Entlassungsprüfung  nachgewiesene  Wissen  in 
den  verschiedenen  Fächern  noch  besitzen".  Vielmehr  soll  es  die 
Aufgabe  sein,  auf  Grund  der  näher  bezeichneten  Forderungen,  ,,die 
Tüchtigkeit  der  zu  prüfenden  Lehrer  für  die  Verwaltung  eines  Schul- 
amtes zu  ermitteln."  So  gestaltet  sie  sich  als  eine  Fachprüfung, 
indem  festgestellt  wird,  wieweit  die  methodisch-theoretische  und  die 
prak-tische  Ausbildung  gediehen  ist.  Zudem  hat  der  Prüfling  nachzu- 
weisen, daß  er  sich  in  der  Pädagogik  und  in  einem  Sonder-Fache 
selbständig  weitergebildet  hat.  Die  Meldung  zum  Examen  erfolgt 
durch  Vermittlung  des  Kreisschulinspektors,  der  ein  Zeugnis  über  die 
Tätigkeit  und  Fähigkeit  des  betreffenden  Lehrers  beizulegen  hat. 
Ebenso  tun  dies  die  Regierungs-  und  Schulräte.  Werden  hierbei 
Bedenken  geäußert,  die  sich  besonders  gegen  den  Charakter,  die  Be- 
gabung und  den  Fleiß  äußern,  so  wird  der  Bewerber  vorläufig  zurück- 
gewiesen. 

Die  Prüfung  wird  an  den  Lehrerseminaren  abgehalten  und 
äußerlich  in  gleicher  Weise  gehandhabt  wie  beim  Abgang.  Auch 
die  Prüfungskommission  ist  in  gleicher  Weise  zusammengesetzt,  nur 
fehlt  ein  Vertreter  der  kirchlichen  Behörden.  Schriftlich  ist  in  vier 
Stunden  ein  Aufsatz  über  ein  pädagogisches  Thema  unter  Aufsicht 
anzufertigen.  Sodann  findet  die  Lehrprobe  statt,  deren  Thema  am 
Tage  zuvor  unter  tunlichster  Rücksicht  auf  die  Fächer  und  Stufen, 
in  denen  der  Prüfling    unterrichtet   hat,    zu  stellen  ist.     Dadurch    soll 


Die  Prüfungen.  311 

ihm  Gelegenheit  geboten  werden,  seine  praktische  Befähigung  in  ihm 
bekannten  Gebieten  zu  zeigen,  da  eine  allseitige  unterrichtliche  Fertig- 
keit von  einem  erst  zwei  Jahre  im  Amte  stehenden  Lehrer  nicht  ver- 
langt werden  kann. 

Die  mündliche  Prüfung  beginnt  mit  der  Pädagogik,  und  zwar  ist 
auf  ihre  Geschichte,  die  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  und  die  Schul- 
praxis einzugehen.  Im  Vordergrunde  steht  die  Geschichte  der  preußi- 
schen Volksschule,  die  Anwendung  der  Psychologie,  einige  Erfahrung 
in  der  Verwaltung  des  Schulamtes  und  hinreichende  Kenntnis  der  Ver- 
ordnungen über  das  Schulwesen.  Zudem  hat  der  Prüfling  das  Spezial- 
studium  eines  von  ihm  gewählten  pädagogischen  Werkes  nachzu- 
weisen. 

Die  weitere  Prüfung  ist  methodisch  und  erstreckt  sich  in  der 
Regel  auf  drei  Fächer,  unter  denen  sich  immer  zwei  von  den  Fächern, 
Religion,  Deutsch,  Mathematik  oder  Geschichte  befinden  müssen. 
Bei  unzureichenden  Leistungen  ist  die  Prüfung  auf  die  Methodik 
anderer  Fächer  auszudehnen.  Der  Nachdruck  liegt  auf  der  Praxis, 
doch  sind  möglichst  spezielle  methodische  Schriften  durchzusehen. 
Endlich  ist  die  Weiterbildung  in  einem  Spezialfache  nachzuweisen. 
Der  Nachdruck  liegt  nicht  darauf,  möglichst  umfangreiches  Wissen 
von  allen  möglichen  Einzelheiten  zu  erwerben,  vielmehr  sich  in  ein 
Sondergebiet  vermittels  hervorragender  Werke  und,  sofern  angängig, 
auf  Grund  von  Quellen  zu  vertiefen. 

Der  Ausfall  der  Prüfung  ist  vom  Gesamtergebnis  unter  eventueller 
Ausgleichung  nicht  hinreichender  Leistungen  durch  bessere  in  einem 
anderen  Fache,  abhängig.  Bei  einem  Nichtgenügend  in  der  Pädagogik 
oder  in  der  Lehrprobe,  für  die  unter  Umständen  ein  neues  Thema 
gestellt  werden  kann,  oder  in  zweien  von  den  Fächern  Religion, 
Deutsch,    Mathematik    und  Geschichte    ist   das  Zeugnis    zu    versagen. 

2.    Prüfungen   zur  Erlangung  höherer  Ämter. 

Die  Ablegung  der  2.  Lehrerprüfung  berechtigt  nur  zur  end- 
gültigen Anstellung  an  Volksschulen,  die  Befähigung  zur  Anstellung 
als  Lehrer  an  Mittel-*)  und  höheren  Töchterschulen  wird  jedoch  für 
solche,  die  ihre  Vorbildung  auf  dem  Seminar  genossen  haben,  nur 
durch     die     Mittelschullehrerprüfung     erworben;     außerdem     werden 


*)  Die  „Mittelschulen"  sind  gehobene  Volksschulen  und  nicht  mit  den  „höheren 
Lehranstalten"  (Gymnasien,  Realgymnasien,  Oberrealschulen)  zu  verwechseln,  die  zu- 
weilen ebenfalls  als  „Mittelschulen"  bezeichnet  werden. 


312  iJie  Volksscliullehrerbildung. 

Übrigens  noch  Geistliche,  Kandidaten  des  höheren  Lehramtes  und 
der  Theologie  zugelassen.  Die  Prüfungskommission  wird  in  jeder 
Provinz  aus  dem  Kommissar  des  Provinzial-SchulkoUegiums  als  Vor- 
sitzendem sowie  aus  besonders  zu  bestimmenden  Schulverwaltungs- 
und Schulaufsichtsbeamten,  Leitern  und  Lehrern  öffentlicher  Unter- 
richtsanstalten als  Prüfenden  gebildet.  Die  Prüfung  selbst  charakterisiert 
sich  als  eine  pädagogische  und  eine  wissenschaftliche.  Der  päda- 
gogische Charakter  kommt  außer  in  der  von  jedem  Bewerber  abzu- 
legenden Prüfung  in  der  Erziehungswissenschaft  auch  in  der  Forderung 
zum  Ausdruck,  daß  in  den  gewählten  Spezialfächern  Vertrautheit  mit 
ihrer  Methodik  und  den  geeigneten  Lehrmitteln  nachgewiesen  werden 
muß.  Der  wissenschaftliche  Charakter  zeigt  sich  nicht  allein  im  Um- 
fange des  geforderten  Wissens,  sondern  auch  in  der  Bestimmung, 
Bekanntschaft  mit  wichtigen  wissenschaftlichen  Hilfsmitteln. 

Außer  der  Pädagogik  wird  in  folgenden  Fächern,  von  denen 
der  Bewerber  zwei  zu  wählen  hat,  geprüft:  1.  Religion,  2.  Deutsch, 
3.  Französisch,  4.  Englisch,  5.  Geschichte,  6.  Erdkunde,  7.  Mathematik, 
8.  Botanik  und  Zoologie,  9.  Physik  und  Chemie  nebst  Mineralogie. 
Außerdem  ist  es  zulässig,  im  Lateinischen  eine  Prüfung  abzulegen; 
jedoch  tritt  es  nicht  an  Stelle  eines  anderen  Prüfungsfaches,  sondern 
wird  außerhalb  der  beiden  W  ahlfächer   examiniert. 

Die  Prüfung  selbst  besteht  aus  einer  häuslichen  Arbeit,  zwei  schriftlichen  unter 
Aufsicht  anzufertigenden  Arbeiten,  einer  Lehrprobe  und  dem  mündlichen  Examen.  Für 
die  häusliche  Ai-beit,  deren  Thema  aus  einem  der  beiden  \Yahlfächer  unter  tunhchster 
Berücksichtigung  der  Wünsche  des  Prüflings  gestellt  wird,  sind  acht  Wochen  Zeit  ge- 
lassen, die  auf  Wunsch  bis  zu  zwölf  Wochen  verlängert  wird.  Bei  Abgabe  der  Arbeit 
hat  der  Bewerber  schriftlich  zu  versichern,  daß  er  sie  selbständig  und  nm-  unter  Be- 
nutzung der  von  ihm  angegebenen  literarischen  und  anderweitigen  Hilfsmittel  angefertigt 
hat.  Läßt  die  häusliche  Arbeit  unzweifelhaft  erkennen,  daß  dem  Bewerber  die  nach- 
gesuchte Lehrbefähigung  nicht  zuerkannt  werden  kann,  so  ist  er  von  der  mündlichen  Prüfung 
zurückzuweisen. 

Die  schriftlichen  Klausurarbeiten  werden  aus  jedem  Fache  des  Bewerbers  gewählt. 
Li  den  Fremdsprachen  ist  je  eine  Übersetzung  in  diese  und  aus  ihr  anzufertigen.  Nach 
Wahl  des  Prüflings  kann  an  Stelle  der  Übersetzung  in  die  Fremdsprache  eine  treie 
Arbeit  treten.  Für  jedes  Fach  stehen  vier  Stunden  zur  Bearbeitung  frei.  Hilfsmittel 
sind  unzulässig,  nur  seltenere  Vokabeln  dürfen  angegeben  werden.  Die  Lehrprobe,  deren 
Thema  aus  einem  der  Fächer  des  Bewerbers  am  Tage  zuvor  gestellt  wird,  ist  an  einer 
Mittel-  oder  höheren  Mädchenschule  zu  halten. 

In  der  Pädagogik  wird  eingehende  Beschäftigung  mit  der  Psychologie  unter  steter 
Rücksicht  auf  Erziehung  und  Unterricht  gefordert.  P'erner  muß  der  Prüfling  die  genauere 
Kenntnis  mit  einem  Zeitraum  und  einem  namhaften  neuzeitlichen  Schriftsteller  der 
Pädagogik  nachweisen.  In  beiden  Punkten  steht  ihm  die  Wahl  frei.  Beispielsweise 
mögen  in  Folgendem  die  Anforderungen  in  einigen  Fächern  nach  der  Prüfungsordnung 
vom  L  Juli  1901   mitgeteilt  werden. 


Die  Priifuiigoii.  313 

In  der  französischen  und  der  englischen  Sprache: 
Ivichtige  Aussprache  und  Bekanntschaft  mit  den  Elementen  der  Phonetik  und  der 
Aussprachelehre;  Kenntnis  der  Formenlehre  und  der  Syntax;  Fertigkeit,  einen  prosaischen 
oder  einen  leichteren  poetischen  Abschnitt  aus  der  fremden  Sprache  ins  Deutsche  vom 
Blatte  richtig  zu  übersetzen  und  sprachlich  zu  erklären;  Übung  im  mündlichen  Gebrauche 
der  Sprache;  allgemeine  Kenntnis  der  Geschichte  der  französischen  und  der  englischen 
Literatur;  nähere  Bekanntschaft  mit  einigen  Hauptwerken  der  bedeutendsten  Schriftsteller 
auf  Grund  eigener  Lektüre;  Kenntnis  der  neueren  (jeschiclite  Frankreichs  und  Englands; 
Einsicht  in  die  ISIethode  des  Unterrichtes. 

In  der  Mathematik: 
Kenntnis  der  allgemeinen  Arithmetik  bis  zum  Beweise  des  binomischen  Lehrsatzes 
für  beliebige  Exponenten  (einschließlich),  der  Algebra  bis  zu  den  Gleichungen  dritten 
(-hades  (einschheßlich),  sowie  der  wichtigsten  Reihen  der  algebraischen  Analysis;  Kenntnis 
der  ebenen  Geometrie  mit  Einschluß  der  Lehre  von  harmonischen  Punkten  und  Strahlen, 
Chordalen,  Ähnlichkeitspunkten  und  Achsen;  Kenntnis  der  körperlichen  (ieometrie,  der 
ebenen  Trigonometrie,  der  Theorie  der  Maxima  und  Minima,  der  analytischen  Geometrie 
der  Ebene  in  rechtwinkligen  Koordinaten  bis  zu  den  Kegelschnitten  einschließlich; 
Sicherheit  im  Gebrauche  der  trigonometrischen  Tafeln;  Einsicht  in  die  Methode  —  mit 
Einschluß  der  des  Rechenunterrichtes. 

In  Botanik  und  Zoologie: 

Systematische  t.'bersicht  über  die  Pflanzen-  und  Tierwelt;  Einblick  in  das  Leben 
der  Pflanzen  und  Tiere;  auf  eigener  Anschauung  begi'ündete  Bekanntschaft  mit  den 
wichtigsten  Familien  und  Ordnungen  der  einheimischen  Pflanzen  und  Tiere  sowie  mit 
bemerkenswerten  Formen  aus  fremden  Ländern;  einige  Kenntnis  der  geographischen 
Verbreitung  der  Pflanzen  und  Tiere;  Bekanntschaft  mit  Bau  und  Leben  des  menschlichen 
Körpers  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Gesundheitspflege;  Bekanntschaft  mit  den 
zweckmäßigsten  Hilfsmitteln  für  den  Unterricht  (Abbildungen,  Nachbildungen,  Präjia- 
raten  usw.);  Übung  im  Zeichnen  von  Pflanzen-  und  Tierformen;  Kenntnis  der  neueren 
volkstümlichen  Literatur;  Einsicht  in  die  Methode  des  Gegenstandes. 

Bei  näherem  Eingehen  auf  einzelne  Gebiete  ist  auf  Wünsche  der  Bewerber  Rück- 
sicht zu  nehmen. 

In  der  Physik  und  der  Uhemie  nebst  Mineralogie: 
Übersichtliche  Kenntnis  des  ganzen  Gebietes  der  Physik,  nähere  Bekanntschaft  mit 
einzelnen  Teilen,  bei  deren  Wahl  auf  Wünsche  der  Bewerber  tunlichst  Rücksicht  zu 
nehmen  ist;  allgemeine  Kenntnis  der  chemischen  Grundgesetze,  der  wichtigsten  chemischen 
Elemente,  sowie  solcher  Verbindungen,  die  für  den  Haushalt  der  Natur  und  für  das 
tägliche  Leben  besondere  Bedeutung  haben;  Bekanntschaft  mit  den  am  häufigsten  vor- 
kommenden Mineralien,  ihren  Kristallformen,  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften 
und  ihrer  praktischen  Verwertung;  Einblick  in  den  Bau  und  die  Bildung  der  Erdrinde; 
Bekanntschaft  mit  den  zweckmäßigsten  Hilfsmitteln  für  den  Unterricht,  insbesondere  mit 
der  Einrichtung  und  dem  Gebrauche  der  im  Untenichte  vorkommenden  Apparate;  Ein- 
sicht in  die  Methode  des  Unterrichtes. 

Im  Lateinischen  haben  die  Bewerber  die  Fähigkeit  nachzuweisen,  einen  Abschnitt 
aus  (.  asar  und  einen  nicht  besonders  schwierigen  Abschnitt  aus  Ovids  Metamorphosen 
oder  aus  \'irgils  Aeneis  geläutig  zu  übersetzen  und  auszulegen;  außerdem  haben  sie 
Kenntnis  der  Formenlehre,  der  Ilauptregeln  der  Syntax  und  der  Prosodie  sowie  Einsicht 
in  die  Methode  darzutun. 

Die  Prüfungskommission  entscheidet  auf  Grund  der  in  den  ein- 
zelnen Teilen    der  Prüfung    erlangten  Urteile  über  das  Bestehen  oder 


3  1 4  I^ifi  Volksschullehrerbiklung. 

Nichtbestehen  der  Prüfung.  Auf  jeden  Fall  war  sie  ohne  Erfolg, 
wenn  die  Leistungen  in  Pädagogik  oder  in  einem  der  gewählten 
Fächer  nicht  genügten.  Denen,  welche  die  Prüfung  erfolgreich  ab- 
legten, ist  es  gestattet,  die  Lehrbefähigung  in  weiteren  Fächern  auf 
Grund  einer  Erweiterungsprüfung  nachzusuchen.  Sie  wird  ebenso 
gehandhabt  wie  die  ursprüngliche  Prüfung,  nur  fällt  Pädagogik  fort. 

Dem  Volksschullehrer,  der  die  Mittelschulprüfung  abgelegt  hat, 
eröffnen  sich  durch  Bestehen  der  Rektorprüfung  weitere  Aussichten. 
Hiermit  erhält  er  die  Befähigung  zur  Leitung  von  mehrklassigen 
Privatschulen,  von  Volksschulen  mit  sechs  und  mehr  Klassen,  von 
Mittel-  und  höheren  Töchterschulen  und  von  öffentlichen  Präparanden- 
anstalten,  sowie  die  Befähigung  zur  Anstellung  als  Seminarlehrer. 
\'on  diesem  Amte  aus  ist  ihm  bei  Bewährung  die  Möglichkeit  ge- 
geben, zum  Seminar-Oberlehrer,  Seminardirektor  oder  Kreisschul- 
inspektor befördert  zu  werden.  Außerdem  können  sich  der  Rektor- 
prüfung noch  Geistliche,  Kandidaten  des  höheren  Lehramtes  und  der 
Theologie,  welche  die  Befähigung  zum  Mittelschullehrer  besitzen  und 
mindestens  drei  Jahre  im  Schuldienst  gestanden  haben,  unterziehen 
Die  ausnahmsweise  Zulassung  ohne  vorherige  Ablegung  des  Mittel- 
schulexamens auf  Grund  nachgewiesener  mehrjähriger  Übung  und 
Bewährung  im  Schuldienst  bleibt  der  Entscheidung  des  Unterrichts- 
ministeriums vorbehalten. 

Der  Charakter  der  Prüfung  ist  ein  pädagogisch-methodischer,  sie  stellt  also  eine 
reine  Fachprüfung  dar.  Es  ist  eine  häusliche  Arbeit  anzufertigen,  für  die  das  Provinzial- 
Schulkollegium  das  Thema  aus  der  Unterrichts-  und  Erziehimgslehre  oder  der  Schulpraxis 
stellt.  Die  Zeit  dafür  beträgt  acht,  unter  besonderen  Umständen  zwölfWochen.  Genügt 
die  Arbeit  nicht,  dann  wird  der  Bewerber  zur  mündlichen  Prüfung  nicht  erst  einberufen. 
In  dieser  wird  die  allgemeine  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  im  Zusammenhang  mit 
der  Psychologie  verlangt,  und  zwar  unter  Berücksichtigung  der  Schulart,  für  die  der  Be- 
werber das  Zeugnis  wünscht.  Femer  muß  der  Prüfling  die  Geschichte  und  besondere 
Methodik  der  einzelnen  Unterrichtsfächer  kennen,  über  die  Schulpraxis  und  die  Schul- 
ordnungen gehörig  orientiert  sein.  Dies  alles  ergibt  sich  mit  Notwendigkeit  aus  seiner 
Stellung  als  Schulleiter.  Da  er  aber  als  solcher  die  Vorschläge  zur  Ausstattung  seiner 
Schule  mit  Lehr-  und  Lernmitteln  sowie  für  die  Schüler-  und  Lehrerbibliothek  zu  machen 
hat,  auch  den  ihm  unterstellten  Lehrern  und  Lehrerinnen  ein  Führer  bei  deren  Fort- 
bildung sein  soll,  so  muß  er  sich  beim  Rektorexamen  über  seine  Bekanntschaft  mit  den 
Lehr-  und  Lernmitteln  der  Schule,  mit  den  Volks-  und  Jugendschriften  sowie  über  die 
wichtigsten  wissenschaftlichen  Hilfsmittel  der  Weiterbildung  ausweisen. 

Die  weiteren  Prüfungen,  welche  ein  Volksschullehrer  ablegen 
kann,  nämlich  im  Zeichnen,  Turnen,  in  der  Musik  und  im  Taub- 
stummenwesen, bilden  den  Abschluß  einer  besonderen,  an  hierfür  be- 
stimmten Anstalten  .stattfindenden  Fortbildung.  Die  kommen  deshalb 
in  dem  der  Fortbildung  gewidmeten  Abschnitt  4  zur  Sprache. 


Die  Prüfungen.  !i15 

B.    Die  andern  Bundesstaaten. 

Auch  die  übrigen  deutschen  Staaten  verlangen  für  den  Eintritt 
in  den  Volksschuldienst  die  1 .  und  2.  Lehrerprüfung,  die  —  unter 
verschiedenen  Namen  —  in  der  Hauptsache  die  gleichen  Ziele  wie 
in  Preußen  verfolgen  und  ungefähr  ebenso  gehandhabt  werden. 
Mittelschul-  und  Rektorprüfungen  finden  nur  ganz  vereinzelt  statt. 

Eine  in  Preußen  nicht  bekannte  Prüfung  besteht  im  Königreich 
Sachsen,  im  Großherzogtum  Sachsen-Weimar  und  neuerdings  im 
Großherzogtum  Hessen.  Hier  ist  es  nämlich  den  Volksschullehrern 
unter  besonderen  Umständen  gestattet,  die  Landesuniversität  (Leipzig, 
Jena,  Gießen)  auf  sechs  Semester  zu  beziehen  und  sodann  die  ,, Päda- 
gogische Prüfung"  abzulegen.  Erforderlich  ist  die  Zensur  I  bei  der 
2.  Lehrerprüfung,  im  Königreich  Sachsen  genügt  unter  Umständen 
Nummer  Ib,  in  Hessen  auch  Nummer  II;  auf  jeden  Fall  hat  sich  das 
Zeugnis  des  Schulinspektors  günstig  über  Leistungen  und  Charakter 
des  zu  Immatrikulierenden  auszusprechen.  Im  Königreich  Sachsen 
wird  durch  die  Pädagogische  Prüfung  die  Anstellungsfähigkeit  als 
Lehrer  an  Realschulen  und  Seminaren  erlangt,  in  Hessen  als  Seminar- 
lehrer, in  Sachsen- Weimar  die  Befähigung  ,,zur  Erteilung  eines 
wissenschaftlich  begründeten  Unterrichts." 

Im  Königreich  Sachsen  ist  verbindlich  für  jeden  die  Prüfung  in 
Pädagogik  und  Philosophie  ferner  in  deutscher  Sprache  und  Literatur 
endlich  in  der  Religion,  soweit  die  Allgemeinbildung  in  diesen  Fächern 
einem  Lehrer  an  höheren  Lehranstalten  geziemt.  Außerdem  ist 
in  mindestens  drei  Fächern  die  besondere  ,. Lehrbefähigung"  nach- 
zuweisen. Zur  Auswahl  stehen  Religion,  Pädagogik,  Deutsch,  Lateinisch, 
Französisch,  Englisch,  Geschichte,  Erdkunde,  Mathematik,  Naturlehre 
(Physik  und  Chemie),  Naturkunde  (Botanik,  Mineralogie,  Zoologie). 
Erweiterungsprüfungen  sind  zulässig. 

In  Sachsen-Weimar  sieht  man  von  dem  Nachweise  einer  All- 
gemeinbildung gewöhnlich  ab.  Verbindlich  ist  jedoch  für  jeden  der 
Nachweis  der  Lehrbefähigung  in  der  Pädagogik,  die  mit  einer  Prüfung 
in  der  Philosophie  verbunden  ist.  Außerdem  ist  die  Prüfung  in  zwei 
Fächern  nachzuweisen;  es  sind  die  gleichen,  wie  im  Königreich 
Sachsen,  nur  fehlen  die  fremden  Sprachen.  In  Hessen  wird  jeder 
Bewerber  in  Philosophie  nebst  Pädagogik  geprüft,  außerdem  in  der 
Schulgesundheitspflege.  Ferner  hat  er  mindestens  zwei  Spezialfächer 
zu  wählen,  und  zwar  stehen  ihm  zur  Verfügung:  1.  Deutsch,  2.  Fran- 
zösisch,   3.    Geschichte,    4.    Geographie,    5.    Mathematik,    6.    Physik, 


3  I  6  I^is  Volksschullelirerbildung. 

7.  Chemie  und  Mineralogie,  8.  Botanik  und  Zoologie.  Die  An- 
forderungen an  die  wissenschaftlichen  Fächer  in  diesen  drei  Staaten 
haben  viel  Ähnlichkeiten  mit  denen  bei  der  Mittelschulprüfung  in 
Preußen,  nur  sind  sie  weit  mehr  durch  die  Universitätsvorlesungen 
beeinflußt.  Überall  ist  die  Prüfung  schriftlich  (Hausarbeit,  Klausur- 
arbeiten), praktisch  (Lehrprobe,  auch  experimentelle  Versuche),  und 
mündlich. 


VIERTER  ABSCHNITT. 
Die  Fortbildung. 

1.   Die  unmittelbare  Fürsorge  des  Staates. 
a)  Konferenze]i  und  BibliotJieken. 

Mit  Besuch  der  Lehrerbildungsanstalten  und  mit  Ablegung  der 
Prüfungen  ist  die  Bildung  der  Volksschullehrer  nicht  abgeschlossen. 
Das  Wort:  „Rast  ich.  so  rost  ich"  gilt  auch  für  ihn.  Wieder  ist  es 
der  Staat,  der  ihm  helfend  zur  Seite  steht,  großen  Umfang  hat  aber 
auch  die  Selbstätigkeit  der  Lehrer  durch  Vereine  und  Zeitungen  an- 
genommen. Die  Fürsorge  des  Staates  ist  mannigfach,  entweder  wirkt 
er  direkt  ein  durch  Konferenzen  und  Bibliotheken,  oder  er  fördert 
anderweitige  im  Interesse  der  Lehrerbildung  veranstaltete  Ein- 
richtungen. 

In  Preußen  werden  in  jedem  von  einem  Kreisschulinspektor  ge- 
leiteten Bezirk  in  der  Regel  jährlich  drei  Konferenzen  abgehalten,  zu 
deren  Besuch  jeder  an  einer  Volksschule  beschäftigte  Lehrer  'ebenso 
jede  Lehrerin)  verpflichtet  ist.  Mindestens  einmal  im  Jahre  versammeln 
sich  alle  Lehrer  und  Lehrerinnen  eines  Schulkreises  zu  der  sog.  Kreis- 
konferenz, während  für  die  beiden  anderen  Konferenzen,  die  sog. 
Bezirkskonferenzen,  der  Schulkreis  in  einzelne  Bezirke  zerlegt  ist. 
Dies  geschieht  wegen  der  meist  zu  großen  Entfernungen  und  weil 
bei  kleineren  Konferenzen  auch  oft  ein  größerer  Erfolg  zu  erwarten 
ist.  Bei  den  Kreiskonferenzen  führt  gewöhnlich  der  Kreisschulinspektor, 
bei  den  Bezirkskonferenzen  ein  damit  beauftragter  Ortsschulinspek-tor 
den  Vorsitz.  Gewöhnlich  wird  zuerst  eine  Musterlektion  gehalten,  an 
die  sich  eine  Besprechung  über  sie  anschlielst,  darauf  folgt  ein  Vor- 
trag, der  möglichst  so  gestaltet  sein  soll,  dal-»  er  zu   reger  Entfaltung 


Die  ]'\)rtbildung.  []  \  J 

einer  Diskussion  V^cranlassung  gibt.  Für  das  Halten  der  Muster- 
lektionen und  Vorträge  bestimmt  der  Vorsitzende  zuvor  einzelne 
Lehrer.  Die  Vortragsthemen  stellen  die  Königlichen  Regierungen  für 
jedes  Jahr.  Jene  behandeln  entweder  rein  pädagogisch-methodische 
Dinge  oder  allgemeine  Tagesfragen  in  ihrer  Beziehung  zu  Schule  und 
Haus.  Neuerdings  haben  sich  zum  Teil  auch  die  Kreisärzte  an  diesen 
Konferenzen  beteiligt  und  Vorträge  über  die  Schul-  und  allgemeine 
Volkshygiene  gehalten. 

Außer  den  Kreis-  und  Bezirkskonferenzen  haben  in  jeder  Orts- 
schulinspektion unter  Leitung  des  Ortsschulinspektors  oder  des  Rektors 
bezw.  Hauptlehrers  monatlich  Ortskonferenzen  stattzufinden.  Beratungs- 
gegenstände sind  zunächst  die  besonderen  Angelegenheiten  der  be- 
treffenden Schule.  Durch  Besprechung  der  praktischen  P>fahrungen 
des  einzelnen  im  kleinen  Kreise,  sind  jene  Konferenzen  ein  nicht  zu 
unterschätzendes  Fortbildungsmittel  in  der  Schulpraxis  und  ange- 
wandten Methodik. 

Daneben  fördern  die  Kreisbibliotheken  die  Weiterbildung.  Die 
Beteiligung  der  Lehrer  an  ihnen  ist  zumeist  eine  freiwillige  gegen 
einen  ganz  geringen  Jahresbeitrag  (gewöhnlich  1  M.).  Die  Regierungen 
gewähren  meist  wesentliche  Geldbeihilfen.  Die  Verwaltung  führt  der 
Kreisschulinspektor  und  einige  Lehrer  des  Schulkreises.  Zur  An- 
schaffung gelangen  grundsätzlich  nur  der  Weiterbildung  dienende 
Werke.  Im  Vordergrund  stehen  naturgemäß  die  Pädagogik  und  hier 
wieder  die  Quellenschriften  der  vergangenen  Zeit  sowie  die  Original- 
abhandlungen bewährter  wissenschaftlicher  Pädagogen  und  praktischer 
Schulmänner  der  Gegenwart.  Dann  sind  aber  auch  W^erke  der  ver- 
schiedenen Wissenschaften  und  die  Erzeugnisse  der  neueren  und 
neuesten  Literaturentwicklung  vertreten.  Eine  Reihe  von  Städten  hat 
ebenfalls  Bibliotheken  für  Lehrer  eingerichtet,  so  z.  B.  die  Stadt  Berlin 
durch  Gründung  des  städtischen  Schulmuseums. 

In  den  außerpreußischen  Staaten  sind  gleiche  oder  ähnliche  Ein- 
richtungen getroffen.  In  Bayern  bestehen  besondere  amtliche  Fortbil- 
dungskurse für  solche  Lehrer,  die  noch  nicht  die  zweite  Prüfung  abgelegt 
haben.  Da  dies  erst  vier  Jahre  nach  dem  Abgange  geschehen  kann,  so 
sind  sie  für  diese  Zeit  zur  Teilnahme  verpflichtet.  Auch  Lehrer,  deren 
Leistungen  und  Lehrgeschick  nicht  genügen,  können  hinzugezogen 
werden.  Die  Leitung  liegt  unter  Aufsicht  der  Kreisschulinspektoren 
in  der  Hand  der  Bezirkshauptlehrer.  Diese  halten  Konferenzen  ab, 
veranstalten  Muster-  und  Probelektionen,  korrigieren  die  einzureichenden 
schriftlichen  Arbeiten  und  verwalten  die  Bezirksbibliotheken.    Jährlich 


3  I  8  r^ie  Volksschullehrerbildung. 

finden  vier  Konferenzen  statt,  außer  dieser  noch  eine,  welche  sämt- 
hche  Lehrer  des  Bezirks  besuchen  müssen.  In  Anhalt  haben  die 
jungen  Lehrer  zwischen  der  \.  und  2.  Prüfung  drei  schriftliche 
Arbeiten  einzureichen.  Zur  Auswahl  dafür  stellt  die  Regierung  jähr- 
lich eine  Reihe  von  Themen. 

öj  Sondei^kurse. 

Vielfach  sind  in  den  deutschen  Bundesstaaten  Einrichtungen 
getroffen,  welche  den  Volksschullehrern  auf  ihren  Wunsch  eine 
Sonderausbildung,  hauptsächlich  in  den  sog.  technischen  Fächern, 
gewähren. 

Zur  Ausbildung  von  Turnlehrern  an  höheren  Lehranstalten  und 
Seminaren  besteht  in  Preußen  die  Königliche  Turnlehrerbildungs- 
anstalt in  Berlin.  Die  Kurse  dauern  ein  halbes  Jahr  und  finden  im 
W^inter  statt;  während  des  Sommers  erfolgt  dort  übrigens  die  Aus- 
bildung von  Lehrerinnen.  Zur  Meldung  sind  außer  Volksschullehrern 
noch  Lehrer  an  höheren  Lehranstalten  und  Kandidaten  des  höheren 
Lehramtes  berechtigt.  Auch  Nicht-Preußen  können  unter  Umständen 
zugelassen  werden.  Außer  in  Berlin  sind  noch  in  Königsberg, 
Breslau,  Halle,  Magdeburg,  Bonn  und  Kiel  Turnkurse  eingerichtet. 
Den  Abschluß  bildet  überall  eine  Prüfung.  Die  Ausbildung  ist 
theoretisch  und  praktisch.  Es  wird  Geschichte  der  Leibesübungen 
und  Methodik  des  Turnunterrichts  gelehrt,  ferner  Anatomie,  Physio- 
logie und  die  Gesundheitslehre,  soweit  sie  der  Beruf  eines  Turnlehrers 
erfordert,  um  den  Einfluß  des  Turnens  auf  den  menschlichen  Leib 
kennen  zu  lernen  und  die  beim  Turnen  nötigen  Gesundheitsregeln  zu 
beobachten,  auch  die  erste  Hilfe  bei  Unglücksfällen  erfolgreich  leisten 
zu  können.  In  umfassender  Weise  geschieht  die  Pflege  des  prakti- 
schen Turnens,  dann  finden  zur  Erwerbung  des  nötigen  Lehrgeschicks 
Übungen  im  Erteilen  des  Turnunterrichts  statt.  Neben  der  Aus- 
bildung als  Turnlehrer  wird  auf  Wunsch  auch  eine  als  Schwimm- 
und  Fechtlehrer  geboten,  die  in  ähnlicher  Weise  praktisch  und  theo- 
retisch erfolgt.  Im  Anschluß  hieran  sei  erwähnt,  daß  jetzt  damit 
begonnen  ist,  die  Lehrer  in  der  freiwilligen  Krankenpflege  für  den 
Krieg  auszubilden.     Der  Kursus  dauert  drei  Wochen. 

Zur  Ausbildung  als  Zeichenlehrer  an  mehrklassigen  Volksschulen, 
Mittelschulen,  höheren  Mädchenschulen,  höheren  Lehranstalten  sowie 
an  Lehrer-  und  Lehrerinnenbildungsanstalten  bestehen  besondere 
Zeichenlehrerseminare  an  den  Königlichen  Kunstschulen  in  Berlin, 
Breslau,    Königsberg,    Cassel    und    Düsseldorf.     Praktisches   Zeichnen 


Die  P'ortbilduiig.  ;^)C) 

wird  in  erster  Linie  betrieben,  aber  auch  Methodik  des  Zeichen- 
unterrichts und  Kunstgeschichte  werden  gelehrt.  Den  Abschkiß  bildet 
eine  Prüfung.  Außer  Volksschullehrern  können  sich  auch  andere 
Bewerber,  meist  Maler,  Bildhauer  und  Architekten  der  Prüfung  unter- 
ziehen, sofern  sie  mindestens  das  Zeugnis  zum  Einjährig- freiwilligen 
Heeresdienst  besitzen.  Für  Lehrerinnen  findet  die  gleiche  Ausbildung 
und  gleiche  Prüfung  statt. 

Eine  besondere  musikalische  Weiterbildung  gewährt  das  König- 
liche akademische  Institut  für  Kirchenmusik  in  Berlin.  Es  verfolgt 
den  Zweck,  Organisten,  Kantoren,  Chordirigenten  sowie  Musiklehrer 
für  höhere  Lehranstalten,  Lehrer-  und  Ivehrerinnenseminare  auszu- 
bilden. Der  Zutritt  ist,  nach  Ablegung  einer  Vorprüfung  in  Musik, 
Volksschullehrern  und  solchen,  die  das  Zeugnis  zum  Einjährig-frei- 
willigen Heeresdienst  besitzen,  gestattet.  Der  Unterricht  ist  unent- 
geltlich und  dauert  ein  Jahr,  bei  besonderer  Befähigung  auch  länger. 
Als  Lehrgegenstände  werden  verzeichnet:  Klavier-,  Orgel-  und 
Violinspiel,  Harmonielehre,  Kontrapunkt  und  Formenlehre,  Gesang 
und  Orgelstruktur.  Auf  Grund  einer  Schlulsprüfung  wird  ein  Zeugnis 
über  die  Verwendbarkeit  des  Inhabers  ausgestellt. 

In  betreff  der  den  Volksschullehrern  freistehenden  Ausbildung 
der  Taubstummen-  und  Blindenlehrer  wird  auf  die  besonderen  Ab- 
schnitte über  den  Unterricht  der  Taubstummen  und  Blinden  ver- 
wiesen. 

Über  die  vom  Ministerium  hauptsächlich  zur  Ausbildung  als 
Seminarlehrer  eingerichteten  Fortbildungskurse  in  Berlin  ist  schon 
im  Abschnitte  Lehrpersonal  gesprochen  worden. 

All  diese  Kurse  wollen  eine  vollständige  Sonderausbildung  in 
einzelnen  Zweigen  des  Unterrichtes  geben.  Es  sind  aber  noch  einige 
Informationskurse  zu  erwähnen,  die  nur  eine  Informierung  geben  bezw. 
eine  schon  vorhandene  Ausbildung  ergänzen  und  vervollständigen 
wollen.  Diese  Form  wurde  gewählt,  um  die  im  Amte  stehenden 
Lehrer,  die  infolge  ihres  Berufes  nur  kürzere  Zeit  abkommen  können, 
mit  den  Fortschritten  besonders  der  sog.  technischen  Fächer  vertraut 
zu  machen. 

Seit  1899  werden  jeden  Winter  an  der  Königlichen  Kunstschule  in 
Berlin  Fortbildungskurse  für  solche  Zeichenlehrer  an  höheren  Schulen 
und  an  Lehrerseminaren,  desgleichen  für  Zeichenlehrerinnen  an  Lehre- 
rinnenseminaren gehalten,  denen  es  an  einer  regelmäßigen  Vorbildung 
oder  der  Ablegung  der  Zeichenlehrerprüfung  mangelt.  Der  Kursus 
dauert    fünf  Monate.     Außerdem    sind    an    vielen  Orten    vom    Staate 


320  I-*'^  Volksschullehrerbildung. 

oder  von  den  Magistraten  größerer  Städte  vier-  bis  sechswöchentliche 
Kurse  für  Lehrer  Tauch  für  Lehrerinnen)  zur  Orientierung  über  die 
neue  Zeichenmethode  eingerichtet.  Ein  vierwöchenthcher  Zeichen- 
kursus für  bayrische  Seminarlehrer  besteht  in  München. 

Außerdem  werden  an  einzelnen  Seminaren  mehrwöchentliche 
Kurse  für  Weiterbildung  der  Organisten  abgehalten.  Zur  Ausbildung 
in  den  Turnspielen  hat  Preußen  (in  Gemeinschaft  mit  Braunschweig 
und  Hamburg)  im  Jahre  1903  12  Spielkurse  für  Lehrer  veranstaltet; 
auch  die  Volksschullehrer  waren  zur  Teilnahme  berechtigt. 

Endlich  sei  noch  der  Obstbaukurse  gedacht,  die  auf  die  Dauer 
von  zwei  Wochen  in  der  ganzen  Monarchie  an  landwirtschaftlichen 
Lehranstalten  für  Lehrer  stattfinden;  im  Jahre  1898  waren  es  40. 
Der  Zweck  ist  dabei,  Seminar-  und  Volksschullehrer  soweit  in  den 
Obstbau  einzuführen,  daß  sie  ihren  Schülern  die  Grundlage  dieses 
landwirtschaftlichen  Zweiges  geben  können,  aber  selbst  auch  mit  den 
Fortschritten  vertraut  werden.  Dies  ist  um  so  wichtiger,  da  mit 
Recht  geklagt  wird,  daß  in  Deutschland  der  Obstbau  noch  lange 
nicht  die  Pflege  findet,  die  er  vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkte 
aus  verdient.  All  die  erwähnten  Kurse  sind  unentgeltlich;  die  Kosten 
trägt  zumeist  der  Staat. 

2.   Die  Veranstaltungen  des  Staates   und  von  Vereinigungen 
im  Literesse   des  Fortbildungsschulwesens. 

Es  bestehen  noch  eine  Reihe  von  Einrichtungen,  die  für  die 
Fortbildung  der  V^olksschuUehrer  von  Bedeutung  sind.  Das  sind  die 
Institute  oder  Kurse,  welche  ihm  die  Möglichkeit  geben,  sich  als 
Lehrer  für  Fortbildungsschulen  aller  Art  auszubilden.  Jene  Kurse 
werden  entweder  vom  Staat  oder  von  besonderen  Vereinigungen, 
zumeist  mit  staatlicher  Unterstützung,  veranstaltet.  Ihre  Bedeutung 
für  die  Allgemeinbildung  der  Lehrerschaft  ist  darin  zu  suchen,  daß 
deren  Blick  für  die  wirtschaftlichen  und  technischen  Verhältnisse  des 
Vaterlandes  wesentlich  geweitert  und  sie  selbst  vor  Einseitigkeit  und 
Verknöcherung  im  Berufe  bewahrt  wird. 

Zur  Ausbildung  von  Lehrern  an  kaufmännischen  Fortbildungs- 
schulen veranstaltet  der  Minister  für  Handel  und  Gewerbe  viervvöchent- 
liche  Kurse  in  Berlin,  zu  denen  40 — 50  Volksschullehrer  und  -Lehrerinnen 
Zutritt  haben.  Anleitung  findet  statt  zum  Unterrichten  in  der  Buch- 
führung, im  kaufmännischen  Rechnen,  in  der  allgemeinen  Handels- 
lehre (Bank-  und  Börsenwesen,  Post-  und  Eisenbahnverkehr  usw. i, 
in  der  kaufmännischen  Korrespondenz  und  im  Handels-  und  Wechsel- 


Die  Fortbildung.  32  | 

recht.  Ferner  werden  Besprechungen  über  Lehr-  und  Stoffverteilungs- 
plane, Lehrmittel,  Lehrmethode  usw.  sowie  Besuche  in  kaufmännischen 
Fortbildungsschulen  veranstaltet.  Seit  1903  existiert  sodann  in  Berlin 
ein  viersvöchentlicher  Oberkursus,  zu  dem  etwa  40  Fortbildungsschul- 
lehrer einberufen  werden.  Außerdem  bestehen  mit  staatlicher  Unter- 
stützung in  einzelnen  Städten  vier-  bis  sechswöchentliche  Kurse,  um 
Volksschullehrer  im  Zeichnen  für  gewerbliche  Fortbildungsschulen  zu 
unterweisen.  Die  Ausbildung  als  Handelslehrer  gewährt  auch  die 
Akademie  für  Sozial-  und  Handelswissenschaften  in  Frankfurt  a.  M., 
deren  Besuch  auch  Volksschullehrern  frei  steht.  Die  Vorlesungen 
umfassen  folgende  Gebiete:  Volkswirtschaftslehre,  Rechtswissen- 
schaften und  Konsularpraxis,  Versicherungswissenschaft  und  Statistik, 
Handelswissenschaften  (Kaufmännisches  Rechnen,  Buchführung,  Korre- 
spondenz, Handelsgeographie  usw.),  Geschichte,  Literatur  und  Kunst- 
geschichte, Neuere  Sprachen,  Technik  und  andere  Hilfswissenschaften. 

Zur  Ausbildung  von  Lehrern  an  ländlichen  Fortbildungsschulen 
veranstaltet  das  Ministerium  für  Landwirtschaft,  Forsten  und  Domänen 
an  einigen  Landwirtschaftsschulen  fünfwöchentliche  Kurse,  zu  denen 
Volksschullehrer  einberufen  werden.  Zwei  solcher  umfassen  einen 
Gesamtlehrgang,  sie  sind  den  Bedürfnissen  des  kleinbäuerlichen  Be- 
triebes entsprechend  eingerichtet  und  lehren  im  ersten  Jahre  Chemie, 
Pflanzenproduktion,  Zoologie,  landwirtschaftliches  Unterrichtswesen 
in  Verbindung  mit  Übungen,  im  zweiten  Jahre  außer  letzterem  noch 
Chemie,  Botanik  und  Tierproduktion.  Diese  Kurse  sind  ebenso  wie 
die  des  Handelsministeriums  unentgeltlich,  sogar  Beihilfen  für  die 
Reise-  und  Aufenthaltskosten  stehen  zur  Verfügung. 

Ein  besonderes  Verdienst  hat  sich  der  deutsche  Verein  für  das 
Fortbildungsschulwesen  um  dieses  er^vorben.  Er  richtet  jährlich  sechs- 
wöchentliche Ausbildungskurse  für  Fortbildungsschullehrer  ein.  Das 
Unterrichtsgeld  beträgt  60  M.,  doch  zahlen  dies  sowie  die  Reise-  und 
.\.ufenthaltskosten  für  die  jene  Einrichtung  benutzenden  Volksschul- 
lehrer meist  der  Staat  oder  Gemeinden  oder  kaufmännische,  gewerb- 
liche oder  landwirtschaftliche  Vereine.  Im  Jahre  1903  wurden  Kurse 
für  Lehrer  an  kaufmännischen  und  gewerblichen  Fortbildungsschulen 
in  Leipzig  und  Frankfurt  a.  M.  abgehalten.  Folgende  wissenschaftliche 
Vorträge  waren  vorgesehen:  Soziale-  und  Gewerbegesetzgebung, 
Volkswirtschaftslehre,  Bürgerkunde,  Kunstgewerbe,  Technologie,  Ge- 
werbehygiene, Fortbildungsschulwesen,  kleingewerbliche  Maschinen- 
kunde. Außerdem  fanden  methodische  Vorträge  und  solche  über 
Lehrplankunde  statt,    praktische  Übungen  im  Zeichnen,  in  der  Buch- 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.    III.  -' 


322  I^ie  ^'olk.sschullel^rel■l3il(lung. 

führung  und  der  gewerblichen  Kalkulation,  Besuche  von  Fabriken, 
Werkstätten  und  Fortbildungsschulen,  sowie  Diskussionsabende.  Für 
das  Jahr  1904  sind  von  eben  genanntem  Verein  auch  Kurse  für 
Lehrer  an  ländlichen  Fortbildungsschulen  in  Aussicht  genommen. 
Unterrichtsgegenstände  sollen  sein :  Chemie,  Pflanzenkunde,  Ackerbau- 
betriebslehre, Tierpflege,  Zoologie,  Gartenbau,  Geräte-  und  Maschinen- 
lehre, Volkswirtschaft,  Buchführung,  Lehrplankunde  und  Methodik. 

Endlich  sei  noch  des  vom  deutschen  Verein  für  Knabenhandarbeit 
gegründeten  Handfertigkeitsseminars  in  Leipzig  gedacht,  auf  dem 
Volksschullehrer  als  Lehrer  des  Handfertigkeitsunterrichts  ausgebildet 
werden;  außerdem  finden  einzelne  Kurse  dafür  in  verschiedenen 
Städten  statt.  Den  Hauptteil  des  Unterrichts  bildet  die  Einführung 
in  die  Technik  der  einzelnen  Arbeitsfächer,  nämlich:  Arbeiten  der 
Vorstufe,  Papparbeit,  Hobelbankarbeit,  Holzarbeit  für  ländliche  Schüler- 
Averkstätten,  Schnitzen,  Modellieren,  Metallarbeit  und  Herstellung  von 
Lehrmitteln  (sogenannte  Schulhandfertigkeit).  In  der  mit  dem  Seminar 
verbundenen  Schülerwerkstätte  wird  praktische  Methodik  getrieben. 
Außerdem  werden  Vorträge  über  die  Geschichte,  das  Wesen  und  die 
einzelnen  Teile  des  Arbeitsunterrichts  gehalten,  insbesondere  auch 
seine  Bedeutung  in  pädagogischer,  volkswirtschaftlicher,  sozialer  und 
hygienischer  Beziehung. 

3.    Die   Tätigkeit   der  Lehrervereine. 

Die  Lehrervereine  haben  schon  an  einer  anderen  Stelle  dieses 
Werks  P^rwähnung  gefunden.  Hier  sei  noch  ihre  Bedeutung  als 
wirksame  Vermittler  der  Fortbildung  der  Lehrer  hervorgehoben. 

Die  einfachste  Art  der  Weiterbildung  im  Vereine  geschieht 
durch  Vorträge,  die  gewöhnlich  monatlich  einmal  .stattfinden,  und  an 
die  sich  Besprechungen  anschließen.  Auch  Musterlektionen  werden 
gehalten,  natürlich  nicht  ohne  anschließende  Debatte.  Weiter  ver- 
anstalten viele  Vereine  Gesangübungen,  oder  haben  besondere  Gesangs- 
abteilungen gebildet.  So  hat  der  Berliner  Lehrergesangverein  im 
Jahre  1903  den  vom  Deutschen  Kaiser  gestifteten  Ersten  Preis  beim 
Gesangwettstreit  deutscher  Männergesangvereine  sich  erworben.  Zahl- 
reiche Vereine  haben  zudem  Büchereien  eingerichtet,  Zeitschriften- 
lesezirkel eingerichtet,  —  alles  höchst  wirkungsvolle  Ergänzungen  und 
Erweiterungen  der  vom  Staate  veranstalteten  Konferenzen  und  Biblio- 
theken. Oft  vereinigen  sich  auch  mehrere  Lehrer  zu  einem  Lesezirkel  und 
halten  z.  B.  den  Kunstwart,  den  Türmer,  die  Deutsche  Rundschau,  die 
Deutsche  Monatsschrift,  die  Preußischen  Jahrbücher,  die  Grenzboten,  die 


Die  Fortbildung.  323 

Musik  USW.,  die  alle  einen  mehr  wissenschaftlichen  und  vornehm- 
ästhetischen Charakter  tragen.  Dazu  kommt  die  zahllose  Reihe  der 
Familienzeitschriften,  wie  Westermanns  Monatshefte,  Daheim  usw. 
Meist  sind  auch  pädagogische  Zeitungen  und  Zeitschriften  vertreten, 
so  z.  B.  die  Deutsche  Schule,  Deutsche  Blätter  für  erziehenden  Unter- 
richt, Evangelisches  Schulblatt  usw. 

Die  Fortbildung  durch  Vorträge  und  Zeitschriften  trägt,  so  viel 
Anregungen  sie  auch  zu  geben  vermag,  doch  keinen  systematischen 
Charakter.  Darum  ist  schon  vor  bald  drei  Jahrzehnten  der  Gedanke 
entstanden,  wissenschaftliche  Vorlesungen  und  Unterrichtskurse  ein- 
zurichten. Bahnbrechend  ist  hier  seit  1875  der  Berliner  Lehrerverein 
vorgegangen.  Vor  einer  Reihe  \'on  Jahren  begannen  dann  die 
Universitäten  Fortbildungskurse  zu  veranstalten.  Wegen  der  Kosten 
von  Reisen  und  Aufenthalt  ist  es  naturgemäß  nur  einer  beschränkten 
Anzahl  möglich,  solche  Kurse  zu  besuchen.  Darum  entschlossen 
sich  zuerst  spärlich,  dann  allgemein  die  Lehrervereine,  nicht  nur 
größerer,  sondern  gerade  häufig  mittlerer  und  kleinerer  Städte, 
Dozenten  der  nächstgelegenen  Hochschulen  zu  gewinnen,  die  einmal 
wöchentlich  ein  Viertel-  oder  ein  Halbjahr  zu  Vorlesungen  in  den 
betreffenden  Vereinen  erscheinen. 

Für  die  spezielle  Weiterbildung  haben  sich  bei  größeren  Vereinen 
einzelne  Sektionen,  so  für  Literatur,  Kunst,  Geschichte,  Naturwissen- 
schaft usw.  gebildet.  Hier  werden  Vorträge  über  diese  Gebiete  ge- 
halten, wissenschaftliche  Werke  gemeinsam  gelesen,  Exkursionen 
veranstaltet  und  dergleichen. 

Eine  führende  Stellung  in  den  \^ereinsvorträgen  hat  schon  seit 
langen  Jahren  der  Deutsche  Lehrerverein,  dem  über  40  Zweigvereine 
mit  etwa  2600  Einzelverbänden  und  über  100  000  Mitgliedern  ange- 
hören. Alle  zwei  Jahre  hält  er  —  der  (3rt  ist  wechselnd  —  eine 
Vertreterversammlung  ab  (Deutscher  Lehrertag),  bei  der  Vorträge 
über  die  sogenannten  Vereinsthemen  gehalten  werden,  die  in  den 
beiden  vorhergehenden  Jahren  in  den  Einzelverbänden  eingehend 
erörtert  und  durchberaten  worden  sind. 

Daneben  zeigt  sich  ein  reges  Leben  in  den  Zweigvereinen  und 
Einzelverbänden  —  oft  sind  es  alltägliche  Fragen  der  Pädagogik,  die 
hier  erörtert  werden  —  und  meist  zeigte  sich  ein  gründliches  Durch- 
sprechen des  scheinbar  Selbstverständlichen  äußerst  fruchtbar,  nicht 
selten  sogar  recht  notwendig.  Daneben  waren  es  die  Tagesfragen 
des  öffentlichen,  wissenschaftlichen  und  pädagogischen  Lebens,  die 
zur  Erörterung  kamen.     Hier    sind    auf   den  Gebieten    der  Erziehung 


324  Die  Volksschullehrerhildung. 

und  des  Unterrichts  Probleme  entdeckt,  neue  Wege  der  Pädagogik 
gesucht  und  in  erregtester  Debatte  angegriffen  und  verteidigt  worden, 
hier  ist  das  abgestoßen  worden,  was  weiter  nichts  als  ein  schöner 
Gedanke,  vielleicht  auch  das  nicht  einmal  war!  Lief  bei  den  Vor- 
trägen und  bei  den  Debatten  auch  manches  Mittelgut  dazwischen, 
der  Lehrstand  und  die  Pädagogik  hat  ihnen  doch  viel  zu  verdanken. 
Das  bekannte  spöttelnde  Wort,  wo  zwei  Deutsche  zusammen  kämen, 
gründeten  sie  mindestens  drei  Vereine,  charakterisiert  den  Sinn  der 
Deutschen,  gemeinsame  Interessen  auch  miteinander  in  festem  Ver- 
bände gemeinsam  zu  verfolgen :  Für  die  Fortbildung  des  Lehrerstandes 
sind  die  Vereine  ohne  Zweifel  von  größtem  Segen  gewesen. 

Auch  auf  dem  Gebiete  des  Bücherwesens  haben  die  Lehrervereine 
für  ihre  Mitglieder  gesorgt.  Eine  ganze  Reihe  von  Vereinen  besitzt 
mehr  oder  minder  umfangreiche  Büchereien,  die  für  die  allgemeine 
und  die  pädagogische  Weiterbildung  sorgen.  Zwei  mögen  hier 
besonders  genannt  werden:  die  pädagogische  Zentralbibliothek  in 
Leipzig  und  das  Deutsche  Schulmuseum  in  Berlin. 

Die  Pädagogische  Zentralbibliothek  wurde  1871  als  Comenius- 
stiftung  gegründet  und  bildet  einen  Teil  des  Leipziger  Lehrervereins. 
Sie  will,  wie  ihr  Name  besagt,  eine  Zentralstätte  der  gesamten 
pädagogischen  Literatur  Deutschlands  sein,  die  sie  möglichst  mit 
Vollständigkeit  zu  sammeln  bemüht  ist.  Sie  besitzt  fast  1  10  000  Bände, 
Broschüren  und  Programme,  und  gehört  damit  zu  den  20  größten 
Bibliotheken  Deutschlands.  Sie  verleiht  an  jeden  deutschen  Lehrer, 
unter  Umständen  auch  in  das  Ausland.  Außer  der  deutschen  Lehrer- 
schaft wird  sie  von  Behörden  und  Gönnern  pekuniär  unterstützt.  Ein 
wesentlicher  Teil  der  Bücher,  Broschüren,  Zeitschriften  usw.  geht  als 
Geschenk  ein. 

Das  Deutsche  Schulmuseum  in  Berlin  wurde  1876  von  dem 
Berliner  Lehrer-Verein  gegründet.  Es  soll  ein  möglichst  vollständiges 
Bild  der  Entwicklung  der  Pädagogik  Deutschlands  (und  des  Auslands) 
geben,  soweit  sie  sich  im  Schrifttum  offenbart.  Sie  umfaßt  rund 
30  000  Nummern  aus  der  Zeit  von  1500  bis  jetzt.  Angegliedert  ist 
eine  etwa  1200  Nummern  umfassende  Handschriftensammlung,  in  der 
alle  bedeutenderen  Pädagogen,  besonders  Diesterweg,  vertreten  sind; 
auch  alte  Anstellungsurkunden,  Schulberichte  und  dergleichen  sind 
vorhanden.  Die  Sammlung  von  Bildwerken  beträgt  über  300  Blätter, 
die  der  Schul-Münzen  etAva  50.  Zum  Entleihen  ist  jeder  deutsche 
Lehrer  berechtigt.  Dienen  die  meisten  Vereinsbibliotheken  haupt- 
sächlich   der    Weiterbildung,    ist    die    pädagogische    Zentralbibliothek 


Die  Fortbildung.  325 

eine  Sammelstelle  der  gesamten  pädagogischen  Literatur,  besonders 
der  gegenwärtigen  (und  die  Produktion  auf  diesem  Gebiete  ist  äußerst 
fruchtbar,  v'ielleicht  fruchtbarer  als  im  Interesse  der  Gediegenheit  und 
Tiefe  wünschenswert  ist),  so  will  das  Deutsche  Schulmuseum  ein 
Archiv  des  deutschen  Erziehungs-  und  Unterrichts-VVesens  sein. 
Benutzt  wurden  im  Jahre  1902  aus  der  Zentralbibliothek  über 
90  000  Bände,  aus  dem  Deutschen  Schulmuseum  5500  Bände  — 
ein  schönes  Zeugnis  für  das  Fortbildungsstreben  der  deutschen 
Lehrerschaft ! 

4.  Die  Univ' ersität. 

In  weiten  Kreisen  der  Volksschullehrerschaft  wird  das  Uni- 
versitätsstudium als  Ziel  erstrebt.  Es  kann  natürlich  schon  aus 
wirtschaftlichen  Gründen  nicht  die  Rede  davon  sein,  daß  das  Uni- 
versitätsstudium von  allen  —  gegenwärtig  über  122  000  —  Volks- 
schullehrern gefordert  werden  könnte,  sondern  es  wird  sich  immer 
nur  darum  handeln  können,  es  einer  besonders  tüchtigen  Minderheit 
zur  Erreichung  der  höchsten  Stufe  der  Fortbildung  zugänglich  zu 
machen.  Tatsächlich  ist  auch  die  Universität  den  Volksschullehrern 
geöffnet.  Da  sie  vermöge  ihrer  bestandenen  Prüfung  die  Berechtigung 
zum  einjährigen  Militärdienst  haben,  so  sind  sie  auch  berechtigt,  sich 
nicht  nur  als  Hörer,  sondern  mittels  der  sogenannten  ,, kleinen  Imma- 
trikulation" für  4 — 6  Semester  als  Studierende  aufnehmen  zu  lassen. 
Eine  Berechtigung  zur  Ablegung  akademischer  Prüfungen  oder  solcher 
Examina,  die  das  Universitätsstudium  voraussetzen,  erwirbt  ein  Volks- 
schullehrer sich  damit  noch  nicht.  Unter  bestimmten  Umständen  ist 
es  ihm  im  Königreich  Sachsen,  in  Sachsen-Weimar  und  Hessen  er- 
laubt, als  ,, Student  der  Pädagogik"  die  Universität  zu  beziehen,  und 
darauf  die  Pädagogische  Prüfung  abzulegen.  Alle  akademischen  Rechte 
stehen  dem  Volksschullehrer  natürlich  zu,  wenn  er  sich  an  einem 
Gymnasium,  Realgymnasium  oder  einer  Oberrealschule  das  Reife- 
zeugnis erworben  hat. 

Das  Streben  der  Volksschullehrerschaft  geht  aber  dahin,  auf 
Grund  der  Seminarentlassungsprüfung  Bürgerrecht  auf  der  Uni- 
versität zu  erwerben.  Man  vertritt  die  Ansicht,  daß  die  mit  dem 
Seminar  gemeinsamen  Fächer  des  Gymnasiums  im  wesentlichen  die 
gleichen  Ziele  haben,  daß  die  Lehrerbildungsanstalten  in  Psychologie 
und  Pädagogik,  in  Musik  und  besonderer  Nutzung  der  nationalen 
Bildungsmittel  ein  Äquivalent  für  die  alten  Sprachen  geben,  daß 
die    Bildung    eines    Seminaristen    der    eines    Zöglings    einer    höheren 


326  IJ'*^  Volksschullehrerbildung. 

Lehranstalt  gleichwertig  zu  erachten  ist.  Amtlich  wird  sie  jedoch 
nur  mit  der  für  den  einjährigen  Militärdienst  genügenden  gleichgestellt. 
Darum  läßt  sich  auch  der  Wunsch  nicht  erfüllen,  daß  die  im  Be- 
sitze des  Abgangszeugnisses  befindlichen  Lehrer  sich  zur  Erwerbung 
des  Universitäts-Reifezeugnisses  nur  einer  Ergänzungsprüfung  zu 
unterwerfen  hätten,  und  zwar  auf  den  Gymnasien  in  Latein, 
Griechisch  und  alter  Geschichte,  bei  den  Realg>'mnasien  in  Latein, 
Französisch,  Englisch,  Mathematik  und  Naturwissenschaften,  an 
Oberrealschulen  in  Französisch,  Englisch,  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaften. Dann  aber  birgt  das  Universitätsstudium  die 
Gefahr,  gerade  die  besten  Kräfte  dem  Volksbildungswesen,  teilweise 
überhaupt  der  Schule  abwendig  zu  machen,  da  sie  nach  ordnungs- 
mäßiger nachträglicher  Erlangung  des  Reifezeugnisses  oft  die  Prüfung 
für  das  höhere  Lehramt  oder  besonders  die  theologischen  Examina 
ablegen,  mitunter  auch  die  Rechte,  Medizin  oder  ein  Ingenieurfach 
studieren.  Indem  Sachsen,  Sachsen  -  Weimar  und  Hessen  unter 
Verzicht  auf  das  Reifezeugnis  das  Universitätsstudium  gestatteten  und 
eine  Prüfung  einführten,  die  gute  Aussichten  für  das  spätere  Fort- 
kommen gewährt,  bleiben  die  Lehrer  dem  Volks-  und  Lehrerbildungs- 
wesen  erhalten.  Zudem  ist  durch  die  pädagogische  Prüfung  ein  vor- 
zügliches Material  für  das  Seminarlehrpersonal  gegeben:  die  Mängel, 
die  man  an  Akademikern  und  Nichtakademikern  öfter  beobachtet, 
können  hier  in  einer  gesunden  Weise  ausgeglichen  werden.  Darum 
meint  man  zum  Teil,  es  liege  im  Interesse  der  Volksschule,  die  pädago- 
gische Prüfung  nach  vorausgegangenem  Universitätsstudium  ohne  Nach- 
weis des  Reifezeugnisses  allgemein  einzuführen.  Hierdurch  würde  dem 
einzelnen  unter  den  Volksschullehrern  in  seinen  Wünschen  Rechnung 
getragen,  und  der  Staat  genieße  den  großen  Vorteil,  tüchtige  Kräfte 
dem  Volks-  und  Lehrerbildungswesen  zu  erhalten,  während  andern- 
falls die  Gefahr  immer  größer  wird,  daß  eine  wesentliche  Zahl  von 
Lehrern  sich  der  vollen  Reifeprüfung  unterzieht  und  sich  dann  von 
der  Volksschule  abwendet. 

Eine  F^inrichtung  ist  getroffen  worden,  die  einigermaßen  einen 
Ersatz  der  Universitätsbildung  geben  soll,  das  sind  die  schon  erwähnten 
Universitätsferienkurse,  die  in  der  Zeit  der  Sommer-  oder  Herbst- 
Volksschulferien  stattfinden,  und  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Volks- 
schullehrer und  Lehrerinnen  zumeist  auf  Anregung  der  Lehrervereine 
veranstaltet  werden.  Im  Jahre  1903  haben  solche  Kurse  in  Berlin, 
Greifswald,  Königsberg,  Breslau,  Marburg,  München,  Erlangen  und 
Jena  stattgefunden.     P^in    Teil    dieser    Kurse    ist  auch  für  Nichtlehrcr 


Die  F.ntbildun.ü;.  [\2.1 

bestimmt.  In  Jena  und  Münster  fanden  überdies  an  den  Sonnabenden 
des  Winters  190?/04  Winterfortbildungskurse  statt,  in  Bonn  während 
der  Weihnachtsferien.  Die  Staaten  geben  vielfach  \\esentliche  Geld- 
beihilfen. 

Das  deutsche  Lehrerbildungswesen  kann  auf  keine  allzu  lange 
Geschichte  zurückblicken  und  einen  Volksschullehrerstand  gibt  es  erst 
seit  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Aus  einfachsten  Anfängen  hat  er 
sich  zu  bedeutender  Höhe  emporgeschwungen.  Er  kann  stolz  sein, 
daß  es  in  erster  Linie  die  Staatsfürsorge  war,  die  ihn  bei  seinem  Em- 
porarbeiten unterstützte,  und  die  ihm  auch  heute  noch  nachdrücklichst 
ihren  Schutz  und  ihre  Hilfe  angedeihen  läßt,  er  kann  auch  stolz  sein, 
dals  ihn  seine  eigene  Kraft  geistig  und  beruflich  ganz  wesentlich  ge- 
hoben hat.  Noch  ringt  er  nach  Anerkennung  seiner  selbst  und  seiner 
Arbeit  seitens  einzelner  Stände,  —  sie  wird  ihm  auf  die  Dauer  nicht 
fehlen.  Dafür  spricht  die  Höhe  seiner  geistigen  Bildung,  sein  ehren- 
werter Charakter  und  die  Stütze,  die  er  am  Staate  findet. 


Literatur. 


Sander,  Volksschullehrerseminare,  in  Schmid,  Enzyklopädie  des  gesamten  Er- 
ziehungs-  und  Unterrichtswesens.     2.  Aufl.     Bd.  10  (1887)  S.  49  fl". 

Andreae,  Volksschullehrerbildung,  in  Rein,  Enz)klopädisches  Handbuch  der 
Pädagogik.     Bd.  7  (1899)  S.  1040  ff. 

P^ischer,  Gescliichte  des  deutschen  Volksschullehrerstandes.    2.  Aufl.    (18981. 

Andreae,  Zur  inneren  Entwicklungsgeschichte  der  deutschen  Lehrerbildungs- 
anstalten.    (1893). 

Muthesius,  Würdigung  der  neuen  preußischen  Lehqjläne  und  Prüfungsordnungen. 
Sonderdruck  aus  den  Pädagogischen  Blättern  für  Eehrerbildung  und  Lehrerbildungs- 
anstalten.    Bd.  30  (1901). 

Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik.  34.  Jahrgang.  (1902) 
S.  49  ft". 

Jahrbuch  des  Deutschen  Lehrervereins.  (Teil  2  des  Kalenders  für  deutsche 
\'olksschullehrer)  Jahrgang  1   ff.  (1875  ff.) 

Zahlreiche  Aufsätze,  Konferenz-  und  Vereinsberichte,  Notizen  und  dergl.  finden 
sich  in  folgenden  Zeitschriften: 

Pädagogische  Blätter  für  Lehrerbildung  und  Lehrerbildungsanstalten.  Be- 
gründet von  Kehr,  fortgesetzt  von  Schöppa,  jetzt  herausgegeben  von  Muthesius.  Band  1  H. 
(1872  ff.). 

Die  Deutsche  Schule.     Herausgegeben  von  Rißmann.    Jahrgang   1    ff.    rl897  ff.) 

Pädagogische  Zeitung.  Herausgegeben  vom  Berliner  Lehrerverein.  Jahr- 
gang  1    ff.     (1872  ff). 


STATISTISCHE  ÜBERSICHT 

ÜBER  DIE  STAATLICHEN  ANSTALTEN  FÜR  VOLKSSCHUL- 
LEHRER-  UND   -LEHRERINNEN -BILDUNG 
IM    DEUTSCHEN    REICH. 


330 


Statistische  Übersicht. 


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III    II 


Preußen. 


333 


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334 


Statistische    Ü  b  e  i 


Bayern  —  Sachsen. 


335 


II.    Königreich  Bayern. 


nart-  und  l'i 


mdenanstaltei 


iZahl  der 
Jnhre      !  Anstalten 

Anstalts-       c  Ji  !  I 
arten         ^  ^     'S 

Zahl  der  Zöglinge 

~" 

Zahl  der  Lehrkräfte 

Summe 
der  Aus- 
gaben nach 
'dem  Etat 
in  Mark 

Männ- 
liche 

Weib- 
liche 

Evange- 
lische 

Katho- 
lische 

1 

Männ- 
liche 

Weib- 
liche 
Evange- 
lische 
Katho- 
lische 

Sonstige 

A.    Seminare. 

1889/90            13      6       1024     836    188    336    650 

38;      168      35    49     149      5 

i.  T.  1889: 

1899/1900        U    11       1312     818    49+    242   1036 

34  i     177      67    50     185      8 

1  034  203 

1902,03        1)  15     .     3,1588  1046    542      . 

.    1:4)177  4)26     .         .        . 

i.T.  1899: 

]_!.    Präparandenanstalten. 

1  173  590 

1889/90            36    10       2025  1780    245    690  1225 

110       241      48    80     193    16 

i.  I.  1902: 

1899  1900        36    11        1995  1478    517    486  1400 

109       218      38    73     170    13 

1  384  293 

1902  03        -)  37  ,    . 

Die  Lehrerseminare  sind  2  kursig,  die  Präparandenanstalten  3  kursig. 

■)  Davon  sind  4  protestantische  und  8  katholische  Lehreiseminare.     Von    den  3  Lehreri 


mit  Seminaren  eng 
1    eine    piritätische 


Seminaren  ist  1  protestantisch,  1  katholisch  und  1  paritätisch.  —  -)  Davon  sind  ' 
verbunden.  Von  den  37  Anstalten  sind  10  protestantische,  23  katholische  und 
Präparandenanstalt.  Von  den  3  Anstalten  für  Präparandinnen  ist  I  protestantisch,  1  katholisch  und 
1  paritätisch.  —  ■•)  Mit  Einschluß  der  Zöglinge  von  7  mit  den  Seminaren  eng  verbundenen  Präpa- 
randenanstalten. —  ••)  Mit  Einschluß  der  Lehrkräfte  von  7  Präparandenanstalten  sowie  der  Lehrer 
und  Lehrerinnen  der  mit  den  Seminaren  verbundenen  Üoungsschulen. 

Die  Zahlen  dieser  Tabelle  sind  dem  Statistischen  Jahrb.  f.  d.  Königr.  Bayern,  der 
Zeitschr.  des  K.  b.  Statist.  Bureaus  (Jahrgang  1901/02)  und,  soweit  sie  das  Jahr  1902/03 
betreffen,  dem  Stat.  Jahrl).  d.  höh.  Schul.  Deutschlands  entnommen. 


III.  Königreich  Sachsen. 


lem  I  nare. 


Zahl  der | 


Seminare 


Zahl  der  Zöglinge 


überhaupt      ^J^""^^'     ^'^^h«" 


lische        lische     ^ : 


w.  I  m.    \v. 


11 


Beiträge 

Gesamt-      \  des  Staates 

ausgaben     |     ^^^  "^'^ 
j   Ausgaben 


M. 


M. 


1889/90  j 
1894,95  ! 
1899  1900 
1902  03 


1)17     2 
1)171    2 


h20    3 


2330  !  145  2303  1 139  27  4 
2734  187  2665  I  180  69  5 
3425  234  3335  j  233  90  — 
3857    349   3750      .     107    . 


248  3)  19  [  5)  1  124  646'     1  037  862 
290  3)22  iN)  1772  811       1336  535 

314  3)  17   (i)  1  820632 '0  1  712306 
!)359  4)2o'  M  1  960  000 


Die  Seminare  zählen  stets  6  aufsteigende  Klassen. 

M  Davon  ist  1  Seminar  katholisch.  —  ^)  Mit  Einschluß  von  Lehrern  der  mit  den  Seminaren 
verbundenen  Übungsschulen,  aber  ohne  die  Lehrer  des  mit  der  höheren  Mädchenschule  eng  ver- 
bundenen Lehrerinnenseminars  zu  Leipzig.  —  ^J  Ohne  die  Nadelarbeitilehrerinnen.  —  *)  Ohne  die 
Lehrerinnen  des  städtischen  Lehrerinnenseminars  zu  Leipzig.  —  '')  Die  Gesamtausgaben  beziehen 
sich  auf  das  vorhergehende  Jahr,  also  auf  die  Jahre  1888  und  1893.  —  ")  Betrag  der  Ausgaben  und 
Staatsbeiträge  für  das  Jahr  1898  aber  ohne  Einbeziehung  des  hohen  Postens  für  Neubauten  in  Höhe 
von  1098  947  M.  —  ■}  Die  eingestellte  Summe  bezeichnet  nur  den  ungefähren  Betrag. 

Die  Zahlen  der  ersten  3  Jahre  stammen  aus  den  Berichten  der  Unterrichts-  und 
Erziehungsanstalten  im  Königr.  Sachsen,  die  Zahlen  für  das  Jahr  1902  aus  dem  Stat. 
Jahrb.  d.  höh.  Schul.  Deutschlands. 


336 


Statistische  Übersicht. 


IV.    Königreich  Württemberg. 


Seminare  und  Pr 

äparandenanstalten. 

Jahre 
Anstalts- 

Zahl der  An- 
stalten 

Zahl  der  Zöglinge 

Zahl  der  Lehr- 
kräfte 2) 

Beiträge  des 
Staates 

für 
Lehrer 

^1 

über-       Evange- 
haupt         lische 

Katho- 
lische 

Evange- 
lische 

Katho- 
hsche 

Lehrer- 
Idungs- 
istalten 

rLehre- 
innen- 
ildungs 
istalten 

arten 

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ev.  jkath. 

m.  j  w. 

m.  1  w. 

m.  1  w. 

m.  1  w. 

m.  1  w. 

M.             M. 

A.  Seminare. 

1892 

3)6;     2      5)2    468'  55  ;  339     36     129  |   19    6)51     3     8)1?:   . 

239  861    10)19  200 

1902 

1)7       2     ■^)2'  511     62    350    36     161     26  |')59|    3     9)2l'   . 

298  837        28  280 

B.  Präparandenanstalten. 

1892   ! 

— 

379'  -     232     -     147 1  — 

— 

1902 

- 

415     - 

305    - 

110{  - 

.        - 

.  1- 

83  179          — 

Die  Seminare  sind  3 kursig,  die  Präparandenanstalten  2 kursig. 

')  Ohne  Einbeziehung  des  mit  dem  Katharinenstift  in  Stuttgart  verbundenen  Lehrerinnen- 
serainars.  —  ^)  Ohne  die  Lehrkräfte  am  katholischen  Lehrerinnenseminar  zu  Gmünd.  —  ä)  ;Mit 
Einschluß  von  2  evangelischen  Privatschullehrerseminaren.  —  ■*)  Desgl.  mit  Einschluß  von  3  solchen 
Seminaren.  —  =)  Davon  ist  1  evangelisch  und  1  katholisch.  —  ')  Einschl.  10  Lehrer  an  den  mit  den 
Seminaren  verbundenen  Übungsschulen.  —  ')  Einschl.  12  Lehrer  an  solchen  Übungsschulen.  —  *)  Einschl. 
4  Lehrer  an  den  Übungsschulen.  —  ")  Einschl.  h  Lehrer  an  den  Übungsschulen.  —  w)  Betrag  des 
Beitrages  des  Staates  nur  für  das  evangelische  Lehrerinnenseminar  zu  IVIarkgröningen. 

Die  Zahlen  obiger  Tabelle  sind  der  „Statistik  des  Unter,  u.  Erzieh,  im  K.  Württ." 
entnommen. 

V.    Großherzogtum  Baden. 

Seminare  und  Präparandenanstalten. 


Jahre 

Anstalts- 
arten 


Zahl  der 
Anstalten 


'S  s 


Zahl    der    Zöglinge 


über-      Evange- 1  Katho- 


haupt 


lische        lische 


Sonstige 


m.  I  w.     m.  I  w.  I  m.  I  w,  I  m.  I  w. 


Zahl  der  Lehr- 
kräfte 


^  c  >i 

-SS-: 


w     §  .s  ^ 


Gesamt- 


Davon 
durch 
Staats- 
ausgaben    beitrage 
gedeckt 


M. 


M. 


A.  Seminare. 


1892/93 
1901/02 


389   87      . 

477    87    1,3^ 


54    338    27    -'|7    3j6 


B.  Präparandenanstalten 
1892/93      3 
1901/02  I    3 


170  i — 
196;- 


381  — j  156 


■-')2 


i|22 

2 

■^)30 

8)9[| 

6)13 

1 

-1 

')  8 

-i) 

i.  J.   1892 
259  265    161  145 


i.  T.  1902 
318  568    204  108 


Die  Seminare  umfassen  3  Jahreskurse,  die  Präparandenanstalten  2. 
Von  den   Lehrerseminaren    sind    2  katholisch,    1   protestantisch   und    1    paritätisch; 
das  Lehrerinnenseminar  ist  paritätisch 

')  Außerdem  noch  3  Lehrerinnenseminare,  darunter  ein  privates,  die  sich  von  den  mit 
ihnen  eng  verbundenen  höheren  Mädchenschulen  nicht  trennen  lassen.  —  '■'}  Israeliten.  —  ^)  Davon 
3  Altkatholiken  und  3  Israeliten  —  ■")  Darunter  20  Neben-  und  Hiilfslehrer.  —  ^)  Darunter  2-1  Neben- 
und  Hülfslehrer.  —  «)  Darunter  8  Neben-  und  Hülfslehrer.  —  ^)  Darunter  7  Neben-  und  Hülfslehrer. 
—  "J  Darunter  5  Neben-  und  Hülfslehrerinnen. 

Die  Zahlen  der  Tabelle  sind  aus  dem  „Statist.  Jahrb.  f.  d.  Großh.  Baden"  genommen. 

Der  bedeutendere  Unterschied  zwischen  der  Höhe  des  Staatsbeitrages  und  der 
Summe  der  Gesamtausgaben  in  Baden  erklärt  sich  mit  daraus,  daß  der  Staat  zu  den 
Kosten  des  Prinzessin  Wilhelm-Stiftes  idas  großherzogl.  parität.  Lehrerinnenseminar)  nur 
einen  ganz  geringen  Beitrag  zahlt. 


Württemberg  und  andere  Tiuiidesstaaten. 


337 


VI.    Großherzogtum  Hessen. 

Seminare  und  Präparandenanstalten. 


Jahre 

Anstalts- 
arten 

Zahl  der 
Anstalten 

Zahl  der 

Zöglinge 

Zahl  der 
Lehrkräfte 

Beiträge  des  Staates 
zu  den  Kosten 

t    für  Lehrer 

für 
Lehrerinnen 

überhaupt 

Ev^ange- 
lische 

Katho- 
lische 

Jüdische 

m 
III 

i.  ^  ^ 

der        der  Lehre- 
Lehrer-       rinnen- 
Bildungs-  |  Bildungs- 
anstalten     anstalten 
M.               M. 

m.      w. 

m.      w. 

m.  1  w. 

m.  1  w. 

A.  Seminare. 

1892/93 

3         1  !  314     33   238  i    . 

73  1     . 

3    i     . 

2)22 

•2j     9 

112284 

1901/02 

3      1)3   320    127    229      . 

88       . 

3    t     . 

1 

':^)22 

■^)11 

129  156      31  405 

1j.  Präparandenanstalten. 

1892/93  jj   3    1  —  j|182     —  ,  131     — 

47 

— 

t    - 

23  603           - 

1901/02 

1  ^  i"! 

170    - 

131     - 

39 

- 

27  404           — 

Die  Seminare  bestehen  aus  3  Klassen,  die  Präparandenanstalten  anscheinend  aus  2. 

'1  Außer  den  beiden  mit  den  städtischen  höheren  Mädchenschulen  zu  Darmstadt  und  iNIainz 
verbundenen  Lehrerinnenseminaren  noch  das  Seminar  für  Volksschullehrerinnen  zu  Darmstadt,  das 
erst  am  5.  Juni  1902  mit  ^vorerst  3  Klassen  und)  53  Zöglingen  eröffnet  worden  ist.  2)  Nur  die  Zahl 
der  Lehrer  der  Lehrerseminare. 


VII.    Großherzogtum  Mecklenburg-Schwerin. 

Lehrerbildungsanstalten. 


Zahl  der  Anstalten 

Zahl  der  Klassen 

Zahl  der 

Zöglinge 

Zahl  der  Lehrer 

1892            1902 

1892           1902 

1892 

1902 

1892           1902      i 

2                 2 

1)      7          -2)     9 

3)    220 

328      ' 

^)    22         i)    33 

Die  Gesamtausgaben  betrugen  1902:  136  000  M.  mit  Einschluß  der  Kosten  der 
Seminarschule  zu  Neukloster  (6  aufsteigende  und  1    gemischte  Klasse). 

Außerdem  gibt  es  1  städtisches  und  3  private  Lehrerinnenseminare,  die  mit  höh. 
Mädchenschulen  verbunden  sind. 

')  Davon  fallen  2  Klassen  auf  das  Seminar  zu  Lübtheen  und  2  Seminarklassen  sowie  3  Prä- 
parandenklassen  auf  das  Seminar  zu  Neukloster.  —  '')  Desgl.  2  Klassen  und  2  Vorbereitungsklassen 
auf  das  Seminar  zu  Lübtheen  und  2  Seminarklassen  sowie  3  Präparandenklassen  auf  das  Seminar  zu 
Neukloster.  —  ^)  Davon  ist  die  Zahl  der  Schüler  des  Seminars  zu  Lübtheen  (40)  durch  Schätzung 
gewonnen.  —  ^)  Wohl  mit  Einschluß  der  Lehrer  der  Übungsschulen. 

Die  Angaben  dieser  und  aller  folgenden  Tabellen  bis  zu  der  Tabelle  über  die 
Seminare  und  Präparandenanstalt  in  der  Freien  und  Hansestadt  Lübeck  sind  aus  dem 
„Statistischen  Jahrbuch  der  höheren  Schulen  Deutschlands"  genommen. 


vm.    Großherzogtum  Mecklenburg-Strelitz. 

Ein    Lehrerseminar    mit    15  Schülern    und    6  Lehrern   (1902J.     Der  Seminarkursus 
■;t  3jährig. 


Das  Untenichtswesen    im  Deutschen  Reich.     HL 


Statistische  Übersicht. 


IX.  Großherzogtum  Sachsen. 

Seminare. 


A  n  s  t  a  1 1  s  a  r  t  e  n 

Zahl  der 
Anstalten 

1      Zahl  der 
Schüler  bezw. 
Schülerinnen 

Zahl  der 
Lehrer 

Zahl  der 
Lehrerinnen 

1892  1  1902 

1892      1902 

1892      1902 

1892      1902 

Lehrerseminare     .... 
Lehrerinnenseminar  .     .     . 

V  : 

148       199 

18         32 

26         25 

: 

_  ! 
1 

Summe  der  Ausgaben:   1892  rund  50  000  M.,   1902  gegen  70  000  M. 

Die  beiden  großherzoglichen  evangelischen  Lehrerseminare  zu  Eisenach  und  Weimar 
zählen  3  und  6  Klassen,  der  Kursus  des  städtischen  evangelischen  Lehrerinnenseminars 
zu  Eisenach  ist  3jährig.  —  Die  Zahl  der  Lehrer  umschließt  auch  die  Zahl  der  Lehrer  an 
den  Übungsschulen.  Die  Zahl  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  am  Lehrerinnenseminar  kann 
nicht  angegeben  werden,  da  dasselbe  mit  der  städtischen  höheren  Mädchenschule  in 
Eisenach  (9  Klassen  mit  305  Schülerinnen)  eng  verbunden  ist.  Ebenso  läßt  sich  der 
Etat  des  Lehrerinnenseminars  von  dem  der  höheren  Mädchenschule  nicht  trennen. 


X.  Großherzogtum  Oldenburg. 

Zwei  Lehrerseminare,  ein  evangelisches  und  ein  katholisches,  das  erstere  mit 
170  Schülern  und  11  Lehrern  (1902),  das  katholische  (in  Vechta)  mit  6  Lehrern.  Staats- 
beitrag rund  80  000  M. 


XI.  Herzogtum  Braunsehweig. 

Seminare. 


Anstaltsarten 

Zahl  der 
Anstalten 

Zahl  der 
Schüler  bezw. 
Schülerinnen 

Zahl  der 
Lehrer 

Zahl  der 
Lehrerinnen 

1892      1902 

1892  1  1902 

1892  i   1902 

1892  1   1902 

Lehrerseminare     .... 
Lehrerinnenseminare      .     . 

2^        2 

2          2| 

1)273    1)314 
32       109 

24  '       30 

- 

Staatsbeitrag:  für  die  Lehrerseminare  1902  1 04  609  M.,  für  die  Lehrerinnenseminare 
2  100  M.  als  Betrag  des  Staatszuschusses  für  das  mit  der  höheren  Mädchenschule  zu 
Braunschweig  verbundene  Lehrerinnenseminar.  Die  Etats  der  beiden  Lehrerinnenseminare 
zu  Braunschweig  und  Wolfenbüttel  lassen  sich  im  übrigen  nicht  von  den  Etats  der  mit 
ihnen  verbundenen  höheren  Mädchenschulen  abtrennen. 

Das  Braunschweiger  Lehrerseminar  zählt  6  Klassen  und  das  Wolfenbütteler  3  Seminar- 
klassen und  3  Präparandenklassen,  der  Kursus  des  Lehrerinnenseminars  ist  3jährig.  Die 
beiden  Lehrerinnenseminare  zu  Braunschweig  und  Wolfenbüttel,  von  denen  das  erstere 
vom  Staat  und  von  der  Stadt  unterhalten  wird,  sind  eng  mit  höheren  Mädchenschulen 
(mit  über  700  und  300  Schülerinnen)  verbunden,  und  kann  die  Zahl  der  s])eziell  zu  den 
Seminaren  gehörigen  Lehrkräfte  nicht  angegeben  werden. 

■l  Ohne  Einbeziehung  der  13  Zöglinge  des  sog.  Hauptseminars  (zu  Wolfenbüttel),  welche 
bereits    die    erste    Prüfung    bestanden    haben    und    an    den    Biirgerschulen   der  Stadt  unterrichten.  — 


(iroßherzogluni  Saclisen  und  andere   IJundesstaaten.  339 

XII.  Herzogtum  Sachsen-Meiningen. 

Vau  Lehrerseminar  mit  182  Schülern  und  12  Lelirern  (1902).  Ausgalien  rund 
30  000  M. 

Ein  Lehi-erinnenseminar  mit  18  Schülerinnen. 

Der  Kursus  des  herzogl.  Lehrerseminars  ist  6  stutig,  der  Kursus  des  Lehrerinnen- 
seminars  ist  Själirig. 

XIII.  Herzogtum.  Sachsen-Altenbxirg. 

Ein  Lehrerseminar  mit  150  Schülern  und  12  Lehrern,  .\usgaben  68  700  M.  (1902). 
Das  Seminar  zählte  im   Jahre  1902  6  Klassen. 


XIV.    Herzogtum  Sachsen-Coburg  imd  Gotha. 

Zwei  Lehrerseminare  mit  152  Schülern  und  18  Lehrern.    Ausgaben  81  250  M.  (1902). 

Das  ("oburger  herzogl.  Lehrerseminar  zählt  3  Klassen,  das  Gothaer  6  Klassen. 
Außerdem  Lehrerinnenseminar  am  Herzogin  Marie-Institut  (ev.  höhere  Privat-Töchter- 
schule  zu  (lotha).  Ferner  sind  an  der  Ale.xandrinenschule  zu  Coburg  Vorbereitungs- 
kurse für  die  Lehrerinnenprüfung  eingerichtet. 

XV.   Herzogtum  Anhalt. 

Ein  Lehrerseminar  mit  182  Schülern  und  16  Lehrern.    Ausgaben  106  000  M.  (1902). 

Ein  Lehrerinnenseminar  mit  52  Schülerinnen. 

Das  Lehrerseminar  zählt  6  Klassen,  das  Lehrerinnenseminar  3  Klassen.  Das 
Lehrerinnenseminar  ist  eng  mit  der  Antoinettenschule  (mit  448  Schülerinnen)  zu  Dessau 
verbunden,    daher  läßt  .-ich  seine  Lehrerzahl   und  die  Höhe  seines  Etats  nicht  feststellen. 

XVI.    Fürstentum  Sehwarzburg-Rudolstadt. 

Ein  Lehrerseminar  mit  30  Schülern  und  15  Lehrern.  Staatsbeitrag  12  700  iL  mit 
Einschluß  von   1500  M.  zur  Unterstützung  des  Präparandenwesens.  (1902). 

Der  Kursus  des  Seminars  ist  3  jährig.  LJie  Lehrer  sind  meist  Lehrer  im  Nebenamt 
(1902  waren  es   12). 

XVII.    Fürstentum  Schwarzburg-Sondershausen. 

Ein  Lehrerseminar  mit  64  Schülern  und  9  Lehrern.  .Ausgaben  25  500  M.  (1902). 
Ein  Lehrerinnenseminar   mit  36  Schülerinnen. 

Der  Kursus  des  Lehrerseminars  dauert  6  Jahre.  Das  Lehrerinnenseminar  ist  mit 
der  städtischen  höh.  Mädchenschule  eng  verbunden,  wird  aber  vom  Staate  unterstützt.  — 
In  der  Zahl  der  Lehrer  sind  Neben-  und  Übungsschullehrer  mit  enthalten. 

XVIII.    Fürstentum  Reuss  ä.  L. 

Ein  Lehrerseminar  mit  64  Schülern  und  7  Lehrern.  Ausgaben  22  800  iL  (1902). 
Das  Seminar  besteht  aus  2  Seminarklassen  und  1    Präparandenklasse. 

XIX.    Fürstentum  Reuss  j.  L. 

Ein  Lehrerseminar  mit  134  Schülern  und  10  Lehrern.  Staatsbeitrag  38200  M.  (1902). 
Das  Seminar  umfaßt  6  Klassen.  —  Li  der  Zahl  der  Lehrer  sind  Lehrer  der  Übungsschule 
jnit  eingeschlossen. 

22* 


3-10 


Statistische  t'hersicht. 


XX.    Fürstentum  Schaumbiirg-Lippe. 

Ein  Lehrerseminar  mit   12  Schülern  und  4  Lehrern  (1902). 

XXI.    Fürstentum  Lippe. 

Ein  Lehrerseminar  mit  52  Scliülern  und  8  Lehrern.     Ausgaben  35000  M.    (1902)> 
Der    Kursus    des    Fiirstl.  Lehrerseminars    ist   3  jährig.  —    In    der  Zahl   der  Lehrer 

sind  Xebenlehrer    und   der  Lehrer   der  Übungsschule    mit    einbegriffen.     Es   besteht    eine 

private  evangelische  Präparandenanstalt  mit  30  Scliülern. 

XXII.    Freie  und  Hansestadt  Lübeck. 

Lehrerbildungsanstalten. 


Anstaltsarten 

Zahl  der 
Anstalten 

Zahl  der 
Zöglinge 

Zahl  der 
Lehrer 

Zahl  der      , 
Lehrerinnen 

1894 

1902 

1894  1  1902 

1894 

1902 

1894     1902 

Lehrerseminar 

Lehrerinnenseminar  .     .     . 
Präparandenanstalt    .     .     . 

1 

1 
1 
1 

70 
48         43 
—         90 

12 

12 
9 

• 

1          — 

1 

Das  Lehrerseminar,  ein  Institut  der  Gesellschaft  zur  Beförderung  gemeinnütziger 
Tätigkeit,  dessen  Verstaatlichung  beabsichtigt  ist,  zählt  3  Klassen;  das  staatliche  Lehre- 
rinnenseminar und  die  staatliche  Präparandenanstalt  umfassen  3  Jahrgänge.  —  Die  Zahl 
der  Lehrer  des  Lehrerseminars  ist  auch  im  „Stat.  Jahrb.  d.  h.  Seh.  D."  für  das  Jahr  1902, 
nicht  vermerkt.  —  Die  meisten  Lehi-er  am  Lehrerinnenseminar  sind  nur  Lehrer  im 
Nebenamt. —  Der  Staat  leistet  seit  1891  zu  den  Kosten  des  Lehrerseminars  einen  jähr- 
lichen Zuschuß  von  1800  M. ;  im  übrigen  werden  die  Kosten  von  der  Gesellschaft  zur 
Beförderung  gemeinnütziger  Tätigkeit   getragen. 

XXIII.    Freie  Hansestadt  Bremen. 


Jahr 

Zahl 
der  Anstalten 

Zahl 
der  Zöglinge 

Zahl 

der  Lehrer  1) 

Zahl 
der 

Beiträge 
des  Staates  3j 

für 
Lehrer 

für 
Lehre- 
rinnen 

am 
Lehrer- 
seminar 

an  den 
Lehre- 
rinnen- 
seminaren 

Lehre- 
rinnen 
2) 

männl. 

weibl. 

M. 

1892  .  . 
1902  .  . 

1 
1 

2 
2 

62 
105 

106 
120 

8 
12 

15 

11 

36  772 
ca.  80  000 

Der  Kursus  des  staatlichen  Lehrerseminars  ist  6  jährig,  der  der  beiden  privaten 
Lehrerinnenseminare  3  jährig. 

1)  Mit  Einschluß  der  Fachlehrer.  —  2)  Mit  Einschluß  der  Fachlehrerinnen.  —  3)  Die  Beiträge 
des  Staates  beziehen  sich  nur  auf  das  staatliche  Lehrerseminar ;  über  die  Kosten  der  beiden  privaten 
Lehrerinnenseminare  kann  nichts  angegeben  werden. 

Die  Angaben  für  das  Jahr  1892  entstammen  dem  „Jahrbuch  für  Bremische  Statistili",. 
die  für  das   Jahr  1902  dem   „Stat.  Jahrb.  d.  h.  Seh.  D." 


SclKiuinburg-I.ip]ie  und  andere  Bundesstaaten. 


341 


XXIV.    Freie  und  Hansestadt  Hamburg. 


l-ehrerbildungsanst  alten. 


Jahre 
Anstaltsarten 

Zahl 
der 
An- 
stalten 

Zahl 
der  Zöghnge 

Zahl 

der 

Lehrer 

Zahl 
der 
Lehre- 
rinnen 

Summe 

der  Ausgaben  für 

Gehälter 

M. 

männl. 

weibl. 

1892/93 

Lehrerseminar 

Präparandenanstalt    .... 
Lehrerinnenseminar  .... 
Präparandinnenanstalt  .    .    . 
Lehrerinnenseminar      des 
Klosters  St.  Johannis  .    . 

1901/02 

Lehrerseminar 

Lehrerinnenseminar  .... 
Lehrerinnenseminar      des 
Klosters  St.  Johannis  .    . 

1 
1 
1 
1 

1 

1 
1 

1 

101 
109 

1)187 

72 
68 

108 

•2)  130 

3)101 

i)32 

5)  16 

1 

i      18 

• 

4)  7 

5)  5 

1 

] 

,  ungef.  120  000  ö) 

}   ungef.   145  000') 

Das  Lehrerseminar  und  die  Präparandenanstalt  umfassen  je  3  Klassen,  das  Lehre- 
rinnenseminar und  die  Präparandinnenanstalt  je  2  Klassen;  das  die  frühere  Präparanden- 
anstalt mit  umschließende  Lehrerseminar  des  Jahres  1901/02  zählt  demnach  6  Klassen 
und  das  in  der  gleichen  Weise  zusammengesetzte  Lehrerinnenseminar  desselben  Jahres 
4  Klassen.     Auch  das  Lehrerinnenseminar  des  Klosters  St.  Johannis  zählt  4  Klassen. 


')  Sämtlich  evangelisch.  —  ^)  Sämtlich  evangelisch  bis  auf  2  Jüdinnen.  —  ^)  Davon  sind 
<*;)  evangelisch.  —  ^}  Einschließlich  der  Lehrer  und  Lehrerinnen,  welche  an  den  mit  den  Seminaren 
verbundenen  Übungsschulen  unterrichten.  —  ^)  Die  hier  aufgeführten  Lehrer  und  Lehrerinnen  sind 
2ugleich  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  der  großen  mit  dem  Lehrerinnenseminar  verbundenen  höhern 
Mädchenschule  des  Klosters  St.  Johannis  (21  Klassen  mit  587  Schülerinnen).  Für  das  Jahr  1901  02 
kann  ihre  Zahl  garnicht  mehr  angegeben  werden.  Ebensowenig  läßt  sich  der  Etat  des  Lehrerinnen- 
seminars vom  Kloster  St.  Johannis  von  dem  der  höhern  Mädchenschule  trennen.  —  *)  Dazu  kommt 
noch  ein  Betrag  an  Staats-  und  Privatstipendien  von  rund  24  000  M.  —  ')  Dazu  ein  Stipendienbetrag 
von  ungefähr  33000  M. 

Alle  Angaben  über  die  Schüler  und  für  das  Jahr  1901/02  auch  über  die  Lehrer 
sind  den  Jahresberichten  der  Oberschulbehörde  entnommen,  während  die  Lehrer-  und 
Lehrerinnenzahl  für  das  Jahr  1892/93  aus  dem  „Statist.  Jahrb.  d.  h.  Seh.  D."  entlehnt 
werden  mußte. 


342 


Statistische  Übersicht. 


XXV.   Reichsland  Elsaß-Lothringen. 

Lehrerbildungsanstalten. 


Jahre 

Zahl 
der 

Zahl  der 

Schüler 
bezw. 

1 

Zahl 
der 

Summe 
der 

Anstaltsarten 

Anstalten 

Schülerinnen 

.^ 

Lehrkräfte 

Ausgaben 

1 
1 

ev.        kath. 

ev.       kath. 

ä 

ev.       kath. 

A.  Lehrerseminare 

1 

1893   .... 

1           5 

70 

M4I3 

— 

52 

1902   .... 

1            4 

64 

ij302 

-    ! 

9         41     i 

B.  Lehrerinnensem. 

1 

1 

i.  T.  1890 

1890   .... 

1            2 

58 

150 

_    ' 

22 

677223  M., 

1902   .    .    .    .  ! 

1            1 

61 

97 

— 

-)  8        •-')  9 

i.  T-  1902 

C.  Präjmrandenanst. 

[ 

636  950  M. 

1890   .    .    .    .  i 

1      '      3     1 

51 

159 

— 

12          , 

1902   .... 

1           3 

— 

_ 

Die  Seminare  zählen  gewöhnlicli  3,  die  Präparandenanstalten  2  Klassen. 

Im  Jahre  1902  gab  es  nur  noch  4  katholische  Seminare,  da  eins  der  Seminare  zu 
Colmar  aufgehoben  worden  war.  Für  das  Jahr  1902  führt  das  „Stat.  Jahrb.  d.  h.  Seh.  D." 
nur  2  Lehrerinnenseminare  auf.  Es  fehlt  in  dem  betreflenden  Verzeichnis  das  erst  im 
Jahre  1898  eingerichtete  ^'orseminar  für  Lehrerinnen  zu  Chäteau-Salins. 

Die  Angaben  für  das  Jahr  1890  sind  aus  dem  „Statistischen  Handbuch  für  Elsass- 
Lothringen"  entnommen,  die  für  das  Jahr  1902  aus  dem   „Stat.  Jahrb.  d.  h.  Seh.  D." 

')  Mit  Einschluß  der  Präparanden  derjenigen  Präparandenanstalten,  welche  mit  den  Seminaren 
eng  verbunden  sind.  —  ^)  Davon  sind  3  Lehrer,  die  übrigen  Lehrerinnen. 


XXVI.    Lehrerseminare,  staatliche  Lehrerinnen seminare  und 
staatliche  Präparandenanstalten  im  Deutschen  Reich  im  Jahre  1902. 

(Bemerkungen  zu  nebenstehender  Tabelle.) 
In  den  beiden  ersten  Spalten  bezeichnet  S  Seminar  und  P  Präparandenanstali 
bezw.  —  in  der  2.  Spalte  für  Bayern  —  Präparandinnenanstalt.  Die  Zahlen  ohne  Buch- 
staben beziehen  sich  stets  auf  Seminare.  —  Über  den  konfessionellen  Charakter 
der  Anstalten  finden  sich  die  näheren  Angaben,  soweit  solche  überhaupt  gemacht  werden 
können,  in  den  vorhergehenden  Tabellen  über  die  Seminare  der  einzelnen  Staaten 
verzeichnet.  Betrefls  der  kleineren  protestantischen  Staaten  sei  im  allgemeinen  bemerkt, 
daß  die  in  ihnen  liegenden  Anstalten  —  abgesehen  von  den  Phallen,  in  denen  eine  andere 
Konfession  ausdrücklich  vermerkt  ist  —  als  evangelische  angesehen  worden  sind  und  dem- 
gemäß die  Gesamtheit  ihrer  Zöglinge,  soweit  nicht  anders  lautende  Angaben  vorlagen, 
den  Evangelischen  zugerechnet  worden  ist. 

Betrefls  der  Zahlen  der  beiden  letzten  Spalten  sei  hervorgehoben,  daß  von  den 
größeren  Bundesstaaten  das  Königreich  Sachsen,  welches  das  gesamte  Präparandenwesen 
verstaatlicht  hat,  und  für  welches  daher  in  dieser  Tabelle  eine  verhältnismäßig  besonders 
hohe  Zahl  von  Präparanden  verrechnet  werden  konnte,  am  günstigsten  dasteht.  In 
Bayern  fehlt  wie  in  Preußen  die  recht  beträchtliche  Zahl  der  Zöglinge  aller  privaten 
Bildungsanstalten.  Außerdem  ist  noch  zu  berücksichtigen,  daß  in  allen  größeren  Bundes- 
staaten, außer  Preußen  vmd  Sachsen,  nämlich  in  Bayern,  Württemberg,  Baden,  Mecklenburg- 
Schwerin,  Elsaß-Lothringen  und  (anscheinend  auch  in)  Hessen  der  Gesamtkursus  der 
Seminare  und  Präparandenschulen  ein  5  jähriger  ist,  sodaß  in  einem  Jahre  durchschnittlich 
ein  erheblicherer  Bruchteil  der  Gesamtheit  der  Zöglinge  zur  Prüfung  gelangen  könnte.  — 
Das  besonders  ungünstige  Ergebnis  für  Mecklenburg- Strelitz  ist  darauf  zurückzuführen, 
daß  nach  den  Ausweisen  des  „Stat.  Jahrb.  d.  h.  Seh.  D."  die  Zahl  der  Seminaristen  von 
ungefähr  30  in  den  ersten  neunziger  Jahren  allmählich  bis  auf  15  zurückgegangen  ist, 
und  daß  über  etwaige  Prä])aranden  des  Großherzogtums  gar  keine  Angabe  vorliegt. 


Elsaß-Lothringen  —  Deutsches  Reich. 


34: 


Bundesstaate; 


Deutsches    Reich 


t 


Preußen 
Bayern 


Sachsen    .    . 
Württemberg 


I  Hessen. 


Mecklenburg-Schwerin    .    .    . 

Sachsen-Weimar 

Mecklenburg-Strelitz  .    ,    .    . 

Oldenburg    

Braunschweig 

Sachsen-iNIeiningen     .     .    .    . 

Sachsen-Altenburg 

Sachsen-Coburg  und  -Gotha 

Anhalt 

Schwarzburg-Sondershausen  . 
Schwarzburg-Rudolstadt  .  . 
Waldeck  und  Pyrmont  M  .    . 

Reuß  ä.  I 

Reuß  j.  L 

Schaumburg-Lippe 

Lippe    

Lübeck     


Zahl  der. 
Anstalten 


Zahl  der  Zöglinge 
sämtlicher  Anstalten 


männl.    weibl. 


Bremen     .    .    .    . 
Hamburg      .    .    . 

Elsaß-Lothringen 


Deutsches    Reich 


125S 
44  P 
128 
34P 
20 

7S 

6P 

4S 

3P:     - 

3S  1)  1 

^V 

2  I  - 
1 

2  i  - 

2  I  , 

1  1 

1  1 

1 

1     j     - 
1     I     - 

1   !  - 
1   1  - 

ri: 

1       1 

5S  !     2 
4P      - 


12 

3S 
3P 
3 
2 

1 


199S     29S 

9ÖP  j     3P 


=  16124 

2)1  900 

3  857 

926 

673 

490 

328 
199 
15 
3)  220 
314 
182 
150 
152 
182 
64 
30 

64 

134 

12 

52 


992 

2)800 

349 

62 

87 

0    53 


39 


kath. 


11666:5)5430 

')    600  '-')  2050 


4099: 
691 ! 


107! 
297 


224;")    521 
413  8)    1271 


160        43 


105 
187 

l      536 


130 
158 


27056   2801 


328 
199! 

15 
170 
353 
182 
15o! 
152 
234 
100 

30 

64 

134 

12, 

52; 


203       — 


2138 

3251 
1089 
2343 

2776 

2285 

1853 

—  1]  1823 

—  I  6840 

50  j  1814 

—  11  1325 

—  i!  1377 

—  i|  1299 

—  II  1510 

—  j|  1737 

—  ll  1264 
2280 


1069 
1039 

I,  3594 
l  2672 

l|    605 


105       - 

315  9)  - 

175        519  I  3208 


2142 
4109 


20666^0)9101  :  2083 


i|  Waldeck  hat  keine  eigene  Anstalt.  Nach  den  Angaben  des  „Stat.  Handb.  1".  d.  pr.  Sc."  be- 
suchten im  Jahre  1902  14  Waldecker  die  preußischen  Seminare  in  der  Provinz  Hessen-Nassau.  — 
-I  Die  hier  verzeichneten  Zahlen  sind  ganz  ungenau.  Sie  mußten,  soweit  sie  sich  auf  die  Anstalten 
für  Präparanden  und  Präparandinnen  beziehen,  erst  durch  Schätzung  gewonnen  werden.  Dabei  wurden 
die  betreffenden  Verhältnisse  des  Jahres  1899  zugrunde  gelegt  und  für  die  Privatanstalten,  die  in 
dieser  Tabelle  nicht  berücksichtigt  werden  (1899  zählte  man  deren  11),  eine  erhebhche  Zahl  in 
Abzug  gebracht.  —  ■')  Dabei  sind  schätzungsweise  50  Zöglinge  auf  das  katholische  Seminar  zu  Vechta 
angerechnet  worden.  —  ■■)  Außer  den  Lehrerinnenseminaren  an  den  städtischen  Mädchenschulen  zu 
Darmstadt  und  Mainz.  S.  VI.  —  ')  Dazu  noch  20  Jüdinnen.  —  «)  Die  Zahl  ist  ungenau,  vergl.  Anm.  2. 
i)azu  noch  50  jüdische  Zöglinge,  deren  Zahl  erst  durch  Schätzung  gewonnen  ist.  —  ")  Dazu  noch  15 
einer  andern  Konfession  Angehörige  (13  Jüdische  und  3  Altkatholiken).  —  «)  Dazu  noch  3  Jüdische.  — 
'•')  Dazu  noch  2  Jüdinnen.  —  i")  Dazu  noch  90  einer  andern  Konfession  Angehörige. 


DRITTE  ABTEILUNG. 


TAUBSTUMMEN-  UND   BLINDENUNTERRICHT. 


ERSTER  ABSCHNITT. 
Das  Taubstummen-Bildungswesen  im  Deutschen  Reich. 


I.    Gesclnchtliche  Entwicklung  des  Taubstummen-Bildungs- 
wesens  in  Deutschland. 

Deutschland  darf  sich  mit  zu  den  Ländern  rechnen,  in  denen 
der  Taubstummenunterricht  zuerst  in  geordneter  Weise  betrieben 
worden  ist.  Einzelne  Versuche  in  dieser  Richtung  sind  schon  in 
früheren  Jahrhunderten  zu  verzeichnen.  So  unterrichtete  der  Probst 
Joachim  Pascha  zu  Wusterhausen  a.  d.  Dosse  (1527 — 1578)  seine 
taubstumme  Tochter  erfolgreich  mit  Hilfe  von  Bildern.  Dr.  G. 
Raphel,  Superintendent  in  Lüneburg,  berichtet  in  einer  1718  erschie- 
nenen Schrift:  „Kunst,  Taube  und  Stumme  reden  zu  lehren",  über 
die  Methode,  die  er  bei  dem  Unterricht  seiner  drei  taubstummen 
Kinder  angewandt  hatte.  Auch  der  Superintendent  Lasius  veröffent- 
lichte eine  ,, Ausführliche  Nachricht  von  der  geschehenen  Unter- 
weisung der  taub-  und  stummgeborenen  Fräulein  vpn  Meding" 
(Leipzig  1778),  und  der  Pfarrer  Arnoldi  zu  Großenlinden  bei  Gießen 
schuf  um  diese  Zeit  in  seinem  Hause  schon  in  gewissem  Sinne  eine 
kleine  Taubstummenanstalt  und  veröffentlichte  über  seine  Methode 
eine  , .Praktische  Unterweisung,  taubstumme  Personen  reden  und 
schreiben  zu  lehren  (Gießen   1777,  Fortsetzung  1781). 

Immer  aber  handelte  es  sich  nur  um  einzelne  Unterrichtsversuche; 
die  Mittel,  allen  Taubstummen  zu  helfen,  wurden  erst  von  dem 
Abbe  de  l'F^pee  in  Frankreich  und  von  Samuel  Hei  nicke  in  Deutsch- 
land gefunden.  Samuel  Heinicke  hatte  nach  einer  bewegten  Jugend 
eine  Stellung  als  Lehrer  und  Organist  in  Eppendorf  bei  Hamburg 
gefunden.  Hier  begegnete  ihm  ein  taubstummer  Knabe,  und  da  er 
sich  bereits  in  Dresden   mit    einem    solchen  Kinde    beschäftigt    hatte, 


348  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

entschlqß  er  sich,  sich  jenes  Knaben  anzunehmen.  Bald  fanden  sich 
noch  andere  taubstumme  Kinder  hinzu,  und  so  entstand  in  Eppen- 
dorf  eine  kleine  Taubstummenanstalt,  deren  Erfolge  bald  so  bekannt 
wurden,  daß  der  Kurfürst  Friedrich  August  von  Sachsen  bei 
Heinicke  anfragen  ließ,  ob  er  nicht  in  seine  Heimat  zurückkehren 
und  hier  eine  Taubstummenanstalt  einrichten  wollte.  Kurz  ent- 
schlossen siedelte  er  im  Jahre  1778  nach  Leipzig  über  und  eröffnete 
daselbst  am  14.  April  die  erste  öffentliche  deutsche  Taub- 
stummenanstalt, durch  die  die  Anregung  zur  Gründung  weiterer 
Anstalten  gegeben  wurde. 

Heinicke  stützte  sich  bei  seinem  Verfahren  auf  die  Schrift  des 
aus  der  deutschen  Schweiz  gebürtigen  Dr.  Amman.  ,,Surdus  loquens 
s.  methodus,  qua,  qui  surdus  natus  est,  loqui  discere"  (Amsterdam, 
1692),  in  der  sich  eine  ausführhche  Darlegung  des  Artikulations- 
unterrichts findet.  Was  Heinicke  für  seinen  Unterricht  hier  vorfand, 
war  aber  sehr  wenig;  er  mußte  sich  den  eigentlichen  Sprachlehrgang 
selbständig  schaffen,  und  wir  verdanken  ihm  hauptsächlich  die  Art 
der  methodischen  Behandlung  des  Sach-  und  Sprachunterrichts  und 
die  Mittel  für  die  allmähliche  Verknüpfung  des  Denkens  und 
Sprechens.  Man  hat  deshalb  Heinicke  nicht  mit  Unrecht  den 
Schöpfer  der  deutschen  Methode,  d.  i.  der  Lautsprachmethode  für 
Taubstumme,  genannt.  Ein  Verdienst  kann  ihm  niemand  streitig 
machen:  in  der  Zeit,  da  die  Zeichenmethode  sich  von  Frankreich 
aus  immer  mehr  verbreitete  und  in  den  Taubstummenanstalten  an 
Herrschaft  gewann,  war  es  Heinicke,  der  mit  seltener  Energie  und 
freiem  ÖMute  für  den  Lautsprachunterricht  eintrat  und  durch  seine 
Lehrtätigkeit  die  eminente  Bedeutung  dieses  Unterrichts  für  die 
Taubstummen  erwies.  Leider  hat  er  sein  Unterrichtsverfahren  nur 
in  ungenügender  Weise  dargelegt;  er  hielt  dasselbe  vielmehr  nach 
Möglichkeit  geheim  und  schadete  damit  sich  und  seiner  Methode. 

Von  nun  ab  beschäftigte  sich  eine  größere  Zahl  von  Männern 
mit  dem  Taubstummenunterricht,  die  ihre  Gedanken  untereinander 
austauschten,  wodurch  diese  Klärung  und  Befestigung  erfuhren.  Die 
Versuche  aufs  Geratewohl  gestalteten  sich  nach  und  nach  zur  Unter- 
richtsarbeit nach  festen  Systemen,  und  \\as  nicht  minder  wertvoll 
war,  die  Tore  der  Anstalten  öffneten  sich  nunmehr  einer  größeren 
Zahl  von  Taubstummen. 

Als  enste  segensreiche  Wirkung,  die  von  der  Leipziger  .Vnstalt 
ausging,  war  die  Gründung  einer  Taubstummenanstalt  in  Preußen. 
Ein  Schüler  und  Schwiegersohn  Heinickes,  Dr.  Ernst  Adolf  Eschke, 


Das  'rauhstunimen-Biklungswesen  im  Deutschen  Reich.  349 

siedelte  im  Frühjahr  1788  nach  Berlin  über  und  ersuchte  das  Ober- 
Schulkollegium  um  die  Erlaubnis  zur  Errichtung  einer  Taubstummen- 
anstalt. Die  genannte  Behörde  ging  zunächst  auf  diesen  Plan  nicht 
ein,  sondern  ließ  erst  die  von  Eschke  angestellten  Unterrichtsversuche 
und  die  Behandlungsart  der  taubstummen  Schüler  einer  Prüfung 
unterziehen  und  darüber  Bericht  erstatten.  Dieser  fiel  so  günstig  aus, 
daß  sie  Eschke  unter  dem  2.  Dezember  1788  gestattete,  eine  Privat- 
anstalt für  Taubstumme,  die  erste  derartige  in  Preußen,  zu  errichten. 
Die  Erhaltung  dieser  Anstalt,  wenn  er  auch  von  der  Regierung 
mancherlei  Unterstützung  erhielt,  wurde  ihm  jedoch  sehr  schwer,  und 
um  Kosten  zu  sparen,  siedelte  er  1792  nach  Nieder-Schönhausen  bei 
Berlin  über.  Erst  im  Jahre  1798  überwies  ihm  das  Königliche  Ge- 
neral-Ober-Finanz-Kriegs- und  Domänen-Direktorium  ein  in  Berlin  in 
der  Linienstraße  liegendes  und  jetzt  noch  in  Benutzung  befindliches 
Gebäude,  und  von  da  an  datiert  die  Eschkesche  Privatanstalt  als 
Königliche  Taubstummenanstalt. 

In  Baden  wurden  ebenfalls  V'ersuche  gemacht,  eine  Taub- 
stummenanstalt zu  errichten.  Unter  der  Regierung  des  Markgrafen 
Karl  Friedrich  fand  die  erste  Zählung  der  Taubstummen  statt 
(1780),  nach  der  innerhalb  der  badischen  Besitzungen  131  taubstumme 
Personen  ermittelt  wurden.  Die  Regierung  sandte  den  Pfarramts- 
kandidaten Hemeling  nach  Leipzig,  um  die  Heinickesche  Methode 
des  Taubstummenunterrichts  kennen  zu  lernen.  Hier  scheint  er 
jedoch  nicht  das  rechte  Entgegenkommen  gefunden  zu  haben;  er 
wandte  sich  deshalb  an  den  Abbe  Stork,  den  Leiter  der  Taub- 
stummenanstalt in  Wien,  um  sich  hier  über  die  Methode  des  Taub- 
stummenunterrichts zu  orientieren.  Nach  der  Heimat  zurückgekehrt, 
eröffnete  er  1784  eine  kleine  Anstalt  in  Karlsruhe,  die  sich  leider 
nicht  recht  entwickeln  wollte,  und  deren  Existenz  wiederholt  in 
Frage  gestellt  wurde.  Im  Jahre  1820  erfolgte  eine  Neuorganisation 
des  Taubstummenunterrichts.  Der  Plan,  die  Anstalt  nach  Bruchsal 
zu  verlegen,  scheiterte.  Endlich  fand  sie  1826  ein  Asyl  in  Pforzheim, 
von  wo  sie  1865  nach  Meersburg  verlegt  wurde. 

Im  Jahre  1794  wurde  dem  Abbe  Barthelemy,  einem  französi- 
schen Emigranten,  vom  Kurfürsten  Karl  Theodor  von  Bayern  die 
Erlaubnis  erteilt,  in  München  Taubstummenunterricht  zu  erteilen. 
Da  er  jedoch  der  deutschen  Sprache  nicht  mächtig  war,  gab  er  seine 
Versuche  bald  wieder  auf.  Um  nun  eine  geeignete  Persönlichkeit 
für  den  Taubstummenunterricht  zu  gewinnen,  schickte  die  bayrische 
Regierung    den    Lehrer    an    der    Normalschule    in    Freising,    Priester 


350  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

Bernhard  Ernsdorfer,  1797  nach  Wien,  damit  er  sich  an  dem 
dortigen  k.  k.  Taubstummeninstitnt  für  das  Taubstummenlehrfach 
theoretisch  und  praktisch  vorbereitete.  Nach  seiner  Rückkehr  über- 
trug man  ihm  die  Leitung  einer  kleinen  Taubstummenschule  in 
Freising.  Neben  Hebung  dieser  Schule  ging  Ernsdorfers  Streben 
hauptsächlich  dahin,  eine  geschlossene  Taubstummenanstalt  ins  Leben 
zu  rufen,  und  seine  wiederholten  Bittgesuche  waren  nicht  ohne  Erfolg; 
denn  durch  x^Uerhöchstes  Reskript  vom  10.  Februar  1804  genehmigte 
der  Kurfürst  Max  Joseph  die  Einrichtung  eines  Taubstummen- 
instituts und  die  Übernahme  der  erforderHchen  Kosten  auf  die 
Provinzialkasse.  Am  24.  August  1804  wurde  es  in  Freising  eröffnet 
und  der  Leitung  Ernsdorfers  anvertraut.  Die  Landesdirektion  von 
Bayern  bearbeitete  nunmehr  unter  dem  12.  September  1804  eine 
„vollständige  Übersicht  der  Grundsätze  der  Verpflegung,  des  Unter- 
richts und  der  Erziehung  der  Taubstummen."  Dieser  Entwurf  fand 
die  Zustimmung  der  Kurfürsten,  und  es  wurde  angeordnet,  daß  ,,auf 
höchsten  Befehl  von  dem  kurfürstlichen  Schulen-  und  Studien- 
Direktorium  aus  dem  kurfürstlichen  SchuUehrer-Seminarium  ein  taug- 
liches Subjekt  ausgewählt  und  als  Lehrgehilfe  bei  der  Anstalt 
angestellt  werde."  Der  sehr  sorgfältig  bearbeitete  Plan  z=igt  von 
tiefem  Verständnis  der  Aufgaben  der  neuen  Anstalt.  ,,Der  Zweck, 
der  diesem  Institute  aufgegeben  ist,  besteht  darin,  daß  Taubstumme, 
denen  es  an  den  erforderlichen  körperlichen  und  geistigen  Eigen- 
schaften nicht  fehlt,  durch  Erlernung  der  Sprache  und  der  nötigsten 
Kenntnisse,  dann  auch  dadurch,  daß  für  Erlernung  eines  Handwerkes 
gesorgt  wird,  zu  verständigen,  guten  und  brauchbaren  Menschen  ge- 
bildet werden,  welche  nicht  mehr  anderen  mit  ihrem  Unterhalte  zur 
Last  fallen,  sondern  fähig  Averden  sollen,  sich  denselben  selbst  zu 
erwerben." 

Im  Jahre  1817  sollte  der  schon  früher  angeregte  Plan,  die 
Freisinger  Anstalt  nach  München  zu  verlegen,  zur  Ausführung  kommen, 
und  es  wurden  zu  diesem  Zwecke  die  Räume  des  vormaligen  Stadt- 
waisenhauses zur  Verfügung  gestellt;  doch  kam  es  nicht  zur  Über- 
siedelung, weil  diese  Räume  zur  Erweiterung  des  Erziehungs-Institutes 
für  Studierende  notwendig  wurden,  und  so  verzögerte  sich  die  Ver- 
legung der  Anstalt  von  Freising  nach  München  bis  zum    Jahre  1826. 

Auch  Württemberg  blieb  in  der  Fürsorge  um  die  Taub- 
stummen nicht  zurück.  In  Gmünd  hatte  der  katholische  Dekan  und 
Stadtpfarrer  Thomas  Kratzer  bereits  1807  den  Unterricht  dreier 
taubstummer  Kinder  begonnen.     Durch  die  erzielten  Erfolg-e  ermuntert, 


Das  Tautjstuniinciihiklung.swesen   im   Deutsclien  Reich.  35 1 

beschäftigte  er  sich  mit  der  Begründung  einer  Taubstummcnanstah. 
Ein  an  den  König  Friedrich  gerichtetes  Gesuch  um  die  Errichtung 
einer  solchen  fand  auch  die  Allerhöchste  Genehmigung.  Die  Dienst- 
geschäfte Kratzers  gestatteten  ihm  jedoch  nicht,  den  gesamten  Unter- 
richt seiner  Zöglinge  zu  übernehmen ;  er  sah  sich  deshalb  nach  einer 
geeigneten  Hilfe  um  und  glaubte  in  dem  Lehrer  Alle  den  rechten 
INIann  für  seine  Zöglinge  gefunden  zu  haben.  Dieser  wurde  zu  seiner 
Ausbildung  zu  Ernsdorfer  in  Freising  geschickt  und  übernahm  nach 
seiner  Rückkehr  den  Unterricht  in  der  kleinen  Taubstummenanstalt 
zu  Gmünd,  die  mit  dem  Jahre  1817  in  die  Reihe  der  Staatsanstalten 
eintrat. 

In  den  ersten  süddeutschen  Anstalten  wurde  zwar  die  Laut- 
sprache gelehrt;  die  Gebärdensprache  trat  jedoch  in  ungebührHcher 
Weise  hervor,  da  die  Lehrer  fast  ausnahmslos  ihre  Vorbildung  in 
der  Taubstummenanstalt  zu  Wien,  in  der  die  französische  Methode 
vorherrschte,  erhalten  hatten. 

Auch  im  Norden  der  deutschen  Lande  sind  Spuren  des  Taub- 
stummenunterrichts zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts  bemerkbar,  die  zur 
Gründung  von  Taubstummenanstalten  führten.  Besondere  Verdienste 
in  dieser  Richtung  gebühren  Georg  Wilhelm  Pfingsten.  Derselbe 
war  schon  in  seiner  Jugend  mit  Taubstummen  zusammen  gekommen, 
und  das  wurde  für  ihn  die  Veranlassung,  im  Jahre  1 788  in  Lübeck 
ein  kleines  Taubstummeninstitut  zu  eröffnen.  Als  er  später  die 
Organistenstelle  zu  Hamberge  im  Hochstift  Lübeck  erhielt,  führte  er 
den  Unterricht  fort.  Die  kleine  Schule,  die  zeitweiHg  9  ZögUnge 
faßte,  bestand  hier  bis  1 798,  in  welchem  Jahre  Pfingsten  eine  dauernde 
Unterstützung  aus  der  Königlichen  Kasse  zu  Kopenhagen  unter  der 
Bedingung  gewährt  w^urde,  die  Anstalt  nach  Kiel  zu  verlegen. 

So  bestanden  am  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  in  den  ver- 
schiedensten Teilen  Deutschlands  Taubstummenanstalten,  die  aller- 
dings, fast  ausschließlich  aus  privaten  Mitteln  unterhalten,  ein  kümmer- 
liches Dasein  fristeten,  und  wenn  die  Staatsregierungen  auch  in 
größerem  oder  geringerem  Umfange  für  die  Förderung  des  Taub- 
stummenunterrichts eintraten  —  es  wairden  außer  den  genannten 
Taubstummenanstalten  in  Königsberg  i.  Pr.  (1817),  Kentrop  bei 
Münster  (1817),  später  wieder  aufgehoben,  Camberg  (1817),  Wildes- 
hausen (1820),  Breslau  (1821),  Worms  (1821),  später  in  Friedberg  i.  H., 
Bayreuth  (1821),  Erfurt  (1822),  Winnenden  (1823),  Halberstadt  (1825), 
Frankenthal  (1825),  Eßlingen  (1825),  jetzt  in  Bönnigheim,  Anstalten 
cfeeründet  — .  so  konnte  doch  nur  eine  Minderzahl  der  Taubstummen 


352  Taubstummen-  und  Blindenunterriclit. 

einen  Gei^-t  und  Herz  bildenden  Unterricht  erhalten.  Die  Einrichtung 
neuer  und  die  Erweiterung  der  bestehenden  Anstalten,  wofür  die 
Taubstummenlehrer  mit  rührender  Ausdauer  eintraten,  verursachte 
jedoch  verhältnismäßig  hohe  Kosten  und  fand  daher  nicht  die  rechte 
Berücksichtigung.  Wie  sollte  nun  den  Taubstummen  auf  die  ein- 
fachste und  billigste  Weise  geholfen  werden? 

Es  war  natürlich,  daß  sich  das  Augenmerk  der  Menschenfreunde 
auf  die  Bildner  des  Volkes,  die  GeistHchen  und  Lehrer,  richtete,  daß 
man  besonders  von  der  Volksschule,  die,  angeregt  durch  die  Pesta- 
lozzischen  Bestrebungen,  in  frischer  Entwickelung  begriffen  war  und 
Grundsätzen  huldigte,  welche  dem  Taubstummenunterricht  förderlich 
sein  mußten,  die  rechte  Hilfe  erwartete.  Die  ersten  Anregungen, 
den  Taubstummenunterricht  in  die  Volksschule  zu  verpflanzen,  gingen 
von  dem  bayrischen  Schulrat  Stephani  aus  (1815).  Mit  besonderer 
Wärme  und  Gründlichkeit  trat  Dr.  Graser,  Regierungs-  und  Kreis- 
schulrat in  Bayreuth,  für  diesen  Gedanken  ein.  Schon  in  einem  im 
,,Hesperus"  (1824)  enthaltenen  Aufsatze  forderte  er:  „Dahin  muß  es 
kommen,  daß  jeder  Schullehrer  auch  Taubstumme  zu  unterrichten 
vermag  und  folglich  jede  Schule  eine  Taubstummenschule  sein  könne." 
In  seiner  Schrift:  ,,Der  durch  Gesicht-  und  Tonsprache  der  Mensch- 
heit wiedergegebene  Taubstumme"  (Bayreuth  1829),  suchte  er  die  Aus- 
führbarkeit seiner  Ideen  darzulegen. 

So  phantastisch  seine  Ansichten  teilweise  auch  waren,  und  so 
wenig  sie  auf  Erfahrung  beruhten,  so  bestechend  mußten  sie  für  den 
Laien  sein,  zumal  auch  Männer,  die  im  Taubstummenunterricht 
standen,  mit  Wärme  für  den  Gedanken  eintraten,  die  Bildung  der 
Taubstummen  den  Volksschullehrern  zu  überweisen.  Graser  drang 
mit  Nachdruck  darauf,  daß  seine  Ideen  praktische  Verwertung  fänden, 
und  so  entstanden  allein  in  Oberfranken  gegen  1 00  kleine  mit  Volks- 
schulen  vereinigte  Taubstummenschulen. 

Die  preußische  Regierung  ging  mit  besonderem  Eifer  auf  die 
Graserschen  Vorschläge  ein,  und  es  erschien  unter  dem  14.  Mai  1828 
ein  Erlaß  des  Ministers  von  Altenstein,  in  dem  u.  a.  folgendes  aus- 
geführt wurde:  „Es  ist  nun  die  Aufgabe,  die  Fähigkeit  und  Fertigkeit, 
Taubstumme  zu  unterrichten,  baldmöglichst  allgemein  zu  verbreiten 
und  den  Taubstummen  in  größerer  Zahl,  womöglich  auch  auf 
einfachere  Weise  als  bisher,  ohne  außerordentliche  Maßnahmungen, 
als  weite  Reisen,  Aufwand  großer  Pensionen  usw.  zu  helfen.  Für  die 
Lösung  dieser  Aufgabe  ist  es  besonders  wünschenswert,  daß  bald- 
möglichst   in  jedem  Schulinspektionskreise   ein  Lehrer  vorhanden  sei. 


Das  ■raubstunim<nhil<lun!,r>\vuscn  im   I)i_nU>clun    Kv\ch.  353 

welcher  die  Taubstummen  seines  Wohnortes  und  der  nächsten  Um- 
ijebung  zu  unterrichten  imstande  sei.  Dieser  Zweck  wird  am  sichersten 
erreicht,  wenn  an  jedem  Schullehrerseminare  ein  Lehrer  angestellt 
wird,  der  die  Unterweisung  und  Behandlung  der  Taubstummen  in 
einem  der  \orhandencn  Institute  gründlich  erlernt  hat,  eine  Anzahl 
derselben  in  der  mit  dem  Seminare  \erbundenen  Übungsschule  fort- 
dauernd unterrichtet  und  dabei  zugleich  die  für  die  Sache  empfäng- 
lichen fähigeren  und  verständigeren  Seminaristen  mit  der  Methode  des 
Taubstummenunterrichts    theoretisch  und   praktisch    bekannt    macht." 

Es  wurden  alsbald  geeignete  Lehrer  an  die  Königliche  Taub- 
stummenanstalt in  Berlin  berufen,  die  hier  ihre  Ausbildung  als  Taub- 
stummenlehrer erhielten,  um  später  an  den  Schullehrerseminaren  die 
Seminaristen  in  die  Methode  des  Taubstummenunterrichts  einzuführen. 
Die  Staatsregierung  suchte  die  Provinzialstände  zu  bestimmen,  die 
geeigneten  ^Mittel  zur  Errichtung  \on  Lehranstalten  für  Taubstumme, 
die  an  die  Seminare  anzugliedern  wären,  zu  bewilligen.  In  bereit- 
williger Weise  kamen  die  Stände  diesen  Intentionen  nach  und  be- 
gründeten bei  verschiedenen  Lehrerbildungsanstalten  —  da  der 
ursprüngliche  Plan  nicht  durchführbar  war  —  kleine  Taubstummen- 
schulen, die  sich  in  erfreulichster  Weise  entwickelten.  Diese  Schulen, 
ausschlielMich  Externate,  boten  den  \\)rteil,  dalA  ihre  Unterhaltung  ver- 
hältnismäßig wenig  Kosten  verursachte,  und  daiA  sich  ihre  Erweiterung 
leicht  bewerkstelligen  ließ.  So  entstanden  verschiedene  Taubstummen- 
anstalten in  den  preußischen  Provinzen  Sachsen,  Westfalen,  Posen, 
Preul.'^en  und  Pommern;  die  Rheinprovinz  folgte  später  nach.  Schlesien 
besal.^  bereits  eine  grolle  Anstalt  pri\-aten  Charakters.  Nur  in  der 
Provinz  Brandenburg  hat  man  bis  zum  Jahre  1880  die  t^inrichtung 
erhalten,  die  Ausbildung  der  Taubstummen  den  Volksschullehrern  zu 
überweisen.  Auch  verschiedene  aul?.erpreußische  Regierungen  folgten 
dem  gegebenen  Beispiele.  So  hat  ein  Gedanke,  an  sich  unpraktisch 
und  unfruchtbar,  für  die  Sache  der  Taubstummen  reichen  Segen  ge- 
schaffen. 

Noch  ein  zweiter  L^mstand  ist  es  gewesen,  der  in  Preußen  einen 
aul.^erordentlichen  Aufschw  ung  des  Taubstummen  -  Bildungswesens 
herbeigeführt  hat.  Im  Jahre  I87.S  wurden  durch  Gesetz  (vom 
'AO.  April  JoT.'^i,  betreftend  die  Dotation  der  Prox'inzial-  usw.  V^erbände, 
den  einzelnen  Pro\inzen  reiche  Mittel  zugewiesen,  als  deren  Ver- 
wendungszweck in  den  Ausführungsbestimmungen  (Gesetz  vom 
8.  Juli  187v^,  j^,  ö  und  (m  u.  a.  auch  die  ,, Fürsorge  bezw.  Gewährung 
von  Beihilfen    für    das  Irren-,    Taubstummen-   und  Blindenwesen"  be- 

Das  Unterrichtswesen   im   Deutschen   Reich.     III.  23 


354  Taubstummen-   und  Blindenuntemcht. 

zeichnet  ist.  Nach  dem  Inkrafttreten  der  Provinzialordnung  vom 
29.  Juni  1875  übernahmen  die  nunmehr  neu  geschaffenen  Provinzial- 
organe  die  Verwaltung  der  Taubstummenanstalten  selbst,  soweit  das 
nicht  schon  geschehen  war,  wie  in  dem  ehemaligen  Kurhessen,  in 
Nassau  und  Hannover.  Die  vorhandenen  Anstalten  wurden  zweck- 
mäßig umgestaltet  und  nach  Bedürfnis  erweitert;  es  erstanden  auch 
neue  Anstalten,  und  so  machte  sich  auf  dem  Gebiete  der  Taub- 
stummenbildung allerorten  ein  neues  Leben  und  Streben  bemerkbar. 
Es  geschah  das  nicht  bloß  in  Preußen,  sondern  auch  in  dem  übrigen 
Deutschland,  wo  man  mit  gleichem  Eifer  und  Erfolge  an  der  Aus- 
gestaltung der  Taubstummensache  arbeitete. 

2.     Der     gegenwärtige     Zustand     der    Taubstummenbildung 
bezüglich  der  äußeren  Organisation. 

In  Deutschland    bestehen    zur  Zeit    (1903)    in    folgenden    Orten 
Taubstummenanstalten.*) 


Gründungs- 
Anstaltsort  .  Schülerzahl        Lehrkräfte 

jähr 


a)  im  Königreich  Preußen: 

Provinz  Ostpreußen: 

1.  Angerburg 1833  133  15 

2.  Königsberg 1817  148  20 

3.  Rössel 1844  68  12 

Provinz  ^Vestpreußen : 

4.  Danzig 1874  38  4 

5.  Marienburg 1833  110  12 

6.  Schlochau 1873  112  12 

Provinz  Pommern: 

7.  Köslin 1860  82  8 

8.  Stettin 1839  81  9 

9.  Stralsund 1837  31  3 

Provinz  Brandenburg: 

10.  Berlin  (Königl.) 1788  77  11 

11.  Berhn  (Stadt.) 1875  196  17 

12.  Guben 1891  97  12 

13.  Xeu-Weißensee 1873  36  4 

14.  Wriezen 1879  129  15 


*)  Nach  Radomskis  „Statistischen   Nachrichten"  über   die   Taubstummenanstalten 
Deutschlands  und  deren  Lehrkräfte  für  das  Jahr   1904. 


Das  Taubstuinmenhililun^rswcscii   im    Dfut.schen   Reicli. 


1871 

80 

9 

1832 

179 

20 

1872 

101 

13 

1821 

224 

25 

1 83 1 

93 

9 

1836 

280 

27 

1822 

85 

8 

1825 

82 

9 

1833 

75 

8 

18ö4 

+  1 

4 

1829 

65 

7 

Griiiulunsrs- 
Anstaltsort  "  SchültTzahl        I.elu-kmfte 

Jahr 


Provinz  Posen : 

15.  Bromberg 

16.  Posen 

17.  Schneidemühl 

T'roviiiz   Schlesien: 

18.  Breslau 

19.  Liegnitz 

20.  Ratibor 

Provinz  .Sachsen : 

2 1 .  Krfurt 

22.  Halberstadt 

23.  Halle  a.  S 

24.  Osterburg 

25.  Weißenfels 

Provinz  Schleswig-Holstein : 

26.  Schleswig 1787  130 

Provinz   Hannover: 

27.  p:mden 

28.  Hildesheim 

29.  Osnabrück  

30.  Stade 

Provinz  Westfalen : 

31.  Büren 

32.  Langenhorst 

33.  Petershagen 

34.  Soest 

Provinz  Hessen-Xassau: 

35.  Camberg 

36.  Frankfurt  a.  M 

37.  Homberg 

Rheinprovinz: 

38.  Aachen 

39.  Brühl 

40.  Elberfeld 

41.  A.  Essen 

B.  Hutropl) 

42.  Kem]ien 

43.  Köln 

44.  A.  Neuwied 

B.  Neuwied -j 

45.  Trier 


1844 

31 

5 

1829 

92 

10 

1857 

66 

9 

1857 

72 

8 

1830 

82 

10 

1841 

75 

10 

1851 

86 

10 

1831 

91 

10 

1817 

95 

10 

1827 

40 

o 

1838 

118 

15 

1838 

53 

7 

1854 

65 

7 

1880 

54 

6 

1880 

73 

7 

1896 

50 

5 

1841 

40 

4 

1831 

78 

9 

1854 

66 

8 

1896 

17 

<> 

1879 

70 

7 

1)  Für  sprachbefähigte  katholische  Taubstumme. 
-)      „  „  evangelische  „ 


356  Taubstummen-  uiul  Blindenunterricht. 


Griindungs- 
A  n  s  t  a  1 1  s  o  r  t  Schülerzahl        Lehrkräfte 

jähr 


b)  im  Königreich  Bayern: 

46.  Altdorf 

47.  Augsburg 

48.  Bamberg 

49.  Bayreuth 

50.  Dillingen 

51.  Frankenthal 

52.  Hohenwart , 

53.  München 

54.  Nürnberg 

55.  Regensburg     

56.  Straubing 

57.  ^^'ürzburg 

58.  Zell 

c)  im   Königreich  Württemberg: 

59.  Bönnigheim 

60.  Gmünd  (Königl.) 

61.  Gmünd  (Filiale) 

62.  Heiligenbronn 

63.  Nagold 

64.  Nürtingen 

65.  Wilhelmsdorf 

66.  Winnenden 

dl   im   Königreich  Sachsen: 

67.  Dresden 

68.  Plauen   (\'()rschulel 

69.  Lei])zig 

el   im   Großherzogtum    Baden: 

70.  Clerlachsheim 

71.  Dinglingen 

72.  Heidelberg-Neuenheim 

73.  Meersburg 

f )  im  (IrolAh  erzog  tum  Mecklenburg- 
Schwerin: 

74.  Lu(hvig>lust 1840  54  8 

g)  im   Großherzogtum  Hessen: 

75.  Bensheim 1840  68  7 

76.  Friedberg 1837  51  7 

h)  im  Großherzogtum  <.)ldenburg: 

77.  Wildeshaasen 1820  45  4 


1831 

17 

1 

1834 

53 

4 

1855 

38 

4 

1843 

27 

2 

1847 

57 

7 

1825 

77 

8 

1878 

54 

7 

1804 

98 

10 

1832 

45 

4 

1845 

67 

5 

1835 

65 

6 

1834 

98 

9 

1872 

28 

2 

1825 

53 

6 

1823 

53 

6 

1869 

63 

8 

1854 

74 

9 

1887 

20 

3 

1846 

37 

4 

1837 

129 

14 

1823 

29 

3 

1828 

188 

21 

1872 

27 

4 

1778 

169 

18 

1874 

102 

12 

1886 

13 

2 

1902 

8 

1 

1783 

95 

12 

Das  ■ruul)stuinnu'nl)il(luni^s\vesen   im    Deutschen   Reicli.  ,'^57 


( iriin(lunü;s- 
A  n  s  t  a  1 1  s  o  r  t  .         "^       i    Schülerzalil        Lelirkiaf te 

jähr 


ij   im  Großherzogtum  Weimar:  | 

78.  Weimar 1858  30  4 

kl  im  Großlierzogtum  IJraunscli  weig: 

79.  I5ramisch\veig 1828  60  6 

1)   im   Großherzogtum  Sachsen- 
Meiningen -Hildburghausen: 

80.  Hildburghausen 18+3  27  3 

m)    im    Herzogtum  Sachsen-Coburg- 
(lotha: 

81.  Coburg 1835  10  1 

n)   im  Fürstentum  Lip]ie: 

82.  Detmold 1841  18  1 

o)    im  Fürstentum   Reuß  j.   L. 

83.  Schleiz 1847  27  3 

p)    in  den  freien  Städten: 

84.  Hamburg 1827  90  10 

85.  Bremen 1827  30  4 

86.  Lübeck 1827  14  2 

q)    in    Elsaß-Lothringen: 

87.  Isenheim 1886  56  10 

88.  Metz 1875  50  7 

89.  Straßburg-Neudorf  (ev.j 1885  45  6 

90.  Straßburg-Neudorf  (kath.) 1901  50  8 

Von  diesen  Anstalten  werden  2v^  vom  Staate,  42  von  den 
Pi-ovinzen  bezw.  Kreisen,  4  von  Städten  und  19  von  Pi'ivatvereinen, 
die  in  der  Regel  Beihilfen  aus  öffentlichen  Mitteln  genießen,  unter- 
halten. 38  Anstalten  sind  Internate,  44  Externate,  1 1  haben  interne 
und  externe  Zöglinge.  In  den  Anstalten  befinden  sich  insgesamt,  auf 
682  Klassen  verteilt,  6703  taubstumme  Zöglinge.  3674  Knaben  und 
3029  Mädchen,  von  denen  4056  evangelisch,  2553  katholisch  und 
94  mosaisch  .sind;  im  Durchschnitt  werden  also  in  einer  Klasse 
10  Schüler  beschäftigt.  Die  Zahl  der  Lehrkräfte  beträgt  755,  nämlich 
651  Lehrer  und  104  Lehrerinnen;  davon  sind  475  evangelisch, 
275  katholisch  und  5  mosaisch. 

Die  Zahl  und  iVusdehnung  der  Anstalten  gestatten  die  Aufnahme 
sämtlicher    im    schulpflichtigen  Alter  stehenden  taubstummen  Kinder. 


358  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

In  den  .Vnstalten  wird  unbemittelten  Zöglingen  freier  Unterricht  und 
Unterhalt  gewährt;  für  andere  haben  die  Angehörigen  nach  Maßgabe 
ihres  Vermögens  einen  Unterhaltungszuschul^  zu  zahlen.  Es  ist  also 
in  Deutschland  die  Möglichkeit  vorhanden,  daß  allen  taubstummen 
Kindern  eine  geeignete  Erziehung  zuteil  A\ird.  W^enn  noch  eine 
Minderzahl  derselben  ohne  Unterricht  aufwächst,  so  liegt  das  daran, 
daß  in  verschiedenen  deutschen  Ländern,  besonders  in  den  größeren, 
Schulzwang  für  Taubstumme  noch  nicht  besteht,  es  also  den  An- 
gehörigen Taubstummer  frei  gestellt  ist,  diese  einer  Taubstummen- 
anstalt zu  überweisen  oder  nicht.  In  Preußen  können  allerdings  taub- 
stumme Kinder,  wenn  das  geistige  oder  leibliche  Wohl  dadurch  ge- 
fährdet wird,  daß  der  Vater  das  Recht  der  Sorge  für  die  Person  des 
Kindes  mißbraucht,  das  Kind  vernachlässigt  oder  sich  eines  ehrlosen 
oder  unsittlichen  Verhaltens  schuldig  macht  und  die  Fürsorgeerziehung 
erforderlich  ist,  um  die  Verwahrlosung  der  Minderjährigen  zu  \-er- 
hüten,  auf  Grund  des  Fürsorgeerziehungs-Gesetzes  vom  2.  Juli  1900 
zwangsweise  in   eine  Taubstummenanstalt  übergeführt  werden. 

Schulpflicht  für  Taubstumme  besteht  in  folgenden  deutschen 
Ländern  bezw.  Landesteilen:  Provinz  Schleswig-Holstein  (Patent  vom 
8.  November  I805i,  Großherzogtum  Sachsen-Weimar  (Gesetz  vom 
28.  Mai  1874),  Großherzogtum  Oldenburg  (Gesetz  vom  1  S.Januar  1876)> 
Herzogtum  Sachsen-Coburg  Gotha  (Gesetz  vom  18.  Mai  1877), 
Herzogtum  Anhalt  (Gesetz  vom  1.  April  1884),  Herzogtum  Sachsen- 
Meiningen-Hildburghausen  (Gesetz  vom  18.  Februar  1887),  Lübeck 
(Gesetz  vom  1 9.  März  1 888),  Bremen  (Gesetz  vom  1 .  Juli  1 898)  und 
Großherzogtum  Baden  (Gesetz  vom  11.  August  1902). 

In  unterrichtlicher  Beziehung  unterstehen  die  preußischen  An- 
stalten den  Königlichen  Provinzial-Schul-Kollegien  und  in  höchster 
Instanz  dem  Unterrichts-Ministerium.  Die  Aufsicht  über  die  äußere 
Verwaltung  der  Provinzial-Anstalten  führen  die  Landeshauptleute  der 
einzelnen  Provinzen,  über  die  der  städtischen  Anstalten  die  be- 
treffenden Schuldeputationen.  Die  Privatanstalten  werden  in  der 
Regel  von  Vereinen  geleitet.  Ähnlich  liegen  die  Ressortverhältnisse 
in  den  nichtpreul.MSchen  Taubstummenanstalten. 

Die  Aufnahme  der  Kinder  in  eine  Anstalt  erfolgt  in  der  Regel 
nach  vollendetem  siebenten  Lebensjahr.  So  lange  nicht  allgemeine 
Schulpflicht,  die  das  Aufnahmealter  feststellt,  besteht,  müssen  auch 
ältere  Kinder  angenommen  werden.  Der  Unterrichtskursus  beträgt 
in  1  I  Anstalten  (>  Jahre,  in  5  Anstalten  ()— 7  Jahre,  in  4  Anstalten 
(j,_j]  Jahre,    in    14  Anstalten    7  Jahre,    in  2  Anstalten   7—8  Jahre,  in 


Das  Taubstummenbildungswescn  im   Deutschen  Reich.  359 

54  Anstalten  8  Jahre.  Die  Verwaltungsbehörden  sind  bestrebt,  die 
Schulzeit  auf  die  erforderliche  Ausdehnuntj,  auf  8  Jahre,  zu  bemessen, 
und  so  läßt  sich  erwarten,  dal.^  sehr  bald  das  erreicht  wird,  was  die 
Taubstummenlehrer  schon  lange  erstreben. 

Ein  sehr  wesentlicher  Fortschritt  auf  dem  Gebiete  des  Taub- 
stummen-Bildungswesens ist  durch  die  Sonderung  der  taub- 
stummen Schüler  nach  der  Befähigung  eingeleitet:  es  können 
dadurch  die  besseren  Zöglinge  schneller  und  weiter  gefördert  werden 
als  bisher,  und  zugleich  ist  es  möglich,  bei  den  schwächeren  den 
Unterrichtsstoff  zu  beschränken,  langsam  und  sicher  fortzuschreiten 
und  bei  Vereinfachung  des  Lehrverfahrens  wenn  auch  bescheidene, 
so  doch  zuverlässige  Erfolge  zu  erzielen.  Die  Sonderung  der  taub- 
stummen Zöglinge  nach  der  Begabung  ist  bereits  in  Schleswig,  Leipzig, 
Breslau,  Ratibor,  Hamburg,  BerUn,  in  Württemberg,  in  den 
hannoverschen  Anstalten  u.  a.  a.  O.  durchgeführt.  Zugleich  hat  sich 
das  Bestreben  geltend  gemacht,  auch  die  Kinder,  die  so  hoch- 
gradig schwerhörend  sind,  daß  sie  auf  dem  gewöhnlichen  Wege 
die  Sprache  nicht  erlernen  können  und  daher  in  Taubstummenanstalten 
unterrichtet  werden  müssen,  ebenfalls  auszusondern  und  in  be- 
sonderen Klassen,  womöglich  in  besonderen  Anstalten  zu  beschäftigen. 
Anfänge  in  dieser  Richtung  sind  bereits  in  München,  Hamburg,  Würz- 
burg, Weißenfels  usw.  gemacht  worden.  In  der  neubegründeten 
Taubstummenanstalt  zu  Neuenheim  bei  Heidelberg  befinden  sich  aus- 
schließlich Kinder  mit  Hörspuren.  Die  Lehrtätigkeit  an  solchen 
Kindern  ist  bis  jetzt  zu  wenig  geklärt  und  in  ihren  Erfolgen  noch 
nicht  genügend  gesichert,  als  dal?»  sich  darüber  ein  abschließendes 
Urteil  fällen  ließe. 

Es  sind  in  Deutschland  auch  schon  Anfänge  in  der  Errichtung 
von  Vorschulen  für  taubstumme  Kinder  gemacht  worden.  Die 
älteste  Vorschule  befindet  sich  in  Plauen  bei  Dresden.  Eine  solche 
Schule  ist  auch  in  Berlin  und  Guben.  Die  Vorschulen  sind  organisch 
mit  Taubstummenanstalten  verbunden. 

In  Berlin  besteht  seit  1894  ein  Kindergarten  für  taub- 
stumme Kinder,  der  aus  privaten  Mitteln  erhalten  wird. 

Während  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  die  meisten  Taub- 
stummenanstalten in  ungeeigneten  Gebäuden  oder  in  Mietsräumen 
untergebracht  und  kaum  mit  dem  notwendigsten  ausgestattet  waren 
und  ein  kümmerliches  Dasein  fristeten,  hat  man  fast  allerorten  statt- 
liche Gebäude  die  zum  Teil  nicht  mit  Unrecht  als  Paläste  be- 
zeichnet   werden    können,    für  sie  errichtet.     Die  Klassenzimmer  sind 


360  Taubstummen-  und   lilindenunteiricht. 

hell  und  i^eräumii^,  die  Ausstattung  derselben  mit  Subsellien,  Lehr- 
mitteln usw.  ist  reich  und  zweckentsprechend.  Selten  fehlen  ein 
Zeichensaal,  eine  Turnhalle  und  eine  Aula.  In  den  Internaten  findet 
man  gesunde  Wohn-  und  luftige  Schlafräume,  Bade-  und  Kranken- 
zimmer, Speise-  und  Waschsaal;  auch  Werkstätten  für  den  Hand- 
fertigkeitsunterricht sind  nicht  selten.  Da,  wo  noch  ungeeignete 
Räumlichkeiten  bestehen,  wird  voraussichtlich  in  nicht  allzu  ferner 
Zeit  Neues,  Zweckmäßigeres  geschaffen  werden. 

Alle  die  prächtigen  äußeren  Einrichtungen,  so  sehr  ihr  Wert 
auch  anerkannt  werden  muß,  machen  noch  nicht  eine  gute  Anstalt 
aus;  das  \\ichtigste  in  einer  solchen  sind  die  Lehrkräfte.  Während 
man  in  früheren  Zeiten  bei  der  Bestallung  von  Lehrern  wie  für  die 
Volks-  so  auch  für  die  Taubstummenschule  nicht  sehr  wählerisch  war 
und  wählerisch  sein  konnte,  legte  man  mit  der  Vermehrung  der 
Schullehrerseminare  und  deren  zweckmäßiger  Ausgestaltung,  mit  der 
Vertiefung  der  Unterrichtsmethode  und  mit  den  höheren  Anforde- 
rungen an  die  Schulleistungen  zugleich  höheren  Wert  auf  die  Lehrer- 
vorbildung. Wenn  das  auch  den  Taubstummenanstalten  zugute  kam, 
so  muß  es  doch  als  ein  Übelstand  bezeichnet  \\erden,  daß  solche 
Männer  in  die  Anstalten  eintraten  und  hier  die  volle  Lehrerarbeit 
übernehmen  mußten,  die  von  der  Eigenart  des  Taubstummenunter- 
richts keine  .Vhnung  hatten;  denn  dieser  Unterricht  bietet  in  seinen 
Ausgängen,  seiner  Vermittlung,  seinen  Fortgängen  und  Zielen  soviel 
Eigenartiges,  er  erfordert  eine  so  eingehende  Kenntnis  des  Wesens 
der  Taubstummen,  dali  nur  eine  längere  \'orbereitungszeit  für  die 
Lehrer  imstande  ist,  um  mit  dem  rechten  Erfolg  in  einer  Taub- 
stummenanstalt zu  arbeiten. 

Zu  dieser  Erkenntnis  sind  die  maßgebenden  Organe  sehr  bald 
gekommen  und  haben  daher  dahin  gestrebt,  Vorbereitungsstätten 
für  Taubstummenlehrer  zu  schaffen.  Prcul.^en  tat  in  dieser  Rich- 
tung den  er.sten  Schritt  und  überwies  schon  xom  Jahre  1812  ab  der 
KönigHchen  Taubstummenanstalt  in  Berlin  Lehrer  zur  Ausbildung  für 
den  Taubstummenunterricht;  gleichen  Zwecken  sollten  die  vom  Staate 
errichteten  Taub.stummenanstalten  zu  Königsberg  i.  Pr.  ilol7)  für  den 
Osten,  und  Kentrop  bei  Münster  (1817)  für  den  Westen  des  Landes 
dienen.  Die  Ausbildungsangelegenheit  gewann  im  Laufe  der  Zeit 
immer  festere  Gestalt,  und  wenn  auch  die  Möglichkeit  gegeben  war, 
in  den  Provinzialanstalten  Lehrer  für  den  Taubstummenunterricht  \or- 
zubereiten,  so  verbHeb  doch  der  KönigHchen  Anstalt  zu  Berlin  die 
Hauptarbeit    auf  diesem  Gebiete.     Vom    Jahre     1882    ab    werden    an 


Das  'raul>sluminenl)il<lunLrs\vesen   im    Deutschen   Reich.  [](y^ 

dieser  Anstalt  alljährlich  zwei  Jahre  umfassende  Ausbildungskurse  ab- 
gehalten, 7AI  denen  Volksschullehrer  und  Kandidaten  des  Predigt-  und 
höheren  Schulanits  zugelassen  werden.  In  der  Regel  wird  jedem 
Kursisten  eine  jährliche  Beihilfe  von  InOO  AI.  \xjm  Staate  gewährt. 
Die  unter  dem  'M .  Mai  I8<S!!  erlassenen  ministeriellen  Bestimmungen 
über  Annahme  und  Beschäftigung  der  Kursisten  enthalten  u.  a. 
folgendes: 

„Die  hei  der  Königlichen  Taubstummenanstalt  eintretenden  Kursisten  erhalten  eine 
theoretische  und  praktische  Ausbildung.  Die  theoretische  umfal.U  die  Erziehung  der  Taub- 
stummen im  allgemeinen,  die  Methodik  aller  Ünterrichtsgegenstände  der  Taubstummen- 
schule, .sowie  Geschichte  und  Literatur  der  Taubstummenbildung;  die  praktische  soll  die 
Kursisten  befähigen,  eine  Klasse  einer  Taubstunimenschule  selbständig  mit  Erfolg  zu 
führen. 

Die  Einführung  in  die  Theorie  des  Taubstummenunterrichts  erfolgt  durch  den  An- 
staltsdirektor unter  Beihilfe  eines  Lehrers  in  bestimmten,  planmäßig  festzustellenden 
Stunden.  Zugleich  ist  Vorsorge  getroffen,  daß  die  Kursisten  eine  gründliche  Kenntnis  der 
Anatomie  und  Physiologie  der  Sinnes-  und  Sjirachwerkzeuge  durch  einen  geeigneten  Lehrer 
erhalten. 

Die  ])raktische  Ausbildung  wird  durch  gast  weisen  Besuch  der  Lehrstunden,  durch 
l.ehrübungen  und  durch  selbständige  l'nterrichtstätigkeit  gefördert.  Die  Kursisten  sind 
veipflichtet,  die  ihnen  durch  den  Stundenjilan  überwiesenen  Unterrichtsstunden  nach  Maß- 
gabe des  Lehi-plans  und  der  etwaigen  besonderen  Anweisungen  des  Direktors  gewissen- 
haft zu  halten. 

Neben  der  Förderung  der  Fachbildung  haben  es  sich  die  Kursisten  angelegen  sein 
zu  lassen,  ihre  allgemeine  Bildung  zu  vertiefen  und  zu  erweitern  und  die  Bestrebungen 
auf  dem  (Gebiete  der  allgemeinen  Pädagogik  eingehend  zu  verfolgen. 

Zur  Förderung  der  schriftlichen  Darstellung  haben  die  Kursisten  nach  .Anweisung 
des  iJirektors  von  Zeit  zu  Zeit  Aufgaben  aus  dem  Gebiete  der  Taubstummenbildung  zu 
bearbeiten  oder  Referate  über  die  beim  Unterricht  oder  beim  Hospitieren  gesammelten 
Erfahrungen  anzufertigen. 

Am  Schlu.sse  des  .\usbildungskursus  haben  die  Kursisten  die  durch  die  Prüfungs- 
ordnung vom  27.  Juni   1878  vorgeschriebene  Taubstumnienlehrerprüfung    abzulegen." 

Diese  Einrichtung  hat  sich  bewährt. 

An  dem  Königlichen  Zentral-Taubstummeninstitut  zu  AUinchen 
findet  seit  1 890  (Erlaß  des  Staatsministeriums  des  Innern  für  Kirchen- 
und  Schulangelegenheiten  vom  0.  Juni  1 89Uj  ebenfalls  ein  Ausbildungs- 
kursus statt,  der  durch  Ministerial-Entschließung  vom  8.  Juli  1900 
festere  Ge.stalt  gewonnen  und  im  wesentlichen  dieselbe  Aufgabe  zu 
zu  erfüllen  hat,  wie  der  in  Berhn  eingerichtete.  Es  sei  aus  den  be- 
züglichen Bestimmungen  nur  folgendes  hervorgehoben : 

„Der  Kurs  hat  den  Zweck,  Lehrer  und  Lehrerinnen,  welche  die  für  das  \olks- 
schulfach  erforderliche  \'orbildung  nachweisen,  durch  theoretische  Unterweisung  in  den 
Grundsätzen  des  Taubstummen-Bildungswesens,  besonders  aber  auch  durch  praktische 
Schulung  in  der  bei  dem  'Paubstummenunterricht  anzuwendenden  eigentümlichen  Unter- 
richtsmethode auf  den  Taubstummenlehrerberuf  vorzubereiten.  Die  auf  den  Forschungen 
des  Königlichen  Universitätsprofe.ssors  Dr.  Bezold  beruhende  besondere  Behandlung  der 
mit  Hörresten  Begabten  soll  hierbei  gebührende  Berücksichtigung  erfahren. 


362  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

Die  Kursteilnehmer  werden  in  die  Unterrichtsmethode  aller  Lehrfächer  der  Taub- 
sturamenschule  eingeführt  werden,  sowie  Unterricht  in  der  Phonetik  und  in  der  Entwick- 
lung die  Sprachlaute  erhalten,  wobei  zu  methodischen  Zwecken  auch  die  englische  (oder 
französische)  Sprache  herangezogen  werden  soll.  Universitätsprofessor  Dr.  Bezold  und  ein 
Assistent  desselben  werden  mit  Demonstrationen  verbundene  Vorträge  zur  Einführung  in 
die  Untersuchung  des  Taubstummenohres,  dann  über  Anatomie  und  Physiologie  der  Sprech- 
werkzeuge, des  Auges  und  Ohres  halten  .   .  . 

Den  Abschluß  des  Kursus  soll  eine  Prüfung  bilden. 

Seitens  des  Königlichen  Staatsministeriums  des  Innern  für  Kirchen-  und  Schul- 
angelegenheiten wird  beabsichtigt,  die  Königlichen  Regierungen,  Kammern  des  Innern, 
anzuweisen,  künftighin  an  den  denselben  untei-stehenden  Taubstummenanstalten  und 
-Schulen  nur  mehr  solche  Lehrer  und  Lehrerinnen  anzustellen  oder  zur  Verwendung  ge- 
langen zu  lassen,  welche  nach  vorausgegangenem  Kursbesuche  dieser  Prüfung  mit  Erfolg 
sich  unterzogen  haben." 

Den  Kursteilnehmern  kann  im  Bedarfsfalle  eine  Beihilfe  aus 
Staatsmitteln  im  Monatsbetrag;  bis  zu   100  M.  bewilligt  werden. 

Durch  die  Ausbildungskurse  und  die  Forderung  einer  Prüfung 
ist  die  Vorbildung  der  Taubstummenlehrer  eine  sorgfältigere  und 
gründlichere  geworden,  als  das  früher  der  Fall  war.  In  den  Reihen 
der  deutschen  Taubstummenlehrer  macht  sich  jedoch  das  schätzens- 
werte Streben  geltend,  die  wissenschaftliche  Ausbildung  der  angehen- 
den Taubstummenlehrer  zu  steigern.  Das  ist  im  besondern  in  der 
VI.  Bundesversammlung  deutscher  Taubstummenlehrer  zum  Ausdruck 
gekommen,  die  u.  a.  folgende  Beschlüsse  einmütig  gefaßt  hat: 

,,Die  Höhe  der  erzieherischen  Aufgabe  und  die  Schwierigkeit 
des  unterrichtlichen  Problems  der  Taubstummenbildung  rechtfertigt 
die  Forderung  einer  gründlichen  wissenschaftlichen  Vorbildung  der 
Taubstummenlehrer  neben  ihrer  praktischen  Ausbildung. 

Als  Grundlage  der  Didaktik  und  speziellen  ^lethodik  des  Faches 
i.st  erforderlich  die  Kenntnis  der  allgemeinen  Pädagogik  in  wissen- 
schaftlicher Form,  die  Kenntnis  der  Psychologie,  vor  allem  auch  in 
ihren  Abzweigungen  der  Kinderpsychologie,  Psychopathologie  und 
Sprachpsychologie,  die  Kenntnis  \'om  Bau  und  von  der  Funktion  der 
Sprachwerkzeuge  und  Sprachsinne  und  der  darauf  gegründeten 
Phonetik.  Aus  allgemein  methodischen  Gründen  und  zur  Förderung 
des  unumgängHch  notwendigen  Studiums  der  Fachliteratur  und  der 
Geschichte  des  Taubstummen-Bildungswesens  ist  wünschenswert  die 
Kenntnis  fremder  Sprachen. 

Die  in  den  verschiedenen  deutschen  Ländern  bestehenden  Ein- 
richtungen zur  Ausbildung  von  Taubstummenlehrern  genügen  diesen 
Forderungen  nicht  in  vollkommener  Weise  und  sind  zeitgemäß  um- 
zugestalten. Vor  allem  ist  zu  erstreben,  die  Ausbildung  der  Taub- 
stummenlehrer mit  der  Universität  in  Verbindung  zu  setzen. 


Das  Taubslununenbikluiigswesen  im   Deutschen  Reicli.  363 

Als  Zentrale  der  .Vusbildung  und  als  Prüfungsstätte  empfiehlt 
sich  deshalb  die  Gründung  eines  Taubstummenlehrer-Seminars  — 
verbunden  mit  einer  Übungsschule  • —  in  einer  Universitätsstadt.  An 
dieser  Anstalt  hat  jeder  Taubstummenlehrer  mindestens  ein  Jahr  der 
auf  drei  Jahren  berechneten  Ausbildungs/.eit  zu  verbringen  und  dort 
die  Prüfung  abzulegen." 

Die  deutschen  Taubstummenlehrer  gehen  fast  ausnahmslos  aus 
dem  Volksschullehrerstande  hervor;  von  den  Lehrerinnen  verlangt 
man  die  Ablegung  der  Prüfung  für  Volksschulen  oder  für  mittlere 
und  höhere  Mädchenschulen.  Ohne  den  Nachweis  der  Lehrbefähi- 
gung wird  keine  Lehrperson  an  einer  Taubstummenanstalt  beschäftigt. 
Diejenigen,  die  eine  feste  Anstellung  an  einer  Anstalt  erlangen 
wollen,  haben  sich  einer  Fachprüfung,  die  fast  in  allen  deutschen 
Ländern  vorgeschrieben  ist,  zu  unterziehen.  Die  preußische  Prüfungs- 
ordnung vom  27.  Juni  1878  fordert  u.  a.  folgendes: 

„Es  wird  für  Abhaltung  der  Prüfung  in  jeder  Provinz  eine  besondere  Kommission 
gebildet.  Diese  besteht  aus  dem  Kommissarius  des  Provinzial-Schulkollegiums  als  \'or- 
sitzendem,  aus  dem  Direktor  der  Anstalt,  an  welcher  die  Prüfung  stattfindet,  und  aus 
zwei  ordentlichen  Lehrern  an  Taubstummenanstalten. 

Die  Prüfung  ist  eine  theoretische  —  schriftliche  und  mündliche  —  und  eine 
])raktische. 

Unmittelbar  nach  seiner  Meldung  erhält  der  Bewerber  von  dem  Provinzial-Schul- 
kollegium  ein  Thema  aus  dem  Gebiete  des  Taubstummen-Bildungswesens,  dessen  Bear- 
beitung er  binnen  längstens  sechs  Monate  mit  der  Versicherung  einzureichen  hat,  daß 
er  keine  andei'en,  als  die  von  ihm  angegebenen  Hilfsmittel  benutzt  habe. 

Die  mündliche  Prüfung,  welche  vor  der  gesamten  Kommission  abgelegt  wird,  ver- 
breitet sich  über  alle  Lehrgegenstände  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  der  Taub- 
stummen im  \ergleiche  mit  dem  Unterricht  der  ^"ollsinnigen,  über  die  eigentümliche 
Anschauungs-,  Denk-  und  Ausdrucksweise  der  Taubstummen,  über  Geschichte  und  Lite- 
ratur der  Taubslummenbildung,  über  die  Lehrmittel  mid  über  die  spezielle  ^lethode  des 
L  iiterrichts  in  der  Aussprache,  im  Absehen  und  in  der  Gesprächsführung. 

Die  praktische  Prüfung  besteht  in  Ablegung  zweier  Lehrproben  in  verschiedenen 
Gegenständen  und  Klassen. 

Auf  Grund  der  bestandenen  Prüfung  erhält   der  Bewerber  ein  Zeugnis." 

Die  badische  Prüfungsordnung  \-om  6.  Februar  1891  enthält 
ganz  ähnliche  Bestimmungen,  von  denen  wir  nur  folgende  hervor- 
heben wollen: 

„Der  Prüfung  haben  sich  diejenigen  zu  unterziehen,  welche  die  Befähigung  er- 
werben wollen,  als  \'orstand  oder  Lehrer  an  einer  Taubstummenanstalt  in  der  Eigenschaft 
eines  etatsmäßigen  Beamten  angestellt  zu  werden. 

Die  Prüfung  zerfällt  in  einen  schriftlichen,  einen  mündlichen  und  einen  prakti- 
schen Teil. 

Der  schriftliche  Teil  der  Prüfung  umfaßt  ^.  die  häusliche  Bearbeitung  eines  Themas 
aus  dem  Gebiete  des  Taubstummen-Bildungswesens  .  .  ;  2.  die  unter  Klausur  ohne  Be- 
nutzung von  Hilfsmitteln  in  der  Zeit  von  vier  Stunden  zu  bewerkstelligende  Abfassung 
eines  kürzeren  Aufsatzes  über  ein  Thema  aus  dem  gleichen  Gebiete. 


364  Taubstummen-  und   Hlindenuntemcht. 

Der  mündliche  Teil  der  Prüfung  erstreckt  sich  auf  folgende  Gebiete:  1.  (jeschichte 
und  Liieratm-  des  Taubstummen-Bildungswesens ;  2.  die  ganze  Schulausbilduug  der  Taub- 
stummen in  ihrer  Eigenart  einschließlich  der  Lelirmittel  und  der  Methode  des  Unter- 
richte; 3.  die  Hauptlehren  der  Physiologie  der  Sinnes-  und  Sjirechwerkzeuge,  sowie  der 
Ohrenheilkunde,  soweit  deren  Kenntnis  zur  erfolgreichen  Erteilung  von  Taubstummen- 
unterricht erforderlich  ist,  die  vorkommenden  Sprachgebrechen." 

Wie  aus  vorstehendem  hervorgeht,  berechtigt  die  Ablegung  der 
Taubstummenlehrerprüfung  in  Baden  zugleich  zur  Leitung  einer  Taub- 
stummenanstalt. In  Preußen  dagegen  wird  von  den  Taubstummen- 
anstalts-Vorstehern eine  besondere  Prüfung  gefordert,  zu  der 
nur  solche  Bewerber  zugelassen  werden,  die  die  Taubstummenlehrer- 
prüfung abgelegt  und,  nachdem  sie  diese  bestanden  haben,  fünf  Jahre 
als  Taubstummenlehrer  tätig  gewesen  sind.  Diese  Prüfung  findet  aus- 
schließlich in  I^erlin  statt.  Der  Bewerber  hat  unter  Klausur  binnen 
fünf  Stunden  einen  Aufsatz  über  ein  Thema  aus  dem  Gebiete  des 
Taubstummen-Bildungswesens  zu  fertigen.  Fa-  muß  in  der  mündlichen 
Prüfung  einen  prosaischen  oder  einen  leichten  poetischen  Abschnitt 
aus  der  französischen  und  je  nach  seiner  Wahl  der  englischen  oder 
der  lateinischen  Sprache  in  die  deutsche  richtig  und  fließend  über- 
setzen ;  ferner  hat  er  Bekanntschaft  mit  der  Geschichte  der  Erziehung 
und  des  Unterrichts  der  Taubstummen  nachzuweisen,  sowie  darzutun, 
daß  er  die  bei  demselben  zur  Anwendung  kommenden  pädagogischen 
und  didaktischen  Grundsätze  zu  entwickeln  \-ermag.  Er  muß  mit  den 
wichtigsten  Erscheinungen  aus  dem  Gebiete  der  Akustik  und  den 
Hauptlehren  der  Physiologie  der  Sinnes-  und  Sprachwerkzeuge,  sowie 
mit  allen  Sprachgebrechen,  wie  Stottern,  Stammeln,  Lispeln  usw.,  in 
dem  Maße  \ertraut  sein,  welches  für  die  erfolgreiche  P^rteilung  des 
Taubstummenunterrichts  notwendig  wird.  fLndlich  können  die  Be- 
werber auf  ihre  allgemeine  Bildung  geprüft  werden,  wenn  dies  er- 
forderlich erscheint. 

Da  die  Fürsorge  für  die  Taubstummen  in  Deutschland  eine  An- 
gelegenheit der  einzelnen  Länder  bezw.  Prox'inzen  ist,  so  steht  diesen 
auch  die  Regelung  der  Lehrerbesoldung  zu,  die,  da  hierauf  bezüg- 
liche allgemeine  Bestimmungen  nicht  bestehen,  eine  sehr  verschiedene, 
immerhin  aber  eine  durchaus  befriedigende  ist.  In  Preußen  wird  der 
Besoldungsetat  der  Seminarlehrer  (2100— 3800  M.  und  Wohnungs- 
geld) angestrebt. 

Die  deutschen  Taubstummenlehrer  haben  sich  zu  einem  Bunde 
zusammengeschlossen,  der  sich  aus  einer  Reihe  von  Landes-  und 
Provinzialvereinen  zusammensetzt.  „Förderung  des  Taubstummen- 
Bildungswesens  und  Vertretung  der  Standesinteressen"  ist  der  Zweck, 


I  i.i^    l;uihsiunnm-iil>il(luiii;-.\\r.-.rn   im   Deutsc'lu'n   Rcifli.  ;^55 

den  er  verfolgt.  Innerhalb  der  Z\\eigvereine,  die  in  der  Regel  all- 
jährlich zusammentreten,  herrscht  ein  außerordentlich  reges  Leben 
und  Streben.  Alle  drei  Jahre  findet  eine  Bundesversammlung  statt, 
in  der  in  erster  Linie  brennende  Fragen  der  Taubstummenbildung 
zur  Erörterung  kommen.  Die  Behörden  hegen  das  lebhafteste  Inter- 
esse für  die  Bestrebungen  des  Bundes,  was  u.  a.  daraus  hervorgeht, 
daß  die  Regierungen  regelmälMg  die  Dezernenten  des  Taubstummen- 
Bildungswesens  zu  den  Bundesversammlungen  entsenden. 

In  dem  Königlichen  Zentral-Taubstummeninstitut  zu  München 
finden  alljährhch  Kurse  für  Ohrenärzte  und  Taubstummen- 
lehrer statt,  in  denen  die  ersteren  in  die  Art  und  Weise  der  Unter- 
suchung des  Taubstummenohres  und  dessen  Behandlung  eingeführt 
werden  und  die  letzteren  den  „Sprachunterricht  durch  das  Ohr" 
kennen  lernen  sollen.  Da  in  Preußen  auf  diesen  Unterricht  bisher 
ein  besonderes  Gewicht  nicht  gelegt  wird,  so  hat  man  hier  von  ähn- 
lichen Kursen  abgesehen.  Wohl  aber  hält  man  eine  spezialistische 
Untersuchung  und  Behandlung  der  Taubstummen  für  außerordentlich 
wichtig.  Die  preußische  Staatsregierung  hat  deshalb  bei  der  König- 
lichen Taubstummenanstalt  zu  Berlin  Lehrkurse  für  die  Aus- 
bildung von  Ärzten  an  Taubstummenanstalten  auf  diesem 
Gebiete  eingerichtet  und  einen  Lehrplan  aufgestellt,  dem  wir  folgendes 
entnehmen : 

1.  Die  Tätigkeit  des  Schularztes:  Aufgabe  des  Schularztes; 
Schulkrankheiten ;  ihre  Erkennung  und  Verhütung ;  Schulhygienisches : 
Heizung,  Lüftung,  Beleuchtung,  Subsellien  u.  dergl. 

2.  Die  Taubheit,  sowie  Untersuchung  und  Behandlung  des  Ohres 
und  des  Nasenrachenraumes:  Ursache  der  Taubheit,  Hörvermögen 
der  Taubstummen,  Hörprüfung;  Untersuchungsmethoden  des  Ohres, 
der  Nase  und  des  Nasenrachenraumes;  Anatomie  des  Ohres  und  der 
Nase;  Prophylaxe  und  Heilbarkeit  der  Taubheit;  Behandlung  des 
Ohres,  der  Nase  und  des  Nasenrachenraumes. 

'A.  Untersuchung  und  Behandlung  der  Rachenhöhle  und  des 
Kehlkopfes:  Untersuchungsmethoden;  Anatomie  der  Rachenhöhle  und 
des  Kehlkopfes;  pathologische  Verhältnisse  bei  Taubstummen  mit 
Demonstrationen  an  Kindern  und  Besprechung  der  Behandlung. 

4.  Untersuchung  und  Behandlung  des  Auges:  Anatomie  und 
Physiologie  des  Auges;  Handhabung  des  Augenspiegels,  Refraktions- 
bestimmung; die  Lehre  von  der  Brillenverordnung;  Augenkrankheiten; 
Beschaffenheit  der  Augen  in  ihrem  Einflüsse  auf  die  Berufswahl. 

5.  Physiologie,     Psychologie     und     Pathologie      der      Sprache: 


366  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

Anatomie  und  Ph\-siologie  der  Sprachwerkzeuge  :  Atmung,  Stimme, 
Ansatzrohr,  Vokale  und  Konsonanten ;  Psychologie  der  Sprache,  Ent- 
wicklung der  Sprache  beim  normalen  Kinde,  Sprachbahnen;  Patho- 
logie der  Sprache:  Einteilung  der  Sprachstörungen,  Veränderungen 
der  Sprache  bei  Schwerhörigen  und  Ertaubten;  Aphasien,  Stottern 
und  Stammeln. 

6.  Taubstummenbildung:  Geschichtliche  Entwicklung,  Verall- 
gemeinerung der  Taubstummenbildung,  methodische  Ausgestaltung 
des  Unterrichts;  die  Taubstummen  in  ihrer  Eigenart;  Bildung  der 
Taubstummen,  die  verschiedenen  Unterrichtsgegenstände,  Hörübungen-; 
Fi^irsorge  für  die  aus  der  Schule  entlassenen  Taubstummen. 

Den  z^^■ecks  Vorbereitung  auf  die  Vorsteherprüfung  in  Berlin 
beschäftigten  Taubstummenlehrern  ist  die  Teilnahme  an  den  Vor- 
lesungen gestattet. 

Alljährlich  findet  nach  Anleitung  eines  ärztlichen  Frage- 
bogens, in  den  die  Personalien,  die  Art  der  Ertaubung,  Angaben 
über  etwaige  Taubheit  in  der  Verwandtschaft,  über  Heilversuche  und 
Impfung  einzutragen  sind,  eine  eingehende  Untersuchung  aller  Zög- 
linge statt.  Es  ist  hierbei  Rücksicht  zu  nehmen  auf  etwa  vorhandene 
ansteckende  Krankheiten,  Parasiten,  auf  die  allgemeine  Körper- 
konstitution, Größe,  Gewicht,  konstitutionelle  Krankheiten,  Brustumfang, 
Herz,  Lunge,  Bauch,  Knochengerüst,  Hörorgane,  Nase,  Mund,  Kehl- 
kopf, Augen,  den  allgemeinen  geistigen  Zustand,  die  Hörfähigkeit  und 
die  etwa  vorhandene  Sprache.  Der  untersuchende  Arzt  hat  nach  dem 
Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  dem  Lehrer  für  den  Unterricht 
und  den  Eltern  für  die  Behandlung  der  Kinder  im  Hause  Ratschläge 
zu  geben. 

Bestehen  auch  auf  dem  Gebiete  der  Taubstummenbildung  noch 
mancherlei  Mängel,  deren  Beseitigung  zu  wünschen  wäre,  so  ist  doch 
die  äußere  Organisation  des  Taubstummen-Bildungswesens  in  Deutsch- 
land zu  einem  gewissen  Abschluß  gekommen,  so  haben  doch  bis 
jetzt  Schul-  und  Verwaltungsbehörden,  Städte  und  Wohltätigkeits- 
vereine so  außerordentlich  viel  für  die  Versorgung  der  Gehörlosen 
getan,  daß  Deutschland  bezüglich  der  äußeren  Gestaltung  der  Taub- 
stummenbildung an  der  Spitze  der  Länder  steht,  die  sich  die  Für- 
sorge für  die  Taubstummen  angelegen  sein  lassen. 

3.    Der  Unterricht  der  Taubstummen. 

Der  Taubstummenunterricht  ist  seit  seinem  Bestehen  \on  zwei 
Unterrichtssvstemen    beherrscht    worden:     die    Anhänc^cr    des    einen 


Das  'ruuhstummciihihlunirswcscn   im   Dcutsclieii   Reich.  367 

i^iny,"cn  von  dem  an  sich  \-erstäiuligen  Gedanken  aus,  die  l)il(lun^-  der 
Taubstummen  auf  die  natürliche  Gebärde  zu  gründen,  diese  metho- 
thsch  auszugestalten  und  eine  künstliche  Zeichensprache  zu  schaffen, 
die  ihrem  Inhalte  und  Umfange  nach  der  Lautsprache  analog  \\i\r. 
Neben  der  nur  für  Eingeweihte  verständlichen  Gebärdensprache  ver- 
mittelte man  den  Kindern  als  allgemeines  Verständigungsmittel  die 
Schriftsprache  und  als  Ersatz  für  die  Schrift  das  Fingeralphabet. 
Diese  von  de  l'Epee  erfundene  Methode  verbreitete  sich  hauptsächlich 
in  Frankreich;  man  nennt  sie  daher  auch  die  französische. 

Die  Anhänger  des  zweiten  Systems  betraten  einen  andern  Weg. 
Ohne  die  natürliche  Gebärde  zu  verwerfen,  waren  sie  —  und  zu 
ihnen  gehören  die  ersten  Taubstummenlehrer  Deutschlands  —  be- 
strebt, den  Taubstummen  das  allgemeine  Verständigungsmittel,  die 
Lautsprache,  zu  geben  und  zugleich  die  Schriftsprache  zu  lehren. 
Als  eigentlicher  Begründer  dieses  Verfahrens  ist  der  Schweizer 
Amman  zu  bezeichnen.  Hei  nicke,  ein  Deutscher,  hat  die  Laut- 
sprachmethode, auch  deutsche  Methode  genannt,  vervollkommnet 
und  ihre  praktische   Durchführbarkeit  und    Bedeutung  nachgewiesen. 

Während  de  l'Epee  das  von  ihm  eingeschlagene  Verfahren  ein- 
gehend darlegte,  nach  Möglichkeit  zu  \'erbreiten  suchte  und  die  von 
ihm  in  Paris  gegründete  Anstalt  für  jedermann  öffnete,  deckte 
Heinicke  seine  Methode  mit  dem  Schleier  des  Geheimnisvollen,  so- 
daß  niemand  recht  erfuhr,  was  er  in  der  Leipziger  Anstalt  trieb. 
Es  konnte  daher  nicht  ausbleiben,  dalä  sich  die  französische  Methode 
immer  mehr  ausbreitete  —  auch  bis  nach  Deutschland  hinein  —  und 
an  Herrschaft  gewann.  Die  Vertreter  der  beiden  Richtungen  be- 
kämpften sich  in  heftigster  Weise,  und  dieser  Widerstreit  der  Mei- 
nungen hat  bis  in  die  neuste  Zeit  hinein  gewährt. 

Die  Heinickeschen  Bestrebungen  wurden  im  Anfange  des 
19.  Jahrhunderts  fast  gänzlich  aus  dem  Auge  verloren,  wie  überhaupt 
damals  ein  bedenklicher  Rückgang  in  der  Methode  des  Taub- 
stummenunterrichts eintrat.  W^ährend  auf  dem  Gebiete  der  Volks- 
schule, angeregt  durch  den  großen  schweizer  Pädagogen,  eine  neue, 
herrliche  Zeit  erstand,  A\"ährend  man  hier  wetteiferte,  die  Methode 
zu  vervollkommnen  und  reichere  Unterrichtserfolge  zu  erzielen, 
isolierte  man  nicht  nur  die  Taubstummen  in  Internaten,  sondern 
auch  die  Taubstummenlehrer  separierten  sich  und  \\urden  nicht  be- 
rührt von  der  gewaltigen  Umwälzung,  die  sich  auf  dem  Gebiete  der 
Pädagogik  vollzog.  Anstatt  im  Unterrichte  von  der  unmittelbaren 
Anschauung    auszugehen,    folgte    man  dem    Gange  einer  Grammatik. 


3f)8  raubstunimen-   und   lÜindenuiUerricht. 

Die  Taubstummenlehrer  durchwanderten  mit  den  Schülern  erst 
sämtliche  Wortarten,  suchten  zwar  sobald  wie  möglich  Sätze  bilden 
zu  lassen,  gingen  aber  auch  bei  der  Satzbildung  nach  den  Regeln 
der  Grammatik  vor.  Der  ganze  Plan  des  Sprachunterrichts  \\ar  in 
ein  starres  System  gefaßt,  das  sowohl  dem  natürlichen  Sprach- 
entwicklungsgange  des  Kindes  überhaupt  als  auch  der  Kindesnatur  im 
besondern  widerspricht.  Da  sie  zunächst  immer  das  Sprachgesetz  auf- 
stellten und  zur  Befestigung  desselben  die  erforderlichen  Beispiele 
anfügten,  zur  Erläuterung  des  Inhalts  jedoch  keine  geeigneten  An- 
schauungsmittel anwendeten,  solche  auch  nicht  besaßen,  so  nahmen 
sie  bei  der  Begriffserklärung  ihre  Zuflucht  zur  Gebärdensprache.  F^s 
führte  das  ohne  weiteres  zur  Ausbildung  dieser  Sprache,  wie  man 
sie  in  den  französischen  Taubstummenanstalten  fand,  und  zur  Unter- 
drückung der  Lautsprache.  Intelligenz  und  Sprache  entwickeln  sich 
aber  nicht  nach  den  Paragraphen  einer  Grammatik,  sondern  auf 
Grund  der  das  Kind  umgebenden  Sinnenwelt  und  der  gewonnenen 
Sprache  selbst. 

Erst  nachdem  an  den  Schullehrerseminaren  eine  Reihe  von 
Taubstummenanstalten  entstanden,  nachdem  innige  Beziehungen 
zwischen  Taubstummenbildung  und  allgemeiner  Pädagogik  angeknüpft 
waren,  durchwehte  ein  belebender  Hauch  den  toten  Mechanismus 
des  damaligen  Taubstummenunterrichts.  In  den  Reihen  der  Taub- 
stummenlehrer begann  nunmehr  ein  frisches  Streben,  das  vor  allem 
dahin  ging,  die  Methode  des  Unterrichts  naturgemäßer  zu  gestalten 
als  bisher;  von  nun  ab  ist  erst  die  PLinwirkung  der  Pestalozzischen 
Schule  in  der  Bildung  der  Taubstummen  zu  erkennen.  Als  weitere 
segensreiche  Folgen  der  bezeichneten  Verbindung  ist  zu  nennen,  daß 
die  Seminarlehrer,  die  die  Seminare  besuchenden  Pädagogen,  die  den 
pädagogischen  Kursus  absolvierenden  Kandidaten  der  Theologie,  die 
künftigen  Lehrer  zu  Aposteln  der  Taubstummen-Bildungssache  wurden, 
und  dal.^  sich  die  Seminar-Taubstummenanstalten  zu  Pflanzstätten  für 
Taubstummenlehrer  gestalteten.  Us  entstand  ein  edler  Wettstreit 
unter  den  deutschen  Taubstummenlehrern,  der  freilich  auch  manches 
Unedle  geboren  hat,  in  dem  jedoch  die  pädagogische  Einsicht  und 
die  praktische  Ansicht  den  Sieg  davon  trugen.  'Sls.n  kehrte  endlich 
zu  den  Grundanschauungen  der  ersten  deutschen  Taubstummenlehrer 
zurück,  die  dahin  gingen,  die  Lautsprache  nicht  als  etwas  Neben- 
sächliches, als  ein  notwendiges  Übel  zu  betrachten,  sondern  zur 
Grundlage  des  gesamten  Unterrichts  und  sie  —  es  geschah  das 
frL-ilich  erst  nach  und  nach    —    zum  ausschliel.Uichen  Unterrichts-  und 


Das  'l";iubstuinnienbiklungs\veseii   im    1  )eutsclKMi   Keicli.  309 

Dcnkmittcl  zu  machen;  nun  erst  war  der  i^eeii,mete  Boden  für  die 
i^lückliche  Ausgestaltung^  der  deutschen  Methode  gewonnen. 

Der  hervorragendste  Vertreter  der  neuen  Richtung  war  Hill, 
der  technische  Leiter  der  Seminar-Taubstummenanstalt  in  Weißenfels. 
Beeinfluist  durch  die  Bestrebungen  Harnischs,  erkannte  sein  klarer 
Blick  und  sein  weitausschauender  Geist  sehr  bald  die  Mängel  des 
damals  üblichen  Taubstummenunterrichts;  mit  kühner  Hand  griff  er 
in  den  künstlichen  Bau  des  alten  Verfahrens  und  stürzte  ihn,  den 
man  für  felsenfest  gehalten  hatte,  um  auf  den  Trümmern  des  alten 
ein  neues  erstehen  zu  lassen.  Gar  schlicht  und  einfach  waren  die 
Fundamentalsätze  seiner  Methode:  „Die  Lautsprache  ist  die  nötige 
Grundform  der  ganzen  Sprachbildung  der  Taubstummen."  „Ent- 
wickle die  Sprache  in  dem  taubstummen  Kinde,  wie  sie  das  Leben 
in  dem  vollsinnigen  Kinde  erzeugt!"  ,, Erwecke  in  den  Schülern  das 
Sprachbedürfnis  überhaupt  und  das  Bedürfnis  nach  unserer  Sprache 
insbesondere!"  „Soll  dies  gehngen,  so  führe  deinem  Schüler  Sachen 
\^or  und  schUeße  daran  unmittelbar  unsere  Sprache  an!"  „Wende 
die  Lautsprache  stets  und  überall  an  und  fordere  die  Anwendung 
auch  vom  Schüler  in  diesem  Grade!" 

Neben  der  Gestaltung  einer  neuen,  das  Lautsprachprinzip  in  den 
Vordergrund  stellenden,  sich  auf  die  unmittelbare  Anschauung 
gründenden  Methode  hat  sich  Hill  noch  besondere  Verdienste  durch 
Bearbeitung  vortrefflicher  Schulbücher  für  Taubstummenanstalten, 
durch  die  Herstellung  inniger  Verbindung  des  Taubstummenunterrichts 
mit  der  allgemeinen  Pädagogik,  durch  das  Zurückdrängen  der  Ge- 
bärde aus  dem  Unterricht,  durch  Ausbildung  von  Taubstummen- 
lehrern und  durch  die  Belebung  des  Literesses  für  die  Taubstummen- 
bildung in  weiteren  Kreisen  erworben.  Wie  er  als  Methodiker 
Großes  geleistet  hat,  so  war  er  als  Lehrer  der  Taubstummen  nicht 
minder  bedeutungsvoll.  Den  Wert  der  von  ihm  gegebenen  methodi- 
schen Ratschläge  suchte  er  durch  die  Schulpraxis  zu  erweisen:  mit 
seltenem  Geschick  und  unermüdlichem  Fleiße  arbeitete  er  an  den 
ihm  anvertrauten  Zöglingen  und  die  Unterrichtserfolge  waren  trotz 
der  Ärmlichkeit  und  Mangelhaftigkeit  der  äulkren  Organisation  der 
von  ihm  geleiteten  Anstalt  so  glänzende,  dal?.  Weißenfels  das  Mekka 
der  Taubstummenlehrer  des  Li-  und  Auslandes  wurde,  und  wenn  er 
auch  nicht  ohne  Gegner  blieb,  so  erkannte  man  in  ihm  doch  den 
Meister,  dessen  Vorbilde  man  nachzueifern  sich  bestrebte.  So  machte 
sich  nach  und  nach,  besonders  in  den  deutschen  Taubstummen- 
anstalten,   ein  Umschwung    bemerkbar,    der    für    das    Taubstummen- 

Das  Unterrichtsweseri  im  Deutschen  Reich.    Ul.  24 


370  Taubstuinmeii-  und   BliiulenunteiTicht. 

Bildungswesen  nach  außen  und  innen  segenbringende  Folgen  zeitigte. 
Die  Leistungen  auf  dem  Gebiete  des  Lautsprachunterrichtes  steigerten 
sich  mehr  und  mehr,  und  auch  diejenigen,  die  begeisterte  Anhänger 
der  Zeichenmethode  waren,  konnten  den  eminent  praktischen  und 
idealen  Wert  der  deutschen  Methode  nicht  verleugnen.  Es  war  zwar 
ein  beschwerlicher  und  weiter  Weg,  den  der  deutsche  Taubstummen- 
lehrer mit  seinen  Schülern  von  der  Feststellung  des  ersten  Lautes 
bis  zum  freien  Sprechen  und  sichern  Absehen  der  Sprache  vom 
?^lunde  zu  durchwandern  hatte,  und  gar  manchmal  wollte  er  an  sich 
und  seiner  Arbeit  verzweifeln;  doch  der  Gedanke,  Menschenseelen  zu 
retten,  und  die,  denen  die  Natur  so  viel  versagt  hat,  zu  berechtigten 
Mitgliedern  der  menschlichen  Gesellschaft  zu  machen,  gab  ihm 
immer  wieder  Kraft  und  Mut,  sein  mühevolles  Tagewerk  zu 
vollbringen. 

Wenn  die  Lautsprachmethode  immer  mehr  an  Boden  gewann, 
wenn  dieselbe  —  auch  im  Auslande  —  immer  mehr  Anhänger  fand, 
so  ist  das  dem  Fleii.W^  und  der  Ausdauer  der  deutschen  Taubstummen- 
lehrer zu  danken.  Es  war  nur  der  Ausdruck  der  bei  den  Bildnern 
der  Gehörlosen  allmählich  zum  Durchbruch  kommenden  Anschauungen, 
als  der  erste  Kongreß  zur  Verbesserung  des  Schicksales  der  Taub- 
stummen zu  Paris  (1878)  den  Antrag  fast  einstimmig  zum  Beschluß 
erhob:  ,,Nach  langer  und  reiflicher  Erwägung  erklärt  der  Kongreß, 
daß,  obgleich  die  natürliche  Zeichensprache  als  erstes  Verständigungs- 
mittel zwischen  Lehrer  und  Schüler  gestattet  ist,  die  Lautsprach- 
methode vor  der  der  Zeichensprache  den  unbestrittenen  Vorzug  ver- 
dient, und  dies  gründet  sich  auf  die  in  allen  Ländern  Europas  und 
selbst  in  Amerika  gemachten  Erfahrungen."  Der  zweite  internationale 
Taubstummenlehrer-Kongreß  zu  Mailand  (1880)  schloß  sich  dieser  Er- 
klärung vollständig  an  und  präzisierte  die  an  den  Taubstummen- 
unterricht zu  stellenden  Forderungen  noch  schärfer,  indem  er  folgende 
Beschlüsse  faßte; 

1.  ,,Li  der  Überzeugung  von  der  unbestrittenen  Überlegenheit 
der  Lautsprache  gegenüber  der  Gebärdensprache,  insofern  jene  die 
Taubstummen  dem  Verkehre  mit  der  hörenden  Welt  wiedergibt  und 
ihnen  ein  tieferes  Eindringen  in  den  Geist  der  Sprache  ermöglicht, 
erklärt  der  Kongreß,  daß  die  Anwendung  der  Lautsprachmethode 
bei  der  Erziehung  und  dem  Unterricht  der  Taubstummen  der  der  Ge- 
bärdensprache vorzuziehen  sei." 

2.  „In  Erwägung,  daß  die  gleichzeitige  Anwendung  der  Ge- 
bärdensprache   und    des    gesprochenen  Wortes   den  Nachteil  mit  sich 


Das  'l'aubstumnienbil(luiii^s\vest;n  im    Dc-uIscIkui   Reich.  371 

führt,  dal.^  dadurch  das  Sprechen,  das  Absehen  von  den  Lippen  und 
die  Klarheit  der  Begriffe  beeinträchtigt  wird,  erklärt  der  Kongreß, 
daß  die  reine  Lautsprachmethode  vorzuziehen  sei." 

Es  war  ein  etwas  kühner  Sprung,  der  von  der  Gebärdensprache 
als  Grundlage  des  gesamten  Unterrichts  bis  zur  vollständigen  Beseiti- 
gung dieser  Sprache  aus  den  Taubstummenanstalten  —  allzukühn,  als 
daß  er  von  jedem  Taubstummenlehrer  hätte  ausgeführt  werden 
können,  und  wenn  es  wohl  auch  ein  \ergebliches  Bemühen  sein 
dürfte,  die  Gebärde  aus  den  Taubstummenanstalten  auszurotten,  so 
war  doch  mit  den  Kongreßbeschlüssen  das  erreicht,  was  die  deutschen 
Taubstummenlehrer  seit  langem  erstrebt  und  erarbeitet  haben:  die 
ausschließhche  Berechtigung  der  Lautsprachmethode  im  Taub- 
stummenunterricht. 

Wer  von  dem  Unterrichtsbetrieb  einer  Reihe  deutscher  Taub- 
stummenanstalten Kenntnis  genommen  hat,  der  wird,  abgesehen  von 
Nebensächlichkeiten,  eine  erfreuliche  Einheitlichkeit  der  Unterrichts- 
grundsätze beobachten,  die  sich  in  folgendem  zusammenfassen  lassen: 

1 .  Der  von  den  Taubstummenanstalten  verfolgte  Zweck,  der 
dem  der  Volksschule  entspricht,  geht  dahin,  aus  den  Taubstummen 
sitthch-religiöse  und  bürgerlich-brauchbare  Menschen  zu  machen. 

2.  Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  sind  die  Taubstummen  in 
dem  Maße  mit  der  Lautsprache  auszustatten,  daß  sie  mündlich  und 
schriftlich  Mitgeteiltes  verstehen  und  ihre  Gedanken  in  allgemein  \'er- 
ständhcher  Weise  mündHch  und  schriftlich  ausdrücken  können.  Zu- 
gleich sind  sie  in  allen  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  —  Gesang  aus- 
geschlossen —  zu  üben,  welche  die  einfache  Volksschule  fordert. 

3.  Der  Lautsprachunterricht  ist  bestimmend  für  den  Anfang  und 
Fortgang  aller  übrigen  Unterrichtsgegenstände.  Es  bildet  demnach 
den  Mittelpunkt  des  gesamten  Unterrichts.  In  ihm  treten  hauptsäch- 
lich die  Eigentümlichkeiten  des  Taubstummenunterrichts  hervor. 

4.  Neben  dem  Sprachunterricht  werden  die  Taubstummen  a.)  in 
der  Religion,  b)  im  Rechnen,  cj  in  der  Weltkunde  (Geographie, 
Geschichte,  Naturkunde  usw.),  d)  im  Schreiben,  e)  im  Zeichnen,  f  i  im 
Turnen,  g)  in  Knabenhandarbeit  bezw.  in  weiblichen  Handarbeiten 
unterrichtet. 

5.  Beim  Sprachunterricht  sind  vier  Stufen  zu  unterscheiden: 
erste  Stufe:  der  vorbereitende  Sprachunterricht,  der  die  Entwicklung 
der  Laute  und  die  Feststellung  der  ersten  Begriffe  zur  Aufgabe  hat; 
zweite  Stufe:  der  grundlegende  Sprachunterricht,  bei  dem  es  darauf 
ankommt,  eine  sichere  Basis  für  den  weiteren  Unterricht  zu  gewinnen; 


[yj'2.  Taubstuinmen-   untl  iUimlenunterricht, 

er  muß  daher  den  Schülern  Anschauungs-  und  Sprachstoff  sowie 
einfache  Sprachformen  zuführen;  dritte  Stufe:  der  erweiternde 
Sprachunterricht,  in  welchem  die  materiell-sprachliche  Grundlage  er- 
weitert, der  Anfang  in  der  Behandlung  der  Sprache  als  Gegenstand 
des  Unterrichts  gemacht  und  die  sprachliche  Selbsttätigkeit  der 
Schüler  angeregt  wird;  vierte  Stufe:  der  abschließende  Sprachunter- 
richt, welcher  durch  fortgesetzte  grammatische  Übungen  die  Sprache 
mehr  und  mehr  zu  einer  bewußten  Denktätigkeit  macht,  die  Schüler 
zum  Verständnisse  der  Unterhaltungssprache  und  einfacher  Volks- 
schriften führt  und  sie  befähigt,  ihre  Gedanken  über  Wahrgenommenes, 
Erlebtes  und  Empfundenes  in  zusammenhängender  Weise  mündlich 
wie  schriftlich  auszudrücken. 

6.  In  dem  Sprachunterrichte  Taubstummer  unterscheidet  man: 
a)  einen  mechanischen  Sprachunterricht,  der  es  mit  der  technischen 
Seite  der  Sprache  zu  tun  hat;  b)  einen  materiellen  Sprachunterricht, 
welcher  den  Schülern  Sprachstoff  zuführt;  c)  einen  formellen  Sprach- 
unterricht, der  die  Formen  der  Sprache  lehrt;  d)  freie  Sprach- 
übungen, bei  denen  die  Umgangssprache  Verwertung  und  Anwen- 
dung findet. 

7.  Gleich  mit  Beginn  des  Sprachunterrichts  treten  vier  Übungen 
auf,  die  stets  Hand  in  Hand  gehen,  nämlich  Sprech-  und  Abseh-, 
Schreib-  und  Leseübungen. 

\S.  Da  die  Lautsprache  in  der  Taubstummenschule  zugleich 
Unterrichtszweck  und  Unterrichtsmittel  ist,  so  muß  sie  während  der 
ganzen  Unterrichtszeit  die  sorgfältigste  Pflege  und  Übung   erfahren. 

9.  Klares  und  bestimmtes  Sprechen  der  einzelnen  Laute  und 
der  verschieden.sten  Lautverbindungen  bei  natürlicher  Bewegung  und 
Stellung  der  Sprachwerkzeuge,  richtige  Dehnung  und  Kürzung  der 
Laute  und  erkennbare  Betonung  der  Silben  in  den  Wörtern  und  der 
Wörter  in  den  Sätzen  bei  zweckmäßigem  Haushalten  mit  der  Luft 
ist  nur  dann  zu  erreichen,  wenn  das  Sprechen  ununterbrochen  mit 
der  grölAten  Gewissenhaftigkeit  gepflegt  wird. 

10.  Da  es  nicht  bloß  darauf  ankommt,  dal.^  die  Taubstummen 
die  Sprache  erlernen,  um  verstanden  zu  werden,  sondern  da  es  für  sie 
von  ebenso  großer  Wichtigkeit  ist,  daß  sie  andere  verstehen,  so  ist 
den  Übungen  im  Absehen  der  Sj^rache  vom  Munde  Sprechender 
nicht  mindere  Sorgfalt  zu  widmen  als  dem  mechanischen  Sprechen. 

1  1 .  Die  bei  der  Sprachaneignung  seitens  der  Vollsinnigen  allge- 
mein befolgten  Grund.sätze  sind  auch  bei  dem  Sprachunterricht  Taub- 
stunnner  festzuhalten. 


1  >a-   ■|aul)stuiiiinenbilduiio;s\vescii   im    Deulsclien    Reicli.  'AI'A 

\'2.  Die  Sprache  ist  daher  unmittelbar  an  die  die  taubstummen 
Schüler  umgebenden  Dinge,  Erscheinungen  und  X^erhältnisse  anzu- 
schließen. Nur  dadurch  ist  eine  innige  X'erbindung  von  Wort  und 
Sache  7,u  ermöglichen  und  dem  Taubstummen  das  Sprechen  zu  einer 
organischen  (jeistestätigkeit  zu  machen,  wie  sie  es  bei  dem  VnW- 
sinnigen  ist. 

13.  Um  die  Taubstunnnen  an  eine  selbstätige  .Sprachanwendung 
zu  gewöhnen,  ist  in  ihnen  das  Bedürfnis  nach  der  Lautsprache  zu  er- 
wecken. 

14.  Das  I^edürfnis  nach  der  Lautsprache  wird  nicht  geweckt, 
Avenn  die  mit  den  Taubstummen  in  Verkehr  Tretenden  die  Gebärden- 
sprache anwenden.  Der  (Gebrauch  dieser  Sprache  ist  zugleich  Ver- 
anlassung, daß  die  taubstummen  Kinder  die  Lautsprache  ungern  an- 
wenden, \"om  Alunde  Sprechender  nicht  absehen  lernen,  die  Um- 
gangssprache nicht  genügend  erlernen,  nur  einen  beschränkten  Sprach- 
schatz erwerben,  die  Formen  der  Lautsprache  in  nicht  ausreichendem 
Alaße  erfassen  und  in  dieser  Sprache   nicht  denken  lernen. 

15.  Die  Gebärdensprache  kann  zwar  als  erstes  Mittel  der  Ver- 
ständigung mit  Taubstummen  nicht  entbehrt  werden,  muß  aber  mit 
zunehmender  Sprachkraft  der  Kinder  zurücktreten  und  rst  schließlich 
möglich.st  vollständig  aus  dem  Unterricht  zurückzudrängen. 

H).  Als  Erklärungsmittel  der  Sprache  und  zur  Gewinnung  von 
Begriffen  dient  nur  die  unmittelbare  Anschauung  der  Sache  oder 
deren  \'ertreter,  sowie  die  Sprache. 

1  7.  An  den  ersten  Sprachunterricht  schließt  sich  ein  geordneter 
Anschauungsunterricht,  der  entw^eder  in  Verbindung  mit  dem  Lese- 
und  Sprachunterricht  oder  als  selbständiger  Unterrichtsgegenstand 
betrieben  wird.     Er  zieht  sich  durch  die  ganze  Schulzeit  hindurch. 

1 8.  Zweck  des  Anschauungsunterrichts  ist :  Steigerung  der  Auf- 
merksamkeit, Übung  und  Ausbildung  des  Anschauungs-  und  Denk- 
vermögens, Bereicherung  mit  Vorstellungen  und  Kenntnissen,  An- 
eignung von  Begriffswörtern,  Übung  in  der  Anwendung  der  gewon- 
nenen Sprache  und  Ausbildung  derselben  durch  mündliche  Besprechung 
und  schriftliche  Arbeiten. 

19.  Der  Anschauungsunterricht  ist:  ai  ein  vorbereitender,  welcher 
mit  dem  Artikulationsunterricht  Mand  in  Hand  geht;  bi  ein  grund- 
legender, welcher  den  Schülern  Sprachmaterial  zuführt;  c)  ein  be- 
schreibender, der  durch  Beschreibung  verschiedener  Anschauung.s- 
objekte  die  Vermehrung  des  Sprach.stoffes  sowie  das  Verständnis  und 
die    richtige  Anwendung    der  Sprachformen   erstrebt;    und  d)  ein  an- 


374  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

wendender,  welcher  neben  allgemeiner  Förderung  der  Sprache  die 
praktischen  Verhältnisse  des  Lebens  in  das  Bereich  seiner  Besprechung 
zieht. 

20.  Die  Reihenfolge  des  zu  behandelnden  Stoffes  ist  bestimmt 
durch  die  Einteilung  der  Zeit  und  räumliche  Verhältnisse. 

21 .  Dem  Taubstummen,  welchem  die  Sprache  nur  in  bescheidenem 
Malie  zufließt,  der  daher  nur  langsam  zur  Abstraktion  des  Richtigen 
gelangt,  müssen  die  Gesetze  der  Wortsprache  teils  angewandt,  teils 
an  sich  vorgeführt  werden,  um  sich  dieser  Gesetze  bewußt  und  zur 
richtigen  Anwendung  derselben  geführt  zu  werden. 

22.  Wenn  das  Sprachbedürfnis  auch  das  Leitende  bei  der  Fort- 
entwicklung der  Sprache  ist,  so  mui-.  doch  auch  ein  systematischer 
Fortgang  bei  Vorführung  und  Einübung  der  sprachlichen  Formen 
festgehalten  werden,    der  auf  allen  Stufen  des  Unterrichts  hervortritt. 

23.  Auf  der  Oberstufe  beginnt  ein  geordneter  grammatischer 
Unterricht,  der,  auf  der  Mittelstufe  \orbereitet,  die  Sprache  selbst 
zum  Gegenstande  der  Behandlung  macht. 

24.  Der  Sprachformenunterricht  schließt  sich  an  das  Lesebuch 
an;  es  können  jedoch  auch  besondere  Unterrichtsstunden  für  ihn  an- 
gesetzt werden. 

25.  Er  kann  nur  dann  in  fruchtbringender  Weise  betrieben 
werden,  wenn  er  dem  Grundsatze  folgt:  \"on  der  sprachlichen  Er- 
scheinung zum  Gesetz. 

26.  Um  die  Taubstummen  für  geordnete  und  selbständige  schriftliche 
Darstellung  zu  befähigen,  sind  sie  zur  Abfassung  von  Tagesberichten 
anzuleiten,  woraus  sich  in  den  letzten  Schuljahren  Aufsatzübungen  ent- 
wickeln, die  zugleich  die  Anfertigung  \on  Briefen  und  Geschäftsauf- 
sätzen erstreben.  Es  muß  aber  auch  jeder  Lehrgegenstand,  soweit  er 
es  mit  Gedankenreihen  zu  tun  hat,  zur  Förderung  des  schriftlichen 
Gedankenausdrucks  beitragen.  Es  müssen  sich  daher  an  den  münd- 
Uchen  Unterricht  schriftliche  Arbeiten  als  Wiederholungen  und  Übungen 
in  angemessener  Darstellung  anreihen. 

27.  Die  freien  Sprachübungen  haben  die  Umgangssprache,  wie 
sie  im  alltäglichen  Verkehr  angewandt  wird,  einzuführen. 

28.  Sie  schneiden  sich  an  das  unmittelbare  Sprachbedürfnis  der 
Schüler  an  und  suchen  dasselbe  zu  befriedigen.  Die  Vorkommnisse 
und  W^ahrnehmungen  in  Schule  und  Haus,  auf  Spaziergängen  und  im 
Verkehre  werden  zum  Gegenstande  der  Besprechung  gemacht  und 
dienen  zur  Aneignung  der  Umgangssprache,  im  besondern  der  dieser 
eigentümlichen  Ausdrücke  und  Redewendungen. 


Das  Taubstuinmciibilduiigswesen   im    Dcutsclien   Reicli.  375 

'l^K  Sie  lieben  dem  Schüler  sofort  Sprachganze,  ohne  immer 
Rücksicht  darauf  zu  nehmen,  ob  die  angewandte  Form  vorbereitet 
ist  und  verstanden  wirtl. 

30.  Da  es  von  hoher  Wichtigkeit  für  die  Taubstummen  ist,  dal^ 
sie  die  Umgangssprache  in  möglichst  umfangreichem  Maße  erlernen, 
so  muß  dieselbe  in  jeder  Unterrichtsstunde,  sobald  sich  nur  Gelegen- 
heit bietet,  Berücksichtigung  finden.  Das  Erlernte  ist  auch  im  außer- 
unterrichtlichen X'erkehr  zu  verwenden. 

31 .  Ein  geordneter  Religionsunterricht  kann  erst  dann  beginnen, 
wenn  die  taubstummen  Schüler  im  Besitze  einer  Elementarsprache 
sind,  die  eine  segenbringende  Behandlung  des  religiösen  Stoffes  er- 
möglicht, also  nicht  vor  dem  dritten  Schuljahre. 

32.  Wenn  der  Religionsunterricht  auch  den  Sprachunterricht 
zu  unterstützen,  d.  h.  die  ihm  eigentümliche  Sprache  zu  lehren,  auf 
gute  Aussprache  und  richtige  sprachliche  Form  zu  halten  hat,  so 
darf  das  sprachliche  Element  doch  niemals  das  religiöse  überwuchern. 
Die  Religionsstunde  darf  zu  keiner  Sprachstunde  hinabgedrückt  werden. 
Die  hohen  Aufgaben  der  religiösen  Unterweisung,  die  Kinder  zu  Gott 
zu  führen,  ernste  Frömmigkeit,  Zucht  und  Sitte  in  die  Herzen  der- 
selben zu  pflanzen,  sind  allezeit  im  Auge  zu  behalten. 

33.  Um  den  Zweck  des  Religionsunterrichts  zu  erreichen,  muß 
der  Taubstumme  ai  mit  den  großen  Taten  Gottes,  wie  sie  uns  im 
Alten  und  Neuen  Testament  erzählt  sind,  bekannt  gemacht,  b;  in 
die  Glaubens-  und  Sittenlehre  der  Kirche  eingeführt,  o  zum 
würdigen  Gebrauche  der  Sakramente  vorbereitet,  di  über  die  Be- 
deutung der  kirchlichen  Handlungen  sowie  der  kirchlichen  Feste  und 
die  Einrichtung  des  Gottesdienstes  belehrt,  ei  für  die  religiöse  Weiter- 
bildung befähigt  und  f )  für  die  Beteiligung  am  Gottesdienst  empfäng- 
lich gemacht  werden. 

34.  Beim  Religionsunterricht  sind  vier  Stufen  zu  unterscheiden: 
erste  Stufe:  der  vorbereitende  Religionsunterricht,  welcher  durch 
gelegentliche  Hinweise  auf  Gott  und  durch  Beschreibung  biblischer 
Bilder  in  den  Schülern  eine  Vorstellung  von  dem  Dasein  und  den 
Taten  Gottes  erweckt;  zweite  Stufe:  der  grundlegende  Religions- 
unterricht, welcher  den  Schülern  die  Heilsgeschichte  im  Zusammen- 
hange vorführt  und  die  Grundlage  für  den  konfessionellen  Religions- 
unterricht gibt;  dritte  Stufe:  der  lehrhafte  Religionsunterricht, 
welcher  auf  das  Leben  in  der  kirchHchen  Gemeinschaft  vorbereitet 
und  die  Glaubens-  und  Sittenlehre  der  Kirche  im  Anschlüsse  an  den 


'^'J(j  Taubstummen-  und  ]!lin(lenunterricln. 

Katechismus  vorführt;  vierte  Stufe:  der  abschlieisende  ReUgions- 
unterricht.  der  den  gesammelten  rehgiösen  Stoff  zusammenfaßt,  die 
Schüler  in  das  Verständnis  der  kirchlichen  Handlungen,  besonders 
in  das  der  Sakramente  einführt  und  sie  zu  würdigen  Gliedern  der 
kirchlichen  Gemeinschaft  macht. 

o5.  Die  einzelnen  Disziplinen  des  Religionsunterrichts,  die  jedoch 
nicht  alle  selbständig  auftreten,  sind:  a)  Besprechung  biblischer  Bilder, 
b)  Unterricht  in  der  biblischen  Geschichte,  c  Religionslehre,  d  i  Bibel- 
lesen; ei  Liederkunde,  f)  Kirchengeschichte. 

36.  Der  Rechenunterricht  tritt  ein,  wenn  die  Schüler  sprachlich 
soweit  gefördert  sind,  daß  sie  die  Zahlen  zu  sprechen  vermögen, 
wenn  also  das  Rechnen  mit  Hilfe  der  Lautsprache  möglich  ist, 
demnach  nicht  xor  dem  zweiten  Schuljahre. 

'M.  Lr  verfolgt  den  Zweck,  die  Taubstummen  für  das  praktische 
Rechnen  zu  befähigen  und  sie  im  abstrakten  Denken  und  korrekten 
Sprechen  zu  üben. 

38.  Unter  besonderen  Verhältnissen  können  einige  Gebiete  aus 
der  Raumlehre,  die  für  das  praktische  Leben  Bedeutung  haben,  zur 
Behandlung  kommen. 

'A^J.  Der  weltkundlichc  Unterricht  entwickelt  sich  aus  dem 
Anschauungsunterricht.  Er  umfaßt  ai  Geographie,  iHeimats-,  Vater- 
lands- und  Erdkunde  I,  bi  Geschichte,  c>  Naturkunde  und  d)  Gesetzes- 
kunde. 

40.  Der  Schreib-  und  Zeichenunterricht  der  Taubstummen  ent- 
spricht dem  in  der  Volksschule.  Der  letztere  bedarf  der  besonderen 
Pflege,  weil  zeichnerische  Fertigkeiten  die  Wahl  eines  Lebensberufes 
zu  erleichtern  imstande  sind. 

41.  Da  die  Taubstummen  wegen  des  Gehörmangels  in  der 
Regel  einen  schleppenden  Gang  haben,  infolge  der  Stummheit  und 
der  sich  hieraus  ergebenden  Untätigkeit  der  Lungen  die  Brustorgane 
wenig  gestärkt  sind,  für  die  sprachliche  Tätigkeit  die  Kraft  des 
Schülers  jedoch  sehr  in  Anspruch  genommen  wird,  so  ist  das  Turnen 
(wie  auch  Baden,  Schwimmen, Spazierengehen  usw.)  in  derTaubstummen- 
anstalt  wie  für  Knaben  so  für  Mädchen  von  großer  Wichtigkeit. 

42.  Eine  gewerbliche  Ausbildung  der  Taubstummen  ist  nicht 
Aufgabe  der  Taubstummenanstalt,  wohl  aber  sind  die  Knaben,  be- 
sonders die  des  Internats,  mit  Handfertigkeitsarbeiten  zu  beschäftigen. 

43.  Die  taubstummen  Mädchen  sind  mit  Eintritt  in  die  .Vnstalt 
in   weiblichen  iVrbeiten  zu  unterrichten. 


Das  'raulj>tuimiu-nbil(luiiir^\\c>cii   nii    I  )euts<-lien   Reich.  \\~l'^ 

44.  Jeder  einzelne  UnterrichtsL^ei^^eiistancl  hat  die  ihm  eii^en- 
tümHche  Spraehe  zu  lehren;  er  tritt  somit  in  den  Dienst  des  Sprach- 
unterrichts.    ,,In  allem  ist  Sprachunterricht!" 

45.  Der  gesamte  Unterricht  s^eht  \on  der  Lautsprache  aus. 
Die  schriftliche  Darstellung  schlieik  sich  nach  l^edürfnis  an. 

46.  Mit  dem  luntritt  in  die  Mittelstufe  wird  die  Methode  des 
Taubstummenunterrichts  der  in  der  Volksschule  angewandten  immer 
mehr  ähnlich,  sodal.^  sich  jener  Unterricht  auf  der  Oberstufe  von 
dem  Elementarunterricht  in  der  Form  nicht  mehr  wesentlich  unter- 
scheidet. 

47.  Zur  Erreichung  des  weiten  Zieles,  das  sich  die  Taub- 
stummenlehrer gesteckt  haben,  ist  erforderlich,  daiA  ai  ein  achtjähriger 
Unterrichtskursus  (drei  Jahre  für  die  Unter-,  drei  Jahre  für  die  Mittel- 
und  zwei  Jahre  für  die  Oberstufe)  gewährt  wird,  b)  die  Zahl  der 
Schüler  einer  Klasse  zehn  nicht  übersteigt,  ci  jede  Klasse  einen 
eigenen,  mit  der  Methode  des  Unterrichts  vertrauten  und  im  Unter- 
richten taubstummer  Kinder  geübten  Lehrer  hat,  d)  alle  die  An- 
schauungsmittel vorhanden  sind,  welche  einen  unmittelbaren  jVnschluß 
des  Wortes  an  die  Sache  oder  deren  Vertreter  ermöglichen,  e)  die 
taubstummen  Kinder  schon  mit  dem  vollendeten  siebenten  Lebens- 
jahre in  die  Taubstummenanstalt  eintreten,  f)  die  Zöglinge  nach  der 
Befähigung  gesondert  werden,  gj  da,  wo  die  Möghchkeit  vorhanden 
ist,  die  teilweis  hörenden  Schüler  ebenfalls  ausgeschieden  und  ge- 
sondert unterrichtet  werden,  h)  alle  Lehrer  einer  Anstalt  nach  einem 
einheitlichen  Plane  arbeiten.  — 

Auf  Seite  .'•> 78  geben  wir,  einen  achtjährigen  Schulkursus  voraus- 
gesetzt, eine  Übersicht  der  wöchentlichen  Unterrichtsstunden. 

4.    Fürsorge   für   die   aus   den   Taubstummenanstalten 
entlassenen    Zöglinge. 

Die  deutschen  Taubstummenanstalten  sind  ausschließlich  Schulen 
und  haben  lediglich  die  Aufgaben  zu  erfüllen,  welche  den  Volks- 
schulen bezüglich  der  hörenden  Kinder  zufallen.  So  weitgehend  auch 
die  Staatsregierungen,  Provinzen,  Städte  und  wohltätige  Vereine  für 
die  im  schulpflichtigen  Alter  stehenden  Taubstummen  eintreten  bezw. 
eintreten  müssen,  so  besteht  leider  —  natürlich  abgesehen  von  den 
Angehörigen  —  für  niemand  eine  Verpflichtung,  sich  der  aus  den 
Anstalten  entlassenen  Zöglinge  anzunehmen.  Verlassen  sind  sie 
darum  nicht.  Zunächst  ist  anzuführen,  daß  in  verschiedenen  größeren 
Anstaltsorten,    wo    in    der    Regel    viele    Taubstumme    ihren    Erwerb 


378  Taubstummen-  und  Blindeuunterricht. 

Übersicht   der    wöchentlichen   L'n  terricli  tsst  unde  n. 


Zahl  der  x 

sochentlichen  Stunden 

Unterrichtsgegenstiinde 

Klasse 
VIII 

Klasse 

VII 

> 

1 

^asse  V 
asse  IV 
lasse  III 

rt 

Klasse  I 
Sem.      Sem. 

Sem. 

Sem. 

I 

II 

14 

«     ^     ^     t4 

I            11 

I.    Sprachunteri-icht : 

i       1 

a)  Artikulationsunterricht 

24 

— 

— 

— 

—    — 

—    _ 

—           — 

b)  iMechanische     Sprech- 

übungen     .     .     . 



8 

6 

4 

2 

2 

—  i — 

1 

c)  Anschauungsunterricht 



8 

10 

10 

4 

4 

4     4 

3           2 

d)  Leseunterricht    .     .     . 





— 

4 

4 

6 

6|    6 

6     1       6 

e)  Sprachformenunter- 

' 

i-icht 



_ 

— 

2 

2 

2 

2   - 

—          — 

f)   Unterricht        in        der 

.1 

schriftlichen          Dar- 

stellung   

— 

— 

— 

— 

2      2 

2 

2 

2           2 

g)  Freie  Sprachiibungen  . 

— 

2 

2 

2 

2    — 

— 

—          — 

II.  Rehgionsunterricht: 

1 

a)  Biblische  Geschichte    . 

_ 

_ 

— 

_ 

4 

4 

4 

2 

2           2 

bj  Religionslehre     .     .     . 

— 

— 

— 

— 

_ 

— 

2 

2 

2            3 

c)  Bibellesen       .... 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

—  '  — 

1            1 

III.  Rechenunterricht       .     . 



4 

4 

4 

4 

4 

4     4 

4           4 

IV.  Unterricht  in  der  Welt- 

i 

kunde  : 

a)  Geographie    .... 

— 

-- 

- 

— 

2      2 

2 

2 

2           2 

b)  Geschichte     .... 

— 

— 

— 

— 

—     ;    — 

— 

2 

2            2 

c)  Naturgeschichte 





— 

— 

1 

2 

2 

—          — 

d)  Xaturlehre      .... 

_ 

— 

_ 

— 

1 

— 

— 

2           2 

V.  Schreibunterricht      .     . 

_ 

2 

2 

2 

21    2 

— 

- 

VI.  Zeichenunterricht     .     . 

_ 

2 

2 

2 

2  '    2 

2 

4 

4           4 

VII.   Turnunterricht     .      .      . 

2 

2 

2 

2 

2      2 

2 

2 

2           2 

'/usaminen 

26 

2 

8 

32 

32 

32 

32 

32 

32 

Außerdem : 

Für  Knaben:   Ilanclfertig- 

keitsunterricht  ...  4  4  4         44444         4;4 

Für     Mädchen:    weibliche 

Handarbeiten    ...  4  4  4         44444         4:4 


suchen,  Fortbildung^.s.schulen  eingerichtet  sind,  die  entweder  aus 
öffentlichen  Mittehi  oder  auf  dem  Wege  der  Privatwohltätigkeit  er- 
halten werden.  Diese  Schulen  gliedern  sich  an  die  Taubstummen- 
anstalten an  und  setzen  den  in  den  letzteren  abgeschlossenen  Unter- 
richt   fort.     I^s  arbeiten    an    ihnen  Taubstummenlehrer.     Da    die    die 


Das  Taubstiimnu:nbil(lunij;>\vi'seii  im  Deutschen  Reich.  379 

Fortbildungsschule  besuchenden  Zöglinge  fast  ausschließlich  Lehrlinge 
sind,  so  können  die  Unterrichtsstunden  nur  in  beschränkter  Zahl 
am  Abend  stattfinden.  Als  Lehrgegenstände  der  genannten  Schulen 
bestehen : 

a)  Lesen,  Sprache,  Aufsatz.  Zur  Benutzung  kommen  einfach 
gehaltene  Lesebücher,  sowie  leicht  verständliche  Jugendschriften,  für 
die  Privatlektüre  Bücher  aus  der  Anstaltsbibliothek.  Die  Schüler 
legen  sich  ein  Wörterbuch  an,  in  das  sie  die  ihnen  zu  erklärenden 
Wörter  eintragen.  Pflege  der  Umgangs-  und  Geschäftssprache  wird 
stets  berücksichtigt.  Im  Aufsatzunterricht  werden  hauptsächlich  Ge- 
schäftsaufsätze und  Briefe  geschrieben. 

b)  Rechnen.  Der  Rechenunterricht  strebt  Sicherheit  und 
Schnelligkeit  im  mündlichen  und  vor  allem  im  schriftlichen  Lösen 
praktischer  Aufgaben  aus  den  \ier  Spezies  mit  ungleich  benannten 
Zahlen,  mit  Dezimalbrüchen,  aus  der  Regel  de  tri,  Lohn-  und 
Zinsberechnung,  Kenntnis  der  Kranken-,  Unfall-,  Alters-  und  Lna- 
lidenversicherungs- Verhältnisse,  Berechnung  von  Längen-  und  Flächen- 
maßen an. 

ci  Weltkunde.  Die  Weltkunde  vermittelt  die  Kenntnis  der 
Gemeinde-  und  Staatseinrichtungen,  der  Miets-  und  Arbeitsv'erhält- 
nisse,  der  wissenswerten  Polizeiverordnungen  und  gesetzlichen  Be- 
stimmungen, der  Steuerverhältnisse  usw. 

d)  Zeichnen  und  Formenlehre.  Beim  Zeichnen  ist  auf  das  Ge- 
werbe Rücksicht  zu  nehmen,  das  der  Schüler  betreibt. 

An  einzelnen  gut  organisierten  Schulen,  z.  B.  der  mit  der  städti- 
schen Taubstummenschule  in  Berlin  verbundenen  Fortbildungsschule 
sind  auch  Kurse  für  Mädchen  eingerichtet. 

Der  Unterricht  wird  nicht  nur  unentgeltlich  erteilt,  sondern  die 
Schüler  erhalten  auch  die  nötigen  Unterrichtsmittel,  wie  Bücher, 
Schreib-  und  Zeichenmaterialien  umsonst. 

Da,  wo  die  Gründung  von  Fortbildungsschulen  auf  Schwierig- 
keiten stößt,  sind  Wiederholungskurse  für  erwachsene  Taubstumme 
eingerichtet,  so  in  der  Provinz  Westfalen. 

In  Deutschland  besteht  eine  ganze  Reihe  für  Taubstumme  ge- 
schriebener Zeitschriften,  die  den  entlassenen  Zöglingen  geistige 
Anregung  und  reiche  Gelegenheit  zur  sprachlichen  und  allgemeinen 
Fortbildung  bieten.  Die  von  Taubstummenlehrern  herausgegebenen 
Zeitschriften,  zum  Teil  vom  Staate  subventioniert,  müssen  als  die 
besten  bezeichnet  werden;  es  sind  das:  Streich,  ,, Blätter  für  Taub- 
stumme" (Gmünd  in  Württemberg),  Huschens,  „Taubstummenführer" 


38Q  'raubstunimen-  und    lÜindenunterricht. 

—  für  katholische  Taubstumme  (Trien  und  Franke,  „Wegweiser  für 
Taubstumme"  (Halle  a.  S.). 

Auch  die  Einrichtung  von  Unterhaltungsabenden,  die  Ernstes 
und  Heiteres  bieten,  in  der  .\nstalt  abgehalten  werden  und  frühere 
und  gegenwärtige  Schüler  vereinigen,  sowie  die  Heranziehung  der  er- 
wachsenen Taubstummen  zu  Anstaltsfesten  (Geburtstag  des  Landes- 
fürsten, Stiftungsfest,  Weihnachtsfeier  usw.)  gewähren  manche  geistige 
Anregung. 

Die  religiöse  Versorgung  der  erwachsenen  Taubstummen 
bietet  viele  Schwierigkeiten.  Besuchen  diese  Taubstummen  den 
öffentlichen  Gottesdienst  in  der  Kirche  oder  gehen  sie  zum  heiligen 
Abendmahl,  so  verstehen  sie  den  Geistlichen  nicht:  sie  langweilen 
sich  in  der  Kirche,  und  es  kann  leicht  das  Gegenteil  von  dem  ein- 
treten, was  sie  erstreben.  Um  die  Teilnahme  an  den  gottesdienst- 
lichen Handlungen  in  etwas  fruchtbar  zu  machen,  gibt  man  den 
scheidenden  Zöglingen  das  biblische  Geschichtsbuch  und  das  Religions- 
buch, sowie  einen  in  einfacher  Sprache  gehaltenen  Auszug  aus  der 
Kirchenagende  mit,  nach  dem  sie  den  Gang  der  kirchlichen  Hand- 
lungen verfolgen  und  im  allgemeinen  das  erfassen  können,  was  der 
Geistliche  spricht. 

Um  den  Gehörlosen  Gelegenheit  zu  bieten,  an  den  kirchlichen 
Feiern  verständnisvollen  Anteil  zu  nehmen,  sind  in  einigen  größeren 
Städten,  so  in  Berlin,  Hannover  und  Cassel,  besondere  Gottesdienste 
für  Taubstumme  eingerichtet,  die  von  im  V^erkehr  mit  Gehörlosen 
geübten  und  der  Gebärdensprache  mächtigen  Geistlichen  abgehalten 
werden.  Die  Zahl  der  Besucher  dieser  kirchlichen  Versammlungen 
steigerte  sich  jedoch  bisweilen  derartig,  daß  es  unmöglich  wurde,  die 
Taubstummen  in  ausreichender  Weise  zu  beaufsichtigen,  und  so  ent- 
.standen  mancherlei  Unzuträglichkeiten,  die  nicht  selten  den  Zweck 
der  in  bester  Absicht  eingerichteten  Gottesdienste  verdunkelten.  Um 
diesen  Cbelständen  zu  begegnen,  finden  jetzt  —  wenigstens  ist  das  in 
Preußen  der  Fall  —  an  den  Orten,  wo  Taubstummenanstalten  sind, 
alljährlich  kirchliche  Feiern  statt,  bestehend  in  Gottesdienst  und 
Spendung  der  Abendmahls,  an  denen  sich  die  ehemaligen  Anstalts- 
zöglinge, wie  auch  andere  erwachsene  Taubstumme,  die  dem  be- 
treffenden Bezirke  angehören,  beteiligen  können.  Den  Unbemittelten 
wird  auf  Grund  eines  \-om  Anstaltsvorsteher  auszufertigenden  Aus- 
weises eine  wesentliche  Vergünstigung  bei  Benutzung  der  Fjsenbahn, 
zum  Teil  auch  Beköstigung  gewährt.  Im  Königreich  Sachsen  halten 
die  Taubstummenlehrer    an  bestimmten  Sonntagen  des  Jahres  in  den 


I  );i^    rauljsuimiiifnbildiuiii^svcst'ii   im    I  )ciU.sclien   Reich.  []l\] 

Städten,  in  denen  Taubstumme  in  L,n-ölAerer  Zahl  vorhanden  sind, 
Andachten  ab,  die  sich  eines  zahh'eichen  Zuspruchs  erfreuen.  Eine 
gleiche  Einrichtung  ist  in  der  Provinz  Hannover  getroffen.  Den 
Lehrern  wird  eine  entsprechende  Reisevergütung  gewährt. 

Die  preußische  Regierung  ist  noch  einen  Schritt  weitergegangen 
und  hat  an  verschiedenen  Taub.stummenanstalten,  so  in  Berlin,  Königs- 
berg i.  Pr.  und  Marienburg  i.  W.,  Kurse  für  e\angelische  Geistliche 
eingerichtet,  wodurch  diese  für  den  Verkehr  mit  Taubstummen  ge- 
schickt, im  besondern  auch  mit  der  Art  des  in  Taubstummenschulen 
erteilten  Religionsunterrichts  bekannt  gemacht  werden  sollen,  um  den 
in  ihrem  Amtsbezirk  lebenden  erwachsenen  Taubstummen  seel- 
sorgerisch nahe  treten  zu  können.  Ähnliche  Anregungen  sind  auch 
seitens  der  katholischen  kirchlichen  Behörden  gegeben  worden,  so 
von  den  Bischöfen  von  P2rmeland,  Kulm,  Osnabrück,  Hildesheim, 
Paderborn  und  dem  Fürstbischof  von  Breslau.  Lehrkurse  für  katho- 
lische Geistliche  haben  an  den  Taubstummenanstalten  zu  Posen  und 
Bensheim  in  Hessen  stattgefunden.  Diejenigen  Taubstummen,  die  in 
einem  Anstaltsorte  leben,  nehmen  an  den  in  der  Anstalt  stattfinden- 
den Gottesdiensten  teil. 

Eine  berufliche  Ausbildung  findet  in  den  deutschen  Taub- 
stummenanstalten nicht  statt,  wenn  in  diesen  auch  hie  und  da  Schuh- 
macherei, Schneiderei  oder  Tischlerei  unter  der  Leitung  eines  Hand- 
werksmeisters getrieben  wird;  es  geschieht  dies  in  erster  Linie  aus 
wirtschaftlichen  Gründen.  Die  Unterbringung  der  entlassenen  Zög- 
linge in  einer  Lehrstelle  ist  lediglich  Sache  der  Angehörigen;  die 
Taubstummenlehrer  unterstützen  jedoch  die  Eltern  nach  dieser  Seite 
nach  besten  Kräften  und  in  der  Regel  mit  Erfolg.  Die  Neigung  der 
die  Anstalt  verlassenden  Schüler  geht  in  den  meisten  Fällen  dahin, 
im  Anstaltsorte  zu  verbleiben.  In  diesem  findet  sich  im  Laufe  der 
Zeit  eine  Reihe  von  Handwerkern,  die  gerne  taubstumme  Lehrlinge 
annehmen  und  in  deren  Ausbildung  eine  gewisse  Routine  erlangen. 
Nicht  wenige  Taubstumme  gewinnen  in  ihrem  ehemaligen  Pflegevater 
einen  Lehrmeister.  Wenn  die  Taubstummen  im  Anstaltsort  ver- 
bleiben, so  überwachen  und  leiten  sie  ihre  früheren  Lehrer  gerne. 

Bei  der  Wahl  eines  Lebensberufes,  die  entscheidend  für  die 
Existenz,  ja  für  das  ganze  Lebensglück  der  Taubstummen  ist,  treten 
die  Taubstummenlehrer  allezeit  ratend  und  helfend  ein.  Die  Knaben 
erlernen  in  der  Regel  ein  einfaches,  stets  gangbares  Handwerk,  wie 
Schneiderei,  Schuhmacherei,  Tischlerei,  Buchbinderei,  Handschuh- 
macherei.    Einzelne  bringen  es  darin  soweit,  daß    sie    sich    ein    selb- 


382  'raulMtumnifu-  und   lüindenunterricht. 

Ständiges  Geschäft  gründen  können.  Andere  werden  Schlosser, 
Sattler,  Gold-  und  Silberarbeiter,  Gärtner,  Schriftsetzer,  Lederarbeiter. 
Solche,  die  zeichnerisch  beanlagt  und  gut  ausgebildet  sind,  ein  sicheres 
Auge  und  eine  geschickte  Hand  besitzen,  bilden  sich  als  Elfenbein- 
schnitzer, Lithographen,  Xylographen,  Porzellanmaler,  Holzbildhauer, 
Stubenmaler,  Stuckarbeiter  aus.  Auch  in  der  Landwirtschaft  finden 
sie  nützliche  Verwendung.  In  das  Gebiet  der  höheren  Kunst,  der 
Malerei,  Bildhauerei  und  Baukunst,  dringen  nur  wenige,  in  hervor- 
ragender Weise  künstlerisch  begabte  Taubstumme  ein. 

Es  ist  schwer,  die  Mädchen  wirtschaftlich  selbständig  zu 
machen.  Als  Dienstboten  will  sie  selten  jemand  annehmen.  Am 
besten  sind  sie  im  Elternhause  als  Stütze  der  Mutter  aufgehoben. 
Wenn  diese  Möglichkeit  nicht  vorliegt,  so  werden  sie  wohl  Putz- 
macherinnen, Schneiderinnen,  Weißnäherinnen,  Plätterinnen  oder 
Wäscherinnen. 

Mit  Rücksicht  darauf,  daß  die  Taubstummen  fast  durchgehends 
arm  sind,  und  um  unter  den  vorhandenen  Lehrmeistern  eine  geeig- 
nete Auswahl  treffen  zu  können,  ist  in  Preußen  durch  Königliche 
Kabinettsordre  vom  16.  Juni  1817  „denjenigen  Künstlern  und  Hand- 
werkern, die  einen  Taubstummen  als  Lehrling  annehmen  und  aus- 
lehren", eine  Prämie  von  150  M.  in  Aussicht  gestellt.  Es  können 
allerdings  nur  diejenigen  Lehrmeister  auf  Bewilligung  einer  solchen 
Beihilfe  rechnen,  die  den  taubstummen  Lehrling  zu  sich  ins  Haus 
nehmen,  ihn  unterhalten  und  soweit  ausbilden,  daß  er  sich  in  seinem 
Fache  selbständig  seinen  Lebensunterhalt  zu  verschaffen  vermag.  Der 
Nachweis  der  erfolgten  Ausbildung  geschieht  durch  glaubwürdige 
Sachverständige.  Die  Prämie  wird  sowohl  für  Ausbildung  von  Knaben 
als  auch  von  Mädchen  bewilligt.  Auch  Nichtpreußen,  die  aber  in 
einem  deutschen  Bundesstaate  wohnen  müssen,  kann  sie  gewährt 
werden.  Eine  gleiche  Einrichtung  besteht  für  das  Königreich  Sachsen 
auf  Grund  der  Verordnung  vom  3.  November  1865.  In  Braunschweig 
beträgt  die  Prämie  125  M. 

Verschiedene  Taubstummenanstalten  haben  es  sich  angelegen 
sein  lassen,  Mittel  zu  sammeln,  mit  deren  Hilfe  sie  in  den  Stand  ge- 
setzt werden,  den  Taubstummen  den  Übergang  aus  der  Schule  ins 
praktische  Leben  zu  erleichtern  oder  in  den  Zeiten  der  Not  beizu- 
springen. Zu  gleichen  Zwecken  bestehen  mancher  Orten  Stiftungen. 
Auch  die  Verwaltungsbehörden  gewähren  in  einzelnen  Fällen  armen 
Taubstummen  bei  deren  Eintritt  in  einen  Lebensberuf  Unterstützungen. 
So  besitzt  z.  B.    Baden    einen    Lehrmittelfonds,   aus    dem  auch  taub- 


Das  Taubstuinmenbildungswescii  im  Deutscheu  Reicli.  383 

stumme  Lehiiin<^e  Beihilfen  zur  Beschaffung"  des  nötigen  Handwerks- 
geräts erhalten. 

Wenn  auch  die  Taubstummenlehrer  nicht  die  Sorge  um  ihre 
ehemaligen  Zöglinge  zu  haben  brauchen  ^\•ie  die  Blindenlehrer,  die 
bei  ihrem  Streben,  die  früheren  Schüler  wirtschaftlich  selbständig  zu 
machen,  auf  fast  unüberwindliche  Schwierigkeiten  stol,kn,  wenn  auch 
die  Taubstummen  im  allgemeinen  gute  und  daher  gerne  angenommene 
Arbeiter  werden,  die  ihr  Brot  ehrlich  und  redlich  verdienen,  so 
bleiben  sie  doch  meistens  bei  bescheidenem  Verdienst  in  unter- 
geordneten Stellungen,  und  es  wird  ihnen  nicht  leicht,  für  die  Tage 
der  Not  und  die  Zeit  des  Alters  zu  sparen.  Die  ungebildeten  und 
die  geistig  minderwertigen  finden  oft  schwer  Arbeit,  und  so  bleibt  es 
vielfach  nicht  aus,  daß  ihre  Kräfte  im  Kampfe  ums  Dasein  vorzeitig 
erlahmen,  und  daß  sie  in  bittere  Not  geraten.  Um  den  arbeits- 
unfähigen und  vom  Alter  gedrückten  Taubstummen  zu  helfen,  sind 
Asyle  für  sie  gegründet  worden,  deren  Zahl  allerdings  bis  jetzt  eine 
geringe  ist.  Freilich  erfordert  die  Einrichtung  und  Unterhaltung 
solcher  Anstalten  sehr  erhebliche  Mittel;  guter  Wille  und  zähe  Aus- 
dauer haben  jedoch  in  dieser  Richtung  schon  manches  erreicht.  Das 
hat  der  nunmehr  \"erstorbene  Geistliche  Rat  Wagner  erwiesen,  dem 
die  Asyle  für  Taubstumme  in  Dillingen  (Schwaben;,  Zell  (Mittel- 
frankenj,  Hohenwart  (Oberbayernj  und  Michelfeld  (Oberpfalz)  mit  zu- 
sammen 400  Pfleglingen  zu  xerdanken  sind.  Das  hat  der  Vorsteher 
J.  Ziegler  gezeigt,  der  Schöpfer  der  Anstalten  zu  Wilhelmsdorf  in 
Württemberg  mit  über  40  Pfleglingen.  Es  bestehen  ferner  Heime  zu 
Glött  in  Bayern,  zu  Gmünd  in  W^ürttemberg,  zu  Winnenden  ebenda. 
Das  Frauenasyl  in  Dresden  ist  an  die  Taubstummenanstalt  daselbst 
angegliedert  und  erhält  staatliche  Unterstützung.  In  Berlin  arbeitet 
man  schon  seit  Jahren  an  der  Gründung  eines  Taubstummenheims; 
über  einen  bescheidenen  Anfang  ist  man  jedoch  nicht  hinausgekommen. 
In  verschiedenen  preußischen  Provinzen  sind  Provinzialvereine  einge- 
richtet worden,  die  den  Zweck  verfolgen,  arme  und  arbeitsunfähige 
Taubstumme  zu  unterstützen  und  nach  Gewinnung  der  erforderlichen 
Mittel  Asyle  einzurichten,  so  in  Schleswig-Holstein,  Westfalen,  Han- 
nover und  Sachsen.  Besonders  dem  Verein  in  der  zuerst  genannten 
Provinz  ist  es  infolge  seiner  vorzüglichen  Organisation  gelungen,  in 
verhältnismäßig  kurzer  Zeit  sehr  erhebliche  Mittel  zu  sammeln,  und 
so  konnten  denn  auch  schon  die  ersten  Taubstummen  in  dem  dortigen 
Heim  untergebracht  werden.  Ähnliche  günstige  Erfolge  sind  von  dem 
pommerschen  Provinziah-erein  zu  verzeichnen. 


;^*->_|.  'raubsluiiinicu-   und   Hlindeaunterricht. 

\\)v  dem  Gesetz  steht  der  Taubstumme  —  von  wenigen  Aus- 
nahmen abgesehen  —  mit  dem  X^ollsinnigen  auf  einer  Stufe.  Im 
§  93  der  Motive  zum  BürgerUchen  Gesetzbuch  ist  ausdrückUch  be- 
merkt, daß  keine  Gründe  mehr  vorliegen,  die  Taubstummen  mit  Rück- 
sicht darauf,  daß  viele  derselben  lesen  und  schreiben  können,  anders 
zu  behandeln  als  alle  übrigen  rechtsfähigen  Personen.  Es  ist  das 
eine  hervorragende  Anerkennung  der  Leistungen  der  deutschen  Taub- 
stummenanstalten. Es  fällt  daher  nach  dem  Bürgerlichen  Gesetzbuch 
die  bisherige  Beschränkung,  daß  Taubstumme  nur  gerichtlich  oder 
notariell  ihre  Verträge  schließen  können,  fort,  und  es  besteht  für  sie 
wie  für  jeden  andern  die  Möglichkeit,  in  formfreier  Weise  Verträge 
zu  schlielkni.  Einen  besonderen  Schutz  gewährt  ihnen  '^  828  des 
genannten  Gesetzbuches,  der  da  lautet:  AVer  das  siebente,  aber 
nicht  das  achtzehnte  Lebensjahr  vollendet  hat,  ist  für  einen  Schaden, 
den  er  einem  andern  zufügt,  nicht  verantwortlich,  wenn  er  bei  Be- 
gehung der  schädigenden  Handlung  nicht  die  zur  Erkenntnis  der 
der  Verantwortlichkeit  erforderliche  Einsicht  hat.  Das  gleiche  gilt 
von  einem  Taubstummen.  Es  entspricht  das  dem  ^  58  des  deutschen 
Strafgesetzbuches:  Ein  Taubstummer,  welcher  die  zur  Erkenntnis 
der  Strafbarkeit  einer  von  ihm  begangenen  Handlung  erforderliche 
Einsicht  nicht  besaß,  ist  freizusprechen. <  Nach  j  1910  des  Bürger- 
lichen Gesetzbuches  kann  ein  Volljähriger,  der  nicht  unter  Vormund- 
schaft steht,  für  seine  Person  und  sein  Vermögen  einen  Pfleger  er- 
halten, >wenn  er  infolge  körperlicher  Gebrechen,  insbesondere  weil 
er  taub,  blind  oder  stumm  ist,  seine  Angelegenheiten  nicht  zu  be- 
sorgen vermag.  Die  Pflegschaft  darf  nur  mit  Einwilligung  des 
Gebrechlichen  angeordnet  werden,  es  sei  denn,  dal?i  eine  Ver- 
ständigung mit  ihm  nicht  möglich  ist.< 

Es  i.st  selbstverständlich,  daß  nicht  gebildete  Taubstumme,  die 
weder  sprechen  noch  schreiben  können,  vor  Gericht  anders  behandelt 
werden,  als  gebildete:  sie  bedürfen  bei  gerichtlichen  Verhandlungen 
eines  Dolmetschers,  es  ist  bei  ihnen  in  Sachen,  welche  vor  dem  Land- 
gericht in  erster  Instanz  verhandelt  werden,  die  Verteidigung  not- 
wendig, sie  haben  den  Eid  mit  Hilfe  eines  Dolmetschers  durch  Zeichen 
zu  leisten,  sie  stehen  zeitlebens  unter  Vormundschaft  und  müssen  ihre 
Verträge  gerichtlich  aufnehmen  lassen. 

Bezüglich  der  Eheschließung  der  Taubstummen  bestehen 
keine  Beschränkungen ;  es  gibt  daher  auch  in  Deutschland  viele  Ehen, 
in  denen  Mann  und  Erau  taubstumm  sind,  und  andere,  in  denen  nur 
ein  Ehegatte    taub  ist.     Da  sich  körperliche  und   geistige  Eigenarten 


Das  Taubstuniinenbiklungswesen  im   Deutschen   Reicli.  385 

unzweifelhaft  vererben,  so  liegt  für  die  Nachkommenschaft  aus  Taub- 
stummenehen eine  gewisse  Gefahr  vor.  Die  Möglichkeit  der  Ver- 
erbung der  Taubstummheit  auf  die  Kinder  ist  besonders  dann  vor- 
handen, wenn  die  Eltern  taub  geboren  sind  und  dieses  Gebrechen 
sich  schon  in  aufsteigenden  und  Nebenlinien  vorfindet;  die  Taubheit 
tritt  jedoch  selten  in  zwei  direkt  aufeinander  folgenden  Generationen 
auf.  In  den  Ehen,  unter  solchen  Gehörlosen  geschlossen,  welche  die 
Taubheit  durch  irgend  welche  schädigenden  Einflüsse  erworben  haben, 
bestehen  für  die  Nachkommenschaft  die  bezeichneten  Gefahren  nicht. 

5.  Taubstummen-Statistik, 
hl  Deutschland    findet    alle    fünf  Jahre    eine  Volkszählung  statt, 
bei  der  jedoch  die  Gebrechlichen,    also  auch  die  Taubstummen  nicht 
immer  gesondert  gezählt  werden.     Die  Zählung  der  Taubstummen  in 
Preußen  ergab: 


männliche 

weibliche 

zusammen 

Auf  10  000  Einwohner 
männliche       weibliche        zusammen 

1871 

13118 

11  197 

24  315 

10,8 

9,0 

9,9 

1880 

15168 

12  626 

27  794      1 

11,3 

9,1 

10,2         1 

1895 

15  699 

12  849 

28  548 

10,0 

7,9 

9,0 

1900 

17  075 

14  303 

31  278     : 

10,0 

8,2 

9,1 

Vor  i88()  — 1895  ist  ein  nicht  unbedeutender  Rückgang  in  der 
Zahl  der  Taubstummen  zu  konstatieren,  der  sich  auch  bei  der  Auf- 
nahme in  die  Taubstummenanstalten  erkennen  und  der  sich  daraus 
erklären  läßt,  daß  die  seitens  der  Behörden  getroffenen  hygienischen 
^Maßnahmen,  wie  Absperrung  des  Herdes  solcher  Krankheiten,  die 
besonders  geeignet  sind,  die  Taubheit  zu  erzeugen  (Scharlach,  Masern, 
Diphtherie  usw.),  das  Krankenversicherungsgesetz,  das  auch  Armen 
die  Zuziehung  eines  Arztes  in  Krankheitsfällen  viel  eher  ermöglicht  als 
früher,  und  der  zunehmende  Volkswohlstand  ihren  wohltätigen  Einfluß 
ausgeübt  haben.  Der  geringe  Zugang  an  Taubstummen  von  1 895 — 1900 
ist    ohne  Bedeutung  und  hat  offenbar  in  Zufälligkeiten  seinen  Grund. 

Über  die  Zahl  der  Taubgeborenen  und  Taubgew^ordenen  enthält 
die  Statistik  keine  Zahlenangaben;  diese  würden  auch  keine  sonder- 
liche Bedeutung  haben,  da  es  in  den  meisten  Fällen  unmöglich  ist, 
festzustellen,  ob  ein  Kind  von  Geburt  an  kein  Gehör  besitzt  oder 
dieses  erst  später  verloren  hat.  Die  Hörorgane  des  neugeborenen 
Kindes  sind  so  zart  und  empfindlich,  daß  eine  leichte  Erkältung,  ein 
Fall,  ein  Stoß  gegen  den  Kopf  und  dergl.  ihre  Zerstörung  herbei- 
führen können.     Es    läßt    sich  daher    mit  Gewißheit    annehmen,    daß 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  25 


386  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

die  Zahl  der  Taubgeborenen  viel  geringer  ist  als  die  der  Taubge- 
wordenen. Die  Zahl  der  letzteren  übersteigt  die  der  ersteren  auf 
alle  Fälle  um  ein  bedeutendes.  Auch  die  Angaben  der  Angehörigen 
über  die  Krankheit,  die  den  Verlust  des  Gehörs  veranlaßt  haben  soll, 
sind  in  der  Regel  sehr  unsicher. 

Von  den  in  Preußen  im   Jahre   1900  gezählten  Taubstummen  waren  dem 
Religionsbekenntnisse  nach : 

Evangelische 19  485 

Sonstige  Protestanten 70 

Katholiken 11  272 

Andere  Christen 14 

Juden 554 

Ohne  Religionsbekenntnis  und  unbekannt  53 

Es  standen  im  Alter 

unter  5  Jahren 728 

Über     5  bis     6  Jahre  alt 429 

„       6    „    10  "   „       „ 2  217 

„     10    „    14      „       „ 2  446 

„      14    „    15      „       „ 605 

„     15    „    20      „       „ 3  073 

„     20    „    30      „       „ 6  318 

„     30    „    40      .,       „ 7  181 

„     40    „    50      „       „ 3  410 

„     50    „    60      „       „ 2  542 

„     60    „    70      ,.       „ 1  503 

„     70    „  100      „       , 889 

unbekannt 107 

Mitgliedschaft  in  Familienhaushaltungen  (ohne  Anstaltsinsassen): 

Haushaltungsvorstände 3  824 

Ehegatten 1  477 

Eltern  des  Haushaltungsvorstandes  und  Großeltern,  Schwiegereltern    .       365 
Kinder  des  Haushaltungsvorstandes  ohne  Beruf: 

a)  unter  1 5  Jahren 3118 

b)  über  15  Jahre  alt 2  603 

Sonstige  Verwandte  ohne  Beruf; 1  582 

Kinder  des  Haushaltungsvorstandes  mit  eigenem  Beruf 3  748 

Sonstige  Verwandte  mit  eigenem  Beruf 1  457 

Fremde  Pfleglinge  oder  Pensionäre 2  506 

^.        ,  (   Verwandte 139 

Dienstboten  ^^.^^^^^ 2^^^^ 

Gewerbs-  und  Arbeitsgehilfen: 

a)  Kinder  über  15  Jahre  alt 1  021 

b)  sonstige  Verwandte 547 

c)  fremde  Personen 2  574 

Aftermieter  und  (Jäste 1  143 

Schlafgänger 1  146 

Ohne  Angabe 134 

Überhaupt   .    .   29  384 
Da  die  Gesamtzahl  31  448  betrug,  so  war  die  Zahl  der  Anstaltsinsassen  2  064. 


I 


Diis  'raubsluininfiibiklungswesen   im   Deutschen   Ueicli,  387 

F  a  m  i  1  i  e  n  s  t  a  n  <1 : 

Ledig 26  393 

Verheiratet    .......  4309 

Verwitwet 673 

(jeschieden 73 

Erwerbszweige: 

Landwirtschaft,  Gärtnerei  und  Tierzucht 6  287 

Forstwirtschaft  und  Fischerei 73 

Bergbau,  Hütten-  und  Sahnenwesen,  Torfgräberei 68 

Luhistrie  der  Steine  und  Erden 311 

iSIetallverarbeitung        281 

Maschinen,  Werkzeuge,  Instrumente,  Apparate 126 

Chemische  Industrie 11 

Forstwirtschaftliche  Nebenprodukte,  Leuchtstofle,  Fette,  Öle,  Firnisse 14 

Textihndustrie 268 

Papier 185 

Leder 180 

Holz-  und  Schnitzstoffe 1  178 

Xahrungs-  und  Genußmittel 311 

Bekleidung  und  Reinigung 5  389 

Baugewerbe      521 

Polygraphische  Gewerbe 259 

Künstler  (Kunstmaler  und  .Kunstbildhauer)  und  künstlerische  Betriebe  für  gewerbliche 

Zwecke 120 

Fabrikanten,  Fabrikarbeiter,  Gesellen  und  ( lehilfen,  deren  nähere  Gewerbstätigkeit 

zweifelhaft  bleibt 202 

Handelsgewerbe 178 

\'ersicherungsgewerbe 1 

Beherbergung  und  Erquickung 26 

Fläusliche  Dienste  (einschließlich  persönlicher  Bedienung,  auch  Lohnarbeit  wechselnder 

Art) 825 

Militär-,  Hof-,  bürgerlicher  und  kirchlicher  Dienst,  auch  sogenannte  freie  Berufsarten  31 

Ohne  Beruf  und  Berufsangabe 1  4569 

Verkehrsgewerbe 34 

Wenn  es  auch  unmöglich  sein  dürfte,  die  Ursachen  der  Taubheit  mit  zuverlässiger 
<  lewißheit  festzustellen,  so  mußte  es  doch  immer  beklagt  werden,  daß  die  Nachrichten 
nach  dieser  Seite  jeglichen  gesicherten  Anhaltes  entbehrten.  Der  Bund  deutscher  Taub- 
stummenlehrer nahm  deshalb  \'eranlassung,  die  Reichsbehörden  um  Anordnung  einer 
allgemeinen  deutschen  Taubstummen-Statistik  unter  besonderer  Berücksichtigung 
der  Ursachen  der  Taubheit  zu  ersuchen,  und  in  seiner  Versammlung  zu  Dresden  (1897) 
einen  Fragebogen  festzustellen,  der  bei  den  statistischen  Aufnahmen  Verwendung 
finden  sollte. 

Nach  den  vom  Bundesrate  am  12.  Dezember  1901  beschlossenen  Bestimmungen 
wird  nunmehr  vom  1.  Januar  1902  ab  eine  fortlaufende  statistische  Aufnahme  der  Taub- 
stummen im  Deutschen  Reiche  unter  Zugrundelegung  eines  Fragebogens  erhoben.  Bei 
der  .\ufnahme  wird  jedes  taubstumme  oder  der  Taubstummheit  verdächtige  Kind  a)  bei 
seinem  Eintritt  in  das  schulpflichtige  Alter  der  Vollsinnigen,  sowie  b)  bei  seiner  nach 
diesem  Zeitpunkte  erfolgten  Aufnahme  in  eine  Taubstummenanstalt  gezählt. 


388 

über 


Taubsluramen-  und  Blindeminterncht. 


über  die  Zahl  der  Taubstummt 
Ergebnisse  der  X'olkszählung 


im  Deutschen  Reiche  de 
m   1.  Dezember  1900. 


:h  dei 


Lfde. 
Xo. 


Einwohner- 
zahl 


Taubstumme 


männlich     weiblich    zusammen 


1.  Preußen 34  472  509  17  078  14  370  31448 

2.  Bayern 6  176  057  2  869  2  625  5  494 

3.  Sachsen 4  202  216  1309  1087  2  396 

4.  ^Vürttemberg 2  169  480  1202  1011  2  213 

5.  Baden 1867  944  1205  942  2  147 

6.  Hessen 1  119  893  502  402  904 

7.  Mecklenburg-Schwerin 607  770  246  239  485 

8.  Sachsen-^Veimar 362  873  169  135  304 

9.  Mecklenburg-Sirelitz 102  602  28  34  62 

10.  Oldenburg 399180  8b  78  164 

11.  Braunschweig 464  333  170  131  301 

12.  Sachsen-Meiningen 250  731  124  110  234 

13.  Sachsen-Altenburg 194  914  45  41  86 

14.  Sachsen-Coburg-Gotha 229  550  77  72  149 

15.  Anhalt 316  085  70  73  143 

16.  Schwarzburg-Sondershausen     .    .  80  898  22  15  37 

17.  Schwarzburg-Rudolstadt    ....  93059  44  35  79 

18.  Waldeck 57  918  24  17  41 

19.  Reuß  ä.  L 68  396  12  18  30 

20.  Reuß  j.  L 139210  67  52  119 

21.  Schaumburg-I.ippe 43  132  13  16  29 

22.  Lippe 138  952  42  44  86 

23.  Lübeck 96  775  29  26  55 

24.  Bremen 224  882  102  73  175 

25.  Hamburg 768  349  132  101  233 

26.  Elsaß-Lothringen 1719  470  701  635  1336 


Insgesamt 


56  367  178        26  363         221 


48  7501) 


1)  Auf  10  000  Einwohner  kommen  8,7  Taubstumme. 

Die  in  dem  P'ragebogen  enthaltenen  tragen  sind  folgende : 

1 .  Ist  die  der  Taubstummheit  zugrunde  liegende  Taubheit  nach  Angabe  der  Angehörigen 
angeboren?  ....  erworben?  ....  oder  können  die  Angehörigen  hierüber  keine  be- 
stimmten Angaben  machen?  ....  In  welchem  Lebensalter  ist  die  Taubheit  zur  Wahr- 
nehmung der  L'mgebung  gekommen?  .... 

2.  Ist  das  Kind  ehelich  oder  unehelich  geboren  ? 

3.  Wieviel  Kinder  hat  die  Mutter  geboren? 

4.  Wieviel  Kinder  hat  die  Mutter  vordem  untersuchten  geboren?  ....  Sind  Totgebmten 
oder  Fehlgeburten  vorausgegangen?  ....  Wieviele?  .... 

5.  Wie  alt  war  die  Mutter  bei  der  Geburt  des  Kindes?  .... 

6.  Wie  alt  waren  die  Eltern  (Vater,  Mutter)  bei  der  Eheschließung?  .... 

7.  Sind  die  Eltern  blutsverwandt?  .... 


1      Das  'raubstumnieiiljildiingswesen  im   Dcutsclien   Keicli.  389 

8.  Sind  die  (Iroßeltern  (väterliclier-,  niiilterliclierseits)  blutsverwandt?  (Genaue    Angabe, 
bei  7  und  8,  des  verwandtschaftlichen  Verhältnisses). 

9.  Leiden  oder  litten  die  Eltern  (\'ater,   Mutter)  an  Taubstummheit?  ....    angeborener? 

....  erworbener?  ....  an  Taubheit?  ....  doppelseitiger?  ....  einseitiger?  ....  an 
Schwerhörigkeit  höheren  (Irades?  ....  an  Tuberkulose?  ....  an  Geisteskrankheit?.  .  .  . 

an    Kretinismus?    an  Lues?    (ojektive  Zeichen? welche? )    an 

Retinitis  pigmentosa?*)    Sind  die  Patern  (\*ater,  Mutter)  gestorben? an 

welcher  Krankheit? 

10.  Wieviel  Geschwister  sind  taub  geboren?   Wieviel  Geschwister  sind  taubstumm 

geworden?  Wieviel  Geschwister  leiden  oder  litten  an  doppelseitiger  Taub- 
heit?     an  einseitiger  Taubheit? an  Schwerhörigkeit  höheren  Grades?  .... 

an  Tuberkulose?    an  Geisteskrankheit?  an  Kretinismus?    an  angeborener 

Lues?    an  Keratitis  diffusa?    an  Retinitis  pigmentosa?    Wieviel 

Geschwister  sind  gestorben?   an  welcher  Krankheit? 

1 1 .  Kommen  oder  kamen  bei  den  Großeltern  oder  sonst  in  der  Verwandtschaft  (genaue 
Angabe  des  verwandtschaftlichen  Verhältnisses)  Fälle  von  angeborener  Taubstumm- 
heit?         von    erworbener    Taubstummheit? von    Schwerhörigkeit   höheren 

Grades?    von  Geisteskrankheiten?    von  Kretinismus?    vor? 

12.  Ist  das  Kind  seinem  Lebensalter  entsprechend  körperlich  und  geistig  entwickelt?.  ..  . 
In  welchem  Alter  hat  es  gehen  gelernt? 

13.  Ist  oder  war  das  Kind  mit  einem  körperlichen  oder  geistigen  Leiden  oder  Gebrechen 

behaftet?  mit  welchem?    Sind  insbesondere  Zeichen  vorhanden:  von  Blödsinn? 

Schwachsinn  oder  Kretinismus?  —  von  Epilepsie?  —  von  Lähmungen  der  Extremi- 
täten? des  nervus  facialis?  —  von  Kropf?  —  von  Tuberkulose?  —  von  Skrofulöse? 
—  von  Rhachitis?  —  von  Lues?  —  von  Störungen  des  Sehvermögens?  Re- 
tinitis pigmentosa?  —  Keratitis  diffusa?  —  von  Mißbildungen  (Kopf-  und  Schädel- 
bildung) ? 

14.  Zeigen  der  Nasen-,  Rachenraum,    das    äußere    Ohr,    der   äußere  Gehörgang  und  das 

Trommelfell  bei  der  Untersuchung  normales  Verhalten?    oder  Veränderungen? 

welche? Ist  die  Atmung  durch  die  Xase  frei?    

15.  Haben    aus    Anlaß    der    Taubheit    Heilversuche    stattgefunden?    Welcher  Art? 

W^ie  lange,  nachdem  die  Taubheit  zuerst  bemerkt  wurde? 

16.  Während  welcher  oder  in  unmittelbarem  Anschluß  an  welche  Krankheit  ist  die  Taub- 
heit bemerkbar  geworden?  nach  epidemischer  Genickstarre?  —  nach  anderen  Gehirn- 
krankheiten?     nach  welchen?    nach  Scharlach?  —  nach  Masern? — nach 

Diphtherie?  —  nach  Pocken?  —  nach  Unterleibstyphus?  —  nach  Keuchhusten?  — 
nach  Mumps?  —  nach  Influenza?  —  nach  Ohrenleiden?  —  nach  Kopfverletzung? 
(Fall  oder  Schlag  auf  den  Kopf,  Zangengeburt)?  —  nach  welcher  sonstigen  Er- 
krankung?     

17.  Hatte  das  Kind  vor  der  Zeit,  in  welcher  der  Gehörmangel  bemerkbar  wurde,  schon 
sprechen  können?    schon  lesen  gelernt?    

18.  Hat  das  Kind  schon  Taubstummenunterricht  genossen?    

19.  Bedient  sich  das  Kind  im  Verkehr  mit  seiner  Umgebung  ausschließlich  der  Zeiclien- 
sprache?  oder  sind  noch  Spi'achreste  vorhanden?  In  welchem  Um- 
fange?     

20.  Hört  das    Kind    noch    Töne?    (Prüfung    mit    der  kontinuierlichen    Tonreihe)    

Hört  das  Kind  noch    Vokale?     welche    und  auf    welche    Entfernung?    


*)  Als  Zeichen  der  nicht  ganz  selten  bei  Taubstummheit  auftretenden  Retiniti 
pigmentosa  sind  außer  dem  ophthalmoskopischen  Befunde  noch  Hemeralopie  und  Ein- 
schränkung des  Gesichtsfeldes  zu  beobachten. 


390  Taub>tunimen-  und   Blindenuntenicht. 

Hört  das  Kind  nocli  Konsonanten?    ....    welclie  und  auf  welche  Entfernung?    

Hört  das  Kind  nocli  \Yorte?  welche  und    auf   welche    Entfernung?    Hört    das 

Kind  noch  Sätze?    (Beispiel),  auf  welche  Entfernung?    

Bei  Durchführung  des  vom  Bundesrat  gefaßten  Beschkisses  läßt 
sich  erwarten,  daß  in  nicht  allzuferner  Zeit  eine  möglichst  vollständige 
Statistik  der  Taubstummen  Deutschlands  aufgestellt  und  daß  vor 
allem  —  soweit  das  bei  der  Schwierigkeit  der  Ermittlung  der  Taub- 
heit bei  Kindern  und  der  Unzugänglichkeit  zum  Ohre  angänglich  ist 
—  die  Taubheit  in  ihren  Ursachen  nachgewiesen  sein  wird.  Sind  erst 
diese  Ursachen  erforscht,  so  werden  sich  auch  vorbeugende  Mittel 
finden  lassen,  einen  Rückgang  der  Taubheit  herbeizuführen.  — 

Die  vereinzelt  vorkommenden  Taubstummen  treten  nur  vorüber- 
gehend in  den  Gesichtskreis  ihrer  glücklicheren  Mitmenschen;  in 
ihrer  äußeren  Erscheinung  haben  sie  kaum  etwas,  \\as  das  Mitleid 
in  besonderer  Weise  erregen  könnte,  und  selbst  gut  ausgebildete 
Taubstumme  vermögen  im  Staatsgetriebe  nur  eine  bescheidene  Stel- 
lung einzunehmen.  Dennoch  hat  sich  in  Deutschland  eine  Fürsorge 
für  diese  Unglücklichen  geltend  gemacht,  die  vor  den  sehr  erheblichen 
Kosten  für  die  Ausbildung  und  die  Versorgung  der  Taubstummen 
nicht  zurückgeschreckt  ist  und  zu  Ergebnissen  geführt  hat,  die  andere 
Länder  als  mustergültig  anerkennen. 

E.   Walther. 


ZWEITER  ABSCHNITT. 
Das  Blindenunterrichtswesen  im  Deutschen  Reich. 


I.  Anfänge  des  Blindenunterrichts.  Der  erste  —  wenn 
auch  nicht  berufsmäßige  —  Blindenlehrer,  von  dem  wir  überhaupt 
nähere  Kunde  haben  und  dessen  Tätigkeit  von  nachhaltiger  Wirkung 
gewesen,  war  ein  fast  vergessener  Deutscher  —  Christian  Niesen, 
Privatgelehrter  in  Mannheim,  später  fürstbischöflicher  Speyerscher 
Kammerrat  (j  1 784).  Er  gab  zwei  Schriften  heraus  ,, Rechenkunst  für 
Sehende  und  Blinde"  (Mannheim,  1773)  und  „Algebra  für  Sehende 
und  Blinde"  (Mannheim,  1 777).  Außerdem  erfand  er  verschiedene 
wertvolle  Lehrmittel  für  Blinde.  Ein  ausgezeichneter  Schüler  von 
ihm  war  R.  Weißenbourg,  der  in  der  Kindheit  infolge  der  Blattern 
erblindet  war  und  es  dahin  brachte,  daß  er  selbst  Blinde  und  sogar 
einen  Taubstummen  unterrichten  konnte.  Er  trat  in  Verbindung 
mit  einer  sehr  gebildeten,  musikalischen,  blinden  Dame,  Fräulein  von 
Paradis  in  Wien,  die  auch  eine  von  dem  Bergrat  von  Kempelen  für  sie 
erfundene  Druckvorrichtung  zum  Briefschreiben  benutzte.  Diese  Dame 
lernte  1 784  in  Paris  Valentin  Hauy  kennen,  wie  er  in  seinem  „Essai  sur 
l'education  des  aveugles"  selbst  anführt,  und  dadurch  wurden  ihm 
auch  die  Nießenschen  Lehrmittel  bekannt,  die  nun  auch  in  der  von  ihm 
mit  Unterstützung  der  „Societe  philanthropique"  1785  gegründeten 
ersten  Blindenunterrichtsanstalt  der  Welt  Verwendung  fanden.  In 
Deutschland  wurde  die  erste  Blindenunterrichtsanstalt  in  Berlin  mit  Staats- 
mitteln durch  Kabinettsorder  vom  1 1 .  August  1 806  gegründet,  nachdem 
Hauy  Gelegenheit  gehabt  hatte,  vor  dem  König  Friedrich  W^ilhelm  III. 
mehrere  Unterrichtsproben  abzulegen  und  seine  Methode  darzulegen. 
Erster  Leiter  der  Anstalt  war  A.  Zeune,  Lehrer  am  Gymnasium  zum 
grauen  Kloster,  der  sich  bereits    seit  1803   mit   einem  dahingehenden 


392  Taubstummen-  und   Hlindenunterricht. 

Plan  beschäftigt  und  dessen  Bemühungen  auch  viel  zu  dem  Zustande- 
kommen derselben  beigetragen  hatten.  Er  blieb  auf  diesem  Posten, 
den  er  während  der  schweren  Kriegsbedrängnisse  nur  mit  der  größten 
Aufopferung  und  Anstrengung  aufrechterhalten  konnte,  bis  zu  seiner 
eigenen  Erblindung  im  Jahre  1847. 

2.  Die  Gründung  weiterer  Anstalten.  Im  Jahre  1808 
wurde  durch  j.  W.  Klein,  einen  süddeutschen  Protestanten,  der 
schon  1804  den  ersten  privaten  Unterrichtsversuch  mit  einem  blinden 
Knaben  unternommen,  der  sich  schon  längere  Zeit  mit  diesem 
Plan  beschäftigt  hatte,  auch  in  Wien  eine  Blindenlehranstalt  errichtet. 
Noch  während  der  Kriegsunruhen  gründete  Flemming,  der  sich  bei 
Zeune  Rat  geholt,  1809  die  Blindenanstalt  in  Dresden,  ein  Privat- 
unternehmen,   das    erst  1831    vom  Staat    übernommen  \\an-de. 

In  den  Freiheitskriegen  1813 — 15  erblindeten  —  weniger  durch 
Schußverletzungen,  \orwiegend  durch  eine  ansteckende  Augenentzün- 
dung —  über  500  preußische  Soldaten.  Eine  Sammlung  zu  deren 
Gunsten  brachte  die  dem  Könige  zur  Verfügung  gestellte  Summe 
von  81  000  M.  Auf  Zeunes  Empfehlung  wurde  beschlossen,  die 
Gelder  zur  Errichtung  sogenannter  Kriegsblindenanstalten  zu 
verwenden,  d.  h.  Werkschulen,  die  nur  solange  bestehen  sollten,  bis 
alle  erblindeten  Krieger  handwerksmäßig  ausgebildet  wären.  Zunächst 
wurden  nun  in  der  königlichen  Blindenanstalt  zu  Berlin  Werklehrer 
vorgebildet  zur  Unterweisung  der  ehemaligen  Soldaten.  So  entstanden 
von  1817  an  die  Kriegswerkschulen  zu  Berlin  (im  Invalidenhause), 
Breslau,  Königsberg,  Marienwerder  und  Münster.  Drei  derselben 
gingen,  weil  sie  ihre  Aufgabe  gelöst  hatten,  nach  ein  bis  zwei  Jahren 
wieder  ein.  Die  Königsberger,  welcher  der  hochverdiente  Feldherr 
Graf  Bülow  von  Dennewitz  seine  ganze  Kriegsdotation  von  60  000  M, 
schenkte,  bestand  bei  den  reichen  Mitteln  18  Jahre.  Aus  der  Bres- 
lauer Werkschule  entwickelte  sich  1819  die  noch  jetzt  bestehende 
schlesische  Blinden-Unterrichtsanstalt,  zu  deren  Errichtung  der 
dort  weilende  blinde  Student  Knie,  der  bedeutendste  Schüler  Zeunes 
(1809 — 14),  bereits  1817  einen  wirkungsvollen  Aufruf  erlassen  hatte. 
Es  bildete  sich  ein  Verein,  der  den  Plan  verwirklichte  und  den 
24jährigen  blinden  Knie,  ^\'elcher  sich  schon  an  einer  höheren  Bres- 
lauer Schule  bewährt  hatte,  als  Oberlehrer  die  unterrichtliche  Leitung 
der  Anstalt  übertrug.  Er  entfaltete  in  dieser  Stellung  eine  reich- 
gesegnete Tätigkeit  und  unternahm  im  Jahre  1835  ohne  jede  Beglei- 
tung eine  von  ihm  eingehend  beschriebene  dreimonatige  pädagogische 
Reise    durch    Deutschland.     Im    übrigen    aber    kam    man    im    ersten 


Das  Blindenunten-ichtswcsen  im  Deutschen  J\.eicli.  393 

Viertel  des  Jahrhunderts  über  die  genannten  drei  Erziehungsanstalten 
nicht  hinaus. 

'A.  Ausbreitung  der  Blindenanstalten  in  Deutschland. 
Bald  regte  es  sich  jedoch  besonders  unter  dem  Einfluß  der  Wiener 
Blindenanstalt  recht  lebhaft  in  Süddeutschland.  Bayern  ging  mit 
der  Gründung  der  Blindenanstalt  in  Freysing- München  1826  voran,  dem 
Baden  mit  Bruchsal-Ilvesheim  noch  in  demselben  Jahre,  Württem- 
berg mit  Stuttgart  im  nächsten  Jahre  sich  anschloß,  während  in 
Norddeutschland  Braunschweig  unter  Professor  Dr.  Lachmann,  dem 
Bruder  des  berühmten  Philologen,  1 829  und  Hamburg  unter  Professor 
Dr.  Gülich  1830  folgten.  Ferner:  1832  Gmünd  (Württemberg),  Halle  a/S. 
1833  (Provinz  Sachsen),  1837  Frankfurt  a/M.  (Provinz  Hessen),  1842 
Paderborn  (Westfalen),  1 843  Hannover,  1 845  Düren  (Rheinprovinz)  und 
Freiburg  in  Baden,  1846  Königsberg  i/Pr.,  1847  Soest  (Westfalen),  1850 
Stettin  i/P.  und  Friedberg  (Hessen),  1853  Bromberg  (Posen)  und  Würz- 
burg (Bayern),  1 857  lUzach  (Elsaß,  damals  noch  französisch),  1 858  Weimar 
(Großherzogtum  Sachsen)  und  Barby  (Provinz  Sachsen),  1861  Wies- 
baden (Provinz  Hessen),  1862  Kiel  (Schleswig- Holstein),  1864  Neu- 
kloster (Mecklenburg),  1865  Leipzig  (Königreich  Sachsen),  1860 
Heiligenbronn  (Württemberg),  1885  Ursberg-Pfaffenhausen  (Bayern), 
1886  Königsthal  (Westpreußen),  1889  Augsburg  (Bayern),  1895  Still 
(Elsaß),  1896  Bremen,  1899  Neuwied  (Rheinland),  1900  Königswuster- 
hausen (Provinz  Brandenburg). 

4.  Äußere  Entwicklung  der  Anstalten.  Einige  dieser  An- 
stalten sind  im  Laufe  der  Zeit  zu  ihrem  Vorteil  verlegt  worden, 
andere  konnten  sich  wegen  unzureichender  Mittel  oder  Lehrkräfte 
nicht  halten,  lebten  aber  späteruntergünstigerenBedingungen  wieder  auf. 
So  stellte  die  1829  eröffnete  Braunschweiger  Privatanstalt  1874  ihre 
Tätigkeit  ein,  indem  sie  ihre  Zöglinge  der  Anstalt  in  Hannover  über- 
wies, erstand  aber  1894  neu  und  zwar  nun  als  Staatsanstalt.  In  der 
Provinz  Sachsen  mußte  die  Hallesche  Anstalt,  die  seit  1833  sich 
mühte,  wegen  Mängel  in  der  inneren  Einrichtung  1849  aufgelöst 
werden;  doch  nahm  Barby  1858  die  Arbeit  wieder  auf,  wo  1898  nur 
eine  Zweiganstalt  zurückblieb  für  erwachsene  und  schwächere  Zög- 
linge, während  die  Hauptanstalt  in  eine  großartige  y\nlage  nach  Halle 
übersiedelte  und  dort  auch  die  Blinden  des  Herzogtums  Anhalt,  die 
bis  dahin  die  Königl.  Preußische  Blindenanstalt  besuchten,  zur  Aus- 
bildung aufnimmt. 

Ähnlich  wie  Anhalt  verfahren  die  übrigen  Norddeutschen  Klein- 
staaten,   soweit    sie    einer   eigenen   Blindenerziehungsstätte  entbehren. 


394  Taubstummen-  und  BlindenunteiTicht. 

Sie  haben  mit  der  nächstgelegenen  fremden  BHndenanstalt  ein  Ab- 
kommen getroften,  nach  welchem  die  betreffenden  Blinden  dort  Auf- 
nahme finden.  Bremen  gibt  die  blinden  Kinder  jedoch  nur  bis  zur 
Konfirmation  nach  Hannover  und  übernimmt  die  gewerbliche  Aus- 
bildung selber.  Die  1 887  gegründete  Blindenanstalt  in  Hildburghausen 
(Sachsen-Meiningen)  ging  nach  sechsjährigem  Bestehen  aus  ^Mangel 
an  Zöglingen  wieder  ein. 

Die  preußische  Staatsblindenanstalt  in  Berlin  erfuhr  eine  wesent- 
liche Förderung  durch  das  ihr  1832  zugefallene  Vermächtnis  des 
Zeune  befreundeten  Domherrn  von  Rothenburg  (260  000  M.),  der 
in  der  Anstalt  Zuflucht  vor  der  Cholera  gesucht  und  gefunden  hatte. 
—  Zeunes  Nachfolger  Hientzsch  betrieb  die  Gründung  eines  „Vereins 
zur  Fürsorge  für  erwachsene  Blinde",  der  seine  Tätigkeit  im  engsten 
Anschluß  an  die  Königliche  Blindenanstalt  ausüben  sollte  und  auch 
eine  Beschäftigungsanstalt  für  erwachsene  Blinde  1852  einrichtete. 
Leider  löste  sich  der  Verein  später  von  der  Königlichen  Blinden- 
anstalt völlig  los  und  hat  in  der  von  Hientzsch  verfolgten  Richtung 
bis  heute  trotz  seiner  günstigen  Vermögenslage  nur  eine  bescheidene 
Wirksamkeit  zu  verzeichnen.  —  Als  das  aus  den  Mitteln  der  von 
Rothenburg-Stiftung  erworbene  Haus  Wilhelmstr.  139  den  Zwecken 
der  Blindenbildung  nicht  mehr  genügte,  erfolgte  endlich  1877  die 
Verlegung  der  Königlichen  Blindenanstalt  nach  dem  eine 
Meile  entfernten  Vororte  Steglitz.  Dort  erhielt  sie  ein  weites  freund- 
liches Gelände,  das  auch  allen  gesundheitlichen  Anforderungen  ent- 
sprach. Dort  verdreifachte  sich  in  25  Jahren  die  Zahl  der  Zöglinge, 
indem  sie  von  40  auf  120  stieg.  In  engster  Verbindung  mit  ihr 
bildete  sich  1886  der  , .Verein  zur  Beförderung  der  wirtschaftlichen 
Selbständigkeit  der  Blinden",  der  bald  zwei  Heimstätten  für  arbeits- 
fähige ehemalige  Zöglinge  an  der  Grenze  des  Anstaltsgebietes  er- 
baute. 

Die  Stadt  Berlin  aber  schuf  infolge  der  Verlegung  der  vor- 
genannten Anstalt  1878  eine  eigne  Blindenschule,  mit  welcher 
später  auch  Werkstätten  verbunden  wurden,  in  denen  neben  blinden 
Lehrlingen  auch  Ausgelernte  gegen  Lohnzahlung  arbeiten.  Diese 
Anstalt  ist  ein  völliges  Externat,  das  einzige  für  Blinde  in  Deutsch- 
land. Die  Führung  der  Zöglinge  zur  Anstalt  und  zurück  wird  von 
Waisenkindern,  deren  Unterkunfthaus  in  nächster  Nähe  liegt,  über- 
nommen. 

5.  Äußere  Stellung  der  Anstalten  und  weitere  Aus- 
o-estaltuno-.     Die  meisten   deutschen   Blindenanstalten  verdanken  ihr 


Das  Elindeuunterriclitswesen   im   Deutschen   Reich.  395 

Dasein  tatkräftii^cn,  begeisterten  Blindenfreunden  oder  Vereinen, 
etliche,  wie  z.  B.  Breslau,  Halle,  Stettin,  sogar  einzelnen  Blinden,  die 
in  den  ältesten  Anstalten  ausgebildet  waren  (Knie,  Krause,  Gröpler). 
Nur  zwei  —  Steglitz  -  Berlin  und  Neukloster  —  sind  ihrem  Ursprünge 
nach  Staatsanstalten.  Jemehr  indes  die  Kunde  von  den  Bildungs- 
erfolgen und  damit  die  Überzeugung  von  der  Bildungsfähigkeit  der 
Blinden  sich  verbreitete,  desto  mehr  zeigten  sich  auch  die  Behörden 
bereit  und  verpflichtet,  die  Blindenanstalten  zu  stützen  und  zu  stärken. 
So  gingen  viele  derselben  allmählich  in  Staats-,  Provinzial-  oder  Ge- 
meindeverwaltung über  oder  erhielten  von  solchen  Seiten  wenigstens 
feste  Zuschüsse.  Das  hatte  eine  Verbesserung  ihrer  Einrichtungen 
und  die  Erweiterung  ihres  Umfanges  und  ihrer  Ziele  und  die  Er- 
richtung von  Neubauten  zur  erfreulichen  Folge.  So  stieg  die  Zahl 
der  Zöglinge  in  den  preußischen  Blindenanstalten  nach  den  vor- 
handenen Unterlagen  ungefähr  wie  folgt: 

1878  waren  vorhanden  744  Zöglinge,  1880  —  803  Zöglinge, 
1883  —  962  Zöglinge,  1885—  1019  Zöglinge,    1898—  1840  Zöglinge. 

Die  Angliederung  von  Blindenanstalten  an  Taubstummenanstalten 
fand  nur  an  wenigen  außerpreuisischen  Orten  statt,  wie  in  Weimar, 
Schwäbisch  Gmünd,  Heiligenbronn,  und  erfolgte  lediglich  aus  wirtschaft- 
lichen Gründen;  doch  wird  ihr  im  übrigen  von  keinem  Fachmann  das 
Wort  geredet.  Dagegen  sind  in  deutschen  Blindenanstalten  Taub- 
stummenblinde verschiedenthch  mit  bestem  Erfolge  unterrichtet  worden, 
z.  B.  in  Frankfurt  a.  M.,  lUzach,  Königs\\artha  b.  Dresden,  Halle, 
Hamburg;  und  in  Steglitz  hat  man  einen  schwerhörigen  blinden 
Stammler,  dem  zwölf  Laute  fehlten,  zum  vollen  Gebrauch  der 
Sprache  geführt. 

Besondere  Erwähnung  verdient  noch  die  neueste  Gründung,  das 
unter  dem  Protektorat  des  Deutschen  Kaisers  stehende  Blinden- 
heim in  Königswusterhausen,  unweit  Berlins,  errichtet  aus  den 
Mitteln  der  dem  Kaiser  zur  Verfügung  gestellten  „Schmidschen 
Stiftung  für  arme  Blinde"  (500  000  M.)  des  Hamburger  Kaufmanns 
Hermann  Schmid.  Die  umfangreiche  waldige  Baustelle  gab  der  hoch- 
gesinnte Monarch  von  seinem  Jagdgebiete  als  Geschenk  her  und 
prüfte  und  änderte  persönlich  die  auf  seinen  Befehl  ausgearbeiteten 
Baupläne  der  im  Pavillonstil  aufgeführten  Heimstätte  für  hundert  er- 
werbsfähige (50  M.  und  50  W.)  Blinde.  Zu  keiner  Blindenerziehungs- 
anstalt  in  näherer  Beziehung  stehend,  öffnet  dies  Heim  seine  Pforten 
namentlich  denjenigen  deutschen  Blinden,  die  solche  Stätte  zur  Ver- 
wertung ihrer  Erwerbskraft  brauchen    und   suchen,    sie  aber  in  ihrem 


396  'l'aubstummen-  und  Blindenunterricht. 

engeren  Vaterlande  noch  nicht  finden.  Die  zur  Unterhaltung  der 
Anstalt  etwa  erforderlichen  Zuschüsse  fließen  größtenteils  aus  dem 
Kaiserlichen  Dispositionsfonds.  So  sorgt  der  Deutsche  Kaiser,  der 
außerdem  noch  Protektor  des  1860  gegründeten  Moonschen  Blinden- 
vereins zu  Berlin,  des  ältesten  Unterstützungsvereins  für  Blinde,  ist, 
für  die  des  Augenlichts  beraubten  Reichsgenossen,  und  zwar  in  Ge- 
meinschaft mit  seiner  erlauchten  Gemahlin,  die  ihre  landesmütterliche 
Teilnahme  für  die  Blinden  auch  durch  wiederholte  Besuche  der 
Blindenanstalten  in  Kiel,  Wiesbaden,  Steglitz,  Berlin  und  zuletzt  noch  in 
Halle  bekundet  hat. 

6.  Beziehungen  zum  Auslande,  besonders  zu  Amerika. 
Gegen  das  Ausland  hat  sich  Deutschland  und  vor  allem  Preußen 
auch  auf  dem  Gebiet  des  Blindenwesens  niemals  abgeschlossen  und 
befruchtende  Keime  nach  den  verschiedensten  Seiten  abgegeben. 
Schon  1820  unternahm  Zeune  im  staatlichen  Auftrage  eine  Studien- 
reise nach  Holland,  Frankreich  und  England.  Doktor  Howe,  der 
hochverdiente  Begründer  des  amerikanischen  Blindenwesens  und  erste 
Vorsteher  der  Anstalt  in  Boston,  besuchte  1832  auch  Zeune  in  Berlin, 
um  nach  seiner  Rückkehr  noch  im  August  1832  die  Blindenanstalt 
in  Boston  als  die  älteste  Amerikas  zu  eröffnen,  und  blieb  mit  Zeune 
dauernd  in  brieflichem  Verkehr. 

In  demselben  Jahre  siedelte  Julius  Friedländer,  nachdem  er 
drei  Jahre  Lehrer  an  der  Badensischen  Blindenanstalt  zu  Bruchsal- 
Ilvesheim  gewesen  war,  nach  Philadelphia  über,  verfaßte  und  ver- 
breitete dort  eine  zündende  Denkschrift  über  Blindenbildung  und 
gründete  infolgedesssen  bereits  1833  in  Phüadelphia  eine  Blinden- 
anstalt, der  er  sechs  Jahre  lang  bis  zu  seinem  Tode  vorstand. 

7.  Innere  Entwicklung  der  Blindenanstalten.  Dem 
äußeren  Wachstum  des  Blindenwesens  entsprach  im  allgemeinen 
auch  seine  innere  Entwicklung,  wenngleich  es  dabei  trotz  ernsten 
Ringens  ohne  Enttäuschungen,  Fehlgriffe  und  Stockungen  nicht 
abging.  Zeune  war  sich  über  die  Aufgabe  der  Blindenbildung  von 
Anfang  an  völlig  klar.  ,,Der  Zweck  des  Blindenunterrichts" 
—  so  schreibt  er  bereits  1815  —  ,,kann  kein  anderer  sein  als  der 
bei  Sehenden;  gleichmäßige  Entwicklung  aller  geistigen  und  leib- 
lichen Anlagen;  nur  die  Mittel  werden  verschieden  sein,  da  hier  eine 
der  Pforten  von  der  Außenwelt  zum  Innern  verschlossen  ist."  Dies 
schärfer  begrenzend,  erklärt  er  1821:  ,,Da  der  Zweck  einer  Blinden- 
erziehanstalt  ist,  den  Blinden  nicht  nur  die  allgemeine  menschliche 
Bilduncr,    sondern    auch    solche  Fertigkeiten    zu   verschaffen,  wodurch 


Das  Blindenuiiterrichtswesen   im  Deulsclien   Reich.  397 

sie  beim  Austritte  aus  der  Anstalt  sich  ihren  Erwerb  einigermaßen 
sichern  können,  so  ist  hiernach  der  Unterricht  ein  dreifacher,  erstens 
Handarbeiten,  zweitens  Tonkunst,  drittens  Wissenschaft." 

Das  nahm  man  in  Nord  und  Süd  wohl  als  Losung  an.  Die 
eigentliche  Schwierigkeit  lag  aber  darin,  diese  drei  Forderungen  in 
das  rechte  Verhältnis  zueinander  und  zum  Leben  der  Blinden  zu 
bringen.  Anfangs  legten  die  meisten  Blindenanstalten  das  Haupt- 
gewicht auf  die  Pflege  der  Wissenschaften,  d.h.  auf  die  Aneignung 
der  allgemeinen  Schulkenntnisse.  Oben  an  stand  der  Schreibunter- 
richt mit  Hilfe  von  Tafeln,  die  an  die  Niesensche  Vorrichtung 
erinnern.  Geübt  wurde  die  Schreibschrift  der  Sehenden  für  den 
Verkehr  mit  diesen.  T)er  Erfolg  war  nur  mäßig,  aber  doch  geeignet, 
das  Interesse  des  Publikums  auf  die  Blindenbildung  hinzulenken. 
Bald  finden  wir  auch  die  Kleinsche  oder  Kniesche  Stachelschrift  oder 
Stechschrift  —  erhabene  lateinische  Großbuch.staben,  deren  Her- 
stellung mittels  Stacheltypen  mehr  ein  Drucken  war,  die  aber  —  und 
das  war  ihr  Vorzug  —  leicht  zu  schreiben  und  auch  von  den  Blinden 
zu  lesen  war.  Die  Kursivschrift  erhielt  sich  jedoch  nur  für  Spät- 
erblindete, und  die  Stachelschrift  trat  nach  und  nach  zurück  gegen 
die    von    Hebold    (Lehrer    an    der  Königlichen  Blindenanstalt   Berlin) 

1856  erfundene,  in  einem  besonderen  Lineal  zu  schreibende  Flach- 
schrift, die  auch  nur  lateinische  Großbuchstaben  zeigt. 

Das  Lesen  hatte  anfangs  eine  untergeordnete  Bedeutung  und 
diente  mehr  „als  Übergang  zum  Schreiben",  wurde  auch  geradezu 
als  Spielerei  bezeichnet,  da  es  noch  Jahrzehnte  an  den  so  teuren 
Büchern  in  Linienhochdruck  fehlte.  Denn  Haüy,  der  Erfinder  des- 
selben, ließ  in  25  Jahren  nicht  mehr  als  drei  solcher  Bücher  drucken. 
Jedoch  allmählich  änderte  sich  das  Bild.  Li  den  vierziger  Jahren 
betont  Zeune:  „Das  Lesen  ist  auch  für  Blinde  von  großem  Nutzen, 
weil  sie  nun  auch  außer  den  Lehrstunden  sich  beschäftigen  können. 
Vorzüglich  haben  die  gedruckten  Bücher  dem  Blindenunterricht  einen 
neuen  Schwung  gegeben."  Gleichzeitig  berichtet  er  unter  Auf- 
zählung der  den  verschiedensten  Wissensgebieten  angehörenden 
Bücher  von  den  Blindendruckereien,  die  in  Berlin,  Breslau,  Braun- 
schweig, Zürich  und  Basel  bestehen.  —  Etwa  20  Jahre  später  (1863) 
gab  die  Stuttgarter  Bibelanstalt  die  ganze  heilige  Schrift  in  Linien- 
hochdruck in  64  Bänden  heraus  zum  Preise  von  100  M.  (-/s  der 
Selbstkosten).     Diese  Arbeit  geschah  auf   begeistertes    Betreiben    des 

1857  vöUig  erblindeten  Gründers  der  Blindenanstalt  zu  Illzach,  wo 
auch  die  erste  Drucklegung  stattfand.     Erst  zwei  Jahre  nachher  schuf 


393  Taubstummen-  und  Blindenunterncht. 

Rösner  —  damals  Lehrer,  von  1872  ab  Direktor  der  Berlin-Steglitzer 
Blindenanstalt  —  das  erste  Lesebuch  für  Blinde  in  Linienhochdruck. 
Noch  aber  gelangten  die  deutschen  Blinden  nicht  in  den  Besitz  des 
A\  ertvollsten  Bildungsmittels,  der  Brailleschen  Punktschrift,  einer  aus 
dem  Jahre  1829  stammenden  Erfindung  ihres  Schicksalsgenossen 
Louis  Braille  (1809 — 1852),  die  auch  in  der  Pariser  Anstalt,  deren 
Zögling  und  Lehrer  er  war,  erst  nach  1850  zur  Einführung  kam.  In 
Deutschland  hatte  die  Linienschrift  noch   1870  die  Alleinherrschaft. 

Um  den  erdkundlichen  Unterricht  erwarb  sich  Zeune,  der 
nebenamtlich  als  Professor  der  Erdkunde  an  der  Berliner  Universität 
tätig  war,  ein  besonderes  Verdienst  durch  die  Erfindung  der  Relief- 
globen und  großer  Reliefkarten  aus  Pappe,  wenn  auch  nur  die  Her- 
stellung von  druckmäßig  vervielfältigten  erhabenen  Papierkarten,  deren 
erste,  eine  Flußkarte  von  Deutschland,  der  Buchdrucker  Adolf 
Schulze  in  Berlin  lieferte,  einen  vollkommenen  Klassenunterricht 
ermöglicht. 

Der  Unterricht  in  der  Geometrie  wurde  wesentlich  gefördert 
durch  die  von  Hebold  erfundene  Zeichenscheibe,  die  den  Blinden  in 
den  Stand  setzt,  die  meisten  Figuren  mit  einer  Schnur  schnell  und 
sicher  zu  zeichnen  — ■  ein  ausgezeichnetes  Lehrmittel,  das  noch  gegen- 
^\ärtig  im  In-  und  Auslande  vielfach  benutzt  wird.  — 

Ebensowenig  fehlte  es  für  den  Rechenunterricht  an  Hilfs- 
mitteln, ^^'ie  z.  B.  die  Zeuneschen  Würfel  und  seine  Russische  Rechen- 
maschine, dann  neben  der  Niesenschen  die  Lachmannsche  Tafel  für 
das  schriftliche  Rechnen,  das  jedoch  hinter  das  Kopfrechnen  natur- 
gemäß zurücktrat. 

Auch  für  die  Naturgeschichte  finden  wir  zweckmäßige  Ver- 
anschaulichungsmittel:  ausgestopfte  Tiere  oder  Modelle,  soweit  die 
Naturkörper  nicht  selbst  zur  Hand  waren.  Kurz,  auf  allen  Gebieten 
und  in  allen  Gauen  wird  treu  gearbeitet  und  die  Vermehrung  und 
Verbesserung  der  Lehrmittel  erstrebt.  Aber  dazu  gehörte  sehr 
viel  Zeit  und  Geld.  Beides  fehlte  den  meisten  deutschen  Blinden- 
anstalten. 

8.  P^.ntwicklungshemmungen  und  Rückschläge.  Die 
Ausbildungszeit  war  zu  kurz;  sie  dauerte  vielfach  kaum  fünf  Jahre. 
Die  Aufnahme  der  Kinder  erfolgte  in  trügerischer  Hoffnung  auf  ihre 
Vorbildung  in  der  Volksschule  oder  bei  der  Beschränktheit  der  Mittel 
viel  zu  spät,  an  manchen  Stellen  erst  mit  dem  zwölften  Lebensjahre, 
in  welchem  Alter  die  Früherblindeten  schon  einen  Teil  ihrer  Bildungs- 
fähigkeit  eingebüßt   hatten.     Der  Unterrichtsstoff  konnte  nicht  gründ- 


Das  ]5linJeminterndits\vesen   im   I  leutsclien   Reich.  399. 

lieh  durchgearbeilet  werden;  aueh  mangelte  es  noch  immer  an  Lese- 
stoff und  Hilfsbüchern.  So  ging  das  Erlernte  bald  wieder  verloren, 
und  noch  im  dritten  Viertel  des  Jahrhunderts  wurden  Stimmen  laut, 
die  achselzuckend  fragten:  Was  nützt  der  ganze  Schulunterricht  der 
Blinden,  namentlich  das  Lesen  und  Schreiben? 

Außerdem  ließ  man  sich  unbeachtet  der  beschränkten  Bildungs- 
zeit verleiten,  die  Musik  als  Erwerbsfach  in  den  Vordergrund 
zu  stellen.  Und  was  erreichte  man  damit?  Die  Begabtesten  machten, 
soweit  sie  nicht  als  Organisten  ausgebildet  und  angestellt  wurden, 
Kunstreisen,  ernteten  in  Konzerten  gute  Einnahmen  und  reichen  Bei- 
fall und  endeten  —  im  Armenhause.  Die  Minderbegabten  wurden 
Bettelmusikanten.  Angesichts  solcher  Mißerfolge  ist  es  zu  verstehen, 
daß  manche  Blindenlehrer  die  Musik  völlig  aus  den  Blindenanstalten 
verbannen  und  so  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten  wollten. 

Die  Pflege  der  männlichen  und  weiblichen  Handarbeiten  tritt 
uns  in  jeder  deutschen  Blindenanstalt  von  Anfang  an  entgegen. 
Schon  in  der  ersten  Periode  wurde  betrieben:  Stuhl-  und  Matten- 
flechten, Korbarbeiten,  Spinnen,  Nähen,  Stricken,  ja  selbst  Tischler- 
arbeiten und  vereinzelt  schon  um  1830  das  Bürstenbinden.  Aber 
man  widmete  diesen  Dingen  zu  wenig  Zeit,  sodaß  es  zu  keiner  all- 
seitigen Durchbildung  und  \-ölligen  Fertigkeit  kam.  Daher  konnten 
die  Handarbeiten  vielfach  nur  als  Beschäftigungsmittel,  nicht  aber  als 
Erwerbsquelle  dienen.  Das  zeigte  sich,  sobald  die  Zöglinge  in  das 
Leben  hinaustraten  und  sich  selbst  überlassen  waren.  Es  fehlte  ihnen 
meistens  an  Arbeitsaufträgen ;  die  gefertigten  Waren  konnten  sie  nicht 
an  den  Mann  bringen.  Dadurch  wurde  ihre  Arbeitsfähigkeit  und 
Arbeitslust  immer  geringer,  bis  sie  endlich  auf  der  Bettelstraße  an- 
langten. 

Diese  traurigen  E^rfahrungen  führten  an  einigen  Orten  zur  An- 
legung von  Versorgungshäusern  für  die  ausgebildeten  Blinden. 
Man  hielt  sie  aber  dort  unter  zu  großer  Bevormundung  und  Ein- 
engung, machte  ihnen  das  Leben  zu  bequem,  forderte  ihre  Kraft 
nicht  heraus,  weckte  ihr  Pflichtbewußtsein  nicht  und  kam  daher  vom 
Regen  in  die  Traufe.  Es  blieb  weiter  nichts  übrig,  als  diese  Ver- 
sorgungshäuser, die  sich  als  Brutstätten  der  Unzufriedenheit  und  Un- 
glücksstätten arbeitsfähiger  Blinder  erwiesen  hatten,  wieder  aufzulösen. 
Statt  dessen  fing  man  an,  besondere  Unterstützungsfonds  für  die  Ent- 
lassenen zu  gründen  und  auf  weitere  Fürsorge-Maßnahmen  nach  dem 
Vorgange  Dresdens  zu  sinnen. 

Alles  in  allem  genommen,  litten  die  deutschen  Anstalten  bei  dem 


400  Taubstummen-  und   Hlindonunterricht. 

Betrieb  des  Schulunterrichts,  der  gewerbUchen  Ausbildung  und  der 
Fürsorge  für  die  Entlassenen  unter  ihrer  Vereinzelung  noch  bis  in 
das  siebente  Jahrzehnt  des  vorigen  Jahrhunderts.  Sie  hatten  zu 
wenig  Kenntnis  von  einander,  zu  wenig  Fühlung  mit  einander.  Das 
lag  an  der  großen  Entfernung,  den  ungünstigen  Verkehrsverhältnissen 
und  nicht  zum  mindesten  an  der  politischen  Zerrissenheit  Deutsch- 
lands —  ein  Mangel,  der  durch  Erscheinen  der  Zeitschrift  „Organ 
für  Taubstummen-  und  Blinden- Anstalten"  von  1855  ab  wohl  ge- 
mildert, aber  nicht  gehoben  wurde. 

9.  Aufschwung  des  Blindenwesens  seit  1871.  Erst  mit 
dem  Wiedererstehen  des  Deutschen  Reiches  und  der  Tagung  des 
ersten  europäischen  Blindenlehrer- Kongresses  in  Wien  1873,  zu 
dessen  100  Mitgliedern  allein  24  Fachleute  aus  Deutschland  zählten,  brach 
für  die  deutschen  Blindenanstalten  eine  neue  Zeit  des  Fortschritts,  der 
Klärung  und  Bewährung  an.  Auf  jenem  Kongreß  erschienen  auch 
5  hochgeschätzte  Fachmänner  aus  Amerika,  nämlich  die  Direktoren 
H  o  w  e  -  Boston,  M  o  r  r  i  s  o  n  -  Baltimore,  W  a  i  t  -  New  -  York,  B  e  1  e  1 1  r  o  - 
Rio  de  Janeiro  und  der  Musiklehrer  Willhartitz  vom  Blinden- 
institute  in  St.  Louis,  der  als  Delegierter  des  amerikanischen  Kon- 
tinents kam  und  sogar  den  ersten  sehr  lehrreichen  Vortrag  hielt  über 
Die  Blinden  Amerikas  und  deren  Erziehung. 

Wie  die  erste  Anregung  zu  einem  solchen  Kongresse  aus 
Deutschland  stammte  (Wiesbaden  1864),  so  fanden  die  nun  regel- 
mäßig in  dreijährigen  Zwischenräumen  folgenden  Blindenlehrer- 
Kongresse  meistens  auf  deutschem  Boden  und  unter  deutscher 
Führung  statt.  Es  sind  bis  jetzt  10  derartige  Kongresse  abgehalten 
worden:  1878  in  Wien,  1876  Dresden,  1879  Berlin,  1882  Frank- 
furt a.  M.,  1885  Amsterdam,  1888  Cöln,  1891  Kiel,  1895  München, 
1898  Steglitz- Berlin  und  1901  in  Breslau.  Der  elfte  Kongreß  wird 
im  August  1904  in  Halle  a.  S.  tagen. 

Unter  treuer  und  wachsender  Teilnahme  der  Fachgenossen  und 
Blindenfreunde,  wie  der  Vertreter  von  Staats-,  Kirchen-  und  Gemeinde- 
Behörden  haben  diese  V^ersammlungen  durch  ihre  Beratungen,  Be- 
schlüsse und  Lehrmittelausstellungen,  wie  durch  die  Anknüpfung  und 
Pflege  persönlicher  Beziehungen  und  schriftlichen  Verkehrs  nach  allen 
Seiten  Licht,  Leben  und  Liebe  verbreitet  zum  Heil  der  teuren  Blinden- 
sache. 

Gleich  auf  dem  Wiener  Kongresse  wurde  von  sachkundiger 
Hand  der  Finger  auf  die  \\undesten  Stellen  gelegt:  Ausdehnung  der 
Bildung-szeit  durch  Gründung  von  Vorschulen,  Einführung  der  Braille- 


Das  Blindonunterrichtswesen   im    Deutschen   Reich.  401 

sehen  Punktschrift  nach  Vornahme  der  notwendigsten  Abänderungen, 
Beseitigung  der  Musik  als  Hauptfach  und  äußerste  Einschränkung 
derselben  als  Erwerbsmittel,  Er\veiterung  und  Vertiefung  der  hand- 
werksmäßigen Ausbildung  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  weib- 
lichen Zöglinge,  Schaffung  von  Unterstützungsfonds  für  arbeitende 
Entlassene  —  das  sind  die  dort  erhobenen  Forderungen  und  erteilten 
Ratschläge.  Die  brennenden  Fragen  wurden  weiter  erörtert,  geklärt 
und  mit  vereinten  Kräften  allmählich  in  die  Tat  umgesetzt. 

Bei  Gelegenheit  des  zweiten  Kongresses  —  1 876  —  kam  es  zur 
Gründung  des  „Vereins  zur  Förderung  der  Blindenbildung,' 
der  seiner  Aufgabe,  allen  Blinden  deutscher  Zunge  billige,  gute 
Lehrmittel,  namentlich  Hochdruckschriften  und  geographische  Karten 
zu  schaffen,  eifrig  nachgekomm.en  ist  und  von  den  meisten  deutschen 
Staaten  und  vielen  Städten  durch  namhafte  laufende  Beiträge  zur 
Fortsetzung  und  Erweiterung  seines  Werkes  gestärkt  wird.  Sein 
Organ  und  das  der  Blindenanstalten  und  Blindenlehrer-Kongresse 
wurde  die  1881  von  Direktor  Mecker  in  Düren  begründete  unab- 
hängige Fachzeitschrift  ,,Der  Blindenfreund". 

Der  Berliner  Kongreß  1879  löste  die  Punktschriftfrage  endgültig 
zugunsten  der  Brailleschrift,  die  nun  ihren  Siegeszug  durch  die 
deutschen  Blindenanstalten  nahm.  Ihr  folgte  später  die  auf  demselben 
Prinzip  beruhende  Kurzschrift  nach  der  abgeänderten  Kron-Mohr- 
schen  Vorlage,  wenn  auch  nicht  als  Herrscherin,  so  doch  als  dienen- 
des Glied  (1891/94).  Ebenso  gelangte  das  Braillesche  Musikschrift- 
System  nach  einer  Vorlage  von  Brandtstäter-Königsberg,  Franz- 
Berlin  (blind)  und  Meyer-Steglitz  zur  Annahme  (1888/98). 

Direktor  Kunz-Illzach  lieferte  nach  den  Angaben  des  „Vereins 
zur  Förderung  der  Blindenbildung"  einen  von  diesem  herausgegebenen, 
allgemein  als  vorzüglich  anerkannten  Atlas  von  81  Reliefkarten  aus 
Papier  für  die  Hand  der  Zöglinge.  Der  Verein,  der  alle  Lehrmittel 
zu  zwei  Drittel  der  Selbstkosten  abgibt,  verkauft  die  einzelne  Karte 
für  20  Pf.     Mehrere  derselben  werden  auch  im  Auslande  benutzt. 

Hinsichtlich  des  Bücherdrucks  traten  dem  Verein  in  neuerer 
Zeit  mehrere  Blindenanstalten  und  die  britische  und  ausländische 
Bibelgesellschaft  an  die  Seite.  Letztere  ließ  in  den  Anstalten  zu 
Steglitz  und  Stuttgart  das  neue  Testament  und  die  Psalmen  in 
Brailleschem  Punktdruck  durch  Blinde   herstellen  (abgeschlossen  1903). 

Zur  Vergrößerung  der  Anstaltsbibliotheken  trugen  seit  1886 
Hunderte  deutscher  Frauen  und  Jungfrauen,  darunter  Fürstinnen 
und  Prinzessinnen,  in  unermüdlicher  Liebesarbeit  bei,    indem  sie 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  26 


402  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

nach  Erlernung  der  Punktschrift  die  Schätze  der  deutschen  Unter- 
haltungsHteratur  handschriftlich  aus  dem  Schwarzdruck  in  die  Blinden- 
schrift übertragen  und  den  Anstalten  zur  Lektüre  für  die  Zöglinge 
zum  Geschenk  machen.  Die  Steglitzer  Anstalt  weist  zur  Zeit  allein 
3000  solcher  Bände  auf. 

Ferner  bemerken  wir  eine  bedeutende  Vermehrung  und  Vervoll- 
kommnung der  Anschauungs-  und  Veranschaulichungsmittel 
bis  zu  den  fein  ausgearbeiteten  Kunzeschen  Reliefbildern  als  letztem 
Notbehelf,  wo  das  Modell  fehlt  oder  versagt. 

Neue  Unterrichtsfächer  zur  Förderung  der  Handgeschick- 
lichkeit, der  Auffassungs-  und  Gestaltungskraft  erscheinen,  wie  die 
Fröbelarbeiten,  das  Modellieren  in  Ton  und  Wachs,  das  Zeichnen, 
Holz-  und  Papparbeiten. 

Einige  Anstalten  richten  besondere  Hilfsklassen  für  zurück- 
gebliebene und  sch\\achsinnige  Zöglinge  ein.  Vorschulen  werden 
gegründet  für  blinde  Kinder  im  Alter  von  5  bis  9  Jahren.  Die 
Zöglinge  der  Arbeiterabteilung,  die  Lehrlinge,  erhalten  einen  Fort- 
bildungsunterricht mit  Berücksichtigung  der  späteren  Lebensverhält- 
nisse; und  auch  erwachsenen  Blinden,  die  erst  im  Mannes-  und 
Frauenalter  ihr  Augenlicht  verloren  haben,  wird  mehr  und  mehr  der 
Eintritt  in  die  Anstalten  ermöglicht. 

Der  Ausrüstung  zum  Kampf  ums  Dasein  durch  gründliche  Er- 
lernung eines  Handwerks  wird  die  ernsteste  Sorge  zugewandt.  Dazu 
dient  auch  die  Bemühung  um  Arbeitsaufträge  und  Absatz  der  Blinden- 
arbeiten  in  der  Nähe  und  Ferne  und  weiter  die  Sammlung  von 
Mitteln  und  Aufsuchung  von  Wegen  zur  Sicherung  und  Begünstigung 
der  Berufsarbeit  aller  ausgebildeten  Zöglinge.  Insbesondere  werden 
eigene  Fonds  zur  Fürsorge  für  die  Entlassenen  gegründet,  wie  zuerst 
in  Dresden,  oder  es  bilden  sich  besondere  Vereine  für  diesen  Zweck, 
wie  in  Kiel  für  Schleswig-Holstein,  in  Düren  für  Rheinland,  in  Steglitz- 
BerUn  für  Brandenburg.  Diese  erbauen  Arbeitsheime,  das  erste  für 
Mädchen  1 884  in  Kiel,  das  erste  für  Männer  1 892  in  Steglitz,  und  Alten- 
heime, wie  in  Sachsen,  Kiel,  Düren,  Hamburg,  für  die  Arbeitsunfähigen. 
Überall  aber  sehen  wir  eine  v\nzahl  blinder  Handwerker  hinausgehen 
ins  feindliche  Leben  und  hören,  wie  sie  sich  auch  dort  unter  dem 
Schutze  einer  weisen  Fürsorge  behaupten  und  bewähren.  So  ist 
auch  das  deutsche  Blindenwesen  durch  Nacht  zum  Licht  gelangt, 
und  dieses  Licht  ist  nicht  zum  wenigsten  der  gemeinsamen  Arbeit 
und  nachhaltigen  Wirkungr  der  Konoresse  zu  verdanken. 


Das  IJlindiMuinterricht.swesen   im  Deutschen  Reich.  403 

10.  Gesetzliche  Bestimmuiig-en  bezüglich  der  Blinden- 
bildung.  Die  Verhandlungen  und  Beschlü.sse  der  Blindenlehrer- 
kongresse  sind  auch  von  den  deutschen  Regierungen  und  Landtagen 
nicht  unbeachtet  geblieben.  Das  zeigt  sich  deutlich,  wenn  wir,  dem 
gegenwärtigen  Stande  des  Blindenwesens  uns  zuwendend, 
einen  Blick  auf  die  Gesetzgebung  werfen,  in  der  bis  1873  nur  \^on 
der  rechtlichen  Stellung  blinder  Staatsbürger  die  Rede  ist,  während 
man  Bestimmungen  über  die  Erziehung  und  Ausbildung  blinder 
Kinder  vergeblich  sucht. 

Wohl  waren  blinde  Kinder  von  der  in  ganz  Deutschland  längst 
bestehenden  allgemeinen  Schulpflicht  nicht  ausdrücklich  befreit; 
doch  wurde  diese  für  Preußen  schon  durch  Ministerialreskript  vom 
12.  August  1847  auf  den  Besuch  der  Schule  des  Heimatortes  be- 
schränkt; denn  es  heißt  darin:  ,,Die  Bestimmungen  des  , Allgemeinen 
Landrechts'  über  die  Schulpflicht  dürfen  nicht  so  weit  ausgedehnt 
A\erden,  daß  die  Eltern  genötigt  werden  könnten,  die  ganze  Pflege 
und  Erziehung  ihrer  Kinder  außerhalb  ihres  Wohnorts  liegenden 
Anstalten  zu  übergeben." 

In  einem  \\'ürttembergischen  Ministerialerlaß  vom  26.  März  1898 
wird  aber  sogar  folgendes  ausgeführt:  ,,Die  Voraussetzung,  daß  der 
allgemeine  gesetzliche  Schulzwang  auch  für  die  nicht  vollsinnigen 
Kinder  gelte,  ist  weder  im  Gesetz  begründet,  noch  durch  das  Her- 
kommen bestätigt.  Es  liegt  auch  in  der  Natur  der  Sache,  daß  ein 
solcher  Schulzwang  für  diese  Art  von  Kindern  nicht  ausführbar  ist, 
ohne  daß  der  Staat  gleichzeitig  und  von  sich  aus  hinreichende  Für- 
sorge für  dasjenige  trifft,  was  die  Unterweisung  solcher  Kinder  in 
besonderer  Vorkehr  fordert,  also  insbesondere  bezüglich  der  Ein- 
richtung staatlicher  Unterrichtsanstalten  für  dieselben.  Dies  ist  aber 
wiederum  nicht  möglich,  ohne  daß  wenigstens  für  die  Mehrzahl  der 
betreffenden  Kinder  ein  Internatszwang  ausgeübt  und  damit  in  die 
Rechte  der  Eltern  in  empfindlicher  Weise  eingegriffen  wird."  Dem- 
gemäß ,,sind  blinde  Kinder  nicht  zwangsweise  zum  Besuch  der  Volks- 
schule anzuhalten,  sondern  nur  so  weit  zuzulassen,  als  dies  ohne 
Schädigung  der  übrigen  Volksschüler  möglich  ist."  Hiernach  wird 
die  allgemeine  Schulpflicht  für  die  Blinden  zu  einem  eingeschränkten 
Recht  oder  zu  einer  Erlaubnis.  Tatsächlich  ist  in  Deutschland 
meistens  dieser  zweiten  Auffassung  gemäß  verfahren  und  höchst 
selten  ein  blindes  Kind  zum  Besuch  der  Volksschule  gezwungen 
worden. 

26* 


404  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

II.  Der  Blinde  in  der  Volksschnle.  Die  Fachleute  sind  der 
Teilnahme  blinder  Kinder  am  Volksschulunterricht  zwar  nie 
entgegen  gewesen,  haben  sie  aber  immer  nur  als  einen  schwachen 
Notbehelf  gelten  lassen  und  ebenso  besondere  Blindenklassen  der 
Volksschule  für  ungenügend  erklärt.  Denn  der  Blinde  ist  zwar  kein 
eigenartiges  Wesen,  d.  h.  er  hat  dieselben  seelischen  Grundlagen  und 
Kräfte  wie  ein  Vollsinniger;  aber  er  ist  doch  einem  Kranken  zu  ver- 
gleichen, „der  nicht  mit  den  Gesunden  an  demselben  Tische  speisen 
kann,  und  bedarf  besonderer  Nahrungsmittel,  die  für  ihn  eigens  zu- 
bereitet werden  müssen,  damit  er  sie  verdaue  und  sich  daran  kräftige 
(Heller)." 

Der  Volksschulunterricht  gründet  sich  auf  den  Gesichtssinn,  der 
BUndenunterricht  auf  den  Tastsinn,  dessen  Pflege  andersartige  und 
mannigfache  kostspielige  Lehrmittel  und  besondere  Lehrfächer  und 
Lehrweisen  erfordert,  die  der  \^olksschule  naturgemäß  fehlen.  Daher 
können  die  Blinden  in  vielen  Fächern,  wie  z.  B.  Lesen,  Schreiben, 
Zeichnen,  Raumlehre,  Anschauungsunterricht,  Erdkunde,  Naturkunde, 
Turnen  und  Handfertigkeit  dort  kaum  wirklich  unterrichtet  werden. 
Und  wenn  der  Volksschullehrer  sich  auch  mit  der  Methode  des 
Blindenunterrichts  vertraut  machte  und  alle  Blindenlehrmittel  zur 
Verfügung  hätte,  so  gebricht  es  ihm  bei  seiner  kinderreichen  Klasse 
doch  an  Zeit  und  Kraft  für  die  gleichzeitige  Unterweisung  eines 
blinden  Schülers. 

Wer  aber  weiß,  wie  die  Blindheit  nicht  nur  das  Vorstellungs- 
vermögen, sondern  auch  das  Gefühls-  und  Willensleben  beeinträchtigt, 
neben  der  geistigen  auch  die  gesamte  körperliche  Entwicklung,, 
namentlich  die  der  Hand,  schädigt  und  hemmt,  dem  wird  ohne 
weiteres  einleuchten,  daß  die  Volksschule  selbst  unter  den  günstigsten 
Umständen  um  so  weniger  ein  Ort  der  Blindenbildung  oder  Vorbildung 
sein  kann,  als  der  Blinde  nicht  allein  Schulkenntnisse  erlangen,  sondern 
auch  erwerbstüchtig  gemacht  werden  soll.  Denn  die  gewerbliche 
Ausbildung,  die  der  Hauptsache  nach  in  die  Jünglingsjahre  fällt,  ist 
schon  in  der  ersten  Schulzeit  durch  entsprechende  Körperpflege,  wie 
durch  verschiedenartige  Handbeschäftigung  anzubahnen  und  kann 
nicht  erst  nach  der  Konfirmation  von  einem  beliebigen  Lehrmeister 
begonnen  und  zu  Ende  geführt  werden.  —  Schließlich  fällt  für  das 
Gemütsleben  des  in  einer  Schule  Vollsinniger  weilenden  Blinden 
schwer  ins  Gewicht,  daß  er  beim  Unterricht  wie  beim  Spiel  die 
Folgen  seines  Gebrechens  auf  Schritt  und  Tritt  je  länger  um  so 
drückender  und  lähmender  empfindet.    Bald  bedauert  oder  gehänselt. 


Das   niitulenunterriclitswcscn   im   Deutyclieii   Reicli.  405 

bald  überflügelt  oder  \-erla.s.sen,  oft  \-erkannt  und  selten  verstanden, 
das  ist  sein  Los.  Genug,  nur  in  der  Blindenanstalt  kann  das  Glück 
der  Blinden  geschmiedet  werden!  Das  ist  die  Erfahrung  und  Über- 
zeugung aller  deutschen  Blindenlehrer  und  Blindenfreunde. 

12.  Notwendigkeit  des  Anstaltszwanges  für  blinde 
Kinder.  Aber  die  Nächstbeteiligten,  die  Eltern,  namentlich  die 
Mütter,  sind  in  ihrer  verkehrten  Liebe  oft  so  schwach  und  kurz- 
sichtig, daß  sie  sich  von  ihrem  blinden  Kinde  freiwillig  garnicht  oder 
zu  spät  trennen,  und  wenn  sie  es  schließlich  getan,  ihren  Liebling 
alsbald  zurücknehmen  wollen. 

Leider  halten  jedoch  manchmal  nicht  Unkenntnis  und  Schwäche, 
sondern  Lieblosigkeit  und  Eigennutz  der  Angehörigen  das  blinde 
Kind  im  Hause  zurück.  Liegen  doch  Fälle  vor,  in  denen  bemittelte 
Landleute  das  blinde  Familienglied  ohne  jede  Erziehung  und  Aus- 
bildung in  Stumpfsinn  versinken  lassen  wollten,  um  Geld  zu  sparen 
und  sein  Erbteil  an  sich  zu  bringen. 

Angesichts  solcher  Tatsachen  und  Erwägungen  gibt  es  für  die 
armen  lichtberaubten  Kinder  kein  anderes  Mittel  der  Rettung  und 
Bewahrung  als  den  gesetzlichen  Anstaltszwang.  Kein  Freund  der 
Freiheit  schrecke  vor  solchem  Zwang  zurück,  der  ein  nicht  weniger 
notwendiger  und  segensreicher  Eingriff  in  das  Familienrecht  ist  als 
der  allgemeine  Schul-  und  Impfzwang  für  die  Kinder,  die  Militär- 
pflicht für  alle  \\'ehrfähigen  Männer,  der  V'ersicherungszwang  für  die 
Arbeiter  und  Arbeiterinnen.  Auch  volkswirtschaftliche  Gründe 
mahnen  dazu.  Nimmt  man  den  Verlust,  den  ein  unausgebildeter 
untätiger  Blinder  dem  Gemeinwesen  jährlich  verursacht,  auch  nur 
auf  500  M.  an  —  Professor  Magnus  in  Breslau  berechnet  ihn  mit 
965  M.  —  so  bedeutet  das  bei  dreißigjähriger  Erwerbsfähigkeit  im 
anderen  Fall  schon  einen  Nachteil  von  15  000  M.  Der  am  schwersten 
wiegende  sittliche  Schaden  aber  läßt  sich  in  Zahlen  überhaupt  nicht 
ausdrücken. 

In  diesem  Sinne  haben  die  deutschen  Blindenbildner,  getragen 
von  der  Überzeugung,  daß  die  Blinden  ebenso  wie  die  Sehenden 
Anspruch  auf  Bildung  erheben  dürfen,  auf  den  Kongressen  wieder- 
holt ihre  Stimme  erhoben  und  zuletzt  1895  in  München  einmütig  be- 
schlossen, allen  Staatsregierungen,  Provinzialverwaltungen  und  Unter- 
richtsbehörden folgende  Erklärung  nebst  eingehender  Begründung 
zu  übermitteln: 

,,Es  ist  notwendig,  daß  erstens  in  allen  Staaten,  in  welchen 
allgemeine  Schulpflicht  zu  Recht  besteht  und  für  Blinde  der  Anstalts- 


406  Taubstummen-  und  Blindenunterriclit. 

zwang  nicht  schon  gilt,  die  bildungsföhigen  blinden  Kinder  \om 
schulpflichtigen  Alter  an  zum  Besuche  von  Spezialanstalten  gesetzlich 
verpflichtet  werden,  sofern  die  Eltern  nicht  nachweisen,  daß  das  be- 
treffende Kind  privatim  eine  entsprechende  Ausbildung  erhält,  ^ 
und  daß  zweitens  zur  Aufnahme  aller  bildungsfähigen  Blinden  solche 
Anstalten  in  genügender  Zahl  und  Größe  und  in  zweckmäßiger  Aus- 
stattung aus    öffentlichen  Mitteln    errichtet    und  unterhalten  werden." 

13.  Einführung  des  Anstaltszwanges.  Dieser  entscheidenden 
Forderung  waren  das  Königreich  Sachsen  1873,  das  Großherzogtum 
Sachsen  1874  durch  Einführung  des  Anstaltszwanges  schon 
zuvorgekommen.  Das  Herzogtum  Braunschweig  ist  1894,  das  Groil- 
herzogtum  Baden  1902  gefolgt,  ohne  daß  sich  Schwierigkeiten  er- 
geben hätten.  Ja,  der  Anstaltszwang  ist  nicht  selten  zu  einem  An- 
staltsdrang geworden.  Und  wenn  der  Anstaltsbesuch  an  den  meisten 
Stellen  gesetzlich  auch  nur  auf  8  Jahre  ausgedehnt  ist,  so  haben  die 
Angehörigen  die  Blinden  doch  in  der  Regel  auch  nach  der  Konfir- 
mation noch  bis  zur  Vollendung  der  beruflichen  Ausbildung,  d.  h.  noch 
weitere  4  Jahre,  in  der  Anstalt  gelassen. 

Was  das  Königreich  Preußen  betrifft,  so  forderte  §  91  des 
von  der  Königlichen  Staatsregierung  im  Jahre  1892  vorgelegten 
Schulgesetzentwurfes  die  Unterbringung  aller  bildungsfähigen 
blinden  Kinder  in  Blindenerziehungsanstalten  vom  6.  Lebensjahre  ab, 
falls  für  deren  Unterricht  nicht  anderweitig  ausreichend  gesorgt  würde. 
Ist  auch  die  Vorlage  aus  hier  nicht  zu  erörternden  Gründen  von  der 
Regierung  zurückgezogen  worden,  so  beweist  ihre  Einbringung  doch, 
daß  man  die  Einführung  des  Anstaltszwanges  für  Blinde  im  Schöße 
der  Regierung  schon  1892  für  geboten  hielt.  Diese  Anschauung  hat 
sich  seitdem  ohne  Frage  noch  befestigt  und  es  steht  zu  hoffen,  daß 
die  gesetzliche  Regelung  des  Anstaltsbesuches  V^iersinniger  losgelö.st 
von  einem  allgemeinen  \'olksschulgesetz  für  sich  erfolgt. 

14.  Das  Bürgerliche  Gesetzbuch  und  die  Fürsorgeer- 
ziehung. Schon  §  1666  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  dürfte  eine 
genügende  Handhabe  bieten,  um  in  vielen  Fällen  arme  blinde  Kinder 
auch  gegen  den  Willen  ihrer  Eltern  in  einer  geeigneten  Erziehungs- 
anstalt unterzubringen,  da  sich  nur  zu  oft  nachweisen  läßt,  daß  das 
geistige  und  leibliche  Wohl  derselben  durch  Vernachlässigung  seitens 
der  Eltern  gefährdet  wird. 

Diese  Auffassung  wird  weiter  gestützt  durch  die  besonderen  Ge- 
setze über  die  Fürsorge-Erziehung  Minderjähriger.  So  heißt  es 
in  ^  1  des  Preußischen  Fürsorgegesetzes  vom  2.  Juli  1900:  ,,Ein  Minder- 


Das  Blindenuiiterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.  407 

jähriger,  welcher  das  achtzehnte  Lebensjahr  noch  nicht  vollendet  hat 
—  nach  unten  hin  zieht  das  Gesetz  keine  Altersgrenze  — ,  kann  der 
Fürsorgeerziehung  über^\'iesen  werden,  wenn  die  Voraussetzungen  der 
Paragraphen  1666  und  1838  des  B.G.B.  vorliegen  und  die  Fürsorge- 
erziehung erforderlich  ist,  um  die  Verwahrlosung  des  Minderjährigen 
zu  verhüten." 

Darauf  bezieht  sich  folgende  erläuternde  Stelle  der  ministeriellen 
Ausführungsbestimmungen  vom  18.  Dezember  1900:  ,,Da  unter  Ver- 
wahrlosung nicht  nur  die  sittliche,  sondern  auch  die  geistige  und  kör- 
perliche zu  verstehen  ist,  so  gehören  unter  No.  1  alle  die  Fälle,  in 
denen  Eltern  ihre  Kinder  mißhandeln,  ihnen  die  körperliche  Pflege 
versagen,  sie  zu  anstrengenden,  der  leiblichen  und  geistigen  Entwick- 
lung schädlichen  Arbeiten  zwingen,  sie  in  einer  die  Zwecke  der  Schule 
gefährdenden  Weise  vom  Schulbesuch  abhalten,  die  ihnen  gebotene 
Gelegenheit  zur  Pflege  und  zum  Unterrichte  ihrer  nicht 
vollsinnigen  Kinder  hartnäckig  zurückweisen."  Endlich  ent- 
hält der  über  die  Beratung  des  Gesetzes  erstattete  Kommissionsbericht 
des  Abgeordnetenhauses  die  Bemerkung:  ,,Auch  Idioten,  Blinde 
und  Taubstumme  können    unter  Fürsorgeerziehung    gestellt  werden." 

15.  Kostenaufbringung.  Die  ^Aufbringung  der  Kosten 
für  die  Ausbildung  der  Blinden  erfolgt  in  den  Bundesstaaten,  die  sich 
des  Anstaltszwanges  schon  erfreuen,  in  der  Weise,  daß  der  betreffende 
Staat  die  erforderlichen  Anstalten  einrichtet  und  unterhält,  allen  Zög- 
lingen Unterricht,  Erziehung  und  Wohnung  gewährt  und  nur  das 
billigst  berechnete  Verpflegungsgeld  von  den  unterhaltungspflichtigen 
Angehörigen  und  im  Unvermögensfalle  von  den  Heimatgemeinden 
oder  den  Landarmenverbänden  einzieht.  Für  Zöglinge  mit  fremder 
Staatsangehörigkeit  wird  jedoch  ein    erhöhtes    Pensionsgeld    erhoben. 

Auch  in  den  anderen  Teilen  des  Deutschen  Reiches,  obenan  in 
Preußen,  wird  die  staatliche  Pflicht,  für  eine  vollgültige  Ausbildung 
der  Blinden  finanziell  einzutreten,  mehr  und  mehr  anerkannt  und  be- 
tätigt. Schon  durch  das  preußische  Gesetz  vom  8.  Juli  1875, 
welches  die  Provinzialordnung  neu  regelte,  wurde  den  Provinzialver- 
bänden  im  ganzen  ein  Betrag  von  13  440  000  M.  jährlich  aus  Staats- 
fonds zugewiesen  für  sieben  verschiedene  Zwecke,  unter  denen  auch 
,,die  Fürsorge  bezw.  Gewährung  von  Beihilfen  für  das  Taubstummen- 
und  Blindenwesen"  genannt  war.  Einen  Schritt  weiter  geht  das 
preußische  Fürsorgegesetz  vom  II.  Juli  1891,  das  eine  Abände- 
rung der  Paragraphen  31,  65  und  68  des  Bundesgesetzes  vom  8.  März 
1871   bildet  (betr.  Ausführungsbestimmungen  über  den  Unterstützungs- 


408  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

Wohnsitz).  Dies  Gesetz  bestimmt  kurz  folgendes:  „Die  Landarmen- 
verbände sind  verpflichtet,  für  Bewahrung,  Kur  und  Pflege  der 
hilfsbedürftigen  Geisteskranken,  Idioten,  Epileptischen,  Taub- 
stummen, Blinden,  soweit  dieselben  der  Anstaltspflege  be- 
dürfen, in  geeigneten  Anstalten  Fürsorge  zu  treffen." 

Diese  Vorschrift  macht  die  den  Provinzialvenvaltungen  früher 
zuerteilte  Befugnis  der  Blindenfürsorge  zu  einer  Verpflichtung, 
die  jedoch  nur  denjenigen  Blinden  gegenüber  besteht,  die  einer  An- 
staltspflege bedürftig  erscheinen.  In  diesem  Zusätze  liegt  für  die 
Ausführung  eine  gewisse  Schwierigkeit,  weil  im  Gesetz  selbst  der 
Begriff  der  Anstaltspflegebedürftigkeit  garnicht  erläutert  ist.  Nach 
fachmännischem  Urteil  ist  wohl  jeder  unbemittelte,  unausgebildete 
Blinde,  wenn  er  nicht  Schaden  leiden  soll,  einer  Anstaltspflege  be- 
dürftig. Vom  Verwaltungsstandpunkt  aus  werden  jedoch,  entsprechend 
einer  Entscheidung  des  Bundesamtes  für  das  Heimatswesen,  ^wonach 
Blindheit  allein  keinen  Anspruch  auf  Anstaltspflege  begründet,  nur 
diejenigen  Bfinden  als  anstaltspflegebedürftig  anerkannt,  die  abgesehen 
\on  ihrem  Ausbildungsbedürfnis  in  solcher  Verfassung  sind,  oder  in 
solchen  Verhältnissen  leben,  daß  sie  daheim  der  nötigen  Bewahrung 
und  Pflege  entbehren.  Selbstverständlich  sind  unter  solchen  Blinden 
auch  viele,  die  nicht  bildungsfähig  erscheinen.  Solche  werden  auf  Pro- 
vinzialkosten  meistens  in  allgemeinen  Pflegeanstalten  oderSiechenhäusern 
mit  Vollsinnigen  zusammen  untergebracht.  Begehrt  ein  bildungs- 
fähiger pflegebedürftiger  Blinder  Aufnahme  in  eine  Blindenerziehungs- 
anstalt,  so  übernimmt  die  Provinz,  gleichviel  ob  er  ein  Kind  oder  ein 
Erwachsener  ist,  die  Kosten  seiner  Ausbildung  und  Unterbringung. 
Handelt  es  sich  dagegen  um  Blinde,  die  nur  ausbildungsbedürftig 
sind,  dann  werden  die  Angehörigen  oder  Gemeinden  bei  Zahlungs- 
fähigkeit zu  Beiträgen  herangezogen. 

Endlich,  wird  ein  Blinder  auf  Grund  des  Fürsorgeerziehungs- 
gesetzes vom  2.  Juli  1900  einer  Blindenanstalt  überwiesen,  so  kommt 
bezüglich  Aufbringung  der  Mittel  §  15  dieses  Gesetzes  zur  Anwen- 
dung: ,,Die  Kosten  des  Unterhalts  und  der  Erziehung  tragen  in  allen 
Fällen  die  Kommunalverbände."  Allerdings  sind  letztere  nach  §  16 
befugt,  die  Erstattung  eines  Drittels  der  Fürsorgeerziehungskosten  von 
dem  Zögling  selbst  oder  von  dem  zu  seinem  Unterhalte  Verpflichteten 
zu  fordern,  sofern  diese  hinreichend  bemittelt  sind;  zwei  Drittel  der 
Aufwendungen  trägt  in  allen  solchen  Fällen  die  Staatskasse. 

So  haben  nach  den  angeführten  drei  Gesetzen  von  1875,  1891 
und  1900  in  Preußen  die  Provinzialverbände  schließlich    für    alle    un- 


Das    HliiHlenuntfiTichtswesen  im   I  )eutsclifii   Reich.  409 

bemittelten  Blinden  füisorgend  einzutreten.  Die  Provinzen  sind  dieser 
Aufgabe  in  rühmlichster  Weise  gerecht  geworden,  teils  durch  Ge- 
währung fester  Zuschüsse  an  die  Privatanstalten  oder  durch  Einrich- 
tung von  vielen  Freistellen,  teils  durch  Gründung  und  FLrweiterung 
eigener  Anstalten,  wie  auch  durch  Zahlung  von  Beihilfen  für  ausge- 
bildete arbeitsschwache  Blinde.  —  Um  zu  verhindern,  daß  die  Geld- 
opfer der  Provinz  ihren  Zweck  verfehlen,  fordern  einzelne  Provinzial- 
verwaltungen  von  den  gesetzlichen  Vertretern  der  Aufzunehmenden 
die  schriftliche  Verpflichtung,  den  betreffenden  Blinden  so  lange  in 
der  Anstalt  zu  lassen,  wie  es  der  Landeshauptmann  für  nötig  hält. 

Ferner  unterhält  der  preulMsche  Staat  ohne  jede  rechtliche 
Verpflichtung  die  Königliche  Blindenanstalt  in  Steglitz,  die  allein 
bei  34  königlichen  Freistellen  (29  internen  und  5  externen)  aus  der 
Staatskasse  einen  jährlichen  Zuschuß  von  rund  45  000  M.  empfängt 
und  für  ausländische  ZögUnge  keinen  höheren  Pensionssatz  berechnet 
als  für  einheimische  (300  bis  600  M.).  —  Außerdem  findet  sich  im 
Etat  des  preußischen  Unterrichtsministeriums  ein  Dispositionsfonds 
zur  allgemeinen  Förderung  des  Taubstummen-  und  Blindenunterrichts 
in  Höhe  von  30  000  M. 

Die  übrigen  Bundesstaaten  ohne  Blindenanstaltszwang  zeigen 
gleichfalls,  wenn  auch  in  verschiedenem  Grade,  ihr  tatkräftiges  Inter- 
esse an  der  Förderung  der  Blindenbildung.  Das  Königreich  Bayern 
besitzt  eine  staatliche  Zentral-Blindenanstalt  (in  München)  mit  einem 
jährlichen  Staatszuschuß  von  29  500  M.  Ebenso  unterhalten  die 
Großherzogtümer  Hessen  und  Mecklenburg-Schwerin  und  die  freie 
Stadt  Hamburg  je  eine  staatliche  Blindenanstalt.  Und  auch  die- 
jenigen deutschen  Staaten,  in  deren  Gebiet  sich  nur  PrivatbHnden- 
anstalten  befinden,  gewähren  letzteren  Beihilfen  aus  der  Staatskasse 
oder  haben  Freistellen  gestiftet  und  lassen  eine  finanzielle  Beteiligung 
der  Landarmenverwaltungen  erkennen.  Im  übrigen  werden  die 
Ko.sten  von  Stiftungen,  V^ereinen  und  Kongregationen  aufgebracht, 
sodaß  fast  in  allen  Teilen  des  Reiches  blinde  Kinder  unvermögender 
Eltern  freie  Aufnahme  und  Au.sbildung  in  einer  Blindenanstalt  finden 
können.  Welche  Bedeutung  dies  hat,  erhellt  aus  der  Tatsache,  daß 
in  Deutschland  etwa  97%  aller  jugendlichen  Blinden  unbemittelten 
Familien  entstammen  —  ein  Beweis  dafür,  \\'elchen  Einfluß  mangel- 
hafte Pflege,  Aufsicht,  Wohnung  und  Ernährung  auf  die  Entstehung 
der  Blindheit  ausüben. 

Für  die  Zwecke  der  Blindenbildung  und  Blindenfürsorge  werden 


410  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

nach  den  neuesten  Erhebungen  in  Deutschland  jährlich  im  ganzen 
ungefähr  folgende  Summen  aufgebracht: 

a)  Aus  öffentlichen  Mitteln    (Staats-,    Provinzial-    und  Ge- 
meindefonds)       1  400  000  M. 

b)  Aus    Privatmitteln     von    Stiftungen     und 

Vereinen 1  200  000    „ 


Im  ganzen     2  600  000  M. 

16.  Staatliche  Aufsicht.  Die  deutschen  Blindenerziehungs- 
anstalten,  auch  die  privaten,  stehen  sämtlich  unter  staatlicher  Auf- 
sicht. Die  Bestimmungen  über  Aufnahme  und  Entlassung,  die  An- 
-stellung  der  Vorsteher,  die  Lehrpläne  und  Hausordnungen  bedürfen 
der  Genehmigung  der  zuständigen  Staatsbehörden.  Für  Preußen  ist 
die  Schulaufsicht  über  die  Blindenanstalten  durch  Kabinettsorder  vom 
27.  Juli  1885  in  der  Provinzialinstanz  den  Königlichen  Provinzial- 
schulkollegien  zugeteilt,  in  zweiter  Instanz  dem  Unterrichtsminister. 
Im  Königreich  Sachsen  ist  das  gesamte  Blindenwesen  dem  Ministerium 
des  Innern  unterstellt. 

17.  Einteilung  der  Blindenanstalten.  Die  im  deutschen 
Reiche  vorhandenen  Anstalten  für  Blinde  sind  dreifacher  Art: 

1.  Erziehungs-  und  Unterrichtsanstalten,  mit  Schul-  und 
Gewerbeabteilungen  zur  Ausbildung  jugendlicher  Blinden  (von  5  bis 
20  Jahren)  —  Blindenanstalten  im  engeren  Sinne  — . 

2.  Erwerbsanstalten  für  ausgebildete  erwachsene  Blinde  — 
Arbeits-  oder  Beschäftigungsanstalten  —  als  Externate  offene  Werk- 
stätten, als  Internate   Blindenheime  genannt. 

3.  Versorgungs-  und  Pflegeanstalten  für  erwerbsunfähige, 
ältere  und  gebrechliche  Blinde,  als  Asyle,  Altenheime  oder  Feier- 
abendhäuser bezeichnet. 

(Die  Anstalten  unter  2  und  3  stehen  vornehmlich  im  Dienst  der 
Fürsorge  für  ausgebildete  Blinde.) 

Diese  verschiedenen  Anstalten  sind  teils  äußerlich  und  innerlich 
\-oneinander  getrennt,  teils  wieder  organisch  und  selbst  räumlich  und 
wirtschaftlich  eng  miteinander,  an  einzelnen  Stellen  sogar  mit  An- 
stalten für  andere  Gebrechliche  verbunden.  Deshalb  ist  es  in 
manchen  Fällen  selbst  für  den  Fachmann  schwierig,  sie  gegenein- 
ander scharf  abzugrenzen,  zumal  in  der  Bezeichnungsweise  noch  keine 
volle  Übereinstimmung  erzielt  ist.  Daraus  erklären  sich  die  Sch\\an- 
kungen  und  Abweichungen  in  den  .\ngaben  über  die  Zahl  der 
Blindenanstalten,    der  in   ihnen  untergebrachten  Zöglinge    oder  Pfleg- 


Das  Blindenunterrichtswesen  im  Deutschen  Reich. 


411 


! 

fessionelle 
Stellung 

der 
Anstalt 

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katholisch 
parit. 

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evangel. 

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evangel. 
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Werk- 
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a)  Provinz  Hannover,  b)  Verein 

a)  Prov.Rheinland,  b )  u.  c )  Verein 

a)  Verein,    b )  Prov.  (Istpreußen 

Provinz  Westfalen 

Provinz  Pommern 

a)  Provinz  Posen,    b)  Verein 

a)  Provinz  Sachsen,  b)  Verein 

1 

b)  u.  c)    verein 

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Provinz  Westpreußen 

Provinz  Rheinland 
Schmidsche  Stiftung 

J 

Grünilungs- 

jahr  der 
Hauptanstalt 

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1852 
1878 
1886 
1899 
1900 

Lage  der  Anstalt 

Steglitz  bei  Berlin    .     . 

Breslau 

Frankfurt  a.  M.   .     .     . 

Paderborn  

Hannover 

Düren 

Königsberg  i.  Pr.     .     . 

Soest 

Stettin 

Bromberg 

Halle  a.S.— Barby2)     . 

^5 

Berlin 

Königsthal    bei  Danzig 

Neuwied 

Königs-Wusterhausen   . 

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412 


Taubstummen-  und  Blindenuntenicht. 


Kon- 
ssionelle 
Heilung   1 

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Das  Blindenunterrichtswesen  im  Deutschen  Reich. 


413 


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414  Tautjstummen-  und  Blindenunterriclit. 

linge,  wie  auch  hinsichtlich  der  darauf  gegründeten  Schätzungen  und 
Folgerungen. 

18.  Übersicht  der  Anstalten.  Einen  Überblick  über  Lage, 
Art  und  Umfang  der  einzelnen  Anstalten  möge  vorstehende  Zusammen- 
stellung bieten,  die  zwar  auf  den  sorgfältigsten  Ermittelungen  beruht, 
aber  dennoch  bei  der  großen  Verschiedenartigkeit  der  Verhältnisse 
einen  Anspruch  auf  unbedingte  Genauigkeit  nicht  erheben  darf. 

Demnach  zählen  \\ir  im 
Königreich  Preußen    .     .     16  iVusbildungs-  und  14  Fürsorgeanstalten 
in    den    übrigen   Bundes- 
staaten   19  ,.  „12 


im  ganzen  also    .     35  Ausbildungs-  und  26  F"ürsorgeanstalten. 

Davon  sind  unter  a)  1 1  staatliche,  1 1  Provinzial-  und  2  städtische 
(im  ganzen  also  24  öffentliche  Blindenbildungsanstalten)  und  I  I  Privat-, 
d.  h.  Vereins-  oder  Stiftungsanstalten. 

Als  paritätisch  sind  diejenigen  Anstalten  bezeichnet,  welche 
ZögHnge  verschiedener  Konfessionen  aufnehmen  und  dem  religiösen 
Bedürfnis  derselben  Rechnung  tragen.  Ihre  Zahl  beträgt  26.  Einen 
ausgesprochen  konfessionellen  Charakter  tragen  nur  neun  Anstalten 
unter  a,  und  zwar  sind  4  evangelisch,  5  katholisch.  Die  Fürsorge- 
anstalten sind  mit  drei  Ausnahmen  sämtlich  paritätisch. 

Die  Gesamtheit  der  bisher  von  deutschen  Blinden- 
anstalten aufgenommenen  Blinden  läßt  sich  bei  der  Lücken- 
haftigkeit der  Unterlagen  nicht  mit  Sicherheit  angeben.  Jedoch  darf 
man  ihre  Zahl  für  die  preußischen  Anstalten  auf  rund  8200,  für 
die  außerpreußischen  auf  4800  schätzen,  sodaß  sich  im  ganzen 
die  Summe  von  etwa   1 3  000  Zöglingen  ergibt. 

19.  Lage  der  Anstalten.  Die  überwiegende  Mehrzahl  der 
Anstalten  liegt  in  Großstädten  in  Rücksicht  auf  den  leichteren  Ab- 
satz der  Blindenarbeiten,  welcher  zu  den  Vorbedingungen  der  ge- 
werblichen Au.sbildung  gehört.  Zuweilen  leidet  jedoch  unter  dieser 
Lage  die  Gesundheitspflege  der  Zöglinge,  da  der  häufig  eingebaute 
Garten  nicht  hinreichend  Gelegenheit  zur  Bewegung  in  frischer  Luft 
gewährt.  Wo  es  aber  die  Verhältnisse  irgend  gestatteten,  ist  auf 
ausgedehnte  Gartenanlagen  Bedacht  genommen.  Li  dieser  Be- 
ziehung sind  die  in  Vororten  gelegenen  Anstalten,  wie  Steglitz  bei 
Berlin  und  Königsthal  bei  Danzig,  besonders  begünstigt.  Zu  ersterer 
gehört  ein  Park  von  2  Hektar,  zu  letzterer  ein  solcher  von 
12  Hektar  mit  Teichen  und  Anhöhen,    von    wo  aus  die    Blinden  das 


Das  rjliiulenuntenichtswe.sen  im  Deutschen  Reicli.  415 

Rauschen  und  Brausen  des  Meeres  hören  können.  In  den  Gärten 
finden  wir  auch  Spielplätze  mit  Schaukehl  und  Kletterstangen,  mit 
Sandhaufen  zur  Ergötzung  der  Kleinen  und  Kegelbahnen  zur  Unter- 
haltung für  die  Großen. 

20.  Bauliche  Verhältnisse.  In  baulicher  Hinsicht  treten 
uns  große  Verschiedenheiten  entgegen.  Manche  Anstalten  \-er- 
gegenwärtigen  dem  Kundigen  in  ihren  Um-  und  Erweiterungsbauten 
ein  Stück  Geschichte  der  Blindenbildung.  In  den  neueren  Anstalten 
wird  großes  Gewicht  auf  helle,  luftige  Zimmer  und  Flure  gelegt. 
Die  geräumigen  Werkstätten  nehmen  den  Hauptteil  des  Erd- 
geschosses ein  oder  bilden  eigene  Gebäude.  Die  Klassenzimmer 
Hegen  meistens  zur  ebenen  Erde,  nie  aber  mehr  als  eine  Treppe 
hoch.  Die  Wohnhäuser  haben  nirgend  mehr  als  zwei  Stockwerke, 
schon  im  HinbHck  auf  die  Feuersgefahr,  die  für  Blinde  doppelt  ver- 
hängnisvoll werden  kann.  Deshalb  sind  weiter  in  manchen  Anstalten 
umfassende  Rettungs-  und  Löschvorrichtungen  getroffen.  So  lassen 
sich  z.  B.  in  Dresden  zur  Eindämmung  einer  Feuersbrunst  die  Flure 
durch  eiserne  Rollwände  absperren,  und  das  Hauptgebäude  läuft  an 
beiden  Enden  in  einen  massiven  Turm  aus,  nach  welchem  von  jedem 
Stockwerke  Nottüren  führen,  die  für  die  Schlafsäle  einen  zweiten 
Ausgang  bieten.  Um  die  Zöglinge  mit  dieser  Einrichtung  vertraut 
zu  machen,  findet  allmonatlich  ein  sogenannter  Feuergang  statt,  bei 
dem  sie  die  Turmtreppen  hinuntersteigen  müssen. 

Viele  Anstalten  verfügen  auch  über  eine  Turnhalle.  In  Steglitz 
schließen  sich  an  diese  nach  beiden  Seiten  überdachte  W'andel- 
bahnen,  um  den  Zöglingen  auch  bei  Regenwetter  den  Aufenthalt  im 
Freien  zu  ermöglichen.  Überall  aber  trefifen  wir  Einrichtungen  für 
Wannen-  und  Brausebäder,  wodurch  jedoch  die  Benutzung  öffent- 
licher Badeanstalten  an  Flüssen  und  Seen  nicht  ausgeschlossen 
werden  soll.  Als  mustergültig  in  baulicher  Hinsicht  muß  die  neue 
große  Anstalt  in  Halle  bezeichnet  werden. 

Die  an  demselben  Ort  unter  einer  Leitung  bestehenden  An- 
stalten liegen  in  der  Regel  unmittelbar  nebeneinander,  wie  in  Steglitz, 
in  einzelnen  Fällen,  z.  B.  in  Hamburg,  einige  Kilometer  voneinander 
entfernt. 

Am  reichsten  gegliedert  und  am  weitesten  zerstreut  erscheinen 
die  einheitlich  geleiteten  sächsischen  Blindenanstalten.  Das  König- 
reich Sachsen  besitzt  außer  der  Dresdener  Hauptanstalt  eine  vor- 
züglich eingerichtete  Vorschule  in  Moritzburg  bei  Dresden  (gegründet 
1862  als    die    erste    Blindenvorschule    auf   der    ganzen   Welt),    ferner 


416  Taubstummen-  uml  Blindenunterricht. 

ebendort  eine  Abteilung  zur  gewerblichen  Ausbildung  blinder 
Männer,  dann  in  Königswartha  bei  Bautzen  eine  Zweiganstalt  zur 
Ausbildung  blinder  Frauen,  ein  Asyl  für  erwerbsunfähige  blinde 
Frauen  und  Männer  und  eine  Erziehungsanstalt  für  schwachsinnige 
Blinde. 

In  Steglitz  ist  dagegen  alles  vereinigt:  Vorschule,  Hauptanstalt, 
Arbeitsheim  für  Frauen,  Arbeitsheim  für  Männer  und  ein  König- 
liches Museum  für  Blindenunterricht,  das  z.  Zt.  noch  mietsweise  in 
dem  einen  Blindenheim  untergebracht  ist,  demnächst  aber  ein  eigenes 
würdiges  Gebäude  erhalten  soll.  Nur  das  vom  Fürsorgeverein  ge- 
plante Feierabendhaus  wird  bei  der  Bahnstation  Rehbrücke  unweit 
Potsdam  in  waldiger  Umgebung  errichtet  werden  und  ist  dann  von 
Steglitz  aus  mit  Hilfe  der  Eisenbahn  in  einer  Stunde  zu  erreichen. 

Die  Anforderungen  an  die  Baulichkeiten  der  Blindenerziehungs- 
anstalten  werden  noch  durch  den  Umstand  erhöht,  daß  alle  für 
männliche  und  weibliche  Zöglinge  bestimmt  sind,  die  höchstens 
bis  zum  zehnten  Lebensjahre  gemeinsame  Wohn-  und  Spielräume 
haben.  Dann  tritt  eine  Trennung  der  Geschlechter  wenigstens  teil- 
weise ein.  Wir  finden  in  demselben  oder  in  verschiedenen  Ge- 
bäuden gesonderte  Schlafsäle,  W'ohnräume  und  Krankenzimmer,  so- 
weit möglich  auch  gesonderte  Werkstätten,  Spielplätze  und  Spazier- 
wege im  Garten,  aber  gemeinsame  Schulklassen,  Speise-  und  Fest- 
säle, die  größeren  Räume  mit  zwei  Eingängen  für  Knaben  und 
Mädchen. 

Auffallend  ist  das  V^orherrschen  der  männlichen  Zög- 
linge, deren  Zahl  im  Durchschnitt  fast  doppelt  so  groß  wie  die  der 
weiblichen  Zöglinge  ist,  obwohl  das  Verhältnis  der  überhaupt  vor- 
handenen männlichen  und  weiblichen  Blinden  dem  von  4  zu  o  nahe 
kommt.  Die  blinden  Mädchen  werden  aber  von  den  Müttern  häufiger 
im  Hause  zurückgehalten,  weil  sie  im  allgemeinen  schwächlicher  als 
blinde  Knaben  sind,  zu  Hause  leichter  beschäftigt  werden  können 
und  die  Notwendigkeit  ihrer  Ausbildung  den  Eltern  weniger  ein- 
leuchtet als  bezüglich  der  Söhne.  —  Die  Baulichkeiten  und  Grund- 
stücke der  deutschen  Blindenbildungs-  und  Bliridenfürsorgeanstalten 
stellen  einen  Gesamtwert  von  rund  14  Millionen  M.  dar. 

21.  Aufnahmebedingungen.  Die  Aufnahmebedingungen 
richten  sich  nach  dem  näheren  Zweck,  dem  Umfang  und  den  Mitteln 
der  einzelnen  Anstalten.  Sämtliche  Anstalten  nehmen  außer  \öllig 
Blinden  auch  hochgradig  Schwachsichtige  auf,  die  ihre  Schul- 
und  Berufsbildung  auf  gewöhnlichem  Wege  nicht  finden  können  oder 


Das  BlinflcnuntfiricIUswesen  im   1  )eutsclien  Reich.  417 

bei  weiterer  Anstrengung  der  Augen  Gefahr  laufen,  die  Sehkraft 
gänzlich  einzubüßen.  In  jedem  Falle  aber  muß  der  Aufzunehmende 
abgesehen  von  seiner  Blindheit  oder  Schwachsichtigkeit  gesund  und 
bildung.sfähig  sein.  Doch  werden  auch  schwachsinnige  Blinde,  wenn 
sie  nicht  völlig  bildungsunfähig  sind,  von  einigen  Anstalten,  die  ent- 
sprechende Hilfsklassen  besitzen,  wie  z.  B.  Steglitz,  Halle -Barby, 
Dresden-Königswartha,  Breslau,  zugelassen. 

Das  Schul-  und  Pflegegeld,  zu  dem  an  manchen  Stellen 
noch  die  Bekleidungskosten  hinzukommen,  bewegt  sich  zwischen  90 
und  600  M.  jährlich;  jedoch  sind  vielfach  etatsmäßige  und  Stiftungs- 
Freistellen  für  Bedürftige  vorhanden.  Im  übrigen  übernehmen  bei 
Zahlungsunfähigkeit,  wie  oben  dargelegt  worden,  die  Gemeinde- 
verbände ganz  oder  teilweise  die  Kosten. 

Die  beregten  Vergünstigungen  gewähren  die  Anstalten  jedoch 
ausschließlich  den  Blinden  ihres  Bezirkes  oder  Landes;  andere  werden 
niu'  ausnahmsweise  und  mit  Vorbehalt  aufgenommen  und  müssen  ein 
erliöhtes  Pensionsgeld  zahlen.  Die  einzige  Anstalt,  die  anders  \-er- 
fährt,  ist  die  Königlich  preußische  Blindenanstalt  in  Steglitz.  Wenn 
diese  ihre  Zöglinge  auch  größtenteils  aus  der  Provinz  Brandenburg 
erhält,  so  öffnet  sie  ihre  Tür  doch  Blinden  aus  allen  preußischen 
Provinzen  und  allen  deutschen  Staaten  zu  den  gleichen  Zahlungs- 
bedingungen, ja  in  besonderen  Fällen  auch  Christen  aus  außer- 
europäischen Ländern.  Gegenwärtig  zählt  zu  ihren  Zöglingen  u.  a. 
ein  armenischer  Waisenknabe  aus  Persien,  und  demnächst  wird  ein 
erwachsener  Blinder  aus  Syrien  und  ein  jugendlicher  Blinder  aus 
Paraguay  Aufnahme  finden. 

Die  wichtigste  Aufnahmebedingung  betrifft  das  Alter  der  Ein- 
tretenden. Früher  hielt  man  allgemein  das  9.  bis  12.  Lebensjahr 
für  die  geeignetste  Aufnahmezeit  und  hatte  für  Spät-Erblindete  über- 
haupt keinen  Raum;  wies  man  doch  solche,  die  älter  als  15  Jahre 
waren,  in  der  Regel  schon  zurück.  Die  Beobachtung  aber,  daß  die 
Bildungsfähigkeit  des  Blinden  weit  früher  beginnt  und  häufig  durch 
häusliche  Vernachlässigung  oder  Verzärtelung,  durch  Mangel  an 
körperlicher  Bewegung  und  geistiger  Anregung  bereits  in  frühester 
Kindheit  beeinträchtigt  und  bedroht  wird,  hat  dazu  geführt,  die  Kinder 
schon  im  Alter  von  8  oder  7  Jahren  aufzunehmen  und  für  die  jüngeren 
Blinden  vom  5.  bis  9.  Lebensjahre  besondere  Abteilungen  oder  eigene 
.Anstalten  unter  dem  Namen  Vorschulen  ins  Leben  zu  rufen,  die  in 
mancher  Beziehung  den  Kindergärten  und  Kinderbewahranstalten  für 
vollsinnige  Kinder  zu  vergleichen  sind.    Solche  Blinden\-orschulen  be- 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  27 


418  Taubstummen-  und  Blinclenunterricht. 

stehen  in  Deutschland  zurzeit  14  (7  in  Preußen  und  7  in  den  übrigen 
Bundesstaaten). 

Ferner  haben  die  größeren  Anstalten  neuerdings  Vorkehr  ge- 
troffen, auch  Spät-Erblindete,  die  im  Mannes-  oder  Frauenalter 
stehend,  mit  dem  Augenlicht  zugleich  ihre  Berufsstellung  und  Erwerbs- 
tätigkeit verloren  haben,  aufzunehmen,  um  sie  von  neuem  erwerbs- 
fähig zu  machen  und  ihnen  Gelegenheit  zur  Erlernung  des  Lesens 
und  Schreibens  der  Blindenschrift  zu  geben.  Eine  bestimmte  Alters- 
grenze wird  bei  der  Aufnahme  dieser  Unglücklichen  meistens  nicht 
gezogen;  nur  ein  Nachweis  der  Bildungsfähigkeit,  Gesundheit  und 
Unbescholtenheit  wird  verlangt.  Teils  sind  für  sie  besondere  Zweig- 
anstalten eingerichtet,  wie  im  Königreich  Sachsen,  in  der  Rhein- 
provinz, teils  wohnen  die  Spät-Erblindeten  im  Blindenheim  oder 
einzeln  bei  den  Bürgern  und  kommen  zur  Unterweisung  und  Arbeit 
in  die  Hauptanstalt.  Jedenfalls  ist  dafür  gesorgt,  daß  ein  stetes  Bei- 
sammensein derselben  mit  den  jüngeren  Zöglingen,  das  mit  erzieh- 
lichen Nachteilen  verbunden  wäre,  nicht  stattfindet.  Auch  muß 
denen,  die  als  Erwachsene  in  eine  Blindenanstalt  eintreten,  wenn  sie 
die  Arbeitslust  nicht  verlieren  sollen,  mehr  Freiheit  gewährt  werden, 
als  den  noch  im  Jünglingsalter  stehenden  Liternatszöglingen. 

Meldet  sich  ein  Spät-Erblindeter,  dessen  Vorleben  die  Aufnahme 
in  den  Anstaltsverband  verbietet,  so  wird  ihm  unter  Umständen  da- 
durch geholfen,  daß  man  ihn  bei  einem  tüchtigen  ehemaligen  Zögling, 
der  als  selbständiger  Handwerker  arbeitet,  zur  Ausbildung  unter- 
bringt. Sehenden  Meistern,  die  mit  Blinden  nicht  umzugehen  wissen, 
fehlt  zur  Lösung  solcher  Aufgabe,  selbst  \\enn  sie  sich  dazu  herbei- 
lassen, meistens  Geschick  und  Geduld;  auch  beanspruchen  sie  eine 
zu  hohe  Entschädigung. 

22.  Aufgabe  und  Gliederung  der  Blindenbildungsanstalt. 
Widmen  wir  nunmehr  unsere  Aufmerksamkeit  dem  inneren  Be- 
triebe der  deutschen  Blindenanstalten!  Die  Aufgabe  einer 
Blindenerziehungsanstalt  besteht  nach  deutscher  Auffassung  darin,  die 
ihr  anvertrauten  Zöglinge  durch  Pflege,  Zucht  und  Unterricht  in 
Schule  und  Werkstatt  von  den  Fesseln,  in  die  der  Mangel  des  Augen- 
lichts den  Menschen  schlägt,  nach  Möglichkeit  zu  befreien  und  sie  zu 
geistiger  Klarheit,  sittlich  -  religiöser  Festigkeit  und  gewerblicher 
Tüchtigkeit  heranzubilden.  Demgemäß  müssen  die  Zöglinge  in  der 
Blindenanstalt  nicht  nur  die  allgemeine  Schulbildung,  sondern  auch 
eine  gründliche  Berufsbildung  empfangen,  sodaß  jede  Anstalt  sich 
in  eine  Schulabteilunj 


Das   Bliiuleimnterriclitswesen  im   Deutschen   Reicli.  419 

tritt  aus  der  einen  in  die  andere  erfolgt  mit  der  Konfirmation  der 
Zöglinge,  d.  h.  im  15.  oder  16.  Lebensjahre.  Doch  wird  die  Berufs- 
bildung schon  während  der  Schulzeit  angebahnt,  und  der  Fortbildungs- 
unterricht hört  erst  mit  der  Vollendung  der  gewerblichen  Aus- 
bildung auf. 

Die  Schulabteilung  setzt  sich  fast  überall  aus  mehreren  auf- 
steigenden Klassen  zusammen,  deren  Zahl  von  der  Menge  der  Schüler 
und  den  verfügbaren  Lehrkräften  abhängt  und  wenigstens  2,  höchstens  7 
beträgt.  Davon  entfallen  in  Vollanstalten  1  bis  2  Klassen  auf  die 
Vorschule,  die  übrigen  auf  die  Hauptschule  für  Zöglinge  von  10  bis 
15  Jahren.  Als  höchste  Zahl  der  Schüler  einer  Klasse  gilt  für 
normale  V^erhältnisse  die  Zahl  12,  weil  sonst  der  überaus  wichtigen 
Forderung  der  Individualisierung  nicht  genügt  werden  kann.  Die 
Vereinigung  zweier  Klassen  in  einzelnen  Fächern,  die  man  hier  und 
da  antrifft,  ist  nur  ein  Notbehelf  Für  den  Musik-,  Turn-  nnd  Hand- 
fertigkeits-Unterricht werden  besondere  Gruppen  gebildet,'  deren  An- 
zahl und  Umfang  sich  nach  dem  wechselnden  Bedürfnis  richtet. 

23.  Lehrplan.  Bei  der  Aufstellung  des  Lehrplanes  für  die 
Blindenanstalt  kommen  nach  der  neuerdings  in  Steglitz  zum  Ausdruck 
gelangten,  behördlich  anerkannten  Auffassung  folgende  Erwägungen 
und  Besonderheiten  in  Betracht. 

Die  Blindheit  hindert  das  Kind  an  freier  Be\\'egung  und  übt 
dadurch  auf  die  gesamte  äußere  Entwicklung  einen  äußerst  nach- 
teiligen Einflui*»  aus,  der  in  zunehmender  körperlicher  Schlaffheit, 
Unbeholfenheit  und  Unsicherheit,  in  mangelhafter  Haltung  und 
mancherlei  üblen  xAngewohnheiten  hervortritt.  Diese  Schäden  sind 
durch  frühzeitige  und  ausgedehnte  Pflege  des  Turnens  und  der  Be- 
wegungsspiele, durch  Spaziergänge  und  Ausflüge  zu  bekämpfen  und 
zu   beseitigen. 

Während  das  sehende  Kind  durch  die  Fülle  der  Gesichtseindrücke 
zu  unausgesetzter  Beschäftigung  und  zum  Gebrauch  seiner  Hände 
angeregt  wird,  hemmt  die  Blindheit  die  Entwicklung  des  Nach- 
ahmungs-  und  Tätigkeitstriebes  und  führt  so  vor  allem  zu  einer  ver- 
hängnisvollen Verkümmerung  der  Hände,  die  kraftlos  und  un- 
geschickt bleiben  und  selbst  für  die  einfachsten  Verrichtungen  un- 
brauchbar erscheinen.  Der  Blinde  aber  soll  gerade  mit  der  Hand 
sehen  und  schaffen  lernen  —  sie  soll  ihm  Auge  und  Werkzeug 
werden  — ;  deshalb  ist  dafür  zu  sorgen,  daß  durch  Anleitung  zu 
mannigfacher  Handfertigkeit  während  der  ganzen  Schulzeit  die  Hände 
möglichst  mu.skelkräftig  und  geschickt  werden.    Diesem  Zweck  dienen 

27* 


420  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

vornehmlich  die  Fröbelarbeiten,  die  Einübung  einfacher  Handgriffe 
und  Handreichungen,  das  Formen  in  Ton  und  W'achs,  das  Zeichnen 
mit  Nadehi  und  Fäden  auf  Filzkissen,  endlich  auch  die  Anleitung  zu 
Holz-  und  Papparbeiten. 

Die  Anschauungen,  d.  h.  die  durch  sinnliche  Unmittelbarkeit 
gewonnenen  \^orstellungen,  bilden  das  absolute  Fundament  aller  Er- 
kenntnis. Aber  7io  ^l^^r  Vorstellungen  von  den  Dingen  und  Er- 
scheinungen der  Außenwelt  beruhen  auf  Gesichtswahrnehmungen. 
Demnach  schließt  die  früh  eintretende  Blindheit  die  Gefahr 
völliger  geistiger  \^erarmung  in  sich.  Zur  Überwindung  dieses 
Zustandes  bedarf  es  für  die  blinden  Kinder  von  vornherein  einer 
sorgfältigen  und  allseitigen  Schulung  des  Tastsinnes,  weil  in  erster 
Linie  nicht  durch  das  Gehör,  sondern  durch  eine  reiche  Zufuhr  \'on 
Tast Vorstellungen  ein  gewisser  Ersatz  geschaffen  und  eine  natur- 
gemäße Grundlage  für  die  geistige  Förderung  des  Blinden  gewonnen 
wird.  Darum  muß  ein  besonderer  Anschauungsunterricht,  ver- 
bunden mit  einer  sorgfältigen  Sprachpflege,  in  der  Vorschule  als 
Stamm  Unterricht  den  Fachunterricht  vorbereiten  und  in  der  Haupt- 
anstalt als  Ergänzungsunterricht  die  übrigen  Fächer  begleiten,  in- 
dem er  sich  hier  mehr  und  mehr  auf  solche  Gegenstände  und  Vor- 
gänge erstreckt,  die  der  Sehende  außerhalb  der  Schule  mühelos 
kennen  lernt  und  die  auch  im  Blindenunterricht  sonst  nicht  be- 
handelt und  doch  als  bekannt  vorausgesetzt  werden. 

Aber  mehr  noch!  Der  Blinde  ist  nicht  nur  arm  an  \"or- 
stellungen,  sondern  auch  arm  an  Freuden;  entbehrt  er  doch  alle 
Natur-  und  Kunstgenüsse,  die  dem  Menschen  durch  das  Auge  zu- 
strömen. Um  so  größere  Bedeutung  gewinnt  für  des  Blinden  Ge- 
mütsbildung die  Musik,  deren  Reich  ihm  uneingeschränkt  offen  steht 
und  die  ihm  zu  einem  unversieglichen  Born  der  Erheiterung  und  Er- 
hebung werden  kann  und  soll.  Aus  diesem  Grunde  und  nicht  zu  Er- 
werbszwecken ist  der  Musik,  namentlich  dem  Gesänge,  eine  sorgfältige 
und  ausgedehnte  Pflege  zuzuwenden. 

Da  dem  Blinden  weit  geringere  Gedächtnishilfen  und  F"ort- 
bildungsmittel  als  dem  Sehenden  zu  Gebote  stehen,  so  ist  das  Ge- 
dächtnis stärker  in  Anspruch  zu  nehmen  und  den  Zöglingen 
ein  reicher  Schatz  von  Bibelsprüchen,  Kirchen-  und  Volksliedern  zum 
unverlierbaren  Eigentum  zu  machen,  für  gute  und  böse  Tage.  Auch 
sind  die  Gesinnungsstoffe  (Religion,  Muttersprache,  Geschichte)  in 
weiterem  Umfange  zu  berücksichtigen. 

Der  Kern    des  Unglücks  der  Blindheit   liegt  aber  in  der  großen 


Das  BliiKleiuinleiriclilswtseii  im   Deutsclien   Keicli.  421 

Gebundenheit  und  Abhängigkeit  des  Lichtlosen.  Deshalb 
verdienen  d  i  e  Lehrweisen  und  d  i  e  Lehrmittel  den  Vorzug,  die 
den  Zögling  zu  möglichster  Selbsttätigkeit  und  Selbständigkeit 
führen. 

Die  Zahl  der  Schulstunden  für  die  einzelnen  Klassen  einer 
Blindenanstalt  muß  größer  sein,  als  es  in  Lehranstalten  für  Voll- 
sinnige erforderlich  oder  zulässig  ist.  Denn  in  der  Blinden  v  o  r  - 
schule  sind  auch  solche  Tätigkeiten,  die  für  Sehende  in  die  Freizeit 
fallen,  wie  z.  B.  Spaziergänge  und  Spiele  und  häusliche  Verrichtungen, 
zum  Gegenstand  besonderer  Unterweisung  und  Übung  zu  machen, 
und  in  der  Schulzeit  der  Hauptanstalt  beanspruchen  der  Hand- 
fertigkeitsunterricht und  die  Musik,  die  vollsinnige  Kinder  zu  Hause 
treiben,  einen  breiten  Raum.  Dafür  fällt  bei  den  Zöglingen  der 
Blindenanstalt  der  Schulweg  fort,  einzelne  Gegenstände,  wie  z.  B. 
Turnen,  Bewegungsspiele,  i\nschauungsübungen,  Erdkunde,  Natur- 
geschichte werden  nicht  selten  im  Freien  behandelt,  und  nach  jeder 
Unterrichtsstunde  tritt  eine  kürzere  oder  längere  Pause  ein,  welche 
die  Kinder  bei  günstigem  Wetter  stets  in  der  frischen  Luft  zubringen. 
Überdies  bleibt  zu  beachten,  daß  blinde  Kinder  viel  mehr  zur  Tätig- 
keit angeregt  werden  müssen  und  viel  leichter  unter  der  Beschäftigungs- 
losigkeit  und  Langenweile  leiden,  als  sehende. 

24.  Zweck  und  Arbeitsplan  der  Blinden  v  o  rs  c  h  u  1  e. 
Unter  Festhaltung  dieser  Gesichtspunkte  ist  der  Zweck  der  Blinden- 
Vorschule,  die  aus  der  Blindheit  sich  ergebenden  und  durch 
mannigfache  Versäumnisse  und  Mißgriffe  der  häushchen  Erziehung 
verstärkten  Hemmnisse  und  Schäden  der  gesamten  kindlichen  Ent- 
wicklung soweit  wegzuräumen,  daß  eine  naturgemäße  Entfaltung  der 
Anlagen  und  Kräfte  des  blinden  Kindes  ermöglicht  und  in  ihren  An- 
fängen verwirklicht  wird. 

Die  zur  Erreichung  des  vorgesteckten  Zieles  dienenden  Fächer 
faßt  der  Lehrplan  der  Steglitzer  Anstalt,  die  sich  in  unterricht- 
licher Beziehung  der  günstigsten  Entwicklung  erfreuen  darf,  nach 
ihrer  Bedeutung  in  drei  Gruppen  zusammen,  und  zwar  bezweckt 
Gruppe 

a)  die  Weckung  des  geistigen  Lebens  (1 — 6), 

b)  die  Kräftigung  und  Geschicklichkeit  der  Hände  (7 — 13), 

c)  die  Stärkung  und  Gewandtheit  des  Körpers  (14 — 16). 

Die  Verteilung  der  Unterrichtsstunden  auf  die  beiden 
V'orschulklassen,  die  zurzeit  zusammen  1 7  Zöglinge  zählt,  ist  so  geregelt, 
daß  für  die  zw^eite  (die  untere)  Klasse  die  Gruppen  c  (Leibesübungen; 


422 


l'auhstunimen-  und   Hlindenunterriclit. 


und    b    (Handtätigkeit)    in    erster   Linie    stehen,    für  die    erste  Klasse 
hingegen    die  Fächer  der  Gruppe  a.    welche  die  Pflege  der  geistigen 
Fähigkeiten  betreffen,  vorherrschen. 
Es  entfallen  auf  die 

2.  Klasse  1.   Klasse 

Stunden  Stunden 

a)  geistige  Tätigkeit 12  20 

b)  Handtätigkeit 11  9 

c)  Körperbewegung 12  10 

Im  ganzen  wöchentlich    ....     35  30 

Welche  einzelnen  Fächer  dabei  in  Frage  kommen,  ist  aus 
folgender  Übersicht  der  wöchentHchen  Lehrstunden  der  Steglitzer 
Vorschule  zu  entnehmen. 


a) 


b) 


c) 


2 

.  Klasse 

1.  Klasse 

Stunden 

Stunden 

1 

9 

3 

2. 

Anschauung 

4 

4 

3. 

Deutsch 

2 

2 

4. 

Lesen   und  Schreiben   dei 

Punktschrift 

— 

4 

und  der  Linienschrift    . 

— 

2 

5. 

Rechnen 

2 

3 

(~f 

Sinken 

9 

2 

7 

Fnrmpn 

9 

9 

8. 

Zeichnen 

1 

1 

9. 
10. 
11. 
12. 

Flechten 
Falten 
Erbsarbeit 
Bauen 

Fröbel- 

beschäfti- 

gung 

9 

2 
1 
1 

3 
1 
1 
1 

13. 

Handgriffe 

und      Hand 

reichungen 

(Selbstbedie 

nunci") 

9 



14. 

Turnen  unc 

1  Turjispiele 

6 

6 

15. 

Bewegungs 

-     und     Unter 

haltungsspi 

ele      .     .     .     . 

4 

2 

16. 

Spaziergang 

^e  .     .     .     . 
im  ganzen 

2 

2 

35 

30 

Mit    dem    vollendeten    neunten  Lebensjahr  werden  die  Zöglinge 
dort    aus    der  Vorschule  in   die    H  a  u  p  t  s  c  h  u  1  e   versetzt,  die  fünf 


Das   l}liiKleniinterrichts\v( 


im   I  )eutscheii   Reich. 


423 


aufsteigende  Klassen  umfaßt,  deren  Arbeitsbereich  aus  nachstehender 
t'bersicht  zu  erkennen  ist.  Bei  dieser  Zusammenstellung  ist  der 
Abteilungsunterricht  in  Turnen,  Musik  (einschließlich  Gesang;, 
fremden  Sprachen  und  Handfertigkeit  (Holz-,  Papp-,  Flecht-  und 
Strick-Arbeiten)  unberücksichtigt   geblieben. 


e  r  r  1  c  h  t  s  s  t  u  n  (1  e  n    i  i 
der   H  a  u  p  t  a  n  s  t  a  1  t. 


S  c  h  u  I  k  1  a  s  s  ( 


Lehr- 
fächer 

1.   Klasse 

• 

2.  Klasse 

3.  Klasse 

4.   Klasse 

5.   Klasse 

Religion 

3 

3 

3 

3 

1 
1 
3 

Deutsch 

4 

3 

3 

3 

3 

Lesen    / 

\ 

1   P. 

1   P. 

1   P. 

4  P. 

!          1    K. 

1    L. 

1   L. 

1    L. 

1    L. 

fSchreiblesen) 

1   K. 

1   K. 

1    K. 

( Schreiblesen ) 

Schreiben             1    L. 

2  L. 

2  L. 

2  L. 

— 

An- 

schauung 

1 

1 

2 

3 

3 

Geschichte 

2 

2 

2 

2 

— 

Rechnen 

3 

3 

3 

3 

3 

Raum- 

lehre      i              2 

2 

1 

— 

— 

'      Natur-      ; 

beschrei-    ' 

\       bung       1                2 

2 

2 

2 

1 

Natur- 

lehre 

1             2 

2 

— 

— 

— 

Erdkunde 

i             2 

2 

2 

2 

2 

Formen 

2 

2 

2 

2 

2 

Zeichnen    |               1 

1 

1 

1 

1 

( iesanit- 

zahl  der    i 

Stunden 

(wöchent- 

lich) 

26 

28 

26 

26 

23      ^ 

6.  Klasse  (Hilfsklasse  für  schwachsinnige  Zöglinge):  Stundenzahl  und  Stofi- 
auswahl  richten  sich  nach  der  Befähigung  der  betreffenden  Zöglinge  und  lehnen  sich  an 
den  Plan  der  Vorschule  und  der  5.  Klasse  der  Hauptanstalt  an.  (Im  ganzen  höchstens 
20  Stunden.) 

.Abkürzungen:     P.    =   Punktschrift,     L.   =   Linienschrift,     K.  =  Kurzschrift. 

Durch  den  Abteilungsunterricht  erhöht  sich  die  Zahl  der  angegebenen  Schul- 
stunden für  die  Zöglinge  der  einzelnen  Klassen  durchschnittlich  um  12,  beträgt  also  im 
ganzen  wöchentlich  32  —  40. 


424  Taubstumnien-  und  Blindeniiiiterriclit. 

Dieselben  Lehrgegenstände  treffen  wir  mit  Ausnahme  der  Holz- 
und  Papparbeiten  und  des  wahlfreien  fremdsprachlichen  Unterrichts 
(Französisch  und  Englisch  von  der  dritten  Schulklasse  ab)  in  fast 
allen  deutschen  Anstalten,  wenn  auch  zum  Teil  in  geringerer  Aus- 
dehnung und  unter  anderem  Namen.  Etliche  Anstalten  bieten  be- 
sonders befähigten  und  bemittelten  Zöglingen,  die  kein  Handwerk 
erlernen  wollen,  die  Möglichkeit  eines  weiterführenden  wissenschaft- 
lichen Unterrichts.  In  keiner  Anstalt  aber  spannt  man  den  Rahmen 
zu  weit,  und  nirgends  überhört  man  die  ^Mahnung:  Nicht  für  die 
Schule,  sondern  für  das  Leben!  — 

Der  Unterrichtserfolg  \\ird  \\esentlich  dadurch  gesichert,  daß 
für  jedes  Fach  eigenartige  zweckmäßige  Lehr-  und  Hilfsmittel  zur 
Verfügung  stehen.  Der  Wert  der  Lehrmittel  in  den  Blinden- 
anstalten Deutschlands  beläuft  sich  wenigstens  auf  260  000  M.,  wobei 
die  ^Musikinstrumente  und  Bücherschätze  nur  teih\eise  mitgerechnet 
sind.  Dennoch  dürfen  die  deutschen  Anstalten  ebenso  wenig  wie 
fremde  sich  rühmen,  alle  erforderlichen  Veranschaulichungsmittel  zu 
besitzen.     Das  hat  seinen  Grund  in  den  fast  unerschwinglichen  Kosten. 

25.  Der  Lese-  und  Schreibunterricht.  Von  entscheidender 
Bedeutung  für  die  gesamte  Schulbildung,  insbesondere  für  die  Pflege 
der  geistigen  Bedürfnisse  der  Blinden,  ist  die  Schrift-  und  Druck- 
frage, deren  Stand  zunächst  auf  dem  Gebiet  des  Lese-  und  Schreib- 
unterrichts zur  Erscheinung  kommt.  Die  aus  lateinischen  Großbuch- 
staben bestehende  Linienhochschrift  ist  durch  die  Braillesche  Punkt- 
hochschrift aus  dem  Leseunterricht  fast  ganz  verdrängt  und  wird  in 
vielen  Anstalten  überhaupt  nicht  mehr  geübt.  Ebensowenig  werden 
neue  Druckwerke  in  Linienschrift  hergestellt.  Die  großen  Vorzüge 
der  Punktschrift  —  Raumersparnis,  leichtere  Lesbarkeit,  schnelle 
handschriftliche  Darstellung  —  haben  ihr  auch  für  das  Schreiben  den 
ersten  Platz  errungen  schon  auf  der  Unterstufe.  Zur  Herstellung 
der  Punktschrift  wird  entweder  eine  Rillentafel  benutzt,  zu  der  ein 
mit  rechteckigen  Ausschnitten  versehenes  verstellbares  Lineal  gehört, 
oder  eine  Grübchen tafel,  die  statt  der  Rillen  halbkugelige  Ver- 
tiefungen und  statt  des  Lineals  ein  die  ganze  Platte  bedeckendes 
Gitter  aufweist.  In  jeder  Form  —  Zelle  oder  Fenster  genannt  —  sind 
sechs  Punkte  möglich  •  •  die  sich  mittels  eines  Stahlgriffels  in  das 
auf  die  Platte  gespannte  Papier  drücken  lassen  und  in  ihrer  \er- 
schiedenen  Anzahl  und  Lage  (1 — 5)  alle  Buchstaben,  Satzzeichen  und 
Ziffern  bilden,   z.B.:  ....  (Amerikaj.      Da    die    Schrift 


Das  lilindenunteiricluswesen  im  Deutschen  Reich.  425 

von  links  nach  rechts  o-closcn  w ird,  so  "eschieht  das  Schreiben  der  ver- 
tieften Punkte"  von  rechts  nach  links;  der  Schreiber  stellt  also  das 
Spiegelbild  der  Buchstaben  dar. 

In  einzelnen  Fällen  wird  auch  die  von  dem  Blindenlehrer  Picht 
in  Steglitz  kürzlich  erfundene  äußerst  preiswerte  Schnellschreib- 
maschine für  Punktschrift  (50  M.)  angewandt,  bei  deren  Gebrauch 
man  höchstens  den  dritten  Teil  der  Zeit  aufzuwenden  hat  und  gleich- 
zeitig z\\ei  Exemplare  des  betreffenden  Schriftstückes  herstellen  kann. 

Neben  der  buchstäblichen  Brailleschen  Punktschrift  wird  in 
mehreren  deutschen  Anstalten  noch  die  aus  derselben  abgeleitete 
deutsche  Kurzschrift  geübt,  durch  die  eine  Raumersparnis  von 
25  "/o  mit  entsprechendem  Zeitgewinn  erzielt  wird.  Über  die  ihr  im 
Unterricht  und  beim  Bücherdruck  zukommende  Stellung  ist  die 
Meinung  der  Fachleute  geteilt.  Die  einen  erstreben  ihre  Allein- 
herrschaft, wenigstens  von  der  Mittelstufe  ab.  Die  anderen  gewähren 
ihr  nur  als  Zugabe  zur  Vollschrift  Recht  und  Raum  und  fordern 
letztere  als  Druckschrift  für  alle  Schulbücher  und  für  alle  Erbauungs- 
und Volksschriften,  um  die  schwächeren  Leser  nicht  zu  benachteiligen. 

Der  Umstand,  daß  die  Punktschrift  für  Sehende,  mit  denen  der 
Blinde  doch  möglichst  selbständig  in  Verkehr  treten  soll,  nicht  ohne 
weiteres  lesbar  ist,  hat  dazu  geleitet,  die  nicht  tastbare,  farbige  Plan- 
oder Flachschrift  von  Hebold  festzuhalten,  deren  Zeichen  die 
wenig  veränderten  lateinischen  Großbuchstaben  sind.  Diese  werden 
auf  der  Heboldtafel  mit  Hilfe  eines  verschiebbaren  Lineals  hergestellt, 
dessen  rechteckige  Ausschnitte  in  den  Mitten  der  Seiten  eingekerbt 
sind,  um  dem  Schreibstift  die  nötigen  Anhaltspunkte  zu  schaffen. 
Das  Schreibblatt  wird  auf  die  Holzplatte  gelegt,  ein  Blaublatt  darüber, 
sodaß  die  Schrift  durch  den  Druck  des  senkrecht  aufgesetzten  Metall- 
griffels entsteht;  doch  können  bei  Benutzung  eines  Farbstiftes  die 
Buchstaben  auch  unmittelbar  auf  das  Papier  geschrieben  werden. 
Die  Heboldschrift,  die  nach  dem  Gesagten  von  den  Blinden  nur  ge- 
schrieben, aber  nicht  gelesen  werden  kann,  ist  in  allen  Blinden- 
anstalten Norddeutschlands  eingeführt  und  hat  für  den  \^erkehr  mit 
Sehenden  einen  hohen  Wert.  Ja,  es  kommt  sogar  vor,  daß  ein 
Blinder  in  dieser  Schrift  die  Briefe  für  seine  des  Schreibens  weniger 
kundigen  sehenden  Eltern  abfaßt. 

Aber  die  Heboldschrift  ist  nicht  leicht  zu  erlernen  und  er- 
fordert viel  Übung.  Deshalb  wird  an  einigen  Anstalten  Süd- 
deutschlands statt  ihrer  die  Kleinsche  Stachelschrift  gelehrt,  die 
zwar   eine   kostspieligere  Vorrichtung    und    mehr  Raum    und  Zeit  er- 


426  Taubstummen-  und   Blindenunterricht. 

fordert,  aber  auch  von  unbegabten  und  ungeschickten  Zöglingen 
ohne  große  Mühe  erlernt  werden  kann,  namentlich  bei  Anwendung 
des  von  Regierungsrat  Meli  in  Wien  verbesserten  Kleinschen  Stachel- 
typenapparates. Dieser  besteht  aus  einem  die  Stacheltypen  ent- 
haltenden Setzkasten  und  einer  zur  Aufnahme  des  Papiers  bestimmten 
Schreibtafel,  zwischen  deren  Zeilen  die  Stachelt}^pen  —  lateinische 
Großbuchstaben  —  gesetzt  und  abgedruckt  werden.  Die  so  ent- 
stehende Schrift  ist  ein  wenig  erhaben  und  kann  daher  auch  \'on 
dem  blinden  Schreiber  gelesen  werden. 

Außerdem  bilden  einige  Anstalten  einzelne  ZögUnge  im  Schreiben 
auf  den  gewöhnlichen  Schreibmaschinen  mit  gutem  Erfolge  aus.  Am 
meisten  wird  die  Blickensderfer  Maschine  benutzt,  die  sich  durch  ihre 
Handlichkeit  und  Billigkeit  empfiehlt  und  von  O.  Picht  mit  kleinen 
Verbesserungen  für  die  Blinden  versehen  ist. 

Spät-Erblindete  erhalten  auch  Anleitung,  die  Schrift  der  Sehenden, 
wenn  diese  ihnen  vor  ihrer  Erblindung  geläufig  war,  auf  der  Hamann- 
schen  oder  Bürgerschen  Tafel  zu  schreiben. 

So  stehen  den  deutschen  Blinden  im  ganzen  fünf  Schriftarten 
zur  Verfügung:  die  Heboldschrift,  die  Stachelschrift,  die  Maschinen- 
schrift, die  Kurrentschrift  für  den  Verkehr  mit  Sehenden,  —  die 
Punktschrift  zu  eignen  Aufzeichnungen  und  für  den  Verkehr  mit 
Schicksalsgenossen,  wozu  in  geringerem  Grade  allerdings  auch  die 
Stachelschrift  dienen  kann. 

26.  Bücherschätze  in  Punktschrift.  Für  den  Bücherdruck 
kommt  aber  in  der  Gegenwart  nur  die  Punktschrift  in  Betracht.  In 
dieser  Schrift  hat  der  schon  erwähnte  deutsche  „Verein  zur  Förderung 
der  Blindenbildung",  dessen  Expedition  sich  zurzeit  in  der  Blinden- 
anstalt zu  Hannover  befindet,  u.  a.  ein  neunbändiges  Lesebuch,  ein 
besonderes  Übungsbuch  für  Kurzschrift  und  eine  stattliche  Anzahl 
von  Werken  aus  der  deutschen  Literatur  herausgegeben,  und  es  ist 
kaum  ein  Unterrichtsfach  zu  nennen,  für  welches  nicht  Druckwerke 
in  Punktschrift  als  Hilfs-  und  Fortbildungsmittel  zu  Gebote  stehen. 
Für  Religion  allein  das  Neue  Testament  und  die  Psalmen,  ein  bibli- 
sches Geschichtsbuch  für  evangelische  und  eins  für  katholische  Blinde, 
Katechismen,  Spruchbücher,  Sammlungen  von  Kirchenliedern.  Gebet- 
und  Andachtsbücher.  Dann  zur  Einführung  in  das  deutsche  Schrift- 
tum die  Hauptwerke  der  deutschen  Klassiker  und  eine  Reihe  der 
besten  Volks-  und  Jugendschriften.  —  Das  und  vieles  andere  konnte 
nur  mit  vereinten  Kräften  von  verschiedenen  Angriffspunkten  aus 
geschaffen    werden;    denn    außer    den    obengenannten  Stellen    geben 


Das  IMindenuiiterrichtsweseii  im   I  )eulscheii   Reich.  427 

noch  Punktschriftbücher  heraus:  „Der  Verein  zu  Beschaffung  von 
Hochdruckschriften  für  Blinde"  in  Leipzig,  „Der  Rheinische  Blinden- 
Fürsorge-Verein"  in  Düren,  ,,Der  Verein  deutsch-redender  Blinden"  in 
Potsdam,  die  Blindenanstalten  in  Steglitz,  Berlin,  Stuttgart,  Illzach 
und  andere. 

Dazu  kommen  die  Bücherschätze  aus  dem  Bereich  der  Volks- 
und Jugendschriften,  welche  die  Anstalten  der  vielsagenden  ,, Hand- 
arbeit" von  Blindenfreunden  verdanken,  sodaß  an  manchen 
Stellen  jeder  Zögling  nicht  nur  seine  eigenen  Schulbücher  hat,  sondern 
sich  aus  der  Anstaltsbibliothek  auch  Unterhaltungs-  und  Bildungsstoff 
für  freie  Stunden  holen  kann.  Die  in  den  Büchereien  der  deutschen 
Blindenanstalten  vorhandenen  Werke  in  Punktschrift  umfassen  zurzeit 
etwa  26  000  Bände,  wovon  allein  fast  6000  auf  Steglitz  kommen ; 
dort  findet  sich  die  größte  Blindenanstalts-Bibliothek    in  Deutschland. 

Im  Königreich  Preußen  erhält  jeder  Zögling  beim  Austritt  aus 
der  Blindenanstalt  auf  Staatskosten  ein  Erbauungsbuch  als  Mitgabe 
fürs  Leben:  die  evangelischen  eine  Auswahl  von  Kirchenliedern,  die 
katholischen  ein  Gebetbuch  mit  dem  Titel  ,,Der  Herr  ist  mein  Licht". 

27.  Leihbibliotheken.  Mit  dem  allen  gewinnen  Schrift  und 
Druck  für  die  Blinden  erst  ihren  vollen  Wert  und  Segen,  der  weit 
über  die  Ausbildungszeit  hinausreicht.  Die  Anstaltsbibliotheken  ver- 
sorgen auch  die  Entlassenen  mit  geistiger  Nahrung,  indem  sie  ihnen 
unentgeltlich  Hochdruckbücher  leihen  oder  eigene  Zeitschriften  an 
sie  versenden. 

Außerdem  bestehen  noch  selbständige  Leihbibliotheken 
für  Blinde  in  Frankfurt  a/M.  unter  Verwaltung  des  Dr.  Hohenemser 
und  in  Leipzig  als  Einrichtung  des  vorgenannten  „Vereins  zur  Be- 
schaffung von  Hochdruckschriften".  In  der  Bildung  begriffen  ist  eine 
Zentralleihbibliothek  für  die  Blinden  von  ganz  Deutschland  mit  dem 
Mittelpunkt  in  Hamburg  unter  dem  Protektorat  Herzog  Karl  Theodors 
von  Bayern,  des  berühmten  Augenarztes  aus  fürstlichem   Geschlecht. 

28.  Die  Pflege  des  Anschauungsunterrichtes.  Diesem 
Streben,  die  Blinden  in  immer  reicherem  Maße  an  den  Geistes- 
schätzen der  Nation  teilnehmen  zu  lassen,  tritt  das  ernste  Bemühen 
an  die  Seite,  sie  durch  einen  ausgedehnten  und  lebensvollen  Betrieb 
des  Anschauungsunterrichtes  mit  den  Dingen  und  Vorgängen 
der  äußeren  Welt  bekannt  und  vertraut  zu  machen.  Deshalb  arbeitet 
man  unausgesetzt  an  der  Vergrößerung  und  Verbesserung  der  Samm- 
lungen von  Natur-  und  Kunstgegenständen   und   deren   Modellen  und 


428  Taubstummen-  und  F.lindenunlerricht. 

führt  die  Zöglinge  auch  dahin,  wo  die  Dinge  im  Natur-  und  Menschen- 
leben auftreten  und  ihre  gegenseitige  Beziehung  zu  beobachten  ist. 

Daß  ein  solches  Verfahren  auch  dem  Unterricht  in  Natur-  und 
Erdkunde,  selbst  in  Geschichte  und  Religion  zugute  kommt,  liegt  auf 
der  Hand. 

29.  Lehrmittel  für  die  übrigen  Fächer.  Mannigfaltig  sind 
die  Lehrmittel  für  die  Naturkunde:  Ausgestopfte  Tiere  oder  gute 
jVIodelle,  künstliche  Pflanzen  und  vergrößerte  Blüten  zur  Betrachtung 
ihrer  feineren  Teile  für  die  tastenden  Finger,  Schulgärten  mit  Beeten 
für  die  einzelnen  Zöglinge  zur  Übung  in  der  Beobachtung  und  Pflege 
der  Pflanzen,  zerlegbare  und  tastbare  Apparate  für  die  Naturlehre, 
wie  z.  B.  Thermometer  und  Barometer,  Mühlenwerk  und  Dampf- 
maschine. 

Li  der  Erdkunde  werden  außer  den  Kunzeschen  Landkarten 
große  Modelle  zur  Gewinnung  der  geographischen  Grundbegriffe  und 
verschiedenartige  Reliefgloben  benutzt,  darunter  als  neuester  der  nach 
den  Angaben  der  Steglitzer  Anstalt  von  einer  Berliner  Firma  an- 
gefertigte Globus.  Für  die  mathematische  Geographie  leistet  ein 
nach  Vorschrift  des  blinden  Blindenanstaltsdirektors  Schleußner  (Nürn- 
berg) hergestelltes  Tellurium  besonders  gute  Dienste. 

Im  Rechenunterricht  wird,  wo  man  sich  nicht  auf  Kopf- 
rechnen beschränkt,  die  englische  Rechentafel  von  Taylor  bevorzugt, 
bei  der  sämtliche  Ziffern  und  Rechnungszeichen  in  den  achteckigen 
Formen  der  Platte  nur  durch  die  verschiedene  Stellung  der  an  dem 
einen  Ende  mit  einem  Strich,  an  dem  anderen  mit  zwei  Punkten 
versehenen  Stifte  dargestellt  werden. 

In  der  Raumlehre  fehlt  es  nicht  an  geometrischen  Körpern, 
die,  soweit  nötig,  zerlegbar  sind;  und  neben  der  unübertrefflichen 
Heboldschen  Scheibe  wird  auch  das  Mohrsche  Figurenheft  erfolgreich 
benutzt. 

'AD.  Musikunterricht.  F'ür  den  Musikunterricht,  der  sich 
auf  Gesang,  Orgel,  Klavier,  Geige  und  Blasinstrumente  erstreckt, 
bildet  die  Braillesche  Musikschrift  mit  den  in  ihr  erschienenen 
Kompositionen  ein  hervorragendes  Hilfsmittel,  das  den  Blinden  be- 
fähigt, die  Musik  nicht  nur  nach  dem  Gehör  zu  treiben,  sondern 
gründlich  zu  studieren.  Jedoch  wird  diese  Schrift,  die  schon  musik- 
theoretische Kenntnisse  voraussetzt  und  schwierig  zu  erlernen  ist, 
nicht  in  allen  Anstalten  gelehrt.  Am  meisten  Anwendung  findet  sie 
bei  dem  Unterricht  in  der  Instrumentalmusik,  weniger  beim  Gesänge, 
da  zu  diesem  alle  stimmbegabten  Zöglinge  herangezogen  werden,  die 


I 


Das  BliiidenunterriclUswesen  im  Deutschen  Reich.  429 

nicht  alle  imstande  sind,  die  Notenschrift  zu  erlernen.  Aber  auch 
so  wird  gerade  der  Chorgesang  an  einzelnen  Anstalten  mit  großem 
Eifer  und  schönstem  Erfolge  gepflegt. 

,'V|.  Hausordnung.  Auch  die  gesamte  Haus-  und  Lebens- 
ordnung soll  mithelfen  zur  Erziehung  zur  Selbsttätigkeit  und  Selb- 
ständigkeit. 

TägHche  Andachten  weihen  Arbeit  und  Ruhe  und  weisen  der 
Sorge  und  Bitte  um  das  tägliche  Brot  den  rechten  Platz  an. 

Viele  Zöglinge  sind  skrofulös  und  schwächlich.  Deshalb  ist  man 
unausgesetzt  darauf  bedacht,  ihnen  eine  kräftige,  leicht  verdauliche 
Kost,  viel  Milch,  aber  möglich.st  wenig  alkoholhaltige  Getränke  zu 
verabreichen.  Die  Verpflegung  geschieht  am  Uebsten  und  besten 
durch  die  Anstaltsverwaltung  selbst  und  nicht  durch  einen  Unter- 
nehmer oder  Ökonom,  der  nur  zu  leicht  in  die  V^ersuchung  oder  den 
\'erdacht  gerät,  sich  auf  Kosten  der  armen  Blinden  zu  bereichern. 

Regelmäßige  Reinigungsbäder  und  Ausnutzung  der  Freizeit  zur 
Bewegung  in  der  frischen  Luft  erscheinen  als  selbstverständliche  Vor- 
schriften der  Gesundheitspflege.  Im  übrigen  stehen  alle  ZögHnge 
unter  steter  hausärztlicher  und  besonderer  augenärztlicher  Über- 
wachung. Für  erholungsbedürftige  Zöglinge  bestehen  in  beschränktem 
Umfange  schon  Ferienkolonien  an  der  See  und  im   Gebirge. 

Großes  Gewicht  wird  darauf  gelegt,  daß  die  Zöglinge  täglich 
solche  Verrichtungen  ausführen,  die  sie  von  der  Hilfe  Sehender  mehr 
und  mehr  unabhängig  machen,  ihre  Aufmerksamkeit  schärfen,  ihre 
Sicherheit  und  Gewandtheit  erhöhen,  den  Sinn  für  Ordnung  und 
Sauberkeit  wecken  und  fördern.  So  werden  sie  vielfach  angehalten 
und  angeleitet,  nicht  nur  ihre  Betten  selbst  zu  ordnen,  sondern  auch 
ihre  Stiefel  zu  wichsen  und  ihre  Kleider  zu  reinigen,  und,  wo  es  der 
Raum  erlaubt,  in  eigene  Verwahrung  zu  nehmen,  um  am  Jahresschluß 
in  ihrem  Zeugnis  auch  ein  Urteil  über  Ordnungsliebe  zu  erhalten. 

Bei  den  Mahlzeiten  benutzen  die  älteren  Zöglinge  in  verschie- 
denen Anstalten  neben  dem  Löffel  auch  Messer  und  Gabel,  schneiden 
sich  das  Fleisch  selbst,  füllen  Suppe  und  Gemüse  auf  und  helfen  beim 
Decken  und  Abräumen  der  Speisetische. 

Die  älteren  bHnden  Mädchen  treffen  wir  beim  Staubwischen  und 
Auskehren  der  Stuben,  ja  selbst  am  Waschfaß  und  in  der  Küche. 
In  einer  Anstalt  müssen  sie  an  einem  bestimmten  Wochentage  ab- 
wechselnd die  Suppe  kochen. 

In  gleicher  Weise  wird  darauf  hingewirkt,  daß  die  Zöglinge  \-on 
ihrer  freien    Zeit    und    Freiheit    einen    die  Lebensfreudisrkeit    und 


4i->0  Taubslummen-   und    liliiulcnunterricht. 

Arbeitslust  begünstigenden  Gebrauch  machen.  Man  läßt  die  Kleinen 
sich  vergnügen  mit  Säbel  und  Gewehr,  Hacke  und  Spaten,  Wagen 
und  Schlitten,  Puppen  und  Kochgeschirr,  regt  sie  namentlich  an 
Winterabenden  zu  Spielen  an  wie  Dame  und  Mühle,  Domino  und 
Schach  (die  Direktor  Kull-BerHn  in  reicher  Auswahl  und  praktischer 
Form  liefert)  und  verwehrt  den  erwachsenen  Zöglingen  das  Karten- 
spiel ohne  Einsatz  ebenso  wenig,  wie  das  zeitlich  und  räumlich  be- 
schränkte Tabakrauchen. 

Begierig  greifen  die  geistig  angeregten  Schützlinge  auch  nach 
den  Büchern  zu  stiller  Unterhaltung,  und  gern  finden  sie  sich  zu  den 
Vorlesestunden  ein,  die  keine  Anstalt  missen  möchte.  An  Sonn- 
und  Feiertagen  aber  finden  zuweilen  musikalische  Unterhaltungen, 
auch  wohl  kleine  dramatische  Vorträge  oder  Aufführungen  zur  Freude 
von  klein  und  groß  im  Kreise  der  Hausgenossen  statt. 

Bei  solchen  Gelegenheiten  treten  auch  die  konfirmierten  männ- 
lichen und  weiblichen  Zöglinge  einander  näher.  Einige  Anstalten 
gehen  noch  weiter  und  erteilen  ihnen  Tanzunterricht  und  lassen 
die  erwachsenen  männlichen  und  weiblichen  Zöglinge  bei  festlichen 
Anlässen  und  an  Unterhaltungsabenden  unter  Aufsicht  der  Lehrer 
miteinander  tanzen,  damit  sie  sich  an  einen  schicklichen  Verkehr  und 
an  gefällige  Bewegungen  gewöhnen.  Trotzdem  versichert  wird,  daß 
diese  Einrichtung  bisher  zu  keinen  Unzuträglichkeiten  geführt  habe, 
verhält  die  Mehrzahl  der  Anstalten  sich  doch  ablehnend  dagegen. 

Die  Verbindung  mit  dem  Elternhause  wird  durch  Austausch 
von  Briefen,  durch  Besuche  der  Angehörigen  in  der  Anstalt  und 
Ferienreisen  der  Zöglinge  in  die  Heimat  aufrecht  erhalten.  Diese 
wiederholten  Reisen,  bei  denen  die  Zöglinge  häufig  nur  bis  zum 
Bahnhofe  Begleitung  haben,  sind  einerseits  ein  Mittel,  ihr  Selbst- 
vertrauen und  ihre  Umsicht  zu  erhöhen,  andererseits  für  Verwandte 
und  Bekannte  eine  Gelegenheit,  die  Fortschritte  des  Blinden  und  die 
Leistung  der  Anstalt  kennen  und  würdigen  zu  lernen. 

32.  Berufsbildung.  Schularbeit  und  Hausordnung  sind  nicht 
Selb-stzweck,  sondern  sollen  der  Berufsbildung  und  Lebensstellung 
des  Blinden  den  Weg  bereiten.  Die  Berufsbildung,  die  im  vollen 
Umfange  nach  der  Konfirmation  beginnt,  wird  in  den  meisten  Anstalten 
durch  Schulfächer,  wie  das  Modellieren  und  Zeichnen,  in  einigen  noch 
durch  den  Unterricht  in  Holzarbeiten  vorbereitet.  Daneben  erhalten 
die  Zöglinge  schon  während  der  Schulzeit  Anleitung  zu  leichteren 
Flechtarbeiten. 

Die  gewerbliche  Ausbildung  —  darüber  besteht  jetzt  in  Deutschland 


Oas  Blindeminlerrichlswesen  im   Deutschen   Reich.  431 

kein  Zweifel  mehr  —  soll  den  Blinden  befähigen,  durch  Ausübung 
eines  Berufes  sich  den  Lebensunterhalt  zu  schaffen  und  somit  wirt- 
schaftlich selbständig  zu  werden.  Für  die  große  Mehrzahl  der  Zöglinge 
hat  sich  als  der  sicherste  Weg  dazu  die  gründliche  Ausbildung  in 
einem  Handwerk  erwiesen. 

33.  Handwerk.  Die  sogenannten  weiblichen  Handarbeiten 
(Stricken  und  Häkeln,  auch  wohl  Nähen)  werden  zwar  in  allen  Anstalten 
getrieben;  doch  ist  der  dadurch  erzielte  Gewinn  namentlich  in  Nord- 
deutschland vielfach  so  gering,  daß  die  Übung  dieser  Dinge  nur  ein 
Nebenfach  bildet  und  hauptsächlich  den  Zweck  hat,  die  Mädchen  zu 
befähigen,  sich  ihre  eigne  Kleidung  in  Ordnung  zu  halten.  Ebenso 
finden  wir  überall  den  Betrieb  der  Stuhl-  und  Mattenflechterei, 
die  etwas  mehr  abwirft  und  den  Mädchen  und  schwächeren  Arbeitern 
zugewiesen  wird. 

Von  entscheidender  Bedeutung  sind  die  Korbmach erei,  die 
Seilerei  und  die  Bürstenbinderei  nebst  Pecherei.  In  der  Korb- 
macherei  werden  meistens,  in  der  Seilerei  fast  ausschließlich  männliche 
Blinde  ausgebildet,  in  der  Bürstenbinderei  mehr  die  weiblichen  Zöglinge; 
doch  haben  die  süddeutschen  Anstalten  den  Seilereibetrieb  nicht,  der 
übrigens  auch  in  einigen  norddeutschen  Anstalten  fehlt. 

Dagegen  wird  in  einigen  Anstalten  neuerdings  das  Maschinen- 
stricken,  vereinzelt  auch  das  Maschinen  nähen  gelehrt,  in  Baden 
noch  das  Weben  auf  dem  Webeapparat  ,,Eugenia".  —  5  Anstalten 
bilden  einzelne  Zöglinge  im  Drucken  von  Punktschriftbüchern  aus. 
An  einer  Stelle  —  in  Leipzig  —  hat  ein  Arzt  mehrere  Blinde  mit 
P2rfolg  in  der  Massage  unterwiesen. 

34.  Die  Musik  als  Erwerbsfach.  Auch  die  Musik  kommt 
als  Erwerbsfach  nur  für  einzelne  hervorragend  begabte  Zöglinge  in 
Frage,  die  teils  zu  Klavierstimmern,  teils  zu  Organisten  und  Musik- 
lehrern herangebildet  werden.  Doch  selbst  diese  Zöglinge  erlernen 
in  manchen  Anstalten  gewisse  Handarbeiten,  um  nicht  ausschließlich 
auf  die  Musik  angewiesen  zu  sein.  Denn  es  hält  besonders  im 
evangelischen  Norddeutschland,  wo  die  Organistenstellen  häufig  von 
Lehrern  verwaltet  werden,  sehr  schwer,  einen  Blinden,  sei  er  auch 
noch  so  tüchtig,  auf  diesem  Wege  zu  Amt  und  Brot  zu  bringen. 
Günstiger  liegen  die  Verhältnisse  für  die  Klavierstimmer,  von  denen 
nicht  wenige  später  in  Fabriken,  andere  durch  Privatkundschaft  ihr 
Auskommen  finden. 

35.  Höhere  Bildung.  Die  erdrückende  Konkurrenz  der 
Sehenden  auf  musikalischem     und  wissenschaftlichem  Gebiet    hat    die 


432  Taubstummen-   und  Blindenunterricht. 

Mehrzahl  der  deutschen  Blindenlehrer  bisher  abgehalten,  dem  wieder- 
holt hervorgetretenen  Gedanken  der  Gründung  einer  Musik-Hoch- 
schule oder  sonstigen  höheren  Lehranstalt  für  Blinde  zuzu- 
stimmen. Denn  es  herrscht  die  ernste  Besorgnis  und  Überzeugung, 
daß  eine  solche  Einrichtung  nur  zur  Unterschätzung  des  Blinden- 
handwerks  und  zur  Vermehrung  des  Proletariats  in  der  Künstler-  und 
Lehrerschaft  führen  und  mit  einer  herben  Enttäuschung  für  die  Blinden 
enden   würde. 

Je  bequemer  der  Weg  zu  einem  verlockenden  Ziel  ist,  desto 
mehr  Jünger  beschreiten  ihn,  ohne  ihr  Rüstzeug  gehörig  zu  prüfen. 
Für  ausgezeichnet  begabte  und  charaktervolle  Blinde  besteht  bereits 
die  Möglichkeit,  von  der  Blindenanstalt  aus  durch  den  Besuch  eines 
Gj'mnasiums  oder  Konservatoriums  zu  höherer  Bildung  zu  gelangen. 
Und  das  genügt. 

Dagegen  tragen  die  Blindenanstalten  dem  Fortbildungs- 
bedürfnis der  Lehrlinge  mehr  oder  weniger  Rechnung.  Li  Steglitz 
z.  B.  erstreckt  sich  dieser  Unterricht,  abgesehen  von  Musik  und 
Turnen,  auf  deutsche  Literatur,  W'eltgeschichte,  Rechnen  und  Buch- 
führung, W'irtschaftskunde  und  fremde  Sprachen.  Der  Kursus  ist  in 
diesen  Fächern  im  allgemeinen  zweijährig.  Schwächere  Schüler  oder 
Lehrlinge  werden  nicht  zu  allen  Gegenständen  herangezogen.  Für 
mangelhafte  Schreiber  sind  besondere  Stunden  zum  Üben  der  Ver- 
kehrsschrift angesetzt.  —  Zöglinge,  die  erst  als  Erwachsene  eintreten, 
um  gewerblich  ausgebildet  zu  werden,  erhalten  für  sich  Unterricht  im 
Lesen  und  Schreiben. 

;^6.  Umfang  der  handwerksmäßigen  Ausbildung.  Das 
unverrückbare  Ziel  aber  bleibt  für  die  große  Mehrzahl  die  wirt- 
schaftliche Selbständigkeit  durch  den  Betrieb  des  betreffen- 
den Handwerks.  Deshalb  muß  der  Lehrling  mit  allen  bei  seinem 
Gewerbe  vorkommenden  Arbeiten  gründlich  vertraut  werden  und  zu 
voller  Fertigkeit  darin  gelangen.  Dahin  gehört  die  Beurteilung  der 
Rohstoffe  und  ihre  Vorbereitung  für  die  Verarbeitung,  wie  auch  die 
selbständige  Herstellung  und  Preisberechnung  der  verschiedenen 
Waren.  Für  eine  derartige  gründliche  Ausbildung  in  einem  Handwerk 
bedarf  es  bei  einer  täglichen  8 — 9stündigen  Arbeitszeit  einer  Lehrzeit 
von  mindestens  4  Jahren. 

Haben  die  Lehrlinge  als  solche  auch  keinen  Lohn  zu  bean- 
spruchen, so  wird  ihnen  doch  alljährlich  ein  Verdienstanteil  gut- 
geschrieben und  bei  einer  öffentlichen  Sparkasse  für  sie  zinsbar 
angelegt.     Dadurch    entsteht    für   jeden    einzelnen    ein  kleiner  Fonds, 


Das  Blindenunterriclitsweseii   im  Deutschen   Reich.  433 

■der  im  Durchschnitt  7ai  einer  Höhe  von  200 — 300  M.  anwächst  und 
zur  ersten  Ausrüstung  bei  dem  Eintritt  des  BHnden  in  das  Erwerbs- 
leben verwendet  wird. 

Erwerbsfähig  können  die  ZögHnge  jedoch  nur  dann  werden  und 
bleiben,  wenn  die  gefertigten  Waren  hinreichenden  Absatz  finden 
und  es  auch  den  Entlassenen  nicht  an  Arbeitsaufträgen  fehlt.  Daher 
finden  wir  in  jeder  Anstalt  eine  Verkaufsstelle  für  Blindenarbeiten, 
zuweilen  auch  besondere  Ladengeschäfte  außerhalb  der  Anstalt  an 
verkehrsreichen  Plätzen.  Die  Anstaltsleiter  richten  auf  diesen  un- 
gemein wichtigen  Punkt  ihre  ganze  Kraft  hin  und  scheuen  keine 
Mühe,  den  Geschäftsbetrieb,  der  unter  dem  Submissionswesen,  der 
Gefangenenbeschäftigung  und  der  Erwerbstätigkeit  der  Arbeiter- 
kolonien oft  schwer  leidet,  nachhaltig  zu  fördern.  So  betrug  der 
Wert  der  im  letzten  Jahre  in  den  deutschen  Blindenanstalten  ver- 
kauften Blindenarbeiten  im  ganzen  rund  900  000  M. 

37.  Das  Lehr-  und  Beamtenpersonal.  Die  Blindenbildungs- 
anstalten  besitzen  zur  Lösung  ihrer  umfangreichen  Aufgabe  ein  unter 
einheitlicher  Leitung  stehendes  erprobtes  Lehr-  und  Beamten- 
Personal.  Die  Vorsteher  sind  mit  verschwindenden  Ausnahmen 
pädagogisch  gebildete,  aus  demV^olksschullehrerstande  hervorgegangene 
Männer,  die  von  der  Pike  auf  gedient  und  sich  zu  ihrem  verant- 
wortungsvollen, arbeitsreichen  Amte  durch  theoretisch  -  praktische 
Studien  und  wiederholte  Informationsreisen  vorbereitet  haben. 

Unter  den  vollbeschäftigten  Lehrkräften  finden  sich  nahezu 
drei  mal  so  viel  Lehrer  als  Lehrerinnen.  Auch  Blinde  sind,  wie  die 
Gesamtübersicht  zeigt,  unterrichtHch  tätig,  besonders  in  den  musika- 
lischen Fächern  und  auf  dem  Gebiet  der  Handfertigkeit,  doch  fast 
ausschließlich  als  Hilfskräfte  und  in  kleinen  Abteilungen  oder  im 
PLinzslunterricht,  wo  die  Disziplin  leichter  zu  handhaben  ist.  Denn 
man  kann  sich  der  Überzeugung  nicht  verschließen,  daß  die  Er- 
ziehung der  Blinden  sehende  Augen  erfordert.  Nichtsdestoweniger 
treffen  wir  in  Süddeutschland  auch  einen  sehr  verdienten  nichtsehen- 
den  Anstaltsleiter,  dem  jedoch  eine  umsichtige  sehende  Gattin  zur 
Saite  steht. 

38.  Vorbereitung  und  Hilfsmittel.  Besondere  Prüfungen 
für  Lehrer  und  Vorsteher  an  Blindenanstalten  werden  fast  allseitig 
gewünscht,  sind  aber  noch  nicht  eingeführt.  Dagegen  hat  das 
preußische  Unterrichtsministerium  schon  vor  1 7  Jahren  bei  der  König- 
lichen Blindenanstalt  in  Steglitz  ein-  bis  zweijährige  Vorbereitungs- 
kurse   zur  Ausbildung  von  Blindenlehrern  auf  Staatskosten  ins 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reiche.     III.  <^o 


434  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

Leben  gerufen  und  läßt  dort  gleichzeitig  höchstens  fünf  junge  Volks- 
schullehrer, die  die  zweite  Lehrerprüfung  bereits  bestanden  haben, 
und  auch  Lehrerinnen  zu  diesem  Zwecke  zu. 

Ferner  besteht  in  Steglitz  seit  1890  zur  Förderung  des  Studiums 
der  Blindenbildung  ein  staatliches  Museum  für  Blindenunterricht 
—  das  einzige  in  Deutschland  — ,  für  dessen  Einrichtung,  Unter- 
haltung und  stete  Erweiterung  bis  jetzt  im  ganzen  29  000  M.  aus 
Staatsfonds  aufgewendet  sind. 

39.  Werkmeister  und  Pfleger.  Die  gewerbliche  Ausbildung 
der  Zöglinge  liegt  hauptsächlich  in  den  Händen  bewährter  sehender 
Handwerksmeister.  Als  Werkgehilfen  werden  vereinzelt  auch 
tüchtige  Blinde  herangezogen,  über  deren  Leistungen  nur  Rühmliches 
verlautet. 

Pfleger  und  Pflegerinnen,  zum  teil  auch  Diakonissinnen  und 
Ordensschwestern  schließen  den  Kreis  der  Mitarbeiter  als  Hüter  und 
Ordner  der  Blindenschar  in  Zuspruch,  Mahnung  und  Handreichung 
bei  Tag  und  Nacht. 

40.  Die  Fürsorge  für  Entlassene.  Gelingt  es  so  in  ver- 
einter hingebender  Arbeit  unter  dem  Sonnenschein  göttlichen  Segens, 
daß  die  Zöglinge  mit  hellem  Kopf  und  festem  Herzen,  geschickter 
Hand  und  sicherm  Fuß  in  das  Leben  hinaustreten,  so  halten  die 
Blindenanstalten  ihre  Aufgabe  damit  noch  keineswegs  für  gelöst. 
Vielmehr  betrachtet  es  jede  Anstalt  als  eine  unabweisbare  hohe 
Pflicht,  den  Entlassenen  eine  Beruf  und  Leben  umspannende  weise, 
väterliche  Fürsorge  zuzuwenden,  die  erst  eine  dauernde  beglückende 
Frucht  der  Arbeit  an  den  Blinden  zeitigt.  Diese  Fürsorge  soll  ihnen 
keine  Gaben  in  den  Schoß  werfen,  kein  Ruhepolster  für  die  Bequem- 
lichkeit bieten,  sondern  nur  die  Dornen  und  Steine  aus  dem  Wege 
räumen  und  solche  Hilfe  gewähren,  die  sie  zur  Verwertung  ihrer  Er- 
werbskraft leitet,  daß  sie  den  Kampf  ums  Dasein  freudig  und  sieg- 
reich führen  und  so  zu  einem  durch  Arbeitstreue  und  Arbeitserfolg 
gesegneten  Leben  gelangen.  Denn  Arbeitsfähigkeit  und  Arbeits- 
gelegenheit, Gemeinschaftsbedürfnis  und  Gemeinschaftsleben 
sind  oft  durch  eine  weite,  tiefe  Kluft  getrennt;  und  diese  gerade  will 
die  Fürsorge  überbrücken  und  ausfüllen. 

Entweder  wird  die  Fürsorge  von  der  Anstalt  allein  oder  in  Ge- 
meinschaft mit  einem  Fürsorgeverein  ausgeübt,  dessen  geborener  Ge- 
schäftsführer der  jeweilige  Anstaltsdirektor  ist. 

Fest  steht  das  Ziel  der  Fürsorge:  Arbeitsglück  und  Feierabend- 
frieden zu  schaffen;  wechselnd  und  mannigfaltig,  den  Umständen  und 


Das  Blindenunterrichtsweseii  im  Deutschen  Reich.  435 

Verhältnissen  sich  anpassend,  erscheinen  die  Mittel  und  Wege  der 
Fürsorge,  von  denen  folgende  hervorzuheben  sind: 

Ausstattung  mit  Werkzeug  und  Rohstoflen  beim  Eintritt  in  drs  Erwerbsleben, 

P2rmittelung  eines  geeigneten  Wohnortes  und  einer  zuverlässigen  Familie,  falls  die 
Niederlassung  im  Elternhause  untunlich  ist, 

Besorgung  preiswerter  und  guter  Rohstofle,  — 

Arbeitsnachweis  und  Arbeitsaufträge,  — 

Übernahme  fertiger  Waren  in  ein  Verkaufslager,  — 

Überlassung  von   Rohstoffen  auf  Vorschuß,  — 

Gewährung  zinsfreier  Darlehen  zu  geschäftlichen  Zwecken,  — ■ 

Besondere  Unterstützungen  in  Krankheit  und  sonstigen  Notfällen,  — 

Bewirkung  und  Erleichterung  der  gesetzlichen  Invaliditäts-,  Alters-  und  Kranken- 
versicherung für  die  blinden  Arbeiter,  — 

Gewinnung  freiwilliger  Pfleger  für  einzelne  Schützlinge  als  deren  nächste  Berater 
und  Vermittler,    — 

Schriftlicher  Veikehr  des  Anstaltsdirektors  mit  seinen  Schützlingen  und  persönliche 
Besuche  des  Direktors  bei  ihnen  und  bei  solchen  Personen,  die  das  äußere  und  innere 
Leben  des  Blinden  gefördert  haben  oder  fördern  könnten,  — 

Einrichtung  gemeinschaftlicher  offener  Werkstätten  für  blinde  Handwerker  in 
CTroßen  Städten,  — 

Bau  eines  Mädchenheims  zum  dauernden  Aufenthalt  für  alleinstehende  blinde  Ar- 
beiterinnen, — 

Bau  eines  Männerheims  als  Durchgangs-  und  Vervollkommnungsstelle  für  jüngere 
und  als  Zufluchtsstätte  für  erwerbsschwache  und  geschäftlich  ungewandte  Gesellen,  — 

Anlegung  kleiner  Arbeiterkolonien  auch  für  verheiratete  Blinde,  — 

Gründung  eines  Feierabendhauses  für  vereinsamte,  erwerbsunfähig  gewordene 
ältere  Blinde,  — 

endlich  zur  inneren  Erquickung  und  geistigen  Förderung  die  \'ersorgung  mit 
guten  Erbauungs-  und  Unterhaltungsbüchern  in  Blindenschrift  durch  leih-  oder  geschenk- 
weise Überlassung  geeigneter  Werke. 

41.  Beispiele  der  Fürsorge.  Soweit  die  Fürsorge  ohne  Mithilfe  eines  eigenen 
Vereins  geübt  wird,  hat  keine  deutsche  Anstalt  eine  so  umfassende  und  weitreichende 
Tätigkeit  entfaltet,  wie  die  Königliche  Landes-Blindenanstalt  in  Dresden  innerhalb 
des  Königreich  Sachsens.  Diese  besitzt  einen  Fürsorgefonds,  der  —  begründet  1843 
durch  das  150  M.  betragende  Vermächtnis  einer  armen  Waschfrau  —  jetzt  die  gewaltige 
Höhe  von  1  848  000  M.  erreicht  hat  und  jährlich  über  65  000  M.  Zinsen  bringt.  Da- 
durch ist  die  Anstalt  in  den  Stand  gesetzt,  jedem  der  500  Entlassenen,  mit  denen  sie  im 
Verkehr  steht,  zur  Förderung  der  Erwerbstätigkeit  eine  jährliche  Beihilfe  von  100  M.  zu 
gewähren,  die  durch  Mittelspersonen  in  Teilbeträgen  ausgezahlt  wird.  Bettelnde  Blinde 
erhalten  nichts.  Blinde  Drehorgelspieler  verfallen  der  gesetzlichen  Strafe.  Blinde,  die  die 
Ehe  miteinander  eingehen  und  blinde  Mädchen,  die  sich  verheiraten,  scheiden  aus  dem 
Füriorgekreis  aus.  Die  arbeitenden  Blinden  wohnen  im  Lande  zerstreut  und  werden 
jährlich  in  größerer  Zahl  von  dem  Direktor  besucht.  Fast  alle  beziehen  die  Rohstofle, 
welche  sie  für  ihren  Geschäftsbetrieb  brauchen,  durch  Vermittlung  der  Anstalt  und  liefern 
dorthin  die  W'aren,  die  sie  selb-t  nicht  verkaufen  können.  Arbeitsheime  kennt  Sachsen 
nicht.  Aber  den  alten  erwerbsunfähigen  Männern  und  Frauen  öflnet  sich  das  Asyl  in 
Königswartha,  dessen  ältester  Pflegling  kürzlich  im  81.  Lebensjahre  stand.  Doch  nicht 
in  dumpfem  Hinbrüten  bringen  die  Asylisten  ihre  Tage  dort  zu;  denn  es  ist  für  Beschäf- 
tigung mit  leichten  Flechtarbeiten  und  für  Erheiterung  und  Unterhaltung  durch  Vorlesen 
und  durch  Pflege  der  Musik  hinreichend  gesorgt. 

Auch    die    Großherzoglich    Mecklenburgisclie    Blindenanstalt    in    Neukloster 

28* 


436  Taubstummen-  und  Blinilenunterricht. 

wendet  ihren  ehemaligen  Zöglingen  eine  sehr  ersprießliche  Fürsorge  zu.  Hier  hat  der 
Staat  sich  nicht  damit  begnügt,  eine  Blindenbildungsanstalt  zu  gründen  und  zeitgemäß  zu 
vervollkommnen,  sondern  ist  vor  einigen  Jahren  auch  dazu  geschritten,  zwei  Fürsorge- 
stätten —  ein  Mädchenheim  und  ein  Männerheim  —  in  unmittelbarer  Anlehnung  an  die 
Anstalt  aus  Staatsfonds  zu  bauen  und  zu  unterhalten.  Möchten  andere  deutsche  Staaten 
diesem  vorbildlichen  Tun  bald  folgen! 

Unter  den  Fürsorgevereinen,  deren  im  Königreich  Preußen  allein  sechs 
bestehen,  zeigt  der  1886  gegründete  Rheinische  mit  dem  Sitz  in  Düren  das  schnellste 
Wachstum  und  die  w^eiteste  Verzweigung.  Zählt  er  doch  in  340  Bezirken  rund  24  000 
Mitglieder,  die  bei  einem  Mindestbeitrag  von  einer  Mark  jährlich  40  000  M.  aufbringen. 
Unter  seiner  Verwaltung  steht  die  Blindenwerkstätte  und  das  Altenheim  in  Düren. 

Eine  nicht  minder  erfolgreiche  Wirksamkeit  hat  der  gleichaltrige,  aber  ander-,  or- 
ganisierte Brandenburgische  „Verein  zur  Beförderung  der  wirtschaftlichen 
Selbständigkeit  der  Blinden"  entfaltet,  obwohl  die  Zahl  seiner  eingetragenen  Mit- 
glieder nur  500  beträgt.  Seine  Bestrebungen  finden  aber  bei  der  Bevölkerung  von  Berlin 
und  Umgegend  soviel  Verständnis  und  Teilnahme,  daß  eine  für  seine  Zwecke  jährlich 
gesammelte  Hauskollekte  jedesmal  einen  Bruttoertrag  von  18  —  20  000  M.  bringt  und  daß 
mehrere  Kreis-  und  Gemeindebehörden  regelmäßige  Jahresbeiträge  von  100  M.  zahlen. 
Der  Verein  hat  seinen  Sitz  in  Berlin,  seinen  Grundbesitz  und  den  Mittelpunkt  seiner 
Tätigkeit  in  Steglitz  und  zwar  in  engster  Verbindung  mit  der  Königlichen 
Blindenanstalt,  in  deren  unmittelbarer  Nachbarschaft  sich  seine  Schöpfungen  erheben 
—  ein  Mädchenheim  und  ein  Männerheim,  letzteres  mit  Seilerhaus  und  großer  verdeckter 
Spinnbahn.  —  Der  Bau  eines  Feierabendhauses  in  Rehbrücke  bei  Potsdam  ist  gesichert 
dank  der  Hochherzigkeit  einer  Vorstandsdame,  die  kürzlich  das  Kapital  zum  Grunderwerb 
geschenkt  hat. 

42.  Die  Blindenheime.  Wir  finden  im  Deutschen  Reiche  jetzt 
schon  15  Mädchenheime  nnd  7  Männerheime,  die  zweifellos  ebenso- 
viele  Segensstätten  für  strebsame  schaffensfrohe  Menschen  sind.  Denn 
in  den  Heimen  weht  die  Luft  der  Freiheit  und  des  Friedens,  herrscht 
Bienenfleiß  und  Sonnenschein.  Nicht  von  Almosen  fristen  die  Haus- 
genossen das  Leben,  sondern  sie  nähren  sich  vom  Ertrag  ihrer  Ar- 
beit, die  ihnen  durch  die  Anstalt  oder  den  Verein  zugewiesen  \\ird, 
bezahlen  Wohnungsmiete  und  Kost  und  legen  in  guter  Zeit  auch 
noch  einen  Spargroschen  zurück. 

Die  Lohnsätze  und  die  Zahlungsbedingungen  sind  in  den 
Heimstätten  in  verschiedenster  Weise  geregelt.  In  Steglitz  z.  B.  hat 
jeder  Heimarbeiter  an  Wohnungsmiete  jähriich  50 — 72  M.,  für  die  volle 
Beköstigung  täglich  75  Pf.,  für  das  Mittagessen  allein  30  Pf.  zu  entrichten. 

W^er  nicht  hinaus  kann  oder  will  in  das  feindliche  Leben,  oder 
wer  sich  draußen  nicht  zu  behaupten  vermag,  der  kommt  ins  Heim, 
der  bleibt  im  Heim.  Niemand  wird  gezwungen  einzutreten,  und 
niemand  wird  genötigt  auszutreten,  solange  er  in  Zucht  und  Ehren 
sein  Brot  schafft  und  genießt.  Dem  berechtigten  Verlangen  nach 
Seb ständigkeit  wird  möglichst  nachgegeben.  Wo  es  geht,  teilen 
höchstens  zwei  ihr  Zimmer.     Viele  haben  auch  ihr  Stübchen  ganz  für 


Das  lüinclenunterrichlswesen  im  Deutschen   Reich.  437 

sich,  das  die  Mädchen  oder  Frauen  selbst  reinigen  und  in  Orchiung 
halten,  und  das  sie  schmücken  und  beleben  mit  Blumen  und  Sing- 
vögeln. Nur  die  Arbeits-  und  Speiseräume  sind  gemeinsam.  Doch 
auch  bezüglich  der  Beköstigung  ist  es  den  Heimarbeiterinnen  an  einigen 
Stellen  gestattet,  die  Nebenmahlzeiten  sich  selber  zu  besorgen  und 
nur  das  Mittagessen  bei  der  Hausmutter  einzunehmen. 

Langt  die  Arbeitskraft  und  der  Arbeitsverdienst  nicht  zur  Be- 
streitung aller  Ausgaben,  dann  wird  von  selten  der  gesetzlichen  Ver- 
treter oder  des  Fürsorgevereins  das  Fehlende  gedeckt.  So  verkümmert 
und  verkommt  auch  der  Schwache  nicht,  auch  er  spürt  den  Segen 
der  Arbeit  an  Leib  und  Seele. 

Welche  Bedeutung  die  Heimfürsorge  und  die  Beschäftigung  in 
den  offenen  BHndenwerkstätten  gerade  hinsichtlich  der  Arbeits- 
leistung hat,  geht  auch  daraus  hervor,  daß  z.  B.  im  letzten  Jahr  in 
den  deutschen  Fürsorgestätten  im  ganzen  an  Arbeitslohn  die  Summe 
von  rund  130  000  M.  gezahlt  ist,  die  sich  auf  etwa  500  Arbeiter  und 
Arbeiterinnen  verteilt.  Nicht  alle  haben  ununterbrochen  gearbeitet, 
sonst  wäre  der  Betrag  noch  viel  höher. 

43.  Die  selbständigen  Schützlinge.  Die  Mädchen  bleiben 
mit  seltenen  Ausnahmen  am  liebsten  im  Heim,  w'O  sie  den  sichersten 
Verdienst  und  die  trauteste  Gemeinschaft,  Rückhalt  und  Anhalt  haben. 
Die  Gesellen  dagegen  machen  sich,  wenn  ihnen  die  Schwingen  ge- 
wachsen und  das  Sparguthaben  gestiegen  ist,  gern  selbständig  und 
lassen  sich  auf  dem  von  der  Fürsorge  vorbereiteten  und  geschützten 
Boden  zu  eigener  Geschäftsführung  nieder.  Gewiß  haben  sie  auch 
unter  dieser  Voraussetzung  oft  noch  mit  großen  Sorgen  zu  ringen  und 
mancherlei  Hindernisse  zu  überwinden,  unter  denen  das  Vorurteil  der 
Sehenden  von  der  Leistungsunfähigkeit  der  Blinden  nicht  das  geringste  ist. 

Bewundern  muß  man  den  Mut  und  die  Vorsicht,  mit  der 
einzelne  bei  ihrer  Niederlassung  vorgehen.  So  bat  ein  völlig  blinder 
Heimarbeiter,  der  über  ein  Sparguthaben  von  etwa  500  M.  verfügte, 
um  die  Erlaubnis,  wegen  Übernahme  eines  ihm  brieflich  angebotenen 
Geschäfts  ohne  Begleitung  nach  dem  betreffenden  Ort  zu  reisen,  und 
unternahm  auch  wirklich  allein  die  achtstündige  Eisenbahnfahrt,  ver- 
handelte mit  dem  Geschäftsinhaber  und  zog  bei  dessen  Lieferanten 
und  Abnehmern  persönlich  Erkundigungen  ein,  um  danach  seinen 
Entschluß  zu  fassen. 

Glücklich  der  arbeitstüchtige  Blinde,  der  eine  brave,  hingebungs- 
fähige sehende  Lebensgefährtin  findet,  die  ihm  ein  eigenes  Heim 
schafft  und  seine  Tätigkeit  ergänzt!     Über  die  Verheiratung  blinder 


438  Taubstummen-  und  Blindenunterricht. 

Mädchen  und  über  die  Ehe  zwischen  zwei  Blinden  denkt  man  im 
wesentHchen  überall  so  wie  in  Sachsen.  Man  hält  solchen  Schritt, 
wenn  den  Beteiligten  nicht  bedeutende  Privatmittel  zu  Gebote  stehen, 
für  ein  großes  Unglück,  das  die  Fürsorger  mit  allen  erlaubten  Mitteln 
zu  verhindern  suchen.  Denn  ein  blindes  Mädchen  vermag  den 
Pflichten  der  Hausfrau  und  Mutter  schwerlich  gerecht  zu  werden, 
und  daher  kann  solche  Ehe  auch  kein  volles  Lebensglück  begründen, 
wohl  aber  viel  Not  und  Elend  heraufbeschwören. 

44.  Schwierigkeiten  und  Erfolge.  Die  Hauptschwierig- 
keit für  den  selbständigen  blinden  Handwerker  bleibt  immer 
die  Konkurrenz  der  Fabrikarbeit,  welche  die  Preise  drückt,  und  das 
Borgsystem,  das  ihn  manchmal  lange  auf  den  Eingang  der  Zahlung 
für  verkaufte  Waren  warten  läßt.  Manche  können  nur  bestehen, 
wenn  sie  sich  mit  ihren  Erzeugnissen  auf  die  Wanderschaft  begeben 
und  hausieren,  was  sie  in  bekannter  Gegend  auch  ohne  Führer  tun. 
Andere  kommen  am  besten  durch,  indem  sie  mit  Fabrikwaren  handeln 
und  selbst  nur  Reparaturen  ausführen.  Wieder  andere  erzielen  guten 
Verdienst  durch  Betreiben  des  Klavierstimmens  neben  einem  Hand- 
werk, einige  auch  durch  das  Klavierstimmen  allein.  Ein  in  einer 
Fabrik  beschäftigter  Klavierstimmer,  ein  genügsamer,  fleißiger  Mensch 
von  27  Jahren,  übergab  seinem  Anstaltsdirektor  schon  nach  einem 
Jahr  150  M.  für  die  Sparkasse.  Ein  als  Musiklehrer  und  Klavier- 
stimmer unermüdlich  tätiger  und  ungewöhnlich  tüchtiger  24 jähriger 
Blinder  hat  in  vier  Jahren  fast  2000  M.  zurückgelegt. 

Diese  Beispiele,  die  leicht  vermehrt  werden  könnten,  lassen  er- 
kennen, welche  Früchte  die  Blindenbiidung  in  Deutschland  für  Beruf 
und  Leben  der  Blinden  trägt,  und  wie  das  Licht  scheint  in  der 
Finsternis. 

45.  Invaliditäts-  und  Altersversorgung.  Eine  unwillkürliche 
Anerkennung  der  Erwerbstätigkeit  unserer  Blinden  liegt  in  der  be- 
hördlichen Entscheidung,  daß  die  reichsgesetzliche  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  auch  auf  blinde  Heimarbeiter  auszudehnen  ist 
und  daß  selbständige  blinde  Handwerker  berechtigt  sind,  sich  selbst 
durch  Zahlung  der  vollen  Beiträge  eine  Invaliden-  und  Altersrente 
zu  sichern. 

So  entgehen  sie  alle  bei  Beschreitung  dieses  Weges,  der  mehr 
und  mehr  betreten  wird,  der  kärglichen  und  demütigenden  Armen- 
unterstützung und  werden  durch  den  Gedanken  an  den  Eintritt  ihrer 
Erwerbsunfähigkeit  nicht  niedergedrückt.  Dies  und  die  Errichtung 
von  Feierabendhäusern,  die  übrigens  eine  Konsequenz  der  Heim- 


Das  Blindeiuuiteirichtswesen  im  Deutschen  Reich.  439 

gründungen  sind,  bewahit  die  gesammelten  wie  die  zerstreuten  Schütz- 
linge auch  in  ihrem  Alter  vor  dem  Bettelstab  und  den  Armenhäusern 
und  läßt  über  ihnen  das  Verheißungswort  leuchten:  „Um  den  Abend 
wird  es  licht  sein!" 

46.  Konfessionelles.  Selbstverständlich  wird  dafür  gesorgt, 
daß  auch  das  Licht  der  ewigen  Wahrheit  und  göttlichen  Trostes  auf 
ihren  Lebensweg  fällt  und  in  ihr  Herz  scheint;  aber  eine  kon- 
fessionelle Scheidung  findet  nur  während  der  Au.sbildungszeit  und 
nur  in    der  schon  erwähnten  beschränkten  Weise  statt. 

Wo  die  Zöglinge  verschiedenen  Konfessionen  angehören,  waltet 
doch  der  Geist  einträchtigen  Verkehrs  und  Wirkens.  In  den  Heimen 
und  Feierabendhäusern  sind  Protestanten  und  Katholiken  in  der 
Regel  beieinander,  ohne  daß  bis  jetzt  erhebliche  Unzuträglichkeiten 
dadurch  entstanden  wären. 

47.  Statistisches.  W^erfen  wir  nun  zum  Schluß  noch  einen  Blick 
auf  die  Verbreitung  und  die  Ursachen  der  Blindheit  in  Preußen 
und  Deutschland  und  auf  die  Verhältnisse  der  Blinden  im  allgemeinen, 
um  Soll  und  Haben  der  Blindenbildung  und  Blindenfürsorge  mit 
einander  zu  vergleichen  und  die  Losung  für  die  Zukunft  zu  erkennen! 

Zeune,  der  Vater  des  deutschen  Blindenwesens,  ist  auch  der 
Begründer  der  Blindenstatistik.  Wie  er  den  Anstoß  dazu 
gegeben,  sagt  er  in  folgenden  Worten:  „Im  Jahre  1830  bat  ich 
das  statistische  Bureau  in  Berlin,  bei  den  dreijährigen  Volks- 
zählungen auf  die  Blinden  Rücksicht  zu  nehmen."  Dies  geschah  und 
führte  für  das  Königreich  Preußen  zu  folgendem  Ergebnis.  Das  Ver- 
hältnis der  Blinden  zu  den  Sehenden  war  1831  gleich  1  :  1415,  1834 
gleich  1  :  1410,  1837  gleich  1  :  1370,  also  eine  fortgesetzte  Zunahme 
der  Blinden,  darunter  ein  Anwachsen  der  Früh-Erblindeten  bis  zum 
15.  Lebensjahre:  1831   gleich  1/11,  1837  gleich  1/10. 

Die  letzten  4  in  Preußen  durchgeführten  Blindenzählungen  ent- 
rollen ein  völlig  anderes  Bild;  denn  sie  machen  einen  fortgesetzten 
Rückgang  der  Blindheit  ersichtlich. 

Es  waren  nämlich  in  Preußen  Blinde  vorhanden: 


mäniihch 

weiblich 

zusammen        unter 

je  100  000  Einwc 

1871      .     . 

..11  066 

11912 

22  978 

93 

1880     .     . 

..11  343 

1 1  334 

22  677 

83 

1895     .     . 

..11  238 

10  204 

21  442 

67 

1900     .     . 

.     .     11  168 

10  403 

21571*) 

62 

*)  Davon  215  zugleich  taubstumm. 


440 


Taubstummen-  und  lilindenunterricht. 


Demnach  betrug  das  Verhältnis  der  Blinden  zu  den  Sehenden 
im  Jahre  1900  in  Preußen  bei  einer  Gesamtbevölkerung  von  34  473  000 
nahezu  1  :  1600.  Blinde  in  dem  besonders  bildungsfähigen  Alter  von 
5 — 20  Jahren  hatte  Preußen  zu  derselben  Zeit  im  ganzen  2  232,  und 
zwar  1  274  männliche  und  958  weibliche. 

Die  Ergebnisse  der  Blindenzählung  vom  1.  Dezember  1900  für 
die  übrigen  Bundesstaaten  und  für  das  ganze  Deutsche  Reich 
stehen  gegenwärtig  noch  nicht  zur  Verfügung.  Doch  läßt  sich  schon 
so  viel  sagen,  daß  die  Zahl  der  Blinden  in  den  außerpreußischen 
Gebieten  annähernd  12  800,  die  Gesamtzahl  für  das  Deutsche  Reich 
also  rd.  34  400  beträgt  bei  einer  Gesamtbevölkerung  von  56  367  000. 
Mithin  besteht  annähernd  das  Verhältnis  von  1  :  1640.  Die  Zahlen 
der  Blinden  von  5—20  Jahren  ist  im  Reich  auf  3440  zu  schätzen. 


Erblindung^ursachen  bei  2528  Fällen  doppelseitiger  Blindheit 
nach  Untersuchungen  von  Professor  Magnus  (1883) 

% 

0,0 

1.  Angeborene  Zustände 

2.  Augenkrankheiten  infolge  von  Körperkrankheiten 

darunter: 

a)  Typhus,  Masern,  Scharlach 

b)  Pocken                                                               .            .    . 

4,3 

2,21 

0,47 

9,2 

0,03 

4,— 

4,5 
1,9 
0,27 

11,— 

9,5 
8,- 
8,8 
8,9 

7,7 

3,2 
4,7 

3,77 
17,37 

10,73 

67,- 

c)  Syphilis 

d)  Gehirn-  oder  Rückenmarkerkrankungen 

e)  Skrophulose              .    .                      .    . 

3    \er letzungen 

und  zwar: 

a)  direkte  Verletzung  beider  Augen 

b)  Verletzung  nur  eines  Auges  mit  sympathischer  Ent- 
zündung des  andern  

c)  verunglückte  Operationen 

d)  Kopfverletzungen  bei  Selbstmordversuchen     .... 

darunter: 

a)  Augeneitening  der  Neugeborenen  (Blennorrhoe).     . 

b)  ägyptische  Augenentzündung    oder   Körnerkrankheit 
(Trachom)  und  Eiterfluß  der  Erwachsenen    .... 

d)   Regenbogenhaut-  und  Strahlcnkörjierentzündungen  . 

f)  Sehnervenschwund 

g)  Aderhaut-  und  Netzhautveränderungen  verschiedener 
\rt                                  

h)  Netzhautablö:,ung 

i)  Aderhautentzündung  infolge  von  Kurzsichtigkeit  .    . 

Das  Blindenunterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.  441 

Über  die  naheliegende  Frage  nach  der  Art  und  Verbreitung 
der  Erblindungsursachen  in  Deutschland  hat  Professor  Magnus 
in  Breslau  die  umfassendsten  Forschungen  angestellt,  deren  Ergebnisse 
in  seinem  1883  erschienenen  Werke  über  die  Blindheit  veröffentlicht 
sind.  Die  betreffenden  Angaben  gründen  sich  auf  die  Untersuchung 
von  2528  Fällen  doppelseitiger  Blindheit  in  den  verschiedensten 
Gegenden  Deutschlands  und  bieten  vorstehendes  Bild. 

Ähnliche  Untersuchungen  hat  in  der  neuesten  Zeit  Professor 
H.  Colin  in  Breslau  angestellt,  dessen  Tabellen  sehr  beachtenswerte 
Aufschlüsse  über  \^erhütung    und  Rückgang  der  Blindheit  gewähren. 

48.  Schluß.  Alles  in  allem  genommen,  ergibt  sich  aus  diesen 
Übersichten  für  unsere  Betrachtung  besonders  ein  Doppeltes:  Viele 
Zöglinge  der  deutschen  Blindenanstalten  hätten  vor  dem  Verlust 
des  Augenlichts  geschützt  werden  können,  und  viele  Volksgenossen, 
denen  die  Gabe  des  Gesichts  versagt  oder  entzogen  ist  und  die  im 
bildungsfähigen  Alter  von  5 — 20  Jahren  und  darüber  stehen  — 
wenigstens  wohl  1000  —  entbehren  zur  Zeit  noch  einer  geeigneten 
Ausbildung. 

Aber  die  Schutzherren  und  Vorkämpfer  der  deutschen  Blinden- 
büdung  und  alle,  die  berufen  und  gewürdigt  sind,  an  diesem  heiligen 
Werke  der  Erlösung  und  Befreiung  aus  Nacht  und  Not  mitzuarbeiten, 
haben  das  stärkende  Bewußtsein,  auf  einem  Wege  zu  wandeln,  der 
sie  dem  klar  erkannten  Ziele  von  Jahr  zu  Jahr  näher  bringt. 

J.   Matt  hi  es. 


Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.  ^9 


muck  von  H.  S.  He 


Wohlfahrtseinriehtungen 


im  Anschluß 


an  die  Volksschule 


im  Deutschen  Reich 


P.  von  Gizycki 


BERLIN 

Verlag    von    A.    Asher    &    Co. 

1904 


Inhalt. 


Seite 

P>  i  n  1  e  i  t  u  n  g 1 

1.  Ergänzungen  und  »Weiterungen     des   Unterrichts    der  Volksschule  5 

A.  Für  geistig  oder  leiblich  anormale  Kinder 5 

a)  Die  Hilfsschulen  (Ililfs-  oder  Nebenklassen)    für    schwachbeföhigte 
(schwachsinnige)  Kinder . 5 

b)  Die  Sprach heilkurse 13 

c)  Kurse  für  hochgradig  schwerhörige  Kinder 17 

dj  Klassenunterricht  für  hochgradig  schwach-  und  kurzsichtige  Kinder  18 

e)  Privatunterricht  für  Krüppel  und  chronisch  kranke  Kinder.    ...  18 

f)  Schulen    oder    Klassen     für    sittlich    gefährdete     oder    verwahrloste 
Kinder 18 

B.  Besondere  Unterrichtseinrichtungen  für  normale  Volksschulkinder  ....  20 

a)  Der  Haushaltungsunterricht  für  Mädchen 20 

b)  Der  Handarbeitsunterricht  für  Knaben 29 

c)  Der  Handarbeitsunterricht  für  Mädchen 36 

dj  Zeichenkurse  für  Volksschüler 36 

e)  Schülerkapellen 37 

f)  Unterricht  im  Englischen  und  Französischen 38 

2.  Wohlfahrt  sein  rieh  tungen  für  bedürftige    oder  leidende  Kinder     .    .  39 

A.  Kinderhorte 39 

B.  Ferienkolonien,  Kinderheilstätten  u.  dergl 44 

C.  Speisung  und  anderweitige   Unterstützung  armer  Schulkinder 51 

3.  Hygienische  Wohlfahvtseinrich  tu  ngen 58 

A.  Die  Schulärzte 58 

Die  Schulzahnklinik  in  Straßburg      71 

B.  Schulbäder  und  Schwimmunterricht 73 

C.  Jugendspiele 84 

III.  A. 


II  Inhalt. 

Seite 

4.  Andere  Wohlfahrtseinrichtungen 90 

A.  Schülerfahrlen 90 

B.  Schulgärten,  Blumenpflege  durch  Scliulkinder 98 

C.  Die  Pflege  der  Kunst  in  der  Schule 104 

a)  Schulfeiern  und  Elternabende 108 

b)  Musikalische  Aufführungen  durch  Schulkinder 112 

c)  Pflege  der  bildenden   Kunst 114 

d)  Theatervorstellungen   für  Scliüler  und  Jugendkonzerte 118 

5.  Schulsparkassen 122 


Einleitung. 

Die  Lebensbedingungen  der  Bevölkerung  unserer  größeren 
Städte  haben  eine  Reihe  von  Verhältnissen  geschaffen,  welche  auf 
die  leibliche  und  geistige  Entwicklung  der  heranwachsenden  Jugend 
nachteilig  einwirken  müssen.  Die  engen,  unfreundlichen  Familien- 
wohnungen des  arbeitenden  Volkes,  der  Mangel  an  frischer  Luft  und 
geeigneter  Gelegenheit  zum  Spiel  im  Freien,  dürftige  Ernährung  und 
Kleidung,  Unsauberkeit  und  ungenügender  Schutz  gegen  die  Unbilden 
der  Witterung  besonders  im  Winter,  in  vielen  Fällen  auch  un- 
zureichende Beaufsichtigung  oder  gewerbliche  Ausbeutung  der  Kinder 
in  der  schulfreien  Zeit,  die  Versuchungen  der  Straße,  das  schlechte 
Beispiel  der  Eltern  und  schlechte  Gesellschaft  haben  in  volkreichen 
Städten  von  jeher  eine  große  Anzahl  von  Kindern  der  leiblichen  und 
sittlichen  Verwahrlosung  preisgegeben.  Die  Volksschule  als  solche 
ist  nicht  in  der  Lage,  allen  diesen  schädlichen  Einflüssen  mit  Erfolg 
entgegenzuarbeiten;  sie  bedarf,  um  ihr  segensreiches  Werk  zu 
vollenden,  der  Unterstützung  durch  das  Elternhaus  und  des  Beistandes 
opferwilliger  Menschenfreunde,  welche  bereit  sind,  sich  der  leiblich 
und  sittlich  gefährdeten  Kinder  anzunehmen.  Solche  edeldenkenden 
Männer  und  Frauen  haben  sich  in  allen  deutschen  Städten  in  großer 
Zahl  gefunden,  und  fast  überall  sind  durch  sie  Veranstaltungen  ge- 
troffen worden,  um  die  erziehliche  Aufgabe  der  Volksschule  zu  unter- 
stützen und  zu  ergänzen.  Wenn  diese  Wohltäter  es  als  ihre  Aufgabe 
erkannten,  Übelständen  entgegenzutreten,  welche  sich  aus  den  groß- 
städtischen Lebensbedingungen  für  die  Kinder  des  Volkes  ergeben, 
so  rief  der  in  der  Großstadt  mit  besonderer  Deutlichkeit  zutage 
tretende  wirtschaftliche  Wettbewerb  und  die  Notwendigkeit,  die 
heranwachsende  Generation  selbst  in  ihren  schwächsten  Gliedern  im 
Kampfe  um  ihre  Existenz  möglichst  früh  und  möglichst  vollkommen 
den  Bedürfnissen  der  Zeit  anzupassen,  sie  erwerbsfähig,  sie  körperlich 
und    geistig    konkurrenzfähig    zu    machen,    andere  Einrichtungen    ins 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     111.     .\nhang.  1 


2  Wohlfahitseiniichtungeii. 

Leben,  welche  bestimmt  waren,  den  Lehrplan  der  \'olk.s.schule  in 
irgend  einer  Weise  zu  erweitern  und  auszugestalten. 

Diese  aus  privater  Initiative  entspringenden,  teilweise  auch  vom 
Staate  oder  von  den  Gemeinden  unterstützten  Bestrebungen  haben  in 
den  letzten  30  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  im  Schulleben  der 
größeren  deutschen  Städte  eine  solche  Bedeutung  gewonnen,  daß  sie 
jetzt  praktisch  unentbehrlich  geworden  sind,  ja  daß  wir  uns  die  Arbeit 
großstädtischer  Volksschulen  ganz  ohne  ihren  Beistand  kaum  vorstellen 
können. 

Wie  der  harte  Kampf  um  die  Existenz  in  den  großen  Arbeits- 
und Verkehrszentren  diese  Wohlfahrtseinrichtungen  zu  einer  un- 
entbehrlichen Lebensbedingung  für  die  heranwachsende  Generation 
gemacht  hat,  so  hat  dieses  Zusammendrängen  des  pulsierenden  Lebens 
der  Großstadt  andererseits  auch  die  Möglichkeit  für  die  Durchführung 
dieser  segensreichen  Maßregeln  geschaffen.  Der  Reichtum  gewährt 
den  Wohlfahrtsbestrebungen  einzelner  Menschenfreunde  die  erforder- 
lichen Geldmittel,  die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  und  die  guten 
Verkehrsverhältnisse  machen  es  möglich,  viele  Bedürftige  an  einer  Stelle 
zu  vereinigen,  mit  den  vorhandenen  Mitteln  möglichst  \ielen  zu  helfen 
und  möglichst  wirksame  Maßnahmen  zu  treffen. 

Einer  kurzen  Darstellung  dieser  die  Arbeit  der  Volksschule  er- 
gänzenden Wohlfahrtseinrichtungen  soll  die  folgende  Schrift  ge- 
widmet sein. 

Es  lassen  sich  unter  den  \'eranstaltungen  zum  Wohle  der  Volks- 
schulkinder gewisse  Gruppen  unterscheiden,  und  es  soll  sich  die  Be- 
handlung des  Gegenstandes  an  dieselben  anschließen.  Sie  wird  bei 
dem  Umfange  und  der  individuellen  Eigenart  der  humanitären  Be- 
strebungen in  den  einzelnen  Teilen  und  Orten  Deutschlands  auf  Voll- 
ständigkeit keinen  Anspruch  erheben  dürfen. 

Eine  besondere  Beachtung  verdienen  die  verschiedenen  Er- 
gänzungen oder  Erweiterungen  des  Schulunterrichts.  Als 
Unterrichtseinrichtungen  sind  sie  meistens  von  den  Gemeinden  selbst 
geschaffen  worden,  oder  sie  werden  wenigstens  durch  Staat  und 
Gemeinden  mit  Geldmitteln,  unentgeltlicher  Gewährung  von  Räum- 
lichkeiten oder  dergleichen  unterstützt.  Hierher  gehören  in  erster 
Linie  alle  jene  Schülerklassen  oder  Kurse  für  geistig  oder  körperlich 
einer  besonderen  Fürsorge  bedürftige  Volksschulkinder.  Wir  rechnen 
hierzu,  wenn  wir  von  dem  bereits  geschilderten  Sonderklassensystem 
in  Mannheim  und  ähnlichen  Einrichtungen,  die  sonst  in  Deutschland 
vorkommen,    wie    die    Teilung    stark    besetzter   unterster  (achter)  Ge- 


Kink-ituns.  3 

meindeschulklasscn  in  Berlin  in  «gewissen  Unterrichtsfächern,  absehen, 
die  Hilfsschulen,  Hilfs-  oder  Nebenklassen  für  Schwachbegabte 
(schwachsinnige)  Schulkinder,  die  sich  an  die  Volksschulen  anlehnenden 
Kurse  oder  Klassen  für  Stotterer,  für  Schwerhörige,  Kurzsichtige, 
Krüppel  und  die  Schulen  für  sittlich  gefährdete  Schüler.  Die 
Internate,  in  denen  diese  und  ähnliche  Kinder  Aufnahme  und  Fürsorge 
finden,  die  Anstalten  für  Taubstumme,  Blinde,  Idioten,  Krüppel  und 
Epileptiker,  die  Erziehungshäuser  für  sittlich  verwahrloste  Kinder  und 
ähnliche  Einrichtungen  liegen  außerhalb  des  Rahmens  dieser  Schrift 
und  können  daher  hier  nicht  berücksichtigt  werden. 

Während  diese  Veranstaltungen  dazu  bestimmt  sind,  mit  Hilfe 
besonderer  Einrichtungen  und  Methoden  solche  Kinder  erwerbsfähig 
zu  machen,  welche  infolge  ihrer  körperlichen,  intellektuellen  oder 
sittlichen  Beschaffenheit  hinter  der  durchschnittlichen  Leistungsfähig- 
keit der  Volksschulkinder  zurückbleiben,  wenden  sich  andere  vorzugs- 
\\eise  an  die  normalen  und  leistungsfähigen  Schüler  und  Schülerinnen. 
Sie  bieten  ihnen  außer  den  gewöhnlichen  Unterrichtsgegenständen 
der  Volksschule  noch  Sonderfächer  oder  in  den  Stoffen  des  Lektions- 
plans freiwillige  Sonderkurse  dar,  um  ihnen  ihren  Kräften  und  Fähig- 
keiten entsprechend  eine  höhere  Leistungsfähigkeit  im  wirtschaftlichen 
Leben  zu  gewährleisten.  Diesem  Zwecke  dienen  die  Sonderkurse 
des  Handfertigkeitsunterrichts  für  Knaben,  der  weiblichen  Handarbeiten 
und  des  Haushaltungs-  und  Kochunterrichts  für  Mädchen,  der  Sonder- 
unterricht im  Zeichnen,  in  Musik,  Gesang,  in  Sprachen  u.  dgl. 

Diesen  eigenartigen  Gebieten  des  Unterrichts  gliedern  sich  als 
zweite  Hauptgruppe  die  Einrichtungen  an,  welche  die  Körper- 
pflege und  Verbesserung  des  Gesundheitszustandes  der 
Schulkinder  bezwecken.  Auf  die  Forderungen  der  Hygiene  bei 
Anlage  moderner  Schulhäuser,  ihre  Reinigung  und  Ausstattung  mit 
zweckentsprechenden  Bänken  und  Schulutensilien  ist  bereits  an  einer 
früheren  Stelle  hingewiesen  worden;  hier  werden,  wenn  auch  nur  nach 
den  Hauptgesichtspunkten,  alle  Maßnahmen  Erwähnung  finden  müssen, 
\\elche  vorzugsweise  den  bedürftigen,  schlecht  genährten,  mangelhaft 
gekleideten  und  ungenügend  gesäuberten  Kindern  zugute  kommen 
sollen,  wie  die  Frühstücksverteilung,  die  Mittagsspeisung,  die  Ge- 
währung von  Schuhwerk  und  Kleidung  und  unentgeltlichen  Bädern 
an  arme  Kinder,  die  Kinderhorte,  Ferienkolonien  und  andere  ähnliche 
Veranstaltungen. 

Diesen  Einrichtungen  stehen  drittens  andere  hygienische 
MalMiahmen     gegenüber,    welche    allen    Kindern    der     Volks- 


4  AVohlfahrtseinrichtungen. 

schule  dienen,  wie  die  Überwachung  ihres  Gesundheitszustandes 
durch  Schulärzte,  Wanderungen,  Schülerausflüge,  Jugendspiele, 
Schwimmunterricht,  Eislauf  u.  dgl. 

Unter  eine  vierte  Hauptgruppe  könnte  man  diejenigen  Ver- 
anstaltungen zusammenfassen,  welche  eine  Vertiefung  der  wissen- 
schaftlich-ethischen oder  ästhetischen  Allgemeinbildung 
der  Schulkinder  zum  Zwecke  haben. 

Das  sind  zunächst  jene  Einrichtungen,  welche  den  Sinn  und 
das  Verständnis  für  die  Natur  pflegen  sollen,  die  Schulgärten,  Terra- 
rien und  Aquarien,  die  Pflege  von  Blumen  in  Beeten  und  Töpfen, 
die  Besuche  der  botanischen  und  zoologischen  Gärten,  der  Stern- 
warten, naturwissenschaftlichen  und  historischen  Museen  und  Samm- 
lungen. Der  Erweiterung  der  Allgemeinbildung  dienen  die  bereits 
erwähnten  Jugendabteilungen  in  den  öffentlichen  oder  privaten  V'olks- 
bibliotheken,  die  Besichtigung  von  Werkstätten,  Fabriken,  öff"ent- 
lichen  Gebäuden  und  Denkmälern  und  hygienischen,  technischen  und 
Wohlfahrtsanlagen  aller  Art.  Der  Kultur  des  Geschmacks  dient  die 
Betrachtung  von  Kunstwerken  in  der  Schule  oder  in  öffentlichen 
Galerien,  der  Besuch  von  Konzerten  und  Theatervorstellungen,  die 
Übungen  im  künstlerischen  Zeichnen  und  in  Kunsthandarbeiten.  Die 
ethisch-ästhetische  Erziehung  wird  auch  nicht  unwesentlich  durch  die 
Schulfeiern,  die  patriotischen  Feste,  die  Schülerkapellen  und  gelegent- 
liche öffentliche  Gesangs-  und  Musikaufführungen  durch  die  Kinder 
selbst  gefördert. 

Eine  verhältnismäßig  bescheidene  Rolle  spielen  neben  den 
übrigen  der  Volksschule  angegliederten  Wohlfahrtseinrichtungen  im 
deutschen  Schulleben  die  auf  Erweckung  des  Spar-  und  Erwerbs- 
sinnes gerichteten  Veranstaltungen,  die  Schulsparkassen,  die  Kon- 
firmandensparkassen, die  Schülerkassen  in  gewissen  Kinderhorten  und 
Hilfsschulen,  welche  die  für  die  Handfertigkeitserzeugnisse  erzielten 
Erlöse  für  die  Kinder  ansammeln.  Sie  mögen  hier  als  fünfte  Gruppe 
der  Wohlfahrtseinrichtungen  genannt  werden. 

Wir  werden  im  folgenden  mehrfach  Gelegenheit  haben,  tunlichst 
nach  den  neuesten  Berichten  Angaben  über  die  Beteiligung  der  Ver- 
eine und  Gemeinden  an  den  betreffenden  Wohlfahrtseinrichtungen 
und  die  dafür  aufgewendeten  Mittel  zu  machen.  Sollten  diese  Zahlen 
und  Beträge  dem  Ausländer  im  einzelnen  gering  erscheinen,  so  wird 
er  nicht  vergessen  dürfen,  daß  diese  kleinen  Beträge  mit  einer 
großen  Zahl  von  Ortschaften  und  Gemeinden,  darunter  vielen,  die 
hier    nicht    genannt    werden    können,    multipliziert    werden    müssen. 


Ergänzunireii  und  Erweiterungen   des  Unterriclits  der  X'olksscliule.  5 

Viele  Wenig  machen  aber  ein  Viel,  und  so  beläuft  sich  denn  auch 
die  Gesamtsumme  aller  der  auf  diese  Weise  dem  Wohle  der  heran- 
wachsenden deutschen  Jugend  freiwillig  dargebrachten  Opfer  auf  viele 
Millionen.  Es  ist  aber  noch  eins  dabei  im  Auge  zu  behalten,  nämlich 
daß  diese  Millionen  nicht  die  wertvollste  Gabe  sind,  die  deutsche 
Männer  und  Frauen  den  Kindern  der  Volksschule  darbringen;  diese 
wertvollste  Gabe  ist  die  Fülle  von  Liebe  und  Barmherzigkeit,  von 
unermüdlicher  Arbeit  und  freiwilliger  Fürsorge,  welche  von  Männern 
und  Frauen  und  in  erster  Linie  von  den  deutschen  Lehrern  und 
Lehrerinnen  den  Kindern  gewidmet  wird,  ein  Schatz,  der  hienieden 
für  Gold  oder  Silber  nicht  zu  erkaufen  ist. 

1.   Ergänzungen  und  Erweiterungen  des  Unterrichts  der 
Volksschule. 

A.    Für  geistig  oder  leiblich  anormale  Kinder. 

a)  Die  Hilfsschulen  (Hilfs-  oder  Nebenklassen)  für 
schwachbefähigte  (schwachsinnige)  Kinder.  Solange  die  all- 
gemeine Schulpflicht  besteht,  hat  es  stets,  sowohl  in  den  höheren 
Schulen  wie  ganz  besonders  in  den  Volksschulen,  Kinder  gegeben, 
die  sogleich  in  den  untersten  Klassen  trotz  aller  auf  sie  verwendeten 
Mühe  und  Sorgfalt,  trotz  aller  Nachhilfestunden,  trotz  des  augen- 
scheinlich vorhandenen  guten  Willens  der  Kinder  selbst  nicht  imstande 
waren,  mit  dem  Durchschnitt  ihrer  Klassengenossen  gleichen  Schritt 
zu  halten.  Die  höheren  Schulen  waren  in  der  Lage,  diesen  Ballast 
v^on  Minderbefähigten  alsbald  auszuscheiden.  Die  Ausgeschiedenen 
gingen  entweder  in  private  Erziehungsanstalten  über  oder  fielen  der 
Volksschule  zu.  Aber  diese  hatte  unter  ganz  denselben  Beschwerden 
zu  leiden.  Auch  in  ihren  untersten  Abteilungen  fand  sich  stets  ein 
Bodensatz  von  solchen  Kindern  vor,  die  augenscheinlich  nicht  die 
Kraft  besaßen,  sich  auch  nur  das  bescheidene  Maß  der  für  die  Unter- 
stufe der  Volksschule  erforderlichen  Kenntnisse  anzueignen.  Bei  der 
im  allgemeinen  starken  Besetzung  der  untersten  Volksschulklassen 
war  es  dem  Lehrer  hier  noch  viel  weniger  als  in  der  höheren  Schule 
möglich,  sich  mit  der  Individualität  dieser  Kinder  eingehender  zu  be- 
schäftigen. Die  Schwachsinnigen  bildeten  einen  Ballast,  den  auch 
die  geschickteste  Pädagogik  vorwärts  zu  bringen  nicht  imstande  war, 
und  nicht  selten  brachten  diese  unglücklichen  Kinder,  außer  acht  ge- 
lassen von  ihrem  Lehrer,  gehänselt  von  ihren  kleineren,  aber  geistig 
regeren  Mitschülern,    in  trägem  Stumpfsinn  ihre  gesamte  Schulzeit  in 


()  Wohlfahrt>einrichtungen. 

der  untersten  Elementarklasse  zu,  ohne  auch  nur  die  Anfangsgründe 
des  Lesens,  Schreibens  und  Rechnens  begriffen  zu  haben.  Wenn  sie 
dann  trotz  voller  Erfüllung  ihrer  Schulpflicht  als  lUiteraten  ins  Leben 
hinaustraten,  hatten  sie  durch  den  langen  Müßiggang  und  die  De- 
mütigungen der  Schule  gewöhnlich  auch  das  geringe  Maß  von 
geistiger  Regsamkeit  und  Spannkraft  des  Willens  verloren,  das  sie, 
ihren  Anlagen  gemäß,  hätten  entwickeln  können.  Sie  blieben  das, 
was  sie  in  der  Schule  gewesen  waren,  jetzt  auch  im  öffentlichen 
Leben:  ein  nutzloser  Ballast  für  die  menschliche  Gesellschaft.  Sie 
waren  größtenteils  völlig  erwerbsunfähig  und  vermehrten,  wofern  sie 
von  ihrer Eamilie  nicht  dauernd  unterhalten  A\erden  konnten,  die  Zahl 
der  Ortsarmen,  der  .Vlmosenempfänger. 

In  vielen  Fällen  gestaltete  sich  allerdings  ihr  Schicksal  noch  \iel 
trauriger.  Es  ist  durch  die  Untersuchungen  der  modernen  Psychiatrie 
zweifellos  erwiesen,  daß  ein  außerordentlich  hoher  Prozentsatz  der 
Verbrecher  und  Prostituierten  aus  geistig  Minderwertigen  besteht. 

Aus  dieser  Sachlage  erwuchs  den  deutschen  Pädagogen  die 
Aufgabe,  den  Versuch  zu  machen,  diese  unglücklichen  Kinder  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  zu  erhalten  und  Schuleinrichtungen  und 
Methoden  des  Unterrichts  zu  schaffen,  welche  geeignet  wären,  diese 
vernachlässigten  Geschöpfe  zu  erwerbsfähigen  und  brauchbaren  und 
in  gewissem  Sinne  sogar  zu  nützlichen  und  selbständigen  Mitgliedern 
der  menschlichen  Gesellschaft  zu  machen.  Dieses  ist  das  Ziel,  welches 
in  unseren  Hilfsschulen  mit  Bewußtsein  verfolgt  und  in  einer  großen 
Zahl  von  Fällen  auch  wirklich  erreicht  wird. 

Unter  den  Städten  Deutschlands  gebührt  Dresden  der  Ruhm, 
zuerst  Schuleinrichtungen  für  diese  Klasse  der  Schwachen  getroffen 
zu  haben.  Am  16,  September  1867  wurde  in  Dresden- Altstadt  die 
erste  Nachhilfsklasse  mit  16  schwachsinnigen  Kindern  eröffnet.  Diese 
Klasse  war  der  Keim,  aus  welchem  sich  ein  ganz  neues  Gebiet  der 
Pädagogik  entwickeln  sollte.  Dem  Vorgange  Dresdens  mit  der  Ein- 
richtung von  Hilfsklassen  oder  Hilfsschulen  für  schwachsinnige  Kinder 
folgten:  Gera  1874,  Apolda  1877,  Elber^eld  1879,  Brauaschweig  1880, 
Leipzig  1881,  Halberstadt  1883,  Königsberg  i.  Pr.  1885,  Cöln  a.  Rh. 
1886,  Frankfurt  a.  M.  und  Düsseldorf  1888,  Altona  1889,  Erfurt  1890, 
Hannover,  Breslau  und  Magdeburg  1892,  Görlitz,  Nordhausen  und 
Charlottenburg  1893  usw.  Die  erste  Statistik  über  den  Umfang 
dieses  neuen  Unterrichtszweiges  in  Deutschland  wurde  verhältnismäßig 
spät  durch  den  um  den  Unterricht  für  schwachsinnige  Kinder  hoch- 
verdienten   Lehrer    Kielhorn    in  Braunschweig    im  Jahre  1894    aufge- 


Krgänzunt^en   und  F".i\veiterungen   des  Unterrichts  der  Volksschule.  7 

nommen.  Nach  dieser  bestanden  damals  in  Deutschland  30  Hilfs- 
schulen mit  110  Klassen,  in  denen  von  115  Lehrkräften  2290  Kinder 
(1280  Knaben  und  1010  Mädchen)  unterrichtet  wurden.  Diese  Zahlen 
haben  sich  inzwischen  sehr  erhöht.  Folgende  130  deutsche  Orts- 
gemeinden hatten  zu  Beginn  des  Jahres  1903  Hilfsschulen  oder 
Klassen  für  schwachbefähigte  (schwachsinnige)  Kinder  eingerichtet: 

Aachen,  Altona,  Altenburg,  Apolda,  Augsburg,  Barmen,  Berlin, 
Bernburg,  Beuthen,  Bielefeld,  Bonn,  Borna,  Bochum,  Braunschweig, 
Brandenburg  a.  d.  H.,  Bremen,  Bremerhaven,  Breslau,  Bromberg, 
Cassel,  Charlottenburg,  Chemnitz,  Colmar  i.  Eis.,  Cöln,  Cöpenick, 
Cottbus,  Crefeld,  Darmstadt,  Dessau,  Dortmund,  Dresden,  Düsseldorf, 
Duisburg,  Eberswalde,  Eisenach,  Eisleben,  Elberfeld,  Emden,  Erfurt, 
Essen  a.  d.  R.,  Freiberg  i.  S.,  Friedenau  b.  Berlin,  Flensburg,  Frank- 
furt a.  M.,  Frankenthal,  Fürth  i.  B.,  Gelsenkirchen,  Gersdorf,  Gera, 
Gießen,  Glauchau,  Gotha,  Göttingen,  Görlitz,  Grünberg  i.  Schi., 
Grimma,  Hagen  i.  W.,  Halle  a.  S.,  Halberstadt,  Hamburg,  Hameln, 
Hannover,  Hanau,  Herford,  Hildesheim,  Hirschberg  i.  Schi.,  Jena, 
Karlsruhe,  Kaiserslautern,  Kamenz  i.  S.,  Kiel,  Kirchberg  i.  S.,  Königs- 
berg i.  Pr.,  Königshütte  i.  Schi.,  Köslin,  Leipzig,  Linden  b.  Hannover, 
Ludwigshafen  a.  Rh.,  Lübeck,  Lüdenscheid,  Lüneburg,  Magdeburg, 
Mainz,  Mannheim,  Meiningen,  Meißen,  Mühlhausen  i.  Th.,  Mül- 
hausen  i.  Eis.,  Mülheim  a.  d.  Ruhr,  München,  Netzschkau  i.  Vgtl., 
Neumünster,  Nordhausen,  Nürnberg,  OffenbacH  a.  M.,  Oschatz  i.  S., 
Osnabrück,  Peine,  Pforzheim,  Pirmasens,  Plauen  i.  V.,  Poeßneck  i.  Th., 
Posen,  Potsdam,  Rathenow,  Reichenbach  i.  Vgtl,  Rummelsburg  b. 
Berlin,  Saalfeld  a.  S.,  Schwelm  i.  W.,  Schöneberg  b.  Berlin,  Stettin, 
Steglitz  b.  Berlin,  Stolp  i.  Pom.,  Straßburg  i.  E.,  Stuttgart,  Tharand 
Bez.  Dresden,  Tilsit,  Trier,  Ulm,  Wandsbeck  b.  Hamburg,  Weimar, 
Werdau  i.  S.,  Wilmersdorf  b.  Berlin,  Witten,  Worms  a.  Rh.,  Zehlen- 
dorf b.  Berlin,  Zeitz  Bez.  Merseburg,  Zittau  i.  S.,  Zwickau  i.  S. 

Die  Zahl  der  Klassen  betrug  zu  dieser  Zeit  583  mit  11918 
Kindern  (6620  Knaben  und  5298  Mädchen). 

Wie  schon  diese  Ziffern  ergeben,  sind  die  Hilfsklassen  im  all- 
gemeinen schwach  besetzt,  durchschnittlich  mit  nicht  mehr  als  20 
Kindern;  der  Unterricht  unterscheidet  sich  durch  Auswahl  der  leich- 
teren und  unentbehrlichen  Stoffe  und  Gegenstände,  durch  langsames, 
planmäßiges  Fortschreiten,  individuelle  Behandlung  des  einzelnen 
Kindes,  reiche  Verwendung  von  Anschauungsmitteln,  Anleitung  der 
Kinder  zu  praktischer  Betätigung  in  allen  Unterrichtsfächern  und  Auf- 
nahme   neuer    Unterrichtsgebiete    in    den  Lehrplan    von    dem  in  den 


8  Wohlfalntseinrichtungen. 

Volksschulen  üblichen  Lehrverfahren.  Diese  besonderen  Unterrichts- 
gebiete sind  hauptsächlich  die  verschiedenen  Arten  der  Handfertig- 
keit, die  Fröbelschen  Beschäftigungen,  die  Papp-  und  Holzarbeiten 
und  in  einigen  Hilfsschulen  Gartenarbeit,  Formen  in  Ton  oder  Plasti- 
lina, Matten-  und  Rohrstuhlflechten  u.  dergl.  mehr. 

Die  Hilfsschulen  Deutschlands  sind,  wie  sich  aus  der  Sache  selbst 
ergibt,  gewöhnlich  verhältnismäßig  kleine  Anstalten.  Selten  sind  mehr 
als  200  Kinder  in  einem  Schulhause  vereinigt.  In  ausgedehnten 
Stadtgebieten  ist  es  unter  Umständen  recht  schwierig,  wenn  nicht 
unmöglich,  sämtliche  der  Hilfsschule  bedürftigen  Kinder  an  einer 
Stelle  zu  konzentrieren,  und  es  entsteht  dann  häufig  die  Notwendig- 
keit, in  abgelegenen  Stadtteilen  oder  in  den  Vororten  einzelne  Hilfs- 
klassen oder  Rumpfschulen  einzurichten.  Als  Hilfsschulen  im  eigent- 
lichen Sinne  können  aber  nur  solche  Anstalten  angesehen  werden,  die 
mindestens  zwei  aufsteigende  Klassen  aufweisen. 

Wie  in  der  Zahl  der  Klassen  sind  die  deutschen  Hilfsschulen 
auch  hinsichtlich  ihrer  Organisation  nach  der  Zahl  der  einander  überge- 
ordneten Stufen  verschieden.  Wir  haben  besonders  in  kleinen  Städten 
und  dort,  wo  die  Hilfsschulen  erst  seit  kurzem  eingerichtet  sind,  zwei- 
stufige Organismen.  Eine  große  Anzahl  von  Städten  ist,  wie  Breslau 
und  Elberfeld,  aus  Prinzip  bei  dem  dreistufigen  System  stehen  ge- 
blieben. Andere  haben  vier,  fünf  und  sechs  Stufen  eingeführt.  Die 
sechsstufige  Hilfsschule  ist  auf  der  Voraussetzung  einer  achtjährigen 
Schulpflicht  \-om  vollendeten  sechsten  bis  zum  vierzehnten  Jahre  und 
eines  zweijährigen  versuchsweisen  Aufenthalts  des  Kindes  in  der 
Volksschule  begründet.  Sie  ermöglicht  auch  dem  schwachsinnigen 
Kinde  ein  jährliches  Aufrücken  in  eine  höhere  Klasse.  Wo  die  Hilfs- 
schule aus  einer  größeren  Klassenzahl  besteht,  sind  natürlich  Parallel- 
zöten  eingerichtet.  Die  organisierte  Hilfsschule  steht  meistens  unter 
der  Leitung  eines  Fachmannes,  der  den  Rektortitel  führt,  wenn  die 
Schule  reicher  gegliedert  ist. 

Die  Lehrpersonen,  die  an  diesen  Hilfsschulen  unterrichten,  be- 
dürfen für  ihr  schweres  Amt  nicht  nur  besonderer  persönlicher  Eigen- 
schaften, wie  Geduld,  Nachsicht  und  Liebe  zu  Kindern,  sondern  auch 
einer  fachmännischen  Vorbildung.  In  erster  Linie  kommt  es  natür- 
lich auf  eine  in  sich  gefestigte,  ernste  und  liebevolle  Persönlich- 
keit an. 

In  den  meisten  Städten  erhalten  die  Lehrkräfte  an  den  Hilfs- 
schulen, und  das  sind  in  einigen  Fällen  auch  Damen,  außer  ihrem 
etatsmäßicren    Gehalt    Funktionszulagen    \'on    100    bis    400    M.      Den 


Ergänzungen  und  Krweiterungen  des  Unterrichts  der  \'olksschule.  9 

Leitern     der    Hilfsschulen     werden     unter    Umständen    auch    höhere 
Gratifikationen  gewährt. 

Der  Lehrplan  der  Hilfsschule  ist  bisher  durch  allgemeine  Ver- 
ordnungen in  keinem  deutschen  Staate  festgestellt,  derselbe  weist  aber 
in  den  besser  organisierten  Anstalten  dieser  Art  väel  Übereinstimmendes 
auf  Als  ein  Beispiel  möge  hier  eine  Übersicht  über  die  Verteilung 
der  Wochenstunden  in  der  Hilfsschule  zu  Frankfurt  a.  M.,  einer  gut 
einsferichteten  und  geleiteten  Anstalt,  ihren  Platz  finden. 


Lehrgegenstände 


VI. 


IV. 


III. 


Religion:  evangelisch 

„  katholisch  . 

Deutsch 

Anschauungsunterricht 

Rechnen   

Geschichte     .... 
Geographie    .... 
Naturbeschreibung 
Schönschreiben  .     .     . 
Zeichnen 


6/2 


6/2 


6/2 


6/2 


6/2 


6,2 

6 

6 

5 
1 

5 
1 

1 

1 

1 

1 

2      t 

2 

1 

1 

Handarbeit   u.   Formenlehre  4  Knaben 

4  Mädchen 


4   Knaben 
4  Mädchen 


4  Knaben 
4  Mädchen 


2  Knaben 
2  Mädchen 


24 


24 


26 


26 


26 


Dem  Ausländer,  der  sich  über  den  Unterrichtsbetrieb  dieser 
Schulen  näher  zu  informieren  wünscht,  würde  der  Besuch  einiger 
deutscher  Hilfsschulen,  unter  denen  wir  besonders  die  in  Leipzig  und 
Frankfurt  a.  M.  hervorheben  möchten,  zu  empfehlen  sein.  Der  neue 
Lehrplan  der  Leipziger  Anstalt  ist  ein  Muster  einer  sorgfältigen,  auf 
reiche  Erfahrung  gegründeten  pädagogischen  Arbeit. 

Über  den  Grad  der  in  besseren  deutschen  Hilfsschulen  etwa  zu 
erreichenden  Unterrichts-  und  Erziehungserfolge  gibt  folgende,  einem 
amtlichen  Berichte  über  die  Nachhilfeschule  in  Dresden-Altstadt  vom 
Jahre  1901  entnommene,  den  Tatsachen  durchaus  entsprechende  Dar- 
stellung Auskunft  *) : 


*)  Die  Nachhilfeschule  zu  Dresden-Altstadt  nach  ihrer  Entstehung  und  ihrem  Aus- 
bau und  dem  jetzt  geltenden  Lehrplan  von  P.  Taetzner  und  E.  Jul.  Pruggraayer.  Dresden 
(1901)  S.  51   u.  52. 


i  0  Wohlfahrtseinrichtungen. 

,,Der  bis  zur  I .  Klasse  gekommene  Schüler  besitzt  quantitativ 
nicht  die  Hälfte  des  für  normale  Kinder  vorgeschriebenen  Wissens- 
stoffes; es  ist  ihm  aber  alles  das  übermittelt  worden,  was  er  zum 
Fortkommen  im  Leben  unbedingt  braucht.  Er  kann  sich  mündlich 
und  schriftlich  ausdrücken,  und  seine  schriftlichen  Ergüsse  vermag 
jeder,  obwohl  in  diesen  Elaborationen  vielfach  eine  Orthographie 
herrscht,  die  der  amtlich  eingeführten  in  vielen  Punkten  nicht  ent- 
spricht, zu  verstehen.  Im  Rechnen  kann  er  Aufgaben  im  Zahlen- 
kreise von  1  — 1 000,  sofern  die  Verhältnisse  nicht  verwickelter  und  zu- 
sammengesetzter Art  sind,  lösen ;  namentlich  ist  er  geschickt  gemacht 
worden,  Aufgaben,  den  Forderungen  des  täglichen  Lebens  Rechnung 
tragend,  auszurechnen.  Er  ist  auch  gewöhnt  worden,  die  schriftliche 
Ausrechnung  in  sauberer,  übersichtlicher  Form  zu  bieten.  Rech- 
nungen und  Quittungen,  Brief-  und  Paketadressen  usw.  schreibt  er  so, 
wie  der  Gebrauch  oder  die  gesetzHchen  Bestimmungen  dies  er- 
heischen. Seine  Heimat  kennt  er;  namentlich  ist  er  mit  den  Ver- 
kehrsverhältnissen gut  vertraut;  über  die  Gewinnung  heimatlicher 
Produkte  und  über  deren  Nutzen  im  Haushalte  der  Natur  und  im 
Menschenleben  kann  er  urteilen.  Er  ist  auch  kein  Ignorant  in  der 
Geschichte  seines  Volkes.  Die  Verdienste  solcher  Männer,  die  in  be- 
sonderer Weise  dem  Vaterlande  oder  der  gesamten  Menschheit 
Nutzen  gebracht  haben,  weiß  er  zu  würdigen.  Zu  seinem  Gott  ist  er 
durch  das  Schulgebet,  in  dem  je  nach  Lage  der  Verhältnisse  auch 
der  Beziehungen  des  einzelnen  Schülers  gedacht  wird,  und  durch  zahl- 
lose lichtvolle  Hinweise  auf  Gottes  Treue  geführt  worden;  er  weiß, 
warum  er  den  Namen  Christ  führt,  und  weiche  Hoffnung  der  Christ 
im  gläubigen  Herzen  trägt.  Kann  er  auch  nicht  viel  Sprüche  und 
Liederverse  auswendig:  die  Gebote,  das  Glaubensbekenntnis,  das 
Vaterunser,  verschiedene  Lebenssprüche  und  einige  Kernlieder,  atmend 
den  Geist  des  Vertrauens  zu  Gott  und  zu  dessen  väterlichem  Walten, 
sind  ihm  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen.  Als  Wahlspruch  seines 
Lebens  ist  ihm  das  Wort  Tob.  4,  7  gegeben  worden.  Immer  und 
immer  wieder  ist  Ermahnung  zum  Gehorsam  gegen  Gott,  den  König 
und  die  staatlichen  Ordnungen  ergangen,  und  zum  Gehorchen  ist  er 
gewöhnt  worden. 

Erwägt  man  ferner,  wie  sehr  die  schwachsinnigen  Schüler  in 
praktischen  Arbeiten  geübt  worden  sind,  und  hat  man  Gelegenheit 
gehabt,  zu  beobachten,  wie  bei  öffentlichen  Ausstellungen  der  ge- 
fertigten Arbeiten  Worte  der  Anerkennung  gezollt  wurden,  erinnert 
man    sich    auch  des  Dankes,    den    die  Eltern  der  gesamten  Tätigkeit 


Ergänzungen  und  Erweiterungen  des   l'nterrichts  der  N'olksschule.  |  1 

der  Schule  spenden*),  so  kann  wohl  die  Schule  der  frohen  Hoffnung 
leben,  daß  ihr  Tun  an  den  Schwachsinnigen  nicht  ein  verlorenes  ist, 
sondern  daß  sie  durch  ihr  Mühen  ihren  Pflegebefohlenen  und  damit 
der  menschlichen  Gesellschaft  und  dem  Staate  nützt." 

Die  Aufnahme  der  Kinder  in  die  Hilfsschule  erfolgt  in  Deutsch- 
land im  allgemeinen  erst  nach  zweijährigem  vergeblichen  Besuch 
der  Volksschule;  der  Überweisung  geht  eine  sorgsame  Prüfung  durch 
sachkundige  Pädagogen  sowie  meist  eine  Untersuchung  durch  den 
Schularzt  vorher.  Die  Dauer  des  Besuches  der  Hilfsschule  umfaßt 
gewöhnlich  6  Jahre,  doch  ist  die  Schulpflicht  dieser  geistig  minder- 
wertigen Kinder  in  den  meisten  deutschen  Staaten  gesetzlich  noch 
nicht  geregelt.  Die  Schaffung  einer  solchen  gesetzlichen  Grundlage 
und  besonders  eine  Ausdehnung  der  Schulpflicht  für  diese  Kinder 
bis  zum  vollendeten  16.  Jahre  würde  einen  wichtigen  Fortschritt  auf 
diesem  Sondergebiet  der  Jugenderziehung  bedeuten. 

Es  ist  an  verschiedenen  Orten,  besonders  in  den  ersten  Jahr- 
zehnten des  Bestehens  der  Hilfsschulen,  ehe  man  noch  den  besonderen 
körperlichen  und  psychischen  Zustand  der  schwachsinnigen  Kinder 
ganz  verstehen  gelernt  hatte,  nicht  selten  der  Versuch  gemacht 
worden,  Schüler  und  Schülerinnen  der  Hilfsschulen  nach  kürzerem 
oder  längerem  erfolgreichen  Besuche  der  Sonderanstalten  dem  nor- 
malen Unterricht  in  der  Volksschule  wieder  zuzuweisen.  Die  Wirkung 
dieser  ^Maßregel  war  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  ein 
schneller  Rückgang  der  Leistungen  der  Kinder  in  dem  für  sie  un- 
geeigneten Element. 

Vielfach  verbietet  auch  schon  die  Rücksicht  auf  das  Lebensalter 
und  die  notwendige  Vorbereitung  der  schwachen  Kinder  für  das  Er- 
werbsleben eine  Überweisung  derselben  in  die  unteren  Volksschul- 
klassen, welche  bei  ihrem  Bestände  von  8  und  9jährigen  Kindern 
ganz  andere  Bildungs-  und  Erziehungsziele  verfolgen  müssen.  Das 
preußische  Unterrichtsministerium,  welches  in  dem  letzten  Jahrzehnt 
den  Hilfsschulen  ganz  besonderes  Wohlwollen  und  Interesse  zuge- 
wendet hat,  äußert  sich  in  einem  Ministerialerlaß  vom  6.  April  1901 
zu  dieser  Frage  folgendermaßen: 

„Inbetreff  der  Rückversetzung  einzelner  Kinder  aus  der  Hilfs- 
klasse   in    die  Volksschule    wird    offenbar  nicht  überall  dasselbe  Ver- 


*)  Öffendiche  Prüfungen  hat  die  Schule  nicht;  aber  es  wird  den  Eltern  gestattet, 
alljährlich  einmal  an  einem  von  der  Schule  bestimmten  Tage  (letzte  Schulwoche  vor  Ostern ) 
dem  Unterrichte  beizuwohnen.    Die  Eltern  machen  von  dieser  Erlaubnis  regen  Gebrauch. 


■j  2  \Vohlfahitseiniichtungen. 

fahren  beobachtet.  An  einzahlen  Orten  werden  anscheinend  auch 
ältere  Kinder  in  untere  Volksschulklassen  versetzt.  Dies  ist  zu  ver- 
meiden. Denn  nicht  nur  verursacht  der  Altersunterschied  zwischen 
den  zurückversetzten  Kindern  und  den  jüngeren  Klassengenossen 
Schwierigkeiten,  denen  gerade  die  Hilfsklassen  mit  vorbeugen  sollen, 
sondern  es  erhalten  auch  die  zurückversetzten  und  dann  alsbald  au< 
einer  unteren  Klasse  in  das  Leben  zu  entlassenden  Kinder  eine 
Schulbildung,  durch  welche  sie  für  ihre  Erwerbsfähigkeit  nicht  genug 
gewinnen." 

Freilich  wird  gerade  bei  der  Erziehung  dieser  bedauernswerten 
Kinder  die  Schule  in  höherem  Maße  als  bei  ihren  anderen  ZögUngen 
des  Beistandes  privater  Fürsorge  und  werktätiger  Nächstenliebe  be- 
dürfen. Diese  Kinder  entstammen  zum  großen  Teile  den  ärmsten  und 
elendesten  Schichten  der  Bevölkerung,  sie  sind  nicht  nur  geistig 
schwach,  sondern  auch  körperlich  gebrechlich  und  tragen  auch  in 
ihrer  moralischen  Anlage  vielfach  den  Stempel  der  Schwäche  und 
Widerstandsunfähigkeit  gegen  die  Anfechtungen  und  Versuchungen 
des  Lebens  an  sich.  Sie  bedürfen  schon  während  der  Schulzeit  ganz 
besonderer  Pflege  durch  Gewährung  guter  Kost  und  Kleidung,  sie 
verdienen  mehr  als  andere  Kinder  Berücksichtigung  bei  der  Auf- 
nahme in  Ferienkolonien  und  Kinderhorte;  die  größte  Schwierigkeit 
aber  tritt  an  sie  heran,  wenn  sie  die  Schule  verlassen  haben  und  als 
Beschäftigungsuchende  auf  den  Arbeitsmarkt  treten. 

Li  der  Erkenntnis  dieser  ernsten  Notlage  der  geistig  schwachen 
Kinder  haben  sich  denn  auch  in  verschiedenen  deutschen  Städten, 
wie  in  Königsberg  i.  Pr.^  in  Leipzig  und  Berlin,  Vereine  gebildet,  welche 
ihre  Hauptaufgabe  darin  sehen,  die  leibliche  Pflege  und  sittliche  Er- 
ziehung der  Kinder  der  Hilfsschulen  im  schulpflichtigen  und  nach- 
schulpflichtigen Alter  zu  überwachen  und  besonders  die  Entlassenen 
durch  Unterbringung  in  geeigneten  Lehr-  und  Arbeitsstellen,  durch 
Rat  und  Unterstützung  vor  Verwahrlosung  und  Untergang  zu 
bewahren. 

Daß  eine  dauernde  Verwendung  dieser  Schulentlassenen  in  den 
Geschäftsbetrieben  der  Großstadt,  welche  die  stärkste  Anspannung 
aller  leiblichen  und  geistigen  Kräfte  erfordern,  meist  außerordentlich 
schwierig  ist,  kann  nicht  Wunder  nehmen.  Ihrer  Verwendung  in  der 
Landwirtschaft  würden  an  sich  geringere  Bedenken  entgegenstehen, 
wenn  es  möglich  wäre,  sie  auf  den  räumlich  beschränkten  Schul- 
grundstücken der  Großstadt  in  geeigneter  Weise  mit  Gartenarbeit  und 
dgl.  für  landwirtschaftliche  Tätigkeit  vorzubereiten. 


Krgänzunijfn  uiul  Erweiterungen  des  Unterrichts  der  \'olksschule.  |  3 

Die  Vertreter  der  deutschen  Hilfsschulen  haben  sich  zu  einem 
Verbände  der  Hilfsschulen  Deutschlands  vereinigt.  Sie  halten  alle 
zwei  Jahre  einen  Verbandstag  ab  und  geben  über  die  erfolgten  Ver- 
handlungen sowie  über  den  jeweiligen  Stand  des  Hilfsschulwesens 
statistische  Übersichten  heraus.  Der  Verband  setzt  sich  als  Aufgabe 
„Verbreitung  der  Hilfsschulen,  weiteren  Ausbau  der  Hilfsschul- 
pädagogik und  der  in  ihren  Bereich  fallenden  Wissenschaften,  sowie 
soziale  Fürsorge  für  die  der  Hilfsschule  überwiesenen  Kinder  während 
und  nach  der  Schulzeit."  (§  1  der  auf  dem  Verbandstage  in  Mainz 
im  April  1903  angenommenen  neuen  Fassung  der  Satzungen.)  Der 
Vorsitzende  des  Verbandes  ist  der  Stadtschulrat  Dr.  Wehrhahn  in 
Hannover. 

Auch  die  ,, Konferenzen  für  Idiotenpflege  und  Schulen  für 
schwachbefähigte  Kinder"  bieten  den  Hilfsschullehrern  und  Lehrerinnen 
reiche  Anregung  und  Belehrung.  Der  Vorsitzende  des  Vorstandes 
ist  der  Erziehungsinspektor  Piper  an  der  Idiotenanstalt  in  Dalidorf 
bei  Berlin. 

b)  Die  Sprachheilkurse  für  Kinder  der  Volksschule  sind  seit 
den  achtziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  in  Deutschland  in  einer 
großen  Anzahl  von  Städten  eingerichtet  worden.  In  Preußen  hat 
sich  der  Minister  der  geistlichen,  Unterrichts-  und  Medizinal-An- 
gelegenheiten  von  Goßler  besonders  für  diese  segensreiche  Einrichtung 
interessiert.  Eine  Verfügung  der  Regierung  in  Breslau  vom  2.  Januar 
1890  charakterisiert  den  Standpunkt,  welchen  das  Ministerium  diesem 
Unterrichtszweige  gegenüber  einnahm: 

,,Mit  dankenswerter  Fürsorge  hat  die  Schuldeputation  der  Stadt 
Breslau  schon  im  Jahre  1886  die  Aufmerksamkeit  diesem  Übel  zuge- 
wendet und  seit  1887  bereits  Kurse  für  stotternde  Kinder  eingerichtet, 
welche  seitdem  von  Lehrern  der  städtischen  Volksschulen,  welche 
sich  für  die  günstige  Lösung  der  auf  diesem  Gebiete  liegenden 
schwierigen  Aufgaben  die  erforderliche  Tüchtigkeit  angeeignet  haben, 
geleitet  werden.  Im  laufenden  Jahre  1889  wurden  gleichzeitig  5  Kurse 
je  mit  der  Höchstzahl  von  15  Kindern  auf  die  Dauer  von  einem 
halben  Jahre  mit  wöchentlich  4  (2  x  2)  Stunden  abgehalten.  Hiervon 
aber  abgesehen,  ist  an  keinem  anderen  Orte  des  Bezirkes  irgend 
welche  Einrichtung  zur  Beseitigung  dieses  Übels  getroffen  worden. 
Fls  ist  aber  hinlänglich  bekannt,  daß  das  Stottern  nicht  nur  ein 
lästiges  und  den  daran  Leidenden  bedrückendes  Übel  ist,  sondern 
auch  die  bürgerliche  Brauchbarkeit  desselben  empfindlich  schädigt, 
und    es    erscheint    darum    als    eine    nicht  zu  umgehende  Pflicht,    daß 


i  4  Wohlfahrtseinrichtungen. 

auch  andere  Orte,  denen  die  IMöglichkeit  hierzu  geboten  ist,  also  be- 
sonders größere  Städte,  Maßnahmen  in  dieser  Richtung  treffen.  Das 
erste  Erfordernis  ist  eine  geeignete  Lehrkraft  für  die  einzurichtenden 
Unterrichtskurse  für  Stotterer.  In  dieser  Beziehung  empfiehlt  es  sich, 
einen  oder  nach  Bedürfnis  mehrere  der  am  Orte  vorhandenen  V^olks- 
schuUehrer  nach  Berlin  zu  senden  zur  Teilnahme  an  einem  der 
Kurse,  die  dort  von  dem  Taubstummenlehrer  Gutzmann*)  veran- 
staltet werden,  damit  sie  sich  mit  dem  Heilverfahren  des  p.  Gutzmann 
bei  Behandlung  stotternder  Kinder  bekannt  machen.  In  den  Fällen, 
in  welchen  ungünstige  Verhältnisse  eine  solche  Ausbildung  in  Berlin 
nicht  zulassen,  dürfte  wenigstens  die  ^Möglichkeit  noch  gegeben  und 
darum  nicht  ungenutzt  zu  lassen  sein,  daß  die  betr.  Lehrer  mit  der 
in  Breslau  befolgten  und  im  wesenthchen  mit  dem  Gutzmannschen 
Wrfahren  übereinstimmenden  Behandlung  der  Stotterer  sich  bekannt 
machen  und  dadurch  die  zur  Abhaltung  von  Unterrichtskursen  not- 
wendigsten Kenntnisse  sich  aneignen. 

Wir  empfehlen  diese  Angelegenheit  aufs  neue  dringend  Ihrer 
eifrigen  Sorge  und  veranlassen  Sie  hierdurch,  an  denjenigen  Orten, 
wo  günstige  Verhältnisse  einen  Erfolg  versprechen,  Anregung  zur 
Einrichtung  von  Unterrichtskursen,  welche  von  \'orher  zu  diesem 
Zwecke  ausgebildeten  Lehrern  zu  leiten  sind,  zu  geben." 

Die  Zahl  der  mit  Stottern,  Stammeln,  Lispeln  und  anderen 
Sprachgebrechen  behafteten  Schulkinder  dürfte  im  ganzen  Deutschen 
Reiche  80  000  erheblich  überschreiten,  dabei  sind  diese  Fehler  unter 
den  Knaben  weit  stärker  \-erbreitet  als  unter  den  Mädchen. 

Eine  v^oUständige  Übersicht  über  sämtliche  den  Volksschulen 
angegliederte  Sprachheilkurse  zu  geben,  ist  der  Verfasser  nicht  in  der 
Lage,  doch  möge  hier  eine  Anzahl  von  Städten  genannt  werden, 
welche  diese  Wohlfahrtseinrichtung  eingeführt  haben:  Augsburg, 
Barmen,  Berlin,  Braunschweig,  Bremen,  Breslau,  Cassel,  Charlotten- 
burg, Cöln,  Dortmund,  Dresden,  Düsseldorf,  Essen,  Frankfurt  a.  M., 
Halle,  Hamburg,  Hannover,  Karlsruhe,  Kiel,  Leipzig,  Lübeck,  Magde- 
burg, Mainz,  Mannheim,  Nürnberg,  Posen,  Potsdam,  Spandau. 

Über  die  Einrichtung  und  Leitung  der  Sprachheilkurse  geben 
die  von  den  Behörden  der  beteiligten  Städte  herausgegebenen 
Instruktionen  und  Verwaltungsberichte  Auskunft.  An  dieser  Stelle 
möge    als    eii'i    Fieispiel    ein    dem  V^erfasser    zui 


*)   Z.   Z.  Direktor  der  städtischen  Taubstummenschult 


Ergänzungen   und   Krweiteinngen   des   L'ntenichts  der  NOlkssehule.  |5 

anUlichcr  Bericht  über  die  in  Kiel  eins^erichteten  Kurse  für  Stotterer 
vom  20.  April   1901    seinen  Platz  finden: 

„Die  hiesigen  städtischen  Unterrichtskurse  für  stotternde  und 
stammelnde  Schulkinder  wurden  auf  Veranlassung  des  Herrn  Stadt- 
schulrat Kuhlgatz  am  I.  Mai  1U90  eröffnet.  Anfänglich  wurden 
2  Kurse  im  Jahre  abgehalten,  so  dal.^  bei  täglich  einstündigem  Unter- 
richt 100 — HO  Stunden  auf  den  Kursus  entfielen.  Diese  halbjährigen 
Kurse  erwiesen  sich  mit  der  Zeit  als  unzureichend,  da  neben  den 
Atmungs-,  Stimmbildungs-  und  Artikulationsübungen  die  erziehliche 
Einwirkung  auf  die  Stotterer  als  Hauptfaktor  nicht  genügend  berück- 
sichtigt werden  konnte.  Seit  5  Jahren  beträgt  die  Kursusdauer  ein 
volles  Jahr,  indem  im  Sommerhalbjahr  4  Wochenstunden,  im  Winter- 
halbjahr 2  Stunden  für  Befestigung  und  Wiederholung,  also  im 
ganzen  110 — 120  Unterrichtsstunden,  gehalten  werden.  Der  Unter- 
richt liegt  außerhalb  der  Schulzeit,  nachmittags  5—6,  Mittwochs  und 
Sonnabends  2 — ii.  Der  Besuch  ist  ziemlich  regelmäßig,  da  nur 
solche  Schüler  in  erster  Linie  aufgenommen  werden,  deren  Eltern  für 
regelmäßigen  Kursusbesuch  sich  schriftlich  verpflichteten. 

Die  Frequenz  betrug  1 890  1 0,  stieg  aber  nach  wenigen  Jahren  aut  20 
und  erreichte-  1895  infolge  des  Besuchs  der  Nichtgeheilten  und  Rück- 
fälligen die  Zahl  25.  Während  dieser  Zeit  war  der  Besuch  am 
ungünstigsten,  wohl  mit  aus  dem  Grunde,  weil  der  notwendige  Einzel- 
unterricht zurücktreten  mußte.  Jetzt  beträgt  die  Frequenz  15,  und 
es  steht  zu  erwarten,  daß  sie  allmählich  auf  den  normalen  Stand  von 
10  herabsinkt.  Die  Aufnahme  neuer  Schüler  geschieht  in  der  Weise, 
daß  der  Kursusleiter  ein  Verzeichnis  der  in  den  Schulen  befindlichen 
Stotterer  und  Stammler  von  den  Rektoren  erbittet. 

Von  den  erscheinenden  Kindern  werden  zunächst  diejenigen 
berücksichtigt,  welche  regelmäßig  kommen  können  und  wollen.  Die 
Untersuchung  des  sprachlichen  Zustandes  des  Kindes  und  seiner 
Ursachen  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  Heillehrers.  Von  der 
Genauigkeit  und  Zuverlässigkeit  hängt  der  Erfolg  wesentlich  ab. 
Wenn  die  Kinder  ohne  Begleitung  ihrer  Eltern  erscheinen,  so  ist  es 
notwendig,  daß  der  Lehrer  durch  taktvolle  Hausbesuche  die  Unter- 
suchung vervollständigt  und  zugleich  den  Eltern  Anweisung  zur 
Behandlung  des  Schülers  und  zur  Beaufsichtigung  seines  Sprechens 
erteilt. 

Ist  die  sogenannte  Individualliste  ausgefüllt,  wozu  sich  im  Laufe 
des  Unterrichts  immer  noch  Gelegenheit  zu  Berichtigungen  und  Er- 
weiterungen bietet,  so  kann  der  eigentliche  Unterricht,    etwa    in    der 


1 5  Wohlfahrtseinrichtuiigen. 

2.  oder  'A.  Stunde,  beginnen.  Jede  Stunde  sollte  aus  Atmungs- 
übungen (10  Minuten),  Stimmbildungsübungen  (15  Minuten).  Arti- 
kulationsübungen (15  Minuten)  und  Lese-  und  Sprechübungen 
(20  Minuten)  bestehen.  Bei  den  xA.tmungsübungen  sind  die  durch 
Vermittlung  der  Eltern  oder  des  Hausarztes  als  herzschwach  be- 
zeichneten Kinder  mit  aller  Vorsicht  zu  behandeln.  Die  Stimm- 
bildungsübungen dürfen  nichts  Gekünsteltes  haben.  Solange  der 
Lehrer  nicht  imstande  ist,  die  natürliche  Stimmlage  und  Phonation 
des  einzelnen  Schülers  festzustellen,  sollte  er  solche  Übungen  nicht 
vornehmen. 

Wichtig  ist  es,  daß  sich  der  Lehrer  mit  der  Schule  und  dem 
Elternhause  in  Verbindung  setzt,  da  die  schon  nach  kurzer  Zeit  im 
Kursus  anstoßfrei  sprechenden  Schüler  in  der  Schule  und  zu  Hause 
die  erwarteten  Fortschritte  vermissen  lassen.  Darum  ist  es  erforder- 
lich, Lehrer  und  Eltern  über  die  Behandlung  des  stotternden  Kindes 
aufzuklären.  Von  Zeit  zu  Zeit  wird  den  Lehrern  über  den  Kursus- 
besuch ihrer  Schüler  Mitteilung  gemacht;  die  Eltern  erhalten  viermal 
im  Jahre  ein  Zeugnis  über  die  Fortschritte    ihres  Kindes    im  Kursus. 

Um  eine  weitere  Verminderung  des  Stotterns  in  der  Schule 
herbeizuführen,  sind  seit  3  Jahren  sogenannte  ,, Vorkurse"  neben 
den  'A  Hauptkursen  in  Tätigkeit.  Die  bei  der  im  September  statt- 
findenden Anmeldung  neuer  Schüler*)  für  die  unterste  Schulklasse 
ermittelten  Sprachgebrechlichen  werden  im  Winterhalbjahr  in 
2  >  2  Wochenstunden  unterrichtet;  nach  jeder  halbstündigen  Lektion 
tritt  eine  Pause  von  15  Minuten  ein,  in  der  die  Kinder  Anleitung  in 
Spielen  mit  begleitendem  Sprechen  erhalten.  Der  Unterricht  schließt 
alles  aus,  was  in  das  Pensum  der  Elementarklasse  gehört.  Die 
Tätigkeit  des  Lehrers  beschränkt  sich  auf  die  Ausbildung  des 
Sprechens  und  der  Sinne. 

Im  Sommerhalbjahr  kommen  die  Kinder  2  x  1  Stunde  in  der 
Woche  zur  Befestigung  des  Gelernten.  Außer  den  für  die  Haupt- 
kurse geltenden  Unterrichtsmitteln  werden  Fröbelsche  Gaben  (bunte 
Bälle),  Bohnys  Bilderbuch  und  Meinholds  Bilder  für  den  Anschauungs- 
unterricht benutzt.  Der  Kursusbesuch  ist  der  denkbar  regelmäßigste, 
die  Erfolge  sind  so  günstig,  daß  mindestens  90  %  als  geheilt  ange- 
sehen werden  können.  Die  Nichtgeheilten  treten  in  den  Haupt- 
kursus ein. 

*)  Es  handelt  sich  um  Kinder  im  vorschulpflichtigen  Alter,  welche  zum  nächsten 
April  (Beginn  des  Schuljahres)  der  untersten  Volksschulklasse  überwiesen  werden  sollen. 
—   Anm.  des  Verf. 


Ergänzungen   und  Erweiterungen  <Ics   rnterrichts  der  X'olksschule.  \  7 

Gegenwärtig  bestehen  hier  5  Vorkurse,  in  welchen  5x15  = 
75  Kinder  unterrichtet  werden.  Die  Kieler  Vorkurse  haben  ander- 
wärts Nachahmung  gefunden.  Die  im  März  d.  J.  veranstaltete  Unter- 
suchung über  den  Dauererfolg  der  im  Erwerbsleben  stehenden 
früheren  Schüler  der  Hauptkurse  wies  76%  Heilungen  und  23% 
Besserungen  nach.  In  Verbindung  mit  den  Unterrichtskursen  hält 
Lehrer  Godtfring  zweimal  im  Jahre  Lehrkurse  über  Sprachstörungen 
und  Sprachhygiene  für  Lehrer  von  1 5  tägiger  Dauer  ab.  In  den 
bis  jetzt  stattgehabten  14  Lehrkursen  sind  71  Lehrer  ausgebildet 
worden."  Unter  den  in  Kiel  ausgebildeten  Lehrern  befindet  sich 
auch  je  ein  Lehrer  jedes  Seminars  der  Provinz  Schleswig-Holstein, 
der  die  Seminaristen  besonders  darüber  zu  unterweisen  hat,  wie  sie 
dem  Stottern  in  der  Entstehung  vorbeugen  können. 

Der  Information  über  dieses  Sondergebiet  des  Unterrichts  dient 
die  Medizinisch-pädagogische  Monatsschrift  für  die  gesamte  Sprach- 
heilkunde, herausgegeben  von  A.  und  Dr.  H.  Gutzmann. 

c)  Kurse  für  hochgradig  schwerhörige  Kinder  dürften 
gegenwärtig  in  Deutschland  nur  in  ganz  wenigen  Gemeinden 
vorhanden  sein.  Verfasser  hatte  nur  Gelegenheit,  in  Berlin  den  dort 
vor  kurzem  eingerichteten  Unterricht  für  diese  Kinder  zu  beobachten. 
Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  Schwerhörigkeit,  nicht  eigentlich 
geistige  Minderwertigkeit,  bei  vielen  schwächeren  Schulkindern  der 
wahre  Grund  ihres  Zurückbleibens  und  der  Über\\'eisung  an  Klassen 
und  Schulen  für  Schwachsinnige  ist.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  eine 
größere  Verbreitung  des  Unterrichts  für  Schwerhörige  und  eine  recht- 
zeitige Überweisung  der  Kinder  in  denselben  vielen  Schwerhörigen 
das  Sprachvermögen  verschaffen  oder  erhalten  würde.  Die  Methode, 
nach  welcher  in  den  beiden  BerHner  Klassen  für  Schwerhörige  ge- 
arbeitet wird,  verfolgt  den  doppelten  Zweck,  die  vorhandenen  Geliör- 
reste  den  Kindern  zu  erhalten  und  zu  beleben  und  die  Mängel  ihres 
Gehörs  durch  Ablesen  vom  Munde  des  Redenden  zu  ergänzen.  Die 
bisherigen  Unterrichtserfolge  in  Berlin  berechtigen  zur  Hoffnung  auf 
ein  günstiges  Resultat.  Freilich  liegen  diese  vorläufig  noch  mehr  auf 
dem  Gebiete  der  erhöhten  Hör-  und  Sprechfähigkeit.  Die  Über- 
mittlung eigentlicher  Schulkenntnisse  wird  wesentlich  dadurch  erschwert, 
daß  Kinder  von  ganz  verschiedener  geistiger  Anlage,  von  ver- 
schiedenen Graden  der  Schwerhörigkeit  und  von  verschiedenen 
Klassenstufen  zurzeit  zusammen  unterrichtet  werden  müssen.  Wenn 
auch  die  Besetzung  der  Klassen  nur  gering  ist  und  die  Frequenz  10  Kinder 
jedenfalls  nicht  überschreiten  soll,    daher  auch  eine   sehr    individuelle 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.     Anhang.  2 


]  g  W(-)hltalirt^einrichtungen. 

Behandlung  der  einzelnen  möglich  ist,  so  wird  man  doch  darauf 
denken  müssen,  durch  Einrichtung  größerer  Organismen,  eigentlicher 
Schulen  für  Schwerhörige,  die  Vereinigung  von  Gruppen  gleichartiger 
Schüler  zu  ermöglichen  und  so  die  Arbeit  des  Lehrers  zu  erleichtern 
und  seinen  Erfolg  zu  erhöhen. 

d)  Ein  gesonderter  Klassen  unter  rieht  im  Anschluß  an  die 
Volksschule  für  hochgradig  schwach-  und  kurzsichtige  Kinder 
existiert,  soweit  es  dem  Verfasser  bekannt  geworden  ist,  noch  nicht 
in  Deutschland.  Man  berücksichtigt  diese  Schüler  meist  im  Unter- 
richt, indem  man  ihnen,  wie  den  Schwerhörigen,  Plätze  auf  den 
vordersten  Bänken  anweist  oder  Brillen  anfertigen  läßt.  Einige  er- 
halten (beispielsweise  in  Berlin),  wie  Krüppel  und  bettlägerig  Kranke, 
wohl  auch  Privatunterricht  auf  Kosten  der  Gemeinde  in  ihrer  Wohnung, 
andere  werden  den  Blindenanstalten  überwiesen  und  dort  zu  be- 
sonderen Klassen  vereinigt.  Eine  ausreichende  Fürsorge  für  die 
Bildung  dieser  Kategorie  von  bedauernswerten  Kindern  wird  eine 
Aufgabe  der  Zukunft  sein. 

e)  Die  Krüppel  und  solche  Kinder,  welche  infolge  irgend  eines 
chronischen  Leidens  an  dem  Klassenunterricht  der  Volksschule  nicht 
teilnehmen  können,  erhalten  in  einigen  Städten,  wofern  die  Eltern 
zur  Tragung  der  Kosten  außer  stände  sind,  aus  Gemeindemitteln 
Privatunterricht  durch  geeignete  Volksschullehrer.  In  Berlin,  das  für 
das  Jahr  1904  die  Summe  von  20  000  M.  für  diesen  Zweck  in  den 
Etat  gestellt  hat,  erhalten  diese  Kinder  wöchentlich  4  Lektionen,  die 
meist  im  Elternhause,  oft  am  Krankenbette  des  Kindes,  erteilt  werden. 
Das  Honorar  für  diesen  Unterricht  beträgt  1,50  M.  pro  Stunde.  Die 
meisten  Krüppel  w^erden  allerdings  in  geschlossenen  Erziehungs- 
anstalten untergebracht. 

f)  Besondere  Schulen  oder  Klassen  für  sittlich  gefährdete 
oder  verwahrloste  Kinder  sind  in  Deutschland,  wenn  man  von 
geschlossenen  Erziehungshäusern  absieht,  nicht  eingeführt;  Hamburg 
allein,  soweit  es  dem  Verfasser  bekannt  geworden  ist,  kennt  das 
Institut  der  Strafschule.  Der  Jahresbericht  der  Oberschulbehörde 
von  1901/02  sagt  über  den  Zweck  der  Einrichtung  folgendes: 

„Die  Strafschule  nimmt,  meistens  aus  den  öffentlichen  Volks- 
schulen, solche  Kinder  auf,  bei  denen  die  gewöhnlichen  Schulstrafen 
zur  Herbeiführung  der  Besserung  nicht  ausreichen.  Schulentlaufen, 
dauernde  Unreinlichkeit,  nächtliches  Umhertreiben,  Diebereien,  rohes, 
unsittliches  Betragen  bilden  den  Grund  der  Verurteilung.  Die  jedes- 
malige Strafzeit    beträgt  B  Tage  bis  höchstens   8  Wochen.     Die  Zahl 


Ergänzungen  und  l''r\veiterungen  des  Unterrichts  der  N'olk.sschule. 


19 


der  im  Laufe  eks  Berichtsjahres  verurteilten  Kinder  betruij  144 
Knaben  und  22  Mädchen,  im  Vorjahre  181  Knaben  und  20  Mädchen, 
mithin  in  diesem  Jahre  o5  Kinder  weniger.  Sie  verteilen  sich  wie 
folfTt  auf  die    Ifi  Schulbezirke: 

Es  kamen  aus  dem 


1. 

Schulbezirk 

13 

Knaben 

und 

2 

Mädchen 

2. 

20 

— 

»> 

3. 

14 

1 

,, 

4. 

15 

3 

,, 

5. 

20 

3 

>> 

6. 

1 

— 

,, 

7. 

7 

2 

,, 

8. 

0. 

3 
13 

0 

" 

10. 

11. 

5 
6 

1 
1 

" 

12. 

6 

— 

,, 

13. 

5 

— 

,, 

14. 

5 

— 

,, 

15. 

1 

— 

,, 

aus 

Bergedorf 

1 

- 

Zusammen      144  Knaben  und  22  Mädchen. 
Von  diesen    166  Kindern  kamen  in  die  Strafschule  zum 


1.  Male 

120 

Kinder 

2. 

27 

,, 

3.      „ 

10 

j^ 

4.      „ 

7 

„ 

5.      „ 

2 

usammen 

166  Kinder". 

z 

Da  in  den  meisten  Fällen  die  Eltern  die  Schuld  an  der  Ver- 
wahrlosung des  Kindes  tragen,  so  nehmen  die  Behörden  in  den  ge- 
eigneten Fällen  gewöhnlich  zu  dem  wirksameren  Mittel  ihre  Zuflucht, 
die  gefährdeten  Kinder  der  elterlichen  Gewalt  zu  entziehen  und  sie  in 
zuverlässigen  Familien  oder  in  geschlossenen  Anstalten  unterzubringen. 
Die  Handhabe  hierzu  bieten  die  §§  1666,  1680  und  1838  des  Bürger- 
lichen Gesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich  vom  18.  August  1896, 
sowie  in  Preußen  das  Gesetz  über  die  Fürsorgeerziehung  Minder- 
jähriger   vom  2.  Juli   1900.     Auf  Grund    dieses  Gesetzes   wurden  bei- 


20  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Spielsweise  in  Berlin  im  Jahre    rJOI:5U),    I*K)2:;U1    Minderjährige   der 
Fürsorgeerziehung  überwiesen. 

B.  Besondere   Unterrichtseinrichtungen    für    normale   Volks- 
schulkinder. 

a)  Der  Haushaltungsunterricht  für  Mädchen.  Dieser 
Unterrichtszweig  ist  in  Deutschland  verhältnismäßig  neu.  Seine  Ein- 
führung wurde  zuerst  gegen  Ende  der  achtziger  Jahre  des  verflossenen 
Jahrhunderts  durch  die  Gesellschaft  für  Verbreitung  von  Volksbildung 
in  Anregung  gebracht,  doch  hat  der  Haushaltungsunterricht  seither 
in  einer  großen  Anzahl  größerer  und  kleinerer  Städte  sowie  in  Dörfern 
der  Industriegegenden  als  fakultatives  oder  obligatorisches  Unterrichts- 
fach der  Volksschule  für  Mädchen  Aufnahme  gefunden. 

Der  wichtigste  Gesichtspunkt,  welcher  dieses  Lehrfach  \'olks- 
freunden  und  Pädagogen  als  ein  wertvolles  Hilfsmittel  der  Erziehungs- 
arbeit der  Schule  erscheinen  läßt,  ist  von  dem  Direktor  der  Kaiserin 
Auguste  Viktoria -Schule  in  Schneidemühl,  A.  Ernst,  in  einer  am 
6.  Juni  1886  gehaltenen  Rede  folgendermaßen  zum  Ausdruck  ge- 
bracht worden: 

,,]\lan  muß  zugeben,  daß  ein  großer,  wohl  der  größte  Prozent- 
satz unserer  Arbeiter  ungenügend  genährt  und  gekleidet  ist,  daß  auf 
seine  Gesundheit  in  den  Wohnungen  nicht  die  Sorgfalt  verwandt 
wird,  die  darauf  ohne  Erhöhung  der  Kosten  verwandt  werden  könnte. 
Pls  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  die  meisten  Arbeiter  sich  mit 
ihrem  Verdienst  ein  viel  behaglicheres  Dasein  verschaffen  könnten, 
daß  die  Wohnung  besser  gereinigt,  die  Sachen  mehr  geschont  und 
rechtzeitig  ausgebessert,  daß  die  Speisen  nahrhafter  und  schmack- 
hafter zubereitet,  daß  die  Kinder  leibUch  und  geistig  besser  gepflegt 
werden  könnten,  wenn  die  Hausfrau  es  verstände,  besser  hauszuhalten, 
wenn  sie  eine  bessere  hauswirtschaftliche  Ausbildung  in  die  Ehe  ge- 
bracht hätte." 

In  ähnhcher  Weise  spricht  sich  die  Begründerin  der  Hamburger 
Haushaltungsschulen  für  Volksschülerinnen  Agnes  Wolfsohn  in  einem 
Bericht  über  diese  Anstalten  vom  April  1902  aus,  wenn  sie  sagt: 

,,Aus  meinem  Verkehr  mit  armen  Leuten  gewinne  ich  die  Über- 
zeugung, daß  viele  Frauen  der  unteren  Stände  ihren  hauswirtschaft- 
lichen Pflichten  nicht  gewachsen  sind,  teils  weil  ihnen  das  Verständnis 
und  der  sittliche  Ernst,  teils  weil  ihnen  die  Gelegenheit  zur  An- 
eignung der  notwendigen  Kenntnisse  fehlt.     Ich    war  in  vielen  Fällen 


P-rgänzim,L,'eii   und   iM-weiteiuns^i-n   de-,   l 'iiteiriclits  der  X'olk.sschule.  21 

Augenzeuge  cku'on,  daß  dieser  Mangel  \^erarmung  und  Zerrüttung 
des  Familienlebens  zur  Folge  hatte,  und  gewann  die  Überzeugung, 
daß  dem  nur  abzuhelfen  ist  durch  ernste,  systematische  Unterweisung, 
die  schon  in  den  jungen  Mädchen  Liebe  und  Achtung  für  den  häus- 
lichen Beruf  erweckt  und  ihnen  neben  praktischer  Anleitung  auch  die- 
jenigen positiven  Kenntnisse  übermittelt,  die  zur  rationellen  Führung 
eines  Haushaltes  erforderlich  sind.  Auch  der  tüchtigen  Hausfrau 
fehlen  in  den  weitaus  meisten  Fällen  diese  Kenntnisse  und  damit  auch 
die  Möglichkeit,  der  Familie  die  relativ  beste  Ernährung  zu  \'er- 
schaffen. 

Ich  war  überzeugt,  daß  es  mir  nicht  gelingen  würde,  die  Kinder 
der  Armen  und  Ärmsten,  die  mir  zunächst  am  Herzen  lagen,  zu 
freiwilligem  Unterrichte  nach  beendeter  Schulzeit  zu  gewinnen,  und 
so  beschloß  ich,  den  von  Auguste  Förster  in  Cassel  eingeschlagenen 
Weg  zu  betreten  und  zu  versuchen,  Volksschülerinnen  im  letzten 
Schuljahre  zum  Unterricht  heranzuziehen." 

Eine  zuverlässige  Übersicht  über  die  gegenwärtig  in  Deutschland 
im  Betriebe  befindlichen  Haushaltungsschulen  oder  Klassen  fehlt  noch, 
doch  mögen  hier  einige  aus  der  erheblichen  Anzahl  von  Städten 
genannt  werden,  in  denen  dieser  Unterricht  Schülerinnen  der 
Volksschule  in  einigem  Umfange  erteilt  wird:  Altona,  Augs- 
burg, Barmen,  Berlin,  Bielefeld,  Breslau,  Cassel,  Charlottenburg, 
Chemnitz,  Danzig,  Dortmund,  Dresden,  Düsseldorf,  Elberfeld,  Erfurt, 
Freiberg  i.  S.,  Hamburg,  Karlsruhe,  Königsberg,  Leipzig,  Lübeck, 
Mainz,  Mannheim,  Marienburg,  München,  Nürnberg,  Posen,  Schöne- 
berg bei  BerHn,  Straßburg  i.  E.,  Wiesbaden,  Worms,  Zwickau. 

Der  Unterricht  steht  in  loserem  oder  engerem  Zusammenhange 
jmit  der  Volksschule,  was  sich  äußerlich  dadurch  dokumentiert,  daß 
er  entweder  außerhalb  der  Schulzeit  und  in  Privaträumen  oder  inner- 
halb des  lehrplanmäßigen  Unterrichts  und  in  besonderen  Räumen  des 
Schullokals  selber  abgehalten  wird,  daß  die  Teilnahme  der  Schülerinnen 
entweder  freiwillig  oder  obligatorisch  ist,  daß  die  Kosten  im  wesent- 
lichen von  Privatpersonen  und  Vereinen  oder  von  der  Gemeindekasse 
getragen  werden. 

Einige  Beispiele    mögen   das    soeben    Gesagte    veranschaulichen. 

In  Wiesbaden  machte  man  auf  Anregung  des  dortigen  Zweig- 
vereins der  Gesellschaft  für  Verbreitung  von  Volksbildung  bereits  im 
Jahre  1889  den  Versuch  mit  der  Einrichtung  einer  Kochschule,  in 
welcher  hauptsächlich  schulentlassene  Mädchen  abends  Unterricht  er- 
halten   sollten.       Staat    und    Gemeinde    sowie    wohlhabende    Bürger 


22  Wohltalirtseinrichtuni^eii. 

leisteten  Beiträge,  und  so  war  es  schon  im  Jahre  1890  möghch,  die 
Anstalt  zu  eröffnen.  Die  erzielten  Erfolge  waren  bei  denjenigen 
Schülerinnen,  welche  mit  Ernst  und  Eifer  die  Kurse  besuchten,  sehr 
befriedigend,  wie  dies  auch  wiederholt  von  den  Angehörigen  der 
Schülerinnen  anerkannt  wurde.  Trotzdem  mußte  man  aber  bald  die 
später  in  \^ielen  anderen  Orten  mit  derartigen  Anstalten  bestätigte 
traurige  Erfahrung  machen,  daß,  als  die  Sache  den  Reiz  der  Neuheit 
verlor,  der  Besuch  immer  unregelmäßiger  und  die  Zahl  der  An- 
meldungen immer  geringer  wurde.  Der  Volksbildungsverein  ent- 
schloß sich  deshalb  Anfang  1894.  seine  Haushaltungsschule  eingehen 
zu  lassen. 

Daß  durch  diesen  Mißerfolg  kein  Beweis  gegen  die  Notwendigkeit 
des  Haushaltungsunterrichts  erbracht  war,  sah  man  wohl  ein.  und  so 
wurde,  als  die  Auflösung  der  Haushaltungsschule  in  x^ussicht  stand, 
der  Antrag  an  die  städtischen  Behörden  gerichtet,  den  Haushaltungs- 
unterricht versuchsweise  als  Lehrgegenstand  für  die  oberste  Klasse 
der  Volksschule  einzuführen. 

Diesem  Antrag  wurde  Folge  gegeben.  Es  wurde  in  der  früheren 
Pedellen^\'ohnung  im  Kellergeschoß  einer  Mädchen-Volksschule  eine 
Lehrküche  mit  ()  vollständigen  Kücheneinrichtungen  (Kochherd,  zu- 
gehöriges Koch-  und  Eßgeschirr  usw.)  nebst  Wasch-  und  Spülraum 
hergerichtet,  sodaß  gleichzeitig  je  6  Gruppen  zu  4  Mädchen  von  einer 
besonders  als  Haushaltungslehrerin  ausgebildeten  städtischen  Hand- 
arbeitslehrerin unterrichtet  werden  konnten.  Von  der  50  Köpfe 
starken  Oberklasse  der  betreffenden  Schule  wurden  die  eine  Hälfte 
am  Mittwoch,  die  andere  am  Samstag  nachmittag  (außerhalb  der 
Unterrichtszeit  der  Volksschule)  zugelassen.  Die  Mädchen  wurden 
über  Nährwert,  Marktpreis,  Einkauf  und  Aufbewahrung  der  Lebens- 
mittel, über  die  Auswahl  und  Zubereitung  der  Speisen  für  Gesunde 
und  Kranke  belehrt,  in  der  Führung  eines  Wirtschaftsbuches,  im 
Kochen,  Waschen,  Scheuern  und  Putzen  praktisch  unterwiesen. 

Nach  dem  amtlichen  Berichte  des  städtischen  Schulinspektors 
gelang  dieser  Versuch  über  Erwarten  gut.  Von  den  50  Schülerinnen, 
welche  freiwillig  in  den  Unterricht  eintraten,  trat  keine  einzige  aus, 
und  keine  versäumte  ohne  dringendste  Not  eine  Unterrichtsstunde. 
Schulmänner  und  Schulfreunde,  Vertreter  der  Königlichen  Regierung 
und  des  Unterrichtsministeriums,  welche  die  Anstalt  besichtigten, 
sprachen  ihre  lebhafte  Befriedigung  über  die  zweckmäßige  Anlage 
und  Ausstattung  der  Lehrküche  wie  über  die  Leitung  des  Betriebes 
aus.     Noch  bedeutsamer    und  förderlicher  für   die  Sache  war  die  bei- 


Ergänzungen   und   Erweiterungen   des  Unterrichts  der  Volksschule.  23 

fällige  Aufnahme,  welche  die  neue  Einrichtung  allgemein  in  Kltcrn- 
kreisen  fand.  Viele  Mütter  erklärten  gegenüber  der  Lehrerin,  daß  sie 
jetzt  von  ihren  Töchtern  lernten,  und  Väter  dankten  ihr  für  die  gute 
Ausbildung  ihrer  Kinder,  die  jetzt  die  erkrankte  Mutter  vertreten  und 
die  Küche  selbständig  besorgen  könnten. 

Angesichts  dieses  günstigen  Erfolges  und  nachdem  sich  gezeigt 
hatte,  daß  der  Haushaltungsunterricht  sich  ohne  Kürzung  der  sonstigen 
Lehrstunden  in  den  Lehrplan  einfügen  lasse,  ohne  diesen  irgendwie 
zu  stören,  daß  er  vielmehr  den  sonstigen  Unterricht  nach  mehreren 
Richtungen  wirksamer  mache,  verstummte  der  besonders  von  päda- 
gogischer Seite  erhobene  Widerspruch,  und  die  Gemeinde  ent- 
schloß sich,  für  die  Schülerinnen  der  Oberklassen  sämtlicher  Volks- 
schulen Haushaltungsunterricht  als  freiwilligen  Lehrgegenstand  ein- 
zuführen. 

Es  wurde  eine  zweite  Lehrküche  eingerichtet  und  eine  weitere 
Lehrerin  angestellt,  sodaß  jetzt,  da  an  jedem  Nachmittag  in  der 
Woche  unterrichtet  wird,  12  Abteilungen  mit  bis  25  Schülerinnen 
während  des  ganzen  letzten  Schuljahres  einmal  wöchentlich  unter- 
\\  iesen  werden  können. 

Die  finanziellen  Opfer,  welche  die  Stadt  für  die  Sache  zu  bringen 
hat,  betragen  außer  den  für  die  Besoldung  der  beiden  Lehrerinnen, 
für  Kohlen  und  Beleuchtung  aufzuwendenden  Beträgen  im  ganzen  jährlich 
rund  2400  M. 

Auch  in  Berlin  hat  sich  die  Entwicklung  ähnlich  vollzogen.  Die 
Anregung  zum  Haushaltungsunterricht  ging  wie  in  Wiesbaden  \-on 
einem  Verein  aus  (dem  Verein  für  das  Wohl  der  aus  der  Schule  ent- 
lassenen Jugend).  Zuerst  im  Jahre  1890  wurde  wie  dort  der  Versuch 
gemacht,  Kochkurse  für  aus  der  Schule  tretende  Mädchen  der 
Arbeiterklasse  einzurichten,  ein  Versuch,  der  bald  infolge  der 
mangelnden  Beteiligung  aufgegeben  werden  mul^te.  Dann  folgte  die 
Einrichtung  der  Küchen  in  Schulhäusern,  Unterricht  für  Volks- 
schülerinnen und  Angliederung  desselben  an  den  Lehrplan  der  Schule. 
Nach  dem  letzten  Jahresbericht  von  1903  über  den  hauswirtschaftlichen 
Unterricht  an  den  Berliner  Gemeinde-Mädchenschulen  gibt  es  hier 
19  Kurse  mit  etwa  550  Schülerinnen  der  ersten  Klassen  von  22  Ge- 
meinde-Mädchenschulen in  5  Schulküchen  mit  14  Lehrkräften  und 
25  Gehilfinnen.  Die  Kosten  dieses  Unterrichts  beliefen  sich  in  dem 
genannten  Verwaltungsjahre  auf  5461,12  M.  und  verteilten  sich  auf 
folgende  .A.useaben: 


24  Wohlfahitseinrichtungen. 

Honorar  für  die  Lehrerinnen      .     .     .     .  A  200, —  M. 

,,          ,,      ,,     Aufsicht  des  Gartens    .  50, —  ,, 

„          „      „     Schuldiener      ....  142, —  ,, 

Schornsteinfegergeld 32, —  „ 

Sämereien  und  Pflanzen 3,50  „ 

Reparatur  an  Rauch-  und  Wasserleitung  8,25  ,, 

Inventarergänzung 176,66  „ 

Materialien  für  sämtliche  Kurse      ...  1  843,16  „ 

Porti  und  Fahrgelder 5,55  ,, 

zusammen     .     .     5  461,12  M. 

Der  Durchschnittspreis  für  eine  Lektion  betrug  3,13  M.  Die 
Ausstattung  der  5.  Volksküche   erforderte  400  M. 

Die  Stadt  Berlin  unterstüzt  die  lediglich  von  dem  Vorsitzenden 
des  obengenannten  Vereins,  Schulrat  Dr.  Zwick,  geleiteten  Kurse 
durch  unentgeltliche  Gewährung  und  Einrichtung  der  erforderlichen 
Räume  und  durch  einen  dem  Verein  gewährten  jährlichen  Zuschuß, 
der   im  Jahre   1901/2  3050  M.  betrug. 

Die  Übernahme  der  Verwaltung  des  Unterrichtszweiges  durch 
die  Stadt,  eine  Stufe  der  Entwicklung,  die  man,  wie  wir  gesehen 
haben,  in  Wiesbaden    bereits  erreicht  hat,    wird    in  Berlin  angestrebt. 

Während  aber  der  Haushaltungsunterricht  in  diesen  beiden 
Städten  wie  an  verschiedenen  anderen  Orten  ganz  oder  teilweise 
außerhalb  der  gewöhnlichen  Unterrichtsstunden  am  Nachmittag  er- 
teilt wird,  fällt  derselbe  beispielsweise  in  Breslau  in  die  Zeit  des 
eigentlichen  Unterrichts,  im  Sommer  in  die  Vormittagsstunden  von 
7 — -11,  im  Winter  von  8 — 12. 

Während  dieser  Stunden  sind  die  Schülerinnen  vom  Unterricht 
in  der  Schule  dispensiert.  Es  sollen  an  den  Tagen  des  hauswirtschaft- 
lichen Unterrichts  im  Stundenplan  der  Schule  möglichst  Realien 
behandelt  werden.  Auch  in  Breslau  ist  der  Unterricht  fakultativ.  Es 
stehen  in  zusammen  4  Koch-  und  Haushaltungsschulen  138  Plätze  zur 
V^erfügung,  so  daß  an  den  6  Wochentagen  828  Schülerinnen  unter- 
richtet werden  können  und  unterrichtet  werden.  Die  Kosten  für  den 
Unterricht  für  Volksschülerinnen  beliefen  sich  im  Etatsjahr  1903/04 
auf  18  719  M.,  wovon  die  Gehälter  der  Leiterin  und  der  Lehrerinnen 
der  4  Kochschulen  zusammen  9980  M.,  die  sachlichen  Kosten 
8739  M.  betrugen.  Der  Unterricht  ist  für  die  Schülerinnen  unent- 
geltlich, auch  für  die  hergestellten  Speisen  haben  sie  nichts  zu  zahlen. 
Die  Kosten  werden  sämtlich  von  der  Gemeinde  getragen. 


Ergän7Aini(eii  und  Kiwciterurigen  des   Unterrichts  der  N'olksschule.  25 

Während  in  den  «genannten  Städten  der  Haushaltungsiniterricht 
fakultativ  war  und  sich  schon  durch  die  Lage  seiner  Stunden  außer- 
halb der  Schulzeit  oder  durch  die  Verdrängung  des  eigentlichen 
Schulunterrichts  an  einem  Wochentage  als  ein  fremdes  Element 
kennzeichnet,  ist  er  in  gewissen  Gemeinden  als  obhgatorischer  Unter- 
richtsgegenstand dem  Lehrplan  der  oberen  Mädchenklassen  der  Volks- 
schule organisch  angegliedert.  Die  beschränkte  Zahl  der  vorhandenen 
Küchen  setzt  der  allgemeinen  Einführung  in  alle  Mädchenvolksschulen 
hier  und  da  eine  gewisse  Schranke,  in  anderen  Orten  ist  aber  die 
Durchführung  des  obligatorischen  Haushaltungsunterrichts  für  alle 
Schülerinnen  der  oberen  oder  obersten  Volksschulklassen  eine  vollendete 
Tatsache. 

In  dieser  Lage  befindet  sich  die  Stadt  Charlottenburg.  Nachdem 
man  zu  Ostern  1900  versuchsweise  mit  der  Einführung  des  Haus- 
haltungsunterrichts an  4  Mädchen-Volksschulen  vorgegangen  war, 
hat  man  seit  Ostern  1903  diesen  Unterricht  für  sämtliche  Mädchen- 
Volksschulen  obligatorisch  durchgeführt.  Es  bestehen  z.  Z.  6  sehr 
gut  eingerichtete  Küchen  mit  den  erforderlichen  Nebenräumen.  Die 
Teilnahme  erstreckt  sich  auf  die  im  letzten  Schuljahre  stehenden 
Mädchen  der  drei  obersten  Klassen.  Der  Unterricht  wird  von  wissen- 
schaftlichen Lehrerinnen  erteilt,  welche  teilweise  in  von  der  Stadt 
eingerichteten  Kursen  ausgebildet  worden  sind  und  die  Prüfung  für 
Haushaltungslehrerinnen  bestanden  haben.*) 

Als  eine  besondere  Gruppe  müssen  hier  auch  die  VIII.  Klassen 
für  Mädchen,  welche  in  verschiedenen  bayerischen  Städten  wie 
München,  Nürnberg  und  Augsburg  der  Werktagsschule  angegliedert 
sind,,  erwähnt  werden.  Wie  aus  dem  in  einem  früheren  Kapitel 
bereits  angeführten  Stundenplan  der  Münchener  VIII.  Mädchenklassen 
hervorgeht,  sind  dort  dem  Haushaltungsunterricht  8  Wochenstunden 
gewidmet.  Eine  Übersicht  über  die  theoretisch  und  praktisch  zu  be- 
handelnden Gebiete  gibt  die  Lehrstoffverteilung  im  Verwaltungs- 
bericht der  Stadt  München  von  1897;  eine  eingehende  (wohl  für 
Lehrerinnen  berechnete)  Einführung  in  alle  Einzelgebiete  des  Haus- 
haltungsunterrichts bieten  die  im  Auftrage  der  Schulbehörde  heraus- 
gegebenen Schriften,, Unterricht  in  der  Schulküche  für  die  VIII.  Mädchen- 
klassen" von  Lina  Patschoky  1897  und  , .Kleidung  und  Wohnung" 
von  Helene  Sumper  1897. 


*)  Die  Prüfung    der  Lehrerinnen  für  Hauswirtschaftskunde    ist    in    PreuUen    diuch 
einen  Ministerialerlaß  vom   11.  Januar  1902  eingehend  geregelt  worden. 


26  W'ohlfalinseinrifhtungeii. 

Aus  den  einleitenden  Bemerkungen  der  ersteren  Schrift  gewinnt 
man  zugleich  einen  Blick  auf  die  Einrichtung  und  Ausstattung  des 
Raumes,  in  welchem  die  Kinder  arbeiten.  Diese  Einrichtung  mit 
allen  Geräten  und  Geschirren  findet  sich  in  dem  bereits  erwähnten 
Münchner  Programm  für  den  Bau  von  Schulhäusern  bis  ins  einzelne 
dargestellt. 

Die  meisten  Schulküchen  mit  ihren  Nebenräumen  sind  im  Erd- 
geschoß der  Schulhäuser  untergebracht,  andere  in  Klassen  räumen, 
welche  man  zu  diesem  Zwecke  baulich  eingerichtet  hat;  einige  be- 
sitzen eigne  Gebäude.  Als  ein  Beispiel  für  die  Anlage  solcher  Koch- 
schulhäuser möge  hier  eine  kurze  Beschreibung  der  beiden  neuen 
Schulküchen  auf  den  Grundstücken  der  I.  und  VII.  Mädchenbezirks- 
schule in  Chemnitz  folgen: 

,,Die  beiden  fast  gleichmäßig  eingerichteten  Kochschulgebäude 
sind  eingeschossig  und  bestehen  aus  je  einem  hohen  Mittelbau,  der 
Kochküche,  und  den  zu  beiden  Ouerseiten  derselben  befindlichen 
tiefer  liegenden  Anbauten,  welche  die  Speisekammer  und  die  Kleider- 
ablage enthalten. 

In  der  Kochküche  sind  nach  der  Rückwand  gelegen  12  eiserne, 
an  eine  unterirdische  Rauchabführung  angeschlossene  Herde  auf- 
gestellt, während  ebensoviel  Tische  mit  je  4  Sitzschemehi  und  einem 
Eimerschemel  die  Mitte  des  Raumes  einnehmen.  Die  zugehörigen 
Regale  mit  dem  erforderlichen  Kochgeschirr  befinden  sich  in  der 
Nähe  der  Herde  an  den  Wänden.  Das  Pult  der  Lehrerin  ist  auf 
einem  erhöhten  Tritt  an  der  Fensterwand  angeordnet.  Außer  vier 
großen  Fenstern  in  der  Umfassung  bewirken  vier  über  den  Herden 
angelegte  Oberlichtfenster  eine  reichliche  Beleuchtung  des  Raumes, 

In  der  Speisekammer  befinden  sich  verschiedene  Schränke  und 
Regale  zur  Unterbringung  der  benötigten  Materialien,  während  in  der 
Kleiderablage  außer  den  reichlich  vorhandenen  Kleider-  und  Schirm- 
haken sowia  einem  Kleiderschrank  für  die  Lehrerinnen  Bänke  und 
Tische  für  die  Frühstückspause  aufgestellt  sind. 

Der  Fußbodenbelag  besteht  in  sämtlichen  Räumen  aus  schwarzen 
und  roten  Xylolithtafeln  ^Steinholz);  die  Wände  und  Decken  sind  in 
einfacher  Weise  mit  Kalkfarbe  gestrichen;  das  Mobiliar  ist  aus  reinem 
Kiefernholz  mit  lindenen  Tisch-  und  Schemelplatten  hergestellt  und 
braun  lassiert  und  lackiert. 

Die  Dächer  sind  flach  und  mit  Holzzement  eingedeckt.  Das 
Äußere  der  Gebäude  ist  in  einfachster  Ausführung  als  Rohziegelbau 
hergestellt. 


Krgiinzuui^en  und  P-nvciteruiigeii  des  l'ntenichts  der  \'olk.sscluile.  27 

Beide  Gebäude  wurden  AnfaiiiT  November  1902  in  Benutzun<r 
genommen. 

Die  Baukosten  und  die  Kosten  für  die  innere  Einrichtung  be- 
trugen für  das  Gebäude  auf  dem  Grundstück  der  I.  Bezirksschule 
19  094,04  M.,  für  dasjenige  auf  dem  Grundstück  der  VII.  Bezirks- 
schule  19  257,72  M. 

Die  Planung  und  Ausführung  erfolgte  unter  der  Oberleitung  des 
Stadtbaurates  Möbius  durch  Stadtbaumeister  Eckardt." 

Wo  es  der  Raum  irgend  erlaubt,  pflegt  man  den  Haushaltungs- 
schulen einen  Küchengarten  anzugliedern,  in  welchem  die  Schülerinnen 
die  Gemüse  und  Küchenkräuter  kennen  und  selbst  anbauen  lernen. 

Die  um  die  Einrichtung  der  ersten  Berliner  Schulküchen  hoch- 
verdiente Lehrerin  Frl.  H.  Krötke  schildert  in  einem  im  Jahre  1893 
erstatteten  Berichte  die  Benutzung  des  Küchengartens  in  Cassel 
folgendermaßen : 

, .Jeder  Tisch  von  jeder  Abteilung  hat  ein  besonderes  Beet  für 
sich,  welches  die  Kinder  selbst  gegraben,  bepflanzt,  gejätet  und  ge- 
pflegt haben.  Der  Garten  ist  nicht  so  reichhaltig  wie  in  Chemnitz 
und  finden  sich  außer  Kartoffeln  nur  einige  Gemüse  und  Gewürze, 
aber  die  Kinder  müssen  selbst  ernten,  was  sie  gesäet,  und  war  es 
ein  freundlicher  Anblick,  die  fröhlichen  Mädchen  zu  je  vier  an  ihren 
Beeten  herumhantieren  zu  sehen.  Mit  Körbchen  und  Messer  be- 
waffnet, holten  sie  die  Zutaten  zur  Gemüsesuppe  aus  ihrem  Garten, 
schnitten  Kohlrabi  ab,  pflückten  Bohnen  und  grüne  Erbsen,  zogen 
Mohrrüben  und  Petersilie  oder  schnitten  Sellerie-  und  Porreeblätter  ab." 

Da  die  Kochschulräume  gewöhnlich  in  neuen  Schulhäusern  an- 
gelegt, sehr  hübsch  ausgestattet  und  sauber  gehalten  werden,  so 
machen  sie  meist  einen  recht  freundlichen  Eindruck,  und  der  Besucher 
empfindet  beim  Anblick  der  emsig  schaffenden  Mädchen  etwas  von 
der  Freude  an  der  Sache,  welche  die  Kinder  selbst  zu  durchdringen 
scheint. 

Der  Unterricht  zerfällt  im  allgemeinen  in  einen  praktischen  und 
theoretischen  Teil  und  umfafit:  Kochen  und  die  damit  zusammen- 
hängende Belehrung  über  den  Nährwert,  den  Einkauf,  die  Behand- 
lung und  Aufbewahrung  der  verschiedenen  Nahrungsmittel,  Haus- 
haltungsrechnung und  -Buchführung,  Behandlung  der  Wäsche,  wie 
Waschen,  Rollen  u.  dgl.,  die  Reinigung  der  benutzten  Räume,  der 
Fenster,  der  Anlagen  und  Geschirre  und  schriftliche  Aufzeichnung  des 
praktisch  und  theoretisch  Gelernten.  Auf  die  Physiologie  der  Er- 
nährung und  die  einschlägigen  Gebiete  der  anorganischen  und  organi- 


28  Wolilfahrtseinrichtungen. 

sehen  Chemie,  der  Zoologie  und  Botanik  wird  in  einzehien  Haus- 
haltungsschulen entsprechend  dem  Stande  der  Kenntnisse,  den  man 
bei  den  Schülerinnen  voraussetzen  darf,  näher  eingegangen,  im  allge- 
meinen werden  aber  die  praktischen  Erfordernisse  des  täglichen 
Lebens  bei  allen  Belehrungen  in  den  Vordergrund  gerückt.  Der 
Kochunterricht  und  alle  Verrichtungen,  welche  damit  in  direktem  Zu- 
sammenhange stehen,  bilden  in  allen  Haushaltungskursen  für  schul- 
pflichtige Mädchen  die  Hauptaufgabe,  neben  welcher  die  übrigen 
Arbeiten  der  Hausfrau  in  den  Hintergrund  treten. 

Der  Verlauf  des  Unterrichts  ist  im  allgemeinen  demjenigen  ähn- 
lich, welchen  uns  der  folgende  Bericht  der  Leiterin  eines  Haushaltungs- 
kursus in  Königsberg  i.  Pr.,  Frl.  Cederholm,  schildert: 

,,Beim  Beginn  eines  jeden  Unterrichtsmorgens  wird  die  Arbeit 
des  Tages  verteilt,  das  Rezept  des  Gerichtes,  welches  gekocht  w^erden 
soll,  und  welches  der  Jahreszeit  angemessen  ist,  an  die  Wandtafel  ge- 
schrieben. Die  Einnahme  (jeder  Tisch  erhält  1  M.,  mit  welcher  das 
Kind,  welches  das  Amt  des  Geldverwaltens  hat,  wirtschaften  muß) 
und  Ausgabe  werden  zusammengestellt.  Die  Kinder  schreiben  dies 
in  ihre  Bücher. 

Die  Einkäufe  des  Unterrichtsmaterials  werden  am  Morgen  des 
Tages  auf  dem  Markte  von  Kindern  unter  Aufsicht  einer  Lehrerin 
besorgt.  Der  praktische  Unterricht  wechselt  mit  dem  theoretischen 
ab  und  zwar  so,  daß  der  erstere  am  meisten  berücksichtigt  wird. 
Wenn  schon  bei  Bereitung  der  Speisen  nicht  das  feinste  Mehl  und 
das  teuerste  Fett  verwandt  werden  kann,  so  muß  doch  desto  mehr 
Fleiß  und  Aufmerksamkeit  den  Mangel  an  Zutaten  ersetzen.  Die 
Kinder  sollen  gerade  lernen,  daß  man  das  einfachste  Gericht,  wenn 
man  bei  der  Zubereitung  gehörig  acht  gibt  und  sich  keine  Mühe  ver- 
drießen läßt,  wohlschmeckend  machen  kann. 

Die  zubereiteten  Speisen  verzehren  die  Kinder  selbst,  und  es 
ist  ihnen  immer  ein  wichtiger  Augenblick,  wenn  sie  sich  an  den 
Tisch  setzen  dürfen.  Vor  und  nach  dem  Essen  wird  gebetet,  und 
während  des  Essens  werden  sie  angehalten,  sich  guter  Manieren  zu 
befleißigen.  Auch  werden  die  Kinder  daran  gewöhnt,  an  ihre  noch 
ärmeren  Mitschülerinnen  zu  denken  und  ihnen  von  ihrem  Mahle  etwas 
zukommen  zu  lassen."") 

In    manchen    Orten    werden    die    Mahlzeiten    so   reichlich  anee- 


*)  E.  Hollack    und    Fr.  Tiomnau,    Geschichte    des    Schulwesens    der    Kgl.   HaujH- 
und  Residenzstadt  Königsberg  i.  Pr.     Königsberg  1899.    S.  682  f. 


Ergänzungen  und  Erweiterungen  des  Unterrichts  der  Volksschule.  29 

richtet,  daß  regelmäßig  eine  Anzahl  bedürftiger  Kinder  aus  den 
Kinderhorten  damit  versorgt  werden  kann. 

b)  Der  Handarbeitsunterricht  für  Knaben.  Der  gegen- 
wärtig der  deutschen  Volksschule  an  einigen  Orten  angegliederte  und 
in  verschiedene  geschlossene  Anstalten  eingeführte  Handarbeitsunter- 
richt für  Knaben  reicht  in  seinen  Anfängen  bis  in  die  siebziger  Jahre 
des  vorigen  Jahrhunderts  zurück.  Er  verdankt  seine  Entstehung  zum 
Teil  Anregungen  aus  Dänemark  (^Rittmeister  v.  Clauson-Kaas)  und 
Schweden  (Besuch  der  Kommission  des  Preußischen  Kultusministeri- 
ums in  Gothenburg  und  Nääs  im  Jahre  1880.  Schwedischer  Slöjdj. 
Während  aber  ursprünglich  dieser  Unterrichtszweig  rein  wirtschaft- 
lich praktische  Ziele  verfolgte  (Anfertigung  leicht  herzustellender 
Gegenstände  der  Hausindustrie  und  Vorbereitung  der  Schüler  für  ge- 
wisse Handwerke),  so  wird  er  jetzt  lediglich  dem  Zwecke  der  Ge- 
samterziehung des  Individuums  dienstbar  gemacht.  Der  Schüler  soll 
durch  den  Handarbeitsunterricht  nicht  zu  einem  geschickten  Gewerbe- 
treibenden oder  Handwerker,  sondern  zu  einem  tüchtigen  Menschen 
erzogen  werden.  Die  Ausbildung  des  Auges  und  der  Hand  soll 
in  letzter  Hinsicht  die  ethische  und  ästhetische  Erziehung  des  jungen 
Menschen  vollenden  helfen. 

Wenn  sich  auch  noch  in  einigen  Orten  Deutschlands  Zentren 
des  gewerblichen  Handarbeitsunterrichts  vorfinden,  so  arbeiten  doch 
97  Prozent  aller  Werkstätten  nach  den  Grundsätzen  des  erzieh- 
lichen Knaben-Handarbeitsunterrichts  und  verfolgen  rein  pädagogische 
Zwecke. 

Die  Einführung  und  Verbreitung  dieser  erziehlichen  Knaben- 
handarbeit in  Deutschland  ist  die  Hauptaufgabe  des  „Deutschen 
Vereins  für  Knabenhandarbeit".  Seine  Aufgaben  im  einzelnen  waren: 
unausgesetzte  V^erbreitung  der  Ideen  im  Volke  und  besonders  in  den- 
jenigen Kreisen,  die  zu  ihrer  VerwirkUchung  beitragen  konnten;  die 
Bildung  von  Handfertigkeitsschulen;  die  Beschaffung  der  erforderlichen 
Mittel;  die  Ausbildung  von  Lehrern,  sowie  die  Einführung  von  Lehr- 
gängen und  Lehrmethoden  für  den  Unterricht. 

Den  inneren  Ent^^'ickelungsgang  und  seine  Beziehungen  zur 
Schule  kennzeichnet  der  Deutsche  Verein  in  den  „Grundzügen  des 
erziehlichen  Handarbeitsunterrichts  für  Knaben",  wie  sie  auf  dem 
X.  Kongreß  1890  zu  Straßburg  zur  Annahme  gelangten  und  in  ihren 
wesentlichen  Punkten  noch  heute  Gültigkeit  für  den  Verein  haben. 
§  2  der  Grundzüge  lautet: 

„Während  in  g-eschlossenen  Anstalten  der  Handarbeitsunterricht 


30  Wohlfahrtseinrichtungen. 

dem  Schulunterricht  angefügt  oder  auch  in  denselben  eingefügt 
werden  sollte,  empfiehlt  es  sich,  denselben  in  den  Volksschulen  und 
in  den  höheren  Lehranstalten,  besonders  aber  in  den  Lehrerbildungs- 
anstalten da,  wo  die  Voraussetzungen  dazu  gegeben  sind,  als  wahl- 
freien Unterrichtsgegenstand  und  zur  Unterstützung  der  Anschaulich- 
keit in  anderen  Unterrichtszweigen,  wie  Geometrie,  Rechnen,  Zeichnen, 
Physik,  Naturgeschichte  und  Geographie,  allmählich  einzuführen. 

Der  Unterricht  soll  von  unserem  Vereine  auf  dem  Wege  der 
Freiwilligkeit  auch  weiterhin  gepflegt  und  \on  tüchtigen  Lehrern  in 
Lehrgang  und  Lehrart,  die  sich  den  Grundsätzen  der  Erziehungslehre 
anlehnen,  ausgebaut  werden,  bis  zahlreiche  \'ersuche  und  längere  Er- 
fahrungen endgültig  entscheiden  können,  ob  dieser  Unterricht  sich 
eigne,  als  ein  pflichtmäßiger  oder  freiwilliger  Unterrichtsgegenstand 
in  die  Schule  allgemein  aufgenommen  zu  werden.  Wie  diese  Ver- 
bindung in  einer  späteren  Zeit  etwa  herzustellen  sei,  erscheint  daher 
als  eine  Frage,  die  zurzeit  als  spruchreif  nicht  zu  erachten  ist."  Der 
um  die  Entwickelung  des  Knabenhandarbeitsunterrichts  in  Deutsch- 
land hochverdiente  Landtagsabgeordnete  E.  v.  Schenckendorff-Görlitz 
ist  der  Vorsitzende  des  Vereins.  Der  \"erein  hat  bisher  vier  Zweig- 
vereine in  Sachsen,  Württemberg,  der  Provinz  Westfalen  und  in 
Bayern  begründet;  die  Gesamtzahl  der  Mitglieder  beträgt  mehr  als 
1600,    worunter  einige  Hundert    korporative  Mitglieder  sich  befinden. 

Nach  den  augenblicklich  vorliegenden  Nachrichten  beträgt  die  Ge- 
samtzahl aller  Schulen  und  Anstalten  Deutschlands,  die  gegenwärtig 
Handfertigkeitsunterricht  betreiben,  947.  Hiervon  sind  28  abzurechnen, 
die  den  erwähnten  hausindustriellen  und  gewerblichen  Zwecken 
nachgehen.  919  Schulen  und  Anstalten  haben  sich  somit  der  päda- 
gogischen Richtung  angeschlossen. 

Die  stattlichste  Zahl  von  Körperschaften,  die  im  Dienste  der 
Sache  stehen,  weist  wegen  seiner  Größe  Preußen  auf,  nämlich  ()I5 
in  485  Ortschaften,  während  in  allen  übrigen  deutschen  Staaten  ins- 
gesamt 332  Schulen  und  Anstalten  an  198  Orten  Arbeitsunterricht 
betreiben.  In  beiden  Gruppen  stehen  die  industriereichen  Bezirke 
an  der  Spitze,  in  Preußen  Oberschlesien  und  die  Rheinprovinz,  im 
übrigen  Deutschland  das  Königreich  Sachsen.  Während  von  den 
vorwiegend  agrarischen  Landesteilen  die  Provinz  Schleswig-Holstein 
mit  ihren  zahlreichen  Arbeitsstätten,  die  zum  größten  Teile  einfachen 
Dorfschulen  angegliedert  sind,  in  bemerkenswerter  W^eise  hervor- 
ragt, liegt  sonst  in  den  überwiegend  Ackerbau  treibenden  Bezirken 
der  Arbeitsunterricht  teilweise  ganz  darnieder.     Die  wenigsten  Hand- 


Ergänzungen  und  Erweiterungen  des  Unterrichts  der  N'olks.schule. 


31 


fertiii^kcitsschulen  unter  den  preulMschen  Provin/.en  finden  sich  in 
Pommern;  im  übrigen  Deutschland  nehmen  Mecklenburg-Schwerin 
mit  nur  einer  Werkstätte,  die  zudem  von  einer  höheren  Lehranstalt 
eingerichtet  i.st,  und  weiterhin  Mecklenburg-Strelitz,  Altenburg, 
Waldeck  und  da.s  Großherzogtum  Oldenburg,  in  denen  überhaupt 
keine  Veranstaltungen  für  den  Arbeitsunterricht  vorhanden  sind,  die 
letzte  Stelle  in  der  Entwicklungsskala  des  Arbeitsunterrichts  ein. 

Nachstehende  Zusammenstellung  zeigt  zunächst  die  Zahl  der 
Ortschaften  in  den  einzelnen  Gebieten  Deutschlands  und  sodann  die 
Zahl  der  Schulen  und  Anstalten  mit  Arbeitsunterricht: 


^              Schulen 
Ort- 

schatten      ,         , 

Anstalten 

^           ,  Schulen 
1      Ort-       ; 

,    -               und 
schatten      ,        , 

Anstalten 

Preußen 485 

Schlesien  ....           106 
Rheinland     ...            69 
Schleswig  -  Hol- 
stein             79 

Sachsen     ....             38 
Hessen-Nassau     .             31 
Hannover     ...             36 
Brandenburg- 
Berlin   ....             17 
Westfalen.    ...            28 

Posen 30 

Ostpreußen  ...             20 

Westpreußen    .    .             20 

t       Pommern.    ...              10 

Hohenzollern  .    .                1 

Bayern 16 

Königreich  Sachsen            55 
Württemberg   ...             18 
Baden 17 

615 
118 
96 

88 
60 
48 

42 

39 
32 
33 
26 
22 
10 
1 
36 
96 
26 
26 

1                                        1 

1  Hessen 20                23 

Sachsen- Weimar      .            10                17 
Sachsen-Meiningen .              5                   6 

'  Coburg-Gotha.    .    .            11                 16 

1  Anhalt 6                  9        \ 

Braunschweig  ...              6                  7 
Schwarzburg-Rudol- 

stadt 4                  5 

Schwarzburg  -  Son- 
dershausen   ...              1                    1 

Reuß  ä.  L 1                   1 

Reuß  j.  L 2                  5 

Lippe 5                  5 

Schaumburg-Lippe  .3                   5         ' 
Mecklenburg- 
Schwerin  ....               1                    1 

'  Elsaß-Lothringen     .            11                  19 

Lübeck 4                  8 

Hamburg      ....              2                 10 
Bremen 2                10 

Was  die  Art  der  Schulen  und  Anstalten  anbetrifft,  die  den 
Knabenhandarbeitsunterricht  betreiben,  so  gruppieren  sie  sich  nach 
drei  Richtungen  hin.  Den  reinen  Beschäftigungsanstalten,  doch  mit 
systematisch  fortschreitendem  Lehrgang,  gehören  368  selbständige 
Handfertigkeitsschulen  und  94  Knabenhorte,  insgesamt  462  Veran- 
staltungen, an.  Die  Zahl  der  öffentlichen  Lehran.stalten,  welche  den 
Arbeitsunterricht  aufgenommen  haben,  beträgt  zusammen  321,  und 
zwar  201  Volks-  und  Mittelschulen,  59  Hilfsschulen,  27  höhere  Lehr- 
anstalten (1)  Gvmnasien,  6  Realgvmnasien,  13  Real-  und  Oberrealschulen), 


32  Wohlfalirtseinrichtungen. 

8  Präparandenanstalten      und      26     Lehrerseminare      (5  preußische, 

9  sächsische,  3  hessische,  je  2  in  Württemberg  und  Baden  und  je  1 
in  Anhalt,  Braunschweig,  Meiningen,  Reuß-Schleiz  und  Lübeck).  Von 
den  geschlossenen  Lehr-  und  Erziehungsanstalten  haben  160  eigene 
Schülerwerkstätten  eingerichtet,  nämlich:  46  Waisen-,  5  Rettungs- 
häuser, 52  Taubstummen-,  21  Blinden-  und  40  sonstige  Erziehungs- 
anstalten, darunter  15  mit  höheren  Lehranstalten  verbundene  In- 
ternate. 

Die  Mehrheit  dieser  Schulen  und  Anstalten  hat  den  Hand- 
fertigkeitsunterricht  als  wahlfreien  Unterrichtsgegenstand  eingeführt, 
in  einigen  Mittel-  und  Volksschulen  findet  auf  dieser  Grundlage  eine 
fast  allseitige  Beteiligung  der  Schüler  statt;  dahingegen  betreiben 
zahlreiche  geschlossene  Erziehungsanstalten  und  Hilfsschulen  den 
Unterricht  obligatorisch. 

Die  Arbeitsgegenstände,  welche  allgemein  zur  Anerkennung 
und  methodischen  Durcharbeitung  gekommen  sind,  bilden  jetzt  eine 
fest  begrenzte  Reihe,  und  in  der  Regel  waren  nur  äußere  Verhält- 
nisse dafür  bestimmend,  wenn  einzelne  Arbeitsfächer  geringere  oder 
umfangreichere  Aufnahme  gefunden  haben.  So  wird  die  mit  mäßigen 
Mitteln  einzuführende  Holzschnitzerei  in  rund  610  Schülerwerkstätten 
betrieben;  die  gleichfalls  nicht  zu  kostspielige  Papparbeit  hat  in  560 Werk- 
stätten Eingang  gefunden,  und  der  schon  mehr  Geldmittel  erheischenden 
Hobelbankarbeit  stehen  insgesamt  340  Arbeitsstätten  zur  Verfügung. 
Die  noch  nicht  allgemein  interessierenden  Vorstufenarbeiten  sind  von 
80,  die  Metallarbeiten  von  36  und  die  ländliche  Holzarbeit  ist  von 
30  Körperschaften  eingeführt  worden.  Das  Modellieren  in  Ton  wird 
in  15  Schülerwerkstätten  gepflegt,  scheint  sich  jedoch  neuerdings 
mehr  Freunde  zu  erwerben. 

Mannigfach  sind  die  Kombinationen  der  von  den  einzelnen 
Schulen  eingeführten  Arbeitsfächer  untereinander.  Bemerkt  sei,  daß 
sich  rund  400  Arbeitsstätten  mit  einem  Arbeitsfache  begnügen, 
während  300  je  zwei,  200  je  drei  und  der  Rest  vier  und  mehr 
Arbeitsgegenstände  eingeführt  haben. 

Das  Lehrpersonal  in  diesen  Handarbeitskursen  und  Werkstätten 
bilden  gewöhnlich  Volksschullehrer,  welche  in  dem  Handfertigkeits- 
seminar in  Leipzig  oder  in  gelegentlichen  Lehrerkursen,  wie  sie  bis 
jetzt  von  einigen  30  Handfertigkeitsschulen  in  fast  allen  Gauen 
Deutschlands  veranstaltet  wurden,  ausgebildet  worden  sind.  Unter 
den  deutschen  Städten,  welche  diesem  Unterrichtszweige  besonderes 
Interesse  entgegengebracht  haben,  sind  zu  nennen:    Altona,   Barmen, 


Ergänzungen  und  Erweiterungen  des  Unterrichts  der  Volksschule.  33 

Bonn,  Bremen,  Breslau,  Charlottenburg,  Danzig,  Dortmund,  Dresden, 
Düsseldorf,  Frankfurt  a.  M.,  Glauchau,  Görlitz,  Gotha,  Heidelberg, 
Hildesheim,  Karlsruhe,  Kiel,  Königsberg  i.  Pr.,  Magdeburg,  Mann- 
heim, Mülhausen  i.  Eis.,  München,  Nürnberg,  Plauen,  Posen, 
Schöneberg,  Straßburg  i.  Eis.,  Stuttgart,  Weimar,  Worms. 
Die  Lehrgegenstände  des  Unterrichts  sind: 

1.  Vorstufe  für  jüngere  Kinder: 

a)  Papier-,  Karton-  und  Stäbchenarbeiten  (Ausschneiden,  Falten, 
Aufkleben,  Flechten,  Zusammenlegen,  Bauen,  sogenannte 
Fröbelsche  Arbeiten), 

b)  leichte  Holzarbeiten  (Schneiden,  Nageln,  Benutzung  kleiner 
Brettchen,  Arbeiten  mit  Hammer,  Zange,  Säge,  mit  runden 
und  vierkantigen  Stäben), 

c)  das  Tonformen. 

2.  Papparbeit  (Täfelchen  mit  Randeinfassung,  Verbindung  mehrerer 
Flächen  durch  Heften,  durch  Rücken;  Pappkasten,  Körbchen  und 
mehrfach  zusammengesetzte  Gegenstände), 

3.  Holzschnitzerei  und  Kerbschnitt, 

4.  Hobelbankarbeit, 

5.  Metallarbeit, 

6.  Modellieren. 

Es  muß  noch  einmal  hervorgehoben  werden,  daß  diese  sämt- 
lichen Unterrichtsfächer  sich  nur  selten  in  einer  Werkstatt  vereinigt 
finden.  Der  Knabenhandarbeitsunterricht  ist  schon  aus  dem  äußeren 
Grunde,  weil  er  verhältnismäßig  große  Räume  erfordert  und  daher 
bei  der  Beteiligung  einer  größeren  Anzahl  von  Schülern  sehr  kost- 
spielig wird,  fast  nirgends  ein  obligatorischer  Unterrichtsgegenstand 
geworden.  Eine  Ausnahme  bildet  München,  welches  für  die  achten 
Klassen  der  Knabenwerktagsschulen  den  Knabenhandarbeitsunterricht 
als  obligatorischen  Lehrgegenstand  in  sechs  Stunden  wöchentlich  ein- 
geführt hat.  Der  Münchener  Lehrgang  beschränkt  sich,  da  es  sich 
hier  um  reifere  Knaben  handelt,  auf  einen  Holzbearbeitungskursus  und 
einen  Metallbearbeitungskursus,  für  den  eine  bestimmte  Reihenfolge 
der  Übungen  vorgeschrieben  ist.  (Vgl.  Verwaltungsbericht  über  die 
Städtischen  Volks-  und  Mittelschulen  in  München  für  das  Geschäfts- 
jahr 1900,  S.  140-141.) 

In  Worms  ist  auf  anderer  Grundlage  ein  Versuch  mit  der  Ein- 
führung des  obligatorischen  Handarbeitsunterrichts  (Werkunterrichts) 
gemacht  worden;  im  Schuljahr  1900/01  wurde  versuchsweise  die  obliga- 
torische Einführung  des  Werkunterrichts  in  den  sechs  oberen  Klassen 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.    III.     Anhang.  3 


34  Wolilfahrtseinriclitungen. 

der  Volksschule  von  der  großherzoglichen  Regierung  genehmigt.  Es 
wurde  demselben  wöchentlich  eine  Stunde  für  jede  Klasse  besonders 
zugewiesen.  Der  Unterricht  begann  gleichzeitig  mit  dem  Formen  in 
Plastilina  und  Ton  (Klasse  6,  drittes  Schuljahr)  und  mit  Papparbeit 
in  Klasse  4  (fünftes  Schuljahr).  Das  Formen  wurde  im  nächsten 
Jahre  in  Klasse  5,  die  Papparbeit  in  Klasse  3  fortgesetzt.  Auch  in 
den  beiden  untersten  Klassen  wurden  Versuche  mit  dem  Formen  in 
Verbindung  mit  dem  Anschauungsunterricht  gemacht;  dem  Schnitzen 
sollen  die  beiden  letzten  Schuljahre  gewidmet  werden,  und  es  sind  im 
laufenden  Jahre  bereits  Versuche  damit  gemacht  worden.  Es  würde 
sich  demnach  der  Werkunterricht  in  Worms  in  folgender  Weise  ge- 
stalten: Klasse  VIII  und  VII  (erstes  und  zweites  Schuljahr):  Stäbchen- 
legen und  dergleichen,  sowie  Formen  in  Ton  in  Verbindung  mit 
Stäbchen  als  Teil  des  Anschauungsunterrichts;  Klasse  VI  und  V: 
Formen  in  Ton;  Klasse  IV  und  III:  Papparbeiten;  Klasse  II  und  I: 
Holzschnitzarbeiten.  Mit  dem  Formen  in  den  Klassen  VIII  bis  V 
wird  auch  das  malende  Zeichnen  verbunden  und  so  dem  Freihand- 
zeichnen (künstlerischen  Zeichnen)  vorgearbeitet;  bei  dem  letzteren  wird 
auch  in  den  Klassen  IV — I  das  Formen  herangezogen.  Mit  den 
Papparbeiten  ist  das  geometrische  Zeichnen  verbunden;  zugleich 
werden  beide  mit  der  Raumlehre  in  Verbindung  gesetzt.  Mit  den 
Holzschnitzarbeiten  treten  das  freie  wie  das  gebundene  Zeichnen  in 
Verbindung.  Wie  das  Zeichnen,  so  wird  auch  das  Formen  im  Sach- 
unterricht als  Darstellungsmittel  verwertet. 

Unter  den  Kursen  für  fakultativen  Handarbeitsunterricht  für 
Knaben  in  der  Volksschule  verdienen  in  Deutschland  u.  a.  die  Ein- 
richtungen in  der  Stadt  Charlottenburg  erwähnt  zu  werden.  An  dem 
Unterrichte  können  Schüler  der  obersten  Klassen  der  Gemeinde- 
schulen, der  höheren  Schulen  und  der  Hilfsschulen  teilnehmen. 

Für  die  Oberklassen  der  Gemeindeschulen  bestehen  zwei 
städtische  Schulwerkstätten,  die  eine  in  einem  dazu  eingerichteten 
älteren  Gebäude  (Kirchstraße  4),  die  andere  in  einem  Raum  der  7. 
Gemeindeschule,  Joachimsthalerstr.  31/32;  für  ein  in  der  Suarezstraße 
im  nächsten  Jahre  zu  erbauendes  Schulhaus  ist  die  Anlage  eines 
großen  Saales  für  die  Handfertigkeit  vorgesehen. 

In  diesen  Werkstätten  werden  Knaben  aus  den  ersten  Klassen 
der  Gemeindeschule,  nach  ihren  Schulen  in  Kurse  vereinigt,  unter- 
richtet. Die  Aufsicht  steht  dem  Rektor  der  betreffenden  Schule  zu; 
auch  als  Leiter  der  Kurse  werden  tunlichst  Lehrer  aus  der  betreffen- 
den Schule  verwendet. 


Ergänzungeil  und  Erweiterungen  de^  l'nterrichls  der  Volksschule.  35 

Die  Beteiligung  ist  freiwillig.  Doch  melden  sich  von  den  Schü- 
lern meist  mehr,  als  aufgenommen  werden  können.  Die  Rektoren 
treffen  die  Auswahl.  Sie  sehen  darauf,  daß  der  Knabe  mindestens 
noch  ein  volles  Jahr  der  Schulpflicht  vor  sich  habe. 

Jede  Schule  arbeitet  wöchentlich  zwei  Stunden  hintereinander 
mit  zwei  Kursen,  je  einem  Hobelkursus  und,  jährlich  wechselnd,  einem 
Schnitz-  oder  Pappkursus.  Der  Unterricht  fällt  außerhalb  der  Schul- 
zeit auf  die  Nachmittage.  Er  ist  für  die  Schüler  völlig  unentgeltlich. 
Alle  Werkzeuge  und  Materialien  werden  aus  städtischen  Mitteln  ge- 
liefert. Die  angefertigten  Gegenstände  werden  zum  größten  Teile 
Eigentum  der  Kinder.  Die  technische  Oberleitung,  die  Anschaffung 
der  Materialien  und  die  Verwaltung  der  im  Etat  ausgesetzten  Mittel 
besorgt  ein  Lehrer  als  Werkstattsvorsteher. 

Für  den  Hobelkursus  werden  höchstens  12,  für  die  anderen 
Kurse  höchstens  20  Schüler  angenommen.  Zurzeit  arbeiten  im 
ganzen  22  Kurse  mit  zusammen  350  Schülern. 

Für  den  Handfertigkeitsunterricht  hat    die  Stadt  Charlottenburg 
im  laufenden  Jahre  1903  folgende  Summen  aufgewendet: 
für  die  Gemeindeschulen       ....     5  032  M. 

,,    Realgymnasium 1  000    ,, 

,,    Oberrealschule 1  500    „ 

,,    Kaiser  Friedrichschule      ....     1  000    „ 

,.    Realschule 1  000    „ 

,,    Gymnasium 500    ,, 

,,  erste  und  zweite  Hilfsschule  .  .  400  ,, 
zusammen  10  432  M. 
Dem  Handarbeitsunterricht  liegen  in  den  meisten  Schulen  me- 
thodisch sorgfältig  aufgebaute  Normallehrgänge  und  Vorlagenwerke 
zugrunde,  wie  z.  B.  die  Handarbeitsvorlagen  der  Leipziger  Schüler- 
werkstatt und  der  Lehrgang  der  Hobelbankarbeit  der  Lehrerbildungs- 
anstalt in  Leipzig.  Zur  Orientierung  über  diesen  Unterrichtszweig 
dienen  die  ,, Blätter  für  Knabenhandarbeit",  herausgegeben  von  dem 
Direktor  des  Lehrerseminars  des  Deutschen  Vereins  für  Knabenhand- 
arbeit Dr.  A.  Pabst,  Scharnhorststraße  19  in  Leipzig. 

Li  Berlin  ist  kürzlich  auf  Anregung  des  Preußischen  Unter- 
richtsministeriums der  Versuch  gemacht  worden,  den  Unterricht  an 
der  Hobelbank  mit  dem  Zeichenunterricht  in  den  oberen  Klassen 
der  Volksknabenschulen  in  organische  Verbindung  zu  setzen,  und  ist 
zu  diesem  Zweck  eine  Werkstatt  an  einer  Gemeindeschule  einge- 
richtet worden. 

3* 


,'••6  Wohlfahrtseinrichtungen. 

c)  Der  Handarbeitsunterricht  für  Mädchen  (Stricken, 
Nähen,  Sticken,  FHcken,  Stopfen  und  dergleichen)  ist  in  den  meisten 
deutschen  Staaten  als  obligatorischer  I.ehrgegenstand  in  die  Stunden- 
pläne der  Mädchenschulen  aufgenommen  worden  und  braucht  daher 
nicht  an  dieser  Stelle  erwähnt  zu  werden;  dagegen  fallen  jene  Hand- 
arbeitskurse in  den  Rahmen  dieses  Kapitels,  welche  als  wahlfreie  Ein- 
richtungen dem  Volksschulunterricht  angegliedert  sind.  Dieser  Art 
sind  die  in  verschiedenen  Städten  wie  in  Frankfurt  a.  M.,  Kiel, 
Straßburg  i.  E.  und  Essen  a.  d.  R.  eingerichteten  Flickkurse  für 
Volksschülerinnen.  Über  den  Zweck  und  die  Einrichtung  derselben 
spricht  sich  der  Verwaltungsbericht  der  Stadt  Essen  folgender- 
maßen aus: 

„Durch  die  Einrichtung  von  Flickkursen  im  Jahre  1895  hat  der 
Handarbeitsunterricht  eine  Erweiterung  erfahren.  In  den  Flickkursen, 
die  bei  allen  größeren  Hauptsystemen  der  Volksschulen  bestehen, 
werden  die  älteren  Schülerinnen  von  erfahrenen  Lehrerinnen  an- 
geleitet, schadhaft  gewordene  Bekleidungsgegenstände,  die  sie  von 
Hause  mitbringen,  auszubessern,  was  in  den  schulplanmäßigen  Hand- 
arbeitsstunden nicht  in  dem  Umfang  geschehen  kann,  wie  es  wünschens- 
wert ist.  Diese  Flickstunden  sind  fakultativ;  die  Kosten  werden  von 
der  Stadt  getragen.  Der  Unterricht  wWd  in  schulfreier  Zeit  in  zwei 
wöchentlichen  Stunden  gewöhnlich  an  den  Mittv\'ochnachmittagen  er- 
teilt. Die  Materialien,  welche  zur  Ausbesserung  der  Bekleidungs- 
gegenstände erforderlich  sind,  haben  die  Kinder  aus  besser  gestellten 
Familien  selbst  zu  beschaffen;  den  bedürftigen  werden  dieselben  un- 
entgeltlich verabfolgt.  Für  jede  Unterrichtsstunde  erhalten  die  Lehre- 
rinnen eine  Vergütung  von  1,25  M.  Die  Flickstunden  erfreuen  sich 
besonders  im  Winter  eines  guten  Besuchs."  (Die  Verwaltung  der 
Stadt  Essen  im  XIX.  Jahrhundert.  Erster  Verwaltungsbericht  der 
Stadt  Essen,  erstattet  vom  Oberbürgermeister  Zweigert.  Band  \, 
Essen  1902.     S.  ;-!83.) 

d)  In  ähnlicher  Weise  hat  man  es  auch  an  manchen  Orten  für 
nötig  befunden,  den  obligatorischen  Zeichenunterricht  der  Schule 
durch  freie  Zeichenkurse  für  Volksschüler  und  Schülerinnen  zu  er- 
gänzen. Solche  Zeichenkurse  für  schulpflichtige  Knaben  sind  bei- 
spielsweise in  Wiesbaden  der  Fortbildungsschule  angegliedert,  in 
Essen,  Karlsruhe  usw.  bilden  sie  eine  selbständige  Einrichtung,  welche 
den  Zweck  verfolgt,  „Volksschüler  des  siebenten  und  achten  Schul- 
jahres, für  deren  späteren  Beruf  das  Zeichnen  von  besonderer  Wichtig- 
keit   ist,    in    diesem  Fach  weiter    auszubilden,    als  dies  in  den  Volks- 


Ergänzunjxen  und  Erweiterungen  des  Unterrichts  der  Volksschule.  ,'>7 

schulen  möglich  ist".  Die  Kurse  bestehen  aus  25 — oO  Schülern;  die 
Teilnahme  ist  freiwillig  und  unentgeltlich.  Der  Unterricht  wird  an 
den  schulfreien  Nachmittagen  erteilt,  regelmäßiger  Besuch  ist  I^e- 
dingung  für  die  Teilnehmer.  Die  Dauer  des  ganzen  Unterrichts  beträgt 
zwei  Jahre. 

e)  Der  musikalischen  Ausbildung  dienen  die  wie  an  den  höheren 
Lehranstalten  so  auch  gelegentlich  an  der  Volksschule  gebildeten 
Schülerkapellen.  Ihre  Einrichtung  ist  verschieden  und  meist  in 
ihrem  Umfange  beschränkt,  doch  besteht  beispielsweise  in  Karlsruhe 
eine  gut  organisierte  größere  Schülerkapelle,  deren  Zweck  es  ist, 
„musikalisch  beanlagten,  braven  und  fleißigen  Knaben  Gelegenheit 
zur  Ausbildung  in  Musiktheorie  und  in  der  Handhabung  von  Blas- 
und  Schlaginstrumenten  zu  bieten  und  die  Knaben  im  Zusammenspiel 
zu  üben". 

Neben  dem  angegebenen  speziellen  Zwecke  verfolgt  aber  die 
Schülerkapelle  noch  den  Gedanken,  zugleich  auch  der  Schule  und 
der  Gemeinde  zu  dienen,  indem  sie  bei  Schulfeierlichkeiten,  patrio- 
tischen Schulfesten  und  öffentlichen  Konzerten  durch  geeignete 
musikalische  Aufführungen  mitwirken  soll.  Der  Unterricht  ist  unent- 
geltlich, die  Aufnahme  in  die  Kapelle  ist  abhängig  von  Fleiß  und 
gutem  Betragen,  sowie  von  der  erfolgreichen  Absolvierung  eines  ein- 
jährigen Theoriekursus.  Das  Alter  für  die  Aufnahme  in  letzteren  ist 
in  der  Regel  das  zehnte  Lebensjahr,  in  erstere  das  elfte.  Die  Schüler- 
kapelle bestand  am  Schlüsse  des  Schuljahres  1902/03  einschließlich 
des  unteren  Theoriekursus  aus  139  Zöglingen,  die  von  5  Lehrern 
unterrichtet  wurden;  sie  besaß  82  Instrumente  und  ein  Musikalien- 
inventar von  123  Stücken.*)  Auch  die  Städtische  Singschule  in 
München  mag  an  dieser  Stelle  Erwähnung  finden.  Sie  ist  eine  öffent- 
Hche,  konfessionell  gemischte  Lehranstalt  mit  freiwilligem  Besuche 
und  hat  die  Aufgabe,  ihre  Schüler  im  Gesänge  sowohl  theoretisch 
wie  praktisch  auszubilden.  Es  wird  ein  Schulgeld  von  1  M.  erhoben; 
Bedingung  zur  Aufnahme  ist  das  zehnte,  bei  kräftigen  Knaben  mit 
guter  Begabung  eventuell  auch  das  neunte  Jahr.  Die  zu  Beginn  des 
Schuljahres  1901/02  vorhandenen  926  Schüler  wurden  in  19  Klassen 
(in  verschiedenen  Schulhäusern)  von  1  Dirigenten,  19  Klassenlehrern  und 
1  Hilfslehrer  unterrichtet.  Eine  der  Hauptaufgaben  der  so  ausge- 
bildeten Sängerchöre  ist  die  Mitwirkung  bei  öffentlichen  Festlichkeiten 
und  patriotischen  Feiern. 

*)  Vgl.  den  XX\'I.  Jahresbericht  über  die  dem  Rektorate  unterstellten  Städtischen 
Schulen  in  Karlsruhe.     1903.     S.   12. 


38  Wohlfahrtseinrichtungen. 

f)  Der  Ergänzung  des  lehrplanmäßigen  Turnunterrichts  durch 
freiwillige  Schwimmkurse  wird  an  einer  anderen  Stelle  gedacht  werden, 
hier  möge  nur  noch  des  dem  Lehrplan  der  Volksschule  angegliederten 
Unterrichts  im  Englischen  und  Französischen  Erwähnung  ge- 
schehen. Beide  Fremdsprachen  sind  eigentlich  (wenigstens  in  Preußen) 
das  charakteristische  Merkmal  der  über  den  Rahmen  der  Volksschule 
hinausgehenden  Mittelschule,  gleichwohl  hat  sich  in  neuerer  Zeit  unter 
dem  Einfluß  des  wachsenden  Verkehrs  mit  dem  Auslande  an  ver- 
schiedenen Orten  das  Bedürfnis  geltend  gemacht,  die  Kenntnis  des 
Englischen  und  Französischen  immer  weiteren  Kreisen  zugänglich  zu 
machen. 

In  erster  Linie  sind  hier  die  Hamburger  Volksschulen  zu  er- 
wähnen, welche,  ohne  im  übrigen  über  den  Rahmen  der  Elementar- 
schule hinauszugehen,  in  der  dritten,  zweiten  und  ersten  Klasse  und 
in  der  Selekta  (8.  Schuljahr)  der  Knabenschule  den  Unterricht  in  der 
englischen  Sprache  mit  wöchentlich  vier  Stunden  als  obligatorischen 
Lehrgegenstand  eingeführt  haben,  in  den  Selekten  der  Mädchen- 
schulen dagegen  diese  Fremdsprache  nur  in  wöchentlich  zwei  Stunden 
fakultativ  betreiben.  Ähnliche  freiwillige  Kurse  im  Französischen  be- 
stehen in  München  für  die  Mädchen  der  achten  Werktagsschulklassen, 
sofern  sie  an  dem  gleichfalls  für  sie  eingerichteten  fakultativen  Unter- 
richt im  gewerblichen  Zeichnen  nicht  teilnehmen.  In  Baden  gestattet 
das  Gesetz  über  den  Elementar-Unterricht  vom  13.  Mai  1892  §  92 
die  Einrichtung  einzelner  Klassen  an  den  Volksschulen  mit  erweitertem 
Unterrichtsplan  und  die  Bildung  besonderer  Abteilungen  für  einzelne 
Unterrichtsgegenstände,  wie  Zeichnen  oder  fremde  Sprachen.  Auf 
dieser  gesetzlichen  Grundlage  hat  man  in  Mannheim  an  der  er- 
weiterten Volksschule  fakultativen  französischen  Unterricht  in  drei 
Stunden  wöchentlich  für  die  vier  oberen  Klassen  eingerichtet,  welcher 
im  Schuljahr  1902/03  von  235  Knaben  (11  Kurse)  und  336  Mädchen 
(15  Kurse),  zusammen  also  von  571   Kindern  besucht  wurde. 

Auch  in  Preußen  hat  man  in  letzter  Zeit  ähnliche  Versuche  ge- 
macht; so  ist  erst  kürzlich  französischer  Unterricht  der  Volksschule 
in  Charlottenburg  angegliedert  worden.  Die  daselbst  geschaftenen 
Einrichtungen  mögen  hier  kurz  dargestellt  werden:  Seit  Michaelis 
1903  ist  an  den  Gemeindeschulen  wahlfreier  Unterricht  in  der  fran- 
zösischen Sprache  eingeführt  worden,  der  an  drei  schulfreien  Nach- 
mittagen stattfindet.  Es  sind  zunächst  acht  Knaben-  und  acht 
Mädchenkurse  eröffnet  worden,  an  denen  Lehrer  und  Lehrerinnen 
städtischer  Schulen  unterrichten.    Die  Eröffnung  eines  neuen  Knaben- 


Wolilfahrtseinrichtiingen  für  bedürftige  oder  leidende  Kinder.  39 

und  eines  Mädchenkursus  steht  unmittelbar  bevor.  An  dem  ersteren 
soll  ein  Franzose,  an  dem  anderen  eine  Französin  unterrichten.  Von 
den  bereits  eröffneten  Knabenkursen  ist  einer  versuchsweise  der 
Berlitz-School,  Tauenzienstrasse  24,  übertragen.  Im  übrigen  findet 
der  Unterricht  in  drei  städtischen  Gemeindeschulhäusern  statt,  von 
denen  je  eines  im  Westen,  im  Zentrum  und  im  Osten  der  Stadt  be- 
legen ist. 

Zur  Teilnahme  an  dem  Unterricht  sind  immer  drei  bis  fünf  der 
besten  Kinder  der  zweiten  und  dritten  Klassen  zugelassen  worden. 

Die  technische  Leitung  der  Kurse  ist  einem  Oberlehrer  der 
städtischen  Oberrealschule  übertragen  worden. 

2,  Wohlfahrtseinrichtungen  für  bedürftige  oder  leidende  Kinder. 

Den  verschiedenartigen  Veranstaltungen  von  Sonderunterricht 
für  Volksschulkinder  gliedern  sich  jene  Wohlfahrtseinrichtungen  an, 
welche  gerade  den  ärmsten  und  bedürftigsten  Kindern  hilfreiche 
Liebe  zuteil  werden  lassen.  Unter  diesen  W'erken  der  Barmherzigkeit 
nehmen  die  Kinderhorte  und  Ferienkolonien  die  erste  Stelle  ein. 

A.  Kinderhorte.  Obwohl  es  in  Deutschland  einige  ältere  so- 
genannte Kinderbeschäftigungsanstalten  schon  in  früheren  Zeiten  gab, 
so  ist  die  Bewegung  für  Kinderhorte  doch  erst  in  den  letzten  fünf- 
undzwanzig Jahren  in  Fluß  gekommen,  nachdem  Professor  Schmidt- 
Schwarzenburg  in  Erlangen  in  der  von  ihm  gegründeten  Anstalt 
,, Sonnenblume"  den  Versuch  gemacht  hatte,  die  schulfreien  Kinder  um 
sich  zu  sammeln,  sie  durch  geordnete  Tätigkeit  vom  Müßiggange 
abzuhalten  und  auf  sie  einen  erziehlichen  Einfluß  zu  üben.  Nach 
diesem  Vorbilde  wurden  in  Bayern,  zunächst  in  Augsburg,  darauf 
in  München,  Knabenhorte  gegründet.  Die  Bewegung  hat  sich  dann 
derartig  weiter  ausgebreitet,  daß  heute  in  etwa  50 — 60  Städten  Horte 
bestehen,  je  nach  der  Größe  der  Städte  einer  oder  mehrere. 

Die  Horte  verfolgen  den  Zweck,  die  Kinder  der  ärmeren  Volks- 
klassen im  schulpflichtigen  Alter,  die  von  ihren  Eltern  in  der  schul- 
freien Zeit  nicht  beaufsichtigt  werden  können  und  daher  der  Ver- 
führung und  Verwahrlosung  am  meisten  ausgesetzt  sind,  der  Straße 
zu  entziehen  und  sie  unter  pädagogischer  Aufsicht  zu  nützlicher  Be- 
schäftigung anzuhalten,  oder,  wie  der  Stuttgarter  Verein  der  Knaben- 
horte sich  ausdrückt,  „ihnen  eine  Stätte  zu  bauen,  wo  sie  unter 
freundlicher  Aufsicht  der  Lehrer  ihre  Schularbeiten  machen  und  sich 
nachher  durch  Spiel,  Gesang  oder  Lesen  unterhalten".  — •  Die  Dauer 


40  Wohlfahrtseinrichtungen. 

der  Beaufsichtigung  umfaßt  in  der  Regel  die  Stunden  nach  Schulschkiß 
bis  um  6  oder  7  Uhr  abends,  zu  welcher  Zeit  die  Eltern  von  ihrer 
Arbeit  zurückerwartet  werden  können.  Auch  wird  in  der  Regel 
während  des  Aufenthaltes  ein  Vesperbrot,  bestehend  aus  Milch  und 
Brot  oder  Suppe,  verabreicht. 

Die  Beschäftigung  in  den  Horten  paßt  sich  den  vorhandenen 
Einrichtungen  an;  insbesondere  wird,  wenn  ein  Garten  zur  Verfügung 
steht,  im  Sommer  die  Pflege  des  Gartens  durch  Zuweisung  einzelner 
Beete  an  die  Kinder  bevorzugt.  Speziell  bei  den  Knabenhorten  hat 
sich  neuerdings  ein  engerer  Anschluß  an  die  Bewegung  für  den 
Knaben-Handfertigkeitsunterricht  vollzogen;  so  wird  in  den  Statuten 
der  Hamburger  Knabenhorte  ausdrücklich  ausgesprochen,  daß  sie 
sich  den  Bestrebungen  des  allgemeinen  deutschen  Vereins  für  Knaben- 
handarbeit anschließen. 

Die  Frage  der  Räumlichkeiten  pflegt  keine  Schwierigkeiten  zu 
machen,  da  es  sich  nicht  um  Stätten  für  nächtlichen  Aufenthalt 
handelt,  sondern  nur  um  einen  Raum,  in  dem  die  Kinder  während 
einiger  Stunden  verweilen  können.  Schwieriger  ist  die  Frage  der 
Leitung,  da  es  gerade  für  Knaben  einer  besonders  geschickten  Hand 
bedarf,  um  auf  sie  einen  wirklich  erziehlichen  Einfluß  auszuüben.  Es 
wird  namentlich  Wert  darauf  gelegt,  daß  der  Hort  nicht  den  Charakter 
einer  eigentlichen  Anstalt  trage,  sondern  sich  dem  Leben  und  Wesen 
in  der  Familie  tunlichst  annähere,  sodaß  zwischen  Spiel  und  Be- 
schäftigung, zwischen  freier  und  vorgeschriebener  Tätigkeit  nach 
Möglichkeit  gewechselt  wird.  Die  Zahl  der  in  einen  Hort  aufzuneh- 
menden Kinder  wird  im  ganzen  50 — 60  nicht  überschreiten  dürfen, 
und  diese  Besetzung  entspricht  auch  im  großen  und  ganzen  den  tat- 
sächlichen Ziffern,  die  sich  aus  den  Berichten  der  Vereine  ergeben. 
—  Von  gut  geleiteten  Knabenhorten  heben  wir  namentlich  hervor 
die  Anstalten  in  München,  die  unter  einem  einheitUchen  Vorstande 
stehen  (der  Vorstand  gab  von  1883  bis  1900  eine  kleine,  monatlich 
erscheinende  Zeitschrift  ,,Der  Knabenhort"  heraus,  in  der  er  über 
Stand  und  Einrichtungen  der  Horte  berichtete,  aber  auch  allgemeine 
Fragen  des  Knabenhortvvesens  behandelte);  ferner  die  Knabenhorte 
in  Stuttgart,  Cöln,  Frankfurt  a.  M.,  Augsburg,  Hamburg,  Kiel, 
Leipzig  u.  a.  m.  Von  Einzelheiten  heben  wir  noch  hervor,  dais 
Bremen  und  München  Einrichtungen  zur  Beförderung  des  Sparsinnes 
der  Kinder  getroffen  haben;  in  Stuttgart  werden  die  Eltern  viertel- 
jährlich durch  Zeugnisse  von  dem  Betragen  der  Kinder  in  Kenntnis 
gesetzt.     Einige  Vereine,  z.  B.  der  Münchener,  senden  ihre  erholungs- 


Wohlfahrtseinrichtunijeu  für  bedürftige   oder  leidende    Kinder.  41 

bedürftigen  Zöglinge  mit  dem  Verein  für  Ferienkolonien  in  die  Sommer- 
frische; auch  hat  der  Münchener  Verein,  um  mit  seinen  Zöglingen  in 
Verbindung  zu  bleiben,  ein  Lehrlingsheim  errichtet.  In  der  Regel 
soll  von  den  Eltern  für  die  Aufnahme  der  Kinder  eine  Vergütung 
entrichtet  werden,  weil  die  unentgeltliche  Darbietung  als  Almosen 
empfunden  und  auch  leicht  in  ihrem  Werte  unterschätzt  wird.  Die 
Wochengelder  schwanken  zwischen  10  und  30  Pfennig,  doch  werden 
völlig  unbemittelte  Kinder  auch  ohne  Entgelt  zugelassen.  Sehr  üblich 
ist  in   den  Horten  die  Veranstaltung  von  Weihnachtsbescherungen. 

Literarisch  ist  die  Frage  der  Kinderhorte  verhältnismäßig  selten 
behandelt.  Doch  finden  sich  zwei  Schriften,  die  das  gesamte  Gebiet 
ziemlich  erschöpfend  darstellen:  I.  Reddersen,  Über  arme  auf- 
sichtslose Kinder  (Schriften  des  Deutschen  Vereins  für  Armen- 
pflege. 1884,  Nr,  3)  und  der  dazu  gehörige  stenographische  Bericht 
über  die  Verhandlungen  S.  22 — 25.  —  2.  Städtische  Jugend 
und  Jugendhorte,  im  98.  Neujahrsblatt  der  Züricher  Hilfsgesell- 
schaft. Systematisch  im  Zusammenhange  des  gesamten  Fürsorge- 
wesens ist  die  Frage  behandelt  bei  Münsterberg,  Kinderfürsorge, 
im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften,  und  bei  Post, 
Musterstätten  persönlicher  Fürsorge,  S.  134,  wo  das  Knaben- 
heim der  Heiischen  Fabrik  in  Charlottenburg  dargestellt  ist. 

Durch  die  Güte  des  Herrn  Stadtrats  Dr.  Münsterberg,  des  Vor- 
sitzenden der  Zentralstelle  für  Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen, 
Abteilung  für  x'lrmenpflege  und  Wohltätigkeit  in  Berlin,  ist  dem  Ver- 
fasser die  auf  S.  42  und  43  folgende  Übersicht  über  die  zurzeit  in 
einigen  Städten  Deutschlands  bestehenden  Kinderhorte  zur  Verfügung 
gestellt  worden. 

Eine  ältere  Zusammenstellung  von  H.  O.  Reddersen,  Bremen 
im  Dezember  1895,  gibt  ein  übersichtliches  Bild  über  die  Zahl  der 
Zöglinge,  die  Art  der  benutzten  Räume,  die  Zeit  der  Anstaltspflege, 
die  Beschäftigung,  Beköstigung,  die  Beiträge  der  Zöglinge,  die  Gesamt- 
kosten usw.  in  181  auf  folgende  47  Städte  verteilten  Horten: 
Altona  a.  d.  E.,  Augsburg,  Bamberg,  Berlin,  Braunschweig,  Bremen, 
Cassel,  Charlottenburg,  Chemnitz,  Cöln,  Danzig,  Darmstadt,  Dresden, 
Düren,  Eisleben,  Erfurt,  Erlangen,  Frankfurt  a.M., Fürth,  Gera,  Halle  a.S., 
Hamburg,  Hanau,  Hannover,  Heilbronn,  Kaiserslautern,  Kaufbeuren, 
Kiel,  Landshut  i.  Schi.,  Lauf,  Leipzig,  Linden,  Ludwigshafen 
a.  Rh.,  Mannheim,  Mühlhausen  i.  Th.,  München,  Nürnberg,  Offen- 
bach a.  M.,  Potsdam,  Stettin,  Straßburg  i.  E.,  Stuttgart,  Tübingen, 
Weimar,  Wiesbaden,  Würzburg  und  Zwickau. 


42 


Wohlfahrtseinrichtungen. 


_^^ — 

Name  der  Stadt  und  der 
Verwaltung 

Zahl  der  An- 
stalten 

Kna-  1   Mäd- 
ben    j   chen 

Gesamtzahl 

der  Zöglinge 

(rund) 

Beschäftigung  außer 

Schularbeit,  Spiel,  weibl. 

Handarbeiten  usw. 

Berlin:  Hauptverein  „Kinderhort" 

17 

6 

1  100 

- 

Berlin:    Verein  „Mädchenhort" 

- 

14 

800 

Gartenarbeit 

Bremen:  Verein  für  Knabenheime 

5 

- 

250 

Blumenzucht  u.  Gemüse- 
bau, Schnitzarbeiten 

Chemnitz    i.    S. :      Verein    zu    Rat 

3 

— 

125 

— 

und  Tat 

Cöln:   Verein  f.  d.  Kinderhorte  im 

— 

— 

300 

— 

südlichen  Stadtteile 

Cöln:     Derselbe,    im    nördlichen 

— 

250 

Handfertigkeit 

Stadtteile 

Danzig:    Verein  „Kinderhort" 

2 

4 

360 

— 

Dresden:    Verein  „Kinderhort" 

5 

3 

200 

Erfurt:    Verein  „Jugendhort" 

1 

- 

45-50 

Knabenhandfer  tigkei  t 

Frankfurt  a.  M. :   N'erein  für  Kinder- 

7 

6 

770 

Handfertigkeits-Unter- 

horte 

richi 

Halle  a.  S. :  Verein  für  Kinderhorte         8 

Hamburg:      Hamburger     Knaben-         4 
horte 

Hamburg:  Mädchenhorte 


Leipzig:  Verein  der  Mädchenhorte       — 

Ludwigshafen :   \"erein  für  Knaben-  5 

horte 


München:  Verein   „Knabenhort"      !        8 


Stuttgart:  Verein  Stuttgarter  Kna-        13 
benhorte  i 


18 


500 


350 


1000 


150 


750 


Gartenarbeit,  Hand- 
fertigkeit 
Handfertigkeits-Unter- 
richt,    Papparbeiten, 
Flechten  usw. 


300  Knabenhandarbeit 


700  Knabenhandarbeit,  Gar- 

tenarbeit 


Wohlfahrtseinrichtungen  für  bedürftige  oder  leidende  Kinder. 


43 


Gesamt- 

kosten 
rund 

Zuschuß  aus 

Beköstigung 

öffentlichen  Mitteln 

Bemerkungen 

M. 

M. 

1 

Brot  oder  Schrippen 

30  000 

8  000               i    Benutzung  der  städt.  Volksbäder. 

u.  abgekochte  Milch 

Mittagessen  (in  neun 

20  000 

2  000                Benutzung    d.    Turnhallen    d.   Ge- 

Horten) 

meindeschulen.       Verschickung    in 
Ferienkolonien. 

Brot  und  Milch 

7  000 

— 

Baden  und  Schwimmen    in  der 
Weser. 

Ja 

9  500 

— 

- 

9  000 

- 

Schulsaal   d.  d.  städt.  Verwaltung. 

Kaffee  und  Brot 

7  000 

- 

Vespersuppe 

12  000 

1  500   (a.  d.  Luise 

Räume    und    Heizung    stellen    die 

Abegg-Stiftung) 

städtischen  Behörden  z.  Verfügung. 

10  000 

Unbestimmt  (jeweils 
b.Erricht.  neuer  Anst.) 

Bäder. 

Vesperbrot  m.  Kaffee, 

3  500 

500  M.  für  d.  Hand- 

Mittagessen 

fertigkeits-Unterricht 

Vesperbrot 

45000*) 

6  000 

*)  Einschließlich  d.  unterh.  Suppen- 
anstalten.   —    Spareinlagen.      Der 
Magistrat    hat     sich     grundsätzlich 
damit  einverstanden  erklärt,  daß  in 
neuen    Bürgerschulen    Räume    für 

Horte  vorgesehen  werden. 

— 

17  500 

Ja  —    wieviel    un-   i                      Spareinlagen, 
bekannt 

7  600 

—                    iJie    Knabenhorte     schließen    sich 
den  Bestrebungen   des  Vereins  für 
Handfertigkeit  an. 

In  sämtlichen    Milch 

26  000 

Ja  —  bei  Neugrün- 

Schulräume d.  d.  Oberschulbehörde. 

zum  Vesper,  in  eini- 

dungen 

Spareinlagen.       Warme  Bäder. 

gen    Arznei,    Leber- 

Versendung in  Eerien-Kolonien  und 

tran  usw. 

Heilstätten. 

V4  Liter  Milch 

4  000 

— 

In  städtischen  Schulräumen.  —  Ein 
vierter  Hort  in  Vorbereitung. 

Brot 

? 

2  000 

Bäder.  —    Kostenlose    Benutzung 

städtischer  Räume    nebst    Heizung 

und  Beleuchtung. 

\on     Zeit     zu    Zeit 

13  000 

— 

Räume  in  städt.  Schulen.  —Brause- 

Milchverteilung 

bäder. —  4  Lehrlingshorte.  Während 

der  großen  Ferien  23  Ferienhorte 

von  8--6  Uhr. 

Brot 

20C00 

Ja     ? 

2  Lehrlingshorte.  —  3  Ferien-Kolon. 

44  Wohlfahrtseinriclitungen. 

Die  vorstehend  wiedergegebene  Übersicht  und  selbst  die  An- 
gaben Reddersens  ließen  sich  ohne  Zweifel  noch  erheblich  ergänzen, 
Avenn  es  gelänge,  das  gesamte  auf  dieses  Gebiet  der  Wohltätigkeit 
bezügliche  Material  zusammenzubringen,  oder  wenn  den  Leitern  und 
Gönnern  der  Kinderhorte  durch  regelmäßig  wiederkehrende  Kongresse 
ein  Mittelpunkt  für  Anregung,  Belehrung  und  persönliche  Bekannt- 
schaft geschaffen  würde.  So  besitzt  z.  B.  Schleswig-Holstein  auch  in 
vielen  kleineren  Orten  Kinderhorte,  und  in  keinem  der  beiden  Ver- 
zeichnisse sind  die  Städte  Barmen,  Bielefeld,  Düsseldorf,  Elberfeld, 
Freiberg  i.  Sachsen  und  Karlsruhe  erwähnt.  Gerade  in  Freiberg  ist 
die  Art,  in  welcher  die  Knaben  beschäftigt  werden,  eigenartig;  ein 
dem  Verfasser  zur  Verfügung  gestellter  Spezialbericht  äußert  sich 
darüber  folgendermaßen : 

„Hier  werden  die  Knaben  unter  Aufsicht  eines  Hausvaters 
zunächst  angehalten,  ihre  Schularbeiten  zu  fertigen.  Sodann  beschäf- 
tigen sie  sich  täglich  2 — 3  Stunden  mit  leichter  Handarbeit  (Düten- 
kleben,  Zinnschneiden,  Bürsteneinziehen,  Kaffeeauslesen).  Der  hier- 
durch erzielte  Verdienst  wird  je  nach  Leistung  den  einzelnen  Kindern 
gutgeschrieben  und  in  ein  Sparkassenbuch  eingezahlt.  Die  Rück- 
zahlung erfolgt  beim  Austritt  aus  der  Schule  bezw.  der  Anstalt 
(ein  Knabe  erhielt  z.  B.  Ostern  a.  c.  62,40  M.  ausbezahlt).  Auch 
werden  die  Knaben  vom  Hausvater  in  Papp-  und  Holzarbeiten 
unterwiesen. 

Dabei  bleibt  noch  genügend  Zeit  zu  Spiel  und  Gesang,  zur 
Gartenarbeit  und  zu  gemeinsamen  Spaziergängen  in  Feld  und  Wald. 
Auch  werden  die  Knaben  angehalten,  wöchentlich  ein-  oder  zweimal 
das  Volksbad  zu  benutzen. 

Der  bis  jetzt  an  den  Zöglingen  beobachtete  erziehliche  Einfluß 
des  Knabenhortes  ist  recht  befriedigend." 

Auch  in  Barmen  werden  die  älteren  Knaben  mit  eigentlichen 
gewerblichen  Arbeiten,  wie  Anfertigen  und  Flicken  von  Schuhwerk, 
die  Mädchen  mit  Waschen,  Bügeln,  Kochen  und  anderen  häuslichen 
\^errichtungen  beschäftigt,  und  ebenso  besteht  hier  auch  eine  Spar- 
kasse (Pfennigsparkasse)  für  die  Konfirmation. 

B.  Ferienkolonien,  Kinderheilstätten  u.  dergl.  Die  im 
folgenden  Abschnitt  geschilderten  Veranstaltungen  haben  den  Zweck, 
kränklichen  oder  in  der  Entwicklung  zurückgebliebenen  Kindern 
hauptsächlich  im  Sommer  und  besonders  während  der  Schulferien 
Gelegenheit    zur   Genesung    und    körperlichen    Kräftigung    zu    bieten. 


WolilfahrtseinriclUungen  für  bedürftige  «der  leidende  Kinder.  45 

Die  zu  diesem  Zwecke  getroffenen  Einrichtungen  sind  meistens  durch 
private  Wohltätigkeit  (Vereine)  ins  Leben  gerufen  worden,  werden 
aber  jetzt  fast  überall  aus  Gemeindemitteln  unterstützt. 

Die  Hauptarten  dieser  Wohlfahrtsein richtungen  sind  kurz  und 
treffend  in  dem  Artikel  „Ferienkolonien"  von  H.  Grosse  in  Reins 
Encyklopädie  Bd.  II  S.  226  charakterisiert.  Es  heißt  da:  „Hinsichtlich 
der  Art  und  Weise  der  Ferienversorgung  armer,  kränklicher  Schul- 
kinder haben  sich  durch  die  Praxis  drei  Kategorien  herausgebildet. 
Solche  Kinder,  bei  denen  bestimmte  Formen  der  Krankheit  (be- 
sonders Skrofulöse)  schon  so  weit  vorgeschritten  sind,  daß  eine  ärzt- 
liche Behandlung  imd  Pflege  angezeigt  erscheint,  bringt  man  in  Kinder- 
heilstätten  der  Sol-  oder  Seebäder  unter.  Minder  kränkliche  Kinder, 
welche  teils  durch  ungenügende  Ernährung,  mangelhafte  Wohnungs- 
verhältnisse, teils  durch  schwere  Krankheiten  so  geschwächt  sind,  daß 
ein  vollständiges  Herausreißen  aus  diesen  Lebensverhältnissen  auf 
einige  Zeit  ihnen  von  größtem  Nutzen  sein,  besonders  ihre  Wider- 
standsfähigkeit erhöhen  kann,  bilden  das  Material  für  die  eigentlichen 
Ferienkolonien.  Solche  Kinder,  bei  denen  jene  Zustände  sich  noch 
in  den  Anfangsstadien  befinden,  denen  aber  durch  eine  Milchkur  von 
einigen  Wochen,  durch  tägliches  Hinausführen  in  frische  Luft,  Spielen, 
Baden  usw.  noch  wesentlich  geholfen  werden  kann,  werden  in  so- 
genannten Halb-  oder  Stadtkolonien  oder  Milchstationen  während  der 
Sommer-  und  Herbstferien  verpflegt." 

Die  Entstehung  dieser  Veranstaltungen  in  Deutschland  reicht 
bis  in  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  zurück.  Die  erste  Kinder- 
heilstätte in  Deutschland  begründet  zu  haben,  ist  das  Verdienst  des 
praktischen  Arztes  Dr.  A.  H.  Werner  in  Ludwigsburg,  dem  es,  nach- 
dem er  lange  im  kleinen  gewirkt  hatte,  im  Jahre  1861  gelang,  im 
Solbade  Jagstfeide  in  Württemberg  ein  eigenes  Haus  für  kränkliche 
Kinder  zu  erbauen.  Dieser  Vorgang  fand  bald  Nachahmung,  es 
bildeten  sich  zahlreiche  Vereine,  und  es  entstanden  auch  in  anderen 
Solbädern  Kinderheilstätten,  deren  Zahl  sich  im  Jahre  1901  auf  31 
vermehrt  hatte.  Die  Namen  derselben  mögen  hier  nach  dem  letzten 
vom  Stadtrat  Seiberg  in  Berlin  erstatteten  Berichte  über  die  Er- 
gebnisse der  Sommerpflege  in  Deutschland  im  Jahre  1901  (Zentral- 
stelle der  Vereinigungen  für  Sommerpflegej  folgen :  Alstaden,  Colberg, 
Dürkheim,  Dürrheim,  Elmen,  Feimen-Salze,  Frankenhausen  i.  Th., 
Goczalkowitz  bei  Pleß,  Halle,  Harzburg,  Jagstfeid,  Inowrazlaw, 
Kissingen,  Königsborn,  Königsdorf- Jastrzemb,  Kosen,  Kreuznach, 
Lüneburg,    Nauheim,    Nieder -Neukirch,    Oldesloe,    Orb,    Rappenau, 


46  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Rothenfelde,  Salzdetfurth ,  Salzuflen,  Sassendorf,  Schwäbisch -Hall, 
Sooden  a.  W.,  Sülze,  Suiza. 

Auch  an  den  Seeküsten  Deutschlands  wurden  nicht  lange 
nachher,  im  Jahre  1876,  auf  Anregung  des  verdienstvollen  Geheimrats 
Benecke  in  Marburg  Heilstätten,  besonders  für  skrofulöse  Kinder, 
eingerichtet,  und  der  ,, Verein  für  Kinderheilstätten  an  den  deutschen 
Seeküsten",  gegründet  1881,  unter  dem  Protektorate  des  damaligen 
Kronprinzen  und  der  Frau  Kronprinzessin  von  Preußen  (Kaiser  und 
Kaiserin  Friedrich)  erblickte  seine  Hauptaufgabe  darin,  die  Einrichtung 
solcher  Seehospize  für  Kinder  immer  weiter  auszubauen.  Gegenwärtig 
bestehen  nach  dem  oben  angeführten  Bericht  von  1901  16  Kinder- 
heilstätten an  der  See  in  folgenden  Orten:  Berg -Die  veno  w,  Colberg, 
Colberger  Deep,  Duhnen,  Gr.-Müritz,  Heringsdorf,  Norderney,  Olga- 
heim, Rügenwaldermünde,  Travemünde,  Wangeroog,  Westerland -Sylt, 
Wyk,  Zoppot.  Unter  diesen  sind  die  Hospize  in  Gr.-Müritz,  Norderney 
(Seehospiz  „Kaiserin  Friedrich"),  in  Wyk  auf  Föhr  und  in  Zoppot 
Anstalten  des  Vereins  für  Kinderheilstätten  an  den  deutschen  See- 
küsten. 

Die  eigentlichen  Ferienkolonien  (Ferienaufenthalt  erholungs- 
bedürftiger Kinder  auf  dem  Lande)  verdanken  ihre  Entstehung  dem 
Schweizer  Pfarrer  Bion,  welcher  zuerst  im  Jahre  1878  eine  Anzahl 
von  armen  Züricher  Kindern  aus  ihren  ärmlichen  und  ungesunden 
Wohnungen  in  die  herrliche  Wald-  und  Bergesluft  des  Appenzeller 
Landes  hinausführte.  Die  Erfolge  waren  vortrefflich,  und  so  schlol':» 
sich  zunächst  Frankfurt  a.  M.  auf  Betreiben  des  Sanitätsrats 
Dr.  Varrentrapp  dem  Vorgange  Bions  an  und  entsandte  im  Jahre  1 878 
97  schwächliche  Knaben  im  Alter  von  9 — 14  Jahren  als  Ferien- 
kolonisten in  den  Vogelsberg  und  in  den  Odenwald.  Auch  die 
Frankfurter  Ferienkolonie  bewährte  sich  aufs  beste,  und  bald  fand 
dieses  Vorgehen  in  anderen  Städten  Nachahmung.  Schon  1881  hatten 
sich  30  deutsche  Städte  bereit  gefunden,  im  ganzen  3070  Kinder  in 
Sommerfrischen  zu  entsenden.  Die  Gründung  einer  Zentralstelle  der 
Vereinigungen  für  Sommerpflege  in  Deutschland  im  Jahre  1885  war 
ein  wichtiger  Schritt  vorwärts  auf  der  einmal  eingeschlagenen  Bahn, 
und  die  bereitwillige  Förderung,  welche  die  Ferienkolonien  in  allen 
Teilen  unseres  Vaterlandes  gefunden  haben,  ist  der  beste  Beweis  da- 
für, daß  die  geschaffene  Einrichtung  einem  tief  empfundenen  sozialen 
Bedürfnisse   entsprach. 

Die  Auswahl  der  Kinder  erfolgt  auf  Grund  der  seitens  der 
Lehrer    oder    der    Familien    selbst    eingehenden    Anmeldungen    nach 


^^'ohIfahrtseinI•ichtungen  für  hL-dürfti^je  orlor  leidende  Kinder.  47 

sorgfältiger  Prüfung  ihrer  häuslichen  Verhältnisse  und  ärztlicher  Unter- 
suchung ihres  Gesundheitszustandes.  Berücksichtigung  finden  ge- 
wöhnlich nur  die  Altersstufen  von  7 — 14  Jahren.  Kinder  mit  akuten 
Krankheiten:  Augenentzündungen,  Ohrenfluß,  Veitstanz,  Krämpfen 
und  dergl.  werden  nicht  in  die  Ferienkolonien  aufgenommen,  sondern 
erforderlichenfalls  Kinderkrankenhäusern  überwiesen. 

Während  den  Kindern  in  den  Kolonien  die  Verpflegung  und 
nötigenfalls  die  ärztliche  Behandlung  unentgeltlich  geboten  werden, 
verlangt  man  von  den  Eltern  die  zweckentsprechende  Ausrüstung  der 
Kinder  für  einen  längeren  Aufenthalt  in  der  Fremde.  Es  sind  überall 
folgende  Kleidungsstücke  vorgeschrieben:  ein  doppelter  Anzug, 
zwei  Paar  derbe  Schuhe,  drei  bis  vier  Paar  Strümpfe,  Hemden, 
Taschentücher  usw.  Im  Falle  großer  Dürftigkeit  eines  Kindes  werden 
aber  auch  die  Kosten  dieser  Ausrüstung  vom  Vereine  getragen. 
Bettwäsche,  Handtücher,  Badeanzüge,  Kämme,  Seife,  Waschgeschirr, 
Spiele  und  Bücher  finden  die  Kinder  am  Orte  ihrer  Bestimmung  vor. 

Der  Ort,  an  welchen  die  Kinder  zu  entsenden  sind,  richtet  sich 
im  allgemeinen  nach  der  Art  ihres  leidenden  Zustandes.  Skrofulöse 
Kinder  sendet  man,  wie  schon  erwähnt  wurde,  in  die  Solbäder  und 
Seehospize,  andere,  welche  bloß  guter  Luft  und  gesunder  Nahrung 
bedürfen,  gehen  in  waldreiche  Gegenden  im  Binnenlande,  an  Seen 
und  Flüsse,  ins  Gebirge,  meist  in  Ortschaften,  welche  nicht  gerade 
an  der  großen  Heerstraße  des  Touristenverkehrs  liegen  und  neben 
guter  Luft  auch  gesunde  Wohnräume,  nahrhafte  Kost  (Milch,  Eier 
und  Fleisch)  zu  mäßigem  Preise  und  Gelegenheit  zu  Bädern  und 
Ausflügen  bieten. 

Die  Pflege  der  Erholungsbedürftigen  erfolgt  entweder  in  ge- 
schlossenen Ferienkolonien,  d.  h.  Abteilungen  von  Kindern  unter 
Führung  von  Lehrern  oder  Lehrerinnen  in  Vereinspflegehäusern  oder 
in  fremden  Häusern  (Gasthäusern  u.  dgl.)  oder  durch  Unterbringung 
einzelner  Kinder  in  zuverlässigen  Familien  auf  dem  Lande,  und  zwar 
entweder  gegen  Bezahlung  oder  in  Freiquartieren.  Beide  Einrichtungen 
haben  sich  bewährt  und  bieten  ihre  Vorteile,  wenngleich  sich  nicht 
verkennen  lassen  wird,  daß  in  eigens  für  den  Zweck  der  Ferien- 
kolonien angelegten,  mit  den  erforderlichen  Einrichtungen  aus- 
gestatteten Häusern  unter  Aufsicht  zuverlässiger  Pfleger  die  hygie- 
nische und  erziehliche  Förderung  der  Kinder  am  wirksamsten  be- 
trieben werden  kann.  Freilich  können  die  immerhin  kostspieligen 
Anlagen  dieser  Art  nur  dann  in  hinreichender  Weise  ausgenutzt 
werden,    wenn    sich  die  Unterbrinsfung  der  Kinder  nicht  nur  auf  die 


48  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Zeit  der  Sommerferien,  d.  h.  meist  auf  5  Wochen  im  ganzen  Jahre, 
beschränkt. 

Daß  dieser  mehrwöchentliche  Aufenthalt  der  Stadtkinder  in 
schöner,  ländlicher  Umgebung  bei  guter  Kost  neben  den  hygienischen 
auch  regelmäßig  wertvolle  erziehliche  Erfolge  mit  sich  bringt,  bedarf 
keines  Beweises.  Der  Gesichtskreis  der  Kinder  erweitert  sich  durch 
die  täglich  sich  mehrende  Kenntnis  von  der  Arbeit  des  Landmannes, 
des  Försters,  durch  den  Anblick  eigenartiger  Gebäude  und  Anlagen, 
durch  die  Bekanntschaft  mit  den  Haustieren,  dem  Leben  des  Waldes, 
der  Wiese,  der  Gewässer.  Sonne  und  Mond  und  die  Sterne  des 
Himmels,  Morgenrot  und  Abendrot,  Regen  und  Sturmwind,  welche 
in  dem  Rauch  und  Lärm  der  Großstadt  völlig  ohne  Eindruck  auf 
das  kindliche  Gemüt  geblieben  waren,  gewinnen  hier  eine  tiefe  Be- 
deutung und  befruchten  die  religiösen  Anlagen  der  jungen  Seelen 
mit  neuen  Vorstellungen  von  der  Allmacht  des  Schöpfers.  Schließlich 
muß  auch  die  Liebe,  welche  den  blassen  Stadtkindern  allerorts  von 
der  Landbevölkerung  entgegengebracht  wird,  Gegenliebe  erwecken 
und  das  Gefühl  für  die  Zusammengehörigkeit  jener  großen  Gruppen 
des  Volkskörpers  in  den  Städten  und  auf  dem  Lande,  welche  sich 
in  unseren  Tagen  nur  zu  oft  aus  Unkenntnis  mißverstehen  und  an- 
feinden. 

Wie  sich  das  Leben  in  der  Ferienkolonie  abspielt,  ist  von  dem 
Führer  einer  solchen,  dem  Lehrer  H.  Wust  in  Leipzig,  seiner  Zeit  im 
Leipziger  Tageblatt  anschaulich  geschildert  worden.  Es  handelt  sich 
um  die  20.  Leipziger  Kolonie  in  Friedrichsgrün,  im  Ouellengebiete 
der  Zwickauer  Mulde.  Wir  entnehmen  seiner  Darstellung  die  folgenden 
Ausführungen : 

,,Die  Knaben  einer  Ferienkolonie  sind  ohne  Ausnahme  schwäch- 
liche, bleiche,  blutarme  Kindergestalten,  die,  kinderreichen  Familien 
angehörend,  ihre  oft  freudenleere  Jugend  in  den  dichtbewohnten 
Mietskasernen  der  Vororte  zubringen  müssen,  vielfach  umgeben  von 
dem  Lärme  und  Getriebe  der  Fabriken,  wo  in  weiten  Sälen  die 
Kolben  zucken  und  die  Räder  sausen.  Wie  wohl  ist  ihnen  jetzt,  daß 
sie  auf  einige  Wochen  der  schwülen  Atmosphäre  und  dem  Lärm  der 
Großstadt  entrückt  sind  und  mit  Lust  die  frische,  reine  Gebirgsluft 
einatmen  können.  Wie  oft  habe  ich  schon  aus  Kindermund  den 
Ausruf  hören  können:  ,,Wie  schön  ist's  hier!  Könnten  wir  doch  immer 
dableiben!"  Kaum  hat  die  frohe  Kinderschar  am  Morgen  an  der  wohl- 
schmeckenden Milch  sich  gelabt  und  die  Butterbemmen  gepackt,  dann 
eeht's  fort  mit  ihr  hinaus  in  Gottes  freie  Natur.     Mit  welcher  Freude 


Wohlfohrtseinrichtuns;en  für  lieclürflige  oder  leidende  Kinder.  49 

wandern  meine  Jungen  durch  den  rauschenden  grünen  Gebirgswald, 
wo  die  Heidel-  und  Preißelbeere  reift,  wo  weiches  Moos  wie  ein 
grünes  Polster  den  Boden  überzieht,  wo  das  flinke  Eichhörnchen 
turnt  zum  lustigen  Konzert  der  Finken  und  Zeisige.  Wir  besuchen 
die  sägende  Brettmühle  im  stillen  Talgrunde;  wir  besteigen  die  luftige 
Bergeshöhe  und  lassen  unsern  Blick  weithin  über  die  sich  vor 
uns  ausbreitende  Landschaft  schweifen;  wir  lagern  uns  auf  sonniger 
Heide  und  lassen  uns  die  duftenden  Heidelbeeren  trefflich  munden; 
wir  durchstreifen  das  dunkle  Fichtendickicht,  um  Stein-  und  Birken- 
pilze einzuheimsen;  wir  spielen  mit  dem  silberhellen  Waldbächlein, 
das  lustig  plätschernd  durch  Farrenkraut  und  über  weiße  Kiesel  dahin- 
eilt. Und  am  Sonntagmorgen  wie  feierlich,  wenn  ringsherum  aus  den 
Tälern  des  Gebirges  die  Sonntagsglocken  erschallen,  wenn  frommer 
Lobgesang  aus  Kindermund  die  weiten  Hallen  des  Walddomes  durch- 
klingt und  die  Bäume  des  Waldes  darein  rauschen  wie  Töne  einer 
Orgel.  „Dann  gehet  leise  nach  seiner  Weise  der  liebe  Herrgott  durch 
den  Wald."  Unsere  Wanderungen  lassen  uns  auch  einen  Blick 
in  das  Leben  und  Treiben  der  Gebirgsbewohner,  ihr  Wohl  und  Wehe 
tun.  Wir  sehen  zu,  wie  im  Moore  der  Torfgräber  Torf  sticht  und  zu 
Ziegeln  formt;  wir  beobachten  im  Walde  den  Holzhauer,  wie  er 
Bäume  fällt  und  für  den  Gerber  die  Rinde  abschält;  wir  treten  ein  in 
die  kleine,  reinliche  Gebirgshütte,  wo  die  arme  Näherin  für  kärglichen 
Lohn  mit  Perlen  und  Seide  stickt;  wir  besuchen  die  Arbeitsstätten 
des  vogtländischen  Webers  und  Stickers,  die  mit  Geschick  und  Fleiß 
die  Vorhänge  für  unsere  Wohnungen  und  die  feinen  Stickereien  für 
unsere  vornehmen  Damen  herstellen;  wir  unterhalten  uns  mit  dem 
biederen  Förster,  der  uns  schöne  Waldwege  führt  und  auf  einsamer 
Waldesblöße  äsende  Rehe  zeigt.  Für  die  Knaben  gibt  es  also  Er- 
holung und  Stärkung  an  Leib  und  Seele,  Belehrung  und  Unterhaltung 
in  mannigfachster  Weise.  Und  beim  frischen,  frohen  Wandern  ist 
der  Führer  den  Kindern  ein  väterlicher  Freund,  dem  sie  ihr  Herz  er- 
schließen, und  der  ihnen  auf  hunderterlei  Fragen  Rede  und  Antwort 
steht.  Solche  Ferienwanderungen  sind  Glanzpunkte  der  Schulzeit, 
die  mit  ihrem  verklärenden  Scheine  weit  hinaus  ins  Leben  schimmern. 
Auch  daheim  im  Gasthofe  herrscht  frisches,  fröhliches  Leben. 
Auf  dem  weiten  Wiesenplan  hinter  dem  Hause  können  die  Jungen 
sich  tummeln  und  spielen,  soviel  sie  wollen,  auf  dem  weichen  Rasen 
können  sie  sich  sonnen  und  ihre  ermüdeten  Glieder  zur  Ruhe  au.s- 
strecken  nach  Herzenslust.  An  den  kleinen  Arbeiten,  die  eine  Gast- 
und  Landwirtschaft  mit  sich  bringt,  dürfen  sie  teilnehmen.     Mit  lautem 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.     Anhang.  4 


50  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Jubel  führen  sie  die  Kühe  zur  Tränke,  treiben  sie  die  Gänse  auf  den 
Anger,  fahren  sie  mit  dem  Wirte  zur  Wiese,  um  das  Heu  in  die 
Scheune  heimzufahren.  Und  endlich,  was  für  die  hungrige  Kinder- 
schar die  Hauptsache  ist,  an  der  Mittagstafel  warten  ihrer  lukullische 
Genüsse.  Vogtländische  Klöße  mit  Schweinebraten,  Kartoffelmus  mit 
Hackebraten,  Nudeln  mit  Rindfleisch,  Erbsen  mit  Bratwurst  sind  ihre 
Lieblingsgerichte,  und  auch  ein  Eierkuchen  wird  von  ihnen  nicht  ver- 
achtet. Und  wenn  nun  gar  am  Sonntage  zum  Kaffee  der  vielbe- 
sprochene Heidelbeer-  und  Streuselkuchen,  in  Bergen  aufgetürmt,  den 
Tisch  bedeckt,  dann  will  das  Jubilieren  der  Jungen  kein  Ende  nehmen. 
Was  Wunder,  daß  sich  die  schwachen  Körper  der  Kinder  sichtlich 
erholen,  ihre  bleichen  Wangen  sich  röten  und  bräunen,  ihre  Augen 
jetzt  heller  erglänzen.  Ein  Junge  schrieb  heute  nach  Hause:  ,, Liebe 
Eltern!  Ihr  werdet  mich  bei  der  Heimkehr  wohl  kaum  wieder  er- 
kennen, so  dick  bin  ich  schon  geworden."  Nun  so  laßt  euch's,  ihr 
Jungen,  auch  weiter  recht  wohl  schmecken,  damit  ihr  dick  und  gesund 
heimkehrt  ins  Vaterhaus!  Über  die  sittliche  Führung  der  Knaben 
habe  ich  nicht  im  mindesten  zu  klagen;  alle  sind  folgsam  und  willig, 
voll  dankbarer  Freude."*) 

Neben  den  Vollkolonien,  welche  die  Kinder  während  des  ganzen 
Tages  aufnehmen,  sind  hier  noch  die  Halbkolonien  zu  nennen,  in 
welchen  im  Jahre  1901  beinahe  der  dritte  Teil  aller  Ferienkolonisten 
untergebracht  war.  Sie  haben  die  Aufgabe,  solchen  erholungs- 
bedürftigen Kindern,  welche  aus  irgend  einem  Grunde  von  dem  Land- 
aufenthalte in  den  Ferien  ausgeschlossen  bleiben  müssen,  Gelegenheit 
zu  geben,  wenigstens  einen  Teil  des  Tages  in  frischer  Luft  zu  ver- 
bringen. Die  Kinder  werden  gewöhnlich  in  ein  der  Stadt  nahe- 
liegendes Dorf  oder  in  einen  ländlichen  Vorort  geführt  und  bringen 
die  Zeit  mit  Spiel  oder  Wanderungen  in  W^ald  und  Feld  hin.  Sie 
erhalten  gewöhnlich  ein  Vesperbrot  aus  guter  Milch,  Brot  und  Butter, 
bisweilen  auch  noch  ein  Abendessen.  Auch  diese  Einrichtung  hat 
sich  im  Laufe  der  beiden  letzten  Jahrzehnte  als  sehr  segensreich 
bewährt. 

Über  den  Umfang,  welchen  die  Einrichtung  der  Ferienpflege  in 
Deutschland  gewonnen  hat,  möge  die  folgende  Tabelle  Auskunft 
geben. 

Im  Vergleich  zum  Jahre  1900  stellen  sich  die  einzelnen  Ver- 
pflegungsformen wie  folgt  dar: 

*)  Bericht  des  Vereins  für  Ferienkolonien  zu  Leipzig,  erstattet  für  1902.  (S.  12  u.  13.) 


Wohltuhrtscinrichtungen   für  bediirftis^e  oder  leidende  Kinder. 


51 


Die  Kinder  wurden  verpilegt 

Zahl  der  Kinder      ;                 1901 

1          gegen  1900 
1901       1       1900      j     mehr       j    weniger 

in  geschlossenen  Kolonien: 

a)  in  Vereinspflegehäusern      .... 

b)  in  fremden  Häusern 

in  Familien  auf  dem  Lande: 

a)  gegen  Bezahlung 

b)  in  Freiquartieren 

in   Heilstätten: 

a)  der  Solbäder 

b)  der  Seebäder    

in  Stadtkolonien            .     . 

6  835 
8810 

2  260 
409 

4  355 
2  070 

10  857 

7  320            — 
7  917          893 

2  216            44 
393             16 

4  253           102 
2  023            47 

10.574            283 

485 

Summa 

35  596 

34  696         1385 

!      + 

485 

900 

Die  Zahl  der  deutschen  Städte,  welche  .sich  an  der  Entsendung 
von  Kindern  in  die  Ferienkolonien  beteiligten,  betrug  im  Jahre  1901 
116,  die  der  Stadtverwaltungen  und  Vereine,  welche  Mittel  für  diesen 
Zweck  beisteuerten  oder  Ferienkolonien  aussandten,  185,  die  auf- 
gewendeten Mittel  beliefen  sich  auf  1  040  381  M.  Die  Kosten  pro 
Tag  und  Kind  stellten  sich  bei  geschlossenen  Kolonien  in  eigenen 
Häusern  durchschnittlich  auf  1,30  M.,  in  fremden  Häusern  auf  etwa 
1,42  M.,  in  Familien  auf  dem  Lande  (gegen  Bezahlung)  auf  1,13  M.; 
in  Halbkolonien  waren  sie  je  nach  der  gebotenen  Verpflegung  und 
der  Entfernung  des  zum  Aufenthalt  gewählten  Ortes  von  der  Stadt 
recht  verschieden,  selten  aber  höher  als  50,   im  Durchschnitt  20  Pfg. 

In  manchen  Solbädern  besteht  eine  Winterpflege  für  kranke 
Schulkinder,  auch  unterstützen  zahlreiche  Vereine  diejenigen  Kinder, 
welche  im  Sommer  in  Ferienkolonien  untergebracht  waren,  im  Winter 
durch  Verabreichung  von  Milch,  Frühstück,  Mittagessen  und  Bädern 
und  lassen  ihren  Gesundheitszustand  durch  Besuche  im  Elternhause 
oder  durch  die  Vermittlung  der  Schule  kontrollieren. 

C.  Speisung  und  anderweitige  Unterstützung  armer 
Schulkinder.  FLine  Ergänzung  zu  der  Tätigkeit  der  Ferienkolonien 
welche  ihre  Aufgabe  hauptsächlich  im  Sommer  erfüllen,  bilden  die 
mannigfachen  Wohlfahrtseinrichtungen,  welche  man  geschaffen  hat, 
um  armen  Schulkindern  die  harte  Winterszeit  zu  erleichtern.  Nicht 
allein  die  rauhe  Witterung  bringt  für  sie  Leiden  und  Gefahren 
mancher  Art  mit  sich,  sondern  auch  die  Beschäftigungslosigkeit,  welche 

4* 


52  \Vohlfahrtseinrichtungen. 

ganze  Kategorien  von  Arbeitern,  wie  Maurer  und  Erdarbeiter,  zur 
Winterszeit  in  ihrem  Erwerbe  hindert.  Vor  allen  Dingen  bleibt  unter 
diesen  Umständen  häufig  die  Ernährung  des  Kindes  hinter  den  An- 
forderungen der  Hygiene  zurück.  Nicht  selten  sieht  man  an  regne- 
rischen oder  kalten  Dezembertagen  Kinder  zur  Schule  wandern,  w^elche 
zu  Hause  kein  warmes  Frühstück  genossen  und  auch  kein  Frühstücks- 
brot in  der  Tasche  haben,  um  ihren  Hunger  bis  zur  Mittagszeit  zu 
stillen.  Anderen  fehlt  es  sogar  an  einem  warmen  Mittagessen,  und 
sie  genießen  dann  wohl  an  seiner  Stelle  ein  Stück  Brot  und  eine 
Tasse  schlechten  Kaffee,  ja  sie  finden  sogar,  wenn  sie  von  dem  Schul- 
unterricht nach  Hause  zurückkehren,  die  Tür  verschlossen,  da  Vater 
und  Mutter  ihrer  Arbeit  nachgehen  und  erst  gegen  Abend  wieder- 
kommen. Sie  müssen  dann  wohl  bei  Nachbarsleuten  um  Einlaß 
bitten,  wenn  sie  die  rauhe  Witterung  am  Umhertreiben  auf  der 
Straße  hindert. 

Wie  für  diese  bedauernswerten  Kinder  die  in  vielen  Städten  ein- 
gerichteten Kinderhorte  sorgen,  ist  bereits  dargelegt  worden;  ihre 
Wirksamkeit  kann  natürlich  nur  einen  kleinen  Teil  der  vorhandenen 
Not  lindern  und  muß  durch  andere  Werke  der  barmherzigen  Liebe 
ergänzt  werden. 

Es  haben  sich  in  fast  allen  größeren  deutschen  Städten  Vereine 
von  Menschenfreunden  gebildet,  um  die  Leiden  dieser  darbenden 
Kinder  durch  Gewährung  von  Frühstück,  bestehend  in  Brot  und 
warmer  Milch,  von  Mittagessen,  bestehend  in  Brot  und  einer  nahr- 
haften Suppe,  durch  Speisung  in  den  Kinderhorten  zu  lindern.  Als 
Beispiel  möge  hier  auf  die  Tätigkeit  des  Frankfurter  Vereins  zur  Be- 
schaffung von  Frühstück  hingewiesen  werden,  welcher  im  Winter 
1901/02  in  23  Schulhäusern  täglich  1668  Kinder  mit  einem  Frühstück, 
aus  Brot  und  warmer  Milch  bestehend,  verpflegt  hat.  Im  ganzen 
wurden  an  95  Verabreichungstagen  148  900  Portionen  abgegeben. 
Die  Aufwendungen  des  Vereins  betrugen  in  dem  genannten  Winter 
20  589,05  M. 

In  anderen  Städten  hat  die  Kommune  selber  die  Kosten  für 
diese  Verpflegung  der  Kinder  übernommen.  So  sagt  der  Jahresbericht 
über  den  Stand  der  städtischen  Schulen  in  Mannheim  vom  Jahre  1 902/03, 
daß  an  86  Verpflegungstagen  vom  1 .  Dezember  bis  1 .  April  mit  einem 
Aufwand  von  1 9  207,86  M,  im  ganzen  2996  Kinder  täglich  mit  einem 
Frühstück,  bestehend  aus  Milch  und  Brötchen,  versorgt  wurden.  In 
Berlin  setzt  sich  der  ,, Verein  zur  Speisung  armer  Kinder  und  Not- 
leidender" unter  anderem  die  Aufgabe,  Schulkindern  Frühstück  zu  cre- 


\\ohlt'.ihrtseinrichtun<ren  für  bedürftige  oder  leidende  Kinder.  53 

Währen.  Im  Jahre  l9U2/();^  sind  für  diesen  Zweck  13  088,42  M.  ver- 
ausgabt worden,  zu  welcher  Summe  der  Magistrat  von  BerUn  3000  M. 
beigesteuert  hatte.  Außerdem  wurden  noch  981  M.  aus  einer  Stiftung, 
dem  Rudolf-Fonds,  für  diesen  Zweck  verwendet,  sodaß  für  Berlin  im 
ganzen  14  290,39  M.  für  die  Gewährung  von  Frühstück  an  arme 
Schulkinder  verausgabt  wurden.  Die  Kinder  erhielten  hierfür  in  den 
meisten  Fällen  ein  Weißbrot  (Schrippe)  oder  eine  „Schmalzstulle", 
in  einigen  Fällen  \\'ohl  auch  ein  Glas  warme  Milch.  In  Hannover 
spenden  die  Freimaurerlogen  Brot  und  warme  Milch  zum  Frühstück 
für  die  Schulkinder.  Eine  jährlich  wiederkehrende  Haussammlung 
und  freiwillige  Gaben  ergänzen  ihre  Aufwendungen.  Auch  die  Stadt- 
verwaltung leistet  einen  jährlichen  Beitrag  von  500  M.  Im  Winter 
1901/02  wurde  das  Milchfrühstück  in  19  Bürgerschulen  an  etwa 
1000  Kinder  verteilt,  und  es  sind  dafür  nahezu  6000  M.  ausgegeben 
worden. 

Der  Frühstücksspeisung  reiht  sich  an  vielen  Orten  die  unentgelt- 
liche Gewährung  warmen  Mittagessens  an.  Auch  diese  Veranstaltung 
ist  gewöhnlich  Sache  wohltätiger  Vereine;  noch  seltener  und  in  ge- 
ringerem Maße  als  die  Frühstücksverteilung  wird  die  Gewährung  un- 
entgeltlicher Mahlzeiten  an  Schulkinder  von  den  städtischen  Ge- 
meinden in  die  Hand  genommen.  Das  übliche  Verfahren  ist  die 
Einrichtung  einer  Schulküche  und  eines  Speisesaals  entweder  im 
Schulhause  oder  in  anderen  Lokalitäten.  In  selteneren  Fällen,  bei- 
spielsweise in  Karlsruhe,  hat  man  sich  daneben  auch  bemüht,  wohl- 
tätige Personen  zu  gewinnen,  die  sich  bereit  erklären,  dem  einen  oder 
anderen  besonders  bedürftigen  Kinde  wöchentlich  ein-  oder  zweimal 
ein  ^Mittagessen  zu  gewähren.  Die  Zahl  der  Familien,  die  sich  hierzu 
bereit  finden  ließen,  belief  sich  in  Karlsruhe  um  die  Mitte  der  neunziger 
Jahre  (neuere  Berichte  liegen  dem  Verfasser  nicht  vor)  auf  ca.  500. 
In  Dresden  gewährt  der  unter  dem  Protektorate  Ihrer  Königlichen 
Hoheit  der  Frau  Prinzessin  Johann  Georg  stehende  „Verein  zur 
Speisung  bedürftiger  Schulkinder"  jährlich  einer  größeren  Anzahl  von 
Kindern  eine  ausreichende  warme  Mahlzeit.  Der  Vereinsbericht 
1901/02  sagt  darüber: 

,, Jedem  Kinde  wird  eine  gut  zubereitete  und  zur  Sättigung  aus- 
reichende Portion  Gemüse  mit  Fleisch  verabfolgt.  Wir  wollen  damit 
den  bedauernswerten  Kindern,  welche  eine  warme  und  kräftige 
Mittagskost  vielfach  völlig  entbehren  müssen,  ja  oft  einer 
solchen  kaum  jemals  teilhaftig  geworden  sind,  regelmäßig  und  wäh- 
rend der  ganzen  Dauer  der  kalten    Jahreszeit  —  nicht    nur    hin    und 


54  Wohlfahrtseinrichtungen. 

wieder  —  ein  stärkendes  ^Mittagessen  bieten  und  fördern  hierdurch 
unzweifelhaft  ihre  körperUche  und  geistige  Entwicklung." 

Die  Speisung  findet  in  geeigneten  Gastwirtschaften  in  besonderen, 
nur  für  die  Kinder  bestimmten  Zimmern  mit  eigenem  Zugang  für 
diese  statt  und  wird  von  den  Ehrendamen  des  Vereins,  in  vielen 
Fällen  auch  seitens  der  Direktoren  und  Lehrer  bezw.  Lehrerinnen 
beaufsichtigt.  Ein  Verweilen  der  Kinder  in  anderen  als  den 
für  sie  bestimmten  Restaurationsräumen  wird  streng  vermieden.  Die 
Speisung  fand  statt  vom  4.  November  1901   bis  8.  März  1902. 

Die  nachstehende  Zusammenstellung  gibt  ein  Bild  über  die 
Wirksamkeit  des  Vereins  seit  seinem  Bestehen. 


Zahl 

Zahl 

1 
Veraus- 

Aufgew 

endeter 

der 

der 

gabte      j 

Betrag 

Schulen 

Kinder 

M. 

Pf. 

Tanuar-Män 

1896       .     . 

9 

300 

1 

16  039 

3  207 

80 

Winter 

1896/97  .     . 

12 

370 

38136 

7  627 

20 

„ 

1897/98  .     . 

14 

400 

41  324 

8  264 

80 

1898/99  .     . 

15 

425 

43  854 

8  770 

80 

„ 

1899  00  .     . 

17 

480 

49  590 

9918 

— 

„ 

1900,01   .     . 

18 

500 

53  137 

10  627 

40 

" 

1901/02  .     . 

Zusammen     . 

19 

525 

50715 

10143 

- 

292  795 

58  559 

- 

Die  von  dem  Rate  der  Stadt  Dresden  dem  Verein  überwiesenen 
Mittel  sind  verhältnismäßig  gering. 

In  Berlin  hat  der  von  dem  Kaufmann  Hermann  Abraham  be- 
gründete „Verein  für  Kindervolksküchen  Berlin"  sich  den  Zweck 
gesetzt,  in  denjenigen  Stadtgegenden  Berlins,  wo  ein  Bedürfnis  ob- 
waltet, Küchen  zur  Speisung  von  Kindern  einzurichten.  In  diesen 
Kindervolksküchen  erhalten  bedürftige  Kinder  unentgeltliche  Speisung, 
minder  bedürftige  Portionen  zum  Selbstkostenpreise.  Es  bestanden 
zu  Beginn  des  Winters  1902/03  10  solcher  Kinder\'olksküchen.  Über 
die  in  ihnen  gewährte  Speisung  im  Winter  1901/02  gibt  folgende 
Tabelle  Auskunft. 

In  allen  Küchen  zusammen  wurden  in  dieser  .Zeit  durchschnittlich 
2869  Portionen  täglich  ausgegeben;  die  Ko.sten,  welche  sich  in  dem 
genannten  Winter  auf  56  823,73  M.  beliefen,  wurden  im  wesentlichen 
durch  Mitgliedsbeiträge,  Spenden  und  Legate,  durch  Beihilfen  seitens 
der    Stadt  Berlin  (1500  M.)    und    vom  Verein    für  Beschaffung  wohl- 


Wohlfahrtseinrichtungen  für  bedürftige  oder  leidende  Kinder. 


55 


1 

1 

Tag 

der 

Zahl 

der  verabfolgten 

1 

Küche 

Zahl 
der 

Portionen 

Eröff- 

Schließ- 

Speise- 

gegen 

nung 

ung 

tage 

unent- 

5  Pf.  die 

zusammen 

1901 

1902 

gelthch 

Portion 

, 

t 

I.  Miilackstr.  35    .     .     . 

1.  11. 

27.  3. 

121 

25003 

1955 

26  958 

n.  Gubenerstr.  13 .     .     . 

4.  11. 

25.  3. 

118 

31086 

2  338 

33  424 

m.  Forsterstr.  20     .     .     . 

6.  11. 

25.  3. 

116 

30  700 

3  795 

34  495 

IV.  Willibald-Alexisstr.  39 

4.  11. 

25.  3. 

118 

21  325 

5  029 

26  354 

\'.  Kaiser  Friedrichstr.  13 

4.  11. 

25.  3. 

118 

16  982 

4  392 

21374 

VI.  Bugenhagenstr.  8    .     . 

5.  11. 

25.  3. 

117 

30  435 

10  243 

40  678 

Vn.  Sparrstr.  8     .     .     .     . 

7.  11. 

25.  3. 

115 

43  034 

3  665 

46  699 

VIII.  Gropiusstr.  3     .     .     • 

7.  11. 

25.3. 

115 

34  051 

2  684 

36  735 

IX.  Swinemünderstr.  34    . 

5.  11. 

26.3. 

118 

27  876 

6  043 

33  919 

X.  Treskowstr.  60  .     .     . 

4.  11. 

25.  3. 

118 

27  981 

7  078 

35  059 

zusammen 

1  174 

288  473 

47  222 

335  695 

pro  Küche  durchschnittlich 

117 

28  847 

4  722 

33  569 

feiler  und  guter  Nahrungsmittel  usw.  (7500  M.),  durch  Erträge  aus 
festlichen  Veranstaltungen  und  den  Erlös  aus  verkauften  Mittags- 
portionen gedeckt.  Die  Aufsicht  in  diesen  Kindervolksküchen  wird 
freiwillig  und  mit  dem  besten  Erfolge  von  einer  großen  Anzahl  von 
Damen  der  Gesellschaft  ausgeübt.  Jede  Küche  steht  unter  der  be- 
sonderen Leitung  einer  Vorsteherin,  welcher  10— 12  Ehrendamen  zur 
Seite  stehen. 

In  München  ist  auch  die  Wohlfahrtseinrichtung  der  Mittagspeisung 
eine  Verwaltungsangelegenheit  der  Gemeinde  geworden.  Bei  dem 
Bau  von  Schulhäusern  wird  regelmäßig  die  Anlegung  einer  Suppen- 
küche und  eines  Speisesaals  für  Schulkinder  vorgesehen,  über  deren 
Ausrüstung  das  mehrfach  erwähnte  Programm  für  den  Bau  von  Schul- 
häusern in  München  nähere  Mitteilungen  macht.  Über  Verwaltung 
und  Besuch  dieser  Münchener  Suppenküchen  gibt  folgende  den  Ver- 
waltungsberichten von  1900  und  1901  entlehnte  Darstellung  Auskunft: 

„Für  solche  Kinder,  welche  während  der  Mittagszeit  das  Schul- 
haus nicht  verlassen,  sind  in  mehreren  Schulhäusern  sogenannte 
Suppen-  und  Beschäftigungsanstalten  eingerichtet,  in  welchen  gegen 
Bezahlung  oder  unentgeltlich  ein  kräftiges  Mittagessen,  bestehend  aus 
Suppe,  Fleisch  und  Brot,  verabreicht  wird.  Die  Suppenanstalt  ist  eine 
Anstalt  des  Armenpflegschaftsrates  und  besteht  aus  einer  Küche  und 
einem  Suppensaal,    in  welch  letzterem  die  Kinder    ihre  Suppe    essen 


56  Wohlfahrtseinrichtungen. 

und  außerdem  unter  der  Obhut  einer  von  der  königlichen  Lokalschul- 
kommission aufgestellten  Aufsichtsperson  (Lehrer  bezw.  Lehrerin  oder 
Arbeitslehrerin)  zweckentsprechend  beschäftigt  werden. 

Die  Suppe  wird  von  einer  vom  Armenpflegschaftsrate  an- 
gestellten Suppenköchin  zubereitet,  welche  auch  für  die  Reinlichkeit 
und  Ordnung  in  den  Räumlichkeiten  der  Suppenanstalt  ver- 
antwortlich ist. 

Die  Einweisung  armer  Schulkinder  in  den  unentgeltlichen  Suppen- 
genuß erfolgt  durch  Beschluß  der  Bezirkspflegekommission.  Ferner 
werden  in  Zukunft  die  Erträgnisse  der  Neujahr- Glückwunsch- 
Enthebungskarten  zum  Teil  für  den  Ankauf  von  Suppenbilletten  ver- 
wendet und  diese  neben  den  aus  Wohltätigkeitsstiftungen  beschafften 
Billetten  den  Oberlehrern  zur  Verfügung  gestellt,  um  im  Bedarfsfalle 
den  um  unentgeltlichen  Suppengenuß  nachsuchenden  Kindern  helfend 
beispringen  zu  können.  Vielfach  gewinnen  die  Oberlehrer  auch  Privat- 
wohltäter, v/elche  Geldmittel  zur  Beschaffimg  von  Suppenbilletten  für 
arme  Kinder  bereit  stellen. 

Nach  dem  Essen  werden  die  Kinder  bei  schönem  Wetter  im 
Freien  zu  geordneten  Spielen,  Turnübungen,  bei  schlechtem  Wetter 
zu  Handfertigkeitsarbeiten,  Handarbeiten  und  dergleichen  durch  die 
Aufsichtslehrkräfte  angeleitet. 

Die  Materialien  für  die  Beschäftigungsanstalten  liefert  die  städtische 
Regieverwaltung. ' ' 

Während  des  Schuljahres  1900/01  waren  die  nachbezeichneten 
Suppen-  und  Beschäftigungsanstalten  eingerichtet,  hinsichtlich  deren 
Dauer  und  Frequenz  die  nebenstehenden  Angaben  Aufschluß  erteilen. 

Als  Städte,  in  denen  Frühstücks-  bezw.  Mittagsspeisung  für  be- 
dürftige Schulkinder  eingerichtet  ist,  mögen  hier  folgende  genannt 
werden:  Barmen,  Berlin,  Bielefeld,  Breslau,  Danzig,  Dortmund,  Dresden, 
Düsseldorf,  Elberfeld,  Frankfurt  a.  M.,  Hamburg,  Hannover,  Königs- 
berg i.  Pr.,  Leipzig,  Mannheim,  München,  Nürnberg,  Stuttgart.  Das 
Verzeichnis  kann  allerdings  auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch 
machen. 

In  vielen  Städten  machen  es  sich  Privatpersonen  und  Vereine 
zur  Aufgabe,  zum  Weihnachtsfest  bedürftige  Schulkinder  zu  beschenken. 
Den  wichtigsten  Bestandteil  der  Gaben  bilden  naturgemäß  neben 
einigen  Äpfeln,  Nüssen  und  Pfefferkuchen  warme  Kleidungsstücke, 
W^äsche  und  Schuhwerk. 

Als  eine  besondere  Wohlfahrtseinrichtung  im  Interesse  der 
Schuljugend    mögen    hier    die    seit  1896    in  Nürnberg    eingerichteten 


^^'olllfahrtseinrichtungen  für  bedürftige  oder  leidende  Kinder 


57 


Geöffnet 

Frequenz 

\'om 

Armen- 

Aus 

Suppen-  und 
ßeschäftigungsanstalt 
im  Schulhause  an  der 

pfleg- 
schaftsrat 

Schen- 
kungs- 

Zah- 

Gesamt- 
zahl der 

Durch- 
schnitt- 

liche 

(bezw.  am) 

zum  unent- 

mitteln 

lende 

ver- 

vom 

bis 

geltlichen 

ver- 

Kinder 

köstigten 

Fre- 

1900 

1901 

Suppen- 
genuß 

köstigte 
Kinder 

Kinder 

quenz 
pro  Tag 

_ 

eing.  Kind. 

1.  Silberhornstr.  1) .     . 

'l5. 

m 

12. 

7. 

4  668 

218 

7  482 

12  368 

61      ' 

2.  Bergmannstr.      .     . 

i    1. 

10. 

13. 

7. 

12  884 

3  801 

2  258 

18  943 

89 

3.  Herrnstr 

11. 

10. 

12. 

7. 

312 

3  370 

1  151 

4  833 

37 

4.  Wilhelmstr.    .     .     . 

2. 

10. 

12. 

7. 

6  825 

2  933 

5114 

14  953 

70 

5.  Bazeillesstr.   .     .     . 

1. 

10. 

13. 

7. 

6  928 

5652 

4  038 

16618 

75 

6.  \Yeilerstr.      .     .     . 

'    1. 

10. 

12. 

7. 

10  290 

655 

3  875 

14  820 

64 

,     7.  Schwindstr.    .     .     . 

15. 

10. 

12. 

7. 

4  766 

633 

3319 

8718 

35 

8.  Herzog  Wilhelmstr. 

2. 

10. 

12. 

7. 

— 

6  452 

2  302 

8  754 

62 

9.  Klenzestr        .     .     . 

15. 

10. 

13. 

7. 

5  154 

6  579 

4  976 

16  709 

81 

1 0.   Columbusstr.  2)  .     . 

16. 

10. 

13. 

7. 

3  694 

492 

2  373 

6  559 

24 

3).      . 

28. 

1. 

12. 

7. 

1  786 

97 

1847 

3  730 

18 

11.  Plinganserstr.      .     . 

7. 

1. 

13. 

7. 

3  467 

2  174 

2  833 

8  474 

41 

12.  St.  Annastr.  .     .     . 

11. 

10. 

12. 

7. 

5  064 

2  016 

1  985 

9  065 

44 

}   13.  Stielerstr 

25. 

10. 

13. 

7. 

4  740 

2  262 

2  574 

9  576 

40 

14.  Wörthstr 

22. 

10. 

12. 

7. 

5  959 

3  571 

3  685 

13215 

66 

15.  Kirchenstr.    .     .     . 

22. 

10. 

12. 

7. 

3918 

1  143 

3  089 

8150 

45 

16.  Dom  Pedroplatz     . 

5. 

1 

11. 

13. 

7. 

6  539 

1534 

1  291 

9  364 

35 

1)  Nur  für  die  IMädchen  dieser  Schule 

2)  Für  die  Knaben  dieser  Schule  und 
^)  Für  die  Mädchen  dieser  Schule  (an 


;  für  Knaben  siehe  bei  No.  10. 
der  Schule  an  der  Silberhornstraße. 
der  Columbusstraße). 


Schulwärmezimmer  genannt  werden.  Die  ,, Festschrift  zur  40.  Haupt- 
versammlung des  Vereins  deutscher  Ingenieure  in  Nürnberg"  1899, 
ein  Werk,  welches  über  die  Nürnberger  Schuleinrichtungen  wichtige 
und  interessante  Mitteilungen  enthält,  sagt  darüber: 

,,Als  im  Januar  1896  große  Kälte  eintrat,  beschloß  der  Magistrat, 
den  armen  Kindern,  die  während  des  Tages  außerhalb  der  Schulzeit 
zu  Hause  kein  geheiztes  Zimmer  hatten,  in  acht  Schulhäusern  an 
verschiedenen  Punkten  der  Stadt  je  ein  Schulzimmer  zum  Aufenthalte 
einzuräumen.  In  der  Mittagszeit  von  11  —  P/.,  Uhr  und  am  Mittwoch 
und  Samstag  von  11 — 5  Uhr  standen  diese  Zimmer  offen,  den  Kindern 
aber  stand  es  frei,  zu  kommen  und  zu  gehen,  wann  sie  wollten.  Zu 
ihrer  Beaufsichtigung  wurden  gegen  Entgelt  jüngere  Lehrer  oder 
Lehrerinnen  bestellt.     Im  Jahre  1896  waren  diese  Schulwärmezimmer 


f  3  Wohlfahrtseinrichtungen. 

vom  30.  Januar  bis  zum  15.  März,  im  Winter  1896/97  vom  2.  Januar 
bis  zum  28.  Februar  geöffnet  und  hatten  sich  eines  fleißigen  Besuchs 
von  Seiten  der  Kinder  zu  erfreuen.  In  den  zwei  folgenden  Wintern 
1 897/98  und  1 898/99  wurden  sie  in  Anbetracht  der  milden  Witterung 
nicht  geöffnet.  Indes  werden  in  jedem  November  alle  Vorkehrungen 
dafür  getroffen,  dafi  sie  beim  Eintritt  strenger  Kälte  den  Kindern 
sofort  zur  Verfügung  gestellt  werden  können." 

Da  die  ärmeren  Schulkinder  oft  auch  bei  Regen  und  Schnee 
mit  schadhaftem  Schuhwerk  und  daher  mit  durchnäßten  Füßen  zur 
Schule  kommen,  so  ist  an  manchen  Orten  die  Einrichtung  getroffen 
worden,  daß  ihnen  im  Schulzimmer  warme  Filzpantoffel  geliefert 
werden,  damit  sie  die  durchnäßten  Schuhe  ausziehen  und  in  der 
Nähe  des  Ofens  trocknen  können. 

3.    Hygienische  "Wohlfahrtseinrichtungen. 

A.  Die  Schulärzte.  Unter  den  hygienischen  Veranstaltungen 
im  Anschluß  an  die  Volksschule  besitzt  die  Anstellung  der  Schulärzte 
die  allergrößte  Bedeutung.  Auch  diese  F2inrichtung  datiert  ihrer 
Entstehung  nach  aus  dem  letzten  Jahrzehnt.  Zwar  sind  häufig  auch 
schon  früher  größere  oder  kleinere  Gruppen  von  Schulkindern  ärzt- 
lich auf  ihren  Gesundheitszustand  untersucht  worden;  es  handelte 
sich  hierbei  meist  um  Prüfungen  der  Sehschärfe  oder  des  Gehörs,  um 
Untersuchungen  des  Gebisses  oder  andere  Sondergebiete  der  Schul- 
hygiene; aber  diese  gelegentlich  vorgenommenen  Untersuchungen 
hatten  bisher  noch  nicht  zu  einer  dauernden  Institution  geführt,  durch 
welche  der  gesamte  Gesundheitszustand  der  Schuljugend  regelmäßig 
überwacht  werden  konnte. 

Die  Entstehung  des  Instituts  der  Schulärzte  kann  nicht  besser 
als  durch  die  Wiedergabe  des  Erlasses  des  Preußischen  Unterrichts- 
ministers vom  18.  Mai  1898  geschildert  werden.  Dieser  Ministerial- 
erlaß gibt  im  Auszuge  einen  von  den  Kommissaren  des  Ministers, 
den  Herren  Geheimen  Ober-Regierungsrat  Brand i  und  Geheimen 
Medizinalrat  Schmidtmann,  erstatteten  Bericht  über  die  Schularzt- 
einrichtung in  Wiesbaden: 

„Eine  im  Frühjahr  1895  durch  den  Magistrat  der  Stadt  Wies- 
baden veranlaßte  ärztliche  Untersuchung  von  etwa  7000  Schülern  der 
Volks-  und  Mittelschulen  ergab  bei  25  %  der  Untersuchten  körper- 
liche Gebrechen  und  gesundheitliche  Mängel,  ja  selbst  an.steckende 
Krankheiten    und    erwies    hiermit   die  praktische  Bedeutung  der  ärzt- 


Hygienische  Wohlfahrtseiniichtungen.  59 

liehen  Untersuchung,  sowohl  für  das  gesundheitliche  und  unterricht- 
liche Interesse  der  Kinder,  wie  für  die  Schulbehörde. 

In  richtiger  Würdigung  dieses  Ergebnisses  ist  auf  den  Antrag 
des  um  diese  Sache  besonders  verdienten  Stadtrates  Kalle  zunächst 
versuchsweise  die  Anstellung  von  vier  Schulärzten  für  die  Volks- 
und Mittelschulen  durch  den  Magistrat  zu  Wiesbaden  im  Jahre  1896 
erfolgt. 

Die  den  Schulärzten  zugewiesenen  Aufgaben,  welche  in  einer 
Dienstordnung  festgelegt  wurden,  umfaßten: 

Die  ärztliche  Untersuchung  aller  neu  aufgenommenen  Schul- 
kinder, soweit  dieselben  nicht  einen  anderweiten  ärztlichen  Ausweis 
über  ihren  Gesundheitszustand  beibrachten, 

die  Ausstellung  und  Führung  eines  Personalbogens  für  jedes 
kränklich  befundene  Kind, 

die  Abhaltung  einer  Sprechstunde  in  jeder  Schule  alle  14  Tage, 
nebst  hygienischer  Revision  und  Überwachung  der  Schulräume,  ihrer 
Ausstattung,  Beleuchtung,  Lüftung,  Reinigung  und  dergleichen,  und 
schUeßlich 

die  Verpflichtung  zur  Haltung  kurzer  Vorträge  über  schul- 
hygienische Fragen  in  den  Lehrer- Vereins-Versammlungen. 

Für  diese  Mühewaltung  wurde  ein  Honorar  von  jährlich  je 
600  M.  gewährt. 

Die  versuchsweise  Einrichtung  bewährte  sich  so,  daß  die  städti- 
schen Behörden  nach  den  Erfahrungen  des  ersten  Jahres  kein  Be- 
denken getragen  haben,  sie  zu  einer  dauernden  zu  machen  und  gleich- 
zeitig statt  der  vier  Schulärzte  nunmehr  sechs  unter  Aufwendung  von 
3600  M.  jährlich  anzustellen. 

Von  der  x'Yufsichtsbehörde  wird  eine  erkennbare  gesundheitliche 
Förderung  des  Schulwesens  in  Wiesbaden  durch  die  Schaffung  der 
Schulärzte  bestätigt. 

Bei  4  %  der  Untersuchten  konnte  den  Lehrern  Anweisung  für 
die  spezielle  Behandlung  und  Beaufsichtigung  mit  Rücksicht  auf  be- 
stehende Kurzsichtigkeit,  Schwerhörigkeit,  Rückgratsverkrümmungen, 
Bruchanlage  und  dergleichen  erteilt  werden,  1 4  %  gaben  Anlaß,  die 
ärztliche  Behandlung,  Reinigung  von  Ungeziefer  und  dergleichen,  bei 
den  Eltern,  und  zwar,  wie  die  spätere  Kontrolle  erwies,  zumeist  mit 
Erfolg  anzuregen. 

Auf  Grund  der  gewonnenen  Erfahrungen  ist  nach  Ablauf  des 
Versuchsjahres  die  Dienstordnung  in  einigen  Punkten  umgestaltet 
worden  und  ordnet  unter  anderem  nunmehr  die  Ausfüllung  eines  Ge- 


60  Wohlfahrtseiniichtungen. 

Sundheitsscheines  nach  vorgeschriebenem  Muster  für  jedes  neu  ein- 
tretende Schulkind  an.  Zur  FeststeUung  der  Größe  und  des  Ge- 
wichtes desselben  ist  in  jeder  Schule  eine  Meßvorrichtung  und 
Dezimalvvage  angebracht.  Die  Wägung  und  Messung  des  Kindes 
wird  ebenso  wie  die  Eintragung  dieser  Angaben  in  die  hierfür  vor- 
gesehene Rubrik  des  Gesundheitsscheines  durch  den  Klassenlehrer 
ausgeführt. 

Die  am  18.  Januar  1898  an  Ort  und  Stelle  vorgenommenen  Er- 
mittelungen stellten  insbesondere  das  hier  Folgende  fest: 

Der  ärztliche  Besuch  in  den  Schulklassen  behufs  äußerer  Be- 
sichtigung der  Kinder  und  gleichzeitiger  Beobachtung  der  schul- 
hygienischen Verhältnisse,  der  Temperatur,  Ventilation  und  der- 
gleichen vollzog  sich  unter  verständnisvoller  Mitwirkung  der  Klassen- 
lehrer, ebenso  wie  die  Abhaltung  der  Sprechstunde,  leicht  und 
rasch,  so  daß  eine  störende  Beeinträchtigung  des  Unterrichts  nicht 
hervortrat. 

Der  Vollzug  dieser  Tätigkeit  wird  durch  einen  Laufzettel,  auf 
welchem  von  den  einzelnen  Lehrern  alle  der  ärztlichen  Untersuchung 
bedürftigen  Kinder  vermerkt  sind,  wirksam  vorbereitet.  Die  ärztlichen 
Untersuchungen  haben  regelmäßig  einen  verhältnismäßig  bedeuten- 
den Prozentsatz  von  ausgesprochenen  oder  beginnenden  Rückgrats- 
verkrümmungen (7,6  Vo)>  von  bis  dahin  zumeist  nicht  bemerkten 
Unterleibsbrüchen  (9  7o).  von  Augenleiden  (13,6  ^/o),  von  Gehör- 
fehlern, von  Folgen  ungenügender  Reinlichkeit,  sowie  die  mangel- 
hafte Konstitution  vieler  Kinder  bereits  beim  Eintritt  in  die 
Schule  festgestellt.  Diese  Ermittelungen  gewähren  der  Schulver- 
waltung einen  Schutz  gegen  die  gebräuchliche  Beschuldigung,  daß 
durch  den  Schulbesuch  diese  Leiden  erst  veranlaßt  werden.  Die- 
selben bieten  ferner  die  Möglichkeit,  den  Ausschluß  von  Kindern  mit 
ansteckenden  Krankheiten,  Krätze,  Ungeziefer  und  dergleichen  recht- 
zeitig zu  bewirken,  die  Hineintragung  von  Ansteckungskeimen  in  die 
Schulräume,  die  Infektion  anderer  Kinder  zu  verhindern  und  der 
Notvv^endigkeit  eines  hierdurch  öfters  herbeigeführten  Schulschlusses 
erfolgreich  vorzubeugen. 

Um  diese  Vorteile  für  Schule  und  Schulkind  zu  sichern,  wird 
die  ärztliche  Untersuchung  auf  übertragbare  Leiden  am  besten  vor 
Eintritt  des  Kindes  in  die  Schule,    bei  der  Aufnahme,  vorgenommen. 

Indem  die  erstmalige  ärztliche  Untersuchung  und  demnächstige 
fortdauernde  Beaufsichtigung  der  Schulkinder  auch  zur  Erkennung 
von  Infektionsherden    in    den  Familien  führt,    kann   dieselbe  über  das 


Hygienische  Wolilfalirtscinriclitungen.  61 

engere  Gebiet  der  Schule  hinaus  zu  einer  Kontrolle  des  öffentlichen 
Gesundheitszustandes  dienen,  und  dadurch,  daß  der  Schularzt  den 
mit  der  Überwachung  der  allgemeinen  Gesundheit  betrauten  Organen 
durch  Mitteilung  allgemein  wichtiger  Feststellungen  die  Möglichkeit 
zur  Ermittelung  und  Unterdrückung  bisher  unbemerkter  Infektions- 
herde bietet,  kann  derselbe  die  öffentliche  Gesundheitspflege  wesent- 
lich unterstützen. 

Die  Einrichtung  des  Schularztes  gestaltet  sich  somit  zu  einer 
allgemein  nützlichen  hygienischen  Maßnahme. 

Wie  auf  gesundheitlichem  Gebiete,  so  gewähren  die  schul- 
ärztlichen Feststellungen  auch  einen  Einblick  in  die  sozialen  Ver- 
hältnisse und  zeigen  der  allgemeinen  Wohlfahrtspflege  die  Wege  für 
eine  wirkungsvolle  Ausübung. 

Von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung  war  die  Beobachtung 
bei  der  Untersuchung  1895,  daß  nur  45,7  %  von  6949  Kindern  eine 
gute,  45,6  %  eine  mittlere  und  8,7  %  eine  schlechte  Körper- 
konstitution darboten.  Diese  Zahlen  lassen  erkennen,  daß  in  weiten 
Schichten  der  ärmeren  Bevölkerung  die  Ernährung  keine  für  die 
normale  körperliche  Entwicklung  der  Kinder  genügende  ist.  Die 
Verabreichung  eines  warmen  Frühstücks,  bestehend  aus  Hafergrütz- 
suppe und  Brot,  welche  in  den  Volksschulen  von  Wiesbaden  während 
der  Monate  Dezember  bis  März  geübt  und  aus  freiwilligen  Beiträgen 
bestritten  wird,  ist  hiernach  vor  der  Beurteilung  als  einer  überflüssigen 
Wohlfahrtseinrichtung  geschützt,  und  die  Tatsache,  daß  in  einzelnen 
Stadtteilen  bis  zu  20  %  der  Gesamtzahl  der  Schüler  sich  zum  Früh- 
stück vor  Schulbeginn  einfinden,  beweist  in  Übereinstimmung  mit  den 
schulärztlichen  Erhebungen,  daß  hier  einem  wirklichen  Bedürfnis  ent- 
sprochen wird. 

Ferner  erweisen  hierdurch  Turnen,  Spiel  und  Schulbad  als  ge- 
eignete Mittel  zur  Besserung  der  allgemeinen  Konstitution  und  zur 
Förderung  der  gedeihlichen  körperlichen  Entwicklung  ihre  Berechtigung 
im  Leben  der  Schule. 

Die  anfänglich  vereinzelt  bemerkte  Abneigung  der  Eltern  gegen 
den  Schularzt  ist  geschwunden.  Das  wachsende  Verständnis  für  die 
Nützlichkeit  der  Einrichtung  beweist  die  Tatsache,  daß  1897  bei  einer 
Aufnahme  von  1700  Kindern  nur  35  der  schulärztlichen  Untersuchung 
durch  Vorlegung  ärztlicher  Atteste  entzogen  wurden.  Den  An- 
regungen, welche  die  Eltern  durch  Vermittlung  der  Lehrer  mündlich 
oder  schriftlich  auf  vorgedrucktem  Formular  für  die  Behandlung  ihrer 
Kinder  erhalten,  wird,    wie  vorerwähnt,   fast  ausnahmslos  willig  Folge 


52  Wohlfahrtseinrichtungen. 

geleistet.  Allein  bei  der  Feststellung  von  Ungeziefer  hat  sich  ein 
Widerstand  bei  manchen  Eltern  bemerkbar  gemacht,  der  sich  jedoch 
durch  das  bisher  geübte  umständliche  und  mit  Kosten  verknüpfte 
Verfahren  zur  Ungezieferbeseitigung  einigermaßen  erklärt  und  voraus- 
sichtlich bei  entsprechender  Änderung  verschwinden  wird. 

Die  von  einigen  Seiten  gehegten  Befürchtungen,  daß  Mißhellig- 
keiten zwischen  Lehrer  und  Schularzt  entstehen  würden,  haben  sich 
nicht  bestätigt.  Die  schulärztliche  Tätigkeit  ist  von  den  Lehrern  als 
eine  die  Schulzwecke  unterstützende  erkannt  worden,  und  auch  für 
den  Schulbetrieb  ist  durch  den  Eintritt  des  Schularztes  die  von 
manchem  Lehrer  besorgte  Störung  nicht  eingetreten. 

Zu  dieser  erfreulichen  Entwicklung  haben  die  Schulärzte  infofern 
beigetragen,  als  sie  ihr  Amt  mit  Takt  ausgeübt  und  unerfüllbare 
Forderungen  nicht  gestellt  haben.  Etwaige  Beschwerden  der  Schul- 
ärzte unterliegen  der  Prüfung  in  der  Schulhygienedeputation,  welche 
aus  zwei  Magistratsmitgliedern,  drei  Angehörigen  der  Schuldeputation 
und  einem  Schularzt  gebildet  ist. 

Durch  die  Teilnahme  der  Lehrer  an  den  ärztlichen  Unter- 
suchungen bei  ihren  Schülern  und  durch  ihre  Kontrolle  über  die  für 
das  hygienische  Verhalten  der  Kinder  sowie  über  Reinhaltung, 
Lüftung,  Heizung  und  Beleuchtung  der  Schulräume  gegebenen  An- 
ordnungen und  Anregungen  ist  das  Interesse  der  Lehrer  in  erfreu- 
licher Weise  geweckt  und  ihr  Blick  für  diese  Sachen  geschärft 
worden. 

Die  ärztlichen  Anordnungen,  welche,  wie  bemerkt,  den  Eltern 
oft  durch  den  Lehrer  persönlich  übermittelt  werden,  haben  in  vielen 
Fällen  erwünschte  Beziehungen  zwischen  Schule  und  Elternhaus  ge- 
schaffen. 

Kompetenzstreitigkeiten  mit  den  Medizinalbeamten  wegen  der 
Wahrnehmung  der  hygienischen  Beaufsichtigung  der  Schullokalitäten 
und  dergl.  seitens  der  Schulärzte  sind  nicht  vorgekommen,  da  die 
letzteren  durch  ihre  Instruktion  auf  die  Anrufung  des  Königlichen 
Kreisphysikus  bei  Feststellungen  von  allgemeiner  und  prinzipieller 
Bedeutung  hingewiesen  sind.  Außerdem  wird  der  Krei.sphysikus  zu 
den  Verhandlungen  der  Schulhygienekommission  über  Fragen  von 
größerer  Tragweite  regelmäßig  zugezogen.  Das  verständnisvolle  Zu- 
sammenwirken der  Schulärzte  und  der  Medizinalbeamten  bei  Er- 
mittlung und  Unterdrückung  ansteckender  Krankheiten  hat  sich  so- 
wohl für  die  öffentliche  Gesundheitspflege  wie  für  die  Schule  be- 
sonders vorteilhaft  erwiesen. 


Hygienische  Wohlfahitseinrichtungen.  53 

Auch  das  kollegiale  Verhältnis  mit  den  praktischen  Ärzten  ist 
durch  die  Schaffung  des  Schularztes  nicht  getrübt  worden,  da  durch 
die  Bestimmung  der  Dienstordnung,  nach  welcher  die  ärztliche  Be- 
handlung erkrankter  Schulkinder  nicht  Sache  des  Schularztes  ist,  den 
Eingriffen  in  die  hausärztliche  Praxis  und  in  den  Krankenkreis  der 
anderen  Arzte  gesteuert  worden  ist." 

Die  Ministerial-Kommissare  faßten  ihr  Urteil  über  die  Schularzt- 
einrichtung in  Wiesbaden  dahin  zusammen: 

„Die  bisherigen  Erfahrungen  haben  bewiesen,  daß  die  Anstellung 
von  Schulärzten  für  Volks-  und  Mittelschulen  einen  nicht  zu  unter- 
schätzenden Nutzen  für  die  Schule  und  die  Schüler  bietet,  daß  die- 
selbe mit  den  Schulzwecken  wohl  vereinbar  und  unter  gleichen  oder 
ähnlichen  Verhältnissen  wie  in  Wiesbaden  ohne  größere  Schwierig- 
keiten praktisch  durchführbar  ist.  Insbesondere  ist  nach  dieser  Unter- 
suchung hervorzuheben,  daß  die  bekannten  gegen  den  Schularzt  er- 
hobenen Bedenken,  die  man  auch  in  Wiesbaden  gehegt  hatte,  durch 
die  Erfahrung  nicht  bestätigt  worden  sind. 

Es  ist  daher  nur  zu  wünschen,  daß  das  dankenswerte  Vorgehen 
der  städtischen  Behörden  in  Wiesbaden  zahlreiche  Nachahmung 
finden,  und  daß  damit  die  fortschreitende  Entwicklung  unseres 
preußischen  Schulwesens  auf  diesem  für  die  Volksgesundheit  so 
wichtigen  Gebiete  der  Schularzteinrichtung  endgültig  gesichert  werden 
möge." 

Über  die  Pflichten  der  Schulärzte  gibt  die  Dienstordnung  für 
Schulärzte  an  den  städtischen  Volks-  und  Mittelschulen  in  Wiesbaden 
Auskunft.  Da  dieselbe  einer  großen  Anzahl  von  anderen  deutschen 
Städten  als  Vorbild  gedient  hat,  so  möge  sie  hier  unverkürzt  zum 
Abdruck  gelangen: 

,,Die  Schulärzte  haben  die  Aufgabe,  den  Gesundheitszustand 
der  ihnen  zugewiesenen  Schüler  zu  überwachen  und  bei  der  ärztlichen 
Revision  der  zur  Schule  gehörenden  Räumlichkeiten  und  Einrichtungen 
mitzuwirken,  und  sind  demgemäß  verpflichtet,  alle  in  diese  Aufgabe 
fallenden  Aufträge  des  Magistrats  auszuführen. 

Insbesondere  gelten  hierbei  die   nachfolgenden  V^orschriften : 

1 .  Die  Schulärzte  haben  die  neueintretenden  Schüler  genau  auf 
ihre  Körperbeschaffenheit  und  ihren  Gesundheitszustand  zu  unter- 
suchen, um  festzustellen,  ob  sie  einer  dauernden  ärztlichen  Über- 
wachung oder  besonderen  Berücksichtigung  beim  Schulunterricht 
(z.  B.  Ausschließung  vom  Unterricht  in  einzelnen  Fächern,  wie  Turnen 
und  Gesang,    oder    Beschränkung    in    der  Teilnahme    am  Unterricht, 


64  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Anweisung  eines  besonderen  Sitzplatzes  wegen  Gesichts-  oder  Gehör- 
fehler usw.)  bedürfen. 

Außer  dieser,  in  den  ersten  4 — 6  Wochen  des  Schuljahres  vor- 
zunehmenden genaueren  Untersuchung  sollen  die  neueintretenden 
Schulkinder  in  den  ersten  2 — 3  Tagen  bereits  einer  äußeren  ärzt- 
lichen Revision  unterzogen  werden  behufs  Ermittlung  von  übertrag- 
baren Krankheiten  und  Ungeziefer. 

Über  jedes  untersuchte  Kind  ist  ein  dasselbe  während  seiner 
ganzen  Schulzeit  begleitender  „Gesundheitsschein"  auszufüllen.  Er- 
scheint ein  Kind  einer  ständigen  ärztlichen  Überwachung  bedürftig, 
so  ist  der  Vermerk  , .ärztliche  Kontrolle"  auf  der  ersten  Seite  oben 
rechts  zu  machen.  Die  Spalte  betreffend  „allgemeine  Konstitution" 
ist  bei  der  Aufnahmeuntersuchung  für  jedes  Kind  auszufüllen  und 
zwar  nach  den  Kategorien  ,,gut,  mittel  und  schlecht". 

Die  Bezeichnung  „gut"  ist  nur  bei  vollkommen  tadellosem  Ge- 
sundheitszustand und  , .schlecht"  nur  bei  ausgesprochenen  Krankheits- 
anlagen oder  chronischen  Erkrankungen  zu  wählen. 

Die  anderen  Rubriken  werden  nur  im  Bedürfnisfalle  ausgefüllt, 
und  zwar  bei  der  Aufnahmeuntersuchung  oder  auch  bei  im  Laufe 
der  späteren  Schuljahre  vorkommenden  Erkrankungen.  Die  Wä- 
gungen und  Messungen  werden  von  den  betreffenden  Klassenlehrern- 
vorgenommen  und  sind  in  jedem  Halbjahre  in  die  betreffende 
Spalte  einzutragen  (Abrundung  auf  V2  cm  und  1/4  ^§)-  Brustumfang 
wird  vom  Arzte  gemessen,  jedoch  nur  bei  Kindern,  die  einer  Lungen- 
erkrankung verdächtig  sind. 

2.  Alle  14  Tage  —  wenn  ansteckende  Krankheiten  auftreten, 
auch  häufiger  —  hält  der  Schularzt  an  einem  mit  dem  Schulleiter 
vorher  verabredeten  Tage  (z.  B.  dem  L  und  3.  Donnerstag  des 
Monats)  in  der  Schule  Sprechstunden  ab.  Zeit:  Vormittags  10  bis 
nicht  über  12  Uhr.  Hierzu  ist,  wenn  irgend  möglich,  dem  Arzte  ein 
eigenes  Zimmer  zur  Verfügung  zu  stellen. 

Wünscht  der  Arzt  an  einem  andern  als  dem  verabredeten  Tage 
die  Schule  zu  besuchen,  so  hat  er  dies  mindestens  3  Tage  früher  dem 
Schulleiter  mitzuteilen. 

Bei  unvorhergesehenen  Behinderungen  gilt  der  nächstfolgende 
Wochentag  als  Besuchstag. 

Die  erste  Hälfte  der  Sprechstunde  dient  zu  einem  je  10 — 15 
Minuten  dauernden  Besuche  von  2—5  Klassen  während  des  Unter- 
richtes. 

Jede  Klasse  soll,  wenn  möglich,  zwei   mal  während  eines    Halb- 


Hygienischi-  W'uhlf.ilirtseinnchlungtn.  55 

Jahres  besucht  werden.  Bei  diesen  Besuchen  werden  sämtUche 
Kinder  einer  äußeren  Revision  unterzogen;  bei  besonderen,  zu  so- 
fortiger Besprechung  geeigneten  Beobachtungen  wird  von  dem 
Lehrer  Auskunft  gefordert  und  ihm  solche  auf  V'erlangen  erteik. 

Erscheinen  hierbei  einzehie  Kinder  einer  genaueren  Unter- 
suchung bedürftig,  so  ist  diese  nachher  in  dem  ärztlichen  Sprech- 
zimmer vorzunehmen. 

Gleichzeitig  dienen  diese  Besuche  auch  zur  Revision  der  Schul- 
lokalitäten und  deren  Einrichtung  sowie  zur  Kontrolle  über  Venti- 
lation, Heizung,  körperliche  Haltung  der  Schulkinder  usw. 

Aus  pädagogischen  Rücksichten  wird  vom  Arzte  er\\artet,  daß 
er  hierbei  jedes  Bloßstellen  eines  Lehrers  vor  seiner  Klasse  in  takt- 
voller Weise  vermeidet. 

In  der  zweiten  Hälfte  der  Sprechstunde  sind  etwa  erforderliche 
genauere  Untersuchungen  vorzunehmen. 

Auch  sind  hierbei  Kinder  aus  anderen,  an  dem  Tage  nicht 
besuchten  Klassen  dem  Arzte  zuzuführen,  letztere  jedoch  nur  in 
wirklich  dringenden  Fällen,  besonders  bei  Verdacht  auf  ansteckende 
Erkrankungen. 

Die  Gesundheitsscheine  sämtlicher  zur  Untersuchung  kommenden 
Kinder  sind  von  dem  Klassenlehrer  dem  Arzte  vorzulegen  bezw.  zu 
übersenden.  Der  betreffende  Klassenlehrer  hat,  wenn  irgend  an- 
gängig, bei  der  ärztlichen  Untersuchung  zugegen  zu  sein.  Für  Be- 
nachrichtigung der  übrigen  Klassen  und  Zuführung  der  betreffenden 
Kinder  zu  sorgen,  ist  Sache  des  Schulleiters,  und  geschieht  ersteres 
am  besten  durch  einen  am  Tage  vorher  in  sämtlichen  Klassen  zirku- 
lierenden Laufzettel,  auf  welchem  die  einzelnen  Lehrer  bemerken, 
ob  und  wieviele  Kinder  einer  ärztlichen  Untersuchung  bedürfen. 

Die  ärztliche  Behandlung  erkrankter  Schulkinder  ist  nicht  Sache 
des  Schularztes.  Erscheint  eine  solche  notwendig,  so  sind  die  be- 
treffenden Eltern  hiervon  zu  benachrichtigen.  Denselben  bleibt  die  Wahl 
des  Arztes  überlassen,  doch  dürfte  sich  der  Hinweis  auf  erforderliche 
spezialistische  Behandlung  in  geeigneten  Fällen  (Augen,  Hals,  Nase 
usw.)  empfehlen.     Bei  älteren  Kindern  kann  dies  mündlich  geschehen. 

Bei  Erfolglosigkeit  einer  derartigen  Ermahnung  sowie  bei 
jüngeren  Kindern  sind  die  betreffenden  gedruckten  ,, Mitteilungen" 
auszufüllen. 

Es  hat  dies  jedoch  nur  bei  ernsten,  wichtigen  Erkrankungen  zu 
geschehen,  wo  das  Interesse  des  Kindes  oder  der  Schule  ein  ener- 
gisches Vorgehen  erfordert. 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.     Anhang.  5 


56  \\"ohltahrtseinrichiuni^en. 

Bei  Ausfüllung  der  betreffenden  Formulare  ist  jede  Härte  und 
Schrofflieit  des  Ausdruckes  zu  vermeiden. 

Die  Zusendung  der  Formulare  an  die  betreffenden  Eltern  ist 
Sache  des  Schulleiters. 

'A.  Die  Gesundheitsscheine  sind  in  den  betreffenden  Klassen 
in  einem  dauerhaften  Umschlage  aufzubewahren  und  bleiben,  so- 
lange sie  nicht  von  dem  Schulinspektor  eingefordert  werden,  in  der 
Schule. 

Die  Scheine  mit  dem  Vermerk  „Ärztliche  Kontrolle"  sind  dem 
Arzte  bei  jedem  Besuche  in  der  Klasse  vorzulegen.  Tritt  ein  Kind 
in  eine  andere  Schule  über,  so  ist  sein  Gesundheitsschein  dahin  durch 
den  Schulleiter  zu  übersenden. 

4.  Die  Schulärzte  haben  auf  Antrag  des  Schulleiters  einzelne 
Kinder  in  ihrer  Wohnung  zu  untersuchen,  um,  falls  die  Eltern  kein 
anderweites,  genügendes  ärztliches  Zeugnis  beibringen,  festzustellen, 
ob  Schulversäumnis  gerechtfertigt  ist. 

5.  Die  Schulärzte  haben  mindestens  einmal  im  Sommer,  ein- 
mal im  Winter  die  Schullokalitäten  und  deren  Einrichtungen  zu  re\'i- 
dieren.  Die  hierbei  wie  bei  den  sonstigen  Besuchen  gelegentlich  ge- 
machten Beobachtungen  über  die  Beschaffenheit  der  zu  überwachenden 
Gegenstände  sowie  über  Handhabung  der  Reinigung,  Lüftung. 
Heizung  und  Beleuchtung  und  die  etwa  an  diese  Beobachtungen 
sich  anschließenden  Vorschläge  sind  von  den  Schulärzten  in  das 
für  diesen    Zweck  bei  dem  Schulleiter  aufliegende  Buch    einzutragen. 

6.  Ein  Recht  zu  selbständigen  Anweisungen  an  die  Schulleiter 
und  Lehrer  sowie  an  die  Pedellen  und  sonstigen  Schulbediensteten 
steht  den  Schulärzten  nicht  zu.  Glauben  sie,  daii  den  von  ihnen  in- 
bezug  auf  die  Behandlung  der  Kinder  oder  die  Hygiene  der  Lokali- 
täten gemachten  Vorschlägen  nicht  in  genügender  Weise  Rechnung 
getragen  wird,  so  lassen  sie  ihre  bezüglichen  Beschwerden  durch 
ihren  Vertreter  in  der  Schulhygiene-Kommission  zum  Vortrag  bringen. 

In  dringUchen  Fällen  machen  sie  daneben  Anzeige  bei  dem 
städtischen  Schulinspektor  und  eventuell  bei  dem  Königlichen  Kreis- 
physikus. 

7.  Behufs  Erreichung  eines  möglichst  zweckmäßigen,  gleich- 
artigen Vorgehens  wird  der  Vertreter  der  Schulärzte  in  der  Schul- 
hygiene-Kommission seine  Kollegen  zu  gemeinsamen  Besprechungen 
versammeln,  zu  welchen  der  Königliche  Kreisphysikus  insbesondere 
dann  einzuladen  ist,  wenn  es  sich  um  die  gesundheitlichen  Verhält- 
nisse   der    Lokalitäten    handelt.      Im    Winter    werden    die    Schulärzte 


Hys^ienisclu'   Wohlfahrtseinrichtunt^en.  i)^ 

in  den    Lchrcrversamnilunt^cn    kurze   Vorträ<^e    über    die    wichtigsten 
Fragen  der  Schulhygiene  halten. 

8.  Die  Schulärzte  haben  bis  spätestens  15.  Mai  über  ihre  Tätig- 
keit in  dem  abgelaufenen  Schuljahre  einen  schrifdichen  Bericht  dem 
ältesten  Schularzte  einzureichen. 

Der  letztere  hat  diese  Einzelberichte  mit  einem  kurzen,  über- 
sichtlichen Gesamtbericht  bis  spätestens  1 .  Juni  dem  Magistrat  v^orzu- 
legen.  Bei  der  Aufstellung  der  Berichte  sind  etwa  folgende  7  Punkte 
zu  berücksichtigen : 

a)  Tabellarische,  ziffernmäßige  Zusammenstellung  der  Resultate 
bei  den  Aufnahmeuntersuchungen. 

b)  Zahl  der  abgehaltenen  Sprechstunden  bezw.  ärztlichen  Besuche 
der  Klassen. 

ci  Anzahl  und  Art  der  wichtigeren  Erkrankungsfälle,  die  in  den 
Sprechstunden  zur  Untersuchung  gekommen  sind. 

d)  Etwa  erfolgte  besondere  ärztliche  Anordnungen  (Beschränkung 
der  Unterrichtsstunden,  des  Turnens  usw.). 

e'i  Anzahl  der  an  die  Eltern  gesandten  schriftlichen  ,, Mitteilungen" 
und  deren  Erfolg. 

i)  Anzahl  der  unter  , .ärztlicher  Kontrolle"  stehenden  Schul- 
kinder. 

g)  Summarische  Angabe  über  die  in  das  Hygienebuch  einge- 
tragenen Beanstandungen  bezüglich  Lokalitäten  usw. 

9.  Will  ein  Schularzt  außerhalb  der  Zeit  der  Schulferien  auf 
länger  als  eine  Woche  die  Stadt  verlassen,  so  hat  er  den  Magistrat 
rechtzeitig  hiervon  zu  benachrichtigen  und  für  kostenlose  geeignete 
Vertretung  zu  sorgen. 

1 0.  Für  ihre  Mühewaltung  erhalten  die  Schulärzte  aus  der  Stadt- 
kasse ein  in  vierteljährlichen  Raten  postnumerando  zahlbares  Jahres- 
Honorar. 

1  I .  Der  Magistrat  kann  bei  nachgewiesener  Dienstvernachlässigung 
jederzeit  die  Entlassung  des  Schularztes  verfügen.  Im  übrigen  kann 
seitens  des  Schularztes  sowie  seitens  des  Magistrats  der  Dienst- 
vertrag nur  nach  vorausgegangener  vierteljährlicher  Kündigung  aufge- 
hoben werden. 

12.  Der  Magistrat  behält  sich  vor.  diese  Dienstordnung  abzu- 
ändern oder  zu  erweitern. 

Wiesbaden,  den  25.  Juni   1898. 

Der  Magistrat." 


58  Wohlfahrtseinrichtuiigen. 

Gegenwärtig    besteht     nach    einer     dem     Verfasser     von     dem 
Vorsitzenden    des    Vereins    der    Berliner   Schulärzte,    Herrn  Professor 
Dr.  A.  Hartmann,  giJtigst  zur  Verfügung  gestellten  Liste  die  Einrichtung 
der  Schulärzte  in  folgenden  deutschen  Gemeinden: 
Königreich  Preußen: 

Ostpreußen:  Königsberg,  Insterburg. 
Westpreußen :  Danzig. 

Brandenburg:  Brandenburg,  Charlottenburg,  Eberswalde, 
Grunewald*),  Gransee*),  Friedrichshagen,  Lichtenberg,  Neu- 
Weißensee,  Pankow*),  Großlichterfelde,  Steglitz,  Britz*), 
Reinickendorf*),  Berlin,  Schöneberg,  Spandau,  Forst*), 
Frankfurt  a.  O.,  Kottbus,  Königsberg  i.  N. 
Pommern:  Stettin. 
Posen:  Posen,  Bromberg. 

Schlesien:  Breslau,  Görlitz,  Königshütte,  Ratibor. 
Sachsen:  Halberstadt,   Magdeburg,    Quedlinburg,    Halle  a.  S., 

Zeitz*),  Erfurt,  Nordhausen,  Benneckenstein. 
Schleswig-Holstein:  Elmshorn,  Flensburg,  Kiel. 
Hannover:  Hannover  (Hilfsschule),  Nienburg,    Göttingen,    Os- 
nabrück. 
Westfalen:  Bielefeld,  Herford,  Hagen,  Bochum*),  Bottrop. 
Hessen-Nassau:  Cassel,  Rinteln*),  Frankfurt  a.  M.,  Wiesbaden. 
Rheinprovinz:  Altenessen *j,  Borbeck,  Essen,  Meiderich,    Cre- 
feld,    Lobberich,    Dülken,    Mühlheim,    Ohligs,    Remscheid, 
Solingen,    Bonn,    Cöln,    Mahlstadt -Burbach,    Saarbrücken, 
Saarlouis*),  Trier,  Aachen,  Stolberg,  Düren,  Eupen,  Riegels- 
berg, St.  Johann. 
Königreich  Bayern:  Nürnberg. 

Königreich    Sachsen:    Bautzen,    Zittau,    Ebersbach,    Chemnitz, 
Dresden,  Freiberg,  Riesa*),    Leipzig,  Krimmitschau,   Auer- 
bach*), Falkenstein,  Plauen,   Reichenbach*),  Zwickau. 
Königreich  Württemberg:  Heilbronn. 

Großherzogtum  Hessen:  Darmstadt,  Offenbach,  Alzey,  Gießen, 
Mainz,  Worms,  in  den  Kreisen  Worms  und  Mainz  alle  Land- 
gemeinden, Nierstein,  Bodenheim,  Oppenheim. 
Großherzogtum   Sachsen- Weimar:    Apolda,    Jena*),   Weimar, 
Ilmenau. 


*)  Das  Zeichen  deutet  an,  daß  es  fraglicli   ist,  ob  sämtliche   Kinder    bei    der    Auf- 
nahme in  die  .Schule  untersucht  werden  müssen. 


Ilvüfieiiische  \\ Olillahrtseiiirichtungeii.  ()Q 

Herzogtum  Sachsen-Meiiiingen:  Meiningen. 

Fürstentum  Reuß:  Gera. 

Elsaß-Lothringen:    Colmar,  ?^Iülliausen,  Straßburg. 

Für  die  meisten  Schulen  ist,  wie  gesagt,  die  Wiesbadener  Dienst- 
ordnung der  Schulärzte  vorbildlich  gewesen.  In  einigen  Orten,  wie 
in  Berlin,  besteht  die  Einrichtung,  daß  die  Kinder  im  allgemeinen 
nicht  in  der  Schule,  sondern  in  der  Regel  in  der  Wohnung  des 
Arztes  unter  Hinzuziehung  der  Eltern  untersucht  werden.  Auch 
werden  nicht  überall  Gesundheitsscheine  ausgestellt  und  dauernd 
geführt. 

Das  Gehalt  der  Schulärzte  ist  in  den  verschiedenen  deutschen 
Städten  sehr  ungleich,  von  400 — 2000  M.,  je  nach  der  Zahl  der  dem 
Schularzt  unterstellten  Schulen  und  dem  Umfange  der  ihm  über- 
tragenen Obhegenheiten.  So  zahlt  z.  B.  Charlottenburg  500 — 1400  M. 
jährlich  nach  Maßgabe  des  sich  entwickelnden  Umfanges  der  dienst- 
lichen Tätigkeit,  Frankfurt  a.  M.  1000  M.  (14  Schulärzte  für  34  Schulen, 
1.  April  1901),  Breslau  500  M.  (für  ca.  2000  Kinder),  BerHn  2000  M. 
für  7 — 8  Gemeindeschulen  (36  Schulärzte  für  die  ganze  Stadtj,  Leipzig 
für  19  Schulärzte  (1901)  zusammen  13  750  M.,  Schöneberg  an  5  Schul- 
ärzte je  1000  M.,  an  1   500  :\1.  usw. 

Über  die  Ergebnisse  der  schulärztlichen  Untersuchung  Hegen  aus 
einer  großen  Anzahl  von  deutschen  Städten  bereits  Berichte  vor.  Dem 
allgemeinen  Bericht  über  die  Volksschulen  in  Leipzig  von  1901/2 
S.  36  entnehmen  wir  folgende,  dem  Verwaltungsbericht  der  Stadt 
Leipzig  von  1901  entlehnten  Angaben  über  die  Untersuchung  der 
neu  eintretenden  Kinder:  Es  wurden  insgesamt  9031  neu  eingetretene 
Kinder  untersucht  und  zwar  8666  (96  o/o)  von  den  Schul-,  365  (4  %) 
von  den  Privatärzten.  Bei  3748  i=  41,5%)  Kindern  erschien  ärzt- 
liche Behandlung  erforderlich  und  zwar  bei  43,2%  der  untersuchten 
Knaben,  bei  42^  q  der  Mädchen.  Bezüglich  der  allgemeinen  körperlichen 
Beschaffenheit  erhielten  47,4%  aller  Kinder  die  Zensur  I,  48,4%  die 
Zensur  II,  „der  Rest  von  4,2  %,  erwies  sich  als  sehr  schwächUch 
und  elend''.  Das  von  den  Klassenlehrern  zur  allgemeinen  geistigen 
Beschaffenheit  abgegebene  Urteil  lautete  sehr  günstig:  zwei  Drittel 
aller  Kinder  wurden  als  gut,  ein  ganz  geringer  Prozentsatz  als  schlecht 
bezw.  unbegabt  bezeichnet.  Augenerkrankungen  (Entzündungen  und 
Refraktionsanomalien)  zeigten  2033  =  22,5  %  aller  Kinder.  Die 
Mädchen  waren  etwas  schlechter  gestellt  als  die  Knaben.  Überein- 
stimmende Resultate  ergaben  sich  bei  den  Bürger-  und  Bezirks- 
schulen.    Die  soziaL  Stellung-  war  also  ohne  Einfluß   auf  die  x\ugen- 


70  Wohlfahrtseiniichtuiiijen. 

beschaffenheit.  Gehörsstörungen  fanden  sich  bei  I0O6  =  15,2  "/o  ^^^^^ 
Kinder.  Bürger-  und  Bezirksschulen  zeigten  hierbei  einen  auffälligen 
Unterschied.  An  den  erste ren  hatten  8,8 '^'/,,j  an  den  letzteren  17,5% 
aller  Kinder  kranke  Ohren.  Hier  tritt  der  Einfluß  der  sozialen  Lage 
insofern  hervor,  als  Ohrenleiden  vielfach  eine  Teilerscheinung  der 
Skrofulöse,  der  Krankheit  schlecht  gepflegter  und  schwächlicher 
Kinder,  sind.  Die  Zahnverhältnisse  waren  sehr  schlechte:  5026  = 
55,7 '/o  ällcJ"  Kinder  besaßen  ein  krankes  Gebiß.  Es  hängt  dies  wohl 
mit  dem  in  diesem  Lebensalter  beginnenden  Zahnwechsel  zusammen. 
Bürger-  und  Bezirksschulen  zeigten  keine  wesentlichen  Unterschiede. 
Krankhafte  Wucherungen  im  Nasenrachenraum  hatten  2099  =  2.'^,2  ^'o 
aller  Kinder.  Außerdem  wurden  Herzfehler  bei  166  (=  1,8%), 
Rückgratsverkrümmungen  bei  1 28  (=  1 ,4  %),  Parasiten  und  Haut- 
krankheiten bei  515  (=  5,7%)  und  verschiedene  andere  Krankheits- 
erscheinungen bei  896  (=  9,9  7o)  Kindern  gefunden. 

Diese  kränklichen  Kinder  verteilen  sich  gleichmäßig  auf  beide 
Geschlechter  wie  auf  die  Bürger-  und  Bezirksschulen.  Zeigten  sich 
für  die  erstere  Schulgattung  in  mancher  Beziehung  bessere  gesundheit- 
liche Verhältnisse,  so  wurden  diese  Vorzüge  durch  Störungen  auf 
anderen  Gebieten  wieder  aufgehoben. 

Bei  der  Neuheit  der  ganzen  Einrichtung  ist  eine  einheitliche 
Auffassung  über  das  zu  beachtende  Verfahren  und  demgemäß  auch 
ein  übereinstimmendes  Resultat  noch  nicht  erzielt  worden.  Eine 
Gesamtorganisation  aller  deutschen  Schulärzte  würde  auf  diesem 
Gebiete  nicht  nur  praktische,  sondern  auch  wichtige  wissenschaftlich- 
theoretische Erfolge  erzielen  können.  Der  Orientierung  über  dieses 
Gebiet  dient  besonders  die  ,, Zeitschrift  für  Schulgesundheitspflege", 
begründet  von  Dr.  Kotelmann,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Erismann- 
Zürich  (Verlag  von  Voss  in  Hamburg). 

Wie  das  bei  der  zunehmenden  Spezialisierung  und  Differenzierung 
der  ärztlichen  Wissenschaft  nicht  zu  verwundern  ist,  macht  sich  in 
vielen  Gemeinden  das  Bedürfnis  geltend,  sich  auch  für  die  schul- 
ärztliche Tätigkeit  der  Beihilfe  von  Spezialärzten  zu  versichern,  und 
so  werden  denn  auch  für  den  Zweck  der  schulärztlichen  Überwachung 
der  Kinder  gern  solche  Arzte  gewählt,  welche  sich  mit  den  Sonder- 
gebieten der  Kinderkrankheiten,  der  Augen-,  Ohren-  und  Nerven- 
leiden, mit  der  Zahnheilkunde  und  Psychiatrie  eingehender  beschäftigt 
haben.  Besonders  erfordert  die  Untersuchung  schwachsinniger  Kinder 
behufs  Aufnahme  in  die  Hilfsschulen  spezielle  Vorkenntnisse  und  Er- 
fahrungen   in    der  Behandlung    von    geistigen    Störungen    und    ihrem 


Hvs^icuische  Wolilfalirtseinriclitungen.  7t 

Zusainmenhango  mit  körperlichen  .Viiomalien,  und  da  gerade  die 
geringen  Grade  von  geistiger  Schwäche  (Imbezillität)  bisher  nur  in 
seltenen  Fällen  der  ärztlichen  Behandlung  übergeben  wurden,  so  bietet 
die  Prüfung  und  Beobachtung  der  Hilfsschulkinder  für  die  Schulärzte 
ein  neues  und  interessantes  Forschungsgebiet.  Eingehende  Unter- 
suchungen über  den  gesamten  Körper-  und  Geisteszustand  dieser 
geistig  Schwachen  sind  bereits  mehrfach  von  Schulärzten  veröffentlicht 
worden;  ich  erinnere  hier  nur  an  die  wertvollen  Arbeiten  von 
Laquer  ,,Die  Hilfsschulen  für  schwachbefähigte  Kinder,  ihre  ärzt- 
liche und  soziale  Bedeutung"  1901  (Hilfsschule  in  Frankfurt  a.  M.) 
und  ,,Über  schwachsinnige  Schulkinder"  l9Ü2;  Cassel  ,,Was  lehrt 
die  Untersuchung  der  geistig  minderwertigen  Kinder  im  IX.  Berliner 
Schulkreise"  1901  ;  Doli  „Ärztliche  Untersuchungen  aus  der  Hilfs- 
schule für  schwachsinnige  Kinder  zu  Karlsruhe"   1902  u.  a. 

Die  Schulzahnklinik  in  Straßburg.  Wenn  auch  Schulkinder 
wie  andere  weniger  bemittelte  Personen  unter  Umständen  überall  in 
deutschen  Städten  unentgeltliche  Behandlung  durch  Spezialärzte  in 
den  privaten  und  öffentlichen  Polikliniken  erhalten  können,  so  sind 
diese  Anstalten  doch  bisher  nirgends  in  engen  unmittelbaren  Zu- 
sammenhang zu  der  Volksschule  getreten.  In  Straßburg  hat  sich 
dieser  Übergang  im  Laufe  der  80  er  und  90  er  Jahre  des  vorigen 
Jahrhunderts  allmählich  vollzogen  und  ist  jetzt  zur  Tatsache  geworden. 
Am  15.  Oktober  1902  wurde  dort  die  erste  städtische  Schulzahnklinik 
in  Deutschland  eröffnet.  Schon  seit  1885  waren  unter  Leitung  des 
Privat-Dozenten  für  Zahnheilkunde  an  der  Kaiser  Wilhelms-Universität 
Dr.  Ernst  Jessen  arme  Volksschulkinder  und  Soldaten  unentgeltlich 
behandelt  worden;  eine  regelmäßige  Untersuchung  der  Volksschul- 
kinder wurde  im  Jahre  1897  eingeführt.  Sie  vollzog  sich,  indem  die 
Kinder  klassenweise  von  ihren  Lehrern  in  die  Universitäts-Poliklinik 
geführt  wurden.  Da  indessen  die  Räume  hierzu  auf  die  Dauer  nicht 
ausreichten,  wurde  nach  einem  kurzen,  ergebnislosen  Versuch,  die 
Kinder  in  der  Schule  selbst  durch  einen  Studenten  der  Medizin  unter- 
suchen zu  lassen,  dank  dem  freundlichen  Entgegenkommen  des  Bürger- 
meisters der  Stadt  Straßburg  Back  und  des  Gemeinderates  mit  Be- 
willigung der  Universitätsbehörden  zur  Einrichtung  einer  .städtischen 
Schulzahnklinik  geschritten.  Die  Räume  wurden  von  der  Universität 
zur  Verfügung  gestellt,  während  die  Kosten  der  baulichen  Ver- 
änderungen von  der  Stadt  bestritten  wurden.  Zur  Unterstützung  des 
Dr.  Jessen  wurde  ein  approbierter  Zahnarzt  mit  einem  Jahresgehalt  von 
2000  M.  als  Assistent  angestellt.     Die  Untersuchung  und  konservative 


72  \Vohlfahrtseinrichtiuigen. 

Behandlung  der  Zähne  geschieht  vollständig  unentgeltlich;  die  Unter- 
suchung wird  an  jedem  Wochentage  mit  Ausnahme  des  (in  Straß- 
burg schulfreien)  Donnerstags  an  40  bis  60  Kindern  in  der  Schul- 
zahnklinik, wohin  dieselben  klassenweise  geführt  werden,  vor- 
genommen. Zur  Fixierung  der  gewonnenen  Beobachtungen  bedient 
man  sich  eines  besonderen  Formulars,  der  sogenannten  Straßburger 
Karte,  welche  es  ermöglicht,  den  Befund  mit  späteren  Beobachtungen 
zuverlässig  zu  vergleichen.  Die  in  einem  für  die  Städte-Ausstellung 
in  Dresden  (Sommer  1903)  bestimmten  Bericht  des  Dr.  Jessen  mit- 
geteilten Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  sind  äußerst  ungünstig; 
er  sagt  daselbst: 

,,Das  Ergebnis  der  Untersuchung  ist  bei  Volksschulkindern, 
unter  denen  sich  viele  schlecht  genährte  und  schwächliche  Individuen 
befinden,  deren  Eltern  auf  Körperpflege  im  allgemeinen  nur  geringen, 
auf  Zahnpflege   aber    gar  keinen  Wert  legen,   geradezu  erschreckend. 

95  Prozent  aller  Kinder  haben  kranke  Zähne.  In  Straßburg 
sind  in  einem  Jahre  10  000  Kinder  untersucht  worden,  von  denen 
nur  430,  also  4,3  Prozent,  ein  gesundes  Gebiß  hatten.  Die  übrigen 
hatten  zusammen  102  456  kranke  Zähne,  während  51  219  schon  fehlten 
und  98  149  gesund  waren,  sodaß  etwas  mehr  als  die  Hälfte  aller  vor- 
handenen Zähne  sich  als  krank  herausstellte. 

Dabei  ist  es  keine  Seltenheit,  daß  schon  vor  der  Schulzeit,  vor 
dem  Zahnwechsel,  Kinder  von  3 — 4  Jahren  ein  vollkommen  zerstörtes 
Gebiß  haben.  Der  Mund  ist  voll  von  kranken  Zähnen,  freiliegenden 
Pulpen  und  faulenden  Zahnwurzeln.  Eiternde  Fistelgänge,  Schwellungen 
des  Zahnfleisches  und  der  Drüsen  geben  ein  trauriges  Bild  der  Zer- 
störung und  erklären  zur  Genüge  die  bleichen  Wangen,  die  trüben 
Augen,  die  schlechte  Ernährung,  Blutarmut  und  Nervosität  des  hilfe- 
suchenden Kindes.  Ich  male  hier  nicht  zu  schwarz.  Jeder,  der  sich 
mit  Behandlung  der  Armen  beschäftigt,  jeder  Leiter  einer  Klinik  wird 
mir  das  vollauf  bestätigen.  Das  sind  in  den  Städten  die  Kinder, 
welche  für  die  Ferienkolonien  den  Stamm  abgeben.  Wie  können  aus 
solchen  Kindern  kräftige  Menschen  werden?" 

An  diese  Ausführungen  knüpft  er  einen  lebhaften  Appell  an 
andere  deutsche  Städte,  die  in  Straßburg  auf  diesem  Gebiete  ge- 
machten Erfahrungen  im  Interesse  ihrer  Schuljugend  zu  verwerten. 

Wenn  auch  die  hier  und  da  in  anderen  Städten  vorgenommenen 
zahnärztlichen  Untersuchungen  der  Schuljugend  nicht  ganz  so  un- 
günstige Resultate  ergeben  haben,  so  wird  doch  nicht  zu  bestreiten 
sein,  daß  eine  rationelle  Zahnpflege  im  schulpflichtigen  und  vorschul- 


Hygienisclie  \\'ohlfalirtseimiclitungen.  73 

Pflichtigen  Alter  und  eine  zweckmäßige  Aufklärung  der  Bevölkerung 
über  die  Bedeutung  dieses  Zweiges  der  Gesundheitspflege  wesentlich 
zur  Verbesserung  des  Gesundheitszustandes  und  der  Leistungsfähigkeit 
der  heranwachsenden  Generation  eines  Volkes  beitragen  würde.  Bisher 
sind  bereits  die  Städte  Darmstadt  und  Essen  dem  Vorbilde  Straß- 
burgs  gefolgt. 

B.  Schulbäder  und  Schwimmunterricht.  Unter  den  Bade- 
einrichtungen für  Schüler  nehmen  seit  dem  letzten  Jahrzehnt  die 
Schulbrausebäder  die  wichtigste  Stelle  ein.  Auch  diese  segens- 
reiche Veranstaltung  besteht  erst  seit  den  achtziger  Jahren  des 
10.  Jahrhunderts  in  Deutschland,  und  es  gebührt  der  Stadt  Göttingen 
der  Ruhm,  die  Idee,  zum  Wohle  der  Schuljugend  Badeeinrichtungen 
in  der  Schule  selbst  anzulegen,  zuerst  v^erwirklicht  zu  haben.  Gegen- 
wärtig haben  sehr  zahlreiche  größere  und  mittlere  Städte,  besonders 
solche,  welche  eigene  Wasserleitung  besitzen,  die  Schulbrausebäder 
eingeführt.  Bei  Neubauten  von  Schulhäusern  werden  die  entsprechen- 
den Anlagen  regelmäßig  im  Plane  vorgesehen,  in  älteren  Schulhäusern 
häufig  durch  entsprechende  Umbauten  nachträglich  eingerichtet.  So 
weit  es  dem  Verfasser  bekannt  geworden  i.st,  besitzen  zurzeit  folgende 
deutsche  Städte  Brausebäder  in  den  Räumen  der  Volksschulen: 
Barmen,  Berlin,  Bielefeld,  Breslau,  Cassel,  Charlottenburg,  Chemnitz, 
Cöln  a.  Rh.,  Dortmund,  Erfurt,  Frankfurt  a.  M.,  Fürth,  Göttingen, 
Halle,  Hamburg,  Hannover,  Jena,  Karlsruhe,  Kiel,  Königsberg  i.  Pr., 
Leipzig,  Lübeck,  Magdeburg,  Mainz,  Mannheim,  München,  Nürnberg, 
Posen,  Schöneberg,  Straßburg  i.  E.,  Stuttgart,  Ulm,  Weimar,  Wies- 
baden, Worms.  Das  Verzeichnis  kann  auf  Vollständigkeit  keinen  An- 
spruch erheben. 

Die  Einrichtung  der  gewöhnlich  im  Kellergeschoß  des  Schul- 
hauses befindlichen  Brausebadanlage  ist  im  allgemeinen  folgende:  Sie 
besteht  aus  mindestens  zwei  Räumen,  dem  Auskleideraum  und  dem 
Baderaum. 

In  dem  Auskleideraum  befindet  sich  an  den  Wänden  eine  Anzahl 
(ca.  30)  Zellen,  welche  entweder  unverschlossen  sind  oder  durch  einen 
Vorhang  verschlossen  werden  können.  In  diesen  ziehen  sich  die  Kinder 
aus  und  begeben  sich  dann  in  den  eigentlichen  Baderaum.  Dieser  hat 
meist  Zementfußboden,  der  gewöhnlich  mit  Matten  oder  Holzrosten 
belegt  ist. 

Die  Badeeinrichtung  besteht  in  Brausen,  deren  Wasser  tempe- 
riert werden  kann  (die  Kinder  benutzen  gewöhnlich  Wasser  von 
25— .35  ^  Celsius)    und    unter  denen  entweder  flache  Zinkwannen  auf- 


74  Wohlfalirtseiiiriclitungen. 

gestellt  oder  bis  20  cm  tiefe  Mulden  mit  verschließbarem  Abfluß  an- 
gebracht sind.  In  diese  Wannen  oder  Mulden  treten  nun  mehrere 
Kinder,  waschen  sich  unter  Benutzung  von  Seife  und  werden  dann 
von  dem  lauwarmen  Wasser  der  Brausen  abgespült.  Über  die  Vor- 
züge und  Mängel  der  bisher  in  Deutschland  im  Gebrauch  befindlichen 
S\^steme  von  Brausebadanlagen  sowie  ihre  technische  Einrichtung  im 
einzelnen  findet  man  in  den  umfangreicheren  Werken  über  Schul- 
h}'giene  die  nötige  Auskunft,  hier  möge  es  genügen,  auf  den  Bade- 
betrieb selbst  einen  Blick  zu  werfen.  Wir  lassen  eine  kurze  Dar- 
stellung folgen,  welche  wir  einem  in  Januar  1896  dem  Magistrat  von 
Magdeburg  erstatteten  Bericht  des  Rektors  Pohlenz  daselbst  ent- 
nehmen : 

„In  der  III.  Volksknabenschule  sind  vier  große,  runde  Zink- 
wannen mit  je  einer  darüber  angebrachten  Brause  vorhanden. 

Beim  jedesmaligen  Baden  treten  16  Schüler  an  (auf  der 
Mittelstufe  nur  12  und  auf  der  Oberstufe  8)  und  gehen  leise 
hinab  zu  der  im  Kellerraum  befindlichen  Badeeinrichtung.  Dort  ent- 
kleiden sich  die  Kinder  in  einem  besonderen  Räume,  der  neben  der 
Badestube  liegt,  und  hängen  ihre  Kleider  auf  oder  legen  sie  auf 
längs  den  Wänden  unterhalb  der  Kleiderhaken  aufgestellte  Bänke. 
Die  nur  mit  einer  Badehose  bekleideten  Knaben  treten  zu  zweien  an 
die  zum  Baderaum  führende  Tür  und  begeben  sich  erst  auf  das  Ge- 
heiß des  Schuldieners,  der  die  Aufsicht  führt,  in  die  gefüllten 
Wannen,  und  zwar  verteilt  zu  vier  bei  den  Kleinen,  drei  auf  der 
Mittelstufe  und  je  zwei  der  größeren  für  jede  Wanne.  Nach  kurzer 
Frist  kommandiert  der  Kastellan:  Auf!  oder  Aufstehen!  wobei  die 
Kinder  gleichzeitig  mit  der  Ausführung  die  Arme  aufwärts  zur 
Brause  strecken.  Die  Brausen  werden  nur  eine  Minute  lang  geöffnet 
bei  einer  Temperatur  des  Wassers  von  ca.  26  °  R.  Nach  Beendigung 
des  Brausens  legen  sich  die  Kinder  noch  etwa  5  Minuten  nieder, 
seifen  sich  ab  und  tummeln  sich  vergnügt  im  Wasser.  Zum  Schlüsse 
erfolgt  ein  kurzes  Abbrausen  mit  Wasser  von  20  °  R,  Wärme,  und 
die  Schüler  gehen  zurück  in  den  Ankleideraum,  der  natürlich  im 
Winter  auch  geheizt  sein  muß.  In  der  kälteren  Jahreszeit  bleiben 
die  Knaben  in  der  Klasse,  wenn  unmittelbar  nach  Beendigung  des 
Badens  eine  Pause  folgt,  in  der  die  anderen  Schüler  auf  den  Hof 
gehen. 

Es  ist  selbstredend,  daß  auch  die  Lehrer  der  badenden  Klasse, 
soweit  es  ihnen  möglich  ist,  sich  um  das  Baden  kümmern.  Ganz  be- 
sonders aber  ist  ihr  Augenmerk  darauf  gerichtet,    daVs  die  Teilnahme 


Hygienische   WohlfahrtseimielUmisren.  75 

an  dieser  .ses^ensreichcn  Einrichtung  eine  allgemeine  ist,  und  dal?»  sich 
die  Kinder  derselben  nicht  ohne  Grund  entziehen. 

An  der  III.  Volksknabenschule  baden  in  einer  Woche  in  n 
Stunden  5  Klassen  und  in  der  folgenden  Woche  in  4  Stunden  4  Klassen, 
die  Stunden  sind  in  jeder  Woche  auf  3  Tage  verteilt. 

Es  hat  sich  in  der  Praxis  herausgestellt,  daß  die  Badezeit  am 
besten  auf  eine  Rechen.stunde  gelegt  wird.  Durch  das  Kommen  und 
Gehen  der  einzelnen  Gruppen  ist  für  keine  andere  Klasse  auch  nur 
die  geringste  Störung  erwachsen,  ja  auch  für  die  eigene  Klasse  war 
sie  ganz  minimal  und  fällt  wohl  ganz  außer  acht  gegenüber  dem 
großen  Segen,  der  in  der  ganzen  Einrichtung  liegt. 

Die  Schüler  bringen  an  dem  für  das  Baden  der  Klasse  be- 
stimmten Tage  eine  Badehose,  ein  Handtuch  und  ein  Stückchen 
Seife  mit.  So  sorgten  wir  nach  Möglichkeit  für  Anstand  und  Gründ- 
lichkeit der  Reinigung  und  verhüteten  nach  Kräften  eine  Übertragung 
von  Hautkrankheiten  durch  das  Trockentuch.  Es  haben  sich  auch 
tatsächlich  keine  nachteiligen  Erfahrungen  ergeben. 

Auf  der  Oberstufe  fehlt  kein  Junge  beim  Baden;  am  liebsten 
hätten  sie  mindestens  wöchentlich  eine  Badestunde.  Auch  auf  der 
Mittelstufe  gehen  die  Kinder  gern  zum  Baden  und  beteiligen  sich  mit 
geringen,  meistens  motivierten  Ausnahmen.  Hier  spricht  auch  zu- 
weilen Vergessen  des  Badezeuges  mit.  Am  geringsten  ist  das  Inter- 
esse bei  den  Kleinen,  denen  es  naturgemäß  große  Mühe  macht,  mit 
der  Garderobe  fertig  zu  werden.  Doch  überwinden  sie  die  anfäng- 
liche Scheu  bald,  und  es  ist  zwischen  den  NeuHngen  und  den  Schülern 
des  zweiten  Jahrgangs  schon  ein  bedeutender  Unterschied. 

Es  ist  offenbar  und  hat  sich  klar  gezeigt,  daß  in  sanitärer  Be- 
ziehung wohltätige  Folgen  des  Badens  unausbleiblich  sind.  Aber 
auch  für  die  geistige  und  sittliche  Entwicklung  der  Kinder  scheint  es 
segensreich  zu  wirken,  und  irgend  welche  schädlichen  Momente  und 
nachteilige  Wirkungen  haben  sich  nicht  ergeben." 

So  weit  der  Bericht.  Wir  haben  hier  in  dem  Schülerbad  der 
III.  Volksknabenschule  in  Magdeburg  eine  ältere  Anlage  dieser  Art 
vor  Augen,  welche  sich  von  neueren  Brausebädern  schon  dadurch 
unterscheidet,  daß  bei  der  geringen  Zahl  der  zur  Verfügung  stehen- 
den Wannen  unter  Umständen  nur  8  Schüler  zugleich  baden  können, 
daß  die  Auskleidezellen  fehlen  u.  dergl. 

Neuere  Brausebadanlagen  treffen  für  die  Benutzung  durch  ganze 
Kla.ssen  zugleich  Vorkehrungen  und  bieten  den  Kindern  mancherlei 
besondere  Bequemlichkeiten  und  Rücksichten. 


76 


\\'ohltahrt-eim-icluungen. 


An  erster  Stelle  ist  hier  wie  auf  so  vielen  anderen  Gebieten  der 
Fürsorge  für  die  Schuljugend  wieder  München  zu  nennen.  Es  be- 
finden sich  daselbst  nach  dem  letzten  dem  Verfasser  zugänglichen  Ver- 
waltungsbericht der  Schulbehörde  von  1901  in  den  der  Werktags- 
schule zur  Verfügung  stehenden  40  Schulhäusern  23  Brausebäder, 
das  älteste  im  Schulhause  an  der  Amalienstraße,  Oktober  1888  er- 
öffnet, das  neueste  im  Schulhausc  an  der  Türkenstraße,  Oktober  1901 
eröffnet. 

Diese  Anlagen  bestehen  nach  dem  mehrfach  angeführten 
, .Münchener  Schulbauprogramm"  aus  5  Räumen  und  zwar  dem  Aus- 
und  Ankleideraum,  dem  Brausebad,  dem  Raum  für  die  Badefrau,  der 
Waschküche  für  das  Bad  und  dem  Trockenraum.  Die  bauliche  Ein- 
richtung der  Münchener  Brausebäder  ist  bereits  in  dem  Kapitel  über 
die  Schulhäuser  in  vollem  Umfange  darge.stellt  worden. 

Der  Auskleideraum  bietet  50  Zellen  dar,  und  der  Baderaum 
Badegelegenheit  für  die  gleiche  Anzahl  von  Kindern.  Badeanzüge, 
Handtücher,  Kämme,  Schuhknöpfer,  Bürsten,  Stiefelzieher  usw.  werden 
den  Kindern  im  reichsten  Maße  von  der  Stadt  unentgeltlich  zur  V^er- 
fügung  gestellt,  und  so  sind  denn  auch  die  Münchener  Schulbäder 
eine  wirklich  volkstümliche  Einrichtung  geworden,  welche  nicht  in 
großen  Zwischenräumen  einem  mäßigen  Prozentsatz  der  Kinder 
einzelner  bevorzugter  Schulen  und  Klassen,  sondern  in  regelmäßiger 
Folge  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Volksschulkinder  zu  gute 
kommt. 

Von  sämtlichen  an  der  Schule  befindlichen  Kindern  beteiligten 
sich  am  Bade: 


an  der  Schule 
n  der  bezw.  am 


ö/o       Vorjahre 


an  der  Schule 
an  der  bezw.  am 


Weilerstraße  .  .  . 
Schrenkstraße  .  .  . 
Guideinstraße  .  .  . 
Stielerstraße.  .  .  . 
Bazeillesstraße.  .  . 
Columbusstraße  .  . 
Wilhelrastraße .  .  . 
Bergmannstraße  .  . 
Haimhausenstraße  . 
Versaillerstraße  .  . 
Schulstraße  .... 
Witteisbacherstraße . 


87 
86 
85 

81 
79 
76 
76 
74 
74 
74 
72 
71 


88,6 
83,2 

74,0 
79,0 
75,0 
67,5 

71,5 
73,4 

70,5 


Marsplatz 

Gabelsbergerstraße .  .  . 
Dom  Pedroplatz.  .  .  . 
Tumblingerstraße    .    .    . 

Wörthstraße 

Amalienstraße     .... 

Sch\vind^5traße 

Herzog  Wilhelmstraße  . 

Klenzestraße 

Luisenstraße  (kathol.j  . 
Luisenstraße(prütestant.j 


66,5 
66,5 
70,5 
60,0 
58,5 
50,3 
54,2 
44,7 
57,7 
51,0 
49,7 


Hy^enische   Wohlfahrtscinriclituni^en.  77 

Die  BeteiliguiiLj  der  Schulkinder  an  den  Hadern  ist  zwar  überall 
unentgeltlich,  aber  freiwillig,  daher  schwankt  der  Prozentsatz  der 
tatsächlich  Badenden  und  richtet  sich  nach  mancherlei  vorüber- 
gehenden Umständen.  Im  allgemeinen  baden  überall  die  Knaben 
mehr  als  die  Mädchen  und  die  älteren  Schüler  und  Schülerinnen 
mehr  als  die  Kleinen,  in  manchen  Orten  wie  in  Wiesbaden  und 
Hamburg  beteiligen  sich  die  untersten  Klassen  überhaupt  nicht  am 
Baden,  in  Berlin  werden  nur  Kinder  zugelassen,  welche  das  achte 
Lebensjahr  vollendet  haben. 

Auf  die  vielen  vortrefflich  eingerichteten  und  verwalteten  Schul- 
brausebäder in  anderen  deutschen  Städten  kann  hier  nicht  näher  ein- 
gegangen werden,  doch  mögen  die  Anlagen  in  Hannover,  Frank- 
furt a.  M.  und  Halle  a.  S.,  welche  Verfasser  durch  eigene  An- 
schauung kennen  zu  lernen  Gelegenheit  hatte,  hier  rühmende  Er- 
wähnung finden. 

Auch  in  Berlin  werden  seit  etwa  7  Jahren  in  allen  Neubauten 
für  Volksschulen  Badeeinrichtungen  angelegt;  die  Kosten  für  die  den 
Schulkindern  gewährten  Brausebäder  wurden  im  Verwaltungsjahr  1902 
auf  ;J0  41 1,30  M.  berechnet. 

Als  ein  nicht  völlig  ausreichender  Ersatz  für  die  der  Schule 
angegliederten  Badeeinrichtungen  muß  die  unentgeltliche  Ausgabe 
von  Badekarten  an  Volksschulkinder  zur  Benutzung  der  öffentlichen 
Wannen-,  Brause-  oder  Schwimmbäder  angesehen  werden,  wäe  sie  in 
Dresden  und  aushilfsweise  in  mehreren  anderen  Städten  üblich  ist. 
In  den  öffenthchen  Badeanstalten  fehlt  es  den  Kindern  oft  an  der 
nötigen  Aufsicht,  auch  geht  ihnen  viel  von  der  Freude  verloren, 
die  aus  dem  Zusammenbaden  mit  gleichaltrigen  Kameraden  entspringt. 

In  Dresden  w^urden  im  Jahre  1903  zum  Ankaufe  von  Freikarten 
für  v\'arme  Bäder  für  ärmere  Kinder  der  Bezirksschulen  und  für  Er- 
teilung von  Schwimmunterricht  an  Bezirksschüler  zusammen  1500  M. 
im  Etat  in  Ansatz  gebracht. 

In  Freiberg  i.  S.  ist  den  Kindern  der  Volksschule  die  unent- 
geltliche Benutzung  des  städtischen  Volksbades  im  Winter  und  des 
Schülerfreibades  im  Sommer  gestattet.  Die  der  Stadt  daraus 
erwachsenden  Kosten  beliefen  sich  nach  dem  Verwaltungsbericht 
von  1899/00  (ein  neuerer  liegt  dem  Verfasser  nicht  vor)  auf  611, 04  M. 
für  das  Schülerfreibad  und  2098,24  M.  für  das  Volksbad.  Die  Be- 
teiligung der  Schuljugend  im  Sommer  1900  im  Freibade  betrug  im 
Durchschnitt  täglich  85  Knaben  und  22  Mädchen.  Im  Volksbad 
badeten  im  Jahre   1900    in    der    Badezeit    vom  2.  Januar  bis  31.  Mai 


78  Wolilfahrtseinrichtungeu. 

und  vom  10.  September  bis  'M .  Dezember  täglich  durchsclmittlich 
73  Knaben  und  56  Mädchen. 

Den  Brausebädern  reihen  sich  als  wichtige  hygienische  Ein- 
richtung die  Frei-  und  Schwimmbäder  an.  Die  Anlage  und  Ein- 
richtung aller  der  diesem  Badebetriebe  dienenden  Anstalten  richtet 
sich  naturgemäß  nach  den  Wasserverhältnissen,  den  Bedürfnissen  und 
der  Lage  der  Ortschaft,  deren  Schuljugend  diese  Veranstaltungen 
zugute  kommen  sollen.  Freibaden  und  Schwimmen  w^rd  mit  be- 
sonderem Eifer  in  allen  Städten  gepflegt,  die  der  Seeküste  zunächst 
liegen  und  selb.st  Schiffahrt  treiben,  wie  Königsberg,  Danzig,  Kiel, 
Hamburg,  Lübeck,  Bremen  u.  a.,  aber  auch  Städte  des  Binnenlandes 
unterschätzen  den  sozialen  und  hygienischen  Wert  dieser  vortreff- 
lichen Körperübung  nicht.  Breslau,  Frankfurt  a.  M.,  Hannover,  Elber- 
feld,  Dresden,  Leipzig,  Chemnitz,  Remscheid,  Stuttgart,  Charlotten- 
burg, Karlsruhe,  Magdeburg,  Krefeld  und  eine  Menge  kleiner  Orte 
müssen  hier  mit  Anerkennung  genannt  werden. 

Das  Verdienst,  die  Jugend  zum  Baden  im  kalten  Wasser,  in 
Seen  und  Flüssen  oder  im  Meere  immer  von  neuem  angeregt  und 
viele  vorzügliche  Badeanstalten  geschaffen  zu  haben,  gebührt  in  erster 
Linie  den  Schwimmvereinen.  Sie  haben  gewöhnlich  auch  zuenst  den 
Unterricht  im  Schwimmen  selber  in  die  Hand  genommen,  erst  später 
sind  dann  die  Stadtverwaltungen  mit  ihnen  in  Verbindung  getreten, 
haben  sich  die  geschaffenen  Anlagen  im  Interesse  der  Schuljugend 
zunutze  gemacht  und  die  Vereine  aus  ihren  Etatsmitteln  unterstützt. 
Li  einigen  Fällen  sind  dann  schheßlich  auch  selbständige  Bade- 
anstalten, besonders  Hallenbäder,  von  den  Gemeinden  angelegt  und 
der  Schuljugend  zur  Verfügung  gestellt  worden. 

Die  Teilnahme  der  Schulkinder  am  Freibaden  und  am  Schwimm- 
unterricht ist  überall  freiwillig  und  meist  unentgeltHch.  In  Bautzen 
allein  scheint  die  Teilnahme  gesunder  Schüler  an  dem  seit  1898 
eingeführten  Schwimmunterricht  eine  obligatorische  Schuleinrichtung 
zu  sein.*) 

Um  dem  Leser  eine  Vorstellung  von  der  Art  und  Weise  zu 
geben,  wie  das  Baden  und  Schwimmen  der  Schüler  an  deutschen 
Volksschulen  betrieben  wird,  mögen  hier    einige  Mitteilungen    folgen. 

Wie  sich  die  Neueinführung  der  Schwimmkurse  vollzieht,  zeigt 
der  nachfolgende  Bericht  über  den  Schwimmunterricht  in  Danzig: 

*)  V'erfasser  verdankt  diese  Notiz  wie  einige  andere  Angaben  in  den  Abschnitten 
über  Scliwimmen  und  Jugendspiel  freundlichst  zur  Verfügung  gestellten  schriftlichen  Mit- 
teilungen des  Herrn   <_)berturn\varts  Dr.   Luckow  in   Berlin. 


Hytfienische  Wohlfalirtseiniichtiingen.  79 

„Auf  die  sehr  tlankenswerte  Anregung  des  Turnleiters  für  die 
hiesigen  V^olksschulen  ist  im  Juli  1903  (in  den  Sommerferien)  Schülern 
der  hiesigen  Volksschulen  unentgeltlich  Schwimmunterricht  erteilt 
worden  von  ()  schwimmkundigen  (zugleich  Turn-)Lehrern  der 
hiesigen  Volksschulen,  die  ihre  freie  Zeit  in  den  Ferien  diesem  guten 
Zwecke  freiwillig  und  unentgeltlich  zur  V^erfügung  gestellt  hatten. 

Die  Leitung  des  Schwimmunterrichts  führte  der  Leiter  des  Turn- 
wesens. Von  diesem  wurden  die  6  Lehrer  vorher  mit  der  Methode 
des  Massenunterrichts  im  Schwimmen  bekannt  gemacht;  ein  Lehr- 
gang für  einen  derartigen  Betrieb  wurde  ihnen  vom  Leiter  ein- 
gehändigt. 

Der  Magistrat  hatte  zu  dem  Zweck  die  unentgeltliche  und  aus- 
schließliche Benutzung  der  städtischen  Badeanstalt  auf  Strohdeich  in 
den  Juliferien  täglich  (mit  Ausnahme  der  Sonntage)  von  V> — 1 1  Uhr 
vormittags  gestattet  und  die  zur  Anschaffung  von  Schwimmkarten, 
Gerätschaften  usw.  erforderlichen  Kosten  bewilligt. 

Im  ganzen  sind  von  den  6  Lehrern  240  Knaben  im  Schwimmen 
unterwiesen  worden.  Beteiligt  haben  sich  8  Knaben-Volksschulen: 
4  mit  je  20,  4  mit  je  40  Knaben  der  Oberstufe.  Knaben,  die  am 
Schwimmunterricht  teilnehmen  wollten,  wurden  von  den  Rektoren 
der  betreffenden  Schulen  nach  Einholung  der  Erlaubnis  der  Eltern 
dem  Turnleiter  namhaft  gemacht,  der  alsdann  die  Badekarten  aus- 
fertigte. 

Die  Schüler  wurden  zunächst  im  „Trockenschwimmen"  geübt 
und  kamen  hierauf  ins  Wasser.  Der  Massenunterricht  hat  sich  hierbei 
als  möglich  erwiesen  und  gute  Erfolge  gezeitigt.  In  12  Stunden 
haben  von  240  Schülern  bei  3  Stunden  wöchentlichem  Unterrichte 
147  schwimmen  gelernt,  sodaß  sie  sich  in  dieser  Kunst  selbständig 
weiter  bilden  können,  während  die  übrigen  in  den  Übungen  zwar 
vollständig  sicher  sind,  jedoch  ohne  Schwimmkapseln  das  Frei- 
schwimmen noch  nicht  gewagt  haben. 

Allgemein  fiel  bei  der  Vorführung  der  Schüler  (Anfang  August 
1903)  nach  der  Beendigung  des  Ferienkursus  im  Schwimmen  die 
Sicherheit  und  Regelmäßigkeit  der  Schwimmbewegungen  auf.  Nach 
diesem  wohlgelungenen  Versuche  des  Schwimmunterrichts  besteht 
die  Absicht,  im  nächsten  Jahre  den  Schwimmunterricht  für  die 
Danziger  Volksschulen  auch  für  die  Mädchen  zur  Einführung  zu 
bringen." 

In  Frankfurt  a.  M.,  wo  Schwimmunterricht  für  Knaben  schon 
in    den    vierziger  Jahren   des   vorigen  Jahrhunderts  erteilt  wurde  und 


30  Wohlfahrtseinrichtungen. 

derselbe  Unterricht  für  Mädchen  seit  1894  eingeführt  ist,  gUedert  sich 
das  gesamte  Baden  der  Schüler  in  drei  Gruppen: 

1.  Die  Brausebäder.  Die  Zahl  der  in  dem  Etatsjahr  1901  von 
den  Schulkindern  in  1 1  Anstalten  genommenen  Bäder  belief  sich 
auf  101  681. 

2.  Baden  und  Schwimmen  im  Main:  a)  Knaben.  Es  wurden 
die  Knaben  der  vier  letzten  Schuljahre  der  Mittel-  und  Bürgerschulen 
zur  Teilnahme  aufgefordert.  Von  4402  Schülern  meldeten  sich  o397. 
Aus  diesen  wurden  62  Abteilungen  gebildet.  Die  Aufsichtsführung 
wurde  58  Lehrern  übertragen.  Jede  Abteilung  badete  wöchentlich 
dreimal.  Die  durchschnittliche  Teilnahme  betrug  75,95  %  der  An- 
gemeldeten. Es  haben  nur  gebadet  397,  es  konnten  frei  schwimmen 
1139,  es  erhielten  Schwimmunterricht  1863;  von  den  letzteren  lernten 
frei  schwimmen  854=^45,84%.  Von  den  Ostern  1901  von  solchen 
Schulen,  die  am  Baden  und  Schwimmen  im  Main  teilgenommen 
haben,  aus  der  Schulpflicht  entlassenen  1 1 09  Schülern  haben  sich  am 
Baden  beteiligt  und  Schwimmunterricht  erhalten  884.  Hiervon  haben 
das  Schwimmen  erlernt  716  =  80,99  %.  —  b)  Mädchen.  Von  ins- 
gesamt 3029  Schülerinnen  der  Oberklassen  meldeten  sich  1717.  Die- 
selben badeten  in  32  Abteilungen  wöchentlich  je  dreimal  unter  Auf- 
sicht von  32  Lehrerinnen.  Die  Teilnahme  betrug  im  Durchschnitt 
63,92  %.  Es  haben  nur  gebadet  165,  es  konnten  schon  schwimmen 
277,  es  erhielten  Schwimmunterricht  1275;  von  den  letzteren  lernten 
frei  schwimmen  354  =  26, 1 1  %. 

Von  den  Ostern  1901  von  solchen  Schulen,  die  am  Baden  und 
Schwimmen  im  Main  teilgenommen  haben,  aus  der  Schulpflicht  ent- 
lassenen 750  Mädchen  haben  395  am  Baden  und  Schwimmen  teil- 
genommen. Von  diesen  haben  247  oder  62,53  %  das  Schwimmen 
erlernt. 

3.  Baden  im  Schwimmbad  (Hallenbad).  Einer  Anregung  der 
Schwimmbad-Kommission  folgend,  genehmigte  die  Schuldeputation 
nach  Maßgabe  der  verfügbaren  Mittel,  daß  die  oberen  Knabenklassen 
der  Battonnschule,  Weißfrauenschule,  Domschule,  Lersnerschule, 
Merianschule  und  Karmeliterschule  —  Schulen  ohne  Brausebäder  — 
im  Winterhalbjahr  das  Schwimmbad  benutzten.  Es  wurden  an 
566  Schüler  insgesamt  5025  Bäder  abgegeben. 

Im  Etat  von  1903  waren  20  000  M.  für  Baden  und  Schwimmen 
der  Schüler  und  Schülerinnen  in  Frankfurt  a.  M.  in  Ansatz  gebracht. 

Der  Schwimmunterricht  beginnt  besonders  dort,  wo  er  von 
Volksschul-  oder  Turnlehrern  geleitet  wird,  in  neuerer  Zeit  meist  mit 


Hygienische  Wolilfahrtseiniichlungeti.  {^{■j 

Vorübungen  im  Trocknen  (Trockenschwimmen;  das  ist  z.  B.  in 
Dresden,  Hamburg,  Charlottenburg,  Elberfeld,  Frankfurt  a.  M., 
Hannover  der  Fall)  und  wird  dann  in  der  Abteilung  für  Nicht- 
schwimmer im  freien  Wasser  oder  im  Bassin  als  Gruppen-  oder 
Klassenschwimmen,  zunächst  unter  Zuhilfenahme  von  Blechkapseln 
oder  Schwimmgürteln  aus  Kork,  dann  von  Schwimmlcinen  mit  Gurten 
fortgesetzt. 

Den  Übimgen  der  Schwimmbewegungen  im  Trocknen  dienen 
verschiedene  Vorrichtungen,  besonders  die  Schwimmböcke,  auf  denen 
die  Knaben  wagerecht,  in  Gurten  ruhend,  die  vorgeschriebenen  Arm- 
und  Beinbewegungen  ungehindert  nach  Zählen  ausführen  können. 
Nach  diesen  Vorbereitungen  geht  man  mit  den  Schülern,  welche  die 
nötige  Sicherheit  erlangt  haben,  zum  Schwimmen  im  tiefen  Wasser, 
zu  den  verschiedenen  Arten  der  Sprünge,  zum  Tauchen  und  zu 
Rettungsübungen  über. 

In  bezug  auf  die  Bewertung  und  Handhabung  des  Schwimm- 
unterrichts nimmt  die  Stadt  Hamburg  eine  ganz  eigenartige  Stelle 
ein.  Dort  ist  der  Schwimmunterricht  zunächst  versuchsweise  wie  der 
Turnunterricht  zu  einem  Lehrgegenstand  der  Volksschule  gemacht 
worden.  In  einem  im  .\ugust  1902  der  Hamburger  Ober-Schulbehörde 
von  dem  Schulinspektor  H.  Fricke  erstatteten  Bericht,  dem  wir  die 
folgenden  Angaben  entlehnen,  heißt  es:  , »Schwimmen  ist  Turnen  im 
Wasser.  Fast  die  ganze  Muskulatur  des  Körpers  wird  beim  Schwimmen 
in  Bewegung  gesetzt.  In  erster  Linie  arbeiten  alle  Beuge-  und 
Streckmuskeln  der  Gliedmaßen.  Die  regelmäßige,  kräftige  Bewegung 
bedingt  ein  regelmäßiges,  energisches  Atmen.  Da  das  Schwimm- 
tempo langsamer  als  das  Tempo  des  Atmens  ist,  auch  das  Atmen 
unterbleiben  muß,  wenn  Nase  und  Mund  sich  unter  W^asser  befinden 
und  unterbleiben  wird,  wenn  das  Gesicht  die  Wasserfläche  berührt, 
wie  beim  Vorwärtsbewegen  der  Arme  und  beim  Beugen  der  Beine, 
so  werden  die  Atemzüge  langsam,  tiefgehend  und  energisch.  Die 
Brust  weitet  sich  zu  ihrem  größten  und  preßt  sich  zu  ihrem  geringsten 
Umfang  zusammen.  Die  kräftig  eingeatmete  Luft  ist  feucht  und 
milde,  sie  dringt  bis  in  die  äußersten  Spitzen  der  Lunge.  Daraus 
folgt  Stärkung  der  Brustmuskeln  und  der  Muskeln  des  Unterleibes, 
energische  Blutverbrennung,  gesteigerte  Herztätigkeit  und  Blut- 
zirkulation. Da  der  Kopf  das  eigenthche  Steuer  beim  Schwimmen 
ist,  so  werden  ebenso  die  Nackenmuskeln  kräftig  angestrengt.  Alle 
Übungen  geschehen  im  kühlen  W^asser,  das  in  den  hiesigen  Schw  imm- 
hallen    auf  21 — 22°  C.    erwärmt    ist.     Auf   die  Weise    wird  eine  Er- 

Das  Unterrichtswesen   im   Deutschen   Reich.     III.     Anhang.  6 


32  Wühltahrtseinrichtungen. 

hitzung  des  Körpers,  die  sonst  mit  großer  Muskelanstrengung  ver- 
bunden ist,  vermieden.  Ein  weiterer  Vorteil  der  Bewegung  im  Wasser 
ist  der,  daß  das  tiefe  Atmen  in  absolut  staubfreier  Luft  erfolgt.  Viele 
Turnübungen  erfassen  nur  einzelne  Muskelpartien,  bald  rechts,  bald 
links  im  Körper.  Alle  Schwimmübungen  aber  fördern  eine  sj'm- 
metrische  Ausbildung  des  Muskelsystems.  Die  Hautpflege  und  die 
Sch\\'immbewegungen  im  kühlen  Wasser  erzeugen  im  Körper  ein  Ge- 
fühl der  Erfrischung.  Nervosität  und  Schlaffheit  kennen  die  Schwimm- 
schüler nicht.  Der  Körper  wird  abgehärtet;  bevor  der  Schüler  sich 
ankleidet,  muß  er  sich  kalt  abbrausen. 

Aber  nicht  nur  für  die  Ausbildung  des  Körpers,  sondern  für 
die  Erziehung  überhaupt  ist  der  Schwimmunterricht  von  großer  Be- 
deutung. Er  erzieht  zum  Mut,  zur  Energie  und  zur  Geistesgegenwart. 
Knaben,  welche  anfangs  sich  scheuen,  ins  Wasser  zu  gehen,  und  vor 
dem  ersten  Sprunge  in  die  Tiefe  zittern,  tauchen  am  Schlüsse  des 
Schwimmkursus  mit  Wonne  auf  den  Grund,  um  hineingeworfene 
Gegenstände    oder   scheinbar  verunglückte  Mitschüler  heraufzuholen." 

Zutreffender  kann  der  hohe  Wert  des  Schwimmunterrichts  für 
die  Volksschule  gar  nicht  geschildert  werden.  Im  Schuljahr  1901/02 
war  der  Schwimmunterricht  in  diesem  Sinne  bereits  in  27  Schulen, 
von  denen  13  Schwimmhallen  und  14  Flußbadeanstalten  benutzten, 
als  Teil  des  Turnunterrichts  eingeführt.  /\uch  die  Methode  des  Ham- 
burger Schwimmunterrichts  hat  ihre  lokalen  Eigentümlichkeiten;  sie 
ist  an  Ort  und  Stelle  praktisch  erarbeitet  ^^'orden.  Man  bedient  sich 
dort  nicht  der  Schwimmböcke,  sondern  benutzt  für  die  Vorübungen 
im  Trocknen  die  Schwebebäume  der  Turnhalle.  Daß  auch  dieses 
Verfahren  praktisch  brauchbar  ist,  davon  hatte  Verfasser  Gelegen- 
heit, sich  durch  eigene  Anschauung  zu  überzeugen. 

Die  folgende  Schilderung  bezieht  sich  auf  die  ersten  im  Sommer 
1898  mit  Schülern  der  Schule  Moorkamp  3  von  dem  damaligen 
Rektor  der  Schule  Fricke  selbst  in  der  Eimsbütteler  Volksbadeanstalt 
vorgenommenen  Übungen : 

,, Einige,  wenn  auch  nur  wenige  Schüler  konnten  nach  Beendigung 
d^r  Übungen  im  Trocknen  sofort  schwimmen.  Im  Wasser  wurden  dann 
die  Schüler  auf  einen  Kork  geschnallt,  und  je  8  Knaben  mußten  gleich- 
zeitig a  tempo  die  in  der  Turnhalle  gelernten  Bewegungen  im  flachen 
Wasser  weiter  üben.  Nachdem  erst  einige  Schwimmer  erzogen 
worden  waren,  wurden  diese  zu  Vorschwimmern  (analog  den  Vor- 
turnern) ernannt;  sie  mußten  die  Übungen  auf  dem  Kork  leiten. 
Während    dieser    Zeit    wurden    die    Knaben   einzeln  ohne  Kork  \üm 


Ily-rieiii-du'   WoliHahrlM-inriclitungcii.  Ö3 

Lehrer  an  die  Leine  genommen  und  ins  liefe  Wasser  geführt.  Gleich- 
zeitig mußten  sie  an  der  Leine  ins  Wasser  springen,  um  die  Furcht 
zu  überwinden.  Wenn  die  Knaben  auf  diese  Weise  schwimmen  ge- 
lernt hatten,  mußten  sie  im  flachen  Wasser  frei  schwimmen.  Nach- 
dem sie  genügende  Sicherheit  sich  erworben,  wurden  sie  veranlaßt, 
mit  dem  Fußsprung  ins  tiefe  Wasser  zu  springen  und  die  Halle  zu 
durchschwimmen.  Daran  schlössen  sich  die  Kopfsprünge  mit  und 
ohne  Anlauf,  Kopf-  und  Fußsprung  über  die  Schiffsreeling  und 
Rückenschwimmen.  Aus  einer  Tiefe  von  ca.  'A  m  mui.Uen  dann  die 
Knaben  Sandsäcke  von  ]5 — 30  Pfd.  aus  dem  Sprunge  und  aus  der 
Schwimmlage  holen.  Diese  Tauchübungen  waren  Vorübungen  zum 
Retten,  das  dann  ebenfalls  geübt  wurde.  Ein  Knabe  hielt  sich  am 
Grunde  des  Wassers  an  einem  40  Pfd.  schweren  Sack  fest;  der 
Retter  mußte  ihn  lösen,  heraufholen  und  in  vorgeschriebener  Weise 
durchs  Bassin  schleppen.  Den  Abschluß  bildeten  Unterweisungen  in 
Wiederbelebungsversuchen. 

Jede  Gruppe  wurde  12  Stunden  unterrichtet.  Schon  am  12.  De- 
zember desselben  Jahres  konnten  87  (von  102  Knaben  i  vorgeführt 
werden,  die  das  Schwimmen  erlernt  hatten." 

Da  Hamburg  an  einer  Schule  auch  ein  vortreffliches,  nach 
Münchener  Art  eingerichtetes  Brausebad  besitzt,  so  war  der  Bericht- 
erstatter in  der  Lage,  die  Vorzüge  beider  Einrichtungen,  des  Hallen- 
schwimmens  und  des  Brausebades,  gegen  einander  abzuwägen.  Er 
entscheidet  sich  aus  vielen  Ursachen  ganz  und  gar  zugunsten  des 
Hallenschwimmbades  und  empfiehlt  der  Ober-Schulbehörde,  die  er- 
forderlichen Badeanstalten  für  sämtliche  Volksschulen  als  öffentliche 
Einrichtungen  anzulegen.  Er  ist  der  Ansicht,  daß  die  Unterhaltung 
dieser  öffentlichen  Badeanstalten,  wenn  sie  mit  den  nötigen  Wannen- 
bädern ausgerüstet  werden,  ganz  und  gar  aus  den  von  dem  Publikum 
erhobenen  Eintrittsgeldern  bestritten,  und  daß  unter  diesen  Umständen 
von  Beiträgen  seitens  der  Schulkinder  ganz  abgesehen  werden  kann. 
Wenn  auf  diese  Weise  der  Schwimmunterricht  auf  alle  Knaben-  und 
Mädchenschulen  Hamburgs  ausgedehnt  würde,  so  würde,  die  Anlage 
neuer  Brausebäder  nicht  erforderlich  sein. 

Die  in  dem  genannten  Berichte  gegebenen  Anregungen  und 
näheren  Ausführungen  auch  über  die  vergleichsweise  Billigkeit  der 
Hallenbäder  gegenüber  den  Brausebadanlagen  verdienen  die  Beach- 
tung der  Verwaltungsbehörden.  Die  Anlage  solcher  Schwimmhallen 
wird  sich  möghcherweise  sogar  mit  den  Turnhallen  der  Volksschulen 
in  Verbindung  setzen  lassen.     Es  wird  bautechnisch  gewiß  keine   un- 

6* 


g4  Wohlfahrtseiiirichtunwen. 

lösbare  Aufgabe  sein,  die  Räume  der  Turnhalle  über  einem  Schwimm- 
bassin  von  nahezu  gleicher  Ausdehnung  an/Ailegen. 

C.  Jugendspiele.  Der  Turnunterricht  für  Knaben  ist  in  Deutsch- 
land überall  ein  obligatorischer  Lehrgegenstand  der  Volksschule, 
während  das  Mädchenturnen  in  der  Schule  noch  nicht  überall  durch- 
geführt ist.  Während  sich  aber  das  schulmäßige  Turnen  zum  großen 
Teile  auf  dem  Schulhofe  und  in  der  Turnhalle  abspielt  und  durch 
Einhaltung  eines  bestimmten,  vorgeschriebenen  Lehrganges  und  die 
Benutzung  der  Turngeräte  seinen  festen  Charakter  erhält,  hat  sich 
besonders  in  den  letzten  30  Jahren  in  Deutschland  eine  freiere  Form 
der  Leibesübung,  das  Jugendspiel  auf  freiem  Felde,  immer  mehr  ein- 
gebürgert und  ist  in  immer  engere  Verbindung  mit  der  Schule  ge- 
treten. Den  wichtigsten  Anstoß  zur  Ausbreitung  der  bereits  an 
einigen  Stellen  bestehenden  Einrichtung  der  Jugendspiele  für  Schüler 
hat  in  Preußen  ein  Erlaß  des  Kultusministers  von  Goßler  vom  27. 
Oktober  1882  gegeben.  Wenn  es  sich  in  dieser  hochbedeutsamen 
amtlichen  Äußerung  auch  zunächst  um  die  dem  Turnunterricht  ange- 
gliederten Spiele,  die  eigentlichen  Turnspiele,  handelt,  so  wird  doch 
auch  ,,des  Spieles  in  Verbindung  mit  gemeinschaftlich  zu  unterneh- 
menden Spaziergängen  und  Ausflügen  in  Feld  und  Wald,  sowie  mit 
Turnfahrten'^  empfehlend  gedacht  und  ebenso  auf  Schwimmen  und 
Ei-slauf  hingewiesen. 

Aus  dieser  Anregung  erwuchs  denn  nun  überall  in  Preußen  und 
weiterhin  auch  in  Deutschland  ein  reges  Interesse  für  Jugendspiele. 
Da  es  zunächst  vielfach  an  geeigneten  Leitern  für  die  Spiele  fehlte, 
wurden  im  Jahre  1890  in  Görlitz  Unterrichtskurse  eingerichtet,  in 
welchen  geeignete  Lehrer  von  Schulen  aller  Arten  methodische  An- 
weisung und  praktische  Anleitung  erhielten.  Diese  Kurse  fanden 
großen  Beifall  und  lebhafte  Beteiligung.  Als  nun  im  folgenden  Jahre 
1891  auf  Anregung  des  bereits  erwähnten,  auch  um  den  Handfertig- 
keitsunterricht für  Knaben  so  verdienten  Herrn  von  Schenckendorff 
der  „Zentralausschuß  zur  Förderung  der  Jugend-  und  Volksspiele  in 
Deutschland"  begründet  worden  war,  folgten  sehr  bald  viele  andere 
deutsche  Städte  dem  Beispiel  der  Stadt  Görlitz  und  ließen  für  Lehrer 
und  Lehrerinnen  Kurse  zur  Ausbildung  für  die  Leitung  von  Jugend- 
spielen abhalten.  Unter  den  Orten,  welche  am  frühesten  Kurse 
für  Lehrer  einrichteten,  sind  zu  nennen :  Altona,  Barmen,  Berlin, 
Bonn,  Braunschweig,  Breslau,  Coburg,  Frankfurt  a.  M.,  Haders- 
leben, Hannover,  Karlsruhe,  Magdeburg,  München,  Osnabrück,  Posen, 
Rendsburg,  Sonderburg,  Stuttgart.     Unterrichtskursc    für  Lehrerinnen 


1 1}o;ifnisclie   W'iililfahitseiiiricluungeii.  35 

wurden  in  Barmen,  Berlin,  Bonn,  Braunschweig,  Breslau,  Hannover, 
Magdeburg,  Osnabrück  und  Stuttgart  veranstaltet. 

Da  diese  Kurse  fortgesetzt  und  andere  neu  eingerichtet  werden, 
so  herrscht  gegenwärtig  kein  Mangel  an  geeigneten  Lehrkräften  für 
die  Leitung  der  bestehenden  oder  neu  7-u  eröffnenden  Jugendspiele 
in  Deutschland;  allerdings  fehlt  es  besonders  in  großen  Städten  zu- 
weilen an  den  geeigneten  Plätzen,  auf  denen  die  Spiele  abgehalten 
werden  können. 

Auch  hier  hat  nicht  selten  die  Tätigkeit  der  X^ereine  oder  die 
Freigebigkeit  einzelner  Bürger  die  Fürsorge  der  Gemeinden  für  die  kör- 
perliche Ausbildung  der  Schuljugend  angeregt  und  gefördert.  Die 
Stadt  Königsberg  i.  Pr.  besitzt  zwei  ausgezeichnet  eingerichtete  und 
verwaltete  Spielplätze,  einen  im  Nordwesten,  den  Walter  Simonplatz, 
und  einen  im  .Südwesten,  den  Jugendspielplatz  auf  dem  Nassen  Garten. 
Den  ersteren  Platz,  und  mit  ihm  die  wirksamste  Anregung  zur  Förde- 
rung der  Jugendspiele,  verdankt  es  einer  Reihe  von  Schenkungen  des 
Stadtrats  Dr.  \\\  Simon,  deren  Betrag  sich  auf  nahe  an  1 00  000  M. 
beläuft.  Die  Übernahme  des  Platzes  erfolgte  bereits  am  I .  Oktober 
1890,  doch  dauerte  die  völlige  Instandsetzung  desselben,  die  Anlegung 
von  Rasenplätzen,  Buschpartien,  Retiraden,  Brunnen,  die  Befestigung 
der  Wege,  die  Errichtung  einer  Gerätehalle  u.  dgl.  noch  einige  Jahre. 
Gegenwärtig  ist  der  Spielbetrieb  ein  äußerst  reger.  „Eine  wesent- 
liche Förderung  haben  die  Jugendspiele  dadurch  erfahren,  daß  seit 
1894  jeder  einzelnen  Schule  besondere  Spieltage  zugeteilt  werden. 
Anfangs  begnügte  man  sich  damit,  daß  während  der  Spielzeit,  die 
im  Mai  und  September  von  4—67.2  Uhr,  im  Juni,  Juli  und  August 
von  41/2 — 7  Uhr  und  im  Oktober  von  [V-/^ — ^6  Uhr  liegt,  je  ein  Lehrer 
oder  eine  Lehrerin  an  denjenigen  Tagen,  die  der  betreffenden  Schule 
als  Spieltage  zugewiesen  waren,  auf  den  Spielplatz  ging  und  die  Fre- 
quenz der  Spielenden  feststellte.  Es  zeigte  sich  jedoch  bald,  daß  ge- 
rade von  der  persönlichen  Mitwirkung  dieser  den  Kindern  be- 
kannten Lehrkräfte  eine  wesentliche  Förderung  des  Spiels  zu  erwarten 
stand.  Deshalb  traf  man  die  noch  bestehende  Einrichtung,  daß  die 
Spiele  der  einzelnen  Schulen  an  den  ihnen  zugeteilten  Spieltagen  von 
je  einer  Lehrkraft  der  betreffenden  Anstalt  gegen  die  übliche  Ent- 
schädigung geleitet  werden.  So  herrscht  denn  auf  dem  Jugendspiel- 
platze ein  reges,  frisches  und  fröhhches  Treiben.  Jugendmut  und 
Jugendkraft  werden  gestärkt  zum  W^ohl  der  heranwachsenden  Gene- 
ration.*' 

Der  Stifter  des  Platzes  hat  sein  \xM-dien.st    um    die    Schuljugend 


86 


\\'ohlfahrtseinrichtuny;t 


noch  dadurch  erhöht,  daß  er  die  Zinsen  einer  Summe  von  10  000M. 
zur  Abhaltung  eines  Frühlingsfestes  auf  dem  Spielplatz  bestimmt  hat. 
Die  für  die  Feier  bestimmte  Volksschule  wird  jedesmal  durch  die 
Stadtschuldeputation  ausgewählt.  „Da  das  erste  Frühlingsfest,  das 
am  22.  Juni  1893  gefeiert  worden  war,  als  gelungen  bezeichnet  werden 
mußte,  wurde  ein  Statut  der  Stiftung  aufgestellt,  das  für  die  Veran- 
staltung der  weiteren  Frühlingsfeste  maßgebend  gewesen  ist.  An  dem 
Festtage  marschieren  die  Schüler  der  betreffenden  Volksschule  mit 
Musikbegleitung  nach  dem  Platze,  ergötzen  sich  dort  nach  einem  vor- 
her aufgestellten  Programm  bei  fröhlichem  Spiel,  werden  während 
einer  größeren  Pause  in  den  angrenzenden  Etablissements  gespeist 
und  kehren  mittags  vergnügt  heim". 

Die  der  Stadt  Königsberg  aus  der  Unterhaltung  beider  Spiel- 
plätze erwachsenden  Kosten  beliefen  sich  im  letzten  Jahre  1903/4  auf 
4700 -h  1800  =  6500  M.  Dieselben  verteilten  sich  für  den  Walter 
Simonplatz  auf  folgende  Posten: 


Geldbetrag 


für  1.  April    i  nach  dem 

1903  bis  vorjährigen 

I.April  1904  j  Etat 

M.          Pf.  M.          Pf. 


B  esoldungen: 

Für  Leitung  und  Beaufsichtigung  der  Spiele    ....  2  304 

Verwaltung  des  Platzes    und  Leitung   des    Spielbetriebs  400 

Für  den  Wächter 497 

Sächliche    Kosten: 

Unterhaltung  und  Ergänzung  der  Spielgeräte      ....  800 
Einmalig:     Anstrich     des     Geräteschuppens     und     des 

eisernen  Zaunes — 

Instandhaltung  des  Spielplatzes  und  des  Gerätehauses  .  500 
Feuerkassenbeiträge  für  das  Gerätehaus  (Versicherungs- 
wert 6570  M.)      14 

Grundsteuer       60 

Insgemein      ,  125 


zusammen 


4  700 


5  000 


Die  Spiele,  welche  auf  deutschen  Spielplätzen  von  der  Schul- 
jugend betrieben  werden,  sind  vorzugsweise  Lauf-  und  Ballspiele. 
Die  Art  des  Betriebes  und  die  Spielregeln  und  Spielgeräte  richten 
sich  nach  dem  Alter  und  dem  Geschlecht  der  Kinder.    Von  größeren 


Hygienische   W'ohlfahriseinrichtungen.  37 

Knaben  wird  neben  den  verschiedenen,  besondere  Kraft  und  Aus- 
dauer erfordernden  Ballspielen,  wie  Schlcuderball,  Jagdball,  deutscher 
Fußball  und  dergleichen  und  Laufspielen,  wie  Drittenabschlagen, 
Kettenreißen,  Barlauf,  W'ettlauf,  auch  wohl  Seilziehen,  Diskus-  und 
Speerwerfen  und  Bogenschießen  geübt. 

Mittlere  und  kleinere  Knaben  spielen  neben  Lauf-  und  Ball- 
spielen auch  eigentliche  Gesellschaftsspiele  wie  Schwarzer  Mann, 
Jakob  wo  bist  du?,  Boccia,  Reifenwerfen,  Katz  und  Maus  und  andere 
Kreisspiele.  Die  Mädchen  bevorzugen  die  weniger  wilden  Ball-  und 
Laufspiele,  z.  B.  Boccia  und  Wiesenball  (Lawn-Tennis),  Federball, 
Tamburinball,  Reifenspiele  und  mancherlei  Kreisspiele. 

In  Hamburg,  wo  das  Jugendspiel  mit  großem  Eifer  betrieben 
wird,  liegt  die  Leitung  der  Sache  in  den  Händen  des  Vereins  für 
Jugendspiel.  Von  den  65  Knabenvolksschulen  Hamburgs  konnten 
im  Jahre  1902  41  Schulen  zum  Spiel  auf  8  Spielplätzen  herangezogen 
werden,  andere  erhielten  die  erforderlichen  Spielgeräte,  um  auf  den 
Schulhöfen  zu  spielen.  Auch  für  die  Mädchen  der  Volksschule  sind 
seitens  des  im  Auftrage  des  Vereins  Hamburger  Volksschullehre- 
rinnen arbeitenden  Ausschusses  für  Mädchenspiele  im  Sommer  1902 
Jugendspiele  veranstaltet  worden.  Es  wurde  von  13  Klassen  auf 
4  Plätzen  gespielt,  es  beteiligten  sich  an  69  Spieltagen  4347  Schüle- 
rinnen. 

Ein  besonderes  Interesse  erwecken  nicht  bloß  in  der  Schul- 
jugend, sondern  auch  in  weiteren  Kreisen  der  Erwachsenen  die  all- 
jährlich im  September  auf  dem  Spielplatz  Hoheweide  zwischen  den 
Mannschaften  verschiedener  Volksschulen  stattfindenden  Wettspiele. 
Die  Preise  sind  Künstlerzeichnungen  oder  Reproduktionen  von  Ge- 
mälden, welche  für  ein  Jahr  der  siegreichen  Schule  zum  Schmucke 
dienen;  andere  Schulen  begnügen  sich  für  bewiesene  Tüchtigkeit  mit 
dem  Eichenkranz  als  Lohn.  Am  Ende  des  Sommers  findet  dann 
noch  ein  Spielfest  statt,  in  welchem  die  Schulen,  welche  Preise  davon- 
getragen haben,  den  letzten  Kampf  um  die  Meisterschaft  ausfechten. 
Die  Zahl  der  auf  den  8  Spielplätzen  an  52 — 85  Spieltagen  spielenden 
Schüler  der  41  beteiligten  Knabenvolksschulen  belief  sich  im  Sommer 
1902  auf  61  817  Schüler,  aber  das  waren  nur  die  Besucher  innerhalb 
der  vorgeschriebenen  Spielstunden  von  5 — b^j-y  Uhr.  Die  Zahl  der 
zu  anderer  Zeit  ohne  Aufsicht  spielenden  Kinder  wird  kaum  geringer 
zu  veranschlagen  sein.  Der  Verlauf  eines  Sommertages  auf  einem 
Hamburger  Spielplatz  vor  dem  Lübecker  Tor  wird  von  einem  Be- 
obachter folo-endermaßen  creschildert: 


88  \VohltahrtseiiH-irhtun<Ten. 

„Um  ein  treues  Bild  von  dem  gesamten  Betriebe  zu  bekommen, 
möge  hier  mit  wenigen  Worten  der  Spielbetrieb  eines  Tages  ge- 
zeichnet werden.  Nehmen  wir  gleich  den  ersten  Tag  der  Woche. 
Es  i.st  Montag.  Am  Morgen  suchen  abwechselnd  die  einzelnen 
Klassen  aus  den  verschiedenen  Schulen  der  Umgegend  den  Platz 
während  der  Turnstunden  auf.  In  den  Mittagsstunden  ist  der  Besuch 
des  Platzes  oft  sogar  so  .stark,  daß  der  Platzmangel  sich  fühlbar 
macht.  Kaum  sind  die  Mittagsstunden  vorüber,  da  finden  sich  auch 
schon  einzelne  Gruppen  zu  zwanglosem  Spiel  wieder  ein.  Die  ersten 
sind  meistens  Knaben  der  nahe  gelegenen  Schule  Stiftstraße,  welche 
wohl  täglich  mehrere  Gruppen  freiwilliger  Spieler  stellte.  Bald  finden 
sich  andere  Gruppen  dazu.  Kapellenstraße,  Bürgerweide,  Stein- 
hauerdamm, Münzstraße,  Borgesch  sind  vertreten.  Einige  kommen, 
andere  gehen.  Überall  ist  der  Platz  besetzt.  Alle  Schüler  spielen 
friedlich  nebeneinander.  Schüler  verschiedener  Schulen  tun  sich  zu 
einer  Gruppe  zusammen  und  spielen  ruhig  miteinander  und  gegen- 
einander. Da  schlägt  es  5  Uhr;  der  Lehrer  erscheint.  Die  offizielle 
Spielzeit  beginnt,  heute  für  die  Schule  Koppel.  Schon  kurz  v^or 
dieser  Zeit  haben  .sich  Schüler  der  genannten  Schule  in  größerer 
Zahl  eingefunden.  Ihnen  wird  vom  Lehrer  ein  geeigneter  Platz  an- 
gewiesen. Die  fremden  Spielergruppen  entfernen  sich  willig,  oder 
falls  noch  Platz  vorhanden  i.st,  stellen  sie  sich  gern  unter  die  Auf- 
sicht des  ihnen  fremden  Lehrers.  Auch  der  Lehrerturnverein  be- 
nutzt heute  in  Gemeinschaft  mit  den  Seminaristen  den  Platz.  Um 
6V2  Uhr  ist  die  offizielle  Spielzeit  zu  Ende.  Schon  seit  längerer  Zeit 
\Aeilen  auf  dem  Platze  Schüler  verschiedener  Schulen,  auch  höherer, 
um  unter  Aufsicht  einiger  besonders  interessierter  Lehrer  Fußball  zu 
spielen.  Kaum  werden  die  andern  Spiele  abgebrochen,  so  kommt 
dieses  Spiel  zu  seinem  Recht.  Je  später  es  wird,  desto  größer  wird 
die  Zahl  junger,  der  Schule  entwachsener  Leute,  welche  in  der  ge- 
schäftsfreien Zeit,  angeregt  durch  den  St.  Georger  Fußballklub, 
dieses  Spiel  betreibt.  Erst  der  Eintritt  der  Dunkelheit  macht  dem 
bunten  Bild  des  Spiellebens  ein  Ende." 

Am  konsequentesten  ist  wohl  in  München  das  Jugendspiel 
durchgeführt  worden.  Nach  dem  Verwaltungsbericht  über  die 
städtischen  Volks-  und  Mittelschulen  in  München  betrug  die  Gesamt- 
summe der  im  Sommer  1901  auf  25  Spielplätzen  (meist  Schulhöfen) 
in  86  Spielgruppen  spielenden  Schüler  und  Schülerinnen  19().'^22. 
Jede  Gruppe  spielte  durchschnittlich  27  Tage  bei  einer  Beteiligung 
von  durchschnittlich  82  Kindern.     Die  Spiele  standen  unter  der  Auf- 


M3gitiiische  Wohlfalirtseiiirichtunfjen.  ^t) 

Sicht  eines  Oberleiters  und  41  männlicher  und  ;>7  weiblicher  Spiel- 
leiter. 

Die  Kosten  für  den  Retrieb  beliefen  sich  in  dem  t^enannten 
Jahre  auf  nahe  an   16  000  M. 

Unter  den  anderen  deutschen  Städten  sind  wegen  ihrer  Für- 
sorge für  das  Jugendspiel  besonders  folgende  zu  nennen:  Altona, 
Augsburg,  Barmen,  Berlin,  Bielefeld,  Bremen,  Breslau,  Charlotten- 
burg, Chemnitz,  Danzig,  Dortmund,  Dresden,  Düsseldorf,  Elberfeld. 
Frankfurt  a.  M.,  Freiberg,  Görlitz,  Hannover,  Hildesheim,  Kiel,  Leipzig, 
Nürnberg,  Schöneberg,  Straßburg. 

In  einer  Anzahl  von  größeren  Städten  hat  man  die  Veran- 
staltung der  Jugendspielkurse  für  ganz  besonders  nötig  in  den  Schul- 
ferien erachtet,  ,,um  den  Volksschülern,  welche  nicht  in  einer  Ferien- 
kolonie oder  auf  sonstige  Weise  sich  eines  gesunden  Landaufent- 
haltes erfreuen  können,  Gelegenheit  zu  geben,  einen  Teil  derjenigen 
Zeit,  welche  sie  sonst  in  dunstigen,  ungesunden  Wohnungen  oder 
auf  engen  Straßen  und  Höfen  zubringen  würden,  in  frischer,  freier 
Luft  bei  anregendem  Spiel  zu  verleben." 

Solche  Ferienspiele  wurden  beispielsweise  in  Hannover  bereits 
im  Sommer  1891  veranstaltet.  Die  damals  eingerichteten  und  seit- 
dem fortgesetzten  Spielkurse  erwiesen  sich  bald  als  eine  soziale  Not- 
wendigkeit und  bewährten  sich  in  jeder  Hinsicht.  Im  Sommer  1902 
spielten  die  Knaben  an  'A  Wochentagen  von  9 — 11  Uhr  vormittags 
auf  4  Schulhöfen  und  einem  Spielplatze,  die  Mädchen  auf  3  Schul- 
höfen an  denselben  Tagen  nachmittags  von  4 — 6.  Die  Aufsicht  über 
die  Knaben  führten  6  Lehrer,  die  über  die  Mädchen  6  Lehrerinnen. 
Am  Schluß  der  Ferien  wurden  auch  Ausflüge  in  die  Umgegend  der 
Stadt  veranstaltet. 

Die  im  Haushaltungsplane  der  Stadt  Hannover  für  diese  Spiel- 
kurse in  Aussicht  genommene  Summe  beträgt  600  M.  jährlich.  Auch 
in  Berlin  hat  man  kürzlich  mit  diesen  Ferienspielen  einen  Versuch 
gemacht.  Im  Etatsjahr  1901  wurden  10  Spielkurse,  8  auf  Schulhöfen 
und  2  auf  Spielplätzen,  eingerichtet.  Es  wurde  während  der  Sommer- 
ferien täglich  von  10  Uhr  morgens  bis  8  Uhr  abends  unter  wechselnder 
Aufsicht  gespielt.  Für  diesen  Zweck  war  eine  Summe  von  3U00  M. 
in  den  P'.tat  gestellt.  Für  die  im  Anschlui?^  an  diese  Spielkurse  mit 
den  Teilnehmern  veranstalteten  Ausflüge  in  die  Umgegend  wurden 
I30U  'S!,  von  Privatleuten  zur  Verfügung  gestellt. 

Im  Winter  wird  zum  Ersatz  für  die  wegfallenden  Bewegungs- 
spiele an  vielen  Orten  den  Schulkindern  Gelegenheit  zum  Schlittschuh- 


90  Wohlfahrlseinricbtungen. 

laufen  geboten.  In  München  werden  Eisbahnen  auf  den  Schulhöfen 
angelegt,  in  anderen  Städten  Freikarten  zur  Benutzung  öffentlicher 
Eisbahnen  an  Schulkinder  ausgegeben.  Die  Schlittschuhe  für  die 
ärmeren  Kinder  werden  häufig  von  Vereinen  geliefert. 

Die  Schülerausflüge  und  Wanderfahrten  mit  Gruppen  und 
Klassen  von  Schulkindern  werden  an  einer  späteren  Stelle  Berück- 
sichtigung finden,  da  sie  neben  dem  hygienischen  Zwecke  der  Er- 
holung und  körperlichen  Kräftigung  noch  andere  wichtige  Bildungs- 
ziele verfolgen. 

4.    Andere  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Die  in  dem  folgenden  Abschnitt  dargestellten  Einrichtungen 
haben  das  miteinander  gemeinsam,  daß  sie  die  Gesamtbildung 
unserer  Schulkinder  erweitern  und  vertiefen  sollen,  und  zwar 
verfolgen  einige  von  ihnen,  wie  die  Schülerfahrten  in  die  Umgegend, 
die  Besuche  der  naturkundlichen  Sammlungen  und  Ausstellungen,  die 
Besichtigungen  öffentlicher  Anlagen  und  Fabriken  mehr  den  Zweck, 
den  Gesichtskreis  der  Kinder  im  allgemeinen  zu  erweitern,  während 
die  in  den  Schulen  betriebene  Blumenpflege  die  Freude  an  der 
Natur  beleben  und  die  künstlerischen  Veranstaltungen,  wie  Theater- 
vorstellungen, Schülerkonzerte,  Besuche  der  Gemäldesammlungen 
u.  dergl.,  der  ästhetischen  Weiterbildung  der  Kinder  dienen  sollen. 

A.  Schülerfahrten.  Die  in  vielen  Gemeinden  von  Privat- 
leuten, Vereinen  und  der  Gemeinde  selbst  veranstalteten  Ausflüge, 
Wanderungen  und  Spaziergänge  von  Schülern  und  Schülerinnen 
können  bis  zu  einem  gewissen  Grade  als  hygienische  Wohlfahrts- 
einrichtungen angesehen  werden.  Sie  tragen  zweifellos  dazu  bei, 
die  körperliche  Frische  und  Leistungsfähigkeit  der  Kinder  zu  erhöhen 
und  ihnen  den  Geschmack  an  ihre  Gesundheit  stählenden  Fußwande- 
rungen in  Gottes  freier  Natur  einzuflößen.  Aber  ihr  Hauptwert  liegt 
doch  nicht  auf  diesem  hygienischen  Gebiete;  sie  sind  besonders  für 
die  Großstadtkinder  deshalb  ein  dringendes  Bedürfnis,  weil  sie  allein 
ihnen  eine  Fülle  von  zum  Verständnis  des  Lebens  absolut  notwendigen 
und  auf  keine  andere  Weise  zu  beschaffenden  Beobachtungen  und 
Erfahrungen  darbieten.  Das  Großstadtkind  kommt  nur  zu  selten  aus 
den  Reihen  der  hohen,  engbrüstigen  Häuser  hinaus,  welche  die 
Wohnung  der  Filtern  und  die  Schulstube  beherbergen.  Fls  ist  bereits 
an  anderer  Stelle  darauf  hingewiesen  worden,  welch  eine  Menge  von 
neuen  Eindrücken  auf  die  Stadtkinder  in  den  Ferienkolonien  ein- 
stürmen;   leider    kann    nur    einer    kleinen    Minderzahl    unserer    groß- 


incuumn'en. 


städtischen  Schuljugend  die  erziehliche  Wohltat  eines  längeren  Land- 
aufenthalts gewährt  werden.  Diesen  Mangel  auszAigleichen  und  einer 
großen  Zahl  von  Schülern  und  Schülerinnen  großstädtischer  Volks- 
schulen die  tausend  interessanten  Beobachtungen  zugänglich  zu 
machen,  welche  nur  der  Aufenthalt  in  freier  Natur  zu  bieten  ver- 
mag, das  ist  die  Hauptaufgabe  der  Schülerausflüge. 

hl  fast  allen  großen  Städten  werden  zur  Sommerszeit  solche 
Schülerausflüge  veranstaltet.  Das  sind  entweder  Spaziergänge  in  die 
nächste  Umgebung,  welche  die  Dauer  eines  Tages  nicht  überschreiten 
und  innerhalb  der  Schulzeit  abgehalten  werden,  oder  Veranstaltungen 
in  den  Ferien,  regelmäßig  wiederkehrende  Wanderungen  nach  be- 
stimmten Spielplätzen,  wo  dann  die  Kinder  auf  Kosten  der  Stadt 
verpflegt  werden.  Ferienausflüge  dieser  letzteren  Art  sind  beispiels- 
weise in  Schöneberg  bei  Berhn  seitens  der  Stadtverwaltung  zu  einer 
dauernden  P>inrichtung  gemacht  worden. 

In  anderen  Orten  werden  mehrtägige  Ferienausflüge  mit  weiteren 
Zielen  für  Volksschüler  veranstaltet.  So  sandte  in  Bremen  in  den 
Sommerferien  1901  Herr  F.  Mißler  drei  Wandergruppen  von  je 
15  Schülern  in  den  Harz  und  das  Wesergebirge;  in  den  beiden 
folgenden  Jahren  wurden  von  demselben  Herrn  6  solcher  Schüler- 
kolonien in  deutsche  Gebirge  entsandt.  Die  Leitung  der  Wander- 
gruppen wurde  bremischen  Volksschullehrern   übertragen. 

Die  wichtigste  Gruppe  unter  den  Schülerausflügen  bilden  aller- 
dings nicht  jene  von  Privaten  für  eine  kleine  Klasse  von  Knaben  ver- 
anstalteten Spaziergänge  und  Reisen,  sondern  die  von  der  Schule 
angeordneten  und  geleiteten  Ausflüge  ganzer  Schulklassen.  Nur  die 
auf  solchen  Wanderungen  gesammelten  Erfahrungen  können  wirkhch 
systematisch  mit  dem  Schulunterricht  verknüpft  und  in  ihm  verwertet 
werden.  Während  aber  die  jüngeren  Schüler  sich  auf  Spaziergänge 
im  Innern  der  Stadt  oder  in  ihrer  nächsten  Umgebung  beschränken 
mü.ssen,  können  die  Oberklassen  der  Volksschulen  und  besonders  die 
Knaben  sich  schon  schwierigere,  den  ganzen  Tag  ausfüllende  Aus- 
flüge zumuten.  In  wirklich  systematischer  Weise  sind  in  München 
durch  den  Lehrplan  für  den  Unterricht  in  der  Weltkunde  an  den 
Werktagsvolksschulen  die  Schülerspaziergänge  dem  Organismus  des 
Unterrichts  in  der  Heimatkunde  eingeordnet.  Nach  der  Betrachtung 
des  Schulzimmers  und  des  Schulgrundstücks  wird  das  Kind  im 
dritten  Schuljahre  in  den  Schulbezirk  durch  einen  Spaziergang  in  der 
Schulhausstraße  und  ihren  nächsten  Querstraßen  eingeführt.  Dann 
lernt  es  die  Altstadt  wiederum  durch  einen  Spaziergang  kennen;  ge- 


92  Wohlfahrtsei  nrichtiuigen. 

.schichtliche,  wirtschaftliche  und  geographische  Iklehrungen  knüpfen 
sich  an  das  mit  eigenen  Augen  Erschaute.  Das  Kind  erhält  außer 
den  Namen  der  Straßen  und  Plätze  die  erste  Kunde  von  der  Gründung 
der  Entwicklung  und  gewissen  bemerkenswerten  Ereignissen  in  der 
Geschichte  der  Stadt.  Es  besucht  den  Gemüsemarkt,  die  Fleisch- 
hallen und  den  Fischmarkt  und  erhält  Belehrung  über  die  Bedeutung 
dieser  wirtschaftlichen  Anlagen.  Zur  Orientierung  über  die  ge- 
w'onnenen  Beobachtungen  dienen  von  dem  Kinde  anzufertigende 
Faustskizzen.  Allmählich  überschreitet  man  das  Weichbild  der  Stadt 
und  macht  in  den  ersten  schönen  Tagen  des  Frühlings  einen  Ausflug 
in  das  nächste  Dorf  Da  beobachtet  man  die  charakteristischen  Ge- 
bäude, die  Dorfkirche,  den  Friedhof,  den  Bauernhof,  das  Herren- 
schloß u.  dergl.;  man  achtet  auf  die  Beschäftigung  der  Bewohner, 
die  Straßenbeleuchtung,  die  Gewinnung  des  Trinkwassers  und  erfährt 
\on  dem  Lehrer  das  Nötige  über  die  dörfliche  Gemeindeverwaltung. 
Von  den  einfacheren  dörfUchen  Verhältnissen  kehrt  man  \\ieder  in 
die  Großstadt  zurück,  lernt  die  dortigen  entsprechenden  Einrichtungen 
kennen  und  gewinnt  Gelegenheit  zu  höchst  instruktiven  Vergleichen 
zwischen  Stadt-  und  Landleben.  Die  nächsten  Ausflüge  gelten  der 
Gewinnung  eines  weiteren  Überblicks  über  die  München  umgebende 
Landschaft.  Von  einer  Anhöhe  überschaut  man  das  Relief  des 
Höhenzuges,  die  Bodenverhältnisse,  die  Bodenerzeugnisse  und  die 
Bewässerung;  man  sieht  auf  die  Siedlungen  der  Menschen  hinab,  auf 
die  Hütten  der  Arbeiter,  auf  Gärtnereien,  Milchwirtschaften,  Ziegeleien 
und  Fabriken  und  lernt  im  Anschluß  daran  die  Erwerbsverhältnisse 
der  Bevölkerung  kennen.  Aber  man  gewinnt  noch  eine  andere  Aus- 
beute bei  dieser  Wanderung:  Im  Walde  lernt  man  Eiche  und  Fichte 
kennen,  sieht  das  muntere  Eichhörnchen  vorbeihuschen  und  findet 
Gelegenheit,  von  den  Waldblumen  zu  pflücken  und  wohl  gar  eine 
Waldanemone  mit  Wurzelstockballen  auszugraben,  um  sie  daheim 
oder  im  Schulzimmer  zu   pflegen. 

Die  nächste  (IV.)  Klasse  stellt  schon  wesentlich  höhere  Auf- 
gaben. Hier  erstrecken  sich  die  Wanderungen  aufwärts  und  abwärts 
ins  Isartal;  man  betrachtet  die  Landschaft  unter  höheren  Gesichts- 
punkten. Die  Bodenverhältnisse  werden  studiert,  Felsboden,  Sand- 
boden, Lehm-  und  Ackerboden  kennen  gelehrt  und  auf  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Bodenbeschaffenheit  und  Bodenbedeckung 
(Buchwald,  Nadelwald,  Weidengebüsch,  Wiesen  und  Felder)  und  auf 
die  wirtschaftlichen  Anlagen  der  Menschen  hingewiesen.  Der  Fluß 
mit    seinen  Dammbauten,    Wehren,    Schleusen.    Mühlen    und  Flößen, 


Andere    W  ohlfaliitseinrirlilun^eii.  <j3 

Furten,  Fähren  und  l-Jrücken  gibt  Anlaß  zu  zahlreichen  Kiweiterungen 
des  Gesichtskreises  der  Kinder,  und  die  an  diese  allgemein  geographi- 
schen Belehrungen  sich  anknüpfenden  F>innerungcn  an  die  Vor- 
geschichte des  Landes  müssen  sich  ihrem  Gedächtnis  tief  einprägen. 
Immer  weiter  zieht  sich  der  Kreis  für  die  Ausflüge,  das  Beobachtungs- 
gebiet wird  von  Töltz  bis  Moosburg  ausgedehnt,  der  Starnberger  See 
wird  in  die  Anschauungssphäre  des  Kindes  hineingezogen,  es  lernt 
Moor  und  Heideland  in  ihrer  charakteristischen  Eigenart  mit  Pflanzen, 
Tieren  und  Steinen  kennen  und  erkennen. 

Daß  diese  systematische  Verwendung  der  Ausflüge  die  wirk- 
samste Förderung  der  erziehlichen  Aufgabe  des  Schulunterrichts  be- 
deutet, dürfte  für  den  Pädagogen  keinem  Zweifel  unterliegen.  In  dieser 
Weise  verwertete,  aber  auch  auf  die  Mittel-  und  Oberklassen  der 
Volksschule  und  auf  räumlich  immer  weitere  Beobachtungskreise  aus- 
gedehnte Schülerausflüge  würden  das  Ideal  dessen  darstellen,  was 
diese  Einrichtung    für    die  Schule    überhaupt    zu  leisten  imstande  ist. 

Daß  solche  Schülerausflüge,  wenn  auch  nicht  mit  der  systemati- 
schen Regelmäßigkeit  wie  in  München,  auch  in  anderen  Orten  mit  dem 
geschichtlichen  und  geographischen  Unterricht  in  engste  Verbindung 
gebracht  und  der  Erweiterung  der  allgemeinen  Bildung  dienst- 
bar gemacht  werden,  das  möge  der  Leser  aus  der  folgenden 
mir  von  einem  Hamburger  Lehrer,  Herrn  O.  Zimmermann,  freundlichst 
zur  Verfügung  gestellten  Schilderung  einer  von  ihm  mit  seiner  Klasse 
im  Sommer  1903  veranstalteten  Dampferfahrt  nach  Cuxhaven  ersehen: 

„In  morgenUcher  Frühe  ging's  los.  Wolkenlos  blau  über  uns 
der  Himmel!  Die  „Cobra"  nahm  uns  auf  Dreimal  heulte  die  Dampf- 
pfeife, und  die  Räder  tauchten  ein.  Um  uns  tollte  das  geschäftige 
Leben  unseres  Hafens.  Wir  grüßten  Blohm  und  Voß'  weltberühmte 
Werft,  wir  sahen  die  stattlichen  Bauten  unseres  neuen  Kuhwärder- 
hafens,  wir  glitten  an  Altenas  nachbarlichen  Mauern  vorüber.  Wir 
passierten  die  belaubten  Geestgehänge  von  Oevelgönne,  Neumühlen 
und  Teufelsbrück  mit  ihren  kostbaren  Villen  und  Gärten,  wir  warfen 
den  Blick  gegenüber  auf  die  grünen  Flächen  der  nachbarlichen 
(Hamburgischen)  Inselmarschen.  Wir  bewunderten  den  stolzen  Bau 
des  Süllbergs  und  gedachten  der  Zeiten,  da  von  hier  aus  Adalbert 
das  Christentum  gepredigt,  da  von  der  bewaldeten  Höhe  aus  Raub- 
gesindel den  vorüberfahrenden  Schiffern  und  Fischern  auflauerte,  zu 
deren  Schutz  der  fromme  Erzbischof  auf  seinem  entwaldeten  Gipfel 
Kloster  und  Kastell  erbauen  ließ.  Wir  erinnerten  uns  im  Angesichte 
von  Blankeneses    abenteuerlicher  Lage    am  Abhänge    des    Berges  — 


94  Wohlfahrtseiinichtungen. 

ein  phantasiereicher  Schüler  hatte  den  Einfall  — ,  daß  auch  Genua 
und  Lissabon  ähnlich  liegen.  Bei  Schulau  sahen  wir  auch  am  rechten 
Ufer  den  hohen  Geestrand  in  neblichte  Ferne  zurücktreten.  Flache 
Marschen  auf  beiden  Seiten  fortan!  Wir  gedachten  der  Geschichte 
ihrer  Entstehung,  ihrer  Leidensgeschichte  vor  ihrer  Eindeichung,  ihrer 
niederdeutschen  Besiedlung,  ihrer  Fruchtbarkeit  und  ihres  jetzigen 
Reichtums.  Am  südlichen  Ufer  begrüßten  wir  hinter  dem  hohen 
Deiche  das  ,,Alte  Land",  das  ,,Kirscheniand'*  der  Hamburger,  das 
über  Norddeutschland  nicht  nur,  sondern  auch  nach  Petersburg  und 
London  seine  süßen  Früchte  schickt.  In  verschwindender  Ferne  der 
Geestrand  im  Norden  erinnerte  uns  daran,  wie  auch  zur  Zeit  Karls 
des  Großen  bis  dahin  alles  Land  bei  jeder  höheren  Flut  vollständig 
unter  Wasser  stand.  Die  Türme  von  Stade  und  Brunshausen  glitten 
vorbei.  Rechts  erschien  Glücksstadt:  wir  gedachten  mit  patriotischer 
Genugtuung  der  langen  Händel  der  alten  Hamburger  mit  dem  Dänen- 
könig um  den  Glücks^tädter  Zoll,  ihrer  ehrenvollen  Verteidigung  auf 
der  Niederelbe  und  des  endUchen  Sieges  der  Hamburgischen  Politik. 
Mehr  aber  als  alle  hi.storischen  F^rinnerungen  nahm  uns  das  lebendige 
Treiben  auf  dem  Wasser  gefangen. 

Unweit  der  Einfahrt  in  den  Kaiser-Wilhelm-Kanal  mit  ihren  ge- 
waltigen Molenköpfen  lag  gerade  vor  Brunsbüttel  der  englischen 
Königin  Lu.stjacht  „Viktoria  und  Albert"  vor  Anker,  auf  ihrem  Top 
die  königHche  Standarte  und  in  ihrer  Begleitung  der  Panzer  „Dido". 
Es  hielt  die  Jungen  nicht:  sie  mußten  der  hohen  Besucherin  das 
,,God  save  our  gracious  Queen"  hinübersingen! 

Vor  Groden  ankerte  ein  Dampfer  der  ,, Hamburg-Südameri- 
kanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft".  Die  gelbe  Flagge,  die  er 
führte,  belehrte  uns,  daß  er  vor  der  dortigen  Desinfektionsanstalt  in 
Quarantäne  lag.  — 

Nach  3stündiger  Fahrt  sichteten  wir  Cuxhavens  hundertjährigen 
Leuchtturm.  Meereswehen  umfing  uns,  Meeresleben  umbrandete 
uns.  Ewer,  Kutter  und  Barkassen  in  großer  Zahl,  meist  im  Dienste 
des  Austern-  und  Krabbenfanges,  große  Segler  und  kleine,  schmucke 
Lustjachten,  Passagier-  und  Frachtdampfer,  Kriegsschiffe  aller  Typen, 
von  den  gewaltigsten  Panzern  und  Schlachtschiffen  bis  zu  den  ge- 
schwinden Torpedobooten  und  den  zierlichen  W^achtbooten,  liefen  ein, 
liefen  aus. 

Wir  landeten  an  der  „Neuen  Liebe". 

An  den  großartigen  neuen  Empfangsbauten  der  ,,Hapag"  mit 
ihrem  prächtigen  Portale  vorbei  galt  unser  erster  Besuch  dem  großen 


Andere  Wohlfalirtseinricluunf^en.  Q5 

neuen  Seehafen,  dem  ,,Tidehafen",  den  der  HaniburL^er  Staat  mit 
einem  Kostenaufwande  von  7  Millionen  für  die  Amerika-Linie  erL)aute. 
Welch  ein  Treiben,  welch  ein  Leben  dort! 

Die  „Deutschland",  dieser  ,, Windhund  des  Ozeans",  nahm  ihre 
letzten  deutschen  Fahrgäste,  ihre  Kajüttenpassagiere  auf,  die  mit  der 
,, Untereibischen  Eisenbahn^'  von  Hamburg  gekommen,  da  ihnen  die 
P^lbfahrt  des  großen  Dampfers  (mit  halber  Kraft)  zu  langsam  geht. 
Welch  ein  Gewoge  hinüber  und  herüber!  Welch  Riesenkörper, 
dieser  neue  Salonschnelldampfer,  200  m  lang,  fast  2000  Menschen  be- 
herbergend, nächtlich  von  2000  Lampen  erhellt,  von  33  000  Pferde- 
kräften bewegt,  ein  ,, Blitzzug  des  Ozeans'M 

Weiter  zum  alten  Hafen!  —  Da  stehen  wir  auf  der  ,, Alten  Liebe'S 
der  \\eltbekannten,  altehrwürdigen  Landungsbrücke.  Wir  denken 
daran,  wie  hier  vor  bald  200  Jahren  die  Hamburger  das  alte  Wrack 
„Die  Liebe"  versenkten  zum  Bollwerk  gegen  die  brandende  See,  die 
trotz  der  ,, Stacks"  die  Cuxhavener  Ufer  immer  wieder  zu  unterwühlen 
drohte.  Am  Steindeich,  der  auf  die  obere  Plattform  hinaufführt,  be- 
trachten wir  den  „Semaphor"  und  wissen,  daß  die  3  aufgezogenen 
Flügel  „starken  Wind"  bedeuten.  An  der  „Signalstation  für  den 
Schiffsmeldedienst"  mit  ihrer  Station  für  drahtlose  Telegraphie  („Funk- 
spruchapparate") vorüber  geht's  weiter  zum  alten  Leuchtturm.  Eine 
Karte  vom  Kommandeur  befugt  uns,  ihn  zu  besteigen  und  den 
weiten  Rundblick  auf  See  und  Land  zu  genießen.  Indem  wir  das 
,, Telegraphenamt"  passieren,  erinnern  wir  uns,  daß  von  hier  aus 
außer  der  oberirdischen  Leitung  ein  unterirdisches  Kabel  nach  Ham- 
burg führt,  und  daß  ein  unterseeisches  Kabel  die  Verbindung  mit 
Helgoland  unterhält.  Am  Lotsenwachthaus  fällt  uns  ein,  daß  es 
unsere  Hamburger  Seewarte  ist,  die  hierher  auf  telegraphischem 
Wege  ihre  Sturmwarnungen  schickt. 

Wir  kommen  an  den  „Fischerhafen".  Eiswagen  der  Eisenbahn 
stehen  bereit,  die  frische  Ausbeute  an  Seefischen  für  das  Binnenland 
autzunehmen,  während  für  Hamburgs  und  Altonas  große  Fischmärkte 
Ewer  und  Dampfer  gefüllt  werden. 

Auf  dem  Rücken  des  mächtigen  Seedeiches,  der  Hauptader  des 
Cuxhavener  (Döser)  Badelebens,  immer  wieder  den  Blick  auf  das  be- 
lebte Meer  gewandt,  streben  wir  der  Kugelbake  zu.  Da  lagern  auf 
der  Wasserseite  des  Deiches  im  Sonnenschein  Badegäste  in  großer 
Zahl,  Damen,  Herren  und  Kinder.  Landeinwärts  liegen  Villen  und 
Hotels  (Adolf  Woermanns,  unseres  Hamburger  Großreeders,  Lust- 
haus winkt    auch   herüber),    auch    die    Matrosen-Artilleriekaserne,    am 


()5  Wohlfabrtseinriclitungeii. 

Wasser  die  Badeanstalt,  weiterhin  das  Fort  Grimmerhörn.  Bade- 
karren hocken  am  Strande.  —  Und  endlich  ist  Kugelbake  erreicht, 
der  , .nördlichste  Punkt  des  ganzen  westelbischen  Deutschland".  Da 
muß  jeder  hinauf!  Die  tiefe  Ebbe  gestattet  es,  bis  zur  ,,Bake"  selbst 
auf  dem  langen  Felsendamm  ins  Meer  hinauszutreten.  Hier  gedenken 
wir  der  wechselvollen  Vergangenheit  des  eigenartigen  Bauwerks,  der 
ersten  Aufrichtung  der  Bake  vor  170  Jahren,  ihrer  wiederholten 
Zertrümmerung  durch  das  Meer,  ihrer  Beseitigung  zusammen 
mit  allen  anderen  Seezeichen  1870,  ihrer  letzten  Neuerrichtung 
1 898.  —  Da  lenkt  wieder  das  gewaltige  Meer  den  Blick  auf  sich 
zurück.  Wir  lugen  hinaus.  Ein  Lotsenschoner  kommt  ein,  ein 
beschädigtes  (rotesj  Feuerschiff  wird  im  Schlepptau  hineinbugsiert. 
Zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Feuerschiff  liegt  eine  Lotsgaliote 
vor  Anker.  Welch  eine  Menge  anderer  Seezeichen,  Baken,  Tonnen, 
Bojen  über  die  weite  Wasserfläche  den  Weg  weisen!  Und  da  zieht 
die  „Deutschland"  an  uns  vorüber!  Auf  dem  Deck  wimmelt  es  von 
Menschen,  sie  winken  uns  mit  den  Tüchern,  wir  schwenken  Hüte 
und  Mützen  und  senden  ihnen  die  letzten  Grüße  von  deutscher 
Erde  zu. 

Aus  Fort  Kugelbake  blicken  die  Rohre  deutscher  Kanonen 
hervor.  Wir  haben  staunend  vor  der  großen  Kanonenbatterie 
Kruppscher  Riesengeschütze  gestanden  und  mit  Bewunderung  be- 
dacht, daß  diese  fürchterHchen  Waffen  von  über  10  m  Länge  ein 
Zentnergeschoß  bei  einem  Pulververbrauch  von  über  300  Pfund  pro 
Schuß  über  20  km  weit  zu  schleudern  vermögen!  Es  tat  unserer 
Liebe  zu  Vaterstadt  und  Vaterland  wohl,  den  Eingang  in  unsere  Elbe 
so  gesichert  zu  sehen. 

Vom  Deiche  (nach  Duhnen)  schweifte  dann  unser  Blick  über 
das  weite  Wattenmeer  bis  nach  Neuwerks  500jährigem  Leuchtturm. 
Das  zurückgetretene  Meer  hatte  die  Watten  bloßgelegt.  Der  Neu- 
werker  Postwagen  fuhr  hinüber,  ein  Lohnfuhrwerk  kehrte  zurück, 
Badegäste  jedes  Alters  und  Geschlechts  vergnügten  sich  damit,  bar- 
fuß im  seichten  Wasser  umherzuspazieren  und  nach  Krebsen,  Krabben 
und  Algen  zu  greifen.  Flugs  nach  gegebener  Erlaubnis  waren  auch 
der  Jungen  Stiefel  und  Strümpfe  von  den  Füßen  herunter,  die  Hosen 
bis  über  die  Knie  aufgekrempelt  und,  das  Fußzeug  in  den  Händen, 
ging's  bis  Duhnen  weiter  durch  das  W^att. 

Hier  endet  der  Deich:  die  Geest  beginnt,  die  Düne  schützt  das 
Land.  Wir  haben,  nachdem  wir  noch  einmal  vom  Seewasser  gekostet, 
landeinwärts    uns    gewandt,    von    Duhnen,    wo    wir    das    ,, Hamburger 


Andere  Wohlfahrtseinrichtungen.  Q7 

Kinderseehospiz"  sahen,  dem  so  mancher  bleiche,  schwächliche  Mit- 
schüler in  der  kühlen,  feuchten,  salzhaltigen  Luft  eine  schnelle  Besse- 
rung verdankte,  nach  dem  Galgenberg,  der  alten  Hochgerichtsstätte. 
Hier  hielten  wir  Umschau  über  Land  und  See  zwischen  Elb-  und 
Wesermündung;  zu  unseren  Füßen  dehnte  sich,  von  unzähligen 
Wetterungen  durchzogen,  bis  an  die  Elbe  das  Land  Hadeln,  der 
Typus  der  Flußmarsch,  gegen  die  Nordsee  das  Land  Wursten,  das 
Beispiel  einer  Seemarsch. 

Nun  ging's  durch  Brockeswalde  zum  „Schloß  Ritzebüttel",  der 
alten  Strandräuberveste  der  Herren  von  Lappe,  das  vor  über  500 
Jahren  von  den  kriegerischen  Hamburgern  im  Sturm  genommen  wurde. 
Auf  dem  Burghof  dort  zwischen  Schloß  und  Burggraben  und  Wall  und 
den  alten  Kanonen  umgab  uns  ein  fast  unberührtes  Stück  Mittelalter. 

Nach  kurzer  Rast  in  diesem  beschaulichen  Erdenwinkel  eilten 
wir  durch  die  freundlich-ruhigen  Straßen  des  Fleckens  Ritzebüttel 
nach  Cuxhaven  zurück.  Wenige  Minuten  nach  unserer  Ankunft  auf 
dem  Ponton  der  „Neuen  Liebe"  nahm  uns  die  ,,Silvana"  auf.  Auf 
der  Rückfahrt  ging's  stürmischer  zu  als  am  Morgen.  Der  Semaphor 
zeigte  vier  seiner  Flügel,  der  Wind  peitschte  die  Wellen  über  das 
Deck,  und  da  auch  die  Schleusen  des  Himmels  sich  auftaten  und  dem 
Vorderdeck,  dem  uns  zugewiesenen  Aufenthalt,  das  schützende 
Sonnensegel  fehlte,  so  erhielten  die  Jungen  die  Erlaubnis,  das  ge- 
schützte Hinterdeck,  die  Frachträume  des  Zwischendecks  und  die 
Kajüten  zu  besuchen,  wo  sie  noch  ein  Stück  recht  eigentlichen  Schiffs- 
lebens miterlebten.  — 

Als  wir  am  nächsten  Morgen  im  engen  Raum  des  Klassen- 
zimmers uns  wiedersahen,  da  strahlte  soviel  Freude  und  Dank  und 
Leben  aus  ihren  Augen,  wie  nie  zuvor.  Sie  hatten  damit  ein  Stück 
von  der  Welt  geschaut!  Und  was  sie  erlebt  hatten,  das  wußte  ihr 
Mund  jetzt  zehnmal  beredter  auszudrücken,  als  es  zehn  Stunden  Unter- 
richt ihnen  beizubringen  je  vermocht  hätten." 

Li  allen  größeren  deutschen  Städten  werden  die  Schüler  in  die 
am  Orte  bestehenden  Sammlungen,  die  historischen,  naturkundlichen 
und  landwirtschaftlichen  Museen,  sowie  die  vorübergehend  am  Orte 
stattfindenden  Ausstellungen  gleicher  Art  geführt.  In  den  Städten, 
welche  einen  zoologischen  Garten  besitzen,  wird  gewöhnlich  mit  der 
Direktion  ein  Abkommen  getroffen,  nach  welchem  den  Schülern  der 
Volksschule  die  Besichtigung  entweder  unentgeltlich  oder  gegen  Ent- 
richtung eines  geringen  Eintrittsgeldes  in  Begleitung  der  Lehrer  ge- 
stattet ist. 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.    Anhang.  7 


98  Wohlfahrtseinrichtungen. 

In  größeren  Städten,  wie  in  Berlin,  bieten  noch  andere  eigen- 
artige Ausstellungen,  wie  das  Kolonial-Museum,  die  Urania,  die 
Sternwarte  in  Treptow,  das  Aquarium  und  verschiedene  Panoramen 
den  Schulkindern  eine  reiche  Fülle  der  Anregung  und  Belehrung  dar. 
Freilich  ist  es  für  den  Lehrer  unter  Umständen  eine  schwere  und 
verantwortungsvolle  Aufgabe,  eine  größere  Anzahl  von  durch  die 
Neuheit  der  Situation  aufgeregten  Kindern,  deren  Augen  überall 
umherschweifen,  durch  das  Straßengewühl  der  Großstadt  unversehrt 
hindurchzuführen;  trotzdem  werden  wohl  in  allen  größeren  Städten 
den  Kindern  im  Anschluß  an  den  Anschauungs-  und  Geschichts- 
unterricht die  historischen  Bauten  und  Denkmäler  der  Stadt  sowie 
die  historisch  merkwürdigen  Orte  der  Umgegend  gezeigt.  Nicht 
selten  werden  auch  öffentliche  Anlagen,  wie  Kanalbauten,  Wasser- 
werke, städtische  Gasanstalten  oder  private  Werkstätten,  Fabriken, 
Eisengießereien,  Bergwerke  und  Hüttenanlagen,  wenigstens  von  den 
Schülern  der  Oberklassen  unter  Führung  ihrer  Lehrer  besichtigt. 
Die  gewonnenen  Beobachtungen  werden  dann  nicht  selten  als  Auf- 
gaben für  die  deutschen  Aufsätze  verwendet, 

B.  Schulgärten,  Blumenpflege  durch  Schulkinder.  Die 
für  den  botanischen  Unterricht  als  Anschauungsobjekte  erforderlichen 
Pflanzen  sind  auf  dem  Lande  und  in  kleineren  Städten  im  allgemeinen 
ohne  große  Mühe  zu  beschaffen.  Wald  und  Feld,  Acker  und  Wiese 
und  der  Gemüse-  und  Obstgarten  des  Lehrers  bieten  das  erforderliche 
Material  in  genügender  Reichhaltigkeit  dar.  Schwieriger  ist  seine 
Beschaffung  in  großen  Städten  und  zugleich  notwendiger,  da  es  den 
Kindern  bei  dem  Mangel  an  Hausgärten  oft  gänzlich  an  Kenntnissen 
und  Anschauungen  vom  Leben  der  Pflanzen  mangelt. 

Um  die  Schulen  mit  diesem  botanischen  Anschauungsmaterial 
zu  versehen,  hat  man  in  verschiedenen  Großstädten  umfangreiche 
Gärten  angelegt,  in  denen  die  im  Unterricht  zu  behandelnden  Pflanzen 
gezogen  und  den  Schulen  nach  Bedürfnis  geliefert  werden.  Solche 
Zentralschulgärten  bestehen  seit  Mitte  der  siebziger  Jahre  des  19. 
Jahrhunderts  in  einer  großen  Zahl  von  deutschen  Städten,  so  in  Berlin 
im  Humboldthain  seit  1875,  in  Magdeburg  seit  1879,  in  Leipzig, 
Breslau,  Mannheim,  Dortmund,  Cöln  a.  Rh.,  Altona,  Karlsruhe,  Elber- 
feld,  Hannover,  Chemnitz*)  usw. 

Größe  und  Anlage  dieser  Zentralschulgärten  sind  nach  den  Be- 
dürfnissen des  Ortes  und  den  zur  Verfügung  stehenden  Grundstücken 


*)  Vgl.    den    Artikel    „Schulgärten"    in    Reins    „Encyklopädisches    Handbuch    der 
Pädagogik". 


Andere  Wolilt'alntseiniichluiv^ren.  90 

verschieden.  Die  botanische  Abteikmg  im  Humboldthain  in  Berlin 
umfaßt  ein  Areal  v^on  4  ha,  hat  sich  aber  zur  Lieferung  des  erfor- 
derlichen Pflanzenmaterials  für  die  Berliner  Schulen  längst  als  unzu- 
reichend erwiesen.  Wie  sich  die  Verwendung  einer  derartigen  An- 
lage gestaltet,  und  welche  Kosten  sie  verursacht,  ist  aus  folgendem, 
dem  Verfasser  zur  Verfügung  gestellten  amtlichen  Bericht  über  den 
Botanischen  Garten  (Zentralschulgarten)  in  Magdeburg  zu  ersehen: 

,,Für  die  hiesigen  städtischen  Schulen  besteht  ein  großer  bota- 
nischer Garten  in  den  Herrenkruganlagen.  Derselbe  ist  ca.  4  Morgen 
groß  und  vollständig  regelmäßig  eingeteilt.  Er  enthält  neben  einer 
Abteilung  für  das  Pflanzensystem  ca.  2000  qm  nur  Anzuchtsbeete  mit 
Schatten-  und  Sumpfquartieren  und  an  Baulichkeiten  ein  Häuschen  für 
den  Leiter,  Geräteschuppen  und  offene  Halle  für  Unterrichtszwecke. 

Der  Garten  liefert  das  Pflanzenmaterial  für  7  höhere  und  20 
Volksschulen  während  des  Sommersemesters  wöchentlich  zweimal, 
Montags  und  Donnerstags.  Die  Lehrpflanzen  werden  von  den  ein- 
zelnen Schulen  auf  Grund  der  alle  14  Tage  von  der  Leitung  des 
Gartens  herausgegebenen  Pflanzenlieferungsverzeichnisse  bestellt  und 
sortenweis  gebündelt  mit  Namen  geliefert.  Die  Anlieferung  erfolgt 
mittels  Rollwagen,  auf  welchen  die  Pflanzen,  für  jede  Schule  geson- 
dert gebündelt,  aufrecht  in  Kästen  stehend,  transportiert  werden  und 
zum  Schutze  gegen  Witterungseinflüsse  mit  einer  Plane  überdeckt 
werden  können.  Jeder  Pflanzenlieferung  wird  eine  Zusammenstellung 
des  gelieferten  Materials  beigegeben.  Die  für  den  Schulunterricht 
notwendigen  Pflanzen  werden  in  ca.  280  Arten  auf  den  Anzuchts- 
beeten herangezogen  und  in  1 20  bis  1 50  000  Exemplaren  geliefert. 
Es  sind  40  bis  50  Exemplare  für  den  qm  gerechnet.  Das  Pflanzen- 
system enthält  in  systematischer  Anordnung  die  wichtigsten  heimischen 
Pflanzenfamilien  mit  ihren  Repräsentanten. 

Die  jährlichen  Unterhaltungskosten  betragen: 

1 .  Lohn  eines  Gartengehilfen,  der  sich    in   botani- 
schen Gärten  bereits  Vorkenntnisse  erworben  hat     1  200,00  M., 

2.  Lohn  für  2  Frauen,  vom  März  bis   Oktober  zu 
beschäftigen 700,00  M., 

3.  Lohn  für  2  Hilfsarbeiter,  während  der  Frühjahrs-, 

Sommer-  und  Herbstmonate 360,00  M., 

4.  Für  das  Austragen  usw.  der  Pflanzen  ....  200,00  M., 

5.  Zur    Unterhaltung    und    Beschaffung    von    Ge- 
räten, Beschaffung  von  Samen  und  Pflanzen      .  240,00  M., 

zusammen     2  700,00  M. 
7* 


i  00  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Außerdem  sind  noch  16  kleine  botanische  Gärten  vorhanden, 
welche  unweit  der  einzelnen  Schulgebäude  belegen  sind.  Für  Instand- 
haltung und  Beaufsichtigung  derselben  werden  alljährlich  im  ganzen 
1465  M.  verausgabt." 

Der  Zentralschulgarten  unterstützt  den  botanischen  Unterricht 
noch  auf  andere  Weise  als  durch  Lieferung  von  Pflanzen.  Die 
Schüler  werden  von  ihren  Lehrern  klassenweise  in  den  Garten 
geführt,  um  dort  im  Freien  oder  in  einer  Halle  ihre  Lektionen  zu 
erhalten  oder  gewisse  im  Unterricht  vorbereitete  Beobachtungen 
anzustellen. 

Bei  den  erheblichen  Entfernungen  der  Großstadt  können  die 
Schulen  natürlich  nur  selten  solche  botanischen  Ausflüge  veranstalten 
und  müssen  sich,  wofern  ihnen  nicht  eigentliche  Schulgärten  in  un- 
mittelbarer Nähe  der  Anstalt  selbst  zur  Verfügung  stehen,  mit  den 
nicht  immer  wohlerhaltenen  und  durch  den  Transport  nicht  selten  an 
Blüten  und  Blättern  schwer  beschädigten  Pflanzenexemplaren  begnügen, 
welche  die  Zentralstelle  liefert.  Die  Betrachtung  dieser  Pflanzen- 
leichen kann  natürlich  nur  einen  unvollkommenen  Ersatz  für  die  prak- 
tische Tätigkeit  im  Schulgarten  und  die  Pflege  lebender  Pflanzen 
bieten.  Die  Gemeindeverwaltungen  sind  daher  auch  in  den  großen 
Städten  eifrig  bemüht,  ihren  Schulen  wenigstens  bei  Neubauten  den 
Vorteil  eines  Schulgartens  zuteil  werden  zu  lassen.  Leider  stehen 
diesem  Bemühen  oft  nicht  unerhebliche  Schwierigkeiten  im  Wege. 
Die  hohen  Bodenpreise  in  den  modernen  Großstädten  zwingen  die 
Stadtverwaltungen,  sich  gerade  in  bezug  auf  das  Areal  des  Schul- 
grundstücks die  möglichste  Beschränkung  aufzuerlegen,  und  stellen 
ihnen  unter  Umständen  nur  die  Alternative,  an  dem  Bewegungsraum 
für  die  Schulkinder  in  den  Pausen,  dem  Schulhofe,  zu  sparen  oder 
auf  den  Schulgarten  zu  verzichten.  Unter  diesen  Umständen  be- 
schränkt man  sich  nicht  selten  auf  die  Bepflanzung  des  Schulhofes 
mit  einigen  Laubbäumen  und  die  Anlage  schmaler  Rabatten  von 
Gebüsch  an  den  Umfassungsmauern.  Auf  diese  Weise  können  die 
Kinder  auf  dem  Hofe  wenigstens  Kastanie,  Akazie,  Eiche,  Platane 
und  dgl.  und  einige  Straucharten  als  lebende  Exemplare  kennen 
lernen,  aber  als  Ersatz  für  planmäßig  angelegte  Schulgärten  können 
diese  Pflanzungen  natürlich  nicht  gelten.  Vielfach  bietet  der  Boden 
selbst,  auf  dem  das  Schulhaus  steht,  erhebliche  Hindernisse  dar;  in 
den  meisten  Fällen  ist  es  auch  schwer,  den  Schulgärten  auf  den  von 
hohen  Mietskasernen  eingeschlossenen  Schulhöfen  großer  Städte  das 
nötige  Sonnenlicht  zu  bieten. 


Andere   Wohlfahrtseinrichtunfren.  101 

Trotz  dieser  Schwierii^keiten  sind  Städte  wie  München,  Dresden, 
Leipzig,  Hamburg,  Wiesbaden,  Magdeburg,  Frankfurt  a.  M.  und  viele 
andere  eifrig  bemüht  gewesen,  wenigstens  der  Mehrzahl  ihrer  Volks- 
schulen Schulgärten  einzurichten. 

Bei  allen  Werktagsschulbauten  in  München  wird  bestimmungs- 
gemäß ein  Schul-  und  Küchengarten  von  ca.  50  qm  angelegt;  in 
Dresden  besaßen  im  Sommer  1901  bereits  1 8  städtische  Volksschulen 
zum  Teil  recht  ansehnliche  Schulgärten.  Der  etwas  über  500  qm 
große,  bereits  1891  angelegte  Schulgarten  der  dortigen  VI.  Bürger- 
schule kann  als  ein  gutes  Muster  derartiger  Anlagen  gelten.  Er 
bildet  ein  Rechteck,  welches  die  für  den  Unterricht  wertvollsten 
Pflanzengruppen  auf  besonderen  Beeten  vereinigt.  Da  sehen  wir 
Feld-  und  Wiesenpflanzen  auf  einer  Anzahl  kleinerer  Quadrate  zu- 
sammengefaßt, dann  folgen  verschiedene  im  botanischen  Lehrplan 
\'orgeschriebene  Gewächse.  In  der  Mitte  des  Grundstücks  gruppieren 
sich  um  die  Bassins  mit  der  Sumpf-  und  Wasserflora  Pflanzen,  welche 
in  der  Technik  Verwertung  finden.  Besondere  Gruppen  bilden  die 
Waldgehölze,  die  Schutt-  und  Hügelpflanzen,  die  Sträucher  mit 
Beerenobst,  die  Gemüse  und  Küchenkräuter.  Auch  die  Alpenpflanzen, 
Obstbäume  und  mancherlei  Zierpflanzen  sind  nicht  vergessen;  es  fehlt 
auch  nicht  an  in  den  Boden  eingelassenen  Fässern  für  Regenwasser 
und  Komposthaufen.  Die  Gartengeräte  sind  in  einem  besonderen 
Pavillon  untergebracht. 

Auf  die  Benutzung  des  Schulgartens  für  den  Unterricht  kann 
hier  nicht  näher  eingegangen  werden.  Derselbe  wird  den  Schülern, 
wenn  sie  zur  Bewirtschaftung  herangezogen  werden,  eine  zweckmäßige 
und  willkommene  Gelegenheit  zur  Betätigung  ihrer  Schaffenskraft 
besonders  in  der  Großstadt  bieten,  er  wird  ihnen  eine  Fülle  von 
eigentlichen  botanischen  Kenntnissen  einschließlich  der  Pflanzen- 
physiologie in  anschaulicher  Weise  übermitteln,  er  wird  aber  auch 
anderen  Lehrfächern  mancherlei  zweckmäßige  Anregungen  geben  und 
Aufgaben  stellen.  Der  im  Garten  für  die  Wasserpflanzen  anzulegende 
Teich  wird  Fische,  Frösche  und  Salamander  beherbergen  können. 
Die  Schüler  werden  die  Entwicklung  dieser  Tierchen  aus  dem  Laich 
verfolgen.  Die  Versuche,  durch  verschiedene  Düngungsmittel  das 
Wachstum  der  Pflanzen  zu  befördern,  wird  die  Kinder  in  die  Grund- 
gesetze der  Agrikulturchemie  einführen,  die  Ausmessung  und  Ab- 
steckung der  Beete  kann  zu  geometrischen  Aufgaben  Anlaß  bieten, 
der  Springbrunnen  das  Gesetz  der  kommunizierenden  Gefäße,  der 
Brunnen   das    Prinzip    der    Saugpumpe   veranschaulichen.     Die    Blatt- 


■|  Q2  Wohlfahrtseinriclilungen. 

formen,  die  Blüten  und  Früchte,  die  Bäume,  Gartengeräte,  Lauben 
und  dergl.  bieten  wundervolle  Objekte  für  den  Zeichenunterricht. 

Die  Belehrungen  im  Schulgarten  sind  durchweg  anschaulich  und 
finden  im  Freien  statt  und  hinterlassen  um  dieser  F^igenart  willen 
mancherlei  tiefe  und  nachhaltige  Eindrücke  im  Geist  und  Gemüt  des 
Kindes. 

Eins  der  wertvollsten  Resultate  dieser  Beschäftigung  mit  den 
Pflanzen  pflegt  ein  tieferes  Verständnis  und  eine  innige  Liebe  für  das 
Walten  der  Naturkräfte  zu  sein.  Dem  Kinde,  in  dessen  Herzen 
diese  Empfindungen  einmal  wachgerufen  sind,  ist  damit  eine  neue 
Quelle  reiner  Genüsse  eröffnet,  die  Freude  an  den  Schönheiten  der 
es  umgebenden  Natur. 

Li  einem  etwas  anderen  Sinne  ist  die  Beschäftigung  mit  Garten- 
bau in  jenen  Anlagen  ausgebildet  worden,  die  man  mehr  als  Garten- 
baukolonien für  Schulkinder  bezeichnen  möchte.  Das  sind  Felder^ 
auf  denen  3ich  Schüler  oder  Schülerinnen  an  gewissen  Nachmittagen 
unter  Aufsicht  der  Lehrer  mit  der  Bebauung  ihnen  zugewiesener 
Beete  beschäftigen.  Verfasser  hatte  Gelegenheit,  eine  derartige 
Kolonie  auf  den  Gabitz-Äckern  in  Breslau  kennen  zu  lernen,  und 
gewann  von  dem  frohen  Eifer,  mit  dem  die  Schüler  Spaten,  Hacke 
und  Gießkanne  gebrauchten  und  Früchte  und  Gemüse  ernteten,  den 
besten  Eindruck. 

Ein  amtlicher  Bericht  sagt  über  diese  Breslauer  Einrichtung: 
,,Der  im  Jahre  1898  in  kleinem  Umfange  gemachte  Versuch,  mit 
reiferen  Knaben  aus  den  städtischen  Volksschulen  Gartenbau  zu 
treiben,  hatte  solche  erfreulichen  Erfolge,  daß  die  städtischen  Be- 
hörden von  Jahr  zu  Jahr  durch  Bereitstellung  geeigneter  Ländereien 
und  Mittel  diesen  gesunden,  sowohl  auf  den  Körper  als  auch  auf  das 
Gemüt  der  Jugend  günstig  wirkenden  Unterrichtszweig  förderten.  So 
arbeiteten  im  vergangenen  Sommer  unter  der  Leitung  fachkundiger 
Lehrer  auf  4  großen,  in  verschiedenen  Teilen  der  Stadt  gelegenen 
Gartenflächen  von  750  +  1 600 -M  732 -^  2000  qm  Größe  insgesamt 
556  Knaben  aus  35  Volksschulen,  indem  jeder  Knabe  eine  Fläche 
von  6 — 7  qm  selbständig  bebaute,  aber  auch  den  Ertrag  sein  eigen 
nennen  konnte.  Außerdem  wurde  auf  jeder  Station  ein  größeres 
Stück  Land  von  allen  Knaben  gemeinsam  bebaut.  Der  Anbau  er- 
streckt sich  hauptsächlich  auf  Gemüse,  Beerensträucher  und  Blumen. 
Abgesehen  von  den  ersten  Einrichtungskosten  stellen  sich  die  Unter- 
haltungskosten auf  etwa  7 — 8  Pfennige  für  das  Quadratmeter  und 
Jahr.     Die    erforderlichen    Geräte    werden,    soweit  die    Knaben    nicht 


Andere  Wohlfahrtseinrichtungen.  \03 

selbst  in  der  Lage  sind,  solche  zu  besitzen,  auf  städtische  Kosten 
geliefert.  Die  Teilnahme  an  dem  Gartenbau,  der  nur  in  der  schul- 
freien Zeit  betrieben  wird,  steht  jedem  Knaben  frei."  Für  Blumen- 
pflege und  Gartenbau    sind  im    Etat    von  1903  5000  AI.    vorgesehen. 

Auf  die  besondere  Bedeutung  der  Anlage  von  Schulgärten  für 
Hilfs.schulen  und  Kinderhorte  ist  bereits  hingewiesen  worden;  ebenso 
ist  der  Gemüsegarten  ein  unentbehrlicher  Bestandteil  der  Schul- 
küchenanlage. 

Wo  der  Mangel  an  Raum  oder  andere  ungünstige  Verhältnisse 
die  Einrichtung  eines  Schulgartens  unmöglich  machen,  da  tritt  die 
Pflege  von  Blumen  in  Töpfen  in  ihre  Rechte.  Auch  sie  ist  ein 
wichtiges  Hilfsmittel  der  intellektuellen  und  ästhetischen  Jugend- 
bildung. 

Die  schöne  Sitte,  die  Klassenzimmer  mit  Blumen  auf  den 
Fensterbrettern  zu  schmücken,  breitet  sich  auch  in  deutschen  Schulen 
immer  mehr  aus,  und  Behörden  wie  Gemeinden  stehen  den  Be- 
strebungen, die  Blumenpflege  bei  den  Kindern  einzubürgern,  sehr 
wohlwollend  gegenüber. 

In  diesem  Sinne  spricht  sich  bereits  im  Jahre  1889  die  Re- 
gierung in  Düsseldorf  in  einer  Verfügung  vom  1 1 .  September  aus. 
Es  heißt  da: 

,, unter  Bezugnahme  auf  die  diesseitige  Verfügung  vom  1.  April 
dieses  Jahres  veranlassen  wir  die  Herren  Kreisschulinspektoren, 
darauf  hinzuwirken,  daß  die  Lehrer  und  Lehrerinnen  Ihrer 
Aufsichtsbezirke  der  Blumenpflege  durch  Schulkinder  um  der 
veredelnden  Einwirkung  willen,  welche  von  einer  solchen  Beschäf- 
tigung der  Schüler  und  Schülerinnen  zu  erhoffen  ist,  ihre  tätige  Teil- 
nahme zuwenden,  und  zu  dem  Ende  diese  Angelegenheit  zum  Gegen- 
stande einer  Besprechung  auf  einer  der  nächsten  Lehrer-  und  Lehre- 
rinnenkonferenzen zu  machen.  Wir  machen  dabei  darauf  aufmerksam, 
daß  der  Schule  mancherlei  Mittel  zu  Gebote  stehen,  um  den  Schülern 
und  Schülerinnen  Anregung  zur  Blumenpflege  zu  geben.  Dahin  ge- 
hört, daß  von  den  Lehrern  und  Lehrerinnen  in  den  Schulzimmern 
Topfpflanzen  gezogen  und  die  Schulkinder  bei  der  Pflege  derselben 
beteiligt  werden.  Es  empfiehlt  sich  ferner  auch,  auf  den  Schulhöfen 
an  geeigneten  Stellen  Blumenbeete  anzulegen  und  bei  der  Instand- 
haltung derselben  die  Kinder  planmäßig  zu  beschäftigen. 

Wenn  außerdem  die  Lehrer  und  Lehrerinnen  von  den  selbst- 
gezogenen   Pflanzen    Stecklinge    und    Samen   an  die  Schulkinder  von 


1 04  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Zeit  zu  Zeit  austeilen,  so  wird  auch  dadurch  in  denselben  der  Trieb 
zur  Blumenpflege  geweckt  werden." 

Nicht  selten  haben  Gartenbauvereine,  wie  in  Erfurt,  zuerst  die 
Blumenpflege  durch  Schulkinder  angeregt;  in  den  meisten  Fällen 
sorgen  sie  für  unentgeltliche  oder  sehr  billige  Lieferung  der  erforder- 
lichen Topfgewächse,  während  die  Lehrer  die  Beaufsichtigung  der 
Pflege  übernehmen.  Als  Städte,  in  welchen  die  Pflege  von  Blumen 
in  Töpfen  durch  Schulkinder  besonders  gefördert  wird,  mögen  hier 
Erfurt,  Breslau,  Lübeck,  Hannover,  Danzig,  Berlin,  Mannheim  genannt 
werden. 

Im  Sommer  1902  gelangten  in  Berlin  durch  den  Verein  zur 
Förderung  der  Blumenpflege  bei  Schulkindern  an  65  Schulen  im 
ganzen  über  16  000  Pflanzen  teilweise  unentgeltlich  zur  Verteilung. 
Auch  von  der  städtischen  Parkdeputation  wurde  der  Verein  durch 
Lieferung  einer  großen  Anzahl  von  Stecklingen  unterstützt.  Unter 
den  besonders  bevorzugten  Gewächsen  nennt  der  Jahresbericht 
Myrten,  helmbuschblütige  Akazien,  Fuchsien,  Pelargonien,  Euka- 
lyptus, Hehotrop  u.  a.  m.  Eine  Verteilung  von  Preisen  findet  in 
Berlin  nicht  statt;  in  anderen  Städten,  wie  in  Erfurt  und  Hannover, 
wird  die  Ausgabe  der  Stecklinge  —  und  man  \\'ählt  hierzu  möglichst 
gleichmäßig  entwickelte,  für  die  Zwecke  eigens  vorbereitete  Pflanzen, 
die  zur  Ausführung  sicherer  Kontrolle  mit  Plomben  versehen  sind  — 
mit  einer  gewissen  Feierlichkeit  betrieben.  Dieselbe  findet  im  Mai 
statt;  im  August  oder  September  folgt  dann  in  Anwesenheit  eines 
größeren  Publikums  von  Literessenten  und  der  Behörden  die  Aus- 
stellung und  Prämiierung  der  Pflanzen.  Ein  aus  Gärtnern,  Lehrern 
und  Gartenfreunden  bestehendes  Komitee  verteilt  die  Preise.  Diese 
bestehen  entweder  in  Diplomen,  silbernen  oder  bronzenen  Medaillen, 
schönen  Pflanzenexemplaren,  Gartengeräten  oder  auf  den  Pflanzenbau 
bezüglichen  Büchern.  Diese  Veranstaltungen  gewinnen  immer  mehr 
das  Interesse  weiterer  Kreise  der  Bevölkerung;  der  Besuch  dieser 
Ausstellungen  durch  Kinder  und  Erwachsene  pflegt  ein  recht  leb- 
hafter zu  sein. 

C.  Die  Pflege  der  Kunst  in  der  Schule.  Im  letzten  Jahr- 
zehnt ist  in  Deutschland,  angeregt  besonders  durch  die  Bemühungen 
der  Hamburger  Lehrerschaft,  das  Bestreben  hervorgetreten,  die 
Leistungen  der  Kunst  den  Schulkindern  näher  zu  bringen  und  die 
Schule  der  so  lange  vernachlässigten  oder  nicht  genügend  gepflegten 
ästhetischen  Erziehung  des  Volkes  dienstbar  zu  machen. 

Die  leitenden  Gesichtspunkte  der    neuen  Richtung    werden    von 


Andere  Wohlfahrtseiiuichtungen.  -|  (J5 

einem  ihrer  Führer,  dem  Direktor  der  Hamburger  Kunsthalle,  Pro- 
fessor Alfred  Lichtwark,  in  folgender  Weise  zum  Ausdruck  ge- 
bracht:*) 

„Es  wird  sich  nicht  um  die  Beseitigung  vorhandener  und  eben- 
sowenig um  die  Einführung  neuer  Unterrichtsgegenstände  handeln  — 
daran  herrscht  ja  kein  Mangel  — ,  sondern  um  eine  Vertiefung  und 
Bereicherung  der  vorhandenen  Stoffe  und  Methoden.  Überall  ist  die 
unmittelbare  Berührung  mit  den  Dingen  anzustreben.  Das  Ge- 
dächtnis darf  nicht  nur  als  ein  mechanisches  Werkzeug  zur  Bewälti- 
gung toten  Stoffes  ausgebildet  werden,  sondern  ist  vielmehr  als  eine 
lebendige  Kraft  im  Dienst  des  prüfenden  und  vergleichenden  Ver- 
standes zu  erziehen.  Als  solche  kann  es  ohne  Gefahr  weit  mehr  als 
bisher  belastet  werden,  und  es  wird  mit  spielender  Leichtigkeit  und 
Freudigkeit  ungeahnte  Aufgaben  bewältigen.  Das  Ziel  des  Unter- 
richts besteht  nicht  bloß  und  nicht  in  erster  Linie  in  der  Mitteilung 
des  Stoffes,  sondern  in  der  Gewöhnung  an  eine  zwingende  Methode 
zu  beobachten  und  nachzudenken.  Es  muß  das  Bedürfnis  erweckt 
werden,  vor  jeder  neuen  Erscheinung  zu  sehen,  wie  weit  die  un- 
mittelbare Beobachtung  und  die  vorsichtige  Anwendung  des  vor- 
handenen Wissens  führt,  und  erst  wenn  diese  Mittel  erschöpft  sind, 
nach  Hilfe  von  Menschen  und  Büchern  zu  suchen.  Aller  Unterricht 
sollte  eine  Anleitung  sein,  der  Welt  selbständig  und  unabhängig 
gegenüberzutreten  und  in  befestigter  Gewohnheit  das  erarbeitete 
Wissen  zum  Erwerb  neuer  Kenntnisse  zu  benutzen.  In  jedem  Augen- 
blick muß  alles  Wissen  zur  Verfügung  stehen.  Dies  wird  am 
sichersten  erreicht,  wenn  es  von  der  ersten  Stunde  einem  Können 
dient. 

Können  ist  die  höhere  Macht.  Verstehen  und  selbständig  unter- 
suchen können,  mitzuempfinden  und  nachzuempfinden  vermögen  geht 
über  alles  mechanische  Wissen  weit  hinaus. 

Die  Fähigkeit  zu  empfinden  ist  an  einzelnen  Gegenständen  der 
Natur  —  im  Naturgeschichtsunterricht,  bei  Ausflügen  vor  der  Natur 
—  und  an  einzelnen  Kunstwerken  —  Bildern,  Bauwerken,  Statuen, 
Gedichten,  Musikwerken  —  zu  üben.  Ohne  diese  Grundlage  ist  eine 
geschichtliche  Betrachtung  der  Kunst  und  der  Literatur  für  die  wirk- 
liche Bildung  nicht  bloß  wertlos,  sondern  sogar  gefährlich. 

Auf  allen  Gebieten  ist  sodann  vor  allen  Dingen  Ausdrucksfahig- 


*)    Versuche  und  Ergebnisse  der  Lehrer\-ereinigung    für    die    Pflege    der    künstle- 
rischen Bildung  in  Hamburg.     Hamburg  1901.    S.  4 — 7. 


i  06  Wolilfahrtseiinichtungen. 

keit  anzustreben.  Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  die  von  der  Natur 
gegebene  Fähigkeit  infolge  Mangels  an  Gewöhnung  nicht  erst  ein- 
schläft. Wenn  wir  die  Entwicklung  des  Kindes  beobachten,  finden 
wir  beständig,  daß  die  natürliche  Begabung  von  irgend  einem  Punkte 
an  unterdrückt  wird,  vor  allem  durch  die  schlechte  Angewohnheit 
falscher  Scham,  durch  die  Untergrabung  der  Unbefangenheit,  die 
Entwöhnung  vom  Beobachten,  die  Zerstörung  des  persönlichen  Mutes. 
Kleine  Kinder  pflegen  mit  hellem,  sicherem  Ansatz  zu  singen.  Was 
wird  in  der  Schule  daraus?  Kleine  Kinder  erzählen  und  plaudern 
ganz  unbefangen.  Wie  steht  es  damit  nach  dem  ersten  Schuljahr, 
wie  steht  es  bei  den  Zwölfjährigen?  Kleine  Kinder  zeichnen  ohne 
Furcht  und  Bangen,  was  in  den  Kreis  ihrer  Vorstellung  kommt,  und 
zeichnen  mit  Freudigkeit.  Wie  weit  wird  dies  in  der  Schule  berück- 
sichtigt? Sollte  es  nicht  möglich  sein,  die  Unbefangenheit  zu  erhalten 
durch  alle  Stufen,  bis  das  sichere  Können  erreicht  ist? 

Es  muß  überall  und  beständig  nicht  von  der  Wissenschaft,  dem 
Stoff,  nicht  von  dem  Vorstellungskreis  des  Erwachsenen,  sondern  von 
der  Natur  des  Kindes  ausgegangen  werden.  Nur  die  Methoden 
führen  zum  Ziel,  die  so  tief  gegründet  sind. 

Eins  aber  darf  nie  vergessen  werden:  die  Kinder  sind  ein 
heiteres  Geschlecht.  Sie  leben  noch  heute  in  einer  glückseligen 
Welt,  die  Jahrtausende  hinter  uns  liegt,  in  einem  goldenen  Zeitalter. 
Was  sie  packen  soll,  was  ihnen  lieb  werden  soll,  muß  heiter  sein. 
Und  alles,  was  ihnen  geboten  wird,  muß  ihnen  lieb  werden.  Das  ist 
die  beste  Schule,  in  der  bei  der  ernstesten  Arbeit  am  meisten  ge- 
lacht wird.  Wer  die  Gnade  des  Humors  nicht  hat,  sollte  nicht 
Lehrer  werden  dürfen. 

Soweit  es  möglich,  ist  überall  von  der  durch  die  nächste  Heimat 
gegebenen  Grundlage  auszugehen.  Die  Schule  hat  nicht  bloß  mit 
dem  zu  rechnen,  was  sie  selbst  mitteilt,  sondern  überall  heranzuziehen, 
was  das  tägHche  Leben  außerhalb  der  Schule  lehrt.  Es  ist  eine  der 
Unzukömmlichkeiten  der  heutigen  Praxis,  daß  dieses  ungeheure  Er- 
fahrungswissen nicht  genügend  in  Anschlag  gebracht  wird.  Die 
Schule  hat  überall  die  Verbindungen  herzustellen. 

Engere  Beziehungen  zu  den  Eltern  und  den  ins  Leben  ent- 
lassenen Schülern  erscheinen  dringend  erstrebenswert,  damit  die 
Schule  nicht  als  ein  Fremdkörper  im  Leben  des  einzelnen  und  der 
Familie  steht.  Es  müßte  sich  um  jede  Schule  eine  Schulgemeinde 
der  Eltern  und  früheren  Schüler  bilden,  mitlebend,  mitstrebend,  mit- 
helfend.      Wo     eine     besonders     einflußreiche     Lehrerpersönlichkeit 


Andere  Wohlfahrtseinrichtiingen.  107 

wirkte,  haben  sich  hie  und  da  bereits  Vereine  unter  ihrem  Namen 
gebildet,  die  ihre  Überlieferung  pflegen. 

Auf  dem  festen  Untergrund  der  Liebe  zur  Heimat  und  ihres 
wachsenden  Verständnisses  ist  sodann  das  nationale  Wesen  zu  pflegen. 
Wer  die  Schule  verläßt,  muß,  soweit  seine  Fähigkeiten  reichen,  An- 
schluß an  die  großen  Dichter  und  Künstler  unseres  Volkes  gefunden 
haben,  Anschluß  mit  dem  Herzen,  und  es  muß  in  ihm  das  Be- 
dürfnis nach  unmittelbarem  Verkehr  mit  ihren  Werken  lebendig  ge- 
worden sein.     Die  Schule  soll  nicht  satt,  sie  soll  hungrig  machen. 

Alles,  was  gelernt  und  gelehrt  und  an  Kräften  erworben  wird, 
muß  durch  das  Gefühl  in  den  Dienst  der  höheren  Entwicklung  unseres 
Volkes  gestellt  werden.  Jeder  muß  sich  verpflichtet  fühlen,  an  der 
Vertiefung  und  Veredelung  unseres  Volkscharakters  mitzuarbeiten, 
und  zwar  indem  er  nicht  bei  den  andern,  sondern  bei  sich  selber 
anfängt. 

In  solchem  Boden  gepflegt,  werden  Vaterlandsgefühl,  Volks- 
bewußtsein, Nationalstolz,  Patriotismus  und  wie  wir  die  Äußerungen 
des  einen  tiefen  Gefühls  der  Zugehörigkeit  nennen  mögen,  in  dessen 
Entwicklung  wir  Deutschen  noch  hinter  unsern  Nachbarn  zurück- 
geblieben sind,  sich  als  aufbauende  und  gestaltende  Lebensmächte 
wirksam  erweisen,  die  nicht  nur  an  seltenen  Schicksalstagen  fieber- 
haft aufwallen,  sondern  auch  an  allen  Werktagen  still  und  stark  an 
der  Arbeit  sind." 

Es  ist  hier  nicht  der  Platz,  auf  eine  Erörterung  dieser  Grund- 
gedanken einzugehen.  Dieselben  haben  in  Deutschland  sowohl  in 
den  Kreisen  der  Lehrer,  wie  in  denen  der  Künstler  und  Gelehrten, 
ja  selbst  bei  den  Verwaltungsbehörden  lebhaften  Wiederhall  gefunden. 
In  ganz  Norddeutschland  vollzieht  sich  auf  der  Basis  der  neuen  Ideen 
schon  jetzt  eine  Umgestaltung  des  Zeichenunterrichts.  Auf  die 
wesentlichen  neuen  Gesichtspunkte  ist  bei  Gelegenheit  der  Be- 
sprechung des  Berliner  Zeichenlehrplanes  bereits  hingewiesen  worden. 

Unter  Mitwirkung  des  Professors  Lichtwark  und  anderer  Künstler 
und  Gelehrten  ist  eine  Vereinigung  entstanden,  welche  es  sich  zur 
Aufgabe  stellt,  in  Zwischenräumen  von  2  Jahren  Kunsterziehungstage 
einzuberufen.  Zu  diesen  Veranstaltungen  werden  die  Mitglieder  der 
Schulverwaltungen  und  Schulaufsichtsbehörden,  Schulmänner,  Ver- 
treter der  größeren  Lehrer-  und  Lehrerinnen- Vereine,  Männer  und 
Frauen  der  Literatur,  der  Presse  und  Kritik  sowie  andere  Freunde 
der  Volkserziehung  eingeladen.  Es  haben  bisher  zwei  solcher  Kunst- 
erziehungstage    stattgefunden:      Der    erste    im    September    1901     in 


1 08  \N'ohlfahrtseinrichtuiigen. 

Dresden  beschäftigte  sich  vorzugsweise  mit  der  Pflege  der  bildenden 
Kunst,  der  zweite  im  Oktober  1 903  in  Weimar  mit  der  künstlerischen 
Behandlung  der  deutschen  Sprache  und  Dichtung;  ein  dritter,  für 
welchen  Ort  und  Zeit  noch  nicht  festgesetzt  sind,  soll  sich  mit  ]\Iusik 
und  Gymnastik  beschäftigen. 

Alle  diese  Bestrebungen  beschränken  sich  natürlich  nicht  auf 
das  Gebiet  der  Volksschule,  ja  sie  kommen  wohl  vorläufig  in  erster 
Linie  den  Schülern  und  Schülerinnen  der  höheren  Lehranstalten  zu- 
gute. Ein  großer  Teil  der  Wirkungen  des  neuen  Geistes  ist  aber 
auch  schon  jetzt  wenigstens  hie  und  da  in  den  Räumen  der  Volks- 
schulen zu  spüren. 

Wir  wollen  versuchen,  auf  einige  der  Einrichtungen  hinzuweisen, 
welche  gegenwärtig  für  die  ästhetische  Erziehung  unserer  Volks- 
schüler und  Volksschülerinnen  \^on  Wichtigkeit  sind.  Es  wird  sich 
dabei  natürlich  nicht  ausschließlich  um  neue  Schöpfungen  oder  Ver- 
anstaltungen handeln,  denn  auch  im  Rahmen  des  bisherigen  Volks- 
schulunterrichts fand  sich  mancherlei  Raum  und  Anlaß,  auf  das  Gemüt 
der  Kinder  durch  künstlerische  Darbietungen    erziehlich    einzuwirken. 

a)  Schulfeiern  und  Elternabende.  Zu  den  bereits  be- 
stehenden ethisch-ästhetischen  Veranstaltungen  im  Anschluß  an  die 
Volksschule  gehören  in  erster  Linie  die  Schulfeiern.  Wir  rechnen 
dazu  zunächst  jene  Tage,  ivelche  in  dem  Leben  der  besonderen 
Schule  eine  Bedeutung  besitzen,  die  Jubiläen  des  Rektors  oder 
anderer  würdiger  Lehrer,  die  Einweihung  neuer  Schulräume  und 
andere  spezielle  Veranstaltungen  dieser  Art,  dann  jene  regelmäßig 
wiederkehrenden  wichtigen  Marksteine  im  Schuljahre,  Schulanfang 
und  Schulschluß,  letzterer  verbunden  mit  Bekanntgabe  der  Ver- 
setzungen, Austeilung  der  Zeugnisse  und  Prämien,  Entlassung  der 
Konfirmanden  und  dergleichen.  Diese  Feiern  erhalten  durch  die 
Sache  selbst  ihren  wesentHchen  Inhalt;  der  feierliche  Akt  besteht 
meist  in  Gesangaufführungen  der  Schüler  und  einer  Ansprache  des 
Rektors  oder  eines  Lehrers.  Einen  größeren  Umfang  nehmen  die 
künstlerischen  Darbietungen  bei  den  patriotischen  Feiern  an.  Die 
wichtigsten  Gedenktage  dieser  Art  in  den  deutschen  Volksschulen 
sind  der  Geburtstag  des  Landesherrn  und  des  Kaisers,  der  Sedantag 
(2.  September),  in  München  der  in  Zwischenräumen  von  5  Jahren  ge- 
feierte Gedenktag  des  Frankfurter  Friedens  (10.  Mai).  Die  Art  und 
Weise,  in  denen  sich  diese  F'eiern  vollziehen,  sind  natürlich  dem  Orte 
und  der  Jahreszeit  entsprechend  verschieden.  Fällt  das  Fest  in  die 
Sommermonate,    so    wird    es    häufig    mit    einem  Ausflusf  nach  einem 


Andere  Wohlfahrtseinrichtungen.  109 

schönen  Punkte  in  der  Umgegend  verbunden.  Die  Eltern  der  Schul- 
kinder schließen  sich  an,  und  aus  dem  Schulfest  wird  ein  eigentliches 
Volksfest,  an  dem  jung  und  alt  mit  gleicher  Begeisterung  teilnehmen. 
Zu  den  Veranstaltungen  solcher  Sommerfeste  gehören  als  regelmäßige 
Bestandteile  turnerische  Übungen,  Wettkämpfe,  Reigen  der  Mädchen, 
Gesang  und  Spiel.  Kaisers  Geburtstag  und  andere  Feste,  welche  im 
Winter  gefeiert  werden,  spielen  sich  natürlich  in  geschlossenem  Räume 
ab.  Die  Aula,  der  Gesangsaal  oder  die  Turnhalle  prangen  dann  im 
Schmucke  von  Fahnen  und  Guirlanden.  Außer  den  üblichen  An- 
sprachen des  Rektors  und  der  Lehrer  wechseln  Lieder  der  Schüler- 
chöre mit  dem  Vortrag  von  patriotischen  Gedichten  und  gelegentlich 
auch  kleineren  Aufführungen  durch  Schulkinder  ab. 

Besonders  feierlich  gestalten  sich  solche  Feste,  wenn  es  sich  um 
ein  Jubiläum  des  Herrschers  oder  ein  anderes  frohes  Ereignis  in 
seinem  Hause  handelt.  Dann  werden  wohl  gemeinsame  F""eiern  aller 
Schulen  der  Residenz  veranstaltet,  und  das  junge  Volk  der  Schüler 
und  Schülerinnen  darf  sich  in  dem  Thronsaale  dem  Herrscher  mit 
seinen  Huldigungen  nahen. 

Neben  diesen  nationalen  Feiern  spielt  in  vielen  Schulen  das 
Weihnachtsfest  eine  hochbedeutsame  Rolle.  In  welcher  Weise  das- 
selbe mit  seinen  Gaben  unter  Umständen  dazu  beiträgt,  die  Not  der 
bedürftigen  Schulkinder  zu  lindern,  darauf  ist  bereits  an  einer  früheren 
Stelle  hingewiesen  worden.  Im  allgemeinen  spielen  die  Geschenke 
bei  den  Weihnachtsfeiern  deutscher  Volksschulen,  wenn  man  von 
einigen  Pfefferkuchen,  Äpfeln  und  Nüssen  absieht,  eine  unbedeutende 
Rolle.  Die  Lehrer  und  Lehrerinnen  ziehen  es  in  den  meisten  Fällen 
vor,  ihnen  zufließende  oder  von  ihnen  erbetene  milde  Gaben  für  die 
ärmsten  Kinder  nicht  in  öffentlicher  Feier,  sondern  im  geheimen  zu 
verteilen.  Auch  ohne  wertvolle  Geschenke  verfehlt  die  Weihnachts- 
feier in  der  Schule  selten  ihren  tiefen  Eindruck  auf  die  Kinder.  Die 
Schüler  und  Schülerinnen  versammeln  sich  in  der  Aula,  auf  einem 
Tische  steht  der  mächtige,  fast  bis  zur  Decke  reichende,  von  Lichtern 
funkelnde  Weihnachtsbaum,  auf  langen  Seitentischen  sind  Schüsseln 
mit  Pfefferkuchen,  Äpfeln  und  Nüssen,  für  jedes  Kind  seine  Portion, 
aufgestellt,  und  nun  beginnt  das  eigentliche  Programm  der  Feier.  Die 
frohe  Botschaft  von  der  Geburt  des  Christkindleins  wird  gewöhnHch 
von  einem  ganz  kleinen  Bürschchen  oder  Mädchen  in  aller  Einfalt 
der  kindlichen  Sprache  erzählt;  dann  klingen  die  Lieder:  „Vom 
Himmel  hoch  da  komm  ich  her"  —  ,,0  du  fröhliche,  o  du  selige, 
gnadenbringende  Weihnachtszeit"  —  „Lobt  Gott,    ihr  Christen,  allzu- 


1  "1  0  Wohlfahrtseinrichtungen. 

gleich"  —  ,, Stille  Nacht,  heilige  Nacht"  —  und  dazwischen  mischen 
sich  dann  die  mehr  volkstümlichen  Kinderlieder:  „Am  Weihnachts- 
baum die  Lichter  brennen"  —  „Die  Nacht  vor  dem  heihgen  Abend" 
—  „Morgen,  Kinder,  wird's  was  geben"  —  ,,Ich  bin  der  kleine 
Weihnachtsmann"  und  viele  ähnliche.  Vor  der  eigentUchen  Be- 
scherung tritt  dann  ^^'ohl  der  Knecht  Ruprecht  im  Pelzmantel,  mit 
der  Pelzkappe  auf  dem  Kopf  und  dem  Sack  mit  Spielwaren,  aber 
auch  mit  Ruten  auf  dem  Rücken,  herv^or,  um  ein  neckisches  Verhör 
mit  den  artigen  und  unartigen  Schülern  abzuhalten.  Dann  kommt 
der  von  allen  Kindern  längst  ersehnte  Abschluß  und  Glanzpunkt  der 
Feier:  die  Bescherung,  und  freudestrahlend  und  mit  leuchtenden  Augen 
verlassen  sie  das  Schulhaus,  um  ihren  Eltern  die  erhaltenen  Gaben 
zu  zeigen. 

Außer  dem  Weihnachtsfest  bieten  noch  gewisse,  auf  die  einzelnen 
Konfessionen  beschränkte  Feiern,  wie  das  Fronleichnamsfest  und 
andere  in  katholischen  Schulen,  das  Reformationsfest  in  evangelischen, 
Anlaß  zu  Veranstaltungen  in  den  öffentlichen  \^olksschulen  des  be- 
treffenden Bekenntnisses. 

Außer  den  an  gewissen  Tagen  wiederkehrenden  allgemeinen 
Schulfeiern  pflegen  viele  Volksschulen  auch  noch  besondere  Zu- 
sammenkünfte zu  veranstalten,  welche  dazu  dienen  sollen,  die  Be- 
ziehungen zwischen  der  Schule  und  dem  Elternhause  enger  zu 
knüpfen.  In  manchen  Gegenden  werden  diese  öffentlichen  Schul- 
prüfungen oder  Elternabende  behördlich  angeordnet;  sie  sind  ent- 
weder eigentliche  öffentliche  Prüfungen,  welche  in  der  Schulzeit  (vor- 
mittags) stattfinden  und  den  Eltern  der  Schulkinder  Gelegenheit  zu 
einem  Einblick  in  den  Schulbetrieb  bieten  sollen,  oder  Zusammen- 
künfte am  Nachmittag  oder  Abend,  welche  den  Charakter  der  Prüfung 
bereits  eingebüßt  haben.  Die  eigentlichen  Schulprüfungen  haben  sich, 
wenigstens  in  den  großen  Städten,  als  BindegUed  zwischen  Haus  und 
Schule  schon  deshalb  nicht  immer  bewährt,  weil  die  Eltern  der 
Schulkinder,  die  zum  allergrößten  Teil  den  arbeitenden  Klassen  an- 
gehören, sich  nur  selten  am  Vormittag  eines  Wochentags  frei  machen 
können,  und  weil  auch  das  mehrstündige  Anhören  von  schul- 
mäßigen Lektionen  für  sie  kaum  ausreichendes  Interesse  bietet. 

Der  Besuch  dieser  öffentlichen  Prüfungen  war  daher  oft  recht 
schwach,  und  man  ist  beispielsweise  in  Berlin  von  einer  derartigen 
Veranstaltung  abgegangen  und  hat  an  ihrer  Stelle  andere  Zusammen- 
künfte (Elternabende)  eingerichtet,  die  den  Charakter  der  Prüfung 
nicht  mehr    an    sich    tragen   und  am  Nachmittag  oder  Abend  veran- 


Andere  Wohlfaliitseimiclitungen.  1  "1  "1 

staltet  werden.  Diese  Elternabende  existieren  in  vielen  deutschen 
Städten,  suchen  aber  ihren  Zweck,  eine  intimere  Verbindung  zwischen 
Schule  und  Elternhaus  herzustellen,  auf  verschiedenen  Wegen  zu  er- 
reichen. Zuweilen  wird  der  Hauptwert  darauf  gelegt,  die  Eltern  über 
gewisse  pädagogische  oder  hygienische  Probleme  aufzuklären;  in 
diesem  Falle  bleiben  die  Schulkinder  ganz  fort,  oder  sie  werden  vor 
Beginn  des  Vortrages  entlassen.  An  den  Vortrag  schließt  sich  dann 
unter  Umständen  eine  Aussprache  zwischen  Lehrern  und  Eltern,  die 
sich  auf  diesem  Wege  in  zwangloser  Weise  kennen  lernen.  In 
anderen  Fällen  spielen  die  Kinder  mit  ihren  Vorträgen,  Gesängen  und 
Aufführungen  die  Hauptrolle  und  ihre  Eltern  und  Geschwister,  sowie 
frühere  Schüler  und  Schülerinnen  der  Anstalt  das  Publikum.  Diese 
Unterhaltungsabende  werden,  wenn  der  Schule  ausreichende  Räume 
zur  Verfügung  stehen,  in  der  Aula  oder  Turnhalle  abgehalten,  oder 
sie  finden  auch  gegen  ein  Eintrittsgeld  in  öffentlichen  Lokalen  statt, 
wie  dies  beispielsweise  in  Hannover  der  Fall  ist.  Ein  von  dem 
Stadtschulrat  Dr.  Wehrhahn  erstatteter  Bericht  vom  Jahre  1903  sagt 
darüber  folgendes: 

,,Wie  in  einigen  andern  Städten,  so  werden  auch  hier  seit  etwa 
10  Jahren  im  Verlauf  des  Winters  von  fast  allen  Bürgerschulen  Unter- 
haltungsabende veranstaltet,  an  welchen  Chorgesänge  und  Deklama- 
tionen vorgetragen  und  turnerische  Übungen  vorgeführt  \verden. 
Selbstverständlich  dürfen  die  Darbietungen  nicht  über  den  Rahmen 
der  Schularbeit  hinausgehen  und  müssen  alles  ausschließen,  was  der 
Schule  und  der  Leistungsfähigkeit  der  Kinder  fernliegt.  Trotz  dieses 
fest  begrenzten  Rahmens,  innerhalb  dessen  die  Programme  für  die 
Unterhaltungsabende  aufgestellt  werden,  zeigen  die  Darbietungen 
doch  eine  große  Mannigfaltigkeit  und  haben  bei  den  Angehörigen 
der  Schulkinder  ein  mit  den  Jahren  steigendes  Interesse  gefunden. 
Die  größten  Säle  der  Stadt  genügten  oft  nicht  dem  Andränge  des 
Publikums.  Es  wird  in  der  Regel  ein  Eintrittsgeld  von  20  bis  50  Pf. 
erhoben,  um  die  Kosten  für  Miete  des  Saales,  für  Druck  des  Pro- 
gramms u.  a.  zu  decken.  Die  Überschüsse  werden  zum  Besten  armer 
Schüler  der  betreffenden  Schulen  (Milchfrühstück,  Ausflüge  u.  a.) 
und  besonders  für  das  Erziehungshaus  Vahrenwald  verwandt. 
Restaurationsbetrieb  ist  an  den  Unterhaltungsabenden  verboten. 

Es  ist  zweifellos,  daß  die  sorgfältige  Einübung  und  Durcharbeitung 
unserer  herrlichen  Volkslieder  für  die  Unterhaltungsabende  zur  Hebung 
des  Gesanges  in  unseren  Bürgerschulen  in  hohem  Maße  beigetragen 
hat;  es  ist  auch  nicht  zu  leugnen,  daß  das  Einüben  der  Deklamationen 


"1  •|2  Wohlfahrtseinrichtungen. 

für  die  Aussprache  und  Betonung  der  Gesamtheit  der  Schüler  förder- 
lich gewesen  ist. 

Auch  die  Eltern  sehen  dem  Unterhaltungsabend  mit  Freude 
entgegen.  Der  Chorgesang,  aus  vielen  frischen,  wohlgeschulten 
Kinderkehlen  durch  den  weiten  Festsaal  getragen,  übt  stets  einen 
besonderen  Reiz  aus,  und  die  teils  ernsten,  teils  scherzhaften  Dar- 
bietungen der  oft  kaum  siebenjährigen  Deklamatoren  sind  wohl  im- 
stande, die  Zuhörer  wehmütig  zu  stimmen  oder  ihnen  auch  ein  fröh- 
liches Lachen  zu  entlocken. 

Es  kann  nicht  die  Rede  davon  sein,  daß  diese  Unterhaltungs- 
abende in  gewissem  Sinne  eine  Schulprüfung  seien;  wohl  sind  sie 
aber  geeignet,  den  Eltern  einen  Blick  in  den  Geist  und  die  Zucht 
der  Schule  zu  gewähren  und  ihnen  zu  zeigen,  daß  hinter  den  Mauern 
des  Schulhauses  nicht  nur  Strenge  herrscht,  gescholten  und  getadelt 
wird,  sondern  daß  in  erster  Linie  doch  mit  ganz  andern  Mitteln  in 
Liebe  und  Aufopferung  auf  Herz  und  Gemüt  der  Kinder  eingewirkt 
wird,  um  ihren  Charakter  zu  bilden." 

Verfasser,  der  Gelegenheit  hatte,  einem  solchen  Unterhaltungs- 
abend in  Hannover  beizuwohnen,  kann  dem  vorstehenden  Bericht 
nur  hinzufügen,  daß  die  musikalischen  Darbietungen,  die  Vorträge 
und  Reigen,  welche  von  den  Schülerinnen  einer  einfachen  Volks- 
schule dargeboten  wurden,  mit  zu  den  lieblichsten  und  graziösesten 
Aufführungen  dieser  Art  gehörten,  von  denen  er  auch  in  höheren 
Schulen  je  Zeuge  gewesen  ist. 

b)  Musikalische  Aufführungen  durch  Schulkinder. 
Städte,  welche,  wie  Karlsruhe  und  München,  wohlausgebildete 
Schülerkapellen  besitzen,  bedienen  sich  dieser  wohl  vorgebildeten 
Truppe  zur  Verschönerung  patriotischer  Festlichkeiten  und  Schul- 
feiern. In  anderen  Orten  werden  bei  solchen  Gelegenheiten  wohl 
auch  in  größerem  Maße  Chorgesangaufführungen  durch  Schulkinder 
veranstaltet.  Daß  auch  mit  diesen,  sofern  sie  nur  einen  größeren 
Umfang  annehmen  und  geschickt  geleitet  werden,  gewaltige  Wirkungen 
erzielt  werden  können,  das  beweisen  die  bereits  mehrfach  wieder- 
holten Gesangaufführungen  von  Gemeindeschulkindern  in  Berlin. 
Der  Kreis-  und  Stadtschulinspektor  Dr.  Fischer  hat  die  Schüler  der 
ersten  Klassen  sämtlicher  Gemeindeschulen  des  1 .  Berliner  Schulkreises 
und  einer  Anzahl  von  solchen  des  7.  und  8.  Kreises  unter  Leitung  des 
Lehrers  und  Leiters  der  „Berliner  Liedertafel"  Zander  zu  einer  Reihe  von 
Gesangaufführungen  zum  Besten  der  Berliner  Kinderhorte  im  Zirkus 
Busch    vereinigt.     Es    war    ein    prächtiger  Chor  von  zusammen  1800 


Andere   \\'olilfaliilseiniiclUungen.  |  t3 

Knaben  und  Mädchen,  welcher  sich,  nachdem  bereits  eine  Vorstellung 
mit  gutem  Erfolge  vorhergegangen  war,  am  Sonntag,  den  8.  März  1903, 
vormittags  in  den  weiten  Räumen  des  Zirkus  versammelte;  bald  ge- 
meinsam, bald  Knaben  und  Mädchen  gesondert,  trugen  die  Kinder 
4  stimmige  Volkslieder  vor.  Die  Aufführung  fand  ihre  besondere  Weihe 
dadurch,  daß  Ihre  Majestäten  der  Kaiser  und  die  Kaiserin  sowie  zahl- 
reiche Prinzen  und  Prinzessinnen  des  Kgl.  Hauses  und  viele  hohe 
Staatsbeamte  erschienen  und  von  den  Gesangvorträgen  sichtlich  in 
hohem  Maße  befriedigt  waren.  Eine  Berliner  Zeitung  berichtet  über 
den  Verlauf  der  Aufführung:  „Gleich  nach  Erscheinen  des  Hofes  gab 
der  Dirigent,  Herr  A.  Zander,  das  Zeichen  zum  Beginn,  und  die 
junge  Sängerschar  stimmte  die  Hymne  „Heil  Dir  im  Siegerkranz'* 
an,  welche  von  den  Anwesenden  stehend  angehört  wurde.  Der 
darauf  folgende  Choral  ,,Lobe  den  Herren"  wurde  in  präziser  und 
weihevoller  Weise  zu  Gehör  gebracht.  Auch  der  Chor  „Glorreich 
auf  dem  Erdenrunde"  von  E.  Sabbath  wurde  fehlerlos  gesungen. 
Die  beiden  vierstimmigen  Chöre  „An  den  Gesang"  und  ,,Im  Maien" 
sangen  die  Mädchen  allein.  Die  Knaben  sangen  sehr  hübsch  das 
altniederländische  Volkslied  „Wohl  sehr  glücklich  ist,  wer  zu  sterben 
weiß,"  und  nach  dem  Chor  ,,Zu  Straßburg  auf  der  Schanz"  von 
F.  Silcher  gab  es  einen  brausenden  Applaus.  Auf  Wunsch  des  Kaisers 
mußte  dieser  Chor  wiederholt  werden.  Den  Höhepunkt  der  gesang- 
lichen Leistung  erreichten  die  Knaben  mit  dem  Vortrag  des  vierstimmigen 
Volksliedes  „Auf  die  Schlacht  bei  Torgau".  Die  beiden  Rezitativs,  die  der 
vorletzten  undletztenStrophevorausgehen,  wirkten  beinahe  sensationell, — 
es  wird  selten  eine  Sängergemeinde  geben,  welche  eine  derartige  Leistung 
bieten  kann.  Auch  der  Vortrag,  der  Tempowechsel  und  die  gesang- 
liche Leistung  dieses  Liedes  waren  brillant.  Dieses  Lied  mußte 
ebenfalls  wiederholt  werden.  Der  ,, Frühlingschor"  von  Mendelssohn- 
Bartholdy  wurde  mit  großer  Wärme  vorgetragen.  Das  feinfühlige 
Volkslied  ,, Sandmännchen"  sangen  die  Mädchen  sehr  gut,  doch  reichen 
ihre  Leistungen  in  bezug  der  Pianissimi  nicht  an  die  der  Knaben 
heran.  Im  ZöUnerschen  Chor  „Das  Wandern  ist  des  Müllers  Lust" 
hatte  man  Gelegenheit,  die  herrlichen  Sopranstimmen  der  Knaben  zu 
bewundern.  Der  gemeinsame  Chor  ,, Hurra  Germania"  von  W.  Greef 
bildete  den  Schluß  des  Programms.  Eine  besondere  Ovation  wurde 
durch  ein  dreimaliges  Hoch  dem  Kaiserpaare  gebracht.  Der  Kaiser 
erwiderte  mit  einem  Hurra,  in  das  alle  Anwesenden  ebenso  begeistert  ein- 
stimmten. Das  Empfangskomitee  sowie  der  Dirigent  wurden  vom 
Kaiserpaar  durch  Ansprachen  ausgezeichnet." 

Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich.     III.    Anhang.  o 


]  \  4  Wohltahrtseinrichtungen. 

Im  ganzen  waren  die  ersten  Klassen  bezw.  die  ersten  Gesang- 
klassen von  26  Schulen  beteiligt  und  zwar  nicht  bloß  die  Eliteschüler, 
sondern  alle  mit  Ausnahme  der  ganz  unmusikalischen.  Drei  Auf- 
führungen fanden  in  diesem  Jahre  (1903)  statt,  und  doch  konnten 
lange  nicht  alle  Wünsche  nach  Eintrittskarten  befriedigt  werden. 
Trotz  des  sehr  niedrig  bemessenen  Eintrittsgeldes  haben  die  Kinder 
über  6000  M.  für  die  Knaben-  und  Mädchenhorte  Berlins  zusammen- 
gesungen. Natürlich  hat  auch  je  ein  Angehöriger  der  mitwirkenden 
Kinder  Gelegenheit  erhalten,  ohne  Entgelt  den  Gesang  zu  hören. 

c)  Pflege  der  bildenden  Kunst.  Es  ist  ein  umfangreiches 
Gebiet  der  künstlerischen  Schöpfungen,  welches  der  Schule  und  den 
Schulkindern  durch  die  Einführung  der  Pflege  der  bildenden  Kunst 
neu  eröffnet  werden  soll,  und  es  sind  verschiedene  Wege,  auf  denen 
man  dieses  Ziel  zu  erreichen  versucht  hat.  An  die  bisherige  Ent- 
wicklung des  Schulunterrichts  knüpft  die  Reform  der  Schulmethoden 
des  Zeichnens  an.  Neben  der  Fähigkeit,  reale  Dinge  zu  sehen,  wie 
sie  sind,  und  der  weiteren  Fähigkeit,  sie  ihrer  Gestalt  nach  mit  dem 
Stift  wiederzugeben,  soll  aber  noch  ein  tieferes  Verständnis  der 
äußeren  Formen,  eine  reine  Empfänglichkeit  und  ein  lebendiges  In- 
teresse an  ihrer  Schönheit  und  die  rechte  Lust  am  künstlerischen 
Schaffen  in  den  Kindern  wachgerufen  werden.  Zu  diesem  Zwecke 
müssen  die  ethisch-ästhetischen  Momente  des  Zeichenunterrichts  durch 
die  Betrachtung  von  Kunstwerken  erweitert  und  vertieft  werden. 
Schon  das  moderne  Schulhaus  soll  in  dem  Kinde  tiefe  ästhetische 
Eindrücke  hervorrufen,  aber  diese  Eindrücke  sollen  besonders  durch 
die  Betrachtung  seiner  inneren  Ausstattung  mit  Gemälden,  Statuen 
und  anderen  Kunstgegenständen  erzeugt  werden;  dasselbe  Ziel  sollen 
dann  Besuche  in  den  öffentlichen  Museen,  Gemäldegalerien  und 
Kunstsammlungen  verfolgen.  Gerade  auf  dem  Gebiete  der  Kunst- 
pflege in  der  Schule  im  allgemeinen  und  der  Einführung  künst- 
lerischen Wandschmucks  im  besonderen  hat  sich  in  den  wenigen 
Jahren,  seitdem  die  Bewegung  eine  größere  Öffentlichkeit  gewonnen 
hat,  bereits  eine  reichhaltige  Literatur  entwickelt.  Es  kann  nicht  die 
Aufgabe  dieser  kurzen  Darlegung  sein,  auf  alle  die  strittigen  Punkte, 
die  Schriften  und  Gegenschriften  einzugehen,  die  so  tiefgreifende 
Reformbestrebungen  notwendigerweise  hervorrufen  mußten.  Der  neue 
Zeichenunterricht  ist  im  Werden  begriffen;  in  dem  Bau  der  Schul- 
häuser sind  die  künstlerischen  Gesichtspunkte  bereits  in  vielen  Ge- 
meinden voll  zur  Anerkennung  gelangt;  Reproduktionen  von  klassischen 
Kunstwerken    und    moderne    Künstler-Lithographien    bilden,    wie    sie 


Andere  W'ohlt'alirtseinrichtuiit^cn.  "1  "1  5 

schon  früher  in  die  Räume  der  höheren  Lehranstalten  eingedrungen 
waren,  bereits  in  einigen  Volksschulen  einen  ansprechenden  Schmuck. 
Gerade  auf  diesem  Gebiete  gehen  aber  die  Stadtgemeinden  meist 
mit  großer  Vorsicht  vorwärts.  Die  Summen,  welche  zu  einer 
w^ürdigen  Ausschmückung  sämtlicher  Schulhäuser  erforderlich  wären, 
würden  sehr  erheblich  sein,  deshalb  beschränkt  man  sich  im  allge- 
meinen darauf,  hie  und  da  einige  Musterschulen  mit  Kunstwerken 
auszustatten.  So  hat  z.  B.  der  Dresdner  Schulausschuß  beschlossen, 
die  Räume  der  Volksschulen  mit  künstlerischem  Schmuck  zu  ver- 
sehen, aber  zunächst  zur  probeweisen  Durchführung  des  Beschlusses 
die  IX.  Bürgerschule  gewählt.  Über  die  Gesichtspunkte,  welche  hier- 
bei maßgebend  waren,  hat  sich  seinerzeit  der  Stadtschulrat  Professor 
Dr.  Lyon  zu  Besuchern  dieser  Musterschule  in  folgender  Weise  ge- 
äußert:*) ,,Wohl  stellt  sich  der  Zeichenunterricht  in  den  Dienst  der 
künstlerischen  Erziehung,  er  will  das  Auge  zum  scharfen  Beobachten, 
zum  bewußten  Sehen  anleiten  und  die  Fertigkeit  der  Hand  üben, 
aber  er  kann  durch  seine  elementare  Arbeit  doch  nicht  so  auf  das 
Auge  wirken,  wie  es  durch  ein  wirkliches  Kunstwerk  geschehen 
kann,  das  dem  Kinde  nahe  gebracht  wird.  Es  ist  aber  notwendig, 
auch  das  Auge  wie  das  Ohr  zu  schirmen  gegen  die  sinnberückenden 
und  sinnentfesselnden  Eindrücke,  die  überall  aus  der  bildnerischen 
Schmutzliteratur  auf  Straßen  und  bei  Schaustellungen  usw.  auf  das 
Kind  durch  das  Auge  eindringen.  Auch  dem  Auge  muß  echte  und 
große  Kunst  gezeigt  werden,  und  das  Kind  muß  auch  einen  Schatz 
guter  Bilder  verstorbener  und  lebender  Meister  in  sein  Gedächtnis 
und  sein  Herz  aufnehmen,  und  zwar  in  der  Weise,  daß  es  dadurch 
lernt,  echte  Kunst  zu  sehen  und  zu  genießen.  Zu  diesem  Zwecke 
sollen  Reproduktionen  echter  Meisterwerke  der  Kunst  in  den  Schulen 
betrachtet  werden.  Dies  soll  nicht  in  besonderen  Kunstunterrichts- 
stunden geschehen,  sondern  gelegentlich,  z.  B.  im  Rehgions-,  im 
deutschen  oder  im  Zeichenunterrichte.  Durch  solche  Bildbetrachtungen 
soll  eine  Anzahl  echter  Kunstwerke  ein  für  das  ganze  Leben  ge- 
sichertes geistiges  Eigentum  des  Kindes  werden.  Ästhetische  Be- 
lehrungen dürfen  dabei  nicht  geboten  werden,  sondern  das  Kind  ist 
lediglich  über  Form,  Farbe  und  Inhah  des  Bildes  in  der  schhchtesten 
Weise  aufzuklären.  Ebensowenig  soll  Kunstgeschichte  mit  der  Bild- 
betrachtung in  die  Schule  hineingetragen  werden.  Denn  gerade  der 
Kunstgeschichtsunterricht,     bei    dem    oft    viele    verschiedene    Photo- 

*)  Bieull,  Kunstpflege  in  der  Schule.     Dresden   1901.      S.  6  ff. 


■1^5  Wohlfahrtseinrichtungen. 

graphien  von  Kunstwerken  in  einer  Stunde  gezeigt  werden,  sodaß 
immer  ein  Eindruck  den  anderen  ver\\ischt,  hat  die  Kunstempfäng- 
lichkeit unseres  Volkes  nicht  gefördert.  Nicht  mehr  als  20 — 30  Bilder 
soll  das  Kind  während  seiner  ganzen  Schulzeit  betrachten  lernen  und 
in  allen  Einzelheiten  dauernd  in  Herz  und  Gedächtnis  aufnehmen. 
Dann  wnrd  es  einen  wirklichen  Vorteil  für  sein  Kunstempfinden  davon- 
tragen. Wir  sehen  also  in  diesen  Bildbetrachtungen  in  erster  Linie 
einen  hohen,  sittlichen  Wert,  weil  dadurch  dem  Auge  ein  Schutz 
gegen  das  Niedrige  verliehen  wird,  wie  wir  ihn  durch  nichts  anderes 
erzielen  können. 

Am  nachhahigsten  dürfte  das  Betrachten  der  Bilder  in  der 
Schule  so  erzielt  w^erden,  daß  man  Meisterwerke  als  Schmuck  an  die 
Wand  hängt,  wo  sie  den  Kindern  wochen-  und  monatelang  vor 
Augen  sind. 

Wir  wollen  aber  durch  solchen  Wandschmuck  auch  vorbildlich 
auf  die  Kinder,  wir  wollen  durch  die  Schule  auf  das  Haus  w^irken. 
Daher  müssen  diese  Kunstblätter  billig  sein,  wie  beispielsweise  die 
ganz  vorzüglichen  Holzschnitte  der  Kunstwartstiftung,  die  Ludwig 
Richterschen  Illustrationen,  die  Seemannschen  Wandbilder  oder  die 
zeitgenössischen  Kunstblätter  von  Breitkopf  &  Härtel.  Die  Kinder 
sollen  solche  wohlfeile,  dabei  aber  künstlerisch  wertvolle  Reproduktionen 
an  der  Wand  ihres  Schulzimmers  sehen,  und  dadurch  soll  in  ihnen 
das  Verlangen  geweckt  werden,  ihre  Wohnstube  ebenso  auszu- 
schmücken und  dadurch  größere  Freude  an  ihrem  Heim  zu  ge- 
winnen. 

Bei  der  Auswahl  des  Wandschmuckes  wird  man  auch  in  Zu- 
kunft immer  ein  gemischtes  Verfahren  einschlagen  müssen.  Einesteils 
\\ird  man  farbige  Original-Lithographien  w'ählen,  von  Künstlerhand 
selbst  auf  den  Stein  gezeichnet,  anderenteils  w^erden  auch  Repro- 
duktionen deutscher  Kunstwerke,  die,  ganz  ohne  Rücksicht  auf  die 
Schule,  lediglich  im  Dienste  der  Kunst  geschaffen  worden  sind,  niemals 
fehlen  dürfen." 

Um  die  Herstellung  derartiger  Bilder  haben  sich  besonders  fol- 
gende"  Verlagsanstalten  verdient  gemacht:  G.  B.  Teubner  (Leipzig), 
Breitkopf  &  Härtel  (Leipzig),  R.  Voigtländer  (Leipzig),  Gesellschaft 
für  vervielfältigende  Kunst  (Wien),  E.  A.  Seemann  (Leipzig),  Com- 
meter  (Hamburg),    Vereinigung  der  Kunstfreunde  (Berlin)  u.  a. 

Der  künstlerischen  Ausstattung  der  Schulhäuser  und  den  Ver- 
suchen mit  der  Betrachtung  von  Gemälden  in  denselben  sind  in 
deutschen  Schulen  seit  langer  Zeit  Besuche    der    öffentlichen    Kunst- 


Andere  Wohlfahrtscinriclituni^en.  ]]'J 

Sammlungen  und  Gemäldegalerien  von  Lehrern  mit  ihren  Schulklassen 
vorangegangen.  Besonders  sind  solche  Museumswanderungen  an 
höheren  Schulen  üblich,  um  die  Belehrungen  in  der  Kunstgeschichte 
zu  unterstützen.  Auch  die  Lehrer  und  Lehrerinnen  der  Volksschule 
führten  die  Kinder  in  die  Museen,  um  ihnen  gewisse  Gemälde  histo- 
rischen oder  religiösen  Inhalts,  Porträts  berühmter  Persönlichkeiten 
oder  charakteristische  Landschaftsbilder  zu  zeigen.  Bei  allen  diesen 
Gelegenheiten  ruhte  natürlich  das  Hauptgewicht  der  Behandlung  auf 
dem  Gegenstand  der  Darstellung,  die  Kunstwerke  der  Museen  waren 
nichts  anderes  als  vervollkommnete  Anschauungsbilder,  wie  man  sie 
in  den  realistischen  Fächern  des  Unterrichts  täglich  verwendet.  Die 
künstlerische  Behandlung  spielte  wenigstens  für  die  Schüler  und 
Schülerinnen  der  Volksschule  kaum  je  eine  Rolle". 

Der  bereits  genannte  Professor  Lichtwark  hat  schon  seit  Ende 
der  80'er  Jahre  jeden  Winter  Übungen  mit  der  Betrachtung  von 
Kunstwerken  durch  Laien  in  der  Hamburger  Kunsthalle  veranstaltet 
und  in  dem  interessanten,  bereits  in  4.  Auflage  erschienenen  Werke 
„Übungen  in  der  Betrachtung  \on  Kunstwerken  nach  Versuchen  mit 
einer  Schulklasse",  herausgegeben  v^on  der  Lehrer-Vereinigung  zur 
Pflege  der  künstlerischen  Bildung  (Berlin  1902),  vortreffliche  in  Frage 
und  Antwort  gekleidete  Muster  solcher  Behandlung  von  Kunstwerken 
dargeboten.  Er  beschränkt  sich  keineswegs  auf  historische  oder 
landschaftlich  bemerkenswerte  oder  dem  kindlichen  Gemüte  ganz  be- 
sonders naheliegende  Gegenstände,  er  weiß  die  Schüler  auch  zum 
Verständnis  und  tieferen  Empfinden  des  Porträts,  des  Genrebilds,  der 
Architektur,  selbst  der  Darstellung  leblosen  Geräts  zu  führen.  Die 
Musterlektionen,  welche  er  uns  in  der  genannten  Schrift  \'orführt, 
behandeln  folgende  Gemälde:  Vautier,  der  verlorene  Sohn  —  Runge, 
Kinderbildnis  —  Menzel,  Rüstungen  —  Helstedt,  der  Stadtrat  hält 
Sitzung  —  Siebelist,  bei  der  Schularbeit  —  Gensler,  Vater  und 
Mutter  Gensler  —  Kauffmann,  Probsteier  Fischer  —  Ruths,  das 
Baumhaus  —  Kuehl,  Straße  beim  Teilfeld  —  Lenbach,  Kaiser  Wil- 
helm I.  Über  Zweck  und  Verfahren  bei  dieser  Betrachtung  von 
Kunstwerken  durch  Kinder  spricht  er  sich  in  der  Einleitung  dieser 
Schrift  folgendermaßen  aus: 

,, Niemand  wird  erwarten,  daß  man  aus  dem  Kinde  einen  Kunst- 
kenner machen  kann,  oder  daß  es  in  der  Kunstbetrachtung  ein 
Klassenziel  gibt,  das  alle  erreichen  können.  Mehr  als  auf  vielen 
anderen  Gebieten  spricht  hier  die  besondere  Begabung,  die  angeborene 
Empfänglichkeit  mit. 


'j  ^3  ^Vohlfahrtseinrichtungen. 

Die  Betrachtung  soll  zunächst  das  Interesse  erwecken  und  das 
Kind  lehren  und  gewöhnen,  genau  und  ruhig  das  einzelne  Kunst- 
werk anzusehen.  Dies  ist  die  Hauptsache,  denn  das  kann  der  nicht 
besonders  Beanlagte  nur  durch  Anweisung  und  Übung    lernen  .... 

Es  muß  im  übrigen  genügen,  wenn  ihm  eine  Ahnung  aufgeht, 
daß  jenseits  des  mit  dem  Wort  zu  deckenden  sachlichen  Inhalts  noch 
etwas  anderes  im  Kunstwerk  steckt,  das  man  nur  fühlen  kann,  und 
das  eigentlich  die  Hauptsache  ist." 

Seine  ungekünstelte  Wiedergabe  der  mit  den  Kindern  über  die 
Kunstwerke  gepflogenen  Unterhaltung  könnte  dem  Laien  wohl  den 
Glauben  erwecken,  als  sei  das  von  Lichtwark  gelöste  Problem  keines- 
wegs ein  so  schwieriges.  Aber  wer  sich  an  der  Sache  selbst  ver- 
sucht hat,  wird  zugeben  müssen,  daß  ohne  gründliche  Kenntnis  der 
Technik  der  Malerei  sowie  ihrer  Geschichte  und  ohne  ein  tiefes  künst- 
lerisches Empfinden,  welches  nur  zum  Teil  gelehrt  und  gelernt  werden 
kann,  kein  Lehrer  imstande  sein  wird,  diesen  Unterrichtszweig  frucht- 
bringend zu  gestalten.  Ehe  die  Museumsbesuche  im  Sinne  Licht- 
warks  ein  ständiges  Element  des  Volksschulunterrichts  werden,  wird 
es  zunächst  erforderlich  sein,  einen  Stamm  von  Lehrern  und  Lehre- 
rinnen auszuwählen  und  heranzubilden,  welche  dieser  Unterrichts- 
aufgabe gewachsen  sind. 

d)  Theatervorstellungen  für  Schüler.  Auch  im  Verständ- 
nis und  in  der  Behandlung  ihrer  Muttersprache  soll  die  deutsche 
Jugend  nach  neuen  künstlerischen  Grundsätzen  erzogen  werden.  Kaum 
eine  andere  Sprache  ist  so  reich  an  stimmungsvollen  lyrischen  Ge- 
dichten und  prächtigen,  schwungvollen  Balladen  und  Romanzen  wie 
die  deutsche,  und  die  besten  Gedichte  dieser  Art  sind  überall  in  die 
deutschen  Schullesebücher  übergegangen.  Aber  trotzdem  muß  zu- 
gegeben werden,  daß  der  eigentliche  künstlerische  Genuß  an  diesen 
Werken  der  Poesie  an  unseren  Volksschulen  bisher  wenig  gepflegt 
worden  ist.  Auch  auf  diesem  Gebiet  hat  zum  Teil  ein  bedauerlicher 
Realismus  in  der  Behandlung  der  Stoffe  Platz  gegriffen;  der  Schul- 
aufsichtsbeamte muß  nur  zu  oft  dem  Versuche  wehren,  die  tiefsten 
lyrischen  Empfindungen  durch  engherzige  Worterklärung  oder  durch 
trockene,  logische  Zergliederung  des  Gedankenganges  ihres  poetischen 
Zaubers  zu  entkleiden.  Auch  auf  den  Vortrag  der  Gedichte  werden 
in  Deutschland  selten  das  erforderliche  Feingefühl  und  die  ernste 
Sorgfalt  verwendet,  welche  allein  einen  künstlerischen  Genuß  der 
Sprache  ermöglichen.  Der  zweite  Kunsterziehungstag  in  Weimar  hatte 
sich,  wie  schon    angedeutet    wurde,    die    Aufgabe    gestellt,    auch    auf 


Andere  W'ohlfahrtseinriclitungen.  ]  ]^ 

diesem  Gebiet  das  ästhetische  Pflichtgefühl  der  Pädagogen  wach- 
zurufen. 

Einen  besonderen  Schritt  zu  dem  Ziele,  unsere  Schuljugend  mit 
den  Schönheiten  ihrer  Muttersprache  vertraut  zu  machen,  bilden  die 
seit  noch  nicht  10  Jahren  in  verschiedenen  deutschen  Städten  ge- 
machten Versuche,  die  Kinder  der  Volksschule  ins  Theater  zu  führen. 
Auch  für  diese  Strömung  der  künstlerischen  Bildung  müssen  wir  die 
Quelle  in  Hamburg  suchen.  Auch  auf  diesem  Gebiete  gebührt  der 
Lehrer-Vereinigung  für  die  Pflege  der  künstlerischen  Bildung  das  Ver- 
dienst, zuerst  mit  praktischen  Versuchen  vorangegangen  zu  sein. 
Eine  Veröffentlichung  dieser  Vereinigung  „Unsere  Volksschüler  im 
Stadttheater''  (Hamburg  1898)  läßt  uns  einen  Blick  auf  die  Vorge- 
schichte der  Hamburger  TheateraufTührungen  für  Schulkinder  tun. 
Es  heißt  daselbst:  ,, Die  literarische  Kommission  der  Lehrervereinigung 
für  die  Pflege  der  künstlerischen  Bildung  mußte  bei  ihrer  Arbeit  mit 
Notwendigkeit  auch  das  Theater  in  den  Kreis  ihrer  Erörterungen 
ziehen.  Das  geschah  in  einer  Sitzung  im  Dezember  1897.  Ent- 
sprechend dem  Vorgehen  der  Vereinigung  überhaupt  hielt  sich  der 
Ausschuß  nicht  mit  theoretischen  Erörterungen  auf,  sondern  fragte 
sich:  Wie  kann  unser  Theater  der  künstlerischen  Erziehung  unserer 
Jugend  dienstbar  gemacht  werden? 

Der  Ausgangspunkt  für  unser  Unternehmen  ergab  sich  ohne 
w-eiteres  aus  der  Tatsache,  daß  in  unseren  Hamburger  Volksschulen 
eine  Reihe  klassischer  Dramen  lehrplanmäßig  gelesen  werden.  Was 
war  da  natürlicher,  ja  selbstverständlicher  als  der  Wunsch,  daß  einige 
den  Kindern  in  guter  Darstellung  vorgeführt  würden?  Man  hatte 
das  sichere  Gefühl,  sich  damit  auf  einem  Boden  zu  befinden,  den  die 
ganze  Schulwelt,  soweit  sie  dem  Lesen  klassischer  Dramen  überhaupt 
zustimmt,  teilen  würde." 

Es  wurden  Beratungen  gepflogen,  man  fand  bei  der  Theater- 
direktion, bei  Künstlern  und  Künstlerinnen  ein  freundliches  Entgegen- 
kommen, auch  die  Oberschulbehörde  unterstützte  die  Sache.  Freilich 
ließ  sich  dieselbe  nicht  bereit  finden,  die  Kosten  für  das  Eintrittsgeld 
der  Schüler,  das  sich  bei  einer  Ausgabe  von  2000  Karten  auf  25  Pf. 
pro  Vorstellung  und  Kind  stellte,  zu  übernehmen,  und  die  Schüler 
mußten,  abgesehen  von  einigen  ärmeren,  für  welche  von  anderer 
Seite  Karten  geliefert  wurden,  ihr  Eintrittsgeld  selbst  zahlen. 

So  fand  dann  bereits  am  26.  Januar  1898  die  erste  Vorstellung 
vor  dem  ausschließlich  von  Lehrern  und  Schülern  besetzten  Hause 
statt.     Der  Verlauf  war    ein    außerordentlich    günstiger.     Die  Schüler 


1 20  Wohlfahrtseinrichtungeii. 

und  Schülerinnen  der  ersten  Klassen  und  Selekten,  welche  zum 
größten  Teil  den  Teil  bereits  gelesen  hatten,  zeigten  volles  Ver- 
ständnis, und  auch  die  Schauspieler  fanden  sich  durch  den  begeisterten 
Beifall  der  Kinder  reich  belohnt  für  die  unentgeltlich  übernommene 
Mühe.  Die  Schauspielerin  Frau  Margarete  Körner-Otto  gab  dieser 
Empfindung  folgendermaßen  Ausdruck: 

„Ich  muß  gestehen,  daß  ich  noch  nie  an  einem  Nachmittage 
mit  soviel  Lust  und  Hingabe  gespielt  habe  als  vor  diesem  Parterre 
\on  Kinderköpfen.  Ich  habe  ein  sehr  feines  Gefühl  dafür,  ob  etwas 
im  Publikum  zündet  oder  ob  dasselbe  teilnahmlos  bleibt.  Eine 
größere  Spannung  aber,  eine  lautlosere,  ja  bewegungslosere  Auf- 
merksamkeit, ein  aufrichtigeres  Mitempfinden  als  in  den  Teil- Vor- 
stellungen, den  einzigen,  in  welchen  ich  mitwirkte,  kann  ich  mir  ein- 
fach nicht  vorstellen." 

Noch  interessanter  war  die  Auffassung  der  Schüler  und 
Schülerinnen  selbst,  wenn  sie  sich  über  die  empfangenen  Eindrücke 
in  Aufsätzen  zu  äußern  veranlaßt  wurden.  Die  genannte  Schrift  führt 
einige  Proben  davon  an.  Wer  selbst  solchen  Schülervorstellungen 
beigewohnt  hat,  w^eiß,  wie  je  nach  dem  \^erlauf  des  Dramas  bald  die 
Wolken  des  Mitleids,  der  Rührung  und  der  sittlichen  Entrüstung, 
bald  der  heiterste  Sonnenschein  der  Freude  über  die  tausend  Ge- 
sichter des  Kinderpublikums  dahinzieht,  wie  sie  den  Bösewicht  auf 
der  Bühne  aufrichtig  verabscheuen  und  der  siegreichen  Tugend  be- 
geistert zujubeln. 

Unter  den  deutschen  Dramen  machen  augenscheinlich  die 
Schillerschen  und  unter  diesen  der  am  häufigsten  aufgeführte  Teil 
den  größten  Eindruck  auf  die  Kinder;  Minna  von  Barnhelm  steht  in 
ihrer  Wirkung  dagegen  gänzlich  zurück.  Die  Erfahrungen,  die  man 
auch  in  anderen  Städten  mit  den  Schülervorstellungen  gemacht  hat, 
waren  durchaus  günstig,  sodaß  auch  diese  Bewegung  in  Deutschland 
als  eine  aufsteigende  bezeichnet  werden  darf.  Die  Basis  für  einen 
erfolgreichen  Theaterbesuch  ist  ebenso  wie  in  Hamburg  auch  in 
anderen  Städten  dadurch  geschaffen,  daß  fast  überall  in  den  oberen 
Klassen  der  7-  und  8  stufigen  V^olksschulen  sowie  der  Mittelschulen 
einige  Dramen  gelesen  werden.  Ohne  vorausgehende  gründliche 
Lektüre  des  Stückes  bleibt  die  dramatische  Vorstellung,  wie  die 
Erfahrung  gelehrt  hat,  ohne  volles  \"erständnis  und  ausreichende 
Wirkung. 

Die  Art,  wie  diese  Theater-Besuche  arrangiert  werden,  ist  nicht 
in    allen    Städten    dieselbe.      In    einigen  Orten,    wie  beispielsweise  in 


Andere  \VohIfalirl.seinrichlun<^en.  121 

Elbcrfeld,  werden,  wie  es  scheint,  die  Oberklasscn  der  Volksschulen 
zu  den  gewöhnlichen  Spielzeiten  ins  Theater  geführt.  Sie  finden  dort 
Gelegenheit,  Schauspiele  wie  Paul  Heyses  „Colberg",  „Die 
Quitzows"  von  Wildenbruch,  ,, Minna  von  Barnhelm",  „Wilhelm  Teil" 
und  „Jungfi-au  von  Orleans"  zu  sehen.  Die  Kosten  für  diese  Be- 
suche werden  durch  eine  Stiftung  getragen.  Auch  in  Berlin  hat  man 
bisher  die  Schülervorstellungen  teilweise  aus  den  Mitteln  einer  Stiftung 
bestritten;  die  Schüler  und  Schülerinnen  wurden  klassenweise  in  die 
beiden  Schillertheater  (O.  und  N.)  geführt  und  sahen  dort  in  einem 
Jahre  Wilhelm  Teil,  im  anderen  Minna  von  Barnhelm. 

In  Dresden  wurden  zum  ersten  Male  im  Jahre  1900  auf  An- 
suchen des  pädagogischen  Vereins  im  Königlichen  Schauspielhause 
für  die  ersten  Klassen  der  Volksschulen  Aufführungen  des  Wilhelm 
Teil  veranstaltet  und  später  wiederholt;  der  Eintrittspreis  betrug 
25  Pf.  pro  Kind,  die  Beteiligung  der  Schüler  und  Schülerinnen, 
welche  von  ihren  Lehrern  geführt  wurden,  war  eine  sehr  rege.  Auch 
in  Leipzig  fanden  im  Neuen  Theater  Tellaufführungen  statt.  In  Magde- 
burg werden  Theater- Vorstellungen  für  Schüler  und  Schülerinnen  der 
Volksschulen  schon  seit,  dem  Winterhalbjahr  1897/98  veranstaltet. 
Es  wurden  dort  Wilhelm  Teil,  die  Jungfrau  von  Orleans,  Minna  von 
Barnhelm,  Zriny,  das  Lied  von  der  Glocke  (mit  lebenden  Bildern), 
Götz  von  Berlichingen  und  Wallensteins  Lager  auf  die  Bühne  gebracht. 
Im  allgemeinen  nahmen  80  %  aller  Kinder  der  Oberklassen  der  Bürger- 
und Volksschulen  teil.  In  Breslau,  Frankfurt  a.  M.  und  Charlotten- 
burg sind  die  Kosten  für  die  Vorstellungen  von  der  Stadt  über- 
nommen worden,  und  zwar  bewilligte  im  letzten  Jahre  Charlottenburg 
für  diesen  Zweck  840  M.,  Frankfurt  a.  M.  800  M.,  Breslau  500  M. 
In  Bremen  wurden  die  Kosten  für  die  Theatervorstellungen  sowie 
alle  Aufwendungen  für  die  Bahnfahrt  der  Vegesacker  Schüler,  welche 
zu  den  Vorstellungen  zugelassen  wurden,  von  einem  Wohltäter  getragen. 

In  jüngster  Zeit  hat  man  auch  hier  und  da  den  Versuch  ge- 
macht, die  Schüler  zu  künstlerisch  musikalischen  Aufführungen  hinzu- 
zuziehen oder  solche  Aufführungen  für  sie  zu  veranstalten.  In  Berlin 
hat  sich  unter  dem  Vorsitz  Ihrer  Excellenz  der  Frau  Kultus-Minister 
Dr.  Studt  ein  Komitee  zur  Förderung  der  Jugendkonzerte  gebildet. 
Der  Zweck  der  Jugendkonzerte  ist,  den  Kindern  der  ärmsten  Be- 
völkerung gute  Musik  zugänglich  zu  machen.  Einige  derartige 
Konzerte  haben  bereits  in  Berlin  mit  gutem  Erfolge  stattgefunden; 
neben  Gesangsleistungen,  besonders  Volksliedern,  wurde  ihnen  auch 
Instrumentalmusik  von  ersten  Künstlern  dargeboten.     Die  den  Kindern 


•j  22  Wolilfahrtseinrichtungen. 

von  der  Schule  her  bekannten  schönen  deutschen  Volkslieder  machten 
sichtlich  den  tiefsten  Eindruck  auf  sie;  unter  den  Instrumenten  bevor- 
zugten sie  die  Geige  und  demnächst  Cello,  zeigten  aber  verhältnis- 
mäßig geringes  Verständnis  für  Harfe  und  Klavierspiel.  Auch  in 
anderen  Städten  sind,  teilweise  auf  Anregung  der  Lehrervereine,  die 
ersten  Versuche  mit  Schülerkonzerten  gemacht  worden;  im  Interesse 
der  Verbreitung  dieser  Einrichtung  wirkt  besonders  Musikdirektor 
Max  Battke,  welcher  im  Verlauf  des  letzten  Sommers  (1903)  eine 
größere  Anzahl  deutscher  Städte  bereist  hat,  um  in  öffentlichen  Vor- 
trägen für  die  Veranstaltung  von  Jugendkonzerten  Propaganda  zu 
machen. 

5.  Schulsparkassen. 

Unter  den  verschiedenen  Sparkasseneinrichtungen  in  Deutschland 
spielen  die  Jugend-  oder  Schulsparkassen  keine  unbedeutende  RoUe. 
Dieselben  sind  fast  durchweg  private  Einrichtungen,  welche  weder 
mit  den  öffentlichen  Sparkassen  in  organischer  Verbindung  stehen, 
noch  auch  in  den  Arbeitsplan  der  Schule  eingefügt  sind.  Zu  den 
Jugendsparkassen  rechnet  man  die  Aussteuer-Sparkassen,  die  Kon- 
firmanden-, Fortbildungs-,  Kinder-,  Sonntagsschulsparkassen,  die  In- 
dustrie- und  Fabrikschulsparkassen.  Bei  den  eigentlichen  Schulspar- 
kassen, die  uns  hier  hauptsächlich  beschäftigen,  werden  die  Spar- 
pfennige vom  Lehrer  eingesammelt  und  allwöchentlich  oder  allmonat- 
lich bei  einer  öffentlichen  Sparkasse  niedergelegt,  doch  gibt  es  auch 
vereinzelte  Schulsparkassen,  bei  denen  die  eingezahlten  Beträge  von 
einer  anderen  Aufsichtsinstanz  selbständig,  ohne  Inanspruchnahme 
einer  öffentlichen  Kasse,   verwaltet  werden. 

Wo  keine  öffentlichen  Sparkassen  im  Kreise  sind,  werden  die 
Ersparnisse  wohl  auch  bei  Raiffeisenschen  und  ähnlichen  ländlichen 
Kassen  eingelegt. 

Um  die  Begründung  der  Schulsparkassen  haben  sich  in  Deutsch- 
land neben  Lehrern  besonders  Geistliche  ein  großes  Verdienst  erworben. 

Goslar,  Apolda  und  Gotha  sind  als  Orte  zu  nennen,  in  welchen 
diese  Wohlfahrtseinrichtung  zuerst  ins  Leben  gerufen  worden  ist. 
Seit  dem  Jahre  1850  fing  man  an,  Sparkassen  für  die  Kinder  der 
Sonntagsschulen  einzurichten.  Der  Zweck  war  der,  den  Kindern  die 
Mittel  zur  Anschaffung  von  Bibeln,  Gesangbüchern  und  Kleidungs- 
stücken für  die  Konfirmation  zu  beschaffen.  Um  die  weitere  Aus- 
breitung der  Jugend-  und  Schulsparkassen  hat  sich  E.  Senckel,  zur- 
zeit Pfarrer    und   Schulinspektor    zu  Hohenwalde    bei  Müllrose   in  der 


Schulsparkassen.  •|23 

Mark  Brandenburg,  großes  Verdienst  erworben.  Im  Kampfe  gegen 
die  in  seiner  früheren  Gemeinde  herrschende  Trunksucht  griff  er  zu 
dem  Mittel  der  Gründung  von  Sparkassen,  und  bei  dieser  Gelegen- 
heit erwiesen  sich  die  Sparkassen  für  die  Schuljugend  als  ganz  be- 
sonders lebensfähig.  Die  erste  Kasse  dieser  Art  wurde  schon  1867 
von  ihm  geschaffen,  und  als  es  ihm  im  Jahre  1880  gelang,  in  Glogau 
den  Verem  für  Jugendsparkassen  in  Deutschland  ins  Leben  zu  rufen, 
fand  diese  Wohlfahrtseinrichtung  bald  weiteste  Verbreitung. 

Die  Schulsparkassen  werden  in  allen  Kulturländern  in  ihrer  er- 
ziehlichen Bedeutung  so  allgemein  und  offenkundig  anerkannt,  daß 
eine  Darlegung  der  Gründe,  welche  sie  auch  in  Deutschland  zur  Ein- 
führung empfehlen,  hier  nicht  gegeben  zu  werden  braucht.  Sie  haben 
sich  in  den  letzten  Dezennien  in  großem  Umfange  vermehrt  und 
wachsen  in  ihrer  Zahl,  in  der  Zahl  der  Sparer,  in  der  Höhe  der  Ein- 
lagen und  der  ausgezahlten  Beträge  von  Jahr  zu  Jahr.  Diesen  er- 
freulichen Aufschwung  verdanken  sie  weniger  der  Förderung  durch 
die  Behörden  und  der  Sympathie  der  Lehrer,  als  dem  Umstände,  daß 
sie  einem  tatsächlich  vorhandenen  Bedürfnis  des  Volkes  entsprechen. 
Das  Sparkassenwesen  ist  Gegenstand  der  Landesgesetzgebung  in 
Deutschland,  aber  nur  in  Braunschweig  sind  sie  wirklich  durch  ein 
Gesetz  vom  19.  Februar  1895  geregelt.  Zur  Ausführung  dieses  Ge- 
setzes erging  ein  Staats-Ministerial-Erlaß  vom  5.  März  1900. 

Andere  Staats-Regierungen  haben  die  Sache  auf  dem  Ver- 
waltungswege angeregt  und  organisiert.  So  setzt  beispielsweise  die 
Regierung  zu  Breslau  durch  Verfügung  vom  20.  November  1880  die 
erforderlichen  Voraussetzungen  und  Kautelen  für  die  Emrichtungen 
von  Schulsparkassen  durch  die  Volksschullehrer  fest.    Es  heißt  daselbst: 

„Um  den  Sinn  für  Sparsamkeit  zu  pflegen  und  denselben  ins- 
besondere schon  bei  der  Jugend  anzuregen,  wollen  wir  in  den 
Schulen  die  Einrichtung  von  Sammelkassen,  d.  h.  Sammelstellen  für 
die  öffentlichen,  von  Kreisen  oder  Kommunen  begründeten  und  ver- 
walteten Sparkassen  unter  folgenden  Bedingungen  gestatten: 

1 .  Jeder  Lehrer,  welcher  eine  Sammelkasse  für  seine  Schule  oder 
Klasse  einrichtet,  ist  verpflichtet,  über  die  Verwaltung  derselben 
Rechnung  zu  führen  und  insbesondere  jeden  einzelnen  eingezahlten 
Betrag  sowohl  in  den  den  Kindern  einzuhändigenden  Sammel- 
bogen  (Einlagebogen,  Sparschein;  als  in  sein  Journal  einzutragen. 

2.  Die  von  dem  Lehrer  gesammelten  Spareinlagen  der  Schul- 
kinder sind  in  der  nächsten  öffentlichen  Sparkasse  in  folgender  Weise 
zinsbar  anzulegfen: 


]  24  ^^'ohlfahrtseinrichtungeIl. 

a)  Sobald  das  Guthaben  eines  Kindes  die  Höhe  der  Alinimal- 
einlagen  bei  der  betreffenden  Sparkasse  erreicht  hat,  ist  das- 
selbe bei  dieser  mittels  eines  auf  den  Namen  des  Kindes 
lautenden  Sparbuchs  anzulegen.  Auf  dieses  Sparbuch  sind 
auch  alle  weiteren  Ersparnisse  des  Kindes,  sobald  sie  die  zur 
Annahme  nötige  Höhe  erreicht  haben,  einzuzahlen. 

b)  Diejenigen  Spareinlagen,  welche  wegen  ihrer  zu  geringen 
Höhe  noch  nicht  nach  a)  auf  den  Namen  der  einzelnen 
Kinder  bei  der  öffentlichen  Sparkasse  eingezahlt  werden 
können,  sind  bei  derselben  auf  ein  auf  den  Namen  der  be- 
treffenden Schule  bezw.  Klasse  lautendes  Sparbuch  (Sammel- 
sparbuch) einzuzahlen. 

c)  Die  Einzahlungen  bei  der  Sparkasse  müssen  in  möglichst 
kurzen  Fristen  bewirkt  werden. 

3.  Die  durch  Verwaltung  der  Sammelkasse  erwachsenden  Ge- 
schäfte sind  außerhalb  der  Unterrichtszeit  und  nach  einem  bestimmten, 
von  dem  Lokalschulinspektor  zu  genehmigenden  Plane  vorzunehmen; 
sie  unterliegen  der  Kontrolle  der  Schulaufsichtsorgane,  insbesondere 
des  Lokalschulinspektors,  welcher  auch  über  die  aus  der  Anlegung 
der  Ersparnisse  nach  2  b  erzielten  Zinsgewinne,  aus  denen  zunächst 
die  erwachsenen  baren  Auslagen  zu  bestreiten  sein  werden,  Verfügung 
zu  treffen  berechtigt  ist." 

Die  Lehrerschaft  stand  bis  vor  kurzem  den  Schulsparkassen  nicht 
besonders  freundlich  gegenüber  und  hat  sich  auf  Versammlungen  in 
Breslau,  Leipzig,  Berlin,  Hannover  und  Cassel  nicht  selten  mit  einiger 
Schärfe  gegen  dieselben  ausgesprochen.  Der  Berliner  Bezirksverband 
des  deutschen  Lehrervereins  gab  im  Winter  1881  folgenden  von 
Heinrich  Schröer  aufgestellten  Thesen  seine  Zustimmung: 

„1.  Es  spricht  kein  zwingender  pädagogischer  Grund  für  Ein- 
führung von  Schulsparkassen,  da  die  Schule  eine  hinreichende  Zahl 
von  Mitteln  zur  Erweckung  des  Sparsinnes  besitzt. 

2.  Die  Einrichtung  von  Schulsparkassen  schließt  einen  weiteren 
Schritt  zur  Verschiebung  des  Schwerpunktes  der  Erziehung  (aus  der 
Familie  nach  der  Schule  hin)   in  sich. 

3.  Dem  Kinde  fehlt  die  Vorbedingung  für  das  rechte,  ver- 
ständige Geldsparen,  d.  i.  das  Verständnis  des  \Vertes  von  Geld  und 
Arbeit  in  ihrer  Wechselbeziehung. 

4.  Die  Schule  hat  keine  Zeit  für  eine  solche,  nur  dem  einseitigen 
Interesse  dienende  Einrichtung. 


Schulsparkasseti.  1 25 

5.  Die  Schulsparkassen  sind  geeignet,  das  Vertrauen  zwischen 
Haus  und  Schule  zu  untergraben. 

6.  Sie  rufen  eine  Verschärfung  des  Standes-  und  Klassenbewußt- 
seins unbemerkt  hervor,  sind  also  mit  Rücksicht  auf  die  moderne 
Pädagogik  sowohl,  wie  auch  aus  sozial- politischen  Gründen  verwerflich. 

7.  Sie  können  eine  sittliche  Schädigung  der  Jugend  herbeiführen, 
da  in  schwachen  Gemütern  das  Bewußtsein  der  Armut  ein  demütigen- 
des und  niederdrückendes  Gefühl  hervorruft  —  und  da  auch  Neid, 
Habsucht  und  weitere  schlimmere  Eigenschaften  hierdurch  erzeugt 
werden  können. 

8.  Sie  lenken  viele  Kinder  von  der  Hauptaufgabe  der  Schule  ab; 
insbesondere  beeinträchtigen  sie  den  häuslichen  Fleiß. 

9.  Eine  so  einseitige  Betonung  des  Geldsparens  richtet  die  kind- 
liche Natürlichkeit  und  Unbefangenheit  der  Lebensauffassung  zu- 
grunde und   bereitet  dem  Materialismus  in  der  Schule  eine  Pflanzstätte. 

10.  Die  wenigen  unerheblichen  und  eine  einseitige  Verstandes- 
bildung begünstigenden  Vorteile  der  Schulsparkassen  werden  durch 
vorstehende  Bedenken  mehr  als  aufgewogen." 

Die  Versammlung  erklärte  sich  für  den  Satz,  daß  Schulspar- 
kassen im  Prinzip  aus  pädagogischen  Gründen  zu  verwerfen  seien. 

Eine  ähnliche  Stellung  nahmen  in  der  Folge  andere  Lehrer- 
vereine ein,  wenn  es  auch  an  gegenteiligen  Äußerungen  aus  der 
Lehrerschaft  nicht  fehlte. 

Trotz  alledem  ist  die  Bewegung  auch  in  Deutschland  im 
Wachsen  und  scheint  in  letzter  Zeit  auch  in  Lehrerkreisen»  wohl- 
wollendere Aufnahme  und  Unterstützung  zu  finden. 

Über  die  zurzeit  erreichte  Ausdehnung  der  Schulsparkassen- 
betriebe liegt  eine  ganz  vollständige  Statistik  für  Deutschland  nicht 
vor,  doch  hat  sich  der  deutsche  Verein  für  Jugendsparkassen  auch 
als  Sammelstelle  für  alle  auf  Schulsparkassen  bezüglichen  Nachrichten 
großes  Verdienst  erworben.  Die  von  Pfarrer  E.  Senckel,  dem  Vor- 
sitzenden des  Vereins,  herausgegebene  dritte  Denkschrift  (Frank- 
furt a.  O.  1901  im  Selbstverlage  des  Vereins)  bietet  in  ihrem  statisti- 
schen Teil  genaue  Angaben  über  eine  große  Anzahl  von  deutschen 
Land-  und  Stadtgemeinden,  in  welchen  Schulsparkassen  eingerichtet 
worden  sind.  Wir  verweisen  auf  den  reichen  Inhalt  dieser  Schrift 
und  begnügen  uns  hier  damit,  eine  Übersichtstabelle  über  die  Jugend- 
sparkassen in  Deutschland  wiederzugeben.*) 

")  Der  statistische  Teil  ist  von  Rektor  Dr.  Zickerow-Cammin  in  Pommern 
bearbeitet. 


126 


Wohlfahrtseinrichtungen. 


1 
a 

2 

3 

4 

5 

6 

7        i      8 

9 

10 

11 

Gebiet 

II 

1 
B 

G 

? 

^1 

11 

n 

1 

Zu-      1 
sammen  '  ^^  ^^"  ^'''^^  "^  ^  ^  ^^"^'^ 

1      ||Spa„.|~Ä 

en  waren 

Gut- 
haben 

1 

Anhalt 

23 

7 

53 

7 

76    14     6172 

76080 

40711 

157917 

2    Baden     

14 

3 

44 

4 

58      7[     7442 

42873 

28115 

169857 

3    Bayern    

4 

2 

99 

8 

103    10(     1483 

16022 

11396 

44035 

4    Braunschweig 

91 

11 

34 

1 

125    12   27390 

431964 

330798 

1503513 

5    Bremen 

1 

1 

1 

1 

2      2      5746 

94675 

71499 

320560 

6 

Elsaß-Lothringen  .... 

3 

2 

4 

2 

7 

4       110 

700 

— 

122189 

7 

Hamburg 

1 

— 

1 

1 

2 

1        606 

38364 

34283 

47908 

8    Hessen,  Großherzogtum  . 

21 

4 

137 

24 

158 

28     3196 

47541 

14911 

98731 

9'  Lübeck 

— 

— 

1 

1 

1 

1       — 

— 

— 

10    Mecklenburg -Schwerin    . 

6 

3 

2 

2 

8     5      1580 

6637 

1334 

32110 

11    Mecklenburg-Strehtz     .    . 

8|     4 

9 

1 

17     5      1263 

8886 

7994 

22746 

12    Oldenburg 

2|- 

5 

_ 

7    —       625 

9411 

2463 

18644 

13'   a-b)Brandenburg  mit  Berlin 

41 

15 

121 

23 

162   38     8449 

102008 

65157 

231100 

1    c)  Hannover 

50 

7 

82 

15 

132   22    16929 

152400 

210388 

293434 

d)  Hessen-Nassau.    .    .    . 

7 

3 

63 

5 

70|     8       711 

18054 

13171 

37205 

e)  Ostpreußen 

20 

3 

109 

8 

129    11        841 

5578 

1715 

7166 

f)  Pommern 

9 

3 

18 

7 

27 

10,     4301 

38117 

28343 

115598 

c 

g)  Posen 

90 

30 

217 

33 

307 

63'     6513 

69093 

8676 

29736 

^ 

h)  Rheinprovinz    .... 

2 

1 

21 

8 

23 

9      1597 

22142 

14595 

24234 

^ 

i)  Sachsen 

112 

29 

162 

22 

354 

51    31211 

200129 

118814 

488189 

k)  Schlesien 

192 

14 

143 

9 

335 

23    17994 

177753 

95432 

281765 

1)  Schleswig-Holstein  .    . 

5 

3 

34 

8 

39    11      4885 

46180 

37940 

17709 

m)  Westfalen 

46 

2 

20 

13 

66    15    15880 

69244 

66100 

222321 

n)  Westpreußen    .... 

142 

6 

34 

3 

176     9     3367 

20215 

372 

6622 

14    Reuß  ältere  Linie     .    .    . 

— 

— 

3 

1 

3'     1       - 

— 

— 

— 

15    Reuß  jüngere  Linie      .    . 

2      1 

4 

1 

6      2       300 

12531 

9027 

14000 

16 

Sachsen,  Königreich     .    . 

10     4 

241 

61 

251 

65    24735 

250689 

215244 

1109320 

17 

Sachsen-Altenburg    .    .    . 

3 

— 

12 

1 

15 

1        207 

1455 

198 

2081 

18 

Sachsen-Coburg-Gotha .    . 

2 

1 

32 

7 

34 

81     2902 

90433 

75502 

965766 

19 

Sachsen-Meiningen    .    .    . 

242 

10 

— 

— 

242 

10   30324 

267115 

171291 

793776 

20 

Sachsen-Weimar-Eisenach 

265 

15 

— 

— 

265 

15'  15071 

126288 

62628 

375070 

21 

Schwarzburg-Rudolstadt  . 

1 

— 

2 

1 

3 

1        119 

631 

331 

2246 

22 

Schwarzbrg.-Sondershausen 

29     4 

11 

1 

40 

5     2827 

34272 

2391 

5975 

23;  Waldeck j 

1 

— 

_ 

— 

_       



— 

— 

24 

Württemberg 

1o'     4 

232 

25 

242 

29      1415 

48087 

7531 

54438 

Summa 

1534 

1921951 

304 

3485  496  246191 

2525567 

1748850 

771 5%3 

1 

Summa  von  Preußen 

796 

116 

1024 

154 

1820 

270^112678 

920913 

661203 

1755079 

*)  In  den    Spalten    12 — 14  bedeuten  J.  =  Jugend-,  Ko.  rr  Konfirmanden-,  Ki.  m  Kinder-, 
**)  Die    vereinzelt    vorkommenden    2  Aussteuer-,    4  Fortbildungsschul-,   80    Sonntagsschul- 
schulen sind  hier  eingerechnet. 


Schulsparkassen. 


12' 


12 

13 

14 

15 

16 

Nr. 
des 
Ge- 
bietes 

]•_ 

mit  I 
Ko.  Ki. 

2 

Beric 

P. 

^ahl   c 
hten 

S. 

ler  K 

**) 
Sa. 

isser 

1  in  ( 
0 

Ko. 

Drten 

hne  Berichte 

1 
Ki.     P.       S. 

Sa. 

J- 

Zusammen 

1 

Ko.  Ki.     P. 

S. 

31 

31 

2 

5 

50 

57 

2 

5   — 

81 

88 

1 

1 

— 

11 

11 

22 

2 

1 

— 

27 

14 

44 

2 

1 

— 

38 

25 

66 

2 

1  _ 



1 

5 

6      7 

1 

1 

61 

32 

102 

7 

1 

_ 

62 

.    37 

108 

3 

-    17 



76 

93 

1 

6 

— 

1 

33 

41 

1 

23 

— 

1 

109 

134 

4 

1 

— 

1 

— 

2 

— 

1 

3 

— 

3    - 

1 

— 

4 

5 

— 

— 

1 

1 
21 

2 

4 

- 

— 

— 

1 

~2 

3 

— 

—      1 

2 

1 

4 
1 

7 

7 
9 

6 
7 
8 

I 

' 

1 

1    — 
22    — 

1 



133 

1 
6 

1 
140 

. 

^    - 

154 

162 

— 

—    — 

— 

—     — 

— 

— 

10 

— 

10 

— 

1 

10 

— 

10 

9 

— 

—    — 

_ 

6 

6    — 

_ 

— 

— 

2 

2 

— 

—    — 

8 

8 

10 

— 

—  '. 



8 

8   — 

— 

— 

9 

9 

— 

—    — 

— 

17 

17 

11 

1 

9 

10   - 

— 

— 

5 

5 

1 

—    — 

— 

14 

15 

12 

4 

5     1   1    3 

33 

49!  14 

14 

3 

45 

70 

222 

18 

19     4 

48 

103 

271 

I3a-b 

1 

5   -1    1 

46 

53i    2 

2 

— 

14 

63 

83 

3 

7l- 

15 

109 

136 

c 

— 

6 

1 

71    1 

1 

2 

36 

27 

67 

1 

1      2 

42 

28 

74 

d 

— 

— 

— 

20 

20)  — 

— 

7 

172 

180 

—   — 

7 

192 

200 

e 

— 

2 

— 

_ 

7 

9 

— 

1 

1 

5 

12 

19 

_ 

3      1 

5 

19 

28 

f 

— 

— 

— 

— 

211 

211 

— 

— 

— 

— 

232 

232 

_ 

—    — 

— 

443 

443 

g 

— 

1  1  — 

— 

1 

2 

7 

3 

1 

9 

6 

26 

7 

4      1 

9 

7 

28 

h 

5 

5    2 

7 

205 

226 

2 

2 

3 

14 

145 

168 

7 

7 

5 

21 

350 

394 

i 

— 

—    — 

3 

257 

260   — 



1 

37 

105 

146 

— 

— 

1 

40 

362 

406 

k 

— 

1 ;  2 

3 



6;  — 

2 

— 

26 

16 

44 

— 

3 

2 

29 

16 

50 

1 

— 

— 

— 

— 

86 

86 

6 

1 

— 

16 

9 

33 

6 

1 

— 

16 

95 

119 

m 

— 

— 

— 

— 

156 

156 

— 

— 

I 

— 

36 
4 

36 

4 

_ 

— 

— 

192 
4 

192 
4 

n 
14 

— 

1 

— 

— 

1 

2 

— 

— 

— 

4 

4 

1 

— 

— 

5 

6 

15 

1 

3 

— 

1 

9 

14 

12 

56 

— 

40 

164 

272 

13 

59 

— 

41 

173 

286 

16      1 

— 

— 

— 

— 

3 

3 

1 

- 

— 

11 

12 

1 

— 

— 

— 

14 

15 

17      1 

1 

— 

— 

1 

4 

8 

22 

1 

21 

10 

55 

23 

1 

— 

22 

14 

63 

18      1 

— 

— 

— 



245 

245 

— 



— 



_ 



— 

— 

— 

— 

245 

245 

19    ; 

— 

— 

- 

— 

173 

1 

23 

173 

1 

30 

— 

- 

- 

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11 

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173 

3 

34 

173 

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2 

12 

14    11 

2   25'  114 

89 

243 

11 

2 

25 

116 

101 

257 

24 

13    41  :  6     69 

1643 

1779  90 

101    37    618 

1342 

2276 

103 

142   43 

687 

2985 

4055 

10 

19 

5 

23 

1023 

1085 

32 

26 

11 

209 

893 

1256 

42 

45 

16 

232 

1916 

2341 

P.  ^  Pfennig-  und  S.  ^  Schulsparkassen. 

und  9    (jetzt  10  —  nämlich    hinzukam    Koschmin 


•)  28  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Bei  der  Beurteilung  der  vorstehenden  Zusammenstellung  darf 
nicht  übersehen  werden,  daß  alle  ziffermäßigen  Angaben  über  Zahl 
der  Sparer,  Einlagen,  Rückzahlungen  und  Guthaben  sich  lediglich  auf 
die  Orte  und  Kassen  beziehen,  welche  dem  Verein  Berichte  über 
ihre  Tätigkeit  zur  Verfügung  gestellt  hatten.  Da  diese  Orte  und 
Kassen  aber  nicht  die  Hälfte  der  in  Deutschland  vorhandenen  aus- 
machen, so  wird  man  auch  die  Ziffern  für  die  Sparer  und  die  Spar- 
summen mindestens  verdoppeln  müssen,  wenn  man  sich  von  dem 
wirklichen  Stande  der  Jugend-  und  Schulsparkassen  in  Deutschland 
eine  richtige  Vorstellung  machen  will. 

Der  inzwischen  erschienene  XV.  Bericht  des  deutschen  Vereins 
für  Jugendsparkassen  über  die  Jahre  1901 — 03  teilt  mit,  daß  sich  seit 
Herausgabe  der  dritten  Denkschrift  die  Jugendsparkassen  in  Preußen 
um  202,  im  übrigen  Deutschland  um  263,  zusammen  um  465  Kassen 
vermehrt  haben,  daß  ihre  Zahl  sich  zurzeit  in  Preußen  auf  2543,  in 
Deutschland  auf  4520  beläuft. 

Hierzu  würden  aber  noch  jene  Sparkassen  zu  rechnen  sein, 
welche  der  Kenntnis  des  Vereins  überhaupt  entgangen  sind,  oder 
welche  erst  kürzlich  begründet  und  daher  noch  nicht  zu  seiner 
Kenntnis  gelangt  sind.  Die  Zahl  dieser  Jugendsparkassen  scheint 
nicht  gering  zu  sein,  wenigstens  veranschlagt  der  Vorsitzende  des 
Vereins  in  einer  dem  Verfasser  kürzlich  gemachten  schriftlichen  Mit- 
teilung die  Zahl  der  sparenden  Schulklassen  in  Deutschland  auf 
mindestens  10  000. 

Zur  Information  auf  dem  Gebiete  der  Schulsparkassen  in  Deutsch- 
land dienen  in  erster  Linie  die  regelmäßig  erscheinenden  Berichte 
des  deutschen  Vereins  für  Jugendsparkassen,  welche  auch  über  die 
bezügliche  Literatur  Auskunft  geben.  Von  staatsrechtlicher  Seite 
ist  der  Gegenstand  in  dem  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften, 
herausgegeben  von  J.  Conrad  u.  a.  2.  Aufl.  Jena  1901  Bd.  VI.  Art. 
„Sparkassen"  S.  849  ff.,  von  Dr.  M.  Seidel  und  vom  pädagogischen 
Standpunkt  in  Reins  Encyklopädie  Art.  „Schulsparkassen"  von  H.  Rolle 
erörtert  worden. 


370.943  L679Uv.3c.1 

Lexis  #  Das 
Unterrichtswesen  im  deuts 


3  0005  02070140  8 


370.%3 

L679U 

V.  3 
Lexis 

Das  Unterrichtswesen  im  deutsciien 
Reich  -  Das  Volksschulwesen  und 
das  Lehrerbildungswesen