THE LIBRARY
The Ontario Institute
for Studies in Education
Toronto, Canada
Das
Volkssehulwesen
und das
Lehrerbildungswesen
im Deutschen Reich
von
P. V. Gizycki, E. Clausnitzer, E. Walther, J. Matthies
W. LEXIS
BERLIN
Verlag von A. Asher & Co.
1904
Inhalt.
Seite
\'orbe merkung V
Purste Abteilung.
Das Volksschulwesen
von Dr. Paul von Gizycki, Stadt- und Kreis-^chulinspeklor in Berlin . . 1
Einleitung 1
Kapitel I. Zur Geschichte der deutschen \'olksschule 16
1. Die Zeit vor der Reformation 16
2. Das Zeitalter der Reformation 19
3. Das Zeitalter des dreißigjährigen Krieges 24
4. Das pädagogische Jahrhundert 27
5. Die Begründung der preußischen Volksschule 35
Schlußbemerkung 55
Kapitel IL Allgemeine Übersicht und konfessionelle \'erhäl tnisse . . 57
1. Allgemeine Übersicht 57
2. Konfessionelle Verhältnisse 60
Kapitel III. Schulgesetze und Schulbehörden, Schulpflichten und
Schullasten 64-
1. Die Volksschulgesetze 64
2. Die Schulbehörden 74
3. Die Schulpflicht 89
4. Die Schullasten 92
Kapitel IV. Die Organisation der \'olks schule, Lehrpläne, Methoden,
Disziplin und Lehrmittel 104
1. Die Organisation der Volksschule 104
2. Die Lehrpläne 110
3. Die Methoden des Unterrichts 125
4. Die Schulzucht 128
5. Die Lehr- und Lernmittel 132
Kapitel V. Die Schulhäuser 142
Kapitel VI. Die Lehrkräfte der Volksschule 165
1. Die Anstellung und Besoldung der Lehrkräfte 165
2. Die Pensionsverhältnisse 179
3. Die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Volksschullehrer .... 182
4. Lehrer\-ereinigungen 186
a) Amtliche I-ehrerkonferenzen 186
b) Freie Vereinigungen von Lehrern und Lehrerinnen 186
Lehrervereine 186
Lehrerinnenvereine 189
II Inhalt.
Seite
5. Pädagogische Zeitschriften 189
1. Wissenschafthche Zeitschriften 189
2. Schulpohtische Zeitschriften 190
Kapitel \'1I. Die \'olksschnle in den größeren deutschen Städten . . 193
1. Rückblicke auf die bisherige Entwicklung der größeren deutschen Städte 193
2. Gegenwärtiger Stand des städtischen Volksschulwesens 200
Kapitel VIII. Die Mittelschulen 214
Zweite Abteilung.
Die Volksschullehrerbildung
von Dr. Ed. Clausnitzer, Kgl. Seminar-' )berlehrer in Oranienburg . . 233
Einleitung 233
Erster Abschnitt: Geschichte des Lehrerbildungswesens 234
1. Die Zeit bis 1800 234
2. Das 19. Jahrhundert 240
Zweiter Abschnitt: Die Lehrerbildungsanstalten 245
A. Preußen 245
I. Allgemeines 245
II. Das Lehrpersonal 248
III. Die Erziehung der Seminaristen 255
1. Die Erziehung durch ()rt und Wohnung 255
2. Die Erziehung durch den Unterricht 260
a) Der Charakter des Unterrichts 260
b) Die Allgemeinbildung 263
c) Die Berufsausbildung 272
IV. Der Unten-ichtsstofi" 272
1. Allgemeines 272
2. Die wissenschaftlichen Eächer 275
a) Die Geisteswissenschaften 275
1. Pädagogik 275
2. Evangelische Religion 277
3. Katholische Religion 281
4. Deutsch 281
5. Geschichte 284
6. Eremde Sprachen 287
b) Die Naturwissenschaften 289
1. Mathematik 289
2. Naturkunde 291
3. Erdkunde 293
3. Die künstlerischen Eächer 295
4. Die Schulung für den Unterricht 300
5. Der Unterrichtsstoff des Seminars und der hölieren Lehranstalten 303
V. Die Lehrmittel 304
B. Die anderen Bundesstaaten 306
Dritter Abschnitt: Die Prüfungen 308
A. Preußen 308
1. Die Pflichtprüfungen 308
2. Prüfungen zur Erlangung höherer Amter 311
B. Die anderen Bundesstaaten 315
Inhalt. III
Seite
Vierter Abschnitt: Die Fortbildung 316
1. Die unmittelbare Fürsorge des Staates 316
a) Konferenzen und Bibliotheken 316
b) Sonderkurse 318
2. Die Veranstaltungen des Staates und von X'ereinigungen im Interesse des
Fortbildungsschulwesens 320
3. Die Tätigkeit der Lehren-ereine 322
4. Die Universität 325
l>iteratur 327
Statistische Übersicht über die staatlichen Anstalten für N'olksschul-
lehrer- und Lehrerinnenbildung im Deutschen Reich 329
I. Königi'eich Preußen 330
II. Königreich Bayern 335
III. Königreich Sachsen 335
IV. Königreich Württemberg 336
V. Großherzogtum Baden 336
VI. Großherzogtum Hessen 337
VII. Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin 337
VIII. Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz 337
IX. Großherzogtum Sachsen 338
X. Großherzogtum Oldenburg 338
XI. Herzogtum Braunschweig 338
XII. Herzogtum Sachsen-Meiningen 339
XIII. Herzogtum Sachsen-Altenburg 339
XIV. Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha 339
XV. Herzogtum Anhalt 339
XVI. Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt 339
XVII. Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen 339
XVIII. Fürstentum Reuß älterer Linie 339
XIX. P'ürstentum Reuß jüngerer Linie 339
XX. Fürstentum Schaumburg-Lippe 340
XXI. Fürstentum Lippe 340
XXII. Freie und Hansestadt Lübeck 340
XXIII. Freie und Hansestadt Bremen .■ 340
XXIV. Freie und Hansestadt Hamburg 341
XXV. Reichsland Elsaß-Lothringen 342
XX\T. Lehrerseminare, staatliche Lehrerinnenseminare und staatliche l'räpa-
randenanstalten im Deutschen Reich im Jahre 1902 342
Dritte Abteilung.
Taubstummen- und Blindenunterricht.
Erster Abschnitt: Das Taubstummenbildungswesen im Deutschen
Reich von E. Walt her, Direktor der Taubstummenanstalt und Schulrat in
Berlin 347
1 . Geschichtliche Entwicklung des Taubstummenbildungswesens in Deutsch-
land .' 347
2. Der gegenwärtige Zustand der Taubstummenbildung bezüglich der äußeren
Organisation 354
3. Der Unterricht der Taubstummen 366
4. Die Fürsoi-ge für die aus den Taubstummenanstalten entlassenen Zöglinge 377
5. Taubstummen-Statistik 385
IV Inhalt.
Seite
Zweiter Abschnitt: Das Blindeniinterrichtswesen im Deutschen Reich
von J. Matthias, Direktor der Kgl. Bhndenanstalt in Steglitz bei Berlin . . 391
1. Anfänge des Bhndenunterrichts 391
2. Die Gründung weiterer Anstalten 392
3. Ausbreitung der Blindenanstalten in Deutschland 393
4. Äußere Entwicklung der Anstalten 393
5. Äußere Stellung der Anstalten und weitere Ausgestaltung 394
6. Beziehungen zum Auslande, besonders zu Amerika 396
7. Innere Entwicklung der Blindenanstalten 396
8. Entwicklungshemmvmgen und Rückschläge 398
9. Aufschwung des Blindenwesens seit 1871 400
10. Gesetzhche Bestimmungen bezüglich der Blindenbildung 403
1 1 . Der Blinde in der Volksschule 404
12. Notwendigkeit des Anstaltszwanges für blinde Kinder 405
13. Einführung des Anstaltszwauges 406
14. Das Bürgerhche Gesetzbuch und die Fürsorgeerziehung 406
15. Kostenaufbringung 407
16. Staatliche Aufsicht ^ 410
17. Einteilung der Blindenanstalten 410
18. Übersicht der Anstalten 414
19. Lage der Anstalten 414
20. Bauliche \'erhältnisse 415
21. Aufnahmebedingungen 416
22. .\ufgabe und Gliederung der Blindenbildungsanstalt 418
23. Lehrplan 419
24. Zweck und Arbeitsplan der Blindenvorschule 421
25. Der Lese- und Schreibunterricht 424
26. Bücherschätze in Punktschrift 426
27. Leihbibliotheken 427
28. Die Pflege des Anschauungsunterrichtes 427
29. Lehrmittel für die übrigen Fächer 428
30. Musikunterricht 428
31. Hausordnung 429
32. Berufsbildung 430
33. Handwerk 431
34. Die Musik als Erwerbsfocli 431
35. Höhere Bildung 431
36. Umfang der handwerksmäßigen Ausbildung 432
37. Das Lehr- und Beamtenpersonal 433
38. Vorbereitung und Hilfsmittel 433
39. Werkmeister und Pfleger 434
40. Die Fürsorge für Entlassene 434
41. Beispiele der Fürsorge 435
42. Die Blindenheime 436
43. Die selbständigen Schützlinge 437
44. Schwierigkeiten und Erfolge 438
45. Invaliditäts- und .\lter.sversorgung 438
46. Konfessionelles 439
47. Statistisches 439
48. Schluß 441
Vorbemerkung.
Auf dem Gebiete des Volksschuhvesens und der Lehrerbildung
ist die Zahl der schwebenden und umstrittenen Fragen größer als in
dem ganzen übrigen Bereiche des Unterrichtswesens. Solche Fragen
konnten auch in diesem Werke nicht unberührt bleiben und daher
ist hier noch besonders daran zu erinnern, daß in den folgenden Ab-
handlungen nur die persönlichen Ansichten der Verfasser aus-
gesprochen sind und aus diesen kein Schluß auf den Standpunkt der
Unterrichtsverwaltung zu ziehen ist.
Die Darstellung des Blinden- und Taubstummenwesens könnte
im Verhältnis zu dem übrigen Inhalt des Bandes vielleicht als zu aus-
gedehnt erscheinen. Jedoch sind diese Zweige des Unterrichtswesens
in weiteren Kreisen am wenigsten bekannt, und etwas ausführlichere
Mitteilungen über sie dürften daher erwünscht sein.
Auch für Beihilfe bei diesem Bande bin ich Herrn Geheimrat
Waetzoldt zu Dank verpflichtet.
Göttingen, im März 1904.
W. Lexis.
ERSTE ABTEILUNG,
DAS VOLKSSCHULWESEN
VON
Dr. P. V. GIZYCKI.
Einleitung.
Wenn hier von der Volksschule als einem Ganzen gesprochen
wird, so muß sich besonders der Ausländer darüber klar bleiben,
daß die Schule in Deutschland keineswegs eine Einrichtung des
Reiches ist, sondern von den einzelnen Staaten selbständig verwaltet
wird. Wir haben zwar ein deutsches Heer, eine deutsche Marine
und eine einheitliche Justiz- und Postverwaltung, aber kein Reichs-
ministerium für die Volksschulen. Wenn nun trotzdem gewisse Urteile
über die deutsche Schule als solche gefällt werden, so kann dieses
deshalb geschehen, weil ein einheitlicher Geist und eine gleiche Auf-
fassung von der Aufgabe der Schule, der Lehrerbildung und den
Pflichten seines Berufes überall in Deutschland vorherrscht. Hin-
sichtlich der äußeren Verhältnisse bestehen mancherlei Verschieden-
heiten zwischen den einzelnen Bundesstaaten, ja innerhalb desselben
Staates zwischen den einzelnen Landesteilen, vor allem zwischen
Land- und Stadtbezirken. Die übersichtliche Darstellung des äußeren
Zustandes des deutschen Schulwesens wird vor allen Dingen dadurch
erschwert, daß es eine einheitliche Statistik für Schulangelegenheiten
im Deutschen Reiche nur hinsichtlich einiger, weniger Hauptgesichts-
punkte gibt, daß die vorhandenen Einzelstatistiken sich weder auf
dieselbe Zeit beziehen, noch nach denselben Gesichtspunkten und
Grundsätzen angelegt sind. Es wird daher unmöglich sein, in dem
vorliegenden Werke vollständige Zahlenangaben hinsichtlich des ge-
samten deutschen Volksschulwesens zu geben. Für Preußen liegt in
den bisher erschienenen Teilen (II und III) des 1 76. Heftes der Ver-
öffentlichungen des Königlich preußischen statistischen Bureaus ein
zuverlässiges und ausführliches Zahlenmaterial \-or und wird auf
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich IIF. 1
2 \'()lksschuhvesen.
dieses in allen Punkten zurückgegriffen werden, auch wo bestimmte
Angaben über die anderen Staaten nicht gemacht werden
können.
Ehe wir jedoch auf die einzelnen Gebiete der Statistik eingehen,
wird es von Nutzen sein, sich im allgemeinen die großen Züge zu
vergegenwärtigen, welche für das preußische und deutsche Volks-
schulwesen charakteristisch sind, welche unsere Volksschule von der
anderer Kulturvölker unterscheiden.
Hinsichtlich der äußeren Einrichtung unserer Volksschulen ist,
wie schon bemerkt wurde, eine Übereinstimmung durchaus nicht vor-
handen. Die einklassige Dorfschule, wie sie in schwach bevölkerten
Gegenden aus den örtHchen Verhältnissen erwachsen ist und sich den
Bedürfnissen der Gegend angepaßt hat, zeigt sowohl in ihrer Ein-
richtung im Schulgebäude selbst und in der Ausstattung der Klassen
mit Utensilien und Lehrmitteln wie auch in ihrem Lehrplan, in der
Besoldung ihrer Lehrkräfte und dem Aussehen der Kinder eine ganz
andere Physiognomie als die Gemeindeschule der Großstadt mit ihren
schloßartigen Schulhäusern, ihren breiten Treppenaufgängen und
Fluren, ihren geschmackvoll ausgestatteten Aulen und Turnhallen und
ihrem reichen Schatz von Anschauungsmitteln und physikalischen
Apparaten. Eine so strenge Zentralisation des gesamten Volks-
schulwesens wie beispielsweise in Frankreich existiert weder im
Deutschen Reiche als solchem, noch auch in den Einzelstaaten, und
wenn auch diese letzteren das Gebiet der Volksschule in allen seinen
Teilen durch die Gesetzgebung oder auf dem Wege der Verord-
nungen regeln und durch ihre Aufsichtsbeamten in allen Zweigen
kontrollieren lassen, so gestattet diese Staatsaufsicht doch fast überall
den Orts- und Gemeindebehörden ein nicht zu unterschätzendes Maß
von Bewegungsfreiheit und beschränkt ihre Initiative nur insofern, als
dieselbe zum Schaden der Volksschule gemißbraucht werden könnte.
Von dieser ihnen gewährten Aktionsfreiheit haben besonders die
deutschen Städte und unter ihnen wiederum die großen, wohlhabenden
Gemeinden reichen Gebrauch gemacht, so daß die Schulanlagen und
Wohlfahrtseinrichtungen, welche sie unter starker Inanspruchnahme
der Steuerkraft der Bürger aus freiem Antriebe geschaffen haben,
sich mit den besten Volksschulanlagen anderer Kulturstaaten messen
können.
Einige Staaten Deutschlands, und unter ihnen gerade der
größte, das Königreich Preußen, haben bisher ihr Schulwesen noch
Einleitunjj. 3
nicht durch ein alles umfassendes, einheitliches Schulgesetz geregelt.
In den folgenden Abschnitten dieses Werkes wird zwar nachgewiesen
werden, inwieweit gerade in Preußen wichtige Gebiete des Volks-
schulwesens bereits durch gesetzliche Bestimmungen geordnet worden
sind, aber trotzdem bleiben viele Fragen übrig, welche auch heute
noch durch die Verfügungen der Provinzialregierungen und durch
Erlasse des Unterrichtsministers entschieden werden. Wie sehr auch
dieser Umstand seit langer Zeit von Politikern und Pädagogen be-
klagt worden ist, und wie mancherlei Nachteile aus dem Fehlen
eines Schulgesetzes gerade für den Lehrerstand sich ergeben haben
mögen, dieser Mangel an einheitlicher Organisation und an gleich-
mäßigen bindenden Vorschriften für alle Landesteile hat auch zweifel-
los seine guten Wirkungen gehabt. Fa- hat den Kommunalbehörden
ein verhältnismäßig weites Feld freier Tätigkeit und einen starken
Antrieb zu selbständiger Initiative auf dem Gebiete des Volksschul-
wesens gegeben und sie zu weniger kostspieligen Versuchen und
Verbesserungen in kleineren, abgegrenzten Bezirken ermutigt, welche
auf dem Wege der Gesetzgebung für alle Landesteile zugleich nie-
mals hätten durchgeführt werden können. Auf diese Weise ist es
möglich geworden, mit Hilfe privater und kommunaler Geldmittel
und unter Mitwirkung von Vereinen gewisse neue Unterrichtszweige
der Volksschule anzugliedern, wie den Handfertigkeitsunterricht für
Knaben, den Hauswirtschaftsunterricht für Mädchen und die Hilfs-
schulen für geistig schwache Kinder. Alle diese neuen Gebiete der
Pädagogik befinden sich noch heute im Stadium des Versuches und
stützen sich in ihren Fortschritten größtenteils auf das liebevolle
Interesse einzelner Persönlichkeiten und Gemeinden. Aus eben dem-
selben Grunde und unter ähnlichen Umständen sind auch manche
hygienischen Wohlfahrtseinrichtungen, wie die ärztliche Untersuchung
und Überwachung sämtlicher Kinder der Volksschule, zuerst frei-
willig von einzelnen Stadtgemeinden eingeführt worden, segensreiche
P^inrichtungen, welche hoffentlich nach und nach ihre Siegeslaufbahn
bis in die Volksschulen der äußersten Gebirgsdörfer fortsetzen
werden.
Wenn somit die äußere Organisation der deutschen Volksschulen
mancherlei augenfällige Unterschiede aufweist, so gibt es doch ge-
wisse große Züge innerer Verwandtschaft, welche sich in allen
deutschen Schulen nahezu in gleicher Weise erkennen lassen, ob
man nun in die niedere Schulstube eines einsamen Dorfes auf
meerumrauschter Hallig oder in die lichten Schulsäle einer
1*
4 Volksschulwesen.
Münchener, Frankfurter oder Berliner Volksschule eintritt. Das
sind die spezifisch deutschen Züge unserer Volksschule, Züge,
welche ihr jenen besonderen Charakter verleihen, den man bei
keiner anderen Kulturnation in diesem Umfange und dieser Be-
stimmtheit wiederfindet.
In allen deutschen Volksschulen liegt der Unterricht aus-
schließlich in der Hand streng methodisch für ihren Beruf aus-
gebildeter und staatlich geprüfter Lehrkräfte. Alle diese
Lehrkräfte befinden sich, abgesehen von verhältnismäßig jungen
Hilfslehrern, in festen, unkündbaren Stellungen. Alle haben Anspruch
auf ein festes Gehalt und nach einer gewissen Dienstzeit bei ein-
tretender Dienstunfähigkeit auf eine Pension. Im Falle des Ablebens
eines Lehrers wird auf Grund gesetzlich feststehender Normen für
seine Hinterbliebenen gesorgt. Wenn auch die Gehalts- und Pen-
sionsbezüge der deutschen Lehrer dem Ausländer teilweise gering
erscheinen, besonders wenn er sie mit den Verhältnissen in solchen
Ländern vergleicht, in denen das Geld eine geringere Kaufkraft be-
sitzt als bei uns, so ist doch durch diese Einrichtungen dem deutschen
Lehrer eine gesicherte Existenz geschaffen, in welcher er bei treuer
Erfüllung seiner Pflichten ohne Sorge in die Zukunft blicken kann.
Diese gesicherte, lebenslängliche Stellung des deutschen Lehrers ist
die Wurzel, aus der ein Lehrerstand erwachsen konnte, ein ehren-
werter Stand von technisch aufs beste für ihren Beruf ausgebildeten,
in ihren Kenntnissen und ihrer Lebensführung geprüften Persönlich-
keiten, ein Stand, in welchem sich gesunde pädagogische Traditionen
fortpflanzen können, neue Erfahrungen sammeln und feste Methoden
des Unterrichts und der Erziehung ausbilden lassen. Die reichhaltige
pädagogische Fachpresse, die Überfülle der alljährlich- erscheinenden
pädagogischen Werke, die zahlreichen wissenschaftlichen Lehrer-
vereine, die rege Beteiligung der Lehrerschaft an allen vom Staate
oder von den Gemeinden veranstalteten Kursen und Vortragszyklen
beweisen, daß unser Lehrerstand nicht nur von einem durchaus an-
erkennenswerten Standesgefühl, sondern auch von dem regsten
Streben nach Fortbildung durchdrungen ist.
An Männer und Frauen, die in dieser Weise gründlich für ihre
Aufgabe vorbereitet und wirtschaftlich sichergestellt sind, die eine so
hohe Meinung von der Bedeutung ihres Berufes und das lebendige
Streben, sich in ihm zu vervollkommnen, besitzen, können Staat
und Gemeinde hohe .Anforderungen stellen. Von ihnen darf
Einleitung. 5
man erwarten, daß sie durch Lehre und Vorbild dcu Geist
treuer Arbeit und Pflichterfüllun<:^ in der Jugend wecken und aus-
bilden werden.
Ein zweiter Hauptzug des deutschen Schulwesens ist die tat-
sächliche Durchführung der Schulpflicht. Die darauf bezüg-
lichen Gesetze stehen in Deutschland nicht nur auf dem Papier.
Erfüllung der Schulpflicht bedeutet zuerst Ausdehnung derselben
auf sämtliche Kinder. Alle geistig und körperlich unterrichtsfähigen
Kinder, welche in dem in den verschiedenen deutschen Staaten nicht
genau dieselben Jahresstufen umfassenden Schulalter stehen, werden,
sofern sie nicht nachweislich zweckentsprechenden und ausreichenden
Privatunterricht genießen oder höhere Lehranstalten besuchen, durch
die Staats- oder Gemeindebehörden, denen das Geschäft der P^in-
schulung obliegt, unweigerlich der Volksschule zugev/iesen.
Die Zahl derjenigen Kinder, welche sich trotz dieser Bestim-
mungen dennoch dem Unterricht zu entziehen wissen, ist so gering,
daß sie gegenüber der Ziffer der eingeschulten Kinder völlig ver-
schwindet. Sie rekrutiert sich hauptsächlich aus Familien von umher-
ziehenden Künstlern, Akrobaten und der fluktuierenden Bevölkerungs-
klasse der Flußschiffer. Von den 5 317 037 eingeschulten Kindern in
36138 öffentlichen preußischen Volksschulen entzogen sich nach der
Zählung von 1P)9v5 im ganzen 487 Kinder widerrechtlich der Schul-
pflicht. Im Jahre 1 90 1 war diese Zahl bei 5 754 728 eingeschulten
Kindern in 36 756 öffentlichen preußischen Volksschulen auf 548
gestiegen.
Zur vollständigen Durchführung der Schulpflicht gehört ferner
die Durchführung der Schulpflicht während der ganzen Dauer des
schulpflichtigen Alters. Wenn auch diese Dauer in den einzelnen
Landesteilen nicht gleich lang bemessen ist, wenn auch in /Vusnahme-
fällen der Beginn der Schulpflicht bei kränklichen und schwachen
Kindern, besonders wenn die Schulwege weit sind, mit behördlicher
Genehmigung hinausgeschoben werden kann, wenn auch unter Um-
ständen vor Schluß der Schulpflicht, sofern die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse der Eltern es dringend notwendig machen, eine vorzeitige
Dispensation der Kinder eintritt, so wird doch von den Behörden im
allgemeinen mit unnachsichtlicher Strenge auf die Erfüllung der in
den einzelnen Landesteilen vorgeschriebenen Schulpflicht in ihrem
vollen Umfange gehalten. Gegen säumige Eltern oder F>ziehungs-
verpflichtete wird mit Geld-, ja mit Gefängnisstrafen vorgegangen.
5 Volksschulwesen.
Auch die Erlaubnis zur späteren Einschulung sowie die vorzeitige
Dispensation der Kinder ruht, wie schon angedeutet wurde, lediglich
in der Hand der Behörden, und der Willkür oder Nachlässigkeit der
Eltern ist in den gesetzlichen Bestimmungen ein starker Riegel vor-
geschoben. Von den im Jahre 1901 in Preußen eingeschulten Kindern
konnten wegen geistiger oder körperlicher Gebrechen 10 672 Kinder
die Schule nicht besuchen. 16 109 konnten nach vollendetem 6. Lebens-
jahre nicht sogleich in die Volksschule aufgenommen werden, und
53 794 wurden vor vollendetem 14. Lebensjahre vom Schulbesuch
dispensiert.
Ebenso wie über die Erfüllung der Schulpflicht in ihrer ganzen
Dauer muß natürlich auch übsr die Regelmäßigkeit des Schulbesuchs
an allen Schultagen gewacht werden, und es wird nicht bloß gegen
solche Eltern und Erziehungsverpflichtete, welche die Kinder der
Schulpflicht ganz entziehen, sondern auch gegen solche, welche
sie unregelmäßig schicken, mit gesetzlichen Zwangsmitteln vor-
gegangen.
Damit die Erfüllung der Schulpflicht auch nicht durch äußere
Verhältnisse unmöglich gemacht werde, wird nach Kräften überall
dahin gewirkt, daß die notwendigen Schulräume vorhanden sind, und
daß die Schulwege nicht zu weit werden. Die Gefahr, zeitweise nicht
die nötigen Schulräume zur Unterbringung der schulpflichtigen Kinder
beschaffen zu können, tritt besonders in aufblühenden Städten in die
P^rscheinung. Die P'.röffnung neuer industrieller Anlagen verursacht
gar nicht selten ein plötzliches Zuströmen der Arbeiterbevölkerung
nach bestimmten Orten oder Stadtteilen, und nicht immer wird es
den Gemeinden leicht, an geeigneter Stelle durch Schulbauten mit
der rapiden P^ntwicklung gleichen Schritt zu halten. Die weiten
Wege zum Schulhause bilden besonders in schwachbevölkerten länd-
lichen Bezirken eine Kalamität. Während nach der neuesten preußi-
schen Statistik von 1901 die Zahl derjenigen Kinder, welche wegen
Überfüllung der Schulräume vom Schulbesuch ausgeschlossen werden
mußten, nur 2735 betrug (im Jahre 1891 3239), hatten 214 289 Kinder,
davon 190 159 in ländlichen Bezirken, einen Schulweg von mehr als
2V2 l<ni zurückzulegen.
Die Anforderungen, welche die Volksschule an die körper-
lichen und geistigen Pähigkeiten der Schüler wie der Lehrer
stellt, sind in Deutschland im allgemeinen hoch. Dij Zahl der Schul-
tage im Jahre dürfte höher sein als in irgend einem anderen Kultur-
Einleitung. 7
lande. Die Woche hat 6 Arbeitstage, und die Zahl der wöchentlichen
Arbeitsstunden, wenigstens in den oberen Klassen, überschreitet nicht
selten 30. Die Ferien dauern, wenn auch ihre Lage und Begrenzung in
den einzelnen Staaten und Landesteilen verschieden sind, insgesamt
höchstens 12 Wochen, so daß im Jahre, nach Abzug einzelner Feier-
tage, etwa 230 — 240 Arbeitstage herauskommen. Die Ferien schließen
sich an die hohen kirchhchen Feste, an Weihnachten, Ostern und
Pfingsten an und bilden außerdem gewöhnlich zwei besondere Gruppen
im Sommer und im Herbst.
Die Unterrichtsziele, welche die Lehrpläne unserer Volksschulen
vorschreiben, bedürfen zu ihrer Erreichung der vollen Zeit des schul-
pflichtigen Alters und eines regelmäßigen Schulbesuches. Sie setzen
aber auch bei Lehrern wie bei Schülern Fleiß und gewissenhafte
Pflichterfüllung und guten, redlichen Willen voraus. Weil es an diesen
Voraussetzungen den Kindern bei ihrem Eintritt in die Schule viel-
fach fehlt, so werden sie von Anfang an dazu durch konsequente
Gewöhnung an bestimmte feste Ordnungen erzogen, welche mit
Freundlichkeit und zugleich mit Fernst durchgeführt werden. Auf
diese Weise lernen Schüler und Schülerinnen schon früh, es mit
ihren Pflichten ernst zu nehmen und sich als Glieder eines großen
Ganzen zu fühlen.
Die Erfolge des Schulunterrichts lassen sich fast niemals genau
ziffernmäßig feststellen. Die Jugenderziehung ist einer der wichtigsten
Faktoren, welche den Charakter des Menschen bilden und seine
Erfolge im Leben schaffen, aber es läßt sich selten genau nachweisen,
welcher Anteil an seinem Charakter und seinen Erfolgen der Anlage,
der Erziehung im Elternhause, dem Einflüsse der Schule zuzuschreiben
ist. Einen verhältnismäßig groben äußerlichen Maßstab für die
Leistungen der Volksschule bildet die Verbreitung der einfachsten
Anfangsgründe der Schulbildung, der Kunst des Lesens und Schreibens
unter der erwachsenen Bevölkerung eines Landes. In Deutschland
besteht seit geraumer Zeit die Prüfung der jährlich zum Militär ein-
gestellten Mannschaften auf ihre Schulbildung. Über die Ergebnisse
der diesbezüglichen letzten Erhebungen vom Jahre 1 90 1 im Deutschen
Reiche gibt folgende Tafel Auskunft, deren Gesamtergebnis umso
erfreulicher ist, wenn wir damit die Ziffern der Jahre 1881 und 1891
vergleichen. Diese Zahlen reden eine deutliche Sprache, und sie
sagen uns, daß die pädagogische Arbeit der deutschen Lehrer nicht
erfolglos geblieben ist.
8
Volksschulwesen.
Die Herkunft') und Schulbildung der im Ersatzjahr 1901 eingestellten
Bekruten.-j
(Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches 1902, IV.)
Eingestellte Mann-
Eingestellte Mann-
Staaten
und
Landesteile
schaften
Staaten
und
Landesteile
schaften
überhaupt
darunter ohne
Schulbildung
überhaupt
darunter ohne 1
Schulbildung
ab-
in O/o
d. Ge-
ab-
in O/o
d. Ge-
solut
samt-
zahl
i
solut
samt-
zahl
Ostpreußen .
12 287
21
0,17
Oldenburg .
1845
Westpreußen .
3) 9 036
27
0,30
Braunschweig
1747
2
0,11 i
Brandenburg
Sachsen-Meining
1 267
—
—
u. Berlin .
16 686
3
0,02
Sachsen - Alten-
Pommern . .
8 302
2
0,02
burg
784
—
Posen . . .
4)10 529
20
0,19
Sachsen-Coburg-
Schlesien . .
20 825
15
0,07
(rotha . .
1056
—
Sachsen . . .
14 381
4
0,03
Anhalt . .
1439
1
0,07
Schleswig-Hol-
Schwarzburg-
1
i
stein . .
6116
3
0,05
Sondershausen 386
—
—
Hannover . .
12126
6
0,05
Schwarzburg-
■
Westfalen . .
15 161
5
0,03
Rudolstadt
475
—
Hessen-Nassau
8 695
3
0,03
Waldeck . .
275
—
—
Rheinland . .
27 460
5
0,02
Reuß ä. L. .
286
—
—
Hohenzollern .
293
—
—
Reuß j. L. .
569
— ,
- 1
Preußen . . .
161 897
114
0,07
Schaumburg-
1
Bayern . . .
28 546
3
0,01
Lippe . .
[ 235
—
—
Sachsen . . .
15 707
—
—
Lippe . . .
! 589
—
—
' Württemberg
11373
1
0,01
Lübeck . .
; 379
—
I Baden ....
, 9 277
3
0,03
Bremen . .
1 152
—
—
Hessen . . .
5 846
1
0,02
Hamburg
2 098
1
0,05
Mecklenburg-
Schwerin . .
' Sachsen -Weimar
: . Mecklenburg-
Strelitz . . .
2 936
1 547
i
, 505
Elsaß-Lothringe
1 •') 8 200
5
0,06
Deutsches Reicl
1891 . .
1881 . .
' <i)260 416
'1182 827
8)150 130
131
824
2332
0,05
0,45
1,55
1) Unter dem Ort der Herkunft ist hier im allgemeinen der Geburtsort zu ver-
stehen, der durchweg für die zum Dienstbereich des j^-eußischen Kriegsministeriums
gehörenden Armeekorps (Gardekorps, 1. — 11., 14. — 18. Armeekorps einschließlich der
hessischen Division), für das 13. (württembergische) Armeekorps und für die Marine zur
Nachweisung gelangt und wenigstens in der Regel für das 12. u. 19. (1. u. 2. sächsische)
Armeekorps angegeben wird. Für die drei bayerischen Armeekorj^is wird hingegen der
Aufenthaltsort zur Zeit des Schulbesuchs nachgewiesen. — -) Unter den eingestellten
Rekruten (Mannschaften) sind hier sowohl die Ausgehobenen als auch die freiwillig zu
zwei-, drei- oder vierjährigem Dienst in das Heer oder in die Marine oder auch zu fünf-
oder sechsjährigem Dienst in die Marine Eingetretenen zu verstehen, nicht aber die Ein-
jährig-Freiwilligen. — 3j Darunter 23 — 4) 48 — ■^) 34 mit Schulbildung in fremder
Sprache; auf das übrige Gebiet des Reichs entfallen 23 solcher. — 6) Außerdem 116 —
7) 32 — 8) 7 aus dem Auslande, darunter ohne Schulbildung 1901 : 2, 1891 : 1.
Einleilung. 9
Der Ausländer, der die gewaltigen Suiiinien erfährt, welehe das
Deutsche Reich jährlich dem Unterhalt und der Vermehrung seines
Heeres und seiner Flotte opfert, verfällt leicht in den Irrtum, als
ließen diese durch unsere Geschichte und die geographische Lage
unseres Landes bedingten Aufwendungen für unsere Kriegsbereitschaft
dem deutschen Volke wenig Mittel zur Förderung idealer Interessen
übrig. Das mag einen Schein von Berechtigung haben, wenn man
lediglich das Verhältnis ins Auge faßt, in welchem die staatlichen
Aufwendungen für Armee und Schule zu einander stehen. Trotzdem
aber sind die Summen, die in Deutschland von Staat und Gemeinden
zusammen für Bildungszwecke und insbesondere für die Volksschule
verausgabt werden, nicht gering. Die gesamten Aufwendungen für
Volksschulzwecke betrugen im Jahre 1901 im Deutschen Reiche (mit
Ausnahme des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, für welches
Angaben nicht vorlagen) 412886 000 M., von denen 120 357 000 M.
aus Staatsmitteln gedeckt wurden.
Diese Ziffern von 1901 stellen die letzte bisher erreichte, augen-
blicklich wahrscheinlich nicht unerheblich überschrittene Stufe einer
stetig fortschreitenden Entwicklung dar. Und wenn sich dieses Fort-
schreiten infolge des bereits erwähnten Mangels einer einheitlichen
Reichsstatistik für das Schulwesen nicht bei allen Staaten in gleicher
Weise übersichtlich nachweisen läßt, so mögen in den folgenden
Zusammenstellungen einige Zahlen wenigstens für den dauernden
Fortschritt des preußischen Volksschulwesens Zeugnis ablegen.
Deutsches Reich.
Öffentliche Volksschulen 1891/2 und 1900/1.
1891/2 1900/1
1 . Öffentliche Volksschulen .... 56 563 58 I ()4
2. Vollbeschäftigte Lehrkräfte (männ-
liche und weibliche) 120 032 144 484*)
3. Schüler der öffentlichen Volks-
schulen 7 025 688 8 829 812
4. Kostenaufwand für öffentliche Volks-
schulen M. 242 399 000 412 886 000
5. Staatsleistungen , 69 310 000 120 357 000
9 Darunter 22 339 Lehrerinnen.
•jQ Volksschuhvesen.
6. Es entfielen: 1891/2 1900/1
a) Einwohner auf eine öffentliche
Volksschule 874 969
b) Volksschüler auf je 100 Ein-
wohner 16,03 15,66
c) Volksschüler auf eine voll-
beschäftigte Lehrkraft ... 66 61
d) Schulunterhaltungskosten auf
einen Volksschüler .... M. 'M 47
e) Staatsleistungen auf einen
Volksschüler „ 8,75 13,63
f) Schulunterhaltungskosten auf
eine Volksschule „ 4 285 7 159
g) Staatsleistungen auf eine
Volksschule , I 225 2 075
Die Lehrkräfte .sind ordnungsmäßig geprüft, fest angestellt bezw. mit Anwartschaft
auf feste Anstellung versehen, pensionsberechtigt und, soweit sie fest angestellt sind, nur
auf dem Wege eines gesetzlich geordneten Disziplinarverfahrens absetzbar.
Die Aufwendungen zu 4 und 5 sind Mindestbeträge; nicht einbegriffen sind die
Kosten der allgemeinen Schulverwaltung, der Schulaufsicht und der Lehrerbildung. Die
Staatsleistungen zu 5 sind in dem Kostenaufwande zu 4 mitenthalten.
Königreich Preußen.
1. Erfüllung der Schulpflicht 1871, 1891 und 1901.
1871 1891 llJOl
Schulpflichtige Kinder 4 464 906 5 401566 6 103 7-15
davon :
1. unterrichtet in öffentlichen Volksschulen .... 3900655 4916476 5670870
o/o 87,36 91,oj 92,!)i
2. „ „ anderen l nterrichtsanstalten . . . 222 211 390 500 339 017
% 4,98 7,-2:3 5,55
3. vorübergellend vom L'nterricht freigelassen, sonst
aber ordnungsmäßig beschult 312 219 83 604 82 638
% 6,09 1,5.j 1,35
4. wegen Gebrechen nicht eingeschult 9 038 10 041 10 672
O/i, 0,-20 0,1S 0,18
5. dem Schulunterricht widerrechtlich entzogen . . 20 783 945 548
t'/o 0,17 0,0-2 0,01
Einleitung.
1. Schulen:
1871 33130
1891 34 742
1901 36 756
2. Klassenräume :
1886 64 688
1891 70 950
1901 88 399
3. Klassen :
1871 52 747
1891 82 746
1901 104 082
II. Öffentliche Volksschulen.
4. Schüler:
1871
1891
1901
3 900 655
4 916 476
5 754 728
5. VuUbeschäftigte Lehrkräfte:
1871 52059
1891 71 731
1901 90 208
6. Hilfslehrkräfte (nicht vollbeschäftigte):
1891 4 376
1901 .3 505
7. Handarbeitslehrerinnen :
1891 37 129
(darunter 258 vollbeschäftigte)
1901 33 062
(Außerdem 1036 unter 5 mitgezählte vollbeschäftigte technische Lehrerinnen.)
III. Lehrplanmäßige Einrichtung der öffentlichen Volksschulen
1891 und 1901.
Es waren im ganzen vorhanden:
1. einklassige Schulen und Ilalbtagsschulen
2. zwei- bis vierklassige Schulen
3. fiinf- und sechsklassige Schulen .
4. sieben- und achtklassige Schulen
22 478
64,70
9 596
27,6;i
2 243
6,4ü
425
1,-22
1901
21488
58,4(3
11068
30,12
2 581
7,02
1 619
4,40
Es wurden unterrichtet:
1 . in einklassigen und Halbtagsschulen
zusammen 34 742
1891
36 756
1901
1 537 833 1 373 442
31 ,28 42,22
2. in zwei- bis vierklassigen Schulen 1806 058 1902 404
0/^ 36,7:i 33,5.5
3. in fünf- und sechsklas.sigen Schulen 1269 364 1254 672
o/„ 25,81 22,12
4. in sieben- und achtklas.sigen Schulen 303 221 1 140 3d_.
1%^ 6,18 20,11
IV. Kosten der offen tl
1. Kosten der öflentlichen Volksschulen:
1871
1891
zusammen 4 916 476 5 670870
len Volksschulen.
55 648 398 Mark
146 225 312 „
1901 269917 418 „
2. Von diesen Kosten wurden gedeckt :
a) aus Staatsmitteln:
1871 2 895 186 Mark = 5,20%
1891 46495831 „ = 31,79%
1901 73 066142 „ =27,07%
•1 2 Volksschulwesen.
b) .lurcli Scliuli.-<-ld:
1871 10 498 794 Mark = 18,87%
1891 1378 983 „ = 0,94%
1901 826 763 „ = 0,30 "/o
der Rest von den Gemeinden und sonstigen Verpflichteten sowie aus dem Ertrage
des Schulvermögens.
3. Ein Volksschüler kostete:
1871 14,27 Mark
1891 29,74 „
1901 47,59 „
4. Eine \'olksschule be/.w. Schulklasse kostete durchschnittlich:
1871 1679 bezw. 1055 Mark
1891 4209 „ 1767 „
1901 7343 „ 2593 „
5. Auf je tausend Einwohner kamen Volksschul-Kosten:
1871 2262 Mark
1891 4881 „
1901 7830 „
V. Einkommen der Volksschull ehrer.
1. Durchschnittliches (lesamteinkommen der Lehrer:
1S21 18(51 1871 1891 191)1
M. U. M. M. M.
in den Städten 638 846 1042 1702 2175
auf dem Lande 258 548 678 1253 1609
überhaupt 323 634 797 1418 1835
2. Abstufung des Lehrereinkommens:
Von je hundert Lehrern bezogen ein Einkommen
a) in den Städten: 1821 1874 1891 1901
bis 450 M 36,24 1,-2i 0,05 —
über 450— 900 M 43,8ö 30,84 6,69 1,05*.)
„ 900—1200 , 11,18 29,21 21,44 8,04
„ 1200—2100 , 8,66 34,01 48,4:3 44,38
„ 2100—3000 „ 0,08 4,74 19,52 31,50
„ 3000 M — — 3,87 15,03
b) auf dem Lande:
bis 450 M 86,28 3,06 0,')ö —
über 450— 900 M 12,42 64,96 17,:32 8,90*)
„ 900—1200 , 1,20 24,42 36,no 22,35
„ 1200—2100 „ 0,10 7,13 42,89 48,78
„ 2100—3000 „ — 0,12 3,59 17,74
„ 3000 M — — 0,15 2,23
c) ülierhaupt:
bis 450 M 77,72 2,46 0,05 —
iiber 450— 900 M 17,81 53,78 I3,i2 5,77*)
^^ 900—1200 „ 2,911 26,01 30,66 16,65
„ 1200—2100 , 1,56 16,16 44,92 47,02
„ 2100-3000 „ 0,01 1,60 9,44 23,23
„ 3000 M — — 1,51 7,:33
*; 1901 : 700—900 M.
Einleitung. 13
VI. Öffentliche Mittelschulen*) 1891 und 1901.
1. .Schulen: 1891 icjyi
a) Knabenschulen 184 217
b) Mädchenschulen 92 137
c) gemischte Schulen 68 102
zusammen 344 456
2. Schulkinder:
a) Knaben 48 763 73 549
davon in Knabenschulen 37 931 57 082
„ Mädchenschulen 23 96
„ gemischten Schulen 10 809 16 371
b) Mädchen 37 572 61192
davon in Mädchenschulen 28 679 47 680
„ gemischten Schulen 8 893 13 512
zusammen 86 335 134 741
3. \'ollbeschäftigte Lehrkräfte:
SL) Lehrer 2 024 3 137
b) Lehrerinnen 448 913
zusammen 2 472 4 050
4. Gesamtkcsten 6 427 585 M. 12 516 631 M.
5. \'on den Gesamtkosten wurden aufgebracht :
a) aus Staatsmitteln 81 992 M. 119 287 ^L
O/o K-2. 0,95
b) durch Schulgeld 2 729 283 „ 5 198 203 „
% 42,4(; 41,5::i
c) von den Gemeinden und sonstigen \erpflichteten 3 436 287 „ 6 903 418 „
% 53,46 55,ifi
d) aus dem Schulvermögen 140 019 ,. 53 992 „
% 2,ls 0,4:?
e) aus sonstigen Quellen 40 004 „ 241 731 „
7o 0,6-2 1,9:3
6. Ein Schulkind kostete durchschnittlich 75 „ 93 „
VIL Das gesamte niedere und Mi ttelschuhvesen 1891 und 1901.
Lehrkräfte.
L Vollbeschäftigte: Lehrer Lehrerinnen
1. der öflentl. \'olks.schulen 1891 63 237 8 494
1901 76 342 13 866
2. „ „ Mittelschulen 1891 2 997 1314
1901 4 211 2 077
*) Gehobene \'ulksschulen.
14
Volksscluihvesen.
3. der Privatscluilen mit Volksschulziel . . . . 1891
1901
4. „ „ „ .Mittelschulziel .... 1891
1901
5. „ Seniinariibungsschulen 1891
1901
6. „ Schulen in Blindenanstalten 1891
1901
7. „ „ „ Taubstummenanstalten . . . 1891
1901
8. „ „ „ Idiotenanstalten 1891
1901
9. „ „ „ Rettungshäusern 1891
1901
10. ,, „ „ Waisenhäusern 1891
1901
überhaupt: 1891
1901
Lehrer
424
256
900
991
57
59
390
428
62
68
207
211
115
126
Lehrerinnen
283
202
3 159
4 567
68 389
82 692
13421
20 929
II. Nicht vollbeschäftigte Ilillslehrkrät'te
1891
1901
1891
1901
7 054
3 570
81810
103 621
1 101
1 459
39 735
33 351
III. Handarbeitslehrerinnen 1891 —
1901 —
Der Rückgang in der Zahl der Handarbeitslehrerinnen erklärt sich durch den
Umstand, daß der Handarbeitsunterricht mehr und mehr von vollbeschäftigten technischen
Lehrerinnen erteilt wird.
Die in diesen Ziffern zutage tretende gesunde Entwicklung
unseres Volksschuhvesens, die beständig zunehmende Menge der ein-
geschulten Kinder, die in größerem Verhältnis wachsende Zahl der
Kla.ssen, Klassenräume und Lehrkräfte, die Verminderung der niederen
Schulorganismen gegenüber den höher organisierten mehrklassigen
Schulsystemen, die bedeutende Zunahme der sieben- und acht-
klassigen Schulen und der in ihnen unterrichteten Kinder, die be-
ständig sich mehrenden Aufwendungen für die Gehälter der Lehr-
personen, das Ansteigen der Durchschnittssätze für ihre Bezüge,
schließlich das beständige Anwachsen der Gesamtaufwendungen für
das Volksschulwesen geben uns w^ohl ein Recht, mit Befriedigung auf
die durchme.ssene Bahn zurückzublicken.
Dieses scheinbar so erfreuliche Resultat darf uns aber keines-
wegs mit jener trägen Selbstgenügsamkeit erfüllen, welche die
schlimmste Feindin wahren Fortschritts ist. Wenn wir eine Be-
friedigung über die angeführten günstigen Ziffern äußern dürfen, so
Einleitung. ] 5
gründet sich diese nicht auf die Überzeugung, als ob wir wirkhch
etwas Großes erreicht hätten, sondern auf das Bewußtsein, daß wir
rüstig v^orwärts schreiten. Unser Auge ruht nicht mit Behagen auf
der geleisteten Arbeit aus, sondern blickt suchend und forschend und
vielleicht nicht ohne Selbstvertrauen und gute Hoffnung in die Zukunft.
Neue Aufgaben, neue Arbeit warten unser, aber die bisherigen Erfolge
erfüllen uns mit dem festen Glauben, daß wir ihnen gewachsen sein
werden. Die Grundsätze, welche bisher unser Volk vorwärts und
aufwärts geführt haben, gewissenhafte Vorbildung jedes Mannes für
seinen Beruf, strenge Pflichterfüllung des einzelnen in Unterordnung
unter die Interessen der Gesamtheit und die Anordnungen der
autoritativen Persönlichkeiten, Einsetzung aller Kraft für das Werk,
das jedem obliegt, werden auch in Zukunft die leitenden Ideen für
die Erziehung der Jugend, die Ausbildung der geistigen und
technischen Arbeiter auf allen Gebieten sein.
Freilich können die höchsten materiellen Erfolge auf den Gebieten
des Geschäftslebens und der Politik nicht die letzten Ziele sein, welche
dem Lehrer der Jugend vorschweben. Seine Kulturmission ist damit
noch nicht erfüllt, daß er der Jugend eine Vorbereitung gibt, die sie be-
fähigt, dereinst ihrem Vaterlande als tapfere Krieger oder fleißige
Arbeiter zu dienen, zu pflügen und zu bauen, Erze zu schürfen und Meere
zu durchfurchen, zu forschen und zu erfinden und den Erdball mit einem
Netz von Eisenbahnschienen und Telegraphendrähten zu umspannen
— seine Aufgabe ist höherer Art. Er soll seine Schüler nicht nur zu
Arbeitern oder Kriegern, sondern zu Menschen bilden und ihnen nicht
nur Geschicklichkeit und Kenntnisse mitteilen, sondern durch Pflege
echter Religiosität und wahrer Sittlichkeit den heiligen Funken der
Nächstenliebe und Barmherzigkeit in ihnen entfachen, sie zu jener
schönen Harmonie von Hochsinn und Kraft erziehen, der allein die
letzte dauernde Herrschaft auf dieser Erde zufallen muß.
Möge es der deutschen Volksschule beschieden sein, unser V^olk
im Streben nach diesem hohen und reinen Ziele zu kräftigen, damit
es imstande sei, jene große Mission zu erfüllen, welche unser Kaiser
in einer kürzlich in Hamburg gehaltenen Rede mit den begeisterten
Worten gezeichnet hat:
,,So wird unser Vaterland vorangehen auf der Bahn der Auf-
klärung, der Bahn der Erleuchtung, der Bahn des praktischen Christen-
tums, ein Segen für die Menschheit, ein Hort des Friedens, eine
Bewunderung- für alle Länder."
KAPITEL I.
Zur Geschichte der deutschen Volksschule.
1. Die Zeit vor der Reformation.
Die Anfänge der deutschen Volksschule reichen bis in die Zeit
des ausgehenden Mittelalters zAu-ück. Schon im 13. Jahrhundert
entstanden in den blühenden Städten der Niederlande und der
deutschen Hansa neben den Kloster- und Domschulen neue lateinische
Stadtschulen, auch Rats- oder Pfarr-Schulen genannt. Diese unter-
schieden sich zunächst in ihren Lehrplänen und Unterrichtszielen nicht
von den älteren geistlichen Lehranstalten, sie waren aber, vielfach
erst nach heftigen Kämpfen mit dem Klerus, durch die Bürgerschaft
ins Leben gerufen worden, um der städtischen Verwaltung und dem
Kaufmannsstande die erforderlichen Beamten und gebildeten Ange-
stellten zu liefern. Der \\'achsende Umfang und die \\'eitgehenden
politischen Verbindungen der Städte erforderten ein geschultes Personal
zur Ausfertigung der Urkunden, Protokolle, Verträge, Abrechnungen
und Stadtbücher, und auch der Kaufmannsstand bedurfte für die
Erledigung seiner Geschäfte der Gehilfen, welche nicht nur des Lesens
und Schreibens, sondern auch der damaligen Weltsprache, des Lateins,
kundig waren.
Die städtischen Lateinschulen ersetzten, da sie auch die Elemente
des Lesens und Schreibens lehrten, bis zu einem gewissen Grade die
Volksschule. Daneben aber entstanden schon früh sogenannte deutsche
Schulen, in denen lateinischer Unterricht nicht erteilt wurde, ja nicht
erteilt werden durfte. Wir müssen sie uns zum Teil als Vorbereitungs-
anstalten für die Lateinschulen denken und als die einzigen Stätten
für die Bildung der weiblichen Jugend.
Schon um das Jahr 1400 wird in Memmingen eine Maidlin-
Schule erwähnt, und 1469 verbietet der Rat dieser Stadt, daß mehr
Zur (jcscliichte der deutsclien X'olksschulo. 17
als zwei deutsche Schulen gehalten werden sollten. Die Mädchen
wurden schon in dieser Zeit von Lehrfrauen (Lehrerinnen) unterrichtet.
Als Gegenstände des Unterrichts in den deutschen Knaben- und
Mädchenschulen werden Lesen und Schreiben, zuweilen auch Rechnen
und Singen erwähnt. Die Mädchen scheinen auch in weiblichen
Handarbeiten unterrichtet worden zu sein. Die Lehrer dieser von
den Behörden nur geduldeten, ja oft ausdrücklich verbotenen Privat-
anstalten bildeten natürlich anfangs keinen festen Stand, obgleich sie
sich später in einzelnen Städten zu Gilden vereinigt haben. Sie mögen
sich aus dem Stande der fahrenden Schüler, aus Stadtschreibern und
Handlungsdienern, aus Handwerkern und anderem noch weniger
geeignetem Volke rekrutiert haben.
Noch ungünstiger wird es um den Elementarunterricht in der
Muttersprache auf dem Lande gestanden haben. Die Nachrichten
über das ländliche Schulwesen in Deutschland vor der Reformation
sind überaus spärlich. Johannes Müller, einer der besten Kenner der
Vorgeschichte des deutschen Volksschulwesens, äußert sich zu dieser
hrage folgendermaßen*):
„Ob in den Dörfern deutsche Schulen vor der Reformation
bestanden, darüber läßt sich bei den geringen Nachrichten über das
mittelalterliche Dorfschulwesen überhaupt wenig Bestimmtes sagen.
Die Existenz von Dorfschulen vor der Reformation zu bezweifeln, wie
es manche sonst verdienstvolle Forscher tun, ist nicht gerechtfertigt.
Es gab, wenn auch die urkundlichen Aufzeichnungen darüber spärlich
sind, wirklich Schulen für die Jugend der Landbewohner; nur dürfen
wir sie uns keinesfalls überall und nicht oder nur sehr selten in einem
besonderen Schulhause, das ja auch in den Städten vielfach fehlte,
oder unter Leitung eines eigenen Schulrektors denken und müssen
sowohl die letzten 2—3 Jahrhunderte des Mittelalters und besonders
das \5. mit seiner Erfindung der Buchdruckerkunst von den früheren,
als auch das nordöstliche Deutschland bis an die Elbe von dem
übrigen, namentlich von den Rheingegenden, unterscheiden Erst
mit der Vermehrung der Pfarreien und Geistlichen und deren
Organisation, mit der zahlreichen Bildung von stärker bevölkerten
Dorf- und Stadtgemeinden und mit dem durch die Kreuzzüge und
durch den Aufschwung des Handels und Verkehrs gesteigerten
Unterrichtsbedürfnisse ward die Sorge für den Jugendunterricht so
*) Quellenschriften zur Geschichte des deutschsprachUchen Unterrichtes bis zur
Mitte des 16. Jahrhunderts. Gotha 1882. S. 325 f.
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 2
\ ^ Volksschuhvesen.
lebendig, daß diesem eine wachsende Tätigkeit zugewandt wurde.
Der am frühesten christianisierte Westen Deutschlands ging den
anderen Gegenden voran. Auf den Dörfern waren die ersten Schulen
jedenfalls meist Pfarrschulen, oder der Unterricht way Privatunterricht
einzelner. \on einzelnen Geistlichen oder deren Gehilfen, in den letzten
Jahrhunderten des Mittelalters wohl auch von fahrenden Spielleuten
oder fahrenden Scholaren, Schreibern oder anderen Laien erteilt."
Aber auch diese Pfarrschulen auf dem Lande dürfen wir uns
keineswegs als Volksschulen in heutigem Sinne vorstellen. Sie setzten
sich wohl kaum die Verbreitung allgemeiner Bildung zum Ziele,
sondern suchten hauptsächlich Kleriker und Sänger für den Kirchen-
dienst vorzubilden. P^in elementarer Lateinunterricht stand auch bei
ihnen neben den Anfangsgründen des Lesens und Schreibens im
Mittelpunkt des Interesses. ¥Än lebendiges Bild aus dem Leben von
Lehrern und Schülern zu Beginn des U). Jahrhunderts gibt die
Selbstbiographie von Thomas Platter, später Rektor in Basel, und ein
anderer Gelehrter, der Kantor Nicolaus Hermann zu Joachimsthal
(t I5()1), entwirft in der Widmung seines Buches ,,Die Historien von
der Sintflut, Joseph, Mose usw. in Reyme gefasset, für christliche
Hausväter und ihre Kinder" folgende vielleicht etwas zu stark gefärbte
Schilderung, und zwar nicht von den Zuständen der deutschen, sondern
der höher bewerteten Lateinschulen jener Zeit:
„Wenn ich zurückdenke, wie es in meiner Jugend vor fünfzig
Jahren und vorher in Kirchen und in Schulen gestanden ist, und wie
man darin gelehrt hat, so stehen mir die Haare zu Berge und schaudert
mir die Haut, kann es auch unbeseufzt und beklagt nicht lassen, und
es wäre zu wünschen, daß die jetzige Jugend und Schüler nur den halben
Teil wissen sollten, was zu derselben Zeit die armen Schülerlein für
Elend, Jammer, Frost, Hunger und Kummer haben erleiden und erdulden
müssen, und wie sie dagegen so gar übel und unrichtig sind gelehrt
und unterwiesen worden, ja noch einmal, sage ich, wäre es zu
wünschen, daß sie es wissen sollten, so würden sie ihre Hände auf-
heben und Gott von Herzen für die großen Wohltaten und gnaden-
reiche Zeit, darinnen sie geboren sind, danken und ihn loben, ehren
und preisen. Denn in gemeinen Schulen war eine solche Barbarei
und Unrichtigkeit im Lehren, daß mancher bis 20 Jahre alt wurde,
ehe er seine Grammatik lernte und ein wenig Latein verstand und
reden konnte, welches doch gegen das jetzige Latein lautet wie ein
altes RumpeLscheid oder Strohfiedel gegen die allerbeste und
bestgestimmte Orgel. W^elches man denn mit den ungelehrten Priestern,
Zur (".cschichto der deutsrhen Xolksschule. 19
SO zur selben Zeit viel Tausend waren, leicht bezeugen und beweisen
könnte. Zudem wurden die armen Knaben mit dem Singen dermaßen
beschwert und gepeinigt, daß man von einem Feste zum andern kaum
Zeit genug haben konnte, die Gesänge anzurichten und zu übersingen,
wenn man gleich in der Schule sonst nichts zu lernen und zu lehren
bedurft hätte, und mußten oft die Knaben bei nächtlicher Zeit in
einer Mette in dem kalten Winter drei ganze Zeigerstunden aneinander
in der Kirche frieren, daß mancher sein Lebelang ein Krüppel und
ungesunder Mensch sein mußte. Die armen Kinder, die nach Parteken
(Brotstücken) herum sungen, das waren recht natürliche Märtyrer.
Wenn sie in der Schule genugsam gemartert waren und in der Kirche
erfroren, mußten sie dann erst hinaus auf die Gart (die Bettelei), und
wenn sie mit großer Mühe im Regen, Wind und Schnee etwas
ersungen, mußten sie dasselbige den alten Bacchanten, welche daheim
auf der Bärenhaut lagen, wie einem Drachen in den Hals stecken,
und sie, die Knaben, mußten Maul ab sein und darben. Dagegen
sollten die Bacchanten sie unterweisen und mit ihnen repetieren und
konnten oft selber nichts denn scamnum deklinieren, das magister und
nuisa hatten sie nicht gelernt. Und wie die Lehrer und Schulmeister
waren, so waren auch gemeiniglich die Schulen die garstigsten, un-
flätigsten Häuser, daß Bütteleien, Schindereien und Henkereien lauter
Schlösser und Paläste dagegen waren. In solchen garstigen, unflätigen
Häusern, mitten unter den Katzen und Mäusen, Flöhen, Wanzen und
Läusen, und was der Bursalia (Burschensachen) mehr waren, mußte
die liebe Jugend erzogen werden, die einst sollte Lehrer und Regenten
geben."
2. Das Zeitalter der Reformation.
Wenn wir sonach von einem allgemeinen Volksunterricht in der
zweiten Hälfte des Mittelalters weder in den deutschen Städten noch
auf dem Lande reden können, so begann sich doch mit dem Zeit-
alter der FIrfindungen und FLntdeckungen, mit der Verbreitung der
Buchdruckerkunst, dem Wiederaufleben der klassischen Schriftsteller,
mit der Reformation allmählich in allen Kreisen des Volkes ein
-Stärkeres Bedürfnis nach der Kenntnis des Lesens und Schreibens
und nach einem tieferen Verständnis der göttlichen und weltlichen
Dinge geltend zu machen. Martin Luther hatte auch den Laien in
seiner Bibelübersetzung die Quelle des Glaubens und der Erkenntnis
Gottes durch die Muttersprache eröffnet und in seinen Katechismen,
seinen Sendschreiben, Streitschriften und Liedern hochbedeutsame
20 X'ülksschuhvesen.
literarische Werke in der Sprache des V^olkcs geschaffen. Er hatte
schließlich einen neuen Glauben und damit die Notwendigkeit be-
gründet, die Kinder des Volkes in diesem Glauben z.u unterrichten.
Alle diese Momente trugen dazu bei, die protestantischen Fürsten
und Städte zu veranlassen, für den Unterricht auf breiterer Grundlage
als bisher Fürsorge zu treffen, und die P>inziehung der katholischen
Kirchengüter in protestantischen Ländern bot teilweise die erforder-
lichen Mittel zur Erfüllung dieser Pflicht dar. Die Stellung Luthers
zur Volksschule, wie man sie damals auffassen konnte, ist oft ge-
schildert worden. Es ist sein großes Verdienst, die Eltern, Bürger
und Obrigkeiten seines Landes auf die Bedeutung der Kindererziehung
mit kraftvollen und zuweilen leidenschaftlichen Worten hingewiesen
zu haben, wenn auch sein Standpunkt in dieser Frage ein vorzugs-
weise theologischer blieb.
Die Einführung der Reformation in einer großen Anzahl
deutscher Staaten hatte naturgemäß die Neuorganisation der gesamten
kirchlichen Verhältnisse in ihnen zur Folge. Die diese Organisation
regelnden Kirchenordnungen sind, da sie sich auch mit der Erziehung
der Kinder in dem neuen Glauben beschäftigen, wichtige Dokumente
für die Geschichte des deutschen Schulwesens. Freilich richten
auch sie ihr Hauptaugenmerk auf den gelehrten Unterricht, aber
einige gedenken doch auch mit einiger Ausführlichkeit der deutschen
Schulen. Es lassen sich unter diesen Kirchenordnungen, sofern sie
noch dem l(). Jahrhundert angehören, vorzugsweise zwei Gruppen
unterscheiden, diejenigen, welche Johannes Bugenhagen (1485 — 1558)
zum Verfasser haben, und jene, welche auf die große Württem-
bergische Kirchenordnung des Herzogs Christoph von 1559 zurück-
weisen. Bugenhagens Einfluß erstreckte sich besonders auf den
deutschen Norden, und er verfaßte außer der Braunschweigischen
Kirchenordnung von 1 528 auch solche für Hamburg 1 529, für Lübeck
1530, Pommern 1534 und Dänemark 1537. Seine Schulordnung,
welche sich auf Philipp Melanchthons ,, Unterricht der Visitatoren an
die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen 1528" stützt, wendet den
deutschen Schulen nur geringes Interesse zu. Seine Fürsorge gilt
hauptsächlich den Lateinschulen. Seine Stadt-Braunschweigische
Schulordnung, von welcher die Hamburger und Lübecker nur wenig
abweichen, verlangt neben einer größeren Zahl von verhältnismäßig
wohl dotierten öffentlichen Lateinschulen nur zwei halb private
deutsche Knabenschulen und vier Mädchenschulen. Die Lehrer
dieser Knabenschulen sollen kein festes Gehalt, sondern nur ein
Zur Geschiclite der deutschen Volksschule. 21
Geschenk jährlich vom Rate erhalten, im übrigen aber auf das Schul-
geld angewiesen sein. Dasselbe gilt von den Lehrerinnen der
Mädchenschulen. Die Ansprüche, welche an diese letzteren Schulen
gestellt werden, sind dadurch charakterisiert, daß die Schulordnung
einen Schulbesuch von höchstens zwei Jahren in höchstens zwei Stunden
täglich für die Mädchen vorschreibt.
Die Kirchenordnung des Herzogs Christoph von Württemberg
vom Jahre 1559 geht auf Johannes Brenz (1499 — 1570) als ihren
geistigen Urheber zurück, der für Süddeutschland eine ähnliche Be-
deutung besitzt wie Bugenhagen für Norddeutschland, und hat ihrer-
seits der Braunschweigischen Schulordnung von 1569 und der Kur-
sächsischen von 1586 als Vorbild gedient. Auch in dieser Kirchen-
ordnung wird das lateinische Schulwesen mit besonderer Breite be-
handelt. Doch findet auch die deutsche Schule gebührende Berück-
sichtigung. Es heißt da:
,,Als wir auch etliche namhafte und volkreiche Flecken in
unscrm Fürstentum und gemeiniglich hart schaffende Untertanen
haben, so ihrer Arbeit halber nit allezeit, wie not, ihre Kinder unter-
richten und weisen können, damit denn derselben arbeitenden Kinder
nit versäumet, fürnemlich aber mit dem Gebet und Katechismus und
daneben Schreibens und lesens ihrer selbs und gemeinen Nutzens
wegen, desgleichen mit Psalmsingen dester baß Unterricht und
christenlich aufgezogen (werdenj, wollen wir, wo bis anher in solchen
Flecken Mesnereien gewesen, daß derselben deutsche Schulen mit
den Mesnereien zusammen eingericht und darauf von unsern ver-
ordneten Kirchenvätern geschickte und zuvor examinierte Personen,
so Schreibens und lesens wohl bericht, auch die Jugend im Katechismus
und Kirchengesang unterrichten könnten, verordnet werden."
Die Anforderungen an die Befähigung des Lehrers sind, wie wir
sehen, gering. Knaben und Mädchen sollen in der Schule getrennt
sitzen. Das Rechnen ist nicht als Gegenstand des Unterrichts ge-
nannt, doch soll der Lehrer in diesem Fache geprüft sein. Die
Kinder sollen in drei Gruppen (Häuflein) geteilt werden. Die erste
soll aus denjenigen bestehen, welche anfangen die Buchstaben zu
lernen, die zweite aus denen, welche schon Silben zusammenfügen,
die dritte endlich aus jenen, welche anfangen zu lesen und zu schreiben.
Auch innerhalb dieser Gruppen sollen noch Unterabteilungen ge-
schaffen werden, damit die Kinder zum Fleiß angereizt und die Arbeit
des Schulmeisters erleichtert werde. Die vSchulaufsicht wird von der
Kirche geführt, von Pfarrern, Superintendenten und schließlich vom
22 Volksschuhveseu.
Kirchenrat. lüir den Katechismusunterricht ist die Schulpflicht vor-
geschrieben und sollen die Eltern für unbegründete Schulversäumnisse
der Kinder bestraft werden.
Gegen Ende des Jahrhunderts gewinnen die Vorschriften für die
deutsche Schule in den Kirchenordnungen an Bestimmtheit und
Umfang. Die Anforderungen an die Befähigung des Lehrers sowie
die Ziele des Unterrichts werden teilweise etwas höhere. Die Sachsen-
Lauenburgische Kirchenordnung von 1585 fordert gute lateinische
Knabenschulen, auch Schulen für die Mädchen, in denen sie Schreiben,
Lesen, Katechismus, Sprüche der heiligen Schrift, Psalmen, Singen,
dazu ferner Nähen, Stricken, Wirken und dergleichen lernen sollen.
Auf den Dörfern sollen Knaben und Mädchen von dem Küster oder
dem Pastor und deren Frauen unterrichtet werden, und auch hier
wird gesonderter Unterricht für Knaben und Mädchen gefordert.
Sollten die Eltern sich den Anordnungen des Herzogs widersetzen, so
wird amtliches Einschreiten seinerseits in Aussicht gestellt.
In Lübeck bestanden zu jener Zeit, ungerechnet die Kirchen-
schulen, die Privat- und Winkelschulen sowie die Schulen der Schreib-
und Rechenmeister, 12 öffentliche Schulen für Knaben und ebenso
viele für Mädchen, und die Stadt Straßburg i. H bestimmt in einer
Kirchenordnung von 1598, daß neben der Lateinschule bei jeder
Pfarre eine deutsche Schule für Knaben und Mädchen gehalten
werden sollte. Als Lehrgegenstände werden hier Lesen, Schreiben
und bisweilen Rechnen angeführt, vornehmlich aber Katechismus,
Latein und Kirchengesang.
Inwieweit die auf die Schule bezüglichen Vorschriften der
Kirchenordnungen dieser Zeit im übrigen praktisch durchgeführt
wurden, läßt sich nicht mit Sicherheit beurteilen. Irgend welche
zuverlässige P>hebungen über den Stand der Schulverhältnisse wurden
damals natürlich nicht angestellt, und wenn wir den Äußerungen
zeitgenössischer Schriftsteller Glauben schenken, so stand es noch um
das Jahr 1600 trotz mancher wohlmeinender Anordnungen von
Fürsten und Stadtbehörden dennoch recht übel um die Schule in
deutschen Landen. Schulrat Sander entwirft in seiner Geschichte der
Volksschule besonders in Deutschland [K. Schmid, Geschichte der
Erziehung vom Anfang an bis auf unsere Zeit V. 'A, S. 53) folgende
Schilderungen der damaligen Schulhäuser:
,,An die äußere Ausstattung der Schulen stellte ein Geschlecht,
das für sich selbst auf dem Lande dürftig und unbehaglich, in den
Städten warm und sicher, aber eng und finster wohnte, das fast nur
Zur Geschichte der deulschen Volksschule. 23
für (las öftciilliclic Leben in Kirchen, Rathäusern, Schüttingen oder
Hochzeithäusern große, stattliche, kunstreich gebaute und geschmückte
Räume kannte, sehr geringe x'lnsprüche. Thomas Platter (I4W — 15U2)
in seiner vielbenutzten Autobiographie erzählt aus eigner Erfahrung,
wie in der Schule bei St. Elisabeth zu Breslau neun Baccalarien
gleichzeitig in einer Stube zu lesen (d. i. zu lehren) pflegten. Über-
dies dienten dort die Schulstuben den Schülern noch teilweise als
Nachtquartier. Zwei Menschenalter später ergießt der streitbare
Humanist Nikodemus Frischlin (1588) scharfe Zorneslauge über Braun-
schweigs städtisches Schulwesen, namentlich auch in dieser Hinsicht:
,Sehe ich auf die A-B-C-Schule, worin der Väter Augäpfel, der Mütter
Lieblinge sitzen, so erbarmt mich dieses zarten Häufleins. Sie müssen
in einem Räume, wo kaum die Hälfte gehörig Platz hätte, so eng
aufeinander sitzen, daß sie sich drücken und pressen. Da überdies
das Schulhaus in einem finstern Winkel der Stadt steht, keinem
Winde, keiner Luft zugängig, wie sollten in der l^nge, in dem
Gestanke, besonders sommers, die zarten Kleinen nicht in allerlei
Krankheiten fallen?' ,Die Männer, welche den ganzen Tag im Lärm
und Stanke der Knaben stecken müssen, werden darin halb schwind-
süchtig und halb taubl' Ebenda klagen 1590 einige Bürger dem Rate
bitterlich, daß große und kleine Schüler den gar kalten Winter über
in den Schulen großen Frost erlitten haben, und daß in den
Wohnungen des Rectoris, Conrectoris und anderer Schuldiener .bis-
weilen alle Unordnung fürfellet.'
Man beachte, daß hier Wohnung der Lehrer und Schulzimmer
nicht scharf voneinander getrennt werden. Nicht selten fehlte es an
jedem Unterschiede zwischen beiden und fand der Unterricht in den
W^ohnräumen der Lehrer statt. Zu Bau und Besserung entschloß
man sich oft genug erst dann, wenn ,ohne Leib- und Lebensgefahr
die functiones in die Länge nicht zu verrichten waren.' Gab es
eigene Schulzimmer oder gar Schulsäle, so war es noch um 1600
nicht unerhört, dafi in ihnen mehrere Klassen von verschiedenen
Lehrern oder die Knaben vom Schulmei.ster, die Mädchen von der
Lehrerin gleichzeitig unterrichtet wurden.
Man mag hieraus ermessen, wie schlimm es auf dem Lande mit
der Unterkunft der Schulen gestanden haben wird. Zwar gab es an
manchen alten und wohlhäbigen Kirchorten Küstereien, Wohn-
häuser für die Opferleute, Mesner, Sigristen oder wie diese niederen
Kleriker hießen. Doch schwerlich werden sie in vielen Fällen bequem
zur Aufnahme von Schulen eingerichtet gewesen sein. In solchen
24 Volksschulwesen.
Fällen und gar, wo der wohlfeilste verfügbare Raum aus Not ge-
nommen werden mußte, teilte dann wohl des Lehrers Familie und
gesamter Haushalt das Zimmer mit Lehrer und Schülern — zum
Ungemach für beide Teile, wie man sich leicht ausmalt."
Die Methode des Unterrichts war, so wenig Bestimmtes wir auch
aus den Schilderungen des 16. Jahrhunderts darüber erfahren,
jedenfalls wenig ausgebildet, schwerfällig und mechanisch. Der reich-
lich vorhandene Memorierstoff: der Katechismus, die Sprüche, die
Kirchenlieder, bot nur zu viel Gelegenheit zu geistlosem Auswendig-
lernen. Die hier und da in den Schulordnungen an die Lehrer ge-
richteten Warnungen, sich bei ihren Strafen alles Fluchens und
ungebührlichen Redens zu enthalten, ihre Schüler nicht mit Schlüsseln,
Büchern oder Fäusten ins Gesicht zu schlagen, sie nicht gräulich
über die Bänke zu werfen, ihre Glieder zu verrenken, sie nicht an
den Ohren zu ziehen und im Gesicht zu verletzen, kurz sie nicht
wie Henker zu stäupen, sondern väterlich zu züchtigen, gestatten
kaum eine allzu günstige Meinung über die Handhabung der Schul-
zucht. Die in dieser Hinsicht gewiß oft vorkomnienden Aus-
schreitungen dürfen uns nicht wundern, wenn wir bedenken, daß es
auch um 1600 einen für seinen Beruf ausgebildeten Lehrerstand nicht
gab, daß die Erzieher der Jugend auch jetzt noch aus dem Stande
der Handwerker, der Schreiber und Rechenmeister oder gar aus ver-
kommenen Studenten hervorgingen, daß es diesen Leuten zum großen
Teil an einer festen F^xistenz und gesichertem Lebensunterhalt fehlte,
so daß viele das Lehramt als Nebenbeschäftigung trieben, und daß
es eine streng durchgeführte, sachkundige Schulaufsicht und Kontrolle
der Schuleinrichtungen nicht gab.
.S. Das Zeitalter des dreii.Mgjährigen Krieges.
Das siebzehnte Jahrhundert ist das Zeitalter jenes großen Krieges,
welcher nicht nur den materiellen Wohlstand des deutschen Landes
in allen seinen Gauen zerstörte, unzählige Dörfer und Städte in
Ruinen und fruchtbare Gefilde in Einöden verwandelte, sondern auch
der sittlichen Kultur des Volkes und besonders allen Schuleinrichtungen
die schwersten Wunden schlug. So wenig es unter diesen traurigen
Verhältnissen möglich war, daß die Volksschule praktische Fort-
schritte machen konnte, so ist doch gerade das siebzehnte Jahr-
hundert reich an hervorragenden Theoretikern, Leuten, welche berufen
waren, der Jugenderziehung ganz neue Bahnen zu weisen. Es ist
Zur Geschichte der deutschen \''olksschule. 25
natürlich liier nicht der Ort, auf die Bedeutung von Männern wie
Ratichius, Conienius, Spener u. a. näher einzugehen; dieser Bericht muß
sich ausschließlich darauf beschränken, die Tätigkeit der Pädagogen
dort zu erwähnen, wo sie persönlich oder durch ihre Schriften die
Schulgesetzgebung ihres Landes unmittelbar beeinflußt haben.
Eine so unmittelbare Beziehung läßt sich in der Tat zwischen
den pädagogischen Theorien des eigenartigen Schwärmers Ratke,
genannt Ratichius (1v57l — 1635) und der Weimarer Schulordnung
von 1619 nachweisen. Diese Schulordnung zeichnet sich vor den
früheren durch Hervorhebung einiger neuer Gesichtspunkte aus. Die
allgemeine Schulpflicht wird nachdrücklich eingeschärft, und An-
weisungen über ihre Erfüllung werden gegeben. Sie fordert für die
Knaben Unterricht im Rechnen und gibt hinsichtlich der Disziplin
Anweisungen, welche dem rauhen Geiste der Zeit weit vorauseilen.
Der Abschnitt über die Schulpflicht lautet folgendermaßen:
„Es sollen soviel müglich, alle Kinder, Knaben und Mägdlein , mit allem
Ernst und Fleiß zur Schulen gehalten werden, damit sie je zum wenigsten, nebenst dem
heiligen Catechismo, Christlichen (jesängen und Gebeten recht lernen lesen und etwas
schreiben. Denn es ist zu erbarmen, das aufl' den Dörfern, ja auch wol in Städten unter
den Handwerksleuten, Gesinde und Taglöhnem so wenig Leute gefunden werden, welche
lesen und schreiben können. Dadurch werden sie nicht wenig gehindert an dem Er-
kentniß Gottes und seines seligmachenden Worts, anderes Schadens und Verlusts in
zeitlichen Sachen zu geschweigen; da sonst eines, das da hat lesen gelernt, nicht alleine
mit desto besserem \'erstande die Predigten göttliches Worts hören, sondern auch den
lieben Catechismum desto leichler und bestendiger lernen, sich darinnen üben, darneben
auf anderen feinen und nützlichen Gebet-, Gesang-, Trost- und Spruchbüchlein sich in
seinem t'hristentumb wol erbauen, stercken und gründen kann. — Sollen demnach
hinführo die Pfarherren und Schulmeister an einem jeden Ort über alle Knaben und
Mägdlein, die vom 6. Jahr an biß ins 12. Jahr bey ihrer Christlichen Gemeinde
gefunden werden, fleißige Verzeichnüß und Register halten, auff das mit denen
Eltern, welche ihre Kinder nicht wollen zur Schulen halten, könne geredet werden,
auch aufl^n Bedarfl' durch Zwang der weltlichen Obrigkeit dieselben, in diesem Fall
ihre schuldige Pflicht inacht zu nehmen, angehalten werden mögen. — • Und lest
sichs damit nicht entschuldigen, das mann fürwendet, die Eltern köndten jhrer
Kinder nicht entrathen, sondern müsten sie haben zum Gense- oder Pferdehüten und
dergleichen: denn an dem Schuelgehen den armen Kindern ein mehrers gelegen ist, alß
den Eltern an jhren Ciensen, Pferden u. dgl., inmaßen sie dann gemeinighch hernach,
wenn sie erwachsen sind, selbst bekennen wie man von manchem ßawersmann höret,
das sie gerne alle Gense und wol ein oder mehr Pferde und anderes darumb geben
wollten, das sie hetten lesen und schreiben gelernet. — Dazu kan man solcher Notdurft
auch noch wol rathen, wenn die Kinder flugs im 6. Jahr zur Schulen gehalten werden,
das sie nicht eben allzeit biß in das 12. Jahr dürfl'en in der Schulen zubringen, sondern
zum Lesen und Schreiben durch ( Jottes Segen wol ehe gelangen und alßdenn eins nach
dem andern zum Gense- oder Pferdehüten noch zeitlich genugsam kommen mögen."
Unter dem Einflüsse der Schriften des Ratichius und Comenius
(1592 — 1670) entstand in dem Herzog Ernst von Gotha der Wunsch,
26 ^'olksschul Wesen.
trotz der Wirrnisse des 30jährigen Krieges seinem Volke durch die
Verbesserung der Schulen zu helfen. In seinem Auftrage verfaßte
der Rektor des Gymnasii illustris, D. Andreas Reyher (|()01 — 1673)
im Jahre 1642 den ,,Spezial und sonderbahren Bericht, wie nechst gött-
licher Verleyhung die Knaben und Mägdlein auff den Dorfschaften
und in den Städten die unter dem untersten Haufen der Jugend be-
griffene Kinder im Fürstentum Gotha kurz und nützlich unterrichtet
werden sollen", jene berühmte Volksschulordnung, welche unter dem
Namen Gothaischer Schulmethodus der deutschen Schulgesetzgebung
in der Folge lange als Vorbild gedient hat. T3iese ihrer Zeit weit
vorauseilende Schulordnung ist im Laufe der Jahre verschiedentlich
umgearbeitet und neu herausgegeben worden. Sie zerfällt nach der
Ausgabe von 1 662 in folgende 1 3 Kapitel :
Das I. Kapitel handelt von dem, was insgemein bei der Schule in acht zu nehmen
ist und erfordert wird. Es setzt den Beginn der Schulpflicht für alle Kinder ohne Un-
terschied des Geschlechts auf das 5. Lebensjahr fest und verlangt den Schulbesuch gleich-
mäßig im Sommer und Winter, „bis sie dasjenige, was ihnen zu wissen nötig ist, und
nachgehens in diesem Bericht stückweise erzählet ist, gelernt haben". Es schreibt die
Trennung der Geschlechter vor und beschränkt die Ferien im wesentlichen auf die Ernte-
zeit (in Städten 4, auf Dörfern 6 Wochen). Es nennt die vorgeschriebenen Lernbücher:
A-B-C-Täfelein, Syllabenbüchlein, Teutsches Lese-Büchlein, Evangelien-Büchlein, Psalmen,
so in der Schule zu lernen neben etlichen (rebeten, (iesang-Büchlein, Musica, Rechen-
Büchlein „und was sonsten mehr verordnet ist". Das Dreiklassensystem wird angeordnet
und bestimmte Jahrespensen vorgeschrieben.
Das IL Kapitel fixiert den Lehiplan der untersten Klasse, das III. den der mitt-
leren, das I\'. den der oberen Klasse. Das \'. Kapitel setzt die Stundenzahl fest : Mitt-
wuchs und Sonnabends .sollen täglich 3 Stunden sein, sonst täglich 6 einschließlich der
Predigtstunde, wenn sie in die Schulstunden fällt. Eine Verminderung dieser Zahl be-
darf der (renehmigung des Konsistoriums. Das VI. Kapitel handelt von der Schulzucht
und dem Betragen der Kinder in der Schule und außerhalb derselben, das VII. „von der
Schuldiener Amt". Der Lehrer soll sich der Schimpfsvorte enthalten und bei körperlichen
Züchtigungen nicht mit Stecken, Büchern, Schlüsseln oder Fäusten dreinschlagen, die
Kinder raufen, stoßen oder treten. Seine Strafen sollen mit einer Rute erfolgen und so
ausgeführt werden, daß die Kinder dabei väterliche Liebe verspüren. F> soll den Unter-
richt ohne triftigen Grund nicht versäumen, sich auf seine Lektionen, besonders auf den
Katechismus vorbereiten, die Schulversäumnis der Kinder täglich notieren. Entschuldigtes
und unentschuldigtes F"ehlen ist besonders zu vermerken, damit die säumigen Eltern zur
Rechenschaft gezogen werden können. Er soll über die Ausrüstung der Kinder mit
Lehrmitteln wachen und dergl. mehr. Das VIII. Kapitel handelt von dem Amt der
Eltern und ihrer Stellvertreter und bezieht sich hauptsächlich auf die Erfüllung der Schul-
]irticht, die Erstattung des Schulgeldes und den Verkehr der Eltern mit dem Lehrer.
Das IX. Kapitel handelt vom Amt und der Aufsicht der Pfarrer, von ihrer Pflicht, den
Schulbesuch zu kontrollieren, das \'erzeichnis aller schulpflichtigen Kinder vom 5. bis zum
14. Jahre zu führen, das Schulinventar zu beaufsichtigen, über vorzeitige Dispensation der
Kinder vom Schulbesuch zu entscheiden. Das X. Kapitel handelt von der Obacht welt-
licher Herren, soweit ihnen die Schulinspektion mit aufgetragen ist, das XI. Kapitel vom
Amt und Oberaufsicht der Superintendenten und Adjunkten, über ihre regelmäßigen und
außerordentlichen Schulrevisionen und über ihre an das Konsistorium zu erstattenden Be-
Zur Geschichte der deutschen Volksschule. 27
richte, das XII. Kapitel von der Verrichtung der geistlichen L'iitergerichte, der Diszipli-
narinstanz der Lehrer, welche befugt war, dieselben mit Vorenthaltung der Besoldung
zu bestrafen bezw. ihre Dienstentlassung bei dem Konsistorium zu beantragen. Auch die
Mängel hinsichtlich der Schulgebäude und der Lehrerbesoldung sollte diese Behörde ab-
stellen und ungehorsame Eltern in Strafe nehmen. Das letzte Kapitel behandelt die all-
jährlich vorzunehmenden Schul- und Entlassungsprüfungen.
Die Unterrichtsgegenstände, welche in diesem Methodus aufgeführt werden, sind
Religion, Kirchengesang, Lesen, Rechnen und Realien. Es soll kein Kind aus der Schule
entlassen werden, das nicht fertig deutsch lesen kann, den Katechismus Luthers vollständig
beherrscht und versteht, eine ziemliche Handschrift schreibt und etwas Arithmetik und
Musik gelernt hat. Im deutschen L'nterricht soll in der obersten Klasse nicht nur die
P'ertigkeit im Lesen der Druckschrift geübt werden, sondern es .sollen auch Abschnitte
im Schreibheft, zuerst in leserlicher, dann in weniger leserlicher Schrift, den Kindern
vorgelegt werden. Wo die Lehrkräfte dazu befähigt sind, soll auch ein Unterricht über
natürliche Dinge (Realien) gegeben werden, d. h. z. B. über das Zeitmaß nach Sand- oder
Sonnenuhr, über den Auf- und Untergang der Gestirne, die Himmelsgegenden, Pflanzen,
Tiere, über weltliche und geistliche Sachen, über Staatseinrichtungen, Geschäfte und allerlei
(Gebiete der Heimatskunde mid der Physik.
Cbei" die Durchführung aller dieser ihrer Zeit vorau-seilenden
Anordnungen wachte Herzog Ernst mit Sorgfalt. Er unterstützte
mit wahrer landesväterlicher Güte die Gemeinden beim Bau der
Schulhäuser, sorgte für ein auskömmliches Gehalt der Lehrer und
gewährte auch ihren Hinterbliebenen Unterstützungen.
Gingen in dieser Weise protestantische Fürsten in der Förderung
des Volksunterrichts mit vollem Verständnis für die Bedürfnisse ihres
Landes und die Forderungen der Zeit vor, so blieb auch in katholischen
Landen das Schulwesen nicht völlig zurück, und es ist das besondere
Verdienst der Patres piarum scholarum, der Piaristen, sich im I 7. Jahr-
hundert der Sache der Volksschule angenommen zu haben. Die
Gegenstände des von ihnen erteilten Unterrichts waren im allgemeinen
dieselben, welche auch in protestantischen Ländern in der deutschen
Schule gelehrt wurden.
In dieser Zeit der schweren Not und der physischen Erschöpfung
unseres Vaterlandes begann, wie wir gesehen haben, der Gedanke
der allgemeinen Schulpflicht bei den Fürsten und Regierungen Wurzel
zu fassen und sich einzubürgern. Im Volke selbst fehlte die Einsicht
von der Notwendigkeit und dem Segen dieser Einrichtung vorläufig
noch gänzlich.
4. Das pädagogische Jahrhundert.
(Die Zeit des Pietismus und des Philanthropismus.. i
Der Pietismus knüpft sich an die Namen Spener und Franckc.
Die Bedeutung dieser religiösen Richtung für die Wiederbelebung
28 Volksschulwesen.
einer tieferen, innerlicheren Auffassung des Christentums kann hier na-
türlich nicht ausreichend gewürdigt werden. Einen mittelbaren Ein-
fluß auf die Organisation der deutschen Volksschule gewann Philipp
Jakob Spener (1635—1705) dadurch, daß er mit Erfolg für die all-
gemeine Durchführung bezw. Wiedereinführung der Konfirmation in
protestantischen Ländern eintrat. Diese Einrichtung setzte dem reli-
giösen Schulunterricht ein gewisses erkennbares Ziel, die Mündig-
werdung des jungen protestantischen Christen, und dieses Ziel ließ
sich nicht wohl vor dem 14. Jahre erreichen. So trug denn die Sitte
der Konfirmation viel dazu bei, daß in protestantischen Landen das
14. Jahr als der natürliche Abschluß der Schulpflicht angesehen wurde.
August Hermann Francke (1663 — 1727) erhielt seine Erziehung
auf dem Gymnasium zu Gotha und steht auf diese Weise unter dem
Einfluß des gothaischen Schulwesens. Er schuf 1 695 in seiner Armen-
schule in Halle den Keim zu dem Waisenhause, dem Pädagogium und
all den großartigen, für die Schulgeschichte so hoch bedeutsamen
Unterrichtsanstalten, welche noch heute in Halle bestehen. Seine
Armenschule und sein Waisenhaus haben im 18. Jahrhundert den
nachhaltigsten PLinfluß auf Deutschland und selbst auf das Ausland
ausgeübt. Francke darf wohl mit Recht als der Begründer dieser
beiden Arten von Fürsorgeanstalten für die bedürftige Jugend ange-
sehen werden, und wenn auch die Armenschule in unseren Tagen
mit Recht als eine glücklicherweise überwundene P'^rscheinung ange-
sehen wird, so darf doch nicht vergessen werden, daß Francke das
Verdienst zukommt, sich in vorbildlicher Fürsorge zuerst der ärmsten
Kinder angenommen und ihnen Erziehung an Stelle eines flüchtigen
Almosens geboten zu haben. Vielleicht noch größer ist Franckes
Verdienst auf einem anderen Gebiete, dem der Lehrerausbildung.
Sein Lehrerseminar wurde das Vorbild vieler anderer ähnlicher An-
stalten, welche der Volksschule im 18. Jahrhundert eine Fülle von
brauchbaren Lehrkräften lieferten. Johann Julius Hecker (1707 bis
1768), welcher als Student längere Zeit an dem Franckeschen Päda-
gogium unterrichtet hatte, wurde durch sein im Jahre 1748 in Berlin
begründetes und im Jahre 1753 zu einem königlichen histitut er-
hobenes und von Friedrich dem Großen gefördertes Küster- und
Schulmeisterseminar der Schöpfer eines Instituts, welches in ganz
Deutschland Nachahmung fand. Ähnliche Seminare wurden im Laufe
weniger Jahrzehnte in Hannover, Wolfenbüttel, in der Grafschaft Glatz,
in Breslau und Karlsruhe eröffnet. Auch der katholische Abt h'el-
bicfer hatte, angeregt durch die Bestrebungen Heckers, (1762) in Sagan
Zur CJescliiclite der (Icut.schen \()lksschiile. 29
eine verbesserte Schule gcL^ründet, und diese verbesserte Methode
wurde dann der Einrichtung des katholischen Lehrerseminars zu
Breslau (1765) zugrunde gelegt. Das 1703 von Friedrich dem Großen
erlassene General-Land-Schulreglement, das erste Volksschulgesetz,
welches das Gebiet des ganzen preußischen Staates umfaßt und die
Grundlage der noch heute bestehenden Ordnung der preußischen
"Volksschule bildet, ist im Auftrage des Königs von Hecker ausge-
arbeitet worden.
Auch in den übrigen deutschen Landen lassen sich, wie ,,in der
Instruktion und Verordnung vor die deutschen Schulen auf dem Lande
in dem Fürstentum Eisenach" von 1705 und in der ,, erneuten Ordnung
für die deutschen Schulen" in Württemberg von 1 729, die Einflüsse
des Pietismus auf das Volksschulwesen deutlich nachweisen.
Der Philanthropismus steht in innerer Beziehung zu der englischen
und französischen Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts und
trägt die charakteristischen Züge des Rationalismus und Utilitarismus
deutlich an sich. Die Erziehung verfolgt das Ziel, den Menschen
durch Aufklärung über die Dinge dieser Welt zur Erkenntnis seines
wohlverstandenen Vorteils, zur Erfüllung seiner Pflichten gegen seinen
Nächsten, zur Glückseligkeit zu führen. Der Staat und die Regierungen
haben das lebhafte Interesse, die Untertanen von Vorurteilen und
Aberglauben zu befreien, sie zu verständigen und denkenden Menschen
heranzubilden. Nur auf diesem Wege kann eine dauernde Wohlfahrt
der Gesamtheit erreicht werden. Die Lösung dieser Aufgabe stellte
man sich damals verhältnismäßig leicht vor und gab sich hochfliegenden
optimistischen Erwartungen auf die baldige Erreichung dieser Ziele
hin. Die wichtigsten pädagogischen Vertreter des Philanthropismus
standen, mit Ausnahme von Basedow, auf dem Boden des Christen-
tums, aber ihr christliches Denken wandte sich vorzugsweise den
Fragen der praktischen Moral zu. Welche Gesichtspunkte für diese
Männer maßgebend waren, erkennen wir am besten aus der
charakteristischen Äußerung, welche der Herr von Rochow seiner
Geschichte der von ihm begründeten Schulen in Reckan und anderen
Orten vorausschickt. Er sagt:
„Als in den Jahren 1771 und 1772 sehr nasse Sommer einfielen, viel Heu und
Getraide verdarb, Theui-ung entstand, auch lödtliche Krankheiten unter Menschen und
\'ieh wütheten, da that ich nach meiner Obrigkeitspflicht mein mögliches, den Landleuten
auf alle Weise mit Rath und That beyzustehen. Ich nahm einen ordentlichen Arzt für
die Einwohner auf meinen Gütern an, der unentgeltlich von ihrer Seite sie, gegen ein
jährliches Gehalt von mir, mit freyer Medizin versehen und heilen sollte. Sie erhielten
schriftliche Anweisungen und mündlichen Rath, wie durch allerley N'orkehrungen und
30 Volksschulwesen.
Mittel (vvohey sie freilich auch ihrer Seits thatiir sevn mußten) dem Fortgang der Epidemie
/.u steuern sey. Aber l)öse XOrurtheile, \ erwühnung und Aberglauben, nebsl gänzlicher
L'nwissenheit an Lesen und Schreiben, machten fast alle meine guten Absichten fruchtlos.
Sie empHengen zwar die Mittel, die ich bezahlte, nahmen sie aber nicht ein, und
^cheuten sogar die Mühe, dem nur eine kleine Meile in Brandenburg entfernt wohnenden
Arzte von dem jedesmaligen Zustande der Patienten etc. Nachricht zu geben.
Die einfachsten N'orkehrungen und Reinigungsanstalten, die ich ihnen mündlich
und schriftlich empfohl, waren ilmen theils zu müh.sam, theils hatten sie solche vergessen,
und das Schriftliche konnten sie nicht le.sen.
Dagegen brauchten sie heimlich die verkehrtesten Mittel, liefen zu (Jiuacksalbern,
Wunderdoktoren, sogenannten klugen Frauen, Schäfern und Abdeckern, bezahlten dorl
reichlich, und starben häufig dahin.
In tiefer Demuth möchte ich an diesem kundbaren Beyspiel denen Kegenten und
Landesvätern der ^'ölker den hohen und unschätzbaren Werth der .Vufklärung durch
bessere Schulen hier nochmals an das Herz legen I
Schon bloß von Seiten der Finanz betrachtet, die durch Entvölkerung der liinder
verliert und bei Wohlstand und F^rhaltung nützlicher Individuen gewinnt, fallen alle
Einwürfe der Aufklärungsfeinde dahin. ()der gehört etwa nicht zu jedem Thun und
Lassen und Gewerbe Nachdenken und X'ordenken, damit es gelinge? Der Dumme denkt
aber nicht gehörig weder nach noch vor, weiß sich nicht zu helfen, kann guten Ralh
nicht würdigen, und wird eben darum ein Opfer der Ereignisse.
In bittern (iram versenkt über diese schrecklichen P'olgen der Dummheit und
Unwissenheit, saß ich einstmals (es war am 14. Februar 1772) an meinem Schreibtische,
und zeichnete einen Löwen, der in einem Netze verwickelt da liegt. — „So, dacht ich,
liegt auch die edle kräftige Gottesgabe, Vernunft, die doch jeder Mensch hat, in ein
Ciewebe von Vorurtheilen und L'nsinn dermaßen verstrickt, daß sie ihre Kraft so wenig,
wie hier der Löwe die seinige, brauchen kann. Ach wenn doch eine Maus wäre, die
einige Ma.schen dieses Netzes zei-nagte, vielleicht würde dann dieser Löwe seine Kraft
äußern und sich los machen können!"
Und nun zeichnete ich gleichfalls, als Gedankenspiel, auch die Maus hin, die schon
einige Maschen des Netzes, worin der Löwe verwickelt liegt, zernagt hat.
Wie ein Blitzstrahl fuhr mir der Gedanke durch die Seele:
„Wie, wenn du diese Maus würdest?"
Und nun enthüllte sich mir die ganze Kette von Ursachen und Wirkungen, warum
der Landmann so sey als er ist: Er wächst auf, als ein Thier unter Thieren. Sein
Unterricht kann nichts Gutes wirken. Der gröbste Mechanismus herrscht in seinen Schulen.
Sein Prediger spricht hoch- und er plattdeutsch. Beide verstehen sich nicht. Die Predigt
ist eine zusammenhängende Rede, die er wie zur Frohne hört, weil sie ihn ermüdet, indem
er, an Aufmerken und Periodenbau nicht gewöhnt, ihr nicht folgen kann, ja selbst wenn
sie gut ist, (und wie oft ist .sie das?) das Bündige derselben bey ihm nicht Überzeugung
wirkt. Niemand bemüht sich, die Seelen seiner Jugend zu veredlen. Ihre Lehrer sind
gewöhnlich, wie Christus es nennt, blinde Leiter, und so leidet denn der Staat bey diesem
Zustande der Sachen (nach welchem sein Flor sich in einem beständigen Kriege gegen
die verheerende und zerstörende Dummheit befindet) mehr X'erlust als in der blutigsten
Schlacht.
„Gottl dachte ich, muß denn das so seyn? Kann der Landmann, diese eigentliche
Stärke des Staats-Körpers, nicht auch verhältnißmäßig gebildet, und zu allem guten Werk
geschickt gemacht werden? \Me viel tüchtige Menschen hätte z. ß. ich in diesen Jahren
nicht meinem Vaterlande gerettet, die jetzt ein Raub ihrer entsetzlichen Stupidität ge-
worden sind! Jal ich will die Maus seyn. Gott helfe mirl"
Zur {leschichte der deutschen N'olkssduile. ^\
Der l^egründcr der ganzen philanthropischen Richtung, welcher
ihr auch den Namen gegeben hat, Johann Bernhard Basedow
n 723 — \T)()i, schuf in seiner, mit Unterstützung des Fürsten Leopold
Franz Friedrich \'on Anhalt-Dessau im Jahre 1774 begründeten
iM'ziehungsanstalt Philanthropin, d. h. einer ,, Werkstätte der Menschen-
freundschaft", eine Musteranstalt, an welcher später auch die beiden
anderen Führer dieser Richtung, Campe und Salzmann, vorübergehend
tätig gewesen sind.
Wenn auch diese Anstalt vorzugsweise für die Erziehung der
Kinder höherer Stände bestimmt war und nicht eigentlich der
Volksschulbildung diente, so verbreitete sie doch die Keime gesunder
pädagogischer Anschauungen im deutschen Volke, welche schließlich
auch der Volksschule zugute kommen mußten. Die vielfachen An-
regungen, welche er von J. J. Rousseau empfangen hat, sind in seinen
Schriften ebenso wie in den Einrichtungen seiner Schule deutlich zu
erkennen. Der Abhärtung und Kräftigung des Körpers durch Turnen,
Baden, weite Spaziergänge, Handwerks- und Feldarbeit wurde große
Sorgfalt zugewendet. Die Disziplin war milde, dafür suchte der
Unterricht durch neue verbesserte Methoden das lebendige Interesse
der Schüler und die Begeisterung der Lehrer zu erwecken. Der
Hauptzweck der Erziehung sollte sein : „die Kinder zu einem gemein-
nützigen, patriotischen und glückseligen Leben vorzubereiten. Ein
ansehnlicher Stand hingegen, ein reichliches Auskommen, Gelehr-
samkeit, Kunstfertigkeit und ein angenehmes äußerliches Wesen sind
V^orteile, welche man seinen Kindern auf solche Art verschaffen darf,
daß dem Hauptzwecke nicht geschadet werde." Wenn auch Basedow
als Charakter keine vorbildliche Persönlichkeit war und durch über-
triebene Reklame sowie mancherlei Absonderlichkeiten der W^irkung
seiner Ideen schadete, wenn auch das von ihm begründete Philan-
thropin sich trotz der Mitwirkung vieler tüchtiger Pädagogen nur bis
zum Jahre 1 19'A halten konnte, so hat er doch in dieser F.rziehungs-
an.stalt ein Werk geschaffen, welches zahlreichen ähnlichen Schulen
zum Vorbild gedient hat, und dessen Ideen noch heute Lebenskraft
besitzen, wie die in jüngster Zeit neu gegründeten Land-Erziehungs-
heime in Ilsenburg, Haubinda, Schloß Glarisegg am Bodensee be-
weisen.
Johann Heinrich Campe (1746 — 1818), der Erzieher der Brüder
Wilhelm und Alexander von Humboldt, wirkte eine kurze Zeit als
P^dukationsrat, Lehrer und Leiter an dem Basedowschen Philanthropin
und führte die Richtung des Philanthropismus in die Jugendliteratur
32 Volksschulwesen.
ein. Sein berühmte.ste.s Werk auf diesem Gebiete ist seine noch heute
in Deutschland viel gelesene Bearbeitung des Defoeschen Robinson
Crusoe (Robinson der Jüngere 1779). Das Buch erlebte 1894 bereits
die 1 l(). Auflage, und schon wenige Jahre nach seinem Erscheinen
konnte Campe sich rühmen, daß es in alle europäischen Sprachen
übersetzt sei. Allerdings gewinnt die Erzählung der Abenteuer
Robinsons nach dem heutigen Geschmack nicht durch die ein-
geschobenen wissenschaftlichen und moralischen Exkurse.
Der vorzüglichste Schriftsteller der philanthropischen Richtung
war Chri.stian Gotthilf Salzmann (1744 — 1811), ein Mann, dessen
Werke zum grollen Teile nicht nur der Pädagoge, sondern auch der
Laie, sofern er für Kindererziehung überhaupt Interesse besitzt, nicht
ohne Nutzen und Vergnügen lesen wird. j\uch er war eine Zeitlang
als Religionslehrer und Liturg an der Basedowschen Anstalt tätig,
begründete aber später (1784) auf dem Gute Schnepfenthal, nicht
weit von Gotha, eine eigene Erziehungsanstalt, welche er im philan-
thropischen Sinne, doch mit Vermeidung der zahlreichen Über-
treibungen des Dessauer Philanthropins, bis zu seinem Tode leitete.
Diese Anstalt hat den Wechsel der Zeiten überdauert und
besteht noch heute. Das Ziel, welches Salzmann bei der Begründung
der Schnepfenthaler Schule vorschwebte, war, wie er es in der Schrift
„Noch etwas über Erziehung" ausspricht, gesunde, verständige, gute
und frohe Menschen zu bilden, sie dadurch in sich selbst glücklich
zu machen und zu befähigen, zur Förderung des Wohles ihrer Mit-
menschen kräftig mitzuwirken. Wie er sich die Aufgabe des Erziehers
vorstellt, geht aus den Worten hervor, in denen er sich in dem
„Ameisenbüchlein" an den Erzieher selbst wendet. Es heiik da:
,,An Hermann! So nenne ich dich, lieber, junger Mann, der
du in deiner Brust ein Streben fühlst, durch Tätigkeit für Menschen-
wohl dich in der Welt auszuzeichnen.
Gib mir die Hand! wenn du nicht vorzügliche Talente und
entschiedene Neigung zu einem anderen Geschäfte in dir fühlst, —
so widme dich der Erziehung!
Diese schafft dir Gelegenheit, für Menschen wohl recht tätig zu
sein. Wer Moräste austrocknet, Heerstraßen anlegt, Tausenden
Gelegenheit gibt, sich ihre Bedürfnisse zu verschaffen, Gärten
pflanzt, Krankenhäuser stiftet, wirkt auch für Menschenwohl, aber
nicht so unmittelbar und durchgreifend als der Erzieher. Jener ver-
bessert den Zustand der Menschen, dieser veredelt den Menschen
selbst. Und ist der Mensch erst veredelt, so geht aus ihm die Ver-
7.ur (lescliichtc <lor deutschen Volksschule. 33
besserung von selbst hervor, und der Zögling, dessen Veredelung dir
gelungen ist, hat Anlage, auf dem Platze, wohin ihn die Vorsehung
stellt, den Zustand von Tausenden seiner Brüder angenehmer und
behaglicher zu machen."
Der größte Pädagoge dieser Zeit gehört zwar seiner Geburt
und dem größten Teile seines Lebens nach dem 115. Jahrhundert an,
reicht aber mit seinem unmittelbaren und mittelbaren P^influß bis tief
in das PJ. Jahrhundert, ja bis in die Gegenwart hinein. Die Be-
deutung des Schweizers Johann Heinrich Pestalozzi (1746 — 1827) für
die Volksschule kann hier nicht entsprechend gewürdigt werden. Er
hat durch seine Erziehungsanstalten in Neuhof, Stanz, Burgdorf und
Iferten, sowie durch seine Schriften und seinen persönlichen Verkehr
mit zahllosen Lehrern, Menschenfreunden und Staatsmännern den
nachhaltigsten Einfluß auf die Entwicklung der Pädagogik in allen
Kulturländern ausgeübt. Sein Ideal war die Ausbildung des ganzen
Menschen und sein Weg zu diesem Ziele die Liebe zu den Kindern.
Sein Leben war reich an Not, Sorge und Mißerfolgen, aber er
hat die hohe Befriedigung genossen, daß er in seinem .\lter wie selten
ein Pädagoge Anerkennung und Bewunderung von aller Welt er-
fahren hat. Sein Schloß in Iferten am Neuchateller See wurde der
Mittelpunkt der pädagogischen Interessen von ganz P^uropa, und er
wurde nicht müde, Rat und Belehrung all den unzähligen Besuchern
zu spenden, welche bei ihm zusammenströmten, um ihn persönlich
kennen zu lernen und die Wunder seiner Methode zu schauen.
Als nach der Schlacht bei Jena in der Zeit der tiefsten
Demütigung Preußens durch Napoleon I. König Friedrich Wilhelm III.
und seine Räte an der W'iedergeburt der Monarchie arbeiteten, wußte
man keinen besseren Rat, um die sittliche Kraft des Volkes neu zu
beleben, als daß man junge Gelehrte zu Pestalozzi sendete, damit sie
seine Methoden in das preußische Schulwesen einführten. Der
Minister von Altenstein schrieb damals am II. September 1808 an
Pestalozzi :
,,Die jungen Männer sollen den Geist Ihrer ganzen Erziehungs-
und Lehrart unmittelbar an der reinsten Quelle schöpfen, nicht bloß
einzelne Teile davon kennen lernen, sondern alle in ihrer wechsel-
seitigen Beziehung und ihrem tiefsten Zusammenhange auffassen, unter
Anleitung ihres ehrwürdigen Urhebers und seiner achtung-swerten
Gehilfen sie üben lernen, im Umgange mit Ihnen nicht ihren Gei.st
allein, sondern auch ihr Herz zum vollkommenen Erziehung.sberufe
ausbilden und von demselben lebendigen Gefühle der Heiligkeit dieses
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. "^
34 Volksschulwesen.
Berufes und demselben feurigen Triebe erfüllt werden, von welchem
beseelt Sie Ihr ganzes Leben ihm widmen."
Pestalozzi blieb sich trotz dieser vielfachen Ehrungen und Aus-
zeichnungen wohl bewußt, daß die Frage der Jugenderziehung durch
ihn noch nicht gelöst sei. Aber er war auch überzeugt, daß spätere
Generationen auf seinem Werke weiterbauen würden. Er sagt in
seinem Schwanengesang am Schluß: „Prüfet alles, behaltet das Gute,
und wenn etwas Besseres in euch selber gereift, so setzet es zu dem,
was ich euch in diesen Bogen in Wahrheit und Liebe zu geben ver-
suchte, in Wahrheit und Liebe hinzu, und werfet wenigstens das
Ganze meiner Lebensbestrebungen nicht als einen Gegenstand weg,
der, schon abgetan, keiner weiteren Prüfung bedürfe. — Er ist wahr-
lich noch nicht abgetan und bedarf einer ernsten Prüfung ganz sicher,
und zwar nicht um meiner und um meiner Bitte willen."
Seine Schüler und seine Werke trugen seine Ideen weiter, und
wenn auch die bedeutenden deutschen Schulmänner des 19. Jahr-
hunderts, Dinter, Harnisch, Fröbel, Diesterweg und andere mehr, nicht
unentwegt auf seinem Standpunkte stehen bleiben konnten, so
schritten sie doch auf der von ihm eingeschlagenen Bahn rüstig weiter,
zum Segen der deutschen Jugend und zum Vorteil des Vaterlandes.
Das 19. Jahrhundert kann sich in Deutschland an großen
Pädagogen mit dem 1 8. nicht messen, aber es hat Bedeutendes darin
geleistet, die Ideen der großen Jugenderzieher zu verwirklichen. Was
jenen als Hoffnungen und Wünsche vorschwebte: die sorgfältige
Ausbildung eines tüchtigen Lehrerstandes, die Durchführung der
Schulpflicht für sämtliche Kinder, von der Großstadt bis zu den ent-
ferntesten Gebirgsdörfern, die Versorgung des ganzen Landes mit
zweckentsprechenden Schulhäusern, eine sachkundige Schulaufsicht,
gesetzliche Regelung der Lehrergehälter und Fürsorge für ihre Hinter-
bliebenen — das alles ist im Laufe des 19. Jahrhunderts WirkHchkeit
geworden. Überdies hat sich die Methode des Unterrichts wie seine
belehrenden und erziehlichen Erfolge in hohem Maße vervollkommnet.
Die Gesamtbildung der Bevölkerung sowie das Interesse für die
Schulen in allen Stufen der Gesellschaft ist beständig im Zunehmen.
Um die methodischen Erfolge der Pädagogik im Laufe des
letzten Jahrhunderts an einer drastischen Tatsache zu erläutern, kann
man darauf hinweisen, daß die Unterrichtsziele, welche seinerzeit dem
Freiherrn von Rochow für seine Schulen als Ideal vorschwebten,
heutzutage von allen besseren deutschen Hilfsschulen für schwach-
sinnige Kinder tatsächlich erreicht oder überflügelt werden.
Zur Geschichte der deutschen Volk.sscliule. 35
5. Die Begründung der preußischen Volksschule.
Seit dem Beginn des 11'.. Jahrhunderts gewann das Volksschul-
wesen in den meisten deutschen Staaten feste . Gestalt. Auch die
katholischen Länder standen den protestantischen gegenüber nicht
mehr zurück, auch sie erhielten ihre Schulordnungen, und auch bei
ihnen spielte die Verteidigung des rechten Glaubens wie in den
protestantischen Kirchenordnungen die wichtigste Rolle. Wir dürfen
uns (trotz der verheerenden Wirkungen des 30jährigen Krieges; die
Zahl der Volksschulen um 1700 in allen deutschen Landen größer
vorstellen als 100 Jahre zuvor.
Wie sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte aus den ver-
schiedenen Schulgesetzen und Schuleinrichtungen in den zahlreichen
weltlichen und geistlichen Fürstentümern, freien Städten und Herr-
schaften das heutige Volksschulwesen der deutschen Bundesstaaten
entwickelt hat, das zu verfolgen, würde weit über den dieser Ab-
handlung gesteckten Rahmen hinausgehen. Die großen pädagogischen
Strömungen dieser Zeit, der Pietismus, der Philanthropismus und die
Ideenwelt Pestalozzis, gingen nicht ohne Einwirkungen auf das Schul-
wesen der einzelnen Staaten vorüber. Besonders stark prägte sich die
Herrschaft des Philanthropismus in den gesamten Schuleinrichtungen
der deutschredenden Länder aus. Selbst die katholischen Territorien
des Reiches wurden von dem philanthropischen Geiste stark ergriffen.
Die Kaiserin Maria Theresia und Joseph II. wandten der Reform
der Volksschulen in diesem Sinne allen Eifer zu. Der bereits er-
wähnte Abt Felbiger wurde 1774 nach Wien berufen und veranlaßte
dort den Erlaß der allgemeinen Schulordnung, welche das Land mit
einem Netze von Pfarrschulen, Hauptschulen und Normalschulen be-
decken sollte. Geldmittel wurden für die Förderung dieses Werkes
zur Verfügung gestellt, für die Ausbildung der Lehrer wurde gesorgt
und strenge Maßnahmen zur Erfüllung der Schulpflicht angeordnet.
Auch in Bayern wurde die Reform des Schulwesens durch den Bene-
diktiner Dr. Heinrich Braun in Angriff genommen. Die bayerischen
Schulordnungen vom Jahre 1770 für die deutschen oder Trivial-
schulen und von 1778 für die Stadt- und Landschulen sind ganz von
philanthropischem Geiste durchdrungen. Eben dieselbe Richtung ver-
folgten der Fürstabt Benedikt Martin in seiner Instruktion für die
katholischen Schulmeister des reichsfreien Stiftes Neresheim, der
Bischof Heinrich von Bibra im Stifte Fulda, der Fürsterzbischof Hie-
ronimus von Coloredo in Salzburg, der Fürstbischof Adam Friedrich
3'=
36 Volksschulwesen.
von Seinsheim in Würzburg, die Kurerz- und Bischöfe Erzherzöge
Maximilian Friedrich und Maximilian Ernst von Cöln und Münster.
Trotz aller dieser reformatorischen Bestrebungen dürfen wir
uns die tatsächlichen Verhältnisse der Volksschule keineswegs als zu
günstig vorstellen. An der Wende des Jahrhunderts im Jahre 1 79<)
richtet der angesehene Pädagoge August Hermann Niemeyer ( 1 7v^4
bis 1828) folgende Worte an den König Friedrich Wilhelm III. von
Preußen :
,,Die preußische Monarchie hat schon lange, auch von selten
der öffentlichen Erziehung, die Achtung des Auslandes verdient und
genossen. i\ber noch ist viel Verdienst übrig. Noch erliegen un-
zählige Schullehrer dem Drucke der Armut. Noch verzehren tätige
junge Männer ihre besten Kräfte, fern vom häuslichen Glück, in
Schulstellen ohne Aussicht auf Beförderung. Noch gehen Tausende
von Kindern in der Irre, und niemand erzieht und unterrichtet sie. —
Der Zeitpunkt scheint gekommen zu sein, wo oft entworfene Pläne
zur allgemeinen Verbesserung der Ausführung ganz nahe sind.
Schöner kann sich ein an sich schon pädagogisches Jahrhundert nicht
endigen, segenvoller ein neues nicht anfangen, als mit der Vollendung
eines Werks, das schon so lange vorbereitet ist."
Auch in dem größten deutschen Staate, in Preußen, haben die
Hauptrichtungen der Pädagogik ihren Einfluß auf das Schulwesen
ausgeübt. Freilich waren die Könige Friedrich Wilhelm I. und
Friedrich II. zu selbständige Naturen, als daß sie sich bei ihren gesetz-
geberischen Maßnahmen durch bloße pädagogische Theorien hätten
bestimmen lassen, aber die ganze Geistesrichtung des Philosophen
von Sanssouci harmonierte so vollkommen mit den Anschauungen
und Bestrebungen des Philanthropismus, daß wir den Geist dieser
Richtung deutlich in dem General-Land-Schulreglement und später
in dem preußischen Landrecht wiedererkennen. Die folgende Dar-
-stellung der P^ntwicklung des preußischen Volksschulwesens seit dem
Beginn des 18. Jahrhunderts ist bis auf geringe Kürzungen und Zu-
sätze dem amtlichen Ouellenwerk der Preußischen Statistik über das
gesamte niedere Schulwesen im preußischen Staate vom Jahre 18%
Teil I S. ,'^l ff. entnommen.
„Schon in seinem ersten Regierungsjahre erlieft König Friedrich
Wilhelm I. am 24. Oktober 1713 ,,die Königlich Preußische Evan-
gelisch-Reformierte Inspektions-Presbyterial-Classikal-Gymnasien- und
Schulordnung", welche für die gesamte Monarchie mit Ausnahme des
Herzogtums Kleve sowie der Grafschaft Mark und Ravensberg gelten
Z-ur rieschichte der deulsclien X'olksscliule. 37
sollte, das erste, wenn auch noch recht unvollkoniniene ])reußische
Schulgesetz.
Am 28. September 1717 folgte mit der ,, Verordnung, daß die
Kitern ihre Kinder zur Schule und die Prediger die Catechisationes
halten sollten", die bestimmte Einführung der allgemeinen Schul-
pflicht.
,,\Vir vernehmen mißfällig, und wird verschiedentlich von den
Inspektoren und Predigern bei Uns geklagt, daß die Eltern, ab-
sonderlich auf dem Lande, in Schickung ihrer Kinder zur Schule sich
sehr säumig erzeigen und dadurch die arme Jugend in großer Un-
wissenheit, sowohl was das lesen, schreiben und rechnen betrifft, als
auch in denen zu ihrem Heyl und Seligkeit dienenden höchstnöthigen
Stücken aufwachsen lassen. Weshalb Wir, umb diesem höchst ver-
derblichem Uebel auff ein mahl abzuhelffen, in Gnaden resolviret,
dieses Unser General-Edict ergehen zu lassen und darum AUer-
gnädigst und ernstlich zu verordnen, daß hinkünfftig an denen Orten,
wo Schulen seyn, die Poltern bei nachdrücklicher Straffe gehalten sein
sollen, Ihre Kinder gegen Zwey Dreyer Wöchentliches Schul-Geld
von einem jeden Kinde im Winter täglich und im Sommer, wenn die
Eltern die Kinder bey ihrer Wirthschaft benöthiget seyn, zum
wenigsten ein oder zweymahl die Woche, damit sie da.sjenige, was
im Winter erlernet worden, nicht gänzlich vergessen mögen, in die
Schule zu schicken "
Damit war allerdings nur die eine Seite der allgemeinen Schul-
pflicht geordnet, die Verbindlichkeit der Eltern, ihre Kinder den
vorhandenen Schulen zuzuführen; noch galt es, auch dafür zu sorgen,
daß überall Schulen bereit stünden, also diejenigen zu bezeichnen,
denen es obläge, die erforderlichen Schulen in das Leben zu rufen
und zu erhalten. Auch dies ließ sich der König angelegen sein;
doch erließ er nach dieser Richtung keine allgemeinen Edikte, sondern
ordnete die Sache nach Provinzen. Am erschöpfendsten und am
klarsten geschah dies im „Königreich Preußen". Dieses erhielt durch
den ,, General-Schulenplan, nach welchem das Landschulwesen im
Königreich Preußen eingerichtet werden soll", bekannter unter seiner
anderen Bezeichnung: „principia regulativa vom .'-iO. Juli I 7;^6", ein in
seiner Art vollendetes Schulunterhaltungsgesetz. In dem folgenden
Jahre bewilligte der Monarch mittels Ordre vom 21. Februar 1737
den für damalige Verhältnisse hohen Betrag von 50 000 Talern,
welcher unter dem Namen mons pietatis verwaltet werden und der
Förderung des Schulwesens dienen sollte.
23 Volksschulwesen.
Friedrich der Große verfolgte die Ziele seines Vaters mit der
ihm eigenen Energie, ließ sie auch während der drei schlesischen
Kriege nicht aus dem Auge, und gab unmittelbar nach deren Been-
digung am 12. August 1763 der gesamten Monarchie das „General-
Land-Schulreglement", „damit der so höchst schädlichen und dem
Christenthum unanständigen Unwissenheit vorgebeuget und abgeholfen
werde, um auf die folgende Zeit in den Schulen geschicktere und
bessere Unterthanen bilden und erziehen zu können".
Das Reglement gibt ein ziemlich vollständiges Bild der Ein-
richtung, welche die Landschulen nach dem Plane des großen
Königs haben sollten. An die Spitze stellt es die allgemeine Schul-
pflicht.
„§ 1 . Zuvörderst wollen Wir, daß alle Unsere Unterthanen, es
mögen seyn Eltern, Vormünder oder Herrschaften, denen die Er-
ziehung der Jugend obliegt, ihre eigne sowohl, als ihrer Pflege an-
vertraute Kinder, Knaben oder Mädchen, wo nicht eher, doch
höchstens vom Fünften Jahre ihres Alters in die Schule schicken,
auch damit ordentlich in das dreizehnte und vierzehnte Jahr con-
tinuiren und sie so lange zur Schule halten sollen, bis sie nicht nur
das Nöthigste vom Christenthum gefasset haben und fertig schreiben
und lesen, sondern auch von demjenigen Red' und Antwort geben
können, was ihnen nach den von Unseren Consistoriis verordneten
und approbirten Lehrbüchern beigebracht werden soll."
Das Einkommen des Lehrers gründet das Reglement wesentlich
auf die Einnahme aus dem Schulgelde.
„5 7. Was das Schulgeld betrifft, so soll für jedes Kind, bis
es zum Lesen gekommen. Neun Pfennige, und wenn es schreibt und
rechnet, Ein Groschen wöchentlich gegeben werden. In den Sommer-
monaten dagegen wird nur zweidrittheil von diesem angesetzten
Schulgelde entrichtet, so, daß diejenigen, welche Sechs Pfennige im
Winter gegeben, nach dieser Proportion Vier, welche Neun Pfennige
gegeben haben. Sechs, und welche sonst einen Groschen gegeben,
nunmehr Acht Pfennige geben sollen. Ist etwa an ein und dem
anderen Ort ein mehreres an Schulgeld zum Besten der Schulmeister
eingeführt, so hat es dabei auch ins künftige sein Bewenden."
„j 8. Wenn aber einige Eltern notorisch so arm wären, daß
sie für ihre Kinder das erforderliche und gesetzte Schulgeld nicht
bezahlen könnten, oder die Kinder, welche keine Eltern mehr haben,
wären nicht im Stande, das Schulgeld zu entrichten, so müssen sie
sich deshalb bei den Beamten, Patronen, Predigern und Kirchenvor-
Zur Geschichte der deutschen Volksscliule. 39
Stehern, insofern dieselben über die Kirchenmittel zu disponieren
haben, melden, da dann, wenn kein anderer Weg vorhanden, entweder
aus dem Klingebeutcl oder aus einer Armen- oder Dorfkasse die
Zahlung geschehen soll, damit den Schulmeistern an ihrem Unter-
halte nichts abgehe, folglich dieselbe auch beydes, armer und reicher
Leute Kinder, mit gleichem Fleiß und Treue unterrichten mögen."
Das Reglement gibt sodann — und zwar recht strenge — Vor-
schriften über die Bestrafung der Schulversäumnisse, über die Kon-
trolle sowohl der Einschulung wie des Schulbesuches, über die
Prüfung und die Beaufsichtigung der Lehrer, über die Beseitigung
der Winkelschulen, über die Gegenstände und den Gang des Unter-
richts, über die Lehrbücher, über das Verfahren bei deren Einführung,
über Beschaffung derselben für die armen Kinder und über die Schul-
zucht.
Es darf behauptet werden, daß in diesem General-Laudschul-
reglement, neben welchem übrigens noch andere Provinzialverord-
nungen, so beispielsweise das Reglement vom 3. November 1 765
,,für Unsre Römisch-Katholische Unterthanen von Schlesien und der
Grafschaft Glatz", erlassen wurden, die Linien vorgezeichnet sind, in
welchen sich das preußische Volksschulwesen' seitdem weiter be-
wegt hat.
Zunächst erhielt es eine festere Grundlage in den Vorschriften
des allgemeinen Landrechts. In kaum mehr als vierzig Sätzen
(§§ 1 2 — 53 Titel 1 2 Teil II) werden Bestimmungen über Aufsicht und
Direktion der gemeinen Schulen, über deren Rechte, die Bestellung
der Lehrer, den Unterhalt der Schulen und der Schulgebäude, über
Rechte und Pflichten der Schulmeister, der Schulaufseher, der Prediger,
über die allgemeine Schulpflicht und die Schulzucht getroffen. Zum
erstenmale wird die allgemeine Schulpflicht nach ihren beiden Seiten
durch Gesetz klar und bestimmt ausgesprochen.
Die einschlägigen Bestimmungen lauten:
„§ 29. Wo keine Stiftungen für die gemeinen Schulen vor-
handen sind, liegt die Unterhaltung der Lehrer den sämtlichen Haus-
vätern jedes Ortes, ohne Unterschied, ob sie Kinder haben oder
nicht und ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses, ob."
,,5 34. Auch die Unterhaltung der Schulgebäude und Schul-
meisterwohnungen muß als gemeine Last von allen zu einer solchen
Schule gewiesenen Einwohnern ohne Unterschied getragen werden."
,,§ 43. Jeder Einwohner, welcher den nötigen Unterricht für
seine Kinder in seinem Hause nicht besorgen kann oder will, ist
40
nui Wesen.
schuldig, dieselben nach zurückgelegtem fünften Jahre zur Schule zu
schicken."
„§ 46. Der Schulunterricht muß so lange fortgesetzt werden,
bis ein Kind nach dem Befunde seines Seelsorgers die einem jeden
vernünftigen Menschen seines Standes notwendigen Kenntnisse ge-
faßt hat."
Die auf den Erlaß des allgemeinen Landrechts folgenden Jahre
waren der Entwicklung des Volksschulwesens in Preußen nicht
besonders günstig. Der Stillstand allerdings, welchen die Verwaltung
des Staatsministers von Wöllner in diese zu bringen versuchte, und
welcher seinen Ausdruck in der ,, Anweisung für die Schullehrer in
den Land- und niederen Stadtschulen zu zweckmäßiger Besorgung des
Unterrichts der ihnen anvertrauten Jugend vom 16. Dezember 1794"
fand, war nur vorübergehend, da König Friedrich Wilhelm III. vom
ersten Tage seiner Regierung an der Förderung des Volkswohles die
lebhafteste Teilnahme zuwendete. Ein Zeugnis für diese gibt bei-
spielsweise das ,, Reglement für die niederen katholischen Schulen in
den Städten und auf dem platten Lande von Schlesien und der Graf-
schaft Glatz vom 18. Mai 1801". Die politischen Bewegungen aber,
welche den Wechsel des Jahrhunderts begleiteten, bittere Not, welche
über unser deutsches Vaterland und ganz besonders über den
preußischen Staat kam, erschwerte jeden Fortschritt des öffentlichen
Lebens und beraubte das Volk der Mittel, um die Werke des Friedens
zu fördern.
Dennoch hatten jene Jahre der schwersten Trübsal das Gute
daß sich das Auge der Regierenden im Lande auf die Punkte richtete,
von welchen die Wiedergeburt des X^jlkes ausgehen sollte. So
wurden gesetzgeberische Taten vollzogen, durch welche die Voraus-
setzungen für eine gedeihliche Entwicklung des Staates überliaupt,
mittelbar auch für eine solche auf dem Gebiete der V^olksschule
gegeVjen wurden. Dies geschah namentlich durch die Edikte vom
I . Juni und vom 27. Juli 1 808 und vom 1 4. September 181 I , welche
einen freien Bauernstand in das Leben riefen, und durch das Gesetz
vom 10. November 1808, welches den Städten die Selbstverwaltung
gab. Die Verwertung dieser Gesetze für das Schulwesen ließ nicht
lange warten. Am 26. Juni 1811 erschien die Instruktion über die
Zusammensetzung der Schuldeputationen in den Städten, und am
28. Oktober 1812 folgte das Reskript des königlichen Departements
für den Kultus und öffentlichen Unterricht, betreffend die Anord-
nungen von Schulvorständen auf dem Lande.
Zur rreschidite der deutsclien Volksschule. 4-1
Wenige Jahre nach deni Friedensschlüsse wurden dann noch
die höheren und höchsten Unterrichtsbehörden neu gestaltet und niit
Vollmachten versehen. Durch die Dienstinstruktionen vom 2^^. Oktober
1817 wurde dem Konsistorium, dessen Obliegenheiten, soweit sie das
Schulwesen betreffen, durch Allerhöchste Ordre vom 'A\. Dezember
1825 auf eine eigene neu geschaffene Behörde, das königliche Pro-
vinzialschulkoUegium, übertragen worden sind, neben der Leitung und
Beaufsichtigung des gesamten höheren Schulwesens die Sorge für die
Ausbildung der Lehrer sowie die Bearbeitung aller allgemeinen An-
gelegenheiten des Schulunterrichts überwiesen, während den Regie-
rungen die besondere Leitung und Beaufsichtigung der Volksschulen,
sowohl nach ihrer inneren wie nach ihrer äußeren Seite, die Bestäti-
gung und Beaufsichtigung der Lehrer, endlich die Einrichtung und
Verteilung der Schulsozietäten zufiel.
Den Schlußstein des mühsam von unten nach (jben geführten
Gebäudes bildete die Allerhöchste V^erordnung vom 'A. November
1817, welche unter III bestimmt:
,,Der Minister des Innern gibt das Departement für den Kultus
und öffentlichen Unterricht und das damit in Verbindung stehende
Medizinalwesen ab. Die Würde und Wichtigkeit der geistlichen und
der Erziehungs- und Schulsachen macht es rätlich, diese einem
eigenen Minister anzuvertrauen."
So war die Form \ollendet, und es war die Aufgabe des neu
gebildeten Ministeriums, ihr den richtigen Inhalt zu geben.
Die Aufgabe war keine leichte. Der preußische Staat war
durch den Wiener Vertrag vom 10. Februar 11)10 wesentlich um-
gebildet worden; sein Gebiet, welches durch den Frieden von Tilsit
auf rund 2071) Quadratmeilen herabgesunken war, hatte sich auf rund
5040 Ouadratmeilen erweitert, seine Einwohnerzahl sich um etwa
0 000 000 erhöht. Es war aber nicht etwa der Staat in der Gestalt,
welche er vor 1807 gehabt hatte, wieder hergestellt worden, sondern
es waren alte Gebiete abgezweigt, ganz neue hinzugefügt worden. Die
natürliche Folge hiervon war, daß sich die einzelnen Teile des Staates
durch die verschiedenartigsten Einrichtungen, Sitten und Gesetze von
einander schieden. Diese Mannigfaltigkeit, wir dürfen sagen innere
Zerrissenheit, machte sich namentlich auf dem Gebiete des Volksschul-
wesens geltend. Die wohltätigen Gesetze, welche die preußischen
Könige ihren Ländern gegeben hatten, standen in weiten Strecken
des Landes nicht in Kraft, und es war die Aufgabe der Vervvaltuner,
42 Volksschulwesen.
wenn auch nicht GleichtVirmigkeit, so doch Gleichartigkeit der Schul-
einrichtungen auf dem Wege der Verordnungen herbeizuführen.
Ein großes Hemmnis für eine gedeihliche Entwicklung des
Volksschulwesens war die Verarmung der Bevölkerung infolge des
Krieges. Die Unruhen hatten alle Kulturarbeit unterbrochen und
jeden Fortschritt zum Stehen gebracht. Unter den Einwirkungen
der Philanthropen, namentlich aber der Anhänger Pestalozzis, waren an
vielen Stellen des deutschen Landes Lehrerbildungsanstalten ins Leben
getreten, bessere Schulen errichtet worden; fast alle diese Einrich-
tungen waren im Keime erstickt, und die Verwaltung stand vor ganz
neuen Aufgaben. Wer einen Blick in die Urkunden über die Schul-
zustände jener Zeit, etwa in Beckedorffs Jahrbücher, Rosseis Rheinisch-
Westfälische Monatsschrift, Krügers und Harnisch' ,, Schulrat an der
Oder" tut, begegnet überall denselben Klagen: schlechte Schulhäuser,
unzureichend besoldete, unfähige Lehrer, eine verwilderte Schuljugend,
welche noch obenein nur sehr unregelmäßig zur Schule kommt.
Der verdienstvolle spätere Schulrat Carl Wilhelm von Türk in
Potsdam schildert in seiner im Jahre 1804 erschienenen Schrift: ,,Cber
zweckmäßige Einrichtung der öffentlichen Schul- und Unterrichts-
anstalten als eines der wirksamsten Beförderungsmittel einer wesent-
lichen Verbesserung der niederen Volksklassen", welche er als mecklen-
burgischer Ministerialreferent für das Volksschulwesen veröffentlichte,
den Zustand seiner Zeit wie folgt:
,,Die Schule, die öffentliche Erziehung, sollte die Mängel der
häuslichen verbessern, ihre Lücken ausfüllen, der Macht des Übeln
Beispiels, das die Eltern geben, entgegenarbeiten; allein wie ent-
sprechen die Landschulen diesen Forderungen? So, daß ich keinen
.Anstand nehme zu behaupten, es wäre den meisten Kindern besser,
sie gingen garnicht in die Schule, als daß sie in solche Schulen, zu
solchen Lehrern gehen, wie die meisten es sind. Alles, was sich dem
nur einigermaßen aufmerksamen Beobachter in den meisten der jetzt
vorhandenen Landschulen darstellt, ist unbeschreiblich elend, wider-
sinnig, verderblich in seinem Einflüsse auf die Erziehung der Jugend.
Elende, enge, niedrige Schulzimmer, — denn nicht selten ist
das Haus des Schulmeisters das schlechteste im Dorfe, — eine ver-
dorbene, verpestete Luft, der höchste Grad der Unreinlichkeit, der
nicht selten dadurch, daß die Schulstube zugleich Wohnzimmer,
Werkstätte und Stall für das Federvieh ist, herbeigeführt wird.
Unwissende, ungesittete, unreinliche Schulmeister, welche die
Schule als einen notwendigen Nebenbehelf, die Betreibuncf ihres
7x\x GescliiclUe der (leutsrheii Volksschule. 43
Handwerks als die Hauptsache betrachten und dieses leider nur zu
oft tun müssen, wenn sie nicht hungern wollen. Eine Methode fwenn
man anders diesen Ausdruck mißbrauchen will, um die notdürftige,
erbärmliche Anwendung eines schon an sich höch.st widersinnigen
Schlendrians zu bezeichnen), die nur darauf hinausläuft, das Ge-
dächtnis des Kindes mit ihm unverständlichen Stellen und Sätzen des
Katechismus und der Bibel zu überladen, es notdürftig buch.stabieren
und lesen zu lehren fan Schreiben und Rechnen ist oft garnicht zu
denken), während Kopf und Herz gleich leer bleiben und die Hände
unbeschäftigt sind."
Mögen die Farben dieses Bildes auch etwas stark aufgetragen
sein, so ersieht man doch, wie richtig im ganzen das von Herrn
von Türk gegebene Bild ist, wenn man an einer späteren Stelle seines
Buches liest, daß er für den Schullehrer neben einigen Naturalien
und dem Schulgelde ein festes Gehalt von jährlich 1 2 Talern fordert,
das dem Lehrer zu gewährende Gesamteinkommen auf 65 Taler be-
rechnet und dabei noch Zweifel an der Möglichkeit ausspricht, „diese
beträchtlichen Gehaltsverbesserungen auszuführen". Die Verhältnisse
waren im preußischen Staate nicht wesentlich anders; gab es doch
im Jahre 1820 nicht weniger als 1 180 Landschullehrer.stellen mit einem
jährHchen Einkommen von unter 20 Talern.
Seitens des preußischen Ministeriums wurde die Aufgabe, hier
Abhilfe zu schaffen, unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte ihrer
Lösung entgegengeführt. Noch während der Kriegsjahre hatte König
Friedrich Wilhelm III. eine Anzahl begabter junger Männer nach der
Schweiz gesendet, damit sie in Pestalozzis Schule sich für die Volks-
schulerziehung erwärmen und deren zweckmäßigste Betreibung erlernen
möchten. Außerdem hatte er einige besonders hervorragende außer-
preußische Schulmänner in das Land gezogen. In diesen und in den
heimgekehrten Schülern Pestalozzis hatte er nun die Männer ge-
wonnen, welche als Schulräte und als Seminardirektoren die_Reor-
ganisation des Volksschulwesens durchführen sollten. Diese fanden
ihren Führer in dem Geheimen (3ber-Regierungsrat Dr. Beckedorff,
welcher 1810 als vortragender Rat in das Mini.sterium getreten war.
Das Werk wurde jetzt mit frischem Eifer zielbewußt in Angriff ge-
nommen und von den Gesichtspunkten aus, welche von der höchsten
Stelle gegeben wurden, gefördert. Die von Beckedorff herausgegebenen
,, Jahrbücher des Preußi-schen Volksschulwesens" dienten der gemein-
samen Verständigung und berichteten freimütig über die zahlreich
vorhandenen Mängel wie über die erreichten Erfolge, vor allem aber
44 Volksschiilwesen.
hielten sie die Freude an der Arbeit wach; den nachfolgenden Ge-
schlechtern sind sie eine dankenswerte Quelle für die Kenntnis eines
der wichtigsten Abschnitte in der Geschichte des preußischen "V^olks-
schulwesens.
Es sei gestattet, in einigen Bildern die Zustände \^on sonst und
jetzt nebeneinander zu stellen.
a) Unregelmäßiger Schulbesuch, dessen Ursachen und deren Beseitigung.
Der Schulbesuch, vorzugsweise in den westlichen Provinzen. Das Allgemeine
Uandrecht hatte durch die \'orschriften in Teil II, Titel 12 §§ 43 — 46 allen Eltern,
welche ihre Kinder im eigenen Hause nicht unterrichten können oder wollen, die Pflicht
auferlegt, sie zur öflentlichen Schule zu schicken und sie in dieser so lange zu halten,
bis sie die einem vernünftigen Menschen ihres Standes notwendigen Kenntnisse gefaßt
hätten. Diejenigen Landesteile, in welchen das Allgemeine Landrecht nicht eingeführt
ist, entbehrten einer entsprechenden XOrschrift, und es fand infolgedessen in diesen ein
ganz unregelmäßiger Schulbesuch statt. Die Bemühungen der Unterrichtsbehörden, auf
dem Wege einer Verordnung oder durch unmittelbare Einwirkung auf die Eltern eine
Besserung herbeizuführen, scheiterten an dem Widerspruche der Eltern. Der N'ersuch,
den Schulbesuch durch polizeiliche oder gerichtliche Strafen zu erzwingen, mußte miß-
glücken, weil es an (besetzen fehlte, auf Cirund deren die Gerichte die von den \'er-
waltungsbehörden auferlegten Strafen zu Recht bestehen lassen konnten. So kam es, daß
im Regierungsbezirke Aachen, über welchen uns Beckedorfis Jahrbücher genauere Aus-
kunft geben, von 1852 evangelischen Kindern zwischen 5 — 14 Jahren nur 1600, von
64 401 katholischen Kindern nur 32 403 zur Schule kamen. Allerdings enthielten die
vorhandenen Unterrichtsräume nur für 28 606 Kinder Platz, während die Gesamtzahl
der christlichen und jüdischen Kinder 66 611 betrug. Im Jahre 1901 belief sich in dem-
selben Regierungsbezirk die Zahl der schulpflichtigen Kinder von 6 — 14 Jahren auf
108 042, von diesen waren 104 903 in der Volksschule eingeschult, 13 konnten wegen
i berfülUmg nicht aufgenommen werden, 192 waren nach vollendetem 6. Lebensjahre auf
behördliche Anordnung vom Schulbesuche noch zurückgestellt, 1676 vor vollendetem
14. Jahre dispensiert, 245 konnten wegen geistiger oder körperlicher Gebrechen die
Schule nicht besuchen, und nur 6 Kinder entzogen sich widerrechtlich dem Schulbesuch.
Ein ähnliches Bild boten die anderen vormals französischen Bezirke. Eine gründ-
liche Be.sserung konnte nur auf gesetzlichem Wege herbeigeführt werden. Dieser Weg
ist durch die Allerhöchste Ordre vom 14. Mai 1825 beschritten worden, welche die be-
züglichen Vorschriften des Allgemeinen Landrechts über die Schulpflicht auch für diejenigen
Provinzen, in welchen es nicht eingeführt ist, sogar in noch etwas schärferer Eorm, in
Geltung gebracht hat. Der § 1 dieser Verordnung schrieb vor: „Eltern oder deren ge-
setzliche \'ertreter, welche nicht nachweisen können, daß sie für den nötigen l'nterricht
der Kinder in ihrem Hause sorgen, sollen erforderlichenfalls durch Zwangsmittel und
Strafen angehalten werden, jedes Kind nach zurückgelegtem 5. Jalire zur Schule zu
schicken". *)
Einigermaßen überraschte es, daß die §§4, 5, 6 der \'erordnung die .\usübung
der Schulzucht regeln, weil doch ein innerer Zusammenhang zwischen der allgemeinen
Schulpflicht und dem Züchtigungsrechte des Lehrers nicht zu bestehen scheint, l'nd
*l Bekanntlich hat die Unterrichtsverwaltung im Laufe der Zeit den Schulbesuch
der Kinder zwischen 5 und 6 Jahren nicht mehr gefordert, aber desto strenger darauf
gehalten, daß er bis zum vollendeten 14. Jahre ausgedehnt werde.
Zur Geschichte der deutschen \'olksscliulc. 45
dennoch liat dieser Zusammenhang bestanden; die Akten des Kultusministeriums wie
die Mitteihingen der pädagogischen Zeitschriften jener Zeit enthalten die Beweise dafür.
Der Widerwille vieler Eltern gegen den regelmäßigen Schulbesuch, dessen Einführung
zumeist auf dem Wege der bloßen N'erordnung versucht wurde, war stellenweis so stark,
daß sie ihre Kinder dazu verführten, den Lehrer zur Züchtigung zu reizen und ihn dann,
wenn er eine solche ausübte, zur Verantwortung vor den Ricliter zogen. Einige Ver-
urteilungen, welche auf diese Weise erreicht wurden, schüchterten die Lehrer ein und
hatten einen sehr ungünstigen Einfluß auf das Leben der Schule. Lm eine Besserung
herbeizuführen und das Ansehen der I-ehrer zu stärken, hielt die Unterrichtsverwaltung
eine gesetzliche Vorschrift für geboten, durch welche ausgesprochen wurde, daß Züchti-
gungen, welche der Gesundheit des Kindes keinen Schaden täten, gegen den Lehrer
nicht als strafliare Mißhandlungen oder Injurien behandelt werden dürften, (i; 5.)
b) Schulpflichtige Kinder in den Fabriken.
Der Aufmerksamkeit der Unterrichtsbehörden konnte es nicht entgehen, daß das
Wegbleiben einer so großen Anzahl von Kindern aus der Schule seinen Grund in ihrer
Ausnützung durch che allerdings in vielen Fällen sehr armen Poltern, ganz besonders in
der Fabrikarbeit der Kinder hatte. Der Minister erließ daher schon unterm 26. Juni 1824
folgendes Zirkular-Reskript :
„Bei der Unterrichts-Abteilung des Ministerii ist zufällig zur Sprache gekommen,
daß hin und wieder Kinder in Fabriken und Manufakturen, sowohl bei Tage als zur
Nachtzeit, beschäftigt werden. Dieser Gegenstand ist in medizinisch-polizeilicher Hinsicht
so wichtig, daß anscheinend eine nähere gesetzliche Bestimmung darüber notwendig
wird. Um aber die erforderlichen Materialien dazu zuvörderst zu .sammeln, wird die
Königliche Regierung hierdurch veranlaßt, nachstehende Fragen, insofern es die Umstände
und Verhältnisse gestatten, baldmöglichst zu beantworten.
1. \\erden in den Fabriken dortiger Gegend auch Kinder beschäftigt? und weini
dies der Fall ist,
2. zu welcher Arbeit?
3. in welchem Alter?
4. täglich wieviel Stunden und in welchen Stunden des Tages oder der Nacht?
5. Wie ist im übrigen die Lebensart dieser sogenannten P'abrikkinder beschaffen,
und in welcher Art ist sie verschieden von der Lebensart derjenigen Kinder
gleichen Standes, welche nicht in Fabriken beschäftigt werden?
6. Wie ist der Gesundheitszustand dieser Kinder an sich und im Verhältnisse
zu den nicht in Fabriken arbeitenden Kindern derselben Volkskla.sse?
7. Wenn der Gesundheitszustand der Fabrikkinder im ganzen schlechter ist als
derjenige der übrigen Kinder, worin ist der Grund hiervon zu suchen, in den
Arbeiten oder in anderen Umständen?
8. Wie verhalten sich hinsichtlich der Gesundheit diejenigen Erwachsenen, die in
ihrer Kindheit in Fabriken gearbeitet haben, zu denen, die dazu nicht gebraucht
worden sind?
9. Welche gesetzliche Bestimmungen über Benutzung der Kinder zu Fabrikarbeiten
würde die Königliche Regierung nach dem Resultate der hinsichtlich obiger
Punkte angestellten Untersuchung für wünschenswert und zweckmäßig halten?
10. Wie wird für den nötigen Schulunterricht dieser Kinder gesorgt? und
11. wie ist ihr sittlicher Zustand?"
Diese Verfügung erging zunächst an die rheinischen und westfälischen Regierungen
und an diejenigen zu Liegnitz imd Breslau in Schlesien.
Die von den betreflenden Königlichen Regierungen eingegangenen Bericlue
wurden in Beckedorffs Jahrbüchern veröffentlicht, zum Teil deshalb, weil ein Aufsatz in
46 Volksschulwesen.
der Rheinisch-Westfälischen Monatsschrift von Rössel der Vorstellung Raum gegeben
hatte, als habe die Unterrichtsverwaltung kein ofl'enes Auge für die vorhandenen
Übelstände.
In einem sehr beachtenswerten Artikel im 5. Bande der Rheinisch-Westfälischen
Monatsschrift lenkte der Seminardirektor Adolf Diesterweg die allgemeine Aufmerksamkeit
auf die Not der in den P'abriken beschäftigten Kinder. Wir entnehmen seinem Aufsatze
folgende Stellen :
a) „Vergegenwärtigen wir uns die Art der Beschäftigung der Kinder in den
Fabriken, und vergleichen wir sie mit dem, was die Natur des Kindes will, und was
geachtet werden muß, wenn das .spätere Alter mit einem gesunden Leib und einem ge-
sunden Geist ausgerüstet sein soll! Wir .sprachen hier immer von dem, was als Regel gilt,
die Möglichkeit und Wirksamkeit einzelner seltener Ausnahmen gern und mit Freuden
gestattend und preisend.
Im Sommer um 5 oder 6 Uhr, im Winter um 6 oder 7 oder sobald es Tag ist,
ruft die Glocke das Kind in die Fabrik. An den meisten Fabrikaten kann das Kind
vom 8. oder 9. Jahre an gebraucht werden. Sobald es in dem Fabrikhause angekommen
ist, geht es an die Maschine und verrichtet sein Geschäft. Meist ist es eine Arbeit, ein-
fach und leicht, immer eine und dieselbe, vom Morgen bis zum Mittage. Wo noch eine
kleine Abwechselung stattfmdel, da ist sie doch so unbedeutend, daß sie nach wenigen
Tagen zum einförmigsten Mechanismus wird. Nur im Anfange bedarf es zur genügenden
V^errichtung seiner Geschäfte der Aufmerksamkeit; nach kurzer Zeit spinnt und spult,
klopft und hämmert es maschinenmäßig fort, von Minute zu Minute, von Stunde zu
Stunde, bis die Mittagglocke die Arbeiter eine Stunde entläßt. Das Kind eilt nach
Hause, verzehrt sein mageres Mittagbrot, wandert um 1 Uhr wieder seinem Kerker zu,
beginnt da und damit, wo es eine Stunde vorher aufhörte, und setzt seine Tätigkeit von
Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, bis um 7 oder 8 Uhr am Abend fort. Die
meisten Arbeiten fordern entweder ein beständiges Sitzen oder ein beständiges Stehen,
zuweilen, im besseren Falle, wechselt Sitzen und Stehen ab.
b) „Aber, wie lange," fragte ich einen Fabrikherrn, bei welchem in einem großen
Saale mehr als 70 Kinder eng zusammen sitzend spannen, „wie lange arbeiten die Kinder
täglich?" — „Zehn Stunden", antwortete er. „Da haben Sie wohl Mühe, bis Sie die
unruhige Jugend zum Schweigen und Arbeiten bringen?" „Ja wohl, anfänglich wollen sie
nicht d'ran, aber dann bekommen sie bisweilen etwas (er machte eine gewisse Be-
wegung mit der Hand), und in einem halben Jahre sind sie gewöhnt, wie Sie sehen!" —
Ich sah! Verlumpt und bleich und krüppelhaft saßen die Kinder da! Durch die Seele
ging mir des Mannes kaltes, hartes Wort und dieser Anblick!
c) Ein gebildeter Fabrikherr aus der Ruhr-Gegend, welcher gerade zu mir kam,
als ich diesen Aufsatz durchsah, erzählte mir, daß in seiner eigenen P'abrik che Kinder
von morgens 4 bis 8, von 9 bis 12 und nachmittags 1 bis 8 Uhr, also täglich 14 Stunden,
arbeiteten. ¥.r bestätigte die Roheit der Fabrikarbeiter und gestand alles zu, was in dem
vorhergehenden Aufsatze über den Zustand der Fabrikkinder gesagt wurde. Auch wünscht
er eine Abänderung des Zustandes dieser Kinder und ist bereit, dazu Hand zu bieten,
nur müsse es gemeinsam geschehen, weil der einzelne sonst gegen alle anderen Fabrik-
herren in großen Nachteil käme. Sein Vorschlag war der, die Kinder erst nach
vollendetem 10. Jahre jeden Tag einen halben Tag (4 Stunden) in die Schule zu
schicken, jedoch so, daß ein Teil des Morgens, der andere des Nachmittags in die-
selbe ginge."
Das \erhalten der örtlichen Behörden zeigte vielfach stumpfe Ergebung oder
Freude an kleinen Fortschritten. So wird hinsichtlich der Kinder bei einem Berg- und
Hüttenwerk im Standesgebiet Wied-Runkel bemerkt: „Da sie aus der ärmsten Klasse
genommen werden, so würden sie ohnehin die Schule nicht besuchen," und aus dem
Düsseldortischen wird gerühmt: ,J>ic Zahl der steten Nachtarbeiter beträgt jetzt nur 125."
Zui- Geschichte der deutschen Volksschule. 47
Die meisten Regierungen machten in ihren Berichten geltend, daß die Fabriken
den Wettbetrieb mit dem Auslande nicht würden behaupten können, wenn sie der
Kinderarbeit entbehren sollten, und daraus mag es sich wohl erklären, daß der Minister
sich in seinen Erlassen vom 27. April 1827 und vom 15. Dezember 1828 darauf be-
schränkte, die allgemeinen \'orschriften über den Schulbesuch einzuschärfen und jiolizeilirhe
Revisionen der Fabriken anzuordnen.
Am 9. März IU;^9 wurde endlich der er.ste Schritt zur Abhilfe
getan. Es erging ein Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher
Arbeiter in den Fabriken, welches König Friedrich Wilhelm IIL am
(). April 1839 mit dem Bemerken bestätigte, daß es einem längst
gefühlten Bedürfnisse entspreche. Das Regulativ hielt sich in sehr
bescheidenen Grenzen, verbot aber die Nachtarbeit und die Sonntags-
arbeit und ordnete an, daß Kinder erst nach zurückgelegtem 9. Leben.s-
jahre und nach 3jährigem regelmäßigen Schulbesuch zur Fabrikarbeit
zugelassen werden durften. Ein weiteres Gesetz vom U). Mai 1853
setzte das zurückgelegte 12. Leben.sjahr als Grenze. Die Gewerbe-
ordnung von 1869 und ihre Novellen haben den eingeschlagenen
Weg weiter verfolgt, und durch das Reichsgesetz, betreffend Ab-
änderung der Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891, sind wir an das
Ziel gelangt. § 1.35 Abs. I dieses Gesetzes schreibt nämlich vor:
Kinder unter 13 Jahren dürfen in Fabriken nur beschäftigt werden,
wenn sie nicht mehr zum Besuche der Volksschule verpflichtet sind.
Diese Vorschrift ist für alle Kinder, welche nach dem 1. Juni 1891
in Arbeit getreten sind, am 1. April 1892, für die übrigen Kinder
am 1. April 1894 in Kraft getreten. — Von jetzt an haben also die
Kinder unserer ärmsten Volksschichten vollen Schutz, und die Wohltat
der Schule ist ihnen ganz in demselben Maße gesichert, wie ihren
glücklicheren Altersgenossen.
Mit der Ausschließung der schulpflichtigen Kinder von der
Arbeit in den Fabriken ist aber leider der Ausnutzung ihrer Kräfte
durch den Eigennutz Fremder, ja selbst der eigenen Eltern, bei weitem
noch nicht völlig gewehrt. Noch findet eine Heranziehung der Kinder
zu landwirtschaftlichen Arbeiten, besonders zum Hüten des Viehes,
in vielen Gegenden in solchem Umfange statt, daß dadurch die Arbeit
der Schule ernstlich erschwert wird; auch Gefahren für die sittliche
Haltung der Kinder sind dabei nicht ausgeschlossen. Einen gleich
schweren Übelstand führt die Beschäftigung der Kinder in der Haus-
industrie und ihre Verwendung als Laufburschen, Zeitungsträger und
in ähnlichen Dienstverhältnissen mit sich. Seitens der Staatsregierung
sind neuerdings die nötigen Schritte geschehen, um zunäch.st den
Umfang des Übels festzustellen."
48 Volksscliuhvesen.
Soweit der Bericht. Von dem Umfange der gewerblichen
Kinderarbeit im Deutschen Reiche erhielt man zunächst eine an-
nähernde, wenn auch sehr unvollständige Vorstellung durch die Er-
gebnisse der Berufs- und Gewerbestatistik vom 14. Juni lo<)5. Aller-
dings beschränkte sich diese Erhebung nur auf solche Kinder, welche
im Hauptberuf gewerblich tätig oder im Hausgesindedienst beschäftigt
waren. Es ergaben sich dabei folgende Ziffern, welche, wie das der
Bericht selbst andeutet, wohl nur als Minimalzahlen angesehen werden
können.
j Kinder unter 14 Jaliren
I B e r u f s a b t e i 1 u n g e n n
I männlich , weiblich zusammen '
II ! I '
■ \\ ^ ^ '
I A. Landwirtschaft J! 94 121 41004 135 125
i B. Industrie 30 618 7 649 38 267
' C. Handel 3 506 1790 5 296
D. Lohnarbeit wechselnder Art jj 325 1 487 1 812
E. 1. Armee und Marine — — —
F. 2—8. Sonst, öffentl. Dienst u. freie ßerufsarten 867 86 953
Hierzu:
Cj. Häusliche Dienstboten !| 848 ] 32 653 33 501
zusannuen ... 1! 130285 84669 214954
Bemerkenswert ist hier die grolie Zahl der in der Landwirt-
schaft beschäftigten Kinder und ebenso die i\rt der gewerblichen
Betriebe, in welchen man die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren
verwenden zu dürfen glaubte. Besonders häufig, d. h. in mehr als
1000 Fällen, waren Kinder in folgfenden Berufsarten beschäftigt:'!
e r u f s a r t e n
Maurerarbeit
Weberei
Schneiderei
Tischlerei .
Schlosserei
Bäckerei .
Ziegelei
Näherei
Spinnerei .
ScliuhmacluT
Zahl der Kinder
männlich , weiblicli zusammen
2 152
120
2 272
1057
1 142
2 199
1729
427
2 156
2 078
29
2 107
2 062
13
2 075
1 803
116
1919
I 453
122
1 575
—
1223
1 223
459
689
1 148
1962
64
2 026
*) Statistik des Deutschen Reichs. Herausgegel)en vom Kais. Stat. .\mt. — Neue
Folge Band 111 S. 155 (berufliche und soziale Gliederung des deutschen NOlkes). Nach
der Volkszählung vom 14. luni 1895.
Zur (leschichte der cleutsclien Volksschule. 49
Inzwischen hatte sich auch auf Anregung des verdienstvollen Lehrers
Conrad Agahd der deutsche Lehrerverein mit der Frage der gewerb-
lichen Kinderarbeit beschäftigt, und ebenso waren von verschiedenen
Gemeinden wie von Altenburg, Rixdorf, Brandenburg a. H., Char-
lottenburg, Halle, Gera, Hanau, Altona, Hannover, Mühlhausen, Stettin,
Stolp, Posen, Cöln, Düsseldorf, Leipzig, Schmölln, Liegnitz, Langen-
bielau, Hohenstein-Emsthal, Cassel, Dresden, Barmen usw. und min-
destens 100 rheinischen Industrieorten diesbezügliche statistische Erhe-
bungen angestellt worden. Dieselbe Sache nahm mittlerweile die Reichs-
regierung in die Hand und der Reichskanzler richtete am 9. Sep-
tember 1897 an die Bundesregierungen ein Rundschreiben, in welchem
er um die Beantwortung folgender Fragen und Unterfragen ersuchte:
1 . Wie hoch ist die Gesamtzahl der außerhalb der Fabriken gewerblich tätigen
Kinder unter 14 Jahren?
Dabei sind als gewerblich tätig alle Kinder zu zählen, die eine auf Erwerb ge-
richtete Tätigkeit ausüben, sofern es sich nicht um eine Beschäftigung in der Landwirt-
schaft, dem Garten-, Obst- und Weinbau oder im Gesindedienst handelt, auch wenn sie
Bezahlung für ihre Dienste nicht erhalten und in keinem Vertragsverhältnis zu einem Ge-
werbetreibenden stehen, sondern nur ihren Angehörigen bei der Arbeit helfen.
2. In welchen Gewerbszweigen und mit welcher Art gewerbUcher Arbeit sind die
Kinder tätig?
Dabei ist das Augenmerk insbesondere auf die einzelnen zur Herstellung des Ge-
samtprodukts dienenden Hilfsleistungen zu richten, bei denen die Kinder vorzugsweise
Verwendung finden.
3. Wie hoch ist annähernd die Zahl
a) der in den einzelnen Gewerbszweigen,
b) der innerhalb der einzelnen Gewerbszweige mit den nach Ziffer 2 ermittelten
Arten gewerblicher Arbeit beschäftigten Kinder?
Über die Ausführungen der Erhebungen sagt das Rundschreiben folgendes:
Was die Ausfühnmg der hiernach erforderlichen vorbereitenden Erhebungen be-
trifft, so spricht manches dafür, die Volksschullehrer zur Mitwirkung heranzuziehen, weil
diese durch Beobachtungen an den Schulkindern während des Unterrichts Anhaltspunkte
für eine Beurteilung gewinnen werden, ob die Kinder während der schulfreien Zeit ge-
werblich beschäftigt imd dadurch übermäßig angestrengt werden. Für diesen Fall ist
indessen in besonders hohem Grade damit zu rechnen, daß viele Eltern aus Besorgnis,
infolge der Erhebungen in der Verwendung ihrer Kinder beschränkt zu werden, die
letzteren zu unrichtigen Angaben veranlassen werden, welche die Verhältnisse in mög-
lichst günstigem Lichte erscheinen lassen. Ich möchte daher Wert darauf legen, daß die
Angelegenheit, soweit die Mitwirkung der Schullehrer in Betracht kommt, bis auf
weiteres geheim behandelt und hierdurch einer unzulässigen Beeinflussung der Kinder
durch ihre Eltern tunlichst vorgebeugt wird.
Wenn auch die von den Bundesregierungen eingehenden Ant-
worten nicht ganz vollständig und nach einheitlichen Gesichtspunkten
gegeben wurden, so übertrifft doch diese Reichsenquete an Bedeutung
bei weitem alle früheren Zusammenstellungen. Es muß allerdings im
Auge behalten werden, daß das gesamte Gebiet der Landwirtschaft
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. 111. 4
50
Volksschulwesen.
ebenso wie die eigentliche Fabriktätigkeit der Kinder in dieser Sta-
tistik ausfällt. Nach diesen vom Januar bis April 1898 erfolgten Er-
hebungen belief sich die Zahl der gewerblich tätigen Kinder unter
1 4 Jahren im Deutschen Reiche auf 344 283, und zwar verteilte sich
diese Zahl folgendermaßen auf die einzelnen Staaten:
Aus der nachfolgenden Tabelle darf nicht der Schluß gezogen ^\•erden, daß die
gewerblich beschäftigten Kinder dadurch von einem ordnungsmäßigen Schulbesuch aV)-
gehalten werden. Auch sie haben alle den vorschriftsmäßigen Unterricht genossen.
Gewerbliche Kinderarbeit nach der Erhebung von 1898.
I. Umfang der Beschäftigung.
I
Staaten
Zahl der
gewerblich
beschäftigten
Ivinder
Zahl der
volksschul-
pflichtigen
Kinder
Preußen
Bayern
Sachsen
Württemberg
Baden
Hessen
Mecklenburg-Schwerin ....
Sachsen-Weimar
Mecklenburg-Strelitz ....
Oldenburg
Braunschweig
Sachsen-Meiningen
„ Altenburg
„ Coburg-Gotha ....
Anhalt
Schwarzburg-Sondershausen .
„ Rudolstadt . . .
Waldeck
Reuß ä. Linie . . '
" j- "
Schaumburg-Lip])e
Lippe
Lübeck
Bremen
Hamburg
Elsaß-Lothringen
Deutsches Reich
269 598
12 997
137 831
19 546*)
28 788
8 868
2 235
5 660
213
1 927
2 932
6 684
5 686
5 455
1 382
1 456
2 487
62
1488
1502
417
1687
1218
867
5419
17 878
5 209 518
822 165
604 600
299 632
295 624
156 391
96 918
55 943
16 684
65 035
74 104
40 754
29 548
35 974
48 2.36
13 676
15 148
10 777
10 988
21 232
6 867
25 322
12 706
25 627
95 574
245 876
544 283^
8 334 919
Von je 100
volksschul-
pflichtigen
Kindern
waren
gewerblich
beschäftigt
5,18
1,58
22,80
6,52
9,74
5,67
2,31
10,12
1,28
2,96
3,96
16,40
19,24
15,16
2,87
10,65
16,42
0,58
13,54
7,07
6,07
6,66
9,59
3,38
5,67
7,27
6,53
*) Einschließlich der in 40 Oberämtern Württembergs zwar nicht ermittelten, aber
auf 12000 geschätzten gewerblich beschäftigten Schulkinder.
Zur (JeschiclUe der deutschen \'i)lksscluile.
51
Auf Preußen allein kamen 269 598 Kinder, welche sich l"uli;;endermaßen auf die ein-
zelnen Provinzen verteilten:
Von je 100
Zahl der
Zahl der
volksschul-
Landesteile
gewerblich
beschäftigten
volksschul-
pflichtigen
pflichtigen
Kindern waren
Kinder
Kinder
gewerblich
beschäftigt
Provinz Ostpreußen
5 781
323 360
1,79
Westpreußen
5515
257 029
2,15
Stadt
Provii
Berlin
25 146
23165
196 050
425 976
12,83
5,44
iz Brandenburs;
Pommern
7 008
252 966
2,77
"
5 771
48 456
320 550
741 352
1,80
6,54
Schlesien
Sachsen
26 092
452 298
5,77
Schleswig-Holstein
12 643
21 1 825
5,97
Hannover
17518
392 551
4,46
Westfalen
26 286
492 875
5,33
„
Hessen-Nassau
15 191
268102
5,66
Rheinland
50 183
863 977
5,81
Hohe
843
10607
7,95
Königreich Preußen . . . 269 598 5 209 518 5,18
IL Art der Beschäftigung.
Es wurden beschäftigt ;
absolut 1
in Prozent
Kinder
ohne
In der Abteilung
Knaben
Mäd-
chen
ohne
Angabe
des Ge-
schlechts
Im
ganzen
Kna-
ben
Mäd-
chen
An-
gabe
des Ge-
schl.
Im
ganzen
A. Industrie . . .
72 428
59 318
175 077
306 823
37,82
55,09
75,11
57,64
B. Handel . . .
7 507
4 540
5 576
17 623
3,92
4,22
2,39
3,31
C. Verkehr . . .
2 014
163
514
2691
1,05
0,15
0,22
0,51
D. Gast- u. Schank-
wirtschaft . .
12 757
2 168
6 695
21620
6,66
2,01
2,87
4,06
E. Austragedienste
67188
36 966
31676
135 830
35,09
34,33
13,59
25,52
F. Gewöhnl. Lauf-
dienste . . .
23 321
2 134
10 454
35 909
12,18
1,98
4,48
6,75
G. Sonstige gew.
1
Tätigkeit . .
6 281
2 387
3 119 11 787
3,28
2,22
1,34
2,21
Summe
191 496
107 676
233 111
532 283
100
,00
100
100
Über den Unterschied der Gesamtsummen in Tabelle I und II vergl. Bemerkung
zu Tabelle I.
4*
52 \'olksschul\vesen.
Diese besorgniserregenden Zahlen, deren Bedeutung dadurch
nur um so ernster wird, wenn man nicht nur die Gefahren für Ge-
sundheit und intellektuelle Ausbildung der Kinder, sondern auch die
bei der gewerblichen Tätigkeit unvermeidlichen schweren Schädigungen
ihrer sittlichen Erziehung ins Auge faßt, führten zur gesetzlichen
Regelung der Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben. Die wichtigsten
Bestimmungen dieses 31 Paragraphen umfassenden Reichsgesetzes
sind folgende:
Nachdem in § 2 der Begriff „Kinder im Sinne dieses Gesetzes" folgendermaßen
festgelegt ist: Knaben und Mädchen unter 13 Jahren, sowie solche Knaben und Mädchen
über 13 Jahre, welche noch zum Besuche der Volksschule verpflichtet sind, wird in § 3
ausgeführt, welche Kinder als eigene und welche als fremde im Sinne des Gesetzes an-
zusehen sind.
Es folgen dann §§ 4 — ^11 die Bestimmungen über die Beschäftigung fremder
Kinder und §§ 12 — 17 die Bestimmungen über die Beschäftigung eigener Kinder, und zwar:
Beschäftigung fremder Kinder.
§ 4. Verbotene Beschäftigungsarten. Bei Bauten aller Art, im Betriebe
derjenigen Ziegeleien und über Tage betriebenen Brüche und Gruben, auf welche die
Bestimmungen der §§ 134 — 139 b der Gewerbeordnung keine Anwendung finden, und
der in dem anliegenden Verzeichnis aufgeführten Werkstätten*), sowie beim Steinklopfen,
im Schornsteinfegergewerbe, in dem mit dem Speditionsgeschäfte verbundenen Fuhr-
werksbetriebe, beim Mischen und Mahlen von Farben, beim Arbeiten in Kellereien
dürfen Kinder nicht beschäftigt werden.
Der Bundesrat ist ermächtigt, weitere ungeeignete Beschäftigungen zu untersagen
und das Verzeichnis abzuändern. Die beschlossenen Abänderungen sind durch das
Reichs-Gesetzblatt zu veröflentlichen und dem Reichstage sofort oder, wenn derselbe nicht
versammelt ist, bei seinem nächsten Zusammentritte zur Kenntnisnahme vorzulegen.
§5. Beschäftigung im Betriebe von Werkstätten, im Handelsgewerbe
und in Verkehrsgewerben. Im Betrieb von Werkstätten (§ 18), in denen die Be-
schäftigung von Kindern nicht nach § 4 verboten ist, im Handelsgewerbe und in Ver-
kehrsgewerben dürfen Kinder unter zwölf Jahren nicht beschäftigt werden.
Die Beschäftigung von Kindern über zwölf Jahren darf nicht in der Zeit zwischen
8 Uhr abends und 8 Ulir morgens und nicht vor dem Vormittagsunterrichte stattfinden.
Sie darf nicht länger als drei Stunden und während der von der zuständigen Behörde
bestimmten Schulferien nicht länger als vier Stunden täglich dauern. Um Mittag ist den
Kindern eine mindestens zweistündige Pause zu gewähren. Am Nachmittage darf die
Beschäftigung erst eine Stunde nach vollendetem Unterrichte beginnen.
§ 6. Beschäftigung bei öffentlichen theatralischen Vorstellungen
und an deren Schaustellungen. Bei öfi'entlichen theatralischen Vorstellungen und
anderen öffentlichen Schaustellungen, bei denen ein höheres Interesse der Kunst oder
Wissenschaft obwaltet, kann die untere \'er\valtungsbehörde nach Anhörung der Schul-
aufsichtsbehörde Ausnahmen zulassen.
§ 7. Beschäftigung im Betriebe von Gast- und von Schankwirt-
schaften. Im Betriebe von Gast- und von Schankwirtschaften dürfen Kinder unter
*) Es handelt sich hauptsächlich um solche Betriebe, in denen die Kinder der
Gefahr ausgesetzt sind. Staub oder Dämpfe einzuatmen, welche entweder mechanisch oder
chemisch auf den jugendlichen Organismus schädlich einwirken.
Zur ( ieschiclite der deutschen \'olk.s<chule. 53
zwölf Jahren überhaupt nicht und Mädchen (ij 2i nicht bei der Bedienung der Giste
beschäftigt werden. Im übrigen finden auf die Beschäftigung von Kindern über zwölf
Jahre die Bestimmungen des § 5 Abs. 2 Anwendung.
§ 8. Beschäftigung beim Austragen von Waren und bei sonstigen
Botengängen. Auf die Beschäftigung von Kindern beim Austragen von Waren und
bei sonstigen Botengängen in den in §§ 4 — 7 bezeichneten und in anderen gewerbhchen
Betrieben finden die Bestimmimgen des § 5 entsprechende Anwendung.
Für die ersten zwei Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes kann die untere
\'erwaltungsbehörde nach Anhöning der Schulaufsichtsbehörde für ihren Bezirk oder Teile
desselben, allgemein oder für einzehie Gewerbszweige gestatten, daß die Beschäftigung
von Kindern über zwölf Jahre bereits von 6' .3 Uhr morgens an und vor dem Vormittags-
unterrichte stattfindet; jedoch darf sie vor dem \'ormittagsunterrichte nicht länger als
eine Stunde dauern.
vj 9. Sonntagsruhe. An Sonn- und Festtagen dürfen Kinder, vorbehaltlich der
Bestimmungen in Abs. 2, 3, nicht beschäftigt werden.
Für die öffentlichen theatralischen \'orstellungen und sonstigen öffentlichen Schau-
stellungen bewendet es auch an Sonn- und Festtagen bei den Bestimmungen des § 6.
Für das Austragen von Waren sowie für sonstige Botengänge bewendet es bei
den Bestimmungen des § 8. Jedoch darf an Sonn- und Festtagen die Beschäftigung die
Dauer von zwei Stunden nicht überschreiten und sich nicht über ein Uhr nachmittags
erstrecken; auch darf sie nicht in der letzten halben Stunde vor Beginn des Hauptgottes-
dienstes und nicht während desselben stattfinden.
§ 10. Anzeige. Sollen Kinder beschäftigt werden, so hat der Arbeitgeber vor
dem Beginne der Beschäftigung der Ortspolizeibehörde eine schriftliche Anzeige zu machen.
In der Anzeige sind die Betriebsstätte des Arbeitgebers sowie die Art des Betriebs an-
zugeben.
Die Bestimmung des Abs. 1 findet keine Anwendung auf eine bloß gelegentliche
Beschäftigung mit einzelnen Dienstleistungen.
§ 11. Arbeitskarte. Die Beschäftigung eines Kindes ist nicht gestattet, wenn
dem Arbeitgeber nicht zuvor für dasselbe eine Arbeitskarte eingehändigt ist. Diese Be-
stimmung findet keine Anwendung auf eine bloß gelegentliche Beschäftigung mit einzelnen
Dienstleistungen.
Die Arbeitskarten werden auf Antrag oder mit Zustimmung des gesetzlichen \'er-
treters durch die Ortspolizeibehörde desjenigen Ortes, an welchem das Kind zuletzt seinen
dauernden Aufenthaltsort gehabt hat, kosten- und stempelfrei ausgestellt; ist die Erklärung
des gesetzlichen Vertreters nicht zu beschaffen, so kann die Gemeindebehörde die Zu-
stimmung ergänzen. Die Karten haben den Namen, Stand und letzten Wohnort des
gesetzlichen \'ertreters zu enthalten.
Der Arbeitgeber hat die Arbeitskarte zu verwahren, auf amtliches Verlangen vor-
zulegen und nach rechtmäßiger Lösung des Arbeitsverhältnisses dem gesetzlichen Vertreter
wieder auszuhändigen. Ist die Wohnung des gesetzlichen Vertreters nicht zu ermitteln,
so erfolgt die Aushändigung der Arbeitskarte an die im Abs. 2 bezeichnete Ortspolizei-
behörde.
Beschäftigung eigener Kinder.
^ 12. Verbotene Beschäftigungsarten. In Betrieben, in denen gemäß den
Bestimmungen des § 4 fremde Kinder nicht beschäftigt werden dürfen, sowie in Werk-
stätten, in welchen durch elementare Kraft (Dampf, Wind, Wasser, Gas, Luft, Elek-
trizität usw.) bewegte Triebwerke nicht bloß vorübergehend zur Verwendung kommen,
ist auch die Beschäftigung eigener Kinder untersagt
v:j 13. Beschäftigung im Betriebe von Werkstätten, im Handels-
gewerbe und in \'erkeh rsgew erben. Im Betriebe von Werkstätten, in denen die
54 Volksschulweseii.
Beschäftigung von Kindern nicht nach § 12 verboten ist, im Handelsgewerbe und in
Verkehrsgewerben dürfen eigene Kinder unter zehn Jahren überhaupt nicht, eigene Kinder
über zehn Jahre nicht in der Zeit zwischen 8 Uhr abends und 8 Uhr morgens und nicht
vor dem Vormittagsunterricht beschäftigt werden. Um JMittag ist den Kindern eine
mindestens zweistündige Pause zu gewähren. Am Nachmittage darf die Beschäftigung
erst eine Stunde nach beendetem Unterrichte beginnen.
Eigene Kinder unter zwölf Jahren dürfen in der Wohnung oder Werkstätte einer
Person, zu der sie in einem der im § 3 Abs. 1 bezeichneten Verhältnisse stehen, für
Dritte nicht beschäftigt werden.
An Sonn- und Festtagen dürfen auch eigene Kinder im Betriebe von Werkstätten
und im Handelsgewerbe sowie im Verkehrsgewerbe nicht beschäftigt werden.
§ 14. Besondere Befugnisse des Bundesrats. Der Bundesrat ist ermächtigt,
für die ersten zwei Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes für einzelne Arten der
in § 12 bezeichneten Werkstätten, in denen durch elementare Kraft bewegte Triebwerke
nicht bloß vorübergehend zur Verwendung kommen, und der im § 13 Abs. 1 be-
zeichneten Werkstätten Ausnahmen von den daselbst vorgesehenen Bestimmungen zu-
zulassen.
Nach Ablauf dieser Zeit kann der Bundesrat für einzelne Arten der in § 12
bezeichneten Werkstätten mit Motorbetrieb die Beschäftigung eigener Kinder nach Maßgabe
der Bestimmungen im § 13 Abs. 1 unter der Bedingung gestatten, daß die Kinder nicht
an den durch che Triebkraft bewegten Maschinen beschäftigt werden dürfen. Auch kann
der Bundesrat für einzelne Arten der im § 13 Abs. 1 bezeichneten Werkstätten Aus-
nahmen von dem Verbote der Beschäftigung von Kindern unter zehn Jahren zulassen,
sofern die Kinder mit besonders leichten und ihrem Alter angemessenen Arbeiten be-
schäftigt werden; die Beschäftigung darf nicht in der Zeit zwischen 8 Uhr abends und
8 Uhr morgens stattfinden; um Mittag ist den Kindern eine mindestens zweistündige
Pause zu gewähren; am Nachmittage darf die Beschäftigung erst eine Stunde nach be-
endetem Unterrichte beginnen. Die Ausnahmebestimmungen können allgemein oder für
einzelne Bezirke erlassen werden.
§ 15. Beschäftigung bei öffentlichen theatralischen Vorstellungen
und anderen öffentlichen Schaustellungen. Auf die Beschäftigung eigener
Kinder bei öffentlichen theatralischen Vorstellungen und anderen öffentlichen Schau-
stellungen finden die Bestimmungen des § 6 Anwendung.
§ 16. Beschäftigung im Betriebe von Gast- und Schankwirtschaften.
Im Betriebe von Gast- und von Schankwirtschaften dürfen Kinder unter zwölf Jahren
überhaupt nicht und Mädchen (§ 2) nicht bei der Bedienung der Gäste beschäftigt werden.
Die untere Verwaltungsbehörde ist befugt, nach Anhörung der Schulaufsichtsbehörde in
Orten, welche nach der jeweilig letzten Volkszählung weniger als 20 000 Einwohner
haben, für Betriebe, in welchen in der Regel ausschließlich zur Familie des Arbeitgebers
gehörige Personen beschäftigt werden, Ausnahmen zuzulassen. Im übrigen finden auf die
Beschäftigung von eigenen Kindern die Bestimmungen des § 13 Abs. 1 Anwendung.
§ 17. Beschäftigung beim Austragen von Waren und bei sonstigen
Botengängen. Auf die Beschäftigung beim Austragen von Zeitungen, Milch und Back-
waren finden die Bestimmungen im v< 8, § 9 Abs. 3 daim Anwendung, wenn die Kinder
füf Dritte beschäftigt werden.
Im übrigen ist die Beschäftigung von eigenen Kindern beim Austragen von Waren
und bei sonstigen Botengängen gestattet. Durch Pohzeiverordnungen der zum Erlasse
solcher berechtigten Behörden kann die Beschäftigung beschränkt werden.
In § 18 wird der Begriff der „Werkstätten im Sinne des Gesetzes",
in § 19 der der gesetzlichen Zeit im Verhältnis zur Ortszeit näher bestimmt.
tj 20 handelt über die Befugnis der zuständigen Polizeibehörden, gewisse Fie-
Zur Geschichte der deutschen Volksschule. 55
schäftigungen, sofern dabei erhebliche Mißstände zutage getreten sind, im Wege der Ver-
fügung einzuschränken, § 21 von der Aufsicht über die Befolgung der gesetzlichen Be-
stimmungen, § 22 über die zuständigen Behörden, §§ 23 — 29 geben die Strafbestimmungen
im Falle des Zuwiderhandelns gegen diese gesetzliche Bestimmungen an, und § 31 setzt
den Termin für das Inkrafttreten des Gesetzes auf den 1. Januar 1904 fest.
Dieses Gesetz wird voraussichtlich einen großen Teil der
schweren Schädigungen beseitigen, welche heute die deutsche Jugend
zu tragen hat. Aber auch bei der strengsten Durchführung aller
Paragraphen wird noch ein weites Feld für neue gesetzgeberische
Maßnahmen auf diesem Gebiete, besonders auch zugunsten der in
der Landwirtschaft erwerbstätigen Schulkinder übrig bleiben.
S c h 1 u ß b e m e r k u n g.
Der gesetzgeberischen Arbeit des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiete
der preußischen Volksschule und der Volksschule in den anderen
deutschen Staaten, aus welcher der gegenwärtige Zustand der Schule
hervorgegangen ist, wird noch in einem der folgenden Kapitel dieses
Werkes gedacht werden. Wenn wir den Werdegang, welchen dieser
große Zweig der öffentlichen Verwaltung im 19. Jahrhundert durch-
laufen hat, mit früheren Perioden der deutschen Schulgeschichte ver-
gleichen, so drängen sich uns mit aller Deutlichkeit folgende Er-
scheinungen auf: Das Volksschulwesen verdankte in früheren Jahr-
hunderten seine Fortschritte und sein Gedeihen ausschließlich der
Einsicht und dem Wohlwollen erleuchteter Fürsten und Regierungen.
Es fehlte an der Sicherheit einer stetig fortschreitenden Entwicklung.
Der Gothaische Schulmethodus konnte zu einer segensreichen
Wirkung nicht gelangeii, weil die Nachfolger des ehrwürdigen
Herzogs Ernst das Geschaffene vernachlässigten und in der Nach-
ahmung des Versailler Hofes die Befriedigung ihres Ehrgeizes suchten.
Die dürftigen Mittel, welche den Fürsten jener Zeit die vielfachen
Kriegshändel und zuweilen die Unterhaltung eines üppigen Hofstaates
übrig ließen, reichten nur selten dazu aus, um einen ehrenwerten
Lehrerstand vorzubilden und zu ernähren, um die notwendigen Schul-
häuser zu bauen und für genügende Kontrolle des Schulbesuchs zu
sorgen. Die breiten Schichten der Bevölkerung waren arm und
unwissend und nahmen kein selbständiges Interesse an der Förderung
des Volksschulwesens.
Jetzt ruht der Fortschritt der Volksschule in den deutschen
Staaten wie in den anderen Kulturländern auf sicherer, verfassungs-
mäßiger Grundlage, die Schuleinrichtung'en sind als ein untrennbares
56 \'olksschul\vesen.
Glied der geordneten Staatsverwaltung eingefügt, die finanziellen
Leistungen, an denen sich Staat und Gemeinden beteiligen, sind durch
feststehende Schuletats dauernd gesichert, ein \'on der Größe seiner
Aufgabe tief durchdrungener Stand v^on Volksschullehrern bietet in
seinem Bestehen eine sichere Garantie für die stetige Fortent-
wicklung aller Schuleinrichtungen, schließlich, und das ist das
wichtigste, ist das gesamte Volk ebenso wie seine Herrscher und
Regierungen fest überzeugt von der Notwendigkeit einer allgemein ver-
breiteten, stetig fortschreitenden Jugend- und Volkserziehung.
KAPITEL II.
Allgemeine Übersicht und konfessionelle Verhältnisse.
1. Allgemeine Übersicht.
Wenn wir nun dazu übergehen, ein Bild von dem heutigen
Stande des deutschen Volksschuhvesens zu zeichnen, so wollen wir,
um die ersten Umrißlinien zu gewinnen, zunächst einige leicht über-
sehbare runde Zahlen geben, denen wir später im einzelnen ge-
nauere Angaben folgen lassen werden.
Das Deutsche Reich hatte nach der letzten Zählung vom
1. Dezember 1900 eine Gesamtbevölkerung von fast 561/.2 Millionen.
Davon waren 27-^/4 Millionen männlich und nahezu 28'V4 Millionen
weiblich. Schulpflichtige Kinder (im Alter von () — 1 4 Jahren i wurden
im ganzen 9,8 Millionen gezählt, die sich auf Knaben und Mädchen
in der Weise verteilen, daß die ersteren um rund 20 000 überwogen.
Der weitaus größte Teil der schulpflichtigen Jugend, nämlich 8,9 Mil-
lionen oder 90,80',,, erhält Unterricht und Erziehung in den öflent-
lichen Volksschulen, während der Rest (0,9 Millionen oder 9,2%) in
anderen Anstalten (mittleren und höheren Schulen, Privatschulen,
Taubstummen- und Blindenanstalten usw. ) untergebracht, bezw. bei
siebenjährigem Schulbesuch der Schule noch nicht überwiesen oder
vor dem 1 4. Jahre bereits entlassen ist. Im ganzen Reiche sind nahezu
60 000 öffentliche Volksschulen vorhanden, an denen 144 000 Lehr-
kräfte (122 000 Lehrer und 22 000 Lehrerinnen i tätig sind, so daß im
Durchschnitt auf je ()1 Schüler eine Lehrkraft kommt.
Die gesamten Unterhaltungskosten der deutschen V^olksschule
beliefen sich auf über 415 Millionen M., oder auf durchschnittlich
47 M. für jedes Schulkind. Von diesen Kosten wurden aus Staats-
mitteln über 120 Millionen M. gezahlt, während nahe an 295 Mil-
58
Volksschulwesen.
Zahl d
Staat
Gesamt-
bevölke-
ning
Schüler in
öffentlichen
Volks-
schulen
öffent-
lichen
Volks-
schulen
Lehrkräfte
weib-
lich
überhaupt
Preußen | 34 472 509] 5670870 36 756
Bayern 6 176 057 873399 7 280
Königreich Sachsen . 4 202 216 685 771 2 273
Württemberg 2 169 480 295 325 2 353
Baden 1 867 944 273149 1 677
Hessen 1 119 893 165 707 984
jMecklenburg-Schwerin 607 770
Sachsen-Weimar . . . 362 873
T^Iecklenburg-Strelitz . 102 602
Oldenburg 399 180
Braunschweig 464 333
Sachsen-^Ieiningen . . 250 731
Sachsen-Altenburg . . 194 914
Sachsen-Coburg-Gotha 229 550
Anhalt 316 085
Schwarzb.-Sondershaus. 80 898
Schwarzb.-Rudolstadt . 93 059
Waldeck 57 918
Reuß alt. L 68 396
Reuß j. 1 139 210
Schaumburg-Lippe . . 43 132
Lippe 138 952
Lübeck 96 775
Bremen 224 882
Hamburg 768 349
Elsaß-Lothringen ... 1719470
Deutsches Reich . . . 56 367 178 8 829 812 58 164
5670 870
873399
685 771
295 325
273149
165 707
59 528
16 057
66 721
81396
44 011
34 448
39 422
52 684
13 918
16 222
10 294
13 206
21 702
7 648
23 895
11 897
27 830
98610
226 102
629
233
614
453
318
197
244
253
94
138
124
60
117
44
128
53
57
182
2 903
76 342
13 866
12 184
2715
10 003
401
4 615
494
3 631
418
2 525
222
979
15
348
34
1 101
120
1 142
151
656
54
495
23
625
79
814
154
211
7
263
2
166
6
162
19
317
20
72
')61
5
187
498
1 653
2 895
158
97
950
2 329
89 208
14 899
10 404
5 109
4 049
2 747
994
382
1 221
1293
710
518
704
968
218
265
172
181
337
79
261
345
595
2 603
5 224
122 145 22 339 144 484
lionen ^l. au.s andern Quellen (Beiträge der Gemeinden, Stiftungen,
Schulgeld) gedeckt wurden.
Auf das Tau.send der Bevölkerung kamen im Durch.schnitt des
ganzen Deutschen Reichs:
schulpflichtige Kinder 1 74,4
Schüler öffentlicher Volksschulen . . . 156,6
öffentliche Volksschulen 1,03
Lehrkräfte 2,56
Volksschul-Unterhaltungsko.sten . . . 7325 M.
Allgemeine Übersicht und konfessionelle Verhältnisse.
59
'
'
Auf das Tausend d. Bevölk
kommen
Auf
Volks^f'^'diintprVialtnnorsl.-nstpn
1 Lehr-
& '
Schülerin
öffentHch.
öfifent-
liche
Lehr-
Volksschul-1
kraft
aus Staats-
Aus
auf 1
Unter-
kommen
Schüler
mitteln
1000 M.
anderen
Quellen
■K 1 .
überhaupt
1000 M.
Schüler
M.
Volks-
schulen
Volks-
schulen
kräfte
haltungs-
kosten
M.
63
73066
196 851
269 917
48
1
1 164,8
1,06
2,6
7 830
59
14 206
35 560
39 766
46
141,4
1,02
2,4
6 439
66
4 773
29 550
34 323
50
163,2
0,54
2,5
8 168
58
3 748
8517
12 265
42
136,1
1,08
2,4
5 654
67
2 396
8 603
10 999
40
146,2
0,90
2,2
5 888
60
2 506
5 369
7 875
48
147,9
0,88
2,5
7 031
60
977
1 590
2 567
43
163,9
1,73
2,7
7 071
42
372
164
536
33
156,6
2,27
3,7
5 229
55
990
1945
2 935
44
167,0
1,53
3,1
7 356
63
754
2 867
3 621
44
175,2
0,97
2,7
7 798
62
592
1371
1963
45
175,5
1,26
2,8
7 829
67
269
1 104
1373
40
176,6
1,01
2,6
7 041
56
494
1271
1765
45
171,7
1,06
3,0
7 691
54
2312
371
2 683
50
166,7
0,80
3,0
8 490
64
201
378
579
42
171,7
1,16
2,6
7 148
61
155
377
532
33
174,4
1,48
2,8
5 720
60
107
252
359
35
177,5
2,14
2,9
6 189
73
33
359
392
30
193,0
0,87
2,6
5 731
64
286
532
818
38
155,9
0,84
2,4
5 876
99
34
179
213
28
177,6
1,02
1,8
4 953
92
303
305
608
25
171,9
0,92
1,1
4 374
34
648
124
772
65
122,9
0,54
3,6
7 975
47
1 597
550
2 147
77
123,7
0,25
2,6
9 546
38
6 908
413
7 321
74
128,3
0,24
3,4
9 529
43
2 630
6 239
8 869
39
131,5
1,10
3,0
5 159
120 357 294 841 415 1'
47
Über die bezüglichen Verhältnisse in den einzelnen Staaten gibt
vorstehende Tabelle Aufschluß, die auf Grund von Veröffentlichungen
des Kaiserlichen statistischen Amts (Statistisches Jahrbuch für das
Deutsche Reich, 24. Jahrgang 1903) aufgestellt ist.
Den Zahlen über die Bevölkerung im allgemeinen liegen die
Ergebnisse der Volkszählung vom I. Dezember 1900 zugrunde. Die
übrigen Angaben beziehen sich bei den meisten Staaten auf das
Jahr 1901. Bei dem Königreich Sachsen auf 1(S99, bei Baden und
Lippe auf 1900, bei Hamburg auf 1902.
60
\'olksschul\vesen.
2. Konfessionelle Verhältnisse.
Über die Religionsveihältnisse der Bevölkerung des Deutschen Reiches gihi
folgende Übersicht auf Clrund der Xolkszählung vom 1. Dezember 1900 Auskunft.
(Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 24. Jahrgang 1903, S. 7).
Am 1.
Dezember
1900 wurden gezählt
Untei
lOOOortsanv
•esen-
Staaten
den Personen sind
Bekenner
anderer
Reli-
gionen
und Per-
und
Landesteile
Christen
Israe-
hten
Christen
Israe-
Evang.
Kathol.
Sonst.
b'ek. "Re-
Ev.
Kath.
Sonst.
liten
ligionen
Preußen
21817 577
12113670
1
139 127 392 322
9 813
633
351
4,0
11
i Bavern
1749 206
4 363 178
7 607
54 928
1 138
283
706
1,2
8,9
Sachsen
3 972 063
198 265
19 103
12416
369
945
47
4,6
3,0
Württemberg . . .
1 497 299
650 392
9 426
11916
447
690
300
4,3
5,5
Baden
704 058
1 131 639
5 563
26132
552
377
606
3,0
14
Hessen
746 201
341 570
7 368
24 486
268
666
305
6,6
22
Meckl.-Schwerin .
597 268
8 182
487
1763
70
983
13
0,8
2,9
Sachsen-Weimar
347 144
14 158
361
1 188
22
957
39
1,0
3,3
Meckl.-Strelitz . . .
100 568
1 612
62
331
29
980
16
0,6
3,2
Oldenburg
309 510
86 920
1334
1359
57
775
218
3,3
3,4
Braunschweig . . .
436 976
24 175
1271
1 824
87
941
52
2,7
3,9
1 Sachsen-Meiningen
244 810
4 170
395
1351
5
976
17
1,6
5,4
j Sachsen-Altenburg
189 885
4 723
206
99
1
974
24
1,1
0,5
Sachsen - Coburg -
(iotha
225 074
3 330
515
608
23
981
15
2,2
2,7
Anhalt
301 953
11699
794
1605
34
955
37
2,5
5,1
27
166
48
164 637
444 48
466 178
177 257
Seh warzb. -Sonders-
hausen 79 593 1 110
Schwarzb. - Kudol-
stadt 1 92 298 676
^\■aldeck ! 55 285 1 831
Reuß alt. Linie . . ' 66 860 1 043
Reuß jung. Linie . 135 958 2 579
Schaumburg-Lippe 41 908 785
Lippe 132 708 5157
Lübeck 93 671 2 190
Bremen 208 815 13 506
Hamburg 712 338 30 903
Elsaß-Lothringen. 372 078 1310 450 4 416 32 264
Deutsches Reich . 35 23 1 1 04 20 327 91 3 203 793 586 833 1 7 535 625 361 siö" 10
205
213
879
670
2 984 I 14 1 0,3 i 2,1
I I !
992 7,3 0,4 0,5
1 i 955 32 2,8 11
1 978 15 6,5 0,7
29 977 19 3,4 1.3
5 972 18 4,1 6,0
3 955 37 1,5 6,3
31 968
23
2,2 7,0
876 1409 276 929 60 3,9 6,3
3 149 17 949 4010 927 i 40 4,1 23
262 216 762 2,6 19
Über die konfessionellen \'erhältnisse in den \"olksschulen liegen für das ganze
Reich ausführliche Zahlen nicht vor. Solche sind nur für Preußen und Bayern und in
beschränktem Maße auch für einige andere Staaten vorhanden.
Allgemeine t bersicht und konfessionelle V'eihiiltnisse. ^ |
Im Königreich Preußen wurden am 27. Juni 1901 gezählt:
Schulen
Schülern Klassen Lehrern Lehrerinnen
evangelische 24 9 1 0 (67,77 %) 3 443 088 66 034 51017 5 069
kathohsche . 1 0 799 (29,38 %) 1936 268 32 677 21083 6 882
jüdische. . 244 (0,66 0/,,) 5939 305 290 9
paritätische. 803 (2,18%; 284 575 5 066 3 943 870
\'on den 76 333 Lehrern waren 53 260 oder 69,77 % evangelisch, 22 735 oder
29,78 % katholisch und 338 oder 0,44 O/q jüdisch, von 12 830 Lehrerinnen 5634 oder
43,91% evangelisch, 7140 oder 55,65 7o katholisch und 56 oder 0,44% jüdisch.
Unter den 3943 Lehrern an paritätischen Schulen waren 2243 oder 56,88 "/g
evangelisch, 1652 oder 41,89% katholisch und 48 oder 1,22% jüdisch, von den 870
Lehrerinnen 565 oder 64,94 " ij evangelisch, 258 oder 29,65 0,1 katholisch und 47 otler
5,40 0,, jüdisch. Unter den 5 670 870 Schulkindern waren:
evangelisch 3 520 743 (62,09 0/,,)
katholisch 2118815 (37,36 O/o)
sonst chrisdich .... 7 290 (0,1 1 0/^)
jüdisch 24 022 (0,43 0/0).
\'on den 3 443 088 Schülern evangelischer Schulen waren :
evangehsch 3 365 916 (97,75 0^,,)
katholisch 61541 (1,79 0/^)
sonst christlich .... 6991 (0,200/o)
jüdisch 8 640 i0,25 0/n).
Von den 1 936 268 Schülern katholischer Schulen waren :
evangelisch 16 342 (0,84",|l
katholisch 1916 527 (98,98 0 „|
sonst christlich .... 39 —
jüdisch 3 283 (0,17 o^).
\'on den 6939 Schülern jüdischer Schulen waren:
katholisch 2 —
jüdisch 6 937 (100o/y).
Von den 284 575 Schülern paritätischer Schulen waren:
evangelisch 138 408 (48,64 0/0)
katholisch 140 745 (49,45 o/„)
sonst christlich .... 260 (0,09 O/q)
jüdisch 5 162 (1,810/,,).
\ on 100 evangelischen .Schulkindern befanden sich in:
evangelischen Schulen 95,60
katholischen „ 0,47
paritätischen „ 3,93.
Von 100 katholischen Schulkindern befanden sich in:
katholischen Schulen 90,45
evangelischen „ 2,90
paritätischen „ 6,65.
^2 \'olks.schuhvesen.
Von 100 jüdischen Schulkindern befanden sich in:
jüdischen Schulen 28,88
evangelischen Schulen 35,97
katholischen „ 13,66
paritätischen „ 21,49.
In Bayern waren von den 7353 \'olksschulen im Schuljahre 1899/00:
evangelisch 1915 (26,0«^' „t
kathohsch 5193 (70,6 %l
jüdisch 86 (1,2 0 q)
paritätisch 159 (2,2 0/ol.
Von insgesamt 18 883 männlichen Lehrkräften (ordentliche Lehrer, Fachlehrer und
Religionslehrer) waren :
evangelisch 5759
katholisch 12 955
jüdisch 164
anderer Konfession 5.
Von insgesamt 7688 weiblichen Lehrkräften (ordentliche Lehrerinnen und Fach-
lehrerinnen) waren :
evangelisch 1 1 89
katholisch 6488
jüdisch 9
anderer Konfession 2.
Unter den männlichen Lehrkräften waren außer den 6464 Religionslehrern noch
30 ordentliche Lehrer (0,2 % aller ordentlichen Lehrer), unter den weiblichen Lehrkräften
1153 ordentliche Lehrerinnen (7,8% aller ordentlichen Lehrerinnen) geistlichen Standes.
Von 864 030 Schülern der Werktagsschulen waren :
evangelisch 242 302 (28,04 0,0)
kathohsch 615 964 (71,29 o/qI
jüdisch 5 039 (0,58%)
anderer Konfession . . . 725 (0,09 O/q).
Von 286 259 Schülern der Feiertagsschulen waren:
evangehsch 74 162 (25,91 o,,!
katholisch 210 971 (73,70 0/,,)
jüdisch . • 969 (0,34 0/,,)
anderer Konfession ... 157 (0,05 0/^).
Im Königreich Sachsen gab es nach dem „Handbuch der Schulstatistik für das
Königreich Sachsen, 19. Ausgabe," am 1. Mai 1903:
öffentliche evangelische Volksschulen . 2251 (97,91 0 q)
katholische „ . 48 (2,09 O;,,).
Außerdem waren noch 12 \'ereins- und Stiftungsschulen und 54 Privatschulen vor-
handen, über deren konfessionellen Charakter keine Angaben vorliegen. Öffentliche
paritätische Schulen gibt es nach der angeführten Quelle nicht.
Von den Schülern waren:
evangehsch 714 395 (96,66 0/^)
katholisch 21 163 (2,86 o/y)
sonstig 3 518 (0,48 o/q).
Unter den Lehrkräften gab es:
evangelische: 11 151 Lehrer und 481 Lehrerinnen, zusammen 11 632 ( 97,97 0/q)
katholische: 216 „ „ 25 „ „ 241 (2,03 0/o).
Alliremeine l'hersiclu und konfessionelle X'erhältnissc. 63
Im Königreich Württemberg gab es nach der amtlichen „Statistik des Unter-
richts- und Erziehungswesens im Königreich Württemberg auf das Schuljahr 1901/2":
evangelische Volksschulen . 1429 (63,97 o,,!
katholische „ . 878 (34,82%)
israelitische „ . 27 (1,21 O/q).
Eigentliche paritätische Schulen gibt es gesetzlich nicht; doch werden vielfach
Schulen des einen Bekenntnisses von einzelnen Schülern des andern gastweise besucht.
Die Zahl der Schüler betrug in den
evangelischen Volksschulen 100 277 Kn., 111685 Mädch., zusammen 211962 (70,49 O/i,)
kathohschen „ 42 485 „ 46 080 „ „ 88 565 (29,42%)
israelitischen „ 196 „ 275 „ „ 471 (0,16%).
Über die Konfession der Lehrer und Lehrerinnen liegen keine Angaben vor.
Im Großherzogtum Hessen gab es nach den „Mitteilungen der Großherzoglich
Hessischen Zentralstelle für die Landesstatistik":
evangelische Volksschulen . 45 (4,58%)")
katholische „ . 46 (4,68%)
paritätische „ . 892 (90,74%)).
Besondere israelitische Schulen gibt es nicht.
Von den Schulkindern waren:
evangelisch 114 040 (67,23%)
kathoHsch 52 757 (31,10 o/q)
israehtisch 2 037 (1,20%)
sonstiger Konfession . . 792 (0,47%).
Über den Bekenntnisstand der Lehrer und Lehrerinnen liegen keine Angaben vor.
Elsaß-Lothringen hatte im Schuljahre 1901/2 unter 2817 öflentlichen Volks-
schulen :
kathoHsche .... 2322 (82,43%) mit 3919 Klassen und 166032 Schülern
evangelische. . . . 393(13,95%) „ 783 „ „ 37 121
israelitische .... 58 (2,06 o/q) „ 63 „ „ 1469
gemischter Konfession 44 (1,56 O/q) „ 292 „ „ 13 277
Von den 88 Privatvolksschulen waren:
katholisch 67 (76,14 O/q) mit 103 Klassen und 3394 Schülern
evangelisch .... 9 (10,23%) „ 9 „ „ 396
israelitisch 2 (2,27 »/u) „ 2 „ „ 26
gemischter Konfession 10 (11,36%) „ 21 „ „ 539
Angaben über das Bekenntnis der Schüler in den konfessionell gemischten Schulen
liegen nicht vor, ebensowenig über das Bekenntnis der Lehrkräfte. Doch gehört hierher
wohl die Angabe, daß von 2809 Lehrern an den öflentlichen Schulen 18 (0,64%), von
35 Lehrern an den Privatschulen 3 (8,57 0/1)), von 2300 Lehrerinnen an den öffenüichen
Schulen 1305 (56,74%) und von den 109 Lehrerinnen an den Privatschulen 82 (75,23 O/q)
geistlichen Standes waren.
Im Hamburgischen Staate waren von den Schülern der (sämtlich konfessionell
gemischten) öffentlichen Volksschulen im Schuljahr 1901/2:
evangelisch 93 395 (95,14%)
katholisch 908 (0,93%)
israelitisch 111 (0,11%)
sonst christlich oder eines anderen Bekenntnisses 3 750 (3,82 %).
KAPITEL III.
Schulgesetze und Schulbehörden, Schulpflichten und
Schullasten.
I. Die Volksschulgesetze.
Die wichtigsten Gebiete des Volksschuhvesens, welche in Deutsch-
land durch die Gesetzgebung geregelt worden sind, lassen sich etwa
folgendermaßen zusammenfassen :
Zunächst haben die Gesetzgeber es meistens für notwendig ge-
halten, das Ziel festzulegen, dem die gesamte Tätigkeit der Volks-
schule dienen soll. Solche Zielbestimmungen richten sich natürlich
nach dem zeitweiligen Vorherrschen gewisser politischer und religiöser
Strömungen, aber sie tragen doch in den meisten deutschen Staaten
ein ziemlich einheitliches Gepräge. Für Preußen gibt es bekanntlich
ein einheitliches Schulgesetz nicht, aber die beiden Entwürfe der
Minister v. Goßler und v. Zedlitz präzisieren in ihrem ersten Paragraphen
das Ziel der Volksschule übereinstimmend folgendermaßen:
„Aufgabe der Volksschule ist die religiöse, sittliche und vater-
ländische Bildung der Jugend durch Erziehung und Unterricht sowie
die Unterweisung derselben in den für das bürgerliche Leben nötigen
allgemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten."
Auch Bayern besitzt kein einheitliches Schulgesetz, doch bringt
die folgende Definition in dem Handbuch des bayerischen Volksschul-
rechtes von Dr. Joh. Anton Englmann (1888j § I den herrschenden
Geist des bayerischen Volksschulwesens und die Anschauungen der
maßgebenden Kreise zum Ausdruck. Es heißt da:
„Die Volksschulen sind öffentliche Anstalten, welche die für das
häusliche, bürgerliche und kirchliche Leben insgemein notwendige
Bildung (Elementarbildung) zu vermitteln bestimmt sind. Sie sollen
die im Elternhause begonnene religiös-sittliche Erziehung der Jugend
während eines gewissen Lebensalters fortsetzen und zur Erlangung
Schulgesetze und Scliulljeliörden, Schuliitlichten und ScluiUasteii. 55
jener Kenntnisse und Fertigkeiten verhelfen, welche für jedermann
ohne Unterschied der Berufsarten zur Erreichung der Lebenszwecke
erfordert werden und daher Gemeinbesitz aller Klassen des Volkes
sein sollen, gleichwie sie auch die Grundlage für alle Weiterbildung
in den einzelnen Berufszweigen sind."
Die Zielbestimmungen in den Schulgesetzen einer Anzahl
anderer deutscher Staaten lassen wir folgen:
J.Zweck der Volksschulen ist religiös-sittliche Bildung und Unterweisung der Jugend
in den für das bürgerliche Leben nötigen allgemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten."
(Württemberg, (besetz vom 29. September 1836 Art. 1.)
„Die \'olksschule hat die Aufgabe, der Jugend durch Unterricht, Übung und Er-
ziehung die Grundlagen sittlich-religiöser Bildung und die für das bürgerliche Leben
nötigen allgemeinen Kenntnisse und Fertigkeiten zu gewähren." (Sachsen. Gesetz vom
26. April 1873 § 1.)
„Der Unterricht in der Volk.sschule soll die Kinder zu verständigen, religiös-
sittlichen Menschen und dereinst tüchtigen Mitgliedern des Gemeinwesens heranbilden."
(Baden. Gesetz vom 8. März 1868 § 25.)
„Die Volksschule hat die Aufgabe, der Jugend durch Unterricht, Übung und
Erziehung die Grundlage religiös-sittlicher und nationaler }5ildung und die für das bürger-
liche Leben nötigen allgemeinen Kenntnisse und Fertigkeiten zu gewähren." (Hessen.
Ciesetz vom 6. Juni 1874 Art. 1.)
„Die \'olksschule hat die .\ufgabe, der Jugend durch Unterricht und Ei-ziehung
die Grundlagen sittlich-religiöser Bildung und die für das bürgerliche Leben nötigen
allgemeinen Kenntnisse und Fertigkeiten zu gewähren." (Sachsen-Weimar. Gesetz vom
24. Juni 1874 § 1.)
„Alle Volksschulen sind so einzurichten, daß die Jugend in denselben eine allgemein
menschliche und bürgerliche sowie eine religiös-konfessionelle Bildung erhält." (Olden-
burg. Revidiertes Staatsgrundgesetz vom 22. November 1852 Art. 87.)
„Die Volksschulen sind öffentliche Lehranstalten, welche die Aufgabe haben, der
Jugend durch Unterricht, Übimg und Erziehung die Grundlagen sittlich-religiöser Bildung
und die für das bürgerliche Leben nötigen allgemeinen Kenntnisse und P'ertigkeiten zu
gewähren." (Coburg. Gesetz vom 27. Oktober 1874 Abs. 1.)
„Die Volksschule soll die Kinder zum bewußten sitthchen Handeln erziehen und
die geistigen Kräfte derselben gleichmäßig entwickeln. Nichts soll gelehrt werden, was
das Fa-ssungsvermögen der Kinder übersteigt, nichts soll dem Gedächtnis derselben ein-
geprägt werden, was nicht zum Verständnis der Kinder gebracht worden ist." (Gotha.
(iesetz vom 26. Juni 1872 § 3.)
„Die niedere oder Elementar- Volksschule hat die Aufgabe, zu der für das Leben
im Staat und in der Kirche sowie für das Berufsleben erforderlichen Bildung die all-
gemeinen Grundlagen durch Unterricht, Übung und gemeinsame Ordnung zu schaffen."
(Waldeck. Gesetz vom 9. Juli 1855 ^ '■)
Wenn wir von der Zielsetzung im gothaischen Schulgesetz ab-
sehen, so werden der Volksschule im wesentlichen zwei Aufgaben
ge.stellt, die sittlich-religiöse Bildung und die Einprägung der für das
bürgerliche Leben erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten. Die
Pflege vaterländischer Gesinnung bildet die selbstverständliche Vov-
aussetzung für die Behandlung aller Lehrgegenstände.
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. S
66 Volksscluilwesen.
In dem gothaischen Schulgesetz tritt das konfessionell-religiöse
Element in den Hintergrund, und seine Stelle wird durch die Er-
ziehung der Kinder zum bewulsten sittlichen Handeln ersetzt.
Wir haben gesehen, daß bereits in den Schulordnungen des
1o. und 19. Jahrhunderts die Idee der allgemeinen Schul-
pflicht in verschiedenen deutschen Staaten ausgesprochen wurde.
In Preußen finden sich erst in den Principia regulativa vom
1 . August 1 736, nach welchen das Landschulwesen im Königreich
Preußen eingerichtet werden sollte, eingehendere Vorschriften, die
dann durch das Königlich Preußische Landschulreglement vom
12. August 1763 und später durch das Allgemeine Landrecht für die
preußischen Staaten von 1 794 näher ausgeführt und bestimmt wurden.
Die Punkte, auf welche es bei diesem Gebiet der Gesetzgebung an-
kommt, sind: Beginn und Schluß der Schulpflicht, späterer Eintritt
wegen Krankheit oder weiten Schulweges, vorzeitige Entlassung oder
Dispensation, die Kontrolle des Schulbesuchs und die den Schul-
aufsichtsbehörden zustehenden Zwangsmittel, um die säumigen Eltern
oder deren Stellvertreter zu veranlassen, für den regelmäßigen Schul-
besuch der ihnen anvertrauten Kinder zu sorgen.
„Die Schulpflicht, welche auch in den einzelnen Landesteilen Preußens nicht immer
mit gleichen Lebensjahren beginnt und endet, erstreckt sich in Bayern vom 6. bis zum
zurückgelegten 13. Jahre, ebenso in Elsaß-Lothringen für Mädchen, in ^^'ürttemberg und
Lippe-Detmold vom 7. bis zum 14., in den übrigen Bundesstaaten vom 6. bis 14. Lebens-
jahre. Li einzelnen Staaten, wie in Elsaß-Lothringen, Bayern und Württemberg, ist die
Entlassung aus der Volksschule von einer Abgangsprüfung abhängig. Geistig und sittlich
nicht genügend reife Volksschüler können überall (in Baden wenigstens die Knaben) ein
Jahr, in Württemberg sogar zwei Jahre über die gesetzliche Schulpflicht hinaus in der
^'olksschule zurückgehalten werden. Manche der deutschen Staaten haben auch eine über
das schulpflichtige Alter hinausgehende Verpflichtung zum Besuche von Fortbildungs-,
Sonntags- und Feierabendschulen eingeführt. So verlangt Baden einen solchen Schul-
besuch von den Knaben zwei Jahre lang, von den Mädchen ein Jahr; Bayern, Sachsen
und Hessen fordern ihn drei Jahre hindurch; Württemberg hat das 18. Lebensjahr als
Grenze hierfür festgesetzt; in .Sachsen-Coburg-Gotha, Schwarzburg-Sondershausen und
Waldeck (nur im Winter) besteht ein zweijähriger Kursus für Knaben, in Sachsen-
Meiningen (im Winter, in den Städten auch im Sommer) für beide Geschlechter.
Zeitliche oder vorübergehende Befreiungen von der Ableistung der allgemeinen
Schulpflicht in der Volksschule werden aus gesundheitlichen, wirtschaftlichen und ähnlichen
Rücksichten überall gestattet, haben aber einen Beschluß der Schulbehörden zur Voraus-
setzung, so daß ein Mißbrauch der Schulpflichtbefreiungen ausgeschlossen ist. Selbst-
verständlich fällt der Zwang zum Besuche der Volksschulen fort, wenn und soweit für
die ordnungsmäßige Beschulung der Pflichtigen anderweit gesorgt ist und dafür der Nach-
weis erbracht wird." *)
*) A. Petersilie. Das öftentliche Unterrichtswesen im Deutschen Reiche und in
den übrigen europäischen Kulturländern. Leipzig 1897. Bd. II S. 126—127. (Hand- und
Lehrbuch der Staatsvvissenschaften, herausgegeben von Kuno Frankenstein. 3. Abt., Bd. III.)
Schulgesetze und Scluill)fliör(lcu, SchulptliclUen und SchuUasten. 57
Über die Organisation der Volksschule, d. h. über Umfang
und Ausbau der gesetzlich gebotenen Volksschuleinrichtungen ent-
sprechend den örtlichen V^erhältnissen, bestehen in den meisten
deutschen Staaten keine allgemeingültigen Vorschriften. Den
Gemeinden wird bei der Ausgestaltung ihrer Schulorganismen ver-
hältnismäßig große Freiheit gewährt. Nur in Sachsen verlangt das
Schulgesetz, daß an Orten, in welchen die Kinderzahl hierzu aus-
reicht und die örtlichen Verhältnisse es gestatten, eine gegliederte
Volksschule eingerichtet wird.
Über die Normalzahl der den einzelnen Klassen zuzuweisenden
Schulkinder bestehen in einigen Staaten gesetzliche Vorschriften.
Diese normalen Klassenfrequenzen sind: für Hamburg, Lübeck und
Waldeck 50 Kinder, für Bremen 50 — 60, für Sachsen, Lübeck-Land
und Meiningen 60, für Preußen in einklassigen Schulen 80, in
mehrklassigen nicht über 70, in Elsaß-Lothringen, Hessen, Reuß
j. Linie 80.
„Die Lehrgegenstände der Volksschulen sind im allgemeinen in allen Staaten
dieselben wie in Preußen: Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen, Anfänge der Raumlehre,
Zeichnen, Geschichte, Geographie, Naturkunde, Gesang, Turnen, weibliche Handarbeiten.
Nur Mecklenburg-Schwerin hat auf dem Lande für Geschichte und Naturkunde keine
besonderen Stunden angesetzt und betreibt Deutsch und Geographie nur in den Domanial-
schulen (ursprünglich landesherrlichen Patronates). Raumlehre hat neben dem Rechnen
keine Stelle in Bayern, wo der Unterricht in weiblichen Handarbeiten auch nur in Unter-
franken und der Oberpfalz obligatorisch ist. Andererseits hat Braunschweig neben
geordnetem Religionsunterricht noch Bibelkunde und Rehgionsgeschichte sowie Welt-
geschichte und „die Lehre vom menschlichen Körper und der menschlichen Seele",
Hamburg außer den übrigen Gegenständen des Volksschulunterrichts Geometrie und
Algebra, Englisch und Französisch, Physik und Chemie , da nur bei den Wenigst-
bemittelten die Aneignung fremder Sprachen als entbehrlich erachtet wird.
Die Volksschulen sind in einzelnen Staaten ihrer lehrplanmäßigen Einrichtung nach
in verschiedene Grade geteilt; so bestehen neben den „einfachen" in Sachsen „mittlere"
und „höhere", in Baden, Hessen, Oldenburg und Anhalt erweiterte bezw. „gehobene",
die nicht nur klassenmäßig, sondern auch nach ihren Lehrzielen (durch Hinzunahme
fremder Sprachen usw.) und ihrer Lernzeit über den Rahmen eigentlicher \'olksschulen
hinausgehen."*)
Auch das V^erhältnis der Volksschule zu der Fortbildungsschule
ist ein Gebiet der Gesetzgebung. Ein Fortbildung.szwang besteht nur
in Bayern, wo die Feiertagsschule obligatorisch ist. Die Regelung des
Verhältnisses zwischen Kirche und Schule spielt in den Staaten mit
*) Petersilie a. a. O. S. 128—129. \gl. auch W. Rein. Encyklopädisches Hand-
buch der Pädagogik. Bd. VIL Langensalza 1899. S. 1027 f. — Eine neue zweite Aus-
gabe dieser wertvollen pädagogischen Encyklopädie ist augenblicklich im l-"rscheinen be-
grifien, der erste Band (bis „Degeneration") liegt bereits vor.
58 Volksschulwesen.
Stark konfessionell gemischter Bevölkerung eine bedeutende Rolle.
Die Simultanschule ist gesetzlich in Baden, Hessen, Weimar und
Meiningen eingeführt. Die Erteilung des Religionsunterrichts und die
Mitwirkung der Geistlichkeit der verschiedenen Konfessionen bei der
Leitung und Beaufsichtigung dieses Unterrichtsgegenstandes ist in den
meisten Staaten durch Gesetze geregelt.
Die Ausbildung der Lehrer, ihre Anstellung, Besoldung,
Pensionierung, ihre Disziplinarverhältnisse sowie die Ver-
sorgung ihrer Hinterbliebenen sind in fast allen Staaten gesetz-
lich geregelt.
Die Voraussetzung für die Anstellung als Lehrer oder Lehrerin
ist überall vollständige und planmäßige Vorbildung und Ablegung
der staatlicherseits verordneten Prüfungen. Bei Lehrern verleiht sonst
das Bestehen der am Schlüsse der Seminarzeit abzulegenden ersten
Prüfung (Entlassungsprüfung, Seminarschlußprüfung usw.) das Recht
zur vorläufigen (widerruflichen, provisorischen usw.; Anstellung im
Schulamte, welche in Bayern vier Jahre, in Sachsen, Württemberg
und Hessen zwei Jahre, in Baden drei bis sechs Jahre dauert. In
Bayern und Hessen ist die Ausbildung auf einem staatlichen Seminar
obligatorisch. In Sachsen müssen nicht seminarisch vorgebildete Lehr-
amtskandidaten mindestens 19 (Lehrerinnen lo) Jahre alt sein, wenn
sie zur ersten Prüfung zugelassen werden wollen. Mitglieder geist-
licher Orden sind in Baden und Hessen vom Lehramte ausgeschlossen.
In Bayern müssen Ordensschwestern, um zum Lehramte zugelassen
zu werden, die zweite (Befähigungs-i Prüfung ablegen. Die Lehre-
rinnen müssen in der Regel unverheiratet sein und während der
Dauer ihrer Lehrtätigkeit unverheiratet bleiben.
Die Pflichten der Lehrer regeln sich im allgemeinen nach den
für Staatsbeamte geltenden Gesetzen, da die Lehrer zwar in der Regel
nicht als Staatsdiener, wohl aber als mittelbare Staatsbeamte angesehen
werden. Hieraus ergeben sich mancherlei Beschränkungen ihrer staats-
bürgerlichen Rechte ; so dürfen sie Nebenbeschäftigungen gegen Ent-
gelt nicht oder nur unter Zustimmung der Aufsichtsbehörde über-
nehmen, dürfen nach Reichsrecht weder zu Schöffen noch zu Ge-
schworenen berufen werden, dürfen hier und da Ämter (auch unbe-
soldete) der Selbstverwaltung nicht führen, dürfen nicht Jagdpächter
im Schulsprengel (Bayern; sein u. dergl. m. Dagegen haben sie ge-
wisse Rechte auf strafrechtlichen Schutz, auf Schutz bei der Zwangs-
vollstreckung usw. und vor allem in den meisten Staaten das wichtige
Schulgesetze und Schulbehönlen, Schulptlichten und Srluillasteu. 69
Recht auf den Gehaltsbezug, die Pension und die Versori^ung der
Witwen und Waisen*).
Die Schulunterhaltungspflicht liegt für die Volksschule in
allen deutschen Staaten der politischen oder einer besonders gebildeten
Schulgemeinde ob. Anteilweise sind auch der Staat, in wenigen
Bundesstaaten auch die größeren Kommunalverbände an der Auf-
bringung beteiligt, und dieser Verpflichtung der Gemeinden entsprechen
bestimmte Rechte; nur im Herzogtum Anhalt ist die Volksschule aus-
schließlich eine staatliche Anstalt. Zu den Rechten der Gemeinde,
die der Aufbringung der Schullasten gegenüberstehen, gehört die
Wahl der Lehrer und eine gewisse Mitwirkung der Gemeindekörper-
schaften durch ihre Schulvorstände, Schulkommissionen oder Schul-
deputationen bei der Anlage, Einrichtung und Ausstattung der Volks-
schulen. Die Stellung dieser Ortsschulbehörden und ihr Verhältnis zu
den Organen der staatlichen Aufsicht sind in den meisten Staaten
gesetzlich geregelt. Es ist meist Fürsorge getroffen, dai.^ in den
Schulvorständen auch der Lehrerstand vertreten ist.
An der Deckung der Schulunterhaltungskosten ist fast in allen
Staaten der Ertrag des Schul Vermögens beteiligt, oft auch der
des Kirchenvermögens. „Örtliche Stiftungen", ,, Ortsfonds" (so in
Raden), „Landabfindungen" und dergl. werden nach den Gesetzen
der einzelnen Staaten überall zunächst zur Deckung der Schulkosten
herangezogen; in einzelnen Fällen ist sogar Vorsorge getroffen, daß
die Bestandteile eines vorhandenen Schuh-ermögens planmäßig ver-
mehrt, oder daß ein solches neu begründet werde.
Ein anderer Teil des Bedarfes wird aus dem Schulgelde ge-
deckt. Wie in Preußen, so ist dessen Erhebung neuerdings in einigen
anderen Staaten des Reiches eingeschränkt worden; viele haben das
Schulgeld aber beibehalten. So ist es in Sachsen eine gesetzliche
Einrichtung und darf von den Gemeinden nicht abgeschafft werden,
ist vielmehr als Deckungsmittel der Schulunterhaltungskosten in die
erste Stelle gerückt. In Württemberg muß es erhoben werden, so-
bald der Fall des ,, Gemeindeschadens" eintritt, d. h. sobald Umlagen
zur Deckung des Schulbedarfs notwendig werden. Das Schulgeld
wird in der Regel zur Gemeinde-, zuweilen auch zur Staatskasse er-
hoben; in Bayern und Elsaß-Lothringen gebührt es aber dem Lehrer;
in Baden erhält der Lehrer ein bestimmtes Aversum, welches alle
drei Jahre festgesetzt wird und unter einen Mindestbetrag nicht
*) Vergl. Petersilie a.a.O. S. 132.
YQ Volksschulvveseii.
hinabsinken soll. Das Schulgeld ist in Bayern auch für Kinder, welche
die Schule nicht besuchen und privatim unterrichtet werden, zu zahlen ;
ebenso kann in Sachsen durch die Lokalschulordnungen bestimmt
werden, daß auch Kinder, welche die Ortsschule nicht besuchen, zur
Schulgeldzahlung bis zur Hälfte des ortsüblichen Schulgeldsatzes heran-
gezogen werden.
Die Schulaufsicht liegt in Deutschland grundsätzlich in den
Händen des Staates. Keines der neueren Schulgesetze kennt eine
andere als die staatliche Schulaufsicht, allerdings wird dieselbe in
ihren niederen Instanzen meistens durch GeistUche ausgeübt. Eine
fachmännische Aufsicht durch solche Persönlichkeiten, welche aus
dem Stande der Volksschullehrer selbst hervorgegangen sind, ist zur
Zeit nur in seltenen Fällen vorhanden. Die Ausübung der staatlichen
Schulaufsicht durch Geistliche ist vorerst in Baden, Hessen,
Weimar, Gotha, Koburg, Meiningen, Anhalt, Reuß j. L., Hamburg,
Lübeck, Bremen beseitigt worden. Li andern Staaten wird außer der
Ortsschulaufsicht auch die Kreisschulaufsicht in der Mehrzahl der
Fälle nebenamtlich durch Geistliche ausgeübt.
Die staatlichen Listanzen der Aufsicht über die Volks-
schule sind, wenn auch die Namen der Behörden in den einzelnen
Staaten verschieden sind, der Ortsschulinspektor, der Kreis- oder
Bezirksschulinspektor und die Provinzialbehörde, über welcher
dann das Unterrichtsministerium steht. In kleineren Staaten kommt
die Provinzialbehörde in Wegfall.
Auch gewisse Nebenbeschäftigungen der Lehrpersonen, be-
sonders der mit dem Schulamte von Alters her verbundene niedere
Kirchendienst (Küsterdienst) der Volksschullehrer, hat zu gesetz-
lichen Maßnahmen Anlaß gegeben, und ebenso ist das Privat-
schulwesen vielfach Gegenstand der Gesetzgebung geworden.
Die wichtigsten auf das Volksschulwesen in den
deutschen Staaten bezüglichen Gesetze sind in folgender Über-
sicht verzeichnet:
I. Preußen. Wie schon angedeutet, besitzt das Königreich
Preußen z. Z. kein einheitliches Schulgesetz, auch die Verhältnisse der
Volksschule sind nur zum Teil gesetzlich geregelt. Die zahlreichen
Versuche, diese Aufgabe zu lösen, die Entwürfe des Staatsrats Süvern
vom Jahre 1819, des Kultusministers v. Ladenberg vom Jahre 1849,
der Minister v. Bethmann-HoUweg von 1 862, v. Mühler 1 869, v. Goßler
1890, Graf V. Zedlitz 1891/92 haben sämtlich Gesetzeskraft nicht er-
halten. Dagegen sind in Preußen wichtige Spezialgebiete des Volks-
Schulgesetze und Scliulbeliördeii, Schulpilichteii uiul Schullasten. 71
Schulwesens gesetzlich geregelt. Von diesen Schulgesetzen beziehen
sich jene, welche vor dem Jahre 1806 zustande gekommen sind,
der Mehrzahl nach nur auf einzelne Teile der Monarchie und sind,
wie das nicht anders geschehen konnte, in einzelnen Bestimmungen
bereits außer Kraft getreten. In den neueren Provinzen sind v^ielfach
diejenigen Schulgesetze noch in Geltung, welche vor der Einverleibung
derselben in den preußischen Staat zu Recht bestanden; das gilt bei-
spielsweise im- Schleswig-Holstein, Hannover und Nassau.
Durch die preußische Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850
Art. 20 — 26 wurden gewisse Grundlinien für die Regelung des ge-
samten preußischen Schulwesens gezogen. Diese Grundlinien sollten
allerdings nach Art. 26 durch einen weiteren Akt der Gesetzgebung,
durch ein Schulgesetz, näher ausgeführt und erläutert werden, aber
dieses Schulgesetz ist bisher noch nicht zustande gekommen.
Aus der Zeit vor 1866 sind folgende Gesetze noch heute
■i'on Wichtigkeit:
A. Ältere, nur für einzelne Landesteile gültige (besetze:
1. Das allgemeine Landrecht von 1794 Teil II Titel XII (gültig für die alten
Provinzen ( bezw. Ost- und Westpreußen, vergl. auch Ziffer 3).
2. Katholische Schulreglements für Schlesien vom 3. November 1765 und
18. Mai 1801.
3. Schulordnung für die Provinz Preußen (Ost- und WestpreußenJ vom
11. Dezember 1845.
4. Regulativ für Xeuvorpommern (Regierungsbezirk Stralsund) vom 29. August 1831.
5. Allgemeine Schulordnung für die Herzogtümer Schleswig und Holstein vom
24. August 1814.
6. Volksschulgesetz für Hannover vom 26. jSIai 1845 (Zusätze vom 14. Oktober
1848, 5. November 1850 und 9. Oktober 1864j.
7. Nassauisches Schuledikt vom 24. Alärz 1817.
8. Hessen-Homburgisches Edikt vom 9. Oktober 1838.
9. u. 10. Hohenzollernsche Schulordnungen für Sigmaringen vom 8. November 1809,
für Hechingen vom 1. Juni 1833.
B. Die Preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 Artikel 20—26.
C. Neuere, für das ganze Staatsgebiet gültige Ciesetze:
1. Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872.
2. Gesetz, betrefifend die Pensionierung der Lehrer und Lehrerinnen an den
öffenthchen Volksschulen vom 6. Juli 1885.
3. Gesetz über Ruhegehaltskassen für Lehrkräfte öffentlicher Volksschulen vom
23. Juli 1893.
4. Gesetz, betreffend das Ruhegehalt der Lehrer an den öfl'entlichen nichtstaat-
lichen mittleren Schulen und die Fürsorge für ihre Hinterbliebenen vom
11. Juni 1894.
5. Gesetz, betreffend das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den
öfientlichen Volksschulen vom 3. März 1897.
6. Gesetz, betreffend die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Lehrer an
öfl'entlichen Volksschulen vom 4. Dezember 1899.
72 VolksschuUvesen.
Auf die Scliulunterhaltuiigspflicht beziehen siclit
7. Gesetz, betrefl'end die allgemeine Landesverwaltung vom 30. Juli 1883.
8. Gesetz, betreflend die Zuständigkeit der N'eiwaltungsbehördeu ( Zuständigkeits-
gesetz) vom 1. August 1883.
9. Gesetz, betreflend die Feststellung der Anforderungen für die \olksschulen vom
26. Mai 1887.
10. Gesetz, betreffend die Erleichterung der \olksschullasten vom 14. Juni 1888
und Ergänzungen dazu vom 31. Mai 1889.
Aus diesen Gesetzen sind nur noch die Bestimmungen über den
Wegfall des Schulgeldes und die zulässigen Ausnahmen davon in Kraft.
In indirekter Beziehung zur Schule stehen:
11. (besetz, betreffend die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900
und
12. das Reichsgesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben vom
30. März 1903.
II. Ba)'ern. Auch in Bayern fehlt es an einem einheitlichen
Volksschulgesetz, auch hier gelangte ein dem Landtage am 31. Oktober
1867 vorgelegter Gesetzentwurf nicht zur Annahme. Nur wenige
Partien des bayerischen Volksschulwesens sind durch Spezialgesetze
geregelt, im übrigen gelten lande.sherrliche Verordnungen, Ministerial-
und Regierungserlasse. Nur für die Gehaltsverhältnisse der Lehrer
ist durch das Schuldotationsgesetz vom 10. November 1861 eine
Grundlage geschaffen worden. Dasselbe Gebiet ist neuerdings durch
das Schulbedarfsgesetz vom 28. Juli 1902 von neuem geregelt worden.
III. Württemberg. Das württembergische V^olksschulgesetz
vom 29. September 1836 ordnet sämtliche Verhältnisse der Volks-
schule. Dasselbe hat aber im Laufe des 19. Jahrhunderts wesentliche
Abänderungen durch die Gesetze vom (). November 1858, vom
25. Mai 1865, vom 18. April 1872 u. a. m. erfahren. Besondere
Gebiete regeln die Gesetze vom 30. Dezember 1877, betreffend die
Rechtsverhältnisse der Volksschullehrer, vom 13. Juni 1891, betreffend
die Orts.schulbehörde, vom 31. Juli 1899, betreffend die Einkommens-
verhältnisse der Volksschullehrer, die Trennung des Mesnerdienstes
vom Schulamte und die Rechts\'erhältnisse der Lehrerinnen an den
Volksschulen.
IV. Sachsen. Das sächsische Volksschulrecht wurde zum ersten-
mal durch das Gesetz vom 6. Juni 1835 geregelt, das gegenwärtig
gültige Schulgesetz geht aber auf das Jahr 1873 zurück (26. April).
Neben diesem allgemeinen Schulgesetze haben noch
heute Gültigkeit:
1. Gesetze, die Gehaltsverhältnisse der I.elirer an den \'olksschulen betreffend,
vom 4. Mai 1892 und vom 17. Juni 1898.
Schult^esetze und Scliullicliönlcii, Schulpilichteii und Scliullaslen. 73
2. (leset/., die Kmerilierung ständiger I.ehier an den N'ulksschulen betreffend,
vom 31. Mär/, 1870, Nachträge dazu vom 9. April 1872.
3. (leset/, die Errichtung einer Pen.sionskasse für die Witwen und Waisen der
Lehrer an evangelischen Schulen betreffend, vom 1. Juli 1840. Abänderung
und Ergänzung desselben vom 9. April 1872.
4. Gesetz, den Wegfall der Pensionsbeiträge der Geistlichen und Lehrer betreffend,
vom 10. März 1890.
5. Gesetz, Abänderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Pensionsverhältnisse
der ständigen Lehrer an den \'olk.sschulen und an den höheren Schulanstalten
sowie der Hinterlassenen derselben betreffend, vom 25. März 1892.
V. Baden. Das badische Volksschulgesetz vom 8. März 1868
ist durch eine Reihe von späteren Maßnahmen abgeändert und
ergänzt worden. Die wichtigsten Gesetze sind folgende:
1. Gesetz vom 13. Mai 1892 über den Elementarunterricht.
2. Gesetz vom 18. Februar 1874, den Fortbildungsunterricht betreffend.
3. Gesetz vom 4. Mai 1886, die staathche Fürsorge für die Erziehung verwahrloster
jugendlicher Personen betreffend.
4. Beamtengesetz vom 24. Juli 1888.
5. Gehaltsordnung (neueste) vom 9. Juli 1902 (4. und 5. regeln auch die
\'erhältnisse der Lehrer und Lehrerinnen).
6. Gesetz zur Abänderung des Gesetzes, die Gehaltsverhältnisse der Lehrer an den
Volksschulen und die Gewährung von Staatsbeihilfen zu den Alterszulagen
derselben betreffend, vom 17. Juni 1898, sowie zur Abänderung einer
Bestimmung des Gesetzes, das N'olksschulwesen betreffend (vom 26. April 1873),
vom 26. Februar 1900.
VI. Hessen. Für Hessen sind folgende Gesetze für das
X^olksschulvvesen maßgebend :
1. Volksschulgesetz vom 16. Juni 1874.
2. Lehrergehaltsgesetze vom 9. März 1878 und 2. Januar 190L
3. Gesetz, betreffend Pensionierung der Lehrer und Lehrerinnen, vom 1 . Oktober 1 870.
4. Gesetz, betrefl'end Versorgung der Witwen und Waisen der \'olksschullehrer,
vom 21. Juli 1900.
VII. Die Übrigen Staaten.
1. Großherzogtum Oldenburg: Staatsgrundgesetz vom 22. November 1852,
\'. Abschnitt: Von den Unterrichts- und Erziehungsanstalten. Gesetz, betreffend
Einrichtung des Schul- und Erziehungswesens (Schulgesetz vom 3. April 1855,
abgeändert 27. Juli 1868, 5. März 1888 und 1. April 1897 1.
Fürstentum Lübeck: Gesetz, betreffend das Unterrichts- und Erziehungs-
wesen, vom 15. Januar 1873, abgeändert 1. April 1897.
2. Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Streli tz: Kein Schulgesetz.
3. Sachsen- Weimar: Gesetz über das Volksschulwesen vom 24. Juni 1874,
Nachtrag vom 7. März 1877, 27. März 1889 und 1. Januar 1899.
4. Braun schweig: Gesetz über die Gemeindeschulen vom 8. Lezember 1851
und 27. Oktober 1898.
5. Anhalt: Schulgesetz vom 22. April 1850, vielfach durch Spezial-Gesetze ergänzt,
z. B. durch die Gesetze vom 21. Februar 1873, 24. März 1883, 12. April 1897.
6. Sachsen-Gotha: Schulgesetz vom 1. Juli 1863 und 26. Juni 1872.
7. Sachsen-Coburg: Schulgesetz vom 24. Oktober 1874.
8. Sachsen -Meiningen: Schulgesetz vom 22. März 1875.
74 Volksschulwesen.
9. Sachsen-Altenbuig: Schulgesetz vom 12. Februar 1889.
10. Reuß ältere Linie: Schulgesetz vom 4. Dezember 1874.
11. Reuß jüngere Linie: Schulgesetz vom 4. November 1870 und 31. Juli 1900.
12. Schwarzburg-Sondershausen: Gesetz über das Volksschulwesen vom
6. Mai 1852.
13. Schwarzburg-Rudolstadt: Gesetz üt)er das \\)lksschulwesen vom
22. März 1861.
14. Lippe: Volksschulgesetz vom 14. Juni 1885.
15. Schaumburg-Lippe: Gesetz über das N'olksschulvvesen vom 4. ]März 1875.
16. Waldeck: Schulgesetz vom 1. Oktober 1846 und Schulordnung vom
9. Juli 1855.
17. Hamburg (freie Stadt): Gesetz, belreflend das l"nterrichtswesen, vom
n. November 1870, nebst Zusätzen vom 11. Februar 1874 und Abänderungen
vom 8. November 1876 und vom 22. Juni 1894.
18. Bremen (freie Stadt J: Gesetz, betrefiend die Lehrerprüfungen, vom
4. Juli 1893.
19. Lübeck (freie StadtJ: Unterrichtsgesetz vom 20. Oktober 1885.
20. Elsaß-Lothringen: Gesetz, betrefiend das L'nterrichtswesen, vom
12. Februar 1873.
2. Die Schulbehörden.
Über die Staats- und Gemeinde-Behörden, denen die Aufsicht
und Verwaltung der Volksschulen in Deutschland obliegen, ist bereits
an einer früheren Stelle gesprochen worden. Wie sich diese Ver-
hältnisse in den einzelnen Bundesstaaten historisch entwickelt haben,
kann hier natürlich nicht erschöpfend dargestellt werden; es mag
genügen, wenn wir den Leser einen Blick in die wichtigsten Be-
stimmungen über die Schulaufsicht in Preußen und einigen anderen
größeren deutschen Staaten werfen lassen.
I. Preußen. Die Artikel 23 und 24 der Preußischen Ver-
fassungs-Urkunde vom ,31. Januar 1850 lauten:
„Alle öffentlichen und Privatunterrichts- und Erziehungsanstalten
stehen unter der Aufsicht vom Staate ernannter Behörden. Die
öffentlichen Lehrer haben die Rechte und Pflichten der Staatsdiener.
Bei der Einrichtung der öffentlichen Volksschulen sind die
konfessionellen Verhältnisse möghchst zu berücksichtigen. Den
religiösen Unterricht in der Volksschule leiten die betreffenden
Religionsgesellschaften.
Die Leitung der äußeren ^Vngelegenheiten der Volksschule steht
der Gemeinde zu. Der Staat stellt unter gesetzlich geordneter Be-
teiligung der Gemeinden aus der Zahl der Befähigten die Lehrer der
öffentlichen Volksschulen an."
Das Gesetz vom I 1 . März 1 872, betreffend die Beaufsichtigung
des Unterrichts- und Plrziehungswesens, fügt in §§ 1—3 hinzu:
.Schulgesetze und Scluilbehörclen, SchulpHichteii und Schullasten. 75
„Unter .\.ufhcbun<^ aller in einzelnen Lande.steilen entgegen-
.stehenden Bestimmungen steht die Aufsicht über alle öffentlichen und
Privatunterrichts- und Erziehungsan.stalten dem Staate zu.
Demgemäß handeln alle mit dieser Aufsicht betrauten Behörden
und Beamten im .Vuftrage des Staates.
Die Ernennung der Lokal- und Kreisschulinspektoren und die
Abgrenzung ihrer Aufsichtsbezirke gebührt dem Staate allein.
Der vom Staate den Inspektoren der Volksschule erteilte Auftrag
ist, sofern sie dies Amt als Neben- oder Ehrenamt verwalten, jeder-
zeit widerruflich.
Alle entgegenstehenden Bestimmungen sind aufgehoben.
Unberührt durch dieses Gesetz bleibt die den Gemeinden und
deren Organen zustehende Teilnahme an der Schulaufsicht, sowie der
Artikel 24 der Verfassungsurkunde vom 'A\ . Januar 1850."
Das heutige Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und
Medizinalangelegenheiten, welchem in Preußen auch das gesamte
Volksschulwesen untersteht, i.st im Jahre 1817 von dem Mini.sterium
des Innern abgezweigt worden. Nach der Allerhöchsten Verordnung
vom \'A. Mai 1867 umfaßt die Kompetenz des preußischen Kultus-
ministers für das ganze Gebiet der Monarchie: das Prüfungswesen an
Schulen jeden Grades einschließlich der Universitäten, die Fest-
.stellung der an Prüfungen geknüpften Berechtigungen, die Normierung
der Lehrerbesoldungen und des Schulgeldes, die Feststellung der
Lehrpläne für Schulen jeden Grades einschließlich der Schullehrer-
seminare, die Pensionierung und Emeritierung der Lehrer u. a.
Seit 1882 besteht im preußischen Kultusministerium eine be-
sondere Abteilung für die Unterrichtsangelegenheiten des niederen
Schulwesens (der Volksschule) einschHeßlich der Lehrerseminare,
des Unterrichts für NichtvoUsinnige , des Mädchenschulwesens und
des Turnunterrichts.
Dem Ministerium sind die Provinzialschulkollegien unterstellt.
Zu ihrer Kompetenz gehören die Gelehrtenschulen und die Lehrer-
seminare der ganzen Provinz (in Berlin auch das Volksschulwesen).
Die Volksschulen werden gewöhnlich durch die Abteilungen für
Kirchen- und Schulwesen an den Regierungen der einzelnen Re-
gierungsbezirke beaufsichtigt.
Für die Amtsbefugnisse der Provinzialschulkollegien ist die
Dienstinstruk-tion für die Kon.sistorien vom 28. Oktober 1817 noch heute
maßgebend, für die Abteilungen für Kirchen- und Schulwesen der
75 \'olk.sschul\vesen.
Bezirksregierungen die Geschäftsinstruktion für die Regierungen von
demselben Datum.
Zur Ausübung ihres Aufsichtsrechtes über die Volksschule be-
dient sich die Regierung der Kreisschulinspektoren.
Ihre Amtspflichten sind von verschiedenen Provinzial- und Be-
zirksregierungen zu Dienstanweisungen zusammengefaßt worden. Sie
haben Sorge zu tragen, daß alle inbetreff der ihnen unterstellten
Schulen ergangenen Gesetze und Verordnungen zur Ausführung
kommen. Sie haben sich von dem Zustande der Schulen ihres Amts-
kreises in beständiger und genauer Kenntnis zu erhalten, auf deren
gedeihliche Förderung nach besten Kräften hinzuwirken und, wenn
sie auf Schäden und Mängel stoßen, nach Maßgabe der bestehenden
Bestimmungen dieselben selbst zu beseitigen oder die erforderlichen
Anträge bei der vorgesetzten Behörde zu stellen. Bezüglich ihrer
Wahrnehmungen auf dem äußeren Schulgebiete haben sie geeignete
Anträge an den zuständigen Landrat zu richten. Sie haben auch
das amtliche und außeramtliche Verhalten der ihnen unterstellten
Lehrer und Lehrerinnen zu überwachen. Sie sind berechtigt, den-
selben Warnungen und Verweise zu erteilen; wo das aber nicht aus-
reichend erscheint, sind sie verpflichtet, den Sachverhalt der König-
lichen Regierung vorzutragen. Ihre Aufsicht erstreckt sich auch auf
die amtliche Wirksamkeit der Ortsschulinspektoren; es steht ihnen
die Befugnis zu, denselben Anweisungen zu erteilen und Vorhaltungen
zu machen.
Die Kreisschulinspektoren sind nur zum kleineren Teile Staats-
beamte im Hauptamte; in der Mehrzahl der Fälle werden die
Funktionen des Kreisschulinspektors in Preußen nebenamtlich durch
Geistliche versehen, in vereinzelten Fällen sind auch Stadtschulräte,
Stadtschulinspektoren, Magistrate, Stadtschuldeputationen u. a. wider-
ruflich mit der Kreisschulaufsicht beauftragt.
Der Kreisschulinspektor ist der nächste Vorgesetzte des Orts-
schulinspektors. Diese letztere Stellung wird in Preußen gewöhnlich
\on Geistlichen für ihren Amtsbezirk oder \on Rektoren für ihre
Schule ausgeübt.
Der Ortsschulinspektor ist der nächste Vorgesetzte des Lehrers,
wo nicht Rektoren mit voller Rektoratsbefugnis bestellt sind, für welchen
Fall besondere Bestimmungen gelten.
Die Pflicht des Ortsschulinspektors besteht im allgemeinen
darin, da1?> er die Beobachtung aller auf die \'olksschule überhaupt
Schulgesetze und Schulbehörden, Schulpflichten und Schuliasten. 77
und die besondere Schule bezüt^dichen höheren Orts erlassenen Be-
stimmungen überwacht.
Die Organe der Gemeinde, welchen eine Mitwirkung an der
Verwaltung des Volksschulwesens zaisteht, sind in Preußen die Schul-
deputationen und Schulvorstände.
Für die Zusammensetzung und die Befugnisse der Schuldepu-
tationen ist die Instruktion für die städtischen Schuldeputationen vom
26. Juni 1811 grundlegend. Über die Zusammensetzung bestimmt
^ 2 dieser Instruktion:
„Die Schuldeputationen sollen nach Maßgabe der Größe der
Städte und ihres Schulwesens bestehen aus 1 . einem bis höchstens
drei ^Mitgliedern des Magistrats, 2. ebensoviel Deputierten des Stadt-
verordnetenkollegii, 3. einer gleichen Anzahl des Schul- und Erziehungs-
wesens kundiger Männer und 4. einem besonderen Vertreter der-
jenigen Schulen, welche, ungeachtet sie nicht städtischen Patronats
sind, den Schuldeputationen werden untergeordnet werden. Außer-
dem sollen in den größeren Städten die Superintendenten, inwiefern
sie nicht schon zu ordentlichen Mitgliedern der Schuldeputationen
gewählt sind, das Recht haben, in denselben die Schulangelegenheiten
ihrer resp. Diözesen vorzutragen und darüber ihre Stimme abzu-
geben."
Der Wirkungskreis der Schuldeputationen sowie das von ihnen
auszuübende Aufsichtsrecht wird durch die §§ 10 — 21 näher um-
schrieben. Die wichtigsten Bestimmungen daraus sind folgende:
10. Der Wirkungskreis der städtischen Schuldeputationen dehnt sich zunächst auf
sämtliche I.ehr- und Erziehungsanstalten innerhalb der Städte und deren Vorstädte aus,
welche städtischen Patronats sind, ohne Unterschied der Konfessionen und der ver-
schiedenen Arten und Grade der Schulen. Die städtischen Waisenhäuser, Armen- und
milden Stiftungsschulen sind mit darunter begriflen, und nur in Ansehung der \'erwaltung
konkurriert bei ihnen die Armendirektion.
Ferner werden sämthche Elementarschulen in den Städten, welche nicht städtischen
Patronats sind, und zwar die königlichen ganz uneingeschränkt, die übrigen mit Vorbehalt
der Lehrerwahlen und der Vermögensverwaltung für die Patrone, den städtischen Schul-
deputationen untergeordnet, imgleichen die .Schulen der jüdischen Gemeinden.
Über alle Privatschulen und Institute führen unter der Leitung der Regierung die
Schuldeputationen die Aufsicht, welche der Staat in Ansehung derselben ausübt.
1L Das den Schuldeputationen zugestandene Recht der Aufsicht erstreckt sich
dahin, daß sie auf genaue Befolgung der Gesetze und Anordnungen des Staats in An-
sehung des ihnen untergebenen Schulwesens halten, auf die zweckmäßigste und den
Lokalverhältnissen angemessenste Art sie auszuführen suchen, darauf sehen, daß das
Personal derer, die am Schulwesen arbeiten, seine Pflicht tue, und es dazu anhalten, daß
sie das Streben zum Bessern in demselben anzufachen, endlich daß sie regelmäßigen und
ordentlichen Schulbesuch .sämtlicher schulfähigen Kinder des Orts zu bewirken und zu
befördern suchen.
78 Volksschulwesen.
12. Sie haben deswegen nicht nur die Befugnis, den Prüfungen und Zensuren
der Schulen beizuwohnen, sondern sind auch veipflichtet, diese von Zeit zu Zeit außer-
ordentlich zu besuchen und sich aufs genaueste in ununterbrochener Kenntnis ihres
ganzen inneren und äußeren Zustandes zu erhalten. Vorzüglich liegt dies den sach-
kundigen Mitgliedern der Deputation ob.
In Beziehung auf die Rektoren def größeren Schulen müssen aber die Deputationen
den Gesichtspunkt fassen, daß diesen innerhalb des dui-ch die Gesetze und Vorschriften
des Staates gezogenen oder noch zu bestimmenden Geschäftskreises die freieste Wirksam-
keit zu lassen sei. Obwohl sie daher berechtigt sind, denselben über Gegenstände der
Schuleinrichtung und Verwaltung, worin Verbesserungen möglich oder nötig sind, Vor-
stellungen zu machen, auch erforderlichenfalls sie dazu sowie überhaupt zu ihrer Pflicht
ernstlich zu ermuntern, so haben sie sich doch einer jjositiven Einmiscliung in ihren
amtlichen \\ irkungskreis gänzlich zu enthalten.
16. Ebenso sehr aber wie auf die Tätigkeit der Schuldeputationen in der .\ufsicht
über das Schulwesen wird auf ihren Eifer in der Fürsorge für dasselbe, um es in guten
Zustand zu bringen und darin zu erhalten, gerechnet. Sie haben daher dafür zu sorgen,
daß jeder Ort die seiner Bevölkerung und seiner Bedeutsamkeit angemessene Anzahl und
Art von Schulen erhalte, daß das Vermögen, die Gebäude und sonstigen Pertinenzien
der Schulen ungeschmälert in guter Verfassung und möglichst geschont bleiben, auch daß
sie nach den Bedürfnissen vermehrt, verbessert, zweckmäßiger eingerichtet und verwaltet
■werden. Nach den Bedürfnissen der Schulen in Ansehung des Unterrichts und seiner
Hilfsmittel haben sie sich sorgfältig zu erkundigen und, so oft sie dergleichen wahr-
nehmen oder sie ihnen angezeigt werden, ihnen nach Möglichkeit entweder selbst abzu-
helfen oder den kompetenten Behörden darüber Anträge zu machen. Das Ansehen der
.Schulen und ihrer Lehrer haben sie aufrecht zu erhalten und dahin zu streben, daß diesen
durch eine sorgenfreie Lage die zur Erfüllung ihres verdienstlichen und schweren
Berufes nötige Heiterkeit und Muße erhalten werde. Das Interesse ihrer Mitbürger für
das Schulwesen sollen sie zu beleben und dasselbe zu einem der wichtigsten Gegenstände
ihrer Aufmerksamkeit und Pflege zu machen sich bemühen.
20. Die Lehrerwahlen bleiben bei den Schulen, die rein städtischen Patronats
sind, noch bei den Magistraten, nur daß das Gutachten der sachverständigen Mitglieder
der Schuldeputation jedesmal eingezogen werden muß.
21. Die Verhältnisse der Mitglieder der Schuldeputation untereinander bestimmen
sich nach § 176 der Städteordnung. Sie halten ihre ordentlichen Zusammenkünfte alle
vierzehn Tage auf dem Rathause jedes Orts. Außerdem aber versammeln sie sich, so oft
es nötig ist.
Es steht ihnen frei, Geistliche oder andere sachverständige Männer außer den
Deputationen in vorkommenden Fällen zuzuziehen, auch bei außerordentlichen Veran-
lassungen größere Versammlungen der Prediger, Lehrer oder Schulvorsteher eines Ortes
zu veranstalten.
Durch .spätere Mini.sterialerlasse und Instruktionen sind diese
Funktionen der städtischen Schuldeputationen näher umschrieben und
insbesondere gegenüber den Rechten der anderen staatlichen Auf-
sichtsbeamten, wie der Regierung, des Landrats, der Kreis- und Orts-
schulin-spektoren, abgegrenzt worden.
Den Schuldeputationen der größeren Städte entsprechen in
ihren Funktionen auf dem Lande die Schulvorstände. Der Vorstand
.setzt sich, wofern die Schule nicht königlichen Patronats ist, aus
ihrem Patron, immer aber aus dem Prediger und nach Verhältnis
Schulgesetze und Scliulheliörden, Scliulpllichtcn und Scluillasten. 79
der Schulsozietät aus 2 — 4 Familieiu'ätern zusammen, unter denen,
wo es angeht, der Schulze des Ortes sein muß. Ist die Schule
königlichen Patronats, so bedarf es in dem Vorstande keines Ver-
treters des Patrons. Der Prediger, als Lokalschulinspektor, soll v^or-
nehmlich für das Innere des Schulwesens Sorge tragen, die übrigen
Vorstandsmitglieder für das Äußere (Rundverfügung des Unterrichts-
ministers vom 28. Oktober 1812).
In neuerer Zeit hat der Minister in mehreren Erlassen an die
Regierungen die Aufnahme eines Rektors oder Lehrers in die Schul-
deputationen und Schulvorstände als erwünscht bezeichnet. Bemerkens-
wert ist besonders der Erlaß vom 22. Februar 1902, aus dem folgende
Bestimmungen hier eine Stelle finden mögen:
„Ich mache es den Regierungen wiederholt zur PHicht, daliin zu wirken und
jedenfalls überall da, wo gesetzliche Bestimmungen nicht entgegenstehen, Maßregeln zu
trefl'en, daß die Teilnahme der Lehrerschaft an der Verwaltung der Schule gesichert
wird. Wenn nur ein Lehrer vorhanden ist, wird dieser, vorausgesetzt, daß er endgiltig
angestellt ist, dem Schulvorstande als Mitglied beizutreten haben . . . Sind mehrere Lehrer
vorhanden, so wird die Bestimmung darüber, welcher Lehrer dem Schulvorstande beizu-
treten hat, den Regierungen vorzubehalten sein. In der Regel ist der erste oder älteste
Lehrer hierfür in Aussicht zu nehmen.
Durch den Hinzutritt eines Lehrers in den Schulvorstand soll indes nicht ein
t'hergewicht der amtlichen Vertreter gegenüber den Gemeindevertretern herbeigeführt
werden. Es würde sonach keine Bedenken finden, daß gegebenenfalls die Zahl der zu
wählenden Gemeindevertreter, soweit erforderlich, vermehrt wird.
Die Teilnahme der Lehrer an den Beratungen und Entscheidungen der Schulvor-
stände wird in allen Fällen ausgeschlossen sein, in denen es sich um ihre rein persön-
lichen Angelegenheiten handelt."
II. Bayern. Für die Beaufsichtigung und Leitung des Volks-
schulwesens besteht in Bayern folgender Schulbehörden -Organismus:
„1. Die nächste Aufsicht über die Schulen der einzelnen Schul-
sprengel führen in den einem Bezirksamte untergeordneten (mittel-
baren) Gemeinden als Ortsschulbehörden die Lokalschulinspektionen
im rechtsrheinischen Bayern, die Ortsschulkommissionen in der Pfalz;
in den unmittelbaren Städten rechts des Rheins führen die Stadt-
bezirksschulinspektionen die .Aufsicht über die Schulen der einzelnen
Schulbezirke des Stadtschulsprengels.
2. Über den Lokalschulinspektionen und, Ortsschulkommissionen
.stehen als Distriktsschulbehörden die Distriktsschulinspektionen, welche
gemeinsam mit den einschlägigen Bezirksämtern die Aufsicht über
die zu einem Schuldistrikt vereinigten Schulen führen. Über den
Stadtbezirksschulinspektionen rechts des Rheins .stehen in gleicher
Weise die Stadtschulkommissionen, von denen ein Mitglied Stadt-
schulreferent ist.
80 Volksschulwesen.
'A. Die Oberleitung der sämtlichen Schulen eines Kreises kommt
der Kreisregierung zu, welche einen eigenen Kreisschulreferenten und
einen oder mehrere Kreisschulinspektoren hat und in gewissen Schul-
angelegenheiten durch das Kreisscholarchat unterstützt wird.
4. Die oberste Leitung des Schulwesens im ganzen Königreiche
führt das Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulan-
gelegenheiten, bei welchem ein besonderer Referent für das Volks-
schulwesen aufgestellt ist.
Inbezug auf die rehgiöse Aufgabe der Volksschulen kommt den
kirchlichen Behörden die Aufsicht und Leitung zu."*)
Das erwähnte Kreisscholarchat besteht aus 4 Kreisscholarchen
und 2 Ersatzmännern. Dieselben werden aus den in der Kreishaupt-
stadt oder in deren nächster Nähe wohnenden Rektoren, Professoren,
Distrikts- und Lokalschulinspektoren und sonstigen durch Kenntnisse,
Grundsätze und Moralität ausgezeichneten Pädagogen von dem
Regierungspräsidenten vorgeschlagen; vom Staatsministerium wird bei
dem Könige ihre Ernennung beantragt, und sie versehen ihre F"unktion
unentgeltlich und widerruflich. Sie haben den Sitzungen der Kreis-
regierung über prinzipielle Fragen des öffentlichen Unterrichts mit kolle-
gialer Stimme beizuwohnen und als eigenes Komitee unter dem Vorsitz
des Regierungspräsidenten oder des Regierungsdirektors und unter Teil-
nahme des Kreisschulreferenten jene Beschlüsse zu beraten, welche
auf die jährlichen Visitationsprotokolle der Volksschulen zu erlassen
sind (vgl. Englmann a. a. O. S. 107— 108).
III. Württemberg. Die oberste Aufsicht über alle Unterrichts-
und P>ziehungsangelegenheiten führt das Ministerium des Kirchen-
und Schulwesens. Als Oberschulbehörden wirken unter dem Ministerium
das evangelische Konsistorium und der katholische Kirchenrat, welchen
das gesamte niedere Schulwesen je nach seinem konfessionellen Cha-
rakter nachgeordnet ist, jedoch mit der P^inschränkung, daß die Leitung
des katholischen Religionsunterrichts dem Bischof zusteht. Beide Be-
hörden setzen sich aus geistlichen und weltlichen Mitgliedern und
besonderen, vom Ministerium ernannten fachmännischen Beiräten zu-
sammen und führen die Aufsicht über Prüfung und Anstellung der
Lehrer sowie über die Einrichtungen des Unterrichts und lassen durch
ihre Referenten die Zustände einzelner Schulen und ganzer Bezirke
persönlich untersuchen. Als Organe der Oberschulbehörden haben
*) Job. Anton Kni;lmann. Handbuch des Bayerischen \'olksschiiheclits. I\'. Autl.
von Dr. Eduard Stingl. München 1897. S. 12.
Schulgesetze und Scliulbehöiden, Scluilpflichten und Schullasten. ßl
die Bezirksschulinspektoren (ausnahmslos Geistliche; das Volksschul-
wesen ihres Kreises nach seinetn ganzen Umfange zu beaufsichtigen
und zu leiten. In Verbindung mit dem Oberamtmann bildet der Be-
zirksschulinspektor das gemeinschaftliche Betriebsamt in Schulsachen,
welchem die äußere Leitung der Schulangelegenheiten und die Dis-
ziplin über die Lehrer zusteht. Die örtliche Schulaufsicht in tech-
nischer Hinsicht führt der Pfarrer der Konfession, welcher der Schul-
lehrer angehört. Neben ihm handhabt die Ortsschulbehörde, be-
stehend aus dem Kirchenkonvent, einem bis drei Lehrern und eben-
soviel Mitgliedern der Schulgemeinde, die äußere Leitung des örtlichen
Volksschulwesens, indem die Geschäfte durch die Geistlichen und
Ortsvorsteher gemeinschaftlich geführt werden f Gesetz von 1836;
Schulgesetznovelle vom 25. Mai 1865; Gesetz vom 1. Juli 1876.)*)
IV. Sachsen. Von der Verwaltung und Beaufsichtigung der
Volksschulen in Sachsen handeln die Paragraphen 24 — 38 des Ge-
setzes, das Volksschulwesen betreffend, vom 26. April 1873.
Oberste Schulbehörde ist das Ministerium des Kultus und öffent-
lichen Unterrichts. Der Bezirksschulinspektion, welche in größeren
Städten aus dem Stadtrat und dem Bezirksschulinspektor, im übrigen
aus dem Amtshauptmann und dem letztgenannten besteht, liegt die
Sorge für Ausführung der schulgesetzlichen Bestimmungen sowie die
Leitung der äußeren Schulangelegenheiten ob, während der Bezirks-
schulinspektor die Aufsicht über das Unterrichts- und Erziehungswesen
seines Kreises führt. Die örtliche Aufsicht über die Volksschul-
anstalten steht dem Schulvorstande zu, welcher sich auf dem Lande
und in kleineren Städten aus Gemeindevertretern, Lehrern und dem
Ortspfarrer oder Ortsschulin.spektor zusammensetzt, in größeren Städten
aber als eine dem Stadtrat untergeordnete Deputation darstellt. Die
Beaufsichtigung des Unterrichts selbst wird in beiden Kategorien im
Auftrage des Staates von dem Ortsschulinspektor wahrgenommen.
Die Aufsicht über den Religionsunterricht führen die kirchlichen Or-
gane**).
V. Baden. Für die Schulaufsicht im Großherzogtum Baden
sind in erster Linie maßgebend das Gesetz vom 1 3. Mai 1 892 über den
Elementarunterricht, die landesherrliche Verordnung vom 26. Juni 1 892,
die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden bezüglich auf das Gesetz
über den Elementarunterricht betreffend die Verordnung des Groß-
*) Vgl. Petersilie a. a. O. Bd. I. S. 446.
**) Vgl. Petersilie a. a. O. Bd. 1. S. 44.i I
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III.
g2 Volksschiilwesen.
herzoglichen Ministeriums der Justiz, dc^ Kultus und Unterrichts \om
26. Februar I U94, die Aufsichtsbehörde der Volksschule betreffend.
Dem Ministerium ist der Oberschulrat (Oberschulbehörde j untergeordnet,
welcher die Gelehrtenanstalten unmittelbar, die Volksschulen durch
die Kreisschulräte als Mittelbehörde leitet. Die örthche Aufsicht über
die Volksschule sowie die Verwaltung des gesamten Schulvermögens
wird durch den Gemeinderat unter Zustimmung eines Ortspfarrers
jedes in der Schulgemeinde vertretenen Bekenntnisses sowie des ersten
Lehrers jeder in ihr bestehenden Ortsschule geführt. Durch Ge-
meindebeschlul.\ welcher der Staatsgenehmigung bedarf, kann für An-
gelegenheiten der Volksschule eine besondere (Schul-) Kommission
bestellt werden, deren Einrichtung und Wirkungskreis in gleicher
Weise näher zu bestimmen ist. Der Kommission muß jedenfalls ein
Mitglied des Gemeinderats als \"orsitzender angehören, und es sollen
in ihr die Ortspfarrer der vorhandenen Bekenntnisse sowie die Volks -
schullehrer Vertretung erhalten. Zur Beaufsichtigung einer größeren
Anzahl von Schulen und zur Vermittlung des dienstlichen Verkehrs
der Ortsschulbehörde mit der Oberschulbehörde werden Kreisschul-
räte ernannt. Die Ortsschulbehörde überwacht und besorgt für die
ihrer Aufsicht unterstellte Volksschule den Vollzug der das Schul-
wesen betreffenden Gesetze und Verordnungen sowie die Ausführung
der behördlichen \>rfügungen. Die Pflege der Schulaufsicht ist als
eine allen Mitgliedern gemeinsame Obliegenheit zu behandeln. Die
Ortsschulbehörde vermittelt den dienstlichen Verkehr zwischen den
Lehrern und den .staatlichen Aufsichtsbehörden * i.
VI. B r a u n s c h w e i g. Jede evangelisch-lutherische Gemeinde-
schule soll einen Vorstand haben, dessen Mitglieder sich zur evan-
gelisch-lutherischen Konfession bekennen müssen. Bestehen in einer
Gemeinde mehrere Schulen, so sollen dieselben einen gemeinschaft-
lichen Vorstand haben (Gesetz über die Gemeindeschulen, Neu-
Redaktion vom 27. Oktober 1898, 5 9j.
In den Landgemeinden besteht der Schulvorstand, wenn mehr
als zwei Gemeinden eine gemeinschaftliche Schule haben, aus dem
Vorsitzenden des Kirchenvorstandes der eigentlichen Schulortsgemeinde,
den Gemeindevorstehern des Schulverbandes und dem Schullehrer.
Wenn zwei Gemeinden eine gemeinschaftliche Schule haben, so wird
der Schulvor.stand durch den Vorsitzenden des Kirchenvorstandes der
Schulortsgemeinde, die beiden Gemeindevor.steher, den Schullehrer
*) Vgl. Petersilie a. a. O. Bd. I. S. 432 f.
Schulgesetze und Scliulheli<)rden, Schulpflichten und Schulhisten. 33
und ein in gemcinschattlichcr Sitzung beider Getneinderäte auf drei
Jahre zu wählendes GemeinderatsmitgHed gebildet. Wenn die Schule
nur für eine Gemeinde besteht, ist der Schulvorstand zusammengesetzt
aus dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, dem Gemeindevor-
steher, je einem Mitgliede des Kirchenvorstandes und des Gemeinde-
rats nach deren Wahl und dem Schullehrer. Wird die Schulstelle
von einem Privatpatron besetzt, so ist auch dieser Mitglied des Schul-
vorstandes, kann jedoch für sich einen geeigneten Vertreter bestellen.
Sind an einer Schule mehrere Lehrer angestellt, so ist der den Dienst-
jahren nach älteste Mitglied des Schulvorstandes (^ 10).
In den Städten und den mit einer Bürgerschule versehenen
Flecken besteht der Schuh'orstand aus dem Vorsitzenden des Magistrats
('dem Gemeinde\orsteher) oder, falls sich dieser nicht zur evangelischen
Konfession bekennt, einem anderen Mitgliede des Magistrats be-
ziehungsweise des Gemeinderats, welches dieser Konfession angehört,
aus dem ersten Geistlichen, je einem Mitgliede der Stadtverordneten
('des Gemeinderats) und des Kirchenkonvents oder, wo nur eine
Kirchengemeinde sich findet, des Kirchenv^or.standes, dem Schuldiri-
genten und, so oft es sich um die inneren Angelegenheiten einer
einzelnen Schule handelt, dem ersten Lehrer derselben (5 11).
Den Vorsitz in dem Schulvorstande führt in den Landgemeinden
und den Flecken der Vorsitzende des Kirchenvorstandes, in den
Städten der Vorsitzende des Stadtmagistrats oder der erste Geistliche,
je nach ihrem Dienstalter (§ 1 7).
Der nächste Vorgesetzte einer jeden Landschule und des bei ihr
angestellten Lehrers ist der Geistliche (Ortsprediger) (§ 19).
Die Stadt- und Bürgerschulen stehen in der Regel unter einem
dazu besonders ernannten Dirigenten (§ 20).
Für die Landschulen einer jeden Spezial-Inspektion wird ein
Schulinspektor bestellt. In der Regel wird ein Superintendent mit
dieser Funktion beauftragt.
Die städtischen Schulen sind der unmittelbaren Inspektion des
Herzoglichen Konsistoriums unterworfen (§ 22).
Die Leitung und Beaufsichtigung der Gemeindeschulen für das
ganze Herzogtum führt unter der Oberaufsicht und obersten Leitung
des Staatsministeriums das Herzogliche Konsistorium zu Wolfenbüttel,
dem stets ein hauptsächlich für das Gemeindeschulwesen bestimmtes
Mitglied angehört Cj 24j.
VII. Hamburg. Das Gesetz, betreffend das Unterrichtswesen, vom
11. November 1870 bestimmt 55 1—3:
6*
34 Volksschulwesen.
„Das gesamte öffentliche Unterrichts- und Erziehungswesen im
Hamburgischen Staat wird durch die Oberschulbehörde teils unmittelbar,
teils mittelbar geleitet, verwaltet und beaufsichtigt. Auch das gesamte
nicht öffentliche Unterrichtswesen für die im schulpflichtigen Alter
stehende Jugend fällt in den Bereich der Aufsicht dieser Behörde.
Die Oberschulbehörde besteht aus drei Mitgliedern des Senats,
sechs von der Bürgerschaft gewählten Mitgliedern, von denen nicht
mehr als zwei dem Lehrerstande angehören dürfen, zwei Deputierten
des Ministeriums, je einem vom Senat ernannten Vertreter des
Gelehrtenschulwesens und des Real- und Gewerbeschulwesens, dem
Schulrat, dem Seminardirektor und zwei aus der Zahl der Leiter von
öffentlichen oder Privatschulen erwählten Deputierten der Schulsynode.
Besoldete Beamte können MitgHeder dieser Behörde sein.
Die nicht dem Senat angehörenden MitgHeder, mit Ausnahme
des Schulrats und des Seminardirektors, bekleiden ihr Amt sechs
Jahre. Von den durch die Bürgerschaft erwählten Mitgliedern treten
alle drei Jahre drei, von den Deputierten des Ministeriums und der
Schulsynode tritt alle drei Jahre einer aus.
Dem Schulrat liegt vorzugsweise die Förderung des Volksschul-
wesens und die Übernahme der auf dasselbe bezüglichen Arbeiten
ob, ohne daß deshalb seine Mitwirkung in den übrigen V^erwaltungs-
zweigen der Oberschulbehörde ausgeschlossen wäre."
Der Geschäftskreis der Oberschulbehörde sowie der Schul-
kommissionen, die für die einzelnen Stadtbezirke gebildet worden
sind, wird in den §§ ^^ — -*^ des Gesetzes näher bestimmt. Der Ober-
schulbehörde steht eine aus den Vorstehern und fest angestellten
Lehrern der öffentlichen und den Vorstehern der nicht öffentlichen
Schulen des Hamburger Staates zusammengesetzte Schulsynode als
fachmännischer Beirat zur Seite.
Zur Ergänzung der vorstehenden Darlegungen möge hier eine
Zusammenstellung über den tatsächlichen gegenwärtigen
Stand der Schulaufsicht in den deutschen Staaten folgen. Sie ist
das Ergebnis einer Umfrage, die im Januar 1903 von der „Statistischen
Zentralstelle des deutschen Lehrervereins" veranstaltet und uns von
dieser zur Verfügung gestellt worden ist. Der Fragebogen, welcher
der Zusammenstellung zugrunde lag, erstreckte sich auf fünf Punkte.
Die erste Frage bezog sich auf den obersten Schulherrn.
Die Ergebnisse, welche sich im wesentlichen auf die bereits an-
geführten gesetzlichen Bestimmungen in den einzelnen Staaten gründen,
können hier übergangen werden.
Schulgesetze und Schulbehörden, Scliulpflichten und Schullasten. ß5
Frage 2 — 4 handelten von der Kreis- bezw. Bezirksschulaufsicht,
und zwar sollte zunächst festgestellt werden, ob für größere Kreise
oder Bezirke besondere Schulinspektoren im Hauptamte bestellt sind,
oder ob die Kreis- (Bezirks- 1 Schulaufsicht andern Beamten im Neben-
amte übertragen ist. Nur hauptamtliche Kreis- (Bezirks-j Schul-
inspektoren gibt es in Bayern*), Königreich Sachsen, Baden, Hessen,
Sachsen-Weimar, Sachsen-Altenburg, Coburg-Gotha (gegenwärtig ist
noch ein nebenamtlicher Bezirksschulinspektor im Landratsamtsbezirk
Oberdorf vorhanden; sobald jedoch hier eine Veränderung eintritt,
ist die gesamte Inspektion einem Schulmann im Hauptamte zu über-
tragen), Sachsen-Meiningen, Schaumburg - Lippe (für das ganze
Fürstentum ein Landesschulinspektor), Bremen, Hamburg, Lübeck und
Elsaß-Lothringen. Nur nebenamtlich wird die Kreisschulinspektion
\'ersehen in Württemberg, Oldenburg, Fürstentum Lübeck, Birkenfeld,
beiden Mecklenburg, Anhalt, Braunschweig, Reuß ä. L., Reuß j. L.,
Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt und Waldeck.
Im Fürstentum Lippe gibt es eine eigentliche Kreisschulaufsicht nicht.
Die Oberaufsicht über das Schulwesen des Landes führt ein
,,Konsistorialrat"; im übrigen gibt es nur Lokalschulinspektoren. In
Preußen herrscht gemischtes System, d. h. die Kreisschulaufsicht ist
teils ständigen, teils nebenamtlich angestellten Krei.sschulinspektoren
übertragen. Im ganzen Staate gibt es .316 ständige und 927 Kreis-
schulinspektoren im Nebenamte. Für die einzelnen Provinzen stellt
sich das Verhältnis wie folgt:
1. Ostpreußen ... 25 ständige, 40 nebenamtliche,
2. Westpreußen ... 42 ,, 11 „
3. Brandenburg ... 7 ,, 137 „
4. Pommern .... 2 ,, 97 ,,
5. Po.sen 67 ,, — „
6. Schlesien .... 53 ,, «VI ,,
7. Sachsen .... 3 ,, 139 ,,
8. Schle-swig-Holstein .11 „ 36
9. Hannover .... 3 „ 191
11). Westfalen .... 37 „ 32
11. He-ssen-Nassau . . I ,. 13!;
12. Rheinprovinz. . . (m ,, 25
13. Hohenzollern . . . 2 ,, — ,,
*) Doch besteht in Bayern als Zwischeninstanz zwischen Kreis- und Lokalschul-
aufsicht noch eine Distriktsschulinspektion, die von Geistlichen im Xebenamte ver-
sehen wird.
86 Volksschulwesen.
Was die Vorbildung der hauptamtlich angestellten Kreis-
(Bezirks-j Schulinspektoren betrifft, so können leider für Preußen und
Elsaß-Lothringen keine Angaben gemacht werden, da in dem be-
züglichen amtlichen Material keinerlei Mitteilungen hierüber ent-
halten sind.
In Bayern sind sämtliche 14 Kreisschulinspektoren seminarisch
gebildet. Unter den U) weltlichen Schulräten der Städte sind
6 Philologen und 10 Männer mit Seminarbildung. Im Königreich
Sachsen haben von 31 Bezirksschulinspektoren 4 nur Seminar-
bildung, 14 Seminarbildung und späteres Universitätsstudium und
13 Universitätsstudium ohne Seminarbildung aufzuweisen. In Baden sind
von den 13 Kreisschulräten 2 Theologen, 6 Philologen und 5 ehemalige
Volksschullehrer, in Hessen von 19 Kreisschulinspektoren 4 Theologen,
2 anderweit akademisch und 13 seminarisch gebildet. In Sachsen-
Weimar sind sämtHche Bezirksschulräte Theologen, waren aber gleich
nach bestandenem Examen im Schuldienste tätig. In Sachsen-Altenburg
gibt es 1 akademisch (Theologe) und 2 seminarisch gebildete, in
Gotha ebenfalls 1 akademisch und 2 seminarisch gebildete Bezirks-
Schulinspektoren. Der Landesschulinspektor für das Herzogtum
Coburg ist seminarisch gebildet und hat später die Universität besucht.
Sachsen-Meiningen hat 3 akademisch (2 Theologen, I Philologe) und
1 seminarisch gebildeten Schulinspektor. In Bremen ist der Schul-
inspektor, der die Aufsicht über sämtliche Volksschulen führt, und
in Hamburg sind sämtliche 4 Schulinspektoren seminarisch gebildet.
Lübeck hat einen akademisch gebildeten Schulrat (Philologe). Der
Landesschulinspektor in Schaumburg-Lippe ist seminarisch gebildet.
In Anhalt ist der Hilfsarbeiter in der Herzoglichen Regierung, Ab-
teilung für das Schulwesen, der die Schulrevisionen zumeist ausführt,
ein seminarisch gebildeter Fachmann, der lange Jahre Rektor eines
größeren Schulsystems war.
Die nebenamtlich angestellten Kreis- (Bezirks-) Schul
Inspektoren sind sämtlich Geistliche in Württemberg, Fürstentum
Lübeck, beiden Mecklenburg, Anhalt, Braunschweig, Reul,^ ä. L.,
Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt und Waldeck.
In Preußen ist die nebenamtliche Schulaufsicht in 29 Fällen einem
Stadtschulrat bez\\-. Stadtschulinspektor, in 6 Fällen dem Magistrat,
der Schuldeputation bezw. dem Schulvorstande, in 3 Fällen einem
Seminardirektor bezw. Seminaroberlehrer, in 13 Fällen einem Schul-
direktor bezw. Rektor, in 2 Fällen dem ständigen Kreisschulinspektor
eines andern Bezirks und in 1 Falle einem Reg^ierungs- und Schulrat
Schulgesetze und Schulbehörden, Schulpflichten und Schnllasten. ^7
übcrtr;i<^en. Alle übrigen nebenamtlich angestellten Kreis-Schiil-
inspektoren sind Geistliche.
In Oldenburg finden sich unter den nebenamtlich beschäftigten
Kreisschulinspektoren I Seminardirektor, 1 Seminarlehrer, 6 Volks-
schullehrer und 7 Geistliche, in Birkenfeld 1 Gymnasialprofessor
und 1 Theologe, in Reui?^ j. L. 2 Rektoren, 2 Lehrer und 6 (oder
7) Geistliche.
Frage 5 und 6 endlich behandelten die noch neben der Kreis-
schulaufsicht bestehende Ortsschulaufsicht. Eine solche besteht
in sämtlichen Staaten außer Hamburg. Sie wird ausgeübt in Preußen
(der Regel nach). Rayern, Württemberg, Königreich Sachsen,
S. -Weimar, Oldenburg, I^'ürstentum Lübeck, Birkenfeld, beiden
Mecklenburg, Anhalt, Braunschweig, S. -Altenburg, Reuß ä. L.,
Schwarzburg - Sondershausen, Schwarzburg -Rudolstadt, Fürstentum
Lippe, Schaumburg-Lippe, Bremen-Land und Lübeck-Land vom Orts-
geistlichen, in Baden, Hessen, Coburg, Gotha, Reuß j. L., Waldeck
und Elsaß-Lothringen vom Ortsschulvorstande. In S. -Meiningen
kann sie von ,, jedem intelligenten, unbescholtenen Mann" ausgeübt
werden. Die Ortsschulaufsicht erstreckt sich auch auf die mehr-
klassigen, unter einem besonderen Leiter stehenden Schulen in
Württemberg, Hessen, Oldenburg, Fürstentum Lübeck, Birkenfeld,
beiden Mecklenburg (,,nur die 4 Städte Rostock, Schwerin, Wismar und
Parchim bilden vielleicht eine Ausnahme"), Coburg, Gotha, Reuß ä. L.,
Reuß j. L., Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt,
Lippe, Schaumburg-Lippe, Waldeck und PLlsaß-Lothringen, doch ist
dabei zu beachten, dals in Hessen, Coburg und Gotha die vom Orts-
schulvorstande ausgeübte Aufsicht sich nur auf die äußeren Verhält-
nisse der Schule bezieht. In Preußen, Bayern, Königreich Sachsen,
Baden, S. -Weimar, S.-Altenburg und S. -Meiningen sind für diese
Schulen entweder die^Befugnisse des Lokalschulinspektors dem Rektor
übertragen, oder sie stehen (ohne besondere örtliche Aufsicht) direkt
unter dem Kreisschulinspektor. In Anhalt und Braunschweig stehen
die Leiter der mehrklassigen Schulen direkt unter der Regierung
bezw. dem Konsistorium, haben also weder einen Orts- noch einen
Kreisschulinspektor.
Auch den Rektoren und Flauptlehrern, welche die Ortsschul-
inspektion nicht ausüben, steht ein gewisses Aufsichtsrecht über die
Lehrer ihrer .Anstalt zu, soweit ein solches zur Aufrechterhaltung der
Schulordnung und Schulzucht erforderlich ist. Das Maß der ihnen
übertragenen Rechte und Pflichten ist an den verschiedenen Orten
88 Volksschulwesen.
natürlich verschieden und wird im einzahlen meistens durch Dienst-
instruktionen näher umschrieben. Als Beispiel einer solchen möge
hier die durch die Regierung in Magdeburg für die Hauptlehrer
(Rektoren), welche nicht der Kreisschulinspektion unmittelbar unter-
stellt sind, am 22. März 1898 erlassene Dienstanweisung folgen:
„§ 1 . Der Hauptlehrer (Rektor) steht gleich den übrigen Lehrern
unter der Ortsschulaufsichtsbehörde und hat alle Anzeigen, Be-
richte usw. durch Vermittlung des Ortsschulinspektors einzureichen.
Er ist das Organ, dessen sich die Vorgesetzten für ihre die Schule
betreffenden Anordnungen und Ermittlungen in der Regel bedienen.
Die Lehrer haben sich in allen amtlichen Angelegenheiten
zunächst an den Hauptlehrer (Rektor) zu \\enden. Ihre Eingaben an
die vorgesetzte Behörde nimmt er in Empfang und befördert sie mit
seiner Äußerung an den Ortsschulinspektor.
§ 2. Über das Schulgebäude und alle der Schule zugehörigen
Gebrauchsgegenstände steht dem Hauptlehrer (Rektor) die Aufsicht
zu. Zu diesem Zwecke hat er die ordnungsmäßige Führung der
von den Klassenlehrern aufzustellenden und auf dem Laufenden zu
erhaltenden Inventarienverzeichnisse zu überwachen und sich durch
gelegenthche Prüfung von deren Richtigkeit und Vollständigkeit zu
überzeugen.
Er hat darauf zu sehen, daß in allen Diensträumen sowie auch
auf dem Hofe, dem Turn- und dem Spielplatze und in den Aborten
Reinlichkeit und Ordnung herrscht, daß die Schulzimmer ordnungs-
mäßig geheizt, gereinigt und gelüftet werden.
In baulichen und allen das Äußere der Anstalt betreffenden An-
gelegenheiten sowie hinsichtlich der Ergänzung des Inventars und
der Lehrmittel hat er die nötigen Anträge zu stellen und Vorschläge
zu machen.
§ 3. Die Aufnahme der Schüler und deren Zuweisung in die
einzelnen Klassen ist Obliegenheit des Hauptlehrers (Rektors).
Ebenso hegt dem Hauptlehrer (Rektor) die Vornahme der jähr-
lichen Versetzungen in die nächst höhere Klasse auf Vorschlag und
unter Mitwirkung der betreffenden Klassenlehrer ob, soweit der Orts-
schulinspektor sich dieser Tätigkeit nicht selbst unterzieht.
§ 4. Für die sorgfältige Beachtung aller die Schulversäumnisse
regelnden Bestimmungen ist der Hauptlehrer (Rektor) in erster Linie
verantwortlich.
§ 5. Der Hauptlchrer (Rektor) hat für die .Xufrcchtcrhaltung der
äußeren Schulordnun"- zu sorgen. Insbesondere hat er darüber zu
Schulgesetze und Schulbehörden, Schulpflichten und Schullasten. 39
wachen, daß jeder Lehrer zehn Minuten vor Beginn der Schulzeit in
seiner Klasse sich befindet, daß die Kinder auf dem Schulhofe vor
Beginn des Unterrichts und während der Pausen beaufsichtigt werden,
daß der Unterricht in allen Klassen pünktlich begonnen und ge-
schlossen wird, dal.^ die Pausen zwischen den einzelnen Stunden nicht
über das zulässige Maß verlängert, und daß die mit Nachsitzen be-
straften Kinder nicht ohne Aufsicht gelassen \\'erden.
§ 6. Der Hauptlehrer (Rektor) hat sich durch P'.insichtnahme
der Klassenbücher und der Schülerhefte sowie durch den Besuch der
Schulklassen die Überzeugung zu verschaffen, daß der genehmigte
Lehr- und Stundenplan von dem Lehrer gewissenhaft ausgeführt und
eine angemessene Schulzucht gehandhabt wird. Sofern besondere
Umstände es erfordern, kann er sich in derselben Stunde verschiedene
Lehrfächer vorführen lassen. Zum eigenen Eingreifen in den Unter-
richt ist er nicht befugt.
Über seine Wahrnehmungen ist er berechtigt, nach Schluß der
Schulstunde mit dem Lehrer Rücksprache zu nehmen.
§ 7. Werden plötzliche Vertretungen einzelner Lehrkräfte not-
^\•endig, so hat der Hauptlehrer (Rektor) das Erforderliche anzuordnen
und binnen längstens 2 Tagen dem Ortsschulinspektor von seinen
Anordnungen Kenntnis zu geben.
§ B. Schulzeugnisse jeder Art sind von dem jedesnialigen
Klassenlehrer auszufertigen und von dem Hauptlehrer (Rektor) mit
zu unterzeichnen.
§ 9. Die Entwürfe seiner amtlichen Berichte und Anzeigen
sowie alle die Schule betreffenden Verfügungen der Behörden und
andere für das Schulleben wichtige Schriftstücke oder Drucksachen
hat der Hauptlehrer gehörig aufzubewahren und zu ordnen.
Ihm liegt die Führung der Schulchronik ob.
§ 10. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Hauptlehrer
und anderen Lehrern hat der Oitsschulinspektor zu entscheiden."
;->. Schulpflicht.
Inir Preußen verordnet das Allgemeine Landrecht (Teil II
Titel 12 j 4;V), daß jeder Einwohner, welcher den nötigen Unterricht
für seine Kinder in seinem Hause nicht besorgen kann oder will,
schuldig sei, dieselben nach ziu-ückgelegtem fünften Jahre zur Schule
zu schicken. Ebenso bestimmt die Allerhöchste Kabinettsordre vom
14. Mai 1825 Absatz I: „Eltern oder deren gesetzliche Vertreter,
90 Volksschulwesen.
welche nicht nachweisen können, daß sie für den nötigen Unterricht
der Kinder in ihrem Hause sorgen, sollen erforderlichenfalls durch
Zwangsmittel und Strafen angehalten werden, jedes Kind nach zurück-
gelegtem fünften Jahre zur Schule zu schicken." In Ausnahmefällen
war jedoch damals . schon die Schulaufsichtsbehörde befugt, den An-
fangstermin hinauszuschieben; durch Ministerialerlaß vom 14. Januar
1862 werden die Verwaltungsbehörden allgemein ermächtigt, ,,in
Fällen des Bedürfnisses den Beginn der Schulpflicht auf ein späteres
Lebensjahr hinauszurücken". Dies geschieht in der Regel bei Kindern,
die einen mehr als 2 km w^eiten Weg zur Schule haben, und bei
solchen, die in der körperlichen oder gei.stigen Entwicklung zurück-
geblieben sind. Endlich bezeichnet es der Ministerialerlaß vom
14. Juli 1870 als ,, unzulässig, die Eltern zu zwingen, ihre Kinder früher
als nach vollendetem sechsten Jahre in die Schule zu schicken".
Die Schulpflicht dauert in der Regel 8 Jahre, sodaß sie im
allgemeinen nach Vollendung des 14. Lebensjahres aufhört. Da
jedoch gesetzHch die Entlassung aus der Schule von keinem be-
stimmten Alter abhängig gemacht wird, vielmehr nach der im ganzen
Staate (mit Ausnahme der Provinzen Ost- und Westpreul.^en) geltenden
Bestimmung des Allgemeinen Landrechts ,,der Schulunterricht solange
fortgesetzt werden soll, bis ein Kind nach dem Befunde seines Seel-
sorgers (nach Erlaßt des Schulaufsichtsgesetzes: des Kreisschulinspektors i
die einem jeden vernünftigen Menschen seines Standes notwendigen
Kenntnisse gefalk hat", so hat die Behörde einerseits das Recht,
unter besonderen Umständen Kinder schon vor zurückgelegtem
14. Lebensjahre zu entlassen, andererseits sie auch nach zurück-
gelegtem 14. Leben.sjahre in der Schule festzuhalten.
Vermöge des in Bayern bestehenden Schulzwanges bezw.
Unterrichtszwanges ist den Eltern und deren Stellvertretern unter
Strafandrohung die gesetzliche Pflicht auferlegt, ihre Kinder und
Pflegebefohlenen während gewisser Lebensjahre (Schulpflichtigkeits-
alter) zum Besuche der Volksschule anzuhalten, wenn nicht ausnahms-
weise durch entsprechenden Privatunterricht ausreichende Fürsorge
für Erwerbung der Elementarbildung getroffen werden will und kann,
und ist zu dem Zwecke, um die P'.rfüUung der Schulpflicht oder einen
geordneten Schulbesuch zu ermöglichen und erleichtern, das ganze
Land in Schulsprengel mit einer oder mehreren Schulen abgeteilt.
Die Schulpflicht beginnt für Knaben und Mädchen mit dem
zurückgelegten (>. Lebensjahre und umfallt regelmäl.Mg 10 Jahre,
nämlich 7 Jahre als Werktagsschulpflicht, li Jahre als Sonn- und
Schulgesetze und Schulbehönleii, Schulpflichten und Schullasten. 91
Feiertagsschulpflicht. Alle in diesem Alter stehenden Kinder beiderlei
Geschlechts sind zum Besuche der einschlägigen Werktags- oder
Feiertagsschule verpflichtet; nur diejenigen sind ausgenommen, welche
mit Erlaubnis der Ortsschulbehörde einen den öffentlichen Unterricht
ersetzenden Privatunterricht genießen, welche einer höheren öffent-
lichen Lehranstalt angehören oder eine landwirtschaftliche oder
gewerbliche Fortbildungsschule besuchen. Obwohl als Normalalter
für die Aufnahme in die Schule das vollendete 0. Lebensjahr gilt,
genügt doch als Minimalalter (nach Verfügung vom 2b. April 1882)
schcni das Alter von ca. 5-\/.i Jahren in Stadtschulen und von 5'/;^
Jahren in Landschulen ; andererseits kann die Behörde wegen zurück-
gebliebener Entwicklung, Schwäche oder Gebrechen eine Zurück-
stellung vom Schulbesuche bewilligen.
hl Württemberg beginnt die Schulpflicht im 7. Lebensjahre,
und zwar werden am 1. Mai diejenigen Kinder schulpflichtig, welche
im Laufe des Kalenderjahres das 7. Lebensjahr vollenden. Es steht
den Eltern frei, ihre Kinder, wenn sie gehörig entwickelt sind, schon
im (). Lebensjahr zur Schule zu schicken.
Die Dauer der Schulpflicht beträgt 7 Jahre; sie hört auf an
Georgii (Ende April) desjenigen Kalenderjahres, in welchem der
Schüler das 14. Lebensjahr zurücklegt.
Bei Kindern, welche bei der der Entlassung aus der Volksschule
vorangehenden Prüfung ganz ungenügende Kenntnisse und Fertig-
keiten zeigen, kann die Dauer der Schulpflicht um I — 2 Jahre ver-
längert werden.
Im Königreich Sachsen beginnt die Schulpflicht mit dem
v^oUendeten 6. Lebensjahre, und zwar sind beim Beginn eines neuen
Schuljahres — zu Ostern — jedesmal diejenigen Kinder der Schule
zuzuführen, welche bis dahin das 6. Lebensjahr vollendet haben; auch
dürfen auf Wunsch der Eltern oder Erzieher solche Kinder auf-
genommen werden, welche bis zum 30. Juni desselben Jahres das
6. Lebensjahr vollenden.
Die Dauer der Schulpflicht beträgt 8 Jahre. Nur in besonders
dringenden Fällen und in der Regel nur nach vollendetem 1 4. Lebens-
jahre kann mit Genehmigung des Lehrers und Ortsschulvorstandes
schon nach siebenjährigem Schulbesuche die Entlassung aus der ein-
fachen Volksschule vom Bezirksschulinspektor gestattet werden. Nach
vollendetem 14. Lebensjahre hört die Schulpflicht auf. Solche Kinder,
welche das Ziel der einfachen Volksschule in den wesentlichen Unter-
richtsgegenständen, namentlich in Religion, deutscher Sprache, Lesen,
92 Volksschuhvesen.
Schreiben und Rechnen, bis zum Ablaufe des 8. Schuljahres nicht
erreichen, haben die Schule aioch ein Jahr lang weiter zu besuchen.
In Baden beginnt die Schulpflicht zu Ostern jedes Jahres für
diejenigen Kinder, die bis zum 30. Juni einschließHch das 6. Lebens-
jahr vollenden. Sie dauert in der Regel 8 Jahre und hört auf Ostern
jedes Jahres für diejenigen Kinder, die bis zum 'AO. Juni einschließlich
das 14. Lebensjahr vollenden. Mädchen müssen auf Verlangen der
Poltern auch dann am Schlüsse des Schuljahres entlassen werden,
wenn sie bis zum 3L Dezember das 14. Lebensjahr vollenden.
Ähnlich wie für das Königreich Sachsen sind die Bestimmungen
für Hessen, Oldenburg, Sachsen-Weimar, Sachsen-Altenburg, Sachsen-
Coburg-Gotha, Sachsen-Meiningen, Anhalt, Schwarzburg-Sonders-
hausen, Reuß ä. L., Reuß j. I>., Schaumburg-Lippe, Lübeck, Bremen
und Hamburg. Auch in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-
Strelitz dauert die Schulpflicht bestimmungsgemäß 8 Jahre. — Braun-
schweig knüpft bei achtjähriger Schulpflicht den Beginn an die
Zurücklegung des 5. Lebensjahres. Lippe-Detmold hat wie Württem-
berg eine siebenjährige Schulpflicht vom 7. — 14. Lebensjahre. Waldeck
und Elsaß-Lothringen schreiben für Knaben eine achtjährige, für Mädchen
eine siebenjährige Schulpflicht vor. In Schwarzburg-Rudolstadt be-
ginnt die Schulpflicht mit dem Alter von 5Vj Jahren und dauert für
Knaben 8, für Mädchen 7V2 Jahre. Das Fürstentum Lübeck setzt
für Knaben eine neunjährige ivom 6. — 15. Lebensjahr), für Mädchen
eine achtjährige Schulpflicht fest.
4. Schullasten.
Die Schullasten bestehen im wesentlichen aus den Gehältern
und Pensionen der Lehrkräfte sowie der Versorgung ihrer Hinter-
bliebenen, den Kosten für den Unterhalt der Schulhäuser, die
Beschaffung der Lehrmittel und anderer Schulbedürfnisse, endlich aus
den durch die Erweiterungs- und Neubauten der Schulhäuser ent-
stehenden Ausgaben. Der Träger aller dieser Schullasten ist, wie
bereits erwähnt worden ist, in Deutschland, abgesehen von gewissen
besonderen kirchlichen Fonds und Schulstiftungen, in erster Linie die
Gemeinde, welcher der Staat mit seinen Mitteln unter gewissen
Umständen Beistand leistet. Die Zuschüsse, welche das teilweise
noch bestehende Schulgeld zur Deckung der Schulunterhaltungskosten
liefert, sind, wie wir sehen werden, unbedeutend.
Als Beispiel für die Art der Aufbringung der Schullasten und
für die Verwendung der aufeebrachten Summen auf die einzelnen
Schulgeset/f und Schulbt-liördcn, Schulpflichten und Scluillasten. 93
ordentlichen und aul^erordentlichen Ausgaben der Volksschule sollen
hier die bezüglichen Verhältnisse in Preußen dargelegt werden.
Die grundlegenden Bestimmungen sind bereits im Preußischen Landrecht enthahen:
i^ 29. Wo keine Stiftungen für die gemeinen Schulen vorhanden sind, liegt die
< )rtsunterhaltung der Lehrer den sämtlichen Hausvätern jedes Orts ohne Unterschied, ob
sie Kinder haben oder niclit, und ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses ob.
i< 30. Sind jedocli für die Einwohner verschiedenen Glaubensbekenntnisses an
einem Orte mehrere gemeine Schulen errichtet, so ist jeder Einwohner nur zur Unter-
haltung des Schullehrers von seiner Religionspartei beizutragen verbunden.
§ 31 . Die Beiträge, sie bestehen nun in Gelde oder Naturalien, müssen unter die
Hausväter nach Verhältnis ihrer Besitzungen und Nahrungen billig verteilt und von der
( lerichtsobrigkeit ausgeschrieben werden.
§ 32. Gegen Erlegung dieser Beiträge sind alsdann die Kinder der Kontribuenten
von Entrichtung eines Schulgeldes für immer frei.
ij 33. Gutsherrschaften auf dem Lande sind verpflichtet, ihre Untertanen, welche
/.ur Aufbringung ihres schuldigen Beitrages ganz oder zum Teil auf eine Zeitlang unver-
mögend sind, dabei nach Notdurft zu unterstützen (die Bestimmungen des Allgemeinen
i.andrechts Teil II Titel 12j.
Spätere Ministerialerlasse und Entscheidungen des Ober-Vervvaltungsgerichts haben
diese Grundsätze näher ausgelegt und folgendermaßen bestimmt:
Als Haus\'äter sind diejenigen Personen anzusehen, welche rechtlich selbständig
sind, innerhalb des betreflenden Schulbezirks ihren Wohnsitz liaben und ein eigenes
Einkommen beziehen (Ministerial-Erlaß vom 4. September 1872).
Von dem Eingehen einer Ehe ist die Eigenschaft als Hausvater im Sinne des
.\llgemeinen Landrechts I1 12 § 29 nicht abhängig (Ministerial-Erlaß vom 27. Januar 1860J.
Das Vorhandensein schulpflichtiger Kinder ist nicht die Voraussetzung für die
/.ugehörigkeit zu den Hausvätern (Entscheidung des Ober- Verwaltungsgerichts vom
I. Mai 1878).
Zu den Hausvätern, denen die L'nterhaltung der Sozietätsschulen obliegt, gehören
alle Personen, welche ein eigenes Einkommen haben und selbständig sind (Entscheidung
des Ober- Verwaltungsgerichts vom 23. Februar 1878).
Auch weibliche Personen sind schulsteuerpflichtig, wenn sie wirtschaftlich selbständig
sind (Entscheidung des Ober- Verwaltungsgerichts vom 30. September 1882).
Der Gutsherr des Schulortes gehört nicht zu den Hausvätern, welchen die Unter-
haltung einer Sozietätsschule obliegt (Entscheidung des Ober- Verwaltungsgerichts vom
II. Oktober 1882).
An die Stelle der Schulsozietäten können unter gewissen Umständen die politischen
CJemeinden treten: Die politischen Gemeinden sind befugt, auf Grund eines ordnungs-
mäßig zustandegekommenen Gemeindebeschlusses diejenigen Lasten, welche den in ihrem
Bezirk liegenden Schulsozietäten obliegen, auf den Kommunaletat zu übernehmen
(Ministerial-Erlaß vom 20. Juni 1874). Nach gemeinem deutschen Rechte gehören zu
den Aufgaben der Gemeinde nicht allein die rein ökonomischen Angelegenheiten, sondern
namentlich auch das Schulwesen. Auf diesem Gebiete wird die Autonomie der Gemeinde
nur durch das staatliche x\ufsichtsrecht begrenzt. Die staatlichen Aufsichtsbehörden haben
demgemäß in konstanter Praxis und unter Zustimmung des Gerichtshofes zur Entscheidung
der Kompetenzkonflikte angenommen, daß die politischen Gemeinden vermöge ihrer
.Vutonomie mit Zustimmung der Kommunalaufsichtsbehörde befugt sind, die Schullasten
den Schulsozietäten abzunehmen und in Kommunallasten zu verwandeln.
Macht eine Gemeinde von der Befugnis, die Schule als Kommunalanstalt zu über-
nehmen, unter Zustimmung der Aufsichtsbehörde Gebrauch, so werden damit die Schul-
lasten Kommunallasten, und alle diejenigen, welche zu den Kommunallasten beizutragen
94 ^'olksschul\\■esen.
haben, sind verptlirlitet, nacli dem Kommunalsteuerfuße auch zu den Kosten der Schule
beizutragen (Entscheidung des (,)ber-\erwaltungsgerichls vom 28. November 1877). Es
ist bei der Übernahme der Schullasten auf den Kommunaletat zu unterscheiden, ob die
Schulsozietäten bestehen bleiben und nur das sogenannte Schulkassendetizit auf den
Kommunaletat übergehen soll, oder ob die Schulsozietät aufgelöst und unter Übereignung
des Schulvermögens an die bürgerliche Gemeinde die Schule als Anstalt der (Gemeinde
und die Kosten der l'nterhaltung der Schule als (iemeindelast von der bürgerlichen
Gemeinde übernommen werden soll.
Im ersten Falle bedarf es lediglich der Genehmigung des Beschlusses der bürger-
lichen Gemeinde durch die Kommunalaufsichtsbehörde. Eine Zustimmung der Schulsozietät
ist in solchen Fällen überhaupt nicht erforderlich.
Im letzten Falle ist außerdem eine \'erhandlung mit der Schulsozietät über ihre
Aufhebung und Übereignung des Schulvermögens und die Genehmigung seitens der
Schulaufsichtsbehörde herbeizuführen (Ministerial-Erlaß vom 1. Juni 1883).
i'ber die Unterhaltung der Schulbaulichkeiten bestimmt das Allgemeine
Landrecht Teil II Titel 12:
§ 34. Auch die Unterhaltung der Scliulgebäude und Schulmeisterwohnungen muß
als gemeine Last von allen zu einer solchen Schule gewiesenen Einwohnern ohne
unterschied getragen werden.
§ 35. Doch trägt das Mitglied einer fremden zugeschlagenen Gemeinde zur
Unterhaltung der Gebäude nur halb so viel bei als ein Einwohner von gleicher Klasse
an dem Orte, wo die Schule befindlich ist.
§ 36. Bei Bauen und Reparaturen der Schulgebäude müssen die Magistrate in
den Städten und die Gutsherrschaften auf dem Lande die auf dem Gute oder
Kämmereieigentum, wo die Schule sich befindet, gewachsenen oder gewonnenen
Materiahen, soweit selbige hinreichend vorhanden und zum Bau notwendig sind, unent-
geltlich verabfolgen.
§ 37. Wo das Schulhaus zugleich die Küsterwohnung ist, muß in der Regel die
Unterhaltung desselben auf eben diese Art, wie bei Pfarrbauten vorgeschrieben ist, besorgt
werden.
§ 38. Doch kann kein Mitglied der Gemeinde wegen Verschiedenheit des
Religionsbekenntnisses dem Beitrage zur Unterhaltung solcher Gebäude sich entziehen.
Das Gesetz vom 21. Juli 1846, betreffend den Bau und die Unterhaltung der
Schul- und Küsterhäuser, fügt hinzu:
Da die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts II 12 § 37 wegen des Baues
und der Unterhaltung derjenigen Schulhäuser, welche zugleich Küsterwohnungen sind,
dem mit der Entwicklung des Schulwesens erweiterten Bedürfnisse nicht mehr überall
entsprechen, so verordnen Wir auf den Antrag Unseres Staatsministeriums, nach Anhörung
unserer getreuen Stände und nach vernommenen Gutachten L'nseres Staatsrats für die
Landesteile, in welchen das Allgemeine Landrecht Gesetzeskraft hat, was folgt:
§ 1. Die Bestimmung des Allgemeinen Landrechts II 12 § 37, nach welcher der
liau und die Unterhaltung derjenigen Schulhäuser, die zugleich Küsterwohnungen sind,
auf eben die Art, wie bei Pfarrbauten vorgeschrieben, zu besorgen ist, soll fortan nur
unter nachstehenden Beschränkungen und Maßgaben (§§ 2—5) zur Anwendung kommen.
§ 2. Einzelne Ortschaften, Gemeinden, Teile von Gemeinden oder Einwohner-
klassen, welche innerhalb der Parochie, zu der die Küsterei gehört, mit Genehmigung
der Behörden eine eigene öffentliche Schule haben, sind von Beiträgen zu denjenigen
Bauten und Reparaturen an dem Schul- und Küsterhause frei, welche allein durch das
Bedürfnis der Schulanstalt veranlaßt werden.
Schulgesetze und Scliulb.'lKinleii, Schulpllicht.-n und Scluillastcn. 95
$ 'A. Tritt bei dem mit der Küsterwolinung- verbundenen Scliullokale das ücdürfnis
ein, die Schulstube zu erweitern oder Räume für neue Schulklassen oder zu Wohnungen
fiir Lehrer zu beschafien, so können weder die Kirchenkasse noch der Patron und die
l'.ingepfarrten angehalten werden, die liierzu erforderlichen Bauten zu bewirken. In einem
solchen Falle sind vielmehr diejenigen, welchen in Ermangelung eines Küsterhauses der
r>au und die L'nterhaltung einer gemeinen Schule am Orte obliegen würde, veq)flichtet,
jene Bauten nötigenfalls durch Herstellung besonderer ( iebäude auszuführen und auch
künftig zu unterhalten.
Insbesondere müssen dieselben, wenn ein solcher Erweiterungsbau mit dem be-
stehenden Schul- und Küsterhause in Verbindung gebracht wird, nach \'erhältnis dieses
Erweiterungsbaues zur Unterhaltung des Schul- und Küsterhauses sowie im Falle eines
Neubaues dieses Hauses zu dessen Wiederherstellung beitragen.
i> 4. Ist eine Schule in Oemäßheit des § 101 der Gemeinheits-Teilungsordnung
vom 7. Juni 1 821 mit Land dotiert worden, so sind nur die zur Unterhaltung der Schule
\'erpflichteten schuldig, die dem Schullehrer zur Benutzung seines Landes etwa nötigen
Wirtschaftsräume, als Scheune und Stallung, zu bauen und zu unterhalten.
§ 5. Die der Schulanstalt vorgesetzte Regierung ist befugt, in den F'ällen der
ijij 2 — 4 das Beitrag.sverhältnis der verschiedenen Verpflichteten bei dem Mangel einer
gütlichen Einigung, auf Grund sachverständiger Ermittlungen, durch ein Resolut vorläufig
festzusetzen und in Vollzug zu bringen. Gegen diese Festsetzung ist der Rekurs an das
Ministerium der geistlichen und L'nten-ichtsangelegenheiten zulä.ssig. Findet sich ein Teil
durch solche Entschlüsse der Verwaltungsbehörden verletzt, so steht ihm frei, gegen den
anderen Teil auf Entscheidung im Rechtswege anzutragen.
Die Beiträge de.s Staates zur Aufbringung der Schullasten in
Preußen lassen sich im ^\'esentlichen unter folgenden Gesichtspunkten
zusammenfassen :
Zur Unterstützung unvermögender Gemeinden und
Schulver'bände bei Elementarschulbauten besteht im preußischen
Staatshaushaltsetat ein Fonds, über dessen Verwendung ein Ministerial-
erlaß vom 4. Juni 1883 folgende Grundsätze aufstellt:
„Der Fonds soll nach den Allerhöchst genehmigten Bestimmungen
über dessen Verwendung zur Gewährung von Beihilfen an un-
vermögende Gemeinden und Schulverbände für Neu-, Erweiterungs-
und Reparaturbauten von Elementarschulen dienen und tritt in dieser
Hinsicht an die Stelle des Allerhöchsten Dispositionsfonds bei der
Generalstaatskasse, aus welchem fortan Gnadengeschenke zu dem ge-
dachten Zwecke nicht mehr gewährt werden. Die Beihilfen aus dem
neuen Fonds sollten als subsidiäre Beihilfen gegeben werden, d. h. nur
insoweit zur Auszahlung gelangen, als sich Ersparnisse gegen den
Ko.stenanschlag bei der Bauausführung ergeben. Da die baupflichtigen
Gemeinden es als Härte empfanden, daß die in Aussicht gestellte
Gnadenbeihilfe gegebenenfalls nicht in voller Höhe zur Auszahlung
gelangte, wurde durch den Erlaß vom 30. März 1897 der Grundsatz
der subsidiären Natur der Gnadenbeihilfe beseitigt; es werden seitdem
Q^ Volksschulwesen.
diese Gnadenbeihilfen im allgemeinen in festen Beträgen gewährt.
Das Bedürfnis zur Unterstützung der Gemeinden und Schulverbände
wird — in analoger Weise wie bei der Gewährung von Zuschüssen
aus Staatsfonds zu den Lehrerbesoldungen — nach Anhörung der Lokal-
und Kreisbehörden von der zuständigen Provinzialbehörde unter Mit-
wirkung der betreffenden Finanzstation geprüft.
Um zu verhüten, daß Unterstützungssachen in größerer Zahl
und mit größeren Bedarfssummen, als die vorhandenen Mittel ge-
statten, vorbereitet und von den Provinzialbehörden an die Zentral-
stelle gebracht werden, wird jeder zuständigen Provinzialbehörde
diejenige Summe bezeichnet, innerhalb welcher sie sich jährlich mit
ihren Unterstützungsanträgen zu halten hat."
Die bedeutsamste Rolle spielt die staatliche Beihilfe bei der
Aufbringung der Gehälter und der Pensionen der Lehrkräfte,
sowie bei der Versorgung ihrer Hinterbliebenen. Die Beiträge
des Staates für die Lehrerbesoldung sind durch das Lehrer-
besoldungsgesetz vom 3. März 1897 geregelt. Es heißt daselbst im § 27:
I. Aus der Staatskasse wird ein jährlicher Beitrag zu dem Diensteinkommen der
Lehrer und Lehrerinnen und, soweit er hierzu nicht erforderlich ist, zur Deckung der
Kosten für andere Bedürfnisse des betreffenden Schulverbandes an die Kasse desselben
gezahlt.
Der. Beitrag wird so berechnet, daß für die Stelle eines alleinstehenden sowie
eines ersten Lehrers 500 M., eines anderen Lehrers 300 M., einer Lehrerin 150 M. jährlich
bezahlt werden. Bei der Berechnung kommen nur Stellen für vollbeschäftigte Lehrkräfte
in Betracht. Darüber, ob eine Lehrkraft vollbeschäftigt ist, entscheidet ausschließlich die
Schulaufsi eh tsbehörde .
IL Der Staatsbeitrag wird bis zur Höchstzahl von 25 Schulstellen für jede politische
Gemeinde gewährt.
Sind für die Einwohner einer politischen Gemeinde mehr als 25 Schulstellen vor-
handen, so wird der Staatsbeitrag innerhalb der Gesamtzahl von 25 Stellen für so viele
erste Lehrerstellen, andere Lehrerstellen und Lehrerinnenstellen gewährt, als dem Ver-
hältnis der Gesamtzahl dieser Stellen untereinander entspricht.
Wo die Grenzen der politischen Gemeinde sich mit denen des Schulverbandes
nicht decken, dergestalt, daß der Schulverband aus mehreren politischen Gemeinden oder
Teilen von solchen besteht und für die Einwohner einer dieser politischen Gemeinden
mehr als 25 Stellen vorhanden sind, wird durch Beschluß der Schulaufsichtsbehörde nach
Anhörung der Beteiligten mit Rücksicht auf die Zahl der Einwohner des Schulverbandes
und der Schulkinder, welche den einzelnen politischen Gemeinden angehören, sowie mit
Rücksicht auf die Einrichtung der -Schule festgesetzt, wie viele ganze der im Schulverbande
bestehenden (ersten, andern Lehrer-, Lehrerinnen-) Stellen auf jede zum Schulverbande
gehörende politische Gemeinde oder Teile von Gemeinden zu rechnen sind, für wie viele
Stellen demgemäß an den Schulverband der Staatsbeitrag zu zahlen ist. Der Beschluß ist
den beteiligten Schulverbänden zuzustellen. Denselben steht binnen vier "Wochen nach
der Zustellung die Beschwerde an den Ober-Präsidenten (in den Hohenzollernschen
I>anden an den Ünterrichtsminister) zu, welcher endgültig entscheidet. Bei einer er-
Schulgesetze und Schulbeliönlen, Schulpflichten und Schullasten. 97
heblichen Änderung der \'erhältnisse kann eine neue Berechnung von den beteiligten
Schulverbänden beantragt oder von der Schulaufsichtsbehörde von Amtswegen beschlossen
werden.
Gehören die Einwohner einer politischen Gemeinde verschiedenen Schulverbänden
an, so werden die für die politische Gemeinde zu berechnenden Staatsbeiträge für erste,
andere Lehrer- und Lehrerinnenstellen auf die einzelnen Schulverbände durch die Schul-
aufsichtsbehörde nach dem Verhältnis derjenigen Staatsbeiträge verteilt, welche den Schul-
verbänden bei Gewährung der Staatsbeiträge für säradiche Schulstellen zu zahlen sein
würden.
IIL In Schulverbänden, in denen der Staatsbeitrag für alle Schulstellen gezahlt
wird, ist er für einstweilig angestellte Lehrer und für Lehrer, welche noch nicht vier
Jahre im öfientlichen Schuldienst gestanden haben, um 100 M. jährlich zu kürzen.
I\'. Für diejenigen Lehrerstellen , für welche der Staat den Besoldungsbeitrag
(Xo. I) an den Schulverband gewährt, wird aus der Staatskasse ein jährlicher Zuschuß
von 337 i\L, für die Lehrerinnenstellen dieser Art ein jährlicher Zuschuß von 184 M. an
die Alterszulagekasse des betrefl'enden Bezirks gezahlt und dem Schulverbande auf seinen
Beitrag zur Kasse angerechnet.
Über die Beiträi^e des Staates zu den Ruhegehältern der
Lehrer und Lehrerinnen bestimmt § 26 des Gesetzes, betreffend
die Pensionierung der Lehrer und Lehrerinnen an den öffenthchen
Volksschulen, vom 6. Juli 1885 folgendes:
§ 26. Die Pension wird bis zur Höhe von 600 M. aus der Staatskasse, über
diesen Betrag hinaus von den sonstigen bisher zur Aufbringung der Pension des Lehrers
Verpflichteten, sofern solche nicht vorhanden sind, von den bisher zur Unterhaltung des
Lehrers während der Dienstzeit Verpflichteten gezahlt. Die auf besonderen Rechtstiteln
beruhenden Verpflichtungen Dritter bleiben bestehen.
Die Beiträge des Staates für die Hinterbliebenen der
Lehrer sind in § 14 des Gesetzes, betreffend die Fürsorge für die
Witwen und Waisen der Lehrer an öffentlichen Volksschulen, vom
4. Dezember 1899 näher festgesetzt. Dieser Paragraph hat folgenden
Wortlaut:
§ 14. Das Witwengeld wird bis zur Höhe von 420 M., das Waisengeld für Halb-
waisen bis zur Höhe von 84 M., für \'ollwaisen bis zur Höhe von 140 M. jährlich aus
der Staatskasse gezahlt.
Diese Vorschrift findet auf die Hinterbliebenen derjenigen Lehrer keine Anwendung,
welche zur Zeit ihres Todes oder ihrer \ersetzung in den Ruhestand an einer öflfendichen
\olksschule der Stadt Berlin angestellt waren.
Zur Aufbringung des nicht durch Staatsbeitrag gedeckten Witwen- und Waisen-
gekies sind die zur Aufbringung des nicht durch Staatsbeitrag gedeckten Teils des Ruhe-
gehalts des Lehrers Verpflichteten verbunden.
Über die laufenden Unterhaltungskosten der öffentlichen Volks-
schulen in Preußen im Jahre 1901, die Aufbringung derselben und
die Aufwendungen für Neu- und Erweiterungsbauten von öffentlichen
Volksschulen, sowie deren Aufbringung im Jahre 1900 geben die
folgenden Tabellen Aufschluß (Tabelle 1a, I b, 2, 3).
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 7
98
Volksschuhvesen.
Tabelle la: Die laufenden Unterhaltungskosten*) für die öffentlichen
Volksschulen in Preußen 1901.
Stadt
M.
Land
M.
Zusammen
M.
I. Diensteinkommen (Grundgehalt, Alterszulagen,
Wert der Dienstwohnung bezw. Mietsentschädigung)
der Lehrer und Lehrerinnen, und zwar :
l.der Lehrerstellen, einschließlich der z. Z. nicht
63 997 123 81 123 409
145120 532
20 404 842
2. der Lehrerinnenstellen, einschließlich der z. Z.
14 299 663 6105 179
78 296 786 87 228 588
165 525 374
7 209442
536 287
18 746
243759
2 658 439
1 139 591
284176
1 251 645
n. Sonstige Aufwendungen für persönliche
Kosten, und zwar:
1. laufende Beiträge der Schuh-erbände zur Ruhe-
gehaltskasse
2. laufende Beiträge der Schulverbände zur Bezirks-
Witwen- und Waisenkasse und zu anderen der-
gleichen Kassen
3492 475
418118
11593
25 703
1 139 427
725 047
1136
761 439
3 716 967
118169
7 153
218 056
1519012
414544
283 040
490 206
3. Aufwendungen f besondere Religionslehrer, welche
a) den schulplanmäßigen Religionsunterricht er-
b) den Religionsunterricht der konfessionellen
4. Aufwendungen für die technischen Unterrichts-
gegenstände (Handarbeits-, Turn-, Gesang-, Haus-
wirtschaftsunterricht), soweit für Festangestellte
nicht schon unter dem Diensteinkommen (1, 1 u. 2)
S.Kosten der Stellvertretung von Lehrern und
Lehrerinnen im Etatsjahre 1900
6. Wert der freien Feuerung, soweit dieser auf das
Grundgehalt nicht angerechnet worden ist . . .
7. sonstige Aufwendungen für Remunerationen,
Unterstützungen der Lehrpersonen und ähnliche
zusammen
6 574 938
6 767 147
13 342 085
*) Bei der Feststellung der Summe der laufenden Schulunterhaltungskosten in dieser
Tabelle durften die laufenden Beiträge der Schulverbände sowie die Zuschüsse des Staates
zur Alterszulagekasse, soweit sie zur Zahlung der Alterszulagen Verwendung finden, nicht
berücksichtigt werden, da die Alterszulagen als ein Bestandteil des Diensteinkommens
bereits unter I. 1. bezw. 2. enthalten sind.
Schuli^esetze und Sclnilheliorden, Schulpllichten und Schullasten.
99
Tabelle Ib: Die laufenden Unterhaltungskosten für die öffentlichen
Volksschulen in Preußen 1901.
Stadt
Land
Zusammen
M.
M.
M.
III. Sächliche Kosten,
und zwar Aufwendungen:
1 . für Heizung und Reinigung der Schulräume,
Gehalt bezw. Lohn des Schuldieners einschl. des
Wertes seiner Wohnung und dergl
5 259 111
5 036 518
10 295 629
2. für Lehr- und Lernmittel und innere Ausstattung
2 030 095
1 926 839
3 956 934
3. für die laufende Unterhaltung der Schul-
gebäude, für Reparaturen usw.
a) bar
3 502 270
4 534 366
8 036 636
b) Wert etwaiger Naturalleistungen
3 934
201 115
205049
4. für laufende Verzinsung und Abtragung (Tilgung)
etwa angeliehener Kapitalien für Schulbauten
mit Einschluß der etwa aus laufenden Einnahmen
gedeckten Kosten für Schulbauten
7139 621
6 886124
14 025 745
5. für sonstige unter 1 bis 4 nicht nachgewiesene
sächliche Aufwendungen, mit Ausschluß jedoch
der nicht aus laufenden Einnahmen gedeckten
Kosten für Schulbauten
1 890 065
2 277 675
4167 740
Summe der persönlichen Kosten, soweit solche
unter I und II nachgewiesen sind
84 871 724
93 995 735
178 867 459
Summe der sächlichen Kosten, soweit solche unter
III. 1 bis 5 nachgewiesen sind
19 825 096
20 862 637
40687 733
Gesamtbetrag*) der laufenden Schulunterhaltungs-
kosten, soweit solche in den beiden vorher-
gehenden Summen nachgewiesen sind
104 696 820
114 858 372
219 5551921
1
*) Außer den hier nachgewiesenen Schulunterhaltungskosten sind im Jahre 1901
bezw. 1900 aus Staatsmitteln noch folgende Beträge für die Zwecke der offen thchen
Volksschulen verausgabt :
Beiträge des Staates zu den Pensionen für Lehrer und Lehrerinnen . . 5 284 404 M.
sonstige staatüche Aufwendungen für pensionierte Lehrer und Lehrerinnen 812 812 „
Beiträge des Staates für die Witwen- und Waisenversorgung der Hinter-
bliebenen von Volksschullehrem 640 024 „
sonstige staatliche Aufwendungen für Hinterbhebene von Volksschullehrem 606 648 „
persönliche Unterstützungen für Lehrer und Lehrerinnen 636455 „
auf Grund des §22 Abs. 1 u. 2 des Lehrerbesoldungsgesetzes vom3.März1897
aus Staatsmitteln im Jahre 1900 gezahlte Umzugskosten 60 672 „
zusammen 8 041 015 M.
7*
100
\^olksschul\vesen.
Tabelle 2 : Die Aufbringung der laufenden Unterhaltungskosten
für die öffentlichen Volksschulen in Preußen 1901.
Stadt
Land Zusammen
M.
M.
1 ^•
Von den 219 555192 M. der laufenden Schul-
unterhaltungskosten werden aufgebracht:
1 . durch die gesetzlichen Staatsbeiträge (§ 27, I,
II und III des Lehrerbesoldungsgesetzes vom
3. März 1897)
4913 232
20 442 090
25 355322
2. durch dauernde Zuschüsse usw. aus Staats-
mitteln (§ 27, VI des Lehrerbesoldungsgesetzes
vom 3. März 1897)
2 024 570 47 230
2 071800
3. durch laufende widerrufliche Staatsbeihilfen . .
1983552 8 910 675
10 894 227
4. durch einmalige Beihilfen aus Staatsmitteln . .
28 503 280 126
308 629
5. aus dem Ertrage des Schul-, Kirchen- und
I
Stiftungsvermögens
2108 732
12 878 216
14 986 948
6. durch Zuschüsse der Kirchenkassen und von
Kirchengemeinden sowie durch sonstige Ein-
nahmen aus dem Kirchendienste
449 522
1 661 361
! 2 110883
7. durch die Schulunterhaltungspflichtigen (den
Schulverband) einschl. etwaiger freiwilliger Bei-
träge der politischen Gemeinden, Gutsherren,
Privatpatrone, Grundherren überhaupt ....
84 376 453 '54 352 010
138 728 463
davon entfallen:
a) auf die laufenden Beiträge der Schulverbände
zur Alterszulagekasse (§ 8 des Lehrer-
besoldungsgesetzes vom 3. März 1897) . . .
14 251 712
4 589 499
18 841211
b) auf gutsherrliche, Privatpatronats- und grund-
herrliche Leistungen
91 802
2 271747
2 363 549
8. durch sonstige Verpflichtete (rechtliche Ver-
pflichtungen Dritter usw.)
412 957
388 917
801 874
9. durch Schulgeld
620125
206 638
826 763
1 0. aus dem Patronats-Baufonds
2 064
21508 057
21973
19 921 101
24 037
41429158
1 1 . aus der Alterszulagekasse überhaupt
davon werden gedeckt durch Zuschüsse
des Staates zur Alterszulagekasse (§ 27, IV
und VII des Lehrerbesoldungsgesetzes vom
3. März 1897)
4 946 981
16 956195
21 903 176 1
12. aus sonstigen Ouellen
520 765
337 534
858 299
1
Schulgesetze und Schulbeliönleii, Schuljiflichten und Scliullasten.
101
Tabelle 3: Die Aufwendungen für Neu- (Ersatz-) und Erweiterungs-
bauten von öffentlichen Volksschulen und deren Aufbringung im
Jahre 1900 sowie die durch Volksschulbauten entstandenen und
noch vorhandenen Bauschulden in Preußen.
Stadt
M.
Land
M.
Zusammen
M.
I, Die Schul-Neu (Ersatz-) und
Erweiterungsbauten.
I.Gesamtbetrag der im Etatsjahr 1900 tat-
sächlich aufgewendeten Kosten für
Schul-Neu- (Ersatz-) und Erweiterungsbauten
a) in bar
b) Wert der Naturalleistungen
c) zusammen (a und b)
2. Von dem Gesamtbetrage (1, c) entfallen
auf
a) Neubauten einschl. Ersatzbauten (Barer
Betrag mit Einschluß des Wertes der
Naturalleistungen)
b) Erweiterungsbauten (Barer Betrag mit
Einschluß des Wertes der Natural-
leistungen)
3. Der Betrag unter 1 , c ist gedeckt :
a) durch besondere Schulbau- oder all-
gemeine Anleihe mit
b) aus dem angesammelten Schulbaufonds
mit
c) aus dem Etat der politischen Gemeinde
bezw. der Schulgemeinde für das Etats-
jahr 1900 mit
d) aus dem Patronatsbaufonds mit ....
e) durch Gnadenbewilligung mit
f) durch gutsherrliche, Privatpatronats- und
grundherrliche Leistungen mit ....
g) durch sonstige Mittel mit
n. Bauschulden für Volksschulbauten.
1 . Betrag der ursprünglich für Schulbauten an-
gehehenen und noch nicht völlig getilgten
Bauschulden bezw. Teilbetrag der für Schul-
bauten verwendeten allgemeinen Gemeinde-
anleihen
20 482 631
20 482 631
21 200 181
613 009
21813190
41682 812
613 009
42 295 821
18 507 530 18 089 039 36 596 569
1975101
8 699 990
1 208 675
9 860 525
3 285
243 700
466 456
3 724151
10 849 458
5 699 252
19 549 448
1 241 372 2 450 047
3100 790
396 648
3 954 814
809 089
1 461 019
96 969 959' 102 787 922
2. Betrag der gegenwärtig (Juni 1901) noch
vorhandenen durch Schulbauten verursachten
Bauschulden 76 575 627
12961315
399 933
4 198 514
809 089 !
1 927 475 \
199 757;
78 712 767;' 155;
394
"1 02 ^^olksschul\vesen.
In den anderen deutschen Staaten, mit Ausnahme von
Anhalt, liegen die Verhältnisse ähnlich; es \\'ürde jedoch zu weit
führen, näher auf die im einzelnen recht verschiedenen Einrichtungen
und gesetzlichen Bestimmungen einzugehen. Es mögen hier nur noch
einige kurze Angaben über den gegenwärtigen Stand der Schul-
geldfrage in einigen der größeren deutschen Staaten ihren Platz finden:
Für Preußen bestimmt § 4 des Gesetzes vom 14. Juni 1888:
,,Die Erhebung eines Schulgeldes findet fortan nicht statt. Aus-
nahmen sind nur gestattet:
1 . für solche Kinder, welche innerhalb des Bezirks der von ihnen
besuchten Schule nicht einheimisch sind;
2. soweit das gegenwärtig (d. h. im Jahre 1888) bestehende
Schulgeld durch den Staatsbeitrag zur Lehrerbesoldung nicht gedeckt
wird und andernfalls eine erhebliche Vermehrung der Kommunal-
oder Schulabgaben eintreten müßte."
Die Erhebung des Schulgeldes im Falle 2 bedarf besonderer
Genehmigung, die von fünf zu fünf Jahren erneut nachzusuchen ist.
Nach der Statistik von 1901 wurden im ganzen preußischen
Staate 826 763 M. an Schulgeld erhoben (nicht voll 24 M. auf das
Tausend der Bevölkerung oder etwa 14,5 Pf durchschnittlich für jeden
Volksschüler). Davon kamen 620 125 M. auf die Städte, 206 638 M.
auf das Land.
In Bayern ist die Erhebung des Schulgeldes als allgemeine
Regel vorgeschrieben. Doch machen die Gemeinden mehr und mehr
von der Befugnis Gebrauch, das Schulgeld auf die Gemeindekasse zu
übernehmen.
Im Schuljahre 1899/1900 wurden von 5454 Schulen (gleich 74,2 %
der Gesamtzahl) 1 603 083 M. an Schulgeld erhoben (nicht voll 260 M.
auf das Tausend der Bevölkerung oder 1,83 M. durchschnittlich für
jeden Schüler). Von der Gesamtsumme fielen 67 360 M. (gleich 4,2 %)
auf die Städte, 1 535 723 M. (gleich 95,8 %) auf das Land.
Im Königreich Sachsen ist das Schulgeld eine gesetzliche
Einrichtung. Den Gemeinden ist zwar gestattet, es nach den Ver-
mögens- und Familienverhältnissen der Beitragspflichtigen abzustufen,
nicht aber, es gänzlich aufzuheben. Über den tatsächlich auf-
kommenden Betrag des Schulgeldes liegen keine Angaben vor.
In Württemberg wird, sobald Umlagen erforderlich sind, ein
Schulgeld zur Gemeindekasse erhoben, und zwar für jeden Schüler
1,40 M. bis 2,40 M., je nach der Größe der Ortschaft. Zur Ein-
Schulgesetze und Schulbehönlen, Schulpflicliten und Schullaslen. ]()[]
führung, Erhöhung oder Aufhebung des Schulgeldes ist ein Gemeinde-
beschluß und die Genehmigung der Kreisregierung erforderlich.
Im Großherzogtum Baden sind für jedes die Schule be-
suchende Kind 3,20 M. an die Gemeinde zu steuern. Unvermögende
werden von dieser Pflicht befreit, ohne daß der Nachlaß als Armen-
unterstützung gilt. Ausfälle werden von der Gemeinde gedeckt.
Auch kann die Gemeinde durch einen mit Zweidrittelmehrheit ge-
faßten Beschluß auf die Erhebung des Schulgeldes verzichten.
Im Großherzogtum Hessen hängt die Erhebung von Schul-
geld in den Gemeinden von dem Beschlüsse des Gemeindevorstandes
ab; es darf je nach der Einwohnerzahl 3,43 M. bis 10,86 M. jährlich
für jedes Kind betragen. Die in bezug auf das Schulgeld gefaßten
Beschlüsse bedürfen der Genehmigung des Kreisamts. Im Frühjahr 1902
gab es im ganzen Großherzogtum
mit Schulgeld 291 Schulen,
ohne „ 692 ,,
Das Weimarische Gesetz schließt die Gemeinden, die kein
„angemessenes" Schulgeld erheben, von der Staatsunterstützung aus.
Auch in den übrigen Staaten ist die Erhebung von Schulgeld Re«-el.
KAPITEL IV.
Die Organisation der Volksschule. Lehrpläne, Methoden,
Disziplin und Lehrmittel.
I. Die Organisation der Volksschule.
Die x'Yufgabe, welche die Gesetzgebung in den einzelnen deut-
schen Staaten der Volksschule gestellt hat, ist bereits in einem
früheren Abschnitt dieses Werkes charakterisiert worden, die Wege,
auf denen diese Aufgabe gelöst werden soll, werden in diesem Kapitel
darzulegen sein.
Die Lehrgegenstände sind nicht in allen Bundesstaaten genau
dieselben, und ebensowenig sind die zu erreichenden Ziele in Kennt-
nissen und Fertigkeiten und die Unterrichtsmethoden in gleicher
Weise bestimmt. Es ist selbstverständlich, daß in gut ausgestatteten
sieben- oder achtklassigen Stadtschulen höhere Unterrichtsziele erreicht
werden können und müssen als in Dorfschulen mit Halbtagsunter-
richt. Trotzdem besteht aber, wenn wir von der Mittelschule, welche
sich durch ihren eigenartigen Lehrplan mit einer obligatorischen
Fremdsprache von der Volksschule unterscheidet, absehen, in den
meisten deutschen Staaten kein gesetzlich anerkannter Unterschied
zwischen der einfachen und der erweiterten Volksschule. Im König-
reich Sachsen wird allerdings durch das Volksschulgesetz vom
26. April IU73 eine solche Scheidung zwischen einfachen, mittleren
und höheren Volksschulen, welche letzteren aber den preußischen
Mittelschulen entsprechen, statuiert, und in Baden gestattet das
Gesetz vom 1 3. Mai 1 892 über den Elementarunterricht den Gemeinden,
neben den durch das Gesetz gebotenen Volksschulen oder statt der-
selben erweiterte Volksschulen zu errichten.
Wie die deutschen Volksschulen in ihrem j\ufbau organisiert
sind, darüber geben die amtlichen Übersichten nicht in allen Staaten
Organisation der Volksschule. Lehr^iläne, Methoden, Disziplin ii. I-ehrmittel. |()5
in gleicher Weise Auskunft, doch werden die folgenden Zusammen-
stellungen über Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen, Hessen,
Elsaß-Lothringen und Hamburg dem Leser eine annähernde Vor-
stellung auch von den Verhältnissen der übrigen Bundesstaaten
ermöglichen.
Preußen: Über die normalen Volksschuleinrichtungen sprechen
sich die ,, Allgemeinen Bestimmungen des Königlich Preußischen
Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten,
betreffend die Volks- und Mittelschule, vom 15. Oktober 1872"
folgendermaßen aus:
,,§ 1. Die normalen Volksschuleinrichtungen. Normale
Volksschuleinrichtungen sind die mehrklassige Volksschule, die Schule
mit 2 Lehrern und die Schule mit einem Lehrer, welche entweder
die einklassige Volksschule oder die Halbtagsschule ist.
5 2. Die einklassige Volksschule. In der einklassigen Volks-
schule werden Kinder jedes schulpflichtigen Alters in ein und dem-
selben Lokale durch einen gemeinsamen Lehrer gleichzeitig unter-
richtet. Die Zahl derselben soll nicht über achtzig steigen.
In der einklassigen Volksschule erhalten die Kinder der Unter-
stufe in der Regel wöchentlich 20, der Mittel- und Oberstufe 30 Lehr-
stunden, einschließlich des Turnens für die Knaben und der weib-
lichen Handarbeiten für die Mädchen.
5 3. Die Halbtagsschule. Wo die Anzahl der Kinder über
achtzig steigt oder das Schulzimmer auch für eine geringere Zahl nicht
ausreicht und die Verhältnisse die Anstellung eines zweiten Lehrers
nicht gestatten, sowie da, wo andere Umstände dies notwendig er-
scheinen lassen, kann mit Genehmigung der Regierung die
Halbtagsschule eingerichtet werden, für deren Klassen zusammen
wöchentlich 32 Stunden angesetzt w^erden.
§ 4. Die Schule mit zwei Lehrern. Sind zwei Lehrer an einer
Schule angestellt, so ist der Unterricht in zwei gesonderten Klassen zu
erteilen. Steigt in einer solchen Schule die Zahl der Kinder über
hundertundzwanzig, so ist eine dreiklassige Schule einzurichten. In
dieser kommen auf die dritte Klasse wöchentlich 12, auf die zweite
Klasse wöchentlich 24, auf die erste Klasse wöchentlich 28 Lehr-
stunden.
§ 5. Die mehrklassige Volksschule. In Schulen von drei und
mehr Klassen, soweit dieselben nicht unter 4. fallen, erhalten die
Kinder der unteren Stufe wöchentlich 22, die der mittleren 28, die
der oberen 30 — 32 Unterrichtsstunden."
106
Volksschuhvesen.
Über die Zahl der einzelnen Schulgattungen gibt folgende
Tabelle, \\'elche sich auf die preußische Schulstatistik von 1901 stützt,
Auskunft.
Bezeichnung
In den Städten
Auf dem Lande
Überhaupt
der Schulorganismen
Schulen
mit
Schülern
Schulen
mit
Schülern
Schulen
mit
Schülern
einklassige Schulen . . .
410
16516
13 205 687 893
1 1
13 615 704 409
Halb- u. Dritteltags-Schulen .
79
6 332
: 7 794 662 701
: 7 873 669 033
zweiklassige Sei
ulen . . .
226
24 556
: 3 750 463 274
3 976 487 830
drei- „
404
78 759
4 854 832 230
5 258 910 989
vier- „
432
132 094
} 1 402 371 491
1 834 503 585
fünf- „
362
131 161
606 213 386
968 344 547
sechs- „
1118
645 908
495 264 217
1 613 910125
sieben- „
1 118
757138
218 154 141
1 336 91 1 279
acht- „
265
212 670
18
16 403
283
229 073 1
Von je 100 Kindern wurden im Durchschnitt
24 in einer einklassigen oder Halbtagsschule,
34 in einer zwei- bis vierklassigen Schule,
22 in einer fünf- oder sechsklassigen Schule und
20 in einer sieben- oder achtklassigen Schule unterrichtet.
Dabei ist noch zu bemerken, daß die Zahl der achtklassigen
Schulen seit 1901, besonders durch die Einführung des Achtklassen-
sy.stems in den Berliner Gemeindeschulen, nicht unerheblich ge-
stiegen ist.
Insgesamt gab es:
in den Städten 4 414 Schulen mit 35 733 Klassen,
auf dem Lande 32 332 „ ,. 68 349 „ ,
im ganzen Staate 36 746 ., .. 104 082 „ .
Im Durchschnitt zählte jede Schule
in den Städten 8,09 Klassen,
auf dem Lande 2,1 1 ,, ,
im ganzen Staate 2,83 ,,
Sachsen. Im Königreich Sachsen gibt es keine einklassigen
Schulen, sondern an ihrer Stelle nur zweiklassige Halbtagsschulen
(vgl. Volksschulgesetz vom 26. April 1873, § 12).
Nach der statistischen Aufnahme vom 1 . Dezember 1 899 (eine
neuere liegt nicht vor) gab es daselbst folgende Schularten:
Organisation der Volksschule. Lehrpläne, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. | 07
Einfache
Mittlere
"
Höhere
Bezeichnung
der
^
'olksschulen
\'olksschulen
Volksschulen
1
c 1
Schulorganismen
mit
Klassen
mit
Schülern
g
- s
- ^
1
c
•^ 1 '
X
^
1
5
i
3
-i
zweiklassige Schulen
!
mit 1 Lehrer(Halbtagssch.)
' 803
1606 64 297
—
— —
~
—
—
„ 2 Lehrern ....
1
2 60
3
6 178
—
„ 3 „ ....
—
i 1
2 72
—
—
—
dreiklassige Schulen
mit 1 Lehrer ....
102
306 13 268
—
—
—
—
—
„ 2 Lehrern ....
3
9 389
1
3
50
—
—
—
»3 „ ....
1
3 164
—
—
1
3
104
vierklassige Schulen
mit 2 Lehrern . . .
517
2 070 90 823
—
—
—
„3 „ ...
3
14 768
1
4 59
—
—
—
„ 4 und mehr Lehrern
1
11 526
16
66 1 774
1
4
103
fünfklassige Schulen . .
51
276 12 880
5
25 677
1
10
255
sechs- „ „ . .
201
1411 66 065
18
157 5 655
6
35
543
sieben- „ „ . .
212
3 212148 506
55
784 30 474
5
39
1058
acht- „
111
1 844 83 485
141
3812 150427
24
438
13218
neun- „ „ . .
—
— —
_
— —
6
69
1729
zehn- „ „ . .
-
- -
-
-
1
18
450
zusammen . . .
2 006
10 764 481 231
241
4 859 189 366
45
616
17 460
Von je 100 Kindern wurden unterrichtet:
a) wenn alle Volksschulen einschließlich der mittleren und
höheren zusammengefaßt werden,
in zwei- und dreiklassigen Schulen mit einem Lehrer 1 I Kinder
in zwei- bis vierklassigen Schulen 14 „
in fünf- oder sechsklassigen Schulen .... 13 ,,
in sieben- und mehrklassigen Schulen .... 62 ,,
b) wenn nur die einfachen Volksschulen in Betracht gezogen
werden,
in zwei- und dreiklassigen Schulen mit einem Lehrer 16Kinder
in zwei- bis vierklassigen Schulen 19 ,,
in fünf- oder sechsklassigen Schulen .... 1 7 „
in sieben- oder achtklassigen Schulen .... 48 „
Im Durchschnitt zählte jede Schule, wenn alle Volksschulen (ein-
schließlich der mittleren und höheren) berücksichtigt werden, 7,04,
wenn nur die einfachen Volksschulen in Betracht gezogen werden,
5,o6 Klas.sen.
\ Q3 Volksschulwesen.
Bayern und Württemberg. Aus Bayern und Württemberg
liegen nur einige allgemeine bezw. Durchschnittszahlen vor.
In Bayern gab es im Schuljahre 1899/1900
in den Städten . . 398 Schulen mit 3 545 Klassen
auf dem Lande . . 6 955 „ „ I I 1 82
zusammen . . . 7 353 ,, ,, 14 727 „
Im Durchschnitt zählte jede Schule
in den Städten . . . 8,90 Klassen
auf dem Lande . . . 1,61
im ganzen Staate . . 2,00 ,,
Unter den Klassen waren 1460 Parallelklassen, von denen 1310
auf die Städte, 156 auf das Land entfielen.
In Württemberg betrug die Gesamtzahl der Volksschulen 2334,
die der Klassen 4890, so daß durchschnittlich jede Schule 2,09 Klassen
zählte. Klassen mit besonders bezahltem Abteilungsunterricht waren
im ganzen 1234 vorhanden.
Für die bezüglichen Verhältnisse im Großherzogtum Baden
sind keine Angaben vorhanden.
Im Großherzogtum Hessen gab es im Frühjahr 1902:
481 einklassige Volksschulen,
243 zweiklassige
106 dreiklassige „
79 vierklassige ,,
74 fünf- und mehrklassige Volksschulen.
Die Gesamtzahl der Schulen betrug 983, die der Klassen 2821.
Auf eine Schule kamen also im Durchschnitt 2,87 Klassen.
In Elsaß-Lothringen waren im Schuljahre 1901/2:
1 928 einklassige Volksschulen,
515 zweiklassige
384 drei- und mehrklassige Volksschulen.
Die Gesamtzahl der Schulen betrug 2827, die der Kla.ssen 5057,
so daß im Durchschnitt auf jede Schule 1,75 Klassen entfielen.
Im Hamburger Staatsgebiet gab es im Schuljahre 1901/2:
a) in der Stadt Hamburg
37 siebenklassige Volksschulen mit Selekten,
88 „ „ ohne „
6 sechsklassicfe Hilfsschulen für Schwachbefähigte;
Organisation der X'olksschule. Lehrpläne, Methoden, Disziphn u. Lehrmittel. | 09
b) im Landgebiet
8 einklassige, 4 vierklassige,
13 zweiklassige, 3 fünfklassige,
12 dreiklassige, 9 siebenklassige Volksschulen.
Über die Trennung der Geschlechter ordnen die , .All-
gemeinen Bestimmungen" vom 15. Oktober 1872 in Preußen in § 6 an:
„Für mehrklassige Schulen ist rücksichtlich der oberen Klassen
eine Trennung der Geschlechter w^ünschenswert. Wo nur zwei Lehrer
angestellt sind, ist eine Einrichtung mit zwei beziehungsweise drei
aufsteigenden Klassen derjenigen zweier nach den Geschlechtern ge-
trennten einklassigen Volksschulen vorzuziehen."
Im allgemeinen gilt überhaupt in der deutschen Volksschule der
Grundsatz, daß ein höher entwickelter Organismus mit gemischten
Geschlechtern einem weniger ausgebauten mit getrennten Geschlechtern
vorzuziehen ist, daß jedoch, sobald die Zahl der Schüler zwei- oder
mehrklassige Organismen ermöglicht, die Trennung der Geschlechter
den Vorzug verdient. Nur in Elsaß-Lothringen wird die Rücksicht
auf möglichste Trennung der Geschlechter, vor allem in den älteren
Jahrgängen, der auf den stufenmäßigen Aufbau in der Regel voran-
gestellt. Über die bez. Verhältnisse in den größeren Staaten
orientieren folgende Zahlen:
In Preußen gab es nach der Statistik von 1901 neben 69 722
gemischten 17 11 0 reine Knaben- und 1 7 250 reine Mädchenklassen,
und zwar waren
Gemischte Klassen
in den Städten . . 9 337
auf dem Lande . . 60 385
vorhanden.
Im Königreich Sachsen gab es am 1. Dezember 1899
einfache mittlere höhere zusammen
besondere Knabenschulen 13 14 6 33
besondere Mädchenschulen 13 14 11 38
gemischte Schulen mit ge-
trennten Knaben- und
Mädchenklassen . . 48 103 13 164
Schulen mit teilweise ge-
mischten Klassen . . 207 88 9 304
Schulen mit lauter ge-
mischten Klassen . . 1725 22 6 1753.
[vnabenklassen
Mädchenklassen
13 141
13 255
3 969
3 995
]]Q Volksschuhvesen.
In Bayern waren im Schuljahre 1899/1900
6 3 1 8 Schulen in allen Klassen gemischt,
115 „ „ einzelnen „ „
457 ,, reine Knabenschulen und
463 „ ,, Mädchenschulen.
Württemberg hatte am 1. Januar 1903
2 205 Schulen mit 4 086 Klassen mit nicht oder nicht vollständig
getrennten Geschlechtern,
62 „ „ 369 „ , die reine Knabenschulen und
67 „ „ 434 „ , die reine Mädchenschulen waren.
Aus Baden liegen keine Angaben vor.
Im Großherzogtum Hessen waren
897 Schulen nach den Geschlechtern ganz,
58 ,, ,, ,, „ zum Teil gemischt und
28 ,, „ „ „ vollständig getrennt.
In Elsaß-Lothringen gab es 1901/2
einklassige zweiklassige drei- und mehrklassige zusammen
reine Knabenschulen 476 85 143 704
„ Mädchenschulen 465 86 142 693
Schulen mit gemischten Unterklassen u. getrennten Oberklassen 283
„ „ lauter gemischten Klassen 1 1 47.
2. Die Lehrpläne.
Über Gliederung und Lehrgegenstände der Volksschule in
Preußen sprechen sich die „Allgemeinen Bestimmungen" folgender-
maßen aus:
„§ 12. Die Volksschule, auch die einklassige, gliedert sich in
drei Abteilungen, welche den verschiedenen Alters- und Bildungs-
stufen der Kinder entsprechen. Wo eine Volksschule vier Klassen
hat, sind der Mittelstufe zwei, wo sie deren sechs hat, jeder Stufe
zwei Klassen zuzuweisen.
§ 13. Die Lehr gegenstände der Volksschule sind Religion,
deutsche Sprache (Sprechen, Lesen, Schreiben), Rechnen nebst den
Anfängen der Raumlehre, Zeichnen, Geschichte, Geographie, Natur-
kunde, Singen und für die Knaben Turnen, für die Mädchen weibliche
Handarbeiten.
Organisation der Volksschule. Lehrpläne, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. ] \ j
Die Stunden verteilen sich auf die einzelnen Gegenstände und
Stufen wie folo-t:
Unterstufe
Mittelstufe
Oberstufe
ein-
mehr-
ein-
mehr-
ein-
mehr-
klassige
klassige
klassige
klassige
klassige
klassige
Schulen
Schulen
Schulen
Schulen
Schulen
Schulen
Religion ....
4
4
5-6
4
5-6
4
Deutsch ....
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2
2
1
20
22
30
28
30
30 (32)
In der Halbtagsschule und in der Schule mit zwei Lehrern und
drei Klassen treten die nötigen Veränderungen nach Maßgabe des
Bedürfnisses ein."
In Bayern werden durch die Erläuterungen des Lehrplanes vom
3. Mai 1811 die Lehrgegenstände nach ihrer relativen Wichtigkeit
folgendermaßen in zwei Hauptklassen gruppiert:
„Die erste Hauptklasse begreift die unbedingt notwendigen
Gegenstände, deren Aneignung von jedem Mitgliede eines zivilisierten
Staates gefordert werden müsse, in sich und besteht aus den 3 Artikeln
„Gott", „Sprache", „Zahl und Maß", d. h. Religionslehre, Lesen^
Schreiben und Rechnen. Die zweite Hauptklasse begreift die
gemeinnützlichen Gegenstände in sich, so genannt, weil die
betreffenden Kenntnisse und Fertigkeiten zu mancherlei Zwecken
und Vorteilen des Lebens und des Berufes tauglich seien, und enthält
die drei Artikel „Mensch", „Natur" und „Kunst", also vornehmlich
Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, auch Zeichnen, wozu noch,
zwar nicht als eigentlicher Lehrgegenstand aber als regelmäßiger
Übungsgegenstand, der Gesang kommt.
In allen Perioden des Schulunterrichts ist die Kenntnis der
notwendigen Lehrgegenstände immer als Hauptaufgabe zu behandeln.
widmen, als ohne wesentlichen Nachteil für die ersteren geschehen
kann, und es sollen die Schüler zu denselben nicht eher fortgeführt
■j ■] 2 Volksschuhvesen.
werden, als nachdem sie in den notwendigen Gegenständen einen
hinlänglichen Grund gelegt haben. Im allgemeinen sind die früheren
Schuljahre auf die notwendigen Lehrgegenstände zu beschränken,
dagegen die gemeinnützlichen vorzugsweise den späteren Schuljahren
zuzuweisen; es soll jedoch durch diese im allgemeinen nötig befundene
Beschränkung nicht verwehrt sein, bei rascherem Fortschreiten der
Schüler in den notwendigen Kenntnissen mit ihnen auch schon in
früheren Jahren zu den gemeinnützlichen Gegenständen überzugehen.
Übrigens dürfen die gemeinnützlichen Gegenstände wegen der ihnen
angewiesenen untergeordneten Stellung und der angeordneten Be-
schränkung derselben nicht etwa als geringfügig oder wohl gar als
unnütz angesehen und in den Volksschulen ganz vernachlässigt
werden, sondern sie bleiben vorschriftsmäßig und sollen nur nicht
zum Nachteil der notwendigen Lehrgegenstände und mit deren
Vernachlässigung betrieben werden." (Dr. Joh. Anton Englmanns
Handbuch des Bayerischen Volksschulrechtes. 4. Auflage. München
1897. Seite 473—474.)
Die einzelnen Unterrichtsgegenstände der Werktagsschule sind:
Religion, Sprachunterricht (Lesen, Schreiben, Sprachlehre), Rechnen,
Weltkunde (Geographie, Geschichte, Naturgeschichte, Naturlehre),
Gesang, Zeichnen, Turnen, Obstbaumzucht, weibliche Handarbeiten.
Der Volksschule in Bayern gliedert sich die dreijährige
obligatorische Feiertagsschule an, welche auch noch zur Volksschule
gerechnet wird und sich von der obligatorischen Fortbildungsschule
anderer Staaten auch dadurch unterscheidet, daß eine Verpflichtung
zum Besuch der Feiertagsschule auch für die schulentlassenen Mädchen
besteht. ,,Die Unterrichtsgegenstände für die Feiertagsschule sind
im allgemeinen dieselben wie für die Werktagsschule. Denn der
Feiertagsschulunterricht soll an den Werktagsschulunterricht anknüpfen
und hat die Hauptbestimmung, den letzteren fortzusetzen und die in
der Werktagsschule unvollendet gebliebenen Kenntnisse zu ergänzen
sowie das Gelernte nach seiner praktischen Richtung hin auszubilden.
Derselbe ist demnach teils zur zweckmäßigen Steigerung des Werk-
tagsschulunterrichtes (was freilich nur in besseren Schulen besonders
größerer Städte möglich ist), teils zur Nachhilfe des mangelhaft
gebliebenen Werktagsschulunterrichtes und zur Nachholung des
Versäumten bestimmt oder soll doch wenigstens das baldige Wieder-
vergessen des in der Werktagsschule Erlernten verhindern, vorzüglich
aber die religiöse Ausbildung der Jugend zur möglichen Vollendung
führen und nach Tunlichkeit zur Anwendunsr des Erlernten in den
Organisation der \'olksschule. Lehiplane, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. \\',^
künftigen bürgerlichen Verhältnissen und Berufsgeschäften der Schüler
Anleitung geben." ( J. A. Englmann a. a. O. Seite 520.)
„Die Entlassung aus der Werktagsschule findet nach sieben-
jährigem Schulbesuche und erfolgreicher Bestehung der Jahresschluß-
prüfung statt." (J. A. Englmann a. a. O. Seite v387.)
„Übrigens können die Eltern ihre Kinder auch nach bestandener
Prüfung noch länger freiwillig in die Werktagsschule schicken, in
welchem Falle sie nur das Feiertagsschulgeld zu bezahlen haben."
(J. A. Englmann a. a. O. Seite 388.)
„So wurden in München und Nürnberg achte Klassen der
Werktagsschule errichtet für solche, welche sie freiwillig besuchen
wollen.
Für diese neu errichteten achten Klassen an den Nürnberger
Volksschulen sind von den städtischen Kollegien Satzungen und
Lehrplan festgestellt und vom Königlichen Kultusministerium bestätigt
worden, deren Hauptbestimmungen sind: Bedingung für die Auf-
nahme in eine achte Volksschulklasse ist der Nachweis eines sieben-
jährigen Schulunterrichts, und zwar entweder des erfolgreichen Besuches
einer siebenten Klasse der Volksschule oder eines diese letztere er-
setzenden Unterrichts. Die achten Klassen sind nach Geschlechtern
getrennt, nehmen jedoch Schüler und Schülerinnen verschiedener
Konfessionen auf und stehen unter der Aufsicht derjenigen Simultan-
Schulinspektion, in deren Bezirk sie sich befinden. Der Besuch der
achten Klassen ist zwar ein freiwilliger, jedoch sind die in dieselben
aufgenommenen Schüler und Schülerinnen verpflichtet, sie regelmäßig
und bis zum Schlüsse des Schuljahres zu besuchen; sie erhalten auch
beim Austritt ein Zeugnis über den Besuch ausgestellt. Dieselben
brauchen die Fortbildungs- bezw. Sonntagsschule nur noch ein Jahr
zu besuchen. Die Lehrgegenstände der achten Klasse sind folgende:
a) für Knaben: Religion, Lesen und Turnen je 2 Stunden, deutscher
Aufsatz und Zeichnen je 4 Stunden, Rechnen und Buchführung,
Natur- und Gewerbekunde je 5 Stunden, Geschichte und Geographie
3 Stunden, Singen 1 Stunde, in Summa 28 Stunden; b) für Mädchen:
Religion, Lesen, Geschichte mit Geographie je 2 Stunden, Rechnen
und Buchführung, Natur- und Haushaltungskunde je 5 Stunden,
deutscher Aufsatz 4 Stunden, weibliche Handarbeiten 3 Stunden,
Singen 1 Stunde, in Summa 24 Stunden. Der Unterricht in den
Knabenklassen wird sowohl vormittags wie nachmittags, in den
Mädchenklassen nur vormittags erteilt." (J. A. Englmann a. a. O.
Seite 388—389.)
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 8
^-14 \'olksschuKvesen.
In Württemberg sind die Unterrichtsgegenstände der ein-
klassigen Volksschule :
I. Religion. II. Sprache: M.Lesen, 2. Schönschreiben, 3. Recht-
schreiben, 4. Aufsatz, 5. das Nötigste aus der Sprachlehre. III. Rechnen.
(Raumlehre.) IV. ReaUen: 1. Geographie, 2. Naturlehre, 'A. Natur-
geschichte, 4. Geschichte. V. Singen. VI. Zeichnen. VII. Turnen.
„Der Unterricht an den einklassigen \^olksschulen ist nach
Maßgabe des Normallehrplans zu erteilen.
Für den Unterricht an mehrklassigen Schulen sind die in diesem
Lehrplan enthaltenen Grundsätze, welche den Unterrichtsstoff im
allgemeinen und dessen Behandlung sowie die Proportionen des
Zeitquantums betreffen, das den einzelnen Fächern im Verhältnis zu-
einander zuzuteilen ist, gleichfalls maßgebend. Je mehr Klassen aber
eine Volksschule umfaßt, um so höher soll das Ziel des Unterrichts
in derselben durch Erweiterung des Stoffes gesetzt und dabei ein
entsprechend größerer Teil der Schulzeit zu dem unmittelbaren
Unterricht der Schüler verwendet werden." (Normallehrplan für die
württembsrgischen Volksschulen, Stuttgart 1902. Seite 3 und 4 und
Seite 2.)
Nach dem Volksschulgesetz § 20 soll sich der Unterricht in
Baden auf folgende Gegenstände erstrecken: „Religion, Lesen und
Schreiben, deutsche Sprache, Rechnen, Gesang, Zeichnen, das Wissens-
würdigste aus der Geometrie, der Erdkunde, der Naturgeschichte und
Naturlehre und aus der Geschichte.
Dazu kommen für Knaben Leibesübungen, für IMädchen Unterricht
in weiblichen Arbeiten.
Für Kinder, welche durch ihre Eltern oder deren Stellvertreter
zur Teilnahme bestimmt w^erden, kann ferner erteilt werden an Knaben:
Handfertigkeitsunterricht, an Mädchen: Unterweisung in der Haus-
haltungskunde.
Noch weitere Gegenstände können in den Unterrichtsplan für
Volksschulen oder Volksschulabteilungen aufgenommen werden, welche
als erweiterte eingerichtet sind (§ 93 ff. dieses Gesetzes.)" (Die
badische Volksschulgesetzgebung nebst den zum Vollzuge dieser
erlassenen Vorschriften usw., zusammengestellt von K. A. Kopp.
4. Auflage. Karisruhe 1898. Seite 12.)
In § 92 desselben Gesetzes heißt es:
„Den Gemeinden steht es frei, neben den durch dieses Gesetz
gebotenen Volksschulen oder statt derselben erweiterte Volksschulen
zu errichten, in welchen bei verlängerter Unterrichtszeit der Unterricht
Organisation der Volksschule. Lehrpläne, Methoden, Diszii)lin u. Lehrmittel. 115
in den nach ^ -^^ vorgeschriebenen Gegen.ständen weiter, als im
Lehrplan für einfache Volksschulen geboten ist, verfolgt oder noch
auf andere zu einer vollständigeren Elementarbildung gehörige
Unterrichtsgegenstände erstreckt wird. Auch einzelne Klassen einer
Volksschule können mit erweitertem Unterrichtsplan eingerichtet
werden, sei es für alle schulpflichtigen Kinder, sei es neben
entsprechenden Klassen mit einfachem Unterrichtsplan. Ebenso
können besondere Abteilungen gebildet werden für einzelne
Unterrichtsgegenstände (z. B. für Fremdsprachen, für Zeichnen)."
(a. a. O. Seite 48 und 49.)
§ 93 sagt:
„Der Unterrichtsplan der erweiterten Volksschule ( Volksschul-
Abteilung) — für welche eine besondere Benennung (z. B. Bürger-
schule für Knaben, Bürgerschule für Mädchen) gewählt werden kann —
kann sich über das Alter der gesetzlichen Schulpflicht (§ 2 dieses
Gesetzes) hinaus erstrecken." (a. a. O. Seite 49.)
Für die sächsischen Volksschulen schreibt das Volk.sschulgesetz
vom 26. April 1873, § 2 folgende Unterrichtsgegenstände vor:
„Religions- und Sittenlehre, deutsche Sprache mit Lesen und
Schreiben, Rechnen, Formenlehre, Geschichte, Erdkunde, Natur-
geschichte und Naturlehre, Gesang, Zeichnen, Turnen und, wo die
erforderlichen Einrichtungen getroffen werden können, für die Mäd-
chen weibliche Handarbeiten."
j 12 desselben Gesetzes sagt:
,,Die einfache Volksschule unterrichtet ihre Zöglinge in zwei
oder mehreren nach Altersstufen geschiedenen Klassen in den § 2
angeführten Lehrfächern.
Der Unterricht beschränkt sich in der Religion auf biblische
Geschichte und christliche Glaubens- und Sittenlehre, in den übrigen
Lehrfächern auf iVneignung der für das bürgerliche Leben unentbehr-
lichen Kenntnisse und Fertigkeiten.
An Orten, in welchen die Kinderzahl hierzu ausreichend ist und
die örtlichen Verhältnisse es gestatten, ist eine gegliederte Volks-
schule zu errichten."
§ 13 bestimmt den Begriff der mittleren und höheren Volks-
schulen. Es heißt da:
„Wo es das örtliche Bedürfnis erheischt, hat die Gemeinde
neben der einfachen Volksschule oder anstatt derselben mittlere und
höhere Volksschulen zu errichten.
Mittlere Volksschulen sind unter entsprechender Klassenein-
\]() Volksschulwesen.
teilung, Vermehrung der Unterrichtsstunden, nach Befinden auch
Verlängerung der Schulzeit so einzurichten, daß ihre Zöglinge in
bezug auf alle im § 2 genannten Lehrfächer eine nach Inhalt und
Umfang das Ziel der einfachen Volksschule überragende Bildung
erreichen.
Höhere Volksschulen erstrecken ihren Unterricht noch auf andere
Lehrfächer, z. B. fremde Sprachen, ohne jedoch damit die Pflege der
deutschen Sprache und Literatur zu beeinträchtigen oder die Zwecke
einer Fachschule zu verfolgen. Ihr Lehrplan stuft sich nach wenigstens
fünf Klassen ab, und die Schulzeit wird entsprechend verlängert.
Eine Nötigung zum Besuche solcher Schulen findet an Orten,
wo eine einfache Volksschule besteht, nicht statt. Ist keine einfache
Volksschule vorhanden, so haben die Kinder ihrer Schulpflicht (§ 4)
nach Wahl der Erziehungspflichtigen in der mittleren oder höheren
Volksschule zu genügen." (Das Königlich sächsische Volksschulgesetz
vom 26. April 187o nebst Ausführungsverordnung usw., mit erläutern-
den Anmerkungen und Sachregister herausgegeben von P. von Seyde-
witz. III. Aufl. Leipzig 1899. SS. 2, 52, 54—55).
Über die Lehrgegenstände der Volksschule in einigen anderen deutschen Staaten
mögen folgende kurze Mitteilungen geniigen. Diese sind
in Hessen: „Religion (Rehgionslehre, biblische Geschichte, Lied und Sprüche),
deutsche Sprache (Sprechen, Lesen, Schreiben, deutsche Sprachlehre, Aufsatz), Rechnen,
Raumlehre, Zeichnen, Geographie, Geschichte, Naturbeschreibung und Naturlehre, Singen
und für die Knaben Turnen, für die Mädchen weibliche Handarbeiten." (Verordnung
vom 2. Dezember 1874, § 6);
in Sachsen-Weimar: „Religions- und Sittenlehre, deutsche Sprache mit Lesen
und Schreiben, Rechnen mit Zahlen und Raumgrößen, Natur- und Erdkunde, Geschichte,
Gesang, Turnen und Zeichnen für Knaben. Hierzu können nach Bedürfnis und Füglich-
keit Obstbaumzucht für Knaben, weibliche Handarbeit, Turnübungen und Zeichnen für
Mädchen treten." (Ministerialverordnung vom 20. März 1875, § 2);
in Oldenburg: „Religion und biblische Geschichte, Lesen, Schreiben, deutsche
Sprache, Rechnen, Singen, Weltkunde. Hierzu kommen, soweit die Verhältnisse es ge-
statten und wünschenswert erscheinen lassen, die nicht unbedingt notwendigen Lehr-
gegenstände: Zeichnen, Turnen und Handarbeiten." (Grundlinien für die Lehrpläne der
evangelischen Volksschulen vom 20. Juni 1859, § 7);
in Koburg: „Religion und Sittenlehre, deutsche Sprache mit Lesen und Schreiben,
Rechnen, Formenlehre, Erdkunde, Geschichte, Naturgeschichte, Naturlehre, Gesang,
Zeichnen und Turnen. Wo die erforderlichen Einrichtungen dazu getroflen werden
können, soll den Mädchen Unterweisung in weiblichen Handarbeiten erteilt werden.''
(Gesetz vom 27. Oktober 1874, .\rt. 2.)
Für Hamburg gibt das Gesetz, betrefiend das l'nterrichtswesen, vom 11. No-
vember 1870 (Abschnitt 3, § 32) folgende Vorschriften:
„Die Lehrgegenstände der öflentlichen Volksschulen sind: Religion, deutsche Sprache,
Lesen, Schreiben, Rechnen, Geometrie und Algebra, Geographie, Geschichte, Natur-
geschichte, Physik, Chemie, Englisch, Zeichnen, Gesang und Turnen. Soweit es die
Verhältnisse gestatten, wird auch Unterricht in der französischen Sprache erteilt werden.
Organisation der \'o]lvSScliule. Lelirplane, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. ] ] 7
In Mädclienschulen treten die durch die N'erscliiedenheit des Geschlechts bedingten
Modifikationen des Unterrichts ein; jedenfalls wird l'nterricht in weiblichen Hand-
arbeiten erteilt."
„Die öflentlichen Volksschulen haben in der Regel sieben aufeinander folgende
Klassen. Die Bildung von Parallelklassen ist gestattet. Die Zahl von 50 Schülern gilt
als die durchschnittliche Xornialzahl einer Klasse. Diese Zahl darf in der untersten
Klasse ohne Genehmigung der betrefilenden Schulkommission nicht überschritten werden.
An einigen öffentlichen \'olksschulen werden Oberklassen eingerichtet, in welche
die fähigeren und fleißigeren Schüler sämlhcher Volksschulen nach Beendigung der
gewöhnlichen Schulkurse zum Zwecke der Erweiterung und Erhöhung ihrer Ausbildung
aufgenommen werden."
Wie sich auf Grund dieser Bestimmungen die Vierteil ung der
Lehrgegenstände nach Wochenstunden in einzelnen größeren
Schulorganismen des Reiches gestaltet, wird aus folgenden Lektions-
plänen ersichtlich sein:
In Preußen:
Siebenstufige Volksschule in Hannover (Bürgerschule).
Knaben (Mädchen).
Lehreegenstände
II. III. IV. ! V. VI. VII.
I. Religion 4(4)
II. Deutsch:
1 . Anschauungsunterricht,
Heimatkunde ....
2. Lesen, Deklam., Literatur
3. Sprachliche Grammat.,
Rechtschreibung, Auf-
satz, Diktat
4. Schreiben u. Geschäfts-
aufsätze
III. Rechnen u. Raumlehre:
L Rechnen
2. Raumlehre 3 (— )
IV. Zeichnen '2(2)
V. Geschichte 2(2)
VI. Geographie 2(2)
VII. Naturkunde:
1 . Naturbeschreibung . . 3 ( — )
2. Physik und Chemie . . (2)
3( 2)
4(4)
1( 1)
4( 4)
4( 4); 4( 4) 4( 4)1 4(4) 4( 4)' 3 ( 3) i
-(—) — ( — )—( — ) — (-) 2(2) 3(3)
2(2) 2(2) 3(3) 4(4) 5( 5)
9( 9)
4(3) 4( 3) 3(3) 4( 3i 2( 2i
2( IV 2( 2); 3( 2)[ 3( 3) 4( 4)
4( 3) 4( 3): 4( 4); 4( 4) 4( 4) 4( 4)
2 (— ) — (—V— (~^ — ( — ) — ( — ) — (-)
2(2) 2( 2i 2(2) 1 ( n — ( — ) — ( — )
2(2) 2(2) 1 (—) — ( — ) — ( — ) —(-)
2( 2) 2( 2) 2( 2) 1 ( 1) — (- I — (— )
VIII. Singen 2(2)
IX. Turnen 2(2)
X. Weibliche Handarbeiten . •— ( 3)
2( 1) 2( 2) 2( 2) 1 ( 1j — (— ) — (— )
2 ( 2) — (— ) — (— ) — (—) — (— ) — (— )
2( 2) 2( 2) 2( 2) 1( 1)-^(— )' — (— )
2( 2) 2( 2) 2( 2) 2( 11 1(1) 1(1)
-( 4> — ( 4i — I 2)— ( 4i — ( 2t — (-)
*) In der VI. und \1I. Klasse ist
unterrichte verbunden.
Sa. . . . ' 32 (30) 32 (31 ) 28 (30) 28 (30) 25 (27) 22 (24) 20 (20)
der Gesangunterricht mit dem Anschauungs-
118
\'olksschul\veseii .
Sechsslufige \olk.sschule in Dan;
Knaben (Mädchen).
Klasse
Lehrgegenstände
IL in.
VI.
a) Rehgion
b) Deutsch .
c) Rechnen
d) Raumlehre
e) Geschichte
{) Geographie
gj Xaturgeschicht
h) Xaturlehre
i) Singen . .
k) Zeichnen .
1) Turnen . .
m) Handarbeiten
f 4(4)
4(4) 4(41
4 ( 4) 4 ( 4)
4(4)
8( 8)
8( 8) 8( 8) 10(10j 10(11)
11(11)
4(4)
4(41 4(4) 5(5) 4 ( 4)
4(4)
2(-)
— {—) — 1 — >
— ( — ) — ( — )
- (— )
1 2(2)
2(2) 2 ( 2)
K 11 -(-)
-(-)
1 2(2)
2(2) 2(2)
1(1) — ( — )
-(-)
. . .
1 2(2)
2(2) 2(2)
U 1) -I-)
-(-)
: 2(2)
2(2)- (-)
— (— ) — (— )
-(-)
2(2)
2 ( 2) 1 2(2)
2(2); 1(1)
K 1)
2( 2)
2 ( 2) 1 2(2)' 2 ( 2) 1 l(-)
— (— )
,2(2)
2(2) 2 (~) 2 (— ) 2 (—)
2(-)
i|-(2)
- ( 2) - ( 2) -{ 2) - (. 2 )
— ' — 1
'|32r32)
30(32) 28(281 28(28) 22(22)
22 (20)
e VoU
.sschule
in Berlin (Gemeindeschule).
Knaben (Mädchen).
Lehrgegenstände
1
Klasse
1
L
„.
1 I"-
IV. 1 V.
VI.
VII.
VIII.
1
1. Rehgion
4
4
4
1
4 ' 4
3
3
3
2. Deutsch . .
6
6
6
6 6
7
7
8 1
3. Anschauung .
—
—
—
— —
2
2
2 i
4. Geschichte
3
(2)
2
2
2 2
—
— j
5. Rechnen . .
4
(2)
4 (2)
4
4 4
4
4
4 !
6. Raumlehre . j
3
(2)
3 (2)
3 (0)
— —
—
—
7. Naturkunde . j
3
4 (3)
4
2 2
—
—
— j
8. Erdkunde . .
2
2
2
2 2
—
_
— 1
9. Zeichnen . .
2
2
2
2 2
2 (1)
1
— 1
10. Schreiben . .
1
1
1
2 2
2
2
— 1
11. Gesang . . .
2
2
2
2 2
2
1
1 ;
12. Turnen . . .
2
2
2
2 2
2 (1)
2
2
13. Handarbeil
-
i4i
— i4)
— (3)
— (2i — i2i
i2)
—
— ,
32
32
32
28(30) 28(30)
24
22
20
I Oberstufe Mittelstufe Unterstufe
Es bleibt den einzelnen Schulen vorbehalten, in den beiden untersten Klassen die
Unterrichtszeit in Religion, Anschauung, Rechnen, Gesang und Turnen auf halbe Stunden
zu verteilen.
Organisation der \'olkssclnile. Lebrpliine, Mellioden, Disziplin u. Lehrmittel. \](^)
Sieben stufige X'olkssc hule in München (Werktagsschule).
Knaben (Mädchen).
Lehrgegenstände
Klasse (aufsteigend von I bis ''
m).
I.
n. III. ' IV. ' V.
1 ' i
VI. j
VII.
1. Religion . . .
2. Deutsche Sprache
3. Rechnen . . .
V
2
10
6
2 3 3
10 10 (9) W ( 9)
6 6 6
3
8 ( 7)
6
3
8 ( 7)
6
2
8 ( 7)
6
4. (leographie . .
5. Geschichte . . .
6. Naturgeschichte .
7. Xaturlehre . . .
8. Schönschreiben .
9. Freihandzeichnen
~
— j Heimatkunde
2 2 ( 1) 2 ( 1)
} 3 ( 2)
2
4 ( 2)
^ {
2
2 ( 1)
3 ( 2)
2;( 3)
2
2 ( 1)
3 ( 2)
10. Singen ....
1 1 . Turnen ....
12. Handarbeiten . .
1
2
- ( 21
1 1 1
2 2 2
— ( 2 ' - ( 3) - ( 3)
1
2
- ( 4)
1
2
- ( 3)
1
2
- (4)
Sa.
21 (23)
23 (25) 26 (27) 26 (27)
29 (29)
30 (30)
30 (30)
\'IIL Knabenklasse.
Std.
1. Religion 2
2. Aufsatz mit Lesen ...... 4j
3. Bürgerkunde (auf Grund der Ge- i
schichte des 19. Jahrhunderts) . 2
a) Abriß der Geschichte des Hand-
werks vor der französischen Re-
volution ;
b) Entwicklung von Industrie, Han-
del und Verkehr im 19. Jahrhun-
dert;
c) Gewerbe- und Sozialgesetzgebung
am Schlüsse des 19. Jahrhun-
derts; bayeri.sche und deutsche
\'erfassung.
4. Natur- und Gewerbekunde .... 5
a) Gesundheitslehre ... 1 Std.
b) Material- und Werkzeug-
kunde 2 „
c) Einrichtungen und ^hv-
schinen eines gewerb-
lichen Betriebes und ihre
ph) sikaUschen Grund-
lagen 2 ,,
5. Rechnen einschl. Geometrie und
Buchführung 6
Std.
6. Zeichnen 7
a) Freihandzeichnen . . 3 Std.
b) Meßbilderzeichnen (Pro-
jektionszeichnen) ... 3 ,,
c) Werkzeichnen .... 1
7. Handfertigkeit 6
8. Turnen 2
Sa. 34
(vgl. Münchner Schulwesen, Vervvaltungs-
bericht 1900.)
Vm. Mädchenklasse. Std.
1. Religion 2
2. Haushaltungskunde und Schulküche 8
3. Weibliche Handarbeiten 4
4. Deutsche Sprache 6
5. Rechnen 4
6. Singen 1
7. Zeichnen 2
8. Turnen und Spiele mit Gesang . . 2
Sa. 29
Neben diesen obligaten L'nterrichts-
gegenständen wird noch wahlfrei je ein vier-
stündiger Unterricht entweder in französischer
Sprache oder im gewerblichen Zeichnen ge-
boten, jedoch um eine Arbeitsüberbürdung
der Mädchen zu verhindern, nur alternativ.
Der Besuch des einen Unterrichts schließt
den des anderen aus.
(vgl. Münchner Schulwesen, \'erwaltungs-
bericht 1897.)
120
Volksschuhvesen.
Achtstufige Volksschule in Dresden (Bezirksschule).
Knaben (Mädchen).
Lehrgegenstände
Klasse (aufsteigend von ^1II bis I).
I. II. III. IV. V. ^^. vn. ^^II,
Biblische Geschichte
bezw. Bibelkunde
Katechismuslehre
Anschauungsübunge:
Lesen ....
Rechtschreibung .
Sprachlehre . .
Sül
Rechnen . . .
Geometrie .
Naturbeschreibung
Naturlehre
Erdkunde
Geschichte
Schreiben
Zeichnen
Singen .
Turnen .
Nadelarbeit
Sa.
2
2
2
2
2
2
1
1
1
1
2
2
2
2
2
1
1
2
4( 3) 4( 3)
2(0)1 2(0),
1 ! 1 I
4
K 0)
2
2 j 2
2 i 2
2 I 2
1
4( 2)! 2
i( 2); 2( i;
2 2
2( 1)
(1)
2(1)12(1)-
1 I 1 I 2( 1)
2 2 i 2 ( 0)
( 4)-( 4)-( 4)-(4)— (4):-(4).
(4)
(2),
30 (30) 30 (30):28 (30) 28 (30) 2+ (24) 20 (24) 18*) (20) 18*)(18)
) Die Lektionen in Klasse VII und VIII dauern in der Regel 30 bis 40 Minuten.
Die Stoffe, welche in den einzelnen Unterrichtsfächern be-
handelt werden, näher anzugeben, wird im Rahmen dieser Schrift
nicht möglich sein, ebensowenig werden die Methoden des Unterrichts
im einzelnen näher erörtert werden können. Ein Urteil über die
Leistungen deutscher Volksschulen ließe sich vielleicht am ersten aus
dem Studium der Lehrstoffe gewinnen, welche das Pensum der
obersten Klassen bilden. Aber auch hier gibt der Lektionsplan kein
zutreffendes Bild dafür, was wirklich erreicht wird. Besonders trifft
das für die ethischen Unteri-ichtsfächer zu. Den Grad der Bildung,
den unsere Schüler im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der
Muttersprache und im Verständnis der ihnen durch den deutschen
Unterricht zugeführten Gedanken und Anschauungen erreichen, wird
sich nur durch häufiges Hospitieren im Unterricht selbst gewinnen
Organisation der \olk.sschule. Lehi-])läne, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. ]2\
Achtstufige evangelische Volksschule in Stuttgart.
Knaben (Mädchen).
Klasse (aufsteigend von I bis VIII).
! Lehrgegenstände
i
I.
IL III. IV.
V.
VI.
VII.
vm*)
Religionsunter-
1 ""'cht
j '1 des Geistlichen
j l des Lehrers .
^
—
— —
—
1
2
1
2
1 4
41/2 1 41/2
5
5
4
5
2
2. Lesen . . .
5 2
1
1
1
2
I 3. Schönschreiben
: 21/2 ' 2
3
3
3
1
1 4. Rechtschreiben
10
101/0
2V2 2
2
2
2
2
j 5. Aufsatz . . .
IV2 2
2
2
3
2
! 6. Sprachlehre . .
11/2 11/2
IV2
11/2
IV2
1
7. Rechnen . . .
3
4 5 5
•5
5
5
5
8. Realien . . .
2
2 2 4
4
4
4
7
9. Singen . . .
1
1
IV2
IV2
IV2
IV2
IV2
—
10. Zeichnen . .
—
-
—
2( 0)
2(0)
2(0)
2
11. Turnen . . .
—
— —
2 1
2
2
2
2
12. Handarbeit . .
-(4):
- ( 4) 1 - ( 4)
-(4);
-(4)
-(4)
-(4)
2
Sa.
20(24)^22(26)
26 (30)
27(31)
30 (3g)
30 (32)
30 (32)
30
*) Nur für Knaben. Die ]\Iädchenschulen haben nur 7 Klassen.
lassen. Das gleiche gilt vielleicht in noch höherem Maße vom
Religionsunterricht und in gewissem Sinne auch von den technischen
Fächern, wie Singen, Zeichnen und Handarbeit. Wir werden uns
daher in den folgenden Darlegungen auf einige wenige Fächer aus
dem Gebiete des Rechnens, der Raumlehre und der Realien be-
schränken, deren Unterrichtsziele sich genauer präzisieren lassen und
daher dem Ausländer auch Gelegenheit zu Vergleichen mit den
Leistungen seiner einheimischen Schulen bieten.
Rechnen. (Raumlehre und Algebra.)
Die „Allgemeinen Bestimmungen" schreiben in Preußen als Lehrstoff für die
Oberstufe der Volksschule vor: „§ 28. Die Bruchrechnung, welche bereits auf den
unteren Stufen in der geeigneten Weise vorbereitet werden muß, und deren Anwendung
in den bürgerhchen Rechnungsarten sowie eingehende Behandlung der Dezimalbrüche.
In der mehrklassigen Schule erweitert sich das Pensum in den bürgerlichen
Rechnungen durch Aufnahme der schwierigen Arten und das in der Rechnung mit
Dezimalen durch die Lehre von den Wurzelextraktionen."
BezügUch der Raumlehre heißt es daselbst § 29: „Das Pensum der Raumlehre
bilden: die Linie (gerade, gleiche, ungleiche, gleichlaufende), der Winkel und dessen
j 9*2 Volksschuhvesen.
Arten, Dreiecke, Vierecke, regelmäßige Figuren, der Kreis und dessen Hilfslinien, die
regelmäßigen Körper.
In der mehrklassigen Schule kommt die Lehre von den Linien und \Vinkeln und
von der Gleichheit und Kongruenz der Figuren in elementarer Darstellung hinzu."
Das Pensum für die Hamburger Selekten ist für Mädchen (wöchentlich
4 Stunden, keine Raumlehre): „Übungen in allen bürgerlichen Rechnungsarten mit be-
sonderer Berücksichtigung der häuslichen Verhältnisse."
Für Knaben (Rechnen und Algebra wöchentlich 5 Stunden): „Rechnen: Schwierigere
Aufgaben aus dem Gebiete des bürgerlichen Rechnens mit besonderer Berücksichtigung
der vaterstädtigen Verhältnisse.
Algebra: Gleichungen ersten Grades mit mehreren Unbekannten. Potenzen und
Wurzeln. Quadratische Gleichungen.
Geometrie (wöchentlich 2 Stunden): Befestigung und Vertiefung des früher be-
handelten Stoffes durch Lösung von Konstruktionsaufgaben. Proportionalität und Ähnlich-
keit der P'iguren. Flächen- und Körperberechnung."
Etwas genauer spricht .sich der neue Berliner Lehrplan aus (4 Stunden): „Die
Kurs-, Diskont- und Gesellschaftsrechnung. L^mfassende und abschließende Verwertung
der weltkundlichen Stoffe. Zwei Stunden Arithmetik und Algebra: die Lehre von den
absoluten Zahlen; die algebraische Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division; die
Proportionen; die Gleichungen ersten Grades mit einer und mehreren Unbekannten. (In
den Mädchenschulen kommt die Arithmetik und Algebra in Wegfall.)"
„(Raumlehre für Knaben 3 Stunden.) Die Lehre vom Kreise, vom \ielecke, vom
Flächenraume ger.ulliniger Figuren und von der Proportionalität der Geraden.
(Raumlehre für Mädchen 2 Stunden.) Anschauliche Entwicklung der Gesetze für
Flächen- und Köqierberechnung. Übungen im Linearzeichnen."
Erdkunde.
Frankfurt a. M. (Siebenstufige Bürgerschule): „I. Kl. (2 Stunden wöchentlich).
L Tahr: Frankfurt a. M. und die heimatliche Provinz (besonders inbezug auf die politischen
Einrichtungen, Verwaltungen usw.). Deutschland, (iestalt und Bewegung der Erde; die
Pole. Erdachse, Äquator, Länge und Breite, Zonen, Jahreszeiten, Finsternisse, Sonnensystem.
2. Jahr: Die außerdeutschen Länder Europas. Die außereuropäischen Erdteile.
Achtstufige mittlere Volksschule (Bürger- und Bezirksschulen). L Kl. (wöchentlich
2 Stunden): Unser engeres und weiteres Vaterland. Industrie und Handel. Die großen
\'erkehrswege. Weltstellung, Volksstämme, Verfassung, Rechtspflege, Wehrmacht usw.
Die deutschen Kolonien. An geeignetem Orte sind zu behandeln: Meeresströmungen und
ihre Bedeutung. Die Menschen nach ihrer leiblichen und geistigen Natur und in
Wechselwirkung zum Boden und Klima, zur Pflanzen- und Tierwelt. Zusammenfassung
der betrachteten erdgeschichtlichen Momente im Hinblick auf die Kräfte, welche die
Oberfläche unseres Vaterlandes umgestaltet haben und noch gegenwärtig verändern.
Kartenlesen: Karte mit wachsenden Breiten. Die 0°- und 20° - Isotherme. \'er-
breitung wichtiger Pflanzen und Tiere. Deutsche Schiflahrtslinien und wichtige Eisen-
bahnen des In- und Auslandes.
Fortgesetzte Beachtung der Witterungsberichte und Wetterkarten. Chemische
Wirkungen des Wassers usw. Bewegung der Erde um die Sonne als Ursache der jähr-
lichen Erscheinungen am Himmel. Planetensystem, Kometen, Meteorite."
(Jeschichte.
Der Geschichtsunterricht gestaltet sich in den einzelnen deutschen Staaten aus
dem (Irunde verschieden, weil jeder Staat seine eigene Landesgeschichte neben der des
( )rgani.sation (Itr \'olksschuIe. 1 ,ehr])l;üie, Methoden, Disziplin ii. Lehrmittel. | 2o
großen tleiitschen X'aterliuicles in den \'ordergnind rückt uiul niil besonderer Liebe
behandelt. Die Geschichte der außerdeutschen Länder findet auch in den Oberklassen
der Volksschule nur ausnahmsweise und nur insoweit Berücksichtigung, als das Ausland
durch die politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Kulturverhältnisse unmittelbar oder
mittelbar die Geschicke unseres Landes beeinflußt hat; die Geschichte des Altertums ist
nur in seltenen Fällen Lehrgegenstand der deutschen \'olksschule. Belehrungen über die
politische Verfassung unseres Landes sowie über die geschichtliche Entwicklung der
gegenwärtigen sozialen Verhältnisse und der bestehenden Gesellschaftsordnung werden
häufig in den Lehrplan der oberen Klassen mit aufgenommen.
Dem Geschichtsuntenicht fällt in Deutschland wie in den meisten modernen
Kulturländern ein wichtiger Teil der Aufgabe zu, das Nationalgefühl und die Vaterlands-
liebe der heranwachsenden Generation zu wecken und zu kräftigen. Er soll auch jenen
Bestrebungen entgegenarbeiten, welche auf den L^msturz der bestehenden Gesellschafts-
ordnung abzielen. Für Preußen ist diese Aufgabe des Geschichtsunterrichts ausdrücklich
in dem Allerhöchsten Erlaß des Kaisers und Königs vom l. Mai 1889 ausgesprochen
worden. Es heißt daselbst:
,,Die Vaterländische Geschichte wird insonderheit auch die Ge-
schichte unserer sozialen und wirtschaftlichen Gesetzgebung und Ent-
wicklung seit dem Beginne dieses Jahrhunderts bis zu der gegen-
wärtigen sozialpolitischen Gesetzgebung zu behandeln haben, um zu
zeigen, wie die Monarchen Preußens es von jeher als ihre besondere
Aufgabe betrachtet haben, der auf die Arbeit ihrer Hände ange-
wiesenen Bevölkerung den landesväterlichen Schutz angedeihen zu
lassen und ihr leibliches und geistiges Wohl zu heben, und \\'ie auch
in Zukunft die Arbeiter Gerechtigkeit und Sicherheit ihres Erwerbes
nur unter dem Schutze und der Fürsorge des Königs an der Spitze
eines geordneten Staates zu erwarten haben. Insbesondere vom
Standpunkte der Nützlichkeit, durch Darlegung einschlagender prak-
tischer Verhältnisse, wird schon der Jugend klar gemacht werden
können, dais ein geordnetes Staatswesen mit einer sicheren monarchischen
Leitung die unerläßliche Vorbedingung für den Schutz und das Ge-
deihen des einzelnen in seiner rechtlichen und wirtschaftlichen
Existenz i.st, daß dagegen die Lehren der Sozialdemokratie praktisch
nicht ausführbar sind, und wenn sie es wären, die Freiheit des einzelnen
bis in seine Häuslichkeit hinein einem unerträglichen Zwang unter-
worfen würde. Die angeblichen Ideale der Sozialisten sind durch
deren eigene Erklärung hinreichend gekennzeichnet, um den Gefühbn
und dem praktischen Sinne auch der Jugend als abschreckend ge-
schildert werden zu können."
Naturkunde.
Der Unterricht gliedert sich in Naturbeschreibung oder Naturgeschichte (Botanik,
Zoologie usw.) und Naturlehre (Physik und Chemie).
Bremen (achtstufige öffentliche Volksschule) Naturlehre L Kl.: „Wärme: Die Dampf-
maschine. — Magnetismus: Magnetische Verteilung. Erdmagnetismus. Deklination.
1 24 Volksschulwesen.
Inklination. Das Nordlicht. — Elektrizität (Galvanismus): Der elektrische Strom.
Da.s galvanische Element und seine ^^■irkungen. Der Induktionsapparat. Wirkungen des
elektrischen Stromes: Physiologische Wirkungen. Wärme- und Lichtwirkungen.
Magnetische Wirkungen, Telegraph und Telephon. Chemische Wirkungen, Galvano-
plastik. — Mechanik: Gleichmäßige Fortpflanzung des Druckes in Flüssigkeiten.
Hydraulische Presse. Gewichtsverlust untergetauchter Körper (Archimedisches Prinzip).
Das .spezifische Gewicht der Köiper. Aräometer. Luftpumpe. Heber, Wasserpumpe.
Heronsball, Feuerspritze. — Schall: Der Ton. Musikalische Instrumente. Das mensch-
Hche Stimmorgan und das Ohr. — Licht: Hohlspiegel und erhabene Spiegel. Doppelte
Brechung des Lichtstrahls. Lichtbrechung durch Prismen und Linsen. Farbenzerstreuung
des Lichts. Der Regenbogen. Optische Instrumente. Das menschliche Auge. Der
\organg des Sehens. Die Brillen. — Aus der Chemie: Der Kalk und seine Ver-
wendung. Kreide. Kalkstein. Marmor, Gips. Der Ton und seine Verwendung. Tonarten.
Fabrikation von Ziegel, Tonwaren und Porzellan. Der Quarz und seine Verwendung.
Quarzarten. Glasfabrikation. Das Eisen. Flochofenprozeß. Zink. Blei. Zinn. Kupfer.
Quecksilber. Silber. Gold. Piatina. Granit. Poiphyr. Basalt. Tonschiefer. Sandstein. Die
wichtigsten Nahrungs- und Genußmittel. Die Gährung."
Naturgeschichte I. KL: „Fremdländische Kulturpflanzen. Allgemeiner
Rückblick auf den Natm-haushalt. Übersicht über das Tier-, Pflanzen- und Mineralreich. —
Der Bau des menschlichen Körpers: Die Werkzeuge der Bewegung. Knochen,
Muskeln. Die Werkzeuge der Empfindung: Nerven, Sinnesorgane. Die Ernährung: Der
\'erdauungsvorgang (Mundhöhle, Zähne, Speiseröhre, Magen, Darm). Der Blutumlauf
(Blut, Herz, Adern). Die Ausscheidungsorgane (Nieren, Haut). Die Atmung (Nase,
Luftröhre, Lunge). Gesundheitslehre (Nahrungs- und Genußmittel. Kleidung und
Wohnung). Erste Hilfeleistung bei Unglücksfällen."
Berlin (achtstufige Volksschule). Naturlehre I. Kl. Knaben. 3 Stunden.
L Vierteljahr: Vgl. Naturgeschichte. — 2. Merteljahr: „Abschluß der anorganischen
Chemie; Belehrungen aus der organischen Chemie. — 2. Halbjahr: Abschluß der
Mechanik; die Lehre vom Schall und vom Lichte. — Mädchen. 3 Stunden.
Die Lehre vom Magnetismus, von der Elektrizität, vom Galvanismus, vom Schalle und
vom Lichte."
Naturgeschichte I. Kl. (ein Vierteljahr, 3 Stunden wöchenthch): „Einiges
übe? den inneren Bau der Werkzeuge des Pflanzen- und des Tierkörpers. Aus den
Lebensvorgängen bei Pflanze und Tier: der Saftstrom, der Blutumlauf, die Stoffaneignung
und die Atmung. Für Mädchenschulen sind folgende Bestimmungen zu beachten:
a) Bei der Auswahl der Naturkörper ist durchweg auf den Gedankenkreis und die häus-
liche Beschäftigung der Mädchen Rücksicht zu nehmen, b) Bei der Lehraufgabe des
Sommerhalbjahres der 2. Klasse ist die hauswirtschaftliche Bedeutung der betreflenden
Pflanzen in den Vordergrund zu stellen."
Wie in dem Berliner Lehrplan für Naturgeschichte angedeutet
ist, x'ersucht man auf der Oberstufe der Mädchenschule diesen Unter-
richtszweig den Anforderungen der Hauswirtschaft dienstbar zu
machen. Das geschieht selbst dort, wo ein Haushaltungsunterricht
für INIädchen noch nicht eingeführt ist, und es liegen zahlreiche sorg-
fältig ausgearbeitete Lehrpläne vor, welche den naturkundlichen Unter-
richt auf der Oberstufe der Volksmädchenschule eingehend regeln.
Unter anderem möge hier auf den Lehrplan für den naturkundlichen
Unterricht der ersten Mädchenklasse der Bürgerschulen Hannovers
Organisation der \'olk.s.schule. Lehq)länt', Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. |2ri
hingewiesen werden, wo zur Zeit ein hauswirtschaftlicher Unterricht
für Volksschülerinnen noch nicht besteht.
3. Methoden des Unterrichts.
Hinsichtlich der Methoden des Unterrichts geben die Lehr-
pläne besondere Vorschriften, die natürlich hier nicht einmal kurz
skizziert werden können, wenn sie auch im einzelnen den Pädagogen
eine Fülle reifen Urteils und reicher praktischer Erfahrung darbieten
würden.
Das gilt besonders für den von dem Stadtschulrat Dr. Kerschen-
steiner in München ausgearbeiteten Lehrplan für den Unterricht
in der Weltkunde an den Werktags-(Volks)schulen. Dieser Plan
umfaßt die sämtlichen Realien, Heimatkunde, Geographie, Geschichte
und Naturkunde, und versteht es, diese Disziplinen zu einem
organischen Ganzen zu verschmelzen, diesem Unterrichte das gesamte
Anschauungs- und Vorstellungsgebiet des Kindes dienstbar zu machen,
mit der Benutzung aller landläufigen Anschauungsmittel den Schul-
garten, das Terrarium, das Aquarium und vor allem die Schüleraus-
flüge in engste Verbindung zu setzen und an die Denkmäler und
Kunstschätze, die historischen Bauwerke der Residenzstadt München
sowie die landschaftliche Gestaltung der Umgegend und die Industrien
der Heimat anzuknüpfen.
An der Hand dieses Lehrplanes muß es einem einigermalsen
geschickten Lehrer gelingen, den Kindern nicht nur eine positive
Summe von Kenntnissen einzuprägen, sondern auch in ihnen die
Fähigkeit zu entwickeln, aus den an der heimatlichen Landschaft *ind
Geschichte gew^onnenen Erfahrungen durch eigene Beobachtung zu
einem reifen Verständnis der sie umgebenden Naturerscheinungen und
der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu gelangen.
Als ganz besonders erfreulich muß hervorgehoben werden, dalA
dieser so eminent praktische Lehrplan in seiner Zielsetzung für die
Naturkunde ethische und ästhetische Gesichtspunkte in den Vorder-
grund stellt. Es heißt da: „Der naturkundliche Unterricht hat den
Schüler so in die Natur einzuführen, daß er die einfachen Vorgänge
und Gesetze in den Erscheinungen der Natur beobachten, verstehen
und auf seine sittliche Lebensführung anwenden lerne. In Verfolgung
dieses Zieles wird zugleich erreicht, daß der Schüler die Natur als
einen weisen Ratgeber und als eine Quelle der Erhebung und edler
Genüsse schätzen und lieben lernt. Der Unterricht in der Naturkunde
hat also weder den Zweck, den Schülern umfangreiche theoretische
•j 26 \'olksschul\vesen.
Kenntnisse des Systems zu übermitteln, noch die Aufgabe, sie mit
vorwiegend praktischen Kenntnissen aus dem Gebiete der Technik,
des Handels und Gewerbes auszurüsten. Er wird diese beiden
Forderungen nicht \'öllig vernachlässigen, aber auch nur so weit be-
rücksichtigen, als dies im Rahmen der Hauptaufgabe zweckmäi.Mg
erscheint."
Unter den neueren Lehrplänen verdient der kürzlich eingeführte
Lehrplan für die achtstufigen Berliner Gemeindeschulen hin-
sichtlich seiner methodischen V^orschriften besondere Beachtung.
Die methodischen Grundsätze für den Zeichenunterricht in
diesem Berliner Lehrplane bedeuten die Einführung eines ganz
neuen Verfahrens und eine Umwälzung auf diesem Unterrichtsgebiete,
deren Tragweite nur derjenige ermessen kann, der längere Zeit nach
dem bisherigen Verfahren gearbeitet hat.
Die seit 1887 in den preußischen Volksschulen eingeführte
Methode gründet sich auf das Werk des Schulrats für das Gewerbe-
Schulwesen in Hamburg, Dr. A. Stuhlmann, ,, Leitfaden für den
Zeichenunterricht in den preußischen Volksschulen mit drei und
mehr aufsteigenden Klassen". Diese Schrift besteht aus 3 Teilen; der
erste behandelt das Netzzeichnen, der zweite das freie Zeichnen ebener
Gebilde, der dritte das freie Zeichnen nach körperlichen Gegen-
ständen. Als Lehrmittel für den 2. Teil dienen Wandtafeln mit
geradlinigen Formen, mit krummlinigen Formen, welche sich auf
das regelmäßige Sechseck und Achteck zurückführen lassen, und
Wandtafeln mit gerad- und krummlinig begrenzten und krummlinig-
ornamentalen Flächenformen. Zum 3. Teile gehören regelmäßige
Holzkörper und Schattierungsmodelle. Ein später erschienener 4. Teil
bringt Stickmuster für Leinenstickerei in Kreuz- und Plattstich und
Muster für Holbein.stickerei. Das Charakteristische dieser Methode
ist, daß sie sich nahezu au.sschließlich auf die Nachahmung von
Kunstformen beschränkt, daß sie besonders für die Unterstufe den
Kindern zumutet, in ein quadratisches Liniennetz regelmäßige Figuren
einzuzeichnen, welche abgesehen von anderen Unzuträglichkeiten für
das kindliche Vorstellungsvermögen ohne Reiz und tieferes Interesse
bleiben müssen.
Die neue Methode \erwirft dieses Nachbilden geometrischer
und ornamentaler Kunstformen, verwirft die Anwendung von Vor-
lagen und Gipsmodellen; sie knüpft an die psychologische Ent-
wicklung und an den künstlerischen Schafifenstrieb des Kindes an, sie
will nicht der technischen Ausbilduno' für o-ewisse Zwecke der In-
'Jrganisution der \'oIksschuIe. I. einplane, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. |27
dustrie, sondern der ethischen und ästhetischen FLrziehung der Jugend
dienen. Auf welche Weise man diese Ziele zu erreichen sucht, ist
aus den hier folgenden methodischen Grundsätzen des Berliner Lehr-
plans ersichtlich. Es heiik dort:
„I. Freihandzeichnen.
Der Zweck der Zeicheniibungen auf der L'nter.stufe ist, die Erziehung des
Auges und der Hand anzubahnen. Die Zeichnung soll dartun, ob der Schüler das
Wesentliche der Form des dargestellten Gegenstandes klar erfaßt hat. Das Abzeichnen
bestim.mter Vorbilder ist noch nicht Aufgabe des Unterrichts. Alle Formen sind frei
und ohne Auflegen der Hand zu zeichnen. Hilfslinien sind bei der
Wiedergabe einfacher Formen nicht anzuwenden. Die Schüler sind anzuhalten,
die zu zeichnende Form mögliclist in einem Zuge rasch auszuführen und das Verfehlte so
lange stehen zu lassen, bis durch Wiederholung der Übung das Richtige getroffen ist.
^'orlagen jedweder Art sind hier wie überhaupt ausgeschlossen.
Bei der Behandlung des oben angegebenen Lehrstoffes ist im allgemeinen folgender
^^ eg einzuschlagen :
LJer Lehrer läßt den darzustellenden Gegenstand von den Kindern aus dem Ge-
dächtnisse zeichnen. An der Hand dieser Zeichnungen stellt er mit ihnen zusammen
die Hauptmerkmale des Gegenstandes, der dabei nicht unbedingt vorgeführt werden
muß, fest. Alsdann wird dieser von mehreren Ivindern an die Schultafel gezeichnet.
Hierbei sich ergebende Fehler werden berichtigt. Alle Schüler zeichnen .sodann den
Gegenstand aus dem Gedächtnisse auf das Papier.
Als Ziel des Unterrichts der Mittelstufe ist ins Auge zu fassen, daß der Schüler
lernt, selbständig Beobachtungen vor der Natur zu machen, das Beobachtete in der Zeich-
nung sicher darzustellen und eine klare \orstellung des gezeichneten (Gegenstandes im
Gedächtnisse zu behalten. Bei dem Zeichnen nach der Natur kommt es vor allem darauf an,
daß der als Vorbild gewählte Naturgegenstand in seiner eigentümlichen Erscheinung
richtig aufgefaßt und lebendig wiedergegeben wird.
Bei der Behandlung dieses Lehrstoffes ist im allgemeinen folgender Weg ein-
zuschlagen :
Nachdem die Schüler einzeln oder gruppenweise mit Vorbildern versehen sind,
werden die für die bildliche Wiedergabe wichtigen Merkmale durch gemeinsame Be-
sprechung festgestellt. Der Lehrer gibt den Weg der Darstellung an, indem er ihn an
der Schultafel mit klaren, sicheren Strichen entwirft. Es wird zunächst die Gesamtform
des \'orbildes und die seiner Hauptteile in einfachen Linienzügen entworfen und erst,
nachdem dies geschehen, auf die F2inzelformen eingegangen. Hierbei ist besonders darauf
zu achten, daß der Schüler nicht flüclitig über eigenartige Formen hinweggeht, und daß
er andererseits nicht in zu äußerlicher Nachahmung unwichtige Einzelheiten nach-
zeichnet. Nachdem die Aufgabe vor der Natur gelöst ist, wird sie aus dem Gedächtnisse
wiederholt.
Als die eigentliche Aufgabe des L'nterrichts der Oberstufe ist ebenso wie auf
der Lnter- und Mittelstufe fest im Auge zu behalten, daß der Schüler selbständig
beobachten, das richtig Erfaßte sicher wiedergeben und ein klares Bild des gezeichneten
Gegenstandes in seinem Gedächtnisse bewahren lernt. Die perspektivischen, Beleuch-
tungs- und Farbenerscheinungen sind daher nicht durch Erörterungen und Konstruktionen,
.sondern durch Übungen im Beobachten bestimmter Gegenstände dem Schüler zum Be-
wußtsein zu bringen. Die Gegenstände sind so aufzustellen, daß der Schüler
die Erscheinungen, die er beachten soll, auch wirklich wahrnehmen kann.
r)as richtige Erfassen der jierspektivischen, Beleuchtungs- und Farbenerscheinungen ist
] 28 \ülksschul\vesen.
die Hauptsache, nicht die glatte Ausführung und das unfreie Nachbilden unwesentlicher
Einzelheiten.
Beim Skizzieren kommt es darauf an, daß das \"orbild zwar mit geringen Mitteln,
aber getreu wiedergegeben wird.
Im allgemeinen ist folgender Weg des Unterrichtes einzuschlagen:
Der Schüler wird angeleitet, das Vorbild aufmerksam zu betrachten und auf
Grund seiner Beobachtungen die Gesamtform frei zu entwerfen. Seine Zeichnungen
vergleicht er mit dem Vorbilde, indem er sie senkrecht daneben stellt oder möglichst
weit von sich entfernt hält. Die Fehler, die ihm hierbei nicht zum Bewußtsein kommen,
werden durch Visieren, durch Lot und Wage unter Anleitung des Lehrers festgestellt
vmd verbessert. Zugleich werden die Hauptschatten eingesetzt. Erst nachdem auf diese
Weise der plastische Eindruck des Vorbildes gewonnen ist, kann zur weiteren Durch-
bildung geschritten werden. Hierbei ist besonders darauf zu achten, daß die geschlossene
Gesamtwirkung nicht durch übermäßiges Betonen von Einzelheiten (Reflexen, Spiege-
lungen usw.) zerstört wird.
Auch bei dem Malen sind die Schüler anzuleiten, zunächst die Haupttöne einzu-
setzen, ihre Richtigkeit durch \'ergleichen mit dem Vorbild in der oben angegebenen
Weise zu prüfen und bei weiterer Durchbildung immer den Gesamteindruck im Auge
zu behalten.
II. Linearzeichnen.
Die Benutzung von Vorlagen und Wandtafeln ist ausgeschlossen. Der
Unterricht der Klassen 2 und 1 hat vom körperlichen Modell auszugehen. Er darf aber
nicht dabei stehen bleiben. Vielmehr sind tunhchst bald Aufgaben zu stellen, die nicht
durch ein besonderes Modell veranschaulicht, sondern nur durch eine Skizze des Lehrers
angedeutet werden. Der Schüler soll auf diese Weise Projektionszeichnungen lesen lernen.
Die Modelle sind im Grundriß, Aufriß und, wenn nötig, auch im Seilenriß
zu zeichnen. Ferner sind die im Modell angenommenen Schnittebenen und der Älantel
des Objektes darzustellen. Sämtliche Modelle sind in recht- und schiefwinkliger
Parallelprojektion wiederzugeben. Die Zeichnungen sind mit Ziehfeder und Tusche auszu-
führen und mit einem ruhigen, lichten P'arbenton zu überlegen."
4. Die Schulzucht.
Die Schulzucht wird in den deutschen Volksschulen in erster
Linie mit denselben Mitteln ausgeübt, die auch in anderen Kultur-
ländern zur Anwendung kommen. Die vorbildliche Persönlichkeit
des Lehrers, sein freundlicher Zuspruch, seine geschickte Anleitung
und ein Unterricht, welcher das Interesse der Kinder zu fesseln weiß,
werden immer am besten der Aufrechterhaltung der Ordnung in der
Schule dienen und die Arbeitsfreudigkeit der Kinder am wirksamsten
beleben.
Eigentliche Belohnungen spielen im Leben der deutschen Volks-
schule nur eine geringe Rolle. Der Platz des Schülers in der Klasse
(die Rangordnung), das am Schlüsse des Halbjahrs verteilte Zeugnis,
die Versetzung in eine höhere Klasse sind neben gelegentlich münd-
lich oder schriftlich von dem Lehrer ausgesprochener Anerkennung
für gute Leistungen die gebräuchlichsten Formen der Belohnunef.
Organisation der Volksschule. Lehrpläne, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. | 29
Zur Gewährung von Geschenken an fleißige Schüler .sind in manchen
Ortschaften Geldmittel vorhanden, und es bestehen diese Gaben mei.st
in guten Büchern oder in Gerätschaften für weibliche Handarbeit. Im
allgemeinen steht die Lehrerschaft diesen Auszeichnungen ohne gt-oße
Sympathie gegenüber. Sie ist meist der Ansicht, daß die Schule
auch ohne Prämienverteilung das Streben der Schüler, sich durch
Fleiß und gutes Betragen auszuzeichnen, erwecken und erhalten kann.
Eine weit größere Bedeutung für die Aufrechterhaltung der
Schuldisziplin als die Prämien nehmen in Deutschland noch immer
die Schulstrafen ein. Strafarbeiten werden meistens gänzlich ver-
worfen, und auch Nachsitzen und körperliche Züchtigung werden,
obwohl in einer oder der anderen Form überall geduldet und ange-
wendet, durch die Aufsichtsbehörden tunlichst auf die Pralle beschränkt,
in denen grobe Verletzungen der Schulordnung, Widersetzlichkeit,
Roheit gegen Schwächere oder noch schwerere Vergehungen vor-
liegen. Besonders streng sind überall die Maßregeln gegen den Miß-
brauch des dem Lehrer zustehenden Rechtes, körperliche Züchtigungen
vorzunehmen. Peinige auf dieses Gebiet bezügliche Gesetze und Ver-
ordnungen mögen hier ihren Platz finden.
Preußen. Die Grundlage für das Züchtigungsrecht des Lehrers
bildet das Allgemeine Landrecht vom 5. Februar 1 794, IL 1 2 § 50 — 53.
„Die Schulzucht darf niemals bis zu Mißhandlungen, welche der
Gesundheit der Kinder auch nur auf entfernte Art schädlich werden
könnten, ausgedehnt werden.
Glaubt der Schullehrer, daß durch geringe Züchtigungen der
eingewurzelten Unart eines Kindes oder dem überwiegenden Hange
desselben zu Lastern und Ausschweifungen nicht hinlänglich gesteuert
werden könne, so muß er der Obrigkeit und dem geistlichen Schul-
vorsteher davon Anzeige machen.
Diese müssen alsdann mit Zuziehung der Eltern oder Vormünder
die Sache näher prüfen und zweckmäßige Besserungsmittel verfügen.
Aber auch dabei dürfen die der elterlichen Zucht vorgeschriebenen
Grenzen nicht überschritten werden."
Auch die Eltern sind nach dem Allgemeinen Landrecht II. 2 § 86
zur Bildung ihrer Kinder nur zur Anwendung solcher Zwangsmittel
berechtigt, welche die Gesundheit derselben nicht schädigen :
,,Die Eltern sind berechtigt, zur Bildung der Kinder alle der
Gesundheit derselben unschädlichen Zwangsmittel zu gebrauchen."
Auch die Kabinettsorder vom 14. Mai 1825 § 4—6 spricht
sich in demselben Sinne aus:
Das Uuterrichtswesen im Deutschen Reich. HI. "
1 30 Volksschulwesen.
„Die Schulzucht darf niemals bis zu Mißhandlungen ausgedehnt
werden, die der Gesundheit des Kindes auch nur auf entfernteste
Art schädlich werden können;
Züchtigungen, welche in diesen der Schulzucht gesetzten
Schranken verbleiben, sollen gegen die Lehrer nicht als strafbare Miß-
handlungen oder Injurien behandelt werden;
wird das Maß der Züchtigung ohne wirkliche Verletzung des
Kindes überschritten, so soll dieses von der dem Schulwesen vor-
gesetzten Provinzialbehörde durch angemessene Disziplinarstrafen an
dem Lehrer geahndet werden. Wenn dagegen dem Kinde durch den
Mißbrauch des Züchtigungsrechts eine \\irkliche Verletzung zugefügt
wird, soll der Lehrer nach den bestehenden Gesetzen im gerichtlichen
Wege bestraft werden."
Ebenso kommen die §§ 223—226 und 228 sowie §§ 230-232
und 340 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich vom
26. Februar 1876 hier zur Anwendung, sofern es sich um Körper-
verletzungen im eigentlichen Sinne handelt.
Auf Grund dieser gesetzlichen Bestimmungen haben die Pro-
vinzialregierungen sowie die Preußischen Unterrichtsminister eine
Reihe von Verfügungen erlassen, von denen wir hier nur den jüngsten
Ministerialerlaß vom 19. Januar 1900 anführen wollen. Es heißt
daselbst:
„Überschreitungen oder unangemessene Anwendung der den
Lehrern hiernach zustehenden Befugnisse haben auf eine milde Be-
urteilung bei mir nicht zu rechnen. Ich erwarte gleich meinem Herrn
Amtsvorgänger von der Pflichttreue der Königlichen Regierungen und
allen mit der Schulaufsicht oder Schulleitung betrauten Personen
(Schulräte, Kreisschulinspektoren, Ortsschulinspektoren, Rektoren und
Hauptlehrerj, daß sie auf eine maßvolle, die gesetzlichen Grenzen
streng achtende Handhabung des nur für Ausnahmefälle bestimmten
Züchtigungsrechtes seitens der Lehrer ihr stetes Augenmerk richten,
jedem Mißbrauche des fraglichen Rechtes unnachsichtlich entgegen-
treten und zugleich durch zweckentsprechende Belehrung und An-
leitung der jungen Lehrkräfte der ungerechtfertigten oder über-
triebenen Anwendung körperlicher Strafen vorbeugen werden.
Lehrer und Lehrerinnen haben jede vollzogene Züchtigung nebst
einer kurzen Begründung ihrer Notwendigkeit in ein anzulegendes
Strafverzeichnis sofort nach der Unterrichtsstunde einzutragen. Die
Schulaufsichtsbeamten und Schulleiter haben bei jedem Besuche der
Schulklasse von dem Inhalte des Strafverzeichnisses durch Unterschrift
Organisation der N'olksscliule. Lehrpläne, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. 1 .'VI
ZU bescheinigende Kenntnis zu nehmen und, sofern sich dabei Be-
denken ergeben, letztere zum Gegenstande der Besprechung mit dem
betreffenden Lehrer zu machen.
Solchen Lehrern und Lehrerinnen, welche die vorgeschriebene
Eintragung der vollzogenen Züchtigungen in das Strafverzeichnis
unterlassen, oder welche sich einer Überschreitung oder trotz er-
folgter Ermahnung fortgesetzt einer unangemessenen Anwendung des
Züchtigungsrechtes schuldig machen, wird neben der disziplinaren
Ahndung der Regel nach die selbständige Ausübung dieses Rechtes
dauernd oder zeitweise zu entziehen sein."
In Süddeutschland findet außer der körperlichen Züchtigung
bei schwereren Vergehungen der Schüler auch noch die Arreststrafe
im Schulleben Anwendung. In welcher Weise diese zur Ausführung
gebracht wird, ist aus der Verfügung des Königlich Württembergischen
Ministeriums für Kirchen- und Schulwesen vom 25. März 1895 er-
sichtlich. Es heißt daselbst im § 4 von den zulässigen Schulstrafen:
„Neben Ermahnungen, Veru'arnungen, Noten, Zurechtweisungen,
Verweisen, der Auflage, versäumte oder mangelhaft geleistete Schüler-
arbeiten nachzuholen (vgl. § 6 Abs. 2), und neben der Zurücksetzung
in der Klassenordnung sind als Schulstrafen zuläs.sig:
Gegen Werktagsschüler: I. Strafstehen oder Strafsitzen, d. h.
Anweisung eines Strafplatzes im Schulzimmer während des Unterrichts
(vgl. § 6 Abs. 3); 2. Strafarbeiten mittels vermehrter Hausaufgaben
(vgl. § 6 Abs. 1 und 2); 3. einfacher Schularrest, d. h. Einweisung
ins Schullokal oder Zurückbehalten in demselben außer der Schulzeit
unter angemessener Beschäftigung (vgl. § 6 Abs. 4); 4. körperliche
Züchtigung; 5. strengerer Schularrest (§ 7;."
Diese Strafen werden in den §§ 6 und 7 näher charakterisiert,
und heißt es dort in '^ 7 über die Anwendung des strengeren Arrestes :
,,Der strengere Schularrest besteht in der einsamen Einsperrung
in einem dazu geeigneten, womöglich zum Schulgebäude gehörigen
Gelasse bis zur Dauer von höchstens zwölf Stunden.
Derselbe ist nur zulässig gegen Schüler von mehr als zwölf Jahren.
Die Maximaldauer von zwölf Stunden darf durch Verteilung einer
größeren Stundenzahl auf verschiedene Tage oder Tageszeiten nicht
überschritten werden. Bei Werktagsschülern ist die Ausdehnung in
die Nachtzeit hinein (vom I. Oktober bis 31. März in die Zeit nach
abends 6 Uhr, vom 1. April bis 30. September in die Zeit nach
abends 9 Uhr) nicht gestattet. — Wenn ein geeignetes Lokal nicht
zur Verfügung steht, darf der strengere Schularrest nicht angewendet
9*
1 32 Volksschulwesen.
werden. — Das Schulzimmer soll in der Regel nicht dazu benutzt
werden, außer bei Einsperrungen in der Dauer von nicht über drei
Stunden."
5. Lehr- und Lernmittel.
Als die unentbehrUchsten Lehrmittel der preußischen V'olks-
schulen werden in § 9 der „Allgemeinen Bestimmungen" folgende
Gegenstände aufgeführt :
,,1. je ein Exemplar von jedem in der Schule eingeführten
Lehr- und Lernbuche; — 2. ein Globus; — 3. eine Wandkarte von
der Heimatsprovinz; — 4. eine Wandkarte von Deutschland; —
5. eine Wandkarte von Palästina; — • 6. einige Abbildungen für den
weltkundlichen Unterricht; — 7. Alphabete weithin erkennbarer, auf
Holz- oder Papptäfelchen geklebter Buchstaben zum Gebrauch beim
ersten Leseunterricht; — 8. eine Geige; — 9. Lineal und Zirkel; —
10. eine Rechenmaschine.
In evangelischen Schulen kommen noch hinzu: II. eine Bibel
und 12. ein Exemplar des in der Gemeinde eingeführten Gesang-
buches. — Für die mehrklassigen Schulen sind diese Lehrmittel an-
gemessen zu ergänzen."
Dazu kommen dann noch außer der Schulchronik, dem Schüler-
verzeichnis (§ 10), welche der Lehrer führen soll, und dem Lehrplan,
dem Lektionsplan und der Pensenverteilung für das laufende Semester
folgende Schulbücher und Schulhefte, welche von den Kindern zu
beschaffen bezw. mitzubringen sind:
„§ 1 1 . Lernmittel für die Schüler der Volksschule mit einem
oder zwei Lehrern sind folgende: a) Bücher: 1. die Lesefibel und
das Schullesebuch, 2. ein Schülerheft für den Rechenunterricht, 3. ein
Liederheft, außerdem die für den Religionsunterricht besonders ein-
geführten Bücher; b) eine Schiefertafel nebst Griffel, Schwamm, Lineal
und Zirkel; c) Hefte mindestens: 1. ein Diarium, 2. ein Schön-
schreibheft, 3. ein Heft zu orthographischen und Aufsatzübungen; auf
den oberen Stufen: 4. ein Zeichenheft.
Den Schülern der mehrklassigen Volksschule darf die Anschaffung
besonderer kleiner Leitfäden für den Unterricht in den Realien sowie
diejenige eines stufenweise fortschreitenden mehrbändigen Lesebuches
und eines Handatlas zugemutet werden. Ebenso haben diese für die
einzelnen Lehrgegenstände besondere Hefte zu führen."
Diese Mindestforderungen werden natürlich in allen größeren
Volksschulen in der Stadt und auf dem Lande wesentlich übertroffen.
Organisation der \olksschule. Lehrpläne, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. ] 33
Wer sich eine Vorstellung von der Fülle und Reichhaltigkeit des
jedes Jahr durch neue Erfindungen anwachsenden Schatzes von Lehr-
und Lernmitteln, auf welche hier natürlich nicht näher eingegangen
werden kann, verschaffen will, der wird gut tun, die deutschen
Schulmuseen zu besuchen. Wenn es uns auch bisher an einem
Reichsschulmuseum fehlt, so werden doch die durch Privat- und
Gemeindeaufwendungen zusammengebrachten Sammlungen in einigen
deutschen Städten mit so großer Sachkenntnis und Liebe ver\\^altet,
daß sie wenigstens vorläufig einen Ersatz für eine große Reichsanstalt
dieser Art bieten können.
Als die wichtigsten Schulmuseen bezw. Lehrerbiblio-
theken in Deutschland mögen hier folgende genannt werden:
1. Die pädagogische Zentralbibliothek (Comenius-Stiftung)
in Leipzig mit 30 000 Werken.
2. Die permanente Ausstellung des Kreisvereins von
Oberbayern für Lehrmittel und Schuleinrichtungsgegenstände
in München (Staatsanstalt).
3. Das deutsche Schulmuseum in Berlin ist Eigentum des
Berliner Lehrervereins, wird aber vom preußischen Unterrichts-
ministerium und der Stadt Berlin durch Beihilfen unterstützt.
Die pädagogische Bibliothek umfaßt 30 000 Bände aus der
Zeit von 1500 bis zur Gegenwart. Die Lehrmittelsammlung
ist noch wenig ausgebaut, da es an den erforderlichen Räum-
lichkeiten fehlt.
4. Das städtische Schulmuseum in Berlin. Hauptsächlich
Lehrerbibliothek von zirka 1 6 000 Bänden. Sämtliche Lehr-
mittel, die an den Berliner Volksschulen gebraucht werden,
sind vorhanden.
5. Die Lehrmittelausstellung des Lehrervereins der Pro-
vinz Sachsen in Magdeburg.
6. Das Mecklenburgische Volksschulmuseum in Rostock.
7. Das Schul museum in Jena. Bestandteil des pädagogischen
Universitätsseminars.
8. Das Schulmuseum in Hildesheim (Leverkühn-Stiftung).
9. Das Schleswig-Holsteinische Schulmuseum in Kiel.
10. Das Schulmuseum in Braunschweig.
11. Das städtische Schulmuseum in Breslau.
12. Das Schulmuseum in Hamburg.
13. Das städtische Schulmuseum in Hannover.
"1 34 Volksschulwesen.
Um eine Vorstellung von den pädagogischen Gebieten zu geben,
auf welche sich die Lehrmittelsammlungen erstrecken, möge hier eine
kurze Bemerkung über Inhalt und Anlage des Breslauer Schulmuseums,
einer kleinen aber gut geleiteten und geordneten Anstalt dieser Art,
gestattet sein.
Die Sammlungen sind nach folgenden Gruppen geordnet:
I. Schulbau und Schuleinrichtung. — II. Schulhygiene jund Schul-
statistik. — III. Unterrichtsmittel,
„Die Lehrmittelsammlung, und dieses ist die wertvollste und
reichhaltigste Abteilung des Schulmuseums, umfaßt die eigentlichen
Lehrmittel und die Hilfsmittel für die technischen Unterrichtsfächer.
Sie ghedert sich in eine allgemeine Sammlung, die den Bedürfnissen
der Volks- und Mittelschulen Rechnung trägt, aber auch die Blinden-
unterrichtsanstalten, die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder und
den Kindergarten berücksichtigt, und in eine der wissenschaftlichen
Fortbildung der Lehrer dienende Studiensammlung naturwissenschaft-
lichen Inhalts. Die beiden Zweige sind räumlich von einander nicht
getrennt.
Die allgemeine Sammlung enthält Lehr- und Hilfsmittel für alle
Unterrichtsfächer, für Religion und Geschichte, für den vereinigten
Sach- und Sprachunterricht, die Heilung von Sprachgebrechen, das
Lesen, Schreiben und Rechnen, für die Raumlehre, die Erd- und
Himmelskunde, die naturwissenschaftlichen Fächer und die Gewerbe-
lehre, für das Zeichnen, die Knabenhandarbeit, den Handarbeitsunter-
richt für Mädchen, den Haushaltungsunterricht und den Gesang und
außerdem Unterrichtsmittel für Blinde und die Beschäftigungsmittel
des Kindergartens — alles in Gruppen zusammengefaßt und wohl-
geordnet.
Die Studiensammlung besteht aus einer Reihe sehr wertvoller
Zusammenstellungen, einigen Druckwerken und einer kleinen Zahl
guter physikahscher Apparate, namentlich aus dem Gebiete der
Elektrizität.
Beide Abteilungen der Lehrmittelsammlung, die allgemeine und
die Studiensammlung, zählten am 31. März 1901 1022 zum Teil sehr
inhaltreiche Nummern." (Städtisches Schulmuseum zu Breslau. Seine
Einrichtung, Verwaltung und Entwicklung in den ersten zehn Jahren
seines Bestehens von 1891 bis 1901 von Max Hübner. Breslau 1903.)
Einen etwas anderen Charakter als die Breslauer Anstalt trägt
das Schulmuseum in Hannover. Es verrät in seiner Anlage und
in seinem Bestände deutlich, daß es nicht für Lehrer und Erwachsene
Organisation der Volksschule. Lehrpläne, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. ^35
allein, sondern auch für den Besuch der Schulkinder bestimmt i.st.
Demgemäß ist denn auch ein Hauptaugenmerk auf die Vollständigkeit
des Anschauungsmaterials für Heimatkunde gerichtet. Die geologische
Formation des Landes, sein Relief, die Tiere: die Haustiere, das ein-
heimische Wild, die Vögel, Fische und Insekten der Gegend, die
geschichtliche Vergangenheit bis zu den prähistorischen Funden in
den Torfmooren, die Bodenprodukte und Industrien der Heimat
breiten sich übersichtlich und in guter Auswahl vor dem Auge der
Besucher aus, und so bieten denn die Schätze der heimatkundlichen
Abteilung auch den oberen Klassen der Volksschulen, welche von
ihren Lehrern dorthin geführt werden, eine willkommene Bereicherung
des in der Schule vorhandenen naturkundlichen und geschichtlichen
Lehrmaterials.
Wie sich die Ausstattung einer größeren deutschen Volksschule mit Lehr-
und Anschauungsmitteln in der Praxis gestaltet, möge der Leser aus der folgenden
Übersicht über die pädagogischen Hilfsmittel zweier auf demselben Grundstück belegener,
gut ausgestatteter Berliner Gemeindeschulen, einer Knaben- und einer Mädchen-
schule (Xo. 190/198), ersehen:
Lehrmittel der 190. Gemeindeschule für Knaben. 19 Klassen,
951 Schulkinder.
I. Religion: 1. Ehrenberg, Bilder für den biblischen Geschichtsunterricht.
2. Lehmann, Jerusalem (geographisches Charakterbild). 3. Bamberg, Karte von Palästina.
4. Kiepert, Karte von Palästina. 5. Kiepert, Karte zur Apostelgeschichte und biblischen
Erdkunde.
IL Deutsch: 1. Born, Lesemaschine (3 Exemplare). 2. Gindler, Lesemaschine
(2 Exemplare). 3. Rein, Anschauungskarte zu Schillers „Teil".
IIL Rechnen: 1. Rechenmaschine (russische) (7 Exemplare). 2. Hohmann,
Zahlenbilder (9 Tafeln). 3. Gebhardt, Metrischer Lehrapparat (zur Veranschaulichung
der Maße und Gewichte).
IV. Anschauungsunterricht: 1. Kehr-Pfeifler, 12 Bilder. 2. Winckelmann.
8 Bilder. 3. Kafemann, 4 Bilder. 4. Antenen, 9 Bilder. 5. Leutemann, 18 Tierbilder.
Im Anschauungsunterricht werden natürlich auch zahlreiche geologische, botanische,
technologische Präparate, Bilder und Tafeln verwendet.
V. Geschichtsunterricht: 1. Lentze, 20 HohenzoUern im Bilde. 2. Lehmann,
12 Bilder aus der Kulturgeschichte. 3. Lange, Bilder aus der Geschichte aller Kultur-
epochen (10 Stück ausgewählt für die Volksschule).
VI. Raumlehre: 1. Eine Kollektion geometrischer Körper (mit Kasten).
2. 1 1 große Zirkel. 3. 26 Reißschienen. 4. 2 Dreiecke. 5. 8 Transporteure. 6. Wienecke,
bewegliche geometrische Figuren.
VII. Erdkunde: A. Anschauungsmittel: 1. Schotte, Erd-Globus. 2. Albrecht,
Armillarsphäre (astronomischer Tisch). 3. Mang, Tellurium-Lunarium. — B. Wand-
karten: 1. Brüllow, Berhn. 2. Kießling, Berlin. 3. Weidt, Berlin mit Vororten-
4. Käding (Handzeichnung), Rosenthaler Vorstadt. 4. Öser, Verkehrsplan von Berlin und
Umgegend. 6. Bamberg, Brandenburg. 7. Schade-Handtke, Brandenburg. 8. Bamberg,
Östliche Halbkugel. 9. Bamberg, Westliche Halbkugel. 10. Sydow, Europa (physikalisch).
"1 36 Volksschulwesen.
11. Bamberg, Euro])a. 12. Bamberg, Deutschland (physikalisch), 2 Exemplare. 13. Alger-
missen, Deutschland (politisch). 14. Gabler, Deutschland (politisch). 15. Bamberg, Deutsch-
land (politisch). 16. Leeder, Preußischer Staat. 17. Gabler, Preußischer Staat. 18. Bam-
berg, Afrika. 19. Derselbe, Nord-Amerika. 20. Derselbe, Süd- Amerika. 21. Haardt,
Asien. 22. Bamberg, Australien. — C. Bild er werke: 1. Lehmann, Geographische
Charakterbilder, 6 Stück ausgewählt. 2. Hölzel, Geographische Charakterbilder, 6 Stück
ausgewählt. 3. Lehmann-Leutemann, Völkertypen, 3 Stück ausgewählt. 4. Hirt, Haupt-
formen der Erdoberfläche.
\'TII. Naturkunde: A. Wandtafeln und Bilderwerke: 1. Leutemann,
Zoologischer Atlas (41 Wandtafeln). 2. Göhring-Schmidt, Ausländische Kulturpflanzen
(7 Tafeln mit Textbuch). 3. Fiedler, Anatomische Wandtafeln (4 Tafeln nebst Textbuch).
4. Eschner, Technologische Wandtafeln (25 Tafeln mit Erläuterungen). — B. Präparate:
1. Ausgestopfte Säugetiere: Iltis, Maulwurf, Eichhörnchen, Igel, Fledermaus, Fuchs.
2. Ausgestopfte Vögel: Taube, Drossel mit Nest, Bussard, Eule, Buntspecht, Kuckuck,
Rotkehlchen, Feldlerche, Haubenlerche, Goldammer, Buchfink, Distelfink (Stieglitz), Star,
Elster, Wachtel, Zaunkönig, Hänfling, Zeisig, Meise, Schwalbe mit Nest. 3. Spiritus-
Präparate: Ringelnatter, Kreuzotter, Froschentwicklung, Maikäferentwicklung, Fluß-
krebsentwicklung. 4. Trockene Präparate: Insektensammlung, Leben der Biene, Leben
des Seidenspinners, Fischgerippe, iSeenadel, Straußenei, Taschenkrebs, Seeigel, Seestern,
Seepferdchen, Koralle, Muschelschale der Perlmuttermuschel. 5. Mineraliensammlung.
6. Modelle aus Gips resp. Papiermache: Zerlegbares Ohr. Zerlegbares Auge.
7. Mikroskopische Präparate: Maulwurfshaar, Vogellaus, Fischschuppe, Kolibrifeder,
Federung vom Haushuhn, Schmetterlingsfühler, Schmetterlingsrüssel, Fliegenfuß, Fliegen-
flügel, junge Spinne, Schneckenzunge, Blasenfuß, Holzfaser. — C. Physikalische
Apparate: 1. Mechanik, a) Statik: Lot, Setzwage, Wasserwage, Hebel, Wage,
Dezimalwage, Stativ mit fester Rolle, bewegliche Rolle, Flaschenzug, Difl"erenzialflaschen-
zug, Keil, schiefe Ebene, Fallrinne, Metronom, Parallelogramm der Kräfte, Zentrifugal-
maschine mit 9 Nebenapparaten, Pendel, Pendeluhr, Werkzeugkasten, b) Hydrostatik:
Kommunizierende Röhren, Paskalscher Apparat für Bodendruck, Segnersches Wasserrad,
hydrostatische Wage nebst Gewichtsatz, Aräometer, c) Pneumatik: Heronsball,
Stechheber, Kartesianischer Taucher, Saugpumpe (oder Brunnen), Druckpumpe (oder
Feuerspritze), Blasebalg, Barometer, Anei^oidbarometer, Luftpumpe mit 1 0 Nebenapparaten.
2. Schall: Sprachrohr, Monochord, 1 Paar Diapasonen, Treveljaninstrument, Windlade
mit Blasebalg und 6 Pfeifen, Phonograph, zerlegbares Ohr. 3. Wärme: Thermometer,
Pulshammer, Retortenhalter, Dreifuß, Spirituslampe, Berzeliuslampe, Bunsenbrenner, Koch-
flasche, Korkbohrer, Drahtnetz, Kugel mit Ring, Kugel im kalten Wasser schwimmend,
im warmen untergehend, Kontraktionsapparat, Schiebersteuerung. 4. Magnetismus:
Natürlicher Magnet, 2 Magnetstäbe nebst Eisenfeilspänen und Eisenstückchen, Magnetisches
Magazin in Hufeisenform, Inklinationsnadel, 2 Deklinationsnadeln, Kompaß. 5. Elek-
trizität: Glasstange, Kautschukstange, Elektroskop, Elektrophor, Elektrisiermaschine,
Kleistsche Flasche, elektrisches Pendel, Isolierschemel, elektrisches Glockenspiel, Stativ
mit Zinkschirm, Stativ mit 2 abnehmbaren Halbkugeln, Influenzmaschine. 6. Gal-
vanischer Strom: 2 Flaschenelemente, 2 Trockenelemente, 1 Meidingerelement,
1 Leclanchesches Element, Galvanoskop, Elektromagnet, elektrische Klingel, elektrische
Glühlichtbirne nach Edison, Bogenlichtkohle, Telegraphenapparat nach Ernecke, Morsescher
Drucktelegraph, 1 Stück Kabel, Induktionsapparat, Telephon, Plattenblitzableiter, Um-
schalter, Pendelmikrophon, Fernsprechrelais, Weckerrelais, Siemenssche Dynamomaschine
mit Galvanometer, Glühlampe, Alagnetinduktor, Holzzylinder, Holzring, Elektromagnet und
Motor, Geißlersche Röhre, Klingel zur drahtlosen Elektrizitätsleitung, Galvanoplastischer
Apparat, Wasserzersetzungsapparat. 7. Optik: Lupe, Optische Bank mit folgenden Teilen:
Ausziehbare Holzbank, 5 Stative, Träger für 1 Kerze, Träger für 4 Kerzen, Linsenapparat,
Hohlspiegel, Planspiegel, Prisma, Glaswürfel, Glasplatten, Papierschirm usw.; Steroskop,
Organisation der \'olk.sschule. Lehrpläiie, Methoden, Disziplin u. Lehrmittel. | 37
Camera obscura, zerlegbares Auge, Mikroskop. — D. Chemie: 1. Eine Kollektion
chemischer Gerätschaften. 2. Eine Kollektion Chemikalien.
IX. Zeichenunterricht: 1. Ein Kasten mit Schmetterlingen. 2. Ein Kasten mit
gepreßten Pflanzenblättern. (In den Klassen, in welchen die neue Methode noch nicht
zur Geltung gekommen ist, werden noch die früheren Lehrmittel gebraucht, nämlich:
3. Stuhlmann, Wandtafeln. Serie A, B und Reihe C. 4. 1 Satz Holzmodelle (einfache
Formen). 5. 4 Stück Übergangsmodelle von Zergiebel. 6. 6 Gefäßformen, Holzmodelle
von Zergiebel. 7. 35 Gipsmodelle (Blumenstücke, Ornamente). 8. Schulze, Farbige
Ornamente.
X. Gesangunterricht: \. 7 Stück Geigen. 2. Hauer, Skalaschlüssel (zur Ver-
anschaulichung der Tonarten).
Außerdem besitzt die Schule eine Lehrerbücherei von 100 Werken, welche
folgende Abteilungen umfaßt: I.Religion. 2. Pädagogik. 3. Deutsch, Literatur. 4. Natur-
kunde. 5. Geschichte. 6. Geographie. 7. Verschiedenes.
Die Kosten für die Beschaffung dieser Lehr- und Lernmittel einschließlich der
Lehrerbibliothek betragen etwas über 5000 Mark.
Die Lehrmittel der 198. Gemeindeschule für Mädchen mit 19 Klassen
und 970 Schulkindern unterscheiden sich in ihrem Bestände nicht wesentlich von
denen der Knabenschule ; es wird daher, um Wiederholungen zu vermeiden, auf eine Auf-
zählung im einzelnen wohl verzichtet werden können, doch ist die Mädchenschule ent-
sprechend der geringeren Stundenzahl für Raumlehre und den naturkundlichen Unterricht
in ihrem Lehrplane nicht so reich mit Apparaten und Anschauungsmitteln für Geometrie,
Physik und Chemie ausgestattet wie die Knabenschule. Dafür besitzt sie aber eine z. T.
von dem Lehrerkollegium gestiftete reichhaltige Sammlung von naturgeschichtlichen und
geographischen Objekten, wie zoologischen und botanischen Präparaten, Mineralien,
Kolonialwaren und Medikamenten und einige Anschauungsmittel für den Unterricht in
den weiblichen Handarbeiten.
Die Lehr- und Anschauungsmittel im einzehien nach ihrem
Zweck oder Werte zu beurteilen, ist nicht die Aufgabe dieses Werkes.
Es muß jedoch wohl eines Hilfsmittels für den Unterricht eingehender
gedacht werden, das eine grundlegende Bedeutung für die ganze
Jugenderziehung beanspruchen darf — des Lesebuches.
Die Bedeutung des Werkes, an dem die Kinder die schwierige
Kunst des Lesens und die Gesetze ihrer Muttersprache lernen, aus
welchem sie die ersten Anregungen zum selbständigen Denken und
zur Gestaltung ihrer ethischen und politischen Weltanschauung schöpfen,
braucht hier nicht dargelegt zu werden. Leider müssen wir einge-
stehen, daß die augenblicklich in Deutschland gebräuchlichen Volks-
schullesebücher nicht ganz auf der Höhe der besten ausländischen
Werke dieser Art stehen. Weder nach Inhalt noch nach äußerer
Ausstattung kann sich die Mehrzahl unserer Volksschullesebücher
mit den besten amerikanischen und englischen Readers messen. Ich
denke dabei beispielsweise an die nach Inhalt und Ausstattung vor-
treffliche Sammlung: „School Reading by Grades, by James Baldwin,"
American Book Company, und an „The King Alfred Readers," London,
Edw. Arnold.
i 38 Volksschulwesen.
Die deutschen Lesebücher sind nach dem herrschenden Urteil
unserer Pädagogen, dem auch die Staatsbehörden meistens zustimmen,
in den letzten Jahrzehnten zum großen Teile hinter den Anforderungen
der Zeit zurückgeblieben und bedürfen einer Neugestaltung, wenn sie
unserer Jugend ein Erziehungsmittel in die Hand geben sollen, wie
es das 20. Jahrhundert verlangt. Die Stoffe, die in den oft sehr
voluminösen Werken dargeboten werden, sind teilweise veraltet, teil-
weise entsprechen sie nicht den Bedürfnissen der Kindesseele. Sie
sind nur zum kleinsten Teile geeignet, das Interesse des jungen
Lesers zu fesseln und in ihm die Liebe zur Lektüre und jenen
heiligen Wissensdurst zu erwecken, welche die edelsten Früchte eines
guten Schulbuches sein müssen. Abgesehen von einzelnen Aus-
nahmen fehlt es den Büchern an einer fest ausgeprägten Lebensauf-
fassung und Weltanschauung, es fehlt auch an jenen Stoffen, welche
geeignet sind, männliche Tatkraft und persönliche Selbständigkeit
auf sittlichem und wirtschaftlichem Gebiet zu ermutigen. Der Adel
der Arbeit und die Pflicht jedes Menschen, von klein an selbständig
an seiner sittlichen Erziehung zu arbeiten, sich selbst Rechenschaft
über seine Taten zu geben, werden zu wenig in den Vordergrund
gerückt.
Jener eigentümliche Zug, der sich wie ein roter Faden durch
alle angelsächsischen Lesebücher hindurchzieht, die Try again-Moral,
wenn ich so sagen darf, findet in deutschen Lesebüchern höchst
selten einen Ausdruck. Und doch stellt der Wettbewerb mit den
anderen großen Kulturvölkern in unserer Zeit an die Bürger jeder
aufstrebenden Nation gerade in dieser Richtung die höchsten An-
forderungen.
Auch wir werden mehr als früher darauf bedacht sein müssen,
ethische Stoffe, Stoffe, welche der Bildung männlicher Charaktere
dienen, und zwar nicht bloß die, welche kriegerische Tüchtigkeit
verherrlichen, sondern auch jene, welche das Evangelium ehrlicher
Arbeit und den Heroismus ihrer Großtaten predigen, in unsere Lese-
bücher aufzunehmen.
Von größter Bedeutung für die Weiterentwicklung dieses Zweiges
der pädagogischen Literatur sind die von dem Minister der geist-
lichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Preußen unter
dem 28. Februar 1902 erlassenen Vorschriften über die Beschaffen-
heit der neu einzuführenden Lesebücher. F>s sind dort folgende
allgemeine Gesichtspunkte für die Beurteilung bezw. Genehmigung
neuer Volksschullesebücher aufeestellt:
Organisation der Nolksschule. Lelirpläne, Methoden, Disziplin u. I.elirmittel. ■] 39
„1. Das Volksschullesebuch muß die Eigenart der durch natürhche wie geschicht-
hche Kräfte entwickelten Landschaften zeigen, für welche es bestimmt ist. Es ist dabei
nicht zu übersehen, daß eine beträchtliche Zahl von Regierungsbezirken und Provinzen,
ja selbst weite Gebiete mehrerer Provinzen landschaftliche Einheiten bilden. Durch
die Rücksicht auf diese dürfen die notwendigen allgemeinen Gesichtspunkte: Der
preußische Staat, das deutsche Vaterland und das allgemein Menschliche, nicht beein-
trächtigt werden.
Die Bedeutung der Religion für die Erziehung verlangt, daß durch die Lese-
bücher auch ein Zug religiöser Wärme hindurchgehe. Fernzuhalten dabei ist aber alles,
was den Forderungen der Duldsamkeit nicht entspricht, oder was an Bekenntnisstreitig-
keiten erinnern könnte. Lesestücke, deren Inhalt sie der ausschließlichen Behandlung
im Religionsunterrichte zuweist, gehören überhaupt nicht in das Lesebuch.
Das Lesebuch muß ferner der Beschäftigung und Lebensweise der Bevölkerung
gerecht werden, deren Kinder es benutzen. Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe und
Handel geben hier die Richtlinien.
Ohne in Plattheiten zu verfallen, müssen die Dinge gebracht werden, wie sie
wirkhch sind. Die Lesestücke dürfen nach Inhalt und Ton dem praktisch-nüchternen
Bedürfnis nicht ganz abgewandt sein; es herrsche in ihnen ein gesunder Reahsmus.
Ebenso wie das Lesebuch nach seinem Inhalte dadurch beeinflußt wird, daß die
Schule, in der es gebraucht werden soll, ein- oder mehrklassig ist, darf auch nicht
unberücksichtigt bleiben, ob es für Knaben oder für Mädchen oder für beide zugleich
bestimmt ist.
2. Das Lesebuch muß ebensowohl schöngeistigen wie realistischen Stoff" umfassen.
Hauptaufgabe beider ist die Charakterbildung des Kindes. Daneben hat das Lesebuch
noch eine, allerdings in den richtigen Grenzen zu haltende mehr literarisch-ästhetische
Aufgabe, der auch die Stücke realistischen Stoffes dienen. Ebenso ist es Mittel für die
Vertiefung und Ergänzung des im Sachunterrichte Gelernten und gleichzeitig Muster guter
sprachlicher Darstellung. Während die erste Aufgabe den Lesebüchern aller Schulen
gemeinsam ist, tritt die zweite in den Lesebüchern der mehrklassigen, die dritte in den
Lesebüchern der einklassigen Schulen mehr in den Vordergrund, ohne daß indes die
anderen Aufgaben dadurch zu stark zurückgedrängt werden.
3. Das Lesebuch hat Beiträge zu bringen aus dem Leben des Menschen, wie es
der einzelne an sich und als Glied der verschiedenen Lebenskreise — Familie, Gemeinde,
Kirche und Staat — durchläuft. Der preußische Staat in seiner geschichtlichen Ent-
wicklung und das Deutsche Reich mit seinen über die Reichsgrenzen, insbesondere über
•das Meer hinausdrängenden wirtschaftlichen Bestrebungen sind hierbei ausgiebig zu behandeln.
Gemäß der erziehhchen Aufgabe der Schule gebührt diesem im weitesten Sinne
des Wortes geschichtlichen Stoffe wegen seiner unmittelbar wirkenden ethischen und
religiösen Kraft der breiteste Raum im Lesebuche. Auch das Leben der Natur verlangt
im Lesebuche eingehende Berücksichtigung. Es hat daher Darstellungen zu bringen
aus dem Gebiete der Geographie, der Zoologie, der Botanik, der Chemie und der Physik.
Haus- und volkswirtschaftliche, staatsbürgerliche und gesundheitliche Belehrungen,
soweit sie dem Kinde aus seinen Lebenskreisen verständlich werden können, dürfen
nicht fehlen.
4. Diese Stoflfe des Lesebuches müssen dem auf Grund der ergangenen Be-
stimmungen ausgearbeiteten Lehrplane der Schule in deren einzelnen Abstufungen sich
anschließen. Der gebotene Stoff" hat zwar auch der Tätigkeit der Phantasie und der
Anregung des Gefühls zu dienen, in erster Linie aber muß er für die Erkenntnis der
Wirklichkeit und für das urteilende Nachdenken ausreichend Gelegenheit bieten.
5. Das Lesebuch vermeide das zerstreuende, verwirrende und abstumpfende
\'ielerlei und biete mit der zunehmenden geistigen Reife dem Kinde umfassendere Lese-
stücke einheitlichen Inhaltes.
\ 40 Volksschuhvesen.
6. Die Sprache des Lesebuchs muß volkstümhch und darum einfach sein, weil
sonst die engbegi'enzte und nicht sehen ungenaue Sprache des Kindes an ihr sich nicht
erweitern und berichtigen kann.
7. Das Lesebuch biete darum Stücke aus den besten Schriften unserer Literatur,
soweit sie dem kindhchen \'erständnisse zugängig sind. Die Ansprüche an Darstellungen,
welche eigens für dasselbe angefertigt werden, dürfen nicht etwa geringer sein; auch bei
ihnen ist das Beste zu verlangen.
Dürrer Leitfadenstil ist streng fernzuhalten.
Die Prüfung erfolge grade in diesem Stücke besonders genau und unerbittlich.
Es sind nicht nur die Schriftsteller der älteren Zeit bis zur Mitte des vorigen Jahr-
hunderts zu benutzen, soweit ihre Arbeiten noch heute Wert haben, sondern auch solche
der neuesten literarischen Entwicklung, und zwar ist ebenso die Buch- wie die
Zeitschriften- und die Zeitungsliteratur mit Stücken, welche durch ihren Inhalt wie
durch die Form ihrer Darstellung den gestellten Forderungen entsprechen, zu verwenden.
Die durch Gesetz erfolgte Reglung dieser Frage sowie innere Grunde fordern, daß
die Entlehnung möglichst wortgetreu sei. Das Kind soll durch das Lesebuch die Be-
fähigung gewinnen, Bücher und dergl. lesen zu lernen, wie sie das Leben ihm später
bieten wird. Nur in den dringendsten Fällen sind Veränderungen der Form angängig,
welche den Sinn nicht beeinflussen. Dichtungen vertragen solche nicht ohne Einbuße
ihres poetischen Gehaltes; Änderungen bleiben darum bei ihnen ganz ausgeschlossen; der
Reichtum unserer Literatur auf diesem Gebiete gestattet es.
8. Eingehendste Sorgfalt verlangt die Rechtschreibung und Interpunktion. In der
Grammatik sind sogenannte Verbesserungen zu- vermeiden, die selbst vor unsern Klassikern
nicht Halt machen.
9. Der Umfang des Lesebuchs ist auf das Maß zu beschränken, welches ein
Heimischwerden der Kinder in ihm ermöglicht, weil es nur so seiner erziehlichen Auf-
gabe gerecht werden kann. Namentlich das abschließende Lesebuch gestatte eine lange
Benutzung durch das Kind. Die einklassige und die Halbtagsschule kennen am besten
außer der Fibel und dem sich anschließenden Lesebuche für die Unterstufe nur das ein-
bändige Lesebuch.
10. Die Anordnung der Stoffe innerhalb der einzelnen Bände erfolge nach sach-
licher Zusammengehörigkeit und Reihenfolge. Daß der Stoff der Bände für die höheren
Stufen ausschließlich konzentrische Kreise zu dem Stoffe der niederen Stufen bildet,
entspricht nicht dem geistigen Fortschritte des Kindes; gewisse Stofle seien auf den
unteren Stufen ein für alle Male abgetan.
1 1 . Der Ausstattung des Lesebuches mit Bildern ist überall da eine größere Be-
deutung nicht beizulegen, wo die Schulen über gute Veranschaulichungsmittel verfügen, wie in
den großen Städten. Bilder von Gegenständen und Vorgängen, welche in dem Vorstellungs-
kreise des Kindes liegen, gehören nicht in das Lesebuch. Nur wirklich gute Bilder, welche
für das Verständnis eines Lesestückes unentbehrlich sind, können Aufnahme finden.
12. Daß die Verwendung verschiedenartiger Typen, eine, was Größe der Buch-
staben und Breite der Zwischenräume anbetrifft, den hygienischen Ansprüchen genügende
Drucklegung, kräftiges Papier von guter Farbe, ein dauerhafter Einband und ein für
ärmere Eltern berechneter niedriger Preis bei der Prüfung des Lesebuches wie jedes anderen
Volkslernbuches nicht zu übersehen sind, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden."
Als ein Werk, welches sich den von dem preußischen Unter-
richtsministerium gesteckten Zielen nicht ohne Erfolg zu nähern bestrebt
ist, möge hier das „Neue Hamburger Deutsche Lesebuch", herausge-
geben von der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und
Erziehungs Wesens, Hamburg im Selbstverlag, in 6 Teilen, genannt werden.
Organisation der \'olksschule. I>ehrpläne, Methoden, Disziplin u. I.clirniittel. 141
Die Wirkungen eines guten Lesebuches müssen naturgemäß
durch geeignete Privatlektüre der Schulkinder unterstützt und er-
gänzt werden. Diesem Zwecke zu dienen, sind in erster Linie die
mit jeder Volksschule in Verbindung zu setzenden Schülerbiblio-
theken geeignet. Auch auf diesem Gebiete sind die Zustände in
Deutschland von Vollkommenheit noch weit entfernt. Weder sind
bisher Schülerbibliotheken allen Volksschulen angegliedert, noch ist
der vorhandene Büchereibestand nach Zahl und Beschaffenheit überall
ausreichend.
Gerade auf diesem Gebiete fehlt es in den einzelnen Staaten an
bestimmten gesetzlichen Grundlagen, wie sie beispielsweise in Frank-
reich bestehen, und ebenso an einer Statistik über die von den Be-
hörden, Gemeinden oder aus Stiftungen geschaffenen Einrichtungen.
Bestimmte Angaben über Zahl und Umfang der Schülerbibliotheken
so\\'ie über die Benutzung der tatsächlich vorhandenen durch die
Volksschüler lassen sich daher nicht machen. Auch über die Be-
schaffenheit der Werke, welche den Kindern dargeboten werden, kann
nur mit der größten Vorsicht ein allgemeines Urteil gefällt werden. Die
meisten deutschen Pädagogen, die sich mit dieser Frage beschäftigt
haben, werden sich wohl darin einig sein, daß sich in dem Bestände
unserer Volksschulbibliotheken fast überall eine große Anzahl von
Büchern befindet, welche sowohl nach ihrer Ausstattung wie nach
ihrem Inhalt als minderwertig bezeichnet werden müssen. Es ist das
nicht hoch genug zu schätzende Verdienst der deutschen Lehrer-
vereine, den Kampf gegen die Überflut jährlich produzierter unbrauch-
barer Jugendschriften aufgenommen zu haben. In verschiedenen
deutschen Städten, wie in Hamburg, Berlin, Dresden, Frankfurt a. M.,
haben sich Ausschüsse von Lehrern gebildet, um unter der Fülle des
Dargebotenen wirklich empfehlenswerte Jugendschriften auszusondern.
Alljährlich, besonders zur Weihnachtszeit, werden auf Grund sorg-
fältiger Prüfung Verzeichnisse neu erschienener guter Bücher ver-
öffentlicht, sodaß jeder Lehrer in die Lage gesetzt wird, geeignete
Anschaffungen für die Schülerbibliothek zu machen und diejenigen
Eltern zu beraten, welche für ihre Kinder Bücher als Weihnachts-
geschenke kaufen wollen.
Die zum Teil recht mangelhaften Schülerbibliotheken werden an
vielen Orten in wirksamster Weise durch die sich in Deutschland
immer mehr verbreitende Einrichtung der Volksbibliotheken ergänzt,
in denen gewöhnlich eine größere Anzahl solcher Werke enthalten ist,
\\elche sich vorzugsweise zur Lektüre für die reifere Jugend eignen.
KAPITEL V.
Die Schulhäuser.
Die zur Zeit in Deutschland bestehenden Schulhäuser sind
naturgemäß zu verschiedenen Zeiten entstanden und entsprechen aus
diesem Grunde in ihrer Anlage und Ausstattung nicht sämtlich den
Voraussetzungen moderner Bautechnik und den strengsten Forderungen
der Schulhygiene. Die beschränkten Mittel der Gemeinden und die
Anspruchslosigkeit des Geschmackes unserer Vorfahren verraten sich
in älteren Schulhäusern ebenso wie in den Privatbauten der Ver-
gangenheit. Es besteht daher oft sowohl auf dem Lande, wie ganz
besonders in den Städten ein großer Unterschied in Anlage und Aus-
führung zwischen älteren und neueren Schulbauten in denselben
Bezirken oder Gemeinden. Die Verschiedenheit in der Größe der
Schulorganismen, die Lage des Bauplatzes, die Grund- und Boden-
verhältnisse, der Preis des Baumaterials, die zur Verfügung stehenden
Mittel und die Geschmacksrichtungen der maßgebenden Verwaltungs-
oder Baubeamten sind ebenso viele Momente, welche Unterschiede
in dem Bauplan bedingen. Auch auf dem Lande machen sich dieselben
Einflüsse geltend, und in vielen ländlichen Bezirken wird bei Anlage
des Schulgrundstückes besonders dem lokalen Baustil Rechnung
getragen.
Die ländlichen Volksschulanlagen unterscheiden sich von den
städtischen häufig auch dadurch, daß auf dem Schulgrundstück nicht
nur Schulzimmer und Lehrerwohnung, sondern auch die Wirtschafts-
gebäude des Lehrers zum Betriebe der mit der Stelle verbundenen
Landwirtschaft (Stallung und Scheune) untergebracht sind.
Die neueren gesetzlichen Bestimmungen und behördlichen An-
ordnungen drängen diesen vielgestaltigen und zum Teil nicht völlig
befriedigenden Verhältnissen gegenüber auf die Durchführung von
Die Schulhäuser. 143
Reformen, und es \\erden für Neu-, Ersatz- und Umbauten von
Schulhäusern jährUch erhebliche Summen ausgegeben (in Preußen
im Jahre 1900 42 295 821 Mark).
Welche Anforderungen in Preußen, dessen 36 756 Volksschulen
von den 58 164 des gesamten Deutschen Reiches nahezu zwei Dritt-
teile bilden, auch an Bau und Einrichtung der ländlichen Volksschul-
häuser gestellt werden, ergibt sich aus dem Erlaß des Ministers
der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vom
Jahre 1895.
Die wichtigsten Bestimmungen dieses Ministerialerlasses sind
folgende :
„§ 1. Lage und Beschaffenheit der Baustelle.
Bei der Wahl des Platzes für eine Schulanlage sind folgende Rücksichten zu
beobachten :
Das Grundstück soll tunlichst in der Mitte des Schulbezirkes liegen, jedoch, wenn
mehrere Orte zu einer Schule gehören, nicht etwa isoliert auf freiem Felde; es muß auf
bequemen Wegen ohne Hemmung und Gefährdung etwa durch Eisenbahn- oder Fluß-
übergänge erreichbar sein.
Der Platz muß einen gesunden, technisch möglichst günstigen Baugrund aufweisen
und die Gewähr bieten, daß durch eine Brunnenanlage ohne erhebliche Kosten gutes
Trinkwasser beschafft werden kann.
Der Boden darf weder durch Abfallstofife verunreinigt sein, noch aus Bauschutt
oder abgelagertem Müll bestehen. Er darf ferner nicht sumpfig oder im Über-
schwemmungsgebiet belegen, sondern muß möglichst trocken und durchlässig sein.
Zu vermeiden ist die Nachbarschaft von Teichen oder Gräben mit unreinem Inhalt,
von gewerblichen Anlagen mit übelriechenden Ausdünstungen oder verunreinigten Ab-
wässern sowie von Betrieben, welche mit Entwicklung von störendem Geräusch, Rauch,
Staub oder giftigen Gasen verbunden sind.
Die Lage des Schulhauses muß so gewählt werden, daß überall reichlich frische
Luft zutreten und Sonnenlicht die Schukimmer sowie die Lehrerwohnungen treffen kann.
Zimi Schutze gegen rauhe Winde und Sonnenhitze ist eine mit Bäumen und Sträuchern
bestandene Baustelle erwünscht, doch darf der Baumbestand die Licht- und Luftzufuhr
nicht verkümmern oder die Lage dumpf und feucht machen.
Der Platz muß eine solche Größe haben, daß die erforderlichen Baulichkeiten —
Schulhaus, Abtritt, Wirtschaftsgebäude und Brunnen — in angemessenen Abständen von-
einander und von den Xachbargrenzen aufgeführt werden können, außerdem aber, abge-
sehen von dem für wirtschafüiche Zwecke notwendigen Hof sowie von etwaigen Vor-
gärten und Lehrergärten, ein Freiraum verbleibt, auf dem sich alle Schulkinder gleich-
zeitig ohne gegenseitige Behinderung in freier Luft bewegen können. Dieser Bewegungs-
raum soll in der Regel einen Flächeninhalt von mindestens 3 Quadratmetern für jedes
Schulkind haben. In eng angelegten Ortschaften, etwa in Gebirgsgegenden, und in Vor-
orten von Großstädten mit hohen Bodenpreisen kann dieses Flächenmaß ausnahmsw'eise
eingeschränkt werden, darf aber niemals weniger als 1,5 Quadratmeter für jedes Schul-
kind betragen.
§ 2. Anordnung der Gebäude auf der Baustelle.
Bei der Anordnung der Gebäude auf der Baustelle ist in erster Linie auf die durch
die Örtlichkeit gegebenen Himmelsrichtungen Rücksicht zu nehmen, ferner darauf zu
■j 44 Volksschulvve'sen.
achten, daß der Bewegungsraum und die Zugänge zu den Abtritten vom Schulhaus aus
gut übersehen werden können, sowie daß alle mit Fenstern versehenen Wände von den
Nachbargrenzen, auch wenn diese zur Zeit noch nicht bebaut sind, soweit entfernt ange-
legt werden, daß keine vorhandene und künftige Bebauung oder Bepflanzung des Nachbar-
gnmdstückes diesen Fenstern Licht und Luft entziehen kann. Insbesondere gilt dies von
solchen Wänden, deren Fenster zur Beleuchtung eines Schtdzimmers dienen. Diese
Fensterwände müssen auch bei den beschränktesten Platzverhältnissen mindestens 8 Meter
von der Nachbargrenze sowie von allen Baulichkeiten auf dem Schulgrundstück selbst
entfernt sein.
In der Regel sind Schulzimmer und Lehrerwohnungen in einem Gebäude zu ver-
einigen. Dagegen empfiehlt es sich, die Wirtschaftsgebäude — Stallungen und Scheunen —
sowie die Abtritte von dem Schulhause getrennt in solchem Abstand zu errichten, daß
schädliche Ausdünstungen und üble Gerüche das Schulhaus nicht erreichen können.
Wenn jedoch in einzelnen Landesteilen die Gemeinden besonderen Wert darauf
legen, daß nach ortsüblicher Art Stallung und Scheune mit dem Schulhause unmittelbar
verbunden wird, soll diesem Herkommen ohne zwingende Gründe nicht entgegengetreten
werden."
Der Schluß des Abschnittes gibt Vorschriften, wie in der Anlage und Ausführung
auch dieser Bauten den Forderungen der Hygiene Rechnung getragen und der Feuers-
gefahr vorgebeugt werden soll.
„Die Lage des Schulhauses zu den Himmelsrichtungen ist so zu wählen, daß
unmittelbares Sonnenlicht in die Schulzimmer tunlichst nicht während, wohl aber außer-
halb der Unterrichtsstunden scheinen kann, daß zugleich aber auch die Stuben und
Kammern "cler Lehrerwohnungen des Sonnenlichtes nirgends ganz entbehren. Für die
Schulzimmer empfiehlt sich deshalb am meisten die Lage der Fenster nach Westen, weil
die Unterrichtszeit in Landschulen in der Regel schon mit den frühen Nachmittagsstunden
aufhört, die flach einfallenden Strahlen der Nachraittagssonne also nicht mehr lästig
werden, oder nach Süden, weil die Strahlen der Mittagssonne unter so steilem Winkel
einfallen, daß sie nicht weit in das Innere des Schulzimmers eindringen. Weniger günstig
ist die Lage der Fenster nach Osten und nach Norden. Wenn aber die örtlichen Ver-
hältnisse diese Lagen nicht vermeiden lassen, sind bei der Ostlage die Nachteile des
unmittelbaren Sonnenscheins — starke Erhitzung und zu grelle Beleuchtung — durch
passende ^'o^•ichtungen, z. B. durch Vorhänge, abzuschwächen."
§ 3. Das Schulhaus.
A. Bauart: Bezüglich der Trennung von Schul- und Wohnungsverkehr gibt g 3
des Erlasses folgende Vorschriften:
„Bei der Grundrißeinteilung ist besonderer Wert darauf zu legen, daß sowohl bei
eingeschossigen als bei mehrgeschossigen Schulhäusern der Schülerverkehr von dem
Wohnungsverkehr vollständig getrennt werden kann, um die Übertragung ansteckender
Krankheiten aus der LehrerfamiUe auf die Schulkinder zu verhüten. Diese wichtige
Forderung läßt sich bei geschickter Planbildung erfüllen, ohne daß gegen die bisher
üblichen Grundrisse sich ein Mehr an bebauter Grundfläche ergibt. Es ist deshalb stets
ein Nebenflur mit besonderem Zugang und mit besonderer Treppe, welche zugleich die
Verbindung mit dem Keller und dem Dachboden herstellt, für die Lehrerwohnungen
anzulegen, der Schülerflur aber höchstens durch eine in Krankheitsfällen abzuschheßende
Tür mit dem Wohnungsflur oder mit einer Stube der Lehrerwohnung zu verbinden.
Zweckmäßig ist es, wenn ein schnelles Wachsen der Schülerzahl vorauszusehen ist,
auf die Erweiterungsfähigkeit des Schulhauses von vornherein Bedacht zu nehmen.
Beispielsweise würde in einem einklassigen Schulhause, wenn zunächst etwa nur für
40—50 Kinder Platz zu schaflen, ein erhebliches Anwachsen der Kinderzahl aber mit
Die Schulhäuser. ■f45
einiger Sicherheit zu erwarten wäre, dem Schulzimmer gleich die für diese größere Zahl
von Plätzen ausreichende Abmessung zu geben, von ihm aber durch eine Zwischenwand
einstweilen ein für Wohnzwecke dienender Teil abzutrennen sein. Wird später das größere
Schulzimmer nötig, dann würde die Zwischenwand zu beseitigen und die ursprünglich
nur für einen jung verheirateten Lehrer bemessene Wohnung durch einen Anbau derartig
zu erweitern sein, daß sie für einen älteren Lehrer mit zahlreicherer Familie genügt.
Bei der Wahl der Materialien und Konstruktionen für die Umfassungswände,
Scheidewände und Dächer soll stets in erster Linie das Ortsübliche maßgebend sein.
Alles, was in der Bauweise einer Gegend sich eigenartig aus den örtlichen Verhältnissen
entwickelt hat, herkömmlich geworden und bewährt erfunden ist, soll mit Sorgfalt beob-
achtet und weiter erhalten werden.
^Ven^ im allgemeinen auch für die Herstellung der Umfassungswände Massivbau
mit Werksteinen, Bruchsteinen oder Ziegeln seiner Dauer und Feuersicherheit wegen
besonders zu empfehlen ist, so soll doch P'achwerksbau, zumal wenn P^ichenholz ver-
wendet werden kann, oder die Bekleidung der Wandflächen mit Schiefer da, wo es
landesüblich ist, keineswegs als ausgeschlossen gelten. In Niederungen, Moorgegenden
und im Gebirge ist die Zimmerung der Außen- und Innenwände aus Schurzholz zulässig.
Immer aber ist je nach dem verfügbaren Material den Regeln der Technik gemäß so zu
konstruieren, daß die Umfassungswände standfest, undurchlässig für Nässe und wärme-
haltend wei-den."
B. Schulzimmer: „Die Abmessungen eines Schulzimmers sind abhängig
1. iiibezug auf die Grundfläche:
von der Zahl, Anordnung und Abmessung der Plätze, von der An-
ordnung der Freiräume, von der Lage der Tür und der Stellung des Ofens;
2. inbezug auf die Höhe:
von der Bedingung, daß bei größtmöglicher Besetzung für jedes Kind
ein ausreichender Luftraum vorhanden ist, und daß die von den Fenstern
entferntest gelegenen Plätze noch gutes Licht erhalten.
Als Grundsatz für die Größe und Zahl der Schulzimmer gilt die Regel, daß ein-
klassige Schulen im allgemeinen nicht über 80 Kinder zählen, und daß bei mehrklassigen
Schulen nicht über 70 Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollen.
Für
die Plätze
sind nach
der Größe der Kinder
in drei AI
bsi
Maße
anzunehmen:
Sitzlänge
Bankabstar
id
für kleine Kinder: 0,50 m . . .
. 0,68 m
„ mittlere
„ 0,52 „ . . .
. 0,70 „
„ große
0,54 „ . . .
. 0,72 „
Nur
wenn die
örtlichen \"(
erhältnisse zur größten Sj
larsamkeit ;
'.W
Sitzlängen
auf
ingen, dürfen die
0,48 m für kleine Kinder,
0,50 „ „ mittlere „ ,
0,52 „ „ große
herabgemindert werden.
Auf einer Bank sollen höchstens 5 Kinder nebeneinander sitzen. Für den Lehrersitz
sind mindestens 1,20 m Breite und 2,50 m Länge zu rechnen.
Die erste Bankreihe muß von der Wand, an welcher sich der Lehrersitz befindet,
mindestens 1,70 m, die letzte Bank von der Rückwand mindestens 0,30 m entfernt sein
und der Abstand der Bänke von der Fensterwand mindestens 0,40 m betragen. Der
Mittelgang zwischen den Bänken soll 0,50 m und der Gang an der inneren Längswand
mindestens 0,60 m breit sein.
Die Tür des Schulzimmers ist, wenn irgend tunlich, so zu legen, daß der Lehren
Das Unierrichtswesen im Deutschen Reich. III. 10
] 46 Volksschuhvesen.
beim Eintritt den Kindern ins (Besicht s-ielit und daß diese möglichst schnell ihre Platze
einnehmen und verlassen künntn. I-'rw iinscht ist es auch, daß der Lehi-er von seinem
Sitz aus die Tür übersehen kann. Der Ofen ist am besten an der den Fenstern gegen-
überliegenden Längswand, etwa in der Mitte derselben aufzustellen. Nur bei kleinen
Klassen empfiehlt es sich, ihn in eine Ecke zu rücken. Der nächste Sitzplatz muß vom
(_)fen mindestens 0,80 m entfernt sein.
Als allgemeine Regel ist zu beachten, daß Tiefklassen bei ländlichen Schulbauten
grundsätzlich ausgeschlossen sind, und daß ein Schulzimmer höchstens 9,70 m lang und
höchstens 6,30 m tief sein soll. Die äußerste Grenze von 9,70 m für die Länge des
Schulzimmers ist nur dann zu wählen, wenn eine wesentliche Ermäßigung der Elöhe und
damit eine leichtei-e Erwärmung des Schulzimmers erzielt wird.*)
Jedes Schulzimmer soll mindestens 3,20 m im lichten hoch sein. Dieses Maß ist
aber gegebenenfalls je nach der Schülerzahl und der Zimmertiefe um soviel zu erhöhen,
daß auf jedes Kind mindestens 2,25 cbm Luftraum entfallen und daß der senkrechte
Abstand der Fenstersturze vom Fußboden mindestens doppelt so groß ist, als der wage-
rechte Abstand voll der inneren Längswand. Diese beiden aus hygienischen Gründen
unerläßlichen Forderungen werden sich bei geeigneter Lage und Konstruktion der Fenster-
sturze — in Gegenden mit rauhem Klima auch bei stark besetzten Klas.sen mit der
Mindesthöhe von 3,20 m — erfüllen lassen, sodaß die ausreichende Erwärmung solcher
Schulzimmer im Winter nicht in Frage gestellt wird.
Die Fläche der Fenster soll, im lichten Mauerwerk gemessen, mindestens gleich
1/5 der Bodenfläche des Schulzimmers sein. Die Fenster sind auf der linksseitigen Längs-
wand tunlichst in gleichen, durch höchstens 1,20 m breite Pfeiler unterbrochenen Ab-
ständen anzulegen, möglichst nahe an die Decke zu rücken und mit einem geradlinigen
oder flachbogigen Sturz abzuschließen. Rundbogen sind zu vermeiden. Mit Rücksicht
auf die vielen Durchbrechungen sind bei Ziegelbau die Fensterwände 2 Stein stark ohne
Luftschicht anzulegen. Die Fensterbrüstungen sollen nicht unter 1,0 m hoch sein.
Wenn die linksseitiges Licht gebenden Fenster nach Norden gerichtet sind,
empfiehlt sich die Anlage eines Fensters im Rücken der Kinder, um etwas Sonnenlicht
einzulassen. Bei der Berechnung der zur Erhaltung des Schulzimmers erforderlichen
Lichtfläche bleiben solche rückseitigen Fenster aber außer Ansatz.
Über die Frage, ob zur besseren Wärmehaltung Doppelfenster nötig sind, haljen
die Bezirksregierungen im einzelnen Falle zu entscheiden.
Die Fußböden sollen aus schmalen, wenigstens 3,5 cm starken, gehobelten und
gespundeten Brettern von hartem, nicht leicht spUtterndem Holz hergestellt, dicht
schließend verlegt und geölt werden.
Bei der Wahl der Öfen ist auf die ortsübliche lleizungsart und auf das meist
gebräuchliche Brennmaterial Rücksicht zu nehmen.
Zweckmäßig ist es, mit der Heizung des Schulzimmers eine Lufterneuerung in der
Art zu verbinden, daß vom Schülerflur aus frische Luft dem Ofen zugeführt wird und
durch diesen vorgewärmt in das Zimmer eintritt. Die P^inführung von Frischluft durch
Kanäle unter dem P'ußboden empfiehlt sich nicht, weil diese Kanäle erfahrungsmäßig
selten rein und staubfrei gehalten werden. Zur Abführung der verbrauchten Luft ist für
jedes Schulzimmer ein besonderes Entlüftungsrohr von wenigstens 25 zu 25 cm im
Quadrat neben dem Schornsteinrohr anzulegen. Zweckmäßig ist es, die Wandung zwischen
dem Rauchrohr und dem Lüftungsrohr aus P",isenplatten herzustellen. Es muß dann aber
mit größter Sorgfalt darauf gehalten werden, daß die F^isenplatten möglichst dicht
schließen.
*) Dem Ministerialerlaß ist eine Reilie von Grundrißzeichnungen beigefügt
hier der Raumersparnis wegen nicht aufgenonnnen werden können.
Die Scluilhäuser. 147
Durch verschließbare Ötinungen dicht über dem Fußboden einerseits und nahe der
Decke andererseits kann dann die Abluft je nach Bedarf unten oder oben abgesogen
werden. Im Winter wird in der Regel der untere Schieber geöflnet sein, während der
obere wesentlich den Zweck hat, bei zu hoher Temj^eratur die wärmsten an der Decke
angesammelten Luftschichten entweichen zu lassen. Zur sonstigen Lüftung des Schul-
zimmers sind die oberen Teile der Fenster mit Kippflügeln, welche um eine wagerechte
.\chse drehbar nach innen aufschlagen, zu versehen.
C. Verkehrsräume: Bei eingeschossigen Schulhäusern kann der Flur, welcher dem
Schülerverkehr dient, auch als Zugang zur Lehrerwohnung benutzt werden. P:s ist jedoch
außerdem ein dem Wirtschaftsverkehr des Lehrers dienender Xebenflur mit besonderem
Ausgang erforderlich, damit bei Krankheiten in der Familie des Lehrers der Schulverkehr
von dem Hausverkehr der Lehrerwohnung vollständig gesondert werden kann.
Wenn Schulzimmer über dem Erdgeschoß angelegt werden, muß stets außer der
für den Hausverkehr der Lehrerwohnung bestimmten Treppe für den Schulverkehr eine
besondere Treppe in Verbindung mit besonderem Flur und Eingang vorgesehen werden.
Schülerflure sollen in der Regel keine unmittelbare \'erbindung mit dem Keller und dem
Dachboden erhalten.
Die Anlage von \'erbindungstüreu zwischen dem zu den Schulzimmern führenden
Flm- und dem Bauteil, in welchem die Lehrerwohnung liegt, ist gestattet, die Herstellung
einer unmittelbaren Verbindung zwischen einem Schulzimmer und einem Wohn- oder
Wirtschaftsraume dagegen unzulässig.
Die Breite des Hauptflures richtet sich nach der Anzahl der anliegenden Schul-
zimmer und nach der Zahl der Schüler, welche in diesen unterrichtet werden. Als
Mindestmaß der Breite gilt für den Fall, daß nur ein Schulzimmer an dem Flur liegt,
2,0 m und für den Fall, daß mehrere Schulzimmer auf ihn münden, 2,50 m. Im übrigen
ist die Flurbreite derart zu bestimmen, daß nach Abzug des Maßes, welches durch die
senkrecht autstehenden Türen der Schulzimmer für den Verkehr verloren geht, für je
100 Kinder 70 cm, mindestens aber 1,0 m freie Durchgangsbreite verbleibt.
Für jedes Schulzimmer genügt eine einflügelige Tür von 1,0 m lichter Weite.
Diese Türen müssen stets nach außen aufschlagen, und zwar so, daß der Austretende
beim Öffnen der Tür das nächste Ausgangsziel, die Haustür oder die hinabführende
Treppe, erblickt. Bei nebeneinanderliegenden Schulzimmern müssen die Türen unter sich
einen solchen Abstand erhalten, daß die Türflügel, ohne sich zu berühren, vollständig
herumschlagen können.
Treppen für den Schülerverkehr müssen eine Lauf breite von mindestens
1,30 m erhalten und außer dem Geländer mit Handläufern an der Wandseite versehen
werden. Letztere sind entweder über die Podeste ohne Unterbrechung fortzuführen oder
an den Enden jedes Laufes mit einer den ^'erkehr nicht hindernden Krümmung abzu-
schließen. In mehrstöckigen Schulgebäuden ist die Breite der Treppen stets nach der
Schülerzahl im stärkstbesetzten Geschosse mit der Verhältniszahl von 70 cm für je 100
Schüler zu berechnen. Das Maß von 2 m für einen Treppenlauf soll in der Regel nicht
überschritten werden. Als erforderliche Laufbreite gilt stets das Maß zwischen den Ge-
ländern und den Handläufern.
\'ür den Antritten und Austritten der Schul er treppen muß ein solcher Frei-
raum verbleiben, daß che Türen der in der Nähe gelegenen Schulzimmer beim Auf-
sclilagen den Verkehr nicht hemmen.
Die Abmes.sungen dieses Freiraumes sind im einzelnen Fall aus den Grundriß-
zeichnungen durch Eintragen der Kreisbögen, welche die Türen beim Aufschlagen
beschreiben, zu bestimmen.
Bei Schülertreppen darf die Steigung höchstens 17 cm betragen. Die Anlage von
Wendelstufen ist unzulässig.
10*
■|48 Volksschulwesen.
Freitreppen vor dem Eingang zum Haupttiur sind besonders bequem anzulegen;
sie dürfen nicht unmittelbar vor der Haustür beginnen, müssen vielmehr ein geräumiges
Podest erhalten und, sobald mehr als drei Stufen notwendig sind, mit Seitenwangen und
Schutzgeländern versehen werden. Übrigens ist bei Freitreppen die Stufenzahl möglichst
einzuschränken. Wo die örtlichen Verhältnisse zu einer mehr als gewöhnlichen Erhöhung
de.s Erdgeschosses über den umgebenden Boden zwingen, sind zur Verminderung der
Stufenzahl Rampen anzuschütten.
Für die Breite der Ausgangstüren ist nach dem oben angegebenen Verhältni-;
von 70 cm für je 100 Schüler die Gesamtzahl der im Schulgebäude unterrichteten Kinder
maßgebend. Die Ausgangstüren müssen stets nach außen aufschlagen und gegen \\"\nd
und Wetter entweder durch Aufführung eines Vorbaues oder durch Zurücklegen in einen
Vorraum geschützt werden.
i? 4. Brunnenanlage.
Auf jedem Schulgehöft soll, abgesehen von Orten, wo das Wasser in Zisternen
gesammelt wird, wenn irgend angängig, ein eiserner Röhrenbrunnen angelegt werden,
welcher gutes Wa.sser in genügender Menge aus einer den ^'^erunreinigungen von der
Oberfläche oder den oberen Bodenschichten her nicht ausgesetzten Tiefe bezieht. Bei
der Wahl der Stelle des Brunnens ist nicht allein das Maß der Entfernung von den
nächsten \erunreinigvmgsquellen, wie etwa Düngeri)lätze, Senkgruben und dergleichen,
sondern auch die Filtrationsfähigkeit des zwischengelegenen Bodens sowie die Gefälle-
richtung etwaiger undurchlässiger Schichten desselben zu berücksichtigen. Kesselbrunnen
mit gemauerten oder hölzernen Wandungen und hölzerne Röhrenbrunnen gewähren, auch
wenn sie anfangs gutes Wasser liefern, keine hinreichende Sicherheit für spätere gute
Leistungen und sind stets der Gefahr der Verunreinigung des ^^"assers ausgesetzt.
§ 5. Abtritte.
Für jede Schule sind Abtritte außerhalb des .Schulhauses, in der Regel in einem
besonderen Gebäude, anzulegen; sie können jedoch auch, wenn sich auf dem Schulgehöft
ein Stallgebäude befindet, mit diesem unter einem Dach angeordnet werden, müssen dann
aber gegen die Stallräume völlig abgeschlossen sein.
Das Abtrittsgebäude ist, wenn tunlich, nicht gegenüber der P'ensterfronl der Schul-
zimmer, auch nicht in der Richtung, aus welcher die vorhenschende Luftbewegung das
Schulhaus trifft, anzulegen. Im übrigen muß das Abtrittsgebäude vom Schulhause an-
gemessen entfernt, jedoch auch nicht zu entlegen, seine Stellung so erhalten, daß die
Eingänge vom Schulhofe aus übersehen werden können.
In der Regel ist für je 40 Knaben und für je 25 Mädchen ein Sitz anzunehmen,
außerdem für jeden Lehrer, welcher im Schulhause wohnt, ein besonderer abgeschlossener
Sitz. Die einzelnen Sitzzellen müssen gut beleuchtet sein; sie erhalten durchschnittlich
0,90 m Breite und 1,20 m Tiefe und sind durch dichte Bretterwände von einander zu
trennen. Die Sitzöffnungen sind mit leicht abwaschbaren, gut schließenden und bequem
zu handhabenden Deckeln zu versehen.
Für die Knaben sind Pissoirstände anzulegen, welche durch 0,50 m von einander
entfernte, mindestens 1,20 m hohe, nicht völlig bis zum Fußboden reichende Zwischen-
wände von einander getrennt werden müssen. Die Stände sind am besten in einem mit
Schutzdach, niedrigen Umfassungswänden und Eingangsschirmwand versehenen, sonst aber
offen und luftig zu haltenden Anbau unterzubringen. Auf schickliche Trennung der
Zugänge für die Knaben und Mädchen ist besonders Bedacht zu nehmen.
Die Abtrittsräume müssen überall hell und gut lüftbar sein.
Alle, sowohl die festen wie die flüssigen Auswurfstofle sollen in wasserdichte
Behälter aufgenommen werden. Am besten sind hierzu tragbare Gefäße, Tonnen oder
Kübel geeignet, jedoch sind auch unbewegliche Behälter, größere eiserne Kästen oder
Die Schulhäuser. -149
drüben zulässig.*) Bei X'erwcndung tragbarer Gefäß;- muß der IJodcu, auf <leni sie auf-
gestellt werden, gut befestigt sein und die Einrichtung so getrofien werden, daß ilie
Auswechslung der (refäße bequem erfolgen kann. Die unbeweglichen Behälter müssen
derart angeordnet und eingerichtet sein, daß ihre Entleerung mit Leichtigkeit und ohne
Verschmutzung der Umgebung staltfinden kann. Eiserne Behälter müssen allseitig zu-
gänglich sein. ^Venn Gruben angelegt werden, ist mit besonderer Sorgfall darauf zu
achten, daß die Sohlen und Wandungen für Flüssigkeiten möglichst undurchlässig sind
und bleiben. Zweckmäßig werden sie aus hartgebrannten Ziegeln mit Zementmörtel
gemauert, innen mit Zement verputzt luid außen ringsum mit einer Schicht festgestampften
fetten Tones umgeben. Als < Jrubenwandungen dürfen vorhandene Gebäudemauern nicht
benutzt werden, jede Grube muß vielmehr Umfassungswände für sich erhalten.
Zur l^indung der Auswurfstoffe empfiehlt sich die Verwendung von Torfmull.
Jeder Raum, in welchem Auswurfstoffe angesammelt werden, ist mit einem Entlüftungs-
rohr von gehöriger Weite zu versehen, welches über dem Dache des Abtrittsgebäudes
ausmünden muß. Damit die Ausdünstungen leichter durch die Lüftungsröhren ins Freie,
als durch die Sitzöfl'nungen in die Abtrittszellen ausströmen, ist von den letzteren aus
ein Trichter mit Fallrohr so anzuordnen, daß die untere Öffnung dieses Fallrohres tiefer
in den Grubenraum hinabreicht als die unlere Öffnung des Entlüftungsrohres."
Diese Vorschriften für den Bau und die Einrichtung ländüchcr
Vülksschulhäuser stellen gewisse Mindestforderungen auf, welche in
den wohlhabenden Stadtgemeinden nicht nur erfüllt, sondern in vielen
Punkten übertroffen werden. Besonders in dem letzten Jahrzehnt
des 19. Jahrhunderts hat sich unter den deutschen Großstädten ein
löblicher P^hrgeiz entwickelt, sich gegenseitig im Bau nicht bloß zweck-
mäßiger und hygienisch einwandsfreier, sondern auch architektonisch
stattlicher und geschmackvoller Schulbauten zu übertreffen.
Von den in den letzten Jahren erbauten Volksschulhäusern
der größeren deutschen Städte, welche kennen zu lernen auch
für den Ausländer vielleicht Interesse bieten würde, soll im folgenden
eine Anzahl hier aufgeführt werden. Von einer eingehenden Be-
schreibung der Gebäude wird allerdings Abstand genommen werden
müssen, da der beschränkte Umfang dieses Werkes die Beibringung
von Plänen und Grundrissen nicht gestattet.
Aachen. Volksschule Beguinenstraße. 14 klassig. Erbaut
ir.97— 1898. Baukosten 112 000 IM.
Augsburg. Schule am Roten Tor. Kombination des ein- und
zweireihigen Systems. Das Gebäude enthält auch eine Suppenküche,
einen Handfertigkeitsunterrichtssaal, eine Schulküche und ein Brause-
bad. Erbaut 1900. Baukosten 600 000 M.
Bamberg. Luitpoldschule. Eigenartige Grundrißanlage, ver-
anlaßt durch das Bestreben, den Kindern den Ausblick nach dem
*) Auf dem Lande sind die .\borlanlage;i der Schulhäuser nur selten an Kanali-
salionsanlagen angeschlossen, wie das in der Mehrzahl der großen Städte der Fall ist.
] 50 Volksschuhvesen.
angrenzenden Friedhof '/.u entziehen. Gruppierung sämtlicher Schul-
räunie um einen gemeinschaftlichen Hof. Besonders breite Vor-
plätze und Treppen. Erbaut 1900—1901. Baukosten 1^15 000 M.
Barmen. Volksschule an der Eichenstraße. Dreigeschossiges
Gebäude für 15 Klassen, für Turnhalle und Rektorwohnung. Im
Kellergeschoß Räume für Brausebadanlage und Haushaltungsunter-
richt. Niederdruckdampflieizung. Kosten der ganzen Anlage
257 000 M.
Berlin. Über die x^nlage der Berliner Volksschulhäuser spricht
sich der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann folgendermaßen aus*): „Unter
den von der Stadt zu errichtenden Gebäuden nehmen die Schulbauten
der Zahl nach die erste Stelle ein. So wurden hier in den letzten
drei Jahren zusammen 1B Gebäude für ;^l Schulen mit ;^2 900 Schüler-
plätzen vollendet und dem Betrieb übergeben.
Die Gemeindeschulen sind in der Regel Doppelschulen; in einem
Gebäude ^^'erden eine Knaben- und eine Mädchenschule untergebracht.
Sie erhalten gewöhnlich je 16 — 20 Lehrräume, gemeinschaftlich eine
.\ula und eine Turnhalle mit Nebenräumen, eine Physikklasse mit
Apparatenzimmer, zwei Amtszimmer für die beiden Rektoren, zwei
Konferenzzimmer, ein Lehrerinnenzimmer und eine Brausebadanlage.
Wie in anderen Städten, so wurden auch hier in den letzten
Jahren die Ansprüche in schultechnischer und sanitärer Hinsicht we-
sentlich erhöht. Statt einer Physikklasse mit Apparatenzimmer werden
jetzt deren zwei verlangt, zwei Kinderhorte mit einem Utensilienraum
kamen hinzu, der Turnhalle wurde ein Garderobenraum mit Wasch-
toilette beigefügt, und in verschiedenen Gemeindeschulen wurden
Schulkochküchen eingerichtet. Die Aborte werden möglichst nicht
mehr vom Schulgebäude entfernt auf den Höfen angelegt, sie werden
vielmehr, um den Kindern den Gang im Freien bei Regen und
Schnee zu ersparen, im Schulgebäude selbst, und zwar in verschie-
denen Geschossen verteilt, untergebracht. Die Mäntel, Hüte und
Schirme der Kinder, welche in früheren Jahren auch in nassem Zu-
stande in den Schulzimmern aufbewahrt wurden, finden jetzt auf den
erweiterten Korridoren Platz."
Unter den in den letzten Jahren hergestellten Volksschulhäusern
gehören die Doppelschulen in der Wilmsstraße (28. und 217. Ge-
meindeschulc), in der Glogauer Straße (219. und 2.'^2. Gemeindeschulej,
*) Neubauten der Stadt Berlin. JJil. I. .S. 7. X'erLig von Bruno Ilessling. Berlin
und New- York. 1902.
Die Schulhäuser. 151
in der W'attstral.^c (241. und 250. Gemcindcschulc) nach Anlache und
AusstattuuL,'' zu den geschmackvollsten Bauwerken. Eine Über-
sicht ül^er Umfang, Einrichtung und Kosten der letzten U) unter
Leitung des Stadtbau rats Hoffmann ausgeführten Volksschulbauten
wird in dem Kapitel über die Volk.sschulen unserer großen Städte
beigebracht werden.
Bielefeld. Die XI. Bürgerschule. Anordnung der Turnhalle
im Keller und Erdgeschoß und weitere Ausnutzung des Kellers zu
Brausebädern und Milchküchen. Versuch mit Terrazzofußböden in
einigen Klassenräumen. Erbaut 1901. Baukosten 230000 M.
Breslau. Schulhaus an der Kletschkauenstraße. T-^s sind Räume
für Hau.shaltungsunterricht, Knabenhandfertigkeit und Brausebäder-
anlagen vorgesehen. Die Fußböden der Klassenzimmer haben Lino-
leumbelag.
Cassel. Über die Grundsätze für den Bau und die .Ausstattung
der Casseler Schulhäuser hat sich der Casseler Stadtbaurat Höpfner
im Jahre 1898 im technischen Gemeindeblatt S. 9 und 10 eingehend
ausgesprochen. Unter den neuen Volksschulen verdient die XIV.
l^ürgerschule an der Graefestraße ihrer Anlage und Ausführung nach
hervorgehoben zu werden.
Charlottenburg. Es möge hier das neu.ste 1899/1900 erbaute
Schulhaus für die Gemeindeschulen XIX und XX in der Bleibtreu-
straße Erwähnung finden. Dasselbe enthält außer den gewöhnlichen
Nebenräumen zwei Schulküchen mit Nebengelassen und ein Zimmer
für den Schularzt. Eine Übersicht über die seit 1881/82 in Gebrauch
genommenen Volksschulhäuser wird an einer späteren Stelle gegeben
werden.
Chemnitz. Die II. Mädchenbürgerschule an der West- und
Kanzlerstraße. Eckbau mit seiner Langseite freistehend, an der
Kanzlerstraße errichtet, um den zweiseitig angeordneten Unterrichts-
räumen die erwünschte Ost- und W^estlage geben zu können. Ein
eingeschossiger Zwischenbau an der Weststraße, welcher an der
Straßenseite den Zeichensaal, an der Hofseite die Schüleraborte ent-
hält, verbindet den besonders als Eckbau hervorgehobenen Teil des
Hauptgebäudes mit dem durch einen großen Giebel geschmückten
Turnhallenbau, welcher den Übergang zur geschlossenen Häuserreihe
der W^eststraße vermittelt.
Im Hauptbau sind folgende Räume untergebracht: 17 Klassen-
zimmer für je 40 Kinder, 4 dergl. für je 84 Kinder, 1 Kombinations-
zimmer, I Physikzimmer mit Sammlungs- und Vorbereitungszimmer,
152 Yolksschuhvesen.
I Lehrer- und Beratungszimmer, I Direktorzimmer, I Expedition,
I Bibliothekzimmer, 1 Lehrerinnenzimmer, o weitere Sammlungsräume,
die Abortanlagen für Lehrer, Lehrerinnen und Hausmann, ferner die
am Haupteingang gelegene Hausmannswohnung, welche durch Teilung
der Höhe des Erdgeschosses mit Hinzunahme des über Gelände ge-
legenen Teiles des Kellergeschosses in 2 Geschossen angeordnet
wurde. Das KellergescholA enthält die Räume für die Dampfheizungs-
und Lüftungsanlagen und die erforderlichen Wirtschaftsräume. Er-
baut 1902/03. Baukosten .SnT 770 M.
Cöln. Volksschule an der Georgstralie, geschmackvoller Bau
im romanischen Stil, Volksschule am Zugweg, Volksschulen an der
Vogelsangerstraße und Berrenratherstraße, Neubau an der Frankstraße.
Räume für Kochschulen, Brausebäder, Volkslesehallen und Kinder-
horte. Kosten der Anlage für ein System von 14 Klassen und Neben-
räume 325 000-375 000 M.
Dan zig. Volksschule in der Weidengasse. Schule in Verbin-
dung mit Turnhalle, die gleichzeitig als Aula dient. Baukosten
154 000 M.
Darm Stadt. Doppelschulhaus für Knaben und Mädchen an der
Lagerhausstraße. Erbaut 1901/02. Baukosten 500 000 M.
Essen. Gewöhnlich sind alle neueren Schulhäuser dreistöckig
gebaut worden, wobei dann vier Klassenräume in das Erdgeschoß,
fünf in den ersten und fün( in den zweiten Stock gelegt worden
sind. Der geräumige Korridor im Erdgeschoß wird meistens
mit Garderobenhaltern versehen; außerdem werden im ersten und
zweiten Stock besondere verschließbare Garderobenzimmer einge-
richtet. Sowohl im ersten als auch im zweiten Stock wird ein Amts-
zimmer hergestellt. Die Schuldienerwohnung wird im Erdgeschoß
untergebracht. Lehrerwohnungen sind in den neuen Schulhäusern
grundsätzlich nicht mehr eingerichtet worden. Die Kellergeschosse
sind bei mehreren Schulhäusern in solcher Höhe angelegt worden,
daß Schulbrausebäder, Schulküchen u. dergl. ohne besondere Schwie-
rigkeiten in denselben eingerichtet werden können*).
Unter den neuesten Volksschulhäusern lohnt der sehr freund-
liche und geschmackvolle Bau der katholischen (iemeindeschule XXIV"
eine Besichtigung.
Frankfurt a. M. besitzt seine eigenen Grundsätze für den Bau
von Volksschulhäusern, wie diese der Stadtbauinspektor Adolf Koch
") Die \ei\valtung der Stadt Essen im XIX. Jahriuindeil. ]3d. I, S. 386. 190'J
nie S(-lHi]liausei-. 153
s. Z. in einem X^ortrai^e, „die Bauart und die I-'inrichlun^- der slädti-
sehcn Schulen", gehalten am 12. Februar 1<)(H) im l'rankfurter Archi-
tekten- und Ingenieur-Verein, näher ausgeRihrt hat.
Die neuen Volks.schulen zeichnen .sich besonders durch weit-
gehende Berücksichtigung aller Forderungen der Hygiene, breite
Treppen und Korridore, gute Hei/Amg und Beleuchtung, praktische
Schulbänke usw. aus. Als ein Beispiel eines zweckentsprechend und
geschmackvoll eingerichteten Schulhauses wird dem Ausländer neben
anderen Frankfurter Volksschulen die am 1. Oktober 1902 der Be-
nutzung übergebene Bonifatiusschule zu empfehlen sein. ,,Die Ge-
samtanlage enthält auf einem Grundstück von 5250 qm das vier-
geschossige Klassengebäude mit einer Grundfläche von 700 qm, die
an dieses angebauten Abortanlagen (100 qm), die durch einen ge-
deckten Gang mit dem Hauptgebäude verbundene Turnhalle von
'A2V> qm und das Wohnhaus mit Rektor- und Schuldienerwohnung
050 qmj. Das Grund.stück enthält einen Spiel- und Turnplatz von
2800 qm, einen Schulgarten von 300 qm und einen Garten für den
Rektor von 300 qm.
Die Grundrißeinteilung weicht wenig von der Grundform ab, die
sich in Frankfurt in den letzten Jahren herausgebildet hat. Sämtliche
Räume — 8 Klassen für Knaben, 8 für Mädchen, Rektorzimmer,
Konferenz-, zugleich Lehrerzimmer, Lehrerinnenzimmer, Zeichen- und
Singsaal — liegen einseitig an einem 3,5 m i. 1. breiten Flur, der
durch die Kleiderablagen auf 5,03 m verbreitert ist. Von diesem
Flur ist in den drei Obergeschossen durch Glaswände je ein Raum
abgetrennt, der im I. Obergeschoß als Vorzimmer für den Rektor
und Wartezimmer, im II. Obergeschoß als Sammlungszimmer und im
III. als Modellzimmer dient. Die Abteilung mittels Glaswänden
ist gewählt, um einerseits die Übersichtlichkeit des ganzen Flures
durch den Einbau nicht zu beeinträchtigen, und um andererseits den
Kindern Einblick in die mit den Glaswänden verbundenen Glas-
schränke für Sammlungen und dadurch Gelegenheit zur Betrachtung
der Sammlungsgegenstände während der Pause zu gewähren. Im
Dachgeschoß befinden sich außerdem, im äußeren durch die Giebel
erkennbar, drei Säle von zusammen 255 qm für den Handfertigkeits-
unterricht in der Schreinerei, Schlosserei und in Papierarbeiten. Die
sich an der Längsseitc des Flures ergebenden geräumigen Dach-
zwickel sind zu Kammern und Schränken zur Aufbewahrung von
Materialien und Handwerkszeug ausgebaut.
Der Spielplatz ist 2800 qm groß, bietet also bei %0 Kindern
"154 Volksschul Wesen.
für ein Kind rund ii.OO cjm freien R;ium. Im Hofe befinden sich
zwei Trinkbrunnen. Für die Bespren<^ung des Schulhofes ist die Fkiß-
wasserleitung neben der Ouelhvasserleitung eingeführt. Außer dem
mit Bäumen bepflanzten Spielhof ist noch ein Schulgarten für den
Unterricht in der Pflanzenkunde vorgesehen." (Sonderbericht des Er-
bauers Stadtbaurat Berg.t
Halle a. S. Volksschulen an der Huttenstraße und an der Freiim-
felderstraße. Erbaut 1900/01. Baukosten jedes Schulgebäudes 150 000
Mark einschließlich innerer Einrichtung.
Hamburg. Volksschule an der Norderstraße.
Hannover. Die Grundsätze für die Einrichtung der Hannover-
schen Volksschulhäuser gibt Stadtschulrat Dr. Wehrhahn in seinem
Bericht über das ,, Volksschulwesen der königlichen Haupt- und
Residenzstadt Hannover" S. 15 (Hannover 1903) folgendermaßen an:
„Als Norm für die neuen Schulhäuser gelten Gebäude mit 14 Klassen
und einigen Reserveräumen, 1 Rektor-, 1 Lehrerzimmer (bezw. auch
I Lehrerinnenzimmer), 1 Zeichen- und I Singsaal, Turnhalle, Brause-
bad und einigen Lehrmittelzimmern. Die Schulvogtswohnung enthält
außer einem Dienstzimmer 'A Wohnräume, Küche usw. und eine
Bodenkammer. Wohnungen für den Rektor und für Lehrer sind
nicht vorgesehen.
Die Klassenräume sind 7 m tief und 9 m breit. Erwärmt
werden sie mittels Niederdruckdampfheizung. Die Fußböden sind mit
Linoleum belegt. Wo der Raum es gestattet, wird ein Vorgarten
hergerichtet. Wenn größere Grundstücke zur Verfügung stehen und
der betreffende Stadtteil dicht bevölkert ist, so werden auch zwei
Schulgebäude nebeneinander errichtet. Wenn irgend möglich, werden
die Spielplätze so groß angelegt, daß auf jedes Kind 3 qm entfallen.
Wo genügend Platz und Licht vorhanden ist, \\erden kleine Schul-
gärten angelegt.
Sämtliche Grundstücke mit Ausnahme der in den ehemaligen
Vororten liegenden Bürgerschulen 45 und 40/47 sind an die Wasser-
leitung und Kanalisation angeschlossen."
Unter den neuen Volksschulhäusern ist die Schule an der Halten-
hoffstraße hervorzuheben. Baukosten 420 000 M.
Karlsruhe. Die Nebeniusschule, benannt nach dem Schöpfer
der badischen Verfassung Staatsrat Nebenius, eröffnet am 15. Ok-
tober 1902.
,,Das dreistöckige Schulhaus besteht aus einem Knaben- und
einem Mädchenflüeel und enthält außer 36 «-eräumicfen, hellen Schul-
Die Sdiiilliäiisfr. ]^^
ziiiiincrn uiul breiten, dm'ch IniicnliclU l;u1 beleuchteten, n;ich dem
Mittelbau zu mündenden Gängen ein großes Konferenzzimmer und
ein Lehrmittelzimmer im I., einen Zeichen- und einen Handarbeits-
saal im II. und einen Gesangs- und einen Handarbeitssaal im III. Stock
des Mittelbaues. Im Erdgeschoß befinden sich außer den Kellern
und der Heizungseinrichtung ein Schulbad und eine Schulküche, im
Dachraum ein sehr geräumiger, luftiger und heller Saal für Knaben-
handfertigkeitsunterricht." (XXVI. Jahresbericht über den Stand der
dem Rektorate unterstellten städtischen .Schulen 1902/03. S. 7.)
Kiel. Schule an der Von der Tannstraße. 21 Klassen. Bau-
kosten einschließlich Platz usw. 220 513 M. Doppelvolksschule an
der Hansastraße mit 25 Klassen. Bauko.sten 183 250 M. Das zuletzt
erbaute, Ostern 1903 dem Betrieb übergebene Schulhaus mit
21 Klassen an der Hardenbergstraße.
Königsberg i. Pr. Sackheimer Volksschule für Knaben und
Mädchen. Gemeinsame Turnhalle. Erbaut 1896/97. Baukosten
343 000 M. Roßgärter Bürgerschule für Knaben und Mädchen. Ge-
meinsame Turnhalle. Erbaut 1898/1900. Baukosten 410 000 M.
Leipzig. X. Bezirksschule Leipzig — Lindenau an der Kirch-
straße und Friesenstraße. Bauplatz 5I-540 qm, von denen 1680 qm
mit dem Schulgebäude und 210 qm mit den Abortanlagen bebaut
sind. Es enthält in 4 Stockwerken 44 Klassenzimmer, 4 Zimmer für
Direktor, Lehrer und Lehrerinnen, Zeichensaal, Nähsaal, naturwissen-
schaftliches Lehrzimmer mit Arbeitszimmer, einen Raum für Lehr-
mittel, Prüfungssaal mit Galerie. Im Kellergeschoß befinden sich
das Kesselhaus für die Niederdruckdampfheizung, die Frischluft- und
Vorwärmekammern, Niederlagsräume für Brennmaterialien, die Stube
für den Heizer und Waschküche. Die Kosten der gesamten Anlage
einschließlich Mobiliar und Lehrmittel wurden auf 558 081 M. ver-
anschlagt. (Vgl. Verwaltungsbericht des Rates der Stadt Leipzig.
Hochbauamt 1902. S. 7.)
Liegnitz. Volksschule an der Grünstraße. Erbaut 1898/99.
Bauko.sten 225 000 M.
Magdeburg. Wilhclmstaedter II. V^olksschule am Sedanring.
Mannheim. Schulhaus auf dem Lindenhofe, eröffnet am
7. April 1902.
„Die 3 Stockwerke sind je 4,50 m hoch und enthalten 24
normale Klas.senzimmer, 2 größere Klassenzimmer von 12,58 x 7,12 m
bezw. 12,58x6,20 m, 2 Industriesäle und I Zeichensaal. An Neben-
räumen sind vorhanden : im Erdgeschoß 1 Oberlehrerzimmer, 1 Diener-
156 Volksschulwesen.
ziiimicr, 2 Karzer, im I. Obergeschoß 1 Lehrerzimmer und
1 Lehrerinnenzimmer, im IL Obergeschoß 2 Lehrmittelzimmer. Das
Gebäude ist zur Aufnahme von Knaben und Mädchen bestimmt und
hat deshalb getrennte Eingänge und Treppenhäuser. Im Mittelgang
ist der Abschluß durch einen Glasverschlag bewirkt, üie Dienst-
wohnung, bestehend aus 4 Zimmern mit einer Küche, liegt im Unter-
geschoß, 1 ,80 m unter Straßenhöhe an einem 6 m breiten Licht-
graben. Das Untergeschoß enthält außerdem noch ein Brausebad für
die Schüler und Schülerinnen, Räume für die Milchabgabe und das
Kesselhaus für die Niederdruckdampfheizung. In einem Abstand von
ö m vom Hauptbau und durch gedeckte Gänge leicht erreichbar, ist
die nach Geschlechtern getrennte, freistehende Abortanlage an-
geordnet. Die Turnhalle ist 20 m lang, 10 m breit und im Büttel
7,60 m hoch; sie steht etwa 20 m vom Hauptbau entfernt an der
Windeckstraße, ihre Beheizung geschieht durch Dauerbrandöfen. Der
mit Bäumen bepflanzte Spiel- und Tummelplatz hat eine Größe von
rund 4300 qm. Die Baukosten der ganzen Anlage betragen 4lu000M."
Die neuesten Schulbauten sind die in diesem Jahre fertig-
gestellten Volksschulgebäude Wohlgelegen und Neckarau.
(Jahresbericht über den Stand der dem Volksschulrektorat unter-
stellten städtischen Schulen in Mannheim im Schuljahr 1902/03. S. b.)
München. In München sind seit 1898 folgende den Anforde-
rungen unserer Zeit in bezug auf Technik, Hygiene und künstlerische
Ausführung in \ollem Maße entsprechende Volksschulbauten fertig
gestellt worden:
X^olksschule an der Weilerstr. Erbaut 1898/99, Baukosten 617131,57 M.
„ „ Stielerstr.
1898/99
607530,14
am DomPedro-Platz ,,
1898/1900 ..
590000
„ Kirchstein, Ver-
sailles.str.
1899/1901
601000
,, Elisabethplatz
1900/02 Ges. „
661714
an der Martinstr.
1900/02
671887,72
.Vis ein Beispiel für die Anlage der Münchener Schulhäuser
möge hier eine Übersicht über die Räume des Schulgrundstückes in
der Martinstraße folgen:
Zweireihiges Gebäude, enthaltend in Erdgeschoß und 3 Ober-
geschossen 32 Schulsäle mit Garderoben, 2 Turnsäle mit Garderoben,
2 Säle für den Kindergarten mit Nebenräumen, 2 Oberlehrerzimmer,
1 Bibliothek- und Konferenzzimmer, 2 Lehrmittelzimmer, I Schul-
Die Schulhäuser. 157
küche, Hausmeisterwohnung, getrennte Aborte für Knaben und
Mädchen. Im Kellergeschol,^ Brausebadanlage, Suppensäle und
Suppenküche, je I Doppelsaal Schülerwerkstätten für Holz- und
Metallbearbeitung nebst Nebenräumen, Aborte und Räume für die
Niederdruckdampfheizung. Gebäudeausführung in Ziegelmauerwerk
mit Kalkmörtelputz. Unverbrennliche Deckenkon.struktionen, Linoleum-
belag. Schulhof mit besonderem Kindergarten, Spielplatz und Schul-
küchengarten.
Nürnberg. Schule am Melanchthonplatz, Schule an der Goethe-
•straße. Schule an der Bismarck.straße, Schule an der Knauerstraße,
Schule an der Holzgarten.straße, Schule an der Findelgasse.
Jedes Schulhaus enthäh ;^0— 32 Lehrzimmer, Turnhalle, Aula,
Schulbad, Schulküche, Hausmeister- und Heizerwohnung. Baukosten
5(K)— 600 000 M.
Schöneberg. Gemeindeschule an der Apo.stel Paulus.straße.
l^rausebadanlagen. Erbaut 18%/97. Baukosten ()00 000 M.
Straßburg. Drachenschule. Eigenartiger Grundriß als Eckbau.
Fassaden im Charakter der Bauten des 16. Jahrhunderts.
Ruprechtsauer Volksschule (32 Klassen) mit Pfarrhaus und Schul-
dienerwohnhaus. Gesamtkosten 420 000 M.
Stuttgart. Schwabschule. Dieser sehr geschmackvolle, im
Stil der norddeutschen Backsteingotik gehaltene Bau umfaßt auf einem
3913 qm großen Bauplatze- in 3 Stockwerken 24 Schulzimmer mit
den erforderlichen Nebenräumen, wie Zeichensaal, Bibliothek, Lehrer-
und Schulinspektorzimmer, Brausebad usw. Eine Turnhalle ist vor-
handen. Die mit Wasserspülung versehenen Schüleraborte befinden
sich im Untergeschoß des Schulhauses bezw. der Turnhalle. Bau-
ko.sten ohne den Bauplatz etwa 380 000 M.
Wiesbaden. Gutenbergschule. Sie besteht aus einem fertig-
gestellten Flügel mit 16 Kla.ssen, I Zeichensaal, 1 Rektorzimmer,
2 Sammlungszimmern, I Bibliothek, 1 Konferenzzimmer, 1 Pedellen-
zimmer, 2 Turnhallen übereinander, 1 Volksbibliothek, 2 Frühstücks-
räumen, 2 Frischlüftkammern, 1 Heizkeller, 1 Nebenkeller, I Baderaum
mit 8 Brausen und 1 Ankleidezimmer. Die Pedellenwohnung liegt
im Dachstock. Die Schule wird durch Niederdruckdampfheizung er-
wärmt.
Das Haus Ist ein Backsteinverblendbau im Stile der flandrischen
Gotik. Die Fußböden in den Klassen und in den Gängen sind mit
Xylopal belegt, die Aborte befinden sich im Gebäude, sind jedoch
durch eine Loggia von dem Gange getrennt.
i 58 Volksschulwesen.
Die Kosten für die hergestellten Baulichkeiten einschließlich des
Schulhofes und des Mobiliars betragen 388 000 M. Der zweite Teil
des Gebäudes mit ebenfalls 16 Klassen wird jetzt errichtet und kostet
:U0 000 M. Das Grundstück ist 4500 qm groß. Die bebaute Fläche
wird 1 100 qm betragen.
Worms. Neusatzschule, Baukosten 313 000 M. Nibelungen-
schule, Baukosten 250 000 M.
Würzburg. Zentralschulhaus. Volksschulhaus für 20 Klassen
zu je ()0 Kindern. Einseitige Korridorbebauung. Gruppierung sämt-
licher Schulräume um einen nach der Strafte offenen Hof Bauart:
massiv aus Stein und Eisen. Fassaden nach der Straße mit weil.^em
Sandstein verkleidet. Bauko.sten 620 000 M.
Nach Anlage und Bauplan sind diese neuen Schulen ebenso
verschieden wie nach Umfang und nach den aufgewendeten Mitteln.
Nach der Anordnung der Klassenzimmer lassen sie sich in zwei große
Gruppen scheiden, in solche, deren Schulsäle zu beiden Seiten der
Korridore liegen und in solche mit einer Flucht von Zimmern. Die
erstere Anordnung ist die billigere, weil sie eine ausgiebigere Aus-
nutzung des Raumes gestattet, aber sie hat gewöhnlich schlechte
Belichtung der Korridore und Treppenaufgänge zur F"olge, wenn auch
dieser ÜbeLstand durch große Fenster an den beiden Enden der
Korridore, Lichtflure, die zugleich zur Unterbringung der Garderoben
dienen können, oder Lichthöfe vermindert werden kann. Li einigen
Schulen sind beide Gruppierungen der Klassen an den Korridoren in
den verschiedenen Flügeln desselben Gebäudes zur Anwendung ge-
bracht. Die einreihigen Klassenfluchten ermöglichen eine gute Be-
lichtung der Korridore und eine bessere Durchlüftung der Klassen-
zimmer nach der Schulzeit.
Neben einer großen Zahl von neuen, schmucklosen, in schlichten,
.symmetrischen Formen gehaltenen, darum aber h}'gienisch und
technisch keineswegs minderwertigen Bauten werden in Deutschland
in den letzten Jahrzehnten von den wohlhabenderen Gemeinden für
ihre großen Schulorganismen moderne Monumentalbauten geschaffen,
welche nach Anlage und Ausführung zu den stattlichsten Gebäuden
der Städte gehören. München gebührt der Ruhm, in diesem Sinne
vorangegangen zu sein, aber auch Berlin und kleinere Städte haben
diese Bahn mit Erfolg betreten.
Diese großen Schulbauten lehnen sich im allgemeinen an Bau-
.stile der Vergangenheit an und sind zum großen Teil in den Formen
der nordischen Ziegelsteingotik, der Renaissance oder eines schlichten
Die Schulhäuser. "159
Barockstils gehalten. Der Gedanke, der den Schöpfern dieser Bauten
\•orsch^^■ebtc, ist der der künstlerischen Erziehung der heranwachsenden
Jugend. Zu untersuchen, inwiefern dieser Zweck durch die Schul-
bauten erreicht werden kann, ist hier nicht der Ort. Für den Päda-
gogen, der in seiner täglichen Praxis so manche in schulhygienischer
Hinsicht unvollkominene Anlagen zu beobachten Gelegenheit hat,
bleibt die erste und unabweisliche Forderung, die er an ein Schulhaus
stellt, Luft und Licht für unsere Kinder, luid für einen Mangel
in dieser Hinsicht kann uns keine nach dem heutigen Geschmack
bewunderungswürdige Nachahmung eines Prachtbaues aus dem 15. oder
l(). Jahrhundert entschädigen. Ein moderner, aus den Bedürfnissen
der Schule her\orgegangcner, origineller Baustil für Schulhäuser hat
sich bisher noch nicht entwickelt, und es bleibt der FLrfindungsgabe
der Architekten auf diesem Felde noch ein weiter Spielraum.
Größere Bedeutung für die künstlerische Erziehung als die Ge-
samtanlage des Schulhauses kann wohl die Ausschmückung der
einzelnen Teile für sich beanspruchen. Die Künstler versuchen hier,
durch sinnige Verzierung der Portale, durch anmutige Friese auf den
Korridoren, in den Klassenzimmern, in der Aula und der Turnhalle
das Kunstempfinden der Kinder zu beleben. Da begrül.^en uns schon
an der Tür als Reliefs an den Portalen anmutige Knaben- und
Mädchengestalten, welche mit der Mappe unter dem Arme zur
Schule kommen oder das Schulhaus verlassen, da lächeln uns von
den Pfeilerbändern im Treppenhause fröhliche Kindergesichter an, da
sehen wir die Tiere der deutschen Volkssage und Scenen aus unserem
Märchenschatz im Bilderbuchstil in langen Bändern die Wände der
Korridore durchziehen. Hansel und Gretel, Rotkäppchen, die sieben
Schwaben, das Märchen vom Froschkönig atmen in diesen Dar-
stellungen den naiven Geist und den halbunbewußten Humor der
Kindheit und tragen nicht wenig dazu bei, die Schulräume anheimelnd
und behaglich zu gestalten. Gegenüber der in älteren Schulen vor-
herrschenden Nüchternheit und Eintönigkeit macht sich in der Aus-
.stattung neuerer Volksschulen, ich denke dabei besonders an Volks-
und Mittelschulen in Halle und F'rankfurt a. M. sowde an die neu-
erbauten Mittelschulen in Breslau, eine Freude an lebhaften F'arben
geltend. Rote Türeinfassungen, dunkelblaue Schulbänke, grünlich
gehaltene Wände und mancherlei frisches, farbenfröhliches Ornament
erinnern zuweilen an die bunte Pracht oberbayerischer Bauernmöbel.
Die Ausstattung der Schulhäuser mit Schul Utensilien ein-
gehend darzulegen, verbietet der beschränkte Raum. Das Minimum
1 50 V'olksschulwesen.
dessen, was in Preußen in dieser Hinsicht gefordert wird, geben die
Allgemeinen Bestimmungen des Königl. preußischen Ministers der
geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten betreffend die
Volks- und Mittelschule vom 15. Oktober 1872 folgendermaßen an:
,,Das Schulzimmer muß mindestens so groß sein, daß auf jedes
Schulkind ein Flächenraum \on 0,6 qm kommt; auch ist dafür zu
sorgen, daß es hell und luftig sei, eine gute Ventilation habe, Schutz
gegen die Witterung gewähre und ausreichend mit Fenstervorhängen
versehen sei. Die Schultische und Bänke müssen in ausreichender
Zahl vorhanden und so eingerichtet und aufgestellt sein, daß alle
Kinder ohne Schaden für ihre Gesundheit sitzen und arbeiten können.
Die Tische sind mit Tintenfässern zu versehen.
Zur ferneren Ausstattung des Schulzimmers gehört namentlich
eine hinreichende Anzahl von Riegeln für die Mützen, Tücher,
Mäntel u. dergl; ferner eine Schultafel mit Gestell, eine Wandtafel,
ein Katheder oder ein Lehrertisch mit Verschluß, ein Schrank für die
Aufbewahrung von Büchern und Heften, Kreide und Schwamm."
Übersichten über die besten eingeführten Subsellien, Schultafcln,
Kartenständer u. dergl. bieten die meisten deutschen Schulmuseen.
Die Frage, welche Schulbänke in den Volksschulen zu verwenden
sind, beschäftigt gegenwärtig, \\o man in den Städten überall mit
den veralteten drei-, vier- und mehrsitzigen Schulbänken mit Plus-
distanz aufzuräumen beginnt, die Schulverwaltungen und i\ufsichts-
behörden. Neue Systeme zweisitziger Schulbänke, zum Teil mit
fester Minusdistanz, zum Teil mit Klapptischen und Pendelsitzen oder
mit diesen beiden Einrichtungen zugleich, dienen fast überall zur
Ausstattung neuer Schulbauten. Bei vielen Gemeinden spielt bei der
Auswahl der Schulbänke der Gesichtspunkt eine Rolle, daß die Sub-
sellien, wenigstens die der oberen Volksschulklassen, geeignet sein
müssen, auch die Schüler der neuerdings organisierten obligatorischen
Fortbildungsschule für Jünglinge im nachschulpflichtigen Alter aufzu-
nehmen, für welche bisher eigene Schulhäuser nur in den seltensten
Fällen errichtet worden sind. Für diese Zwecke werden dann Bank-
systeme mit verstellbarer Sitz- und Pulthöhe bevorzugt. Einige
Städte haben ihre eigenen Schulbänke eingeführt, so Hanno\'er die
freistehende Spellmannsche Bank mit Plusdistanz und verschiebbarer
Tischplatte, Frankfurt a. M. die Frankfurter Schulbank mit P'.isen-
konstruktion, Pendelsitz und emporzuklappender Tischplatte. Meistens
wird in neueren Schulen jede Klasse mit 3 — 4 dem Wuchs der
Kinder angepaßten Bankgrößen ausgestattet. Für alle Banksysteme
Die Schulhäuser. ]()]
sind zwei Gesichtspunkte in erster Linie entscheidend, erstens inwie-
fern sie den Kindern eine für alle ihre Beschäftigungen in der Schule
hygienisch einwandsfreie Sitzgelegenheit bieten, und zweitens inwieweit
sie eine gründliche Reinigung des Fußbodens der Schulklasse ermög-
lichen. Besonders das letztere Ziel scheint in hervorragendem Maße
die Rettigsche Schulbank zu erreichen, welche zur Zeit bereits in
nahezu 100 deutschen Gemeinden zur Einführung gelangt ist. Ihr
Hauptvorzug besteht darin, daß sich Bank und Tisch zugleich ohne
Mühe seitwärts umklappen lassen, und daß auf diese Weise eine
gründliche Reinigung des Fußbodens sehr erleichtert wird.
Eine der wichtigsten Bedingungen für die Hygiene der Volks-
schule i.st die Reinhaltung der Schulräume. Diese bildet die
Hauptobliegenheit der Schuldiener, und die Vorschriften bezüglich der
Häufigkeit und Gründlichkeit, mit der diese Reinigungen vorgenommen
werden müssen, sowie die Höhe der für diesen Zweck bewilligten
Mittel sind ein ziemlich zuverlässiger Maßstab für die Einsicht und
das Interesse, welche die lokalen Organe der Verwaltung der Volks-
schule entgegenbringen. Die wichtigsten diesbezüglichen Abschnitte
aus der Dienstanweisung für die Schuldiener an den städtischen
öffentlichen Schulen zu Frankfurt a. M. vom 17. August 1900 mögen
hier folgen:
,, Sämtliche Räume der Schule, soweit sie nicht nachstehend
ausgenommen sind, also insbesondere die Klassenzimmer, das Amts-
zimmer des Dirigenten, Konferenz- und Lehrerzimmer, Stiegen, Vor-
plätze, Aborte, Pissoirs usw. samt den darin befindlichen Gerät-
schaften, sind täglich zu reinigen. Die Reinigung geschieht durch
gründliches Auskehren mit feuchten Sägespänen und darauffolgendes
Abstauben.
Das Abwischen des Staubes von den Tischen und Bänken hat
nach jedem Auskehren zu geschehen; zweimal in der Woche (in der
Regel Mittwochs und Samstags) ist der Staub auch von Bücher-
brettern, Schränken, Ofenkacheln mit feuchten Tüchern abzunehmen;
die eisernen Bestandteile sind nur mit trockenen Tüchern abzuputzen.
Die vorhandenen Spucknäpfe .sind zweimal wöchentlich zu reinigen
und mit Salzwasser zu füllen.
Wöchentlich einmal sind nach dem gründlichen Auskehren
sämtliche Räume aufzuwaschen. Hierbei sind die Beschläge zu
reinigen und die Tischplatten feucht abzuwischen.
Vierteljährlich findet eine gründliche Hauptreinigung der ge-
nannten Räume mit warmem Wasser, Seife, Soda und Bürste statt,
L>as Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 11
■|(^2 Volksschulwesen.
nachdem zuvor an den Decken Und Wänden sow eit tunlich der Staub
gekehrt ist und die beweglichen Schulbänke auseinandergerückt
worden sind. Getäfel und Mobiliar sind alsdann mit warmem Wasser
und Seife abzuwaschen, ebenso die Fenster auf der Innen- und
Außenseite. Auch sind hierbei Türgriffe, Schulbänke und Tisch-
gestelle, Beschläge usw. sachgemäß zu reinigen; Dachräume,
Speicher und Kellerräume sind stets besenrein zu halten.
Die Fenster, auch diejenigen der Turnhalle, sind außer bei
der Hauptreinigung noch einmal im Vierteljahr v^on innen und außen
zu putzen.
Die Bibliothekräume und Sammlungszimmer sind mindestens
einmal wöchentlich zu kehren, monatlich feucht aufzuziehen, bei der
Hauptreinigung zu scheuern.
Die Reinigung der Aula findet regelmäßig bei der viertel-
jährlichen Hauptreinigung und vor jeder Benutzung statt.
Die Böden der Turnhallen sind wöchentlich einmal aufzu-
waschen und täglich mit feuchten Sägespänen gründlich auszukehren.
Bei Bedarf kann öftere Reinigung am Tage angeordnet werden. Bei
allen diesen Reinigungen ist der Staub von den Geräten mit feuchten
Tüchern, von den Außenteilen eiserner Öfen mit trockenem Tuche
abzunehmen."
Gegenüber den großen steinernen Schulhäusern der V^ergangen-
heit und der Gegenwart bilden nun die Schulpavillons ein ganz
eigenartiges System zur Unterbringung von Schulkindern. Dieses
System, dem von manchen Pädagogen eine große Zukunft verheißen
wird, ist bisher in Deutschland in zwei besonderen Formen zur An-
wendung gekommen, als eigentliches Pavillonsystem und als Gruppe
von transportablen Schulbaracken aus leichtem Baumaterial. Als
Anlagen der ersten Klasse kommen in Deutschland nur die Pavillon-
schule zu Ludwigshafen am Rhein und die vierte Gemeindeschule zu
Lichterfelde bei Berlin in Betracht.
Die einzelnen Häuser, welche die Klassenzimmer und Neben-
räume einschließen, sind hier aus Stein aufgeführt und können daher
• nicht transloziert werden. Unter den transportablen Baracken haben
die Döckerschen in Gießen, Bremen, Remscheid, Worms, Elberfeld,
Hamburg, Stuttgart, Mainz, Altona, Straßburg, München, Bamberg
und kürzlich auch in Berlin VerAvendung gefunden. Sie. werden ihrer
Konstruktion nach als die empfehlenswertesten Anlagen dieser Art
angesehen werden können. Näheres über diese Frage vom Stand-
punkte der fZmpfehlung der Schulbaracke ist zu finden in der Schrift
Die Schulhäuser. "j 53
von H. Th. Matthias Meyer „Die Schulstätten der Zukunft", Leopold
Voß, Hamburg 1903. Die Momente, welche für das Pavillon- bezw.
Barackensystem und gegen dasselbe sprechen, werden von dem Stadt-
baurat Höpfner in Kassel in dem bereits oben zitierten Vortrage
kurz folgendermaßen zusammengefaßt (S. 7):
„Als Vorteile dieser Bauweise werden u. a. angeführt die Mög-
lichkeit, die Größe der Schule ganz dem jeweiligen Bedürfnis durch
Erbauung einzelner Pavillons anpassen zu können, die Möglichkeit
einer besonders guten Lüftung und Beleuchtung der Lehrräume, der
Fortfall der Treppen, die Möglichkeit, beim Auftreten ansteckender
Krankheiten durch Schließung einzelner Klassen die Schließung der
ganzen Schule zu vermeiden, die Anordnung getrennter Spielplätze usw.
Wenn nun auch die Erfahrungen über dieses Schulbausystem noch
keineswegs als abgeschlossen gelten können, so scheinen doch diesen
vermeintlichen Vorzügen ebenso große Nachteile entgegenzustehen,
wie z. B. das Fehlen von Korridoren, in welchen sich die Schüler
während der Pausen bei ungünstigem Wetter auflialten können, die
Unmöghchkeit, Einrichtungen, die der ganzen Schule dienen, wie z. B.
das Schulbad, zweckmäßig unterzubringen, und die hierin liegende
Unzuträglichkeit bei deren Benutzung, die mit dem allmählichen Aus-
bau einer Schule, der übrigens in rasch wachsenden Städten wohl
kaum je in Frage kommen wird, verbundenen häufigen Störungen
des Schulbetriebes durch die Bauausführungen, die in schultechnischer
Hinsicht bedenkliche Unübersichtlichkeit der ganzen Anlage, nament-
lich der Spielplätze, die Schwierigkeit der Beheizung einzelner Schul-
gebäude im Vergleich zu der eines Massenschulhauses und was der-
gleichen mehr ist. Der Hauptgrund aber, der sich der weiteren
Verbreitung dieser Bauweise entgegensetzen dürfte, scheint mir der
zu sein, daß es in größeren oder auch in kleineren, einigermaßen
rasch wachsenden Städten kaum möglich sein möchte, ohne den
Schuletat ganz erheblich mehr, als jetzt schon der Fall, zu belasten,
das erforderliche Gelände zu erwerben, das beim Pavillonsystem, wie
es in Ludwigshafen zur Ausführung gekommen ist, etwa die drei-
fache Größe von demjenigen hat, welches zum Bau einer Schule
desselben Umfanges nach dem Korridorsystem gebraucht worden wäre."
Ob die von bautechnischer Seite betonten Mängel des Pavillon-
systems sich nicht durch geeignete Maßnahmen gänzlich beseitigen
lassen, soll hier nicht erörtert werden. Es wird aber doch zu er-
wägen sein, ob nicht die sich rapide entwickelnde Technik der Ver-
kehrsmittel, insbesondere die Fortschritte in der Anlage der elek-
11*
'1 54 \'olksschulwesen.
trischen Schnellbahnen, in Zukunft die Möglichkeit schaffen wird,
die Schulen der großen Städte weit hinaus aus dem von Rauch und
Dunst überlagerten Weichbilde der Großstadt in Rerg, Wiese und
Wald zu \'erlegen.
Das Singen des Windes in den Tannen, das Rauschen der
Bäche, das Summen der Bienen und das Zwitschern der Waldvögel
würde jedenfalls eine heilsamere Musik für die jungen Seelen der
Kinder sein, als der Lärm und das Geschrei der Grol'«tadt, ihr
Wagengerassel, das Donnern der elektrischen Bahnen, das Geheul
der Dampfpfeifen in den Fabriken und das Tuten vorbeirasender
Automobile.
KAPITEL VI.
Die Lehrkräfte der Volksschule.
I. Anstellun*^ und Besoldung der Lehrkräfte.
Nach der Art ihrer AnsteUung befanden sich die preußischen
Lehrer und Lehrerinnen in folgenden Verhältnissen:
Tabelle 1.
Bezeichnung der amtlichen Stellung
und der Anstellungsart
In den
Städten
Auf dem
Lande
Im ganzen
Staate |
A. Rektoren und Hauptlehrer:
ai endgültig angestellte
b) einstweilig od. auftragsweise angestellte
cl unbesetzte Stellen
3147
43
56
3 087
7
31
6 234
50
87
zusammen .
B. Ordentliche Lehrer:
a) endgültig angestellte
b) einstweilig angestellte
c) unbesetzte Stellen
3 246
21 730
1 500
396
3 125
34 137
10 928
1 271
6 371
55 867
12 428
1 1 667
zusammen . .
C. Ordentliche Lehrerinnen :
a) endgültig angestellte
b) einstweilig angestellte
c) unbesetzte Stellen
1 23 626
6 657
1 404
64
46 336
3 338
1 323
44
1 69 962
9 995
■ 2 727
1 108
zusammen . .
D. Technische Lehrer:
a) endgültig angestellte
b) einstweilig angestellte
1 8125
' 8
1
4 705
12 830
8
1
zusammen .
E. Technische Lehrerinnen:
a) endgültig angestellte
b) einstweilig angestellte
9
772
199
39
26
9
811
225
zusannnen .
F. Hilfskräfte für einzelne Fächer:
a) Lehrer
971
123
3 272
65
8
29 790
1 036
131
33 062
zusammen . .
Lehrkräfte bez. Stellen überhaupt:
j a) vorhandene vollbeschäftigte Lehrkräfte
b) unbes. Stellen für „
c) Hilfskräfte
3 395
35 461
516
3 395
29 798
52 885
1 346
29 798
33 193
88 346
1 862
33 193
zusammei
84 029
123 401
166
Volksschulwesen .
Über die gleichen Verhältnisse in Bayern, Sachsen und Württem-
berg geben die Tabellen 2 und 3 Auskunft:
Tabelle 2. Amtliche Stellung und Anstellungsart der Lehrkräfte.
1. Im Königreich Bayern im Schuljahr 1899/1900.
Bezeichnung der Anstellungsart
männlich
weiblich
zusammen
Ordentliche Lehrer
Fachlehrer
12214
114
6 464
2 623
5 065
14 837
5179
6 464
Religionslehrer
zusammen . . .
Hierzu Lehrer an Privatschulen . .
Lehrkräfte überhaupt
18 792
91
7 688
26 480
91
18 883
7 688
26 571
2. Im Königreich Sachsen (nach der Erhebung vom 1. Dezember 1899j
Bezeichnung der amtlichen Stellung bezw.
der Anstellungsart
männlich
weiblich
zusammen
350
902
6 906
1533
71
241
1
267
99
18
16
350
903 1
7 173 1
1632 i
89 1
257
121
Oberlehrer bezw. dirigierende Lehrer . .
Ständige Lehrer
Hilfslehrer
Fachlehrer
Vikare
Unbesetzte Stellen
zusammen . . .
Hierzu Nadelarbeitslehrerinnen (einschl.
12 unbes. Stellen)
Lehrkräfte bezw. Stellen überhaupt .
10 003
401
2 384
10 525
2 384 ■
10 003
2 785
12 909 1
Tabelle 3.
Im Königreich Württemberg waren am 1. Januar 1903 vorhanden:
1. ständige Stellen
a) mit Lehrern besetzt 3 494
b) mit Lehrerinnen besetzt 51
c) unbesetzt 171
zusammen 3 716
2. sogenannte ständige Schulamtsverwesereien . 77
3. Unterlehrerstellen 448
4. Lehrgehilfenstellen 833
Stellen überhaupt 5 074
Über das Dienstalter und Lebensalter der preußischen Lehr-
kräfte geben folgende Übersichten Rechenschaft:
Die
Lehrkräfte c
er Volksschule.
167
Tabelle 4.
Lehrer und Lehrerinnen in Preußen nach <1
em
Dienstalter
*l
Am 27. Juni 1901 hatten
i'm Dienstalt
er von
t— 4
Jahren' 12 356 Lehrer und
2 951 Lehrerinnei
, zus
15 307
Lehrkräfte
5— 7
7 944
2 850
,,
10 794
„
8—10
7619
„
1 559
„
9 178
11—15
1 1 306
„
1 939
„
13 245
16—20
11322
„
1 733
13 055
,
21-25
8 501
„
1 401 „
„
9 902
,
26-30
5 648
V
769
„
6417
31—39
7 473
„
486
„
7 959
40—49
2 264
„ ,>
60
„
2 324
50 und
ne
11- „ 97
2
„
99
,
zusammen . . 74 530 Lehrer und 13 750 Lehrerinnen, zus. 88 280 Lehrkräfte
Hierzu unbesetzte Stellen 1754 „ „ 108 „ „ 1862
im ganzen
76 284 Lehrer und 13 858 Lehrerinnen, zus. 90 1 42 Lehrkräfte
Lehrer und Lehrerinnei
Preußen nach dem Lebensalter.**)
Am 27. Juni 1901 standen im Lebensalter von
unter 20
Jahren
130 Lehrer
und
86 Lehrerinnen, zus. 216
20—25
12 020
2 460
„ 14 480
25—30
13 803
2 734
, 16 537
30-35
„
10 248
„
2151
, 12 399
35—40
12 276
2 237
, 14513
40—45
8 672
1 639
, 10311
45—50
6 216
1 142
, 7 358
50—55
„
4 249
„
675
, 4 924
55—60
3 780
398
, 4178
60—65
„
2 300
180
, 2 480
65—70
709
43
752
über 70
„
185 „
13
198
.ehrkräfte
zusammen . .
Hierzu unbesetzte Stellen
74 588 Lehrer und 13 758 Lehrerinnen, zus.
1 754 „ „ 108
58 346 Lehrkräfte
1 862
im ganzen . . . 76 342 Lehrer und 13 866 Lehrerinnen, zus. 90 208 Lehrkräfte.
Für die Besoldung der Lehrkräfte in Deutschland gibt es keine
einheitlichen Gesichtspunkte, doch mögen hier die wichtigsten der in
einigen deutschen Staaten geltenden Bestimmungen über die Lehrer-
besoldung ihren Platz finden.
In Preußen sind durch das Lehrerbesoldungsgesetz vom o. März
1897 feste Grundsätze für die Gehaltsbezüge der Lehrer geschaffen
worden. Die wichtigsten Bestimmungen dieses Gesetzes mögen hier
im Wortlaut folgen:
*) Ohne technische Lehrkräfte.
**) Mit Einschluß der technischen Lehrkräfte.
1 (^g Volksschulwesen .
§ 1 . Diensteinkommen der Lehrer mid Lehrerinnen an den öffentlichen \ olks-
schulen. — Die an einer öffenüichen Volksschule endgültig angestellten Lehrer und
Lehrerinnen erhalten ein festes, den örthchen \'erhältnissen und der besonderen Amts-
stellung angemessenes Diensteinkommen. Dasselbe besteht:
L in einer festen, ihrem Betrage nach in einer bestimmten Geldsumme zu be-
rechnenden Besoldung (Grundgehalt),
2. in Alterszulagen,
3. in freier Dienstwohnung oder entsprechender Mietsentschädigung.
Auf Lehrer und Lehrerinnen, deren Zeit und Kräfte durch die ihnen über-
tragenen Geschäfte nur nebenbei in Anspruch genommen sind, findet diese Vorschrift
keine Anwendung.
Die Entscheidung darüber, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin nur nebenbei be-
schäftigt ist, steht lediglich der Schulaufsichtsbehörde zu.
§ 2. Grundgehalt. — Das Grundgehalt darf für Lehrerstellen nicht weniger als
900 M., für Lehrerinnenstellen nicht weniger als 700 M. jährhch betragen.
Rektoren, sowie solche erste Lehrer an Volksschulen mit drei oder mehr Lehr-
kräften, denen Leitungsbefugnisse übertragen sind (Hauptlehi-er), erhalten nach Maßgabe
der örtlichen und amtlichen X'erhältnisse ein höheres Grundgehalt als die andern an der-
selben Schule angestellten Lehrer.
§ 3. Besoldung der jüngeren Lehrer und der einstweilig angestellten Lehrer und
Lehrerinnen. — Die Besoldung der einstweiHg angestellten Lehrer und Lehrerinnen, so-
wie derjenigen Lehrer, welche noch nicht vier Jahre im öffentlichen Schuldienste ge-
standen haben, beträgt ein Fünftel weniger als das Grundgehalt der betreffenden
Schulstelle. Jedoch darf die Besoldung der Lehrerinnen nicht weniger als 700 M. jähr-
lich betragen.
Der Minderbetrag kann ciuiL,h iJeschluß des Schulverbandes auf einen geringeren
L-r :chteil beschränkt werde::.
§ 4. X'erbindLing eines Schul- und Kirchenamtes. — Bei dauernder Verbindung
eines Schul- und Kirchenamtes soll das Grundgehalt der Stelle entsprechend der mit
dem kirchlichen Amte verbundenen Mühewaltung ein höheres sein, als in den §§ 1 und
2 bestimmt ist.
§ 5. Alterszulagen. — Die Alterszulagen sind nach iVIaßgabe der örtlichen Ver-
hältnisse in der Weise zu gewähren, daß der Bezug nach siebenjähriger Dienstzeit im
öffentlichen Schuldienst beginnt, und daß neun gleich hohe Zulagen in Zwischenräumen
von je drei Jahren gewährt werden.
§ 6. Höhe der Alterszulagen. — Die Alterszulage darf in keinem Pall weniger
betragen als:
1. für Lehrer jährlich 100 M., steigend von drei zu drei Jahren um je 100 M.
bis auf jähriich 900 M.,
2. für Lehrerinnen jährlich 80 M., steigend von drei zu drei Jahren um je 80 M.
bis auf jähriich 720 M.
§ 8. Alterszulagekassen. — Behufs gemeinsamer Bestreitung der Alterszulagen
wird für die zur Aufbringung verpflichteten Schulverbände in jedem Regierungsbezirk
(ausschließlich der Stadt Berlin) eine Kasse gebildet.
Die Verwaltung der Alterszulagekasse erfolgt durch die ßezirksregierung.
§ 10. Berechnung der Dienstzeit für die Gewährung des vollen Grundgehalts,
der Alterszulagen und der Mietsentschädigung. — Bei Berechnung der Dienstzeit der
Lehrer und Lehrerinnen kommt die gesamte Zeit in Ansatz, während welcher sie im
öffentlichen Schuldienst in Preußen oder in den nach ihrem Eintritt in den öffenthchen
Schuldienst von Preußen erworbenen Landesteilen sich befunden haben.
Ausgeschlossen bleibt die .\nrechnung derjenigen Dienstzeit, während welcher die
Die Lehrkräfte der \'olksschule. |()9
Z(,it und Kräfte eines Lelirers oder einer Lehrerin nach der Entscheidung der SchuL
aufsiclitsbehörde durch die ihnen übertragenen Geschäfte nur nebenbei in Anspruch ge-
nommen gewesen sind.
Die Dienstzeit wird vom Tage der ersten eidlichen \erpflichtung für den öHent-
liclien Schuldienst an gerechnet.
Der Dienstzeit im Schulamt wird die Zeil des aktiven Militärdienstes hinzu-
gerechnet.
Die Dienstzeit, welche vor I>eginn des einundzwanzigsten Lebensjahres fällt, bleibt
außer Berechnung.
§ 12. Dienstwohnung. — Wo seither Lehrern oder Lehrerinnen freie Dienst-
wohnung gewährt wurde, ist die Einziehimg der Wohnung nur mit Genehmigung der
Schulaufsichtsbehörde zulässig.
I^ie Genehmigung darf nicht versagt werden, wenn die Gemeinde sich bereit er-
klärt, die feststehende oder eine ausreichende Mietsentschädigung zu zahlen, und wenn
genügende Mietswohnungen in der Gemeinde vorhanden sind.
§ 13. Dienstwohnung auf dem Lande. — Auf dem Lande sollen erste und
alleinstehende Lehrer in der Regel, bei vorhandenem Bedürfnis auch andere Lehrer und
Lehrerinnen eine freie Dienstwohnung erhalten.
§ 16. Mietsentschädigung. — Als Mietsentschädigung für die Lehrer und Lehre-
rinnen ist eine Geldsumme zu gewähren, die eine ausreichende Entschädigung für die
nicht gewährte Dienstwohnung darstellt; sie soll aber in der Regel ein Fünftel des
(Grundgehalts und des für die Schulstelle von dem Schulverbande zu zahlenden Alters-
zulagekassenbeitrags nicht übersteigen.
Einstweihg angestellte Lehrer und unverheiratete Lehrer ohne eigenen Hausstand,
sowie diejenigen Lehrer, welche noch nicht vier Jahre im öffentüchen Schuldienst ge-
standen haben, erhalten in der Regel eme um ein Drittel geringere Mietsentschädigung.
Über die sich aus diesen Grundsätzen ergebenden Dienst-
einkommensverhältnisse der Lehrer und Lehrerinnen bietet die
Tabelle 5 auf Seite 1 70 eine Übersicht.
Für Bayern bietet das Schulbedarfsgesetz vom 2o. Juli 1902 die
gesetzliche Grundlage für die Lehrerbesoldung. Es heißt daselbst im
dritten Abschnitt Artikel 7:
L Die Mindestgehalte betragen
für Volksschullehrer . 1200 M.,
„ Volksschullehrerinnen .... 1000 „
„ Schulverweser 1000 „
„ Schulverweserinnen 900 „
„ Hilfslehrer 820 „
„ Hilfslehrerinnen 820 „
IL Das Einkommen aus einem mit dem Schuldienste verbundenen Kirchendiensle
( Meßner-, Kantoren-, Chorregenten- und Organistendienste) wird in die im vorigen Absätze
festgesetzten Mindestgehalte nur insoweit eingerechnet, als es die Summe von 200 M.
jährlich übersteigt.
Artikel 8:
L Gemeinden unter 2500 Seelen sind verpflichtet, dem Lehrj^ersonale freie Dienst-
wohnungen zur Verfügung zu stellen. Diese haben zu bestehen bei Volksschullehrern in
einer für den Bedarf einer Familie ausreichenden Wohnung mit den erforderlichen
Wirtschaftsräumen, bei \olksschullehrerinnen, ferner bei Schulverwesern im Falle des
170
^'olksscllulweseI]
Tabelle 5. Tatsächliche Besoldung der Lehrer und Lehrerinnen in
Preußen, einschließlich der unbesetzten Stellen.*)
Es bezogen ein
Einkommen von
Lehrer (einschl. Rektoren)
Lehrerinnen
in den I auf dem
Städten ' Lande
zusammen
in den
Städten
zusammen 1
700— 750
■ —
324
324
8
34
42
751- 800
o
791
793
19
82
101
801— 850
14
948
962
106
196
302
851— 900
52
2 175
2 227
178
294
472
901— 950
122
1 924
2 046
185
218
403
951—1000
117
1 873
1990
284
320
604
1001—1050
189
1508
1697
248
326
574
1051—1200
695
5125
5 820
1050
822
1 872
1201—1350
1009
4 661
5 670
1 115
670
1785
1351—1500
1 529
4121
5 650
1 280
692
1972
1501—1650
1 396
4 223
5 619
1 431
432
1863
1651—1800
2 005
3 937
5 942
844
322
1 166
1801—1950
2 273
3 609
5 882
699
204
903
1951—2100
1 973
3 474
5 447
392
92
484
2101—2250
2176
2 809
4 985
417
24
441
2251-2400
2 053
2 169
4 222
330
26
356
2401 -2550
1 486
1 596
3 082
207
12
219
2551—2700
1 728
1340
3 068
58
2
60
2701—2850
1404
947
2 351
234
1
235
2851—3000
1223
678
1 901
3
—
3
3001—3300
1 643
705
2 348
1
—
1
3301—3600
1572
329
1901
—
—
—
3601—3900
868
127
995
—
—
—
3901—4200
425
29
454
—
—
—
4201—4500
528
11
539
—
—
—
4501—4800
94
4
98
—
—
—
4801—5100
67
1
68
—
—
—
über 5100
201
2
203
—
—
—
zusammen 26 844
49 440 76 284
9 089
4 769
13 858
Artikel 4 Absatz I in einer die Führung eines selbständigen Haushalts ermöglichenden
Wohnung, bei dem übrigen Lehrpersonal in einem geräumigen heizbaren Wohnzimmer.
Die Gewährung einer Mietsentschädigung an Stelle der Dienstwohnung ist nm" mit
Genehmigung der Kreisregierung zulässig.
IL Li allen übrigen Fällen sind die Gemeinden zur Gewähnmg von Miets-
entschädigungen nach den ortsüblichen Mietpreisen für Wohnungen der im vorigen
Absätze bezeichneten Beschaffenheit verpflichtet.
*) Es handelt sich bei den 4 Abstufungen von 700—900 M. um Lehrer, die noch
nicht endgiltig angestellt sind, oder, die zwar endgiltig angestellt sind, aber noch kein
Dienstalter von 4 Jahren haben.
Die Lehrkräfte der Volksschule. I7i
Artikel 9:
I. Zu den nach Artikel 7 bestimmten Anfangsgehalten werden den Volksschullehrem
und Volksschullehrerinnen, den Schulverwesem und Schulverweserinnen Dienstalterszulagen
aus der Staatskasse nach jeweiliger finanzgesetzlicher Bewilligung gewährt.
Abschnitt IV Artikel 13 bestimmt:
I. Die unmittelbaren Städte in den Landesteilen diesseits des Rheins, dann alle
Gemeinden mit 5000 und mehr Einwohnern im Königreich sind verpflichtet, alle unter
5000 Einwohner zählenden Gemeinden sind berechtigt, die Gehaltsverhältni.sse des
gesamten Lehrpersonals an den Volksschulen durch Ortsstatuten zu regeln.
II. Durch diese Ortsstatuten sind die Anfangsgehalte aller in der betreffenden
Gemeinde zur Anstellung und Verwendung gelangenden Lehrerkategorien und die
Gehaltsvorrückungen bestimmt festzusetzen. Die in den vorstehenden Artikeln gegebenen
Vorschriften über die Mindestgehalte (Art. 7 Abs. I), dann über Dienstwohnungen und
Wohnungsentschädigungen (Art. 8) haben hierbei nur insofern Maß zu geben, als die
statutarischen Anfangsgehalte für keine Kategorie geringer bemessen werden dürfen, als
die gesetzlichen Mindestgehalte unter Hinzurechnung des in der betreffenden Gemeinde
ortsüblichen Mietzinses für eine Wohnung von der in Artikel 8 Absatz I bezeichneten
Beschaffenheit betragen. Der Zuschlag für die Wohnung darf indes in keinem Falle
niederer bemessen werden, als der Nutzungswert einer Wohnung in Artikel 8 Absatz III
angesetzt ist. Wenn hierzu nach den örtlichen Verhältnissen besonderer Anlaß besteht,
ist bei Bemessung der statutarischen Anfangsgehalte von höheren als den nach Artikel 7
zu gewährenden Gehalten auszugehen. Dienstwohnungen können nach dem ortsüblichen
Mietpreise auf die Anfangsgehalte in Anrechnung gebracht werden.
Eine Übersicht über die von den bayerischen Lehrern und
Lehrerinnen tatsächlich bezogenen Einkommenssätze liegt nicht vor.
Für Sachsen bieten die wichtigsten Bestimmungen die §§ 1, 2, 3, 4
und 5 des Gesetzes, die Gehalts Verhältnisse der Lehrer an den Volks-
schulen und die Gewährung von Staatsbeihilfen zu den Alterszulagen
derselben betreffend, vom 17. Juni 1898:
§ 1 . Das zu Geldwert angeschlagene Gesamteinkommen eines ständigen Lehrers
an einer Volksschule darf nicht unter 1200 M. jährhch betragen.
Die freie Wohnung oder die Wohnungsentschädigung ist in dieses Einkommen
nicht einzurechnen.
§ 2. Den Schuldirektoren, welchen zehn oder mehr ständige Lehrer oder Hilfslehrer
unterstellt sind, ist neben freier Wohnung oder Wohnungsentschädigung ein jährliches Ein-
kommen von nicht weniger als 3000 M., den übrigen ein solches von nicht weniger als
2600 M. gleichfalls neben freier Wohnung oder einer Wohnungsentschädigung zu gewähren.
§ 3. Jedem Hilfslehrer ist neben freier Wohnung und Heizung oder einer von
der Bezirksschulinspektion genehmigten Entschädigung dafür ein bares Gehalt von
wenigstens 850 M. jährlich auszusetzen.
§ 4. Das Einkommen der Schuldirektoren ist durch drei von der Schulgemeinde
zu gewährende Zulagen von je 300 M. nach fün^ähriger beziehentlich zehnjähriger und
fünfzehnjähriger Dienstzeit als Schuldirektor zu erhöhen.
Das Einkommen ständiger Lehrer an Volksschulen, welche mehr als vierzig Kinder
zählen, ist durch Zulagen, welche die Schulgemeinde zu gewähren hat, folgendermaßen
zu erhöhen: nach einer vom erfüllten 25. Lebensjahre des Lehrers an zu rechnenden
ständigen Dienstzeit
von 5 Jahren bis auf 1 400 M. von 20 Jahren bis auf . 1 900 M.
„ 10 „ „ „ .1 600 „ „ 25 „ „ „ . 2 000 „
„ 15 „ „ „ . 1750 „ „ 30 „ „ „ .2100 „
172
N'ülksschulwesen
Der Gehalt ständiger Lehrer an Volksschulen von 40 und weniger Kindern ist in
jedem der angegebenen sechs Abschnitte ihrer Dienstzeit um 100 M. zu erhöhen.
4j 5. Unter „Lehrer" im Sinne dieses Gesetzes sind auch die- Lehrerinnen zu
verstehen.
Über die tatsächlichen Lehrerbesolduiigsverhältnisse in Sachsen am
1. Dezember 1899 gibt die folgende Tabelle Auskunft:
Tabelle 6. Tatsächliche Besoldung der Lehrkräfte im Königreich
Sachsen am 1. Dezember 1899.
Es bezogen ein
Einkommen von
M.
Direk-
toren
ständige
Lehrer
Hilfs-
lehrer
Vikare
ständige
Lehre-
rinnen
HilfV
lehre-
rinnen
\ika-
rinnen
bis 850
_
354
9
1
6
1
850-1000
—
—
496
19
—
21
3
1000—1200
—
91
325
123
3
35
8
1200—1400
—
476
359
59
12
41
3
1400-1600
^
1 104
12
18
44
3
1
1600—1800
_
1 143
3
7
43
—
—
1800-2000
—
741
2
5
26
—
—
2000—2200
—
827
1
1
34
—
—
2200-2400
—
997
1
—
64
—
—
2400-2600
11
688
—
—
46
—
—
2600—2800
17
511
—
—
2
—
—
2800-3000
23
568
1
—
—
—
—
3000—3300
38
430
2
—
—
—
—
3300—3600
38
210
—
—
—
—
—
3600—3900
36
36
—
—
—
—
—
3900—4200
42
24
—
—
—
—
—
4200-45C0
51
8
—
—
—
—
—
4500—4800
33
—
—
—
—
—
—
4800-5100
36
1
—
—
—
—
--
5100—5400
20
—
—
—
—
—
—
5400—5700
1
—
—
—
—
—
—
5700—6000
1
—
—
—
—
—
—
über 6000
3
—
—
—
—
—
^
zusammen
350
7 855
1 556
241
275
106
16
Für Württemberg ist das Gesetz, betreffend die Einkommens-
verhältnisse der Volksschullehrer, die Trennung des Mesnerdienste.-
vom Schulamte und die Rechtsverhältnisse der Lehrerinnen an Volks-
schulen vom 31. JuH 1899 maßgebend. Es heißt daselbst:
.\rtikel 1 : Die ständigen Lehrer an den \'olksschulen erhalten neben einer an
gemessenen, für den Bedarf einer Familie ausreichenden ^Vohnung oder einer der
rkräfie der N'olkssclnile. '| 7,'^
luleii Miflpreisen entspreclieiuk-i
1 Mi
elzinsentscliäd
^img mindestens
folj^ende pen-
berechtigte ( '.ehalte:
mit der ständigei
An
tellung .
. 1200 M.,
nach vollendetem
7.
11.
14.
Dienstjahr .
. 1300 „
. 1400 „
. 1500 „
„ „
17.
„
. 1600 „
"
20.
23.
26.
„
. 1700 „
. 1800 „
. 1900 „
„
29.
„
. 2000 „
Artikel 2: Die Dienstjahre
werden von dem
vollendeten 25.
Lebensjahr an
gerechnet.
Artikel 3: Die Gehalte des Artikel 1 setzen sich zusammen aus Grundgehalten
und Dienstalterszulagen; erstere werden, soweit nicht infolge Herkommens oder eines
anderen Rechtstitels eine besondere Verpflichtung des Staates oder eines Dritten besteht,
von den Gemeinden, letztere vom Staate geleistet.
Die Grundgehalte sollen betragen:
in Schulgemeinden mit einer Lehrstelle 1000 M.,
„ „ „ zwei bis sechs Lehrstellen für jede ständige Stelle 1100 „
„ „ „ sieben und mehr „ „ „ „ „ 1200 „
Artikel 6: Den größeren (Gemeinden steht es zu, mit Genehmigung der Ober-
schulbehörde ein besonderes Dienstaltersvorrückungssystem einzuführen, wobei die Anfangs-
gehalte mindestens 1400 M. betragen und nach neunundzwanzig Dienstjahren unter
Einhaltung der in Artikel 1 festgesetzten Dienstaltersstufen bis zu mindestens 2500 M.
steigen. Hinsichtlich der Vorrückung findet Artikel 2 entsprechende Anwendung.
An Stelle der den Lehrern bisher gewährten staatlichen Alterszulagen wird solchen
Gemeinden künftig für jede am 1. April bestehende ständige Stelle ein jährlicher Staats-
beitrag von 300 M. gewährt.
Artikel 8: Die unständigen Lehrer an den Volksschulen erhalten neben einem
heizbaren Zimmer mit dem unentbehrlichsten Mobiliar oder einer den laufenden Miet-
preisen entsprechenden Entschädigung und neben 2 rm Buchen-Scheiterholz oder einem
entsprechenden Ersatz in einer anderen Holzgattung, wofür auch eine Geldentschädigung
von mindestens 20 M. gereicht werden kann, einen Gehalt:
als Unterlehrer oder Schulamtsverweser
in (Gemeinden mit weniger als 6000 Einwohnern von mindestens 800 M.,
„ 6000 und mehr „ „ „ 900 „
als Lehrgehilfen
in Gemeinden mit weniger als 6000 Einwohnern von mindestens 700 „
„ 6000 und mehr „ „ „ 800 „
Außerdem wird den unständigen Lehrern nach vollendetem 25. Lebensjahr eine
staatliche (Gehaltszulage vf)n 100 M. gewährt.
Über die tatsächlichen Besolduni^^sverhältni.sse am I.Januar 1903
^ibt die folfjende Tabelle .Auskunft:
174
Volksschulweseii.
Tabelle 7. Tatsächliche Besoldung der ständigen Lehrkräfte im
Königreich Württemberg am 1. Januar 1903.
Es bezogen ein
pensionsberechtigtes
GehaU:
/or
i 1100—1199 M. .
. . — Lehrer ui
id 1
Lehrerin,
zusammen 1
Lehrkraft,
1200—1299 „ .
. . 380 „
, 6
Lehrerinnen,
386
Lehrkräfte,
1300—1399 „ .
. . 350 „
, 7
„
357
1400—1499 „ .
. . 354
, 12
„
366
1500—1599 „ .
. . 458 „
, 16
„
474
1600—1699 „ .
. . 386 „
2
„
388
1700—1799 „ .
. . 300 „
, 4
„
304
1800—1899 „ .
. . 256 „
, 3
„
259
1900—1999 „ .
. . 208
, —
„
208
2000—2099 „ .
. . 297
, —
„
297
2100—2199 „ .
. . 132
, —
„
132
2200—2299 „ .
. . 106 „
—
,^
106
2300—2399 „ .
. . 58
' —
„
58
2400^2499 „ .
. . 38
—
„
38
2500—2599 „ .
■ • 71
, —
„
71
2600—2699 „ .
■ 21
, —
„
21
2700-2799 „ .
■ • 28 „
, —
„
28
2800-2899 „ .
. . 41
, —
„
41
„
2900 „ un
1 mehr 10 „
, —
„
10
3494 Lehrer und 51 Lehrerinnen, zusammen 3545 Lehrkräfte.
Besoldung der unständigen Lehrkräfte liegen keine
Über die
Angaben vor.
Im Großherzop-tum Baden bieten die
39, 41, 44 und 45 des
\:i Mai 1892 di
Gesetzes über den Elementarunterricht vom
wichtigsten Bestimmungen. Dieselben lauten:
§ 39. *J Hauptlehrer an Volksschulen erhalten:
a) einen jährlichen Gehalt, welcher — ohne Rücksicht auf den Ort ihrer An-
stellung — von 1100 M. (Anfangsgehalt) bis zu 2000 I\I. (Höchstgehalt) an-
steigt. Die Erhöhung des Gehalts vom Anfangs- bis zum Höchstbetrag tritt
ein durch Zulagen von je 150 M., welche nach Maßgabe der Bestimmungen
der Gehaltsordnung gewährt werden, und zwar:
die erste (Anfangszulage) nach Ablauf von zwei Jahren seit dem Zeitpunkt
der ersten etatmäßigen Anstellung;
die weiteren (ordentlichen) Zulagen nach 'e drei weiteren Dienstjahren;
b) freie Wohnung nach § 42 des Gesetzes.
Hauptlehrerinnen an Volksschulen erhalten Gehalt wie Hauptlehrer, jedoch
nur bis zu einem Höchstbetrag des Gehaltes von 1500 M. für das Jahr.
§ 41. An Volksschulen mit mindestens drei Hauptlehrern erhält der erste der-
selben für die Dauer dieser seiner Stellung eine Dienstzulage von jährlich 100 M., wenn
an der betreffenden Schule die Gesamtzahl der Lehrerstellen (Haupt- und Unterlehrer
zusammengerechnet) nicht über vier, und von jährlich 200 M., wenn dieselbe mehr als
vier beträgt.
*) Fassung des Gesetzes vom 17. September 1f
Die Lehrkräfte der Volksschule. ] 75
§ 44.') Lehrer und Lehrerinnen in nichtetatmäßiger Stellung erlialten eine Ver-
gütung von jährlich 900 M. Die Vergütung erhöht sich auf 1000 M. für das Jahr für
Lehrer und Lehrerinnen, welche die Dienstprüfung oder eine diese vertretende Prüfung
bestanden haben, und zwar von Anfang des auf die Ablegung der Prüfung folgenden
Monats an. Nach Ablauf von drei Jahren, von letzterem Zeitpunkt gerechnet, tritt hier
eine weitere Erhöhung von 100 M. ein.
§ 45. Neben der in § 44 bestimmten Vergütung haben anzusprechen :
a) Unterlehrer (Unterlehrerinnen): einen mit dem erforderlichen Schreinwerk ein-
gerichteten heizbaren Wohnraum von mindestens achtzehn Quadratmeter Grund-
fläche. Das Nähere über die Einrichtung des Wohnraumes wird durch \ er-
ordnung bestimmt.
Mit Zustimmung der Oberschulbehörde kann vorübergehend oder ständig
statt des Wohnraumes eine Mietzinsentschädigung gegeben werden, welche
mindestens drei Fünftel des in § 43 Absatz 1 bezeichneten Wohnungsgeldes
betragen soll.
b) Hilfslehrer (Hilfslehrerinnen): Mietzinsentschädigung im Betrage von drei
Fünftel des vorbezeichneten Wohnungsgeldes.
c) Schulverwalter (Schulverwalterinnen): Benützung der Hauptlehrerwohnung,
wenn der abgegangene Hauptlehrer im Genuß einer freien Wohnung war und
über dieselbe nicht anderweit — zugunsten eines anderen Hauptlehrers oder
gemäß § 26, vierter Absatz (letzter Satz) des Beamtengesetzes ^ verfügt ist ;
andernfalls Mietzinsentschädigung im Betrage des in § 43 Absatz 1 bezeichneten
Wohnungsgeldes.
E.S möge hier genügen, nur noch die wichtigsten Re.stimmungen
über die Besoldung der V^olksschuUehrer im Großherzogtum Hessen
anzuführen.
Die Gehaltsverhähnisse der Lehrer und Lehrerinnen an den
Volksschulen sind durch das Gesetz vom 9. März 1878, soweit es
nicht durch spätere Gesetze aufgehoben ist, und das Gesetz vom
2. Januar 1901 geregelt.
Um die Übersichtlichkeit zu wahren, sind die noch gültigen Be-
stimmungen des Gesetzes vom 9. März 1878 in gewöhnlicher, die des
Gesetzes vom 2. Januar 1901 in Cursivschrift gedruckt.
Das erstere bestimmt Artikel 1 :
Der geringste Gehalt eines detinitiv angestellten Lehrers an Volksschulen soll in
Gemeinden bis 10 000 Seelen 900 U., in Gemeinden von 10 000 und mehr Seelen 1200M.
betragen.
Vergütungen, die ein Lehrer für Erteilung von Unterricht an der Fortbildungs-
schule oder für seine Fimktionen als Oberlehrer (Hauptlehrer) zu beziehen hat, bleiben
bei Berechnung der Größe der Lehrergehalte außer Betracht, ebenso bleiben bei dieser
Berechnung die einzelnen Lehrerstellen zufließenden Beträge aus dem Mayschen Legat
ausgeschlossen.
Bei Bemessung der Seelenzahl einer Gemeinde ist das Resultat der letzten \'olks-
zählung maßgebend, in Gamisonorten ist bei dieser Berechnung die Garnison mitzuzählen.
Das letztere modifiziert die Bestimmungen folgendermaßen in Artikel 1 :
Fassung des Gesetzes vom 17. Juli 1902.
176
Volksschiüwesen.
Tabelle 8. Mindest-Gehälter
1
Name
des
Staates
Anfangsgehalt
Höchst-
gehalt
M.
Wird
freie AA
entschä
ist c
Gehalt
außer dem Gehalt
'ohnung oder Miets-
bei einstweili-
ger Anstellung
M.
bei endgülti-
ger Anstellung
M.
digung gewährt, oder
ie letztere in dem
mit eingeschlossen?
Preußen . . . |
L. 720
Ln. 700
L. 900
Ln. 700
L. 1800
Ln. 1420
äußere
oder
em freie Wohnung
Mietsentschädigung
Bayern . . . !
Ln.!-820
L. 1200
Ln. 1000
L. 2130
Ln. 1504
do.
Königreich |
Sachsen
^.[3^0
lli'2(«
! ■ 1 1800
Ln. S
do.
Württemberg .
Ln.f700
L. 1200
Ln. 1100
L. 2000
Ln. 1500
do.
Baden • • • !
Ln.h00
Ln.!l250
L. 2150
Ln. 1650
do.
Hessen ...
LJBOO
L. 1100
Ln. 1000
L. 2800
Ln. 2000
do.
Sachsen -Weimar
L. 800
Ln. 750
L. 1000
Ln. 850
L. 2000
Ln. 1550
do.
Oldenburg .
L. 700
Ln. 600
L. 800
Ln. 700
L. 1550
Ln. 13C0
do.
Fürstentum i
Lübeck !
Lhoo
llP^oo
L. 1850
Ln. 1640
do.
Fürstentum
Birkenfeld
L. 700
Ln.600
L. 1000
Ln. 800
L. 1750
Ln. 1400
do.
Braunschweig .
L. 800
Ln.900
L. 1200
Ln. —
L. 2700
Ln. -
do.
Sachsen- '
Meiningen
L. 900
Ln. 850
L. 1100
Ln. 900
L. 2200
Ln. 1450
do.
Sachsen-
Altenburg
\:J^
L. 1100
Ln. 840
L. 1950
Ln. 1460
do.
Sachsen-Coburg
L. 800
Ln. 750
L. 1000
Ln. 800
L. 21C0
Ln. 1500
do.
-(lotha
L. 800
Ln.660
L. 1000
Ln. 780
L. 2100
Ln. 1080
do.
Anhalt . . .
^
L. 1200
Ln. —
L. 3000
Ln. —
Uiens
10%d(
twohnung wird mit
is Gehalts angerechnet
Schwarzburg-
Sondershausen
L. 950
Ln. 850
L. 1050
Ln. 950
L. 2000
Ln. 1550
außerdem freie Wohnung
ofler Alietsentschädigung
Reuß ä. L. . .
L. 840
] ,1
L. 1000
Ln. —
L. 1000
L. 2100
do.
Reuß j. L. . .
L. 900
L. 2000
do.
Ln. —
Ln. —
Ln. —
Schaumburg-
Lippe
Lübeck . . .
1 ""
L. 850
L. 1600
Ln. —
L. 1750
Ln. —
L. 3500
Ln. —
do.
keine Dienstwohnung
oder Mietsentschädigung
Bremen . . .
L. 1200
Ln. 1100
L. 1800
Ln. 1400
L. 3600
Ln. 2000
do.
Hamburg-Stadt
i L. 1400
Ln.1000
L. 2000
Ln. 1400
L. 4400
Ln. 2600
do.
Hamburg-Land
L. 1100
' Ln. 900
L. 1400
Ln.1000
L. 2900
Ln.2000
außerdem freie Wohnung
oder Mietsentschädigung
IJie Lehrkräfte der Volksschuk'
177
der Volksschullehrer.
Das Höchstgehalt wird erreicht
Sind die angegebenen 1
Sätze Mindestsätze, über i
die die Gemeinden hinaus-
oder etwa
nach Dienst-
gerechnet von
mit dem
gehen können, oder
jahren
Lebensjahre
Normalsätze? |
31
der ersten Anstellung im öffent-
lichen Schuldienst
52.
^Mindestsätze
i
40
der bestandenen .Seminar-
schlußprüfung
59.— 60.
do.
30
der ständigen Anstellung
frühestens
do.
bezw. vom 25. Lebensjahre
55.
1
j
29
vom 25. Lebensjahre
54.
do. !
L. 17
der definitiven Anstellung
L. 47.
„o.
Ln. 8
als Hauptlehrer
Ln. 38.
L. 30
der bestandenen Schlußpriifung
L. 55.
do.
Ln.21
bezw. vom 25. Lebensjahre
Ln. 46.
L. 25
der festen Anstellung
50.
do.
Ln. 30
28
der festen Anstellung
51.
do.
30
der ersten .\nstellung im
öffentlichen Schuldienst
50.
do.
28
der festen Anstellung
50. '
do.
27
do.
52.
do.
[,. 30
do.
L. 54.
do.
Ln. 25
Ln. 45.-48.
28
der ersten Anstellung im
öfl'entlichen Schuldienst
48.
do.
30
do.
50.
do.
25
der bestandenen zweiten
Prüfung
48.- 50.
do.
27
der festen Anstellung
49.
Normalsätze
25
do.
48.-50.
Mindestsätze
24
do.
48.
do.
24
do.
48.
do.
25
der festen Anstellung
bezw. vom 25. Lebensjahre
50.
do.
20
dem Eintritt in die erste
Gehaltsklasse
50.
Xormalsätze
18
der festen Anstellung
45.
do.
24
do.
49.
do.
15
do.
40.
Mindestsätze
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich III
•/•-
- 6.
T~
- 9-
w-
-12.
ij-
-15-
i6.-
-18.
ig.-
-2J.
22 —
--V-
25.-
~27-
28.-
-30.
votn
31-
i 78 Volksschulwesen.
,,Die definitiv angestellten Lelwer an \'olksschnlen liaben
im I. — j. Dienstjalir ein Gehalt von i ino M.
„ / 2j0 ,.
.. ,, ■• ). 1400 „
,, 1530 „
„ 1700 „
., 1850 „
., ,, ,, ,, 2000 „
„ „ ,. ,, 2200 ,,
,. ,, ,. 2400 ,,
,, 2600 ,,
„ an ,, ,, ,, 3800 „
zu beziehen. Diese Gehaliskala hat Gellung bis zum i. April 1^04. Fiu- die
Zeit nach dem i. April igo4 sind die Gehaltsbezüge der J'olksschullehrer von
neuem zu regeln. Sollte eine Vereinbarung zwischen Regierung und Ständen
bis zu dem. bezeichneten Zeitpunkte nicht zustande kommen, so bleiben die in
diesem Gesetze festgesetzten Gehaltsbezüge bis auf weiteres in Kraft.
Die Dienstzeit zvird von der ersten dienstlichen Verivendung nach be-
standener Schbtssp7'üfiing gerechnet." Das Gesetz fü^t hinzu:
Artikel 2: ,, Ausser dem ih'in zukommenden Gehalte hat jeder definitiv an-
gestellte Lehrer an einer Volksschule eine angemessene Wohmmg, womöglich mit
Garten, oder eine Mieientschädigung anzzisprechen." Und Artikel j:
„Die definitiv angestellte7t Lehrerinnen an Volksschulen haben
im. I. — j. Dienstjahr ein Gehalt von i 000 M.
,. 4. — 6. ,, ,, ,, ,, / 200 ,,
„ /.— p. „ ,, ,. „ fjoo „
,, 10. — 12. „ ,, ., ,, 1400 ,,
,> ^3- — ^5- ,, „ „ ,, 1 500 .,
,, i(>. — 18. „ „ ., ,, 1 600 ,,
„ ip. — 21. ,, „ „ ,, 1 800 ,,
vom 22. „ atz „ „ „2 000 „
zu beziehen."
Bezüglich der Gehalte der Schulverwalter und Schulgehilfen (Schulverwalterinnen
und Schulgehilfinnen) behält es bei den durch die Ministerialverfiigung vom 10. Juli 1900
abgeänderten Bestimmungen im Artikel 12 des Gesetzes vom 9. März 1878 sein Be-
wenden, welche lauten:
„Schulverwalter und Schulgehilfen, sowie die Schulverwalterinnen und Scliul-
gehilfinnen haben neben der ihnen gesetzlich zustehenden Wohnung oder Mietsentschädi-
gung (mit Wirkung vom 1. April 1900) an zu beziehen:
a) vor bestandener Schlußprüfung eine Jahresvergütung von mindestens 800
Mark und
b) nach bestandener Schlußprüfung eine Jahresvergütung von mindestens 900 M.
Diese Bestimmung erstreckt sich auch auf solche Gemeinden, welchen auf Grund
des Artikel 17 Absatz 2 des Gesetzes vom 9. März 1878 gestattet ist, nur das Gehalt
eines Schulverwalters (in bisheriger Höhe) aufzubringen,
Schulgehilfen bezw. den Verwaltern (Verwalterinnen) nicht erledigter und auch
nicht ständig offen gelassener Lehrerstellen wird eine den dienstlichen und örtlichen Ver-
hältnissen entsprechende Remuneration aus Staatsmitteln verwilligt."
Über die Mindest-Gehaltsbezüge der deutschen Lehrer auf Grund
der in den einzelnen Staaten geltenden gesetzlichen Bestimmungen gibt
vorstehende Tabelle 8 Auskunft.
Die Lehrkräfte der Volksschule. -| 79
2. Pensionsverhältniss e.
Pensionierung der Volksschullehrer und Lehrerinnen.
Die V^ersorgung der wegen Dienstunfähigkeit oder hohen i\lters
in den Ruhestand tretenden Lehrer und Lehrerinnen ist in allen
deutschen Staaten gesetzlich geregelt, doch herrscht auch in dieser
Hinsicht, was den Beginn der Pensionsberechtigung, die Höhe der
Ruhegehalte, die Heranziehung der Lehrer und Lehrerinnen zu be-
sonderen Beiträgen anbetrifft, eine große Mannigfaltigkeit. Für
Preußen i.st die Regelung durch das Gesetz, betreffend die Pensionie-
rung der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen,
vom 6. Juli 1885, erfolgt, dessen Inhalt hier auszugsweise oder im
Wortlaute mitgeteilt werden soll; derselbe entspricht in allen wesent-
lichen Stücken den auch für die übrigen Staatsbeamten geltenden
gesetzlichen Bestimmungen.
§ 1 knüpft die Pensionsberechtigung im allgemeinen an die Voll-
endung des 1 0. Dienstjahres und den Nachweis der Dienstunfähigkeit,
bestimmt jedoch einerseits, daß, wenn die Dienstunfähigkeit die Folge
einer Krankheit, Verwundung oder son.stigen Beschädigung ist, welche
sich der Lehrer bei Ausübung seines Dienstes oder aus Veranlassung
desselben ohne eigene Verschuldung zugezogen hat, Pensionsberechti-
gung auch bei kürzerer als zehnjähriger Dienstzeit eintritt, und ander-
seits, daß bei Lehrern, welche das 65. Lebensjahr vollendet haben,
eingetretene Dienstunfähigkeit nicht Vorbedingung des Anspruchs
auf Pension ist.
§ 2 bestimmt über die Höhe der Pension folgendes: „Die Pension
beträgt, wenn die Versetzung in den Ruhestand nach vollendetem
zehnten, jedoch vor vollendetem elften Dienstjahre erfolgt, ^^/eo und
steigt von da ab mit jedem weiter zurückgelegten Dienstjahre um Veo
des Diensteinkommens. Über den Betrag von ^Veo dieses Einkommens
hinaus findet eine Steigerung nicht statt."
Bei der Berechnung der Dienstzeit kommt die gesamte Zeit in
Anrechnung, während welcher sich ein Lehrer im öffentlichen Schul-
dienste in Preußen befunden hat f^ 5). Die Zahlung der Pension
wird bis zur Höhe von 600 M. aus der Staatskasse, darüber hinaus
von den Gemeinden oder sonstigen zur Schulunterhaltung Verpflichteten
geleistet (§ 26).
Von den Lehrern und Lehreriinien werden keine Beiträge er-
hoben.
•|80 Volksschuhvesen.
Dieselben Bestimmungen wie in Preußen gelten bezüglich der
Pensionsberechtigung und der Höhe der Pensionen in Elsaß-
Lothringen.
In Bayern ist für die Aufbringung der Pensionen in jedem
Kreise (Regierungsbezirk) eine besondere Kasse gebildet, deren Mittel
durch Beiträge der Lehrer und Lehrerinnen, sowie der Kreise und
des Staates aufgebracht werden. Außerdem werden von den Ge-
meinden noch besondere Pensionen gewährt. Die Höhe der Beiträge
und der Pensionen ist deshalb nicht bloß in den verschiedenen Kreisen,
sondern auch in den einzelnen Orten sehr verschieden. Bemerkens-
wert ist jedoch, daß in ganz Bayern die Pensionsberechtigung so-
gleich mit dem Dienstantritt beginnt (nicht nur die festangestellten
Lehrer und Lehrerinnen, sondern auch die Schulverweser und
Schulverweserinnen sind sogleich pensionsberechtigt), und daß viel-
fach die Pension die volle Höhe des zuletzt bezogenen Gehaltes er-
reicht.
Als ein Beispiel für die Höhe des Ruhegehalts und der von den
Lehrern und Lehrerinnen zu leistenden Beiträge in den größeren
Städten mögen die für die Haupt- und Residenzstadt München fest-
gesetzten Beträge hier angeführt sein.
Nach dem Münchener Ortsstatut erhalten im Falle der \'er-
setzung in den Ruhestand:
1 . Schulverweser und Schulverweserinnen 65 ^\Iq,
2. Volksschullehrer und -Lehrerinnen :
a) 70 °/o> ^venn die Pensionierung innerhalb des 1 . bis 1 0.
Dienstjahres,
b) 80 %, wenn die Pensionierung innerhalb des 11. bis 20.
Dienstjahres,
c) 90 *'/(!, wenn die Pensionierung innerhalb des 21. bis 30.
Dienstjahres,
d) 100 *^/o, wenn die Pensionierung nach zurückgelegtem 40.
Dienstjahre erfolgt.
Die Dienstzeit wird von der Ernennung zum Volksschullehrer
bezw. zur Volksschullehrerin gerechnet, die frühestens mit dem fünf-
undzwanzigsten Lebensjahre erfolgt.
Für die Beiträge, die von den Lehrern und Lehrerinnen
Münchens an die Pensionsanstalt zu leisten sind, gelten folgende Be-
stimmung-en :
Die Lehrkräfte der Volksschule. \^]
1 . Die Eintrittsbeiträge werden
a) für Volksschiillehrer und Schulverweser auf 6%,
bi für VolksschuUehrerinnen und Schulverweserinnen auf
2,5 "/o des ersten Jahresgehaltsbezuges sowie der späteren
Gehaltsmehrungen festgesetzt.
2. Die Jahresbeiträge werden
a) für Volksschullehrer und Schulverweser im Falle des Ein-
trittes in die Pensionsanstalt mit einem Lebensalter bis zu
fünfunddreißig Jahren einschließlich auf 3%, dagegen im
Falle des Eintrittes in die Pensionsanstalt nach Über-
schreitung der genannten Altersgrenze auf 4%,
b) für VolksschuUehrerinnen und Schulverweserinnen im Falle
des Eintrittes in die Pensionsanstalt mit einem Lebens-
alter bis zu fünfunddreißig Jahren einschließlich auf 1,2^/,,,
dagegen im Falle des Eintrittes in die Pensionsanstalt nach
Überschreitung der genannten Altersgrenze auf 2,2% des
jeweiligen Jahresgehaltsbezuges festgesetzt.
Im Königreich Sachsen gelten in Bezug auf die Pensions-
berechtigung ähnliche Bestimmungen wie in Preußen. Nur gilt als
Anfangspunkt für die Erlangung der Pensionsberechtigung und für
die Berechnung der Pensionen nicht der Zeitpunkt der ersten dienst-
lichen Verwendung überhaupt, sondern der Zeitpunkt der ersten
Übertragung einer ständigen Lehrerstelle. Für die Höhe der Pen-
sionen besteht folgende Skala:
Die jährliche Pension beträgt nach erfülltem 10., jedoch vor er-
fülltem 15. Dienstjahre 30% des Diensteinkommens, steigt dann bis
zum vollendeten 17. Dienstjahr um je 1%, hierauf bis zum voll-
endeten 25. Dienstjahr um je 2%, dann bis zum vollendeten 32. um
je 3%, von da an bis zum vollendeten 35. wieder um je 2%, vom
vollendeten 35. aber nur um je 1%, bis sie bei dem Dienstalter von
40 Jahren den Höchstbetrag von 80% erreicht.
Beiträge werden von den Lehrern und Lehrerinnen nicht er-
hoben.
Li Württemberg beginnt die Pensionsberechtigung mit der
Vollendung des neunten Dienstjahres (gerechnet von der festen An-
stellung bezw. vom vollendeten fünfundzwanzigsten Lebensjahre ab).
Die Pension beträgt beim Eintritt in das zehnte Dienstjahr 40% des
Gehalts und steigt mit jedem weiteren bis einschließlich zum vier-
zigsten Dienstjahre
] 82 Volksschulwesen.
1. um rV4"/o, wenn das Gehalt nicht mehr als 2400 AI.,
2. um 1V2%' wenn das Gehalt mehr als 2400 AI. beträgt.
Dienstwohnung bezw. Mietsentschädigung bleiben bei Berech-
nung der Pension außer Ansatz.
Das Badische Gesetz trifft bezüglich der Pensionsberechtigung
die gleichen Bestimmungen, die in Preußen gelten. Über die Höhe
der Pension ist bestimmt, daß dieselbe nach zurückgelegtem zehnten
Dienstjahr 30% des Gehalts betragen, mit jedem weiteren Dienst-
jahre um 1V-2% des Gehalts steigen und über 75% des Gehalts nicht
hinausgehen soll.
Die Lehrer und Lehrerinnen des Großherzogtums Hessen
sind von der festen Anstellung ab pensionsberechtigt. Die Pension
beträgt bis zur Vollendung des zehnten Dienstjahres 40% und steigt
mit jedem folgenden Dienstjahre um 1^/2% des Gehalts bis zur
vollen Höhe desselben. Ähnlich wie in den angeführten sind die
Verhältnisse auch in den übrigen Staaten geordnet.
3. Fürsorge für die Witwen und Waisen der Volksschullehrer.
Was oben über die Pensionierung im allgemeinen bemerkt
wurde, gilt auch von der Reliktenversorgung. Die Verschiedenheiten
zwischen den einzelnen Staaten zeigen sich besonders darin, daß in
manchen neben dem Witwengeld auch W^aisengeld (für die Halb-
waisen), in anderen nur Witwengeld bezahlt wird, und daß ferner die
Pensionen der Witwen und Waisen entweder nach der dem ver-
storbenen Lehrer an seinem Todestage zustehenden Pension oder
nach dem zuletzt von ihm bezogenen Gehalt berechnet werden, oder
drittens, daß für dieselben bestimmte Beträge ohne Rücksicht auf die
Höhe der Pension oder das Gehalt des Mannes festgesetzt sind. Wir
geben auch hier die wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen aus ein-
zelnen größeren Staaten wieder.
Für die Reliktenversorgung der Lehrer in Preußen gelten im
allgemeinen dieselben gesetzlichen Bestimmungen wie für die übrigen
Staatsbeamten. Das Gesetz, betreffend die Fürsorge der Witwen
und Waisen der Lehrer an öffentlichen Volksschulen vom 4. De-
zember 1899 bestimmt darüber folgendes:
Die Witwen und die hinterbliebenen ehelichen oder durch nach-
gefolgte Ehe legitimierten Kinder eines Lehrers, welcher zur Zeit
seines nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erfolgten Todes ent-
weder an einer öffentlichen Volksschule angestellt war und Anspruch
Die Lehrkräfte der Xolksschule. 1 Ö3
auf lebenslängliches Ruhegehalt hn Falle der Versetzung in den
Ruhestand erworben hatte, oder aus dem Dienste einer öffentlichen
Volksschule mit lebenslänglichem Ruhegehalt in den Ruhestand ver-
setzt war, erhalten Witwen- und Waisengeld (§ 1).
Das Witwengeld besteht in vierzig vom Hundert desjenigen
Ruhegehaltes, zu welchem der Verstorbene berechtigt gewesen ist
oder berechtigt gewesen sein würde, wenn er am Todestage in den
Ruhestand versetzt worden wäre.
Das Witw^engeld soll jedoch, vorbehaltlich der im § 5 verord-
neten Beschränkung, mindestens 216 M. jährlich betragen und 2000 M.
nicht übersteigen (§ 3).
Das Waisengeld beträgt:
1. für Kinder, deren Mutter lebt und zur Zeit des Todes des
Lehrers zum Bezüge von W'itwengeld berechtigt war, ein
Fünftel des Witwengeldes für jedes Kind;
2. für Kinder, deren Mutter nicht mehr lebt oder zur Zeit des
Todes des Lehrers zum Bezüge von Witwengeld nicht be-
rechtigt war, ein Drittel des Witwengeldes für jedes Kind
(§4).
Witwen- und Waisengeld dürfen weder einzeln noch zusammen
den Betrag des Ruhegehalts übersteigen, zu welchem der Ver-
storbene berechtigt gewesen ist oder berechtigt gewesen sein würde,
wenn er am Todestage in den Ruhestand versetzt worden wäre.
Bei Anwendung dieser Beschränkung werden das Witwen- und
Waisengeld verhältnismäßig gekürzt (§ 5).
In Bayern sind, wie für die Pensionierung der Lehrer und
Lehrerinnen, auch zum Zweck der Witwen- und Waisenversorgung
in den einzelnen Kreisen bezw. Gemeinden besondere Kassen ein-
gerichtet, zu deren Unterhaltung auch die Lehrer gewisse Beiträge
zahlen müssen. Die Waisenfürsorge geschieht in der Hauptsache,
abgesehen von den größeren Städten, durch private, von der Lehrer-
schaft unterhaltene Kassen, unter denen das Lehrerwaisenstift des
Bayerischen Volksschullehrervereins die bedeutendste ist. Genauere
Angaben für den ganzen Staat können bei den großen Verschieden-
heiten in den einzelnen Kreisen bezw. Gemeinden nicht gemacht
werden. Als Beispiel seien wieder die für München getroffenen
Bestimmungen angeführt, die folgenden Wortlaut haben:
1 84 Volkssclmlwesen.
A. Der jährliche Pensionsbetrag der Witwe wird aus dem
pensionsfähigen Jahresgehaltsbezuge, welchen der Ehemann zuletzt
im Aktivitätsstande erhielt, und zwar:
1. für die Witwe eines Verwesers mit 10%,
2. für die W''itwe eines Volksschullehrers
a) im Falle seines Todes nach zurückgelegtem zweiten Dienst-
jahre mit l2"/o>
b) im Falle seines Todes nach zurückgelegtem zweiten und
vor vollendetem siebenten Dienstjahre mit IS'^'/o'
c) im Falle seines Todes nach vollendetem siebenten und vor
vollendetem siebzehnten Dienstjahre mit 19%,
d) im Falle seines Todes nach vollendetem siebzehnten Dienst-
jahre (jeweils gerechnet vom Tage der Anstellung als
Volksschullehrer) mit 25*^/o berechnet.
B. Die jährlichen Pensionsbeträge der ehelichen Kinder werden
für jedes Kind
a; mit '-/iQ der sich für ihre Mutter berechnenden Pension, wenn
sie einfache Waisen sind,
b) mit "Vio der sich für ihre Mutter berechnenden Pension,
wenn sie Doppelwaisen sind, berechnet.
Der Gesamtbetrag der an die Witwe und die Waisen eines
Schulverwesers oder Volksschullehrers zu leistenden Pensionen darf
die Höhe des Pensionsbetrages, auf welchen das verstorbene Mitglied
der Pensionsanstalt im Falle der Dienstunfähigkeit zu Lebzeiten An-
spruch gehabt hätte, nicht übersteigen.
Im Königreich Sachsen erhalten a; die Witwen den fünften
Teil desjenigen Diensteinkommens, welches ihr Ehemann zuletzt im
wirklichen Dienste bezog, selbst wenn derselbe zur Zeit seines Ab-
lebens in Pension gesetzt war; b) jede Waise, wenn und solange die
Mutter lebt, ein Fünftel, nach deren Tode drei Zehnteile der Witwen-
pension.
Für Württemberg bestimmt das Gesetz vom ;V1. Juli 1899,
daß jede Witwe eine Pension von mindestens 360 M. jährlich als
Normalpension und außerdem einen nach dem Ruhegehalt ihres \er-
storbenen Ehemannes zu berechr enden Zu.schuß erhält, der vom
Ministerium des Kirchen- und Schulwesens in Gemeinschaft mit dem
Finanzministerium festgesetzt wird. Für jedes Kind unter achtzehn
Die Lehrkräfte der Volksschule. ][]^
Jaliren beträ<^t die Pension, wenn die 'Mutter lebt, ein Fünftel, im
anderen Falle ein Viertel des Betrages der Witwenpension.
In Baden beträgt das gesetzliche Witwengeld 30"Vo des Dienst-
einkommens, das der verstorbene Lehrer unmittelbar vor seinem
Tode oder, falls er sich im Ruhestand befand, vor seiner Versetzung
in den Ruhestand bezogen hat. Das gesetzliche Waisengeld beträgt:
für Kinder, deren Mutter nicht mehr lebt, wenn nur ein Kind dieser
Art vorhanden ist, */j,,, wenn zwei Kinder dieser Art vorhanden
sind, '/|„, wenn drei oder mehr Kinder dieser Art vorhanden sind,
für jedes derselben 'Yio des Witwengeldes.
Im Großherzogtum Hessen endlich gelten folgende Bestim-
mungen :
Die Höhe des Anspruchs auf Witwengeld bemißt sich nach
dem Dienstalter des verstorbenen Lehrers. Das Witwengeld beträgt:
vom L bis einschließlich 10. Dienstjahre 450 M.
„ M. ,. „ 20. „ 500 „
„ 2L „ „ 30. „ 550 „
,, 31. Dienstjahre an 600 „
Das Waisengeld beträgt:
I . für Kinder, deren Mutter lebt, ein Fünftel des Witwengeldes
für jedes Kind,
2. für Kinder, deren Mutter nicht mehr lebt,
a) beim Vorhandensein eines bezugsberechtigten Kindes zwei
Drittel des Witwengeldes,
b) beim Vorhandensein zweier bezugsberechtigter Kinder die
Hälfte desselben für jedes Kind,
c) beim Vorhandensein von drei oder mehr bezugsberech-
tigten Kindern ein Drittel desselben für jedes Kind.
Das Waisengeld für sich und Witwen- und W^aisengeld zu-
sammen dürfen den Betrag von 1200 M. nicht überschreiten. Bei
Anwendung dieser Beschränkung wird das Waisengeld entsprechend
gekürzt. —
Die Bestimmungen in den übrigen Staaten weisen zwar gegen-
über den angeführten im einzelnen noch einige Verschiedenheiten
auf, sind aber im allgemeinen ähnlich gehalten. Besonders der in
Baden geltende Modus findet sich mehrfach auch noch in anderen
Staaten.
\ 35 Volksschulwesen.
4. Lehrervereiniguiigen.
a) Amtliche LrJirerkonferenzcn.
Der weiteren pädagogischen Ausbildung der deutschen Volks-
schullehrer dienen in erster Linie amtliche Konferenzen unter dem
Vorsitz von Schulaufsichtsbeamten. Die Art, in welcher diese Kon-
ferenzen abgehalten und die Gegenstände, welche in ihnen ver-
handelt werden, sind in den verschiedenen Teilen Deutschlands im
allgemeinen dieselben. In Preußen gliedern sie sich in Ortslehrer-
Konferenzen, Kreislehrer-Konferenzen, Bezirkslehrer-Konferenzen und
Volksschullehrer-Konferenzen an den Seminarien. Die ersten ver-
einigen einmal im Monat sämtliche Volksschullehrer einer Lokal-
inspektion unter dem Vorsitz des Ortsschulinspektors und behandeln
die besonderen Schulangelegenheiten des Ortes, wie Lehrpläne,
Pensenverteilungen, Schulversäumnisse, disziplinarische Vorkomm-
nisse u. dgl. mehr.
Die Kreislehrer-Konferenzen finden einmal im Jahre unter
Leitung des Kreisschulinspektors statt. Es werden Vorträge über
Fragen des Unterrichts und der Erziehung, über neu hervorgetretene
bedeutsame Bestrebungen auf dem Gebiete der Unterrichtsmethode
und des Schullebens, über allgemeine, die Schule interessierende
Zeitverhältnisse und Zeitströmungen gehalten. In größeren Schul-
aufsichtskreisen werden für gewisse Konferenzbezirke besondere Be-
zirkslehrer-Konferenzen abgehalten, und ebenso finden an den
Lehrer-Seminaren alljährlich Volksschullehrer - Konferenzen unter
Leitung der Seminar-Direktoren und unter Mitwirkung der Seminar-
lehrer statt.
U) Freie Vereinigungen von Lehrern und Lehreniinen.
Das Lehrervereinswesen ist im Deutschen Reich hoch entwickelt
und liefert einen erfreulichen Beweis von der geistigen Regsamkeit,
dem berechtigten Standesgefühl und dem ernsten Bildungstriebe unserer
Lehrer und Lehrerinnen.
Lehrervereine.
Die größte, das ganze Gebiet des Deutschen Reiches umfassende
Lehrervereinsorgani-sation bildet der Deutsche Lehrerverein, der
in fünfundvierzig Zweigvereinen, die sich ihrerseits wieder in rund
3000 Einzelverbände (Kreis- oder Ortsvereine) gliedern, gegen 105 000
Mitglieder zählt. Vorort des Deutschen Lehrervereins ist Berlin,
Vorsitzender Lehrer L. Clausnitzer. Friedrichsfelde bei Berlin.
Die Lehrkräfte der Volksschule.
in?
Die fünfundvierzig zum Deutschen Lehrerverein
\'ereine sind in folgender Tabelle aufgeführt*).
'^ehöriijen Zweig"-
Niime des \'ereiiis
1. Anhaltischer Lehrerverein .
2. Badischer Lehrerverein
3. Bayerischer Volksschullehrer-
verein
4. Braunschweigischer Landes-
Lehrerverein
5. Bremischer Lehrerverein . .
6. Konferenz Bremischer \'olks-
schullehrer
7. Gesellschaft der Freunde des
vaterländischen Schul- und Er-
ziehungswesens in Hamburg .
8. Schulwissenschaftl. Bildungs-
verein in Hamburg ....
9. Verein Hamburger Landschul-
lehrer
1 0. Hessischer Landes-Lehrerv^erein
11. Lippischer Lehrer\'erein
12. Schaumburg- Lippischer Lan-
des-Lehrerverein
13. Lübecker Lehrerverein . . .
14. Mecklenburg-Schweriner Lan-
des-Lehrerverein
15. Mecklenburg-Strelitzer Landes-
Lehrerv-erein
16. Oldenburger Landes-Lehrer-
verein
1 7. Birkenfelder Landes - Lehrer-
verein
18. Lehrerverein im Fürstentmii
Lübeck
19. Pädagogischer Verein zu Greiz
20. Landes-Lehrerverein Reuß j. L.
2 1 . Schwarzburg-Rudolstädter Lan-
des-Lehrerverein
22. Landes - Lehrerverein im
Fürstentum Schwarzburg - Son-
dershausen
23. Sächsischer Lehrerverein
Mitgl.
(rund)
850
3 700
Name des Vereins
13 000
1 200
580
110
1 870
350
170
2 850
210
70
260
1 500
250
770
120
130
100
430
250
210
11 100
Mitgl.
Cr und)
Landes - Lehrer-
Herzogtum
460
170
550
730
960
160
34
35,
24. .\ltenburger
verein . . .
25. Lehrerverein
Coburg
26. Gothaischer Lehrerverein . .
27. Allgem. Meiningischer Lehrer-
verein
28. Weimarischer Lehrerverein
29. Waldeckischer Lehrerverein .
30. Württembergischer Volksschul-
Lehrerverein 3 300
31. Berliner Lehrerverein . . . 2 700
32. Lehrerverband der Provinz
Brandenburg 7 100
33. Hannoverscher Provinzial-Leh-
rerverein 6 1 00
Hessischer Provinzial - Lehrer-
verein
.allgemeiner Lehrerverein im
Regierungsbezirk Wiesbaden .
36. Lehrer\erein zu Frankfurt a. M.
37. Pommerscher Provinzial-Leh-
rerverein 4 140
38. PosenerProvinzial-Lehrerverein 3 300
39. Ostpreußischer Provinzial-Leh-
rerverein
40. Westpreußischer Provinzial-
Lehrerverein
41. Rheinischer Provinzial-Lehrer-
verein
42. Lehrerverband der Provinz
Sachsen 7 000
43. Schlesischer Provinzial-Lehrer-
verein 5 650
44. Allgemeiner Schleswig - Hol-
steinischer Lehrerverein . . 3 800
45. Westfälischer Provinzial - Leh-
rerverein 3 000
2 170
1 500
700
4 200
2 600
4 000
Die unter 31 bis 45 aufgeführten preußischen Zweigvereine haben sich außerdem
zu einem Landesverein, dem Preußischen Lehr er verein, zusammengeschlossen.
Vorort desselben ist Magdeburg.
*) Für diese Übersichten, für sachkundigen Rat und fleißige Mitarbeit bei der Ab-
fassung sämtlicher Kapitel dieses Werkes ist der Verfasser dem Vorsitzenden der sta-
tistischen Zentralstelle des Deutschen Lehrervereins, Herrn C. L. A. Pretzel in Berlin, zu
größtem Danke verpflichtet.
188
Volksschuhvesen.
Ihrem Wesen und ihren Einrichtungen nach dem Deutschen Lehrerverein ver-
wandt, aber bislang nicht angeschlossen sind die Vereine in^Elsaß-Lothringen, nämlich:
1. Ober-Elsässischer Lehrerverein, 1100 Mitglieder,
2. L'nter-Elsässischer Bezirkslehrer\-erein, 1100 Mitglieder,
3. Lothringischer Lehrer\-erein, 850 Mitglieder, femer
4. HohenzoUernscher Lehren-erein, 200 Mitglieder.
Außer diesen Vereinen, die in bezug auf die Konfession ihrer Mitgheder keine
besonderen Vorschriften haben, gibt es auch konfessionelle Sonder\'ereine.
Die besonderen katholischen Lehrervereine sind größtenteils organisiert im
tholischen Lehrerverband des Deutschen Reiches mit rund
ordenthchen Mitgliedern und 4800 Ehrenmitgliedern
Lehrerstande angehören).
Zum Verbände gehören dreizehn Zweig%-ereine, di
zeichnet sind:
Ka-
9600
(d. h. solchen, die nicht dem
e in der folgenden Tabelle ver-
Name des Vereins Mitgl.
(rund)
1. Katholischer Lehrerverband
des Deutschen Reiches (Pro-
vinz Rheinland) 4000
2. Westfälischer Provinzialverein
des Katholischen Lehren-er-
bandes des Deutschen Reiches 1700
3. Katholischer Lehrerverein im
Regierungsbezirk Wiesbaden . 500
4. Verein katholischer Lehrer der
Provinz Sachsen und angren-
zender Gebiete 275
5. Katholischer Lehrerverein Bran-
denburg-Pommern .... 200
6. Verband katholischer Lehrer
Westpreußens 750
Name des Vereins
7. Kathol. Lehren-erein Norden .
8. ^'erein katholischer Lehrer der
Diözese Fulda
9. Katholischer Lehrerverein der
Diözese Hildesheim ....
10. Lehrer\erein der Diözese Os-
nabrück
1 1 . Katholischer Lehrerverband des
Deutschen Reiches (Landes-
\'erein Elsaß-Lothringen) . .
12. Katholischer Lehrerverein der
Pfalz
13. Katholischer Lehrenerein in
Bayern
Mitgl.
("rundi
340
150
340
420
280
Nicht zum Verbände gehören folgende Vereine :
1. Verein katholischer Lehrer Schlesiens, ^Mitglieder ca. 4000,
2. Bezirzks-Lehrerverein Trier, Mitglieder ca. 400,
3. Kathohscher Volksschul-Lehrerverein in Württemberg, Mitglieder ca. 500,
4. Katholischer Lehrerverein im Gioßherzogtum Hessen, Mitglieder ca. 800.
Die besonderen evangelischen Lehrervereine bilden den Verband deutscher evan-
gehscher Schul- und Lehrervereine. Derselbe hat zwanzig Zweig\'ereine, die aber meist
eine sehr kleine Zahl von Mitgliedern haben. Die bedeutendsten sind :
1. Evangehscher Lehrerbund (im Norden Deutschlands), 1200 Mitgheder,
2. Verein evangelischer Lehrer und Schulfreunde für Rheinland und Westfalen,
600 Mitglieder,
3. Evangelischer Lehrerverein für Minden und Ravensberg, 150 Mitglieder,
4. Evangelischer Schulverein in Bayern, 400 Mitglieder,
5. Mecklenburgischer Lehrerbund, 100 Mitglieder.
Nicht zum Verbände gehören :
1. Verein evangelischer Lehrer in Württemberg, 530 Mitglieder,
2. Deutscher evangelisch-lutherischer Schulverein, 225 Mitglieder.
Die Lehrkräfte der N'olksschule. \^g
Lehrerinnen vereine.
Die größte Vereinsorganisation der Lehrerinnen, das Seitenstück
zum Deutschen Lehrerverein, bildet der Allgemeine Deutsche
Lehrerinnenverein, der in vierundsiebzig über das ganze Deutsche
Reich verbreiteten und teilweise auch im Auslande ansässigen Zweig-
vereinen rund 1 8 000 Mitglieder zählt.
Unter den Zweigvereinen sind als die bedeutendsten zu erwähnen :
1. Landesverein Preußischer Volksschullehrerinnen, Mitglieder ca. 3000,
2. Landesverein Preußischer Technischer Lehrerinnen, Mitglieder ca. 800,
3. Verband Sächsischer Lehrerinnen,
4. Württembergischer Lehrerinnen- und Erzieherinnen-Verein, Mitglieder ca. 600.
Neben dieser paritätischen Organisation besteht der Verein katholischer Deutscher
Lehrerinnen, Mitglieder ca. 6000.
5. Pädagogische Zeitschriften.
I, Wissenschaftliche Zeitschriften.
A. Zeitscliriften, die das ganze Gebiet der Schul- und Erziehungsfragen
behandeln.
1. Die Deutsche -Schule. Herausgegeben im Auftrage des Deutschen Lehrervereins von
Rob. Rißmann (Berlin). Verlag: Julius Klinckhardt (Leipzig). Jährlich 12 Hefte,
Preis 8 M.
2. Neue Bahnen. Herausgeber: H. Scherer (Wormsj. Verlag: Haacke (Leipzig).
Jährlich 12 Hefte, Preis 8 M.
3. EvangeHsches Schulblatt (begründet von F. W. Dörpfeldj. Herausgeber: Dr. G. v.
Rohden (Düsseldorf-Derendorf). Verlag: C. F. Bertelsmann (Gütersloh). Jährlich
12 Hefte, Jahrespreis 6 M.
4. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. Herausgeber: Yr. Mann (Langensalza).
Verlag: H. Beyer & Söhne (Langensalza). Jährlich 52 Nummern, Jahrespreis 6,40 M.
5. Pädagogische Studien. Herausgeber: Dr. Schilling (Rochlitz i. S.). Verlag: Bleyl &
Kämmerer (Dresden). Jährlich 6 Hefte, Preis 6 M.
6. Der deutsche Schulmann. Herausgeber: Joh. Meyer (Krefeld). Verlag: Gerdes &
Hödel (Berlin). Jährlich 12 Hefte, Preis 7,20 M.
7. Pädagogische Monatshefte. Herausgeber: A. Knöppel (Rheydt). Verlag: Süddeutsche
Verlagsbuchhandlung (Stuttgart). JährHch 12 Hefte, Preis 5,60 M. (Die Zeitschrift
betont den katholischen Standpunkt.)
B. Zeitschriften, die vorwiegend der pädagogischen Theorie dienen.
1. Zeitschrift für pädagogische Psychologie. Herausgeber: Dr. Kemsies und Dr. Hirschlaff
(Berlin). Verlag: Hermann Walther (Berhn). Jährlich 6 Hefte, Jahrespreis 10 M.
2. Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik. Herausgeber: O. Flügel (Wansleben) und
Prof. Dr. W. Rein (Jena). Verlag: Hermann Beyer & Söhne (Langensalza). Jährlich
6 Hefte, Jahrespreis 6 M.
C. Zeitschriften für die Geschichte der Pädagogik und des Schulwesens.
1. Mitteilungen der (Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte. Heraus-
geber: Prof. Dr. K. Kehrbach (Berlinj. Verlag: A. Hofmann & Co. (Berlinj.
1 90 \'olksschulwesen.
2. Monatshefte der Comeniusgesellschaft. Herausgeber: Geheimer Archivrat Dr. Keller
(Charlottenburg). Verlag: Weidmannsche Buchhandlung (Berhn). Jährlich 12 Hefte,
Jahrespreis 10 M.
D. Zeitschriften, die vorwiegend der Schulpraxis dienen.
1. Der praktische Schulmann. Herausgeber: Rudolf Schmidt (Leipzig). \'erlag:
Fr. Brandstetter (Leipzig). Jährlich 6 Hefte, Jahrespreis 8 M.
2. Praxis der Erziehungsschule. Herausgeber: Prof. Dr. Just (Altenburg). N'erlag:
Pierer (AltenburgJ. Jährlich 6 Hefte, Jahrespreis 4 M.
3. Repertorium der Pädagogik. Herausgeber: J. B. Schubert (Augsburg). Verlag:
J. Ebner (Ulm). Jahrespreis 5,40 M.
4. Deutsche Schulpraxis. Herausgeber: Dr. R. Seyfert (Marienthal). \ erlag: Ernst
Wmiderlich (Leipzig). Jährlich 52 Nummern, Jahrespreis 6,40 'Sl.
5. Praxis der Landschule. \erlag: Richard Danehl (Goslar). Jährlich 12 Hefte,
Jahrespreis 6 iNL
6. Aus der Schule für die Schule. Herausgeber: Falcke (Rheydt). \erlag: Dürr
(Leipzig). JährHch 12 Hefte, Jahrespreis 6 ^L
7. Pädagogische Warte. Herausgeber: M. Thurm (Klostermansfeld) und K. O. Beetz
(Gotha). Verlag: Zickfeldt (Osterwieck, Harz). JährHch 24 Hefte, Jahrespr eis 7,20 M.
E. Zeitschriften für besondere Zweige der Pädagogik und des Schulwesens.
1. Pädagogische Blätter für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanstalten. Herausgeber:
K. Muthesius (Weimar). Verlag: C. F. Thienemann (Gotha). Jährlich 12 Hefte,
Jahrespreis 12 M.
2. Frauenbildung. Herausgeber: Prof. Dr. Wychgram (Berlin). \'erlag: B. G. Teubner
(Leipzig). Jährlich 12 Hefte, Jahrespreis 12 M.
3. Die Kinderfehler. Herausgeber: J. Trüper (Jena) u. Chr. Ufer (Elberfeldj. \erlag:
Hermann Beyer & Söhne (Langensalza). Jährlich 6 Hefte, Jahrespreis 3 M.
4. Die Jugendfürsorge. Herausgeber: Fr. Pagel (Berlin). \'erlag: Nicolai's \ erlag
(Berhn). Jährlich 12 Hefte, Jahrespreis 10 Mark.
5. Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Herausgeber: Prof. Dr. Lyon (Dresden).
Verlag: B. G. Teubner (Leipzig). JährHch 12 Hefte, Jahrespreis 12 M.
6. Natur und Schule. Herausgeber: B. Landsberg (Allenstein), H. Schmeil (Magdeburg)
und Schmidt (Bautzen). Verlag: B. G. Teubner (Leipzig). Jährlich 8 Hefte,
Jahrespreis 12 M.
7. Jugendschriftenwarte. Organ der vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse für
Jugendschriften. Redakteur: H. Wolgast (Hamburg). Verlag: Ernst Wundei-lich
(Leipzig). JährHch 12 Nummern, Jahrespreis 1,20 M. (Erscheint auch als Sonder-
beilage der meisten Schulzeitungen.)
II. Sehulpolitische Zeitschriften.
Diese Zeitschriften sind fast durchgehends Organe bestimmter Lehrervereine. Sie
behandeln Fragen der Schul- und Vereinspolitik, der pädagogischen Theorie und Praxis
und bringen außerdem regelmäßige Berichte über bemerkenswerte \"orgänge im Schul-
wesen, wobei jedes Blatt die Verhältnisse seines Landes, seiner Provnnz usw. besonders
berücksichtigt. Das vorliegende ^"erzeichnis enthält nur die bedeutenderen der in Frage
kommenden Blätter.
Die Interessen der im Deutschen Lehrerverein zusammengeschlossenen \'ereine
vertreten folgende Zeitschriften:
Die Lehrkräfte der Volksscliule. \g]
A. Wochen tlicli und lialb wöche n t li cli erscliei iiende.
1. Pädagogische Zeitung. Hauptorgan des Deutschen Lehrervereins. Redakteur:
W. Päßler (Berhn). Verlag : R. Scheibe (Berhn C. 22, Auguststr. 49). Jahrespreis 7 M.
2. Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung. Organ der Deutschen Lehrerversammlungen.
Redakteur: H. Arnold u. L. Mittenzwey (Leipzig). Verlag: Jul. Klinckhardt (Leipzig).
Jahrespreis 8 M.
3. Schulblatt für die Provinz Sachsen. Organ des Preußischen (Landes-) Lehrervereins.
Redakteur: P. Mackeprang (Magdeburg). Verlag: Heinrichshofensche Buchhandlung
(Magdeburg). Jahrespreis 6 M.
4. Preußische Schulzeitung. Organ des Lehrerverbandes der Provinz Brandenburg.
Redakteur: R. Otto (Charlottenburg). Verlag: Carl Seyfiarth (Liegnitz). Jahres-
preis 6 M. (Erscheint zweimal wöchentlich.)
5. Schlesische Schulzeitung. Organ des Schlesischen Provinzial-Lehrervereins. Redakteur:
W. Grüttner (Breslau). Verlag: Priebatsch (Breslau). Preis 7 M. jährlich.
6. Posener Lehrerzeitung. Organ des Posener Provinzial-Lehrervereins. Redakteur:
Otto (Posen). Verlag: E. Schober (Posen). Preis 6 M. jährlich.
7. Lehrerzeitung für Ost- und Westpreußen. Organ des Ostpreußischen Provinzial-
Lehrervereins. Redakteur: Ed. Büttner (Königsberg i. Pr.). Verlag: R. Leupold
(Königsberg i. Pr.). Preis 6 M. jährhch.
8. Poramersche Blätter für die Schule und ihre Freunde. Organ des Pommerschen
Provinzial-Lehrervereins. Redakteur: H. Juds (Kolberg). Verlag: Job. Burmeister
(Stettin). Preis 6 M. jährhch.
9. Neue Pädagogische Zeitung. Organ des Lehrerverbandes der Provinz Sachsen und
des Anhaltischen Lehrervereins. Redakteur: Schreck (Fermersleben bei Magdeburg).
\'erlag: H. Jensch (Magdeburg). Preis 2,40 M. jährlich.
10. Hessische Schulzeitung. Redakteur: J. W. Lange (Cassel). Verlag: A. Bayer & Co.
(Cassel). Preis 4 M. jährlich.
1L Hannoversche Schulzeitung. Redaktem": K. Brunotte (Hannover). Verlag:
Helwingsche Verlagsbuchhandlung (Hannover). Preis 6 M. jährlich.
12. Schleswig-Holsteinische Schulzeitung. Redakteur: A. Stolley (Kiel). Verlag: .\ug.
Westphalen (Flensburg). Preis 6 M. jährlich.
13. Neue Westdeutsche Lehrerzeitung. Redakteur: Alb. Siepen (Elberfeld). Verlag:
Sam. Lucas (Elberfeld). Preis 6 M. jährlich.
14. Bayerische Lehrerzeitung. Redakteur: Darr (Nürnberg). Verlag des Bayerischen
Volksschullehrerinnenvereins. Preis 1 M. jährlich.
15. Freie Bayerische Lehrerzeitung. Redakteur: Georg Heydner (Nürnberg).
16. Sächsische Schulzeitung. Redakteur: Arthur Ulrich (Dresden). Verlag: Jul. Klink-
hardt (Leipzig). Prtis 8 M. jährlich.
17. Badische Schulzeitung. Redakteur: J. Goldschmidt (Karlsruhe). \'erlag: Konkordia-
A.-G. (Brühl). Preis 5,60 M. jährlich.
18. Lehrerzeitung für Thüringen und Mitteldeutschland. Redakteur: E. Polz (Weimar).
Verlag: R. Wagner Sohn (Weimar). Preis 8 M. jährlich.
19. Mecklenburgische Schulzeitung. Redakteur: H. Voß (Schwerin). Verlag: Eberhardtsche
Hof- und Ratsbuchdruckerei (Wismar). Preis 5 M. jährlich.
20. Oldenbiurgisches Schulblatt. Redakteur: Grape (Delmenhorst). Verlag: Rob. Sußmaim
(Oldenburg). Preis 4 M. jährhch.
21. Pädagogische Reform. Redakteur: R. Roß (Hamburg). Verlag: H. Köhncke (Hamburg).
Preis 7 M. jährlich.
1 92 Volksschulwesen.
B. Zwei- oder dreimal monatlich erscheinende Zeitschriften.
1. Frankfurter Schulzeitung. Organ des Lehren'ereins zu Frankfurt a. M. Redakteur:
E. Ries (Frankfurt a. M.). Verlag: Kesselringsche Hofbuchhandlung (Frankfurt a. M.).
Preis 5 M. jährlich.
2. Die Volksschule. Organ des AVürttembergischen \'oIksschullehrervereins. Redakteur:
G. Honold (Stuttgart-Berg). Verlag: Ad. Bonz & Co. (Stuttgart). Preis 5 M. jährlich.
3. Der Schulfreund. Organ des I.othringischen Lehrervereins. Redakteur: G. Sedelmayr
(Metz). Verlag: Paul Even (Metz). Preis 5 M. jährlich.
4. Neues Braunschweigisches Schulblatt. Organ des Braunschweigischen Landes-
Lehrer- und Lehrerinnen-Vereins. Redakteur: K. Ernst (Braunschweig). Verlag:
C. Appelhans & Co. (Braunschw^eig). Preis 3 M. jährhch. ^
5. Schulbote für Hessen. Organ des Hessischen Landes-Lehrervereins. Redakteur:
H. Ruppel (Düdelsheim b. Büdingen). \'erlag: Em. Roth (Gießen). Preis 4 M. jährlich.
6. Thüringer Schulblatt. Redakteur: H. Böttner (Friedrichsroda). Verlag: Rieh. Schmidt
(Gotha). Preis 3 M. jährlich.
7. Ober - Elsässische Lehrerzeitung. Organ des Ober - Elsässischen Lehrer-\"ereius.
Redakteur: P. Stintzi (Mülhausen). \'erlag: D. NawTatil (Mülhausen). Preis 3 M. jährlich.
8. Allgemeines Schulblatt. Redakteur und Verlag: Rud. Bechtold (Wiesbaden). Preis
4,50 M. jährlich. (Erscheint monatlich dreimal.)
Einen ähnlichen Charakter wie diese Zeitschriften hat die einzige in Deutschland
erscheinende pädagogische (zugleich auch politische) Tageszeitung, die Preußische
Lelii-erzeitung, Redakteur: Th. Gütlich (Spandau). \'erlag: Hopfsche \'erlagsdruckerei
(Gebrüder Jenne), Spandau. Preis 12 M. jährlich.
Den Interessen der besonderen katholischen Lehrer vereine dienen:
^. Westdeutsche Lehrerzeitung. Verlag J. P. Bachern (Cöln).
2. Katholische Schulzeitung für Mitteldeutschland. Herausgegeben von Lehrer Ritzel
in Fulda.
3. Kathohsche Schulzeitung für Xorddeutschland. \'erlag: Goerlich (Breslau). Wöchentlich.
Jahrespreis 6,40 M.
4. Katholisches Schulblatt für die Rheinpfalz. Herausgegeben von Lehrer Mistler
in Speyer.
5. Katholische Schulzeitung für Elsaß-Lothringen. Herausgegeben von Hauptlehrer
Math. Weber in Straßburg-Neuhof.
6. Katholische Schulzeitung. Herausgegeben von L. Auer in Donauwörth.
Den Zwecken der besonderen evangelischen Lehrervereine dient:
Die evangelische Volksschule. Redakteur: H. Liepe (Pankow). \'erlag:
Fr. Zillessen (Berlin). Zweimal wöchentlich. Jahrespreis 6 M.
Die Interessen der Lehrerinnenvereine vertritt:
Die Lehrerin in Schule und Haus. Herausgeberin: Marie Loeper-Housselle.
Verlag: Th. Hofmann (Leipzig). Jährlich 52 Nummern, Jahrespreis 8 M.
KAPITEL VII.
Die Volksschule in den größeren deutschen Städten.
1. Rückblicke auf die bisherige Entwicklung der größeren
deutschen Städte.
Das Wachstum zahlreicher deutscher Städte in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist ein so rapides gewesen, daß
ihr Fortschritt in manchen Fällen nur mit der beschleunigten Ent-
wicklung neugegründeter amerikanischer Gemeinwesen verglichen
werden kann, und daß es denjenigen, welche die heute bestehenden
Verhältnisse vor Augen haben, oft schwer fällt, sich die Zustände im
Geiste auszumalen, w^ie sie vor fünfzig Jahren bestanden. Die Be-
\'ölkerungszahl und Bevölkerungsdichtigkeit der Großstädte ist enorm
gewachsen; in vielen Fällen hat auch ihr Areal durch die An-
gliederung dörfücher Nachbargemeinden einen bedeutenden Zuwachs
erhalten, und andererseits sind auch zahlreiche Dorfgemeinden in die
Reihe der Großstädte aufgerückt.
Mit der Zahl der Bevölkerung wuchs im allgemeinen im gleichen
Verhältnis die Zahl der schulpflichtigen Kinder, und daraus hätte sich
vielleicht die Notwendigkeit ergeben sollen, im gleichen Prozentsatz
die Zahl der öffentlichen Schulhäuser zu vermehren. Aber die Ver-
hältnisse erzwangen eine weit schnellere Zunahme der öffentlichen
Unterrichtsanstalten. Die strengere Durchführung der Schulpflicht,
die Einziehung einer großen Anzahl dürftiger Privatschulen beziehungs-
weise die Umwandlung solcher Anstalten in öffentliche Schulen, die
Herabsetzung der Klassenfrequenzen und andere Umstände machten
eine viel schnellere Vermehrung der öffentlichen Schulen, besonders
der Volksschulen, notwendig, als der Zunahme der Bevölkerung und
dem Wachsen der Zahl der Kinder im schulpflichtigen Alter ent-
sprochen hätte.
Über die Zunahme der Bevölkerung der Stadt Berlin und der in
Berliner Schulen unterrichteten Jugend seit dem Jahre 1872 gil)t
folgende Tabelle 1 Auskunft:
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. HI. 13
194
Volksschuhvesen .
Tabelle 1.
Am
: Ende
des
Jahres
Bevölke-
rungszahl
(einschl.
Militär)
Schüler und Schülerinnen
lämtlicher Berliner Schulen
Gesamt-
zahl
Kinder
über
14 Jahre
Kinder
von
6—14
Jahren
Auf 100 Se
kor
insgesamt ,
elen der Bevölkerung
amen Schüler
über
14 Jahre
von
6—14
Jahren
1872
864 300
95 275
7 309
87 966
11,03
0,85
10,18
1875
964 240
108 904
8 481
100 423
11,29
0,88
10,41
1880
1 123 680
139934
12381
127 553
' 1 2,45
1,10
11,35
1885
j 1315613
190 474
12 160
178314
1 14,48
0,92
13,56
1890
1 1 579 980
' 221 216
16105
205111
i 14,00
1.02
12,98
1895
: 1678 527
1 233 319
17 097
216 222
: 13,90 !
1,02
12,88
1900
: 1888177
255 921
17112
238 809
' 13,55
0,91
12,64
1902
': 1926367
' 258 832
17518
241 314
13,44
0,91
12,53
Auf Kosten
der Gemein
de in Gemei
ndeschulen usw. unterrichtete Kinder
Am
1
Auf 100 Seelen der Bevölkerung
Ende
des
Gesamt-
Kinder
Kinder
von
' kommen Schul
er
über
Jahres
zahl
14 Jahre
6-14
Jahren
insgesamt
über
14 Jahre
von
6-14
Jahren
1872
54 400
467
53 973
1 6,29
0,05
6,24
1875
64 882
603
64 279
6,73
0,06
6,67
1880
95 572
1 981
93 591
8,51
0,18
8,33
1885
145 036
2 054
142 982
11,02
0,16
10,87
1890
173183
3 502
169 681
10,95
0,22
10,73
1895
185 690
3 681
182 009
11,06
0,22
10,84
1900
21 1 391
4 431
206 960
11,19
0,23
10,96
1902
214 325
4 886
209 439
11,12
0,25
10,87
Aus der Tabelle ergibt sich, daß im Laufe der letzten dreißig
Jahre die Berliner Bevölkerung auf wenig mehr als das Doppelte ge-
stiegen ist, während sich die Zahl der Kinder in den Volksschulen
nahezu vervierfacht hat. Auffallender haben sich noch die Verhältnisse
in der Nachbarstadt Berlins, in Charlottenburg, gestaltet; in dieser Stadt
ist im letzten halben Jahrhundert die Einwohnerzahl fast auf das acht-
zehnfache gestiegen, während sich die Zahl der Gemeindeschulkinder
nahezu auf das sechsundzu^anzigfache, die Zahl der Volksschulklassen
aber auf mehr als das vierzigfache vermehrt hat. Folgende Übersicht
Die Volksschule in den fjröUeren deulsclieii Stiidtei
1 95
über die Zeit \'on 1857 bis 1902 bietet die Cirundlagen für diese
Berechnung (Tabelle 2 1 :
Tabelle 2. Zahl der Klassen, Lehrer und Schüler in den Gemeinde-
und Hilfsschulen von Charlottenburg, verglichen 'mit der Einwohner-
zahl in den letzten 50 Jahren.
Jahr Klassen
Rek-
toren
(Haupt-
lehrerl
Hand-
Lehre- arbeits-
rinnen ' Lehre-
rinnen I kräfte
I
Auf Durch-
Über- 1000 schnitt-
^^'^^PV Schüler ^;"- Ein- ^^^f^^^
Lehr- wohner wohner zahl in
kommen einer
Schüler Klasse
1857
10
1867
12
1880
37
1885
50
1890
120
1895
220
1900
383
1902
416
_
14
1
_
15
5
27
6
3
41
5
42
11
2
60
9
97
20
9
135
12
158
36
15
221
20
279
78
20
397
22
315
89
24
450
710
11400
62
71
891
15 000
59
74
2 227
30 500
73
60
3 696
42 400
87
74
6319
76 900
82
53
11 082
132 400
84
50
16 807
189 200
89
44
18 397
202 300
91
44
Einen noch etwas weiteren Rückblick auf dii' Berliner Volks-
schulverhältnisse läßt uns folgende Übersicht tun:
Tabelle 3. Übersicht über die Zunahme der Bevölkerung, der
Volksschulen und Volksschulkinder in Berlin.
Ende
des
Jahres
Be-
völkerung
Zahl der
Kommu-
nal- bezw.
Gemeinde-
schulen
Klassen- Schüler-
zahl zahl
in den Gemeinde-
schulen
Zahl der
Privat-
Elemen-
tarschulen
Klas- Schüler-
senzahl zahl
der Privat-
Elementarschulen
Gesamt-
summe
der Volks-
schul-
kinder
1827
1857
230 413
449 610
1
15
4
132
ca. 300
11 746
1901)
?
255--')
17 6889
14 274
26 020
' 1860
493 400
20
185
13 703
?
277
14 178
27 881
, 1865
657 690
33
341
20 344
26
185
10 831
31175
1870
774 310
53
615
37 663
20
179
11 979
49 642
^ 1875
964 240
88
1152
62 019
4
46
2812
64 831
1880
, 1885
1 123 608
1315613
114
156
1742
2587
94 067
143 597
2
1
24
24
1505
1 439
95 572 !
145 036 :
1890
1900
1 579 980
1888177
183
241
3060
4242
173183
211391
—
—
173183 !
211391
1901
1 901 567
249
4342
212 495
—
—
—
212 495
') 190 ist die Zahl der überhaupt vorhandenen Privatschulen; wie viel von ihnen
Elementarschulen waren, läßt sich nicht feststellen. Eingeschlossen sind die 6 Armen-
schulen, die allerdings der Aufsicht des Armendirektoriums unterstanden, aber als eigent-
liche öiTentliche Volksschulen nicht gelten konnten.
2) Von hier ab sind nur diejenigen Privatelementarschulen gezählt, in denen Kinder
auf Kosten der Stadt Unterricht erhielten.
13*
-| Qf) Volksschulwcsen.
Zur Ergänzung möge hier noeli ein Cberblick über das Wachs-
tum der Hamburger Volksschulen seit der Übernahme derselben
durch den Staat am 11. Mai 1871 folgen:
Tabelle 4. Volksschulen in Hamburg.
Bestand
j am
31. März
1
1
Be- ,
völkerung [
Schu-
len
Klas-
sen
Schüler-
zahl
1
Haupt-
; lehrer i
L e h r p e r ;
feste Hilfs-
Lehrer lehrer
; o n e
feste
Lehre-
rinnen
n
Hilfs-
lehre-
rinnen
1872
307 496 '
16
126
6 087
17
11
77
51
1875
343 453
24
201
9 480
25
52
94
11
48
1880
404 987
45
484
25 042
46
152
183
36
116
1885
466 319 !
68
834
42 094
69
289
299
80
235
1890
559115
85
1203
61991
84
516
326
151
317
1895
618 944
106
1497
67 697
106
966
129
397
222
1900
699 489
114
1739
79 579
113
1133
132
565
240
1902
739 000
126
1914
88 822
126
1178
166
638
281
Als viel bedeutsamer noch als dieses rein ziffernmäßige Wachsen
der Volksschule muß jedoch die Verbesserung der Einrichtung und
der Unterrichtsmethoden der Volksschule angesehen werden. Ein
Berliner Schulaufsichtsbeamter faßt das Gesamtergebnis der Ent-
wicklung der Berliner Volksschulen in den letzten 75 Jahren in
folgenden Worten zusammen:
„Ich ziehe das Fazit, indem ich kurz das Damals dem Jetzt
gegenüberstelle. Damals (1827) als einzige öffentliche Volksschulen
Berlins sieben ein- bis zweiklassige Armenschulen in dürftigen Schul-
räumen ohne festen Lehrplan unter schlechtbezahlten Lehrern von
mangelhafter Vorbildung, geringem Wissen, tiefer gesellschaftlicher
Stellung, jetzt ein über das ganze Weichbild ausgebreitetes Netz von
gleichmäßig organisierten achtstufigen, sechzehn- bis zwanzigklassigen
Gemeindeschulen in teilweise schönen Schulhäusern, groß genug, um
allen Kindern der Stadt den kostenfreien Zutritt zu gewähren, zweck-
mäßig und wirksam genug, um das allgemeine Vertrauen zu ver-
dienen, mit einem Lehrpersonal, das, tüchtig und pflichttreu zugleich,
durch rechte Hingabe an seinen Erzieherberuf allen Einrichtungen
das rechte Leben einzuhauchen bemüht ist. Damals ein Fünftel aller
Die X'olksschul
Ifu ^mLlcren deulschcn Stächen.
107
Tabelle 5. Grundstücks- und Baukosten der Gemeinde-Schulen
in Charlottenburg.
Benenn u n g
erbaut
Größe
des
Grund-
stücks
Grund- ,,
l>au-
stiicks- ,
kosten
kosten
saiiimen
i
5
1
für die
Klasse |
mit
Grund-
stück
qm
M. M. M.
<
M.
Gemeindeschulf III
1881,82
1910
131 000
131 000
22
5 933*)
I/II
1884/86
3 746
39 611 274 665
314 276
36
8 730
VII/VIII
1888/89
3 296
155 980 359 896
516 876
36
14 358
XI/XII
1890/92
4 487
52 191 441027
493 218
36
13 701
V/VI
1891/92
3 761
27 117 433 079
460 196
36
12 783
XIII/XIV
1894/95
4 338
137 624 409 981
547 605
42
13 038
XV/XVI
1890/98
4619
227 809 354 958
582 767
42
13 875
IX/X
1899/00
6 031
180 701 442 097
622 798
39
15 969
, XVII/XVIII
1899/00
5 275
147 120 469 541
616 661
40
15417
XIX/XX
1899/00
5 489
339 558 511272
850 810
39
21 816
*)
Ohne Grundstü
;k.
Tabelle 6.
Neue Schulhäuser in Berlin, seit 1900 dem Betrieb
übergeben.
Größe
Kosten des
Straße und Hausnummer
des
Schul-
1 grund-
Davon
bebaut
be-
rech-
net auf
Zahl
der
Schul-
gebäudes,
ohne Grund-
1 Stücks
wieviel
Kinder
klassen
stück
qm
qm
M. 1
Doppelschule Wilmsstr. 10 . .
5 120
2 094
2 040
36
447 353
Glogauerstr. 12/16
4 988
1925
2010
35
409 569
„ Rostockerstr. 31/32
5169
1 831
1 990
36
391 877
Dunckerstr. 65/66 .
6 054
2 155
1 950
36
546 820
Oderbergerstr. 57/59
3 882
1282
1 730
31
467 738
Wiclefstr. 53/54 .
5160
1 886
1 920
35
573 918
„ Christianiastr. . .
6 768
2 160
2 050
36
527 893
„ Straßmannstr. 6
7 472
3 154
2 070
36
517 000
Einfache Schule Grenzstr. 8 . .
2716
1369
1 010
17
213 365
Doppelschule Wattstr. 16 . . .
5 463
2 083
1 880
36
477 636
Waldenserstr. 25/26
4 639
2 067
1 970
36
5% 105
Görlitzer Ufer 15 .
5157
2 058
2 030
38
519 786
Rigaerstr. 113/14 .
6 057
2169
1 930
36
507 901
Einfache Schule Waldemarstr. 77
3 722
1 323
1 030
19
282 100
Doppelschule Stralauerallee . .
5 632
2 063
1 990
37
469 000
„ Bergmannstr. 60/65
4 704
2 030
1 820
37
567 200
198
\"olk.v^clmKve>
schulpflichtigen Kinder schuUos aufwachsend, jetzt ein durch alle
Bezirke verzweigtes System von Schulkommissionen, gebildet aus
Bürgern im Ehrenamt, im Besitz ausreichender Befugnis und Personal-
kenntnis, um die Erfüllung der Schulpflicht jedem Kinde zu ermög-
lichen, ihre völlige Versäumnis bei keinem zu dulden; damals die
Volksschulen einer Behörde unterstellt, die mit dem Schulwesen nur
in sehr äußerHchem Zusammenhange stand, jetzt eine besondere
Schulbehörde, ausgestattet mit solcher Vollmacht und solcher Technik,
daß sie das wachsende Schulbedürfnis zu erfüllen vermag, wie es
Tabelle 7. Die Volks-(Elementar-)Schulen in einigen deutsehen
S tä
dtisc
lie
Lehrer
-Schüler
Städte
voll nicht
voll
beschäftigt beschäftigt
ll,
1 .-f
II
L cu
II
2
:5
1
1
■■s
Altena . . . .
29
i
346
149
17
17
301
9210
9 693
18 903
Berlin ....
247
4 621
378
1776
82
515
504
4 294
339
105 173
8 428
105 938
8 659
211 111
Bremen . . .
22
17 087
Breslau . . .
136
922
255
139
139
935
25 046
25 015
50 061
Charlottenburg
24
405
106
14
14
382
8 874
8 367
17 241
Chemnitz . .
23
459
22
63
4
692
13 995
15108
29103
Cöln ....
75
846
402
—
846
23 505
24 088
47 593
Dresden . . .
32
767
102
98
86
874
17 332
18 560
35 892
Düsseldorf . .
37
445
202
—
—
443
13 273
12 938
26 211
Elberfeld . .
51
436
72
—
429
12011
1 1 509
23 520
Frankfurt a. M.
33
499
139
27
20
441
11082
12 059
23141
Halle a. S. . .
24
358
117
9
9
330
8 871
9 599
18 470
Hamburg . .
125
2 299
851
~
1826
42 359
42 325
84 684
Hannover . .
67
485'
150
7
7
439
12 230
11988
24 218
Königsberg i. Pi
. 32
385 j
143
36
34
357
9 162
9 819
18981
Leipzig . . .
45
1563
143
18
17
1494
29 515
30 604
60 119
Magdeburg . .
41
678
99
125
125
666
16 974
16919
33 893
München . . .
40
1 358
667
—
963
24 156
25 553
49 709
Nürnberg. . .
-^
587
27
145
87
574
14 781
15118
29 899
Stettin. . . .
36
472
149
—
_
436
11638
1 1 725
23 363
Straßburg i. E.
45
248
117
6
3
245
—
—
12 837
Stuttgart . . .
—
230
46
16
16
209
—
1
9 880
Die Volksschule
LTi größeren deutschen Städten
199
entsteht." Der Verlaui der Entwicklung von der dürftig ausgestatteten
Elementarprivatschule oder Armenschule zur wohleingerichteten Ge-
meinde- oder Bürgerschule oder gar zur Mittelschule ist typisch für
die Entwicklung des deutschen Volksschulwesens im 19. Jahrhundert.
Wer diese Entwicklung an einem bestimmten Beispiel genauer ver-
folgen will, der möge die Geschichte des Schulwesens der Haupt-
und Residenzstadt Königsberg i/Pr. von Emil Hollack und Friedr.
Tromnau (Königsberg i/Pr. 1899) zur Hand nehmen. In anderen
Städten bieten die Verwaltunesberichte der Magistrate nicht selten
Städten am Ende des Winterhalbjahrs 1900/1901.
Sonstige
Lehrer
voll nicht voll
beschäftigt beschäftigt
•!r; 4? ö
Be-
völkerungs -
! stand am
; 31. März 1901
5 23 12
14 91 —
7 48 17
9 45 II
2 1b
18 32
2 11
— 11
3 32
494
1437
939
400
351
40
458
121
23
736
42
455 949
1 543 2 980
974 1 913
486 886
345
696
41
81
359
817
64
185
16
39
373
1 109
2
1
1
7
-
7
84
89
173
1
40
9
7
2
42
705
736
1 441
1
4
4
4
—
4
—
85
85
6
69
33
—
—
34
185
745
930
52 42 94
433 469 902
271 29 300
162 056
888 382
161 782
423 959
189 338
205 279
375 323
396 500
214 927
157 200
291 500
157 940
712 105
237 439
187 684
459 869
229187
500 000
259 783
213 450
152 064
V82 763
200 \'olks.schul Wesen.
zusammenfassende Darstellungen über kürzere oder längere Perioden
der lokalen Schulgesehichte.
Einen wichtigen äußeren Maßstab für die Fortschritte des Volks-
schuhvesens einer Stadt geben Zahl, Umfang und Einrichtung der
Schulneubauten. Nur ausnahmsweise und im Notfalle verzichten
wohlhabende Gemeinden auf die Errichtung eigener, allen Bedürf-
nissen der Einschulung entsprechender Schulhäuser. Die Benutzung
von gemieteten Räumlichkeiten bietet trotz ihrer größeren Billigkeit
Anlaß zu so vielen schultechnischen und hygienischen Bedenken, daß
im allgemeinen nur selten zu diesem Auskunftsmittel gegriffen wird.
Ebenso findet die Benutzung derselben Schulräume durch zwei Klassen
zu verschiedenen Zeiten (Halbtagsschulen, überzählige oder fliegende
Klassen) in den Städten nur ausnahms\^eise Anwendung. Nach dem
Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin (Städtische Schuldepu-
tation) für das Etatsjahr 1902 gab es bei 258 Volksschulen noch
28 Mietsschulhäuser für 23 Volksschulen und 5 Filialabteilungen;
die Zahl der fliegenden Klassen betrug im Sommerhalbjahr 24, im
Winterhalbjahr 18.
Über die Anlage und Einrichtung der städtischen Volksschul-
bauten ist bereits an einer anderen Steile ausführUch gesprochen
worden. In welchem Tempo diese Bauten vor sich gehen müssen,
um mit der Entwicklung gleichen Schritt zu halten, und welche An-
forderungen an Raum und Einrichtung und damit an Geldkosten für
neue Schulanlagen gestellt werden, möge hier aus zwei Übersichten
über die Charlottenburger (Tabelle 5 auf Seite 197) und Berliner
Volksschulneubauten (Tabelle 6 auf Seite 197) ersehen werden.
2. Gegenwärtiger Stand des städtischen Volksschulwesens.
Über den Umfang und Zustand des Volksschulwesens von
deutschen Städten mit mehr als 15()()()0 Einwohnern gibt Tabelle 7
(Seite 198 und 199) Aufschluß.
Über die Kosten, \\elche das städtische Volksschulwesen ver-
ursacht, und die Quellen, aus denen diese Kosten gedeckt werden,
geben die Tabellen 8 und 9, allerdings aus dem Etatsjahr 1899/1900
bezw. 1899, für eine große Anzahl \on Städten Auskunft.
Die V'ulksst:luile in den j^rößeren deutschen Städten
201
Tabelle 8. Die Kosten der städtischen Volksschulen im Rechnungs-
jahr 1899/1900 in den Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern, i)
V e r s
fiir
aktive
Lehr-
kräfte
über-
liaupt-l
M.
ö n 1 i c h e Koste n
Baukosten 3)
' fürUm-
u. Er-
weite-
rungs- Ce-
für 1 bauten, ^amt-
^. ! sowie ,
^^^^- ' f. bau- 1 ^""''^'^
Bauten ijche ' 1
Unter-
1 haltun-
1 gen
M. 1 M. , M.
S t ä d t e
für nicht aktive
Lehrkräfte 2)
(soweit aus
städtischen
Mitteln be-
stritten)
über-
haupt
M.
Säch-
liche
i^osten
(ohne
Bau-
kosten)
M.
Ruhe- c D
hälter ^-^g^
M. M.
Aachen . . .
684 773
1
48 180 1764
734 717 72 476
— 1 78 920 886113
Altena . . .
726 463
48 492 6 862 781817
72916
104 330 43 788 1 002 851
Barmen . . .
1013910
37 254 3 552 1054 716
130 832
406 292 39 083 1 630 923
Bremen . .
1 032 060
26 65b 5 484
1 064 200
109 423
15 034 99 892 1288 549
Breslau . .
2 395 621
105 848 39 220
2 540 689
348 990
909 510 104 463 3 903 652
Cassel . . .
568 480
29 800 16 270
614 550
52 000
197 600 58 204 922 354
Charlottenburg
1071 119
40 269 4 368
1 115 756
49 935
616 379 76 399 1 858 469
Chemnitz . .
1 075 142
5 47i -
1 080 614
306 601
129 843 95 005 1612 063
Danzig . . .
596 651
23 755 6 820
627 226
39 052
170 000 37 860 874 138
Dortmund ^1 .
809 395
22 980 2 724
835 099
136 706
— 45193 1 016 998
Dresden . . .
1 855 360
75 081 —
1930 441
454 723
55 317 132 390 2 572 871
Düsseldorf" . .
1058 418
33 390 3 362
1 095170
55161
326 888 80 023 1 557 242
Elberfeldä). .
1 459 290
36 814 6 530
1 502 634
60 737
188 197 50 200 1 801 768
Essen . . .
660 732
19 742 1968
682 442
44 363
610780 60730 1398315
Frankfurt a. M.
1 41 1 091
81 851 29 474
1522 416
112 018
234 533 107 32611976 293
Halle a. S. . .
521 130
20 207 2 160
543 497
49 040
98 540 12 056' 703 153
Hamburg . .
5 627 302
62 112 —
—
395 519
142 000 126 500 —
Hannover . .
1 154 382
44 608 43 310
1 242 300
103 126
325 781 32 875 1 704 082
Kiel ....
494 269
32 469 3 167
529 905
58 447
187 218 31 600 807 170
Königsberg i.Pr.
807 671
43 641 9 752
861 064
109 099
260 347 42 086 1 272 596
Leipzig ^) .
3 751 223
10 889 500
3 762 612
70 231 1 1 30 21 2 259 33 1 5 947 386
Magdebm-g
1 655 683
75 499 8 593
1 739 775
118 290
185 238 66 689 2 109 992
München . .
1 946 348
124 459 25 919
2 096 726
285 764 1 002 360 213 085 3 597 935
i Nürnberg . .
1307 015
43 877 16 945
1 367 837
117 989
846 297 25 617 2 357 740
Posen . . .
331 355
15 155 5 827
352 337
99 357
— 8 405 460 099
Stettin . . .
747 856
47 892 9 198 804 946
65 125
387 540 20 565 1 278 176
Straßburg i. E.
525 850
480 —
52Ö 330
51 685
130115 105 756 813 886
Ij Außer Braunschvveig, Mannlieim und Stuttgart. Bei den Städten Chemnitz,
Dresden, Hambiu-g, Leipzig, München, Nürnberg beziehen sich die Angaben auf das
Kalenderjahr 1899. — -) P^inschließlich der Schuldiener, Kastellane und Heizer und des
Wertes der Dienstwohnungen. — 3) Ohne Berücksichtigung der Aufwendung für Ver-
zinsung und Tilgung, — "•) Sozietätsschulen. — ^) Einschließlich der 5 Mittelschulen für
Knaben. — «J Einschheßhch der 4 Mittelschulen für beide Geschlechter. — Die Mehr-
leistungen der preußischen Städte an die Alterszulagekasse sind bei den vorstehenden
Angaben nicht berücksichtigt.
202
\"olks.schul\vesen.
Tabelle 9. Die Deckung der Kosten der städtischen Volksschulen
im Eeehnungsjahre 1899/1900. i)
von den in Tabelle 8 nachgewiesenen Kosten werden gedeckt
aus dem
Schul-,
durcli Kirchen-
Schul- und Stif- Staats- , ' \ überhaupt
_ chen- , ffen I '
geld tungs-
ver-
niögen
M. M. M. M. I M. M.
S t ä d 1 1
aus
städti-
schen
Mitteln
aus
1
aus
aus
Staats-
mitteln-)
Kir-
chen-
kassen
sonsti- 1
gen
QueUen
M.
M.
M.
Aachen . .
745 258
1 406
33 337
97 762
Altona . . .
891 033
—
12 730 99 088
Barmen . .
1494 427
— 28 778 103 153
Bremen .
1 154 418
132931 - -
Breslau . . .
3 614 276
6 088 22 698
235 337
Cassel . . .
858 960
3 924
2 420 56 755
Charlottenburg
3)1819 353
25 984
7 668
31825
Chemnitz
1 253 305
200 587
4 250
137 729
Danzig
771 158
1 030
8 273
84 235
Dortmund . .
431 197
438 981
19 136
116 752
Dresden .
1 918 793
152 388
69 110
413 202
Düsseldorf .
1 430 269
2 360
31410
86 623
Elberfeld . .
1 616615
17 100
34 400 128 887
Essen ....
1 316 170
—
28 000 54 145
Frankfiu-t a. M.
1 893 772
—
32 150 46 565
Halle a/S. . .
653 317
5 550
2 145 .39 987
Hannover . .
1 600 154
3 863
15 131
82 093
Kiel ....
'•) 756 451
—
5 930
50 183
Königsberg i. P.
1084 660
100 838
13 922
65 848
Leipzig . . .
4 715 022
554 339
36 335
630 224
Magdeburg . .
&) 1 695 471
272 733
29 077
117 272
München . .
3 494 330 —
26 237
—
Nürnberg . .
2 227 204 35
32 394
4 302
Posen ....
406 253
693
1 840
47 213
Stettin . . .
. 6ji 210 973
3 663
15 285
46 700
Straßburg i. E.
748 193
—
15 990
48017
-
8.350
4 565
—
1 200
—
25 253
—
295
—
8 464
—
16 192
215
9 227
1 493
9 439
6 590
12 788
—
6 580
—
4 766
_
3 806
—
2 134
288
2 553
54
1 261
3 930
3 398
—
11466
3 401
2 408
—
")77 368
—
93 805
--
4 100
—
2 553
—
1 686
886 1 13
1 002 851
1 630 923
1 288 549
3 903 652
922354
3) 1 893 29+
1 612 063
874 138
1 016 998
2 572 871
1 557 242
1 801 768
\ 398 315
1 976 293
703 133
1 704 082
i) 813 879
1 272 596
5 947 386
5)2 120 362
3 597 935
2 357 740
460 099
t-)! 279174
813 886
ij Bei den Städten Chemnitz, Dresden, Leipzig, München, Nürnberg beziehen sich
die .\ngaben auf das Kalenderjahr 1899. — 2) Ohne die staatlichen Leistungen für Ruhe-
gehälter, Witwen- und Waisenversorgung, für die preußischen Städte aber einschließlich
der Mehrleistung der Alterszulagekasse. Die Mehrleistungen der preußischen Städte an
die Alterszulagekasse .sind in den vorstehenden Zahlen der ersten und letzten Spalte ein-
begriffen, daher die Abweichung der Endzahlen für Charlottenburg, Kiel, Magdeburg und
Stettin von Tabelle 8. — 3j Darunter 34 825 M. Mehrleistung der Stadt an die Alters-
zulagekasse. — ■*) Desgl.
''l Darunter 72 510 M. au
6709 M. —
Krei-mitteln.
■^) Desgl. 10 370 M. — '') Desgl. 998 M.
IMe Volksschule in den größeren ileutschen Städten. 203
Da die vorstehende Übersicht über den Volksschuletat der
Stadt Berlin keine Auskunft gibt, so möge hier eine kurze Zu-
sammenstellung der Voranschläge für den Berliner Stadthaushaltsetat
für 1904 (Spezialetat No. 15, Volksschule) folgen, und zwar an Aus-
gaben:
1. Ordinarium.
A. Persönliche Kosten.
Besoldungen der Rektoren 1 261 200 M.
„ Lehrer 8 332 300 „
„ „ wissenschaftlichen Lehrerinnen 3 307 128 „
„ Fachlehrerinnen 511 000 „
„ Schuldiener 223 400 „
13 635 478 M.
Stundenhonorare, Vertretungskosten und sonstige
persönliche Ausgaben (darunter 72 OOO M. für
Schulärzte) 556 781 „
14192 259 M.
B. Sächliche Kosten.
Tit. L Unterrichtsmittel (Lehrbücher, Schreib-
materialien, Lehrmittel für den wissenschaft-
lichen, Gesang- und Turnunterricht, Aversum
für die Rektoren zur Beschaffung der kleinen
Schulbedürfnisse, Tinte, Kreide usw.) . . . 237 000 M.
Tit. IL Schulutensilien und Hausgeräte, sowie
Turngeräte 1,30 000 „
Tit. III. Heizung, Erleuchtung und Wasser-
verbrauch (Brennmaterial, I^öhne für die
Heizer, Gas- und Wasserverbrauch zu (ie-
meindeschulzwecken) 627 965 „
Tit. I\. Reinigung 155 500 „
Tit. V. Bauliche Unterhaltung, Abgaben, Lasten
und Mieten (Feuerkassenbeitrag, Versiche-
rungsprämien, Kanalisationsgebühr, Mieten
für die nicht auf städtischen Grundstücken
befindlichen Schulenj 950 323 „
Tit. VI. Prämien, Unterstützungen für Schul-
kinder und Schülerbibliotheken (16 800 M.) ,35 800 „
Tit. VII. Verschiedene Ausgaben (für die \^er-
waltung der Schulkommissionen, Lohn für
die Boten derselben, Drucksachen und Buch-
binderarbeiten, für das „Städtische Schul-
rauseum", für den Betrieb der Brausebäder,
Zuschuß an den „Allgemeinen Unterstützungs-
Fonds" usw.) 118 730 .,
Tit. VIII. Aus Vermächtnissen 9 593 ,,
Summe der sächlichen Kosten 2 264 91 1 M.
„ persönlichen „ . 14 192 259 „
Summe des Ordinariums . . 16 457 170 M.
204 \'olk.s.schul\vesen.
2. Extraordinarium.
Zur Beschaffung neuer Schulbänke 30 000 M.
Summe der Ausgaben 16 487 170 M.
Diesen Ausgaben stehen folgende Einnahmen gegenüber:
Tit. I. Grundeigentum 32 880 M.
Tit. IL Aus Vermächtnissen 30 592 ,,
Tit. in. Verschiedene Einnahmen 41 478 ,,
104 950 M.
Die Gesamtaufwendungen betragen daher 16382220 M.
Die Summe von 1 6 382 220 M. umfaßt allerdings nicht die Ausgaben für Schul-
haus-Neubauten, für Dienstpensionen der Lehrer sowie Versorgung ihrer Witwen und
Waisen und die Unterhaltung der der Volksschule dienenden Bureaus mit ihren Be-
amten sowie verschiedene kleine Ausgaben.
Die Beiträge, welche gemäß dem Gesetz vom 3. März 1897 betr. das Dienst-
einkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öflentlichen Volksschulen aus der
Staatskasse gewährt werden, sowie die Einnahmen aus Schulversävmmisstrafen sind in
dem Spezialetat 15 ebenfalls nicht in Rechnung gestellt; ebenso gewisse Lasten, welche
der Volksschulverwaltung aus der unentgeltlichen Überlassung von Schulräumlichkeiten
an andere städtische Verwaltungen erwachsen.
Den größten Bestandteil aller laufenden Aufwendungen für das
\'olksschuhvesen bilden, wie wir aus den vorstehenden Zusammen-
stellungen ersehen, die persönlichen Kosten und unter diesen wiederum
die Gehälter der Lehrkräfte. Die Gehälter der einstweilig und der
fest angestellten Lehrer und Lehrerinnen sowie der Schulleiter (Rek-
toren, Direktoren, Hauptlehrer) gehen nicht selten über die durch
die Gesetze vorgeschriebenen Mindestbezüge bezw. Normalsätze
hinaus. Diese Gehälter sind aber im einzelnen sehr verschieden.
Die folgenden Tabellen bieten eine Zusammenstellung über die zu
Beginn des Jahres IQO.S in einer größeren Anzahl von deutschen
Städten tatsächlich bestehenden Gehaltsverhältnisse der definiti\' an-
gestellten Lehrer und Lehrerinnen sowie der Rektoren. Die Ta-
belle 10 stützt sich auf Ermittelungen der statistischen Zentralstelle
des Deutschen Lehrervereins. (Statistische Beilage zur Pädagogischen
Zeitung März und April 1903).
Tabellen (Seite 208 und 209) gründet sich auf die Angaben des
statistischen Jahrbuchs deutscher Städte für 1903; sie bietet in sehr
anschaulicher Weise eine Übersicht über den tatsächlich erreichten
Bildungsgrad sämtlicher in den genannten Städten nach Absolvierung
der Schulpflicht die Volksschule verlassender Kinder.
Aus dieser Tabelle ergibt sich, daß die Schüler acht- und
siebenstufiger, ja selbst sechsstufiger Volksschulen nicht immer die
oberste Klasse erreichen. Dies ist ein Umstand, der die Aufmerk-
samkeit der Pädagogen und der Vcrwaltungsbeamten in hohem Maße
Die \olksscluil(
len größeren deutschen Städten.
205
auf sich lenken muß; es bedeutet, daß so und soviel Prozent der
Volksschüler des Unterrichts in der Oberklasse nie teilhaftig werden,
und das ist vom pädagogischen Standpunkt aus ein sehr bedauer-
liches Resultat. Denn der Lehrplan des Sy.stems, mag es ein sechs-,
sieben- oder achtstufiges sein, bildet auf jeden Fall ein in sich ab-
geschlossenes Ganzes; gewisse höchst wichtige Stoffe werden nur in
der obersten Klasse behandelt, so daß diejenigen Schüler, die ins
Leben hinaustreten, ohne dieselbe erreicht zu haben, bedeutende
Lücken in ihren Kenntnissen aufweisen müssen und eine nicht ab-
geschlossene Bildung mit hinausnehmen.
Tabelle 10.
Es erhalten festanafe stellte
Xanien
der
Städte
Lehrer
Lehrerinnen
Maxi-
Miets- miim
.ntschä- ^;;_
digung ; samt- j
bezüge
ix
2
1 Maxi-
Miets- ' mum
, , .. der
entscha- ,.
digung samt- \
bezüge
Schulleiter
■^ ,,. Maxi-
^ Miets-i ^^^
g. ent- der
c schädi- Ge-
samt-
gung
bezüge
Preußische Städte.
Aachen
1400 450
3650
Altona
1300 540
3640
Barmen
1500 450
3750
Berlin
1200 648
4248
Breslau
1300 400
3500-
3700
Cassel
1400 500
3700
Charlottenburg .
1250 650
4150
Cöln
1500 250-500
3550-
3800
Crefeld
1400 250 3450-
3650
Üanzig
1100 350—450
3350
Dortmund . . .
1500 250-500
3550-
3800
Düsseldorf . . .
1450 450-550
3800
Elberfeld ....
1450 336—500
3586-
3750
Essen
1400 320—540
3520-
3740
Frankfurt a. M.
1600 550-720
4300
Halle
1200 390-500
3500
Hannover ....
1400 350—600
3550-
3800
Kiel
1350 450 ;i6G0
Königsberg i.Pr.
1100 400-500 3400
Magdeburg . . .
1200 450—500 3500
Posen
1200 400-600
3600
Stettin
1250 450-550
3600
1100
300
1000
240
1300
300
1000
432
1100
300 L
1200
300
1150
450
1200
250
1200
300
2300
2320
2500
2732
2840-
2940
2760
2950
2350
2400
900 300 2280
1300 250-350 2630-
2730
1200 300 2400
1300 336 2536
1200
320
2420
1300
550-720
3100
980
280
2340
1100
300
2750
1060 300 2440
950 300 2330
1090 300 2470
1050 300 2700
1050 450—550 2490
1700
500
4000
1500
570
4500
2O0O
600
4400
2400
800
5600
1900
600
4300
2350
650
4800
2350
800
5400
2000
450—
800
4250-
4600
1800
360-
550
3%0—
4150
1700
500
4000
1800
550
4150
2100
600
4500
2050
600
4450
2000
400-
600
4200-
4400
3600
820
6400
2400
600
4800 ;
2300
500-
700
4600—
4800
1800
600
4200
1700
600
4100
2400
660
4860
2500
750
5050
2150
650
4600
206
\'olksschul\vesen
,
Namen
der
E
s e r h
alte
n festangestell
t e
Lehrer
Lehrerinnen Schulleiter
Maxi-
^
Maxi-
-
Maxi-
'3
Miets-
mum
"3
'S
Miets-
mum
i
Miets-
mum
Städte
%
entschä-
der
Ge-
S
entschä-
der ' äo
Ge- 1
ent-
der
Ge-
5
digung
sarat-
s
digung
samt- 2
samt-
6
bezüge
0
bezüge ^
gung
bezüge
Auß
erpreu
ßisch
e Städte
1 Braunschweig. .
1600
—
3600
1400
—
2100 3300
—
5100
1 Bremen
1800
—
3600
1400
—
2000
4000
—
5000
Chemnitz ....
1300
400—500
3750
1300
350
2750
3200
800
5400
! l^-^-^i-^ } ka'h.
1300
500-700
4200
1300
400
2600
3600
900
6000
1360
250/0
3600
1360
250/0
2250
250/0
Hamburg ....
2000
___
44C0
1400
—
2600
4100
—
6000
Leipzig
1300
500-700
4200
1300
400
2800
4500
20 0/0
6000
Mannheim . . .
1600
600
3700
1500
300
2400
1600')
+ 400
4100
München . . alt
2070
280
4360
1554
180
2964
2070
80
5340
neu
2100
280
4020
1560
180
2820
2100
+ 900
Nürnberg ....
2100
—
4230
1560
—
2832
2100^)
-1- 5ri()
- 1500
—
5730
Stuttgart
1600
700
3500
1200
400
2200
3200
1200
5400
1) Die Schulleiter beziehen das Gehalt der Lehrer und außerdem 400 M.
Funktionszulage. — "-) Desgl. 500 bis 1500 M. Funktionszulage.
Die Ursachen dieser Erscheinung sind äußerst mannigfaltig und
liegen, abgesehen von etwaigen Mängeln des Lehrplans oder des
Unterrichts, teils auf hygienischem, teils auf volkswirtschaftlichem Gebiet.
Vielfach sind die Großstadtkinder nach Ablauf des sechsten Lebens-
jahres körperlich und geistig noch gar nicht schulfähig und können daher
erst später eingeschult werden; obwohl so der Anfangstermin zuweilen
um ein Jahr hinausgeschoben wird, bleibt doch das 14. Lebensjahr
als Endtermin im allgemeinen bestehen; es ergibt sich daraus eine
nur siebenjährige Schulzeit, so daß sogar bei regelmäßiger Versetzung
das Kind die achte Klasse nicht mehr absolvieren kann. Andere Kinder
werden durch Erkrankungen an Masern, Scharlach, Diphtheritis usw.
während der Schulzeit zuweilen monatelang am Schulbesuch verhindert
und bleiben auf diese Weise zurück. Wieder andere sind geistig
anormal und vermögen dem Unterricht überhaupt nicht zu folgen;
für diese wird jetzt meist durch besondere Hilfsschulen oder Hilfs-
klassen für sch^\'achsinnige Kinder gesorgt. Andere sind nicht
gerade anormal, aber doch schwächer begabt als der Durchschnitt,
und brauchen daher zur Verarbeituncf des Pensums einer Klasse
Die Volksschule in di-n jrrößeren deuuchen SuitUen. 207
bisweilen mehr als ein Jahr. Soziale, hyt^ienische und moralische
Ursachen wirken in vielen Fällen zusammen, um die Leistungsfähii^keit
•der Schulkinder herabzusetzen. Schlecht ernährte Schüler besitzen
eine weit geringere Leistungsfähigkeit als andere; es i.st kein Wunder,
wenn ihre Aufmerksamkeit bereits nach ein- oder zweistündiger
Arbeitszeit vollständig erschöpft ist und sie dem Rest des Unterrichts
ganz apathisch und teilnahmlos beiwohnen. Dasselbe gilt auch von
denen, die über das Maß ihrer Kräfte zu häuslichen und gewerblichen
Nebenbeschäftigungen herangezogen werden; das Kind, das vor Beginn
des Unterrichts schon mehrere Stunden auf den Beinen war, um
Zeitungen, Milch oder Backware auszutragen, oder zu spät zu Bett
gegangen ist, kommt naturgemäß schon müde und abgespannt zur
Schule, und alle pädagogische Weisheit des Lehrers ist an ihm ver-
loren. Auf das die gewerbliche Nebenbeschäftigung der Schulkinder
einschränkende neue Reichsgesetz ist bereits in einem früheren Kapitel
dieses Werkes näher eingegangen worden. Auch der häufige
Wohnungswechsel der Eltern, wie man ihm in der Großstadt unter
■der fluktuierenden Arbeiterbevölkerung vielfach begegnet, wirkt nach-
teilig auf das W'eiterkommen des Kindes in der Schule. Mangel an
Verständnis für die Arbeit der Schule und die hochgespannten An-
forderungen, welche die Erwerbsarbeit nicht nur an den Familien-
vater, sondern auch an die Mutter stellt, das Leben der Straße, die
V^ersuchungen der Großstadt und andere ungünstige Verhältnisse
führen häufig auch zur sittlichen Verwahrlosung der Kinder, welche
dann ihrerseits wiederum die Erfolge des Unterrichts herabsetzt. In
selteneren Fällen mag die Schuld auch an den Lehrkräften liegen,
insofern schwache, kränkliche Lehrer und Lehrerinnen, die oft fehlen
und vertreten werden müssen, die Kinder nicht in genügender Weise
zu fördern vermögen.
Manche Gemeinden suchen nun diesem Übelstande dadurch ab-
zuhelfen, daß sie den gesamten Lehrstoff der Volksschule auf sieben
Jahresstufen verteilen; die achte Klasse wollen sie dann gewisser-
maßen als Selekta angesehen wissen, die entweder ganz neue, über
die Anforderungen der Volksschule hinausgehende Stoffe oder eine
vertiefende Wiederholung des gesamten Schulpensums bieten soll.
Dieses Verfahren erweist sich schon deshalb offenbar als unzweck-
mäßig, weil, wie die vorausgeschickten statistischen Angaben beweisen,
die oberste Klasse auch in solchen Schulen häufig nicht absolviert
wird, welche das gesamte Schulpensum auf nur sechs Klassen verteilen.
Ein mehrjähriges Zurückbleiben der Kinder auf den untersten
20i
Volksschulwesen.
Tabelle 11. Die bei Beendigung der Schulpflicht im normalen
besuchten Klasse ini
Stadt
Bei Beendigung der Schul- , Von den Knaben waren
pflicht im normalen Alter
entlassen
männlich j weiblich ■ zusammen
zweit-
dritt-
ober-
ober-
sten
sten
%
%
Altona . .
Berlin . .
Breslau . .
Magdeburg
Stettin . .
Cassel
Charlottenburg .
Chemnitz . . . .
Dortmund . . .
Essen
Frankfurt a. M.
Hannover . . . .
München . . . .
Posen
Stuttgart . . . .
Dresden. .
Leipzig . .
Mannheim
Barmen
Bremen
Cöln
Danzig
Düsseldorf . . .
Halle a. S. ...
Hamburg ....
Kiel
Königsberg i.Pr.
Straßburg i. E. .
a) Sechsstufige
973
947
1 920
60,02
29,19
9,15
10 282
10 727
21 009
62,81
24,36
9,87
1 65,3
1 814
3 467
76,16
16,76
6,11
1079
1 112
2 191
50,88
32,25
13,81
1 250
1 240
2 490
61,44
25„36
11,04
b) Siebenstufige
565
647
1 212
64,96
23,72
8,49
845
844
1689
48,99
28,88
16,57
1 561
1783
3 344
71,81
22,10
6,09
966
949
1915
70,70
19,05
7,25
1 046
1 075
2 121
77,05
17,30
4,88
2 237
82,17
12,29
5,54
1 049
1 114
2 163
63,78
27,45
7,05
2 178
2 832
5 010
66,39
23,09
8,22
484
489
973
28,72
23,14
21,90
709
772
1 481
92,95
6,77
c) Acht
0,28
stufig
2 058
2 288
4 346
60,64
25,36
11,08
3 222
3 562
6 784
71,69
18,93
7,39
758
918
1676
46,44
32,98
13,98
dj Verschiedene
881
912
1 793
68,56
22,36
6,92
899
945
1 844
74,86
15,24
7,12
2 241
2 246
4 487
75,90
17,27
5,76
759
786
1 545
50,85
27,67
15,55
1200
1 269
2 469
77,08
17,08
4,50
1023
1 118
2 141
48,29
27,66
17,30
4 059
41,38
8 197
60,14
24,59
11,65
356
433
789
60,96
23,60
10,95
1098
1 158
2 256
71,04
18,49
9,11
393
387
780
82,70
13,49
1,52
Die V'olksschulf in den irrößeren dt-iitschen Städten.
209
Alter entlassenen Volksschüler in der Gliederimg nach der zuletzt
Schuljahre 1900/1901.
zuletzt
in der . .
. . Klasse
\'on den Mädchen waren
zuletzt ii
der . .
Klasse
viert-
fiinft-
sechst- siebent-
zweit- dritt-
ober-
ober- ober-
sten
sten sten
viert-
fünft-
sechst-
ober-
ober-
ober- ober-
ober-
ober-
ober-
sten
sten
sten sten
sten
sten
sten
%
%
% %
% 1 7o %
%
%
%
Schulsvsteme.
1,64
2,65
0,91
2,88
1,92
—
—
— 57,34
31,36
9,61
1,27
0,42
0,31
—
- , 62,89
24,73
9,82
2,37
0,19
0,06
—
— 1 79,82
14,94
4,80
0,39
0,05
0,09
0,09
— [ 51,26
31,29
13,67
3,60
0,09
0,24
—
- 1 63,39
20,89
12,50
3,06
0,16
0,09
Schulsysteme.
2,48
4,97
2,59
0,48
1,72
2,30
19,83
0,35
0,59
0,41
0,29
5,79 0,62
69,55
50,00
78,01
73,45
77,67
65,17
69,99
26,18
93,52
19,32
29,27
15,14
19,60
15,54
25,23
20,90
21,06
6,35
8,35
2,78
_
15,99
4,27
0,47
6,79
0,06
—
4,95
2,00
—
5,30
1,21
0,28
7,18
2,42
7,42
1,69
—
26,79
16,57
8,79
0,13
—
-
0.6
Schulsvsteme.
2,53 0,34 —
1,93 0,06 —
4,49 2,11
0,05 68,23 20,89
— 77,85 14,60
26,80 43,90
8,74
2,06
0,04 i
[ 5,70
1,77
0,08 '
20,26
6,75
2,29
0,04
1,93
2,11
0,85
5,93
1,25
6,26
3,28
3,65
1,36
2,29
0,23
—
0,56
0,11
—
0,22
—
0,09
0,49
—
—
0,29
0,05
—
0,56
—
0,28
-
-
69,19
74,08
76,63
49,49
79,98
47,40
61,04
63,97
66,24
86,05
22,26
5,37
2,74
0,44
'■ i
15,87
6,67
2,43
0,95
— 1
16,47
5,52
1,25
0,13
—
26,59
18,70
5,09
0,13
—
14,50
4,65
0,87
—
— <
29,16
16,19
6,89
0,36
— !
23,37
11,72
3,50
0,32
0,05
23,33
9,47
2,31
0,92
—
23,83
7,60
2,33
—
—
12,14
1,03
0,78
—
—
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III
210 Volksschulwesen
Stufen, das den meisten Anstoß erregen muß, wird wenigstens zum
Teil durch die Hilfsschulen beseitigt werden, denn diejenigen Kinder,
welche in ziemlich beträchtlicher Anzahl in der untersten oder
nächstuntersten Klasse zurückblieben, waren tatsächlich der über-
wiegenden Mehrzahl nach geistig anormal und werden jetzt der
Hilfsschule überwiesen. Aber auch für jene, welche, ohne geistig
anormal zu sein, wesentlich um äußerer Verhältnisse willen nur
bis zur Mittelstufe oder bis zur dritten oder zweiten Klasse ge-
langten, beginnt man jetzt Fürsorgemaßregeln zu treffen. Der Weg,
den man vielleicht auch in anderen Großstädten einzuschlagen haben
wird, ist durch den Versuch des Mannheimer Stadtschulrats
Dr. Sickinger vorgezeichnet. Die (erweiterte) Volksschule in Mann-
heim enthält ein Normalklassensystem, aufsteigend von I bis VIII,
und ein Sonderklassensystem, dem alle diejenigen Schüler zeitweise
oder dauernd zugewiesen werden, die dem Unterricht in den
Normalklassen nicht zu folgen vermögen. Je nach den Ursachen
des Zurückbleibens zerfallen die Sonderklassen wieder in Hilfsklassen
für geistig zurückgebliebene, d. h. anormale, und in Wiederholungs-
und Abschlußklassen für Schwachbegabte und unregelmäßig geförderte
Kinder. Die Hilfsklassen sowie die gleichfalls eingerichteten Sprach-
heilkurse für sprachgebrechliche Kinder werden an anderer Stelle Be-
rücksichtigung finden; hier handelt es sich besonders um die Wieder-
holungs- und Abschlußklassen. Der „Jahresbericht über den Stand
der dem Volksschulrektorat unterstellten städtischen Schulen in Mann-
heim im Schuljahr 1902/03" gibt eine Darstellung dieser Einrichtungen,
der wir folgendes entnehmen:
,,Die Wiederholungsklassen, die bis zur vierten Klassenstufe (ein-
schließlich) fortgeführt werden sollen und als deren Ergänzung von
der fünften Klassenstufe an die Abschlußklassen anzusehen sind, haben
die gleichen Lehrziele wie die entsprechenden normalen Klassen. In
Wiederholungsklasse I ist also der Stoff der normalen I. (untersten)
Klasse zu behandeln, in Wiederholungsklasse II der Stoff der normalen
II. Klasse usw., jedoch mit der Maßgabe, daß der Lehrer, sofern es
durch die Zusammensetzung der Klasse geboten erscheint, sich auf
das Wesentlichste des Unterrichtsstoffes beschränkt. Der Lehrplan
der Abschlußklasse V i enthält das Wesentlichste aus dem Stoff der
Normalklassen V bis VIII, soweit es von den in Betracht kommenden
Kindern erfaßt werden kann, der Lehrplan der Abschlußklassen V ii und
VI dasselbe mit weiteren Ergänzungen in einem zweijährigen Turnus."
Im wesentlichen bilden die Wiederholungs- und Abschlußklassen
Dif Volksschiik- in drii i^röl.kien deut-chcn Stiultt'ii. 211
ein Kinf- bis sechsklassiges Parallelsystem der Volksschule für solche
Kinder, welche infolge ihrer geringeren Begabung (ohne anormal zu
sein) oder um äußerer Hindernisse willen mit den besseren Volks-
schulkindern nicht gleichen Schritt halten können. Diesen schwächeren
Kindern werden in den Wiederholungs- und Abschlußklassen folgende
Vorteile geboten: Die Klassen sind nur mit ca. 30 Kindern besetzt;
auch diese Klassen können unter Umständen in Abteilungen zerlegt
und besonders unterrichtet werden; man wählt die erfahrensten und
leistungsfähigsten Lehrkräfte für diesen Zweck; man läi.U den Kindern
in erhöhtem Maße alle jene Wohlfahrtsein richtungen, wie Ferien-
kolonien, Kinderhorte, Darreichung von warmem Frühstück, von
Kleidung, von unentgeltlichen Schulmaterialien u. dergl. zuteil werden;
man beschränkt das Lehrziel auf das Notwendigste und sucht
durch Verlängerung der Pausen und Einzelunterricht jeder Über-
anstrengung vorzubeugen. Die auf diese Weise geförderten Schüler
erhalten schließlich durch geeignete Verteilung des Wissenswertesten
aus dem gesamten Pensum der achtklassigen Volksschule auf fünf
bis sechs Stufen eine in sich abgeschlossene Bildung, die freilich
etwas hinter den Gesamtleistungen der normalen Volksschule zurück-
steht. Diese Sondereinrichtungen bieten aber nicht nur den schwächeren
Kindern wesentliche Vorteile, sondern sie setzen auch die Schule in
den Stand, an die in den Normalklassen zurückbleibenden Schüler,
welche von dem Ballast der Schwachen befreit sind, höhere Anforde-
rungen zu stellen.
Über die Zahl der Kinder, die im Schuljahr l*J02/03 in den
Wiederholungs- und Abschlußklassen unterrichtet wurden, möge
folgende Tabelle Aufschluß geben:
Tabelle 12.
!
Zahl der Klassen
für
Schülerzah
zu Ende des
Schuljahrs
' 1 Knaben
Mädchen
Knaben
Mädchen
Zusammen
1 Wiederholungsklasse I
5
■
; 76
82
158
j (1. Schuljahr)
Wiederholungsklasse II
! (2. Schuljahr)
, Abschlußkkisse V i
6
! 96
26
100
38
196
64
1
1
(5. SchuljahrJ
' Abschlußklasse V n
2
5
65
159
224
1 (5. Schuljahr)
Abschlußklasse \I
3
5
87
167
254
(6. SchuljahrJ
Gesamtzahl der Schüler 350 546 896
14*
212 Volksschulwesen.
Es ist \-ielleicht hier der Platz, noch kurz auf eine Einrichtung
einzugehen, die sich ebenfalls in Mannheim findet und in das Sonder-
klassensystem eingegliedert ist, nämlich die Vorbereitungsklassen. Sie
hat sich als notwendig erwiesen, da in den meisten deutschen Staaten
eine organische Verbindung zwischen der höheren und der Volks-
schule fehlt. In vielen Gegenden sind den Gymnasien und gleich-
wertigen Anstalten dreiklassige elementare Vorschulen angegliedert,
welche die Schüler vom sechsten bis neunten Jahre für die unterste
Klasse des Gymnasiums vorbereiten. Der Übergang von den unteren
Klassen der Volksschule in die höhere Schule wird im allgemeinen
mit dem Verlust eines Lebensjahres erkauft, da gewöhnlich ein vier-
oder mehrjähriger Besuch der Volksschule bezw. die diesem Besuche
entsprechenden Kenntnisse als Vorbedingung für die Aufnahme in
eine höhere Schule angesehen werden. „Von dem Gedanken aus-
gehend, daß in dem weiten Rahmen einer großstädtischen Volks-
schule recht wohl besonderen Bedürfnissen verschiedenster Art Rech-
nung getragen werden könne, wurden nun in Mannheim seitens der
Schulleitung im Einverständnis mit der Schulkommission in den letzten
drei Jahren diejenigen Schüler der Volksschule, die später in eine
höhere Schule überzutreten beabsichtigten und nach zweijährigem
Schulbesuch nach Fähigkeit, Fleiß und Leistungen für den Besuch
einer höheren Schule geeignet schienen, auf der dritten und vierten
Klassenstufe in besondere Parallelklassen zusammengefaßt und er-
hielten so, ohne daß hierdurch ein Mehraufwand verursacht wurde,
eine ihrer höheren Leistungskraft entsprechende, den Bedürfnissen
der höheren Schulen angepaßte Ausbildung. Dadurch wurde nach
dem übereinstimmenden Urteil der Direktionen der hiesigen Mittel-
schulen erreicht, daß die jetzt von der unentgeltlichen Volksschule
übertretenden Schüler in keiner Weise hinter den aus anderer Vor-
bereitung kommenden Knaben zurückstehen. Im Schuljahr 1901/02
waren sechs Vorbereitungsklassen eingerichtet und zwar drei dritte
Klassen (zusammen 132 Knaben; und drei vierte Klassen (zusammen
116 Knaben). Die Vorbereitungsklassen, als eine besondere Spezies
neben den übrigen bestehenden Sonderklassen (Hilfsklassen, Wieder-
holungsklassen, Abschlußklassen), sind ein weiterer Beweis dafür, wie
zweckmäßig das Prinzip der Gruppierung der Schüler in Unterrichts-
gemeinschaften nach Maßgabe der Arbeits- und Bildungsfähigkeit ist;
sie beweisen, daß die Durchführung dieses Prinzips innerhalb der
obligatorischen Volksschule nicht bloß den Schwachen, sondern auch
den Begabten und denen, die besonderen Zielen zustreben, eine den
Uie \'olksschuIe in den gröl.it'ien deutsclicn Städten
213
natürlichen Voraussetzuni^cn entsprechende Übunt^ nnd Ausbilduni^
der geistigen Kräfte ermöglicht". (Jahresbericht über den Stand der
dem Volksschulrektorat unterstellten städtischen Schulen in Mannheim
im Schuljahr 1901/02. S. 15—16).
Den Schluß möge hier eine Übersicht über die Durchschnitts-
frequenz der Volksschulklassen in 72 deutschen Städten bilden. Sie
gründet sich auf eine durch den Stadtschulrat Dr. Neufert in Char-
lottenburg veranstaltete Umfrage im Sommer des Jahres 1902. Wir
entnehmen dieselbe der statistischen Beilage der Pädagogischen Zeitung
vom 17.'Dezember 1903,
Stadt
Schüler-
Stadt
Schüler-
Stadt
Schüler-
zahl
zahl
zahl
Leipzig . . .
. . 39
Kassel . . .
. . . 50
Elberfeld . .
. . . 55
Dresden . . .
. . 41
Osnabrück
. . . 50
Fürth . . .
. . . 55
Freiburg i. B.
. . 41
Potsdam . .
. . . 50
Rixdorf . . .
. . . 55
Lübeck . . .
. . 41
Straßburg i. E. ,
. . . 50
Cöln . . . .
. . . 56
Karlsruhe . . .
. . 42
Mülhausen . ,
. . . 51
Hannover . .
. . . 56
Oldenburg . .
. . 42
München . .
. . . 51
Hagen i. W^ .
. . . 56
Plauen i. V. . .
. . 43
Augsburg . .
, . . 51
Frankfurt a. 0.
. . . 57
Chemnitz . . .
. . 43
Frankfurt a. M.
. . . 51
Spandau . .
. . . 57
Mannheim
. . 43
Würzburg . .
. . . 51
Düsseldorf . .
. . . 58
Zwickau . . .
. . 45
Braunschweig
. . . 52
Ludwigshafen
. . . 58
Nürnberg . . .
. . 46
Gera . . .
. . . 52
Aachen . . .
. . . 59
Charlottenburg .
. . 46
Krefeld . . .
. . . 52
Görlitz . . .
. . . 59
Hamburg . . .
. . 47
Wiesbaden
. . . 52
Elbing . . .
. . . 60
Berlin . . . .
. . 48
Barmen . . ,
. . . 52
Bielefeld . .
. . . 62
Darmstadt . . .
. . 48
Breslau .
. . . 53
Essen . . .
. . . 62
Gotha . . . .
. . 48
Kiel ....
. . . 53
Altena . . .
. . . 63
Metz . . . .
. . 48
Königsberg
. . . 53
Erfurt . . .
. . . 63
Stettin . . . .
. . 48
Posen . . .
. . . 53
Remscheid . .
. . . 63
Stuttgart . . .
. . 48
Weimar . .
. . . 53
Bochum . .
. . . 64
Bremen . . .
. . 49
Bromberg . .
. . . 54
Dortmund . .
. . . 64
Pforzheim . . .
. . 49
Bonn ...
. . . 54
Linden . . .
. . . 65
Rostock . . .
. . 49
Liegnitz . .
. . . 54 '
Diüsburg . .
. . . 66
Schöneberg . .
. . 49
Magdeburg
. . . 54 '
Offenbach . .
. . . 66
Danzig . . . .
. . 50
Mainz . . . ,
• • • 54
Münster . .
. . . 67
KAPITEL VIII.
Die Mittelschulen.
Der Name Mittelschule bezeichnet in Norddeutschland, speziell
in Preußen, eine Schulgattung, die über das Ziel der Volksschule
hinausfuhrt, also gewissermaßen zwischen dieser und den höheren
Schulen (Realschule, Gymnasium) eine Mittelstellung einnimmt. Außer
in Preußen gibt es diese Art von Schulen mit derselben Bezeichnung
nur noch in einigen norddeutschen Staaten, beispielsweise im Herzog-
tum Anhalt. Im Königreich Sachsen bestehen ähnliche Einrichtungen
unter dem Namen mittlere bezw^ höhere Volksschulen.
Hamburg hat, wie bereits früher erwähnt worden ist, an einer Anzahl
von Schulen besondere, über das Ziel der Volksschule hinausführende
Oberklassen, Selekten genannt. Von den süddeutschen Staaten
weisen Baden (in den sogenannten gehobenen Abteilungen) und
Hessen (in den in einzelnen Städten bestehenden erweiterten
Volksschulen) verwandte Einrichtungen auf. Da aber diese Schulen
in den genannten Staaten sowohl verwaltungsrechtlich wie in den
vorhandenen statistischen Übersichten zu den Volksschulen gezählt
werden, so sind sie auch in dieser Arbeit als zu jenen gehörig be-
handelt worden, und wir beschränken uns hier bezüglich der außer-
preußischen Staaten auf ganz wenige die Zahl der Schulen und
-Schüler betreffende Angaben.
Im Königreich Sachsen belief sich nach der Erhebung \om
1. Dezember 1899 die Zahl der mittleren Volksschulen auf 241 mit
4859 Klassen und 188 366 Schülern und die der höheren Volksschulen
auf 45 mit 616 Klassen und 17 460 Schülern.
Im Großherzogtum Baden wurden im Jahre 1900 in den gehobenen
Abteilungen (an wieviel Schulen solche eingerichtet waren, ist aus der
I)ie Miltclschiikii. 215
Statistik nicht ersichtlich) 259U Knaben und 38()4 Mädchen von
140 Lehrern und 66 Lehrerinnen unterrichtet.
Im Großherzogtum Hessen gab es im Frühjahr 1902 in vier
Städten 6 erweiterte Volksschulen mit 88 Klassen und 3695 Schülern
(1784 Knaben und 1911 Mädchen), an denen 72 Lehrer und 18 Lehre-
rinnen, zusammen 90 Lehrkräfte, wirkten.
In Preußen haben Schulen dieser Art schon seit alter Zeit in
den verschiedensten Formen und unter den verschiedensten Be-
zeichnungen bestanden. Man nannte sie Bürger-, Mittel-, Rektor-,
höhere Stadtschulen. Sie bestanden entweder neben der Volksschule,
die dann gewöhnlich den Charakter der Armenschule trug, oder
zweigten sich nur in den oberen Klassen von derselben ab. Ihr
Lehrplan unterschied sich von dem der Volksschule gewöhnHch nur
dadurch, daß Unterricht in einer Fremdsprache (in Knabenschulen
meist Latein, in Mädchenschulen F'ranzösisch) erteilt wurde. Oft be-
stand der Unterschied auch nur in der verschiedenen Bemessung des
Schulgeldes. All diesen Schulen wurde durch die „Allgemeinen
Bestimmungen" vom 15. Oktober 1872 eine einheitliche Organisation
gegeben.
Die wesentlichsten Punkte dieser Bestimmungen sind folgende:
„1. Die Schulen sollen neben den Volksschulen des Ortes be-
stehen und mindestens 5 aufsteigende Klassen mit einer Maximalzahl
von je 50 Schülern haben. Es kann jedoch gestattet werden, daß
die Oberklassen einer sechskla-ssigen Volksschule nach dem Lehrplane
der Mittelschule arbeiten.
2. Der Unterricht in der Mittelschule ist im Anschlüsse an einen
beigefügten Lehrplan*), welcher auf eine sechsklassige Schule berechnet
ist, zu erteilen. Bei 5 Klassen sind die Pensa der drei Unterklassen
auf 2 Klassen zu verteilen. Bei mehr als 6 Klassen findet eine Er-
weiterung des Pensums statt.
Wo die lokalen Verhältnisse eine besondere Berücksichtigung
des Ackerbaues, Fabrikwesens, Bergbaues, Handels oder der Schiffahrt
in dem Lehrplan bedingen, sind die erforderlichen Änderungen in
demselben v^orzunehmen. Demgemäß ist es auch je nach dem Be-
dürfnisse zuzulassen, nur eine der im Lehrplane bezeichneten neueren
Sprachen oder statt derselben eine andere in den Lehrplan auf-
zunehmen.
*) Derselbe wird in folgendem wiedergegeben werdc-n.
21 6 Volksschulwesen.
3. Die Inventarien der Mittelschulen müssen den höheren Lehr-
zwecken derselben entsprechen. Insbesondere sind für den Unterricht
in der Geographie und in der Naturkunde die erforderlichen Lehr-
mittel zu beschaffen.
Auch ist für eine Bibliothek Sorge zu tragen, welche diejenigen
größeren wissenschaftlichen Werke enthält, deren Benutzung für die
Lehrer notwendig ist.
4. Der Unterricht ist nur von solchen Lehrern zu erteilen,
welche hierzu nach Maßgabe der Prüfungsordnung als befähigt an-
erkannt sind."
Der durch die ,, Allgemeinen Bestimmungen" vorgeschriebene
Lehrplan setzt besonders für den Unterricht im Rechnen, dem auch
die Elemente der Buchstabenrechnung und Algebra als Aufgabe ge-
stellt werden, und in der Geometrie sowie in den Realien höhere
Ziele als für die Volksschule fest. Außerdem soll Unterricht in einer
oder in zwei fremden Sprachen, in der Regel im Französischen und
Englischen, oder in einer dieser Sprachen erteilt werden. Für Knaben-
schulen ist auch fakultativer Unterricht im Lateinischen zulässig.
Von der durch die „Allgemeinen Bestimmungen" gewähr-
leisteten Freiheit, die Mittelschulen in ihrer Organisation und ihrem
Lehrplan den örtlichen Verhältnissen möglichst anzupassen, ist aus-
giebig Gebrauch gemacht worden, sodaß auch jetzt noch, wie die
weiter unten gegebene statistische Übersicht des näheren erkennen
läßt, eine große Mannigfaltigkeit der Organisationsformen vorhanden
ist. Während in größeren und mittleren Städten die Schulen meist
selbständige, weder mit den Volksschulen noch mit den höheren Lehr-
anstalten in irgend welcher Verbindung stehende Anstalten sind,
bauen sie sich in kleineren Orten meist auf die Volksschule auf, und
die Knabenschulen werden in ihrem Lehrplan durch die höheren
Lehranstalten insofern beeinflußt, als sie gleichzeitig den Zweck ver-
folgen, einen Teil der Schüler für eine bestimmte Klasse des
Gymnasiums oder Realgymnasiums (gewöhnlich für die Quarta oder
Tertia) vorzubereiten. Die in den „Allgemeinen Bestimmungen" als
Norm aufgestellte Organisation in sechs aufsteigenden Klassen hat in
den als selbständige Organismen bestehenden Schulen größtenteils
dem acht- oder neunklassigen System Platz gemacht.
Wie sich auf Grund der angegebenen Verhältnisse im einzelnen
die Organisation der Mittelschulen gestaltet hat, soll an einigen Bei-
spielen gezeigt werden.
Die Mittelschule
217
Der Grundlehrplan für die Mittelschule in Preu(?>)en \oni 15. Ok-
tober 1872 stellt folgende Cbersicht der Lehrgegenstände auf:
Wöchentliche Stundenzahl
Lehrgegenstände
ni.
IV.
Rehgion
Deutsch, inkl. Lesen und Schreiben
Rechnen
Raumlehre
Naturbeschreibung
Physik ("Chemie)
Geographie ....
Geschichte ....
F"ranzösisch . . .
Zeichnen ....
Gesang
Turnen
2
2
5
2
2
2
2
5
2
2
2
2
2
5
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
zusammen
32
32
32
28
24
24
Dieser Lehrplan berücksichtigt im wesentlichen nur die Knaben-
schulen und ist, wie schon angedeutet wurde, den örtlichen Bedürf-
nissen entsprechend vielfach modifiziert worden. Manche Städte, wie
Berlin, Charlottenburg und Hannover, haben sich der Einrichtung be-
sonderer Mittelschulen im Sinne des angeführten Ministerialerlasses gegen-
über überhaupt ablehnend verhalten, andere haben für Knaben- und
Mädchenschulen verschiedene Organisationen eingeführt, einige sogar
verschiedene Mittelschuleinrichtungen für dasselbe Geschlecht. Zum Teil
entspringt diese Verschiedenheit der verschiedenen Entstehungszeit
der bezüglichen Einrichtungen; so datiert die Knabenmittelschule in
Elberfeld vom Jahre 1873, während die Mädchenmittelschulen erst
1886 begründet wurden. Die Mittelschulklassen für Knaben bilden
im wesentlichen einen dreistufigen Aufbau auf die ersten 6 Volks-
schuljahre. Nach Vollendung des 6. Schuljahres vollzieht sich für
die Schüler eine Gabelung, die einen, welche nicht in der Lage oder
willens sind, Schulgeld zu zahlen, treten in die erste Volksschulklässe
ein, während die anderen in die unterste Mittelschulklasse aufgenommen
werden. Da diese Mittelschulklassen nur an 6 Volksschulen ein-
2 I }') \'olksscliul\vt>sen.
gerichtet sind, so vereinigen sie regelmäßig die aus der (). Klasse
abgehenden Schüler mehrerer Volksschulen in sich. Die Mädchen-
mittelschulen in Elberfeld sind selbständige Organismen, welche die
Schülerinnen mit Beginn des schulpflichtigen Alters aufnehmen und
sie durch volle 9 Schuljahre weiterführen. Beide Einrichtungen,,
sowohl die für Knaben als die für Mädchen, verlangen einen neun-
jährigen Schulbesuch und haben eine Fremdsprache, die französische,,
als obligatorischen Lehrgegenstand.
Ein ähnliches Verhältnis besteht auch in Breslau zwischen den
Knaben- und Mädchenmittelschulen. Die evangelische Knabenmittel-
schule auf den Teichäckern, Malteserstraße 28, umfaßt 5 aufsteigende
Klassen; sie baut sich auf die untersten 4 Klassen der Breslauer.
Volksschule auf. Die Schüler, welche in die unterste Mittelschulklasse
eintreten sollen, müssen die dritte Klasse einer Breslauer Volksschule
mit Erfolg besucht haben oder eine anderwärtig erworbene ent-
sprechende Vorbildung nachweisen. Die evangelische Mädchenmittel-
schule t Katharinenschule) dagegen ist eine \'oll organisierte achtstufige
Lehranstalt, welche keinerlei Vorbildung von den in die unterste
Klasse eintretenden Schülerinnen \'erlangt.
In Frankfurt a. M. sind sowohl die Knabenmittelschulen wie die
Mädchenmittelschulen achtstufige Vollanstalten.
hl Kiel gibt es eine gehobene Mittelschule die städtische
Mädchenschule) und außerdem 4 Knaben- und 3 Mädchenmittel-
schulen, welche sich von den Volksschulen in betreff ihrer Lehrver-
fassung, vornehmlich durch Einfügung des englischen Unterrichts
als obligatorischen Lehrgegenstandes, unterscheiden. Der Lehrgang
dieser letzteren Knabenmittelschule ist neunjährig, der der Mädchen
achtjährig, der der gehobenen Mädchenmittelschule ebenfalls achtjährig.
Der eigenartige Charakter dieser Anstalt kennzeichnet sich aber vor-
nehmlich durch Aufnahme zweier Fremdsprachen, des Englischen und
Französischen, welche von Klasse 5, das ist vom Beginn des vierten
Schuljahres ab, mit der Malsgabe betrieben werden, daß die Eltern
für ihre die Schule besuchenden Kinder entweder den englischen
oder den französischen Unterricht wählen können.
Zur Veranschaulichung der Lehrpläne der deutschen Mittel-
schulen mögen hier einige Beispiele für die Verteilung der Wochen-
.stunden in linigen größeren Mittelschulen folgen:
Die MitlelschuU
219
S lu n ( l e II V e r t e i I u n g s p 1 a u der K n a b e 1 1 ni i 1 1 1; 1 s c h u 1 e ii .
l.ehrgegeustände
Wöcheutlichf Stundenzahl
I II III I\ \ \l VII j VIII I DC
_i ^._J 1 1 I \ \
Stettin (Bamimschule).
Religion 2
Deutsch einschl. Lesen und
Schreiben 5
Französisch 4
Englisch 4
Rechnen 3
Raumlehre 2
Naturbeschreibung .... 3
Geographie 2
Geschichte 2
Zeichnen 2
Gesang 1
Turnen 2
32
32 32
32
20
Religion 2
Deutsch 4
Rechnen einschl. Algebra . 4
Raumlehre . . .... 2
Naturbeschreibung .... 1
Physik (Chemie) .... 4
Geographie 2
Geschichte 2
Französisch 5
Englisch 3
Schreiben —
Zeichnen 2
Gesang 1
Turnen 2
9
6 5 -
2 3 3
2 2 2
•2 2 2
34
35 35
Religion 2
Deutsch 4
Rechnen einschl. Algebra . 3
Raumlehre 2
Naturbeschreibung . . . • \ 4
Physik (Chemie) . . . . |/
Geographie 2
Geschichte 2
Französisch 5
Englisch 4
Schreiben 1 —
Zeichnen 4
Gesang ' (K
Turnen 1 2
Polnisch fakultativ für Polen ' —
34
34
33
4 4
2 2
(2) =-
22
(V2)|
(2) i
34 34
34 I 33(2)1 24(2) 24 22
*1 Der Raumlehreunterrichl beginnt in Kl. V
dahin werden 5 Rechenstunden in Kl. V erteilt.
rst im zweiten Halbjahre; bis
220
Yolksschuhvesen.
Zur Vergleichung mögen hier auch die Stundenpläne einiger den
preußischen Mittelschulen gleichwertiger Anstalten außerpreußischer
Städte folgen:
Dresden. Un terrichtsgegenstäiide und Stundenzahl der evangelischen
Bürgerschule in den sechs^) oberen Knabenklassen^).
Unterrichtsgegenstände
Biblische Geschichte bezw. Bibelkunde
Katechismuslehre
Anschauungsiibungen
Lesen
Rechtschreibung
Sprachlehre
Aufsatzübungen
Französisch
Rechnen
Formenlehre
Naturbeschreibung
Naturlehre
Erdkunde
Geschichte
Schreiben
Zeichnen
Singen'')
Turnen
Summa
III
IV
32
32
32
VI
2 —
24
Für Karlsruhe sind durch Ortsstatut für die Bürgerschule und
die Töchterschule folgende Grundsätze festgelegt:
Die Bürgerschule ist eine erweiterte Volksschule im Sinne
der §§ 92 und 9'^ des Elementarunterrichtsgesetzes vom 1 3. Mai 1 892.
Dieselbe umfaßt die letzten 5 Schuljahrgänge und hat die besondere
Aufgabe, die Schüler mit den für das praktische Leben notwendigen
1) Die Zahl der Lektionen in Klasse VII und VIII beträgt wöchenthch 22 bezw.
18; sie dauern in der Regel 30 — 40 Min. Die Verteilung auf die einzelnen Lehrfächer
erfolgt nach Maßgabe des Lehrplans.
2j In den fünf oberen Mädchenklassen wird in wöchentlich je 4 Stunden Unterricht
in Nadelarbeit erteilt. Daher ist der Rechenunterricht in den fünf oberen Klassen um je
1 Stunde vermindert, der Unterricht in der Formenlehre (Raumlehre) fällt ganz weg, und
auch der sprachliche Unterricht ist um einzelne Stunden vermindert. Die gesamte
Stundenzahl in der VI. Klasse beträgt 26 statt 24 in der Knabenschule.
'^) Für die Klassen I — III ist noch wöcheiitlich 1 Stunde Chorgesang anzusetzen.
Die Mittelschulen.
221
Kenntnissen und Fertigkeiten in erhöhtem Malie auszurüsten; sie setzt
den erfolgreichen Besuch der drei ersten Volksschulklassen voraus.
Lehrgegenstände
Wöchentliche Lehrstunden in Klasse*)
VII VIII
Religion . . . .
Deutsche Sprache .
Schönschreiben . .
Rechnen . . . .
Geometrie
Zeichnen . . . .
Geographie . .
Geschichte
Naturgeschichte
Xaturlehre . . .
Gesang . . . .
Turnen . . . .
Französisch . . ,
VI
2
2
3
3
3
2
2
1
! 3
3
3
1
2
2
9
9
' 2
2
2
2
; -k
\ 2
1 5
5
6
6
6
Sumnaa
32
32
32
32
In der VIII. Klasse können der deutschsprachliche und franzö-
sische Unterricht auf je 5 Stunden gemindert und dafür Volkswirt-
schaftslehre in wöchentlich 2 Stunden nach folgenden Gesichtspunkten
erteilt werden: I. Der Mensch in der Einzelstellung. 2. Die Familie.
3. Die Gemeinde. 4. Der Staat und seine Verfassung. 5. Die Arbeit
und die Versicherungen. 6. Das Kapital. 7. Wirtschaftliche Gesell-
schaften. 8. Handel und Verkehr. 9. Das Geld. 10. Der Kredit.
11. Finanzen. 12. Militär- und Marinewesen.
Die Töchterschule ist eine erweiterte Volksschule im Sinne
der 55 92 und 93 des Elementarunterrichtsgesetzes vom 13. Mai 1892.
Die Lehrgegenstände und Ziele sind diejenigen des Normallehrplanes,
erweitert durch Französisch, welches vom 4. Schuljahre an obliga-
torischer Lehrgegenstand ist, durch besondere Pflege des Zeichnens
in Verbindung mit dem Handarbeitsunterricht und durch eine den
besonderen Verhältnissen der Schule entsprechende Ausdehnung der
Realien.
Die Mittelschule setzt sich das Ziel, ihre Schüler und Schüle-
rinnen weiter zu fördern, als dieses in der gewöhnlichen Volksschule
'l Die Klassen steigen auf von IV — \'III.
222 \ olksschulwesen.
möglich ist. Abgesehen von dem fremdsprachlichen Unterricht stellt
sie sich auch in den anderen Unterrichtsfachern höhere Aufgaben.
Inwieweit es jeder einzelnen Anstalt gelingt, diese Aufgaben wirklich
zu lösen, das hängt natürlich wesentlich von der Tüchtigkeit ihrer
Lehrkräfte ab und kann nur nach dem Besuche des Unterrichts selbst
beurteilt werden. Welche Ziele aber im einzelnen erstrebt werden,
das läßt sich aus den Lehrplänen und Stoffverteilungen der Mittel-
schulen wohl entnehmen. Die Stoffverteilungspläne, welche bei ein-
zelnen Anstalten sehr sorgfältig ausgearbeitet sind, lassen erkennen,
was man erreichen will, und welche Wege man für die zweckmäßigsten
hält. Bei der Fülle der Unterrichtsstoffe werden wir uns auch hier
wie bei der Beurteilung der Lehrpläne der Volksschule nur auf
wenige Gebiete und auch dabei nur auf die recht eigentlich über die
Pensen der Volksschule hinausgehenden obersten Klassen beschränken
müssen. Wir wählen als Gegenstand der Vergleichung den deutschen
und den fremdsprachlichen Unterricht, besonders die Lektüre in der
Oberstufe, und wollen dann noch einen kurzen Blick auf einige cha-
rakteristische Unterrichtsgegenstände oder Behandlungsformen in den
Oberklassen der Mittelschulen werfen.
Die der achtklassigen Organisation der städtischen Knabenmittcl-
schule in Halle a. S., Klosterstraße 9, aufgesetzte Selekta (9. Schul-
jahr) richtet sich in ihrer Stoffverteilung für die deutsche Lektüre
wesentlich nach historischen Gesichtspunkten. Man beginnt mit Dar-
bietungen aus Luthers Schriften, führt die Schüler über Lessing, Herder,
Goethe, Schiller zu den wichtigsten Dichtern des 19. Jahrhunderts
(Uhland, Freiligrath, Geibel) und endet mit Darbietungen aus der
neueren Literatur, aus den Werken \^on Gustav Freytag, Felix Dahn,
Viktor von Scheffel, Ernst von Wildenbruch, um die Schüler zur
selbständigen Lektüre nach der Schulzeit anzuleiten.
Von dramatischen Werken werden in dieser Klasse gelesen:
Le-ssings Minna von Barnhelm, Goethes Egmont, Schillers Jungfrau
von Orleans; in der vorhergehenden Klasse sind bereits neben Her-
mann und Dorothea Wilhelm Teil und in der zweiten Klasse neben
Abschnitten aus dem Nibelungenhed und Gudrun Herzog Ern.st von
Schwaben von Uhland gelesen worden.
Der Lektüre treten stilistische Übungen zur Seite, die sich dann
zu Vorträgen und .Aufsätzen verdichten.
In Frankfurt a. M. wird in der ersten Klasse, sowohl in Knaben-
ais auch in Mädchenschulen, neben der (ilocke und Hermann und
Dorothea Wilhelm Teil Lreles-^n.
Die Mitlclschulen. 223
In Düsseldorf werden in der ersten Klasse der achtklassigen
Mädchenmittelschule an der Florastraße das Nibelungenlied, das
Gudrunlied, das Lied von der (Blocke und Wilhelm Teil gelesen.
In der Knabenmittelschule in Halle ist Französisch von der
5. Klasse an mit wöchentlich 5 Stunden obligatorischer Unterrichts-
gegenstand, F2nglisch dagegen fakultativ von der 2. Klasse an mit
wöchentlich 4 Stunden. Es wird in der Abschluisklasse besonderer
Wert darauf gelegt, die Schüler zu befähigen, leichte französische
Schriftsteller mit Verständnis zu lesen und sich in den einfachen
Formen des mündlichen und schriftlichen Verkehrs einigermaßen zu
verständigen. Sie sollen mit Frankreich, dem französischen Volk,
seiner Geschichte und Kultur, seinen Bräuchen und Sitten bekannt
werden, sich Sicherheit in der Formenlehre und einige Vertrautheit
mit den Hauptregeln der französischen Syntax aneignen. Schon in
den vorhergehenden Klassen ist eine große Anzahl von prosaischen
Lesestücken und Gedichten gelesen und teilweise gelernt worden;
daneben wurde die Grammatik .systematisch durchgenommen. Zur
Lektüre diente gelegentlich auch eine längere Erzählung, wie Francinet
von Bruno. In der oberen Klasse wird diese Lektüre von Prosa-
stücken und (Gedichten ebenso wie die grammatischen Übungen fort-
gesetzt; zur Lektüre dient hauptsächlich ein Werk, welches in die
Welt des Handels und Verkehrs einführen soll: Pierre, le jeune com-
mer^ant von Chaillet-Bert. Der englische Unterricht kann naturgemäß
nur bescheidenere Erfolge erzielen: es werden zur Lektüre Lamb's
Tales from Shakespeare verwendet.
Die mündliche und schriftliche Gewandtheit in der Behandlung
der französischen Sprache bildet in den Frankfurter Mittelschulen, in
denen der Unterricht in wöchentlich 5 Stunden von der V. bis I.
Klasse betrieben wird, die Hauptaufgabe, und diese Aufgabe wird
kaum irgendwo besser in gleichwertigen deutschen Anstalten gelöst.
Der englische Unterricht wird in Frankfurt nur auf der Oberstufe er-
teilt und ist nicht allgemein verbindlich; es sind dafür 3 Stunden
wöchentlich angesetzt. Das Lehrziel ist, die Schüler und Schülerinnen
7,u befähigen, einen leichten englischen Schriftsteller zu verstehen und
die englische Sprache in den einfachsten Formen des täglichen Ver-
kehrs mündlich und schriftlich mit einiger Gewandtheit zu gebrauchen.
Dafi die Realien, insbesondere das Zeichnen und der natur-
kundliche Unterricht, in den Knabenmittelschulen mit ganz besonderer
Sorgfalt und Liebe betrieben werden, läßt sich bei dem Charakter
der Anstalten von \ornherein erwarten.
224 \'olksscliul\vesen.
Die Einrichtungen für den physikalischen Unterricht in der
Knabenmittelschule in Posen würden jeder höheren Lehranstalt zur
Ehre gereichen; die Schule ist mit einem vorzüglichen Skioptikon
versehen, an die elektrische Leitung angeschlossen und reich mit allen
physikalischen Apparaten, mit den erforderlichen Chemikalien und
mit Präparaten und Anschauungsmitteln für den naturkundlichen
Unterricht ausgestattet. Sie verfügt übrigens auch über einen Schul-
garten.
Auch die Knabenmittelschule in Breslau ist mit einer reichen
physikalischen Sammlung und hervorragenden technischen Anlagen
ausgestattet. Der naturkundliche Unterricht wird hier in der obersten
Klasse wesentlich von dem Gesichtspunkte der Einführimg in die
Technologie betrieben und gruppiert sich um folgende Hauptgebiete:
„Unser Obdach und seine Ausstattung: Hausbau, das Holz und seine ^^er\vertung,
Holzbearbeitungsmaschinen, Feuerzeuge und Zündhölzer,*) Öfen, Zentralheizungsanlagen,
die Wassen-ersorgung. — Verarbeitung und Verwertung landwirtschaftlicher Produkte:
die Mühle, Fleischversorgung, Eismaschinen, Bierbrauerei,*) Spiritusfabrikation,*) Wein-
bereitung,*) Zuckerfabrikation.*) — Unser Gewand und seine Herstellung: GespinststoBe,
Spinnrad und Spinnmaschinen, Webstuhl und Webmaschinen, Arten des Gewebes, Färberei
und Farbstofle, Teerfarben und ihre Darstellung, Zeugdruckerei, Gerberei. — Der Bergbau
und die Veredelung seiner Produkte : Geschichtliches, Anlage eines Steinkohlenberg\verkes,
Steinkohlen- und Braunkohlenbergbau, Erzlagerstätten, die Eisenerze und ihre \'erhüttung,
Darstellung des Nickels, Gewinnung von Zink, Blei, Zinn, Kupfer, Quecksilber, Silber und
Gold, Salzbergbau, Sodafabrikation. — Der Steinbruch imd ähnliche Betriebe und ihre
Produkte: Kalkbrennerei,*) Ziegelei, *J Töpferei,*) Porzellanfabrikation,*) die Glashütte,*)
Glasschleiferei und Glasätzerei. — Die Maschine als Kraftspenderin : Wasserräder, Turbinen,
Windräder, die Dampfmaschine (Newcomens Maschine, Watts Niederdruckmaschine,
die Lokomotive*) als Hochdruckmaschine, Expansionsmaschinen, Maschinen nach Woolf-
schem System, Receivermaschinen, Heißdarapfmaschinen, Manometer und Sicherheitsventile,
Effekt einer einzylindrigen Auspufl'maschine, Gas-, Petroleum-, Benzin- und Spiritus-
motoren. — Die Erzeugung des elektrischen Stromes: Galvanische Elemente,*) Akkumu-
latoren, elektrische Maschinen (nur die Gleichstrommaschine wurde ausführlicher behandelt),
das Ohmsche Gesetz, elektrische Maße und Meßapparate (Amperemeter, \'oltnieter,
Wheatstonesche Brücke), elektrische Leitungen, Elektromotoren, elektrische Kraftüber-
tragung, Transformation. — Das Beleuchtungswesen: die Kerzen, Leuchtgasfabrikation,*)
Gasglühlicht, Petroleum,*) elektrische Beleuchtung, Azetylen,*) Spiritusglühlicht. — Der
Verkehr und seine Einrichtungen: Eisenbahn, Dampfschiffahrt, Telegraphie (Morses
Schreibtelegraph,*) überseeische Telegraphie, neuere Telegraphen, drahtlose Telegi'aphie),
Fernsprechwesen. — Die Technik im Dienste der Kunst und der W' issenschaft : Galvano-
plastik,*) Herstellung von Metallüberzügen auf galvanischem Wege, Herstellung der Cliches,
Photographie*) und Lichtdruck, Herstellung von Bildern, der Buchdruck, Papier-
fabrikation. — Rolle."
Daß die Mittelschule sich in ihrer äußeren Ausgestaltung, in der
Anlage der Schulhäuser, in der Ausrüstung mit Schulutensilien, der
.Ausstattung mit Lehrmitteln, der Verwendung von künstlerischem
*) Die besternten Kajjitel sind Wiederholungen aus dem Stoffe der Vorklassen.
Die :Mittelschiilen
225
Wandschmuck, der Reichhaltigkeit der Lehrer- und Schülerbibliotheken
wesentlich über das Niveau der Volksschule erhebt, ist durch ihre
Aufgabe bedingt. Auch fallen die durch diese gewähltere Einrichtung
entstehenden Kosten nicht so schwer auf die Schultern aller steuer-
zahlenden Bürger, da in den Mittelschulen Schulgeld erhoben wird,
mithin ein Teil der Kosten von den zunächst Beteiligten, den Eltern
der Schulkinder, getragen wird.
Da die Mittelschulen selten den Umfang der Volksschulen er-
reichen, so sind die Schulhäuser ihrer Ausdehnung nach oft nicht so
imposante Gebäude wie die Volksschulhäuser; was ihnen aber an
äußerem Umfang entgeht, das ersetzen sie durch die innere Ein-
richtung. Als besonders geschmackvoll ausgeführter Mittelschulbau
Ausgaben
Souchayschule 1)
22 Kl. 776 Knaben u. Mädchen
(Schulgeld 44 M. jähriich)
1902
1901
Gesamtsumme .
A. Besoldungei
97 894,80
Gehälter laut Personaletat 87 670
Vertretungen u. Hilfsstd. 2 946
Summa A.
105630
94 275
3 605
1903
Bonifatiusschule
16K1. 767 Knaben u. Mädchen
1901
1902
1903
114090
1007,97 i 67530 67 710
101 591,28; 56 231,94 ' 58 080
3 998,72 1710 2 600
90 616
599,21
400
650
57 910
2 400
97 880 105590 57 941,94 60680 i 60 310
L
B. Schulbedürfnisse
Lehrmittel und Lehr
apparate ....
Lehrerbibliothek . .
Schülerbibliothek .
Druck- und Buchbinder
arbeiten ....
Bureau- und Schreibarb.
Schreibmaterialien .
Beleuchtung . . .
Heizung
Reinigung ....
Kleine bauliche Her
Stellungen sowie In
standhaltung und Er
gänzung des Inventars
Insgemein ....
Summa B
1) Das in der Souchayschule einkommende Schulgeld wurde für 1903 mit 42 000 M.
leranschlagt.
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 15
149,82
150
150
143,26
150
150
93,47
100
100
99,57
100
100
257,17
400
400
1 73,95
200
200
145,24
150
200
77,68
150
150
424,58
350
480
101,45 '
150
150
2 748,28 i
3 400
3400
1 045,30
3 500
3 800
1 688,02
1 800
1 900
995,98
1 100
1 150
725,01
600
720
; 519,23
500
200
448
400
500
710,56
700
700
7 278,80
7 750
8 500
4 066,03
6 850
7 400
226
Volksschuhvesen.
möge hier die Knabenniittelschule in der Klosterstraße zu Halle
genannt werden, deren farbenprächtige innere Ausstattung auf der
Städte-Ausstellung in Dresden Aufsehen erregt hat, und deren
stimmungsvolle Aula einen besonders würdigen Raum für Schulfeier-
lichkeiten darbietet. Es möge auch die zierlich und geschmackvoll
ausgestattete Knabenmittelschule in der Malteserstraße in Breslau
genannt werden und unter anderen die Fürstenberger Mittelschule in
Frankfurt a. M.
Wie sich der Etat der Mittelschule hinsichtlich der Kosten
gegenüber einer Volksschule von annähernd gleichem Umfange stellt,
kann man aus einer Vergleichung der betreffenden Aufwendungen
für die Souchay-Mittelschule und die Bonifatius-Volksschule, beide in
Frankfurt a. M., ersehen. (Seite 225.)
Die ordentlichen Ausgaben für die öffentlichen Schulen pro Kopf
eines Schülers betrugen 1901 in Frankfurt a. M.
Überhaupt
M. 1 Pf.
Davon
durch Schul-
geld erbracht
M. Pf.
Verbleibt
städtischer
Zuschuß
M. i Pf
I. In den höheren Schulen:
a) in den Gymnasien (Goethe- u. Lessing-
364
294
248
224
277
204
176
119
80
95
96
30
14
18
11
46
147
149
98
97
14
94
37
217
145
149
,27
,54
152
61
76
78
81
b) in den Realgymnasien (Muster- und
Wöhlerschule)
c) in der Oberrealschide (Klingerschule) .
d) in den Realschulen (Adlerflychtschule,
Liebig-Realschule und Sachsenhäuser
Realschule) . .
02
93
35
im Durchschnitt a — d
in der Selektenschule
IL In den höheren Mädchenschulen:
Elisabethen-, Humboldt- und Viktoria-
schule im Durchschnitt
III. In den Mittelschulen:
im Durchschnitt
122 i 95
51 83
114 ' 85
42 1 24
davon durch
Staatsbeiträge
zu den Lehrer-
besoldungen
gedeckt
2 32
53
31
33
87
IV. In den Bürger-(Volks-)Schuleu:
einschl. der Hilfsschule im Durchschnitt .
14
Die MittelschuU'ii. 227
Verteilt man noch die Einnahmen und Aus<^aben der Haupt-
verwaltung, sowie die Ausgaben für Instandhaltung der Heizungen,
welche sich nicht für die einzelnen Schulen angeben lassen, gleich-
mäßig auf alle Schüler, so würden sich die Einnahmen um 2,18 M.,
die Ausgaben um 5,24 M. und der städtische Zuschuß um 3,06 M.
pro Kopf eines Schülers erhöhen.
Gegenwärtiger Stand der Mittelschulen in Preußen.
Nach der Erhebung vom 27. Juni 1901 gab es im ganzen Staate
456 öffentliche mittlere Schulen mit 3759 Schulklassen und 134 741
Schulkindern, die von 3571 Lehrern und 1 192 Lehrerinnen, insgesamt
4763 Lehrkräften, unterrichtet wurden.
Die Schulen verteilten sich:
a) nach dem Geschlecht der Schulkinder auf
217 Knabenschul., besucht von 57 082 Knb. — Mdch., zus. 57 082 Schulkind.
137 Mädchenschul., „ „ 96 „ u. 47 680 „ „ 47 776
102 gemischte Schul., „ „ 16 371 „ „ 13512 „ „ 29883
zus. 456 Schulen, ~, ~, 73 549 ~, „ 61 192 ~, „ 134 741 „
bl nach dem konfessicmellen Charakter auf 284 evangelische, 54 katholische, 59 pari-
tätische und 59 ohne besonderen konfessionellen Charakter.
Von den Schulkindern waren der Konfession nach 117 863 evangelisch, 13 314
katholisch, 393 sonst christlich und 3171 jüdisch.
Von den wissenschaftlichen Lehrkräften waren
3 621, nämlich 2 896 Lehrer und 725 Lehrerinnen, evangelischen,
526, „ 442 „ „ 84 „ katholischen,
1, „ — „ „ 1 „ sonst christlichen
und 35, „ 27 „ „ 8 „ jüdischen
Bekenntnisses. Über die Konfession der technischen Lehrkräfte liegen keine Angaben vor.
Unterhalten werden 452 Schulen von den Gemeinden, 2 vom Staate und 2 von
Stiftungen.
Selbständige Schuleinrichtungen waren 413 Schulen mit 130 971 Schulkindern, mit
einer Volksschule verbunden 43 Schulen mit 3770 Schulkindern.
Von den letzteren nahmen 5 die Schüler nach dreijährigem, 18 nach vierjährigem,
1 1 nach fünfjährigem, 4 nach sechsjährigem und 5 nach siebenjährigem Besuch der Volks-
schule auf.
Es waren lehrplanmäßig eingerichtet auf
2 aufsteigende Klassen
8 Knabenschulen mit 14 Klassen und 272 Schülern
7 Mädchenschulen „12 „ „ 201
2 gemischte Schulen „ 3 „ „ 72 „
zusammen 17 Schulen mit 29 Klassen und 545 Schülern;
3 aufsteigende Klassen
27 Knabenschulen mit 67 Klassen und 1 457 Schülern
6 Mädchenschulen „ 17 „ „ 424
7 gemischte Schulen „ 19 „ „ 307 „
zusammen 40 Schulen mit 103 Klassen und 2 188 Schülern:
15*
228 \olks Schulwesen.
4 aufsteigende Klassen
48 Knabenschulen mit 170 Klassen und 3 939 Schülern
3 Mädchenschulen „ 1 1 „ „ 298
31 gemischte Schulen „ 99 „ „ 2 270 „
zusammen 82 Schulen mit 280 Klassen und 6 507 Schülern ;
5 aufsteigende Klassen
31 Knabenschulen mit 133 Klassen und 2 235 Schülern
3 Mädchenschulen „11 „ „ 211
11 gemischte Schulen „ 58 „ „ 927
zusammen 45 Schulen mit 202 Klassen und 3 373 Schülern;
6 aufsteigende Klassen
1 5 Knabenschulen mit 83 Klassen und 2 329 Schülern
1 1 Mädchenschulen „ 67 „ „ 1 992
8 gemischte Schulen „ 64 „ „1 805 „
zusammen 34 Schulen mit 214 Klassen und 6 126 Schülern;
7 aufsteigende Klassen
39 Knabenschulen mit 458 Klassen und 19 744 Schülern
30 Mädchenschulen „ 282 „ „ 1 1 680
15 gemischte Schulen „ 169 „ „ 6 262 „
zusammen 84 Schulen mit 909 Klassen und 37 686 Schülern;
8 aufsteigende Klassen
31 Knabenschulen mit 427 Klassen und 17 164 Schülern
65 Mädchenschulen „ 756 „ ., 28 693 „
28 gemischte Schulen „ 463 „ „ 18 240
zusammen 124 Schulen mit 1 646 Klassen und 64 097 Schülern;
9 aufsteigende Klassen
18 Knabenschulen mit 253 Klassen und 9 942 Schülern
12 Mädchenschulen „123 „ „ 4 277
zusammen 30 Schulen mit 376 Klassen und 14 219 Schülern.
Den fremdsprachlichen Unterricht in den Mittelschulen kennzeichnen
folgende Zahlen:
Unterricht in der französischen Sprache wurde erteilt:
a.) obligatorisch in 183 Knbsch., 103 Mdchsch. u. 84 gem. Seh., im ganzen in 370 Seh.
b) fakultativ „ 3 „ 3 „ „ 4 „ „ „ „ „10
überhaupt in 186 Knbsch., 106 Mdchsch. u. 88 gem. Seh., im ganzen in 380 Seh.
Unterricht in der englischen Sprache wurde erteilt:
a) obligatorisch in 67 Knbsch., 29 Mdchsch. u. 48 gem. Seh., im ganzen in 144 Seh.
h) fakultativ „ 38 „ 39 „ „ 28 „ „ „ „ „ 105
überhaupt in 105 Knbsch., 68 Mdchsch. u. 76 gem. Seh., im ganzen in 249 Seh.
Unterricht in andern Fremdsprachen wurde erteilt:
a) obligatorisch in 76 Knbsch., 1 Mdchsch. u. 17 gem. Seh., im ganzen in 94 Seh.
b) fakultativ „ 38 „ — „ „ 43 „ „ „ „ „ 81
überhaupt in 114 Knbsch., 1 Mdchsch. u. 60 gem. Seh., im ganzen in 175 Seh.
Die Mittelschulen. 229
Nach der amtlichen Stellung gab es unter den Lehrern al Leiter 449,
b) vollbeschäftigte wissenschaftliche Lehrer 2643 (einschl. 25 unbesetzter Stellen), c) nicht
vollbeschäftigte wissenschaftliche Lehrer 298, d) vollbeschäftigte technische Lehrer 45,
ei nicht vollbeschäftigte technische Lehrer 136, zusammen 3571; unter den Lehre
rinnen a) Leiterinnen 7, b) vollbeschäftigte wissenschaftliche Lehrerinnen 761 (einschl
1 unbesetzten Stelle), c) nicht vollbeschäftigte wissenschaftliche Lehrerinnen 51, d) voll
beschäftigte technische Lehrerinnen 145, e) nicht vollbeschäftigte technische Lehrerinnen 228
zusammen 1 1 92.
Lehrbefähigung der Lehrkräfte.
Von den Leitern besaßen die Befähigung für das höhere Lehramt 79, für das
geistliche Amt 68, als Rektor 281, als Mittelschullehrer 8, als Volksschullehrer 13, zu-
sammen 449.
Von den vollbeschäftigten wissenschafthchen Lehrern hatten die Befähigung für
das höhere Lehramt 121, für das geistliche Amt 54, als Mittelschullehrer 1260, als Volks-
schullehrer 1183, zusammen 2618; hierzu unbesetzte Stellen 25, gibt 2643.
Von den Leiterinnen hatten die Befähigung als Schulvorsteherin 6, als Lehrerin
für mittlere und höhere Mädchenschulen 1, zusammen 7.
Von den vollbeschäftigten wissenschaftlichen Lehrerinnen hatten die Befähigung
als Oberlehrerin 3, als Lehrerin für mittlere und höhere Mädchenschulen 685, als Lehrerin
für Volksschulen 66, als Sprachlehrerin 6, zusammen 760; hierzu unbesetzte Stellen 1, gibt 761 .
Diensteinkommen der Lehrkräfte an den Mittelschulen.
Es bezogen ein
Lehrer mit
Ein-
Lehrerinnen
Lehrkräfte
Gesamteinkommen von
Schluß der Leiter
einschl. der Leiterinnen
überhaupt
M.
bis zu 1000
3
45 i
48
1001-1500
155
346
501
1501-2100
654
408 1
1062
2101-2700
1 000
92
1 092
2701—3600
979
12
991
3601—4800
225
—
225
4801—6000
33
—
33
über 6000
15
—
15
ZWEITE ABTEILUNG,
DIE VOLKSSCHULLEHRERBILDUNG
VON
DR. EDUARD CLAUSNITZER.
Einleitung.
Aus dem Interesse des Staates an der Erziehung der künftigen
Bürger erklärt sich seine Fürsorge gegenüber der Aus- und Fort-
biklung der Lehrer. Das Wort , .Lehrer" bezeichnet deren Tätigkeit
nur einseitig, da ihre Aufgabe im Erziehen besteht, von dem allerdings
das Lehren ein sehr wichtiger, vielleicht der wichtigste Teil ist. Man
hat es als eine der köstlichsten und verantwortungsreichsten Aufgaben
bezeichnet, junge Seelen heranzubilden. Das erfordert viel Geschick,
einen gereiften Charakter und hinreichende Erfahrung. Der Lehrer-
beruf ist darum ein Lebensberuf, der eine genau geregelte Allgemein-
und Fachausbildung erfordert.
Der Staat hat deshalb im Deutschen Reiche nicht bloß die
Bildung der Lehrer für höhere Schulen genau geordnet, sondern auch
seine besondere Fürsorge den Volksschullehrern gewidmet, denen
neun Zehntel der gesamten schulpflichtigen Kinder zum Erziehen und
Unterrichten anvertraut sind.
Von den Lehrenden ist die überwiegende Mehrzahl männlichen
Geschlechts. Mit unbedeutenden Ausnahmen unterrichten Lehrerinnen
nur an Mädchenschulen (die übrigens auch eine Anzahl von Lehrern
aufweisen), und zwar zumeist auch nur in den Städten, da selten ein
Dorf so groß ist, eine besondere Mädchenschule oder wenigstens ge-
sonderte Mädchenklassen einzurichten. So wird denn der überwiegende
Teil der männlichen Schuljugend von männlichen Lehrkräften erzogen
und unterrichtet.
Zur Ausbildung der Lehrer haben die deutschen Bundesstaaten
Seminare gegründet und erhalten sie, ohne dafür ein Entgelt zu er-
heben. Auch die wenigen privaten Lehrerseminare, meist von jüdischen
Gemeinden unterhalten, unterstehen wenigstens der staatlichen Aufsicht.
Die Fortbildung überwachen die Staaten durch Prüfungen, von denen die
sogenannte zweite Lehrerprüfung jeder Lehrer ablegen muß, widrigen-
234 Die Volksschullehrerbildung.
falls er den Schuldienst zu verlassen hat, ferner durch Konferenzen, sie
fördern sie durch Veranlassung und Unterstützung von wissenschaftlichen
Vorlesungen, durch Bibliotheken und durch Zulassung als „Hörer" an
Universitäten. Zudem gewähren sie reiche Beihilfen für die Sonder-
ausbildung als Lehrer an Blinden- und Taubstummenanstalten, an
Fortbildungs- und Fachschulen, sowie für die seitens einzelner Vereine
im Interesse der Lehrerweiterbildung und der Volksbildung überhaupt
ins Leben gerufenen Veranstaltungen.
So zeigt sich das deutsche Lehrerbildungswesen als ein Unter-
nehmen des Staates. Dem Lehramte kann einzig und allein ein
Lebensberuf gewidmet werden. Dies wird bedingt durch die um-
fangreichen Aufwendungen aus Staatsmitteln, dann aber vor allem
durch die Wichtisfkeit und Verantwortlichkeit der Aufo-abe.
ERSTER ABSCHNITT.
Geschichte des Lehrerbildungswesens.
I. Die Zeit bis 1800.
Die Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens, die
heutzutage bei jedem normal veranlagten Menschen vorausgesetzt
werden, waren ursprünglich nur im Besitze einiger weniger, in
Deutschland zumeist nur bei Geistlichen und Mönchen. So ergab es
sich von selbst, daß in ihren Händen das Unterrichtswesen lag.
Kaiser Karl der Große (f 814) hat das besondere Verdienst, gerade
dem Volke das Wissen durch die Klöster gegeben zu haben; unter
seinen Nachfolgern hörte das auf. Eine Ausbildung zum Lehrberuf
gab es vor dem Reformationszeitalter in pädagogischer Hinsicht nicht.
Den Unterricht versahen meist Leute, die als Gelehrte oder sonstwie
sich keine dauernde Beschäftigung erwerben konnten, und aus diesem
wandernden Lehrerstand waren die oft arg verwilderten Studenten
bei der Schuljugend nur allzusehr gefürchtet! Besser stand es um
die Kloster-, Dom- und Stiftsschulen, an denen häufig hochgebildete
Geistliche den Unterricht erteilten; aber als Stätte der Volksbildung,
d. h. als Bildungsstätte der großen Menge, haben sie keine Rolle
gespielt.
Geschiclite des Lehrerbildungswesens. 235
Mit dem Reforniationszeitalter tritt eine wesentliche Änderung
ein. An den seit dem 13. Jahrhundert bestehenden (städtischen)
Schreibschulen , welche, im Gegensatz zu den sogenannten Stadt-
(d. i. Latein-) Schulen, das deutsche Schulwesen zum Ausdruck
bringen und als Vorgänger der deutschen Volksschule gelten können,
unterrichten jetzt tüchtige Lehrer, vielfach Schüler der Reformatoren;
die wandernden Magister verschwinden aber immer mehr. Das Schul-
wesen organisiert sich zum Teil in Zünften, der Leiter einer Schule
ist der , .Schulmeister", der, wie in Nürnberg um 1613, Lehrlinge an-
nimmt, zu Gesellen ausbildet, die dann von der Zunft zum Meister
gesprochen werden. Von einem Unterricht auf den Dörfern und
kleinen Städten ist allerdings noch nicht viel die Rede. Hier treten
die Küster oder Glöckner dem Pfarrer beim Gottesdienst und in der
Gemeindetätigkeit helfend zur Seite, sie unterstützen ihn bei der
Unterweisung der Jugend, übernehmen dann selbständig die
Katechisationen , lehren wohl auch etwas Lesen, vielleicht auch
Schreiben und Rechnen: es ist der Anfang der Volksschule auf dem
Lande. Ihre Vorbildung genossen die Küster, welche später nicht
selten Pfarrer wurden, ebenso wie die an den jetzt deutsche Schulen
genannten Schreibschulen tätigen Schreib- und Rechenmeister, vielfach
auf den Universitäten. Zumeist aber hatten sie als fahrende Schüler
auf den lateinischen Stadtschulen das nötige Wissen erworben. Der
Charakter dieser Schulen ist meist ein religiöser, selbst Lesen und
Schreiben wird häufig nur im Interesse der Religion gelehrt, das
Kirchenamt bleibt zumeist die Hauptsache, während das Schulamt
untergeordnete Bedeutung hat.
Das Zeitalter des dreißigjährigen Krieges bedeutet einen Wende-
punkt im Volksschulwesen. Die Schule ist jetzt nicht mehr ein
Unternehmen im Interesse der Kirche, sie wird von den Pädagogen
als etwas Selbständiges angesehen. Nimmt auch die Pflege der
Religion einen starken Teil des Unterrichts in Anspruch, so tritt doch
energisch der Gedanke der Bildung für das im Leben Notwendige
hervor. Das klassische Beispiel dieser Epoche für derartige An-
forderungen ist der 1648 veröffentlichte Schulmethodus Herzog Ernst
des Frommen von Gotha (f 1675). Außerdem wird aber auch eine
verständige Art und Weise gefordert, wie den Kindern der Unter-
richtsstoff gegeben werden soll: Comenius (f 1670) begründet die
Didaktik und Methodik der Schulen. So mußte denn auch der
Gedanke entstehen, daß hierfür eine gesonderte Vorbildung der
Lehrer notwendig sei.
236 iJie Volksschullehieibildung.
In seinem 1654 geschriebenen Testamente gibt der eben ge-
nannte Herzog Ernst diesem Gedanken Ausdruck, nachdem schon
Ratke (f 1635) und Comenius dazu angeregt hatten. Aber erst
1698 verwirklichte Herzog Friedrich IL von Gotha diese Ab-
sichten, indem er in einer Reihe von Orten ,,seminaria scholastica"
anlegte; zehn geschickte Lehrer wurden berufen, um andere zum
Unterricht anzuweisen und heranzubilden. In der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts hörte diese Einrichtung allmählich auf, — aber es
war doch der erste Anfang eines Volksschullehrerseminars gewesen.
Verwirklicht hat sich die Griuidung von Lehrerbildungsanstalten
hauptsächlich erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Dem Pietismus gebührt das Verdienst, die Gründung von
Seminaren energisch gefördert zu haben. August Hermann
Francke (f 1727) errichtete in Halle beim Waisenhause ein semi-
narium praeceptorum und bildete hier Lehrer für den eigenen Bedarf
aus. Seine Schüler Johann Christian Schienmeyer und Johann JuUus
Hecker (f 1 768) trugen den Seminargedanken weiter. Es ist der
Ruhm König Friedrich Wilhelms I. von Preußen, das preußische Volks-
schulwesen begründet zu haben. Er ist auch der Gründer des preußischen
Volksschullehrerbildungswesens. In Stettin entstand 1 732bezw. 1 736 unter
Schienmeyers Leitung ein Seminar, 1 735 ein solches in Kloster Bergen
bei Magdeburg unter dem (evangelischen) Abte Steinmetz (f 1762i.
Kamen diese Anstalten mit staatlicher Hilfe zustande, so sah sich Hecker,
der 1748 bei der ökonomischen Realschule (jetzt Königliches Kaiser
Wilhelm-Realgymnasium) ein Seminar (jetzt in Köpenick) errichtet
hatte, zunächst auf private Unterstützung angewiesen: durch eine
Buchhandlung, Schullotterien u. dergl. suchte er die nötigen Gelder
zu erhalten. Späterhin wurden ihm allerdings zeitweise staatliche Zu-
schüsse bewilligt.
Etwa gleichzeitig entstanden eine Reihe anderer Seminare, so
1747 Rudolstadt, 1751 durch den Kaufmann Böttcher, der sich sehr
für eine bessere Erziehung der Kinder verwandte, Hannover, im
selben Jahre Braunschweig, 1753 Wolfenbüttel. Nach dem sieben-
jährigen Kriege wurden weitere Anstalten gegründet, so 17()4 in
Schlegel bei Glatz, 1765 in Breslau, beide durch den Abt Felbiger
(f 1788) eingerichtet, 1768 Karlsruhe, 1770 Würzburg, 1778 Halber-
stadt, und im gleichen Jahre durch den Landesherrn und die Frei-
maurerloge unterstützt, Meiningen, 1780 Gotha, 1781 Kassel, Detmold
und Kiel, 1782 Schwerin, 1783 Köthen und Bückeburg, 1787 Alten-
burg und Dresden-Friedrichstadt, 1788 Weimar, 1701 Bamberg, 1793
Geschichte des I.ehrerbildungswesens. 237
Oldenburg u. a., sodaß am Ende des \[\. Jahrhunderts tast alle be-
bedeutenden Staaten Deutschlands über Lehrerbildungsanstalten ver-
fügen. Hatte bis etwa 1 760 der Pietismus geherrscht, der den Gedanken
der Lehrerbildung pflegt, so ist es die Aufklärung, welche nunmehr
zahlreiche Seminare entstehen ließ.
Eine bedeutende Entwicklung hat das Lehrerbildungsvv^esen bis
zum Jahre 1800 genommen, und als ein höchst beachtenswerter Erfolg
muß es gelten, wenn nach den ersten Versuchen im Herzogtum Gotha
das beginnende 19. Jahrhundert eine solche Fülle von Seminaren vor-
findet; an der Stelle des Schulhandwerkers, des verkommenen Studenten,
des Invaliden, des entlassenen Soldaten, der nur um ein Unterkommen
zu erhalten, eine Schulstelle übernahm, war vielerorts ein Fachmann
getreten, der sich das Lehramt zum Lebensberuf erwählt hatte.
Aber nicht nur an Zahl waren die Lehrerbildungsanstalten ge-
wachsen, sondern auch an Umfang der Lehrpläne. Der Lehrplan für
die seminaria scholastica von 1698 zählt als Lehrgegenstände : An-
leitung zum Nachschreiben der Predigt, Schön- und Rechtschreiben,
Rechenkunst und Musik auf; die Anleitung zum Unterrichten steht
stark im Vordergrund. Der Lehrplan Heckers von 1751 fordert
zunächst Anweisung in Katechisieren, zum Christentum nach der Bibel
und der Heilsordnung, ferner Buchstabieren und Lesen, Katechismus
unter besonderer Hervorhebung der Anwendung, Recht- und Schön-
schreiben, Rechnen, Musik und Seidenbau. Ähnlich ist der 1752 ver-
öffentlichte Lehrplan des Seminars zu Kloster Bergen, hier ist der
methodischen Unterweisung ein breiter Raum gewährt, und die Aus-
bildung im Unterrichten bis in die Einzelheiten festgelegt.
Liegt bisher der Nachdruck auf der Religion, teilweise sogar
herrschend, so ist dies aus dem Einfluß des Pietismus zu erklären.
Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfahren aber die Lehr-
gegenstände durch den Einfluß der Aufklärung eine wesentliche Er-
weiterung nach der Seite des Wissens von der Welt und der Vor-
gänge in ihr. Und ebenso wie die Kanzel zur x\ufklärung des Volkes
in allerlei praktischen Dingen diente, sollte es auch die Schule. Der
Lehrplan des von Hecker in Berlin begründeten Seminars von 1772
weist außer Religion, Lesen, Schön- und Rechtschreiben und Rechnen als
neu auf: Geographie und Statistik einschließlich der Landesverfassung,
Geschichte, Naturgeschichte, sofern sie Einfluß auf die Landes-
ökonomie hat, Meteorologie und die wichtigsten diätetischen und
medizinischen Regeln, eine kurze Pädagogik und Methodik, Vokal-
musik, christliche Moral, Garten- und Seidenbau, sowie praktische
238 Die Volksschullehieibildung.
LehranvveisLingen. Zudem war freigestellt: das wichtigste vom Feld-
messen, der Mechanik, physischen Astronomie und bürgerlichen Bau-
kunst zu erlernen. Mehr auf den eigentlichen Zweck der Schule
geht der Plan des Seminars in Köthen aus dem Jahre )783, wenn
er auch Latein bietet; er zählt als Fächer auf: deutsche und
lateinische Sprache, Christentum, Naturhistorie, Geographie, biblische
und Weltgeschichte, Orthographie und Kalligraphie, Rechnen und
Musik. Der Plan des 1784 eröffneten Seminars ist ähnlich, auch er
führt Latein auf, — 1791 kam noch Französisch hinzu; weiter ist be-
sonders bemerkenswert: Anweisung zu sittlichem und gesetzlichem
Verhalten mit Darstellung der von der Befolgung göttlicher und
landesherrlicher Gesetze abhängigen zeitlichen Vorteile und Strafen,
Haushaltungswissenschaft, endlich einige Kenntnisse aus der Geometrie,
Mechanik und Architektur.
Johann Gottfried Herder (f 1803), der als universaler Geist
auch der Pädagogik sein regstes Interesse zugewandt und ihr viele
Anregungen gegeben und mit außerordentlichem Geschick das Er-
ziehungswesen im Großherzogtum Weimar gefördert hat, fordert 1 788
in seinem (zweiten) „Entwurf eines Seminars zu Lehrern für Land-
schulen" in Weimar: Methode des richtigen Lesens und Vorlesens,
Recht- und Schönschreiben, Anfertigung von Aufsätzen, gemein-
nützige Kenntnisse in Geographie, Naturgeschichte, Naturlehre,
bürgerlicher Geschichte usw., außerdem noch Methode eines guten
Unterrichts in der Religion und biblischen Geschichte, Kenntnis der
biblischen Altertümer, ,, durch welche der künftige Schullehrer über
hundert Stellen derSchriftLicht erhält", etwas Geschichte derReformation
u. dergl. Der Lehrplan des Seminars in Züllichau im Bezirke
Frankfurt a. O. von 1788 zählt außer den allgemein üblichen Fächern
wie Religion, Lesen usw. noch auf: Zeichnen, Gesundheitslehre,
Kräuterkunde, Seidenbau, Plantagensachen, wie Veredeln der Obst-
bäume, Küchengärtnerei, Feldmessen, endlich Unterricht in allerlei
kleinen Handarbeiten, um die Kinder auf dem Lande nützlich zu be-
schäftigen und zur Industrie zu gewöhnen.
Einen Musterplan stellt der Lehrplan des Seminars zu Halber-
stadt aus dem Jahre 1789 dar. Verfasser ist höchstwahrscheinlich
der um die Hebung der Volksbildung hochverdiente Pädagoge Eber-
hard von Rochow auf Rekahne (f 1805). Er erklärt, daß es falsch
sei, dem Seminaristen nur Methodik zu lehren, ohne ihm Kenntnisse
zu geben; das sei einen Armen anweisen, seine Güter zu v^erwalten.
Andererseits köinie der Lehrer wieder mancherlei Kenntnisse ent-
Geschichte des I.ehrerbildungswesens. 239
behren, so z. B. gelehrte Sprachen, während in anderen Dingen eine
Anleitung genüge, so in Geschichte, Erdkunde usw., da hier treffliche
Hilfsmittel zur eigenen Weiterbildung beständen. Den Lehrplan ge-
staltet er nach den Gesichtspunkten: materieller Unterricht, formeller
Unterricht, Bildung des sittlichen Charakters. Der materielle Unter-
richt umfaßt: I. , .Kenntnisse der Werke Gottes, insonderheit des
Menschen und dessen, was zunächst Beziehung auf ihn hat, kurz der
wissenswürdigste und gemeinnützigste Teil der Naturgeschichte";
2. Einleitung in die Bibel, d. h. die zum Verständnisse nötigen Vor-
kenntnisse, wie jüdische und christliche Religionsgeschichte, Gebräuche
der \'orwelt, Geschichte und Sprache der Bibel, Sammlung der
Heiligen Schriften; 3. Religionsunterricht, d. h. die Wahrheiten der
Religion im Zusammenhang; 4. Gesundheitslehre; 5. Landesverfassung
und Landesgesetze; 6. „Etwas Erdbeschreibung und Geschichte, be-
sonders des Vaterlandes, als eine Anleitung, diese Kenntnisse durch
eigenen Fleiß zu erweitern". Der formelle Unterricht umfaßt:
1. Sprachunterricht; 2. Logik oder Vernunftlehre, ,, nicht die philo-
sophische Kunst zu denken, sondern die praktische Vernunft des
Menschenverstandes"; 3. Rechenunterricht, „sowohl als vorzügliche
Übung des Verstandes, als auch um die Seminaristen instand zu
setzen, die Jugend auf die beste Art darin unterrichten zu können";
4. Methodik des Unterrichts; 5. Übungen der Seminaristen im Auf-
merken und Beobachten, im Anfertigen von Aufsätzen, in der Methode;
(). Leitung des Privatfleißes. Die Bildung des sittlichen Charakters
soll endlich die Seminaristen frühzeitig zu der Denkungsart und
Handlungsweise, „welche sie in ihrem künftigen Stande in sich selbst
glücklich und nützlich für die menschliche Gesellschaft machen kann",
hinleiten. Letztere Absicht des Lehrplans ist um so bemerkens-
w^erter, als der Unterricht in damaliger Zeit sich oft in eine
theoretische Tugendlehre oder einen Unterricht in Höflichkeit, wie in
dem sonst recht tüchtigen Lehrplan des Seminars zu Rostock, verlor.
Aber man blieb bei der Vorbildung der Lehrer nicht stehen.
Es wurde, wenn auch nur vereinzelt, der Versuch gemacht, an ihrer
Weiterbildung zu arbeiten. Nach Einführung des Generalland-
schulreglements in Preußen 1763 versaramelte der Generalsuper-
intendent Hahn (t 1 780) in Magdeburg wiederholentlich die Lehrer
seines Bezirks, um sie mit jenem Reglement vertraut zu machen und
ihnen dessen Verständnis zu erschließen. In den letzten Jahren des
18. Jahrhunderts werden in Oberhessen, in der bergischen Mark und
anderweitig Lehrervereine gegründet, in denen Aufsätze und Kate-
240 r^ie \'olksschullehrerbildun,ti.
diesen vorgelesen und besprochen, auch pädagogische Schriften in
Umlauf gesetzt wurden. In Württemberg und Lippe-Detmold
werden sogar offizielle Lehrerkonferenzen und Lehrerbibliotheken ein-
gerichtet. Auch erscheinen die ersten Zeitschriften und Taschenbücher
für Volksschullehrer.
2. Das 19. Jahrhundert.
Eine neue Periode in der Lehrerbildung beginnt nach den Be-
freiungskriegen unter dem Einflüsse Pestalozzis. Wenn sich auch die
Schulen lange mit solchen Lehrern begnügen mußten, die kein
Seminar besucht, nicht einmal eine Prüfung abgelegt hatten, so ge-
winnen doch allmählich die auf dem Seminar ausgebildeten Lehrer
gegen die privatim vorbereiteten das Übergewicht. Li Preußen stieg
die Zahl der Seminare von 1 1 im Jahre 1 806 auf 28 im Jahre 1 828
und im Jahre 1 837 sogar auf 45. Daß bis 1 859 nur noch drei
Seminare eröffnet wurden, erklärt sich leicht daraus, daß Ende der
vierziger Jahre der preußische Staat hinreichend damit versehen war.
Einblicke in den Unterrichtsbetrieb geben die Lehrpläne der
Seminare Neuzelle und Mors. Der Plan von Neuzelle fordert
zunächst Religion, die zur Bewirkung einer möglichst lebendigen Er-
kenntnis ihrer Wahrheit und Göttlichkeit, einer fruchtbaren Erkenntnis
der Schrift und besonders der heiligen Geschichte, sowie der ein-
fachsten Regeln der Schriftauslegung dienen soll. Der Sprachunter-
richt umfaßt Poesie und Prosa, Grammatik, Orthographie und Stil-
übungen. Das Rechnen und die Formenlehre werden als vorzüg-
liches Übungsmittel des Denkvermögens bezeichnet. Als Fächer
folgen dann Zeichnen, Schönschreiben und Musik. Aus der physischen,
mathematischen und politischen Geographie ist alles zu lehren, was
zum Gebrauche einer Landkarte, eines Globus und zur Kenntnis des
Vaterlandes, besonders der Heimatsprovinz, beiträgt. Die Natur-
wissenschaft wird in Naturgeschichte und Naturlehre geghedert. x'lus
der Geschichte wird nur das Fachwerk eingeprägt, die biblische
dagegen unter Hinweis, wie die großen Männer die Ratschläge der
Vorsehung vollzogen, und wie sich unter ihrem Einfluß das Böse
zum Beförderungsmittel des Guten gestaltete. Sodann werden, dem
Zuge der Zeit folgend, gymnastische Übungen angeordnet, da die
meisten Seminaristen vom Lande kommen, und durch ein fortwährendes
angestrengtes Stubenleben ihrer Gesundheit Gefahr drohen würde.
Ferner wird Didaktik und Schulmeisterklugheit gelehrt, indem jeder-
zeit praktische Übungen zur Seite gehen. Um den gering besoldeten
Geschichte des Lehrerbildungswesens. 241
Lehrern die Möglichkeit zum Nebenerwerb zu i^eben, soll die Gelegen-
heit zum Erlernen eines mechanischen Nebengeschäftes, wie Tischlern,
Drechseln, Korb- und Strohflechten und dergleichen geboten werden.
Aulserdem wird Gärtnerei und Bienenzucht getrieben. Der Lehrplan
des Seminars Mors aus dem Jahre 1823 weist als Lehrgegenstände
auf: Religion, Sprachunterricht, Zahlen- und Größenlehre, Naturkunde,
Geschichte und Geographie, Pädagogik und Didaktik, Zeichnen und
Schreiben, Theorie der Musik und Gesang, Übungen im Unterrichten,
Obstbaumzucht. In Religion wird biblische Geschichte, Kenntnis der
Heiligen Schriften nach Inhalt und nach den Lebensumständen der
Verfasser, Glaubens- und Pflichtenlehre geboten. Der Sprachunterricht
zerfällt in einen logischen und grammatischen Teil, nämlich in Sprach-
fertigkeit und Sprachrichtigkeit. Die Geschichte beginnt mit der
bibHschen und der alten Geschichte, gibt sodann die Weltgeschichte
von Ausbreitung des Christentums bis zum dreißigjährigen Kriege,
und von da an in größerer Ausführlichkeit die Geschichte Deutsch-
lands und Preußens.
Eingehend handelt Wilhelm Harnisch (f 1864), der einen
großen Einfluß auf die Gestaltung des deutschen Volksschulwesens
gehabt hat, über die .Schullehrerbildung in seinem 1836 erschienenen
gleichnamigen Buche über sie. Er verlangt einen gründlichen kirch-
lichen Unterricht in der Christenlehre, weiter Sprachlehre unter Ver-
arbeitung der besten Schriftsteller der Nation, Weltkunde, Mathematik,
Musik, Zeichnen, Berufskenntnisse und Berufsfertigkeiten. Die Religion,
Harnisch nennt sie Gottseligkeit, soll ihren Weg durch Bibel,
Katechismus und Gesangbuch nehmen und auf das Gefühl und den
Willen der Seminaristen einwirken. Die Weltkunde umfaßt Natur-
geschichte, Naturlehre, Geographie und Geschichte; sie soll die
einzelnen Fächer zu einem Ganzen vereinen, und dadurch eine
Dienerin der Gottseligkeit sein, indem sie staunende BUcke in die
Weite der Welt tun läßt. Die Größeniehre wird als Konstruktion
der Welt in Raum und Zeit aufgefaßt. Dazu treten dann die Übungen
im Unterrichten, sowie Erwerbstätigkeit — im Sommer Garten- und
Feldbau, im Winter andere Arbeiten — , sie soll für das künftige
leibliche Beste sowie zur Erholung dienen.
Auch Diesterweg (f 1866; hat einen Entwurf über die Ge-
staltung der Lehrerbildung veröffentlicht (1849). Drei Gedanken
treten scharf hervor. Zunächst legt er, wie auch bei der Volksschule,
größten W'ert auf die formale Bildung. Er betont weiter, daß die
Allgemeinbildung im Seminar weder vollendet noch ausgebildet werden
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich III. 16
242 r)ie Volksschullehrerbilduna.
kann, daß es vielmehr Grundlagen gibt, auf denen der Lehrer später
für seine Weiterbildung zu bauen imstande ist. Auf engste Ver-
bindung der Übungsschule mit dem Seminarunterricht, für den im
wesentlichen der Lehrplan der Volksschule maßgebend ist, wird
größter Wert gelegt, ebenso auf eine religiöse und vaterländische
Erziehung. Der ästhetischen Erziehung sollen Schreiben, Zeichnen
und Musik dienen. In Universitäts- und anderen geeigneten Städten
sind Kurse zur Weiterbildung einzurichten. Diestervveg weist somit
dem Seminar nur die Grundlegung der Allgemeinbildung und die
unmittelbare Schulung für die spätere Praxis sowie die formale Bildung
zu, welche die Befähigung zur selbständigen Weiterbildung verleiht.
Diese Lehrpläne geben ein Bild von dem Stand und den Forde-
rungen der Lehrerbildung. Die innere Entwicklung der Seminare
und der Volksschullehrer von 1815 — 1848 ist eine gewaltige, wohl
die größte, die sie durchgemacht haben. Es war die Folge jener im
vollen Umfange jetzt nur noch schwer zu ahnenden Begeisterung, die
Pestalozzi für das Volksschulwesen bis in die höchsten Kreise hinein
erweckt hatte. So fingen denn auch die Volksschullehrer an, sich als
besonderer Stand zu fühlen; hervorragende Schulmänner in leitender
Stellung suchten ihm eine Bildung zu geben, die umfassend aber auch
in die Tiefe gehend war. Nur wenige Namen seien genannt: Dinter
(t 1831), der Meister der Katechese, weiter der Freiherr Wilhelm
von Türk (f 1846), der den Grundsatz verfocht, der Lehrer müsse mehr
wissen, als der Bauernknabe zu erfahren habe, der auch eine Reihe
von Lehrbüchern schrieb und von seinem Vermögen ein jetzt noch
bestehendes Lehrerwaisenhaus stiftete; weiter ist hier der oben er-
wähnte Harnisch aufzuführen, der mit väterlichem Wohlwollen gegen
seine Seminaristen die Beziehungen zwischen Schule und Kirche pflegte
und alle aus dem Lehrerstande ausschließen wollte, die ,, seiner Würde
vorzüglich geschadet haben", endlich der bereits erwähnte Di est er weg
(t 1 866), der „gegen das traurige Vor- und Nachsprechen, gegen die
traurige Herrschaft der Autorität" beim Unterrichten kämpfte, dafür aber
verlangte, ,,daß der Lehrer sich eigene Ansichten bilde und darum alles
näher erwäge, nichts auf Treue und Glauben hinnehme, sondern prüfe
und untersuche". Anregung zur Weiterbildung gab die in Preußen
eingeführte zweite Lehrerprüfung; freie Konferenzen und Vereine ent-
standen und entfalteten eine rege Geistestätigkeit, zu der auch zahl-
reiche neu entstehende pädagogische Zeitschriften beitrugen.
Es kann nicht geleugnet werden, daß die Seminare und der
Volksschullehrerstand sich zum Teil sprungweise entwickelt hatten.
I
(beschichte des I.elirerbildungswesens. 243
daß man mitunter zu weit gegangen war, wie es bei kräftigen Vor-
stößen oft der Fall ist; zudem zeigte sich das wohlberechtigte Standes-
bewußtsein mehr als nötig war. Aber trotzdem muß die Entwicklung
als eine im ganzen gesunde bezeichnet werden. Jedoch die Ereig-
nisse von 1848 ließen die leitenden Kreise anders darüber denken:
man sah nur Schatten, nur Mißerfolge, — man machte den Lehrer-
stand und die Seminare für die revolutionären Ideen verantwortlich.
Die Folge hiervon war in Preußen die Verlegung der Seminare
in kleine Orte. Auch erschienen Bestimmungen, welche zum ersten
Male, und dies ist sehr wichtig, das Seminarwesen einheitlich ordneten:
die vielumstrittenen Regulative vom 1., 2. und 3. Oktober 1854.
Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß die Regulative in vielen
Punkten einen wesentlichen, die Lehrerbildung hart einschnürenden
Rückschritt bedeuten. Mit Recht ist aber hervorgehoben worden,
daß durch ihre Herausgabe weiteren Rückschritten ein Halt geboten
und Schlimmeres verhütet wurde. Mag auch Inhalt und Sprache der
Regulative heute verurteilt werden, so bleibe nicht unbeachtet, daß
sie ein bemerkenswertes pädagogisches Material enthalten, daß jetzt der
Seminarkursus überall dreijährig und die Übungsschule auch dem
Seminar angegUedert wurde. Jene Erlasse erfuhren in den Jahren
1859 — 1861 bedeutende Abänderungen, wodurch teilweise ihr rück-
schritthcher Charakter schwand, blieben aber bis 1872 in Geltung.
Während dieser Zeit hatten sich die preußischen Seminare auf 64
vermehrt.
In den übrigen deutschen Staaten ergingen meist ähnliche Be-
stimmungen. Jedoch erließen Bayern bereits 1866 und Württemberg
und Baden 1868 neue Verordnungen für das Lehrerbildungswesen.
Für Preußen erschienen am 15. Oktober 1872 die „Allgemeinen Be-
stimmungen", die 29 Jahre ohne wesentHche Änderungen in Geltung
bUeben. Sollte nach den Regulativen der Lehrer ein wenig mehr
wissen, als was er selbst lehren sollte, so glich jetzt der allgemeine
Bildungsstandpunkt des Seminaristen, von dem Fehlen der Sprachen ab-
gesehen, wie man sich auszudrücken pflegte, dem eines Obersekundaners
einer höheren Lehranstalt — es wurde schließlich auch 1 896 den Semi-
naren die Berechtigung verliehen, das Zeugnis der wissenschaftlichen Be-
fähigung zum Einjährig-freiwilligen Heeresdienst auszustellen. Ein wesent-
licher Mangel war bisher das fast völlige Fehlen von Präparanden-
anstalten. Die Allgemeinen Bestimmungen hatten zur Folge, daß gegen-
wärtig der bei weitem größte Teil der in das Seminar Eintretenden
seine Ausbildung nicht mehr in privater Vorbereitung, sondern auf
16*
244 Die \'olksschiillehrerbildung.
Präparandenanstalten erhält. In dieser Beziehung verfuhr die 1873
erschienene Seminarlehrordnung für das Königreich Sachsen am
durchgreifendsten durch Vereinigung der Präparandenanstalten und
Seminare zu sechsklassigen Lehranstalten.
Naturgemäß können Verordnungen nur eine zeitlich beschränkte
Geltung haben, und häufig stellen sie nur einen Kompromiß ent-
gegenstehender Ansichten dar. Mag man auch den Allgemeinen Be-
stimmungen vorgeworfen haben, sie wandelten in den alten Bahnen
einer ,, hierarchisch-feudalen Pädagogik" und w^ären zu wenig radikal
vorgegangen, so muß mit allem Nachdruck betont werden, daß sie
durch Rücksicht auf das geschichtlich Gewordene eine gesunde
Weiterentwicklung ermöglicht haben. Jedenfalls aber ist es verständ-
lich, wenn mit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahr-
hunderts der Ruf nach erweiterter Lehrerbildung erscholl. Die großen
Fortschritte der Wissenschaften hatten auch in den Volksschullehrern
das Verlangen geweckt, ihre Ergebnisse kennen zu lernen. Ferner
wurde das Bedürfnis, Präparandenanstalt und Seminar organisch zu
verbinden, immer dringender und die Not\\-endigkeit einer Trennung
von Allgemein- und Fachbildung nicht mehr abweisbar (vergl. S. 261 ff.).
Schon hatte man 1 898 in Bayern und Württemberg Lehrpläne aufgestellt,
welche jenen Forderungen teilweise entgegenkamen, als in Preußen am
1. Juli 1901 neue Bestimmungen für das Lehrerbildungswesen er-
schienen. Der größte Fortschritt liegt in dem Satze: ,, Der Lehrplan
der Präparandenanstalt und der des Seminars bilden ein organisches
Ganze"; dadurch wird viel Zeit gewonnen, die Wissensgebiete auf
dem Seminar zu erweitern. Einige Unterrichtsfächer schließen bereits
mit dem vorletzten Seminarjahr ab, sodaß die Fachausbildung in der
Oberklasse eine gewisse Selbständigkeit erhält. Das freie Arbeiten
im letzten Seminarjahr wird stark betont, eine Fremdsprache ist
obligatorisch, ferner sind die Unterrichtsziele der einzelnen Lehrfächer
ganz außerordentlich erweitert.
Das ist die große Entwicklung, die die Seminarbildung von
den ersten tastenden Versuchen im Gothaschen bis zur Gegenwart
durchlaufen hat.
Die Lehrerbildungsanstalten. 245
ZWEITER ABSCHNITT.
Die Lehrerbildungsanstalten.
A. Preußen.
I. Allgemeines.
Das Lehrerbildungswesen wird von dem Ministerium der geist-
lichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten geleitet. Die be-
sondere Fürsorge für Seminare und Präparandenanstalten, sowie das
Prütungswesen, ist den Provinzial-Schulkollegien übertragen, während
die Regierungen und die ihnen unterstellten Kreisschulinspektoren die
Weiterbildung im Amt fördern. Eine wichtige Tätigkeit des
Ministeriums besteht darin, stets für das Vorhandensein der zur Volks-
bildung nötigen Lehrer Vorkehrungen zu treffen. Die Bevölkerung
ist in den letzten Jahrzehnten dauernd gewachsen, und damit auch
der Bedarf an Lehrern. Zudem erwies sich die noch in den vierziger
und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts teilweise übliche private
Vorbereitung zum Lehramt als nicht sonderlich nützlich. Darum hat
das Ministerium seit PLrlaß der Allgemeinen Bestimmungen eine
ganze Reihe neuer Seminare eröffnet; die Zahl stieg von 64 im
Jahre 1 872 auf gegenwärtig 1 33. Weitere Neugründungen sind in den
nächsten Jahren zu erwarten. Treten besondere aber vorübergehende
Umstände ein, wie eine augenblicklich auffallend starke Bevölkerungs-
zunahme in einem Bezirk, oder vermehrte Pensionierungen älterer
Lehrer, dann werden an den Seminaren sogenannte Nebenkurse ein-
gerichtet, die nach Deckung des Bedarfs an Lehrern wieder aufhören.
Zahlreiche Nebenkurse wurden beispielsweise eingerichtet, als 1895
die Bestimmung erging, die Lehrer hätten ihrer Militärpflicht statt
10 Wochen ein Jahr zu genügen, um dem dadurch bedingten augen-
blicklichen Ausfall vorzubeugen. Außerdem i.st es das Bestreben des
Ministeriums, die Seminare gleichmäßig über das Land zu verteilen
und nicht einen einzelnen Bezirk besonders zu bevorzugen. Auch in
den nicht so stark bevölkerten Gegenden finden sich hinreichend
Seminare, um Gelegenheit zu geben, den Lehrerberuf zu ergreifen;
denn die Möglichkeit der Ausbildung ist für \'iele eine wichtige Ver-
anlassung, sich ihm zuzuwenden.
Die Ausbildungszeit des Volksschullehrers beträgt sechs Jahre,
von denen je die Hälfte auf Präparandenanstalt und Seminar entfallen.
246 Die \'olksschullehreibildung.
Sie bilden, wie schon erwähnt, ein organisches Ganze bezügHch des
Lehrplans, nicht aber in bezug auf die äußere Organisation, wenn-
gleich auch hier einige Ausnahmen bestehen.
Die Präparandenanstalten sind dreifacher Natur, entweder sind
sie rein staatlich, oder sie werden von Städten unterhalten, oder sie
bestehen als Privatanstalten bei den Seminaren. Auch bereiten noch
in geringem Umfange einzelne im Amte stehende und erfahrene
Lehrer Präparanden zur Seminaraufnahmeprüfung vor, wie es bis zum
Erlaß der Allgemeinen Bestimmungen die Regel war.
Die staatlichen Präparandenanstalten werden von einem Vor-
steher geleitet, dem einige Präparandenlehrer zur Seite stehen. Ebenso
sind die städtischen Anstalten organisiert, zum Teil bekleidet das Amt
der Leitung ein vom Staate hierfür bestimmter Seminarlehrer. Die
Seminar-Präparandenanstalten werden von den betreffenden Seminar-
direktoren geleitet, außerdem sind drei Präparandenlehrer angestellt,
die Seminarlehrer ^erteilen meist auch noch einige Stunden gegen
besondere Entschädigung. Für den Unterricht ist Schulgeld zu be-
zahlen, bei den staatlichen Anstalten 36 M., bei den privaten meist
100 IM. Den Präparanden gewährt der Staat Stipendien je nach ihrer
Würdigkeit und dem Grade ihrer Bedürftigkeit als Beihilfe zur Be-
schaffung von Wohnung, Kost und Unterrichtsmitteln. Es sind
54 staatliche, 12 städtische und 64 Seminar-Präparandenanstalten,
insgesamt also 130 vorhanden. Die dauernden Ausgaben für das
Präparandenwesen seitens des Staates betrugen 1 502 001 M. im
Rechnungsjahre 1903. Dazu kommen noch wesentliche Summen für
einmalige und außerordentliche Ausgaben.'
Die Seminare sind, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen,
staatlich. Unter staatlicher Aufsicht stehen sechs Privatseminare,
nämlich eins der evangelischen Brüdergemeinde, ein bischöfliches
(katholisches) und vier jüdische. Der Unterricht auf den staatlichen
Seminaren ist unentgeltlich. Ein Teil der Seminaristen wohnt in Semi-
naren; sie erhalten zudem freie Wohnung, Licht und Feuerung; für die
Kost dagegen ist zu bezahlen. Ebenso wie bei den Präparandenanstalten
gewährt der Staat den Zöglingen der Seminare Stipendien. Dafür müssen
sie sich verpflichten, innerhalb von fünf Jahren jede ihnen von der Be-
hörde zugewiesene Stelle anzunehmen, widrigenfalls die Stipendien
zurückzuzahlen und 1 80 M. für den Unterricht zu erlegen sind. Diese
V^erpflichtung bestand übrigens schon vor 150 Jahren für die Zöglinge
des von Hecker gegründeten Seminars.
Die Lehrerbilcluagsaiistalteii. 247
Ursprünglich lagen die Seminare zumeist in den Hauptstädten
und größeren Orten der Provinzen. Die geistige Strömung jedoch,
welche 1854 die Regulative zur Folge hatte, sah darin eine Gefahr
für den Lehrerstand. Man glaubte, der Lehrer werde dort seinem
eigentHchen Berufe, nämlich der Unterweisung des niederen Volkes
zu sehr entzogen, hier träten ihm zuviel Zerstreuungen entgegen,
hier empfinge er einen hochmütigen Charakter, Selbstüberhebung
und Standesdünkel stelle sich ein. Darum wurden fast alle derartigen
Seminare in mögHchst kleine Orte verlegt, — sehr zum Schaden des
Seminarwesens. Den Seminaristen und vor allem den Seminarlehrern
fehlte zumeist jede geistige Anregung, sodaß der Unterricht oft in
geistiger Erstarrung verlief. Und die Absichten bei der Verlegung
wurden nur teilweise oder garnicht erreicht; denn sehr richtig be-
merkt der Historiker von Treitschke: die jungen Leute gebärdeten
sich wie die sozialen Löwen des Ortes! So liegen denn zahlreiche
Seminare Preußens in kleinen Orten, bei den Neugründungen in den
letzten 25 Jahren sind jedoch meist Mittelstädte berücksichtigt worden.
Für diese und selbst für Großstädte dürften in der Tat die Interessen
der Lehrerbildung am meisten sprechen. Von der Bedeutung des
Ortes der Erziehung wird unten noch die Rede sein.
Viele der älteren Seminare befinden sich in alten Schlössern
oder Klöstern, die überwiegende Mehrzahl ist jetzt allerdings in Neu-
bauten untergebracht. Es hat sich ein bestimmter Seminargebäude-
typus ausgebildet: ein langgestrecktes Quergebäude, an den Seiten
zwei hervortretende Flügel. Die Räume sind als Wohnungen für den
Direktor und einige Lehrer, als Wohnstuben, Speisesaal, Schlaf- und
Waschsäle für die Seminaristen eingerichtet. Für die Unterrichts-
zwecke sind bestimmt die Aula, Klassenräume, Zeichen- und Musik-
saal, das physikalische Zimmer, Zimmer für naturwissenschaftliche
Sammlungen, für Karten, für Anschauungsmittel us\\'., ferner eine
Turnhalle, Bibliotheks- uud Leseräume, und endlich die Klassen für
die Cbungsschule. Die meisten Seminare besitzen auch eine Brause-
badeanstalt und, sofern Gelegenheit sich bietet, eine Flußschwimm-
anstalt. Vielfach ist endlich ein Park oder größerer Garten vorhanden.
Die Zahl der preußischen Seminare beträgt jetzt 183, davon
sind 85 evangelisch, 44 katholisch, 4 paritätisch. Die dauernden Aus-
gaben des Staates hierfür machten (allerdings 1 2 Lehrerinnenseminare
und ein mit einem Lehrerseminar verbundener Lehrerinnenkursus
eingerechnet) im Rechnungsjahre 1903: 7 841050,30 M. aus. Dazu
kommen die einmaligen und außerordentlichen Ausgaben, welche für
248 Die Volksschullehrerbildung.
Lehrer- und I>ehrerinnenseminare sowie für Präparandenanstalten im
Rechnungsjahr 1903 I 717 540 M. erforderten. Im Rechnungsjahre 1903
gab das Ministerium für Lehrer- und Lehrerinnenbildung 6,01 ^/q \'on
den dauernden, von den einmaligen und außerordentlichen Ausgaben
9,56 % seines Gesamthaushaltes aus.
n. Das Lehrpersonal.
Geleitet \\ird jedes Seminar von einem Direktor — ein Teil von
ihnen besitzt den Titel Schulrat — , ihm zur Seite steht der Erste
Seminarlehrer, welcher den Titel Seminaroberlehrer führt, sowie 5
oder 6 Seminarlehrer.
Man hat gesagt, daß die Volksschullehrerbildung einzig von der
Bildung der Seminarlehrer abhinge, und hat als alleinige Lösung jener
seit Jahren schwebenden Frage diese gegeben: umfassende wissen-
schaftliche, künstlerische und pädagogische Bildung der Seminar-
lehrer! Diese Lösung drückt einen grundlegenden Gedanken in
allerdings recht schroffer Form aus, daß es nämlich im Seminar ganz
herv^orragend auf die Lehrenden ankommt. Was nutzen alle neuzeit-
lich gestalteten Lehrpläne und alle vorzüglichen Lehrmittel und das
beste Schülermaterial, wenn es den Seminarlehrern am nötigen
Können, vielleicht auch Wollen fehlt. Andererseits vermag ein tüch-
tiger Lehrer auch gering veranlagte Seminaristen bei einem veralteten
Lehrplan und dürftigen Lehrmitteln zu höchst beachtenswerten Lei-
stungen zu führen. Nach zwei Richtungen muß sich die Durchbildung
der Seminarlehrer bewegen, nach der pädagogischen und nach der
wissenschaftlich-künstlerischen bezw. technischen Seite.
Pädagogisch gebildet sein heißt für den Seminarlehrer selbst
ein Erzieher sein und andere zum L; ziehen anleiten zu können.
Keineswegs sind Lehrer immer rechte Ei zieher, für den Seminarlehrer
ist es jedoch unerläßlich. Alle Forderungen, die an einen Erzieher
gestellt werden, gelten für ihn in besonders hohem Maße, aber sie
ei-weitern sich. Er hat nicht mehr Schüler vor sich, die noch Kinder
sind, sondern Zöglinge, die trotz ihres jugendlichen Alters bald als
Männer vor die Schuljugend treten und in den Gemeinden, wo sie
wirken, als geachtete Männer dastehen sollen. Hier ist mit den all-
gemeinen Erziehungsregeln und -mittein nicht mehr viel zu machen,
hier ist es in erster Linie ein hervorragendes Taktgefühl, das Erfolge
erzielen kann. Der Seminarlehrer hat im Seminaristen seinen künf-
tigen Kollegen zu sehen, — denn mit Stolz darf er von sich sagen,
Die Lehrerbiklungsanstalteii. 249
dal.s seine Arbeit der geistigen und sittlichen Hebung des Volkes,
d. h. der großen Massen, gilt. Der rechte Takt wird trotzdem die
Schranke zu ziehen wissen, die auf dem Seminar den Lehrenden von
dem Lernenden trennt. Nicht minder unerläßlich ist eine reiche
praktisch-psychologische Erfahrung. Eine solche ist nicht an ein be-
stimmtes Lebensalter gebunden, die Zahl der Lebens- und Amtsjahre
tut es hier nicht, sondern der offene BHck für die Vorgänge in der
Natur, in der Welt, in der einzelnen Menschenseele: hier gilt es,
politische, soziale, wissenschaftlich -künstlerische und wirtschaftliche
Ereignisse nicht allein nach ihren Tatsachen, vielmehr auch nach ihren
Zusammenhängen und Entwicklungsgängen zu verfolgen, hier sind die
einzelnen Individuen nach ihren Handlungen und Charakteren, nach
ihrem Sein und Werden zu studieren. Nicht bloß die Wirklichkeit,
sondern auch gerade die Literatur bietet davon eine Fülle Materials.
Das Seminar darf nur Persönlichkeiten entlassen, die als Mensch und
als Lehrer durchgebildet sind. Da gilt es hineinzudringen in ver-
schlossene Herzen, widerwillig sich dem Beruf Widmende für ihn zu
gewinnen, da heißt es den Prüfstein ansetzen, ob hinreichend geistige
Kräfte zur Erreichung des Ziels vorhanden sind, ob der Charakter
und die sittliche Befähigung für eine erfolg- und segensreiche Aus-
übung des Lehramtes bürgen! Es ist die schwere Aufgabe des
Seminarlehrers, seine Zöglinge für einen der verantwortungsvollsten
Berufe zu erziehen, er muß es verstehen, Freudigkeit am Amt und
Zufriedenheit mit einer nicht gerade glänzenden äußeren Lage zu
fördern und zu pflegen.
Hierauf beschränkt sich aber die pädagogische Bildung des
Seminarlehrers nicht, er ist nicht nur Erzieher, sondern auch Lehrer.
V^ielfach ist bezüglich der höheren Lehranstalten und Univ^ersitäten
der Vorwurf erhoben worden, daß, wiewohl dort hervorragend wissen-
schaftliche Männer tätig seien, mancher nicht die Gabe besäße, sein
Wissen fruchtbar weiter zu geben. Ob dies zutreffend ist, soll nicht
untersucht werden. Das steht indes fest, ein umfassendes Eigenwissen
schließt noch nicht die Fähigkeit in sich, es mitzuteilen. Darum
wird mit Recht Lehrfähigkeit vom Seminarlehrer gefordert; nicht
wissenschaftliches Arbeiten bleibt seine Berufsaufgabe, so fördernd
und wünschenswert jenes für das Amt auch ist, er hat zuerst Lehrer,
und wie oben schon ausgeführt, Erzieher zu sein! Bereitet es
Schwierigkeiten, anderen Wissen zu geben, so mehren sich die Hinder-
nisse, andere zum Unterrichten fähig zu machen. Das bildet aber
eine Spezialaufgabe, die für den Seminarlehrer unerläßlich, ohne die
250 Die Volksschiillehrerbildung.
eine noch so erfreuliche Erzieher- und Lehrfähigkeit für den Seminar-
dienst ziemhch wertlos ist.
Schon lange wird bezüglich der wissenschaftlich-künstlerischen
Durchbildung der Seminarlehrer die Frage erörtert, ob sich für die
Seminare das Fachlehrersystem empfiehlt oder nicht. Im Zeichnen,
Turnen und in der Musik wird eine Sonderausbildung verlangt. In
den anderen Fächern muß nach dem jetzt üblichen Verfahren jeder
Seminarlehrer unterrichten können und keineswegs ist es eine Selten-
heit, daß eine Reihe von ihnen tatsächlich bereits alle Fächer ,, durch-
unterrichtet" hat. Früher war dies sehr wohl erfolgreich möghch ; bei
den hohen Zielen der neueren Lehrpläne mehren sich jedoch erheb-
lich die Bedenken. Daß jemand alle Wissensfächer des Seminars
völlig beherrscht, muß als ausgeschlossen gelten. Je nach Neigung
und amtlicher Veranlassung wird sich jeder in ein oder mehrere Fächer
vertiefen, wird sich auch in allen Seminarfächern das unbedingte
Wissen aneignen können, aber von einer Durchbildung und Durch-
dringung kann nur in den Spezialfächern die Rede sein. Jedoch sollte
nicht verkannt werden, daß in der nicht leicht durchzuführenden
Forderung, ein Seminarlehrer müsse in allen Fächern unterrichten
können, ein recht beherzigenswerter Gedanke liegt. Gegenüber dem
Spezialistentum in der wissenschaftlichen Forschung ist dringend eine
mehr universale Bildung, ein harmonisches Gesamtwissen not\\'endig.
Die Gefahr, dies zu verlieren, ist beim Fachlehrersystem stark vor-
handen, namendich bei scharfer Trennung der Geistes- und Natur-
wissenschaften.
Die Vorbildung der am Seminar Unterrichtenden ist eine drei-
fache, entweder nur auf der Universität, oder nur auf dem Seminar,
oder auf beiden. Die Lehrerbildungsanstalten wurden im 18. Jahr-
hundert und im 19. bis vor etwa zwei Jahrzehnten fast ausnahmslos
von Theologen geleitet. Auch die Lehrer hatten im 1 8. Jahrhundert
zumeist eine akademische Bildung. Erst mit dem Aufschwung des
Seminarwesens seit Anfang des 19. Jahrhunderts war es möglich, auch
tüchtige Volksschullehrer als Lehrerbildner anzustellen. Nicht selten
treten aber auch Volksschullehrer in den Seminardienst, die sich nach-
träglich das Reifezeugnis eines Gymnasiums erworben und darauf
studiert haben. Als Vorbedingung zur Übernahme einer Stellung
am Seminar ist die Ablegung der Alittelschul- und der Rektorprüfung
notwendig.
Seit zwei Jahrzehnten haben von Akademikern außer den Theo-
logen auch Historiker, Philologen, Mathematiker und Naturwissen-
Die LehrerhiUkingsanslalten. 251
schaftler Anstelluni^ im Seminardienst gefunden. Die Frage, welches
denn die rechte Vorbildung eines Seminarlehrers sei, wird schon seit
langem erörtert. Zwei Richtungen stehen teilweise unvermittelt
gegenüber. Auf der einen Seite wird behauptet, ein Volksschul-
lehrer, der tüchtig weiter gearbeitet habe, könne der Stellung voll-
kommen genügen, sogar die Ablegung der Mittelschul- und der
Rektorprüfung sei überflüssig, — fast alle Bundesstaaten außer Preußen
verzichteten darauf. Dann ist andererseits die Frage der Vorbildung
der Seminarlehrer in engen Zusammenhang mit der Forderung des
Universitätsstudiums der Lehrer gebracht w^orden. Wohl besteht die
Tatsache, daß die Akademiker nicht immer die volle pädagogische
und methodische Schulung besaßen, welche das Seminar erfordert,
während den seminaristisch gebildeten Lehrern teilweise die wissen-
schaftliche Vertiefung fehlte. Am glücklichsten erscheinen die semi-
narisch und zugleich akademisch Vorgebildeten.
Auf jeden Fall fordert der Seminarunterricht eine Reihe solcher
Kräfte, die eine seminarische Schulung besitzen, ebenso bleibt es aus-
geschlossen, das akademische Moment zu entbehren. Keineswegs ist
es aber notwendig, daß beides in einer Person vereinigt sei. Die
bisherige gemeinsame Wirksamkeit von Akademikern und Seminarikern
hat sich für eine gesunde Entwicklung des Lehrerbildungswesens als
brauchbar erwiesen.
Die Notwendigkeit einer umfassenden Bildung für Seminarlehrer ist
auch von selten des Ministeriums anerkannt worden. Seit 1897 ver-
anstaltet es nämlich in Berlin wissenschaftliche Fortbildungskurse, die
erst allgemein der Weiterbildung der Volksschullehrer, jetzt aber zur
Erlangung tüchtiger Seminarlehrer bestimmt sind. Der Zweck des
Kursus ist, wie sein Name ausdrücklich besagt, eine wissenschaftliche
Behandlung der gebotenen Gegenstände zu geben. Zugleich sollen
auch die zahlreichen Bildungsmittel Berlins erschlossen werden, wie
Museen, Sammlungen, Einrichtungen volkswirtschaftlicher, gesundheit-
licher, sozialer und humanitärer Art. Diesem Zwecke dienen sowohl
Vorlesungen als auch Kolloquien und besondere, den Teilnehmern
am Kursus vorbehaltene Handbibliotheken für die einzelnen zur Be-
handlung kommenden Fächer.
Jeder hat an folgenden Vorlesungen teilzunehmen : i . Pädagogik
und Philosophie, 2. deutsche Sprache und Literatur, 3. Kultur- und
Kunstgeschichte, 4. Hygiene, 5. Volkswirtschaftslehre. Als wahlfreie
Fächer werden Vorlesungen gehalten über 1 . Mathematik, 2. Geo-
graphie, 3. Physik, 4. Chemie, 5. Zoologie, 6. Physiologie der Sprache
252 Die Volksschullehrerbildung.
und Stimme, 7. Schulhygiene, 8. Geschichte, 9. Französisch,
1 0. Englisch, 1 1 . Wohlfahrtskunde. Dozenten an diesem Kursus sind
höhere Schulbeamte und Universitätslehrer; er dauert ein Jahr und
umfaßt etwa 30 Hörer, die zumeist schon dem Seminar- oder
Präparandenlehrerberuf angehören und sich zu mindestens achtjährigem
Seminardienst verpflichten müssen. Gebühren sind nicht zu zahlen;
vielmehr werden noch Stipendien für Bestreitung der Aufenthalts-
kosten in Berlin gewährt.
Die Einrichtung des Kursus ist vielfach angegriften worden,
man verlangt dafür Universitätsstudium. Es muß jedoch beachtet
werden — und hervorragende, besonnene Pädagogen aus der V^olks-
schuUehrerschaft stimmen dem zu, — daß die Entscheidung über die
Frage des Universitätsstudiums der Lehrer noch lange nicht spruchreif ist.
Zudem nehmen die Universitäten bisher gar nicht Rücksicht auf die
Bedürfnisse des Seminars. Es handelt sich bei diesem Kursus auch
garnicht um eine Ausbildung, sondern um Fortbildung. Durch äußere
vorläufig nicht zu beseitigende Gründe ist es nicht möglich, für diese
Ausbildung mehr als ein Jahr zu gewähren; darum müssen Vor-
lesungen vorhanden sein, welche die gegebene kurze Frist gründlichst
ausnutzen. Technik, Landwirtschaft, Forst- und Bergwesen haben
sich von der Universität losgelöst und besitzen eigene Hochschulen,
da jene zu sehr überlastet würden. In ähnlicher Weise haben die
wissenschafthchen Fortbildungskurse ihre Berechtigung. Unbenommen
bleibt es ja den Kursusteilnehmern, sofern es die Zeit erlaubt,
Universitätsvorlesungen anzunehmen, da jeder Volksschullehrer die
Berechtigung hat, sich als Universitätshörer einschreiben zu lassen.
So lange ihnen aber nicht das Universitätsstudium mit der Berech-
tigung zur Ablegung der dieses Studium voraussetzenden Prüfungen
offensteht, sind diese Kurse unentbehrlich. Ob sie sich zu einer
Lehrerakademie entwickeln werden, ob es vorteilhaft ist, Sonder-
vorlesungen für künftige Seminarlehrer an den Universitäten einzu-
richten, wird in Lehrerkreisen vielfach erörtert. Nur das steht fest,
die Zukunft fordert für die Seminarlehrer künftig eine Bildung, die
unmittelbar, oder als Fortbildungskursus bezw. Akademie mittelbar
auf die Universität zurückgeht.
Für den Unterricht in den technischen, eigentlich künstlerischen
Fächern, ist eine besondere Vorbildung nötig. Zur Erteilung des
Turnunterrichts wird das Bestehen einer besonderen Turnlehrer-
prüfung vorgeschrieben. Der Seminarmusiklehrer, der weder die
AlittelschuUehrer- noch die Rektorprüfung abzulegen braucht, muß
Die Lehrerbildungsanstalten. 253
auf dem Königlichen Institut für Kirchenmusik in Berlin mindestens
ein Jahr studiert haben. Ein Teil der Seminarlehrer hat eines der mit
den Königlichen Kunstschulen verbundenen Zeichenlehrerseminare
besucht und die Zeichenlehrerprüfung abgelegt. Für die, bei denen
dies nicht zutrifft, sind seit einigen Jahren an der Königlichen Kunst-
schule in Berlin fünfmonatliche Zeichenkurse eingerichtet. Und zur
Ausbildung für den landwirtschaftlichen Unterricht an den Lehrer-
seminaren finden Informationskurse an Landwirtschaftsschulen statt.
Der Besuch all dieser Kurse ist unentgeltlich; der Staat gewährt
sogar noch Beihilfen zu den Aufenthaltskosten.
Endlich sei auch der Seminarreisen gedacht. Etwa alle fünf
Jahre steht es jedem Seminarlehrer frei, auf 14 Tage unter Ge-
währung der Reisekosten drei bis vier Seminare zu besuchen. Der
Zweck ist, den Unterrichtsbetrieb anderer Seminare kennen zu
lernen und daraus Anregungen zu empfangen. Vielfach werden diese
Seminarreisen als Gelegenheit benutzt, Land und Leute kennen zu
lernen. Und dies ist für den Seminarunterricht mindestens ebenso
wichtig als etwaige pädagogische Anregung. Der Besuch von Museen,
Sammlungen usw. bringt dem Seminarlehrer und durch ihn den
Seminaristen entschieden ebenso große Vorteile als der alleinige
Besuch des Seminarunterrichts. Auch wenn Seminarorte in land-
schaftlich, geschichtlich oder kulturell bedeutsamen Gegenden auf-
gesucht \\erden, so trägt das reichliche Früchte.
Die Seminardirektoren sind meist Akademiker, von den Ober-
lehrern ist etwa je die Hälfte akademisch oder seminarisch gebildet,
während bei den ordentlichen Seminarlehrern das akademische Element
wesentlich in der Minderzahl ist, und die Seminariker vorherrschen.
Die in den Seminardienst eintretenden Akademiker bleiben meist nur
wenige Jahre in der Stellung eines ordentlichen Seminarlehrers; sie
werden sodann Oberlehrer, um wieder nach einigen Jahren das Amt
eines Seminardirektors zu erhalten oder als Kreisschulinspektor zur
Schulvenvaltung überzugehen. Von beiden Ämtern aus steht die Be-
förderung zum Regierungs- und Schulrat bei den Königlichen Re-
gierungen, sodann zum Provinzialschulrat in den Königlichen Provinzial-
schulkoUegien offen.
Für die Lehrer an Präparandenanstalten wird bisher keine
besondere Prüfung, außer der 2. Lehrerprüfung, verlangt. Doch
erhebt man vielfach die Forderung, daß nur solche, welche die
Mittelschullehrerprüfung abgelegt haben, angestellt werden. Zumeist
widmen sich recht jugendliche Lehrkräfte dem Präparandendienst.
254 r)ie Volksschulleluerbilduns;.
Selten hat sich das als ein Nachteil erwiesen, da es zumeist lern-
und arbeitsfreudige Persönlichkeiten sind, die später in den Seminar-
dienst eintreten wollen und sich darum auf die hierfür nötigen
Prüfungen vorbereiten. Dies ist ein entschiedener Vorzug, da die
Präparandenanstalten gegenüber den Seminaren, wie noch später
gezeigt werden wird, hauptsächlich den Charakter von Lernanstalten
tragen. Die Forderung der Mittelschulprüfung wird sich auf die
Dauer allerdings nicht abweisen lassen.
Zum Schluß dieser Ausführung über das Lehrpersonal der
Lehrerbildungsanstalten sei noch die Frage gestellt, was soll der
Seminarlehrer seinen Zöglingen an Wissen geben? Alles, was er
selbst weiß! Dieser Satz mag recht absurd klingen, und doch besteht
er zu Recht! Die Zeiten sind noch garnicht solange vorüber, wo
mancher Seminarlehrer glaubte, daß ganz bestimmte Grenzen der
Wissensmitteilung an die Seminaristen gezogen seien, daß dadurch
die eigene Autorität (und vielleicht auch Unfehlbarkeit) am sichersten
gewahrt bliebe, wenn man sich selbst ein höheres Wissen vorbehielte.
Und manche Gesellschaftskreise, welche eine Hebung der Volks-
bildung für ihre Interessen schädlich halten, fordern often eine
möglichste Beschränkung des Seminarwissens. Wie soll aber der
Seminarlehrer verfahren? Die neuen Lehrpläne weisen ihm den Weg.
Die Zöglinge sollen in der Oberklasse zum ,, freien Arbeiten"
angehalten werden. Nur ein Bruchteil des Stoffes vermag in der
Unterrichtsstunde durchgenommen zu werden, da muß der Lehrer
verstehen, Anregung zum selbständigen Arbeiten zu geben — und
auf diese Art gibt dann der Seminarlehrer den Seminaristen sein
ganzes Wissen! Versteht er, seine Schüler für ihr Amt, aber auch
für Wissenschaft und Kunst anzuregen, nennt er ihnen die nötigen
Hilfsmittel, vor allem Bücher, die für eine planvolle Vertiefung nötig
sind, antwortet er auf Fragen, die an ihn gerichtet werden, soweit es
in seinen Kräften steht — dann ist er ein wahrer Lehrer. Sehen in
ihm, dem Erzieher, aber seine Zöglinge einen väterlichen Freund, so
hat er seine Aufgabe als Seminarlehrer erfüllt! Ihm wird der Dank
derer folgen, denen er Freund und Lehrer geworden ist. Mit Stolz
werden sie ihn als ihren Führer in das schwere und \erantwortungs-
reiche Schulamt bekennen. Ihm gelten dann gleiche Gefühle und
Worte, wie .sie vor 20 Jahren der Dichter Paul Heyse einem greisen
Lehrer widmete:
,,Wie es keiner je vergaß,
Der zu deinen Füßen saß!"
Die T.ehrerbildungsanstalten. 255
m. Die Erziehung der Seminaristen.
1. Die Erziehung durch Ort und Wohnung.
Der Nationalökonom Gustav Schmoller schreibt: „Man hat schon
gesagt, der Mensch sei das, was er esse; jedenfalls richtiger ist es zu
sagen, er sei das, was ihn seine Wohnung werden lasse." Und so-
dann führt er den Nachweis, wie jene aufs äußerste überfüllten
Wohnungen der Großstädte einer der schlimmsten sozialen und
sittlichen Schäden sei. Damit ist der ungeheure erziehliche Einfluß
\on Ort und Wohnung auf den Menschen anerkannt.
Auch in der Erziehung der Seminaristen und Präparanden spielt
()rt und Wohnung eine große Rolle, Die Forderungen, welche die
Gegenwart an die Lehrerbildung stellt, bedingen einen an Bildungs-
mitteln reichen Ort, nicht aber kommt es in erster Linie auf Größe
und Einwohnerzahl an. Wohl bietet das städtische Leben und Treiben
einen wichtigen Erziehungsfaktor, hier wird der Blick für das soziale
Leben geschärft. Ein offenes Auge vermag dort Lebenserfahrungen
zu sammeln, hier erhält der angehende Volksbildner einen weiteren
Blick für seinen Beruf, für seine nationalen und kulturellen Aufgaben,
da vermag er sich die geistige und sittliche Freiheit und Selbst-
beherrschung zu erwerben, die ihn vor der großen Gefahr hindert,
wenn ihn sein Amt in ein einsames Dorf führt, daselbst geistig zu
verkümmern oder, wie man es nennt, zu verbauern.
Aber ausschlaggebend bleiben doch die geistigen Bildungsmittel,
welche über den erziehlichen Wert eines Seminarortes entscheiden,
und die werden allerdings mehr in den mittleren und größeren Städten
vorhanden sein; darum wurde auch bereits oben bemerkt, daß diesen bei
Neugründungen von Seminaren meist der Vorzug gegeben wird. Indes
kommt es garnicht darauf an, dals die Gegenstände der Geschichte,
Kunst und Natur fein säuberlich geordnet in Kästen und Schränken
liegen. Es gilt vielmehr, das Auge zu schärfen und einmal sehen zu
lernen, was der Ort und seine Umgebung bietet. Oft wird entdeckt
werden, welche Fülle von Anschauungsmaterial vorhanden ist — man
muß es nur zu finden und zu erkennen wissen. Dann wird sich zeigen,
wie gerade im kleinen und kleinsten sich die großen Gesetze der
Geschichte, Kunst und Natur widerspiegein. Verstehen die Seminar-
lehrer, ihre Seminaristen sehen zu lehren, so kann selbst ein kleiner
Ort unter Umständen von großem Segen für die Lehrerbildung sein.
Aber eine Kleinstadt hat auch entschieden ganz bestimmte Vorzüge.
256 Di^ Volkäschullehrerbildung.
\'iel Gelegenheit zur Ablenkung von ernster Arbeit ist nicht vor-
handen, die gesundheitlichen Verhältnisse sind meist weit besser als
in der Großstadt, Bei geschickter Leitung gelingt es auch hier,
Anregungen zu selbständigem Arbeiten zu geben und vor allem das
Verlangen zu nähren, die Bildungsmittel der Großstadt sich später in
ernstem Ringen nutzbar zu machen. Nicht zu leugnen ist auch die
Tatsache, daß der Seminarist, der sich in der Kleinstadt viele geistige
Genüsse versagen mußte, oft viel gewandter und für die eigene
Individualität vorteilhafter die Sammlungen und Büchereien der
Bildungsmittelpunkte ausnutzt, als der an diesen Orten Ansässige, der
garnicht selten kein Bedürfnis kennt, sie sich dienstbar zu machen.
Trotzdem bleibt es wünschenswert, auf jeden Fall die Nachteile der
Kleinstadt durch Reisen der Seminaristen einigermaßen auszugleichen.
Neben dem Seminarort spielt aber die Wohnung eine wichtige
Rolle in der Erziehung der künftigen Lehrerbildner. Zweierlei kommt
hierfür in Betracht: Internat und Externat. Unter Internat versteht
man das Wohnen und die Beköstigung innerhalb des Seminargebäudes,
unter Externat außerhalb desselben. Es handelt sich hier — päda-
gogisch ausgedrückt — um das Problem der Institutserziehung. Das
18. Jahrhundert, hauptsächlich die Philanthropen, haben dieser allge-
mein die Wege geöffnet und ihre Vorzüge in' einem besonders
günstigen Lichte erscheinen lassen; das Interesse, das sich durch
Pestalozzi veranlaßt, den Waisen und Bedürftigen zuwandte, trug auch
dazu bei. Die Institutserziehung erschien daher bei Neuordnung des
Seminarwesens nach den Befreiungskriegen als selbstverständlich zur
Ausbildung der Volksschullehrer. Dazu kam die Notwendigkeit, den
zumeist aus recht bescheidenen Verhältnissen stammenden Seminaristen'
die Erreichung des Lehrerberufes zu erleichtern. Den Unterricht bot
der Staat unentgeltlich. Es handelte sich darum für die Unterkunft
zu sorgen. So entstand das Internat.
Die gesamte geistige und soziale Entwicklung ließ allmählich
das Internat als ,, unmodern" erscheinen. W^as immer eine mehr
wirtschaftliche Erleichterung für die künftigen Lehrer gewesen war,
wurde besonders in den Zeiten nach 1848 als ein unentbehrliches und
nachdrücklich zu handhabendes Erziehungsmittel betrachtet, um Be-
scheidenheit, Demut und vor allem unbedingte Unterordnung gegen
die vorgesetzten Organe zu erzwingen. Die Forderung nach größerer
Freiheit der Seminaristen, nach einem Externat wurde im Laufe der
Jahre immer lauter, und, wie es leicht erklärlich ist, verwarf man
cfleich völlisr das Internat. Es gilt aber unbefangen die Vor- und
Die Lelirerbilduiii^sanstalteii. 257
Nachteile des Internats und Externats für die künfti^^en Volksschul-
lehrer zu erwägen. Dabei ist scharf zu scheiden zwischen Präparanden
und Seminaristen, zwischen pädagogischen und wirtschaftlichen
Gründen.
Der Präparand tritt mit dem 14, oder 15. Lebensjahre in eine
Präparandenanstalt ein. Selten befindet sie sich an seinem Heimats-
ort, er muß daher in den meisten Fällen das Elternhaus und
dessen erziehenden PZinfluf?. entbehren, wo er ihn noch nicht ent-
behren kann. Was soll nun dafür eintreten? Worin soll die Familien-
erziehung einen Ersatz finden? Da erscheint es selbstverständlich,
diese fortzusetzen und den Präparanden in einer Familie unterzu-
bringen. Ein pädagogischer und ein wirtschaftlicher Grund stellen
dem Bedenken entgegen, — werden sich auch geeignete Familien
finden — und werden die Eltern die nicht unerheblichen Pensions-
kosten tragen können.
Die Gründe, weshalb solche jungen Leute von Familien in
Pension genommen werden, sind fast ausschließlich in der Notwendig-
keit des Gelderwerbes zu suchen. Wohlhabende werden selten dazu
bereit sein, und wegen der vielen Umständlichkeiten und Mühen ent-
schließen sich Familien, die den gebildeten Kreisen angehören, nicht
gern dafür. Leicht liegt aber die Gefahr vor, daß die Bildungs-
sphäre der sogenannten Pensionseltern für den Präparanden unge-
eignet ist, daß aber auch Wohnung und Kost minderwertig sind.
Dadurch kann aber die körperliche und geistige Ausbildung des
Präparanden leiden, und höchst ungünstige erziehliche Einflüsse ver-
mögen sich geltend zu machen. Ferner ist die Aufsicht seitens der
Lehrer über die Präparanden recht schwierig: .S bis 4 Präparanden-
lehrer sind außerstande, etwa 100 Zöglinge, selb.st wenn sie nur auf
15 bis 20 Pensionen verteilt sind, hinreichend zu inspizieren. Auch
entschließen sich die Pensionseltern nur zu oft, ihren Pfleglingen
unerlaubte Dinge zu gewähren, wie Rauchen, Nichtinnehalten der
Arbeitsstunden, spätes Zubettegehen, Urlaubsüberschreitungen und
dergleichen, damit keine Beschwerden über mangelhaftes Essen usw.
erfolgen. Auch stellt die Pension in Familien sich wesentlich teurer
als die Kosten im Internat. Andererseits gewährt dieses dem Präpa-
randen weit bessere Aufsicht, und in ihrem Lebensalter brauchen sie
diese recht dringend. Das gemeinsame Leben mit einer genau ge-
regelten Hausordnung, die auch für das Flxternat besteht, sich
dort aber schwer durchführen läßt, bedeutet ein wichtiges Erziehungs-
element, das bei manchem verwöhnten Muttersöhnchen und bei
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. HI. 17
258 Die N'olksschullehrerbildung.
unverträglichen oder zur Widersetzlichkeit neigenden Elementen recht
angebracht ist.
Bei Erwägung der pädagogischen und wirtschaftlichen Gründe
und Gegengründe dürfte die Internatserziehung den Präparanden nur
zu empfehlen sein. Bisher findet sich allerdings das Präparanden-
internat nicht häufig. Bei den privaten Anstalten fehlt meist das
nötige Kapital, ein solches einzurichten, bei den städtischen An-
stalten wollen die Ortsbehörden ihren Einwohnern durch das Ex-
ternat die Möglichkeit des Gelderwerbs geben, und die gleiche Ab-
sicht liegt vielfach bei den staatlichen Anstalten vor. Wenn sich
geeignete Familien, besonders Lehrerfamilien, finden, so liel^e sich
auch das Internat entbehren.
Wesentlich anders verhält es sich mit den Seminaristen, die in
einem Alter von 17 bis 22 Jahren stehen. Sie sollen nach drei-
jähriger Ausbildung eine selbständige Stellung einnehmen, und da^
bedeutet eine außerordentlich schwierige Aufgabe für einen Zwanzig-
bis Zweiundzwanzigjährigen. Deshalb muß die Erziehung im Seminar
besondere Wege einschlagen, damit der junge Lehrer seine Selb-
ständigkeit recht gebraucht. Bei zu strenger Erziehung — das ist
eine alte Erfahrung — zeigt sich leicht die Möglichkeit, nach er-
langter Freiheit, wie man zu sagen pflegt, über die Stränge zu
schlagen. Dem jungen Lehrer droht diese Gefahr besonders stark.
Nach jahrelanger oft strenger Ausbildung wird er in einem recht
jugendlichen Alter, in dem sich seine meisten Altersgenossen noch
längere Zeit für den Lebensberuf vorbereiten, mit einem Amte be-
traut, das auf der einen Seite große Pflichttreue und Arbeitskraft,
auf der andern aber Selbständigkeit und Takt fordert. Wo ihm, wie
namentlich auf dem Dorfe, seine Vorgesetzten nur selten an der
Seite stehen, muß er gewissenhaft und besonders auch recht pünktlich
seine Pflicht tun. F.r hat den gar nicht selten auf den Lehrerberuf
verächtlich herabsehenden Stadt- und Landbewohnern das nötige
Selbst- und Standesbewußtsein, aber gepaart mit Zurückhaltung und
ohne Überhebung zu zeigen; er muß es aber auch verstehen, sich
mit Bescheidenheit bewußt zu bleiben, daß ihm noch sehr viel an
seiner Ausbildung fehlt, selbst wenn er an seinem Wohnort der erste
in bezug auf Wissen ist. Eine große Freiheit gibt ihm das neue
Amt, wie er sie bisher noch nicht kannte. Wie leicht ist da ein
Mißbraych dieser Freiheit, ein Verkennen seiner Stellung möglich!
Darum hat das Seminar hier mit seinen Erziehung.sfaktoren einzu-
setzen. Wie unter diesem Gesichtspunkt der Seminarlehrer sein
Die Lehrcrbiklung.san^t.illen. 259
X'ci'hältnis 7.11 den Zö^lini(en ref^eln muß, ist bereits in dem iXbschnitt:
Das Lehrpersonal, besprochen worden, hier soll nur noch von der
Bedeutung der Wohnung hierfür die Rede sein.
Gegen das Elxternat der Seminaristen machen sich gleiche
Gründe wie unter Umständen bei den Präparanden geltend: geeignete
Familien lassen sich nicht leicht finden, die Kosten sind wesentlich
höher als im Internat. Dem gegenüber sprechen aber andere Er-
wägungen ganz wesentlich für das Externat: der Seminarist lernt
hier mit der Freiheit, die ihm bald das Amt bringt, umgehen, und
lernen muß er es, will er den eben dargelegten Forderungen des
Berufes an seine Person genügen und nicht straucheln. Es ist aber
sehr schwer zu vermeiden, daß selbst dem besten Internat der Cha-
rakter der Unfreiheit anhaftet. In der Natur der Sache liegt es be-
gründet, daß je größer die Zahl der Zusammen wohnenden ist, um
so beschränkender die Vorschriften sein müssen, welche durch die
gegenseitige Rücksichtnahme geboten werden. Im Externat \'ermag
der Seminarist die ihm gewährte Freiheit gebrauchen zu lernen, er
vermag hier zu tun, was Pflicht und gute Sitte heischt, ohne unter
dauernder Kontrolle zu stehen wie im Internat. Den Präparanden
muß das strenge Geschlossensein, als seinem Lebensalter entsprechend,
erziehen, für den Seminaristen ist das Gebundensein in der Freiheit
zu fordern. Wird dem Präparanden gesagt, du sollst dieses tun,
jenes aber lassen, so hat sich der Seminarist selbst zuzurufen : ich will
und muß dieses mir versagen, jenes aber vollbringen. Nicht im fast
hermetischen Abschließen \-or den Gefahren der persönlichen Be-
wegungsfreiheit wird der Seminarist vor ihnen behütet, sondern in-
dem er lernt, ihnen erfolgreich entgegenzutreten. Nicht im ängst-
lichen Fliehen vor dem Feinde, sondern im trutzigen Stirnebieten
wird der Charakter gestählt und gegen Hieb und Stoß gefeit. W^er
wie der junge Lehrer sofort nach Verlassen des Seminars in eine
derartig selbständige Stellung tritt, muß geschult sein, sich ohne fort-
gesetzte Aufsicht richtig zu bewegen, ihm muß der kategorische Im-
perativ der Pflicht in Fleisch und Blut übergegangen sein — das alles
gibt ihm aber das Externat in ganz anderm Maße als das Internat.
Trotzdem kann unter bestimmten Umständen das Internat den
\^orzug verdienen. Gerade in der Reichshauptstadt hat sich das In-
ternat als eine Notwendigkeit erwiesen, da bei den weiten Entfer-
nungen der elterlichen W'ohnungen, die teilweise in Vororten liegen,
die Seminaristen zu viel Zeit durch Hin- und Rückwege — mit-
unter \-ier Stunden täglich — \-erlieren und sich am frühen Morgen,
17*
250 l^'ip N'olksschullehrerbilduiig.
WO Straßenbahnen noch nicht fahren, auf Kosten der Gesundheit ab-
hetzen. Ebenso ist das Internat unbedingt nötig, wenn, wie gerade
an den kleinen und kleinsten Orten geeignete Familien zur Unter-
bringung fehlen. Wo das Internat besteht, muß es ebenso wie bei
den an kleinen Orten befindlichen Seminaren sein Bewenden haben;
denn die dafür vorgesehenen Räume können nicht ungenutzt leer
stehen. Es kommt aber alles darauf an, die Hausordnung so zu ge-
stalten, daß keine weiteren Grenzen der persönlichen Bewegungs-
freiheit gezogen werden als durch das Zusammenwohnen so vieler
junger Leute sich von selbst ergeben. Hierdurch ist es bedingt, be-
stimmte Zeiten für das Arbeiten, Essen und Schlafen festzusetzen.
Jeder Charakter klösterlichen Lebens oder einer Zwangsanstalt muß
dem Internat fernbleiben. Wünschenswert erscheint es, der 1.
(obersten) Klasse besondere Vorrechte und Freiheiten zu gewähren.
die den Übergang zur Selbständigkeit nach dem Abgang erleichtern.
Am besten wäre es, diese Klasse nach zwei Jahren Internats aus oben
angeführten Gründen zu externieren. Etwa die Hälfte der Seminare
verfügt über Internate, ein Drittel dagegen über Externate, der Rest
hat ein bis zwei Klassen im Internat, die andern im Externat. Da
die Nebenkurse fast ausnahmslos als Externate bestehen, so wohnt
jetzt bereits die reichliche Hälfte der preußischen Seminaristen im
Externat. Bis 1872 existierten fast nur Internate, die seitdem be-
gründeten Seminare sind fast immer Externate. Wenn nicht ganz
besondere Gründe vorliegen, richtet die Unterrichtsverwaltung bei
neu entstehenden Seminaren auch kein Internat mehr ein.
2. Die Erziehung durch den Unterricht.
a) Charakter des UiiterricJits.
Über die Bedeutung der Seminarlehrer für die Erziehung der
künftigen V^olksschuUehrer i.st bereits im Abschnitte ,, Lehrpersonal"
gehandelt worden. Darum erübrigt es nur noch auf die Bedeutung
des Unterrichts für die Erziehung einzugehen. Zunächst sei die Frage
nach der Unterrichtsform erörtert.
Bis zur Einführung der Lehrpläne vom 1. Juli 1901 war es
durch die Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Oktober 1()72 ge-
boten, die gleiche Form zu wählen, wie für den Volksschulunterricht:
,,Der Unterricht, welchen die Seminaristen empfangen, soll in seiner
Form ein Muster desjenigen sein, welchen sie als Lehrer später zu
erteilen haben \\erden". Die Absicht ist also, mit dem Stoff des
Die I>chrerbilduii<^sanstalten. 261
Seminarunterriclits zugleich eine für die Volksschule bezügliche
methodische Unterweisung zu geben, damit der künftige Volksschul-
lehrer befähigt ist, selbst später in der rechten Weise zu unterrichten.
Die Fachausbildung wird dadurch mit der Allgemeinausbildung ver-
quickt. Es muß aber einleuchten, daß für einen Seminaristen von
1 7 bis 22 Jahren unmöglich dieselbe Lehrform angebracht sein kann,
wie für Kinder von 6 bis 14 Jahren. Die neuen Lehrpläne haben
diese Forderung fallen lassen, indem sie scharf zwischen der Allge-
mein- und Fachausbildung scheiden. Die Unterrichtsform der
Volksschule wird fortan in den praktischen und theoretischen
Methodikstunden der zweiten und ersten Klasse gelehrt.
Die Seminarmethodik hat sich dem Lebensalter und dem
Rildungsstandpunkt der Seminaristen gemäß zu gestalten. Einen
breiten Raum nimmt im Volksschulunterricht die Entwicklung durch
Frage und Antwort und sodann das Üben und Wiederholen ein.
Auch das Entwickeln bleibt für den Seminarunterricht ein Ideal,
mangelnde Zeit wird es oft unmöglich machen. Trotzdem der
Seminarlehrer vielfach zur vortragenden Form greifen muß, kann er
doch entwickeln, er muß nur nicht pedantisch auf Frage und Ant-
wort bestehen; sein Vortrag soll sogar einen durchaus entwickelnden
Charakter tragen und keine fertigen Unterrichtsergebnisse mitteilen.
Um den durchgenommenen Stoß' zu klären, befestigen und einzu-
üben, wird er in der Schule zergliedert, noch einmal abgefragt, zu-
sammengefaßt und sofort wiederholt. Nur in Ausnahmefällen dürfte
dies im Seminar zulässig sein. Der geistige Standpunkt, die infolge
des Lehrpensums fehlende Zeit verbieten es. Auch das Üben und
Wiederholen des eben durchgenommenen Stoffes in derselben Unter-
richtsstunde ist für das Seminar ausgeschlossen; der Seminarist muß
von selbst den nötigen Trieb haben, sich das geforderte Wissen ein-
zuprägen.
Die Wiederholung auf dem Seminar kann sich nur als Kontrolle,
ob das Durchgenommene eingeprägt ist, gestalten. Wo die Erinne-
rung an die Lehrstunde nicht mehr ausreicht, greift das Lehrbuch
ein. Wo dieses im Stich läßt, ist es für das Seminar sehr wohl an-
gebracht, die Hauptergebnisse der Unterrichtsstunde in wenigen Stich-
worten kurz zu diktieren, um der Wiederholung einigen Anhalt zu
geben; doch darf sich das nur auf Ausnahmefälle beschränken. Nach-
schreiben während der ganzen Stunde ist ausgeschlossen. Statt des
Wiederholens und Übens niuß im Seminar in umfassender Weise das
Stellen von Aufgaben eintreten, sei es, daß sie sofort gelöst werden.
262 rJie Volksschullehrerbildung.
sei es daß sie zu Hause auf Grund des Selbsstudiums bearbeitet
werden.
Die entwickelnd-vortragende und Aufgaben stellende Lehrform
ist das eine Kennzeichen der Seminarmethodik, das andere ist das
Selbststudium. Es kann im Unterricht bei den Lernenden leicht das
Bewußtsein des Fertigseins, richtiger des vermeintlichen Fertigseins
mit der Bildung entstehen, und nicht ohne Berechtigung ist mitunter
dem Volksschullehrerstand der Vorwurf gemacht worden, er käme
vom Seminar mit der Überzeugung, die Unterrichtsgegenstände wären
,, erschöpfend" behandelt; und diese Überzeugung kann sehr leicht
aufkommen, wenn der Zögling nur Wissen und keine Bildung erhält.
Bei dem Bestreben, den Lehrerstand geistig zu heben, ihn wenn
möglich für das Universitätsstudium reif zu machen, ist es notwendig,
das Bewußtsein zu wecken, alles menschliche Wissen ist Bruchstück
und das Seminar kann nur einen winzigen Teil des Erforschten
geben.
Nur als einseitig und mangelhaft muß die Bildung gelten, die
allein das im Unterricht Angelernte erworben, die sich nicht in den
einen oder anderen Punkt vertieft hat. Erst selbsterworbenes Spezial-
wissen — wenn auch nur in bescheidenen Grenzen — bewahrt vor
Oberflächlichkeit und vor der durch Leitfadenweisheit entstehenden
Überzeugung „alles besser zu wissen". Darum ordneten die Be-
stimmungen vom 1. Juli 1901 das freie Arbeiten an. Je nach
Neigung und Veranlagung vermag sich der Seminarist in ein Fach
zu vertiefen, er erarbeitet sich durch eigene Beobachtung oder durch
Einblick in die ihm bezeichnete Literatur das selbständig, was ihm
im Klassenunterricht mundrecht vorgetragen und entwickelt wird.
Durch dieses freie Arbeiten erwirbt er sich einen Freund, der ihm,
wenn ihn auch andere Freunde verlassen, im Leben treu zur Seite
bleibt, nämlich Lust und Liebe zu geistiger Tätigkeit. Mag er auf
einem öden Dorfe sitzen, mag ihm das Leben hart mitspielen, so
wird er sich auch in Einsamkeit und Trübsal durch seine geistigen
Literessen in geistiger Gemeinschaft mit anderen befinden. Außer
diesem allgemeinen Erfolg soll das freie Arbeiten noch den Sonder-
zweck haben, den jungen Lehrer zu befähigen und vorzubereiten, sich
für die 2. Prüfung mit Erfolg in einem Spezialfach fortzubilden.
Dies freie Arbeiten und Selbstudium darf aber nicht mit dem
selb.ständigen Forschen in wissenschaftlichem Sinne verwechselt \\-erden,
wie es auf der Universität getrieben wird. Dazu fehlt dem Semina-
risten eine hinreichende Vorbildung, die erforderlichen Hilfsmittel und
Die Lehrerbiklim^sanstalten. 263
vor allem die nötige Zeit. Er muß die Ergebnisse der Wissenschaft
mehr oder minder hinnehmen, wenn seine Eehrer sie ihm im ent-
wickelnden Unterrichte und die populär-wissenschaftliche Literatur
darüber darbieten. Im Amte stehend möge er, wenn Neigung und Be-
fähigung vorhanden ist, selbständig forschen. Auf jeden Fall ist ihm
aber dringend zu raten, sich im fleißigen Selbststudium erst das zu
eigen zu machen, was die Meister auf dem Gebiete der einzelnen
Wissenschaften erarbeitet haben.
Die neuere Handhabung des Seminarunterrichts birgt eine ge-
wisse Gefahr in sich, es der Universität gleich zu tun. Bezüglich des
freien Forschens war das schon oben abgelehnt worden, auch für den
Unterricht eignet sich das , .Vorlesung halten" nicht, wie es nach den
Berichten alter Lehrer in den Seminaren vor 1 848 garnicht selten geschah.
Der Seminarlehrer soll, wie schon früher dargelegt, entwickeln, und zwar
wenn möglich auf Grund von Quellen und Experimenten. Die Wieder-
holung ist zur Kontrolle des Verstandenseins und der Einprägung
notwendig. Sie geschieht meist in Form des Vortrags, indem nicht
selten alles Durchgenommene wörtlich und getreulich vom Semina-
risten referiert wird. Bei diesem Verfahren liegt aber leicht das
Unterrichtsergebnis nicht in freier Beherrschung des Stoffes, sondern
in Dressur und angelerntem Wissen. Abgesehen davon, daß bei der
außerordentlichen Überlastung der Seminaristen durch den , .Vortrag"
übermäßige Forderungen an die Gedächtnis- und Nervenkraft gestellt
werden, kommt es doch nur auf das wesentliche an, und die Be-
herrschung des Stoffes zeigt sich am besten durch Lösen von Auf-
gaben, deren Notwendigkeit bereits betont wurde.
b) Die Allgemeinbildung.
Der Seminarunterricht verfolgt sowohl durch die Allgemein- wie
durch die Berufsbildung bestimmte Erziehungsziele. Der Allgemein-
unterricht will eine religiöse, nationale und soziale, eine ästhetische
und intellektuelle und endlich eine körperliche Bildung bezw. Aus-
bildung geben.
Religion und Vaterland, Thron und Altar, wie man gesagt hat,
sind die Grundlagen des deutschen Schulwesens. Namentlich die
Religion ist einer der wichtigsten Erziehungsfaktoren, deren Pflege
der Staat sorgfältig überwacht, und die er nicht privatem Beheben
überläßt. Solange er den Anspruch macht, ein christlicher zu sein,
muß er auch das Christentum in das von ihm geleitete Schulwesen
264 1-*'^ \'olk.s>chullelu-erbildung.
eingliedern. Darum überläßt er die religiöse Erziehung nicht der
Kirche allein, sondern beteiligt sich daran in hervorragender Weise.
Seit Jahren wird an Stelle des ReUgions- ein Moralunterricht
gefordert. Es ist darauf hingewiesen worden, daß alle Bürger vor
den Staatsgesetzen gleich wären, daß daher in der Schule nur das
gelehrt werden dürfe, was allen Religionen gemeinsam ist, nämlich
die Sittenlehre. Ferner würden durch den nach Kirchengemein-
schaften gesonderten Religionsunterricht Spaltungen bereits in den
jungen Gemütern hervorgebracht, indem das Trennende der Be-
kenntnisse und nicht das einigende Band des Glaubens zu sehr, ja
fast ausschließHch in den Vordergrund trete. Darum möge der
Religionsunterricht den einzelnen Religionsgemeinschaften überlassen
bleiben.
Letzterer Grund ist schlechterdings nicht zurückzuweisen, —
aber darum ist es doch nicht gleich nötig, die Religion aus der
Schule zu bannen! Es wird hier auf die rechte Handhabung des
Unterrichts ankommen; gewiß muß das Trennende besprochen, aber
nicht minder scharf darf das Gemeinsame betont werden, stets ist
darauf hinzuweisen, daß die volle Erkenntnis der religiösen und
christlichen Wahrheit erst das Jenseits bringt. Zudem ist ein Moral-
unterricht ohne metaphysische Grundlage nicht möglich, oder er löst
sich in eine Sammlung von Sittenlehren auf. für deren Befolgen der
zwingende Grund fehlt. Jenes Kantische Wort: ,,Du kannst, denn
du sollst", setzt dagegen notwendig das Postulat eines transzendenten
Gottes voraus. Es ist aber keine Veranlassung, weshalb im christ-
lichen Staate der Unterricht christlicher Kinder sich auf ein höchstes
Wesen beschränken soll, das auf dem Wege der Philosophie gefun-
den wird. Gott hat sich den Christen offenbart, auf dieser Grund-
lage baut sich auch das Glaubens- und Sittenleben des Menschen auf
Es würde eine Verleugnung, zum mindesten arge Geringschätzung
des „Besten in der Welt", wie der englische Naturforscher Drummond
das Christentum genannt hat, bedeuten, wenn die Schule einen
kalten Moralunterricht verkünden und nicht die Religion von der
göttlichen Liebe verkünden würde. Aber noch ein pädagogischer
Grund kommt dazu. Durch den Religionsunterricht wird ein Band
zwischen Lehrer und Schüler geknüpft, wie es im Sittenunterricht nie
der Fall sein kann. Als Beleg dafür möge einzig das Wort eines
Lehrers, der einer der angesehensten Führer der deutschen Lehrer-
schaft im Vereinswesen ist, seine Stelle finden, wie er es gelegentlich
eines Vortrages auf dem 8. Deutschen Lehrertage im Jahre 189U
Uie Lehrerbildungsanstalten. 265
sprach : ,,Die deutsche Volksschullehrerschaft sieht im Religions-
unterricht das vorzüglichste Mittel, um auf Herz und Gemüt des
Kindes einzuwirken. Gerade die Religionsstunde ist, recht gegeben,
eine Weihestunde, und Sie werden vielleicht oft auch schon diesen
unauslöschlichen Eindruck bekommen haben von der ReHgionsstunde,
die Siegegeben, wo Sie körperlich und geistig Ihren Kindern näher
gerückt sind, wo kein Fremder dabei war, wo Sie vielleicht nicht
nach den Regeln der Katechetik unterrichtet haben, aber das Herz
überquoll zum Herzen. Solche Stunden müssen wir haben in der
Volksschule, wenn sie etwas leisten soll, und wir reklamieren solche
Weihestunden für uns".
Soll der Volksschullehrer Religionslehrer sein, so muii er auf
dem Seminar eine religiöse Bildung erhalten. Das geschieht aber
nicht allein durch den Unterricht, sondern durch den ganzen Geist
der im Seminar weht. Der künftige Lehrer soll nicht allein zum
Religionslehrer als überhaupt zu einer christlichen Persönlichkeit er-
zogen werden. In jedem Unterrichtsfache ist. Voraussetzung und
kommt es auch mehr oder minder zur Geltung, daß das Christentum
die Grundlage im Leben des einzelnen wie des gesamten Volkes und
jeder Kultur ist. Die gemeinsamen Morgen- und Abendandachten,
der gemeinsame Kirchgang am Sonntag, und vielerorts ein gemein-
samer Abendmahlsgang vor der Abschlußprüfung fördern die religiöse
Erziehung des Seminars. Viel trägt dazu auch die Musik bei. Die
meisten Seminaristen nehmen am Orgelunterricht teil und werden so
in die kirchliche Musik und in die Gedanken der Großmeister auf
diesem Gebiet, eines Johann Krüger, eines Sebastian Bach, eines
Friedrich Händel eingeführt. Der Gesangunterricht lehrt die trutzig
und wuchtig dahinschreitenden Tonfolgen des Chorals und die selbst
starre Herzen umfangenden und überwindenden Töne des geistlichen
Volksliedes. Es ist dem Christen offenbart: »Wir haben keine
bleibende Stadt sondern die zukünftige suchen wir.< Darum soll
die Schule wie es schon Comenius lehrte, als trübe Tage über Deutsch-
land hereinbrachen, auf die himmlische Heimat vorbereiten, darum
gibt es eine religiöse Erziehung.
Aber nicht allein für die himmlische, auch für die irdische
Heimat wird der Seminarist erzogen. \'or 1 00 und mehr Jahren be-
geisterten sich die Gebildeten für den Gedanken des Weltbürgertums.
Und daß dies gleichfalls in Deutschland geschah, ist nur zu erklärlich,
— es gab kein deutsches Vaterland. Die geistige Einheit schufen
erst wieder die deutschen Dichter mit Klopstock beginnend, — die
2(36 ^''^ Volksscluillehreibilduiig.
nationale Einheit beruhte auf dem Ruhme Friedrichs des Grollen!
War man doch, wie Goethe erzählt, in seinem Vaterhause > fritzisch <
gesonnen. Erst die Geistesströmung der Romantik und die Be-
freiungskriege ließen den Gedanken des Vaterlandes mit Begeisterung
emporlodern, und die vaterländische Erziehung gewann fortan eine
Stätte, nachdem bereits Männer wie Zöllner und Stephani im
Jahre 1804 für die „Nationalerziehung" eingetreten waren. Aus der
Erziehung zum Weltbürger ward die Erziehung zum Patrioten. Der
Gedanke reiner Menschlichkeit blieb, aber herrschend wurden die
Worte, die Schiller — der Weltbürger — vorahnend gesprochen:
»Ans Vaterland, ans teure, schheß dich an!«
Dem Deutschen ist mit dem Begriff des Vaterlandes sein
Herrscherhaus untrennbar verbunden, und in seinen Fürsten sieht er
das Vaterland verkörpert. Als eine besondere Tugend ward schon
den alten Germanen die Treue gegen ihren Herzog nachgerühmt,
und stolz klingen die Worte, welche vor bald 300 Jahren ein branden-
burgischer Kanzler den kurmärkischen Ständen zurief: »Es hat die
Nation der Märker den Ruhm vor anderen von vielen Jahren daher
geführt und erhalten, daß sie ihre Herrschaft in keiner Not verlassen. <
Wohl ist die verstandesmäßige Erkenntnis der Segnungen des Vater-
landes und der landesväterHchen Fürsorge in jetzigen und ver-
gangenen Tagen von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die
Förderung des Patriotismus. Aber eine nüchterne, reine venstandes-
mäßige Erkenntnis kann nur ein recht kühles Vaterlandsgefühl er-
zeugen, das sich unter Umständen als Eigennutz ausweist. Die
Vaterlandsliebe ist in erster Linie ein ideales Gut, das ebenso wie
die Religion den Menschen aus der Alltäglichkeit emporhebt, seinen
Blick für das Große schärft, das ihn genießen und verstehen heißt,
was frühere Geschlechter und die lebende Generation geschafft und
erworben haben an „Gütern und Gaben des Friedens auf dem Ge-
biete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung", aber auch an den
Gütern und Gaben des Schwertes und des Geistes.
Die preußischen Seminare genießen das große Glück, einen
Lehrplan zu besitzen, der durch und durch national ist. Der preußi-
sche Volksschullehrer erhält eine nationale Bildung, deren sich kein
anderer Stand in gleichem Maße rühmen kann. In umfassender
Weise wird deutsche Literatur, deutsche Sprache und deutsche Ge-
schichte getrieben, auch Kenntnis der deutschen Heimat und des
deutschen Wirtschaftslebens erworben, und das deutsche Volkstum und
das deutsche Lied finden eine eingehende liebevolle Pflege.
Die Lclirerbiklungsanstalten. 267
Aber jene Gedanken vom Weltbürgertum, von Freiheit, Gleich-
heit, Rri^iderlichkeit« sind nicht untergegangen, nur sind sie in andere
Formen umgeprägt worden. Der sich absurd gebärdende Most hat
sich in einen guten Wein verwandelt: in den Gedanken der sozialen
Gemeinschaft. Das Gemeinschaftsleben der Menschen, sei es in der
Familie, in der Gemeinde, im Staat oder in der Welt des Auslandes
ist nicht nur ein Gegenstand des W^issens, sondern auch ein Erziehungs-
faktor. Zur Gemeinschaft erzieht den künftigen Lehrer der Klassen-
unterricht, dann vor allem das Internat, weniger das Externat. Dazu
tritt die Kenntnis der staatlichen Verfassung und Verwaltung, der
wirtschaftlichen Tatsachen und Gesetze, der Wohlfahrtspflege und
v.erktägigen Nächstenliebe, die Bande rein menschlicher, geistiger wie
praktisch-realer Beziehungen zu den Glaubensgenossen und zu den
^Mitmenschen überhaupt, sowohl in der Heimat wie in der Fremde.
Dies alles bedingt und fördert die soziale Erziehung der Seminaristen.
Bildet die religiöse, nationale und soziale Erziehung eine mehr
praktische Erziehung so erweist sich die intellektuelle und ästhetische
als eine mehr theoretische.
Nach gangbarer Einteilung stellt sich die intellektuelle Aus-
bildung als eine formelle und materielle dar. Die formale hat die
Auffassungs- und Aufnahmefähigkeit des Geistes zu erzielen, und das
ist die schwierigste Aufgabe überhaupt, da sie kein gesondertes Unter-
richtsfach sein kann, da ihre Erfolge erst allmählich und oft recht
spät sichtbar werden. Sie erfordert seitens der Seminarlehrer viel
Gewandtheit, und viel, sehr viel Geduld, auch wenn die Arbeit vor-
läufig scheinbar vergeblich war. Wohl gibt es genug, wie man zu
sagen pflegt, geistig geweckte Seminaristen, aber gerade da, wo zu-
nächst mangelnde Begabung vorzuliegen scheint, findet sich oft ein
dankbares Arbeitsfeld, hier gilt es gleichsam die unter dem Boden
schlummernden Kläfte frei und dem Unterricht dienstbar, den Geist
beweglich und gewandt zu machen. Nur hervorragendes Material für
das Seminar zu erhalten ist ausgeschlossen, die mittlere Begabung
ist wie in allen Berufen, am meisten vertreten.
In der Volksschule sind in erster Linie Sprachlehre, Raumlehre
und Rechnen zur besonderen Förderung der formalen Büdung be-
stimmt, aber auch das statarische Lesen, Aufsatzübungen usw. tragen
dazu bei. Zeitweise, so unter Diesterweg in den vierziger und fünf-
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sah man in ihr das vornehmste Ziel
der Schule und wählte unter diesem Gesichtspunkte die Unterrichts-
stoffe aus. All das, was die Volksschule an formaler Bildung zu
268 ■ >ie \'olksschullehrerbildung.
leisten hat, muß das Seminar in weit höherem und umfassenderem
Maße geben. Zweierlei tritt neu hinzu: Die Fähigkeit der selbstän-
digen Weiterbildung und die Urteilsfähigkeit.
E? war bereits berührt worden, daß mitunter der mit 2ü oder 21
Jahren ins Amt tretende Lehrer seine Ausbildung für abgeschlossen hält.
Bei den meisten ist ein reges Bildungsstreben vorhanden, aber die
formelle Fähigkeit, die eigene Bildung zu leiten, verspricht allein Er-
folg. Der Seminarist muß daher nicht nur darin unterwiesen werden,
was er später arbeiten kann, sondern auch, wie es geschieht. In
erster Linie ist notwendig, das Literesse an geistiger Arbeit überhaupt
zu wecken , damit die Arbeit als Freund und nicht als Feind betrachtet
werde. Dem jungen Lehrer muß aber auch bekannt sein, daß er
nicht allen Fächern des Wissens und der Kunst gleichmäßig seine
Studien zuwenden kann, daß er sich ein Sonderfach, und da auch
noch meist ein Spezialgebiet wählen muß.
Wohl mögen für die ersten Jahre die Ratschläge der Seminar-
lehrer bezüglich der durchzuarbeitenden Bücher und Stoffe genügen,
wohl werden die Schulaufsichtsbeamten treffende Ratschläge und Hin-
weise geben, aber allmählich soll der Lehrer eigene Bahnen wandeln.
Da wird es notwendig sein, daß seine Urteilsfähigkeit auf dem Semi-
nar geweckt und geschärft ist. Er muß verstehen, sich geeignete
Literatur für seine Studien auszuwählen, aber auch das Gelesene zu
beurteilen. Die Weiterbildung manches Lehrers weist darin wesent-
liche Schäden auf, daß er bei seiner Lektüre es nicht vermag, das
Wesentliche von dem minder Wichtigen zu scheiden, daß er den
Hauptwert der Vertiefung auf mehr Nebensächliches legt, und ,,auf
des Meisters Worte schwört." Urteilsfähigkeit ist dem künftigen
Lehrer aber auch gegenüber dem Zeitungslesen anzuerziehen. Bei
der fast unglaublichen Autorität, welche heute das gedruckte W^ort
namentlich in der Presse besitzt, muß auch gerade der Volkserzieher
darnach streben, kritisch zu prüfen, ^vas ihm die Tagesblätter an Tat-
sachen und Urteilen aufdrängen wollen.
Die Urteilsfähigkeit wird auch zur Geltung kommen, wenn er
selbst produzierend tätig ist. Hat er V^orträge, Referate u. dgl. für
amtliche Konferenzen oder Vereinssitzungen auszuarbeiten, oder sucht
er Geschichte und Natur seines Wohnortes oder Kreises zu erforschen
dann muß er die eben berührten Seiten der Kritik anwenden; nur
darf nicht vergessen werden — leider ein Fehler selbst tüchtiger Ge-
lehrter — , daß das Wesen der Kritik nicht einzig im Be- und Aburteilen,
sondern auch im Verstehenlernen und Erklären von Ereignissen,
Die Li'hrcrhildiintrsanstalten. 269
HandluiiLjen, Beweggründen usw. besteht. Es hat keinen erfreulichen
Eindruck gemacht, wenn mitunter gerade jüngere Lehrer schnell ihr
Urteil bei der Hand hatten, wenn sie sich in Schriften und Vorträgen
über Dinge verbreiteten, in denen nur der erfahrene Fachmann
heimisch und urteilsberechtigt ist. Darum hat dem künftigen Volks-
schullehrer die formale Seite der intellektuellen Bildung bezüglich des
selbständigen Arbeitens und der Urteilskraft die nötige Selbstbe-
scheidenheit und die Erkenntnis von den Grenzen und der Unzuläng-
lichkeit menschlicher Forschung zu lehren, die denen zu eigen sein
pflegen, welche wahrhaft Anspruch auf Bildung machen dürfen.
Die formale Bildung ist das Mittel zur Bewältigung der mate-
riellen, sie ist gewissermaßen das Handwerkszeug zur Aufnahme des
Wissens. Dieses gliedert sich, wie schon bemerkt, in ein doppeltes,
nämlich in Allgemein- und in Fachwissen. Die mannigfachen hierin
eingeschlossenen Gebiete sollen in dem Abschnitt ,, Unterrichtsstoff"
erörtert werden.
Die wichtigste Aufgabe der materiellen Bildung besteht darin,
daß sich das Wissen zur Bildung umsetze. Ein vielverbreiteter Irrtum
meint, Vielwissen sei Bildung, und gerade in Lehrerkreisen hat man
lange geglaubt, durch vieles Auswendiglernen von Tatsachen und
stetes Gegenwärtighalten von zahllosen Einzelheiten Bildung zu be-
sitzen. Gegen solche blois äußerliche Aufnahme der Stoffe ist seit
einiger Zeit energisch Front gemacht worden. Das Seminar bestrebt
sich, das Wissen durch innere Verarbeitung und Assimilation zur
Bildung zu verdichten, die Bestrebungen der Lehrerschaft für ihre
tigene Bildung legen gleichfalls Zeugnis davon ab. Wenn sich der
Seminarunterricht auch aus äußeren Gründen in eine Reihe von Un-
terrichtsfächern gliedert, darf doch das einheitliche Ziel: AUgemein-
und Fachbildung nie außer acht bleiben.
Wie im Leben neben der Wissenschaft die Kunst als gleichbe-
rechtigt genannt wird, so kann auch im Seminar die intellektuelle
Erziehung ohne die ästhetische nicht bestehen. Gegenüber dem stark
naturwissenschaftlichen Sinne des 19. Jahrhunderts, gegenüber der
materiellen Richtung der letzten Jahrzehnte hat sich seit einigen
Jahren der Sinn für die Gebiete der Ästhetik — Literatur und bil-
dende Künste — , wie überhaupt die ideale Geistesrichtung stärker
geltend gemacht. Das Interesse für Literatur war in dem Ringen
nach einem geeinten Vaterlande und im Jubel über das neu errichtete
Deutsche Reich, zugleich auch durch die Weltwunder, welche der
.staunenden Menschheit durch die Naturwissenschaften in der zweiten
270 l^ie Wilksschullehrerbiklunu.
Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geschenkt wurden, stark erkaltet.
Die gesunde Entwicklung der bildenden Kunst verkümmerte durch
einen falsch verstandenen Klassizismus seit Ende des 18. Jahrhunderts.
Um so reger ist in der Gegenwart der Sinn für Literatur und bil-
dende Kunst, vor allem das Kunstgewerbe und die zeichnenden
Künste, erwacht; die Musik konnte sich erfreulicherweise nie über
eine Vernachlässigung beklagen.
Die Gegenströmung gegen den Materialismus, der noch vor
wenigen Jahren herrschte, ist nur als eine recht gesunde zu be-
zeichnen. Physische Gesetze und chemische Formeln allein können
dem Geist keine Nahrung gewähren; sie fordern notwendig eine Er-
gänzung im Sinne für das Künstlerische. Hier findet der Mensch
seine Erholung, hier sammelt er neue Kraft für seine Werktagsarbeit,
hier lernt er, seine Gedanken auch auf ideelle Güter zu richten. Hier
bewahrheitet es sich, daß der Mensch „nicht ist, was er ilM", sondern
das, was die Kultur aus ihm macht. Nicht schwer fällt es, den
Deutschen für solche Dinge zu begeistern, ein Heißhunger nach
Wissen, nach Kunstgenuß herrscht vielfach, wenngleich er sich mit
unter noch in eigentümlichen, vielleicht darf man sagen, etwas unge-
schlachten Formen zeigt. Trefflich rühmt diesen idealen Sinn des
Deutschen der Dichter Emil Prinz von Schönaich-Carolath :
„Im schwarzen Schachte gleißt das Erz,
Der Hammer dröhnt, die Funken springen,
Doch heimUch hört das deutsche Herz
Im Hörselberg die Geigen klingen;
Vom Zug der Esse scharf umbraust,
Der Meister läßt kein Säumen merken.
Doch immer lebt als Sohn des Faust
Er über seinen Erdenwerken."
Für die ästhetische Erziehung geschieht im Seminar jetzt sehr
viel. Zwar sind die älteren Seminare, die einer recht nüchternen
Bauperiode von 1860 — 1890 entstammen, wenig geeignet, Kunstsinn
zu wecken, indes weisen die neuesten Bauten wesentliche Fortschritte
auf Dazu sorgt jetzt die Unterrichtsverwaltung für Ausschmückung
der Räume durch Künstlersteinzeichnungen und dergl. Oft bieten, wie
schon bemerkt, die Seminarorte und ihre Umgebung mannigfachen
ästhetischen Anschauungsstoff, sei es in der Natur, sei es in Bauten,
Denkmälern u. s. f Die Neugestaltung des Zeichenunterrichts, der
nur noch Gegenstände aus echtem Material als Vorbild \-erwendet,
die Handhabung des Musikunterrichts und die Betonung der Litei-atur-
betrachtune lassen die ästhetische Erziehung auf dem Seminar, wie-
Die Lehieihildungsanstalten. 271
wohl noch ein gesonderter Kunstunterricht fehlt, als eine anregende
und aussichtsreiche erscheinen.
Ein gesunder Geist wohnt aber nur in einem gesunden Körper.
So pflegt denn das Seminar in umfangreicher Weise das Turnen.
Dazu kommt der Betrieb der Turn- und Ballspiele; wo es die Ver-
hältnisse irgend erlauben, wird Schwimmunterricht erteilt — und an
heiteren Tagen geht es mit Gesang durch Wald und Flur zur Turn-
und Wanderfahrt! All das fördert die körperliche Ausbildung des
Präparanden und Seminaristen und hält das Gleichgewicht gegen die
zum Teil aulserordentlichen geistigen Anstrengungen. Fördernd tritt
hier noch die Beschäftigung mit der Landwirtschaft ein, wenngleich
ihr nur recht wenig Zeit gewidmet werden kann.
Diese Allgemeinbildung will den Seminaristen nicht bloß als
Menschen erziehen, sondern ihn auch speziell für seinen Beruf aus-
bilden. Eine Zeitlang meinte man, einzelne Kreise glauben es auch
heute, der Volksschullehrer brauche nicht viel mehr zu wissen als die
\-on ihm zu unterrichtenden Kinder, — Pestalozzi erklärte sogar noch,
der Lehrer müsse stets eine Seite weiter im Buche sein als seine
Zöglinge! Die erhöhte Bildung des Lehrers wurde für eine direkte
Schädigung der Volkserziehung angesehen, weil man meinte, er
werde dadurch dem Volke, insbesondere der Landbevölkerung, ent-
fremdet. Wenn es nur darauf ankäme, den Kindern einiges Wissen
,,ein bißchen ABC und Rechnen" wie man wohl manchmal hört, bei-
zubringen, so wären gewiß nicht so viele Kenntnisse des Lehrers
nötig. So aber soll er zugleich ein Erzieher sein, er soll nicht nur
einige wenige Kinder, sondern oft stark gefüllte Klassen unterrichten,
jeder seiner Zöglinge soll möglichst das der Volksschule gesteckte
Ziel erreichen. Die Erfahrung lehrt, daß dazu eine ganz andere Aus-
bildung nötig ist, als teilweise erforderlich erachtet wird. Sie zeigt
weiter, daß die steigende Bildung auch die Höhe der Kultur eines
Volkes bedingt, daß für den Wettbewerb auf dem Weltmarkt die
überlegene Bildung den Erfolg davon trägt. Die Schule und mit ihr
der Staat hat somit das größte Interesse, möglichst gut vorbereitete
Lehrer zu erhalten. Nicht der gebildete, der halbgebildete Lehrer
hat kein Verständnis für das Volk und seine Interessen.
Darum ist eine umfassende Allgemeinbildung für den Beruf des
Lehrers nötig, sie ist aber auch nötig, damit der Stand des Volks-
schullehrers das nötige Ansehen genieße. Unverstand und böser
W^ille hat ihnen lange die Anerkennung versagt, welche ihr schweres
Amt fordert. Die früheren Zeiten, wo Handwerker zur Aufbesserung
272 ^*'^ Volksschullehrerbildung.
ihrer kümmerlichen Nahrung die SteUung eines „Schulmeisters" neben-
bei bekleideten, die Jahre, in denen man nach den Stürmen von 1848
die Lehrerbildung auf das einschneidendste verringerte, waren ge-
eignet, ein verächtliches Herabsehen und eine Geringschätzung des
Volksschullehrerstandes hervorzurufen. Sein rastloses Vorwärtsstreben
seit den 60 er Jahren, die gewaltige Bewegung, die seit etwa 10 bis
12 Jahren darnach strebt, durch eine ausgezeichnete Bildung sich die
Achtung zu erwerben, die sonst den Gebildeten gezollt wird, haben
darin schon einen großen Umschwung hervorgerufen. Auch äul^er-
lich fand die gesteigerte Lehrerbildung ihre Anerkennung, indem
das Abgangszeugnis seit 1896 zum Einjährig-freiwilligen Heeresdienst
berechtigt.
c) Die Bernfsansbildiuig.
Die Erziehung zum Lehrer vollendet sich erst in der Berufs-
ausbildung. Die erziehende und lehrende Tätigkeit seines Amtes
lernt der Seminarist theoretisch in der Pädagogik und Methodik,
praktisch in der Übungsschule kennen. Hierdurch wird er zum
Lehrer erzogen, der sich bewußt bleiben muß, so umfassend auch
seine Allgemeinbildung ist, daß sie der Volksbildung dienen soll,
nicht in den engen Grenzen der Unterrichtsstunde allein, sondern
weit darüber hinaus im Hause, in der Gemeinde, im Staat. Er darf
aber nicht vergessen, daß der V^olksschule bestimmte Richtlinien ge-
geben .sind, er hat sein Wissen und seine Bildung in die rechten,
dem Volke verständlichen Formen umzugießen. Diese Befähigung
hat ihm die Berufsausbildung auf dem Seminar zu geben.
IV. Der Unterrichtsstoff.
1. Allgemeines.
Wiederholt wurde betont: Präparandenanstalt und Seminar bilden
ein Ganzes. Vielfach ist gefordert worden, daß der Seminarist seine
Vorbildung nicht auf der Präparandenanstalt, sondern auf einer Schule
genießen soll, die eine Allgemein- aber noch keine Fachbildung gibt.
Am geeignetsten sei die Realschule. Der Gedanke hat manches für
sich: die Entscheidung zum Lehrerberuf erfolgt nicht bereits mit 14
oder 15, sondern erst mit 17 oder 18 Jahren, mancher junge Mann
kann dann viel besser seine körperliche und geistige Befähigung zur
Erreichung des Zieles erkennen. Weiter darf der Vorteil nicht zu
gering veranschlagt werden, solche Elemente zu erhalten, welche eine
Die Lehrerbildungsanstalten. 273
höhere Lehfanstalt erfolgreich bis Untersekunda besucht haben, und
endlich kommen dem künftigen Volksbildner die Vorzüge einer mit
anderen Berufsständen gemeinsamen Schule bis 7Air Aufnahme ins
Seminar zugute.
Diese Forderung ist in den Lehrplänen von 1901 nicht berück-
sichtigt worden. Der Hauptgrund dürfte in der Vermeidung einer
radikalen Umgestaltung des Lehrerbildungswesens zu suchen sein-
Die Allgemeineinführung der Realschule als Vorbereitungsanstalt für
das Seminar ohne Erfahrungen, wie sie z. B. jetzt im höheren Schul-
wesen durch versuchsweise Gründungen von Reformgymnasien ge-
macht werden, würde eine derartige Umwälzung bedeutet haben, daß
von einer organischen Entwicklung der vorhandenen Zustände, die
doch allein Erfolg verspricht, schwerlich die Rede sein könnte. Be-
sondere Veranstaltungen hätten getroffen werden müssen, um das oft
vorzügliche Schülermaterial vom Lande und aus den kleinen Städten
dem Lehrerstande zu erhalten. Zudem dürfte die ganze Forderung
ohne Lösung der Einheitsschulfrage sich schwerlich erledigen lassen.
Es erscheint nötig, sofern die Realschule als Vorbereitungsanstalt
zum Seminar anerkannt wird, daß der Kursus auf ihm um ein Jahr
verlängert wird. Der Unterrichtsstoff der Präparandenanstalt trägt
übrigens seit der Neuordnung von 1901 weit weniger den Charakter
einer für einen bestimmten Beruf zurechtgeschnittenen Bildung, nur
in der Pensenverteilung kommt das zum Ausdruck.
Die Präparandenanstalt übernimmt ihre Zöglinge aus verschie-
denen Schulen. Da ist es die Aufgabe der untersten Klasse, jene
zusammenzuschweißen, zu gleicher Bildungs- und Leistungsfähigkeit
zu fördern und ein sicheres Fundament für den weiteren Unterricht
zu schaffen. Deshalb wird besonders in Rechtschreiben, Rechnen und
Raumlehre der Volksschullehrstoff der Oberstufe zum Ausgangspunkt
und Gegenstand grundlegender Behandlung genommen. In der Prä-
parandenanstalt stehen die Lernstoffe in vorderster Reihe, um das
Seminar von ihnen zu entlasten und diesem einen breiten Raum für
Vermittlung und Vertiefung der Bildungsstoffe zu verschaffen. Sie
soll aber trotzdem die Förderung der Bildung nicht unterlassen.
Verschiedene Lehraufgaben werden in der Präparandenanstalt
abgeschlossen : Biblische Geschichte, Katechismus, Kirchenlied, deutsche
Elementar-Grammatik, alte Geschichte, die Kenntnis der einzelnen
Naturkörper sowie das Schreiben. Auch das Seminar beendet die
wissenschaftliche Bildung einiger Fächer schon vor Schluß des ganzen
Kursus am Ablauf des zweiten Seminarjahres: Mathematik, Natur-
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 18
274 r^i^ \'olksschullehierbilcluny.
und Erdkunde. Nur in Pädagogik, Religion, Deutsch, Geschichte
und in der fremden Sprache findet in der Oberklasse eine wissen-
schaftHche Fortbildung statt. Im Abschluß jener Fächer in der zweiten
Klasse wollte man eine Zurücksetzung dieser mehr naturkundlichen
Fächer sehen, die eines naturwissenschaftlichen Jahrhunderts unwürdig
sei und eine ungebührHche Bevorzugung der Geistesfächer (Pädagogik.
Religion, Deutsch, Geschichte, fremde Sprachen) bedeute. Nun ist
es schon von einem der hervorragendsten Philosophen der Gegen-
wart, von Wilhelm Wundt, bezweifelt worden, ob das 19. Jahrhundert
nicht statt des Namens eines naturwissenschaftlichen Zeitalters eher den
eines Zeitalters der Geisteswissenschaften verdiene. Da aber weiter
die Lehrpläne dem künftigen Lehrer eine fachwissenschaftliche und
eine rehgiös-vaterländische Bildung in V'erbindung mit einer intellek-
tuell-ästhetischen geben wollen, so können die mehr naturwissenschaft-
lichen Fächer früher zum Abschluß kommen. Die religiös-literarisch-
ästhetische Bildung, die im sog. naturwissenschafthchen Zeitalter oft
über Gebühr vernachlässigt wurde und in ihrer vermehrten Hervor-
hebung eine gesunde und notwendige Reaktion gegen die einseitig
naturkundliche Bildung darstellt, kann des letzten Seminarjahres nicht
entbehren. Sie aber befähigt erst zu einer ,, sinnigen Naturbetrach-
tung", welche nach dem Vorgange der Regulative durch die Allge-
meinen Bestimmungen vom 15. Oktober 1872 für die Volksschule
gefordert wird. Zudem soll das Seminar nicht Leute erziehen, die
später einmal einen auf dem Naturwissen fußenden Beruf ergreifen
wollen, — - es sollen vielmehr Lehrer erzogen werden, die Liebe zur
Natur und Verständnis für sie besitzen. Im übrigen trägt die Ober-
klasse den Charakter der Fachschule. Die methodische Ausbildung
sowie das praktische Unterrichten stehen im Vordergrund. Durch
Abschluß von Mathematik, Natur- und Erdkunde wird für die Ober-
klasse die Zeit zum freien Arbeiten gefunden, dem auch, für alle
Zöglinge, der monatlich mindestens einmal anzusetzende unterrichts-
freie Arbeitstag, auch Studientag genannt, dient.
In großen Zügen würde sich demgemäß die Ausbildung der
Lehrer jetzt folgendermaßen gestalten: In der Präparandenanstalt
(15. bis 17. Lebensjahr; hauptsächlich die Lernstoffe, in der Unter-
und Mittelklasse des Seminars (18. und 19. Lebensjahr) die Ver-
mittlung und Vertiefung der Bildungsstoffe, in der Oberklasse (20. Lebens-
jahr) die Fachausbildung.
So sehr auch die Lehrpläne von 1901 vielfach Anerkennung ge-
funden haben, so erfuhr doch die Behandlung der einzelnen Fächer
Die Lelii-fibiklungsanstalten. 275
hier und da :\ni^riffc. Man hat z. B. den Lehrgang als dem Charakter
einzehier Unterrichtsfacher und dem eigentüniHchen methodischen
Aufbau derselben nicht entsprechend bezeichnet. Diese Forderung
ist für die Schule, auch noch für die Präparandenanstalt berechtigt,
bei der sie übrigens durchaus Berücksichtigung fand; für das Seminar
würde sie aber nicht mehr zutreffend sein. Bei dem Lebensalter der
Seminaristen, die bald in den praktischen Beruf treten wollen, bei
den Forderungen der Gegenwart nach einer erhöhten Bildung hat die
Unterrichtsverwaltung sich bei Aufstellung der Lehrpläne in den
verschiedenen Fächern \-on den einzelnen Wissenschaften, wie sie sich
gegenwärtig gestalten, leiten lassen. Das Anlehnen an die Wissenschaft
kommt auch darin zum Ausdruck, daß auf möglichst umfangreiche
Benutzung der Quellen gedrungen und die Mitteilung der für die
Weiterbildung in den einzelnen Fächern empfehlenswerten Literatur
geboten wird.
Zum Schluß sei noch betont, daß die Lehrpläne durchaus dem
Leben der Gegenwart angepaßt, aktuell sind, wie man wohl manchmal
sich ausdrückt. Denn stets ist großer Nachdruck auf den gegen-
wärtigen Zustand der Kultur und auf das Lieinandergreifen der ein-
zelnen Fächer und den Zusammenhang untereinander gelegt.
2. Die wissenschaftlichen Fächer.
aj Die Geis^esiuissenschaf/en,
I. Pädagogik. An der Spitze der für den künftigen Lehrer
nötigen Geisteswissenschaften steht die Pädagogik. Bisher geschah
die Einführung in sie auf geschichtlichem Wege. Jetzt wird die
Psychologie als Grundlage der pädagogischen Unterweisung an den
Anfang gestellt. Es ist naturgemäß, daß der künftige Lehrer das
Material, auf das er einwirken soll, erst einmal kenwen lernen muß.
Jahrzehntelang vernachlässigte die Pädagogik, wie übrigens auch andere
Wissenschaften, die Psychologie. Mit praktischen Unterrichts- und
Erziehungsregeln, mit einer mehr oder minder auf dem Zufall be-
ruhenden empirischen Kenntnis der Kinderseele ist wenig zu er-
reichen. Erst die eingehende theoretische Vertiefung in die Vor-
gänge und Zusammenhänge des Seelenlebens ermöglicht die für
Unterricht und Erziehung nötigen Richtlinien zu geben und in das
Verständnis der Kinderseele und ihrer Behandlung einzudringen.
Allerdings liegt die Gefahr vor, daß sich die Psychologie von der
Praxis leicht zu weit entfernt. Das Seminar darf auch seine Aufgabe
276 Die Volksschullehrerbildung.
nicht in einer experimentellen Psychologie suchen, wenngleich der
Zögling nicht in Unkenntnis über sie bleiben soll. Der Schwerpunkt
liegt für den künftigen Erzieher nicht auf den psychologischen
Ursachen des Sinnen- und Seelenlebens, sondern auf der Entwicklung,
den Tatsachen und Gesetzen des seelischen Lebens des Menschen.
Besondere Rücksicht wird dabei auf das Kind zu nehmen sein; eine
reine Psychologie der Kinder zu geben wäre einseitig ; erst die Kenntnis
des Seelenlebens der Erwachsenen erschließt das nötige Verständnis
für das des Kindes. Der oben angedeuteten Gefahr, daß die
Psychologie > graue Theorie: bleibt, wird durch die Bestimmung be-
gegnet, »reichliche Veranschaulichungsmittel« auf Grund von Beobach-
tung, Erfahrung und Beispielen vorzuführen. Auch die pathologische
Psychologie hat eine Stätte gefunden. Wie die Gegenwart viele ge-
richtlich strafbare Handlungen auf den nicht normalen geistigen Zu-
stand des Schuldigen zurückführt und ihn dann straflos läßt, w^eil er
für sein Tun die Verantwortlichheit nicht besaß, so hat auch die Er-
ziehungswissenschaft erkannt, daß manche Verfehlung der Kinder in
ihrem Betragen und namentlich in bezug auf Fleiß nicht im bösen
Willen sondern in Krankheitszuständen zu suchen ist. Gerade hier
müssen dem künftigen Lehrer die Augen geöffnet werden, sonst wird
er leicht trotz angestrengtester Arbeit keine Erfolge aufweisen, sonst
wird er seine Schüler falsch beurteilen und durch unangebrachte
Strafen und Worte Verzagtheit der Kinder und Verbitterung in ihren
Herzen erzeugen. Andererseits vermag die Gefahr einzutreten,
Krankheitszustände der Kinder arg zu überschätzen. Darum muß
auch hierfür der Lehrer Verständnis besitzen, wie er ein schwach
veranlagtes oder durch Krankheit mitgenommenes Kind zum Lernen
anspornt, Arbeitsfreudigkeit und Selbstvertrauen in ihm weckt. Auch
um der Eltern willen ist dies sehr notwendig, da diese — namentlich
aus den sogenannten gebildeten Kreisen — die Untugenden ihrer
Sprößlinge gar zu gern mit > Nervosität« entschuldigen, während oft
weiter nichts als höchst mangelhafte Erziehung vorliegt.
Der Psychologie werden drei Vierteljahre in der 3. Seminarklasse, der Unterklasse,
gewidmet, der allgemeinen Unterrichtslehre ist ein Vierteljahr vorbehalten ; in der 2., der
Mittelklasse, bleibt für die Erziehungslehre ein halbes Jahr. Da sich die Erziehungs- und
Unterrichtslehre durchaus auf der Psychologie aufbauen soll, so wird letztere ein und
ein halbes Jahr, also die Hälfte der Seminarzeit getrieben, während die andere Hälfte für
die Geschichte der Pädagogik und die Schulkunde aufgespart bleibt. Für die Pädagogik
sind in allen drei Klassen je drei Stunden wöchentlich festgesetzt.
In der Seelen-, Erziehungs- und allgemeinen Unterrichtslehre wird dauernd auf die
Quelle, nämlich die menschliche bezw. Kindesseele, zurückgegangen, ebenso stützt
sich die Geschichte der Pädagogik auf die Quellen. Hier entwirft nämlich der Unterriclit
Die Lehrerhildungsaiislalten. 277
iiiihl bloß lebensvolle Bilder der bedeutungsvollsten Persönlichkeiten, sondern ihre Haupt-
werke werden ganz oder in den wichtigsten Abschnitten — teilweise unter Zuhilfenahme
der Privatlektüre — gelesen und erklärt. Die Auswahl ist so zu treffen, daß die päda-
gogische Bedeutung der Persönhchkeit klar vor Augen steht, daß aber auch hervortritt,
was für die Gestaltung des Schulwesens von Einfluß war und jetzt noch nachwirkt und
heute noch nachahmenswert bleibt. Zur eingehenden Behandlung kommt das Schulwesen
in den letzten vier Jahrhunderten, nur im Überblick dagegen unter Hervorhebung des
Hauptsächlichsten, die Zeit vor der Reformation. Aber die Beziehungen der Pädagogik
zur Kultur der Vergangenheit und Ciegenwart dürfen, gemäß den Vorschriften, nie ver-
gessen werden. Gerade das Suchen der Wechselwirkung zwischen Erziehung und Unter-
richt zu dem Geistesleben der verschiedenen Zeiten vermag über die wahre Bedeutung
der Pädagogik, die keine Sonderentwicklung, vielmehr ein Teil des Geisteslebens der
Nationen ist, aufzuklären. Die Geschichte der Pädagogik — spezielle Rücksicht erfährt
dabei die Volksschule — ist bis zur Gegenwart durchzuführen und mit der gegenwärtigen
Kultur in Verbindung zu setzen. Dadurch soll auch im künftigen Lehrer das Verständnis
und das Interesse für die pädagogischen Bestrebungen und Aufgaben der Gegenwart hin-
reichend geweckt werden, damit er später mit Erfolg auf diesem (lebiete weiter
studieren kann.
Ihren Abschluß findet die Geschichte der Pädagogik durch die
Schulkunde, welche die jetzigen Schuleinrichtungen, die Schul-
verwaltung, die behördlichen Verordnungen und die Anforderungen
der Schulgesundheitspflege bespricht. Letzterer Zweig der Erziehungs-
wissenschaft ist sehr wichtig. Was nützen alle theoretischen
Forderungen auf diesem Gebiete, wenn sie nicht verwirklicht werden ;
gerade der Lehrer auf dem Lande muß hier gut orientiert sein, durch
energisches und aufmerksames Eingreifen vermag er Epidemien vor-
zubeugen und beizutragen, entstehende zu beschränken. Gerade das
Vorbild des Schulhauses in bezug auf Sauberkeit, Licht und Luft kann
vorbildlich auf die Landbevölkerung wirken.
2. Evangelische Religion. Für den Religionsunterricht, so-
wohl für den evangelischen wie den katholischen, sind in der 3. und
2. Klasse der Präparandenanstalt je vier, in der 1 . (obersten) dagegen
drei wöchentliche Stunden festgesetzt, im Seminar je drei für jede
Klasse. In der 2. Klasse tritt noch eine Stunde zur Abhaltung von
Religionslektionen in der Übungsschule hinzu, während in der 1 . Klasse
eine Stunde der theoretischen Religionsmethodik vorbehalten ist.
Als Ziel des evangelischen Religionsunterrichts ist bestimmt: Vertrautheit mit der
biblischen Geschichte, sicheres Verständnis des Katechismus, Kenntnis des Wichtigsten
aus der evangelischen Kirchenlieddichtung, Einsicht in die Geschichte der Gründung und
in die Haupttatsachen der äußeren Entwicklung der Kirche.
Die Religion, die wichtigste Angelegenheit des Menschen, fordert wie kein Fach
auf die Quelle, hier die Bibel, zurückzugehen. Die Volksschule vermag sich ihr wegen
des noch zu geringen Verständnisses der Kinder nicht direkt, sondern nur auf Hilfswegen
oder um ein Wort Luthers hierauf anzuwenden, durch „Flüßlein, die zum Brunnen leiten",
zu nähern, nämlich durch biblische Geschichte, Katechismus und Kirchenlied; erst der
Oberstufe kann die Bibel in die Hand gegeben werden. Die Präparandenanstalt gehl
278 I^'<? \'olksfchullelirerbildung.
schon ganz anders auf sie zurück. Die wichtigsten beschichten des Alten Testaments
werden in der Bibel gelesen, das Leben Jesu schließt sich an eins der Evangelien unter
Ergänzung aus den andern an, während als Quelle des apostolischen Zeitalters die
Apostelgeschichte gelesen wird. Das Seminar arbeitet sodann, von der Kirchengeschichte
abgesehen, völlig nach der Quelle, der Bibel. Dies geschieht auch bei der Glaubens-
und Sittenlehre, die sich in ihrer äußeren (Irdnung an die drei (ilaubensartikel des
Eutherischen Katechismus anschließt.
Auf der Präparandenanstalt hat der biblische C Geschichtsunterricht eine tbersicht
über die Entwicklung der heiligen Geschichte, Einblick in den inneren Zusammenhang
der Ereignisse, Erkenntnis der Eigenart und heilsgeschichtlichen Bedeutung der einzelnen
Zeitabschnitte und der wichtigsten Personen, Verständnis der in den biblischen Ge-
schichten enthaltenen religiös-sittlichen Wahrheiten zu vermitteln. Die wichtigsten Ge-
schichten sind eingehend durchzunehmen und ist ein genaues Verständnis derselben hin-
sichtlich der Worte und des Sachinhalts, wie hinsichthch der religiös-sittlichen Haupt-
gedanken herbeizuführen. Die biblische Geschichte des Alten Testamentes wird in der
3. Klasse, die des Neuen Testaments unter Einschluß des Lebens Jesu in der 2. Klasse
behandelt. Die Präparanden sind zudem mit dem Schauplatz der heiligen Geschichte,
sowie mit den geschichtlichen Verhältnissen Palästinas und der angrenzenden Länder
bekannt zu machen. Für die 1. Klasse ist das Lesen der Apostelgeschichte vorgesehen.
An sie schließen sich einige Bilder aus der Apostelgeschichte an. Dabei liegt der Nach-
druck darauf, die äußere Entwicklung der christlichen Kirche in den Hauptzügen zu ver-
mitteln. Man hat getadelt, daß die Kirchengeschichte zweimal eine Stätte an den Lehrer-
bildungsanstalten findet; es wäre dies eine unnütze Zerreißung des Stoffes und bei dem
Grundsatze, daß Präparandenanstalt und Seminar ein organisches Ganze bilden, ein Neu-
aufnehmen des durch ihn im Seminarunterricht mit Fug und Recht abgeschafften Arbeitens
in konzentrischen Kreisen. Dem ist entgegenzuhalten, daß das Seminar in gewissem
Sinne doch in konzentrischen Kreisen arbeitet, indem es in allen Fächern, von der
Pädagogik abgesehen, sich auf dem Wissen der Volksschule aufbaut und dieses, allerdings
ganz wesentlich, erweitert. Soll der Seminarist wirklich einen Einblick in die innere
Entwicklung der christlichen Kirche erhalten, soll er ihre Geschichte als den Siegeslaui
des Christentums erkennen, dann muß er in der Hauptsache mit den äußeren Ereignissen
der Kirchengeschichte vertraut sein, aber das wenige, was die Oberstufe der \'olksschule
gibt, dürfte dazu nicht ausreichen.
Auch einen Teil der inneren Kirchengeschichte behandelt die Präparandenanstalt,
nämlich die Geschichte des evangelischen Kirchenliedes. Fast scheint es, als habe die
Gegenwart ein weit geringeres Verständnis für das Gesangbuch als frühere Zeiten:
Kirchenpolitische und wissenschaftlich-theologische Fragen sowie die innere Mission
stehen im \'ordergrund, und in der Religionsmethodik hat sich das Interesse auf die
Person Jesu Christi konzentriert. Auch verursachte das früher recht beliebte Herunter-
plappern der Dichterbiographien eine Geringschätzung der Geschichte des Kirchenliedes.
Das Kirchenlied ist ein Teil der Geistesgeschichte der Kirche, ja es ist vielfach das
Geistesleben der evangelischen Gemeinde. Ein Trostbuch bietet es, wie kein zweites
menschliches Buch; hier haben die großen Heilstatsachen der Bibel in den Irrsalen und
Leiden dieses Lebens eine Form gefunden, hier haben sie sich bei den Gläubigen be-
währt. Der Autoritätsbeweis spielt im Menschenleben eine große Rolle: Kirchenlied und
Gesangbuch sind der Erfahrungsbeweis früherer Generationen von der Wahrheit und der
einzigartigen Kraft der christlichen Religion. Darum verdient das Gesangbuch höher
geschätzt zu werden als es in der Gemeinde und im Unterricht der P'all ist. Die Lehr-
pläne kommen dem entgegen, wenn sie die Geschichte des Kirchenliedes zu einer Lieder-
kunde ausgestalten. Nicht nur eine Reihe von Kirchenliedern sowie von Psalmen, —
man hat den Psalter das Gesangbuch des Alten Bundes genannt — , stehen zur Behandlung^
auch sind den Lebensbildern der namhaftesten Liederdichter ihre bedeutendsten Zeit-
Die Lehrerbildiingsanstiihen. 2/9
fjenossen und Geistesverwandten anzureihen. Durch Lesung selbst von nicht zu lernenden
Liedern und indem unter Zuhilfenahme dieser Quellen das Wesen und die Eigenart der
einzelnen Abschnitte des Entwicklungsganges der Kirchenlieddichtung zum Verständnis
gebracht wird, erweist sich die oft für unfruchtbar gehaltene unterrichtliche Behandlung
der Geschichte des evangelischen Kirchenliedes als ein Teil der Geistesgeschichte der
christlichen Kirche, insbesondere der evangelischen (lemeinde, zumal auch gerade die
neueste Zeit und Gegenwart, mit einem Wort das geistliche Volkslied des 19. Jahr-
hunderts, zur Besprechung konmit.
Gleichfalls in die innere Cieschichte der Kirche führen die Belehrungen über das
Kirchenjahr, wobei die Perikopen besondere Berücksichtigung finden sollen. Hier bietet
-ich eine vorzügliche Gelegenheit, auf die Festgebräuche des \'olkes nachdrücklichst hin-
zuweisen; der künftige Volksbildner erhielte dadurch die für sein Amt so wichtige An-
regung, den Blick auf das deutsche Volkstum zu richten, dessen verständnisvoller Pfleger
er gerade auf dem Lande sein soll. Gleichfalls einen Einbhck in das innere Leben der
Kirche gibt die Einführung in das Wesen des öffentlichen Gottesdienstes. Zahlreichen
Christen ist die Liturgie weiter nichts als eine zusammenhangslose Aneinanderreihung;
da gilt es, den angehenden Lehrer zu orientieren, wie der evangelische Gottesdienst ein
wohldurchdachtes, sich aus dem Wesen der evangelischen Gemeinde ergebendes zu-
^ammenhängendes Ganze bildet. Der lutherische Katechismus wird ganz durchgesprochen
und in erweiterter Form und größerer Vertiefung behandelt als in der Volksschule. Die
biljlische Geschichte als solche, Katechismus und Kirchenlied gelangen, wie schon er-
wähnt, in der Präparandenanstalt zum Abschluß.
Im Seminar wird die Hälfte der für den Religionsunterricht angesetzten Zeit der
Bibelkunde, die andere der Kirchengeschichte, Glaubens- und Sittenlehre gewidmet.
Die Bibelkunde soll eingehend betrieben werden. Sie umfaßt sowohl Entstehung
wie Sammlung der biblischen Bücher als auch ihren Inhalt. Die theologische Wissen-
schaft hat in den letzten Jahrzehnten Hervorragendes auf dem Gebiete der Bibelkritik
geleistet. Lange ist die Frage erörtert worden, ob der künftige Lehrer davon etwas er-
fahren solle. Oft ist mit „nein" darauf geantwortet worden. Man hielt ihn für unfähig,
solchen Ausführungen zu folgen, man befürchtete allen Ernstes, ihn durch die Bibelkritik
zum Irrgläubigen zu machen, und vergaß, daß die Bibel keine Kritik zu fürchten braucht,
daß Gottes Wort aus allen Angriffen siegreich hervorgehen wird! Das war das Ergebnis
der Forschungen über die Entstehung der biblischen Bücher, daß die Heilstatsachen, die
den wahren Inhalt der Bibel ausmachen, nicht im geringsten erschüttert sind. Im Gegen-
teil gerade nach Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, tritt die Wucht der
göttlichen Heilsratschläge um so leuchtender und unanfechtbarer hervor. Indem sie das
als ein menschliches Gewand erwies, was menschlich an der Bibel ist, hat die Bibelkritik
die ewige, unerschütterliche Wahrheit der Heiligen Schrift um so gewaltiger er-
kennen lassen.
In den rein wissenschaftlichen Büchern der Theologie tritt dies, als dem Zwecke
des behandelten Themas nicht entsprechend, oft nicht hervor. So kam es, daß der auf tlem
Seminar vor der neueren theologischen Forschung sorgsamst behütete Lehrer, wenn er
in das Amt trat und zu theologischen Büchern grifl' — und der in der deutschen Lehrer-
schaft wohnende Geist trieb ihn oft dazu — , oder wenn die Zeitungen unverstanden
einige Ergebnisse der Bibelkritik mitteilten, sich verächtlich vom Christentum abwandte,
nur weil er, und mit ihm zahlreiche • Gebildete, meinten, wenn die fünf Bücher ISIose
nicht von Mose, oder das 2L Kapitel des Johannesevangeliums nicht von Johannes her-
stammte, usw., dann sei alles, was die christliche Religion lehre, unwahr. Darum muß
es die Aufgabe des Seminars sein, den künftigen Lehrer in die Bibelkritik einzuführen
und ihm vor allem zu zeigen, daß durch sie die Heilstatsachen nicht im geringsten er-
schüttert, sie vielmehr gestützt werden! Hierdurch wird er gewappnet, den Angriffen auf
280 r>ie Volksschullehreibildung.
die Religion nicht nur zu seinem eigenen Nutzen, sondern im Interesse des Christentums
entgegenzutreten. Die Frage aber, soll der Seminarist etwas von der Bibelkritik erfahren,
haben die Lehrpläne von 1901 bejaht.
Die Entstehung des Kanons und der biblischen Schriften ist meist hochinteressant,
und damit liegt die Gefahr vor, daß der Inhalt der Bibel zurücktritt. Er muß aber stets
die Hauptsache bleiben, so verlockend es auch sein mag, der Bibelkritik einen breiten
Raum zu gew ähren. Aus dem Alten Testament — ein halbes Jahr ist hierfür vorgesehen —
sind die Psalmen und prophetischen Schriften genauer zu behandeln unter besonderer
Rücksicht auf die Entwicklung der Heilsideen. Im Anschluß an die behandelten Bibel-
stellen ist dann eine zusammenfassende Darstellung der göttlichen Heilsgeschichte im
Alten Bund zu geben.
Die neutestamentliche Bibelkunde soll in die Eigenart der Evangelien und in ihr
gegenseitiges Verhältnis einführen. Hauptsächlich ist aber eine eingehende und zusammen-
fassende Darstellung der Lehrtätigkeit Jesu auf Grund der Bergpredigt, der Gleichnisse
und der johanneischen Reden zu bieten. Hierfür ist ebenfalls ein halbes Jahr bestimmt.
Der Römerbrief ist ganz zu lesen, möglichst auch andere Briefe. xA.us den nicht ein-
gehend behandelten Briefen sind wichtige, ihre Eigenart und ihren Zweck erkennen-
lassende Stellen zu lesen und zu erklären. Ein Überblick über die Heilsgeschichte des
Neuen Bundes bildet den naturgemäßen Abschluß.
Das zweite Halbjahr der 2. Klasse ist der Kirchengeschichte gewidmet, besonderer
Nachdruck liegt auf der Entwicklung und dem Leben der Kirche der Gegenwart. Gerade
für die Jetztzeit ist die oft arg vernachlässigte Kirchengeschichte hochwichtig. Sie bringt
den geschichtlichen Beweis von der Wahrheit des Christentums. Dem künftigen Volks-
erzieher muß der Siegeszug des Christentums gezeigt, ihm muß das Auge für die religiösen
Aufgaben und Forderungen der heutigen Zeit geöffnet werden, dann wird er, ausgestattet
mit tiefem Bibelverständnis, den Angriffen auf die christliche Lehre, auf Sitte und Vater-
land die Stirn bieten können I Wichtig ist es, die Kirchengeschichte stets mit
Rücksicht auf die Weltgeschichte und die geistigen Strömungen zu behandeln. Sie
ist keine Sonderentwicklung, sondern ein Teil der allgemeinen Menschengeschichte, die
sich in verschiedenen Richtungen zeigt, sei es als äußere Geschichte, oder als Geschichte
der Kirche, der Literatur, der Kunst, der Wissenschaften usw. Und so wird auch sie bei-
tragen, den geschichtlichen Sinn zu wecken, der gerade jetzt so notwendig ist, um die
Aufgaben der Gegenwart zu verstehen.
Die Glaubens- und Sittenlehre, für die ein Jahr vorbehalten ist, soll nach keinem
dogmatischen System oder Hilfsbuch sondern im Anschluß an die drei Glaubensartikel
auf Gnmdlage des aus der Bibel erarbeiteten Stoffes gegeben werden. Damit wird der
(jefahr vorgebeugt, daß etwa die dogmatische Anschauung eines Theologen oder einer
theologischen Richtung einseitig gelehrt werde. Glaube und Sitte muß sich allein auf
der Heihgen Schrift aufbauen. Ein Heranziehen der Augsburgischen Konfession wird zu
empfehlen sein; eine oft bedauernswerte L'nkenntnis dieses wichtigsten Symbols der
evangelischen Kirche ist nur zu oft zu verspüren.
Seit Erlaß der neuen Lehrpläne hat der Religions-Ünterricht
auf dem Seminar einen großen Aufschwung genommen und großes
Interesse seitens der Seminaristen gefunden. Aber trotzdem bleibt
die Hauptaufgabe des Unterrichts Religionslehrer heranzubilden, die
durch und durch Christen sind, welche die Religion nicht nur als ein
von der Behörde zur unterrichtlichen Behandlung vorgeschriebenes
Fach betrachten, denen vielmehr die Religion Herzensangelegenheit
ist, die es verstehen, auch ihren Schülern und Schülerinnen Religion
Die Lehrerbildungsanstalten. 281
ZU geben. Ausdrücklich fordern die Lehrpläne charaktervolle Persön-
lichkeiten heranzubilden, welche befähigt sind, als Lehrer und Vor-
bilder segensreich auf die Jugend einzuwirken. Das ist die schwerste
Aufgabe für den Religionslehrer am Seminar, hierfür lassen sich keine
bestimmten Regeln aufstellen, seine Persönlichkeit wird das meiste
dazu tun müssen!
3. Katholische Religion. Als Ziel des katholischen Religions-
unterrichts wird bezeichnet:
Die Schüler sind zu einer gründlichen Kenntnis der katholischen Glaubens-, Sitten-
und Gnadenlehre, wie sie im Katechismus niedergelegt ist, zu genauer Bekanntschaft mit
der biblischen Geschichte und den wichtigsten Personen und Begebenheiten der Kirchen-
geschichte, zur Vertrautheit mit dem Kirchenjahre, den gottesdienstlichen Gebräuchen,
Gesängen und Gebeten zu führen. Die biblische Geschichte des Alten und Neuen
Testaments wird in der Präparandenanstalt unter Herausarbeitung der in ihnen enthaltenen
Glaubenswahrheiten und der heilsgeschichtlichen Entwicklung vollständig behandelt ; auch
die biblische Geographie wird erledigt. Ebenso erfolgt vollständig die Behandlung des
Katechismus unter Heranziehung der biblischen Geschichte, der Heiligenlegende, des
Kirchenliedes und der gottesdienstlichen Übungen. Die Schriftstellen sind zum Ver-
ständnis zu bringen, und ihre Beweiskraft ist klarzulegen. P'erner erfolgt die Einführung
in den inneren Zusammenhang der Hauptfeste des Kirchenjahres und in das praktisch-
kirchliche Leben durch das Lesen und Erklären der Sonntags- und Festevangelien und
die Erklärung des Kirchenjahres. Ebenso werden eine Reihe von Kirchenliedern und
Hymnen gelernt, sowie die für den katholischen Christen aus religiöser Pflicht in Kirche,
Schule und Haus gebotenen Gebete. Außerdem ist eine Reihe von Lebensbildern hervor-
ragender Heiligen, vor allem von den Diözesan- und Schutzheiligen zu geben.
Das Seminar vertieft den biblischen Geschichtsunterricht in Verbindung mit der
Bibelkunde und biblischen Geographie und gibt die Glaubens-, Sitten- und Gnadenlehre
in erweiterter Form und größerer Vertiefung. Die Liturgik wird im Zusammenhang er-
örtert und die Kirchengeschichte bis zur Gegenwart behandelt.
4. Deutsch. Gegen die höheren Lehranstalten wird oft der
Vorwurf erhoben, sie vernachlässigten den deutschen Unterricht zu
Gunsten der Fremdsprachen. Für das Seminar trifft dies nicht zu.
Er steht als der nationalste Bildung.sstoff nach Stundenzahl und nach
Pensum im Mittelpunkte des Unterrichts, wie es sich für eine Lehrer-
bildungsanstalt eigentlich von selbst versteht. In den Klassen der
Präparandenanstalt und in der 3. und 2. Klasse des Seminars werden
je fünf, in der 1. Seminarklasse drei Stunden wöchentlich erteilt. Je
eine Stunde ist in der 2. Klasse für das praktische Unterrichten in
der Übungsschule, in der 1. Klasse für die Methodik vorbehalten.
Als Ziel des Unterrichts wird bezeichnet: Fertigkeit im richtigen mündlichen und
schriftlichen Gebrauche der Muttersprache, Bekanntschaft mit den wichtigeren Abschnitten
der Muttersprache, sowie unserer Literaturgeschichte im Anschluß an die Lektüre, Be-
lebung des vaterländischen Sinnes durch Einführung in Meisterwerke unserer Literatur.
Der L'nterricht gliedert sich demgemäß in Bekanntschaft mit der Literatur und der Sprache.
Bei der Literatur stehen die Quellen im Vordergrunde und die Literatur-
betrachtung macht das Wesen dieses Unterrichtszweiges aus, sowohl in der Poesie wie in
282 I^is \olksschullehreibildung.
der Prosa. Die deutsche Literatur kann mit Stolz auf zwei Blütezeiten zurückblicken,
und mit Recht hat man das deutsche Volk das \'olk der Dichter und Denker genannt.
Darum soll der künftige Lehrer gründlichst in die Schätze der deutschen Literatur ein-
geweiht werden, damit er einen Einblick in das erhält, was die Altvordern schufen, daß
sein Geschmack gebildet werde, um in der Fülle der literarischen Ereignisse die Spreu
von dem Weizen zu scheiden. Es gilt das mehr oder minder geschwundene Literesse
an der Poesie zu wecken und emen gesunden Sinn für die Prosa zu bilden, damit jene
ungesunden und seichten Romane und Erzählungen aus dem letzten Drittel des 19. Jahr-
hunderts überwunden werden zu gunsten echt deutscher Erzähler. Die Literatur-
betrachtung ist der ausgesprochene Gegensatz zu der früher so beliebten Literaturgeschichte,
welche im Herunterschnarren der Dichterbiographien und im Herplappern von Urteilen
über häutig nicht gelesene Dichterwerke bestand.
Die Einführung in die Poesie geschieht auf der Präparandenanstalt, indem ihre
Erzeugnisse in Gruppen, die durch die Poetik bedingt sind, zur Behandlung kommen,
während sie im Seminar zumeist gemäß der historischen Entwicklung erfolgt. Li der
3. Klasse lernt der Präparand Fabeln, Märchen, Sagen und Legenden sowie leichtere
Lyrik kennen. Daneben tritt in der Prosalektüre die Erzählung. Die 2. Klasse be-
handelt Balladen, Romanzen und aus der Lyrik volkstümliche weltliche und geistliche
Dichter. Die schwierigeren Balladen und Romanzen bringt die L Klasse, außerdem aber
noch aus der Lyrik besonders die vaterländischen Dichter, Schillers Glocke und Teil.
Die Prosalektüre der 2. und 1 . Klasse trägt vorwiegend realistischen Charakter (Geschicht-
liches, Landschafts- und Kulturbilder, Erdkundliches, Charakterschilderungen). Aus-
drücklich wird betont, daß neben dem bewährten Alten in Poesie und namentlich in
Prosa gute Erzeugnisse der neuesten Literatur eine Stätte finden sollen. Bei den
Gedichten muß in erster Linie \'erständnis des poetischen Gehaltes gegeben werden,
während die früher so beliebten Erklärungen und Gliederungen auf das unbedingt nötige
Alaß zu beschränken sind. Gerade durch Gliederungen usw. kann leicht jeder poetische
Hauch eines Gedichtes und jede Freude an der Poesie zerstört werden, die Rose verliert
ihre Schönheit, wenn sie zerpflückt wird, und der mächtigste Dom ist nichts als ein
Trümmerhaufen, nimmt man die festgefügten Quadern voneinander! Gerade jene jahre-
lang geübte statarische Behandlung (richtiger Mißhandlung) von Gedichten in Schule
und Seminar hat entschieden dazu mit beigetragen, eine Abneigung gegen die Dichtung
in Deutschland zu erzeugen, die erst seit wenigen Jahren in allmählicher Abnahme be-
griffen ist. Die Behandlung der Dichterwerke in der Volksschule, in der Präparanden-
anstalt und im Seminar fordert eine gute poetische Emptindung und viel methodischen
Takt von dem Lehrenden. Daß die Jugend und die Volksbildner sich an der Dichtung
erfreuen, daß unsere Dichter ihre Lebensbegleiter werden, — diese Anregung zu geben
dürfte eine der vornehmsten, vielleicht die vornehmste Aufgabe der Literaturbetrachtung
auf den Lehrerbildungsanstalten sein.
Das Seminar behandelt im ersten Jahre die iltutsche Literatur bis zum Ausgang
des Mittelalters auf ( Irund der ^^'erke, so besonders die großen \olks- untl höfischen
Epen und die höfische Lyrik. Außerdem werden Hermann und Dorothea, Abschnitte
aus Homer und aus neueren epischen Dichtungen gelesen. Die 2. Klasse bringt die be-
deutendsten Persönlichkeitan des 16. und 17. Jahrhunderts mit Proben aus ihren Werken
dann Klopstock, Lessing, Herder, Goethe und Schiller nach ihren Werken und im Zu-
sammenhang mit ihrer Zeit. Eingehend kommen Klopstocks Oden sowie Goethes untl
Schillers Gedankenlyrik zur Besprechung. Die 1. Klasse gibt die Literatur des 19. Jahr-
hunderts und das Volkslied. An Dramen werden in der 3. Klasse Götz von Berlichingen
und die Jungfrau von Orleans, in der 2. Klasse Minna von Barnhelm und Egmont, in
der 1. Klass2 Wallenstein und ein Drama von Shakespeare, oft auch eins von Grillparzer
und Hebbel gelesen. An Prosa bringt die 3. Klasse Briefe, die 2. Klasse Goethes Dich-
tung und Wahrheit, seine f?riefe und Lessings Prosa, die 1. Klasse Herdersche und
J
Die LelueibiklunirsunstaUen. 283
Schillersche Prosa. Außerdem sind für die 3. und 2. Klasse Reden und wissenschaft-
liche und ästhetische Prosa der Jetztzeit vi)rgeschrieben, und zwar aus den Gebieten der Ge-
schichte, Kultur, Kunst, Natur- und Erdkunde. Man hat letztere Prosalektüre als einen
Rückschritt in die Regulativpädagogik bezeichnet. Im Gegenteil, wenn Sachen von
Zeller, \^'undt, Harnack, Hettner, Gebr. (Jrimm, (rebr. Humboldt^ Ranke, Sybel, Burk-
hardt, Mommsen, Treitschke, Ihering, Heusler, Schmoller, K. Ritter, Richthofen, Bastian,
Ratzel, Siemens, Helmholtz, du Bois-Reymond, II. Grimm, Riehl, R. Wagner zur Lektüre
ausgewählt werden, so heißt es in die Kultur der Gegenwart eindringen, so heißt es,
verstehen, daß ein wesentlicher Teil der deutschen Literatur und Sprache des 19. Jahr-
hunderts sich in der wissenschaftlichen Prosa findet, — dann wird dem künftigen Lehrer
ein Gesichtskreis eröffnet, der ihm ein selbständiges Weiterarbeiten, wie es die Lehr-
pläne fordern, ermöglicht und erleichtert. Dadurch wird dem jungen Lehrer Anregung
gegeben, sich je nach Anlage und Neigung auf diesem oder jenem Gebiet weiter umzu-
schauen, indem er zu den Quellen selbst greift, aus denen die wissenschaftliche Prosa
ausgewählt ist.
Auf Grund dieser quellenmäßigen Literaturbetrachtungen und bei fortwährender
Heranziehung der politischen und kulturellen Zeitgeschichte wird eine Literaturkunde und
Literaturgeschichte aufgebaut, welche die Literatur als einen Teil der Geistesgeschichte
trkennen läßt, die zeigt, daß die deutsche Literatur nicht etwas einsam und von andern
Dingen isoliert Dastehendes, sondern ein Teil und zwar ein äußerst umfassender des
deutschen Geisteslebens ist. Eine derartige Literaturgeschichte ist der naturgemäße
Abschluß des Literaturunterrichts; ein fortlaufender Unterricht in ihr wird richtiger
^\'eise abgelehnt.
Daß die hierfür nötige c|uellenmäßige Kenntnis nicht allein durch den l'nterricht
in der Klasse vermittelt werden kann, ist selbstverständlich, darum tritt die häusliche
Lektüre helfend ein. Selbst die von den Lehrplänen genannten größeren Werke werden
zu Hause gelesen. Daneben findet eine geordnete Privatlektüre in Präparandenanstalt
und Seminar statt, welche besonders auf die Klassiker und das 19. Jahrhimdert Rück-
■^icht nimmt.
Poetik, Metrik und Stilistik werden nicht als besondere theoretische Disziplinen
getrieben; die Belehrungen darüber erfolgen im Anschluß an die poetische und
prosaische Lektüre, sowie an die Aufsatzübungen. Eine Zusammenfassung gibt die
1. Klasse.
Der deutsche Unterricht behandelt weiter die S])rache, und zwar sowohl theoretisch
als Grammatik, wie praktisch als Übungen im mündlichen und schriftlichen Gebrauch.
Lange hat sich der Deutsche seiner Sprache geschämt, die bäuerisch und ungelenk sein
sollte. Die ^\'frke der Klassiker, die unvergleichliche Blüte der deutschen Wissenschaft
und Technik in der Jetztzeit, die politische Einigung und die Weltstellung Deutschlands
hat die Deutschen sich auf ihre -Sprache besinnen lassen. Darum muß der Lehrer einen
Einblick in sie erhalten, nicht nur in die Elementar-Grammatik und die Etymologie, viel-
mehr auch in ihr Werden und ihr Wesen, d. h. in ihre Geschichte, ihren Bestand und
wie sie in den Mundarten verschiedene Formen angenommen hat. Eine wichtige Auf-
gabe der Sprachlehre, aber auch aller Unterrichtsfächer bleibt zudem der energische
Kampf gegen die entbehrlichen Fremdwörter. Es ist weiter vielfach verlangt, aber
ebenso oft bekämpft worden, den Seminaristen in das Mittelhochdeutsche einzuführen
und ihn das Nibelungenlied im Originaltext lesen zu lassen. Die Lehrpläne von
1901 haben diese Forderung nicht erfüllt; es war schon genug der Neuerungen,
die sie brachten. Vielleicht liest aber in absehbarer Zeit der Seminarist das Nibelungen-
lied im l'rtext.
Die deutsche (Grammatik wird nicht wie eine Fremdsprache behandelt, sie be-
schränkt sich auf das zur Bildung des Sprachverständnisses und für den P2inblick in
2Ö4 1*'^ \'olksschullehrerbiklung.
ihren Bau Notwendige. In der Präparandenanstalt gibt die 3. Klasse die Satzlehre mit
Ausnahme des zusammengesetzten Satzes, die 2. bespricht diesen und die Wortlehre, die
1. behandelt die Wortbildung, befestigt und schließt die Elementargrammatik ab. Das
Seminar führt die Sprachlehre weiter, indem es in der 3. Klasse die Phonetik und die
deutschen Mundarten, in der 2. die geschichtliche innere und äußere Entwicklung der
Sprache im allgemeinen, im besonderen hinsichtlich der Veränderung der Laute und
P^ormen als auch des Wandels der Wortbedeutung verfolgt.
Die Phonetik bezweckt, die Erkenntnis einer lautrichtigen und lautschönen Aus-
sprache des Hochdeutschen herbeizuführen. Hierbei soll auch die Beseitigung der in ein-
zelnen Landesteilen besonders häufig vorkommenden sprachlichen Fehler angestrebt
werden. Sowohl hierdurch als auch vermittels ausdrucksvollen Lesens durch Vortrag des
besprochenen Stoßes, durch Stellen von Aufgaben über ihn ist die L'bung und Gewandt-
heit im mündlichen Ausdruck zu fördern; hierzu sollen aber außer dem Deutschen alle
Fächer beitragen. Im Seminar, vor allem in der Oberklasse, werden freie Vorträge über
Gelesenes und über besonders gestellte Aufgaben auch aus anderen Gebieten gehalten.
Dies bedeutet ebenfalls eine gute Übung für den mündlichen Ausdruck, zudem veranlaßt
es ihn zum freien, vom Tagespensum unabhängigen Arbeiten. Hiermit kommt die früher
viel getriebene jetzt indes über Gebühr vernachlässigte Rhetorik zu einigem Recht.
Ihre notwendige Ergänzung finden die mündlichen Übungen im Gebrauch der
Sprache an den schriftlichen. Außer Aufsätzen auf allen Stufen der Lehrerbildungsanstalten
werden in den beiden unteren Klassen der Präparandenanstalt freie Niederschriften vom
Durchgenommenen, Erlebten u. dgl. angefertigt. Der Nachdruck liegt auf sachlicher und
sprachlicher Richtigkeit und klarer übersichtlicher Gedankenfolge. Alle Künstelei und
alles Phrasenhafte ist verbannt, gediegene Einfachheit energisch gefordert. Die Aufgaben
steigern sich allmählich bezüglich der Schwierigkeit. In der Präparandenanstalt sind —
soweit möglich nach Vorlagen — Erzählungen, Beschreibungen, Schilderungen, Ver-
gleichungen und dgl. anzufertigen. Dem Seminar fallen dann im Anschluß an die Lektüre
schwierigere Inhaltsangaben, weiter Charakteristiken und Beweisführungen zu.
Die Aufgaben sollen dem Stoß' des deutschen Unterrichts oder anderen Fächern
entnommen werden. Themen aus der Literatur dürften den ^'orzug finden. Solche aus
Geschichte, Erd- und Naturkunde erfordern in ihrer Formuherung viel Vorsicht, da leicht
solch ein Aufsatz zu einer aus allen möglichen Büchern zusammengetragenen Stoflan-
häufung führt, der die nötige geistige Verarbeitung fehlt; gerade bei diesen Gebieten ist
die Möglichkeit der Beweisarbeit, welche den Zögling zum Nachdenken z\vingt, an erster
Stelle anzustreben. Die Bearbeitung sog. freier Themen, die ein Sprichwort, eine Sentenz
oder eine Frage der Lebensweisheit erörtern, bleibt nicht ausgeschlossen. Für die Ober-
klasse des Seminars sind zudem einige Aufgaben pädagogischen Inhalts zu stellen. Es
gilt zu erwägen, ob sich nicht als vorteilhaft erweist, derartige Aufsätze dem pädagogischen
Unterricht zuzuweisen, da sonst naturgemäß die literarischen Themen in der L Klasse
zurückgedrängt werden. Die Lehrpläne geben eine Handliabe dafür, wenn sie empfehlen,
auch im Seminar in den einzelnen Fächern kurze Niederschriften des Behandelten an-
fertigen zu lassen.
5. Geschichte. Der Geschichte sind in der ersten Klasse der
Präparandenanstalten drei, in den anderen Klassen und den des Se-
minars je zwei wöchentliche Stunden gewidmet. Als Ziel wird be-
zeichnet: Der Unterricht soll genaue Kenntnis der vaterländischen
Geschichte sowie Bekanntschaft mit den wichtigsten Ereignissen
der alten Geschichte und der Geschichte der großen modernen Kul-
Die I.elirerbildungsan.stdteii. 285
turvölker, soweit sie für die vaterländische (leschichte von Bedeutung
ist, vermitteln.
Der Hauptnachdiiick liegt also auf der vaterländischen Geschichte. Wohl hat das
Seminar nie den verhängnisvollen Fehler anderer Lehranstalten begangen, die vaterlän-
dische Cleschichte nur bis 1815, vielleicht auch nur bis Friedrich dem Großen und dem
dreißigjährigen Krieg zu behandeln, — die Schulen des 18. Jahrhunderts schlössen sogar
mit Karl dem Großen ab'. Indes vertrug der Seminargeschichtsunterricht doch eine Er-
weiterung der deutschen Geschichte, namentlich des 19. Jahrhunderts. So haben die
neuen Lehrpläne die alte Geschichte mit kühnem Griff der 1. Präparandenklasse zuge-
wiesen und dem Seminar allein die deutsche Geschichte vorbehalten, und zwar der 3. Klasse
die Geschichte bis 1648, der 2. Klasse die Ereignisse bis 1815, der 1. Klasse außer der
Methodik des Geschichtsunterrichts und der Einführung in die Rechtsordnung des deut-
schen Reiches und Preußens, die Geschichte von 1815 bis zur Gegenwart. Die Präpa-
randenanstalt erledigt in der 3. Klasse die deutsche Geschichte bis 1648, in der 2. Klasse
den Rest unter Hervorhebung der brandenburgisch-preußischen.
Man hat an den Lehrplänen getadelt, daß dasselbe Geschichtspensum der Präpa-
randenanstalt im Seminar, nur konzentrisch erweitert, wiederkehre. Aber kaum ein zweites
Fach dürfte es geben, wo ein derartiges Verfahren so notwendig ist, als gerade hier.
Süll eine einigermaßen fruchtbare Behandlung der Geschichte nach den Ursachen und
Zusammenhängen erfolgen, soll die kulturelle Entwicklung zur Geltung kommen, und die
Geschichte die gi"oße Lehrmeisterin der Gegenwart bleiben, so muß eine Kenntnis der
wichtigsten Tatsachen vorhanden sein. L'nd die Einprägung der Tatsachen in chrono-
logischer Ordnung wird nachgerade der Präparandenanstalt zugewiesen. Sind hier die
hauptsächlichsten Namen und Zahlen gelernt worden, dann erst hat der Seminarist einen
(ienuß von der Geschichte, — und Namen und Zahlen (oft wird sie darum von den
Lernenden arg gehaßt) sind so notwendig, wie das Skelett für den Bestand des mensch-
lichen Körpers.
Die Pi-äparandenanstalt knüpft in der 3. und 2. Klasse meist an die bedeutenden
Persönlichkeiten an. Die 1 . Präparandenklasse, welche die alte Geschichte behandelt, und
das Seminar soll den Stoff befestigen und vertiefen, dann aber den pragmatischen oder
wie es der Geschichtswissenschaft gemäß richtiger heißen muß, den genetischen Zusam-
menhang der Ereignisse darlegen, ferner die Entwicklung der poütischen, sozialen und
kulturellen Verhältnisse vermitteln. Auf diese Weise vollzieht sich der Geschichtsunter-
richt in der Form der Geschichtsbetrachtung.
Gerade die Betonung der Kultur birgt eine große Aufgabe in sich. Wohl ent-
halten so ziemlich alle neuen Schulbücher „Kulturgeschichtliches", — aber es ist kaum
mehr als ein Anfang zur politischen und Kriegsgeschichte, die man Jahrzehnte einzig als
Geschichte gelten ließ. Die Kulturgeschichte kann aber garnicht von der anderen Geschichte
gelöst werden, sie ist mit ihr organisch verknüpft. Ja, man unterscheidet in der Geschichts-
wissenschaft teilweise nur noch Sozial- und Geistesgeschichte, indem ersterer die Ge-
schichte der sozialen Verbände zufällt, sei es als Staat, Kirche, Volk, Gemeinde, Familie, sei
es im diplomatischen oder kriegerischen Verkehr, femer Recht, Wirtschaft und Wohlfahrt,
der Geistesgeschichte dagegen die Entwicklung von Literatur, Sprache, Kunst, Philosophie,
Wissenschaft und alles dessen, was man bisher unter dem Sammelnamen Kultur zusammen-
faßte. Auch im Seminarunterricht muß der Gedanke der Kulturgeschichte als Geistes-
geschichte und ihre organische Verbindung mit der anderen Geschichte energisch zur
Geltung kommen. Die Geschichte der Literatur, in obiger Darlegung auf Grund der
Lehrpläne, erweist sich in dieser Form als ein Teil der allgemeinen geschichtlichen Ent-
wicklung, ebenso die Geschichte der Sprache, von der an derselben Stelle die Rede war.
Auch die Kirchengeschichte gliedert sich, wie bereits erwähnt, dem geschichthchen
Werden ein.
2B6 1*'^ Volksscliullehrerbildung.
Der Seminarunterricht schließt es aus, die oben berührten Einzelteile der Geschichte
gleichmäßig zur Behandlung zu bringen. Im N'ordergrunde wird von der Sozialgeschichte
die äußere Geschichte stehen, aber auch die andern Disziplinen sollen, wenn auch im
bescheidenen Maße eine Stätte finden, namentlich muß sich die Kultur- und Geistes-
geschichte organisch eingliedern. Bei der Kulturgeschichte ist, ebenso wie bei der
Kirchengeschichte, auf die Heimatprovinz Rücksicht zu nehmen, — die Geschichts-
betrachtung in Schule und Seminar hat schon längst auf historischem Gebiete gepflegt,
was für das ästhetische jetzt durch die sogenannte Heimatkunst gefordert wii'd. Auch
auf die Vor- und Frühgeschichte wäre einzugehen; ein von d?r ünterrichtsverwaltuig
herausgegebenes „Merkbuch" regt dazu an, besonders unterweist es den künftigen Lehrer,
wie er sich in seinem Amte bei Auffindung vorgeschichtlicher Altertümer zu verhalten
hat, um der Geschichtswissenschaft einen Dienst zu erweisen. Aber auch der Sinn für
die heimischen Denkmäler der Malerei, Skulptur, Bau- und Handwerkskunst früherer Zeit soll
geweckt werden; die Seminare sind verpflichtet, die Zeitschrift „Die Denkmalspflege" zu
halten und den vSeminaristen zugänglich zu machen.
Der Geschichtsunterricht der Oberklasse des Seminars erweitert sich zu einer
Staats- und A'olkswirtschaftskunde der Gegenwart, ^''erfassung, \'erwaltung. Sozial- und
Wirtschaftspolitik werden nach ihrer geschichtlichen Entwicklung unter besonderer Rück-
sicht auf die Verdienste der HohenzoUern, sowie nach ihrem Bestände dargelagt. Dadurch
hat die schon seit ein und einem halben Jahrzehnt erhobene Forderung nach volkswirt-
schafthchem Unterricht für das Seminar eine teilweise Erfüllung gefunden. Ein be-
sonderes Lehrfach ist die National-Ökonomie noch nicht, sie hat in der Geschichte und
wie bald gezeigt wird, in Mathematik und Erdkunde ihren Platz.
Geschichte ist das Fach, in dem weiteren Kreisen der Begrifl" der Quellen am
klarsten vor Augen liegt und bekannt ist. Jene großen Quellenveröflentlichungen, die
mit der vom Freiherrn vom Stein angeregten Herausgabe der Monumenta Germaniae
historica 1820 ihren Anfang nahm, haben eine Hochflut von Urkunden- und Akten-
publikationen im deutschen Vaterland angeregt, und das Ausland ist keineswegs zurück-
geblieben. Schier unübersehbar haben sich die Schätze der Vergangenheit geöfi'net. Der
Schule ist es dadurch leicht gemacht, sich für ihre Zwecke der Geschichtsquellen zu be-
dienen. Die Quellen jedoch, die für Schule und Seminar nutzbar gemacht werden
können, sind naturgemäß gewissen Beschränkungen unterworfen; zudem darf man nicht
außer acht lassen, daß sie oft recht nüchtern und trocken sind. Darum sollen nicht nur
Quellen im Unterricht und in der Privatlektüre verwendet, vielmehr auch die Werke
der neueren Geschichtsschreiber in einzelnen Abschnitten herangezogen werden. Deutsch-
land besitzt eine Reihe geradezu klassischer Schriften auf dem Gebiete der historischen
Forschung, nur an Ranke, Treitschke, Mommsen sei erinnert. Eine Gefahr birgt die
Quellenbenutzung. Der Seminarist erhält nämlich eine nach den Grundsätzen der geschicht-
lichen Kritik ausgewählte Sammlung; Gelegenheit, wenn auch in recht bescheidenem
Maße an den Quellen Kritik zu üben, d. h. sie nach ihrem Wert und ihrer Wahrheit zu
beurteilen, wird sich kaum finden. Zu leicht verwendet der im Amte stehende junge
Lehrer die in seine Hände gelangenden Quellen, sei es solche für die Ortsgeschichte
oder für eine andere historische Arbeit, ohne sie zu prüfen und ohne sie recht zu be-
werten. Darum ist es höchst wünschenswert, auch Stücke in die Quellensammlungen
aufzunehmen, an denen eine Kritik, wenn auch nur in mäßigem Umfange möglich ist.
Diese Beschränkung ist naturgemäß, da zunächst die erforderliche Zeit fehlt, sodann ist
es nicht Aufgabe des Seminars, zünftige Historiker heranzubilden; das bleibt der Univer-
sität vorbehalten. Aber Anregungen möge der künftige Lehrer empfangen, und auf
jeden Fall muß der Geschichtslehrer betonen, daß die Arbeit des Sichtens und Beurteilens
bei den Quellenbüchern schon vom Herausgeber vollzogen ist.
Die I>ehrerbiIdung.san.st;iUen. 287
„Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt" sagt das Dichter-
wort, und es darf hinzugefügt werden „Wohl dem, der seiner Väter
gern gedenken kann!" Der Deutsche darf mit Stolz auf seine Ver-
gangenheit zurückblicken. Darum soll der künftige Lehrer und Er-
zieher durch Vermittlung der Geschichte sein Vaterland lieben und
dessen Ordnungen und Einrichtungen verstehen lernen; sie soll ihn
befähigen, in seinen Schülern die Liebe zum Vaterlande und zum
Herrscherhause, das gerade für die soziale Wohlfahrt des Volkes so
Unvergleichliches geleistet hat, wecken und pflegen. Die Ge-
schichte ist das Wörterbuch und die Grammatik für die Gegen-
wart, sie befähigt die Jetztzeit aus der Vergangenheit heraus
zu begreifen. ]Man hat es längst beklagt, daß großen Kreisen die
politische Bildung fehle, nämlich den staatlichen und sozialen Ein-
richtungen der Vergangenheit gerecht zu werden, und die Möglich-
keit und Notwendigkeit derartiger Institutionen in der Gegenwart zu
verstehen. Eine solche auf historischer Grundlage sich aufbauende
politische Bildung bringt in der Tat das Verständnis für den Staat
und seine Bestrebungen in den heutigen Tagen, es warnt vor Über-
stürzung und lehrt, sich für das vorläufig Erreichbare zu bescheiden.
Die Geschichte ist aber auch die Weckerin der Dankbarkeit, für das,
was edle Fürsten und treue Freunde des Volkes dereinst taten, sie
begeistert für das Vaterland und seine große Vergangenheit, sie
tröstet, wenn schwere Zeiten eintreten, daß dereinst lichte Tage
wieder kommen!
b. Fremde Sprachen. Als Kennzeichen eines sogenannten
Gebildeten pflegt man unter anderem auch die Kenntnis einer Fremd-
sprache zu bezeichnen. Und in der Tat haben sich so zahlreiche
Kreise geweigert, den Volksschullehrer als Gebildeten anzuerkennen,
weil er meist keine Fremdsprache kannte; denn zur Teilnahme am
fremdsprachlichen Unterricht war niemand verpflichtet. Vielfach
wurden auch solche, die sich gern dazu bereit erklärten, aber nicht
Hervorragendes leisteten, zurückgewiesen. Mit den wenigen Übrig-
bleibenden ließen sich natürlich nicht selten recht beachtenswerte
Resultate erzielen.
Die Bestimmung der Lehrpläiie von 1901, daß jeder Seminarist eine Fremdsprache
erlernen muß, bedeutet den größten Fortschritt bezüglich des Ünterrichtsstofles, den
zweitgrößten überhaupt nach der organischen ^'ereinigung des Lehiplans des Seminars
mit dem der Präparandenanstalt. Dieser obligatorische fremdsprachliche Unterricht ist ge-
eignet, die Stellung des Volksschullehrerstandes wesentlich zu verbessern und ihm die
Anerkennung zu bringen, welche sein Wissen und sein Streben verdienen. Doch kommen
außer diesem mehr äußerlichen, aber nicht zu unterschätzenden Grunde, noch innere in
28Q J^>ie Volksschullehrerbildung.
Betracht. Ein oft angeführtes Wort Goethes besagt: „Wer fremde Sprachen nicht kennt,
weiß nichts von seiner eigenen". Es ist eine alte Erfahrung, wie gerade das Verständnis
für Wesen, Bau und rechten Gebrauch der Muttersprache durch die Bekanntschaft mit
fremden eine außerordentliche Zunahme zu verzeichnen hat. Neben diesem Sprachver-
ständnis führt die P'remdsprache in die Auffassung und Gedankenkreise anderer Völker
ein und eröffnet ein sonst unzugängliches Gebiet. Ist dies an und für sich äußerst
wertvoll, so bildet es auch ein gesundes Gegengewicht gegen oft übertriebene Forderungen
einer extrem nationalen Bildung. Endlich ist auch der Wert einer Fremdsprache für die
formale Bildung nicht zu unterschätzen.
Es fragt sich, in welchem Umfange der fremdsprachhche Unterricht auf dem Se-
minar zu treiben ist. An den höheren Lehranstalten werden mindestens zwei Fremd-
sprachen gelehrt. Auch für das Seminar hat man diese Forderung erhoben. Alle Er-
örterungen, ob mehr als eine Sprache zu erlernen ist, sind gegenstandslos durch die Un-
möglichkeit, bisher mehr als drei bezw. zwei wöchentliche Stunden dafür zu erübrigen.
Daher bestimmen auch die Lehrpläne, daß Französisch oder Englisch gelehrt werden
soll, und überlassen die Wahl den Provinzialschulkollegien, die je nach den Verhältnissen
und besonderen Bedürfnissen der betreffenden Provinz entscheiden. Hiermit verzichtet das
Ministerium, den ideellen Wert einer dieser Sprachen festzustellen und überläßt die
Auswahl einzig praktischen Gesichtspunkten.
Viel ist darüber gestritten worden, ob statt einer neueren Sprache nicht das La-
teinische den Vorzug verdiene, und im Königreich Sachsen hat man sich auch dafür
entschieden. Man führt gewöhnlich die sprachbildende Kraft des Lateinischen an, dann
seine vielfache Durchdringung des modernen Geisteslebens in Kultur und Sprache;
endlich glaubt man der gymnasialen Bildung dadurch näher zu kommen, da in wissen-
schaftlichen Kreisen nur der Latein Verstehende Anspruch auf Gleichberechtigung be-
sitze. Letzterer Grund dürfte garnicht zur Erwägung stehen, da das Seminar bei seinen
ganz andern Zielen garnicht die Konkurrenz mit den Gymnasien aufnehmen soll. Es
kann mit seinem durch und durch nationalen und modernen Charakter stolz auf seine
Eigenart und auf seine selbständige und in sich geschlossene Stellung im deutschen
Bildungswesen sein, es braucht aber nicht sein Ideal in einem gymnasialen Anstrich zu
suchen I Gewichtig sind indes die beiden ersten Gründe, jedoch sprechen die Porde-
rungen der modernen Kultur und des praktischen Lebens unbedingt mehr für eine neuere
Sprache. Die Lehrpläne gestatten übrigens, wo bisher Lateinisch fakultativ gelehrt
wurde, dies neben Französisch bezw. Englisch beizubehalten. Zu erwägen bliebe indes
immer, ob Lateinisch allgemein als wahlfreies Fach zu gestatten wäre; es würde sich
aber dann noch fragen, ob bei Einführung fakultativen Sprachunterrichts neben dem
obligatorischen vielmehr diejenige neuere Sprache den Vorzug verdiente, welche nicht als
Pflichtfach getrieben wird.
Als Ziel des fremdsprachlichen Unterrichts setzen die Lehrpläne fest: \'erständnis
nicht zu schwieriger Schriftwerke sowie einige Übung im mündlichen und schriftlichen
Gebrauch der Sprache. Das Hauptgewicht liegt auf der Lektüre. Im Seminar ist für
die 3. Klasse einfache Prosa, fih- die 2. ein leichterer Historiker der Neuzeit, für die 1 . ein
Prosaschriftsteller der Neuzeit vorgeschrieben, außerdem sind für alle Klassen noch Gedichte
zu wählen. Hierbei können auch kurze literarkundliche Mitteilungen gegeben werden, eben-
so Belehrungen über die Metrik. Die mündlichen Übungen werden an die Lektüre an-
geknüpft, sowie an Anschauungsbilder, Vorgänge und Verhältnisse des täglichen Lebens.
Die schriftlichen Übungen umfassen Rechtschreibeübungen, Diktate, Niederschriften und,
zum Zwecke grammatischer Übung, Übersetzungen in die Fremdsprache. Da die Lektüre
und die Übungen im Gebrauch der Fremdsprache im Vordergrund stehen, wird Wert
auf Aneignung und Befestigung eines ausreichenden Wort- und Phrasenschatzes gelegt,
femer auf die wesentlichen Unterschiede der Ausdrucksweise und des Sprachbaus der
deutschen und der fremden Sprache, sowie auf Aneignung und Übung einer richtigen
Die Lehrerbildungsanstiilten. 289
und guten Aussprache. Die Anfangsgründe sind in einem Lautierkursus zu geben. Die
(irammatik ist deshalb auf das nötigste beschränkt. Aus Formenlehre und Syntax wird
nur das allgemein Gebräuchliche geboten, auf sichere Einprägung der Formeln und
Regeln Nachdruck gelegt. Auf keinen Fall darf durch sprachliche Belehrungen und
Übungen die Bedeutung der Lektüre und die Einführung in das \'erständnis der Schrift-
steller beeinträchtigt werden. Damit ist verwehrt, daß die Grammatik einen zu breiten
Kaum einnimmt, wie das früher mitunter der Fall war.
Der fremdsprachliche Unterricht beginnt in der Präparandenanstalt mit den Ele-
menten der Sprache. Die 3. Klasse bringt Aneignung einer richtigen Aussprache, Lese-
übungen und Erwerbung eines mäßigen Wortschatzes. Im Französischen wird der Indi-
kativ der regelmäßigen \'erben und Hilfsverben erlernt, im Englischen die regelmäßige
Formenlehre. Die 2. Klasse erweitert den \N'ortschatz ; im Franzö.sischen kommen der
Konjunktiv der Verben, die Deklination des Haupt- und Eigenschaftswortes, die Steige-
rung und die Zahlwörter, im Englischen die unregelmäßige Formenlehre hinzu. Die
1. Klasse bringt außer Erwerbung des Wort- und Phrasenschatzes im Französischen die
notwendigsten unregelmäßigen Verben, deren gebräuchlichste Formen gründlich aus-
wendig zu lernen sind, ferner die Fürwörter, im Englischen die Syntax des Verbums
I außer dem Konjunktiv) und den Gebrauch der Zeiten. Das Seminar wiederholt und
ergänzt in der 3. Klasse im Französischen die Formenlehre und den Wort- und Phrasen-
schatz und bringt die Wortstellung und den Gebrauch der Zeiten, im Englischen das
Unentbehrliche aus der Lehre vom Konjunktiv, die Syntax des Artikels, des Substantivs
und des Adjektivs. Die 2. Klasse lehrt im Französischen den Gebrauch der Modi, ferner
Infinitiv und Partizip, sowie Kasusrektion, im Englischen die Syntax des Pronomens und
Adjektivs sowie die wichtigsten Präpositionen. In der 1. Klasse findet eine Ergänzung
und Zusammenfassung der Syntax statt. In allen Klassen wird, wie schon erwähnt,
Lektüre getrieben, außerdem werden schriftliche und mündhche Übungen veranstaltet.
In den Lehrplänen hat das oft empfohlene Lesen französischer Pädagogen keine
Stätte erhalten. Was der Seminarist aus der Pädagogik der Franzosen und Engländer
wissen muß, lernt er in den diesem P'ache gewidmeten Stunden. Wenn es auch des
Reizes nicht entbehrt, ausländische Meister im Originaltext zu lesen, so ist es für den
Seminaristen doch wichtiger, etwas aus der Literatur der Franzosen und Engländer
kennen zu lernen, als etwas Pädagogisches zu lesen, das zufällig französisch oder
englisch geschrieben ist.
dj Die Naturwisseiischafteii.
I. Mathematik. Den Schlüssel für die Naturwissenschaft
bildet die Mathematik, welche ihre Gesetze nachweist. Sie ist aber
nicht allein deshalb wichtig, sondern auch wegen ihrer ungeheuren
praktischen Notwendigkeit für das tägliche Leben und wegen ihrer
formalen Bildung. Neben der Sprachlehre kommt ihr in erster Linie
die Schulung im Denken und Schließen zu. Scharfes Denken, Kürze
und Bestimmtheit im Ausdruck werden besonders in der Raumlehre
erwartet.
Der mathematische Unterricht tritt aber auch in den Dienst der
Staats- und Volkswirtschaft, der ja auf den Lehrerbildungsanstalten
noch kein besonderes Fach angewiesen ist. Im Anschluß an die
Aufgaben sind darüber Belehrungen zu geben. Es kann kein Zweifel
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. HI. 1 9
290 Die Volksschullehrerbildung.
darüber bestehen, daß die praktische Anwendung der National-
ökonomie besonders geeignet ist, Verständnis für sie zu wecken und
sie wenigstens in einzehien Teilen zu fördern. In der Geschichte
haben Belehrungen über Entwicklung \'on Verfassung und Wirtschaft
und deren gegenwärtigen Bestand stattgefunden, in der Geographie
werden Ergänzungen über Handel und Verkehr gegeben. Einen
systematisch zusammenhängenden Unterricht kann das natürlich nicht
ersetzen, es sei denn, daß die Sonderlehrpläne der einzelnen Semi-
nare bis ins einzelne feststellen, was durchgenommen werden muß.
Für die Einführung ins praktische Leben genügt indes schließlich,
was die Lehrpläne vorschreiben.
Die Mathematik wird auf dem Seminar als Rechnen und Raumlehre erteilt. Für
die drei Klassen der Präparandenanstalt sowie für die beiden untersten Klassen des
Seminars sind im Rechnen wöchentlich je drei, in der Raumlehre je zwei Stunden
wöchentlich angesetzt. Die Oberklasse hat nur eine Stunde Methodik des mathematischen
Unterrichts. Als Ziel des Rechnens wird sichere auf klarem Verständnis beruhende
Kenntnis der durch die Lehraufgaben bezeichneten Gebiete und Gewandtheit im Lösen
von Aufgaben bezeichnet.
Ganz wie bei der Rechtschreibung nimmt die Präparandenanstalt im Rechnen
(auch in der Raumlehre) zunächst den Stoff der Oberstufe der Volksschule unter ent-
sprechenden Erweiterungen durch, um die Zöglinge, welche einen verschiedenartigen
Bildungsgang durchlaufen haben, zu gleicher Bildungs- und Leistungsfähigkeit zu führen,
zumal gerade in Mathematik eine sichere Grundlage für den weiteren erfolgreichen
Unterricht unbedingt notwendig ist. So weisen im Rechnen die beiden untersten Klassen
hauptsächlich die bürgerlichen Rechnungsarten auf, nachdem die Grundrechnungsarten
mit ganzen Zahlen, Dezimal- und gemeinen Brüchen wiederholt sind. Hierbei sind
vor allem praktische Aufgaben zu stellen. In der 1. Klasse erfolgt die Einführung in die
Buchstabenrechnung, ferner kommen noch die Proportionen und die Gleichungen
1. Grades mit einer Unbekannten zur Behandlung. Das Seminar bringt sodann in der
3. Klasse Potenzen, Wurzeln, Logarithmen, Gleichungen 1 . Grades mit mehreren Unbe-
kannten, in der 2. Klasse Gleichungen 2. Grades, arithmetische und geometrische Reihen
sowie die Zinseszins- und Rentenrechnung.
Es wird kaum ein zweites Fach geben, wo die Übung so notwendig ist als im
Rechnen. Darum ist auf allen Stufen Selbständigkeit, Sicherheit und Gewandtheit im
Lösen von Aufgaben zu erreichen. Die Schüler müssen nicht nur zur klaren Einsicht in
das bei jeder Rechnungsart anzuwendende Verfahren geführt werden, sondern auch be-
fähigt sein, mit Fertigkeit zu rechnen sowie selbständig das Verfahren zu beschreiben und zu
begründen. Auf Kopfrechnen wird besonderes Gewicht gelegt, und zwar soll nach
Sicherung des Normalverfahrens die Ausnutzung der Rechenvorteile geübt und die Lösung
von algebraischen Aufgaben durch einfache Schlüsse ohne Gleichungen betrieben werden.
Gerade das Kopfrechnen auf den I>ehrerbildungsanstalten hat man angegriffen, aber mit
L'nrecht! Hier müssen die künftigen Rechenlehrer ihre Ausbildung erhalten; denn es ist
nichts trauriger, als wenn dann in der Schule ein solcher vor der Klasse steht und mit
den Lösungen der Aufgaben nachhinkt, oder sich fort und fort verrechnet, sofern er es
überhaupt nicht vorzieht, das Kopfrechnen wenig oder garnicht zu treiben. Zudem ist
dieses in der oben beschriebenen Form ein hen-orragende» Mittel der Geistesg)mnastik
und streng logischen Denkens.
Die Aufgaben des angewandten Rechnens sind dem praktischen Leben zu ent-
Die LehrerbildungsanstaUeii. 291
nehmen. Die Verhältnisse des Hauses, der Landwirtschaft, des Gewerbes, Handels und
\erkehrs sind zu berücksichtigen, fej-ner die Wirtschafts- und Wohlfahrtseinrichtungen des
Staates und der Gemeinden, vor allem das Versicherungswesen. Hierbei haben die oben
erwähnten volkswirtschaftlichen Belehrungen zu erfolgen, so z. B. über Arbeit, Kapital,
Preisbildung, Lohn, Miete, Pacht, Zins, Wertpapiere, Wechsel und Checkverkehr, Märkte,
Messen, Börsen, Haushalt der Familie, des Gewerbebetriebes, der Gemeinde, des Staates,
Zölle, Steuern, Versicherungswesen u. a. Weitere Aufgaben sind einzelnen Wissens-
zweigen, so der Natur- und Erdkunde zu entnehmen. Bei diesen angewandten Aufgaben
darf aber keine willkürliche Buntscheckigkeit herrschen; sie sind vielmehr mit Beziehung
auf die bezeichneten Gebiete nach sachlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Gerade durch
derartige Übungen wird Abwechslung in das leicht tote Rechnen und die rein formale
Schulung gebracht. Die .\nwendung auf das Leben — politische Arithmetik hat man es
neuerdings genannt — und auf die Wissenschaften, für welche die Mathematik die Grund-
lage zu ihrem Aufbau ist, geben ihr den Charakter eines der für das tägliche Leben
und die wissenschaftliche Forschung wichtigsten Fächer.
Der zweite Teil der Mathematik, die Raumlehre führt von der Anschauung aus-
gehend die Beweise nicht auf elementarem Wege wie die \'olksschule, sondern auf
logisch-wissenschaftlichem, indem sie aus dem Gegebenen ableitet und schließt, und durch
\erknüpfung bekannter Sätze neue Wahrheiten findet. Die Präparandenanstalt erledigt
in der 3. Klasse die Lehre von den Linien, Winkeln und Dreiecken, in der 2. Klasse die
vom Parallelogramm, Trapez, regelmäßigen Viereck und vom Kreise; die 1. Klasse be-
handelt die Hächengleichheit gradliniger Figuren, ihre Berechnung und die des Kreises.
Lii Seminar kommt dazu die Proportionalität gerader Linien und die Ähnlichkeit der
Figuren, ferner Stereometrie, Trigonometrie und Konstruktion algebraischer Ausdrücke.
Die geometrischen Lehrsätze werden auf allen Stufen zur Lösung von Konstruktions-
und Berechnungsaufgaben angewandt, stets unter Berücksichtigung des praktischen Lebens
und der Wissenschaft.
2. Naturkunde. Wie .schon früher bemerkt, will der natur-
A\is.senschaftliche Unterricht keine Fachleute heranziehen, er will die
Natur verstehen lehren und für .sie begeistern. Darum liegt das
Hauptgewicht nicht auf möglichst großem Umfang der zu behandelnden
Gebiete, nicht auf endlosem Wissen von Tatsachen, sondern auf
gründlicher Durcharbeitung beschränkter aber um so \\ertvollerer
Lehrstoffe. Die Lehrpläne sprechen als Ziel auch nur von » Ein-
führen < in die verschiedenen Disziplinen.
Es ist ein anziehendes Kapitel aus der Weltgeschichte, die Flucht von der Kultur
zur Natur zu verfolgen. Sie ist immer wieder die große Lehrmeisterin geworden, sei es
im wissenschaftlichen Erkennen oder im künstlerischen Empfinden, sei es als Weckerin
oder Beherrscherin der psychischen Gefühle, sei es im Ansporn zu zielbewußtem Wollen
oder im ernsten Selbstbescheiden, ihr ohnmächtig gegenüber zu stehen. Der natur-
wissenschafdiche Unterricht hat darum mit rechtem Nachdruck auf die große Bedeutung
der Natur im Geistesleben der Völker und im Geistesdasein des einzelnen hinzuwirken,
Verständnis und Sinn für ihre Großartigkeit, Ordnung und Gesetzmäßigkeit zu wecken,
er hat zuletzt von der Schöpfung und dem Geschöpf zum Schöpfer hinzuleiten. Die
henorragendsten Naturforscher bis Mitte des vorigen Jahrhunderts erkannten Gott in der
Natur — den Großen im Reiche der Geister war sie eine Förderin der Gedanken,
eine Freundin, eine Trösterin. Es sei nur an Goethes Gedankenlyrik erinnert: „Füllest
wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz", singt er in seinem Gedicht „An den Mond"
und fährt dann fort: „Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz". Aber der natur-
19*
292 I>ie Vülksschullehreibiklung.
wissenschaftliche Unterricht läuft Gefahr, wie es die Wissenschaft von der Natur Jahr-
zehnte lang getan hat, Icalt die Tatsachen von ihr und ihre Gesetze und Ursachen zu
verzeichnen, ohne daß der glühende Lebensodem zu verspüren ist, der das All durch-
weht. Schillers Worte in dem Gedichte: „Die Götter Griechenlands"
„Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen.
Seelenlos ein P'euerball sich dreht.
Lenkte damals seinen goldnen Wagen
Helios in stiller Majestät" und
„Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem CJesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur" —
geben dem Naturgeschichtslehrer der Jetztzeit eine mahnende Anregung!
Je größer und umfangreicher sich die Naturerkenntnis gestaltet, um so demütiger
hat sich der Mensch vor der Allmacht und Größe Gottes zu bescheiden. Dazu mahnen
ihn auch die Grenzen, welche dem Naturerkennen gesetzt sind. Der große Physiologe
du Bois-Reymond hat es verkündet, daß auf viele Dinge der Natur noch lange die Antwort
lauten muß: ignoramus — daß aber bei der PVage, was Stoff, was Kraft sei, es heißt:
ignorabimus! Und doch soll der naturgeschichtliche Unterricht den Zögling mit Stolz er-
füllen, wie der Mensch sich die Naturkräfte dienstbar gemacht hat — „füllet die Erde
und machet sie euch Untertan", so steht im L Kapitel der Genesis! Der Mensch hat
sich mit Dampf und Elektrizität, durch Eisen und Dynamit Wege gebahnt und Wunder-
werke geschaffen. Die „Weltwunder der Neuzeit", welche die Technik auf Grund von
Mathematik und Naturwissenschaft hat entstehen lassen, sollen die Lebenden mit Ehrfurcht
vor Menschenkraft und Menschenweisheit erfüllen, sie sollen, wie man ausgeführt hat,
verstehen lehren, welch eine Bedeutung das Sophokleische Chorlied für die Gegenwart
hat: „Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch". — Und wieder,
Sturm und Wasser stürzen die Brücken und zerreißen die Telegraphendrähte und Eisen-
bahnschienen, auf denen nach dem Worte des Ligenieurs Max Maria von Weber, dem
Sohne des Tondichters aus der Romantik, der Menschheit eine neue Sinfonia eroica auf-
gespielt werden soll. — Jene Riesenkanonen zerstören in einem Augenblicke das Panzer-
schiff, jene schwimmende Stadt, an der tausend fleißige Hände jahrelang schufen, und
die nicht bewahrte Kraft zertrümmert blühende Menschenleben, die als Prometheus-
naturen im Hochgefühl ihres Selbst glaubten, gerade jene Kräfte zu zwingen, — die
glaubten, wie einst die Giganten den Ossa auf den Pelion türmen zu können, um den
Olymp zu erstürmen! Drum hat auch hier wieder der Unterricht zu betonen, wie es
Justinus Kerner in seinem Gedichte „Im Eisenbahnhofe" mahnend zum Ausdruck bringt:
Lahr zu, o Mensch! treib's auf die Spitze,
Vom Dampfschifl' bis zum Schiff der Luft,
Elieg' mit dem Aar, flieg' mit dem Bhtze!
Kommst weiter nicht, als bis zur Gruft!
Auch in der Naturkunde wird auf die Quellen zurückgegangen, indem Anschauung
und Versuche die Ausgangspunkte bilden, und indem dabei die Zöglinge durch Beob-
achtung und Nachdenken die Erscheinungen und Gesetze erkennen. Dazu gehört
weiter die Unterweisung im Gebrauch von Lupe und Mikroskop, sowie die planmäßig
geleitete Beobachtung in der Natur selbst dm-ch diesem Zwecke dienende Ausflüge, und
die etwa zu ermöglichenden Besichtigungen von Fabriken und Werkstätten.
Behandelt werden Naturbeschreibung (Pflanzen-, Tier- und Menschenkunde),
Physik, Chemie einschließlich Mineralogie. Zur Verfügung stehen der Präparandenanstalt
in der 3. Klasse zwei, in den anderen beiden Klassen und in den beiden unteren Seminar-
klassen je vier wöchentliche Stunden. Der Unterricht in der Pflanzenkunde behandelt in
der 3. und 2. Präparandenklasse die heimatlichen Samenj)flanzen, in der L dagegen die
Die Lehrerbildungsanstalten. 293
wichtigsten auslandischen Kultur|)tlan/.sn, die Sporenptlanzen und die Pllanzensystematik;
es werden ferner Übungen im Bestimmen von Pllanzen angestellt. Die Tierkunde be-
spricht in der Präparandenanstalt die gesamte Tierwelt. Im Seminar hat nur noch die
3. Klasse Naturbeschreibung. Hier kommen die Gestalt- und Gewebelehre und die
Lelienserscheinungen der Pflanzen und Tiere zur Sprache, außerdem noch der Bau und
das Leben des menschlichen Körpers unter Berücksichtigung der Gesundheitspflege.
Diese gibt die Grundlage für die in der Pädagogik zu behandelnde Schulgesundheits-
prtege sowie für die im Turnunterricht zu erörternden Gesundheitsregeln bezüglich
des Turnens und Schwimmens und für die Unterweisung im Samariterdienst. Eine Kr-
gäiizung der Gesundheitspflege bildet dann die in der 2. Seminarklasse bei der Chemie
besprochene Nahrungsmittellehre. Der Unterricht in der Pflanzen- und Tierkunde be-
ginnt mit der Beschreibung einzelner Wesen und führt durch Vergleichung verwandter
Formen zum Verständnis des Systems. Der Nachdruck liegt indes auf der Biologie.
Bau und Leben der Pflanze und des Tieres sollen zum Verständnis kommen; dann soll
aber auch stets die Bedeutung der Naturwesen für den Menschen und im Haushalte der
Natur zur Besprechung gelangen.
Der Unterricht in Physik setzt erst in der 2. Präparandenklasse ein. Hier sowie
in der 1 . Klasse werden die allgemeinen Eigenschaften der Körper, die Mechanik und
die Lehre vom Schall erörtert. Die 3. Seminarklasse bringt die zusammengesetzten
Eigenschaften fester, tropfbarflüssiger und gasförmiger Körper, Wärmelehre, Magnetismus
und Witterungslehre — mancher Lehi-er hat später im Auftrage des Königlichen meteoro-
logischen Listituts an seinem Orte Witterungsbecbachtungen anzustellen, welche der
meteorologischen Wissenschaft dienen. Die 2. Klasse b3spricht die Lehre vom Licht und
die Elektrizität. Chemie und Mineralogie wird nur auf dem Seminar gelehrt, und zwar
in der 3. Klasse, die Metalloide und Leichtmetalle, in der 2. die Metalle, das wich-
tigste aus der organischen Chemie und der Technologie, sowie die Nahrungsmittellehre.
Ferner kommen hier zur Behandlung die für die Industrie und Technik wichtigen
^Mineralien, ferner die für Bildung der Erdrinde hauptsächlichsten Gesteine und Boden-
arten. Ihre Ergänzung findet dann die Geologie in der Erdkunde. Der Nachdruck beim
Unterricht in der Naturlehre soll in einer auf Beobachtung der Erscheinungen begründeten
Erfassung der Naturgesetze, auf dem Verständnis ihres Zusammenhanges und der
Kenntnis ihrer Anwendung liegen. In allen Zweigen der Naturlehre ist genau einzu-
gehen auf die Bedeutung und Verwendung der Naturkörper und Naturkräfte im Haus-
halte der Natur oder im täglichen Leben, in Landwirtschaft und Gewerbe, in Technik
und Industrie, Verkehrsleben usw.
In enger Beziehung mit dem naturkundlichen steht der landwirtschaftliche Unter-
richt, der aber nur in der 3. und 2. Seminarklasse einmal wöchentlich erteilt wird.
Seine Notwendigkeit erklärt sich daraus, daß zahlreiche Lehrer Schulstellen auf dem
Lande haben. Darum beschränkt er sich auf Obst- und Gartenbau, — aber auch Unter-
richt in Seiden- und Bienenzucht wird aus gleichem Grunde erteilt. Es liegt aber auch
der Zweck vor, das zum L'nterricht an ländlichen Fortbildungsschulen nötige Verständnis
der ländhchen Interessen zu erzielen. Seine Vorbereitung findet der landwirtschaftliche
L'nterricht, indem die Naturbeschreibung in der Pflanzenkunde an den entsprechenden Stellen
die Obstbäume und die Gartenpflanzen sowie die den Ackerboden bildenden Gesteinsarten
vorwiegend behandelt. Die Unterweisung is' im Winter theoretisch, im Sommer
vorwiegend praktisch.
3. Erdkunde. Die Erdkunde trägt sehr stark den Charakter
einer Naturwissenschaft, seitdem man gelernt hat, die Bedingungen
der Erde auf den Gebieten der Mathematik. Astronomie, Geologie,
Physik und der Meteorologie zu finden. So wird denn die
2<-)4 iJie Volksschullehrerbildung.
Geographie im wesentlichen als ein Teil des großen Feldes der
Naturwissenschaften angesehen. Indes noch andere Bedingungen
sind in ihr maßgebend: Geschichte, Staats- und Volkswirtschaft,
Ethnologie, Volkskunde. Sie zeigt sich damit als eine Disziplin,
welche an viele andere Fächer grenzt, aber für diese auch einen
Sammelpunkt schafft.
Wie in der Geschichte, so fordei^n die Lehrpläne in der Erdkunde als höchstes
Ziel die Kenntnis des Vaterlandes, und zwar nach Natur, politischer Gliederung,
materieller Kultur und nach den Verkehrsbeziehungen zum Auslande. Diese Bestimmung
ist um so freudiger zu begrüßen, da die Schulen im 18. und noch weit im 19. Jahr-
hundert ihre Stärke in der Besprechung der außerdeutschen Länder suchten, und da die
Zeit noch gar nicht so fern ist, daß mancher Schüler in Attika und Latium weit besser
Bescheid wußte, als im eigenen Vaterland. Es sollen aber auch die Grundlehren der
mathematischen und das hauptsächlichste aus der allgemeinen physischen Erdkunde und
der Handelsgeographie gegeben werden. Diese Anordnungen bedeuten eine erfreuliche
Reaktion gegen den übertriebenen geologischen Betrieb der Erdkunde, wie er sich in
den letzten anderthalb Jahrzehnten über Gebühr breit gemacht hatte. Jeder Funke
politischer oder Verkehrsgeographie war von den Fanatikern der erdkundlichen Methodik
verbannt. Jedoch ist die Erdkunde ein eminent praktisches Fach. Der angehende
Staatsbürger muß über die Gliederung des Vaterlandes, die Kultur, die Lage der (Irt-
schaften, die Verkehrswege vertraut sein — und in interessanter Weise ist neuerdings
gezeigt worden, wie das Kursbuch erfolgreich in den Dienst der Geographie tritt. Der
angehende Lehrer, der das Volk über die Weltstellung Deutschlands und die ihm
dadurch erwachsenden Aufgaben und Pflichten aufklären soll, muß gerade hinreichend
in politischer, Kultur- und Verkehrsgeographie gefördert sein. Deshalb ist auch bei der
Handelsgeographie Deutschlands Anteil am Welthandel und Weltverkehr zu berücksich-
tigen. Hierbei findet sich übrigens, wie schon bei Besprechung der Geschichte und der
Mathematik erwähnt, wieder Anlaß, volkswirtschaftliche Belehrungen zu geben, so über Ein-
und Ausfuhr, Produktion und Konsumtion, Rohstoff und fertige Ware, Austausch der
Güter, Umlaufsmittel des Verkehrs und dergleichen.
Für die Erdkunde sind in den drei Klassen der Präparandenanstalt je zwei, in
der 3. Seminarklasse drei, in der 2. Seminarklasse zwei wöchentliche Stunden angesetzt.
Die Präparandenanstalt hat die Kenntnis der erdkundlichen Gegenstände zu vermitteln
und den unentbehrlichen Gedächtnisstofl' zu sichern. Dies bedeutet die gleichen \'or-
teile für den Unterricht im Seminar wie bei der Geschichte. So gibt die 3. Klasse der
Präparandenanstalt das allgemeinste aus der physischen Geographie des Erdkörpers und
das Verständnis des Globus und der Karte. Ferner wird die Heimatsprovinz sowie die
physische und politische Erdkunde Deutschlands besprochen. Die beiden andern Klassen
erledigen die physische und pohtische Erdkunde der außerdeutschen Länder, wie der
außereuropäischen Erdteile mit Einschluß der deutschen Kolonien. Das Seminar widmet
bei wiederholender Durchnahme des Stoffes seine Kraft der vergleichenden Betrachtung
der inneren Beziehungen und ursächlichen Zusammenhänge von Lage, Klima, Boden-
gestalt, Bodenkultur, Menschenleben u. a. Die Ethnologie, deren Bedeutung für
Religion, Geschichte, Kultur, Staats- und Volkswirtschaft man immer mehr erkennt,
kommt dabei auch zu einigem Recht. Die 3. Seminarklasse behandelt aus der
physischen Geographie die Erde als Ganzes, die Erdgeschichte, die Wechselbeziehungen
zwischen Land und Meer, die Wasser- und die Lufthülle, sowie (im Überblick) die
Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt. In der Länderkunde werden die außereuropäischen
und außerdeutschen Länder besprochen. Der 2. Klasse verbleiben Deutschland, die
Handelsgeographie, der Weltverkehr, die mathematische Erdkunde. Hier erfolgt auch
I
Die Lelirerbildungsaiistaltcn. 295
eine kurze Eiiifiilirung in die Kartographie. Als wichtigstes Hilfsmittel zur Einprägung
des Kartenbildes wird auf allen Stufen seitens der Zöglinge das Entwerfen von Karten-
skizzen an der Wandtafel und im Hefte fleißig geübt.
'A. Die künstlerischen Fächer.
1. Kunstunterricht. Schreiben, Zeichnen, Turnen und Musik pflegt man
gewöhnlich als technische Fächer zu bezeichnen. Darin liegt eine arge Unterschätzung,
zu der die Behandlung nur von der rein technischen Seite, sowie die geringe Einschätzung
gegenüber den wissenschaftlichen Fächern, mit einem Wort, ihre Stellung im Gesamt-
unterricht wesentlich beigetragen hat. Musik und Gymnastik — sie sollen übrigens
Beratungsgegenstände des kommenden 3. deutschen Kunsterziehungstages bilden — waren
bei den Griechen künstlerisch hoch eingeschätzt, während die zeichnenden Künste seit
Albrecht Dürers Tagen eine echt deutsche Kunst gewesen sind, und die Gegenwart wieder
die Schwarzweißkunst, auch das Schreiben gehört hierzu, besonders hoch zu schätzen weiß.
Bisher hat man die technische Seite der künstlerischen Fächer zu sehr betont und ver-
gessen, daß jene doch dem Gebiete der Kunst angehören. Mit gleichem Rechte könnte
man Sprachlehre, Geschichte, Natur- und Erdkunde als technische Fächer bezeichnen, nur
weil zu ihrem erfolgreichen Betrieb eine gewisse geistige Handfertigkeit notwendig ist,
nämlich die Kenntnis der Elemente. Trotzdem sind sie indes als wissenschaftliche Fächer
anerkannt. Ebenso müssen Schreiben, Zeichnen, Musik und Turnen als künstlerische
Fächer eingeschätzt werden, wenn auch die Aneignung der technischen Fertigkeiten hier
einen breiten Raum beansprucht, und obgleich bisher die künstlerische Seite oft nur sparsam
zum Ausdruck kam und wiewohl auch andere Gründe sehr für Pflege einzelner Fächer
maßgebend sind, z. B. für Musik die Notwendigkeit, Kirchenorganisten zu haben, oder
für das Turnen, den Körper und den Willen zu stählen.
Die bildenden Künste haben, von dem Zeichnen abgesehen, bisher noch keine
Stätte im Seminarunterricht. Wohl sollen die Besprechungen in der Geschichte auf die
kulturgeschichtlichen Verhältnisse Rücksicht nehmen, und darin ist die Kunst eingeschlossen,
ferner sind im Deutschen Aufsätze über Kunst zu lesen. Doch wird ein besonderer
Kunstunterricht empfohlen, bei dem ganz wie in der Literatur die Betrachtung im
\'ordergrund steht, bei dem aber auch die Kunstgeschichte durch Aufbau auf der Kunst-
betrachtung zu einem gewissen Recht kommt und sich als Teil der allgemeinen Geistes-
geschichte darstellt. Die Hauptsache ist, Kunstverständnis durch Einführung in die
Probleme der Kunst auf Grund ihrer Werke zu wecken und das Sehen zu lehren, wie es
jetzt schon der Zeichenunterricht tut. Ganz wie in Geschichte und Erdkunde müßte der
Nachdruck auf dem deutschen Vaterland liegen; das schließt natürlich nicht aus, an
geeigneter Stelle die außerdeutsche Kunst heranzuziehen, indes ist jene Ansicht, als ob
Griechenland und Italien die allein maßgebenden Vorbilder der Kunst seien, zurück-
zuweisen. Die Frage, ob sich eine Unterweisung in der bildenden Kunst für den
\"olksschullehrer geziemt, ist mit den gleichen Gründen zu widerlegen, wie die Angrifle
gegen seine Ausbildung in den wissenschaftlichen Fächern. Zudem ist die Kunst ein
Lebensnerv eines jeden einzelnen und eines jeden Volkes, sie ist eine Macht gegenüber
der weite Kreise beherrschenden materiellen Gesinnung. Der Lehrer braucht sie zu seinem
eigenen Wohle, zu seiner Charakterbildung — er braucht sie als Erzieher des Volkes!
Mehr als eine Wochenstunde würde sich vorläufig nicht erübrigen lassen; aber sie
kann, da der Zeichenunterricht helfend eintritt, bei geschickter Ausnutzung immerhin
genügen. In der 3. Klasse des Seminars wären Malerei und die zeichnenden Künste, in
der 2. Klasse Bildhauerei und Baukunst sowie das große Gebiet des Kunstgewerbes zu
besprechen. Das letzte Seminarjahr hätte die geschichtliche Zusammenfassung unter
ergänzender Einführung kunstgeschichtlich wichtiger, aber noch nicht betrachteter Denk-
mäler zu geben. Ferner müßten Übungen im selbständigen Betrachten von Kunstwerken
296 rjie Volksschullehieibildung.
stattfinden, sowie die methodische Unterweisung zur Behandlung bei Kindern. Den
Kunstunterricht mit Eintritt in die 1. Klasse, ebenso wie Mathematik, Natur- und Erd-
kunde abzuschließen und nur die Methodik und Übung im selbständigen Betrachten auf-
zusparen, ist nicht gut möglich, weil die kunstgeschichtliche Zusammenfassung auf die im
letzten Seminarjahr erst zur Behandlung kommende allgemeine Geschichte und Literatur
des 19. Jahrhunderts Rücksicht nehmen muß.
2. Schreiben. Das Ziel des Schreibens ist eine deutliche, sorgfältige und
geläufige Handschrift, aber auch die Fähigkeit der sauberen und ordentlichen Anfertigung
schnell geschriebener Schriftsätze. Die Ergebnisse des Schreibunterrichts dürfen aber
nicht bloß in ihm selbst, sondern sollen in allen Fächern sich geltend machen, insbesondere
auch in den für den eigenen Gebrauch angefertigten Entwürfen und Ausarbeitungen der
Zöglinge. Für die 3. und 2. Klasse der Präparandenanstalt sind je zwei, für die 1 . Klasse
je eine Stunde wöchentlich angesetzt. In der 3. Klasse wird deutsche und lateinische
Schrift in genetischer Folge der Buchstabenformen geübt, ebenso das Takt- und Ziflern-
schreiben. Die 2. Klasse treibt Übungen im Schönschreiben und in zusammenhängender
deutscher und lateinischer Schrift, während die 1. Klasse auf Übungen im schnellen und
doch guten Schreiben großen Wert legt. Im Seminar wird kein Schreibunterricht erteilt.
Es soll aber streng darauf geachtet werden, daß sich in allen Schriftsätzen eine gute,
deutliche und sorgfältige Handschrift findet. Zudem haben die Seminaristen der 3. Klasse
monatlich, die der 2. und 1. Klasse vierteljährlich eine Probeschrift zu fertigen. Viel
hat man darüber gestritten, ob die deutschen oder die lateinischen Schriftzeichen den
Vorzug verdienen — der Hauptnachdruck muß vielmehr auf einer Schrift liegen, die trotz-
der gebotenen Eile die künstlerische Gestaltung nicht verleugnet.
3. Zeichnen. Ein großer Schade in der künstlerischen Ausbildung der gegen-
wärtigen Generation ist es, daß sie das Sehen der Formen sowie das Schätzen der Farben
nicht gelernt hat. Die Werke der neuesten Kunst werden oft falsch beurteilt und ver-
urteilt, nur weil der Beschauer keinen Blick für die Natur besitzt, weil ihm das Verständnis
für leuchtende Farben fehlt. Darum bezeichnen die Lehrpläne als Ziel des Zeichen-
unterrichts das Sehen von Formen und Farben sowie das Darstellen einfacher Gegenstände
nach der Natur. Es gliedert sich in Freihand- und Linearzeichnen. In ersterem soll der
Zögling Größenverhältnisse, perspektivische und Beleuchtungserscheinungen frei, ohne-
Vorlageblatt, ohne Messen am Modell und ohne Benutzung mechanischer Hilfsmittel, wie
Zirkel, Lineal u. s. f. auffassen und auf Grimd selbständiger Beobachtung, auch in den
natürlichen Farben wiedergeben. Hierbei werden auch Skizzierübungen veranstaltet, die
bezwecken, zum Erfassen der charakteristischen Eigenschaften eines Gegenstandes und zur
lebendigen Wiedergabe zu führen. Um das wesentliche einer Erscheinung klar zu machen
und einzuprägen wird das Zeichnen aus dem Gedächtnis gepflegt. Das Linearzeichen
beabsichtigt dagegen ohne \orlageblätter mit Hilfe von Lineal und Zirkel das konstruktive
Darstellen zu üben.
Das Freihandzeichnen sieht im \'ordergrund. In der Präparandenanstalt — jede
Klasse erhält zwei Stunden wöchentlich — werden zunächst ebene Gebilde und flache
Formen aus dem Anschauungskreise des Schülers gezeichnet, besonders Naturformen.
Dann kommt in der 2. und 1. Klasse das Darstellen einfacher Gebrauchsgegenstände,
und von Naturformen (Blätter, Früchte, Muscheln u. a.). Das Zeichnen flacher Formen,
wie es bereits in der 3. Klasse geschah, wird fortgesetzt, auch aus dem Gedächtnis.
Dazu kommen Übungen im Treflen von P'arben nach Naturblättern, hauptsächlich Herbst-
laub, Schmetterlingen, Fliesen, Stoßen usw. Ferner finden Skizzierübungen statt. Im
Seminar — die 3. und 2. Klasse hat je zwei, die 1. Klasse nur eine Stimde — werden
in der 3. Klasse einfache Natur- und Kunstformen, so Geräte, Gefäße, plastische Ornamente,
Architekturteile usw. dargestellt, Geräte, Gefäße, natürliche Blumen, Zweige, Früchte,
Tiere, besonders Vögel und Schmetterlinge, u. a. mit Wasserfarben gemalt. Einfache
Gebrauchsgegenstände sind auch an der Schultafel aus dem Gedächtnis zu zeichnen. In
Die Lehreil)ildung.sunstalten. 297
der 2. und 1. Klasse weiden schwierige Natur- und Kunstformen mit TJclu und Schatten
wiedergegeben, freie perspekti\Hsche Übungen im Darstellen von Teilen des Zeichensaals,
des Scluilgebäudes usw. veranstaltet, das Malen mit \Vasserfarben und die Skizzieriibungen
fortgesetzt.
Dem Linearzeichnen soll von den angesetzten Zeichenstunden in der Kegel alle
14 Tage im Winter eine Stunde gewidmet werden; der Nachdruck liegt auf dem Lösen
praktischer Aufgaben, d. h. auf dem geometrischen Zeichnen einfacher Modelle, Geräte,
Gebäudeteile usw. Es setzt in der 1 . Präparandenklasse ein, wo einfache Köi-per nach
Modellen, Geräten, Gebäudeteilen usw. zur Bearbeitung gelangen. In der 3. Seminar-
klasse geschieht das gleiche aber nach verschiedenen Ansichten mit Schnitten und Ab-
wicklungen, während in der 2. und 1. Klasse noch Durchdringungen und sofern die
Zeit reicht, die Elemente der Schattenkonstruktion und Perspektive zur Erläuterung
kommen.
Indem der Zeichenunterricht keine Nachahmungen sondern nur Originale benutzt,
geht er ebenso wie die wissenschaftlichen Fächer auf die Quellen zurück. Die Schüler
sollen dadurch einen Sinn für die Bedeutung des jNIaterials bei den Gebrauchs- und
Kunstgegenständen und seinen Einfluß auf ihre Gestaltung erhalten. So finden denn
Gebilde der Schnitz- und Schmiedekunst — jener echt deutschen Künste — Verwendung,
dann aber auch Erzeugnisse der Ton- und Glasindustrie mit ihren prachtvollen, gerade
für das Malen geeigneten Glasuren. Holz- und Gipsmodelle dagegen — Ornameutleichen
wurden letztere treflend genannt — , bleiben von der Benutzung ausgeschlossen. Dann
sind aber außer dem Schulgebäude und dessen Sammlungen (hauptsächlich Tiere, Schädel,
Pflanzen usw.), nahegelegene Bau- und Kunstdenkmäler, Museen usw. dienstbar zu machen.
Die Zeichnungen werden mit Bleistift, Kohle und Kreide sowie mit dem Pinsel aus-
geführt. Bei \Viedergabe kleinerer Formen (z. B. Knospen, \"ogeIfüße) kommt auch
noch die Feder in Betracht. Die Handhabung des im Leben zumeist gebrauchten Blei-
stifts ist in erster Linie zu fördern.
Die Benutzung des Zeichenunterrichts zur Anfertigung von Anschauungsbildern für
andere Unterrichtsfächer ist unzulässig. Das schließt nicht aus, daß dies bei Bedarf
außerhalb der Zeichenstunde geschieht; der junge Lehrer wird dies später im Amte oft
tun müssen. Dagegen wird auf das Zeichnen in andern Fächern viel Wert gelegt, in
der Mathematik sind die nötigen Zeichnungen stets genau und sauber auszuführen, in
der Naturkunde ist es fleißig anzuwenden, ebenso in der Erdkunde beim Entwerfen von
Kartenskizzen.
4. Turnen. Ein altes, weit bekanntes Wort besagt, ein gesunder Geist wohne
nur in einem gesunden Leibe, tierade für den geistig Arbeitenden ist die Pflege des
Körjiers, besonders in den Jahren, wo er sich ausbildet, dringend notwendig. Darum
fordern die Lehrpläne auch das Turnen wegen der körperlichen Ausbildung der Zöglinge
und ihrer Kräftigung. Es soll aber weiter Mut und Ausdauer, Beherrschung des Willens
und Gewöhnung an Ordnung, Pünktlichkeit und Unterordnung unter die Zwecke des
(lanzen erzeugen. Aber der Betrieb des Turnens kann leicht einen harten, rauhen
Gharakter annehmen. Deshalb hatten schon die Griechen die Gymnastik in den Dienst
der Kunst gestellt und in schöner Harmonie ihr Ideal gesehen, und nicht minder fängt
die Gegenwart an, dies zu tun. Deshalb fordern auch die Lehrpläne bei allem Streben
nach größeren Leistungen gerade Genauigkeit und Schönheit bei Ausführung der ein-
fachen Übungen. Diese Harmonie und Schönheit kommt besonders in den Tumspielen
zur Geltung. Freudig darf es begrüßt werden, daß sie neben den Kraftleistungen des
Gerätturnens seit einigen Jahren eine wesentlich gesteigerte Pflege gefunden haben; auch
die Lehrpläne bezeichnen sie als notwendigen Bestandteil des Turnens und behalten
ihnen eine Stunde wöchentlich vor. Der Wunsch, ihren Betrieb so anregend zu ge-
stalten, daß die Schüler ihre Erholung in den freien Stunden darin suchen, hat sich
wohl ausnahmslos erfüllt. Namentlich finden die Ballspiele, wie Treib- und Fußball und
298 Die Volksschullehrerbildung.
das Xetzballspiel (lawn tennis) den Vorzug. Im Winter tritt an Stelle der Turnspiele
möglichst der Eislauf. Die volkstümlichen Übungen des Laufens, Springens und Werfens
können auch in Form von Wettspielen getrieben werden. Ebenso erfährt der Reigen
seine Pflege, wobei sich in herv'orragender Weise die harmonische Verbindung von
Turnen und Musik zeigt. Dazu treten dann die Tum- und Wanderfahrten! Freude an
der Natur zu wecken, Anstrengungen zu ertragen lehren, ist ihre Aufgabe. Unter frohem
Liederklang findet der Geist Erholung von anstrengender Arbeit. Wenn dann noch die
empfohlenen Schätzungen von Entfernungen unternommen werden, so ist das eine nicht
gering zu veranschlagende Pflege des an den Blick in die Weite nicht gewöhnten Auges,
das sonst immer nur im Studierzimmer über den Büchern weilend mehr angestrengt
wird als dieser „edlen Himmelsgabe", wie sie der Dichter nennt, frommt.
Für das Geräteturnen sind in jeder Klasse außer der Spielsiunde noch zwei
."stunden wöchentlich festgesetzt; in der L Serainarklasse ist allerdings eine Wochen-
stunde für die Methodik bestimmt. Die 3. Präparandenklasse wiederholt die Stoße der
Volksschule, in der 2. und 1. Klasse werden die Stoffe unter Anwendung der für die
\'olksschule nicht vorgesehenen Geräte, wie Bock, Sturmlauf, wagerechter Leiter ange-
messen erweitert. Im Seminar treten Springkasten, Pferd und Schaukelringe hinzu, hier
sind auch gerade die volkstümlichen Übungen zu pflegen.
Wo sich irgend die Möglichkeit bietet, wird im Sommer Schwimmunterricht er-
teilt. Alle Zöglinge sollen im Verlaufe der Seminarzeit im Schwimmen und in den not-
wendigen Wassersprüngen tüchtig werden.
5. Musik. Man hat gesagt, daß es drei Sprachen gebe, die in aller Welt jeder-
mann verstände, zuerst der Gedanke der christlichen Erlösung, weiter die Liebe, endlich
die Musik. Gerade das deutsche Volk hat die Musik zu pflegen gewußt. Martin Luther,
der gewissermaßen den Typus des deutschen Familienlebens schuf, erklärte „Frau
Musikam" für eine „schöne, herrliche Gabe Gottes und nahe der Theologie". Und wenn
Ludwig Richter, einer der deutschesten jNIeister, uns das köstliche Bild „Hausmusik" be-
schert hat, so zeigt er, wie draußen der Sturm heult und der Regen auf die spitzen
Giebeldächer darniedergeht, während drinnen der Vater am einfachen Tafelklavier sitzt,
und Frau und Kinder in den Gesang einstimmen. Oder er führt uns in seinem Bilde
„Ehre sei Gott in der Höhe" auf den altersgrauen Turm der gewuchtigen Stadtkirche:
Der Stadtmusikus und seine Gesellen blasen auf ihren Trompeten und Posaunen vereint
mit den Stimmen der jubelnden Kinder das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich
her" hinein in die heilige Weihenacht 1
Es ist das große Verdienst des Seminars, daß seit langem schon die Musik im
deutschen Lehrerhause heimisch ist, daß der Volksschullehrer wesentlich mitarbeitet, die
Liebe zu ihr im deutschen Volke wach zu halten, keine Kunst hat in solchem Umfange
bisher ihre Pflege gefunden als gerade sie.
Die Lehrpläne heben allerdings scharf den praktischen Grund für ihren Betrieb
hervor, d. i. die Befähigung, Gesangunterricht zu erteilen und ein Kirchenamt zu ver-
walten. Aber die ganze Handhabung ist seit Jahren ein Zeichen dafür, wie die ideale
und erzieherische Seite dieser Kunst erfolgreich und verständnisvoll eine Stätte ge-
funden hat.
Keinem Zweifel unterliegt es, daß die Musik einen sehr breiten Raum auf den
Lehrerbildungsanstalten einnimmt. In der Präparandenanstalt hat die 3. Klasse vier, die
2. Klasse fünf, die ^. Klasse sechs, im Seminar in jeder Klasse je fünf Unterrichts-
stunden; dazu kommt eine Reihe außer dieser Zeit liegender Übungsstunden. Der große
Umfang ist durch die Tatsache bedingt, daß mit den meisten Lehrerstellen auf dem
Lande und mit vielen in kleineren oder selbst mittleren Städten ein Kirchenamt, d. h.
das Kantor- und Organistenamt verbunden ist. Schon oft und nicht immer ohne Grund
ergeht die P'orderung, bei den immer mehr gesteigerten Anforderungen der wissenschaft-
lichen Fächer die Musik einzuschränken. Es ist vorgeschlagen worden, besondere ein-
I
Die Lelirerl)il(lungsanstalten. 299
jährige Kurse zur Orgaiiistenausbildung zu veranstalten, doch l^lcibt es zweifelhaft, ob
sich genug junge Lehrer dafür finden werden. Weiter hat man zur Erwägung gestellt,
ebenso wie es seit Jahrzehnten mit dem Diakonissenamt in der Kirche geschehen ist, das
Diakonenamt auszubilden und in den Gemeinden durchzuführen, ihm aber den
Organisten- und Kantordienst anzugliedern. Dieser Gedanke scheint noch am meisten
die Möglichkeit zu bieten, die Seminare von der Pflicht der Organistenausbildung zu befreien.
Jedoch scheitert die Durchführung vorläufig an der Unfähigkeit der vielen Gemeinden,
die nötigen Gelder für einen Diakonen aufzubringen. Darum ist die Unterrichtsverwal-
tung bis auf weiteres noch gezwungen, der Musik auf den Lehrerbildungsanstalten einen
breiten Raum zu gewähren, obwohl sie sich schwerlich der Erkenntnis verschließt, daß ihr im
Verhältnis zum Gesamtunterricht doch sehr viel Zeit gewidmet wird. Allerdings können
die musikalisch zu gering Veranlagten vom Orgelspiel, im Seminar außerdem noch von
der Harmonielehre befreit werden; auch nehmen hier nur noch diejenigen am Klavier-
spiel teil, die in den anderen Unterrichtsfächern hinreichende Leistungen aufweisen. Auch
darf nicht vergessen werden, daß die Musik von den Zöglingen zumeist recht gern be-
trieben wird, namentlich in den Freistunden, wo sich bald Trios, Quartette usw. zu-
sammenfinden. Der Gesang- und Violinunterricht, von dem es keine Dispensation gibt,
ist für den künftigen Volksschullehrer unerläßlich, einmal weil er den Schulgesangsunter-
richt erteilen, sodann weil er das ^'olk zur Ffl;ge des Gesanges anregen soll. Eine
wesentliche Erleichterung würde für das Seminar die Aufhebung der Verpflichtung vom
Orgelspiel bedeuten. Daß es aber für freiwillige Teilnahme beibehalten bliebe, wäre nur
zu wünschen.
Der Unterricht im Gesang und in der Theorie erfolgt nach den vorhandenen
Klassen; für Violin-, Klavier- und Orgelspiel sind je nach den Fertigkeiten des einzelnen
Abteilungen zu bilden. Der Gesang- und Violinunterricht hat den Zweck, die Melodien
der bekanntesten Kirchen- und Volkslieder einzuüben. Im vSeminar wird nach Eintritt
<les Stimmwechsels großer Wert auf Stimmbildung, Ausgleichung der Stimmregister und
auf Treffsicherheit gelegt, Vokalisen und Solfeggien kommen zur Übung. Außer dem
Einzelgesang gelangt in der Präparandenanstalt wie im Seminar in einer für alle Klassen
gemeinsamen Gesangsstunde der Chorgesang zu seinem Rechte: mehrstimmige Choräle,
liturgische Chöre, Psalmen, Motetten, welthche Lieder (besonders Volks- und Vaterlands-
liederj wechseln einander ab. Beim Geigenspiel tragen die fortgeschritteneren Schüler
im Seminar auch Sonaten von Haydn, Mozart u. a. vor. Bei diesen ist auch auf Bildung
von Trios und eines kleinen Streichorchesters sowie auf die wirkimgsvolle Verbindung
von Violinchor und Orgel Bedacht zu nehmen.
Der Klavierunterricht bildet hauptsächlich die Vorübung für das Orgelspiel;
darum ist er nur in der Präparandenanstalt für alle Zöglinge bindend. Das Orgelspiel
beginnt in der L Präparandenklasse, im Seminar schreitet es für die Begabteren bis zu
den Präludien und den Fugen Sebastian Bachs vor. Die Theorie der Musik nimmt ihren
Anfang in der 2. Präparandenklasse in besonderer Stunde, sie endet mit dem Harmonisieren
des Chorals und des Volksliedes; sie lehrt auch die Erfindung von Choralvor- und
Zwischenspielen. Auch Bau und Pflege der Orgel wird gelehrt, ebenso einiges zur
Kenntnis der wichtigsten Formen der Instrumentalmusik.
Der jetzt in der Literatur zur rechten Geltung gekommene Gedanke der Be-
trachtung, der bei einem Unterricht in den bildenden Künsten gleichfalls die Hauptsache
sein müßte, ist in der Musik schon längst anerkannt worden. Nur hierdurch vermag
naturgemäß Verständnis der gespielten Werke erzeugt zu werden, und ausgeschlossen
bleibt, sie ohne geistige Durcharbeitung nur annähernd richtig zum Vortrag zu bringen.
Ebenso wie in Literatur und bildender Kunst müßte sich auf der Musikbetrachtung die
Musikgeschichte aufbauen, aber nicht als etwas Isoliertes, sondern unter Wahrung der
Zusammenhänge mit der allgemeinen geschichtlichen und kulturellen Entwicklung als
Teil der Geistesgeschichte. W'enn die Lehrpläne für die 1. Seminarklasse im Gesang
300 Die Volksschullehrerbildung.
einiges aus der Geschichte der Musik, besonders des Chorals oder Volksliedes vor-
schreiben, so kann dies sehr wohl in der angedeuteten Form geschehen; nicht auf eine
Fülle von Namen kommt es an, sondern auf die Hauptströmungen und ihr Verhältnis zur
allgemeinen Kultur.
4. Die Schulung für den Untericht.
Die Allgemeinbildung ist die Voraussetzung der Schulung fin-
den Unterricht. Alle ünterrichtsgebiete des Seminars wollen außer
dem Stoff auch die Befähigung zum Unterrichten in der Volksschule
geben; die Lehrpläne betonen dies ausdrücklich. Aber Stoff allein
genügt noch nicht, wie früher viele glaubten, das Wissen vollendet
sich erst durch die Methodik zur eigentlichen Fachausbildung, die
eine theoretische und eine praktische ist. Der künftige Lehrer muß
gelernt haben, wie er das ihm gebotene Material handhaben und im
Unterrichte verarbeiten soll.
Über den Charakter der Schulung für den Unterricht ist viel
gestritten worden, sowohl über ihren Umfang, ihre Handhabung und
ihre Ziele. Darüber kann kein Zweifel bestehen, als fertige Lehrer
können die Seminaristen nicht entlassen werden. Darum ist eine
hinreichende Grundlage und die nötige Anregung zur Weiterarbeit
zu geben. Die Anforderungen an die praktische Ausbildung auf
dem Seminar, werden nicht selten zu hoch gespannt, indem man ver-
gißt, daß sie bei der Kürze der für die praktische Ausbildung ge-
widmeten Zeit, bei der Fülle des zu verarbeitenden Stoffes schließlich
nur eine begrenzte sein kann, zumal die praktische Erfahrung noch
eine geringe ist. Durch Abschluß der naturwissenschaftlichen Fächer
ist zwar mehr Zeit auch für die praktische Ausbildung gewonnen,
aber eine jahrelange Erfahrung kann das nicht ersetzen. Besser stünde
es schon, wenn, wie gefordert, auf dem Seminar noch ein weiteres
Jahr für den Unterricht an der Übungsschule hinzugelegt würde. Es
fragt sich allerdings, ob nicht eine weit häufigere Revision durch den
SchuHnspektor in der Absicht, die Unterrichtsfähigkeit zu bilden,
empfehlenswerter wäre. Diese in Zwischenräumen von höchstens vier
Wochen zu wiederholenden Revisionen müßten aber nicht den Charakter
einer Kontrolle, sondern einer Förderung der Fachausbildung tragen
und nach Ablegung der 2. Lehrerprüfung auihören. Jedenfalls sollte
der Seminarist beim Abgang soweit fähig sein, sich im Amte be-
züglich des Unterrichtens selbständig theoretisch und praktisch zu
fördern. Vor allem muß er geschult sein, auf seine Fehler zu achten
und seine Leistungen wenigstens annähernd zu beurteilen. Gerade
auf diese kritische Seite hat das Seminar größten Nachdruck zu legen.
I
I
Die Lehrerbildungsanstalten. 301
da namentlich dem Landlehrer von den gegenwärtig etwa nur einmal
im Jahre stattfindenden Revisionen abgesehen, fast jede Kontrolle fehlt.
Von der Pädagogik war bereits bei den wissenschaftlichen Fächern
die Rede, und den Charakter einer Wissenschaft, nicht einer Fertigkeit,
trägt sie in vollstem Maiie, wie man jetzt richtig erkannt hat. Es er-
übrigt daher hier nur noch auf die Methodik einzugehen. Für sie ist in
Religion, Deutsch, Mathematik, Naturkunde, Erdkunde und Turnen je
eine Stunde ^\•öchentlich festgesetzt. Die Methodik der Geschichte, des
Zeichnens und der Musik wird in den der Allgemeinbildung ge-
widmeten Fächern erledigt, während die Methodik des Schreibens bei
der des Zeichnens oder des Deutschen zur F^rörterung gelangt. Diese
methodischen Besprechungen sind an geeigneter Stelle mit der Wieder-
holung des Schullehrstoffes, namentlich des gedächtnismäßigen
zu verbinden. Sie erstrecken sich sowohl auf die Geschichte des be-
treffenden Faches als auf die gegenwärtige Handhabung. Die
Geschichte wird oft für überflüssig erklärt, sie ist es auch, wenn sie
weiter nichts als Buchtitel und Namen aufzählt. Sie "bietet indes eine
vorzügliche Gelegenheit den allgemeinen kritischen Sinn der angehenden
Lehrer und seine Anwendung auf die Methodik zu schärfen. Die
Geschichte der einzelnen Fächer gibt in ihren methodischen Er-
scheinungen reiche Gelegenheit, aus den vielen Versuchen die
rechten Gedanken herauszusuchen, die aber von seiten der betreffenden
Methodiker nur eine unvollkommene Ausführung erhalten haben;
denn kaum ein pädagogisch-methodischer Gedanke ist vollkommen
unrichtig gewesen, nur durch die Zeit- und Geistesverhältnisse gelang
es nicht, ihm rechten Ausdruck zu verleihen und ihn in der rechten
Bedeutung zu erkennen und ihn demgemäß in die Praxis umzusetzen.
Dann aber lehrt ein rechter Betrieb der Geschichte der Methodik den
bisweilen mit wenig vornehmer Reklame angepriesenen methodischen
»Entdeckungen« der Gegenwart ein wenig mißtrauisch gegenüber zu
treten. Gerade auf diesem Gebiete gilt, daß es nichts Neues unter
der Sonne gibt, — und dal^ die als unfehlbar« gepriesenen
Neuerungen nur zu bald spurlos verschwanden.
Die einzelnen Zweige des Unterrichts werden nach der
methodischen Seite durchgesprochen, stets aber unter Vorführung
der wichtigsten Hilfsmittel, wie Anschauungsbilder, Lese- und Rechen-
maschinen, Karten, Globen, Apparate, Turngeräte u. dgi. Im
Deutschen erhält außerdem der Seminarist eine Übersicht guter Volks-
und Jugendschriften, von denen er mittels der Privatlektüre ge-
nauere Kenntnis nimmt. In der Naturkunde werden die Zöglinge
302 L)ie Vülksschullehierbildung.
noch besonders im Anstellen \'on Beobachtungen und von Schul-
versuchen, auch in der Selbstanfertigung einfacher Apparate planmäßig
geübt. Die Anleitung zum Experimentieren ist umso wichtiger, als
es nicht leicht zu lernen und nur nach gehöriger Anleitung mit
Sicherheit auszuführen ist. Der landwirtschaftliche Unterricht soll
zudem Anweisung zur Anlage eines Schulgartens geben. Im Turnen
erhalten außer der Geschichte und der Handhabung dieses Faches
die Seminaristen Belehrungen über die beim Turnen, Spielen und
Schwimmen zu beobachtenden Gesundheits- und Vorsichtsmaßregeln
sowie über die erste Hilfe bei Unglücksfällen. Zur allgemeinen
methodischen Ausbildung gehört aber auch der Gebrauch der Kreide
an der Wandtafel; die Übung darin beginnt im Schreibunterricht der
1 . Präparandenklasse.
Es sind Bedenken darüber geäußert worden, daß die theoretische
Methodik jetzt ganz der Oberklasse überwiesen wäve; denn jetzt
müßte der Seminarist ohne die nötige methodische Unterweisung
sofort praktisch unterrichten. Dem ist entgegenzuhalten, daß bei der
früheren Behandlung der Methodik in der Mittelklasse vieles verloren
ging, weil die praktische unterrichtliche Tätigkeit und somit das rechte
Verständnis für vieles der Theoretik fehlte. Zudem werden nunmehr
in der 2. Klasse das ganze Jahr hindurch wöchentlich je vier Lektionen
gehalten, und da es gestattet ist, mehrere Seminaristen in jeder
Lektion heranzuziehen, so sind sie bei Eintritt in die 1. Klasse mit
dem wichtigsten der Methodik praktisch bekannt geworden. Außerdem
sollen sich an die Lektionen Erläuterungen über das Methodische an-
schUeßen. Als durchaus fruchtbar und gegenseitig fördernd muß es
vielmehr angesehen werden, daß jetzt in der 1. Klasse die theoretische
Methodik mit dem praktischen Unterrichten Hand in Hand geht.
Jene früher einmal in Hannover und Holstein übliche Ausbildung,
bei einem älteren Lehrer mitunter jahrelang zu unterrichten, dann erst,
oft im Alter von 30 Jahren, nicht selten mit der Familie, das Seminar
zu beziehen, hatte doch, so wenig empfehlenswert sie auch heutzutage
ist, den Vorteil, daß die theoretischen Erörterungen auf einen
günstigen, durch praktische Erfahrung gut beackerten Boden fielen.
Die praktische Ausbildung beginnt jetzt also bereits in der
2. Klasse, wo in Religion, Deutsch und Mathematik je eine Sonder-
stunde wöchentlich angesetzt ist. Aus den andern Fächern wird
nach einem genau festzustellenden Plane wöchentlich je eine Lektion
gehalten. Li der ersten Klasse unterrichtet der Seminarist mit Aus-
nahme der für die Prüfungsvorbereitung gewidmeten letzten Wochen,
Die Lelireibildungsanstalten. 303
wöchentlich vier bis sechs Stunden in der Seminarübungsschule unter
Leitung- der Seminarlehrer. Jeder Zögling soll in Religion, Deutsch,
Rechnen und mindestens noch einem andern Fache unterrichten,
dreimal wenigstens im Jahre hat ein Wechsel der Unterrichtsfächer
stattzufinden. Dieser Handhabung der praktischen Tätigkeit gegen-
über wird mit gewichtigen Gründen betont, daß ein so häufiger
Wechsel für die Kinder der Übungsschule nicht dienlich ist, und daß
dem Seminaristen weit nützlicher sei, in zwei oder drei Fächern das
ganze Jahr hindurch ohne Wechsel der Klasse tätig zu sein. Nicht
das wäre der Kernpunkt der methodischen Schulung, in möglichst
vielen Fächern auf möglichst allen Stufen sich versucht zu haben,
sondern in einem Fache auf einer Stufe heimisch zu sein. Dann
fiele es leicht, sich in andere Klassen und andere Gebiete einzuarbeiten.
Die Seminarlehrer halten für die Lehrseminaristen wöchentlich
besondere Anweisungsstunden, wobei der Stoff der kommenden
Woche und der Ausfall der bisherigen Lektionen eingehend be-
sprochen wird ; jeder Seminarist bereitet sich schriftlich für seine
Unterrichtsstunden vor. Der Ordinarius der Übungsschule — ein
Seminarlehrer, der ihre äußeren Angelegenheiten besorgt, sonst aber
in mindestens einem wissenschaftlichen Fache am Seminar unter-
richtet — , erteilt eine besondere Pädagogikstunde, in welcher die
Lehrtätigkeit der Seminaristen, deren Beobachtungen über die Eigenart
der Kinder hinsichtlich der Anlagen, des Fleißes, der Führung und
ihrer etwaigen besonderen EigentümHchkeiten sowie die durch solche
Eigenart bedingte besondere Behandlung zur Erörterung kommt.
Außerdem finden für die 1 . Klasse \A'öchentlich noch zwei Muster-
lektionen seitens der Seminarlehrer bezw. besondere Lehrproben der
Seminaristen unter Aufsicht der Fachlehrer statt.
5. Der Unterrichtsstoff des Seminars und der höheren Lehr-
anstalten.
Alan hat hervorgehoben, daß die Seminarlehrpläne an die der
höheren Lehranstalten (Gymnasien, Realgymnasien, Oberrealschulen)
Anschluß gesucht und gefunden haben. Sie mögen jetzt mit den
Lehrplänen dieser Anstalten, insbesondere dem der Gymnasien,
welche die bei weitem überwiegende Verbreitung gefunden haben,
verglichen werden. Li Religion leistet das Seminar gemäß
der Vorschriften mindestens dasselbe wie die Gymnasien, in der
Praxis dürfte jenes zumeist noch weiter gehen. Im Deutschen ist es
entschieden überlegen, da es eine weit vertieftere Sprachlehre gibt
304 l^ie Volksschullehrerbildung.
und um vieles mehr in die Literatur eindringt. Im Französischen
stehen sich Seminar und Gymnasium ungefähr gleich, wenn auch für
ersteres die in diesem geltende Bestimmung, Verständnis der be-
deutendsten französischen Schriftwerke der letzten drei Jahrhunderte
fehlt. In alter Geschichte geht das Gymnasium weiter, während in
neuerer und neuester Geschichte, vor allen in den auf verschiedene
Fächer verteilten Staats- und volkswirtschaftlichen Belehrungen das
Seminar entschieden voransteht. Ihm fehlt in der Mathematik der
binomische Satz und der KoordinatenbegrifT; es treibt aber Geometrie
in weiterem Umfange. In Erd- und vielen Teilen der Naturkunde
ist das Seminar zum Teil erheblich voraus, ebenso im Zeichnen, das
im Gymnasium nur bis Obertertia Pflichtfach ist. Ähnlich steht es
mit dem Gesang. Dagegen fehlen dem Seminar die alten Sprachen,
welche den größten Teil des Gymnasialunterrichts einnehmen.
Indes bieten aber die Seminare eine eingehende Kenntnis der Päda-
gogik unter weitgehender Begründung auf Psychologie und Logik,
sowie eine umfassende musikalische Ausbildung.
Seit 1900 ist die Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien
und Oberrealschulen für das Universitätsstudium ausgesprochen worden,
obwohl sie verschiedene Unterrichtsziele verfolgen. Hierin liegt das
Anerkenntnis, daß nicht das Wissen und die Bildung in bestimmten
Fächern, sondern die Höhe der allgemeinen geistigen Bildung die
Reife für die Universität bedinge, daß es mithin in erster Linie nicht
auf den Bildungsstoff ankommt. Da das Seminar in keinem der mit
dem Gymnasium gemeinsamen Fächern wesentlich hinter ihm zurück-
bleibt, vielfach sogar mehr bietet, da es den alten Sprachen seiner-
seits Pädagogik, Musik und eine beachtenswerte Nutzung der natio-
nalen Bildungsstoffe in der deutschen Literatur und deutschen Sprach-
lehre, in Geschichte und Erdkunde entgegenstellt, so besteht teilweise
die Ansicht, die Bildung eines Volksschullehrers, wenn natürlich auch
nicht gleich, so doch gleich\\'ertig der eines Abiturienten einer höheren
Lehranstalt zu bezeichnen. Wer die fremdsprachliche Bildung,
namentlich im Lateinischen und Griechischen, als jeder anderen
Bildung wesentlich überlegen betrachtet, wird diese Gleichwertigkeit
natürlich nicht zugestehen können.
V, Die Lehrmittel.
Zu den Lehrmitteln, welche den Unterricht des Seminars unter-
stützen, rechnen in erster Linie die Bücher. Infolge der neuen Lehr-
pläne sind zahlreiche Neubearbeitungen älterer und eine Reihe neuer
Die Lehrerbildungsanstalten. 305
Bücher erschienen, die «großenteils eine erfreuliche Ergänzung des
mündlichen Wortes bedeuten. Als Wiederholungsmittel sind sie im
Seminarunterricht unentbehrlich, ihn selbst dürfen sie nie ersetzen
wollen. Darum dürfen sie nicht in breitem Rahmen erzählend oder
entwickelnd vorgehen, nur Tatsachen müssen geboten werden,
möglichst kurz, und wo es der Gegenstand erfordert, in entwickelnder
Reihenfolge. Ein solches Buch soll ja als ein Hilfsrnittel für den
Unterricht nie dem lebendigen Worte des Lehrers oder den Werken
der Meister auf den verschiedenen geistigen Gebieten Konkurrenz
machen.
Viel ist sodann darüber gestritten worden, ob die Bücher nur
das enthalten dürften, was im Unterrichte ,, wirklich" durchgearbeitet
werden kann, oder auch mehr. Mitunter hat sich eine geradezu
eigentümliche Scheu vor dem „zu viel" in den Lehrbüchern entwickelt.
Es sei aber nicht zu vergessen, daß dieses ,,zu viel" für diejenigen
Seminaristen bestimmt i.st, die dafür Literesse haben und es sich im
freien Arbeiten aneignen wollen. Und für ein Fach zum mindesten
pflegt jeder Seminarist Teilnahme zu besitzen! Das Lehrbuch soll
ihm zudem ein Führer sein, wenn er in das Lehramt eintritt, das ihn
näher über die Gebiete orientiert, auf denen eine W^eiterbildung emp-
fehlenswert ist. Nichts erinnert mehr an jene Zeiten, wo man dem
Lehrer die Pforten der Büdung verschließen wollte, als ein Buch,
das ängstlich sucht, ja nicht mehr zu bieten, als in der Abgangs-
prüfung unbedingt erfordert wird. Vorgeschrieben werden durch die
Lehrpläne nur ein Lesebuch für die Präparandenanstalten, sowie
Schulausgaben für die deutsche und fremde Literatur. Li betreff der
andern Bücher ist nichts weiter bemerkt, doch ist ihre Notwendigkeit
geboten, da das Nachschreiben im Unterrichte untersagt ist.
Die Zuhilfenahme wissenschaftlicher oder populärwissenschaft-
licher Bücher, zumal solche hervorragender Stilisten, wird für Ge-
schichte, Natur- und Erdkunde ausdrücklich gefordert. Sie können
wegen der teilweise bedeutenden Kosten natürlich nicht von den
Seminaristen angeschafft werden, hier tritt die Seminarbibliothek ein.
Sie ist sowohl für die Seminarlehrer wie für die Seminaristen be-
stimmt und enthält in erster Linie pädagogische und methodische,
sodann fachwissenschaftliche Werke, aber auch die F^rzeugnisse der
deutschen und fremden Literaturen, endlich noch Volks- und Jugend-
schriften. Außerdem werden verschiedene pädagogische und wissen-
schaftliche Zeitschriften gehalten. Einzelne Seminare fangen an, Lese-
zimmer für die Zöglinge zur leichteren Benutzung der Bibliothek ein-
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 20
3Q5 Die VolksschuUehrerbildung.
zurichten, die entweder täglich oder einige Stunden in der Woche
geöffnet sind. Hier legen auch vielfach Seminarlehrer die von ihnen
empfohlenen und in ihrem Besitz befindlichen Werke zur allgemeinen
Kenntnisnahme seitens der Seminaristen aus.
Ferner existieren bei den Lehrerbildungsanstalten eine Reihe
von Sammlungen, die teilweise im Dienst der Übungsschule stehen,
aber auch den künftigen Volksschullehrer orientieren sollen. Es sind
Lesemaschinen, Bilder für den Anschauungsunterricht, die Geschichte,
die Erd- und Naturkunde, ferner Globen und Karten vorhanden,
weiter die umfangreichen Sammlungen zur Naturbeschreibung und
Naturlehre, mitunter auch zur Schulhygiene. Vielerorts finden sich
für Weckung des künstlerischen Sinnes Original-Künstlersteinzeich-
nungen, und nicht vergessen seien die zahlreichen Gegenstände,
welche der jetzige Betrieb des Zeichenunterrichtes erfordert. Be-
sonderer Wert wird auf möglichsten Umfang dieser Sammlungen
gelegt, da das Seminar auch in dieser Beziehung vorbildlich zu
wirken hat.
B. Die andern Bundesstaaten.
Die außerpreußischen Bundesstaaten weisen im allgemeinen die
gleiche Ausbildung der Lehrer auf; es braucht daher nur das
wichtigste Erwähnung zu finden. Bemerkt sei jedoch, dais seit Erlais
der preußischen Lehrpläne vom L Juli 1901, welche die Lehrer-
bildung so wesentlich steigerten, eine Reihe von Bundesstaaten in die
Neubearbeitung ihrer Seminarlehrpläne getreten ist; ein Abschluß
erfolgte bisher nicht.
Bayern besitzt vier evangelische und acht katholische Seminare,
außerdem noch eine Reihe von Präparandenanstalten, alles staatliche
Institute. Der Kursus auf dem Seminar ist zwei-, auf der Präparanden-
anstalt dreijährig. Pflichtfächer sind Religion, Deutsch, Arithmetik
und Mathematik, Erdkunde, Geschichte, Naturwissenschaft, Erziehungs-
und Unterrichtslehre, Zeichnen, Schönschreiben, Musik, Turnen, Ge-
setzeskunde, Kirchendienst. Als Wahlfächer gelten Stenographie,
Lateinisch und Französisch. Seminarleiter ist ein Direktor, dem ein
Oberlehrer zur Seite steht; beide sollen akademische Bildung auf-
weisen, meist sind es Theologen. Zu Seminarlehrern werden tüchtige
Volksschullehrer, welche die 2., aber weiter keine Prüfung bestanden
haben brauchen, genommen. Während der Sommerferien 1900 ver-
anstaltete in München das Ministerium Fortbildungskurse für Seminar-
lehrer in Mathematik und Physik, 1901 in Chemie und Mineralogie.
Die Lehrerhildunj^sanstalten. 307
Württemberg hat \ier evangelische und zwei katholische Lehrer-
seminare, außerdem noch Präparandenanstalten ; alles ist staatlich.
Der Kursus in der Präparandenanstalt dauert zwei, im Seminar drei
Jahre. Der Präparandenlehrplan bringt wie in Preußen einige Fächer
zum Abschluß, das Internat fordert er ausdrücklich als Erziehungsmittel.
Den Lehrplan der Seminare bestimmt die 1898 erlassene Ordnung
der I . Dienstprüfung. Trigonometrie wird nicht gelehrt, wahlfrei ist
die Prüfung in Französisch, Lateinisch, Handfertigkeitsunterricht und
Landwirtschaft nebst Obstbau.
Das Königreich Sachsen verfügt über 20 staatliche Seminare,
von denen eins katholisch, die andern evangelisch sind. Die Präpa-
randenanstalten sind mit den Seminaren nicht nur durch die Lehr-
pläne innerlich, sondern auch äußerlich organisch verbunden, sodaß
der Kursus sechsjährig ist. Lateinisch gilt als Pflichtfach, es wird
hauptsächlich um der logisch-grammatischen Schulung des Geistes
Avillen gepflegt. Die Aufstellung neuer Lehrpläne ist in Aussicht
genommen. Die Seminare tragen den Charakter höherer Lehr-
anstalten. Die Hälfte der Seminarlehrer soll mit Rücksicht auf die
Übungsschule und die Schulpraxis Volksschullehrer sein, die andere
Hälfte dagegen Akademiker, welche die pädagogische Prüfung oder
die Prüfung für das höhere Lehramt bestanden haben.
Von den andern Staaten besitzen an Seminaren: Elsaß-Loth-
ringen ein evangelisches und vier katholische, Baden drei evangelische
und ein katholisches, Hessen und Sachsen-Weimar je drei evangelische,
Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Coburg-Gotha, Braunschweig und
Hamburg je zwei evangelische, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg,
Sachsen-Meiniugen, Sachsen-Altenburg, Anhalt, Lippe-Detmold,
Schaumburg-Lippe, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sonders-
hausen, Reuß jüngere Linie, Reuß ältere Linie und Bremen je ein
evangelisches. Insgesamt sind in Deutschland 207 staatliche Lehrer-
seminare vorhanden, von denen 143 evangelisch, 60 katholisch,
4 paritätisch sind. Die Anzahl der Zöglinge dürfte 18 000 bis 19 000
betragen.
Die Ausgaben für das Lehrerbildungswesen machten nach einer
Statistik für das Rechnungsjahr 1900 aus:
Preußen 7 891 048 AI.
Bayern 1 200 139 „
Sachsen 2 058 124 „
Württemberg ... v38868l „
Baden 264 549 „
20*
308
Die Volksschullehrerbildung.
Die Ausgaben für das Lehrerbildungswesen betrugen in dem-
selben Rechnungsjahre:
!
auf den Kopf
der Bevölkerung
Durchschnittlich
für einen Präpa-
randen jährl.
Durchschnittlich
für einen Semi-
naristen jährl.
Durchschnittl.
f. d. ^'olksschul- i
lehrer während
d. ganzen Aus-
bildungszeit
M.
M.
M.
M.
Preußen . . .
0,25
364
599
2889
1 Bayern . . .
0,21
338
505
2024
Sachsen . .
0,54
—
562
3372
Württemberg .
0,19
276
555
2217
Baden . . .
0,14
217
450
1784
DRITTER ABSCHNITT.
Die Prüfungen.
A. Preußen.
1. Die Pflichtprüfungen.
Man hat von Preußen nicht nur gesagt, es sei das Land der
Schulen und Kasernen, sondern auch das Land der Prüfungen. Ja,
in England heißt es: Die eine Hälfte der deutschen Bevölkerung sei
beschäftigt, die andere zu prüfen! Hier ist nicht die Stelle, die Not-
wendigkeit von Prüfungen zu untersuchen, auch nicht, ob die Examina,,
welche ein Volksschullehrer in Preußen zur Erlangung eines höheren
Amtes ablegen muß, etwa entbehrlich sind, wie behauptet wird, —
das aber muß nachdrücklichst festgestellt werden: Durch jene Prü-
fungen ist der Lehrerschaft ein ungeheurer Antrieb zur Selbstarbeit
und zum Vorwärtsstreben gegeben worden! Mit Recht wurde beim
fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Allgemeinen Bestimmungen vom
15. Oktober 1872 betont, daß sie durch ihre Prüfungsordnungen,,
namentlich durch die neu eingeführte Mittelschul- und Rektoren-
prüfung, der Fortbildung "der Lehrer die Bahn gewiesen und die Ziele
dafür festgestellt haben.
Ihren Abschluß findet die Seminarausbildung in der Entlassungs-
prüfung, auch 1. Lehrerprüfung genannt, die zur einstweiligen An-
I )ie Prüfungen. 300
stellunt,^ im X'olksschulclienst bercchti<^t. Die Prüfungskommission
wird aus dem Seminarlehrerkollegium gebildet, außerdem sendet die
Unterrichtsvcrwaltung ihre Kommissare, so das zuständige Provinzial-
SchulkoUegium einen Provinzialschulrat als Vorsitzenden der Prüfungs-
kommission, die Regierung, in deren Bezirk das betreffende Seminar
liegt, einen Regierungs- und Schulrat. Außerdem ist es den kirch-
lichen Behörden gestattet, einen Vertreter zur Beiwohnung an der
Religionsprüfung zu bestellen, dem auch das Recht zusteht, bei
mangelhaften Leistungen eines Prüflings in Religion, P^inspruch im
Namen der Kirche zu erheben.
Die Prüfung ist schriftlich und mündlich; an schriftlichen, unter
Aufsicht zu fertigenden Arbeiten sind zu Hefern 1. ein Aufsatz aus
der Pädagogik oder der deutschen Literatur, 2. und 3. je eine Auf-
gabe aus der Religion und der Geschichte, 4. eine Übersetzung aus
der fremden Sprache ins Deutsche, 5. für die Teilnehmer am Orgel-
spiel und der Harmonielehre die Bearbeitung eines Chorals. Die
dafür zur Verfügung gestellte Zeit beträgt beim Aufsatz vier, bei den
anderen Arbeiten je zwei Stunden. Ferner hält jeder Prüfling eine
Lehrprobe ab, für welche die schriftliche Vorbereitung einzureichen
ist. Die mündliche Prüfung erstreckt sich auf die positiven Kennt-
nisse in Pädagogik, Religion, Deutsch, Geschichte und in der Fremd-
sprache, bei den Zöglingen die in Natur- oder Erdkunde beim Ein-
tritt in die Oberklasse kein genügendes Zeugnis erhielten, auch
hierauf; wessen Leistungen übrigens in Mathematik in der 2. Seminar-
klasse nicht genügten, durfte nicht in die L Klasse versetzt werden.
Ferner wird die Methodik sämtlicher Gegenstände des Volksschul-
unterrichts gefragt. Die Aufgaben sind so gestaltet, daß die Antwort
entweder in kurzer Form oder auch in zusammenhängendem Vor-
trage erfolgt. Für die schnellere Erledigung der mündlichen Prüfung
Avird die Kommission in mehrere Gruppen geteilt, denen mindestens
drei Mitglieder angehören müssen. Zudem wird je nach Ermessen
in einem oder mehreren Fächern vor der ganzen Kommission ge-
prüft. Über das Bestehen entscheidet die Kommission nach dem
Gesamtergebnis des Examens, wobei unter Umständen nicht ge-
nügende Leistungen in einem Fache, durch gute, in einem andern
Fache ausgeglichen werden können. Auf jeden Fall war die Prüfung
erfolglos, sobald die Leistungen in Pädagogik oder Religion oder
Deutsch oder Geschichte nicht hinreichten.
Auch solchen, die kein Seminar besuchten, ist die Ablegung
der I. Prüfung gestattet. Nur werden sie in allen Fächern geprüft;
3 1 0 Die \'olksschullehrerbildung.
zudem müssen die positiven Kenntnisse in Mathematik unbedingt ge-
nügen. Im Gegensatze zu früheren Zeiten ist es nur die Ausnahme,
wenn sich ein Nicht-Zögling zur 1 . Lehrerprüfung meldet, da die
äußerst gesteigerten Anforderungen ohne Seminarbesuch wenig Aus-
sicht auf das Bestehen des Examens bieten. Zudem ist durch die
vielen Neugründungen der letzten 30 Jahre hinreichend Gelegenheit
zur Ausbildung geboten.
Außer der Seminarabgangsprüfung gibt es im Volksschulwesen
nur noch eine Pflichtprüfung, die sogenannte 2. Lehrerprüfung, ohne
die eine endgültige Anstellung nicht erfolgt. Die andern Examina
sind freiwillige.
Frühestens zwei, spätestens fünf Jahre nach dem Abgang hat
sich der junge Lehrer jener Prüfung zu unterziehen. Vielfach wurde
sie Wiederholungsprüfung genannt und in diesem Sinne auch ge-
handhabt. Die Lehrpläne von 1901 fordern ausdrücklich eine andere
Gestaltung: ,,Die Prüfung soll nicht eine Wiederholung der Seminar-
entlassungsprüfung sein, sie hat nicht den Zweck, festzustellen, ob die
Bewerber das in der Entlassungsprüfung nachgewiesene Wissen in
den verschiedenen Fächern noch besitzen". Vielmehr soll es die
Aufgabe sein, auf Grund der näher bezeichneten Forderungen, ,,die
Tüchtigkeit der zu prüfenden Lehrer für die Verwaltung eines Schul-
amtes zu ermitteln." So gestaltet sie sich als eine Fachprüfung,
indem festgestellt wird, wieweit die methodisch-theoretische und die
prak-tische Ausbildung gediehen ist. Zudem hat der Prüfling nachzu-
weisen, daß er sich in der Pädagogik und in einem Sonder-Fache
selbständig weitergebildet hat. Die Meldung zum Examen erfolgt
durch Vermittlung des Kreisschulinspektors, der ein Zeugnis über die
Tätigkeit und Fähigkeit des betreffenden Lehrers beizulegen hat.
Ebenso tun dies die Regierungs- und Schulräte. Werden hierbei
Bedenken geäußert, die sich besonders gegen den Charakter, die Be-
gabung und den Fleiß äußern, so wird der Bewerber vorläufig zurück-
gewiesen.
Die Prüfung wird an den Lehrerseminaren abgehalten und
äußerlich in gleicher Weise gehandhabt wie beim Abgang. Auch
die Prüfungskommission ist in gleicher Weise zusammengesetzt, nur
fehlt ein Vertreter der kirchlichen Behörden. Schriftlich ist in vier
Stunden ein Aufsatz über ein pädagogisches Thema unter Aufsicht
anzufertigen. Sodann findet die Lehrprobe statt, deren Thema am
Tage zuvor unter tunlichster Rücksicht auf die Fächer und Stufen,
in denen der Prüfling unterrichtet hat, zu stellen ist. Dadurch soll
Die Prüfungen. 311
ihm Gelegenheit geboten werden, seine praktische Befähigung in ihm
bekannten Gebieten zu zeigen, da eine allseitige unterrichtliche Fertig-
keit von einem erst zwei Jahre im Amte stehenden Lehrer nicht ver-
langt werden kann.
Die mündliche Prüfung beginnt mit der Pädagogik, und zwar ist
auf ihre Geschichte, die Erziehungs- und Unterrichtslehre und die Schul-
praxis einzugehen. Im Vordergrunde steht die Geschichte der preußi-
schen Volksschule, die Anwendung der Psychologie, einige Erfahrung
in der Verwaltung des Schulamtes und hinreichende Kenntnis der Ver-
ordnungen über das Schulwesen. Zudem hat der Prüfling das Spezial-
studium eines von ihm gewählten pädagogischen Werkes nachzu-
weisen.
Die weitere Prüfung ist methodisch und erstreckt sich in der
Regel auf drei Fächer, unter denen sich immer zwei von den Fächern,
Religion, Deutsch, Mathematik oder Geschichte befinden müssen.
Bei unzureichenden Leistungen ist die Prüfung auf die Methodik
anderer Fächer auszudehnen. Der Nachdruck liegt auf der Praxis,
doch sind möglichst spezielle methodische Schriften durchzusehen.
Endlich ist die Weiterbildung in einem Spezialfache nachzuweisen.
Der Nachdruck liegt nicht darauf, möglichst umfangreiches Wissen
von allen möglichen Einzelheiten zu erwerben, vielmehr sich in ein
Sondergebiet vermittels hervorragender Werke und, sofern angängig,
auf Grund von Quellen zu vertiefen.
Der Ausfall der Prüfung ist vom Gesamtergebnis unter eventueller
Ausgleichung nicht hinreichender Leistungen durch bessere in einem
anderen Fache, abhängig. Bei einem Nichtgenügend in der Pädagogik
oder in der Lehrprobe, für die unter Umständen ein neues Thema
gestellt werden kann, oder in zweien von den Fächern Religion,
Deutsch, Mathematik und Geschichte ist das Zeugnis zu versagen.
2. Prüfungen zur Erlangung höherer Ämter.
Die Ablegung der 2. Lehrerprüfung berechtigt nur zur end-
gültigen Anstellung an Volksschulen, die Befähigung zur Anstellung
als Lehrer an Mittel-*) und höheren Töchterschulen wird jedoch für
solche, die ihre Vorbildung auf dem Seminar genossen haben, nur
durch die Mittelschullehrerprüfung erworben; außerdem werden
*) Die „Mittelschulen" sind gehobene Volksschulen und nicht mit den „höheren
Lehranstalten" (Gymnasien, Realgymnasien, Oberrealschulen) zu verwechseln, die zu-
weilen ebenfalls als „Mittelschulen" bezeichnet werden.
312 iJie Volksscliullehrerbildung.
Übrigens noch Geistliche, Kandidaten des höheren Lehramtes und
der Theologie zugelassen. Die Prüfungskommission wird in jeder
Provinz aus dem Kommissar des Provinzial-SchulkoUegiums als Vor-
sitzendem sowie aus besonders zu bestimmenden Schulverwaltungs-
und Schulaufsichtsbeamten, Leitern und Lehrern öffentlicher Unter-
richtsanstalten als Prüfenden gebildet. Die Prüfung selbst charakterisiert
sich als eine pädagogische und eine wissenschaftliche. Der päda-
gogische Charakter kommt außer in der von jedem Bewerber abzu-
legenden Prüfung in der Erziehungswissenschaft auch in der Forderung
zum Ausdruck, daß in den gewählten Spezialfächern Vertrautheit mit
ihrer Methodik und den geeigneten Lehrmitteln nachgewiesen werden
muß. Der wissenschaftliche Charakter zeigt sich nicht allein im Um-
fange des geforderten Wissens, sondern auch in der Bestimmung,
Bekanntschaft mit wichtigen wissenschaftlichen Hilfsmitteln.
Außer der Pädagogik wird in folgenden Fächern, von denen
der Bewerber zwei zu wählen hat, geprüft: 1. Religion, 2. Deutsch,
3. Französisch, 4. Englisch, 5. Geschichte, 6. Erdkunde, 7. Mathematik,
8. Botanik und Zoologie, 9. Physik und Chemie nebst Mineralogie.
Außerdem ist es zulässig, im Lateinischen eine Prüfung abzulegen;
jedoch tritt es nicht an Stelle eines anderen Prüfungsfaches, sondern
wird außerhalb der beiden W ahlfächer examiniert.
Die Prüfung selbst besteht aus einer häuslichen Arbeit, zwei schriftlichen unter
Aufsicht anzufertigenden Arbeiten, einer Lehrprobe und dem mündlichen Examen. Für
die häusliche Ai-beit, deren Thema aus einem der beiden \Yahlfächer unter tunhchster
Berücksichtigung der Wünsche des Prüflings gestellt wird, sind acht Wochen Zeit ge-
lassen, die auf Wunsch bis zu zwölf Wochen verlängert wird. Bei Abgabe der Arbeit
hat der Bewerber schriftlich zu versichern, daß er sie selbständig und nm- unter Be-
nutzung der von ihm angegebenen literarischen und anderweitigen Hilfsmittel angefertigt
hat. Läßt die häusliche Arbeit unzweifelhaft erkennen, daß dem Bewerber die nach-
gesuchte Lehrbefähigung nicht zuerkannt werden kann, so ist er von der mündlichen Prüfung
zurückzuweisen.
Die schriftlichen Klausurarbeiten werden aus jedem Fache des Bewerbers gewählt.
Li den Fremdsprachen ist je eine Übersetzung in diese und aus ihr anzufertigen. Nach
Wahl des Prüflings kann an Stelle der Übersetzung in die Fremdsprache eine treie
Arbeit treten. Für jedes Fach stehen vier Stunden zur Bearbeitung frei. Hilfsmittel
sind unzulässig, nur seltenere Vokabeln dürfen angegeben werden. Die Lehrprobe, deren
Thema aus einem der Fächer des Bewerbers am Tage zuvor gestellt wird, ist an einer
Mittel- oder höheren Mädchenschule zu halten.
In der Pädagogik wird eingehende Beschäftigung mit der Psychologie unter steter
Rücksicht auf Erziehung und Unterricht gefordert. P'erner muß der Prüfling die genauere
Kenntnis mit einem Zeitraum und einem namhaften neuzeitlichen Schriftsteller der
Pädagogik nachweisen. In beiden Punkten steht ihm die Wahl frei. Beispielsweise
mögen in Folgendem die Anforderungen in einigen Fächern nach der Prüfungsordnung
vom L Juli 1901 mitgeteilt werden.
Die Priifuiigoii. 313
In der französischen und der englischen Sprache:
Ivichtige Aussprache und Bekanntschaft mit den Elementen der Phonetik und der
Aussprachelehre; Kenntnis der Formenlehre und der Syntax; Fertigkeit, einen prosaischen
oder einen leichteren poetischen Abschnitt aus der fremden Sprache ins Deutsche vom
Blatte richtig zu übersetzen und sprachlich zu erklären; Übung im mündlichen Gebrauche
der Sprache; allgemeine Kenntnis der Geschichte der französischen und der englischen
Literatur; nähere Bekanntschaft mit einigen Hauptwerken der bedeutendsten Schriftsteller
auf Grund eigener Lektüre; Kenntnis der neueren (jeschiclite Frankreichs und Englands;
Einsicht in die ISIethode des Unterrichtes.
In der Mathematik:
Kenntnis der allgemeinen Arithmetik bis zum Beweise des binomischen Lehrsatzes
für beliebige Exponenten (einschließlich), der Algebra bis zu den Gleichungen dritten
(-hades (einschheßlich), sowie der wichtigsten Reihen der algebraischen Analysis; Kenntnis
der ebenen Geometrie mit Einschluß der Lehre von harmonischen Punkten und Strahlen,
Chordalen, Ähnlichkeitspunkten und Achsen; Kenntnis der körperlichen (ieometrie, der
ebenen Trigonometrie, der Theorie der Maxima und Minima, der analytischen Geometrie
der Ebene in rechtwinkligen Koordinaten bis zu den Kegelschnitten einschließlich;
Sicherheit im Gebrauche der trigonometrischen Tafeln; Einsicht in die Methode — mit
Einschluß der des Rechenunterrichtes.
In Botanik und Zoologie:
Systematische t.'bersicht über die Pflanzen- und Tierwelt; Einblick in das Leben
der Pflanzen und Tiere; auf eigener Anschauung begi'ündete Bekanntschaft mit den
wichtigsten Familien und Ordnungen der einheimischen Pflanzen und Tiere sowie mit
bemerkenswerten Formen aus fremden Ländern; einige Kenntnis der geographischen
Verbreitung der Pflanzen und Tiere; Bekanntschaft mit Bau und Leben des menschlichen
Körpers unter besonderer Berücksichtigung der Gesundheitspflege; Bekanntschaft mit den
zweckmäßigsten Hilfsmitteln für den Unterricht (Abbildungen, Nachbildungen, Präjia-
raten usw.); Übung im Zeichnen von Pflanzen- und Tierformen; Kenntnis der neueren
volkstümlichen Literatur; Einsicht in die Methode des Gegenstandes.
Bei näherem Eingehen auf einzelne Gebiete ist auf Wünsche der Bewerber Rück-
sicht zu nehmen.
In der Physik und der Uhemie nebst Mineralogie:
Übersichtliche Kenntnis des ganzen Gebietes der Physik, nähere Bekanntschaft mit
einzelnen Teilen, bei deren Wahl auf Wünsche der Bewerber tunlichst Rücksicht zu
nehmen ist; allgemeine Kenntnis der chemischen Grundgesetze, der wichtigsten chemischen
Elemente, sowie solcher Verbindungen, die für den Haushalt der Natur und für das
tägliche Leben besondere Bedeutung haben; Bekanntschaft mit den am häufigsten vor-
kommenden Mineralien, ihren Kristallformen, physikalischen und chemischen Eigenschaften
und ihrer praktischen Verwertung; Einblick in den Bau und die Bildung der Erdrinde;
Bekanntschaft mit den zweckmäßigsten Hilfsmitteln für den Unterricht, insbesondere mit
der Einrichtung und dem Gebrauche der im Untenichte vorkommenden Apparate; Ein-
sicht in die Methode des Unterrichtes.
Im Lateinischen haben die Bewerber die Fähigkeit nachzuweisen, einen Abschnitt
aus (. asar und einen nicht besonders schwierigen Abschnitt aus Ovids Metamorphosen
oder aus \'irgils Aeneis geläutig zu übersetzen und auszulegen; außerdem haben sie
Kenntnis der Formenlehre, der Ilauptregeln der Syntax und der Prosodie sowie Einsicht
in die Methode darzutun.
Die Prüfungskommission entscheidet auf Grund der in den ein-
zelnen Teilen der Prüfung erlangten Urteile über das Bestehen oder
3 1 4 I^ifi Volksschullehrerbiklung.
Nichtbestehen der Prüfung. Auf jeden Fall war sie ohne Erfolg,
wenn die Leistungen in Pädagogik oder in einem der gewählten
Fächer nicht genügten. Denen, welche die Prüfung erfolgreich ab-
legten, ist es gestattet, die Lehrbefähigung in weiteren Fächern auf
Grund einer Erweiterungsprüfung nachzusuchen. Sie wird ebenso
gehandhabt wie die ursprüngliche Prüfung, nur fällt Pädagogik fort.
Dem Volksschullehrer, der die Mittelschulprüfung abgelegt hat,
eröffnen sich durch Bestehen der Rektorprüfung weitere Aussichten.
Hiermit erhält er die Befähigung zur Leitung von mehrklassigen
Privatschulen, von Volksschulen mit sechs und mehr Klassen, von
Mittel- und höheren Töchterschulen und von öffentlichen Präparanden-
anstalten, sowie die Befähigung zur Anstellung als Seminarlehrer.
\'on diesem Amte aus ist ihm bei Bewährung die Möglichkeit ge-
geben, zum Seminar-Oberlehrer, Seminardirektor oder Kreisschul-
inspektor befördert zu werden. Außerdem können sich der Rektor-
prüfung noch Geistliche, Kandidaten des höheren Lehramtes und der
Theologie, welche die Befähigung zum Mittelschullehrer besitzen und
mindestens drei Jahre im Schuldienst gestanden haben, unterziehen
Die ausnahmsweise Zulassung ohne vorherige Ablegung des Mittel-
schulexamens auf Grund nachgewiesener mehrjähriger Übung und
Bewährung im Schuldienst bleibt der Entscheidung des Unterrichts-
ministeriums vorbehalten.
Der Charakter der Prüfung ist ein pädagogisch-methodischer, sie stellt also eine
reine Fachprüfung dar. Es ist eine häusliche Arbeit anzufertigen, für die das Provinzial-
Schulkollegium das Thema aus der Unterrichts- und Erziehimgslehre oder der Schulpraxis
stellt. Die Zeit dafür beträgt acht, unter besonderen Umständen zwölfWochen. Genügt
die Arbeit nicht, dann wird der Bewerber zur mündlichen Prüfung nicht erst einberufen.
In dieser wird die allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre im Zusammenhang mit
der Psychologie verlangt, und zwar unter Berücksichtigung der Schulart, für die der Be-
werber das Zeugnis wünscht. Femer muß der Prüfling die Geschichte und besondere
Methodik der einzelnen Unterrichtsfächer kennen, über die Schulpraxis und die Schul-
ordnungen gehörig orientiert sein. Dies alles ergibt sich mit Notwendigkeit aus seiner
Stellung als Schulleiter. Da er aber als solcher die Vorschläge zur Ausstattung seiner
Schule mit Lehr- und Lernmitteln sowie für die Schüler- und Lehrerbibliothek zu machen
hat, auch den ihm unterstellten Lehrern und Lehrerinnen ein Führer bei deren Fort-
bildung sein soll, so muß er sich beim Rektorexamen über seine Bekanntschaft mit den
Lehr- und Lernmitteln der Schule, mit den Volks- und Jugendschriften sowie über die
wichtigsten wissenschaftlichen Hilfsmittel der Weiterbildung ausweisen.
Die weiteren Prüfungen, welche ein Volksschullehrer ablegen
kann, nämlich im Zeichnen, Turnen, in der Musik und im Taub-
stummenwesen, bilden den Abschluß einer besonderen, an hierfür be-
stimmten Anstalten .stattfindenden Fortbildung. Die kommen deshalb
in dem der Fortbildung gewidmeten Abschnitt 4 zur Sprache.
Die Prüfungen. !i15
B. Die andern Bundesstaaten.
Auch die übrigen deutschen Staaten verlangen für den Eintritt
in den Volksschuldienst die 1 . und 2. Lehrerprüfung, die — unter
verschiedenen Namen — in der Hauptsache die gleichen Ziele wie
in Preußen verfolgen und ungefähr ebenso gehandhabt werden.
Mittelschul- und Rektorprüfungen finden nur ganz vereinzelt statt.
Eine in Preußen nicht bekannte Prüfung besteht im Königreich
Sachsen, im Großherzogtum Sachsen-Weimar und neuerdings im
Großherzogtum Hessen. Hier ist es nämlich den Volksschullehrern
unter besonderen Umständen gestattet, die Landesuniversität (Leipzig,
Jena, Gießen) auf sechs Semester zu beziehen und sodann die ,, Päda-
gogische Prüfung" abzulegen. Erforderlich ist die Zensur I bei der
2. Lehrerprüfung, im Königreich Sachsen genügt unter Umständen
Nummer Ib, in Hessen auch Nummer II; auf jeden Fall hat sich das
Zeugnis des Schulinspektors günstig über Leistungen und Charakter
des zu Immatrikulierenden auszusprechen. Im Königreich Sachsen
wird durch die Pädagogische Prüfung die Anstellungsfähigkeit als
Lehrer an Realschulen und Seminaren erlangt, in Hessen als Seminar-
lehrer, in Sachsen- Weimar die Befähigung ,,zur Erteilung eines
wissenschaftlich begründeten Unterrichts."
Im Königreich Sachsen ist verbindlich für jeden die Prüfung in
Pädagogik und Philosophie ferner in deutscher Sprache und Literatur
endlich in der Religion, soweit die Allgemeinbildung in diesen Fächern
einem Lehrer an höheren Lehranstalten geziemt. Außerdem ist
in mindestens drei Fächern die besondere ,. Lehrbefähigung" nach-
zuweisen. Zur Auswahl stehen Religion, Pädagogik, Deutsch, Lateinisch,
Französisch, Englisch, Geschichte, Erdkunde, Mathematik, Naturlehre
(Physik und Chemie), Naturkunde (Botanik, Mineralogie, Zoologie).
Erweiterungsprüfungen sind zulässig.
In Sachsen-Weimar sieht man von dem Nachweise einer All-
gemeinbildung gewöhnlich ab. Verbindlich ist jedoch für jeden der
Nachweis der Lehrbefähigung in der Pädagogik, die mit einer Prüfung
in der Philosophie verbunden ist. Außerdem ist die Prüfung in zwei
Fächern nachzuweisen; es sind die gleichen, wie im Königreich
Sachsen, nur fehlen die fremden Sprachen. In Hessen wird jeder
Bewerber in Philosophie nebst Pädagogik geprüft, außerdem in der
Schulgesundheitspflege. Ferner hat er mindestens zwei Spezialfächer
zu wählen, und zwar stehen ihm zur Verfügung: 1. Deutsch, 2. Fran-
zösisch, 3. Geschichte, 4. Geographie, 5. Mathematik, 6. Physik,
3 I 6 I^is Volksschullelirerbildung.
7. Chemie und Mineralogie, 8. Botanik und Zoologie. Die An-
forderungen an die wissenschaftlichen Fächer in diesen drei Staaten
haben viel Ähnlichkeiten mit denen bei der Mittelschulprüfung in
Preußen, nur sind sie weit mehr durch die Universitätsvorlesungen
beeinflußt. Überall ist die Prüfung schriftlich (Hausarbeit, Klausur-
arbeiten), praktisch (Lehrprobe, auch experimentelle Versuche), und
mündlich.
VIERTER ABSCHNITT.
Die Fortbildung.
1. Die unmittelbare Fürsorge des Staates.
a) Konferenze]i und BibliotJieken.
Mit Besuch der Lehrerbildungsanstalten und mit Ablegung der
Prüfungen ist die Bildung der Volksschullehrer nicht abgeschlossen.
Das Wort: „Rast ich. so rost ich" gilt auch für ihn. Wieder ist es
der Staat, der ihm helfend zur Seite steht, großen Umfang hat aber
auch die Selbstätigkeit der Lehrer durch Vereine und Zeitungen an-
genommen. Die Fürsorge des Staates ist mannigfach, entweder wirkt
er direkt ein durch Konferenzen und Bibliotheken, oder er fördert
anderweitige im Interesse der Lehrerbildung veranstaltete Ein-
richtungen.
In Preußen werden in jedem von einem Kreisschulinspektor ge-
leiteten Bezirk in der Regel jährlich drei Konferenzen abgehalten, zu
deren Besuch jeder an einer Volksschule beschäftigte Lehrer 'ebenso
jede Lehrerin) verpflichtet ist. Mindestens einmal im Jahre versammeln
sich alle Lehrer und Lehrerinnen eines Schulkreises zu der sog. Kreis-
konferenz, während für die beiden anderen Konferenzen, die sog.
Bezirkskonferenzen, der Schulkreis in einzelne Bezirke zerlegt ist.
Dies geschieht wegen der meist zu großen Entfernungen und weil
bei kleineren Konferenzen auch oft ein größerer Erfolg zu erwarten
ist. Bei den Kreiskonferenzen führt gewöhnlich der Kreisschulinspektor,
bei den Bezirkskonferenzen ein damit beauftragter Ortsschulinspek-tor
den Vorsitz. Gewöhnlich wird zuerst eine Musterlektion gehalten, an
die sich eine Besprechung über sie anschlielst, darauf folgt ein Vor-
trag, der möglichst so gestaltet sein soll, dal-» er zu reger Entfaltung
Die ]'\)rtbildung. [] \ J
einer Diskussion V^cranlassung gibt. Für das Halten der Muster-
lektionen und Vorträge bestimmt der Vorsitzende zuvor einzelne
Lehrer. Die Vortragsthemen stellen die Königlichen Regierungen für
jedes Jahr. Jene behandeln entweder rein pädagogisch-methodische
Dinge oder allgemeine Tagesfragen in ihrer Beziehung zu Schule und
Haus. Neuerdings haben sich zum Teil auch die Kreisärzte an diesen
Konferenzen beteiligt und Vorträge über die Schul- und allgemeine
Volkshygiene gehalten.
Außer den Kreis- und Bezirkskonferenzen haben in jeder Orts-
schulinspektion unter Leitung des Ortsschulinspektors oder des Rektors
bezw. Hauptlehrers monatlich Ortskonferenzen stattzufinden. Beratungs-
gegenstände sind zunächst die besonderen Angelegenheiten der be-
treffenden Schule. Durch Besprechung der praktischen P>fahrungen
des einzelnen im kleinen Kreise, sind jene Konferenzen ein nicht zu
unterschätzendes Fortbildungsmittel in der Schulpraxis und ange-
wandten Methodik.
Daneben fördern die Kreisbibliotheken die Weiterbildung. Die
Beteiligung der Lehrer an ihnen ist zumeist eine freiwillige gegen
einen ganz geringen Jahresbeitrag (gewöhnlich 1 M.). Die Regierungen
gewähren meist wesentliche Geldbeihilfen. Die Verwaltung führt der
Kreisschulinspektor und einige Lehrer des Schulkreises. Zur An-
schaffung gelangen grundsätzlich nur der Weiterbildung dienende
Werke. Im Vordergrund stehen naturgemäß die Pädagogik und hier
wieder die Quellenschriften der vergangenen Zeit sowie die Original-
abhandlungen bewährter wissenschaftlicher Pädagogen und praktischer
Schulmänner der Gegenwart. Dann sind aber auch W^erke der ver-
schiedenen Wissenschaften und die Erzeugnisse der neueren und
neuesten Literaturentwicklung vertreten. Eine Reihe von Städten hat
ebenfalls Bibliotheken für Lehrer eingerichtet, so z. B. die Stadt Berlin
durch Gründung des städtischen Schulmuseums.
In den außerpreußischen Staaten sind gleiche oder ähnliche Ein-
richtungen getroffen. In Bayern bestehen besondere amtliche Fortbil-
dungskurse für solche Lehrer, die noch nicht die zweite Prüfung abgelegt
haben. Da dies erst vier Jahre nach dem Abgange geschehen kann, so
sind sie für diese Zeit zur Teilnahme verpflichtet. Auch Lehrer, deren
Leistungen und Lehrgeschick nicht genügen, können hinzugezogen
werden. Die Leitung liegt unter Aufsicht der Kreisschulinspektoren
in der Hand der Bezirkshauptlehrer. Diese halten Konferenzen ab,
veranstalten Muster- und Probelektionen, korrigieren die einzureichenden
schriftlichen Arbeiten und verwalten die Bezirksbibliotheken. Jährlich
3 I 8 r^ie Volksschullehrerbildung.
finden vier Konferenzen statt, außer dieser noch eine, welche sämt-
hche Lehrer des Bezirks besuchen müssen. In Anhalt haben die
jungen Lehrer zwischen der \. und 2. Prüfung drei schriftliche
Arbeiten einzureichen. Zur Auswahl dafür stellt die Regierung jähr-
lich eine Reihe von Themen.
öj Sondei^kurse.
Vielfach sind in den deutschen Bundesstaaten Einrichtungen
getroffen, welche den Volksschullehrern auf ihren Wunsch eine
Sonderausbildung, hauptsächlich in den sog. technischen Fächern,
gewähren.
Zur Ausbildung von Turnlehrern an höheren Lehranstalten und
Seminaren besteht in Preußen die Königliche Turnlehrerbildungs-
anstalt in Berlin. Die Kurse dauern ein halbes Jahr und finden im
W^inter statt; während des Sommers erfolgt dort übrigens die Aus-
bildung von Lehrerinnen. Zur Meldung sind außer Volksschullehrern
noch Lehrer an höheren Lehranstalten und Kandidaten des höheren
Lehramtes berechtigt. Auch Nicht-Preußen können unter Umständen
zugelassen werden. Außer in Berlin sind noch in Königsberg,
Breslau, Halle, Magdeburg, Bonn und Kiel Turnkurse eingerichtet.
Den Abschluß bildet überall eine Prüfung. Die Ausbildung ist
theoretisch und praktisch. Es wird Geschichte der Leibesübungen
und Methodik des Turnunterrichts gelehrt, ferner Anatomie, Physio-
logie und die Gesundheitslehre, soweit sie der Beruf eines Turnlehrers
erfordert, um den Einfluß des Turnens auf den menschlichen Leib
kennen zu lernen und die beim Turnen nötigen Gesundheitsregeln zu
beobachten, auch die erste Hilfe bei Unglücksfällen erfolgreich leisten
zu können. In umfassender Weise geschieht die Pflege des prakti-
schen Turnens, dann finden zur Erwerbung des nötigen Lehrgeschicks
Übungen im Erteilen des Turnunterrichts statt. Neben der Aus-
bildung als Turnlehrer wird auf Wunsch auch eine als Schwimm-
und Fechtlehrer geboten, die in ähnlicher Weise praktisch und theo-
retisch erfolgt. Im Anschluß hieran sei erwähnt, daß jetzt damit
begonnen ist, die Lehrer in der freiwilligen Krankenpflege für den
Krieg auszubilden. Der Kursus dauert drei Wochen.
Zur Ausbildung als Zeichenlehrer an mehrklassigen Volksschulen,
Mittelschulen, höheren Mädchenschulen, höheren Lehranstalten sowie
an Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten bestehen besondere
Zeichenlehrerseminare an den Königlichen Kunstschulen in Berlin,
Breslau, Königsberg, Cassel und Düsseldorf. Praktisches Zeichnen
Die P'ortbilduiig. ;^)C)
wird in erster Linie betrieben, aber auch Methodik des Zeichen-
unterrichts und Kunstgeschichte werden gelehrt. Den Abschkiß bildet
eine Prüfung. Außer Volksschullehrern können sich auch andere
Bewerber, meist Maler, Bildhauer und Architekten der Prüfung unter-
ziehen, sofern sie mindestens das Zeugnis zum Einjährig- freiwilligen
Heeresdienst besitzen. Für Lehrerinnen findet die gleiche Ausbildung
und gleiche Prüfung statt.
Eine besondere musikalische Weiterbildung gewährt das König-
liche akademische Institut für Kirchenmusik in Berlin. Es verfolgt
den Zweck, Organisten, Kantoren, Chordirigenten sowie Musiklehrer
für höhere Lehranstalten, Lehrer- und Ivehrerinnenseminare auszu-
bilden. Der Zutritt ist, nach Ablegung einer Vorprüfung in Musik,
Volksschullehrern und solchen, die das Zeugnis zum Einjährig-frei-
willigen Heeresdienst besitzen, gestattet. Der Unterricht ist unent-
geltlich und dauert ein Jahr, bei besonderer Befähigung auch länger.
Als Lehrgegenstände werden verzeichnet: Klavier-, Orgel- und
Violinspiel, Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre, Gesang
und Orgelstruktur. Auf Grund einer Schlulsprüfung wird ein Zeugnis
über die Verwendbarkeit des Inhabers ausgestellt.
In betreff der den Volksschullehrern freistehenden Ausbildung
der Taubstummen- und Blindenlehrer wird auf die besonderen Ab-
schnitte über den Unterricht der Taubstummen und Blinden ver-
wiesen.
Über die vom Ministerium hauptsächlich zur Ausbildung als
Seminarlehrer eingerichteten Fortbildungskurse in Berlin ist schon
im Abschnitte Lehrpersonal gesprochen worden.
All diese Kurse wollen eine vollständige Sonderausbildung in
einzelnen Zweigen des Unterrichtes geben. Es sind aber noch einige
Informationskurse zu erwähnen, die nur eine Informierung geben bezw.
eine schon vorhandene Ausbildung ergänzen und vervollständigen
wollen. Diese Form wurde gewählt, um die im Amte stehenden
Lehrer, die infolge ihres Berufes nur kürzere Zeit abkommen können,
mit den Fortschritten besonders der sog. technischen Fächer vertraut
zu machen.
Seit 1899 werden jeden Winter an der Königlichen Kunstschule in
Berlin Fortbildungskurse für solche Zeichenlehrer an höheren Schulen
und an Lehrerseminaren, desgleichen für Zeichenlehrerinnen an Lehre-
rinnenseminaren gehalten, denen es an einer regelmäßigen Vorbildung
oder der Ablegung der Zeichenlehrerprüfung mangelt. Der Kursus
dauert fünf Monate. Außerdem sind an vielen Orten vom Staate
320 I-*'^ Volksschullehrerbildung.
oder von den Magistraten größerer Städte vier- bis sechswöchentliche
Kurse für Lehrer Tauch für Lehrerinnen) zur Orientierung über die
neue Zeichenmethode eingerichtet. Ein vierwöchenthcher Zeichen-
kursus für bayrische Seminarlehrer besteht in München.
Außerdem werden an einzelnen Seminaren mehrwöchentliche
Kurse für Weiterbildung der Organisten abgehalten. Zur Ausbildung
in den Turnspielen hat Preußen (in Gemeinschaft mit Braunschweig
und Hamburg) im Jahre 1903 12 Spielkurse für Lehrer veranstaltet;
auch die Volksschullehrer waren zur Teilnahme berechtigt.
Endlich sei noch der Obstbaukurse gedacht, die auf die Dauer
von zwei Wochen in der ganzen Monarchie an landwirtschaftlichen
Lehranstalten für Lehrer stattfinden; im Jahre 1898 waren es 40.
Der Zweck ist dabei, Seminar- und Volksschullehrer soweit in den
Obstbau einzuführen, daß sie ihren Schülern die Grundlage dieses
landwirtschaftlichen Zweiges geben können, aber selbst auch mit den
Fortschritten vertraut werden. Dies ist um so wichtiger, da mit
Recht geklagt wird, daß in Deutschland der Obstbau noch lange
nicht die Pflege findet, die er vom volkswirtschaftlichen Standpunkte
aus verdient. All die erwähnten Kurse sind unentgeltlich; die Kosten
trägt zumeist der Staat.
2. Die Veranstaltungen des Staates und von Vereinigungen
im Literesse des Fortbildungsschulwesens.
Es bestehen noch eine Reihe von Einrichtungen, die für die
Fortbildung der V^olksschuUehrer von Bedeutung sind. Das sind die
Institute oder Kurse, welche ihm die Möglichkeit geben, sich als
Lehrer für Fortbildungsschulen aller Art auszubilden. Jene Kurse
werden entweder vom Staat oder von besonderen Vereinigungen,
zumeist mit staatlicher Unterstützung, veranstaltet. Ihre Bedeutung
für die Allgemeinbildung der Lehrerschaft ist darin zu suchen, daß
deren Blick für die wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse des
Vaterlandes wesentlich geweitert und sie selbst vor Einseitigkeit und
Verknöcherung im Berufe bewahrt wird.
Zur Ausbildung von Lehrern an kaufmännischen Fortbildungs-
schulen veranstaltet der Minister für Handel und Gewerbe viervvöchent-
liche Kurse in Berlin, zu denen 40 — 50 Volksschullehrer und -Lehrerinnen
Zutritt haben. Anleitung findet statt zum Unterrichten in der Buch-
führung, im kaufmännischen Rechnen, in der allgemeinen Handels-
lehre (Bank- und Börsenwesen, Post- und Eisenbahnverkehr usw. i,
in der kaufmännischen Korrespondenz und im Handels- und Wechsel-
Die Fortbildung. 32 |
recht. Ferner werden Besprechungen über Lehr- und Stoffverteilungs-
plane, Lehrmittel, Lehrmethode usw. sowie Besuche in kaufmännischen
Fortbildungsschulen veranstaltet. Seit 1903 existiert sodann in Berlin
ein viersvöchentlicher Oberkursus, zu dem etwa 40 Fortbildungsschul-
lehrer einberufen werden. Außerdem bestehen mit staatlicher Unter-
stützung in einzelnen Städten vier- bis sechswöchentliche Kurse, um
Volksschullehrer im Zeichnen für gewerbliche Fortbildungsschulen zu
unterweisen. Die Ausbildung als Handelslehrer gewährt auch die
Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt a. M.,
deren Besuch auch Volksschullehrern frei steht. Die Vorlesungen
umfassen folgende Gebiete: Volkswirtschaftslehre, Rechtswissen-
schaften und Konsularpraxis, Versicherungswissenschaft und Statistik,
Handelswissenschaften (Kaufmännisches Rechnen, Buchführung, Korre-
spondenz, Handelsgeographie usw.), Geschichte, Literatur und Kunst-
geschichte, Neuere Sprachen, Technik und andere Hilfswissenschaften.
Zur Ausbildung von Lehrern an ländlichen Fortbildungsschulen
veranstaltet das Ministerium für Landwirtschaft, Forsten und Domänen
an einigen Landwirtschaftsschulen fünfwöchentliche Kurse, zu denen
Volksschullehrer einberufen werden. Zwei solcher umfassen einen
Gesamtlehrgang, sie sind den Bedürfnissen des kleinbäuerlichen Be-
triebes entsprechend eingerichtet und lehren im ersten Jahre Chemie,
Pflanzenproduktion, Zoologie, landwirtschaftliches Unterrichtswesen
in Verbindung mit Übungen, im zweiten Jahre außer letzterem noch
Chemie, Botanik und Tierproduktion. Diese Kurse sind ebenso wie
die des Handelsministeriums unentgeltlich, sogar Beihilfen für die
Reise- und Aufenthaltskosten stehen zur Verfügung.
Ein besonderes Verdienst hat sich der deutsche Verein für das
Fortbildungsschulwesen um dieses er^vorben. Er richtet jährlich sechs-
wöchentliche Ausbildungskurse für Fortbildungsschullehrer ein. Das
Unterrichtsgeld beträgt 60 M., doch zahlen dies sowie die Reise- und
.\.ufenthaltskosten für die jene Einrichtung benutzenden Volksschul-
lehrer meist der Staat oder Gemeinden oder kaufmännische, gewerb-
liche oder landwirtschaftliche Vereine. Im Jahre 1903 wurden Kurse
für Lehrer an kaufmännischen und gewerblichen Fortbildungsschulen
in Leipzig und Frankfurt a. M. abgehalten. Folgende wissenschaftliche
Vorträge waren vorgesehen: Soziale- und Gewerbegesetzgebung,
Volkswirtschaftslehre, Bürgerkunde, Kunstgewerbe, Technologie, Ge-
werbehygiene, Fortbildungsschulwesen, kleingewerbliche Maschinen-
kunde. Außerdem fanden methodische Vorträge und solche über
Lehrplankunde statt, praktische Übungen im Zeichnen, in der Buch-
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. -'
322 I^ie ^'olk.sschullel^rel■l3il(lung.
führung und der gewerblichen Kalkulation, Besuche von Fabriken,
Werkstätten und Fortbildungsschulen, sowie Diskussionsabende. Für
das Jahr 1904 sind von eben genanntem Verein auch Kurse für
Lehrer an ländlichen Fortbildungsschulen in Aussicht genommen.
Unterrichtsgegenstände sollen sein : Chemie, Pflanzenkunde, Ackerbau-
betriebslehre, Tierpflege, Zoologie, Gartenbau, Geräte- und Maschinen-
lehre, Volkswirtschaft, Buchführung, Lehrplankunde und Methodik.
Endlich sei noch des vom deutschen Verein für Knabenhandarbeit
gegründeten Handfertigkeitsseminars in Leipzig gedacht, auf dem
Volksschullehrer als Lehrer des Handfertigkeitsunterrichts ausgebildet
werden; außerdem finden einzelne Kurse dafür in verschiedenen
Städten statt. Den Hauptteil des Unterrichts bildet die Einführung
in die Technik der einzelnen Arbeitsfächer, nämlich: Arbeiten der
Vorstufe, Papparbeit, Hobelbankarbeit, Holzarbeit für ländliche Schüler-
Averkstätten, Schnitzen, Modellieren, Metallarbeit und Herstellung von
Lehrmitteln (sogenannte Schulhandfertigkeit). In der mit dem Seminar
verbundenen Schülerwerkstätte wird praktische Methodik getrieben.
Außerdem werden Vorträge über die Geschichte, das Wesen und die
einzelnen Teile des Arbeitsunterrichts gehalten, insbesondere auch
seine Bedeutung in pädagogischer, volkswirtschaftlicher, sozialer und
hygienischer Beziehung.
3. Die Tätigkeit der Lehrervereine.
Die Lehrervereine haben schon an einer anderen Stelle dieses
Werks P^rwähnung gefunden. Hier sei noch ihre Bedeutung als
wirksame Vermittler der Fortbildung der Lehrer hervorgehoben.
Die einfachste Art der Weiterbildung im Vereine geschieht
durch Vorträge, die gewöhnlich monatlich einmal .stattfinden, und an
die sich Besprechungen anschließen. Auch Musterlektionen werden
gehalten, natürlich nicht ohne anschließende Debatte. Weiter ver-
anstalten viele Vereine Gesangübungen, oder haben besondere Gesangs-
abteilungen gebildet. So hat der Berliner Lehrergesangverein im
Jahre 1903 den vom Deutschen Kaiser gestifteten Ersten Preis beim
Gesangwettstreit deutscher Männergesangvereine sich erworben. Zahl-
reiche Vereine haben zudem Büchereien eingerichtet, Zeitschriften-
lesezirkel eingerichtet, — alles höchst wirkungsvolle Ergänzungen und
Erweiterungen der vom Staate veranstalteten Konferenzen und Biblio-
theken. Oft vereinigen sich auch mehrere Lehrer zu einem Lesezirkel und
halten z. B. den Kunstwart, den Türmer, die Deutsche Rundschau, die
Deutsche Monatsschrift, die Preußischen Jahrbücher, die Grenzboten, die
Die Fortbildung. 323
Musik USW., die alle einen mehr wissenschaftlichen und vornehm-
ästhetischen Charakter tragen. Dazu kommt die zahllose Reihe der
Familienzeitschriften, wie Westermanns Monatshefte, Daheim usw.
Meist sind auch pädagogische Zeitungen und Zeitschriften vertreten,
so z. B. die Deutsche Schule, Deutsche Blätter für erziehenden Unter-
richt, Evangelisches Schulblatt usw.
Die Fortbildung durch Vorträge und Zeitschriften trägt, so viel
Anregungen sie auch zu geben vermag, doch keinen systematischen
Charakter. Darum ist schon vor bald drei Jahrzehnten der Gedanke
entstanden, wissenschaftliche Vorlesungen und Unterrichtskurse ein-
zurichten. Bahnbrechend ist hier seit 1875 der Berliner Lehrerverein
vorgegangen. Vor einer Reihe \'on Jahren begannen dann die
Universitäten Fortbildungskurse zu veranstalten. Wegen der Kosten
von Reisen und Aufenthalt ist es naturgemäß nur einer beschränkten
Anzahl möglich, solche Kurse zu besuchen. Darum entschlossen
sich zuerst spärlich, dann allgemein die Lehrervereine, nicht nur
größerer, sondern gerade häufig mittlerer und kleinerer Städte,
Dozenten der nächstgelegenen Hochschulen zu gewinnen, die einmal
wöchentlich ein Viertel- oder ein Halbjahr zu Vorlesungen in den
betreffenden Vereinen erscheinen.
Für die spezielle Weiterbildung haben sich bei größeren Vereinen
einzelne Sektionen, so für Literatur, Kunst, Geschichte, Naturwissen-
schaft usw. gebildet. Hier werden Vorträge über diese Gebiete ge-
halten, wissenschaftliche Werke gemeinsam gelesen, Exkursionen
veranstaltet und dergleichen.
Eine führende Stellung in den \^ereinsvorträgen hat schon seit
langen Jahren der Deutsche Lehrerverein, dem über 40 Zweigvereine
mit etwa 2600 Einzelverbänden und über 100 000 Mitgliedern ange-
hören. Alle zwei Jahre hält er — der (3rt ist wechselnd — eine
Vertreterversammlung ab (Deutscher Lehrertag), bei der Vorträge
über die sogenannten Vereinsthemen gehalten werden, die in den
beiden vorhergehenden Jahren in den Einzelverbänden eingehend
erörtert und durchberaten worden sind.
Daneben zeigt sich ein reges Leben in den Zweigvereinen und
Einzelverbänden — oft sind es alltägliche Fragen der Pädagogik, die
hier erörtert werden — und meist zeigte sich ein gründliches Durch-
sprechen des scheinbar Selbstverständlichen äußerst fruchtbar, nicht
selten sogar recht notwendig. Daneben waren es die Tagesfragen
des öffentlichen, wissenschaftlichen und pädagogischen Lebens, die
zur Erörterung kamen. Hier sind auf den Gebieten der Erziehung
324 Die Volksschullehrerhildung.
und des Unterrichts Probleme entdeckt, neue Wege der Pädagogik
gesucht und in erregtester Debatte angegriffen und verteidigt worden,
hier ist das abgestoßen worden, was weiter nichts als ein schöner
Gedanke, vielleicht auch das nicht einmal war! Lief bei den Vor-
trägen und bei den Debatten auch manches Mittelgut dazwischen,
der Lehrstand und die Pädagogik hat ihnen doch viel zu verdanken.
Das bekannte spöttelnde Wort, wo zwei Deutsche zusammen kämen,
gründeten sie mindestens drei Vereine, charakterisiert den Sinn der
Deutschen, gemeinsame Interessen auch miteinander in festem Ver-
bände gemeinsam zu verfolgen : Für die Fortbildung des Lehrerstandes
sind die Vereine ohne Zweifel von größtem Segen gewesen.
Auch auf dem Gebiete des Bücherwesens haben die Lehrervereine
für ihre Mitglieder gesorgt. Eine ganze Reihe von Vereinen besitzt
mehr oder minder umfangreiche Büchereien, die für die allgemeine
und die pädagogische Weiterbildung sorgen. Zwei mögen hier
besonders genannt werden: die pädagogische Zentralbibliothek in
Leipzig und das Deutsche Schulmuseum in Berlin.
Die Pädagogische Zentralbibliothek wurde 1871 als Comenius-
stiftung gegründet und bildet einen Teil des Leipziger Lehrervereins.
Sie will, wie ihr Name besagt, eine Zentralstätte der gesamten
pädagogischen Literatur Deutschlands sein, die sie möglichst mit
Vollständigkeit zu sammeln bemüht ist. Sie besitzt fast 1 10 000 Bände,
Broschüren und Programme, und gehört damit zu den 20 größten
Bibliotheken Deutschlands. Sie verleiht an jeden deutschen Lehrer,
unter Umständen auch in das Ausland. Außer der deutschen Lehrer-
schaft wird sie von Behörden und Gönnern pekuniär unterstützt. Ein
wesentlicher Teil der Bücher, Broschüren, Zeitschriften usw. geht als
Geschenk ein.
Das Deutsche Schulmuseum in Berlin wurde 1876 von dem
Berliner Lehrer-Verein gegründet. Es soll ein möglichst vollständiges
Bild der Entwicklung der Pädagogik Deutschlands (und des Auslands)
geben, soweit sie sich im Schrifttum offenbart. Sie umfaßt rund
30 000 Nummern aus der Zeit von 1500 bis jetzt. Angegliedert ist
eine etwa 1200 Nummern umfassende Handschriftensammlung, in der
alle bedeutenderen Pädagogen, besonders Diesterweg, vertreten sind;
auch alte Anstellungsurkunden, Schulberichte und dergleichen sind
vorhanden. Die Sammlung von Bildwerken beträgt über 300 Blätter,
die der Schul-Münzen etAva 50. Zum Entleihen ist jeder deutsche
Lehrer berechtigt. Dienen die meisten Vereinsbibliotheken haupt-
sächlich der Weiterbildung, ist die pädagogische Zentralbibliothek
Die Fortbildung. 325
eine Sammelstelle der gesamten pädagogischen Literatur, besonders
der gegenwärtigen (und die Produktion auf diesem Gebiete ist äußerst
fruchtbar, v'ielleicht fruchtbarer als im Interesse der Gediegenheit und
Tiefe wünschenswert ist), so will das Deutsche Schulmuseum ein
Archiv des deutschen Erziehungs- und Unterrichts-VVesens sein.
Benutzt wurden im Jahre 1902 aus der Zentralbibliothek über
90 000 Bände, aus dem Deutschen Schulmuseum 5500 Bände —
ein schönes Zeugnis für das Fortbildungsstreben der deutschen
Lehrerschaft !
4. Die Univ' ersität.
In weiten Kreisen der Volksschullehrerschaft wird das Uni-
versitätsstudium als Ziel erstrebt. Es kann natürlich schon aus
wirtschaftlichen Gründen nicht die Rede davon sein, daß das Uni-
versitätsstudium von allen — gegenwärtig über 122 000 — Volks-
schullehrern gefordert werden könnte, sondern es wird sich immer
nur darum handeln können, es einer besonders tüchtigen Minderheit
zur Erreichung der höchsten Stufe der Fortbildung zugänglich zu
machen. Tatsächlich ist auch die Universität den Volksschullehrern
geöffnet. Da sie vermöge ihrer bestandenen Prüfung die Berechtigung
zum einjährigen Militärdienst haben, so sind sie auch berechtigt, sich
nicht nur als Hörer, sondern mittels der sogenannten ,, kleinen Imma-
trikulation" für 4 — 6 Semester als Studierende aufnehmen zu lassen.
Eine Berechtigung zur Ablegung akademischer Prüfungen oder solcher
Examina, die das Universitätsstudium voraussetzen, erwirbt ein Volks-
schullehrer sich damit noch nicht. Unter bestimmten Umständen ist
es ihm im Königreich Sachsen, in Sachsen-Weimar und Hessen er-
laubt, als ,, Student der Pädagogik" die Universität zu beziehen, und
darauf die Pädagogische Prüfung abzulegen. Alle akademischen Rechte
stehen dem Volksschullehrer natürlich zu, wenn er sich an einem
Gymnasium, Realgymnasium oder einer Oberrealschule das Reife-
zeugnis erworben hat.
Das Streben der Volksschullehrerschaft geht aber dahin, auf
Grund der Seminarentlassungsprüfung Bürgerrecht auf der Uni-
versität zu erwerben. Man vertritt die Ansicht, daß die mit dem
Seminar gemeinsamen Fächer des Gymnasiums im wesentlichen die
gleichen Ziele haben, daß die Lehrerbildungsanstalten in Psychologie
und Pädagogik, in Musik und besonderer Nutzung der nationalen
Bildungsmittel ein Äquivalent für die alten Sprachen geben, daß
die Bildung eines Seminaristen der eines Zöglings einer höheren
326 IJ'*^ Volksschullehrerbildung.
Lehranstalt gleichwertig zu erachten ist. Amtlich wird sie jedoch
nur mit der für den einjährigen Militärdienst genügenden gleichgestellt.
Darum läßt sich auch der Wunsch nicht erfüllen, daß die im Be-
sitze des Abgangszeugnisses befindlichen Lehrer sich zur Erwerbung
des Universitäts-Reifezeugnisses nur einer Ergänzungsprüfung zu
unterwerfen hätten, und zwar auf den Gymnasien in Latein,
Griechisch und alter Geschichte, bei den Realg>'mnasien in Latein,
Französisch, Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften, an
Oberrealschulen in Französisch, Englisch, Mathematik und Natur-
wissenschaften. Dann aber birgt das Universitätsstudium die
Gefahr, gerade die besten Kräfte dem Volksbildungswesen, teilweise
überhaupt der Schule abwendig zu machen, da sie nach ordnungs-
mäßiger nachträglicher Erlangung des Reifezeugnisses oft die Prüfung
für das höhere Lehramt oder besonders die theologischen Examina
ablegen, mitunter auch die Rechte, Medizin oder ein Ingenieurfach
studieren. Indem Sachsen, Sachsen - Weimar und Hessen unter
Verzicht auf das Reifezeugnis das Universitätsstudium gestatteten und
eine Prüfung einführten, die gute Aussichten für das spätere Fort-
kommen gewährt, bleiben die Lehrer dem Volks- und Lehrerbildungs-
wesen erhalten. Zudem ist durch die pädagogische Prüfung ein vor-
zügliches Material für das Seminarlehrpersonal gegeben: die Mängel,
die man an Akademikern und Nichtakademikern öfter beobachtet,
können hier in einer gesunden Weise ausgeglichen werden. Darum
meint man zum Teil, es liege im Interesse der Volksschule, die pädago-
gische Prüfung nach vorausgegangenem Universitätsstudium ohne Nach-
weis des Reifezeugnisses allgemein einzuführen. Hierdurch würde dem
einzelnen unter den Volksschullehrern in seinen Wünschen Rechnung
getragen, und der Staat genieße den großen Vorteil, tüchtige Kräfte
dem Volks- und Lehrerbildungswesen zu erhalten, während andern-
falls die Gefahr immer größer wird, daß eine wesentliche Zahl von
Lehrern sich der vollen Reifeprüfung unterzieht und sich dann von
der Volksschule abwendet.
Eine F^inrichtung ist getroffen worden, die einigermaßen einen
Ersatz der Universitätsbildung geben soll, das sind die schon erwähnten
Universitätsferienkurse, die in der Zeit der Sommer- oder Herbst-
Volksschulferien stattfinden, und mit besonderer Rücksicht auf Volks-
schullehrer und Lehrerinnen zumeist auf Anregung der Lehrervereine
veranstaltet werden. Im Jahre 1903 haben solche Kurse in Berlin,
Greifswald, Königsberg, Breslau, Marburg, München, Erlangen und
Jena stattgefunden. P^in Teil dieser Kurse ist auch für Nichtlehrcr
Die F.ntbildun.ü;. [\2.1
bestimmt. In Jena und Münster fanden überdies an den Sonnabenden
des Winters 190?/04 Winterfortbildungskurse statt, in Bonn während
der Weihnachtsferien. Die Staaten geben vielfach \\esentliche Geld-
beihilfen.
Das deutsche Lehrerbildungswesen kann auf keine allzu lange
Geschichte zurückblicken und einen Volksschullehrerstand gibt es erst
seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Aus einfachsten Anfängen hat er
sich zu bedeutender Höhe emporgeschwungen. Er kann stolz sein,
daß es in erster Linie die Staatsfürsorge war, die ihn bei seinem Em-
porarbeiten unterstützte, und die ihm auch heute noch nachdrücklichst
ihren Schutz und ihre Hilfe angedeihen läßt, er kann auch stolz sein,
dals ihn seine eigene Kraft geistig und beruflich ganz wesentlich ge-
hoben hat. Noch ringt er nach Anerkennung seiner selbst und seiner
Arbeit seitens einzelner Stände, — sie wird ihm auf die Dauer nicht
fehlen. Dafür spricht die Höhe seiner geistigen Bildung, sein ehren-
werter Charakter und die Stütze, die er am Staate findet.
Literatur.
Sander, Volksschullehrerseminare, in Schmid, Enzyklopädie des gesamten Er-
ziehungs- und Unterrichtswesens. 2. Aufl. Bd. 10 (1887) S. 49 fl".
Andreae, Volksschullehrerbildung, in Rein, Enz)klopädisches Handbuch der
Pädagogik. Bd. 7 (1899) S. 1040 ff.
P^ischer, Gescliichte des deutschen Volksschullehrerstandes. 2. Aufl. (18981.
Andreae, Zur inneren Entwicklungsgeschichte der deutschen Lehrerbildungs-
anstalten. (1893).
Muthesius, Würdigung der neuen preußischen Lehqjläne und Prüfungsordnungen.
Sonderdruck aus den Pädagogischen Blättern für Eehrerbildung und Lehrerbildungs-
anstalten. Bd. 30 (1901).
Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik. 34. Jahrgang. (1902)
S. 49 ft".
Jahrbuch des Deutschen Lehrervereins. (Teil 2 des Kalenders für deutsche
\'olksschullehrer) Jahrgang 1 ff. (1875 ff.)
Zahlreiche Aufsätze, Konferenz- und Vereinsberichte, Notizen und dergl. finden
sich in folgenden Zeitschriften:
Pädagogische Blätter für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanstalten. Be-
gründet von Kehr, fortgesetzt von Schöppa, jetzt herausgegeben von Muthesius. Band 1 H.
(1872 ff.).
Die Deutsche Schule. Herausgegeben von Rißmann. Jahrgang 1 ff. rl897 ff.)
Pädagogische Zeitung. Herausgegeben vom Berliner Lehrerverein. Jahr-
gang 1 ff. (1872 ff).
STATISTISCHE ÜBERSICHT
ÜBER DIE STAATLICHEN ANSTALTEN FÜR VOLKSSCHUL-
LEHRER- UND -LEHRERINNEN -BILDUNG
IM DEUTSCHEN REICH.
330
Statistische Übersicht.
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334
Statistische Ü b e i
Bayern — Sachsen.
335
II. Königreich Bayern.
nart- und l'i
mdenanstaltei
iZahl der
Jnhre ! Anstalten
Anstalts- c Ji ! I
arten ^ ^ 'S
Zahl der Zöglinge
~"
Zahl der Lehrkräfte
Summe
der Aus-
gaben nach
'dem Etat
in Mark
Männ-
liche
Weib-
liche
Evange-
lische
Katho-
lische
1
Männ-
liche
Weib-
liche
Evange-
lische
Katho-
lische
Sonstige
A. Seminare.
1889/90 13 6 1024 836 188 336 650
38; 168 35 49 149 5
i. T. 1889:
1899/1900 U 11 1312 818 49+ 242 1036
34 i 177 67 50 185 8
1 034 203
1902,03 1) 15 . 3,1588 1046 542 .
. 1:4)177 4)26 . . .
i.T. 1899:
]_!. Präparandenanstalten.
1 173 590
1889/90 36 10 2025 1780 245 690 1225
110 241 48 80 193 16
i. I. 1902:
1899 1900 36 11 1995 1478 517 486 1400
109 218 38 73 170 13
1 384 293
1902 03 -) 37 , .
Die Lehrerseminare sind 2 kursig, die Präparandenanstalten 3 kursig.
■) Davon sind 4 protestantische und 8 katholische Lehreiseminare. Von den 3 Lehreri
mit Seminaren eng
1 eine piritätische
Seminaren ist 1 protestantisch, 1 katholisch und 1 paritätisch. — -) Davon sind '
verbunden. Von den 37 Anstalten sind 10 protestantische, 23 katholische und
Präparandenanstalt. Von den 3 Anstalten für Präparandinnen ist I protestantisch, 1 katholisch und
1 paritätisch. — ■•) Mit Einschluß der Zöglinge von 7 mit den Seminaren eng verbundenen Präpa-
randenanstalten. — ••) Mit Einschluß der Lehrkräfte von 7 Präparandenanstalten sowie der Lehrer
und Lehrerinnen der mit den Seminaren verbundenen Üoungsschulen.
Die Zahlen dieser Tabelle sind dem Statistischen Jahrb. f. d. Königr. Bayern, der
Zeitschr. des K. b. Statist. Bureaus (Jahrgang 1901/02) und, soweit sie das Jahr 1902/03
betreffen, dem Stat. Jahrl). d. höh. Schul. Deutschlands entnommen.
III. Königreich Sachsen.
lem I nare.
Zahl der |
Seminare
Zahl der Zöglinge
überhaupt ^J^""^^' ^'^^h«"
lische lische ^ :
w. I m. \v.
11
Beiträge
Gesamt- \ des Staates
ausgaben | ^^^ "^'^
j Ausgaben
M.
M.
1889/90 j
1894,95 !
1899 1900
1902 03
1)17 2
1)171 2
h20 3
2330 ! 145 2303 1 139 27 4
2734 187 2665 I 180 69 5
3425 234 3335 j 233 90 —
3857 349 3750 . 107 .
248 3) 19 [ 5) 1 124 646' 1 037 862
290 3)22 iN) 1772 811 1336 535
314 3) 17 (i) 1 820632 '0 1 712306
!)359 4)2o' M 1 960 000
Die Seminare zählen stets 6 aufsteigende Klassen.
M Davon ist 1 Seminar katholisch. — ^) Mit Einschluß von Lehrern der mit den Seminaren
verbundenen Übungsschulen, aber ohne die Lehrer des mit der höheren Mädchenschule eng ver-
bundenen Lehrerinnenseminars zu Leipzig. — ^J Ohne die Nadelarbeitilehrerinnen. — *) Ohne die
Lehrerinnen des städtischen Lehrerinnenseminars zu Leipzig. — '') Die Gesamtausgaben beziehen
sich auf das vorhergehende Jahr, also auf die Jahre 1888 und 1893. — ") Betrag der Ausgaben und
Staatsbeiträge für das Jahr 1898 aber ohne Einbeziehung des hohen Postens für Neubauten in Höhe
von 1098 947 M. — ■} Die eingestellte Summe bezeichnet nur den ungefähren Betrag.
Die Zahlen der ersten 3 Jahre stammen aus den Berichten der Unterrichts- und
Erziehungsanstalten im Königr. Sachsen, die Zahlen für das Jahr 1902 aus dem Stat.
Jahrb. d. höh. Schul. Deutschlands.
336
Statistische Übersicht.
IV. Königreich Württemberg.
Seminare und Pr
äparandenanstalten.
Jahre
Anstalts-
Zahl der An-
stalten
Zahl der Zöglinge
Zahl der Lehr-
kräfte 2)
Beiträge des
Staates
für
Lehrer
^1
über- Evange-
haupt lische
Katho-
lische
Evange-
lische
Katho-
hsche
Lehrer-
Idungs-
istalten
rLehre-
innen-
ildungs
istalten
arten
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ev. jkath.
m. j w.
m. 1 w.
m. 1 w.
m. 1 w.
m. 1 w.
M. M.
A. Seminare.
1892
3)6; 2 5)2 468' 55 ; 339 36 129 | 19 6)51 3 8)1?: .
239 861 10)19 200
1902
1)7 2 ■^)2' 511 62 350 36 161 26 |')59| 3 9)2l' .
298 837 28 280
B. Präparandenanstalten.
1892 !
—
379' - 232 - 147 1 —
—
1902
-
415 -
305 -
110{ -
. -
. 1-
83 179 —
Die Seminare sind 3 kursig, die Präparandenanstalten 2 kursig.
') Ohne Einbeziehung des mit dem Katharinenstift in Stuttgart verbundenen Lehrerinnen-
serainars. — ^) Ohne die Lehrkräfte am katholischen Lehrerinnenseminar zu Gmünd. — ä) ;Mit
Einschluß von 2 evangelischen Privatschullehrerseminaren. — ■*) Desgl. mit Einschluß von 3 solchen
Seminaren. — =) Davon ist 1 evangelisch und 1 katholisch. — ') Einschl. 10 Lehrer an den mit den
Seminaren verbundenen Übungsschulen. — ') Einschl. 12 Lehrer an solchen Übungsschulen. — *) Einschl.
4 Lehrer an den Übungsschulen. — ") Einschl. h Lehrer an den Übungsschulen. — w) Betrag des
Beitrages des Staates nur für das evangelische Lehrerinnenseminar zu IVIarkgröningen.
Die Zahlen obiger Tabelle sind der „Statistik des Unter, u. Erzieh, im K. Württ."
entnommen.
V. Großherzogtum Baden.
Seminare und Präparandenanstalten.
Jahre
Anstalts-
arten
Zahl der
Anstalten
'S s
Zahl der Zöglinge
über- Evange- 1 Katho-
haupt
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Sonstige
m. I w. m. I w. I m. I w, I m. I w.
Zahl der Lehr-
kräfte
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Gesamt-
Davon
durch
Staats-
ausgaben beitrage
gedeckt
M.
M.
A. Seminare.
1892/93
1901/02
389 87 .
477 87 1,3^
54 338 27 -'|7 3j6
B. Präparandenanstalten
1892/93 3
1901/02 I 3
170 i —
196;-
381 — j 156
■-')2
i|22
2
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8)9[|
6)13
1
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-i)
i. J. 1892
259 265 161 145
i. T. 1902
318 568 204 108
Die Seminare umfassen 3 Jahreskurse, die Präparandenanstalten 2.
Von den Lehrerseminaren sind 2 katholisch, 1 protestantisch und 1 paritätisch;
das Lehrerinnenseminar ist paritätisch
') Außerdem noch 3 Lehrerinnenseminare, darunter ein privates, die sich von den mit
ihnen eng verbundenen höheren Mädchenschulen nicht trennen lassen. — '■'} Israeliten. — ^) Davon
3 Altkatholiken und 3 Israeliten — ■") Darunter 20 Neben- und Hiilfslehrer. — ^) Darunter 2-1 Neben-
und Hülfslehrer. — «) Darunter 8 Neben- und Hülfslehrer. — ^) Darunter 7 Neben- und Hülfslehrer.
— "J Darunter 5 Neben- und Hülfslehrerinnen.
Die Zahlen der Tabelle sind aus dem „Statist. Jahrb. f. d. Großh. Baden" genommen.
Der bedeutendere Unterschied zwischen der Höhe des Staatsbeitrages und der
Summe der Gesamtausgaben in Baden erklärt sich mit daraus, daß der Staat zu den
Kosten des Prinzessin Wilhelm-Stiftes idas großherzogl. parität. Lehrerinnenseminar) nur
einen ganz geringen Beitrag zahlt.
Württemberg und andere Tiuiidesstaaten.
337
VI. Großherzogtum Hessen.
Seminare und Präparandenanstalten.
Jahre
Anstalts-
arten
Zahl der
Anstalten
Zahl der
Zöglinge
Zahl der
Lehrkräfte
Beiträge des Staates
zu den Kosten
t für Lehrer
für
Lehrerinnen
überhaupt
Ev^ange-
lische
Katho-
lische
Jüdische
m
III
i. ^ ^
der der Lehre-
Lehrer- rinnen-
Bildungs- | Bildungs-
anstalten anstalten
M. M.
m. w.
m. w.
m. 1 w.
m. 1 w.
A. Seminare.
1892/93
3 1 ! 314 33 238 i .
73 1 .
3 i .
2)22
•2j 9
112284
1901/02
3 1)3 320 127 229 .
88 .
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129 156 31 405
1j. Präparandenanstalten.
1892/93 jj 3 1 — j|182 — , 131 —
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—
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23 603 -
1901/02
1 ^ i"!
170 -
131 -
39
-
27 404 —
Die Seminare bestehen aus 3 Klassen, die Präparandenanstalten anscheinend aus 2.
'1 Außer den beiden mit den städtischen höheren Mädchenschulen zu Darmstadt und iNIainz
verbundenen Lehrerinnenseminaren noch das Seminar für Volksschullehrerinnen zu Darmstadt, das
erst am 5. Juni 1902 mit ^vorerst 3 Klassen und) 53 Zöglingen eröffnet worden ist. 2) Nur die Zahl
der Lehrer der Lehrerseminare.
VII. Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin.
Lehrerbildungsanstalten.
Zahl der Anstalten
Zahl der Klassen
Zahl der
Zöglinge
Zahl der Lehrer
1892 1902
1892 1902
1892
1902
1892 1902 i
2 2
1) 7 -2) 9
3) 220
328 '
^) 22 i) 33
Die Gesamtausgaben betrugen 1902: 136 000 M. mit Einschluß der Kosten der
Seminarschule zu Neukloster (6 aufsteigende und 1 gemischte Klasse).
Außerdem gibt es 1 städtisches und 3 private Lehrerinnenseminare, die mit höh.
Mädchenschulen verbunden sind.
') Davon fallen 2 Klassen auf das Seminar zu Lübtheen und 2 Seminarklassen sowie 3 Prä-
parandenklassen auf das Seminar zu Neukloster. — '') Desgl. 2 Klassen und 2 Vorbereitungsklassen
auf das Seminar zu Lübtheen und 2 Seminarklassen sowie 3 Präparandenklassen auf das Seminar zu
Neukloster. — ^) Davon ist die Zahl der Schüler des Seminars zu Lübtheen (40) durch Schätzung
gewonnen. — ^) Wohl mit Einschluß der Lehrer der Übungsschulen.
Die Angaben dieser und aller folgenden Tabellen bis zu der Tabelle über die
Seminare und Präparandenanstalt in der Freien und Hansestadt Lübeck sind aus dem
„Statistischen Jahrbuch der höheren Schulen Deutschlands" genommen.
vm. Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz.
Ein Lehrerseminar mit 15 Schülern und 6 Lehrern (1902J. Der Seminarkursus
■;t 3jährig.
Das Untenichtswesen im Deutschen Reich. HL
Statistische Übersicht.
IX. Großherzogtum Sachsen.
Seminare.
A n s t a 1 1 s a r t e n
Zahl der
Anstalten
1 Zahl der
Schüler bezw.
Schülerinnen
Zahl der
Lehrer
Zahl der
Lehrerinnen
1892 1 1902
1892 1902
1892 1902
1892 1902
Lehrerseminare ....
Lehrerinnenseminar . . .
V :
148 199
18 32
26 25
:
_ !
1
Summe der Ausgaben: 1892 rund 50 000 M., 1902 gegen 70 000 M.
Die beiden großherzoglichen evangelischen Lehrerseminare zu Eisenach und Weimar
zählen 3 und 6 Klassen, der Kursus des städtischen evangelischen Lehrerinnenseminars
zu Eisenach ist 3jährig. — Die Zahl der Lehrer umschließt auch die Zahl der Lehrer an
den Übungsschulen. Die Zahl der Lehrer und Lehrerinnen am Lehrerinnenseminar kann
nicht angegeben werden, da dasselbe mit der städtischen höheren Mädchenschule in
Eisenach (9 Klassen mit 305 Schülerinnen) eng verbunden ist. Ebenso läßt sich der
Etat des Lehrerinnenseminars von dem der höheren Mädchenschule nicht trennen.
X. Großherzogtum Oldenburg.
Zwei Lehrerseminare, ein evangelisches und ein katholisches, das erstere mit
170 Schülern und 11 Lehrern (1902), das katholische (in Vechta) mit 6 Lehrern. Staats-
beitrag rund 80 000 M.
XI. Herzogtum Braunsehweig.
Seminare.
Anstaltsarten
Zahl der
Anstalten
Zahl der
Schüler bezw.
Schülerinnen
Zahl der
Lehrer
Zahl der
Lehrerinnen
1892 1902
1892 1 1902
1892 i 1902
1892 1 1902
Lehrerseminare ....
Lehrerinnenseminare . .
2^ 2
2 2|
1)273 1)314
32 109
24 ' 30
-
Staatsbeitrag: für die Lehrerseminare 1902 1 04 609 M., für die Lehrerinnenseminare
2 100 M. als Betrag des Staatszuschusses für das mit der höheren Mädchenschule zu
Braunschweig verbundene Lehrerinnenseminar. Die Etats der beiden Lehrerinnenseminare
zu Braunschweig und Wolfenbüttel lassen sich im übrigen nicht von den Etats der mit
ihnen verbundenen höheren Mädchenschulen abtrennen.
Das Braunschweiger Lehrerseminar zählt 6 Klassen und das Wolfenbütteler 3 Seminar-
klassen und 3 Präparandenklassen, der Kursus des Lehrerinnenseminars ist 3jährig. Die
beiden Lehrerinnenseminare zu Braunschweig und Wolfenbüttel, von denen das erstere
vom Staat und von der Stadt unterhalten wird, sind eng mit höheren Mädchenschulen
(mit über 700 und 300 Schülerinnen) verbunden, und kann die Zahl der s])eziell zu den
Seminaren gehörigen Lehrkräfte nicht angegeben werden.
■l Ohne Einbeziehung der 13 Zöglinge des sog. Hauptseminars (zu Wolfenbüttel), welche
bereits die erste Prüfung bestanden haben und an den Biirgerschulen der Stadt unterrichten. —
(iroßherzogluni Saclisen und andere IJundesstaaten. 339
XII. Herzogtum Sachsen-Meiningen.
Vau Lehrerseminar mit 182 Schülern und 12 Lelirern (1902). Ausgalien rund
30 000 M.
Ein Lehi-erinnenseminar mit 18 Schülerinnen.
Der Kursus des herzogl. Lehrerseminars ist 6 stutig, der Kursus des Lehrerinnen-
seminars ist Själirig.
XIII. Herzogtum. Sachsen-Altenbxirg.
Ein Lehrerseminar mit 150 Schülern und 12 Lehrern, .\usgaben 68 700 M. (1902).
Das Seminar zählte im Jahre 1902 6 Klassen.
XIV. Herzogtum Sachsen-Coburg imd Gotha.
Zwei Lehrerseminare mit 152 Schülern und 18 Lehrern. Ausgaben 81 250 M. (1902).
Das ("oburger herzogl. Lehrerseminar zählt 3 Klassen, das Gothaer 6 Klassen.
Außerdem Lehrerinnenseminar am Herzogin Marie-Institut (ev. höhere Privat-Töchter-
schule zu (lotha). Ferner sind an der Ale.xandrinenschule zu Coburg Vorbereitungs-
kurse für die Lehrerinnenprüfung eingerichtet.
XV. Herzogtum Anhalt.
Ein Lehrerseminar mit 182 Schülern und 16 Lehrern. Ausgaben 106 000 M. (1902).
Ein Lehrerinnenseminar mit 52 Schülerinnen.
Das Lehrerseminar zählt 6 Klassen, das Lehrerinnenseminar 3 Klassen. Das
Lehrerinnenseminar ist eng mit der Antoinettenschule (mit 448 Schülerinnen) zu Dessau
verbunden, daher läßt .-ich seine Lehrerzahl und die Höhe seines Etats nicht feststellen.
XVI. Fürstentum Sehwarzburg-Rudolstadt.
Ein Lehrerseminar mit 30 Schülern und 15 Lehrern. Staatsbeitrag 12 700 iL mit
Einschluß von 1500 M. zur Unterstützung des Präparandenwesens. (1902).
Der Kursus des Seminars ist 3 jährig. LJie Lehrer sind meist Lehrer im Nebenamt
(1902 waren es 12).
XVII. Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen.
Ein Lehrerseminar mit 64 Schülern und 9 Lehrern. .Ausgaben 25 500 M. (1902).
Ein Lehrerinnenseminar mit 36 Schülerinnen.
Der Kursus des Lehrerseminars dauert 6 Jahre. Das Lehrerinnenseminar ist mit
der städtischen höh. Mädchenschule eng verbunden, wird aber vom Staate unterstützt. —
In der Zahl der Lehrer sind Neben- und Übungsschullehrer mit enthalten.
XVIII. Fürstentum Reuss ä. L.
Ein Lehrerseminar mit 64 Schülern und 7 Lehrern. Ausgaben 22 800 iL (1902).
Das Seminar besteht aus 2 Seminarklassen und 1 Präparandenklasse.
XIX. Fürstentum Reuss j. L.
Ein Lehrerseminar mit 134 Schülern und 10 Lehrern. Staatsbeitrag 38200 M. (1902).
Das Seminar umfaßt 6 Klassen. — Li der Zahl der Lehrer sind Lehrer der Übungsschule
jnit eingeschlossen.
22*
3-10
Statistische t'hersicht.
XX. Fürstentum Schaumbiirg-Lippe.
Ein Lehrerseminar mit 12 Schülern und 4 Lehrern (1902).
XXI. Fürstentum Lippe.
Ein Lehrerseminar mit 52 Scliülern und 8 Lehrern. Ausgaben 35000 M. (1902)>
Der Kursus des Fiirstl. Lehrerseminars ist 3 jährig. — In der Zahl der Lehrer
sind Xebenlehrer und der Lehrer der Übungsschule mit einbegriffen. Es besteht eine
private evangelische Präparandenanstalt mit 30 Scliülern.
XXII. Freie und Hansestadt Lübeck.
Lehrerbildungsanstalten.
Anstaltsarten
Zahl der
Anstalten
Zahl der
Zöglinge
Zahl der
Lehrer
Zahl der ,
Lehrerinnen
1894
1902
1894 1 1902
1894
1902
1894 1902
Lehrerseminar
Lehrerinnenseminar . . .
Präparandenanstalt . . .
1
1
1
1
70
48 43
— 90
12
12
9
•
1 —
1
Das Lehrerseminar, ein Institut der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger
Tätigkeit, dessen Verstaatlichung beabsichtigt ist, zählt 3 Klassen; das staatliche Lehre-
rinnenseminar und die staatliche Präparandenanstalt umfassen 3 Jahrgänge. — Die Zahl
der Lehrer des Lehrerseminars ist auch im „Stat. Jahrb. d. h. Seh. D." für das Jahr 1902,
nicht vermerkt. — Die meisten Lehi-er am Lehrerinnenseminar sind nur Lehrer im
Nebenamt. — Der Staat leistet seit 1891 zu den Kosten des Lehrerseminars einen jähr-
lichen Zuschuß von 1800 M. ; im übrigen werden die Kosten von der Gesellschaft zur
Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit getragen.
XXIII. Freie Hansestadt Bremen.
Jahr
Zahl
der Anstalten
Zahl
der Zöglinge
Zahl
der Lehrer 1)
Zahl
der
Beiträge
des Staates 3j
für
Lehrer
für
Lehre-
rinnen
am
Lehrer-
seminar
an den
Lehre-
rinnen-
seminaren
Lehre-
rinnen
2)
männl.
weibl.
M.
1892 . .
1902 . .
1
1
2
2
62
105
106
120
8
12
15
11
36 772
ca. 80 000
Der Kursus des staatlichen Lehrerseminars ist 6 jährig, der der beiden privaten
Lehrerinnenseminare 3 jährig.
1) Mit Einschluß der Fachlehrer. — 2) Mit Einschluß der Fachlehrerinnen. — 3) Die Beiträge
des Staates beziehen sich nur auf das staatliche Lehrerseminar ; über die Kosten der beiden privaten
Lehrerinnenseminare kann nichts angegeben werden.
Die Angaben für das Jahr 1892 entstammen dem „Jahrbuch für Bremische Statistili",.
die für das Jahr 1902 dem „Stat. Jahrb. d. h. Seh. D."
SclKiuinburg-I.ip]ie und andere Bundesstaaten.
341
XXIV. Freie und Hansestadt Hamburg.
l-ehrerbildungsanst alten.
Jahre
Anstaltsarten
Zahl
der
An-
stalten
Zahl
der Zöghnge
Zahl
der
Lehrer
Zahl
der
Lehre-
rinnen
Summe
der Ausgaben für
Gehälter
M.
männl.
weibl.
1892/93
Lehrerseminar
Präparandenanstalt ....
Lehrerinnenseminar ....
Präparandinnenanstalt . . .
Lehrerinnenseminar des
Klosters St. Johannis . .
1901/02
Lehrerseminar
Lehrerinnenseminar ....
Lehrerinnenseminar des
Klosters St. Johannis . .
1
1
1
1
1
1
1
1
101
109
1)187
72
68
108
•2) 130
3)101
i)32
5) 16
1
i 18
•
4) 7
5) 5
1
]
, ungef. 120 000 ö)
} ungef. 145 000')
Das Lehrerseminar und die Präparandenanstalt umfassen je 3 Klassen, das Lehre-
rinnenseminar und die Präparandinnenanstalt je 2 Klassen; das die frühere Präparanden-
anstalt mit umschließende Lehrerseminar des Jahres 1901/02 zählt demnach 6 Klassen
und das in der gleichen Weise zusammengesetzte Lehrerinnenseminar desselben Jahres
4 Klassen. Auch das Lehrerinnenseminar des Klosters St. Johannis zählt 4 Klassen.
') Sämtlich evangelisch. — ^) Sämtlich evangelisch bis auf 2 Jüdinnen. — ^) Davon sind
<*;) evangelisch. — ^} Einschließlich der Lehrer und Lehrerinnen, welche an den mit den Seminaren
verbundenen Übungsschulen unterrichten. — ^) Die hier aufgeführten Lehrer und Lehrerinnen sind
2ugleich Lehrer und Lehrerinnen an der großen mit dem Lehrerinnenseminar verbundenen höhern
Mädchenschule des Klosters St. Johannis (21 Klassen mit 587 Schülerinnen). Für das Jahr 1901 02
kann ihre Zahl garnicht mehr angegeben werden. Ebensowenig läßt sich der Etat des Lehrerinnen-
seminars vom Kloster St. Johannis von dem der höhern Mädchenschule trennen. — *) Dazu kommt
noch ein Betrag an Staats- und Privatstipendien von rund 24 000 M. — ') Dazu ein Stipendienbetrag
von ungefähr 33000 M.
Alle Angaben über die Schüler und für das Jahr 1901/02 auch über die Lehrer
sind den Jahresberichten der Oberschulbehörde entnommen, während die Lehrer- und
Lehrerinnenzahl für das Jahr 1892/93 aus dem „Statist. Jahrb. d. h. Seh. D." entlehnt
werden mußte.
342
Statistische Übersicht.
XXV. Reichsland Elsaß-Lothringen.
Lehrerbildungsanstalten.
Jahre
Zahl
der
Zahl der
Schüler
bezw.
1
Zahl
der
Summe
der
Anstaltsarten
Anstalten
Schülerinnen
.^
Lehrkräfte
Ausgaben
1
1
ev. kath.
ev. kath.
ä
ev. kath.
A. Lehrerseminare
1
1893 ....
1 5
70
M4I3
—
52
1902 ....
1 4
64
ij302
- !
9 41 i
B. Lehrerinnensem.
1
1
i. T. 1890
1890 ....
1 2
58
150
_ '
22
677223 M.,
1902 . . . . !
1 1
61
97
—
-) 8 •-') 9
i. T- 1902
C. Präjmrandenanst.
[
636 950 M.
1890 . . . . i
1 ' 3 1
51
159
—
12 ,
1902 ....
1 3
—
_
Die Seminare zählen gewöhnlicli 3, die Präparandenanstalten 2 Klassen.
Im Jahre 1902 gab es nur noch 4 katholische Seminare, da eins der Seminare zu
Colmar aufgehoben worden war. Für das Jahr 1902 führt das „Stat. Jahrb. d. h. Seh. D."
nur 2 Lehrerinnenseminare auf. Es fehlt in dem betreflenden Verzeichnis das erst im
Jahre 1898 eingerichtete ^'orseminar für Lehrerinnen zu Chäteau-Salins.
Die Angaben für das Jahr 1890 sind aus dem „Statistischen Handbuch für Elsass-
Lothringen" entnommen, die für das Jahr 1902 aus dem „Stat. Jahrb. d. h. Seh. D."
') Mit Einschluß der Präparanden derjenigen Präparandenanstalten, welche mit den Seminaren
eng verbunden sind. — ^) Davon sind 3 Lehrer, die übrigen Lehrerinnen.
XXVI. Lehrerseminare, staatliche Lehrerinnen seminare und
staatliche Präparandenanstalten im Deutschen Reich im Jahre 1902.
(Bemerkungen zu nebenstehender Tabelle.)
In den beiden ersten Spalten bezeichnet S Seminar und P Präparandenanstali
bezw. — in der 2. Spalte für Bayern — Präparandinnenanstalt. Die Zahlen ohne Buch-
staben beziehen sich stets auf Seminare. — Über den konfessionellen Charakter
der Anstalten finden sich die näheren Angaben, soweit solche überhaupt gemacht werden
können, in den vorhergehenden Tabellen über die Seminare der einzelnen Staaten
verzeichnet. Betrefls der kleineren protestantischen Staaten sei im allgemeinen bemerkt,
daß die in ihnen liegenden Anstalten — abgesehen von den Phallen, in denen eine andere
Konfession ausdrücklich vermerkt ist — als evangelische angesehen worden sind und dem-
gemäß die Gesamtheit ihrer Zöglinge, soweit nicht anders lautende Angaben vorlagen,
den Evangelischen zugerechnet worden ist.
Betrefls der Zahlen der beiden letzten Spalten sei hervorgehoben, daß von den
größeren Bundesstaaten das Königreich Sachsen, welches das gesamte Präparandenwesen
verstaatlicht hat, und für welches daher in dieser Tabelle eine verhältnismäßig besonders
hohe Zahl von Präparanden verrechnet werden konnte, am günstigsten dasteht. In
Bayern fehlt wie in Preußen die recht beträchtliche Zahl der Zöglinge aller privaten
Bildungsanstalten. Außerdem ist noch zu berücksichtigen, daß in allen größeren Bundes-
staaten, außer Preußen vmd Sachsen, nämlich in Bayern, Württemberg, Baden, Mecklenburg-
Schwerin, Elsaß-Lothringen und (anscheinend auch in) Hessen der Gesamtkursus der
Seminare und Präparandenschulen ein 5 jähriger ist, sodaß in einem Jahre durchschnittlich
ein erheblicherer Bruchteil der Gesamtheit der Zöglinge zur Prüfung gelangen könnte. —
Das besonders ungünstige Ergebnis für Mecklenburg- Strelitz ist darauf zurückzuführen,
daß nach den Ausweisen des „Stat. Jahrb. d. h. Seh. D." die Zahl der Seminaristen von
ungefähr 30 in den ersten neunziger Jahren allmählich bis auf 15 zurückgegangen ist,
und daß über etwaige Prä])aranden des Großherzogtums gar keine Angabe vorliegt.
Elsaß-Lothringen — Deutsches Reich.
34:
Bundesstaate;
Deutsches Reich
t
Preußen
Bayern
Sachsen . .
Württemberg
I Hessen.
Mecklenburg-Schwerin . . .
Sachsen-Weimar
Mecklenburg-Strelitz . , . .
Oldenburg
Braunschweig
Sachsen-iNIeiningen . . . .
Sachsen-Altenburg
Sachsen-Coburg und -Gotha
Anhalt
Schwarzburg-Sondershausen .
Schwarzburg-Rudolstadt . .
Waldeck und Pyrmont M . .
Reuß ä. I
Reuß j. L
Schaumburg-Lippe
Lippe
Lübeck
Zahl der.
Anstalten
Zahl der Zöglinge
sämtlicher Anstalten
männl. weibl.
Bremen . . . .
Hamburg . . .
Elsaß-Lothringen
Deutsches Reich
125S
44 P
128
34P
20
7S
6P
4S
3P: -
3S 1) 1
^V
2 I -
1
2 i -
2 I ,
1 1
1 1
1
1 j -
1 I -
1 ! -
1 1 -
ri:
1 1
5S ! 2
4P -
12
3S
3P
3
2
1
199S 29S
9ÖP j 3P
= 16124
2)1 900
3 857
926
673
490
328
199
15
3) 220
314
182
150
152
182
64
30
64
134
12
52
992
2)800
349
62
87
0 53
39
kath.
11666:5)5430
') 600 '-') 2050
4099:
691 !
107!
297
224;") 521
413 8) 1271
160 43
105
187
l 536
130
158
27056 2801
328
199!
15
170
353
182
15o!
152
234
100
30
64
134
12,
52;
203 —
2138
3251
1089
2343
2776
2285
1853
— 1] 1823
— I 6840
50 j 1814
— 11 1325
— i! 1377
— i| 1299
— II 1510
— j| 1737
— ll 1264
2280
1069
1039
I, 3594
l 2672
l| 605
105 -
315 9) -
175 519 I 3208
2142
4109
20666^0)9101 : 2083
i| Waldeck hat keine eigene Anstalt. Nach den Angaben des „Stat. Handb. 1". d. pr. Sc." be-
suchten im Jahre 1902 14 Waldecker die preußischen Seminare in der Provinz Hessen-Nassau. —
-I Die hier verzeichneten Zahlen sind ganz ungenau. Sie mußten, soweit sie sich auf die Anstalten
für Präparanden und Präparandinnen beziehen, erst durch Schätzung gewonnen werden. Dabei wurden
die betreffenden Verhältnisse des Jahres 1899 zugrunde gelegt und für die Privatanstalten, die in
dieser Tabelle nicht berücksichtigt werden (1899 zählte man deren 11), eine erhebhche Zahl in
Abzug gebracht. — ■') Dabei sind schätzungsweise 50 Zöglinge auf das katholische Seminar zu Vechta
angerechnet worden. — ■■) Außer den Lehrerinnenseminaren an den städtischen Mädchenschulen zu
Darmstadt und Mainz. S. VI. — ') Dazu noch 20 Jüdinnen. — «) Die Zahl ist ungenau, vergl. Anm. 2.
i)azu noch 50 jüdische Zöglinge, deren Zahl erst durch Schätzung gewonnen ist. — ") Dazu noch 15
einer andern Konfession Angehörige (13 Jüdische und 3 Altkatholiken). — «) Dazu noch 3 Jüdische. —
'•') Dazu noch 2 Jüdinnen. — i") Dazu noch 90 einer andern Konfession Angehörige.
DRITTE ABTEILUNG.
TAUBSTUMMEN- UND BLINDENUNTERRICHT.
ERSTER ABSCHNITT.
Das Taubstummen-Bildungswesen im Deutschen Reich.
I. Gesclnchtliche Entwicklung des Taubstummen-Bildungs-
wesens in Deutschland.
Deutschland darf sich mit zu den Ländern rechnen, in denen
der Taubstummenunterricht zuerst in geordneter Weise betrieben
worden ist. Einzelne Versuche in dieser Richtung sind schon in
früheren Jahrhunderten zu verzeichnen. So unterrichtete der Probst
Joachim Pascha zu Wusterhausen a. d. Dosse (1527 — 1578) seine
taubstumme Tochter erfolgreich mit Hilfe von Bildern. Dr. G.
Raphel, Superintendent in Lüneburg, berichtet in einer 1718 erschie-
nenen Schrift: „Kunst, Taube und Stumme reden zu lehren", über
die Methode, die er bei dem Unterricht seiner drei taubstummen
Kinder angewandt hatte. Auch der Superintendent Lasius veröffent-
lichte eine ,, Ausführliche Nachricht von der geschehenen Unter-
weisung der taub- und stummgeborenen Fräulein vpn Meding"
(Leipzig 1778), und der Pfarrer Arnoldi zu Großenlinden bei Gießen
schuf um diese Zeit in seinem Hause schon in gewissem Sinne eine
kleine Taubstummenanstalt und veröffentlichte über seine Methode
eine , .Praktische Unterweisung, taubstumme Personen reden und
schreiben zu lehren (Gießen 1777, Fortsetzung 1781).
Immer aber handelte es sich nur um einzelne Unterrichtsversuche;
die Mittel, allen Taubstummen zu helfen, wurden erst von dem
Abbe de l'F^pee in Frankreich und von Samuel Hei nicke in Deutsch-
land gefunden. Samuel Heinicke hatte nach einer bewegten Jugend
eine Stellung als Lehrer und Organist in Eppendorf bei Hamburg
gefunden. Hier begegnete ihm ein taubstummer Knabe, und da er
sich bereits in Dresden mit einem solchen Kinde beschäftigt hatte,
348 Taubstummen- und Blindenunterricht.
entschlqß er sich, sich jenes Knaben anzunehmen. Bald fanden sich
noch andere taubstumme Kinder hinzu, und so entstand in Eppen-
dorf eine kleine Taubstummenanstalt, deren Erfolge bald so bekannt
wurden, daß der Kurfürst Friedrich August von Sachsen bei
Heinicke anfragen ließ, ob er nicht in seine Heimat zurückkehren
und hier eine Taubstummenanstalt einrichten wollte. Kurz ent-
schlossen siedelte er im Jahre 1778 nach Leipzig über und eröffnete
daselbst am 14. April die erste öffentliche deutsche Taub-
stummenanstalt, durch die die Anregung zur Gründung weiterer
Anstalten gegeben wurde.
Heinicke stützte sich bei seinem Verfahren auf die Schrift des
aus der deutschen Schweiz gebürtigen Dr. Amman. ,,Surdus loquens
s. methodus, qua, qui surdus natus est, loqui discere" (Amsterdam,
1692), in der sich eine ausführhche Darlegung des Artikulations-
unterrichts findet. Was Heinicke für seinen Unterricht hier vorfand,
war aber sehr wenig; er mußte sich den eigentlichen Sprachlehrgang
selbständig schaffen, und wir verdanken ihm hauptsächlich die Art
der methodischen Behandlung des Sach- und Sprachunterrichts und
die Mittel für die allmähliche Verknüpfung des Denkens und
Sprechens. Man hat deshalb Heinicke nicht mit Unrecht den
Schöpfer der deutschen Methode, d. i. der Lautsprachmethode für
Taubstumme, genannt. Ein Verdienst kann ihm niemand streitig
machen: in der Zeit, da die Zeichenmethode sich von Frankreich
aus immer mehr verbreitete und in den Taubstummenanstalten an
Herrschaft gewann, war es Heinicke, der mit seltener Energie und
freiem ÖMute für den Lautsprachunterricht eintrat und durch seine
Lehrtätigkeit die eminente Bedeutung dieses Unterrichts für die
Taubstummen erwies. Leider hat er sein Unterrichtsverfahren nur
in ungenügender Weise dargelegt; er hielt dasselbe vielmehr nach
Möglichkeit geheim und schadete damit sich und seiner Methode.
Von nun ab beschäftigte sich eine größere Zahl von Männern
mit dem Taubstummenunterricht, die ihre Gedanken untereinander
austauschten, wodurch diese Klärung und Befestigung erfuhren. Die
Versuche aufs Geratewohl gestalteten sich nach und nach zur Unter-
richtsarbeit nach festen Systemen, und \\as nicht minder wertvoll
war, die Tore der Anstalten öffneten sich nunmehr einer größeren
Zahl von Taubstummen.
Als enste segensreiche Wirkung, die von der Leipziger .Vnstalt
ausging, war die Gründung einer Taubstummenanstalt in Preußen.
Ein Schüler und Schwiegersohn Heinickes, Dr. Ernst Adolf Eschke,
Das 'rauhstunimen-Biklungswesen im Deutschen Reich. 349
siedelte im Frühjahr 1788 nach Berlin über und ersuchte das Ober-
Schulkollegium um die Erlaubnis zur Errichtung einer Taubstummen-
anstalt. Die genannte Behörde ging zunächst auf diesen Plan nicht
ein, sondern ließ erst die von Eschke angestellten Unterrichtsversuche
und die Behandlungsart der taubstummen Schüler einer Prüfung
unterziehen und darüber Bericht erstatten. Dieser fiel so günstig aus,
daß sie Eschke unter dem 2. Dezember 1788 gestattete, eine Privat-
anstalt für Taubstumme, die erste derartige in Preußen, zu errichten.
Die Erhaltung dieser Anstalt, wenn er auch von der Regierung
mancherlei Unterstützung erhielt, wurde ihm jedoch sehr schwer, und
um Kosten zu sparen, siedelte er 1792 nach Nieder-Schönhausen bei
Berlin über. Erst im Jahre 1798 überwies ihm das Königliche Ge-
neral-Ober-Finanz-Kriegs- und Domänen-Direktorium ein in Berlin in
der Linienstraße liegendes und jetzt noch in Benutzung befindliches
Gebäude, und von da an datiert die Eschkesche Privatanstalt als
Königliche Taubstummenanstalt.
In Baden wurden ebenfalls V'ersuche gemacht, eine Taub-
stummenanstalt zu errichten. Unter der Regierung des Markgrafen
Karl Friedrich fand die erste Zählung der Taubstummen statt
(1780), nach der innerhalb der badischen Besitzungen 131 taubstumme
Personen ermittelt wurden. Die Regierung sandte den Pfarramts-
kandidaten Hemeling nach Leipzig, um die Heinickesche Methode
des Taubstummenunterrichts kennen zu lernen. Hier scheint er
jedoch nicht das rechte Entgegenkommen gefunden zu haben; er
wandte sich deshalb an den Abbe Stork, den Leiter der Taub-
stummenanstalt in Wien, um sich hier über die Methode des Taub-
stummenunterrichts zu orientieren. Nach der Heimat zurückgekehrt,
eröffnete er 1784 eine kleine Anstalt in Karlsruhe, die sich leider
nicht recht entwickeln wollte, und deren Existenz wiederholt in
Frage gestellt wurde. Im Jahre 1820 erfolgte eine Neuorganisation
des Taubstummenunterrichts. Der Plan, die Anstalt nach Bruchsal
zu verlegen, scheiterte. Endlich fand sie 1826 ein Asyl in Pforzheim,
von wo sie 1865 nach Meersburg verlegt wurde.
Im Jahre 1794 wurde dem Abbe Barthelemy, einem französi-
schen Emigranten, vom Kurfürsten Karl Theodor von Bayern die
Erlaubnis erteilt, in München Taubstummenunterricht zu erteilen.
Da er jedoch der deutschen Sprache nicht mächtig war, gab er seine
Versuche bald wieder auf. Um nun eine geeignete Persönlichkeit
für den Taubstummenunterricht zu gewinnen, schickte die bayrische
Regierung den Lehrer an der Normalschule in Freising, Priester
350 Taubstummen- und Blindenunterricht.
Bernhard Ernsdorfer, 1797 nach Wien, damit er sich an dem
dortigen k. k. Taubstummeninstitnt für das Taubstummenlehrfach
theoretisch und praktisch vorbereitete. Nach seiner Rückkehr über-
trug man ihm die Leitung einer kleinen Taubstummenschule in
Freising. Neben Hebung dieser Schule ging Ernsdorfers Streben
hauptsächlich dahin, eine geschlossene Taubstummenanstalt ins Leben
zu rufen, und seine wiederholten Bittgesuche waren nicht ohne Erfolg;
denn durch x^Uerhöchstes Reskript vom 10. Februar 1804 genehmigte
der Kurfürst Max Joseph die Einrichtung eines Taubstummen-
instituts und die Übernahme der erforderHchen Kosten auf die
Provinzialkasse. Am 24. August 1804 wurde es in Freising eröffnet
und der Leitung Ernsdorfers anvertraut. Die Landesdirektion von
Bayern bearbeitete nunmehr unter dem 12. September 1804 eine
„vollständige Übersicht der Grundsätze der Verpflegung, des Unter-
richts und der Erziehung der Taubstummen." Dieser Entwurf fand
die Zustimmung der Kurfürsten, und es wurde angeordnet, daß ,,auf
höchsten Befehl von dem kurfürstlichen Schulen- und Studien-
Direktorium aus dem kurfürstlichen SchuUehrer-Seminarium ein taug-
liches Subjekt ausgewählt und als Lehrgehilfe bei der Anstalt
angestellt werde." Der sehr sorgfältig bearbeitete Plan z=igt von
tiefem Verständnis der Aufgaben der neuen Anstalt. ,,Der Zweck,
der diesem Institute aufgegeben ist, besteht darin, daß Taubstumme,
denen es an den erforderlichen körperlichen und geistigen Eigen-
schaften nicht fehlt, durch Erlernung der Sprache und der nötigsten
Kenntnisse, dann auch dadurch, daß für Erlernung eines Handwerkes
gesorgt wird, zu verständigen, guten und brauchbaren Menschen ge-
bildet werden, welche nicht mehr anderen mit ihrem Unterhalte zur
Last fallen, sondern fähig Averden sollen, sich denselben selbst zu
erwerben."
Im Jahre 1817 sollte der schon früher angeregte Plan, die
Freisinger Anstalt nach München zu verlegen, zur Ausführung kommen,
und es wurden zu diesem Zwecke die Räume des vormaligen Stadt-
waisenhauses zur Verfügung gestellt; doch kam es nicht zur Über-
siedelung, weil diese Räume zur Erweiterung des Erziehungs-Institutes
für Studierende notwendig wurden, und so verzögerte sich die Ver-
legung der Anstalt von Freising nach München bis zum Jahre 1826.
Auch Württemberg blieb in der Fürsorge um die Taub-
stummen nicht zurück. In Gmünd hatte der katholische Dekan und
Stadtpfarrer Thomas Kratzer bereits 1807 den Unterricht dreier
taubstummer Kinder begonnen. Durch die erzielten Erfolg-e ermuntert,
Das Tautjstuniinciihiklung.swesen im Deutsclien Reich. 35 1
beschäftigte er sich mit der Begründung einer Taubstummcnanstah.
Ein an den König Friedrich gerichtetes Gesuch um die Errichtung
einer solchen fand auch die Allerhöchste Genehmigung. Die Dienst-
geschäfte Kratzers gestatteten ihm jedoch nicht, den gesamten Unter-
richt seiner Zöglinge zu übernehmen ; er sah sich deshalb nach einer
geeigneten Hilfe um und glaubte in dem Lehrer Alle den rechten
INIann für seine Zöglinge gefunden zu haben. Dieser wurde zu seiner
Ausbildung zu Ernsdorfer in Freising geschickt und übernahm nach
seiner Rückkehr den Unterricht in der kleinen Taubstummenanstalt
zu Gmünd, die mit dem Jahre 1817 in die Reihe der Staatsanstalten
eintrat.
In den ersten süddeutschen Anstalten wurde zwar die Laut-
sprache gelehrt; die Gebärdensprache trat jedoch in ungebührHcher
Weise hervor, da die Lehrer fast ausnahmslos ihre Vorbildung in
der Taubstummenanstalt zu Wien, in der die französische Methode
vorherrschte, erhalten hatten.
Auch im Norden der deutschen Lande sind Spuren des Taub-
stummenunterrichts zu Ende des 18. Jahrhunderts bemerkbar, die zur
Gründung von Taubstummenanstalten führten. Besondere Verdienste
in dieser Richtung gebühren Georg Wilhelm Pfingsten. Derselbe
war schon in seiner Jugend mit Taubstummen zusammen gekommen,
und das wurde für ihn die Veranlassung, im Jahre 1 788 in Lübeck
ein kleines Taubstummeninstitut zu eröffnen. Als er später die
Organistenstelle zu Hamberge im Hochstift Lübeck erhielt, führte er
den Unterricht fort. Die kleine Schule, die zeitweiHg 9 ZögUnge
faßte, bestand hier bis 1 798, in welchem Jahre Pfingsten eine dauernde
Unterstützung aus der Königlichen Kasse zu Kopenhagen unter der
Bedingung gewährt w^urde, die Anstalt nach Kiel zu verlegen.
So bestanden am Anfange des 19. Jahrhunderts in den ver-
schiedensten Teilen Deutschlands Taubstummenanstalten, die aller-
dings, fast ausschließlich aus privaten Mitteln unterhalten, ein kümmer-
liches Dasein fristeten, und wenn die Staatsregierungen auch in
größerem oder geringerem Umfange für die Förderung des Taub-
stummenunterrichts eintraten — es wairden außer den genannten
Taubstummenanstalten in Königsberg i. Pr. (1817), Kentrop bei
Münster (1817), später wieder aufgehoben, Camberg (1817), Wildes-
hausen (1820), Breslau (1821), Worms (1821), später in Friedberg i. H.,
Bayreuth (1821), Erfurt (1822), Winnenden (1823), Halberstadt (1825),
Frankenthal (1825), Eßlingen (1825), jetzt in Bönnigheim, Anstalten
cfeeründet — . so konnte doch nur eine Minderzahl der Taubstummen
352 Taubstummen- und Blindenunterriclit.
einen Gei^-t und Herz bildenden Unterricht erhalten. Die Einrichtung
neuer und die Erweiterung der bestehenden Anstalten, wofür die
Taubstummenlehrer mit rührender Ausdauer eintraten, verursachte
jedoch verhältnismäßig hohe Kosten und fand daher nicht die rechte
Berücksichtigung. Wie sollte nun den Taubstummen auf die ein-
fachste und billigste Weise geholfen werden?
Es war natürlich, daß sich das Augenmerk der Menschenfreunde
auf die Bildner des Volkes, die GeistHchen und Lehrer, richtete, daß
man besonders von der Volksschule, die, angeregt durch die Pesta-
lozzischen Bestrebungen, in frischer Entwickelung begriffen war und
Grundsätzen huldigte, welche dem Taubstummenunterricht förderlich
sein mußten, die rechte Hilfe erwartete. Die ersten Anregungen,
den Taubstummenunterricht in die Volksschule zu verpflanzen, gingen
von dem bayrischen Schulrat Stephani aus (1815). Mit besonderer
Wärme und Gründlichkeit trat Dr. Graser, Regierungs- und Kreis-
schulrat in Bayreuth, für diesen Gedanken ein. Schon in einem im
,,Hesperus" (1824) enthaltenen Aufsatze forderte er: „Dahin muß es
kommen, daß jeder Schullehrer auch Taubstumme zu unterrichten
vermag und folglich jede Schule eine Taubstummenschule sein könne."
In seiner Schrift: ,,Der durch Gesicht- und Tonsprache der Mensch-
heit wiedergegebene Taubstumme" (Bayreuth 1829), suchte er die Aus-
führbarkeit seiner Ideen darzulegen.
So phantastisch seine Ansichten teilweise auch waren, und so
wenig sie auf Erfahrung beruhten, so bestechend mußten sie für den
Laien sein, zumal auch Männer, die im Taubstummenunterricht
standen, mit Wärme für den Gedanken eintraten, die Bildung der
Taubstummen den Volksschullehrern zu überweisen. Graser drang
mit Nachdruck darauf, daß seine Ideen praktische Verwertung fänden,
und so entstanden allein in Oberfranken gegen 1 00 kleine mit Volks-
schulen vereinigte Taubstummenschulen.
Die preußische Regierung ging mit besonderem Eifer auf die
Graserschen Vorschläge ein, und es erschien unter dem 14. Mai 1828
ein Erlaß des Ministers von Altenstein, in dem u. a. folgendes aus-
geführt wurde: „Es ist nun die Aufgabe, die Fähigkeit und Fertigkeit,
Taubstumme zu unterrichten, baldmöglichst allgemein zu verbreiten
und den Taubstummen in größerer Zahl, womöglich auch auf
einfachere Weise als bisher, ohne außerordentliche Maßnahmungen,
als weite Reisen, Aufwand großer Pensionen usw. zu helfen. Für die
Lösung dieser Aufgabe ist es besonders wünschenswert, daß bald-
möglichst in jedem Schulinspektionskreise ein Lehrer vorhanden sei.
Das ■raubstunim<nhil<lun!,r>\vuscn im I)i_nU>clun Kv\ch. 353
welcher die Taubstummen seines Wohnortes und der nächsten Um-
ijebung zu unterrichten imstande sei. Dieser Zweck wird am sichersten
erreicht, wenn an jedem Schullehrerseminare ein Lehrer angestellt
wird, der die Unterweisung und Behandlung der Taubstummen in
einem der \orhandencn Institute gründlich erlernt hat, eine Anzahl
derselben in der mit dem Seminare \erbundenen Übungsschule fort-
dauernd unterrichtet und dabei zugleich die für die Sache empfäng-
lichen fähigeren und verständigeren Seminaristen mit der Methode des
Taubstummenunterrichts theoretisch und praktisch bekannt macht."
Es wurden alsbald geeignete Lehrer an die Königliche Taub-
stummenanstalt in Berlin berufen, die hier ihre Ausbildung als Taub-
stummenlehrer erhielten, um später an den Schullehrerseminaren die
Seminaristen in die Methode des Taubstummenunterrichts einzuführen.
Die Staatsregierung suchte die Provinzialstände zu bestimmen, die
geeigneten ^Mittel zur Errichtung \on Lehranstalten für Taubstumme,
die an die Seminare anzugliedern wären, zu bewilligen. In bereit-
williger Weise kamen die Stände diesen Intentionen nach und be-
gründeten bei verschiedenen Lehrerbildungsanstalten — da der
ursprüngliche Plan nicht durchführbar war — kleine Taubstummen-
schulen, die sich in erfreulichster Weise entwickelten. Diese Schulen,
ausschlielMich Externate, boten den \\)rteil, dalA ihre Unterhaltung ver-
hältnismäßig wenig Kosten verursachte, und daiA sich ihre Erweiterung
leicht bewerkstelligen ließ. So entstanden verschiedene Taubstummen-
anstalten in den preußischen Provinzen Sachsen, Westfalen, Posen,
Preul.'^en und Pommern; die Rheinprovinz folgte später nach. Schlesien
besal.^ bereits eine grolle Anstalt pri\-aten Charakters. Nur in der
Provinz Brandenburg hat man bis zum Jahre 1880 die t^inrichtung
erhalten, die Ausbildung der Taubstummen den Volksschullehrern zu
überweisen. Auch verschiedene aul?.erpreußische Regierungen folgten
dem gegebenen Beispiele. So hat ein Gedanke, an sich unpraktisch
und unfruchtbar, für die Sache der Taubstummen reichen Segen ge-
schaffen.
Noch ein zweiter L^mstand ist es gewesen, der in Preußen einen
aul.^erordentlichen Aufschw ung des Taubstummen - Bildungswesens
herbeigeführt hat. Im Jahre I87.S wurden durch Gesetz (vom
'AO. April JoT.'^i, betreftend die Dotation der Prox'inzial- usw. V^erbände,
den einzelnen Pro\inzen reiche Mittel zugewiesen, als deren Ver-
wendungszweck in den Ausführungsbestimmungen (Gesetz vom
8. Juli 187v^, j^, ö und (m u. a. auch die ,, Fürsorge bezw. Gewährung
von Beihilfen für das Irren-, Taubstummen- und Blindenwesen" be-
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 23
354 Taubstummen- und Blindenuntemcht.
zeichnet ist. Nach dem Inkrafttreten der Provinzialordnung vom
29. Juni 1875 übernahmen die nunmehr neu geschaffenen Provinzial-
organe die Verwaltung der Taubstummenanstalten selbst, soweit das
nicht schon geschehen war, wie in dem ehemaligen Kurhessen, in
Nassau und Hannover. Die vorhandenen Anstalten wurden zweck-
mäßig umgestaltet und nach Bedürfnis erweitert; es erstanden auch
neue Anstalten, und so machte sich auf dem Gebiete der Taub-
stummenbildung allerorten ein neues Leben und Streben bemerkbar.
Es geschah das nicht bloß in Preußen, sondern auch in dem übrigen
Deutschland, wo man mit gleichem Eifer und Erfolge an der Aus-
gestaltung der Taubstummensache arbeitete.
2. Der gegenwärtige Zustand der Taubstummenbildung
bezüglich der äußeren Organisation.
In Deutschland bestehen zur Zeit (1903) in folgenden Orten
Taubstummenanstalten.*)
Gründungs-
Anstaltsort . Schülerzahl Lehrkräfte
jähr
a) im Königreich Preußen:
Provinz Ostpreußen:
1. Angerburg 1833 133 15
2. Königsberg 1817 148 20
3. Rössel 1844 68 12
Provinz ^Vestpreußen :
4. Danzig 1874 38 4
5. Marienburg 1833 110 12
6. Schlochau 1873 112 12
Provinz Pommern:
7. Köslin 1860 82 8
8. Stettin 1839 81 9
9. Stralsund 1837 31 3
Provinz Brandenburg:
10. Berlin (Königl.) 1788 77 11
11. Berhn (Stadt.) 1875 196 17
12. Guben 1891 97 12
13. Xeu-Weißensee 1873 36 4
14. Wriezen 1879 129 15
*) Nach Radomskis „Statistischen Nachrichten" über die Taubstummenanstalten
Deutschlands und deren Lehrkräfte für das Jahr 1904.
Das Taubstuinmenhililun^rswcscii im Dfut.schen Reicli.
1871
80
9
1832
179
20
1872
101
13
1821
224
25
1 83 1
93
9
1836
280
27
1822
85
8
1825
82
9
1833
75
8
18ö4
+ 1
4
1829
65
7
Griiiulunsrs-
Anstaltsort " SchültTzahl I.elu-kmfte
Jahr
Provinz Posen :
15. Bromberg
16. Posen
17. Schneidemühl
T'roviiiz Schlesien:
18. Breslau
19. Liegnitz
20. Ratibor
Provinz .Sachsen :
2 1 . Krfurt
22. Halberstadt
23. Halle a. S
24. Osterburg
25. Weißenfels
Provinz Schleswig-Holstein :
26. Schleswig 1787 130
Provinz Hannover:
27. p:mden
28. Hildesheim
29. Osnabrück
30. Stade
Provinz Westfalen :
31. Büren
32. Langenhorst
33. Petershagen
34. Soest
Provinz Hessen-Xassau:
35. Camberg
36. Frankfurt a. M
37. Homberg
Rheinprovinz:
38. Aachen
39. Brühl
40. Elberfeld
41. A. Essen
B. Hutropl)
42. Kem]ien
43. Köln
44. A. Neuwied
B. Neuwied -j
45. Trier
1844
31
5
1829
92
10
1857
66
9
1857
72
8
1830
82
10
1841
75
10
1851
86
10
1831
91
10
1817
95
10
1827
40
o
1838
118
15
1838
53
7
1854
65
7
1880
54
6
1880
73
7
1896
50
5
1841
40
4
1831
78
9
1854
66
8
1896
17
<>
1879
70
7
1) Für sprachbefähigte katholische Taubstumme.
-) „ „ evangelische „
356 Taubstummen- uiul Blindenunterricht.
Griindungs-
A n s t a 1 1 s o r t Schülerzahl Lehrkräfte
jähr
b) im Königreich Bayern:
46. Altdorf
47. Augsburg
48. Bamberg
49. Bayreuth
50. Dillingen
51. Frankenthal
52. Hohenwart ,
53. München
54. Nürnberg
55. Regensburg
56. Straubing
57. ^^'ürzburg
58. Zell
c) im Königreich Württemberg:
59. Bönnigheim
60. Gmünd (Königl.)
61. Gmünd (Filiale)
62. Heiligenbronn
63. Nagold
64. Nürtingen
65. Wilhelmsdorf
66. Winnenden
dl im Königreich Sachsen:
67. Dresden
68. Plauen (\'()rschulel
69. Lei])zig
el im Großherzogtum Baden:
70. Clerlachsheim
71. Dinglingen
72. Heidelberg-Neuenheim
73. Meersburg
f ) im (IrolAh erzog tum Mecklenburg-
Schwerin:
74. Lu(hvig>lust 1840 54 8
g) im Großherzogtum Hessen:
75. Bensheim 1840 68 7
76. Friedberg 1837 51 7
h) im Großherzogtum <.)ldenburg:
77. Wildeshaasen 1820 45 4
1831
17
1
1834
53
4
1855
38
4
1843
27
2
1847
57
7
1825
77
8
1878
54
7
1804
98
10
1832
45
4
1845
67
5
1835
65
6
1834
98
9
1872
28
2
1825
53
6
1823
53
6
1869
63
8
1854
74
9
1887
20
3
1846
37
4
1837
129
14
1823
29
3
1828
188
21
1872
27
4
1778
169
18
1874
102
12
1886
13
2
1902
8
1
1783
95
12
Das ■ruul)stuinnu'nl)il(luni^s\vesen im Deutschen Reicli. ,'^57
( iriin(lunü;s-
A n s t a 1 1 s o r t . "^ i Schülerzalil Lelirkiaf te
jähr
ij im Großherzogtum Weimar: |
78. Weimar 1858 30 4
kl im Großlierzogtum IJraunscli weig:
79. I5ramisch\veig 1828 60 6
1) im Großherzogtum Sachsen-
Meiningen -Hildburghausen:
80. Hildburghausen 18+3 27 3
m) im Herzogtum Sachsen-Coburg-
(lotha:
81. Coburg 1835 10 1
n) im Fürstentum Lip]ie:
82. Detmold 1841 18 1
o) im Fürstentum Reuß j. L.
83. Schleiz 1847 27 3
p) in den freien Städten:
84. Hamburg 1827 90 10
85. Bremen 1827 30 4
86. Lübeck 1827 14 2
q) in Elsaß-Lothringen:
87. Isenheim 1886 56 10
88. Metz 1875 50 7
89. Straßburg-Neudorf (ev.j 1885 45 6
90. Straßburg-Neudorf (kath.) 1901 50 8
Von diesen Anstalten werden 2v^ vom Staate, 42 von den
Pi-ovinzen bezw. Kreisen, 4 von Städten und 19 von Pi'ivatvereinen,
die in der Regel Beihilfen aus öffentlichen Mitteln genießen, unter-
halten. 38 Anstalten sind Internate, 44 Externate, 1 1 haben interne
und externe Zöglinge. In den Anstalten befinden sich insgesamt, auf
682 Klassen verteilt, 6703 taubstumme Zöglinge. 3674 Knaben und
3029 Mädchen, von denen 4056 evangelisch, 2553 katholisch und
94 mosaisch .sind; im Durchschnitt werden also in einer Klasse
10 Schüler beschäftigt. Die Zahl der Lehrkräfte beträgt 755, nämlich
651 Lehrer und 104 Lehrerinnen; davon sind 475 evangelisch,
275 katholisch und 5 mosaisch.
Die Zahl und iVusdehnung der Anstalten gestatten die Aufnahme
sämtlicher im schulpflichtigen Alter stehenden taubstummen Kinder.
358 Taubstummen- und Blindenunterricht.
In den .Vnstalten wird unbemittelten Zöglingen freier Unterricht und
Unterhalt gewährt; für andere haben die Angehörigen nach Maßgabe
ihres Vermögens einen Unterhaltungszuschul^ zu zahlen. Es ist also
in Deutschland die Möglichkeit vorhanden, daß allen taubstummen
Kindern eine geeignete Erziehung zuteil A\ird. W^enn noch eine
Minderzahl derselben ohne Unterricht aufwächst, so liegt das daran,
daß in verschiedenen deutschen Ländern, besonders in den größeren,
Schulzwang für Taubstumme noch nicht besteht, es also den An-
gehörigen Taubstummer frei gestellt ist, diese einer Taubstummen-
anstalt zu überweisen oder nicht. In Preußen können allerdings taub-
stumme Kinder, wenn das geistige oder leibliche Wohl dadurch ge-
fährdet wird, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des
Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen
oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht und die Fürsorgeerziehung
erforderlich ist, um die Verwahrlosung der Minderjährigen zu \-er-
hüten, auf Grund des Fürsorgeerziehungs-Gesetzes vom 2. Juli 1900
zwangsweise in eine Taubstummenanstalt übergeführt werden.
Schulpflicht für Taubstumme besteht in folgenden deutschen
Ländern bezw. Landesteilen: Provinz Schleswig-Holstein (Patent vom
8. November I805i, Großherzogtum Sachsen-Weimar (Gesetz vom
28. Mai 1874), Großherzogtum Oldenburg (Gesetz vom 1 S.Januar 1876)>
Herzogtum Sachsen-Coburg Gotha (Gesetz vom 18. Mai 1877),
Herzogtum Anhalt (Gesetz vom 1. April 1884), Herzogtum Sachsen-
Meiningen-Hildburghausen (Gesetz vom 18. Februar 1887), Lübeck
(Gesetz vom 1 9. März 1 888), Bremen (Gesetz vom 1 . Juli 1 898) und
Großherzogtum Baden (Gesetz vom 11. August 1902).
In unterrichtlicher Beziehung unterstehen die preußischen An-
stalten den Königlichen Provinzial-Schul-Kollegien und in höchster
Instanz dem Unterrichts-Ministerium. Die Aufsicht über die äußere
Verwaltung der Provinzial-Anstalten führen die Landeshauptleute der
einzelnen Provinzen, über die der städtischen Anstalten die be-
treffenden Schuldeputationen. Die Privatanstalten werden in der
Regel von Vereinen geleitet. Ähnlich liegen die Ressortverhältnisse
in den nichtpreul.MSchen Taubstummenanstalten.
Die Aufnahme der Kinder in eine Anstalt erfolgt in der Regel
nach vollendetem siebenten Lebensjahr. So lange nicht allgemeine
Schulpflicht, die das Aufnahmealter feststellt, besteht, müssen auch
ältere Kinder angenommen werden. Der Unterrichtskursus beträgt
in 1 I Anstalten (> Jahre, in 5 Anstalten ()— 7 Jahre, in 4 Anstalten
(j,_j] Jahre, in 14 Anstalten 7 Jahre, in 2 Anstalten 7—8 Jahre, in
Das Taubstummenbildungswescn im Deutschen Reich. 359
54 Anstalten 8 Jahre. Die Verwaltungsbehörden sind bestrebt, die
Schulzeit auf die erforderliche Ausdehnuntj, auf 8 Jahre, zu bemessen,
und so läßt sich erwarten, dal.^ sehr bald das erreicht wird, was die
Taubstummenlehrer schon lange erstreben.
Ein sehr wesentlicher Fortschritt auf dem Gebiete des Taub-
stummen-Bildungswesens ist durch die Sonderung der taub-
stummen Schüler nach der Befähigung eingeleitet: es können
dadurch die besseren Zöglinge schneller und weiter gefördert werden
als bisher, und zugleich ist es möglich, bei den schwächeren den
Unterrichtsstoff zu beschränken, langsam und sicher fortzuschreiten
und bei Vereinfachung des Lehrverfahrens wenn auch bescheidene,
so doch zuverlässige Erfolge zu erzielen. Die Sonderung der taub-
stummen Zöglinge nach der Begabung ist bereits in Schleswig, Leipzig,
Breslau, Ratibor, Hamburg, BerUn, in Württemberg, in den
hannoverschen Anstalten u. a. a. O. durchgeführt. Zugleich hat sich
das Bestreben geltend gemacht, auch die Kinder, die so hoch-
gradig schwerhörend sind, daß sie auf dem gewöhnlichen Wege
die Sprache nicht erlernen können und daher in Taubstummenanstalten
unterrichtet werden müssen, ebenfalls auszusondern und in be-
sonderen Klassen, womöglich in besonderen Anstalten zu beschäftigen.
Anfänge in dieser Richtung sind bereits in München, Hamburg, Würz-
burg, Weißenfels usw. gemacht worden. In der neubegründeten
Taubstummenanstalt zu Neuenheim bei Heidelberg befinden sich aus-
schließlich Kinder mit Hörspuren. Die Lehrtätigkeit an solchen
Kindern ist bis jetzt zu wenig geklärt und in ihren Erfolgen noch
nicht genügend gesichert, als dal?» sich darüber ein abschließendes
Urteil fällen ließe.
Es sind in Deutschland auch schon Anfänge in der Errichtung
von Vorschulen für taubstumme Kinder gemacht worden. Die
älteste Vorschule befindet sich in Plauen bei Dresden. Eine solche
Schule ist auch in Berlin und Guben. Die Vorschulen sind organisch
mit Taubstummenanstalten verbunden.
In Berlin besteht seit 1894 ein Kindergarten für taub-
stumme Kinder, der aus privaten Mitteln erhalten wird.
Während noch vor wenigen Jahrzehnten die meisten Taub-
stummenanstalten in ungeeigneten Gebäuden oder in Mietsräumen
untergebracht und kaum mit dem notwendigsten ausgestattet waren
und ein kümmerliches Dasein fristeten, hat man fast allerorten statt-
liche Gebäude die zum Teil nicht mit Unrecht als Paläste be-
zeichnet werden können, für sie errichtet. Die Klassenzimmer sind
360 Taubstummen- und lilindenunteiricht.
hell und i^eräumii^, die Ausstattung derselben mit Subsellien, Lehr-
mitteln usw. ist reich und zweckentsprechend. Selten fehlen ein
Zeichensaal, eine Turnhalle und eine Aula. In den Internaten findet
man gesunde Wohn- und luftige Schlafräume, Bade- und Kranken-
zimmer, Speise- und Waschsaal; auch Werkstätten für den Hand-
fertigkeitsunterricht sind nicht selten. Da, wo noch ungeeignete
Räumlichkeiten bestehen, wird voraussichtlich in nicht allzu ferner
Zeit Neues, Zweckmäßigeres geschaffen werden.
Alle die prächtigen äußeren Einrichtungen, so sehr ihr Wert
auch anerkannt werden muß, machen noch nicht eine gute Anstalt
aus; das \\ichtigste in einer solchen sind die Lehrkräfte. Während
man in früheren Zeiten bei der Bestallung von Lehrern wie für die
Volks- so auch für die Taubstummenschule nicht sehr wählerisch war
und wählerisch sein konnte, legte man mit der Vermehrung der
Schullehrerseminare und deren zweckmäßiger Ausgestaltung, mit der
Vertiefung der Unterrichtsmethode und mit den höheren Anforde-
rungen an die Schulleistungen zugleich höheren Wert auf die Lehrer-
vorbildung. Wenn das auch den Taubstummenanstalten zugute kam,
so muß es doch als ein Übelstand bezeichnet \\erden, daß solche
Männer in die Anstalten eintraten und hier die volle Lehrerarbeit
übernehmen mußten, die von der Eigenart des Taubstummenunter-
richts keine .Vhnung hatten; denn dieser Unterricht bietet in seinen
Ausgängen, seiner Vermittlung, seinen Fortgängen und Zielen soviel
Eigenartiges, er erfordert eine so eingehende Kenntnis des Wesens
der Taubstummen, dali nur eine längere \'orbereitungszeit für die
Lehrer imstande ist, um mit dem rechten Erfolg in einer Taub-
stummenanstalt zu arbeiten.
Zu dieser Erkenntnis sind die maßgebenden Organe sehr bald
gekommen und haben daher dahin gestrebt, Vorbereitungsstätten
für Taubstummenlehrer zu schaffen. Prcul.^en tat in dieser Rich-
tung den er.sten Schritt und überwies schon xom Jahre 1812 ab der
KönigHchen Taubstummenanstalt in Berlin Lehrer zur Ausbildung für
den Taubstummenunterricht; gleichen Zwecken sollten die vom Staate
errichteten Taub.stummenanstalten zu Königsberg i. Pr. ilol7) für den
Osten, und Kentrop bei Münster (1817) für den Westen des Landes
dienen. Die Ausbildungsangelegenheit gewann im Laufe der Zeit
immer festere Gestalt, und wenn auch die Möglichkeit gegeben war,
in den Provinzialanstalten Lehrer für den Taubstummenunterricht \or-
zubereiten, so verbHeb doch der KönigHchen Anstalt zu Berlin die
Hauptarbeit auf diesem Gebiete. Vom Jahre 1882 ab werden an
Das 'raul>sluminenl)il<lunLrs\vesen im Deutschen Reich. [](y^
dieser Anstalt alljährlich zwei Jahre umfassende Ausbildungskurse ab-
gehalten, 7AI denen Volksschullehrer und Kandidaten des Predigt- und
höheren Schulanits zugelassen werden. In der Regel wird jedem
Kursisten eine jährliche Beihilfe von InOO AI. \xjm Staate gewährt.
Die unter dem 'M . Mai I8<S!! erlassenen ministeriellen Bestimmungen
über Annahme und Beschäftigung der Kursisten enthalten u. a.
folgendes:
„Die hei der Königlichen Taubstummenanstalt eintretenden Kursisten erhalten eine
theoretische und praktische Ausbildung. Die theoretische umfal.U die Erziehung der Taub-
stummen im allgemeinen, die Methodik aller Ünterrichtsgegenstände der Taubstummen-
schule, .sowie Geschichte und Literatur der Taubstummenbildung; die praktische soll die
Kursisten befähigen, eine Klasse einer Taubstunimenschule selbständig mit Erfolg zu
führen.
Die Einführung in die Theorie des Taubstummenunterrichts erfolgt durch den An-
staltsdirektor unter Beihilfe eines Lehrers in bestimmten, planmäßig festzustellenden
Stunden. Zugleich ist Vorsorge getroffen, daß die Kursisten eine gründliche Kenntnis der
Anatomie und Physiologie der Sinnes- und Sjirachwerkzeuge durch einen geeigneten Lehrer
erhalten.
Die ])raktische Ausbildung wird durch gast weisen Besuch der Lehrstunden, durch
l.ehrübungen und durch selbständige l'nterrichtstätigkeit gefördert. Die Kursisten sind
veipflichtet, die ihnen durch den Stundenjilan überwiesenen Unterrichtsstunden nach Maß-
gabe des Lehi-plans und der etwaigen besonderen Anweisungen des Direktors gewissen-
haft zu halten.
Neben der Förderung der Fachbildung haben es sich die Kursisten angelegen sein
zu lassen, ihre allgemeine Bildung zu vertiefen und zu erweitern und die Bestrebungen
auf dem (Gebiete der allgemeinen Pädagogik eingehend zu verfolgen.
Zur Förderung der schriftlichen Darstellung haben die Kursisten nach .Anweisung
des iJirektors von Zeit zu Zeit Aufgaben aus dem Gebiete der Taubstummenbildung zu
bearbeiten oder Referate über die beim Unterricht oder beim Hospitieren gesammelten
Erfahrungen anzufertigen.
Am Schlu.sse des .\usbildungskursus haben die Kursisten die durch die Prüfungs-
ordnung vom 27. Juni 1878 vorgeschriebene Taubstumnienlehrerprüfung abzulegen."
Diese Einrichtung hat sich bewährt.
An dem Königlichen Zentral-Taubstummeninstitut zu AUinchen
findet seit 1 890 (Erlaß des Staatsministeriums des Innern für Kirchen-
und Schulangelegenheiten vom 0. Juni 1 89Uj ebenfalls ein Ausbildungs-
kursus statt, der durch Ministerial-Entschließung vom 8. Juli 1900
festere Ge.stalt gewonnen und im wesentlichen dieselbe Aufgabe zu
zu erfüllen hat, wie der in Berhn eingerichtete. Es sei aus den be-
züglichen Bestimmungen nur folgendes hervorgehoben :
„Der Kurs hat den Zweck, Lehrer und Lehrerinnen, welche die für das \olks-
schulfach erforderliche \'orbildung nachweisen, durch theoretische Unterweisung in den
Grundsätzen des Taubstummen-Bildungswesens, besonders aber auch durch praktische
Schulung in der bei dem 'Paubstummenunterricht anzuwendenden eigentümlichen Unter-
richtsmethode auf den Taubstummenlehrerberuf vorzubereiten. Die auf den Forschungen
des Königlichen Universitätsprofe.ssors Dr. Bezold beruhende besondere Behandlung der
mit Hörresten Begabten soll hierbei gebührende Berücksichtigung erfahren.
362 Taubstummen- und Blindenunterricht.
Die Kursteilnehmer werden in die Unterrichtsmethode aller Lehrfächer der Taub-
sturamenschule eingeführt werden, sowie Unterricht in der Phonetik und in der Entwick-
lung die Sprachlaute erhalten, wobei zu methodischen Zwecken auch die englische (oder
französische) Sprache herangezogen werden soll. Universitätsprofessor Dr. Bezold und ein
Assistent desselben werden mit Demonstrationen verbundene Vorträge zur Einführung in
die Untersuchung des Taubstummenohres, dann über Anatomie und Physiologie der Sprech-
werkzeuge, des Auges und Ohres halten . . .
Den Abschluß des Kursus soll eine Prüfung bilden.
Seitens des Königlichen Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schul-
angelegenheiten wird beabsichtigt, die Königlichen Regierungen, Kammern des Innern,
anzuweisen, künftighin an den denselben untei-stehenden Taubstummenanstalten und
-Schulen nur mehr solche Lehrer und Lehrerinnen anzustellen oder zur Verwendung ge-
langen zu lassen, welche nach vorausgegangenem Kursbesuche dieser Prüfung mit Erfolg
sich unterzogen haben."
Den Kursteilnehmern kann im Bedarfsfalle eine Beihilfe aus
Staatsmitteln im Monatsbetrag; bis zu 100 M. bewilligt werden.
Durch die Ausbildungskurse und die Forderung einer Prüfung
ist die Vorbildung der Taubstummenlehrer eine sorgfältigere und
gründlichere geworden, als das früher der Fall war. In den Reihen
der deutschen Taubstummenlehrer macht sich jedoch das schätzens-
werte Streben geltend, die wissenschaftliche Ausbildung der angehen-
den Taubstummenlehrer zu steigern. Das ist im besondern in der
VI. Bundesversammlung deutscher Taubstummenlehrer zum Ausdruck
gekommen, die u. a. folgende Beschlüsse einmütig gefaßt hat:
,,Die Höhe der erzieherischen Aufgabe und die Schwierigkeit
des unterrichtlichen Problems der Taubstummenbildung rechtfertigt
die Forderung einer gründlichen wissenschaftlichen Vorbildung der
Taubstummenlehrer neben ihrer praktischen Ausbildung.
Als Grundlage der Didaktik und speziellen ^lethodik des Faches
i.st erforderlich die Kenntnis der allgemeinen Pädagogik in wissen-
schaftlicher Form, die Kenntnis der Psychologie, vor allem auch in
ihren Abzweigungen der Kinderpsychologie, Psychopathologie und
Sprachpsychologie, die Kenntnis \'om Bau und von der Funktion der
Sprachwerkzeuge und Sprachsinne und der darauf gegründeten
Phonetik. Aus allgemein methodischen Gründen und zur Förderung
des unumgängHch notwendigen Studiums der Fachliteratur und der
Geschichte des Taubstummen-Bildungswesens ist wünschenswert die
Kenntnis fremder Sprachen.
Die in den verschiedenen deutschen Ländern bestehenden Ein-
richtungen zur Ausbildung von Taubstummenlehrern genügen diesen
Forderungen nicht in vollkommener Weise und sind zeitgemäß um-
zugestalten. Vor allem ist zu erstreben, die Ausbildung der Taub-
stummenlehrer mit der Universität in Verbindung zu setzen.
Das Taubslununenbikluiigswesen im Deutschen Reicli. 363
Als Zentrale der .Vusbildung und als Prüfungsstätte empfiehlt
sich deshalb die Gründung eines Taubstummenlehrer-Seminars —
verbunden mit einer Übungsschule • — in einer Universitätsstadt. An
dieser Anstalt hat jeder Taubstummenlehrer mindestens ein Jahr der
auf drei Jahren berechneten Ausbildungs/.eit zu verbringen und dort
die Prüfung abzulegen."
Die deutschen Taubstummenlehrer gehen fast ausnahmslos aus
dem Volksschullehrerstande hervor; von den Lehrerinnen verlangt
man die Ablegung der Prüfung für Volksschulen oder für mittlere
und höhere Mädchenschulen. Ohne den Nachweis der Lehrbefähi-
gung wird keine Lehrperson an einer Taubstummenanstalt beschäftigt.
Diejenigen, die eine feste Anstellung an einer Anstalt erlangen
wollen, haben sich einer Fachprüfung, die fast in allen deutschen
Ländern vorgeschrieben ist, zu unterziehen. Die preußische Prüfungs-
ordnung vom 27. Juni 1878 fordert u. a. folgendes:
„Es wird für Abhaltung der Prüfung in jeder Provinz eine besondere Kommission
gebildet. Diese besteht aus dem Kommissarius des Provinzial-Schulkollegiums als \'or-
sitzendem, aus dem Direktor der Anstalt, an welcher die Prüfung stattfindet, und aus
zwei ordentlichen Lehrern an Taubstummenanstalten.
Die Prüfung ist eine theoretische — schriftliche und mündliche — und eine
])raktische.
Unmittelbar nach seiner Meldung erhält der Bewerber von dem Provinzial-Schul-
kollegium ein Thema aus dem Gebiete des Taubstummen-Bildungswesens, dessen Bear-
beitung er binnen längstens sechs Monate mit der Versicherung einzureichen hat, daß
er keine andei'en, als die von ihm angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Die mündliche Prüfung, welche vor der gesamten Kommission abgelegt wird, ver-
breitet sich über alle Lehrgegenstände des Unterrichts und der Erziehung der Taub-
stummen im \ergleiche mit dem Unterricht der ^"ollsinnigen, über die eigentümliche
Anschauungs-, Denk- und Ausdrucksweise der Taubstummen, über Geschichte und Lite-
ratur der Taubslummenbildung, über die Lehrmittel mid über die spezielle ^lethode des
L iiterrichts in der Aussprache, im Absehen und in der Gesprächsführung.
Die praktische Prüfung besteht in Ablegung zweier Lehrproben in verschiedenen
Gegenständen und Klassen.
Auf Grund der bestandenen Prüfung erhält der Bewerber ein Zeugnis."
Die badische Prüfungsordnung \-om 6. Februar 1891 enthält
ganz ähnliche Bestimmungen, von denen wir nur folgende hervor-
heben wollen:
„Der Prüfung haben sich diejenigen zu unterziehen, welche die Befähigung er-
werben wollen, als \'orstand oder Lehrer an einer Taubstummenanstalt in der Eigenschaft
eines etatsmäßigen Beamten angestellt zu werden.
Die Prüfung zerfällt in einen schriftlichen, einen mündlichen und einen prakti-
schen Teil.
Der schriftliche Teil der Prüfung umfaßt ^. die häusliche Bearbeitung eines Themas
aus dem Gebiete des Taubstummen-Bildungswesens . . ; 2. die unter Klausur ohne Be-
nutzung von Hilfsmitteln in der Zeit von vier Stunden zu bewerkstelligende Abfassung
eines kürzeren Aufsatzes über ein Thema aus dem gleichen Gebiete.
364 Taubstummen- und Hlindenuntemcht.
Der mündliche Teil der Prüfung erstreckt sich auf folgende Gebiete: 1. (jeschichte
und Liieratm- des Taubstummen-Bildungswesens ; 2. die ganze Schulausbilduug der Taub-
stummen in ihrer Eigenart einschließlich der Lelirmittel und der Methode des Unter-
richte; 3. die Hauptlehren der Physiologie der Sinnes- und Sjirechwerkzeuge, sowie der
Ohrenheilkunde, soweit deren Kenntnis zur erfolgreichen Erteilung von Taubstummen-
unterricht erforderlich ist, die vorkommenden Sprachgebrechen."
Wie aus vorstehendem hervorgeht, berechtigt die Ablegung der
Taubstummenlehrerprüfung in Baden zugleich zur Leitung einer Taub-
stummenanstalt. In Preußen dagegen wird von den Taubstummen-
anstalts-Vorstehern eine besondere Prüfung gefordert, zu der
nur solche Bewerber zugelassen werden, die die Taubstummenlehrer-
prüfung abgelegt und, nachdem sie diese bestanden haben, fünf Jahre
als Taubstummenlehrer tätig gewesen sind. Diese Prüfung findet aus-
schließlich in I^erlin statt. Der Bewerber hat unter Klausur binnen
fünf Stunden einen Aufsatz über ein Thema aus dem Gebiete des
Taubstummen-Bildungswesens zu fertigen. Fa- muß in der mündlichen
Prüfung einen prosaischen oder einen leichten poetischen Abschnitt
aus der französischen und je nach seiner Wahl der englischen oder
der lateinischen Sprache in die deutsche richtig und fließend über-
setzen ; ferner hat er Bekanntschaft mit der Geschichte der Erziehung
und des Unterrichts der Taubstummen nachzuweisen, sowie darzutun,
daß er die bei demselben zur Anwendung kommenden pädagogischen
und didaktischen Grundsätze zu entwickeln \-ermag. Er muß mit den
wichtigsten Erscheinungen aus dem Gebiete der Akustik und den
Hauptlehren der Physiologie der Sinnes- und Sprachwerkzeuge, sowie
mit allen Sprachgebrechen, wie Stottern, Stammeln, Lispeln usw., in
dem Maße \ertraut sein, welches für die erfolgreiche P^rteilung des
Taubstummenunterrichts notwendig wird. fLndlich können die Be-
werber auf ihre allgemeine Bildung geprüft werden, wenn dies er-
forderlich erscheint.
Da die Fürsorge für die Taubstummen in Deutschland eine An-
gelegenheit der einzelnen Länder bezw. Prox'inzen ist, so steht diesen
auch die Regelung der Lehrerbesoldung zu, die, da hierauf bezüg-
liche allgemeine Bestimmungen nicht bestehen, eine sehr verschiedene,
immerhin aber eine durchaus befriedigende ist. In Preußen wird der
Besoldungsetat der Seminarlehrer (2100— 3800 M. und Wohnungs-
geld) angestrebt.
Die deutschen Taubstummenlehrer haben sich zu einem Bunde
zusammengeschlossen, der sich aus einer Reihe von Landes- und
Provinzialvereinen zusammensetzt. „Förderung des Taubstummen-
Bildungswesens und Vertretung der Standesinteressen" ist der Zweck,
I i.i^ l;uihsiunnm-iil>il(luiii;-.\\r.-.rn im Deutsc'lu'n Rcifli. ;^55
den er verfolgt. Innerhalb der Z\\eigvereine, die in der Regel all-
jährlich zusammentreten, herrscht ein außerordentlich reges Leben
und Streben. Alle drei Jahre findet eine Bundesversammlung statt,
in der in erster Linie brennende Fragen der Taubstummenbildung
zur Erörterung kommen. Die Behörden hegen das lebhafteste Inter-
esse für die Bestrebungen des Bundes, was u. a. daraus hervorgeht,
daß die Regierungen regelmälMg die Dezernenten des Taubstummen-
Bildungswesens zu den Bundesversammlungen entsenden.
In dem Königlichen Zentral-Taubstummeninstitut zu München
finden alljährhch Kurse für Ohrenärzte und Taubstummen-
lehrer statt, in denen die ersteren in die Art und Weise der Unter-
suchung des Taubstummenohres und dessen Behandlung eingeführt
werden und die letzteren den „Sprachunterricht durch das Ohr"
kennen lernen sollen. Da in Preußen auf diesen Unterricht bisher
ein besonderes Gewicht nicht gelegt wird, so hat man hier von ähn-
lichen Kursen abgesehen. Wohl aber hält man eine spezialistische
Untersuchung und Behandlung der Taubstummen für außerordentlich
wichtig. Die preußische Staatsregierung hat deshalb bei der König-
lichen Taubstummenanstalt zu Berlin Lehrkurse für die Aus-
bildung von Ärzten an Taubstummenanstalten auf diesem
Gebiete eingerichtet und einen Lehrplan aufgestellt, dem wir folgendes
entnehmen :
1. Die Tätigkeit des Schularztes: Aufgabe des Schularztes;
Schulkrankheiten ; ihre Erkennung und Verhütung ; Schulhygienisches :
Heizung, Lüftung, Beleuchtung, Subsellien u. dergl.
2. Die Taubheit, sowie Untersuchung und Behandlung des Ohres
und des Nasenrachenraumes: Ursache der Taubheit, Hörvermögen
der Taubstummen, Hörprüfung; Untersuchungsmethoden des Ohres,
der Nase und des Nasenrachenraumes; Anatomie des Ohres und der
Nase; Prophylaxe und Heilbarkeit der Taubheit; Behandlung des
Ohres, der Nase und des Nasenrachenraumes.
'A. Untersuchung und Behandlung der Rachenhöhle und des
Kehlkopfes: Untersuchungsmethoden; Anatomie der Rachenhöhle und
des Kehlkopfes; pathologische Verhältnisse bei Taubstummen mit
Demonstrationen an Kindern und Besprechung der Behandlung.
4. Untersuchung und Behandlung des Auges: Anatomie und
Physiologie des Auges; Handhabung des Augenspiegels, Refraktions-
bestimmung; die Lehre von der Brillenverordnung; Augenkrankheiten;
Beschaffenheit der Augen in ihrem Einflüsse auf die Berufswahl.
5. Physiologie, Psychologie und Pathologie der Sprache:
366 Taubstummen- und Blindenunterricht.
Anatomie und Ph\-siologie der Sprachwerkzeuge : Atmung, Stimme,
Ansatzrohr, Vokale und Konsonanten ; Psychologie der Sprache, Ent-
wicklung der Sprache beim normalen Kinde, Sprachbahnen; Patho-
logie der Sprache: Einteilung der Sprachstörungen, Veränderungen
der Sprache bei Schwerhörigen und Ertaubten; Aphasien, Stottern
und Stammeln.
6. Taubstummenbildung: Geschichtliche Entwicklung, Verall-
gemeinerung der Taubstummenbildung, methodische Ausgestaltung
des Unterrichts; die Taubstummen in ihrer Eigenart; Bildung der
Taubstummen, die verschiedenen Unterrichtsgegenstände, Hörübungen-;
Fi^irsorge für die aus der Schule entlassenen Taubstummen.
Den z^^■ecks Vorbereitung auf die Vorsteherprüfung in Berlin
beschäftigten Taubstummenlehrern ist die Teilnahme an den Vor-
lesungen gestattet.
Alljährlich findet nach Anleitung eines ärztlichen Frage-
bogens, in den die Personalien, die Art der Ertaubung, Angaben
über etwaige Taubheit in der Verwandtschaft, über Heilversuche und
Impfung einzutragen sind, eine eingehende Untersuchung aller Zög-
linge statt. Es ist hierbei Rücksicht zu nehmen auf etwa vorhandene
ansteckende Krankheiten, Parasiten, auf die allgemeine Körper-
konstitution, Größe, Gewicht, konstitutionelle Krankheiten, Brustumfang,
Herz, Lunge, Bauch, Knochengerüst, Hörorgane, Nase, Mund, Kehl-
kopf, Augen, den allgemeinen geistigen Zustand, die Hörfähigkeit und
die etwa vorhandene Sprache. Der untersuchende Arzt hat nach dem
Ergebnisse seiner Untersuchungen dem Lehrer für den Unterricht
und den Eltern für die Behandlung der Kinder im Hause Ratschläge
zu geben.
Bestehen auch auf dem Gebiete der Taubstummenbildung noch
mancherlei Mängel, deren Beseitigung zu wünschen wäre, so ist doch
die äußere Organisation des Taubstummen-Bildungswesens in Deutsch-
land zu einem gewissen Abschluß gekommen, so haben doch bis
jetzt Schul- und Verwaltungsbehörden, Städte und Wohltätigkeits-
vereine so außerordentlich viel für die Versorgung der Gehörlosen
getan, daß Deutschland bezüglich der äußeren Gestaltung der Taub-
stummenbildung an der Spitze der Länder steht, die sich die Für-
sorge für die Taubstummen angelegen sein lassen.
3. Der Unterricht der Taubstummen.
Der Taubstummenunterricht ist seit seinem Bestehen \on zwei
Unterrichtssvstemen beherrscht worden: die Anhänc^cr des einen
Das 'ruuhstummciihihlunirswcscn im Dcutsclieii Reich. 367
i^iny,"cn von dem an sich \-erstäiuligen Gedanken aus, die l)il(lun^- der
Taubstummen auf die natürliche Gebärde zu gründen, diese metho-
thsch auszugestalten und eine künstliche Zeichensprache zu schaffen,
die ihrem Inhalte und Umfange nach der Lautsprache analog \\i\r.
Neben der nur für Eingeweihte verständlichen Gebärdensprache ver-
mittelte man den Kindern als allgemeines Verständigungsmittel die
Schriftsprache und als Ersatz für die Schrift das Fingeralphabet.
Diese von de l'Epee erfundene Methode verbreitete sich hauptsächlich
in Frankreich; man nennt sie daher auch die französische.
Die Anhänger des zweiten Systems betraten einen andern Weg.
Ohne die natürliche Gebärde zu verwerfen, waren sie — und zu
ihnen gehören die ersten Taubstummenlehrer Deutschlands — be-
strebt, den Taubstummen das allgemeine Verständigungsmittel, die
Lautsprache, zu geben und zugleich die Schriftsprache zu lehren.
Als eigentlicher Begründer dieses Verfahrens ist der Schweizer
Amman zu bezeichnen. Hei nicke, ein Deutscher, hat die Laut-
sprachmethode, auch deutsche Methode genannt, vervollkommnet
und ihre praktische Durchführbarkeit und Bedeutung nachgewiesen.
Während de l'Epee das von ihm eingeschlagene Verfahren ein-
gehend darlegte, nach Möglichkeit zu \'erbreiten suchte und die von
ihm in Paris gegründete Anstalt für jedermann öffnete, deckte
Heinicke seine Methode mit dem Schleier des Geheimnisvollen, so-
daß niemand recht erfuhr, was er in der Leipziger Anstalt trieb.
Es konnte daher nicht ausbleiben, dalä sich die französische Methode
immer mehr ausbreitete — auch bis nach Deutschland hinein — und
an Herrschaft gewann. Die Vertreter der beiden Richtungen be-
kämpften sich in heftigster Weise, und dieser Widerstreit der Mei-
nungen hat bis in die neuste Zeit hinein gewährt.
Die Heinickeschen Bestrebungen wurden im Anfange des
19. Jahrhunderts fast gänzlich aus dem Auge verloren, wie überhaupt
damals ein bedenklicher Rückgang in der Methode des Taub-
stummenunterrichts eintrat. W^ährend auf dem Gebiete der Volks-
schule, angeregt durch den großen schweizer Pädagogen, eine neue,
herrliche Zeit erstand, A\"ährend man hier wetteiferte, die Methode
zu vervollkommnen und reichere Unterrichtserfolge zu erzielen,
isolierte man nicht nur die Taubstummen in Internaten, sondern
auch die Taubstummenlehrer separierten sich und \\urden nicht be-
rührt von der gewaltigen Umwälzung, die sich auf dem Gebiete der
Pädagogik vollzog. Anstatt im Unterrichte von der unmittelbaren
Anschauung auszugehen, folgte man dem Gange einer Grammatik.
3f)8 raubstunimen- und lÜindenuiUerricht.
Die Taubstummenlehrer durchwanderten mit den Schülern erst
sämtliche Wortarten, suchten zwar sobald wie möglich Sätze bilden
zu lassen, gingen aber auch bei der Satzbildung nach den Regeln
der Grammatik vor. Der ganze Plan des Sprachunterrichts \\ar in
ein starres System gefaßt, das sowohl dem natürlichen Sprach-
entwicklungsgange des Kindes überhaupt als auch der Kindesnatur im
besondern widerspricht. Da sie zunächst immer das Sprachgesetz auf-
stellten und zur Befestigung desselben die erforderlichen Beispiele
anfügten, zur Erläuterung des Inhalts jedoch keine geeigneten An-
schauungsmittel anwendeten, solche auch nicht besaßen, so nahmen
sie bei der Begriffserklärung ihre Zuflucht zur Gebärdensprache. F^s
führte das ohne weiteres zur Ausbildung dieser Sprache, wie man
sie in den französischen Taubstummenanstalten fand, und zur Unter-
drückung der Lautsprache. Intelligenz und Sprache entwickeln sich
aber nicht nach den Paragraphen einer Grammatik, sondern auf
Grund der das Kind umgebenden Sinnenwelt und der gewonnenen
Sprache selbst.
Erst nachdem an den Schullehrerseminaren eine Reihe von
Taubstummenanstalten entstanden, nachdem innige Beziehungen
zwischen Taubstummenbildung und allgemeiner Pädagogik angeknüpft
waren, durchwehte ein belebender Hauch den toten Mechanismus
des damaligen Taubstummenunterrichts. In den Reihen der Taub-
stummenlehrer begann nunmehr ein frisches Streben, das vor allem
dahin ging, die Methode des Unterrichts naturgemäßer zu gestalten
als bisher; von nun ab ist erst die PLinwirkung der Pestalozzischen
Schule in der Bildung der Taubstummen zu erkennen. Als weitere
segensreiche Folgen der bezeichneten Verbindung ist zu nennen, daß
die Seminarlehrer, die die Seminare besuchenden Pädagogen, die den
pädagogischen Kursus absolvierenden Kandidaten der Theologie, die
künftigen Lehrer zu Aposteln der Taubstummen-Bildungssache wurden,
und dal.^ sich die Seminar-Taubstummenanstalten zu Pflanzstätten für
Taubstummenlehrer gestalteten. Us entstand ein edler Wettstreit
unter den deutschen Taubstummenlehrern, der freilich auch manches
Unedle geboren hat, in dem jedoch die pädagogische Einsicht und
die praktische Ansicht den Sieg davon trugen. 'Sls.n kehrte endlich
zu den Grundanschauungen der ersten deutschen Taubstummenlehrer
zurück, die dahin gingen, die Lautsprache nicht als etwas Neben-
sächliches, als ein notwendiges Übel zu betrachten, sondern zur
Grundlage des gesamten Unterrichts und sie — es geschah das
frL-ilich erst nach und nach — zum ausschliel.Uichen Unterrichts- und
Das 'l";iubstuinnienbiklungs\veseii im 1 )eutsclKMi Keicli. 309
Dcnkmittcl zu machen; nun erst war der i^eeii,mete Boden für die
i^lückliche Ausgestaltung^ der deutschen Methode gewonnen.
Der hervorragendste Vertreter der neuen Richtung war Hill,
der technische Leiter der Seminar-Taubstummenanstalt in Weißenfels.
Beeinfluist durch die Bestrebungen Harnischs, erkannte sein klarer
Blick und sein weitausschauender Geist sehr bald die Mängel des
damals üblichen Taubstummenunterrichts; mit kühner Hand griff er
in den künstlichen Bau des alten Verfahrens und stürzte ihn, den
man für felsenfest gehalten hatte, um auf den Trümmern des alten
ein neues erstehen zu lassen. Gar schlicht und einfach waren die
Fundamentalsätze seiner Methode: „Die Lautsprache ist die nötige
Grundform der ganzen Sprachbildung der Taubstummen." „Ent-
wickle die Sprache in dem taubstummen Kinde, wie sie das Leben
in dem vollsinnigen Kinde erzeugt!" ,, Erwecke in den Schülern das
Sprachbedürfnis überhaupt und das Bedürfnis nach unserer Sprache
insbesondere!" „Soll dies gehngen, so führe deinem Schüler Sachen
\^or und schUeße daran unmittelbar unsere Sprache an!" „Wende
die Lautsprache stets und überall an und fordere die Anwendung
auch vom Schüler in diesem Grade!"
Neben der Gestaltung einer neuen, das Lautsprachprinzip in den
Vordergrund stellenden, sich auf die unmittelbare Anschauung
gründenden Methode hat sich Hill noch besondere Verdienste durch
Bearbeitung vortrefflicher Schulbücher für Taubstummenanstalten,
durch die Herstellung inniger Verbindung des Taubstummenunterrichts
mit der allgemeinen Pädagogik, durch das Zurückdrängen der Ge-
bärde aus dem Unterricht, durch Ausbildung von Taubstummen-
lehrern und durch die Belebung des Literesses für die Taubstummen-
bildung in weiteren Kreisen erworben. Wie er als Methodiker
Großes geleistet hat, so war er als Lehrer der Taubstummen nicht
minder bedeutungsvoll. Den Wert der von ihm gegebenen methodi-
schen Ratschläge suchte er durch die Schulpraxis zu erweisen: mit
seltenem Geschick und unermüdlichem Fleiße arbeitete er an den
ihm anvertrauten Zöglingen und die Unterrichtserfolge waren trotz
der Ärmlichkeit und Mangelhaftigkeit der äulkren Organisation der
von ihm geleiteten Anstalt so glänzende, dal?. Weißenfels das Mekka
der Taubstummenlehrer des Li- und Auslandes wurde, und wenn er
auch nicht ohne Gegner blieb, so erkannte man in ihm doch den
Meister, dessen Vorbilde man nachzueifern sich bestrebte. So machte
sich nach und nach, besonders in den deutschen Taubstummen-
anstalten, ein Umschwung bemerkbar, der für das Taubstummen-
Das Unterrichtsweseri im Deutschen Reich. Ul. 24
370 Taubstuinmeii- und BliiulenunteiTicht.
Bildungswesen nach außen und innen segenbringende Folgen zeitigte.
Die Leistungen auf dem Gebiete des Lautsprachunterrichtes steigerten
sich mehr und mehr, und auch diejenigen, die begeisterte Anhänger
der Zeichenmethode waren, konnten den eminent praktischen und
idealen Wert der deutschen Methode nicht verleugnen. Es war zwar
ein beschwerlicher und weiter Weg, den der deutsche Taubstummen-
lehrer mit seinen Schülern von der Feststellung des ersten Lautes
bis zum freien Sprechen und sichern Absehen der Sprache vom
?^lunde zu durchwandern hatte, und gar manchmal wollte er an sich
und seiner Arbeit verzweifeln; doch der Gedanke, Menschenseelen zu
retten, und die, denen die Natur so viel versagt hat, zu berechtigten
Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen, gab ihm
immer wieder Kraft und Mut, sein mühevolles Tagewerk zu
vollbringen.
Wenn die Lautsprachmethode immer mehr an Boden gewann,
wenn dieselbe — auch im Auslande — immer mehr Anhänger fand,
so ist das dem Fleii.W^ und der Ausdauer der deutschen Taubstummen-
lehrer zu danken. Es war nur der Ausdruck der bei den Bildnern
der Gehörlosen allmählich zum Durchbruch kommenden Anschauungen,
als der erste Kongreß zur Verbesserung des Schicksales der Taub-
stummen zu Paris (1878) den Antrag fast einstimmig zum Beschluß
erhob: ,,Nach langer und reiflicher Erwägung erklärt der Kongreß,
daß, obgleich die natürliche Zeichensprache als erstes Verständigungs-
mittel zwischen Lehrer und Schüler gestattet ist, die Lautsprach-
methode vor der der Zeichensprache den unbestrittenen Vorzug ver-
dient, und dies gründet sich auf die in allen Ländern Europas und
selbst in Amerika gemachten Erfahrungen." Der zweite internationale
Taubstummenlehrer-Kongreß zu Mailand (1880) schloß sich dieser Er-
klärung vollständig an und präzisierte die an den Taubstummen-
unterricht zu stellenden Forderungen noch schärfer, indem er folgende
Beschlüsse faßte;
1. ,,Li der Überzeugung von der unbestrittenen Überlegenheit
der Lautsprache gegenüber der Gebärdensprache, insofern jene die
Taubstummen dem Verkehre mit der hörenden Welt wiedergibt und
ihnen ein tieferes Eindringen in den Geist der Sprache ermöglicht,
erklärt der Kongreß, daß die Anwendung der Lautsprachmethode
bei der Erziehung und dem Unterricht der Taubstummen der der Ge-
bärdensprache vorzuziehen sei."
2. „In Erwägung, daß die gleichzeitige Anwendung der Ge-
bärdensprache und des gesprochenen Wortes den Nachteil mit sich
Das 'l'aubstumnienbil(luiii^s\vest;n im Dc-uIscIkui Reich. 371
führt, dal.^ dadurch das Sprechen, das Absehen von den Lippen und
die Klarheit der Begriffe beeinträchtigt wird, erklärt der Kongreß,
daß die reine Lautsprachmethode vorzuziehen sei."
Es war ein etwas kühner Sprung, der von der Gebärdensprache
als Grundlage des gesamten Unterrichts bis zur vollständigen Beseiti-
gung dieser Sprache aus den Taubstummenanstalten — allzukühn, als
daß er von jedem Taubstummenlehrer hätte ausgeführt werden
können, und wenn es wohl auch ein \ergebliches Bemühen sein
dürfte, die Gebärde aus den Taubstummenanstalten auszurotten, so
war doch mit den Kongreßbeschlüssen das erreicht, was die deutschen
Taubstummenlehrer seit langem erstrebt und erarbeitet haben: die
ausschließhche Berechtigung der Lautsprachmethode im Taub-
stummenunterricht.
Wer von dem Unterrichtsbetrieb einer Reihe deutscher Taub-
stummenanstalten Kenntnis genommen hat, der wird, abgesehen von
Nebensächlichkeiten, eine erfreuliche Einheitlichkeit der Unterrichts-
grundsätze beobachten, die sich in folgendem zusammenfassen lassen:
1 . Der von den Taubstummenanstalten verfolgte Zweck, der
dem der Volksschule entspricht, geht dahin, aus den Taubstummen
sitthch-religiöse und bürgerlich-brauchbare Menschen zu machen.
2. Zur Erreichung dieses Zweckes sind die Taubstummen in
dem Maße mit der Lautsprache auszustatten, daß sie mündlich und
schriftlich Mitgeteiltes verstehen und ihre Gedanken in allgemein \'er-
ständhcher Weise mündHch und schriftlich ausdrücken können. Zu-
gleich sind sie in allen Kenntnissen und Fertigkeiten — Gesang aus-
geschlossen — zu üben, welche die einfache Volksschule fordert.
3. Der Lautsprachunterricht ist bestimmend für den Anfang und
Fortgang aller übrigen Unterrichtsgegenstände. Es bildet demnach
den Mittelpunkt des gesamten Unterrichts. In ihm treten hauptsäch-
lich die Eigentümlichkeiten des Taubstummenunterrichts hervor.
4. Neben dem Sprachunterricht werden die Taubstummen a.) in
der Religion, b) im Rechnen, cj in der Weltkunde (Geographie,
Geschichte, Naturkunde usw.), d) im Schreiben, e) im Zeichnen, f i im
Turnen, g) in Knabenhandarbeit bezw. in weiblichen Handarbeiten
unterrichtet.
5. Beim Sprachunterricht sind vier Stufen zu unterscheiden:
erste Stufe: der vorbereitende Sprachunterricht, der die Entwicklung
der Laute und die Feststellung der ersten Begriffe zur Aufgabe hat;
zweite Stufe: der grundlegende Sprachunterricht, bei dem es darauf
ankommt, eine sichere Basis für den weiteren Unterricht zu gewinnen;
[yj'2. Taubstuinmen- untl iUimlenunterricht,
er muß daher den Schülern Anschauungs- und Sprachstoff sowie
einfache Sprachformen zuführen; dritte Stufe: der erweiternde
Sprachunterricht, in welchem die materiell-sprachliche Grundlage er-
weitert, der Anfang in der Behandlung der Sprache als Gegenstand
des Unterrichts gemacht und die sprachliche Selbsttätigkeit der
Schüler angeregt wird; vierte Stufe: der abschließende Sprachunter-
richt, welcher durch fortgesetzte grammatische Übungen die Sprache
mehr und mehr zu einer bewußten Denktätigkeit macht, die Schüler
zum Verständnisse der Unterhaltungssprache und einfacher Volks-
schriften führt und sie befähigt, ihre Gedanken über Wahrgenommenes,
Erlebtes und Empfundenes in zusammenhängender Weise mündlich
wie schriftlich auszudrücken.
6. In dem Sprachunterrichte Taubstummer unterscheidet man:
a) einen mechanischen Sprachunterricht, der es mit der technischen
Seite der Sprache zu tun hat; b) einen materiellen Sprachunterricht,
welcher den Schülern Sprachstoff zuführt; c) einen formellen Sprach-
unterricht, der die Formen der Sprache lehrt; d) freie Sprach-
übungen, bei denen die Umgangssprache Verwertung und Anwen-
dung findet.
7. Gleich mit Beginn des Sprachunterrichts treten vier Übungen
auf, die stets Hand in Hand gehen, nämlich Sprech- und Abseh-,
Schreib- und Leseübungen.
\S. Da die Lautsprache in der Taubstummenschule zugleich
Unterrichtszweck und Unterrichtsmittel ist, so muß sie während der
ganzen Unterrichtszeit die sorgfältigste Pflege und Übung erfahren.
9. Klares und bestimmtes Sprechen der einzelnen Laute und
der verschieden.sten Lautverbindungen bei natürlicher Bewegung und
Stellung der Sprachwerkzeuge, richtige Dehnung und Kürzung der
Laute und erkennbare Betonung der Silben in den Wörtern und der
Wörter in den Sätzen bei zweckmäßigem Haushalten mit der Luft
ist nur dann zu erreichen, wenn das Sprechen ununterbrochen mit
der grölAten Gewissenhaftigkeit gepflegt wird.
10. Da es nicht bloß darauf ankommt, dal.^ die Taubstummen
die Sprache erlernen, um verstanden zu werden, sondern da es für sie
von ebenso großer Wichtigkeit ist, daß sie andere verstehen, so ist
den Übungen im Absehen der Sj^rache vom Munde Sprechender
nicht mindere Sorgfalt zu widmen als dem mechanischen Sprechen.
1 1 . Die bei der Sprachaneignung seitens der Vollsinnigen allge-
mein befolgten Grund.sätze sind auch bei dem Sprachunterricht Taub-
stunnner festzuhalten.
1 >a- ■|aul)stuiiiinenbilduiio;s\vescii im Deulsclien Reicli. 'AI'A
\'2. Die Sprache ist daher unmittelbar an die die taubstummen
Schüler umgebenden Dinge, Erscheinungen und X^erhältnisse anzu-
schließen. Nur dadurch ist eine innige X'erbindung von Wort und
Sache 7,u ermöglichen und dem Taubstummen das Sprechen zu einer
organischen (jeistestätigkeit zu machen, wie sie es bei dem VnW-
sinnigen ist.
13. Um die Taubstunnnen an eine selbstätige .Sprachanwendung
zu gewöhnen, ist in ihnen das Bedürfnis nach der Lautsprache zu er-
wecken.
14. Das I^edürfnis nach der Lautsprache wird nicht geweckt,
Avenn die mit den Taubstummen in Verkehr Tretenden die Gebärden-
sprache anwenden. Der (Gebrauch dieser Sprache ist zugleich Ver-
anlassung, daß die taubstummen Kinder die Lautsprache ungern an-
wenden, \"om Alunde Sprechender nicht absehen lernen, die Um-
gangssprache nicht genügend erlernen, nur einen beschränkten Sprach-
schatz erwerben, die Formen der Lautsprache in nicht ausreichendem
Alaße erfassen und in dieser Sprache nicht denken lernen.
15. Die Gebärdensprache kann zwar als erstes Mittel der Ver-
ständigung mit Taubstummen nicht entbehrt werden, muß aber mit
zunehmender Sprachkraft der Kinder zurücktreten und rst schließlich
möglich.st vollständig aus dem Unterricht zurückzudrängen.
H). Als Erklärungsmittel der Sprache und zur Gewinnung von
Begriffen dient nur die unmittelbare Anschauung der Sache oder
deren \'ertreter, sowie die Sprache.
1 7. An den ersten Sprachunterricht schließt sich ein geordneter
Anschauungsunterricht, der entw^eder in Verbindung mit dem Lese-
und Sprachunterricht oder als selbständiger Unterrichtsgegenstand
betrieben wird. Er zieht sich durch die ganze Schulzeit hindurch.
1 8. Zweck des Anschauungsunterrichts ist : Steigerung der Auf-
merksamkeit, Übung und Ausbildung des Anschauungs- und Denk-
vermögens, Bereicherung mit Vorstellungen und Kenntnissen, An-
eignung von Begriffswörtern, Übung in der Anwendung der gewon-
nenen Sprache und Ausbildung derselben durch mündliche Besprechung
und schriftliche Arbeiten.
19. Der Anschauungsunterricht ist: ai ein vorbereitender, welcher
mit dem Artikulationsunterricht Mand in Hand geht; bi ein grund-
legender, welcher den Schülern Sprachmaterial zuführt; c) ein be-
schreibender, der durch Beschreibung verschiedener Anschauung.s-
objekte die Vermehrung des Sprach.stoffes sowie das Verständnis und
die richtige Anwendung der Sprachformen erstrebt; und d) ein an-
374 Taubstummen- und Blindenunterricht.
wendender, welcher neben allgemeiner Förderung der Sprache die
praktischen Verhältnisse des Lebens in das Bereich seiner Besprechung
zieht.
20. Die Reihenfolge des zu behandelnden Stoffes ist bestimmt
durch die Einteilung der Zeit und räumliche Verhältnisse.
21 . Dem Taubstummen, welchem die Sprache nur in bescheidenem
Malie zufließt, der daher nur langsam zur Abstraktion des Richtigen
gelangt, müssen die Gesetze der Wortsprache teils angewandt, teils
an sich vorgeführt werden, um sich dieser Gesetze bewußt und zur
richtigen Anwendung derselben geführt zu werden.
22. Wenn das Sprachbedürfnis auch das Leitende bei der Fort-
entwicklung der Sprache ist, so mui-. doch auch ein systematischer
Fortgang bei Vorführung und Einübung der sprachlichen Formen
festgehalten werden, der auf allen Stufen des Unterrichts hervortritt.
23. Auf der Oberstufe beginnt ein geordneter grammatischer
Unterricht, der, auf der Mittelstufe \orbereitet, die Sprache selbst
zum Gegenstande der Behandlung macht.
24. Der Sprachformenunterricht schließt sich an das Lesebuch
an; es können jedoch auch besondere Unterrichtsstunden für ihn an-
gesetzt werden.
25. Er kann nur dann in fruchtbringender Weise betrieben
werden, wenn er dem Grundsatze folgt: \"on der sprachlichen Er-
scheinung zum Gesetz.
26. Um die Taubstummen für geordnete und selbständige schriftliche
Darstellung zu befähigen, sind sie zur Abfassung von Tagesberichten
anzuleiten, woraus sich in den letzten Schuljahren Aufsatzübungen ent-
wickeln, die zugleich die Anfertigung \on Briefen und Geschäftsauf-
sätzen erstreben. Es muß aber auch jeder Lehrgegenstand, soweit er
es mit Gedankenreihen zu tun hat, zur Förderung des schriftlichen
Gedankenausdrucks beitragen. Es müssen sich daher an den münd-
Uchen Unterricht schriftliche Arbeiten als Wiederholungen und Übungen
in angemessener Darstellung anreihen.
27. Die freien Sprachübungen haben die Umgangssprache, wie
sie im alltäglichen Verkehr angewandt wird, einzuführen.
28. Sie schneiden sich an das unmittelbare Sprachbedürfnis der
Schüler an und suchen dasselbe zu befriedigen. Die Vorkommnisse
und W^ahrnehmungen in Schule und Haus, auf Spaziergängen und im
Verkehre werden zum Gegenstande der Besprechung gemacht und
dienen zur Aneignung der Umgangssprache, im besondern der dieser
eigentümlichen Ausdrücke und Redewendungen.
Das Taubstuinmciibilduiigswesen im Dcutsclien Reicli. 375
'l^K Sie lieben dem Schüler sofort Sprachganze, ohne immer
Rücksicht darauf zu nehmen, ob die angewandte Form vorbereitet
ist und verstanden wirtl.
30. Da es von hoher Wichtigkeit für die Taubstummen ist, dal^
sie die Umgangssprache in möglichst umfangreichem Maße erlernen,
so muß dieselbe in jeder Unterrichtsstunde, sobald sich nur Gelegen-
heit bietet, Berücksichtigung finden. Das Erlernte ist auch im außer-
unterrichtlichen X'erkehr zu verwenden.
31 . Ein geordneter Religionsunterricht kann erst dann beginnen,
wenn die taubstummen Schüler im Besitze einer Elementarsprache
sind, die eine segenbringende Behandlung des religiösen Stoffes er-
möglicht, also nicht vor dem dritten Schuljahre.
32. Wenn der Religionsunterricht auch den Sprachunterricht
zu unterstützen, d. h. die ihm eigentümliche Sprache zu lehren, auf
gute Aussprache und richtige sprachliche Form zu halten hat, so
darf das sprachliche Element doch niemals das religiöse überwuchern.
Die Religionsstunde darf zu keiner Sprachstunde hinabgedrückt werden.
Die hohen Aufgaben der religiösen Unterweisung, die Kinder zu Gott
zu führen, ernste Frömmigkeit, Zucht und Sitte in die Herzen der-
selben zu pflanzen, sind allezeit im Auge zu behalten.
33. Um den Zweck des Religionsunterrichts zu erreichen, muß
der Taubstumme ai mit den großen Taten Gottes, wie sie uns im
Alten und Neuen Testament erzählt sind, bekannt gemacht, b; in
die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche eingeführt, o zum
würdigen Gebrauche der Sakramente vorbereitet, di über die Be-
deutung der kirchlichen Handlungen sowie der kirchlichen Feste und
die Einrichtung des Gottesdienstes belehrt, ei für die religiöse Weiter-
bildung befähigt und f ) für die Beteiligung am Gottesdienst empfäng-
lich gemacht werden.
34. Beim Religionsunterricht sind vier Stufen zu unterscheiden:
erste Stufe: der vorbereitende Religionsunterricht, welcher durch
gelegentliche Hinweise auf Gott und durch Beschreibung biblischer
Bilder in den Schülern eine Vorstellung von dem Dasein und den
Taten Gottes erweckt; zweite Stufe: der grundlegende Religions-
unterricht, welcher den Schülern die Heilsgeschichte im Zusammen-
hange vorführt und die Grundlage für den konfessionellen Religions-
unterricht gibt; dritte Stufe: der lehrhafte Religionsunterricht,
welcher auf das Leben in der kirchHchen Gemeinschaft vorbereitet
und die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche im Anschlüsse an den
'^'J(j Taubstummen- und ]!lin(lenunterricln.
Katechismus vorführt; vierte Stufe: der abschlieisende ReUgions-
unterricht. der den gesammelten rehgiösen Stoff zusammenfaßt, die
Schüler in das Verständnis der kirchlichen Handlungen, besonders
in das der Sakramente einführt und sie zu würdigen Gliedern der
kirchlichen Gemeinschaft macht.
o5. Die einzelnen Disziplinen des Religionsunterrichts, die jedoch
nicht alle selbständig auftreten, sind: a) Besprechung biblischer Bilder,
b) Unterricht in der biblischen Geschichte, c Religionslehre, d i Bibel-
lesen; ei Liederkunde, f) Kirchengeschichte.
36. Der Rechenunterricht tritt ein, wenn die Schüler sprachlich
soweit gefördert sind, daß sie die Zahlen zu sprechen vermögen,
wenn also das Rechnen mit Hilfe der Lautsprache möglich ist,
demnach nicht xor dem zweiten Schuljahre.
'M. Lr verfolgt den Zweck, die Taubstummen für das praktische
Rechnen zu befähigen und sie im abstrakten Denken und korrekten
Sprechen zu üben.
38. Unter besonderen Verhältnissen können einige Gebiete aus
der Raumlehre, die für das praktische Leben Bedeutung haben, zur
Behandlung kommen.
'A^J. Der weltkundlichc Unterricht entwickelt sich aus dem
Anschauungsunterricht. Er umfaßt ai Geographie, iHeimats-, Vater-
lands- und Erdkunde I, bi Geschichte, c> Naturkunde und d) Gesetzes-
kunde.
40. Der Schreib- und Zeichenunterricht der Taubstummen ent-
spricht dem in der Volksschule. Der letztere bedarf der besonderen
Pflege, weil zeichnerische Fertigkeiten die Wahl eines Lebensberufes
zu erleichtern imstande sind.
41. Da die Taubstummen wegen des Gehörmangels in der
Regel einen schleppenden Gang haben, infolge der Stummheit und
der sich hieraus ergebenden Untätigkeit der Lungen die Brustorgane
wenig gestärkt sind, für die sprachliche Tätigkeit die Kraft des
Schülers jedoch sehr in Anspruch genommen wird, so ist das Turnen
(wie auch Baden, Schwimmen, Spazierengehen usw.) in derTaubstummen-
anstalt wie für Knaben so für Mädchen von großer Wichtigkeit.
42. Eine gewerbliche Ausbildung der Taubstummen ist nicht
Aufgabe der Taubstummenanstalt, wohl aber sind die Knaben, be-
sonders die des Internats, mit Handfertigkeitsarbeiten zu beschäftigen.
43. Die taubstummen Mädchen sind mit Eintritt in die .Vnstalt
in weiblichen iVrbeiten zu unterrichten.
Das 'raulj>tuimiu-nbil(luiiir^\\c>cii nii I )euts<-lien Reich. \\~l'^
44. Jeder einzelne UnterrichtsL^ei^^eiistancl hat die ihm eii^en-
tümHche Spraehe zu lehren; er tritt somit in den Dienst des Sprach-
unterrichts. ,,In allem ist Sprachunterricht!"
45. Der gesamte Unterricht s^eht \on der Lautsprache aus.
Die schriftliche Darstellung schlieik sich nach l^edürfnis an.
46. Mit dem luntritt in die Mittelstufe wird die Methode des
Taubstummenunterrichts der in der Volksschule angewandten immer
mehr ähnlich, sodal.^ sich jener Unterricht auf der Oberstufe von
dem Elementarunterricht in der Form nicht mehr wesentlich unter-
scheidet.
47. Zur Erreichung des weiten Zieles, das sich die Taub-
stummenlehrer gesteckt haben, ist erforderlich, daiA ai ein achtjähriger
Unterrichtskursus (drei Jahre für die Unter-, drei Jahre für die Mittel-
und zwei Jahre für die Oberstufe) gewährt wird, b) die Zahl der
Schüler einer Klasse zehn nicht übersteigt, ci jede Klasse einen
eigenen, mit der Methode des Unterrichts vertrauten und im Unter-
richten taubstummer Kinder geübten Lehrer hat, d) alle die An-
schauungsmittel vorhanden sind, welche einen unmittelbaren jVnschluß
des Wortes an die Sache oder deren Vertreter ermöglichen, e) die
taubstummen Kinder schon mit dem vollendeten siebenten Lebens-
jahre in die Taubstummenanstalt eintreten, f) die Zöglinge nach der
Befähigung gesondert werden, gj da, wo die Möghchkeit vorhanden
ist, die teilweis hörenden Schüler ebenfalls ausgeschieden und ge-
sondert unterrichtet werden, h) alle Lehrer einer Anstalt nach einem
einheitlichen Plane arbeiten. —
Auf Seite .'•> 78 geben wir, einen achtjährigen Schulkursus voraus-
gesetzt, eine Übersicht der wöchentlichen Unterrichtsstunden.
4. Fürsorge für die aus den Taubstummenanstalten
entlassenen Zöglinge.
Die deutschen Taubstummenanstalten sind ausschließlich Schulen
und haben lediglich die Aufgaben zu erfüllen, welche den Volks-
schulen bezüglich der hörenden Kinder zufallen. So weitgehend auch
die Staatsregierungen, Provinzen, Städte und wohltätige Vereine für
die im schulpflichtigen Alter stehenden Taubstummen eintreten bezw.
eintreten müssen, so besteht leider — natürlich abgesehen von den
Angehörigen — für niemand eine Verpflichtung, sich der aus den
Anstalten entlassenen Zöglinge anzunehmen. Verlassen sind sie
darum nicht. Zunächst ist anzuführen, daß in verschiedenen größeren
Anstaltsorten, wo in der Regel viele Taubstumme ihren Erwerb
378 Taubstummen- und Blindeuunterricht.
Übersicht der wöchentlichen L'n terricli tsst unde n.
Zahl der x
sochentlichen Stunden
Unterrichtsgegenstiinde
Klasse
VIII
Klasse
VII
>
1
^asse V
asse IV
lasse III
rt
Klasse I
Sem. Sem.
Sem.
Sem.
I
II
14
« ^ ^ t4
I 11
I. Sprachunteri-icht :
i 1
a) Artikulationsunterricht
24
—
—
—
— —
— _
— —
b) iMechanische Sprech-
übungen . . .
8
6
4
2
2
— i —
1
c) Anschauungsunterricht
8
10
10
4
4
4 4
3 2
d) Leseunterricht . . .
—
4
4
6
6| 6
6 1 6
e) Sprachformenunter-
'
i-icht
_
—
2
2
2
2 -
— —
f) Unterricht in der
.1
schriftlichen Dar-
stellung
—
—
—
—
2 2
2
2
2 2
g) Freie Sprachiibungen .
—
2
2
2
2 —
—
— —
II. Rehgionsunterricht:
1
a) Biblische Geschichte .
_
_
—
_
4
4
4
2
2 2
bj Religionslehre . . .
—
—
—
—
_
—
2
2
2 3
c) Bibellesen ....
—
—
—
—
—
—
— ' —
1 1
III. Rechenunterricht . .
4
4
4
4
4
4 4
4 4
IV. Unterricht in der Welt-
i
kunde :
a) Geographie ....
—
--
-
—
2 2
2
2
2 2
b) Geschichte ....
—
—
—
—
— ; —
—
2
2 2
c) Naturgeschichte
—
—
1
2
2
— —
d) Xaturlehre ....
_
—
_
—
1
—
—
2 2
V. Schreibunterricht . .
_
2
2
2
21 2
—
-
VI. Zeichenunterricht . .
_
2
2
2
2 ' 2
2
4
4 4
VII. Turnunterricht . . .
2
2
2
2
2 2
2
2
2 2
'/usaminen
26
2
8
32
32
32
32
32
32
Außerdem :
Für Knaben: Ilanclfertig-
keitsunterricht ... 4 4 4 44444 4;4
Für Mädchen: weibliche
Handarbeiten ... 4 4 4 44444 4:4
suchen, Fortbildung^.s.schulen eingerichtet sind, die entweder aus
öffentlichen Mittehi oder auf dem Wege der Privatwohltätigkeit er-
halten werden. Diese Schulen gliedern sich an die Taubstummen-
anstalten an und setzen den in den letzteren abgeschlossenen Unter-
richt fort. I^s arbeiten an ihnen Taubstummenlehrer. Da die die
Das Taubstiimnu:nbil(lunij;>\vi'seii im Deutschen Reich. 379
Fortbildungsschule besuchenden Zöglinge fast ausschließlich Lehrlinge
sind, so können die Unterrichtsstunden nur in beschränkter Zahl
am Abend stattfinden. Als Lehrgegenstände der genannten Schulen
bestehen :
a) Lesen, Sprache, Aufsatz. Zur Benutzung kommen einfach
gehaltene Lesebücher, sowie leicht verständliche Jugendschriften, für
die Privatlektüre Bücher aus der Anstaltsbibliothek. Die Schüler
legen sich ein Wörterbuch an, in das sie die ihnen zu erklärenden
Wörter eintragen. Pflege der Umgangs- und Geschäftssprache wird
stets berücksichtigt. Im Aufsatzunterricht werden hauptsächlich Ge-
schäftsaufsätze und Briefe geschrieben.
b) Rechnen. Der Rechenunterricht strebt Sicherheit und
Schnelligkeit im mündlichen und vor allem im schriftlichen Lösen
praktischer Aufgaben aus den \ier Spezies mit ungleich benannten
Zahlen, mit Dezimalbrüchen, aus der Regel de tri, Lohn- und
Zinsberechnung, Kenntnis der Kranken-, Unfall-, Alters- und Lna-
lidenversicherungs- Verhältnisse, Berechnung von Längen- und Flächen-
maßen an.
ci Weltkunde. Die Weltkunde vermittelt die Kenntnis der
Gemeinde- und Staatseinrichtungen, der Miets- und Arbeitsv'erhält-
nisse, der wissenswerten Polizeiverordnungen und gesetzlichen Be-
stimmungen, der Steuerverhältnisse usw.
d) Zeichnen und Formenlehre. Beim Zeichnen ist auf das Ge-
werbe Rücksicht zu nehmen, das der Schüler betreibt.
An einzelnen gut organisierten Schulen, z. B. der mit der städti-
schen Taubstummenschule in Berlin verbundenen Fortbildungsschule
sind auch Kurse für Mädchen eingerichtet.
Der Unterricht wird nicht nur unentgeltlich erteilt, sondern die
Schüler erhalten auch die nötigen Unterrichtsmittel, wie Bücher,
Schreib- und Zeichenmaterialien umsonst.
Da, wo die Gründung von Fortbildungsschulen auf Schwierig-
keiten stößt, sind Wiederholungskurse für erwachsene Taubstumme
eingerichtet, so in der Provinz Westfalen.
In Deutschland besteht eine ganze Reihe für Taubstumme ge-
schriebener Zeitschriften, die den entlassenen Zöglingen geistige
Anregung und reiche Gelegenheit zur sprachlichen und allgemeinen
Fortbildung bieten. Die von Taubstummenlehrern herausgegebenen
Zeitschriften, zum Teil vom Staate subventioniert, müssen als die
besten bezeichnet werden; es sind das: Streich, ,, Blätter für Taub-
stumme" (Gmünd in Württemberg), Huschens, „Taubstummenführer"
38Q 'raubstunimen- und lÜindenunterricht.
— für katholische Taubstumme (Trien und Franke, „Wegweiser für
Taubstumme" (Halle a. S.).
Auch die Einrichtung von Unterhaltungsabenden, die Ernstes
und Heiteres bieten, in der .\nstalt abgehalten werden und frühere
und gegenwärtige Schüler vereinigen, sowie die Heranziehung der er-
wachsenen Taubstummen zu Anstaltsfesten (Geburtstag des Landes-
fürsten, Stiftungsfest, Weihnachtsfeier usw.) gewähren manche geistige
Anregung.
Die religiöse Versorgung der erwachsenen Taubstummen
bietet viele Schwierigkeiten. Besuchen diese Taubstummen den
öffentlichen Gottesdienst in der Kirche oder gehen sie zum heiligen
Abendmahl, so verstehen sie den Geistlichen nicht: sie langweilen
sich in der Kirche, und es kann leicht das Gegenteil von dem ein-
treten, was sie erstreben. Um die Teilnahme an den gottesdienst-
lichen Handlungen in etwas fruchtbar zu machen, gibt man den
scheidenden Zöglingen das biblische Geschichtsbuch und das Religions-
buch, sowie einen in einfacher Sprache gehaltenen Auszug aus der
Kirchenagende mit, nach dem sie den Gang der kirchlichen Hand-
lungen verfolgen und im allgemeinen das erfassen können, was der
Geistliche spricht.
Um den Gehörlosen Gelegenheit zu bieten, an den kirchlichen
Feiern verständnisvollen Anteil zu nehmen, sind in einigen größeren
Städten, so in Berlin, Hannover und Cassel, besondere Gottesdienste
für Taubstumme eingerichtet, die von im V^erkehr mit Gehörlosen
geübten und der Gebärdensprache mächtigen Geistlichen abgehalten
werden. Die Zahl der Besucher dieser kirchlichen Versammlungen
steigerte sich jedoch bisweilen derartig, daß es unmöglich wurde, die
Taubstummen in ausreichender Weise zu beaufsichtigen, und so ent-
.standen mancherlei Unzuträglichkeiten, die nicht selten den Zweck
der in bester Absicht eingerichteten Gottesdienste verdunkelten. Um
diesen Cbelständen zu begegnen, finden jetzt — wenigstens ist das in
Preußen der Fall — an den Orten, wo Taubstummenanstalten sind,
alljährlich kirchliche Feiern statt, bestehend in Gottesdienst und
Spendung der Abendmahls, an denen sich die ehemaligen Anstalts-
zöglinge, wie auch andere erwachsene Taubstumme, die dem be-
treffenden Bezirke angehören, beteiligen können. Den Unbemittelten
wird auf Grund eines \-om Anstaltsvorsteher auszufertigenden Aus-
weises eine wesentliche Vergünstigung bei Benutzung der Fjsenbahn,
zum Teil auch Beköstigung gewährt. Im Königreich Sachsen halten
die Taubstummenlehrer an bestimmten Sonntagen des Jahres in den
I );i^ rauljsuimiiifnbildiuiii^svcst'ii im I )ciU.sclien Reich. []l\]
Städten, in denen Taubstumme in L,n-ölAerer Zahl vorhanden sind,
Andachten ab, die sich eines zahh'eichen Zuspruchs erfreuen. Eine
gleiche Einrichtung ist in der Provinz Hannover getroffen. Den
Lehrern wird eine entsprechende Reisevergütung gewährt.
Die preußische Regierung ist noch einen Schritt weitergegangen
und hat an verschiedenen Taub.stummenanstalten, so in Berlin, Königs-
berg i. Pr. und Marienburg i. W., Kurse für e\angelische Geistliche
eingerichtet, wodurch diese für den Verkehr mit Taubstummen ge-
schickt, im besondern auch mit der Art des in Taubstummenschulen
erteilten Religionsunterrichts bekannt gemacht werden sollen, um den
in ihrem Amtsbezirk lebenden erwachsenen Taubstummen seel-
sorgerisch nahe treten zu können. Ähnliche Anregungen sind auch
seitens der katholischen kirchlichen Behörden gegeben worden, so
von den Bischöfen von P2rmeland, Kulm, Osnabrück, Hildesheim,
Paderborn und dem Fürstbischof von Breslau. Lehrkurse für katho-
lische Geistliche haben an den Taubstummenanstalten zu Posen und
Bensheim in Hessen stattgefunden. Diejenigen Taubstummen, die in
einem Anstaltsorte leben, nehmen an den in der Anstalt stattfinden-
den Gottesdiensten teil.
Eine berufliche Ausbildung findet in den deutschen Taub-
stummenanstalten nicht statt, wenn in diesen auch hie und da Schuh-
macherei, Schneiderei oder Tischlerei unter der Leitung eines Hand-
werksmeisters getrieben wird; es geschieht dies in erster Linie aus
wirtschaftlichen Gründen. Die Unterbringung der entlassenen Zög-
linge in einer Lehrstelle ist lediglich Sache der Angehörigen; die
Taubstummenlehrer unterstützen jedoch die Eltern nach dieser Seite
nach besten Kräften und in der Regel mit Erfolg. Die Neigung der
die Anstalt verlassenden Schüler geht in den meisten Fällen dahin,
im Anstaltsorte zu verbleiben. In diesem findet sich im Laufe der
Zeit eine Reihe von Handwerkern, die gerne taubstumme Lehrlinge
annehmen und in deren Ausbildung eine gewisse Routine erlangen.
Nicht wenige Taubstumme gewinnen in ihrem ehemaligen Pflegevater
einen Lehrmeister. Wenn die Taubstummen im Anstaltsort ver-
bleiben, so überwachen und leiten sie ihre früheren Lehrer gerne.
Bei der Wahl eines Lebensberufes, die entscheidend für die
Existenz, ja für das ganze Lebensglück der Taubstummen ist, treten
die Taubstummenlehrer allezeit ratend und helfend ein. Die Knaben
erlernen in der Regel ein einfaches, stets gangbares Handwerk, wie
Schneiderei, Schuhmacherei, Tischlerei, Buchbinderei, Handschuh-
macherei. Einzelne bringen es darin soweit, daß sie sich ein selb-
382 'raulMtumnifu- und lüindenunterricht.
Ständiges Geschäft gründen können. Andere werden Schlosser,
Sattler, Gold- und Silberarbeiter, Gärtner, Schriftsetzer, Lederarbeiter.
Solche, die zeichnerisch beanlagt und gut ausgebildet sind, ein sicheres
Auge und eine geschickte Hand besitzen, bilden sich als Elfenbein-
schnitzer, Lithographen, Xylographen, Porzellanmaler, Holzbildhauer,
Stubenmaler, Stuckarbeiter aus. Auch in der Landwirtschaft finden
sie nützliche Verwendung. In das Gebiet der höheren Kunst, der
Malerei, Bildhauerei und Baukunst, dringen nur wenige, in hervor-
ragender Weise künstlerisch begabte Taubstumme ein.
Es ist schwer, die Mädchen wirtschaftlich selbständig zu
machen. Als Dienstboten will sie selten jemand annehmen. Am
besten sind sie im Elternhause als Stütze der Mutter aufgehoben.
Wenn diese Möglichkeit nicht vorliegt, so werden sie wohl Putz-
macherinnen, Schneiderinnen, Weißnäherinnen, Plätterinnen oder
Wäscherinnen.
Mit Rücksicht darauf, daß die Taubstummen fast durchgehends
arm sind, und um unter den vorhandenen Lehrmeistern eine geeig-
nete Auswahl treffen zu können, ist in Preußen durch Königliche
Kabinettsordre vom 16. Juni 1817 „denjenigen Künstlern und Hand-
werkern, die einen Taubstummen als Lehrling annehmen und aus-
lehren", eine Prämie von 150 M. in Aussicht gestellt. Es können
allerdings nur diejenigen Lehrmeister auf Bewilligung einer solchen
Beihilfe rechnen, die den taubstummen Lehrling zu sich ins Haus
nehmen, ihn unterhalten und soweit ausbilden, daß er sich in seinem
Fache selbständig seinen Lebensunterhalt zu verschaffen vermag. Der
Nachweis der erfolgten Ausbildung geschieht durch glaubwürdige
Sachverständige. Die Prämie wird sowohl für Ausbildung von Knaben
als auch von Mädchen bewilligt. Auch Nichtpreußen, die aber in
einem deutschen Bundesstaate wohnen müssen, kann sie gewährt
werden. Eine gleiche Einrichtung besteht für das Königreich Sachsen
auf Grund der Verordnung vom 3. November 1865. In Braunschweig
beträgt die Prämie 125 M.
Verschiedene Taubstummenanstalten haben es sich angelegen
sein lassen, Mittel zu sammeln, mit deren Hilfe sie in den Stand ge-
setzt werden, den Taubstummen den Übergang aus der Schule ins
praktische Leben zu erleichtern oder in den Zeiten der Not beizu-
springen. Zu gleichen Zwecken bestehen mancher Orten Stiftungen.
Auch die Verwaltungsbehörden gewähren in einzelnen Fällen armen
Taubstummen bei deren Eintritt in einen Lebensberuf Unterstützungen.
So besitzt z. B. Baden einen Lehrmittelfonds, aus dem auch taub-
Das Taubstuinmenbildungswescii im Deutscheu Reicli. 383
stumme Lehiiin<^e Beihilfen zur Beschaffung" des nötigen Handwerks-
geräts erhalten.
Wenn auch die Taubstummenlehrer nicht die Sorge um ihre
ehemaligen Zöglinge zu haben brauchen ^\•ie die Blindenlehrer, die
bei ihrem Streben, die früheren Schüler wirtschaftlich selbständig zu
machen, auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten stol,kn, wenn auch
die Taubstummen im allgemeinen gute und daher gerne angenommene
Arbeiter werden, die ihr Brot ehrlich und redlich verdienen, so
bleiben sie doch meistens bei bescheidenem Verdienst in unter-
geordneten Stellungen, und es wird ihnen nicht leicht, für die Tage
der Not und die Zeit des Alters zu sparen. Die ungebildeten und
die geistig minderwertigen finden oft schwer Arbeit, und so bleibt es
vielfach nicht aus, daß ihre Kräfte im Kampfe ums Dasein vorzeitig
erlahmen, und daß sie in bittere Not geraten. Um den arbeits-
unfähigen und vom Alter gedrückten Taubstummen zu helfen, sind
Asyle für sie gegründet worden, deren Zahl allerdings bis jetzt eine
geringe ist. Freilich erfordert die Einrichtung und Unterhaltung
solcher Anstalten sehr erhebliche Mittel; guter Wille und zähe Aus-
dauer haben jedoch in dieser Richtung schon manches erreicht. Das
hat der nunmehr \"erstorbene Geistliche Rat Wagner erwiesen, dem
die Asyle für Taubstumme in Dillingen (Schwaben;, Zell (Mittel-
frankenj, Hohenwart (Oberbayernj und Michelfeld (Oberpfalz) mit zu-
sammen 400 Pfleglingen zu xerdanken sind. Das hat der Vorsteher
J. Ziegler gezeigt, der Schöpfer der Anstalten zu Wilhelmsdorf in
Württemberg mit über 40 Pfleglingen. Es bestehen ferner Heime zu
Glött in Bayern, zu Gmünd in W^ürttemberg, zu Winnenden ebenda.
Das Frauenasyl in Dresden ist an die Taubstummenanstalt daselbst
angegliedert und erhält staatliche Unterstützung. In Berlin arbeitet
man schon seit Jahren an der Gründung eines Taubstummenheims;
über einen bescheidenen Anfang ist man jedoch nicht hinausgekommen.
In verschiedenen preußischen Provinzen sind Provinzialvereine einge-
richtet worden, die den Zweck verfolgen, arme und arbeitsunfähige
Taubstumme zu unterstützen und nach Gewinnung der erforderlichen
Mittel Asyle einzurichten, so in Schleswig-Holstein, Westfalen, Han-
nover und Sachsen. Besonders dem Verein in der zuerst genannten
Provinz ist es infolge seiner vorzüglichen Organisation gelungen, in
verhältnismäßig kurzer Zeit sehr erhebliche Mittel zu sammeln, und
so konnten denn auch schon die ersten Taubstummen in dem dortigen
Heim untergebracht werden. Ähnliche günstige Erfolge sind von dem
pommerschen Provinziah-erein zu verzeichnen.
;^*->_|. 'raubsluiiinicu- und Hlindeaunterricht.
\\)v dem Gesetz steht der Taubstumme — von wenigen Aus-
nahmen abgesehen — mit dem X^ollsinnigen auf einer Stufe. Im
§ 93 der Motive zum BürgerUchen Gesetzbuch ist ausdrückUch be-
merkt, daß keine Gründe mehr vorliegen, die Taubstummen mit Rück-
sicht darauf, daß viele derselben lesen und schreiben können, anders
zu behandeln als alle übrigen rechtsfähigen Personen. Es ist das
eine hervorragende Anerkennung der Leistungen der deutschen Taub-
stummenanstalten. Es fällt daher nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch
die bisherige Beschränkung, daß Taubstumme nur gerichtlich oder
notariell ihre Verträge schließen können, fort, und es besteht für sie
wie für jeden andern die Möglichkeit, in formfreier Weise Verträge
zu schlielkni. Einen besonderen Schutz gewährt ihnen '^ 828 des
genannten Gesetzbuches, der da lautet: AVer das siebente, aber
nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden,
den er einem andern zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei Be-
gehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der
der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Das gleiche gilt
von einem Taubstummen. Es entspricht das dem ^ 58 des deutschen
Strafgesetzbuches: Ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche
Einsicht nicht besaß, ist freizusprechen. < Nach j 1910 des Bürger-
lichen Gesetzbuches kann ein Volljähriger, der nicht unter Vormund-
schaft steht, für seine Person und sein Vermögen einen Pfleger er-
halten, >wenn er infolge körperlicher Gebrechen, insbesondere weil
er taub, blind oder stumm ist, seine Angelegenheiten nicht zu be-
sorgen vermag. Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung des
Gebrechlichen angeordnet werden, es sei denn, dal?i eine Ver-
ständigung mit ihm nicht möglich ist.<
Es i.st selbstverständlich, daß nicht gebildete Taubstumme, die
weder sprechen noch schreiben können, vor Gericht anders behandelt
werden, als gebildete: sie bedürfen bei gerichtlichen Verhandlungen
eines Dolmetschers, es ist bei ihnen in Sachen, welche vor dem Land-
gericht in erster Instanz verhandelt werden, die Verteidigung not-
wendig, sie haben den Eid mit Hilfe eines Dolmetschers durch Zeichen
zu leisten, sie stehen zeitlebens unter Vormundschaft und müssen ihre
Verträge gerichtlich aufnehmen lassen.
Bezüglich der Eheschließung der Taubstummen bestehen
keine Beschränkungen ; es gibt daher auch in Deutschland viele Ehen,
in denen Mann und Erau taubstumm sind, und andere, in denen nur
ein Ehegatte taub ist. Da sich körperliche und geistige Eigenarten
Das Taubstuniinenbiklungswesen im Deutschen Reicli. 385
unzweifelhaft vererben, so liegt für die Nachkommenschaft aus Taub-
stummenehen eine gewisse Gefahr vor. Die Möglichkeit der Ver-
erbung der Taubstummheit auf die Kinder ist besonders dann vor-
handen, wenn die Eltern taub geboren sind und dieses Gebrechen
sich schon in aufsteigenden und Nebenlinien vorfindet; die Taubheit
tritt jedoch selten in zwei direkt aufeinander folgenden Generationen
auf. In den Ehen, unter solchen Gehörlosen geschlossen, welche die
Taubheit durch irgend welche schädigenden Einflüsse erworben haben,
bestehen für die Nachkommenschaft die bezeichneten Gefahren nicht.
5. Taubstummen-Statistik,
hl Deutschland findet alle fünf Jahre eine Volkszählung statt,
bei der jedoch die Gebrechlichen, also auch die Taubstummen nicht
immer gesondert gezählt werden. Die Zählung der Taubstummen in
Preußen ergab:
männliche
weibliche
zusammen
Auf 10 000 Einwohner
männliche weibliche zusammen
1871
13118
11 197
24 315
10,8
9,0
9,9
1880
15168
12 626
27 794 1
11,3
9,1
10,2 1
1895
15 699
12 849
28 548
10,0
7,9
9,0
1900
17 075
14 303
31 278 :
10,0
8,2
9,1
Vor i88() — 1895 ist ein nicht unbedeutender Rückgang in der
Zahl der Taubstummen zu konstatieren, der sich auch bei der Auf-
nahme in die Taubstummenanstalten erkennen und der sich daraus
erklären läßt, daß die seitens der Behörden getroffenen hygienischen
^Maßnahmen, wie Absperrung des Herdes solcher Krankheiten, die
besonders geeignet sind, die Taubheit zu erzeugen (Scharlach, Masern,
Diphtherie usw.), das Krankenversicherungsgesetz, das auch Armen
die Zuziehung eines Arztes in Krankheitsfällen viel eher ermöglicht als
früher, und der zunehmende Volkswohlstand ihren wohltätigen Einfluß
ausgeübt haben. Der geringe Zugang an Taubstummen von 1 895 — 1900
ist ohne Bedeutung und hat offenbar in Zufälligkeiten seinen Grund.
Über die Zahl der Taubgeborenen und Taubgew^ordenen enthält
die Statistik keine Zahlenangaben; diese würden auch keine sonder-
liche Bedeutung haben, da es in den meisten Fällen unmöglich ist,
festzustellen, ob ein Kind von Geburt an kein Gehör besitzt oder
dieses erst später verloren hat. Die Hörorgane des neugeborenen
Kindes sind so zart und empfindlich, daß eine leichte Erkältung, ein
Fall, ein Stoß gegen den Kopf und dergl. ihre Zerstörung herbei-
führen können. Es läßt sich daher mit Gewißheit annehmen, daß
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 25
386 Taubstummen- und Blindenunterricht.
die Zahl der Taubgeborenen viel geringer ist als die der Taubge-
wordenen. Die Zahl der letzteren übersteigt die der ersteren auf
alle Fälle um ein bedeutendes. Auch die Angaben der Angehörigen
über die Krankheit, die den Verlust des Gehörs veranlaßt haben soll,
sind in der Regel sehr unsicher.
Von den in Preußen im Jahre 1900 gezählten Taubstummen waren dem
Religionsbekenntnisse nach :
Evangelische 19 485
Sonstige Protestanten 70
Katholiken 11 272
Andere Christen 14
Juden 554
Ohne Religionsbekenntnis und unbekannt 53
Es standen im Alter
unter 5 Jahren 728
Über 5 bis 6 Jahre alt 429
„ 6 „ 10 " „ „ 2 217
„ 10 „ 14 „ „ 2 446
„ 14 „ 15 „ „ 605
„ 15 „ 20 „ „ 3 073
„ 20 „ 30 „ „ 6 318
„ 30 „ 40 ., „ 7 181
„ 40 „ 50 „ „ 3 410
„ 50 „ 60 „ „ 2 542
„ 60 „ 70 ,. „ 1 503
„ 70 „ 100 „ , 889
unbekannt 107
Mitgliedschaft in Familienhaushaltungen (ohne Anstaltsinsassen):
Haushaltungsvorstände 3 824
Ehegatten 1 477
Eltern des Haushaltungsvorstandes und Großeltern, Schwiegereltern . 365
Kinder des Haushaltungsvorstandes ohne Beruf:
a) unter 1 5 Jahren 3118
b) über 15 Jahre alt 2 603
Sonstige Verwandte ohne Beruf; 1 582
Kinder des Haushaltungsvorstandes mit eigenem Beruf 3 748
Sonstige Verwandte mit eigenem Beruf 1 457
Fremde Pfleglinge oder Pensionäre 2 506
^. , ( Verwandte 139
Dienstboten ^^.^^^^^ 2^^^^
Gewerbs- und Arbeitsgehilfen:
a) Kinder über 15 Jahre alt 1 021
b) sonstige Verwandte 547
c) fremde Personen 2 574
Aftermieter und (Jäste 1 143
Schlafgänger 1 146
Ohne Angabe 134
Überhaupt . . 29 384
Da die Gesamtzahl 31 448 betrug, so war die Zahl der Anstaltsinsassen 2 064.
I
Diis 'raubsluininfiibiklungswesen im Deutschen Ueicli, 387
F a m i 1 i e n s t a n <1 :
Ledig 26 393
Verheiratet ....... 4309
Verwitwet 673
(jeschieden 73
Erwerbszweige:
Landwirtschaft, Gärtnerei und Tierzucht 6 287
Forstwirtschaft und Fischerei 73
Bergbau, Hütten- und Sahnenwesen, Torfgräberei 68
Luhistrie der Steine und Erden 311
iSIetallverarbeitung 281
Maschinen, Werkzeuge, Instrumente, Apparate 126
Chemische Industrie 11
Forstwirtschaftliche Nebenprodukte, Leuchtstofle, Fette, Öle, Firnisse 14
Textihndustrie 268
Papier 185
Leder 180
Holz- und Schnitzstoffe 1 178
Xahrungs- und Genußmittel 311
Bekleidung und Reinigung 5 389
Baugewerbe 521
Polygraphische Gewerbe 259
Künstler (Kunstmaler und .Kunstbildhauer) und künstlerische Betriebe für gewerbliche
Zwecke 120
Fabrikanten, Fabrikarbeiter, Gesellen und ( lehilfen, deren nähere Gewerbstätigkeit
zweifelhaft bleibt 202
Handelsgewerbe 178
\'ersicherungsgewerbe 1
Beherbergung und Erquickung 26
Fläusliche Dienste (einschließlich persönlicher Bedienung, auch Lohnarbeit wechselnder
Art) 825
Militär-, Hof-, bürgerlicher und kirchlicher Dienst, auch sogenannte freie Berufsarten 31
Ohne Beruf und Berufsangabe 1 4569
Verkehrsgewerbe 34
Wenn es auch unmöglich sein dürfte, die Ursachen der Taubheit mit zuverlässiger
< lewißheit festzustellen, so mußte es doch immer beklagt werden, daß die Nachrichten
nach dieser Seite jeglichen gesicherten Anhaltes entbehrten. Der Bund deutscher Taub-
stummenlehrer nahm deshalb \'eranlassung, die Reichsbehörden um Anordnung einer
allgemeinen deutschen Taubstummen-Statistik unter besonderer Berücksichtigung
der Ursachen der Taubheit zu ersuchen, und in seiner Versammlung zu Dresden (1897)
einen Fragebogen festzustellen, der bei den statistischen Aufnahmen Verwendung
finden sollte.
Nach den vom Bundesrate am 12. Dezember 1901 beschlossenen Bestimmungen
wird nunmehr vom 1. Januar 1902 ab eine fortlaufende statistische Aufnahme der Taub-
stummen im Deutschen Reiche unter Zugrundelegung eines Fragebogens erhoben. Bei
der .\ufnahme wird jedes taubstumme oder der Taubstummheit verdächtige Kind a) bei
seinem Eintritt in das schulpflichtige Alter der Vollsinnigen, sowie b) bei seiner nach
diesem Zeitpunkte erfolgten Aufnahme in eine Taubstummenanstalt gezählt.
388
über
Taubsluramen- und Blindeminterncht.
über die Zahl der Taubstummt
Ergebnisse der X'olkszählung
im Deutschen Reiche de
m 1. Dezember 1900.
:h dei
Lfde.
Xo.
Einwohner-
zahl
Taubstumme
männlich weiblich zusammen
1. Preußen 34 472 509 17 078 14 370 31448
2. Bayern 6 176 057 2 869 2 625 5 494
3. Sachsen 4 202 216 1309 1087 2 396
4. ^Vürttemberg 2 169 480 1202 1011 2 213
5. Baden 1867 944 1205 942 2 147
6. Hessen 1 119 893 502 402 904
7. Mecklenburg-Schwerin 607 770 246 239 485
8. Sachsen-^Veimar 362 873 169 135 304
9. Mecklenburg-Sirelitz 102 602 28 34 62
10. Oldenburg 399180 8b 78 164
11. Braunschweig 464 333 170 131 301
12. Sachsen-Meiningen 250 731 124 110 234
13. Sachsen-Altenburg 194 914 45 41 86
14. Sachsen-Coburg-Gotha 229 550 77 72 149
15. Anhalt 316 085 70 73 143
16. Schwarzburg-Sondershausen . . 80 898 22 15 37
17. Schwarzburg-Rudolstadt .... 93059 44 35 79
18. Waldeck 57 918 24 17 41
19. Reuß ä. L 68 396 12 18 30
20. Reuß j. L 139210 67 52 119
21. Schaumburg-I.ippe 43 132 13 16 29
22. Lippe 138 952 42 44 86
23. Lübeck 96 775 29 26 55
24. Bremen 224 882 102 73 175
25. Hamburg 768 349 132 101 233
26. Elsaß-Lothringen 1719 470 701 635 1336
Insgesamt
56 367 178 26 363 221
48 7501)
1) Auf 10 000 Einwohner kommen 8,7 Taubstumme.
Die in dem P'ragebogen enthaltenen tragen sind folgende :
1 . Ist die der Taubstummheit zugrunde liegende Taubheit nach Angabe der Angehörigen
angeboren? .... erworben? .... oder können die Angehörigen hierüber keine be-
stimmten Angaben machen? .... In welchem Lebensalter ist die Taubheit zur Wahr-
nehmung der L'mgebung gekommen? ....
2. Ist das Kind ehelich oder unehelich geboren ?
3. Wieviel Kinder hat die Mutter geboren?
4. Wieviel Kinder hat die Mutter vordem untersuchten geboren? .... Sind Totgebmten
oder Fehlgeburten vorausgegangen? .... Wieviele? ....
5. Wie alt war die Mutter bei der Geburt des Kindes? ....
6. Wie alt waren die Eltern (Vater, Mutter) bei der Eheschließung? ....
7. Sind die Eltern blutsverwandt? ....
1 Das 'raubstumnieiiljildiingswesen im Dcutsclien Keicli. 389
8. Sind die (Iroßeltern (väterliclier-, niiilterliclierseits) blutsverwandt? (Genaue Angabe,
bei 7 und 8, des verwandtschaftlichen Verhältnisses).
9. Leiden oder litten die Eltern (\'ater, Mutter) an Taubstummheit? .... angeborener?
.... erworbener? .... an Taubheit? .... doppelseitiger? .... einseitiger? .... an
Schwerhörigkeit höheren (Irades? .... an Tuberkulose? .... an Geisteskrankheit?. . . .
an Kretinismus? an Lues? (ojektive Zeichen? welche? ) an
Retinitis pigmentosa?*) Sind die Patern (\*ater, Mutter) gestorben? an
welcher Krankheit?
10. Wieviel Geschwister sind taub geboren? Wieviel Geschwister sind taubstumm
geworden? Wieviel Geschwister leiden oder litten an doppelseitiger Taub-
heit? an einseitiger Taubheit? an Schwerhörigkeit höheren Grades? ....
an Tuberkulose? an Geisteskrankheit? an Kretinismus? an angeborener
Lues? an Keratitis diffusa? an Retinitis pigmentosa? Wieviel
Geschwister sind gestorben? an welcher Krankheit?
1 1 . Kommen oder kamen bei den Großeltern oder sonst in der Verwandtschaft (genaue
Angabe des verwandtschaftlichen Verhältnisses) Fälle von angeborener Taubstumm-
heit? von erworbener Taubstummheit? von Schwerhörigkeit höheren
Grades? von Geisteskrankheiten? von Kretinismus? vor?
12. Ist das Kind seinem Lebensalter entsprechend körperlich und geistig entwickelt?. .. .
In welchem Alter hat es gehen gelernt?
13. Ist oder war das Kind mit einem körperlichen oder geistigen Leiden oder Gebrechen
behaftet? mit welchem? Sind insbesondere Zeichen vorhanden: von Blödsinn?
Schwachsinn oder Kretinismus? — von Epilepsie? — von Lähmungen der Extremi-
täten? des nervus facialis? — von Kropf? — von Tuberkulose? — von Skrofulöse?
— von Rhachitis? — von Lues? — von Störungen des Sehvermögens? Re-
tinitis pigmentosa? — Keratitis diffusa? — von Mißbildungen (Kopf- und Schädel-
bildung) ?
14. Zeigen der Nasen-, Rachenraum, das äußere Ohr, der äußere Gehörgang und das
Trommelfell bei der Untersuchung normales Verhalten? oder Veränderungen?
welche? Ist die Atmung durch die Xase frei?
15. Haben aus Anlaß der Taubheit Heilversuche stattgefunden? Welcher Art?
W^ie lange, nachdem die Taubheit zuerst bemerkt wurde?
16. Während welcher oder in unmittelbarem Anschluß an welche Krankheit ist die Taub-
heit bemerkbar geworden? nach epidemischer Genickstarre? — nach anderen Gehirn-
krankheiten? nach welchen? nach Scharlach? — nach Masern? — nach
Diphtherie? — nach Pocken? — nach Unterleibstyphus? — nach Keuchhusten? —
nach Mumps? — nach Influenza? — nach Ohrenleiden? — nach Kopfverletzung?
(Fall oder Schlag auf den Kopf, Zangengeburt)? — nach welcher sonstigen Er-
krankung?
17. Hatte das Kind vor der Zeit, in welcher der Gehörmangel bemerkbar wurde, schon
sprechen können? schon lesen gelernt?
18. Hat das Kind schon Taubstummenunterricht genossen?
19. Bedient sich das Kind im Verkehr mit seiner Umgebung ausschließlich der Zeiclien-
sprache? oder sind noch Spi'achreste vorhanden? In welchem Um-
fange?
20. Hört das Kind noch Töne? (Prüfung mit der kontinuierlichen Tonreihe)
Hört das Kind noch Vokale? welche und auf welche Entfernung?
*) Als Zeichen der nicht ganz selten bei Taubstummheit auftretenden Retiniti
pigmentosa sind außer dem ophthalmoskopischen Befunde noch Hemeralopie und Ein-
schränkung des Gesichtsfeldes zu beobachten.
390 Taub>tunimen- und Blindenuntenicht.
Hört das Kind nocli Konsonanten? .... welclie und auf welche Entfernung?
Hört das Kind nocli \Yorte? welche und auf welche Entfernung? Hört das
Kind noch Sätze? (Beispiel), auf welche Entfernung?
Bei Durchführung des vom Bundesrat gefaßten Beschkisses läßt
sich erwarten, daß in nicht allzuferner Zeit eine möglichst vollständige
Statistik der Taubstummen Deutschlands aufgestellt und daß vor
allem — soweit das bei der Schwierigkeit der Ermittlung der Taub-
heit bei Kindern und der Unzugänglichkeit zum Ohre angänglich ist
— die Taubheit in ihren Ursachen nachgewiesen sein wird. Sind erst
diese Ursachen erforscht, so werden sich auch vorbeugende Mittel
finden lassen, einen Rückgang der Taubheit herbeizuführen. —
Die vereinzelt vorkommenden Taubstummen treten nur vorüber-
gehend in den Gesichtskreis ihrer glücklicheren Mitmenschen; in
ihrer äußeren Erscheinung haben sie kaum etwas, \\as das Mitleid
in besonderer Weise erregen könnte, und selbst gut ausgebildete
Taubstumme vermögen im Staatsgetriebe nur eine bescheidene Stel-
lung einzunehmen. Dennoch hat sich in Deutschland eine Fürsorge
für diese Unglücklichen geltend gemacht, die vor den sehr erheblichen
Kosten für die Ausbildung und die Versorgung der Taubstummen
nicht zurückgeschreckt ist und zu Ergebnissen geführt hat, die andere
Länder als mustergültig anerkennen.
E. Walther.
ZWEITER ABSCHNITT.
Das Blindenunterrichtswesen im Deutschen Reich.
I. Anfänge des Blindenunterrichts. Der erste — wenn
auch nicht berufsmäßige — Blindenlehrer, von dem wir überhaupt
nähere Kunde haben und dessen Tätigkeit von nachhaltiger Wirkung
gewesen, war ein fast vergessener Deutscher — Christian Niesen,
Privatgelehrter in Mannheim, später fürstbischöflicher Speyerscher
Kammerrat (j 1 784). Er gab zwei Schriften heraus ,, Rechenkunst für
Sehende und Blinde" (Mannheim, 1773) und „Algebra für Sehende
und Blinde" (Mannheim, 1 777). Außerdem erfand er verschiedene
wertvolle Lehrmittel für Blinde. Ein ausgezeichneter Schüler von
ihm war R. Weißenbourg, der in der Kindheit infolge der Blattern
erblindet war und es dahin brachte, daß er selbst Blinde und sogar
einen Taubstummen unterrichten konnte. Er trat in Verbindung
mit einer sehr gebildeten, musikalischen, blinden Dame, Fräulein von
Paradis in Wien, die auch eine von dem Bergrat von Kempelen für sie
erfundene Druckvorrichtung zum Briefschreiben benutzte. Diese Dame
lernte 1 784 in Paris Valentin Hauy kennen, wie er in seinem „Essai sur
l'education des aveugles" selbst anführt, und dadurch wurden ihm
auch die Nießenschen Lehrmittel bekannt, die nun auch in der von ihm
mit Unterstützung der „Societe philanthropique" 1785 gegründeten
ersten Blindenunterrichtsanstalt der Welt Verwendung fanden. In
Deutschland wurde die erste Blindenunterrichtsanstalt in Berlin mit Staats-
mitteln durch Kabinettsorder vom 1 1 . August 1 806 gegründet, nachdem
Hauy Gelegenheit gehabt hatte, vor dem König Friedrich W^ilhelm III.
mehrere Unterrichtsproben abzulegen und seine Methode darzulegen.
Erster Leiter der Anstalt war A. Zeune, Lehrer am Gymnasium zum
grauen Kloster, der sich bereits seit 1803 mit einem dahingehenden
392 Taubstummen- und Hlindenunterricht.
Plan beschäftigt und dessen Bemühungen auch viel zu dem Zustande-
kommen derselben beigetragen hatten. Er blieb auf diesem Posten,
den er während der schweren Kriegsbedrängnisse nur mit der größten
Aufopferung und Anstrengung aufrechterhalten konnte, bis zu seiner
eigenen Erblindung im Jahre 1847.
2. Die Gründung weiterer Anstalten. Im Jahre 1808
wurde durch j. W. Klein, einen süddeutschen Protestanten, der
schon 1804 den ersten privaten Unterrichtsversuch mit einem blinden
Knaben unternommen, der sich schon längere Zeit mit diesem
Plan beschäftigt hatte, auch in Wien eine Blindenlehranstalt errichtet.
Noch während der Kriegsunruhen gründete Flemming, der sich bei
Zeune Rat geholt, 1809 die Blindenanstalt in Dresden, ein Privat-
unternehmen, das erst 1831 vom Staat übernommen \\an-de.
In den Freiheitskriegen 1813 — 15 erblindeten — weniger durch
Schußverletzungen, \orwiegend durch eine ansteckende Augenentzün-
dung — über 500 preußische Soldaten. Eine Sammlung zu deren
Gunsten brachte die dem Könige zur Verfügung gestellte Summe
von 81 000 M. Auf Zeunes Empfehlung wurde beschlossen, die
Gelder zur Errichtung sogenannter Kriegsblindenanstalten zu
verwenden, d. h. Werkschulen, die nur solange bestehen sollten, bis
alle erblindeten Krieger handwerksmäßig ausgebildet wären. Zunächst
wurden nun in der königlichen Blindenanstalt zu Berlin Werklehrer
vorgebildet zur Unterweisung der ehemaligen Soldaten. So entstanden
von 1817 an die Kriegswerkschulen zu Berlin (im Invalidenhause),
Breslau, Königsberg, Marienwerder und Münster. Drei derselben
gingen, weil sie ihre Aufgabe gelöst hatten, nach ein bis zwei Jahren
wieder ein. Die Königsberger, welcher der hochverdiente Feldherr
Graf Bülow von Dennewitz seine ganze Kriegsdotation von 60 000 M,
schenkte, bestand bei den reichen Mitteln 18 Jahre. Aus der Bres-
lauer Werkschule entwickelte sich 1819 die noch jetzt bestehende
schlesische Blinden-Unterrichtsanstalt, zu deren Errichtung der
dort weilende blinde Student Knie, der bedeutendste Schüler Zeunes
(1809 — 14), bereits 1817 einen wirkungsvollen Aufruf erlassen hatte.
Es bildete sich ein Verein, der den Plan verwirklichte und den
24jährigen blinden Knie, ^\'elcher sich schon an einer höheren Bres-
lauer Schule bewährt hatte, als Oberlehrer die unterrichtliche Leitung
der Anstalt übertrug. Er entfaltete in dieser Stellung eine reich-
gesegnete Tätigkeit und unternahm im Jahre 1835 ohne jede Beglei-
tung eine von ihm eingehend beschriebene dreimonatige pädagogische
Reise durch Deutschland. Im übrigen aber kam man im ersten
Das Blindenunten-ichtswcsen im Deutschen J\.eicli. 393
Viertel des Jahrhunderts über die genannten drei Erziehungsanstalten
nicht hinaus.
'A. Ausbreitung der Blindenanstalten in Deutschland.
Bald regte es sich jedoch besonders unter dem Einfluß der Wiener
Blindenanstalt recht lebhaft in Süddeutschland. Bayern ging mit
der Gründung der Blindenanstalt in Freysing- München 1826 voran, dem
Baden mit Bruchsal-Ilvesheim noch in demselben Jahre, Württem-
berg mit Stuttgart im nächsten Jahre sich anschloß, während in
Norddeutschland Braunschweig unter Professor Dr. Lachmann, dem
Bruder des berühmten Philologen, 1 829 und Hamburg unter Professor
Dr. Gülich 1830 folgten. Ferner: 1832 Gmünd (Württemberg), Halle a/S.
1833 (Provinz Sachsen), 1837 Frankfurt a/M. (Provinz Hessen), 1842
Paderborn (Westfalen), 1 843 Hannover, 1 845 Düren (Rheinprovinz) und
Freiburg in Baden, 1846 Königsberg i/Pr., 1847 Soest (Westfalen), 1850
Stettin i/P. und Friedberg (Hessen), 1853 Bromberg (Posen) und Würz-
burg (Bayern), 1 857 lUzach (Elsaß, damals noch französisch), 1 858 Weimar
(Großherzogtum Sachsen) und Barby (Provinz Sachsen), 1861 Wies-
baden (Provinz Hessen), 1862 Kiel (Schleswig- Holstein), 1864 Neu-
kloster (Mecklenburg), 1865 Leipzig (Königreich Sachsen), 1860
Heiligenbronn (Württemberg), 1885 Ursberg-Pfaffenhausen (Bayern),
1886 Königsthal (Westpreußen), 1889 Augsburg (Bayern), 1895 Still
(Elsaß), 1896 Bremen, 1899 Neuwied (Rheinland), 1900 Königswuster-
hausen (Provinz Brandenburg).
4. Äußere Entwicklung der Anstalten. Einige dieser An-
stalten sind im Laufe der Zeit zu ihrem Vorteil verlegt worden,
andere konnten sich wegen unzureichender Mittel oder Lehrkräfte
nicht halten, lebten aber späteruntergünstigerenBedingungen wieder auf.
So stellte die 1829 eröffnete Braunschweiger Privatanstalt 1874 ihre
Tätigkeit ein, indem sie ihre Zöglinge der Anstalt in Hannover über-
wies, erstand aber 1894 neu und zwar nun als Staatsanstalt. In der
Provinz Sachsen mußte die Hallesche Anstalt, die seit 1833 sich
mühte, wegen Mängel in der inneren Einrichtung 1849 aufgelöst
werden; doch nahm Barby 1858 die Arbeit wieder auf, wo 1898 nur
eine Zweiganstalt zurückblieb für erwachsene und schwächere Zög-
linge, während die Hauptanstalt in eine großartige y\nlage nach Halle
übersiedelte und dort auch die Blinden des Herzogtums Anhalt, die
bis dahin die Königl. Preußische Blindenanstalt besuchten, zur Aus-
bildung aufnimmt.
Ähnlich wie Anhalt verfahren die übrigen Norddeutschen Klein-
staaten, soweit sie einer eigenen Blindenerziehungsstätte entbehren.
394 Taubstummen- und BlindenunteiTicht.
Sie haben mit der nächstgelegenen fremden BHndenanstalt ein Ab-
kommen getroften, nach welchem die betreffenden Blinden dort Auf-
nahme finden. Bremen gibt die blinden Kinder jedoch nur bis zur
Konfirmation nach Hannover und übernimmt die gewerbliche Aus-
bildung selber. Die 1 887 gegründete Blindenanstalt in Hildburghausen
(Sachsen-Meiningen) ging nach sechsjährigem Bestehen aus ^Mangel
an Zöglingen wieder ein.
Die preußische Staatsblindenanstalt in Berlin erfuhr eine wesent-
liche Förderung durch das ihr 1832 zugefallene Vermächtnis des
Zeune befreundeten Domherrn von Rothenburg (260 000 M.), der
in der Anstalt Zuflucht vor der Cholera gesucht und gefunden hatte.
— Zeunes Nachfolger Hientzsch betrieb die Gründung eines „Vereins
zur Fürsorge für erwachsene Blinde", der seine Tätigkeit im engsten
Anschluß an die Königliche Blindenanstalt ausüben sollte und auch
eine Beschäftigungsanstalt für erwachsene Blinde 1852 einrichtete.
Leider löste sich der Verein später von der Königlichen Blinden-
anstalt völlig los und hat in der von Hientzsch verfolgten Richtung
bis heute trotz seiner günstigen Vermögenslage nur eine bescheidene
Wirksamkeit zu verzeichnen. — Als das aus den Mitteln der von
Rothenburg-Stiftung erworbene Haus Wilhelmstr. 139 den Zwecken
der Blindenbildung nicht mehr genügte, erfolgte endlich 1877 die
Verlegung der Königlichen Blindenanstalt nach dem eine
Meile entfernten Vororte Steglitz. Dort erhielt sie ein weites freund-
liches Gelände, das auch allen gesundheitlichen Anforderungen ent-
sprach. Dort verdreifachte sich in 25 Jahren die Zahl der Zöglinge,
indem sie von 40 auf 120 stieg. In engster Verbindung mit ihr
bildete sich 1886 der , .Verein zur Beförderung der wirtschaftlichen
Selbständigkeit der Blinden", der bald zwei Heimstätten für arbeits-
fähige ehemalige Zöglinge an der Grenze des Anstaltsgebietes er-
baute.
Die Stadt Berlin aber schuf infolge der Verlegung der vor-
genannten Anstalt 1878 eine eigne Blindenschule, mit welcher
später auch Werkstätten verbunden wurden, in denen neben blinden
Lehrlingen auch Ausgelernte gegen Lohnzahlung arbeiten. Diese
Anstalt ist ein völliges Externat, das einzige für Blinde in Deutsch-
land. Die Führung der Zöglinge zur Anstalt und zurück wird von
Waisenkindern, deren Unterkunfthaus in nächster Nähe liegt, über-
nommen.
5. Äußere Stellung der Anstalten und weitere Aus-
o-estaltuno-. Die meisten deutschen Blindenanstalten verdanken ihr
Das Elindeuunterriclitswesen im Deutschen Reich. 395
Dasein tatkräftii^cn, begeisterten Blindenfreunden oder Vereinen,
etliche, wie z. B. Breslau, Halle, Stettin, sogar einzelnen Blinden, die
in den ältesten Anstalten ausgebildet waren (Knie, Krause, Gröpler).
Nur zwei — Steglitz - Berlin und Neukloster — sind ihrem Ursprünge
nach Staatsanstalten. Jemehr indes die Kunde von den Bildungs-
erfolgen und damit die Überzeugung von der Bildungsfähigkeit der
Blinden sich verbreitete, desto mehr zeigten sich auch die Behörden
bereit und verpflichtet, die Blindenanstalten zu stützen und zu stärken.
So gingen viele derselben allmählich in Staats-, Provinzial- oder Ge-
meindeverwaltung über oder erhielten von solchen Seiten wenigstens
feste Zuschüsse. Das hatte eine Verbesserung ihrer Einrichtungen
und die Erweiterung ihres Umfanges und ihrer Ziele und die Er-
richtung von Neubauten zur erfreulichen Folge. So stieg die Zahl
der Zöglinge in den preußischen Blindenanstalten nach den vor-
handenen Unterlagen ungefähr wie folgt:
1878 waren vorhanden 744 Zöglinge, 1880 — 803 Zöglinge,
1883 — 962 Zöglinge, 1885— 1019 Zöglinge, 1898— 1840 Zöglinge.
Die Angliederung von Blindenanstalten an Taubstummenanstalten
fand nur an wenigen außerpreuisischen Orten statt, wie in Weimar,
Schwäbisch Gmünd, Heiligenbronn, und erfolgte lediglich aus wirtschaft-
lichen Gründen; doch wird ihr im übrigen von keinem Fachmann das
Wort geredet. Dagegen sind in deutschen Blindenanstalten Taub-
stummenblinde verschiedenthch mit bestem Erfolge unterrichtet worden,
z. B. in Frankfurt a. M., lUzach, Königs\\artha b. Dresden, Halle,
Hamburg; und in Steglitz hat man einen schwerhörigen blinden
Stammler, dem zwölf Laute fehlten, zum vollen Gebrauch der
Sprache geführt.
Besondere Erwähnung verdient noch die neueste Gründung, das
unter dem Protektorat des Deutschen Kaisers stehende Blinden-
heim in Königswusterhausen, unweit Berlins, errichtet aus den
Mitteln der dem Kaiser zur Verfügung gestellten „Schmidschen
Stiftung für arme Blinde" (500 000 M.) des Hamburger Kaufmanns
Hermann Schmid. Die umfangreiche waldige Baustelle gab der hoch-
gesinnte Monarch von seinem Jagdgebiete als Geschenk her und
prüfte und änderte persönlich die auf seinen Befehl ausgearbeiteten
Baupläne der im Pavillonstil aufgeführten Heimstätte für hundert er-
werbsfähige (50 M. und 50 W.) Blinde. Zu keiner Blindenerziehungs-
anstalt in näherer Beziehung stehend, öffnet dies Heim seine Pforten
namentlich denjenigen deutschen Blinden, die solche Stätte zur Ver-
wertung ihrer Erwerbskraft brauchen und suchen, sie aber in ihrem
396 'l'aubstummen- und Blindenunterricht.
engeren Vaterlande noch nicht finden. Die zur Unterhaltung der
Anstalt etwa erforderlichen Zuschüsse fließen größtenteils aus dem
Kaiserlichen Dispositionsfonds. So sorgt der Deutsche Kaiser, der
außerdem noch Protektor des 1860 gegründeten Moonschen Blinden-
vereins zu Berlin, des ältesten Unterstützungsvereins für Blinde, ist,
für die des Augenlichts beraubten Reichsgenossen, und zwar in Ge-
meinschaft mit seiner erlauchten Gemahlin, die ihre landesmütterliche
Teilnahme für die Blinden auch durch wiederholte Besuche der
Blindenanstalten in Kiel, Wiesbaden, Steglitz, Berlin und zuletzt noch in
Halle bekundet hat.
6. Beziehungen zum Auslande, besonders zu Amerika.
Gegen das Ausland hat sich Deutschland und vor allem Preußen
auch auf dem Gebiet des Blindenwesens niemals abgeschlossen und
befruchtende Keime nach den verschiedensten Seiten abgegeben.
Schon 1820 unternahm Zeune im staatlichen Auftrage eine Studien-
reise nach Holland, Frankreich und England. Doktor Howe, der
hochverdiente Begründer des amerikanischen Blindenwesens und erste
Vorsteher der Anstalt in Boston, besuchte 1832 auch Zeune in Berlin,
um nach seiner Rückkehr noch im August 1832 die Blindenanstalt
in Boston als die älteste Amerikas zu eröffnen, und blieb mit Zeune
dauernd in brieflichem Verkehr.
In demselben Jahre siedelte Julius Friedländer, nachdem er
drei Jahre Lehrer an der Badensischen Blindenanstalt zu Bruchsal-
Ilvesheim gewesen war, nach Philadelphia über, verfaßte und ver-
breitete dort eine zündende Denkschrift über Blindenbildung und
gründete infolgedesssen bereits 1833 in Phüadelphia eine Blinden-
anstalt, der er sechs Jahre lang bis zu seinem Tode vorstand.
7. Innere Entwicklung der Blindenanstalten. Dem
äußeren Wachstum des Blindenwesens entsprach im allgemeinen
auch seine innere Entwicklung, wenngleich es dabei trotz ernsten
Ringens ohne Enttäuschungen, Fehlgriffe und Stockungen nicht
abging. Zeune war sich über die Aufgabe der Blindenbildung von
Anfang an völlig klar. ,,Der Zweck des Blindenunterrichts"
— so schreibt er bereits 1815 — ,,kann kein anderer sein als der
bei Sehenden; gleichmäßige Entwicklung aller geistigen und leib-
lichen Anlagen; nur die Mittel werden verschieden sein, da hier eine
der Pforten von der Außenwelt zum Innern verschlossen ist." Dies
schärfer begrenzend, erklärt er 1821: ,,Da der Zweck einer Blinden-
erziehanstalt ist, den Blinden nicht nur die allgemeine menschliche
Bilduncr, sondern auch solche Fertigkeiten zu verschaffen, wodurch
Das Blindenuiiterrichtswesen im Deulsclien Reich. 397
sie beim Austritte aus der Anstalt sich ihren Erwerb einigermaßen
sichern können, so ist hiernach der Unterricht ein dreifacher, erstens
Handarbeiten, zweitens Tonkunst, drittens Wissenschaft."
Das nahm man in Nord und Süd wohl als Losung an. Die
eigentliche Schwierigkeit lag aber darin, diese drei Forderungen in
das rechte Verhältnis zueinander und zum Leben der Blinden zu
bringen. Anfangs legten die meisten Blindenanstalten das Haupt-
gewicht auf die Pflege der Wissenschaften, d.h. auf die Aneignung
der allgemeinen Schulkenntnisse. Oben an stand der Schreibunter-
richt mit Hilfe von Tafeln, die an die Niesensche Vorrichtung
erinnern. Geübt wurde die Schreibschrift der Sehenden für den
Verkehr mit diesen. T)er Erfolg war nur mäßig, aber doch geeignet,
das Interesse des Publikums auf die Blindenbildung hinzulenken.
Bald finden wir auch die Kleinsche oder Kniesche Stachelschrift oder
Stechschrift — erhabene lateinische Großbuch.staben, deren Her-
stellung mittels Stacheltypen mehr ein Drucken war, die aber — und
das war ihr Vorzug — leicht zu schreiben und auch von den Blinden
zu lesen war. Die Kursivschrift erhielt sich jedoch nur für Spät-
erblindete, und die Stachelschrift trat nach und nach zurück gegen
die von Hebold (Lehrer an der Königlichen Blindenanstalt Berlin)
1856 erfundene, in einem besonderen Lineal zu schreibende Flach-
schrift, die auch nur lateinische Großbuchstaben zeigt.
Das Lesen hatte anfangs eine untergeordnete Bedeutung und
diente mehr „als Übergang zum Schreiben", wurde auch geradezu
als Spielerei bezeichnet, da es noch Jahrzehnte an den so teuren
Büchern in Linienhochdruck fehlte. Denn Haüy, der Erfinder des-
selben, ließ in 25 Jahren nicht mehr als drei solcher Bücher drucken.
Jedoch allmählich änderte sich das Bild. Li den vierziger Jahren
betont Zeune: „Das Lesen ist auch für Blinde von großem Nutzen,
weil sie nun auch außer den Lehrstunden sich beschäftigen können.
Vorzüglich haben die gedruckten Bücher dem Blindenunterricht einen
neuen Schwung gegeben." Gleichzeitig berichtet er unter Auf-
zählung der den verschiedensten Wissensgebieten angehörenden
Bücher von den Blindendruckereien, die in Berlin, Breslau, Braun-
schweig, Zürich und Basel bestehen. — Etwa 20 Jahre später (1863)
gab die Stuttgarter Bibelanstalt die ganze heilige Schrift in Linien-
hochdruck in 64 Bänden heraus zum Preise von 100 M. (-/s der
Selbstkosten). Diese Arbeit geschah auf begeistertes Betreiben des
1857 vöUig erblindeten Gründers der Blindenanstalt zu Illzach, wo
auch die erste Drucklegung stattfand. Erst zwei Jahre nachher schuf
393 Taubstummen- und Blindenunterncht.
Rösner — damals Lehrer, von 1872 ab Direktor der Berlin-Steglitzer
Blindenanstalt — das erste Lesebuch für Blinde in Linienhochdruck.
Noch aber gelangten die deutschen Blinden nicht in den Besitz des
A\ ertvollsten Bildungsmittels, der Brailleschen Punktschrift, einer aus
dem Jahre 1829 stammenden Erfindung ihres Schicksalsgenossen
Louis Braille (1809 — 1852), die auch in der Pariser Anstalt, deren
Zögling und Lehrer er war, erst nach 1850 zur Einführung kam. In
Deutschland hatte die Linienschrift noch 1870 die Alleinherrschaft.
Um den erdkundlichen Unterricht erwarb sich Zeune, der
nebenamtlich als Professor der Erdkunde an der Berliner Universität
tätig war, ein besonderes Verdienst durch die Erfindung der Relief-
globen und großer Reliefkarten aus Pappe, wenn auch nur die Her-
stellung von druckmäßig vervielfältigten erhabenen Papierkarten, deren
erste, eine Flußkarte von Deutschland, der Buchdrucker Adolf
Schulze in Berlin lieferte, einen vollkommenen Klassenunterricht
ermöglicht.
Der Unterricht in der Geometrie wurde wesentlich gefördert
durch die von Hebold erfundene Zeichenscheibe, die den Blinden in
den Stand setzt, die meisten Figuren mit einer Schnur schnell und
sicher zu zeichnen — ■ ein ausgezeichnetes Lehrmittel, das noch gegen-
^\ärtig im In- und Auslande vielfach benutzt wird. —
Ebensowenig fehlte es für den Rechenunterricht an Hilfs-
mitteln, ^^'ie z. B. die Zeuneschen Würfel und seine Russische Rechen-
maschine, dann neben der Niesenschen die Lachmannsche Tafel für
das schriftliche Rechnen, das jedoch hinter das Kopfrechnen natur-
gemäß zurücktrat.
Auch für die Naturgeschichte finden wir zweckmäßige Ver-
anschaulichungsmittel: ausgestopfte Tiere oder Modelle, soweit die
Naturkörper nicht selbst zur Hand waren. Kurz, auf allen Gebieten
und in allen Gauen wird treu gearbeitet und die Vermehrung und
Verbesserung der Lehrmittel erstrebt. Aber dazu gehörte sehr
viel Zeit und Geld. Beides fehlte den meisten deutschen Blinden-
anstalten.
8. P^.ntwicklungshemmungen und Rückschläge. Die
Ausbildungszeit war zu kurz; sie dauerte vielfach kaum fünf Jahre.
Die Aufnahme der Kinder erfolgte in trügerischer Hoffnung auf ihre
Vorbildung in der Volksschule oder bei der Beschränktheit der Mittel
viel zu spät, an manchen Stellen erst mit dem zwölften Lebensjahre,
in welchem Alter die Früherblindeten schon einen Teil ihrer Bildungs-
fähigkeit eingebüßt hatten. Der Unterrichtsstoff konnte nicht gründ-
Das ]5linJeminterndits\vesen im I leutsclien Reich. 399.
lieh durchgearbeilet werden; aueh mangelte es noch immer an Lese-
stoff und Hilfsbüchern. So ging das Erlernte bald wieder verloren,
und noch im dritten Viertel des Jahrhunderts wurden Stimmen laut,
die achselzuckend fragten: Was nützt der ganze Schulunterricht der
Blinden, namentlich das Lesen und Schreiben?
Außerdem ließ man sich unbeachtet der beschränkten Bildungs-
zeit verleiten, die Musik als Erwerbsfach in den Vordergrund
zu stellen. Und was erreichte man damit? Die Begabtesten machten,
soweit sie nicht als Organisten ausgebildet und angestellt wurden,
Kunstreisen, ernteten in Konzerten gute Einnahmen und reichen Bei-
fall und endeten — im Armenhause. Die Minderbegabten wurden
Bettelmusikanten. Angesichts solcher Mißerfolge ist es zu verstehen,
daß manche Blindenlehrer die Musik völlig aus den Blindenanstalten
verbannen und so das Kind mit dem Bade ausschütten wollten.
Die Pflege der männlichen und weiblichen Handarbeiten tritt
uns in jeder deutschen Blindenanstalt von Anfang an entgegen.
Schon in der ersten Periode wurde betrieben: Stuhl- und Matten-
flechten, Korbarbeiten, Spinnen, Nähen, Stricken, ja selbst Tischler-
arbeiten und vereinzelt schon um 1830 das Bürstenbinden. Aber
man widmete diesen Dingen zu wenig Zeit, sodaß es zu keiner all-
seitigen Durchbildung und \-ölligen Fertigkeit kam. Daher konnten
die Handarbeiten vielfach nur als Beschäftigungsmittel, nicht aber als
Erwerbsquelle dienen. Das zeigte sich, sobald die Zöglinge in das
Leben hinaustraten und sich selbst überlassen waren. Es fehlte ihnen
meistens an Arbeitsaufträgen ; die gefertigten Waren konnten sie nicht
an den Mann bringen. Dadurch wurde ihre Arbeitsfähigkeit und
Arbeitslust immer geringer, bis sie endlich auf der Bettelstraße an-
langten.
Diese traurigen E^rfahrungen führten an einigen Orten zur An-
legung von Versorgungshäusern für die ausgebildeten Blinden.
Man hielt sie aber dort unter zu großer Bevormundung und Ein-
engung, machte ihnen das Leben zu bequem, forderte ihre Kraft
nicht heraus, weckte ihr Pflichtbewußtsein nicht und kam daher vom
Regen in die Traufe. Es blieb weiter nichts übrig, als diese Ver-
sorgungshäuser, die sich als Brutstätten der Unzufriedenheit und Un-
glücksstätten arbeitsfähiger Blinder erwiesen hatten, wieder aufzulösen.
Statt dessen fing man an, besondere Unterstützungsfonds für die Ent-
lassenen zu gründen und auf weitere Fürsorge-Maßnahmen nach dem
Vorgange Dresdens zu sinnen.
Alles in allem genommen, litten die deutschen Anstalten bei dem
400 Taubstummen- und Hlindonunterricht.
Betrieb des Schulunterrichts, der gewerbUchen Ausbildung und der
Fürsorge für die Entlassenen unter ihrer Vereinzelung noch bis in
das siebente Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts. Sie hatten zu
wenig Kenntnis von einander, zu wenig Fühlung mit einander. Das
lag an der großen Entfernung, den ungünstigen Verkehrsverhältnissen
und nicht zum mindesten an der politischen Zerrissenheit Deutsch-
lands — ein Mangel, der durch Erscheinen der Zeitschrift „Organ
für Taubstummen- und Blinden- Anstalten" von 1855 ab wohl ge-
mildert, aber nicht gehoben wurde.
9. Aufschwung des Blindenwesens seit 1871. Erst mit
dem Wiedererstehen des Deutschen Reiches und der Tagung des
ersten europäischen Blindenlehrer- Kongresses in Wien 1873, zu
dessen 100 Mitgliedern allein 24 Fachleute aus Deutschland zählten, brach
für die deutschen Blindenanstalten eine neue Zeit des Fortschritts, der
Klärung und Bewährung an. Auf jenem Kongreß erschienen auch
5 hochgeschätzte Fachmänner aus Amerika, nämlich die Direktoren
H o w e - Boston, M o r r i s o n - Baltimore, W a i t - New - York, B e 1 e 1 1 r o -
Rio de Janeiro und der Musiklehrer Willhartitz vom Blinden-
institute in St. Louis, der als Delegierter des amerikanischen Kon-
tinents kam und sogar den ersten sehr lehrreichen Vortrag hielt über
Die Blinden Amerikas und deren Erziehung.
Wie die erste Anregung zu einem solchen Kongresse aus
Deutschland stammte (Wiesbaden 1864), so fanden die nun regel-
mäßig in dreijährigen Zwischenräumen folgenden Blindenlehrer-
Kongresse meistens auf deutschem Boden und unter deutscher
Führung statt. Es sind bis jetzt 10 derartige Kongresse abgehalten
worden: 1878 in Wien, 1876 Dresden, 1879 Berlin, 1882 Frank-
furt a. M., 1885 Amsterdam, 1888 Cöln, 1891 Kiel, 1895 München,
1898 Steglitz- Berlin und 1901 in Breslau. Der elfte Kongreß wird
im August 1904 in Halle a. S. tagen.
Unter treuer und wachsender Teilnahme der Fachgenossen und
Blindenfreunde, wie der Vertreter von Staats-, Kirchen- und Gemeinde-
Behörden haben diese V^ersammlungen durch ihre Beratungen, Be-
schlüsse und Lehrmittelausstellungen, wie durch die Anknüpfung und
Pflege persönlicher Beziehungen und schriftlichen Verkehrs nach allen
Seiten Licht, Leben und Liebe verbreitet zum Heil der teuren Blinden-
sache.
Gleich auf dem Wiener Kongresse wurde von sachkundiger
Hand der Finger auf die \\undesten Stellen gelegt: Ausdehnung der
Bildung-szeit durch Gründung von Vorschulen, Einführung der Braille-
Das Blindonunterrichtswesen im Deutschen Reich. 401
sehen Punktschrift nach Vornahme der notwendigsten Abänderungen,
Beseitigung der Musik als Hauptfach und äußerste Einschränkung
derselben als Erwerbsmittel, Er\veiterung und Vertiefung der hand-
werksmäßigen Ausbildung mit besonderer Berücksichtigung der weib-
lichen Zöglinge, Schaffung von Unterstützungsfonds für arbeitende
Entlassene — das sind die dort erhobenen Forderungen und erteilten
Ratschläge. Die brennenden Fragen wurden weiter erörtert, geklärt
und mit vereinten Kräften allmählich in die Tat umgesetzt.
Bei Gelegenheit des zweiten Kongresses — 1 876 — kam es zur
Gründung des „Vereins zur Förderung der Blindenbildung,'
der seiner Aufgabe, allen Blinden deutscher Zunge billige, gute
Lehrmittel, namentlich Hochdruckschriften und geographische Karten
zu schaffen, eifrig nachgekomm.en ist und von den meisten deutschen
Staaten und vielen Städten durch namhafte laufende Beiträge zur
Fortsetzung und Erweiterung seines Werkes gestärkt wird. Sein
Organ und das der Blindenanstalten und Blindenlehrer-Kongresse
wurde die 1881 von Direktor Mecker in Düren begründete unab-
hängige Fachzeitschrift ,,Der Blindenfreund".
Der Berliner Kongreß 1879 löste die Punktschriftfrage endgültig
zugunsten der Brailleschrift, die nun ihren Siegeszug durch die
deutschen Blindenanstalten nahm. Ihr folgte später die auf demselben
Prinzip beruhende Kurzschrift nach der abgeänderten Kron-Mohr-
schen Vorlage, wenn auch nicht als Herrscherin, so doch als dienen-
des Glied (1891/94). Ebenso gelangte das Braillesche Musikschrift-
System nach einer Vorlage von Brandtstäter-Königsberg, Franz-
Berlin (blind) und Meyer-Steglitz zur Annahme (1888/98).
Direktor Kunz-Illzach lieferte nach den Angaben des „Vereins
zur Förderung der Blindenbildung" einen von diesem herausgegebenen,
allgemein als vorzüglich anerkannten Atlas von 81 Reliefkarten aus
Papier für die Hand der Zöglinge. Der Verein, der alle Lehrmittel
zu zwei Drittel der Selbstkosten abgibt, verkauft die einzelne Karte
für 20 Pf. Mehrere derselben werden auch im Auslande benutzt.
Hinsichtlich des Bücherdrucks traten dem Verein in neuerer
Zeit mehrere Blindenanstalten und die britische und ausländische
Bibelgesellschaft an die Seite. Letztere ließ in den Anstalten zu
Steglitz und Stuttgart das neue Testament und die Psalmen in
Brailleschem Punktdruck durch Blinde herstellen (abgeschlossen 1903).
Zur Vergrößerung der Anstaltsbibliotheken trugen seit 1886
Hunderte deutscher Frauen und Jungfrauen, darunter Fürstinnen
und Prinzessinnen, in unermüdlicher Liebesarbeit bei, indem sie
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 26
402 Taubstummen- und Blindenunterricht.
nach Erlernung der Punktschrift die Schätze der deutschen Unter-
haltungsHteratur handschriftlich aus dem Schwarzdruck in die Blinden-
schrift übertragen und den Anstalten zur Lektüre für die Zöglinge
zum Geschenk machen. Die Steglitzer Anstalt weist zur Zeit allein
3000 solcher Bände auf.
Ferner bemerken wir eine bedeutende Vermehrung und Vervoll-
kommnung der Anschauungs- und Veranschaulichungsmittel
bis zu den fein ausgearbeiteten Kunzeschen Reliefbildern als letztem
Notbehelf, wo das Modell fehlt oder versagt.
Neue Unterrichtsfächer zur Förderung der Handgeschick-
lichkeit, der Auffassungs- und Gestaltungskraft erscheinen, wie die
Fröbelarbeiten, das Modellieren in Ton und Wachs, das Zeichnen,
Holz- und Papparbeiten.
Einige Anstalten richten besondere Hilfsklassen für zurück-
gebliebene und sch\\achsinnige Zöglinge ein. Vorschulen werden
gegründet für blinde Kinder im Alter von 5 bis 9 Jahren. Die
Zöglinge der Arbeiterabteilung, die Lehrlinge, erhalten einen Fort-
bildungsunterricht mit Berücksichtigung der späteren Lebensverhält-
nisse; und auch erwachsenen Blinden, die erst im Mannes- und
Frauenalter ihr Augenlicht verloren haben, wird mehr und mehr der
Eintritt in die Anstalten ermöglicht.
Der Ausrüstung zum Kampf ums Dasein durch gründliche Er-
lernung eines Handwerks wird die ernsteste Sorge zugewandt. Dazu
dient auch die Bemühung um Arbeitsaufträge und Absatz der Blinden-
arbeiten in der Nähe und Ferne und weiter die Sammlung von
Mitteln und Aufsuchung von Wegen zur Sicherung und Begünstigung
der Berufsarbeit aller ausgebildeten Zöglinge. Insbesondere werden
eigene Fonds zur Fürsorge für die Entlassenen gegründet, wie zuerst
in Dresden, oder es bilden sich besondere Vereine für diesen Zweck,
wie in Kiel für Schleswig-Holstein, in Düren für Rheinland, in Steglitz-
BerUn für Brandenburg. Diese erbauen Arbeitsheime, das erste für
Mädchen 1 884 in Kiel, das erste für Männer 1 892 in Steglitz, und Alten-
heime, wie in Sachsen, Kiel, Düren, Hamburg, für die Arbeitsunfähigen.
Überall aber sehen wir eine v\nzahl blinder Handwerker hinausgehen
ins feindliche Leben und hören, wie sie sich auch dort unter dem
Schutze einer weisen Fürsorge behaupten und bewähren. So ist
auch das deutsche Blindenwesen durch Nacht zum Licht gelangt,
und dieses Licht ist nicht zum wenigsten der gemeinsamen Arbeit
und nachhaltigen Wirkungr der Konoresse zu verdanken.
Das IJlindiMuinterricht.swesen im Deutschen Reich. 403
10. Gesetzliche Bestimmuiig-en bezüglich der Blinden-
bildung. Die Verhandlungen und Beschlü.sse der Blindenlehrer-
kongresse sind auch von den deutschen Regierungen und Landtagen
nicht unbeachtet geblieben. Das zeigt sich deutlich, wenn wir, dem
gegenwärtigen Stande des Blindenwesens uns zuwendend,
einen Blick auf die Gesetzgebung werfen, in der bis 1873 nur \^on
der rechtlichen Stellung blinder Staatsbürger die Rede ist, während
man Bestimmungen über die Erziehung und Ausbildung blinder
Kinder vergeblich sucht.
Wohl waren blinde Kinder von der in ganz Deutschland längst
bestehenden allgemeinen Schulpflicht nicht ausdrücklich befreit;
doch wurde diese für Preußen schon durch Ministerialreskript vom
12. August 1847 auf den Besuch der Schule des Heimatortes be-
schränkt; denn es heißt darin: ,,Die Bestimmungen des , Allgemeinen
Landrechts' über die Schulpflicht dürfen nicht so weit ausgedehnt
A\erden, daß die Eltern genötigt werden könnten, die ganze Pflege
und Erziehung ihrer Kinder außerhalb ihres Wohnorts liegenden
Anstalten zu übergeben."
In einem \\'ürttembergischen Ministerialerlaß vom 26. März 1898
wird aber sogar folgendes ausgeführt: ,,Die Voraussetzung, daß der
allgemeine gesetzliche Schulzwang auch für die nicht vollsinnigen
Kinder gelte, ist weder im Gesetz begründet, noch durch das Her-
kommen bestätigt. Es liegt auch in der Natur der Sache, daß ein
solcher Schulzwang für diese Art von Kindern nicht ausführbar ist,
ohne daß der Staat gleichzeitig und von sich aus hinreichende Für-
sorge für dasjenige trifft, was die Unterweisung solcher Kinder in
besonderer Vorkehr fordert, also insbesondere bezüglich der Ein-
richtung staatlicher Unterrichtsanstalten für dieselben. Dies ist aber
wiederum nicht möglich, ohne daß wenigstens für die Mehrzahl der
betreffenden Kinder ein Internatszwang ausgeübt und damit in die
Rechte der Eltern in empfindlicher Weise eingegriffen wird." Dem-
gemäß ,,sind blinde Kinder nicht zwangsweise zum Besuch der Volks-
schule anzuhalten, sondern nur so weit zuzulassen, als dies ohne
Schädigung der übrigen Volksschüler möglich ist." Hiernach wird
die allgemeine Schulpflicht für die Blinden zu einem eingeschränkten
Recht oder zu einer Erlaubnis. Tatsächlich ist in Deutschland
meistens dieser zweiten Auffassung gemäß verfahren und höchst
selten ein blindes Kind zum Besuch der Volksschule gezwungen
worden.
26*
404 Taubstummen- und Blindenunterricht.
II. Der Blinde in der Volksschnle. Die Fachleute sind der
Teilnahme blinder Kinder am Volksschulunterricht zwar nie
entgegen gewesen, haben sie aber immer nur als einen schwachen
Notbehelf gelten lassen und ebenso besondere Blindenklassen der
Volksschule für ungenügend erklärt. Denn der Blinde ist zwar kein
eigenartiges Wesen, d. h. er hat dieselben seelischen Grundlagen und
Kräfte wie ein Vollsinniger; aber er ist doch einem Kranken zu ver-
gleichen, „der nicht mit den Gesunden an demselben Tische speisen
kann, und bedarf besonderer Nahrungsmittel, die für ihn eigens zu-
bereitet werden müssen, damit er sie verdaue und sich daran kräftige
(Heller)."
Der Volksschulunterricht gründet sich auf den Gesichtssinn, der
BUndenunterricht auf den Tastsinn, dessen Pflege andersartige und
mannigfache kostspielige Lehrmittel und besondere Lehrfächer und
Lehrweisen erfordert, die der \^olksschule naturgemäß fehlen. Daher
können die Blinden in vielen Fächern, wie z. B. Lesen, Schreiben,
Zeichnen, Raumlehre, Anschauungsunterricht, Erdkunde, Naturkunde,
Turnen und Handfertigkeit dort kaum wirklich unterrichtet werden.
Und wenn der Volksschullehrer sich auch mit der Methode des
Blindenunterrichts vertraut machte und alle Blindenlehrmittel zur
Verfügung hätte, so gebricht es ihm bei seiner kinderreichen Klasse
doch an Zeit und Kraft für die gleichzeitige Unterweisung eines
blinden Schülers.
Wer aber weiß, wie die Blindheit nicht nur das Vorstellungs-
vermögen, sondern auch das Gefühls- und Willensleben beeinträchtigt,
neben der geistigen auch die gesamte körperliche Entwicklung,,
namentlich die der Hand, schädigt und hemmt, dem wird ohne
weiteres einleuchten, daß die Volksschule selbst unter den günstigsten
Umständen um so weniger ein Ort der Blindenbildung oder Vorbildung
sein kann, als der Blinde nicht allein Schulkenntnisse erlangen, sondern
auch erwerbstüchtig gemacht werden soll. Denn die gewerbliche
Ausbildung, die der Hauptsache nach in die Jünglingsjahre fällt, ist
schon in der ersten Schulzeit durch entsprechende Körperpflege, wie
durch verschiedenartige Handbeschäftigung anzubahnen und kann
nicht erst nach der Konfirmation von einem beliebigen Lehrmeister
begonnen und zu Ende geführt werden. — Schließlich fällt für das
Gemütsleben des in einer Schule Vollsinniger weilenden Blinden
schwer ins Gewicht, daß er beim Unterricht wie beim Spiel die
Folgen seines Gebrechens auf Schritt und Tritt je länger um so
drückender und lähmender empfindet. Bald bedauert oder gehänselt.
Das niitulenunterriclitswcscn im Deutyclieii Reicli. 405
bald überflügelt oder \-erla.s.sen, oft \-erkannt und selten verstanden,
das ist sein Los. Genug, nur in der Blindenanstalt kann das Glück
der Blinden geschmiedet werden! Das ist die Erfahrung und Über-
zeugung aller deutschen Blindenlehrer und Blindenfreunde.
12. Notwendigkeit des Anstaltszwanges für blinde
Kinder. Aber die Nächstbeteiligten, die Eltern, namentlich die
Mütter, sind in ihrer verkehrten Liebe oft so schwach und kurz-
sichtig, daß sie sich von ihrem blinden Kinde freiwillig garnicht oder
zu spät trennen, und wenn sie es schließlich getan, ihren Liebling
alsbald zurücknehmen wollen.
Leider halten jedoch manchmal nicht Unkenntnis und Schwäche,
sondern Lieblosigkeit und Eigennutz der Angehörigen das blinde
Kind im Hause zurück. Liegen doch Fälle vor, in denen bemittelte
Landleute das blinde Familienglied ohne jede Erziehung und Aus-
bildung in Stumpfsinn versinken lassen wollten, um Geld zu sparen
und sein Erbteil an sich zu bringen.
Angesichts solcher Tatsachen und Erwägungen gibt es für die
armen lichtberaubten Kinder kein anderes Mittel der Rettung und
Bewahrung als den gesetzlichen Anstaltszwang. Kein Freund der
Freiheit schrecke vor solchem Zwang zurück, der ein nicht weniger
notwendiger und segensreicher Eingriff in das Familienrecht ist als
der allgemeine Schul- und Impfzwang für die Kinder, die Militär-
pflicht für alle \\'ehrfähigen Männer, der V'ersicherungszwang für die
Arbeiter und Arbeiterinnen. Auch volkswirtschaftliche Gründe
mahnen dazu. Nimmt man den Verlust, den ein unausgebildeter
untätiger Blinder dem Gemeinwesen jährlich verursacht, auch nur
auf 500 M. an — Professor Magnus in Breslau berechnet ihn mit
965 M. — so bedeutet das bei dreißigjähriger Erwerbsfähigkeit im
anderen Fall schon einen Nachteil von 15 000 M. Der am schwersten
wiegende sittliche Schaden aber läßt sich in Zahlen überhaupt nicht
ausdrücken.
In diesem Sinne haben die deutschen Blindenbildner, getragen
von der Überzeugung, daß die Blinden ebenso wie die Sehenden
Anspruch auf Bildung erheben dürfen, auf den Kongressen wieder-
holt ihre Stimme erhoben und zuletzt 1895 in München einmütig be-
schlossen, allen Staatsregierungen, Provinzialverwaltungen und Unter-
richtsbehörden folgende Erklärung nebst eingehender Begründung
zu übermitteln:
,,Es ist notwendig, daß erstens in allen Staaten, in welchen
allgemeine Schulpflicht zu Recht besteht und für Blinde der Anstalts-
406 Taubstummen- und Blindenunterriclit.
zwang nicht schon gilt, die bildungsföhigen blinden Kinder \om
schulpflichtigen Alter an zum Besuche von Spezialanstalten gesetzlich
verpflichtet werden, sofern die Eltern nicht nachweisen, daß das be-
treffende Kind privatim eine entsprechende Ausbildung erhält, ^
und daß zweitens zur Aufnahme aller bildungsfähigen Blinden solche
Anstalten in genügender Zahl und Größe und in zweckmäßiger Aus-
stattung aus öffentlichen Mitteln errichtet und unterhalten werden."
13. Einführung des Anstaltszwanges. Dieser entscheidenden
Forderung waren das Königreich Sachsen 1873, das Großherzogtum
Sachsen 1874 durch Einführung des Anstaltszwanges schon
zuvorgekommen. Das Herzogtum Braunschweig ist 1894, das Groil-
herzogtum Baden 1902 gefolgt, ohne daß sich Schwierigkeiten er-
geben hätten. Ja, der Anstaltszwang ist nicht selten zu einem An-
staltsdrang geworden. Und wenn der Anstaltsbesuch an den meisten
Stellen gesetzlich auch nur auf 8 Jahre ausgedehnt ist, so haben die
Angehörigen die Blinden doch in der Regel auch nach der Konfir-
mation noch bis zur Vollendung der beruflichen Ausbildung, d. h. noch
weitere 4 Jahre, in der Anstalt gelassen.
Was das Königreich Preußen betrifft, so forderte § 91 des
von der Königlichen Staatsregierung im Jahre 1892 vorgelegten
Schulgesetzentwurfes die Unterbringung aller bildungsfähigen
blinden Kinder in Blindenerziehungsanstalten vom 6. Lebensjahre ab,
falls für deren Unterricht nicht anderweitig ausreichend gesorgt würde.
Ist auch die Vorlage aus hier nicht zu erörternden Gründen von der
Regierung zurückgezogen worden, so beweist ihre Einbringung doch,
daß man die Einführung des Anstaltszwanges für Blinde im Schöße
der Regierung schon 1892 für geboten hielt. Diese Anschauung hat
sich seitdem ohne Frage noch befestigt und es steht zu hoffen, daß
die gesetzliche Regelung des Anstaltsbesuches V^iersinniger losgelö.st
von einem allgemeinen \'olksschulgesetz für sich erfolgt.
14. Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Fürsorgeer-
ziehung. Schon § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs dürfte eine
genügende Handhabe bieten, um in vielen Fällen arme blinde Kinder
auch gegen den Willen ihrer Eltern in einer geeigneten Erziehungs-
anstalt unterzubringen, da sich nur zu oft nachweisen läßt, daß das
geistige und leibliche Wohl derselben durch Vernachlässigung seitens
der Eltern gefährdet wird.
Diese Auffassung wird weiter gestützt durch die besonderen Ge-
setze über die Fürsorge-Erziehung Minderjähriger. So heißt es
in ^ 1 des Preußischen Fürsorgegesetzes vom 2. Juli 1900: ,,Ein Minder-
Das Blindenuiiterrichtswesen im Deutschen Reich. 407
jähriger, welcher das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat
— nach unten hin zieht das Gesetz keine Altersgrenze — , kann der
Fürsorgeerziehung über^\'iesen werden, wenn die Voraussetzungen der
Paragraphen 1666 und 1838 des B.G.B. vorliegen und die Fürsorge-
erziehung erforderlich ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen
zu verhüten."
Darauf bezieht sich folgende erläuternde Stelle der ministeriellen
Ausführungsbestimmungen vom 18. Dezember 1900: ,,Da unter Ver-
wahrlosung nicht nur die sittliche, sondern auch die geistige und kör-
perliche zu verstehen ist, so gehören unter No. 1 alle die Fälle, in
denen Eltern ihre Kinder mißhandeln, ihnen die körperliche Pflege
versagen, sie zu anstrengenden, der leiblichen und geistigen Entwick-
lung schädlichen Arbeiten zwingen, sie in einer die Zwecke der Schule
gefährdenden Weise vom Schulbesuch abhalten, die ihnen gebotene
Gelegenheit zur Pflege und zum Unterrichte ihrer nicht
vollsinnigen Kinder hartnäckig zurückweisen." Endlich ent-
hält der über die Beratung des Gesetzes erstattete Kommissionsbericht
des Abgeordnetenhauses die Bemerkung: ,,Auch Idioten, Blinde
und Taubstumme können unter Fürsorgeerziehung gestellt werden."
15. Kostenaufbringung. Die ^Aufbringung der Kosten
für die Ausbildung der Blinden erfolgt in den Bundesstaaten, die sich
des Anstaltszwanges schon erfreuen, in der Weise, daß der betreffende
Staat die erforderlichen Anstalten einrichtet und unterhält, allen Zög-
lingen Unterricht, Erziehung und Wohnung gewährt und nur das
billigst berechnete Verpflegungsgeld von den unterhaltungspflichtigen
Angehörigen und im Unvermögensfalle von den Heimatgemeinden
oder den Landarmenverbänden einzieht. Für Zöglinge mit fremder
Staatsangehörigkeit wird jedoch ein erhöhtes Pensionsgeld erhoben.
Auch in den anderen Teilen des Deutschen Reiches, obenan in
Preußen, wird die staatliche Pflicht, für eine vollgültige Ausbildung
der Blinden finanziell einzutreten, mehr und mehr anerkannt und be-
tätigt. Schon durch das preußische Gesetz vom 8. Juli 1875,
welches die Provinzialordnung neu regelte, wurde den Provinzialver-
bänden im ganzen ein Betrag von 13 440 000 M. jährlich aus Staats-
fonds zugewiesen für sieben verschiedene Zwecke, unter denen auch
,,die Fürsorge bezw. Gewährung von Beihilfen für das Taubstummen-
und Blindenwesen" genannt war. Einen Schritt weiter geht das
preußische Fürsorgegesetz vom II. Juli 1891, das eine Abände-
rung der Paragraphen 31, 65 und 68 des Bundesgesetzes vom 8. März
1871 bildet (betr. Ausführungsbestimmungen über den Unterstützungs-
408 Taubstummen- und Blindenunterricht.
Wohnsitz). Dies Gesetz bestimmt kurz folgendes: „Die Landarmen-
verbände sind verpflichtet, für Bewahrung, Kur und Pflege der
hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taub-
stummen, Blinden, soweit dieselben der Anstaltspflege be-
dürfen, in geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen."
Diese Vorschrift macht die den Provinzialvenvaltungen früher
zuerteilte Befugnis der Blindenfürsorge zu einer Verpflichtung,
die jedoch nur denjenigen Blinden gegenüber besteht, die einer An-
staltspflege bedürftig erscheinen. In diesem Zusätze liegt für die
Ausführung eine gewisse Schwierigkeit, weil im Gesetz selbst der
Begriff der Anstaltspflegebedürftigkeit garnicht erläutert ist. Nach
fachmännischem Urteil ist wohl jeder unbemittelte, unausgebildete
Blinde, wenn er nicht Schaden leiden soll, einer Anstaltspflege be-
dürftig. Vom Verwaltungsstandpunkt aus werden jedoch, entsprechend
einer Entscheidung des Bundesamtes für das Heimatswesen, ^wonach
Blindheit allein keinen Anspruch auf Anstaltspflege begründet, nur
diejenigen Bfinden als anstaltspflegebedürftig anerkannt, die abgesehen
\on ihrem Ausbildungsbedürfnis in solcher Verfassung sind, oder in
solchen Verhältnissen leben, daß sie daheim der nötigen Bewahrung
und Pflege entbehren. Selbstverständlich sind unter solchen Blinden
auch viele, die nicht bildungsfähig erscheinen. Solche werden auf Pro-
vinzialkosten meistens in allgemeinen Pflegeanstalten oderSiechenhäusern
mit Vollsinnigen zusammen untergebracht. Begehrt ein bildungs-
fähiger pflegebedürftiger Blinder Aufnahme in eine Blindenerziehungs-
anstalt, so übernimmt die Provinz, gleichviel ob er ein Kind oder ein
Erwachsener ist, die Kosten seiner Ausbildung und Unterbringung.
Handelt es sich dagegen um Blinde, die nur ausbildungsbedürftig
sind, dann werden die Angehörigen oder Gemeinden bei Zahlungs-
fähigkeit zu Beiträgen herangezogen.
Endlich, wird ein Blinder auf Grund des Fürsorgeerziehungs-
gesetzes vom 2. Juli 1900 einer Blindenanstalt überwiesen, so kommt
bezüglich Aufbringung der Mittel § 15 dieses Gesetzes zur Anwen-
dung: ,,Die Kosten des Unterhalts und der Erziehung tragen in allen
Fällen die Kommunalverbände." Allerdings sind letztere nach § 16
befugt, die Erstattung eines Drittels der Fürsorgeerziehungskosten von
dem Zögling selbst oder von dem zu seinem Unterhalte Verpflichteten
zu fordern, sofern diese hinreichend bemittelt sind; zwei Drittel der
Aufwendungen trägt in allen solchen Fällen die Staatskasse.
So haben nach den angeführten drei Gesetzen von 1875, 1891
und 1900 in Preußen die Provinzialverbände schließlich für alle un-
Das HliiHlenuntfiTichtswesen im I )eutsclifii Reich. 409
bemittelten Blinden füisorgend einzutreten. Die Provinzen sind dieser
Aufgabe in rühmlichster Weise gerecht geworden, teils durch Ge-
währung fester Zuschüsse an die Privatanstalten oder durch Einrich-
tung von vielen Freistellen, teils durch Gründung und FLrweiterung
eigener Anstalten, wie auch durch Zahlung von Beihilfen für ausge-
bildete arbeitsschwache Blinde. — Um zu verhindern, daß die Geld-
opfer der Provinz ihren Zweck verfehlen, fordern einzelne Provinzial-
verwaltungen von den gesetzlichen Vertretern der Aufzunehmenden
die schriftliche Verpflichtung, den betreffenden Blinden so lange in
der Anstalt zu lassen, wie es der Landeshauptmann für nötig hält.
Ferner unterhält der preulMsche Staat ohne jede rechtliche
Verpflichtung die Königliche Blindenanstalt in Steglitz, die allein
bei 34 königlichen Freistellen (29 internen und 5 externen) aus der
Staatskasse einen jährlichen Zuschuß von rund 45 000 M. empfängt
und für ausländische ZögUnge keinen höheren Pensionssatz berechnet
als für einheimische (300 bis 600 M.). — Außerdem findet sich im
Etat des preußischen Unterrichtsministeriums ein Dispositionsfonds
zur allgemeinen Förderung des Taubstummen- und Blindenunterrichts
in Höhe von 30 000 M.
Die übrigen Bundesstaaten ohne Blindenanstaltszwang zeigen
gleichfalls, wenn auch in verschiedenem Grade, ihr tatkräftiges Inter-
esse an der Förderung der Blindenbildung. Das Königreich Bayern
besitzt eine staatliche Zentral-Blindenanstalt (in München) mit einem
jährlichen Staatszuschuß von 29 500 M. Ebenso unterhalten die
Großherzogtümer Hessen und Mecklenburg-Schwerin und die freie
Stadt Hamburg je eine staatliche Blindenanstalt. Und auch die-
jenigen deutschen Staaten, in deren Gebiet sich nur PrivatbHnden-
anstalten befinden, gewähren letzteren Beihilfen aus der Staatskasse
oder haben Freistellen gestiftet und lassen eine finanzielle Beteiligung
der Landarmenverwaltungen erkennen. Im übrigen werden die
Ko.sten von Stiftungen, V^ereinen und Kongregationen aufgebracht,
sodaß fast in allen Teilen des Reiches blinde Kinder unvermögender
Eltern freie Aufnahme und Au.sbildung in einer Blindenanstalt finden
können. Welche Bedeutung dies hat, erhellt aus der Tatsache, daß
in Deutschland etwa 97% aller jugendlichen Blinden unbemittelten
Familien entstammen — ein Beweis dafür, \\'elchen Einfluß mangel-
hafte Pflege, Aufsicht, Wohnung und Ernährung auf die Entstehung
der Blindheit ausüben.
Für die Zwecke der Blindenbildung und Blindenfürsorge werden
410 Taubstummen- und Blindenunterricht.
nach den neuesten Erhebungen in Deutschland jährlich im ganzen
ungefähr folgende Summen aufgebracht:
a) Aus öffentlichen Mitteln (Staats-, Provinzial- und Ge-
meindefonds) 1 400 000 M.
b) Aus Privatmitteln von Stiftungen und
Vereinen 1 200 000 „
Im ganzen 2 600 000 M.
16. Staatliche Aufsicht. Die deutschen Blindenerziehungs-
anstalten, auch die privaten, stehen sämtlich unter staatlicher Auf-
sicht. Die Bestimmungen über Aufnahme und Entlassung, die An-
-stellung der Vorsteher, die Lehrpläne und Hausordnungen bedürfen
der Genehmigung der zuständigen Staatsbehörden. Für Preußen ist
die Schulaufsicht über die Blindenanstalten durch Kabinettsorder vom
27. Juli 1885 in der Provinzialinstanz den Königlichen Provinzial-
schulkollegien zugeteilt, in zweiter Instanz dem Unterrichtsminister.
Im Königreich Sachsen ist das gesamte Blindenwesen dem Ministerium
des Innern unterstellt.
17. Einteilung der Blindenanstalten. Die im deutschen
Reiche vorhandenen Anstalten für Blinde sind dreifacher Art:
1. Erziehungs- und Unterrichtsanstalten, mit Schul- und
Gewerbeabteilungen zur Ausbildung jugendlicher Blinden (von 5 bis
20 Jahren) — Blindenanstalten im engeren Sinne — .
2. Erwerbsanstalten für ausgebildete erwachsene Blinde —
Arbeits- oder Beschäftigungsanstalten — als Externate offene Werk-
stätten, als Internate Blindenheime genannt.
3. Versorgungs- und Pflegeanstalten für erwerbsunfähige,
ältere und gebrechliche Blinde, als Asyle, Altenheime oder Feier-
abendhäuser bezeichnet.
(Die Anstalten unter 2 und 3 stehen vornehmlich im Dienst der
Fürsorge für ausgebildete Blinde.)
Diese verschiedenen Anstalten sind teils äußerlich und innerlich
\-oneinander getrennt, teils wieder organisch und selbst räumlich und
wirtschaftlich eng miteinander, an einzelnen Stellen sogar mit An-
stalten für andere Gebrechliche verbunden. Deshalb ist es in
manchen Fällen selbst für den Fachmann schwierig, sie gegenein-
ander scharf abzugrenzen, zumal in der Bezeichnungsweise noch keine
volle Übereinstimmung erzielt ist. Daraus erklären sich die Sch\\an-
kungen und Abweichungen in den .\ngaben über die Zahl der
Blindenanstalten, der in ihnen untergebrachten Zöglinge oder Pfleg-
Das Blindenunterrichtswesen im Deutschen Reich.
411
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Stellung
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Verein
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a) Provinz Hannover, b) Verein
a) Prov.Rheinland, b ) u. c ) Verein
a) Verein, b ) Prov. (Istpreußen
Provinz Westfalen
Provinz Pommern
a) Provinz Posen, b) Verein
a) Provinz Sachsen, b) Verein
1
b) u. c) verein
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Stadt Berlin
Provinz Westpreußen
Provinz Rheinland
Schmidsche Stiftung
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Grünilungs-
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1852
1878
1886
1899
1900
Lage der Anstalt
Steglitz bei Berlin . .
Breslau
Frankfurt a. M. . . .
Paderborn
Hannover
Düren
Königsberg i. Pr. . .
Soest
Stettin
Bromberg
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Berlin
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412
Taubstummen- und Blindenuntenicht.
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SS §
414 Tautjstummen- und Blindenunterriclit.
linge, wie auch hinsichtlich der darauf gegründeten Schätzungen und
Folgerungen.
18. Übersicht der Anstalten. Einen Überblick über Lage,
Art und Umfang der einzelnen Anstalten möge vorstehende Zusammen-
stellung bieten, die zwar auf den sorgfältigsten Ermittelungen beruht,
aber dennoch bei der großen Verschiedenartigkeit der Verhältnisse
einen Anspruch auf unbedingte Genauigkeit nicht erheben darf.
Demnach zählen \\ir im
Königreich Preußen . . 16 iVusbildungs- und 14 Fürsorgeanstalten
in den übrigen Bundes-
staaten 19 ,. „12
im ganzen also . 35 Ausbildungs- und 26 F"ürsorgeanstalten.
Davon sind unter a) 1 1 staatliche, 1 1 Provinzial- und 2 städtische
(im ganzen also 24 öffentliche Blindenbildungsanstalten) und I I Privat-,
d. h. Vereins- oder Stiftungsanstalten.
Als paritätisch sind diejenigen Anstalten bezeichnet, welche
ZögHnge verschiedener Konfessionen aufnehmen und dem religiösen
Bedürfnis derselben Rechnung tragen. Ihre Zahl beträgt 26. Einen
ausgesprochen konfessionellen Charakter tragen nur neun Anstalten
unter a, und zwar sind 4 evangelisch, 5 katholisch. Die Fürsorge-
anstalten sind mit drei Ausnahmen sämtlich paritätisch.
Die Gesamtheit der bisher von deutschen Blinden-
anstalten aufgenommenen Blinden läßt sich bei der Lücken-
haftigkeit der Unterlagen nicht mit Sicherheit angeben. Jedoch darf
man ihre Zahl für die preußischen Anstalten auf rund 8200, für
die außerpreußischen auf 4800 schätzen, sodaß sich im ganzen
die Summe von etwa 1 3 000 Zöglingen ergibt.
19. Lage der Anstalten. Die überwiegende Mehrzahl der
Anstalten liegt in Großstädten in Rücksicht auf den leichteren Ab-
satz der Blindenarbeiten, welcher zu den Vorbedingungen der ge-
werblichen Au.sbildung gehört. Zuweilen leidet jedoch unter dieser
Lage die Gesundheitspflege der Zöglinge, da der häufig eingebaute
Garten nicht hinreichend Gelegenheit zur Bewegung in frischer Luft
gewährt. Wo es aber die Verhältnisse irgend gestatteten, ist auf
ausgedehnte Gartenanlagen Bedacht genommen. Li dieser Be-
ziehung sind die in Vororten gelegenen Anstalten, wie Steglitz bei
Berlin und Königsthal bei Danzig, besonders begünstigt. Zu ersterer
gehört ein Park von 2 Hektar, zu letzterer ein solcher von
12 Hektar mit Teichen und Anhöhen, von wo aus die Blinden das
Das rjliiulenuntenichtswe.sen im Deutschen Reicli. 415
Rauschen und Brausen des Meeres hören können. In den Gärten
finden wir auch Spielplätze mit Schaukehl und Kletterstangen, mit
Sandhaufen zur Ergötzung der Kleinen und Kegelbahnen zur Unter-
haltung für die Großen.
20. Bauliche Verhältnisse. In baulicher Hinsicht treten
uns große Verschiedenheiten entgegen. Manche Anstalten \-er-
gegenwärtigen dem Kundigen in ihren Um- und Erweiterungsbauten
ein Stück Geschichte der Blindenbildung. In den neueren Anstalten
wird großes Gewicht auf helle, luftige Zimmer und Flure gelegt.
Die geräumigen Werkstätten nehmen den Hauptteil des Erd-
geschosses ein oder bilden eigene Gebäude. Die Klassenzimmer
Hegen meistens zur ebenen Erde, nie aber mehr als eine Treppe
hoch. Die Wohnhäuser haben nirgend mehr als zwei Stockwerke,
schon im HinbHck auf die Feuersgefahr, die für Blinde doppelt ver-
hängnisvoll werden kann. Deshalb sind weiter in manchen Anstalten
umfassende Rettungs- und Löschvorrichtungen getroffen. So lassen
sich z. B. in Dresden zur Eindämmung einer Feuersbrunst die Flure
durch eiserne Rollwände absperren, und das Hauptgebäude läuft an
beiden Enden in einen massiven Turm aus, nach welchem von jedem
Stockwerke Nottüren führen, die für die Schlafsäle einen zweiten
Ausgang bieten. Um die Zöglinge mit dieser Einrichtung vertraut
zu machen, findet allmonatlich ein sogenannter Feuergang statt, bei
dem sie die Turmtreppen hinuntersteigen müssen.
Viele Anstalten verfügen auch über eine Turnhalle. In Steglitz
schließen sich an diese nach beiden Seiten überdachte W'andel-
bahnen, um den Zöglingen auch bei Regenwetter den Aufenthalt im
Freien zu ermöglichen. Überall aber trefifen wir Einrichtungen für
Wannen- und Brausebäder, wodurch jedoch die Benutzung öffent-
licher Badeanstalten an Flüssen und Seen nicht ausgeschlossen
werden soll. Als mustergültig in baulicher Hinsicht muß die neue
große Anstalt in Halle bezeichnet werden.
Die an demselben Ort unter einer Leitung bestehenden An-
stalten liegen in der Regel unmittelbar nebeneinander, wie in Steglitz,
in einzelnen Fällen, z. B. in Hamburg, einige Kilometer voneinander
entfernt.
Am reichsten gegliedert und am weitesten zerstreut erscheinen
die einheitlich geleiteten sächsischen Blindenanstalten. Das König-
reich Sachsen besitzt außer der Dresdener Hauptanstalt eine vor-
züglich eingerichtete Vorschule in Moritzburg bei Dresden (gegründet
1862 als die erste Blindenvorschule auf der ganzen Welt), ferner
416 Taubstummen- uml Blindenunterricht.
ebendort eine Abteilung zur gewerblichen Ausbildung blinder
Männer, dann in Königswartha bei Bautzen eine Zweiganstalt zur
Ausbildung blinder Frauen, ein Asyl für erwerbsunfähige blinde
Frauen und Männer und eine Erziehungsanstalt für schwachsinnige
Blinde.
In Steglitz ist dagegen alles vereinigt: Vorschule, Hauptanstalt,
Arbeitsheim für Frauen, Arbeitsheim für Männer und ein König-
liches Museum für Blindenunterricht, das z. Zt. noch mietsweise in
dem einen Blindenheim untergebracht ist, demnächst aber ein eigenes
würdiges Gebäude erhalten soll. Nur das vom Fürsorgeverein ge-
plante Feierabendhaus wird bei der Bahnstation Rehbrücke unweit
Potsdam in waldiger Umgebung errichtet werden und ist dann von
Steglitz aus mit Hilfe der Eisenbahn in einer Stunde zu erreichen.
Die Anforderungen an die Baulichkeiten der Blindenerziehungs-
anstalten werden noch durch den Umstand erhöht, daß alle für
männliche und weibliche Zöglinge bestimmt sind, die höchstens
bis zum zehnten Lebensjahre gemeinsame Wohn- und Spielräume
haben. Dann tritt eine Trennung der Geschlechter wenigstens teil-
weise ein. Wir finden in demselben oder in verschiedenen Ge-
bäuden gesonderte Schlafsäle, W'ohnräume und Krankenzimmer, so-
weit möglich auch gesonderte Werkstätten, Spielplätze und Spazier-
wege im Garten, aber gemeinsame Schulklassen, Speise- und Fest-
säle, die größeren Räume mit zwei Eingängen für Knaben und
Mädchen.
Auffallend ist das V^orherrschen der männlichen Zög-
linge, deren Zahl im Durchschnitt fast doppelt so groß wie die der
weiblichen Zöglinge ist, obwohl das Verhältnis der überhaupt vor-
handenen männlichen und weiblichen Blinden dem von 4 zu o nahe
kommt. Die blinden Mädchen werden aber von den Müttern häufiger
im Hause zurückgehalten, weil sie im allgemeinen schwächlicher als
blinde Knaben sind, zu Hause leichter beschäftigt werden können
und die Notwendigkeit ihrer Ausbildung den Eltern weniger ein-
leuchtet als bezüglich der Söhne. — Die Baulichkeiten und Grund-
stücke der deutschen Blindenbildungs- und Bliridenfürsorgeanstalten
stellen einen Gesamtwert von rund 14 Millionen M. dar.
21. Aufnahmebedingungen. Die Aufnahmebedingungen
richten sich nach dem näheren Zweck, dem Umfang und den Mitteln
der einzelnen Anstalten. Sämtliche Anstalten nehmen außer \öllig
Blinden auch hochgradig Schwachsichtige auf, die ihre Schul-
und Berufsbildung auf gewöhnlichem Wege nicht finden können oder
Das BlinflcnuntfiricIUswesen im 1 )eutsclien Reich. 417
bei weiterer Anstrengung der Augen Gefahr laufen, die Sehkraft
gänzlich einzubüßen. In jedem Falle aber muß der Aufzunehmende
abgesehen von seiner Blindheit oder Schwachsichtigkeit gesund und
bildung.sfähig sein. Doch werden auch schwachsinnige Blinde, wenn
sie nicht völlig bildungsunfähig sind, von einigen Anstalten, die ent-
sprechende Hilfsklassen besitzen, wie z. B. Steglitz, Halle -Barby,
Dresden-Königswartha, Breslau, zugelassen.
Das Schul- und Pflegegeld, zu dem an manchen Stellen
noch die Bekleidungskosten hinzukommen, bewegt sich zwischen 90
und 600 M. jährlich; jedoch sind vielfach etatsmäßige und Stiftungs-
Freistellen für Bedürftige vorhanden. Im übrigen übernehmen bei
Zahlungsunfähigkeit, wie oben dargelegt worden, die Gemeinde-
verbände ganz oder teilweise die Kosten.
Die beregten Vergünstigungen gewähren die Anstalten jedoch
ausschließlich den Blinden ihres Bezirkes oder Landes; andere werden
niu' ausnahmsweise und mit Vorbehalt aufgenommen und müssen ein
erliöhtes Pensionsgeld zahlen. Die einzige Anstalt, die anders \-er-
fährt, ist die Königlich preußische Blindenanstalt in Steglitz. Wenn
diese ihre Zöglinge auch größtenteils aus der Provinz Brandenburg
erhält, so öffnet sie ihre Tür doch Blinden aus allen preußischen
Provinzen und allen deutschen Staaten zu den gleichen Zahlungs-
bedingungen, ja in besonderen Fällen auch Christen aus außer-
europäischen Ländern. Gegenwärtig zählt zu ihren Zöglingen u. a.
ein armenischer Waisenknabe aus Persien, und demnächst wird ein
erwachsener Blinder aus Syrien und ein jugendlicher Blinder aus
Paraguay Aufnahme finden.
Die wichtigste Aufnahmebedingung betrifft das Alter der Ein-
tretenden. Früher hielt man allgemein das 9. bis 12. Lebensjahr
für die geeignetste Aufnahmezeit und hatte für Spät-Erblindete über-
haupt keinen Raum; wies man doch solche, die älter als 15 Jahre
waren, in der Regel schon zurück. Die Beobachtung aber, daß die
Bildungsfähigkeit des Blinden weit früher beginnt und häufig durch
häusliche Vernachlässigung oder Verzärtelung, durch Mangel an
körperlicher Bewegung und geistiger Anregung bereits in frühester
Kindheit beeinträchtigt und bedroht wird, hat dazu geführt, die Kinder
schon im Alter von 8 oder 7 Jahren aufzunehmen und für die jüngeren
Blinden vom 5. bis 9. Lebensjahre besondere Abteilungen oder eigene
.Anstalten unter dem Namen Vorschulen ins Leben zu rufen, die in
mancher Beziehung den Kindergärten und Kinderbewahranstalten für
vollsinnige Kinder zu vergleichen sind. Solche Blinden\-orschulen be-
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. 27
418 Taubstummen- und Blinclenunterricht.
stehen in Deutschland zurzeit 14 (7 in Preußen und 7 in den übrigen
Bundesstaaten).
Ferner haben die größeren Anstalten neuerdings Vorkehr ge-
troffen, auch Spät-Erblindete, die im Mannes- oder Frauenalter
stehend, mit dem Augenlicht zugleich ihre Berufsstellung und Erwerbs-
tätigkeit verloren haben, aufzunehmen, um sie von neuem erwerbs-
fähig zu machen und ihnen Gelegenheit zur Erlernung des Lesens
und Schreibens der Blindenschrift zu geben. Eine bestimmte Alters-
grenze wird bei der Aufnahme dieser Unglücklichen meistens nicht
gezogen; nur ein Nachweis der Bildungsfähigkeit, Gesundheit und
Unbescholtenheit wird verlangt. Teils sind für sie besondere Zweig-
anstalten eingerichtet, wie im Königreich Sachsen, in der Rhein-
provinz, teils wohnen die Spät-Erblindeten im Blindenheim oder
einzeln bei den Bürgern und kommen zur Unterweisung und Arbeit
in die Hauptanstalt. Jedenfalls ist dafür gesorgt, daß ein stetes Bei-
sammensein derselben mit den jüngeren Zöglingen, das mit erzieh-
lichen Nachteilen verbunden wäre, nicht stattfindet. Auch muß
denen, die als Erwachsene in eine Blindenanstalt eintreten, wenn sie
die Arbeitslust nicht verlieren sollen, mehr Freiheit gewährt werden,
als den noch im Jünglingsalter stehenden Liternatszöglingen.
Meldet sich ein Spät-Erblindeter, dessen Vorleben die Aufnahme
in den Anstaltsverband verbietet, so wird ihm unter Umständen da-
durch geholfen, daß man ihn bei einem tüchtigen ehemaligen Zögling,
der als selbständiger Handwerker arbeitet, zur Ausbildung unter-
bringt. Sehenden Meistern, die mit Blinden nicht umzugehen wissen,
fehlt zur Lösung solcher Aufgabe, selbst \\enn sie sich dazu herbei-
lassen, meistens Geschick und Geduld; auch beanspruchen sie eine
zu hohe Entschädigung.
22. Aufgabe und Gliederung der Blindenbildungsanstalt.
Widmen wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit dem inneren Be-
triebe der deutschen Blindenanstalten! Die Aufgabe einer
Blindenerziehungsanstalt besteht nach deutscher Auffassung darin, die
ihr anvertrauten Zöglinge durch Pflege, Zucht und Unterricht in
Schule und Werkstatt von den Fesseln, in die der Mangel des Augen-
lichts den Menschen schlägt, nach Möglichkeit zu befreien und sie zu
geistiger Klarheit, sittlich - religiöser Festigkeit und gewerblicher
Tüchtigkeit heranzubilden. Demgemäß müssen die Zöglinge in der
Blindenanstalt nicht nur die allgemeine Schulbildung, sondern auch
eine gründliche Berufsbildung empfangen, sodaß jede Anstalt sich
in eine Schulabteilunj
Das Bliiuleimnterriclitswesen im Deutschen Reicli. 419
tritt aus der einen in die andere erfolgt mit der Konfirmation der
Zöglinge, d. h. im 15. oder 16. Lebensjahre. Doch wird die Berufs-
bildung schon während der Schulzeit angebahnt, und der Fortbildungs-
unterricht hört erst mit der Vollendung der gewerblichen Aus-
bildung auf.
Die Schulabteilung setzt sich fast überall aus mehreren auf-
steigenden Klassen zusammen, deren Zahl von der Menge der Schüler
und den verfügbaren Lehrkräften abhängt und wenigstens 2, höchstens 7
beträgt. Davon entfallen in Vollanstalten 1 bis 2 Klassen auf die
Vorschule, die übrigen auf die Hauptschule für Zöglinge von 10 bis
15 Jahren. Als höchste Zahl der Schüler einer Klasse gilt für
normale V^erhältnisse die Zahl 12, weil sonst der überaus wichtigen
Forderung der Individualisierung nicht genügt werden kann. Die
Vereinigung zweier Klassen in einzelnen Fächern, die man hier und
da antrifft, ist nur ein Notbehelf Für den Musik-, Turn- nnd Hand-
fertigkeits-Unterricht werden besondere Gruppen gebildet,' deren An-
zahl und Umfang sich nach dem wechselnden Bedürfnis richtet.
23. Lehrplan. Bei der Aufstellung des Lehrplanes für die
Blindenanstalt kommen nach der neuerdings in Steglitz zum Ausdruck
gelangten, behördlich anerkannten Auffassung folgende Erwägungen
und Besonderheiten in Betracht.
Die Blindheit hindert das Kind an freier Be\\'egung und übt
dadurch auf die gesamte äußere Entwicklung einen äußerst nach-
teiligen Einflui*» aus, der in zunehmender körperlicher Schlaffheit,
Unbeholfenheit und Unsicherheit, in mangelhafter Haltung und
mancherlei üblen xAngewohnheiten hervortritt. Diese Schäden sind
durch frühzeitige und ausgedehnte Pflege des Turnens und der Be-
wegungsspiele, durch Spaziergänge und Ausflüge zu bekämpfen und
zu beseitigen.
Während das sehende Kind durch die Fülle der Gesichtseindrücke
zu unausgesetzter Beschäftigung und zum Gebrauch seiner Hände
angeregt wird, hemmt die Blindheit die Entwicklung des Nach-
ahmungs- und Tätigkeitstriebes und führt so vor allem zu einer ver-
hängnisvollen Verkümmerung der Hände, die kraftlos und un-
geschickt bleiben und selbst für die einfachsten Verrichtungen un-
brauchbar erscheinen. Der Blinde aber soll gerade mit der Hand
sehen und schaffen lernen — sie soll ihm Auge und Werkzeug
werden — ; deshalb ist dafür zu sorgen, daß durch Anleitung zu
mannigfacher Handfertigkeit während der ganzen Schulzeit die Hände
möglichst mu.skelkräftig und geschickt werden. Diesem Zweck dienen
27*
420 Taubstummen- und Blindenunterricht.
vornehmlich die Fröbelarbeiten, die Einübung einfacher Handgriffe
und Handreichungen, das Formen in Ton und W'achs, das Zeichnen
mit Nadehi und Fäden auf Filzkissen, endlich auch die Anleitung zu
Holz- und Papparbeiten.
Die Anschauungen, d. h. die durch sinnliche Unmittelbarkeit
gewonnenen \^orstellungen, bilden das absolute Fundament aller Er-
kenntnis. Aber 7io ^l^^r Vorstellungen von den Dingen und Er-
scheinungen der Außenwelt beruhen auf Gesichtswahrnehmungen.
Demnach schließt die früh eintretende Blindheit die Gefahr
völliger geistiger \^erarmung in sich. Zur Überwindung dieses
Zustandes bedarf es für die blinden Kinder von vornherein einer
sorgfältigen und allseitigen Schulung des Tastsinnes, weil in erster
Linie nicht durch das Gehör, sondern durch eine reiche Zufuhr \'on
Tast Vorstellungen ein gewisser Ersatz geschaffen und eine natur-
gemäße Grundlage für die geistige Förderung des Blinden gewonnen
wird. Darum muß ein besonderer Anschauungsunterricht, ver-
bunden mit einer sorgfältigen Sprachpflege, in der Vorschule als
Stamm Unterricht den Fachunterricht vorbereiten und in der Haupt-
anstalt als Ergänzungsunterricht die übrigen Fächer begleiten, in-
dem er sich hier mehr und mehr auf solche Gegenstände und Vor-
gänge erstreckt, die der Sehende außerhalb der Schule mühelos
kennen lernt und die auch im Blindenunterricht sonst nicht be-
handelt und doch als bekannt vorausgesetzt werden.
Aber mehr noch! Der Blinde ist nicht nur arm an \"or-
stellungen, sondern auch arm an Freuden; entbehrt er doch alle
Natur- und Kunstgenüsse, die dem Menschen durch das Auge zu-
strömen. Um so größere Bedeutung gewinnt für des Blinden Ge-
mütsbildung die Musik, deren Reich ihm uneingeschränkt offen steht
und die ihm zu einem unversieglichen Born der Erheiterung und Er-
hebung werden kann und soll. Aus diesem Grunde und nicht zu Er-
werbszwecken ist der Musik, namentlich dem Gesänge, eine sorgfältige
und ausgedehnte Pflege zuzuwenden.
Da dem Blinden weit geringere Gedächtnishilfen und F"ort-
bildungsmittel als dem Sehenden zu Gebote stehen, so ist das Ge-
dächtnis stärker in Anspruch zu nehmen und den Zöglingen
ein reicher Schatz von Bibelsprüchen, Kirchen- und Volksliedern zum
unverlierbaren Eigentum zu machen, für gute und böse Tage. Auch
sind die Gesinnungsstoffe (Religion, Muttersprache, Geschichte) in
weiterem Umfange zu berücksichtigen.
Der Kern des Unglücks der Blindheit liegt aber in der großen
Das BliiKleiuinleiriclilswtseii im Deutsclien Keicli. 421
Gebundenheit und Abhängigkeit des Lichtlosen. Deshalb
verdienen d i e Lehrweisen und d i e Lehrmittel den Vorzug, die
den Zögling zu möglichster Selbsttätigkeit und Selbständigkeit
führen.
Die Zahl der Schulstunden für die einzelnen Klassen einer
Blindenanstalt muß größer sein, als es in Lehranstalten für Voll-
sinnige erforderlich oder zulässig ist. Denn in der Blinden v o r -
schule sind auch solche Tätigkeiten, die für Sehende in die Freizeit
fallen, wie z. B. Spaziergänge und Spiele und häusliche Verrichtungen,
zum Gegenstand besonderer Unterweisung und Übung zu machen,
und in der Schulzeit der Hauptanstalt beanspruchen der Hand-
fertigkeitsunterricht und die Musik, die vollsinnige Kinder zu Hause
treiben, einen breiten Raum. Dafür fällt bei den Zöglingen der
Blindenanstalt der Schulweg fort, einzelne Gegenstände, wie z. B.
Turnen, Bewegungsspiele, i\nschauungsübungen, Erdkunde, Natur-
geschichte werden nicht selten im Freien behandelt, und nach jeder
Unterrichtsstunde tritt eine kürzere oder längere Pause ein, welche
die Kinder bei günstigem Wetter stets in der frischen Luft zubringen.
Überdies bleibt zu beachten, daß blinde Kinder viel mehr zur Tätig-
keit angeregt werden müssen und viel leichter unter der Beschäftigungs-
losigkeit und Langenweile leiden, als sehende.
24. Zweck und Arbeitsplan der Blinden v o rs c h u 1 e.
Unter Festhaltung dieser Gesichtspunkte ist der Zweck der Blinden-
Vorschule, die aus der Blindheit sich ergebenden und durch
mannigfache Versäumnisse und Mißgriffe der häushchen Erziehung
verstärkten Hemmnisse und Schäden der gesamten kindlichen Ent-
wicklung soweit wegzuräumen, daß eine naturgemäße Entfaltung der
Anlagen und Kräfte des blinden Kindes ermöglicht und in ihren An-
fängen verwirklicht wird.
Die zur Erreichung des vorgesteckten Zieles dienenden Fächer
faßt der Lehrplan der Steglitzer Anstalt, die sich in unterricht-
licher Beziehung der günstigsten Entwicklung erfreuen darf, nach
ihrer Bedeutung in drei Gruppen zusammen, und zwar bezweckt
Gruppe
a) die Weckung des geistigen Lebens (1 — 6),
b) die Kräftigung und Geschicklichkeit der Hände (7 — 13),
c) die Stärkung und Gewandtheit des Körpers (14 — 16).
Die Verteilung der Unterrichtsstunden auf die beiden
V'orschulklassen, die zurzeit zusammen 1 7 Zöglinge zählt, ist so geregelt,
daß für die zw^eite (die untere) Klasse die Gruppen c (Leibesübungen;
422
l'auhstunimen- und Hlindenunterriclit.
und b (Handtätigkeit) in erster Linie stehen, für die erste Klasse
hingegen die Fächer der Gruppe a. welche die Pflege der geistigen
Fähigkeiten betreffen, vorherrschen.
Es entfallen auf die
2. Klasse 1. Klasse
Stunden Stunden
a) geistige Tätigkeit 12 20
b) Handtätigkeit 11 9
c) Körperbewegung 12 10
Im ganzen wöchentlich .... 35 30
Welche einzelnen Fächer dabei in Frage kommen, ist aus
folgender Übersicht der wöchentHchen Lehrstunden der Steglitzer
Vorschule zu entnehmen.
a)
b)
c)
2
. Klasse
1. Klasse
Stunden
Stunden
1
9
3
2.
Anschauung
4
4
3.
Deutsch
2
2
4.
Lesen und Schreiben dei
Punktschrift
—
4
und der Linienschrift .
—
2
5.
Rechnen
2
3
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Sinken
9
2
7
Fnrmpn
9
9
8.
Zeichnen
1
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10.
11.
12.
Flechten
Falten
Erbsarbeit
Bauen
Fröbel-
beschäfti-
gung
9
2
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1
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1
1
1
13.
Handgriffe
und Hand
reichungen
(Selbstbedie
nunci")
9
14.
Turnen unc
1 Turjispiele
6
6
15.
Bewegungs
- und Unter
haltungsspi
ele . . . .
4
2
16.
Spaziergang
^e . . . .
im ganzen
2
2
35
30
Mit dem vollendeten neunten Lebensjahr werden die Zöglinge
dort aus der Vorschule in die H a u p t s c h u 1 e versetzt, die fünf
Das l}liiKleniinterrichts\v(
im I )eutscheii Reich.
423
aufsteigende Klassen umfaßt, deren Arbeitsbereich aus nachstehender
t'bersicht zu erkennen ist. Bei dieser Zusammenstellung ist der
Abteilungsunterricht in Turnen, Musik (einschließlich Gesang;,
fremden Sprachen und Handfertigkeit (Holz-, Papp-, Flecht- und
Strick-Arbeiten) unberücksichtigt geblieben.
e r r 1 c h t s s t u n (1 e n i i
der H a u p t a n s t a 1 t.
S c h u I k 1 a s s (
Lehr-
fächer
1. Klasse
•
2. Klasse
3. Klasse
4. Klasse
5. Klasse
Religion
3
3
3
3
1
1
3
Deutsch
4
3
3
3
3
Lesen /
\
1 P.
1 P.
1 P.
4 P.
! 1 K.
1 L.
1 L.
1 L.
1 L.
fSchreiblesen)
1 K.
1 K.
1 K.
( Schreiblesen )
Schreiben 1 L.
2 L.
2 L.
2 L.
—
An-
schauung
1
1
2
3
3
Geschichte
2
2
2
2
—
Rechnen
3
3
3
3
3
Raum-
lehre i 2
2
1
—
—
' Natur- ;
beschrei- '
\ bung 1 2
2
2
2
1
Natur-
lehre
1 2
2
—
—
—
Erdkunde
i 2
2
2
2
2
Formen
2
2
2
2
2
Zeichnen | 1
1
1
1
1
( iesanit-
zahl der i
Stunden
(wöchent-
lich)
26
28
26
26
23 ^
6. Klasse (Hilfsklasse für schwachsinnige Zöglinge): Stundenzahl und Stofi-
auswahl richten sich nach der Befähigung der betreffenden Zöglinge und lehnen sich an
den Plan der Vorschule und der 5. Klasse der Hauptanstalt an. (Im ganzen höchstens
20 Stunden.)
.Abkürzungen: P. = Punktschrift, L. = Linienschrift, K. = Kurzschrift.
Durch den Abteilungsunterricht erhöht sich die Zahl der angegebenen Schul-
stunden für die Zöglinge der einzelnen Klassen durchschnittlich um 12, beträgt also im
ganzen wöchentlich 32 — 40.
424 Taubstumnien- und Blindeniiiiterriclit.
Dieselben Lehrgegenstände treffen wir mit Ausnahme der Holz-
und Papparbeiten und des wahlfreien fremdsprachlichen Unterrichts
(Französisch und Englisch von der dritten Schulklasse ab) in fast
allen deutschen Anstalten, wenn auch zum Teil in geringerer Aus-
dehnung und unter anderem Namen. Etliche Anstalten bieten be-
sonders befähigten und bemittelten Zöglingen, die kein Handwerk
erlernen wollen, die Möglichkeit eines weiterführenden wissenschaft-
lichen Unterrichts. In keiner Anstalt aber spannt man den Rahmen
zu weit, und nirgends überhört man die ^Mahnung: Nicht für die
Schule, sondern für das Leben! —
Der Unterrichtserfolg \\ird \\esentlich dadurch gesichert, daß
für jedes Fach eigenartige zweckmäßige Lehr- und Hilfsmittel zur
Verfügung stehen. Der Wert der Lehrmittel in den Blinden-
anstalten Deutschlands beläuft sich wenigstens auf 260 000 M., wobei
die ^Musikinstrumente und Bücherschätze nur teih\eise mitgerechnet
sind. Dennoch dürfen die deutschen Anstalten ebenso wenig wie
fremde sich rühmen, alle erforderlichen Veranschaulichungsmittel zu
besitzen. Das hat seinen Grund in den fast unerschwinglichen Kosten.
25. Der Lese- und Schreibunterricht. Von entscheidender
Bedeutung für die gesamte Schulbildung, insbesondere für die Pflege
der geistigen Bedürfnisse der Blinden, ist die Schrift- und Druck-
frage, deren Stand zunächst auf dem Gebiet des Lese- und Schreib-
unterrichts zur Erscheinung kommt. Die aus lateinischen Großbuch-
staben bestehende Linienhochschrift ist durch die Braillesche Punkt-
hochschrift aus dem Leseunterricht fast ganz verdrängt und wird in
vielen Anstalten überhaupt nicht mehr geübt. Ebensowenig werden
neue Druckwerke in Linienschrift hergestellt. Die großen Vorzüge
der Punktschrift — Raumersparnis, leichtere Lesbarkeit, schnelle
handschriftliche Darstellung — haben ihr auch für das Schreiben den
ersten Platz errungen schon auf der Unterstufe. Zur Herstellung
der Punktschrift wird entweder eine Rillentafel benutzt, zu der ein
mit rechteckigen Ausschnitten versehenes verstellbares Lineal gehört,
oder eine Grübchen tafel, die statt der Rillen halbkugelige Ver-
tiefungen und statt des Lineals ein die ganze Platte bedeckendes
Gitter aufweist. In jeder Form — Zelle oder Fenster genannt — sind
sechs Punkte möglich • • die sich mittels eines Stahlgriffels in das
auf die Platte gespannte Papier drücken lassen und in ihrer \er-
schiedenen Anzahl und Lage (1 — 5) alle Buchstaben, Satzzeichen und
Ziffern bilden, z.B.: .... (Amerikaj. Da die Schrift
Das lilindenunteiricluswesen im Deutschen Reich. 425
von links nach rechts o-closcn w ird, so "eschieht das Schreiben der ver-
tieften Punkte" von rechts nach links; der Schreiber stellt also das
Spiegelbild der Buchstaben dar.
In einzelnen Fällen wird auch die von dem Blindenlehrer Picht
in Steglitz kürzlich erfundene äußerst preiswerte Schnellschreib-
maschine für Punktschrift (50 M.) angewandt, bei deren Gebrauch
man höchstens den dritten Teil der Zeit aufzuwenden hat und gleich-
zeitig z\\ei Exemplare des betreffenden Schriftstückes herstellen kann.
Neben der buchstäblichen Brailleschen Punktschrift wird in
mehreren deutschen Anstalten noch die aus derselben abgeleitete
deutsche Kurzschrift geübt, durch die eine Raumersparnis von
25 "/o mit entsprechendem Zeitgewinn erzielt wird. Über die ihr im
Unterricht und beim Bücherdruck zukommende Stellung ist die
Meinung der Fachleute geteilt. Die einen erstreben ihre Allein-
herrschaft, wenigstens von der Mittelstufe ab. Die anderen gewähren
ihr nur als Zugabe zur Vollschrift Recht und Raum und fordern
letztere als Druckschrift für alle Schulbücher und für alle Erbauungs-
und Volksschriften, um die schwächeren Leser nicht zu benachteiligen.
Der Umstand, daß die Punktschrift für Sehende, mit denen der
Blinde doch möglichst selbständig in Verkehr treten soll, nicht ohne
weiteres lesbar ist, hat dazu geleitet, die nicht tastbare, farbige Plan-
oder Flachschrift von Hebold festzuhalten, deren Zeichen die
wenig veränderten lateinischen Großbuchstaben sind. Diese werden
auf der Heboldtafel mit Hilfe eines verschiebbaren Lineals hergestellt,
dessen rechteckige Ausschnitte in den Mitten der Seiten eingekerbt
sind, um dem Schreibstift die nötigen Anhaltspunkte zu schaffen.
Das Schreibblatt wird auf die Holzplatte gelegt, ein Blaublatt darüber,
sodaß die Schrift durch den Druck des senkrecht aufgesetzten Metall-
griffels entsteht; doch können bei Benutzung eines Farbstiftes die
Buchstaben auch unmittelbar auf das Papier geschrieben werden.
Die Heboldschrift, die nach dem Gesagten von den Blinden nur ge-
schrieben, aber nicht gelesen werden kann, ist in allen Blinden-
anstalten Norddeutschlands eingeführt und hat für den \^erkehr mit
Sehenden einen hohen Wert. Ja, es kommt sogar vor, daß ein
Blinder in dieser Schrift die Briefe für seine des Schreibens weniger
kundigen sehenden Eltern abfaßt.
Aber die Heboldschrift ist nicht leicht zu erlernen und er-
fordert viel Übung. Deshalb wird an einigen Anstalten Süd-
deutschlands statt ihrer die Kleinsche Stachelschrift gelehrt, die
zwar eine kostspieligere Vorrichtung und mehr Raum und Zeit er-
426 Taubstummen- und Blindenunterricht.
fordert, aber auch von unbegabten und ungeschickten Zöglingen
ohne große Mühe erlernt werden kann, namentlich bei Anwendung
des von Regierungsrat Meli in Wien verbesserten Kleinschen Stachel-
typenapparates. Dieser besteht aus einem die Stacheltypen ent-
haltenden Setzkasten und einer zur Aufnahme des Papiers bestimmten
Schreibtafel, zwischen deren Zeilen die Stachelt}^pen — lateinische
Großbuchstaben — gesetzt und abgedruckt werden. Die so ent-
stehende Schrift ist ein wenig erhaben und kann daher auch \'on
dem blinden Schreiber gelesen werden.
Außerdem bilden einige Anstalten einzelne ZögUnge im Schreiben
auf den gewöhnlichen Schreibmaschinen mit gutem Erfolge aus. Am
meisten wird die Blickensderfer Maschine benutzt, die sich durch ihre
Handlichkeit und Billigkeit empfiehlt und von O. Picht mit kleinen
Verbesserungen für die Blinden versehen ist.
Spät-Erblindete erhalten auch Anleitung, die Schrift der Sehenden,
wenn diese ihnen vor ihrer Erblindung geläufig war, auf der Hamann-
schen oder Bürgerschen Tafel zu schreiben.
So stehen den deutschen Blinden im ganzen fünf Schriftarten
zur Verfügung: die Heboldschrift, die Stachelschrift, die Maschinen-
schrift, die Kurrentschrift für den Verkehr mit Sehenden, — die
Punktschrift zu eignen Aufzeichnungen und für den Verkehr mit
Schicksalsgenossen, wozu in geringerem Grade allerdings auch die
Stachelschrift dienen kann.
26. Bücherschätze in Punktschrift. Für den Bücherdruck
kommt aber in der Gegenwart nur die Punktschrift in Betracht. In
dieser Schrift hat der schon erwähnte deutsche „Verein zur Förderung
der Blindenbildung", dessen Expedition sich zurzeit in der Blinden-
anstalt zu Hannover befindet, u. a. ein neunbändiges Lesebuch, ein
besonderes Übungsbuch für Kurzschrift und eine stattliche Anzahl
von Werken aus der deutschen Literatur herausgegeben, und es ist
kaum ein Unterrichtsfach zu nennen, für welches nicht Druckwerke
in Punktschrift als Hilfs- und Fortbildungsmittel zu Gebote stehen.
Für Religion allein das Neue Testament und die Psalmen, ein bibli-
sches Geschichtsbuch für evangelische und eins für katholische Blinde,
Katechismen, Spruchbücher, Sammlungen von Kirchenliedern. Gebet-
und Andachtsbücher. Dann zur Einführung in das deutsche Schrift-
tum die Hauptwerke der deutschen Klassiker und eine Reihe der
besten Volks- und Jugendschriften. — Das und vieles andere konnte
nur mit vereinten Kräften von verschiedenen Angriffspunkten aus
geschaffen werden; denn außer den obengenannten Stellen geben
Das IMindenuiiterrichtsweseii im I )eulscheii Reich. 427
noch Punktschriftbücher heraus: „Der Verein zu Beschaffung von
Hochdruckschriften für Blinde" in Leipzig, „Der Rheinische Blinden-
Fürsorge-Verein" in Düren, ,,Der Verein deutsch-redender Blinden" in
Potsdam, die Blindenanstalten in Steglitz, Berlin, Stuttgart, Illzach
und andere.
Dazu kommen die Bücherschätze aus dem Bereich der Volks-
und Jugendschriften, welche die Anstalten der vielsagenden ,, Hand-
arbeit" von Blindenfreunden verdanken, sodaß an manchen
Stellen jeder Zögling nicht nur seine eigenen Schulbücher hat, sondern
sich aus der Anstaltsbibliothek auch Unterhaltungs- und Bildungsstoff
für freie Stunden holen kann. Die in den Büchereien der deutschen
Blindenanstalten vorhandenen Werke in Punktschrift umfassen zurzeit
etwa 26 000 Bände, wovon allein fast 6000 auf Steglitz kommen ;
dort findet sich die größte Blindenanstalts-Bibliothek in Deutschland.
Im Königreich Preußen erhält jeder Zögling beim Austritt aus
der Blindenanstalt auf Staatskosten ein Erbauungsbuch als Mitgabe
fürs Leben: die evangelischen eine Auswahl von Kirchenliedern, die
katholischen ein Gebetbuch mit dem Titel ,,Der Herr ist mein Licht".
27. Leihbibliotheken. Mit dem allen gewinnen Schrift und
Druck für die Blinden erst ihren vollen Wert und Segen, der weit
über die Ausbildungszeit hinausreicht. Die Anstaltsbibliotheken ver-
sorgen auch die Entlassenen mit geistiger Nahrung, indem sie ihnen
unentgeltlich Hochdruckbücher leihen oder eigene Zeitschriften an
sie versenden.
Außerdem bestehen noch selbständige Leihbibliotheken
für Blinde in Frankfurt a/M. unter Verwaltung des Dr. Hohenemser
und in Leipzig als Einrichtung des vorgenannten „Vereins zur Be-
schaffung von Hochdruckschriften". In der Bildung begriffen ist eine
Zentralleihbibliothek für die Blinden von ganz Deutschland mit dem
Mittelpunkt in Hamburg unter dem Protektorat Herzog Karl Theodors
von Bayern, des berühmten Augenarztes aus fürstlichem Geschlecht.
28. Die Pflege des Anschauungsunterrichtes. Diesem
Streben, die Blinden in immer reicherem Maße an den Geistes-
schätzen der Nation teilnehmen zu lassen, tritt das ernste Bemühen
an die Seite, sie durch einen ausgedehnten und lebensvollen Betrieb
des Anschauungsunterrichtes mit den Dingen und Vorgängen
der äußeren Welt bekannt und vertraut zu machen. Deshalb arbeitet
man unausgesetzt an der Vergrößerung und Verbesserung der Samm-
lungen von Natur- und Kunstgegenständen und deren Modellen und
428 Taubstummen- und F.lindenunlerricht.
führt die Zöglinge auch dahin, wo die Dinge im Natur- und Menschen-
leben auftreten und ihre gegenseitige Beziehung zu beobachten ist.
Daß ein solches Verfahren auch dem Unterricht in Natur- und
Erdkunde, selbst in Geschichte und Religion zugute kommt, liegt auf
der Hand.
29. Lehrmittel für die übrigen Fächer. Mannigfaltig sind
die Lehrmittel für die Naturkunde: Ausgestopfte Tiere oder gute
jVIodelle, künstliche Pflanzen und vergrößerte Blüten zur Betrachtung
ihrer feineren Teile für die tastenden Finger, Schulgärten mit Beeten
für die einzelnen Zöglinge zur Übung in der Beobachtung und Pflege
der Pflanzen, zerlegbare und tastbare Apparate für die Naturlehre,
wie z. B. Thermometer und Barometer, Mühlenwerk und Dampf-
maschine.
Li der Erdkunde werden außer den Kunzeschen Landkarten
große Modelle zur Gewinnung der geographischen Grundbegriffe und
verschiedenartige Reliefgloben benutzt, darunter als neuester der nach
den Angaben der Steglitzer Anstalt von einer Berliner Firma an-
gefertigte Globus. Für die mathematische Geographie leistet ein
nach Vorschrift des blinden Blindenanstaltsdirektors Schleußner (Nürn-
berg) hergestelltes Tellurium besonders gute Dienste.
Im Rechenunterricht wird, wo man sich nicht auf Kopf-
rechnen beschränkt, die englische Rechentafel von Taylor bevorzugt,
bei der sämtliche Ziffern und Rechnungszeichen in den achteckigen
Formen der Platte nur durch die verschiedene Stellung der an dem
einen Ende mit einem Strich, an dem anderen mit zwei Punkten
versehenen Stifte dargestellt werden.
In der Raumlehre fehlt es nicht an geometrischen Körpern,
die, soweit nötig, zerlegbar sind; und neben der unübertrefflichen
Heboldschen Scheibe wird auch das Mohrsche Figurenheft erfolgreich
benutzt.
'AD. Musikunterricht. F'ür den Musikunterricht, der sich
auf Gesang, Orgel, Klavier, Geige und Blasinstrumente erstreckt,
bildet die Braillesche Musikschrift mit den in ihr erschienenen
Kompositionen ein hervorragendes Hilfsmittel, das den Blinden be-
fähigt, die Musik nicht nur nach dem Gehör zu treiben, sondern
gründlich zu studieren. Jedoch wird diese Schrift, die schon musik-
theoretische Kenntnisse voraussetzt und schwierig zu erlernen ist,
nicht in allen Anstalten gelehrt. Am meisten Anwendung findet sie
bei dem Unterricht in der Instrumentalmusik, weniger beim Gesänge,
da zu diesem alle stimmbegabten Zöglinge herangezogen werden, die
I
Das BliiidenunterriclUswesen im Deutschen Reich. 429
nicht alle imstande sind, die Notenschrift zu erlernen. Aber auch
so wird gerade der Chorgesang an einzelnen Anstalten mit großem
Eifer und schönstem Erfolge gepflegt.
,'V|. Hausordnung. Auch die gesamte Haus- und Lebens-
ordnung soll mithelfen zur Erziehung zur Selbsttätigkeit und Selb-
ständigkeit.
TägHche Andachten weihen Arbeit und Ruhe und weisen der
Sorge und Bitte um das tägliche Brot den rechten Platz an.
Viele Zöglinge sind skrofulös und schwächlich. Deshalb ist man
unausgesetzt darauf bedacht, ihnen eine kräftige, leicht verdauliche
Kost, viel Milch, aber möglich.st wenig alkoholhaltige Getränke zu
verabreichen. Die Verpflegung geschieht am Uebsten und besten
durch die Anstaltsverwaltung selbst und nicht durch einen Unter-
nehmer oder Ökonom, der nur zu leicht in die V^ersuchung oder den
\'erdacht gerät, sich auf Kosten der armen Blinden zu bereichern.
Regelmäßige Reinigungsbäder und Ausnutzung der Freizeit zur
Bewegung in der frischen Luft erscheinen als selbstverständliche Vor-
schriften der Gesundheitspflege. Im übrigen stehen alle ZögHnge
unter steter hausärztlicher und besonderer augenärztlicher Über-
wachung. Für erholungsbedürftige Zöglinge bestehen in beschränktem
Umfange schon Ferienkolonien an der See und im Gebirge.
Großes Gewicht wird darauf gelegt, daß die Zöglinge täglich
solche Verrichtungen ausführen, die sie von der Hilfe Sehender mehr
und mehr unabhängig machen, ihre Aufmerksamkeit schärfen, ihre
Sicherheit und Gewandtheit erhöhen, den Sinn für Ordnung und
Sauberkeit wecken und fördern. So werden sie vielfach angehalten
und angeleitet, nicht nur ihre Betten selbst zu ordnen, sondern auch
ihre Stiefel zu wichsen und ihre Kleider zu reinigen, und, wo es der
Raum erlaubt, in eigene Verwahrung zu nehmen, um am Jahresschluß
in ihrem Zeugnis auch ein Urteil über Ordnungsliebe zu erhalten.
Bei den Mahlzeiten benutzen die älteren Zöglinge in verschie-
denen Anstalten neben dem Löffel auch Messer und Gabel, schneiden
sich das Fleisch selbst, füllen Suppe und Gemüse auf und helfen beim
Decken und Abräumen der Speisetische.
Die älteren bHnden Mädchen treffen wir beim Staubwischen und
Auskehren der Stuben, ja selbst am Waschfaß und in der Küche.
In einer Anstalt müssen sie an einem bestimmten Wochentage ab-
wechselnd die Suppe kochen.
In gleicher Weise wird darauf hingewirkt, daß die Zöglinge \-on
ihrer freien Zeit und Freiheit einen die Lebensfreudisrkeit und
4i->0 Taubslummen- und liliiulcnunterricht.
Arbeitslust begünstigenden Gebrauch machen. Man läßt die Kleinen
sich vergnügen mit Säbel und Gewehr, Hacke und Spaten, Wagen
und Schlitten, Puppen und Kochgeschirr, regt sie namentlich an
Winterabenden zu Spielen an wie Dame und Mühle, Domino und
Schach (die Direktor Kull-BerHn in reicher Auswahl und praktischer
Form liefert) und verwehrt den erwachsenen Zöglingen das Karten-
spiel ohne Einsatz ebenso wenig, wie das zeitlich und räumlich be-
schränkte Tabakrauchen.
Begierig greifen die geistig angeregten Schützlinge auch nach
den Büchern zu stiller Unterhaltung, und gern finden sie sich zu den
Vorlesestunden ein, die keine Anstalt missen möchte. An Sonn-
und Feiertagen aber finden zuweilen musikalische Unterhaltungen,
auch wohl kleine dramatische Vorträge oder Aufführungen zur Freude
von klein und groß im Kreise der Hausgenossen statt.
Bei solchen Gelegenheiten treten auch die konfirmierten männ-
lichen und weiblichen Zöglinge einander näher. Einige Anstalten
gehen noch weiter und erteilen ihnen Tanzunterricht und lassen
die erwachsenen männlichen und weiblichen Zöglinge bei festlichen
Anlässen und an Unterhaltungsabenden unter Aufsicht der Lehrer
miteinander tanzen, damit sie sich an einen schicklichen Verkehr und
an gefällige Bewegungen gewöhnen. Trotzdem versichert wird, daß
diese Einrichtung bisher zu keinen Unzuträglichkeiten geführt habe,
verhält die Mehrzahl der Anstalten sich doch ablehnend dagegen.
Die Verbindung mit dem Elternhause wird durch Austausch
von Briefen, durch Besuche der Angehörigen in der Anstalt und
Ferienreisen der Zöglinge in die Heimat aufrecht erhalten. Diese
wiederholten Reisen, bei denen die Zöglinge häufig nur bis zum
Bahnhofe Begleitung haben, sind einerseits ein Mittel, ihr Selbst-
vertrauen und ihre Umsicht zu erhöhen, andererseits für Verwandte
und Bekannte eine Gelegenheit, die Fortschritte des Blinden und die
Leistung der Anstalt kennen und würdigen zu lernen.
32. Berufsbildung. Schularbeit und Hausordnung sind nicht
Selb-stzweck, sondern sollen der Berufsbildung und Lebensstellung
des Blinden den Weg bereiten. Die Berufsbildung, die im vollen
Umfange nach der Konfirmation beginnt, wird in den meisten Anstalten
durch Schulfächer, wie das Modellieren und Zeichnen, in einigen noch
durch den Unterricht in Holzarbeiten vorbereitet. Daneben erhalten
die Zöglinge schon während der Schulzeit Anleitung zu leichteren
Flechtarbeiten.
Die gewerbliche Ausbildung — darüber besteht jetzt in Deutschland
Oas Blindeminlerrichlswesen im Deutschen Reich. 431
kein Zweifel mehr — soll den Blinden befähigen, durch Ausübung
eines Berufes sich den Lebensunterhalt zu schaffen und somit wirt-
schaftlich selbständig zu werden. Für die große Mehrzahl der Zöglinge
hat sich als der sicherste Weg dazu die gründliche Ausbildung in
einem Handwerk erwiesen.
33. Handwerk. Die sogenannten weiblichen Handarbeiten
(Stricken und Häkeln, auch wohl Nähen) werden zwar in allen Anstalten
getrieben; doch ist der dadurch erzielte Gewinn namentlich in Nord-
deutschland vielfach so gering, daß die Übung dieser Dinge nur ein
Nebenfach bildet und hauptsächlich den Zweck hat, die Mädchen zu
befähigen, sich ihre eigne Kleidung in Ordnung zu halten. Ebenso
finden wir überall den Betrieb der Stuhl- und Mattenflechterei,
die etwas mehr abwirft und den Mädchen und schwächeren Arbeitern
zugewiesen wird.
Von entscheidender Bedeutung sind die Korbmach erei, die
Seilerei und die Bürstenbinderei nebst Pecherei. In der Korb-
macherei werden meistens, in der Seilerei fast ausschließlich männliche
Blinde ausgebildet, in der Bürstenbinderei mehr die weiblichen Zöglinge;
doch haben die süddeutschen Anstalten den Seilereibetrieb nicht, der
übrigens auch in einigen norddeutschen Anstalten fehlt.
Dagegen wird in einigen Anstalten neuerdings das Maschinen-
stricken, vereinzelt auch das Maschinen nähen gelehrt, in Baden
noch das Weben auf dem Webeapparat ,,Eugenia". — 5 Anstalten
bilden einzelne Zöglinge im Drucken von Punktschriftbüchern aus.
An einer Stelle — in Leipzig — hat ein Arzt mehrere Blinde mit
P2rfolg in der Massage unterwiesen.
34. Die Musik als Erwerbsfach. Auch die Musik kommt
als Erwerbsfach nur für einzelne hervorragend begabte Zöglinge in
Frage, die teils zu Klavierstimmern, teils zu Organisten und Musik-
lehrern herangebildet werden. Doch selbst diese Zöglinge erlernen
in manchen Anstalten gewisse Handarbeiten, um nicht ausschließlich
auf die Musik angewiesen zu sein. Denn es hält besonders im
evangelischen Norddeutschland, wo die Organistenstellen häufig von
Lehrern verwaltet werden, sehr schwer, einen Blinden, sei er auch
noch so tüchtig, auf diesem Wege zu Amt und Brot zu bringen.
Günstiger liegen die Verhältnisse für die Klavierstimmer, von denen
nicht wenige später in Fabriken, andere durch Privatkundschaft ihr
Auskommen finden.
35. Höhere Bildung. Die erdrückende Konkurrenz der
Sehenden auf musikalischem und wissenschaftlichem Gebiet hat die
432 Taubstummen- und Blindenunterricht.
Mehrzahl der deutschen Blindenlehrer bisher abgehalten, dem wieder-
holt hervorgetretenen Gedanken der Gründung einer Musik-Hoch-
schule oder sonstigen höheren Lehranstalt für Blinde zuzu-
stimmen. Denn es herrscht die ernste Besorgnis und Überzeugung,
daß eine solche Einrichtung nur zur Unterschätzung des Blinden-
handwerks und zur Vermehrung des Proletariats in der Künstler- und
Lehrerschaft führen und mit einer herben Enttäuschung für die Blinden
enden würde.
Je bequemer der Weg zu einem verlockenden Ziel ist, desto
mehr Jünger beschreiten ihn, ohne ihr Rüstzeug gehörig zu prüfen.
Für ausgezeichnet begabte und charaktervolle Blinde besteht bereits
die Möglichkeit, von der Blindenanstalt aus durch den Besuch eines
Gj'mnasiums oder Konservatoriums zu höherer Bildung zu gelangen.
Und das genügt.
Dagegen tragen die Blindenanstalten dem Fortbildungs-
bedürfnis der Lehrlinge mehr oder weniger Rechnung. Li Steglitz
z. B. erstreckt sich dieser Unterricht, abgesehen von Musik und
Turnen, auf deutsche Literatur, W'eltgeschichte, Rechnen und Buch-
führung, W'irtschaftskunde und fremde Sprachen. Der Kursus ist in
diesen Fächern im allgemeinen zweijährig. Schwächere Schüler oder
Lehrlinge werden nicht zu allen Gegenständen herangezogen. Für
mangelhafte Schreiber sind besondere Stunden zum Üben der Ver-
kehrsschrift angesetzt. — Zöglinge, die erst als Erwachsene eintreten,
um gewerblich ausgebildet zu werden, erhalten für sich Unterricht im
Lesen und Schreiben.
;^6. Umfang der handwerksmäßigen Ausbildung. Das
unverrückbare Ziel aber bleibt für die große Mehrzahl die wirt-
schaftliche Selbständigkeit durch den Betrieb des betreffen-
den Handwerks. Deshalb muß der Lehrling mit allen bei seinem
Gewerbe vorkommenden Arbeiten gründlich vertraut werden und zu
voller Fertigkeit darin gelangen. Dahin gehört die Beurteilung der
Rohstoffe und ihre Vorbereitung für die Verarbeitung, wie auch die
selbständige Herstellung und Preisberechnung der verschiedenen
Waren. Für eine derartige gründliche Ausbildung in einem Handwerk
bedarf es bei einer täglichen 8 — 9stündigen Arbeitszeit einer Lehrzeit
von mindestens 4 Jahren.
Haben die Lehrlinge als solche auch keinen Lohn zu bean-
spruchen, so wird ihnen doch alljährlich ein Verdienstanteil gut-
geschrieben und bei einer öffentlichen Sparkasse für sie zinsbar
angelegt. Dadurch entsteht für jeden einzelnen ein kleiner Fonds,
Das Blindenunterriclitsweseii im Deutschen Reich. 433
■der im Durchschnitt 7ai einer Höhe von 200 — 300 M. anwächst und
zur ersten Ausrüstung bei dem Eintritt des BHnden in das Erwerbs-
leben verwendet wird.
Erwerbsfähig können die ZögHnge jedoch nur dann werden und
bleiben, wenn die gefertigten Waren hinreichenden Absatz finden
und es auch den Entlassenen nicht an Arbeitsaufträgen fehlt. Daher
finden wir in jeder Anstalt eine Verkaufsstelle für Blindenarbeiten,
zuweilen auch besondere Ladengeschäfte außerhalb der Anstalt an
verkehrsreichen Plätzen. Die Anstaltsleiter richten auf diesen un-
gemein wichtigen Punkt ihre ganze Kraft hin und scheuen keine
Mühe, den Geschäftsbetrieb, der unter dem Submissionswesen, der
Gefangenenbeschäftigung und der Erwerbstätigkeit der Arbeiter-
kolonien oft schwer leidet, nachhaltig zu fördern. So betrug der
Wert der im letzten Jahre in den deutschen Blindenanstalten ver-
kauften Blindenarbeiten im ganzen rund 900 000 M.
37. Das Lehr- und Beamtenpersonal. Die Blindenbildungs-
anstalten besitzen zur Lösung ihrer umfangreichen Aufgabe ein unter
einheitlicher Leitung stehendes erprobtes Lehr- und Beamten-
Personal. Die Vorsteher sind mit verschwindenden Ausnahmen
pädagogisch gebildete, aus demV^olksschullehrerstande hervorgegangene
Männer, die von der Pike auf gedient und sich zu ihrem verant-
wortungsvollen, arbeitsreichen Amte durch theoretisch - praktische
Studien und wiederholte Informationsreisen vorbereitet haben.
Unter den vollbeschäftigten Lehrkräften finden sich nahezu
drei mal so viel Lehrer als Lehrerinnen. Auch Blinde sind, wie die
Gesamtübersicht zeigt, unterrichtHch tätig, besonders in den musika-
lischen Fächern und auf dem Gebiet der Handfertigkeit, doch fast
ausschließlich als Hilfskräfte und in kleinen Abteilungen oder im
PLinzslunterricht, wo die Disziplin leichter zu handhaben ist. Denn
man kann sich der Überzeugung nicht verschließen, daß die Er-
ziehung der Blinden sehende Augen erfordert. Nichtsdestoweniger
treffen wir in Süddeutschland auch einen sehr verdienten nichtsehen-
den Anstaltsleiter, dem jedoch eine umsichtige sehende Gattin zur
Saite steht.
38. Vorbereitung und Hilfsmittel. Besondere Prüfungen
für Lehrer und Vorsteher an Blindenanstalten werden fast allseitig
gewünscht, sind aber noch nicht eingeführt. Dagegen hat das
preußische Unterrichtsministerium schon vor 1 7 Jahren bei der König-
lichen Blindenanstalt in Steglitz ein- bis zweijährige Vorbereitungs-
kurse zur Ausbildung von Blindenlehrern auf Staatskosten ins
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reiche. III. <^o
434 Taubstummen- und Blindenunterricht.
Leben gerufen und läßt dort gleichzeitig höchstens fünf junge Volks-
schullehrer, die die zweite Lehrerprüfung bereits bestanden haben,
und auch Lehrerinnen zu diesem Zwecke zu.
Ferner besteht in Steglitz seit 1890 zur Förderung des Studiums
der Blindenbildung ein staatliches Museum für Blindenunterricht
— das einzige in Deutschland — , für dessen Einrichtung, Unter-
haltung und stete Erweiterung bis jetzt im ganzen 29 000 M. aus
Staatsfonds aufgewendet sind.
39. Werkmeister und Pfleger. Die gewerbliche Ausbildung
der Zöglinge liegt hauptsächlich in den Händen bewährter sehender
Handwerksmeister. Als Werkgehilfen werden vereinzelt auch
tüchtige Blinde herangezogen, über deren Leistungen nur Rühmliches
verlautet.
Pfleger und Pflegerinnen, zum teil auch Diakonissinnen und
Ordensschwestern schließen den Kreis der Mitarbeiter als Hüter und
Ordner der Blindenschar in Zuspruch, Mahnung und Handreichung
bei Tag und Nacht.
40. Die Fürsorge für Entlassene. Gelingt es so in ver-
einter hingebender Arbeit unter dem Sonnenschein göttlichen Segens,
daß die Zöglinge mit hellem Kopf und festem Herzen, geschickter
Hand und sicherm Fuß in das Leben hinaustreten, so halten die
Blindenanstalten ihre Aufgabe damit noch keineswegs für gelöst.
Vielmehr betrachtet es jede Anstalt als eine unabweisbare hohe
Pflicht, den Entlassenen eine Beruf und Leben umspannende weise,
väterliche Fürsorge zuzuwenden, die erst eine dauernde beglückende
Frucht der Arbeit an den Blinden zeitigt. Diese Fürsorge soll ihnen
keine Gaben in den Schoß werfen, kein Ruhepolster für die Bequem-
lichkeit bieten, sondern nur die Dornen und Steine aus dem Wege
räumen und solche Hilfe gewähren, die sie zur Verwertung ihrer Er-
werbskraft leitet, daß sie den Kampf ums Dasein freudig und sieg-
reich führen und so zu einem durch Arbeitstreue und Arbeitserfolg
gesegneten Leben gelangen. Denn Arbeitsfähigkeit und Arbeits-
gelegenheit, Gemeinschaftsbedürfnis und Gemeinschaftsleben
sind oft durch eine weite, tiefe Kluft getrennt; und diese gerade will
die Fürsorge überbrücken und ausfüllen.
Entweder wird die Fürsorge von der Anstalt allein oder in Ge-
meinschaft mit einem Fürsorgeverein ausgeübt, dessen geborener Ge-
schäftsführer der jeweilige Anstaltsdirektor ist.
Fest steht das Ziel der Fürsorge: Arbeitsglück und Feierabend-
frieden zu schaffen; wechselnd und mannigfaltig, den Umständen und
Das Blindenunterrichtsweseii im Deutschen Reich. 435
Verhältnissen sich anpassend, erscheinen die Mittel und Wege der
Fürsorge, von denen folgende hervorzuheben sind:
Ausstattung mit Werkzeug und Rohstoflen beim Eintritt in drs Erwerbsleben,
P2rmittelung eines geeigneten Wohnortes und einer zuverlässigen Familie, falls die
Niederlassung im Elternhause untunlich ist,
Besorgung preiswerter und guter Rohstofle, —
Arbeitsnachweis und Arbeitsaufträge, —
Übernahme fertiger Waren in ein Verkaufslager, —
Überlassung von Rohstoffen auf Vorschuß, —
Gewährung zinsfreier Darlehen zu geschäftlichen Zwecken, — ■
Besondere Unterstützungen in Krankheit und sonstigen Notfällen, —
Bewirkung und Erleichterung der gesetzlichen Invaliditäts-, Alters- und Kranken-
versicherung für die blinden Arbeiter, —
Gewinnung freiwilliger Pfleger für einzelne Schützlinge als deren nächste Berater
und Vermittler, —
Schriftlicher Veikehr des Anstaltsdirektors mit seinen Schützlingen und persönliche
Besuche des Direktors bei ihnen und bei solchen Personen, die das äußere und innere
Leben des Blinden gefördert haben oder fördern könnten, —
Einrichtung gemeinschaftlicher offener Werkstätten für blinde Handwerker in
CTroßen Städten, —
Bau eines Mädchenheims zum dauernden Aufenthalt für alleinstehende blinde Ar-
beiterinnen, —
Bau eines Männerheims als Durchgangs- und Vervollkommnungsstelle für jüngere
und als Zufluchtsstätte für erwerbsschwache und geschäftlich ungewandte Gesellen, —
Anlegung kleiner Arbeiterkolonien auch für verheiratete Blinde, —
Gründung eines Feierabendhauses für vereinsamte, erwerbsunfähig gewordene
ältere Blinde, —
endlich zur inneren Erquickung und geistigen Förderung die \'ersorgung mit
guten Erbauungs- und Unterhaltungsbüchern in Blindenschrift durch leih- oder geschenk-
weise Überlassung geeigneter Werke.
41. Beispiele der Fürsorge. Soweit die Fürsorge ohne Mithilfe eines eigenen
Vereins geübt wird, hat keine deutsche Anstalt eine so umfassende und weitreichende
Tätigkeit entfaltet, wie die Königliche Landes-Blindenanstalt in Dresden innerhalb
des Königreich Sachsens. Diese besitzt einen Fürsorgefonds, der — begründet 1843
durch das 150 M. betragende Vermächtnis einer armen Waschfrau — jetzt die gewaltige
Höhe von 1 848 000 M. erreicht hat und jährlich über 65 000 M. Zinsen bringt. Da-
durch ist die Anstalt in den Stand gesetzt, jedem der 500 Entlassenen, mit denen sie im
Verkehr steht, zur Förderung der Erwerbstätigkeit eine jährliche Beihilfe von 100 M. zu
gewähren, die durch Mittelspersonen in Teilbeträgen ausgezahlt wird. Bettelnde Blinde
erhalten nichts. Blinde Drehorgelspieler verfallen der gesetzlichen Strafe. Blinde, die die
Ehe miteinander eingehen und blinde Mädchen, die sich verheiraten, scheiden aus dem
Füriorgekreis aus. Die arbeitenden Blinden wohnen im Lande zerstreut und werden
jährlich in größerer Zahl von dem Direktor besucht. Fast alle beziehen die Rohstofle,
welche sie für ihren Geschäftsbetrieb brauchen, durch Vermittlung der Anstalt und liefern
dorthin die W'aren, die sie selb-t nicht verkaufen können. Arbeitsheime kennt Sachsen
nicht. Aber den alten erwerbsunfähigen Männern und Frauen öflnet sich das Asyl in
Königswartha, dessen ältester Pflegling kürzlich im 81. Lebensjahre stand. Doch nicht
in dumpfem Hinbrüten bringen die Asylisten ihre Tage dort zu; denn es ist für Beschäf-
tigung mit leichten Flechtarbeiten und für Erheiterung und Unterhaltung durch Vorlesen
und durch Pflege der Musik hinreichend gesorgt.
Auch die Großherzoglich Mecklenburgisclie Blindenanstalt in Neukloster
28*
436 Taubstummen- und Blinilenunterricht.
wendet ihren ehemaligen Zöglingen eine sehr ersprießliche Fürsorge zu. Hier hat der
Staat sich nicht damit begnügt, eine Blindenbildungsanstalt zu gründen und zeitgemäß zu
vervollkommnen, sondern ist vor einigen Jahren auch dazu geschritten, zwei Fürsorge-
stätten — ein Mädchenheim und ein Männerheim — in unmittelbarer Anlehnung an die
Anstalt aus Staatsfonds zu bauen und zu unterhalten. Möchten andere deutsche Staaten
diesem vorbildlichen Tun bald folgen!
Unter den Fürsorgevereinen, deren im Königreich Preußen allein sechs
bestehen, zeigt der 1886 gegründete Rheinische mit dem Sitz in Düren das schnellste
Wachstum und die w^eiteste Verzweigung. Zählt er doch in 340 Bezirken rund 24 000
Mitglieder, die bei einem Mindestbeitrag von einer Mark jährlich 40 000 M. aufbringen.
Unter seiner Verwaltung steht die Blindenwerkstätte und das Altenheim in Düren.
Eine nicht minder erfolgreiche Wirksamkeit hat der gleichaltrige, aber ander-, or-
ganisierte Brandenburgische „Verein zur Beförderung der wirtschaftlichen
Selbständigkeit der Blinden" entfaltet, obwohl die Zahl seiner eingetragenen Mit-
glieder nur 500 beträgt. Seine Bestrebungen finden aber bei der Bevölkerung von Berlin
und Umgegend soviel Verständnis und Teilnahme, daß eine für seine Zwecke jährlich
gesammelte Hauskollekte jedesmal einen Bruttoertrag von 18 — 20 000 M. bringt und daß
mehrere Kreis- und Gemeindebehörden regelmäßige Jahresbeiträge von 100 M. zahlen.
Der Verein hat seinen Sitz in Berlin, seinen Grundbesitz und den Mittelpunkt seiner
Tätigkeit in Steglitz und zwar in engster Verbindung mit der Königlichen
Blindenanstalt, in deren unmittelbarer Nachbarschaft sich seine Schöpfungen erheben
— ein Mädchenheim und ein Männerheim, letzteres mit Seilerhaus und großer verdeckter
Spinnbahn. — Der Bau eines Feierabendhauses in Rehbrücke bei Potsdam ist gesichert
dank der Hochherzigkeit einer Vorstandsdame, die kürzlich das Kapital zum Grunderwerb
geschenkt hat.
42. Die Blindenheime. Wir finden im Deutschen Reiche jetzt
schon 15 Mädchenheime nnd 7 Männerheime, die zweifellos ebenso-
viele Segensstätten für strebsame schaffensfrohe Menschen sind. Denn
in den Heimen weht die Luft der Freiheit und des Friedens, herrscht
Bienenfleiß und Sonnenschein. Nicht von Almosen fristen die Haus-
genossen das Leben, sondern sie nähren sich vom Ertrag ihrer Ar-
beit, die ihnen durch die Anstalt oder den Verein zugewiesen \\ird,
bezahlen Wohnungsmiete und Kost und legen in guter Zeit auch
noch einen Spargroschen zurück.
Die Lohnsätze und die Zahlungsbedingungen sind in den
Heimstätten in verschiedenster Weise geregelt. In Steglitz z. B. hat
jeder Heimarbeiter an Wohnungsmiete jähriich 50 — 72 M., für die volle
Beköstigung täglich 75 Pf., für das Mittagessen allein 30 Pf. zu entrichten.
W^er nicht hinaus kann oder will in das feindliche Leben, oder
wer sich draußen nicht zu behaupten vermag, der kommt ins Heim,
der bleibt im Heim. Niemand wird gezwungen einzutreten, und
niemand wird genötigt auszutreten, solange er in Zucht und Ehren
sein Brot schafft und genießt. Dem berechtigten Verlangen nach
Seb ständigkeit wird möglichst nachgegeben. Wo es geht, teilen
höchstens zwei ihr Zimmer. Viele haben auch ihr Stübchen ganz für
Das lüinclenunterrichlswesen im Deutschen Reich. 437
sich, das die Mädchen oder Frauen selbst reinigen und in Orchiung
halten, und das sie schmücken und beleben mit Blumen und Sing-
vögeln. Nur die Arbeits- und Speiseräume sind gemeinsam. Doch
auch bezüglich der Beköstigung ist es den Heimarbeiterinnen an einigen
Stellen gestattet, die Nebenmahlzeiten sich selber zu besorgen und
nur das Mittagessen bei der Hausmutter einzunehmen.
Langt die Arbeitskraft und der Arbeitsverdienst nicht zur Be-
streitung aller Ausgaben, dann wird von selten der gesetzlichen Ver-
treter oder des Fürsorgevereins das Fehlende gedeckt. So verkümmert
und verkommt auch der Schwache nicht, auch er spürt den Segen
der Arbeit an Leib und Seele.
Welche Bedeutung die Heimfürsorge und die Beschäftigung in
den offenen BHndenwerkstätten gerade hinsichtlich der Arbeits-
leistung hat, geht auch daraus hervor, daß z. B. im letzten Jahr in
den deutschen Fürsorgestätten im ganzen an Arbeitslohn die Summe
von rund 130 000 M. gezahlt ist, die sich auf etwa 500 Arbeiter und
Arbeiterinnen verteilt. Nicht alle haben ununterbrochen gearbeitet,
sonst wäre der Betrag noch viel höher.
43. Die selbständigen Schützlinge. Die Mädchen bleiben
mit seltenen Ausnahmen am liebsten im Heim, w'O sie den sichersten
Verdienst und die trauteste Gemeinschaft, Rückhalt und Anhalt haben.
Die Gesellen dagegen machen sich, wenn ihnen die Schwingen ge-
wachsen und das Sparguthaben gestiegen ist, gern selbständig und
lassen sich auf dem von der Fürsorge vorbereiteten und geschützten
Boden zu eigener Geschäftsführung nieder. Gewiß haben sie auch
unter dieser Voraussetzung oft noch mit großen Sorgen zu ringen und
mancherlei Hindernisse zu überwinden, unter denen das Vorurteil der
Sehenden von der Leistungsunfähigkeit der Blinden nicht das geringste ist.
Bewundern muß man den Mut und die Vorsicht, mit der
einzelne bei ihrer Niederlassung vorgehen. So bat ein völlig blinder
Heimarbeiter, der über ein Sparguthaben von etwa 500 M. verfügte,
um die Erlaubnis, wegen Übernahme eines ihm brieflich angebotenen
Geschäfts ohne Begleitung nach dem betreffenden Ort zu reisen, und
unternahm auch wirklich allein die achtstündige Eisenbahnfahrt, ver-
handelte mit dem Geschäftsinhaber und zog bei dessen Lieferanten
und Abnehmern persönlich Erkundigungen ein, um danach seinen
Entschluß zu fassen.
Glücklich der arbeitstüchtige Blinde, der eine brave, hingebungs-
fähige sehende Lebensgefährtin findet, die ihm ein eigenes Heim
schafft und seine Tätigkeit ergänzt! Über die Verheiratung blinder
438 Taubstummen- und Blindenunterricht.
Mädchen und über die Ehe zwischen zwei Blinden denkt man im
wesentHchen überall so wie in Sachsen. Man hält solchen Schritt,
wenn den Beteiligten nicht bedeutende Privatmittel zu Gebote stehen,
für ein großes Unglück, das die Fürsorger mit allen erlaubten Mitteln
zu verhindern suchen. Denn ein blindes Mädchen vermag den
Pflichten der Hausfrau und Mutter schwerlich gerecht zu werden,
und daher kann solche Ehe auch kein volles Lebensglück begründen,
wohl aber viel Not und Elend heraufbeschwören.
44. Schwierigkeiten und Erfolge. Die Hauptschwierig-
keit für den selbständigen blinden Handwerker bleibt immer
die Konkurrenz der Fabrikarbeit, welche die Preise drückt, und das
Borgsystem, das ihn manchmal lange auf den Eingang der Zahlung
für verkaufte Waren warten läßt. Manche können nur bestehen,
wenn sie sich mit ihren Erzeugnissen auf die Wanderschaft begeben
und hausieren, was sie in bekannter Gegend auch ohne Führer tun.
Andere kommen am besten durch, indem sie mit Fabrikwaren handeln
und selbst nur Reparaturen ausführen. Wieder andere erzielen guten
Verdienst durch Betreiben des Klavierstimmens neben einem Hand-
werk, einige auch durch das Klavierstimmen allein. Ein in einer
Fabrik beschäftigter Klavierstimmer, ein genügsamer, fleißiger Mensch
von 27 Jahren, übergab seinem Anstaltsdirektor schon nach einem
Jahr 150 M. für die Sparkasse. Ein als Musiklehrer und Klavier-
stimmer unermüdlich tätiger und ungewöhnlich tüchtiger 24 jähriger
Blinder hat in vier Jahren fast 2000 M. zurückgelegt.
Diese Beispiele, die leicht vermehrt werden könnten, lassen er-
kennen, welche Früchte die Blindenbiidung in Deutschland für Beruf
und Leben der Blinden trägt, und wie das Licht scheint in der
Finsternis.
45. Invaliditäts- und Altersversorgung. Eine unwillkürliche
Anerkennung der Erwerbstätigkeit unserer Blinden liegt in der be-
hördlichen Entscheidung, daß die reichsgesetzliche Invaliditäts- und
Altersversicherung auch auf blinde Heimarbeiter auszudehnen ist
und daß selbständige blinde Handwerker berechtigt sind, sich selbst
durch Zahlung der vollen Beiträge eine Invaliden- und Altersrente
zu sichern.
So entgehen sie alle bei Beschreitung dieses Weges, der mehr
und mehr betreten wird, der kärglichen und demütigenden Armen-
unterstützung und werden durch den Gedanken an den Eintritt ihrer
Erwerbsunfähigkeit nicht niedergedrückt. Dies und die Errichtung
von Feierabendhäusern, die übrigens eine Konsequenz der Heim-
Das Blindeiuuiteirichtswesen im Deutschen Reich. 439
gründungen sind, bewahit die gesammelten wie die zerstreuten Schütz-
linge auch in ihrem Alter vor dem Bettelstab und den Armenhäusern
und läßt über ihnen das Verheißungswort leuchten: „Um den Abend
wird es licht sein!"
46. Konfessionelles. Selbstverständlich wird dafür gesorgt,
daß auch das Licht der ewigen Wahrheit und göttlichen Trostes auf
ihren Lebensweg fällt und in ihr Herz scheint; aber eine kon-
fessionelle Scheidung findet nur während der Au.sbildungszeit und
nur in der schon erwähnten beschränkten Weise statt.
Wo die Zöglinge verschiedenen Konfessionen angehören, waltet
doch der Geist einträchtigen Verkehrs und Wirkens. In den Heimen
und Feierabendhäusern sind Protestanten und Katholiken in der
Regel beieinander, ohne daß bis jetzt erhebliche Unzuträglichkeiten
dadurch entstanden wären.
47. Statistisches. W^erfen wir nun zum Schluß noch einen Blick
auf die Verbreitung und die Ursachen der Blindheit in Preußen
und Deutschland und auf die Verhältnisse der Blinden im allgemeinen,
um Soll und Haben der Blindenbildung und Blindenfürsorge mit
einander zu vergleichen und die Losung für die Zukunft zu erkennen!
Zeune, der Vater des deutschen Blindenwesens, ist auch der
Begründer der Blindenstatistik. Wie er den Anstoß dazu
gegeben, sagt er in folgenden Worten: „Im Jahre 1830 bat ich
das statistische Bureau in Berlin, bei den dreijährigen Volks-
zählungen auf die Blinden Rücksicht zu nehmen." Dies geschah und
führte für das Königreich Preußen zu folgendem Ergebnis. Das Ver-
hältnis der Blinden zu den Sehenden war 1831 gleich 1 : 1415, 1834
gleich 1 : 1410, 1837 gleich 1 : 1370, also eine fortgesetzte Zunahme
der Blinden, darunter ein Anwachsen der Früh-Erblindeten bis zum
15. Lebensjahre: 1831 gleich 1/11, 1837 gleich 1/10.
Die letzten 4 in Preußen durchgeführten Blindenzählungen ent-
rollen ein völlig anderes Bild; denn sie machen einen fortgesetzten
Rückgang der Blindheit ersichtlich.
Es waren nämlich in Preußen Blinde vorhanden:
mäniihch
weiblich
zusammen unter
je 100 000 Einwc
1871 . .
..11 066
11912
22 978
93
1880 . .
..11 343
1 1 334
22 677
83
1895 . .
..11 238
10 204
21 442
67
1900 . .
. . 11 168
10 403
21571*)
62
*) Davon 215 zugleich taubstumm.
440
Taubstummen- und lilindenunterricht.
Demnach betrug das Verhältnis der Blinden zu den Sehenden
im Jahre 1900 in Preußen bei einer Gesamtbevölkerung von 34 473 000
nahezu 1 : 1600. Blinde in dem besonders bildungsfähigen Alter von
5 — 20 Jahren hatte Preußen zu derselben Zeit im ganzen 2 232, und
zwar 1 274 männliche und 958 weibliche.
Die Ergebnisse der Blindenzählung vom 1. Dezember 1900 für
die übrigen Bundesstaaten und für das ganze Deutsche Reich
stehen gegenwärtig noch nicht zur Verfügung. Doch läßt sich schon
so viel sagen, daß die Zahl der Blinden in den außerpreußischen
Gebieten annähernd 12 800, die Gesamtzahl für das Deutsche Reich
also rd. 34 400 beträgt bei einer Gesamtbevölkerung von 56 367 000.
Mithin besteht annähernd das Verhältnis von 1 : 1640. Die Zahlen
der Blinden von 5—20 Jahren ist im Reich auf 3440 zu schätzen.
Erblindung^ursachen bei 2528 Fällen doppelseitiger Blindheit
nach Untersuchungen von Professor Magnus (1883)
%
0,0
1. Angeborene Zustände
2. Augenkrankheiten infolge von Körperkrankheiten
darunter:
a) Typhus, Masern, Scharlach
b) Pocken . . .
4,3
2,21
0,47
9,2
0,03
4,—
4,5
1,9
0,27
11,—
9,5
8,-
8,8
8,9
7,7
3,2
4,7
3,77
17,37
10,73
67,-
c) Syphilis
d) Gehirn- oder Rückenmarkerkrankungen
e) Skrophulose . . . .
3 \er letzungen
und zwar:
a) direkte Verletzung beider Augen
b) Verletzung nur eines Auges mit sympathischer Ent-
zündung des andern
c) verunglückte Operationen
d) Kopfverletzungen bei Selbstmordversuchen ....
darunter:
a) Augeneitening der Neugeborenen (Blennorrhoe). .
b) ägyptische Augenentzündung oder Körnerkrankheit
(Trachom) und Eiterfluß der Erwachsenen ....
d) Regenbogenhaut- und Strahlcnkörjierentzündungen .
f) Sehnervenschwund
g) Aderhaut- und Netzhautveränderungen verschiedener
\rt
h) Netzhautablö:,ung
i) Aderhautentzündung infolge von Kurzsichtigkeit . .
Das Blindenunterrichtswesen im Deutschen Reich. 441
Über die naheliegende Frage nach der Art und Verbreitung
der Erblindungsursachen in Deutschland hat Professor Magnus
in Breslau die umfassendsten Forschungen angestellt, deren Ergebnisse
in seinem 1883 erschienenen Werke über die Blindheit veröffentlicht
sind. Die betreffenden Angaben gründen sich auf die Untersuchung
von 2528 Fällen doppelseitiger Blindheit in den verschiedensten
Gegenden Deutschlands und bieten vorstehendes Bild.
Ähnliche Untersuchungen hat in der neuesten Zeit Professor
H. Colin in Breslau angestellt, dessen Tabellen sehr beachtenswerte
Aufschlüsse über \^erhütung und Rückgang der Blindheit gewähren.
48. Schluß. Alles in allem genommen, ergibt sich aus diesen
Übersichten für unsere Betrachtung besonders ein Doppeltes: Viele
Zöglinge der deutschen Blindenanstalten hätten vor dem Verlust
des Augenlichts geschützt werden können, und viele Volksgenossen,
denen die Gabe des Gesichts versagt oder entzogen ist und die im
bildungsfähigen Alter von 5 — 20 Jahren und darüber stehen —
wenigstens wohl 1000 — entbehren zur Zeit noch einer geeigneten
Ausbildung.
Aber die Schutzherren und Vorkämpfer der deutschen Blinden-
büdung und alle, die berufen und gewürdigt sind, an diesem heiligen
Werke der Erlösung und Befreiung aus Nacht und Not mitzuarbeiten,
haben das stärkende Bewußtsein, auf einem Wege zu wandeln, der
sie dem klar erkannten Ziele von Jahr zu Jahr näher bringt.
J. Matt hi es.
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. ^9
muck von H. S. He
Wohlfahrtseinriehtungen
im Anschluß
an die Volksschule
im Deutschen Reich
P. von Gizycki
BERLIN
Verlag von A. Asher & Co.
1904
Inhalt.
Seite
P> i n 1 e i t u n g 1
1. Ergänzungen und »Weiterungen des Unterrichts der Volksschule 5
A. Für geistig oder leiblich anormale Kinder 5
a) Die Hilfsschulen (Ililfs- oder Nebenklassen) für schwachbeföhigte
(schwachsinnige) Kinder . 5
b) Die Sprach heilkurse 13
c) Kurse für hochgradig schwerhörige Kinder 17
dj Klassenunterricht für hochgradig schwach- und kurzsichtige Kinder 18
e) Privatunterricht für Krüppel und chronisch kranke Kinder. ... 18
f) Schulen oder Klassen für sittlich gefährdete oder verwahrloste
Kinder 18
B. Besondere Unterrichtseinrichtungen für normale Volksschulkinder .... 20
a) Der Haushaltungsunterricht für Mädchen 20
b) Der Handarbeitsunterricht für Knaben 29
c) Der Handarbeitsunterricht für Mädchen 36
dj Zeichenkurse für Volksschüler 36
e) Schülerkapellen 37
f) Unterricht im Englischen und Französischen 38
2. Wohlfahrt sein rieh tungen für bedürftige oder leidende Kinder . . 39
A. Kinderhorte 39
B. Ferienkolonien, Kinderheilstätten u. dergl 44
C. Speisung und anderweitige Unterstützung armer Schulkinder 51
3. Hygienische Wohlfahvtseinrich tu ngen 58
A. Die Schulärzte 58
Die Schulzahnklinik in Straßburg 71
B. Schulbäder und Schwimmunterricht 73
C. Jugendspiele 84
III. A.
II Inhalt.
Seite
4. Andere Wohlfahrtseinrichtungen 90
A. Schülerfahrlen 90
B. Schulgärten, Blumenpflege durch Scliulkinder 98
C. Die Pflege der Kunst in der Schule 104
a) Schulfeiern und Elternabende 108
b) Musikalische Aufführungen durch Schulkinder 112
c) Pflege der bildenden Kunst 114
d) Theatervorstellungen für Scliüler und Jugendkonzerte 118
5. Schulsparkassen 122
Einleitung.
Die Lebensbedingungen der Bevölkerung unserer größeren
Städte haben eine Reihe von Verhältnissen geschaffen, welche auf
die leibliche und geistige Entwicklung der heranwachsenden Jugend
nachteilig einwirken müssen. Die engen, unfreundlichen Familien-
wohnungen des arbeitenden Volkes, der Mangel an frischer Luft und
geeigneter Gelegenheit zum Spiel im Freien, dürftige Ernährung und
Kleidung, Unsauberkeit und ungenügender Schutz gegen die Unbilden
der Witterung besonders im Winter, in vielen Fällen auch un-
zureichende Beaufsichtigung oder gewerbliche Ausbeutung der Kinder
in der schulfreien Zeit, die Versuchungen der Straße, das schlechte
Beispiel der Eltern und schlechte Gesellschaft haben in volkreichen
Städten von jeher eine große Anzahl von Kindern der leiblichen und
sittlichen Verwahrlosung preisgegeben. Die Volksschule als solche
ist nicht in der Lage, allen diesen schädlichen Einflüssen mit Erfolg
entgegenzuarbeiten; sie bedarf, um ihr segensreiches Werk zu
vollenden, der Unterstützung durch das Elternhaus und des Beistandes
opferwilliger Menschenfreunde, welche bereit sind, sich der leiblich
und sittlich gefährdeten Kinder anzunehmen. Solche edeldenkenden
Männer und Frauen haben sich in allen deutschen Städten in großer
Zahl gefunden, und fast überall sind durch sie Veranstaltungen ge-
troffen worden, um die erziehliche Aufgabe der Volksschule zu unter-
stützen und zu ergänzen. Wenn diese Wohltäter es als ihre Aufgabe
erkannten, Übelständen entgegenzutreten, welche sich aus den groß-
städtischen Lebensbedingungen für die Kinder des Volkes ergeben,
so rief der in der Großstadt mit besonderer Deutlichkeit zutage
tretende wirtschaftliche Wettbewerb und die Notwendigkeit, die
heranwachsende Generation selbst in ihren schwächsten Gliedern im
Kampfe um ihre Existenz möglichst früh und möglichst vollkommen
den Bedürfnissen der Zeit anzupassen, sie erwerbsfähig, sie körperlich
und geistig konkurrenzfähig zu machen, andere Einrichtungen ins
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. 111. .\nhang. 1
2 Wohlfahitseiniichtungeii.
Leben, welche bestimmt waren, den Lehrplan der \'olk.s.schule in
irgend einer Weise zu erweitern und auszugestalten.
Diese aus privater Initiative entspringenden, teilweise auch vom
Staate oder von den Gemeinden unterstützten Bestrebungen haben in
den letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts im Schulleben der
größeren deutschen Städte eine solche Bedeutung gewonnen, daß sie
jetzt praktisch unentbehrlich geworden sind, ja daß wir uns die Arbeit
großstädtischer Volksschulen ganz ohne ihren Beistand kaum vorstellen
können.
Wie der harte Kampf um die Existenz in den großen Arbeits-
und Verkehrszentren diese Wohlfahrtseinrichtungen zu einer un-
entbehrlichen Lebensbedingung für die heranwachsende Generation
gemacht hat, so hat dieses Zusammendrängen des pulsierenden Lebens
der Großstadt andererseits auch die Möglichkeit für die Durchführung
dieser segensreichen Maßregeln geschaffen. Der Reichtum gewährt
den Wohlfahrtsbestrebungen einzelner Menschenfreunde die erforder-
lichen Geldmittel, die Dichtigkeit der Bevölkerung und die guten
Verkehrsverhältnisse machen es möglich, viele Bedürftige an einer Stelle
zu vereinigen, mit den vorhandenen Mitteln möglichst \ielen zu helfen
und möglichst wirksame Maßnahmen zu treffen.
Einer kurzen Darstellung dieser die Arbeit der Volksschule er-
gänzenden Wohlfahrtseinrichtungen soll die folgende Schrift ge-
widmet sein.
Es lassen sich unter den \'eranstaltungen zum Wohle der Volks-
schulkinder gewisse Gruppen unterscheiden, und es soll sich die Be-
handlung des Gegenstandes an dieselben anschließen. Sie wird bei
dem Umfange und der individuellen Eigenart der humanitären Be-
strebungen in den einzelnen Teilen und Orten Deutschlands auf Voll-
ständigkeit keinen Anspruch erheben dürfen.
Eine besondere Beachtung verdienen die verschiedenen Er-
gänzungen oder Erweiterungen des Schulunterrichts. Als
Unterrichtseinrichtungen sind sie meistens von den Gemeinden selbst
geschaffen worden, oder sie werden wenigstens durch Staat und
Gemeinden mit Geldmitteln, unentgeltlicher Gewährung von Räum-
lichkeiten oder dergleichen unterstützt. Hierher gehören in erster
Linie alle jene Schülerklassen oder Kurse für geistig oder körperlich
einer besonderen Fürsorge bedürftige Volksschulkinder. Wir rechnen
hierzu, wenn wir von dem bereits geschilderten Sonderklassensystem
in Mannheim und ähnlichen Einrichtungen, die sonst in Deutschland
vorkommen, wie die Teilung stark besetzter unterster (achter) Ge-
Kink-ituns. 3
meindeschulklasscn in Berlin in «gewissen Unterrichtsfächern, absehen,
die Hilfsschulen, Hilfs- oder Nebenklassen für Schwachbegabte
(schwachsinnige) Schulkinder, die sich an die Volksschulen anlehnenden
Kurse oder Klassen für Stotterer, für Schwerhörige, Kurzsichtige,
Krüppel und die Schulen für sittlich gefährdete Schüler. Die
Internate, in denen diese und ähnliche Kinder Aufnahme und Fürsorge
finden, die Anstalten für Taubstumme, Blinde, Idioten, Krüppel und
Epileptiker, die Erziehungshäuser für sittlich verwahrloste Kinder und
ähnliche Einrichtungen liegen außerhalb des Rahmens dieser Schrift
und können daher hier nicht berücksichtigt werden.
Während diese Veranstaltungen dazu bestimmt sind, mit Hilfe
besonderer Einrichtungen und Methoden solche Kinder erwerbsfähig
zu machen, welche infolge ihrer körperlichen, intellektuellen oder
sittlichen Beschaffenheit hinter der durchschnittlichen Leistungsfähig-
keit der Volksschulkinder zurückbleiben, wenden sich andere vorzugs-
\\eise an die normalen und leistungsfähigen Schüler und Schülerinnen.
Sie bieten ihnen außer den gewöhnlichen Unterrichtsgegenständen
der Volksschule noch Sonderfächer oder in den Stoffen des Lektions-
plans freiwillige Sonderkurse dar, um ihnen ihren Kräften und Fähig-
keiten entsprechend eine höhere Leistungsfähigkeit im wirtschaftlichen
Leben zu gewährleisten. Diesem Zwecke dienen die Sonderkurse
des Handfertigkeitsunterrichts für Knaben, der weiblichen Handarbeiten
und des Haushaltungs- und Kochunterrichts für Mädchen, der Sonder-
unterricht im Zeichnen, in Musik, Gesang, in Sprachen u. dgl.
Diesen eigenartigen Gebieten des Unterrichts gliedern sich als
zweite Hauptgruppe die Einrichtungen an, welche die Körper-
pflege und Verbesserung des Gesundheitszustandes der
Schulkinder bezwecken. Auf die Forderungen der Hygiene bei
Anlage moderner Schulhäuser, ihre Reinigung und Ausstattung mit
zweckentsprechenden Bänken und Schulutensilien ist bereits an einer
früheren Stelle hingewiesen worden; hier werden, wenn auch nur nach
den Hauptgesichtspunkten, alle Maßnahmen Erwähnung finden müssen,
\\elche vorzugsweise den bedürftigen, schlecht genährten, mangelhaft
gekleideten und ungenügend gesäuberten Kindern zugute kommen
sollen, wie die Frühstücksverteilung, die Mittagsspeisung, die Ge-
währung von Schuhwerk und Kleidung und unentgeltlichen Bädern
an arme Kinder, die Kinderhorte, Ferienkolonien und andere ähnliche
Veranstaltungen.
Diesen Einrichtungen stehen drittens andere hygienische
MalMiahmen gegenüber, welche allen Kindern der Volks-
4 AVohlfahrtseinrichtungen.
schule dienen, wie die Überwachung ihres Gesundheitszustandes
durch Schulärzte, Wanderungen, Schülerausflüge, Jugendspiele,
Schwimmunterricht, Eislauf u. dgl.
Unter eine vierte Hauptgruppe könnte man diejenigen Ver-
anstaltungen zusammenfassen, welche eine Vertiefung der wissen-
schaftlich-ethischen oder ästhetischen Allgemeinbildung
der Schulkinder zum Zwecke haben.
Das sind zunächst jene Einrichtungen, welche den Sinn und
das Verständnis für die Natur pflegen sollen, die Schulgärten, Terra-
rien und Aquarien, die Pflege von Blumen in Beeten und Töpfen,
die Besuche der botanischen und zoologischen Gärten, der Stern-
warten, naturwissenschaftlichen und historischen Museen und Samm-
lungen. Der Erweiterung der Allgemeinbildung dienen die bereits
erwähnten Jugendabteilungen in den öffentlichen oder privaten V'olks-
bibliotheken, die Besichtigung von Werkstätten, Fabriken, öff"ent-
lichen Gebäuden und Denkmälern und hygienischen, technischen und
Wohlfahrtsanlagen aller Art. Der Kultur des Geschmacks dient die
Betrachtung von Kunstwerken in der Schule oder in öffentlichen
Galerien, der Besuch von Konzerten und Theatervorstellungen, die
Übungen im künstlerischen Zeichnen und in Kunsthandarbeiten. Die
ethisch-ästhetische Erziehung wird auch nicht unwesentlich durch die
Schulfeiern, die patriotischen Feste, die Schülerkapellen und gelegent-
liche öffentliche Gesangs- und Musikaufführungen durch die Kinder
selbst gefördert.
Eine verhältnismäßig bescheidene Rolle spielen neben den
übrigen der Volksschule angegliederten Wohlfahrtseinrichtungen im
deutschen Schulleben die auf Erweckung des Spar- und Erwerbs-
sinnes gerichteten Veranstaltungen, die Schulsparkassen, die Kon-
firmandensparkassen, die Schülerkassen in gewissen Kinderhorten und
Hilfsschulen, welche die für die Handfertigkeitserzeugnisse erzielten
Erlöse für die Kinder ansammeln. Sie mögen hier als fünfte Gruppe
der Wohlfahrtseinrichtungen genannt werden.
Wir werden im folgenden mehrfach Gelegenheit haben, tunlichst
nach den neuesten Berichten Angaben über die Beteiligung der Ver-
eine und Gemeinden an den betreffenden Wohlfahrtseinrichtungen
und die dafür aufgewendeten Mittel zu machen. Sollten diese Zahlen
und Beträge dem Ausländer im einzelnen gering erscheinen, so wird
er nicht vergessen dürfen, daß diese kleinen Beträge mit einer
großen Zahl von Ortschaften und Gemeinden, darunter vielen, die
hier nicht genannt werden können, multipliziert werden müssen.
Ergänzunireii und Erweiterungen des Unterriclits der X'olksscliule. 5
Viele Wenig machen aber ein Viel, und so beläuft sich denn auch
die Gesamtsumme aller der auf diese Weise dem Wohle der heran-
wachsenden deutschen Jugend freiwillig dargebrachten Opfer auf viele
Millionen. Es ist aber noch eins dabei im Auge zu behalten, nämlich
daß diese Millionen nicht die wertvollste Gabe sind, die deutsche
Männer und Frauen den Kindern der Volksschule darbringen; diese
wertvollste Gabe ist die Fülle von Liebe und Barmherzigkeit, von
unermüdlicher Arbeit und freiwilliger Fürsorge, welche von Männern
und Frauen und in erster Linie von den deutschen Lehrern und
Lehrerinnen den Kindern gewidmet wird, ein Schatz, der hienieden
für Gold oder Silber nicht zu erkaufen ist.
1. Ergänzungen und Erweiterungen des Unterrichts der
Volksschule.
A. Für geistig oder leiblich anormale Kinder.
a) Die Hilfsschulen (Hilfs- oder Nebenklassen) für
schwachbefähigte (schwachsinnige) Kinder. Solange die all-
gemeine Schulpflicht besteht, hat es stets, sowohl in den höheren
Schulen wie ganz besonders in den Volksschulen, Kinder gegeben,
die sogleich in den untersten Klassen trotz aller auf sie verwendeten
Mühe und Sorgfalt, trotz aller Nachhilfestunden, trotz des augen-
scheinlich vorhandenen guten Willens der Kinder selbst nicht imstande
waren, mit dem Durchschnitt ihrer Klassengenossen gleichen Schritt
zu halten. Die höheren Schulen waren in der Lage, diesen Ballast
v^on Minderbefähigten alsbald auszuscheiden. Die Ausgeschiedenen
gingen entweder in private Erziehungsanstalten über oder fielen der
Volksschule zu. Aber diese hatte unter ganz denselben Beschwerden
zu leiden. Auch in ihren untersten Abteilungen fand sich stets ein
Bodensatz von solchen Kindern vor, die augenscheinlich nicht die
Kraft besaßen, sich auch nur das bescheidene Maß der für die Unter-
stufe der Volksschule erforderlichen Kenntnisse anzueignen. Bei der
im allgemeinen starken Besetzung der untersten Volksschulklassen
war es dem Lehrer hier noch viel weniger als in der höheren Schule
möglich, sich mit der Individualität dieser Kinder eingehender zu be-
schäftigen. Die Schwachsinnigen bildeten einen Ballast, den auch
die geschickteste Pädagogik vorwärts zu bringen nicht imstande war,
und nicht selten brachten diese unglücklichen Kinder, außer acht ge-
lassen von ihrem Lehrer, gehänselt von ihren kleineren, aber geistig
regeren Mitschülern, in trägem Stumpfsinn ihre gesamte Schulzeit in
() Wohlfahrt>einrichtungen.
der untersten Elementarklasse zu, ohne auch nur die Anfangsgründe
des Lesens, Schreibens und Rechnens begriffen zu haben. Wenn sie
dann trotz voller Erfüllung ihrer Schulpflicht als lUiteraten ins Leben
hinaustraten, hatten sie durch den langen Müßiggang und die De-
mütigungen der Schule gewöhnlich auch das geringe Maß von
geistiger Regsamkeit und Spannkraft des Willens verloren, das sie,
ihren Anlagen gemäß, hätten entwickeln können. Sie blieben das,
was sie in der Schule gewesen waren, jetzt auch im öffentlichen
Leben: ein nutzloser Ballast für die menschliche Gesellschaft. Sie
waren größtenteils völlig erwerbsunfähig und vermehrten, wofern sie
von ihrer Eamilie nicht dauernd unterhalten A\erden konnten, die Zahl
der Ortsarmen, der .Vlmosenempfänger.
In vielen Fällen gestaltete sich allerdings ihr Schicksal noch \iel
trauriger. Es ist durch die Untersuchungen der modernen Psychiatrie
zweifellos erwiesen, daß ein außerordentlich hoher Prozentsatz der
Verbrecher und Prostituierten aus geistig Minderwertigen besteht.
Aus dieser Sachlage erwuchs den deutschen Pädagogen die
Aufgabe, den Versuch zu machen, diese unglücklichen Kinder der
bürgerlichen Gesellschaft zu erhalten und Schuleinrichtungen und
Methoden des Unterrichts zu schaffen, welche geeignet wären, diese
vernachlässigten Geschöpfe zu erwerbsfähigen und brauchbaren und
in gewissem Sinne sogar zu nützlichen und selbständigen Mitgliedern
der menschlichen Gesellschaft zu machen. Dieses ist das Ziel, welches
in unseren Hilfsschulen mit Bewußtsein verfolgt und in einer großen
Zahl von Fällen auch wirklich erreicht wird.
Unter den Städten Deutschlands gebührt Dresden der Ruhm,
zuerst Schuleinrichtungen für diese Klasse der Schwachen getroffen
zu haben. Am 16, September 1867 wurde in Dresden- Altstadt die
erste Nachhilfsklasse mit 16 schwachsinnigen Kindern eröffnet. Diese
Klasse war der Keim, aus welchem sich ein ganz neues Gebiet der
Pädagogik entwickeln sollte. Dem Vorgange Dresdens mit der Ein-
richtung von Hilfsklassen oder Hilfsschulen für schwachsinnige Kinder
folgten: Gera 1874, Apolda 1877, Elber^eld 1879, Brauaschweig 1880,
Leipzig 1881, Halberstadt 1883, Königsberg i. Pr. 1885, Cöln a. Rh.
1886, Frankfurt a. M. und Düsseldorf 1888, Altona 1889, Erfurt 1890,
Hannover, Breslau und Magdeburg 1892, Görlitz, Nordhausen und
Charlottenburg 1893 usw. Die erste Statistik über den Umfang
dieses neuen Unterrichtszweiges in Deutschland wurde verhältnismäßig
spät durch den um den Unterricht für schwachsinnige Kinder hoch-
verdienten Lehrer Kielhorn in Braunschweig im Jahre 1894 aufge-
Krgänzunt^en und F".i\veiterungen des Unterrichts der Volksschule. 7
nommen. Nach dieser bestanden damals in Deutschland 30 Hilfs-
schulen mit 110 Klassen, in denen von 115 Lehrkräften 2290 Kinder
(1280 Knaben und 1010 Mädchen) unterrichtet wurden. Diese Zahlen
haben sich inzwischen sehr erhöht. Folgende 130 deutsche Orts-
gemeinden hatten zu Beginn des Jahres 1903 Hilfsschulen oder
Klassen für schwachbefähigte (schwachsinnige) Kinder eingerichtet:
Aachen, Altona, Altenburg, Apolda, Augsburg, Barmen, Berlin,
Bernburg, Beuthen, Bielefeld, Bonn, Borna, Bochum, Braunschweig,
Brandenburg a. d. H., Bremen, Bremerhaven, Breslau, Bromberg,
Cassel, Charlottenburg, Chemnitz, Colmar i. Eis., Cöln, Cöpenick,
Cottbus, Crefeld, Darmstadt, Dessau, Dortmund, Dresden, Düsseldorf,
Duisburg, Eberswalde, Eisenach, Eisleben, Elberfeld, Emden, Erfurt,
Essen a. d. R., Freiberg i. S., Friedenau b. Berlin, Flensburg, Frank-
furt a. M., Frankenthal, Fürth i. B., Gelsenkirchen, Gersdorf, Gera,
Gießen, Glauchau, Gotha, Göttingen, Görlitz, Grünberg i. Schi.,
Grimma, Hagen i. W., Halle a. S., Halberstadt, Hamburg, Hameln,
Hannover, Hanau, Herford, Hildesheim, Hirschberg i. Schi., Jena,
Karlsruhe, Kaiserslautern, Kamenz i. S., Kiel, Kirchberg i. S., Königs-
berg i. Pr., Königshütte i. Schi., Köslin, Leipzig, Linden b. Hannover,
Ludwigshafen a. Rh., Lübeck, Lüdenscheid, Lüneburg, Magdeburg,
Mainz, Mannheim, Meiningen, Meißen, Mühlhausen i. Th., Mül-
hausen i. Eis., Mülheim a. d. Ruhr, München, Netzschkau i. Vgtl.,
Neumünster, Nordhausen, Nürnberg, OffenbacH a. M., Oschatz i. S.,
Osnabrück, Peine, Pforzheim, Pirmasens, Plauen i. V., Poeßneck i. Th.,
Posen, Potsdam, Rathenow, Reichenbach i. Vgtl, Rummelsburg b.
Berlin, Saalfeld a. S., Schwelm i. W., Schöneberg b. Berlin, Stettin,
Steglitz b. Berlin, Stolp i. Pom., Straßburg i. E., Stuttgart, Tharand
Bez. Dresden, Tilsit, Trier, Ulm, Wandsbeck b. Hamburg, Weimar,
Werdau i. S., Wilmersdorf b. Berlin, Witten, Worms a. Rh., Zehlen-
dorf b. Berlin, Zeitz Bez. Merseburg, Zittau i. S., Zwickau i. S.
Die Zahl der Klassen betrug zu dieser Zeit 583 mit 11918
Kindern (6620 Knaben und 5298 Mädchen).
Wie schon diese Ziffern ergeben, sind die Hilfsklassen im all-
gemeinen schwach besetzt, durchschnittlich mit nicht mehr als 20
Kindern; der Unterricht unterscheidet sich durch Auswahl der leich-
teren und unentbehrlichen Stoffe und Gegenstände, durch langsames,
planmäßiges Fortschreiten, individuelle Behandlung des einzelnen
Kindes, reiche Verwendung von Anschauungsmitteln, Anleitung der
Kinder zu praktischer Betätigung in allen Unterrichtsfächern und Auf-
nahme neuer Unterrichtsgebiete in den Lehrplan von dem in den
8 Wohlfalntseinrichtungen.
Volksschulen üblichen Lehrverfahren. Diese besonderen Unterrichts-
gebiete sind hauptsächlich die verschiedenen Arten der Handfertig-
keit, die Fröbelschen Beschäftigungen, die Papp- und Holzarbeiten
und in einigen Hilfsschulen Gartenarbeit, Formen in Ton oder Plasti-
lina, Matten- und Rohrstuhlflechten u. dergl. mehr.
Die Hilfsschulen Deutschlands sind, wie sich aus der Sache selbst
ergibt, gewöhnlich verhältnismäßig kleine Anstalten. Selten sind mehr
als 200 Kinder in einem Schulhause vereinigt. In ausgedehnten
Stadtgebieten ist es unter Umständen recht schwierig, wenn nicht
unmöglich, sämtliche der Hilfsschule bedürftigen Kinder an einer
Stelle zu konzentrieren, und es entsteht dann häufig die Notwendig-
keit, in abgelegenen Stadtteilen oder in den Vororten einzelne Hilfs-
klassen oder Rumpfschulen einzurichten. Als Hilfsschulen im eigent-
lichen Sinne können aber nur solche Anstalten angesehen werden, die
mindestens zwei aufsteigende Klassen aufweisen.
Wie in der Zahl der Klassen sind die deutschen Hilfsschulen
auch hinsichtlich ihrer Organisation nach der Zahl der einander überge-
ordneten Stufen verschieden. Wir haben besonders in kleinen Städten
und dort, wo die Hilfsschulen erst seit kurzem eingerichtet sind, zwei-
stufige Organismen. Eine große Anzahl von Städten ist, wie Breslau
und Elberfeld, aus Prinzip bei dem dreistufigen System stehen ge-
blieben. Andere haben vier, fünf und sechs Stufen eingeführt. Die
sechsstufige Hilfsschule ist auf der Voraussetzung einer achtjährigen
Schulpflicht \-om vollendeten sechsten bis zum vierzehnten Jahre und
eines zweijährigen versuchsweisen Aufenthalts des Kindes in der
Volksschule begründet. Sie ermöglicht auch dem schwachsinnigen
Kinde ein jährliches Aufrücken in eine höhere Klasse. Wo die Hilfs-
schule aus einer größeren Klassenzahl besteht, sind natürlich Parallel-
zöten eingerichtet. Die organisierte Hilfsschule steht meistens unter
der Leitung eines Fachmannes, der den Rektortitel führt, wenn die
Schule reicher gegliedert ist.
Die Lehrpersonen, die an diesen Hilfsschulen unterrichten, be-
dürfen für ihr schweres Amt nicht nur besonderer persönlicher Eigen-
schaften, wie Geduld, Nachsicht und Liebe zu Kindern, sondern auch
einer fachmännischen Vorbildung. In erster Linie kommt es natür-
lich auf eine in sich gefestigte, ernste und liebevolle Persönlich-
keit an.
In den meisten Städten erhalten die Lehrkräfte an den Hilfs-
schulen, und das sind in einigen Fällen auch Damen, außer ihrem
etatsmäßicren Gehalt Funktionszulagen \'on 100 bis 400 M. Den
Ergänzungen und Krweiterungen des Unterrichts der \'olksschule. 9
Leitern der Hilfsschulen werden unter Umständen auch höhere
Gratifikationen gewährt.
Der Lehrplan der Hilfsschule ist bisher durch allgemeine Ver-
ordnungen in keinem deutschen Staate festgestellt, derselbe weist aber
in den besser organisierten Anstalten dieser Art väel Übereinstimmendes
auf Als ein Beispiel möge hier eine Übersicht über die Verteilung
der Wochenstunden in der Hilfsschule zu Frankfurt a. M., einer gut
einsferichteten und geleiteten Anstalt, ihren Platz finden.
Lehrgegenstände
VI.
IV.
III.
Religion: evangelisch
„ katholisch .
Deutsch
Anschauungsunterricht
Rechnen
Geschichte ....
Geographie ....
Naturbeschreibung
Schönschreiben . . .
Zeichnen
6/2
6/2
6/2
6/2
6/2
6,2
6
6
5
1
5
1
1
1
1
1
2 t
2
1
1
Handarbeit u. Formenlehre 4 Knaben
4 Mädchen
4 Knaben
4 Mädchen
4 Knaben
4 Mädchen
2 Knaben
2 Mädchen
24
24
26
26
26
Dem Ausländer, der sich über den Unterrichtsbetrieb dieser
Schulen näher zu informieren wünscht, würde der Besuch einiger
deutscher Hilfsschulen, unter denen wir besonders die in Leipzig und
Frankfurt a. M. hervorheben möchten, zu empfehlen sein. Der neue
Lehrplan der Leipziger Anstalt ist ein Muster einer sorgfältigen, auf
reiche Erfahrung gegründeten pädagogischen Arbeit.
Über den Grad der in besseren deutschen Hilfsschulen etwa zu
erreichenden Unterrichts- und Erziehungserfolge gibt folgende, einem
amtlichen Berichte über die Nachhilfeschule in Dresden-Altstadt vom
Jahre 1901 entnommene, den Tatsachen durchaus entsprechende Dar-
stellung Auskunft *) :
*) Die Nachhilfeschule zu Dresden-Altstadt nach ihrer Entstehung und ihrem Aus-
bau und dem jetzt geltenden Lehrplan von P. Taetzner und E. Jul. Pruggraayer. Dresden
(1901) S. 51 u. 52.
i 0 Wohlfahrtseinrichtungen.
,,Der bis zur I . Klasse gekommene Schüler besitzt quantitativ
nicht die Hälfte des für normale Kinder vorgeschriebenen Wissens-
stoffes; es ist ihm aber alles das übermittelt worden, was er zum
Fortkommen im Leben unbedingt braucht. Er kann sich mündlich
und schriftlich ausdrücken, und seine schriftlichen Ergüsse vermag
jeder, obwohl in diesen Elaborationen vielfach eine Orthographie
herrscht, die der amtlich eingeführten in vielen Punkten nicht ent-
spricht, zu verstehen. Im Rechnen kann er Aufgaben im Zahlen-
kreise von 1 — 1 000, sofern die Verhältnisse nicht verwickelter und zu-
sammengesetzter Art sind, lösen ; namentlich ist er geschickt gemacht
worden, Aufgaben, den Forderungen des täglichen Lebens Rechnung
tragend, auszurechnen. Er ist auch gewöhnt worden, die schriftliche
Ausrechnung in sauberer, übersichtlicher Form zu bieten. Rech-
nungen und Quittungen, Brief- und Paketadressen usw. schreibt er so,
wie der Gebrauch oder die gesetzHchen Bestimmungen dies er-
heischen. Seine Heimat kennt er; namentlich ist er mit den Ver-
kehrsverhältnissen gut vertraut; über die Gewinnung heimatlicher
Produkte und über deren Nutzen im Haushalte der Natur und im
Menschenleben kann er urteilen. Er ist auch kein Ignorant in der
Geschichte seines Volkes. Die Verdienste solcher Männer, die in be-
sonderer Weise dem Vaterlande oder der gesamten Menschheit
Nutzen gebracht haben, weiß er zu würdigen. Zu seinem Gott ist er
durch das Schulgebet, in dem je nach Lage der Verhältnisse auch
der Beziehungen des einzelnen Schülers gedacht wird, und durch zahl-
lose lichtvolle Hinweise auf Gottes Treue geführt worden; er weiß,
warum er den Namen Christ führt, und weiche Hoffnung der Christ
im gläubigen Herzen trägt. Kann er auch nicht viel Sprüche und
Liederverse auswendig: die Gebote, das Glaubensbekenntnis, das
Vaterunser, verschiedene Lebenssprüche und einige Kernlieder, atmend
den Geist des Vertrauens zu Gott und zu dessen väterlichem Walten,
sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Als Wahlspruch seines
Lebens ist ihm das Wort Tob. 4, 7 gegeben worden. Immer und
immer wieder ist Ermahnung zum Gehorsam gegen Gott, den König
und die staatlichen Ordnungen ergangen, und zum Gehorchen ist er
gewöhnt worden.
Erwägt man ferner, wie sehr die schwachsinnigen Schüler in
praktischen Arbeiten geübt worden sind, und hat man Gelegenheit
gehabt, zu beobachten, wie bei öffentlichen Ausstellungen der ge-
fertigten Arbeiten Worte der Anerkennung gezollt wurden, erinnert
man sich auch des Dankes, den die Eltern der gesamten Tätigkeit
Ergänzungen und Erweiterungen des l'nterrichts der N'olksschule. | 1
der Schule spenden*), so kann wohl die Schule der frohen Hoffnung
leben, daß ihr Tun an den Schwachsinnigen nicht ein verlorenes ist,
sondern daß sie durch ihr Mühen ihren Pflegebefohlenen und damit
der menschlichen Gesellschaft und dem Staate nützt."
Die Aufnahme der Kinder in die Hilfsschule erfolgt in Deutsch-
land im allgemeinen erst nach zweijährigem vergeblichen Besuch
der Volksschule; der Überweisung geht eine sorgsame Prüfung durch
sachkundige Pädagogen sowie meist eine Untersuchung durch den
Schularzt vorher. Die Dauer des Besuches der Hilfsschule umfaßt
gewöhnlich 6 Jahre, doch ist die Schulpflicht dieser geistig minder-
wertigen Kinder in den meisten deutschen Staaten gesetzlich noch
nicht geregelt. Die Schaffung einer solchen gesetzlichen Grundlage
und besonders eine Ausdehnung der Schulpflicht für diese Kinder
bis zum vollendeten 16. Jahre würde einen wichtigen Fortschritt auf
diesem Sondergebiet der Jugenderziehung bedeuten.
Es ist an verschiedenen Orten, besonders in den ersten Jahr-
zehnten des Bestehens der Hilfsschulen, ehe man noch den besonderen
körperlichen und psychischen Zustand der schwachsinnigen Kinder
ganz verstehen gelernt hatte, nicht selten der Versuch gemacht
worden, Schüler und Schülerinnen der Hilfsschulen nach kürzerem
oder längerem erfolgreichen Besuche der Sonderanstalten dem nor-
malen Unterricht in der Volksschule wieder zuzuweisen. Die Wirkung
dieser ^Maßregel war in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ein
schneller Rückgang der Leistungen der Kinder in dem für sie un-
geeigneten Element.
Vielfach verbietet auch schon die Rücksicht auf das Lebensalter
und die notwendige Vorbereitung der schwachen Kinder für das Er-
werbsleben eine Überweisung derselben in die unteren Volksschul-
klassen, welche bei ihrem Bestände von 8 und 9jährigen Kindern
ganz andere Bildungs- und Erziehungsziele verfolgen müssen. Das
preußische Unterrichtsministerium, welches in dem letzten Jahrzehnt
den Hilfsschulen ganz besonderes Wohlwollen und Interesse zuge-
wendet hat, äußert sich in einem Ministerialerlaß vom 6. April 1901
zu dieser Frage folgendermaßen:
„Inbetreff der Rückversetzung einzelner Kinder aus der Hilfs-
klasse in die Volksschule wird offenbar nicht überall dasselbe Ver-
*) Öffendiche Prüfungen hat die Schule nicht; aber es wird den Eltern gestattet,
alljährlich einmal an einem von der Schule bestimmten Tage (letzte Schulwoche vor Ostern )
dem Unterrichte beizuwohnen. Die Eltern machen von dieser Erlaubnis regen Gebrauch.
■j 2 \Vohlfahitseiniichtungen.
fahren beobachtet. An einzahlen Orten werden anscheinend auch
ältere Kinder in untere Volksschulklassen versetzt. Dies ist zu ver-
meiden. Denn nicht nur verursacht der Altersunterschied zwischen
den zurückversetzten Kindern und den jüngeren Klassengenossen
Schwierigkeiten, denen gerade die Hilfsklassen mit vorbeugen sollen,
sondern es erhalten auch die zurückversetzten und dann alsbald au<
einer unteren Klasse in das Leben zu entlassenden Kinder eine
Schulbildung, durch welche sie für ihre Erwerbsfähigkeit nicht genug
gewinnen."
Freilich wird gerade bei der Erziehung dieser bedauernswerten
Kinder die Schule in höherem Maße als bei ihren anderen ZögUngen
des Beistandes privater Fürsorge und werktätiger Nächstenliebe be-
dürfen. Diese Kinder entstammen zum großen Teile den ärmsten und
elendesten Schichten der Bevölkerung, sie sind nicht nur geistig
schwach, sondern auch körperlich gebrechlich und tragen auch in
ihrer moralischen Anlage vielfach den Stempel der Schwäche und
Widerstandsunfähigkeit gegen die Anfechtungen und Versuchungen
des Lebens an sich. Sie bedürfen schon während der Schulzeit ganz
besonderer Pflege durch Gewährung guter Kost und Kleidung, sie
verdienen mehr als andere Kinder Berücksichtigung bei der Auf-
nahme in Ferienkolonien und Kinderhorte; die größte Schwierigkeit
aber tritt an sie heran, wenn sie die Schule verlassen haben und als
Beschäftigungsuchende auf den Arbeitsmarkt treten.
Li der Erkenntnis dieser ernsten Notlage der geistig schwachen
Kinder haben sich denn auch in verschiedenen deutschen Städten,
wie in Königsberg i. Pr.^ in Leipzig und Berlin, Vereine gebildet, welche
ihre Hauptaufgabe darin sehen, die leibliche Pflege und sittliche Er-
ziehung der Kinder der Hilfsschulen im schulpflichtigen und nach-
schulpflichtigen Alter zu überwachen und besonders die Entlassenen
durch Unterbringung in geeigneten Lehr- und Arbeitsstellen, durch
Rat und Unterstützung vor Verwahrlosung und Untergang zu
bewahren.
Daß eine dauernde Verwendung dieser Schulentlassenen in den
Geschäftsbetrieben der Großstadt, welche die stärkste Anspannung
aller leiblichen und geistigen Kräfte erfordern, meist außerordentlich
schwierig ist, kann nicht Wunder nehmen. Ihrer Verwendung in der
Landwirtschaft würden an sich geringere Bedenken entgegenstehen,
wenn es möglich wäre, sie auf den räumlich beschränkten Schul-
grundstücken der Großstadt in geeigneter Weise mit Gartenarbeit und
dgl. für landwirtschaftliche Tätigkeit vorzubereiten.
Krgänzunijfn uiul Erweiterungen des Unterrichts der \'olksschule. | 3
Die Vertreter der deutschen Hilfsschulen haben sich zu einem
Verbände der Hilfsschulen Deutschlands vereinigt. Sie halten alle
zwei Jahre einen Verbandstag ab und geben über die erfolgten Ver-
handlungen sowie über den jeweiligen Stand des Hilfsschulwesens
statistische Übersichten heraus. Der Verband setzt sich als Aufgabe
„Verbreitung der Hilfsschulen, weiteren Ausbau der Hilfsschul-
pädagogik und der in ihren Bereich fallenden Wissenschaften, sowie
soziale Fürsorge für die der Hilfsschule überwiesenen Kinder während
und nach der Schulzeit." (§ 1 der auf dem Verbandstage in Mainz
im April 1903 angenommenen neuen Fassung der Satzungen.) Der
Vorsitzende des Verbandes ist der Stadtschulrat Dr. Wehrhahn in
Hannover.
Auch die ,, Konferenzen für Idiotenpflege und Schulen für
schwachbefähigte Kinder" bieten den Hilfsschullehrern und Lehrerinnen
reiche Anregung und Belehrung. Der Vorsitzende des Vorstandes
ist der Erziehungsinspektor Piper an der Idiotenanstalt in Dalidorf
bei Berlin.
b) Die Sprachheilkurse für Kinder der Volksschule sind seit
den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland in einer
großen Anzahl von Städten eingerichtet worden. In Preußen hat
sich der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-An-
gelegenheiten von Goßler besonders für diese segensreiche Einrichtung
interessiert. Eine Verfügung der Regierung in Breslau vom 2. Januar
1890 charakterisiert den Standpunkt, welchen das Ministerium diesem
Unterrichtszweige gegenüber einnahm:
,,Mit dankenswerter Fürsorge hat die Schuldeputation der Stadt
Breslau schon im Jahre 1886 die Aufmerksamkeit diesem Übel zuge-
wendet und seit 1887 bereits Kurse für stotternde Kinder eingerichtet,
welche seitdem von Lehrern der städtischen Volksschulen, welche
sich für die günstige Lösung der auf diesem Gebiete liegenden
schwierigen Aufgaben die erforderliche Tüchtigkeit angeeignet haben,
geleitet werden. Im laufenden Jahre 1889 wurden gleichzeitig 5 Kurse
je mit der Höchstzahl von 15 Kindern auf die Dauer von einem
halben Jahre mit wöchentlich 4 (2 x 2) Stunden abgehalten. Hiervon
aber abgesehen, ist an keinem anderen Orte des Bezirkes irgend
welche Einrichtung zur Beseitigung dieses Übels getroffen worden.
Fls ist aber hinlänglich bekannt, daß das Stottern nicht nur ein
lästiges und den daran Leidenden bedrückendes Übel ist, sondern
auch die bürgerliche Brauchbarkeit desselben empfindlich schädigt,
und es erscheint darum als eine nicht zu umgehende Pflicht, daß
i 4 Wohlfahrtseinrichtungen.
auch andere Orte, denen die IMöglichkeit hierzu geboten ist, also be-
sonders größere Städte, Maßnahmen in dieser Richtung treffen. Das
erste Erfordernis ist eine geeignete Lehrkraft für die einzurichtenden
Unterrichtskurse für Stotterer. In dieser Beziehung empfiehlt es sich,
einen oder nach Bedürfnis mehrere der am Orte vorhandenen V^olks-
schuUehrer nach Berlin zu senden zur Teilnahme an einem der
Kurse, die dort von dem Taubstummenlehrer Gutzmann*) veran-
staltet werden, damit sie sich mit dem Heilverfahren des p. Gutzmann
bei Behandlung stotternder Kinder bekannt machen. In den Fällen,
in welchen ungünstige Verhältnisse eine solche Ausbildung in Berlin
nicht zulassen, dürfte wenigstens die ^Möglichkeit noch gegeben und
darum nicht ungenutzt zu lassen sein, daß die betr. Lehrer mit der
in Breslau befolgten und im wesenthchen mit dem Gutzmannschen
Wrfahren übereinstimmenden Behandlung der Stotterer sich bekannt
machen und dadurch die zur Abhaltung von Unterrichtskursen not-
wendigsten Kenntnisse sich aneignen.
Wir empfehlen diese Angelegenheit aufs neue dringend Ihrer
eifrigen Sorge und veranlassen Sie hierdurch, an denjenigen Orten,
wo günstige Verhältnisse einen Erfolg versprechen, Anregung zur
Einrichtung von Unterrichtskursen, welche von \'orher zu diesem
Zwecke ausgebildeten Lehrern zu leiten sind, zu geben."
Die Zahl der mit Stottern, Stammeln, Lispeln und anderen
Sprachgebrechen behafteten Schulkinder dürfte im ganzen Deutschen
Reiche 80 000 erheblich überschreiten, dabei sind diese Fehler unter
den Knaben weit stärker \-erbreitet als unter den Mädchen.
Eine v^oUständige Übersicht über sämtliche den Volksschulen
angegliederte Sprachheilkurse zu geben, ist der Verfasser nicht in der
Lage, doch möge hier eine Anzahl von Städten genannt werden,
welche diese Wohlfahrtseinrichtung eingeführt haben: Augsburg,
Barmen, Berlin, Braunschweig, Bremen, Breslau, Cassel, Charlotten-
burg, Cöln, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt a. M.,
Halle, Hamburg, Hannover, Karlsruhe, Kiel, Leipzig, Lübeck, Magde-
burg, Mainz, Mannheim, Nürnberg, Posen, Potsdam, Spandau.
Über die Einrichtung und Leitung der Sprachheilkurse geben
die von den Behörden der beteiligten Städte herausgegebenen
Instruktionen und Verwaltungsberichte Auskunft. An dieser Stelle
möge als eii'i Fieispiel ein dem V^erfasser zui
*) Z. Z. Direktor der städtischen Taubstummenschult
Ergänzungen und Krweiteinngen des L'ntenichts der NOlkssehule. |5
anUlichcr Bericht über die in Kiel eins^erichteten Kurse für Stotterer
vom 20. April 1901 seinen Platz finden:
„Die hiesigen städtischen Unterrichtskurse für stotternde und
stammelnde Schulkinder wurden auf Veranlassung des Herrn Stadt-
schulrat Kuhlgatz am I. Mai 1U90 eröffnet. Anfänglich wurden
2 Kurse im Jahre abgehalten, so dal.^ bei täglich einstündigem Unter-
richt 100 — HO Stunden auf den Kursus entfielen. Diese halbjährigen
Kurse erwiesen sich mit der Zeit als unzureichend, da neben den
Atmungs-, Stimmbildungs- und Artikulationsübungen die erziehliche
Einwirkung auf die Stotterer als Hauptfaktor nicht genügend berück-
sichtigt werden konnte. Seit 5 Jahren beträgt die Kursusdauer ein
volles Jahr, indem im Sommerhalbjahr 4 Wochenstunden, im Winter-
halbjahr 2 Stunden für Befestigung und Wiederholung, also im
ganzen 110 — 120 Unterrichtsstunden, gehalten werden. Der Unter-
richt liegt außerhalb der Schulzeit, nachmittags 5—6, Mittwochs und
Sonnabends 2 — ii. Der Besuch ist ziemlich regelmäßig, da nur
solche Schüler in erster Linie aufgenommen werden, deren Eltern für
regelmäßigen Kursusbesuch sich schriftlich verpflichteten.
Die Frequenz betrug 1 890 1 0, stieg aber nach wenigen Jahren aut 20
und erreichte- 1895 infolge des Besuchs der Nichtgeheilten und Rück-
fälligen die Zahl 25. Während dieser Zeit war der Besuch am
ungünstigsten, wohl mit aus dem Grunde, weil der notwendige Einzel-
unterricht zurücktreten mußte. Jetzt beträgt die Frequenz 15, und
es steht zu erwarten, daß sie allmählich auf den normalen Stand von
10 herabsinkt. Die Aufnahme neuer Schüler geschieht in der Weise,
daß der Kursusleiter ein Verzeichnis der in den Schulen befindlichen
Stotterer und Stammler von den Rektoren erbittet.
Von den erscheinenden Kindern werden zunächst diejenigen
berücksichtigt, welche regelmäßig kommen können und wollen. Die
Untersuchung des sprachlichen Zustandes des Kindes und seiner
Ursachen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Heillehrers. Von der
Genauigkeit und Zuverlässigkeit hängt der Erfolg wesentlich ab.
Wenn die Kinder ohne Begleitung ihrer Eltern erscheinen, so ist es
notwendig, daß der Lehrer durch taktvolle Hausbesuche die Unter-
suchung vervollständigt und zugleich den Eltern Anweisung zur
Behandlung des Schülers und zur Beaufsichtigung seines Sprechens
erteilt.
Ist die sogenannte Individualliste ausgefüllt, wozu sich im Laufe
des Unterrichts immer noch Gelegenheit zu Berichtigungen und Er-
weiterungen bietet, so kann der eigentliche Unterricht, etwa in der
1 5 Wohlfahrtseinrichtuiigen.
2. oder 'A. Stunde, beginnen. Jede Stunde sollte aus Atmungs-
übungen (10 Minuten), Stimmbildungsübungen (15 Minuten). Arti-
kulationsübungen (15 Minuten) und Lese- und Sprechübungen
(20 Minuten) bestehen. Bei den xA.tmungsübungen sind die durch
Vermittlung der Eltern oder des Hausarztes als herzschwach be-
zeichneten Kinder mit aller Vorsicht zu behandeln. Die Stimm-
bildungsübungen dürfen nichts Gekünsteltes haben. Solange der
Lehrer nicht imstande ist, die natürliche Stimmlage und Phonation
des einzelnen Schülers festzustellen, sollte er solche Übungen nicht
vornehmen.
Wichtig ist es, daß sich der Lehrer mit der Schule und dem
Elternhause in Verbindung setzt, da die schon nach kurzer Zeit im
Kursus anstoßfrei sprechenden Schüler in der Schule und zu Hause
die erwarteten Fortschritte vermissen lassen. Darum ist es erforder-
lich, Lehrer und Eltern über die Behandlung des stotternden Kindes
aufzuklären. Von Zeit zu Zeit wird den Lehrern über den Kursus-
besuch ihrer Schüler Mitteilung gemacht; die Eltern erhalten viermal
im Jahre ein Zeugnis über die Fortschritte ihres Kindes im Kursus.
Um eine weitere Verminderung des Stotterns in der Schule
herbeizuführen, sind seit 3 Jahren sogenannte ,, Vorkurse" neben
den 'A Hauptkursen in Tätigkeit. Die bei der im September statt-
findenden Anmeldung neuer Schüler*) für die unterste Schulklasse
ermittelten Sprachgebrechlichen werden im Winterhalbjahr in
2 > 2 Wochenstunden unterrichtet; nach jeder halbstündigen Lektion
tritt eine Pause von 15 Minuten ein, in der die Kinder Anleitung in
Spielen mit begleitendem Sprechen erhalten. Der Unterricht schließt
alles aus, was in das Pensum der Elementarklasse gehört. Die
Tätigkeit des Lehrers beschränkt sich auf die Ausbildung des
Sprechens und der Sinne.
Im Sommerhalbjahr kommen die Kinder 2 x 1 Stunde in der
Woche zur Befestigung des Gelernten. Außer den für die Haupt-
kurse geltenden Unterrichtsmitteln werden Fröbelsche Gaben (bunte
Bälle), Bohnys Bilderbuch und Meinholds Bilder für den Anschauungs-
unterricht benutzt. Der Kursusbesuch ist der denkbar regelmäßigste,
die Erfolge sind so günstig, daß mindestens 90 % als geheilt ange-
sehen werden können. Die Nichtgeheilten treten in den Haupt-
kursus ein.
*) Es handelt sich um Kinder im vorschulpflichtigen Alter, welche zum nächsten
April (Beginn des Schuljahres) der untersten Volksschulklasse überwiesen werden sollen.
— Anm. des Verf.
Ergänzungen und Erweiterungen <Ics rnterrichts der X'olksschule. \ 7
Gegenwärtig bestehen hier 5 Vorkurse, in welchen 5x15 =
75 Kinder unterrichtet werden. Die Kieler Vorkurse haben ander-
wärts Nachahmung gefunden. Die im März d. J. veranstaltete Unter-
suchung über den Dauererfolg der im Erwerbsleben stehenden
früheren Schüler der Hauptkurse wies 76% Heilungen und 23%
Besserungen nach. In Verbindung mit den Unterrichtskursen hält
Lehrer Godtfring zweimal im Jahre Lehrkurse über Sprachstörungen
und Sprachhygiene für Lehrer von 1 5 tägiger Dauer ab. In den
bis jetzt stattgehabten 14 Lehrkursen sind 71 Lehrer ausgebildet
worden." Unter den in Kiel ausgebildeten Lehrern befindet sich
auch je ein Lehrer jedes Seminars der Provinz Schleswig-Holstein,
der die Seminaristen besonders darüber zu unterweisen hat, wie sie
dem Stottern in der Entstehung vorbeugen können.
Der Information über dieses Sondergebiet des Unterrichts dient
die Medizinisch-pädagogische Monatsschrift für die gesamte Sprach-
heilkunde, herausgegeben von A. und Dr. H. Gutzmann.
c) Kurse für hochgradig schwerhörige Kinder dürften
gegenwärtig in Deutschland nur in ganz wenigen Gemeinden
vorhanden sein. Verfasser hatte nur Gelegenheit, in Berlin den dort
vor kurzem eingerichteten Unterricht für diese Kinder zu beobachten.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß Schwerhörigkeit, nicht eigentlich
geistige Minderwertigkeit, bei vielen schwächeren Schulkindern der
wahre Grund ihres Zurückbleibens und der Über\\'eisung an Klassen
und Schulen für Schwachsinnige ist. Es ist zu hoffen, daß eine
größere Verbreitung des Unterrichts für Schwerhörige und eine recht-
zeitige Überweisung der Kinder in denselben vielen Schwerhörigen
das Sprachvermögen verschaffen oder erhalten würde. Die Methode,
nach welcher in den beiden BerHner Klassen für Schwerhörige ge-
arbeitet wird, verfolgt den doppelten Zweck, die vorhandenen Geliör-
reste den Kindern zu erhalten und zu beleben und die Mängel ihres
Gehörs durch Ablesen vom Munde des Redenden zu ergänzen. Die
bisherigen Unterrichtserfolge in Berlin berechtigen zur Hoffnung auf
ein günstiges Resultat. Freilich liegen diese vorläufig noch mehr auf
dem Gebiete der erhöhten Hör- und Sprechfähigkeit. Die Über-
mittlung eigentlicher Schulkenntnisse wird wesentlich dadurch erschwert,
daß Kinder von ganz verschiedener geistiger Anlage, von ver-
schiedenen Graden der Schwerhörigkeit und von verschiedenen
Klassenstufen zurzeit zusammen unterrichtet werden müssen. Wenn
auch die Besetzung der Klassen nur gering ist und die Frequenz 10 Kinder
jedenfalls nicht überschreiten soll, daher auch eine sehr individuelle
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. Anhang. 2
] g W(-)hltalirt^einrichtungen.
Behandlung der einzelnen möglich ist, so wird man doch darauf
denken müssen, durch Einrichtung größerer Organismen, eigentlicher
Schulen für Schwerhörige, die Vereinigung von Gruppen gleichartiger
Schüler zu ermöglichen und so die Arbeit des Lehrers zu erleichtern
und seinen Erfolg zu erhöhen.
d) Ein gesonderter Klassen unter rieht im Anschluß an die
Volksschule für hochgradig schwach- und kurzsichtige Kinder
existiert, soweit es dem Verfasser bekannt geworden ist, noch nicht
in Deutschland. Man berücksichtigt diese Schüler meist im Unter-
richt, indem man ihnen, wie den Schwerhörigen, Plätze auf den
vordersten Bänken anweist oder Brillen anfertigen läßt. Einige er-
halten (beispielsweise in Berlin), wie Krüppel und bettlägerig Kranke,
wohl auch Privatunterricht auf Kosten der Gemeinde in ihrer Wohnung,
andere werden den Blindenanstalten überwiesen und dort zu be-
sonderen Klassen vereinigt. Eine ausreichende Fürsorge für die
Bildung dieser Kategorie von bedauernswerten Kindern wird eine
Aufgabe der Zukunft sein.
e) Die Krüppel und solche Kinder, welche infolge irgend eines
chronischen Leidens an dem Klassenunterricht der Volksschule nicht
teilnehmen können, erhalten in einigen Städten, wofern die Eltern
zur Tragung der Kosten außer stände sind, aus Gemeindemitteln
Privatunterricht durch geeignete Volksschullehrer. In Berlin, das für
das Jahr 1904 die Summe von 20 000 M. für diesen Zweck in den
Etat gestellt hat, erhalten diese Kinder wöchentlich 4 Lektionen, die
meist im Elternhause, oft am Krankenbette des Kindes, erteilt werden.
Das Honorar für diesen Unterricht beträgt 1,50 M. pro Stunde. Die
meisten Krüppel w^erden allerdings in geschlossenen Erziehungs-
anstalten untergebracht.
f) Besondere Schulen oder Klassen für sittlich gefährdete
oder verwahrloste Kinder sind in Deutschland, wenn man von
geschlossenen Erziehungshäusern absieht, nicht eingeführt; Hamburg
allein, soweit es dem Verfasser bekannt geworden ist, kennt das
Institut der Strafschule. Der Jahresbericht der Oberschulbehörde
von 1901/02 sagt über den Zweck der Einrichtung folgendes:
„Die Strafschule nimmt, meistens aus den öffentlichen Volks-
schulen, solche Kinder auf, bei denen die gewöhnlichen Schulstrafen
zur Herbeiführung der Besserung nicht ausreichen. Schulentlaufen,
dauernde Unreinlichkeit, nächtliches Umhertreiben, Diebereien, rohes,
unsittliches Betragen bilden den Grund der Verurteilung. Die jedes-
malige Strafzeit beträgt B Tage bis höchstens 8 Wochen. Die Zahl
Ergänzungen und l''r\veiterungen des Unterrichts der N'olk.sschule.
19
der im Laufe eks Berichtsjahres verurteilten Kinder betruij 144
Knaben und 22 Mädchen, im Vorjahre 181 Knaben und 20 Mädchen,
mithin in diesem Jahre o5 Kinder weniger. Sie verteilen sich wie
folfTt auf die Ifi Schulbezirke:
Es kamen aus dem
1.
Schulbezirk
13
Knaben
und
2
Mädchen
2.
20
—
»>
3.
14
1
,,
4.
15
3
,,
5.
20
3
>>
6.
1
—
,,
7.
7
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8.
0.
3
13
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10.
11.
5
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6
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,,
13.
5
—
,,
14.
5
—
,,
15.
1
—
,,
aus
Bergedorf
1
-
Zusammen 144 Knaben und 22 Mädchen.
Von diesen 166 Kindern kamen in die Strafschule zum
1. Male
120
Kinder
2.
27
,,
3. „
10
j^
4. „
7
„
5. „
2
usammen
166 Kinder".
z
Da in den meisten Fällen die Eltern die Schuld an der Ver-
wahrlosung des Kindes tragen, so nehmen die Behörden in den ge-
eigneten Fällen gewöhnlich zu dem wirksameren Mittel ihre Zuflucht,
die gefährdeten Kinder der elterlichen Gewalt zu entziehen und sie in
zuverlässigen Familien oder in geschlossenen Anstalten unterzubringen.
Die Handhabe hierzu bieten die §§ 1666, 1680 und 1838 des Bürger-
lichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich vom 18. August 1896,
sowie in Preußen das Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minder-
jähriger vom 2. Juli 1900. Auf Grund dieses Gesetzes wurden bei-
20 Wohlfahrtseinrichtungen.
Spielsweise in Berlin im Jahre rJOI:5U), I*K)2:;U1 Minderjährige der
Fürsorgeerziehung überwiesen.
B. Besondere Unterrichtseinrichtungen für normale Volks-
schulkinder.
a) Der Haushaltungsunterricht für Mädchen. Dieser
Unterrichtszweig ist in Deutschland verhältnismäßig neu. Seine Ein-
führung wurde zuerst gegen Ende der achtziger Jahre des verflossenen
Jahrhunderts durch die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung
in Anregung gebracht, doch hat der Haushaltungsunterricht seither
in einer großen Anzahl größerer und kleinerer Städte sowie in Dörfern
der Industriegegenden als fakultatives oder obligatorisches Unterrichts-
fach der Volksschule für Mädchen Aufnahme gefunden.
Der wichtigste Gesichtspunkt, welcher dieses Lehrfach \'olks-
freunden und Pädagogen als ein wertvolles Hilfsmittel der Erziehungs-
arbeit der Schule erscheinen läßt, ist von dem Direktor der Kaiserin
Auguste Viktoria -Schule in Schneidemühl, A. Ernst, in einer am
6. Juni 1886 gehaltenen Rede folgendermaßen zum Ausdruck ge-
bracht worden:
,,]\lan muß zugeben, daß ein großer, wohl der größte Prozent-
satz unserer Arbeiter ungenügend genährt und gekleidet ist, daß auf
seine Gesundheit in den Wohnungen nicht die Sorgfalt verwandt
wird, die darauf ohne Erhöhung der Kosten verwandt werden könnte.
Pls unterliegt keinem Zweifel, daß die meisten Arbeiter sich mit
ihrem Verdienst ein viel behaglicheres Dasein verschaffen könnten,
daß die Wohnung besser gereinigt, die Sachen mehr geschont und
rechtzeitig ausgebessert, daß die Speisen nahrhafter und schmack-
hafter zubereitet, daß die Kinder leibUch und geistig besser gepflegt
werden könnten, wenn die Hausfrau es verstände, besser hauszuhalten,
wenn sie eine bessere hauswirtschaftliche Ausbildung in die Ehe ge-
bracht hätte."
In ähnhcher Weise spricht sich die Begründerin der Hamburger
Haushaltungsschulen für Volksschülerinnen Agnes Wolfsohn in einem
Bericht über diese Anstalten vom April 1902 aus, wenn sie sagt:
,,Aus meinem Verkehr mit armen Leuten gewinne ich die Über-
zeugung, daß viele Frauen der unteren Stände ihren hauswirtschaft-
lichen Pflichten nicht gewachsen sind, teils weil ihnen das Verständnis
und der sittliche Ernst, teils weil ihnen die Gelegenheit zur An-
eignung der notwendigen Kenntnisse fehlt. Ich war in vielen Fällen
P-rgänzim,L,'eii und iM-weiteiuns^i-n de-, l 'iiteiriclits der X'olk.sschule. 21
Augenzeuge cku'on, daß dieser Mangel \^erarmung und Zerrüttung
des Familienlebens zur Folge hatte, und gewann die Überzeugung,
daß dem nur abzuhelfen ist durch ernste, systematische Unterweisung,
die schon in den jungen Mädchen Liebe und Achtung für den häus-
lichen Beruf erweckt und ihnen neben praktischer Anleitung auch die-
jenigen positiven Kenntnisse übermittelt, die zur rationellen Führung
eines Haushaltes erforderlich sind. Auch der tüchtigen Hausfrau
fehlen in den weitaus meisten Fällen diese Kenntnisse und damit auch
die Möglichkeit, der Familie die relativ beste Ernährung zu \'er-
schaffen.
Ich war überzeugt, daß es mir nicht gelingen würde, die Kinder
der Armen und Ärmsten, die mir zunächst am Herzen lagen, zu
freiwilligem Unterrichte nach beendeter Schulzeit zu gewinnen, und
so beschloß ich, den von Auguste Förster in Cassel eingeschlagenen
Weg zu betreten und zu versuchen, Volksschülerinnen im letzten
Schuljahre zum Unterricht heranzuziehen."
Eine zuverlässige Übersicht über die gegenwärtig in Deutschland
im Betriebe befindlichen Haushaltungsschulen oder Klassen fehlt noch,
doch mögen hier einige aus der erheblichen Anzahl von Städten
genannt werden, in denen dieser Unterricht Schülerinnen der
Volksschule in einigem Umfange erteilt wird: Altona, Augs-
burg, Barmen, Berlin, Bielefeld, Breslau, Cassel, Charlottenburg,
Chemnitz, Danzig, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Erfurt,
Freiberg i. S., Hamburg, Karlsruhe, Königsberg, Leipzig, Lübeck,
Mainz, Mannheim, Marienburg, München, Nürnberg, Posen, Schöne-
berg bei BerHn, Straßburg i. E., Wiesbaden, Worms, Zwickau.
Der Unterricht steht in loserem oder engerem Zusammenhange
jmit der Volksschule, was sich äußerlich dadurch dokumentiert, daß
er entweder außerhalb der Schulzeit und in Privaträumen oder inner-
halb des lehrplanmäßigen Unterrichts und in besonderen Räumen des
Schullokals selber abgehalten wird, daß die Teilnahme der Schülerinnen
entweder freiwillig oder obligatorisch ist, daß die Kosten im wesent-
lichen von Privatpersonen und Vereinen oder von der Gemeindekasse
getragen werden.
Einige Beispiele mögen das soeben Gesagte veranschaulichen.
In Wiesbaden machte man auf Anregung des dortigen Zweig-
vereins der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung bereits im
Jahre 1889 den Versuch mit der Einrichtung einer Kochschule, in
welcher hauptsächlich schulentlassene Mädchen abends Unterricht er-
halten sollten. Staat und Gemeinde sowie wohlhabende Bürger
22 Wohltalirtseinrichtuni^eii.
leisteten Beiträge, und so war es schon im Jahre 1890 möghch, die
Anstalt zu eröffnen. Die erzielten Erfolge waren bei denjenigen
Schülerinnen, welche mit Ernst und Eifer die Kurse besuchten, sehr
befriedigend, wie dies auch wiederholt von den Angehörigen der
Schülerinnen anerkannt wurde. Trotzdem mußte man aber bald die
später in \^ielen anderen Orten mit derartigen Anstalten bestätigte
traurige Erfahrung machen, daß, als die Sache den Reiz der Neuheit
verlor, der Besuch immer unregelmäßiger und die Zahl der An-
meldungen immer geringer wurde. Der Volksbildungsverein ent-
schloß sich deshalb Anfang 1894. seine Haushaltungsschule eingehen
zu lassen.
Daß durch diesen Mißerfolg kein Beweis gegen die Notwendigkeit
des Haushaltungsunterrichts erbracht war, sah man wohl ein. und so
wurde, als die Auflösung der Haushaltungsschule in x^ussicht stand,
der Antrag an die städtischen Behörden gerichtet, den Haushaltungs-
unterricht versuchsweise als Lehrgegenstand für die oberste Klasse
der Volksschule einzuführen.
Diesem Antrag wurde Folge gegeben. Es wurde in der früheren
Pedellen^\'ohnung im Kellergeschoß einer Mädchen-Volksschule eine
Lehrküche mit () vollständigen Kücheneinrichtungen (Kochherd, zu-
gehöriges Koch- und Eßgeschirr usw.) nebst Wasch- und Spülraum
hergerichtet, sodaß gleichzeitig je 6 Gruppen zu 4 Mädchen von einer
besonders als Haushaltungslehrerin ausgebildeten städtischen Hand-
arbeitslehrerin unterrichtet werden konnten. Von der 50 Köpfe
starken Oberklasse der betreffenden Schule wurden die eine Hälfte
am Mittwoch, die andere am Samstag nachmittag (außerhalb der
Unterrichtszeit der Volksschule) zugelassen. Die Mädchen wurden
über Nährwert, Marktpreis, Einkauf und Aufbewahrung der Lebens-
mittel, über die Auswahl und Zubereitung der Speisen für Gesunde
und Kranke belehrt, in der Führung eines Wirtschaftsbuches, im
Kochen, Waschen, Scheuern und Putzen praktisch unterwiesen.
Nach dem amtlichen Berichte des städtischen Schulinspektors
gelang dieser Versuch über Erwarten gut. Von den 50 Schülerinnen,
welche freiwillig in den Unterricht eintraten, trat keine einzige aus,
und keine versäumte ohne dringendste Not eine Unterrichtsstunde.
Schulmänner und Schulfreunde, Vertreter der Königlichen Regierung
und des Unterrichtsministeriums, welche die Anstalt besichtigten,
sprachen ihre lebhafte Befriedigung über die zweckmäßige Anlage
und Ausstattung der Lehrküche wie über die Leitung des Betriebes
aus. Noch bedeutsamer und förderlicher für die Sache war die bei-
Ergänzungen und Erweiterungen des Unterrichts der Volksschule. 23
fällige Aufnahme, welche die neue Einrichtung allgemein in Kltcrn-
kreisen fand. Viele Mütter erklärten gegenüber der Lehrerin, daß sie
jetzt von ihren Töchtern lernten, und Väter dankten ihr für die gute
Ausbildung ihrer Kinder, die jetzt die erkrankte Mutter vertreten und
die Küche selbständig besorgen könnten.
Angesichts dieses günstigen Erfolges und nachdem sich gezeigt
hatte, daß der Haushaltungsunterricht sich ohne Kürzung der sonstigen
Lehrstunden in den Lehrplan einfügen lasse, ohne diesen irgendwie
zu stören, daß er vielmehr den sonstigen Unterricht nach mehreren
Richtungen wirksamer mache, verstummte der besonders von päda-
gogischer Seite erhobene Widerspruch, und die Gemeinde ent-
schloß sich, für die Schülerinnen der Oberklassen sämtlicher Volks-
schulen Haushaltungsunterricht als freiwilligen Lehrgegenstand ein-
zuführen.
Es wurde eine zweite Lehrküche eingerichtet und eine weitere
Lehrerin angestellt, sodaß jetzt, da an jedem Nachmittag in der
Woche unterrichtet wird, 12 Abteilungen mit bis 25 Schülerinnen
während des ganzen letzten Schuljahres einmal wöchentlich unter-
\\ iesen werden können.
Die finanziellen Opfer, welche die Stadt für die Sache zu bringen
hat, betragen außer den für die Besoldung der beiden Lehrerinnen,
für Kohlen und Beleuchtung aufzuwendenden Beträgen im ganzen jährlich
rund 2400 M.
Auch in Berlin hat sich die Entwicklung ähnlich vollzogen. Die
Anregung zum Haushaltungsunterricht ging wie in Wiesbaden \-on
einem Verein aus (dem Verein für das Wohl der aus der Schule ent-
lassenen Jugend). Zuerst im Jahre 1890 wurde wie dort der Versuch
gemacht, Kochkurse für aus der Schule tretende Mädchen der
Arbeiterklasse einzurichten, ein Versuch, der bald infolge der
mangelnden Beteiligung aufgegeben werden mul^te. Dann folgte die
Einrichtung der Küchen in Schulhäusern, Unterricht für Volks-
schülerinnen und Angliederung desselben an den Lehrplan der Schule.
Nach dem letzten Jahresbericht von 1903 über den hauswirtschaftlichen
Unterricht an den Berliner Gemeinde-Mädchenschulen gibt es hier
19 Kurse mit etwa 550 Schülerinnen der ersten Klassen von 22 Ge-
meinde-Mädchenschulen in 5 Schulküchen mit 14 Lehrkräften und
25 Gehilfinnen. Die Kosten dieses Unterrichts beliefen sich in dem
genannten Verwaltungsjahre auf 5461,12 M. und verteilten sich auf
folgende .A.useaben:
24 Wohlfahitseinrichtungen.
Honorar für die Lehrerinnen . . . . A 200, — M.
,, ,, ,, Aufsicht des Gartens . 50, — ,,
„ „ „ Schuldiener .... 142, — ,,
Schornsteinfegergeld 32, — „
Sämereien und Pflanzen 3,50 „
Reparatur an Rauch- und Wasserleitung 8,25 ,,
Inventarergänzung 176,66 „
Materialien für sämtliche Kurse ... 1 843,16 „
Porti und Fahrgelder 5,55 ,,
zusammen . . 5 461,12 M.
Der Durchschnittspreis für eine Lektion betrug 3,13 M. Die
Ausstattung der 5. Volksküche erforderte 400 M.
Die Stadt Berlin unterstüzt die lediglich von dem Vorsitzenden
des obengenannten Vereins, Schulrat Dr. Zwick, geleiteten Kurse
durch unentgeltliche Gewährung und Einrichtung der erforderlichen
Räume und durch einen dem Verein gewährten jährlichen Zuschuß,
der im Jahre 1901/2 3050 M. betrug.
Die Übernahme der Verwaltung des Unterrichtszweiges durch
die Stadt, eine Stufe der Entwicklung, die man, wie wir gesehen
haben, in Wiesbaden bereits erreicht hat, wird in Berlin angestrebt.
Während aber der Haushaltungsunterricht in diesen beiden
Städten wie an verschiedenen anderen Orten ganz oder teilweise
außerhalb der gewöhnlichen Unterrichtsstunden am Nachmittag er-
teilt wird, fällt derselbe beispielsweise in Breslau in die Zeit des
eigentlichen Unterrichts, im Sommer in die Vormittagsstunden von
7 — -11, im Winter von 8 — 12.
Während dieser Stunden sind die Schülerinnen vom Unterricht
in der Schule dispensiert. Es sollen an den Tagen des hauswirtschaft-
lichen Unterrichts im Stundenplan der Schule möglichst Realien
behandelt werden. Auch in Breslau ist der Unterricht fakultativ. Es
stehen in zusammen 4 Koch- und Haushaltungsschulen 138 Plätze zur
V^erfügung, so daß an den 6 Wochentagen 828 Schülerinnen unter-
richtet werden können und unterrichtet werden. Die Kosten für den
Unterricht für Volksschülerinnen beliefen sich im Etatsjahr 1903/04
auf 18 719 M., wovon die Gehälter der Leiterin und der Lehrerinnen
der 4 Kochschulen zusammen 9980 M., die sachlichen Kosten
8739 M. betrugen. Der Unterricht ist für die Schülerinnen unent-
geltlich, auch für die hergestellten Speisen haben sie nichts zu zahlen.
Die Kosten werden sämtlich von der Gemeinde getragen.
Ergän7Aini(eii und Kiwciterurigen des Unterrichts der N'olksschule. 25
Während in den «genannten Städten der Haushaltungsiniterricht
fakultativ war und sich schon durch die Lage seiner Stunden außer-
halb der Schulzeit oder durch die Verdrängung des eigentlichen
Schulunterrichts an einem Wochentage als ein fremdes Element
kennzeichnet, ist er in gewissen Gemeinden als obhgatorischer Unter-
richtsgegenstand dem Lehrplan der oberen Mädchenklassen der Volks-
schule organisch angegliedert. Die beschränkte Zahl der vorhandenen
Küchen setzt der allgemeinen Einführung in alle Mädchenvolksschulen
hier und da eine gewisse Schranke, in anderen Orten ist aber die
Durchführung des obligatorischen Haushaltungsunterrichts für alle
Schülerinnen der oberen oder obersten Volksschulklassen eine vollendete
Tatsache.
In dieser Lage befindet sich die Stadt Charlottenburg. Nachdem
man zu Ostern 1900 versuchsweise mit der Einführung des Haus-
haltungsunterrichts an 4 Mädchen-Volksschulen vorgegangen war,
hat man seit Ostern 1903 diesen Unterricht für sämtliche Mädchen-
Volksschulen obligatorisch durchgeführt. Es bestehen z. Z. 6 sehr
gut eingerichtete Küchen mit den erforderlichen Nebenräumen. Die
Teilnahme erstreckt sich auf die im letzten Schuljahre stehenden
Mädchen der drei obersten Klassen. Der Unterricht wird von wissen-
schaftlichen Lehrerinnen erteilt, welche teilweise in von der Stadt
eingerichteten Kursen ausgebildet worden sind und die Prüfung für
Haushaltungslehrerinnen bestanden haben.*)
Als eine besondere Gruppe müssen hier auch die VIII. Klassen
für Mädchen, welche in verschiedenen bayerischen Städten wie
München, Nürnberg und Augsburg der Werktagsschule angegliedert
sind,, erwähnt werden. Wie aus dem in einem früheren Kapitel
bereits angeführten Stundenplan der Münchener VIII. Mädchenklassen
hervorgeht, sind dort dem Haushaltungsunterricht 8 Wochenstunden
gewidmet. Eine Übersicht über die theoretisch und praktisch zu be-
handelnden Gebiete gibt die Lehrstoffverteilung im Verwaltungs-
bericht der Stadt München von 1897; eine eingehende (wohl für
Lehrerinnen berechnete) Einführung in alle Einzelgebiete des Haus-
haltungsunterrichts bieten die im Auftrage der Schulbehörde heraus-
gegebenen Schriften,, Unterricht in der Schulküche für die VIII. Mädchen-
klassen" von Lina Patschoky 1897 und , .Kleidung und Wohnung"
von Helene Sumper 1897.
*) Die Prüfung der Lehrerinnen für Hauswirtschaftskunde ist in PreuUen diuch
einen Ministerialerlaß vom 11. Januar 1902 eingehend geregelt worden.
26 W'ohlfalinseinrifhtungeii.
Aus den einleitenden Bemerkungen der ersteren Schrift gewinnt
man zugleich einen Blick auf die Einrichtung und Ausstattung des
Raumes, in welchem die Kinder arbeiten. Diese Einrichtung mit
allen Geräten und Geschirren findet sich in dem bereits erwähnten
Münchner Programm für den Bau von Schulhäusern bis ins einzelne
dargestellt.
Die meisten Schulküchen mit ihren Nebenräumen sind im Erd-
geschoß der Schulhäuser untergebracht, andere in Klassen räumen,
welche man zu diesem Zwecke baulich eingerichtet hat; einige be-
sitzen eigne Gebäude. Als ein Beispiel für die Anlage solcher Koch-
schulhäuser möge hier eine kurze Beschreibung der beiden neuen
Schulküchen auf den Grundstücken der I. und VII. Mädchenbezirks-
schule in Chemnitz folgen:
,,Die beiden fast gleichmäßig eingerichteten Kochschulgebäude
sind eingeschossig und bestehen aus je einem hohen Mittelbau, der
Kochküche, und den zu beiden Ouerseiten derselben befindlichen
tiefer liegenden Anbauten, welche die Speisekammer und die Kleider-
ablage enthalten.
In der Kochküche sind nach der Rückwand gelegen 12 eiserne,
an eine unterirdische Rauchabführung angeschlossene Herde auf-
gestellt, während ebensoviel Tische mit je 4 Sitzschemehi und einem
Eimerschemel die Mitte des Raumes einnehmen. Die zugehörigen
Regale mit dem erforderlichen Kochgeschirr befinden sich in der
Nähe der Herde an den Wänden. Das Pult der Lehrerin ist auf
einem erhöhten Tritt an der Fensterwand angeordnet. Außer vier
großen Fenstern in der Umfassung bewirken vier über den Herden
angelegte Oberlichtfenster eine reichliche Beleuchtung des Raumes,
In der Speisekammer befinden sich verschiedene Schränke und
Regale zur Unterbringung der benötigten Materialien, während in der
Kleiderablage außer den reichlich vorhandenen Kleider- und Schirm-
haken sowia einem Kleiderschrank für die Lehrerinnen Bänke und
Tische für die Frühstückspause aufgestellt sind.
Der Fußbodenbelag besteht in sämtlichen Räumen aus schwarzen
und roten Xylolithtafeln ^Steinholz); die Wände und Decken sind in
einfacher Weise mit Kalkfarbe gestrichen; das Mobiliar ist aus reinem
Kiefernholz mit lindenen Tisch- und Schemelplatten hergestellt und
braun lassiert und lackiert.
Die Dächer sind flach und mit Holzzement eingedeckt. Das
Äußere der Gebäude ist in einfachster Ausführung als Rohziegelbau
hergestellt.
Krgiinzuui^en und P-nvciteruiigeii des l'ntenichts der \'olk.sscluile. 27
Beide Gebäude wurden AnfaiiiT November 1902 in Benutzun<r
genommen.
Die Baukosten und die Kosten für die innere Einrichtung be-
trugen für das Gebäude auf dem Grundstück der I. Bezirksschule
19 094,04 M., für dasjenige auf dem Grundstück der VII. Bezirks-
schule 19 257,72 M.
Die Planung und Ausführung erfolgte unter der Oberleitung des
Stadtbaurates Möbius durch Stadtbaumeister Eckardt."
Wo es der Raum irgend erlaubt, pflegt man den Haushaltungs-
schulen einen Küchengarten anzugliedern, in welchem die Schülerinnen
die Gemüse und Küchenkräuter kennen und selbst anbauen lernen.
Die um die Einrichtung der ersten Berliner Schulküchen hoch-
verdiente Lehrerin Frl. H. Krötke schildert in einem im Jahre 1893
erstatteten Berichte die Benutzung des Küchengartens in Cassel
folgendermaßen :
, .Jeder Tisch von jeder Abteilung hat ein besonderes Beet für
sich, welches die Kinder selbst gegraben, bepflanzt, gejätet und ge-
pflegt haben. Der Garten ist nicht so reichhaltig wie in Chemnitz
und finden sich außer Kartoffeln nur einige Gemüse und Gewürze,
aber die Kinder müssen selbst ernten, was sie gesäet, und war es
ein freundlicher Anblick, die fröhlichen Mädchen zu je vier an ihren
Beeten herumhantieren zu sehen. Mit Körbchen und Messer be-
waffnet, holten sie die Zutaten zur Gemüsesuppe aus ihrem Garten,
schnitten Kohlrabi ab, pflückten Bohnen und grüne Erbsen, zogen
Mohrrüben und Petersilie oder schnitten Sellerie- und Porreeblätter ab."
Da die Kochschulräume gewöhnlich in neuen Schulhäusern an-
gelegt, sehr hübsch ausgestattet und sauber gehalten werden, so
machen sie meist einen recht freundlichen Eindruck, und der Besucher
empfindet beim Anblick der emsig schaffenden Mädchen etwas von
der Freude an der Sache, welche die Kinder selbst zu durchdringen
scheint.
Der Unterricht zerfällt im allgemeinen in einen praktischen und
theoretischen Teil und umfafit: Kochen und die damit zusammen-
hängende Belehrung über den Nährwert, den Einkauf, die Behand-
lung und Aufbewahrung der verschiedenen Nahrungsmittel, Haus-
haltungsrechnung und -Buchführung, Behandlung der Wäsche, wie
Waschen, Rollen u. dgl., die Reinigung der benutzten Räume, der
Fenster, der Anlagen und Geschirre und schriftliche Aufzeichnung des
praktisch und theoretisch Gelernten. Auf die Physiologie der Er-
nährung und die einschlägigen Gebiete der anorganischen und organi-
28 Wolilfahrtseinrichtungen.
sehen Chemie, der Zoologie und Botanik wird in einzehien Haus-
haltungsschulen entsprechend dem Stande der Kenntnisse, den man
bei den Schülerinnen voraussetzen darf, näher eingegangen, im allge-
meinen werden aber die praktischen Erfordernisse des täglichen
Lebens bei allen Belehrungen in den Vordergrund gerückt. Der
Kochunterricht und alle Verrichtungen, welche damit in direktem Zu-
sammenhange stehen, bilden in allen Haushaltungskursen für schul-
pflichtige Mädchen die Hauptaufgabe, neben welcher die übrigen
Arbeiten der Hausfrau in den Hintergrund treten.
Der Verlauf des Unterrichts ist im allgemeinen demjenigen ähn-
lich, welchen uns der folgende Bericht der Leiterin eines Haushaltungs-
kursus in Königsberg i. Pr., Frl. Cederholm, schildert:
,,Beim Beginn eines jeden Unterrichtsmorgens wird die Arbeit
des Tages verteilt, das Rezept des Gerichtes, welches gekocht w^erden
soll, und welches der Jahreszeit angemessen ist, an die Wandtafel ge-
schrieben. Die Einnahme (jeder Tisch erhält 1 M., mit welcher das
Kind, welches das Amt des Geldverwaltens hat, wirtschaften muß)
und Ausgabe werden zusammengestellt. Die Kinder schreiben dies
in ihre Bücher.
Die Einkäufe des Unterrichtsmaterials werden am Morgen des
Tages auf dem Markte von Kindern unter Aufsicht einer Lehrerin
besorgt. Der praktische Unterricht wechselt mit dem theoretischen
ab und zwar so, daß der erstere am meisten berücksichtigt wird.
Wenn schon bei Bereitung der Speisen nicht das feinste Mehl und
das teuerste Fett verwandt werden kann, so muß doch desto mehr
Fleiß und Aufmerksamkeit den Mangel an Zutaten ersetzen. Die
Kinder sollen gerade lernen, daß man das einfachste Gericht, wenn
man bei der Zubereitung gehörig acht gibt und sich keine Mühe ver-
drießen läßt, wohlschmeckend machen kann.
Die zubereiteten Speisen verzehren die Kinder selbst, und es
ist ihnen immer ein wichtiger Augenblick, wenn sie sich an den
Tisch setzen dürfen. Vor und nach dem Essen wird gebetet, und
während des Essens werden sie angehalten, sich guter Manieren zu
befleißigen. Auch werden die Kinder daran gewöhnt, an ihre noch
ärmeren Mitschülerinnen zu denken und ihnen von ihrem Mahle etwas
zukommen zu lassen."")
In manchen Orten werden die Mahlzeiten so reichlich anee-
*) E. Hollack und Fr. Tiomnau, Geschichte des Schulwesens der Kgl. HaujH-
und Residenzstadt Königsberg i. Pr. Königsberg 1899. S. 682 f.
Ergänzungen und Erweiterungen des Unterrichts der Volksschule. 29
richtet, daß regelmäßig eine Anzahl bedürftiger Kinder aus den
Kinderhorten damit versorgt werden kann.
b) Der Handarbeitsunterricht für Knaben. Der gegen-
wärtig der deutschen Volksschule an einigen Orten angegliederte und
in verschiedene geschlossene Anstalten eingeführte Handarbeitsunter-
richt für Knaben reicht in seinen Anfängen bis in die siebziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts zurück. Er verdankt seine Entstehung zum
Teil Anregungen aus Dänemark (^Rittmeister v. Clauson-Kaas) und
Schweden (Besuch der Kommission des Preußischen Kultusministeri-
ums in Gothenburg und Nääs im Jahre 1880. Schwedischer Slöjdj.
Während aber ursprünglich dieser Unterrichtszweig rein wirtschaft-
lich praktische Ziele verfolgte (Anfertigung leicht herzustellender
Gegenstände der Hausindustrie und Vorbereitung der Schüler für ge-
wisse Handwerke), so wird er jetzt lediglich dem Zwecke der Ge-
samterziehung des Individuums dienstbar gemacht. Der Schüler soll
durch den Handarbeitsunterricht nicht zu einem geschickten Gewerbe-
treibenden oder Handwerker, sondern zu einem tüchtigen Menschen
erzogen werden. Die Ausbildung des Auges und der Hand soll
in letzter Hinsicht die ethische und ästhetische Erziehung des jungen
Menschen vollenden helfen.
Wenn sich auch noch in einigen Orten Deutschlands Zentren
des gewerblichen Handarbeitsunterrichts vorfinden, so arbeiten doch
97 Prozent aller Werkstätten nach den Grundsätzen des erzieh-
lichen Knaben-Handarbeitsunterrichts und verfolgen rein pädagogische
Zwecke.
Die Einführung und Verbreitung dieser erziehlichen Knaben-
handarbeit in Deutschland ist die Hauptaufgabe des „Deutschen
Vereins für Knabenhandarbeit". Seine Aufgaben im einzelnen waren:
unausgesetzte V^erbreitung der Ideen im Volke und besonders in den-
jenigen Kreisen, die zu ihrer VerwirkUchung beitragen konnten; die
Bildung von Handfertigkeitsschulen; die Beschaffung der erforderlichen
Mittel; die Ausbildung von Lehrern, sowie die Einführung von Lehr-
gängen und Lehrmethoden für den Unterricht.
Den inneren Ent^^'ickelungsgang und seine Beziehungen zur
Schule kennzeichnet der Deutsche Verein in den „Grundzügen des
erziehlichen Handarbeitsunterrichts für Knaben", wie sie auf dem
X. Kongreß 1890 zu Straßburg zur Annahme gelangten und in ihren
wesentlichen Punkten noch heute Gültigkeit für den Verein haben.
§ 2 der Grundzüge lautet:
„Während in g-eschlossenen Anstalten der Handarbeitsunterricht
30 Wohlfahrtseinrichtungen.
dem Schulunterricht angefügt oder auch in denselben eingefügt
werden sollte, empfiehlt es sich, denselben in den Volksschulen und
in den höheren Lehranstalten, besonders aber in den Lehrerbildungs-
anstalten da, wo die Voraussetzungen dazu gegeben sind, als wahl-
freien Unterrichtsgegenstand und zur Unterstützung der Anschaulich-
keit in anderen Unterrichtszweigen, wie Geometrie, Rechnen, Zeichnen,
Physik, Naturgeschichte und Geographie, allmählich einzuführen.
Der Unterricht soll von unserem Vereine auf dem Wege der
Freiwilligkeit auch weiterhin gepflegt und \on tüchtigen Lehrern in
Lehrgang und Lehrart, die sich den Grundsätzen der Erziehungslehre
anlehnen, ausgebaut werden, bis zahlreiche \'ersuche und längere Er-
fahrungen endgültig entscheiden können, ob dieser Unterricht sich
eigne, als ein pflichtmäßiger oder freiwilliger Unterrichtsgegenstand
in die Schule allgemein aufgenommen zu werden. Wie diese Ver-
bindung in einer späteren Zeit etwa herzustellen sei, erscheint daher
als eine Frage, die zurzeit als spruchreif nicht zu erachten ist." Der
um die Entwickelung des Knabenhandarbeitsunterrichts in Deutsch-
land hochverdiente Landtagsabgeordnete E. v. Schenckendorff-Görlitz
ist der Vorsitzende des Vereins. Der \"erein hat bisher vier Zweig-
vereine in Sachsen, Württemberg, der Provinz Westfalen und in
Bayern begründet; die Gesamtzahl der Mitglieder beträgt mehr als
1600, worunter einige Hundert korporative Mitglieder sich befinden.
Nach den augenblicklich vorliegenden Nachrichten beträgt die Ge-
samtzahl aller Schulen und Anstalten Deutschlands, die gegenwärtig
Handfertigkeitsunterricht betreiben, 947. Hiervon sind 28 abzurechnen,
die den erwähnten hausindustriellen und gewerblichen Zwecken
nachgehen. 919 Schulen und Anstalten haben sich somit der päda-
gogischen Richtung angeschlossen.
Die stattlichste Zahl von Körperschaften, die im Dienste der
Sache stehen, weist wegen seiner Größe Preußen auf, nämlich ()I5
in 485 Ortschaften, während in allen übrigen deutschen Staaten ins-
gesamt 332 Schulen und Anstalten an 198 Orten Arbeitsunterricht
betreiben. In beiden Gruppen stehen die industriereichen Bezirke
an der Spitze, in Preußen Oberschlesien und die Rheinprovinz, im
übrigen Deutschland das Königreich Sachsen. Während von den
vorwiegend agrarischen Landesteilen die Provinz Schleswig-Holstein
mit ihren zahlreichen Arbeitsstätten, die zum größten Teile einfachen
Dorfschulen angegliedert sind, in bemerkenswerter W^eise hervor-
ragt, liegt sonst in den überwiegend Ackerbau treibenden Bezirken
der Arbeitsunterricht teilweise ganz darnieder. Die wenigsten Hand-
Ergänzungen und Erweiterungen des Unterrichts der N'olks.schule.
31
fertiii^kcitsschulen unter den preulMschen Provin/.en finden sich in
Pommern; im übrigen Deutschland nehmen Mecklenburg-Schwerin
mit nur einer Werkstätte, die zudem von einer höheren Lehranstalt
eingerichtet i.st, und weiterhin Mecklenburg-Strelitz, Altenburg,
Waldeck und da.s Großherzogtum Oldenburg, in denen überhaupt
keine Veranstaltungen für den Arbeitsunterricht vorhanden sind, die
letzte Stelle in der Entwicklungsskala des Arbeitsunterrichts ein.
Nachstehende Zusammenstellung zeigt zunächst die Zahl der
Ortschaften in den einzelnen Gebieten Deutschlands und sodann die
Zahl der Schulen und Anstalten mit Arbeitsunterricht:
^ Schulen
Ort-
schatten , ,
Anstalten
^ , Schulen
1 Ort- ;
, - und
schatten , ,
Anstalten
Preußen 485
Schlesien .... 106
Rheinland ... 69
Schleswig - Hol-
stein 79
Sachsen .... 38
Hessen-Nassau . 31
Hannover ... 36
Brandenburg-
Berlin .... 17
Westfalen. ... 28
Posen 30
Ostpreußen ... 20
Westpreußen . . 20
t Pommern. ... 10
Hohenzollern . . 1
Bayern 16
Königreich Sachsen 55
Württemberg ... 18
Baden 17
615
118
96
88
60
48
42
39
32
33
26
22
10
1
36
96
26
26
1 1
1 Hessen 20 23
Sachsen- Weimar . 10 17
Sachsen-Meiningen . 5 6
' Coburg-Gotha. . . 11 16
1 Anhalt 6 9 \
Braunschweig ... 6 7
Schwarzburg-Rudol-
stadt 4 5
Schwarzburg - Son-
dershausen ... 1 1
Reuß ä. L 1 1
Reuß j. L 2 5
Lippe 5 5
Schaumburg-Lippe .3 5 '
Mecklenburg-
Schwerin .... 1 1
' Elsaß-Lothringen . 11 19
Lübeck 4 8
Hamburg .... 2 10
Bremen 2 10
Was die Art der Schulen und Anstalten anbetrifft, die den
Knabenhandarbeitsunterricht betreiben, so gruppieren sie sich nach
drei Richtungen hin. Den reinen Beschäftigungsanstalten, doch mit
systematisch fortschreitendem Lehrgang, gehören 368 selbständige
Handfertigkeitsschulen und 94 Knabenhorte, insgesamt 462 Veran-
staltungen, an. Die Zahl der öffentlichen Lehran.stalten, welche den
Arbeitsunterricht aufgenommen haben, beträgt zusammen 321, und
zwar 201 Volks- und Mittelschulen, 59 Hilfsschulen, 27 höhere Lehr-
anstalten (1) Gvmnasien, 6 Realgvmnasien, 13 Real- und Oberrealschulen),
32 Wohlfalirtseinrichtungen.
8 Präparandenanstalten und 26 Lehrerseminare (5 preußische,
9 sächsische, 3 hessische, je 2 in Württemberg und Baden und je 1
in Anhalt, Braunschweig, Meiningen, Reuß-Schleiz und Lübeck). Von
den geschlossenen Lehr- und Erziehungsanstalten haben 160 eigene
Schülerwerkstätten eingerichtet, nämlich: 46 Waisen-, 5 Rettungs-
häuser, 52 Taubstummen-, 21 Blinden- und 40 sonstige Erziehungs-
anstalten, darunter 15 mit höheren Lehranstalten verbundene In-
ternate.
Die Mehrheit dieser Schulen und Anstalten hat den Hand-
fertigkeitsunterricht als wahlfreien Unterrichtsgegenstand eingeführt,
in einigen Mittel- und Volksschulen findet auf dieser Grundlage eine
fast allseitige Beteiligung der Schüler statt; dahingegen betreiben
zahlreiche geschlossene Erziehungsanstalten und Hilfsschulen den
Unterricht obligatorisch.
Die Arbeitsgegenstände, welche allgemein zur Anerkennung
und methodischen Durcharbeitung gekommen sind, bilden jetzt eine
fest begrenzte Reihe, und in der Regel waren nur äußere Verhält-
nisse dafür bestimmend, wenn einzelne Arbeitsfächer geringere oder
umfangreichere Aufnahme gefunden haben. So wird die mit mäßigen
Mitteln einzuführende Holzschnitzerei in rund 610 Schülerwerkstätten
betrieben; die gleichfalls nicht zu kostspielige Papparbeit hat in 560 Werk-
stätten Eingang gefunden, und der schon mehr Geldmittel erheischenden
Hobelbankarbeit stehen insgesamt 340 Arbeitsstätten zur Verfügung.
Die noch nicht allgemein interessierenden Vorstufenarbeiten sind von
80, die Metallarbeiten von 36 und die ländliche Holzarbeit ist von
30 Körperschaften eingeführt worden. Das Modellieren in Ton wird
in 15 Schülerwerkstätten gepflegt, scheint sich jedoch neuerdings
mehr Freunde zu erwerben.
Mannigfach sind die Kombinationen der von den einzelnen
Schulen eingeführten Arbeitsfächer untereinander. Bemerkt sei, daß
sich rund 400 Arbeitsstätten mit einem Arbeitsfache begnügen,
während 300 je zwei, 200 je drei und der Rest vier und mehr
Arbeitsgegenstände eingeführt haben.
Das Lehrpersonal in diesen Handarbeitskursen und Werkstätten
bilden gewöhnlich Volksschullehrer, welche in dem Handfertigkeits-
seminar in Leipzig oder in gelegentlichen Lehrerkursen, wie sie bis
jetzt von einigen 30 Handfertigkeitsschulen in fast allen Gauen
Deutschlands veranstaltet wurden, ausgebildet worden sind. Unter
den deutschen Städten, welche diesem Unterrichtszweige besonderes
Interesse entgegengebracht haben, sind zu nennen: Altona, Barmen,
Ergänzungen und Erweiterungen des Unterrichts der Volksschule. 33
Bonn, Bremen, Breslau, Charlottenburg, Danzig, Dortmund, Dresden,
Düsseldorf, Frankfurt a. M., Glauchau, Görlitz, Gotha, Heidelberg,
Hildesheim, Karlsruhe, Kiel, Königsberg i. Pr., Magdeburg, Mann-
heim, Mülhausen i. Eis., München, Nürnberg, Plauen, Posen,
Schöneberg, Straßburg i. Eis., Stuttgart, Weimar, Worms.
Die Lehrgegenstände des Unterrichts sind:
1. Vorstufe für jüngere Kinder:
a) Papier-, Karton- und Stäbchenarbeiten (Ausschneiden, Falten,
Aufkleben, Flechten, Zusammenlegen, Bauen, sogenannte
Fröbelsche Arbeiten),
b) leichte Holzarbeiten (Schneiden, Nageln, Benutzung kleiner
Brettchen, Arbeiten mit Hammer, Zange, Säge, mit runden
und vierkantigen Stäben),
c) das Tonformen.
2. Papparbeit (Täfelchen mit Randeinfassung, Verbindung mehrerer
Flächen durch Heften, durch Rücken; Pappkasten, Körbchen und
mehrfach zusammengesetzte Gegenstände),
3. Holzschnitzerei und Kerbschnitt,
4. Hobelbankarbeit,
5. Metallarbeit,
6. Modellieren.
Es muß noch einmal hervorgehoben werden, daß diese sämt-
lichen Unterrichtsfächer sich nur selten in einer Werkstatt vereinigt
finden. Der Knabenhandarbeitsunterricht ist schon aus dem äußeren
Grunde, weil er verhältnismäßig große Räume erfordert und daher
bei der Beteiligung einer größeren Anzahl von Schülern sehr kost-
spielig wird, fast nirgends ein obligatorischer Unterrichtsgegenstand
geworden. Eine Ausnahme bildet München, welches für die achten
Klassen der Knabenwerktagsschulen den Knabenhandarbeitsunterricht
als obligatorischen Lehrgegenstand in sechs Stunden wöchentlich ein-
geführt hat. Der Münchener Lehrgang beschränkt sich, da es sich
hier um reifere Knaben handelt, auf einen Holzbearbeitungskursus und
einen Metallbearbeitungskursus, für den eine bestimmte Reihenfolge
der Übungen vorgeschrieben ist. (Vgl. Verwaltungsbericht über die
Städtischen Volks- und Mittelschulen in München für das Geschäfts-
jahr 1900, S. 140-141.)
In Worms ist auf anderer Grundlage ein Versuch mit der Ein-
führung des obligatorischen Handarbeitsunterrichts (Werkunterrichts)
gemacht worden; im Schuljahr 1900/01 wurde versuchsweise die obliga-
torische Einführung des Werkunterrichts in den sechs oberen Klassen
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. Anhang. 3
34 Wolilfahrtseinriclitungen.
der Volksschule von der großherzoglichen Regierung genehmigt. Es
wurde demselben wöchentlich eine Stunde für jede Klasse besonders
zugewiesen. Der Unterricht begann gleichzeitig mit dem Formen in
Plastilina und Ton (Klasse 6, drittes Schuljahr) und mit Papparbeit
in Klasse 4 (fünftes Schuljahr). Das Formen wurde im nächsten
Jahre in Klasse 5, die Papparbeit in Klasse 3 fortgesetzt. Auch in
den beiden untersten Klassen wurden Versuche mit dem Formen in
Verbindung mit dem Anschauungsunterricht gemacht; dem Schnitzen
sollen die beiden letzten Schuljahre gewidmet werden, und es sind im
laufenden Jahre bereits Versuche damit gemacht worden. Es würde
sich demnach der Werkunterricht in Worms in folgender Weise ge-
stalten: Klasse VIII und VII (erstes und zweites Schuljahr): Stäbchen-
legen und dergleichen, sowie Formen in Ton in Verbindung mit
Stäbchen als Teil des Anschauungsunterrichts; Klasse VI und V:
Formen in Ton; Klasse IV und III: Papparbeiten; Klasse II und I:
Holzschnitzarbeiten. Mit dem Formen in den Klassen VIII bis V
wird auch das malende Zeichnen verbunden und so dem Freihand-
zeichnen (künstlerischen Zeichnen) vorgearbeitet; bei dem letzteren wird
auch in den Klassen IV — I das Formen herangezogen. Mit den
Papparbeiten ist das geometrische Zeichnen verbunden; zugleich
werden beide mit der Raumlehre in Verbindung gesetzt. Mit den
Holzschnitzarbeiten treten das freie wie das gebundene Zeichnen in
Verbindung. Wie das Zeichnen, so wird auch das Formen im Sach-
unterricht als Darstellungsmittel verwertet.
Unter den Kursen für fakultativen Handarbeitsunterricht für
Knaben in der Volksschule verdienen in Deutschland u. a. die Ein-
richtungen in der Stadt Charlottenburg erwähnt zu werden. An dem
Unterrichte können Schüler der obersten Klassen der Gemeinde-
schulen, der höheren Schulen und der Hilfsschulen teilnehmen.
Für die Oberklassen der Gemeindeschulen bestehen zwei
städtische Schulwerkstätten, die eine in einem dazu eingerichteten
älteren Gebäude (Kirchstraße 4), die andere in einem Raum der 7.
Gemeindeschule, Joachimsthalerstr. 31/32; für ein in der Suarezstraße
im nächsten Jahre zu erbauendes Schulhaus ist die Anlage eines
großen Saales für die Handfertigkeit vorgesehen.
In diesen Werkstätten werden Knaben aus den ersten Klassen
der Gemeindeschule, nach ihren Schulen in Kurse vereinigt, unter-
richtet. Die Aufsicht steht dem Rektor der betreffenden Schule zu;
auch als Leiter der Kurse werden tunlichst Lehrer aus der betreffen-
den Schule verwendet.
Ergänzungeil und Erweiterungen de^ l'nterrichls der Volksschule. 35
Die Beteiligung ist freiwillig. Doch melden sich von den Schü-
lern meist mehr, als aufgenommen werden können. Die Rektoren
treffen die Auswahl. Sie sehen darauf, daß der Knabe mindestens
noch ein volles Jahr der Schulpflicht vor sich habe.
Jede Schule arbeitet wöchentlich zwei Stunden hintereinander
mit zwei Kursen, je einem Hobelkursus und, jährlich wechselnd, einem
Schnitz- oder Pappkursus. Der Unterricht fällt außerhalb der Schul-
zeit auf die Nachmittage. Er ist für die Schüler völlig unentgeltlich.
Alle Werkzeuge und Materialien werden aus städtischen Mitteln ge-
liefert. Die angefertigten Gegenstände werden zum größten Teile
Eigentum der Kinder. Die technische Oberleitung, die Anschaffung
der Materialien und die Verwaltung der im Etat ausgesetzten Mittel
besorgt ein Lehrer als Werkstattsvorsteher.
Für den Hobelkursus werden höchstens 12, für die anderen
Kurse höchstens 20 Schüler angenommen. Zurzeit arbeiten im
ganzen 22 Kurse mit zusammen 350 Schülern.
Für den Handfertigkeitsunterricht hat die Stadt Charlottenburg
im laufenden Jahre 1903 folgende Summen aufgewendet:
für die Gemeindeschulen .... 5 032 M.
,, Realgymnasium 1 000 ,,
,, Oberrealschule 1 500 „
,, Kaiser Friedrichschule .... 1 000 „
,. Realschule 1 000 „
,, Gymnasium 500 ,,
,, erste und zweite Hilfsschule . . 400 ,,
zusammen 10 432 M.
Dem Handarbeitsunterricht liegen in den meisten Schulen me-
thodisch sorgfältig aufgebaute Normallehrgänge und Vorlagenwerke
zugrunde, wie z. B. die Handarbeitsvorlagen der Leipziger Schüler-
werkstatt und der Lehrgang der Hobelbankarbeit der Lehrerbildungs-
anstalt in Leipzig. Zur Orientierung über diesen Unterrichtszweig
dienen die ,, Blätter für Knabenhandarbeit", herausgegeben von dem
Direktor des Lehrerseminars des Deutschen Vereins für Knabenhand-
arbeit Dr. A. Pabst, Scharnhorststraße 19 in Leipzig.
Li Berlin ist kürzlich auf Anregung des Preußischen Unter-
richtsministeriums der Versuch gemacht worden, den Unterricht an
der Hobelbank mit dem Zeichenunterricht in den oberen Klassen
der Volksknabenschulen in organische Verbindung zu setzen, und ist
zu diesem Zweck eine Werkstatt an einer Gemeindeschule einge-
richtet worden.
3*
,'••6 Wohlfahrtseinrichtungen.
c) Der Handarbeitsunterricht für Mädchen (Stricken,
Nähen, Sticken, FHcken, Stopfen und dergleichen) ist in den meisten
deutschen Staaten als obligatorischer I.ehrgegenstand in die Stunden-
pläne der Mädchenschulen aufgenommen worden und braucht daher
nicht an dieser Stelle erwähnt zu werden; dagegen fallen jene Hand-
arbeitskurse in den Rahmen dieses Kapitels, welche als wahlfreie Ein-
richtungen dem Volksschulunterricht angegliedert sind. Dieser Art
sind die in verschiedenen Städten wie in Frankfurt a. M., Kiel,
Straßburg i. E. und Essen a. d. R. eingerichteten Flickkurse für
Volksschülerinnen. Über den Zweck und die Einrichtung derselben
spricht sich der Verwaltungsbericht der Stadt Essen folgender-
maßen aus:
„Durch die Einrichtung von Flickkursen im Jahre 1895 hat der
Handarbeitsunterricht eine Erweiterung erfahren. In den Flickkursen,
die bei allen größeren Hauptsystemen der Volksschulen bestehen,
werden die älteren Schülerinnen von erfahrenen Lehrerinnen an-
geleitet, schadhaft gewordene Bekleidungsgegenstände, die sie von
Hause mitbringen, auszubessern, was in den schulplanmäßigen Hand-
arbeitsstunden nicht in dem Umfang geschehen kann, wie es wünschens-
wert ist. Diese Flickstunden sind fakultativ; die Kosten werden von
der Stadt getragen. Der Unterricht wWd in schulfreier Zeit in zwei
wöchentlichen Stunden gewöhnlich an den Mittv\'ochnachmittagen er-
teilt. Die Materialien, welche zur Ausbesserung der Bekleidungs-
gegenstände erforderlich sind, haben die Kinder aus besser gestellten
Familien selbst zu beschaffen; den bedürftigen werden dieselben un-
entgeltlich verabfolgt. Für jede Unterrichtsstunde erhalten die Lehre-
rinnen eine Vergütung von 1,25 M. Die Flickstunden erfreuen sich
besonders im Winter eines guten Besuchs." (Die Verwaltung der
Stadt Essen im XIX. Jahrhundert. Erster Verwaltungsbericht der
Stadt Essen, erstattet vom Oberbürgermeister Zweigert. Band \,
Essen 1902. S. ;-!83.)
d) In ähnlicher Weise hat man es auch an manchen Orten für
nötig befunden, den obligatorischen Zeichenunterricht der Schule
durch freie Zeichenkurse für Volksschüler und Schülerinnen zu er-
gänzen. Solche Zeichenkurse für schulpflichtige Knaben sind bei-
spielsweise in Wiesbaden der Fortbildungsschule angegliedert, in
Essen, Karlsruhe usw. bilden sie eine selbständige Einrichtung, welche
den Zweck verfolgt, „Volksschüler des siebenten und achten Schul-
jahres, für deren späteren Beruf das Zeichnen von besonderer Wichtig-
keit ist, in diesem Fach weiter auszubilden, als dies in den Volks-
Ergänzunjxen und Erweiterungen des Unterrichts der Volksschule. ,'>7
schulen möglich ist". Die Kurse bestehen aus 25 — oO Schülern; die
Teilnahme ist freiwillig und unentgeltlich. Der Unterricht wird an
den schulfreien Nachmittagen erteilt, regelmäßiger Besuch ist I^e-
dingung für die Teilnehmer. Die Dauer des ganzen Unterrichts beträgt
zwei Jahre.
e) Der musikalischen Ausbildung dienen die wie an den höheren
Lehranstalten so auch gelegentlich an der Volksschule gebildeten
Schülerkapellen. Ihre Einrichtung ist verschieden und meist in
ihrem Umfange beschränkt, doch besteht beispielsweise in Karlsruhe
eine gut organisierte größere Schülerkapelle, deren Zweck es ist,
„musikalisch beanlagten, braven und fleißigen Knaben Gelegenheit
zur Ausbildung in Musiktheorie und in der Handhabung von Blas-
und Schlaginstrumenten zu bieten und die Knaben im Zusammenspiel
zu üben".
Neben dem angegebenen speziellen Zwecke verfolgt aber die
Schülerkapelle noch den Gedanken, zugleich auch der Schule und
der Gemeinde zu dienen, indem sie bei Schulfeierlichkeiten, patrio-
tischen Schulfesten und öffentlichen Konzerten durch geeignete
musikalische Aufführungen mitwirken soll. Der Unterricht ist unent-
geltlich, die Aufnahme in die Kapelle ist abhängig von Fleiß und
gutem Betragen, sowie von der erfolgreichen Absolvierung eines ein-
jährigen Theoriekursus. Das Alter für die Aufnahme in letzteren ist
in der Regel das zehnte Lebensjahr, in erstere das elfte. Die Schüler-
kapelle bestand am Schlüsse des Schuljahres 1902/03 einschließlich
des unteren Theoriekursus aus 139 Zöglingen, die von 5 Lehrern
unterrichtet wurden; sie besaß 82 Instrumente und ein Musikalien-
inventar von 123 Stücken.*) Auch die Städtische Singschule in
München mag an dieser Stelle Erwähnung finden. Sie ist eine öffent-
Hche, konfessionell gemischte Lehranstalt mit freiwilligem Besuche
und hat die Aufgabe, ihre Schüler im Gesänge sowohl theoretisch
wie praktisch auszubilden. Es wird ein Schulgeld von 1 M. erhoben;
Bedingung zur Aufnahme ist das zehnte, bei kräftigen Knaben mit
guter Begabung eventuell auch das neunte Jahr. Die zu Beginn des
Schuljahres 1901/02 vorhandenen 926 Schüler wurden in 19 Klassen
(in verschiedenen Schulhäusern) von 1 Dirigenten, 19 Klassenlehrern und
1 Hilfslehrer unterrichtet. Eine der Hauptaufgaben der so ausge-
bildeten Sängerchöre ist die Mitwirkung bei öffentlichen Festlichkeiten
und patriotischen Feiern.
*) Vgl. den XX\'I. Jahresbericht über die dem Rektorate unterstellten Städtischen
Schulen in Karlsruhe. 1903. S. 12.
38 Wohlfahrtseinrichtungen.
f) Der Ergänzung des lehrplanmäßigen Turnunterrichts durch
freiwillige Schwimmkurse wird an einer anderen Stelle gedacht werden,
hier möge nur noch des dem Lehrplan der Volksschule angegliederten
Unterrichts im Englischen und Französischen Erwähnung ge-
schehen. Beide Fremdsprachen sind eigentlich (wenigstens in Preußen)
das charakteristische Merkmal der über den Rahmen der Volksschule
hinausgehenden Mittelschule, gleichwohl hat sich in neuerer Zeit unter
dem Einfluß des wachsenden Verkehrs mit dem Auslande an ver-
schiedenen Orten das Bedürfnis geltend gemacht, die Kenntnis des
Englischen und Französischen immer weiteren Kreisen zugänglich zu
machen.
In erster Linie sind hier die Hamburger Volksschulen zu er-
wähnen, welche, ohne im übrigen über den Rahmen der Elementar-
schule hinauszugehen, in der dritten, zweiten und ersten Klasse und
in der Selekta (8. Schuljahr) der Knabenschule den Unterricht in der
englischen Sprache mit wöchentlich vier Stunden als obligatorischen
Lehrgegenstand eingeführt haben, in den Selekten der Mädchen-
schulen dagegen diese Fremdsprache nur in wöchentlich zwei Stunden
fakultativ betreiben. Ähnliche freiwillige Kurse im Französischen be-
stehen in München für die Mädchen der achten Werktagsschulklassen,
sofern sie an dem gleichfalls für sie eingerichteten fakultativen Unter-
richt im gewerblichen Zeichnen nicht teilnehmen. In Baden gestattet
das Gesetz über den Elementar-Unterricht vom 13. Mai 1892 § 92
die Einrichtung einzelner Klassen an den Volksschulen mit erweitertem
Unterrichtsplan und die Bildung besonderer Abteilungen für einzelne
Unterrichtsgegenstände, wie Zeichnen oder fremde Sprachen. Auf
dieser gesetzlichen Grundlage hat man in Mannheim an der er-
weiterten Volksschule fakultativen französischen Unterricht in drei
Stunden wöchentlich für die vier oberen Klassen eingerichtet, welcher
im Schuljahr 1902/03 von 235 Knaben (11 Kurse) und 336 Mädchen
(15 Kurse), zusammen also von 571 Kindern besucht wurde.
Auch in Preußen hat man in letzter Zeit ähnliche Versuche ge-
macht; so ist erst kürzlich französischer Unterricht der Volksschule
in Charlottenburg angegliedert worden. Die daselbst geschaftenen
Einrichtungen mögen hier kurz dargestellt werden: Seit Michaelis
1903 ist an den Gemeindeschulen wahlfreier Unterricht in der fran-
zösischen Sprache eingeführt worden, der an drei schulfreien Nach-
mittagen stattfindet. Es sind zunächst acht Knaben- und acht
Mädchenkurse eröffnet worden, an denen Lehrer und Lehrerinnen
städtischer Schulen unterrichten. Die Eröffnung eines neuen Knaben-
Wolilfahrtseinrichtiingen für bedürftige oder leidende Kinder. 39
und eines Mädchenkursus steht unmittelbar bevor. An dem ersteren
soll ein Franzose, an dem anderen eine Französin unterrichten. Von
den bereits eröffneten Knabenkursen ist einer versuchsweise der
Berlitz-School, Tauenzienstrasse 24, übertragen. Im übrigen findet
der Unterricht in drei städtischen Gemeindeschulhäusern statt, von
denen je eines im Westen, im Zentrum und im Osten der Stadt be-
legen ist.
Zur Teilnahme an dem Unterricht sind immer drei bis fünf der
besten Kinder der zweiten und dritten Klassen zugelassen worden.
Die technische Leitung der Kurse ist einem Oberlehrer der
städtischen Oberrealschule übertragen worden.
2, Wohlfahrtseinrichtungen für bedürftige oder leidende Kinder.
Den verschiedenartigen Veranstaltungen von Sonderunterricht
für Volksschulkinder gliedern sich jene Wohlfahrtseinrichtungen an,
welche gerade den ärmsten und bedürftigsten Kindern hilfreiche
Liebe zuteil werden lassen. Unter diesen W'erken der Barmherzigkeit
nehmen die Kinderhorte und Ferienkolonien die erste Stelle ein.
A. Kinderhorte. Obwohl es in Deutschland einige ältere so-
genannte Kinderbeschäftigungsanstalten schon in früheren Zeiten gab,
so ist die Bewegung für Kinderhorte doch erst in den letzten fünf-
undzwanzig Jahren in Fluß gekommen, nachdem Professor Schmidt-
Schwarzenburg in Erlangen in der von ihm gegründeten Anstalt
,, Sonnenblume" den Versuch gemacht hatte, die schulfreien Kinder um
sich zu sammeln, sie durch geordnete Tätigkeit vom Müßiggange
abzuhalten und auf sie einen erziehlichen Einfluß zu üben. Nach
diesem Vorbilde wurden in Bayern, zunächst in Augsburg, darauf
in München, Knabenhorte gegründet. Die Bewegung hat sich dann
derartig weiter ausgebreitet, daß heute in etwa 50 — 60 Städten Horte
bestehen, je nach der Größe der Städte einer oder mehrere.
Die Horte verfolgen den Zweck, die Kinder der ärmeren Volks-
klassen im schulpflichtigen Alter, die von ihren Eltern in der schul-
freien Zeit nicht beaufsichtigt werden können und daher der Ver-
führung und Verwahrlosung am meisten ausgesetzt sind, der Straße
zu entziehen und sie unter pädagogischer Aufsicht zu nützlicher Be-
schäftigung anzuhalten, oder, wie der Stuttgarter Verein der Knaben-
horte sich ausdrückt, „ihnen eine Stätte zu bauen, wo sie unter
freundlicher Aufsicht der Lehrer ihre Schularbeiten machen und sich
nachher durch Spiel, Gesang oder Lesen unterhalten". — • Die Dauer
40 Wohlfahrtseinrichtungen.
der Beaufsichtigung umfaßt in der Regel die Stunden nach Schulschkiß
bis um 6 oder 7 Uhr abends, zu welcher Zeit die Eltern von ihrer
Arbeit zurückerwartet werden können. Auch wird in der Regel
während des Aufenthaltes ein Vesperbrot, bestehend aus Milch und
Brot oder Suppe, verabreicht.
Die Beschäftigung in den Horten paßt sich den vorhandenen
Einrichtungen an; insbesondere wird, wenn ein Garten zur Verfügung
steht, im Sommer die Pflege des Gartens durch Zuweisung einzelner
Beete an die Kinder bevorzugt. Speziell bei den Knabenhorten hat
sich neuerdings ein engerer Anschluß an die Bewegung für den
Knaben-Handfertigkeitsunterricht vollzogen; so wird in den Statuten
der Hamburger Knabenhorte ausdrücklich ausgesprochen, daß sie
sich den Bestrebungen des allgemeinen deutschen Vereins für Knaben-
handarbeit anschließen.
Die Frage der Räumlichkeiten pflegt keine Schwierigkeiten zu
machen, da es sich nicht um Stätten für nächtlichen Aufenthalt
handelt, sondern nur um einen Raum, in dem die Kinder während
einiger Stunden verweilen können. Schwieriger ist die Frage der
Leitung, da es gerade für Knaben einer besonders geschickten Hand
bedarf, um auf sie einen wirklich erziehlichen Einfluß auszuüben. Es
wird namentlich Wert darauf gelegt, daß der Hort nicht den Charakter
einer eigentlichen Anstalt trage, sondern sich dem Leben und Wesen
in der Familie tunlichst annähere, sodaß zwischen Spiel und Be-
schäftigung, zwischen freier und vorgeschriebener Tätigkeit nach
Möglichkeit gewechselt wird. Die Zahl der in einen Hort aufzuneh-
menden Kinder wird im ganzen 50 — 60 nicht überschreiten dürfen,
und diese Besetzung entspricht auch im großen und ganzen den tat-
sächlichen Ziffern, die sich aus den Berichten der Vereine ergeben.
— Von gut geleiteten Knabenhorten heben wir namentlich hervor
die Anstalten in München, die unter einem einheitUchen Vorstande
stehen (der Vorstand gab von 1883 bis 1900 eine kleine, monatlich
erscheinende Zeitschrift ,,Der Knabenhort" heraus, in der er über
Stand und Einrichtungen der Horte berichtete, aber auch allgemeine
Fragen des Knabenhortvvesens behandelte); ferner die Knabenhorte
in Stuttgart, Cöln, Frankfurt a. M., Augsburg, Hamburg, Kiel,
Leipzig u. a. m. Von Einzelheiten heben wir noch hervor, dais
Bremen und München Einrichtungen zur Beförderung des Sparsinnes
der Kinder getroffen haben; in Stuttgart werden die Eltern viertel-
jährlich durch Zeugnisse von dem Betragen der Kinder in Kenntnis
gesetzt. Einige Vereine, z. B. der Münchener, senden ihre erholungs-
Wohlfahrtseinrichtunijeu für bedürftige oder leidende Kinder. 41
bedürftigen Zöglinge mit dem Verein für Ferienkolonien in die Sommer-
frische; auch hat der Münchener Verein, um mit seinen Zöglingen in
Verbindung zu bleiben, ein Lehrlingsheim errichtet. In der Regel
soll von den Eltern für die Aufnahme der Kinder eine Vergütung
entrichtet werden, weil die unentgeltliche Darbietung als Almosen
empfunden und auch leicht in ihrem Werte unterschätzt wird. Die
Wochengelder schwanken zwischen 10 und 30 Pfennig, doch werden
völlig unbemittelte Kinder auch ohne Entgelt zugelassen. Sehr üblich
ist in den Horten die Veranstaltung von Weihnachtsbescherungen.
Literarisch ist die Frage der Kinderhorte verhältnismäßig selten
behandelt. Doch finden sich zwei Schriften, die das gesamte Gebiet
ziemlich erschöpfend darstellen: I. Reddersen, Über arme auf-
sichtslose Kinder (Schriften des Deutschen Vereins für Armen-
pflege. 1884, Nr, 3) und der dazu gehörige stenographische Bericht
über die Verhandlungen S. 22 — 25. — 2. Städtische Jugend
und Jugendhorte, im 98. Neujahrsblatt der Züricher Hilfsgesell-
schaft. Systematisch im Zusammenhange des gesamten Fürsorge-
wesens ist die Frage behandelt bei Münsterberg, Kinderfürsorge,
im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, und bei Post,
Musterstätten persönlicher Fürsorge, S. 134, wo das Knaben-
heim der Heiischen Fabrik in Charlottenburg dargestellt ist.
Durch die Güte des Herrn Stadtrats Dr. Münsterberg, des Vor-
sitzenden der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen,
Abteilung für x'lrmenpflege und Wohltätigkeit in Berlin, ist dem Ver-
fasser die auf S. 42 und 43 folgende Übersicht über die zurzeit in
einigen Städten Deutschlands bestehenden Kinderhorte zur Verfügung
gestellt worden.
Eine ältere Zusammenstellung von H. O. Reddersen, Bremen
im Dezember 1895, gibt ein übersichtliches Bild über die Zahl der
Zöglinge, die Art der benutzten Räume, die Zeit der Anstaltspflege,
die Beschäftigung, Beköstigung, die Beiträge der Zöglinge, die Gesamt-
kosten usw. in 181 auf folgende 47 Städte verteilten Horten:
Altona a. d. E., Augsburg, Bamberg, Berlin, Braunschweig, Bremen,
Cassel, Charlottenburg, Chemnitz, Cöln, Danzig, Darmstadt, Dresden,
Düren, Eisleben, Erfurt, Erlangen, Frankfurt a.M., Fürth, Gera, Halle a.S.,
Hamburg, Hanau, Hannover, Heilbronn, Kaiserslautern, Kaufbeuren,
Kiel, Landshut i. Schi., Lauf, Leipzig, Linden, Ludwigshafen
a. Rh., Mannheim, Mühlhausen i. Th., München, Nürnberg, Offen-
bach a. M., Potsdam, Stettin, Straßburg i. E., Stuttgart, Tübingen,
Weimar, Wiesbaden, Würzburg und Zwickau.
42
Wohlfahrtseinrichtungen.
_^^ —
Name der Stadt und der
Verwaltung
Zahl der An-
stalten
Kna- 1 Mäd-
ben j chen
Gesamtzahl
der Zöglinge
(rund)
Beschäftigung außer
Schularbeit, Spiel, weibl.
Handarbeiten usw.
Berlin: Hauptverein „Kinderhort"
17
6
1 100
-
Berlin: Verein „Mädchenhort"
-
14
800
Gartenarbeit
Bremen: Verein für Knabenheime
5
-
250
Blumenzucht u. Gemüse-
bau, Schnitzarbeiten
Chemnitz i. S. : Verein zu Rat
3
—
125
—
und Tat
Cöln: Verein f. d. Kinderhorte im
—
—
300
—
südlichen Stadtteile
Cöln: Derselbe, im nördlichen
—
250
Handfertigkeit
Stadtteile
Danzig: Verein „Kinderhort"
2
4
360
—
Dresden: Verein „Kinderhort"
5
3
200
Erfurt: Verein „Jugendhort"
1
-
45-50
Knabenhandfer tigkei t
Frankfurt a. M. : N'erein für Kinder-
7
6
770
Handfertigkeits-Unter-
horte
richi
Halle a. S. : Verein für Kinderhorte 8
Hamburg: Hamburger Knaben- 4
horte
Hamburg: Mädchenhorte
Leipzig: Verein der Mädchenhorte —
Ludwigshafen : \"erein für Knaben- 5
horte
München: Verein „Knabenhort" ! 8
Stuttgart: Verein Stuttgarter Kna- 13
benhorte i
18
500
350
1000
150
750
Gartenarbeit, Hand-
fertigkeit
Handfertigkeits-Unter-
richt, Papparbeiten,
Flechten usw.
300 Knabenhandarbeit
700 Knabenhandarbeit, Gar-
tenarbeit
Wohlfahrtseinrichtungen für bedürftige oder leidende Kinder.
43
Gesamt-
kosten
rund
Zuschuß aus
Beköstigung
öffentlichen Mitteln
Bemerkungen
M.
M.
1
Brot oder Schrippen
30 000
8 000 i Benutzung der städt. Volksbäder.
u. abgekochte Milch
Mittagessen (in neun
20 000
2 000 Benutzung d. Turnhallen d. Ge-
Horten)
meindeschulen. Verschickung in
Ferienkolonien.
Brot und Milch
7 000
—
Baden und Schwimmen in der
Weser.
Ja
9 500
—
-
9 000
-
Schulsaal d. d. städt. Verwaltung.
Kaffee und Brot
7 000
-
Vespersuppe
12 000
1 500 (a. d. Luise
Räume und Heizung stellen die
Abegg-Stiftung)
städtischen Behörden z. Verfügung.
10 000
Unbestimmt (jeweils
b.Erricht. neuer Anst.)
Bäder.
Vesperbrot m. Kaffee,
3 500
500 M. für d. Hand-
Mittagessen
fertigkeits-Unterricht
Vesperbrot
45000*)
6 000
*) Einschließlich d. unterh. Suppen-
anstalten. — Spareinlagen. Der
Magistrat hat sich grundsätzlich
damit einverstanden erklärt, daß in
neuen Bürgerschulen Räume für
Horte vorgesehen werden.
—
17 500
Ja — wieviel un- i Spareinlagen,
bekannt
7 600
— iJie Knabenhorte schließen sich
den Bestrebungen des Vereins für
Handfertigkeit an.
In sämtlichen Milch
26 000
Ja — bei Neugrün-
Schulräume d. d. Oberschulbehörde.
zum Vesper, in eini-
dungen
Spareinlagen. Warme Bäder.
gen Arznei, Leber-
Versendung in Eerien-Kolonien und
tran usw.
Heilstätten.
V4 Liter Milch
4 000
—
In städtischen Schulräumen. — Ein
vierter Hort in Vorbereitung.
Brot
?
2 000
Bäder. — Kostenlose Benutzung
städtischer Räume nebst Heizung
und Beleuchtung.
\on Zeit zu Zeit
13 000
—
Räume in städt. Schulen. —Brause-
Milchverteilung
bäder. — 4 Lehrlingshorte. Während
der großen Ferien 23 Ferienhorte
von 8--6 Uhr.
Brot
20C00
Ja ?
2 Lehrlingshorte. — 3 Ferien-Kolon.
44 Wohlfahrtseinriclitungen.
Die vorstehend wiedergegebene Übersicht und selbst die An-
gaben Reddersens ließen sich ohne Zweifel noch erheblich ergänzen,
Avenn es gelänge, das gesamte auf dieses Gebiet der Wohltätigkeit
bezügliche Material zusammenzubringen, oder wenn den Leitern und
Gönnern der Kinderhorte durch regelmäßig wiederkehrende Kongresse
ein Mittelpunkt für Anregung, Belehrung und persönliche Bekannt-
schaft geschaffen würde. So besitzt z. B. Schleswig-Holstein auch in
vielen kleineren Orten Kinderhorte, und in keinem der beiden Ver-
zeichnisse sind die Städte Barmen, Bielefeld, Düsseldorf, Elberfeld,
Freiberg i. Sachsen und Karlsruhe erwähnt. Gerade in Freiberg ist
die Art, in welcher die Knaben beschäftigt werden, eigenartig; ein
dem Verfasser zur Verfügung gestellter Spezialbericht äußert sich
darüber folgendermaßen :
„Hier werden die Knaben unter Aufsicht eines Hausvaters
zunächst angehalten, ihre Schularbeiten zu fertigen. Sodann beschäf-
tigen sie sich täglich 2 — 3 Stunden mit leichter Handarbeit (Düten-
kleben, Zinnschneiden, Bürsteneinziehen, Kaffeeauslesen). Der hier-
durch erzielte Verdienst wird je nach Leistung den einzelnen Kindern
gutgeschrieben und in ein Sparkassenbuch eingezahlt. Die Rück-
zahlung erfolgt beim Austritt aus der Schule bezw. der Anstalt
(ein Knabe erhielt z. B. Ostern a. c. 62,40 M. ausbezahlt). Auch
werden die Knaben vom Hausvater in Papp- und Holzarbeiten
unterwiesen.
Dabei bleibt noch genügend Zeit zu Spiel und Gesang, zur
Gartenarbeit und zu gemeinsamen Spaziergängen in Feld und Wald.
Auch werden die Knaben angehalten, wöchentlich ein- oder zweimal
das Volksbad zu benutzen.
Der bis jetzt an den Zöglingen beobachtete erziehliche Einfluß
des Knabenhortes ist recht befriedigend."
Auch in Barmen werden die älteren Knaben mit eigentlichen
gewerblichen Arbeiten, wie Anfertigen und Flicken von Schuhwerk,
die Mädchen mit Waschen, Bügeln, Kochen und anderen häuslichen
\^errichtungen beschäftigt, und ebenso besteht hier auch eine Spar-
kasse (Pfennigsparkasse) für die Konfirmation.
B. Ferienkolonien, Kinderheilstätten u. dergl. Die im
folgenden Abschnitt geschilderten Veranstaltungen haben den Zweck,
kränklichen oder in der Entwicklung zurückgebliebenen Kindern
hauptsächlich im Sommer und besonders während der Schulferien
Gelegenheit zur Genesung und körperlichen Kräftigung zu bieten.
WolilfahrtseinriclUungen für bedürftige «der leidende Kinder. 45
Die zu diesem Zwecke getroffenen Einrichtungen sind meistens durch
private Wohltätigkeit (Vereine) ins Leben gerufen worden, werden
aber jetzt fast überall aus Gemeindemitteln unterstützt.
Die Hauptarten dieser Wohlfahrtsein richtungen sind kurz und
treffend in dem Artikel „Ferienkolonien" von H. Grosse in Reins
Encyklopädie Bd. II S. 226 charakterisiert. Es heißt da: „Hinsichtlich
der Art und Weise der Ferienversorgung armer, kränklicher Schul-
kinder haben sich durch die Praxis drei Kategorien herausgebildet.
Solche Kinder, bei denen bestimmte Formen der Krankheit (be-
sonders Skrofulöse) schon so weit vorgeschritten sind, daß eine ärzt-
liche Behandlung imd Pflege angezeigt erscheint, bringt man in Kinder-
heilstätten der Sol- oder Seebäder unter. Minder kränkliche Kinder,
welche teils durch ungenügende Ernährung, mangelhafte Wohnungs-
verhältnisse, teils durch schwere Krankheiten so geschwächt sind, daß
ein vollständiges Herausreißen aus diesen Lebensverhältnissen auf
einige Zeit ihnen von größtem Nutzen sein, besonders ihre Wider-
standsfähigkeit erhöhen kann, bilden das Material für die eigentlichen
Ferienkolonien. Solche Kinder, bei denen jene Zustände sich noch
in den Anfangsstadien befinden, denen aber durch eine Milchkur von
einigen Wochen, durch tägliches Hinausführen in frische Luft, Spielen,
Baden usw. noch wesentlich geholfen werden kann, werden in so-
genannten Halb- oder Stadtkolonien oder Milchstationen während der
Sommer- und Herbstferien verpflegt."
Die Entstehung dieser Veranstaltungen in Deutschland reicht
bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Die erste Kinder-
heilstätte in Deutschland begründet zu haben, ist das Verdienst des
praktischen Arztes Dr. A. H. Werner in Ludwigsburg, dem es, nach-
dem er lange im kleinen gewirkt hatte, im Jahre 1861 gelang, im
Solbade Jagstfeide in Württemberg ein eigenes Haus für kränkliche
Kinder zu erbauen. Dieser Vorgang fand bald Nachahmung, es
bildeten sich zahlreiche Vereine, und es entstanden auch in anderen
Solbädern Kinderheilstätten, deren Zahl sich im Jahre 1901 auf 31
vermehrt hatte. Die Namen derselben mögen hier nach dem letzten
vom Stadtrat Seiberg in Berlin erstatteten Berichte über die Er-
gebnisse der Sommerpflege in Deutschland im Jahre 1901 (Zentral-
stelle der Vereinigungen für Sommerpflegej folgen : Alstaden, Colberg,
Dürkheim, Dürrheim, Elmen, Feimen-Salze, Frankenhausen i. Th.,
Goczalkowitz bei Pleß, Halle, Harzburg, Jagstfeid, Inowrazlaw,
Kissingen, Königsborn, Königsdorf- Jastrzemb, Kosen, Kreuznach,
Lüneburg, Nauheim, Nieder -Neukirch, Oldesloe, Orb, Rappenau,
46 Wohlfahrtseinrichtungen.
Rothenfelde, Salzdetfurth , Salzuflen, Sassendorf, Schwäbisch -Hall,
Sooden a. W., Sülze, Suiza.
Auch an den Seeküsten Deutschlands wurden nicht lange
nachher, im Jahre 1876, auf Anregung des verdienstvollen Geheimrats
Benecke in Marburg Heilstätten, besonders für skrofulöse Kinder,
eingerichtet, und der ,, Verein für Kinderheilstätten an den deutschen
Seeküsten", gegründet 1881, unter dem Protektorate des damaligen
Kronprinzen und der Frau Kronprinzessin von Preußen (Kaiser und
Kaiserin Friedrich) erblickte seine Hauptaufgabe darin, die Einrichtung
solcher Seehospize für Kinder immer weiter auszubauen. Gegenwärtig
bestehen nach dem oben angeführten Bericht von 1901 16 Kinder-
heilstätten an der See in folgenden Orten: Berg -Die veno w, Colberg,
Colberger Deep, Duhnen, Gr.-Müritz, Heringsdorf, Norderney, Olga-
heim, Rügenwaldermünde, Travemünde, Wangeroog, Westerland -Sylt,
Wyk, Zoppot. Unter diesen sind die Hospize in Gr.-Müritz, Norderney
(Seehospiz „Kaiserin Friedrich"), in Wyk auf Föhr und in Zoppot
Anstalten des Vereins für Kinderheilstätten an den deutschen See-
küsten.
Die eigentlichen Ferienkolonien (Ferienaufenthalt erholungs-
bedürftiger Kinder auf dem Lande) verdanken ihre Entstehung dem
Schweizer Pfarrer Bion, welcher zuerst im Jahre 1878 eine Anzahl
von armen Züricher Kindern aus ihren ärmlichen und ungesunden
Wohnungen in die herrliche Wald- und Bergesluft des Appenzeller
Landes hinausführte. Die Erfolge waren vortrefflich, und so schlol':»
sich zunächst Frankfurt a. M. auf Betreiben des Sanitätsrats
Dr. Varrentrapp dem Vorgange Bions an und entsandte im Jahre 1 878
97 schwächliche Knaben im Alter von 9 — 14 Jahren als Ferien-
kolonisten in den Vogelsberg und in den Odenwald. Auch die
Frankfurter Ferienkolonie bewährte sich aufs beste, und bald fand
dieses Vorgehen in anderen Städten Nachahmung. Schon 1881 hatten
sich 30 deutsche Städte bereit gefunden, im ganzen 3070 Kinder in
Sommerfrischen zu entsenden. Die Gründung einer Zentralstelle der
Vereinigungen für Sommerpflege in Deutschland im Jahre 1885 war
ein wichtiger Schritt vorwärts auf der einmal eingeschlagenen Bahn,
und die bereitwillige Förderung, welche die Ferienkolonien in allen
Teilen unseres Vaterlandes gefunden haben, ist der beste Beweis da-
für, daß die geschaffene Einrichtung einem tief empfundenen sozialen
Bedürfnisse entsprach.
Die Auswahl der Kinder erfolgt auf Grund der seitens der
Lehrer oder der Familien selbst eingehenden Anmeldungen nach
^^'ohIfahrtseinI•ichtungen für hL-dürfti^je orlor leidende Kinder. 47
sorgfältiger Prüfung ihrer häuslichen Verhältnisse und ärztlicher Unter-
suchung ihres Gesundheitszustandes. Berücksichtigung finden ge-
wöhnlich nur die Altersstufen von 7 — 14 Jahren. Kinder mit akuten
Krankheiten: Augenentzündungen, Ohrenfluß, Veitstanz, Krämpfen
und dergl. werden nicht in die Ferienkolonien aufgenommen, sondern
erforderlichenfalls Kinderkrankenhäusern überwiesen.
Während den Kindern in den Kolonien die Verpflegung und
nötigenfalls die ärztliche Behandlung unentgeltlich geboten werden,
verlangt man von den Eltern die zweckentsprechende Ausrüstung der
Kinder für einen längeren Aufenthalt in der Fremde. Es sind überall
folgende Kleidungsstücke vorgeschrieben: ein doppelter Anzug,
zwei Paar derbe Schuhe, drei bis vier Paar Strümpfe, Hemden,
Taschentücher usw. Im Falle großer Dürftigkeit eines Kindes werden
aber auch die Kosten dieser Ausrüstung vom Vereine getragen.
Bettwäsche, Handtücher, Badeanzüge, Kämme, Seife, Waschgeschirr,
Spiele und Bücher finden die Kinder am Orte ihrer Bestimmung vor.
Der Ort, an welchen die Kinder zu entsenden sind, richtet sich
im allgemeinen nach der Art ihres leidenden Zustandes. Skrofulöse
Kinder sendet man, wie schon erwähnt wurde, in die Solbäder und
Seehospize, andere, welche bloß guter Luft und gesunder Nahrung
bedürfen, gehen in waldreiche Gegenden im Binnenlande, an Seen
und Flüsse, ins Gebirge, meist in Ortschaften, welche nicht gerade
an der großen Heerstraße des Touristenverkehrs liegen und neben
guter Luft auch gesunde Wohnräume, nahrhafte Kost (Milch, Eier
und Fleisch) zu mäßigem Preise und Gelegenheit zu Bädern und
Ausflügen bieten.
Die Pflege der Erholungsbedürftigen erfolgt entweder in ge-
schlossenen Ferienkolonien, d. h. Abteilungen von Kindern unter
Führung von Lehrern oder Lehrerinnen in Vereinspflegehäusern oder
in fremden Häusern (Gasthäusern u. dgl.) oder durch Unterbringung
einzelner Kinder in zuverlässigen Familien auf dem Lande, und zwar
entweder gegen Bezahlung oder in Freiquartieren. Beide Einrichtungen
haben sich bewährt und bieten ihre Vorteile, wenngleich sich nicht
verkennen lassen wird, daß in eigens für den Zweck der Ferien-
kolonien angelegten, mit den erforderlichen Einrichtungen aus-
gestatteten Häusern unter Aufsicht zuverlässiger Pfleger die hygie-
nische und erziehliche Förderung der Kinder am wirksamsten be-
trieben werden kann. Freilich können die immerhin kostspieligen
Anlagen dieser Art nur dann in hinreichender Weise ausgenutzt
werden, wenn sich die Unterbrinsfung der Kinder nicht nur auf die
48 Wohlfahrtseinrichtungen.
Zeit der Sommerferien, d. h. meist auf 5 Wochen im ganzen Jahre,
beschränkt.
Daß dieser mehrwöchentliche Aufenthalt der Stadtkinder in
schöner, ländlicher Umgebung bei guter Kost neben den hygienischen
auch regelmäßig wertvolle erziehliche Erfolge mit sich bringt, bedarf
keines Beweises. Der Gesichtskreis der Kinder erweitert sich durch
die täglich sich mehrende Kenntnis von der Arbeit des Landmannes,
des Försters, durch den Anblick eigenartiger Gebäude und Anlagen,
durch die Bekanntschaft mit den Haustieren, dem Leben des Waldes,
der Wiese, der Gewässer. Sonne und Mond und die Sterne des
Himmels, Morgenrot und Abendrot, Regen und Sturmwind, welche
in dem Rauch und Lärm der Großstadt völlig ohne Eindruck auf
das kindliche Gemüt geblieben waren, gewinnen hier eine tiefe Be-
deutung und befruchten die religiösen Anlagen der jungen Seelen
mit neuen Vorstellungen von der Allmacht des Schöpfers. Schließlich
muß auch die Liebe, welche den blassen Stadtkindern allerorts von
der Landbevölkerung entgegengebracht wird, Gegenliebe erwecken
und das Gefühl für die Zusammengehörigkeit jener großen Gruppen
des Volkskörpers in den Städten und auf dem Lande, welche sich
in unseren Tagen nur zu oft aus Unkenntnis mißverstehen und an-
feinden.
Wie sich das Leben in der Ferienkolonie abspielt, ist von dem
Führer einer solchen, dem Lehrer H. Wust in Leipzig, seiner Zeit im
Leipziger Tageblatt anschaulich geschildert worden. Es handelt sich
um die 20. Leipziger Kolonie in Friedrichsgrün, im Ouellengebiete
der Zwickauer Mulde. Wir entnehmen seiner Darstellung die folgenden
Ausführungen :
,,Die Knaben einer Ferienkolonie sind ohne Ausnahme schwäch-
liche, bleiche, blutarme Kindergestalten, die, kinderreichen Familien
angehörend, ihre oft freudenleere Jugend in den dichtbewohnten
Mietskasernen der Vororte zubringen müssen, vielfach umgeben von
dem Lärme und Getriebe der Fabriken, wo in weiten Sälen die
Kolben zucken und die Räder sausen. Wie wohl ist ihnen jetzt, daß
sie auf einige Wochen der schwülen Atmosphäre und dem Lärm der
Großstadt entrückt sind und mit Lust die frische, reine Gebirgsluft
einatmen können. Wie oft habe ich schon aus Kindermund den
Ausruf hören können: ,,Wie schön ist's hier! Könnten wir doch immer
dableiben!" Kaum hat die frohe Kinderschar am Morgen an der wohl-
schmeckenden Milch sich gelabt und die Butterbemmen gepackt, dann
eeht's fort mit ihr hinaus in Gottes freie Natur. Mit welcher Freude
Wohlfohrtseinrichtuns;en für lieclürflige oder leidende Kinder. 49
wandern meine Jungen durch den rauschenden grünen Gebirgswald,
wo die Heidel- und Preißelbeere reift, wo weiches Moos wie ein
grünes Polster den Boden überzieht, wo das flinke Eichhörnchen
turnt zum lustigen Konzert der Finken und Zeisige. Wir besuchen
die sägende Brettmühle im stillen Talgrunde; wir besteigen die luftige
Bergeshöhe und lassen unsern Blick weithin über die sich vor
uns ausbreitende Landschaft schweifen; wir lagern uns auf sonniger
Heide und lassen uns die duftenden Heidelbeeren trefflich munden;
wir durchstreifen das dunkle Fichtendickicht, um Stein- und Birken-
pilze einzuheimsen; wir spielen mit dem silberhellen Waldbächlein,
das lustig plätschernd durch Farrenkraut und über weiße Kiesel dahin-
eilt. Und am Sonntagmorgen wie feierlich, wenn ringsherum aus den
Tälern des Gebirges die Sonntagsglocken erschallen, wenn frommer
Lobgesang aus Kindermund die weiten Hallen des Walddomes durch-
klingt und die Bäume des Waldes darein rauschen wie Töne einer
Orgel. „Dann gehet leise nach seiner Weise der liebe Herrgott durch
den Wald." Unsere Wanderungen lassen uns auch einen Blick
in das Leben und Treiben der Gebirgsbewohner, ihr Wohl und Wehe
tun. Wir sehen zu, wie im Moore der Torfgräber Torf sticht und zu
Ziegeln formt; wir beobachten im Walde den Holzhauer, wie er
Bäume fällt und für den Gerber die Rinde abschält; wir treten ein in
die kleine, reinliche Gebirgshütte, wo die arme Näherin für kärglichen
Lohn mit Perlen und Seide stickt; wir besuchen die Arbeitsstätten
des vogtländischen Webers und Stickers, die mit Geschick und Fleiß
die Vorhänge für unsere Wohnungen und die feinen Stickereien für
unsere vornehmen Damen herstellen; wir unterhalten uns mit dem
biederen Förster, der uns schöne Waldwege führt und auf einsamer
Waldesblöße äsende Rehe zeigt. Für die Knaben gibt es also Er-
holung und Stärkung an Leib und Seele, Belehrung und Unterhaltung
in mannigfachster Weise. Und beim frischen, frohen Wandern ist
der Führer den Kindern ein väterlicher Freund, dem sie ihr Herz er-
schließen, und der ihnen auf hunderterlei Fragen Rede und Antwort
steht. Solche Ferienwanderungen sind Glanzpunkte der Schulzeit,
die mit ihrem verklärenden Scheine weit hinaus ins Leben schimmern.
Auch daheim im Gasthofe herrscht frisches, fröhliches Leben.
Auf dem weiten Wiesenplan hinter dem Hause können die Jungen
sich tummeln und spielen, soviel sie wollen, auf dem weichen Rasen
können sie sich sonnen und ihre ermüdeten Glieder zur Ruhe au.s-
strecken nach Herzenslust. An den kleinen Arbeiten, die eine Gast-
und Landwirtschaft mit sich bringt, dürfen sie teilnehmen. Mit lautem
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. Anhang. 4
50 Wohlfahrtseinrichtungen.
Jubel führen sie die Kühe zur Tränke, treiben sie die Gänse auf den
Anger, fahren sie mit dem Wirte zur Wiese, um das Heu in die
Scheune heimzufahren. Und endlich, was für die hungrige Kinder-
schar die Hauptsache ist, an der Mittagstafel warten ihrer lukullische
Genüsse. Vogtländische Klöße mit Schweinebraten, Kartoffelmus mit
Hackebraten, Nudeln mit Rindfleisch, Erbsen mit Bratwurst sind ihre
Lieblingsgerichte, und auch ein Eierkuchen wird von ihnen nicht ver-
achtet. Und wenn nun gar am Sonntage zum Kaffee der vielbe-
sprochene Heidelbeer- und Streuselkuchen, in Bergen aufgetürmt, den
Tisch bedeckt, dann will das Jubilieren der Jungen kein Ende nehmen.
Was Wunder, daß sich die schwachen Körper der Kinder sichtlich
erholen, ihre bleichen Wangen sich röten und bräunen, ihre Augen
jetzt heller erglänzen. Ein Junge schrieb heute nach Hause: ,, Liebe
Eltern! Ihr werdet mich bei der Heimkehr wohl kaum wieder er-
kennen, so dick bin ich schon geworden." Nun so laßt euch's, ihr
Jungen, auch weiter recht wohl schmecken, damit ihr dick und gesund
heimkehrt ins Vaterhaus! Über die sittliche Führung der Knaben
habe ich nicht im mindesten zu klagen; alle sind folgsam und willig,
voll dankbarer Freude."*)
Neben den Vollkolonien, welche die Kinder während des ganzen
Tages aufnehmen, sind hier noch die Halbkolonien zu nennen, in
welchen im Jahre 1901 beinahe der dritte Teil aller Ferienkolonisten
untergebracht war. Sie haben die Aufgabe, solchen erholungs-
bedürftigen Kindern, welche aus irgend einem Grunde von dem Land-
aufenthalte in den Ferien ausgeschlossen bleiben müssen, Gelegenheit
zu geben, wenigstens einen Teil des Tages in frischer Luft zu ver-
bringen. Die Kinder werden gewöhnlich in ein der Stadt nahe-
liegendes Dorf oder in einen ländlichen Vorort geführt und bringen
die Zeit mit Spiel oder Wanderungen in W^ald und Feld hin. Sie
erhalten gewöhnlich ein Vesperbrot aus guter Milch, Brot und Butter,
bisweilen auch noch ein Abendessen. Auch diese Einrichtung hat
sich im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte als sehr segensreich
bewährt.
Über den Umfang, welchen die Einrichtung der Ferienpflege in
Deutschland gewonnen hat, möge die folgende Tabelle Auskunft
geben.
Im Vergleich zum Jahre 1900 stellen sich die einzelnen Ver-
pflegungsformen wie folgt dar:
*) Bericht des Vereins für Ferienkolonien zu Leipzig, erstattet für 1902. (S. 12 u. 13.)
Wohltuhrtscinrichtungen für bediirftis^e oder leidende Kinder.
51
Die Kinder wurden verpilegt
Zahl der Kinder ; 1901
1 gegen 1900
1901 1 1900 j mehr j weniger
in geschlossenen Kolonien:
a) in Vereinspflegehäusern ....
b) in fremden Häusern
in Familien auf dem Lande:
a) gegen Bezahlung
b) in Freiquartieren
in Heilstätten:
a) der Solbäder
b) der Seebäder
in Stadtkolonien . .
6 835
8810
2 260
409
4 355
2 070
10 857
7 320 —
7 917 893
2 216 44
393 16
4 253 102
2 023 47
10.574 283
485
Summa
35 596
34 696 1385
! +
485
900
Die Zahl der deutschen Städte, welche .sich an der Entsendung
von Kindern in die Ferienkolonien beteiligten, betrug im Jahre 1901
116, die der Stadtverwaltungen und Vereine, welche Mittel für diesen
Zweck beisteuerten oder Ferienkolonien aussandten, 185, die auf-
gewendeten Mittel beliefen sich auf 1 040 381 M. Die Kosten pro
Tag und Kind stellten sich bei geschlossenen Kolonien in eigenen
Häusern durchschnittlich auf 1,30 M., in fremden Häusern auf etwa
1,42 M., in Familien auf dem Lande (gegen Bezahlung) auf 1,13 M.;
in Halbkolonien waren sie je nach der gebotenen Verpflegung und
der Entfernung des zum Aufenthalt gewählten Ortes von der Stadt
recht verschieden, selten aber höher als 50, im Durchschnitt 20 Pfg.
In manchen Solbädern besteht eine Winterpflege für kranke
Schulkinder, auch unterstützen zahlreiche Vereine diejenigen Kinder,
welche im Sommer in Ferienkolonien untergebracht waren, im Winter
durch Verabreichung von Milch, Frühstück, Mittagessen und Bädern
und lassen ihren Gesundheitszustand durch Besuche im Elternhause
oder durch die Vermittlung der Schule kontrollieren.
C. Speisung und anderweitige Unterstützung armer
Schulkinder. FLine Ergänzung zu der Tätigkeit der Ferienkolonien
welche ihre Aufgabe hauptsächlich im Sommer erfüllen, bilden die
mannigfachen Wohlfahrtseinrichtungen, welche man geschaffen hat,
um armen Schulkindern die harte Winterszeit zu erleichtern. Nicht
allein die rauhe Witterung bringt für sie Leiden und Gefahren
mancher Art mit sich, sondern auch die Beschäftigungslosigkeit, welche
4*
52 \Vohlfahrtseinrichtungen.
ganze Kategorien von Arbeitern, wie Maurer und Erdarbeiter, zur
Winterszeit in ihrem Erwerbe hindert. Vor allen Dingen bleibt unter
diesen Umständen häufig die Ernährung des Kindes hinter den An-
forderungen der Hygiene zurück. Nicht selten sieht man an regne-
rischen oder kalten Dezembertagen Kinder zur Schule wandern, w^elche
zu Hause kein warmes Frühstück genossen und auch kein Frühstücks-
brot in der Tasche haben, um ihren Hunger bis zur Mittagszeit zu
stillen. Anderen fehlt es sogar an einem warmen Mittagessen, und
sie genießen dann wohl an seiner Stelle ein Stück Brot und eine
Tasse schlechten Kaffee, ja sie finden sogar, wenn sie von dem Schul-
unterricht nach Hause zurückkehren, die Tür verschlossen, da Vater
und Mutter ihrer Arbeit nachgehen und erst gegen Abend wieder-
kommen. Sie müssen dann wohl bei Nachbarsleuten um Einlaß
bitten, wenn sie die rauhe Witterung am Umhertreiben auf der
Straße hindert.
Wie für diese bedauernswerten Kinder die in vielen Städten ein-
gerichteten Kinderhorte sorgen, ist bereits dargelegt worden; ihre
Wirksamkeit kann natürlich nur einen kleinen Teil der vorhandenen
Not lindern und muß durch andere Werke der barmherzigen Liebe
ergänzt werden.
Es haben sich in fast allen größeren deutschen Städten Vereine
von Menschenfreunden gebildet, um die Leiden dieser darbenden
Kinder durch Gewährung von Frühstück, bestehend in Brot und
warmer Milch, von Mittagessen, bestehend in Brot und einer nahr-
haften Suppe, durch Speisung in den Kinderhorten zu lindern. Als
Beispiel möge hier auf die Tätigkeit des Frankfurter Vereins zur Be-
schaffung von Frühstück hingewiesen werden, welcher im Winter
1901/02 in 23 Schulhäusern täglich 1668 Kinder mit einem Frühstück,
aus Brot und warmer Milch bestehend, verpflegt hat. Im ganzen
wurden an 95 Verabreichungstagen 148 900 Portionen abgegeben.
Die Aufwendungen des Vereins betrugen in dem genannten Winter
20 589,05 M.
In anderen Städten hat die Kommune selber die Kosten für
diese Verpflegung der Kinder übernommen. So sagt der Jahresbericht
über den Stand der städtischen Schulen in Mannheim vom Jahre 1 902/03,
daß an 86 Verpflegungstagen vom 1 . Dezember bis 1 . April mit einem
Aufwand von 1 9 207,86 M, im ganzen 2996 Kinder täglich mit einem
Frühstück, bestehend aus Milch und Brötchen, versorgt wurden. In
Berlin setzt sich der ,, Verein zur Speisung armer Kinder und Not-
leidender" unter anderem die Aufgabe, Schulkindern Frühstück zu cre-
\\ohlt'.ihrtseinrichtun<ren für bedürftige oder leidende Kinder. 53
Währen. Im Jahre l9U2/();^ sind für diesen Zweck 13 088,42 M. ver-
ausgabt worden, zu welcher Summe der Magistrat von BerUn 3000 M.
beigesteuert hatte. Außerdem wurden noch 981 M. aus einer Stiftung,
dem Rudolf-Fonds, für diesen Zweck verwendet, sodaß für Berlin im
ganzen 14 290,39 M. für die Gewährung von Frühstück an arme
Schulkinder verausgabt wurden. Die Kinder erhielten hierfür in den
meisten Fällen ein Weißbrot (Schrippe) oder eine „Schmalzstulle",
in einigen Fällen \\'ohl auch ein Glas warme Milch. In Hannover
spenden die Freimaurerlogen Brot und warme Milch zum Frühstück
für die Schulkinder. Eine jährlich wiederkehrende Haussammlung
und freiwillige Gaben ergänzen ihre Aufwendungen. Auch die Stadt-
verwaltung leistet einen jährlichen Beitrag von 500 M. Im Winter
1901/02 wurde das Milchfrühstück in 19 Bürgerschulen an etwa
1000 Kinder verteilt, und es sind dafür nahezu 6000 M. ausgegeben
worden.
Der Frühstücksspeisung reiht sich an vielen Orten die unentgelt-
liche Gewährung warmen Mittagessens an. Auch diese Veranstaltung
ist gewöhnlich Sache wohltätiger Vereine; noch seltener und in ge-
ringerem Maße als die Frühstücksverteilung wird die Gewährung un-
entgeltlicher Mahlzeiten an Schulkinder von den städtischen Ge-
meinden in die Hand genommen. Das übliche Verfahren ist die
Einrichtung einer Schulküche und eines Speisesaals entweder im
Schulhause oder in anderen Lokalitäten. In selteneren Fällen, bei-
spielsweise in Karlsruhe, hat man sich daneben auch bemüht, wohl-
tätige Personen zu gewinnen, die sich bereit erklären, dem einen oder
anderen besonders bedürftigen Kinde wöchentlich ein- oder zweimal
ein ^Mittagessen zu gewähren. Die Zahl der Familien, die sich hierzu
bereit finden ließen, belief sich in Karlsruhe um die Mitte der neunziger
Jahre (neuere Berichte liegen dem Verfasser nicht vor) auf ca. 500.
In Dresden gewährt der unter dem Protektorate Ihrer Königlichen
Hoheit der Frau Prinzessin Johann Georg stehende „Verein zur
Speisung bedürftiger Schulkinder" jährlich einer größeren Anzahl von
Kindern eine ausreichende warme Mahlzeit. Der Vereinsbericht
1901/02 sagt darüber:
,, Jedem Kinde wird eine gut zubereitete und zur Sättigung aus-
reichende Portion Gemüse mit Fleisch verabfolgt. Wir wollen damit
den bedauernswerten Kindern, welche eine warme und kräftige
Mittagskost vielfach völlig entbehren müssen, ja oft einer
solchen kaum jemals teilhaftig geworden sind, regelmäßig und wäh-
rend der ganzen Dauer der kalten Jahreszeit — nicht nur hin und
54 Wohlfahrtseinrichtungen.
wieder — ein stärkendes ^Mittagessen bieten und fördern hierdurch
unzweifelhaft ihre körperUche und geistige Entwicklung."
Die Speisung findet in geeigneten Gastwirtschaften in besonderen,
nur für die Kinder bestimmten Zimmern mit eigenem Zugang für
diese statt und wird von den Ehrendamen des Vereins, in vielen
Fällen auch seitens der Direktoren und Lehrer bezw. Lehrerinnen
beaufsichtigt. Ein Verweilen der Kinder in anderen als den
für sie bestimmten Restaurationsräumen wird streng vermieden. Die
Speisung fand statt vom 4. November 1901 bis 8. März 1902.
Die nachstehende Zusammenstellung gibt ein Bild über die
Wirksamkeit des Vereins seit seinem Bestehen.
Zahl
Zahl
1
Veraus-
Aufgew
endeter
der
der
gabte j
Betrag
Schulen
Kinder
M.
Pf.
Tanuar-Män
1896 . .
9
300
1
16 039
3 207
80
Winter
1896/97 . .
12
370
38136
7 627
20
„
1897/98 . .
14
400
41 324
8 264
80
1898/99 . .
15
425
43 854
8 770
80
„
1899 00 . .
17
480
49 590
9918
—
„
1900,01 . .
18
500
53 137
10 627
40
"
1901/02 . .
Zusammen .
19
525
50715
10143
-
292 795
58 559
-
Die von dem Rate der Stadt Dresden dem Verein überwiesenen
Mittel sind verhältnismäßig gering.
In Berlin hat der von dem Kaufmann Hermann Abraham be-
gründete „Verein für Kindervolksküchen Berlin" sich den Zweck
gesetzt, in denjenigen Stadtgegenden Berlins, wo ein Bedürfnis ob-
waltet, Küchen zur Speisung von Kindern einzurichten. In diesen
Kindervolksküchen erhalten bedürftige Kinder unentgeltliche Speisung,
minder bedürftige Portionen zum Selbstkostenpreise. Es bestanden
zu Beginn des Winters 1902/03 10 solcher Kinder\'olksküchen. Über
die in ihnen gewährte Speisung im Winter 1901/02 gibt folgende
Tabelle Auskunft.
In allen Küchen zusammen wurden in dieser .Zeit durchschnittlich
2869 Portionen täglich ausgegeben; die Ko.sten, welche sich in dem
genannten Winter auf 56 823,73 M. beliefen, wurden im wesentlichen
durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Legate, durch Beihilfen seitens
der Stadt Berlin (1500 M.) und vom Verein für Beschaffung wohl-
Wohlfahrtseinrichtungen für bedürftige oder leidende Kinder.
55
1
1
Tag
der
Zahl
der verabfolgten
1
Küche
Zahl
der
Portionen
Eröff-
Schließ-
Speise-
gegen
nung
ung
tage
unent-
5 Pf. die
zusammen
1901
1902
gelthch
Portion
,
t
I. Miilackstr. 35 . . .
1. 11.
27. 3.
121
25003
1955
26 958
n. Gubenerstr. 13 . . .
4. 11.
25. 3.
118
31086
2 338
33 424
m. Forsterstr. 20 . . .
6. 11.
25. 3.
116
30 700
3 795
34 495
IV. Willibald-Alexisstr. 39
4. 11.
25. 3.
118
21 325
5 029
26 354
\'. Kaiser Friedrichstr. 13
4. 11.
25. 3.
118
16 982
4 392
21374
VI. Bugenhagenstr. 8 . .
5. 11.
25. 3.
117
30 435
10 243
40 678
Vn. Sparrstr. 8 . . . .
7. 11.
25. 3.
115
43 034
3 665
46 699
VIII. Gropiusstr. 3 . . •
7. 11.
25.3.
115
34 051
2 684
36 735
IX. Swinemünderstr. 34 .
5. 11.
26.3.
118
27 876
6 043
33 919
X. Treskowstr. 60 . . .
4. 11.
25. 3.
118
27 981
7 078
35 059
zusammen
1 174
288 473
47 222
335 695
pro Küche durchschnittlich
117
28 847
4 722
33 569
feiler und guter Nahrungsmittel usw. (7500 M.), durch Erträge aus
festlichen Veranstaltungen und den Erlös aus verkauften Mittags-
portionen gedeckt. Die Aufsicht in diesen Kindervolksküchen wird
freiwillig und mit dem besten Erfolge von einer großen Anzahl von
Damen der Gesellschaft ausgeübt. Jede Küche steht unter der be-
sonderen Leitung einer Vorsteherin, welcher 10— 12 Ehrendamen zur
Seite stehen.
In München ist auch die Wohlfahrtseinrichtung der Mittagspeisung
eine Verwaltungsangelegenheit der Gemeinde geworden. Bei dem
Bau von Schulhäusern wird regelmäßig die Anlegung einer Suppen-
küche und eines Speisesaals für Schulkinder vorgesehen, über deren
Ausrüstung das mehrfach erwähnte Programm für den Bau von Schul-
häusern in München nähere Mitteilungen macht. Über Verwaltung
und Besuch dieser Münchener Suppenküchen gibt folgende den Ver-
waltungsberichten von 1900 und 1901 entlehnte Darstellung Auskunft:
„Für solche Kinder, welche während der Mittagszeit das Schul-
haus nicht verlassen, sind in mehreren Schulhäusern sogenannte
Suppen- und Beschäftigungsanstalten eingerichtet, in welchen gegen
Bezahlung oder unentgeltlich ein kräftiges Mittagessen, bestehend aus
Suppe, Fleisch und Brot, verabreicht wird. Die Suppenanstalt ist eine
Anstalt des Armenpflegschaftsrates und besteht aus einer Küche und
einem Suppensaal, in welch letzterem die Kinder ihre Suppe essen
56 Wohlfahrtseinrichtungen.
und außerdem unter der Obhut einer von der königlichen Lokalschul-
kommission aufgestellten Aufsichtsperson (Lehrer bezw. Lehrerin oder
Arbeitslehrerin) zweckentsprechend beschäftigt werden.
Die Suppe wird von einer vom Armenpflegschaftsrate an-
gestellten Suppenköchin zubereitet, welche auch für die Reinlichkeit
und Ordnung in den Räumlichkeiten der Suppenanstalt ver-
antwortlich ist.
Die Einweisung armer Schulkinder in den unentgeltlichen Suppen-
genuß erfolgt durch Beschluß der Bezirkspflegekommission. Ferner
werden in Zukunft die Erträgnisse der Neujahr- Glückwunsch-
Enthebungskarten zum Teil für den Ankauf von Suppenbilletten ver-
wendet und diese neben den aus Wohltätigkeitsstiftungen beschafften
Billetten den Oberlehrern zur Verfügung gestellt, um im Bedarfsfalle
den um unentgeltlichen Suppengenuß nachsuchenden Kindern helfend
beispringen zu können. Vielfach gewinnen die Oberlehrer auch Privat-
wohltäter, v/elche Geldmittel zur Beschaffimg von Suppenbilletten für
arme Kinder bereit stellen.
Nach dem Essen werden die Kinder bei schönem Wetter im
Freien zu geordneten Spielen, Turnübungen, bei schlechtem Wetter
zu Handfertigkeitsarbeiten, Handarbeiten und dergleichen durch die
Aufsichtslehrkräfte angeleitet.
Die Materialien für die Beschäftigungsanstalten liefert die städtische
Regieverwaltung. ' '
Während des Schuljahres 1900/01 waren die nachbezeichneten
Suppen- und Beschäftigungsanstalten eingerichtet, hinsichtlich deren
Dauer und Frequenz die nebenstehenden Angaben Aufschluß erteilen.
Als Städte, in denen Frühstücks- bezw. Mittagsspeisung für be-
dürftige Schulkinder eingerichtet ist, mögen hier folgende genannt
werden: Barmen, Berlin, Bielefeld, Breslau, Danzig, Dortmund, Dresden,
Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Königs-
berg i. Pr., Leipzig, Mannheim, München, Nürnberg, Stuttgart. Das
Verzeichnis kann allerdings auf Vollständigkeit keinen Anspruch
machen.
In vielen Städten machen es sich Privatpersonen und Vereine
zur Aufgabe, zum Weihnachtsfest bedürftige Schulkinder zu beschenken.
Den wichtigsten Bestandteil der Gaben bilden naturgemäß neben
einigen Äpfeln, Nüssen und Pfefferkuchen warme Kleidungsstücke,
W^äsche und Schuhwerk.
Als eine besondere Wohlfahrtseinrichtung im Interesse der
Schuljugend mögen hier die seit 1896 in Nürnberg eingerichteten
^^'olllfahrtseinrichtungen für bedürftige oder leidende Kinder
57
Geöffnet
Frequenz
\'om
Armen-
Aus
Suppen- und
ßeschäftigungsanstalt
im Schulhause an der
pfleg-
schaftsrat
Schen-
kungs-
Zah-
Gesamt-
zahl der
Durch-
schnitt-
liche
(bezw. am)
zum unent-
mitteln
lende
ver-
vom
bis
geltlichen
ver-
Kinder
köstigten
Fre-
1900
1901
Suppen-
genuß
köstigte
Kinder
Kinder
quenz
pro Tag
_
eing. Kind.
1. Silberhornstr. 1) . .
'l5.
m
12.
7.
4 668
218
7 482
12 368
61 '
2. Bergmannstr. . .
i 1.
10.
13.
7.
12 884
3 801
2 258
18 943
89
3. Herrnstr
11.
10.
12.
7.
312
3 370
1 151
4 833
37
4. Wilhelmstr. . . .
2.
10.
12.
7.
6 825
2 933
5114
14 953
70
5. Bazeillesstr. . . .
1.
10.
13.
7.
6 928
5652
4 038
16618
75
6. \Yeilerstr. . . .
' 1.
10.
12.
7.
10 290
655
3 875
14 820
64
, 7. Schwindstr. . . .
15.
10.
12.
7.
4 766
633
3319
8718
35
8. Herzog Wilhelmstr.
2.
10.
12.
7.
—
6 452
2 302
8 754
62
9. Klenzestr . . .
15.
10.
13.
7.
5 154
6 579
4 976
16 709
81
1 0. Columbusstr. 2) . .
16.
10.
13.
7.
3 694
492
2 373
6 559
24
3). .
28.
1.
12.
7.
1 786
97
1847
3 730
18
11. Plinganserstr. . .
7.
1.
13.
7.
3 467
2 174
2 833
8 474
41
12. St. Annastr. . . .
11.
10.
12.
7.
5 064
2 016
1 985
9 065
44
} 13. Stielerstr
25.
10.
13.
7.
4 740
2 262
2 574
9 576
40
14. Wörthstr
22.
10.
12.
7.
5 959
3 571
3 685
13215
66
15. Kirchenstr. . . .
22.
10.
12.
7.
3918
1 143
3 089
8150
45
16. Dom Pedroplatz .
5.
1
11.
13.
7.
6 539
1534
1 291
9 364
35
1) Nur für die IMädchen dieser Schule
2) Für die Knaben dieser Schule und
^) Für die Mädchen dieser Schule (an
; für Knaben siehe bei No. 10.
der Schule an der Silberhornstraße.
der Columbusstraße).
Schulwärmezimmer genannt werden. Die ,, Festschrift zur 40. Haupt-
versammlung des Vereins deutscher Ingenieure in Nürnberg" 1899,
ein Werk, welches über die Nürnberger Schuleinrichtungen wichtige
und interessante Mitteilungen enthält, sagt darüber:
,,Als im Januar 1896 große Kälte eintrat, beschloß der Magistrat,
den armen Kindern, die während des Tages außerhalb der Schulzeit
zu Hause kein geheiztes Zimmer hatten, in acht Schulhäusern an
verschiedenen Punkten der Stadt je ein Schulzimmer zum Aufenthalte
einzuräumen. In der Mittagszeit von 11 — P/., Uhr und am Mittwoch
und Samstag von 11 — 5 Uhr standen diese Zimmer offen, den Kindern
aber stand es frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten. Zu
ihrer Beaufsichtigung wurden gegen Entgelt jüngere Lehrer oder
Lehrerinnen bestellt. Im Jahre 1896 waren diese Schulwärmezimmer
f 3 Wohlfahrtseinrichtungen.
vom 30. Januar bis zum 15. März, im Winter 1896/97 vom 2. Januar
bis zum 28. Februar geöffnet und hatten sich eines fleißigen Besuchs
von Seiten der Kinder zu erfreuen. In den zwei folgenden Wintern
1 897/98 und 1 898/99 wurden sie in Anbetracht der milden Witterung
nicht geöffnet. Indes werden in jedem November alle Vorkehrungen
dafür getroffen, dafi sie beim Eintritt strenger Kälte den Kindern
sofort zur Verfügung gestellt werden können."
Da die ärmeren Schulkinder oft auch bei Regen und Schnee
mit schadhaftem Schuhwerk und daher mit durchnäßten Füßen zur
Schule kommen, so ist an manchen Orten die Einrichtung getroffen
worden, daß ihnen im Schulzimmer warme Filzpantoffel geliefert
werden, damit sie die durchnäßten Schuhe ausziehen und in der
Nähe des Ofens trocknen können.
3. Hygienische "Wohlfahrtseinrichtungen.
A. Die Schulärzte. Unter den hygienischen Veranstaltungen
im Anschluß an die Volksschule besitzt die Anstellung der Schulärzte
die allergrößte Bedeutung. Auch diese F2inrichtung datiert ihrer
Entstehung nach aus dem letzten Jahrzehnt. Zwar sind häufig auch
schon früher größere oder kleinere Gruppen von Schulkindern ärzt-
lich auf ihren Gesundheitszustand untersucht worden; es handelte
sich hierbei meist um Prüfungen der Sehschärfe oder des Gehörs, um
Untersuchungen des Gebisses oder andere Sondergebiete der Schul-
hygiene; aber diese gelegentlich vorgenommenen Untersuchungen
hatten bisher noch nicht zu einer dauernden Institution geführt, durch
welche der gesamte Gesundheitszustand der Schuljugend regelmäßig
überwacht werden konnte.
Die Entstehung des Instituts der Schulärzte kann nicht besser
als durch die Wiedergabe des Erlasses des Preußischen Unterrichts-
ministers vom 18. Mai 1898 geschildert werden. Dieser Ministerial-
erlaß gibt im Auszuge einen von den Kommissaren des Ministers,
den Herren Geheimen Ober-Regierungsrat Brand i und Geheimen
Medizinalrat Schmidtmann, erstatteten Bericht über die Schularzt-
einrichtung in Wiesbaden:
„Eine im Frühjahr 1895 durch den Magistrat der Stadt Wies-
baden veranlaßte ärztliche Untersuchung von etwa 7000 Schülern der
Volks- und Mittelschulen ergab bei 25 % der Untersuchten körper-
liche Gebrechen und gesundheitliche Mängel, ja selbst an.steckende
Krankheiten und erwies hiermit die praktische Bedeutung der ärzt-
Hygienische Wohlfahrtseiniichtungen. 59
liehen Untersuchung, sowohl für das gesundheitliche und unterricht-
liche Interesse der Kinder, wie für die Schulbehörde.
In richtiger Würdigung dieses Ergebnisses ist auf den Antrag
des um diese Sache besonders verdienten Stadtrates Kalle zunächst
versuchsweise die Anstellung von vier Schulärzten für die Volks-
und Mittelschulen durch den Magistrat zu Wiesbaden im Jahre 1896
erfolgt.
Die den Schulärzten zugewiesenen Aufgaben, welche in einer
Dienstordnung festgelegt wurden, umfaßten:
Die ärztliche Untersuchung aller neu aufgenommenen Schul-
kinder, soweit dieselben nicht einen anderweiten ärztlichen Ausweis
über ihren Gesundheitszustand beibrachten,
die Ausstellung und Führung eines Personalbogens für jedes
kränklich befundene Kind,
die Abhaltung einer Sprechstunde in jeder Schule alle 14 Tage,
nebst hygienischer Revision und Überwachung der Schulräume, ihrer
Ausstattung, Beleuchtung, Lüftung, Reinigung und dergleichen, und
schUeßlich
die Verpflichtung zur Haltung kurzer Vorträge über schul-
hygienische Fragen in den Lehrer- Vereins-Versammlungen.
Für diese Mühewaltung wurde ein Honorar von jährlich je
600 M. gewährt.
Die versuchsweise Einrichtung bewährte sich so, daß die städti-
schen Behörden nach den Erfahrungen des ersten Jahres kein Be-
denken getragen haben, sie zu einer dauernden zu machen und gleich-
zeitig statt der vier Schulärzte nunmehr sechs unter Aufwendung von
3600 M. jährlich anzustellen.
Von der x'Yufsichtsbehörde wird eine erkennbare gesundheitliche
Förderung des Schulwesens in Wiesbaden durch die Schaffung der
Schulärzte bestätigt.
Bei 4 % der Untersuchten konnte den Lehrern Anweisung für
die spezielle Behandlung und Beaufsichtigung mit Rücksicht auf be-
stehende Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit, Rückgratsverkrümmungen,
Bruchanlage und dergleichen erteilt werden, 1 4 % gaben Anlaß, die
ärztliche Behandlung, Reinigung von Ungeziefer und dergleichen, bei
den Eltern, und zwar, wie die spätere Kontrolle erwies, zumeist mit
Erfolg anzuregen.
Auf Grund der gewonnenen Erfahrungen ist nach Ablauf des
Versuchsjahres die Dienstordnung in einigen Punkten umgestaltet
worden und ordnet unter anderem nunmehr die Ausfüllung eines Ge-
60 Wohlfahrtseiniichtungen.
Sundheitsscheines nach vorgeschriebenem Muster für jedes neu ein-
tretende Schulkind an. Zur FeststeUung der Größe und des Ge-
wichtes desselben ist in jeder Schule eine Meßvorrichtung und
Dezimalvvage angebracht. Die Wägung und Messung des Kindes
wird ebenso wie die Eintragung dieser Angaben in die hierfür vor-
gesehene Rubrik des Gesundheitsscheines durch den Klassenlehrer
ausgeführt.
Die am 18. Januar 1898 an Ort und Stelle vorgenommenen Er-
mittelungen stellten insbesondere das hier Folgende fest:
Der ärztliche Besuch in den Schulklassen behufs äußerer Be-
sichtigung der Kinder und gleichzeitiger Beobachtung der schul-
hygienischen Verhältnisse, der Temperatur, Ventilation und der-
gleichen vollzog sich unter verständnisvoller Mitwirkung der Klassen-
lehrer, ebenso wie die Abhaltung der Sprechstunde, leicht und
rasch, so daß eine störende Beeinträchtigung des Unterrichts nicht
hervortrat.
Der Vollzug dieser Tätigkeit wird durch einen Laufzettel, auf
welchem von den einzelnen Lehrern alle der ärztlichen Untersuchung
bedürftigen Kinder vermerkt sind, wirksam vorbereitet. Die ärztlichen
Untersuchungen haben regelmäßig einen verhältnismäßig bedeuten-
den Prozentsatz von ausgesprochenen oder beginnenden Rückgrats-
verkrümmungen (7,6 Vo)> von bis dahin zumeist nicht bemerkten
Unterleibsbrüchen (9 7o). von Augenleiden (13,6 ^/o), von Gehör-
fehlern, von Folgen ungenügender Reinlichkeit, sowie die mangel-
hafte Konstitution vieler Kinder bereits beim Eintritt in die
Schule festgestellt. Diese Ermittelungen gewähren der Schulver-
waltung einen Schutz gegen die gebräuchliche Beschuldigung, daß
durch den Schulbesuch diese Leiden erst veranlaßt werden. Die-
selben bieten ferner die Möglichkeit, den Ausschluß von Kindern mit
ansteckenden Krankheiten, Krätze, Ungeziefer und dergleichen recht-
zeitig zu bewirken, die Hineintragung von Ansteckungskeimen in die
Schulräume, die Infektion anderer Kinder zu verhindern und der
Notvv^endigkeit eines hierdurch öfters herbeigeführten Schulschlusses
erfolgreich vorzubeugen.
Um diese Vorteile für Schule und Schulkind zu sichern, wird
die ärztliche Untersuchung auf übertragbare Leiden am besten vor
Eintritt des Kindes in die Schule, bei der Aufnahme, vorgenommen.
Indem die erstmalige ärztliche Untersuchung und demnächstige
fortdauernde Beaufsichtigung der Schulkinder auch zur Erkennung
von Infektionsherden in den Familien führt, kann dieselbe über das
Hygienische Wolilfalirtscinriclitungen. 61
engere Gebiet der Schule hinaus zu einer Kontrolle des öffentlichen
Gesundheitszustandes dienen, und dadurch, daß der Schularzt den
mit der Überwachung der allgemeinen Gesundheit betrauten Organen
durch Mitteilung allgemein wichtiger Feststellungen die Möglichkeit
zur Ermittelung und Unterdrückung bisher unbemerkter Infektions-
herde bietet, kann derselbe die öffentliche Gesundheitspflege wesent-
lich unterstützen.
Die Einrichtung des Schularztes gestaltet sich somit zu einer
allgemein nützlichen hygienischen Maßnahme.
Wie auf gesundheitlichem Gebiete, so gewähren die schul-
ärztlichen Feststellungen auch einen Einblick in die sozialen Ver-
hältnisse und zeigen der allgemeinen Wohlfahrtspflege die Wege für
eine wirkungsvolle Ausübung.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war die Beobachtung
bei der Untersuchung 1895, daß nur 45,7 % von 6949 Kindern eine
gute, 45,6 % eine mittlere und 8,7 % eine schlechte Körper-
konstitution darboten. Diese Zahlen lassen erkennen, daß in weiten
Schichten der ärmeren Bevölkerung die Ernährung keine für die
normale körperliche Entwicklung der Kinder genügende ist. Die
Verabreichung eines warmen Frühstücks, bestehend aus Hafergrütz-
suppe und Brot, welche in den Volksschulen von Wiesbaden während
der Monate Dezember bis März geübt und aus freiwilligen Beiträgen
bestritten wird, ist hiernach vor der Beurteilung als einer überflüssigen
Wohlfahrtseinrichtung geschützt, und die Tatsache, daß in einzelnen
Stadtteilen bis zu 20 % der Gesamtzahl der Schüler sich zum Früh-
stück vor Schulbeginn einfinden, beweist in Übereinstimmung mit den
schulärztlichen Erhebungen, daß hier einem wirklichen Bedürfnis ent-
sprochen wird.
Ferner erweisen hierdurch Turnen, Spiel und Schulbad als ge-
eignete Mittel zur Besserung der allgemeinen Konstitution und zur
Förderung der gedeihlichen körperlichen Entwicklung ihre Berechtigung
im Leben der Schule.
Die anfänglich vereinzelt bemerkte Abneigung der Eltern gegen
den Schularzt ist geschwunden. Das wachsende Verständnis für die
Nützlichkeit der Einrichtung beweist die Tatsache, daß 1897 bei einer
Aufnahme von 1700 Kindern nur 35 der schulärztlichen Untersuchung
durch Vorlegung ärztlicher Atteste entzogen wurden. Den An-
regungen, welche die Eltern durch Vermittlung der Lehrer mündlich
oder schriftlich auf vorgedrucktem Formular für die Behandlung ihrer
Kinder erhalten, wird, wie vorerwähnt, fast ausnahmslos willig Folge
52 Wohlfahrtseinrichtungen.
geleistet. Allein bei der Feststellung von Ungeziefer hat sich ein
Widerstand bei manchen Eltern bemerkbar gemacht, der sich jedoch
durch das bisher geübte umständliche und mit Kosten verknüpfte
Verfahren zur Ungezieferbeseitigung einigermaßen erklärt und voraus-
sichtlich bei entsprechender Änderung verschwinden wird.
Die von einigen Seiten gehegten Befürchtungen, daß Mißhellig-
keiten zwischen Lehrer und Schularzt entstehen würden, haben sich
nicht bestätigt. Die schulärztliche Tätigkeit ist von den Lehrern als
eine die Schulzwecke unterstützende erkannt worden, und auch für
den Schulbetrieb ist durch den Eintritt des Schularztes die von
manchem Lehrer besorgte Störung nicht eingetreten.
Zu dieser erfreulichen Entwicklung haben die Schulärzte infofern
beigetragen, als sie ihr Amt mit Takt ausgeübt und unerfüllbare
Forderungen nicht gestellt haben. Etwaige Beschwerden der Schul-
ärzte unterliegen der Prüfung in der Schulhygienedeputation, welche
aus zwei Magistratsmitgliedern, drei Angehörigen der Schuldeputation
und einem Schularzt gebildet ist.
Durch die Teilnahme der Lehrer an den ärztlichen Unter-
suchungen bei ihren Schülern und durch ihre Kontrolle über die für
das hygienische Verhalten der Kinder sowie über Reinhaltung,
Lüftung, Heizung und Beleuchtung der Schulräume gegebenen An-
ordnungen und Anregungen ist das Interesse der Lehrer in erfreu-
licher Weise geweckt und ihr Blick für diese Sachen geschärft
worden.
Die ärztlichen Anordnungen, welche, wie bemerkt, den Eltern
oft durch den Lehrer persönlich übermittelt werden, haben in vielen
Fällen erwünschte Beziehungen zwischen Schule und Elternhaus ge-
schaffen.
Kompetenzstreitigkeiten mit den Medizinalbeamten wegen der
Wahrnehmung der hygienischen Beaufsichtigung der Schullokalitäten
und dergl. seitens der Schulärzte sind nicht vorgekommen, da die
letzteren durch ihre Instruktion auf die Anrufung des Königlichen
Kreisphysikus bei Feststellungen von allgemeiner und prinzipieller
Bedeutung hingewiesen sind. Außerdem wird der Krei.sphysikus zu
den Verhandlungen der Schulhygienekommission über Fragen von
größerer Tragweite regelmäßig zugezogen. Das verständnisvolle Zu-
sammenwirken der Schulärzte und der Medizinalbeamten bei Er-
mittlung und Unterdrückung ansteckender Krankheiten hat sich so-
wohl für die öffentliche Gesundheitspflege wie für die Schule be-
sonders vorteilhaft erwiesen.
Hygienische Wohlfahitseinrichtungen. 53
Auch das kollegiale Verhältnis mit den praktischen Ärzten ist
durch die Schaffung des Schularztes nicht getrübt worden, da durch
die Bestimmung der Dienstordnung, nach welcher die ärztliche Be-
handlung erkrankter Schulkinder nicht Sache des Schularztes ist, den
Eingriffen in die hausärztliche Praxis und in den Krankenkreis der
anderen Arzte gesteuert worden ist."
Die Ministerial-Kommissare faßten ihr Urteil über die Schularzt-
einrichtung in Wiesbaden dahin zusammen:
„Die bisherigen Erfahrungen haben bewiesen, daß die Anstellung
von Schulärzten für Volks- und Mittelschulen einen nicht zu unter-
schätzenden Nutzen für die Schule und die Schüler bietet, daß die-
selbe mit den Schulzwecken wohl vereinbar und unter gleichen oder
ähnlichen Verhältnissen wie in Wiesbaden ohne größere Schwierig-
keiten praktisch durchführbar ist. Insbesondere ist nach dieser Unter-
suchung hervorzuheben, daß die bekannten gegen den Schularzt er-
hobenen Bedenken, die man auch in Wiesbaden gehegt hatte, durch
die Erfahrung nicht bestätigt worden sind.
Es ist daher nur zu wünschen, daß das dankenswerte Vorgehen
der städtischen Behörden in Wiesbaden zahlreiche Nachahmung
finden, und daß damit die fortschreitende Entwicklung unseres
preußischen Schulwesens auf diesem für die Volksgesundheit so
wichtigen Gebiete der Schularzteinrichtung endgültig gesichert werden
möge."
Über die Pflichten der Schulärzte gibt die Dienstordnung für
Schulärzte an den städtischen Volks- und Mittelschulen in Wiesbaden
Auskunft. Da dieselbe einer großen Anzahl von anderen deutschen
Städten als Vorbild gedient hat, so möge sie hier unverkürzt zum
Abdruck gelangen:
,,Die Schulärzte haben die Aufgabe, den Gesundheitszustand
der ihnen zugewiesenen Schüler zu überwachen und bei der ärztlichen
Revision der zur Schule gehörenden Räumlichkeiten und Einrichtungen
mitzuwirken, und sind demgemäß verpflichtet, alle in diese Aufgabe
fallenden Aufträge des Magistrats auszuführen.
Insbesondere gelten hierbei die nachfolgenden V^orschriften :
1 . Die Schulärzte haben die neueintretenden Schüler genau auf
ihre Körperbeschaffenheit und ihren Gesundheitszustand zu unter-
suchen, um festzustellen, ob sie einer dauernden ärztlichen Über-
wachung oder besonderen Berücksichtigung beim Schulunterricht
(z. B. Ausschließung vom Unterricht in einzelnen Fächern, wie Turnen
und Gesang, oder Beschränkung in der Teilnahme am Unterricht,
64 Wohlfahrtseinrichtungen.
Anweisung eines besonderen Sitzplatzes wegen Gesichts- oder Gehör-
fehler usw.) bedürfen.
Außer dieser, in den ersten 4 — 6 Wochen des Schuljahres vor-
zunehmenden genaueren Untersuchung sollen die neueintretenden
Schulkinder in den ersten 2 — 3 Tagen bereits einer äußeren ärzt-
lichen Revision unterzogen werden behufs Ermittlung von übertrag-
baren Krankheiten und Ungeziefer.
Über jedes untersuchte Kind ist ein dasselbe während seiner
ganzen Schulzeit begleitender „Gesundheitsschein" auszufüllen. Er-
scheint ein Kind einer ständigen ärztlichen Überwachung bedürftig,
so ist der Vermerk , .ärztliche Kontrolle" auf der ersten Seite oben
rechts zu machen. Die Spalte betreffend „allgemeine Konstitution"
ist bei der Aufnahmeuntersuchung für jedes Kind auszufüllen und
zwar nach den Kategorien ,,gut, mittel und schlecht".
Die Bezeichnung „gut" ist nur bei vollkommen tadellosem Ge-
sundheitszustand und , .schlecht" nur bei ausgesprochenen Krankheits-
anlagen oder chronischen Erkrankungen zu wählen.
Die anderen Rubriken werden nur im Bedürfnisfalle ausgefüllt,
und zwar bei der Aufnahmeuntersuchung oder auch bei im Laufe
der späteren Schuljahre vorkommenden Erkrankungen. Die Wä-
gungen und Messungen werden von den betreffenden Klassenlehrern-
vorgenommen und sind in jedem Halbjahre in die betreffende
Spalte einzutragen (Abrundung auf V2 cm und 1/4 ^§)- Brustumfang
wird vom Arzte gemessen, jedoch nur bei Kindern, die einer Lungen-
erkrankung verdächtig sind.
2. Alle 14 Tage — wenn ansteckende Krankheiten auftreten,
auch häufiger — hält der Schularzt an einem mit dem Schulleiter
vorher verabredeten Tage (z. B. dem L und 3. Donnerstag des
Monats) in der Schule Sprechstunden ab. Zeit: Vormittags 10 bis
nicht über 12 Uhr. Hierzu ist, wenn irgend möglich, dem Arzte ein
eigenes Zimmer zur Verfügung zu stellen.
Wünscht der Arzt an einem andern als dem verabredeten Tage
die Schule zu besuchen, so hat er dies mindestens 3 Tage früher dem
Schulleiter mitzuteilen.
Bei unvorhergesehenen Behinderungen gilt der nächstfolgende
Wochentag als Besuchstag.
Die erste Hälfte der Sprechstunde dient zu einem je 10 — 15
Minuten dauernden Besuche von 2—5 Klassen während des Unter-
richtes.
Jede Klasse soll, wenn möglich, zwei mal während eines Halb-
Hygienischi- W'uhlf.ilirtseinnchlungtn. 55
Jahres besucht werden. Bei diesen Besuchen werden sämtUche
Kinder einer äußeren Revision unterzogen; bei besonderen, zu so-
fortiger Besprechung geeigneten Beobachtungen wird von dem
Lehrer Auskunft gefordert und ihm solche auf V'erlangen erteik.
Erscheinen hierbei einzehie Kinder einer genaueren Unter-
suchung bedürftig, so ist diese nachher in dem ärztlichen Sprech-
zimmer vorzunehmen.
Gleichzeitig dienen diese Besuche auch zur Revision der Schul-
lokalitäten und deren Einrichtung sowie zur Kontrolle über Venti-
lation, Heizung, körperliche Haltung der Schulkinder usw.
Aus pädagogischen Rücksichten wird vom Arzte er\\artet, daß
er hierbei jedes Bloßstellen eines Lehrers vor seiner Klasse in takt-
voller Weise vermeidet.
In der zweiten Hälfte der Sprechstunde sind etwa erforderliche
genauere Untersuchungen vorzunehmen.
Auch sind hierbei Kinder aus anderen, an dem Tage nicht
besuchten Klassen dem Arzte zuzuführen, letztere jedoch nur in
wirklich dringenden Fällen, besonders bei Verdacht auf ansteckende
Erkrankungen.
Die Gesundheitsscheine sämtlicher zur Untersuchung kommenden
Kinder sind von dem Klassenlehrer dem Arzte vorzulegen bezw. zu
übersenden. Der betreffende Klassenlehrer hat, wenn irgend an-
gängig, bei der ärztlichen Untersuchung zugegen zu sein. Für Be-
nachrichtigung der übrigen Klassen und Zuführung der betreffenden
Kinder zu sorgen, ist Sache des Schulleiters, und geschieht ersteres
am besten durch einen am Tage vorher in sämtlichen Klassen zirku-
lierenden Laufzettel, auf welchem die einzelnen Lehrer bemerken,
ob und wieviele Kinder einer ärztlichen Untersuchung bedürfen.
Die ärztliche Behandlung erkrankter Schulkinder ist nicht Sache
des Schularztes. Erscheint eine solche notwendig, so sind die be-
treffenden Eltern hiervon zu benachrichtigen. Denselben bleibt die Wahl
des Arztes überlassen, doch dürfte sich der Hinweis auf erforderliche
spezialistische Behandlung in geeigneten Fällen (Augen, Hals, Nase
usw.) empfehlen. Bei älteren Kindern kann dies mündlich geschehen.
Bei Erfolglosigkeit einer derartigen Ermahnung sowie bei
jüngeren Kindern sind die betreffenden gedruckten ,, Mitteilungen"
auszufüllen.
Es hat dies jedoch nur bei ernsten, wichtigen Erkrankungen zu
geschehen, wo das Interesse des Kindes oder der Schule ein ener-
gisches Vorgehen erfordert.
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. Anhang. 5
56 \\"ohltahrtseinrichiuni^en.
Bei Ausfüllung der betreffenden Formulare ist jede Härte und
Schrofflieit des Ausdruckes zu vermeiden.
Die Zusendung der Formulare an die betreffenden Eltern ist
Sache des Schulleiters.
'A. Die Gesundheitsscheine sind in den betreffenden Klassen
in einem dauerhaften Umschlage aufzubewahren und bleiben, so-
lange sie nicht von dem Schulinspektor eingefordert werden, in der
Schule.
Die Scheine mit dem Vermerk „Ärztliche Kontrolle" sind dem
Arzte bei jedem Besuche in der Klasse vorzulegen. Tritt ein Kind
in eine andere Schule über, so ist sein Gesundheitsschein dahin durch
den Schulleiter zu übersenden.
4. Die Schulärzte haben auf Antrag des Schulleiters einzelne
Kinder in ihrer Wohnung zu untersuchen, um, falls die Eltern kein
anderweites, genügendes ärztliches Zeugnis beibringen, festzustellen,
ob Schulversäumnis gerechtfertigt ist.
5. Die Schulärzte haben mindestens einmal im Sommer, ein-
mal im Winter die Schullokalitäten und deren Einrichtungen zu re\'i-
dieren. Die hierbei wie bei den sonstigen Besuchen gelegentlich ge-
machten Beobachtungen über die Beschaffenheit der zu überwachenden
Gegenstände sowie über Handhabung der Reinigung, Lüftung.
Heizung und Beleuchtung und die etwa an diese Beobachtungen
sich anschließenden Vorschläge sind von den Schulärzten in das
für diesen Zweck bei dem Schulleiter aufliegende Buch einzutragen.
6. Ein Recht zu selbständigen Anweisungen an die Schulleiter
und Lehrer sowie an die Pedellen und sonstigen Schulbediensteten
steht den Schulärzten nicht zu. Glauben sie, daii den von ihnen in-
bezug auf die Behandlung der Kinder oder die Hygiene der Lokali-
täten gemachten Vorschlägen nicht in genügender Weise Rechnung
getragen wird, so lassen sie ihre bezüglichen Beschwerden durch
ihren Vertreter in der Schulhygiene-Kommission zum Vortrag bringen.
In dringUchen Fällen machen sie daneben Anzeige bei dem
städtischen Schulinspektor und eventuell bei dem Königlichen Kreis-
physikus.
7. Behufs Erreichung eines möglichst zweckmäßigen, gleich-
artigen Vorgehens wird der Vertreter der Schulärzte in der Schul-
hygiene-Kommission seine Kollegen zu gemeinsamen Besprechungen
versammeln, zu welchen der Königliche Kreisphysikus insbesondere
dann einzuladen ist, wenn es sich um die gesundheitlichen Verhält-
nisse der Lokalitäten handelt. Im Winter werden die Schulärzte
Hys^ienisclu' Wohlfahrtseinrichtunt^en. i)^
in den Lchrcrversamnilunt^cn kurze Vorträ<^e über die wichtigsten
Fragen der Schulhygiene halten.
8. Die Schulärzte haben bis spätestens 15. Mai über ihre Tätig-
keit in dem abgelaufenen Schuljahre einen schrifdichen Bericht dem
ältesten Schularzte einzureichen.
Der letztere hat diese Einzelberichte mit einem kurzen, über-
sichtlichen Gesamtbericht bis spätestens 1 . Juni dem Magistrat v^orzu-
legen. Bei der Aufstellung der Berichte sind etwa folgende 7 Punkte
zu berücksichtigen :
a) Tabellarische, ziffernmäßige Zusammenstellung der Resultate
bei den Aufnahmeuntersuchungen.
b) Zahl der abgehaltenen Sprechstunden bezw. ärztlichen Besuche
der Klassen.
ci Anzahl und Art der wichtigeren Erkrankungsfälle, die in den
Sprechstunden zur Untersuchung gekommen sind.
d) Etwa erfolgte besondere ärztliche Anordnungen (Beschränkung
der Unterrichtsstunden, des Turnens usw.).
e'i Anzahl der an die Eltern gesandten schriftlichen ,, Mitteilungen"
und deren Erfolg.
i) Anzahl der unter , .ärztlicher Kontrolle" stehenden Schul-
kinder.
g) Summarische Angabe über die in das Hygienebuch einge-
tragenen Beanstandungen bezüglich Lokalitäten usw.
9. Will ein Schularzt außerhalb der Zeit der Schulferien auf
länger als eine Woche die Stadt verlassen, so hat er den Magistrat
rechtzeitig hiervon zu benachrichtigen und für kostenlose geeignete
Vertretung zu sorgen.
1 0. Für ihre Mühewaltung erhalten die Schulärzte aus der Stadt-
kasse ein in vierteljährlichen Raten postnumerando zahlbares Jahres-
Honorar.
1 I . Der Magistrat kann bei nachgewiesener Dienstvernachlässigung
jederzeit die Entlassung des Schularztes verfügen. Im übrigen kann
seitens des Schularztes sowie seitens des Magistrats der Dienst-
vertrag nur nach vorausgegangener vierteljährlicher Kündigung aufge-
hoben werden.
12. Der Magistrat behält sich vor. diese Dienstordnung abzu-
ändern oder zu erweitern.
Wiesbaden, den 25. Juni 1898.
Der Magistrat."
58 Wohlfahrtseinrichtuiigen.
Gegenwärtig besteht nach einer dem Verfasser von dem
Vorsitzenden des Vereins der Berliner Schulärzte, Herrn Professor
Dr. A. Hartmann, giJtigst zur Verfügung gestellten Liste die Einrichtung
der Schulärzte in folgenden deutschen Gemeinden:
Königreich Preußen:
Ostpreußen: Königsberg, Insterburg.
Westpreußen : Danzig.
Brandenburg: Brandenburg, Charlottenburg, Eberswalde,
Grunewald*), Gransee*), Friedrichshagen, Lichtenberg, Neu-
Weißensee, Pankow*), Großlichterfelde, Steglitz, Britz*),
Reinickendorf*), Berlin, Schöneberg, Spandau, Forst*),
Frankfurt a. O., Kottbus, Königsberg i. N.
Pommern: Stettin.
Posen: Posen, Bromberg.
Schlesien: Breslau, Görlitz, Königshütte, Ratibor.
Sachsen: Halberstadt, Magdeburg, Quedlinburg, Halle a. S.,
Zeitz*), Erfurt, Nordhausen, Benneckenstein.
Schleswig-Holstein: Elmshorn, Flensburg, Kiel.
Hannover: Hannover (Hilfsschule), Nienburg, Göttingen, Os-
nabrück.
Westfalen: Bielefeld, Herford, Hagen, Bochum*), Bottrop.
Hessen-Nassau: Cassel, Rinteln*), Frankfurt a. M., Wiesbaden.
Rheinprovinz: Altenessen *j, Borbeck, Essen, Meiderich, Cre-
feld, Lobberich, Dülken, Mühlheim, Ohligs, Remscheid,
Solingen, Bonn, Cöln, Mahlstadt -Burbach, Saarbrücken,
Saarlouis*), Trier, Aachen, Stolberg, Düren, Eupen, Riegels-
berg, St. Johann.
Königreich Bayern: Nürnberg.
Königreich Sachsen: Bautzen, Zittau, Ebersbach, Chemnitz,
Dresden, Freiberg, Riesa*), Leipzig, Krimmitschau, Auer-
bach*), Falkenstein, Plauen, Reichenbach*), Zwickau.
Königreich Württemberg: Heilbronn.
Großherzogtum Hessen: Darmstadt, Offenbach, Alzey, Gießen,
Mainz, Worms, in den Kreisen Worms und Mainz alle Land-
gemeinden, Nierstein, Bodenheim, Oppenheim.
Großherzogtum Sachsen- Weimar: Apolda, Jena*), Weimar,
Ilmenau.
*) Das Zeichen deutet an, daß es fraglicli ist, ob sämtliche Kinder bei der Auf-
nahme in die .Schule untersucht werden müssen.
Ilvüfieiiische \\ Olillahrtseiiirichtungeii. ()Q
Herzogtum Sachsen-Meiiiingen: Meiningen.
Fürstentum Reuß: Gera.
Elsaß-Lothringen: Colmar, ?^Iülliausen, Straßburg.
Für die meisten Schulen ist, wie gesagt, die Wiesbadener Dienst-
ordnung der Schulärzte vorbildlich gewesen. In einigen Orten, wie
in Berlin, besteht die Einrichtung, daß die Kinder im allgemeinen
nicht in der Schule, sondern in der Regel in der Wohnung des
Arztes unter Hinzuziehung der Eltern untersucht werden. Auch
werden nicht überall Gesundheitsscheine ausgestellt und dauernd
geführt.
Das Gehalt der Schulärzte ist in den verschiedenen deutschen
Städten sehr ungleich, von 400 — 2000 M., je nach der Zahl der dem
Schularzt unterstellten Schulen und dem Umfange der ihm über-
tragenen Obhegenheiten. So zahlt z. B. Charlottenburg 500 — 1400 M.
jährlich nach Maßgabe des sich entwickelnden Umfanges der dienst-
lichen Tätigkeit, Frankfurt a. M. 1000 M. (14 Schulärzte für 34 Schulen,
1. April 1901), Breslau 500 M. (für ca. 2000 Kinder), BerHn 2000 M.
für 7 — 8 Gemeindeschulen (36 Schulärzte für die ganze Stadtj, Leipzig
für 19 Schulärzte (1901) zusammen 13 750 M., Schöneberg an 5 Schul-
ärzte je 1000 M., an 1 500 :\1. usw.
Über die Ergebnisse der schulärztlichen Untersuchung Hegen aus
einer großen Anzahl von deutschen Städten bereits Berichte vor. Dem
allgemeinen Bericht über die Volksschulen in Leipzig von 1901/2
S. 36 entnehmen wir folgende, dem Verwaltungsbericht der Stadt
Leipzig von 1901 entlehnten Angaben über die Untersuchung der
neu eintretenden Kinder: Es wurden insgesamt 9031 neu eingetretene
Kinder untersucht und zwar 8666 (96 o/o) von den Schul-, 365 (4 %)
von den Privatärzten. Bei 3748 i= 41,5%) Kindern erschien ärzt-
liche Behandlung erforderlich und zwar bei 43,2% der untersuchten
Knaben, bei 42^ q der Mädchen. Bezüglich der allgemeinen körperlichen
Beschaffenheit erhielten 47,4% aller Kinder die Zensur I, 48,4% die
Zensur II, „der Rest von 4,2 %, erwies sich als sehr schwächUch
und elend''. Das von den Klassenlehrern zur allgemeinen geistigen
Beschaffenheit abgegebene Urteil lautete sehr günstig: zwei Drittel
aller Kinder wurden als gut, ein ganz geringer Prozentsatz als schlecht
bezw. unbegabt bezeichnet. Augenerkrankungen (Entzündungen und
Refraktionsanomalien) zeigten 2033 = 22,5 % aller Kinder. Die
Mädchen waren etwas schlechter gestellt als die Knaben. Überein-
stimmende Resultate ergaben sich bei den Bürger- und Bezirks-
schulen. Die soziaL Stellung- war also ohne Einfluß auf die x\ugen-
70 Wohlfahrtseiniichtuiiijen.
beschaffenheit. Gehörsstörungen fanden sich bei I0O6 = 15,2 "/o ^^^^^
Kinder. Bürger- und Bezirksschulen zeigten hierbei einen auffälligen
Unterschied. An den erste ren hatten 8,8 '^'/,,j an den letzteren 17,5%
aller Kinder kranke Ohren. Hier tritt der Einfluß der sozialen Lage
insofern hervor, als Ohrenleiden vielfach eine Teilerscheinung der
Skrofulöse, der Krankheit schlecht gepflegter und schwächlicher
Kinder, sind. Die Zahnverhältnisse waren sehr schlechte: 5026 =
55,7 '/o ällcJ" Kinder besaßen ein krankes Gebiß. Es hängt dies wohl
mit dem in diesem Lebensalter beginnenden Zahnwechsel zusammen.
Bürger- und Bezirksschulen zeigten keine wesentlichen Unterschiede.
Krankhafte Wucherungen im Nasenrachenraum hatten 2099 = 2.'^,2 ^'o
aller Kinder. Außerdem wurden Herzfehler bei 166 (= 1,8%),
Rückgratsverkrümmungen bei 1 28 (= 1 ,4 %), Parasiten und Haut-
krankheiten bei 515 (= 5,7%) und verschiedene andere Krankheits-
erscheinungen bei 896 (= 9,9 7o) Kindern gefunden.
Diese kränklichen Kinder verteilen sich gleichmäßig auf beide
Geschlechter wie auf die Bürger- und Bezirksschulen. Zeigten sich
für die erstere Schulgattung in mancher Beziehung bessere gesundheit-
liche Verhältnisse, so wurden diese Vorzüge durch Störungen auf
anderen Gebieten wieder aufgehoben.
Bei der Neuheit der ganzen Einrichtung ist eine einheitliche
Auffassung über das zu beachtende Verfahren und demgemäß auch
ein übereinstimmendes Resultat noch nicht erzielt worden. Eine
Gesamtorganisation aller deutschen Schulärzte würde auf diesem
Gebiete nicht nur praktische, sondern auch wichtige wissenschaftlich-
theoretische Erfolge erzielen können. Der Orientierung über dieses
Gebiet dient besonders die ,, Zeitschrift für Schulgesundheitspflege",
begründet von Dr. Kotelmann, herausgegeben von Prof. Dr. Erismann-
Zürich (Verlag von Voss in Hamburg).
Wie das bei der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung
der ärztlichen Wissenschaft nicht zu verwundern ist, macht sich in
vielen Gemeinden das Bedürfnis geltend, sich auch für die schul-
ärztliche Tätigkeit der Beihilfe von Spezialärzten zu versichern, und
so werden denn auch für den Zweck der schulärztlichen Überwachung
der Kinder gern solche Arzte gewählt, welche sich mit den Sonder-
gebieten der Kinderkrankheiten, der Augen-, Ohren- und Nerven-
leiden, mit der Zahnheilkunde und Psychiatrie eingehender beschäftigt
haben. Besonders erfordert die Untersuchung schwachsinniger Kinder
behufs Aufnahme in die Hilfsschulen spezielle Vorkenntnisse und Er-
fahrungen in der Behandlung von geistigen Störungen und ihrem
Hvs^icuische Wolilfalirtseinriclitungen. 7t
Zusainmenhango mit körperlichen .Viiomalien, und da gerade die
geringen Grade von geistiger Schwäche (Imbezillität) bisher nur in
seltenen Fällen der ärztlichen Behandlung übergeben wurden, so bietet
die Prüfung und Beobachtung der Hilfsschulkinder für die Schulärzte
ein neues und interessantes Forschungsgebiet. Eingehende Unter-
suchungen über den gesamten Körper- und Geisteszustand dieser
geistig Schwachen sind bereits mehrfach von Schulärzten veröffentlicht
worden; ich erinnere hier nur an die wertvollen Arbeiten von
Laquer ,,Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder, ihre ärzt-
liche und soziale Bedeutung" 1901 (Hilfsschule in Frankfurt a. M.)
und ,,Über schwachsinnige Schulkinder" l9Ü2; Cassel ,,Was lehrt
die Untersuchung der geistig minderwertigen Kinder im IX. Berliner
Schulkreise" 1901 ; Doli „Ärztliche Untersuchungen aus der Hilfs-
schule für schwachsinnige Kinder zu Karlsruhe" 1902 u. a.
Die Schulzahnklinik in Straßburg. Wenn auch Schulkinder
wie andere weniger bemittelte Personen unter Umständen überall in
deutschen Städten unentgeltliche Behandlung durch Spezialärzte in
den privaten und öffentlichen Polikliniken erhalten können, so sind
diese Anstalten doch bisher nirgends in engen unmittelbaren Zu-
sammenhang zu der Volksschule getreten. In Straßburg hat sich
dieser Übergang im Laufe der 80 er und 90 er Jahre des vorigen
Jahrhunderts allmählich vollzogen und ist jetzt zur Tatsache geworden.
Am 15. Oktober 1902 wurde dort die erste städtische Schulzahnklinik
in Deutschland eröffnet. Schon seit 1885 waren unter Leitung des
Privat-Dozenten für Zahnheilkunde an der Kaiser Wilhelms-Universität
Dr. Ernst Jessen arme Volksschulkinder und Soldaten unentgeltlich
behandelt worden; eine regelmäßige Untersuchung der Volksschul-
kinder wurde im Jahre 1897 eingeführt. Sie vollzog sich, indem die
Kinder klassenweise von ihren Lehrern in die Universitäts-Poliklinik
geführt wurden. Da indessen die Räume hierzu auf die Dauer nicht
ausreichten, wurde nach einem kurzen, ergebnislosen Versuch, die
Kinder in der Schule selbst durch einen Studenten der Medizin unter-
suchen zu lassen, dank dem freundlichen Entgegenkommen des Bürger-
meisters der Stadt Straßburg Back und des Gemeinderates mit Be-
willigung der Universitätsbehörden zur Einrichtung einer .städtischen
Schulzahnklinik geschritten. Die Räume wurden von der Universität
zur Verfügung gestellt, während die Kosten der baulichen Ver-
änderungen von der Stadt bestritten wurden. Zur Unterstützung des
Dr. Jessen wurde ein approbierter Zahnarzt mit einem Jahresgehalt von
2000 M. als Assistent angestellt. Die Untersuchung und konservative
72 \Vohlfahrtseinrichtiuigen.
Behandlung der Zähne geschieht vollständig unentgeltlich; die Unter-
suchung wird an jedem Wochentage mit Ausnahme des (in Straß-
burg schulfreien) Donnerstags an 40 bis 60 Kindern in der Schul-
zahnklinik, wohin dieselben klassenweise geführt werden, vor-
genommen. Zur Fixierung der gewonnenen Beobachtungen bedient
man sich eines besonderen Formulars, der sogenannten Straßburger
Karte, welche es ermöglicht, den Befund mit späteren Beobachtungen
zuverlässig zu vergleichen. Die in einem für die Städte-Ausstellung
in Dresden (Sommer 1903) bestimmten Bericht des Dr. Jessen mit-
geteilten Ergebnisse seiner Untersuchungen sind äußerst ungünstig;
er sagt daselbst:
,,Das Ergebnis der Untersuchung ist bei Volksschulkindern,
unter denen sich viele schlecht genährte und schwächliche Individuen
befinden, deren Eltern auf Körperpflege im allgemeinen nur geringen,
auf Zahnpflege aber gar keinen Wert legen, geradezu erschreckend.
95 Prozent aller Kinder haben kranke Zähne. In Straßburg
sind in einem Jahre 10 000 Kinder untersucht worden, von denen
nur 430, also 4,3 Prozent, ein gesundes Gebiß hatten. Die übrigen
hatten zusammen 102 456 kranke Zähne, während 51 219 schon fehlten
und 98 149 gesund waren, sodaß etwas mehr als die Hälfte aller vor-
handenen Zähne sich als krank herausstellte.
Dabei ist es keine Seltenheit, daß schon vor der Schulzeit, vor
dem Zahnwechsel, Kinder von 3 — 4 Jahren ein vollkommen zerstörtes
Gebiß haben. Der Mund ist voll von kranken Zähnen, freiliegenden
Pulpen und faulenden Zahnwurzeln. Eiternde Fistelgänge, Schwellungen
des Zahnfleisches und der Drüsen geben ein trauriges Bild der Zer-
störung und erklären zur Genüge die bleichen Wangen, die trüben
Augen, die schlechte Ernährung, Blutarmut und Nervosität des hilfe-
suchenden Kindes. Ich male hier nicht zu schwarz. Jeder, der sich
mit Behandlung der Armen beschäftigt, jeder Leiter einer Klinik wird
mir das vollauf bestätigen. Das sind in den Städten die Kinder,
welche für die Ferienkolonien den Stamm abgeben. Wie können aus
solchen Kindern kräftige Menschen werden?"
An diese Ausführungen knüpft er einen lebhaften Appell an
andere deutsche Städte, die in Straßburg auf diesem Gebiete ge-
machten Erfahrungen im Interesse ihrer Schuljugend zu verwerten.
Wenn auch die hier und da in anderen Städten vorgenommenen
zahnärztlichen Untersuchungen der Schuljugend nicht ganz so un-
günstige Resultate ergeben haben, so wird doch nicht zu bestreiten
sein, daß eine rationelle Zahnpflege im schulpflichtigen und vorschul-
Hygienisclie \\'ohlfalirtseimiclitungen. 73
Pflichtigen Alter und eine zweckmäßige Aufklärung der Bevölkerung
über die Bedeutung dieses Zweiges der Gesundheitspflege wesentlich
zur Verbesserung des Gesundheitszustandes und der Leistungsfähigkeit
der heranwachsenden Generation eines Volkes beitragen würde. Bisher
sind bereits die Städte Darmstadt und Essen dem Vorbilde Straß-
burgs gefolgt.
B. Schulbäder und Schwimmunterricht. Unter den Bade-
einrichtungen für Schüler nehmen seit dem letzten Jahrzehnt die
Schulbrausebäder die wichtigste Stelle ein. Auch diese segens-
reiche Veranstaltung besteht erst seit den achtziger Jahren des
10. Jahrhunderts in Deutschland, und es gebührt der Stadt Göttingen
der Ruhm, die Idee, zum Wohle der Schuljugend Badeeinrichtungen
in der Schule selbst anzulegen, zuerst v^erwirklicht zu haben. Gegen-
wärtig haben sehr zahlreiche größere und mittlere Städte, besonders
solche, welche eigene Wasserleitung besitzen, die Schulbrausebäder
eingeführt. Bei Neubauten von Schulhäusern werden die entsprechen-
den Anlagen regelmäßig im Plane vorgesehen, in älteren Schulhäusern
häufig durch entsprechende Umbauten nachträglich eingerichtet. So
weit es dem Verfasser bekannt geworden i.st, besitzen zurzeit folgende
deutsche Städte Brausebäder in den Räumen der Volksschulen:
Barmen, Berlin, Bielefeld, Breslau, Cassel, Charlottenburg, Chemnitz,
Cöln a. Rh., Dortmund, Erfurt, Frankfurt a. M., Fürth, Göttingen,
Halle, Hamburg, Hannover, Jena, Karlsruhe, Kiel, Königsberg i. Pr.,
Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Mainz, Mannheim, München, Nürnberg,
Posen, Schöneberg, Straßburg i. E., Stuttgart, Ulm, Weimar, Wies-
baden, Worms. Das Verzeichnis kann auf Vollständigkeit keinen An-
spruch erheben.
Die Einrichtung der gewöhnlich im Kellergeschoß des Schul-
hauses befindlichen Brausebadanlage ist im allgemeinen folgende: Sie
besteht aus mindestens zwei Räumen, dem Auskleideraum und dem
Baderaum.
In dem Auskleideraum befindet sich an den Wänden eine Anzahl
(ca. 30) Zellen, welche entweder unverschlossen sind oder durch einen
Vorhang verschlossen werden können. In diesen ziehen sich die Kinder
aus und begeben sich dann in den eigentlichen Baderaum. Dieser hat
meist Zementfußboden, der gewöhnlich mit Matten oder Holzrosten
belegt ist.
Die Badeeinrichtung besteht in Brausen, deren Wasser tempe-
riert werden kann (die Kinder benutzen gewöhnlich Wasser von
25— .35 ^ Celsius) und unter denen entweder flache Zinkwannen auf-
74 Wohlfalirtseiiiriclitungen.
gestellt oder bis 20 cm tiefe Mulden mit verschließbarem Abfluß an-
gebracht sind. In diese Wannen oder Mulden treten nun mehrere
Kinder, waschen sich unter Benutzung von Seife und werden dann
von dem lauwarmen Wasser der Brausen abgespült. Über die Vor-
züge und Mängel der bisher in Deutschland im Gebrauch befindlichen
S\^steme von Brausebadanlagen sowie ihre technische Einrichtung im
einzelnen findet man in den umfangreicheren Werken über Schul-
h}'giene die nötige Auskunft, hier möge es genügen, auf den Bade-
betrieb selbst einen Blick zu werfen. Wir lassen eine kurze Dar-
stellung folgen, welche wir einem in Januar 1896 dem Magistrat von
Magdeburg erstatteten Bericht des Rektors Pohlenz daselbst ent-
nehmen :
„In der III. Volksknabenschule sind vier große, runde Zink-
wannen mit je einer darüber angebrachten Brause vorhanden.
Beim jedesmaligen Baden treten 16 Schüler an (auf der
Mittelstufe nur 12 und auf der Oberstufe 8) und gehen leise
hinab zu der im Kellerraum befindlichen Badeeinrichtung. Dort ent-
kleiden sich die Kinder in einem besonderen Räume, der neben der
Badestube liegt, und hängen ihre Kleider auf oder legen sie auf
längs den Wänden unterhalb der Kleiderhaken aufgestellte Bänke.
Die nur mit einer Badehose bekleideten Knaben treten zu zweien an
die zum Baderaum führende Tür und begeben sich erst auf das Ge-
heiß des Schuldieners, der die Aufsicht führt, in die gefüllten
Wannen, und zwar verteilt zu vier bei den Kleinen, drei auf der
Mittelstufe und je zwei der größeren für jede Wanne. Nach kurzer
Frist kommandiert der Kastellan: Auf! oder Aufstehen! wobei die
Kinder gleichzeitig mit der Ausführung die Arme aufwärts zur
Brause strecken. Die Brausen werden nur eine Minute lang geöffnet
bei einer Temperatur des Wassers von ca. 26 ° R. Nach Beendigung
des Brausens legen sich die Kinder noch etwa 5 Minuten nieder,
seifen sich ab und tummeln sich vergnügt im Wasser. Zum Schlüsse
erfolgt ein kurzes Abbrausen mit Wasser von 20 ° R, Wärme, und
die Schüler gehen zurück in den Ankleideraum, der natürlich im
Winter auch geheizt sein muß. In der kälteren Jahreszeit bleiben
die Knaben in der Klasse, wenn unmittelbar nach Beendigung des
Badens eine Pause folgt, in der die anderen Schüler auf den Hof
gehen.
Es ist selbstredend, daß auch die Lehrer der badenden Klasse,
soweit es ihnen möglich ist, sich um das Baden kümmern. Ganz be-
sonders aber ist ihr Augenmerk darauf gerichtet, daVs die Teilnahme
Hygienische WohlfahrtseimielUmisren. 75
an dieser .ses^ensreichcn Einrichtung eine allgemeine ist, und dal?» sich
die Kinder derselben nicht ohne Grund entziehen.
An der III. Volksknabenschule baden in einer Woche in n
Stunden 5 Klassen und in der folgenden Woche in 4 Stunden 4 Klassen,
die Stunden sind in jeder Woche auf 3 Tage verteilt.
Es hat sich in der Praxis herausgestellt, daß die Badezeit am
besten auf eine Rechen.stunde gelegt wird. Durch das Kommen und
Gehen der einzelnen Gruppen ist für keine andere Klasse auch nur
die geringste Störung erwachsen, ja auch für die eigene Klasse war
sie ganz minimal und fällt wohl ganz außer acht gegenüber dem
großen Segen, der in der ganzen Einrichtung liegt.
Die Schüler bringen an dem für das Baden der Klasse be-
stimmten Tage eine Badehose, ein Handtuch und ein Stückchen
Seife mit. So sorgten wir nach Möglichkeit für Anstand und Gründ-
lichkeit der Reinigung und verhüteten nach Kräften eine Übertragung
von Hautkrankheiten durch das Trockentuch. Es haben sich auch
tatsächlich keine nachteiligen Erfahrungen ergeben.
Auf der Oberstufe fehlt kein Junge beim Baden; am liebsten
hätten sie mindestens wöchentlich eine Badestunde. Auch auf der
Mittelstufe gehen die Kinder gern zum Baden und beteiligen sich mit
geringen, meistens motivierten Ausnahmen. Hier spricht auch zu-
weilen Vergessen des Badezeuges mit. Am geringsten ist das Inter-
esse bei den Kleinen, denen es naturgemäß große Mühe macht, mit
der Garderobe fertig zu werden. Doch überwinden sie die anfäng-
liche Scheu bald, und es ist zwischen den NeuHngen und den Schülern
des zweiten Jahrgangs schon ein bedeutender Unterschied.
Es ist offenbar und hat sich klar gezeigt, daß in sanitärer Be-
ziehung wohltätige Folgen des Badens unausbleiblich sind. Aber
auch für die geistige und sittliche Entwicklung der Kinder scheint es
segensreich zu wirken, und irgend welche schädlichen Momente und
nachteilige Wirkungen haben sich nicht ergeben."
So weit der Bericht. Wir haben hier in dem Schülerbad der
III. Volksknabenschule in Magdeburg eine ältere Anlage dieser Art
vor Augen, welche sich von neueren Brausebädern schon dadurch
unterscheidet, daß bei der geringen Zahl der zur Verfügung stehen-
den Wannen unter Umständen nur 8 Schüler zugleich baden können,
daß die Auskleidezellen fehlen u. dergl.
Neuere Brausebadanlagen treffen für die Benutzung durch ganze
Kla.ssen zugleich Vorkehrungen und bieten den Kindern mancherlei
besondere Bequemlichkeiten und Rücksichten.
76
\\'ohltahrt-eim-icluungen.
An erster Stelle ist hier wie auf so vielen anderen Gebieten der
Fürsorge für die Schuljugend wieder München zu nennen. Es be-
finden sich daselbst nach dem letzten dem Verfasser zugänglichen Ver-
waltungsbericht der Schulbehörde von 1901 in den der Werktags-
schule zur Verfügung stehenden 40 Schulhäusern 23 Brausebäder,
das älteste im Schulhause an der Amalienstraße, Oktober 1888 er-
öffnet, das neueste im Schulhausc an der Türkenstraße, Oktober 1901
eröffnet.
Diese Anlagen bestehen nach dem mehrfach angeführten
, .Münchener Schulbauprogramm" aus 5 Räumen und zwar dem Aus-
und Ankleideraum, dem Brausebad, dem Raum für die Badefrau, der
Waschküche für das Bad und dem Trockenraum. Die bauliche Ein-
richtung der Münchener Brausebäder ist bereits in dem Kapitel über
die Schulhäuser in vollem Umfange darge.stellt worden.
Der Auskleideraum bietet 50 Zellen dar, und der Baderaum
Badegelegenheit für die gleiche Anzahl von Kindern. Badeanzüge,
Handtücher, Kämme, Schuhknöpfer, Bürsten, Stiefelzieher usw. werden
den Kindern im reichsten Maße von der Stadt unentgeltlich zur V^er-
fügung gestellt, und so sind denn auch die Münchener Schulbäder
eine wirklich volkstümliche Einrichtung geworden, welche nicht in
großen Zwischenräumen einem mäßigen Prozentsatz der Kinder
einzelner bevorzugter Schulen und Klassen, sondern in regelmäßiger
Folge der überwiegenden Mehrzahl der Volksschulkinder zu gute
kommt.
Von sämtlichen an der Schule befindlichen Kindern beteiligten
sich am Bade:
an der Schule
n der bezw. am
ö/o Vorjahre
an der Schule
an der bezw. am
Weilerstraße . . .
Schrenkstraße . . .
Guideinstraße . . .
Stielerstraße. . . .
Bazeillesstraße. . .
Columbusstraße . .
Wilhelrastraße . . .
Bergmannstraße . .
Haimhausenstraße .
Versaillerstraße . .
Schulstraße ....
Witteisbacherstraße .
87
86
85
81
79
76
76
74
74
74
72
71
88,6
83,2
74,0
79,0
75,0
67,5
71,5
73,4
70,5
Marsplatz
Gabelsbergerstraße . . .
Dom Pedroplatz. . . .
Tumblingerstraße . . .
Wörthstraße
Amalienstraße ....
Sch\vind^5traße
Herzog Wilhelmstraße .
Klenzestraße
Luisenstraße (kathol.j .
Luisenstraße(prütestant.j
66,5
66,5
70,5
60,0
58,5
50,3
54,2
44,7
57,7
51,0
49,7
Hy^enische Wohlfahrtscinriclituni^en. 77
Die BeteiliguiiLj der Schulkinder an den Hadern ist zwar überall
unentgeltlich, aber freiwillig, daher schwankt der Prozentsatz der
tatsächlich Badenden und richtet sich nach mancherlei vorüber-
gehenden Umständen. Im allgemeinen baden überall die Knaben
mehr als die Mädchen und die älteren Schüler und Schülerinnen
mehr als die Kleinen, in manchen Orten wie in Wiesbaden und
Hamburg beteiligen sich die untersten Klassen überhaupt nicht am
Baden, in Berlin werden nur Kinder zugelassen, welche das achte
Lebensjahr vollendet haben.
Auf die vielen vortrefflich eingerichteten und verwalteten Schul-
brausebäder in anderen deutschen Städten kann hier nicht näher ein-
gegangen werden, doch mögen die Anlagen in Hannover, Frank-
furt a. M. und Halle a. S., welche Verfasser durch eigene An-
schauung kennen zu lernen Gelegenheit hatte, hier rühmende Er-
wähnung finden.
Auch in Berlin werden seit etwa 7 Jahren in allen Neubauten
für Volksschulen Badeeinrichtungen angelegt; die Kosten für die den
Schulkindern gewährten Brausebäder wurden im Verwaltungsjahr 1902
auf ;J0 41 1,30 M. berechnet.
Als ein nicht völlig ausreichender Ersatz für die der Schule
angegliederten Badeeinrichtungen muß die unentgeltliche Ausgabe
von Badekarten an Volksschulkinder zur Benutzung der öffentlichen
Wannen-, Brause- oder Schwimmbäder angesehen werden, wäe sie in
Dresden und aushilfsweise in mehreren anderen Städten üblich ist.
In den öffenthchen Badeanstalten fehlt es den Kindern oft an der
nötigen Aufsicht, auch geht ihnen viel von der Freude verloren,
die aus dem Zusammenbaden mit gleichaltrigen Kameraden entspringt.
In Dresden w^urden im Jahre 1903 zum Ankaufe von Freikarten
für v\'arme Bäder für ärmere Kinder der Bezirksschulen und für Er-
teilung von Schwimmunterricht an Bezirksschüler zusammen 1500 M.
im Etat in Ansatz gebracht.
In Freiberg i. S. ist den Kindern der Volksschule die unent-
geltliche Benutzung des städtischen Volksbades im Winter und des
Schülerfreibades im Sommer gestattet. Die der Stadt daraus
erwachsenden Kosten beliefen sich nach dem Verwaltungsbericht
von 1899/00 (ein neuerer liegt dem Verfasser nicht vor) auf 611, 04 M.
für das Schülerfreibad und 2098,24 M. für das Volksbad. Die Be-
teiligung der Schuljugend im Sommer 1900 im Freibade betrug im
Durchschnitt täglich 85 Knaben und 22 Mädchen. Im Volksbad
badeten im Jahre 1900 in der Badezeit vom 2. Januar bis 31. Mai
78 Wolilfahrtseinrichtungeu.
und vom 10. September bis 'M . Dezember täglich durchsclmittlich
73 Knaben und 56 Mädchen.
Den Brausebädern reihen sich als wichtige hygienische Ein-
richtung die Frei- und Schwimmbäder an. Die Anlage und Ein-
richtung aller der diesem Badebetriebe dienenden Anstalten richtet
sich naturgemäß nach den Wasserverhältnissen, den Bedürfnissen und
der Lage der Ortschaft, deren Schuljugend diese Veranstaltungen
zugute kommen sollen. Freibaden und Schwimmen w^rd mit be-
sonderem Eifer in allen Städten gepflegt, die der Seeküste zunächst
liegen und selb.st Schiffahrt treiben, wie Königsberg, Danzig, Kiel,
Hamburg, Lübeck, Bremen u. a., aber auch Städte des Binnenlandes
unterschätzen den sozialen und hygienischen Wert dieser vortreff-
lichen Körperübung nicht. Breslau, Frankfurt a. M., Hannover, Elber-
feld, Dresden, Leipzig, Chemnitz, Remscheid, Stuttgart, Charlotten-
burg, Karlsruhe, Magdeburg, Krefeld und eine Menge kleiner Orte
müssen hier mit Anerkennung genannt werden.
Das Verdienst, die Jugend zum Baden im kalten Wasser, in
Seen und Flüssen oder im Meere immer von neuem angeregt und
viele vorzügliche Badeanstalten geschaffen zu haben, gebührt in erster
Linie den Schwimmvereinen. Sie haben gewöhnlich auch zuenst den
Unterricht im Schwimmen selber in die Hand genommen, erst später
sind dann die Stadtverwaltungen mit ihnen in Verbindung getreten,
haben sich die geschaffenen Anlagen im Interesse der Schuljugend
zunutze gemacht und die Vereine aus ihren Etatsmitteln unterstützt.
Li einigen Fällen sind dann schheßlich auch selbständige Bade-
anstalten, besonders Hallenbäder, von den Gemeinden angelegt und
der Schuljugend zur Verfügung gestellt worden.
Die Teilnahme der Schulkinder am Freibaden und am Schwimm-
unterricht ist überall freiwillig und meist unentgeltHch. In Bautzen
allein scheint die Teilnahme gesunder Schüler an dem seit 1898
eingeführten Schwimmunterricht eine obligatorische Schuleinrichtung
zu sein.*)
Um dem Leser eine Vorstellung von der Art und Weise zu
geben, wie das Baden und Schwimmen der Schüler an deutschen
Volksschulen betrieben wird, mögen hier einige Mitteilungen folgen.
Wie sich die Neueinführung der Schwimmkurse vollzieht, zeigt
der nachfolgende Bericht über den Schwimmunterricht in Danzig:
*) V'erfasser verdankt diese Notiz wie einige andere Angaben in den Abschnitten
über Scliwimmen und Jugendspiel freundlichst zur Verfügung gestellten schriftlichen Mit-
teilungen des Herrn <_)berturn\varts Dr. Luckow in Berlin.
Hytfienische Wohlfalirtseiniichtiingen. 79
„Auf die sehr tlankenswerte Anregung des Turnleiters für die
hiesigen V^olksschulen ist im Juli 1903 (in den Sommerferien) Schülern
der hiesigen Volksschulen unentgeltlich Schwimmunterricht erteilt
worden von () schwimmkundigen (zugleich Turn-)Lehrern der
hiesigen Volksschulen, die ihre freie Zeit in den Ferien diesem guten
Zwecke freiwillig und unentgeltlich zur V^erfügung gestellt hatten.
Die Leitung des Schwimmunterrichts führte der Leiter des Turn-
wesens. Von diesem wurden die 6 Lehrer vorher mit der Methode
des Massenunterrichts im Schwimmen bekannt gemacht; ein Lehr-
gang für einen derartigen Betrieb wurde ihnen vom Leiter ein-
gehändigt.
Der Magistrat hatte zu dem Zweck die unentgeltliche und aus-
schließliche Benutzung der städtischen Badeanstalt auf Strohdeich in
den Juliferien täglich (mit Ausnahme der Sonntage) von V> — 1 1 Uhr
vormittags gestattet und die zur Anschaffung von Schwimmkarten,
Gerätschaften usw. erforderlichen Kosten bewilligt.
Im ganzen sind von den 6 Lehrern 240 Knaben im Schwimmen
unterwiesen worden. Beteiligt haben sich 8 Knaben-Volksschulen:
4 mit je 20, 4 mit je 40 Knaben der Oberstufe. Knaben, die am
Schwimmunterricht teilnehmen wollten, wurden von den Rektoren
der betreffenden Schulen nach Einholung der Erlaubnis der Eltern
dem Turnleiter namhaft gemacht, der alsdann die Badekarten aus-
fertigte.
Die Schüler wurden zunächst im „Trockenschwimmen" geübt
und kamen hierauf ins Wasser. Der Massenunterricht hat sich hierbei
als möglich erwiesen und gute Erfolge gezeitigt. In 12 Stunden
haben von 240 Schülern bei 3 Stunden wöchentlichem Unterrichte
147 schwimmen gelernt, sodaß sie sich in dieser Kunst selbständig
weiter bilden können, während die übrigen in den Übungen zwar
vollständig sicher sind, jedoch ohne Schwimmkapseln das Frei-
schwimmen noch nicht gewagt haben.
Allgemein fiel bei der Vorführung der Schüler (Anfang August
1903) nach der Beendigung des Ferienkursus im Schwimmen die
Sicherheit und Regelmäßigkeit der Schwimmbewegungen auf. Nach
diesem wohlgelungenen Versuche des Schwimmunterrichts besteht
die Absicht, im nächsten Jahre den Schwimmunterricht für die
Danziger Volksschulen auch für die Mädchen zur Einführung zu
bringen."
In Frankfurt a. M., wo Schwimmunterricht für Knaben schon
in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erteilt wurde und
30 Wohlfahrtseinrichtungen.
derselbe Unterricht für Mädchen seit 1894 eingeführt ist, gUedert sich
das gesamte Baden der Schüler in drei Gruppen:
1. Die Brausebäder. Die Zahl der in dem Etatsjahr 1901 von
den Schulkindern in 1 1 Anstalten genommenen Bäder belief sich
auf 101 681.
2. Baden und Schwimmen im Main: a) Knaben. Es wurden
die Knaben der vier letzten Schuljahre der Mittel- und Bürgerschulen
zur Teilnahme aufgefordert. Von 4402 Schülern meldeten sich o397.
Aus diesen wurden 62 Abteilungen gebildet. Die Aufsichtsführung
wurde 58 Lehrern übertragen. Jede Abteilung badete wöchentlich
dreimal. Die durchschnittliche Teilnahme betrug 75,95 % der An-
gemeldeten. Es haben nur gebadet 397, es konnten frei schwimmen
1139, es erhielten Schwimmunterricht 1863; von den letzteren lernten
frei schwimmen 854=^45,84%. Von den Ostern 1901 von solchen
Schulen, die am Baden und Schwimmen im Main teilgenommen
haben, aus der Schulpflicht entlassenen 1 1 09 Schülern haben sich am
Baden beteiligt und Schwimmunterricht erhalten 884. Hiervon haben
das Schwimmen erlernt 716 = 80,99 %. — b) Mädchen. Von ins-
gesamt 3029 Schülerinnen der Oberklassen meldeten sich 1717. Die-
selben badeten in 32 Abteilungen wöchentlich je dreimal unter Auf-
sicht von 32 Lehrerinnen. Die Teilnahme betrug im Durchschnitt
63,92 %. Es haben nur gebadet 165, es konnten schon schwimmen
277, es erhielten Schwimmunterricht 1275; von den letzteren lernten
frei schwimmen 354 = 26, 1 1 %.
Von den Ostern 1901 von solchen Schulen, die am Baden und
Schwimmen im Main teilgenommen haben, aus der Schulpflicht ent-
lassenen 750 Mädchen haben 395 am Baden und Schwimmen teil-
genommen. Von diesen haben 247 oder 62,53 % das Schwimmen
erlernt.
3. Baden im Schwimmbad (Hallenbad). Einer Anregung der
Schwimmbad-Kommission folgend, genehmigte die Schuldeputation
nach Maßgabe der verfügbaren Mittel, daß die oberen Knabenklassen
der Battonnschule, Weißfrauenschule, Domschule, Lersnerschule,
Merianschule und Karmeliterschule — Schulen ohne Brausebäder —
im Winterhalbjahr das Schwimmbad benutzten. Es wurden an
566 Schüler insgesamt 5025 Bäder abgegeben.
Im Etat von 1903 waren 20 000 M. für Baden und Schwimmen
der Schüler und Schülerinnen in Frankfurt a. M. in Ansatz gebracht.
Der Schwimmunterricht beginnt besonders dort, wo er von
Volksschul- oder Turnlehrern geleitet wird, in neuerer Zeit meist mit
Hygienische Wolilfahrtseiniichlungeti. {^{■j
Vorübungen im Trocknen (Trockenschwimmen; das ist z. B. in
Dresden, Hamburg, Charlottenburg, Elberfeld, Frankfurt a. M.,
Hannover der Fall) und wird dann in der Abteilung für Nicht-
schwimmer im freien Wasser oder im Bassin als Gruppen- oder
Klassenschwimmen, zunächst unter Zuhilfenahme von Blechkapseln
oder Schwimmgürteln aus Kork, dann von Schwimmlcinen mit Gurten
fortgesetzt.
Den Übimgen der Schwimmbewegungen im Trocknen dienen
verschiedene Vorrichtungen, besonders die Schwimmböcke, auf denen
die Knaben wagerecht, in Gurten ruhend, die vorgeschriebenen Arm-
und Beinbewegungen ungehindert nach Zählen ausführen können.
Nach diesen Vorbereitungen geht man mit den Schülern, welche die
nötige Sicherheit erlangt haben, zum Schwimmen im tiefen Wasser,
zu den verschiedenen Arten der Sprünge, zum Tauchen und zu
Rettungsübungen über.
In bezug auf die Bewertung und Handhabung des Schwimm-
unterrichts nimmt die Stadt Hamburg eine ganz eigenartige Stelle
ein. Dort ist der Schwimmunterricht zunächst versuchsweise wie der
Turnunterricht zu einem Lehrgegenstand der Volksschule gemacht
worden. In einem im .\ugust 1902 der Hamburger Ober-Schulbehörde
von dem Schulinspektor H. Fricke erstatteten Bericht, dem wir die
folgenden Angaben entlehnen, heißt es: , »Schwimmen ist Turnen im
Wasser. Fast die ganze Muskulatur des Körpers wird beim Schwimmen
in Bewegung gesetzt. In erster Linie arbeiten alle Beuge- und
Streckmuskeln der Gliedmaßen. Die regelmäßige, kräftige Bewegung
bedingt ein regelmäßiges, energisches Atmen. Da das Schwimm-
tempo langsamer als das Tempo des Atmens ist, auch das Atmen
unterbleiben muß, wenn Nase und Mund sich unter W^asser befinden
und unterbleiben wird, wenn das Gesicht die Wasserfläche berührt,
wie beim Vorwärtsbewegen der Arme und beim Beugen der Beine,
so werden die Atemzüge langsam, tiefgehend und energisch. Die
Brust weitet sich zu ihrem größten und preßt sich zu ihrem geringsten
Umfang zusammen. Die kräftig eingeatmete Luft ist feucht und
milde, sie dringt bis in die äußersten Spitzen der Lunge. Daraus
folgt Stärkung der Brustmuskeln und der Muskeln des Unterleibes,
energische Blutverbrennung, gesteigerte Herztätigkeit und Blut-
zirkulation. Da der Kopf das eigenthche Steuer beim Schwimmen
ist, so werden ebenso die Nackenmuskeln kräftig angestrengt. Alle
Übungen geschehen im kühlen W^asser, das in den hiesigen Schw imm-
hallen auf 21 — 22° C. erwärmt ist. Auf die Weise wird eine Er-
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. Anhang. 6
32 Wühltahrtseinrichtungen.
hitzung des Körpers, die sonst mit großer Muskelanstrengung ver-
bunden ist, vermieden. Ein weiterer Vorteil der Bewegung im Wasser
ist der, daß das tiefe Atmen in absolut staubfreier Luft erfolgt. Viele
Turnübungen erfassen nur einzelne Muskelpartien, bald rechts, bald
links im Körper. Alle Schwimmübungen aber fördern eine sj'm-
metrische Ausbildung des Muskelsystems. Die Hautpflege und die
Sch\\'immbewegungen im kühlen Wasser erzeugen im Körper ein Ge-
fühl der Erfrischung. Nervosität und Schlaffheit kennen die Schwimm-
schüler nicht. Der Körper wird abgehärtet; bevor der Schüler sich
ankleidet, muß er sich kalt abbrausen.
Aber nicht nur für die Ausbildung des Körpers, sondern für
die Erziehung überhaupt ist der Schwimmunterricht von großer Be-
deutung. Er erzieht zum Mut, zur Energie und zur Geistesgegenwart.
Knaben, welche anfangs sich scheuen, ins Wasser zu gehen, und vor
dem ersten Sprunge in die Tiefe zittern, tauchen am Schlüsse des
Schwimmkursus mit Wonne auf den Grund, um hineingeworfene
Gegenstände oder scheinbar verunglückte Mitschüler heraufzuholen."
Zutreffender kann der hohe Wert des Schwimmunterrichts für
die Volksschule gar nicht geschildert werden. Im Schuljahr 1901/02
war der Schwimmunterricht in diesem Sinne bereits in 27 Schulen,
von denen 13 Schwimmhallen und 14 Flußbadeanstalten benutzten,
als Teil des Turnunterrichts eingeführt. /\uch die Methode des Ham-
burger Schwimmunterrichts hat ihre lokalen Eigentümlichkeiten; sie
ist an Ort und Stelle praktisch erarbeitet ^^'orden. Man bedient sich
dort nicht der Schwimmböcke, sondern benutzt für die Vorübungen
im Trocknen die Schwebebäume der Turnhalle. Daß auch dieses
Verfahren praktisch brauchbar ist, davon hatte Verfasser Gelegen-
heit, sich durch eigene Anschauung zu überzeugen.
Die folgende Schilderung bezieht sich auf die ersten im Sommer
1898 mit Schülern der Schule Moorkamp 3 von dem damaligen
Rektor der Schule Fricke selbst in der Eimsbütteler Volksbadeanstalt
vorgenommenen Übungen :
,, Einige, wenn auch nur wenige Schüler konnten nach Beendigung
d^r Übungen im Trocknen sofort schwimmen. Im Wasser wurden dann
die Schüler auf einen Kork geschnallt, und je 8 Knaben mußten gleich-
zeitig a tempo die in der Turnhalle gelernten Bewegungen im flachen
Wasser weiter üben. Nachdem erst einige Schwimmer erzogen
worden waren, wurden diese zu Vorschwimmern (analog den Vor-
turnern) ernannt; sie mußten die Übungen auf dem Kork leiten.
Während dieser Zeit wurden die Knaben einzeln ohne Kork \üm
Ily-rieiii-du' WoliHahrlM-inriclitungcii. Ö3
Lehrer an die Leine genommen und ins liefe Wasser geführt. Gleich-
zeitig mußten sie an der Leine ins Wasser springen, um die Furcht
zu überwinden. Wenn die Knaben auf diese Weise schwimmen ge-
lernt hatten, mußten sie im flachen Wasser frei schwimmen. Nach-
dem sie genügende Sicherheit sich erworben, wurden sie veranlaßt,
mit dem Fußsprung ins tiefe Wasser zu springen und die Halle zu
durchschwimmen. Daran schlössen sich die Kopfsprünge mit und
ohne Anlauf, Kopf- und Fußsprung über die Schiffsreeling und
Rückenschwimmen. Aus einer Tiefe von ca. 'A m mui.Uen dann die
Knaben Sandsäcke von ]5 — 30 Pfd. aus dem Sprunge und aus der
Schwimmlage holen. Diese Tauchübungen waren Vorübungen zum
Retten, das dann ebenfalls geübt wurde. Ein Knabe hielt sich am
Grunde des Wassers an einem 40 Pfd. schweren Sack fest; der
Retter mußte ihn lösen, heraufholen und in vorgeschriebener Weise
durchs Bassin schleppen. Den Abschluß bildeten Unterweisungen in
Wiederbelebungsversuchen.
Jede Gruppe wurde 12 Stunden unterrichtet. Schon am 12. De-
zember desselben Jahres konnten 87 (von 102 Knaben i vorgeführt
werden, die das Schwimmen erlernt hatten."
Da Hamburg an einer Schule auch ein vortreffliches, nach
Münchener Art eingerichtetes Brausebad besitzt, so war der Bericht-
erstatter in der Lage, die Vorzüge beider Einrichtungen, des Hallen-
schwimmens und des Brausebades, gegen einander abzuwägen. Er
entscheidet sich aus vielen Ursachen ganz und gar zugunsten des
Hallenschwimmbades und empfiehlt der Ober-Schulbehörde, die er-
forderlichen Badeanstalten für sämtliche Volksschulen als öffentliche
Einrichtungen anzulegen. Er ist der Ansicht, daß die Unterhaltung
dieser öffentlichen Badeanstalten, wenn sie mit den nötigen Wannen-
bädern ausgerüstet werden, ganz und gar aus den von dem Publikum
erhobenen Eintrittsgeldern bestritten, und daß unter diesen Umständen
von Beiträgen seitens der Schulkinder ganz abgesehen werden kann.
Wenn auf diese Weise der Schwimmunterricht auf alle Knaben- und
Mädchenschulen Hamburgs ausgedehnt würde, so würde, die Anlage
neuer Brausebäder nicht erforderlich sein.
Die in dem genannten Berichte gegebenen Anregungen und
näheren Ausführungen auch über die vergleichsweise Billigkeit der
Hallenbäder gegenüber den Brausebadanlagen verdienen die Beach-
tung der Verwaltungsbehörden. Die Anlage solcher Schwimmhallen
wird sich möghcherweise sogar mit den Turnhallen der Volksschulen
in Verbindung setzen lassen. Es wird bautechnisch gewiß keine un-
6*
g4 Wohlfahrtseiiirichtunwen.
lösbare Aufgabe sein, die Räume der Turnhalle über einem Schwimm-
bassin von nahezu gleicher Ausdehnung an/Ailegen.
C. Jugendspiele. Der Turnunterricht für Knaben ist in Deutsch-
land überall ein obligatorischer Lehrgegenstand der Volksschule,
während das Mädchenturnen in der Schule noch nicht überall durch-
geführt ist. Während sich aber das schulmäßige Turnen zum großen
Teile auf dem Schulhofe und in der Turnhalle abspielt und durch
Einhaltung eines bestimmten, vorgeschriebenen Lehrganges und die
Benutzung der Turngeräte seinen festen Charakter erhält, hat sich
besonders in den letzten 30 Jahren in Deutschland eine freiere Form
der Leibesübung, das Jugendspiel auf freiem Felde, immer mehr ein-
gebürgert und ist in immer engere Verbindung mit der Schule ge-
treten. Den wichtigsten Anstoß zur Ausbreitung der bereits an
einigen Stellen bestehenden Einrichtung der Jugendspiele für Schüler
hat in Preußen ein Erlaß des Kultusministers von Goßler vom 27.
Oktober 1882 gegeben. Wenn es sich in dieser hochbedeutsamen
amtlichen Äußerung auch zunächst um die dem Turnunterricht ange-
gliederten Spiele, die eigentlichen Turnspiele, handelt, so wird doch
auch ,,des Spieles in Verbindung mit gemeinschaftlich zu unterneh-
menden Spaziergängen und Ausflügen in Feld und Wald, sowie mit
Turnfahrten'^ empfehlend gedacht und ebenso auf Schwimmen und
Ei-slauf hingewiesen.
Aus dieser Anregung erwuchs denn nun überall in Preußen und
weiterhin auch in Deutschland ein reges Interesse für Jugendspiele.
Da es zunächst vielfach an geeigneten Leitern für die Spiele fehlte,
wurden im Jahre 1890 in Görlitz Unterrichtskurse eingerichtet, in
welchen geeignete Lehrer von Schulen aller Arten methodische An-
weisung und praktische Anleitung erhielten. Diese Kurse fanden
großen Beifall und lebhafte Beteiligung. Als nun im folgenden Jahre
1891 auf Anregung des bereits erwähnten, auch um den Handfertig-
keitsunterricht für Knaben so verdienten Herrn von Schenckendorff
der „Zentralausschuß zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in
Deutschland" begründet worden war, folgten sehr bald viele andere
deutsche Städte dem Beispiel der Stadt Görlitz und ließen für Lehrer
und Lehrerinnen Kurse zur Ausbildung für die Leitung von Jugend-
spielen abhalten. Unter den Orten, welche am frühesten Kurse
für Lehrer einrichteten, sind zu nennen : Altona, Barmen, Berlin,
Bonn, Braunschweig, Breslau, Coburg, Frankfurt a. M., Haders-
leben, Hannover, Karlsruhe, Magdeburg, München, Osnabrück, Posen,
Rendsburg, Sonderburg, Stuttgart. Unterrichtskursc für Lehrerinnen
1 1}o;ifnisclie W'iililfahitseiiiricluungeii. 35
wurden in Barmen, Berlin, Bonn, Braunschweig, Breslau, Hannover,
Magdeburg, Osnabrück und Stuttgart veranstaltet.
Da diese Kurse fortgesetzt und andere neu eingerichtet werden,
so herrscht gegenwärtig kein Mangel an geeigneten Lehrkräften für
die Leitung der bestehenden oder neu 7-u eröffnenden Jugendspiele
in Deutschland; allerdings fehlt es besonders in großen Städten zu-
weilen an den geeigneten Plätzen, auf denen die Spiele abgehalten
werden können.
Auch hier hat nicht selten die Tätigkeit der X^ereine oder die
Freigebigkeit einzelner Bürger die Fürsorge der Gemeinden für die kör-
perliche Ausbildung der Schuljugend angeregt und gefördert. Die
Stadt Königsberg i. Pr. besitzt zwei ausgezeichnet eingerichtete und
verwaltete Spielplätze, einen im Nordwesten, den Walter Simonplatz,
und einen im .Südwesten, den Jugendspielplatz auf dem Nassen Garten.
Den ersteren Platz, und mit ihm die wirksamste Anregung zur Förde-
rung der Jugendspiele, verdankt es einer Reihe von Schenkungen des
Stadtrats Dr. \\\ Simon, deren Betrag sich auf nahe an 1 00 000 M.
beläuft. Die Übernahme des Platzes erfolgte bereits am I . Oktober
1890, doch dauerte die völlige Instandsetzung desselben, die Anlegung
von Rasenplätzen, Buschpartien, Retiraden, Brunnen, die Befestigung
der Wege, die Errichtung einer Gerätehalle u. dgl. noch einige Jahre.
Gegenwärtig ist der Spielbetrieb ein äußerst reger. „Eine wesent-
liche Förderung haben die Jugendspiele dadurch erfahren, daß seit
1894 jeder einzelnen Schule besondere Spieltage zugeteilt werden.
Anfangs begnügte man sich damit, daß während der Spielzeit, die
im Mai und September von 4—67.2 Uhr, im Juni, Juli und August
von 41/2 — 7 Uhr und im Oktober von [V-/^ — ^6 Uhr liegt, je ein Lehrer
oder eine Lehrerin an denjenigen Tagen, die der betreffenden Schule
als Spieltage zugewiesen waren, auf den Spielplatz ging und die Fre-
quenz der Spielenden feststellte. Es zeigte sich jedoch bald, daß ge-
rade von der persönlichen Mitwirkung dieser den Kindern be-
kannten Lehrkräfte eine wesentliche Förderung des Spiels zu erwarten
stand. Deshalb traf man die noch bestehende Einrichtung, daß die
Spiele der einzelnen Schulen an den ihnen zugeteilten Spieltagen von
je einer Lehrkraft der betreffenden Anstalt gegen die übliche Ent-
schädigung geleitet werden. So herrscht denn auf dem Jugendspiel-
platze ein reges, frisches und fröhhches Treiben. Jugendmut und
Jugendkraft werden gestärkt zum W^ohl der heranwachsenden Gene-
ration.*'
Der Stifter des Platzes hat sein \xM-dien.st um die Schuljugend
86
\\'ohlfahrtseinrichtuny;t
noch dadurch erhöht, daß er die Zinsen einer Summe von 10 000M.
zur Abhaltung eines Frühlingsfestes auf dem Spielplatz bestimmt hat.
Die für die Feier bestimmte Volksschule wird jedesmal durch die
Stadtschuldeputation ausgewählt. „Da das erste Frühlingsfest, das
am 22. Juni 1893 gefeiert worden war, als gelungen bezeichnet werden
mußte, wurde ein Statut der Stiftung aufgestellt, das für die Veran-
staltung der weiteren Frühlingsfeste maßgebend gewesen ist. An dem
Festtage marschieren die Schüler der betreffenden Volksschule mit
Musikbegleitung nach dem Platze, ergötzen sich dort nach einem vor-
her aufgestellten Programm bei fröhlichem Spiel, werden während
einer größeren Pause in den angrenzenden Etablissements gespeist
und kehren mittags vergnügt heim".
Die der Stadt Königsberg aus der Unterhaltung beider Spiel-
plätze erwachsenden Kosten beliefen sich im letzten Jahre 1903/4 auf
4700 -h 1800 = 6500 M. Dieselben verteilten sich für den Walter
Simonplatz auf folgende Posten:
Geldbetrag
für 1. April i nach dem
1903 bis vorjährigen
I.April 1904 j Etat
M. Pf. M. Pf.
B esoldungen:
Für Leitung und Beaufsichtigung der Spiele .... 2 304
Verwaltung des Platzes und Leitung des Spielbetriebs 400
Für den Wächter 497
Sächliche Kosten:
Unterhaltung und Ergänzung der Spielgeräte .... 800
Einmalig: Anstrich des Geräteschuppens und des
eisernen Zaunes —
Instandhaltung des Spielplatzes und des Gerätehauses . 500
Feuerkassenbeiträge für das Gerätehaus (Versicherungs-
wert 6570 M.) 14
Grundsteuer 60
Insgemein , 125
zusammen
4 700
5 000
Die Spiele, welche auf deutschen Spielplätzen von der Schul-
jugend betrieben werden, sind vorzugsweise Lauf- und Ballspiele.
Die Art des Betriebes und die Spielregeln und Spielgeräte richten
sich nach dem Alter und dem Geschlecht der Kinder. Von größeren
Hygienische W'ohlfahriseinrichtungen. 37
Knaben wird neben den verschiedenen, besondere Kraft und Aus-
dauer erfordernden Ballspielen, wie Schlcuderball, Jagdball, deutscher
Fußball und dergleichen und Laufspielen, wie Drittenabschlagen,
Kettenreißen, Barlauf, W'ettlauf, auch wohl Seilziehen, Diskus- und
Speerwerfen und Bogenschießen geübt.
Mittlere und kleinere Knaben spielen neben Lauf- und Ball-
spielen auch eigentliche Gesellschaftsspiele wie Schwarzer Mann,
Jakob wo bist du?, Boccia, Reifenwerfen, Katz und Maus und andere
Kreisspiele. Die Mädchen bevorzugen die weniger wilden Ball- und
Laufspiele, z. B. Boccia und Wiesenball (Lawn-Tennis), Federball,
Tamburinball, Reifenspiele und mancherlei Kreisspiele.
In Hamburg, wo das Jugendspiel mit großem Eifer betrieben
wird, liegt die Leitung der Sache in den Händen des Vereins für
Jugendspiel. Von den 65 Knabenvolksschulen Hamburgs konnten
im Jahre 1902 41 Schulen zum Spiel auf 8 Spielplätzen herangezogen
werden, andere erhielten die erforderlichen Spielgeräte, um auf den
Schulhöfen zu spielen. Auch für die Mädchen der Volksschule sind
seitens des im Auftrage des Vereins Hamburger Volksschullehre-
rinnen arbeitenden Ausschusses für Mädchenspiele im Sommer 1902
Jugendspiele veranstaltet worden. Es wurde von 13 Klassen auf
4 Plätzen gespielt, es beteiligten sich an 69 Spieltagen 4347 Schüle-
rinnen.
Ein besonderes Interesse erwecken nicht bloß in der Schul-
jugend, sondern auch in weiteren Kreisen der Erwachsenen die all-
jährlich im September auf dem Spielplatz Hoheweide zwischen den
Mannschaften verschiedener Volksschulen stattfindenden Wettspiele.
Die Preise sind Künstlerzeichnungen oder Reproduktionen von Ge-
mälden, welche für ein Jahr der siegreichen Schule zum Schmucke
dienen; andere Schulen begnügen sich für bewiesene Tüchtigkeit mit
dem Eichenkranz als Lohn. Am Ende des Sommers findet dann
noch ein Spielfest statt, in welchem die Schulen, welche Preise davon-
getragen haben, den letzten Kampf um die Meisterschaft ausfechten.
Die Zahl der auf den 8 Spielplätzen an 52 — 85 Spieltagen spielenden
Schüler der 41 beteiligten Knabenvolksschulen belief sich im Sommer
1902 auf 61 817 Schüler, aber das waren nur die Besucher innerhalb
der vorgeschriebenen Spielstunden von 5 — b^j-y Uhr. Die Zahl der
zu anderer Zeit ohne Aufsicht spielenden Kinder wird kaum geringer
zu veranschlagen sein. Der Verlauf eines Sommertages auf einem
Hamburger Spielplatz vor dem Lübecker Tor wird von einem Be-
obachter folo-endermaßen creschildert:
88 \VohltahrtseiiH-irhtun<Ten.
„Um ein treues Bild von dem gesamten Betriebe zu bekommen,
möge hier mit wenigen Worten der Spielbetrieb eines Tages ge-
zeichnet werden. Nehmen wir gleich den ersten Tag der Woche.
Es i.st Montag. Am Morgen suchen abwechselnd die einzelnen
Klassen aus den verschiedenen Schulen der Umgegend den Platz
während der Turnstunden auf. In den Mittagsstunden ist der Besuch
des Platzes oft sogar so .stark, daß der Platzmangel sich fühlbar
macht. Kaum sind die Mittagsstunden vorüber, da finden sich auch
schon einzelne Gruppen zu zwanglosem Spiel wieder ein. Die ersten
sind meistens Knaben der nahe gelegenen Schule Stiftstraße, welche
wohl täglich mehrere Gruppen freiwilliger Spieler stellte. Bald finden
sich andere Gruppen dazu. Kapellenstraße, Bürgerweide, Stein-
hauerdamm, Münzstraße, Borgesch sind vertreten. Einige kommen,
andere gehen. Überall ist der Platz besetzt. Alle Schüler spielen
friedlich nebeneinander. Schüler verschiedener Schulen tun sich zu
einer Gruppe zusammen und spielen ruhig miteinander und gegen-
einander. Da schlägt es 5 Uhr; der Lehrer erscheint. Die offizielle
Spielzeit beginnt, heute für die Schule Koppel. Schon kurz v^or
dieser Zeit haben .sich Schüler der genannten Schule in größerer
Zahl eingefunden. Ihnen wird vom Lehrer ein geeigneter Platz an-
gewiesen. Die fremden Spielergruppen entfernen sich willig, oder
falls noch Platz vorhanden i.st, stellen sie sich gern unter die Auf-
sicht des ihnen fremden Lehrers. Auch der Lehrerturnverein be-
nutzt heute in Gemeinschaft mit den Seminaristen den Platz. Um
6V2 Uhr ist die offizielle Spielzeit zu Ende. Schon seit längerer Zeit
\Aeilen auf dem Platze Schüler verschiedener Schulen, auch höherer,
um unter Aufsicht einiger besonders interessierter Lehrer Fußball zu
spielen. Kaum werden die andern Spiele abgebrochen, so kommt
dieses Spiel zu seinem Recht. Je später es wird, desto größer wird
die Zahl junger, der Schule entwachsener Leute, welche in der ge-
schäftsfreien Zeit, angeregt durch den St. Georger Fußballklub,
dieses Spiel betreibt. Erst der Eintritt der Dunkelheit macht dem
bunten Bild des Spiellebens ein Ende."
Am konsequentesten ist wohl in München das Jugendspiel
durchgeführt worden. Nach dem Verwaltungsbericht über die
städtischen Volks- und Mittelschulen in München betrug die Gesamt-
summe der im Sommer 1901 auf 25 Spielplätzen (meist Schulhöfen)
in 86 Spielgruppen spielenden Schüler und Schülerinnen 19().'^22.
Jede Gruppe spielte durchschnittlich 27 Tage bei einer Beteiligung
von durchschnittlich 82 Kindern. Die Spiele standen unter der Auf-
M3gitiiische Wohlfalirtseiiirichtunfjen. ^t)
Sicht eines Oberleiters und 41 männlicher und ;>7 weiblicher Spiel-
leiter.
Die Kosten für den Retrieb beliefen sich in dem t^enannten
Jahre auf nahe an 16 000 M.
Unter den anderen deutschen Städten sind wegen ihrer Für-
sorge für das Jugendspiel besonders folgende zu nennen: Altona,
Augsburg, Barmen, Berlin, Bielefeld, Bremen, Breslau, Charlotten-
burg, Chemnitz, Danzig, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld.
Frankfurt a. M., Freiberg, Görlitz, Hannover, Hildesheim, Kiel, Leipzig,
Nürnberg, Schöneberg, Straßburg.
In einer Anzahl von größeren Städten hat man die Veran-
staltung der Jugendspielkurse für ganz besonders nötig in den Schul-
ferien erachtet, ,,um den Volksschülern, welche nicht in einer Ferien-
kolonie oder auf sonstige Weise sich eines gesunden Landaufent-
haltes erfreuen können, Gelegenheit zu geben, einen Teil derjenigen
Zeit, welche sie sonst in dunstigen, ungesunden Wohnungen oder
auf engen Straßen und Höfen zubringen würden, in frischer, freier
Luft bei anregendem Spiel zu verleben."
Solche Ferienspiele wurden beispielsweise in Hannover bereits
im Sommer 1891 veranstaltet. Die damals eingerichteten und seit-
dem fortgesetzten Spielkurse erwiesen sich bald als eine soziale Not-
wendigkeit und bewährten sich in jeder Hinsicht. Im Sommer 1902
spielten die Knaben an 'A Wochentagen von 9 — 11 Uhr vormittags
auf 4 Schulhöfen und einem Spielplatze, die Mädchen auf 3 Schul-
höfen an denselben Tagen nachmittags von 4 — 6. Die Aufsicht über
die Knaben führten 6 Lehrer, die über die Mädchen 6 Lehrerinnen.
Am Schluß der Ferien wurden auch Ausflüge in die Umgegend der
Stadt veranstaltet.
Die im Haushaltungsplane der Stadt Hannover für diese Spiel-
kurse in Aussicht genommene Summe beträgt 600 M. jährlich. Auch
in Berlin hat man kürzlich mit diesen Ferienspielen einen Versuch
gemacht. Im Etatsjahr 1901 wurden 10 Spielkurse, 8 auf Schulhöfen
und 2 auf Spielplätzen, eingerichtet. Es wurde während der Sommer-
ferien täglich von 10 Uhr morgens bis 8 Uhr abends unter wechselnder
Aufsicht gespielt. Für diesen Zweck war eine Summe von 3U00 M.
in den P'.tat gestellt. Für die im Anschlui?^ an diese Spielkurse mit
den Teilnehmern veranstalteten Ausflüge in die Umgegend wurden
I30U 'S!, von Privatleuten zur Verfügung gestellt.
Im Winter wird zum Ersatz für die wegfallenden Bewegungs-
spiele an vielen Orten den Schulkindern Gelegenheit zum Schlittschuh-
90 Wohlfahrlseinricbtungen.
laufen geboten. In München werden Eisbahnen auf den Schulhöfen
angelegt, in anderen Städten Freikarten zur Benutzung öffentlicher
Eisbahnen an Schulkinder ausgegeben. Die Schlittschuhe für die
ärmeren Kinder werden häufig von Vereinen geliefert.
Die Schülerausflüge und Wanderfahrten mit Gruppen und
Klassen von Schulkindern werden an einer späteren Stelle Berück-
sichtigung finden, da sie neben dem hygienischen Zwecke der Er-
holung und körperlichen Kräftigung noch andere wichtige Bildungs-
ziele verfolgen.
4. Andere Wohlfahrtseinrichtungen.
Die in dem folgenden Abschnitt dargestellten Einrichtungen
haben das miteinander gemeinsam, daß sie die Gesamtbildung
unserer Schulkinder erweitern und vertiefen sollen, und zwar
verfolgen einige von ihnen, wie die Schülerfahrten in die Umgegend,
die Besuche der naturkundlichen Sammlungen und Ausstellungen, die
Besichtigungen öffentlicher Anlagen und Fabriken mehr den Zweck,
den Gesichtskreis der Kinder im allgemeinen zu erweitern, während
die in den Schulen betriebene Blumenpflege die Freude an der
Natur beleben und die künstlerischen Veranstaltungen, wie Theater-
vorstellungen, Schülerkonzerte, Besuche der Gemäldesammlungen
u. dergl., der ästhetischen Weiterbildung der Kinder dienen sollen.
A. Schülerfahrten. Die in vielen Gemeinden von Privat-
leuten, Vereinen und der Gemeinde selbst veranstalteten Ausflüge,
Wanderungen und Spaziergänge von Schülern und Schülerinnen
können bis zu einem gewissen Grade als hygienische Wohlfahrts-
einrichtungen angesehen werden. Sie tragen zweifellos dazu bei,
die körperliche Frische und Leistungsfähigkeit der Kinder zu erhöhen
und ihnen den Geschmack an ihre Gesundheit stählenden Fußwande-
rungen in Gottes freier Natur einzuflößen. Aber ihr Hauptwert liegt
doch nicht auf diesem hygienischen Gebiete; sie sind besonders für
die Großstadtkinder deshalb ein dringendes Bedürfnis, weil sie allein
ihnen eine Fülle von zum Verständnis des Lebens absolut notwendigen
und auf keine andere Weise zu beschaffenden Beobachtungen und
Erfahrungen darbieten. Das Großstadtkind kommt nur zu selten aus
den Reihen der hohen, engbrüstigen Häuser hinaus, welche die
Wohnung der Filtern und die Schulstube beherbergen. Fls ist bereits
an anderer Stelle darauf hingewiesen worden, welch eine Menge von
neuen Eindrücken auf die Stadtkinder in den Ferienkolonien ein-
stürmen; leider kann nur einer kleinen Minderzahl unserer groß-
incuumn'en.
städtischen Schuljugend die erziehliche Wohltat eines längeren Land-
aufenthalts gewährt werden. Diesen Mangel auszAigleichen und einer
großen Zahl von Schülern und Schülerinnen großstädtischer Volks-
schulen die tausend interessanten Beobachtungen zugänglich zu
machen, welche nur der Aufenthalt in freier Natur zu bieten ver-
mag, das ist die Hauptaufgabe der Schülerausflüge.
hl fast allen großen Städten werden zur Sommerszeit solche
Schülerausflüge veranstaltet. Das sind entweder Spaziergänge in die
nächste Umgebung, welche die Dauer eines Tages nicht überschreiten
und innerhalb der Schulzeit abgehalten werden, oder Veranstaltungen
in den Ferien, regelmäßig wiederkehrende Wanderungen nach be-
stimmten Spielplätzen, wo dann die Kinder auf Kosten der Stadt
verpflegt werden. Ferienausflüge dieser letzteren Art sind beispiels-
weise in Schöneberg bei Berhn seitens der Stadtverwaltung zu einer
dauernden P>inrichtung gemacht worden.
In anderen Orten werden mehrtägige Ferienausflüge mit weiteren
Zielen für Volksschüler veranstaltet. So sandte in Bremen in den
Sommerferien 1901 Herr F. Mißler drei Wandergruppen von je
15 Schülern in den Harz und das Wesergebirge; in den beiden
folgenden Jahren wurden von demselben Herrn 6 solcher Schüler-
kolonien in deutsche Gebirge entsandt. Die Leitung der Wander-
gruppen wurde bremischen Volksschullehrern übertragen.
Die wichtigste Gruppe unter den Schülerausflügen bilden aller-
dings nicht jene von Privaten für eine kleine Klasse von Knaben ver-
anstalteten Spaziergänge und Reisen, sondern die von der Schule
angeordneten und geleiteten Ausflüge ganzer Schulklassen. Nur die
auf solchen Wanderungen gesammelten Erfahrungen können wirkhch
systematisch mit dem Schulunterricht verknüpft und in ihm verwertet
werden. Während aber die jüngeren Schüler sich auf Spaziergänge
im Innern der Stadt oder in ihrer nächsten Umgebung beschränken
mü.ssen, können die Oberklassen der Volksschulen und besonders die
Knaben sich schon schwierigere, den ganzen Tag ausfüllende Aus-
flüge zumuten. In wirklich systematischer Weise sind in München
durch den Lehrplan für den Unterricht in der Weltkunde an den
Werktagsvolksschulen die Schülerspaziergänge dem Organismus des
Unterrichts in der Heimatkunde eingeordnet. Nach der Betrachtung
des Schulzimmers und des Schulgrundstücks wird das Kind im
dritten Schuljahre in den Schulbezirk durch einen Spaziergang in der
Schulhausstraße und ihren nächsten Querstraßen eingeführt. Dann
lernt es die Altstadt wiederum durch einen Spaziergang kennen; ge-
92 Wohlfahrtsei nrichtiuigen.
.schichtliche, wirtschaftliche und geographische Iklehrungen knüpfen
sich an das mit eigenen Augen Erschaute. Das Kind erhält außer
den Namen der Straßen und Plätze die erste Kunde von der Gründung
der Entwicklung und gewissen bemerkenswerten Ereignissen in der
Geschichte der Stadt. Es besucht den Gemüsemarkt, die Fleisch-
hallen und den Fischmarkt und erhält Belehrung über die Bedeutung
dieser wirtschaftlichen Anlagen. Zur Orientierung über die ge-
w'onnenen Beobachtungen dienen von dem Kinde anzufertigende
Faustskizzen. Allmählich überschreitet man das Weichbild der Stadt
und macht in den ersten schönen Tagen des Frühlings einen Ausflug
in das nächste Dorf Da beobachtet man die charakteristischen Ge-
bäude, die Dorfkirche, den Friedhof, den Bauernhof, das Herren-
schloß u. dergl.; man achtet auf die Beschäftigung der Bewohner,
die Straßenbeleuchtung, die Gewinnung des Trinkwassers und erfährt
\on dem Lehrer das Nötige über die dörfliche Gemeindeverwaltung.
Von den einfacheren dörfUchen Verhältnissen kehrt man \\ieder in
die Großstadt zurück, lernt die dortigen entsprechenden Einrichtungen
kennen und gewinnt Gelegenheit zu höchst instruktiven Vergleichen
zwischen Stadt- und Landleben. Die nächsten Ausflüge gelten der
Gewinnung eines weiteren Überblicks über die München umgebende
Landschaft. Von einer Anhöhe überschaut man das Relief des
Höhenzuges, die Bodenverhältnisse, die Bodenerzeugnisse und die
Bewässerung; man sieht auf die Siedlungen der Menschen hinab, auf
die Hütten der Arbeiter, auf Gärtnereien, Milchwirtschaften, Ziegeleien
und Fabriken und lernt im Anschluß daran die Erwerbsverhältnisse
der Bevölkerung kennen. Aber man gewinnt noch eine andere Aus-
beute bei dieser Wanderung: Im Walde lernt man Eiche und Fichte
kennen, sieht das muntere Eichhörnchen vorbeihuschen und findet
Gelegenheit, von den Waldblumen zu pflücken und wohl gar eine
Waldanemone mit Wurzelstockballen auszugraben, um sie daheim
oder im Schulzimmer zu pflegen.
Die nächste (IV.) Klasse stellt schon wesentlich höhere Auf-
gaben. Hier erstrecken sich die Wanderungen aufwärts und abwärts
ins Isartal; man betrachtet die Landschaft unter höheren Gesichts-
punkten. Die Bodenverhältnisse werden studiert, Felsboden, Sand-
boden, Lehm- und Ackerboden kennen gelehrt und auf den Zu-
sammenhang zwischen Bodenbeschaffenheit und Bodenbedeckung
(Buchwald, Nadelwald, Weidengebüsch, Wiesen und Felder) und auf
die wirtschaftlichen Anlagen der Menschen hingewiesen. Der Fluß
mit seinen Dammbauten, Wehren, Schleusen. Mühlen und Flößen,
Andere W ohlfaliitseinrirlilun^eii. <j3
Furten, Fähren und l-Jrücken gibt Anlaß zu zahlreichen Kiweiterungen
des Gesichtskreises der Kinder, und die an diese allgemein geographi-
schen Belehrungen sich anknüpfenden F>innerungcn an die Vor-
geschichte des Landes müssen sich ihrem Gedächtnis tief einprägen.
Immer weiter zieht sich der Kreis für die Ausflüge, das Beobachtungs-
gebiet wird von Töltz bis Moosburg ausgedehnt, der Starnberger See
wird in die Anschauungssphäre des Kindes hineingezogen, es lernt
Moor und Heideland in ihrer charakteristischen Eigenart mit Pflanzen,
Tieren und Steinen kennen und erkennen.
Daß diese systematische Verwendung der Ausflüge die wirk-
samste Förderung der erziehlichen Aufgabe des Schulunterrichts be-
deutet, dürfte für den Pädagogen keinem Zweifel unterliegen. In dieser
Weise verwertete, aber auch auf die Mittel- und Oberklassen der
Volksschule und auf räumlich immer weitere Beobachtungskreise aus-
gedehnte Schülerausflüge würden das Ideal dessen darstellen, was
diese Einrichtung für die Schule überhaupt zu leisten imstande ist.
Daß solche Schülerausflüge, wenn auch nicht mit der systemati-
schen Regelmäßigkeit wie in München, auch in anderen Orten mit dem
geschichtlichen und geographischen Unterricht in engste Verbindung
gebracht und der Erweiterung der allgemeinen Bildung dienst-
bar gemacht werden, das möge der Leser aus der folgenden
mir von einem Hamburger Lehrer, Herrn O. Zimmermann, freundlichst
zur Verfügung gestellten Schilderung einer von ihm mit seiner Klasse
im Sommer 1903 veranstalteten Dampferfahrt nach Cuxhaven ersehen:
„In morgenUcher Frühe ging's los. Wolkenlos blau über uns
der Himmel! Die „Cobra" nahm uns auf Dreimal heulte die Dampf-
pfeife, und die Räder tauchten ein. Um uns tollte das geschäftige
Leben unseres Hafens. Wir grüßten Blohm und Voß' weltberühmte
Werft, wir sahen die stattlichen Bauten unseres neuen Kuhwärder-
hafens, wir glitten an Altenas nachbarlichen Mauern vorüber. Wir
passierten die belaubten Geestgehänge von Oevelgönne, Neumühlen
und Teufelsbrück mit ihren kostbaren Villen und Gärten, wir warfen
den Blick gegenüber auf die grünen Flächen der nachbarlichen
(Hamburgischen) Inselmarschen. Wir bewunderten den stolzen Bau
des Süllbergs und gedachten der Zeiten, da von hier aus Adalbert
das Christentum gepredigt, da von der bewaldeten Höhe aus Raub-
gesindel den vorüberfahrenden Schiffern und Fischern auflauerte, zu
deren Schutz der fromme Erzbischof auf seinem entwaldeten Gipfel
Kloster und Kastell erbauen ließ. Wir erinnerten uns im Angesichte
von Blankeneses abenteuerlicher Lage am Abhänge des Berges —
94 Wohlfahrtseiinichtungen.
ein phantasiereicher Schüler hatte den Einfall — , daß auch Genua
und Lissabon ähnlich liegen. Bei Schulau sahen wir auch am rechten
Ufer den hohen Geestrand in neblichte Ferne zurücktreten. Flache
Marschen auf beiden Seiten fortan! Wir gedachten der Geschichte
ihrer Entstehung, ihrer Leidensgeschichte vor ihrer Eindeichung, ihrer
niederdeutschen Besiedlung, ihrer Fruchtbarkeit und ihres jetzigen
Reichtums. Am südlichen Ufer begrüßten wir hinter dem hohen
Deiche das ,,Alte Land", das ,,Kirscheniand'* der Hamburger, das
über Norddeutschland nicht nur, sondern auch nach Petersburg und
London seine süßen Früchte schickt. In verschwindender Ferne der
Geestrand im Norden erinnerte uns daran, wie auch zur Zeit Karls
des Großen bis dahin alles Land bei jeder höheren Flut vollständig
unter Wasser stand. Die Türme von Stade und Brunshausen glitten
vorbei. Rechts erschien Glücksstadt: wir gedachten mit patriotischer
Genugtuung der langen Händel der alten Hamburger mit dem Dänen-
könig um den Glücks^tädter Zoll, ihrer ehrenvollen Verteidigung auf
der Niederelbe und des endUchen Sieges der Hamburgischen Politik.
Mehr aber als alle hi.storischen F^rinnerungen nahm uns das lebendige
Treiben auf dem Wasser gefangen.
Unweit der Einfahrt in den Kaiser-Wilhelm-Kanal mit ihren ge-
waltigen Molenköpfen lag gerade vor Brunsbüttel der englischen
Königin Lu.stjacht „Viktoria und Albert" vor Anker, auf ihrem Top
die königHche Standarte und in ihrer Begleitung der Panzer „Dido".
Es hielt die Jungen nicht: sie mußten der hohen Besucherin das
,,God save our gracious Queen" hinübersingen!
Vor Groden ankerte ein Dampfer der ,, Hamburg-Südameri-
kanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft". Die gelbe Flagge, die er
führte, belehrte uns, daß er vor der dortigen Desinfektionsanstalt in
Quarantäne lag. —
Nach 3stündiger Fahrt sichteten wir Cuxhavens hundertjährigen
Leuchtturm. Meereswehen umfing uns, Meeresleben umbrandete
uns. Ewer, Kutter und Barkassen in großer Zahl, meist im Dienste
des Austern- und Krabbenfanges, große Segler und kleine, schmucke
Lustjachten, Passagier- und Frachtdampfer, Kriegsschiffe aller Typen,
von den gewaltigsten Panzern und Schlachtschiffen bis zu den ge-
schwinden Torpedobooten und den zierlichen W^achtbooten, liefen ein,
liefen aus.
Wir landeten an der „Neuen Liebe".
An den großartigen neuen Empfangsbauten der ,,Hapag" mit
ihrem prächtigen Portale vorbei galt unser erster Besuch dem großen
Andere Wohlfalirtseinricluunf^en. Q5
neuen Seehafen, dem ,,Tidehafen", den der HaniburL^er Staat mit
einem Kostenaufwande von 7 Millionen für die Amerika-Linie erL)aute.
Welch ein Treiben, welch ein Leben dort!
Die „Deutschland", dieser ,, Windhund des Ozeans", nahm ihre
letzten deutschen Fahrgäste, ihre Kajüttenpassagiere auf, die mit der
,, Untereibischen Eisenbahn^' von Hamburg gekommen, da ihnen die
P^lbfahrt des großen Dampfers (mit halber Kraft) zu langsam geht.
Welch ein Gewoge hinüber und herüber! Welch Riesenkörper,
dieser neue Salonschnelldampfer, 200 m lang, fast 2000 Menschen be-
herbergend, nächtlich von 2000 Lampen erhellt, von 33 000 Pferde-
kräften bewegt, ein ,, Blitzzug des Ozeans'M
Weiter zum alten Hafen! — Da stehen wir auf der ,, Alten Liebe'S
der \\eltbekannten, altehrwürdigen Landungsbrücke. Wir denken
daran, wie hier vor bald 200 Jahren die Hamburger das alte Wrack
„Die Liebe" versenkten zum Bollwerk gegen die brandende See, die
trotz der ,, Stacks" die Cuxhavener Ufer immer wieder zu unterwühlen
drohte. Am Steindeich, der auf die obere Plattform hinaufführt, be-
trachten wir den „Semaphor" und wissen, daß die 3 aufgezogenen
Flügel „starken Wind" bedeuten. An der „Signalstation für den
Schiffsmeldedienst" mit ihrer Station für drahtlose Telegraphie („Funk-
spruchapparate") vorüber geht's weiter zum alten Leuchtturm. Eine
Karte vom Kommandeur befugt uns, ihn zu besteigen und den
weiten Rundblick auf See und Land zu genießen. Indem wir das
,, Telegraphenamt" passieren, erinnern wir uns, daß von hier aus
außer der oberirdischen Leitung ein unterirdisches Kabel nach Ham-
burg führt, und daß ein unterseeisches Kabel die Verbindung mit
Helgoland unterhält. Am Lotsenwachthaus fällt uns ein, daß es
unsere Hamburger Seewarte ist, die hierher auf telegraphischem
Wege ihre Sturmwarnungen schickt.
Wir kommen an den „Fischerhafen". Eiswagen der Eisenbahn
stehen bereit, die frische Ausbeute an Seefischen für das Binnenland
autzunehmen, während für Hamburgs und Altonas große Fischmärkte
Ewer und Dampfer gefüllt werden.
Auf dem Rücken des mächtigen Seedeiches, der Hauptader des
Cuxhavener (Döser) Badelebens, immer wieder den Blick auf das be-
lebte Meer gewandt, streben wir der Kugelbake zu. Da lagern auf
der Wasserseite des Deiches im Sonnenschein Badegäste in großer
Zahl, Damen, Herren und Kinder. Landeinwärts liegen Villen und
Hotels (Adolf Woermanns, unseres Hamburger Großreeders, Lust-
haus winkt auch herüber), auch die Matrosen-Artilleriekaserne, am
()5 Wohlfabrtseinriclitungeii.
Wasser die Badeanstalt, weiterhin das Fort Grimmerhörn. Bade-
karren hocken am Strande. — Und endlich ist Kugelbake erreicht,
der , .nördlichste Punkt des ganzen westelbischen Deutschland". Da
muß jeder hinauf! Die tiefe Ebbe gestattet es, bis zur ,,Bake" selbst
auf dem langen Felsendamm ins Meer hinauszutreten. Hier gedenken
wir der wechselvollen Vergangenheit des eigenartigen Bauwerks, der
ersten Aufrichtung der Bake vor 170 Jahren, ihrer wiederholten
Zertrümmerung durch das Meer, ihrer Beseitigung zusammen
mit allen anderen Seezeichen 1870, ihrer letzten Neuerrichtung
1 898. — Da lenkt wieder das gewaltige Meer den Blick auf sich
zurück. Wir lugen hinaus. Ein Lotsenschoner kommt ein, ein
beschädigtes (rotesj Feuerschiff wird im Schlepptau hineinbugsiert.
Zwischen dem ersten und zweiten Feuerschiff liegt eine Lotsgaliote
vor Anker. Welch eine Menge anderer Seezeichen, Baken, Tonnen,
Bojen über die weite Wasserfläche den Weg weisen! Und da zieht
die „Deutschland" an uns vorüber! Auf dem Deck wimmelt es von
Menschen, sie winken uns mit den Tüchern, wir schwenken Hüte
und Mützen und senden ihnen die letzten Grüße von deutscher
Erde zu.
Aus Fort Kugelbake blicken die Rohre deutscher Kanonen
hervor. Wir haben staunend vor der großen Kanonenbatterie
Kruppscher Riesengeschütze gestanden und mit Bewunderung be-
dacht, daß diese fürchterHchen Waffen von über 10 m Länge ein
Zentnergeschoß bei einem Pulververbrauch von über 300 Pfund pro
Schuß über 20 km weit zu schleudern vermögen! Es tat unserer
Liebe zu Vaterstadt und Vaterland wohl, den Eingang in unsere Elbe
so gesichert zu sehen.
Vom Deiche (nach Duhnen) schweifte dann unser Blick über
das weite Wattenmeer bis nach Neuwerks 500jährigem Leuchtturm.
Das zurückgetretene Meer hatte die Watten bloßgelegt. Der Neu-
werker Postwagen fuhr hinüber, ein Lohnfuhrwerk kehrte zurück,
Badegäste jedes Alters und Geschlechts vergnügten sich damit, bar-
fuß im seichten Wasser umherzuspazieren und nach Krebsen, Krabben
und Algen zu greifen. Flugs nach gegebener Erlaubnis waren auch
der Jungen Stiefel und Strümpfe von den Füßen herunter, die Hosen
bis über die Knie aufgekrempelt und, das Fußzeug in den Händen,
ging's bis Duhnen weiter durch das W^att.
Hier endet der Deich: die Geest beginnt, die Düne schützt das
Land. Wir haben, nachdem wir noch einmal vom Seewasser gekostet,
landeinwärts uns gewandt, von Duhnen, wo wir das ,, Hamburger
Andere Wohlfahrtseinrichtungen. Q7
Kinderseehospiz" sahen, dem so mancher bleiche, schwächliche Mit-
schüler in der kühlen, feuchten, salzhaltigen Luft eine schnelle Besse-
rung verdankte, nach dem Galgenberg, der alten Hochgerichtsstätte.
Hier hielten wir Umschau über Land und See zwischen Elb- und
Wesermündung; zu unseren Füßen dehnte sich, von unzähligen
Wetterungen durchzogen, bis an die Elbe das Land Hadeln, der
Typus der Flußmarsch, gegen die Nordsee das Land Wursten, das
Beispiel einer Seemarsch.
Nun ging's durch Brockeswalde zum „Schloß Ritzebüttel", der
alten Strandräuberveste der Herren von Lappe, das vor über 500
Jahren von den kriegerischen Hamburgern im Sturm genommen wurde.
Auf dem Burghof dort zwischen Schloß und Burggraben und Wall und
den alten Kanonen umgab uns ein fast unberührtes Stück Mittelalter.
Nach kurzer Rast in diesem beschaulichen Erdenwinkel eilten
wir durch die freundlich-ruhigen Straßen des Fleckens Ritzebüttel
nach Cuxhaven zurück. Wenige Minuten nach unserer Ankunft auf
dem Ponton der „Neuen Liebe" nahm uns die ,,Silvana" auf. Auf
der Rückfahrt ging's stürmischer zu als am Morgen. Der Semaphor
zeigte vier seiner Flügel, der Wind peitschte die Wellen über das
Deck, und da auch die Schleusen des Himmels sich auftaten und dem
Vorderdeck, dem uns zugewiesenen Aufenthalt, das schützende
Sonnensegel fehlte, so erhielten die Jungen die Erlaubnis, das ge-
schützte Hinterdeck, die Frachträume des Zwischendecks und die
Kajüten zu besuchen, wo sie noch ein Stück recht eigentlichen Schiffs-
lebens miterlebten. —
Als wir am nächsten Morgen im engen Raum des Klassen-
zimmers uns wiedersahen, da strahlte soviel Freude und Dank und
Leben aus ihren Augen, wie nie zuvor. Sie hatten damit ein Stück
von der Welt geschaut! Und was sie erlebt hatten, das wußte ihr
Mund jetzt zehnmal beredter auszudrücken, als es zehn Stunden Unter-
richt ihnen beizubringen je vermocht hätten."
Li allen größeren deutschen Städten werden die Schüler in die
am Orte bestehenden Sammlungen, die historischen, naturkundlichen
und landwirtschaftlichen Museen, sowie die vorübergehend am Orte
stattfindenden Ausstellungen gleicher Art geführt. In den Städten,
welche einen zoologischen Garten besitzen, wird gewöhnlich mit der
Direktion ein Abkommen getroffen, nach welchem den Schülern der
Volksschule die Besichtigung entweder unentgeltlich oder gegen Ent-
richtung eines geringen Eintrittsgeldes in Begleitung der Lehrer ge-
stattet ist.
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. Anhang. 7
98 Wohlfahrtseinrichtungen.
In größeren Städten, wie in Berlin, bieten noch andere eigen-
artige Ausstellungen, wie das Kolonial-Museum, die Urania, die
Sternwarte in Treptow, das Aquarium und verschiedene Panoramen
den Schulkindern eine reiche Fülle der Anregung und Belehrung dar.
Freilich ist es für den Lehrer unter Umständen eine schwere und
verantwortungsvolle Aufgabe, eine größere Anzahl von durch die
Neuheit der Situation aufgeregten Kindern, deren Augen überall
umherschweifen, durch das Straßengewühl der Großstadt unversehrt
hindurchzuführen; trotzdem werden wohl in allen größeren Städten
den Kindern im Anschluß an den Anschauungs- und Geschichts-
unterricht die historischen Bauten und Denkmäler der Stadt sowie
die historisch merkwürdigen Orte der Umgegend gezeigt. Nicht
selten werden auch öffentliche Anlagen, wie Kanalbauten, Wasser-
werke, städtische Gasanstalten oder private Werkstätten, Fabriken,
Eisengießereien, Bergwerke und Hüttenanlagen, wenigstens von den
Schülern der Oberklassen unter Führung ihrer Lehrer besichtigt.
Die gewonnenen Beobachtungen werden dann nicht selten als Auf-
gaben für die deutschen Aufsätze verwendet,
B. Schulgärten, Blumenpflege durch Schulkinder. Die
für den botanischen Unterricht als Anschauungsobjekte erforderlichen
Pflanzen sind auf dem Lande und in kleineren Städten im allgemeinen
ohne große Mühe zu beschaffen. Wald und Feld, Acker und Wiese
und der Gemüse- und Obstgarten des Lehrers bieten das erforderliche
Material in genügender Reichhaltigkeit dar. Schwieriger ist seine
Beschaffung in großen Städten und zugleich notwendiger, da es den
Kindern bei dem Mangel an Hausgärten oft gänzlich an Kenntnissen
und Anschauungen vom Leben der Pflanzen mangelt.
Um die Schulen mit diesem botanischen Anschauungsmaterial
zu versehen, hat man in verschiedenen Großstädten umfangreiche
Gärten angelegt, in denen die im Unterricht zu behandelnden Pflanzen
gezogen und den Schulen nach Bedürfnis geliefert werden. Solche
Zentralschulgärten bestehen seit Mitte der siebziger Jahre des 19.
Jahrhunderts in einer großen Zahl von deutschen Städten, so in Berlin
im Humboldthain seit 1875, in Magdeburg seit 1879, in Leipzig,
Breslau, Mannheim, Dortmund, Cöln a. Rh., Altona, Karlsruhe, Elber-
feld, Hannover, Chemnitz*) usw.
Größe und Anlage dieser Zentralschulgärten sind nach den Be-
dürfnissen des Ortes und den zur Verfügung stehenden Grundstücken
*) Vgl. den Artikel „Schulgärten" in Reins „Encyklopädisches Handbuch der
Pädagogik".
Andere Wolilt'alntseiniichluiv^ren. 90
verschieden. Die botanische Abteikmg im Humboldthain in Berlin
umfaßt ein Areal v^on 4 ha, hat sich aber zur Lieferung des erfor-
derlichen Pflanzenmaterials für die Berliner Schulen längst als unzu-
reichend erwiesen. Wie sich die Verwendung einer derartigen An-
lage gestaltet, und welche Kosten sie verursacht, ist aus folgendem,
dem Verfasser zur Verfügung gestellten amtlichen Bericht über den
Botanischen Garten (Zentralschulgarten) in Magdeburg zu ersehen:
,,Für die hiesigen städtischen Schulen besteht ein großer bota-
nischer Garten in den Herrenkruganlagen. Derselbe ist ca. 4 Morgen
groß und vollständig regelmäßig eingeteilt. Er enthält neben einer
Abteilung für das Pflanzensystem ca. 2000 qm nur Anzuchtsbeete mit
Schatten- und Sumpfquartieren und an Baulichkeiten ein Häuschen für
den Leiter, Geräteschuppen und offene Halle für Unterrichtszwecke.
Der Garten liefert das Pflanzenmaterial für 7 höhere und 20
Volksschulen während des Sommersemesters wöchentlich zweimal,
Montags und Donnerstags. Die Lehrpflanzen werden von den ein-
zelnen Schulen auf Grund der alle 14 Tage von der Leitung des
Gartens herausgegebenen Pflanzenlieferungsverzeichnisse bestellt und
sortenweis gebündelt mit Namen geliefert. Die Anlieferung erfolgt
mittels Rollwagen, auf welchen die Pflanzen, für jede Schule geson-
dert gebündelt, aufrecht in Kästen stehend, transportiert werden und
zum Schutze gegen Witterungseinflüsse mit einer Plane überdeckt
werden können. Jeder Pflanzenlieferung wird eine Zusammenstellung
des gelieferten Materials beigegeben. Die für den Schulunterricht
notwendigen Pflanzen werden in ca. 280 Arten auf den Anzuchts-
beeten herangezogen und in 1 20 bis 1 50 000 Exemplaren geliefert.
Es sind 40 bis 50 Exemplare für den qm gerechnet. Das Pflanzen-
system enthält in systematischer Anordnung die wichtigsten heimischen
Pflanzenfamilien mit ihren Repräsentanten.
Die jährlichen Unterhaltungskosten betragen:
1 . Lohn eines Gartengehilfen, der sich in botani-
schen Gärten bereits Vorkenntnisse erworben hat 1 200,00 M.,
2. Lohn für 2 Frauen, vom März bis Oktober zu
beschäftigen 700,00 M.,
3. Lohn für 2 Hilfsarbeiter, während der Frühjahrs-,
Sommer- und Herbstmonate 360,00 M.,
4. Für das Austragen usw. der Pflanzen .... 200,00 M.,
5. Zur Unterhaltung und Beschaffung von Ge-
räten, Beschaffung von Samen und Pflanzen . 240,00 M.,
zusammen 2 700,00 M.
7*
i 00 Wohlfahrtseinrichtungen.
Außerdem sind noch 16 kleine botanische Gärten vorhanden,
welche unweit der einzelnen Schulgebäude belegen sind. Für Instand-
haltung und Beaufsichtigung derselben werden alljährlich im ganzen
1465 M. verausgabt."
Der Zentralschulgarten unterstützt den botanischen Unterricht
noch auf andere Weise als durch Lieferung von Pflanzen. Die
Schüler werden von ihren Lehrern klassenweise in den Garten
geführt, um dort im Freien oder in einer Halle ihre Lektionen zu
erhalten oder gewisse im Unterricht vorbereitete Beobachtungen
anzustellen.
Bei den erheblichen Entfernungen der Großstadt können die
Schulen natürlich nur selten solche botanischen Ausflüge veranstalten
und müssen sich, wofern ihnen nicht eigentliche Schulgärten in un-
mittelbarer Nähe der Anstalt selbst zur Verfügung stehen, mit den
nicht immer wohlerhaltenen und durch den Transport nicht selten an
Blüten und Blättern schwer beschädigten Pflanzenexemplaren begnügen,
welche die Zentralstelle liefert. Die Betrachtung dieser Pflanzen-
leichen kann natürlich nur einen unvollkommenen Ersatz für die prak-
tische Tätigkeit im Schulgarten und die Pflege lebender Pflanzen
bieten. Die Gemeindeverwaltungen sind daher auch in den großen
Städten eifrig bemüht, ihren Schulen wenigstens bei Neubauten den
Vorteil eines Schulgartens zuteil werden zu lassen. Leider stehen
diesem Bemühen oft nicht unerhebliche Schwierigkeiten im Wege.
Die hohen Bodenpreise in den modernen Großstädten zwingen die
Stadtverwaltungen, sich gerade in bezug auf das Areal des Schul-
grundstücks die möglichste Beschränkung aufzuerlegen, und stellen
ihnen unter Umständen nur die Alternative, an dem Bewegungsraum
für die Schulkinder in den Pausen, dem Schulhofe, zu sparen oder
auf den Schulgarten zu verzichten. Unter diesen Umständen be-
schränkt man sich nicht selten auf die Bepflanzung des Schulhofes
mit einigen Laubbäumen und die Anlage schmaler Rabatten von
Gebüsch an den Umfassungsmauern. Auf diese Weise können die
Kinder auf dem Hofe wenigstens Kastanie, Akazie, Eiche, Platane
und dgl. und einige Straucharten als lebende Exemplare kennen
lernen, aber als Ersatz für planmäßig angelegte Schulgärten können
diese Pflanzungen natürlich nicht gelten. Vielfach bietet der Boden
selbst, auf dem das Schulhaus steht, erhebliche Hindernisse dar; in
den meisten Fällen ist es auch schwer, den Schulgärten auf den von
hohen Mietskasernen eingeschlossenen Schulhöfen großer Städte das
nötige Sonnenlicht zu bieten.
Andere Wohlfahrtseinrichtunfren. 101
Trotz dieser Schwierii^keiten sind Städte wie München, Dresden,
Leipzig, Hamburg, Wiesbaden, Magdeburg, Frankfurt a. M. und viele
andere eifrig bemüht gewesen, wenigstens der Mehrzahl ihrer Volks-
schulen Schulgärten einzurichten.
Bei allen Werktagsschulbauten in München wird bestimmungs-
gemäß ein Schul- und Küchengarten von ca. 50 qm angelegt; in
Dresden besaßen im Sommer 1901 bereits 1 8 städtische Volksschulen
zum Teil recht ansehnliche Schulgärten. Der etwas über 500 qm
große, bereits 1891 angelegte Schulgarten der dortigen VI. Bürger-
schule kann als ein gutes Muster derartiger Anlagen gelten. Er
bildet ein Rechteck, welches die für den Unterricht wertvollsten
Pflanzengruppen auf besonderen Beeten vereinigt. Da sehen wir
Feld- und Wiesenpflanzen auf einer Anzahl kleinerer Quadrate zu-
sammengefaßt, dann folgen verschiedene im botanischen Lehrplan
\'orgeschriebene Gewächse. In der Mitte des Grundstücks gruppieren
sich um die Bassins mit der Sumpf- und Wasserflora Pflanzen, welche
in der Technik Verwertung finden. Besondere Gruppen bilden die
Waldgehölze, die Schutt- und Hügelpflanzen, die Sträucher mit
Beerenobst, die Gemüse und Küchenkräuter. Auch die Alpenpflanzen,
Obstbäume und mancherlei Zierpflanzen sind nicht vergessen; es fehlt
auch nicht an in den Boden eingelassenen Fässern für Regenwasser
und Komposthaufen. Die Gartengeräte sind in einem besonderen
Pavillon untergebracht.
Auf die Benutzung des Schulgartens für den Unterricht kann
hier nicht näher eingegangen werden. Derselbe wird den Schülern,
wenn sie zur Bewirtschaftung herangezogen werden, eine zweckmäßige
und willkommene Gelegenheit zur Betätigung ihrer Schaffenskraft
besonders in der Großstadt bieten, er wird ihnen eine Fülle von
eigentlichen botanischen Kenntnissen einschließlich der Pflanzen-
physiologie in anschaulicher Weise übermitteln, er wird aber auch
anderen Lehrfächern mancherlei zweckmäßige Anregungen geben und
Aufgaben stellen. Der im Garten für die Wasserpflanzen anzulegende
Teich wird Fische, Frösche und Salamander beherbergen können.
Die Schüler werden die Entwicklung dieser Tierchen aus dem Laich
verfolgen. Die Versuche, durch verschiedene Düngungsmittel das
Wachstum der Pflanzen zu befördern, wird die Kinder in die Grund-
gesetze der Agrikulturchemie einführen, die Ausmessung und Ab-
steckung der Beete kann zu geometrischen Aufgaben Anlaß bieten,
der Springbrunnen das Gesetz der kommunizierenden Gefäße, der
Brunnen das Prinzip der Saugpumpe veranschaulichen. Die Blatt-
■| Q2 Wohlfahrtseinriclilungen.
formen, die Blüten und Früchte, die Bäume, Gartengeräte, Lauben
und dergl. bieten wundervolle Objekte für den Zeichenunterricht.
Die Belehrungen im Schulgarten sind durchweg anschaulich und
finden im Freien statt und hinterlassen um dieser F^igenart willen
mancherlei tiefe und nachhaltige Eindrücke im Geist und Gemüt des
Kindes.
Eins der wertvollsten Resultate dieser Beschäftigung mit den
Pflanzen pflegt ein tieferes Verständnis und eine innige Liebe für das
Walten der Naturkräfte zu sein. Dem Kinde, in dessen Herzen
diese Empfindungen einmal wachgerufen sind, ist damit eine neue
Quelle reiner Genüsse eröffnet, die Freude an den Schönheiten der
es umgebenden Natur.
Li einem etwas anderen Sinne ist die Beschäftigung mit Garten-
bau in jenen Anlagen ausgebildet worden, die man mehr als Garten-
baukolonien für Schulkinder bezeichnen möchte. Das sind Felder^
auf denen 3ich Schüler oder Schülerinnen an gewissen Nachmittagen
unter Aufsicht der Lehrer mit der Bebauung ihnen zugewiesener
Beete beschäftigen. Verfasser hatte Gelegenheit, eine derartige
Kolonie auf den Gabitz-Äckern in Breslau kennen zu lernen, und
gewann von dem frohen Eifer, mit dem die Schüler Spaten, Hacke
und Gießkanne gebrauchten und Früchte und Gemüse ernteten, den
besten Eindruck.
Ein amtlicher Bericht sagt über diese Breslauer Einrichtung:
,,Der im Jahre 1898 in kleinem Umfange gemachte Versuch, mit
reiferen Knaben aus den städtischen Volksschulen Gartenbau zu
treiben, hatte solche erfreulichen Erfolge, daß die städtischen Be-
hörden von Jahr zu Jahr durch Bereitstellung geeigneter Ländereien
und Mittel diesen gesunden, sowohl auf den Körper als auch auf das
Gemüt der Jugend günstig wirkenden Unterrichtszweig förderten. So
arbeiteten im vergangenen Sommer unter der Leitung fachkundiger
Lehrer auf 4 großen, in verschiedenen Teilen der Stadt gelegenen
Gartenflächen von 750 + 1 600 -M 732 -^ 2000 qm Größe insgesamt
556 Knaben aus 35 Volksschulen, indem jeder Knabe eine Fläche
von 6 — 7 qm selbständig bebaute, aber auch den Ertrag sein eigen
nennen konnte. Außerdem wurde auf jeder Station ein größeres
Stück Land von allen Knaben gemeinsam bebaut. Der Anbau er-
streckt sich hauptsächlich auf Gemüse, Beerensträucher und Blumen.
Abgesehen von den ersten Einrichtungskosten stellen sich die Unter-
haltungskosten auf etwa 7 — 8 Pfennige für das Quadratmeter und
Jahr. Die erforderlichen Geräte werden, soweit die Knaben nicht
Andere Wohlfahrtseinrichtungen. \03
selbst in der Lage sind, solche zu besitzen, auf städtische Kosten
geliefert. Die Teilnahme an dem Gartenbau, der nur in der schul-
freien Zeit betrieben wird, steht jedem Knaben frei." Für Blumen-
pflege und Gartenbau sind im Etat von 1903 5000 AI. vorgesehen.
Auf die besondere Bedeutung der Anlage von Schulgärten für
Hilfs.schulen und Kinderhorte ist bereits hingewiesen worden; ebenso
ist der Gemüsegarten ein unentbehrlicher Bestandteil der Schul-
küchenanlage.
Wo der Mangel an Raum oder andere ungünstige Verhältnisse
die Einrichtung eines Schulgartens unmöglich machen, da tritt die
Pflege von Blumen in Töpfen in ihre Rechte. Auch sie ist ein
wichtiges Hilfsmittel der intellektuellen und ästhetischen Jugend-
bildung.
Die schöne Sitte, die Klassenzimmer mit Blumen auf den
Fensterbrettern zu schmücken, breitet sich auch in deutschen Schulen
immer mehr aus, und Behörden wie Gemeinden stehen den Be-
strebungen, die Blumenpflege bei den Kindern einzubürgern, sehr
wohlwollend gegenüber.
In diesem Sinne spricht sich bereits im Jahre 1889 die Re-
gierung in Düsseldorf in einer Verfügung vom 1 1 . September aus.
Es heißt da:
,, unter Bezugnahme auf die diesseitige Verfügung vom 1. April
dieses Jahres veranlassen wir die Herren Kreisschulinspektoren,
darauf hinzuwirken, daß die Lehrer und Lehrerinnen Ihrer
Aufsichtsbezirke der Blumenpflege durch Schulkinder um der
veredelnden Einwirkung willen, welche von einer solchen Beschäf-
tigung der Schüler und Schülerinnen zu erhoffen ist, ihre tätige Teil-
nahme zuwenden, und zu dem Ende diese Angelegenheit zum Gegen-
stande einer Besprechung auf einer der nächsten Lehrer- und Lehre-
rinnenkonferenzen zu machen. Wir machen dabei darauf aufmerksam,
daß der Schule mancherlei Mittel zu Gebote stehen, um den Schülern
und Schülerinnen Anregung zur Blumenpflege zu geben. Dahin ge-
hört, daß von den Lehrern und Lehrerinnen in den Schulzimmern
Topfpflanzen gezogen und die Schulkinder bei der Pflege derselben
beteiligt werden. Es empfiehlt sich ferner auch, auf den Schulhöfen
an geeigneten Stellen Blumenbeete anzulegen und bei der Instand-
haltung derselben die Kinder planmäßig zu beschäftigen.
Wenn außerdem die Lehrer und Lehrerinnen von den selbst-
gezogenen Pflanzen Stecklinge und Samen an die Schulkinder von
1 04 Wohlfahrtseinrichtungen.
Zeit zu Zeit austeilen, so wird auch dadurch in denselben der Trieb
zur Blumenpflege geweckt werden."
Nicht selten haben Gartenbauvereine, wie in Erfurt, zuerst die
Blumenpflege durch Schulkinder angeregt; in den meisten Fällen
sorgen sie für unentgeltliche oder sehr billige Lieferung der erforder-
lichen Topfgewächse, während die Lehrer die Beaufsichtigung der
Pflege übernehmen. Als Städte, in welchen die Pflege von Blumen
in Töpfen durch Schulkinder besonders gefördert wird, mögen hier
Erfurt, Breslau, Lübeck, Hannover, Danzig, Berlin, Mannheim genannt
werden.
Im Sommer 1902 gelangten in Berlin durch den Verein zur
Förderung der Blumenpflege bei Schulkindern an 65 Schulen im
ganzen über 16 000 Pflanzen teilweise unentgeltlich zur Verteilung.
Auch von der städtischen Parkdeputation wurde der Verein durch
Lieferung einer großen Anzahl von Stecklingen unterstützt. Unter
den besonders bevorzugten Gewächsen nennt der Jahresbericht
Myrten, helmbuschblütige Akazien, Fuchsien, Pelargonien, Euka-
lyptus, Hehotrop u. a. m. Eine Verteilung von Preisen findet in
Berlin nicht statt; in anderen Städten, wie in Erfurt und Hannover,
wird die Ausgabe der Stecklinge — und man \\'ählt hierzu möglichst
gleichmäßig entwickelte, für die Zwecke eigens vorbereitete Pflanzen,
die zur Ausführung sicherer Kontrolle mit Plomben versehen sind —
mit einer gewissen Feierlichkeit betrieben. Dieselbe findet im Mai
statt; im August oder September folgt dann in Anwesenheit eines
größeren Publikums von Literessenten und der Behörden die Aus-
stellung und Prämiierung der Pflanzen. Ein aus Gärtnern, Lehrern
und Gartenfreunden bestehendes Komitee verteilt die Preise. Diese
bestehen entweder in Diplomen, silbernen oder bronzenen Medaillen,
schönen Pflanzenexemplaren, Gartengeräten oder auf den Pflanzenbau
bezüglichen Büchern. Diese Veranstaltungen gewinnen immer mehr
das Interesse weiterer Kreise der Bevölkerung; der Besuch dieser
Ausstellungen durch Kinder und Erwachsene pflegt ein recht leb-
hafter zu sein.
C. Die Pflege der Kunst in der Schule. Im letzten Jahr-
zehnt ist in Deutschland, angeregt besonders durch die Bemühungen
der Hamburger Lehrerschaft, das Bestreben hervorgetreten, die
Leistungen der Kunst den Schulkindern näher zu bringen und die
Schule der so lange vernachlässigten oder nicht genügend gepflegten
ästhetischen Erziehung des Volkes dienstbar zu machen.
Die leitenden Gesichtspunkte der neuen Richtung werden von
Andere Wohlfahrtseiiuichtungen. -| (J5
einem ihrer Führer, dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, Pro-
fessor Alfred Lichtwark, in folgender Weise zum Ausdruck ge-
bracht:*)
„Es wird sich nicht um die Beseitigung vorhandener und eben-
sowenig um die Einführung neuer Unterrichtsgegenstände handeln —
daran herrscht ja kein Mangel — , sondern um eine Vertiefung und
Bereicherung der vorhandenen Stoffe und Methoden. Überall ist die
unmittelbare Berührung mit den Dingen anzustreben. Das Ge-
dächtnis darf nicht nur als ein mechanisches Werkzeug zur Bewälti-
gung toten Stoffes ausgebildet werden, sondern ist vielmehr als eine
lebendige Kraft im Dienst des prüfenden und vergleichenden Ver-
standes zu erziehen. Als solche kann es ohne Gefahr weit mehr als
bisher belastet werden, und es wird mit spielender Leichtigkeit und
Freudigkeit ungeahnte Aufgaben bewältigen. Das Ziel des Unter-
richts besteht nicht bloß und nicht in erster Linie in der Mitteilung
des Stoffes, sondern in der Gewöhnung an eine zwingende Methode
zu beobachten und nachzudenken. Es muß das Bedürfnis erweckt
werden, vor jeder neuen Erscheinung zu sehen, wie weit die un-
mittelbare Beobachtung und die vorsichtige Anwendung des vor-
handenen Wissens führt, und erst wenn diese Mittel erschöpft sind,
nach Hilfe von Menschen und Büchern zu suchen. Aller Unterricht
sollte eine Anleitung sein, der Welt selbständig und unabhängig
gegenüberzutreten und in befestigter Gewohnheit das erarbeitete
Wissen zum Erwerb neuer Kenntnisse zu benutzen. In jedem Augen-
blick muß alles Wissen zur Verfügung stehen. Dies wird am
sichersten erreicht, wenn es von der ersten Stunde einem Können
dient.
Können ist die höhere Macht. Verstehen und selbständig unter-
suchen können, mitzuempfinden und nachzuempfinden vermögen geht
über alles mechanische Wissen weit hinaus.
Die Fähigkeit zu empfinden ist an einzelnen Gegenständen der
Natur — im Naturgeschichtsunterricht, bei Ausflügen vor der Natur
— und an einzelnen Kunstwerken — Bildern, Bauwerken, Statuen,
Gedichten, Musikwerken — zu üben. Ohne diese Grundlage ist eine
geschichtliche Betrachtung der Kunst und der Literatur für die wirk-
liche Bildung nicht bloß wertlos, sondern sogar gefährlich.
Auf allen Gebieten ist sodann vor allen Dingen Ausdrucksfahig-
*) Versuche und Ergebnisse der Lehrer\-ereinigung für die Pflege der künstle-
rischen Bildung in Hamburg. Hamburg 1901. S. 4 — 7.
i 06 Wolilfahrtseiinichtungen.
keit anzustreben. Es kommt nur darauf an, daß die von der Natur
gegebene Fähigkeit infolge Mangels an Gewöhnung nicht erst ein-
schläft. Wenn wir die Entwicklung des Kindes beobachten, finden
wir beständig, daß die natürliche Begabung von irgend einem Punkte
an unterdrückt wird, vor allem durch die schlechte Angewohnheit
falscher Scham, durch die Untergrabung der Unbefangenheit, die
Entwöhnung vom Beobachten, die Zerstörung des persönlichen Mutes.
Kleine Kinder pflegen mit hellem, sicherem Ansatz zu singen. Was
wird in der Schule daraus? Kleine Kinder erzählen und plaudern
ganz unbefangen. Wie steht es damit nach dem ersten Schuljahr,
wie steht es bei den Zwölfjährigen? Kleine Kinder zeichnen ohne
Furcht und Bangen, was in den Kreis ihrer Vorstellung kommt, und
zeichnen mit Freudigkeit. Wie weit wird dies in der Schule berück-
sichtigt? Sollte es nicht möglich sein, die Unbefangenheit zu erhalten
durch alle Stufen, bis das sichere Können erreicht ist?
Es muß überall und beständig nicht von der Wissenschaft, dem
Stoff, nicht von dem Vorstellungskreis des Erwachsenen, sondern von
der Natur des Kindes ausgegangen werden. Nur die Methoden
führen zum Ziel, die so tief gegründet sind.
Eins aber darf nie vergessen werden: die Kinder sind ein
heiteres Geschlecht. Sie leben noch heute in einer glückseligen
Welt, die Jahrtausende hinter uns liegt, in einem goldenen Zeitalter.
Was sie packen soll, was ihnen lieb werden soll, muß heiter sein.
Und alles, was ihnen geboten wird, muß ihnen lieb werden. Das ist
die beste Schule, in der bei der ernstesten Arbeit am meisten ge-
lacht wird. Wer die Gnade des Humors nicht hat, sollte nicht
Lehrer werden dürfen.
Soweit es möglich, ist überall von der durch die nächste Heimat
gegebenen Grundlage auszugehen. Die Schule hat nicht bloß mit
dem zu rechnen, was sie selbst mitteilt, sondern überall heranzuziehen,
was das tägHche Leben außerhalb der Schule lehrt. Es ist eine der
Unzukömmlichkeiten der heutigen Praxis, daß dieses ungeheure Er-
fahrungswissen nicht genügend in Anschlag gebracht wird. Die
Schule hat überall die Verbindungen herzustellen.
Engere Beziehungen zu den Eltern und den ins Leben ent-
lassenen Schülern erscheinen dringend erstrebenswert, damit die
Schule nicht als ein Fremdkörper im Leben des einzelnen und der
Familie steht. Es müßte sich um jede Schule eine Schulgemeinde
der Eltern und früheren Schüler bilden, mitlebend, mitstrebend, mit-
helfend. Wo eine besonders einflußreiche Lehrerpersönlichkeit
Andere Wohlfahrtseinrichtiingen. 107
wirkte, haben sich hie und da bereits Vereine unter ihrem Namen
gebildet, die ihre Überlieferung pflegen.
Auf dem festen Untergrund der Liebe zur Heimat und ihres
wachsenden Verständnisses ist sodann das nationale Wesen zu pflegen.
Wer die Schule verläßt, muß, soweit seine Fähigkeiten reichen, An-
schluß an die großen Dichter und Künstler unseres Volkes gefunden
haben, Anschluß mit dem Herzen, und es muß in ihm das Be-
dürfnis nach unmittelbarem Verkehr mit ihren Werken lebendig ge-
worden sein. Die Schule soll nicht satt, sie soll hungrig machen.
Alles, was gelernt und gelehrt und an Kräften erworben wird,
muß durch das Gefühl in den Dienst der höheren Entwicklung unseres
Volkes gestellt werden. Jeder muß sich verpflichtet fühlen, an der
Vertiefung und Veredelung unseres Volkscharakters mitzuarbeiten,
und zwar indem er nicht bei den andern, sondern bei sich selber
anfängt.
In solchem Boden gepflegt, werden Vaterlandsgefühl, Volks-
bewußtsein, Nationalstolz, Patriotismus und wie wir die Äußerungen
des einen tiefen Gefühls der Zugehörigkeit nennen mögen, in dessen
Entwicklung wir Deutschen noch hinter unsern Nachbarn zurück-
geblieben sind, sich als aufbauende und gestaltende Lebensmächte
wirksam erweisen, die nicht nur an seltenen Schicksalstagen fieber-
haft aufwallen, sondern auch an allen Werktagen still und stark an
der Arbeit sind."
Es ist hier nicht der Platz, auf eine Erörterung dieser Grund-
gedanken einzugehen. Dieselben haben in Deutschland sowohl in
den Kreisen der Lehrer, wie in denen der Künstler und Gelehrten,
ja selbst bei den Verwaltungsbehörden lebhaften Wiederhall gefunden.
In ganz Norddeutschland vollzieht sich auf der Basis der neuen Ideen
schon jetzt eine Umgestaltung des Zeichenunterrichts. Auf die
wesentlichen neuen Gesichtspunkte ist bei Gelegenheit der Be-
sprechung des Berliner Zeichenlehrplanes bereits hingewiesen worden.
Unter Mitwirkung des Professors Lichtwark und anderer Künstler
und Gelehrten ist eine Vereinigung entstanden, welche es sich zur
Aufgabe stellt, in Zwischenräumen von 2 Jahren Kunsterziehungstage
einzuberufen. Zu diesen Veranstaltungen werden die Mitglieder der
Schulverwaltungen und Schulaufsichtsbehörden, Schulmänner, Ver-
treter der größeren Lehrer- und Lehrerinnen- Vereine, Männer und
Frauen der Literatur, der Presse und Kritik sowie andere Freunde
der Volkserziehung eingeladen. Es haben bisher zwei solcher Kunst-
erziehungstage stattgefunden: Der erste im September 1901 in
1 08 \N'ohlfahrtseinrichtuiigen.
Dresden beschäftigte sich vorzugsweise mit der Pflege der bildenden
Kunst, der zweite im Oktober 1 903 in Weimar mit der künstlerischen
Behandlung der deutschen Sprache und Dichtung; ein dritter, für
welchen Ort und Zeit noch nicht festgesetzt sind, soll sich mit ]\Iusik
und Gymnastik beschäftigen.
Alle diese Bestrebungen beschränken sich natürlich nicht auf
das Gebiet der Volksschule, ja sie kommen wohl vorläufig in erster
Linie den Schülern und Schülerinnen der höheren Lehranstalten zu-
gute. Ein großer Teil der Wirkungen des neuen Geistes ist aber
auch schon jetzt wenigstens hie und da in den Räumen der Volks-
schulen zu spüren.
Wir wollen versuchen, auf einige der Einrichtungen hinzuweisen,
welche gegenwärtig für die ästhetische Erziehung unserer Volks-
schüler und Volksschülerinnen \^on Wichtigkeit sind. Es wird sich
dabei natürlich nicht ausschließlich um neue Schöpfungen oder Ver-
anstaltungen handeln, denn auch im Rahmen des bisherigen Volks-
schulunterrichts fand sich mancherlei Raum und Anlaß, auf das Gemüt
der Kinder durch künstlerische Darbietungen erziehlich einzuwirken.
a) Schulfeiern und Elternabende. Zu den bereits be-
stehenden ethisch-ästhetischen Veranstaltungen im Anschluß an die
Volksschule gehören in erster Linie die Schulfeiern. Wir rechnen
dazu zunächst jene Tage, ivelche in dem Leben der besonderen
Schule eine Bedeutung besitzen, die Jubiläen des Rektors oder
anderer würdiger Lehrer, die Einweihung neuer Schulräume und
andere spezielle Veranstaltungen dieser Art, dann jene regelmäßig
wiederkehrenden wichtigen Marksteine im Schuljahre, Schulanfang
und Schulschluß, letzterer verbunden mit Bekanntgabe der Ver-
setzungen, Austeilung der Zeugnisse und Prämien, Entlassung der
Konfirmanden und dergleichen. Diese Feiern erhalten durch die
Sache selbst ihren wesentHchen Inhalt; der feierliche Akt besteht
meist in Gesangaufführungen der Schüler und einer Ansprache des
Rektors oder eines Lehrers. Einen größeren Umfang nehmen die
künstlerischen Darbietungen bei den patriotischen Feiern an. Die
wichtigsten Gedenktage dieser Art in den deutschen Volksschulen
sind der Geburtstag des Landesherrn und des Kaisers, der Sedantag
(2. September), in München der in Zwischenräumen von 5 Jahren ge-
feierte Gedenktag des Frankfurter Friedens (10. Mai). Die Art und
Weise, in denen sich diese F'eiern vollziehen, sind natürlich dem Orte
und der Jahreszeit entsprechend verschieden. Fällt das Fest in die
Sommermonate, so wird es häufig mit einem Ausflusf nach einem
Andere Wohlfahrtseinrichtungen. 109
schönen Punkte in der Umgegend verbunden. Die Eltern der Schul-
kinder schließen sich an, und aus dem Schulfest wird ein eigentliches
Volksfest, an dem jung und alt mit gleicher Begeisterung teilnehmen.
Zu den Veranstaltungen solcher Sommerfeste gehören als regelmäßige
Bestandteile turnerische Übungen, Wettkämpfe, Reigen der Mädchen,
Gesang und Spiel. Kaisers Geburtstag und andere Feste, welche im
Winter gefeiert werden, spielen sich natürlich in geschlossenem Räume
ab. Die Aula, der Gesangsaal oder die Turnhalle prangen dann im
Schmucke von Fahnen und Guirlanden. Außer den üblichen An-
sprachen des Rektors und der Lehrer wechseln Lieder der Schüler-
chöre mit dem Vortrag von patriotischen Gedichten und gelegentlich
auch kleineren Aufführungen durch Schulkinder ab.
Besonders feierlich gestalten sich solche Feste, wenn es sich um
ein Jubiläum des Herrschers oder ein anderes frohes Ereignis in
seinem Hause handelt. Dann werden wohl gemeinsame F""eiern aller
Schulen der Residenz veranstaltet, und das junge Volk der Schüler
und Schülerinnen darf sich in dem Thronsaale dem Herrscher mit
seinen Huldigungen nahen.
Neben diesen nationalen Feiern spielt in vielen Schulen das
Weihnachtsfest eine hochbedeutsame Rolle. In welcher Weise das-
selbe mit seinen Gaben unter Umständen dazu beiträgt, die Not der
bedürftigen Schulkinder zu lindern, darauf ist bereits an einer früheren
Stelle hingewiesen worden. Im allgemeinen spielen die Geschenke
bei den Weihnachtsfeiern deutscher Volksschulen, wenn man von
einigen Pfefferkuchen, Äpfeln und Nüssen absieht, eine unbedeutende
Rolle. Die Lehrer und Lehrerinnen ziehen es in den meisten Fällen
vor, ihnen zufließende oder von ihnen erbetene milde Gaben für die
ärmsten Kinder nicht in öffentlicher Feier, sondern im geheimen zu
verteilen. Auch ohne wertvolle Geschenke verfehlt die Weihnachts-
feier in der Schule selten ihren tiefen Eindruck auf die Kinder. Die
Schüler und Schülerinnen versammeln sich in der Aula, auf einem
Tische steht der mächtige, fast bis zur Decke reichende, von Lichtern
funkelnde Weihnachtsbaum, auf langen Seitentischen sind Schüsseln
mit Pfefferkuchen, Äpfeln und Nüssen, für jedes Kind seine Portion,
aufgestellt, und nun beginnt das eigentliche Programm der Feier. Die
frohe Botschaft von der Geburt des Christkindleins wird gewöhnHch
von einem ganz kleinen Bürschchen oder Mädchen in aller Einfalt
der kindlichen Sprache erzählt; dann klingen die Lieder: „Vom
Himmel hoch da komm ich her" — ,,0 du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit" — „Lobt Gott, ihr Christen, allzu-
1 "1 0 Wohlfahrtseinrichtungen.
gleich" — ,, Stille Nacht, heilige Nacht" — und dazwischen mischen
sich dann die mehr volkstümlichen Kinderlieder: „Am Weihnachts-
baum die Lichter brennen" — „Die Nacht vor dem heihgen Abend"
— „Morgen, Kinder, wird's was geben" — ,,Ich bin der kleine
Weihnachtsmann" und viele ähnliche. Vor der eigentUchen Be-
scherung tritt dann ^^'ohl der Knecht Ruprecht im Pelzmantel, mit
der Pelzkappe auf dem Kopf und dem Sack mit Spielwaren, aber
auch mit Ruten auf dem Rücken, herv^or, um ein neckisches Verhör
mit den artigen und unartigen Schülern abzuhalten. Dann kommt
der von allen Kindern längst ersehnte Abschluß und Glanzpunkt der
Feier: die Bescherung, und freudestrahlend und mit leuchtenden Augen
verlassen sie das Schulhaus, um ihren Eltern die erhaltenen Gaben
zu zeigen.
Außer dem Weihnachtsfest bieten noch gewisse, auf die einzelnen
Konfessionen beschränkte Feiern, wie das Fronleichnamsfest und
andere in katholischen Schulen, das Reformationsfest in evangelischen,
Anlaß zu Veranstaltungen in den öffentlichen \^olksschulen des be-
treffenden Bekenntnisses.
Außer den an gewissen Tagen wiederkehrenden allgemeinen
Schulfeiern pflegen viele Volksschulen auch noch besondere Zu-
sammenkünfte zu veranstalten, welche dazu dienen sollen, die Be-
ziehungen zwischen der Schule und dem Elternhause enger zu
knüpfen. In manchen Gegenden werden diese öffentlichen Schul-
prüfungen oder Elternabende behördlich angeordnet; sie sind ent-
weder eigentliche öffentliche Prüfungen, welche in der Schulzeit (vor-
mittags) stattfinden und den Eltern der Schulkinder Gelegenheit zu
einem Einblick in den Schulbetrieb bieten sollen, oder Zusammen-
künfte am Nachmittag oder Abend, welche den Charakter der Prüfung
bereits eingebüßt haben. Die eigentlichen Schulprüfungen haben sich,
wenigstens in den großen Städten, als BindegUed zwischen Haus und
Schule schon deshalb nicht immer bewährt, weil die Eltern der
Schulkinder, die zum allergrößten Teil den arbeitenden Klassen an-
gehören, sich nur selten am Vormittag eines Wochentags frei machen
können, und weil auch das mehrstündige Anhören von schul-
mäßigen Lektionen für sie kaum ausreichendes Interesse bietet.
Der Besuch dieser öffentlichen Prüfungen war daher oft recht
schwach, und man ist beispielsweise in Berlin von einer derartigen
Veranstaltung abgegangen und hat an ihrer Stelle andere Zusammen-
künfte (Elternabende) eingerichtet, die den Charakter der Prüfung
nicht mehr an sich tragen und am Nachmittag oder Abend veran-
Andere Wohlfaliitseimiclitungen. 1 "1 "1
staltet werden. Diese Elternabende existieren in vielen deutschen
Städten, suchen aber ihren Zweck, eine intimere Verbindung zwischen
Schule und Elternhaus herzustellen, auf verschiedenen Wegen zu er-
reichen. Zuweilen wird der Hauptwert darauf gelegt, die Eltern über
gewisse pädagogische oder hygienische Probleme aufzuklären; in
diesem Falle bleiben die Schulkinder ganz fort, oder sie werden vor
Beginn des Vortrages entlassen. An den Vortrag schließt sich dann
unter Umständen eine Aussprache zwischen Lehrern und Eltern, die
sich auf diesem Wege in zwangloser Weise kennen lernen. In
anderen Fällen spielen die Kinder mit ihren Vorträgen, Gesängen und
Aufführungen die Hauptrolle und ihre Eltern und Geschwister, sowie
frühere Schüler und Schülerinnen der Anstalt das Publikum. Diese
Unterhaltungsabende werden, wenn der Schule ausreichende Räume
zur Verfügung stehen, in der Aula oder Turnhalle abgehalten, oder
sie finden auch gegen ein Eintrittsgeld in öffentlichen Lokalen statt,
wie dies beispielsweise in Hannover der Fall ist. Ein von dem
Stadtschulrat Dr. Wehrhahn erstatteter Bericht vom Jahre 1903 sagt
darüber folgendes:
,,Wie in einigen andern Städten, so werden auch hier seit etwa
10 Jahren im Verlauf des Winters von fast allen Bürgerschulen Unter-
haltungsabende veranstaltet, an welchen Chorgesänge und Deklama-
tionen vorgetragen und turnerische Übungen vorgeführt \verden.
Selbstverständlich dürfen die Darbietungen nicht über den Rahmen
der Schularbeit hinausgehen und müssen alles ausschließen, was der
Schule und der Leistungsfähigkeit der Kinder fernliegt. Trotz dieses
fest begrenzten Rahmens, innerhalb dessen die Programme für die
Unterhaltungsabende aufgestellt werden, zeigen die Darbietungen
doch eine große Mannigfaltigkeit und haben bei den Angehörigen
der Schulkinder ein mit den Jahren steigendes Interesse gefunden.
Die größten Säle der Stadt genügten oft nicht dem Andränge des
Publikums. Es wird in der Regel ein Eintrittsgeld von 20 bis 50 Pf.
erhoben, um die Kosten für Miete des Saales, für Druck des Pro-
gramms u. a. zu decken. Die Überschüsse werden zum Besten armer
Schüler der betreffenden Schulen (Milchfrühstück, Ausflüge u. a.)
und besonders für das Erziehungshaus Vahrenwald verwandt.
Restaurationsbetrieb ist an den Unterhaltungsabenden verboten.
Es ist zweifellos, daß die sorgfältige Einübung und Durcharbeitung
unserer herrlichen Volkslieder für die Unterhaltungsabende zur Hebung
des Gesanges in unseren Bürgerschulen in hohem Maße beigetragen
hat; es ist auch nicht zu leugnen, daß das Einüben der Deklamationen
"1 •|2 Wohlfahrtseinrichtungen.
für die Aussprache und Betonung der Gesamtheit der Schüler förder-
lich gewesen ist.
Auch die Eltern sehen dem Unterhaltungsabend mit Freude
entgegen. Der Chorgesang, aus vielen frischen, wohlgeschulten
Kinderkehlen durch den weiten Festsaal getragen, übt stets einen
besonderen Reiz aus, und die teils ernsten, teils scherzhaften Dar-
bietungen der oft kaum siebenjährigen Deklamatoren sind wohl im-
stande, die Zuhörer wehmütig zu stimmen oder ihnen auch ein fröh-
liches Lachen zu entlocken.
Es kann nicht die Rede davon sein, daß diese Unterhaltungs-
abende in gewissem Sinne eine Schulprüfung seien; wohl sind sie
aber geeignet, den Eltern einen Blick in den Geist und die Zucht
der Schule zu gewähren und ihnen zu zeigen, daß hinter den Mauern
des Schulhauses nicht nur Strenge herrscht, gescholten und getadelt
wird, sondern daß in erster Linie doch mit ganz andern Mitteln in
Liebe und Aufopferung auf Herz und Gemüt der Kinder eingewirkt
wird, um ihren Charakter zu bilden."
Verfasser, der Gelegenheit hatte, einem solchen Unterhaltungs-
abend in Hannover beizuwohnen, kann dem vorstehenden Bericht
nur hinzufügen, daß die musikalischen Darbietungen, die Vorträge
und Reigen, welche von den Schülerinnen einer einfachen Volks-
schule dargeboten wurden, mit zu den lieblichsten und graziösesten
Aufführungen dieser Art gehörten, von denen er auch in höheren
Schulen je Zeuge gewesen ist.
b) Musikalische Aufführungen durch Schulkinder.
Städte, welche, wie Karlsruhe und München, wohlausgebildete
Schülerkapellen besitzen, bedienen sich dieser wohl vorgebildeten
Truppe zur Verschönerung patriotischer Festlichkeiten und Schul-
feiern. In anderen Orten werden bei solchen Gelegenheiten wohl
auch in größerem Maße Chorgesangaufführungen durch Schulkinder
veranstaltet. Daß auch mit diesen, sofern sie nur einen größeren
Umfang annehmen und geschickt geleitet werden, gewaltige Wirkungen
erzielt werden können, das beweisen die bereits mehrfach wieder-
holten Gesangaufführungen von Gemeindeschulkindern in Berlin.
Der Kreis- und Stadtschulinspektor Dr. Fischer hat die Schüler der
ersten Klassen sämtlicher Gemeindeschulen des 1 . Berliner Schulkreises
und einer Anzahl von solchen des 7. und 8. Kreises unter Leitung des
Lehrers und Leiters der „Berliner Liedertafel" Zander zu einer Reihe von
Gesangaufführungen zum Besten der Berliner Kinderhorte im Zirkus
Busch vereinigt. Es war ein prächtiger Chor von zusammen 1800
Andere \\'olilfaliilseiniiclUungen. | t3
Knaben und Mädchen, welcher sich, nachdem bereits eine Vorstellung
mit gutem Erfolge vorhergegangen war, am Sonntag, den 8. März 1903,
vormittags in den weiten Räumen des Zirkus versammelte; bald ge-
meinsam, bald Knaben und Mädchen gesondert, trugen die Kinder
4 stimmige Volkslieder vor. Die Aufführung fand ihre besondere Weihe
dadurch, daß Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin sowie zahl-
reiche Prinzen und Prinzessinnen des Kgl. Hauses und viele hohe
Staatsbeamte erschienen und von den Gesangvorträgen sichtlich in
hohem Maße befriedigt waren. Eine Berliner Zeitung berichtet über
den Verlauf der Aufführung: „Gleich nach Erscheinen des Hofes gab
der Dirigent, Herr A. Zander, das Zeichen zum Beginn, und die
junge Sängerschar stimmte die Hymne „Heil Dir im Siegerkranz'*
an, welche von den Anwesenden stehend angehört wurde. Der
darauf folgende Choral ,,Lobe den Herren" wurde in präziser und
weihevoller Weise zu Gehör gebracht. Auch der Chor „Glorreich
auf dem Erdenrunde" von E. Sabbath wurde fehlerlos gesungen.
Die beiden vierstimmigen Chöre „An den Gesang" und ,,Im Maien"
sangen die Mädchen allein. Die Knaben sangen sehr hübsch das
altniederländische Volkslied „Wohl sehr glücklich ist, wer zu sterben
weiß," und nach dem Chor ,,Zu Straßburg auf der Schanz" von
F. Silcher gab es einen brausenden Applaus. Auf Wunsch des Kaisers
mußte dieser Chor wiederholt werden. Den Höhepunkt der gesang-
lichen Leistung erreichten die Knaben mit dem Vortrag des vierstimmigen
Volksliedes „Auf die Schlacht bei Torgau". Die beiden Rezitativs, die der
vorletzten undletztenStrophevorausgehen, wirkten beinahe sensationell, —
es wird selten eine Sängergemeinde geben, welche eine derartige Leistung
bieten kann. Auch der Vortrag, der Tempowechsel und die gesang-
liche Leistung dieses Liedes waren brillant. Dieses Lied mußte
ebenfalls wiederholt werden. Der ,, Frühlingschor" von Mendelssohn-
Bartholdy wurde mit großer Wärme vorgetragen. Das feinfühlige
Volkslied ,, Sandmännchen" sangen die Mädchen sehr gut, doch reichen
ihre Leistungen in bezug der Pianissimi nicht an die der Knaben
heran. Im ZöUnerschen Chor „Das Wandern ist des Müllers Lust"
hatte man Gelegenheit, die herrlichen Sopranstimmen der Knaben zu
bewundern. Der gemeinsame Chor ,, Hurra Germania" von W. Greef
bildete den Schluß des Programms. Eine besondere Ovation wurde
durch ein dreimaliges Hoch dem Kaiserpaare gebracht. Der Kaiser
erwiderte mit einem Hurra, in das alle Anwesenden ebenso begeistert ein-
stimmten. Das Empfangskomitee sowie der Dirigent wurden vom
Kaiserpaar durch Ansprachen ausgezeichnet."
Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. III. Anhang. o
] \ 4 Wohltahrtseinrichtungen.
Im ganzen waren die ersten Klassen bezw. die ersten Gesang-
klassen von 26 Schulen beteiligt und zwar nicht bloß die Eliteschüler,
sondern alle mit Ausnahme der ganz unmusikalischen. Drei Auf-
führungen fanden in diesem Jahre (1903) statt, und doch konnten
lange nicht alle Wünsche nach Eintrittskarten befriedigt werden.
Trotz des sehr niedrig bemessenen Eintrittsgeldes haben die Kinder
über 6000 M. für die Knaben- und Mädchenhorte Berlins zusammen-
gesungen. Natürlich hat auch je ein Angehöriger der mitwirkenden
Kinder Gelegenheit erhalten, ohne Entgelt den Gesang zu hören.
c) Pflege der bildenden Kunst. Es ist ein umfangreiches
Gebiet der künstlerischen Schöpfungen, welches der Schule und den
Schulkindern durch die Einführung der Pflege der bildenden Kunst
neu eröffnet werden soll, und es sind verschiedene Wege, auf denen
man dieses Ziel zu erreichen versucht hat. An die bisherige Ent-
wicklung des Schulunterrichts knüpft die Reform der Schulmethoden
des Zeichnens an. Neben der Fähigkeit, reale Dinge zu sehen, wie
sie sind, und der weiteren Fähigkeit, sie ihrer Gestalt nach mit dem
Stift wiederzugeben, soll aber noch ein tieferes Verständnis der
äußeren Formen, eine reine Empfänglichkeit und ein lebendiges In-
teresse an ihrer Schönheit und die rechte Lust am künstlerischen
Schaffen in den Kindern wachgerufen werden. Zu diesem Zwecke
müssen die ethisch-ästhetischen Momente des Zeichenunterrichts durch
die Betrachtung von Kunstwerken erweitert und vertieft werden.
Schon das moderne Schulhaus soll in dem Kinde tiefe ästhetische
Eindrücke hervorrufen, aber diese Eindrücke sollen besonders durch
die Betrachtung seiner inneren Ausstattung mit Gemälden, Statuen
und anderen Kunstgegenständen erzeugt werden; dasselbe Ziel sollen
dann Besuche in den öffentlichen Museen, Gemäldegalerien und
Kunstsammlungen verfolgen. Gerade auf dem Gebiete der Kunst-
pflege in der Schule im allgemeinen und der Einführung künst-
lerischen Wandschmucks im besonderen hat sich in den wenigen
Jahren, seitdem die Bewegung eine größere Öffentlichkeit gewonnen
hat, bereits eine reichhaltige Literatur entwickelt. Es kann nicht die
Aufgabe dieser kurzen Darlegung sein, auf alle die strittigen Punkte,
die Schriften und Gegenschriften einzugehen, die so tiefgreifende
Reformbestrebungen notwendigerweise hervorrufen mußten. Der neue
Zeichenunterricht ist im Werden begriffen; in dem Bau der Schul-
häuser sind die künstlerischen Gesichtspunkte bereits in vielen Ge-
meinden voll zur Anerkennung gelangt; Reproduktionen von klassischen
Kunstwerken und moderne Künstler-Lithographien bilden, wie sie
Andere W'ohlt'alirtseinrichtuiit^cn. "1 "1 5
schon früher in die Räume der höheren Lehranstalten eingedrungen
waren, bereits in einigen Volksschulen einen ansprechenden Schmuck.
Gerade auf diesem Gebiete gehen aber die Stadtgemeinden meist
mit großer Vorsicht vorwärts. Die Summen, welche zu einer
w^ürdigen Ausschmückung sämtlicher Schulhäuser erforderlich wären,
würden sehr erheblich sein, deshalb beschränkt man sich im allge-
meinen darauf, hie und da einige Musterschulen mit Kunstwerken
auszustatten. So hat z. B. der Dresdner Schulausschuß beschlossen,
die Räume der Volksschulen mit künstlerischem Schmuck zu ver-
sehen, aber zunächst zur probeweisen Durchführung des Beschlusses
die IX. Bürgerschule gewählt. Über die Gesichtspunkte, welche hier-
bei maßgebend waren, hat sich seinerzeit der Stadtschulrat Professor
Dr. Lyon zu Besuchern dieser Musterschule in folgender Weise ge-
äußert:*) ,,Wohl stellt sich der Zeichenunterricht in den Dienst der
künstlerischen Erziehung, er will das Auge zum scharfen Beobachten,
zum bewußten Sehen anleiten und die Fertigkeit der Hand üben,
aber er kann durch seine elementare Arbeit doch nicht so auf das
Auge wirken, wie es durch ein wirkliches Kunstwerk geschehen
kann, das dem Kinde nahe gebracht wird. Es ist aber notwendig,
auch das Auge wie das Ohr zu schirmen gegen die sinnberückenden
und sinnentfesselnden Eindrücke, die überall aus der bildnerischen
Schmutzliteratur auf Straßen und bei Schaustellungen usw. auf das
Kind durch das Auge eindringen. Auch dem Auge muß echte und
große Kunst gezeigt werden, und das Kind muß auch einen Schatz
guter Bilder verstorbener und lebender Meister in sein Gedächtnis
und sein Herz aufnehmen, und zwar in der Weise, daß es dadurch
lernt, echte Kunst zu sehen und zu genießen. Zu diesem Zwecke
sollen Reproduktionen echter Meisterwerke der Kunst in den Schulen
betrachtet werden. Dies soll nicht in besonderen Kunstunterrichts-
stunden geschehen, sondern gelegentlich, z. B. im Rehgions-, im
deutschen oder im Zeichenunterrichte. Durch solche Bildbetrachtungen
soll eine Anzahl echter Kunstwerke ein für das ganze Leben ge-
sichertes geistiges Eigentum des Kindes werden. Ästhetische Be-
lehrungen dürfen dabei nicht geboten werden, sondern das Kind ist
lediglich über Form, Farbe und Inhah des Bildes in der schhchtesten
Weise aufzuklären. Ebensowenig soll Kunstgeschichte mit der Bild-
betrachtung in die Schule hineingetragen werden. Denn gerade der
Kunstgeschichtsunterricht, bei dem oft viele verschiedene Photo-
*) Bieull, Kunstpflege in der Schule. Dresden 1901. S. 6 ff.
■1^5 Wohlfahrtseinrichtungen.
graphien von Kunstwerken in einer Stunde gezeigt werden, sodaß
immer ein Eindruck den anderen ver\\ischt, hat die Kunstempfäng-
lichkeit unseres Volkes nicht gefördert. Nicht mehr als 20 — 30 Bilder
soll das Kind während seiner ganzen Schulzeit betrachten lernen und
in allen Einzelheiten dauernd in Herz und Gedächtnis aufnehmen.
Dann wnrd es einen wirklichen Vorteil für sein Kunstempfinden davon-
tragen. Wir sehen also in diesen Bildbetrachtungen in erster Linie
einen hohen, sittlichen Wert, weil dadurch dem Auge ein Schutz
gegen das Niedrige verliehen wird, wie wir ihn durch nichts anderes
erzielen können.
Am nachhahigsten dürfte das Betrachten der Bilder in der
Schule so erzielt w^erden, daß man Meisterwerke als Schmuck an die
Wand hängt, wo sie den Kindern wochen- und monatelang vor
Augen sind.
Wir wollen aber durch solchen Wandschmuck auch vorbildlich
auf die Kinder, wir wollen durch die Schule auf das Haus w^irken.
Daher müssen diese Kunstblätter billig sein, wie beispielsweise die
ganz vorzüglichen Holzschnitte der Kunstwartstiftung, die Ludwig
Richterschen Illustrationen, die Seemannschen Wandbilder oder die
zeitgenössischen Kunstblätter von Breitkopf & Härtel. Die Kinder
sollen solche wohlfeile, dabei aber künstlerisch wertvolle Reproduktionen
an der Wand ihres Schulzimmers sehen, und dadurch soll in ihnen
das Verlangen geweckt werden, ihre Wohnstube ebenso auszu-
schmücken und dadurch größere Freude an ihrem Heim zu ge-
winnen.
Bei der Auswahl des Wandschmuckes wird man auch in Zu-
kunft immer ein gemischtes Verfahren einschlagen müssen. Einesteils
\\ird man farbige Original-Lithographien w'ählen, von Künstlerhand
selbst auf den Stein gezeichnet, anderenteils w^erden auch Repro-
duktionen deutscher Kunstwerke, die, ganz ohne Rücksicht auf die
Schule, lediglich im Dienste der Kunst geschaffen worden sind, niemals
fehlen dürfen."
Um die Herstellung derartiger Bilder haben sich besonders fol-
gende" Verlagsanstalten verdient gemacht: G. B. Teubner (Leipzig),
Breitkopf & Härtel (Leipzig), R. Voigtländer (Leipzig), Gesellschaft
für vervielfältigende Kunst (Wien), E. A. Seemann (Leipzig), Com-
meter (Hamburg), Vereinigung der Kunstfreunde (Berlin) u. a.
Der künstlerischen Ausstattung der Schulhäuser und den Ver-
suchen mit der Betrachtung von Gemälden in denselben sind in
deutschen Schulen seit langer Zeit Besuche der öffentlichen Kunst-
Andere Wohlfahrtscinriclituni^en. ]]'J
Sammlungen und Gemäldegalerien von Lehrern mit ihren Schulklassen
vorangegangen. Besonders sind solche Museumswanderungen an
höheren Schulen üblich, um die Belehrungen in der Kunstgeschichte
zu unterstützen. Auch die Lehrer und Lehrerinnen der Volksschule
führten die Kinder in die Museen, um ihnen gewisse Gemälde histo-
rischen oder religiösen Inhalts, Porträts berühmter Persönlichkeiten
oder charakteristische Landschaftsbilder zu zeigen. Bei allen diesen
Gelegenheiten ruhte natürlich das Hauptgewicht der Behandlung auf
dem Gegenstand der Darstellung, die Kunstwerke der Museen waren
nichts anderes als vervollkommnete Anschauungsbilder, wie man sie
in den realistischen Fächern des Unterrichts täglich verwendet. Die
künstlerische Behandlung spielte wenigstens für die Schüler und
Schülerinnen der Volksschule kaum je eine Rolle".
Der bereits genannte Professor Lichtwark hat schon seit Ende
der 80'er Jahre jeden Winter Übungen mit der Betrachtung von
Kunstwerken durch Laien in der Hamburger Kunsthalle veranstaltet
und in dem interessanten, bereits in 4. Auflage erschienenen Werke
„Übungen in der Betrachtung \on Kunstwerken nach Versuchen mit
einer Schulklasse", herausgegeben v^on der Lehrer-Vereinigung zur
Pflege der künstlerischen Bildung (Berlin 1902), vortreffliche in Frage
und Antwort gekleidete Muster solcher Behandlung von Kunstwerken
dargeboten. Er beschränkt sich keineswegs auf historische oder
landschaftlich bemerkenswerte oder dem kindlichen Gemüte ganz be-
sonders naheliegende Gegenstände, er weiß die Schüler auch zum
Verständnis und tieferen Empfinden des Porträts, des Genrebilds, der
Architektur, selbst der Darstellung leblosen Geräts zu führen. Die
Musterlektionen, welche er uns in der genannten Schrift \'orführt,
behandeln folgende Gemälde: Vautier, der verlorene Sohn — Runge,
Kinderbildnis — Menzel, Rüstungen — Helstedt, der Stadtrat hält
Sitzung — Siebelist, bei der Schularbeit — Gensler, Vater und
Mutter Gensler — Kauffmann, Probsteier Fischer — Ruths, das
Baumhaus — Kuehl, Straße beim Teilfeld — Lenbach, Kaiser Wil-
helm I. Über Zweck und Verfahren bei dieser Betrachtung von
Kunstwerken durch Kinder spricht er sich in der Einleitung dieser
Schrift folgendermaßen aus:
,, Niemand wird erwarten, daß man aus dem Kinde einen Kunst-
kenner machen kann, oder daß es in der Kunstbetrachtung ein
Klassenziel gibt, das alle erreichen können. Mehr als auf vielen
anderen Gebieten spricht hier die besondere Begabung, die angeborene
Empfänglichkeit mit.
'j ^3 ^Vohlfahrtseinrichtungen.
Die Betrachtung soll zunächst das Interesse erwecken und das
Kind lehren und gewöhnen, genau und ruhig das einzelne Kunst-
werk anzusehen. Dies ist die Hauptsache, denn das kann der nicht
besonders Beanlagte nur durch Anweisung und Übung lernen ....
Es muß im übrigen genügen, wenn ihm eine Ahnung aufgeht,
daß jenseits des mit dem Wort zu deckenden sachlichen Inhalts noch
etwas anderes im Kunstwerk steckt, das man nur fühlen kann, und
das eigentlich die Hauptsache ist."
Seine ungekünstelte Wiedergabe der mit den Kindern über die
Kunstwerke gepflogenen Unterhaltung könnte dem Laien wohl den
Glauben erwecken, als sei das von Lichtwark gelöste Problem keines-
wegs ein so schwieriges. Aber wer sich an der Sache selbst ver-
sucht hat, wird zugeben müssen, daß ohne gründliche Kenntnis der
Technik der Malerei sowie ihrer Geschichte und ohne ein tiefes künst-
lerisches Empfinden, welches nur zum Teil gelehrt und gelernt werden
kann, kein Lehrer imstande sein wird, diesen Unterrichtszweig frucht-
bringend zu gestalten. Ehe die Museumsbesuche im Sinne Licht-
warks ein ständiges Element des Volksschulunterrichts werden, wird
es zunächst erforderlich sein, einen Stamm von Lehrern und Lehre-
rinnen auszuwählen und heranzubilden, welche dieser Unterrichts-
aufgabe gewachsen sind.
d) Theatervorstellungen für Schüler. Auch im Verständ-
nis und in der Behandlung ihrer Muttersprache soll die deutsche
Jugend nach neuen künstlerischen Grundsätzen erzogen werden. Kaum
eine andere Sprache ist so reich an stimmungsvollen lyrischen Ge-
dichten und prächtigen, schwungvollen Balladen und Romanzen wie
die deutsche, und die besten Gedichte dieser Art sind überall in die
deutschen Schullesebücher übergegangen. Aber trotzdem muß zu-
gegeben werden, daß der eigentliche künstlerische Genuß an diesen
Werken der Poesie an unseren Volksschulen bisher wenig gepflegt
worden ist. Auch auf diesem Gebiet hat zum Teil ein bedauerlicher
Realismus in der Behandlung der Stoffe Platz gegriffen; der Schul-
aufsichtsbeamte muß nur zu oft dem Versuche wehren, die tiefsten
lyrischen Empfindungen durch engherzige Worterklärung oder durch
trockene, logische Zergliederung des Gedankenganges ihres poetischen
Zaubers zu entkleiden. Auch auf den Vortrag der Gedichte werden
in Deutschland selten das erforderliche Feingefühl und die ernste
Sorgfalt verwendet, welche allein einen künstlerischen Genuß der
Sprache ermöglichen. Der zweite Kunsterziehungstag in Weimar hatte
sich, wie schon angedeutet wurde, die Aufgabe gestellt, auch auf
Andere W'ohlfahrtseinriclitungen. ] ]^
diesem Gebiet das ästhetische Pflichtgefühl der Pädagogen wach-
zurufen.
Einen besonderen Schritt zu dem Ziele, unsere Schuljugend mit
den Schönheiten ihrer Muttersprache vertraut zu machen, bilden die
seit noch nicht 10 Jahren in verschiedenen deutschen Städten ge-
machten Versuche, die Kinder der Volksschule ins Theater zu führen.
Auch für diese Strömung der künstlerischen Bildung müssen wir die
Quelle in Hamburg suchen. Auch auf diesem Gebiete gebührt der
Lehrer-Vereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung das Ver-
dienst, zuerst mit praktischen Versuchen vorangegangen zu sein.
Eine Veröffentlichung dieser Vereinigung „Unsere Volksschüler im
Stadttheater'' (Hamburg 1898) läßt uns einen Blick auf die Vorge-
schichte der Hamburger TheateraufTührungen für Schulkinder tun.
Es heißt daselbst: ,, Die literarische Kommission der Lehrervereinigung
für die Pflege der künstlerischen Bildung mußte bei ihrer Arbeit mit
Notwendigkeit auch das Theater in den Kreis ihrer Erörterungen
ziehen. Das geschah in einer Sitzung im Dezember 1897. Ent-
sprechend dem Vorgehen der Vereinigung überhaupt hielt sich der
Ausschuß nicht mit theoretischen Erörterungen auf, sondern fragte
sich: Wie kann unser Theater der künstlerischen Erziehung unserer
Jugend dienstbar gemacht werden?
Der Ausgangspunkt für unser Unternehmen ergab sich ohne
w-eiteres aus der Tatsache, daß in unseren Hamburger Volksschulen
eine Reihe klassischer Dramen lehrplanmäßig gelesen werden. Was
war da natürlicher, ja selbstverständlicher als der Wunsch, daß einige
den Kindern in guter Darstellung vorgeführt würden? Man hatte
das sichere Gefühl, sich damit auf einem Boden zu befinden, den die
ganze Schulwelt, soweit sie dem Lesen klassischer Dramen überhaupt
zustimmt, teilen würde."
Es wurden Beratungen gepflogen, man fand bei der Theater-
direktion, bei Künstlern und Künstlerinnen ein freundliches Entgegen-
kommen, auch die Oberschulbehörde unterstützte die Sache. Freilich
ließ sich dieselbe nicht bereit finden, die Kosten für das Eintrittsgeld
der Schüler, das sich bei einer Ausgabe von 2000 Karten auf 25 Pf.
pro Vorstellung und Kind stellte, zu übernehmen, und die Schüler
mußten, abgesehen von einigen ärmeren, für welche von anderer
Seite Karten geliefert wurden, ihr Eintrittsgeld selbst zahlen.
So fand dann bereits am 26. Januar 1898 die erste Vorstellung
vor dem ausschließlich von Lehrern und Schülern besetzten Hause
statt. Der Verlauf war ein außerordentlich günstiger. Die Schüler
1 20 Wohlfahrtseinrichtungeii.
und Schülerinnen der ersten Klassen und Selekten, welche zum
größten Teil den Teil bereits gelesen hatten, zeigten volles Ver-
ständnis, und auch die Schauspieler fanden sich durch den begeisterten
Beifall der Kinder reich belohnt für die unentgeltlich übernommene
Mühe. Die Schauspielerin Frau Margarete Körner-Otto gab dieser
Empfindung folgendermaßen Ausdruck:
„Ich muß gestehen, daß ich noch nie an einem Nachmittage
mit soviel Lust und Hingabe gespielt habe als vor diesem Parterre
\on Kinderköpfen. Ich habe ein sehr feines Gefühl dafür, ob etwas
im Publikum zündet oder ob dasselbe teilnahmlos bleibt. Eine
größere Spannung aber, eine lautlosere, ja bewegungslosere Auf-
merksamkeit, ein aufrichtigeres Mitempfinden als in den Teil- Vor-
stellungen, den einzigen, in welchen ich mitwirkte, kann ich mir ein-
fach nicht vorstellen."
Noch interessanter war die Auffassung der Schüler und
Schülerinnen selbst, wenn sie sich über die empfangenen Eindrücke
in Aufsätzen zu äußern veranlaßt wurden. Die genannte Schrift führt
einige Proben davon an. Wer selbst solchen Schülervorstellungen
beigewohnt hat, w^eiß, wie je nach dem \^erlauf des Dramas bald die
Wolken des Mitleids, der Rührung und der sittlichen Entrüstung,
bald der heiterste Sonnenschein der Freude über die tausend Ge-
sichter des Kinderpublikums dahinzieht, wie sie den Bösewicht auf
der Bühne aufrichtig verabscheuen und der siegreichen Tugend be-
geistert zujubeln.
Unter den deutschen Dramen machen augenscheinlich die
Schillerschen und unter diesen der am häufigsten aufgeführte Teil
den größten Eindruck auf die Kinder; Minna von Barnhelm steht in
ihrer Wirkung dagegen gänzlich zurück. Die Erfahrungen, die man
auch in anderen Städten mit den Schülervorstellungen gemacht hat,
waren durchaus günstig, sodaß auch diese Bewegung in Deutschland
als eine aufsteigende bezeichnet werden darf. Die Basis für einen
erfolgreichen Theaterbesuch ist ebenso wie in Hamburg auch in
anderen Städten dadurch geschaffen, daß fast überall in den oberen
Klassen der 7- und 8 stufigen V^olksschulen sowie der Mittelschulen
einige Dramen gelesen werden. Ohne vorausgehende gründliche
Lektüre des Stückes bleibt die dramatische Vorstellung, wie die
Erfahrung gelehrt hat, ohne volles \"erständnis und ausreichende
Wirkung.
Die Art, wie diese Theater-Besuche arrangiert werden, ist nicht
in allen Städten dieselbe. In einigen Orten, wie beispielsweise in
Andere \VohIfalirl.seinrichlun<^en. 121
Elbcrfeld, werden, wie es scheint, die Oberklasscn der Volksschulen
zu den gewöhnlichen Spielzeiten ins Theater geführt. Sie finden dort
Gelegenheit, Schauspiele wie Paul Heyses „Colberg", „Die
Quitzows" von Wildenbruch, ,, Minna von Barnhelm", „Wilhelm Teil"
und „Jungfi-au von Orleans" zu sehen. Die Kosten für diese Be-
suche werden durch eine Stiftung getragen. Auch in Berlin hat man
bisher die Schülervorstellungen teilweise aus den Mitteln einer Stiftung
bestritten; die Schüler und Schülerinnen wurden klassenweise in die
beiden Schillertheater (O. und N.) geführt und sahen dort in einem
Jahre Wilhelm Teil, im anderen Minna von Barnhelm.
In Dresden wurden zum ersten Male im Jahre 1900 auf An-
suchen des pädagogischen Vereins im Königlichen Schauspielhause
für die ersten Klassen der Volksschulen Aufführungen des Wilhelm
Teil veranstaltet und später wiederholt; der Eintrittspreis betrug
25 Pf. pro Kind, die Beteiligung der Schüler und Schülerinnen,
welche von ihren Lehrern geführt wurden, war eine sehr rege. Auch
in Leipzig fanden im Neuen Theater Tellaufführungen statt. In Magde-
burg werden Theater- Vorstellungen für Schüler und Schülerinnen der
Volksschulen schon seit, dem Winterhalbjahr 1897/98 veranstaltet.
Es wurden dort Wilhelm Teil, die Jungfrau von Orleans, Minna von
Barnhelm, Zriny, das Lied von der Glocke (mit lebenden Bildern),
Götz von Berlichingen und Wallensteins Lager auf die Bühne gebracht.
Im allgemeinen nahmen 80 % aller Kinder der Oberklassen der Bürger-
und Volksschulen teil. In Breslau, Frankfurt a. M. und Charlotten-
burg sind die Kosten für die Vorstellungen von der Stadt über-
nommen worden, und zwar bewilligte im letzten Jahre Charlottenburg
für diesen Zweck 840 M., Frankfurt a. M. 800 M., Breslau 500 M.
In Bremen wurden die Kosten für die Theatervorstellungen sowie
alle Aufwendungen für die Bahnfahrt der Vegesacker Schüler, welche
zu den Vorstellungen zugelassen wurden, von einem Wohltäter getragen.
In jüngster Zeit hat man auch hier und da den Versuch ge-
macht, die Schüler zu künstlerisch musikalischen Aufführungen hinzu-
zuziehen oder solche Aufführungen für sie zu veranstalten. In Berlin
hat sich unter dem Vorsitz Ihrer Excellenz der Frau Kultus-Minister
Dr. Studt ein Komitee zur Förderung der Jugendkonzerte gebildet.
Der Zweck der Jugendkonzerte ist, den Kindern der ärmsten Be-
völkerung gute Musik zugänglich zu machen. Einige derartige
Konzerte haben bereits in Berlin mit gutem Erfolge stattgefunden;
neben Gesangsleistungen, besonders Volksliedern, wurde ihnen auch
Instrumentalmusik von ersten Künstlern dargeboten. Die den Kindern
•j 22 Wolilfahrtseinrichtungen.
von der Schule her bekannten schönen deutschen Volkslieder machten
sichtlich den tiefsten Eindruck auf sie; unter den Instrumenten bevor-
zugten sie die Geige und demnächst Cello, zeigten aber verhältnis-
mäßig geringes Verständnis für Harfe und Klavierspiel. Auch in
anderen Städten sind, teilweise auf Anregung der Lehrervereine, die
ersten Versuche mit Schülerkonzerten gemacht worden; im Interesse
der Verbreitung dieser Einrichtung wirkt besonders Musikdirektor
Max Battke, welcher im Verlauf des letzten Sommers (1903) eine
größere Anzahl deutscher Städte bereist hat, um in öffentlichen Vor-
trägen für die Veranstaltung von Jugendkonzerten Propaganda zu
machen.
5. Schulsparkassen.
Unter den verschiedenen Sparkasseneinrichtungen in Deutschland
spielen die Jugend- oder Schulsparkassen keine unbedeutende RoUe.
Dieselben sind fast durchweg private Einrichtungen, welche weder
mit den öffentlichen Sparkassen in organischer Verbindung stehen,
noch auch in den Arbeitsplan der Schule eingefügt sind. Zu den
Jugendsparkassen rechnet man die Aussteuer-Sparkassen, die Kon-
firmanden-, Fortbildungs-, Kinder-, Sonntagsschulsparkassen, die In-
dustrie- und Fabrikschulsparkassen. Bei den eigentlichen Schulspar-
kassen, die uns hier hauptsächlich beschäftigen, werden die Spar-
pfennige vom Lehrer eingesammelt und allwöchentlich oder allmonat-
lich bei einer öffentlichen Sparkasse niedergelegt, doch gibt es auch
vereinzelte Schulsparkassen, bei denen die eingezahlten Beträge von
einer anderen Aufsichtsinstanz selbständig, ohne Inanspruchnahme
einer öffentlichen Kasse, verwaltet werden.
Wo keine öffentlichen Sparkassen im Kreise sind, werden die
Ersparnisse wohl auch bei Raiffeisenschen und ähnlichen ländlichen
Kassen eingelegt.
Um die Begründung der Schulsparkassen haben sich in Deutsch-
land neben Lehrern besonders Geistliche ein großes Verdienst erworben.
Goslar, Apolda und Gotha sind als Orte zu nennen, in welchen
diese Wohlfahrtseinrichtung zuerst ins Leben gerufen worden ist.
Seit dem Jahre 1850 fing man an, Sparkassen für die Kinder der
Sonntagsschulen einzurichten. Der Zweck war der, den Kindern die
Mittel zur Anschaffung von Bibeln, Gesangbüchern und Kleidungs-
stücken für die Konfirmation zu beschaffen. Um die weitere Aus-
breitung der Jugend- und Schulsparkassen hat sich E. Senckel, zur-
zeit Pfarrer und Schulinspektor zu Hohenwalde bei Müllrose in der
Schulsparkassen. •|23
Mark Brandenburg, großes Verdienst erworben. Im Kampfe gegen
die in seiner früheren Gemeinde herrschende Trunksucht griff er zu
dem Mittel der Gründung von Sparkassen, und bei dieser Gelegen-
heit erwiesen sich die Sparkassen für die Schuljugend als ganz be-
sonders lebensfähig. Die erste Kasse dieser Art wurde schon 1867
von ihm geschaffen, und als es ihm im Jahre 1880 gelang, in Glogau
den Verem für Jugendsparkassen in Deutschland ins Leben zu rufen,
fand diese Wohlfahrtseinrichtung bald weiteste Verbreitung.
Die Schulsparkassen werden in allen Kulturländern in ihrer er-
ziehlichen Bedeutung so allgemein und offenkundig anerkannt, daß
eine Darlegung der Gründe, welche sie auch in Deutschland zur Ein-
führung empfehlen, hier nicht gegeben zu werden braucht. Sie haben
sich in den letzten Dezennien in großem Umfange vermehrt und
wachsen in ihrer Zahl, in der Zahl der Sparer, in der Höhe der Ein-
lagen und der ausgezahlten Beträge von Jahr zu Jahr. Diesen er-
freulichen Aufschwung verdanken sie weniger der Förderung durch
die Behörden und der Sympathie der Lehrer, als dem Umstände, daß
sie einem tatsächlich vorhandenen Bedürfnis des Volkes entsprechen.
Das Sparkassenwesen ist Gegenstand der Landesgesetzgebung in
Deutschland, aber nur in Braunschweig sind sie wirklich durch ein
Gesetz vom 19. Februar 1895 geregelt. Zur Ausführung dieses Ge-
setzes erging ein Staats-Ministerial-Erlaß vom 5. März 1900.
Andere Staats-Regierungen haben die Sache auf dem Ver-
waltungswege angeregt und organisiert. So setzt beispielsweise die
Regierung zu Breslau durch Verfügung vom 20. November 1880 die
erforderlichen Voraussetzungen und Kautelen für die Emrichtungen
von Schulsparkassen durch die Volksschullehrer fest. Es heißt daselbst:
„Um den Sinn für Sparsamkeit zu pflegen und denselben ins-
besondere schon bei der Jugend anzuregen, wollen wir in den
Schulen die Einrichtung von Sammelkassen, d. h. Sammelstellen für
die öffentlichen, von Kreisen oder Kommunen begründeten und ver-
walteten Sparkassen unter folgenden Bedingungen gestatten:
1 . Jeder Lehrer, welcher eine Sammelkasse für seine Schule oder
Klasse einrichtet, ist verpflichtet, über die Verwaltung derselben
Rechnung zu führen und insbesondere jeden einzelnen eingezahlten
Betrag sowohl in den den Kindern einzuhändigenden Sammel-
bogen (Einlagebogen, Sparschein; als in sein Journal einzutragen.
2. Die von dem Lehrer gesammelten Spareinlagen der Schul-
kinder sind in der nächsten öffentlichen Sparkasse in folgender Weise
zinsbar anzulegfen:
] 24 ^^'ohlfahrtseinrichtungeIl.
a) Sobald das Guthaben eines Kindes die Höhe der Alinimal-
einlagen bei der betreffenden Sparkasse erreicht hat, ist das-
selbe bei dieser mittels eines auf den Namen des Kindes
lautenden Sparbuchs anzulegen. Auf dieses Sparbuch sind
auch alle weiteren Ersparnisse des Kindes, sobald sie die zur
Annahme nötige Höhe erreicht haben, einzuzahlen.
b) Diejenigen Spareinlagen, welche wegen ihrer zu geringen
Höhe noch nicht nach a) auf den Namen der einzelnen
Kinder bei der öffentlichen Sparkasse eingezahlt werden
können, sind bei derselben auf ein auf den Namen der be-
treffenden Schule bezw. Klasse lautendes Sparbuch (Sammel-
sparbuch) einzuzahlen.
c) Die Einzahlungen bei der Sparkasse müssen in möglichst
kurzen Fristen bewirkt werden.
3. Die durch Verwaltung der Sammelkasse erwachsenden Ge-
schäfte sind außerhalb der Unterrichtszeit und nach einem bestimmten,
von dem Lokalschulinspektor zu genehmigenden Plane vorzunehmen;
sie unterliegen der Kontrolle der Schulaufsichtsorgane, insbesondere
des Lokalschulinspektors, welcher auch über die aus der Anlegung
der Ersparnisse nach 2 b erzielten Zinsgewinne, aus denen zunächst
die erwachsenen baren Auslagen zu bestreiten sein werden, Verfügung
zu treffen berechtigt ist."
Die Lehrerschaft stand bis vor kurzem den Schulsparkassen nicht
besonders freundlich gegenüber und hat sich auf Versammlungen in
Breslau, Leipzig, Berlin, Hannover und Cassel nicht selten mit einiger
Schärfe gegen dieselben ausgesprochen. Der Berliner Bezirksverband
des deutschen Lehrervereins gab im Winter 1881 folgenden von
Heinrich Schröer aufgestellten Thesen seine Zustimmung:
„1. Es spricht kein zwingender pädagogischer Grund für Ein-
führung von Schulsparkassen, da die Schule eine hinreichende Zahl
von Mitteln zur Erweckung des Sparsinnes besitzt.
2. Die Einrichtung von Schulsparkassen schließt einen weiteren
Schritt zur Verschiebung des Schwerpunktes der Erziehung (aus der
Familie nach der Schule hin) in sich.
3. Dem Kinde fehlt die Vorbedingung für das rechte, ver-
ständige Geldsparen, d. i. das Verständnis des \Vertes von Geld und
Arbeit in ihrer Wechselbeziehung.
4. Die Schule hat keine Zeit für eine solche, nur dem einseitigen
Interesse dienende Einrichtung.
Schulsparkasseti. 1 25
5. Die Schulsparkassen sind geeignet, das Vertrauen zwischen
Haus und Schule zu untergraben.
6. Sie rufen eine Verschärfung des Standes- und Klassenbewußt-
seins unbemerkt hervor, sind also mit Rücksicht auf die moderne
Pädagogik sowohl, wie auch aus sozial- politischen Gründen verwerflich.
7. Sie können eine sittliche Schädigung der Jugend herbeiführen,
da in schwachen Gemütern das Bewußtsein der Armut ein demütigen-
des und niederdrückendes Gefühl hervorruft — und da auch Neid,
Habsucht und weitere schlimmere Eigenschaften hierdurch erzeugt
werden können.
8. Sie lenken viele Kinder von der Hauptaufgabe der Schule ab;
insbesondere beeinträchtigen sie den häuslichen Fleiß.
9. Eine so einseitige Betonung des Geldsparens richtet die kind-
liche Natürlichkeit und Unbefangenheit der Lebensauffassung zu-
grunde und bereitet dem Materialismus in der Schule eine Pflanzstätte.
10. Die wenigen unerheblichen und eine einseitige Verstandes-
bildung begünstigenden Vorteile der Schulsparkassen werden durch
vorstehende Bedenken mehr als aufgewogen."
Die Versammlung erklärte sich für den Satz, daß Schulspar-
kassen im Prinzip aus pädagogischen Gründen zu verwerfen seien.
Eine ähnliche Stellung nahmen in der Folge andere Lehrer-
vereine ein, wenn es auch an gegenteiligen Äußerungen aus der
Lehrerschaft nicht fehlte.
Trotz alledem ist die Bewegung auch in Deutschland im
Wachsen und scheint in letzter Zeit auch in Lehrerkreisen» wohl-
wollendere Aufnahme und Unterstützung zu finden.
Über die zurzeit erreichte Ausdehnung der Schulsparkassen-
betriebe liegt eine ganz vollständige Statistik für Deutschland nicht
vor, doch hat sich der deutsche Verein für Jugendsparkassen auch
als Sammelstelle für alle auf Schulsparkassen bezüglichen Nachrichten
großes Verdienst erworben. Die von Pfarrer E. Senckel, dem Vor-
sitzenden des Vereins, herausgegebene dritte Denkschrift (Frank-
furt a. O. 1901 im Selbstverlage des Vereins) bietet in ihrem statisti-
schen Teil genaue Angaben über eine große Anzahl von deutschen
Land- und Stadtgemeinden, in welchen Schulsparkassen eingerichtet
worden sind. Wir verweisen auf den reichen Inhalt dieser Schrift
und begnügen uns hier damit, eine Übersichtstabelle über die Jugend-
sparkassen in Deutschland wiederzugeben.*)
") Der statistische Teil ist von Rektor Dr. Zickerow-Cammin in Pommern
bearbeitet.
126
Wohlfahrtseinrichtungen.
1
a
2
3
4
5
6
7 i 8
9
10
11
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157917
2 Baden
14
3
44
4
58 7[ 7442
42873
28115
169857
3 Bayern
4
2
99
8
103 10( 1483
16022
11396
44035
4 Braunschweig
91
11
34
1
125 12 27390
431964
330798
1503513
5 Bremen
1
1
1
1
2 2 5746
94675
71499
320560
6
Elsaß-Lothringen ....
3
2
4
2
7
4 110
700
—
122189
7
Hamburg
1
—
1
1
2
1 606
38364
34283
47908
8 Hessen, Großherzogtum .
21
4
137
24
158
28 3196
47541
14911
98731
9' Lübeck
—
—
1
1
1
1 —
—
—
10 Mecklenburg -Schwerin .
6
3
2
2
8 5 1580
6637
1334
32110
11 Mecklenburg-Strehtz . .
8| 4
9
1
17 5 1263
8886
7994
22746
12 Oldenburg
2|-
5
_
7 — 625
9411
2463
18644
13' a-b)Brandenburg mit Berlin
41
15
121
23
162 38 8449
102008
65157
231100
1 c) Hannover
50
7
82
15
132 22 16929
152400
210388
293434
d) Hessen-Nassau. . . .
7
3
63
5
70| 8 711
18054
13171
37205
e) Ostpreußen
20
3
109
8
129 11 841
5578
1715
7166
f) Pommern
9
3
18
7
27
10, 4301
38117
28343
115598
c
g) Posen
90
30
217
33
307
63' 6513
69093
8676
29736
^
h) Rheinprovinz ....
2
1
21
8
23
9 1597
22142
14595
24234
^
i) Sachsen
112
29
162
22
354
51 31211
200129
118814
488189
k) Schlesien
192
14
143
9
335
23 17994
177753
95432
281765
1) Schleswig-Holstein . .
5
3
34
8
39 11 4885
46180
37940
17709
m) Westfalen
46
2
20
13
66 15 15880
69244
66100
222321
n) Westpreußen ....
142
6
34
3
176 9 3367
20215
372
6622
14 Reuß ältere Linie . . .
—
—
3
1
3' 1 -
—
—
—
15 Reuß jüngere Linie . .
2 1
4
1
6 2 300
12531
9027
14000
16
Sachsen, Königreich . .
10 4
241
61
251
65 24735
250689
215244
1109320
17
Sachsen-Altenburg . . .
3
—
12
1
15
1 207
1455
198
2081
18
Sachsen-Coburg-Gotha . .
2
1
32
7
34
81 2902
90433
75502
965766
19
Sachsen-Meiningen . . .
242
10
—
—
242
10 30324
267115
171291
793776
20
Sachsen-Weimar-Eisenach
265
15
—
—
265
15' 15071
126288
62628
375070
21
Schwarzburg-Rudolstadt .
1
—
2
1
3
1 119
631
331
2246
22
Schwarzbrg.-Sondershausen
29 4
11
1
40
5 2827
34272
2391
5975
23; Waldeck j
1
—
_
—
_
—
—
24
Württemberg
1o' 4
232
25
242
29 1415
48087
7531
54438
Summa
1534
1921951
304
3485 496 246191
2525567
1748850
771 5%3
1
Summa von Preußen
796
116
1024
154
1820
270^112678
920913
661203
1755079
*) In den Spalten 12 — 14 bedeuten J. = Jugend-, Ko. rr Konfirmanden-, Ki. m Kinder-,
**) Die vereinzelt vorkommenden 2 Aussteuer-, 4 Fortbildungsschul-, 80 Sonntagsschul-
schulen sind hier eingerechnet.
Schulsparkassen.
12'
12
13
14
15
16
Nr.
des
Ge-
bietes
]•_
mit I
Ko. Ki.
2
Beric
P.
^ahl c
hten
S.
ler K
**)
Sa.
isser
1 in (
0
Ko.
Drten
hne Berichte
1
Ki. P. S.
Sa.
J-
Zusammen
1
Ko. Ki. P.
S.
31
31
2
5
50
57
2
5 —
81
88
1
1
—
11
11
22
2
1
—
27
14
44
2
1
—
38
25
66
2
1 _
1
5
6 7
1
1
61
32
102
7
1
_
62
. 37
108
3
- 17
76
93
1
6
—
1
33
41
1
23
—
1
109
134
4
1
—
1
—
2
—
1
3
—
3 -
1
—
4
5
—
—
1
1
21
2
4
-
—
—
1
~2
3
—
— 1
2
1
4
1
7
7
9
6
7
8
I
'
1
1 —
22 —
1
133
1
6
1
140
.
^ -
154
162
—
— —
—
— —
—
—
10
—
10
—
1
10
—
10
9
—
— —
_
6
6 —
_
—
—
2
2
—
— —
8
8
10
—
— '.
8
8 —
—
—
9
9
—
— —
—
17
17
11
1
9
10 -
—
—
5
5
1
— —
—
14
15
12
4
5 1 1 3
33
49! 14
14
3
45
70
222
18
19 4
48
103
271
I3a-b
1
5 -1 1
46
53i 2
2
—
14
63
83
3
7l-
15
109
136
c
—
6
1
71 1
1
2
36
27
67
1
1 2
42
28
74
d
—
—
—
20
20) —
—
7
172
180
— —
7
192
200
e
—
2
—
_
7
9
—
1
1
5
12
19
_
3 1
5
19
28
f
—
—
—
—
211
211
—
—
—
—
232
232
_
— —
—
443
443
g
—
1 1 —
—
1
2
7
3
1
9
6
26
7
4 1
9
7
28
h
5
5 2
7
205
226
2
2
3
14
145
168
7
7
5
21
350
394
i
—
— —
3
257
260 —
1
37
105
146
—
—
1
40
362
406
k
—
1 ; 2
3
6; —
2
—
26
16
44
—
3
2
29
16
50
1
—
—
—
—
86
86
6
1
—
16
9
33
6
1
—
16
95
119
m
—
—
—
—
156
156
—
—
I
—
36
4
36
4
_
—
—
192
4
192
4
n
14
—
1
—
—
1
2
—
—
—
4
4
1
—
—
5
6
15
1
3
—
1
9
14
12
56
—
40
164
272
13
59
—
41
173
286
16 1
—
—
—
—
3
3
1
-
—
11
12
1
—
—
—
14
15
17 1
1
—
—
1
4
8
22
1
21
10
55
23
1
—
22
14
63
18 1
—
—
—
245
245
—
—
_
—
—
—
—
245
245
19 ;
—
—
-
—
173
1
23
173
1
30
—
-
-
-
2
11
"2
—
—
--
173
3
34
173
3
41
20 '
21
22
1 .
7
z
z
z
__
7
— —
_
I _
i !
—
—
—
—
23
— . — —
2
12
14 11
2 25' 114
89
243
11
2
25
116
101
257
24
13 41 : 6 69
1643
1779 90
101 37 618
1342
2276
103
142 43
687
2985
4055
10
19
5
23
1023
1085
32
26
11
209
893
1256
42
45
16
232
1916
2341
P. ^ Pfennig- und S. ^ Schulsparkassen.
und 9 (jetzt 10 — nämlich hinzukam Koschmin
•) 28 Wohlfahrtseinrichtungen.
Bei der Beurteilung der vorstehenden Zusammenstellung darf
nicht übersehen werden, daß alle ziffermäßigen Angaben über Zahl
der Sparer, Einlagen, Rückzahlungen und Guthaben sich lediglich auf
die Orte und Kassen beziehen, welche dem Verein Berichte über
ihre Tätigkeit zur Verfügung gestellt hatten. Da diese Orte und
Kassen aber nicht die Hälfte der in Deutschland vorhandenen aus-
machen, so wird man auch die Ziffern für die Sparer und die Spar-
summen mindestens verdoppeln müssen, wenn man sich von dem
wirklichen Stande der Jugend- und Schulsparkassen in Deutschland
eine richtige Vorstellung machen will.
Der inzwischen erschienene XV. Bericht des deutschen Vereins
für Jugendsparkassen über die Jahre 1901 — 03 teilt mit, daß sich seit
Herausgabe der dritten Denkschrift die Jugendsparkassen in Preußen
um 202, im übrigen Deutschland um 263, zusammen um 465 Kassen
vermehrt haben, daß ihre Zahl sich zurzeit in Preußen auf 2543, in
Deutschland auf 4520 beläuft.
Hierzu würden aber noch jene Sparkassen zu rechnen sein,
welche der Kenntnis des Vereins überhaupt entgangen sind, oder
welche erst kürzlich begründet und daher noch nicht zu seiner
Kenntnis gelangt sind. Die Zahl dieser Jugendsparkassen scheint
nicht gering zu sein, wenigstens veranschlagt der Vorsitzende des
Vereins in einer dem Verfasser kürzlich gemachten schriftlichen Mit-
teilung die Zahl der sparenden Schulklassen in Deutschland auf
mindestens 10 000.
Zur Information auf dem Gebiete der Schulsparkassen in Deutsch-
land dienen in erster Linie die regelmäßig erscheinenden Berichte
des deutschen Vereins für Jugendsparkassen, welche auch über die
bezügliche Literatur Auskunft geben. Von staatsrechtlicher Seite
ist der Gegenstand in dem Handwörterbuch der Staatswissenschaften,
herausgegeben von J. Conrad u. a. 2. Aufl. Jena 1901 Bd. VI. Art.
„Sparkassen" S. 849 ff., von Dr. M. Seidel und vom pädagogischen
Standpunkt in Reins Encyklopädie Art. „Schulsparkassen" von H. Rolle
erörtert worden.
370.943 L679Uv.3c.1
Lexis # Das
Unterrichtswesen im deuts
3 0005 02070140 8
370.%3
L679U
V. 3
Lexis
Das Unterrichtswesen im deutsciien
Reich - Das Volksschulwesen und
das Lehrerbildungswesen