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Full text of "Das Weib in der Natur- und Völkerkunde v. 2"

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DAS  WEIB 


IN  DER 


NATtJß-  UND  VÖLKERKUNDE. 


ANTHROPOLOGISCHE  STUDIEN 

VON 

m  H.  PLOSS. 


Sechste  umgearbeitete  und  stark  vermehrte  Auflage. 

Nach  dem  Tode  des  Verfassers  bearbeitet  und  heraosgegebeu 

von 

Dr.  Max  Bartels. 

Mit  11  lithographisohen  Tafeln  tmd  630  Abbildungen  im  Text. 


Erster  Band.       /  -"*"  ^   ■' 


»   4»   • 


Leipzig. 

Th.  Grieben's  Verlag  (L  Fernau). 
1899. 


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Das  Recht  der  Uebersetzung  wird  vorbehalten! 


Vorrede  des  Verfassers 

zur  ersten  Auflage. 


Wenn  ich  die  Früchte  meiner  vieljährigen  Studien  über  die  ^Naturgeschichte  des 
Weibes  vorzugsweise  vom  völkerkundlichen  Standpunkte  aus*^  der  Oeffentlichkeit 
übergebe .  so  darf  ich  wohl  bekennen,  dass  ich  mir  bei  der  Bearbeitung  dieses  ebenso  schönen 
und  anziehenden,  als  auch  viel  umfassenden  Stoftes  der  grossen  Schwierigkeit  voll  bewusst 
war,  die  ein  solches  Unternehmen  dem  gewissenhaften  Autor  darbietet.  So  ergiebig  der 
Gegenstand  auf  der  einen  Seite  für  eine  allseitige  und  eingehende  Betrachtung  ist,  so  hatte 
ich  doch  eine  bestimmte  Umrahmung  im  Auge  zu  behalten,  auf  die  ich  mich  selbst  und 
meinen  I^j^erkreis  beschränke.  Ich  hatte  die  der  Natur-  und  Culturgeschichto  entnommenen 
Thatsachen,  die  für  das  Leben  und  Wesen  des  Weibes  charakteristisch  sind,  in  ähnlicher 
Weise  zu  verwerthon,  wie  ich  über  das  Kind  und  seine  Behandlung  in  meinem  früher  er- 
schienenen Buche  («Das  Kind  in  Brauch  und  Sitte  der  Völker")  zahlreiche  Erscheinungen  aus 
allen  Zeiten  und  Landen  dargelegt  und  geschildert  habe. 

Dadurch,  da^s  ich  diese  Arbeit  als  „anthropologische  Studien'  bezeichne,  glaube 
ich  hinreichend  angt^deutet  zu  haben,  da.ss  ich  mir  keineswegs  die  —  von  einem  Einzelnen 
kaum  jemals  ausführbare  —  Aufgabe  stellte,  ein  vollständiges  Bild  vom  realen  Leben  des 
Weibes  und  von  seiner  idealen  Stellung  im  Reiche  der  Natur  zu  entwerfen.  Vielmehr  ging 
meine  Absicht  überhaupt  nur  dahin,  das  mir  zu  Gebote  stehende,  in  ziemlicher  Reichhaltige 
keit  zugeflossene  Material  lediglich  im  Lichte  der  modernen  Anthropologie  und  Ethnologie, 
also  vom  rein  naturwissenschaftlichen  Standpunkte  aus,  zu  sichten  und  dem  Verständnisse 
eines  Leserkreises  zugänglich  zu  machen,  dessen  Sinn  und  Bildung  für  dergleichen  Studien 
empfänglich  und  vorbereitet  sind. 

Denn  ich  betrachte  das  Weib  in  seinem  geistigen  und  kör])erlichen  Wesen  mit  dem 
Auge  des  Anthropologen  und  Arztes.  Demgemäss  musste  ich  mich  einostheils  mit  den  psycho- 
logischen, ethischen  und  ästhetischen  Zügen  des  „schönen*  Gee^chlechts,  insbesondere  auch 
mit  der  Art  und  Weise  beschäftigen,  in  der  diese  Züge  von  anderen  Forschern  neuerlich  auf- 
gefasst  wurden.  Andemtheils  untersuchte  ich  die  physiologischen  Functionen  des  Weibes  in 
so  weit,  alt  mir  durch  die  Völkerkunde  mannigfache  Thatsachen  bekannt  waren,  welche  auf 
dem  Wege  eingehender  Vergleichung  der  bei  den  verschiedenen  Völkerschaften  zu  Tage 
tretenden  Zustände  über  die  verschiedene  Organisation  und  Thätigkeit  eines  weiblichen 
Körpers  werthvolle  Aufschlüsse  gewährten.  Dabei  wurde  von  mir  nicht  unbeachtet  gelassen, 
welche  Behandlungswei^e  des  Weibes  unter  den  Völkern  sich  namentlich  in  sexueller  Binsicht 
durch  Sitte  und  Brauch  heimisch  gemacht  hat,  und  wie  man  wohl  die  Entstehung  solcher 
Sitten  zu  erklären  im  Stande  ist. 

So  darf  ich  wohl  sagen,  dass  ich  die  Lebensverhältnisse  des  Weibes  zu  einem  grossen 
Theile  nach  den  Anforderungen  und  Ergebnissen  der  Ethnologie  geschildert  habe.  Nach  der 
einen  Richtung  hin  musste  ich  —  immer  die  Einflüsse  der  Oulturbedingungen  im  Auge  be- 
haltend —  das  geistige  Vermögen  des  Weibes,  sein  Denken  und  Empflnden  als  einen  Theil 
der  Geisteswissenschaft  in  den  Bereich  meiner  Betrachtung  ziehen.  Nach  anderer  Richtung 
hin  eröffnete  ich  Einblicke  in  die  unter  dem  Einflüsse  von  Klima,  Lebensweise  u.  s.  w. 
stehenden  sexuellen  Beziehungen  des  weiblichen  Geschlechts  von  der  Reife  und  EmpfUngniss 
an  bis  zur  Erzeugung  und  ersten  Pflege  des  Kindes,  ein  wichtiges  Kapitel  der  Biologie  und 
Entwickelongsgeschichte  des  Weibes  bis  zur  Mutterschaft.  Und  schliesslich  gelange  ich  zur 
Schilderung  der  socialen  Lage,  in  welcher  wir  das  Weib  bei  der  culturellen  Entwickelung  des 


IV  Vorrede  des  Verfassen  zur  ersten  Auflage. 

Menschengeschlechts  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen  Rassen  finden  —  hier  lieferten  mir  die 
jüngsten  Untersuchungen  der  Sociologen  werthvolle  Anhaltspunkte  zur  Besprechung  der 
culturellen  Einwirkungen,  durch  welche  von  den  Urzuständen  des  Menschengeschlechts  an 
bei  den  allmählichen  Fortschritten  in  Sitte,  Recht  und  Religion  die  Stellung  des  Weibes  die 
jetzige  Höhe  bei  civilisirten  Völkern  erreichte. 

Indem  ich  nun,  wie  ich  ausdrücklich  und  wiederholt  betone,  nur  Dasjenige  klarstellen 
will,  was  ich  durch  meine  Studien  auf  dem  Gebiete  der  Natiu:-  und  Völkerkunde  gewann, 
habe  ich  es  mit  recht  positiven  Verhältnissen  und  fast  nur  mit  ezacten  Forschungen  zu  thun, 
für  die  ich  mir  den  Stoff  meist  aus  weit  zerstreuten  Quellen,  vielfältig  auch  durch  directe 
Nachfrage  bei  Reisenden  und  Männern  von  Fach  aus  allen  Theilen  der  Erde  herbeischaffen 
musste.*)  —  Allein  ich  hatte  bei  meiner  Darstellung  auch  nicht  wenige  wissenschaftliche 
Probleme  zu  berühren.  In  der  Anthropologie  stossen  wir  ja  überall  auf  Probleme  der  ge- 
schichtlichen Entwickelung  der  Menschheit,  fQr  welche  es  an  historischen  Documenten  fehlt. 
Man  sucht  sie,  so  gut  man  kann,  durch  eine  Forschungsmethode  zu  lösen,  die  in  vielen 
Zweigen  der  Naturwissenschaft,  z.  B.  der  Geologie.,  treffliche  Erfolge  aufzuweisen  hat.  Es 
ist  dies  das  Verfahren,  die  üeberreste  aus  früheren  Zuständen,  sowie  die  Anfänge  historischer 
Ueberlieferung  zur  Erklärung  jetzt  bestehender  und  gefundener  Erscheinungen  zu  benutzen. 
So  viel  ich  konnte,  habe  ich  auch  nicht  ermangelt,  diesen  Gang  der  Untersuchung  zu  betreten. 

Bei  solcher  Deutung  räthselhafter  Erscheinungen  im  Völkerleben  ist  freilich  stets  die 
grösste  Vorsicht  geboten;  die  schnell  bereite  Phantasie  darf  hier  nie  allzu  eifrig  an*s  Werk 
gehen.  Daher  trat  ich  an  die  Beurtheilung  einzelner,  selbst  von  hervorragenden  Forschem 
geistvoll  ausgesprochener  Ansichten  über  manche  noch  nicht  voll  erklärbare,  im  Cultur-  und 
Völkerleben  auftretende  Thatsachen  mit  einer  gewissen  Zurückhaltung,  die  mich  veranlasste, 
gegenüber  den  Anschauungen  und  ihrer  Motivirung  einfach  meine  Bedenken  zu  äussern,  an- 
statt mit  der  vollen  Kraft  der  Ueberzeugung  einer  Hypothese  Raum  zu  geben,  die,  schwach 
gestützt,  oft  allzubald  hinfällig  wird. 

Vielleicht  könnte  mein  Buch  bei  solchen  Lesern  nicht  die  volle  Befriedigung  erwecken, 
welche  mit  ungerechtfertigten  Elrwartungen  an  die  Leetüre  desselben  herantreten,  insbesondere 
dann,  wenn  sie  Aufgabe  und  Tendenz  desselben  verkennen.  Es  wäre  beispielsweise  falsch, 
wollte  man  von  einer  solchen  Arbeit  etwa  den  Versuch  einer  „Lösung*  der  «Frauenfrage* 
verlangen,  die  ich  am  Schlüsse  nur  deshalb  berühre,  weil  sich  die  Anthropologie  auch  mit 
gewissen  historischen  Momenten  derselben  zu  beschäftigen  hat.  —  Viele  Zustände  des  weib- 
lichen Geschlechts  bei  modernen  Culturvölkem  können  in  der  Anthropologie  freilich  nur  in- 
soweit Berücksichtigung  finden,  als  sich  neben  der  Civilisation  überall  im  Volke  Sitten  und 
Bräuche  erhalten  haben,  die  als  charakteristische  Ueberlieferungen  und  Reste  aus  frühesten 
Zeiten  stammen. 

Ein  vorurtheilsloser  Kritiker  wird  mir  jedoch  im  Hinblick  auf  die  oben  angedeuteten 
Tendenzen  zugestehen,  dass  ich  mich  als  Anthropolog  und  Arzt  in  den  meinen  Studien  ge- 
zogenen strengen  Grenzen  gehalten  habe,  dass  ich  mich  aber  innerhalb  derselben  unter  der 
Führung  wissenschaftlichen  Ernstes  sowohl  bei  der  Wahl,  als  auch  bei  der  Betrachtungsweise 
des  Stoffes  vollkommen  frei  bewegte.  Die  günstige  Aufnahme,  welche  beim  wissenschaft- 
lichen und  nichtwissenschaftlichen  Publikum  mein  Werk  allseitig  während  seines  seitherigeü 
lieferungsweisen  Erscheinens  erfuhr,  giebt  mir  die  befriedigende  Gewähr  und  Hoflbung,  dass 
es  nun,  nachdem  es  vollständig  vorliegt,  weiterhin  solche  Leser  finden  wird,  welche  das 
rechte  Verständniss ,  doch  auch  den  ernsten  Sinn  für  die  Sache  mitbringen!  Und  der  Kreis 
dieser  Leser  besteht  nicht  bloss  aus  Anthropologen  und  Aerzten,  vielmehr  wird  in  meinem 
Buche  gewiss  auch  jeder  mit  höherer  Bildung  ausgerüstete  Mann  so  manches  Belehrende 
finden,  das  seinen  Gesichtskreis  bezüglich  der  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  Physiologie 
und  Psychologie  des  weiblichen  Geschlechts,  der  Ethnographie  und  Culturgeschichto  erweitert. 

Leipzig,  Mitte  October  1884. 

Dr.  Heinrich  Ploss. 


*)  Zahlreiches  Material  habe  ich  durch  Beantwortung  von  Fragebogen  erhalten,  welche 
ich  theils  nach  vielen  Ländern  an  dort  ansässige  Aerzte  und  Privatleute  versandte,  theils 
Reisenden  und  Missionaren  mitgab. 


Verzeichniss 

der  Ton  Dr.  U.  Ploss  im  Druck  erschienenen  Werke  und  grosseren 
Zeitschriften-Abhandlungen. 


1.  De  genesi  psychosium  in  puerperio.    Inaugural-Dissertation.    Leipzig  1846. 

2.  Ueber  die  das  Geschlechtsverhältniss  der  Kinder  bedingenden  Ursachen.  Berlin 
(Hirwihwald)  1859.    (40  S.  80.) 

8.  Ein  Blick  auf  die  neuesten  Beiträge  zur  Frage  über  das  Sexnalverhältniss  der  Nea- 
geborenen.    Monatsschr.  f.  Geburtsk.     18.    "S.  237.     1861. 

4.  üeber  Anwendung  des  Druckes  und  äer  Vis  a  tergo  in  der  operativen  Geburtsbülfe. 
Zeitschr.  f.  Medicin,  Chirurgie  und  Geburtsbülfe   von  Dr.  H.  Ploss.    Leipzig  1867.     S.  156. 

5.  Die  Art  der  Abnabelung  bei  verschiedenen  Völkern  (Abreissen,  Abbeissen,  Ab- 
schneiden u.  8.  w.).     Deutsche  Klinik.     Berlin  1870.     No.  48. 

6.  Die  operative  Behandlung  der  weiblichen  Geschlechtstheile  bei  verschiedenen  Völkern: 
a.  Beschneidung  der  Mädchen,  b.  Vernähung  (Infibulation),  Zeitschr.  f.  Ethnologie.  Bd.  III. 
Berlin  1871.    S.  381. 

7.  Ueber  künstlich  hervorgebrachte  Deformitäten  an  den  weiblichen  Geschlechts- 
theilen  und  über  Behandlung  der  Schamhaare  bei  Frauen.  Deutsche  Klinik.  Berlin  1871. 
No.  27.    S.  242. 

8.  Das  Verfahren  verschiedener  Völker  bei  Ausstossung  und  Entfernung  der  Nach- 
gebüTtstheile.     Deutsche  Klinik.     Berlin  1871.     No.  28. 

9.  Das  Männerkindbett  (Couvade),  seine  geographische  Verbreitung  und  ethnographische 
Bedeutung.     Jahrb.  d.  Geographischen  Gesellschaft  in  Leipzig  1871.     (16  S.) 

10.  Ueber  die  Lage  und  Stellung  der  Frau  während  der  Geburt  bei  verschiedenen 
Völkern.     Leipzig  (Veit  &  Co.)  1872.    (57  S.  8«  m.  V.) 

11.  Das  Heirathsalter.  Jahresbericht  des  Leipziger  Vereins  für  Erdkunde  vom 
Jahre  1872. 

12.  Die  ethnographischen  Merkmale  der  Frauenbrust  (nebst  einem  Anhang:  Das 
SAng^  von  jungen  Thieren  an  der  Frauenbrust).  Archiv  für  Anthropol.  Bd.  V.  Braun- 
schweig 1872.    S.  215. 

18.  Das  Kind  in  Brauch  und  Sitte  der  Völker.  Anthropologische  Studien.  2  Bände. 
Stattgart  (Auerbach)  1876.    (619  S.  8^.) 

14.  Dr.  Struve's  künstliche  Mineralwässer  auf  der  I.  balneologischen  Ausstellung  zu 
Frankfurt  a,'M.    Leipzig  (F.  C.  W.  Vogel)  1881.    (34  S.  8«.) 

15.  Historisch-anthropologische  Notizen  zur  Behandlung  der  Nachgoburtsperiode.  In 
der  Festschrift  «Beiträge  zur  Gebmrtshülfe,  Gynäkologie  und  Pädiatrik'.  Leipzig  (Engel- 
mann) 1881. 

16.  Das  kleine  Kind  vom  Tragbett  bis  zum  ersten  Schritt.    Berlin  1881. 

17.  Ueber  das  G^esundheitswesen  und  seine  Regelung  im  Deutschen  Reich.  Leipiig 
(Grftbner)  1882.    (91  S.  8».) 

18.  Zur  Geschichte,  Verbreitung  nnd  Methode  der  Fmchtabtreibiiiig.  Cnltiizgeteliidit- 
Uch-medicinitche  Skizze.    Leipzig  (Veit  &  Co.)  1888.    (47  S.  d9.) 


TT  TegimdoBm  der  vob  F%om  eatüdeBemm  Wecke  cte. 

l^.  Zar  TentaiMHyg  ftber  cia  gwnrnwMnee  TecfiüireiL  der  Rmteiimwiii^-.  ArchiT 
fir  Aadtf9fol4gie.    Bd.  XY.    Iddi. 

20,  Dm  Kiwi  »  firaaek  nd  Sitte  der  Tdlkcr.  A^hropologBdie  Sdidkn.  2.  Auflage. 
5.  Xm(,    2  Bd«.    Leirn?  (TL  Grietni  T%^  L.  Fe««)  I»§4.    (872  S.  8*).) 

21,  Dw  kietae  Kxad  to«  TragiMtfc  bie  mm  eeita  Sckzitt.  Uebcr  das  Leg«,  Tragen 
«ad  W»eg«B,  CMea.  dtekot  md  Süka  der  Uenan  Ciader  hm  dea  TwaekiedeoeB  Völkern 
div  Erd«,    3L  Aaig,     Uipaig  (Th.  GrielMvs  Tlg^   L.  Fcraaii)  1884.    (liO  S.  8«.)    Mit  Abb. 

22,  Dae  Weib  m  der  Natnr-  oad  TöIkerkiDida.  Aatkrapolog.  Stndsea.  2  Bde.  Leipzig 
rrk  Griebea'f  TIg:,  L.  Feraaa)  1885.    (1078  S.  8*.) 

2$,  Ciaackfglitiigkei  oad  Ftthiiolngiichgi  über  FwebeabenbaeiMiiiig.    Leipaig  (Hirsckfeld) 

24.  Aaewmmmg  tot  Pflege  nad  Wartnag  der  Ciader  in  dem  ersten  Lebensjabren. 
Leip«^  CBartkj  18»L    (45  S.  8<>.) 

25.  Hjgiea,  Die  Caaat,  ein  bohes  oad  frohes  Alter  za  enreidken.  Ein  Boch  für 
JftdemaaaT  iai^Msoadere  eiae  Ttterfacbe  Tiebeigabe  für  dem  in  die  Welt  tretenden  Jüngling. 

LeiipXHsr  1^1- 

2I(.  üeber  die  das  Gescklechtsrerblltiiiai  des  Kindes  bedingenden  Ursachen.  Mon.  f. 
Geh,    X1L5.%    1858. 

27.  üeber  den  Einfloas  der  Jahresxeit  anf  die  H&ofi^eit  der  Geborten  and  auf  das 
Ges^leehtsTerh&ltaitfi  des  neageborenea  Kindes.    Monatssdir.  für  Gebnrtsk.  XIT.    S.  454. 

28,  Zar  Zwilliagastatijtik.    Referat  in  der  Dentschoi  Klinik.     1861. 

2),  üeber  die  Operationafreqnenz  in  gebnrtshülflichen  Klinikoi  und  Polikliniken. 
ArefaiT  fnr  Gjn&kologie.    Tl. 

if),  üeber  die  Operationsfreqaenz  in  gebnrtshülflichen  Klimkoii  and  Polikliniken. 
M^aatiNKbrifi  fltr  GeburtAkande  ond  Fraoenkrankheiten.     1869. 

ZI.  Stadien    aber   Kindersterblichkeit.     Joomal  für  Kinderheilkonde.     1874.    Bd.  VII. 
Z2.  üeber  die  Freriaeoz  der  gebartshülflichen  Operationen.     Monatsschrift  für  (^ebarts- 
hülfe  ond  Fraoenkrankheiten.    Bd.  XXm.     1884. 

ZZ,  Frosch  ond  Plots.  Medidnisch-chirorgische  Encyclop&die  für  praktische  Aerste, 
10  Verbiodoag  mit  mehreren  Aerzten  herausgegeben.    4  Bde.     1854 — 1863. 

34.  H.  Plots  and  F.  Küchenmeister.  Zeitschrift  für  Medicin,  Chirorgie  und  Ge- 
bortsbfilfe,  begründet  von  A.  W.  Varges.  Neue  Folge  Band  1—4  (Band  16—19).  Leipzig 
1?;«5— 1865, 

Zh.  Plos».     Vorwort  za  Theodor  Waitz:  Die  Indianer  Nordamerikas.    Leipzig  1865. 
Zff,  Kindersterblichkeit   in   Beziehong   zur   Eleration   des   Bodens,  sowie   zur   Frucht- 
l/arkeit   and  BeschäftiguDgs weise    der  BeTÜlkerung.    Archiv  für  wissenschaftliche  Heilkunde. 
Bd.  VI.    1%6I. 

Ploss  verfasste  ausserdem  zahlreiche  Artikel 
im  Hächsiflchen  Correspondenzblatt, 
im  Aerztlichen  Wochenblatt, 
im  Archiv  für  Gynäkologie, 
in  der  Monatsschrift  für  Geburtskunde, 
in  Mejer'«  (>*onverhations-Lexicon, 
in  der  Leipziger  Illostrirten  Zeitung. 


Vorrede  des  Herausgebers 

zur  zweiten  Auflage. 


Am  18.  December  1885  ist  Heinrich  Flosa  gestorben.  Unermüdlicli  th&tig,  fast  bis  zu 
Minem  letzten  Athemzuge,  hat  er  mit  staunenswerthem  Fleisse  an  der  Zusammenbringong 
wissenschaftlichen  Materials  gearbeitet.  Eine  sehr  grosse  Zahl  ethnographischer  und  anthro- 
pologischer Aufzeichnungen  hat  sich  in  seinem  Nachlasse  gefunden,  welche  ein  beredtes 
Zeugniss  davon  ablegen,  wie  er  unablässig  darauf  bedacht  gewesen  ist,  seine  allbekannten 
Werke  weiter  auszubauen  und  für  neue  interessante  Arbeiten  den  Stoff  zusammenzubringen. 
Alle  diese  Hoffnungen  hat  der  unerwartet  und  plötzlich  eingetretene  Tod  vereitelt. 

Von  dem  weiten  Interesse,  das  er  fQr  seine  Schriften  zu  erwecken  verstanden  hat, 
liefert  namentlich  „Das  Weib*  einen  recht  schlagenden  Beweis,  dessen  erste,  1500  Exemplare 
starke  Auflage  in  wenig  mehr  als  Jahresfrist  vergriffen  war.  Ploss  bat  nicht  mehr  die  Oe- 
nugthuung  gehabt,  diesen  erfreulichen  und  für  ihn  so  ehrenvollen  Erfolg  zu  erleben. 

Der  Wunsch  der  Hinterbliebenen  und  der  Verlagsbuchhandlung,  dieses  Werk  von 
Neuem  aufgelegt  zu  sehen,  veranlasste  den  Herrn  Verleger,  auf  den  Vorschlag  des  Vorsitzenden 
der  deutschen  anthropologischen  Gesellschaft,  Herrn  Geheimrath  Virchotc,  den  Unterzeichneten 
zu  einer  Neubearbeitung  der  zweiten  Auflage  aufzufordern.  Sehr  gerne  habe  ich  mich  dieser 
mühevollen  Arbeit  unterzogen,  und  ich  bin  stets  beHtrebt  gewesen,  die  Physiognomie  des 
PJoM'schen  Werkes,  soweit  es  irgend  sich  mit  dem  Interesse  des  Ganzen  vereinbaren  Hess, 
zu  erhalten.  Es  waren  jedoch  einige  eingreifende  Veränderungen  nicht  zu  umgehen.  Die 
Kapitel  der  ersten  Auflage  waren  nicht  selten  in  der  Form  einzelner,  in  sich  abgeschlossener 
Efisays  neben  einander  gestellt,  und  da  kam  es  dann  nicht  selten  vor,  dass  sie  Dinge  ent- 
hielten, welche  besser  in  einem  anderen  Kapitel  ihre  Stelle  gefunden  hätten,  oder  dass  sich 
die  gleichen  Angaben  in  mehreren  Kapiteln,  bisweilen  mit  denselben  Worten,  wiederfanden. 
Hier  musste  mancherlei  geordnet,  umgestellt  und  gestrichen  werden,  und  gleichzeitig  glaube 
ich,  durch  die  Eintheilung  des  Ganzen  in  eine  grosse  Anzahl  mit  besonderer  Ueberschrift 
versehener  kürzerer  Abschnitte  die  bequeme  Lesbarkeit  des  Buches  nicht  unwesentlich  erhöht 
zu  haben.  Gleichzeitig  sind  viele  medicinische  und  anthropologische  Begriffe,  welche  Phss 
als  bekannt  vorausgesetzt  hat,  die  dem  Nichtmediciner  jedoch  unmöglich  geläufig  sein  konnten, 
in  kurzen,  aber  hoffentlich  leicht  verständlichen  Worten  erläutert  worden. 

Ein  besonderes  Gewicht  wurde  darauf  gelegt,  die  anatomischen  Unterschiede  zwischen 
dem  männlichen  und  dem  weiblichen  Geschlechte,  wie  sie  die  heutige  Specialforschung  fest- 
gestellt, aber  in  einer  grossen  Reihe  schwer  zugänglicher  Einzelpublikationen  niedergelegt 
hat,  in  bequem  übersichtlicher  Weise  zusammenzustellen,  wodurch,  wie  ich  hoffe,  auch  den 
anthropologischen  Fachgenossen  ein  kleiner  Dienst  geleistet  wurde. 

Von  den  oben  erwähnten  Notizen,  welche  sich  in  dem  Phss'schen  Nachlasse  gefunden 
haben,  wurde  selbstverständlich  möglichst  viel  der  neuen  Auflage  einverleibt;  doch  ist  auch 
sehr  vieles  zugegeben,  was  Ploss  nicht  zugänglich  gewesen  war.  Aus  den  Ploss'schen  Auf- 
zeichnungen geht  hervor,  dass  der  Verfasser  eine  Ausdehnung  seines  Werkes  über  den  ur- 
sprünglich von  ihm  gesteckten  Rahmen  hinaus  nicht  beabsichtigt  hat;  er  war  nur  bestrebt 
gewesen,  die  früheren  Kapitel  weiter  auszubauen.  Hier  habe  ich  es  für  noth wendig  gehalten, 
eine  eingreifende  Aenderung  vorzunehmen:  Das  P/o55*sche  ,Weib*  war  eigentlich  ein  Torso; 
wir  lernen  et  kennen  bei  dem  Eintritt  der  Pubertät  und  verlassen  es  nach  dem  Abschluss 
des  Woeheabettes.  Alle  die  vielen  Beziehungen  des  Weibes,  welche  sich  ausserhalb  der  Ge- 
*!•  im  engeren  Sinne  befinden,    waren  unberücksichtigt  geblieben.    Es  ist  daher 


Vin  Vorrede  des  Herausgeben  zur  zweiten  Auflage. 

mein  Bestreben  gewesen,  das  Bild  entsprechend  zu  y  er  vollständigen,  was  einen  nicht  geringen 
Aufwand  von  Mfihe  und  Arbeit  verursacht  hat,  da  es  auf  diesem  Gebiete  vielfach  an  ent- 
sprechenden Vorarbeiten  fehlte.  So  hat  nun  auch  das  geschlechtsreife  Weib  im  Zustande  der 
Ehelosigkeit,  das  Weib  als  Wittwe,  das  Weib  in  seinem  Verhältnisse  zu  den  nachfolgenden 
Generationen  als  Mutter,  Stieftnutter,  Grossmutter  und  Schwiegermutter,  das  Weib  in  den 
Jahren  des  Verblfihens  und  das  alternde  Weib  seine  volle  Berücksichtigung  gefunden,  und 
wir  begleiten  nun  das  Weib  vom  Mutterleibe  an  durch  alle  seine  Lebensphasen  bis  in  die 
Jahre  des  Greisenalters  und  selbst  Qber  den  Tod  hinaus.  So  glaube  ich,  in  der  vorliegenden 
Auflage  dem  Leser  ein  in  sich  zusammenhängendes  und  annähernd  abgeschlossenes  Bild  von 
dem  Weibe  in  anthropologischer  Beziehung  vorzufahren. 

Dass  hier,  wo  es  sich  um  anthropologische  Untersuchungen  und  Erörterungen  handelte, 
das  Weib  nicht  immer  in  keuscher  Verhüllung  aufzutreten  vermochte,  das  bedarf  wohl 
eigentlich  keiner  besonderen  Erwähnung.  Durch  die  Ueberschriften  sind  die  betreffenden 
Abschnitte  ja  bereits  hinreichend  gekennzeichnet,  und  wer  die  nackte  Natur  nicht  glaubt 
ertragen  zu  können,  der  ist  ja  nicht  gezwungen,  diese  Kapitel  zu  lesen;  dem  Arzte  und 
dem  Anthropologen  werden  sie  aber,  wie  ich  mit  Zuversicht  annehme,  eine  nicht  unerwünschte 
Gabe  sein. 

Noch  ein  paar  Worte  möchte  ich  hinzufügen  über  die  äussere  Erscheinung  dieser 
zweiten  Auflage.  Die  Wahl  von  zweierlei  Typen,  wobei  die  Specialangaben  kleiner  gedruckt 
worden  sind,  wird  unzweifelhaft  zur  bequemeren  üebersichtlichkeit  des  Buches  beitragen. 
Aus  dem  gleichen  Grunde  sind  alle  Eigennamen  cursio,  alle  geographischen  und  ethno- 
graphischen Namen  gesperrt  gedruckt  worden.  Die  Literaturangaben  sind,  um  unendliche 
Wiederholungen  zu  vermeiden,  nicht  mehr  unter  den  Text  gesetzt,  sondern  in  alphabetischer 
Anordnung  zusammengestellt  worden.  Die  kleine  Zahl  neben  den  Autornamen  giebt  an, 
welche  seiner  Veröffentlichungen  gerade  citirt  worden  ist.  Die  Citate  aus  fremden  Sprachen 
sind  zur  grösseren  Bequemlichkeit  des  Lesers  fast  sämmtlich  in  deutscher  Uebersetzung 
gegeben  worden. 

Den  Vorschlag  des  Herrn  Verlegers,  der  neuen  Auflage  Abbildungen  beizufügen,  habe 
ich  natürlicher  Weise  mit  lebhafter  Freude  begrüsst,  und  ich  bin  bemüht  gewesen,  möglichst 
Vielseitiges  in  dieser  Beziehung  darzubieten.  Soweit  es  sich  durchführen  Hess,  sind  den  Ab- 
bildungen Photographien  zu  Grunde  gelegt,  von  denen  ich  einzelne  eigens  für  diesen  Zweck 
aufgenommen  habe.*)  Die  im  Texte  nur  kurz  angedeutete  Herkunft  der  Figuren  ist  in  der 
Erklärung  der  Abbildungen  mit  grösster  Ausführlichkeit  angegeben  worden. 

So  möge  auch  die  neue  Auflage  hinausziehen  in  die  Welt,  ein  ehrendes  Denkmal  des 
rastlosen  Fleisses  des  für  die  Wissenschaft  leider  zu  früh  verstorbenen  Verfassers. 

Ehre  seinem  Andenken! 

Berlin,  Mitte  October  1887. 

Dr.   Max   Bartels, 
praktischer  Arzt. 

*)  Zum  Theil  mit  gütiger  Erlaubniss  des  Herrn  Geheimrath  Bastian  im  hiesigen  könig- 
lichen Museum  für  Völkerkunde. 


Vorrede  des  Herausgebers 

zur  dritten  Auflage. 


In  der  Vorrede  zu  meiner  ersten  Ausgabe  des  Ploss'achen  Werkes:  »Das  Weib  in 
der  Natur-  nnd  Volkerkunde*  habe  ich  bereits  die  Grundsätze  dargelegt,  welche  für 
mich  bei  der  Bearbeitung  desselben  die  leitenden  gewesen  sind.  Es  ist  nun  wieder  nach 
wenigen  Jahren  eine  neue  Auflage  nothwendig  geworden,  welche  bei  dem  für  unser  Thema 
Bcbnell  anwachsenden  Materiale  natarlicherweise  nicht  ein  einfacher  Abdruck  der  vorigen 
Auflage  werden  konnte.  Der  neue  Stoff  musste  mit  verarbeitet  werden,  und  mit  ihm  boten 
sich  im  Vergleiche  mit  dem  schon  verhandenen  auch  mancherlei  neue  Gesichtspunkte  dar, 
welche  ebenfalls  ihre  Berücksichtigung  und  Durcharbeitung  finden  mussten.  So  ist  z.  B. 
namentlich  zur  Abrundung  des  ganzen  Bildes  von  dem  Leben  des  Weibes  die  Kindheit  des 
Weibes  und  seine  Entwickelung  aus  dem  Kinde  zur  Jungfrau  in  anthropologischer  und  ethno- 
graphischer Beziehung  in  eingehender  Weise  behandelt  worden. 

Die  Zerlegung  grösserer  und  durch  ihre  Länge  ermüdender  Kapitel  in  eine  Anzahl 
kleinerer  Abschnitte  wurde  noch  weiter  durchgeführt,  wodurch  ich  dem  Leser  die  Ueber- 
sicht  über  das  ausserordentlich  vielseitige  Material,  wie  ich  hoffe,  nicht  unwesentlich  erleichtert 
haben  werde. 

Ueber  die  äussere  Erscheinung  der  neuen  Auflage  mag  noch  bemerkt  werden,  dass  es 
durch  die  Wahl  eines  grösseren  Formates  ermöglicht  wurde,  ihr  den  ungefUhren  Umfang  der 
vorigen  Auflage  zu  erhalten,  obgleich  der  Text  sich  mindestens  um  den  vierton  Theil  ver- 
grötsert  hat. 

In  bereitwilligster  Weise  ist  der  Herr  Verleger  meinen  Wünschen  in  Bezug  auf  eine 
Vermehrung  der  Abbildungen  entgegengekommen,  so  dass  jetzt  dem  Leser  auf  10  Tafeln  90 
nach  guten  photographischen  Aufnahmen  auf  das  Sorgfältigste  hergestellte  Bildnisse  aus  allen 
Rassen  unseres  Erdballs  und  ausserdem  203  Illustrationen  im  Text  geboten  werden.  Das  Zu- 
sammenbringen dieser  grossen  Zahl  von  Abbildungen  ist  mit  nicht  geringen  Mühen  und 
Schwierigkeiten  verbunden  gewesen,  und  es  würde  überhaupt  unmöglich  gewesen  sein,  wenn 
mir  nicht  die  Vorstände  und  Beamten  verschiedener  Museen  und  eine  Anzahl  von  Reisenden 
und  Sammlern  bei  meinen  Bestrebungen   in  freundlichster  Weise  entgegengekommen   wären. 

So  ist  es  mir  gestattet  gewesen,  aus  den  Schätzen  des  königlichen  Museums  für 
Völkerkunde  in  Berlin,  des  königlichen  Kunstgewerbe-Museums  in  Berlin,  des 
königl.  Ethnographischen  Museums  in  München  und  des  Museums  für  deutsche 
Volkstrachten  und  Erzeugnisse  des  Hausgewerbes  in  Berlin  geeignete  Stücke 
photographisch  aufzunehmen,  wofür  ich  den  Herren  Adolf  Bastiayi,  Julius  Lessing ,  Max 
Büchner,  AHtert  Grünwedel,  Grube,  von  Falke,  sowie  dem  Comite  des  letztgenannten  Museums 
zn  grossem  Danke  verpflichtet  bin.  Aus  ihrem  reichen  Besitze  von  tbeils  selbst  aufgenommenen, 
theils  gesammelten  Photographien  haben  die  Herren  Sanitätsrath  Dr.  AscJwff)  Dr.  A.  Baessler, 
Missionar  Beste,  Dr.  Paul  Ehrenreich,  Professor  Dr.  Wilhelm  Joest,  Dr.  FreiJierr  von  Oppen- 
heim, Premierlieutenant  Max  Quedenfeldt,  Fritz  Schaenker,  Sanitätsrath  Dr.  Fritz  Werner 
geeignete  Blätter  freundlichst  zur  Verfügung  gestellt,  wofür  ich  auch  ihnen  meinen  besten 
Dank  ausspreche. 

Möge  auch  diese  neue  Bearbeitung  eine  freundliche  Aufnahme  finden  und  möge  sie 
namentlich  die  Anregung  geben  zu  fernerer  Untersuchung  und  Aufklärung  der  vielen  Fragen 
aoi  unserem  weiten  Gebiete,  deren  Beantwortung  auch  dieses  Mal  leider  noch  offen  gelassen 
werden  musste.  Möge  sie  zeigen,  dass  nicht  nur  bei  fremden  Völkern  und  in  fernen  Welt- 
theilen  die  Hebel  der  Forschung  eingesetzt  werden  müssen,  sondern  dass  auch  in  Europa  und 
selbst  bei  unseren  eigenen  Stammesgenossen  eine  grosse  Reihe  der  scheinbar  alltäglichsten 
Dinge  noch  immer  der  genauen  Beobachtung  und  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  harrt. 
Nor  eine  grosse  Zahl  von  Mitarbeitern  vermag  hier  zu  helfen!  Möge  sie  recht  bald  der 
Anthropologrie  erstehen,  und  möge  es  namentlich  den  praktischen  Aerzten  recht  zu  dem  Be- 
wnflttsein  kommen,  dass  sie  alle  die  berufenen  Vertreter  anthropologischer  Forschung  sind. 

Berlin,  im  Juli  1891. 

Dr.  Max  Bartels. 


Vorrede  des  Herausgebers 

zmr  rieritm  A^ffaige. 


ZtuD  driU«a  ICaI«  fibargebe  idi  eüie  Bearbeitoag  dei  Placf'adieB  Weckas  dm  Oeffant- 
licbkeit.  Dm  Umt  tij^lieb  ADwadiMDde  M aUml  bmi  e§  mit  nch  gebndit  da«  diaae  neoe 
Auflage  glaiebzaiiig  ein«  grflndlicbe  Umarbeitiiiig  wurde,  nnd  wer  Toa  den  LeMJtii  das  Original- 
werk  hiermit  vergleicht,  der  wird  bisweilen  nor  mit  Sdiwierigkeit  die  nrqiröBgKcJie  Anlage 
herauiferkennen. 

Schon  bei  der  ersten  von  mir  besorgten  Ausgabe  hielt  ich  es  f&r  unbedingt  noIhweBdig, 
eine  ganze  Reihe  von  Kapiteln  nea  hinzozoftlgen,  anf  deren  Anfnahme  Ploss  veniditet  hatte. 
Bellte  das  Boch  aber  ein  vollständiges  Bild  von  dem  Weibe  geben,  so  erschienen  diese  ZoriUse 
unerlässlich. 

Das  soll  keine  Herabsetzung  der  P2oM*schen  Leistungen  sein;  denn  ihm  gebührt  unbe- 
stritten das  Verdienst,  zum  ersten  Male  diese  neuen  Bahnen  anthropologisch-ethnologischer 
Forschung  betreten  zu  haben,  wie  sie  uns  in  seinen  Werken  vorliegen.  Er  hat  diese  Strasse 
neu  geschaffen,  und  seine  Forschungen  bilden  auch  in  dieser  vierten  Auflage  immer  noch  das 
wesentliche  8tQtzgerttst,  um  welches  das  neue  Material  sich  angerankt  hat  Seinen  Be- 
strebungen ist  OS  zum  Theil  auch  zu  danken,  dass  immer  mehr  und  mehr  Forscher  und  Reisende 
ihr  Auge  für  die  uns  intorossirenden  Zustände  sch&rfen.  und  so  ist  es  wiederum  ihm  zu  danken, 
dass  da«  Material  sich  so  stetig  im  Wachsen  befindet. 

Je  reicher  nun  aber  das  Material  sich  gestaltet,  desto  verschiedenartigere  Gesichts- 
))unkto  der  Bearbeitung  hind  ihm  zu  entnehmen,  und  so  ist  es  leicht  zu  begreifen,  warum 
gegenüber  den  240  AbMchnitten  mctiner  ersten  Bearbeitung  die  vorliegende  deren  462  enth&lt. 

Hin  grosses  (Gewicht  int  wiederum  auf  die  Vermehrung  der  erläuternden  Abbildungen 
gelegt.  Kino  Tafel  mit  nnium  Portraitköpfen  und  Textfiguren  ist  von  neuem  hinzugekommen. 
Hier  nind  mir  wieder  mehrere  Freunde  in  dankenswerthestor  Weise  bohülflich  gewesen.  Frau 
(Hto  NeuhauM»,  Herr  <  Job.  Heginrungsrutb  Professor //ermann  Weiss  und  Herr  Dr.  PauJ  J^ren- 
r0ich  haben  mir  die  Srhtity.o  ihrer  Bibliotheken  zugänglich  gemacht;  Herr  Director  Dr.  Mcuc 
huchner  (München),  Herrn  (Jeh.  Medicinalrath  Professor  Dr.  Gustav  Fritsch,  Herr  Franz 
f^orrAf,  Herr  Profonimr  l)r.  (intrff  Schireinfurtht  Herr  k.  und  k.  CustoB  Josef  Szombathy  (Wien), 
Herr  UegierungM  HaumeiHter  WtiMiitnn,  Herr  stud.  Johannes  Werner  haben  mir  pbotographische 
und  andere  Aut'nahnien  überlasHon.     Ich  danke  ihnen  nochmals  bestens  hierfür. 

Aber  ungeatditet  duH  Netten,  das  ich  zu  bieten  vermochte,  fehlt  doch  noch  sehr  Vieles 
an  der  VcdUtändtgkett,  wie  sie  itieinen  Wünsohen  entsprechen  würde.  Möge  die  neue  Auf- 
lage die  Anregung  geben,  dieser  VolUUtndigkeit  wieder  etwas  näher  zu  kommen,  und 
luüge  sie  den  in  ihr  vertretenen  Stttdien  eine  neue  Sohatir  von  Freunden  und  Mitarbeitern 
erwerben. 

Berlin,  im  Ooioher  IHUiV 

Dr.  Max  Bartels. 


Vorrede  des  Herausgebers 

zur  fOnften  Auflage. 


Zam  vierten  Male  in  zehn  Jahren  bietet  sich  mir  die  Gelegenheit,  eine  Bearbeitung 
des  im  Jahre  1885  pablicirten  Werkes  von  Heinrich  Ploss  der  Oeffentlichkeit  zu  übergeben. 
In  jeder  dieser  Bearbeitungen  bin  ich  bemüht  gewesen,  das  wissenschaftliche  Material  nicht 
nor  zu  sichten,  sondern  auch  zu  vermehren.  Auch  die  vorliegende  Auflage  bietet  mancherlei 
YarTollständigungen  auf  allen  den  vier  grossen  Gebieten,  welche  in  dem  Werke  zu  Worte 
kommen,  dem  anthropologischen,  dem  ethnologischen,  dem  volkskundlichen  im  engeren  Sinne 
und  dem  culturgeschichtlichen.  Durch  die  Eintheilung  des  umfangreichen  Stoffes  in  76  Kapitel 
und  488  einzelne  Abschnitte  unter  besonderer  Ueberschrift  hoffe  ich  die  Uebersichtlichkeit 
nicht  unerheblich  gefördert  zu  haben. 

Das  von  Flosa  ursprünglich  Gebotene  ist  nach  Möglichkeit,  wenn  auch  oft  in  anderer 
Anordnung,  als  Grundstock  der  Arbeit  erhalten  geblieben,  und  aus  diesem  Grunde  habe  ich 
auch  dem  Werke  seinen  alten  Namen  belassen,  obgleich  der  Text  gegen  die  erste  Ausgabe 
ungefähr  den  doppelten  Umfang  erreicht  hat  und  eine  Anzahl  von  Gebieten  von  Plo88  gar 
nicht  berührt  worden  sind. 

Ein  besonderes  Augenmerk  war  wiederum  auf  die  Vermehrung  der  Abbildungen  ge- 
richtet, deren  Beschaffung  bedeutend  grössere  Schwierigkeiten  bereitet,  als  es  der  Leser 
ahnen  möchte.  Dem  Herrn  Verleger  möchte  ich  für  das  bereitwillige  Eingehen  auf  meine 
Wünsche  hier  meine  dankende  Anerkennung  aussprechen.  Die  Tafeln  I  bis  VI  und  VIII  bis 
XI  sind  ebenfalls  neu  hergestellt,  und  bei  dieser  Gelegenheit  konnten  einige  der  früheren 
Typen-Köpfe  gegen  bessere  ausgetauscht  werden.  Die  Zahl  der  Abbildungen  im  Texte  ist 
aaf  420  gestiegen. 

Möge  auch  diese  neue  Auflage  sich  einen  neuen  Freundeskreis  und  dem  Herausgeber 
neue  Mitarbeiter  auf  diesem  schwierigen  Gebiete  erwerben. 

Berlin,  13.  Juli  1897. 

Dr.  Max  Bartels. 


Vorrede  des  Herausgebers 

znr  sechsten  Auflage. 


Die  neue  Auflage,  welche  ich  der  Oeifentlichkeit  übergebe,  hat  ihrer  Vor- 
gängerin nach  einem  nur  kurzen  Zwischenräume  folgen  müssen.  Sie  ist  trotzdem 
aber  nicht  etwa  nur  ein  Wiederabdruck  der  letzteren,  sondern  ich  bin  eifrig  be- 
müht gewesen,  das  Werk  nach  den  Terschiedensten  Seiten  hin  zu  ergänzen,^ zu 
vervollkommnen  und  auszugestalten.  Das  Buch,  wie  es  jetzt  vorliegt,  unter- 
scheidet sich  ganz  wesentlich  von  dem  ursprünglichen  Werke  von  Ploss.  Trotz- 
dem aber  habe  ich  es  t^r  gerecht  gehalten,  obgleich  es  durch  meine  Umarbeitung 
und  Vervollständigung  mehr  als  das  Doppelte  an  Umfang  gewonnen  hat,  dasselbe 
dennoch  auch  fernerhin  unter  Ploss'  Namen  gehen  zu  lassen.  Denn  er  ist  es  ja 
doch  gewesen,  der  den  ersten  Gedanken  zu  einem  derartigen  Werke  fasste,  und 
seine  Arbeit  habe  ich  auch,  soweit  es  irgend  angängig  war,  gleichsam  als  Skelett 
der  meinigen  eingefügt.  Die  Verantwortung  über  das  im  Texte  Gesagte  habe 
ich  aber  zu  übernehmen,  und  wo  sich  das  „ich"  im  Texte  findet,  da  bezieht  sich 
dasselbe  auf  den  Herausgeber  und  nicht  auf  den  einstmaligen  Verfasser. 

Auch  für  diese  neue  Auflage  habe  ich  von  befreundeter  Seite  manchen  be- 
merkenswerthen  Hinweis  und  Beistand  erhalten,  so  für  die  Abbildungen  durch 
Herrn  Custos  Franzi  Heger  in  Wien,  so  für  die  alt-israelitische  Literatur  durch 
Herrn  Syndicus  Dr.  Georg  Minden  und  Herrn  Dr.  Neumann  ^  für  manches 
Chinesische  durch  Herrn  Professor  Dr.  W.  Grube,  für  manches  Japanische 
durch  Herrn  Dr.  F.  TT.  K,  Müller  und  für  einiges  Alt-Peruanische  durch 
Herrn  Dr.  Arthur  Bässler. 

Ein  ganz  besonderes  Gewicht  habe  ich  auf  die  Vermehrung  der  Abbildungen 
gelegt,  welche  in  den  meisten  Fällen  seltene  und  schwer  zu  beschaffende  Originale 
wiedergeben.  Ich  bin  dem  Herrn  Verleger  zu  grossem  Danke  verpflichtet,  dass 
er  hier  meinen  weitgehenden  Wünschen  geduldig  Rechnung  getragen  hat.  Die 
Herstellung  dieser  Abbildungen  ist  von  mir  auf  das  Sorgföltigste  überwacht 
worden.     Ihre  Zahl  ist  wieder  um  119  Stücke  vermehrt. 

Möge  es  auch  dieser  neuen  Auflage  beschieden  sein,  sich  einen  weiten 
Freundeskreis  zu  erwerben. 

Berlin,  25.  Juli  1899. 

Dr.  Max  Bartels. 


Inhalt  des  ersten  Bandes. 


Seite 

Vorrede  de»  Dr.  Ploss  zur  ersten  Auflage III 

Yeneichniss   der   von  Dr.  H.  Ploss   im  Druck   erschienenen  Werke   und  grösseren  Zeit- 
schriften-Abhandlungen  V 

Vorrede  des  Herausgebers  zur  zweiten  Auflage VII 

Vorrede  des  Herausgebers  zur  dritten  Auflage IX 

Vorrede  des  Herausgebers  zur  vierten  Auflage X 

Vorrede  des  Herausgebers  zur  fQnften  Auflage XI 

Vorrede  des  Herausgebers  zur  sechsten  Auflage XII 


Erste  Abtheilung. 
Der  Organismus  des  Weibes. 


I.  Die  anthropologiBohe  AufDEissling  des  Weibes 8 

1.  Die  Entstehung  des  Geschlechts  3.  —  2.  Gestalt  und  Körperbau  des  Weibes  7.  — 
3.  Die  secund&ren  Geschlechtscharaktere  bei  den  europäischen  Weibern  9.  —  4.  Die 
secund&ren  Geschlechtscharaktere  am  Gehirn  der  europäischen  Weiber  27.  —  5.  Die 
secundären  Geschlechtscharaktere  bei  den  aussereuropäischen  Weibern  31.  —  6.  Die 
Sterblichkeit  des  weiblichen  Geschlechts  und  der  Weiberüberschuss  34. 

XL  Die  psychologische  Auffassung  des  Weibes 40 

7.  Die  psychologischen  Aufgaben  des  Weibes  40.  —  8.  Die  moderne  Psychologie 
in  ihrer  Auffassung  des  weiblichen  Charakters  47.  —  9.  Die  abnormen  Ehen  und  der 
Selbstmord  55.  —  10.  Die  Betheilignng  des  weiblichen  Geschlechts  am  Verbrechen  56. 
—  11.  Die  Verbrecherin  in  anthropologischer  Beziehung  60. 

m.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes 63 

12.  Die  weibliche  Schönheit  63.  —  13.  Fördernde  und  hemmende  Bedingungen  für 
die  weibliche  Schönheit  64.  —  14.  Der  Darwinismus  über  die  Entwickelung  weib- 
licher Schönheit  69.  —  15.  Die  Mischung  der  Rassen  steigert  meist  die  Entwickelung 
weiblicher  Schönheit  71.  —  16.  Die  Verkümmerung  des  weiblichen  Geschlechts  74.  — 
17.  Die  Vertheilung  der  weiblichen  Schönheit  unter  den  Völkern  76.  —  18.  Die 
Schönheit  der  Europäerinnen  78.  —  19.  Die  Schönheit  der  Asiatinnen  83.  —  20.  Die 
Schönheit  der  Oceanierinnen  89.  —  21.  Die  Schönheit  der  Amerikanerinnen  92.  — 
22.  Die  Schönheit  der  Afrikanerinnen  94.  —  23.  Das  Schönheitsideal  bei  verschiedenen 
Völkern  99.  —  24.  Der  Geschmack  und  seine  Auffassung  der  weiblichen  Schön- 
heit 114.  —  25.  Das  Bemalen  116.  —  26.  Das  Tättowiren  118.  —  27.  Die  Erzeugung 
von  Schmucknarben  128.  —  28.  Die  Eopfplastik  131.  —  29.  Die  Eörperplastik  am 
Rumpfe  und  an  den  oberen  Extremitäten  137.  —  30.  Die  Körperplastik  an  den 
unteren  Extremitäten  141. 

IV.  Die  AufDassung  des  Weibes  im  Volks-  und  religiösen  Glauben.   .   .        151 
31.   Der   Aberglaube   in    der   Behandlung   des    Weibes    151.  —  32.  Die  religiösen 
Satzungen  in  Bezug  auf  das  Geschlechtsleben  der  Frau  152.  —  33.  Die  Frauen- 
sprache 154. 

V.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsieht  157 
34.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  im  Allgemeinen  157.  —  35.  Das  weibliche 
Becken  in  anthropologischer  Beziehung  160.  —  36.  Die  Gesässgegend  des  Weibes  in 
anthropologischer  Beziehung  und  der  Wuchs  172.  —  37.  Die  Steatopygie  oder  der 
FettsteiBS  178.  —  38.  Die  äusseren  weiblichen  Sexualorgane  und  ihre  anthropolo- 
gischen Merkmale  183.  —  39.  Die  Hotten tottenschOrze  189.  —  40.  Die  angeborene 
Vergröttenrng  der  Cliioris  195.   —   41.   Die  künstliche  Vergröeserung  der  Scham- 


XIV  Inhalt  des  ersten  Bandes. 

Seite 
lippen  und  der  Clitoris  196.  —  42.  Die  absichtliche  Zerstörung  des  Jungfern- 
häutchens 197.  —  43.  Die  Beschneidung  der  M&dchen  199.  —  44.  Das  Lebensalter 
und  die  Ausführung  der  Mftdchenbeschneidung  201.  —  45.  Die  Infibulation  oder  die 
Vemähung  der  M&dchen  205.  —  46.  Das  Wiederanfschneiden  der  infibulirten  Weiber 
208.  —  47.  DerMons  Veneris  in  anthropologischer  Beziehung  212.  —  48.  Die  Eörper- 
behaarung  214.  —  49.  Das  Schamhaar  im  Volksglauben  223.  —  50.  Der  Mons 
Veneris  in  ethnographischer  Beziehung  224. 

VI.  Die  inneren  Seznalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Beziehung  228 
51  Die  Erkenntniss  des  anatomischen  Baues  der  inneren  weiblichen  Geschlechtsorgane 
bei  den  alten  Griechen,  Römern  und  Aegyptem  228.  —  52.  Die  Erkenntniss  des 
anatomischen  Baues  der  inneren  weiblichen  Geschlechtsorgane  bei  den  alten  Indem, 
den  Japanern  und  Chinesen  232.  —  53.  Die  Geb&rmutter  in  anthropologischer  Be- 
ziehung 238.  —  54.  Die  Geb&rmutter  im  Volksglauben  235.  —  55.  Die  Eierstöcke 
und  die  Castration  der  Weiber  239. 

Vn.  Die  Weiberbrust 241 

56.  Die  Weiberbrust  in  ihrer  Rassengestaltung  241.  —  57.  Die  Brüste  der  Euro- 
päerinnen 253.  —  58.  Die  Brüste  der  Amerikanerinnen  254.  —  59.  Die  Brüste  der 
A&ikanerinnen  255.  —  60.  Die  Brüste  der  Asiatinnen  263.  —  61.  Die  Brüste  der 
Oceanierinnen  266.  —  62.  Die  Pflege,  die  Behandlung  und  die  Ausschmückung  der 
weiblichen  Brust  267.  —  63.  Die  Verstümmelungen  der  weiblichen  Brust  274.  — 
64.  Die  Weiberbrust  im  Volksglauben  278. 


Zweite  Abtheilnng. 
Das  Leben  des  Weibes. 


65.  Die  Hauptabschnitte  in  dem  Leben  des  Weibes 285 

Vm.  Das  Weib  im  Mutterleibe     287 

66.  Die  Erkenntniss  des  Geschlechts  der  Kinder  im  Mutterleibe  287.  —  67.  Der  Ver- 
lauf der  Mädchengeburten  und  der  Knabengeburten  292. 

IX.  Das  Weib  während  der  Zeit  der   gesohleohtliohen  Unreife  oder  die 

Kindheit  des  Weibes 295 

68.  Die  Aufnahme  des  Mädchens  nach  der  Geburt  295.  —  69.  Die  Mädchen tödtung 
299.  —  70.  Das  Leben  des  weiblichen  Kindes  300.  —  71.  Das  kleine  Mädchen  in  an- 
thropologischer Beziehung  305.  —  72.  Statistisches  über  das  Wachsthum  der  Kinder 
307.  —  73.  Der  Backfisch  in  anthropologischer  Beziehung  309. 

X.  Die  Beife  des  Weibes  (die  Pubertät)  in  anthropologischer  Beziehung    316 
74.  Das  erste  Auftreten  der  Menstruation  316.  —  75.  Der  Einfluss  des  Klimas  auf 

das  erste  Eintreten  der  Menstruation  317.  —  76.  Der  Einfluss  der  Rasse  auf  das 
erste  Eintreten  der  Menstruation  320.  —  77.  Der  Einfluss  des  Standes  und  der 
Lebensweise  auf  das  erste  Eintreten  der  Menstruation  321.  —  78.  Der  Einfluss  des 
vorzeitigen  Geschlechtsgenusses  auf  das  erste  Eintreten  der  Menstruation  323.  — 
79.  Anderweitige  Einflüsse  auf  das  erste  Eintreten  der  Menstruation  324.  —  80.  Das 
Lebensalter  für  den  Menstruations-Eintritt  bei  den  Europäerinnen  325.  —  81.  Das 
Lebensalter  für  den  Menstruations  -  Eintritt  bei  den  Asiatinnen  328.  —  82.  Das 
Lebensalter  für  den  Menstruations -Eintritt  bei  den  Afrikanorinnen,  den  Oceanie- 
rinnen und  den  Amerikanerinnen  329.  —  83.  Die  Frühreife  331. 

XI.  Die  monatliche  Beinigung 338 

84.  Die  Menstruation  im  Volksmunde  338.  —  85.  Die  Quantität  des  Menstruations- 
blutes 339.  —  86.  Beeinträchtigungen  der  Menstruation  340.  —  87.  Die  normale 
Menstruation  342.  —  88.  Die  Störungen  der  Menstruation  und  die  Volksmedicin  343. 

XII.  Die  Menstruation  in  ethnographischer  Beziehung 347 

89.  Gebräuche  bei  dem  Eintritt  der  Menstruation  347.  —  90.  Die  Keifeprüfung  und 

das  Reifezeichen  348.  —  91.  Das  Einsperren  der  zum  ersten  Male  Menstruirenden  355. 
—  92.  Das  Reifefest  859. 
XTTT.  Die  Menstruation  im  Volksglauben 366 

93.  Abergläubische  Verhaltungsmaassregeln    bei   der  ersten  Menstruation  366.    — 

94.  Die  Menstrairende  gilt  für  unrein  367.  —  95.  Die  Unreinheit  der  Menstruirenden 


Inhalt  des  ersten  Bandes.  XV 

Seite 
bei  den  alten  Caltnrvölkern  und  ihren  Nachfolgern  368.  —  96.  Die  Unreinheit  der 
Menstmirenden  bei  den  Naturvölkern  378.  —  97.  Das  Unheil,  welches  die  Men- 
stmirende  anrichtet  880.  —  98.  Das  Menstnialblut  als  Arzneimittel  888.  —  99.  Das 
Menstnialblat  als  Zaubermittel  384.  —  100.  Der  Glaube  von  dem  Ursprung  der 
Menstruation  886.  —  101.  Anderweitiger  Menstruations- Aberglaube  890. 

XIV.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Gesohleohtsleben 392 

102.  Die  Beziehungen  des  Weibes  zum  männlichen  Geschlecht  892.  —  103.  Die 
Schamhaftigkeit  des  Weibes  898.  —  104.  Das  weibliche  SchamgefQhl  bei  den  Natura 
Völkern  895.  —  105.  Die  weibliche  Schamhaftigkeit  bei  den  höher  cultivirten  Volks- 
sUUnmen  400.  —  106.  lÄe  Keuschheit  des  Weibes  405.  —  107.  Europäische  Weiber- 
kenschheit  412. 

XV.  Die  Jnngfirausohaft 420 

108.  Jungfrauenzauber  und  Jungfrauschafbsorakel  420.  —  109.  Die  Missachtung  der 
Jungfrauschaft  421.  ~  110.  Die  Werthschätzung  der  Jungfrauschaft  425.  —  111.  Die 
verlorene  Jnngfrauschaft  427.  —  112.  Di^  künstliche  Jungfrauschafb  428. 

XVL  Das  Weib  im  Gesohlechtsverkehr 481 

118.  Der  Beischlaf  431.  —  114.  Abstinenz-Vorschriften  436.  —  115.  Die  Stellung  bei 
dem  Coitus  438.  —  116.  Der  rituelle  Beischlaf  446.  —  117.  Masturbation  und  Tri- 
badie  und  die  Unzucht  mit  Thieren  451.  —  118.  Geschlechtlicher  Verkehr  mit 
Göttern,   Geistern,  Teufeln  und  Dämonen  454. 

XV 11.  Die  Prostitution 462 

119.  Die  Preisgebung  der  Weiber  462.  —  120.  Die  gastliche  Prostitution  464.  — 
121.  Die  heilige  Prostitution  466.  —  122.  Die  gewerbsmässige  Prostitution  in  ihrer 
ethnographischen  Ausbreitung  468.  —  123.  Die  temporäre,  gewerbsmässige  Prosti- 
tution 475.  —  124.  Zur  Geschichte  der  gewerbsmässigen  Prostitution  in  Europa  478. 

—  125.  Die  Verhütung  der  Prostitution  484.  —  126.  Die  Anthropologie  der  Prosti- 
tuirten  488.  —  127.  Heilige  Orgien  und  erotische  Feste  492. 

XVm.  Liebe  und  Liebeswerben 496 

128.  Die  Liebe  496.  —  129.  Der  Liebeszauber  499.  —  130.  Die  Liebes-Helfer  511.  — 
131.  Liebes-Abwehr  518.  —  132.  Heirathsorakel  und  Ehestandsprognose  514.  — 
188.  Die  Brautwerbung  und  der  Brautstand  517. 

Die  Ehe 528 

134.  Die  Entwickeiung  der  Ehe  523.  —  135.  Die  Probe-Ehe  580.  —  186.  Hinderungs- 
gründe der  Ehe  531.  —  137.  Die  Ehe  zwischen  Blutsverwandten  588.  —  138.  Das 
Heirathsalter  und  die  Erstgeburt  bei  den  Culturvölkem  536.  —  189.  Das  Heiraths- 
alter  und  die  Erstgeburt  bei  den  Naturvölkern  540.  —  140.  Die  Kinder-Ehe  und  ihre 
physiologische  Bedeutung  545.  —  141.  Der  Kampf  gegen  die  Kinder- Ehe  in  Indien 
549.  —  142.  Das  Jus  primae  noctis  551.  —  148.  Der  Ehebruch  555.  —  144.  Die 
Ehescheidung  560. 

Das  Weib  im  Zustande  der  Befeuchtung 564 

145.  Die  Zeugung  564.  —  146.  Die  Empföngniss  567.  —  147.  Der  Einfluss  der  Jahres- 
zeiten und  der  socialen  Zustände  auf  die  Empfängniss  568. 

XXI.  Die  Unf^ohtbarkeit  des  Weibes 578 

148.  Warum  sind  Frauen  unfruchtbar?  573.  —  149.  Physische  Ursachen  für  die  Un- 
fruchtbarkeit 574.  —  150.  Das  Ansehen,  in  welchem  die  Unfruchtbarkeit  steht  577. 

—  151.  Die  Verhütung  der  Befruchtung  581. 

XXII,  Die  Therapie  der  tJnAruohtbarkeit 585 

152i  Die  Verhütung  der  Unfruchtbarkeit  585.  —  158.  Die  Vorhersage  der  Unfrucht- 
barkeit 586.  —  154.  Arzneiliche  und  mechanische  Mittel  gegen  die  Unfruchtbarkeit 
588.  —  155.  Badekuren  gegen  die  Unfruchtbarkeit  591.  —  156.  Göttliche  Hülfe  gegen 

die  Unfruchtbarkeit  598.  —  157.  Uebematürliche  menschliche  Hülfe  zur  Bekämpfung 
der  Unfruchtbarkeit  598.  —  158.  Die  Hülfe  der  Todten  gegen  die  Unfruchtbarkeit 
601.  —  159.  Die  Baumseele,  der  Feuerfunken  und  andere  sympathetische  Hülfsmittel 
gegen  die  Unfruchtbarkeit  608. 

XXm.  Die  Fruchtbarkeit  des  Weibes 607 

160.  Die  Rassenunterschiede  in  der  Fruchtbarkeit  607.  —  161.  Die  Fruchtbarkeit  der 
atiatiflchen  Volker  611.  —  162.  Die  Fruchtbarkeit  der  amerikanischen  Volker  613.  — 


XVI  Inhalt  des  ersten  Bandes. 

Seite 
163.  Die  Fruchtbarkeit  der  afrikanischen  Völker  614.  —  164.  Die  Fruchtbarkeit  der 
Australier  und  Oceanier  615. 

XXIV.  Des  Kindes  Geschleoht 617 

165.  Mädchen-  und  Knaben-Erzeugung  617.  —  166.  Die  willkürliche  Vorherbestimmung 

des  Geschlechts  im  Volksglauben  621. 

XXV.  Mehrflaohe  Sohwangersohaft 624 

167.  Die  Ueberfruchtung  624.  —  168.  Paarlinge  626.  —  169.  Zwillinge  628.  —  170. 
Drillinge,  Vierlinge,  Fanflinge  u.  s.  w.  630.  —  171.  Das  Schändende  und  Gefähr- 
liche der  Zwillingsgeburten  634.  —  172.  Die  Werthschätzung  der  Zwillingsgeburten  636. 

XXVI.  Das  physische  Verhalten  während  der  Sohwangersohaft 640 

173.  Die  Erkenntniss  der  Schwangerschaft  640.  —  174.  üebemat£Lrliche  Schwanger- 
schafbszeichen  und  der  Sprachgebrauch  643.  —  175.  Die  Schwangere  in  der  bilden- 
den Kunst  645.  —  176.  Aeltere  Anschauungen  über  die  Entwickelung  der  Frucht 
654.  —  177.  Die  Schwangerschaftsdauer  658.  —  178.  Ungebührlich  lange  Dauer  der 
Schwangerschaft  659. 

XXVn.  Normale  und  abnorme  Sohwangersohaft 663 

179.  Die  Lage  und  das  Stürzen  des  Kindes  im  Mutterleibe  663.  —  180.  Die  An- 
sichten der  aussereuropäischen  Völker  über  die  Lage  des  Embryo  im  Mutterleibe 
668.  —  181.  Der  Christus-Embryo  in  der  bildenden  Kunst  672.  —  182.  Die  Schwanger- 
schaft ausserhalb  der  Gebärmutter  678.  —  183.  Falsche  Schwangerschaften  679. 

XXVm.  Das  sooiale  Verhalten  während  der  Sohwangersohaft 682 

184.  Ceremonien  und  religiöse  Gebräuche  bei  dem  Eintreten  der  Schwangerschaft 
682.  —  185.  Die  Abwehr  böser  Geister  und  Dämonen  während  der  Schwangerschaft 
685.  —  186.  Schwangerschafts -Dämonen  in  Europa  und  der  Schutz  vor  denselben 
688.  —  187.  Die  Bedeutung  des  Gürtels  in  der  Schwangerschaft  690.  —  188.  Die  recht- 
liche Stellung  der  Schwangeren  695.  —  189.  Die  Femhaltung  der  Schwangeren  697. 

XTTTX   Die  Gesundheitspflege  der  Sohwangersohaft 700 

190.  Aerztliche  Vorschriften  während  der  Schwangerschaft  700.  —  191.  Die  Ernährung 
der  Schwangeren  und  die  Speiseverbote  702.  —  192.  Die  Tracht  der  Schwangeren 
706.  —  193.  Die  Gelüste  der  Schwangeren  708.  —  194.  Die  Sorge  für  die  psychische 
Stimmung  der  Schwangeren  710. 

XXX.  Die  Gefahren  und  der  Sohutz  der  Sohwangeren 712 

195.  Das  Versehen  der  Schwangeren  712.  —  196.  Abergläubische  Verhaltungsregeln 
während  der  Schwangerschaft  714.   —    197.  Die  Pflichten  des  Ehemannes  während 

der  Schwangerschaft  716. 

XXXI.  Die  Therapie  und  die  Prognose  der  Sohwangersohaft 719 

198.  Mechanische  Vorkehrungen  während  der  Schwangerschaft  719.  —  199.  Das 
Baden  und  Einsalben  während  der  Schwangerschaft  721.  —  200.  Die  Blutentziehungen 
während  der  Schwangerschaft  722.  —  201.  Die  medicamentOse  Behandlung  der 
Schwangeren  723.  —  202.  Die  abergläubische  Prognose  der  Schwangerschaft  725. 

XXXn.  Unzeitige  Geburten  und  Fehlgeburten 727 

203.  Die  Arten  der  unzeitigen  Geburten  727.  —  204.  Wann  ist  die  Frucht  lebens- 
fähig? 727.  -  205.  Die  künstliche  Frühgeburt  730.  —  206.  Die  Todtgeburten  730. 

XXXm.  Die  zufällige  Fehlgeburt  oder  der  natürliche  Abortus 734 

207.  Der  natürliche   Abortus  in   seinen  Ursachen  und  seiner  Verbreitung  734.    — 

208.  Die  MaassregeUi  zur  Verhütung  von  Fehlgeburten  737.  —  209.  Das  Schicksal 
des  Abortus  739.   —  210.  Die  Anzeichen  des  beginnenden  Abortus  741. 

XXXIV.  Die  absiohtliohe  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht  743 
211.  Die  Bedeutung  der  Fruchtabtreibung  748.  —  212.  Die  Verbreitung  der  Frucht- 
abtreibung unter  den  jetzigen  Völkern  743.  —  213.  Die  Fruchtabtreibung  unter  den 
Völkern  weisser  Rasse  749.  —  213.  Die  Beweggründe  für  die  Abtreibung  der  Leibes- 
frucht 751.  —  215.  Die  Abortivmittel  im  Alterthum  und  Mittelalter  752.  —  216.  Die 
Abortiymittel  der  heutigen  aussereuropäischen  Völker  754.  —  217.  Die  in  Europa 
gebräuchlichen  Abortivmittel  760.  —  218.  Die  Methoden  der  Fruchtabtreibung  762.  — 
219.  Versuche  zur  Beschränkung  der  Fruchtabtreibnng  763. 


Erste  Abtheilung. 

Der  Organismus  des  Weibes. 


Plost-Bartels,  Das  Weib.    6.  Aufl.    I. 


I.  Die  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 

1.  Die  Entstehung  des  Geschlechts. 

Das  Weib  unterscheidet  sich  von  dem  Manne  in  anatomischer,  in  körper- 
licher Beziehung  keineswegs  einzig  und  allein  durch  die  Verschiedenheiten  in  dem 
Bau  der  Fortpflanzungsorgane.  Allerdings  geben  die  Differenzen  dieser  fUr  die 
Erhaltung  der  Art  bestimmten  Gebilde  die  allerwesentlichsten  Unterschiede  zwischen 
den  beiden  Geschlechtem  ab  und  sie  werden  dieser  Eigenthümlichkeit  wegen  ja 
auch  mit  dem  Namen  Geschlechtsorgane  bezeichnet.  Es  soll  aber  auf  eine 
ausf&hrliche  Schilderung  derselben  an  dieser  Stelle  aus  leicht  ersichtlichen 
GrQnden  Terzichtet  werden.  Wer  von  den  Lesern  sich  eingehender  über  diesen 
Gegenstand  zu  unterrichten  den  Wunsch  hat,  den  müssen  wir  auf  das  Studium 
anatomischer  und  gynäkologischer  Handbücher  verweisen,  unter  denen  wir  die 
Werke  von  Robert  Hartmann^^  Herde  und  den  Atlas  der  Geburtskunde  von 
Kiwisch  V.  Rotterau  als  für  diesen  Zweck  besonders  geeignet  in  Vorschlag  bringen. 
Dass  der  Unterschied  in  dem  Geschlechte  dem  Menschen  bereits  angeboren  ist, 
bedarf  wohl  keiner  besonderen  Erwähnung.  Weniger  allgemein  bekannt  dürfte 
68  aber  sein,  dass  diese  geschlechtlichen  Unterscheidungsmerkmale  sich  während 
der  Entwickelung  im  Mutterleibe  erst  allmählich  herausbilden,  sich  differenziren, 
wie  der  fachmännische  Ausdruck  lautet.  Es  ist  also  keineswegs  der  eine  Keim 
sogleich  nach  erfolgter  Befruchtung  als  entschieden  weiblich,  ein  anderer  als  ent- 
schieden männlich  zu  erkennen,  sondern  es  existirt  eine  verhältnissmässig  lange 
Periode  in  dem  Leben,  das  wir  unter  dem  Herzen  der  Mutter  führen,  in  welcher 
eine  Unterscheidung  in  männlich  und  weiblich  noch  eine  absolute  Unmöglichkeit 
ist,  selbst  noch  in  einer  Zeit,  wo  die  Entwickelung  der  späteren  Geschlechtsorgane 
bereits  ziemlich  weite  Fortschritte  gemacht  hat. 

Allerdings  hat  kürzlich  Nagel  festgestellt,  dass  die  mikroskopische  Betrachtung 
der  embryonalen  Keimdrüsen  schon  in  sehr  früher  Zeit  ganz  deutliche  Unterschiede 
zwischen  den  beiden  Geschlechtem  erkennen  lässt.  Mit  dem  blossen  Auge  ist  aber 
hiervon  nichts  zu  sehen. 

Werfen  wir  einen  Blick  auf  das  untere  Körperende  eines  menschlichen  Em- 
bryo in  der  sechsten  Woche  seiner  Entwickelung,  wie  es  Luschka^  abbildet  (Fig.  1), 
80  bemerken  wir  dort  eine  kleine,  längsgestellte  Spalte,  welche  seitlich  von  je  einer 
Haatfidte,  der  Genitalfalte  oder  Geschlechtsfalte,  begrenzt  wird,  während  an  ihrem 
vordersten  Ende  ein  kleines  Höckerchen,  der  Geschlechtshöcker  oder  Genitalhöcker, 
henrorsprosst  Wir  möchten  bei  dem  Anblick  dieser  Abbildung  glauben,  dass 
wir  unbestreitbar  weibliche  Verhältnisse  vor  uns  hätten;  und  doch  ist  hier  eine 
Enteeheidong  über  das  zukünftige  Geschlecht  noch  vollständig  unmöglich;  noch 
hüte  diese  Fracht  sich  ebenso  gut  zu  einem  Mädchen  wie  zu  einem  Knaben  aus- 
biUeo  kSoiMn.  Ans  dm  beiden  Geschlechtsfalten  entwickeln  sich  vom  Ende  des 
*B  1  *T  die  grossen   Schamlippen    oder,  indem  sie    in    der 

1* 


4  L  Die  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 

Medianlinie   mit    einander   verwachsen,    die  beiden  Hälften  des  Hodensacks.     Der 
Geschlechtshöcker  bleibt  entweder  klein  und  bildet  den  Kitzler,  oder  er  vergrössert 

sich  rasch  und  wächst  zum  Penis  aus.  Es  kommt 
also,  wie  wir  sehen,  bei  dem  Knaben  eine  Längs- 
spalte  am  untersten  Ende  in  der  Medianlinie  zu  toU- 
ständigem  Verschluss,  welche  bei  dem  weiblichen  Ge- 
schlechte fiir  die  ganze  Lebenszeit  erhalten  bleibt 
Bei  dem  ersten  Anblick  hat  es  daher  einen  gewissen 
Schein  von  Berechtigung,  wenn  man  das  Weib  ak 
ein  in  der  Entwickelung  zurückgebliebenes,  ein  im 
Vergleich  zum  Manne  körperlich  tiefer  stehendes 
Wesen  betrachtet  hat. 

Es  bedarf  aber  heute  wohl  kaum  erst  der  be- 
sonderen Erwähnung,  dass   das  Weib  seiner  Natur 
nach  ebenso  vollkommen  ist,  als  der  Mann  nach  der 
^^^'  ^' t^iL^T^XLty  ^'''^"  seinigen.     Aber  erst  die  moderne  Anthropologie  hak 

durch  volle  Anerkennung  dieses  Satzes  dem  Weibe  in 
allen  seinen  körperlichen  und  geistigen  Beziehungen  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen. 
Die  altgriechischen  Naturforscher  und  Aerzte  freilich,  wie  Hippokrates 
und  Aristoteles^  hielten  und  erklärten  das  Weib  für  ein  unvollkommenes  Wesen, 
für  einen  Halbmenschen.  Das  Weib,  so  meint  Hippokrates^  sei  niemals  im 
Stande,  beide  Hände  mit  gleicher  Geschicklichkeit  zu  gebrauchen  (rechts  und  links 
zugleich,  ambidextra);  nach  seiner  Ansicht  wären  dessen  innere  Geschlechtstheile 
das  nämliche,  was  diejenigen  des  Mannes  äusserlich  sind,  und  während  sie  beim 
männlichen  Geschlechte  die  Wärme  heraustreibe,  würden  sie  bei  dem  weiblichen  Ge- 
schlechte von  der  Kälte  im  Inneren  zurückgehalten.  Dies  sind  Anschauungen,  welche 
natürlich  in  keiner  Weise  den  wirklichen  physiologischen  Verhältnissen  entsprechen. 
Das  Weib  trägt  ebenso  gut,  wie  der  Mann,  gegenüber  dem  Thiere  alle  Vor- 
züge der  menschlichen  Gattung  an  sich,  auch  hinsichtlich  der  specifisch  weiblichen 
Eigenschaften.  Man  hat,  um  nur  Einiges  anzuführen,  schon  öfter  auf  die  Ge- 
staltung der  Brüste,  auf  die  Eigenthümlichkeiten  der  Menstruation,  auf  das  Vor- 
handensein eines  Jungfernhäutchens  als  charakteristische  Unterscheidungsmerkmale 
des  Menschen  vom  Thiere  hingewiesen.  Doch  beruht  das  Wesentliche  nicht  in 
solchen  Einzelheiten,  die  man  früher  hervorhob.  Die  Zweibrüstigkeit  ist  nicht 
das  ausschliessliche  Eigenthum  des  Weibes,  denn  ganz  abgesehen  von  den  A£Fen 
und  den  meisten  Halbaffen  tragen  auch  die  Mehrzahl  der  Fledermäuse  zwei  Zitzen 
an  der  Brust  und  zwar  genau  an  derselben  Stelle,  wie  das  menschliche  Weib. 
In  BetreflF  des  Jungfernhäutchens  hat  schon  Blumenhach  den  von  Albrecht  v,  Hailer 
angenommenen  moralischen  Zweck  desselben  zurückgewiesen,  während  Cuvier  und 
andere  auch  bei  Säugethieren  eine  Art  von  Jungfernhäutchen  fanden,  und  wenn 
Plhiius  das  Weib  ein  „menstruirendes  Thier"  nennt  (animal  menstruale),  so  ist 
der  Unterschied  zwischen  Menstruation  und  Brunst  kaum  von  so  wesentlicher 
Bedeutung,  um  hierdurch  die  höhere  Natur  des  Menschen  zu  begründen.  Auch 
ist,  wie  Robert  Hartmann^  sagt,  eine  Menstruation,  und  zwar  eine  regelmässig 
stattfindende,  durch  die  Beobachtungen  von  Bolau^  Ehlers  und  Hermes  wenigstens 
für  den  Chimpanse  durchaus  festgestellt  worden.  Es  findet  hierbei  eine  Schwellung 
und  Röthung  der  äusseren  Theile  statt.  Alsdann  treten  die  im  nicht  menstruirten 
Zustande  nur  wenig  deutlichen  grossen  Schamlippen  stark  hervor.  Die  kleinen 
Schamlippen  und  der  Kitzler  sind  von  vorherrschender  Grösse  und  Bedeutung. 
Eine  beim  Chimpanse  constatirte,  oftmals  excessive  Schwellung  und  Röthung  dieser 
Theile  sowie  auch  der  Gesässschwielen  lässt  sich  übrigens  ausserdem  noch  an 
Pavianen  und  Macacos  in  deren  Brunstperioden  leicht  wahrnehmen. 

Von  den  vielen  weiteren  Versuchen,  das  Weib   in    seiner  naturhistorischen 
Stellung  zu  erniedrigen,  sprechen  wir  nicht;  es  kamen  auf  diesem  Gebiete  im  Ver- 


1.  Die  Entstehung  des  Geschleclits.  5 

laufe  der  Zeiten  die  ärgsten  Ausschreitungen  vor,  entsprechend  den  herrschenden 
Graden  der  Cultur.  So  wird  uns  auch  verständlich,  dass  die  Orientalen  unter 
dem  Einflüsse  ihres  Bildungsgrades  das  Weib  gering  schätzen,  da  sogar  der  Koran 
das  Weib  f&r  ein  unvollkommenes  Geschöpf  erklärt  und  dasselbe  selbst  von  dem 
Paradiese  ausschliesst.  Hingegen  kann  es  nur  als  Äusfluss  einer  im  Zeitbewusst- 
sein  wurzelnden  Neigung  zu  Absonderlichkeiten  aufgefasst  werden,  dass  einst  eine 
anonyme  (von  Acidalius  verfasste)  Abhandlung  darüber  erschien :  „dass  die  Weiber 
überhaupt  keine  Menschen  wären"  (mulieres  homines  non  esse),  —  eine  Schrift, 
welche  zu  Verhandlungen  auf  dem  Concilium  zu  Macon  Veranlassung  gab. 

Es  ist  ein  Glück,  dass  die  Zeit  dieser  Con- 
cile  vorüber  ist,  sonst  würde  auch  wohl  Paul  AI- 
brecht  sich  auf  einem  solchen  zu  verantworten  haben, 
der  auf  dem  deutschen  Anthropologencongress  in 
Breslau  im  Jahre  1884  einen  Vortrag  hielt  über 
die  grossere  Bestialität  des  weiblichen  Menschen  in 
anatomischer  Hinsicht.     Es  heisst  darin: 

.Aas  vielen  Thatsachen  lässt  sich  beweisen,  dass 
das  weibliche  Menschengeschlecht  überhaupt  das  beharr- 
lichere, d.  h.  das  unseren  wilden  Vorfahren  n&her  stehende 
Geschlecht  ist.    Solche  Beweise  sind: 

1.  die  geringere  Körperhöhe  des  weiblichen  Geschlechts; 

2.  die  beim  weiblichen  Geschlechte  häufiger  vorkommen- 
den höheren  Grade  von  Dolichocephalie; 

3.  die  häufigere  und  stärkere  Prognathie; 

4.  die  gewaltigere  Ausbildung  der  inneren  Schneidezähne ; 

5.  der  dem  weiblichen  Geschlechte  vorwiegend  zukom- 
mende Trochanter  tertius; 

6.  die  beim  weiblichen  Geschlechte  weniger  häufig  auf- 
tretende Synostose  des  ersten  Coccygeal-(Steis8bein)- 
wirbels  mit  dem  ersten  Kreuzbeinwirbel; 

7.  die  beim  weiblichen  Geschlechte  häufiger  vorkommende 
Anzahl  von  fünf  Coccygeal wirbeln; 

8.  die  beim  weiblichen  Geschlechte  häufiger  auftretende 
Hypertrichosis  (übermässige  Behaarung); 

9.  die  bei  demselben  seltenere  Glatze. 

Was  den  Trochanter  tertius  anbetrifft,  so  ist  dies 
besonders  auffallend,  denn  während  derselbe  bei  dem 
menschlichen  Weibe  vorkommt,  ist  er  seltener  beim  Manne 
und  noch  seltener  bei  den  Affen.  Es  ist  dies  besonders 
interessant,  da  auf  diese  Weise  sich  das  menschliche  weib- 
liche Geschlecht  als  noch  beharrlicher  als  die  grösste  An- 
zahl der  Affisn  hinstellt  und  auf  ein  Geschlecht  zurück- 
greift, da»  jedenfalls  wilder  war,  als   die  heutige  Atfen- 

welt.  — Dass   das   weibliche   Menschengeschlecht 

flbrigent  nicht  nur  anatomisch,  sondern  auch  physiologisch 
da«  wildere  Geschlecht  ist,  dQrfte  schon  daraus  hervor- 
gehen, dass  Männer  wohl  nur  verhältnissmässig  selten  ihre 
Gegner  beissen  oder  kratzen,  während  doch  Nägel  und 
Zähne  noch  immer  za  den  von  dem  weiblichen  Geschlechte 
bevorzugten  Waffengattungen  gehören.'' 

Erwähnt  mag  noch  werden,  dass  nach  Ddannay^  das  Weib  mehr  einen 
Plattfoss  besitzt,  wie  er  niederen  Rassen  zukommt.  Er  meint,  dass  die  hohen 
Absätze  diesem  Mangel  abhelfen  sollen.  Nach  Ranke^  scheinen  Missbildungen 
beim  weiblichen  Geschlechte  häufiger  aufzutreten,  als  beim  männlichen;  nur  in 
einzelnen  besonderen  Arten  überwiegt  das  letztere.  In  Fig.  2  wird  eine  Darstellung 
des  deutschen  Weibes  nach  einer  Zeichnung  von  ÄlbreclU  Dürer 


Fig.  2.    Deutsches  Weib. 
(Nach  Albrecht  Dürer.) 


O  L  Die  udurapoIosiKiie  AofEunm^  im  Wöbfli. 

Am  Weib«  kaon  man  bald  mehr  <iaa  Cmiacige;.  bald  mehr  das  Labliche  be- 
tnichci»n.  Dahis  giebc  es  eine  ideale  nnd  eme  reale  Xu&asaug  des  Weibes,  nnd 
anter  den  Phüoeophen  kommen  beide  Ao&d&ongen  zur  *3eltimg:  Ffir  den  Natnr- 
foncher  ab  Anthropologen  and  Edmocrraphen  handeln  es  sick  ledigüch  am  die 
reale  fracheinnng  der  Fran  nnd  am  ihre  Stelinng  gesoiabar  dem  mannlichen 
6e$)chlechte.    sowie     am    ihre   apediischen.     je    nach    RiMwe.    Volk    and    KEma 

frechadndim  körperlichen  Merkmale 
and  Fanctionen.  Hier  steht  das  so- 
mäciäche  Lebei  imVordergninde  der 
Betrachtons.  wahrend  die  Anthropo- 
logie im  weiteren  Sinne  alLerdingi 
aock  das  Psychische  im  Wabe  zom 
Gegenstande  der  Forachong  madt 
DasB  aach  die  korperlicfae  Erachei- 
aang  des  Weibes  ästhetische  nnd 
idedie  öesiohcspankte  bietet^  braocben 
wir  nkht  erst  za  erwähnen:  and  riel 
Lst  aber  die  weibliche  Schonhöt  ge» 
«chrieboi. 

Die  menschliche  Schönheit  im  All- 
gemeinen sackt  Jityrecm  in  der  toU- 
<tän<ügea  Vereinigang  der  aoaseren 
Merkznale  des  Menschen  im  Gegensatz 
zam  Thiere:  and  so  erscheine  der 
Mensch  am  so  schöner,  je  mdir  er 
geeignet  und  geschickt  ist,  die  grossen 
Bestimmangen  seines  Geschlechts  xa 
erfüllen.  E^bei  nähert  sich  das  Weib 
mehr  derjenigen  Schönheit,  wie  sie 
B»frk^  betrachtet,  um  sie  Tom  Er- 
habenen zu  unterscheiden.  Alle  Züge, 
Merkmale  uad  Eigenschaften  dessel- 
ben sind  liebenswürdig:  sie  flössen 
weder  Furcht  noch  Fäirfarcht  ein: 
sie  schmeicheln  gleich  angenehm  dem 
Auge,  wie  dem  Geiste:  sie  bestechen 
das  Herz  und  erzeugen  Liebe  nnd 
Verlangen.  Ein  ernstes  Ansehen, 
irgend  ein  rauher  Zug.  selbst  der 
Charakter  der  Majestät  würde  dem 
Effecte  der  Schönheit  schaden,  wie 
wir  sie  Tom  Weibe  verlangen :  und 
Lucian  stellt  mit  Recht  den  Liebes- 
gott erschrocken  über  das  männliche 
Aussehen  der  Minerva  dar. 
Ueber  die  männliche  und  weibliche  Form  bemerkt  Wilhelm  r.  Humboldt: 
^lier  eigentliche  Geschlechtsausdruck  ist  in  der  männlichen  Gestalt  weniger  henror- 
Htechend,  und  kaum  dürfte  es  möglich  sein,  das  Ideal  reiner  Männlichkeit  ebenso 
wie  in  der   Venus  das  Ideal  remer  Weiblichkeit  darzustellen. 

Viele  von  jenen  Zügen,  durch  welche  sich  das  Weib  vom  Manne  körperlich 
untefHcheidet«  Hind  es  gerade,  durch  deren  ganz  besondere,  .echt  weibliche*  Aus- 
bildung uns  das  Weib  als  besonders  schön  und  begehrenswerth  erscheint     Damm 
mQssen    wir    zunächst   uns   über   das  Typische  und  Charakteristische  am  Fibii< 
körper  verständigen;    sein   Bau   wird   dann  weiter   in   ethnographischer  Hu 
unserer  Betrachtung  zu  unterziehen  sein. 


f']^.&l-Fi|fiir  fÄnf.-\  Mftnn^  (nwch    Tixiano    l'e:e:it- 


Ge)?itÄlt  und  K5r[ierbau  des  Weibet. 


Ue^talt  und  Körperbau  des  Weibes 

Wenn  auch  die  vorliegende  Abhandlung   nicht   ein  Lehrbuch  der  Anntoinie 
XU  werd^  beabsichtigt,  so  erseheint  es  mir  doch  unumgänglich   noth wendig,  den 
Lesern    in    hinreichend    genauer    und    eingehender    Weise    einen    Ueberblick    zu 
Terscbaffen  über  die  anatomischen  Unterschiede,   welche,  abgesehen  von  den 
Geschlechtsorganen,    das  Weib   Ton 
dem  Manne  darbietet,    lii  anthropologischen 
Studien,  welche  das  Weib  zu  ihrem  Gegen- 
tte&de   habea^   dürfen   diese    Angaben    nicht 
fpVilpn^  um  bei  der  ausserordentlichen  Mannig- 

rkeit  der  in  Frage  kommenden  Differenzen 

i  eine  bequem  Übersichtliche  Zusammen- 

Jijg  dem  Leser  die  MOhe  des  Äufsuehens 

tu  weit  verstreuten  OrigiDalaufsätzen  ver- 

ten  Angaben  zu  erleichtern.  Ganz  neuer» 
hat    Havelock    EUi$    ein   besonderes 
ff  f:f k  hierüber  herausgegeben. 

Es  wurde  bereits  im  Anfange  dieser 
Arbeit  gesagt,  dass  es  durchaus  nicht  einzig 
und  aUeiu  die  Genitalien  sind,  durch  welche 
sich  die  Frau  von  dem  Manne  unterscheidet 
Es  finden  sich  auch  abgesehen  von  diesen 
eine  grosse  Menge  von  Abweichungen  in  dem 
ii  '     '         Bau   der  beiden   Geschlechter, 

nach  dem  Vorgange  von  Charles 

rm  als  Hecundiire  Geschlechtscha- 
,  „^lete  zu  bezeichnen  pflegt  Figur  3  und 
4  (Uhren  uns  die  Idealfiguren  eines  Weibes  und 
eines  Mannes  vor,  welche  Tisiano  VeceUi  für 
dm  thm  befreundeten  Anatomen  Andreas 
Vraalius  gezeichnet  hat»  Letzterer  hat  sie,  in 
Holz  geschnitten,  seinem  Werke  einverleibt, 
um  den  Unterschied  in  dem  Bau  des  mann-- 
liehen  und  desi  weii>Iichen  Korjjers  vor  Augen 
m  fuhren.  Zu  diesen  gncundären  Geschlecht^- 
ebankteren  geliören  bei  dem  Weibe  in  aller- 
eriler  Linie  die  Eniwickelung  der  Brüste, 
RKt  welch»'  wir  in  einem  späteren  Kapitel 
aiisRifarlich  zu  handeln  haben  werden.  Ich 
lEmno    sie   daher   an   dieser   Stelle   mit  Still- 


schweigen    Hl  Ausserdem   kommen 

aber  noch  vj  .  re  LTnterschiede  in  Be- 

tracht, welche  im  Wesentlichen  sich  auf  die 
jp^""-  Aes  Fettjtolsters,  des  sogenannten 

Lfewebes,   femer   der  Muskeln    und   der   inneren  Organe  und  endlich 

M  im  Bau  des  Knochengerüstes    beziehen.     Die    hieraus    für    die 

irig  der  beiden  Geschlechter  in  die  Augen  fallenden  Unterschiede 

Berliner  Frauenarzt  Wilhelm    Heinrich  Bmch  mit  folgenden 

isirt: 

'>«t«!t  de«  Weihefl  stimmt  mehr  al«  die  de«  Mannes  mit  den  GesetEmi  dei 
er  dem  Auge  ^mitOrlich  des  Mannes)  angenehmer  und  gefUlUger. 
und  gerundeter,  die  des  Mannes  eckig  und  abstoa&end  (nur  nicht 
Der  Kopf  det  Weihes  iat  nmder,  zeigt  weniger  Banporragangoa 


-nlri-  m 


8 


I.  Die  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 


and  ist  mit  starkem  Haarwuchs,  der  dem  Weibe  zu  vorzüglicher  Schönheit  wird,  versehsn. 
Auch  das  Gesicht  ist  kürzer  und  die  einzelnen  Theile  gehen  leicht  in  einander  Über,  so  dasi 
sie  in  sich  weniger  gesondert  erscheinen;  daher  ist  auch  der  Ausdruck  des  Gesichts  beim 
Weibe  weniger  bestimmt  und  drückt  selten  besonderen  Charakter  aus.  Die  Stime  ist  nicht 
so  hoch,  als  die  des  Mannes,  die  Nase  kleiner,  sowie  auch  der  Mund;  das  Kinn  ist  weniger 
spitz  und  nicht  mit  Haaren  bedeckt,  so  dass  auch  das  Gesicht  rundere  und  kleinere  Form 
annimmt.  . . .  Der  Hals  ist  beim  Weibe  länger,  als  beim  Manne,  und  weniger  in  seinen  üeber- 
gängen  zum  Kopfe  und  zum  Rumpfe  abgeschnitten  ;  der  Kehlkopf  steht  weniger  herror. .... 
Schon  äusserlich  nimmt  man  in  den  Längenverhältnissen  des  Rumpfes  ein  Üeberwiegen  dei 
Unterleibes  vor  der  Brust  wahr.  Diese  ist  schmaler  und  enger,  die  Lendenwirbel  sind  hoher, 
als  beim  Manne;  der  Wuchs  wird  dadurch  schlanker;  der  Umkreis  des  Brustkastens  liegt  in 
einer  Ebene  senkrecht  über  dem  Becken,  beim  Manne  ragt  er  über  dieses  hervor.  Die  Becken- 
gegend zeichnet  sich  durch  ihre  Breite  aus.  Die  Muskeln  sind  am  Rumpfe  ebenfialls  weniger 
sichtbar,  da  sie  mit  einer  grossen  Menge  Zellgowebe  umgeben  sind,  welches  alle  Zwischen- 
räume ausfallt  und  alle  Theile  durch  sanfte  üebergänge  vereinigt.  Auch  die  Rippen  und 
Hüftknochen  stehen  weniger  hervor.  Der  weibliche  Busen,  welcher  durch  die  stärker  ent- 
wickelten Brustdrüsen  und  das  umgebende  (Fett  enthaltende)  Zellgewebe  gebildet  wird,  stellt 
das  Miss  verbal  tniss  zwischen  der  Brust  und  dem  Bauche  wieder  her  und  wirkt  bei  schOner, 
regelmässiger  Form  gleich  angenehm  auf  das  Auge  und  auf  das  Gefühl/ 

Die  Besonderheiten  des  übrigen  Körpers  schildert  Busth 
weiterhin:  „Der  Unterleib  ist  runder  und  tritt  bei  dem 
Weibe  stärker  hervor;  der  Nabel  ist  etwas  mehr  vertieft 
und  weiter  von  der  Schamgegend  entfernt,  als  beim  Manne. 
Indem  die  Brust  von  den  Schultern  und  dem  Busen  nach 
unten  zu  allmählich  enger  wird,  geht  der  Unterleib  wiederum 
in  die  breitere  Hüftgegend  über,  so  dass  kein  einförmiges 
Uebergeben  dos  oben  breiten  Rumpfes  in  die  schmaleren 
unteren  Extremitäten  stattGndet.  In  der  Mitte  ist  der  Rompf, 
und  zwar  in  der  Gegend  des  Kückens  und  der  Lenden,  am 
engsten  und  am  schlankesten.  Das  Schlüsselbein  ist  kürzer 
und  mehr  an  dem  Rumpfe  anliegend,  die  Arme  kürzer, 
runder,  fetter,  die  Finger  sind  feiner  und  spitzer.  Eine  ge- 
wisse Fülle  und  Rundung  bezeichnet  beim  Weibe  die  Schön- 
heit der  Arme.  An  den  unteren  Extremitäten  ist  der  Ober- 
schenkel sowie  die  Beckengegend  stärker,  indem  hier  die 
Muskelmasse  mehr  entwickelt  ist ;  die  grossen  Trochanteren 
stehen  weit  von  einander  ab,  die  Schenkel  steigen  schräg 
von  innen  herab,  so  dass  die  Kniee  enger  beisammen  stehen 
und  die  inneren  Gelenkköpfe  mehr  nach  innen  hervorragen. 
Da»  Knie  ist  rund  und  nur  schwach  angedeutet,  die  Wade 
zierlicher  und  nach  unten  schmäler;  die  Knöchel  treten 
weniger  hervor  sowie  auch  die  Schienbeinröhre,  Theile,  die 
mehr  unter  der  Haut  sich  verbergen.  Der  Fuss  ist  kleiner 
und  schmäler,  so  dass  also  die  den  Körper  stützende  Fläche 
geringer  ist,  als  beim  Manne.  Im  Verhältniss  zum  Stamme 
sind  die  unteren  Extremitäten  beim  Weibe  kleiner,  so  dass 
die  Schamgegend  nicht  wie  beim  Manne  den  Körper  in 
zwei  gleiche  Hälften  theilt,  vielmehr  die  Halbirungslinie 
über  dem  Schambein  zu  liegen  kommt.  Die  Schritte  des 
Weibes  sind  daher  kleiner  und  der  Gang  ist  wegen  der 
Stellung  der  Pfannen  mehr  schwankend,  aber  durch  die  Leichtigkeit  anmuthiger ;  nur  zum 
Laufen  ist  das  Weib  nicht  geeignet.* 

Die  Figuren  5—7  führen  einige  Weiber  aus  anderen  Welttheilen  vor.  Fig.  5  zeigt 
die  Körperformen  einer  Süd-Afrikanerin,  Fig.  6  diejenigen  einer  jungen  Ja  van  in  und 
Fig.  7  einer  ungefUhr  25jährigen  Melanesierin  von  der  Anachoreten-Insel  Wasan. 

Es  mag  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  die  Physiologie  vor  allem  in 
zweifacher  Hinsicht  das  organische  Leben  der  Frau  verschieden  Ton  demjenigen 
des  Mannes  findet:  Die  Frau  hat  wesentlich  mehr  mit  den  Function«  dar  Fort- 
pflanzung za  thun;  sie  wird  mit  ihren   Kräften  durch  das  Se* 


FiK-  ^-     Kiirperforin  einer  Znlu 

Frau  (Mulattin 0  mit  hänf^enden 

Brüsten.    (Nach  PhotOfpiiiiliie.) 


Die  aecundären  GesehlechtficKarakiere  bei  den  europäiscben  Weibern. 


MeoMiitmtion,  durch   die  Schwangerschaft,    dm  Wochenbett.,    das  Säugen  und  die 

Pflege  de«  Kindes  in  Anspruch  genommen.     Ferner  aber  zeigt  ihr  Nervensystem 

9pecififich  andere  Thätigkeit,  als  das  de»  Mannes :  die  Frau  arbeitet  mehr  mit 


9 


r^ 


Vig.  7,    KÖrperform  einer  Anachoieten- 
iQsuUnerfii.    (25  Jahre.)    (Kaeti  Photographie. ) 


ia  Gefllhient  der  Mann  vorzugsweise  mit    den  Gedanken.    In  allen  Bewegungen 

nd  Geberden  spricht  »ich  deutlich    dieses  Verhältniss  aus;   auch  pflegt  diejenige 

io  welcher   das  Geftlhlsleben   am   reinsten   und    feinsten  zu  Tage  tritt,  den 

Eichstm  Zauber  in  ästhetischer  Hinsicht  auf  das  männliche  Geschlecht  aua/uQben. 


i.  Die  seeandäreti  Geschlechtseharuktero  bei  den  ©nropäisrlien  Weibern. 

Gehen  wir  nun  genauer  auf  die  aeciindären  Geschlecht^charaktere  ein,  so 
fiUlt  in  ervter  Linie  der  Unterschied  in  der  Körpergrösse  zwischen  den 
beUen  Geschlechtern  in  die  Augen.    Johannes  Ranke^  sagt: 

,I>eat1icli  ausge^procbeno  Unterscliiede  in  den  LlingenfiFoportionen  des  Körpers  zeigen 
4i0  li«fdifll  Gevcblechter.  imitierhin  üind  die  Unterschiede,  procentiRcb  auf  gleiche  Körper- 
KtOm«  bervehnei,  kJein  imd  halten  sich  in  den  Grenzen  weniger  IVoconte  oder  erreichen  über* 
iMajit  d^t)  Werth  von  1  Prucent  der  Körpergrdsse  nicht.  Da  es  hier  nicht  auf  exacte  Zahlen- 
wflrtli«  ankomtnen  kann,  bo  KegnOgen  wir  uns  mit  der  Angaljo  der  Hauptresultate  unserer 
V»|fT^'  *  '^  -  ""'  -hon  dem  schönen  und  dem  starken  Geschlechto,  Der  Mann  unterscheidet 
•ick  irch  einen  im  Verhriltniss  zur  Körpergr5ti«e  etwas  kürzeren  Kampf  und  im 

Yarbäiiru-i^^  /ir  Körpergrösse  und  Rumpf! änge  etwas  lUngere  Arme  und  Beine,  längere  H&nde 
«ad  FlUii«:  im  Verhältniiia  zur  ganzen  oberen  F^xtremitüt  sind  seine  , freien  Beine*  etwas  langer, 
lum  Oberarme  respective  Oberschenkel  besitzt  er  etwas  längere  ünter- 
iHnkeK   sein   horizontaler  KopFutiifang  ist  im  VerhlLltniBs  zur  EörpergrOno 

i^kn^ei.     Mit  einem  Worte,  die  mannh'chen  Körperproportionen  nähern  sieb  im  AU- 


10  I.  Die  anthropologische  Aaffassung  dee  Weibes. 

gemeinen  der  vollen  typisch-menschlichen  Eörperentwickelung  mehr  als  die  weiblichen  Pro- 
portionen; das  Weib  steht  dagegen  im  Allgemeinen  der  kindlichen  EOrpergliederong  nfther, 
es  steht  in  dieser  Beziehung  auf  einem  individuell  weniger  entvrickelten,  in  entwickelongi- 
geschichtlichem  Sinne  niedrigeren  Entwickelungsstandpunkte  als  der  Mann.  Wir  verkennen 
dabei  nicht,  dass  sich  das  Weib  körperlich  auch  noch  nach  anderen  Richtungen  alt  nach  der 
der  ewigen  Jugend  von  dem  Manne  unterscheidet;  immerhin  aber  lehren  unsere  ErgebniMe, 
dass  der  im  Allgemeinen  mechanisch  weitaus  th&tigere  Mann  der  weissen  Cultnrrasae,  seiner 
gesteigerten  mechanischen  Leistung  entsprechend,  auch  einen  mechanisch  mehr  dnrchgenrbei- 
teten,  mechanisch  vollendeteren  Körper  besitzt  als  das  Weib.  Dass  das  auch  für  Mann  und 
Weib  der  mit  Landwirthschaft  beschäftigten  Landbevölkerung  der  weissen  Rasse  G^ltong  be- 
sitzt, lehren  die  Untersuchungsreihen,  welche  von  zwei  Schülern  Stieda's  an  lettischen  nnd 
litthauischen  M&nnern  und  Weibern  angestellt  wurden.  Immerhin  erscheinen  hier  aber, 
wie  wir  erwarten  konnten,  die  Unterschiede  zwischen  den  beiden  Geschlechtem  etwas  geringer. 
Zweifellos  kann  sich  auch  bei  dem  Weibe  durch  eine  in  Folge  dauernder  Lebensgewohnheiten 
gesteigerte  mechanische  Arbeitsleistung  der  Glieder  ein  mehr  männlicher  Habitus  dee  Glieder- 
baues  ausbilden.  Der  Körper  des  Weibes  steht  bei  allen  Nationen  der  Welt,  auch  bei  den 
am  wenigsten  cultivirten,  in  einem  ähnlichen  Yerhältniss  zu  dem  männlichen,  wie  bei  der 
weissen  Culturrasse,  er  steht  überall  in  seinen  Proportionen  dem  Kindesalter  nfther  als  der 
Körper  des  Mannes.* 

Als  Geschlechtsunterschiede  in  der  Länge  der  Gliedmaassen  bezeichnet  Weis^Hu^^  bei 
den  Deutschen  die  folgenden:  ,Dcr  ganze  Arm  der  Weiber  ist,  sovrie  auch  in  den  einseinen 
Abschnitten,  kürzer,  nur  die  Hand  und  deren  Unterabtheilungen,  der  Handrücken  und  Mittel- 
£nger,  im  Vergleiche  zu  den  nächst  vorhergehenden  Theilen  länger,  sonst  kürzer  und  schmäler; 
die  unteren  Gliedmaasse,  sowie  der  Unterschenkel  und  Fuss  allein,  gleichfalls  kürzer,  der  Ober- 
schenkel aber  länger,  der  Fuss  am  Rist  schwächer,  vorne  aber  breiter.'  Die  geringere  Grösse 
des  weiblichen  Fusses  vermochte  Goenner  bereits  bei  neugeborenen  Kindern  nachzuweisen. 

Nach  Sappey  ist  bei  der  Frau  der  Rumpf  fast  ebenso  lang  als  die  Unterextremit&ten, 
während  letztere  bei  Männern  im  Mittel  um  2,5  cm  die  Rumpflänge  übertreffen.  Der  Mann 
erreicht  das  Maximum  seiner  Grösse  mit  30  Jahren,  seines  Gewichtes  mit  40  Jahren,  das 
Weib  letzteres  erst  mit  50  Jahren. 

I      Minimlun      |      Hazimiim      I         Mittel 


Gewicht  des  Mannes  |  51,458  kilo  |       83,246       |       62,049 


Gewicht  des  Weibes  |  36,777  i        73,983      |       54,877 

Auch  in  dem  Bau  des  Brustkastens  (Thorax)  zeigt  sich  eine  Verschiedenheit  des 
Geschlechts.  Die  geringere  Geräumigkeit  und  andere  Verhältnisse  bewirken,  dass  die  Aus- 
und  Einathmung  beim  Weibe  minder  ergiebig  ist.  Schon  vor  fast  hundert  Jahren  hat 
Ackermann  die  Eigenthümlichkeit  des  weiblichen  Thorax  in  wesentlichen  Zügen  beschrieben. 
Beim  Weibe  fand  er  unter  anderem  den  knorpligen  Theil  der  unteren  Rippen  grösser  als 
beim  Manne;  bei  jenem  steht  das  untere  Ende  des  Brustbeins  mit  dem  knöchernen  Theile 
der  vierten  Rippe  entweder  ganz  in  horizontaler  Linie,  oder  es  geht  noch  etwas  tiefer  her- 
unter; das  Brustbein  des  Weibes  ist  im  Ganzen  kleiner,  als  das  männliche.  Vor  allem  aber 
hat  das  berühmte  Schriftchen  Sömmering's^,  welcher  dem  unverbesserlichen  weiblichen  Ge- 
schlechte  die  üble  Wirkung  der  Schnürbrust  vor  Augen  fährte,  den  besonderen  Bau  des  Thorax 
gekennzeichnet.  Er  gab  das  Bild  einer  mediceischen  Venus  und  zeichnete  auf  dasselbe  eine 
Schnürbrust,   um  recht  augenfällig  zu    beweisen,  wie  schädlich  ein  solcher  Modeartikel  ist 

Weiter  ergab  sich  aus  den  zahlreichen  Messungen  von  Liharczik,  dass  der  weibliche 
Körper  sich  von  dem  männlichen  hauptsächlich  dadurch  unterscheide,  dass  ihm  eine  Rippen- 
breite (st  1  cm)  in  der  Brustlänge  fehlt,  wonach  sich  dann  alle  anderen  Proportionsunter- 
schiede durch  Berechnung  ermitteln.  (Daher  die  kürzere  Luftröhre  und  höhere  Stimme  des 
Weibes,  das  breitere  Becken  u.  s.  w.)  —  Wie  der  biblische  Schöpfungsbericht  entstand,  dass 
das  Weib  aus  einer  Rippe  des  Mannes  geschaffen  wurde,  lässt  sich  hiermit  nicht  erklären. 

Vergleichende  Messungen,  die  auf  den  oberen,  mittleren  und  unteren  Brustumfang 
sich  bezogen,  stellte  bei  beiden  Geschlechtem  und  in  verschiedenen  Lebensaltern  Wintridi 
an.  Er  fand  je  nach  Alter  und  Geschlecht  folgende  Abweichungen:  Bis  in  das  höhere  Mannes- 
und Frauenalter  ist  der  obere  Brustumfang  grösser,  als  der  untere;  in  den  sechzig^  Jahren 
des  Lebens  aber  kehrt  dieses  Verhältniss  sich  um.  Bei  Frauen  wird  der  untere  Brostmnfiuig 
von  dem  oberen  nicht  in  dem  Maasse  übertroffen,  wie  bei  Männern.  Um  das  vienehnte  1 
jähr  wird  der  Brustkorb  des  Mannes  beträchtlich  umfangreicher  als  der  des  Weibes. 


8.  Die  secund&ren  Geschlechtscharaktere  bei  den  europäischen  Weibern. 


11 


Nach  Lenhosstk  iat  das  weibliche  Schlüsselbein  weniger  gekrümmt,  als  das  männ- 
liche, üeber  das  Verhalten  des  Brustbeins  hat  Stratich  genauere  Untersnchnngen  angestellt. 
Er  fand  bei  Weibern  verhältnissmässig  das  sogenannte  Manabrinm,  d.  h.  den  oberen  Theil  des 
Bmstbeins,  grosser,  den  eigentlichen  Körper  des  Knochens  kleiner  als  bei  Männern.  Wie  sehr 
diese  Verschiedenheit  theils  auf  die  Lage  der  inneren  Brustorgane  (Langen  und  Herz),  theils 
auf  die  Function  derselben  einen  Einfluss  ausübt,  besprach  ferner  Henke,  welcher  sagt:  dass 
flieh  die  Eigenthümlichkeit  des  weiblichen  Thorax  in  der  Gegend  des  unteren  Endes  vom 
Brofltbeine,  wie  sie  vermuthlich  durch  den  Einfluss  der  Kleidung  entsteht,  auf 
eine  blosse  Verschiebung  der  Grenzen  vom  Knochen  des  Brustbeins  und  den  Knorpeln  der 
Rippen  innerhalb  der  Thorazwand  beschränkt,  während  die  Proportionen  des  Raumes  hinter 
derselben  und  ihre  Erfüllung  durch  die  inneren  Organe  sich  ziemlich  gleich  bleiben. 

Gehen  wir  nun  weiter  auf  die  wichtigsten  Skeletttheile  ein,  so  wollen  wir  mit  der  Be- 
trachtung des  Schädels  beginnen. 

Die  Anthropologie  legt  ein  besonderes  Gewicht  auf  die  Form  und  die  Grösse  des 
Schädels;  deshalb  sei  erwähnt,  dass  gerade  in  dieser  Beziehung  beachtenswerthe  Unter- 
schiede zwischen  dem  männlichen  und  weiblichen  Schädel  bestehen.  Den  Horizontalumfang 
des  Mannesschädels  fand  Welcher  im  Mittel  521  mm  gross;  er  verhält  sich  zum  weiblichen 
wie  100  :  97.  Der  Schädelinnenraum  des  männlichen  Schädels,  1450  ccm,  verhält  sich  zum 
weiblichen  wie  100  :  90.  Da  nun  die  niederen  Rassen  (Neger,  Malayen,  Amerikaner) 
im  Horizontalumfang  mit  den  kleinsten  weiblichen  deutschen  Schädeln,  die  Mongolen 
mit  den  kleinsten  und  mittelgrossen  übereinstimmen,  so  könnte  man  vielleicht  meinen,  dass 
das  Weib  demgemäss  den  Uebergang  zu  niedrigeren  Menschenrassen  bilde. 
Allein  su  solcher  Herabwürdigung  des  schönen  Geschlechts  dürfte  wohl  kaum  die  Anthro- 
pologie sich  herbeilassen. 


Fig.  8.    Die  Oeschlechtsant erschiede  am  Schädel  (nach  Ecker). 
Mann  aus  einem  fr&nkischen  Grabe.  Frau  aus  einem  fränkischen  Grabe. 


Nach  Angaben  von  Delaunay,  welche  er  wohl  P.  Broca  entlehnt  bat,  und  nach  der 
Untersuchung  von  Wekker  bleibt  die  Schade Icapaci tat  des  Weibes  hinter  derjenigen  des 
Mannes  zurück  bei 


Australiern 
Chinesen 
Negern  (Dahomey) 
Negern 
Sokotranern 
Hindu  von  Bellari 


um    37  ccm  Eskimo  um  149  ccm 

,      59      „  Deutsche  (Gegend 

„      73      ,                           von  Halle)  ,  160     , 

,      99      ,  Javanen  ,  164     , 

,    114      ,.  Siamesen  ,  193     , 

,    122      ,  Engländern  ,  204     „ 

Ein  weiterer  Unterschied  gegenüber  der  physischen  Erscheinung  des  Mannes  besteht 
daijn,  dass  die  Form  des  weiblichen  Kopfes  weicher,  gerundeter,  der  Gesichtstheil  des  Schädels, 
namenUich  der  Kiefer  und  die  Schädelbasis,  kleiner  und  letztere  in  ihrem  hinteren  Abschnitte 
stark  yerschmllert  ist.  Dabei  ist  die  Basis  gestreckter,  der  Sattelwirbel  grösser  und  eine 
«nf&Uende  Neigung  rar  Schie&ähnigkeit  sowie  rar  Langköpfigkeit  beim  Weibe  entwickelt. 
Dedialb  haben  mehrere  Anthropologen  den  Sats  aasgesprochen,  dass  im  Allgemeinen  der  Typus 
4m  weibHdMB  fidildeli  iiflli  in  Tieler  ^^'tFiithTnig  dengenigen  dse  Ktudanehidels  nähere.   Dem- 


12 


L  Die  anthropologische  AaCfassnng  des  Weibes. 


gemäss  würde  man  vielleicht  den  Schloss  ziehen  können,  das  Weib  sei  —  wenigsteiiB  in  seiner 
Schädelbildnng  —  auf  einer  früheren  Entwickelnngsstufe  stehen  geblieben.  Doch 
auch  dieser  Befand  giebt  uns  nicht  das  Recht,  zu  sagen,  dass  das  Weib  gem&ss  seiner  Kopf- 
form im  geistigen  Wesen  dem  Kinde  nahe  steht. 

Johannes  Banke^  fand,  dass  bei  den  Schädeln  der  weiblichen  altbayerischen  Land- 
bevölkerung  eine  Neigung  zu  kleineren  —  physiologisch-mikrocephalen,  bei  den  männlichen 
Schädeln  dagegen  eine  Neigung  zu  grösseren  —  phjsiologisch-makrocephalen,  Werthen  üb 
die  Schädelcapacität  vorherrscht.    £r  giebt  über  letztere  folgende  Tabelle: 

Schädelinhalt  in  Kubikcentimetern. 
(WekkerJ  Mittel.    Minimum.    Maximum. 

30  mänol.  Schädel  .sächsischen"  Stammes  1448  1220  1790 

30  weibl.  ,  ,  ,  1330  1090  1550 

(BankeJ 
100  männl.        „      d.  altbayerisch.  Landbevölk.    1503  1260  1780 

100  weibl.         ,      .  «  ,  1385  1100  1682 

fWeissbach) 
50  männl.  Schädel  meist  Österreich.  Stammes       1521,6 
23  weibl.  .  ,  .  ,  1336,6 

Alexander  Eckert  stellt  folgende  charakteristische  Eigenthümlichkeiten  des  weiblichen 
Schädels  auf,  die  er  durch  die  in  Fig.  8  und  9  und  Fig.  26  wiedergegebenen  Abbildungen 
erläutert. 

«Die  Unterschiede  des  weiblichen  vom  männlichen  Schädel  sind  begründet  theils  in  der 
verschiedenen  Beschaffenheit  der  Knochenoberfläche,  theils  in  der  Verschiedenheit  der  absoluten 


Fig.  9.    Die  Geschlecktsunterschiede  am  Schädel  (nach  £ckfri). 
Schwarzwälder.  Schwarzwälderin. 


und  namentlich  der  relativen  Grösse  des  Schädels  und  seiner  einzelnen  Theile.  Geringere  Aus- 
bildung der  Muskel  ausätze,  besonders  Warzenfortsätze,  Schläfen-  und  Nackenlinie,  Leisten  am 
Unterkiefer,  Arcus  superciliares  (letzteres  als  Ausdruck  des  schwächer  entwickelten  Athem- 
apparats).  Endlich  zeigen  sich,  entsprechend  der  grösseren  Hinneigung  des  weiblichen  Schädels 
zum  kindlichen,  die  Verknöchorungspunkte,  die  Tubera  frontalia  und  parietalia,  in  der  Regel 
beim  erwachsenen  Weibe  viel  deutlicher  als  beim  Manne  entwickelt.* 

.Die  charakteristische  Physiognomie  des  weiblichen  Schädels  liegt  ausser  in  den  oben 
erwähnten  Eigenthümlichkeiten  der  Oberfläche  und  der  geringeren  Grösse  namentlich  in 
folgenden  Merkmalen: 

1.  in  der  Kleinheit  des  Gesichtstheiles  im  Verhältniss  zum  Himschädel.  Der  weibliche 
Charakter  ist  in  dieser  wie  in  mehreren  anderen  Beziehungen  zugleich  der  mehr  kindliche, 
das  Weib  steht  zwischen  Mann  und  Kind; 

2.  im  Ueberwiegen  der  Schädeldecke  über  die  Schädelbasis; 

3.  in  geringerer  Höhe  des  Hirnschädels; 

4.  in  einer  grösseren  Flachheit  des  Schädeldaches,  insbesondere  der  Scheitelgegiad* 


)ie  secundären  Geschlecbtscbaraktere  bei  den  europäiBchen  Weibem. 


13 


h,  AxiA  dem  Ueberwiegen  der  Scbädeldecke  Aber  die  Bcbädelbosis  resuUirt  unter  anderem 
iii«  Bildimg  der  Stirn,  die  man  in  gleicher  und  noch  stärker  aasgeprägter  Wei«e  auch  beim 
findet,  nämlich  eine  senkrechte  »Stellung  derselben,  die  bei  diesem  selbst,  über  die 
echte  Linie  hinausgehend  ^  oben   stärker  hervorragt  als  unten.     Dieses  gerade  8timprofil 
itht  dem  weiblichen  Kopf  etwas  entschieden  Edles. 

6,  Der  flache  Schädel  pfiegt  ziemlich  plötzlich  in  die  senkrechte  Stimlinie  überzugehent 
duts  drr  üe bergan g  von  Stirn  in  Scheitel  nicht  in  einer  Wölbung,  sondern  in  einem  leichten 
rinkel  stattfindet.  In  übnücher  Woise,  wenn  auch  minder  ausges^procben,  geht  in  einer  Art 
rinkliger  Biegung  der  flache  Scheitel  in  das  Hinterhaupt  über  (deutlicher  bei  brachyceijhaieD 
aU  bei  dolichücepbalen  Schädeln).*  Der  weibliche  Typus  entsteht  dadurch,  daas  der  kindliche 
über  die  Grenzen  der  Kindheit  hinaus  per«iatirU 

FOr  den  deutschon  Weiberschädel  macht  Weisshach^  folgende  Angaben: 
«Aus  diesen  zahlreichen  Untersuchungen  ergeben  sich  schlieislich  folgende  Geflchleobta- 
lifljnlichkeiten  des  deutschen  Weibersch&dels: 

1.  Der  ganio  Schildel  ist  absolut  kleiner  und  leichter,  mehr  in  die  Breite,  aber  weniger 
üe  U5he    entwickelt,    bat  eine  relativ   schmälere  Basis,    in  der  sagittalen   Richtung  im 
lanzen  eine  tlachere,  dagegen   in  der  queren  eine  stärkere  Wölbung   als  der  Mitnnorschädel. 


kJItdM  weibliche  OcscbI«!clit  cLoxakterlsttfchcn  groMen  medlaaen  8clitieidasähii«  dss 
b«l  einer  Jungen  Ü  est  erreiche  rin.    (Nftcli  Pbotograpble.) 


SL  8«iii  Vorderbaüpt  ist  kleiner,  wohl  ebenso  lang  wie  beim  Manne«  dafär  aber 
•duttiJerv  in  sagittaler  Richtung  viel  stärker,  in  qaerer  oder  horizontaler  aber 
gokrümmt :  seine  StimhOcker  liegen  rQcksichtUch  der  Länge  des  Schädels 
vlwai  weiter  ans  einander,  hinsichtlich  seiner  grösseren  Breite  aber  näher  beisammen,  im 
iTerhiltiiij«  tu  welcher  äl)erhaupt  alle  Breitenmaasse  des  Vorderhauptes  viel  kleiner  alt  beim 
na  vind. 

8.  Dm  durch   seine   überwiegende  Breitonentwickelung  die  gr(5ssere  Breite  des   ganzen 
iels  h^MÜmmande  Mittelhaupt  dürfte  eben  deshalb,  trotzdem  es  kürzer  und  niedriger  als 
iche  ist,  dieses  an  Grösse  übertreffen;  ausserdem  hat  es  eine  flivchere  SagittalwOlbung, 
ttnd   in  ijueror  Richtung    stärker   gewölbt©    Scheitelbeine,    deren  Tubera    weiter    aus 
abor  tiefer  unten  liegen  und  einen  Scheitel  (den  Raum  «wischen  Stirn  und  Scheitel- 
bdclwr),  welcher  kdrzer  und  breiter,  nach  vom  hin  mehr  verschmälert  und  in  jeder  Hichtung 
»ur  t^--  i"n  Scheitelhöckem  etwas  stärker  gewölbt  ist.     Die  Kcilschlafen fläche 

J4mer  •;  o^,    nur  ist  »ie  an  der  Schläfenschuppe   niedriger,  die  seitliche  Wand 

ab«f  b1  Ungiir  und  lu  horixontaler  Richtung  stärker  gewcVlbtv 


'itf    li 


i^HHib 


bmM 


14 


I.  Die  anthropologische  Aaftassiuig  des  Weibei. 


4.  Das  Hinterhaupt  des  weiblichen  Sch&dels  steht  ganz  im  Gegensatie  zum  Vorder-  und 
Mittelhaopte,  indem  es  sich  durch  grossere  Höhen-  und  L&ngenentwickelung  bei  gleicher  Breite 
von  dem  männlichen  unterscheidet,  dieses  aber  an  relativer  Grösse  fibertrifft;  nur  relativ  zur 
Sch&delbreite  ist  es  ähnlich  dem  Vorderhaupte  schmäler.  Sein  Zwiachenscheiteltheil  (Recepta- 
culam)  ist  viel  länger  als  beim  Manne.  Seine  Wölbungen,  welche  sich  in  ihrem  Verhalten 
mehr  dem  Mittel-  als  Vorderhaupte  anschliessend  differiren  von  jenen  des  Mannes  dadurch,  dass 
die  aagittale  flacher,  die  schräge  und  quere  aber  stärker  sind. 

5.  Die  Schädelbasis  des  Weibes  ist  schmäler  und  kQrser,  hat  ein  längeres  Grundstock 
^pars  basilaris),  ein  kleineres,  etwas  schmäleres  Hinterhauptsloch,  näher  an  einander  gerückte 
Tor.  fltylomastoidea,  aber  weiter  von  einander  entfernte  For.  ovalia. 

6.  Das  weibliche  Gesiebt  ist  im  Verhältniss  zum  Gehimschädel  in  allen  Dimensionen 
kl'^iner  als  das  männliche,  mehr  ortbognath,  niedriger  und,  entgegen  dem  breiteren  Gehim- 
achädel,  schmäler,  nur  oben  breiter,  unten  aber  enger,  hat  eine  breitere  Nasenwurzel,  weit 
aufl  einander  liegende  Augen  und  grossere  höhere  Orbitae:  breitere  Oberkiefer  mit  kleineren, 
niedrigeren  Choanen  und  kürzerem,  aber  breiterem  Gaumen;  sein  Unterkiefer  ist  ebenfalls 
kleiner,  flachor  gekrfimmt,  hat  ein  breiteres  Kinn  und  kleine,  niedrigere  und  schmälere  Aeste, 
welche  aber  untor  einem  grösseren  Winkel  am  Körper  eingepflanzt  sind. 


Fit;.  11-    I'iA  fiM'  'la-«  wt-il;li<hc  (reHClilerlit  charakturistischeii  grossen  medianen  Schneidezähne  des 
ninirkU-t-T-i  ii«-.!  'iinnr  .iunf^frn  Maurin  aus  Algier.    (Nach  Photographie.) 


Nor:)]  int  /.u  bomorki^n ,  dasH  die  einz.cincn  Maasse  des  Weiberschädeis  meistens  viel 
wpnifffr  indivirJij«;Ilon  V«'r}indurun((cn  uIh  heim  Manno  unterliegen/ 

Kiri  Hfihr  wichti^PH  rntorHchniduiigHmerkmal  zwischen  dem  männlichen  und  dem  weib- 
lichen Hcliildol  hat  iioiiordingK  Thietn  angegeben.  Der  Kaum  unterhalb  des  knöchernen 
ijehr^r^angi'H,  din  Komku  tyinpanico-Ht.vlo-niastoidca,  ist  beim  Weibe  erheblich  geräumiger  als 
beim  Manrin.  Dan  hat.  Hoinnn  (jrund  darin,  dass  das  Os  tympanicum,  welches  den  knöchernen 
<ifthöri;(ing  nach  vorn  und  unten  iiliNchliosst,  beim  Manne  tiefer  herabsteigt,  als  beim  Weibe. 
\U^\  dem  LntzifTcn  Hchlilgt  oh  Hieb  Hchon  auf  halber  Ilöho  des  Zitzen fortsatzes  nach  hinten  um. 

MorMfitli  konnte)  in  Hoziig  auf  das  ^iewicht  dcH  Schädels  constatiren,  dass  der 
männliche  SrhUilnl  nwhr  ü.\h  der  weibliche  wiegt.  Der  männliche  Unterkiefer  übertrifft  in 
noch  hnhcrorii  Gnidn  iiN  der  Schädol  den  weiblichen  an  Gewicht.  Dasselbe  findet  bei  den 
iiiithroponiorphen  Atfen  statt.  Auch  die  individuollen  Verschiedenheiten  im  Schädelgewicht 
und  in  noch  höherem  (trade  im  Gewichte  dos  Unterkiefers  sind  beim  Weibe  grösser  als  beim 
.Manne.  Von  allen  craniometrischen  («oscblcchtscharakteren  hält  MoraeUi  dai  Gewiohi  du 
Unterkiefers  für  den  wichtigsten. 


3>  Di0  secuodAroi  GeschlechUchArakiere  bei  den  europäischen  Weibern.  X5 

I^  Unterkiefer  wiegt  im  Hitiel: 

bei  Weibern     .  .  63  gr 

,    M&nnern     .  @0    ^ 

DifTecen« 17    , 

\^  in  Buna  bat  nacbgewieaeUf  dass  die  oberen  medianen  Schneide s&bne 
iMi  IfMeben  und  Frauen  nicht  nur  relaiiT,  sondern  absolut  breiter  siod^  als  diejenigen  von 
Knabeä  und  MUnnem  in  denselben  Lebensaltern,  ßei  bQ  Mädchen  und  50  Knaben  im  Alter 
ron  12  bif  15  Jahren  war  ilie  mittlere  Breite  der  genannten  Zähne  wie  1,33  (Mädchen)  zu 
1  ^Knaben)  Bei  12  Männern  aua  Zandvoort  in  Holland  fand  er  eine  Breite  ron  83  im 
Mittel»  waiirend  12  Frauen  8,8  hatten. 

Die*e«i  Verhalten  ist  gut  zu  sehen  bei  der  in  FJg.  ^0  abgebildeten  Oesterreicherin, 
QQd  bei  dem  Mjgchling  von  einem  Europäer  und  einer  Maurin  aus  Marocco  auf 
Taf  Vm  Fig  7. 


< 


^ 


rif.  IL    IM«  mr  ..rUtiÄCheij 

Obeilitefeii  bei  jungen  Ab>'SbiaieriaQi}n  ftu  llassaua. 


;  Na  eil  r iiü  1 0  (H^apliieO 


j)lM  ei  hier  aber  nicht  der  EinfluM  des  weiuen  Blutes  ist,  welcher  die  grossen  Zähne 
fen  hat^  sondern  dass  eich  dieselben  auch  bei  Weibern  anderer  R^me  finden,  das 
könnctt  wir  an  den  Fig,  11  and  12  ersehen,  welche  un»  eine  junge  Maurin  aus  Algier 
imd  ein  Paar  MMebeu  aus  Massaua  in  Abyasinien  vorführen.  Auch  eine  jugendliche 
P^noii  am  der  Sahara  und  swar  aus  Biskra  (Fig,  13)  lä^st  die  gleiche  Eigenthümliobkeit 
er^MiBflsi.  Ebenso  findet  sie  sich  auch  bei  einer  jungen  Samoanerin,  deren  Photographie 
l>r«  Hmmdif  aufgenommen  hat.  In  Fig.  14  gebe  ich  das  Portrait  einer  jungen  JaTanin. 
an  wdcbar  Axts  gleiche  Verhalten  zu  sehen  iat.  Es  scheint  daher  in  Wirklichkeit  über  den 
gmftt€ii  EnUcreiM  verbreitet  %\i  eein. 

Pdul  hdridi  bat  sich  der  Mübe  unterzogen,  sämmtlicbe  anatomischen  Eigenth&mlich- 
k«tMi  d«i  äehädfll»,  welche  bei  dem  weiblichen  Geschlecht  t^ich  andere  Terhalten  sollen  als 
Iwi  djun  ^'  lier    genauen   Nachprüfung   an  G85  Mlumerschädeln   und  405  Weiber- 

Ja  r.  .  Kr  hat  f.n  diesen  Untersuchungen  ansBchlieslich  nur  solche  Schädel 

et»  aber  dtifidii  UeMchlecht  kein  Zweifel  bestand.     Dabei  kommt  er  eu  dem  Ergebnis!, 


h  ->ii  -rri-Mn  m 


ilBto 


L  Die  anthropologische  Atiffas&u&g  dm  Weihes. 

da^s  alle  etwa  anzuerkennenden  Unterschiede  nicht  aosnahmglos  bei  allen  Sch&deln  Daohg 
wiesen  werden  können^  sondern  da$$  dieselben  nnr  an  der  Mehrzahl  derselben  su  heobaohl 
sind,  Da  nun  aber  von  diesen  aufgestellten  Normen  sich  bald  geringere,  bald  gHSaser»  A^ 
nahmen  erweisen,  so  muss  eine  sichere  Diagnose  irgend  Miies  Schädels  in  Besag  auf* 
Geschlecht  zur  Zeit  für  unmöglich  erklärt  werden.  Dabei  leugnet  er  aber  nichi»  diwa  ' 
fahren«  Untersuoher  höchst  wahxBcheinlicb  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  licbtige  Diftgaa 
stellen  werden. 


18 


I.  Die  anthropologische  AnfTaasung  des  Weibes. 


schlecht  bedingt.  Die  Weiber  haben  ausserdem  ein  absolut  und  relativ  kleineres  Geeicht  und 
einen  geringeren  Durchmesser  des  Schädels;  die  Indices  des  letzteren  scheinen  sich  dagegen 
bei  beiden  Geschlechtern  wechselnd  zu  verhalten.  Alle  diese  Differenzen  beruhen  auf  der 
geringeren  Grösse  des  Weibes;  jedoch  findet  die  geringere  Mächtigkeit  des  Gebisses,  der  mehr 
zugespitzte  Zahnbogen,  die  geringere  Ausbildung  der  Glabella  und  der  Augenbrauenbögen 
und  das  Ueberwiegen  des  Sagittaltheiles  des  Schädels  Aber  die  Basis  beim  Weibe  durch  diesen 
Umstand  keine  Erklärung. 

Eine  Reihe  von  anderen  Merkmalen,  aus  denen  verschiedene  Autoren  den  männlichen 
oder  weiblichen  Schädel  diagnosticiren  wollten,  hat  Paul  Bartels  als  nicht  hinreichend  sicher 
erfunden.  Ich  kann  dieselben  hier  übergehen.  Auch  glaubt  er,  dass  ein  zu  geringes  ße- 
obachtungsmaterial  leicht  Unterschiede  vortäuschen  könne,  die  bei  einem  reicheren  Zuflieasen 
desselben  sich  als  nicht  stichhaltig  erweisen  würden.  Darum  kann  man  eine  Eigenschaft  als 
einen  Geschlechtscharakter  nur  dann  anerkennen,  wenn  eine  Täuschung  durch  das  Material 
und  die  Zahlen  ausgeschlossen  ist  und  wenn  sie  sich  in  übereinstimmender  Weise  bei  allen 
untersuchten  Völkern  durchgehends  findet. 

Nach  Batike  ist  das  weibliche  Ohr  feiner  modellirt  und  es  zeigt  weniger  Abweichungen 
vom  allgemeinen  Formentypus  als  das  männliche. 

Einen  ganz  besonders  augenfälligen  Unterschied  zwischen  dem  männlichen  und  dem  weib* 
liehen  Geschlechte  finden  wir  an  dem  knöchernen  Becken.  Das  kni^'sheme  Becken  desselben 
ist  nicht  allein  breiter  als  das  des  Mannes,  man  vergleiche  Fig.  15  und  16,  sondern  es  stehen 
auch  in  Folge  dieser  grösseren  Breite  die  Gelenkpfannen  weiter  aus  einander.  Hiermit  ist 
femer  eine  grössere  Convergenz  der  Oberschenkelknochen  gegen  das  Knie  hin  verbunden;  eine 
entsprechende  Divergenz  der  Unterschenkel  gegen  die  Füsse  hin  compensirt  wiederum  diese 
Stellung  und  Richtung  der  Oberschenkelknochen  und  verleiht  dem  Körper  die  erforderliche 
Stetigkeit.    Der  ganze  Bau  des  Beckens  macht  das  Weib  zum  Gebären  geeignet. 


Fig.  15.    Die  Oesclilechtsanterschiede  am  knöchernen  Becken  (nach  Hoffmann), 
Weiblich.  Männlich. 


Luschka  sagt:  «Die  Beckenregion  bietet,  auch  wenn  wir  von  den  an  ihre  Aussenseiten 
geknüpften  Sexualorganen  vorerst  absehen ,  nicht  geringe ,  ihren  Gesammthabiius  betreffende 
Geschlechtsunterschiede  dar,  welche  innig  mit  der  Art  der  Antbeilnahme  am  Gattungs- 
loben  zusammenhängen.  Beim  Manne  wird  der  Raum  des  Beckens  nur  in  höchst  beschränktem 
Maasse  durch  das  Volumen  und  die  Thätigkeit  der  Geschlechtswerkzeuge  in  Anspruch  ge- 
nommen, indem  sie  grösstentheils  nach  aussen  von  ihm  verlegt  und  nur  ganz  vorübergehend 
beim  Geschäfte  der  Fortpflanzung  interessirt  sind.  Damit  steht  es  im  Einklänge,  dass  sein 
Gebiet  auch  äusserlich  einen  beschränkteren  Umfang  besitzt,  der  sich  zunächst  in  einer  ge- 
ringeren Hüftenbreite  und  in  einer  nach  allen  Seiten  hin  viel  schwächeren  Wölbung  und 
Abrundung  bemerklich  macht.  Dieses  Verhältniss  kommt  um  so  stärker  zur  Ausprägung,  als 
beim  kräftig  entwickelten  männlichen  Typus  eine  bedeutende,  auf  einen  gössen  Brustumfang 
hinweisende  Schulterbreite  damit  concurrirt,  wodurch  gleichsam  das  Ueberwiegen  des  indivi- 
duellen über  das  Gattungsleben  ausgedrückt  wird.* 

,Nach  einem  wesentlich  anderen  Maassstabe  ist  beim  Weibe  das  Becken  aufgebaut, 
indem  dieses  nicht  allein  zahlreichere  und  theilweise  einer  beträchtlichen  Vergrösserung  unter- 


3.  Die  secnndären  GeschlechUcharaktere  bei  den  europäischen  Weibern. 


19 


liegende  Eingeweide  zu  beherbergen  hat,  sondern  auch  darauf  angelegt  sein  mnss,  der  volu- 
minösen reifen  Leibesfrucht  den  Durchgang  durch  seine  Höhle  zu  gestatten.  Das  ihm  ent- 
sprechende Gebiet  ist  demgem&ss  durch  einen  viel  grösseren  Umfang  charakterisirt,  welcher 
namentlich  in  der  Quere,  aber  auch  in  der  Richtung  von  vorn  nach  hinten  sehr  vorwiegt, 
dagegen  in  den  Höhendimensionen  im  Vergleiche  zum  männlichen  Becken  nicht  wenig  zu- 
rflckiteht.  Die  gegen  die  Protuberantiae  trochantericae  in  viel  höherem  Grade  zunehmende 
Hüftenbreite  verjüngt  sich  am  schön  gebauten  Frauenkörper  nach  oben  fast  plötzlich  in  eine 
schlanke  Taille,  während  sie  am  seitlichen  Umfang  nach  abwärts  unmerklich  in  die  ausser- 
ordentlich dicken,  abgerundeten  und  stark  convergirenden  Oberschenkel  übergeht.  Die  weib- 
liche Beckenregion  ist  nach  allen  Seiten  hin  auffallend  stark  gewölbt,  was  nicht  allein  in 
gewissen  Skelettverhältnissen,  sondern  auch  darin  begründet  ist,  dass  die  Muskulatur  auf  einen 
verhältnissmässig  kürzeren  Raum  zusammengedrängt  und  von  einem  überall  mächtigeren  Fett- 
polster umgeben  wird." 


Fig.  16.    Die  Oeschlechtsanterschiede  am  knöchernen  Becken  (nach  Koffmann). 
Weiblich  (von  oben  gesehen).  Männlich  (von  oben  gesehen). 


Hennig^  äussert  sich  über  das  kindliche  Becken  folgendermaasson : 

«Die  Darmbeinschaufeln,  deren  Wölbung  später  das  Charakteristische  des  Frauenbeckens 
ausmachen  hilft,  sind  bei  neugeborenen  Mädchen  noch  knabenartig  steil.  Das  Geräumigere 
des  weiblichen  kleinen  Beckens  ist  zunächst  in  der  Vorderwand  angelegt  (breitere  Schooss- 
fnge,  mehr  abgerundetes,  ausgeschweiftes  Sitzbein);  die  Hinterwand  ist  zunächst  beim  Knaben 
breiter  wegen  der  von  vom  herein  kräftiger  angelegten  Wirbelsäule.  Im  siobonten  Lebens- 
jahre erst  verbreitert  sich  das  weibliche  Kreuzbein  und  ist  der  Hauptträger  der  wichtigen, 
die  Europäerin  so  vortheilhaft  auszeichnenden  Querspannung  des  Beckengürtels.' 

Die  Geschlechtsdilferenz  am  knöchernen  Becken  schildert  Hartmann^  mit  folgenden 
Worten: 

«Die  Geschlechtsverschiedenheiten  des  Beckens  bilden  sich  erst  mit  der  Pubertätsent- 
wickelung aus.  Manchmal  verzögert  sich  die  Ausbildung  der  typischen  Charaktere  des  weib- 
lichen Beckens  bis  zur  ersten  Schwangerschaft.  Letzteres  Becken  ist  nun  niedriger  und  weiter 
als  das  männliche.  Seine  Darmbeinschaufeln  sind  flacher,  weniger  tief  ausgehöhlt,  wogegen 
diejenigen  des  Mannes  steiler  sind,  oben  und  innen  mehr  wie  ausgegraben  ei-scheinen.  Der 
weibliche  Beckeneingang  ist  grösser,  der  gerade  Durchmesser  desselben  ist  länger.  Diese 
Oeffhnng  ist  beim  Weibe  quer-elliptisch,  beim  Manne  dagegen  kartenherzförmig.  Das  weib- 
liche Kreuzbein  ist  breiter,  vom  weniger  concav.  Das  Promontorium  springt  weniger  stark 
vor,  die  Spitse  des  Sacrum  springt  mehr  zurück.  Das  Steissbein  des  Weibes  ist  beweglicher 
all  das  männliche.  Am  weiblichen  Becken  weichen  die  absteigenden  Sitzbeinäste  mehr  nach 
aoseen,  wogegen  dieselben  beim  Manne  steiler  niederwärts  ziehen.  Die  weibliche  Beckenhöhle 
ist  weiter.  Die  Tubera  ischii  des  Weibes  stehen  dann  auch  weiter  von  einander  entfemt. 
Sitzbeine  und  Schambeine  bilden  am  weiblichen  Becken  stumpfere,  am  männlichen  dagegen 
spitzere  Winkel,  so  dass  der  Schambogen  am  ersteren  sich  erweitert.  Der  Fugenknorpel  (Sym- 
physe) an  den  weiblichen  Schambeinen  ist  niedriger  und  dicker,  an  den  männlichen  höher 
nnd  dünner.  Der  weibliche  Beckenausgang  ist  grösser  als  der  männliche.  Die  Abstände  der 
Pfannen  des  weiteren  weiblichen  Beckens  sind  grösser  als  an  dem  engeren  männlichen  gleich- 
artigen Knochengebilde.    Das  weibliche  Foramen  obturatorium  ist  breiter   und  elliptisch,  das 


20 


L  Die  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 


männliche  aber  ist  enger  und  dreieckig.    Alle  Knorpel  und  Bänder  des  Weiberbeckene  and 

dehnbarer  als  die  des  männlichen.* 

Besonders  genaue  Angaben  über  diesen  Gegenstand  verdanken  wir  dem  französischen 

Anatomen  Sappey;  sie  mOgen  ausführlich  hier  ihre  Stelle  finden. 

,Du  bassin  comparö  dans  les  deux  sezes. 
a.  Diff^rencefi  relatives  äTöpaisseur  des  parois,  auz  bords  et  anx  saillies 

de  la  cavit^  pelvienne.     Sous  ce  triple  point  de  vue  le  bassin  de  Thomme  Temperte  sur 

celui  de  la  femme.  L'observation  noos 
montre  que  chez  lui  la  charpente  osseose 
est  plus  fortement  constitu^.  Le  sacnun 
et  les  08  de  la  hauche  n*^happent  pas  k 
la  loi  g^nörale:  lour  partie  centrale,  lenis 
bords,  leurs  angles,  toutes  les  apophjtes 
qui  les  surmontent,  diffi^nt  tr^-sensible- 
ment  dans  les  deux  sexes.  A  leur  centre, 
les  fosses  iliaques  deviennent  si  minoes 
dans  le  seze  feminin,  qu*elles  sont  trans- 
parentes, döpressibles,  et  parfois  perfo- 
r^es:  le  corps  des  pubis,  les  branches 
ischio-pubiennes,  sont  aussi  beaucoup  plus 
aplatis;  la  circonförence  supMeure  et  la 
circonf^rence  införieure  du  bassin  sont 
plus  minces,  les  saillies  osseuses  sont  plus 
petites.  Dans  le  seze  masculin  les  os  qui 
forment  cette  cavit^,  les  os  iliaques  surtout, 
sont  plus  volumineuz,  plus  solides  et  plus 
lourds.  Vojez  chez  lui  Töpaisseur  des 
erstes  iliaques;  comparez  chez  Tun  et 
Tautre  les  ^pines  de  ce  nom,  les  tubäro- 
Sites  iliaques,  les  tubörosit^s  de  rischion, 
le  bord  interne  des  branches  ischio-pubi- 
ennes,  les  angles  des  pubis  et  leur  brauche 
horizontale:  d'un  cöt^  se  pr^ntent  des 
bords  et  des  saillies  qui  dönotent  un  Sys- 
teme musculaire  faible;  de  Tautre,  des 
bords  epais  et  des  saillies  volumineuses 
qui  annoncent  des  musdes  plus  puisaants. 
Le  bassin,  se  trouvant  en  rapport  dans 
chacun  d*euz  avec  les  mßmes  muscles,  et 
donnantattache  auz  mSmes  tendons,  devait 
präsenter,  et  pr^nte  en  effet  toutes  les 
diff^rences  qui  d^coulent  de  Tinög^  d^e- 
loppement  de  Tappareil  locomoteur  dans 
les  deax  sezes. ** 

,b.  Difförences  relatives  ^Tin- 
clinaison  du  bassin.  Nous  avonsvu: 
10  qne  cette  inclinaison  est  mesur^  par 
Tangle  que  forme  le  plan  de  chaque  d4- 
troit  avec  un  plan  horizontal  prolong^  de 
la  partie  inf^rieure  de  ceuz-ci  vers  le  sac- 
rum;  2^  que  cet  angle  chez  la  femme  est 
de  10  ä  11  degres  pour  le  dötroit  inf6- 
rieur,  et  de  60  pour  le  d^troit  supörieur. 
Naegele,  auquel  la  science  est  redevable 
de  ces  deuz  evaluations   fond^es  sur  des 

donnees  precises  et  tr^-nombreuses,  n'a  pas  ^tendu  ses  recherches  au  seze  masculin.* 

,Les  fr^res  Weber  considärent  Finclinaison  du  d^troit  sup^rieur  comme  k  peu  pr^  ^gale 

dans  les  deuz  sezes.  L*observation  me  semble  au  contraire  etablir  qu*elle  est  un  peu  moindre 

chez  rhomme.    Pour  obtenir  des  r^ltats  comparatifs,  j'ai  suspendu  contre  un  mur  vertic«! 

des  troncs  appartenants  k  Tun  et  k  Tantre  seze;  puis  abaissant  jusqn^au  mar  une  ligne  hon- 


Fig.  17.    Skelett  eines  Mannes.    (Nach  7-  Cioquet.) 


Die  seoundlLreii  Gflscblechtscharaktere  bei  den  europ&iBcben  Weibern. 

sootal«  qui  rmmdl  la  sympbyse  de«  pubb  et  qai  iraTerBoii  le  sacruin,  j*ai  mesure  Tangle  qne 
forauui  ceito  tige  nvec  le  diamf^ire  flocro-pubien:  il  a  rtme^  pour  hi  femme,  de  54  A  6^  degres; 
•i  ponr  llunttnie^  de  49  ii  60.  II  serait  done,  en  moyenne,  de  58  degres  poor  l*une,  et  de  54 
povr  rantro.  Mes  recbercbes,  it  est  vrai,  n'ont  porte  que  mir  six  hommes  et  autant  de  femmes. 
ün  ]>ttM  gnuid  nombre  d'observationa  serait  peiit>^ire  ndoeuaire  pour  r^soudre  cette  qnesiion 
iTuam  mani^re  ngoureuse  et  deünitive.* 

yC*  Differences  relatives  aux  dimenaions  du  bassin.  Cbe%  la  femme,  le  diar 
tiMrtro  ^ienda  de  l'une  h 
Taxitf«  ctM«  iilaque  eet  plo« 
long  qu«  ebaz  [liomme; 
mm»  oeJiii  qni  se  port«  de 
la  eröte  iliaqne  » la  tubero- 
cii^  de  riiühion  eai  plan 
cotirt,  Le<idimeiiftioii«tranB- 
rfirtaie»  comparees  dans  let» 
deox  msm  ditTerent  en 
moji»fii>i!  de  5  inillimiNtres 
•etilea}«iit ,  et  Icss  Terttailea 
fU  10  a  15.  C«  qae  le  sßjte 
niai^ttlta  pord  du  c6te  de 
la  larg«tuv  il  le  retrouve 
HC,  et  ao  delä^  du  edt^ 
\m  bttütiiur.* 
•QnaT^*  t"-  ■<  "lension» 
aUro  -  f  .    eile« 

DOlaila«!  un{>ri]  |Ptu»Coniri- 
difitmblai  obos  la  femme,  ii 
Tun  edndd^re  sealement 
reica^alioo  pfllvtenne ;  niaiii 
iiaiin  oi&ent 
rdantleaexe 
iBMCiiiiA ',  «i  c>ette  diJf^renoe 
d*iyai«Nnir  compenee  la 
dcffifimca  dm  eapacit^/ 
«De  Im  pr^d&minance 
n^Rjiioti^  Uaiuvonuile« 
i  feniine  di^coute  tonte 
de  dißerencee  le- 
I.  Le  detroit  tiip6- 
«'&Uoogeant  duus  le 
I  Miu«  band  ^  pri^ndre 
^allii  uni;  tigure  ellip- 
La  bramche  bori^^OD* 
ite  dei  pttbiti    t^lafit   plili 

lüSgU»,    h»   CÄV  lot- 

dm  »ont  plui  ^  les 

iltva  fömoraJei  pluä  tloig- 

mim^  Im  girnndi  trocbaniers 

|diu   eaiJlanitf,   \m   f^murs 

plaa  oblique«  f   le«  genonx 

ploi  mpprocb^a.  De  r<^oar- 

teoMctt  d«t  grand«  troeban- 

itn  rteilte.   ponr  ce  äeze, 

OB  nado  de  d^ambulation  pariicuH^re  dont  quelques  anteurs  oni  donne  ane  idee  vmie,  maii 

«iag«r^,  en  le  comparanl  a  celui  des  palmip^dee.* 

»d.  Difff^rences  rolatives  k  la  conftgaration.    Pannt  cea  difiP^rence«,   les  unes 
«e  ralLacbent  au  grand  ba«ssin,  les  autres  au  petit  basstxu* 

«Le  grand  baantü    est  trea^^vaa^    dans  le  s«ze  feminin;    lei  foaies  iliaques  sont  6i 
«rftee  lUaiqQeii  dtget^^en  en  debors  et  peu  «inuease«.    iMn«  le  «exe  mavculiii.  loi  toi 
momi  plo«  eoüCATee;  lee  crOtes  de  ce  nom  ploa  contoom^  et  ploi  reler6eM/ 


Fig,  l^,    Skelett  eint»  Weibos. 


3.  Die  second&ren  Geschlechtscharaktere  bei  den  europäischen  Weibern. 


23 


,La  coiase  est  plus  longne  chez  Thomme  que  chez  la  femme  de  trois  centimetres.  Cette 
diffi§rence  est  doe  en  partie  k  la  direction  du  pli  de  Tatne  qui  est  rectiligne  et  afacendant 
•chei  Ton,  curviligne  et  non-ascendant  chez  Tautre  dans  la  moiti^  interne  de  son  trajet,  d'oü 
11  suit  que  dans  le  sexe  masculin  le  milieu  du  pli  est  presque  toujours  plus  ^lev^  que  la 
Symphyse  pubienne,  tandis  que  dans  le  sexe  feminin  ce  milieu  et  la  Symphyse  sont  situ^s 
8ur  le  mßme  plan.* 

Waldeyer^  sagt  in  seiner  soeben  erschienenen  Monographie:  «Das  Becken  des  Weibes 
ist  niedriger  und  geräumiger,  seine  Darmbeinschaufeln  liegen  flacher,  der  Schambeinwinkel 
ist  erheblich  grösser,  mehr  einem  Bogen  als  einem  Winkel  gleich. '^  Die  Geschlechtsunterschiede 
am  Becken  stellt  er  in  folgender  Tabelle  zusammen: 


Beckentheil 

Mann 

Weib 

Kreuzbein 

relativ  schmäler; 

relativ  breiter. 

Kreuzbein- 
Krümmung 

im  ganzen  stärker; 

im  ganzen  geringer,  im  oberen  Ab- 
schnitte jedoch  etwas  stärker. 

Promontorium 

stärker  vorspringend; 

weniger  vorspringend. 

Steisibein 

häufiger  5Wirbel ;  dieVerknöcherung 
der  Synchondrosen  tritt  früher  ein ; 

häufiger  4  Wirbel;  die  Synchondrosen 
bleiben  länger  erhalten. 

Symphyse 

höher;   bei  Neugeborenen  schmäler 
als  hoch  oder  gleich; 

niedriger;  bei  Neugeborenen  breiter 
als  hoch. 

Gelenkspalt 

seltener; 

häufiger. 

Angulus  pubis 

steiler    (70— 70,95  <^) ,    mehr    einem 
Winkel  gleich,  Angulus  pubis; 

weniger  steil  (90— 100  <^),  mehr  einem 
Bogen  gleich,  Arcus  pubis. 

Tubercnla  pubica 

näher  beisammen; 

weiter  abstehend. 

Ansätze  der  Mus- 
culi graciles 

näher  beisammen; 

weiter  von  einander  abstehend. 

Rami  inferiores 
oasis  pubis 

mehr  gerade  laufend; 

nach  aussen  (vom)  umgeleg^. 

Foramen  obtu- 
ratorium 

höher,  mehr  eiförmig,  Canalis  obtu- 
ratorius  enger; 

niedriger,  fast  dreieckig,  Canalis 
obturatorius  weiter. 

Ol  ilium 

steiler    gestellt,    höher,    schmäler; 
Neigung  der  vorderen  Ränder  bei- 
der  Ossa   ilium    gegen    einander 
—  530- 

weniger  steil  gestellt,  niedriger, 
breiter;  Neigung  gegen  einander 
=  500. 

Cristae  iliacae 

dicker,  rauher; 

schmäler,  weniger  rauh. 

Acetabula 

näher    beisammen,    weniger    nach 
vom  schauend; 

weiter  aus  einander  stehend,  mehr 
nach  vom  schauend. 

Eingang  zum 
kleinen  Becken 

mehr    dolichopelisch ,     Querdurch- 
messer geringer  (geringere  Quer- 
spannung) ; 

mehr  platypelisch,  Querdurchmesser 
grösser  (grössere  Querspannung). 

Beckenausgang 

schmäler,  Kreuzbein  und  Steissbein 
mehr   vortretend,   Tubera   ischi- 
adica  einander  näher  stehend; 

breiter,  Kreuzbein  und  Steissbein 
mehr  zurücktretend,  Tubera  ischi- 
adica  weiter  von  einander  ab- 
stehend. 

Beckenhöhle 

im  ganzen  enger  und  höher,  nach 
unten    mehr    trichterförmig    ge- 
staltet; 

im  ganzen  weiter  und  niedriger, 
nicht  merkbar  trichterförmig. 

Indsura  ischiadica 
major 

niedriger,  mehr  oval  geformt; 

höher,  mehr  rundlich  geformt. 

Das  Femur,  der  Oberschenkelknochen   berührt  mit   dem  obersten  Ende   seines 
Sdufcftet  nicht  unmittelbar  die  Beckenknochen;  aus  der  medialen  Seitenfläche  dieses  obersten 


24 


I.  Die  aotbropola^pftche  Atifftiastitig  des  Weibes. 


Endes  entwickelt  «ich  vietmelir  ein  aeitb'cher^  starker  Knochenfort«&tz,  der  sogouBBle 
Scbenkelbalfl,  welcher  in  den  kugeligen  Schenkelkopf  ausläuft.  Dieser  Letztere  ist  ei.  der  dw 
Verbindung  des  Schenkels  mit  dem  Becken  horatellt.  Er  wird  durch  bestimmte  Finder- 
Apparate  in  der  Gelenkpfanne  des  ßeckeos  festgehalten  und  vermittelt  die  Bewegungen, 
welche  wir  mit  unseren  Beinen  gegen  den  Rumpf  hin  auszuführen  vermögen.  An  dc^m 
8eUenkelhaläe  sind  wir  im  Stande^  einen  h5chBt  belaogreichen  secundtlren  Ciescblecbt^charukter 
festzustellen.  Die  Längsachse  des  Schenkelhalses  bildet  nämlich  mit  derjenigen  des  Ohti' 
Bcbenkelschaftes  bei  dem  weiblichen  Geschlechte  beinahe  einen  rechten  Winkel^  w&brend  an 
dem  männlichen  Femur  dieser  Winkel  ein  stumpfer  ist.  Bei  den  Milnnem  i^t  daher  der 
Schenkelhals  bedeutend  scbriiger  nach  oben  gerichtet  als  bei  den  Weibern.  Dieter  n^ctindär« 
Geschlechtscbarakter  hat  vielfach  bei  archuolog'ischen  Forschungen  seine  i  -  '  '^  Bedeutung 
gefunden.     Denn  bei  der  Aufdeckung  von  vorgeschichtlichen  oder  frühg  tien  Skelett- 

gräbem  ist  es  wiederholentlich  mOgUch  gewesen,  auf  dieaes  anatomische  MtnKmai  gostAtxt  ein« 
sichere    Entscheidung  zu  treffen,  ob  die  hier  Bestatteten  Männer  oder  Weiber  goweeea  sind. 
Um  diese  Verb^ütniase   «ur  Anschauung    tu  bringen^    führe   ich  in  Fig.  17  das  Hkelett 
eines  krUO-igen  aSjährigen  Mannes  und   in  Fig.  18  darjenige  dner  gut  entwickelten  Frau  im 


Flg.  20.    KUgend«  Europäerin.    rN»ch  Photographie^ 


Alier  von  22  Jahren  vor.    Beides  sind  h5cbst  wahrscheinlich  Franzosen,    Die  AbbiUiungen 
sind  dem  grossen  anatomischen  Werke  van  Julfji  ('loquet  entnommen. 

Diese  anatomische  Eigenthümlichkeit,  dasa  der  Schenkelhals  beim  Weihe  dem  Ober^ 
schenke Iknochen  fast  rechtwinklig  angefügt  ist^  wilhrend  er  beim  Manne,  wie  genagt,  rlnen 
stumpfen  Winkel  bildet^  bedingt  es  nun  auch  wiederum,  dass  die  seitlichste  Partie  von  der 
obersten  Abtheilung  des  Obenchenkek  beim  Weibe  weiter  nach  aussen  von  der  Mitt^Tlinii» 
des  Körpers  liogt^  als  beim  Manne,  und  hierin  habon   wir  eine  fernere  Ursache  ?  <n, 

warum  die  MJlnner  von  dem  weiblichen  Geschlecht  in  der  Hf^ftbreite  übertrotfen  wf  i  ch 

alle  diese  vom  Becken  sowohl,  als  auch  am  Obertchenkol  rten  Eigenthi;  'i^a 

erkllirt  es  sich   nun  aber  auch,    das«    bei  den  normal   ontv.  i   Weibern    der  •  h* 

iueM6r    ihrer   [lüften    dt^njentgen    ilirer    Schultern    zu    ilbertreüen    pSegt,    wZLhrend    bei    dßn 
Mdooern  gerade   umgekehrt,  die  SchuUerbreite    beträchtlicher    als  die  Breite  der  llüflon  ist. 
Wir  sehen  dieses  gut  an   dem  jungen  norddeutschen  Mädchen,   das  in  Fig.  19  vorgeführt  { 
wiVrl      Auch  die  junge  Europfierin  in  Fig.  20  l2l»t  die«e  VerhilUui»se  deutlich  erkennen. 

vVeun  ein  Weib  die  Beine  so  an  einander  stellt,  dass  das  Knie  und  der  Uackeii  dar 
ftin»'n  Seite  die  entspr^  ^  ^^  ^  n  Partien  der  anderen  Seite  ^^     '  .     />i        *      rr^l- 

jKhall  eine  schrägen^  annehmen  als  bei  einem  Mi<  iL 

Daraus  resultirt  für  aiu  Wnb  ein  geringer  Grad   von  ph)>iiJiogi!?cijHr  A-tiemii^k^ 


3.  Die  secund&nn  CrMcblecbtecbaraktero  bei  den  earop&tscben  Weibern. 


25 


ileli  BOdb  •t«ig«rt,  wenn  dae  Knie  in  leichter  Beugung  vorwilrts  geschoben  wird,  wie  wir  das 
1%.  21  neben  können.     x\ueli  wenn  man  radelnde  Damen   von  Torn  betrachtet,  lä^ftt  sich 
mw  Verholten  dentlich  erkermen. 

Nsich  Fchlinff  boU  die  Weiblichkeit    am   Becken    sich   bereits    in  sehr  früher  Zeit   im 
i^enrleibe  untiingen  geltend  zu  machen,  nämlich  schon  in  derjenigen  Entwickelungsperiode. 
ekexi  zu  verkn5chem  he- 


Die  Haut   dee  Weibes  iit  in 
meuten  FlUlen  xarter  tmd  feiner 
fvad  g«wrjbnlieh  auch  am  einen  Far- 

die  iJumn^irinTieu- 

IH«  JtfJLnner  der  Tächnkt- 
•efafo  biiben«  wie  r.  Nordenskjtyid 
ikii^  «ine  braune  Haut,  wUhrend 
lat  htti  den  jungen  Tschnkt- 
kn .  Woibem  nahezu  ebenso  weiss 
rifitli,  wie  bei  den  Kuropöern 
Ihirch  ilh'5P  ^.'*.s^erti  Feinheit 
tliö  vosi- 
^  eben  Ge- 

eetilecliU}«  wnkhe  iladurcb  hervorge- 

^rnt'ier^     *Ä»*r1,n       .fn-i|    cJa9    Blut    lU    dem 

der  Haut    durch 

....    u;iiitdecken   der  Kran 

lundurchwshimmern    kann, 

dem     Manne.        Boi    «lein 

►  «iiiü  bekenn tJ ich  viele  Stell hti 

I  '  vr  Hä»e  mehr 

vanig^r  uirt,  wahrend 

Ideioon«      Jcüiüu     VVollharchen 

pint  ntilrrj^ennlneie  Holle  Kpie- 

"kehrt    i»^t  das  l>««i 

^ schlecht,  wo  nicht 

Woii bäreben    namentlich 

aten  KOrpervtellent  wie  an 

Fiiiigtm)^  dem  Hacken,  den  Vor- 

und    den    Unterechenkeln 

didbten    Flaum    bilden    und 

r Ahn! ich    in    Btärkerer  Aus- 

m  Blondinen  al«  bei  Brü- 


%r 


n. 


OetcbleebtaTerschiedenheiten  in 

Amt  Babaarung  treten  nach   Wal- 

imftr  , bereit«    im    Kindesalter    ituF; 

imiier    erreicbt    hier   in    iK 

wAcu   da*    Kopfhaar    der 

eiaa    grOwore    Länge     als     dtü«    Jor 

KnabeB«  auch    wenn    das  üoar    der 

lertsierea       nn  len        bliebe. 

Viy&im  Uaienci  bt  das  ganze 

htAtmtk  hindurch  bestehen.   Die  durch- 

fcliBiiiHcbe      tjpincbe     Länge     dos 

Frauenko[»niaare«  bolliuft  BJch  auf  58 
■  b^ '-  "  ^  '*""  'IHncttJfJ,  Meinen  Meteungen 

rid  auch  die  einxelneu  Haupthaare  der  Frauen  durcbicbniitlich  etwaa  dicker  als  die 
"il^.r  ,tiiuin*4>r,  wenigtteuji   in   Deutschland,     Die   Behaarung  dei   weiblichen  Körpers   ist  nie 

•o  am£atigr«icb    ali    die  des   männlichen.     Das  F r auenacha mbaor  bleibt  immer  kärger«  ttebt 
dkhief,  und,  wie  meine  Mewungen  ergeben  haben,  emtcbea  die  «inselnen  Haare  dttrcb- 


Fig,  21,    Die  X-Beinslellm»^  iUui  Weibes  Jmi  titiK : 

(waJinMjJieinlicb  Wienerin),    {ü%ch  Pbou^üi 


'jell!« 


26 


L  Die  anthropologische  AuffasHung  des  We 


ichaitilich  eine  grössere  Dicke,  Hier  stehe  ich  in  UehereinsiitnmQitg  luii  Pfüff,  ilocb  llii4o 
ich  den  durchschnittlichen  unterschied  nicht  so  hoträchtlich  wie  Ff  äff*  der  das  MSlnnencliAiti- 
hoar  z\x  0,11  mm,  das  Weiberschanihaar  zu  0,15  mm  angiebt.*  Äla  eine  Stelle,  welche  beiiii 
Manne  bisweilen,  beim  Weibe  niemals  Behaarung  trügt,  muss  die  noch  zur  Schnltergogmid 
gehörige  oberste,  seitliche  Abtheilung  der  Oberarme  bezeichnet  werden. 

Eine  ganz  bedeutende  Rolle  in  dem  ErnäbrungÄprocess  des  Körpers  spielt  die  Fett- 
hildung.  Wöhrend  nun  da«  männliche  Geschlecht  binyichtlich  der  Ernährung  mehr  ?n  einw 
kraftigen  Entwickelung  des  Knochen-  und  Muskels}  stema  neigt  zeigt  das  weiblicli  4it 

häufiger  eine  reichliche  Anlagerung  von  Fett,  dessen  Yertheilung  am  Körper    die  w^fo 

Formen  giebt.  Diese  Rundung  trägt  ohne  Zweifel  dann,  wenn  sie  in  den  normalen  Grenzen 
sich  zeigt,  stets  dazu  hei,  dass  uns  die  Formen  der  weiblichen  Gestalt  als  schön,  d.  h.  dem 
Ideale  weiblicher  Schönheit  möglichst  entsprechend,  erscheinen.  Dagegen  haben  filr  uns  alle 
jene  weiblichen  Figuren  etwas  besonders  Abstossendes,  welche  durch  aUzugro&^o  Magerkeit 
die  Rundung  der  Formen  vermissen  lassen;  dies  kommt  besonders  bei  den  Weibern  ver- 
schiedener Völker  schon  in  einem  Alter  vor^  wo  bei  uns  das  Weib  im  Allgemeinen  noch 
einer  gewissen  Blüthe  sich  erfrent  Hierhergehören  zumal  die  Hottentottinnen,  auch  dia 
Australierinnen  und  andere*     Dagegen  giebt  es  Völker,  bei  welchen  eine  übermHuig«  Er- 

sceugung  von  Fett  am  gesammteu  weiblichen  Kllrper 
etwas  ganz  Gewöhnliches  ist,  und  die  auch  dieso 
Üeberproduction  zu  fordern  suchen  (Neger  nnd 
einige  orientalische  Völker),  und  bei  noch  an- 
deren Nationen  (namentlich  in  Afrika)  icetcbnet  «ich 
der  weibliche  Körper  durch  AnsammJnng  von  F<^t* 
massen  an  gewissen  Theilen  aus. 

In  der  normalen  Entwickelung  des  ünterlmQi> 
fettes  haben  wir  einen  wichtigen  secnndämn  G#* 
äcblechtscharakter  bei  dem  weiblichen  Oeschl^chto 
7,ü  erkennen.  Die  Fülle  des  Nackens,  der  Schultern 
und  des  Busens,  die  Hügel  der  Brüste,  die  Hundtuig 
der  Hinterbacken  und  der  KxtremitAten  verdanken 
wesentlich  ihm  die  Entstehung.  (Man  sehe  Fig.  20.) 
Im  Verlaufe  dieser  Arbeit  werde  ich  noch  mandiM 
Beispiel  bierfür  anzogeben  haben;  und  von  den 
Bi-üaten  und  der  Becken region  wird  noch  ausfflKr» 
lieh  gehandelt  werden.  Es  ist  aber  auch  wesentlich 
das  Unterbau tfett,  welches  die  Form  der  Knioo  bei 
den  Mädchen  und  Frauen  so  ganz  anders  erschoinen 
lässt,  als  bei  den  Männern,  wie  dies  da«  ICafftr^ 
mitdchen  in  Figur  22  erkennen  IS??;!.  Aber  atioli 
die  massige  Rundung  und  :  'loatale 

Dicke  des  weiblichen  Obi  r  ceirea 

dos  Knie  hin  bötrJichtlich  verjüngt,   ver  m 

Unterhttutfelt  ihre  Entstehung.     Fig.  2;^.   ._tar 

ein  Beispiel  an.  Es  ist  ein  Maler mod eil,  das  wahr* 
scheinlich  aus  Wien  stammt.  Gerade  in  i*^^  '  m^-^. 
ruog  in  der  Hilngemattc  kommt  diese  oi- 

^*  •   •  — •  K.-j lichkeit  des  weiblichen  OberschankeU  so  ivtui  ucat- 

Üoh  zur  Anschauung. 
Es  kann   wohl  femer  als  bekannt  voii  i    werden,   dass  di6  gtsammte  Mu9C\j* 

Imtur  dt*8  Weiboa  eine  minder  krftftige  Eni  ^  zeigt,  als   dies   heim  Manne  der  Fall 

ist;  das  hat  tur  Folge,  das»  die  Bewegungen    uuki:Llt  '  ^ 

lieber  und  feiner,     her  üant^'    *\^n  W^'ibey    ist    mehr  ^m 


^«,  22.    1>W  T 
aod  Knk 


Laufi^ehritt  ist  das  Weib 

nische  Kfnrj^'btnnjr  dei 

«chwinti 

auch  <4i 

nichts  : 

tatur  d' 

wAhiand  lie  bei   dem  erwachsenen,    InUftig-on 


ndt  ai»  der  Mann,  und 

i»  dem  w. 
^  \Veil>e>' 
ey€r}j    W&gi 
on  Wwbes  noc 

V. 


Die  seoundiLreG  GeschlechUcbaraktare  am  Gehirs  der  enropSiaclien  Weiber. 


27 


GtiiAiamtiiiuacitlatur;  beim  Manne  aber  überwiegt  procentisch  die  Mnsculatur  der  Arme,  beim 
Weibe  diejenige  dor  Zunge.     fWahietjer.^) 

Aij»  dienern  VerhÄlten  der  Mueculatur  reaultiren   aber  «ehr  merlüicbe  Unterecbiede  an 

deo  !"  heil  en.   ßekannterma&ssen  bemerken  wir  an  den  Knocben  absonderliche  knotige 

Veril  Fortaatie,  Leisten  und  Yorsprünge.   Diese  sind  es,  die  die  Anfügung  der  Muskeln 

nad  ibrer  hehnen  an  die  Knochen  vermitteln,  und  aie  sind  um  so  beträchtlicher  und  um  so 

Ifer»  je  stärker  entwickelt  die  Musculatur  ist     Das  ist  der  Ürund,    warum  sie  bei  dein 

irtibUcben  Geechlechte  erheblich  kleiner  und  unbedeutender  Find,   als  bei  dem  männlichen, 

Aocb  in   den  Functionen  der  inneren  Organe   walten  groase  Differensen.     Was  die 

T'trdaiiiing  betrifft,  so  hat  die  Fran  geringere  Neigung,  Nahrung  aufzunehmen;  eie  kann  Hunger 

nd  Dwnt  leichter  ortragen.    Das  Her»  und  die  Blutgeföase  eind  im  männlichen  Körper  gröager, 

reit^r  nnd  dickwandiger  als  im  weiblichen.     ,In   runden  Ziffern   ausgedrückt,  hat  der  Mann 

Itiietn  Cubikmillimeter  Blut  5000000  rothe  Blutkörperchen»   das  Weib  nur  4500000.     Das 

Itcbe  Gewicht  des  weiblichen  Blutes  ist  geringer;  die  relative  Blotmenge  bei  beiden  Oe- 

■  ich,  doch  müssen  hier  noch  weitere  Untersuchungen  angestellt  werden. 

£ft  *r  i  nrchen  den  Körpergeweben   den  zum    Leben    noth wendigen    Sauerstoff 

i&u,  *o    UucLut    die  Wichtigkeit   dioees   Geachlecbtsunterscb jedes   ohne   Weiteres    ein.' 

%V    Die  Blutbtldung  scheint  im  Weibe  rascher  stattzufinden;  daher  erträgt  es  groase 

Hvtvvrlotta  lieii^ri  aJs  der  Mann,  und  ersetzt  auch  das  verlorene  Blut  raecher. 


» 9L    Die  Remlunf  dt^r  wf^MilicIien  (iliedmaa&seu  >j«I  «Itier  BoropieTin. 

üiwch  Photogtmphie.) 

WmMhaeh^  ermittelte  die  Häufigkeit  dee  Pulses  bei  einer  grösseren  Zahl  von  Völkern 
nd«  dasi  die  PulÄfrequen»  beim  Banne  bin  »u  8i»  beim  Weibe  bis  la  94  Schlägen  in 
lin iti«  betragen  kann. 
0«r  scbnelicnre  Puls  bei  dem  Weibe  enlq>richt  seiner  reizbareren  Natur,  der  Pulsuntor- 
beM4rt  10  bi«  H  Schläge  in  der  >1inutc.  Bei  gleicher  Körpergrösi^e  hat  die  weibliche 
tmigtt  \i  L}t«r  weniger  Capacität  als  die  männliche.  Nach  Scharling  verbraucht  ein  Mädchen 
10  Jahren  in  24  »Stunden  per  kg  0.22  gr,  ein  Ojäbriger  Knabe  0,25  gr  Kohlenstoff. 
O^wiuo  Differenzen  in  Gewicht  und  Grösse  einzelner  Organe  bei  beiden  Ge- 
hlechiem  fand  B^neckt:  Bei  Männern  übertrifft  da^  Volumen  der  Longen  jenes  der  Leber;  bei 
iiMB  «ber  iit  das  Umgekehrte  der  Fall;  femer  seigte  sich  bei  Männern  das  Volumen  beider 
liereB  k'*^    ^  ^         ^    des  Herzens,  Frauen  aber  erwiesen  das  Gö^eatheil. 

Dir  irn blase  ist  breiter  aU  diejenige  der  Männer,   namentlich  in    ihrem 

oberen  Thniie;  4;iiin  i^^t  sie  aber  von  vom  nach  hinten  mehr  verengt.  Ihre  Capacität  ist 
ftlüoliit  geringer,  a^  die  der  männlichen.  Ji\  JJoffmann  fand  dieselbe  im  Mittel  bei  52  lebenden 
Wfibem  «a  ^50  ccm,  bei  74  lebenden  Männern  tu  710  ccm;  bei  86  weiblichen  Leichen  be- 
tni|f  »M*  ^<*<>  **em  und  bei  lOö  männlichen  Leichen  735  ccm, 


4,  Dil-  Mruudaren  Gesiclilechtecharafctere  am  Gehirn  der  europäischen  Wei^r 

Unter  ikllun  inneren  Organen  nimmt  das  Gehirn  die  hervorragendste  Stelle  ein 
wmieiiÜicber  Bedeutung  »eheinen  mir  dskher  die  Befunde  über  Zu*  und  Abnahme  rjr 


28 


I.  Die  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 


gewichte  in  verschiedenen  Altersperioden  zu  sein.  Schon  im  Jahre  1861  hatte  Soyd  das 
Gewicht  von  2000  Gehirnen  im  Hospital  von  St.  Marylebone  je  nach  dem  Geechlechte 
verglichen,  wobei  er  fand,  dass  durchschnittlich  das  Gehirn  im  Alter  von  7 — 14  Jahren  bei 
Knaben  1622,  bei  Mädchen  1478  ge  wog;  allein  von  da  an  erreichte  das  weibliche  Oehim 
schon  im  20. — 80.  Jahre  sein  Maximalgewicht  (1565  gr),  das  m&nnliche  erst  im  30.— 40.  Jahre 
(1721  gr).  Bei  beiden  Geschlechtem  nimmt  nun  von  diesem  Maximum  an  das  (}ehim-Gewicht 
mit  jedem  Jahrzehnt  bis  zum  60.  Jahre  ab,  und  zeigt  nur  im  Alter  von  60 — 70  Jahren  ein 
zweites  Ansteigen,  und  zwar  bei  Frauen  in  stärkerem  Maasse  als  bei  Männern.  Eine  Hypo- 
these über  den  Grund  und  die  Folgen  dieser  Differenzen  aufzustellen,  scheint  mir  nicht  an 
der  Zeit  zu  sein. 

Topinard  sagt:  ,Ici,  chez  la  femme,  il  est  confirm^  par  les  chiffires  de  Broca  et  Bitehoff 
r^unis,  que  la  femme  souffre  plus  que  Thomme  d'un  accroissement  excessif  et  rapide  du  cerveaa 
avant  vingt  ans.  Ce  maximum  precoce  est  mSme  si  61ev^  dans  la  courbe  g^n^rale,  qn*on  n*en 
retrouve  pas  de  second  k  lui  opposer  plus  tard.  Doit-on  en  tirer  cette  consdquence  que  le 
cerveau  feminin  doit  §tre  trait^  avec  des  pröcautions  toutes  particuli^res  et  qu'il  ne  r^sisterait 
pas  par  cons^uent  ä  une  ^ducation  d^passant  ses  forces  c^r^brales?* 

Er  steUt  dann  folgende  interessante  Tabelle  zusammen,  ans  welcher  der  Unterschied 
zwischen  den  männlichen  und  weiblichen  Gehirnen  ersichtlich  wird: 


Autor 


es  « 

NO 


I    I 


Autor 


o' 

^ 

31 

i| 

1 

|£| 

1 
1 

1 

82 

1203 

374 

1176 

1  99 

1175 

422 

1178 

•  50 

1157 

'   85 

1111 

i 


a  ä 
e  ?  8 

5     * 


Gehirngewicht  von  ' 

20—60  Jahren.         ' 

■I 

Broca    (durchgesehene 

Liste  Wagners) ,    77 

Boyd  (Engländer) i  870 

Thumam   (Verschiedene)!  536 

Bischoff 272 

Peacock  (Schotten) n   89 

Welckei' ;258 

Broca-Bischoff-Boyd ,698 


1244 
1221 
1233 
1227 
1275 
1247 
1211 
1195 


Von  60—90  Jahren. 

Broca    (durchgesehene 

Liste  Wagners) 

Boyd  (Engländer) 

Wekker 

Thumam   (Verschiedene) 

Bischoff 

Broca  (Register)  . . . 


-126gr 

—  133  , 
-138  . 
-141  . 

—  142  , 
-143  , 

—  150  , 

—  164  , 

20—60  Jahren  hat 


—  123gr 

—  124  . 

—  125  , 

—  131  , 

—  150  , 

—  158  . 


also  126—164  gr,   im  Alter  von 


Broca  (Register) j   51 

Das  Weib   im  Alter   von 
60—90  Jahren  123 — 158  gr  weniger  als  der  Mann. 

Browne  hat  945  Männer  und  655  Weiber  auf  ihr  Gehimge wicht  untersucht  Die 
Männer  hatten  im  Mittel  eine  Körpergrösse  von  1,7  Meter  und  die  Weiber  von  1,5  Meter. 
Das  Gehirn  der  Männer  wog  im  Durchschnitt  1350  Gramm,  hingegen  dasjenige  der  Weiber 
nur  1222  Gramm.  Auch  wenn  man  die  Unterschiede  in  der  KörpergrOsse  mit  in  Berechnung 
zog,  so  war  das  männliche  Gehirn  noch  immer  29,71  Gramm  schwerer  als  das  weibliche. 

Ueber  die  ausserordentlich  wichtigen  Unterschiede,  welche  sich  schon  während  des 
embryonalen  Lebens  an  den  Gehirnen  der  beiden  Geschlechter  erkennen  und  nachweisen  lassen, 
hat  uns  Rüdinger'^  aufgeklärt.    Er  sagt: 

,Kann  man  glauben,  dass  die  tiefgreifenden  Geschlechtsunterschiede,  welche  sich  an 
vielen  EGrpertheilen  in  so  auffallender  Weise  geltend  machen,  an  dem  Org^  des  Denkens, 
dem  wichtigsten  des  KGrpers,  gar  nicht,  oder  nur  in  so  feinen  Nuancen  auftreten,  dass  sie 
sich  der  Beobachtung  entziehen?  Ist  es  denkbar,  dass  die  Parallele,  welche  zwischen  dem 
Gehirn  und  der  Geistesthätigkeit  in  den  verschiedenen  Altersperioden,  also  von  der  frühesten 
Jugend  bis  in  das  höchste  Alter,  in  so  ausgepräg^r  Art  vorhanden  ist,  nicht  auch  ftlr  die 
beiden  Geschlechter,  deren  verschiedene  Stellung  bei  unseren  civilisirten  Völkern  gewiss  nicht 
das  Resultat  zufälliger  Factoren,  sondern  nur  das  bestimmter  org^anischer  Einrichtungen  sein 
kann,  Geltung  haben  soll?" 

Rüdinger  kommt  durch  seine  Untersuchungen  zu  folgenden  Ergebnissen  (vgl.  Fig.  24): 

,In  Bezug  auf  das  absolute  Gewicht  des  Gehirns  bestätigten  sich  die  Angaben  von 
Robert  Boyd,  der  bei  todtgeborenen  Kindern  im  Mittel  eine  Differenz  von  46  gr  minus  für 
das  weibliche  Geschlecht  gefunden  hat  Alle  drei  Hauptdurchmesser  des  CFehims  sind  bei 
neugeborenen  Knaben  gprösser  als  bei  Mädchen  und  zwar  im  Mittel  der  sagittale  um  0,9  cm, 
der  senkrechte  und  der  quere  um  0,5  cul  In  der  Mehnahl  der  männlichen  Foetnsgehine 
erscheinen  die  Stimlappen  etwas  maasiger,  breiter  und  hoher,  als  die  weiblichen.    Hu9ekk$ 


4.  Die  »econdA^ren  GeschlecbUcharaktorfi  am  Gehirn  di^r  earopäiBehen  Weiber. 


29 


ftU«  tchon  den  Bali;  aufgeatelU,  dajs  beim  Manne  toebr  Gehirn  vor  der  Central  furche,  beiui 
iTttbe  mehr  hinter  derselben  liege.* 

^W&hrend   des  siebenten  und  achten  Monate  bleiben  am  weiblichen  Gehirn  alte  Win- 
limgen  bedentimd  einfacher  als  beim  milnnlichenf  so  dase  der  ganze  Stiralappen  beim  Madchen 
Men  Eindmck  der  Glätte  oder  Nacktheit  macht.    Alle  seoundären  Transver&alfurchen  gind  am 
liehen   Uim   »chon  angelegt,    während    dieselben    am    weiblichen  Hirn   noch  einfach  er- 
[I6n  und  ein  langsamerem  Wachstbum  zeigen.    Der  männliche  Scheitellappen  ist  ganz  be- 
charukteristiach    verschieden  von  dem  weiblichen,   denn  wahrend  der  Stirn-  und  der 
ioplftlapptm  noch  verhaltnissmässig  glatt  fiind^  erscheint  er  bald  so  stark  gefurcht,  dafls 
uch  von    tieiner  Umgrbung  sehr  auffallend   unterscheidet.    Mit   Hecht  hat  daher  Huschke 
ScheitoUttppen  beim  Manne  für  eine  bevorzugte  Hirnpartie  erklärt.* 

«Die  Central  furche  verläuft  bei  dem  männlichen  Foetu«  öfters  schief^  jedoch  i^t  dieser 
unterschied  vom  weiblichen  Geschlecht  kein  constanter  und   idt  vielleicht  weniger  durch  das 
rOes<!htecht,  als  rielmehr  durch  die  Verschiedenheit  der  Form  des  Kopfes  hervorgerufen.* 

«Am  Gehirn  der  neugeborenen  Mädchen  ist  die  Insel  in  grösserer  Ausdehnung  sichtbar 
Uichtar  sugftngUch,  als  beim  Knaben  ^    die  Fosaa  Sylvii  wird  daher  am  weiblichen  Gehirn 


SR 


Die  r)S0elil«ebtsi{nt4tT«clikde  nn  dem  Gsbimen  »eiigetvorener  Kiader  (uach  HüJimgtr^), 
Oben  d«r  SUmtlieU,  ant«n  der  Hin terb&u{»ut hell, 
Knabe.  Hädoheu. 


dareh  dia  umgebenden  Windungen  geschlofisen,  als  am  oiännlichen.  Im  siebenten  und 
llonat  iit  die  perpendtkulllre  Spalte  an  der  Innenfläche  der  Hemispb&re  beim  Mädchen 
««nig^r  tief  eingesenkt,  die  }hitchoff*nc\w  Bogenwindung  oben  um  dieselbe  glatter  nnd  ein- 
facher,  und  der  Hinterhauptaluppen  erscheint  weniger  vom  Scheitellappen  abgesetzt,  aU  beim 
Kjiab4!n.  Auch  sind  alle  Windungen  an  der  Innenfläche  der  HemisphlLre  glatter  und  einfacher^ 
währtnd  beim  Knaben  die  Furchen  tiefer  und  die  Windungen  geechlängelter  verlaufen.*^ 

Trotz  vieler  individueller  Ausnahmen,  welchen  man  sorgDllttge  Berücksichtigung  zu 
rheil  werden  lasaen  muss,  kann  man  die  Thatäache,  dass  ganz  verschiedene  typische 
iildungsge setze  fdr  die  Grosahirn  Windungen  der  beiden  Geschlechter  bestehen 
tnd  schon  im  foetalen  Leben  sich  geltend  machen«  nicht  bestreiten.'* 

Neuerdings  hat  \Vaidei/(i^  diese  Uutersuchungen  Ln  neue,  wichtige  Bahnen  geleitet.  Er 
hat  ttimge  embryonale  Gehirne  von  solchen  Zwillingen  untersucht,  welche  von  verschiedenem 
BttMhleohte  waren.  Bei  xwei  Zwillingspaaren  ftind  er  die  Hirnwindungen  gleich^  aber  die 
IttabO^img  der  Furchen  war  eine  bessere  bei  dem  Knaben  als  bei  dem  Mädchen.  Es  tanden 
[ich  folgende  VeThältnisae: 


l 

Kürperiänge 

Kürpergewicht 

Gebirngewicht 

Koab« 

264  mm 

962  gr 

82  gr 

EMidfrh'^n 

256  mm 

3ä0  gr 

30  gr 

B8l*^ 

B 

400  mm 

1185  gr 

175  gr 

s? 

liidd»eo 

1          400  mm 

U88  gr 

165  gr 

In  beiden  F&lien  erwies  sich  also  das  Gehirn   des   weiblichen  Embryo  von  geringerem 
Gpwt^hii?^  als  dasjenige  des  männlichen.  Bei  dem  tweiten  Pärchen  ist  das  um  m  aufTallenderr 


30 


I.  Die  anthropologische  Auffassong  des  Weibes. 


Fig.  25.    Die  Geschlechtsunterschiede  im 

horizontalen  Gehimumfang  (nach  finssef). 

Mann.  Weib. 


als  beide  Geschwister  von  gleicher  Grösse  und  das  Mädchen  überdies  noch  schwerer  als  der 
Knabe  war. 

Josef  Mies  fand  bei  148  neugeborenen  Kindern 
(79  Knaben  und  69  M&dchen)  das  mittlere  abeolute 
Gehimgewicht  der  Knaben  um  2,78%  schwerer  als 
daqenige  der  M&dchen.  Letztere  hatt^i  ein  mittleres 
Himgewicht  von  329,99  gr,  die  Knaben  dagegen  Ton 
889,25  gr. 

Derselbe  Forscher  hat  auf  dem  Anthropologen- 
Congress  in  Innsbruck  über  2000  Fälle  berichtet, 
dass  das  mittlere,  absolute  Gewicht  des  Gehirns  in 
den  (von  ihm  untersuchten)  beiden  ersten  Jahnehnten 
stets  kleiner  beim  weiblichen  Geschlechte,  als  beim 
männlichen  war.  Vergleiche  mit  der  KOrpergrGsse 
zeigten,  dass  auf  1  gr  Gehirn  beim  weiblichen  Ge- 
schlechte mehr  KGrpergrOsse  kommt,  als  beim  männ- 
lichen Geschlechte,  was  auf  eine  günstigere  Stellung 
der  Knaben  hinweist. 

Passet  konnte  durch  seine  unter  JRüdinger's 
Leitung  auf  der  Münchener  Anatomie  gemachten 
Untersuchungen  nachweisen,  dass  das  Gehirn  der 
Männer  daRJenige  der  Weiber  «ziemlich  bedeutend* 
an  Länge,  Breite  und  Höhe  übertrifft  (Fig.  25).  ,Die  Messung  der  Gehimperipherie  in  der 
Medianebene  ergiebt,  dass  das  männliche  Gehirn  in  angegebener  Ebene  einen  durchschnitt- 
lich um  2  cm  grösseren  Umfang  hat  als  das  weibliche.'  Die  Gentralf nrche  des  Mannes  ist 
durchschnittlich  länger  und  stärker  gekrümmt  als  die  des  Weibes,  und  es  liegt  beim  Manne 
mehr  Gehimmasse  vor  der  Centralfurche  als  beim  Weibe,  besonders  nach  der  Medianebene 
zu.  Hingegen  kann  Passet  die  Angabe,  dass  nun  beim  Weibe  mehr  Gehimmasse  hinter  der 
Centralfurche   liege    als  beim  Manne,   nach   seinen  Messungen  nicht  bestätigen. 

Browne  kam  zu  etwas  anderen  Resultaten.  £r  fand  die  Stirnlappen  bei  männlichen 
und  bei  weiblichen  Gehirnen  gleich;  der  Hinterhauptslappen  ist  aber  bei  den  Weibern,  der 
Schläfenlappen  bei  den  Männern  grösser.  Die  rechte  Hemisphäre  war  bei  beiden  Geschlechtem 
schwerer  als  die  linke,  und  zwar  bei  den  Weibern  um  2,1  Gramm,  bei  den  Männern  aber 
um  3,7  Gramm. 

Endlich  wollen  wir  noch  Johannes  Banke^  hören:  «Unter  den  allgemeinen  Resultaten, 
welche  wir  gewonnen  haben,  steht  an  Wichtigkeit  voran  die  Erkenntniss  einer  entgegen- 
gesetzten biologischen  Gesetzmässigkeit  der  Entwickelung  des  Gehimvolums  bei  dem  männ- 
lichen und  weiblichen  Geschlechto.  Während  wir  bei  den  Männerschädeln  im  Allgemeinen 
in  hohem  Maasse  die  Neigung  vorwalten  sehen,  ein  physiolog^sch-makrocephales  Himvolnm 
zu  erreichen,  überwiegt  im  Gegensatz  dazu  bei  den  Fraucnschädeln  eine  Neigung  zu  physio- 
logischer Mikrocephalie.  Wir  werden  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  für  diese  Gesetzmässigkeit, 
welche  wir  freilich  zunächst  nur  für  das  altbayorische  Landvolk  beweisen  können,  eine 
allgemeine  Gültigkeit  bei  allen  Cultunassen  in  Anspruch  nehmen.  Nehmen  wir,  wie  es, 
wenn  wir  nur  die  Schädel  innerhalb  desselben  Geschlechts  vergleichen,  physiologisch  gestattet 
erscheint,  die  normale  allgemeine  Massenentwickelung  des  Gehirns  als  ein  unge^res  Maass 
der  intellectuollen  Leistungsfähigkeit  des  Gehirns  an,  so  scheint  uns  die  hier  erkannte  bio- 
logische Gesetzmässigkeit  der  Entwickelung  des  Gehirnvolums  bei  Männern  und  Frauen  einen 
Einblick  in  das  Verhältniss  der  verschiedenen  intellectuellen  Begabung  der  beiden  Geschlechter 
zu  gestatten.  Bei  den  Frauen  überwiegt  die  Zahl  derjenigen,  deren  psychisches  Instrument 
eine  spärliche  Entwickelung  zeigt,  immerhin  überragt  aber  eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl 
den  bei  Frauen  häufigsten  Werth  des  Gehirn volums  und  es  finden  sich  einzelne  Werthe  für 
diese  Grösse,  welche  dem  Maximum  für  Männergehimvolum  nahe  stehen.  Das  letztere  ist  um 
so  auffallender,  da  die  Massenentwickelung  des  Gehirns  auch  eine  Function  der  Gesammt- 
körperent Wickelung  ist,  in  welcher  der  altbayerische  Mann  das  Weib  im  Allgemeinen  in 
ziemlich  hohem  Maasse  überragt.  ¥j&  stimmt  das  mit  der  bekannten  Bemerkung  zusammen, 
dass  das  Gehiravolum  der  Frauen  in  Beziehung  auf  die  sonstige  Gesammtkörperentwickelung 
relativ  etwas  grösser  erscheint  als  das  der  Männer.  Bei  den  Männern  ist  die  Zahl  der 
Schädel,  welche  das  häufigste  männliche  Himvolnm  übersteigen,  grösser  als  die  Zahl  jener, 
welche  unter  diesem  Normalwerthe  bleiben;  das  psychische  Organ  der  Männer  seigt  alto  yor- 
wiegend  eine  das  Mittelmaass  übersteigende  Entwickelung,  und  die  Zahl  besonden  miehliy 
entwickelter  Gehirne  ist  relativ  viel  grösser  als  bei  den  Frauen.' 


5.  Die  secundären  Gleschlechtscharaktere  bei  den  aussereuropäischen  Weibern.  31 

,  Wenn  wir  nan  im  Allgemeinen  von  der  Ausbildung  des  Instrumentes  auf  seine  Leistungs- 
fiUiigkeit  zurQckschliessen  dürfen,  so  würden  wir  also  in  Uebereinstimmung  mit  älteren  Be- 
obachtungen innerhalb  der  Sphäre  seiner  originellen  Begabung  die  Leistungsfähigkeit  des 
weiblichen  Gehirns  für  das  Durchschnitts- Weib  etwas  höher  ansetzen  müssen,  als  die  Leistungs- 
fähigkeit des  männlichen  Gehirns  für  den  Durchschnitts-Mann.  Dagegen  bemerken  wir,  dass 
bei  den  Männern  die  Zahl  derjenigen  Individuen,  welche  eine  über  das  Normalmaass  hoher 
gesteigerte  Gehimentwickelung  und  damit  also  wohl  eine  gesteigerte  cerebrale  Leistungs- 
fähigkeit besitzen,  weit  grosser  ist,  als  bei  den  Frauen,  und  dass  im  Gegensatz  dazu  unter 
den  Frauen  sehr  viel  zahlreicher  als  bei  den  Männern  solche  vorkommen,  welche  in  Beziehung 
auf  die  Entwickelung  des  psychischen  Organs  unter  der  bei  ihnen  normalmässigen  Grösse 
zurückbleiben,  ßs  stimmen  diese  Beobachtungen,  wie  mir  scheint,  überein  mit  den  allgemein 
gültigen  Erfahrungen  über  die  Unterschiede  des  psychischen  Leistungsvermögens  der  beiden 
Geschlechter.' 

Trotz  aller  dieser  handgreiflichen  Unterschiede  hat  der  Wiener  Anatom  Brühl  ver- 
fucht,  eine  principielle  Ungleichheit  in  dem  Bau  des  Gehirns  der  beiden  Geschlechter  abzu- 
leugnen, weil  unsere  Kenntniss  der  feineren  Anatomie  bis  jetzt  noch  nicht  ausreiche,  an  der 
Art  und  Zahl  der  Furchen  und  Windungen  des  Grosshirns  sofort  ein  weibliches  Gehirn  von 
einem  männlichen  zu  unterscheiden.  Nach  den  vorher  gemachten  Angaben  bedarf  es  keines 
weiteren  Eingehens  auf  diesen  Einwurf.  Denn  der  Umstand,  dass  man  einen  solchen  Unterschied 
an  einem  so  fein  gebauten  Organe,  wie  das  Gehirn  es  ist,  mit  blossem  Auge  nicht  wahrnehmen 
kann,  beweist  natürlicher  Weise  durchaus  nicht,  dass  solche  Unterschiede  nicht  beständen. 

Browne  hat  übrigens  auch  hier  einige  Geschlechtsunterschiede  von  Bedeutung  gefunden. 
Während  das  specifische  Gewicht  der  Marksubstanz  des  Gehirns  an  allen  Stellen  und  bei  beiden 
Geschlechtern  das  gleiche  war,  nämlich  1044,  so  schwankte  das  specifische  Gewicht  der  grauen 
oder  Rindensubstanz,  in  welcher  man  den  Sitz  des  Bewusstsoins  zu  suchen  hat,  bei  Männern 
zwischen  1036  und  1037  (letzteres  an  den  Stimwindungen),  während  dasselbe  beim  weiblichen 
Geschlecht  überall  nur  1034  betrug. 

Jedenfalls  scheinen  mir  die  bisher  aufgefundenen  Differenzen  wichtig  und  charakte- 
ristisch genug,  um  auch  den  eifrigsten  Verfechter  der  Frauenemancipation  aus  dem  Felde 
schlagen  zu  können,  besonders  da,  wie  Rädinger  gezeigt  hat,  diese  Unterschiede  angeborene 
und  nicht  erst  im  späteren  Leben  erworbene  sind. 


5.  Die  secundären  Geschleehtscharaktere  bei  deu  aussereuropäisclieu 

Weiberu. 

Alle  die  in  dem  vorigen  Abschnitt  aufgeführten  secundären  Geschlechts- 
charaktere des  Weibes  sind  an  Vertretern  der  europäischen  Volksstämme  fest- 
gestellt worden  und  haben  deshalb  naturgemäss  in  erster  Linie  auch  nur  für  diese 
ihre  beweiskräftige  Gültigkeit.  Man  hat  immer  nur  stillschweigend  angenommen, 
dass  sie  auch  fttr  die  fremden  Rassen  in  gleicher  Weise  zutreflFend  wären.  Das 
ist  nun  allerdings  sehr  wohl  möglich  und  sogar  in  gewissem  Grade  wahrscheinlich; 
bewiesen  ist  es  aber  bisher  noch  nicht,  was  hier  besonders  betont  werden  muss. 
Alles,  was  wir  in  dieser  Beziehung  von  fremden  Völkern  wissen,  d.  h.  was  durch 
wirkliche  Untersuchungen  festgestellt  worden  ist,  das  ist  leider  bis  jetzt  noch 
nicht  sehr  viel  und  bedarf  noch  nach  allen  Richtungen  hin  der  Vervollständigung. 
Es  wird  jedoch  gewiss  dem  Leser  nicht  unerwünscht  sein,  wenn  hier  wenigstens 
dieses  geringe  Material  in  übersichtlicher  Weise  zusammengestellt  wird. 

Bei  diesen  Erörterungen  soll  von  den  Unterschieden  in  der  Form  des  Beckens 
und  den  grossen  Verschiedenheiten  in  dem  Bau  der  Brüste  Abstand  genommen 
werden,  weil  diesen  Eigenthümlichkeiten  später  besondere  Abschnitte  gewidmet 
werden  sollen.  Ein  Ausspruch  von  Hennig^  möge  aber  hier  seine  Stelle  finden. 
Derselbe  sagt: 

„Je  roher  ein  Volk,  um  so  verwischter  stellen  sich  die  geschlechtlichen 
Unterschiede  am  knöchernen  (weiblichen)  Becken  dar;  die  Darmbeinschaufeln 
rücken  thierähnlich  mehr  noch  hinten  oben:  dies  ist  bedingt  durch  die  den 
Frauen  und  Mädchen  aufgebürdete  schwere  Männerarbeit,  wodurch  das  Becken 
mgleich  eckiger,  den  Muskel-Ursprüngen  und  Ansätzen  entgegenkommender  wird.'^ 


32 


I.  Die  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 


Als  durchgehend  gültig  f&r  alle  bisher  bekannt  gewordenen  Volkastämme 
des  gesammten  Erdkreises  mit  kaum  einer  Ausnahme  können  wir  zweierlei  Dinge 
feststellen:  Erstens  sind  die  Vertreter  des  weiblichen  Oeschlechis  durchschnittlich 
von  geringerer  Grösse  als  ihre  männlichen  Stammesgenossen,  und  zweitens  ist  die 
Hautfarbe,  sie  mag  noch  so  intensiv  und  dunkel  pigmentirt  sein,  doch  immer 
heller,  als  die  Haut  bei  den  Männern  des  gleichen  Stammes.  Für  gewöhnlich  sind 
diese  Unterschiede  in  der  Färbung  allerdings  nur  ziemlich  geringe,  bisweilen  aber 
findet  man  sie  auch  recht  reichlich  ausgebildet. 

Eine  genauere  Prüfung  der  uns  interessirenden  VerhältniBse  hat  namentlich 
an  den  Schädeln  stattgefunden. 

Wir  verdanken  in  dieser  Beziehung  Kopemicki  in  seinen  Untersachangen  über  den 
Zigeunerschädel  die  folgende  Zusammenstellung. 

,Es  ergiebt  sich  aus  den  von  Davis  aufgestellten  Messungen,  dass  unter  den  euro- 
päischen weiblichen  Rassenschädeln  nur  die  Isländerinnen  es  sind,  bei  welchen  der 
HGhenindex  (0,73)  des  Schädels  den  männlichen  (0,71)  um  0,02  übertrifft.  In  Asien  findet 
man  dieses  Uebergewicht  an  den  Weiberschädeln  von  Hindus,  Muielmftnnern  (O.Ol), 
Khas  (0,08)  und  Chinesen  (-f  0,04).  Dasselbe  findet  noch  statt  an  den  Javaneien- 
(+  0,01),  Dayak-  (-f  0,04)  und  Tasmanier-  (+  0,08)  Weiberschädehi.  Zigeuner 
(m.  —  0,75)  (w.  —  0,77)  =  (0,02).* 

„Wir  sehen  also,  dass  es  nur  wenige  Rassen  giebt,  wo  der  HOhenindez  der  Weiber- 
schädel jenen  der  männlichen  übertrifft.  Wenn  wir  dabei  noch  diesen  Umstand  in  Betracht 
ziehen,  dass  sogar  die  in  beiden  Geschlechtem  gleichen  oder  bei  Männerschftdeln  nur  um 
0,01  überwiegenden  Höhenindices  (die  £ngländerinnenschädel  ausgenommen)  nur  in  den 
niedrigsten  Rassen  vorkommen  (m  =  w):  Bados,  Thais-  (Guanchen)  Neger,  Daho- 
manen,  Australier,  Marquesaner,  Kanakas  und:  m  =>  w  -f*  0,1:  Lepchas,  Aequa- 
torialneger,  Eskimos  von  Grönland  und  Bisayaner,  so  werden  wir  uns  fttr  berech- 
tigt halten,  zu  schliessen,  dass  der  über- 
wiegende HGhenindex  der  Zigeune- 
rinnen Schädel  eines  Ton  den  ihnen  eigen« 
thümlichen  Rassenzeichen  bildet  etc.* 

Auch  Eeker^  hat  in  seiner  oben 
angeführten  Arbeit  über  die  Geechlechtt- 
unterschiede  am  menschlichen  Schädel 
seine  Angaben  auf  die  ausser  euro- 
päischen Völker  mit  ausgedehnt  und 
er  hat  dabei  die  Abbildungen  Ton  dem 
Schädel  eines  Australiers  und  einer 
Australierin  gegeben,  welche  die 
Fig.  26  vorfahrt. 

Paul  Bartels  vermochte  bei  seinen 
Untersuchungen  Verschiedenheiten  der 
Geschlechtsunterschiede  nach  Rassen 
nicht  nachzuweisen,  und  besonders  konnte 
er  den  mehrfach  aufgestellten  Satz  nicht 
bestätigt  finden,  dass  bei  den  sogenannten  „wilden  Völkern*  die  Differenzen  zwischen  beiden 
Geschlechtem  geringer  ausgeprägt  sind,  als  bei  den  Culturvölkem. 

Die  in  Bezug  auf  die  wissenschaftlicbe  Ausbeute  so  reiche  Expedition  der 
österreichischen  Fregatte  Xovara  hat  auch  für  unseren  Gegenstand  einige 
wichtige,  durch   Weisshack  festgestellte  Ergebnisse  geliefert. 

.Nach  diesen  Untersuchungen  lassen  sich  bei  den  Chinesen  folgende  Unterschiede 
zwischen  den  beiden  Geschlechtern  aufstellen:  Das  Weib  ist  bedeutend  kleiner  und  schwächer, 
es  äussert  nur  sehr  wenig  mehr  als  die  halbe  Druckkraft  der  Männer;  sein  Puls  ist  mehr  be- 
schleunigt. Der  Kopf  ist  ( verbal tnissmässig)  grösser,  höher  und  breiter,  das  Gesicht  weniger 
prognath,  im  oberen  Theile  sammt  der  Stirn  höher,  zwischen  den  Jochbeinen  schmäler,  ober- 
halb derselben  weniger,  unterhalb  mehr  verschmälert;  die  Nase  höher  und  schmäler  und  der 
Mund  kleiner.  Der  Hals  ist  dünner  und  kürzer,  am  Rumpfe  sind  die  den  Brustkasten  be- 
treffenden Maasse  kleiner,  jene  des  Beckens  grösser;  der  Brustkasten  ist  in  allen  Biohtiing«n 
kleiner,  die  TaiUe  dicker,  der  Nabel  höher  oberhalb  der  Symphyse;  die  gaaiie  BnmpfiniiMl- 


Fig.  26.  Die  Oeschlechtsunterschiede  am  Schädel  (nach  £ckfr^). 
Aastralier.  Australierin. 


jy.  Die  8eeiiiicl3j'0n  Geachlechtachiuraktore  bei  den  ausBereuropäischea  Weibern. 


33 


ttale  liLoger  Bio  obere  Gliedmiuifläe  ist  kürrer  und  ddnner,  der  Vorderarm  weniger  kegel* 
fOrmig,  der  Mittelfinger  länger,  die  ganze  Hcind  länger  und  scbmILler.  Die  untere  Glledmaasse 
i«i  llAger,  Oberscbcnkel  und  Knie  sind  dicker,  der  Unterschenkel  hi  nur  oberhalb  der  EnOcbel 
dteltcr  und  weniger  kegelförmig;  der  Fuai«  kürzer  und  acbmiUer.* 

«Die  javanischen  Weiber  haben  (gegen  die  Männer)  etwas  lichteres  (dunkelbraune«) 
HaAT«  etn^^n  beschleunigteren  Puls  und  vermcVgen  nur  etwa  die  Hälfte  der  Druckkraft  der 
MAsoer  lu  äussern;  sie  sind  auffnllend  kleiner,  haben  einon  relativ  grosseren,  höheren,  aber 
ebeoto  briebyeephalen  Kopf  wie  die  Männer;  ein  im  Allgemeinen  breiteres,  bezOglich  seiner 


¥\ft*  *£I.   Junge  Armenierin  an»  dem  Aohalfriakiscben  Düitrfki,    (NimUl  Pbotoer»plkie.j 


|ÜOhe  aber  schmal  lere-?,  vor  den  Jochbeinen  nach  aufwärt«  breitereH^   an  d^n  Unter- 
fin   aber    relativ   schmäleres,    dabei  wahrHcbeinlicb    mehr   prognuibeft  (le^icbt    mit 
Rti»f«r  Na«tf  und  grösserem  Munde;  ihr  Kopf  ruht  auf  einem  längeren  und  zugleich  dickeren 
Ti,»  i'.^n.tir  »^f.^r,  i^t  kQrzer,  echmäJer»  jedoch  weiter,  der  Rumpf  uro  die  Taille  dicker, 
r    und    der  Nabel    höher  eingepftauÄt,     Die  obere  UUedmaagae  iflt  im 
■■"n  länger»  der  Vorderiirm  künter,  beide  zugleich  dicker  und  letiterer 
Lälert;   die  Hand  btnger  nnd  schmäler,     üire   untere  (tliedmaasie 
ib~T7~  iiii  UauKen  länger,   am  Oberschenkel,  Knie  und  an   der  Wade  dicker, 

r  .c«ii».  ß  Ann.    1.  8 


34  ^'  ^^0  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 

der  erstere  ebenso  lang  wie  bei  den  Männern,  der  Unterschenkel  aber  länger  and  wenig  ▼«!> 
schmächtigt,  der  Fus8  länger,  breiter  und  am  Rist  dicker." 

„Bei  den  Sudanesen  unterscheidet  sich  das  Weib  vom  Manne  durch  folgende  Summa 
körperlicher  KigenthQmlichkeiton.  Es  ist  kleiner  und  schwächer,  sein  Puls  beichlennigteri 
sein  Kopf  (relativ)  grösser,  breiter,  brachjcephal,  das  Gesicht  höher,  nach  auf-  and  abwftrti 
von  den  Jochbeinen  breiter  und  weniger  prognath,  die  Stime  hoher,  die  Nase  niedriger  imd 
breiter,  der.  Mund  grösser;  der  Hals  ist  länger  und  dünner,  der  Brustkasten  eoger,  swiiehen 
den  Schultern  schmäler,  der  Halsnabelabstand  geringer ;  die  KumpfwirbeUäule  länger,  die  TaiUe 
dicker  und  der  Nabel  mehr  gegen  die  Schamfuge  herabgedräckt.  Seine  obere  GliedmaMM 
ist  kürzer  und  dicker,  der  Oberarm  länger,  der  Vorderarm  kürzer,  mehr  gleichmftasig  dick,  die 
Hand  kürzer  und  schmäler,  obgleich  ihr  Mittelfinger  länger;  die  untere  Gliedmaasse  dagegen 
länger  und  dicker,  der  Oberschenkel  kürzer,  der  weniger  kegelförmig  verschm&chüg^  nnd  mit 
einer  dünneren  Wade  ausgestattete  Unterschenkel  länger,  der  Fass  kürzer,  dicker  und  schmftler.* 

„Die  Unterschiede  zwischen  beiden  Geschlechtern  können  wir  bei  den  Australiern 
bezüglich  des  Kopfes  die  bedeutendere  Grösse,  Höhe  und  Breite,  also  geringere  Doliohocephalie» 
die  geringere  Hübe  und  Breite  des  mehr  prognathen  Gesichtes  zwischen  den  Wangenbeinen, 
welches  aber  nach  auf-  und  abwärts  von  denselben  weniger  als  bei  dem  Manne  TerBchrnftlert 
ist,  -r-  dessen  niedrigere  Stime,  schmälere  und  höhere  Nase  und  grösseren  Mund  bei  den 
Weibern  aufstellen.  Dem  Manne  gegenüber  hat  das  (australische)  Weib  eine  längere 
Kumpfwirbelsäule  mit  längerem  Nacken,  einen  längeren,  schmäleren,  weniger  umfangreicileB 
und  an  der  Vorderseite  flacheren  Brustkasten,  eine  dickere  Taille,  den  Rumpf  nach  nnteof 
weniger  verschmäl ei*t,  einen  höher  stehenden  Nabel,  weiter  auseinanderliegende  Darmbeia* 
Stachel  und  eine  grössere  Hüft  breite.  Die  meisten  dieser  Gcschlechtsnnterschiede  sind  die- 
selben, welche  auch  für  die  Chinesen  und  Malayen  gelton,  nur  der  Nacken,  der  Hale- 
nabelabstand  (die  angenommene  Länge  des  Brustkastens),  der  Brustumfang  und  der  Stand  dee 
Nabels  halten  sich  nicht  an  die  bei  diesen  gefundenen  Gesetze;  am  meisten  stimmen  tie  mü 
den  Chinesen  überein.  Als  Geschlechtsunterschied  zwischen  den  zwei  Individuen  beMiohneA 
wir  die  folgenden:  Der  Arm  des  Weibes  ist  im  Ganzen  (sowie  Oberarm,  Handrücken  und 
Mittelfinger  für  sich  allein)  länger,  der  Oberarm  dicker,  der  Vorderarm  viel  kürzer  und  gleiidi- 
mässiger  dick,  die  Hand  länger  und  schmäler.  Dieselben  sind  im  vollkommenen  Einklänge  mÜ 
den  bei  den  Javanon  beobachteten,  stimmen  aber,  besonders  in  der  Länge  des  ganaoa 
Gliedes  und  des  Oberarms,  weder  mit  den  bei  den  Chinesen,  noch  jenen  beiden  Sudaneiem 
gefundenen  überein,  bei  welch'    letzteren    auch  noch  die  Hand  ein  anderes  Verhalten  uigt«" 

Auch  die  Behaarung  des  Kopfes  scheint  über  die  ganze  Erde  hin  bei  den  Weiben 
reichlicher  und  länger  zu  sein  als  bei  den  Männern.  Auf  den  japanischen  Bildern  nnd 
die  Damen,  falls  sie  oHcne  Haare  haben,  stets  mit  ausserordentlich  langen,  bis  zur  Erde 
reichenden  und  noch  nachschleppenden  Haaren  dargestellt. 

Eine  besondere  Eigen thümlichkeit  der  Toda-Frauon  in  Indien  erw&hnt  Marahäll;  er 
führt  an,  dass  sie  zuweilen  feine  Haare  zwischen  den  Schulterblättern  aufzuweisen  hätten. 

Ktirl  nm  thn  Steinen  fand  bei  den  Indi  an  er -Stämmen  Brasiliens  im  Qnellgebiet 
doiy  Xingu,  bei  den  Trumai.den  Anetö,den  Küsten  aü,  den  Bakairi,  denNahuqn^ 
den  Mehinakn,  den  Kamayura  und  den  Waura,  die  Männer  im  Mittel  162,6  cm,  die 
Weiber  nur  15'2,l  cm  hoch.  Bei  allen  Nahuqua-Frauen  waren  die  Zehen  auffallend  knn, 
hingegen  die  Arme  sehr  lang  und  nicht  nur  länger  als  die  der  Männer  ihres  Stammes,  sondern 
sogar  länger  als  diejenigen  aller  der  übrigen  genannten  Stämme.  Die  Frauen  hatten  wenig 
breite  Hütten  und  die  \Vad«<n  waren  schwach  entwickelt. 

6.  Die  Sterblichkeit  des  weiblielien  Geschlechts  und  der  Weiberfibersehius. 

Auch  die  Gcburts-  und  Sterblichkeitszit'fern  weisen  bemerkenswerthe 
Unterschiede  bei  den  beiden  Geschlechtern  auf  (Wappäus),  In  der  frahesten 
Lebensperiode  zeigt  das  weibliche  Individuum  eine  auffallend  geringere  MortalitEt^ 
als  da.s  männliche.  Es  muss  eine  Ursache  bestehen,  welche  die  Kinder  mSnn- 
lichen  Geschlechts  vor  und  bald  nach  der  Geburt  energischer  hinwegraffk ,  ak  die 
Mädchen.  Die  grössere  Sterblichkeit  der  männlichen  Kinder  reicht  noch  weit 
über  das  Säugliugsalter  hinaus.  In  den  höheren  Lebensjahren  gestaltet  sich  dann 
allerdings  die  Mortalität  etwa.s  anders.  So  hat  Engel  in  Preuasen  ermittetti 
dass  die  Sterblichkeit  der  Weiber  nur  in  dem  10.  bis  14.,  dann  in  dem  25.  1 
40.   und   endlich  nach   dem  60.  Jahre   die  grössere  ist;   in  allen  anderen  Jal 


36  I*  ^16  anthropologische  Anffassong  des  Weibes. 

ist  sie  geringer.  Man  hat  über  die  Ursachen  dieser  Differenzen  numnigfache 
Vermuthungen  aufgestellt,  doch  sind  alle  Erklärungen  unzureichend.  Eine  eigen- 
thümliche,  gewiss  allzu  teleologische  Ansicht  über  die  grössere  Sterblichkeit 
männlicher  Kinder  sprach  Haushof  er  aus,  indem  er  sagt:  ^Es  mag  wohl  die  Natur, 
in  der  Absicht,  aus  dem  Manne  ein  vollkommeneres  Geschöpf  zu  bilden,  als  aus 
dem  Weibe,  dabei  auch  mehr  Hindemisse  finden.  Ein  feinerer  Organismus  ist 
allen  schädlichen  Einflüssen  zugänglicher.''  Es  ist  wunderlich,  wenn  man  den 
weiblichen  Organismus,  weil  er  im  jugendlichen  Alter  grössere  Resistenz  zeigt, 
als  einen  unvollkommener  veranlagten  auffassen  will.  In  späteren  Lebensjahren 
tragen  zu  der  grosseren  Männersterblichkeit  umstände  bei,  die  in  der  Beschäf- 
tigung und  Lebensweise  liegen  und  welche  durch  die  Gefahren  des  Wochenbetts 
für  die  Frauen  nur  wenig  ausgeglichen  werden.  Die  höheren  Altersklassen  sind 
in  mehreren  Ländern  bei  den  Weibern  relativ  stärker  besetzt,  ab  bei  den  Männern. 

Der  von  der  Direzione  Generale  Statistica  des  italienischen  Ministe- 
riums für  Landwirthschaft,  Industrie  und  Handel  1884  veröffentlichte  Bericht: 
Popolazione,  Movimento  dello  Stato  civile,  giebt  eine  XTebersicht  über  die 
Jahre  1865  bis  1883,  aus  welcher  das  Verhältniss  der  Mädchengeburten  zu  den 
Knabengeburten^in  fast  allen  Culturstaaten  ersichtlich  ist. 

In  diesenT  Zeiträume  wurden  im  Mittel  jährlich  auf  100  Mädchen  lebend 
geboren  in: 

Russisch  Polen 101  Knaben       Schweden 105  Knaben 

England  und  Irland 104        „  Dänemark 105 

Frankreich 105        ^  Europäisches  Rnssland  .    .105 

Schottland 105        ,  Vermont 105 

Preussen 105        ^  Rhode  Island 105 

Bayern 105        ,  Italien 106 

Sachsen 105        „  Irland 106 

Thüringen 105        ^  Oesterreich  (Cisleithanien) .    .106 

Württemberg 105        ,  Kroatien  und  Slawonien   .  106 

Baden 105        „  Norwegen 106 

Deutsches  Reich 105        „  Serbien 106 

Elsass-Lothringen 105        „  Massachusetts 106 

Ungarn 105        ,  Spanien 107 

Schweiz 105        ,  Connecticut 110 

Belgien 105        „  Rumänien 111 

Holland 105        „  Griechenland 112 

Wir  sehen  hier,  wie  durchgehends  die  Zahl  der  Knaben  diejenige  der  Mädchen 
übertrifl't  und  wie  unter  32  Ländern,  welche  berücksichtigt  wurden,  in  den  be- 
rechneten 19  Jahren  in  nicht  weniger  als  19  Ländern  das  Verhältniss  der  Knaben- 
geburten zu  den  Mädchengeburten    ein   constantes  war,  nämlich  wie  105  zu  100. 

Auch  in  Japan  werden  nach  Rathgen  mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren, 
und  zwar  in  dem  Verhältniss  von  104,75  zu  100,  also  fast  genau  ebenso,  wie  in 
den  erwähnten  19   Ländern. 

Aufiallend  imgleich  stellt  sich  bei  den  centralaustralischen  Schwarzen 
am  Finke-Creek  nach  Angabe  des  Missionar  irew*|)C  die  Zahl  der  Knaben-  und 
Mädchengeburten:  in  den  Jahren  1879 — 1882  kamen  etwa  4  Mädchen  auf  je 
einen  Knaben. 

Wenn  nun  das  ursprüngliche  numerische  Uebergewicht  des  männlichen  Ge- 
schlechts durch  eine  erhöhte  Sterblichkeit  ausgeglichen,  oder  sogar  vernichtet 
wird,  so  muss  die  Statistik  einen  Ueberschuss  an  Weibern  nachweisen  können. 
Das  ist  nun  bei  der  Oesammtbevölkerung  Europas  in  der  That  der  Fall.  Es 
stellt  sich  das  Verhältniss  so,  dass  102,1  Weiber  auf  100  Männer  kommen,  ob- 
gleich, wie  gesagt,  unter  den  Neugeborenen  ein  Oeschlechtsverhältniss  von  105 
Knaben  auf  100  Mädchen  besteht.  Das  gilt  aber  nicht  ft&r  alle  Lander  der  Erde, 
denn  in  einigen  findet  sich  gerade  das  Gegentheil. 


Di«  Sterblichkeit  da«  weiblichen  Geachtechi«  and  der  Weiberttbenchasi. 


37 


N 


• 


Linder  mit  andauernd  starker  Auswanderung,  wie  Grossbritannien  und 
tfchland,    haben    ganz    natürlich    Männermangel,  da  vorzugsweise  Männer 
die  fremden  Länder  begeben ;  deragemäss  entsteht  in  Ländern  mit  stHrker 
,g  dagegen  Franenmangel.     Diese  Thatsache  ist  freilich  nicht  allein 
A  zur  Erklärong  des  Weiberüberschusses.     Zunächst  sind  in  den    frühesten 
A  i^sen  hinsichtlich  der  Sterblichkeit  die  Knaben  weit  mehr    gefährdet,  als 

die  Jliuichen.  Dann  aber  begleitet  die  grössere  Lebensbedrohung,  welche  die  Natur 
dem  Knaben  als  böses  Geschenk  in  die  Wiege  legt^  diesen  fast  durch  sein  ganzes 
Leb«».    Mat/r  sagt  hierüber: 

AL.r^ift>ieii  von  der  in  ihrer  tödtlichen  Wirkung  vielfach  tlbertchatzten  Gefahri  welche 
K  .:  dem  Weib©  bereitet,  erscheint  der  Mann  nach  der  ganzen  Entwickehmg  seines 

h^tiP  "v  .1  M.t^r  all»  da«  Weib,  Er  neigt  in  jeder  Beziehung  zu  intensiverem  Verbrauche 
der  L«b#ni»kTaft.  Die  harte  Arbeit  des  Friedens  wie  de»  Krieges  bringt  ihm  weit  grössere 
*lrcngting«n  nnd  GefabreD,  wie  dem  Weibe,  Der  grösseren  Summe  physischer  Kraft,  welche 
bevitxt,  •lebt  keine^wega  eine  entsprechende  grössere  Widerstandskraft  gegen  die  mannig- 
tigea  LMi^nibedrohungeo  zur  Seite,  welche  ihn  umgeben.  Dabei  darf  man  nicht  etwa  bloss 
aa  dia  «inadoen  rasch  töcltßuden  Vorgänge,  wie  s.  B*  die  Verungliickungen  im  Gewerbebetriebe, 
ilmkcii,  denen  der  Msnn  weit  mehr  ausgesetzt  ist,  als  das  Weib,  sondern  auch  an  den  lang- 
4U»eii  Vemehr  der  Lebenskraft  im  Sturm  und  Drang  des  Lebens,  Bech^  belehrend  ist  in 
diastfr  Hlniitcht  die  Criminal-S tatig tik  Niemand  wird  bezweifeln,  dass  der  Weg  des  Ver- 
bc^tbent  auch  dem  leibUchen  Wohle  nachtheüig  ist,  und  wollte  er  dies,  so  w£lre  er  durch 
dan  «ialkch^m  Hinweis  auf  die  Sterblichkeitäziffer  der  Galeere  und  des  Zuchthauses  belehrt. 
#Bii  min  aber  von  Tag  zu  Tag  das  männliche  Geschlecht  einen  etwa  fünffach  grösseren 
lUmg  tMi  den  Verbrechern  stellt  als  das  weibliche,  und  wenn  wir  auch  danu  nur  einen, 
fnf  ^\iAf  «tjitUtJN^b  i/ut  erfassbaren  Ausdruck  des  vielfachen  Anlasses  zu  rascherem  Verbrauch 
ivraft  erblicken,  eo  werden  wir  uns  nicht  wundern  dürfen,  wenn  uns 
uiir  r-v^4«p;jB  wt.Ui  ieijit,  dass  wir  uns  nicht  irren,  wenn  wir  in  den  Strassen  unserer  Städte 
nalir  alte  Weiber  aU  alte  liHnner  zu  sehen  glauben," 

Denelb«  Autor  sagt:  «Wegen  der  sUlrkeren  Besetzung  der  höheren  Altersklassen  bei 
dta  Weibern  findet  n>an  ein  namhaftes  Uebergewicht  durchlebter  weiblicher  Lebenszeit  im 
bOlicfini  Alter.  Für  Bayern  ergab  sich  beispielsweise  aus  der  Erhebung  von  1875,  dass  die 
bl — S^ftluigen  Weiber  mehr  als  7  Milliooen  durchlebter  Jahre  aufzuweisen  hatten,  während  die 
MiniifT  glaicho^  nr  ein  Gesammtleben  von  nicht  einmal  6i;2  Millionen  Jahren  darstellen, * 

Oain?  \>^  Unterschiede  giebt  es  zwischen  den  Nationen  Europas;  den  höchsten 

F^O'j^  /.eigen  Grossbritannien  und  Schweden  {106  weibliche  auf  100  männ- 

Uebe  ^  w**Dn   man  1881  in  England  (ohne  Schottland  und  Irland)  U  947726 

>  weibliche  Personen  zablU\  so  gab  es  daselbst  ein  Plus  von  712939 
-cblochts.     Da  muss  man  doch  noch  fragen,  ob  dieses  Plus  nicht  vor* 
lUgtti  1   Weiber  repriUentirt  wird,  die  in  höheren  Altersklassen  stehen.     Ein  {Lhniichcs 

Verliai....  '  ..;.>Jet  stob  auch  in  einzelnen  deutschen  Ländern,  namentlich  in  der  Provinsi 
OilprtQtaen  und  im  Königreich  Warttemberg,   während  Oldenburg  und  die  Provinz 

|i .^r  eine  f^Lii  gleiche   Zahl   von  Männern   und   Frauen  besitzen.    Dagegen   haben  die 

ten  Staaten  von  Nordamerika  einen  Üeberschuss  der  männlichen  Bevölkerung: 
t  irbe   gegenüber  meint  der  französische  Statistiker  Block,    dass    vielleicht  der 
]    [  ;    K.  rühmten   nord amerikanischen   Frauenverehrung  ursprünglich  in  diesem  der 
'tii^etj  Vkilirtltnisse  der  Nachfrage  und  des  Angebotes  zu  suchen  sei. 

liii.    }|j„e,  ob  in  der  That,  wie  behauptet  worden,  in  England  2  Millionen 

u  Geschlechti  mehr   als  männlichen  Geschlechts    ezistiren,  wird   durch  fol- 

Uni»Ae  beleuchtet.     Grossbri tannien  zählte  1851:   13369442  männliche 

-  Einwohner,  ein  Verhältnis,  welches  durch  den  indischen  und  den 

ich  herbeigeführt   war.     Im  Jahre    1861  zählte  man:  14097  208  m&nn- 

^  Einwohner;  da^  Plus  der  weiblichen  Personen  betrug  also  noch 

^947  männliche  (incl.  Soldaten),  17992615  weiblichei  Plus  738668. 

nglnod  chottland  und   Irland)  bestand  im  Jahre  1875    (bei  22712266 

toka«m)  il-  _    ,.  ,  von  96,13  männlichen  auf  100  weibliche  Personen.   Im  Jahre  1H81 

illi  Vorh&tiniAit  U 947726  männliche  und  12  660665  weibliche,  also  712939  plus  weibliche. 

In    ganz    Europa    ist   dus    Geschlechtsverhältniss    der    Gesammt-Bevdlkerung    «    100 

102,1    frauen,    dagegen  in    Grossbritannien  100:106.2;    es  tiberwiegt  demnach 

Wmberl'öbfrBchufis    ganz   bedeutend,    und    zwar    in  ziemlich  gleicher  Höhe,   wie  in 

daa»  doeh  iit  immerhin  die  Annahme  von  2  Millionen  viel  zu  hoch 


Ptnono  ri 


■ÜMtfi 


38  I-  IHe  anthropologische  Auffassung  des  Weibes. 

In  dem  gleichen  Zeiträume  (1865—1883)  starben  jährlich  im  Mittel  auf  je  100  weib- 
liche Individuen  in: 

Rhode  Island 97  männl.   England  und  Wales 107  männl. 

Vermont 98       ,         Kroatien  und  Slawonien    .    .   107 

Massachusetts 99      „         Spanien 107 

Schottland 100      ,         Bayern 108 

Irland 100       ,         Oesterreich  (Cisleithanien)    .    .   108 

Elsass-Lothringen 102       „         Ungarn 108 

Connecticut 102      ,         Schweiz 108 

Norwegen 103      ,         Belgien 108 

Dänemark 103       ^         Deutsches  Reich 109 

Finnland 103       «         Preussen 109 

Schweden 104      ,         Sachsen 109 

Holland 105       ,         Thüringen 109 

Europäisches  Russland  .   .    .   105       ^         Griechenland 111 

Italien 106       ,         Serbien 112 

Württemberg 106      „         Rumänien 116 

Frankreich 107       , 

Wenn  wir  diese  Sterbelisten  um  Rath  fragen,  so  sehen  wir  also,  dass  wir 
nur  drei  Länder  antreffen  (Rhode  Island,  Vermont,  Massachusetts),  wo  die 
Zahl  der  weiblichen  Todten  grösser  ist  als  die  der  männlichen,  und  zwei  Länder 
(Schottland  und  Irland),  wo  die  Zahlen  der  beiden  Geschlechter  gleich  sind, 
während  in  allen  anderen  Ländern  die  Zahl  der  männlichen  Todten  diejenige  der 
weiblichen  übertrifiPt  und  zwar  nicht  selten  ganz  bedeutend.  Dass  also  in  den 
Culturstaaten  ein  Ueberschuss  an  Weibern  in  Wirklichkeit  existirt,  das  muss  als 
eine  bewiesene  Thatsache  betrachtet  werden. 

Für  die  ganz  alten  Leute  in  Griechenland  fand  Bernhard  Omstein^  ein 
bemerkenswerthes  Verhältniss,  aus  dem  sich  auch  ein  nicht  unbeträchtlicher  Ueber- 
schuss der  Weiber  ergab,  der  vom  85.  Jahre  aufwärts  in  allen  funi^ährigen  Pe- 
rioden nachgewiesen  werden  konnte.  Es  wird  dadurch  ein  beredtes  Zeugniss  für 
die  Langlebigkeit  der  Griechen  im  Allgemeinen  abgegeben. 

Die  officiellen  Sterblichkeitslisten  der  13  Kreise  des  Königreichs  für  die  Jahre  1878 
bis  1883  ergaben,  dass  unter  einer  Bevölkerung  von  1653767  Köpfen  nicht  weniger  als  5297 
ein  Alter  Über  85  Jahre  erreichten  und  zwar 

85—90  Jahre  1296  Manner,  1347  Frauen, 


90—  95  , 

700 

820 

95-100  , 

305 

370 

100-105  , 

116 

168 

105—110  , 

52 

69 

110  u.  darüber 

20 

34 

Alho  fanden  sich  über  hundertjährige  Griechen  188  Männer  und  271  Franen. 
Hitchcock  veröffentlicht  eine  Statistik  von  John  Batchelor  über  die  AinoB  auf  Tezo, 
Dort  gab  es     1882:  Männer  8546,  Weiber  8652 
1883:         ,        8554  ,        8596 

1884:         ,        9051  ,        8776 

1885:         ,        7900         .        8063 
Somit  zeigt  sich  auch  hier  ein  Weiberüberschuss  mit  Ausnahme  des  Jahres  1884.   Jedoch 
liegt  hier  nach  Hitdicock  ein  Fohler  vor.     Er  berechnet  nach  officiellen  Listen  der  einzelnen 
Ortschaften  4811  Männer  auf  4959  Weiber. 

Ein  erheblicher  Ueberschuss  an  Weibern  findet  sich  auch  auf  der  Insel 
Saleijer  im  malayischen  Archipel  südlich  von  Celebes,  wie  wir  durch  Engd" 
hard  erfahren.  Die  fünf  Regentschaften  der  Insel  besitzen  in  ihren  17  Ortschaften 
eine  Bevölkerung  von  2035  Männern  und  nicht  weniger  als  3337  Weibern. 

Hingegen   ist   auf  den    zu  der  Gruppe   der   Salomons-Inseln  gehörigen 
Inseln  Ugi  und  San  Christo bal  die  Zahl  der  Männer  grOaser  ala  dugenige  der 
Weiber  (EUon),   und   in  Japan  wurden  im  Jahre  1885  mir  18711  llft  W« 
auf  19157977  Männer  gezählt  (Rathgen). 


Blsd«-Frftii  ftiu  BoTDbay,  mit  eiiieiii  knopff^rmlgen  Scbmuok  in  dem  linken  NisenflUg«!. 
(Nich  Pkotographle,) 


IL  Die  psychologische  Anffassimg  des  Weibes. 

7.  Die  psychologischen  Aufgaben  des  Weibes. 

üeber  das  Verhaltniss  des  Weibes  zum  Manne  in  Bezug  auf  ihre  gegen- 
seitigen geistigen  Fähigkeiten  legte  sich  der  Engländer  Aüan  die  Frage  vor: 

,l8t  das  Weib  in  intellectaeller  Beziehung  dem  Manne  gleich?  Beetehen  keine  natür- 
lichen, geistigen  Verschiedenheiten  zwischen  den  beiden  Oeschlechtem?  Sind  die  deutlichen 
Unterschiede  im  Denken  und  Handeln,  die  man  zwischen  Weibern  und  Männern  bemerkt, 
allein  durch  die  Erziehung  bedingt,  oder  in  der  Natur  begründet?  Ist  das  Weib  einer 
gleichen  geistigen  Erziehung  föhig,  wie  der  Mann,  und  kann  gleichm&ssiger  Unterricht  alle 
geistigen  Verschiedenheiten  zwischen  den  Geschlechtem  aufheben  und  das  Weib  xu  einem 
erfolgreichen  Wettstreit  mit  dem  Manne  in  aller  Art  geistiger  Arbeit  befähigen?* 

Wir  berühren  hiermit  die  „Frauenfrage",  welche  freilich  vom  anthro- 
pologischen Gesichtspunkte  aus  in  einer  den  Frauenrechtlem  nicht  ganz  wünschens- 
werthen  Weise  beantwortet  werden  muss.  Denn  ich  stelle  mich  voUständig  auf 
die  Seite  von  Allan^  welcher  die  folgende  Antwort  giebt: 

«Mein  Standpunkt  ist,  dass  durchgreifende,  natürliche  und  dauernde  Unterschiede  in 
der  geistigen  und  moralischen  Bildung  beider  Geschlechter  bestehen,  Hand  in  Hand  gehend 
mit  der  physischen  Organisation.  Man  vergleiche  das  männliche  und  weibliche  Skelett,  man 
studire  Mann  und  Weib  im  physiologischen  und  im  pathologischen  Zustande,  in  der  Gesund- 
heit und  Krankheit;  man  beobachte  philosophisch  ihre  respectiven  Bestrebungen,  Beschäf- 
tigungen, Vergnügungen,  ihre  Neigungen,  ihr  Verlangen;  man  vergegenwärtige  sich,  welche 
Rolle  jedes  Geschlecht  in  der  Geschichte  gespielt  hat,  —  und  man  wird  schwerlich  der  para- 
doxen Behauptung  beizutreten  vermögen,  dass  es  keinen  Geschlechts  unterschied  des 
Geistes  giebt  und  dass  die  geistige  Verschiedenheit  der  Geschlechter  allein  eine  Folge  der 
Erziehung  sein  soll.  Ein  Weib  mit  männlichem  Sinn  ist  ein  ebenso  anomales  Geschöpf  als 
eine  Frau  mit  männlicher  Brust,  mit  männlichem  Becken,  mit  männlicher  Musculatur  oder 
mit  einem  Barte.* 

Wohl  muss  jedem  unbefangenen  Beobachter  die  Thatsache  auffallen ,  dass 
überall  schon  von  frühester  Jugend  an  die  Neigungen,  der  Geschmack  und  das 
Vergnügen  bei  beiden  Geschlechtern  höchst  diSerent  sind.  Bei  allen  Yölkem 
(siehe  Ploss'^^)  zeigt  sich  schon  unter  den  Kindern  in  den  Spieläusserungen  der 
geistige  Unterschied  beider  Geschlechter:  die  Knaben  sind  activer,  lieben  kri^e- 
rische  Spiele,  spielen  Räuber,  Soldaten  u.  s.  w. ;  der  als  Mädchen  verkleidete 
Achilles  griff  zum  Schwert.  Puppen,  Spiegel,  Putz  und  Tänze  sind  die  Spiele 
der  Mädchen. 

Die  Vertreter  der  „Frauen rechte*'  behaupten  die  Gleichheit  zwischen  Mann 
und  Weib:  wenigstens  stehen,  wie  sie  sagen,  in  intellectueller  Hinsicht  die  beiden 
Geschlechter  mindestens  auf  gleicher  Stufe ,  ja  man  sehe  sogar ,  dass  in  geistiger 
Beziehung  die  Mädchen  viel  schneller  zur  Reife  gelangen  als  die  Knaoen,  und 
dass  zum  Beispiel  Mädchen  von  16  Jahren  in  Bezug  auf  ihre  geistige  Bat* 
Wickelung  die  gleichaltrigen  Knaben  bei  weitem  übertreffen.  Man  klM«it^  mf^ 
hieraus  zum  mindesten  nicht  einen  Rückschluss  auf  eine  geistige  "* 
dem  weiblichen  Geschlechte  gestatten. 


42  II-  I^ie  psjchologbclie  Auffassung  des  Weibes. 

Aber  diesem  Einwurf  setzt  Aüan  mit  YoUem  Rechte  einen  anderen  entgegen. 
Er  macht  nämlich  darauf  aufmerksam,  dass  ein  Thier  oder  eine  Pflanze,  je  höher 
sie  auf  der  natürlichen  Rangstufe  stehen,  um  so  langsamer  ihre  höchste  Ent- 
wickelung  erlangen;  so  sei  es  auch  mit  den  Knaben ,  die  später  reifen,  als  die 
Mädchen,  sowohl  in  leiblicher  als  in  geistiger  Hinsicht. 

Sehr  schon  bespricht  an  der.  Hand  der  Geschichte  Lorenz  von  Stein  die 
, Frauenfrage*  : 

«Es  ist  noch  keine  hundert  Jahre  her  in  einer  Weltgeschichte  von  so  vielen  tausend 
Jahren,  dass  man  überhaupt  begonnen  hat,  über  die  tiefere  Natur,  das  Wesen  und  die  Mission 
der  Frau  in  der  menschlichen  Gemeinschaft  nachzudenken.  Bei  allem  fast  unendlichen  Reich- 
thum  der  alten  Welt  in  allen  Gebieten  dos  geistigen  Lebens  ist  hier  ein  Gebiet,  zu  welchem 
ihr  arbeitender  Gedanke  niemals  hingereicht  hat.  Selbst  an  den  grOssten  weiblichen  Gestalten 
der  alten  Welt  gehen  nicht  bloss  Philosophie  und  Geschichte,  sondern  selbst  die  geistreiche 
Beobachtungsgabe  der  Pariser  unter  den  Griechen,  der  Athenienser,  schweigend  Torüber, 
und  weder  das  schöne  Bild  der  Penelope,  noch  die  glänzende  Erscheinung  einer  JjaiSj  noch 
die  machtvolle  einer  KUopatra  oder  die  schmachbedeckte  einer  MessaJine  haben  zum  Nach- 
denken auch  die  rastlos  Denkenden  unter  den  Alten  angespornt.  Aristoteles  weiss  in  seiner 
Politik  von  hundert  Gründen,  aus  denen  Männer  stark  und  Staaten  gpross  werden  und  ver- 
gehen, aber  von  einem  der  gewaltigsten  Factoren  des  Lebens  und  seiner  Bewegung,  von  dem 
Weibe,  weiss  er  nichts.  Plato  kennt  alle  Ideale,  die  des  Menschen,  der  Weisheit,  des  Staates, 
der  Unsterblichkeit  —  das  Ideal  des  Weibes  kennt  er  nicht  Die  Lyriker  besingen  alles  bis 
zu  den  olympischen  Spielen  und  Siegern,  aber  die,  denen  sich  zuletzt  auch  diese  Sieger  gerne 
beugten,  die  Frauen,  kennen  sie  nicht.  Unter  den  grossen  und  kleinen  Theaterdichtem  der 
alten  Welt  hat  nur  Sophokles  eine  Antigone;  sie  wissen  alle  das  Weib  nicht  als  ,Motiv'  zu 
verstehen  und  zu  benutzen,  und  darum  sind  uns  ihre  sonst  so  grossen  Dramen  Früchte  ohne 
Blüthen,  kalt  und  klar,  hart  und  historisch.  Allerdings  beginnt  mit  der  germanischen 
Welt  eine  andere  Zeit.  Das  Weib  tritt  in  die  Geschichte  und  ihre  Poesie  hinein;  an  der 
Schwelle  derselben  stehen  Kriemhild  und  Brunhild,  zwei  Gestalten,  wie  sie  die  alte  Welt 
nicht  kennt,  eine  Gudrun  wird  der  Inhalt  eines  zweiten  nicht  minder  grossen  Epos.  Dann 
kommen  die  Troubadours  und  ihr  Reflex  bei  den  Deutschen,  die  Minnesänger;  das  Herz 
der  gormanischen  Völker  hat  gefunden,  was  der  Verstand  der  alten  nicht  gesehen  hat,  die 
Liebe  als  jenen  mächtigen  Factor,  der  die  eine  Hälfte  des  männlichen  Lebens  unbedingt 
beherrscht,  um  die  andere  glücklich  oder  unglücklich  zu  machen;  und  von  da  an  wird  die 
Ehe  der  Inhalt  aller  Kämpfe,  in  denen  das  Individuum  mit  den  individuellen,  ja  mit  den 
gesellschaftlichen  Verhältnissen  ringt.  Schon  ist  das  Pathos  aus  dem  rein  männlichen  ein 
halb  weibliches  geworden;  der  Mann,  der  früher  sein  Leben  und  seine  hüchste  Kraft  nur  dem 
Staate  geweiht,  lernt  für  die  Frau  nicht  bloss  fühlen  und  leben,  sondern  auch  sterben,  und 
die  Poesie  des  achtzehnten  Jahrhunderts  bedeckt  das  Grab  aller  Werihers  mit  den  herrlichsten 
Blumen  des  Liedes  und  des  Trauerspieles.  Die  Frau  ist  da:  sie  ist  eine  Gewalt;  sie  ist  zur 
Hälfte  des  Lebens  geworden;  aber  sie  ist  doch  nur  ein  Eigenthum  der  Dichtkunst.  Kaum 
dass  die  trockene  Satire  Geliert's  und  liabener^s  hier  und  da  einen  komischen  Zug  in  die 
glänzenden  Bilder  hineinzeichnet,  die  in  den  Gretchens  und  Klärchens,  in  den  verschiedenen 
Luisenhaftigkeiten  und  Amaranthen  ihre  tiefen,  schönen  Augen  auf  uns  richten  und  uns 
fesseln;  die  schönen  Gestalten  bleiben,  und  selbst  die  Sapphos,  die  uns  so  oft  begeistern, 
sind  unser  und  treten  mit  ebenso  viel  Eleganz  als  Erfolg  in  das  sprudelnde  Leben  unserer 
Künstlerwelt  hinein.  Es  ist  kein  Zweifel,  wir  sind  um  eine  halbe  Welt  reicher  geworden, 
aber  bis  jetzt  nur  für  die  Dichtkunst.  Das  wirkliche  Leben  hat  noch  immer  die  Frau 
nur  als  Thatsache,  nicht  als  die  grosse  anerkannte  Kraft  aufgenommen,  die  in  ihr  lebt,  und 
selbst  Bahac^s  ,Femmes  incomprises*  haben  es  nicht  vermocht,  jenes  Interesse  an  den  weib- 
lichen Gestaltungen  der  Dichtkunst  über  ihr  dreissigstes  Lebensjahr  hinaus  festzuhalten.  Da 
kommt  nun  unsere  nüchterne  Zeit:  ihr  Charakter  ist  der  Maassstab,  den  sie  in  tausend 
Formen  in  ihrer  Hand  führt,  und  in  tausend  Formen  messend  doch  immer  dasselbe  misst. 
Das  aber,  was  sie  misst,  ist  der  Werth,  und  zwar  mit  kühler  Härte  und  vollem  Bewnsstsein 
der  wirth schaftliche  Werth  aller  Dinge.  Für  sie  ist  auch  die  Sonne  nichts  als  Licht  und 
Wärme,  die  Kraft  ist  Production,  der  Hain  der  Sänger  mit  süssduftender  Frühlingsluft  ist  ein 
landwirthschaftlicher  Factor  für  die  Feuchtigkeit,  und  die  Blüthe  aller  Dinge  hat  nor  als 
Mutter  der  werthvollen  Erde  ihre  nationalökonomische  Berechtigung.  Es  ist  sehr  tnrarig,  so 
sehr  natürlich  zu  sein;  aber  es  ist  so.  Wer  will  es  wagen,  sich  dem  zu  entsiehen?  üad  wtav 
jetzt  jede  Form  des  Bewusstseins  von  den  nationalökonomischen  Messungen  ( 


7.  Die  psychologischen  Aufgaben  des  Weibes.  43 

kann  es  fehlen,  dass  wir  auch  das,  worin  der  Frühling  des  Lebens  zur  dauernden  Gestalt 
wird,  mit  diesem  Maasse  messen?' 

Aach  Lorenz  von  Stein  gelangt  zu  einer  Ablehnung  der  Emancipation  der 
Frau,  indem  er  am  Schlüsse  seiner  weiteren  Betrachtungen  sagt:  „So  werde  ich 
nicht  mit  den  Physiologen  über  das  Gramniengewicht  des  Hirns  discutiren;  ich 
werde  vielmehr  einfach  die  unzweifelhafte  Thatsache  feststellen,  dass  alle  Berufe 
•der  Frau  zugänglich  sind  und  sein  sollen  mit  Ausnahme  derer,  bei  denen  durch 
die  strenge  Erfüllung  des  Berufs  selbst  der  wahre  Beruf  der  Frau,  die  Ehe,  un- 
möglich wird.  Nun  glaube  ich,  diese  Grenze  ist  in  den  Berufsarten  der  Frau 
bereits  erreicht;  die  Frau,  die  den  ganzen  Tag  hindurch  beim  Pulte,  am  Richter- 
tisch, auf  der  Tribüne  stehen  soll,  kann  sehr  ehrenwerth  und  sehr  nützlich  sein, 
aber  sie  ist  eben  keine  Frau  mehr;  sie  kann  nicht  Weib,  sie  kann  nicht  Mutter 
sein.*  Wir  stimmen  mit  v.  Stein  völlig  in  dem  Satze  überein:  „In  dem  Zustande 
imserer  Gesellschaft  ist  die  Emancipation  ihrem  wahren  Wesen  nach  die  Negation 
<[er  Ehe/  Und  an  einer  anderen  Stelle  sagt  derselbe  Autor :  „Es  ist  kein  Zweifel, 
<[er  Träger  des  socialen  Gedankens  ist  der  Mann,  die  Trägerin  des  socialen  Ge- 
fühles aber  ist  die  Frau.*'  Die  Natur  hat  beide  Geschlechter  für  ihre  Leistungen 
auf  eine  Arbeitstheilung  hingewiesen. 

Der  Gynäkologe  Runge  schreibt;  „Die  Emancipation  (des  Weibes)  fordert 
Oleichberechtigung  der  beiden  Geschlechter  und  praktische  Bethätigung  der  Gleich- 
berechtigung und  fusst  auf  dem  Satz:  Die  Frau  ist  gleich werthig,  also  gleich- 
berechtigt. Das  ist  eben  der  grosse  Irrthum,  der  auf  einer  völligen  Unkenntniss 
<[er  physiologischen  Unterschiede,  welche  die  Natur  unabänderlich  zwischen  den 
Geschlechtern  geschaffen  hat,  beruht.  Das  Weib  ist  keineswegs  gleichwerthig  mit 
<[em  Manne,  sondern  vollkommen  anders  werthig.  Es  bedarf  keiner  weiteren  Aus- 
einandersetzung, dass  die  Folge  der  Emancipation  nicht  allein  die  Aufhebung  der 
Ehe,  sondern  dass  das  Endresultat  ein  erbitterter  Concurrenzkampf  zwischen  Mann 
und  Weib  unter  Aufhebung  des  zum  Schutz  des  Weibes  geschaffenen  Sexualcodex 
sein  würde.  Und  es  kann  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  dieser  Kampf  mit 
"der  Niederlage  des  für  den  Kampf  mit  der  Aussenwelt  schlechter  ausgerüsteten 
Weibes  enden  wird.  Im  Interesse  des  Weibes  müssen  wir  Männer  daher  die 
Emancipation  energisch  bekämpfen/^ 

Waldeyer^  lässt,  auf  die  anatomischen  Thatsachen  gestützt,  den  Waruungs- 
ruf  erschallen:  „dass  bei  allen  auf  eine  Abänderung  in  der  Erziehung  der  Frau 
zielenden  Einrichtungen  sorgfältig  die  körperlichen  und  seelischen  Unterschiede 
vom  Manne  in  Erwägung  gezogen  werden  mögen,  was  von  den  Emancipations- 
Vorkämpfem  nicht  immer  geschieht,  und  dass  wir  diese  Unterschiede  noch  viel 
eingehender  studiren,  als  es  bisher  der  Fall  war.  Die  Natur  hat  sie  sicherlich 
nicht  bloss  gegeben,  damit  das  Weib  dem  Manne,  der  Mann  dem  Weibe  gefalle; 
sie  wollte  damit  mehr,  sie  wollte  auch  ein  Stück  Arbeitstheilung.  Ver- 
wischen wir  dies  nicht  allzusehr !  Suchen  wir  bei  aller  Sorge  für  das  Wohl  des 
Weibes,  im  Interesse  der  Erhaltung  des  Staates  und  des  allgemeinen  Volkswohles, 
auch  dessen  Eigenart  zu  schützen  und  zu  erhalten.*^ 

Die  Fehler,  welche  in  der  modernen  Erziehung  des  Weibes  begangen  werden, 
bedrohen  nicht  bloss  dessen  körperliches  und  moralisches  Gedeihen,  sondern  sie 
sind  auch  mit  schwerwiegenden  Nachtheilen  für  das  Wohl  der  Familie  und  damit 
für  das  der  Gesellschaft  verbunden. 

„Der  Beruf  des  Weibes,  so  sagt  sehr  richtig  r.  Krafft-Ebing,  ist  die  Ehe  und  in  dieser 
ist  sie  bemfen  als  Matter,  als  Hausfrau,  als  Gefährtin  des  Mannes  und  als  Erzieherin  ihrer 
Kinder  ihre  Stelle  auszufQllen.  Diesen  Berufspflichten  trägt  die  moderne  Erziehung  des 
Mftdchena  keineswegs  volle  Rechnung.  Sie  schädigt  die  künftige  Leistung  als  Mutter,  indem 
•ie  durch  sn  vieles  Stabensitzen  und  Lernenlassen  den  Leib  verkümmern  lässt,  die  Ent- 
widktliiBgtpsriode  treibhausartig  verfrüht  und  über  dem  Drang,  den  Geist  zu  entwickeln,  nicht 

den.  ICBrper  in  seiner  wichtigsten  Entwickelungsphase  schont.  Damit  wird  der  heut- 
«1.  u«9||  Bleichsucht,  der  Eingangspforte  so  vieler  Uebel,  wie  z.  B.  der  Lungen- 

*^nb  geleistet.* 


44  II*  ^'^^  psychologische  Auffassung  des  Weibes. 

«Der  ethische  und  häusliche  Werth  des  Weibes  als  künftiger  Haus&au  und  GefUirtin 
des  Mannes  auf  seinem  oft  aufreibenden,  mühseligen  Lebensweg  leidet  unter  einer  Erziehung, 
die  nur  bestrebt  ist,  das  Mädchen  heutzutage  so  viel  als  möglich  durch  äusseren  und  inneren 
Aufputz  zu  einer  begehrenswerthen  Partie  fOr  den  Mann  zu  machen  und  so  des  Mädchens 
Zukunft  —  Frau  zu  werden  —  thunlichst  zu  sichern.  Diese  Erziehungsweise  TemachläMigt 
die  Gemüths-  und  Herzensbildung,  den  Sinn  für  Häuslichkeit,  Einfachheit,  Genügsamkeit,  für 
Hohes  und  Edles.  Sie  dient  nur  hohlem  Scheine,  legt  Werth  auf  encyklopädisches  Winen 
und  auf  Fähigkeiten,  die  die  junge  Dame  in  der  Gesellschaft  beliebt  machen,  mit  Yerkümmern- 
lassen  der  echt  weiblichen  Tugenden.* 

«Statistiker  versichern  in  allem  Ernste,  dass  etwa  75  Procent  der  Ehen  heutzutage 
unglücklich  ausfallen.  Mag  auch  diese  Ziffer  etwas  zu  hoch  gegriffen  sein,  so  kann  es  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  die  an  Gemüth-  und  Herzensbildung  so  häufig  verkümmerte,  la 
Genus3  und  Luxus  erzogene,  über  ihre  sociale  Sphäre  hinaus  gestellte,  körperlich  schwäch- 
liche und  nach  den  ersten  Wochenbetten  bereits  kränkelnde,  dahinwelkende  Frau  keine 
Lebensgefährtin,  wie  sie  sein  sollte,  für  den  Mann  abgeben  kann.  Enttäuschungen  auf  beiden 
Seiton  können  nicht  ausbleiben.  Die  Frau  fühlt  sich  in  ihrer  Lebensstellung  nicht  befriedigt 
Körperlich  leidend  und  nervös  ist  sie  unfähig,  ihren  mütterlichen  und  Muslichen  Pflichten  in 
vollem  Umfange  nachzukommen.* 

Was  für  schwere  Schädigungen  für  das  allgemeine  Wohl  der  civilisirten 
Nationen  durch  die  immer  mehr  und  mehr  sich  steigernden  Ansprüche  an  die 
Schulbildung  der  jungen  Mädchen  erwachsen,  das  hat  man  kürzlich  in  Schweden 
gesehen. 

, Untersuchungen  an  8000  Schulmädchen  der  höheren  Stände  in  Schweden  führten, 
wie  Axel  Key  berichtet,  zu  dem  folgenden  Resultate:  «Die  Kränklichkeit  unter  den  Schul - 
mädchen,  den  künftigen  Müttern  kommender  Generationen,  hat  sich  als  eine  ganz  erschreckende 
herausgestellt.  Im  Ganzen  sind  nicht  weniger  als  61  pCt.  von  ihnen,  welche  alle  den  wohl- 
habenden Klassen  angehören,  krank  oder  mit  ernsteren  chronischen  Leiden  behaftet.  86  pCt. 
leiden  an  Bleichsucht,  ebenso  viele  an  habituellem  Kopfweh.  Bei  mindestens  10  pCt.  finden 
sich  Rückgpratsverkrümmungen  u.  s.  w.* 

Auch  v.  Krajft-Ehing  äussert  sich  über  die  grossen  Gefahren,  welche  selbst 
durch  die  geringen  Grade  der  Frauenemancipation  dem  weiblichen  Nervensysteme 
gebracht  werden: 

,ln  der  Frauenemancipation  im  edleren  Sinne  des  Wortes,  die  nur  zu  sehr  ihre  Be- 
rechtigung im  modernen  Culturleben  hat,  liegt  eine  nicht  zu  unterschätzende  Quelle  fär  das 
Entstehen  der  Nervosität.  Mag  auch  das  Weib  virtuell  beföhigt  sein,  auf  vielen  Arbeits- 
gebieten mit  dem  Manne  in  Concurrenz  zu  treten,  so  war  doch  seine  Bestimmung  bisher 
durch  Jahrtausende  eine  ganz  andere.  Die  zur  Vertretung  eines  sonst  dem  Manne  allein  zu- 
kommenden wissenschaftlichen  oder  artistischen  Berufs  nöthigo  actuelle  Leistungsfähigkeit 
des  Gehirns  kann  vom  Weibe  erst  im  Lauf  von  Generationen  erworben  werden.  Nur  ganz 
vereinzelte,  ungewöhnlich  stark  und  günstig  veranlagte  weibliche  Individuen  bestehen  schon 
heutzutage  erfolgreich  die  ihnen  durch  moderne  sociale  Verhältnisse  aufgezwungene  Coneurrens 
mit  dem  Manne  auf  geistigen  Arbeitsgebieten.* 

,Die  grosse  Mehrzahl  der  diesen  Kampf  aufnehmenden  Weiber  läuft  Gefahr,  dabei  in 
unterliegen.  Die  Zahl  der  Besiegten  und  Todten  ist  ganz  enorm.  Ueberaus  häufig  leiden 
weibliche  Beamten,  speciell  Buchhalter,  Comptoiristen,  Telegraphisten,  Postbedienstete  an 
recht  schweren  Formen  von  Nervenkrankheit  und  Nervenschwäche.  Ganz  besonders  gilt  dies 
für  Candidatinnen  des  Lehrfachs.  Die  Anforderungen  an  die  moderne  Lehrerin  sind  in  unseren 
geschraubten  Culturverhältnissen  ungewöhnlich  hohe.  Kaum  den  Kinderschuhen  entwachsen, 
mitten  in  der  körperlichen  Entwickelungsperiode,  müssen  derartige  arme  Geschöpfe  ihren 
Geist  anstrengen  und  in  unverhältnissmässig  kurzer  Zeit  nahezu  ebenso  viel  Lernstoff  bewäl- 
tigen, als  ein  dem  Gelehrtenstand  sich  widmender  Junger  Mann,  der  doch  kaum  vor  dem 
18.  Jahre  einem  Berufsstudium  sich  zuwendet.  Zu  der  geistigen  Ueberanstrengung,  die  selbst 
nächtliches  Studium  verlangt,  gesellen  sich  die  schädlichen  Wirkungen  auf  den  zarten,  kaum 
entwickelten  Körper  in  Gestalt  von  Bleichsucht  und  Nervenschwäche.  Nicht  selten  geschieht 
es,  dass  solche  junge  Lehrerinnen  sofort  nach  abgelegter  Befähigungsprüfung  erschöpft  ro- 
sammenbrechen  und  schweren  Nervenleiden  anheimfallen." 

Nach  einer  Notiz  der  Vossisdien  Zeitung  (31./3.  1894)  hat  Jemand  in  Pazii  nntanrochti 
wieweit  die  Frauen  die  Gabe  der  Erfindung  besitzen.  Das  französische  Patentamt  gilbt 
im   Durchschnitt  alle  Jahre  125  000  Erfindungspatente   aus.    Ungefähr  nur  100 


46  II-  ^^^  psychologische  Auffassung  des  Weihes. 

fallen  auf  das  weihliche  Geschlecht.  Unter  diesen  weihlichen  Patenten  sind  einige  allgemeiner 
Art.  So  z.  B.  eine  Ahstimmungsmaschine,  ein  SicherheitszQgel  zum  augenhlicklichen  Pariren 
der  Pferde,  ein  Thermo- Syphon,  ein  hydraulischer  Apparat  zum  Wasserhehen,  ein  Mikrometer 
für  Thermo-,  Baro-  und  Hygrometer,  eine  Ankündigungsmethode  durch  Spiegelhilder,  eine 
Lampe  zur  Vernichtung  der  Rehlaus,  der  Raupen  und  anderer  Eerhthiere,  eine  Reihe  von 
Systemen  und  Mitteln  zur  Verhinderung  von  Eisenhahnunffillen  und  zur  Erleichterung  des 
Bahnbetriehes,  Verbesserung  der  nächtlichen  Heersignale  mittelst  FeuerwerkskOrpem  u.  8.  w. 
Die  grösste  Zahl  von  diesen  Patenten  bleibt  aber  der  weiblichen  Sphäre  treu.  Genannt  werden 
als  Beispiele :  Apparat  zum  Fleischsalzen,  Orangenzer Schneider,  selbstthätige  Saugflasche,  Ver- 
fahren zur  Reinigung  alter  Wandtapeten,  Guttaperchamatrazen,  hölzernes  Unterbett,  Mieder- 
gürtel,  Kleiderraffer,  „hygienische*  Toumüre  aus  luftgefülltem  Kautschuk,  System -Ton  Trag- 
bändem  zum  Kindertragen  für  arbeitende  Frauen,  welche  die  Hände  frei  haben  müssen  u.  s.  w. 
Ob  diese  Patente  sich  in  der  Praxis  bewährt  haben,  lässt  sich  hieraus  natürlicherweise  nicht 
ersehen. 

Der  so  häufig  aufgestellten  Behauptung,  dass  es  sich  nicht  um  angeborene 
Verschiedenheiten  in  dem  geistigen  Vermögen  des  männlichen  und  weiblichen 
Geschlechts  handele,  sondern  dass  die  in  die  Augen  fallenden  Unterschiede  einzig 
und  allein  als  eine  Folge  der  verschiedenartigen  Erziehung  und  der  verschieden- 
artigen Methoden  des  Unterrichts  bei  den  beiden  Geschlechtern  angesehen  werden 
müssten,  tritt  mit  klarem  und  überzeugendem  Beweise  Delaunay  entgegen: 

,0n  pourrait  croire  que  Tinstruction  donnee  egalement  aux  individus  de  Tun  et  de 
Tautre  sexe  a  pour  effet  de  retablir  T^galite  entre  eux.  II  n'en  est  rien.  Au  contraire,  le 
fonctionnement  du  cervoau  accroit  la  pre^minence  de  Thomme  sur  la  femme.  Dans  les  ^coles 
mixtes,  oü  les  deux  sexes  revoivent  la  mOme  öducation  jusqu*ä  quinze  ans,  les  instituteurs 
observent,  qu'ä  partir  de  douzo  ans  les  filles  no  peuvent  plus  suivre  les  gar9on8.  Cette  Ob- 
servation demontre  que  Tegalite  des  deux  sexes  r^v^e  par  certains  philosophes  n*est  pas  prks 
de  s*accomplir.  Au  contraire,  cette  t^galit^,  qui  existait  chez  les  races  primitives,  tend  ä  dls- 
parat tre  avec  le  progriis  de  la  civilisation.* 

Ein  hartes,  aber  aus  solcher  Feder  wohl  nicht  zu  unterschätzendes  Urtheil 
fallt  der  bekannte  Anthropologe  Carl  Vogt^  über  die  Fähigkeiten  der  in  der 
Schweiz  bekanntermaassen  besonders  zahlreichen  weiblichen  Studirenden: 

,Aux  cours,  les  etudiantes  sont  dos  modales  d'attention  et  d*application,  peut-Stre  m§me 
s'appliquent-elles  trop  a  porter  ä  la  maison,  noir  sur  blanc,  ce  qu'elles  ont  entendu.  EUes 
occupent  g^n<^ralement  les  premiers  bancs,  parcequ'elles  se  fönt  inscrire  tr^-töt,  et  ensnite 
parcequ'elles  arrivent  de  tres-bonne  heure,  bien  avant  le  commencement  des  cours.  Senlement 
on  pout  remarquer  ce  fait,  c'est  que  souvent  elles  ne  jottent  qu'un  coup  d*oeil  soperficiel  tur 
les  prOparations  que  le  professeur  fait  circuler;  quolquefois  möme  elles  les  passent  au  voinn 
Sans  m§me  les  regarder;   un   exanien   plus   prolonge  les   empecherait  de  prendre  des  notes.* 

,Lors  des  examens,  la  conduite  des  etudiantes  est  la  memo  que  pendant  les  conrs.  Elles 
savent  mieux  que  los  jeunes  gens :  pour  me  servir  d*uno  cxpression  de  classe,  elles  sont  önorme- 
ment  büchees:  leur  memoire  est  bonne,  de  sorte  qu'elles  savent  parfaitement  reciter  la  r^ponse 
ä  la  question  qui  Icur  est  poseo.  Mais  gen^ralement  elles  en  restent  lä.  üne  question  in- 
directe  leur  fait  perdro  le  fil.  D^s  que  Texaminateur  fait  appel  au  raisonnement  individuel, 
Texamen  est  fini:  on  ne  lui  repond  plus.  L'examinateur  cherche  ä  rendre  plus  clair  le  sens 
de  sa  question,  il  lache  un  mot  se  rapportant  peut-^tre  a  une  partie  du  manuscrit  de  Tötn- 
diante:  crac,  i;z.  marche  comme  si  on  avait  presse  le  bouton  d'un  telephone.  Si  les  examens 
consiataient  uniquement  en  r^ponses  ecrites  ou  verbales  snr  des  sujets,  qui  ont  öt^  iraitös 
dans  les  cours  ou  qu'on  pcut  lire  dans  les  manuels,  les  dames  obtiendraient  toujonrs  de  bril- 
lants  resultats.  Mais,  helas!  il  y  a  encore  des  epreuves  pratiques,  dans  lesquelles  le  candidat 
se  trouve  face  a  face  avec  la  realite,  et  qu*il  ne  pourra  subir  avec  succ^s,  que  s*il  a  fait  des 
travaux  pratiques  dans  les  laboratoires,  —  et  c'est  ici  que  le  bilt  les  blosse.^ 

ffLe  fait  pour  lequel  les  travaux  de  laboratoire  sont  particuli^rement  difficiles  anx 
dames  —  on  aura  peine  a  le  croire  —  c'est  qu*elles  sont  souvent  maladroites,  inhabiles  de 
leurs  mains.  Les  assistants  des  laboratoires  sont  unanimes  dans  leurs  plaintes;  on  les  pour- 
suit  de  questions  sur  les  plus  petites  choses,  et  une  dame  seule  leur  donne  plni  de  imvail 
que  trois  etudiants.  On  pourrait  croire  que  les  doigts  si  fins  de  ces  jeoneo  femmes  se  prtient 
plus  spöcialement  aux  travaux  microscopiques,  au  maniement  des  minces  lamellfli  da  vaB%  ik 
la  section  des  fines  coupes,   a  la  confection  de  petites  gracieoses  pr^panttions;  e*ait 


8.  Die  moderne  Psychologie  in  ihrer  Auffassung  des  weiblichen  Charakters.  47 

contraire  qui  est  la  v^rit^.  On  reconnaft  la  place  d'une  ^tudiante  a  premiere  vue:  auz  d^bris 
de  verre,  aoz  instrumenta  bris^,  aux  couteauz  ebr^ches,  aux  taches  provenant  de  reactifs  ou 
de  maii^res  tinctoriales  r^pandues,  aux  preparations  abimees.  II  y  a  sans  deute  des  ezceptions : 
mais  ce  tont  des  exceptions.* 

Der  weibliche  Student  ist  nach  Vogt  superieure  pour  „remmagasinement 
des  choses  apprises",  et  inferieure,  au  contraire,  „en  tout  ce  qui  concerne  Tactivite 
pratique  et  le  raisonnement  indiyidueP^ 

Wir  lassen  nun  auch  einer  Dame  das  Wort:  Ida  Klug  äusserte  bei  der 
Frauenfeier  zu  Heinrich  Pestalozzi' s  hundertstem  Geburtstage  Folgendes: 

«Man  hat  behauptet,  die  Frauen  seien  im  Allgemeinen  für  die  Ausbildung  derjenigen 
Beschäftigungen,  die  eigentlich  dem  Manne  zukommen,  ebenso  geeignet  wie  dieser,  wenn  sie 
nur  auf  dieselbe  Weise  dafür  ausgebildet  würden.  Sie  könnten  z.  B.  auf  den  Gipfel  der  Kunst 
gelangen;  sie  könnten  in  den  Wissenschaften  die  Töchter  lehren,  vollkommen  so  gut  wie  der 
Mann,  oder  noch  besser  u.  dergl.  m.  Dem  ist  jedoch,  nach  meinem  Dafürhalten,  zu  wider- 
sprechen. So  wenig  der  Mann  den  Grad  aufopfernder,  sich  selbst  verläugnender  Liebe  zu 
erreichen  im  Stande  ist,  wie  das  Weib,  ebensowenig  ist  das  Weib,  wenn  wir  nicht  die  Aus- 
nahme von  Einer  unter  Tausenden  als  Regel  wollten  gelten  lassen,  einer  so  hohen  Ausbildung 
der  Verstandeskräfte  fähig,  wie  der  männliche  Geist.  In  dem  Weibe  herrscht  das  Seelenleben, 
die  Kraft  der  Liebe  vor,  und  durch  diese  ein  feineres  Gefühl  für  das  Schöne,  Wahre  und 
Gute;  in  dem  männlichen  Geiste  dagegen  die  Macht  des  Verstandes,  mit  dem  er  alles  erfasst 
and  besiegt.  Darum  kann  aber  auch  das  Weib  nicht  mit  der  Schärfe  und  Sicherheit  des 
männlichen  Geistes  in  die  Gebiete  der  Kunst  und  Wissenschaft  eindringen.  Es  erlangt  darin 
nar  eine  gewisse  Höhe,  wo  die  unüberschreitbare  Scbneelinie  für  es  beginnt,  während  der 
Mann  die  riesigen  Gipfel  kalter,  starrer  Forschung  zu  erklimmen  im  Stande  ist.  —  Wenn  wir 
daher  eine  tiefere,  allseitigere  intellectuello  Bildung  von  den  Frauen  fordern,  so  soll  dies  nur 
g^eschehen  in  Bezug  auf  ihren  eigentlichen  Beruf,  und  hier  kann  ihnen  dann  auch  wohl  mit- 
zureden erlaubt  sein/ 

Für  die  Naturvölker  macht  Richard  Andree^  auf  ein  merkwürdiges  Ver- 
halten aufmerksam,  welches,  wenn  auch  nicht  für  alle  Stämme  zutreffend,  doch 
ftür  die  Mehrzahl  zweifellos  richtig  zu  sein  scheint.     Er  sagt: 

«Fast  überall  sind  es  die  Männer,  welche  sich  mit  der  Herstellung  von  derartigen  Ab- 
bildungen befassen;  das  weibliche  Geschlecht  tritt  dabei  in  den  Hintergrund.  Sollte  das 
nicht  einem  allgemeinen  psychischen  Gesetze  entspringen,  das  für  die  verschiedensten  Rassen 
das  nämhche  ist?  Ein  sichtbarer  Grund  liegt  nicht  vor,  dass  die  Weiber  nicht  ebenso  gut 
wie  die  Männer  sich  mit  Zeichnungen  befassen  sollten.  Dieses  führt  unter  Umständen  zu 
eigenthfimlichen  Erscheinungen.  Der  Sinn  der  Papuas  inNeu-Guinea  für  sehr  abwechselnde 
«chOne  Omamentation  ist  bekannt,  alle  Gpräthe  und  Waffen  aus  Holz  sind  mit  den  ver- 
schiedensten Decorationen  in  Schnitzwerk  versehen,  aber  bei  den  Töpferwaaren  (in  Kaiser 
Wilhelms- Land),  die  doch  sonst  zur  Ornamentirung  geradezu  verlocken  und  auch  solche  in 
den  ältesten  prähistorischen  Vorkommnissen  Europas  zeigen,  fehlt  jede  Verzierung,  und  zwar 
deshalb,  weil  dort  die  Töpferei  est  exclusivement  confieo  aux  soins  des  femmes,  dont  la  nature 
est  g^neralement  peu  artistique.* 

Eine  Gleichstellung  der  beiden  Geschlechter  darf  daher,  wie  mit  vollem 
Rechte  Virchow^  sagt,  aus  intellectuellen  und  aus  physischen  Gründen  nicht  an- 
gestrebt werden,  denn  alle  Unterschiede  müssen  bleiben,  die  in  der  physischen 
Beeiimmung  beider  Geschlechter  gegeben  sind.  Eine  volle  Emancipation  würde 
zar  Auflösung  der  Familie  und  zur  öffentlichen  Erziehung  der  Kinder  führen, 
einem  Zustande,  wie  er  nur  auf  den  niedrigsten  Stufen  menschlicher  Cultur  ge- 
funden werden  kann. 

8.  Die  moderne  Psychologie  in  ihrer  Auffassung  des  weibliehen 

Charakters. 

Verbietet  sich  schon  durch  die  specifischen  physiologischen  Functionen,  welche 
das  weibliche  Geschlecht  insbesondere  bezüglich  seiner  sexuellen  Aufgaben  der 
Empfimgnki^  der  Schwangerschaft,  der  Geburt,  des  Wochenbettes,  des  Säugens 
vaü  der  KJndiwrtBega,  tou  der  Natur  übernommen  hat,  eine  Gleichstellung 


48  U.  Die  psychologische  Auffassung  des  Weiber 

beider  Qeschlecbter,  so  tritt  der  Unterschied  zwischen  Mann  und  Weib  auch  in 
psychologischer  Hinsicht  recht  deutlich  hervor.  Denn  das  gesammte  geiatige 
Leben  des  Weibes  erhält  specifische  Bildangsbahnen,  und  wenn  nan  allerdingB 
auch  dem  Weibe  keineswegs  irgend  eine  geistige  Fähigkeit  YoUstSndig  fehlte 
welche  der  Mann  besitzt,  so  sieht  man  doch  theils  durch  die  ursprüngliche  Anlage 
und  theils  durch  den  physiologischen  Lebensgang  gewisse  flhi^eiten  mehr, 
andere^  weniger  beim  Weibe  zur  Entwickelung  gelangen.  In  anthropologiBcher 
Beziehung  bemerkt  hierüber  Lotze^  sehr  treflfend  Folgendes: 

«Vergleicht  man  die  Divergenz  in  der  Richtung  der  geistigen  Bildung,  die  in  Cultor- 
völkem  männliches  und  weibliches  Geschlecht  scheidet,  mit  dem,  was  sich  bei  den  wilden 
Stämmen  findet,  so  ist  zu  befürchten,  doss  ein  grosser  Thoil  der  Zartheit,  der  Weichheit  und 
des  GefQhlsreichthums,  den  man  so  gern  von  der  feineren  und  geschmeidigeren  Textur  des 
weiblichen  Körpers  abhängig  macht,  ebenso  wenig  in  diesem  Grade  eine  directe  Naturanlage 
ist,  als  jene  leiblichen  Eigenschaften  selbst.  Mag  immerhin  auch  bei  wilden  Völkern  die 
Muskolfaser  des  Mannes  straffer,  seine  Respiration  energischer,  sein  Blut  reicher  an  feiten 
Bestandtheilen,  seine  Nerven  weniger  reizbar  sein,  so  sind  doch  alle  diese  Unterschiede  ohne 
Zweifel  selbst  erst  durch  die  Lebensweise  der  Civilisation  vergrOssert,  die  vielleicht  alle 
körperliche  Kraft  etwas  herabsetzt,  aber  unverhültnissmässig  mehr  die  des  weiblichen  Ge- 
schlechts, während  sie  zugleich,  wie  die  Zähmung  der  Thiere,  Schönheit  und  Feinheit  der 
Gestalt  steigert.  Gewiss  halten  wir  nicht  allen  psychischen  Unterschied  der  Geschlechter  für 
unerzogen;  ihre  verschiedene  Bestimmung  mag  allerdings  auf  die  Richtung  und  Bildung 
grossen  natürlichen  Einfluss  ausüben ;  dagegen  sind  wir  überzeugt,  dass  die  meisten  detaillirtea 
Beschreibungen  hierüber  nicht  Schildeningen  eines  natürlichen,  sondern  eines  künstlichen  und 
zwar  bald  eines  depravirten,  bald  ciues  durch  Cultur  höher  entwickelten  Zustandes  sind. 
Gewiss  gehört  zu  den  Symptomen  einer  vorkehrten  Bildung  und  selbst  einer  depravirten  An- 
sicht über  die  natürlichen  Verhältnisse  die  ungemeine  Wichtigkeit,  welche  man  in  dem  weib- 
lichen Seelenleben  nicht  sowohl  den  Goschlechtsfunctionen,  als  vielmehr  der  Reflexion  üb« 
sie  und  der  beständigen  Erinnerung  an  sexuelles  Leben  beimisst,  während  man  dem  m&nn- 
lichen  Geiste  von  Anfang  an  eine  objoctivere  Richtung  auf  zusammenfassende  Weltanschannng 
zuschreibt.  Man  begeht  denselben  Fehler,  den  man  so  häufig  bei  der  Betrachtung  der  Instinete 
begangen  sieht:  man  vergisst,  dass  neben  den  einzelnen  durch  Naturanlage  bestimmten  Trieben 
noch  ein  bewegliches  unabhängiges  Geistesleben  steht,  und  dass  der  Kreis  der  Interessen  nicht 
mit  diesem  einen  Instincte  abgeschlossen  ist." 

Dass  die  periodisch  wiederkehrenden  Einflüsse,  welche  durch  die  vielgestaltige 
Reihe  der  Fortpflanzuiigsfunctionen  das  Weib  in  Anspruch  nehmen,  auch  auf  das 
Seelenleben  desselben  während  der  Ausübung  dieser  Functionen  einwirken ,  ist 
selbstverstUndlicli.  Allein  Lot;:e  macht  mit  Recht  darauf  aufmerksam,  dass  wir 
noch  wenig  aus  j)hvsiolojrischen  Motiven  das  permanente  Gepräge  zu  erklaren 
vermögen,  welches  während  der  Zeiten  des  Aussetzens  jener  Geschlechtsfunctionen 
die  Gesammtentwickelung  dos  Geistes  festhält.  Er  sagt:  Die  Dimensionen  der 
Körpertheile,  dos  Kopfes,  dor  Brust,  des  Unterleibes  und  die  damit  verbundenen 
Entwickelungsverschiodenheiten  der  inneren  Organe  mögen  allerdings  durch  die 
abweichende  Raschheit,  Kraft  und  Reizbarkeit  der  Functionen  charakteristische 
Mischungen  des  Gemeingelühls  bedingen,  aus  denen  nicht  nur  Bevorzugung 
einzelner  Gedankenkreise,  sondern  auch  eine  Disposition  zu  gewissen  formalen 
Eigentliümlichkeiten  des  Vorstellungsverlaufs  und  der  Phantasie  folgen  könnten. 
Am  nächsten  würde  es  uns  liegen,  die  Verschiedenheiten  der  Entwickelung  von 
der  Natur  dos  Nervensystems  und  seiner  Erregungen  abzuleiten.  Bestimmte 
rnterschiede  in  der  Structur  der  Centralorgane,  die  wir  zu  deuten  wQssten,  sind 
bisher  nicht  aufgefunden  worden. 

Diese  Aussprüche  Lofze's  gelten  noch  heute,  obgleich  seitdem  mehr  als  vier 
Jahrzehnte  verflossen  sind,  welche  in  der  Nervenphysiologie  vieles  Neue  zu  Tage 
brachten.  Noch  immer  wissen  wir  nur,  dass  das  weibliche  Geschlecht  einer  grossen 
Reihe  von  Nervenkrankheiten  weit  zugänglicher  ist,  als  das  männliche, 
also  das  Nervensystem  des  Weibes  ohne  Zweifel  eine  specifische  Thatigkeit  Sa 
Die  „Nervosität^',  diese  in   unserer   Zeit  und   bei  unserer  Cultar  sehr 


50  II*  ^^0  psychologische  Auffassung  des  Weibes. 

Anomalie,  ist  allerdings  wohl  auf  beide  Oeschlechter  in  gleicher  Zahl  yertheilt; 
und  es  ist  gewiss  falsch,  wenn  man  behauptet,  dass  das  Weib  mehr  als  der  Mann 
zur  Nervosität  neigt  (MSbius),  Vielmehr  ist  es  Thatsache,  dass  das  Weib  Yor- 
zugsweise  der  Hyperästhesie  und  den  mit  ihr  verbundenen  Erankheitflformen  aus- 
gesetzt ist,  und  dass  namentlich  die  sogenannten  hysterischen  Zustande  fiist  nur 
bei  Weibern  vorkommen,  während  sich  die  Hypochondrie  als  Männerkrankheit 
darstellt;  die  eigenthümlichen  Schwäche-  und  Erschöpfungszustände,  die  man  als 
„Neurasthenie'^  bezeichnet,  sind  viel  häufiger  bei  Männern  als  bei  Weibern  be- 
obachtet worden. 

„Das  Weib,''  sagt  Möbius^  „verhält  sich  im  Allgemeinen  passiv.  Es  herrscht 
in  ihm  das  Gefühlsleben  vor;  die  Intelligenz  ist,  wenn  vielleicht  auch  von  vorn- 
herein der  männlichen  ebenbürtig,  wenig  entwickelt,  insbesondere  tritt  das  Ver- 
mögen der  Begriflfe,  die  Vernunft,  zurück.  Insofern  kann  man  in  der  weiblichen 
Natur  eine  Disposition  zu  den  Nervenleiden  finden,  für  welche  Willensschwäche 
charakteristisch  ist/' 

Alle  jene  Perioden,  welche  als  Entwickelungsphasen  des  weiblichen  Geschlechts 
auftreten,  geben  mehr  oder  weniger  Anlass  zu  nervöser  Erkrankung;  der  Eintritt 
der  Menstruation,  die  Schwangerschaft,  das  Wochenbett,  die  Wechseljahre  oder 
das  Klimakterium  haben  namentlich  bei  unseren  cultivirten  Lebensverhältnissen  die 
verschiedensten  Störungen  im  Bereiche  des  Nervensystems  im  Gefolge,  währ«id 
die  Frauen  der  wilden  Völker,  wie  es  den  Anschein  hat,  viel  weniger  solchen 
nervösen  Leiden,  sowie  auch  den  mannigfachen  Erkrankungen  der  Geschlechts- 
organe ausgesetzt  sind. 

Die  geringere  Grosse  der  Kraft,  welche  das  weibliche  Geschlecht  im  Gegen- 
satz zum  männlichen  zeigt,  wird,  wie  Lotze^  sagt,  durch  ein  höheres  Maass  der 
Anbequemun^fahigkeit  an  die  verschiedensten  Umstände  ausgeglichen.  Die  leib- 
lichen Bedürfnisse  der  Frauen  sind  weit  geringer,  als  die  der  Männer;  sie  essen 
und  trinken  weniger;  sie  athmen  weniger  und  widerstehen  der  Erstickung,  wie 
man  behauptet,  besser.  Alle  Mühseligkeiten,  wenigstens  die,  welche  allmählich 
anwachsen  und  fortdauern,  alle  Entbehrungen  ertragen  sie  theils  leichter,  als  die 
Männer,  theils  wenigstens  weit  glücklicher,  als  im  Verhältniss  zu  ihrer  körper- 
lichen Kraft  erwartet  würde.  Sie  überstehen  Blutverluste  und  dauernde  Schmerzen 
besser ;  selbst  die  grössere  Reizbarkeit  ihres  Nervensystems,  um  deren  willen  viele 
unbedeutende  Störungen  ausgedehnte  Nachwirkungen  erwecken,  scheint  ebenso 
sehr  die  schnelle  und  gefahrlose  Zerstörung  der  erfahrenen  Erschütterungen  zu 
begünstigen.  So  erreichen  sie  selbst  unter  ungünstigen  Umständen  häufig  ein 
hohes  Alter,  obgleich  die  Beispiele  höchster,  bis  in  das  zweite  Jahrhundert 
reichender  Lebensdauer  auf  Männer  zu  treffen  scheinen.  Allen  sehr  heftigen 
Sinnesreizen  von  Natur  abgeneigt,  haben  sie  doch  gegen  unangenehme  Eindrücke 
weit  mehr  nur  ästhetischen  Widerwillen,  wo  der  Mann  seinen  physischen  Ekel 
mühsam  bezwingt.  Dieselbe  Anbequemungsfahigkeit  zeigt  sich  in  den  ver- 
schiedenen Lagen  des  Lebens.  Lotee  führt  dafür  die  alte  richtige  Bemerkung  an, 
dass  Frauen  sich  weit  leichter  in  neue  Lebenszustände ,  ungewohnten  Rang  und 
veränderte  Glücksgüter  schicken,  während  der  Mann  die  Spuren  seiner  Jugend- 
erziehung kaum  verwischen  kann.  Auch  weist  er  auf  das  Gemisch  sanguinischer 
Lebhaftigkeit  und  sentimenaler  Warmherzigkeit  hin,  das  wir  an  Frauen  ent- 
weder finden,  oder  dessen  Mangel  wir  als  eine  Unvollkommenheit  der  Einzelnen 
beklagen. 

«Es  dürfte  kaum  etwas  geben,  was  ein  weiblicher  Verstand  nicht  einsehen  kOnnte, 
aber  sehr  vieles,  wofür  die  Frauen  sich  nie  interessiren  lernen.  Sagt  man  nun  h&afig,  das» 
des  Mannes  Krkcnntniss  das  Allgemeine,  die  des  Weibes  das  Einzelne  suche,  so  wird  man  in 
zahlreichen  Fällen  gerade  die  Individualisirungskraft  der  Frauen  geringer  finden;  ohnehin 
würde  jene  Vertheilung  des  Erkenntnissgesch&ftes  nicht  zu  den  egoistischen  Bestrebiuig«, 
die  man  dem  m&nnlichen  Willen,  und  zu  der  Unterordnung  unter  das  AlIgomeiBa  ■fimwiiB 
die  man  der  yeib^phep  ScJ]^8tt)pschr(nknng  ^zc^wejst.    ^an  würde  vielleicht  xichtigtr  Wß 


8.  Did  modern«  Pijcfaologie  in  ibr^r  Aa^aettiiig  des  weibllcbeii  Charakter». 


51 


Krkcitotiius  und  Wille  de^  Mannes  auf  AU  gemeines,  die  des  Weibes  auf  Ganseü 
ferichyrt  *iod,*  Dietien  SaU  führt  dann  Latze  weiter  aus,  wobei  er  unter  anderem  äussert: 
,&  iit  weihticbe  Art,  die  Analyse  su  hassen  und  das  entstandene  Ganze,  so  wie  es  abge- 
«clÜQtBMi  4j|»ieht,  in  adinem  anmittelbaren  Werthe  und  seiner  Schönheit  zu  geniessen  und 
tu  bewundeni.* 

Dann  fUhrt  er  in  seiner  CharakteriBirung  fort:  «Alle  männlichen  Bestrebungen  beruhen 

■af  der  liefern  V^^rr^hnmg  des  Allgemeinen;    sei  bat   Stob    ond  Ehrfurcht   des  Mannes  ist  nicht 

'4e  Gewährung,  aondem  sein  Anspruch    beruht  auf  dem  Betrage  aU- 

VortQge,  die  er  in  sich  zu  vereinigen  glaubt:  er  füWt  aich  durchweg 

uUches  Beispiel    des  Allgemeinen,   und  verlangt,    mit  Anderen   nach 

>4se  gemessen  zu  werden.     Die  Neigung   des    weiblichen  Gemüths  ist 

u-ui  Ganzen  gewidmet;  so  wenig  die  Schönheit  einer  Blume  nach  gemein- 

'  mit  der    einer  andern   zu   vergleichen    ist,    so  wenig  wünscht   das  Weib 

u  anderen  zu  gelten;  und  wo  der  Mann  gern  im  Dienste  des  Allgemeinen 

:,lige«innter  eintritt  und    in  ihr  untergeht,    will    das  Weib  als  schönes,  ge* 

-  Ganzes,  nur  aus  sich  selbst  ver^tfindlich^  nur  um  der  unvergleichlichen  Eigentbüm- 

^^    individuellen  Wesens  willen  gesucht    und  geliebt    sein."      In  %'ielen,    aus  dem 

;i?n  Zügen  findet  LoUc  Belege  dieser  allgemeinen  Verschiedenheit:  Die  geichtlft- 

iungen  der  MS^nner  sind  kurz,  die  der  Frauen  wortreich  und  selten  ohne  viel- 

»lung ;    sie    haben   wenig  Zutrauen  zu  der  Festigkeit  eines  gegebenen   Wortes, 

A       ifA^  Eigenthum  hält  der  Mann  am  häuÜgsten  fär  das,  was  es  wirklich  ist,  für  eine 

n  verwendbarer  und  tbeilbarer  Mittel,   und  seine  Freigebigkeit  achtet  kein  angebliches 

^;ehören  dorstdben-.  die  Verschwendung  der  Frauen  besteht  meistens  in  Anschaffungen, 

•    nie  die  Aufgaben    der  Entgeltmittel   nicht   selbst    übernehmen.     Das    einmal    er- 

in   ihren   Händen    beündliche  Eigenthum    erscheint    ihnen    dagegen   leicht    als 

n?T  Bestand^  dessen  Theile,  weil  sie  ein  Ganzes  bilden,  von  einander  zu  reissen 

^isse  seiner  Darstellung  sogt  LoUc:  ^Ich  möchte  endlich  die  Behauptung  wagen, 

oihlicbe  Gemüth  die  Wahrheit  Oberhaupt  einen   anderen  Sinn  hat,  als  fttr  den 

lit.     i^en  Frauen  ist  alles  das  wahr,  was  durch  die  vernünftige  Bedeutung  ge- 

■*'  wird,  mit  der  es  sich  in  daä  Gan%e  der  übrigen  Welt  und  ihrer  Verhältnisse  ein- 

'f<'ni  wpniger  darauf  an,  ob  es  zugleich  reell  ist.     Sie  neigen    deshalb  zwar  nicht 

/.um  Schein»  und  es  liegt  ihnen  nicht  daran,    ob  irgend  etwas,    was    in  einer 

aon  werth  gewordenen  Beziehung  il&n  verlangten  Dienst  des  Scheines  thut  ^, 

i   Beziehung  verfolgt,  sich  als  ein  solches  abweisen  würde,  dem   mit  Recht  so 

•nni^n    gebührt.     Selbst    etwas    scheinen   zu  wollen,  ohne  es  zu  sein,  ist  allerdings  ein 

n4itoiiM  menschliches  Gebrechen;    aber    von  dem  wenigstens,    was    er  besitzt,  pflegt  der 

HauD  S<]tidität    und    Echtheit    zu  verlangen;   Frauen  dagegen    haben    eine  sehr   ausgedehnte 

Vyrli0l?r  für  Surrogate.     Mit  diesen  Neigungen  stüd  sie  wissenschaftlichen  Bestrebungen  nicht 

laitän^Iicbt  und  ihre  Gedanken  haben  einen  könstlerischen,  anschauenden  Gang«     So  wie  der 

Pirhti»r    mVht    durch  Analjse    und  Berechnung  Charaktere    schafft,    sondern   deren  Wahrheit 

'  ij^s  er  selbst  ohne    das  Gefühl    küuBtlichor  Selbst  Verdrehung  ihre  ganze  Weise 

;^*nen  Gemüth   nachzuleben    vermag,    so    liebt  die  weibliche  Phantasie    sich    un- 

•tlfttibar  i«   Dinge  hinein  zu  versetzent   und  sobald  sie   eine  Vorstellung  davon  erreicht,  wie 

[Irin.  WA«  kIa.  iiit,    sich  bewegt    und    entwickelt,  in  seinem  Sinn,    seiner  Bewegung    und  Ent- 

I  zu  Muthe  sein  möge,  glaubt   sie  ein   volles  Verständniss  zu  besitzen«     Dass 

^'i'Ht,  wie    dies   alles  so    sein  und  geschehen  könne,   selbst  noch  ein   wissen- 

einschließt,  ist  den  Frauen  schwer  begreiflich  zu  machen.    Man  bemerkt 

ater  des  Lebens,  wie  die  Sicherheit  des  religiösen  Glaubens  und  der  Friede 

1  1^  hiermit  zusammenhängen;   aber  auch  in  kleinen,  unscheinbaren  Zügen 

fmari  cnAn  uii'^«*i  uebergewicht  des  lebendigen  Taktes  über  die  wissenschaftliche  Zergliederung. 

Taoimilo   von   zi«nrÜchon  technischen   Handgriffen    wenden    die    Frauen    bei    ihren    täglichen 

Arbeiicn  aa;  aber  was  sie  geschickt  ausführen ,  wissen    sie  kaum  zu  beschreiben,  sie  können 

m  KOT  ««gm*     Dio  aoaljrsirende  Reflexion  auf  ihre  Bewegungen   liegt  ihnen  so  wenig  nahe, 

d«M  man  ohn«  Gt&br   gioasen  Irrthumes   behaupten    kann,  Worte    wie    recht«,    links«    quer, 

JllKrwiifidlich*  b«d«nt«]i    ia  dar  Sprache   der  Frauen   gar   keine   mathematischen  Relationen, 

«mideni  gevitt««   i^igenthümlicha  Gefühle,   dio   man  hat,  wenn   man  im  Arbeiten   diesen  Be* 

oph«^o,  iiameatlich   Schopenhauer,    weisen    dem  weiblichen 
'  "  ' '    --t-i  i'-    'geradezu   als    eine  untergeordnete  bezeichnet 


•cbaRlieJt 


ÜlkiÜlk 


52  II-  I^io  p8}xholog^sche  Auffassung  des  Weibes. 

werden  miiss.  Wir  können  solche  Urtheile  nicht  verschweigen,  denn  sie  rQhren 
von  unzweifelhaft  geistvollen  Männern  her,  und  sind  wiederum  ein  Beweis  dafür, 
dass  es  nur  auf  den  Gesichtspunkt  ankommt,  von  dem  aus  das  Weib  betrachtet 
und  aufgefasst  wird.     Schopenhau4^r  sagt: 

r Schon  der  Anblick  der  weiblichen  Gestalt  lehrt,  dass  das  Weib  weder  za  groeieii, 
geistigen,  noch  körperlichen  Arbeiten  bestimmt  ist.  Ks  trägt  die  Schuld  dee  Lebens  nicht 
durch  Thun,  sondern  durch  Leiden  ab,  durch  die  Wehen  der  Geburt,  die  Sorgfiüt  filr  du 
Kind,  die  Unterwürfigkeit  unter  den  Mann,  dem  es  eine  geduldige  und  aufheiternde  GefUirtin 
sein  soll.  Die  heftigsten  Leiden,  Freuden  und  Eraftäusserungen  sind  ihm  nicht  betcfaieden; 
sondern  sein  Leben  soll  stiller,  unbedeutsamer  und  gelinder  dahinfliessen,  als  das  des  Manne«. 
ohne  wesentlich  glücklicher  oder  unglücklicher  zu  sein.  Zu  Pflegerinnen  and  firsieherinnan 
unserer  ersten  Kindheit  eignen  die  Weiber  sich  gerade  dadurch,  dass  sie  selbst  kindisch, 
läppisch  und  kurzsichtig,  mit  einem  Worte  zeitlebens  grosse  Kinder  sind:  eine  Art  Mittelstofie 
zwischen  dem  Kinde  und  dem  Manne,  als  welcher  der  eigentliche  Mensch  ist.  Man  betrachte 
nur  ein  Mädchen,  wie  sie  Tage  lang  mit  einem  Kinde  tändelt,  herumtanzt  und  singi;,  nnd 
denke  sich,  was  ein  Mann,  beim  besten  Willen,  an  ihrer  Stelle  leisten  kOnnte.* 

,iMit  den  Mädchen  hat  es  die  Natur  auf  das,  was  man,  im  dramaturgischen  Sinne,  einen 
Knallettekt  nennt,  abgesehen,  indem  sie  dieselben  auf  wenige  Jahre  mit  Überreichlicher  Schön- 
heit, Reiz  und  Fülle  ausstattete,  auf  Kosten  ihrer  ganzen  übrigen  Lebenszeit,  damit  sie  näm- 
lich, während  jener  Jahre,  der  Phantasie  eines  Mannes  sich  in  dem  Maasse  bemächtigen 
könnton,  dass  er  hingerissen  wird,  die  Sorge  für  sie  auf  zeitlebens,  in  irgend  einer  Form, 
ehrlich  zu  übernehmen,  zu  welchem  Schritte  ihn  zu  vermögen  die  blosse  vemfinftige  Ueber- 
legung  keine  hinlänglich  sichere  Bürgschaft  zu  geben  schien.  Sonach  hat  die  Natur  das 
Weib,  ebenso  wie  jedes  andere  ihrer  Geschöpfe,  mit  den  Waffen  und  Werkzeugen  ausgerflftet, 
derer  es  zur  Sicherung  seines  Daseins  bedarf,  und  auf  die  Zeit,  da  es  ihrer  bedarf,  wobei  sie 
denn,"  so  setzt  Schopenhauer  wenig  höflich  hinzu,  „auch  mit  ihrer  gewöhnlichen  Sparsamkeit 
verfahren  ist.  Wie  nämlich  die  weibliche  Ameise  nach  der  Begattung  die  fortan  fiberflflnigen, 
ja  für  das  Brutverhältniss  gefährlichen  Flügel  verliert,  so  meistens  nach  einem  oder  zwei 
Kindbetten  das  Weib  seine  Schönheit,  wahrscheinlich  aus  demselben  Grunde.*  Hierin  macht 
Schopenhauer  den  Versuch,    die  Schönheit   vom   teleologischen  Standpunkte   aus   aufzufassen. 

Auch  in  der  zeitigeren  Reife  des  Weibes  findet  Scfiopenhauer  ein  Zeichen  f&r  die 
Inferiorität,  indem  er  ausführt:  , Je  edler  und  vollkommener  eine  Sache  ist,  desto  später  und 
langsamer  gelangt  sie  zur  Keife.  Der  Mann  erlangt  die  Reife  seiner  Vernunft  und  Geistes- 
kräfte kaum  vor  dem  achtundzwanzigsten  Jahre,  das  Weib  mit  dem  achtzehnten.  Aber  es 
ist  auch  eine  Vernunft  danach:  eine  gar  knapp  gemessene.  Daher  bleiben  die  Weiber  ihr 
Leben  lang  Kinder,  sehen  immer  nur  das  nächste,  kleben  an  der  Gegenwart,  nehmen  den 
Schein  der  Dinge  für  die  Sache  und  ziehen  Kleinigkeiten  den  wichtigsten  Angelegenheiten 
vor  u.  K.  w." 

Dagpgen  gesteht  Schojyenhaurr  zu:  ,In  schwierigen  Angelegenheiten  nach  Weise  der 
alten  Germanen  auch  die  Weiber  zu  Rathe  zu  ziehen,  ist  keineswegs  verwerflich:  denn  ihre 
Auffassungsweise  der  Dinge  ist  von  der  unsrigen  ganz  verschieden  und  zwar  besonders  da- 
durch, dass  sie  gern  den  kürzesten  Weg  zum  Ziele  und  überhaupt  das  zunächst  Liegende  ins 
Auge  fassen,  über  welches  wir,  eben  weil  es  vor  unserer  Nase  liegt,  meistens  weit  hinweg- 
Kchen;  wo  es  uns  dann  Noth  thut,  darauf  zurückgeführt  zu  werden,  um  die  nahe  und  ein- 
fache Ansicht  wieder  zu  gewinnen.  Hierzu  kommt,  dass  die  Weiber  entschieden  nüchterner 
sind,  als  wir,  wodurch  sie  in  den  Dingen  nicht  mehr  sehen,  als  wirklich  da  ist;  während  wir, 
wenn  unsere  Leidenschaften  erregt  sind,  leicht  das  Vorhandene  vergrössem.  oder  Imaginäres 
hinzu! (igen.  Aus  derselben  Quelle  ist  es  abzuleiten,  dass  die  Weiber  mehr  Mitleid  und  daher 
mehr  Menschenliebe  und  Theilnahme  an  rnglücklichen  zeigen,  als  die  Männer,  hingegen  im 
Tunkte  der  Gerechtigkeit,  Redlichkeit  und  Gewissenhaftigkeit  diesen  nachstehen.* 

..Weil  im  Grunde  die  WeiVier  ganz  allein  zur  Propagation  des  Geschlechts  da  sind  und 
ihre  Boätimmung  darin  aufgeht,  so  leben  sie  durchweg  mehr  in  der  Gattung,  als  in  den  Indi- 
viduen, nehmen  es  in  ihrem  Herzen  ernstlicher  mit  den  Angelegenheiten  der  Gattung,  als  mit 
den  individuellen.  Die^^  giebt  ihrem  ganzen  Wesen  und  Treiben  einen  gewissen  Leichtsinn 
und  überhaupt  eine  von  der  des  Mannes  von  Grund  aus  verschiedene  Richtung,  aus  welcher 
die  HO  häufig  und  fa^t  normale  Uneinigkeit  in  der  Ehe  erwächst.* 

Wie  hart  und  ungerecht  der  bekannte  Philosoph  Eduard  v.  Hartmaum^ 
über  die  Frauen  urtheiit,  können  wir  auch   nicht  unbeachtet  lassen.    Wenn  einig« 


54  II-  ^^0  psychologische  AufPassmig  des  Weibes. 

Züge  in  dem  von  ihm  entworfenen  Gemälde  des  weiblichen  Charakters  treffen, 
so  ist  dasselbe  doch  viel  zu  dunkel  gehalten: 

,Die  weibliche  Sittlichkeit,  namentlich  die  der  weiblichsten  Weiber,  ist  sehr  oft  von 
dieser  Art,  und  dies  ist  der  Hauptgrund,  warum  das  weibliche  Geschlecht  im  Granzen  so  sehr 
viel  schwerer  als  das  männliche  zu  jener  sittlichen  Reife  des  Charakters  gelangt,  wo  die 
Autonomie  erst  in  ihr  volles  Recht  tritt.  Die  Mehrzahl  der  Weiber  bleibt  ihr  Leben  lang  in 
sittlicher  Hinsicht  im  Stande  der  Unmündigkeit  und  bedarf  deshalb  bis  an  ihr  EZnde  einer 
Bevormundung  durch  heteronome  Autoritäten;  sie  selbst  haben  meistens  das  richtig^  GefQhl 
dieser  Bedürftigkeit,  und  je  unfähiger  sie  sind,  dem  blossen  Abstractum  des  modernen  Staate« 
eine  Autorität  einzuräumen,  je  mehr  sich  ihr  Stolz  dagegen  auflehnt,  im  Gatten  oder  dem 
natürlichen  Beschützer  die  leitende  Autorität  für  ihre  Handlungen  anzuerkennen,  desto  ängst- 
licher klammern  sie  sich  an  die  heteronomen  Autoritäten  der  Religion  und  der  Sitte,  desto 
haltloser  steuern  sie  als  steuerloses  Wrack  auf  dem  Ocean  des  Lebens  umher,  wenn  auch 
diese  beiden  Anker  ihnen  zerrissen  sind.  Man  mag  diese  Thatsache  im  Sinne  der  autonomen 
Moral  sehr  betrübend  finden,  aber  man  muss  sie  im  Interesse  der  Wahrheit  und  des  prak- 
tischen Lebens  als  Thatsache  anerkennen,  nach  ihr  seine  Vorkehrungen  treffen  und  sich 
hüten,  ihre  Bedeutung  in  einem  falsch  verstandenen  Interesse  für  das  weibliche  Geschlecht 
abschwächen  zu  wollen.  Wenn  Wahrhaftigkeit  und  Ordnungssinn  Charaktereigenschaften  dar- 
stellen, bei  denen  die  Erziehung  verhältnissmässig  mehr,  als  bei  anderen,  zu  thun  Termag, 
wenn  namentlich  der  Ordnungssinn  durch  ästhetischen  Sinn  für  Harmonie  zum  Theil  ersetzt 
werden  kann:  so  sind  Rechtlichkeit  und  Gerechtigkeit  diejenigen  beiden  Charaktereigen- 
schaften, welche  von  allen  bisher  betrachteten  moralischen  Triebfedern  beim  weiblichen  €re- 
schlecht  im  Durchschnitt  am  schwächsten  vertreten  sind.  Das  weibliche  Geschlecht  ist  das 
unrechtliche  und  ungerechte  Geschlecht,  und  nur  derjenige  kann  sich  über  diese  Thatsache, 
welche  natürlich  sehr  erhebliche  Ausnahmen  zulässt,  täuschen,  der  die  äussere  Legalität  und 
die  Wahrung  der  schicklichen  Form  mit  dem  Vorhandensein  der  entsprechenden  Gesinnung 
verwechselt.* 

So  wirft  V.  Hartmann^  den  Frauen  vor,  dass  sie  sich  mit  Vorliebe  im 
Fahrwasser  rechtsfeindlicher  Neigungen  bewegten,  alle  geborene  Defraudantinnen 
aus  Passion  seien,  zur  Fälschung  eine  intensive  Neigung  hätten  (ein  Viertel  der 
Dienstbücher  weiblicher  Dienstboten  in  Berlin  enthielt  plumpe  Fälschungen), 
dass  sie  beim  Spiel  mogelten  und  dies  den  Reiz  des  Spiels  ftir  sie  ausmache,  dass 
sie  nie  ohne  Ansehen  der  Person  urtheilten,  die  Mutter  stets  Lieblingskinder  und 
Aschenbrödel  hätten  —  kurz  v.  Hartmann  weiss  den  Frauen  so  viel  Uebles 
nachzureden,  dass  wir  glauben  müssen,  er  habe  mit  denselben  recht  schlimme 
Erfahrungen  zu  machen  Gelegenheit  gehabt.  Wir  überlassen  sein  Urtheil  der 
Kritik  des  Lesers. 

Noch  schlechter  kommen  die  Frauen  nach  Hering  in  dem  der  speciellen 
japanischen  Damenliteratur  angehörigen  Werke  Onna  Daigaku  fort.  Es  sind 
nach  Angabe  dieses  Lehrbuches  fünf  Untugenden  den  Frauen  besonders  eigen, 
wegen  derer  sie  tiefer  unter  dem  Manne  ständen.  Von  je  10  Frauen  seien  sicher 
mindestens  7  bis  8  mit  diesen  fünf  ^Krankheiten^' behaftet.  Diese  sind  Ungehor- 
sam, heimtückische  Bosheit,  Schmähsucht,  Eifersucht  und  Albernheit  oder  Un- 
verstand. Geschmeichelt  werden  sich  die  Japanerinnen  durch  dieses  Urtheil 
wohl  nicht  gerade  fühlen. 

Auch  die  Sprüche  der  alten  Inder  wissen  vielerlei  Schlechtes  von  den 
Frauen  zu  melden  (BöhÜingTc), 

^Wie  die  Flüsse,  so  streben  die  Woiber,  selbst  die  von  vornehmer  Herkunft,  ihrer  Natnr 
gemäss,  o  Schande,  zum  Niedrigen  hin!* 

,Dor  Unehre  Ursache  ist  das  Weib,  der  Feindschaft  Ursache  ist  das  Weib,  des  welt- 
lichen Daseins  Ursache  ist  das  Weib;  darum  soll  man  das  Weib  meiden.* 

,Wer  hat  diesen  Strudel  von  Zweifeln  geschaffen?  Wer  dieses  Haus  voller  UngMOgen- 
heiten,  diese  Stadt  voller  Uebereilungen,  dieses  Lagerhaus  voller  Fehler,  dieeet  mit  hnndartvlii 
Betrug  besäete  Feld  von  Unzuverlässigkoit,  dieses  Hindemiss  an  der  Himmelipforta,  diem 
Eingang  zur  HGllenstadt,  diesen  Korb  mit  allen  möglichen  ZauberkQniten,  ich  meiiM  dii  V 
puppe  Weib,  dieses  wie  Nektar  erscheinende  Gift,  diese  Schlinge  f&r  die  MentohliiikY* 


9.  IHe  abnormen  Ehdii  and  der  Seibatmord. 


u 


9.  Die  abnornieti  Ehen  und  der  Selbstmord. 

l>i<i  Siatisstik  der  Bevölkeruugsbewegang  zeigt,   dass  im  Gebiete  des  deut- 
le 1^  60—65  Ehen  auf   10000   jährlich  geschlossen  werden,   bei   denen 
^'             e  Theil  das  40-   und   45.  Jahr    bereits  Überschritten  hat.     Bei   einer 
Liomlil  dieser  Ehen  ist  der  männliche  Theil  jünger,  als  der  weibliche.   Sogar  noch 
"böfarren  Älter  registriren  wir  Fälle,  in  denen  das  Weib  das  eheliche  Band  dem 
cnen    Leben    vorzieht.      Die    Bevölkerungsstatistik    nennt    solche    Ehen    vom 
icdpankt?  der  Volksvermehrung  aus  betrachtet  abnorme  Ehen. 

In  Berlin  befanden  sich  im  Jahre  1887,  also  nach  Einfllhrung  der  Civilehe, 
imti?r  14  451  den  Bund  der  Ehe  schliessenden  Vertreterinnen  des  weiblichen  Ge- 
ftcUethtü  3S37  zwischen  dem  35.  und  5U.,  119  zwischen  dem  50.  und  65.  und  5 
«ogmr  «wischen  dem  6.^.  und  70.  Jahre. 

hl  «Idn  J;  '1  —1893  batt43n  unter  51  f303  Frauen,  welche  sich  verehelichten,  4^4  das 

D.  Iftb^liQabr  Ltten;  2f>  standen  Kwischen  dem  60.  und  65.  Lebensjahre,  and  5  Frauen 

9D  lOgar  noch,  welche  3,ltcr  als  65  Jahre  waren-  Münner  zwischen  25  und  45  Jahren 
50  Mal  Frauen,  welche  zwischen  50  und  65  Jahren  standen.  5  MSlnner  swischen 
210  und  35  heiratbdlea  Frauen  zwischen  55  und  60,  und  ein  Mann  im  Alter  von  25  bis  80 
Jftiirtii  wagte  sich  sagar  an  eine  zwischen  dem  60.  und  65.  Jahre  gtehondo  Frau  heran. 

«ElQ  «ehr  verbreitetem  Vorurtheü,  sagt  LudtcKj  Fuhl,  führt  dieee  Ehen  steta  auf  die 
>  SpeculatioiUMUcbt  zurdck,  weil  man  es  für  unmöglich  hält,  dasg  ein  Weib  in  dieaem 
ftxich  von  Liebe  orfaast  werden  könne.  Allein  aus  der  psychologischen  Betrachtung 
'  CrifDinalfÜUer  welche  typischen  Werth  besitzen,  erglebt  sich,  daas  diese  paychologische 
Injnltglicbkeit  dori^haut»  nicht  vorhanden  ist.  Sogar  in  Ländern,  in  welchen  die  Frauen  viel 
'tftidMr  v«rblahon,  all  bi^i  uns,  finden  sich  ausweiBlich  der  Statistik  Früle  von  EheBchlioääungen 
kn  TOffOfHelctein  Alter  in  keineswegs  verschwindender  Zahl.  Es  ist  dies  doppelt  merkwürdig^ 
weO  diö  Italienerin  nehr  früh  häuslich  wird;  während  die  deutliche  Frau  der  hdheron 
KlftMCl»  mit  vieriig  Jahren   in   Tcahlreichen  Fallen    noch  eine  Erscheinung  bietet,    welche  das 

lor»  befriedigt,  ist  die  Italienerin  in  diesen  Jahren  schon  un* 
♦tefdhl  scheint  bei  der  Tochter  der  heissen  Zone  aicht  mit  dem 
11  Die  leidenschilt  tlicho  Natur,  die  Fähigkeit,  mit  der  Gluth 
iit  in  der  zweiten  Hulfte  des  Lebens  noch  in  derselben  Stärke 
wie  in  der  ersten.  Tnd  die^  wird  auch  in  Italien  durch  CriminalHLlie 
WtUUigt,  in  welchen  Frauen  in  vorgeschrittenem  Aller  aus  plötzlich  entfesselter  Leidenschaft 
4it  tch werkten  Verbrochen  begingen,  welche  dem  Criniinalisten  bekannt  aind.  Die  Annalen 
italienischen  FürKtengeschlechter.  insbesondere  die  der  Mediceer,  bieten  hierfür  Beispiele. * 
.Ein«  weitere  i^tUtze  giebt  die  Selbstmordstatistik  ab.  Zwar  ist  kein  Theil  derselben 
b«ititiinit  und  so  wenig  fundirt,  wie  das  Kapitel,  welches  sich  mit  den  Motiven  be* 
igtr  Allein  gleichwohl  darf  mit  ziemlicher  Sicherheit  behauptet  w erden ,  dass  das  Motiv 
sbo  nur  zweimal  verb&ngnissvoll  und  zahlreiche  Opfer  fordernd  in  das  weibliche  Leben 
«Bfrall,  taenii  in  dem  Alter^  welches,  von  diesem  Gesichttipunkte  ans  betrachtet,  das  klassbche 
fMttSBt  werden  darf«  in  den  Jahren  18  bis  22,  sodann  in  der  Zeit  vom  Beginne  des  vierten 
DM«Bkni«imt  bi»  über  die  Hälfte,  ja  bis  gegen  das  Ende  desselben.* 

Obgleich  ich  in     einem   späteren    Abschnitt  über    den   natürlichen   Tod   des 

reib«i  noch  eingehender  zu  sprechen  haben  werde,    so  ist  es  gewiss  nicht  ohne 

Blereuie,  «nch   hier  «chon   an  der  Hand  der  Statistik   die  Frage  zn   prüfen,  wie 

die  Neipnng,  i^eineni  Leben  ein  Ende  zu  machen,  bei  den  verschiedenen  Ge* 

cbiern  ▼erhalt,    nnd   weiterhin  zu  untersuchen,   ob    sich    für    den  Seibatmord 

~tiji«  besondere  '^  ntsursache   in    der  Ehe    oder   in    der   Ehelosigkeit  nach- 

ritseD  loisit     JV'  imtte    in  Frankreich  gefunden,    dass  sich  Wittwen  viel 

ah   rerbeirathete  Frauen  den  Tod  gaben,  und   dass  die  Familie ,   in  welcher 

Torlianden  sind^   viel    weniger   leicht    den    Gedanken    an  Selbstmord  auf- 

960  Itot,  aln  die  kinderlose  Familie.     J.  Batillon  jun.  nahm  die  Angelegen- 

di«  »ein  V  'r  auf.     Im  Alter  von  25  Lebens- 

fand  VT  I  :    den  Unrereheliehten  (VVittwern 

|t  80  grosK    iila  bei  den  Verehelichten  von 

i,r^..t*   ,.ot.^.,  .;.*  ..Ki'..  -it'rt-]  ^-'')»er.     Die 


SdiOAMUfcfQbl   «} 
gioicfai  gültig     A 
Körper  gleich  f^ 
der  LeadüMChii 


«451  U| 


56 


IL  Die  psychologische  Auffassung  des  Weibes. 


Forschungen  wurden  vor  allem  an  der  Bevölkerung  von  Schweden  vorgenommen. 
Die  folgende  Tabelle  giebt  eine  üebersicht  über  die  Fälle  von  Selbstmord,  welche 
in  ungefähr  den  gleichen  Zeiträumen  in  den  verschiedenen  Ländern  Europas 
vorgekommen  sind. 


(Selbstsnorde)  Land 


Zeitraum 


1867-83 
1865—83 
1865-88 
1865-82 
1876-83 
1876^82 
1878-83 


l!!^"o    Verehelichte 


17591 

16814 
4631 
6775 
5223 
930 
426 
2009 
3854 


Ledige 


j    Ver-       SuiiKjLQ  dtr 
ijwittwete ,  Ehelo^en 


Slme. 


5762)  632  6394  !631 7  1193 


6822 
1825 
2728 
1931 
368 
202 


1355 18257:  B983 
276l2lUljil793 


604 

276 

94 

25 

189 


33S2fl959 

22071639 
4621  211 


2271 
1742' 


108 

401 


1523 

1220,1653 

469 

620 

esi 

146 

37 

250 

9 


298' 
579 

297 
54) 
31j 

145! 

^  I 


9663 

7636 

2701 

S443 

2761 

930 

199 

935 

1873 


Italien 

BftcliBQti  . , , 

Baden  . ., 

Schweden  , 

Schweiz .,.,,.    . 

Norwegen  ......,....,, 

Finnland  .,., 

Dtneinark, , .....'  1880-83 

Württemberg  . i  1870—81 

Aus  obiger  Tabelle  ergiebt  sich  Folgendes: 
Von  54  599  Selbstmördern  waren : 

mannlich 32295 

weiblich 9213 

verehelicht 24702 

ehelos 30141 

verehelichte  Männer 20505 

Weiber 3451 

ehelose  Männer 21790 

,     ,     Weiber 5722 

Es  haben  sich  also  in  der  gleichen  Periode  über  dreimal  soviel  Männer  das 
Leben  genommen  als  Frauen.  Die  grösseren  Anforderungen  und  Aufregungen, 
welche  der  Kampf  um  das  Dasein  an  das  männliche  Geschlecht  in  b^eutend 
höherem  Maasse  stellt,  als  an  das  weibliche,  geben  hierfär  eine  hinreichende  Er- 
klärung. Femer  sehen  wir,  dass  die  Zahl  der  nicht  in  der  Ehe  lebenden  f&r 
die  Selbstmörder  ein  höheres  Contingent  geliefert  hat,  als  die  Verehelichten,  und 
zwar  die  Männer  sowohl  als  auch  die  Weiber.  Wir  müssen  daher  wohl  die  Be- 
rechtigung des  Satzes  anerkennen,  dass  in  der  Ehelosigkeit  in  gewissem  Sinne 
eines  der  prädisponirenden  Momente  für  den  Selbstmord  gesucht  werden  muss. 


10.  Die  Betheiligang  des  weiblichen  Geschlechts  am  Yerbrechen. 

Der  Physiologe  Rudolphi  sagt:  „Das  Weib  ist  im  Vergleich  zum  Manne 
zarter,  weicher,  kleiner,  beweglicher,  veränderlicher,  reizbarer,  eitler,  demüthiger, 
geduldiger,  frommer.  Schlecht  erzogen  wird  es  zur  Furie  und  übertrifft  den  Mann 
in  allen  Lastern.'' 

Mit  dem  Einflüsse  des  Geschlechts  auf  den  Hang  zum  Verbrechen  hat  uns 
zuerst  Quetelet^  bekannt  gemacht.  An  der  Hand  der  Statistik  gelangt  er  zu  fol- 
genden Schlüssen: 

«Versuchen  wir  die  Thatsachen  zu  analysiren,  so  scheint  es  mir,  dass  die  Moralit&t  des 
Mannes  und  des  Weibes  (abgesehen  von  der  Schamhaftigkeit)  weniger  verschieden  ist,  als 
man  im  Allgemeinen  annimmt.  Was  den  £influss  der  Lebensweise  selbst  anbetrifft,  so  glaube 
ich,  dass  derselbe  sich  recht  wohl  ermessen  lässt  aus  den  Verhältnissen,  welche  beide  Ge- 
schlechter in  Betreff  verschiedener  Arten  von  Verbrechen ,  bei  denen  weder  die  St&rke  noch 
die  Schamhaftigkeit  in  Betracht  kommt,  z.  B.  bei  Diebstählen,  bei  falschem  ZeogniM,  bei 
betragerischem  Falliment  u.  s.  w.  darbieten ;  jene  Verhältnisse  betragen  etwa  100  sa  21  od«r 
zu  17,  d.  h.  5  oder  6  zu  1.  Bei  den  anderen  Fälschungen  ist  aus  angeiührtai  Gfflndn  dM 
Verhältniss  etwas  stärker.  Wollte  man  die  Intensität  der  Ursachen,  wdoh«  auf  ^ 
einwirken,  numerisch  ausdrücken,  so  kOnnte  man  sie  schätien,  indem  nv 
hältniss  zur  Stärke  selbst  stehend,  oder  ungefähr  wie  1  su  2  aanehniii* 


58  II-  I^io  psychologische  Auffassung  des  Weibes. 

Verhältniss  beim  Vatermord.  Bei  den  Verbrechen,  wo  die  Schwäche  und  das  zurfickgecogene 
Leben  der  Frauen  zugleich  in  Betracht  kommt,  wie  beim  Todtschlag  oder  beim  Sirassenraub, 
müsste  man,  bei  Befolgung  des  gleichen  Weges  bei  der  Berechnung,  das  Verh&ltniss  der 
Stärke  1/2  mit  dem  der  Abhängigkeit  ^5  multipliciren,  dies  giebt  Vio»  eu^  Verh&ltniss,  das 
wirklich  mit  den  Ergebnissen  der  Statistik  ziemlich  abereinstimmt.* 

Nach  der  Statistik  der  Aufgreifungen  im  Seine-De partement  (1855 — 1864) 
hätte  das  Weib  im  Grossen  und  Ganzen  nur  etwa  den  fünften  Theil  der  Wahr- 
scheinlichkeit des  Mannes,  der  StraQustiz  zu  verfallen. 

Zu  ganz  ähnlichen  Schlüssen  gelangte  auch  der  Statistiker  Georg  Mayr, 
welcher  QueteleVs  Angaben  mit  der  Verbrecherstatistik  von  den  Schwurgerichten 
Bayerns  (1840 — 1866)  verglich;  es  ergab  sich  trotz  einiger  Fluctuationen  eine 
ziemliche  Regelmässigkeit  der  Weiberbetheiligung.     Doch  setzt  Mayr  hinzu: 

«Allerdings  liegt  die  Sache  bei  tieferem  Eingehen,  namentlich  in  geographischer  Be- 
ziehung, nicht  so  ganz  gleichartig.  Man  beobachtet  dann  beispielsweise,  dass  die  Weiber- 
betheiliguDg  an  Verbrechen  in  grossen  Städten  regelmässig  viel  grOsser  ist,  als  bei  vor- 
wiegend ländlicher  Bevölkerung.  So  trafen  auf  100  abgeurtheilte  Individuen  solche  weiblichen 
Geschlechts  während  der  Jahre  1862/63  bis  1865/66  bei  dem  ausschliesslich  städtischen 
Gericht  München:  81,  28,  30,  26,  dagegen  beim  ländlichen  Gericht  Freising  10,  9,  9,  10. 
Aber  gleichwohl  sind  auch  hier,  wie  man  sieht,  im  Einzelnen  die  Ergebnisse  bewunderungs- 
würdig constant.  Dasselbe  gilt  von  der  Weiberbetheiligung  in  solchen  Ländern,  in  welchen, 
wie  in  England,  überhaupt  der  gesammte  criminelle  Hang  der  weiblichen  Bevölkerung 
einen  grossstädtischen  Charakter  zu  tragen  scheint.  In  England  und  Wales  trafen  beiden 
vor  das  Schwurgericht  gehörigen  Keaten  in  den  Jahren  1858  bis  1864  auf  100  Männer  85, 
36,  88,  33,  81,  82,  32  Weiber.  In  London  steigert  sich  diese  criminelle  Weiberbetheiligung. 
Es  trafen  nämlich  bei  den  Aufgreifungen  der  Polizei  1854  bis  1862  auf  100  Männer  57  Weiber. 
Liverpool  und  Dublin  stehen  mit  69  bezw.  84  Weibern  auf  100  Männer  noch  höher  oder 
—  richtiger  gesagt  —  tiefer.' 

Im  Allgemeinen  darf  man  wohl  annehmen,  dass  mit  der  Zunahme  der  Be- 
theiligung des  Weibes  am  Kampfe  um  das  Leben  auch  die  Zahl  der  Frauen  unter 
den  Verbrechern  wächst.  Hierfür  scheint  die  Tabelle  zu  sprechen,  welche  v,  Oettingen 
zusammenstellte.     Von  je  100  Verbrechern  waren: 


Proportion : 

PioportioB : 

in  England 

75  M. 

25  Fr. 

3     :1 

In  Baden 

84  M. 

16  Fr. 

6,3:1 

,  Bayern 

75    , 

25    . 

3     :1 

«  Preussen 

85    . 

15    . 

5,7:1 

,  Hannover 

77    , 

23    , 

3,3:1 

,  Sachsen 

85    . 

15    . 

5,7:1 

^  Dänemark 

78    . 

22    , 

3,5:1 

,  Liv-,  Ehst- 

„   Holland 

82    , 

17    . 

4,5  :  1 

u.  Kurland 

86    . 

14    , 

6,1:1 

,   Belgien 

82    , 

18    . 

4,5  :  1 

p   Spanien 

88    , 

12    , 

7,3:1 

,    Frankreich 

82    , 

18    , 

4,5:1 

„   Kussland 

90    . 

10    , 

9     :1 

,   Oesterreich 

83    , 

18    . 

4,9:1 

Die  Zahl  der  wegen  Trunkenheit  durch  die  Polizei  aufgegriffenen  Weiber 
stieg  in  grösseren  Städten  Englands  in  überraschender  Weise.  Nach  jBaer  wurden 
in  Manchester  aufgegriffen  im  trunkenen  Zustande:  1847 — 1851:  935  Männer 
und  207  Weiber,  1852—1856:  651  Männer  und  84  Weiber;  dagegen  1867—1871: 
7903  Männer  und  2001  Weiber,  1872—1876:  7020  Männer  und  2801  Weiber. 
In  Liverpool  stieg  die  Zahl  der  der  Polizei  in  die  Hände  gefallenen  trunkenen 
Frauen  von  4349  im  J.  1858  auf  5676  im  J.  1864.  In  Glasgow  sind  während 
der  Jahre  1850 — 1860  sogar  mehr  trunkene  Frauen  als  trunkene  Männer  in 
Polizeigewahrsam  gebracht  worden.  Es  sind  allerdings  hier  fast  nur  die  unteren 
Klassen  der  Gesellschaft  vertreten,  doch  zeigt  sich  an  dem  Verhältniss  ganz  deut- 
lich die  Wirkung  von  Elend  und  Entartung  dieser  Klassen,  die  in  der  sittlichen 
Verkommenheit  des  Weibes  sich  recht  deutlich  ausspricht. 

Das  ganze  Gebiet  des  deutschen  Reichs  umfasst  eine  officielle  Criminal- 
Statistik  über  das  Jahr  1882,  aus  der  hervorgeht,  dass  die  deutsche  FniMiiT 
in  den   Annalen   der  Strafrechtspflese   nur  in  der  Stärke  von  eiiMm  '^ 
sog.  starke  Geschlecht  aber  in  der  Hohe  von  drei  Viertel   einfp' 


10.  Die  Betheiligung  des  weiblichen  Geschlechts  am  Verbrechen.  59 

«tehen  100  männlichen  Verurtheilten  nur  23,4  weibliche  gegenüber.  Allerdings 
ist  dieses  nicht  ungünstige  Verhältniss  nicht  in  allen  Theilen  des  Reiches  das 
gleiche.  Im  Herzogthum  Anhalt,  in  Dresden,  in  Leipzig,  den  Fürstenthümem 
Reuss  und  Schwarzburg,  im  Herzogthum  Altenburg  und  im  Reg.-Bez.  Brom- 
berg fiel  das  Weib  am  häufigsten  dem  Verbrechen  anheim,  im  Elsass,  im  Kreise 
Offenbarg,  den  Reg.-Bez.  Osnabrück  und  Münster,  Minden  und  im  Kreise 
Waldeshut  am  seltensten.  Die  meisten  Verurtheilungen  ergehen  auch  bei  der 
Aburtheilung  eines  weiblichen  Verbrechers  wegen  Diebstahls  ,  sodann  folgen  in 
uer  C-M  weiblicher  Schuld  und  Sünde  Beleidigungen,  Mord  und  Meineid.  Die 
hohe  Stelle,  \.c'..!ie  dabei  der  Mord  einnimmt,  ist  besonders  durch  die  zahlreichen 
Strafhandlungen  gegen  das  Leben  des  eigenen  neugeborenen  Kindes    bedingt. 

Ueberblicken  wir  die  vorstehenden  Ergebnisse  der  Moral-Statistik,  so  er- 
halten wir  den  Eindruck,  dass  das  Weib  je  nach  seiner  Lebenslage  sich  kaum 
eines  grosseren,  doch  auch  keines  geringeren  Grades  von  Moralität  rühmen  oder 
zeihen  lassen  darf,  als  dem  Manne  nachzusagen  ist. 

Hausner  hat  eine  vergleichende  Criminal-Statistik  in  Bezug  auf  die  beiden 
Oeschlechter  aus  zahlreichen  Ländern  tabellarisch  zusammengestellt;  auf  Grund 
derselben  sagt  er:  In  ganz  Europa  bilden  die  durch  Frauen  begangenen  Ver- 
brechen I6^/o  aller  Verbrechen,  und  unter  den  Angeklagten  kommt  eine  Frau 
auf  5,25  Männer.  Auch  schliesst  derselbe  Autor  aus  den  sehr  umfassenden  Zahlen: 
dass  in  den  civilisirten  Ländern  die  Frauen  eine  verhältnissmässig  grössere  Be- 
theiligimg  an  den  Verbrechen  zeigen,  als  in  den  primitiven,  auch  dass  im  Norden, 
wo  den  Frauen  meist  mehr  Freiheit  des  Handelns  gelassen  wird,  das  Contingent, 
welches  diese  zu  dem  Verbrechen  stellen,  grösser  ist  als  im  Süden. 

«Dass  das  männliche  Geschlecht  im  höheren  Grade  als  das  weibliche  bei 
dem  Verbrechen  betheiligt  ist,  sagt  Starke^,  wird  theilweise  durch  das  Geschlecht 
selbst  bedingt  und  liegt  in  zahlreichen  Momenten  der  Lebensstellung.  Aber  nicht 
überall  ist  die  Lebensstellung  des  Weibes  dieselbe.  Je  roher  ein  Cultur- 
zustand  ist,  desto  ausgedehnter  ist  die  Betheiligung  des  Weibes  an 
Arbeiten  und  Thätigkeiten,  welche  der  Natur  des  Geschlechts  weniger 
entsprechen.  Unter  solchen  Umständen  wird  auch  das  Weib  in  höherem  Um- 
fange am  Verbrechen  theilnebmen.  Um  eine  Bestätigung  dieses  Satzes  zu  erhalten, 
braucht  man  nicht  über  die  Grenzen  des  Vaterlandes  hinauszugehen."  Starke  hat 
das  procentuale  Verhältniss  der  männlichen  zu  den  weiblichen  Angeklagten  im 
Königreich  Preussen  für  die  Zeit  von  1854 — 1878  zusammengestellt.  Hier 
ist  erkennbar,  dass  der  auf  die  weiblichen  Angeklagten  entfallende  Procentsatz 
(1854:23;  1855  und  1856  sogar  25  Proc.)  allmählich  abgenommen  hat,  von 
1873—1878  bleibt  derselbe  auf  17  Proc.  stehen. 

Auf  Grund  dieser  preussischen  Statistik  stellt  Starke  die  Frage:  Sollte 
sich  hierin  wirklich  eine  im  Laufe  der  25  Jahre  eingetretene  höhere  Gulturent- 
wickelung  der  Personen  weiblichen  Geschlechts  vom  Osten  bis  zum  Westen  und 
in  Folge  dessen  eine  geringere  Betheiligung  desselben  bei  Verbrechen  und  Ver- 
gehen zu  erkennen  geben?  Oder  sollte  die  Depravation  der  Männer  allein  in  so 
hohem  Qrade  zugenommen  haben,  dass  in  Folge  dieses  Umstandes  das  procentuale 
Verhältniss  in  der  Betheiligung,  der  Geschlechter  nur  verschoben  worden  ist? 
Starke  möchte  sich  weder  für  diese  noch  für  jene  Alternative  aussprechen,  weil 
ihm  ein  anderer  Erklärungsgrund  näher  zu  liegen  scheint.  Es  sind  nämlich  ge- 
wisse Delictsgruppen  in  jener  Periode  ganz  besonders  im  Zunehmen  begriffen  ge- 
wesen, welche  auf  die  Entwicklung  des  öffentlichen  Lebens  und  durch  deren 
Einwirkimg  auf  alle  Volksschichten  zurückzuführen  sind  (Beleidigung,  Körper- 
Tedetrang,  Verbrechen  und  Vergehen  gegen  die  öffentliche  Ordnung,  Widerstand 
g^gen  die  Btwitvewftlt,  Sachbeschädi^^g).  Alle  diese  Delicte  gehören  zu  den- 
'  ^Afiogsweise  von  Personen  männlichen  Geschlechts  be- 

^ 1 ipj  ^  ^^f  Streitigkeiten  in  Wirths- 


f'/>  n.  Die  {wjchologüehe  AnfTaainng  dm  WcOml 

häuMrrn   und  aaf  die  Erregang  durch  Branntwein,  niclit  sdten  auch  auf  die  Wir- 
kung von  Agitationen  zurOckzoführen« 


IL  Die  Yerbreeherin  in  anthropologiseker  BexfekmBff. 

iiekanntlich  haben  in  neuerer  Zeit  wissenschaftliche  Bestrebiuigen  Tiei  Ton 
Dich  reden  genjacht,  welche  man  unter  dem  gemeinsamen  Namen  Verbrecher- 
A  nthropologie  zuMammengefasst  hat.  Namentlich  ist  es  der  Italiener  Lom- 
hroHo,  welcher  den  Satz  zu  vertheidigen  sucht,  dass  wir  in  dm  Verbrechern  Bei- 
H|>iele  von  sogenanntem  Atavismus,  von  Ruckschlag  zu  unseren  wildm  und  auf 
nie^lerHt^;r  Culturstufe  stehenden  Vorfahren  zu  erblicken  hatten,  und  dass  man 
dementsprechend  auch  am  Bau,  namentlich  ihres  Schädels,  eine  mehr  oder  weni^r 
groHHc  Zahl  von  Degenerationszeicben  zu  erkennen  vermöchte!  Lombroso  und  seine 
Hchnler  gehen  sogar  so  weit,  dass  sie  ffir  bestimmte  Verbrechen  eine  bestimmte 
^Kombination  von  Degenerationszeichen  als  typisch  hinstellen,  und  dass  sie  somit 
zu  der  Aufstellung  bestimmter  anthropologisch  gekennzeichneter  Verbrechertypen 
gekommen  sind. 

In  seinem  neuesten,  in  Gemeinschaft  mit  Ferrero  herausgegebenen  Werke: 
„Diis  Weib  als  Verbrecherin    und  Prostituirte"    äussert  er  sich  folgendermaassen : 

,,Loidor  orgiobi  diese  ganze  Anhäafung  von  Messnngsergebnissen  nur  recht  wenig,  und 
(liiH  ihI  natürlich,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  schon  zwischen  Verbrechern  und  nonnaleii 
Individuon  mtlnnlichen  Geschlechts  nur  geringe  anthropometrische  unterschiede  bestehen;  bei 
der  viel  grl^Moren  Stabilität  und  geringeren  Differenzirung  des  Weibes  in  anthropologischer  Be- 
ziehung müssen  Unterschiede  noch  weniger  hervortreten.  Folgendes  sind  die  wichtigsten  Er- 
gebnJKHo:  Körperhöhe,  Klaftorwoite  und  Länge  der  Extremitäten  ist  bei  Verbrecherinnen  kleiner; 
<laN  (Gewicht  int  mit  Rücksicht  auf  die  Kr)rperhöhe  bestimmt  bei  Mörderinnen  relativ  grösser, 
niobinnon  bleiben  nach  Inhalt  und  Umfang  des  Schädels  unter  der  Norm;  die  Sch&deldorch- 
niOHHor  Hind  kleiner,  die  GosichtH-,  besonders  die  Untorkieferdurchmesser  grösser  als  in  der 
Norm.  Haupthaar  und  Iris  sind  bei  Verbrocherinnen  dunkler;  Grauhaarigkeit  ist  fast  doppelt 
NO  häulig  uIh  in  der  Norm,  dagegen  sind  jugendliche  Kahlköpfe  bei  Verbrecherinnen  seltener 
und  ttbonuo  frühzeitige  Kunzein,  jedoch  sind  alte  Verbrecherinnen  runzliger  als  alte  Frauen 
dor  gewöhnlichen  Hovölkorung.* 

In  einer  l^ibclle  stellt  or  die  „Degenerationszeichen^^  am  Schädel  zosanmien 
und  hiMHorkt  du/u: 

,VVto  Nohr  Hiüh  die  Kindenmörderinnen,  deren  Delict  im  geringsten  Maasse  den 
Charakter  dor  Abnormität  hat,  von  den  anderen  Verbrecherinnen  unterscheiden,  zeigt  die 
Tiibello.  Wonigor  häutig  Hind  bei  ihnen:  Asymmetrien,  Strabismus,  männliche  Physiognomie, 
Anomalion  dor  /ähno  uml  tler  .loohboine;  dagogen  sind  Ohr?arietäten  und  Hydrocephalie  sehr 
hUulig.  l)io  Diobinnon.  dio  (iiftmiKchorinnen  und  die  Mörderinnen  haben  das  Maxi- 
mum dor  SohädohiHymuiotrion  und  «Ioh  StrabiHmus;  die  Mörderinnen  haben  am  häufigsten 
männlioho  uutl  mongoloitio  IMiyHiognomion.  Wogen  T od tschlags  und  Giftmords  verurtheilte 
Krauon  gabon  <lio  grÖMtton  '/ahlon  für  Srhädoldeprossionen,  Zahndiastema,  und  neben  den 
MrandM  tiftorinnon  für  oingodrüokto  und  doformo  Nasen.  Mörderinnen,  Giftmische- 
rin non  und  Hrandntiftor innen  giU)on  dio  grössten  Zahlen  für  vorspringende  Jochbeine, 
muNMigo  Kiofor  und  <toiiiohtiiiu>ymmotrio.  Donnot^h  nind  boi  den  übrigen  Verbrecherinnen, 
Rumnl  boi  Mördorin  non  und  (Sif  tnuNchori  nnon,  die  degeneratiTen  Merkmale  zahlreicher 
all  boi  K  indonmördorinnon.* 

IHoNo  iinthronologisohon  Anschauungen  von  Lomhroso  und  seinen  Anhängern 
sind  niimonilich  hoi  don  doutschon  und  frunxöaischen  Gelehrten  auf  einen  sehr 
orhohliohon  Widoi'stand  gostosson,  und  luvondor«  hat  in  jüngster  Zeit  jBoer,  der 
liinKJührigo  Arxt  an  dorn  Strafgoningniss  IMiUzonsoo  bei  Berlin,  in  einer  sehr 
ausnihrHohiMi  Monographie  dii'soH  Tlionia  oingohond  behandelt.  Er  kommt  dabei 
XU  folgt'ndon\  S^hhiwio: 

.Violfach  \*i  hior  an  fi'üU^rtin  StoUou  «li«  Wa^r«  borfthri«  ob  das  YerimoliiB  als  «aa 
Folg«  dor   individuollon  OrganiMition    annuM^hitn  \n\,     AUo  nior|)ho1ogitQl 
wir  bei  d«n  V#rbr<»ch<Mni  anUiikrt\»n,   roiohMt    niohl  au«,   um  dietea  Zwa 


11.  Die  Verbrecherin  in  anthropologischer  Beziehung.  Ql 

spedfisch  thats&chlichen  anzuerkennen.  Es  giebt  keine  charakteristische  Eigen thümlichkeit  in 
der  Gesammtbildung  des  Menschen,  aus  deren  Vorhandensein  wir  mit  einiger  Bestimmtheit 
auch  nur  behaupten  können,  dass  der  Träger  dieser  individuellen  Deformität  ein  Verbrecher 
sein  mfitse.  Viele  Verbrecher,  haben  wir  wiederholt  hervorgehoben,  und  sogar  viele  schwere, 
▼ielfach  rückfällige,  Ton  Jugend  auf  gewesene  Verbrecher  zeigen  gar  keine  Anomalie  in  ihrer 
körperlichen  und  geistigen  Crestaltung,  und  andererseits  haben  viele  Menschen  mit  ausgoprügten 
Zeichen  morphologischer  Abnormitäten  niemals  eine  Neigung  zum  verbrecherischen  Leben  ge- 
zeigt. Wir  sind  der  Ueberzeugung  geworden,  dass  dort,  wo  die  Organisation  als  Ursache  zum 
Verbrechen  angenommen  werden  muss,  eine  pathologische  Erscheinung  vorliegt,  dass  wir  es 
dort  nicht  mit  einem  Verbrecher,  sondern  mit  einem  Geisteskranken  zu  thun  haben." 

An  einer  späteren  Stelle  heisst  es  dann: 

.Wenn  es  unter  den  Verbrechern  viele  giebt,  welche  schwere  Missbildungen,  mehrfache 
Erscheinungen  und  Zeichen  anomaler  Formation  am  Schädel  und  am  Gesicht  zur  Schau  tragen, 
fo  liegt  der  Grund  nicht  am  wenigsten  darin,  dass  die  Verbrecher  zum  allergrössten  Theil 
am  den  ärmsten  und  niedrigsten  BevOlkerungsklassen  entstammen,  aus  Klassen,  in  denen  der 
kindliche  Organismus  gerade  im  frühesten  Alter  am  schlechtesten  und  ungenügendsten  ernährt 
wird.  Kann  unter  diesen  Umständen  von  einer  gesetzmässigen  Coincidenz,  von  einem  zwingen- 
den Causalnexus  zwischen  Schädelformation  und  Moral ität,  zwischen  Scbädeldeformität  und 
Verbrechen  ernstlich  die  Rede  sein?  Wir  müssen  diesen  Zusammenhang  auf  das  Entschiedenste 
xorückweisen,  ebenso  wie  jede  Abhängigkeit  zwischen  Schädelbeschaffenheit  und  Criminalität. 
Durch  die  Organisation  seines  Schädels  wird  der  Mensch  nicht  zum  Verbrecher.  Wo  dieses 
Caosalitätsverhältniss  erwiesen  ist,  ist  die  Organisation  keine  physiologische,  sondern  eine 
effectiv  pathologische,  und  der  Träger  derselben  kein  Geistesgesunder,  ganz  so,  wie  die  von 
ihm  ausgeübte  Handlung  die  eines  Geisteskranken  ist.*" 

«Das  Verbrechen  ist  nicht  die  Folge  einer  besonderen  Organisation  des  Verbrechers, 
einer  Organisation,  welche  nur  dem  Verbrecher  eigenthümlich  ist,  und  welche  ihn  zum  Be- 
gehen der  verbrecherischen  Handlungen  zwingt.  Der  Verbrecher,  der  gewohnheitsmässige  und 
der  scheinbar  als  solcher  geborene,  trägt  viele  Zeichen  einer  körperlichen  und  geistigen  Miss- 
gestaltung an  sich;  diese  haben  jedoch  weder  in  ihrer  Gesammtheit  noch  einzeln  ein  so  be- 
stimmtes und  eigenartiges  Gepräge,  dass  sie  den  Verbrecher  als  etwas  Typisches  von  seinen 
Zeit-  und  Stammesgenossen  unterscheiden  und  kennzeichnen.  Der  Vorbreebor  trägt  die  Spuren 
der  Entartung  an  sich,  welche  in  den  niederen  Volksklassen,  denen  er  meist  entstammt,  häufig 
vorkommen,  welche,  durch  die  socialen  Lebensbedingungen  erworben  und  vererbt,  bei  ihm 
bisweilen  in  potenzirter  Gestalt  auftreten.*^ 

Nach  diesen  Auseinandersetzungen,  welche  auf  genauen  Untersuchungen  und 
Messungen  und  auf  jahrelangen  Beobachtungen  beruhen,  werden  wir  also  den 
„Verbrechertypus"  sowohl,  als  auch  den  „geborenen  Verbrecher"  definitiv  zu  Grabe 
tragen  mQssen.  Von  recht  erheblicher  Tragweite  aber  ist  Baer's  Bemerkung,  dass 
da,  wo  die  körperlichen  Zeichen  der  Degeneration  als  die  Ursache  des  Verbrechens 
anerkannt  werden  müssen,  es  sich  nicht  um  einen  verbrecherischen  Gesunden,  son- 
dern nm  einen  Geisteskranken  handelt. 

Was  für  ein  grosses  Contingent  zu  dem  Verbrecherthum  die  Geisteskranken 
aber  liefern,  das  geht  recht  überraschend  aus  einer  Abhandlung  über  „Verbrechen 
und  Wahnsinn  beim  Weibe"  hervor,  welche  der  Arzt  an  der  Irrenanstalt  Huber- 
tusburg, Dr.  Näcke^  veröffentlicht  hat.  „Unter  53  direct  aus  der  Unter- 
suchungshaft (2),  aus  dem  Correctionshause  (7),  aus  dem  Gefangnisse  (7)  und  aus 
dem  Zuchthause  (37)  der  Irrenanstalt  zugeftihrten  weiblichen  Personen  waren  zur 
Zeit  der  letzten  That  sicher  geisteskrank  (und  traten  trotzdem  ihre  Strafe  an) 
8  Weiber;  höchst  wahrscheinlich  geisteskrank,  oder  wenigstens  nicht  mehr  ganz 
intakt  waren  14  Weiber.  Man  wird  daher,  wie  Näcke  meint,  schwerlich  fehlgreifen, 
wenn  man  annimmt,  „dass  unter  den  53  Inhaftirten  wenigstens  20  bis  25  pCt., 
also  */5  bis  V4  unschuldig  verurtheilt  wurden  und  ihre  Strafe  antraten,  eine 
gewiss  coiossale  Ziffer,  die  aber  mit   anderen  Beobachtungen    in  Einklang  steht.*' 

IHe  Verbrechen,  um  welche  es  sich  bei  der  letzten  Bestrafung  handelte,  waren: 

Diebstahl 27  Falle,  51  Proeent 

Brandstiftung 9      „       17 


62  1^>  ^G  psychologische  Auffassung  des  Weibe«. 

Vagabundiren  und  Betteln  ...     5  Fälle,    9,4  Procent 
Todtschlag  oder  Versuch  dazu   .     4      ,         7,5     , 
Darüber  weiter  4  Mal  reiner  Betrug,  je  2  Mal  Meineid  und  gewerbsmässige  Unzucht 

Nie  vorbestraft  waren  4,  selten  11,  häufig  12  und  sehr  häufig  25.  Die  Gewohnheits- 
verbrecherinnen  sind  in  der  stattlichen  Zahl  von  37,  gleich  71,1  pGt.,  yertreten.  Es  waren 
fast  nur  Diebinnen,  doch  begingen  sie  nebenbei  noch  andere  Delicto.  Eigentliche  Leiden- 
schaftsverbrecherinnen  fehlen  gänslich. 

Es  ist  gewiss  nicht  ohne  Interesse,  nun  auch  von  Näcke  zu  erfahren,  welche 
Formen  der  Geistesstörung  unter  seinen  irren  Verbrecherinnen  yertreten  waren. 

Es  zeigten  sich  bei  der  Aufnahme  in  die  Anstalt  15  yerschiedene  Formen  yon  Manie, 
18  solche  der  Paranoia,  2  Paralyse,  5  Epilepsie  mit  und  ohne  Psychose,  4  hysteri- 
sches Irresein  und  3  Idiotismus.  «Paranoiker,  Epileptische  und  Idioten  figuriren 
speciell  bei  Todtschlag,  Epileptische  und  Imbecille  bei  Vagabundenthum,  das  sehr  ge- 
wöhnlich mit  Diebstahl  und  Hurerei  vergesellschaftet  ist.  Von  den  16  Vagabundinnen  waren 
nicht  weniger  als  8  mehr  weniger  imbecill  und  idiotisch.  Züge  der  primären  oder  secon- 
dären  Moral  Insanity  zeigen  deutlich  8  Personen. 

Ebenso  wie  Baer  tritt  auch  Näcke  gegen  die  Existenz  eines  Verbrecher- 
typus im  Sinne  Lombroso's  auf.     Er  sagt: 

„Selbst  bei  genauestem  Zusehen  haben  wir  mit  Anderen  im  Aussehen  und 
im  Charakter  unserer  Gewohnheitsyerbrecherinnen  nichts  besonderes  f&r  die  ein- 
zelnen Arten  der  Hauptdelicte  finden  können,  ebensowenig  wie  in  der  Handschrift, 
die  sich  yon  dem  Verhalten  bei  gewöhnlichen  Geisteskranken  mit  derselben  Psychose 
nicht  unterschied,  so  dass  diese  nicht  einmal  für  das  Verbrecherthum  im  Allge- 
meinen charakteristisch  war.  Auch  die  berühmte  fVerbrecher-PhysiognomieS  ins- 
besondere die  Art  des  Blickes,  fehlte  fast  überall;  häufiger  dagegen  fand  sich 
blasse  Hautfarbe,  durch  schlechte  Ernährung  draussen  oder  durch  lange  Haft 
erzeugt." 


UI.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

12.  Die  weibliche  Schönheit. 

In  einer  Hinsicht  ist  nun  aber  allerdings  das  Weib  dem  Manne  überlegen, 
nämlich  in  der  Schönheit  der  äusseren  Korperform.  Nur  wenige  giebt  es, 
die  dies  bestreiten.  Unter  diesen  Letzteren  ist  in  erster  Linie  wieder  Schopenhauer 
zu  nennen.  Er  macht  über  die  weibliche  Schönheit  folgende  wenig  schmeichel- 
hafte Bemerkung: 

,Dm  niedrig  gewachsene,  schmalscbultrige,  broithüftige  und  kurzbeinige  Geschlecht 
das  ichOne  nennen,  konnte  nur  der  vom  Geschlechtstriob  umnebelte  männliche  Intellect: 
in  diesem  Triebe  nämlich  steckt  seine  ganze  Schönheit.  Mit  mehr  Fug,  als  das  schöne, 
konnte  man  das  weibliche  Geschlecht  das  unästhetische  nennen.  Weder  für  Musik  noch 
Poesie,  noch  bildende  Künste  haben  sie  wirklich  und  wahrhaftig  Sinn  und  Empfänglichkeit, 
sondern  bloss  Aefferei  zum  Behuf  ihrer  Gefallsucht  ist  es,  wenn  sie  solche  affectiren  und  vor- 
geben.  Das  macht,  sie  sind  keines  rein  objectiven  Antheils  an  irgend  etwas  föhig,  und 
der  Grand  ist,  denke  ich,  folgender:  Der  Mann  strebt  in  allem  eine  directe  Herrschaft  über 
die  Dinge  an,  entweder  durch  Verstehen  oder  durch  Bezwingen  derselben.  Aber  das  Weib 
ist  immer  und  überall  auf  eine  bloss  in  directe  Herrschaft  verwiesen,  nämlich  mittelst  des 
Mannes,  als  welchen  allein  es  direct  zu  beherrschen  hat.  Darum  liegt  es  in  der  Weiber 
Natur,  alles  nnr  als  Mittel,  den  Mann  zu  gewinnen,  anzusehen,  und  ihr  Antheil  an  irgend 
etwas  anderem  ist  immer  nur  ein  simulirter,  ein  blosser  Umweg,  d.  h.  läuft  auf  Koketterie  und 
Aefferei  hinaus.* 

Das  Zugestandniss,  welches  weiter  oben  dem  weiblichen  Geschecht  bezüg- 
lich der  Schönheit  während  des  jugendlichen  Alters  von  Schopenhauer  gemacht 
worden  war,  nimmt  dieser  Autor  hier  also  wieder  zurück;  ihm  gilt  diese  „Schön- 
heit^^ für  nichts  als  eine  Selbsttäuschung  des  männlichen  Geschlechts! 

Aach  V.  Larisch  glaubt,  dass  das  weibliche  Geschlecht  in  Bezug  auf  die 
Schönheit  der  Erscheinung  von  den  Männern  übertroffen  werde,  und  er  sucht 
den  Grund  hierfür  in  folgender  anatomischen  Eigenthümlichkeit.  Eine  Ebene, 
welche  man  sich  durch  das  Perinaeum,  den  Damm  oder  das  Mitteläeisch  gelegt 
denkt,  die  sogenannte  Körpermitten-Ebene,  trifft  bei  dem  männlichen  Geschlechte 
ungefiLhr  mit  der  Mitte  der  Längsaxe  des  Körpers  zusammen ,  während  bei  den 
Weibern  der  obere  Abschnitt  den  unteren  um  ein  mehr  oder  weniger  bedeutendes 
Stück  überragt.  Diesen  Schönheitsfehler  haben,  wie  r.  Larisch  als  gewiss  an- 
nimmt^ die  Weiber  aller  Zeiten  instinctiv  empfunden,  und  sämmtliche  Variationen, 
welche  die  weibliche  Tracht  im  Laufe  der  Jahrhunderte  durchgemacht  hat,  laufen 
sammtlich  nur  auf  den  Versuch  hinaus,   diesen  Schönheitsfehler  zu  verbergen. 

Die  Mehrzahl  der  Männer  wird  jedoch  dem  weiblichen  Geschlechte  wohl  den 
Preis  der  Schönheit  zuerkennen. 

Allein  auch  dieser  Vorzug  des  Geschlechts  ist  ungleich  auf  die  Weiber  ver- 
theflt  Eine  AnnSherong  an  das  Ideal  weiblicher  Schönheit,  das  wir  uns  unter 
doB  Knflnase  einer  geliaterten  Aesthetik   gebildet  haben,  ist  nur  unter  höchst 

mBi^ieh. 


Q4  ni.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

Auch  die  Änthropologeu  haben  sich  mit  der  Frage  beschäftigt:  „Was  ist  die 
Schönheit  des  Menschen?''  Schon  im  Jahre  1860  Qbergab  Cordier  der  anthro- 
pologischen Gesellschaft  zu  Paris  eine  Arbeit  über  diese  Frage,  in  der  er  sagte: 
„Die  Schönheit  ist  nicht  etwa  Eigenthum  der  einen  oder  der  anderen  Rasse.  Jede 
Rasse  diflferirt  hinsichtlich  der  ihr  eigenen  Schönheit  von  den  anderen  Rassen. 
So  sind  denn  die  Schönheitsregeln  keine  allgemeinen,  sie  müssen  f&r  jede  einzelne 
Rasse  besonders  studirt  werden.''  Diesen  Sätzen  widerspricht  Ddaunay\  indem  er 
behauptet,  dass  es  allerdings  allgemeine  Schönheitsregeln  giebt,  sowohl  für  die 
Menschen,  wie  für  die  Thiere;  sie  begründen  sich  durch  die  von  Claude  Bemard 
aufgestellten  sogenannten  organothropischen  Gesetze,  die  in  der  Entwickelung  der 
Form  eines  jeden  Organs  gefunden  werden;  es  giebt  für  jedes  Organ  ein  Maximum 
der  Entwickelung,  welches  die  ihm  eigene  Schönheit  darstellt;  und  in  BetreflF  der 
Schönheit  des  ganzen  Individuums  müssen  die  verschiedenen  Organe  in  einer  be- 
stimmten Beziehung  und  in  einem  gewissen  V^rhältniss  zu  einander  stehen. 

Für  jede  Rasse  ein  typisches  Schönheitsmodell  aufzustellen  ,  wird  uns  aber 
wohl  kaum  gelingen,  und  dass  es  « ewige  Schönheitsgesetze''  von  allgemeiner 
Gültigkeit  nicht  giebt,  das  wird  wohl  Jedermann  zugeben,  der  weiss,  dass  der 
Neger  seine  Negerin,  der  Kalmücke  seine  Kalmückin  ebenso  sehr  und  mit 
demselben  Rechte  schön  findet,  wie  der  Weisse  etwa  die  Frauenbilder  RafatTs. 
Eine  Grundbedingung  für  die  Schönheit  des  Weibes  wird  es  aber  immer  bleiben, 
dass  der  Körper  das  Gesunde  und  Normale  zum  Ausdruck  bringen  muss.  Der 
Körper  muss  so  beschaffen  sein  in  allen  seinen  Theilen,  dass  er  sämmtlichen 
Functionen  seines  Geschlechts  gerecht  zu  werden  im  Stande  ist. 

Von  ähnlichen  Betrachtungen  geleitet,  sagte  Eckstein:  «Das  ,SchOnfinden'  ist  lediglich 
ein  anderer  Ausdruck  für  das  Obwalten  des  Sexualtriebes,  der  sie  zunächst  in  die  Form  der 
Bewunderung  kleidet  und  sich  diejenigen  Individuen  ausliest,  welche  den  Typus  der  Gattung 
am  reinsten  und  vollendetsten  repr&sentiren.  Die  Schönheit  fällt  hier  durchaus  mit  der 
Zweckmiissigkeit  zusammen;  sie  ist  eigentlich  identisch  mit  der  Gesundheit  im  prägnanten 
Sinn  des  Wortes,  insofern  nämlich  jede  störende  Abweichung  von  der  typischen  Norm  aal 
einer  Hemmung,  d.  h.  auf  einer  Krankheit  beruht.  Gesunde  Zähne  sind  schön,  weil  sie  zweck- 
mässig sind;  denn  sie  gewährleisten  durch  eine  vollständige  Zerkleinerung  der  Speisen  eine 
zweckmässige  Ernährung.  Eine  hohe,  ebenmässige  Stirn  ist  schön,  weil  sie  zweckmässig  ist, 
denn  sie  verbürgt  eine  Reihe  psychischer  Eigenschaften,  die  im  Kampf  ums  Dasein  günstig 
und  fördernd  sind.  Umgekehrt  berühren  uns  nicht  nur  die  sogenannten  Gebrechen,  sondern 
alle  irgend  auffällig  hervortretenden  Abweichungen  vom  Zweckmässigkeits-Typus  unsympathisch. 
Eine  s  chmalhüftige  Frauengestalt  ist  hässlich,  weil  die  dürftige  Entwickelung 
des  Beckens  das  Schicksal  der  künftigen  G  eneration  compromittirt.  Ein  im 
Punkte  der  Plastik  stiefmütterlich  behandelter  Busen  ist  hässlich,  weil  er 
dem  neugeborenen  Kinde  keine  zweckentsprechende  Nahrung  gewährleistet. 
Wo  sich  dagegen  keinerlei  Hemmung  vorfindet,  wo  alle  diejenigen  Eigenschatlen,  die  sich  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  als  zweckmässig  für  den  Kampf  ums  Dasein  bewährt  haben,  in  mög- 
lichster Vollkommenheit  ausgeprägt  sind,  da  sprechen  wir  von  vollendeter  Schönheit, 
und  je  mehr  sich  ein  Individuum  diesem  Typus  nähert,  um  so  entschiedener 
wird  es  von  dem  anderen  Geschlechte  begehrt.** 

Jedenfalls  werden  wir  anerkennen  müssen,  dass  die  Qabe  weiblicher  Schönheit 
nach  unserem  europäischen  Geschmacke  auf  Rassen  und  Völker  nicht  nur  un- 
gleich vertheilt  ist,  sondern  dass  der  höhere  oder  geringere  Grad  von  Schönheit 
durch  verschiedene  physische  und  culturelle  Verhältnisse  bedingt  wird,  von  denen 
wir  sogleich  sprechen  werden. 

13.  Fördernde  and  hemmende  Bedingungen  für  die  weibliche  Schönheit. 

Alle  äusseren  Einwirkungen,  welche  die  Menschen  treffen,  die  Lebensweise 
und  die  Lebensumstände,  der  Grund  und  Boden,  auf  welchem  sie  ihr  Dasein  fristen, 
sowie  das  Klima,  dem  sie  unterworfen  sind,  bleiben  sicherlich  nicht  ohne  Sinfliiai 
auf  die  Entwickelung  der  schönen  Formen  oder  der  hässlichen  Oestalti  welche 


13.  FOrdumde  and  hemmende 


tQr  die  weibliche  Schönheit. 


65 


an    den   Weibern   der  Terschiedenen   Volker   wahrDehmen.     Man  hat  gesagt,  dasa 
TOÜei  '      '    "  '  "itheit  ntir  in  gemässigten  Klimaten  anzutreffen  sei.     und  Ton 
em  Ga^L  lies  Europäers    aus    hat  man  darin  auch  gewiss  nicht  Un- 

recht Man  möge  aber  nicht  vergessen^  dass  hier  ein  anderer  höchst  gemcbtiger 
Factor  noch  mitspielt,  der  vielleicht  von  doch  noch  grösserem  Einfluss  ist,  als 
Lofl  and  Sonne,  Kälte  und  Wärme;  das  ist  die  Stellung,  welche  dem  Weibe 
IQ  der  betreffenden  Bevölkerung  angewiesen  ist.  Von  dieser  ist  es  abhängig,  ob 
I»  ihr  möglich  wird,  ihre  Gesammtorganisation  in  vollkouiraener  Weise  zur  Eot- 
wickelttng  zu  bringen.  Es  ist  dann  einestheils  die  Zuchtwahl,  welche  zur  Fort- 
Itill^  die  schönsten   Individuen  anssurlit.  juiderentheila  die  Erziehung,  welche 


ns*^. 


V^  a  D II I  u  ttos 


dem  -S|«  rt?o  Vr  a  I  >i  e  mu   nmunni  nyiu 
(Siw?b  PbotogT%i»hl<v.) 


'  iiuiLuitdruck. 


Aasbildung  des  einzelnen  Individuums  Gelegenheit  giebt,  maassgebend 
reichen  Besitz  eines  Volkes   an    Weibern ,    deren    Erscheinung    sich  dem 
b5iiliett«- Ideale    nähert.      Dagegen    gedeiht   die    weibliche    Schönheit    nicht  bei 
Volke,    dessen  Frauen  sich  von  Jugend  auf  in  dem  herabgewürdigten  Zü- 
nde ton  Hftusthieren  befinden  und  bei  dem  der  Preis  eines  Eheweibes  sich  nach 
Arbeitskraft  richtet, 

»Bai  dr  I  chen,'  sagt  JftWi?,  , desgleichen  bei  verkflmmerten»  in  ihrer 

GMtiimg  vark  ijppen   seigt  sich   der   Gegensatz   von  Mann   und  Weib  noch 

vidfiie]!   »ftrwiwcbt  und  verdunkelt.     Er  verdeutlicht   und  erweitert  sich   im    gleichen  Schritt 
_«urh^HnilMti  Ctiltur.    Bei  einer  sehr  abgeschlossen  lebenden  LandbeTÖlkemng,  wie  bei 
n««  W«0>.   a  A^    l  b 


rWrmr 


i^ 


ie  E«üietif4slie  Aaffawjing  de« 


diiii  IQ  h&rt«r  körperlicbor  Arbeit  enbkrrt&u   Froletiiriera,  bat  der  mlßnlieb«   a&d   wtil 
Kopf  füJit  di«  gleiche  Pbytiiognomie.     Ein  in  MäiiDertracb'   7  ^-^^'9«  Ftmumgtiielit  *a« 
V^olkuchkhion  wird  lich  kaum  von  dem  Manneskopf  uu  ^a  liii>n      NftatalUdi  alti 

Weiber  und  alte  Männer  gl  ei  eben  eich  hier  wie  ein  Ki  limn  dmittym*^ 

Um  <li*-!*e  Gleicbtüäaaigkeit  des  G^ichU  zwischen  MSnocni  Hßd  Weibcro 
ztir  Eniwickiiliing  in  hrlugtn,  ist  in  vielen  Fällen  schon  ein  Oberwiegendeir  Aof- 
4sütlitiit  in  freier  Luft  hinreichend,  wie  er  bei  unserer  Landbef&lkeniiig  slfitikai 
Da»  zeigt  un«  auch  die  Wand  in  in  Fig.  35,  Aach  bei  den  ChipiTOS-InduuieriimeD^ 


IS«  Fördernde  und  hemmende  Bediogusgen  für  die  weibliche  Schönheit. 


67 


Ton  Watts  »ehr  eingehend  untersucht.  Allein  er  betont  doch  auch,  das« 
xaklmcbe  Folgen  der  verschiedenen  Cult Urzustände,  die  der  Mensch  durch- 
\T%uÜ  tili»  gewissermaassen  vor  einer  Ueberschiitzung  der  klimatischen  und  geo- 
1  Verhältnisse  wahren ;  denn  wenn  der  Mensch  eine  höhere  Bildungsstufe 

rjit,  80  hört  er  schon    damit    auf,    genau   dem  Boden  und  den  Naturver- 
-.  n  zu  entsprechen,  denen  er  angehört 

also  nicht  geleugnet  werden,  dass  klimatische  und  verschiedene  äussere 

[  tnisse  von    entschiedenem,  bald    torderlichem,    bald  hemmendem  Ein- 

auf   die    körperliche    und   geistige   Entwickeluug   der  Menschennatur   sind. 

Auc*m  die  Aufgabe    der   Gesittung  und   namentlich  der  Erziehung   ist  es,  der- 


ii\ 


W\^  87.    Ottlutiieii-Fräu  aqs  Tanesleit  mit  miLuutlcheia  Oetfidttnauadniek. 


Ilen  Einflüiae  asu  beherrschen,  de  entweder,  so  weit  sie  günstig  sind,  zu 
ateen ,  oder  sie ,  soweit  sie  ungünstg,  zu  paraljsiren  durch  vorsichtiges  Ver- 
UirvL.  Denn  der  ilensch  goU  und  wird  mehr  and  mehr  zum  Siege  über  die 
QtaierieQe  Katur  gelangen.  So  liegt  es  denn  auch  in  der  Hand  der  Nationen, 
ibeoai]  sehr  der  physischen  wie  der  moralischen  Ent Wickelung  nachzustreben;  wir 
fiodeo  Aach  in  der  That,  dass  es  eine  Erziehung  giebt,  welche  solche  Aufgaben 
verf'  i  '  ist  sie  leider  noch  nicht  zum  Gemeingut  geworden.     In  den   ^besse- 

,  unter  den  gut  siUiirten  Klassen  der  Bevölkerung,  erblicken  wir  fast 
schönere,  edlere  Gestaltung,  nicht  bloss  bei  Männern^  sondern  nament- 
?rau^*     Der  Typus  der  Schönheit  kann  sich  unter  so  gut  beeinflussten 


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14.  Der  Darwinismus  über  die  Entwickelang  weiblicher  Schönheit.  gg 

Es  ist  also  die  Stellung  des  Weibes  im  socialen  Leben  und  die  Arbeits- 
thatigkeit,  die  ihr  bei  jeder  Nation  conyentionell  zugewiesen  wird,  von  besonderer 
Bedeutung  fttr  die  mehr  oder  weniger  schöne  Entwickelung  der  weiblichen  Formen 
bei  den  Völkern. 

Die  Frauen  der  am  Ostcap  Neu-Seelands  wohnenden  Eingeborenen,  welche 
in  elender  Lage  sind  und  yon  ihren  Männern  äusserst  hart  und  karg  gehalten 
werden f  haben  meist  dunklere  Hautfarbe,  als  diese;  sie  sind  auch  durchgehends 
kleiner  und  hässlicher,  als  die  Männer  (Forster j  Dieffenbach^) ;  so  zeigen  sie  in 
dem  tiefer  stehenden  Menschenschlag  die  ihn  tiefer  stellenden  Merkmale  in  besonders 
hohem  Grade  (PolacJc), 

Von  den  See-Lappen,  die  ihre  Wohnsitze  längs  der  wilden  Küste  von 
Nordland  und  Finnmarken  hßben,  sagt  Du  Chaillu: 

«Auch  die  Frauen  sind  treffliche  Seefahrer,  und  die  lappischen  Bootseigenthümer 
lassen  die  Bedienung  der  Fahrzeuge  und  Netze  oftmals  ausschliesslich  von  ihren  Frauen, 
TOchtem,  Schweetem  oder  auch  wohl  von  den  eigens  zu  diesem  Zwecke  gedungenen  Weibern 
besorgen.  .  .  .  Die  Züge  der  Frauen  werden,  eine  natürliche  Folge  ihres  beständigen  Ver- 
weilens  im  Freien  und  ihrer  harten  Lebensweise,  mit  den  Jahren  sehr  grob  und  man  kann 
sie  oft  ebensowenig  von  den  Männern  unterscheiden ,  wie  man  bei  Kindern  Mädchen  von 
Knaben  zu  erkennen  vermag.' 

Auch  aus  anderen  Welttheilen  bin  ich  im  Staude,  Beispiele  dafür  herbei- 
zubringen, dass  angestrengte  körperliche  Arbeit  bei  dem  Weibe  einen  männlichen 
Typus  entstehen  lässt,  und  ich  führe  einen  solchen  Beleg  in  Fig.  37  vor.  Hier 
ist  eine  Beduinen-Frau  aus  Tunesien  dargestellt,  welche  sicherlich  sehr  leicht 
mit  einem  Manne  verwechselt  werden  könnte. 

Auch  von  den  Indianern  Amerikas  wurde  berichtet,  dass  Männer  und 
Weiber  desselben  Stammes  häufig  eine  sehr  gleichartige  und  in  vielen  Fällen 
schwer  unterscheidbare  Gesichtsbildung  besitzen,  ein  Umstand,  der  sehr  dazu  bei- 
trigt,  den  Hindruck,  den  diese  Individuen  hervorbringen,  zu  einem  äusserst  gleich- 
massigen zu  machen.  Die  Indianerweiber  müssen  in  der  That  aber  auch  alle 
Arbeit  verrichten  und  sind  nach  KoMs  Angaben  sehr  muskelstark.  Sind  hiermit 
nun  auch  in  erster  Linie  die  Indianerinnen  Nord-Amerikas  gemeint,  so  zeigt 
doch  die  Cunivos-Indianerin  in  Fig.  38,  dass  auch  in  Peru  ganz  ähnliche 
Verhältnisse  nachweisbar  sind.  Das  Gleiche  vermochten  wir  auch  an  den 
Chipivos-Weibem  in  Fig.  36  zu  sehen. 


14.  Der  Darwinismiis  Aber  die  Entwiekelnng  weiblicher  Schönheit. 

Was  nun  die  Zuchtwahl  und  ihre  Beziehung  zur  Schönheit  des  weiblichen 
Geschlechts  betrifft,  so  können  wir  über  diesen  Punkt  wohl  keinen  Besseren  hören, 
als  Charles  Darwin  selber,  welcher  Folgendes  äussert: 

,  Da  die  Frauen  seit  langer  Zeit  ihrer  Schönheit  wegen  gewählt  worden  sind,  so  ist  es 
nicht  überraschend,  dass  einige  der  nach  einander  auftretenden  Abänderungen  in  einer  be- 
schränkten Arl  und  Weise  überliefert  worden  sind,  dass  folglich  auch  die  Frauen  ihre  Schön- 
heit in  einem  etwas  höheren  Grade  ihren  weiblichen  als  ihren  männlichen  Nachkommen  über- 
liefert haben.  Es  sind  daher  die  Frauen,  wie  die  meisten  Personen  zugeben  werden,  schöner 
geworden  als  die  Männer.  Die  Frauen  überliefern  indess  sicher  die  meisten  ihrer  Charaktere, 
mit  AoMchlass  der  Schönheit,  ihren  Nachkommen  beiderlei  Geschlechts,  so  dass  das  beständige 
Voniehen  der  anxiehenderen  Frauen  durch  die  Männer  einer  jeden  Rasse  je  nach  ihrem  Maass- 
itabe  TOn  Geschmack  dahin  führen  wird,  alle  Individuen  beider  Geschlechter,  die  zu  der  Rasse 
gdiüren,  in  einer  und  derselben  Weise  zu  modificiren.* 

Man  darf  freilich  den  Einfluss  der  Zuchtwahl  in  seinem  hypothetischen  Um- 
fiuige  nicht  allzuweit  ausdehnen,  wie  es  Alfred  Kirchhoff  in  einem  Falle  versucht. 
Er  meint,  dass  die  Austrainegerinnen  gar  häufig  furchtbare  Knüttelschläge 
ngaü  den  Kopf  bekommen,  und  dass  diejenigen  Frauen,  welche  dergleichen  Miss- 
SamHongen    erleben,    sich    durch    erstaunliche   Dicke    der    Schädelknochen   aus- 


/^..'v-..-.>r.  rr.  ..«*^r.-  >o  'i«a  g^Triaar rrr nai'w»»n  dnrcc.  VererfaTiag  von  den  Ueberlebenden 
*,'  '..^  ',^iUr-\rfi!r.(ifi:  Lnr.iCP:  d^,  2tin:'ri.:iia  am  AaäCralaeger  eneogt  worden  sei; 
/f///'/»//'  rr.r/if.v  'i'^iJVi  KA*»>n-Ei2*c:ii:ii::lit:Lkeit  »ienmacli  der  Zochtwadil zuschreiben. 

>-.:.  ir.r'i  zv^^r  Infi  AU^r^iLeinen  behanpc^.  daas  bei  den  niedrig  stehenden 
ffA^AT.  </>!r  W^r.r»  (\a  Eke^&ttln  zumeist  nicht  Eiach  einer  bestimmten  Zuneigung 
inif..*.  wÄjUf.f:  'ir^roh  'lift  Är.A»eren  Reize  drs  Weibes  bedingt  imrde:  allein  es 
jr  ^',*.  ^.'-/,ir.  ari^K  B^i.^pi^I/i  mar-cherlei -  in  welchen  bei  barbarischen  Stammen  die 
-',.'.  Ißortrtn  r/^|>r^//:her.e  Zuchtwahl  vorkommt.  In  einem  gewissen  Grade  ist  das 
'//<-,%  Tkifu  hiffT  f\f.r  ari-twähl^^nde  TheiL  indem  es  fast  überall  demjenigen  Manne 
/  .  ''i.^'j*^}it^i  bricht.,  welcher  ihm  zu  gefallen  nicht  im  Stande  ist.  Wenn  bei  den 
A  u.yf»u*:Tx,.  einem  In'l  i  an  er  stamme  in  Sud- Amerika,  der  Mann  sich  ein  Weib 
w.trjt.  »o  handelt,  er  mir.  den  Eltern  um  den  Preis:  allein  es  kommt  nach  r.  Ajsara 
h  .'h  hä'ifi((  7or.  daft^f  da^  Mädchen  durch  alles  das,  was  zwischen  den  Eltern  und 
*U'U\  l»r;fiiti(^arri  abgemacht  ist,  einen  Strich  zieht  und  hartnäckig  auch  nur  die 
VsTrrii\^iiihu*/  tit-.r  lleirath  verweigert:  sie  läuft  nicht  selten  davon  und  verspottet 
i\tu  lfr;iijti^ar/i;  ftie  be<tt^'ht  demnach  doch  auf  dem  Rechte  der  Zustimmung.  Unter 
tU-ti  i '  o  w  a  ri  i:  h  <■  n ,  i tu  Norden  Mexikos,  mu.ss  der  junge  Mann  seine  Auserwählte 
von  den^ri  KIferri  t-rVhuU-ri^  allein  die  Einwilligung  des  Madchens  zur  Ehe  gilt  fQr 
unt'r\'ii^^.\ir,h[  fiihrt  -^i«  dan  i'ferd  ihres  Bewerbers  in  den  Stall,  das  dieser  an  der 
M^iMiT  art((ebiirid<:n  hat,  so  gi^bt  sie  ihm  damit  ihr  Jawort  (Gregg),  Bei  den 
luilrnürken  und  «rhenno  bei  den  Stämmen  des  malayischen  Archipels  findet 
/wiMrlifn  ({raiit.  und  liräiiii^ani,  nachdem  die  Eltern  der  ersteren  ihre  Zustimmung 
yiti^t'.\tt'u  hab^'H,  eine  Art.  von  Wettlauf  statt,  und  Ciarice  sowie  Bourien  erhielten  die 
VcrMirlii'iiin^,  duHH  kein  Fall  vorkommt,  wo  ein  Mädchen  gefangen  wQrde,  wenn 
MM«  nirlit.  Iljr  di-n   Verfolger  eiwa-s  eingenommen  wäre. 

Dif  iMlidchrn  der  bi.s  vor  Kurzem  noch  der  Anthropophagie  ergebenen 
llattahfr  im  Inneren  von  Sumatra  lassen  sich  oft  durch  alle  Gewalt  vom  Vater 
nidif  7.11  einer  ilinm  unwillkommenen  Ehe  zwingen.  Der  Missionar  Stmoneit 
ImtmIiI,!*!.  diiriilMT: 

,Ut  fiiii  Mtlilrlinn  vrrlolH,  und  will  nicht  die  Frau  ihres  Bräutigams  werden,  so  sind 
iliM  KU  IM  II  vMr|)lli('lil(«t,  HJM  /ii  Kwintifnn.  Der  erste  Grad  des  Zwanges  wird  dadurch  ausgeübt, 
i|ii«i>i  (liti  Vittnr  Mi'iiin  Tficlit-nr  in  don  Block  legt.  Weigert  sie  sich  aber  trotzdem,  so  wird  ein 
AiiifMi:i«iiiH>i|.  ülinr  mIh  IL liHgn klopft,  diDiiii  sio  sich  entKchlicsse,  ihren  Bräutigam  zu  heirathen. 
Wiilni  itiiOil  nin  ili«iiiiurh.  ho  wf^rdon  ihr  die  Ilaarc  abgeschnitten.  Hat  ihr  Vater  alles  dieses 
rMiiliiiii  Ulli!  HiMiii«  Torlitor  woipM't  Hirh  dennoch,  so  kann  er  nicht  mehr  strafßlllig  sein: 
woi^fit  IM  Mirli  II I irr,  iÜpho  'rmdir  im  Hoinor  Tochter  zu  vollziehen,  so  muss  er  das  £m- 
)i|itii|MMii<  (lii|>)M>Ii  /iiiiirliiMsiiiiti'ii.  Soltrn  über  wordon  die  letzten  Folterungen  angewandt, 
iliMiii  iiiii'hdiMii  Hill  im  Klnck  ),n>\voson  ist  und  sirb  donnoch  weigert,  wird  sie  meist  an  ihre 
Khiifii  miili-UKH):  1*1 1011.  Ks  giobi  ubiM'  auob  Kiille,  wo  der  Bräutigam  sagt:  ,£&  ist  mir  eine 
Srbiitidit.  Nil*  .Miitli'k/iigrbiMi.  Ibro  Htiiiro  werde  ich  mir  zur  Kopn>inde  machen  und  ihre 
KiiniiiiMi  rinn  Möi  .<<i  i1(*n  Siri :  irb  gobo  nie  nicht  zurück,  beinithe  aber  eine  andere.*  Dies 
\o\r\o  Mittol  liilli  um  mtMstoii.  donn  wenn  dtM*  Mann  sein  AVort  hält,  so  darf  das  M&dchen 
lidiiMi  .biii^   iiitOit   biMrnthiMi." 

MiM  d«*n  Kufrorn,  ilio  ihrr  Knuion  oluMitalls  kaufen,  sprechen  die  Mädchen 
ilno  /usiinnnun^  v\s\  Atwux  aus,  wenn  sirh  dor  Mann  ihnen  präsentirt  und  seine 
.(«iin^iiii'  ^tdiiHi^  pv.iM^t  \\i\\.  Auch  hv\  don  \osa-Kaffern  kommt  es  bisweilen 
\iM,  ditss  tlio  Torblor  diMi  ihr  \o\\\  VatiM'  aus^osui'hton  Hniutigam  ausschlagt,  und 
au  d«Mu  'Vt\i\\\  \so  dio  .Vb^osandtou  dos  Mriiuti^anis  sie  nach  dessen  Kraal  abholen 
widlou,  iiUNtuM  sh'b  foNthob  mit  OiktM*  /u  srinuürkon.  sich  mit  Menschenkoth 
brsidiMUiMt  Ibnni  i^tll  dor  IltMvathsi'outraot  als  aut'i^ohobon  {Kropf).  Bei  den 
Hu  srbniainuM-u  vi»n  S»tl  Ahik»  uniss  naob  IhothtU  Jor  liebhaber,  wenn  das 
\o\\  \\\\\\  M\iMM-\\:ihlto  Miidibon  txw  Maunbarkoit  honm^owaohsen  ist.  sowohl  ihre 
/ustiununui;  als  auob  dio  dov  KItorii  ovlaui;:«Mi.  Nach  ir/iitrcHHi  Itcade  haben  die 
Nokiovniiidohou  untor  don  ntfolhifotitoron  hoidnis\*hou  StSminen  keine  Schwierig- 
koiton,  diojonii^Mi  Mannor  ;u  U'kouimon.  «\oKbo  sio  wAntchHlS  nsuid  ToUatindig 


15.  Die  Mischung  der  Rassen  steigert  meist  die  Entwickelung  weiblicher  Schönheit.       71 

fähig,  sich  zu  yerlieben  und  zarte,  leidenschaflliehe  und  treue  Auhänglichkeit  zu 
äussern.  Demnach  befinden  sich  bei  vielen  Wilden  die  Frauen  in  keinem  so  völlig 
unterwürfigen  Zustande  in  Bezug  auf  das  Heirathen,  als  häufig  vermuthet  wird. 
So  schliesst  denn  Darwin:  »Eine  Vorliebe  seitens  der  Frauen,  welche  in 
irgend  einer  Richtung  stetig  wirkt,  wird  schliesslich  den  Charakter  des  Mannes 
afficiren,  denn  die  Weiber  werden  allgemein  nicht  bloss  die  hübscheren  Männer 
je  nach  ihrem  Maassstabe  von  Oeschmack,  sondern  diejenigen  wählen,  welche  zu 
einer  und  derselben  Zeit  am  besten  im  Stande  sind,  sie  zu  vertheidigen  und  zu 
unterhalten.*  Umgekehrt  werden  aber  auch  die  kraftvolleren  Männer  natürlicher 
Weise  den  anziehenderen  Weibern  den  Vorzug  geben. 


15.  Die  Mischang  der  Bässen  steigert  meist  die  Entwicicelung 
weiblicher  Schönheit. 

Die  Leibesgestalt  der  Nachkommen  wird  um  so  weniger  modificirt  und  es 
kommen  die  Merkmale  von  Rasse  und  Kaste  um  so  deutlicher  und  schärfer  zur 
Erscheinung,  je  reiner  sich  die  Zeugenden  nur  innerhalb  ihrer  Rasse  und  Kaste 
Termischen.  Dies  tritt  vorzugsweise  dort  zu  Tage,  wo  Jahrhunderte  lang,  wie 
beispielsweise  bei  den  Hindus,  nach  dem  Gesetze  Manu's  Verehelichungen  nur 
innerhalb  der  Kaste  erfolgen.  Die  Brahmanen,  die  bevorzugte  Kaste,  werden 
von  de  Gobineau  als  vorzüglich  schön  von  Gestalt  gerühmt;  und  Meiners  sagt: 
«Aeltere  und  neuere  Reisende  bewunderten  die  ausserordentliche  Schönheit  der 
Inder  und  Indierinnen  der  höheren  Kasten  so  sehr,  dass  sie  dieselben  für  die 
schönsten  Menschen  auf  der  ganzen  Erde  erklärten.'*  Die  geringeren  Hindus 
hingegen  besitzen  ein  minder  vollkommenes  Ebenmaass  der  Glieder. 

Bei  der  Vermischung  verschiedener  Rassen  aber  kommen,  wie  man  dieses 
wohl  erwarten  konnte,  an  den  Kindern  bald  die  Eigenthümlichkeiten  des  Vaters, 
bald  die  der  Mutter  durch  Vererbung  zur  Erscheinung.  Der  Leser  findet  auf 
Tafel  VIII  eine  kleine  Auswahl  von  Repräsentantinnen  menschlicher  Rassen- 
kreuzung, sämmtlich  nach  photographischer  Aufnahme  dargestellt.  Nach  Briiner 
gerathen  bei  Vermischung  eines  Arabers  mit  einer  Negerin  die  Kinder  mehr 
nach  der  Mutter;  vermischt  sich  aber  ein  Neger  mit  einer  Aegypterin,  so  be- 
sitzen die  Kinder  noch  das  Haar  der  Neger-Rasse,  während  die  Enkel  schon 
schlichtes  Haar  besitzen  und  in  wohl  allen  Stücken  mit  den  Aegyptern  über- 
einkommen; Europäer  und  Türken  zeugen  mit  abyssinischen  Frauen  Kinder, 
welche  in  ihren  Körperformen  den  Bewohnern  der  iberischen  Halbinsel  nahe 
stehen,  jedoch  einen  Mangel  an  Gesichtsausdruck  bekunden. 

,  Van  der  Burg  behauptet,  die  Erfahrung  bei  Mischehen  zwischen  Chinesen 
und  javanischen  Frauen  gemacht  zu  haben,  dass  gerade  die  Kinder,  welche 
denselben  entsprossen  waren,  mehr  den  mongolischen  Typus  zeigten  und  auch 
in  Sitten,  Gebräuchen,  Manieren  und  Denken,  namentlich  auch  in  den  kaufmän-. 
nischen  Eigenschaften  dem  Vater  glichen.  Ich  kann,  schreibt  Beyfuss^  dieser  Be- 
obachtung in  allen  Stücken  beipflichten.*^ 

Die  Mischlinge  von  Javaninnen  und  Europäern  sind  fast  durchweg  auf- 
fallend hübsch;  sie  haben  nicht,  wie  die  Mal ay innen  gewöhnlich,  die  allzu  keck 
aufgestülpte  Nase,  die  allzugrosse  Breite  des  lächelnden  Mundes  und  das  Heraus- 
fordernde der  zu  schmal  geschlitzten  Augen.  Auch  Schmarda  hebt  bei  den  Misch- 
lingen der  Malayen  und  Europäer  besonders  die  Schönheit  des  weiblichen  Ge- 
scUecbts  hervor.  Der  Körperbau  der  Mulattinnen  ist  nach  Berghaus  zierlich; 
etwas  kürzere  Arme,  ganz  allerliebste  Hände,  eine  ausnehmend  schöne  gewölbte 
Brost,  die  schönste  Taille  und  unbeschreiblich  kleine,  gefallige  Füsse  machen  die 
game  Persönlichkeit  zu  einem  höchst  angenehmen  reizenden  Wesen;  „es  ist  gar  kein 
Vergleich  zwischen  einer  weissen,  indolenten,  gleichgültigen  Brasilianerin  und 
m ausgelassenen, munteren,  oft  tollen  und  dabei  hübschen  Mulattinnen  möglich.* 


72  m*  ^i®  ästhetische  Auffassmig  des  Wdbes. 

Bei  Eanaken-Frauen  auf  Hawaii  (Sandwich-Inseln),  die  mit  Männern 
von  verschiedener  Rasse  Kinder  erzeugt  hatten,  konnte  Bichard  Neuhauss  consta- 
tiren,  dass  die  Eine  derselben  ein  Kind  von  einem  Vollblut- Kanaken,  eins 
von  einem  Chinesen  und  eins  von  einem  Melanesier  hatte,  von  denen  Alle  on- 
verkennbare  Spuren  des  Vaters  trugen;  bei  dem  Halb-Ghinesen  geschlitzte 
Augen  und  vorspringende  Backenknochen,  beim  Halb -Melanesier  spiialig  ge- 
kräuseltes Haar  und  das  auffallend  grosse  Weisse  im  Auge.  In  Honolala  sah 
Neuhauss  zwei  Halb-Europäer  (der  Vater  ein  Deutscher),  bei  denen  nur 
wenig  noch  an  die  K an aka- Abkunft  erinnerte.  So  glichen  also  die  mionlichen 
Abkömmlinge  mehr  dem  Vater.  Ganz  anders  waren  die  Erscheinongen  bei  Halb- 
blut-Mädchen, deren  Vater  ein  Norweger  mit  blauen  Augen  und  blondem  Haar, 
die  Mutter  ein  Kanaka-Weib  war.  Die  beiden  dieser  Ehe  entstammenden 
Töchter  hatten  die  dunkle  Hautfarbe  und  die  Züge,  auch  die  grosse  Körperf&lle, 
die  massive  Nase,  die  dunkelbraunen  Augen  und  Haare  der  Eingeborenen.  Nach 
Riedel^  sind  die  Kinder  von  Chinesen,  welche  diese  mit  Weibern  der  Aaru- 
Ins ulaner  gezeugt  haben,  je  nach  dem  Geschlecht  verschieden  von  Farbe,  die 
Mädchen  heller,  die  Knaben  dunkler. 

Finsch  fand  unter  den  Mischlingen  der  Maori- Frauen  Neu-Seelands  mit 
Europäern  wirkliche  Schönheiten,  die  er  unter  den  Eingeborenen  niemals  be- 
obachtete. 

Mischlinge  von  Gilbert-Insulanerinnen  (Mikronesien)  mit  Weissen  unter- 
scheiden sich  leicht  durch  die  hellere  Hautfärbung,  die  sanft  gerStheten  Lippen 
und  den  europäischen  Gesichtsausdruck.  Mischlinge  von  einem  weissen  Vater 
und  einer  Ponapesin  (Carolinen-Inseln)  zeichneten  sich  vor  Europäerinnen 
nur  durch  einen  dunkleren  Teint  aus.  Zweimal  mit  Weissen  gemischtes  Blut, 
also  Dreiviertel  Weiss,  ist  von  Weissen  gar  nicht  mehr  zu  unterscheiden  und 
ebenso  hell  als  letztere.  Von  Halbblut-Sa moanerinnen  gilt  das  Gleiche.  Die 
zweijährige  Tochter  eines  Weissen  und  einer  Frau  aus  Neu-Üuinea  erschien  wie 
ein  dunkel  sonnenverbranntes  Europäerkind  mit  lockigem,  blondem  Haar,  tief- 
dunklen Augen  und  rothen  Lippen  (Finsch'*), 

Auch  V.  NordcnskjöUP  bestätigt  die  grössere  Schönheit  der  MischUnge  bei 
der  weiblichen  Bevölkerung  Grönlands: 

„Die  Frauen  waren  sorgfältig  gekleidet,  und  etliche  Halbblut-Mädchen  mit 
ihren  braimen  Augen  und  gesunden,  vollen,  beinahe  europäischen  Zügen  waren 
ziemlich  hübsch/ 

Im  nordwestlichen  Amerika  giebt  es  eine  Mischrasse  oder  HalbblQtige, 
die  Bois-lirules,  welche  von  den  eingewanderten  Franzosen  und  den  In- 
dianern (Sioux  u.  8.  w.)  abstammen.  Die  Frauen  dieser  franco-canadischen 
Mestizenrasse  sind  im  Allgemeinen  weisser  als  die  Männer  und  selbst  noch  etwas 
blasser  und  farbloser;  viele  Mestizinnen  können  an  Weisse  und  Feinheit  der  Haut 
es  mit  den  zartesten  europäischen  Damen  aufnehmen;  ihre  Züge  sind  regel- 
mässig und  graziös,  und  man  findet  unter  ihnen  oft  Mädchen  von  wahrhaft  klas- 
sisclier  Schönheit.     (Ilarard.) 

Auch  in  Chile  leben  viele  Mischlinge  aus  indianischem  und  weissem 
Blute  (Araucaner  und  Spanier).  Die  Frauen  und  Mädchen  haben,  wie  Treiäler 
beschreibt,  gewöhnlich  einen  schönen  weissen  Teint,  schönes,  schwarzes,  etwas 
starkes  Haar,  sehr  feurige,  ausdrucksvolle  Augen,  etwas  gebogene  Nase,  feine, 
aber  starke,  markirte  schwarze  Augenbrauen,  welclie  einen  Halbkreis  bilden,  sehr 
lange,  seidenartige  Augenwimpern,  herrliche  Zähne,  schöne  Büste,  sehr  kleine 
Ohren,  Hände  und  Fiisse  und  graziöse  Bewegungen.  Es  giebt  unter  ihnen  auch 
viele,  welche  blondes  Haar  und  blaue  Augen  haben. 

Die  Cholos,  d.  h.  die  Mischlinge  von  Weissen  mit  den  Indianerinnen 
von  Peru,  zeichnen  sich  vor  den  Eingeborenen  ebenfalls  vortfirilhaft  durch  ihre 
Erscheinang  aus.    Man  vergleiche  hierzu  Fig.  30  mit  der  Ii  irin  in  Fig.  Sä 


.*>  r  .•'.>  -.;.rr>:7>.r^:':  -^-.r.  =.>/=.•:  r*rjij-*ni  ar'r^:g<L3gs5ciig:  Interesse  sein, 
'.  ■  ..-?  '^•.v..'.i;*  ^rr^.:,,^,^.^:  Sa*»frC  z^c*.^  n  iz.s»rFXMi.  Ifes:::  wenn  auch. 
*•  .^  r  •  *fA:-/^,  y^-wtr.^.  r.Ar,*r.-  :'*..•  i"*-r!iz.-ii'.L  iimc  R&äEt^urvczang  die  Schon- 
.'..  -  '/-^i-ßr-ji^r.  ■»».•':.  '.%  r.-.ir-:  i.rr».**  c.*:c.  z1\£j:  izisjK-  scasi.  Unter  welchen 
'.  *"..i  v.^p--  if4-.;.  .r.Ar.  ':-..".r.  C.r  Kz^^jt^z^  c-t:  i»E.  Xa^nkommen  eine  Ver- 
»^-y,*'.*  .;.y  ^-rwir^r. '  .-.vr-  »«rlrr.rri:  L'dä^iÄnd-a  IwrwiiSg«:  bei  den  Prodacten 
'.^'  >.?•>•■,/..•,/  ':,^  K.;f*T.>/.:.Aft^.  d*ft  Va:r?«  ^r.i  unter  welchen  die  der  Mutter? 
7i. •   i»'.":>r.  t,.p:T^s\r.i.  *!r.^.  r.*-".-«:  E:~r/I:ck  erLilten.    wa«  wir  als  stärkere  und 

V.x:.>;'f.r  rr.  .**^r.  wir  «r-.  r/rrreit^  slI-;  rin-e  An  der  dcrch  die  Rassenkreuzung 
o*^/;.:./*^?.'.  '#>f5c*fr.rft«:r  ,r.^  f/^ra/ht^fc.  wa-i  Sddiephoke  über  die  Cumberland- 
f, ./..';,'/ ic  f/^ri^i.r^.:  .UVirarj^  die  klfriLsten  Individuen«  welche  ich  zu  Gesicht 
-ri-.ifiirt,,  yrn.Tt-.u  J:r/ri^«rr.*  Miv:hjiri5{e.  Er  waren  Bruder  und  Schwester,  dem  Con- 
'  ,r/,/.;i*  *\utr>.  'it,T  <-t.7i'a  zwaL/it^  Jahren  im  Cumberlandsunde  anwesend  ge- 
yf''^"f»t'r,    \S'\t9iU',r*tU''i':nuiitiL«rz    portugiesischer   Abkunft    und   eines    Eskimo* 

.toA't'\i  iift.,  wi<f  wir  •üh'rn.  fflr  die  Annahme,  dass  eine  Bassenkreuzung 
ytt'u\[f;A\*-u<  b';i  'lern  weiblichen  Oenchlechte  die  Schönheit  steigert,  ein  schon  nicht 
tu*'.\it  unbefrä'bMi'JKrrt  M^iterial  vorhanden.  Man  konnte  Tielleicht  den  Einwurf 
rii{i«li"ri.  tUv<  'lie^^e  Vernchönerung  keine  absolute  sei,  sondern  dass  sie  nur  den 
Aiit/«'fi  i\*'i\  KurojfiierH  mIh  eine  solche  erschiene,  weil  der  Mischling  dem  euro* 
\tii\At\ii'.u  TyptiH  ri;itiirlirher  Weise  ähnlicher  sein  müsse,  als  die  Weiber  von 
tt'xuf.t  Mw^Mi:.  \h'm  vermögen  wir  aber  nun  schon  zwei  Thatsachen  entgegenzu- 
h\v\\n\  \yn\u  V.  Sortli'HHlijhld  behauptet,  dass  jetzt  auch  schon  die  Eskimos  Ton 
«h'.r  prMiMniTfn  lliUHlirhkf'ii  ihnrH  eigenen  Typus  durchdrungen  wären;  und  auch 
Isrnpl  bf'richiel.  von  Jen  Xohu- Kaffern,  dass  sie  die  hellere  Farbe  der  Misch- 
liiigi*  H'ir  die  whVnuwt*.  lialtfMi  und  dass  die  Töchter  eines  weissen  Vaters  und  einer 
hirbi^iMi   Miil.li-r  iiIh  Kniiifn  uiiHscrordentlich  begehrt  werden. 

/wi'iffilfm  bfHil/f.  (lii*  Krage  nuch  den  Körperformen  der  Mischlinge  eine  hohe 
iiiilhnipoldgiMchi*  Hf^hMiliing,  und  jede  auch  noch  so  kleine  Angabe  über  diesen 
(in^i'iiMhiiid,  wiMiii  nii;  nur  hinn'ir.hend  genau  beobachtet  wurde,  muss  unsere  vollste 
hpiiilitiMig  verdienen.  Üei  der  Srjiwierigkeit  des  Gegenstandes  muss  man  auch  für 
diiri   KlrihHln  (hinkliiir  Ni*in. 

hl.  IMo  VrrkHmnMTung  dos  weiblichen  Geschlechts. 

\Vrnn  v\\\  Volk,  (ins  rillst  einer  liohen  Ouliur  sich  erfreute,  in  einen  niederen 
llilditn^'Knid  /in hi  k\rr.sinkt,  so  iüssi  sicli  diese  allgemeine  Verkümmerung  auch 
im  dei  lliillnii^,  dem  iteneltnien  und  der  üussoren  Erscheinung  des  weiblichen 
UeNrIilerltlN  deiilhrli  ei kennen.  Die  (iesehielite  weist  genügende  Beispiele  auf, 
\\elrhe  dieniM  nelnuiptuhg  /.in  liestätigung  dienen:  ich  greife  nur  eines  aus  der 
lieilie  deiNelbeii  heiniis.  Die  Insel  rypiMii  hiit  im  Altert hum  eine  hohe  culturelle 
MedeiHung  bi>Hessen.  Auf  ihr  blüht on  die  Heiligt hümer  der  Aphroiiitc^  zu  denen 
«li«*  Ti  allen  in  in  tili  eil  liüntlern  \Millfahrteten,  um  der  hochgeprieseuen  Gottheit 
\ViMlu(eselieiike  diu /ubiingen :  dort  fand  man  auch,  wie  die  neuesten  Ausgrabungen 
leinen,  einen  uieht  ^elin^ell  Wohlstand  und  eine  tur  jene  Zeit  hochentwickelte 
Stute  dei  rultin.  an  der  anrh  sicherlich  das  einheimische  weibliche  Geschlecht 
seineu  leiclu'u  Autheil  ^enonnuen  hat.  Allein  nunmehr  ist  ein  grosser  Theil  der 
einst  ti licht haieu  lustl  \en>det.  \ind  die  Bevölkerung  meist  anu  und  ungebildet. 
\  eher  die  Indoleii.  dci  rnuien  aus  dem  heutigen  i\\  pern  iinssert  sich  Samuel 
Whtti    luiKrt    toli^endciiuaasscn 

.K^  \Mn  HU)  -1  IVbiuiU  und  die  Temperatur  des  Morgens  und  Abends  zn 
kalt  \&'  kW  um  9u  hi^ouakiven.  liot;  des  kalten  Wind«»  umgab  ttne  grosse 
Anrahl  Weiber  und  Kmdev  unseiv  >\  ;ig«nK  sie  t'W'^hnteu    timilMlIipg  ihmr  Kwigier 


16.  Die  Verkflmmerung  des  weiblichen  Geschlechts.  75 

und  froren  in  ihren  leichten,  selbstgefertigten  baumwollenen  Kleidern.  Die  Kinder 
waren  meist  hübsch  und  viele*  der  jüngeren  Weiber  von  gutem  Aussehen;  es  war 
aber  im  Allgemeinen  eine  vollständige  Vernachlässigung  des  Aeusseren  bemerkbar, 
welche  in  hervorragender  Weise  allen  Frauen  in  Cypern  eigen  ist.  In  den 
meisten  Landern,  in  wilden  wie  in  civilisirten ,  folgen  die  Weiber  einem  natür- 
lichen Zuge  und  schmücken  ihre  Personen  in  einem  gewissen  Grade,  um  sich 
anziehend  zu  machen;  aber  in  Cypern  fehlt  die  nöthige  Eitelkeit  gänzlich,  die 
man  auf  Reinlichkeit  und  Kleidung  verwenden  sollte.  Der  saloppe  Anzug  giebt 
ihren  Gestalten  ein  unangenehmes  Aeusseres,  alle  Mädchen  und  Frauen  sehen  aus, 
als  ob  sie  bald  Mutter  werden  würden. '^ 

Baker  beschreibt  das  Aeussere  näher,  und  wir  bekommen  den  Eindruck,  dass 
ihm  hier  die  Repräsentantinnen  eines  verkommenen  Geschlechts  entgegentraten.  Ganz 
richtig  sind  dabei  die  Bemerkungen,  dass  das  Merkmal  zurückgegangener  Cultur 
der  Mangel  der  natürlichen  Vorliebe  des  Weibes  ist,  sich  im  Aeusseren  möglichst 
schön  darzustellen  durch  Schmuck,  anständige  Bekleidung  u.  s.  w.  Die  Sitten- 
zustande  eines  verwilderten  Volkes  sprechen  sich  namentlich  auch  darin  aus,  dass 
beim  weiblichen  Geschlecht  der  angeborene  Sinn  für  das  Anmuthige  der  eigenen 
Erscheinung  verloren  gegangen  ist  und  einer  auffallenden  äusseren  Vernach- 
lässigung Platz  gemacht  hat,  welche  auch  auf  eine  Verringerung  des  inneren 
Werthea  hindeutet. 

Neben  der  geistigen  Verkümmerung  wird  auch  gar  bald  ein  Zurückgehen 
derjenigen  Verhältnisse  am  Körper  des  weiblichen  Geschlechts  auftreten ,  welche 
ganz  allgemein  als  die  charakteristischen  Merkmale  und  Vorzüge  vor  dem  männ- 
lichen Geschlecht  bezeichnet  werden.  Das  Weib  beginnt  durch  die  körperliche 
Vernachlässigung  männliche  Züge,  Form  und  Bewegungen  zu  bekommen;  dabei 
erscheint  es  schnell  abgelebt  und  altert  ausserordentlich  früh. 

Sehr  auffallende  Beispiele  für  diese  Thatsache  finden  wir  selbst  in  manchen 
Theilen  Deutschlands:  In  der  Oberpfalz  ist  das  weibliche  Geschlecht  fast 
durchaus  von  gleicher  Grösse  mit  der  männlichen, Bevölkerung,  und  es  bestätigt 
sich  hier  die  Erfahrung,  die  bei  allen  minder  gebildeten  Volksstänmien  sich  wieder- 
holt, dass,  wo  das  Weib  in  allen  Beschäftigungen  die  Gehülfin  des  Mannes  ist, 
wo  stellvertretend  das  Weib  des  Mannes,  so  auch  der  Mann  des  Weibes  Arbeit 
verrichtet,  auch  in  der  äusseren  Erscheinung  das  Weib  die  harten  Züge  des  Mannes 
annimmt,  und  ebenso  oft  Männer  gefunden  werden  mit  hellen  weibischen  Stimmen, 
als  Weiber  mit  tiefem,  rauhem  Organe,  eine  Wahrnehmung,  die  mit  seltener 
Meisterschaft  auch  in  Rieht' s  Naturgeschichte  des  Volkes  so  treffend  als 
ausführlich  geschildert  ist.  Trotzdem  finden  sich  auf  dem  Lande,  wie  Brenner- 
Schäffer  in  der  Oberpfalz  wahrnahm,  die  schönsten  Kinderköpfe  mit  ausdrucks- 
vollen Augen  und  hübschen  Zügen  bei  der  Landbevölkerung.  ,Das  ist  noch  un- 
verarbeiteter Rohstoff.  Leider,  dass  die  Verarbeitung  so  mangelhaft  ist.  Das  auf- 
blühende Mädchen  ist  in  der  ersten  Jugend  hübsch,  dann  treten  die  Formen 
grober  und  massenhafter  hervor,  und  nach  wenig  Wochenbetten  hat  das  kurz  zu- 
vor noch  blühende  Weib  das  Aussehen  einer  Matrone." 

Und  Gleiches  fand  im  Norden  Deutschlands  Goldschmidt:  „Die  Schönheit 
and  Jagendfrische  der  ärmeren  jungen  Leute  im  nordwestlichen  Deutschland  ist 
leider  meist  eine  kurze;  sie  überdauert  die  Kinderjahre  nicht  sehr  lange  Zeit. 
Die  schwere  Arbeit  bei  nicht  voll  entwickeltem  Körper  nimmt  zu  leicht  die 
F&lle,  die  zur  Schönheit  nöthig  ist,  sie  schafft  frühzeitig  Falten  des  Gesichts 
and  Steifheit  und  eckige  Formen  des  Körpers.  Oft  habe  ich  schon  eine  Mutter, 
die  mir  ein  Kind  zeigte,  für  die  Grossmutter  desselben  gehalten.  In  jüngeren 
Jahren  sind  die  Kinder  der  kleineren  Leute  in  allen  Bewegungen  freier  und  leichter. 
Früh  aber  verliert  sich  die  Gewandtheit  und  Beweglichkeit;  .die  Steifheit  eines 
verfirfihten  Alters  vertritt  beim  Beginn  des  Mannesalters  ihre  Stelle.  An  einem 
lodten,  leichten  Ghmge,  an  feinen,  nicht  eckigen  Bewegungen  erkennt  das  ge- 


76  III-  I^ie  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

übte  Auge  bald,  dass  ein  Mann  oder  eine  Fran  yom  Lande  zu  den  wohlhabenden 
Leuten  gehört,  deren  firühe  Jugend  frei  war  von  zd  schwerer  Arbeif 

Nicht  allein  im  äusseren  Aussehen ,  sondern  auch  in  der  Gestaltung  der 
Skeletttheile  wird  das  Weib  unter  gewissen  Lebensverhältnissen  dem  männUchen 
Geschlecht  so  ähnlich,  dass  sich  der  sexuelle  unterschied  &st  ganz  verwischt. 
G,  Fritsch  glaubt,  dass  bei  den  uncivilisirten  Menschen  Schulter-  und  Becken* 
gürtel  nicht  ihre  typische  Entwickelung  erlangen,  z.  B.  bei  den  Kaffern  sei  das 
Becken  weder  recht  männlich  noch  recht  weiblich,  sondern  ein  Gtemisch,  welche» 
jedoch  dem  männlichen  Typus  näher  liegt.  Aehnliches  scheint  f&r  die  Australier 
zu  gelten,  wo  nach  Müllers^  Angaben  das  Weib  ungemein  früh  altert.  Von 
dem  schnellen  Verfall  der  Weiber  der  Wanjamuesi  in  Gentral-Afrika  macht 
üeichardt  folgende  Schilderung: 

,Da8  verheirathete  Weib  ist  in  Folge  der  grossen  Arbeitslast  mit  dem  xwansigsten  bis 
fünfandzwanzigsten  Jahre  alt  und  sehr  verändert.  Die  Brüste  hängen  schlaff  und  glatt  wie 
Taschen  auf  den  Leib,  oft  bis  zum  Gürtel  herab,  die  Zage  sind  hässlich,  Falten  kommen  zum 
Vorschein,  der  Unterleib  ist  stark,  ein  Ansatz  von  Fett  ist  ebenso  oft  vorhanden,  wie  ab- 
schreckende Magerkeit,  das  Gesäss  sehr  ausgeladen.  Die  Arme  sind  dann  besonders  stark  und 
muskulös  geworden  von  dem  fortwährenden  Mehlstampfen  und  Reiben.* 


17.  Die  Yertheilung  der  weiblichen  Schönheit  unter  den  Tolkern. 

Wenn  nun  auch,  wie  wir  gern  anerkannt  haben,  ein  allgemein  gültiges 
ürtheil  über  die  Schönheit  nicht  abgegeben  werden  kann,  so  w£rd  man  es  dem 
Europäer  doch  nicht  versagen  dürfen,  dass  er  sich  darüber  entscheide,  ob  sich 
die  Weiber  einer  bestimmten  Rasse  mehr  oder  weniger  seinem  Schönheitsideale, 
welches  er  sich  im  Gefolge  einer  geläuterten  Aesthetik  gebildet  hat,  nähern,  oder 
ob  sie  sich  von  demselben  entfernen. 

Wer  von  uns  könnte  den  Typus  der  mongolischen  Rasse  für  schön  er- 
klären, jene  Männer  und  Frauen  mit  ihren  flachen,  runden,  nach  oben  zu  starker 
entwickelten  Gesichtern,  ihren  kleinen,  gegen  die  Nase  zu  schief  gestellten  Augen, 
ihren  schmalen,  wenig  gebogenen  Brauen,  ihren  hohen,  vorstehenden  Backen- 
knochen, ihrer  an  der  Stirn  breit  aufsitzenden,  an  der  Wurzel  flach  liegenden, 
am  Ende  platt  und  breit  gebildeten  Nase,  ihrem  kurzen  Kinn,  ihren  grossen,  ab- 
stehenden Ohren  und  ihrer  gelblichen  Gesichtsfarbe?  Und  doch  giebt  es  auch 
dort  unter  den  Weibern,  namentlich  in  Japan,  Individuen,  die,  wenngleich  nicht 
schön,  doch  immerhin  hübsch  genannt  zu  werden  verdienen.  Die  Weiber  der 
Mongolen  bekommen,  wenn  sie  sich  selten  der  freien  Luft  aussetzen,  eine  krank- 
haft weisse  Hautfarbe.  Vor  allem  ist  aber  bei  dieser  Rasse  —  namentlich  durch 
den  mangelnden  oder  schwachen  Bartwuchs  der  Männer  —  eine  gewisse  Aehnlich- 
keit  zwischen  den  beiden  Geschlechtern  zu  bemerken,  so  dass  es  dort,  wo  eine 
weite  Kleidung  getragen  wird,  oft  schwer  ist,  Männer-  und  Weibergesichter  all- 
sogleich  zu  unterscheiden. 

Welcher  Europäer  könnte  jemals  am  Neger-Typus  etwas  Schönes  finden, 
an  jenen  schwarz-  oder  wenigstens  dunkelhäutigen,  starkknochigen  Figuren  mit 
ihren  langen,  schmalen,  im  Unterkiefertheil  vorstehenden  Gesichtern,  ihren  wulstigen, 
aufgeworfenen  Lippen,  ihren  breiten,  dicken  Nasen,  grossen,  weiten  Nasenlöchern, 
krausen  Haaren,  ihren  stierähnlichen  Nacken,  ihren  schwachen  Waden  und  grossen, 
platten  Füssen?  Allein  man  würde  sehr  irren,  wenn  man  den  hier  kurz  ange- 
deuteten hässlichen  Typus  für  den  in  den  eigentlichen  Neger -liindem  allgemein 
herrschenden  halten  wollte.  Missionar  KoeUe^  ein  guter  Kenner  der  Neger- 
Völker,  sagt:  „Was  in  Büchern  häufig  als  Grundtypus  der  Neger- Physiognomie 
dargestellt  wird,  würde  von  den  Negern  als  eine  Garricatur  oder  im  besten  Falle 
als  eine  Stammesähnlichkeit  angesehen  werden,  die  aber  in  Bezug  auf  Schönheit 
hinter  der  Masse  der  Neger  stamme  zurückbliebe.*     Namentlich  werden  gar  oft 


17.  Die  Yertheilong  der  weiblichen  Schönheit  unier  den  Vdikern. 


77 


'too  dtuceloen  Beobschtem  die  schlanken  Körper  der  Negerraädchen  in  ihrer 
BlOtijexeit  als  reizende  ErBcheinungen  geschildert.  Und  selbst  den  im  Alter  ur- 
h&SEi^rtcken  Hottentotten weibem    erkennt  man    in  ihrer  Jugend    einen    leichten 

[tiiid  »Äften  Körperbau,  sowie  Kleinheit  und  Zartheit  der  Extremitäten,  der  Hände 
und  dor  Füsse  zu.     (Barnyw.) 

Wo  ist  das  Vaterland  der  echten  und  reinen  weiblichen  Schönheit,  die 
kmner  künstlichen  Nachhnlfe  bedarf?  Giebt  es  einen  Punkt  auf  der  Erde,  welchem 
in  dieser  Hinsicht  die  Palme  gebührt?  Man  hat  gesagt,  dass  ein  Erdstrich  die 
besondecre  Auszeichnung  habe,  vorzüglich  schone  Frauen  zu  erzeugen,  und  dass 
€0  sich  nur  darum  handle,  welches  dieser  Zone  angehörende  Land  in  der  Con- 
€UTfmt%  Sieger  bleibe.  Zu  diesem  Erdstriche  werden  Persien,  die  benachbarten 
Gecendeti  des  Kaukasus,  insbesondere  Circassien  und  Georgien,  die  euro- 
plisebe  Türkei,  Italien,  das  nördliche  Spanien,  Prankreich,  England, 
Deutschland,  Polen,  Dänemark,  Schweden  und  ein  Theil  Norwegens  und 
Fiusslauds  gerechnet.  Allein  Jedermann  weiss,  dass  in  sehr  vielen  der  hier  ge- 
nanntem Länder  die  weibliche  Schönheit  inn  Allgemeinen  doch  nur  innerhalb  der 
Uttt'  '  Grenzen  ein  bescheidenes  Maass  hält,  und  dass  überall  der  Grad  der 
V(M  4  und  der  Annäherung  an  das  Ideal  auf  einer  recht  bescheidenen  Höhe 

I  «tehen  bleibt,  wenn  man  genöthigt  ist,  erst  eine  Auslese  im  Volke  zu  veranstalten 
und  dann  zu  berechnen,  wie  viel  oder   wie   wenig  Procsnt^Theile  den  nicht  allzu 

tiMrharfen  Geschmacks- Ansprüchen  genügen. 

Wir  kennen  in  dieser  Hinsicht  sehr  verschiedene  ürtheile»  welche  melir  oder 
weiliger  individuell  geflirbtsind;  uns  scheinen  nur  solche  von  anerkannten  Aesthe- 
Ukem  beachtenswerth.  In  Rom  und  im  römischen  Gebiete,  im  Allgemeinen  in 
Gegenden,  welche  Winehelmann  die  schönen  Provin/,en  Italiens  nennt,  ist 
wifi  er  sagt,  die  hohe  vollendete  Schönheit  gewissermaasson  heimisch  und  ein 
des  sanften  Himmels.  Es  finden  sich  in  diesen  Ländern,  wie  Wiiirkd- 
ufhebt,  wenig  halb  entworfene,  unbestimmte  und  unbedeutende  Züge 
le»  tii^^ichls,  wie  häutig  jenseits  der  Alpen,  sondern  sie  sind  tlieils  erhaben,  theils 
geistreich,  und  die  Form  des  Gesichts  ist   meist  gross    und   voll,    die  Theile  des- 

[«elbeo  in  grösster  TJebereinstimmimg  unter  einander.  Diese  vorzügliche  Hildung 
irt  nach  ihm  so  augenscheinlich,  dass  der  Kopf  des  geringsten  Mannes  unter  dem 
Pdliel  in  dem  erhabensten  historischen  Gemälde  angebracht  werden  konnte,  und 
unter  den  Weibern  dieses  Standes  würde  es  nicht  schwer  sein,  auch  an  den  ge- 
ringfiten  Orten  ein   Bild  zu  einer  Juno  zu  finden.     Wir  werden  aber  sehen,    dass 

jtüelit  alle  Beobachter  mit   Winckelmann  der  gleichen  Ansicht  sind. 

Eine  im  Jahre  1888  in  Spaa  veranstaltete  Schönheits-Coneurrenz ,    welche 

[lieh  eines  sehr  lebhaften  Zuspruchs  von  Frauen  und  Mädchen  erfreut  haben  soll, 
ergmb  ll>  Siegerinnen,  welche  sich  auf  8  Länder  vertheilten,  nämlich  auf  Amerika  (1), 
Belgien  (3),  Frankreich  (»3),  Italien  (1 1,  Oesterreich  (Wien)  (3),  Preussen 
(Berlin  2,  Posen  1),  Schweden  (1)  und  Ungarn  (1).     Die  drei  ersten  Preise 

1  rrhielien  die  Amerikanerin,  eine  Belgierin  und  eine  Wienerin. 

Man  kann  in  Sachen  des  Geschmacks  bei  Beurtheilung  der  Frauenschunheit 

'  eincÄ  Volkes  oder  Volksstammes  nicht  vorsichtig  genug  sein*  Eine  wohlthuende 
ZurOrkhaltung  in  dieser  Hinsicht  findet  sich  beispielsweise  in  einer  alten  lieise- 
beeelireibung,  deren  Autor  Baader  von  unseren  Landsmänninnen  in  Schwaben 
schreibt:  ,Die  Ulmer  Frauenzimmer  werden  von  vielen  Kennern  dieses  Ge- 
schlechts —  worunter  ich  mich  von  Amtswegen  nicht  zählen  darf  —  ttlr  die 
8cli5iiflteD  in  Schwaben  gehalten.'  Wir  selbst  möchten  ims  auch  nicht  ^von 
AmlBwegen '^  zu  den  Kennern  rechnen;  namentlich  würden  wir  leicht  Gefahr  laufen, 
die  dentächen  Frauen  als  beste  Repräsentantinnen  unseres  Schönheits-Ideals  auf- 
iumIAUu.  Deshalb  geben  wir  in  der  folgenden  Zusammenstellung  ethnologischer 
Abiu^hatzung  der  Frauenschönheit  eine  Reihe  von  Aussprüchen,  die  von  fein  ab- 
wigirodeu  Beobachtern  herrühren. 


78  in.  Die  ästhetische  Aaf Fassung  des  Weibes. 

18.  Die  Schönheit  der  Europäerinnen. 

Von  fast  allen,  welche  Italien  bereisten,  werden  die  körperlichen  Vorzüge  der 
Italienerinnen  gerühmt,  namentlich  ihre  dunklen  Augen,  und  die  plastischen  Formen  der 
Römerin.  Freilich  hat  eine  kühlere  Betrachtung  stets  den  Enthusiasmus  auf  ein  geringeres 
Maass  zurückgeführt.  ,Der  Zauber,  welcher  jede  neue  Erscheinung  und  Situation  begleitet, 
ist  der  Grund  air  der  Illusionen,  welche  durch  Reise-Phantasien  und  Bilder  über  italienische 
Frauen  verbreitet  werden,  über  welche  aber  Jeder,  der  längere  Zeit  in  Italien  lebte,  die 
Achseln  zuckt,  wenn  er  sich  auch  selten  aufgelegt  fühlt,  solchen  Illusionen  entgegenzutreten, 
die  mit  jedem  neuen  Maler,  Dichter  und  ästhetischen  Stilisten  von  Neuem  erzeugt  werden, 
und  sich  ebenso  wenig  zerstören  lassen,  wie  Fata  morgana  in  der  Wüste  oder  Nebel  und 
Dunst  auf  der  Haidc.**  Diese  Meinungsäusserung  von  Bogumil  Goltz  bezieht  sich  allerdings 
vorzugsweise  auf  das  geistige  Leben  der  italienischen  Frauen,  doch  trifft  zum  Theil  sein 
Wort  auch  den  Ruhm  der  körperlichen  Schönheit;  und  die  zahlreichen  Maler  und  Bildhauer, 
welche  nach  Italien,  als  höchster  Kunststätte,  wallfahrteten,  fanden  dort  für  ihre  Stadien 
weibliche  Modelle,  deren  vielfach  wiederholte  Darstellung  nicht  wenig  beitrug,  dass  sich  die 
günstigste  Meinung  über  die  Reize  der  italienischen  Frauenwelt  überallhin  verbreitete. 
Allein  auch  in  diesem  Lande  sind  manche  Gegenden  fruchtbarer  an  weiblicher  Schönheit,  als 
andere.  Schon  vor  mehr  als  hundert  Jahren  äusserte  in  dieser  Beziehung  VoUanann:  ,Es 
giebt  wenig  schöne  Frauenzimmer  in  Rom,  zumal  unter  Vornehmen;  in  Venedig  und 
Neapel  sind  sie  häufiger.  Die  Italiener  sagen  es  selbst  im  Sprichwort,  dass  die  Röme- 
rinnen nicht  schön  sind.* 

Auf  Sicil  ien  fand  PIoss  autt'allend  wenig  hübsche  Gesichter  und  Gestalten  bei  Weibern, 
während  viele  Männer  ein  schöneres  Aeusseres  zeigten.  Bba  Wort  Hehn's :  , Hier  krOmmt  sich 
der  Mensch  nicht  unter  der  Peitsche  der  Noth,  die  im  nordischen  Winter  einen  Theil  der 
Bevölkerung  hässlich  und  blöde  macht, **  kann  sich  in  Süd-Italien  nur  auf  den  m&nnlicfaen 
Theil  der  Bevölkerung  bezichen,  denn  diesem  fehlt  nicht  nur  die  Belastung  mit  Fabrikarbeit 
und  er  theilt  seine  Zeit  ein  in  ein  wenig  Arbeit  (noch  dazu  in  freier  Luft)  und  in  Faullenien, 
sondern  er  bürdet  die  Lasten  in  erstaunlicher  Weise  theils  dem  Rücken  des  Esels,  Iheils  dem 
Kopfe  des  Weibes  auf.  Diese  letzteren  haben  vielleicht  auch  in  der  Schönheit  der  Formen 
durch  zweierlei  Umstände  gelitten,  indem  bei  der  gewaltigen  Mischung  der  Rassen  auf 
Sicilion  (Sikuler,  Griechen,  Römer,  Germanen,  Saracenen,  Normannen  u.  s.  w.) 
die  einzelnen  dieser  Rassen  nicht  eben  ihre  besseren  Eigenschaften  auf  die  Generation  über- 
trugen, und  indem  zweitens  dem  weiblichen  Geschlecht  eine  Stellung  zugewiesen  wurde, 
welche  vielmehr  eine  Verkümmerung  als  eine  Veredelung  und  Entwickelung  der  weiblichen 
Schönheit  förderte.     Eine  Italienerin  zeigt  Tafel  II,  Fig.  2. 

Die  Spanierinnen  gemessen  einen  nicht  geringen  Ruf  bezüglich  ihrer  äusseren  Er- 
scheinung. „Das  Aeussere  einer  .Spanierin,**  sagt  Bogumil  Goltz,  «ist  der  Ausdruck  ihres 
Charakters.  Ihr  schöner  Wuchs,  ihr  majestätischer  Gang,  ihre  sonore  Stimme,  ihr  schwarzes, 
feuriges  Auge,  die  Heftigkeit  ihrer  Gestikulationen,  kurz  der  Ausdruck  ihrer  ganzen  Persön- 
lichkeit kündigt  den  Charakter  an.  Ihre  Reize  entwickeln  sich  früh,  um  zeitig  zu  verwelken, 
wozu  das  Klima,  die  hitzigen  Nahrungsmittel  und  der  sinnliche  Genuss  beitragen.  Eine 
Spanierin  von  vierzig  Jahren  scheint  noch  einmal  so  alt,  und  ihre  ganze  Figur  zengt  von 
L'ebersättigung  und  beschleunigtem  Alter.*     Man  vergleiche  Tafel  II,  Fig.  3. 

Der  Italiener  de  Amicis  sagt:  ,lch  glaube,  in  keinem  Lande  giebt  es  eine  Frau, 
welche  passender  als  die  Andalusierin  erscheint,  um  die  Männer  auf  den  Gedanken  einer 
Entführung  zu  bringen.  Und  dies  nicht  allein,  weil  sie  die  Leidenschaft,  den  ürsprong  aller 
Tborheiten.  erweckt,  sondern  auch,  weil  sie  aussieht,  als  sei  sie  zum  Fangen  und  Verstecken 
gemacht;  sie  ist  so  klein,  leicht,  rundlich,  elastisch,  biegsam.  Ihre  beiden  Füsschen  könnte 
Jeder  in  die  Tasche  seines  Ueberrockes  stecken  und  sie  selbst,  mit  einer  Hand  um  die  Taille 
gefasst,  wie  eine  Puppe  aufheben.  Es  würde  genügen,  den  Finger  auf  ihren  Kopf  zu  drücken, 
um  sie  wie  ein  Rohr  zu  knicken.  Mit  ihrer  natürlichen  Schönheit  verbindet  sie  die  Kunst  zu 
gehen  und  Blicke  zu  werfen,  die  einen  unschuldigen  Beobachter  verrückt  machen  könnten.* 

Die  Portugiesin  unterscheidet  sich  wesentlich  von  der  Spanierin.  Sie  ist  weniger 
mobil  und  lebensfreudig,  weniger  aufgeweckt  und  von  Lust  beseelt,  ganz  und  gar  im  öffent- 
lichen Leben  aufzugehen.  Sie  ist  weniger  sinnlich,  als  die  Spanierin;  sie  verbleibt  gern  im 
Hause  und  schaut  gelangweilt  ans  den  Fenstern  auf  die  Strasse  hinab.  Einen  Gegensatz  zu 
diesem  Frauenleben  selbst  in  den  grössten  Provinzialstädten  Lusitaniens  bildet  die  Er- 
scheinung der  Residenzbewohnerin,  die  stolze  Schöne  des  stolzen  Lissabon.  .Jedenfalls  sind 
die   Frauen   Lissabons  die   schönsten    des    Landes   zwischen   Minho  und  Algarve.    Der 


gO  III.  Dio  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

Griechenlands  etwas  so  ausserordentlich  Seltenes,  dass  er  jedesmal  überraschend  wirkt.  Die 
Frau  wird  aber  früh  reif  und  ist  oft  mit  dreizehn  bis  vierzehn  Jahren  bereits  Mutter.  Sie  nährt 
ihr  Kind  bis  in  das  fünfte  und  sechste  Jahr;  daher  oft  mehrere  gleichzeitig.  Aber  die  Frau  altert 
dabei  schnell;  und  die  harte  Arbeit  auf  dem  Felde  und  am  Webstuhle  giebt  ihren  Zügen 
etwas  Herbes,  ihre  Formen  werden  grob  und  eckig,  der  Gang  schleppend,  was  gegen  die 
elastische,  königliche  Haltung  der  Männer  auch  der  niedrigsten  Klasse  auffallend  absticht. 
Wer  die  Frauen  Griechenlands  nur  nach  dem  Aufenthalte  in  Athen  beurtheilen  wollte, 
würde  sehr  fehl  gehen.  Dort  freilich,  am  Strande  des  Phal er on,  lustwandelt  um  die  kühlere 
Abendzeit  nach  dem  erfrischenden  Wellenbad  eine  reiche  Schaar  schöner  Frauengestalten. 
Hört  man  hier  die  Namen  Penelojye,  He/etm,  Äspasia  rufen,  so  wird  man  nicht  enttäuscht, 
wenn  man  nach  dem  Antlitz  der  Trägerinnen  solcher  Namen  forscht.  Gleichen  sie  mit  dem 
dunkel  umrahmten,  feinen  Oval  des  Gesichts,  der  leicht  gebogenen  Nase,  den  vollen  Lippen 
und  grossen,  glänzenden  Augen  auch  nicht  dem  attischen  Bildhauerideale  der  klassischen 
Zeit,  so  dürften  sie  sich  doch  italienischen  Schönheiten  getrost  an  die  Seite  stellen  und 
haben  vor  diesen  den  Vorzug  der  Haltung  und  die  Wohlgeformtheit  des  Fusses  voraus,  eines 
Fusses,  den  —  ich  weiss  keine  Uebersetzung  —  die  Franzosen  un  pied  bien  cambr^  nennen. 
Aber  diese  Damen  gehören  der  einem  behaglichen  Nichtsthun  lebenden  Geld-  und  Geburts- 
aristokratie  an,  oder  der  hier  nur  spärlich  vertretenen  Klasse  der  Lilien  auf  dem  Felde,  die 
nicht  säen,  noch  ernten,  und  die  der  Vater  im  Himmel  doch  kleidet  und  nährt,  meist  von 
den  Inseln  oder  aus  K 1  ei nasien  eingewanderte  Schönheiten,  die  in  der  Hauptstadt  ihr  Glück 
zu  machen  gedachten  und  ein  klägliches  Ende  in  den  Matrosenkneipen  am  Peiraiens  nehmen, 
auf  denen  weithin  in  sichtbaren  Lettern  die  Inschrift  jSi/naika  AphrodiUs*  prangt.* 

Von  den  Frauen  der  Griechen  sagt  gehon  Bartholdy:  „Sie  haben  gewöhnlich  schöne, 
aber  früh  welkende  Busen  und  werden  früh  beleibt;  nationale  Reize  bietet  die  Graue  und 
edle  Bewegung  des  Halses  nebst  der  Kopfhaltung.  Die  Frauen  in  Athen  stehen  seit  alier 
Zeit  hinter  allen  anderen  an  Schönheit,  selbst  hinter  den  dortigen  AI baneserinnen  zurück,* 
obgleich  dieselben  seiton  über  äussere  Vorzüge  verfügen.  In  den  Gebirgsdistrikten  sind  sie 
grobknochig  gebaut,  und  die  Gesichter  weisen  harte,  männliche  Züge  auf.  In  Süd-Albanien 
gelangt  der  griechische  Typus  hin  und  wieder  zum  Durchbruch,  doch  sind  auch  hier  die 
Frauen  fast  durchweg  unschön.    (Sctnceiger-Lerdi^nfeld.) 

Die  Malteserinnen  sind  keine  Italienerinnen  und  erinnern  auch  nicht  sehr  stark 
an  die  Griechinnen;  sie  haben  etwas  edel  arabisches  mit  ihren  ovalen  Gesichtern,  der 
nach  unten  zu  herabgebogenen,  scharfgeschnittenen  Nase  und  ihren  gluthvoUen,  aber  ver- 
schleierten Augen.    Von  Gestalt  sind  sie  gross  und  schlank,  ihre  Gesichtsfarbe  ist  dunkel. 

Die  Kumäninncn  aller  stände  findet  Frames  hübsch,  von  üppig  stolzem,  doch 
schlankem  und  sclimiegbarem  Wüchse;  von  brauner  Farbe  mit  schwarzem  Haar  und  schwarzen 
Augen.  Nach  Kanitz  haben  die  Rumäninnen  in  Serbien  weichere  und  rundere  Formen, 
als  die  Serbinnen,  einen  «schlanken,  elastischen  Bau,  schöne  anmnthige  Gestalt  and  Be- 
wegung; feurige,  meist  dunkle  Augen,  lange  Wimpern,  dichte  Brauen,  kleine,  schmale  Füsse 
und  runde  Beine;  Kopf,  (lesicht,  Nase,  Mund  mahnen  an  antike  Statuen. 

Die  Bulgarinnen  sind  nach  Kanitz  nicht  sollen  schön,  sie  haben  eine  tiefe  Farbe  und 
ein  fri^^ches  Aussehen,  doch  welken  sie  früh.     Eine  junge  Bulgarin  sehen  wir  in  Fig.  40. 

Eine  recht  günstige  Meinung  erhalten  wir  von  den  Serbinnen  durch  die  Mittheilung 
Franz  Scherer's,  welcher  schreibt:  ,Das8  in  Serbien,  einem  von  Natur  so  sehr  boTorzugten 
Lande,  auch  schöne  Frauen  zu  gedeihen  vermögen,  wird  wohl  kaum  Jemand  bezweifeln. 
Besonders  in  den  hftädten  Serbiens  begegnet  man  oft  sehr  edlen  Franengestalten;  man 
sieht  darunter  Gesichtor  vom  feinsten  Schnitt  und  oft  wahrhaft  Überraschender  Schönheit. 
Ein  lebhaftes  dunkles  Auge  und  ein  eben  solches  Haar,  ein  auifallend  blasser  und  dabei  doch 
etwas  südlich  schimmernder  Teint,  sanft  angehaucht  von  dem  anmuthigen  Roth  der  Wangen, 
geben  solch  einem  Gesichte  etwas  ungemein  Vornehmes;  denkt  man  sich  dazu  noch  dio  tadel- 
lose Gestalt  solch  einer  Schönheit  ringsumflossen  von  dem  sich  an  die  edlen  Eormen  des 
Kr»rpers  in  geschmeidigen  Linien  höchst  vortheilhaft  anschliessenden  Nationalkostüms,  und 
man  hat  ein  i»rächtigea  Bild.* 

Denjenigen  Serbinnen,  welche  an  der  oberen  Militärgrenze  wohnen,  und  welche 
von  don  in  Syrmion,  in  der  Bacska  und  dem  Banate  wohnenden  Serbinnen  sehr 
vorHchieden  sind,  widmete  der  Baron  liajacsich  eine  eingehende  Betrachtung.  Sie  haben 
einen  stärkeren  Kör|)erbau,  volleren  Busen,  starke  Hintorbacken  und  Waden,  eine  entwickeltere 
Muskulatur;  sie  sind  auch  etwas  breitschultriger,  mit  Ausnahme  einiger  Gegenden  der  Bacska 
und  des  Kikindaer  Districts.  Ferner  haben  sie  einen  stärkeren  Haarwuchs,  viel  stärkere 
und  dichtere  Augenbrauen  als  die  Bevölkerung  dieser  unabsehbaren  Ebenen.    Im  Allgen 


g2  III.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

niak  innen,  von  denen  wir  eine  auf  Tafel  II,  Fig.  5  kennen  lernen.  Fig.  4  derselben  Tafel 
führt  uns  eine  Wal  achin  vor. 

Die  Weiber  in  Montenegro,  obwohl  in  der  ersten  Jugendblathe  recht  anmathig,  er- 
scheinen doch,  wie  Bernhard  Schwäre  versichert,  sehr  bald  schon  verfallen,  hartknochig,  eckig 
und  runzelig,  sind  auch  im  Allgemeinen  von  viel  kleinerer  Figur,  als  die  M&nner.  Es  hängt 
dies,  wie  Schwarz  sagt,  zum  nicht  geringen  Theile  mit  dem  ihnen  beschiedenen  Leben  zo- 
sammen.  Die  Frau  vertritt  hier  das  Lastthier,  man  sieht  sie  oft  tief  gebückt  mit  Lasten  von 
einem  Zentner  und  mehr  einherwandeln,  und  während  der  Rücken  so  belastet  ist,  handhaben 
die  schwieligen  Hände  auch  noch  den  Strickstrumpf. 

Von  den  Türkinneu,  insbesondere  den  Frauen  der  Osmanen,  welche  weniger  als 
die  in  Konstantinopel  meist  eingeführten  Frauen  durch  Mischung  entartet  sind  nnd  auf 
dem  Lande  in  der  europäischen  und  vorderasiatischen  Türkei  wohnen,  heisst  es,  dass 
sie  im  Allgemeinen  unschön  sind  mit  Ausnahme  des  Haares  und  der  gewöhnlich  dunklen, 
selten  blauen  Augen ;  sie  haben  eine  gerade,  ziemlich  grosse  Nase  und  einen  übergroasen  Mund 
(Bidaskalia  1877;.  Nach  anderer  Angabe  sind  sie  nie  schön,  vielmehr  die  Züge  anregelmässig; 
der  Kopf  nicht  edel- oval;  gewöhnlich  die  Augensterne  gross  und  dunkel  mit  bläulich  weisser 
Umrandung,  die  Lider  schwer,  die  Brauen  und  Wimpern  voll  und  dicht;  das  Haar  schwarz 
oder  braun,  selten  üppig,  Nase  und  Mund  meist  gross,  die  Füsse  selten  schön;  dagegen  di» 
Kinnpartie  lieblich,  die  Stirn  manchmal  von  freiem  Umriss.  De  Amicis  schildert  die  Tür- 
kinnen in  Konstantinopel,  abgesehen  von  den  bedeutenden  Abweichungen  durch  Blut- 
mischung,  durchschnittlich  meist  fett,  viele  unter  Mittelgrösse,  sehr  weiss,  aber  gewöhnlich 
geschminkt;  die  Augen  sind  schwarz,  der  Mund  roth  und  sanft,  die  Oesichtsform  oval  mit 
kleiner  Nase,  rundem  Kinn  und  ein  wenig  starken  Lippen;  der  schöne  Hals  ist  lang  und  he- 
weglich;  die  Füsse  sind  klein. 

Die  magyarischen  Mädchen  und  Frauen  sind  nach  einem  Autor  , Erscheinungen  von 
pikantem  Reize,  Musterbilder  von  körperlicher  und  seelischer  Gesundheit/ 

Die  Polin  zählt  man  gewöhnlich  unter  die  europäischen  Schönheits-Ideale.  Schweiger- 
Lerchen  feld  sagt  von  ihnen:  „Ihre  Erscheinung  besitzt  in  der  That  etwas  Blendendes,  nament- 
lich durch  den  ruhigen,  fast  klassischen  Schnitt  der  Gesichtszüge.  Sie  ist  viel  graziöser  als  die 
Russin,  und  ihre  Eleganz  verräth  jedenfalls  mehr  Geschmack,  als  wir  bei  dieser  wahrzu- 
nehmen in  der  Lage  sind.  Dabei  ist  sie  durchschnittlich  viel  zarter  gebaut,  der  Teint  ist 
durchsichtiger  und  feiner,  das  dunkle  Auge  verräth  grosse  Lebhaftigkeit,  ohne  jenen  sinnlichen 
Schmelz  zu  besitzen,  der  beispielsweise  an  den  blauen  Augensternen  der  Nord-Russin  haftet 
Alles  in  Allem  präsentirt  sich  die  polnische  Dame  als  ein  Bild  von  hervorragender  Rassen- 
schönheit, zu  der  sich  eine  natürliche  Anmuth  gesellt,  die  man  sonst  nur  bei  romanischen 
Frauen  anzutreffen  pflegt.*     Ein  galizisches  junges  Mädchen  zeigt  uns  Tafel  If,  Fig.  6. 

„In  Sachen  russischer  Frauenschönheit,  so  herichtei  Schweigcr-Lerdienfeld,  gehen  die 
Ansichten  erheblich  aus  einander.  Es  kommt  viel  darauf  an,  ob  man  dieselben  an  dem  Typus 
einer  Gross-Russin  oder  an  dem  einer  Klein-Russin,  oder  vollends  an  dem  einer  in  das 
Raffinement  der  Toilette  und  Selbstvorsehönerung  eingeweihten  Dame  der  vornehmen  Gesell- 
Hchafb  festhält.  Die  Kloin-Russin,  dem  Temperament  nach  viel  lebhafter  und  feuriger  ab 
ihre  nördliche  Schwester,  trügt  auch  äusserlich  die  Merkmale  einer  mehr  südlichen  Rasse. 
Sie  ist  gross,  schlank,  hat  dunkle,  ausdrucksvolle  Augen  und  schwarze  Haare,  welche  kokett 
durch  ein  fingerbreites  Band  emporgehalten  werden.  Die  Formen  des  Körpers  sind  von  so 
aristokratischer  Feinheit  und  Zierlichkeit,  dass  man  unwillkürlich  an  das  polnische  Blut 
erinnert  wird.  —  Die  Gross-Russin  ist,  obwohl  kleiner  von  Gestalt,  viel  derbknochiger,  als 
ihre  südliche  Stammverwandte,  und  ihre  Körperformen  besitzen  die  ausgesprochene  Neigung 
zu  übermässiger  Abrundung.  Das  Auge  ist  hell  und  besitzt  einen  freundlichen  Ausdruck ;  eine 
sorglose  Munterkeit  ohne  Schwärmerei  spricht  aus  ihm,  aber  man  vermisst  auch  die  warme 
Empfindung  und  vollends  die  schwüle  Leidenschaft,  die  mitunter  die  Seele  der  Süd- Russin 
durchwühlt.  Neben  den  blauen  Augen  gemahnt  auch  noch  das  lichte,  meist  aschblonde  Haar 
an  die  nördlichen  Heimsitze,  denen  die  Gross-Russin  angehört.  Im  Grossen  nnd  Ganzen, 
so  schliesst  Schweiger-Lerchenfeld,  „macht  auch  sie  keinen  unvortheilhaften  Eindruck,  will 
man  von  dem  etwas  breitknochigen,  nicht  sehr  fein  modellirten  Gesichte  absehen.* 

„Was  die  Frauen  anbelangt,  so  begegnet  man  namentlich  in  den  zwei  FracUonen  der 
Krim-Tataren  (Gebirgs-Tataren  und  littorale  Tataren)  nicht  selten  vollkommenen 
Idealen  der  Frauenschönheit,  wie  dies  auch  in  der  europäischen  Türkei  der  Fall  iat,  nur 
dass  sie  hier  so,  wie  dort  in  Folge  des  frühen  Heirathens  und  wegen  der  aDiirengenden 
Arbeit,  der  sie  unterworfen  sind,  recht  früh  altem  und  verwelkten  Matronen  iluilidi 
sehen.*     (Vamhery.) 


19.  Die  Schdnheit  der  ABiatinnen, 


83 


Dli  Ls|i}>#n-Fr»ueii  natintd  Oiaus  Magnus  bf'ibsch.  ihre  Gesichtsfarbe   atii  Weiss  und 
^t    Fig,  Ö  auf  Tafel  11  zeigt  eine  solche. 
Bt  d^n  Sc^w*?diiinen  »cbeiuen  die  Dalekar  Her  innen  den  Preis   der  Schönheit 
•8    OMilteii    /  len.     (Fig.  4L)     Du  (JhaWn  sagt  von  ihnen:  ^Äacb  unter  den  Frauen 

trim    mas    2Hi  -tattliche  Erscheinungen,  und  viele  der  jungen  Mädchen  besitzen  jene 

iigcnrnriig  schöne  HchwediBche  Gesichtsfarbe,  welche  an  Frische,  Reinheit  und  Durchsichtig- 
Ml  in  k^iTuirs  alliieren  Lande  ihresgleichen  findet,  in  allerhöchster  Vollkommenheit.  Eine  in 
MOdi  scIj  i>  Apfelbläthe  —  dies  ist  der  einzige  Veo-gleich»  den  ich  für  die  zarte  Kosen- 

thrv:    ^.11  tu  geben  vermag.     Die  Schwedinnen  allein  dürfen  sich  rühmen,  jenen 

»rbiiren    Ro^enHchtnitner   zn   besitzen,   der  wie  ein  matter  Anhauch  leise  und  allmählich 
entzückende  Weias  der  Haut  übergeht   und  ihnen   einen  so  eigenartig  wirkenden  Reist 
ffleihL    Vereinigen  sich  nun  —  wie   bei  den  Mädchen  von  Orsa«    einer  Pfarrei    in  Düle- 
karliea  —    mit  m  tadellosem  Teint  tiefblaue  Augen,  kirschrothe  Lippen,  schöne«  durch  daä 
de«   Kldü  (Fichtenharz)    blendend   wei^s  erhaltene  Z&hne    und  blondes,  seidenweiches 
^"Hiar,  m  ni/iUi  nich  unt»  ein  Bild  weiblicher  Schönheit  dar^  wie  man  es  in  solcher  Vollendung 
inilttr  k^iuain  wnderen  Himmelsstriche  antrii)\.* 

Aber  nicht  Übetall  in  Schweden  findet  man  so  vorzügliche  weibliche  Reize.  Derselbe 
BiiMBid«  traf  in  detrt  r2--15  Meilen  entfernt  von  Orsa  liegenden  Elfdal  keine  einzige  hübsche 
Frmtt;   dj#  vi*r  >    Backenknochen,    wie   die    platte  aufgestülpte  Na»e    lassen    hier    die 

balblappis«  1  rumung  erkennen,  wie  denn  auch  hier  die  meisten  Frauen  einen  kurzen 

gtdniiigwi^o  Körperbau  zeigen.   Eine  Finnin  und  eine  Ehstin  zeigen  die  Figg.  7  und  8  auf 
Tafol  n. 

DngegAU  Unmüert  der  gleiche  Autor  über  die  Mädchen  und  Weiber  der  Provinz  Blokinge: 

der  Huf  von  der  Schönheit   der   Frauen    sagt«    fand   ich   im  vollsten  Maasse    beätätigt; 

Ankunft   erfolgte    zur  Zett    der  Heuernte,    und  in  emeiger  GeschÜftigkeit  sah  ich  die 

bcn  Geitalten  sich  auf  den  Wiesen  umhorbewegen,  das  Wetter  war  warm,  und  so  trugen 

lim    ausser  dem  Hemde,  welches  eine  Schürze   um  die  Taille  festhielt,  keine  weitere 

den  Kopf  hatten  sie  mnlerisch  mit  einem  rothen  Tuche  umwunden«  und  obgleich 

vollkommen  unbetichützt  den  glühenden  Sonnenstrahlen  ausgesetzt  war,  so  zeigten 

ton  Frauen  und  Mädchen  jene  blendende  Weisse  und  Zartheit  der  Gesichtsfarbe, 

nr  schwedisthen  Schönen  eigen  jsu  sein  pÜogt." 

Di«    t>iiiiicho  Frauonücbön»    ist    nach   Ranke^  in   Oberbayern    leicht   gebrannt   mit 

_ittnkl«oi>    miuiehmal    schwarzem  Haar,  und  das  bimone  Auge  leuchtet  von  Lebenskraft   und 

ib«jwmiih,    welchit    sich    eheuäo    in  jeder  Bewegung   das   schlanken,    aber  munkelkräftigen 

iri  anisprechen.    Auch  lichte  blaue  Augen  kennen  hier  einen  mädchenhaft  schmachtenden 

Bjdrook  nicht. 


ID.  Die  Schönheit  der  Asiatiiiiiüii. 

Di<*  Ottjnkun,  Samojeden,  Korjüken  und  Kamtschadalen  gehiSren  zu  einer^  nach 
t(4>i;rillcn  höchst  un«chrmcn  Völkergruppe,  und  insbesondere  gelten  bei  den  meisten 
^^  n  thr<^  WeibflT  fa«t  durchgängig  für  häuslich.  Man  schrieb  von  diesen  Frauen:  ,f Aller 
>  Antnuth  beraubt,  unterscheiden  nie  sich  von  den  Mlinuern  bloss  durch  die  Ver* 
it  d<>r  Üeschlechtatheile;  sie  sind  denselben  bo  sehr  ähnlich,  da»»  man  beide  Ge- 
tiuf  den  erfiten  Blick  nicht  leicht  unterscheiden  bann.  Ihre  Haut  hat  gemeiniglich 
^>t»;  810  sind  von  Statur  zumeist  klein.*  Und  doch  durfte  miiii  eine  junge  Sa* 
che  sich  im  Jahre  18B2  in  Leipzig  und  anderen  Stildtcn  dem  Publikum  zeigte, 
ftiki  ol**fu  j^k  «hässlich'*,  wenn  auch  nicht  als  schdn  bezeichnen. 

TH«»  jüngeren  Weiber  der  Tachukt sehen  machen^  wie  van  Nardenskjöld  berichtet,  oft 
lindruek  dt*»  Anmuthigen^  vorausgesetzt,  da«s  man  es  vermag,  sich  des  widerlichen  Ein* 
SU  «erwehren,  den  der  Schmutz  und  der  Thrangestaok  hervorrufen. 
l>i€  Weiber  der  VVotjäken  fanden  Gmelin  and  PaUas  klein,   nicht  hübsch;    auch  die 
dTiir.on  K.ilit'n  nurh  PailoM  nuT  seltcu  schöuc  Frauon.     Das  Gesicht  der  Kalmückinnen 
aus.     Dass  es  auch  unter  ihnen  sogar  Schunbeiten  in  ihrer  Ai-t  giebt, 
-M.    .,.  .vlier  unter  einer  in  Basel  vorgezeigten  Kalmücken-Horde  die  Frau 
von  drei  Kindern,  als  solche  bezeichnet     Er   sagt  von  ihr:    ^ Höher  gewachsen 
''     '         i  doch  kräftig.     Hände  klein,   feine  Knochen;    die  Nase  ist  fein^ 
1  beschreibt  eine  schön  geschwungene  Linie,  schon  dadurch  ver- 
feme platte  Oede;  Augenspalte  weit  offen,  die  PLica  marginalis  sehr 


rilÜUifa 


'mamk 


^t)  IIL  Die  &sthetiBche  Aufrasraog  des  Weibei. 

inien :  ihre  FötHe  ttiud  klein  nnd  wohlirestaltet.     Weniger  schGn  scbeiDen  liiiigqgeu  die  W«iber 
in  der  Mandschurei  zn  sein,  von  denen  ans  Fig.  7  in  Tafel  V  ein  Beiipiel  Torftkrt. 

Die  persische  Frao,  sagt  Polak,  ist  von  mittlerer  Statur,  weder  mager  noch  fett,  .*^ie 
hat  groHiie,  offene,  mandelförmig  geschlitzte,  von  Wollust  trunkene  Augen  und  feingew^Ibte, 
über  der  Nase  zusanjmengewachsene  Brauen;  ein  rundes  Gencht  wird  hochgepriecen  nnd  v<>n 
den  Dichtem  als  Mondgericht  besungen.  Ihre  ExtremiUten  sind  besonders  schön  geformt: 
Brust  und  Hüften  sind  breit,  die  Hautfarbe  etwas  brflnett;  die  Haare  rind  dunkelkastiknien- 
braun,  der  Haarl>oden  sehr  Üppig.  Man  trachtet  allerdings,  durch  kfinstliche  Mittel  Schminken. 
Seh  würzen  der  Brauen  u.  s.  w.)  die  Körperschönheit  zu  erhöhen.  In  Haltung  und  Bewegung 
i»>t  die  Perserin  graziös,  ihr  Gang  ist  leicht,  frei  und  flflchtig.  Tafel  VI  zeigt  uns  einige 
zum  Stamme  der  Perser  gehörige  Weiber;  eine  Parsi-Frau  in  Fig.  7  nnd  eine  Sartin  in  Fig.  9. 

Den  armenischen  Frauen  schreibt  Crousse  zu:  ,iUne  beaat^  puissante,  rpanouie. 
vigourease,  comme  celle  des  races  fortes.*  Ein  Beispiel  sehen  wir  in  Fig.  27.  Es  ist  zweifellos 
noch  eine  sehr  junge  Person.  iJe  Amicin  sagt  von  ihnen:  Schönheit  und  Beichthum  der  Formen, 
Beleibtlieit,  weisse  Farbe,  , orientalisches*  Ädlerprofil,  grosse  Augen  mit  langen  Wimpern,  lia.« 
GeHicht  ohne  den  geistigen  Schimmer  des  grichischen  Frauengesichts.  Schindler  sagt:  Die 
Frauen  der  wohlhabenden,  unterrichteten  und  kriegsmuthigen  Armenier  in  Feridan  haben 
Hehr  roihe  Gesichter.  Karsten  fand  bei  ihnen  häufig  schOne  Gestalten  und  regelmässig  ovale 
Gesichter,  schwarze  blitzende  Augen,  reiches  schwarzes  Haar.  Ein  anderer  *  Autor  giebt 
ihnen  Schönheit,  edle  Zflge,  schlanken  Wuchs,  ebenmftsrige  Glieder,  zarten  Teint,  reiches 
Haar.    Ein  syrisches  Mädchen  aus  Bethlehem  findet  rieh  auf  Tafel  VI,  Fig.  8  darge^ellt. 

Man  hat  bekanntlich  gewisse  Gegenden  des  Kaukasus,  insbesondere  Circassien, 
Georgien  und  Mingrclien  als  das  Eldonulo  der  weiblichen  SchOnhrit  gepriesen,  namentlich 
in  frQborer  Zeit;  sie  lieferten  die  trefflichste  Harems-Waare  nach  Konstantinopel.  Man 
sagte,  daMS  diene  Weiber  mit  (b;n  regelmässigsten  ZfSgen  und  dem  reinsten  Blute  die  aus- 
gebildetsten  Formen  verbinden.  Nach  Ausspruch  des  französischen  Reisenden  Chardin,  der 
im  vorigen  Jahrhundort  jene  Länder  besuchte,  sind  die  Georgierinnen  gross,  wohlgebaut 
und  ihr  Wuchs  ist  ungemein  frei  und  leicht.  Die  Circassierinnen  sollen  nach  ihm  ebenso 
sfhön  Kein;  ihre  Stirnc  hoch;  ein  Fallen  von  der  feinsten  Schw&rze  zeichnet  anmuthig  ihre 
Augenbrauen;  die  Augen  sind  gross,  liebreizend,  voller  Feuer;  die  Nase  schOn  geformt;  der 
Mund  lachend  und  rein;  die  Lippen  rosenroth  und  das  Kinn  so,  wie  es  sein  muss,  um  tla:; 
Kinind  des  vollkommensten  Gesichts  zu  begrenzen.  Dazu  kommt  die  schOnste,  frischeste 
Haut,  welche  die  Sclavenhändler  zu  Kaffa  ungescheut  Proben  bestehen  liessen,  um  zu  zeigen, 
dasH  der  Käufer  nicht  etwa  durch  aufgelegtes  Colorit  getauscht  werde.  Auch  sagt  Chardin: 
„FiH  giebt  inMingrelien  wunderschöne  Weiber,  von  majestätischem  Ansehen  und  herrlichem 
Antlitz  und  Wuchs.    Dabei  haben  Hie  einen  Blick,  der  alle,  die  sie  sehen,  umstrickt.' 

Nach  Pallas  u.  A.  rind  auch  die  Frauen  der  Tscherkessen  schOn,  doch  unter  ihrem 
liuf'e,  wenn  auch  meist  gut  gebildet,  weiss  von  Haut,  mit  regelmässigen  Zügen,  kurzen 
Sclionkoln.  Manche  TncherkosRinnen  haben  eine  aufgestfllpte  Nase  und  rothe  Haare, 
auch  nicht  immer  so  rngelmäsrige  Züge,  wie  die  Mingrolierinnen.  Um  eine  schlanke 
Tiiille  liervurzubringon  und  zu  erhalten  und  das  Wohl  beleibt  werden,  das  doch  sonst  im  Orient 
vielfach  alH  iSchünheit  gilt,  zu  verhindern,  beköstigen  die  tscherkessischen  Mfitter  die 
Mädchen  fast  nur  mit  Milch,  und  sie  legen  ihnen  im  fünften  oder  sechsten  Jahre  eine  starke 
Schnürbrnnt  an. 

IhflftMtalt  sagt  von  den  Tscherkessinnen:  «Unter  den  erwachsenen  Mädchen  fand 
ich  nur  vier,  die  wirkliche  Schönheiten  in  unserem  Sinne  dos  Wortes  waren.  Die  übrigen 
zeichneten  hieb  mehr  durch  Hchlanken  Wuchs  und  durch  die  Kleinheit  ihrer  Ohren,  Hände 
und  FüHSO  aus.  Schwarzes  Haar  und  dunkle  Augen  kommen  bei  ihnen  nicht  häufiger  vor  als 
bei  iinH,  von  den  Anwo>ondon  hatten  die  meisten  blondes  oder  helles  Haar  und  blaue  oder 
hellbraune  Augen.** 

Die  Hindu -Krau  (man  vergleiche  Fig.  29)  ist  nach  Mantegazea^  schön  und  hat 
(Mno  zärtliche,  loidenHchaftliche  Natur.  Sie  hat  fant  immer  einige  Schönheiten,  nachtschwarze 
Augon,  glühend  wie  die  tropinche  Zone,  gross,  von  langen  Wimpern  umschlossen  und  von 
dichten  Augenbrauen  überschattet;  Schultern,  Arme  und  Busen  sind  einer  griechischen 
Statue  würdig,  kleine  Füsse,  die  vom  Druck  tyrannischer  Schuhe  nicht  entstellt,  sondern  durch 
Ringe  und  langen  Kühen  verschönert  sind.  Hässlich  dagegen  wird  sie  durch  ihre  Hautfarbe, 
die  zu  Hchmächtigen  (iliedmaassen  und  die  durch  den  täglichen  Gebrauch  von  pan-Supari 
geschwärzten  Zähne. 

Die  freie  Vorgattung,   wie  sie  namentlich  in  Indien  unter  dem  Nayer*8tMnnie 
herrscht,  Hchoint  nach  den  Erfolgen  der  seit  Jahrhunderten  wirkenden  ZnchtwaU  Mif  die  I 
nicht  ungünstig  zu  wirken.    Die  Fmuon  werden  von  Jagor^  als  ungemein  narik  **iBl' 


1^«  Di«  ScbÖnbeit  der  Asiatinnen. 


87 


MuxiQtbtff  und  verfahrerisch  geachiMert  und  «ollen  trotz  des  heissen  Klimas  von  auf- 
petaier  Hauifarbo  äein.  Jaffor  weist  dabei  darauf  hin,  dass  auch  in  Sparta  die 
d^irt  (»Mt^h^nil«  Zuc)iiw(%ht.  welche  die  »cbönsten  Paare  zusammenfübrte,  einen  Men «eben schlaft 
«nkit^.  «iör  an    m  Kruft  und  Tapferkeit   wie  an    weiblicher  Schönheit  alle  anderen 

Gritc1i9ti0t&tum^  Hier   möge  auf  das  in  Tafel  VI  dargestellte  Tamil-Mädchen, 

\  di*»  Frau  au«  bpiti.  Fig.  4  und  die  Lepscba-Frau  Fig.  6  hingewieaen  werden. 
JJjtj^ign  Weibern  der  Igor  roten  auf  den  Philippinen  giebt  es,  wie  Han»  Meyer 
|io  feinen  GesicbtaÄÜgen  und  so  weiwer  Haut,    dasi  sie  mit  jeder  hübschen 
curriren  rerm5gen. 


ST 


,  41b   infiff«  Ctilite^j  I 


Eoesibchea  Aqaarelt) 


Üttior  den  Malaiinnen  fand  Finneh  hübsch  gebaute  Gestalten  mit  gut  geformter  ßdate. 

Di«  reinen  Mal  a>Mnnen  auf  Java  sind  nicht  selten  vod  tadellosem  Wüchse,  und  wenn 

f^frlinr  auch  nicht  gerade  schön  zu  nennen  sind,  so  haben  nie  doch  etwa«  ÄJimuthiges 

kil  !  In  ihrer  Erechöinung.     Die  Gruppe  junger  Javaninnen  in  Fig,  32  wird  diese« 

■4iL,>,T^.,       t«ich  TafölVl,   Fig,  1   führt  uns   eine  Javanin   vor.     Unter  den  Dujakinnen 

Borneo,  die  mir  durch  photographische  Aufnahmen  bekannt  geworden  lind,  finden  sich 

ilbige  0  estalten  mit  wob  Ige  formten  Gewichtem. 

BialayiRchen  Frauen  auf  der  Halbinsel  Malacca  und  einem  Tbeile  von  Sumatra 
litrbf  aU  Jiierlich  gi^baut;   ihre  als  olivenfarbig,  oder  auch  als  kupferbr&anlicb  be* 


20.  Die  Schönheit  der  Oceanierinnen.  gQ 

meiit  eine  sierliche  Taille,  lebhafte  dunkle  Augen,  einen  reichen  Haarschmuck  und  eine 
lichtere  Hautfarbe  als  die  M&nner,  viele  können  auf  Schönheit  Anspruch  machen. 

Die  tibetanischen  Frauen,  man  vergleiche  Tafel  VI,  Fig.  2,  sind  klein,  schmutzig 
und  gewöhnlich  unschön,  zuweilen  begegnet  man  jedoch  auch  erträglichen  Gesichtern;  die 
Hautfarbe  ist  heller  als  bei  den  Männern,  und  die  Zähne  stehen  regelmässiger.    (Przewalski.) 

Die  Japanerin  macht  in  ihrer  äusseren  Erscheinung  entschieden  einen  günstigeren 
Eindmck,  als  die  stammverwandte  Chinesin.  Namentlich  ist  die  Japanerin  der  besseren 
Stände  sehr  ansprechend;  die  Anmuth  scheint  ihr  angeboren  zu  sein;  ihr  offenes  kindliches 
Gesicht  ist  ein  Spiegel  ihres  ganzen  Wesens;  die  etwas  schief  stehenden  Augen  sind  glänzend 
•chwan  und  besitzen  einen  ungemein  schelmischen  Ausdruck.  Die  Zähne  sind  tadellos  weiss, 
durch  Zwischenräume  getrennt  und  ein  wenig  vorstehend;  das  Haar  ist  zumeist  reich.  Diesee 
Alles  bezieht  sich  insbesondere  auf  das  Mädchen  (Fig.  42);  die  Frau  färbt  sich  nach  landes- 
üblicher Art  die  Zähne  schwarz  und  reisst  sich  die  Augenbrauen  aus,  um  sie  dann  durch 
Farbe  zu  ersetzen ;  allein  auch  an  den  Frauen  wird  vor  allem  ihr  ausserordentlich  freundliches 
und  seelenvolles  Auge  gerühmt;  ihre  Schönheit  aber  wird  durch  diese  Färbungen  ganz  er- 
heblich beeinträchtigt  (Fig.  43).  Auch  Sdenka  schreibt:  ,Das  Schönheitsideal,  welches  der 
Japaner  fär  das  weibliche  Geschlecht  aufstellt,  entspricht  bei  weitem  nicht  unseren  abend- 
ländischen Anschauungen,  aber  dennoch  sind  die  Töchter  des  Landes  der  aufgehenden  Sonne 
auch  für  den  europäischen  Geschmack  reizvoll  und  verführerisch  genug.*' 

Die  Frauen  der  Chinesen  sind  klein  und  zierlich;  so  bezeichnen  sie  die  Anthropologen 
der  «A^onira' -Reise.  Doch  sagen  andere  Berichterstatter:  ihr  Wuchs  ist  von  mittlerer  Grösse 
ond  fein,  ihre  Nase  ist  kurz,  ihre  Augen  schwarz  und  feurig,  ihr  Mund  klein,  ihre  Lippen 
glänzend  roth,  ihre  Biust  stark,  ihre  Hautfarbe  weiss.  Wieder  andere  urtheilon:  „Die  Chine- 
sinnen föUen  keineswegs  das  Schönheitsalbum  der  Erde.  Sie  sind  klein  und  unansehnlich 
von  Gestalt;  das  Gesicht,  bei  strenger  Clausur  meist  mit  einer  krankhaften  Blässe  bedeckt, 
bat  gewöhnlich  einen  Stich  ins  Gelbe  und  ist  in  seiner  Begrenzung  nahezu  kreisrund;  das 
charakteristische  Merkmal  der  mongolischen  Rasse,  die  schiefgeschlitzten  Augen,  sollen 
swar  manchem  Gesicht  einen  -pikanten  Anstrich  verleihen,  doch  wird  man  gut  thun,  anzu- 
nehmen, dass  gerade  die  Schlitzäugigkeit  den  Gesichtsausdruck  erheblich  entstellt.  Dabei 
kommen  noch  die  vorstehenden  Backenknochen,  die  kurze,  platte  Nase,  die  fleischigen  Lippen 
und  das  schlichte,  grobe  Haar  in  Betracht.'*  Eine  junge  Chinesin  aus  Shanghai,  nach 
photographischer  Aufnahme,  sehen  wir  in  Fig.  45,  während  Fig.  44  zwar  ebenfall»  eine 
Chinesin,  aber  nach  einem  chinesischen  Aquarell  darstellt. 

20.  Die  Schönheit  der  Oceanierinnen. 

Von  den  Polynesierinnen,  deren  Männer  nicht  selten  stattliche  Gestalten  von  klas- 
sischer Schönheit  zeigen,  sagt  Finsch:  «Die  Frauen  sind  im  Ganzen  kleiner,  aber  in  der  Jugend 
ebenfalls  sehr  hübsche  Erscheinungen,  mit  wohlgeformtor  Büste,  die  leicht  zur  Fülle  hinneigt. 
Alte  Weiber  sind  hässlich,  bis  abschreckend  hüsslich. 

Während  manche  Beobachter  den  Typus  der  Kanakinnon  auf  Hawaii  als  hübsch 
bezeichnen  und  die  Formen  im  jugendlichen  Alter  bis  zum  30.  Jahre  wohlgestaltet  finden, 
stimmen  alle  Berichterstatter  darin  überein,  dass  sie  schnell  altem.  Die  Häuptlingsfrauen 
zeichnen  sich,  wie  ihre  Männer,  durch  athletischen  Bau  sowie  durch  Fettleibigkeit  aus,  was 
indess  nach  den  landläufigen  Begriffen  von  Schönheit  den  physischen  Reiz  nur  erhöht. 
^Bechtinger.J    Eine  Kanakin  zeigt  Tafel  lY,  Fig.  8. 

Auf  Tahiti  g^ebt  es  einen  Adel,  dessen  Männer  meist  an  6  Fuss  und  darüber  gross, 
und  die  Weiber  nicht  viel  kleiner  sind.  Auch  bemerkt  man  bei  den  Weibern  Neigung  zur 
Körperfülle,  doch  fand  man  hier  nicht  die  ungeheuren  Flcischmassen  wie  auf  Hawaii.  Da 
die  Tahitie rinnen  reichliche  Kleider  tragen,  auch  viel  im  Schatten  leben,  so  sind  sie  oft 
von  so  heller  Farbe,  dass  sie  rothe  Backen  haben  und  ein  Erröthen  sichtbar  wird.  Forster 
ist  entzückt  von  ihren  grossen  heiteren  Strahlenaugen  und  ihrem  unbeschreiblich  holden 
Lächeln;  allein  er  selbst  sagt,  dass  die  Weiber  keine  regelmässigen  Schönheiten  wären,  dass 
ihr  Haaptreiz  vielmehr  in  ihrer  Freundlichkeit  bestehe. 

Die  Weiber  der  Marques as-Inseln  sind  nach  Porter  weniger  schön  als  die  Männer; 
bei  sonst  schönen  Gliedern  haben  sie  hässlichc  Füsse  und  einen  hässlichen  schwankenden  Gang; 
nach  KrusensUrn  ist  ihr  Wuchs  klein ,  ihr  Unterleib  dick,  allein  das  Gesicht  schön,  rundlich, 
mit  grossen  funkelnden  Augen,  schönen  Zähnen  und  blühender  Farbe.  Daher  hält  es  Gerland 
ftr  eine  übertriebene,  oder  nur  für.  einzelne  Bezirke  gültige  Behauptung,  wenn  «/acguinof  die 
Marqnesanerinnen  für  hässl icher  als  alle  übrigen  Polynesierinnen  erklärt.    Schon  dem 


90 


IIL  Die  ästhetische  AnffassuDg  des  Weibes. 


Mendana  fiel  ihre  Schönheit  auf;  er  rühmt  ihre  Arme  und  Hände  und  ihren  Wuchs  und  sagt, 
sie  seien  schöner,  als  die  schönsten  Weiber  in  Lima. 
Eine  Tonga -Insulanerin  zeigt  Tafel  IV,  Fig.  9. 

Bei  den  Samoanern  sind  die  Frauen  weniger  schön,  als  die  Männer,  welche  im  Allge- 
meinen, wie  fast  alle  Polynesier,  als  schöne  Rasse  gelten ;  die  Figur  der  Samoanerinnen 
ist  zu  sehr  untersetzt;  angenehm  aber  berührt  ein  Ausdruck  von  Schamhaftigkeit,  der  auf 
anderen  Inseln  so  viel  seltener  zu  finden  ist.  (Jung.)  Von  diesen  Samoaner-Frauen  sagt 
Zöller:  „Die  schönste  Samoanerin  würde  doch  immer  nur  mit  einem  deutschen  Bauer- 
mädchen verglichen  werden  können.  Um  feinere  Züge  darzustellen,  dazu  sind  die  Nasen  zu 
breit,  stehen  die  Backenknochen  zu  sehr  hervor.  Schöne  Frauen  würde  man  nur  schwer, 
hübsche  sehr  leicht  herausfinden  können,  so  lange  sie  noch  jung  sind.*  Eine  junge  Samoanerin 
ist  auf  Tafel  XI,  Fig.  5  wiedergegeben. 

Den  Weibern  der  Maori  auf  Neu-Seeland,  man  ver- 
gleiche Tafel  IV,  Fig.  7,  fehlt  die  weibliche  Grazie,  sie  haben 
in  allen  ihren  Bewegungen  etwas  Urwüchsiges,  doch  auch 
etwas  Eckiges.  Man  sieht  unter  ihnen,  wie  Buchner  schreibt, 
zuweilen  schöne  wohlgebildete  Gestalten,  aber  naturgemäss 
giebt  sich  bei  diesen  die  Verkommenheit  noch  viel  deutlicher 
kund,  als  bei  den  Männern.  Nach  Zoller  besitzen  die  Frauen 
weit  grössere  Füsse  als  ihre  Männer,  und  geradezu  fürchter- 
liche Extremitäten.  Nach  Finsch  sind  sie  kleiner  und  im 
Ganzen  weniger  schön,  als  die  Männer;  wirkliche  Schönheiten 
in  unserem  Sinne  fand  er  nicht  unter  ihnen. 

Von  den  Melanesiern  auf  der  Insel  Tanna  (Neu- 
Hebriden)  hoisst  es,  dass  ihre  Weiber  klein  und  später  meist 
hässlich  sind  (Forster),  Auf  V a t e ,  einer  anderen  neu-hebri- 
dischen  Insel,  sind  die  Weiber  schlank  und  zierlich  fErskineJ; 
auf  Mallikollo  sind  sie  dagegen  hässlich  und  schlecht  ge- 
wachsen, was  bei  der  massenhaften  Arbeit,  welche  auf  ihnen 
liegt,  nicht  verwundem  kann;  sie  werden  durch  ihre  sehr  langen, 
schlauchartigen  Brüste  sehr  entstellt.  Auch  auf  Aoba  waren 
die  Weiber  hässlich;  auf  Vanikoro  aber  ganz  besonder« 
hässlich,  sobald  sie  der  ersten  .Tugend,  in  der  sie  bisweilen 
hübsch  sind,  entwachsen  sind.  Die  Weiber  auf  Tombar a  sind 
minder  hübsch,  als  die  Männer  (Hunter);  auch  auf  Neu- 
Guinea  sind  die  Weiber  wegen  der  auf  ihnen  lastenden  Arbeit 
meist  hässlich.  Eine  Frau  von  den  Nen-Hebriden  ist  auf 
Tafel  IV,  Fig.  2  dargestellt. 

Von  den  Papuas,  die  uns  im  Allgemeinen  als  wenig 
anziehende  Erscheinungen  geschildert  werden,  heisst  es,  dass 
es  unter  ihnen  doch  auch  sehr  hübsche  Gesichter,  besonders 
bei  den  jungen  Männern  und  Knaben,  manchmal  auch  bei 
jüngeren  Frauen  gicbt,  doch  sind  sehr  hässliche  Gesichter  an  der 
Tagesordnung.  Die  Weiber  der  Südwestküste  der  Insel  Doreh 
sind  nach  r.  Jlosenberg  kleiner  als  die  Männer,  welche  im  All- 
gemeinen eine  mittlere  Statur  haben.  Unverhältnisimässig 
dünne,  magere  Beine  bei  sonst  wohlproportionirtem  Körper  sind 
beim  Papua  nichts  seltene!^,  zumal  bei  Frauen.  Ein  Papuamädchen  von  15—16  Jahren, 
welches  von  van  Hasseli  der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  vorgestellt  wurde,  besats 
eine  ebenso  zierliche  Hand,  wie  einen  zierlichen  Fuss. 

Den  Papuas  Neu-Guineas  ähnlich  sind  die  Melanesier  des  Admiralitäts- 
Archipels;  die  Männer  sind  hier  wohlgewachsen  und  kräftig,  die  Frauen  aber  stehen,  wie 
die  Gelehrten  des  Challenger  fanden,  weit  hinter  ihnen  zurück;  sie  sehen  wahrhaft  abttossend 
aus,  insbesondere  durch  den  steten  Gebrauch  der  Betelnuss;  die  alten  Weiber  sind  nach  von 
MikluchO'Maclay  meist  sehr  mager  und  gleichen  mit  ihrem  rasirten  Kopfe,  dessen  stark  aus- 
geprägten Hautfalten,  ihrem  zusammengeschrumpften  Busen  und  hageren  Beinen  fast  gaai 
alten  Männern.  Von  Melanesierinnen  zeigt  Tafel  XI  in  Fig.  6  ein  Mädchen  ans  Neu- 
Britannien,  in  Fig.  4  eine  Admiralitäts- Insulanerin,  und  auf  Tafel  IV,  Fig.  8  iit  eine 
Viti-  oder  Fidschi- Insulanerin  dargestellt. 

Die  Frauen  der  Gilbert- Insulaner  (Mikronesier),  man  vergleiche  Taüd  lY,  ISg.  ii 


Fig.  46.     Junge  Australieriu 

aas  Nord-l^ueensland  mit 

Scbmucknarben  auf  der  Brust. 

(Nach  Photographie.) 


92  lU.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

Die  Weiber  der  australischen  Eingeborenen  sind  meist  in  der  Mittelgrösse,  selten 
sehr  gross,  in  welchem  Falle  sie  für  ausgezeichnet  schön  gehalten  werden.  In  der  früheren 
Jugend  sind  sie  nicht  unlieblich;  ihre  BlAthezeit  föllt  in  die  Periode  von  10 — 14  Jahren. 
Mücke,  der  sich  lange  in  Süd-Australien  aufhielt,  rühmt  von  einem  im  15.  Jahre  stehen- 
den Mädchen  die  prächtige  Rundung  der  im  «edelsten  Ebenmaass*  gehaltenen  Körperformen. 
Ihre  Haut  glänzte  sammetweich,  und  die  rothen,  etwas  vollen  Lippen  lieesen  .eine  Perlenreih» 
der  Wohlgeformtesten,  elfenbeinweissen  Zähne'  sichtbar  werden. 

Dagegen  sind  nach  KÖlüer  die  Weiber  in  der  Umgegend  von  Adelaide  mager,  mit 
hängenden  Brüsten;  und  während  die  Männer  gewisse  Anmuth  und  Sicherheit  haben,  fehlt 
diese  den  Weibern,  deren  Arme  und  Beine  von  g^anz  besonderer  Dürre  sind  (WiOhelmi). 
Auch  sind  in  der  grossen  australischen  Bucht  die  Weiber  klein,  mager  und  verkommen 
(Broxcne). 

Als  im  Jahre  1884  in  Berlin  eine  Gruppe  australischer  Eingeborener  gezeigt  wurde, 
hatte  Virchow  Gelegenheit  hervorzuheben,  wie  sehr  er  überrascht  worden  sei  durch  die  un- 
gezwungene, natürliche  und  häufig  geradezu  schöne  Form,  in  welcher  von  diesen  Natur- 
menschen die  Körperbewegungen  ausgeführt  werden;  er  sagt:  «Die  Frauen  haben  eine  so 
graziöse  Art,  den  Kopf  zu  tragen,  Rumpf  und  Glieder  zu  stellen  und  zu  bewegen,  als  ob  sie 
durch  die  Schule  der  besten  europäischen  Gesellschaft  gegangen  wären.*  Fig.  46  führt 
eine  junge  Australierin  aus  Nord-Queensland  vor.  Eine  Nord-Queensland-Austra- 
lierin sehen  wir  auch  in  Fig.  47  und  auf  Tafel  IV,  Fig.  1;  beide  haben  ausgezeichnete 
Schmucknarben,  die  für  eine  grosse  Schönheit  gelten.   Es  wird  später  noch  davon  die  Rede  sein. 


21.  Die  Schönheit  der  Amerikanerinnen. 

Die  Yankees  haben  sich  im  Verlaufe  der  Zeit  zu  einer  specifischen  Rasse  heraus- 
gebildet: das  lassen  auch  die  Frauen  in  ihrem  Aeusseren  erkennen.  Ein  ungalanter  Ameri- 
kaner sagte  einmal  über  seine  Landsmänninnen:  ,Sie  haben  keine  Knochen,  keine  Muskeln, 
keinen  Saft  —  sie  haben  nur  Nerven.  Und  wie  sollte  man  es  anders  erwarten?  Statt  des 
Brodes  essen  sie  Kreide,  statt  des  Weines  trinken  sie  Eiswasser;  sie  tragen  eng^  Corsets  und 
dünne  Schuhe."  v.  Schtctiger-Lerchenfeld  citirt  das  Urtheil  europäischer  Beobachter,  dass 
die  Mädchen  in  den  Vereinigten  Staaten  (und  zwar  die  der  nördlichen  und  östlichen) 
bei  air  ihren  körperlichen  Vorzügen,  ihrer  interessanten  Blässe,  ihrer  gewinnenden  Schönheit 
und  bestrickenden  Anmuth,  gleichwohl  einen  entschiedenen  Mangel  an  Lebenskraft  bekunden. 
Auch  macht  er  auf  die  Unterschiede  aufmerksam,  welche  die  Frauen  je  nach  ihrer  ursprüng- 
lichen europäischen  Abstammung  zeigen.  In  den  nördlichen  Gebieten,  wo  sich  das  vlä- 
miscbe  Blut  geltend  macht,  ist  die  leibliche  Schönheit  der  Frau  ganz  anderer  Art;  die 
Haut  ist  zarter,  das  Auge  blauer  und  feuriger,  als  beim  englischen  Typus;  die  New- 
Yorker  Schöne  hat  mehr  Farbe,  die  Bostoner  Schöne  mehr  Feuer  und  Zartheit.  Nur 
unter  den  höheren  Ständen  Amerikas  hat  sich  das  ursprüngliche  englische  Schönheits- 
ideal ungeschmälert  erhalten. 

Ueber  die  Schönheit  der  mexikanischen  Frauen  sind  die  Urtheile  verschieden,  doch 
wird  allgemein  zugestanden,  dass  die  Städterinnen,  namentlich  die  von  rein  spanischer 
Abkunft,  immerhin  zu  den  würdigen  Repräsentanten  weiblicher  Schönheit  zu  zählen  sind. 
Ihre  Augen  sind  gross  und  schwarz,  ihr  Haar  üppig  und  glänzend,  die  Zähne  blendend  weiss. 
Klein  von  Gestalt,  bietet  die  Städterin  durch  eine  gewisse  angeborene  Anmuth,  die  dem  süd- 
lichen Blute  eigen  ist,  einen  vortheilhaften  Eindruck.  Dagegen  besitzen  die  mexikanischen  , 
Landfrauen  entschieden  weniger  physische  Vorzüge  als  die  Städterinnen  rein  spanischen 
Blutes.  Zwar  sind  auch  hier  glänzende,  feurige  Augen,  blendende  Zähne,  reichliches  Haar 
und  dergleichen  nicht  selten,  dafür  aber  sind  andere  Gesichtstheile  nichts  weniger  als  schön, 
die  Nase  ist  hässlich  geformt,  der  Mund  gross,  die  Backenknochen  vorstehend. 

Ein  um  so  weniger  anziehendes  Aeussere  besitzen  für  den  geläuterten  Geschmack  des 
Europäers  die  Frauen  des  arktischen  Amerika.  Allein  es  giebt  doch  recht  auffallende 
Unterschiede,  namentlich  zwischen  den  östlichen  und  westlichen  Bewohnern  Grönlands.  Die 
Vollblutweiber  von  der  Westküste  sind  meist  ziemlich  hässlich,  haben  vorstehende  Bäuche, 
watschelnden  Gang  und  sind  in  der  Regel  klein  von  Gestalt.  Die  Frauen  der  Ostküste  hin- 
gegen sind  zumeist  gross  und  schlank  und  weit  schöner  als  ihre  Landsmänninnen  im  Westen. 
CFinnJ    Charakteristisch  für  alle  sind  die  kleinen  Hände  und  Füsse. 

,Eine   festlich   gekleidete  grönländische  Schöne,   mit  ihrer  braunen,  gmanuUm  i 
sichtsfarbe   und  ihren  glatten  vollen  Wangen,  sieht  in  dem  aus  ausgew&hlteii 


21.  Die  Schönheit  der  Amerikanerinnen. 


93 


'i\ 


igten,  dicht  anAiixenden  Anztige  und  den  kleinen,  eleganien^  mit  hohen  Stulpen  ver- 
Süf^feln  und  den  buoten  Perlenbändern  um  Hals  und  Haar  nicht  Übel  ilub.  Hir 
I  gewinnt  n«>ch  durch  eine  stetige  Heiterkeit  und  ein  Benehmen^  in  dem  aich  eine 
Portion  Koketterie  geltend  macht,  als  man  bei  einer  Schönheit  der  mit  Unrecht  ver- 
Kskimo-Rasse  erwarten  möchte.  Ein  entechloeaener  BeehundjAger  führt  da» 
liflhaebe  lUkdchen  mit  milder  Gewalt  nach  seinem  Zelte.  Mit  Gewalt  wollen  de  genommen 
«•in  und  dedbalb  werden  sie  auch  mit  Gewalt  genommen.  Sie  wird  seine  Fmn,  bringt  Kinder 
Wirlt  nnd  vemacbläs«igt  ihr  Aeusseree.  Die  vorher  »o  gerade  Haltung  des  Körpers  wird 
,  in  Folge  der  Gewohnheit,  ein  Kind  auf  dem  Rücken  %\x  tragen,  die  Rundung  des 
vtnchwindett  derselbe  wird  welk  und  der  Gang  wackelig,  da«  Hiiar  ftlllt  an  den 
ant,  die  Zähne  werden  durch  das  Kanen  der  H&ute  beim  Gerben  hU  auf  die  Wurzel 
ut«5  und  die  Sanberhaltung  und  Wartung  dea  Körpers  und  der  Kleider  versilumt.  Die 
ihr^  Jugend  recht  behaglichen  Eskimo-MSdchen  werden  daher  nach  ihrer  Verheiratbang 
ab«eiMiu)icb  hlUfllich  und  ficbmutzig.* 
y<ird€m$k}öhL)  Ein e  E g  k  i  m  o  -  Frau  aus 
trador  leigt  Tafol  Hl,  Fig.  2.  In 
l  Qjtd  Fig.  3  denelben  Tafel  sind 
ander«  Repräsentantinnen  der  nord- 
»«•rikaDitchen  Indianer,  nämlich 
rai#  C^manche-Frau  und  eine  Sionx- 
¥mn  daryeitellt 

Di«  Weiber  der  Kolja sehen  an 
dm  Koniw^ftkttate  ron  Amerika  zeigen 
•UMdi  krammen,  wackelnden  Gang,  wäh* 
r«id  die  M&nner  «toh  einberichreiten; 
M  babei»  ^^Ixiri«*  Hunde  und  mei.^t  kleine 
FOaaa, 

jM'Mon  Indianerdtämmen 
örd*A  merikan  sind  die  Frauen  auf* 
l^nd  klein  (selten  über  5  Fuse,  nach 
ftram  bei  den  Creeka  n.  a.  w,);  «ie 
sich  ort  durch  xierlicbe  kleine 
und  FtiiKO  aui;  \nn  den  mensten 
Slimnün  ijt  ihr  Wuchs  untnmetr.t,  nnd  aie 
IuiImk  dicktf,  mndtj  K^pfo  mit  breiten, 
flAcbeii,  runden  Ge«ichtern,  Kino  Indi- 
•  nerkii  aas  Aristo  na  lernen  wir  in  Fig. 
48  lunii«ii.    CPrinz  r.   Wied^j 

Aneh  ?on  den  Lenguas  in  Süd- 
AiBi«rik«  rahmt  man  die  kleinen  Fasse 
imd  il&nds  dvr  Frauen. 

Die  Weiber  des    untergegangenen 
'jm  der  Chibcha  waren  nach  (hnedo 
Vttglaicli  mit  anderen  Indianerinnen 
Wli. 

Bei  den  Coniboa  amYnrna  (Süd-Amerika)  sind  die  Frauen  klein«  aber  sie  haben 

ttSdii  die  mag«n»n  Beine  und  dicken  Rauche  der  meiaten  übrigen  alidlichen  Stämme,    fr,  IhU- 

wmM^  Ikoon  nahestehend  sind  die  Mayonische-lndianer  in  Peru  (Tafel  HI,  Fig.  4),  und  die 

^  doa-Indianer  in   Brngilien  (Tafel  IH,  Fig.  5).     Die  Weiber  der  Araucanier  (Tafel 

^>  haben  dieselben  Zöge  wie  die  M^nner^  ihr  Wucha  ist  klein,  der  Oberleib  sehr  lang, 

sehr  kurx* 

gen  Mädchen  der  Arawaken  (Caraiben)  in  Guyana  werden   des   herrlichen 

ihrer   Formen,    der  kräftigen  Fölle  ihrer  Glieder,  der  interessanten  antiken  Ge- 

iidtUbtlduD^  w '^'f?n  nr.iiiihmt;  sie  besitzen  grosse  schwarte  Äugen,    Nach  Appfm's  Veraichernng 

wUei  K>n  edie,  äusaerat  anmuthige,  oft  wahrhaft  vollendet«  weibliche  Formen 

..  ^;  ricchischem  Profil.    Die  Äreku na- Mädchen  Reichnon  aich   körper- 

:en  Indianerinnen  aua.     Appun  bewundert  an  ihnen  die  Naee  von  edlem 

t,  und  ihr  kleiner  Mund  prangt  mit  den  feinsten»  nur  ein  klein  wenig  ge- 

die   feurigen   schwarzen  Augen   und  die  raben  ach  warben    Haare  vollendtm 

r  MUdchen,  die  Qberdiea  gleich  allen  Indianern  mit  aebr  kleinen  H&ndun 


iki 


Figt  48.    Indianerin  ans  Arizona  mft  lienLalt^m 
Gesiebt.    (K»cb  Photograplili» ) 


94  ^11*  ^^^  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

und  Füssen  ausgestattet  sind.  Dagegen  excelliren  die  Weiber  der  Taruma  durch  ihre  Hftss- 
lichkeit.  Während  ^j3^un  von  der  Schönheit  der  Indianerinnen  Sad-Amerikas  unter  den 
Tropen  mit  solcher  üeberschwänglichkeit  berichtet,  kann  freilich  Sachs  deren  Reise  keines- 
wegs rühmen.  So  different  ist  eben  der  Geschmack!  Eine  Guyana-Indianerin  zeigt  Tafel 
III,  Fig.  6. 

Ein  schöner,  kräftiger  Menschenschlag  sind  die  Patagonier,  die  sich  selbst  Tehuel- 
chen  nennen  und  zwischen  den  chilenischen  Anden  und  der  atlantischen  KQste  nm- 
herziehen;  ihre  Weiber  sind  durchschnittlich  kleiner  und  mit  minder  üppigem  Haarwuchs 
bedacht,  gleichwohl  aber  von  auffallender  Wohlgestalt  und  Muskelstärke. 

Die  Weiber  der  Pescheräs  in  Feuerland  sind  kleiner,  als  ihre  Männer.  Das  Gesicht 
bei  ihnen  wird  so  geschildert,  als  hätte  man  den  Kopf  zwischen  zwei  Bretter  gelegt  und  zu- 
sammengequetscht ;  die  Nase  ist  so  niedergedrückt,  die  Backenknochen  treten  so  weit  heraus, 
dass  der  Eindruck  der  Breite  und  Niedrigkeit  auffallend  dominirt.  Boehr  und  Essendörfer 
schildern  die  Weiber  als  fett.  Auf  Tafel  III  sehen  wir  in  Fig.  9  eine  Patagonierin  und  in 
Fig.  7  eine  Feuerländerin. 

Als  Uebergang  zu  den  afrikanischen  Rassen  mögen  die  Buschnegerinnen  von 
Surinam  ihre  Erwähnung  finden.     Prinz  Roland  Bonaparte  sagt  von  ihnen: 

,Les  femmes  ont  pendant  leur  jeunesse  des  formes  irreprochables,  et  la  douceur  de  lenr 
peau,  malgre  sa  couleur,  ferait  envie  en  plus  d'une  Europ^enne.  Mais  cette  beaut^  passa- 
gere  ne  dure  que  tres-peu  de  temps.** 


22.  Die  Schönheit  der  Afrikanerinnen. 

Die  Aegypterinnen  haben  fast  alle  nach  v,  Schweiger-Lerchenfeld  feingeformte,  zier- 
liche Hände  und  Füsse;  ihr  Gang  verräth  angeborene  Grazie,  wenn  auch  vielleicht  jene  eigen- 
thümliche  Schwingung  der  Hüften,  welche  die  Araber  «Ghung*  nennen,  nicht  allen  Weibern 
wohl  ansteht.  Bezaubernd  ist  das  tiefe,  dunkle,  zuweilen  mystisch  brennende,  dann  wieder 
mild  anziehende  Auge,  dem  häufig  ein  feuchtes  Lustre  eigenthümlich  ist.  Dies  Auge  kann 
eben  so  fieberisch  glühen,  als  umschleiert  schmachten,  wenn  die  Verschleierung  eine  voll- 
kommene, das  heisst:  der  Yaschmack  nicht  so  dünn  ist,  dass  man  durch  dessen  zartes  Gewebe 
jeden  Gesichtszug  deutlich  erkennt.  Ein  Paar  junge  Aegypterinnen  niederen  Standes  sehen 
wir  in  Fig.  31  auf  ihrem  Esel  reiten.  Hier  kann  man  die  Hände  und  Füsse  gut  betrachten. 
Auch  Tafel  I,  Fig.  9  führt  uns  eine  Aegypterin  vor,  deren  Profil  in  auffälliger  Weise  an  die 
alten  Skulpturen  erinnert. 

Auch  nach  R.  Hartmann  zeigen  die  heutigen  ägyptischen  Frauen  die  typischen  Eigen- 
thümlichkeiten  der  Retu,  der  Alt-Aegypter,  wie  sie  uns  auf  den  bildlichen  Darstellungen 
entgegentreten.  Die  jungen  Mädchen  sind  ungemein  gracil.  Eine  hübsche  Darstellung  nackter 
junger  Aegypterinnen  bieten  die  mit  ihrem  königlichen  Vater  ein  dem  Schach  ähnliches 
Spiel  treibenden  Töchter  Ramsen*  111.  zu  Theben.  Aber  der  Reisende  hat  auch  jetzt  noch 
Gelegenheit,  Studien  über  den  Körperbau  solcher  Wesen  zu  machen,  nicht  nur  bei  Beobach- 
tung der  häufigen  Badescenen,  sondern  auch  beim  Passiren  seichter  Nil  arme  durch  Markt- 
leute, wobei  stets  ein  grösserer  Teil  des  Körpers  entblösst  wird.  Sehr  schön  sind  bei  diesen 
Personen,  wie  Hartmann  bezeugt,  die  Schultern  und  zuweilen  die  Oberarme  geformt.  Der 
Oberschenkel,  der  Unterarm  und  Unterschenkel  sind  öfters  zu  mager,  obwohl  es  in  dieser  Be- 
ziehung auch  nicht  an  rühmlichen  Ausnahmen  fehlt. 

Ein  Araber-Mädchen  ist,  wie  v,  Maltzahn  von  denjenigen  der  Nomaden  Tripoli- 
taniens  bemerkt,  nur  kurze  Zeit  schön,  aber  in  dieser  Zeit  ist  sie  wtlrdig,  eine  Braut  f^ 
Göttersöhne  zu  sein;  sie  ist  ein  Stück  Wüstenpoesie.  Der  Goldton  des  weiblichen  Incamats, 
die  phosphorescirende  schwarze  Haarfluth  mit  dem  schönen  Stich  ins  schillernde  Blanschwarz, 
der  tiefdunklc,  sehnsuchtsumhauchte  Blick  mit  der  sammtenen  Wimper-Gardine,  auch  nicht 
zuletzt  die  geschmeidig-edle,  wohlgerundete  Gestalt:  das  alles  sind  Reize,  wozu  es  nicht  des 
Culturmenschen  bedarf,  um  einen  würdigen  Kenner  aufzutreiben.  Kein  Wunder,  dass  ein  so 
leicht  erregbares,  sich  dem  Eindrucke  der  Aussenwelt  willig  hingebendes  Volk,  wie  der 
arabische  Nomade,  die  Schönheit  seiner  Erwählten  mit  Worten  besingt,  welche  sich  der 
glänzendsten  Farbe,  der  eigenthümlichsten  Vergleiche  bedienen. 

Die  Zeit  der  Blüthe  des  arabischen  Weibes  bei  den  Wüstennomaden  Afrikas  ist 
aber  eine  äusserst  kurze;  nur  in  der  zartesten  Jugend,  etwa  bis  zum  16.  Jahre,  bleibt  ihnen 
die  Frische  erhalten,  welche  Frauen  des  Nordens  noch  im  Spätfrühlinge  ihree  Lebois  leigen. 
Es  ist  ein  unendlich  vergänglicher  Frauentypus,  der  in  den  beiden  extremen  Polen,  Hitie  der 


22.  Die  Schönheit  der  AfrikaDerinnen. 


96 


and  SSartheit  der  Formen,  seinen  Ausdruck  findet.  Mit  dem  tiefbrünetten  Teint 
t)  vollen  und  dabei  doch  nicht  zu  starken  Formenrundung,  mit  deu  wie  von 
thi^Bi   rO'*  hauch    durchscbimiuerten  braunen  Wangen^  mit  dem   last  allsu  lebhaften 

^!  ^probenden  schwarzen  Augen  und  dem  tiefen  Dunkel  ihres  rabenschwanen 

^'  len.  wie  Chavanne  berichtet,    die   jungen  Mädchen   der    luftigen  Zelte   die 

'^  I  r,i  ir  ni^'  «mL*Js  unt*ndHcb  reizenden  Tjpus,  Ein  solches  Weib,  ein  solches  Gebilde  aus 
i  »^iMT  titnl  Dunkel   kann,    Aas   fühlt    man   instinctmässig-,   nur  wenige  Wochen  schön  bleiben. 

obwohl  noch  jung,  Araber-Mädchen  bereite  verrunzelt,  verwelkt  und  abgemagert; 

!•  ftra bische  VVü  uheit  wird  je  älter,  je  hagerer  und  mit  drei^sig  Jahren  geradezu 

A^brtdcftod  hSsslieh«  mit  Aaanalune  einiger  Gegenden,  wie  To&t,  wo  die  Frauen  ähnlich  wie 


\ 


Vit*  m, 


lfortt-f^r»a  %na  den  otieren  Nll-Lindorn  mit  äcliinaokii»rben  nuf  der  ätiru, 
doto  BauoIi  ttnd  dem  4rme,    (Nach  Pkotographie.) 


rberfi  der  KüütenjtUdte  in  vorrückenden  Jahren  sich  oft  Üppiger  Körperfülle  erfreuen. 

linen-Frau  aus  Tunis  xeigt  T^fel  l^  Fig.  7.     Auch  an  das  Mädchen  auMiJi»kra, 

l^^mig  hier  erinnert  werden, 

Eti   den  Frauen  der  Berabra  Kubiens   sind    die  Gliedmaassen  schlank  und  mager; 

djA  liftddb«n  entwickeln  sich  später«  als  die  ägyptischen;  bereit«  vierzehnjährige  sind  nicht 

«•ItMl  Qoefa  botenlos.    Sie  verwelken  wie  die  Südtllnderinnen  schon  frühseiiig«     Alte  na  bische 

Ftko9u    simi    besonders    hässUch.     ( HartmLiun^.)     Den    Berabra    nahe    vorwikiidt   sind    die 

jbiirI.>K     »00  denen  Fig.  28  ein  Weib  vorführt 

aen  der  SornJUi«  sagt  PaulU^scf^ke^  besitzen  mitunter  nicht  unangenehme  Züge« 
i'Udte  tuid  volle  Brust.     Stumpfnasen,  stiirk  hervortretende  Stirn   und  feine,  sier* 


96  III.  Die  ästhetische  Auffassang  des  Weihes. 

liehe  Ohren  sind  mir  an  ihnen  aufgefallen.  Aoch  der  Hals  ist  sch9n  geformt,  die  Haften 
schmal,  das  Becken  breit,  das  Ges&ss  stark,  ihre  Bewegungen  leicht  und  rierlich.  Um  die 
Mitte  der  zwanziger  Jahre  altem  die  Frauen,  das  Gesiebt  beginnt  Falten  anzunehmen,  die 
Brüste  werden  welk  und  lang,  und  in  den  vierziger  Jahren  bereits  bieten  die  Frauen  das  Bild 
abschreckender  Hässlicbkeit. ' 

Eine  Schilderung  der  Ga IIa- Weiber  in  Ost- Afrika  verdanken  wir  Juan  Maria  Sdiurer, 
welcher  sagt:  ,Die  Frauen  aller  Klassen,  mit  Ausnahme  der  allerärmsten,  bieten  einen  so  Ton 
den  hageren,  meist  finster  dareinschauenden  Männern  verschiedenen  Anblick,  daas  ich  mich 
immer  von  neuem  darüber  wundem  musste.  Die  jungen  sind  von  einer  Lebhaftigkeit,  die 
alle  Augenblicke  zum  Durchbrach  zu  kommen  bereit  ist,  auch  büssen  sie  nicht  so  frühzeitig 
ihre  Reize  ein,  wie  die  Negerinnen,  vielleicht,  weil  sie  den  Vortheil  geniessen,  bei  den 
schweren  Arbeiten  von  den  Sclaven  unterstützt  zu  werden.  Ihre  Gestalt  ist  weit  kleiner,  als 
die  der  Männer,  obwohl  es  an  grossen  Frauen  nicht  ganz  fehlt.  Fast  immer  sind  sie  10—15  cm 
kleiner  als  die  Männer,  und  für  diese  möchte  das  Maass  von  1,60—1,75  m  als  Durchschnitt 
anzunehmen  sein.  Ihre  physische  Natur  ist  derartig  von  dem  starken  Geschlecht  verschieden, 
dass  es  schwer  fällt,  eine  Erklärang  dafür  zu  geben.  Bei  den  Weibem  sehen  wir  nur  ver- 
bal tnissmässig  grössere  Köpfe,  obwohl  noch  immer  der  Kategorie  von  Mikrocephalen  zuzu- 
rechnen, rande  Schädel,  viereckige  Gesichter,  aber  ausserordentlich  abgerundete  Züge,  weit 
geöffnete  dunkelbraune  Augen,  Nasen  mit  leichter  Tendenz  zum  Rümp&äschen  und  an  der 
Wurzel  eingedrückt,  dichte  Augenbrauen,  kleine  fleischige  Backen,  Kindermündchen  mit 
Perlenzähnen  und  aufgeworfenen  Lippen  und  ein  kleines  Kinn.  Der  Nacken  ist  hübsch  rund 
und  durchaus  nicht  kranichartig,  wie  bei  den  Männern,  Füsse  und  Hände  sind  so  klein,  daits 
man  über  die  Behauptung  Jiyron^a  lachen  könnte,  der  hierin  das  einzige  wahre  Zeichen  der 
Aristokratie  erkennt.  Die  Formen  sind  mnd  und  compact,  die  Gliedmaassen  kurz,  aber  die 
Formenfülle  der  jungen  Negerinnen  findet  sich  hier  nur  selten.  Sie  sind  hübsch,  aber  nicht 
schön.**  Nach  Paulitschke  haben  die  Galla- Frauen  volle,  breite  Schultern  und  schöne,  volle 
Arme.  Aus  diesem  Hevölkerungskreise  führt  Tafel  XI,  Fig.  7  ein  Mädchen  aus  Harrar  und 
Tafel  I,  Fig.  8    ein  Tigre -Mädchen  aus  der  Colonia  Eritrea  vor. 

Bei  den  jungen  Mädchen  der  Berta  im  oberen  Nilgebiet  fand  Schuver  die  vollendeten 
Formen  klassischer  Statuen. 

Die  Hab  ab -Frauen  sind  nach  r.  Müller  in  der  Jugend  schön,  doch  altem  sie  in  der 
Folge  rasch. 

In  Abuscher,  zu  Wadai,  sind  nach  Matteucci's  und  MassarTs  Yersicherang  Männer 
wie  Weiber  schön  und  von  hoher  Gestalt 

Unter  den  Negern  des  Sudan  g^lt  nach  Gerhard  BoMfa  eine  Frau  mit  sogenannten 
kaukasischen  Gesichtszügen  als  eine  Schönheit. 

Die  Frauen  der  Bedscba  sind  in  der  Jugend  nicht  unschön;  ihr  zierlicher  Körper  mit 
sehr  feBten,  gut  entwickelten  Brüsten  altert  aber  früh,  da  sie  sich  durchschnittlich  im  12.  bis 
IT).  Jahre  verheirathen. 

Die  Weiber  der  Danäkil  und  Sa  ho  sind  von  edlem  Wüchse  und  schönen  Formen,  doch 
auch  schnell  verwelkend  und  alternd. 

Die  Abyssinierinnen  haben  nach  der  Beschreibung  Steinerne  eine  mittelgrosse  Figur 
und  besitzen  öfters  ein  stark  entwickeltes  Fettpolster;  junge  Mädchen  sind  reizend  und  sehr 
sympathisch:  sie  haben  ein  rundliches  Gesicht,  eine  nicht  hohe,  gewölbte  Stirn,  einen  ziemlich 
grossen  Mund,  ein  rundes  Kinn,  nicht  selten  ein  Doppelkinn:  ein  angenehmes  Benehmen  und 
nicht  geringer  Fleiss  machen  sie  zu  sehr  gesuchten  Artikeln  für  den  Harem  der  Araber. 

Das  weibliche  Geschlecht  der  Saurta  und  Terroa,  zweier  Stämme,  die  auf  den  Ab- 
hängen des  Gedem-Bergs  in  Ost-Afrika  zwischen  Mass  au  a  und  Abyssinien  wohnen,  ist 
bedeutend  kleiner,  als  das  männliche.  Die  jungen  Mädchen  haben  angenehme  Züge,  aber  die 
im  Allgemeinen  grosse  Magerkeit  thut  der  Schönheit  ihres  Kör])era  Abbrach.  Ihre  Hände, 
aber  auch  die  der  Männer,  sind  ausnehmend  klein.  Bohlfs  fügt  hinzu:  «Dies  ist  eine  Kigen- 
thümlichkeit  nicht  bloss  der  Küstenbewohner,  sondern  auch  aller  Abyssinier,  deren  Hände 
überhaupt  zu  klein  sind,  als  dass  sie  könnten  schön  genannt  werden."  Der  Grund  der  Klein- 
heit, der  Verkümmerung  liegt  im  Nichtgebrauch,  in  der  Arbeitslosigkeit. 

Selbst  bei  den  Neger- Völkern,  welche  so  häufig  als  ein  Paradigma  der  Hänlichkeit 
hingestellt  werden,  fehlt  es  unter  den  jungen  weiblichen  Personen  nicht  an  solchen,  welche 
eine  anziehende  Erscheinung  darbieten.  Allerdings  ist  dieser  Schmelz  der  Jugend  tchn«!!  \ 
und  die  Matronen  sind  fast  durchgehends  als  hässlich  zu  bezeichnen. 

Die  Frauen  am  Gabun  im    äquatorialen  Afrika  sind  fast  hübioli  n  <— ■»■ 
ihren  wohlgeformten  Extremitäten,  den  ausdracks vollen  Augen  und  dtr 


22.  Die  Schönheit  der  Afiikanerinnen. 


97 


und  ifit  kerBeswege  weit,  wobl  aber  die  Unterlippe  etwas  aufgedunsen, 
Udelloder  Scbönheit. 

Man  kOiUlte  die  Frauen  der  Wo J offen   »cbön  nennen,  wenn  nicht  die  Wade,  wie  bei 

muimma  K«ger*V5lkemj   unentwickelt  wäre.     Entetellend  wirken   auch    die   platten   ftlsm 

Mvi«  die  last  «porenartige  Verlängerung  der  Fersen.     Von  den  N  eg  er  -  Völkern  sind  auf  den 

tStlm   nahrero  Ri»priUeut4inteD  wiedergegeben  worden,    «o    auf  Tafel  l   in   Fig,  4    eine  Ga- 

l«gi«rin  Ton  der  üoldküstOf  iii  Fig.  5  ©in  Dahome-Weib  und  in  Fig,  6  ein  Wangoro- 

Ttib.    Tafel  XI    xeigt    in  Fig,  1  eine  Frao  aus  Fernando  Po,    in   Fig,  2  eine   solche  aus 

taoitruB.  in  Fig,  *S  eine  Fante-Frau  von  der  GoldkQste  und  in  Fig.  8  eine  Eonde-Frau 

imsk  ileutaobdn  O^t-Afrika. 


Flff.  ftO.    UolK^«?^tiiihEte  FruUfm-Figtir  von  ikr  LoADgo-KüstB,  Afrika. 
rMu^uiii  fUr  Volkerkutide  in  Borlin.i    tNsich  Photographie.) 

Xhn  Fmuon-Tjrpufi  aui  dem  Loango- Gebiete,  wie  die  Eingeborenen  selber  ihn  darstelleUf 
1UU  daji  hoUgrschnitÄte  FigÜrchen  in  Fig.  50  vor,  während  Fig.  51  eine  holigeächnityte 
oililieli«  Fi^r  ins  Kiobo  im  Co ngo- Gebiete  jeeigi.   An  der  Letzteren  erkennt  man  Schmuck« 
Aariwm  a  ^^rbaucbe.     Man  kann  die  Frau  nicht  ala  häaslich  bezeichnen.   Beide  Figuren 

IpiliAc«!  1  MufM*uai   für  Völkerkunde  in  Berlin. 

Dm    mi£iftt«n  \V»  Boilakertra,    eines  Volksstammee  im  Inneren  ¥on  Mada- 

H:»r.  Jihbi'fi  rtin.i  tr'  Hg;  einige  f^rfjpVt^n  iloM  l.(*'\^'  »rw-a«  stark  ?ör,  alle  haben  abflr 


98 


TII.  "0te  äsifeetlscbe  Aoffaeauug  Sm  Weit^et, 


schlanke,   obwolil  kräftige   und  wohlproportlonirte  Taillen^  trntxdetxi  SchntlrTeiber  Aoti  DsW 
kannt  sind»     (ÄitdeberLJ 

^Einzetne  Baaatho  in  Transvaal,  Frauen  tind  Milnnetf  UaLfin  wirklidi  nobOiiia 
Körperbau,  namentUcb  I^filnner  und  Jünglinge;  nnt'er  den  Frauen  und  MMchcn  hind  dm  doitli 
nur  sebr  vereinzelte  Ausnabmen^  Namentlich  machen  die  zumeist  tabakAbent^lartig  b«vmb- 
b&ngenden  Brüste  einen  degoutanten  Anblick,  obscbon  bei  einzelnen  jüngeren  «qcIi  bior 
achörie  K^rperformen  vorkomsioxi.*     (Wafitjenutnn,) 


I  li 


Fi«.  61.    Ilolj^^csebultxtii  Fruion  Flffur  iiu  Rlobo  im  ConsogflbUie«  Aftikn«  mit  HchmurkvMtKB 
»ttf  ^^m  OborbADch«     (KttMitm  fUr  Td1kerknti4<  In  BurlinO    <^t.h  Pbolo^rkiikl«.) 

Ünt^r   den   Frauen    der   Zulu- Raffern    giebt  ©a  tadellose  Fnrninn  mit  ini/iHi^itnt«« 
rMJBfpUti  und  Phy»iognomion.     Auch  von  diesen  eödafrikanisich^^n  af 

^Iftfel  l  und  Xr  dargo»>telli.     TafoU,  Fig,  l   bringt  eine  Buichraam  « 

der  Xo#a   Kaifern,    Fig.  3  eine  Biisutbo-Frau    aui  Sttd^Tranivaal  u^nd  lafei 

ein   Weib   6pi    Rptl»   T>skTTniru    im    k- (i  »l  weit  1  loh OQ   Af»"'^-'?* 


28.  Das  Schönheitsideal  bei  verschiedenen  Völkern.  QQ 

2S.  Das  Schönheitsideal  bei  yerschiedenen  Yolkern. 

Wenn  wir  eine  Umschau  halten  unter  den  Völkern  des  Erdballs  und  sehen, 
wie  Qberall  die  Mädchen  von  den  Jünglingen  begehrt  werden,  auch  bei  solchen 
Rassen,  deren  Vertreterinnen  des  weiblichen  Geschlechts  selbst  in  den  Jahren  ihrer 
böcbsten  Blfithe  uns  in  Bezug  auf  ihre  äusseren  Formen  doch  nur  mit  Abscheu 
oder  Widerwillen  zu  erf&llen  im  Stande  sind,  so  müssen  wir  wohl  zugestehen, 
dass  das  Ideal  der  Schönheit,  wie  es  im  Oeiste  der  verschiedenen  Völker 
lebendig  ist,  doch  sehr  verschiedener  und  mannigfacher  Art  sein  muss.  Von 
einem  gewiss  nicht  untergeordneten  ethnologischen  und  wohl  auch  von  anthro- 
pologischem Interesse  würde  es  sein,  wenn  es  uns  gelingen  würde,  dieses  Schön- 
heitsideal bei  den  verschiedenen  Völkern  aufzuspüren  und  uns  zu  vergegenwärtigen. 
Auf  den  ersten  Anblick  möchte  man  dieses  für  nicht  gar  so  schwierig  halten,  da 
es  nur  wenige  Volksstamme  giebt,  welche  nicht  eine  gewisse  Freude  an  der  bil- 
denden Kunst  hätten  und  nicht  auch  bis  zu  der  (meist  plastischen)  Darstellung 
der  menschlichen  Gestalt  vorgedrungen  wären.  Wir  würden  aber  gewiss  einem 
ausserordentlich  grossen  Irrthum  unterliegen,  wenn  wir  in  diesen  geschnitzten  oder 
auch  gemalten  weiblichen  Figuren  immer  das  Schönheitsideal  des  Künstlers  erblicken 
wollten.  Er  hat  gewiss  in  bei  weitem  der  Mehrzahl  der  Fälle  nichts  Weiteres  zu 
bilden  beabsichtigt,  als  ein  weibliches  menschliches  Wesen  überhaupt,  dessen  Formen 
er  natürlich  seinen  Stammesgenossinnen  ähnlich  zu  gestalten  suchte,  da  er  Weiber 
anderer  Körperformen  nicht  kannte,  und  ganz  ähnlich  wie  die  Kinder  civilisirter 
Rassen  war  er  wahrscheinlich  hoch  erfreut,  wenn  ihm  diese  Absicht  annähernd 
gelungen  ist,  ohne  dass  er  im  Uebrigen  beanspruchte,  dass  sein  Kunstwerk  nun  auch 
den  Inbq^ff  der  nationalen  weiblichen  Schönheit  zur  Darstellung  bringen  sollte. 

Es  giebt  aber  noch  einen  anderen  Weg,  um  uns  dem  gewünschten  Ziele 
zu  nähern,  nur  schade,  dass  er  bisher  noch  so  wenig  geebnet  ist.  Das  sind  die 
Lieder  der  liebegirrenden  Jünglinge,  oder  schwärmerischen  Dichter,  welche  ge- 
wöhnlich dasjenige  zum  klaren  Ausdrucke  bringen,  was  ihnen  das  umschwärmte 
Liebchen  als  besonders  schön  und  als  besonders  begehrenswerth  erscheinen  lässt. 
Von  dem  Schwanenhals,  dem  Busen  wie  Schnee,  den  Wangen  wie  Milch  und 
Blut,  den  Perlenzähnen  und  dem  Rosenmund,  den  Augen,  leuchtend  so  hell  wie 
die  Sterne,  wie  sie  die  Liebeslieder  der  europäischen  Völker  durchziehen, 
braucht  der  Herausgeber  den  Lesern  wohl  nicht  zu  erzählen.  Vielleicht  enthalten 
die  verborgenen  Blätter  ihrer  Notizbücher  selbst  noch  dergleichen  ausgeseufzte 
Hyperbeln.  Hier  möge  nur  in  Kürze  über  das  Schönheitsideal  des  Europäers 
angeführt  werden,  was  Martin  Schurig^  mit  den  Worten  des  Conrad  Tiherius 
Bango  darüber  sagt:  «Als  eine  vollkommen  schöne  Frau  muss  bezeichnet  werden, 

quae  habeat  dao  dura,  ubera  et  Dates:  duo  moUia,  manus  et  ventrem:  duo  brevia, 
naram  et  pedes:  duo  long^,  digitos  et  latera:  duo  nigra,  oculos  et  concham:  duo  rubra,  genas 
et  oa:  duo  alba,  cmra  et  cervicem.' 

Das  Schönheitsideal  der  Minnesänger  hat  Scherr^  nach  deren  Liedern  fol- 
gendermaassen  entworfen: 

«Eine  Frau,  die  damals  ftLr  schön  gelten  wollte,  musste  von  massiger  Grösse,  von 
ichlaDkem  und  geschmeidigem  Wachse  sein«  fibenmaass  und  Rundung  der  Formen  wurde 
•trenge  gefordert  und  im  Einzelnen  zarte  Fülle  der  Hüften,  Geradheit  der  Beine,  Kleinheit 
und  Wölbung  der  Füsse,  Weisse  und  festes  Fleisch  der  Arme  und  Hände,  Länge  und  Glätte 
der  Finger,  Schlankheit  des  Halses,  plastische  Festigkeit  und  Gewölbtheit  des  Busens,  der 
nicht  IQ  fUlereich  sein  durfte.  Aus  dem  röthlich  weissen  Antlitz  sollten  die  Wangen  hervor- 
blühen,  roth,  wie  bethaate  Rosen.  Klein,  festgeschlossen,  süss  athmend  sollte  der  Mund  sein 
und  MM  schwellenden  roihen  Lippen  die  Weisse  der  Zähne  hervorleuchten,  wie  ,  Hermelin 
au  Schariach*.  Ein  rundes  Kinn  mit  schlehenblüthenweissem  Grübchen  musste  die  Reize  des 
Mand«  eriiSlieik  Ans  dem  breiten  Zwischenräume  zwischen  den  Augen  sollte  sich  die  gerade 
M  laaiif,  noch  zu  spitz,  noch  zu  stumpf  herabsenken.  Schmale,  lange,  wenig 
I  J  «,  deren  Farbe  etwas  von  der  des  Haares  abstach,   waren  beliebt.    Das 

7* 


100  III-  I>ie  ästhetische  Auffassong  des  Weihes. 

Auge  selbst  musste  klar,  lauter,  herzdurchsonnend  sein.  Seine  hevonnigte  Farhe  war  die 
blaue,  allein  noch  höher  stand  jene  unbestimmte,  wechselnde,  wie  die  Augen  einiger  Vögel- 
arten sie  bemerken  lassen.  Endlich  waren  blonde  Haare,  von  goldenem  Schmelz,  um  schnee- 
weisse,  feingeaderte  Schläfen  sich  ringelnd,  eine  von  höfischen  Kennern  weiblicher  Schönheit 
sehr  betonte  Forderung.* 

In  einem  Werke*),  welches  Feter  Sckoeffer  in  Mainz  im  Jahre  1492  gedruckt 
hat  {Botho,  Ghronike  der  Sassen),  stehen  am  Schiasse  wahrscheinlich  von 
seiner  eigenen  Hand  einige  handschriftliche  Bemerkungen.  Eine  derselben  lautet 
in  der  Uebertragung  in  das  Hochdeutsche: 

Zwei  Utrecht  sehe  Beine  schön  und  licht  (weiss), 
Dazu  ein  liebliches  Angesicht 
Und  ein  niederländisch  Leib 
Machen  zusammen  ein  allerliebst  Weib. 

Herr  Ernst  Loether  in  Poessneck  in  Thüringen  ist  so  freundlich,  mir 
aus  dem  «wohlgefUllten  Schatzkästlein  deutschen  Scherzes  und  Humors' 
die  folgende  Stelle  zu  übersenden: 

Eine  schöne  Jungfrau,  davon  ich  sag'. 

Die  soll  haben  ein  Haupt  von  Prag, 

Zwei  Aeuglein  klar  aus  Frankreich, 

Ein  Mündlein  roth  aus  Oesterreich, 

Von  Eoeln  zwei  schneenweisse  Händen, 

Von  Brabant  swei  schmale  Lenden, 

Zwei  Brüstlein  rund  aus  Niederland, 

Zwei  Füsslein  schmal  aus  Engelland, 

Aus  Hispanien  ein  schön  weiss  Bäuchelein, 

Aus  Flandern  zwei  dralle  Aermelein, 

Ein  rundes  Aerschelein  aus  Schwaben: 

Welche  Jungfrau  dies  hat,  ist  werth  aller  Gaben. 

Erwähnung  möge  auch  noch  eine  Redensart  der  Spanier  finden,  welche,  um 
die  Schönheit  eines  hohen  Fusssohlengewölbes  zu  bezeichnen,  aussagt:  dass  unter  dem 
Fusse  eines  schönen  Mädchens  ein  Bächlein  hindurch  fliessen  könne  (Schaaff  hausen). 

Für  uns  würde  es  aber  gerade  ein  bei  weitem  grösseres  Interesse  dar- 
bieten, wenn  wir  uns  die  entsprechenden  Herzensergüsse  weniger  civilisirter 
Völker  zu  verschaffen  vermöchten.  Zu  meinem  grossen  Bedauern  ist  aber  das 
Wenige,  was  ich  in  dieser  Beziehung  zu  bieten  im  Stande  bin,  nur  ganz  spärlich 
und  lückenhaft ;  denn  in  den  vielen  Anthologien,  welche  existiren,  sie  mögen  noch 
so  dickleibig  und  vielbändig  sein,  ist  gerade  dieses  Gebiet  vollständig  vernach- 
lässigt. Aber  auch  das  Wenige,  was  mir  zugänglich  geworden  ist,  wird  dem 
Leser  schon  einen  Begriff  geben,  einerseits  wie  ganz  absonderlich  und  unserem 
Oeschmacke  und  Empfinden  fremd  die  die  weiblichen  Schönheiten  verrherrlichenden 
Vergleichsbilder  gewählt  werden,  andererseits  aber  auch,  wie  doch  fftr  gewisse 
Vorzüge  des  weiblichen  Körpers  die  Geschmacksrichtung  der  Männer  als  eine  ganz 
unbestreitbar  internationale  bezeichnet  zu  werden  verdient. 

Was-  mir  auf  diesem  Gebiete  zur  Verfügung  steht,  stammt  fast  alles  aus 
Asien,  und  zwar  kann  uns  das  Altindische  aus  dem  Epos  Nal  und  Dama- 
janti  die  erste  Probe  liefern,  die  ich  Friedrich  RücJcert's  TJebersetzung  entnehme: 

Da  sah  er,  vom  Mägdetrosse 
Umgeben,  die  Witarba-Maid, 
Glänzend,  als  wie  ein  Göttergeschmeid, 
Das  vom  Himmel  gefallen, 
Erleuchtend  irdische  Hallen. 


*}  Das  Werk  befand  sich  in  der  Bibliothek  des  inzwischen  verstorbenen  Geheimen  Re- 
gierungsrath,  Professor  Hermann  Weiss  in  Berlin,  der  mich  freundlichst  auf  diesen  Yen 
aufmerksam  machte. 


28.  D«8  Schönheitsideal  bei  Yenchiedenen  Völkern.  101 

Die  Glieder  getaucht  in  Liebesreiz 
Erweckten  der  Blicke  Liebesgeiz, 
Doch  Yor  dem  klaren  Angesicht 
Schämte  sich  Sonn-  und  Mondenlicht. 
Die  Liebe  des  Liebeskranken  wuchs, 
Wie  er  sah  ihren  schlanken  Wachs. 


Sie  nun  sehend  in  halber  Hülle, 

Mit  der  Brüst*  und  der  Haften  Falle, 

Die  gliederzart  wuchsrichtige, 

Vollm  ondangesichtige . 

GewOlbaugenbrauenbogige, 

Sanftlächelredewogige : 

Fiel  er,  der  Waidmann,  durch  so  viel  Zierde 

In  die  Schlingen  der  Begierde. 

Ein  paar  weitere  Stellen  aus  dem  Sanskrit  verdanken  wir  der  üeber- 
setzung  BöhÜingVs.  In  der  einen  heisst  es  von  der  Geliebten,  sie  habe  Lenden, 
wie  Elephantenrüssel.    Eine  andere  lautet: 

,0b  der  Bürde  der  Schenkel  und  der  Brüste  schreitet    sie   ganz   langsam  einher  und 
bestrebt  sich,  eine  Fertigkeit  zu  erlangen  im  Rauben  des  Herzens  der  Jünglinge." 
Oder: 

Die  hier  mit  den  beweglichen,  langgestreckten  Augen,  mit  dem  starken,  gewölbten, 
festen  Busen,  die  unter  der  Last  der  mächtigen  Hüften  langsam  Einherschreitende  ist  meine 
liebste,  die  mir  das  Leben  raubt. 

Noch  ausführlichere  Schilderungen  der  weiblichen  Schönheit  geben  die 
folgenden  Verse: 

Ein  Gesicht,  das  des  Mondes  spottet,  Augen,  die  Wasserrosen  lächerlich  zu  machen 
geeignet  sind,  eine  Farbe  der  Haut,  die  die  des  Goldes  übertrifft,  starkes  Haar,  das  mit 
einem  Bienenschwarm  sich  messen  kann,  Brüste,  die  dem  Elephanten  die  Pracht  seiner  Stirn- 
beulen  entziehen,  schwere  Hüften  und  der  Rede  glänzende  Zartheit  sind  der  Jungfrauen 
natürlicher  Schmuck. 

Das  Geeicht  ist  langftugig  und  strahlend  wie  der  Mond  im  Herbste,  die  Arme  sind  an 
den  Schultern  abschüssig,  der  Brustkasten  ist  schmal  und  zeigt  dicht  zusammenstossende  hohe 
Brüste,  die  Seiten  sind  wie  geglättet,  die  Taille  ist  mit  den  Händen  zu  umspannen,  die  Lenden 
haben  starke  Backen,  die  Füsse  gebogene  Zehen:  gerade  so,  wie  eines  Tanzlehrers  Sinn  es 
sich  nur  wünschen  könnte,  ist  ihr  Leib  zusammengefQgt. 

Solch  ein  indisches  Schönheitsideal  zeigt  eine  alte  Steinsculptur  des 
Museums  für  Völkerkunde  in  Berlin,  SUä,  das  Weib  des  Rämatschandra  dar- 
stellend. Sie  wurde  in  dem  Dorfe  Dschihdschi  in  der  Präsidentschaft  Madras 
ausgegraben.  Fig.  52  zeigt  die  Figur  von  vorn  und  Fig.  53  ihre  in  flachem 
Relief  gearbeitete  Hinteransicht. 

Von  der  uns  an  dieser  Stelle  interessirenden  Poesie  der  alten  Hebräer 
finden  sich  entsprechende  Beispiele  in  dem  alten  Testamente  und  zwar  in  dem 
hoben  Liede  ScUamonis.  Es  möge  mir  gestattet  sein,  hier  die  betreffenden  Verse 
wiederzugeben: 

Ich  gleiche  dich,  meine  Freandin,  meinem  reisigen  2^uge  an  dem  Wagen  Pharao. 

Deine  Backen  stehen  lieblich  in  den  Spangen  und  dein  Hals  in  den  Ketten. 

Wer  ist  die,  die  heraufgehet  aus  der  Wüste,  wie  ein  gerader  Rauch,  wie  ein  Geräuch 
Ton  Myrrhen,  Weihranch  und  allerlei  Pulver  eines  Apothekers? 

Siehe,  meine  Freundin,  Du  bist  schön,  siehe,  schön  bist  Du.  Deine  Augen  sind  wie 
Tanbenangen  zwischen  Deinen  Zöpfen.  Dein  Haar  ist  wie  die  Ziegenboorde,  die  bescheren 
sind  auf  dem  Berge  Gilead.  Deine  Zähne  sind  wie  die  Heerde  mit  beschnittener  Wolle, 
die  ans  der  Schwemme  kommen,  die  allzumal  Zwillinge  tragen,  und  ist  keine  unter  ihnen 
nnfrochtbar. 

Deine  Lippen  sind  wie  eine  rosinfarbene  Schnur,  und  Deine  Rede  lieblich. 

Deine  Wangen  sind  wie  der  Ritz  am  Granatapfel  zwischen  Deinen  Zöpfen. 

Dein  Hals  ist  wie  der  Thurm  Davids   mit   Brustwehr   gebauet,  daran  tausend  Schilde 
nnd  allerlei  Waffen  der  Starken. 


Flf.  Uv    l&dlache  Sicinflgur,  dio  1 
(Moseiiin  für  Vülk^rK 

Eine  arabische  Quelle  aus  alter  Zeit  erschliesst  sich  uns  in  den  GedicfateD 
ti«ti)  de«  fiarin  aus  Baara,  welcher  am  Ende  des  11.  Jahrhunderts  unserer 
bnaDg    gelebt    hat.     Wir  verdanken    die   Uebersetzung    dieser    poetischen 

bekanntlich   ebenfalls  Friedrich  RiicJccrf'^, 
Jfkd  an  aamutlugen  ßildorn  —   no]U  \hv  mir  schildern   ^    die    0  <  >'be^    die    ich 

SU  uinoTt  die  meiuc  Lust  und  meine  Tlage,  —    dunkelroth  >  —  hart  wie 

|}ppe«  --  g<9rade  wie  ein  ßoh,  —  (Iberfichwon glich  ü.n  ^to]/, 


X04  II L  I)ie  ästhetische  Auffassong  des  Weibes. 

Das  Haar  um  ihre  Schläfe  nahm  den  Schlaf  von  meinen  Angen; 
Ich  schmachte,  weil  sie  mich  verliess,  in  dem  Yerliess  des  Leides. 
Aus  ihrem  Wuchs  erwächst  mein  Tod,  mein  Blut  fliesst  am  die  Blütlie 
Der  Wang\  ihr  Auge  weidet  sich  am  Brand  des  Eingeweidee. 
Mein  Loos  ist  hoffnungslos,  bis  mich  die  Mängellose  löset; 
Doch  ist  mein  hoffnungsloser  Stand  ein  Gegenstand  des  Neides. 
Dom  Gleichgewicht  der  Glieder  war  mein  Auge  gleich  gewogen. 
Doch  eben  maass  das  Ebenmaass  des  Leibs  mein  Hers  voll  Leides. 

Eine  andere  Stelle  bei  Hariri  lautet  {Hartmann^)i 

Ihre  schönen  Zähne  glänzten  wie  Perlen.  Hageln,  oder  ein  Tropfen  kostbaren  Weins, 
weiss  schimmernd,  wie  Chamillen-  oder  Palmenblöthe. 

Ein  anderer  alter  arabischer  Dichter  Namens  Ämralkeis  sagt  {Hartmann^): 

Das  lange  Haar,  das  ihren  Röcken  ziert,  ist  wie  eine  Kohle  schwarz,  dicht,  and  wie 
Palmranken  durch  und  durch  verschlungen. 

Ich  fasste  sie  bei  ihres  Hauptes  Haar  —  sie  bog  sich  sanft  zu  mir  herüber;  dQnn  war 
ihr  Leib,  dick  und  stark  die  Hüfte. 

Ihr  Bein  glich  einer  Palmröhre  von  Wasser  getränkt. 

Hartmann}  citirt  dann  femer  den  Motannahi: 

Sie  blickt  mich  an  mit  den  Augen  einer  Gazelle  in  einer  weinerlichen  Stellang,  and 
wischte  das  Regengesprühe  über  eine  Rose  von  Anam. 

Ihr  Haar  ist  wie  ein  Rabe  schwarz,  buschig,  nachtschwarz,  dicht,  von  Natur,  nicht  darch 
Kunst  gekräuselt. 

Ihre  Lippen  duftender,  als  Sommeriüftchen,  und  lieblicher,  denn  scythi scher  Maakns 
ihr  Hyacinthenhaar. 

Sie  schiessen  mit  Pfeilen,  deren  Gefieder  die  Augenwimpern  sind,  und  spalten  die  Herzen, 
ohne  zu  ritzen  die  Haut. 

Und  selbst  den  Koran  können  wir  hier  anschliessen  (Sure  56,  Vers  24): 

Und  es  werden  bei  ihnen  sein  schwarzaugigte,  grossaugigte  Mädchen,  wie  Perlen  in  der 
Muschel  verborgen. 

Der  Dichter  Amru,  ebenfalls  ein  alter  berühmter  Araber,  singt: 
Zart  von  Wuchs  enthüllte  sie  ihren  schlanken,  schön  proportionirten  Körper. 
Und  ihre  Seiten,  die  im  Gefolge  ihrer  Reize  prächtig  sich  ausdehnten. 
Und  ibro  Lenden,  bo  lieblich  strotzend,  dass  des  Gezeltes  Thür  sie  zu  fassen  kaum  vermag. 
Und    ihre    HQften    —    deren   schöne  Wölbung    mir   den   Gebrauch    meiner   Sinne   vor   Ent- 
zücken raubt. 

Und  er  vorgleicht  die  Beine  der  Geliebten  «mit  zwei  reizenden  Säolen  von  Jaspis  oder 
ghittom  Marmor,  an  welchem  Ringe  und  Spielereien  hangen,  die  ein  geräuschvolles  Getöse 
inachon.**     {llartmann^.) 

Etwas  reichlicheres  Material  liefern  uns  aus  einer  um  einige  Jahrhunderte 
späteren  Zeit  die  Hesar  Afsan  oder  , tausend  Märchen",  bei  uns  bekannt  unter 
dem  Namen  „Tausend  und  eine  Nacht**.  Wenn  auch  dieses  Werk  ursprünglich 
persisch  ist  und  zwar  aus  dem  10.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung,  so  sind 
doch  die  auf  uns  gekommenen  Handschriften  in  arabischer  Sprache  verfasst,  und 
sie  sind  durchaus  nicht  wörtliche  Uebersetzungen  der  Originale,  sondern  freie  Be- 
arbeitungen und  Vervollständigungen  und  zwar  wahrscheinlich  von  einem  Äegypter 
aus  dem  15.  Jahrhundert.  Aus  dieser  Zeit  stammen  also  jedenfalls  auch  die  vielen 
poetischen  Stellen,  welche  in  die  Märchen  eingeflochten  sind  und,  obgleich  in 
Aeg  ypten  verfasst,  müssen  sie  doch  wohl  als  ein  Ausdruck  arabischen  Denkens 
und  Fttlilens  aufgefasst  werden.  Ich  gebe  einzelne  Proben  von  ihnen  nach  der 
Uebersot/ung  von  Gustav    Weil: 

Sie  ist  HchmiogHiim,  wie  die  Zweige  des  Ban  (ein  Baam),  den  der  Zephyr  bewegt;  wie 
roizond  und  anziehend  idt  nie,  wenn  sie  geht !  Bei  ihrem  Lächeln  glänzen  ihre  Zähne,  so  dass 
wir  nie  für  einen  Blitzstrahl  halten  können,  der  neben  Sternen  leuchtet.  Von  ihren  kohlen- 
schwarzen Haaren  hilngon  Locken  herunter,  die  den  hellen  Mittag  in  die  Wolken  dar  Nacht 
hüllen:  zeigt  sie  aber  ihr  Angesicht  in  der  Finstemiss,  so  beleuchtet  ib  allai  TOn  OMien  bis 
Westen.  Aus  Irrthum  vergleicht  man  ihren  Wuchs  mit  dem  iobSnitia  Xwmg  md  aü  Un- 
recht ihre  Reise  mit  denen  einer  Gaselle.  Wo  sollte  eine  Gaadl* 
hernehmen? 


28.  Dm  Schönheitsideal  bei  Yerschiedenen  Völkern.  105 

Ich  erblicke  an  ihrem  Bngeo  zwei  festgeschlossene  Knospen,  die  der  Liebende  nicht 
Tunfusen  darf;  sie  bewacht  sie  mit  den  Pfeilen  ihrer  Blicke,  die  sie  dem  entgegenschleadert, 
deor  Gewalt  braucht. 

Sie  erscheint  wie  der  Vollmond  in  einer  freundlichen  Nacht,  mit  zarten  HQften  und 
schlaakem  Wachse,  ihr  Auge  fesselt  die  Menschen  durch  ihre  Schönheit;  die  Rötbe  ihrer 
Waogen  gleicht  dem  Rubin;  schwarze  Haare  hängen  ihr  bis  zu  den  Füssen  herunter;  hüte 
dich  wohl  vor  diesem  dichten  Haare !  Schmiegsam  sind  ihre  Seiten,  doch  ihr  Herz  ist  härter 
als  Felsen.  Ans  ihren  Augenbrauen  schleudert  sie  Pfeile,  die  immer  richtig  treffen  und  nie 
fehlen,  so  fem  sie  auch  sein  mögen. 

Ihre  Angen  sind  schwarz,  wohlduftend  ihr  Mund;  ihre  Aepfelwangen  sind  wie  Anemonen. 
Wenn  das  Licht  der  Sonne  und  das  Leuchten  des  Mondes  sich  begegnen,  wird  das  Firmament 
Terdonkelt;  wenn  ihre  strahlenden  Wangen  sich  zeigen,  wird  die  Morgenröthe  aus  Scham 
hlaas;  and  wenn  bei  ihrem  L&cheln  ein  Blitz  aus  ihren  Zäbnen  leuchtet,  so  wird  die  dunkle 
Abendd&mmemng  heller  Morgen.  Ihr  Wuchs  ist  so  ebenmässig,  dass,  wenn  sie  erscheint,  die 
Zweige  des  Ban  eifersüchtig  über  sie  werden.  Der  Mond  besitzt  nur  einen  Theil  ihrer  Reize; 
die  Sonne  wollte  sie  anfechten,  konnte  aber  nicht.  Wo  hat  die  Sonne  Hüften,  wie  sie  die 
Königin  meines  Herzens  hat? 

Ein  schönes  M&dchen!  Ihr  Speichel  ist  wie  Honig,  ihr  Auge  ist  schärfer  als  ein 
indisches  Schwert;  ihre  Bewegungen  beschämen  die  Zweige  des  Ban,  und  wenn  sie  lächelt, 
10  gleicht  sie  der  Athemis.  Du  sagst,  ihre  Wangen  seien  wie  Doppelrosen,  doch  sie  empört 
nch  darüber  und  spricht:  Wer  wagt  es,  mich  mit  einer  Rose  zu  vergleichen?  wer  schämt 
sieh  nicht  zu  behaupten,  mein  Busen  sei  so  reizend  wie  die  Frucht  eines  Granatapfelbaumes? 
Bei  meiner  Schönheit  und  Anmuth !  bei  meinen  Augen  und  schwarzen  Haaren !  Wer  wieder 
solche  Vergleiche  macht,  den  verbanne  ich  aus  meiner  Nähe  und  tödte  ihn  durch  die  Tren- 
nung; denn,  findet  er  in  den  Zweigen  des  Ban  meinen  Wuchs,  und  in  den  Rosen  meine 
Wangen,  was  hat  er  bei  mir  zu  suchen? 

Von  Proben  persischer  Poesie  gebe  ich  eine  Stelle  aus  den  Liedern  des 
Ferdoesi^  welcher  ungefähr  ein  Jahrhundert  vor  dem  ersten  Kreuzzuge  dichtete 
(Bartmann^): 

Ehen  und  weiss  hob  sich  in  reizender  Wölbung  ihre  ovale  Brust,  die  keine  Phantasie 
je  malen  kann. 

Ihr  schamhaftes  Auge, 
Ihre  wie  Elfenbein  blendende  Gestalt 
Machen  des  Liebhabers  Seu&er  los, 

Rund  sind  ihre  Augenlider,  und  ihre  schnoeweissen  Zähne 
Glänzen,  von  der  Hand  der  Natur  schön  geformt. 
Ihre  gerade  Nase  liegt  in  schönem  Ebenmaasse  ausgestreckt; 
Ihr  schlummernd  Auge  wird  sanft  gefächelt  durch  des  Geliebten  holden  Blick. 
Das  Moschushaar  in  wallenden  Ringeln  gekräuselt 
Spielet  in  der  Luft  und  scherzet,  wenn  es  losgebunden  flattert. 
Eine  liebliche  Röthe  schimmert  auf  ihrem  rosenfarbenen  Gesicht 
Und  erhöhet  unwiderstehlich  ihrer  Schönheit  Reiz. 
So  liebenswürdig  sind  ihre  Lippen,  dass  selbst  das  Lüftchen 
Sich  nicht  zu  nähern  wagt,  sondern  nur  von  ferne  wünscht. 
Von  einem  älteren  Türken,  dem  Ibrahim  Bassa^  stammt  der  Ausspruch, 
der  sich  auf  eine  von  ihm  geliebte  Prinzessin  bezieht: 

Noch  erst  strahlt  unter  der  Morgenröthe  der  Stirn  das  grosse  schwarze  Auge  mit  allen 
tsinen  bezaubernden  Reizen  —  aber  allmählich  erhebt  sich  die  spitze  kleine  Nase  wie  aus 
dem  Nebel  hervor. 

Aus  moderner  Zeit  finden  wir  in  dem  Werke  von  Vamhery  über  das 
Tfirkenvolk  einige  Beispiele  poetischer  Ergüsse: 

Eine  Mutter  aus  dem  Volke  der  mittelasiatischen  nomadisiren- 
den  Türken  besingt  ihre  verstorbene  Tochter : 

Mein  Liebchen,  ich  will  sie  loben,  wie  schön  war  sie, 
Wie  in  Butter  gebacken  es  Brod  war  sie  u.  s.  w. 
Von  den  West-Türken  stammen  folgende  Verse: 

0  holde  Jungfer,  bogengleich  sind  deine  Brauen, 
Leben  und  Welt  bist  du.     Ach!     Ach! 
So  tanze  doch,  du  mein  Rosenzweig! 


106  I^I-  ^®  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

Auch  ein  LiebesUed  eines  iranischen  Türken  steht  uns  zur  Yerfägang, 
das  ich  im  ganzen  Wortlaut  wiedergebe: 

1.  Der  Mond  bewegt  im  Kreise  sich,  um  unterzugehen, 
Ich  bin  schläfrig  und  möchte  gern  schlafen  gehen. 
Meine  Hände,  die  haben  es  erlernt. 

Deine  Brüste  tanzen  zu  lassen. 

2.  Ich  bin  kein  Mond,  ich  bin  kein  Stern, 
Ich  bin  keine  Braut,  bin  eine  Jungfer  nur; 
0  Jüngling,  der  du  am  Thore  stehst. 
Komm  herein,  ich  bin  allein! 

3.  Das  Käppchen  hat  sie  seitwärts  aufgesetzt 

Und  legt  es  schelmisch  bald  auf  die  andere  Seite  hin; 

Ach,  ob  eines  einzelnen  Kusses 

Hat  sie  das  Herz  in  Blut  mir  gebadet. 

4.  Das  Muttermal  auf  deinem  Gesicht 
Gleicht  der  auf  der  Steppe  weidenden  Gazelle, 
Ja  ich  kenne  meine  Holde  genau. 

Denn  ein  Doppelmal  hat  sie  im  Gesicht. 

Einige  Lieder  der  Albanesen  finden  sich  in  dem  Werke  von  v.  Hahn^, 
Ich  gebe  von  denselben  nur  solche  Stellen  wieder,  welche  fQr  unser  gegenwärtiges 
Thema  von  Bedeutung  sind: 

Deine  Brauen  Yemichten  mich, 

Wenn  du  dich  abwendest  und  von  der  Seite  blickst. 

Aus  deinem  Munde,  o  Liebling  (?), 

Quillt  Honig  und  Zucker. 

Deine  Perlenzähne 

Sind  Gift  für  meine  Wunde  u.  s.  w. 

Dieses  Lied  stammt  aus  P  rem  et  an  der  Vojussa.   In  anderen  Liedern  heisst  es: 

Liebchen,  schlank  wie  ein  Spross 

Und  weiss  wie  Bernstein, 

Deine  Haare  (sind)  wie  Zithersaiten, 

Dein  Duft  Bergmelissen, 

Dein  Mund  Gewürznelke  des  Kramladens. 


Gnade  kleine  Freundin, 
Pomeranze,  Orange. 

Liebe  Dukatenstirne, 
Liebe  Orangenstime. 

Kleine  rothe  Beere  an  dem  Abhang. 


Wie  ist  es  mit  mir  so,  o  Freund, 

Dass  ich  das  rothe  Haar  nicht  liebe? 

Das  Haar  gelb  wie  ein  Venetianer  (Dukaten). 

£s  geht  vorüber  der  Silberhals. 

Um  mich  zu  beklagen,  den  Aermsten, 

Wegen  eines  Liebchens  mit  dem  Schachtel  munde. 

Du  Kleine,  die  Dich  Dein  Mann  nicht  will. 
Steige  ein  Bischen  auf  die  Mauer. 
Entweder  Du,  Kleine,  oder  Deine  Schwägerin, 
Damit  ich  die  Augen  und  Brauen  sehe. 
Warum  sind  Deine  Brauen  (so)  tchwan? 
Hast  Du  etwa  Galläpfel  aufwiegt? 
Sie:  Nein,  nein,  bei  Gott! 

Denn  ich  habe  Mlb«t  die  ScMal 


28.  Das  Schönheitsideal  bei  verschiedenen  Völkern.  107 

In  Scutari  in  Nord-Albanien  singen,  nach  einem  Berichte  von 
Gopcevic,  wenn  am  Hochzeitstage  die  Braut  entschleiert  wird,  die  Festtheilnehmer 
den  folgenden  Oesang: 

Wie  schon  sie  ist,  die  Gattin,  Gott  schütze  sie! 
Ihre  Stirn  ist  breit  und  erhaben!     Gott  schütze  sie! 
Ihre  Augenbrauen  gleichen  dem  Regenbogen!     Gott  schütze  sie! 
Ihre  Augen  sind  weit,  wie  die  Eaffeeschalen !    Gott  schütze  sie! 
Ihre  Wangen  sind  roth  wie  Karmin!     Gott  schütze  sie! 
Ihr  Mund  gleicht  einer  kleinen  vergoldeton  Büchse!    Gott  schütze  sie! 
Ihre  Lippen  gleichen  den  Kirschen!     Gott  schütze  sie! 
Ihre  Z&hne  gleichen  den  Perlen!    Gott  schütze  sie! 
Ihr  Teint  ist  weiss  wie  Milch!     Gott  schütze  sie! 
Ihre  Taille  ist  schlank  wie  eine  Cjpresse!     Gott  schütze  sie! 
Auch  der  Zigeuner  bedient  sich  poetischer  Bilder,  wie  wir  durch  Heinrich 
van   Wlislocki^  erfahren: 

«Blumengleich  nennt  er  ihre  Füsse,   Weizenbrod  ihre  Schultern,   zwei  Traubenkörner 
ihre  Augen,  Blumen  ihre  Lippen.* 

Dem   Werke   von   Vambery  entnehme   ich   auch    die    Herzensergüsse    eines 
liebeglühenden  Baschkiren: 

0  Liebchen  mein,  Deine  Augenbrauen 

Gleichen  dem  noch  dünnen  Neumonde! 

0  Liebchen  mein,  Deine  Brüste 

Gleichen  den  noch  warmen  Butterknollen. 

Auf  hohen  Bergen  hab'  ich  Feuor  angezündet, 

Und  es  brannte  die  Flamme  den  Berg  entlang; 

Auf  Deine  rechte  Wange  hab'  einen  Kuss  ich  gedrückt, 

Und  die  linke  Wange  erbebte  davon. 


Auf  hoher  Berge  Gipfel 

Auf  Steinen  umherzusteigen  ist  schwer! 

0  Holde!  ohne  Euren  Anblick 

Drei  Stunden  auszuhalten  ist  wohl  schwer! 

Gäbe  es  Apfelbäume, 

So  würde  ans  Gesträuch  ich  mich  nicht  anlehnen, 

Wäre  meine  Geliebte  bei  mir, 

So  würde  an  Fremde  ich  mich  nicht  wenden. 

Ist  hier  die  Fülle  der  poetischen  Gedanken  schon  keine  sehr  hochgradige, 
80  sinkt  sie  auf  eine  noch  viel  niedrigere  Stufe  bei  den  Mordwinen  herab,  von 
deren  Liedern  Ahlqtäst  folgende  Probe  giebt: 

Vortrefflich  ist  das  Dorf  Slavkina. 

Wer  ist  am  reichsten  in  Slavkina? 
.    Der  alte  Schansja  ist  sehr  reich, 

Der  alte  Schansja  ist  sehr  stolz. 

Er  ist  nicht  reich  an  Getreide, 

Er  ist  nicht  stolz  auf  seinen  Salzvorrath; 

Er  ist  reich  an  Töchtern, 

Er  ist  stolz  auf  seine  Töchter. 

Sieben  Töchter  hat  er; 

Wer  ist  die  schönste  von  den  sieben? 

Jungfer  Nata  ist  sehr  schön, 

Jnngfer  Nata  ist  sehr  hübsch. 

Nata  ist  mit  Lederschuhen  bekleidet, 

Naia  ist  in  feine  Linnen  gekleidet, 

Aus  bestem  rothem  Baumwollenzeug  sind  ihre  Aermel; 

Ein  Morgenroth  ist  ihr  gekämmtes  Haar. 

Eine  nogaische  Peitsche  ist  ihr  Zopf, 

Gleich  dem  Morgenstern  sind  ihre  Quasten, 

Gleich  dem  Abendroth  ist  ihr  Shawl; 


108 


in.  Die  ästhetische  Auffassong  des  Weibes. 

Der  aufgehenden  Sonne  gleich  ist  ihre  Haarbinde, 
Eine  schwarze  Wolke  ist  ihr  Kaftan. 
Gleich  Bachweizenstroh  ist  ihr  Gürtel. 


Ich   füge  noch   das  Schönheitsideal   an,   wie  es 


sich   nach    Cdquhoun  der 
Chinese  gebildet  hat 

Er  verlangt  von  einem 
schönenWeibe,  dass  sie  Wangen 
habe  wielCandelblüthe,  Lippen 
wie  Pfirsichblüthe,  eine  Taille 
wie  ein  Weidenblatt  und  eine 
Bewegung  wie  eine  Lotns- 
blame. 

6rrte$e&ac&  übersetzt  aus 
einer  chinesischen  Er- 
zählung, welche  «Das  Ju- 
welenli^stchen*  betitelt  ist: 
,Uire  Grestalt  war  fein  vom 
Kopf  bis  zu  den  Zehen,  ihr 
Wesen  and  Benehmen  liebens- 
würdig und  süssdaftend;  ihre 
beiden  geschwungenen  Augen- 
brauen glichen  den  Linien  der 
fernen  Grebirge,  ein  Paar  Augen 
überwölbend,  den  feinsten 
Auszug  der  herbstlichen  Meeres- 
wellen;  ihre  Taille  war  einem 
Lilienstengel  vergleichbar,  ihre 
Lippen  den  Pfirsichen,  welche 
die  Reinheit  eines  hochgele- 
genen weissen  Hauses  um- 
schirmen.' 

Eine  chinesische 
Schönheit,  ¥rie  die  Japaner 
sie  sich  vorgestellt  haben, 
ist  in  Fig.  54  vor^fOhrt 
üeberdiejapanischen 
Schönheitsbegri£Pe  iassert 
sich  Sdenka  folgender- 
maassen: 

«Der  Japaner  verlangt 
von  einer  schOnen  Frau  fol- 
gende EOrpareigenschafien:  Ge- 
stalt und  Gesicht  schmal  und 
lang,  Augen  lang,  Nase  schmal 
und  lang.  Arme  dünn,  Hftade 
schmal  und  lang,  Hüften 
schmal,  Beine  dünn.  Eine 
schlechte  Brust  wird  veniehen, 
breite  Hüften  nie!  Die  Ja- 
panerinnen winden  daher 
ein  breites,  dickes  Tuch,  den 
Obi,  um  die  Taille,  damit  der 
Voraprung  der  Hüflon  ausgogUchon  wortle.  Yerst&ndniss  für  die  natürliche,  schOne  KOrperform 
des  Menschen  bat  der  Japaner  nach  unteren  Begriffen  nicht:  nur  das  Gesicht  and  die  Körper- 
haltung kommt  in  Betracht  Der  Nacken  der  Japanerinnen  ist  dorcfagdiends  so  aoner- 
ordentlich  reitend  geformt,  dam  dom  verwohnten  Kingebomen  die  Sohiftms  Muri»  duMS  KÜtaper- 
theils  abgeht.  Sonderbar  ist  die  Vorschrill,  dass  das  weibliche  Qm  «^hMvitlr 

tu  richten  hat;   die  Stellung  der  Füsse  nach  auswärts  gilt  bei  dv 


Pill.  54.    .Tang«  (Ml in «8 in.    (Nach  vinem  Japanischen  Holsschnitte.) 


110  III.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

Ein  japanisches  Schonheits-Ideal  wird  uns  in  einer  von  Mitford  übersetzten 
Geschichte  geschildert: 

^Die  Andere  (war)  ein  ganz  unvergleichlich  schönes  M&dchen  von  sechzehn  (Jahren). 
Sie  war  weder  zu  corpulent  noch  zu  dünn,  weder  zu  lang  noch  zu  klein.  Ihr  Gesicht  war 
oval  wie  ein  Melonenkem  und  ihr  Teint  hell  und  weiss.  Ihre  Augen  waren  eng  und  funkelnd« 
ihre  Zähne  klein  und  einer  wie  der  andere.  Ihre  Nase  war  gebogen  und  ihr  Mund  äusserst 
zierlich  geformt,  mit  lieblichen  rothen  Lippen.  Ihre  Augenbrauen  waren  lang  und  dünn  aus- 
gezogen. Sie  hatte  eine  Fülle  von  langem,  schwarzem  Haar.  Sie  sprach  bescheiden  mit  einer 
sanften,  süssen  Stimme,  und  wenn  sie  lächelte,  so  erschienen  zwei  niedliche  Grübchen  in 
ihren  Wangen." 

Dass  aber  auch  der  Geschmack  der  Japaner  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
sich  geändert  hat,  das  vermögen  wir  aus  ihren  eigenen  Kunstwerken  zu  ersehen. 
Ich  fiihre  dem  Leser  drei  Proben  aus  japanischen  Veröffentlichungen  vor: 

Fig.  38  zeigt  uns  Kaoyo-Gozen,  die  Gemahlin  eines  Samurai,  eine  hochberübmte  Schön- 
heit, die  vor  ungefähr  500  Jahren  lebte.  Sie  hat  nach  einem  erfrischenden  Bade  soeben  ihre 
Toilette  vollendet  und,  den  damals  herrschenden  Schönheitsbegriffen  gemäss,  anstatt  der  aus- 
gerissenen Augenbrauen  künstliche  hoch  oben  auf  die  Stirn  gemalt.  Das  Gemälde  ist  von 
dem  japanischen  Maler  Taiso  Yoshitoshi  gefertigt  worden.  Um  ungefähr  250  Jahre  jünger 
ist  die  schöne  Japanerin,  welche  Fig.  56  nach  dem  Bilde  des  seiner  Zeit  sehr  gefeierten 
Malers  Tosa  no  Mitsunori  wiedergiebt.  Fig.  57  endlich  ist  ebenfalls  eine  junge  japanische 
^Schönheit".  Als  solche  bezeichnet  sie  die  in  diesem  Jahre  erschienene  Zeitschrift  des 
japanischen  Literatur-  und  Kunst-Club.  Das  Bild  ist  eine  nach  der  Lebenden  her- 
gestellte Autotypie;  wir  haben  hier  somit  ein  allermodemstes,  thatsächliches  Beispiel  fOr  die 
heutige  japanische  Geschmacksrichtung  vor  uns. 

In  einem  Liede  in  Nord-Celebes  heisst  es  nach  BiedeP: 

Die  Zähne  der  Geliebten  sind  prächtig  gefleckt. 
Das  Schönheitsideal  der  Singhalesen  führt  uns  Oberländer^  vor: 
„Keine  Frau    wörde    fflr  eine   vollkommene  Schöne  gelten,   wenn   sie   nicht   folgende 
Eigenschaften  hätte:   ihr  Haar  muss  reichlich  sein,  wie  der  Schwanz  eines  Pfaues,   lang,   bis 
zu    den  Knieen    reichen   und   in    zierlichen  Locken    enden.    Ihre  Augenbrauen   müssen    dem 
Hegenbogen  gleichen,   ihre  Augen  dem    blauen  Saphir   und   den  Blumenblättern  der   blauen 
Manillablume.    Ihre  Nase  muss  wie  der  Schnabel  des  Habichts  sein;   ihre  Lippen    glänzend 
und  roth,   wie  Korallen   oder   die  jungen  Blätter   des  Eisenbaums.    Ihre  Zähne  klein,   regel- 
mässig, dicht  an  einander  stehend,    wie  Jasminperlen:  ihr  HaLs  gross  und  rund;   ihr  Thorax 
geräumig;  ihre  Brüste  fest  und  konisch,  wie  die  Cocosnuss,  und  ihre  Taille  klein,  last  klein 
genug,    um  mit  der  Hand  umfasst  zu  wenlen;    ihre  Hüften  weit;   ihre  Glieder   spindelförmig 
zulaufend,  die  Sohle  ihrer  Füsse  ohne  Höhle  und  die  Oberfläche  ihres  Körpers  im  Allgemeinen 
weich,  zart,  sanft  und  abgerundet,  ohne  Rauhigkeit  vorstehender  Knochen  und  Sehnen." 
In  Fig.  55  wird  das  Brustbild  einer  jungen  Singhalesin  gegeben. 
Von   den    Einwohnern   des   südlichen   Arabiens   bringt   uns   v.   MaUzan 
folgendes  Lied: 

.Nimm  vor  den  Locken  Dich  in  Acht !  Auch  vor  dem  Halse  sieh  Dich  vor! 

Den  Sinn  umstricket  ihre  Pracht.  Der  schlank  und  biegsam  wie  ein  Rohr, 

Wie  eine  hundertfache  Kette,  Gleich  einem  Glase  licht  und  rein. 

Entfesselt  auf  dem  Ruhebette.  Kunstvoll  gewunden,  zart  und  fein. 

Und  bleibe  auch  der  Stirne  ferne!  Nimm  auch  in  Acht  Dich  vor  der  Ernst! 

Sie  ist  von  dem  Geschlecht  der  Sterne.  Sie  ist  ein  Garten  voller  Lust, 

Und  vor  den  Brauen  hüte  Dich!  Der  Blüth*  und  Knospen  treu  bewahrt, 

Sie  wülben  um  zwei  Sonnen  sich.  Und  Früchte  trägt  von  jeder  Art. 

Nimm  vor  den  Augen  Dich  in  Achtl  Die  Taille  auch,  denn  sie  vor  aUen 

Sie  sind  zwar  dunkel,  wie  die  Nachi,  Erregt  des  Schauers  Wohlgefallen, 

Und  dennoch  hell  wie  Tageslicht,  Sie  ist  so  schlank,  so  lart,  so  fein. 

Wenn  sie  der  Narr  erblickt  zur  Stund'  Sie  scheint  fast  kürporloe  ro 


Wird  sein  Verstand  aufs  Neu  gesund.  Und  vor  dem  Leibe  nek  Dich  tot! 

Und  komm  tu  nah  der  Nase  nicht !  Ein  Schleier  vom  dtm  fwMlM  Flor, 


Als  Held  beherrscht  sie  das  Gesicht.  Der 

Und  bleibe  fern  dem  kleinen  Mund!  So 

Der  wie  ein  Fingerring  so  rund.  Die  Sblir 


28.  Das  ScbOnheitsideal  bei  verscbiedenen  Völkern.  113 

Auch  über  die  Harari  im  nordostlichen  Central-Afrika  vermag  ich 
noch  Anskanft  zu  geben.  In  ihren  Liebesliedern,  von  denen  uns  Paiditschke  einige 
Proben  bringt,  kommen  die  folgenden  Stellen  vor: 

leb  sage  Dir  nur  dies:  Dein  Gesiebt  ist  wie  Seide,  .  .  . 
Da  bist  scblank  wie  ein  Lanzenscbaft, 
Deine  Gestalt  ist  wie  eine  brennende  Lampe. 


Der  Honig  ist  bereits  ansgeboben  und  icb  komme  damit. 

Die  Milch,  sie  ist  bereits  gemolken,  und  icb  bringe  sie  Dir. 

Und  jetst  bist  Do  der  reine  Honig  und  jetzt  bist  Du  die  gemolkene  Milch  .  .  . 

Deine  Augen  sind  scbwars  geilSaht  mit  Kabul  .  .  . 

Icb  babe  ein  AnUits  geseben  friscb  von  Farbe! 

Icb  sah  ein  weisses  Antlitz  und  darin  waren  Punkte  an  Farbe  wie  die  Schwärze  .  .  . 

Deine  Augen   sind    wie    der  Vollmond   und  Dein   Körper   ist   duftend    wie   der   Geruch   des 

Roeenwassers  .  .  . 
Und  Da  bist  wie  der  Garten  eines  Königs,  in  welchem  alle  Wohlgerücho  vereint  sind. 
Und  bist  Da  wie  die  Fracht  des  Gartens  eines  fleissigen  Anbauers,  wie  könntest  Du  verdorren? 

Von  der  Poesie  südamerikanischer  Indianer  geben  v.  Spix  und  v.  Martins 
eine  Probe.   Sie  fahren  ans  einem  Gesänge  der  Maiihe-Indianer  folgende  Verse  an: 
leb  mag  nicht  Weib  Ich  mag  nicht  Weib 

Mit  gar  za  schlanken  Beinen,  Mit  gar  zu  langem  Haar, 

Sonst  würde  icb  umwickelt,  Sonst  möchte  es  mich  schneiden 

Wie  von  einer  dünnen  Schlange.  Wie  ein  Gehäg  von  Geisseigras. 

Den  Abschluss  dieser  poetischen  Proben  möge  eine  Ode  des  alten  Anakreon 
bilden  {Uartmann^)i 

Wohlan!  male.  Du  unter  den  Malern  der  erste, 

Meister  in  der  Rhodischen  Kunst, 

Male  meine  abwesende  Geliebte 

Genau,  wie  ich  Dir  es  sage. 

Male  mir  zuerst  weiche  und  schwarze  Haare. 

Und  wenn's  das  Wachs  erlaubt,  lass  sie  auch  von  Salbe  triefen. 

Unter  den  dunklen  Haaren 

Aus  der  ganzen  Wange  heraus 

Wölbe  sich  eine  glatte  Stirn, 

Glänzend  weiss  wie  Elfenbein. 

Die  Haare  zwischen  den  Augenbrauen 

Trenne  nicht  zu  merklich,  noch  lasse  sie  in  einander  fliessen. 

Die  gekrümmten  Augenbrauen, 

Der  Augenlider  schwarzer  Rand, 

Müssen  sich  bei  dieser,  wie  bei  jener 

Sanft  in  einem  Punkt  verlaufen. 

Das  Auge  mache  genau  aus  Feuer, 

Zugleich  blau  wie  Minervens, 

Schmachtend  zugleich,  wie  Cytherens  Auge. 

Male  Nas'  und  Wangen 

Rosenroth  mit  Milch  vermischt; 

Die  Lippe  sei  wie  die  der  Ptjtho 

Zum  Kuss  einladend. 

An  dem  Rand  des  weichen  Kinns 

Um  den  marmorweichen  Hals 

Müssen  alle  Grazien  sich  lagern, 

Uebrigens  umflattere  sie 

Ein  purpurfarbenes  Gewand. 

Nur  ein  wenig  Fleisch  spiele  sanft  hindurch 

Und  mache  nach  den  verborgenen  Reizen  lüstern. 

Doch  halt  ein!  ich  seh*  sie  schon, 

Bald  wirst  Du,  o  Wachs,  selbst  reden. 


Ploss-BarUls,  Dss  Weib.    6.  Aofl.    I.  8 


114 


UL  Die  äjttthetiBcbe  Aufll^ssuog  de»  Weib 


24.  Der  Geschniaek  and  sein«  Aaf&tödutig  der  wetliUeheu  SehanheiM 

Alles    daajeatge,  was  die   einzelnen  Völker  vermöge  ihrer   specÜMchen  titf 
achmacksrichtung   für  Schönheit  halten,   glauben  sie  durch  Kunsthülfe  iiw  rifcht 
Licht   stellen,    oder   auch    noch    übertreiben    zu   müssen.     Namentlich    »orgm  di 
Frauen  dafür,   der  Natur  in  dieser  Beziehung  zu  Bülfe  xu  kommen    und  uti  «ic 
selbst  sowie  an  ihren   Kindern  möglichst  geföJlige  Formen  zu  schaffen.     Wenn  « 
Thatsache  ist,  das«,  wie  von    Weissbach  bei  der  Novara -Reise  gefunden  wurde, 
die  Chinesen    wie    fast  alle  mongolischen  Völker  von  Natur  kleine  FHa^e 
haben,  so  wird  es  wohl  erklärlich,  dass  bei  ihnen  die  Frauen  höherer  Klaafl€ti  die 
Füsse   ihrer  jungen  Töchter  möglichst  verkleinern;   wenn  die  T  a  h  i  t  i  -  InsoUner, 
die  Hottentotten,  viele  Negervölker  u.  s.  w.  die  ihnen  eigenthlimliche 
der   flachen  Nase    für    besonders   schön    halten,    so  darf  man   sich  nicht 
wundern,    dass    sie   Najse    und  Stirn    ihrer  Kinder    durch    Zusanuuendmcken    nutn 
mehr  abflachen;   wenn   llambokU  angiebt,    dass    die    amerikanischen  Indiane 
ihre  Haut  nur  deshalb  mit  rother  Farbe  bemalen,  weil  sie  das  natürliche  Rothgelb 
ihrer  Haut  für  hübsch  halten,  so  darf  man  ihm  wohl  Glauben  schenken, 

So  sind  die  künstlich  hergestellten  Haartrachten  so  vieler  af  ri  kan  i«c  h  e 
A'ölker    bei    deren  Weibern    ebenfalb    nur   die   Erzeugnisse   einer   con^ 
öej^chmacksrichtung;  und  die  Holzpflöcke,  welche  die  Botokuden  in  > 
tragen,  sollen  doch  nur  dazu  dienen,    den  schon    an  sich  hervorstehenden  Uippen 
die  weite  Ausdehnung  zu  verschaffen,  welche  von  Natur  noch  nicht  in    gehörigem 

Qrade    vorhanden    war.      Auch    ist    die    Com 
pression  des  Schädels,  die  so  zj' 
an  ihren  Kindern  üben,  wohl  \u 
der  Absicht  verbunden,  letzteren   den    Vorzug 
einer  edleren,  sonst  nur  bei  Vornehmen  waJir 
zunehmenden  Kopfhildung  zu  gewähren.    Elir 
geiz    und   Eitelkeit    sind   e«  also,    -     '  ' 
Körper  Qualen  erdulden  lassen,  um 
kürhche  Veränderung  der  angeborenen   Form 
ihn   derjenigen    Bildung   ähnlich    zu    machen, 
welche  bei   dem  betreffenden  Volksstamui  als 
Ideal  der  Schönheit  angesehen  wird. 

Man  würde  aber  ganz  erheblich  irren*  weao 
man  glauben  wollte,  dass  diese  Dinge  nur  fUr 
die  wilden  oder  halhcivilisirten  Völker  ihre  GttU 
tigkeit  besässen.  Denn  wenn  unsere  earopii«^ 
sehen  Damen  ihre  Taillen  möglichst  zu.^tainmen- 
schnüren,  sowie  ihr  Gesicht  roth  und  vtmm 
m.   P»i>tti*  aT  Insel  Ma-  schminken,  SO  tindeu  wir  hierin  schliejwlicb  doch 

pi  (T«eu-Bi'tt  M  ,i*;ii  zwanziger  auch  nur  das  Bestreben,  durch  Kunst  »ich  itm- 

{*?T*  ';!'  ,:?*^1**"'^"«"  T'^nf*/^  ^Tf*^  jenige  zu  erwerben  oder  zu  verstärken,  wn*  bei 

ihnen  als  besonderer  noiz  des  schönen Uissclilechta 
gilt  und  einem  wirklich  schönen  Individuum  schon  von  der  Natur  verliehen  wurde. 
Es  ist  nur  zwischen  den  uncivilisirten  Weihern  und  den  Dam- 
hochstehenden  Kiissen    folgender  wichtiger  Unterschied    zu  con 
bei    den    ersteren    die    Entstelhmgen    ihrer    Körper,   welche   ihrer 
Verschönerungen    desselben    sind,    meist    eine  gewisse,    durch  Jah; 
Gewohnheit  geheiligte  Constanz  und  Gesetzmässigkeit  besitzen,  unt. 
unseren  Damen  einem  steten,  den  sinnlosen  Launen  der  M 
was  von  dem  Standpunkte  der  Logik  doch  jedenfalls  zu  Gi 
Frauen  spricht,     Sie    haben  sich   ein  Schönheitsideal  - 
irnm*^r  in  wfrt^nt/  vorgeschriebener  Wj-l«~i^   >ii  irTi.i/)i**n  i 


I 


116 


tu.  Die  &0thettBcbe  AuffaBffung^  des  Weibee. 


Danien   nach    konser  Zeit  dasjenige    al^  hässlich   und  entstelierid   prornnireo« 
ihnen  soeben  noch  als  das  Ideal  der  SehoDbeit  gegolten  hat. 

Um    Beispiele    hierfür    braucht    man    nicht    gerade  r erlegen    zu  seiii.     BaJii 
sollen  die  Füsse  lang  und  unnatürlich  scbmal,  bald  wieder  feist  und  abnorm  ktUTJ 
erscheinen  —   beides,   wie    sich  dem  Arzte  nicht  selten  za  sehen  die  Gelegenheit] 
bietet,  zvi  grosser  Qnal  und  oft  nicht  wieder  reparirbaretn  Schaden  der  Besttxerin«  | 
Bald    giebt    man    den    durchbohrten    Ohrläppchen    einen    knupfartigeD    Sckmack, 
unter  welchem    sie  scheinbar  Terschmnden,    bald  wieder  werden  wahre  Lasten  in| 
die  Obren  gehängt,  deren  Gewicht  die  Ohrläppchen  zu  langen  ovalen  Lappen  ans* 
dehnt.     Bald  wird    der  Brustkorb    umschlossen,   als   wenn    die  Natur  deji   Üamifn 
die   Brüste    versagt   hätte,    bald  wieder   werden   die    letzteren   durch   ]mti£rnirtige  1 
Vorrichtungen  gewaltsam  in  die  Höhe  gequetscht,  so  daas  sie,  anstatt  an  der  nor- 
malen Stelle,  in  der  Unterschlüsselbeingrabe  ihren  Sitz    zu  haben  «cheinen,  wob«i 
selbst    oft   bei  der  Bauchhaut   eine  Anleihe  gemacht  werden  raus«,  *  Fülle 

zu  heucheln,  die  die  missgünstige  Natur  versagt   hat,     Vou  den   \  ii»   bald 

fadendürr,  bald  wieder  tonnenartig  dick  zu  erscheinen,  will  ich  schweigen. 
Aber  aus  allem  diesen  geht  hervor,  dass  die  Damen  gänzlich  vergessen,  daas  dem 
Auge  des  Mannes  nichts  widerwärtiger  und  beleidigender  ist,  als  die  Unnatur« 
Doch  kehren  wir  wieder  zu  den  -tiefer  stehenden*^  Rassen  zurück. 


25*  Das  Bemalen, 

Die  Proceduren.    welche  die  niederen  Hassen  mit   ihr^n    Kör  u  vor-' 

zunehmen  gewohnt   sind,    sind   sehr  inannigiiictier  Natur,  und  es  j-  s  nicht 

ohne  Interesse,  dieselben  hier  in  grossen  Zügen  durch- 
zugehen.  Ich  mache  den  Anfang  mit  den  Beraalungen. 
Dieselben  erstrecken  sich  bisweilen  über  den  ganzen 
Körper,  wie  bei  manchen  In  dianer- Horden;  vorwiegend 

sind  sie  aber  auf  das  Ge- 
sicht beschränkt.     Hier 

sind   sie  nicht  in  allen 

Fällen  Mittel   der  Ver- 
schönerung, sondern  sie 

haben  manohmal  «i^^radA 

dieent 

deutujj„. 

z«  B.  bei  gewissen  I  n  - 

d  i  a  D  e  r  stammen      die 

Weiber      das      Gesicht 

schwarz  färben,  wenn  für 

den    männlichen    Haus- 

vurstand  die  Leichenfeier 

abgehalten  wird.     Von 

den    Lei    anf    Hainan 

berichtet  Scott,  dass  an 

dem    Hochzeitstage    der 

Gatte  der  Neuvermählten 

das   Muster  seiner  Vor- 
fuhren   auf  das  Gesicht 

malt,  damit  sie  nach  dem 

Todr  von  den  Seinigen 

anerkannt    werde.      Bei         

den  Hindu   ist  es  ge-   ns.  m    "*^  •-  » -rat» 

vi^  m,    iiuoopu.weiu  ron  dta     brauchUch,  das««  tätlich  *!•«>  *»^ 


25.  Das  Bemalen, 


117 


riebm  axi%4*mHlt  wird.     Die  Figuren  30  und  61  führen  hierfür  Beispiele  vor.    la 

BT   Mi?hrzahl    der    Fälle   allerdings    gilt   die    Bemalung    ab    ein    Verschönerungs- 

'    B,  bei  den  Mincopies    auf  den  An  dam  a  neu  ^    wo  die  Weiber  häufig 

ht,  aber  auch  bisweDen  die  Arme  und  Beine  und  den  Rumpf  mit  breiten 

reiÄävu  Streifen  sehmttcken.     Solch  ein  bemaltes  Mincopie-Weib  ist  in  Fig.  59 

to,  2    und    in   Fig.  00  dargestellt     Bei   den  Japanern  ist,  wie  wir  sehen  (Fig, 

fSÜ  und  43),  das  Aufmalen  kunstlieber  Augenbrauen  Sitte,   wenn  sie  in  den  Stand 

Pff  Ehe  getreten  sind. 

Si>  jttnd  auch  die  Färbungen  der  Augenbrauen  bekannt,  welche  bei  den  orien- 
ben   Frauen  im  Gebrauche  sind, 

fWnä  d\e  BoDfttigen  Toilettenduchen    (bei   den  Kr  im -Tataren)  anbelangt,    sagt  Vam* 
m»  spielt  da«  Henna  lljawtonia  inermia)  hier  eine  wichtigere  Rolle  als  in  der  Türkei, 


ai.  .>...    rni]i»iiei-lii,  r(»ru.  mit  iH^timti^m  Ueaicbt,  N&s«i]ritig  tiad  Lippenpftook. 

wio    in  Per>4iett    und    im  Kuukasufl,    mit  cüeeem.    das    f^uropäische 
!Tp:^Ti*?<>n  Paihfetofl"  nicht  nur  Augenbrauen,  N&gel«  Hand  nnd  Hals,  sondern 
inkelmle  Uaür  rolh  anstreichen^  eine  Sitte,  die  von  lUteni  her  im 
var  und  schon  von  Ihfödot  bei  den  Scythen  erwähnt  wird,  deren 
Weilier  a  **m*  und  Weihraachhok  »ich  eine  Schminke  zubereiteten/ 

^ ^.»....... ..    ..cht    hierzu    auch    die    oben  citirte  Stelle    aus  dem  hohen 

lomonts  in  Beziehung:  ,,Daö  Haar  auf  deinem  Haupt  ist  wie  der  Purpur 
\a  Falten  gebunden-* 
Eingeborenen  auf  Java    und   auf  anderen  Inaelu  des  malayiachen 
rebipcbi    herrscht    die   Sitte,  sieh  die  Zahne  dunkel  zu  farbeu,  und  sie  blicken 


l\Q  ni.  Die  ästhetische  AuffaBsung  des  Weibes. 

mit  unverhohleDer  Verachtung  auf  die  weissen  Zähne  der  Europäerinnen, 
^welche  denen  der  Hunde  gleichen*'.  Auch  die  Zähne  der  anamitischen 
Weiber  in  Cochinchina  sind  nach  Mondiere  keineswegs  nur  schwarz  vom 
Betheikauen,  sondern  sie  förben  sich  dieselben  mit  bestimmten  Droguen: 

^autrefois  senlement  ä.  T^poque  de  sa  premi^re  menstraation;  aajourd*hai  eile  est  en 
progres  et  ce  noircit  les  dents  lors  de  son  premier  cott,  c*est-ä-dire  pres  trois  ans  plat6t 
qu'autrefois.* 

Ein  charakteristisches  Beispiel  von  Bemalung  des  Gesichts  bietet  unsere 
Fig.  62.  Dieselbe  stellt  eine  Cashivos-Indianerin  aus  Nay  Pablo  vor,  welche 
als  Kind  von  den  Cunivos-Indianern  am  Rio  Pachitea  in  Peru  geraubt  und 
in  deren  Sitten  erzogen  worden  war.  Auch  die  Cunivos-Indianerin  Fig.  38 
zeigt  eine  Bemalung  des  Gesichts. 

Es  bedarf  wohl  keiner  Erwähnung,  dass  man  die  Bemalung  nicht  als  eine 
ausschliessliche  Gewohnheit  des  weiblichen  Geschlechts  betrachten  darf.  Im  Gegen- 
theil,  bei  sehr  vielen  Völkern  pflegen  sich  auch  die  Männer  zu  bemalen  und  zwar 
in  bei  weitem  ausgiebigerer  Weise,  als  die  Weiber  dies  zu  thun  gewohnt  sind. 
Die  Absicht  und  die  Bedeutung  dieser  Sitte  ist  aber  wohl  nur  in  den  seltensten 
Fällen  die,  ihre  Schönheit  zu  steigern.  Nicht  schöner,  sondern  hässlicher,  ab- 
schreckender und  förchterlicher  wollen  diese  Männer  erscheinen,  um  schon  durch 
ihren  blossen  Anblick  ihren  Gegnern,  oder  wenn  es  Zauberer  sind,  ihren  Gläubigen 
Angst  und  Entsetzen  einzuflössen.  Daher  findet  die  Bemalung  auch  gewöhnlich 
nur  zu  solchen  Zeiten  statt,  wo  sie  in  vollem  Kriegsschmucke  zu  erscheinen,  oder 
wo  sie  mit  den  Göttern  und  Gespenstern  zu  verkehren  wünschen. 


26.  Das  TSttowiren. 

Eine  weitere  Fortbildung  der  Bemalungen  haben  wir  in  dem  Tättowiren 
zu  erkennen,  durch  welches  die  zur  Bemalung  bestimmten  Figuren  un verlöschbar 
der  Haut  eingeprägt  werden.  Das  Tättowiren  ist  dort,  wo  es  überhaupt  sich 
noch  im  Gebrauch  gehalten  hat,  gewöhnlich  eine  beiden  Geschlechtem  gemeinsame 
Sitte;  jedoch   pflegt   fast   ganz   allgemein  die  Tätto wirung  der  Frauen   von  der- 


Fig.  63.    Tättowiruug  der  ünterextremitäten  einer  Ponapesin  (naeh  Fimtek^, 

jenigen  der  Männer  ganz  erhebliche  Unterschiede  darzubieten,  uns  interessirt  hier 
naturgemäss  ausschliesslich  die  erstere.  Wir  würden  wohl  sicherlich  fehlgreifen, 
wenn  wir  in  ihr  unter  allen  Umständen  ein  Mittel  zur  Verschönerung  erblicken 
wollten.  Diese  ist  in  einer  Reihe  von  Fällen  zweifellos  gar  nicht  beabsichtigt 
worden.  Die  Ursachen  aber,  warum  diese  weiblichen  Wesen  sich  tättowiren  lassen, 
sind  nun  sehr  verschiedenartige.  Bei  einem  Theile  der  Tätto wirungen  haben  vrir, 
wie  wohl  deutlich  ersichtlich  ist,  nichts  Anderes  zu  erkennen,  als  das  erwachende 


26.  Dti8  Tättowiren. 


119 


als  d«n  Ausdruck  des  biblischen  Spruches:  Und  sie  wurden  gewahr, 
eod  waren,  Sie  wollten  ihre  Nacktheit  verhallen  und  verstecken, 
tmd  Hilf  diese  Weise  erklärt  es  sich,  wenn  die  Weiber  auf  den  Viti-Inselu^  wie 
jAibhoci^  erzählt,  auch  unter  dem  Liku  (dem  Schamgurt)  tättowirt  waren.  Denn 
jedflofmilf  war  doch  wohl  diese  Tüttowirung  viel  früher  gebräuchlich,  als  der 
Schmnigart,  und  wahrscheinlich  auch  frühen  als  die  Tättowirung  der  übrigen 
KörperHellen.  Aach  die  Wilden  von  Tahiti  tättowiren  sich  nach  Berc/ions  An- 
gabe an  der  Vulva;  ebenso  nach  Finsch  die  Damen  von  Ponape  in  der  Ca- 
rülioen-Gruppe,  und  einige  andere  Beispiele  werden  wir  später  kennen  lernen. 
Lhuuit  hängt  es  dann  unzweifelhaft  auch  wohl  /Aisammen,  dass  die  Tättowirung 
b€i  fielen  Völkern  gerade  jtur  Zeit  der  beginnenden  Geschlechtsreife  ausgeführt 
wird.  Jaesi^  bat  in  seinem  schönen  Werke  hierför  eine  Reihe  von  Beispielen 
2iiiAtfini<mgestelIt. 

lern  kommen  wohl  die  Brüste  heran,  und  dann  erst  der  Bauch,  die 
tn  .  1.  u.  8.  w.  Man  vergleiche  die  Ponapesin  in  Fig.  63.  Doch  finden 
b  auch  manche  Ausnahmen  von  dieser  Reihenfolge. 

Das«  übrigens  die  Tättowirung  auch  für  die  scharfen  Augen  des  Europäers 
den  Eindruck  der  Nacktheit    erheblich   mildert,   oder  gänzlich  vei^chwinden  lässt, 
^      wird    in    ganz   Übereinstimmender  Weise  von  allen  Reisenden  bestätigt;    auch 
mit«    man   sich  hiervon  kfirzlich  bei  der  in  Berlin  und  anderen  Städten  aus- 
gefteUten  Amerikanerin,  der  schönen  Irefie,  überzeugen. 

Bisweilen  wissen  die  Wilden  selber  nicht,  was 
si»  flieh  bei  dem  Tättowiren  denken.  Das  erhellt  ganz 
♦1  "  iiia  folgender  Geschichte,  welche  Tylor  erzählt; 
A  Viti- Inseln   tüttowiren  sich  nur  die  Weiber, 

wiihrend  nich  auf  den  ihnen  benachbarten  Tonga -Inseln 
r  die  Mäntier  tättowiren.  Ein  Tonga ner  war  nach 
II  Yiti* Inseln  geschickt  worden,  um  zu  erfahren,  wie 
würde.  Während  der  Rückreise  sagte  er  sich 
Tor;  »Man  muss  die  Frauen  tättowiren  und 
oichf  die  Männer.*  Er  stolperte  aber  über  ein  Uinder- 
njsa,  fiel  hin  und  vergass  seinen  Satz,  so  dass  er  bei 
adoar  Ankunft  den  Seinen  sagte:  ^Man  muss  die 
Mlnner  tättowiren  und  nicht  die  Weiber,*  und  seitdem 
wurde  es  auch  so  ausgeführt  Pol ynesi scher  Logik 
g<eB(lgt  diese  Erklärung,  denn  die  Samoaner  haben 
«*iiie  ganz  ähnliche  Legende. 

Auf  der  zu  den  Liu-kiu-Inseln  gehörigen  Insel 

mi   Oshima    ist   das   Tättowiren   allein    bei    den 

1-n   Sitte.      Sie    lassen  sich   regelmässig  tättowiren 

*  :ir  nur  den  Röcken   der  beiden  Hände  (Fig.  64). 

i  .Anzeichen  sind  stets  die  gleichen;  man  weiss  je-      ^.^^  ^     Tättowirt«  Kmd 
d<Kh  keine  Bedeutung  anzugeben  und  erklärt  ausdrück-  einer  aihimftiieriii  (liq  kiq- 
firh.    dji*%  dieselbe  von  Okinawa  aus  erst  eingeführt  in«»*!«)  «•t*'h  tkr  too  «m«im  TÄtto. 
worden.     Meist  im  13.  Jahre   Hessen  sich  die  Mädchen   '^^^'*(K»ch  Ar!fw"fW.T^  °**"* 
es    Zeichen    einatzen    von    besonderen    Leuten,    die 

se  Kunst  verstanden.  Mit  drei  zusammengebundenen  Nadeln  wurden  Reihen 
Toü  Einsiichen  gemacht  und  darauf  die  gewöhnliche  Tusche  eingerieben,  die  sonst 
zum  Schreiben  benutzt  wird.  Die  Farbe  wird  indigoblau.  Seit  vier  Jahren  bat  die 
japanische  Regierung  das  Tättowiren  auch  hier  verboten,  wie  schon  seit  viel 
iifigr        "    '   in  Japan/     (Doederleht,) 

giebt  in  Uebereinstimmung  mit  Kuharff  seine  Meinung  dahin  ab, 
itm  bd  den  Ponapesen  die  Tättowirung  jetzt  lediglich  Ver»chönerung8zwecken 
iU.tA    nttfl    Kf'A^r    mit    Räug,    Stand    und    Religion    irgend    etwas    zu  thun    hat. 


xxx„% 


rA 


120  lU-  ^®  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

Während  die  Sitte  des  Tättowirens  auf  den  Gilbert-  nnd  Marsh  all -Inseln  immer 
mehr  abkommt,  ist  sie  auf  Ponape  noch  in  voller  Blüthe  und  von  grosser  Voll- 
kommenheit der  Zeichnung  und  Ausführung. 

Die  Expedition  der  Novara  hat  uns  in  den  Besitz  eines  neuseeländischen 
Liedes  gebracht,  welches  Müller  wiedergiebt.  Aus  demselben  geht  mit  klaren 
Worten  hervor,  dass  hier  die  Leute  mit  dem  Tättowiren  den  Begriff  der  Verschö- 
nerung verbinden.     MüUer  sagt: 

„Bei  den  Frauen  werden  nur  die  Lippen  und  der  von  den  Mundwinkeln 
gegen  das  Kinn  gezogene  Halbbogen  tättowirt  (Fig.  59,  No.  4,  Tafel  IV,  Fig.  7  und 
Tafel  IV,  Fig.  9),  manchmal  auch  Arme  und  Brust,  letztere  jedoch  nicht  mit  der- 
selben Regelmässigkeit.  Beim  Tättowiren  eines  Mädchens  pflegen  die  anwesenden 
Gespielinnen  folgendes  Lied  zu  singen: 

Leg'  Dich  hin,  meine  Tochter,  zu  zeichnen  Dich, 

Zu  tättowiren  Dein  Kinn! 

Dass  nicht,  wenn  Du  kommst  in  ein  fremdes  Haus, 

Sie  da  sagen:  „Woher  dieses  h&ssliche  Weib 7*^ 

Leg'  Dich  hin,  meine  Tochter,  zu  zeichnen  Dich, 

Zu  t&ttowiren  Dein  Kinn, 

Dass  Du  fein  anständig  werdest, 

Damit  nicht,  wenn  Du  kommst  zum  Feste, 

Sie  da  sagen:  „Woher  dies  rothlippige  Weib?* 

Auf  dass  wir  Dich  reizend  machen, 

Komm'  und  lass  Dich  tättowiren, 

Damit  nicht,  wenn  Du  kommst,  wo  die  Sclaven  sitzen, 

Sie  da  sagen:  .Woher  das  Weib  mit  dem  rothen  Kinn?* 

Wir  zieren  Dich,  wir  tättowiren  Dich, 

Bei  dem  Geiste  des  Hine-te-iwa^wa; 

Wir  tättowiren  Dich,  dass  der  Strandgeist 

Möge  gesendet  werden  von  Itangi 

Zu  den  Tiefen  der  See, 

Zu  der  schäumenden  Welle! 

Deine  Schönheit  ist  gepaart  mit  Liebreiz! 

Deine  Schönheit  ist  wie  der  Himmel, 

Wie  die  Sterne  Pahatiti,  Btiatapu,  Rongonui  und  Kahukura, 

Du  bist  schöner 

Als  Uetonga  und  Tamerereti 

Oder  der  heilige  Schatten  Beretoro'a! 

Der  Strandgeist  wird  gesendet  werden  von  Rangiy 

Zu  den  Tiefen  der  See, 

Zu  der  schäumenden  Welle. 

Lass'  die  Schmeichler  und  die  Kinder, 

Lass'  Dein  Lebewohl  bei  ihnen, 

Geh'  hin  wie  die  scheidende  Wolke 

lieber  den  Raukawa-Bergen, 

Und  lass'  sie  weinen  in  Kummer! 

Jedoch  ich  — 

Ich  bin  Rangi  und  Papa  — 

Mein  Werk  ist  vollendet!* 

Auf  verschiedenen  Inseln  der  Südsee  haben  die  Tättowir-Instrumente  die 
Form  kleiner  zierlicher  Hacken,  deren  aus  Knochen  oder  Muschel  gearbeitete 
Klingen  mit  feinen  Zähnelungen  an  der  Schneide  versehen  sind.  Diese  gezahnte 
Schneide  wird  der  Haut  aufgesetzt,  und  durch  einen  leichten  Schlag  mit  einem 
hölzernen  Hammer  werden  die  mit  Farbstoff  bestrichenen  Zähne  in  die  Haut 
hineingetrieben.  Fig.  65  zeigt  solche  hackenähnlichen  Instrumente  zum  TSitowiren 
aus  Neu-Seeland  in  ungeföhr  2/3  <^6r  natürlichen  Grösse. 

In  Japan,  Birma  a.s.  w.  benutzt  man  zum  Tättowiren  nadelartige  Insfara«» 


26.  Das  Tättowiren. 


121 


mente,  die  bisweilen  (Japan)  aus  mehreren  in  einer  Reihe  dicht  neben  einander 
liegenden  Nadehi  bestehen. 

Wie  wir  die  Bemalung  des  Gesichts  der  jungen  Lei-Gattin  als  ein  Er- 
keDnongszeichen  antrafen,  so  existirt  nach  Montana  in  Bezug  auf  die  Tätto- 
wirang  etwas  Aehnliches  bei  den  Eingeborenen  von  West-Mindanao  in  den 
Philippinen. 

.Le  tatonage  est  snrtout  r^pandu  parmi  Ids  tribus  qui  entourent  le  golfe  de  Davao; 
ü  est  pratiqaö  sur  las  enfants  de  5  ä  6  ans  par  la  mere,  en  vue  de  leur  imposer  une  marque 
ind^l^bile  et  de  poavoir  les  reconnaitre  quand  ils  sont  enleves  par  rase  on  par  violence,  cas 
excesiiTement  frequents/ 

Von  den  Karaya-Indianern  sagt  Ehrenreich^  dass  sie  bei  dem  Eintritt 
der  Pabertät  unter  bestimmten  Ceremonien  tättowirt  würden:  „Die  Tätto wirung 
beschrankt   sich   auf  das   Stammesabzeichen,   welches  beide  Geschlechter  auf 


Fig.  ft5.    Tättowir-Iustrumeut  von  Neu- Seeland  (nach   /r.  Jorst*). 

den  Wangen  tragen:  ein  blauer  Ring  von  10—15  mm  Durchmesser  dicht  unter 
dem  unteren  Orbitalrand.  Man  markirt  mittelst  eines  Stempels  aus  einem  Cuyen- 
Stück  auf  beiden  Wangen  den  Umkreis  des  Kreises.  Die  Stelle  wird  dann  mit 
einem  scharfen  Steinchen  ausgeschnitten  und  Baumwollencharpie  in  die  Wunde 
gelegt.  Nach  Stillung  der  Blutung  bewirkt  eingeriebener  Genipaposaft  die  Blau- 
färbung der  Narbe.* 

In  ahnlicher  Weise  finden  wir  bei  den  Weibern  der  Haida-Indianer  auf 
den  Queen -Charlotte-Islands  Tättowirungen  mitten  auf  der  Brust,  auf  den 
Oberarmen,  auf  den  Aussenflächen  der  Vorderarme  und  der  Hände  und  auf  der 
Vorderfläche  der  Unterschenkel,  dicht  unterhalb  der  Kniee.  Die  eingestochenen 
Figuren  stellen  die  Totemzeichen  der  Familie  dar,  welcher  die  Tättowirte  ange- 
hört. Swan  macht  darauf  aufmerksam,  dass  bei  ihren  Festlichkeiten  die  Haida- 
Männer  völlig  nackt,  die  Weiber  nur  mit  einem  kurzen,  vom  Gürtel  bis  zu  den 
Knieen   reichenden   Röckchen   erscheinen;   man   könne   daher   die   Tättowirungen 


122 


III.  Die  ästhetische  Aufüissung  dos  Weibes. 


deutlich  zeigen  und  Jedermann  vermöge  ohne  Weiteres  den  Rang  und  die  Familie 
der  Tättowirten   aus    den  Zeichen    zu  erkennen.     Nicht  selten  vergehen  mehrere 

Jahre,  bis  die  Tättowirungen  vollendet  sind.  Die  von 
Sivan  abgebildete  Haida-Frau  (Fig.  66)  trägt  auf  der 
Brust  den  Kopf  und  die  VorderfQsse  des  Bibers,  an 
jedem  Oberarm  den  Kopf  des  Adlers  oder  Donnervogels; 
die  Heilbutte  ziert  jeden  Vorderarm  mit  der  Hand, 
während  auf  dem  rechten  Beine  der  Sculpin  und  auf 
dem  linken  der  Frosch  eintättowirt  ist.  Das  ist  ihr 
ganzer  Familienstammbaum. 

Der  Begriff  der  Verschönerung  verbindet  sich  mit 
dem  Abzeichen  in  denjenigen  Fällen,  wo,  wie  z.  B.  bei 
manchen  Südsee- Insulanern,  das  Tättowiren  das  Vor- 
recht der  Freien  und  Vornehmen  ist,  durch  das  sie  sich 
von  den  Sclavinnen,  denen  Tättowiren  nicht  gestattet 
ist,  unterscheiden.  Sehr  lehrreich  ist  hierfQr  eine  An- 
gabe, welche  wir  Charles  Darwin^  verdanken.  Sie  zeigt 
uns  zugleich,  dass  der  Tättowirung  unter  Umständen 
auch  die  mystische  Anschauung  zu  Grunde  liegt,  dass 
sie  ein  Unheil  abwenden  könne. 

Darwin  erzählt  in  seiner  Reise  eines  NaturfoTschers 
um  die  Welt,  dass  die  Frauen  der  Missionare  auf  Neu-See- 
land  die  bei  ihnen  dienenden  und  natürlich  bereits  bekehrten 
jungen  Frauenzimmer  zu    überreden  suchten,  sich  nicht  tätto- 
wiren zu  lassen.     ^Als  aber  ein  berühmter  Operateur  aus  dem 
Süden  angekommen  war,  sagten  sie:    «Wir  müssen  wirklich, 
wenn  auch  nur  einige  wenige  Linien  auf  unseren  Lippen  haben, 
sonst  werden,  wenn  wir  alt  werden,  unsere  Lippen  zaeammen- 
schrumpfen  und  dann  würden  wir  sehr  hässlich  aussehen."    Es 
wird  auch  jetzt  (1831)  nicht  nahezu  so  viel  tättowirt,  wie  früher. 
Da  aber  ein  Unterscheidungszeichen  zwischen  dem  Häuptling 
Fig.  66.   Haida-Indianerinmit    ""<!  de™    Sclaven    darin   liegt,    wird   es  wahrscheinlich   noch 
tättowirtem  Tot em-Zei eben.         lange  ausgeübt  werden.  Jeder  beliebige  Ideenzug  wird  in  einer 
(Nach  SrvaH.)  kurzen  Zeit  schon  so  gewohnheitsgemäss,  dass  mir  die  Missionare 

sagten,  selbst  in  ihren  Augen  sehe  ein  glattes,  nicht  tätto- 
wirtes  Gesicht  niedrig  und  nicht  wie  das  eines  neuseeländer  Gentleman  aus.*  (Vergl.  Fig.  58 
No.  4,  Taf.  IV  Fig.  7  und  Taf.  VII  Fig.  9.) 

Die  Tättowirung  schützt  also  hier  vor  dem  Altwerden.  Vielleicht  wird 
dieser  Schutz  aufgefasst  nach  Art  einer  homöopathischen  Wirkung:  die  Mädchen 
lassen  sich  Furchen  in  das  Gesicht  schneiden,  um  sich  vor  dem  Auftreten  von 
Runzeln  zu  schützen.     Vielleicht   hat   auch  die  Sitte  der  Ainos  auf  Yesso  eine 

ähnliche  Bedeutung: 

Die  Weiber  sind  nach  t\  Brand  um  den  Mund 
in  Form  eines  aufgedrehten  Schnurrbarts  blau  tSttowirt^ 
was  sie  sehr  hässlich  macht.  Die  erste  Tättowirung 
findet  gewöhnlich  im  siebenten  Jahre  statt  und  wird 
dann  allmählich  vergrössert.  (Vergl.  Fig.  59  No.  5.) 
Als  eine  besondere  Auszeichnung  treffen  wir  die 
Tättowirung  auf  den  Pelau -Inseln.  Nach  Kubary^ 
lassen  sich  die  Mädchen  dort  schon  als  Kinder  von 
ihren  Gespielen  allerlei  Muster  auf  die  Beine  tätto- 
wiren. Diese  sind  aber  bedeutungslos  und  werden 
s])äter  durch  andere  Muster  überdeckt,  welche  die  Seiten 

fätt^rterupperu\Yw«S     ""^  ""'^  i?*"^®  ^'°^^^   ^'^"^^^   ^^^  ^""^  einnehmen, 

als  Zeichen  der  Verheirathung.     von  den  Knöcheln  aufwärts  bis  zur  Gesäss-Schenkel-Falte. 

(Kach  Photographie.)  Die  Vorderfläche   der   Beine  und  das  Gesfiss  bleiben 


26.  Das  Tüttowiren, 


123 


ftii*  Nacli  Eintritt  der  Geschlechtsreife  kommt  die  Tättowirung  der  Scham gegend 
J'  n  in  einem  späteren  Abschnitte  die  Rede  sein  wird.  ,Die  Frauen 
f\  sind  aber  mit  dem  vorriickeuden  Alter  ihrer  Stellung  schuldig,  die 
compiete  1'  ran en tättowirung  zu  erwerben,  welcher  volle  Schmuck  jedoch  im  Prin- 
cip*^  roD  der  Erfüllung  verschiedener  socialer  Pflichten  abhängt.  Hat  auf  Ver- 
anUssuag  der  Frau  eine  Festlichkeit  stattgefunden,  so  hat  sie  das  Recht,  die  Tätto- 
wirung von  dem  telengekel  (der  Schumtättowirung)  an  in  einem  schmalen 
Strafen  auf  die  beide«  Seiten  der  Schara  bis  in  die  Gegend  des  Afters  auszu- 
dehnen. Hat  aber  ihr  Ehegemahl  ihretwegen  einen  h o n g e t  oder  raur  tnrukel 
ifHj^eben,  dann  erhält  sie  die  keltek  et -Tättowirung.  Bei  dieser  werden  die  noch 
ItsLuig  freien  Stellen  der  Beine  mit  dem  gewöhnlichen  Muster  zugedeckt,  ao  dass 
-iir-rnH-n  wie    mit   schwarzen  Tricots  


.VÜUr 


kl'nirl   aussehen.* 

Bei     manchen    Völkern    ist    die 
Itto wirung    auch    das    Zeichen    be- 
.mmter,  glücklich  erreichter  Lebens - 
itte^  2.  B,,  wie  wir  bereits  ge- 
haben,    der  glücklich  erlangten 
'blech tjätreife,  der  ersten  Men.strua- 
OD    u,  ;♦,  w.,    sowie  auch,    um  einen 
odernen     Pol  izeiauad  ruck     zu     ge* 
uchea,    ihres    Familienstandes,    ob 
^  l^ig  oder  verheirathet   sind.     So 
f  Tahiti   und    Toba,    so 
Weibern    der   Guarani    in 
fftgilirn  und   bei  den  Kahylen. 
ttch  B^rihtraml  tragen  die  letzteren 
f   der   Stirn    zwischen    den  Augen- 
atif  einem   Nasenflügel    oder 
eioer  Wange   ein    kleines   blaues 
X,    das  durch    Schiesspulver  oder 
ütiiQonoxyd  hervorgerufen  ist.  Wenn 
das  junge    Mädchen    hetrathen    will, 
tiit9i    der   Taleb    dieses    Zeichen 
rch    Application    von    djer   (un^^e- 
t<!m    Kalk)    oder    sabounakhal 
wiirx4?r  Seife)   verschwinden.     Ein 
on  den   Achseln    bis  zur   Brustmitto 
hrndcr      tattowirter     Streifen 
iipitzwinkliger    Gestalt    gilt    bei 
Motu    in    Port    Moresby    auf 
Itti^Gtiinea  als  Zeichen  der  Verheirathuug,  er  wird  aber  bereits  dem  verlobten 
eintättowirt,     (Finsf^Ji^.) 
Tättowiren    bei   eingetretener  Pubertät    hat    bei  einigen  Stämmen    den 
Charakter    einer  Art    von  Examen:    es  soll,  wie    es  scheint,    eine  Prüfung  sein  in 
^io6en  K  *  't  körperlicher  Schmerzen.     Darum  wird  hier  die 

ung  in  .  j/^nder  Weise  ausgeführt.     Haben  wir  hierin  viel- 

die  Absicht  zu  erkennen,   das  soeben  mannbar  gewordene  Mädchen  auf  die 
j>aterhin  bevorstehenden  üeburtsschmerzen  vorzubereiten    und  sie  gegen  die- 
Ibeii  abzuhärten,  oder  sollte  es  nur  lernen,  die  Peinigungen  ihres  künftigen  Elie- 
y.ii       V'  '        einen  Ton  der  Klage  hören  zu  lassen? 

S'  0  Tättowiren,    wie  es  auf  den  Viti*lnseln    gebräuchlich 

-  r   r    i,  i  ,    rrhüblu-iie  Schmerzen.     ,Doch  halten   sie  die  Erduldung  derselben 
seiiir  rtligiuse  Pflicht,   ib^vit  V^-rnai  lillUnigung  sicherlich    nach  dem  Tode    be* 
•ir»R  wiri*     (lAihhackl 


.  a  t  b  o  1 U  c  b  e  B  b  a  Q  e  r  o  m  ti  il  f  li  e  n  aiiM  der 
(iivgtu'i  vr»ii  Zenica.  Bo8iii«n,   mit  TÜttowiruiig  von 
Bmtti  und  Händen.    (Nach  C/ä*-*.) 


124  ni.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

Auch  die  Frauen  der  Eskimo  sind,  wie  v.  Nordenskjold^  berichtet: 
, überall,  wo  sie  nicht  mit  den  Europäern  in  dauernder  Berflhrung  gestanden,  tätto- 
wirt,  nach  Mustern,  wie  sie  bei  den  Tschuktschen  üblich.  Man  legte  früher  auch  in  GrOn« 
land  grosses  Gewicht  auf  die  Tättowirung  und  glaubte  oder  richtiger  redete  den  jungen 
Mädchen,  welche  sich  gegen  diese  schmerzhafte  Operation  sträubten,  ein,  dass  der  Kopf  der 
Frau,  die  sich  nicht  auf  diese  Weise  schmücken  lasse,  in  der  anderen  Welt  in  ein  Thrangef&ss 
verwandelt  werde,  das  man  unter  die  Lampe  stellt,  um  aufzusammeln,  was  aus  derselbeu  ver- 
schüttet wird.  Das  Tättowireu  geschieht  in  der  Weise,  dass  man  mit  Hülfe  einer  Nadel  einen 
in  Lampenruss  und  Thran  getauchten  Faden  unter  die  Haut  zieht,  und  zwar  nach  einem  vor- 
her auf  dieselbe  gezeichneten  Muster,  wobei  man  mit  dem  Finger  auf  die  durchnähte  Stelle 
drückt,  um  die  Schwärze  zurückzuhalten.  Das  Tättowireu  geschieht  auch  durch  Punktirung, 
d.  h.  dadurch,  dass  man  die  Schwärze  in  Löcher  reibt,  die  man  mit  einer  Nadel  in  die  Haut 
gestochen  hat.  Auch  der  Graphit  wird  als  Tättowirungsschwärze  angewendet,  weshalb  auch 
dieses  Mineral  ein  Handelsartikel  der  Eskimos  isf 

Auch  bei  den  Eingeborenen  von  Formosa  ist  die  Tättowirung  bei  den 
Frauen  das  Abzeichen  des  geschlossenen  Ehebundes.  Die  Madchen  sind  nicht 
tättowirt;  die  verheiratheten  Frauen  aber  lassen  sich  von  der  Mitte  der  Oberlippe 
bis  zu  dem  Ohre  jederseits  einen  dreieckigen  Streifen  quer  über  die  Wange  tätto- 
wiren.    Fig.  67  zeigt  ein  solches  verheirathetes  Weib  von  Formosa.    Diejenigen 


Fig.  69.    Kaffermäachen  aus  Natal  mit  Schmucknarben.    (Nach  Photographie.) 

Forniosanerinnen,  welche  bereits  die  chinesische  Gultur  angenommen  haben 
und  als  Pep  oho  ans  bezeichnet  werden,  führen  diese  Tättowirung  nicht  mehr  aus. 
Das  Tättowireu  ist,  wie  wohl  allgemein  bekannt  sein  dürfte,  auch  in  Europa 
noch  nicht  gänzlich  abgekommen.  Namentlich  unter  den  Matrosen  und  Soldaten, 
aber  auch  unter  den  Sträflingen  ist  es  eine  weit  verbreitete  Spielerei,  welcher 
aber  besonders  bei  der  letztgenannten  Kategorie  die  Polizei  ihre  besondere  Auf- 
merksamkeit widmet.  Unter  der  weiblichen  Bevölkerung  Europas  sind  es  fast 
nur  noch  die  Prostituirten,  welche  sich  durch  Tättowirung  verschönem,  oder 
besser  gesagt,  Erinnerungszeichen  einstechen  lassen.  Es  ist  eigentlich  eine  Art 
von  Stammbuch,  zu  welchem  sie  ihren  Körper  benutzen.  Aber  auch  hier  finden 
wir  in  Bezug  auf  die  Häufigkeit  sehr  erhebliche  nationale  Unterschiede.  Auf 
Veranlassung  von  Baer  hat  Menger  die  polizeilich  eingeschriebenen  Prostituirten 
in  Berlin  auf  diesen  Gesichtspunkt  hin  untersucht.  Er  fand  unter  2448  Personen 
nicht  mehr  als  5  Tättowirte,  während  sich  nach  Lombroso  in  Turin,  Mailand 
und  Genua  unter  2161  von  ihm,  de  Amicis  und  Serge  Untersuchten  36  fest- 
stellen Hessen.  Auch  in  Paris  ist  das  Tättowireu  bei  dieser  Klasse  der  Bevölke- 
rung Sitte.  Baer  sagt:  «Nach  Parent-Duchaielet  sind  es  die  verworfensten  unter 
den  Prostituirten,  welche  an  den  Armen,  Schultern,  Achselhöhlen,  den  Oeschlechta- 


26,  Da»  Tfittowiren, 


127 


ewohnüeh  werden  die  Tättowiruugen    an  Sonn-  und  Feiertagen  ausgeführt    und 
rw  immer  in  directem  Anschluss  an  den  feierlichen  Gottesdienst. 

Das    Alles    bringt    iHück    auf    die    Vermuthung,    da    das    Tättowiren    alt- 
^lavisebe  Sitte  nicht  ist,  dass  es  einstmals  durch  die  katholischen  Priester  ein- 
bft  wurde,    um  den    einmal   zum    KathoUcismus  Bekehrten    den  Uebertritt  zu 
aer  anderen  Religion^  namentlich  aber  das  Renegatenthum  unmöglich  zu  machen. 
,A1ä  Tätto wirer  fungireu  meistens    ältere  Frauen.     Häufig  leisten  sich  aber 
ich  Miidchen  gegenseitig  diesen  Liebesdienst^  welcher  den  Zuschauern  viel  Spass 
if rettet,    namentlich  wenn  ein  webleidiges  Mädchen,    das  die  verschiedensten  Ge- 
pr  schneidet  und  auf  jeden  Stich  durch    einen  Schrei  reagirt,  tättowirt-  wird, 
entzündet   einen  Kieuspuhti    und   !i»ammelt   in  einem  „findzan"  (einer  kleinen 
iftjwse)    das  abrraufelnde  Harz^  in  welches    man  den    gleichfalls   während    der 
krennung    des    Kienspjihns    auf    einer    Blechplatte    gesammelten    Russ    mischt. 
Kese  schwarze  Pasta  wird  nun  nach 
riger  Spannung    der   zu  tatto- 
iden   Hautötelle  mit  einem  zuge- 
sehen  auf  die  Haut 
jjt  ten   Zeichnung  auf- 

_en     and    dann    mit   einer    bis 
an  die  Spitze  mit  einem  Faden 
^wickelten  Nadel  bis  zur  Blutung 
»i<t*ichen.    Die  Einstiche  werden 
Irliih    dicht   neben   einander  ge- 
bachi.      Die    tattowirte    Stelle  winl 
ifttuf  verbunden  und  nach  drei  Tagen 
bgewaschen, *     Ueber  den  gleichen 
ttd    hat    knrzlich    Trfihdkn 

ilhistrirto  Arbeit  verölTent- 

rht.  Er  war  im  Stande,  ausser  den 
tr«u:x«Q  auch  uocb  andere  Ormi- 
\enie  naelizu weisen,  die  als  Sonne, 
lonii,  Stern  und  Morgenstern,  Fichte, 
Lehre,  Krd»,  Haus  und  Hof  be- 
att  werden.  Hieraus  und  aus 
Umstände,  das*s  der  fast  immer 
für  dii»Ti*tto wirung  ausgewählte  Feier- 
bg  der  Tag  des  heiligen  Joseph 
IM  Mär«)  ist.,  d.  h*  der  Vorabend 
trFrtlhjahrssonnenwende,  lasst 
rmhrfha  annehmen,  dass  es  süich  imi 

1  el  uralter  bosnischer  Sitte  handelt.     Er  bestätigt  aber,    dass  jetzt 

*i..^o,  li^.tiäslich  Römisch- Katholiken  diese  Tätto wirungen   tragen,    auch   solche 
in  Albanien.     Als  das  normale  Alter  hierfi5r  fand  er  bei  den  Jdädchen  die  Zeit 
'fU   16  Jahren^    also    die  Jahre   der  beginnenden  Pubertät.      In  Jaice  in 
.  konnte  ich  im  Jahre  1895  viele  derartig  Tattowirte  sehen.     Es  war  in 
der  Kirchr    kurz  vor    einem  Gottesdienste.     Da    die    Weiber,    auf   Gebetteppichen 
aiet^nd,  nach  Art  der  Mohammedaner  ihre  Hände  im  Gebet  flach  ausgestreckt  in 
H5he  hielten,  so  wurden  ihre  Tat to wirungen  deutlich  sichtbar. 
Idi  Termag^  wie    aus    den  vorhergehenden  Erörterungen    erhellt,    nicht    mit 
übereinzustimmen (  der  die  Tättowirung  lediglich  durch  den  dem  Menschen 
allen  Breitengraden  imiewohnenden  Verschonerungstrieb  hervorgerufen  wissen 
Wir  werden  uns  der  Thatsache  nicht  verschliessen  können,    dass    sehr  ver- 
nedeoaiiige  Gründe  und  Anschauungen  ihr  zum  Dasein  verhelfen  haben. 


Fig,  72.    Eticlien Ausloht  einer  DAUamif -Ktuu  mtt 
fNnch  PhutDgrt'iiplili^) 


128 


III.  Die  äathetisch«  Auffassung  dej)  Woibe0> 


27.  I>ie  Ersetigutig  van  SciimuckiiArbeu. 

Müssen  wir  in  der  Tätto wirung,  gegenüber  dem  Körperbemalen,  in  Besag] 
auf  die  Beständigkeit  und  Deutlichkeit  der  Zeichnung  schon  einen  recht  erheblichen 
Fortschritt  anerkennen,  so  gilt  das  doch  noch  in  viel  höherem  Maasse  von  der  Er» 
Zeugung  der  sogenannten  Schmuck  narben.  Häufig  nämlich  haben  die  besonder.H 
schmerzhaften  Proceduren  bei  der  Tätto wirung  keinen  anderen  Zweck,  ab  den»  die 
frische  Wunde  in  einen  Zustand  der  Irritation  zu  versetzen,  um  eine  recht  stark 
prominirende  Narbe,  eine  Art  von  Keloid  zu  erzeugen.  Aus  diesem  Gründe  raib^n  ^4 
sich  die  Einwohneriimen  von  Kordofan  und  Darfur  Sala;  in  die  fri«chen  Tätto*  H 
wirungeschnitte,   da  die  hierdurch    ent8t»?henden  Protuberaozen   grosse  perBÖnliche      ' 


dem  Bftacbf..    (Kfccli  Photogra^^Uie.) 


Reize  verleihen.     (Darwin,)     Solche  Ziemarben  sah  FinseM  bei  Frauen  in  Neu^l 

Britannien  am  Oberschenkel  und  am  Gesäss.   Die  dieselben  verur  n  Kiö- 

schnitte  sind  sehr  schmerzhaft    und  bedUrfen    mehrerer  Monate   zu  «  -.- 
Auf  den  Gilbert-Inseln  bringen  sich  die  iMädchen  nicht  »elten  Br 
deren  ^             tiVr  eine  Schönheit  gelten,  nur  um  ihren  Muth  zu  bewöis^a-  (Iftn^cJ^^j 
'  Nttgt : 

»Bei  den  Fmuim    am  Murray  (Auntralion)    iat  die  pinzigo  wicLtiÄ<»  11;  ih 


130 


IlL  Die  ästhetiftcbe  Auffassung  de«  Weibea 


mm* 
dar 


m 


ihr 


Auadruck  würde  meiner  Meinang  nach  «Einkerben"  sein.     Diese  Procedur  findet  ttatt 
ein  Mtidcben  erwachsen  ist,    und  muss    äusserst  scbmershafi    seio.     Das  juuge  F 
kniet   nieder  und    legt    ihren  Kopf  zwischen    die   Rniee    einer    alten   starken  l 
Operateur  —  es  ist    immer    ein  Mann  —  macht    mit    einem  Muschel-    oder  Fe 
reihenweise  von  der  rechten  zur  linken  Seite  quer  über  den  Röcken  bis  dicht  ai. 
lange,    tiefe  Einschnitte  in  da&  Fletsch.     Der  Anblick  ist  äusserst  empörend.     Da»  Hlut  rinnt 
Strömen  heriib  und  tränkt  «üo  Erde,  während  die  Seh mer«ensau8b röche  dea    armen  Opfert 
Job  KU  einem  lauten  Angstgeschrei  steigern.    Und  doch  unterziehen  sich  die  Mädchen  bereit^ 

Jlig  dieser  QuiiU   denn  ein    gut   gekerbter  Rücken    wird    sehr    bewundert/*     Einen  sol 
gut  gekerbten  Röcken   können  wir   bei    der  Nord-ljueensland  Australierin    in  Fig.  ' 
sehen.     Ihre  junge  LandßmUnnin  in  Fig,  70  zeigt  schön«?  Schmncknarben  am  Oberarm. 

Ttouiey  hurte  von  einer  Frau  d 
Mitgandja  in  Afrika,  deren  Korpcl 
in  Folge  frischer  Einschnitte  in  di« 
alten  Tüttowirungsnarben  (um  nie  pro- 
njinirend  zu  machen)  von  Blut  triirftc 
dass  sie  nach  Vernarbung  der  Wun-j 
den  die  grosste  Schönheit  im  Lande 
sein  wUrde.  Uebrigens  werden  hier  di< 
Narben  besonders  benanut,  je  nacli 
den  Körper theilen^  auf  flf*^»^' 
Sitz  haben. 

Die  in  Fig.  t>9  •: 
düng  eines  jungen  Ku 
aus  Natal    laset  dermtige 
warben  auf  ihrem   Uüikr-n 
lieh  erkennen. 

In    der    Kreuzbeiug«  i^. 
sich  iSchmucknarben  bei  Weihi*rn  aui 
West -Afrika,  welche  a!     '  me- 

Amazonen      Europa       i  ^<^l 

Fi^ur  72  führt  eine  solche  vor.  BeiH 
sj>iele  von  Schraucknarben  im  ßecdcbl 
bieten  die  Magandja-Frau,  Fi^ur  TlJ 
1  und  5,  die  Loo bah- Frau,  F 
3,  aus  Central-Afrika  ni 
MorU'Frau  aus  den  oberen  Kii-Lan» 
dem»  Figur  49,  Letztere  h  '  •  "  b  am 
Arme  und  am  Bauche  8ch  b€0. 

Bei  dem  Niam-Nian     " 
78,    befinden    sich  gr« 
narhen   auf  der  Brust  und  sehr 
lii'he  am  Bauche. 

Von  den  Buschaegeftnnon 
Surinam  berichtet  r  ': 

i.Queiquo»  fetiittif:  uir  \uVi\ 

ro?nce  autour   de   I'om^ 
de  tatouage  se  prati«|üe  t::  ......  ...  ^, . 

inciHioDs  mr  la  penu.     La  cioatricc  n'etant  pas  aHsez   saütaote  apres  une  pretni^  op« 
Pät  obbgi^  de  rofftire  quatre  ou  cing  foi*  des  inciAions  sur  les  cicatricas.*' 

Im   nordöstlichen  Süd -Amerika   traf  Crevaux^  Iudianer*Fmu4)ti«   Wi 
ucknarben  auf  dem  Schenkel  hatten.     Mit  dens<«^lben  hatte  es  aber  »oloe  ei 

Bewandtnis«.     Crrvaux^  erxählt: 

^.Combien  avox-voui  isu  d'enf»nts?  dtmandai-je  ^  TaDd  d'elle«.     EHo  nifi  r^^sd  e 
montrant  trois  raio«  rooget  sur  le  haut  de   la  cuisi«.    Cot  barres  paral]^l«i»   qoi 


Fig. 75l  Hol£ge«<!biilt.£ie  FmuenH^r  (S  t fi  bl)  der  Bai  ii b  u 
(Lvalaba,  ACriktl  mU  tkltmuclinartcn  »m  Büiich. 
«Mudenm  fiir  Völkerkunde  in  Berlin.)  (X&cliFhota(<tft|»bie.) 


28.  Die  Kopf-Plaatik. 


131 


HS  qoe    portent    nos  rioux  8oldutä    pur   marquer   lear  tenips  de  service^    sarveni  u 
Ti»  nombro  dokiri  (enfiinta  mille*)  quo  ce$  malbeureuees  ont  en^endrt'S,'* 
l)tt3    Schtuucknarben    spielen     bei    vielen    afrikanischen    Völkern    eine    so 
Rolle,    daöä    öie    gewöhnlich    auch    an    ihren    holzgeschnitzteD  Figuren  an- 
al werden.     Das   haben  wir  in   Fig.  51    schon  gesehen    und  Fig.  75  bietet 
tjüs  ein  Beispiel  hierfür.     Die    letztere  Figur    stellt  einen  Stuhl   dar,   dessen 
niz  ►r    nackten    Baluba-Frau    gehalten    wird.     Der  Leib  derselben    ist 

assr-;  M  b  reich  mit  Sebniucknarben  verziert.    Die  Bai  üb  a  sind  in  dem  Gebiete 

der    Lualub^i   an^iu'^äig.     Das    interesffante   8tück    gehört   dem    kgL    Mttaeum    (^r 
Xr^V^trUnuiU'  In  Berlin. 


,<^ 


'^ 


28.  Die  Ko|>f-Pla8tik. 

Wenn  wir  in  den  Bemulungen  und  in  fast  allen  Tättowirungen  noch  das 
mn  decorative  Mument  vor  uns  hatten,  so  führte  uns  ein  kleiner  Theil  der 
letzteren«  welche  die  ausgesprochene  Absicht  erkennen  lassen,  dicke  wulstartige 
knopfformige  Narben  zu  erzeugen,  bereits  hinüber  in  das  Gebiet  der  Körper- 
"k,  d.  h.  zu  denjenigen  Mitteln  sogenannter  Verschönerung,  welche  als  Ver- 
Mmiatflungen  oder  Verdrückungen,  als  Form  Veränderungen  einzelner  Körper- 
r^pooen  bezeichnet  zu  werden  verdienen. 

Hier  stehen  obenan  die  künstlichen  Formgebungen  der  Schädelkapsel,  wie 
M  durch  zusamraen pressende  Kopflager  oder  durch  entsprechend  angelegte  Druck- 
Ylfb&ode  bereits  bei  Kindern  in  dem  zartesten  Lebens- 
alter herbeigeführt  werden.  Sehr  bekannte  Beispiele 
hi^rfttr  liefern  die  Köpfe  der  alten  Ce ntral- Ameri- 
kaner,  bei  denen  die  Stirn  in  eine  rückwärts 
'»^  V^nde  Ijige  gepresst  wurde.  Bei  den  Flathead- 
lüern    herrscht   heute    noch  diese  barbarische 

'  .   und  schon  dem  Säuglinge  in  der  Wiege  wird 

I  ii     ein    fest    der    Stirn   aufgelegtes    Brett    diese 

■ijllUigetliicht  und   der  Scheitel  dadurch   in  künstlicher 

W    Weiae  erhobt.     Der  bekannte  Maler  George  Catlin, 

I     der    lange    Zeit    unter    den    I  n  d  i  a  n  e  rn    lebte ,    hat       \ 

^Byicli    von    diesen    Flachkopf- Indianern    Skizzen 

H^tf«rti[^t,   deren    eine    ich    in  Fig.  76  wiedergebe.  ^* 

I  Die  küDstliche  Höher]>ressung  des  Kopfes  wird  ,..i^^ 

saeh  im  Kaukasus   bei   gewissen  Stämmen  immer        ^ 
ooeh  geübt;  und  endlich  sei  noch  an  die  künstliche  Fig.  76.    FUthfl»ri-jiMiitn»erinmit 

%T  _i-  jti*Ai_         1  *  1  IL       einem   Kincla    in   der   Atü    Kopf  fl&cti' 

yeriin^WungderHinterhauptsreginnermnert,  welche   ariiekemiöü  wiegr  «Nmch  «nir  M«id- 
in  bcelttnmten  Theilen  von  Frankreich  noch  mimer         «üichtjutig  von  G^^^f^  c^/t^.) 
nicht  hat  ausgerottet  werden  können. 

Ich  kann  dieses  hier  nur  kurz  andeuten,  da  fast  überall,  wo  dieser  Gebrauch 
bümdiend  war  oder  noch  im  Schwange  ist,  er  bei  beiden  Geschlechtern  in  gleich- 
floiasiL       **    '  :       ibung  gelangt     Man  vergleiche  hierüber  die  von  Ploss^^ 

b«»fj:  a  Operationen  am  Kindeskörper.    Für  uns  von  Wichtig- 

kerit  i>i  iibr*.r  eine  Angabe  de  Crespigntf's  über  die  Malanaus  im  nördlichen 
Bi^rneo,  weil  bei  diesen  allein  die  Köpfe  der  Mädchen  der  Deformirung  unter- 
zogen werden.  Der  dazu  benutzte  Lagerungsapparat  führt  nach  Roth  den  Namen 
Tadal;  seine  Anwendung  beginnt  am  15.  Tage  nach  der  Geburt  und  sie  wird 
bis  zum  3.  oder  4.  Monat  fortgesetzt  Im  Anfang  ist  der  ausgeübte  Druck  ein 
nur  geringer;  er  wird  aber  allmählich  immer  mehr  und  mehr  gesteigert.  Nach 
df  Crespigntf  wird  der  hierzu  benutzte  Apparat  Jah  genannt.  Ein  Kissen  oder 
Pobter  ans  den  frischen  Blättern  einer  Art  Wasserlilie  wird  zwischen  den 
rieredogea  Theü  des  Jah  und  den  Kinderkopf  gelegt     Diese  Blatter  sind  weich, 

9- 


132 


lU.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 


dick  und  fleischig.  Man  wechselt  sie  täglich.  Roth  sagt  dagegen,  dass  das  Kissen 
auf  die  Stirn  des  Kindes  gelegt  und  mit  Bändern  in  seiner  Lage  erhalten  wird, 
die  um  den  Hinterkopf  gelegt  sind  und  an  dem  Apparate  in  Ordnung  gehalten 
werden  können,  ohne  das  Kind  aus  seiner  Rückenlage  zu  nehmen.  Crodcer,  der 
auch  von  diesen  Geräthen  spricht,  hat  oft  die  zarte  Sorgfalt  der  Mütter  bewundert, 
welche  bisweilen  zwanzig  Mal  in  einer  Stunde  den  Apparat  lüfteten  und  von 
Neuem  anlegten,  wenn  die  Kinder  Zeichen  von  Unbequemlichkeit  erkennen  Hessen. 
Wenn  ein  zu  starker  Druck  ausgeübt  wird,  so  nähern  sich  das  Stirnbein  und 
das  Hinterhauptsbein  derartig,  wie  Roth  berichtet,  dass  die  Seitenwandbeine  an 
ihrer  Vereinigung  behindert  und  die  grosse  Fontanelle  des  Schädels  auch  bei 
Erwachsenen  erhalten  bleibt.  Wenn  nicht  sorgfaltig  nach  dem  Kinde  gesehen 
wird,  so  wird  bisweilen  die  Nase  verletzt,  und  manchmal,  aber  nicht  häufig,  tritt 

in  Folge  der  Anwendung  des  T  ad  als  sogar  der 
Tod  ein.  Aber  eine  abgeflachte  Stirn  wird  von 
den  Malanaus  als  eine  grosse  Schönheit  an- 
gesehen. 

Von  den  zum  Bereiche  des  Gesichts  ge- 
hörenden Gebilden  haben  unzweifelhaft  die  weiteste 
Verbreitung  die  absichtlichen  Beschädigungen 
der  Ohrmuscheln.  Wir  brauchen  uns  hier 
nicht  erst  in  der  Ferne  nach  Beispielen  um- 
zusehen. Finden  doch  die  Durchbohrungen  der 
Ohrläppchen  behufs  Unterbringung  von  Schmuck- 
sachen auch  bei  uns  noch  in  sehr  vielen  Fällen 
statt.  Und  in  manchen  Gegenden,  wenigstens 
der  Mark  Brandenburg,  wird  diese  Procedur 
für  durchaus  nothwendig  gehalten,  nicht,  wie  der 
Volksmund  scherzweise  sagt,  um  ein  untrüg- 
liches Mittel  zu  besitzen,  die  Knaben  von  den 
Mädchen  unterscheiden  zu  können,  sondern  weil 
man  glaubt,  dass  auf  diese  Weise  ungesunde 
Säfte  von  den  Augen  abgezogen,  die  Augen 
somit  vor  Erkrankungen  geschützt  und  bereits 
chronisch  erkrankte  zur  Heilung  gebracht  wer- 
den können.  Das  Tragen  eines  Ohrringes  im 
linken  Ohre  wird  in  dieser  Beziehung  für  noch 
Fig. 77.   Junge Ruk-insuianeiin  (Caro-  wirksamer  gehalten  als  ein  rechtsseitiger  Ohrring. 

linen)  mit  durchbohrten  und  stark  ausge-  Tk*     O'Z.      j       /m.  i-         i_  Ji.isi_ 

dehnten  Ohrläppchen,  die  mit  vielen  Ringen    .  Die  bitte,  das  ührlappcnen  ZU  durchiOchem, 

geschmückt  sind.  iNach  Photographie.)      ist,  wie  bereits  gesagt,  eine  Weitverbreitete.  Aber 

manche  Völkerschaften  begnügen  sich  nicht  da- 
mit, ein  einfaches  Loch  durch  dasselbe  zu  bohren,  sondern  sie  pflegen  dieses  auch 
noch  allmählich  durch  das  Einlegen  kleiner  Holzpflöckchen  von  immer  wachsendem 
Kaliber  und  endlich  von  immer  grösser  gewählten  Bambusrollen  zu  wahrhaft 
enormer  Grösse  auszudehnen.  Zuletzt  werden  dann  als  Schmuck  Holzknöpfe 
(Madagascar,  Central -Afrika),  Palmenblattspiralen  (Naya-Kurumbas  im 
Nilgiri-Gebirge  [Jagor^])  oder  Blumen  (Neu-Seeland)  in  den  enorm  erweiterten 
Ohrlöchern  getragen. 

Bei  den  Mädchen  der  Battas  wird  nach  Hagen  das  Ohrloch  durch  Bambus- 
pflöcke oder  Wolltuchknüuel  etwa  daumengross  erweitert,  um  einen  silbernen  Reif 
als  Schmuck  einzuhängen,  der  das  Läppchen  bedeutend  verlängert.  Ausserdem 
durchlöchert  man  den  oberen  Theil  der  Ohrmuschel,  in  welchem  dann  zierlich 
gearbeitete  Ohrringe  getragen  werden. 

Bei  den  Basuthos  in  Transvaal  war  es  Sitte  und  ist  es  stellenweise  auch 
wohl   heute   noch,    nicht  die  Durchbohrung  in  dem  Ohrläppchen  selbet,   sondern 


Die  Eopf-Plastik. 


133 


%et 


mx  dttrjenigan  Stelle  anzubringen,  wo  die  ausserste  Windung  der  Ohrmuschel,  der 
Hrlix^  m  das  Ohrläppchen  übergeht 

Jotsi  berichtet,  dass  die  Mädchen  der  Makua  auf  Mozambique  es  lieben, 
«fih»    ftbgeaehea    von  10 — 15  Löchern    in  dem  Ohrrande,    das  Ohrläppchen  so  zu 
itern,  dass  sie  Holzpflöcke  von  dem  Durchmesser  eines  Fünfinarksttlckes  hinein- 
i  ^en  können. 

Auch  in  bestimmten  Theilen  Ostindiens  (vergL  Fig.  59  No.  1)  und  nament- 
bei  den  Mitta  in  Afrika  (vergL  Fig.  59  No.  3)  wird    die  Ohrmuschel  mit 
gafi:zen  Reihe  von  Durchbohrungen  versehen.     Das  Gleiche    zeigt  auch  das 
indu*  V   '  '     ,  in  Fig.  30,  sowie  die  Loobah-Frau  Fig  74,  3. 

Bt ;  .^^n  Völkern  werden  die  Ohrläppchen  zu  ganz  erstaunlicher  Länge 

luiig^dehnt,  uud  ihre  Durchbohrung  zeigt  ebenfalls  sehr  erhebliche  Dimensionen. 
Gewöhnlich  wird  dann  dtts  Ohrläppchen  mit 
mner  ganzen  Reihe  von  Ringen  geschmückt, 
flehe  au  Fingerringe  erinnern.  Ein  Bei- 
_  [>iel  biertür  liefert  die  Anachoreten-ln- 
«ulanerin  (Fig.  59  No.  7),  sowie  die  junge 
XÄTolinen- Insulanerin  von  der  Insel  Ruk, 
f.  77.  Die  Papua- Frau  von  der  lns*;l 
kilpi  im  Bismarck- Archipel,  Fig.  58^ 
it  2 war  die  starke  Ausdehnung  des  Ohr- 
thenü,  aber  dasselbe  ist  sunst  ohne  Zier 
Die  Oruon-Cole-Frau  aus  Ben- 
galrn,  Fig.  59,  1  triigt  einen  dicken  Knopf 
im  Ohrläppchen,  und  der  Meeree-Fnm  aus 
Astftin.  Fig.  79,  ist  in  die  weit  ausgedehnte 
cV  '  sr  des  Ohrläppchens  ein  grosser 
gepasst  worden. 
Bisweilen  werden  auch  die  enorm  er- 
citerien  Ohrläppchen  an  einer  Stelle  nahe 
ff  Basij»  dnrchücbnitten  oder  durchgerissen, 
3ti  hängt  das  Ohrläppchen  als  langer, 
iler  läppen  bis  auf  die  Schulter  herab, 
da*«  die  Mnbiak* Insulanerin  in  Fig.  78 
igt*  Sie  \Mi  inn  Mädchen  von  20  Jahren, 
Tüll  ymscfi  photographirt  worden  ist, 
»p  junge  Perjton  desselben  Stammes, 
I*  di*^  cripiche  Frocedur  durchgemacht 
!iai«     tri  herabhängenden     Lappen 

d^e  Ohr»  ^  ,  ^  (Fig.  81)  mit  einer  ganzen  Anzahl   von  Ringen  bedeckt 

In    dem    durchbohrten  Nasenflügel    pflegen  die  Damen  der  Hindu  einen 

lopfiurtigen  Schmuck  (Fig.  29)  oder   einen  Ring  iFig.  3(J),    die  Makua -Weiber 

Mozambiqoe    eine    eingeschraubte    Perle    zu    tragen.      Es    wird    zu    diesem 

über    immer  nur   ein  Nasenflügel  benutzt,    und  zwar  scheint  entschieden 

'  bevorzugt  zu  werden,  der  bei  einigen  Stämmen  durch  die  Schwere  des 

iMfhr   grossen  Ringes   ganz   beträchtlich    herabgezogen    wird.     Das   steigt   uns 

B,  die  Limb 00 -Frau  (Fig.  59  No.  8), 

Wimn  bei  den  Kaders  in  den  Anamally- Bergen  (Indien)  die  Kinder  zu 
^•n,  so  werden  ihnen  die  Nase  und  die  Ohren  durchbohrt;  Knaben  wie 
^en  Ohr-  und  Nasenringe;  ältere  Leute   pflegen  diesen  Schmuck  ab- 
lulegen  iJagor). 

Die    Boogofrauen    in  Central-Afrika    tragen    in    den    Nasenflügeln    und 
in    dw    Lippe    autreehtetehende    Hairastücke    (Schwein/ urth^J,      (Vergl.    Fig.    74 
io.  4  uod  6.) 


Torre8-atrB«tte«  mU/i»«>»t  UiMjHtHclj vBrgrfta««- 
Uii  nsd  dann  uafgi  Ohfl&ppcheiu 


134 


III.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 


Die  Nasenscheidewand  zu  durchbohren  und  zwar  dicht  vor  dem  Ansätze 
der  Oberlippe,  war  früher  viel  verbreiteter  als  heute.  Jetzt  aber  finden  wir  diese 
Art  der  Verschönerung  noch  bei  den  Australiern  in  Queensland,  wo  sie  bei 
beiden  Geschlechtern  herrscht.  In  der  Oefihung  wird  ein  Knochen  oder  auch  ein 
verziertes  Stück  Holz  getragen  (vergl.  Fig.  59  No.  6).  Auch  die  Weiber  der 
Dschur  im  östlichen  Sudan  haben  häufig  einen  eisernen  Ring  durch  das  Septum 
narium  oder  durch  die  Mitte  des  Nasenrückens  gezogen  (v.  HeUwald).  Die 
Gashivos-Indianerin  Fig.  62  trägt  ebenfalls  einen  Schmuck  in  der  durchbohrten 
Nasenscheidewand. 

Bei  den  Verschönerungen  des  Mundes  kommen  in  erster  Linie,  abgesehen 
von  den  bereits  erwähnten  Tättowirungen  der  Lippen,  die  Färbungen  und  die 
Verunstaltungen  der  Zähne  in  Betracht.  Sie  werden  ganz  oder  theil weise  aus- 
gebrochen, treppenartig  abgemeisselt,  spitzig  zugefeilt  (vergl.  Fig.  74  No.  5)  und 
mit  dreieckigen  Löchern  versehen.     Allerdings  ist  dies  alles  in  viel  höherem  Grade 

tbei   den  Männern  als  bei  den  Weibern  der  Fall, 
jedoch  haben  letztere  bisweilen  ihre  besonderen 
Gebräuche. 
Die  Schneidezäh4e  der  Weiber  auf  M ada- 
gas car   sind  nach  Joest  haifischzahnartig  zuge- 
spitzt. 
Von  den  Batta  in  Sumatra  sagt  Hagen: 
'^  "  ,Bei  den  Weibern  der  Batta  werden  die  oberen 

Schneidezähne    gleich   den    unteren    völlig   bis  auf  das 
Zahnfleisch  abgemeisselt.    Dieser  Gebrauch  ist  constant: 
man  wird  kaum  eine  Frau  finden,  die  ihre  Zähne  anders 
trüge.      Haben  die  Zähne  endlich  ihre  definitive  Form 
erhalten,  wenn  auch  erst  nach  Jahren,  so  werden  sie  bei 
beiden  Geschlechtem  schwarz  gefärbt,  und  zwar  sämmt- 
liche  Zähne  ausnahmslos.     Zu  diesem  Zwecke  verkohlt 
man  ein  Stück  Limonenholz  auf  einer  Messer-  oder  Parang- 
klingre.  Das  herausträufelnde  Harz  des  brennenden  Holzes 
vermischt  man  innig  mit  der  Kohle  und  bestreicht  mit 
Fig.  79.    Meeree-Fraa  aas  Assam       ^^^  ^0  erhaltenen  Fimiss  die  Zähne  zwei-  bis  dreimal; 
mit  durchbohrtem  and  stark  erweitertem    dieselben  werden  dadurch  dauernd  und  intensiv  schwarz 
Ohrläppchen,  in  dessen  Loch  ein  Ring  ein-   geftrbt,  während   der   zähe  Fimiss   zugleich  eine  etwa 
gepasst  ist.    (Nach  Photographie.)  ^^^^^^^  Zahnhöhle  verstopft.« 

Auf  den  kleineren  Inseln  der  alfurischen  See  zwischen  Neu -Guinea  und 
den  Sunda- Inseln  herrscht  fast  durchgängig  die  Sitte,  den  Mädchen  zum  Zeichen 
der  erreichten  Mannbarkeit  die  Zähne  abzufeilen. 

Auch  die  Lippen  entgehen  dem  Schicksale  nicht,  aus  Gründen  sogenannter 
Verschönerung  entstellt  und  verstümmelt  zu  werden.  Die  Frauen  der  afrika- 
nischen Bongo  z.  B.  zwängen  die  Oberlippe  jederseits  nahe  an  den  Mund- 
winkeln in  Metallklammern,  und  ausserdem  tragen  sie  in  einem  Loche  mitten  in 
der  Oberlippe  einen  Halm  oder  einen  Kupfernagel  und  in  der  Unterlippe  einen 
Holzpflock  {Schwein furih^,  vergl.  Fig.  74  No.  4  und  6). 

Bei  einer  Truppe  von  Indianern  aus  Guyana,  angeblich  Bouquouyennes 
und  Arrawaken,  welche  vor  einigen  Jahren  Europa  durchzog,  hatten  die 
grösseren  Mädchen  und  die  Frauen  ebenfalls  eine  Durchbohrung  der  Unterlippe. 
Dieselbe  sass  genau  in  der  Mittellinie  und  hatte  ihre  innere  Oeffnung  an  der 
Uebergangsstelle  des  Lippenroths  in  die  Schleimhaut  der  Unterlippe,  während  die 
äussere  Oefi*nung  hart  an  der  Grenze  zwischen  dem  Lippenroth  und  der  äusseren 
Haut  gelegen  war.  Wenn  sie  nichts  in  dieser  Durchbohrung  trugen,  dann  war 
dieselbe  gar  nicht  zu  bemerken.  Als  die  erste  Errungenschaft  ihrer  Weltreise 
benutzten  sie  gewöhnliche  Stecknadeln  als  Lippenschmuck,  und  es  war  höchst 
interessant  zu  beobachten,  mit  welcher  fabelhaften  Geschwindigkeit  sie  die  Steck- 


136 


111.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 


Fig.  öl.  Papua-Frau  von 
der  Insel  Mabiak  (Jewis  Is- 
land, Torres-Strasse)  mit  ur- 
sprünglich durchbohrtem  und 
stark  erweitertem ,  später 
durchgerissenemOhrläppchen . 
dessen  laug  herunterhängen- 
der Rest  mit  Ringen  ge- 
schmückt ist,  und  mit  stark 
einschnürendem        Oberarm- 


nadel durch  die  Durchbohrung  der  Lippe  prakticirten.  Es  bot  sich  mir  die  günstige 
Gelegenheit,  Dank  der  freundlichen  Vermittelung  des  bekannten  Reisenden,  Herrn 
Capitän  Adrian  Jacobsen,  diese  Leute  zu  photographiren,  und  ich  gebe  in  Fig.  80 
das  Bildniss  eines  19jährigen  Mädchens,  einer  rundlichen 
Person  mit  prachtvollem,  schwarzem  Haar,  aber  leider  mit 
einem  blinden  Auge. 

Von  den  Weibern  der  Magandja  sagt  Livingstone: 
„Ihr  absonderlichster  Schmuck  ist  das  Pelele,  der  Ober- 
lippenring. Die  Oberlippe  der  Mädchen  wird  an  der  Uebergangs- 
stelle  zur  Nasenscheidewand  durchbohrt  und  durch  einen  eingelegten 
Stift  das  Verheilen  gehindert.  Es  werden  dann  allmählich  dickere 
Stifte  eingelegt,  bis  nach  Monaten  und  Jahren  das  Loch  so  gross 
ist,  dass  ein  Ring  von  zwei  Zoll  Durchmesser  hineingelegt  werden 
kann.  (Fig.  74  No.  1.)  Dies  bewirkt  es,  dass  in  einem  Falle  die 
Lippe  zwei  Zoll  über  die  Nasenspitze  vorragte,  und  als  die  Dame 
lächelte,  hob  die  Contraction  der  Muskeln  die  Lippe  bis  über  die 
Augenbrauen,  während  gleichzeitig  die  Nasenspitze  durch  das  Loch 
heraussah  und  die  spitz  abgefeilten  Z&hne  einen  Erokodilsrachen 
vortäuschten."    (Fig.  74  No.  5.) 

„Warum  tragen  die  Frauen  diese  Dinge?''  wurde  der  ehrbare 
Häuptling  Chinsurdi  gefragt.  Offenbar  erstaunt  über  eine  so 
dumme  Frage  erwiderte  er:  „Der  Schönheit  wegen!  £s  sind  dies 
die  einzigen  schönen  Dinge,  welche  die  Frauen  haben,  Männer 
haben  Bilrte,  Frauen  haben  keine.  Was  fQr  eine  Art  von  Person 
würde  eine  Frau  sein  ohne  das  Pelele?  Sie  würde  wie  ein  Mann 
mit  einem  Munde  ohne  Bart,  aber  gar  keine  Frau  sein." 

Anstatt  dieses  Ringes  tragen  die  Weiber  der  Mit  tu  nach 
Schweinfurth^  einen  Knopf  aus  Elfenbein,  aus  Hörn  oder  auch 
Hinge.  (Nach  Photographie )  ^us  Quarz  (Fig.  59  No.  3)  in  der  Lippe.  Von  den  demselben 
Stamme  angehörenden  Loobah- Weibern  wird  gleichzeitig 
auch  noch  ein  polirter  Quarzkegel  von  über  6  cm  Länge  in  der  Unterlippe  getragen. 
(Fig.  74  No.  3.)  Die  Weiber  von  Latuka  tragen  einen  Krystall  in  der  Unter- 
lippe, und  die  Frau  des  Häuptlings  äusserte  sich  gegen  Baker^  dass  seine  Frau 
sich  sehr  verschönem  würde,  wenn  sie  ihre  Vorderzahne 
aus  der  unteren  Kinnlade  herausziehen  und  den  langen,  zu- 
gespitzten, polirten  Krystall  in  ihrer  Unterlippe  tragen  wollte. 
Dass  bei  den  Botokuden  in  Süd-Amerika  grosse 
hölzerne  Knöpfe  in  der  Unterlippe  getragen  werden,  dürfte 
dem  Leser  wohl  bekannt  sein.  Ihr  Name  stammt  von  dieser 
Sitte  her.  Dieselbe  herrscht  aber  bei  den  Männern  ganz 
in  demselben  Maasse,  als  bei  dem  weiblichen  Geschlecht. 
Auch  die  Cashivos- Indianerin  Fig.  62  trägt  in  der 
Unterlippe  einen  Pflock. 

Im  Norden  Amerikas  herrschen  ähnliche  Gebrauche; 
das  ersehen  wir  aus  einem  Berichte,  den  wir  dem  Capitän 
Jacobsen  verdanken: 

,1n  den  Eskimo -Dörfern  im  hohen  Nordwesten  Amerikas 
an  der  Mündung  der  Euskoquim  weiss   sich  der  weibliche  Theil 
mit  Perlen  sehr  zu  schmücken;    diese  werden  überall,  auch  in  den 
Haaren,  angebracht.    Die  Unterlippe  der  jungen  Mädchen  wird  an 
drei  Stellen  durchbohrt;   in   den  8eitenl0chem   steckt   als  Lippen- 
pflock je    ein   kleiner   krummer    Knochen,    dessen    knopfförmiges 
stärkeres  Ende  sich  im  Inneren  des  Mundes  befindet  und  das  Heraus- 
fallen des  Knochens  verhindert ;  das  äussere  Ende  des  Knochens  ist  mit 
Perlen  geschmückt    Auch  das  Mittelloch  der  unteren  Lippe  trägt  als  Lippenpflock  einen  ganz 
kleinen  Knochen  mit  Perlen.  Die  Nasenscheidewand  der  jungen  Mädchen  ist  gleichfallt  durch- 
bohrt und  trägt  eine  hinauf  den  Mund  herabhängende  Perlenschnur.  Dieser  Nasenperlentchmack 


Fig.  82.    Frau  von  Neu- 
<Tuiuea  mit  tief  einschnei- 
dendem Junge  am  Oberarme. 
(Nach  Photographie.) 


39»  Die  K^ryei^lustik  um  Eampfe  and  an  den  obareti  Extremitäten. 


137 


I  aich  i&nch  bei  den  jungen  Eskimo-Schönen  am  unterem  Thakon,  towie  weiter  nord- 

bei  Jen  Mallemnton.   Alle  dieBe  Eakiraos  tüttowiren  auch  d&6  Kinn.*  (Fig.  74  No.  2.) 

Bei    den    nordlieben    Nachbarn    der    Babine»    in    Britisch    Columbien 
herr»chi   die   Sitte,   der   ganzen  Länge    des  Mundes    nach    in   die  Oberlippe  Glas- 
'         inzusetzen,  die  Hllmählich  von  der  Haut  überwachsen  werden,  so  dass  nur 
tel    der  Perlen    über    die    Lippen    hervorsteht.     Sie    sehen    dann   aus^    als 
iiUtffi  me  ihre  Zähne  ausserhalb  des  Mundes  (v.  Hesse- Wartegg), 

Von  den  Verunstaltungen  am  Kopfe  habe  ich  noch  kurz  das  Ausreissen 
Augenbrauen  tu  nennen,  wie  es  bei  den  Japanerinnen  und  nach  Sc/am«- 
rth  bei  den  Bon go- Frauen  in  Ost- Afrika  Sitte  ist.  Auch  bei  den  See- 
tsjruken  im  nördlichen  Borneo  ist  es»  wie  Roth  berichtet,  gebräuchlich,  sich 
Itleinen  Pinzetten  die  Augenbrauen  und  die  Augenwimpern  auszureissen,  Aller- 
ist diese  Sitte  aber  nicht  auf  das  weibliche  Geschlecht  beschränki  (Man 
ergleiche  auf  Fig,  o9  die  Andamanesin  No.  2  and  die  Anachoreten- 
iinerin  No»  7.)  Es  würde  mich  zu  weit  führen,  sämmtliche  in  dieser  Beziehong 
chenden  Gebräuche  berichten  zu  wollen,  welche  besonders  in  Afrika  ihre 
Imnath  haben,  und  so  möge  es  mit  dem  Erzählten  genügend  sein. 


29.  Die  Körper|»lA8tik  am  Rumpfe  utid  an  deu  oberen  Extremititteii. 

Auch    an   dem  Rumpfe    und    an    den  Extremitäten  TermÖgen    wir  Beispiele 
I'  lastik    nachzuweisen.     Am    Uumpfe    sind    wir   bereits    den    durch  die 

-■n    herrorgerufenen  Verunstaltungen    begegnet.     Von    den  sonst  hier 
[ich  vorgenommenen  Proceduren  sind  die  bei  weitem  wichtigsten  die  Behandlung 
Brüste   und    der  Geschlechtstheile.     Da  ich  jedoch  später  diesen  Organen  be- 
pudere    Kapitel     zu    widmen     habe,    so    mag 
uch    die    Besprechung  ihrer  Verunstaltungen 
dahin  verschoben  werden. 
An    den    oberen  Extremitäten    musa   ich 
^'*  «ih^onderliche  Unsitte  erwähnen,  die  Finger- 

1   bis  zu  unglaublicher  Länge  wachsen  zu  /^  X  {    \/      \ 

Vnnamiten),  um  dadurch  den  Beweis 

1,  dass  die  Besitzerin  ihre  Hände  nicht  ^"^Biä^^^^^*^       I 

rar  Arbeit  zu  profaniren  nöthig  hat.  Das  Ab- 
schneiden einzelner  Fingerglieder,  wie  es  uns 
m  Afrika  (Buschmänner),  im  südlichen 
Indien  und  bei  Indianern  begegnet,  hat 
oicht  die  Bedeutung  einer  Verschönerung,  son- 
ders ee  ist  entweder  ein  Zeichen  der  Tratjer, 
ein  Opfer  zur  Abwendung  von  Gefabren, 
ee'  hat  die  hierher  gebarigen  Thatsachen 
tn^ngesteilt,  und  auch  wir  werden  später 
ein  interessantes  Beispiel  kennen  lehnen. 
m^iBs  ich  auch  der  absonderlichen 
nken,  deu  Oberarm  mit  einem  Ringe 
eclimücken,  der  nicht  wieder  ent lernt  wird, 
einer  Zeit,  wo  das  Wachstbum  noch  nicht 
lUendet  ist.  Später  schneidet  dann  dieser  Fig.  S3, 
tief  in  die  Weicbtheile  des  Armes  ein, 
im  Über  die  Ränder  des  Ringes  hervor- 
elleu.  Die  Papua* Frauen  von  Mabiak  in  der  Torres-Strasse,  Fig.  81,  und 
tt  Neu-Ouinea.  Fig.  82,  führen  uns  Beispiele  hierfür  vor. 

Den  Verstümmelungen    und    Entstellungen    zum    Zwecke    sogenannter  Ver- 
i^neruog   habe   ich    noch    die   artiäciellen    Fettbildungen  anzuscbliessen.     Eine 


<ß&!^ 


FettloibJKo  lune«iiche  Jddlll 
In  tl«r  SübbathjikkldaDg. 


138  ^^^'  ^^^  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 

besondere  GeschmacksrichtuDg  für  Frauenschonheit  ist  nämlich  im  Orient  heimisch; 
dort  halten  viele  Völker  nur  solche  Weiber  für  schön,  deren  Körper  eine  mehr 
als  normale  Fülle  durch  reichliche  Fettabiagerung  zeigt.  Ein  feiner  Glieder- 
bau gilt  dort  nichts,  und  die  Fettbildung  wird  durch  eine  formliche  Mästung  des 
jungen  Mädchens  im  Harem  gefordert. 

Die  klassische  Gegend  Ar  diese  Wohlbeleibtheit  ist  Afrika.  Im  Königreich 
Karagwah  gilt  ebenso  wie  in  Unyoro  und  anderen  afrikanischen  Staaten 
bei  allen  Frauen,  besonders  aber  bei  denen  des  Königs,  die  Fettleibigkeit  als  zum 
Begriff  der  Schönheit  gehörig.  Schon  von  früher  Jugend  an  werden  die  betreffen- 
den Mädchen  einer  richtigen  Mästung  mit  Mehlbrei  oder  geronnener  Milch  unter- 
worfen. Diese  Vorliebe  für  die  übermässig  vollen  weiblichen  Formen  findet  sich 
allgemein  bei  den  Arabern  und  wohin  diese  ihre  Herrschaft  und  ihren.  Einfluss 
verbreitet  haben.  Zwar  war  das  ältere  arabische  Schönheitsideal  durchaus 
nicht  auf  die  Ueberschätzung  der  Fleischmasse  basirt,  und  noch  jetzt  zeigen  z.  B. 
die  Frauen  der  Himyaren  nie  fette  Gestalten.  Aber  bereits  die  Zeit  Mohammed' s 
bietet  uns  in  seiner  dicken  Lieblingsgattin  Ä'ischa  ein  Beispiel  ausserordentlicher 
Beleibtheit. 

Das  im  Ganzen  doch  faule  Wohlleben  im  Harem  der  vornehmen  Aegypter 
macht  deren  Weiber  zur  Corpulenz,  und  sogar  zu  einer  oft  gewaltigen  Fettab- 
lagerung geneigt.  Solche  Corpulenz  giebt  aber  die  Einleitung  zu  vielen  leiblichen 
Beschwerden.  Einen  widerlichen  Eindruck  macht  der  plumpe,  watschelige  Gang 
einer  feisten  Sitte  (Dame),  woran  zum  Theil  freilich  die  unpraktische  Fussbe- 
kleidung  Schuld  hat.  Eine  Frau  niederen  Standes  dagegen,  welcher  keine  zahl- 
reichen Dienerinnen  zu  Gebote  stehen,  muss  fieissig  arbeiten  und  wird  daher  nicht 
leicht  fett.  Sie  bleibt  durchschnittlich  schlanker,  graziöser,  als  die  Frau  aus 
höherer  Lebenssphäre  (Hartmann^). 

Die  Frauen  in  Aegypten  suchten  seit  langer  Zeit  die  Fettbildung  theils 
durch  den  Gebrauch  warmer  Bäder,  theils  durch  ganz  besondere  diätetische  Mittel 
zu  befördern ;  dies  bezeugt  Alpinus,  welcher  auch  speciell  die  eigenthümliche,  zu 
diesem  Zwecke  benutzte  Methode  beschreibt. 

y  Unter   den   Jüdinnen   in   Tunesien    finden    sich    auch 

I  recht  wohlbeleibte  Damen.      Ihre   erhebliche   Körperfülle   wird 

Y        durch  ihr  absonderliches  Kostüm  noch  ganz  besonders   augen- 
\M        fällig.     In  Fig.  83  ist  eine  solche  tunesische  Jüdin  in  ihrer 
y         Sabbathskleidung  zur  Anschauung  gebracht. 
]^  Die   Trarsa   in    der    Sahara  zwischen  Talifet    und 

Timbuk  tu  verlegen   sich  ganz  besonders  auf  die   Erzeugung 
von  Fettleibigkeit   bei   den  Frauen;    die  Mädchen  müssen  frei- 
willig oder  gezwungen  unerhörte  Massen  von  Milch  und  Butter 
zu   sich  nehmen,   so  dass    sie  zuletzt   eine  Feistigkeit   erzielen, 
die  bei  der  Magerkeit  der  Männer  doppelt  aufKllt  (Chavanne), 
Auch    unter   den    südnubischen  Völkern    herrscht   der 
barbarische  Brauch,    die  jungen   Mädchen  vor   ihrer  Verheira- 
Entzünd^te^BaUen     ^'^"^g  künstlich  ZU  mästeu!  denn  Fettleibigkeit  und  Körper- 
(nach  EncJurn).       füUc  gchörcu    hicr   ZU    den   ersten  Schönheitsbedingungen  des 
Weibes. 
, Vierzig  Tage  vor  der  Hochzeit  wird  das  Mädchen  zu  folgendem  Regime  g^wnngen: 
früh  Morgens  mit  Tagesanbruch  salbt  man  ihr  den  Körper  über  und  über  mit  Fett  ein,  dann 
muss  sie  einen  Brei  aus  circa  1  Kilogramm  Durra -Mehl  mit  Wasser,  ohne  Salz  und  Würze 
gekocht,   zu  sich  nehmen,   sie  muss,   denn  neben  ihr  steht  die  hierin  unerbittliche  Mutter 
oder  sonstige  Verwandte,  der  das  Heirathsprojekt  am  Herzen  liegt,  mit  dem  Stocke  oder  Kur- 
batsch  aus  Hippopotamushaut,  und  wehe  ihr,  wenn  sie  die  Schflssel  nicht  bis  auf  den  Grand 
leert.    Selbst  wenn  sie  die  Uebermasse  der  faden  widrigen  Nahrung  erbricht,  wird  sie  nicht 
dispensirt,  es  wird  von  neuem  gebracht  und  muts  hinuntergeschluckt  werden.    Nachmittags 
bekommt  sie  ebenfalls  Durra -Brei  (Lugma)  mit  etwas  gekochtem  Fleisoh,  dessen  Brfilie  dis 


Die  K5rperplii£tik  am  Htimpfe  und  an  den  oberen  Extretnitäieo 

Ssaet  hü6^i  Ahenda  dieselbe  Quantität  Brei  wie  am  Morgen,  und  endHch  in  der  Nacht  noch 
0mB  grottM»  Kdrbisacbalt^  fetter  Ziegetimilcb.     Dabei  unablässig  Sluseerlicbe  Fetteinreibnngen. 
Bii  iimmt  Behandlung  gewinnt  der  K«:^rper  dos  Mädchens  fast  sichtbar  an  Rundung,  und  wenn 
dia  vieirig  Tage  verfloesea  sind»  gleicht  er  beinahe,  um  einen  sudanefiischen  Vergleich  zu 
g#bimtichen,  an  Mnaae  dem  Nilpferde;  doch  entzückt  das  ihren  Zukünftigen  und  erweckt  den 
Neid  ibrer  mageren  Mit- 
»ebwatteni.     Die  Fettlei- 
bigkeit   i«i    eben   Mode, 
Eid  «ra«  thnt  und  leidet 
>  Evastochter  nicht  altes 
d«r   Mode    willen?*' 

Den  gleichen  Ge- 
ck verräth,  was 

rMe   über   die 

li  sagt: 

«Dur  jQngtinghui- 
leiner  Geliebtem 
Liedor.  Kr  ruft  ihr 
)u  bi»t  schön,  Deine 
ieder  lind  üppig:  trUn« 
>u  Kam eel milch.  Da 
noch  schönen* 
Auch  auf  Ha- 
waii  nehmen  die  Fett- 
nnusfm  der  Frauen  oft 
gmnz  bedeutende  Di* 
nmsioneo  an;  dies  ^ilt 
ab  die  grosste  SehÖn- 
H'it  Ittr  das  weiUiche 
}e»chlecht ;  und  an f 
u  i  i  findet  sieb 
be«.  Ebenso  ist 
Indern  Cor* 
in  Erfordcr- 
ntfls  fQr  die  Schi^nbeit 
fitaer  rornehmeo  Frau ; 
bereits  das  Gesetzbuch 
im  Mamt  schreibt  vor, 
beider  Wahl  de.^  Ehe- 
darauf  zu  acb- 
dn&j«  der  Gang 
nr?>«  wie  der  eine« 
Eleplianten  sei, 
in  einem  t?iins- 
kritTeme  heilst  e^: 

»Der  Zweifel  ob, 
o  G«U«bte,  «wischen  Dei- 
aeo  P*  ^'  "**•  ind  twihchen 
Mn  1   ein  Zwi- 

•chtnrnuru  «.fi  oder  nicht, 
bltibi  aiKb  heute  bei  mir 

_  Jh\^ey  vi 

oerli  tiUt. 

len  Kou 
ichU&i  tVeiHiw^*: 


Beror  ich  rur 
B^prechoD  g  der  K  or- 
perplastikandon  Un- 
terextreiuitäten  ftber- 
gehe,  IIIUS8  ich  mit 
wenigen  Worten  noch 
auf  VerunsUltuugen 
des  Rumpfes  zu 
sprechen  kommet], 
welche  bei  den  civi- 
lisirten  Nntiumm  von 
den  Vertreterinnen 
des  weiblichen  Ge- 
schlechts ausgeführt 
werden.  Ich  meine 
die  Umformungen, 
wie  sie  durch  die  in 
der  Mehrxahl  der 
Fälle  zu  engen  Cot- 
se\s  an  dem  weih- 
llcbenTorsoxu  Stunde 
koTunien*  Es  i?*t  hr- 
reits   IIU  Jahre  her, 

der  berühmte 
Anatom  S,  Th.  S^nn- 
m*rmg  sein©  Zeitge- 
MOvsinn^'n  i'jl'»*r  die 
ni>l*'llitrigt-'n  nnd 
Schädigungen 
klären  euchtü»  vv.  i.  ,*.. 
durch  die  engen 
.Srhnnrl^HiKt*^''  «m 
Kürpt^r  bcrtorgc- 
rufen  werden.  In 
einer  zweiten  Schrift 
gab  er  die  Abbil- 
ijuiiiit'ü  der  Körper- 
uiaribsic  mit  ringe- 
xeichnetem  Skelett 
Ton  der  iniivrirrir. 
i$€hcn  Vmw 
seit         V    '      r 

sei  11'-- 
um  'i--'i-  -  :it' 

durch  die  unsinnige  Mode  bediaglen  ungeheuerlicbeii  Verbildungen  recht  deutltcli 
ad  ocuhis  zu  denionstriren.  Eine  gute  VViedergabe  dit'ser  Abhilr!  -^  ■  -  -■  ^  •  ^\x 
bei  Johannes  Hanke-      Viftl»*    Aer/te    babini    si<li    m^iUleni    die  e 

genmi'li  e 

doch»    S'  ^  rtl 

permanenter,  nmuchnebener  Druck  das  Wachsthum  der  bveogteo  Ü^rpenttelte  be« 


in^  itttrcb   oin  im  engot 
uch»  nuH  Builiijicit 


dO.  Die  KQrperplaatik  an  den  unteren  EztremitHten, 


141 


ittträclitigen  mosSf  und  allmähltch  muss  es  an  der  gedrückten  Partie  selbst  zu 
wem  Schwunde  der  Korpergewebe  kommen.  Darum  vermag  man  einem  nackten 
[örptr.  sjelbst  schon  in  der  photographischen  Nachbildung,  sofort  ansehen,  ob  er 
30  einem  beengenden  Corset  belästigt  wnrde^  oder  nicht.  Man  betrachte  das  in 
Tig,  85  dargej^tellte  Madchen,  ein  Modell  wahrscheinlich  aus  Budapest.  Um  die 
Xörpermitte  zieht  sich  eine  deutliche  Bingfurche  hin,  und  in  den  meisten  Fällen 
bI  dieser  Ring  um  den  Mittelkörpcr  auch  durch  eine  dnnklere  Pigmentirung,  als 
ie  die  benaehbarten  Hautflächen  besitzen,  ausgezeichnet.  War  nun  aber  das  Corset 
besonders  eng  und  fest  angelegt^  namentlich  schon,  als  die  Trägerin  sich  noch  in 
ßn  Wftchsthumsjahren  befand,  so  sind  die  Schädigungen  noch  beträchtlicher. 
Jeher  diese  letzteren  ist  ganz  neuerdings  Strat£^  bemüht  gewesen,  die  Damenwelt 
ifzuklären.  Der  untere  Theil  des  Brustkorbes  wird  zusamraengepresst  und  in 
jlge  deassen  tritt  der  Bauch  immer  stärker  hervor.  In  Folge  der  geringeren 
^dlbung  des  Brustkastens  sinken  die  Brüste  immer  mehr  und  mehr  herunter  Das 
zeigt  das  junge  Modell  in  Fig,  86.  lieber  die  schwere  Schädigung  der 
ae  des  Unterleibes,  welche  hierdurch  hervorgerufen  wird,  soll  hier  nicht  weiter 
adelt  werden.  

30,  nie  Korperplastik  an  den  unteren  Extrem iläteiL 

Wönu  wrhon  von  einem  grossen  Thoile  der  in  den  vorhergehenden  Abschnitten 

beschriebenen    sogenannten  Verschönerungen 

.  nrden  muss,  dass  sie  der  Geschmacks» 

r  der   civili>iirteu    Nationen   geradezu 

widernprechen,    so   gilt   dieses   doch  in  ganz 

anderem    Maasse   von   einer    Umformung, 

einer  Kör|)erplastik,   um    mit   Joftannes 

/u    redi*n ,    weit  he    einen    Theil    des 

u  Köqiers  im  wahren  Sinnedes  Wortes 

ir  Verkrtippehing  bringt»    dessen    normaler 

iu  und  gute,  harmonische  Entwickelung  bei 

icm    Vfdkern    europäischer    (■nltur    sich 

*  ndeu    Anerkennung    erfreut; 

:  uss  und   den  Unterschenkel, 

ßnas    aber  beider  auch    unsere    Damen    nicht 

solut     von    dem     Vorwurf    freigesprochen 

werden  können,    dass    sie  an   diesen  Theilen 

ktlu^tUche  Mittel  wirken  lassen,  um  dem  Ideale 

iUred  eigenen  missverstandenen  Schonheit^be- 

gliffe»  möglichst  nahe  zu  kommen,  das  wurde 

Wreibi  weiter  oben  angedeutet,  und  die  Fig. 

lg  eine  Vorstellung  von  einer  der  aller- 

^    ''rhsten      Verbilduugen,     dem     söge- 

.Ballen*,    geben,    welche    die  FQsse 

\i    Akt    spitzes    Schuhwerk    erdulden    und 

*  *\  wie  man  nach  den  hier  dargestellten 

ingen    an     dem    Grosszehengelenke 

'  .11  >-    il  begreifen  wird,  eine  dauernde  Quelle 

canz     erheblicher     Unbequemhcnkeiten    und 

.erxen  fi\r  die  unglückliche  Besitzerin  ab- 

Das    spitze    Schuhwerk    der  jetzigen 

üode  It^istet  dieser  Verbildung  einen  wesent- 

rhen  V«— 1-^ 

Sei  UagtS/mf^^inseinerBespre-      ^^^  ^^  iiin4ü.Fr..ii  a.r  sndra-K.st« 

.  L     -1     1  M  I'    I  r^^  "i*^  Bingen  »iif  den  Zeben« 

der  ^cUüuheit  des  weibLicben  Ivorpers:  oa^th  photocrnpbi«.) 


•£ 


düü. 


iii^ÜII 


142 


III,  Die  ästhetische!  AufTiisgung  dm  Weibe 


^Zahllofi  sind  die  Schwestern  ^oii  ÄßchefthTikifl^  denen  kein  Opfer  eq  groM  1»%^  um 
grosseren  FUeise  in  kleinere  iSchnhe  zu  sewüngen.  Die^e  Uneitte  würde  nur  d&nn  naOiC 
wenn  man  wieder  anfinge,  auf  btoasen  Fiiäseu  oder  attt'  Sanda1<?n  zu  geben.  Dum  ^ee  abarl 
nicht  geschieht,  dafür  sorgen  die  ziihlreichen  Vertreterinnen  den  schönen  Getto hlecht«!  die  ihral 
Füsse  nicht  mehr  zeigen  kennen,  Den  Muth,  den  tu  kleinen  Schuh  aufzugeben,  utu  einenj 
schönen  Fum  zu  besitzen,  werden  Wenige  haben/ 

Fast  alle  übrige»  Völker    haben  den  Fuss   als  dasjeaige  anerkannt  und  ge- 
achtet^ was  er  in  Wirklichkeit  ist,  als  das  hochwichtige  und  uueutbehrliehe  Loco- 
luotious-  uad  StUtzorgan  des  gesammteD  Körpers;  demgemäss  erfreut  er  sich  auclil 
allgeuiein  einer  ganz  besonderen  Schonung  und  Pflege  und  ist  von  den  sogenannteaj 


'üi 


''>Ä 


iv. 


Fig.  ^r    Fimtt  von  OftUuu  (Afrik»)  luli  Deltirltii^eti,  wekJie  <Ue  [Jiit^raüWnk«)  %i}Uiitiludi|p  li«dMk*ft. 


Verschunerungen^  von  gewaltsamen  Uniformungeij  verschont  geblieben.     H( 
werde«   die  Zehen    mit  Ringen  geschmückt,  wie  bei  der  Hindu*  Frau  der  Sud 
Kaste  in  Fig.  87,     Häufiger  ist  es  aber  noch,  dass  die  Weiber  «ieh  Ringt;  mu  die 
Ftissgelenke  legen.     In  vorgeschichtlichen 'Zeiten  ist  diese«  letsterc^  übrigt^ns  «ucIim 
in  Europa  Sitte  gewesen.  H 

Diese  Schniuckringe  der  Beine  schliesi^en  bei  manchen  arrikantscbeu  Volks- 
stämmen den  ganzen  Unterschenkel  der  Weiber  vom  Fuassgelenke  bis  fast  sum 
Knie  so  vollständig  ein,  das!<  von  den  Weich  theilen  nichts  mehr  zu  sebeti  ist,  so 
z.B.  bei  den  Frauen  am  Gabun  (Fig.  88),  und  Tar       '  '  '  ' 

daas  den  Weibern  auf  dem  Fussblatt  durch  die  Scli 
gedrückt  worden  waren. 

An^  J^imI-   V  niHrilfU   lu^rj^hfet   RrhtMulutt nl  •    .^flinfi    «Tu*  ^V*m]ii*m-  rlnr  T 


I. 

r " 


30.  Die  KOrperplastik  an  den  cmtcii'eii  Ex tremi täten 

»wie  dfc  einiger  anderer  Stänmie  Guyanas,  besitzen  eine  förmliche  Manie,  eiue 
kOn.'cUiehü  Vergrosserung  ihrer  Waden  herv^orzurufen,  zu  welchem  Zwecke  sie  auch 
Jen  juügen  Mädchen  fest  anschliessende  Bänder  unter  dem  Knie  anlegen;  —  die 
Mnionkongs  hatten  aber  nicht  allein  solche  Bänder  um  die  Beine,  sondern  auch 
um  den  oberen  Theil  ihrer  Arme. 
_  Bei  den  weiter    oben   bereite 

ä  h  n  ie  n      G  u  y  a  n  a  - 1  n  d  i  a  n  e  r  u , 
*?lche  vor  einigen  Jahren  von  Herrn 
i^mianff   in    Berlin     ausgeskeltt 
Hieiu  konnte  ich  mich  von  dieser 
butjtaclie    überzeugen.     Die   Mäd- 
Lind  Fruuen»  von  einer  Zw51f- 
nu  aufwärts»  trugen  an  beiden 
l  t^nkeln  dicht  oberhalb  der 

1  eine    aus    starken    Fäden 

u  *  mehr  als  handhohe  Man- 

ich«>Ue.  Dieselbe  wird  nicht  erst 
fertiggestellt  und  dann  angezogen, 
soodem  sie  wird  gleich  am  Beine 
gestrickt  und  bleibt  nun  an  dem- 
selben sitzen.  Bei  der  weiteren 
K  '     der     Körperfonnen 

>^  I  <-h  diese  enganschlies- 

M^nde  Manschette  der  unterste  Theil 
de«  Unterschenkels  in  seinem 
Dickenwachsthum  gehindert  und  er 
bleibt  daher  fein  und  zierlich, 
während  die  Wade  sieli  voll  ent- 
wickeln kann  und  (iber  den  oberen 
Rand  der  Manschette?  hervorquillt. 
Dicht  unterhalb  des  Knies  ist 
Wad<*  aber  noch  ein 
uindartiger  Streifen  von 
ingciahr  Daumenbreite  gelegt, 
unter  dem  der  obere  Theil  der 
Wilö  sieh  ebenfalls  kräftiger  her- 
auf ^snlbt.  Ich  buhe  diese  Verhält- 
;ii->o  i^iotographisch  aulgenommen 
iLii  i^f'lie  die  Abbildungen  in  den 
'  L  rr-n  89  und  90.  Fig,  89  sind 
Unne  des  in  Fig.  80  abgebil- 
n-vrn  19 jährigen  Mädchens.  Die 
Widm  auf  Fig.  90  gehören  einer 
Fraa  in  den  Zwanzigern  an. 

Aach  bei  manchen  anderen 
Stimmen  worden  dicht  oberhalb 
4«r  Fnaakndcbel  Bein  ringe  so  fest 
um  den  Unterschenkel  gelegt,  dass 
iieftUm&hlich  tief  einschneiden.  Das 
teilet  auch  die  Pirus-Indianerin 

Fig,  91.     Eine  V^ergrösserung  der  Waden  wird   hierdurch  aber  wahrscheinlich 
ht  bexwecktv 

Durch  diese  absonderliche  Umgestaltung  wird  aber  wenigstens  die  Function 
d  die  Gebrauchsföbigkeit  der  Beine   nicht   beeinträchtigt.    Ein   einziges  Volk 


Fig.  8t*,     ^Wadenjjlft'tik",  VergTusserung  iler 

Witten  bei  einer  MjAhngen  UiiyAna-lndianeriD. 

(Kach  Pbotognphie.) 


144 


III.  Die  ftsihetiicbe  AuffAAstsng  d<ti  Wetbei. 


nur  ist  es,  welches  eine  Vorkrüppelung  der  Bebe  uDd  Fliese  absichtlich  herbei-] 
fuhrt;  das  sind  die  Chinesen,  Allerdings  gab  es  rielleicht  s<  i  '  '^?inst  inj 
Asien  ein  Volk^  das  den  Brauch  hatte,  die  Füsse  der  Frau  zu  \«  [i.     Bei) 

Pliniiis  heisst  est    ^Eudoxus   in   meridianis    Indiae    virie    plantas    esse   cubitalesJ 
feininis    adeo   parva»,    ut   Struthopedes   appellentur/     Aber  von   den   lebenden 
Völkern  stehen  die  Chinesen  mit  ihrer  Unsitte  der  Fusä Verstümmelung  einzig  da.] 

Diese    kQnstliche  Verbildung  de 
Chinesen-Fusses    ist  ein  weibliche»^ 
Verschöneningsmittel  im  allerstreng»ten 
Sinne  des  Wortes,     Denn  niemals  und 
unter    keinen     umstanden    wird    diese  j 
Procedur   an    den  Füssen    der    Knaben] 
vorgenommen.     Zum  Ruhme  des  weih-, 
liehen    Geschlechts    in    China    sei    esj 
aber   gesagt,   das»,   so   verbreitet   auch] 
diese  entstellende  und  für  jedes  andere] 
Volk   ausser    dem    chinesischen    ab- 
scheuliehe Unsitte  in  dem  himmlischen 
Reiche  ist,   dennoch   mehrere    Districte , 
sich    von   der  Entstellung    freigehalten  | 
haben,  wie  auch   die  jetzt  herr«»chende| 
Kaiserfamilie    dieselbe   verachtet     und,j 
wenn    man    dem    Volksraunde   glaubenj 
darf,  eine  an  den  Füssen  VerkrüppolteJ 
die    den     kaiserlichen    Palast     betreten' 
sollte,  mit   dem  Tode  bestrafen    würde 
(Bastiane     Die    in    den    Sunda- In- 
seln lebenden  Chinesinnen   verkrüp-l 
peln  ihre  FCisse  auch  nicht.    E^ 
aber  nach  Kfifner  in  gewissen  (* 
von  China   (Sin gang- fu    und    Lan-i 
tschou-fu)     auch    die    Unterschenkel 
bis    zum   Knie    gewaltsam  mit  Binden  I 
eint  <,    um   sie    zu  recht  starker 

Abi  /^  zu  bringen.     ^Der  HDect 

wird  noch  erhöht,  wenn  in  der  Waden- 
mitte ein  zollbreiter  Streifen  frei  bleibt] 
und  das   Bein   wie   ein  altes  Strumpf-] 
band  henorblickt/ 

Morache,  ein  Arzt  der  fr »nitftii-^ 
sehen  Gesandtschaft  in  Pelc 
an,    dasa    es    für    h"chst    s< ; 
trachtet    werde,    w^enn    jemand    emer 
chinesischen  Dame  nach  den  kleineiij 
Füssen    sieht,    und    dass    die    Chine« 
binnen  ein'  ^^susflsen,] 

nelbst  dem  -  ire  t^nV 

iXV^u^:^z:,i:^i^''^^;:'^l^:X.,  ^in^^teu  Fö«««  z..  ze.ge„     Wir  werden! 

uns  dieser  8chamlo8igke]t  iichuidigj 
machen  und  wir  betrachten  in  erster  Linie  die  beschuh  ton  kl**inen  FQts«  Hufl 
Figur  92. 

Durch  diese  herrschende  Anstandsregel  erklart  es  sich  wohl,   dass  wir 
seit  der  Mitte  dieses  Jahrhunderts  Genaueres  über  den  Chinesinnen- Fni^*  erfal 

hsib*'"       litt«!       /Wrir      «liirrli      -li««      Aorvfj-k       /  o^^/ A*i  i-l*      \\r\A      ^f,.»-,iriiM-^     nn.l     /Irtrrlti      77i*i.TXifl 


so.  Die  K&rperplortik  an  den  unteren  ExtremitUten. 


145 


fj> 


tarÜn^  nnd  Andere  In  neuerer  Zeit  haben  Welcher  in  Halle,  und  dann  auch 
T^ü'iinger'^  in  München  wieder  die  Aufmerksamkeit  auf  diese  willktlrliche  Verun- 
:»taltang  gelenkt. 

Die  künstliche  Verkleinerung  und  Missgestaltung  der  Fösse  ist  in  den  sÜd- 
Gelitn  Provinzen  Chinas  allgemein  bei  den  wolilhabenden  Klassen  zu  finden; 
weit  weniger  im  Norden,  und  insbesondere  nicht  in  Peking,  wo  die  Tataren 
Torhern&chen»  bei  denen  diese  Sitte  nicht  in  Aufnahme  kam.  Ferner  hat  fast  jede 
chinesische  Provinz  ihre  eigene  Abweichung  der  Deformation.  So  begegnet  man 
xpeciell  iü  Kuang-si  und  Kuang-ton  den  schönsten  und  ausgesuchtesten 
^  nplaren.  Unter  den  reichen  und 
hmen  chinesischen  Familien 
feutift  man  sie  nach  einigen  Angaben 
jedoch  im  ganzen  chinesischen  Reich, 
da  dieser  «Luxus*  ihren  Töchtern  die 
besten  Partien  sichert.  Die  barmher* 
siiffiD  Schwestern  in  Peking  haben  bei 
-  wrn  in  ihrer  Kninkenpflege  den 
n  Fuäs  in  einigen  Wochen  */u  seiner 
irühere»  Form  zurrickgehen  sehen;  frei- 
lich v**rd*unnien  sie  durch  diese  Experi- 
mimte  die  Machen  zu  dauernder  Ehe- 
denn  noch  hat  der  fremde 
nicht  vermocht,  die  Macht 
ieser  verderblichen  Mode  zu  brechen. 
Man  befolgt  in  den  verschiedenen 
Provinzen  beim  Binden  des  Fusses  ver- 
Vertahrungsweisen;  man  hat 
h  zwei  Grade  der  V'^erkrüppe- 
fc^ntweder  werden  nämlich  bloss 
.,  Zehen  verkrüppelt,  oder  es  wird 
ttttch  der  hintere  Theil  des  Fersenbeines 
t  nach  unten  gestellt  Die 
[V  :j    des    Bindens    wird    bei    den 

niederen    Klassen   von  der  Mutter,    bei 
beaseren  Standen  von  eigens  dazu 
Familie    unterhaltenen    Frauen 
ihrt. 

In  der  ersten  Kindheit  bleiben  Au 
frei»  man  lä^st  die  Mädchen  ganz 
wie    die    Knaben    in   grossen    Pan- 
In  umhergehen.     Dann  werden  bei 
»lufjjj  Familien  die  kleinen  Mädchen  vor 
dem   vierten,    bei   anderen  Familien   im 
•der  siebenten  Ijebensjabre  den 
Jen  Manipulationen  unterzogen. 
Zunächst  wird,    wie  Morache    angiebt,    der  Fuss  gekuetet,   dann  werden  die 
vier  kleinen  Zehen  mit  Gewalt  gebeugt    und    durch    eine  Binde  von  5  cm  Breite 
mitieLit    fester    ümwickeluog    in    dieser    Lage   erhalten.     Täglich    wird  die   Binde 
erneuert. 

,A  chaque  »ouvoUe  appHcatioDi  qm  se  renouvelle  au  tnoins  tout  lea  jouri,  OQ  laiite 
qQ«l<|Qat  iiüttADU  le  pie^l  Ji  na,  on  1e  lave  et  od  le  frietion&e  avec  Talcohnl  de  sorgho.  L*oubU 
Äi  cetie  pr^'cauUoTi  co&tribae  trvs-putssammAnt  a  faire  nattre  \m  nlceration-«/ 

Ich  komme  auf  die  letzteren  noch  zurück.  Das  Kind  trägt  einen  ziemlich 
t'^clir      '       '  *    Hrstiefel,  der  sich   nach  vom   zuspitzt    und    eine  platte  Sohle 

r  .«ib.  G,  Aun,  1.  10 


Fig.  flt    Piras-IndiÄiieriii,  Peru,  mit  ein 
sobntirendvii  BeioringeD.     (Naeb  PbotogTftplue 


146 


IIL  EU«  tlatheti«cb6  Auffaairong  de«  Weibea. 


ohne  Absatz  hat.     Dies  Verfahren   giebt  nur  den  in  den  Nordprovinzen  China^ 
üblichen  gewöhnlichen  Fus».     Zur  Hersitolinng  der  zweiten,  eleganteren  Fortn  Icjb 
man,    wenn   die  bleibende  Beugung  der  Zehen   erreicht  ij^t,    unit-r  (Umi  Fi  ihm  ei 


4i 


j 


k. 


A 


Fii;.  d2«    VornPhrne  OhineaitiiKsti  mit  kUu^UiCb  verkl«iii«rteti  FUiseti,    (Ka«li  PhöU>|rTftp1iltt.| 

'lialben  Cylinder  von  MetaU  und  fBhrt  nun   die  Binden   am  den  Fusa,   anch  wol 
nra  den  Unterschenkel,  in  der  Absicht»  dessen  Muskeln  an  einer  der  beabsÄichtigtejg 
Gestaltung  feindlichen  Wirkung  zu  hindern.     Bei  der  Anlegung  der  Hlnd«*4i  pn-j<H^ 
die    Mutter    aus    allen    Kräften    das    Fersenbein    und    die  Zehen    über  d*«m   Hülb 

cylinder  zusammen  und  führt  auf  diese  Weise  ein^ 
Lageyerändernng  des  sogenannten  Kabnbein»  her 
bei.      Der    so    misshandelte    Fuss    wird   «pritf»r    \t 
einen  Stiefel  mit  starker  convexer  Sohle  u 
Man     kann     sich     vorstellen,     welche     p*  ij 

,  ^       Schmerzen  dem  armen  Kinde  die  festen  ÜmschnQH 

i  \      Hingen  verursachen.     Die  Binden  bleiben  Tag  uni 

I  /         1    Nacht  liegen,  selbst  wenn  die  Füsschen  heisä  und 

I  -^^^       y     entzündet    und    die    Kinder    unrubig  werden,     h 

i  ^^m^^^      ^*^*^^     ^^^    Schönheit    de^     Körpers    höher    amf^u^ 

schlagen,  als  das  Wohlbehnden  der  lieben  Kinder^ 
MoraeJie    hatte    in    seiner    EigenHchatl    ab 
ArH  vielfuch   Gelegenheit,   solche  Füssc  xu  nnUst 
suchen.     Er  sagt: 

,Le«  (tariies  mollei  «ont  (virophi^en  mir  Tafunt^f 
et,    nu   contraire«    ont   en    partio    combli^    • 
Toütö  exager^e  d«i  la  face  pUnUito.     La  ^< 
couTi«^  mt  f>QUvet}t  rouge,    plun  ou   moint  ' 

pAfi  obaerTo   cm  uIa'*ratiariB  \  '  Bttppuraiio 

f/<Hiif,    que  Ton  a  lu^nftl^ct^  pj., ,  ,. 

E«   kommt   aber  auch,   wie  I*arker   encilil^ 
höiiutjn..  ri»  AU*,  ^'".»hru        rMswpilen    vor,    dass     beide    FOsae    bis    m    d« 


c 


30.  Die  Eörperplastik  an  den  unteren  Extremitäten. 


147 


Knöcheln  brandig  werden.  Haben  nun  aber  die  jungen  Mädchen  die  Misshand- 
lang überstanden,  so  gehen  sie  fortan  nicht  mehr  wie  andere  Menschen  einher, 
sondern  sie  wackeln  wie  auf  Stelzen,  indem  sie  das  ganze  Gewicht  des  Körpers 
lediglich  auf  der  kleinen  Fläche  der  Fersenspitze  und  dem  Ballen  der  grossen 
Zehe  balanciren.     Um   nicht  zu  fallen,    bedienen  sich  die  Damen  als  Stützen  der 


Fig.  94.    Normaler  Menschenfuss 
tnach  lyie/cker).    Zum  Vergleich  mit  Fig.  95. 


Fig.  95.    Fuss  einer  vomehmeu 
Chinesin  (nach   HWcker). 


Spazierstöcke,    oder  sie    lehnen   sich    auf   begleitende  Dienerinnen.     Dieser  eigen- 
thümliche  Gang  wird  von  Morache  folgendermaassen  geschildert: 

,,Le  mode  de  deambulation  est  essentiellement  modifi^;  les  mouvements  de  Tarticu- 
laÜon  tibiotarsienne  devenant  a  peu  präs  nuls,  les  muscles  ilechisseurs  et  extenseurs  du  pied 
ont  du  8*atrophier;  c'est,  en  effet,  ce  qui  se  produit:  la  jambe  prend  la  forme  d'un  tronc  de 
cdne.     D'un  autre  cAt^,   les  mouvements  de  Tarticulation  du  gonou  sont,  pendant  la  marcbe, 


Fig.  96.    Linker  Pubs  einer  Chinesin  (nach  Junker).    Die  Haut  ist  entfernt,  um  dieMoskeln  freizulegen. 


intimement  lies  ä  ceux  da  pied;  ceuz-ci  ne  se  faisant  plus,  certains  muscles  de  la  cuisse  ont 
du  diminuer  d'autant.  Le  mouvement  de  progression  se  produit  essentiellement  par  Tarticu- 
lation  coxofömorale,  et  Ton  ne  saurait  mieux  comparer  ce  pb^nomene  qu  a  ce  que  Ton  observe 
chez  un  ampat^  des  deux  cuisses;  cbes  lui,  comme  cbez  la  femme  cbinoise,  la  moitie  du 
membre  infi§riear  est  transform^  en  une  masse  rigide;  du  pilon  classique  de  Tampute  ä  la 
jambe  cbinoise  il  n*y  a  que  la  diffi^rence  d'une  articulation,  absente  cbez  Ipi,  presque  inutile 
4  Tautre,  pour  la  marche  tout  aa  moins.* 

10* 


148 


111.  Die  ästhetische  Auffassung  des  Weibes. 


Doch  sind  trotz  aller  Mühsal  die  Chinesinnen  stolz  auf  ihre  Fuss-Stümpfe. 
In  der  poetischen  Landessprache  heisst  das  yerstümmelte  Glied  Kin-lien,  d.  h. 
die  „goldene  Wasserlilie*. 

Mit  frischen  Farben  beschreibt  Capitän  JBinghatn  die  von  ihm  vorgenommene 
Besichtigung  des  Fusses  einer  Chinesin: 

«Im  Hause  eines  Landmannes  wünschten  wir  den  ,pied  mignon'  einer  Frau  zu  sehen; 
ein  hübsches  junges  Mädchen  von  16  Jahren  wurde  auf  einen  Stuhl  gesetzt,  um  unsere  Neu- 
gierde zu  befriedigen.  Anfangs  war  sie  sehr  schämig;  allein  der  Glanz  eines  neuen  Kopftuches 
überwand  bald  ihre  Zurückhaltung;  sie  begann  die  oberen  Bandagen,  welche  um  den  Fuss 
und  über  einen  schmalen,  von  der  Ferse  hinaufgehenden  Streifen  gebunden  waren,  aufzuwickeln. 
Der  Schuh  wurde  dann  abgezogen  und  die  zweite  Bandage  abgenommen,  welche  den  Dienst 
eines  Strumpfes  versieht.  Die  Binden  um  die  Zehen  und  Knöchel  waren  sehr  fest  und  hielten 
alles  an  seinem  Platz.     Als  sie  endlich  den  kleinen  Fuss  zeigte,  war  er  zart,  weiss  und  rein: 

das  Bein  war  vom  Knie  abwärts  sehr  ge- 
schwunden, der  Fuss  schien  an  der  Hacke 
wie  gebrochen,  während  die 'vier  kleinen 
Zehen  unter  den  Fuss  hinabgezogen  waren, 
so  dass  nur  die  grosse  Zehe  ihre  natürliche 
Lage  behalten  hatte.  Durch  das  Brechen 
(oder  Biegen)  der  Hacke  wird  ein  hoher 
Bogen  zwischen  der  Ferse  und  den  Zehen 
gebildet,  während  bei  den  Damen  von 
Canton  und  Macao  die  Hacke  ganz 
unangetastet  bleibt,  dagegen  ein  sehr 
hoher  Absatz  angebracht  wird,  wodurch 
die  Spitze  der  grossen  Zehe  auf  den  Boden 
kommt.  Die  unter  den  Fuss  eingeschlage- 
nen Zehen  Hessen  sich  nur  mit  der  Hand 
insoweit  vorbeugen,  dass  man  sah,  sie 
seien  nicht  wirklich  in  den  Fuss  hinein- 
gewachsen.' 

Es  giebt  GypsabgQsse  solcher 
Füsse  in  ethnographischen  Samm- 
lungen; ihre  I^nge  misst  4  bis  5 
Zoll,  doch  die  elegantere  Form  hat 
nur  gegen  3  Zoll  Länge. 

,Die  Betrachtung  unseres  Modells, 
sagt  Welcher^,  sowie  alles  da^enige,  was 
wir  über  den  Modus  der  chinesischen 
Fusstoilette  wissen,  lehrt,  dass  es  sich 
um  eine  äusserste  „Streckung**,  anato- 
misch gesprochen:  um  eine  Plantarfiexion 
des  Fusses,  zugleich  aber  —  und  dieses  ist 
offenbar  das  tiefgreifendste  Moment  der 
gesammten Verunstaltung  —  um  eine  Ein- 
k  n  i  c  k  u  n  g  des  Fusses  handelt,  bei  welcher 
das  Hinterende  des  Fersenbeines 
nach  abwärts  geknickt  und  dem  Mittelfuss  entgegen  gebogen  wird.  [Es  bedarf 
kaum  der  Erinnerung,  dass  nicht  eine  rasche  Knickung,  wobei  ein  Theil  zerbrochen  oder  auch 
nur  unmittelbar  verbogen  würde,  gemeint  ist.  Es  handelt  sich  um  die  Erzielung  des  Wachsens 
der  Theile  in  gebogener  Richtung.]  Fussrücken  und  Schienbein  befinden  sich  in  einer  und 
derselben  Flucht,  so  dass  die  grosse  Zehe  nahezu  senkrecht  nach  abwärts  ragt,  während  die 
vier  kleineren  Zehen  vom  Aussenrande  des  Fusses  her  unter  die  Sohle  geschlagen  sind. 
Der  Theil  des  Fusses  aber,  welcher  dessen  Hinterrand  bilden  sollte,  die  Ferse,  ist  nach 
unten  zu  liegen  gekommen.^' 

„Immer  kam  das  Hinterende  des  Fersenbeines  genau  so  unter  den  übrigen  Fass  zu 
liegen,  wie  bei  einem  normalen  Fusse  der  Hacken  eines  Hackenschuhes  unterhalb  der  Fene 
liegt  Die  Chinesin  geht  also  bei  nahezu  senkrecht  gerichteten  MittelfnstknodieB  aaf  den 
verkümmerten  und  grossentheils  verbogenen  Fusszehen;  das  Hinterend«  des  Fliisee  ruht  aaf 


Fig.  97.    Rechter,  künstlich  verkleinerter  Fuss  einer 
Chinesin.    (Nach  Photographie.) 


so.  Die  Ki^cperpliMtik  an  den  tmtaren  Extremitäten, 


149 


Ipinem  dof^p^Iien  Ab^t&e  —  einmn]  aaf  dem  tmtergebogenen  Fereenhöcker  und  dieser  auf  dem 
JAliwit«©  dm  Schuhe».'*  In  den  Fig.  93  bia  98  httbe  ich  eine  Anzahl  von  Abbildungen  von 
[ChineKinneD'FÜÄsen  gegeben,  von  denen  Fig.  97  und  98  nach  Photographien  gefertigt 
rarden.     Sie  werden  die  hier  aufgeführten  Schilderungen  verständUcher  machen. 

Mürtitr^  sagt:  ^^^endant  le  travail  deformateur,  il  y  a  un  certain  nombre  de  victime« 
|qni  116  prmvent  rcdtiter  et  qui  meurenL  Celles  qni  le  flnpportent  souffrent  plus  ou  moina 
'  ttiivEnt  l«ur  dogre  de  vigueur  et  les  conditions  de  leur  alimentation.  La  femme  chinoiEe 
m&rebri  lanif  tl^hir  le«  genoux»  laissant  ä  pea  pres  inactifs  les  muscles  de  la  jambe  et  jettant 
mn  avant  l*^  deux  mombres,  dont  les  mouvement«  Bont  alors  et  enti^rement  subordonn«!'«  k 
Tactton  dm  mu^cles  du  baasin.  Ceux-ci  B^atTOphient  moins  que  leg  premierBt  ^t  comparative- 
tDfUit  iouiblent  exagt^r^s  comme  Volume^  ila  donnent  alors  aux:  partiea  moUes  du  baaain  un 
Mpect  qui  peut  fiiire  croire  ä  une  amplitude  laquelle,  en  r^alite,  n'existe  pas/* 

y.'-  1  man  sich  in  China  nach  ürspnmg,  Sinn  und  Zweck  dieses  eigen- 

[ibCttiiliri  rtmchs,  so  bekommt  man  sehr  widersprechende  Ansichten  zu  hören. 

Wi^mi    man   von    den  Sagen  absieht,    welche  den  Ursprung  der  Sitte  in  die  Zeit 

1100    V,    Chr.  aurückverlegen ,   so  va- 

iren    die    historischen    Angaben    zwischen 

fn  des  Kaisers  Yang-li,  976  n.  Chr., 

Kaisers  Li-Yttk,  6H1  bis  695  n,  Chr. 

bestand    die   Sitte   noch    nicht   zur 

de«  Confntse;  und  Marco  Polo,  der  be- 

[rClhmie  K<?i*ende,  der  sich  im  13.  Jahrhun- 

iert    mm    glänzenden  Ilof  des  Kaisers   auf- 

erwfthjit  sie  auch  nicht.   Nach  Scher str 

anderen  soll  die  Sache  ihren  Grund  in 

Eifersucht    der   Männer  haben,    welche^ 

ie  «T  meint,  z\x  glauben  scheinen,  dass  eine 

cndiwerte  !•  'i  hkeit  der  Frauen    auch 

IUI»  gT&wer»  ui  für  deren  Treue  bietet. 

Allein  die«  war  nicht  die  ursprüngliche  Ab- 

b<ji  Einllihning  der  Sitte,  auch  denkt 

in    China,    wenn  man  die  Ftisse    des 

'prunz  jungen  Mädchens  einzuwickeln  beginnt, 

Doch  nicht  an  eine  später  erfolgende  Treu- 

igkeit    desselben    gegen     den    Ehemann* 

befriedigende  Erklärung  für  die  Ent- 

tahiiog  dieser  Unsitte  hat  man  bisher  noch 

lit  beizubringen  vermocht 

JUarache    ist    der    Meinung»    dass  der 

Fraueafuas  erotische  Gefühle   in  den 

ie«©n  bervorruft: 

yPour  qui  connait  le  degrä  de  lubricitt*  den 

)blBf>ig,  il  eit  «Evident  quUU  atttichent  utie  idee 

d«  tmUm  oatnre  h.  la  petiteaae  du  pied/ 

Die  zum  Christen thum  Bekehrten  beichten  es  auch  unter  ihren  Silndeo,  dass 
sm  nach  den  kleinen  Füssen  der  Damen  geschielt  hätten. 

^Kitfin  on  m'assure,   f&hrt  Moracfte  fort,   que  la  vue  et  le  toucher  de  BouHers  petit«  et 

CQ^oeta   est   Tune   dee  jouissancae  de  ceux  auxqueld  la  nature  affaiblie  refuie  d^autres 

pUsin,  cft  Ü8  iont   nombreux,  car  repuitemont  arrive  vite,  gräce  ^  Topium.     Tous  ces  fait« 

d'autres  encore  me  d^montrent  que  la  cau«e  de  ce  deteatable  usage  reside  dans  une 

1^  dd  lobricit^f  y  attachi^e  par  lee  Ohinoi«/* 

Das  Anlegen  der  Fussbinde  zeigt  uns  eine  chinesische  Abbildung  (Fig.  99), 
welche    ganz   den    Eindruck   macht,    als   wenn    auch    sie    auf  die  erotischen  Em- 
il^ Chinesen   zu    wirken    bestimmt   gewesen   sei.     Sie    ist  uns  von 
M                             «:!ilt  worden. 

,VVir  wundern  uns,*  sagt  Wekker,  ȟber  den  Gebrauch  einer  so  geschmack- 


Sicher 
rXeit 


Ibielt, 
[und 


ler 


.»icbi 


Fig.  'M^     R«Gliter,  ktLnsUich  verkleinerter  ruwt 
einer  C  h  i  n  e « i  n.    ^Nfteh  FhotöffrmptiJ«.) 


1P  -lig  -# 


MTh' 


rir ■■  irir ■if^ftiii 


IfL  Die  &Bfchetbche  Auffaesiuig  de«  Weibe«. 

losen   und   mit  so  vielen  Unbequemlichkeiten  verbundenen  Verstümmelung,    dock 
wir  vergessen,   das«    es   weit   edlere  Organe   sind,    welche   durch  die  bei  uns  ge- 
bräuchliche Art  des  Schnürens  verküniniert  werden.     Allein  e8  giebt  Dinge,  Über 
die    das    Publikum   Belehrung   gar    nicht  will     Vergeblich  hat  Sommering  gegen  ^ 
das  Schnüren  geschrieben,  TergebUch  hat  Hogarth  in  den  ümriss  der  V^funs  eine 


IV.   Die  Auffassnng  des  Weibes  im  Volks-  und 
religiösen  Glauben, 

31.  Der  Aberglaube  in  der  tiehaiiinun^  den  Wetiies, 

Wenn  wir  uns  unker  den  Naturvölkern  umblicken^  so  finden  wir,  dass  alle 
EreigntSHe  de»  Lebens  mit  höheren  Gewalten,  guten  oder  büsen,  in  Verbindung 
gebracht  werden.  Da  ist  es  nun  w^obl  nicht  zu  verwundem,  daes  in  noch  viel 
litärkerem  Grade  alle  die  geheimnissvoUen  Vorgänge  der  Fortpflanzung  und  der 
Zeugung,  der  Schw^angerscbaft  und  Geburt  und  der  räthselhaften  Entwickelung 
vom  Kinde  zum  gei*chlechtsreifen  Individuum  als  unter  der  Einwirkung  der  Götter 
und  Dümonen  stellend  aufgefasst  werden.  Es  ist  dann  nur  ein  weiterer  Schritt 
m  dem  gleichen  Gedankengange,  wenn  die  auf  unentwickelter  Culturstufe  Stehen- 
den nun  durch  Opfer  und  allerlei  absonderliche  und  abergläubische  Handlungen 
d^n  iCgcuK reichen  Beistand  der  gut«n  Geister  sich  gewinnen  und  die  feindlichen 
Irohenden  Eingrifte  der  bÖ^en  Geister  von  sich  und  den  Ihrigen  abzuwenden 
fjt  sind.  In  hohem  Grade  erfinderisch  hat  sich  in  »olchen  Vornahmen  der 
menschliche  Geist  erwiesen,  und  es  ist,  wie  wir  sehen  werden,  kein  Volk  so  tief- 
stehend, aber  auch  keines  so  hochcivilisirt,  dass  wir  nicht  derartige  Proceduren 
hei  ihm  nachzuweisen  im  Stande  wären.  Fast  immer  aber  fllhlen  sich  die 
ben  zu  schwach,  ihre  Angst  und  Sorge  uro  sich  und  die  Ihrigen  allein  zu 
und  auf  sich  zu  nehmen,  und  mit  den  Gottheiten  in  directe  Verbindung 
XU  treten.  Sie  bedürfen  dazu  der  Hülfe  und  Unterstützung  klügerer,  muthigerer 
titid  bevorzugterer  Naturen,  welche  mit  ihnen  und  för  sie  die  nothwendigen 
Ceremonten  vornehmen.  So  sind  es  die  klugen  Frauen,  die  Priester  und  Priester- 
tnnen*  die  Zanbc^rer,  Teufelsbeschworer,  Medicinmänner  und  Schamanen^  welche 
wir  diese  Ilülfelei^tung  gewähren  neben, 

Ba  ist  eine  interessante  culturgeschichtliche  Erscheinung,  dass  meistentheils 
in  solchem  Suchen  nach  kräftiger  Hülfe  die  ersten  Anfänge  der  sich  entwickelnden 
Heilkunde  verborgen  liegen.  Selir  richtig  schrieb  einst  Heusitufer:  ,Die  Anlange 
^r  "  *  in  bei  wilden  Völkern  zeigen  uns  allgemein  eine  Verbindung  supra- 
|i  eher,    mystischer    Heilungsmittel    mit    physischen  Heilungsmitteln,    und 

diei«i*)bcn  Personen  verrichten  die  Incantation  und  wenden  Wurzelkräuter  u.  s.  w. 
»n.  B<n  fortschreitender  Cultur  trennen  sich  beide,  es  giebt  Incantatoren  und 
Wttfx^tlsucher,  die  zu  Aerzten  werden;  dass  sie  einige  Zeit  so  neben  einander  be* 
lehrt  uns  selbst  die  griechische  Medicin,  wo  bis  ins  4.  Jahrh.  n.  Christo 
/cpios- Tempel  neben  den  Aerzten  fortbestehen,  und  gerade  in  der  letzten 
Seit  recht  vorzugsweise  nur  als  hyperphysische  Heilungsorte.  Allein  gewöhnlich 
L  wird  die  mystische  Medicin  entweder  bald  ganz  abgeworfen,  oder  sie  geht  ganz 
auf  di«  eigentlichen  Priester  über.' 


152  1^-  ^^0  Auffassung  des  Weibes  im  Volks-  und  religiösen  Glauben. 

Dos  gilt  nun  durchaus  nicht  für  Griechenland  allein.  Es  ist  nur  ein 
wohlbeglaubigtes  Beispiel  für  die  Entwickelung  wissenschaftlicher  Heilkunst  aus 
den  Anfangen  der  mystischen  Medicin. 

Den  gleichen  Weg  ist  die  Heilkunst  fast  aller  Völker  gegangen,  aber  trotz 
der  grossen  Anzahl  der  Vertreter  einer  wissenschaftlichen  Heilkunde,  der  Aerzte, 
der  Geburtshelfer  und  der  Hebammen,  über  welche  sie  verftigen  können,  ist  bisher 
die  Schaar  der*  „Medicin-Männer  und -Frauen*,  der  Beschwörer,  Streicher,  Glieder- 
setzer u.  s.  w.  doch  noch  nicht  in  den  definitiven  Ruhestand  getreten.  Jeder 
Bericht  über  die  Volksmedicin  des  einen  oder  anderen  Volkes  in  Europa  liefert 
hierfür  die  vollgültigsten  Beweise.  Wir  können  diesen  Gegenstand  hier  nicht 
weiter  verfolgen.  Wer  sich  von  den  Lesern  dafür  interessirt,  den  verweise  ich 
auf  mein  kürzlich  erschienenes  Werk:  Die  Medicin  der  Naturvölker;  ethno- 
logische Beiträge  zur  Urgeschichte  der  Medicin. 

Wenn  man  sieht,  vne  uralte  Gebräuche  und  Anschauungen  viele  Jahrhunderte 
hindurch  mit  unbesiegbarer  Zähigkeit  in  den  Gemüthem  der  Menschen  haften 
bleiben,  so  kann  es  uns  nicht  Wunder  nehmen,  dass  wir  auch  bei  der  Schwanger- 
schait,  der  Geburt,  dem  Wochenbette  u.  s.  w.  solch  Festhalten  an  dem  alten 
Aberglauben  nachweisen  können.  Denn  alle  Sitten  und  Gewohnheiten,  welche 
sich  an  die  Geschlechtsverrichtungen  knüpfen,  vermischen  sich  um  so  leichter  und 
um  so  inniger  mit  abergläubischen  Handlungen,  je  mystischer  an  sich  die  Er- 
scheinungen des  hier  einschlagenden  Naturvorganges  sind  und  —  je  ausschliess- 
licher sich  bloss  Weiber  der  Beobachtung  dieser  Erscheinungen  unterziehen. 

Interessant  ist  es,  wie  man  an  verschiedenen  Orten  der  Erde  analoge  Ver- 
suche veranstaltet  hat,  um  die  Gemüther  aufzuklären.  In  Saida  in  Palästina 
sammelte  man  die  abergläubischen  Gebräuche  der  dortigen  syrischen  Bevölkerung. 
Die  Muselmänner  daselbst  nennen  sie  «Um  errukke*,  d.  i.  die  Spinnrocken- 
Wissenschaft.  Ganz  ähnlich  suchte  im  Jahre  1718  Praetorius  dem  Aberglauben 
der  Deutschen  entgegenzutreten,  indem  er  die  abergläubischen  Gebräuche  in 
einem  dicken  Buche  sammelte  und  abkanzelte,  welches  den  Titel  führte:  «Die 
gestriegelte  Kockenphilosophie,  oder  aufrichtige  Untersuchung  derer  von  vielen 
superkhigen  Weibern  hochgehaltenen  Aberglauben **. 

Vergeblich  aber  sind  aufgeklärte  Geister  bei  den  verschiedenen  Nationen 
bemüht  gewesen,  solchem  Aberglauben  energisch  entgegenzuarbeiten,  und  ob  er 
jemals  auszurotten  sein  wird,  das  will  mir  doch  sehr  fraglich  erscheinen.  Solch 
Aberglauben  ist  viel  zu  tief  und  fest  in  der  menschlichen  Psyche  begründet. 


32.  Die  religiösen  Satzangen  In  Bezug  auf  das  Geschlechtsleben  der  Frau. 

Es  ist  eine  interessante  Erscheinung,  dass  die  rituellen  Satzungen  fast  aller 
Völker  sich  mit  den  Mysterien  des  Geschlechtslebens  beschäftigen.  Schon  mit 
dem  Eintritt  der  Pubertät  werden  fast  überall  bestimmt  vorgeschriebene  Cere- 
monien  vorgenommen,  welche  bei  höher  civilisirten  Nationen  durch  religiöse 
Feierlichkeiten  ersetzt  werden. 

Solche  heilige  Gebräuche  müssen  dann  auch  in  der  Schwangerschaft,  bei  der 
Entbindung  und  im  Wochenbette,  ja  häufig  auch  bei  den  ehelichen  Verrichtungen 
mit  grösster  Strenge  ausgeführt  werden.  Und  da  bei  allen  diesen  Dingen  Ab- 
sonderung, Reinigungen  und  diätetische  Anordnungen  eine  ganz  bevorzugte  Rolle 
spielen,  so  müssen  wir  in  diesen  religiösen  Riten  die  Anfange  einer  Hygiene 
erkennen. 

Es  ist  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dass  bei  allen  derartigen  Vorschriften 
den  Begründern  dieser  Religionen  die  Erhaltung  des  Menschengeschlechts,  das 
„seid  firuchtbar  und  mehret  euch*  als  Endzweck  vorgeschwebt  habe.  Aus  einigen 
Confessionen  haben  wir  hierf&r  die  unumstösslichsten  Beweise. 


$2,  l>h  rüigiiimn  SaUungen  in  Besag  auf  das  Geschlechtsleben  der  Frau  153 

So  heisst  es  z»  B.  im  Talmud:  «Wer  das  Heirathen  voräätzlieh  uateriassl, 
iBamlich  keine  L-  m  zu  erzeugen,  der  ist  moralisch  einem  Mörder  gleich* 

Blleu*;  denn  die   i  er  glaubten,    dass  ein  Un?erehelichter  ebenso  wie  ein 

U5rder  sich  eine  Verminderung  der  Bevölkerung  zu  Schulden  kommen  lässt 
'Tractal  Jebamoth  63,  b).  Ferner  steht  im  Talmud;  ,Wer  auch  nur  zur  Er- 
haltung eines  einzigen  Menschen  beiträgt,  ist  gleich,  ab  ob  er  das  Weltall  erbielt-e,* 
In  solchem  Geiste,  d.  h,  mit  der  Absicht  auf  Erzeugung  und  Erhaltung  der 
Hen!*rhen,  waren  denn  auch  eine  Anzahl  von  religiösen  Handlungen  in  Bezug 
luf  das  Geschlechtsleben  bei  den  Juden  eingesetzt  worden.  3Ioses  sagt  aus- 
Irücklich:  ^Beobachtet  meine  Gesetze  und  meine  Rechte,  durch  deren  Ausübung 
1er  Mensch  leben  8011"*  (z.  B.  Moses  18,  5).  So  verstehen  wir  denn,  in  welcher 
picht  er  die  Reinigungsgesetze  für  die  Menstruirenden,  die  Wöchnerinnen  u.  s.  w, 
und  warum  er  diese  Vorschriften  und  ihre  genaue  Befolgung  durch  Ein- 
ptxung  der  Brand*  und  Suhuopfer  am  Schiasse  des  Wochenbetts  unmerklich 
mtcr  die  Con trolle  der  Priester  stellte. 

So  nehmen  auch  manche  andere  Culie  Lehren  über  die  Lebensweise  in  Bezug 
auf  das  Fortpfianzungs-  und  Geschlechtsleben  auf  ,Ich  nenne,"  sagt  Zuroanter 
im  Öc«etzbuche,  ,den  Verheiratheten  vor  dem  Unverheiratheten,  den,  welcher 
Mco  Hausstand  hat,  vor  dem,  welcher  keinen  hat,  den  Familienvater  vor  dem 
Linderlosen.  den  Reichen  vor  dem  Armen*  u.  s,  w.  Bei  den  alten  Persern  und 
ledern  endhch  galt  das  Zendavesta  als  heiliges  Buch,  und  wir  wissen,  eine 
ie  grosse  Rolle  die  Heilkunde  durch  die  Schätzung  und  Erhaltung  des  Lebens 
demselben  spielte,  obgleich  uns  von  ihm  nur  das  zwanzigste  Buch,  der 
*«iididad,  erhalten  ist.  Ueberall,  wohin  Zoroaster's  Lehren  drangen,  spielten 
Ifich  als  Priester  die  Magier  eine  grosse  Rolle;  sie  prakticirten  als  Aerzte  und 
T^ufekbanner  hei  Krankheit,  Geburt  und  Wochenbett,  Und  wie  noch  heute  bei 
ien  Färsen,  die  nach  Zoroastcrs  Lehre  leben,  die  Ehelosigkeit  bestraft  wird^ 
muHste  auch  bei  den  alten  Indern  nach  dem  Gesetzbuche  Planus  Jedermann 
M,  ^weil  das  Geschlecht  erhalten  werden  muss**.  Das  Gesetz  MaHu*s  giebt 
!;  ithschläge  in  Bezug  auf  die  Wahl  des  Mädchens,  auch  finden  sich  Rein- 
beits-  und  Speisevorschriften  darin.  Die  Religionswächter  der  Inder,  die  Priester- 
lud  Med iciner- Kaste,  die  Brahmanen,  beaufsichtigen  auch  die  Geburt  und  das 
Wochenbett 

Die  Buddhisten  sind  durch  die  Macht  ihrer  Kirche  äusserlieh  nicht  ge- 
zwungen, sich  bei  irgend  welchen  Familienangelegenheiten  unter  die  Vonimnd- 
»eliaft  der  Priester  zu  steUen;  allein  sie  wenden  sich  doch  bei  FamUienereignisseo 
an  deren  geistlichen  Beistand;  ja  die  Lamaisten  nehmen  den  Segen  der  Priedter 
bei  solchen  Gelegenheiten  noch  häutiger  in  Anspruch,  als  die  Katholiken.  Der 
"  ibige  Buddhist  tindet  im  Priester  seinen  geistliehen  Vater,  und  dieser  fungirt 
bei  der  Geburt  und  bei  der  Namengebung  der  Kinder.  Ausserdem  treiben  die 
eistlichen  Sohne  des  Buddha  überall  die  Heilkunde;  sie  bniuchen  ihren  Einfluss 
|n  den  Familien  also  nicht  wie  in  christlichen  Landen  mit  dem  Hausarzte  zu 
liailen;  in  Tibet,  in  China,  in  der  Mongolei,  im  ganzen  Norden  Asiens  sind 
zugleich  Wahrsager,  Astrologen,  Geisterbeschwörer  und  Zauberer;  als  solche 
Itringen  nie  ihre  Künste  auch  bei  der  Niederkunft  in  Anwendung,     (KoeppenJ 

Wi«5  alle  die  grossen  Abschnitte  in  der  Entwickelung  und  in  dem  Leben 
|e«  einzelnen  Individuums,  die  Gebort,  die  Verschönerungsproceduren  am  mensch- 
leben  Körper  (Ohr-  und  Lippendurchbohrung,  Tat  to  wirung,  Zahn  Verstümmelung 
s.  w.),  die  Beschneidung,  die  Menstruation,  die  Schw^angerschaft  und  der  Tod 
fOD  religiösen  Ceremonien  begleitet  und  mit  abergläubischen  Vorschriften  um- 
geben sind,  das  sehen  wir  auch  in  dem  Umstände,  dass  in  den  genannten  Lebens- 
perioden  die  BetreÖ'enden  nicht  selten  abgesondert  von  der  Gemeinde  gehalten 
werden,  dass  der  Verkehr  mit  ihnen  und  das  von  ihnen  Ausgehende  die  sie  Be* 
endeii  ?erunreinigt  und  auf  eine  gewisse  Zeit  hin  ebenfalls  zu  dem  Ausschluss 


154  rV.  Die  Anffassimg  des  Weibes  im  Volks-  und  religiOflen  Glauben. 

aus  der  Gemeinde  zwingt,  dass  ihnen  bestimmte  Geschäfte  vorzonehmen  auf  das 
Strengste  untersagt  bleibt,  dass  ihnen  bestinmite  Dinge  zu  essen  verordnet  und 
andere  wieder  als  Nahrongsmittel  zn  verwenden  verboten  sind.  Wir  erkennen 
auch  hierin  wieder  den  untrennbaren  üebergang  von  den  religiösen  zu  den 
hygienischen  Vorschriften. 

SS.  Die  Fnaensprache. 

Eine  sehr  merkwürdige  und  absonderliche  Erscheinung  in  dem  Leben  einiger 
Volker  kann  ich  hier  nicht  mit  Stillschweigen  fibergehen.  Sie  besteht  darin, 
dass  sich  bei  ihnen  die  Frauen  einet  eigenen,  von  den  Männern  niemals  benutzten 
und  bisweilen  auch  nicht  einmal  verstandenen  Sprache  bedienen.  Jedoch  ver- 
mögen wir  in  dieser  Beziehung  verschiedene  Abstufungen  ganz  deutlich  zu  er- 
kennen. Als  den  höchsten  Grad  dieser  «Frauensprache*  mfissen  wir  es  be- 
zeichnen, wenn,  wie  uns  Uerodot  dieses  in  zwei  Fällen  berichtet,  die  Männer  und 
die  Weiber  überhaupt  verschiedenen  Sprachstämmen  angehören.  So  sagt  er  von 
den  Sauromaten,  welche  sich  mit  den  zu  ihnen  verschlagenen  Amazonen  ehe- 
lich verbanden:  ,Die  Sprache  der  Weiber  vermochten  zwar  die  Männer  nicht  zu 
erlernen,  aber  die  Weiber  verstanden  die  der  Männer.* 

Ebenso  ging  es  den  Joniern,  welche  die  Frauen  der  Karier  erbeutet 
und  zur  Ehe  genommen  hatten,  nachdem  deren  Männer  von  ihnen  erschlagen 
worden  waren. 

Rochefort  und  t\  Martins  haben  eine  ähnliche  Erscheinung  bei  gewissen 
südamerikanischen  Völkern  in  gleicher  Weise  durch  erfolgten  Frauenraub  aus 
fremdem  Sprachstamme  erklären  wollen,  r.  Martins  fand  eine  au£fallende  Sprach- 
verschiedenheit zwischen  den  beiden  Geschlechtem  bei  den  Guyacurus  und 
mehreren  anderen  Stämmen  in  Brasilien;  Rochefort  beobachtete  sie  bei  carai- 
bischen  Stämmen,  insbesondere  bei  denjenigen,  welche  die  kleinen  Antillen 
bewohnen.  Er  sprach  die  Vermuthung  aus,  dass  einstmals  die  Caraiben  nach 
den  kleinen  Antillen  eingewandert  wären  und  dass  sie  dort  alle  Männer  ge- 
tödtet,  die  Weiber  aber  f&r  sich  behalten  hätten;  die  letzteren  seien  dann  ihrer 
angestammten  Sprache  treu  geblieben.  Allein  dass  in  diesem  Falle  die  gegebene 
Erklärung  nicht  zutreffend  ist,  hat  StoU  nachgewiesen,  denn  die  caraibische 
Frauensprache  besitzt  nur  ein  einziges  Wort,  welches  dem  Arawakischen  gleicht. 
Viel  wahrscheinlicher  ist  es,  dass  auch  hier  die  Ursache  in  der  socialen  Stellung 
der  Frau  zu  suchen  ist.  Das  Weib  ist  mit  dem  männlichen  Geschlechte  nicht 
einmal  in  Bezug  auf  die  Benutzung  der  Worte  gleichberechtigt.  Andererseits  kann 
aber  auch  eine  viel  schärfere  Differenzirung  in  den  Beziehungen  fbr  gewisse 
Dinge,  namentlich  fiir  die  Verwandtschaftsgrade,  wie  sie  unserer  Sprache  und  un- 
serem Empfinden  vollkommen  fremd  sind,  mit  zur  Erklärung  dieser  Erscheinung 
beitragen  helfen. 

Gerade  das  letztere  sahen  wir  auch  nach  StoU  in  der  Sprache  der  Cakchi- 
queles  in  Guatemala. 

Dort  nennt  der  Mann  den  Schwiegersohn  hi,  die  Schwiegertochter  ali,  den  Schwieger- 
vater hi-nam,  die  Schwiegermatter  bi-te,  während  die  Frau  f&r  dieselben  Verwandten  die 
Worte  ali,  ali,  ali-nam  und  ali-te  gebraucht. 

Auch  sonst  findet  es  sich  bisweilen,  dass  die  Weiber  für  eine  ganze  Reihe 
von  Gegenständen  und  Begriffen  ihre  besonderen  Ausdrücke  und  Bezeichnungen 
gebrauchen,  welche  die  Männer  niemals  in  den  Mund  nehmen  und  f&r  welche  die 
Letzteren  ihre  eigenen  Worte  besitzen. 

Von  den  Caraya- Indianern  am  Rio  Araguya  in  Brasilien  berichtet 
Paul  Ehrenreich:  «Ihre  bemerkenswertheste  EigenthOmlichkeit  ist  das  Bestehen 
einer  besonderen  Männer-  und  Weibersprache,  wie  sich  dies  in  ähnlicher  Weise 
bei   Guaicurus   und  Chiquitanos   findet.     Indessen  sind  nur  wenige  Wörter 


33.  Die  Frauensprache.  155 

gänzlich  verschieden,  bei  den  meisten  ist  die  Form  nur  unwesentlich  modificirt. 
Wo  z.  B.  im  Männerdialect  zwei  Vokale  auf  einander  folgen,  steht  zwischen  beiden 
im  Weiberdialect  ein  k.  So  heisst  Neger  bei  Männern  „biü**,  bei  Weibern 
ybikü";  Mais  bei  Männern  ^mahi*,  bei  Weibern  „maki".  Bisweilen  hat  das 
weibliche  Wort  nur  eine  Endsilbe  mehr  u.  s.  w.  Wahrscheinlich  haben  die  Weiber 
nur  eine  alterthümliche  Form  der  Sprache  beibehalten." 

In  einer  ganz  neuen  Veröffentlichung  desselben  Verfassers  (Ehrenreich^) 
heisst  es  dann: 

.Die  merkwürdigste  Erscheinung  im  Caraya  ist  das  Bestehen  eines  besondem  Dialects 
ftr  die  Weiber,  eine  Tbatsache,  die  von  allen  bisherigen  Berichterstattern  übersehen,  von  mir 
leider  sn    spät  constatirt  wurde,  als  da«s  Probon  in  ausreichender  Menge  gesammelt  werden 
konnten.     Nur  wenige  Worte  scheinen  in  beiden  Dialecten  gänzlich  verschieden  zu  sein,  z.  B. 
Topf  bei  Männern:  wa-tihui,  bei  Weibern:  be  -O-ä 

Häuptling      „  „  isandenodo,         „  ,,  hauato 

Cocosnuss      ,.  „  uö,  „  ,  heeru 

Nase  „  ,  wa-dearo,  „  ,.  wa-däan-O-a 

Jagen  „  „  iramäänrakre,    „  „  ditiüänanderi. 

Doch  ist  hier  natürlich  die  Möglichkeit  vorhanden,  dass  diese  Worte  verschiedene  Dinge 
bezeichnen.  «Für  gewöhnlich  sind  die  Unterschiede  rein  lautlich."  Die  Sprache  der  Weiber 
scheint  ältere,  volltönendere  Formen  bewahrt  zu  haben.  So  redet  der  Mann  seine  Tochter  an 
mit  dee,  das  Weib  dieselbe  mit  deö.  Am  gewöhnlichsten  ist  die  Eliminirung  des  in  der 
Weiber«prache  häufigen  k-Lautes  im  Männer-Dialect.  Wo  bei  dem  Weib  ein  k  im  Inlaut 
swischen  zwei  Vocalen  steht,  wird  es  im  Männer-Dialect  ausgestossen,  wobei  beide  Vocale 
oft  verschmelzen  (z.  B.  Mädchen  bei  Weibern:  yadokoma,  bei  Männern  yaod 6 ma  u.  s.  w.); 
k  im  Anlaut  kann  ebenfalls  abgestossen  werden.  Das  Präfix  bei  Männern  ari  erscheint  im 
Weiber-Di alect  als  kari  (weiblich:  kari-rokusikre,  ich  will  essen,  männlich:  ari-rosikre). 
Hierauf  beruht  auch  wohl  der  Wechsel  der  Formen  in  der  zweiten  Person  der  Possessiv-Präfixe. 

Eis  folgt  dann  ein  14  Seiten  langes  Vocabulariuni,  in  welchem  die  Aus- 
drQcke,  wie  die  Männer  sie  brauchen,  und  diejenigen  der  Weiber  neben  einander 
gestellt  worden  sind.  Ich  greife  aus  demselben  noch  ein  Paar  uns  interessirende 
Worte  heraus: 

Zunge  im  Männer-Dialect:  wa-darotö,  im  Weiber-Dialoct:  toroto 
Kopfhaar     „  „  „         wa-radä,         „  ^  •  iradä 

Rücken     „  ,  ,.         wa-brä,  „  ,  „  i-brä 

Weibliche  Brust     „  „  „         ihukä,  „  „  „  wa-hukan  kä 

Bauch„  „  „         wa-huä,  „  .  „  i-huit 

Schamgegend     „  »  ^         wa-tera,         ,  ,1  „  i-tera 

Vulva     ,.  „  ,         i-tü  „  „  n  wa-atü. 

Diese  Beispiele  mögen  genügen.  Es  erscheint  dabei  eigen thümlich,  wie  die 
Vorsilbe  wa  oder  i  bei  einem  Körpertheile  von  den  Männern,  bei  einem  anderen 
▼on  den  Weibern  gebraucht  wird. 

Etwas  Hierhergehöriges  berichtet  auch  Prinz  Heiland  Bonaparte  von  den 
eingeborenen  Indianern  aus  Surinam: 

,L€8  femmes  ont  beaucoup  de  mots  qui  leurs  sont  propres,  et  que  les  hommes  n'om- 
ploient  jamais,  ce  qui  ne  veut  point  dire,  comme  on  Ta  affirme,  que  les  hommes  et  les 
femmee  parlent  deux  langues  diiferentes:  —  »Qui**  se  dit  chez  les  hommes:  „Kh^'  ou  ,Tasi* : 
et  chez  les  femmes:  „Tare*.  De  mßme  les  hommes  disent:  „Bahassida*  pour  „Je  crois";  et 
lei  femmes:   «Bahara*/ 

Bei  einzelnen  Völkerschaften  sind  wir  im  Stande,  dem  Wesen  und  dem  Ur- 
sprünge der  Frauensprache  in  Wirklichkeit  auf  den  Grund  zu  kommen.  Sie  hat 
sich  ausgebildet  durch  eine  höchst  eigenthümliche  Sitte  des  Familien-  und  öffent- 
lichen Ceremoniells.  Es  ist  nämlich  den  Weibern  streng  verboten,  die  Namen 
von  bestimmten  ihrer  Anverwandten,  sowie  diejenigen  des  Häuptlings  oder  des 
Königs  in  den  Mund  zu  nehmen.  Sie  sind  gezwungen,  an  deren  Stelle  ein  anderes 
Wort  zu  gebrauchen.  Das  erzählt  z.  B.  Kram  von  den  Zulus,  wo,  abgesehen 
Ton    dem   Königsnamen,   auch  der   des   Schwiegervaters   und   seiner  Brüder   dem 


'«V>ir>^  ^r^^anä^fTif^MA  isntsi^  T«rfaocaL  äs.  Bnangiign  «kwiiauig'  wird  ias  in  der 
x.^l;:r.>xi>»L  Famil^i^.  Hi^r  Tiifranii  d^e  Fcmbol  doL  X^aw  äzai  frwahK  sowie 
t^f^m.^^c  teiotf»  VaSi^rs.  Kiaa  GrrjoBTasen  ud  alkr  «mr  Bi  ildi  i  Tamwiden. 
/^^  :Ar^x,  imm^sr  z.rsr  Worte  -snA  SSd^sl  tsl  eclizuie&  md  ^  nack  ÜMUTiiilen  xa 
T>rir>ii!ra.  W'Lrfk  shUo  der  3iai&e  €xzl  Z  iiiriiilriii.  j»  wvsdfr  da»  W»Ber.  ge- 
-mr^^nVa*::  ;k7.az.x:.  ams^sforBt  in  &oi&Bd&bi  ■.  deE|eL  ■tfan  Die|esige  Frma, 
v>-*^>^  'Cii't^tr  äiue  zawider  haoAtbi  soQse.  wftrde  dorck  cnen  Prii^ter  der 
H^^*i  zTjq^hici  tKod  aät  d«  Tode  bea&nft  wexdesL*  E»  wird  losarlicher 
W>iM;  "iac-s.  iMHkr  ienwieri^  die  Spfadie  der  Weiber  xa  iriUfhfii,  denn  es  eni- 
4C^»i:r»  d^kd.reii  ecce  gioxüeii  Teracderte  Spndie.  für  wekke  dse  Znla  selber  die 
I>!ze->r,T.r.r:g  Ukoteta  kwaba^pxi  besicun.  das  beisk  in  der  Cebctaeizmig 
frAOi^a  spräche, 

Wii^  QX»  du  aoeh  noch  wiederholentlich  in  andocB  BenAmigen  begegnen 
-mlfL  ^ß  kennen  wir  aceh  hier  eine  gaua  ihnliAe  Sitte  bei  einem  imomlich  weit 
f'/tk  ifüti  Zalni  entfernten  and  mit  ihnen  aneh  in  kdneriei  Verwnndtscfanft  oder 
irgend  weleber  Beziehang  stehenden  Volke  conatatiren.  kh  meine  die  Kirgisen. 
Von  dMMti  beriefatet  Vawiihiry.  dass  die  Fran  den  Xmmcn  der  minnliehen  Mit- 
glieder des  HaoMtandes  niemnb  ansprechen  dürfe,  weil  das  vn^diicklich  ist,  nnd 
man  erzahlt  tieh  folgende  anf  diese  Sitte  bezngiiehe  An^dote: 

«Kia  K  irgrite  batte  einst  fönf  S^hne.  die  iidi  K9I  (See^  EaaiMch  ^Bohr).  Kaikir  ('WolO. 
fC^j  ^.Sdbaf ,  oad  Pit«efaak  Ofeuer/  naiiBteB.  Seine  Sdiwiigti  toditer  ging  eine*  Taget  nun 
WM»er.  oad  alt  fie  aun  See  im  Bohre  einen  Wolf  erblidte,  da-  ein  S^af  Tenchite,  kam  tie 
«<:breu»d  zorliek:  Dort  neben  dem  Glänzenden  im  Sckankelndea  friwt  ein  Raabtkier 
da«  Blökende«  —  da  lie  die  aof  dieie  BegzüTe  besöglicfaea  Woxta,  aogleidi  die  Namen  der 
miaalidMn  Mitglieder  der  Familie,  nieht  aoMpredien  dorfte.^ 

Etwan.  was  man  in  das  Gebiet  der  Franeo  spräche  rechnen  konnte,  lisst 
nit^h  «ogar  aach  bei  ons  Dachwetseo.  Es  brincfat  nur  daimnf  hingewiesen  zu 
werden,  daas  aoch  ansere  Damen  fQr  alles  die  Sphäre  des  Geschlechtsiebens  Be- 
rOhnmde  ihre  eigene  Ansdrucksweise  besitzen,  welche  ron  deijenigen  der  Manner 
ganz  bedeutend  Terscfaieden  ist  nnd  gar  nicht  selten  Ton  den  letxteren  nicht  einmal 
Tenrtanden  werden  kann.  Hier  war  es  zweifellos  das  Schamgef&hl,  welches  die 
^>e»^>nderen  Aosdracke  Torgeschrieben  nnd  erfanden  hat.  Aber  anch  das  Verbot, 
die  Namen  der  mannlichen  Verwandten  aosznsprechen,  werden  wir  wohl  anf  Rech- 
nung des  ScbamgefQhls  zu  setzen  haben,  jedoch  hat  dasselbe  eine  Höhe  der  Aus- 
bildung erreicht,  welche  unserem  Fühlen  und  Empfinden,  sowie  unseren  B^riffen 
Ton  Schicklichkeit  Tollkommen  fremd  und  unbegreiflich  ist. 


V.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethno- 
graphischer Hinsicht. 

34.  Die  Süsseren  Sexualorgane  des  Weibes  im  Allgemeinen. 

Die  anatomischen  Verhältnisse  der  Geschlechtsorgane  und  die  physiologischen 
Sexoal- Functionen  sind  die  wesentlichsten  Characteristica  des  weiblichen  Orga- 
nismns.  Sie  haben  fßr  die  ethnographische  Forschung  insofern  eine  nicht  geringe 
Bedeutung,  ab  sie  bei  den  verschiedenen  Völkern  thatsächliche  Unterschiede  er- 
kennen lassen. 

Wir  müssen,  um  diese  Unterschiede  kennen  zu  lernen,  zunächst  die  weib- 
lichen Oeschlechtstheile  fremder  Stämme  in  ihren  äusseren  Formen  betrachten. 
Dann  soll  das  Wenige  zusammengestellt  werden,  was  wir  über  die  inneren  Geni- 
talien aus  anderen  Erdtheilen  wissen.  Eine  besondere  Beachtung  verdient  ferner 
des  Becken  als  derjenige  Theil  des  knöchernen  Skeletts,  welcher  bei  den  Geburts- 
▼orgfinffen  eine  hervorragende  Rolle  spielt,  und  endlich  würden  wir  das  Verhalten 
der  Behaarung  an  dem  Körper  und  die  Form  und  den  Bau  der  weiblichen  Brüste 
unseren  Betrachtungen  zu  unterziehen  haben. 

Diesen  anatomischen  Erörterungen  haben  dann  die  physiologischen  zu  fol- 
gen, d.  h.  die  Besprechung  der  geschlechtlichen  Functionen,  der  Menstruation,  der 
Schwangerschaft,  der  Entbindung,  des  Wochenbettes  und  des  Säugegeschäftes. 
Auch  hier  werden  wir  so  manches  als  typisch  antreffen  für  die  verschiedenen 
Volksstämme  und  Rassen. 

Wir  dürfen    auch  manche  Gebräuche,    die   sich  auf  das 
Geschlechtsleben  und  auf  die  Behandlung  der  Geschlechtsorgane        \  I  /     \  I  / 
beziehen,  nicht  unbeachtet  lassen,  obgleich  sie  nicht  unmittel-         \/         N/ 
bar  während  der  Schwangerschaft,  der  Geburt  oder  des  Wochen-    pig.  loo.    Rohe  Figur 
bettes  vorgenommen  werden.     Denn  manche  dieser  hier  anzu-    «ler  Vulva,  als  schnt«- 
führenden   Volkssitten    sind   nicht   ganz  ohne  Einfluss  auf  die    Bäume. ^Vmbon*^- und 
Schwangerschaft  und  Niederkunft,  sei  es  f()rdemd,  sei  es  hin-         uuase- Inseln.) 
demd.     In  dieser  Beziehung  scheint  insbesondere  die  Excision  ^^*^^  Rtedcn.) 

der  Clitoris,  die  künstliche  Verlängerung  derselben  und  diejenige 
der  Nymphen,  sowie    die  Vemähung    der  Vulva  und    die  Pflege  und  Behandlung 
der  Brüste  bei  manchen  Völkern  von  nicht  geringer  Bedeutung  zu  sein. 

Fast  überall  auf  der  ganzen  Erde  ist  mit  den  Genitalien  der  Begriff  des 
Beschämenden,  des  Pudendum,  verbunden,  und  das  Aussprechen  ihres  Namens 
wird  als  etwas  Unanständiges,  als  etwas  Beleidigendes  augesehen.  Auch  bei  uns 
im  niederen  Volke  wird  bekanntlich  ihr  Name  als  ein  Schimpfwort  verwendet, 
und  auf  mehreren  der  Inseln  des  alfuri sehen  Meeres  gilt  der  Zuruf:  „Geschlechts- 
theil  Deiner  Mutter*  als  eine  der  schwersten  Beleidigungen. 

Riedel\  der  dieses  erzählt,  berichtet  auch,  dass  in  Ambon  und  den  Uliase- 
Inseln  die  Eingeborenen  in  ihre  Kaiapa-  und  anderen  Fruchtbäume  rohe  Figuren 
der  weiblichen  Scham  einschneiden,  Fig.  100.    Das  geschieht  theils,  um  diese  Bäume 


IS»  VW 

bi^Kr   tngn  tn   MtarJwti,  tkdk  aoeb,  um  üaberafine 

2tt  bcfMb«;  d»i  £w  Zciehn  ■tcBeo  die  6f»eUecbii&äle  ikr 

iit  walindttsiifidi  die  Jodm«  diarhliiMiKli^MeeriilliiU  |siiwiiijt> 
«tUe  der  i^ptiiclie  Kiioif^  SkmtinM  nfrldlle,  od  dmaf  ^e 
ngcliiiie  laidbfift  (aeta  Haiiia,  Mina  Berkonft  aad 
Tollw)«  mrnim  die  SdttngUeder  eiott  WefliesL  Wo  er  oltaa  %mmft  ^  kidl  dk 
Stfdie  eiaiialiin.  bei  diesen  Keee  er  «war  auf  £e  Bialea  dieselbe  laaAfift  aitieB. 
wii^  bei  de»  ,  «eieke  tapfer  gewesen  waren,  m.fa  fligte  er  nock  die  Stkam- 

gUeder  eine»    vV  ^^lu^  binn,  i&dem  er  damit  inmd  Ibao  woDle.  dafls  sie  fe^  ge- 
wesen wiren.* 

PkÜipp  Jaioi  ßatim  etxibli  t  oo  einer  Mime,  wekke  die  Umgin  Mmyarähi 
▼cm  Oa&emark  teUagen  lieaii  «podendom  mnEeliie  eoEaeta tefergnlem %  zum  Buhne 
flir  Ain  KonigiD  tod  Norwegen  imd  Scbwedea,  wekbe  »e  besiegt  hatte  Im 
tt  -  /^-  fien  Mftnwmbiaei  von  Berlin  kl  diese  MOnie,  wie  nur  Herr  Dr.  Jtfemidier 
\\'  bei  mHUieilie,  weder  Tariiaiiden  Boeb  bekannt    Jedocb  enililb* 


Ftg.  toi.    St«iii-R«tt«f  von  iler  i>«ter-tii«el;   Do^i^i-Iiiii^iciüifciic  4c»  üott«*  a«k6*amkc, 
«Ist  tthrliclte  aehnrt  b«sekbiieDd  rnftcb  GH^^i^r)^ 

dim«   angeblich    etue    äbiiliche  Darstelluag   auf  einer   MQnze  vlj<$riMl  dm  Siark 
orlmnclen    i»t,    welche   auf  Wunsch    der  Gräün   /  reo  äenitalien  tamteUenl 

>llk-.     Die»e   letzter**  Legende   hat   ihren    positiv       _   _'.rrgrund  in  einer  orale 

WMppfüiuairahmuDg.     Uerm  geheimen  Kegierangsraih  Friedenshmf  verdanke  tc 

die  folgende  Zoiichrift: 

,Die  Geäcliicbt«  von    der    Kouigin   Mar^arethe  fon   Dane  mark    mit 

OarsteUnng   eines   weiblichen   Gliedes   ist   eine   Fabel     Die   MOnxe,  die  n,  a. 


JoachitHS  (troi9chencabinet  abgebildet  ist,  zeigt  ein  stylistrte^ 


m 


xaweilen  d«*r  Zirkt^lpankt  (der  Mittelpunkt  d«^  kri^iAfiSrmig^n  Münrfeldes)  siehihar 
ist,  als  »]'  "  Or^^bro.  nders  int  e^  mil|~ 

dem  4»og*  iie  IJinrftlinjt]^  ^   .      «S^appens  in  Vi^r-j 

bindung    mit    d«?ni  Zirkelpunkt    dns    bin de>«(U) liehe  Bild    der  Scham,     übtmso  au 
Mtlnxen  Kartn  XL  mit  dcsMini  doppi'lten  KiimL*n»btichßtabcn    ^'<,     Die  Fa^    '   -     n 
dtitn  weibliche«  Gliede  ij<t  offenbar  nach  der  lland  erfunden^  aber  weit  Tt 
'■  •  '1.  Ktihilimann:  Nummi  sin^ulares  I7ii4.    S.  117.)* 


di.  Die  ftuflseren  Sexuiilorgane  des  Weibea  im  AUgemeitien, 


159 


Aber  auch  eine  ehrenvolle  Bedeutung  kann  die  Darstellung  der  weiblichen 
athetle  haben.     So   findet   sich   dieselbe   vielfach    auf  den    Sculpturen    und 
üieln^  welche  von  der  Besatzung  des    deutschen  Schiffes  Uyäne  auf  der 
^sterineel  entdeckt  worden  sind  (Geiseler).     Da  sie  sich  immer  zusammen  mit 
ier    '         '    II  Darstellung    des  Gottes  Make -Make   finden,   des  Gottes    der  Eier, 
der  itiliche    und    das  Weibliche    reprasentirt    und   der    in    dieser  Doppel- 

duraixUmig  die  Geburt  eines  Menschen  bezeichnen  soll,  so  sollen  die  danebeii- 
gvstellien  weiblicheu  Genitalien  anzeigen,  dass  diese  Geburt  einer  ehelichen  Ent- 
bindung enl«prossen  war,     (Fig.  101.) 

Die  Oster- Insulaner  haben  auch  jetzt  noch  in  alten  Hauptlingstamilien 
die  absonderliche  Sitte  bewahrt,  dass  bei  der  Eingehung  einer  ehelichen  Verbindung 
sich  der  Ehemann  die  Vulva  der  Frau  in  ähnlicher  Zeichnung  etwa  zwei  Zoll  gross 
Tom  auf  die  Brast  unmittelbar  unter  dem  Kehlkopfe  eintäitowirt,  um  Jedem  den 
Beweis  zu  liefern,  dass  er  verheirathet  ist     (Fig.  102.) 


Kig   \m.    Tttt<»wirt«irUftapiHiis  derOfter-lniulftner.    (HvAh  yhw^t) 

Die  Darstellung  der  weiblichen  Geschlechtstheile  erfreut  sich  in  vielen  Ge* 
PO    Indiens    auch    heute  noch  göttlicher  Verehrung.     Schon  Dulaure  sagte: 
,J«e«  lndi«3ii8  ont  CTU  donner  pltis  d'expreaüion  üu  de  vertu  u  Tembleme  de  la  fecontlit**, 
ta  r0i3nitf«at]t   Im  pariie»   generatives  des  dem  sexes.    Celle  nmnioo,   cjue  quelques«  ecrivulua 
Qdeat  avec  lo  Lingam.  est  nommee  Pullei ar.     (Hier  liegt  eine  Verwecb.^elung  mit 
Qien  einer  niederen  Kaste  vor.)    C'est  »ant  doute  nn  extrait  de  la  etatue  rooitie  mAIo, 
fttiuelle»   que  Bartlimne  arait  autrefaiH  rue   daaia  riude.     „Ce  symbole,   ausei  naif 
|Q6.  et<t,  dit  Sonncrtiif  la  forme  la  plus  sacree  soua  laquelle  on  adore  Chiven:  il  eet 
dan»  le  t^anctuaire  de  ses  templee/*     Les  sectateurB  de  ce  dteu  ont  une  grande  de- 
C»n  aa   Pulleiar:   ila  Teuiploient  comme  une  amalette  ou  un  prdi»erTatlf;   ila  le  porteat 
du  a  lear  cou;  et  le«  moiiiet,  appel^i  Pandarons,  ne  marchent  jamaü  sana  cette  reU* 
di'coration.*' 

Einen  derartigen  Lingum  fuhrt  Fig,   lUS  dem  Leser  von     Er  stammt  aus 
Ivogaleo    und    betindet   sich   im  Besitze   des  königL  Museums  fQr  Völkerkunde 
Berlin.    Der  in  der  Mitte  aufrechtstehende  Zapfen  ist  das  Symbol  des  Mahadcta 
'     '*,     Er  ist  aus  Bergkrystall    gefertigt    und    ragt    ungefähr  3 — 4  cm    aus 
crsatze  aus  graugrünem,  mannorartigem  Gesteine  hervor.    Dieser  Unter- 
ist das  Symbol  der  Bhavätü^  der  Gemahlin  Mahddevus^  und  er  repräsentirt 
reibhche  Princip.     Auch    in  China   gewinnt    die  Darstell img  der  weiblichen 
leehtstheile    unter  Umständen    eine  wichtige  Bedeutung,    Kafscher  berichtet 
Aber  Folgendes: 


m    ff— fir- 


mammumM 


160 


V.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 


„Ein  anderes  häufig  angewendetes  Mittel  zur  Abwendung  von  Ungemach 
ist  das  Ankleben  von  Darstellungen  des  männlichen  und  des  weiblichen  Princips  — 
Jan  und  Jin  —  über  den  Hausthoren.  Diese  abergläubischen  Vorsichten  werden 
namentlich  dann  angewendet,  wenn  ein  Hausbesitzer  die  Furcht  hegt,  dass  ein 
dem  seinigen  gegenüberliegendes  Haus  nicht  in  Oemässheit  der  Vorschriften  der 
Erd wahrsagerei  gebaut  ist.  Gray  hat  zahlreiche  einschlägige  Beispiele  erlebt; 
eines  sei  hier  erwähnt.  Eng^  der  Eigenthümer  und  Insasse  eines  stattlichen  Hauses 
in  Canton,  schrieb  die  vielen  Krankheitsfalle,  die  sich  in  seiner  Familie  ereigneten, 
dem  Umstände  zu,  dass  beim  Bau  eines  vis-a-vis  befindlichen  Pfandleihhauses  die 
Grundsätze   der  Geomantie   ausser  Acht   gelassen   worden   waren.     Er  wollte  das 

verhasste  Gebäude  ankaufen,  um  es  nieder- 
reissen  zu  lassen ;  die  Besitzer  des  Leihamtes 
weigerten  sich  jedoch,  es  zu  verkaufen,  und 
Efig  wusste  sich  nicht  anders  zu  helfen,  als 
über  den  Thüren  seines  Hauses  Darstellungen 
des  Jin    und  des  Jan  anzubringen.* 

Die  Anthropologen  haben  sich  mit 
grossem  Eifer  mit  den  craniologischen  und  den 
M^^^S^SS^3^^Bt^^  phjsiognomischen  Eigenthümlichkeiten  der 
B^yV^^yjSP^^^^^^p  ^  Menschenrassen  beschäftigt.  Allein  der  Kopf 
^^  ^Ni^g^l^^^^^^  ^jjj  jj^  Gesicht  bieten  vielleicht  nicht  be- 
deutendere ethnographische  Vergleichungs- 
punkte dair,  als  wir  sie  bei  den  weiblichen 
Geschlechtstheilen  mit  allem  was  dazu  gehört 
zu  finden  vermögen.  Man  hat  über  die  Be- 
sonderheiten im  Bau  der  äusseren  Sexualorgane  nur  bei  einzelnen  Volkerschaften 
genauere  K  ach  forsch  ungen  angestellt;  denn  es  ist  eben  schwer,  eine  genügende 
Zahl  von  Objecten  zu  bekommen  und  einer  Betrachtung,  oder  gar  einer  genauen 
Messung  zu  unterwerfen.  Die  anthropologische  Bedeutung  der  Sache  verdient  es 
aber,  dass  ich  das  Material,  soweit  es  schon  vorhanden  ist,  an  dieser  Stelle  zu- 
sammenbringe. 


Fig.  103.    Lingam  aus  Bengalen. 

(Museum  für  Vülkerkunde   in   Berlin.) 

(Nach  Photographie.) 


35.  Das  weibliche  Becken  in  anthropologischer  Beziehung. 

Unter  allen  Theilen  des  gesammten  Knochensystems  hat  nächst  dem  Schädel 
ftlr  die  Anthropologie  des  Weibes  der  Bau,  die  Grösse  und  die  Gestaltung  des 
Beckens  die  allerwichtigste  Bedeutung.  Dieser  aus  mehreren  Knochen  zusammen- 
gesetzte Theil  des  knöchernen  Gerüstes  hat  einerseits  die  Aufgabe,  die  über  und 
in  seiner  Höhle  liegenden  Unterleibsorgane  zu  stützen  und  zu  tragen,  andererseits 
aber,  und  das  ist  hier  von  besonderer  Wichtigkeit,  sind  es  auch  die  weiblichen 
Geschlechtsorgane,  welche  von  ihm  umschlossen  werden  und  zu  ihm  in  engster 
Beziehung  stehen.  Diese  enge  Beziehung  des  Beckens  zu  den  Genitalien  tritt 
besonders  dann  recht  deutlich  in  den  Vordergrund,  wenn  sich  das  Weib  in  dem 
Zustande  der  Befruchtung  befindet  und  wenn  es  gilt,  dem  neuen  Organismus  das 
Leben  zu  geben.  Aus  diesem  Grunde  sind  daher  auch  am  weiblichen  Becken 
zahlreiche  Besonderheiten  wahrzunehmen,  welche  es  von  dem  männlichen  in  hohem 
Grade  unterscheiden  und  es  ge wisser maassen  erst  für  den  Mechanismus  des  Geburts- 
vorganges geeignet  machen.  Es  wurde  dieses  alles  bereits  bei  der  Zusammen- 
stellung der  anatomischen  Unterschiede  in  dem  männlichen  und  weiblichen  Körper- 
bau einer  ausführlichen  Besprechung  unterzogen.  In  der  Würdigung  dieser 
Thatsachen  haben  sich  Anthropologen  und  Gynäkologen  vielfach  dem  Studium 
dieser  Knochengruppe  gewidmet.  Man  hat  das  menschliche  Becken  in  seiner 
Entwickelung  von  der  ersten  Bildung  im  Fötus  an  wissenschaftlich  verfolgt;  man 
hat  gefunden,  wie  seine  Form  durch  alle  das  Wachsthum  beeinflussenden  Momente 


liblicbe  Becken  in  antbropologiäcber  Beziehung. 


161 


^vrird,  welche  Wirkung  dabei  die  Rumpf  last,  der  Druck  und  Gegendruck 
^  rscbenkelansatz,  der  Miiskelzug  o.  a.  w,  aiisilben;  man  hat  es  mit  dem 
der  menschenähnlichen  Aflen  und  mit  anderen  Thierbecken  verglichen, 
jnd  schhessHch  wurden  auch  die  Unterschiede  aufgesucht,  welche  sich  bei  den 
rerschiedeuen  Menschenrassen  am  Becken  zeigen.  Vorzugsweise  fanden  die  Gynäko- 
og^n  und  Geburtshelfer  Gelegenheit,  am  Frauenbecken  Studien  zu  machen,  denn 
ae  waren  genoihigt,  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  Maasse  zu  nehmen,  und 
iSrgebnisse  dit^-ser  Messungen  konnten  sie  dünn  unter  einander  vergleiclien.  Auf 
^Methode  der  Beckenmessung,  namentlich  wie  sie  am  lebenden  Korper  vor- 
lunen  wird»  kann  ich  hier  nicht  näher  eingehen.  Es  mag  aber  daran 
innert  werden»  dass  für  dieselbe  zwei  Grübehen  von  Wichtigkeit  sind,  welche 
%ick  oberhalb  der  Uinterbacken    etwas  seitlich  Tom  Kreuzbein  finden.     Dieselben 


r\ 


>v. 


K\  k 


(Naoli  Fhotographie.) 


ia  jbfiiUolb  Uej  Q« 


rkiren  sieh  deutlich  bei  dem  rückwärts  gekehrt  sitzenden  Z  u  1  u  -  Mädchen,  da« 
104  dargestellt  ist»  und  auch  bei  dem  von  Koch  und  Rifdh  veröffentlichten 
Fig.  105  lassen  sich  dieselben  gut  erkennen. 
l>en  Alten  waren  diese  Grübchen  wohlbekannt,  wie  man  aus  ihren  Kunst- 
rerkrn  ersieht;  aber  auch  bei  den  Schriftstellern  kommen  sie  vor,  und  hier 
r erden  sie  nach  Analogie  der  Grübchen  im  Gesicht  Gelasinoi,  d,  h.  Lach- 
rrübcb  annt. 

J  erzählt    von    einem  Wettstreit    der    ThryoUis   mit    der  schönen 

Ifffrkme: 

^Thnfdlli«  liets  daa  Gewand  ftülen^  ondf  die  Hüfte  leicbt  erhebend,  flprach  sie,  anf  die 
iiaterbäcken  weiBend;    Sieh    die  F&rhe   der  Oautf   o  Myrthintj  wie  rein,  wie  bell,  sieh  den 
pomtn  Scbimmer  an  der  Seite  der  Hüften,  die  sich  in  sanfter  Linie,  nicht  sa  fleischig  und 
PNii.Bmrt«1a.  Dm  Wetb.    6.  Aufl.    I,  11 


Der   G^TtSlkoIoge ' 

Strais^,  dem  ich  dleae 

''](:ite     tjnt- 

JiLU  vi.»r  Kur- 

fi     lifunf    hinge-] 

vvi*^^eu,       da^      die 

Grübchen    di«    seit^ 

Erkrn    einer 

bilden,  deren  obere 
Spit/euuf  dem  Kreujt*  [ 
hem,  deren  unUri* 
Sjif/e  am  obftren 
Ant  Mjfre  der  die  b«i* 
den  Hinterbacken 
trennenden  Furche 
liejüft  Diefte  muten- 
fi>rmi|t(e  Figur  wird 
nach  einem  runderen 
FrauenarzU»  dii*  jl/f-| 
rAfif7/\'<  l»t^  f?iinh*  it.*. 
nannt 

Sintis-  «i^fi  däir* 

uiier: 

üK^u  *'iii\i\^m\en  Kflek«fi 
einer    n(h^*u    gobnuttn  I 
FrAu,  "W  oma 

im  Kl  1  wtttdig' 


fortldcnitcliii  mit  ilnulUdi  nmrklrtitu  QrUliclien  oberb«>fb  de» 
Cl<9fli.na«i,    (Nach  AW>t  und  fiifi\.) 

d«iii6ii  uttiftrar  Wink«!  in  deo  Verbind angpunkt  Jer  boideti  HuitiirbMken  fUlH 

otioa    Ij^greuzt    wird    durch    diu    (irdbcbon    uiit4)rbalb    ddi  laUlifi    LmdettwirbtflfortAfttaeA.^ 


dS.  Das  weibliche  Becken  in  ftntbropülogi scher  Beziehung« 
Waide^er'^  giebt  für  die  Raute  die  folgende  aoatomi&che  Erklärung: 


103 


stumpfe  Winkel  der  Kreuz raute  wird    oft  durch    ein  Grübchen   markirt, 

'   unterhalb  de»  Proceffsua  ttpitiosu^  des  fünften  Lendenwirbels  zeigt.   Oberhalb 

nor  superior  bleibt  ein  kleines  orales  Knochenfeld  frei  von  Muskelflei&ck 

lit  jederaeit«  ein  Grübchen»  welches  die  beiden  Seitenwinkel  der  Kreux* 

I    iinil  mäbesondere  bei  Frauen  deutlich  ist.     Sonach  niarkirt  »ich  die  Kreuzraute 

4ö  Knochenpunkte:  oben  durch  den  Processus  spinoaus  de»  fünften  Lendenwirbels» 

^untern    durch    den   Zusaninien^tosä   der  Hinterbacken    dem  Ende   des  Kreuzbeins   enü^prechend, 

linkt«    und    rechts  durch   je    ein  Grübchen,   welches    mit   der  Spina  iliaca   posterior   superior 

eofretpondirt/ 

Unsere  Fig,  106  lässt  bei  einem  Künstlerraodell  aus  Budapest  diese  Raute 

Ideutlich  erkennen.     Nach  Strats   muss  sie  als  ein  charakteristisches  Merkmal  de« 

*    ben    Geschlechts    auge^^ehen   werden,    und    er    bekämpft    die    Anschauung 

Sy  der  sie  auch  den  Männern  zuspricht.     Bei  Brücke  heisst  es: 

.Wenn  man  den  Rücken  einer  aufrechtstehenden  Ferdon  oder  einer  Statue  betrachtet,  so 

man  die  iwi^cbon  den  Schultern  herabsteigende  Hückgratalinie  leicht  nach  abwärts  ver- 


/ 


Pftf.  100.     Die  Raute  der  KreuEb^ins^geml  ^*v\  einf^r  EnropileriB.    (Nacb  PbotographJO 


i^lgCOf  b»  sie  in  der  Kreosbeingegend  angelangt  undeutlich  wird.  Hier  findet  man  an 
1>cidfjn  beiden  Ton  d«rialben  in  einiger  Entfernung  Gruben,  welche  in  senkrechter  Richtung 
{^toi!  gröftiere  Ausdohnong  haben,  als  in  horizontjiler;  sie  sind  mehr  oder  weniger  länglich  von 
:jl>«'n  Lach  unten  ersUeckt.  Die  Hervorwblbungen,  welche  «wischen  ihnen  und  der  Rückgrat*- 
^^  hegen»  rühren  ?on  der  untersten  Partie  der  liOckenmuskeln  her.  welche  sich  an  da« 
■zb«in  befestigt,  orentuell  auob  von  aufgelagertem  Fett,  Von  diesen  (trüben  verläuft 
nach  unt^m  und  innen  joderseits  eine  Linie  gegen  den  Spalt  si wischen  den  beiden 
trhau>ken,  wo  beide  am  Beginn  derselben  einander  treffen.  Diese  Linien  Bind  entweder 
er  ganzen  Au»dehnnng  erkennbar»  oder  sie  sind  doch  soweit  angedeutet,  daös  man  «ie 
■icbl  ergingen  kann.  Wa»  nach  oben  und  innen  von  ihnen  liegt,  gehört  den  RUckenmuskeln 
ii]]4  den  mit  demselben  verbundenen  Sehnen  und  deren  AnsHtzen»  was  nach  abwUrta  und 
eil  aiüf«!  von  ihnen  liegt,  den  (f  eeJlssmuakeln.  Durch  diese  Linien  wird  ein  Dreieck  gebildet, 
da«  mch  oben  gegen  d^n  KQcken  durch  veränderte  Neigung  mehr  oder  weniger  deutlich  ab- 
ipmmitt  Ut,  und  das  Kreur.beindreieck,  8acraUlreieck,  genannt  wird.  Dainselbe  kann 
T«T»elu*tleii  geitttltet  sein,  je  nach  der  Reckenneigung,  je  nach  der  Form  de«  Kreujcbein«  und 
der  »««toai^mden  Darmbeine  und  je  nach  der  Fettablagerung.  Ee  kann  eine  conrese  Fl&che 
danrt/all^p,  <ai  kann  tluch  sein,  es  kann  selbst  noch  wieder  eine  mittlere  oder  Kwci  «eitlicbe 
Dtfproanoiieii  «eigen,  aber  immer  mu&i  es  erkenntlich  und  vom  Künstler  in  eeinen  Einitetheiten 
mit  V«fsttiidnta8  durchgeführt  ^ein,  wenn  m  sich  um  die  Rückeuansicht  eines  jugendlichen 
wohlcrhaltftnen  Kr*riJpiy  hivndelt.  tplt^ichviel.  ob  <>s  ein  männlicher  oder  ein  weiblicher  i«t  ** 

11* 


V.  Die  äusseren  Sezualorgane  des  Weibes  in  ethnogpraphischer  Hinsicht. 

und  in  beiden  Fällen  resultirt  hieraus  ein  gesundes,  normales  und  geräumiges 

^^^^^?^en.    Ausnahmsweise  findet  sich  aber  die  Baute  auch  einmal  bei  einem  Manne. 

^^^~^    ^3li   ändert  dieses  an  der  Thatsache  nichts,  dass  wir  die  Baute  als  ein  Charak- 

•^^       ^«t>icum    des  weiblichen  Geschlechts    ansprechen   müssen,    ebensowenig  wie   die 

^®^^*1       ^0    aufhören    ein  weibliches  Merkmal  zu  sein,  obgleich  hin  und  wieder  auch 

B^  yxiünnliches  Wesen  deutlich  gerundete  Brüste  besitzen  kann. 

«i^^^  Auch    schon   ohne   den    genaueren  Vergleich  durch  Bandmaass  und  Zirkel. 

^^xi  »Hein  durch  das  Augenmaass  war  man  im  Stande,  grosse  Unterschiede  zwischen 

ö^*^      .   ]:«Vauenbecken   verschiedener  Bässen  wahrzunehmen;    und    einer    der    Ersten, 

d^^*^      jjer  auf  solche  Diiferenzen  aufmerksam  machte  und  Messungen  vornahm,  war 

^^"  T^  egt  _  , 

^^'^  noch    allzu   geringen  Materials    machte  dann  M.  J,   Weber  in    Bonn  den 


^ff  T^^^^v-m//.     Eine  bahnbrechende  Arbeit  verdanken  wir  Vrolik^  welcher  die  Becken 
>^^         ;P^egern,    Javanesen,    vom    Buschmann   u.  s.  w.   verlieh.      Auf   Grund 


^^^^    öuch,  die  Beckenformen  schon  mit  Bücksicht  auf  die  Basse  zu  gruppiren;   sie 
^^T-^^jj^    wie   er   meinte,    den  Schadelformen  entsprechen,   so  dass  die  ovale  Form 
*^     .-^eiitli^^^   den    liaukasiern.    die   vierseitige   den   Mongolen,    die    runde    den 
^**''     orikanern,    die  keilförmige  den  Negern   zukäme.     Seit  jener   Zeit    ist   auf 
\^^  ^,jj    Gebiete   zwar  viel,   doch  keineswegs,   wie    Ploss^^  an  anderer  Stelle  dar- 
***^l  ^,1  hat,  Hinreichendes  gearbeitet  worden,  so  dass  wir  schon  im  Stande  wären, 
^X  -    da**  Bassenbecken  eine  systematische  Eintheilung  aufstellen  zu  können.     Dort 
*  jg  j^ezeigt,  dass  für  die  Messungen  des  Beckens  ein  einheitliches  und  gemein- 

^^^'     .j^   Verfahren  fehlt.     Dies    ist  eine  Behauptung,  welche  gleichzeitig  Balandin 
^^^^^^t,   [Petersburg  aussprach,   ohne   auch   nur  auf  die  Frage    über    das  Bassen- 
V^   »ken  einzugehen,  indem  er  lediglich  die  bisherigen  Messungen  des  Europäer- 
\t  ckens  (juantitativ  und  qualitativ    für  ungenügend   erklärte,    um    aus    ihnen    die 
Kifensoliaften    des  normalen  Beckens  festzustellen.     Insbesondere  scheint  es  auch 
»\ir  fraglich,    ob  man  berechtigt  ist,   die  Maassverhältnisse  der  Beckenhöhle, 
^*  iiiontlich  des  Beckeneinganges  i^d.  h.  der  Querdurchmesser  in  seiner  Proportion 
!*      dem    auf   100  berechneten  geniden   Durchmesser   als  ^Index"   bezeichnet),    als 
Trundlage    einer   systematischen  Eintheilung  aufzufassen.      Schon    Zaaijer    stellte 
demueniiiss   die  „runde"    und  die  , länglichovale  Form*  des  Eingangs  als  typisch 
uf    und  r.  Martin  gruppirte:    1.  Becken  mit  rundem  Eingange,   bei  denen  die 
roni"Uttt»i    (der    Abstand    der   Schambeinsymphyse   von    dem   Promontorium    des 
Kreuzbeines)  fast  ebenso    gross    ist,    als   der  Querdurchmesser,    und   höchstens 
im   *'      kleiner  als  dieser  ist  (Ureinwohner  Amerikas,   Australiens    und   der 
Inseln^des  indischen  und  grossen  Oceans);  2.  Becken   mit  querovalem  Ein- 
gänge,   bei  welchen  die  Tonjugata  mehr  als   ^m    ihrer  lünge  kleiner  ist   als  der 
uuere' Durchmesser  (Bewohnerinnen  Afrikas  und  Europas).     In  diesen  Propor- 
tionen    dies  wird  allgemein   anerkannt,    liegen    aber  nicht  allein  die  besonderen 
Merkn'iale  des  Kassen-Typus.     Es  sind  vielmehr  gewiss  auch  die  einzelnen  Theile 
des  Beckens    als  Bassen-Merkmale   charakteristisch,    unter  anderen  die  Darmbein- 
schaufeln,   deren    Breite,    Stellung    und    Dicke   bei  gewissen    Bässen    mehr   oder 
weniger  an  das  Thierbecken  erinnert,  z.  B.  das  keilförmig  verlängerte  Becken  des 
Negers,    wie    VroUh,   Primcr,  Carl   Vogt  u.  A.  hervorgehoben  haben.      Andere, 
wie  r/r  Quatrcfayes,  finden  in  solchen  Bildungen  nur  ein  Stehenbleiben  auf  frühen 

Altersstuten.  ,,    ,j4ij.jj.. 

Wie  hier  die  Breite  des  grossen  Beckens  (d.  h.  der  Abstand  der  äusseren 
Ränder  der  Darmbeinschaufeln  von  einander),  so  wird  von  Anderen  die  Configura- 
tion  des  Kreuz])eines  (Os  sacruni)  als  charakteristisch  geschildert:  ^hch  Bacarisse 
erreicht  die  Breite  an  der  Basis  des  Kreuzbeins  ihr  Maximum  bei  der  weissen 
Rasse  besonders  bei  den  Europäern,  dann  folgen  die  gelben  Bässen  und  endlich 
die  schwarzen.  Hinsichtlich  der  Höhe  des  Kreuzbeins  besteht  grosse  Mannigfaltig- 
keit: die  afrikanischen  Neger  erreichen  die  grösste  Höhe  unter  den  Kreuz- 
beinen mit  6  Wirbeln,  die  Europäer  unter  solchen  mit  5  Wirbehi.     Die  Krüm- 


35.  Das  weibliche  Becken  in  aDtbropologiecber  Beziehung. 


1G7 


BUDg  des  Kreuzbeins  ist  hei  den  weissen  Rassen  am  stärksten,  besonders  be 
^uropHern,  dann  folgen  die  gelben  Rassen,  und  die  flachsten  Kreuzbeine  haben 
lie  schwarzen. 

Besondere  Unterschiede  zeigen  sich  unter  den  Rassen  ganz   zweifellos  auch 

der  Neigung   des  Beckens,    d*  h.  in    der  üaltung   und  Stellung  desselben  zur 

lumpfaxe.      Schon  JSroca    machte    darauf  aufmerksam    und    gab    ein    besonderes 

Jnt^rsucbungsinstrument    für    diese   Verhältnisse    an.      Auch    Hennig    ging    den 

en  -  Differenzen    nach    dieser   Richtung    hin    nach.     Jedoch    Prochoumik,    der 

Ifalls  einen  Messapparat  angab,  kam  nach  seinen  Erörterungen  zu  dem  Schluss, 

man  sich   ror lautig  wegen    der  grossen  individuellen  Schwankungen  von  der 

Bestimmung  der  Beckenneigung  nicht  viel  für  die  Unterscheidung  der  Rassentypen 

"jrersprecben  darf. 

Allein   ich    breche   hiermit   die  Besprechung   des  Kassenbeckens  ab,   indem 
ich    lediglich   auf  die   austtihrlichen  Arbeiten  von    Vrolik^    Zaaijer^   Fruner-Bey, 


.^S^ 


^fejtSg^N 


^- 


(Ifiiwam   fUr   Völle  er  kuud^    in    Berlin.) 


Flg.  llo     AU-PerOftniecUe  V&ie 
tlluseuiD    fUr    Völkerkunde   In    BerUti,) 


Weisbach^    Carl  3Iartin,    0,  i\  Franque^   Vtrneau^   Wernich^    IL  Fritsch,  (r. 
flsch^   Ä.  FUatoff,    A,  V.  Schrenck,    Hnmig  u.  A.  verweise.      Denn   die   Frage 
daa  Rassenbecken  im  Allgemeinen  geht  beide  Geschlechter  an;  unsere  Auf- 
ist es  vielmehr,  dieselbe  nur  insoweit  ins  Auge  zu  fassen,  als  sie  insbesondere 
reib  liehe  Geschlecht  betrifft. 

Erwähnen  will  ich  aber  noch,  daas  die   deutsche   anthropologische  Gesell* 
ft,  im  Wesentlichen  durch  eine  Abhandlung  von  Ploss^'^  angeregt,  im  Jahre  1884 
se   besondere   Commission    erwählt  hat,    welche  die  zweck  massigste  und  frucht- 
adjite  Art,    das    Rassenbeeken    zu    siudiren^    berathen    und  ausarbeiten  soll. 
Arbeiten  harren  nach  ihrer  Vollendung. 

Aach  bei  Völkern»  die  auf  gleichem  H*»den  wohnen»  zeigen  die  Becken  er- 
labltche  Differenzen,  So  fand  Schröter^  dass  das  Hecken  der  Ehstin  und  der 
deutschen  ein  stärker  entwickeltes  ist,  als  das  der  Polin  und  der  Jüdin,  und 
das  Becken  der  letzteren  überhaupt  das  in  allen  Rassen  kleinste  ist*   Unter  den 


168  ^'  ^^^  fi^u^eren  Seicualorgane  des  Weibes  in  etbnographi scher  Hinsicht« 

von  Schröter  unterauehten  Becken  fand  sich  die  stlirkste  Neigung  bei  den 
Deutschen,  eine  geringere  bei  den  polnischen  Frauen,  eine  noch  geringere 
bei  den  Jüdinnen,  und  die  allergeringste  bei  den  Ehstinnen.  Uebrigens  ist 
die  Beckenneignng  bei  ein  und  demselben  Individuum  keine  constante  Grösse, 
denn  die  Haltung  und  Stellung  desselben  ruft  wesentüche  Veränderungen  in  dem 
Verhältnisse  des  Winkels  hervor,  welchen  die  Beckenaxe  und  die  sogenannte  Ebene 
des  Beckens  zur  K<>ri)enixe  bildet  Bis  jetzt  ist  aber  der  Nachweis  noch  nicht 
geliefert  worden,  dass  die  verschiedenen  Arten  der  Kikperstellung  wahrend  des 
Gebäractes,  welche  bei  den  verscliiedenen  Völkern  gebräuchlich  sind,  ihre  Er- 
klärung durch  die  der  betreffenden  Hasse  eigenthilmliche  Beckenneigung  finden. 
Nach  Mondiire  scheiden  sich  die  Wei her  C o  e  h  i  n c  h  i n  a s  in  A  n  n  a nü t i  n  n  e  n , 
Cambodjianerinnen,  Cbinesinnen  und  Minh-huong,  d.  h,  Mi.schlinge  von 
Chinesen  und  Annami ten.     Von  diesen  hat  die  Chinesin    das  grosste  Becken 

in  allen  Dimensionen:  „du  reste,  chez  eile,  tout  se  qui 
se  rapporte  aus  organes  de  la  generation  serable  avoir 
pris  des  proportions  exagereea**.  Die  Cambodjianerin 
hat  das  längste  und  schmälste  Becken. 

Ohne  allen  Zweifel  haben  die  Lebensweise,  sowie 
die  Sitten  und  Gebräuche  eines  Volkes  einen  gewissen 
Einfluss  auf  die  herrschende  Beckenform.  Vor  allem  ist 
die  Ernährung  des  Skeletts  überhaupt  und  namentlich  die 
Zufabr  von  knochenbildendem  Material  sehr  wichtig.  In 
dieser  Hinsicht  erinnere  ich  daran,  dasa  G.  Fritsch  bei 
Hottentotten  und  Buschmannsfrauen  die  Becken 
sowie  den  ganzen  Körper  verkümmert  fand.  Die  Becken 
der  Stidafrikaner  zeigten  weder  recht  die  typischen 
männlichen,  noch  die  weiblichen  Formen,  sondern  es  war 
ein  Gemisch  der  verschiedenen  Charaktere  vorhanden, 
welches  durchschnittlich  dem  männlichen  Typus  näher  liegt. 
Diese  Thatsache  verdankt  ihre  Entstehung  zum  Theil  den 


I 


ungünstigen  Lebensbedingungen,  unter  welchen  das  Skelett  ■ 
nicht  den   Grad  der  Vollkommenheit    erreicht,    als    unter 


Fig.  Itl.    Jjipam^riii,  eiu 
Kiiiil  auf  flem  Riicken  irageuii]. 


dem  Einflüsse  der  Civilisation,  Ausserdem  will  man  ge- 
funden haben,  da^ss  die  Beckenmaasse  von  Negerinnen, 
die  in  Amerika  geboren  waren,  durchschnittlich  sich  dem 
europäischen  Becken  mehr  nähern;  neben  den  Ver* 
besserungen  der  allgemeinen  Verhältnisse  war  auch  eine 
Verbesserung  des  Knochenger[istes  einhergegangen. 
Auch  eine  bestimmte  langandaueriide  Körperhaltung  und  eine  besonders 
grosse  oder  besonders  geringe  Arbeitsleistung  wird  auf  die  Gestaltung  des  Beckens 
sicherlich  nicht  ohne  Einfluss  sein.  So  sucht  Berlheraml,  welcher  die  Becken  der 
Araberinnen  in  Algerien  sehr  weit  geöffnet  fand,  die  Ursache  in  drei  Be- 
dingungen: erstens  im  Tragen  der  Kinder  auf  dem  ßticken  während  der  ganzen 
Säugungsperiode,  zweitens  im  Reiten  zu  Pferd  schon  in  früher  Jugend,  und 
drittens  im  Sitzen  mit  untergeschlagenen  Beinen  nach  Art  der  Schneider  in  unseren 
Landen, 

Epp  hat  bei  den  Chinesinnen  öfters  hohe  und  schmale  Becken  gefunden 
und  er  glaubt,  dass  sie  dieses  mit  Wahrscheinlichkeit  nur  der  sitzenden  Lebens- 
weise zu  verdanken  haben.  Er  befindet  sich  hierin  im  VViderspnich  mit  Monditre^ 
wie  wir  soeben  gesehen  haben.  Das  Alles  müsste  freilich  noch  näher  untersucht 
werden,  wie  auch  die  etwaige  Wirkung  der  Art,  wie  bei  manchen  Völkern  das 
kleine  Kind  eingeschnürt  und  getragen  wird,  wie  es  kriecht,  bevor  es  auf  diel 
Beine  kommt  u.  9.  w.  Gegen  die  Ansicht,  dass  der  Rassen tjpus  der  Becken- 
gestalt   durch    die    Rumpflast,    durch    den    Muskelzug    und    durch    den    seitlichen] 


35*  Dai  woiblicb©  Becken  in  anthropologischer  Beziehang, 


169 


idruck  der  Femora  modificirfc  werde,  irat  unter  Anderen  Schli^phuke  aui';  er 

meint«    dass    die  Form    des   sfmteren  Beckens    im  Ganzen    schon    in  der  Uraultige 

'^"--'Iben    gegeben    sei  und  dass  durch  die  Runipflast  u.  8,  w.  nur  noch  einxelne 

rmungen  geringeren  Grades  hervorgerufen  werden  könnten. 

Bei  vielen    Volks^sütämmeu  Afrikas    pflegen    die   Weiber   die  kleinen  Kinder 

ttlings  auf  den  Hinterbacken  zu  tragen,  wie  wir  dieses  bei  dein  Dahome-Weibe 

Fig.   107  eeheiL     Begreiti icherweise  wird  hierbei  das  Gesiiss  weiter  nach  hinten 

braasgeatreckt     Hieraus  resultirt    eine  bemerkbare  Einbiegung  des  Lendentheilee 

Wirbelsäule,  eine  sogenannte*  Lordose,  und  das  Becken  wird  in  höherem  Grade 

X 


r. 


n. 


n- 


lum  Anui^  tr«g«nd.    (ÜAch  Photot^ruphle.) 


kin  KiSfl  aiu 


gewöhnlich  geneigt.     Es    ist  aber    der  gesamnite    Lendentheil  des  Rückgrates, 
?oQ    dieser  Verbiegung    betrolTen  wird,    und   nicht  nur  eine  Verschiebung  in 
dem  Lenden- Kreuzbeini^elenke,  wie  Letztere  von  Henniff,  Lnmbl  \u  A.  an  der  so- 
genannten   Hotteütotten-VVnus  von    Paris    gefunden  wurde.      Daher  hi  auch 
B^^iget' Fvraud  im  Irrthum,  wenn  er  das  Vorspringen  der  Hinterbacken  bei  den 
rn  Senegiimbiens  von  der  schiefen  Anschlies^ung  des  Beckens  an  die  letzten 
i^irbel  herleitet    Allerdings  ist  nun  die  gesammte  Beschaffenheit  des  ganzen 
5^  tU   in  der  Beckengegend   durch  diese  Gewohnheit,   das  Kind  zu  tragen, 

pni  erst  erworben  und  dann  mit  der  Zeit  nach  und  nach  habituell  geworden. 


170 


V.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 


Wir  dürfen  aber  nicht  vergessen,  dass  dieses  Tragen  der  Kinder  auf  dem 
Rücken  nicht  eine  ausschliesslich  afrikanische  Sitte  ist.  Wir  finden  diese 
Gewohnheit  auch  bei  manchen  anderen  Völkern,  ohne  dass  wir  bei  denselben  von 
einer  Einbiegung  der  Wirbelsäule  etwas  hören.  Die  Figuren  109  und  110  zeigen 
zwei  alte  peruanische  Vasen  des  Museums  für  Völkerkunde  in  Berlin,  in 
deren  Bemalung  wir  dieses  Reiten  der  Kinder  auf  dem  Qesäss  der  Mutter  sehr 
deutlich  zu  erkennen  vermögen.  Fig.  111  führt  uns  die  gleiche  Sitte  bei  den 
Japanerinnen  vor.  Eine  weitere  Frage  ist  aber,  ob  diese  Einbiegung  der 
Lendenwirbel  irgendwie  den  Geburtsverlauf  beeinträchtigt.  Allerdings  sollen  viele 
Negerinnen  bei  der  Niederkunft  eine  Stellung  einnehmen,  in  welcher  die  Lenden- 
krümmung über  dem  Promontorium  sich  wesentlich  ausgleicht,  so  dass  die  Kindes- 
theile  bei  der  veränderten  Beckenneigung  leicht  nach  aussen  gleiten  und  kein 
Hinderniss  finden. 

Bei  vielen  Neger- Völkern  kommt  aber  auch  noch  eins  in  Betracht,  was  sehr 
wohl  noch  neben  der  Art  und  Weise,  die  Kinder  zu  tragen,  auf  die  Einbiegung 
des  Kreuzes  und  die  Herausbiegung  des  Gesässes  einen  ursächlichen  Einfluss  haben 
muss;   das   ist   der   bei  ihnen  herrschende  Gebrauch,  dass  die  Weiber  im  Knieen 

das  Getreide  auf  steinernen  HandmQhlen 
zerreiben.  Fig.  112  zeigt  das  bei  einem 
Weibe  aus  der  Colonia  Eritrea.  Der 
Körper  wird  durch  die  Kniee  gestützt, 
die  ganze  Kraft  wird  in  die  vorge- 
streckten Hände  verlegt,  und  nun  muss 
durch  die  Reibebewegung  das  Gesäss 
bald  mehr  bald  weniger  in  die  Höhe 
gerichtet  werden.  Das  ist  natürlich  nur 
auszufuhren,  wenn  das  Kreuz  gewaltsam 
eingebogen  wird.  Diese  Einwirkung 
muss  eine  um  so  intensivere  sein,  wenn 
die  Frauen  bei  dieser  Arbeit  auch  noch 
ihr  Kind  auf  dem  Rücken  haben,  wie 
die  Kaffer-Frau  in  Fig.  113. 

Der  oft  ausgesprochenen  Behauptung 
gegenüber,  dass  die  Geburten  bei  einem 
Volke  oder  bei  einer  Rasse  wegen  des 
specifischen  Beckenbaues  vorzugs- 
weise leicht  oder  schwer  vor  sich  gehen,  müssen  wir  eine  gewisse  Zurück- 
haltung bewahren;  wir  glauben  im  Gegentheil,  dass  solche  Hypothesen  vorläufig 
unerwiesen  sind,  so  lange  es  Aerzten  und  Geburtshelfern  nicht  möglich  gewesen 
sein  wird,  eine  weit  grössere  Anzahl  von  Geburtsfallen  bei  den  verschiedensten 
Rassen  und  Volksstämmen  zu  beobachten  und  deren  Becken  ganz  genau  in  recht 
zahlreichen  Exemplaren  mit  einander  zu  vergleichen.  Es  soll  an  einer  anderen 
Stelle,  wo  von  der  gesundheitsgemässen  Geburt  und  ihren  Bedingungen  zu  sprechen 
ist,  auf  diesen  Gegenstand  ausfuhrlicher  eingegangen  werden. 

Ohne  Zweifel  sind  nicht  nur  sämmtliche  Verhältnisse  des  Beckenbauee, 
sondern  auch  mannigfache  Eigen thümlichkeiten  des  gesammten  weiblichen  Orga- 
nismus, und  nicht  minder  die  Grössen  Verhältnisse  von  dem  Kopfe  und  der  Schulter- 
breite des  ausgetragenen  Kindes  maassgebend  für  den  mehr  oder  weniger  günstigen 
Verlauf  der  Geburt  bei  den  verschiedenen  Völkerschaften,  und  bei  dem  ver- 
gleichenden Studium  der  Maasse  des  weiblichen  Beckens  bei  den  verschiedenen  Rassen 
wird  man,  wenn  man  wirklich  ein  Bild  von  den  realen  Verhältnissen  gewinnen 
will,  niemals  versäumen  dürfen,  das  Maass  der  Schulterbreite  und  dasjenige  der 
gesammten  Körpergrösse  mit  in  Vergleich  zu  stellen. 

Von  den  Form  Verhältnissen  des  knöchernen  Beckens  wird  natürlicher  Weise 


Fig.  113. 


Ama-Xosa-Kafferfraa  bei  der  Arbeit. 
(Nach  Fritsch.    Aus  Ploss^^.) 


95.  Da«  weiblichd  Becken  in  antbTDpolojfiscber  Besiehiing. 


171 


mm  nicht  geriDgen  Tbeüe  die  Configuration  von  dem  unteren  Körperende  der 
Trau,  tiatiientltch  diejenige  der  Gesässpartie  und  der  Schenkel,  sich  in  Abhängig- 
leit  hefindeu.  Das  ist  ja  auch  der  Grund,  dass  Messungen  am  Lebenden  an 
liesen  Theilen  einen  RiickscUuss  auf  die  geringere  oder  beträchtlichere  Grösse  des 
Knöchernen  Beckens  ermöglichen  —  ein  Unistand,  welchen  die  moderne  Geburt»- 
aülfe  schon  seit  langer  Zeit  tür  ihre  Zwecke  auszunutzen  gelernt  bat*  So  kann 
kommen,  das»  bei  bestimmter  Stellung  der  Darmbeine  von  Natur  breite  Becken 
iennoch  für  das  Auge  einen  schmalen  Eindruck  machen,  weil  die  Darmbeinkämme 
licht  in  gewohnter  Weise  lateralwärts  ausladen,  sondern  sich  relativ  genähert 
fftind  durch  ein  gesteigertes  Steilstehen  der  Darmbeine.  Ein  Beispiel  hierfür  liefern 
|die  \V't*iber  der  Loango-Küste^  von  denen  Falkenstem^  sagt: 

«.AutTallenii  ist  im  Allgemeinen  die  geringe  Beokenbreite  der  Frauen,  so  dass  man  beide 
Güelilechter  von  hinten  kaum  unterscheiden  würde;  doch  kommen  auch  AuBuahmen  yor>* 

Paulitschhe  erklärt  ein  ^sehiefstehendes*'  Becken  als  typisch  bei  den  Somali- 
ond  Galla- Frauen.  Aehnlich  äussert  sich  auch  Wolff^  über  die  Negerinnen 
im  Co ugo 'Gebiete: 

„Die  breiten  Reckenknochen  stehen,  wie  bekannt,  bei  allen  Negern  steiler,  als  bei  una, 
dm«  giuise  Becken  Ut  um  »eine  horisontale  Axe  gedreht,  ao  dasa  dus  untere  Ende  mehr  nach 
Dien  it«ht  als  bei  una,  es  treten  daher  die  tilutilen,  die  die  Hinterbacken  bilden,  sehr  stark 
ror,  wiüirend  die  Haften  auch  bei  d«ii  \Vt*i]>orti  nchmal  eind.*' 


Fig.  lU.    Japän*::rinneu  in  d^n  Ilet.srtlileiii  &rbeitMi«l.    iNi^ch  Pbulognit>lilü'> 


Von  den  Wol offen- Frauen  sagt  de  liochehntne: 

«ToQt6   Itt   region    du    bawin    est  m^diocrement  developp^e;    Vabdomen  gt*n<:nüi:)ment 
a  premi^re  moitiii^  «op^rieure  tombe  preeque  en  ligne  droite  inferieureinent,  et 
la  courbe  K'gerement  onduleuse  de  VEuropeenne* 

Daaa   auch    bei   ganz    nahe    zusammen  wohnenden  Volkerschaften  auffallende 

Joterschiede  in  der  Beckenbreite  bei  den  Weibern  statthaben  können,  das  beweisen 

inigi*  Angaben    von  Itiedd^,     Nach   ihm   ist    bei   den   Babar-Insulanerinnen 

im  Becken    breit,    während    die  Weiber  der  Seranglao-    und    Gorong-lnseln 

nur  ehw  geringe  Beckenbreite  besitzen. 

Andererseits    kann    bei    Frauen,    welche    im    Ganzen    einen    grazilen    und 
^^KrnHi  Irrigen  Eindruck    machen,    doch  das  Hintertheil  relativ  grosse  Dimensionen 
I :  So  hatte  Wemich^  welcher  längere  Zeit  eine  gynäkologische  Abtheilung 
leado  leitete,  gefunden,  dass  das  Becken  der  Japanerinnen  breit  und  sehr 


110  V.  Dio  äii-sereii  Sexualorpano   ^ 

Wir    dürfen    aber    iiic}i 

Kiickon    nicht    eine    ausMchl 

Gewoliiilieit  auch  bei  manc 

einer  Kinbiogiin<r  der  Wir) 

5^wei    alt«^   ])  er  na  ni  sc  he 

deren  Keniahni<r  wir    die^ 

deutlich  zu  erkennen   ve' 

'Japanerinnen    vor.     ] 

Lendenwirbel  irgendwi. 
^'egerinnen  bei  der 
krüiuniung  über  dem 
theile    bei    der    verä« 
Hinderniss  linden. 

Boi  vielen  X»- 
wohl  noch  neben  r" 
des  Kreuzes  und  rl 
^inis<<;    das    ist.    dt 


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Fif?.  11.1 


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172  ^-  ^^6  äusseren  Sexaalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

geräumig  sei,  und  dass  die  Schambeine  in  der  Symphyse  in  einem  sehr  grossen^ 
stumpfen  Winkel  zusammentreten.  Man  sieht  diese  Breite  der  Hüftpartie  sehr 
gut  auf  ^iner  Photographie,  welche  Japanerinnen  bei  der  Arbeit  in  den  Reis- 
feldern darstellt  (Fig.  114).  Allerdings  erscheint  hier  die  Beckengegend  auch 
noch  dadurch  etwas  breiter,  dass  sich  die  Frauen  in  gebückter  Stellung  befinden. 
Denn  in  dieser  Körperhaltung  verbreitert  sich  die  Gesässgegend  wirklich  und  sieht 
daher  bei  allen  Frauen  breiter  aus,  als  wenn  sich  ihr  Korper  in  der  aufrechten 
Stellung  befindet.  Aber  nach  Baeh  gilt  bei  den  Japanerinnen  ein  breites 
Gesäss  für  sehr  hässlich;  je  kleiner  dieser  Körpertheil  bei  einer  Frau  ist,  für  desto 
schöner  wird  das  gehalten. 

Bei  den  Khniers  in  Cambodja  {s^ni  Maurel:  „Les  fesses  tres  developpees, 
pubis  peu  saillant." 

Nach  de  Lanessan  haben  bei  den  Agni  oder  Pai-Pi-Bri  in  Dahome: 
„Les  femmes  les  fesses  saillantes  et  meme  douees  d'une  certaine  steatopygie  qui 
n'est  pas  sans  ajouter  une  grace  ä  leur  tournure.^* 


36.  Die  Gesässgegend  des  Weibes  in  anthropologischer  Beziehung 

und  der  Wuchs. 

Aber  auch  noch  ein  anderer  Factor  ist  fiir  die  Form  der  weiblichen  Hüften 
von  ganz  besonders  maassgebender  Bedeutung;  das  ist  die  grössere  oder  geringere 
Fülle  des  Unterbautfettgewebes  an  diesen  Theilen.  In  Bezug  auf  die  Menge 
dieses  Fettpolsters  bestehen,  wenigstens  bei  den  Weibern  unseres  Stammes,  sehr 
erhebliche  individuelle  Verschiedenheiten.  Aber  noch  grösser  erscheinen  diese 
Differenzen ,  wenn  man  die  photographischen  Aufnahmen  fremder  Völker  mit 
einander  vergleicht.  Und  zieht  man  dabei  in  Betracht,  was  die  Reisenden  über 
andere  Rassen  berichten,  so  kann  kaum  noch  ein  Zweifel  bestehen,  dass  in  der 
angegebenen  Beziehung  wirkliche  Rassen  unterschiede  existiren. 

Verhältnisse  jedoch,  wie  wir  sie  bei  den  Europäerinnen  als  die  gewöhn- 
lichsten finden,  scheinen  überhaupt  als  die  am  weitesten  verbreiteten  auf  der  Erde 
betrachtet  werden  zu  müssen.  Sie  bilden  das'  Mittel  zwischen  den  beiden  Extremen, 
welche  durch  einen  überraschenden  Mangel  an  Unterhautfett  einerseits  und  durch 
ungeheueren  Ueberfluss  desselben  andererseits  gebildet  werden.  Für  Beides  werde 
ich  Beispiele  anflihren. 

Sehr  wesentlich  wird  durch  dieses  Fettpolster  der  Gesässgegend  auch  das- 
jenige beeinflusst,  was  man  gewöhnlich  mit  einem  Worte  als  den  Wuchs  des 
Weibes  zu  bezeichnen  pflegt.  Allerdings  kommen  für  die  Art  des  Wuchses  auch 
noch  ein  paar  andere  Dinge  in  Betracht.  Da  ist  vor  Allem  die  Körperhöhe,  die 
Breite  oder  die  Schmalheit  der  Schultergegend,  die  grössere  oder  geringere  Rundung 
der  Arme,  der  Schenkel  und  der  Waden  zu  nennen,  welche  alle  mit  einander  die 
allgemeine  äussere  Erscheinung  des  Weibes  bedingen,  die  man  als  ihren  Wuchs 
zu  bezeichnen  pflegt. 

Wir  sprechen  vielfach  von  dem  Wüchse  unserer  Damen,  die  wir  doch  nur 
in  Kleidern  sehen.  Bietet  sich  ab  und  zu  die  Gelegenheit,  diese  Verhüllungeu 
sinken  zu  lassen,  so  muss  der  Arzt  nicht  selten  erkennen,  wie  unrichtig  das  Bild 
gewesen  ist,  welches  er  sich  von  den  betreffenden  Körperformen  gebildet  hatte. 
Um  so  auffallender  kann  eine  solche  Missdeutung  sein,  wenn  man  die  betreffende 
Person  bisher  nur  sitzend  hatte  sehen  können.  Hier  kommt  es  gar  nicht  selten 
vor,  dass  man  eine  kleine  Statur  vermuthet  hat,  wo  der  kurze  Oberkörper  zu 
der  grossen  Länge  der  Beine  in  einem  auffallenden  Missverhältniss  steht.  Das 
zeigt  uns  die  Gruppe  der  Moru-Weiber  aus  den  oberen  Nil-Landern,  welche 
in  Fig.  108  dargestellt  wurde.  Man  beachte  namentlich  bei  der  ganz  im  Profile 
sitzenden  Frau  das  ungeheuere  Missverhältniss  zwischen  dem  kurzen  Oberkörper 


174  ^'  ^^6  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

und  den  ausserordentlich  langen  Beinen.  In  anderen  Fällen  tauscht  wieder  ein 
grosser  Kopf  und  ein  breiter  hoher  Rumpf  eine  stattliche  Körpergrösse  vor, 
während  in  Folge  der  Kürze  der  Beine  kaum  eine  Mittelgrösse  erreicht  wird. 

Das  soeben  Gesagte  ist  eine  Thatsache,  die  wohl  Jedermann  bereits  mehr- 
fach beobachtet  hat.  Es  lässt  sich  ein  wichtiger  Schlass  daraus  ziehen:  Die 
Längenmaasse  des  Rumpfes  und  der  Beine  stehen  nicht  in  einem  bestimmten 
Abhängigkeitsverhältniss  unter  einander,  das  ftir  alle  Weiber  unserer  Rasse  typisch 
wäre.  Wahrscheinlich  spielt  hierbei  die  Vererbung  individueller  Eigenschaften 
der  Vorfahren  eine  nicht  ganz  unbedeutende  Rolle. 

Aber  noch  mehr  fällt  diese  scheinbare  Regellosigkeit  in  die  Augen,  wenn 
wir  auch  die  anderen  Factoren  mustern,  welche  den  Wuchs  des  Weibes  bedingen. 
Die  Bezeichnungen,  welche  im  Allgemeinen  für  die  Unterschiede  des  Wuchses 
gebräuchlich  sind,  können  nicht  gerade  als  sehr  erschöpfend  gelten.  Man  spricht 
von  einem  grossen  oder  hohen,  einem  mittleren  und  kleinen,  von  einem  üppigen, 
plumpen,  feinen  und  grazilen,  von  einem  schlanken  und  einem  untersetzten  Wüchse, 
und  eine  Entscheidung,  ob  die  betrefifende  Person  in  Bezug  auf  ihren  Wuchs  der 
einen  oder  der  anderen  Kategorie  hinzuzuzählen  sei,  trifiFt  man  gemeinhin  schnell 
nach  der  allgemeinen  Erscheinung,  wie  das  Weib  in  den  Kleidern  sie  darbietet. 
Die  Bekleidung  liefert  jedoch,  wie  gesagt,  nur  ein  höchst  trügerisches  Bild,  abge- 
sehen auch  von  beabsichtigten  Künsten  der  Körpermodellirung.  Nur  der  Körper 
ohne  Verhüllung  kann  eine  sichere  Entscheidung  gestatten.  Gar  nicht  selten  wird 
ein  massig  entwickelter  oder  graziler  Oberkörper  von  üppigen  Hüften  und  von 
starken,  voll  entwickelten  Beinen  getragen ;  in  anderen  Fällen  wieder  sind  die  Beine 
und  Hüften  grazil,  aber  ein  voller,  breiter  Brustkorb  schliesst  sich  diesen  Theilen 
an.  Mancher  hohe  und  plumpe  Wuchs  verbindet  sich  mit  einem  schmalen  Gesäss, 
und  manche  zierliche,  schlanke  Dame  ladet  im  Mittelkörper  erheblich  aus. 

Das  macht  Alles  nun  den  Eindruck  einer  völligen  Regellosigkeit;  aber 
Nichts  giebt  es  in  der  Natur,  was  als  regellos  bezeichnet  werden  dürfte.  Er- 
scheint es  uns  als  regellos,  so  liegt  hierin  nur  das  Eingeständniss,  dass  wir  aus 
Mangel  an  geeigneten  Beobachtungen  die  Regel  nur  noch  nicht  zu  ergründen 
vermochten.  Und  das  sollte  daher  gerade  zu  erneuten  Forschungen  die  Veran- 
lassung geben. 

In  den  Figuren  115,  110  und  119  habe  ich  nach  photographischen  Aufnahmen 
eine  Reihe  von  Vertreterinnen  verschiedener  Völker  in  der  Weise  zusanmiengestellt, 
dass  man  die  Einzelheiten  ihres  Wuchses  in  möglichster  Vollständigkeit  zu  über- 
sehen vermag.  Es  ist  darauf  Rücksicht  genommen,  dass  nicht  nur  die  Betrach- 
tung von  vorn,  sondern  auch  von  der  Seite  und  von  hinten,  wenn  auch  nicht  bei 
den  gleichen  Individuen,  möglich  ist.  Ein  Fehler  aber  haftet  diesen  Bildern  an; 
die  Weiber  erscheinen  alle  in  gleicher  Grösse,  was  sicherlich  dem  wahren  Ver- 
halten nicht  entspricht.  Da  den  Originalaufnahmen  ein  Maassstab  aber  nicht 
beigefügt  war,  so  liess  es  sich  natürlicher  Weise  nicht  ermöglichen,  die  Grössen- 
verhältnisse    entsprechend    dem  wirklichen  Verhalten  zur  Darstellung  zu  bringen. 

Die  in  ihren  Körperproportionen  unseren  Geschmack  am  meisten  befriedigen- 
den Gestalten  sind  naturgemäss  die  Europäerinnen  (Fig.115  No.5.8.  Fig.  116  No.2.8. 
Fig.  119  No.  5).  Ihnen  schliessen  sich  die  Javaninnen  (Fig.  116  No.  3.  Fig.  119  No.  2. 3) 
und  die  Dayakin  aus  Borneo  an  (Fig.115  No.3),  sowie  die  Mikronesierin  von 
der  Carolinen-Insel  Ponape  (Fig.  116  No.  1).  Die  Samoanerin  (Fig.  115  No. 7) 
und  die  Buschmanns-Frau  (Fig.  119  No.7),  das  Zulu- Weib  (Fig.  119  No.6)  und 
die  Melanesierin  von  der  Wasan-Insel  aus  der  Anachoreten-Gruppe 
(Fig.  119No.  1)  erscheinen  uns  auch  noch  proportionirt  gebaut,  doch  neigen  sie 
schon  etwas  zu  überreichlicher  Fülle  hin.  Noch  mehr  fallt  das  in  die  Augen  bei 
der  Hottentotten-Frau  (Fig.  116  No. 9);  allerdings  scheint  sich  dieselbe  in  ge- 
segneten Umständen  zu  befinden.  Auffallend  ist  hier  auch  das  starke  Gesass,  von 
dem  ich  im  nächsten  Abschnitt  noch  einmal  sprechen  werde. 


176 


V.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 


Das  Mädchen  von  der  Gazellen-Halbinsel  in  Neu-Britannien 
(Fig.  119  No.8)  zeigt  einen  gut  gebauten  Oberkörper,  aber  die  Beine  erscheinen  flir 
unser  Empfinden  übermässig  lang  und  ziemlich  mager.  Aehnlich  ist  es  mit  den 
beiden  Abyssinierinnen  aus  der  Colonia  Eritrea  (Fig.116  No.4.  5).  Eine  för 
unser  Auge  fast  verletzende  Magerkeit  findet  sich  bei  der  Australierin  aus 
Nord -Queensland  (Fig.  115  No. 2),  sowie  bei  verschiedenen  afrikanischen 
Stämmen.  Man  sehe  die  spärlichen,  dünnen  Glieder  des  Makraka- Mädchens 
(Fig.115  No.l)  und  des  Madi-Weibes  (Fig.  115  No.4),  des  Bari-Mädchens 
(Fig.116  No.7)  und  der  Konde- Frauen  (Fig.116  No.6.  Fig.  119  No.4).  Die  eine 
der  Letzteren  (Fig.  116  No.6)  aber  zeigt  trotz  der  grossen  Magerkeit  der  Beine 
dennoch  ein  wohlgerundetes  Gesäss ;  sie  schliesst  sich  also  in  dieser  Beziehung  an 
die  südafrikanischen  Volker  an,  bei  welchen  die  Gesässpartie  erhebliche 
Entwickelung  zu  erlangen  pflegt.  Die  magere  und  dürftige  Ausbildung  der  Beine 
sehen  wir  auch  bei  dem  Mondu-Weibe  (Fig.115  No.6),  bei  welchem  die  beträcht- 
liche Schulterbreite  im  Vergleich  zu  dem  viel  geringeren  Querdurchmesser  der 
Hüften  einen  fast  männlichen  Habitus  entstehen  lässt. 


Fig.  117.    Ausgewachsene  Europäerin 
(Oesterreicherin'O.    (Nach  Photographie.) 


Fig.  118.    lej&hriges  Asohaiiti- 
Mädchen.    (Nach  Photographie.) 


Bei  den  Papuas  fand  Müller  auf  der  ^^ot;ara-Reise  die  Hintertheile  der 
Weiber  stark  entwickelt.  Aehnlich  es  berichtet  Riedel^  von  den  Weibern  der 
Insel  Buru.  Als  Entstehungsursache  für  deren  grosse  und  stark  entwickelte 
Hinterbacken  mochte  er  das  anstrengende  Bergsteigen  dieser  Weiber  verantwortlich 
machen.  Bei  den  Itälmenen  in  Kamtschatka  haben  die  «Frauenzimmer,  nach 
Steiler^  ein  rundes,  kleines,  fleischigtes  Oesäss**. 

Eine  für  ihr  jugendliches  Alter  sehr  kräftige  Entwickelung  der  Hinterbacken 
und  der  Korperformen  im  Allgemeinen  bot  auch  ein  16  Jahre  altes  Aschanti- 
Mädchen  dar,  welches  mit  mehreren  ihrer  Landsleute  vor  einigen  Jahren  in  Berlin 
gezeigt  wurde  (Fig.  1 18).  Dieses  ist  besonders  in  die  Augen  springend,  wenn  man 
damit   die  Formen  einer  jungen,    immerhin  nicht  gerade  mageren  Europäerin 


178 


V.  Die  &u88eren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 


vergleicht  (Fig  117),  welche  bereits  YoUkommen  ausgewachsen  und  körperlich  gut 
ausgebildet  ist. 

De  Rochebrune  hat  von  Woloffen-Weibern  150  Individuen  gemessen,  und 
er  fand  den  Umfang  der  Hinterbacken,  wenn  auch  nicht  so  bedeutend  wie  beim 
Buschmann -Weib,  so  doch  grösser  als  bei  den  Europäerinnen.  Er  hat 
folgende  Zahlen  bei  der  Messung  von  einem  Trochanter  zum  anderen  über  den 
höchsten  Punkt  der  Hinterbacken  hinweg  gefunden: 

bei  der  Buschmann-Frau:  0,791  m, 

bei  der  Woloff-Frau:  0,678  m, 

bei  den  Europäerinnen:     0,644  m. 

Gustav  Nachtigal  fand  bei  den  Tibbu- Frauen  gefallige  Gestalten  und  ein 

wohlgeformtes  Becken.     Von  den  Bornu -Weibern  aber  sagt  er,  dass  durch  eine 

starke  Beckenneigung   im  Verein   mit   einer  reichlichen  Fettablagerung  bei  ihnen 

ein  widerlich  vorspringendes  Gesäss  entsteht. 


37.  Die  Steatopygie  oder  der  Fettsteiss. 

Ein  Uebermaass  in  der  Entwickelung  des  Fettpolsters  an  den  Hinterbacken 
hat  man  mit  dem  Namen  des  Fettsteisses  oder  der  Steatopygie  belegt.  Diese 
Besonderheit   ist  ausschliesslich  als  eine  EigenthQmlichkeit  gewisser  Volksstamme 

in  Afrika  beobachtet  worden,  und  die  so- 
eben erwähnten  Weiber  aus  Bornu,  die 
Wol  offen -Frauen  und  das  Konde-Weib 
(Fig.  116  No.  6)  bilden  schon  hierzu  den  Ueber- 
gang.  Namentlich  hat  man  die  Steatopygie 
bei  den  Buschmann-,  den  Koranna- 
und  Hottentotten -Frauen  gesehen;  sie 
tritt  angeblich  bereits  in  der  allerersten 
Jugendzeit  auf.  Elanchard  berichtet  nach 
Le  Vaillanty  „que  l'hypertrophie  fessiere 
apparaissait  des  la  premiere  enfance,  ac- 
centuant  ainsi  la  difif^rence  entre  la  fille  et 
le  gar^on." 

Auch  von  anderer  Seite  wird  dieses 
behauptet.  Jedoch  zeigten  bei  den  kürz- 
lich in  Berlin  ausgestellten  sogenannten 
i^arrnfschen  Erdmenschen,  d.  h.  Busch- 
männern aus  der  Kalahari-Wüste,  auch 
die  Männer  eine  ungewöhnliche  Fülle  der 
Hinterbacken.  Allerdings  stand  das  sie 
begleitende  ungefähr  8  Jahre  alte  Mädchen 
in  dieser  Beziehung  den  Männern  kaum 
nach  (Fig.  120]^  In  diesem  Alter  mindestens 
sind  die  Anfange  der  Steatopygie  schon  mit 
grosser  Deutlichkeit  ausgeprägt.  Angeblich 
soll  bei  Mischlingen  die  Steatopygie  nicht 
zur  Ausbildung  gelangen. 

«Cette  protub^rance ,  sagt  Louis  Vincent, 
qui  existe  au  niveau  de  la  rögion  fessiere,  a  et^ 
regard^  par  certains  autours  comme  de  natura 
muflculeuse:  il  n*en  est  rien;  c^est  ane  masse  d*ane 
consiBtance  ölaatique  et  tremblante,  enti^ement 
ibrmee  de  graisse  et  traveriee  en  tous  sena  par  de  gros  faisceauz  de  fibre«  lamineoses,  tr^- 
irr^guli^rement  entre-croiBÖes." 


Fig.  120.    Beginnende  Steatopygie  bei  einem  nnge 

fähr  8  jährigen  Busch  mann -Mädchen. 

(Nach  Photographie.) 


37.  Die  Steatopjgie  oder  der  Feit»teiEs,  ^^^^T  179 

Die  von  Cuvier  beschriebene  sogenannte  Hottentotten- Venus  besasa 
liefen  Fetthöcker  in  hohem  Grade:  die  Höhe  der  Hinterbacken  betrug  ll3,2  cra. 
Die  von  Flower  und  Murie  untersuchte  etwa  21  Jahre  alt  in  England  ver- 
torbene  Buschmännin  hatte  zwar  keinen  eigentlichen  Fetthöcker,  doch  war 
bei  ihr  die  Fettschicht  der  Hinterbacken  1^4  Zoll  dick,  und  die  Haut  darüber 
aatte  ein  loses,  gefaltetes  Aussehen,  als  wenn  sie  früher  viel  bedeut-ender  aus- 
Igedehnt  gewesen  wäre.  Bei  der  von  Litschkn  und  Görts  untersuchten  Leiche  der 
is  •Buschweib'*  bezeichneten  Afandy  betrug  die  Dicke  des  Fettpolsters,  nach- 
lern  es  ein  Jahr  lang  in  Weingeist  gelegen«  in  seiner  grössten  Mächtigkeit  4 — 4,5  cm 


l^t«#li.  121.    lloebirtAdige  Stcfttopygi«  bei  «inem  KörABU^-Weibe  (SÜd-AMlt4). 

iH^eh  Pbotographi«,) 

rar   hier   nicht  nur   daj  angehäufte  Fett  bedeutender,    sondern  auch  die  Ver* 
!ting  des  letzteren  eine  andere^  als  bei  Europäerinnen;  am  stärksten  war  ea 
|n  der  Gegend  der  Dannbein  kämme  und  über  den  Muse,  glutaei  max*,  und  während 
Europäerinnen    die    Stärke   der  Wölbung    vom    Darmbein   nach    unten    ku 
lieh  zunimmt,  verflacht  sich  bei  der  Hottentottin  die  Partie  immer  mehr 
hinteren  Oberschenkelfläche  hin.     Die  genaue  anatomische  Beschroibong 
Lutoren  schliesst  völlig    die  Ansicht  aus,    dass  die  auffallende  Erscheinung 
liwa  von  einer  besonderen  Neigung  des  Beckens  herrühren  könnte,  und  dass  daa 
'Kniosbein  in  beträchtlichem  Maaase  nach  hinten  zu  gestreckt  sei. 

12* 


180 


y.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 


Der  Anblick,  welchen  eine  hochgradig  ausgebildete  Steatopjgie  darbietet, 
ist  ein  im  höchsten  Maasse  überraschender  und  ft&r  unsere  ästhetischen  Begriffe 
widerwärtiger.  Man  betrachte  das  Koranna -Weib  in  Fig.  121,  und  man  wird 
sich  diesem  Urtheile  gewiss  vollständig  anschliessen. 

Topinard^  macht  von  der  Erscheinung  einer  mit  der  Steatopygie  behafteten 
Frau  die  folgende  Beschreibung: 

,La  steatopygie  se  pr^ente  comme  une  exag^ration  monstmeuse  des  fesses  qui,  d*une 
part,  sont  plus  larges,  et  qui,  de  Tautre,  semblent  se  redresser  et  pointer  en  haut:  en  realit^, 
elles  offrent  ä  leur  partie  sop^rieure,  allant  de  la  concavite  des  lombes  au  point  culminant 
des  fesses,  un  plan  presque  horizontal.  En  bas,  la  fesse  tantöt  se  termine  par  sa  courbure 
ferme  et  son  pli  horizontal  nonnal,  tantöt  se  continue  insensiblement  par  an  plan  oblique 
avec  Ics  cuisses.  Sur  les  cötes,  eile  est  circonscrite  par  une  d^pression  ou  gouttiere  oblique 
d'avant  en  arri^re  et  de  haut  en  bas,  dont  le  centre  est  au  grand  trochanter.' 

Auf  diesem  Fettpolster  des  Hintertheiles,  Aredi  ge- 
nannt, lässt  die  Hottentottin  ihr  Kind  ruhen;  dasselbe 
gilt  unter  dem  Hottentottenvolke  als  eine  Schönheit, 
wie  denn  überhaupt  runde,  fette  und  fleischige  Formen 
bei  ihnen  den  Maassstab  f&r  diese  Eigenschaft  abgeben. 
Auch  Theophil  Hahnr  tritt  der  Meinung  entgegen,  dass 
das  Kreuzbein  bei  den  Hottentotten  abnorm  hervor- 
rage, denn  nicht  bloss  das  weibliche,  sondern  auch  das 
männliche  Geschlecht  zeigt  bei  diesem  Volke  die  Eigen- 
thümlichkeit,  und  er  selbst  hatte  an  seinen  Spielkameraden, 
jungen  Hottentotten,  oft  Gelegenheit  zu  beobachten, 
wie  in  der  guten  Jahreszeit^  wo  es  viel  Milch  und  Wild- 
pret  gab,  ihre  Gesässtheile  fÖr  unsere  europäischen  Vor- 
stellungen nachgerade  fabelhafte  Dimensionen  annahmen, 
während  bei  geringerer  Nahrung  diese  Fettmasse  sich 
wieder  verlor. 

Bei  einer  Hottentotten-Frau,  welche  vor  längerer 
Zeit  sich  in  Berlin  sehen  liess,  kann  man  in  der  Profil- 
Ansicht  (Fig.  116  No.  9)  dieses  starke  Vorspringen  des  Ge- 
sässes  mit  grosser  Deutlichkeit  bemerken.  In  der  Hinter- 
ansicht (Fig.  122)  sieht  man  noch  eine  besondere  Eigen- 
Ihümlichkeit,  welche  Topinard^  bei  Busch  mann -Frauen 
ebenfalls  beobachtet  und  mit  den  folgenden  Worten  ge- 
schildert hat: 

,En  outre  de  la  stäatopyg^e,  les  femmes  boshimane.s 
presentent  un  caractero  peu  remarquö  jusque  dans  ces  demiers 
teiiips,  et  qui  se  rattache  au  prec^dent.  En  avant,  en  dehors 
et  un  peu  au-doHsus  du  trochanter  se  voit  une  saillie  arrondie. 
KO  continuant  insensiblement  avec  les  parties  environnantes,  qui 
accroit  la  largeur  des  hanches.** 

Auf  diese  Weise   ist  die  grösste  Breite  des  Mittel- 
körpers  vollständig  nach    unten   verschoben  worden  und 
liegt  noch  ein  klein  Wenig  unterhalb  der  Gesäss-Schenkel- 
Furche.     Weiter   nach   abwärts   nehmen    dann   aber   die 
7nl7Äm:"n)"^:nr  Beine   ganz   gewöhnliche   Dimensionen   an,    so   dass   die 
(Nach  Photognraphiej  starke   Fettauflageruug    an    den    Oberschenkeln   nur  dem 

allerobersten  Dritttheile  angehört. 
Für  gewöhnlich  haben  wir  die  breiteste  Stelle  des  Mittelkörpers  bei  den 
Frauen  in  der  Höhe  der  Steissbeinspitze  zu  suchen,  was  ungeföhr  der  Körper- 
gegend etwas  oberhalb  der  Trochanteren  entspricht.  Aber  auch  bei  manchen 
europäischen  Weibern  finden  wir  wie  hier  die  breiteste  Stelle  etwas  unter- 
halb der  Trochanteren,  ebenfalls  in  der  Höhe  der  Gesäss-Schenkelfalte.     Das  tritt 


Fig.  122.      Hottentotten 
Frau,  *i2  Jahre  alt,  mitSteato 


182 


V.  Die  äusseren  Sexualoigane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 


den  Abantus  gehören  die  Nigritier  des  Nils  und  die  Bongo  ns.ch  Harttnann 
hierher.  Von  einem  in  dieser  Beziehung  von  der  Natur  besonders  reichlich  aus- 
gestatteten Bongo -Weibe  hat  Schweinfurth  eine  freilich  nicht  sehr  schöne  Ab- 
bildung geliefert,  welche  in  Fig.  125  wiedergegeben  ist. 


Fig.  124.  Mädchen  von  der  Zwergrasse  der  Ewe  (Afrika)  mit  Steatopygie. 
(Nach  Photographie.) 

Nach  i?/i;of7  kommt  die  Steatopygie  auch  bei  den  Somali  und  den  Berbern 
vor,  und  Stuhlmann  sagt  von  dem  Pygmäen -Volke,  den  Ewe,  welche  er  im 
Gebiete  des  Ituri  entdeckte,  dass  die  Frauen  «manchmal  etwas  lor  Stemtopjgie 
neigen*.    Er   hat   bekanntlich   zwei  junge  Mädchen   dieses  Stammai  mit  um 


S8.  Die  äusseren  weiblichen  Sezualorgane  und  ihre  anthropologischen  Merkmale.      183 

Earopa  gebracht.     Bei  der  einen  derselben,  der  Äsmini,  ist  das  Gesass  voll  und 
rund;    die   andere  dagegen,    Shikanayo^    besitzt    schon    eine    echte   Steatopygie 

(P*  124). 

Livingstone  will  die  Steatopygie  sogar  auch  bei  einigen  Frauen  der  Boers 
bemerkt   haben,   welche   doch    der  weissen  Rasse   angehören.     Thdie   hält   diese 
Angabe   ftir    sehr  wenig  glaubwürdig.     Er  meint,   man  könne  hier  höchstens  an- 
nehmen,    dass     die    betrefiPenden 
Frauen  nicht  ganz  reinen  Blutes, 
sondern  mit  Hottentotten-  oder 
Buschmann -Blut  gemischt  ge- 
wesen wären,  wenn  nicht  die  Be- 
hauptung von  Knox  und  anderen 
auf  Wahrheit  beruhen  sollte,  dass 
der    Fettreichthum    der    Hinter- 
backen   durch    die    Vermischung 
der  Buschmänner  mit  Kaff  er  n 
oder  mit  Europäern   bei  deren 
Nachkommen  verschwinde. 

In  den  Pyramidengräbern 
von  Saqära  in  Aegypten  fand 
sich  auf  einem  Steine  das  von 
Dümichen  wiedergegebene  Bild- 
niss    einer   arabischen    Fürstin,  "    '  ' 

welche  in   dem    17.  Jahrhundert  ^''ttMopuSTa^e'r?!."" 

vor   unserer  Zeitrechnung   regierte    ans  den  Pyramidengräbem   von 

(Fig.  126).     Sie   fällt    durch    die        ^'^^'^  ^°*^**  Dü^icArn). 

starken  Körperformen  und  nament- 
lich durch  die  erhebliche  Dicke  des  beträchtlich  vorspringenden  Hintertheiles  auf, 
wodurch  sie  sich  ganz  wesentlich  von  den  äusserst  schmalhüftigen  ägyptischen 
Frauenbildem  unterscheidet.  Wie  die  Ausgrabungen  von  Dieidafoy  in  Susa  be- 
wiesen haben,  waren  die  damaligen  Bewohner  dieses  Theiles  von  Asien  Aethio- 
pier.  Und  diesem  Volksstamme  gehört  ohne  Zweifel  auch  unsere  arabische 
Fürstin  an. 


Fig.  125.    Steatopygie  und 

Fettleibigkeit   bei   einer 

Bongo-Fran       (Central- 

Afrika) 

(Nach  Sckw€i^furth.'i 


S8.  Die  äusseren  weiblichen  Sexualorgane  und  ihre  anthro- 
pologischen Mericmale. 

Es  kann  leider  nicht  abgeleugnet  werden,  dass  selbst  solche  Regionen  des 
menschlichen  Körpers,  die  der  Untersuchung  durch  Aerzte  vielfach  unterliegen, 
sogar  bei  den  europäischen  Völkern  in  anthropologischer  Beziehung  noch  lange 
nicht  hinreichend  erörtert  worden  sind.  Hierzu  gehören  auch  die  weiblichen 
Sexualorgane.  Allerdings  behauptet  Columhat  de  Vlsire,  dass  in  südlichen  Gegenden 
die  Genitalien  der  Frauen  gewöhnlich  höher  und  mehr  nach  vom  gelegen  sind, 
als  in  kalten  und  feuchten  Ländern;  es  sollen  die  Schottinnen,  die  Eng- 
länderinnen und  Holländerinnen  fast  immer  die  Vulva  weniger  vom  und 
den  Uterus  weiter  unten,  als  die  Französinnen  des  Südens,  die  Spanierinnen 
und  Italienerinnen  haben.     Genaueres  steht  hierüber  jedoch  noch  gar  nicht  fest. 

In  sehr  vieler  Hinsicht  unterscheiden  sich  die  äusseren  weiblichen  Geschlechts- 
theile  des  Menschen  von  denjenigen  des  Affen.  Hierüber  sowie  über  die  Rassen- 
Differenzen  beim  Menschen  hat  vor  Allem  v.  Bischofp  vergleichende  anatomische 
Untenochungen  angestellt: 

.Die  Weiber  aller  MeDscbenrassen  besitzen,  soweit  sie  bis  jetzt  bekannt  sind,  grosse 
Sdiamlipptn  md  eiaai  Sehamberg  and  auf  beiden  einen  stärkeren  Haarwuchs.    Bei  einigen 
Im»  aiUAi^ischen   Rasse,    vorzQglich    bei    Bnschmänninnen    und    Hotten- 


184  V.  Die  äuBseren  Sezualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

tottinnen,  scheint  allerdings  eine  geringere  Entwickelnng  des  Schamberges,  der  grossen 
Schamlippen  und  des  Haarwuchses  auf  denselben  Torzukommen,  ganz  fehlen  sie  jedoch 
niemals.  Dagegen  besitzen  weder  die  Weibchen  der  Anthropoiden  noch  der  Übrigen  Affen 
einen  Schamberg,  deutliche  grosse  Schamlippen  und  st&rkeren  Haarwuchs  an  den  äusseren 
G  eschlechtstheilen .  • 

Nur  allein  der  Orang-Utang  hat  vielleicht  eine  schwache  Andeutung  grosser 
Schamlippen.  Jedoch  treten  dieselben  auch  bei  den  übrigen  Anthropoiden  nach 
Hartmann  während  der  Menstruation  deutlich  herror.  Diese  besitzen  daher  kleine 
äussere  und  grosse  innere  Schamlippen.  Umgekehrt  ist  eine  massige  Entwickelung 
der  kleinen  Schamlippen  oder  Nymphen  und  des  Praeputium  und  des  Frenolum 
Clitoridis  die  Regel  bei  dem  menschlichen  Weibe. 

Die  Schamtheile  der  Australierinnen  stehen  nach  Köler^  etwas  mehr 
zurück,  daher  die  Männer,  „was  übrigens  bei  den  meisten  Australiern  Sitte  ist*, 
die  Begattung  von  hinten  vollziehen  sollen.  Jedoch  stimmt  das  Letztere  nicht 
mit  den  Angaben  von  MUducho-Maday  überein. 

Ueber  die  Einwohnerinnen  des  alfurischen  Archipels  besitzen  wir  Nach- 
richten von  Riedel^,  Er  erklärt  bei  den  Weibern  der  Seranglao-  und  Gorong- 
Inseln  den  Vaginaleingang  für  eng  und  die  Labia  minora  für  rudimentär.  Bei 
den  Weibern  der  Babar-Inseln  ist  die  sichtbare  Spalte  der  Vulva  kurz  und 
nicht  so  lang,  als  bei  den  meisten  Ambonesinnen.  Die  Inseln  Leti,  Moa  und 
Lakor  besitzen  eine  schmalköpfige  und  eine  breitköpfige  Bevölkerung.  Die 
Frauen  der  ersteren  haben  eine  länglichrunde  Spalte  der  Pudenda.  Die  breit- 
köpfigen  Frauen  besitzen  nur  rudimentäre  Nymphen.  Die  Weiber  von  Buru 
haben  eine  enge  Schamspalte  und  rudimentäre  Nymphen. 

Die  Vaginen  der  Aaru- Insulanerinnen  bezeichnet  Riedel^  als  klein,  jedoch 
soll  hierzu  der  Penis  der  Männer,  welcher  ebenfalls  nur  eine  geringe  Grössen- 
entwickelung  aufweist,  im  Verhältniss  stehen. 

Die  Kanakinnen  von  Neu-Caledonien  haben  meistens  die  Vagina  mehr 
von  vorn  nach  hinten  verlaufend,  als  dies  bei  den  Europäerinnen  der  Fall  ist. 
Wenn  das  Hymen  noch  existirt,  so  pflegt  es  ringfSrmig  zu  sein.    (Army  surgeon.) 

Die  Vahine,  d.  h.  das  Weib  von  Tahiti,  hat  eine  gut  entwickelte  Clitoris 
von  1,6  bis  2  englische  Zoll  Länge.  Ein  Hymen  pflegt  man  nur  bei  Kindern 
anzutreffen.  Die  Scheide  erscheint  weniger  nach  hinten  gerichtet,  als  bei  den 
Negerinnen,  den  Kanakinnen  von  Neu-Caledonien  und  bei  den  Weibern 
von  den  Neu-Hebriden,  und  sie  nimmt  mehr  die  Richtung  wie  bei  den  euro- 
päischen Weibern  ein.     (Army  surgeon.) 

Von  den  grossen  und  breiten  Schamlippen  der  Guarani-Weiber  in  Süd- 
Amerika  sprechen  v.  Azara  und  Retigger. 

Verhältnissmässig  zahlreiche  Angaben  stehen  uns  über  die  Bewohnerinnen 
des  Feuerlandes  zur  Verfügung.  Zwei  Feuerländerinnen,  die  mit  ihren 
Männern  vor  einigen  Jahren  Europa  durchzogen,  sind  gestorben  und  konnten 
einer  genauen  Untersuchung  unterzogen  werden.  Ueber  15  fernere  weibliche 
Personen  verschiedenen  Alters  berichten  Hyades  und  Deniker^  von  der  wissen- 
schaftlichen Expedition  nach  dem  Cap  Hörn,  welche  die  Minist^res  de  la 
Marine  et  de  l'Instruction  publique  von  Frankreich  gemeinschaftlich  aus- 
gesendet hatten. 

Bei  der  Section  der  an  Pneumonie  und  Pleuritis  verstorbenen  Feuer - 
1  an  der  in  Lose  fand  v.  Bischoff  Folgendes: 

,An  den  äusseren  Genitalien  derselben  zeigte  sich  eben  so  wenig  wie  am  After  irgend 
eine  bedeutende  Spur  von  Haarwuchs;  nur  auf  der  oberen  Partie  der  grossen  Schamlippen 
finden  sich  einzelne  Härchen  (etwa  1  cm  lang).  Es  zeigte  sich  auch  keine  Spar  einer  Rasor 
oder  Ausreissen  der  Haare.  Die  grossen  Schamlippen  sind  massig  stark  entwickelt  und 
lassen  zwischen  sich  eine  gegen  6,5  cm  lange  ziemlich  geschlossene  Sohamspalta.  Oben  an 
dem  Schamberge  gehen  sie  mit  einer  etwas  vertieften  Commissiir  in  einandar  ftlür;  iMMsh  \ 
und  hinten  bilden  sie  eine  hintere  Commissnr  mit  einem  schwidi  i 


38.  Die  äusseren  weiblichen  Sezualorgane  und  ihre  anthropologischen  Merkmale.       185 

dahinter  gelegener  Fossa  navicularis.  Die  rechte  grosse  Schamlippe  ist  etwas  stärker  ent- 
wickelt als  die  linke.  Eigenthümlich  ist  es,  dass  um  den  weit  offen  stehenden  und  von 
einigen  Hämorrhoidalknoten  umgebenen  After  herum  die  Epidermis  fehlt  und  dieser  Mangel 
sich  auch  bis  hinauf  zu  dem  unteren  Ende  der  linken  grossen  Schamlippe  fortsetzt.  Diese 
Arrosion  mussto  von  einem  entweder  aus  dem  After  oder  aus  der  Vulva  herrührenden  scharfen 
Ausflüsse  veranlasst  sein.  Die  kleinen  Schamlippen  ragen  nicht  vor  der  Schamspalte  vor, 
und  ist  die  rechte  ansehnlich  grösser  als  die  linke.  Nach  unten  verlieren  sich  beide  in  den 
Scheidenvorhof;  nach  oben  theilt  sich  die  rechte  in  zwei  Fortsätze^  deren  äusserer,  sich  an 
die  innere  Fläche  der  grossen  Schamlippen  anlehnend,  bis  an  die  obere  Commissur  der  letzteren 
sich  hinzieht,  die  innere  aber  sich,  wie  das  obere  Ende  der  linken  kleinen  Schamlippe,  aber- 
mals in  zwei  kleinere  Falten  spaltet,  deren  äussere  das  Praeputium  Clitoridis,  die  innere  das 
Frenulnm  Clitoridis  in  gewöhnlicher  Weise  bildet.  Die  Clitoris  ist  von  normaler  Grösse, 
und  auch  die  Glans  derselben  tritt  nicht  mehr  wie  gewöhnlich  hervor;  2  cm  hinter  und  unter 
der  Clitoris  befindet  sich  an  der  oberen  Wand  des  Scheidenvorhofs  die  Harnröhrenöffnung, 
welche  nur  die  Eigen thümlichkeit  zeigt,  dass  von  den  sie  umgebenden  Schleimhauifalten  eine 
auf  jeder  Seite  sich  im  Bogen  nach  oben  an  der  inneren  Seite  dos  Scheidenvorhofs  hinzieht 
und  so  auf  beiden  Seiten  eine  kleine  Tasche  bildet.  Am  Scheideneingang  finden  sich  mehrere 
ziemlich  stark  hervortretende  Carunculae  myrtiformes.  Die  Scheide  ist  11  bis  12  cm 
lang,  und  plattgelegt  3,5  cm  breit.  Es  finden  sich  an  ihrer  vorderen  und  hinteren  Wand 
Columnae  rugarum,  welche  besonders  an  der  vorderen  Wand  ziemlich  stark  entwickelt  sind 
und  in  einem  gegen  die  Harnröhrenöffnung  sich  hinziehenden  Wulst  vorspringen.** 

Schon  früher  war  die  ältere  Feuerländerin  Catharina^  die  Mutter  des 
Mädchens  von  4  Jahren,  gestorben,  v,  Meyer  berichtet  aus  dem  Gedächtniss,  dass 
bei  ihr  das  Fettpolster  der  Labia  majora  nur  gering  entwickelt  war.  Die  beiden 
genannten  Labien  umgaben  eine  klaffende  Schamspalte,  so  dass  die  Labia  minora 
und  die  Clitoris  sichtbar  waren. 

Hyades  und  Deniker'^  stellen  drei  Beschreibungen  voran,  welche  Mondilre'^ 
nach  Gypsabgüssen  gefertigt  hat. 

1.  Feuerländerin  von  15  Jahren:  ,Vulve  assoz  profond^ment  enfoncee;  les  grandes 
lävres  sont  presque  plates.  La  reunion  superieure  des  petites  levres  est  longue  de  13  mm. 
Hauteur  totale  de  Ja  fente  vulvaire  61  mm.  Les  petites  levres  descondent  Jusqu'au  tiers 
infärieur  oü  elles  fönt  une  saillie  de  12  mm.     II  semble,  qu'il  n'y  ait  pos  de  clitoris.** 

2.  Feuerländerin  von  18  Jahren:  »Les  grandes  levres  sont  effacöes  comme  chez  la 
pr^c^dente,  mais  ici  la  vulve  est  presque  sur  le  memo  plan ;  sa  hauteur  est  de  74  mm.  Memo 
disposition  des  petites  Jfevres.  Pas  de  trace  de  clitori.s.  Cette  femme  a  eu  des  rapports 
sexuelles,  mais  sans  enfants.* 

3.  Feuerländerin  von  25  Jahren,  Mehrgobilrende :  „Grandes  levres  aplatios  en  haut, 
mais  comme  infiltrees  en  bas  oü  elles  simulent  un  scrotum.  Hauteur  de  la  vulve  90  mm. 
Enfoncement  profond  de  Tintersection  superieure  des  petites  levres  qui  forment,  ^  partir  de 
iä,  comme  deux  cornets  volumineux  ayant  ä  leur  base  14  mm  de  diametre.  Le  perinee  long 
de  21  mm  est  tout  ride.     Le  clitoris  semble  un  peu  dessin^.' 

Dann  lassen  Hyades  und  Detiil'er'-^  die  Notizen  über  12  genauer  untersuchte 
folgen,  und  sie  kommen  danach  zu  dem  Resultate: 

,11  r^ulte,  den  os  observations  sur  le  vivant,  que  la  membrane  hymen  est  generalement 
perforee  ä  son  centre,  quelqacfois  h  sa  partie  superieure,  exceptionnellomont  en  bas.  Le 
clitoris  est  toujours  tr^s  rudimentaire.  Les  petites  Idvres  ont  la  forme  triangulaire  ou 
conique  et  pendent  des  deux  cötes  du  vestibule  sans  constituer  une  fosso  naviculaire.  Cette 
disposition  rappelle  celle  que  Tun  de  nous  a  constat^e  chez  le  gorille.'' 

Nach  Virey  besitzen  die  Kamtschadalinnen  mit  grosser  Wahrscheinlich- 
keit eine  weite  Mutterscheide,  da  sie  gewohnt  sind,  in  ihrer  Vagina  eine  Art 
Mutterkränzchen  aus  Birkenrinde  zu  tragen.  Ob  sie  dieses  aber  immer  thun, 
oder  ähnlich  wie  manche  Insulanerinnen  des  malayischen  Archipels  nur  in  der 
Zeit  der  Menstruation,  das  ist  aus  dieser  Notiz  nicht  zu  ersehen.  Auch  Steuer 
sagt  von  ihnen: 

,Die  Scham  ist  sehr  weit  und  gross,  daher  sie  auch  nach  den  Kosaken  und  Aus- 
ländem allezeit  begieriger  sind,  und  ihre  eigene  Nation  verachten.* 

Mit  den  Ostjakinnen  muss  es  sich  nach  einem  Berichte  von  Pallas  ähnlich 
«■iialten«    Er  sagt: 


186  ^*  ^^^  äusseren  Sezualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

,Die  0 8 tjaken -Weiber  tragen  in  der  Scham  beständig  eine  zusammengedrehte  Wicke 
von  geschabtem  weichem  Seidenbast,  welche  sie,  so  tief  sie  können,  hineinstecken,  wenn  sie 
harnen  wollen,  herausnehmen  und  auch  der  Reinlichkeit  wegen  oft  abwechseln.  Weil  aber 
diese  AusfilUung  bei  einer  jeden  Bewegung  aus  ihrer  Lage  kommen  und  auf  die  Erde  fallen 
würde,  wenn  sie  durch  nichts  an  der  rechten  Stelle  erhalten  würde,  so  haben  die  ostjakischen 
Weiber  einen  Gürtel  ausgesonnen,  der  fast  wie  die  von  der  Eifersucht  südlicher  Europäer 
erfundenen  Keuschheitsgürtel  gestaltet  ist:  von  demselben  nämlich  geht  eine  Binde  zwischen 
den  Beinen  durch,  die  vermöge  einer  besonders  gestalteten  Platte  von  Birkenrinde,  welche 
daran  festgenäht  ist,  die  heimlichen  Theile  bedeckt.  Diese  Erfindung  kommt  ihnen  sonder- 
lich zur  Zeit  der  monatlichen  Unpässlichkeit  wohl  zu  statten,  weil  sie  zu  solcher  Zeit  in  Er- 
mangelung der  Beinkleider,  die  sie  nicht  tragen,  alles  besudeln  würden." 

Nach  Baeh  sind  die  äusseren  Genitalien  der  Japanerinnen  hässlich, 
namentlich  bei  dem  feinen  Typus;  sie  zeigen  eine  unschöne  Pigmentirung  und 
hässliche,  lappige  Labia  minora.  Wernich  fand  Folgendes  in  seiner  gynäkologischen 
Abtheilung  zu  Yeddo: 

,Die  grossen  Schamlippen  sind  fettarm  und,  auch  bei  jungen  Personen,  sehr  schlaff. 
Der  Hamröhrenwulst  springt  sehr  erheblich  hervor,  was  vielleicht  auf  das  in  den  niederen 
Ständen  ganz  gebräuchliche  Uriniren  in  aufrechter  Stellung  zurückzuführen  ist.  Die  Scheide 
ist  kurz,  nie  fand  Wernich  eine  über  7  cm  lang.  Ein  Hymen  ist  ihm  niemals  zu  Gesicht 
gekommen.  Der  Damm  erschien  im  Allgemeinen  nicht  von  besonderer  Breite.  Congestionirung 
und  Consistenzzunahme  (Erection)  der  Portio  vaginalis  kam  bei  den  Untersuchungen  viel 
häufiger  vor,  als  bei  den  europäischen  Frauen." 

Die  Japanerinnen  haben,  wie  es  heisst,  so  enge  Genitalien,  dass  Aerzte 
angestellt  sind,  welche  aus  den  Puellis  publicis  diejenigen  aussuchen  müssen,  deren 
Genitalien  ohne  beiderseidige  Inconvenienz  den  Coitus  mit  dem  kräftigen  Gliede 
eines  Europäers  gestatten.  Ob  diese  Ploss  zugegangene  Mittheilung  auf  That- 
sachen  beruht,  muss  noch  weiter  erörtert  werden.  Doenüe^  welcher  Jahre  lang 
als  Angestellter  der  japanischen  Regierung  gelebt  hat  und  in  Tokio  eine 
sittenpolizeiliche  Controle  der  Prostituirten  einführte,  erklärte  mir  diese  Angabe 
als  unzutreffend.  Die  Vaginen  waren  für  die  auch  bei  uns  gebräuchliche  Durch- 
schnittsnummer der  Mutterspiegel  bequem  passirbar.  Auch  pflegen  die  dort 
lebenden  Europäer  sich  selbst  ihre  Concubinen  zu  wählen  und  sie  nicht  aus  den 
Händen  der  Polizei  zu  empfangen.  Bei  der  Japanerin  soll  die  Schleimhaut  der 
Vulva  und  der  Vagina  heller  als  bei  der  Chinesin  und  bei  der  Annamitin 
sein,  und  zwar  wird  ihre  Farbe  als  gelbroth  wie  bei  der  Spanierin  bezeichnet. 
(Army  surgeon.) 

In  einer  Sammlung  japanischer  Aquarelle  des  kgl.  Museums  fttr  Völker- 
kunde in  Berlin,  welche  unter  dem  Namen  „physiognomische  Studien"  von 
Maruyama  Okio,  dem  bedeutendsten  japanischen  Maler  des  vorigen  Jahrhunderts, 
gefertigt  worden  sind,  befindet  sich  auch  die  Darstellung  eines  nackten,  auf  der 
Erde  kauernden  Weibes  mit  der  Bezeichnung:  eine  Frau,  die  in  Wollust  gesündigt 
hat.*)  Ihre  lange  Schamspalte  ist  weit  klaffend  gezeichnet;  die  Clitoris  sowohl, 
als  auch  die  kleinen  Schamlippen  ragen  beträchtlich  aus  ihr  hervor,  die  grossen 
Schamlippen  aber  erscheinen  schmal  und  wenig  fettreich.  Wir  werden  dieses  Bild 
später  kennen  lernen. 

Bei  den  Chinesinnen  bezeichnet  Morache  die  grossen  Schamlippen  als 
„plus  developpees*".  Die  Farbe  der  Scheidenschleimhaut  bei  den  Chinesinnen 
in  C  an  ton  wird  als  glänzend  carmin  mit  einem  Stich  ins  Ockerfarbene  ange- 
geben.    (Army  surgeon.) 

Die  Vulva  und  Vagina  der  Moy-Frau  in  Cochinchina  ist  mehr  aus- 
gebildet, als  die  betreffenden  Theile  der  Annamiten-Frau.  Die  Haut  der  Genital- 
orgaue  erscheint  bei  der  ersteren  dunkler  als  bei  der  letzteren,  und  das  Gleiche 
ist  bei  der  Schleimhaut  der  grossen  Schamlippen  und  der  Mutterscheide  der  Fall, 
deren  Farbe  sich  bei  der  Moy-Frau  mehr  dem  Schwarzroth  nähert.  (Army 
surgeon.)    Die  Annamitinnen  haben  als  Kinder  die  Vulva  höher  sitzen,  als  das 

*)  Nach  ftreundlicher  Uebersetzung  des  Herrn  Prof.  Dr.  Orube, 


88.  Die  äusseren  weiblichen  Sexualorgane  und  ihre  anthropologischen  Merkmale.      187 

bei  franzosischen  kleinen  Mädchen  der  Fall  ist,  jedoch  bei  den  Erwachsenen 
ist  kein  grosser  Unterschied  der  äusseren  Erscheinung  dieser  Theile  von  denen 
der  Französinnen,  aber  bei  der  Annamitin  ist  die  Vulva  und  die  Vagina 
kleiner  und  weniger  tief.  Die  Nymphen  sind  klein  und  werden  von  den  grossen 
Schamlippen  bedeckt;  die  Clitoris  ist  nur  wenig  entwickelt.  Nach  dem  10.  Lebens- 
jahre war  ein  Hymen  nicht  mehr  aufzufinden.     (Army  surgeon.) 

Nach  Mondiere  ist  die  Annamiten-Frau  in  Gochinchina  in  ihren  Ge- 
schlechtsorganen anders  gebaut  als  die  Europäerin.  Sie  besitzt  nicht  die  grosse 
Erweiterung  und  die  grosse  Krl^mmung,  welche  bei  unseren  Frauen  durch  die 
Verlängerung  des  Perinaeum  gegeben  ist;  alle  zwischen  Os  pubis,  Os  ischii  und 
Ob  coccygis  liegenden  Theile  haben  die  Form  eines  Trapezoids.  Weder  das  Peri- 
naeum noch  auch  die  äusseren  Theile  wölben  sich;  es  ist  eine  Abfiacbung  der 
grossen  und  kleinen  Schamlippen  vorhanden,  und  die  Mutterscheide  scheint  sehr 
kurz   zu   sein,    so  dass  das  Orificium  uteri    dem  Scheideueingang  sehr  nahe  liegt. 

Die  Genitalien  der  Weiber  bei  den  Khmers  in  Cambodja  beschreibt 
Maurel  folgendermaassen : 

«Grandes  levres  sont  minces  ou  mojennes,  et  ne  portent  qua  tres-peu  de  poils. 
Petites  levres  sont  longues  ou  moyennes,  et  portent  une  couche  de  pigment  sinon  uniforme, 
an  moins  par  place.  Clitoris  est  mojen,  le  vagin  rose,  et  ses  colonnes  marquäes.  La 
difltance  de  Tanus  k  la  fourchette  est  de  3  centimdtres  ä  2  centimätres  et  demi;  colle  de  la 
yolve  du  col  de  2  cm  et  demi  ä  5  cm;  celle  de  Torifice  vaginal  au  cul-de-sac  antörieur  de 
4  &  6  cm  et  au  cul-de-sac  posterieur  de  6  ä  8  cm.* 

Die  Vagina  der  Tatarin  soll  selbst  noch  nach  der  Niederkunft  eine  grosse 
Enge  besitzen. 

Bei  den  Bafiote-Negern  an  der  Loango-Küste  in  West-Afrika  wird 
das  ihnen  wohlbekannte  Hymen  nkumbi  oder  tschikumbi  genannt;  mit  den- 
selben Worten  bezeichnet  man  auch  daselbst  ein  junges  Mädchen  vom  Zeitpunkte 
des  Menstruationseintritts  an    bis  zur  Hingabe  an  einen  Mann  (Pechuel-Loesche). 

Wir  verdanken  de  Rochehrune  genaue  Untersuchungen  über  die  Genitalien 
der  Woloffen -Frauen. 

Er  bezeichnet  diese  Genitalien  als  ,mediocrement  developp^s*^  Eine  nur  einige  Milli- 
meter hoho  Falte  stellt  die  grossen  Schamlippen  dar,  die  Nymphen  sind  nur  rudimentär  und 
messen  in  der  Breite  0,004  m,  in  der  Länge  0.021  m;  so  charakterisirt  sich  die  Vulva  als 
eine  Abplattung,  deren  Oberfläche  äusserlich  begrenzt  ist  von  zwei  ellipsoiden  Falten,  die  sich 
von  dem  unteren  Theil  und  der  Mitte  des  Schamberges  bis  auf  die  vordere  Gegend  des 
Perinaeum  verbreiten;  die  inneren  Ränder  dieser  Falten  schliessen  sich  an  einander  und 
zeichnen  sich  nur  wie  eine  leichte,  wellige  Linie,  selbst  bei  den  Frauen  von  gewissem  Alter, 
ab.  Die  Färbung  diosor  Theile  unterscheidet  sich  von  derjenigen  der  ganzen  Haut  durch 
blasseres  Aussehen ,  die  Nymphen  sind  bei  Erwachsenen  schieferblau ,  bei  jungen  Mädchen 
dunkelroth.     Die  Clitoris  ragt  stets  hervor;  die  freie  Partie  maass  0,018  m  im  Mittel. 

Diese  Gestaltung  differirt  wesentlich  von  der  der  Europäerinnen.  Die  habituelle 
Verlängerung  der  Nymphen,  welche  andere  Beobachter  als  eine  Specialität  der  Negerinnen 
beschrieben,  ist  bei  den  Woloffen  nicht  zu  finden;  vielmehr  zeigen  dieselben  hier  eine  Art 
von  Atrophie;  man  könnte,  wie  de  Jiochebrune  meint,  von  einem  wahren  Zurückbleiben  in 
der  Entwickelung  reden,  denn  abgesehen  von  dem  Vorspringen  der  Clitoris  und  von  der 
weiteren  Ausdehnung  der  Oberfläche  der  Vulva  kann  man  die  anderen  Theile  nicht  besser 
vergleichen,  als  mit  denjenigen  eines  europäischen  Mädchens  von  8  bis  10  Jahren.  Sehr 
bemerkenswerth  ist  auch  die  Länge  des  Perinaeum,  die  bei  der  Europäerin  im  Mittel 
0,012  m  beträgt,  während  sie  bei  der  Wol off- Frau  0,025  m  misst;  aus  diesem  Unterschied 
von  0,013  m  erbellt,  dass  die  Vulva  um  so  viel  zurückliegt. 

Conradt  untersuchte  einige  Adeli-Weiber  aus  dem  Hinterlande  von  Togo 
und  bezeichnet  bei  zwei  14jährigen  und  einer  25  jährigen  die  Genitalien  als  klein. 
Das  Gleiche  sagt  er  von  einer  18— 20  jährigen  Akapäme-Frau,  ebenfalls  aus  dem 
Hinterlande  von  Togo,  während  er  von  einer  20 — 23jährigen  Frau  aus  dem 
gleichen  Stamme  sagt,  dass  ihre  Genitalien  ,, regelmässig'  wären,  ein  leider  wenig 
bezeichnender  Ausdruck. 


Igg  y.  Die  äusseren  Sexaalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

V,  Bischoff  in  München  fand  an  den  Genitalien  einer  angeblich  aus  dem 
Sudan  (Ost-Afrika)  stammenden,  in  München  verstorbenen  Negerin  gut  ent- 
wickelte grosse  Schamlippen.  Aber  obwohl  die  Person  noch  Jungfrau  war,  d.  h. 
ein  noch  deutlich  ausgesprochenes  Hymen  besass,  kla£Pte  dennoch  die  Schamspalte 
in  der  Art,  dass  die  beiden  ansehnlich  grossen  Schamlippen  mit  schwarzem  Pigment 
versehen  waren,  während  sie  an  ihrer  inneren  Flache,  soweit  diese  den  Scheiden- 
vorhof begrenzte,  von  einer  rothlichen  Schleimhaut  überzogen  waren,  v.  Bischoff 
setzt  hinzu : 

„Mit  diesen  geringen  Modificationen ,  die  übrigens  auch  bei  Europäerinnen  in 
ähnlicher  Weise  vorkommen,  stimmen  diese  Genitalien  ganz  mit  denen  von  Weibern  euro- 
päischer Völkerscbaften  überein,  namentlich  war  auch  hier  die  Clitoris  keineswegs 
stärker  entwickelt.** 

Von  den  äusseren  Genitalien  der  eingeborenen  Frauen  Algeriens  berichtet 
Bertherand  Folgendes: 

„Par  suite  de  la  pr^cocite  —  dans  la  puberte  hät^e,  par  une  vie  södentaire  et  le 
climate  —  dans  la  döpravation  des  moeurs  favoris^e  par  la  polygamie  et  les  unions  con- 
jugales  prömaturees,  les  organes  genitaux  acqui^rent  un  d^veloppement  tr^s-prononc^.  Chez 
les  femmes  surtout,  rexub^rance  des  grandes  l^vres  explique  parfaitement  la  n^essite  de 
leur  excision  dans  les  r^gions  pl us  rapprochees  des  tropiques.  Le  clitoris  est  volumineux 
et  tr^s-proöminent,  le  vagin  tr^s-ample/' 

Bevor  ich  zu  der  Besprechung  einer  eigenthümlichen  Ausbildung  der  kleinen 
Schamlippen  übergehe,  wie  sie  sich  besonders  bei  südafrikanischen  Stämmen 
findet,  mag  noch  hervorgehoben  werden,  dass  wir  über  die  etwaigen  Unterschiede 
der  Secrete  der  Scheide  bei  den  verschiedenen  Völkerschaften  uns  noch  in  voll- 
ständiger Unklarheit  befinden.  Selbst  die  Vertreterinnen  der  europäischen 
Rassen  bieten  in  dieser  Beziehung  bekanntermaassen  mancherlei  Differenzen  dar, 
je  nachdem  sie  sich  in  absoluter  Gesundheit  oder  in  dem  Zustande  chronischer 
Erkrankung,  je  nachdem  sie  sich  in  physischer  Ruhe  oder  in  den  verschiedenen 
Stadien  geschlechtlicher  Erregung,  je  nachdem  sie  sich  kurz  vor  oder  kurz  nach  der 
Menstruation  oder  in  der  intermenstrualen  Pause,  und  endlich  je  nachdem  sie  sich 
in  unbefruchtetem  oder  in  befruchtetem  Zustande  befinden.  Was  die  ausländischen 
Volker  anbetrifft,  so  finde  ich  nur  eine  Angabe  aus  neuerer  Zeit  von  Moficelon 
über  die  Weiber  auf  Neu-Caledonien: 

„Las  parties  sexuelles,  pendaot  les  ardeurs  du  coYt,  donnent  chez  la  femme  jenne  et 
passionnee  une  odeur  des  plus  d^sagr^ables,  et  qui  reiste  ä  des  ablutions  r^Mr^ea.'^ 

In  der  alten  indischen  Literatur  existiren  hierüber  absonderliche  Angaben, 
welche  ich  dem  in  der  Tamil-Sprache  geschriebenen  Kokkögam  entnehme. 
Ich  verdanke  die  Verdeutschung  der  Freundlichkeit  des  Herrn  Professor  Dr. 
A,  Grünwedel, 

Die  Weiber  worden  in  den  indischen  Schriften  in  vier  besonders  benannte  Klassen 
getheilt,  in  die  Lotosduftigen,  die  Padmini,  die  Bunten,  die  Cittini  (sanskrit  ^UttrinS), 
die  Schneckigen,  Cankinni  (sanskrit  (y^ankhin!),  und  die  Elefantigen,  die  Attini 
(sanskrit  Hastrini).  Von  diesen  Weibern  heisst  es  nun  im  Kokkögam:  Die  Lotosduftige: 
ihre  zwei  Brüste  gleichen  der  Bilvafrucht  (Aegle  marmelos),  ihre  Eigenthümlichkeit  besteht 
darin,  dass  das  suradanir,  das  Liebesexeret  (die  bei  der  Cobabitation  aasfliessende  Flüssigkeit), 
ohne  Unterlass  fliesst  und  sich  mit  dem  Geruch  der  tämarei  vergleichen  l&sst,  welche  schöne 
Blüthonblätter  hat.  Ihr  Geschlechtstheil  gleicht  den  Blüthenblättem  der  rothen  Wasserrose 
und  ist  gleich  einem  heiligen  Geheimniss. 

Die  Bunte:  ihre  auf  knospenden  Brüste  werden  dick,  ihre  Schenkel  haben  Goldfarbe; 
ihr  Liebesexeret  gleicht  dem  Geruch  des  tön  (Honig,  Palmensaft);  ihr  Geschlechtstheil  ist  schön, 
weil  er  eine  sehr  reichliche  Behaarung  besitzt,  wie  wenn  man  eine  Gemüseart  (Hirsehalme?) 
in  Reihe  und  Glied  auf  eine  goldene  SchQssel  legt.  Ihr  Liebesezcret  ist  milde  und  reichlich 
ausströmend,  da  der  Geschlechtstheil  scheibenförmig  aus  einander  gezogen  ist. 

Die  Schneckige  ist  sehr  mager  und  ohne  Fülle  ...  an  dem  Getchlechtstheile  hat  sie 
schwarze  Haare  und  dieser  Theil  ist  zusammengedrückt  anzusehen  und  das  hervorströmende 
Liebesexeret  riecht  salzig. 


39.  Die  Hottentottenschürze.  189 

Die  Elefant  ige:  ihr  Körper  ist  gross  and  reich  an  Haaren  und  der  Theil  ihrer  Vulva 
geht  in  die  Breite,  weil  darin  ein  hervorragendes  trockenes  Mani  (Mittelperle  des  Rosen- 
kransei,  Clitoris)  steht,  und  ihr  Liebesexeret  hat  den  durchdringenden  Geruch,  wie  die  Flüssig- 
keit, welche  aus  dem  Ohre  des  brünstigen  Elefanten  fliesst.  Die  Ränder  des  Geschlechts- 
theiles  sind  aus  einander  gezerrt,  breit  und  mit  vielen  Haaren  bewachsen. 

Ein  Anthropologe,  welcher  diese  scheinbar  etwas  verworrenen  Dinge  mit 
Aufmerksamkeit  liest,  wird  wohl  sofort  erkennen,  dass  hier  ein  gutes  Stück  that- 
sachlicher  Beobachtung  zu  Grunde  liegt.  Wir  haben  ja  auch  bei  unserer  Rasse 
die  Gelegenheit,  zu  sehen,  dass  die  weiblichen  Genitalien  gewisse  Formverschieden- 
lieiten  darzubieten  vermögen,  sowohl  was  ihre  Behaarung  anbetrifft,  als  auch  in 
Bezug  auf  ihre  allgemeine  Gonfiguration,  und  wir  können  sehr  wohl  verstehen, 
was  unsere  indischen  Vorfahren  sich  unter  den  beschriebenen  Formen  gedacht 
haben.  Wir  werden  in  der  ersten  Form  wohl  die  Vulva  mit  derben,  fettreichen 
grossen  Labien  und  festgeschlossener  Rima  pudendi  zu  erkennen  haben,  während 
in  der  zweiten  Form  die  wenig  prominenten  grossen  Labien  wohl  nur  wenig  die 
leicht  klaffende  Schamspalte  überragen.  In  der  dritten  Form  finden  wir  wohl 
auch  ziemlich  fettarme,  aber  stark  hervorstehende,  eng  auf  einander  liegende 
grosse  Schamlippen.  Die  Vulva  der  Elefantigen  endlich  würde  jene  Form 
reprasentiren,  bei  welcher  die  medianen  Ränder  der  grossen  Schamlippen  sich  nicht 
gegenseitig  erreichen,  so  dass  die  stark  entwickelte  Clitoris  von  Haut  überdeckt 
(daher  die  Erwähnung  des    trockenen  Mani)  zwischen  ihnen  frei  zu  Tage  liegt. 

Wir  können  hier  wieder  mit  rechter*  Deutlichkeit  ersehen,  wie  auch  die 
scheinbar  verworrensten  Angaben  und  Erzählungen  fremder  Völker  nicht  selten 
einen  guten  Kern  wahrer  Naturbeobachtung  besitzen.  Man  muss  sie  nur  von 
der  richtigen  Seite  betrachten  und  man  soll  sich  niemals  von  vornherein  durch 
das  scheinbar  abgeschmackte  der  Berichte  davon  abschrecken  lassen,  nach  einer 
befriedigenden  Erklärung  der  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Thatsachen  und  Ver- 
hältnisse zu  forschen. 

39.  Die  HottentottenschHrze. 

Ueber  die  durch  ihre  starke  Verlängerung  auffallenden  kleinen  Schamlippen 
der  Hottentotten-  und  Buschmanns-Frauen  ist  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein 
ausserordentlich  viel  verhandelt  worden.  Man  nennt  bekanntlich  diese  eigen thüm- 
liche  Bildung  die  Hottentotten  schürze,  oder  mit  französischem  Namen  le 
tablier.  Fig.  127.  Schon  aus  älterer  Zeit  besitzen  wir  Mittheilungen  über  diesen 
interessanten  und  auffallenden  Gegenstand;  so  berichtet  schon  Ten  Hhyne:  „Feminae 
Hottentotticae  hoc  sibi  a  ceteris  gentibus  peculiare  habent,  quod  pleraeque 
earum  dactyliformes,  semper  geminas  e  pudendis  propendentes,  productas  scilicet 
nymphas  gestent.**  Zwar  erklärte  der  alte  lilnmcnhach  diese  Angaben  für  eine 
Erdichtung;  doch  gar  bald  wurden  sie  von  Anderen 
(Tackardt^  Sparmann,  liancks,  Pvron,  Lcsueur)  bestätigt. 

So  schien  denn  festzustehen,  dass  diese  „Schürze" 
in  einer  übermässigen,  aber  für  diese  Volksstämme  typi- 
schen Entwickelung  der  kleinen  Schamlippen  bestehe,  die 
mitunter   einer  Ausdehnung  von   14   bis  18  cm   erreichen   ^,.    ,  „  „  ,,    .  ,.      .;. 

i_-  A       1.     j        ri  L'  r«i-i.      -j-  111  j-  ti^'.VJi.  Hottentottenschürze. 

können.     Auch   das  rraeputium  Chtondis    sollte  an  dieser        (\ach  Photographie.) 
Verlängerung  betheiligt  sein. 

Da  trat  Le  Vaiüant  mit  der  Behauptung  auf,  dass  hier  nicht  von  einer 
natürlichen,  sondern  nur  von  einer  künstlichen  Deformität  die  Rede  sein 
könne.     Ich  komme  darauf  später  noch  zurück. 

Mit  den  betrefiPenden  Verhältnissen  der  Hottentotten -Venus  hat  uns 
Cuvier  bekannt  gemacht.  Es  war  das  eigentlich  eine  sogenannte  Buschmännin, 
welche  ein  Holländer  nach  Paris  gebracht  hatte  und  die  dort  im  Jahre  1816 
starb.     Auch  Johannes  Midier  hat  sie  beschrieben. 


190  V-  ^ie  äusseren  Sexaalorgane  des  Weibes  in  eÜhnographischer  Hinsicht. 

Nach  Cuvier's  Untersuchung  bestanden  die  fleischigen  Lappen,  welche  den 
Sinus  pudendus  constituiren,  in  der  Mitte  aus  dem  Praeputium  Clitoridis  und  dem 
obersten  Theile  der  Nymphen,  alles  Uebrige  aber  aus  der  Entwickelung  der  unteren 
Partie  der  letzteren. 

Virey  berichtet  über  die  Untersuchung  der  Qeschlechtstheile  an  der  Leiche 
dieser  Person,  dass  die  angebliche  „Schürze*  der  Hottentottinneu  „nichts  weiter 
sei,  als  die  beiden  Nymphen,  welche  sehr  verlängert  auf  beiden  Seiten  aus  den 
fast  unmerklich  vorhandenen,  sehr  verkleinerten  grossen  Schamlippen  herabhängen. 
Diese  von  aussen  braunen  und  von  innen  betrachtet  dunkelrothen  Nymphen  sind 
ungefähr  zwei  Zoll  lang  und  bedecken  den  Eingang  der  Scheide  und  Harnröhre. 
Man  kann  dieselben,  da  sie  abwärts  und  zunächst  dem  Mittelfleisch  nicht  anhängeUf 
ungefähr  wie  zwei  Ohren  über  der  Scham  in  die  Höhe  heben/ 

Nach  ihrem  Modell  im  Pariser  Museum  giebt  de  Quatrefages  die  folgen- 
den Maasse: 

Die  rechte  kleine  Scbamlippe  hat  55  mm,  die  linke  61  mm  Länge,  die  rechte  34  mm, 
die  linke  32  mm  Breite,  die  Dicke  des  Organs  bleibt  sich  überall  gleich  und  erreicht  15  mm. 

Wilhelm  Heinrich  Busch  bildet  die  Hottentotten -Schürze  als  natürliche 
Missbildung  der  Nymphen  ab. 

Den  naturphilosophischen  Speculationen  jener  Zeit  entspricht  ein  Ausspruch, 
den  Renard  gethan  hat: 

,Man  kann  die  sonderbare  Verlängerung  der  äusseren  Zeugungstheile  der  Afrikane- 
rinnen mit  der  gewisser  Blumen  des  nämlichen  Himmelsstrichs  vergleichen,  z.  B.  mit  den 
Geranien  (Pelargonium),  deren  obere  Blumenblätter  länger  als  die  unteren  sind,  vielleicht 
um  die  Geschlecbtstheile  zu  bedecken  und  gegen  die  allzu  brennende  Sonne  von  Afrika 
zu  schützen.  Linne  vergleicht  die  Blumenblätter  (Petala)  mit  den  Nymphen,  und  die  Ursache 
der  Verlängerung  der  einen  wie  der  anderen  kann  in  der  Hitze  des  Klimas  liegen.*  Wir 
brauchen  uns  hier  nicht  aufzuhalten. 

Aehnliche  Befunde,  wie  Cuvier  sie  uns  gab,  sind  auch  von  Reisenden  be- 
schrieben worden,  so  von  Barrow^  Damherger  u.  s.  w. 

Damberger  sagt: 

„Die  Schamlefzen  waren  etwa  3—4  Zoll  lang  und  formirten  über  der  Scham,  wo  sie 
über  einander  geschlungen  waren,  gleichsam  ein  Schloss,  welches,  wenn  es  gereizt  wird,  sich 
von  selbst  öffnet,  da  sich  dann  die  Schamlefzen  ausstrecken.  Herr  VatUant  macht  davon  eine 
übertriebene  Beschreibung,  sagt  sogar,  dass  diejenigen,  welche  ihre  Schamtheile  so  haben 
wollen,  Steine  oder  sonst  etwas  Schweres  in  ihre  Lefzen  hingen,  wodurch  sie  in  die  Länge 
gezogen  würden;  das  Unstatthafte  dieser  Behauptung  wird  Jeder  leicht  einsehen.*' 

Etwas  genauer  beschrieb  Barrotv  die  Schamtheile  der  Weiber  der  Busch- 
männer: 

„Die  bekannte  Geschichte,  dass  die  hottentot tischen  Frauenzimmer  ein  ungewöhn- 
liches Anhängsel  an  den  Tbeilen  haben,  die  das  Auge  selten  zu  sehen  bekommt,  ist  in  Ansehung 
der  Buschmänner  völlig  wahr.  Die  Horde,  die  wir  antrafen,  war  damit  versehen.  Bei  der 
Untersuchung  fanden  wir,  dass  es  in  einer  Verlängerung  der  inneren  Schamlippen  bestand, 
die  mehr  oder  weniger  gross  waren,  je  nachdem  die  Person  alt  oder  sonst  beschaffen  war." 
Mit  den  Jahren  sollen  nämlich  die  Nymphen  an  Länge  zunehmen.  Die  Länge  der  grOssten, 
welche  Barrow  maass,  betrug  5  Zoll.  Die  Farbe  der  so  verlängerten  Nymphen  soll  schmutzig 
blau,  in  das  Röthliche  sich  verlierend  sein  und  am  meisten  mit  der  des  Auswuchses  am 
Schnabel  eines  Truthahns  Aehnlichkeit  haben.  Während  aber  bei  Europäerinnen  die 
kleinen  Schamlefzen  sich  runzeln,  werden  sie  bei  den  Hottentottinnen  völlig  glatt 

Der  Zoologe  Lichtenstein  zu  Berlin  hielt  die  Hottentottenschürze  f&r 
kein  Kunstproduct;  sie  ist  nach  seiner  Angabe  in  der  Jugend  vor  der  Pubertäts- 
entwickelung und  bis  zum  20.  Jahre  im  Ganzen  wenig  ausgebildet  und  ninunt  im 
Älter  an  Ausdehnung  zu. 

Mehrere  Jahre  lang  hatte  sich  das  Buschweib  Afandy  in  Deutschland 
sehen  lassen,  und  als  sie  in  ihrem  30.  Lebensjahre  zu  Ulm  gestorben  war,  lieferte 
Luschka  über  ihre  Qeschlechtstheile  eine  genaue  anatomische  Beschreibung  mit 
Abbildungen.    Während   die  grossen  Schamlippen   ganz  ähnlich  wie  in  Cuvier^s 


S9.  Die  UottoiitotienechOrze. 


191 


und  Jaha$mes  Miiller^ü  Fällen  schwach  ausgebildet  waren,  so  dass  sie  die  Nymphen 
fast  in  ihrer  ganzen  Länge  blossliegen  Hessen,  wnrde  die  Schauispalte  fast  an^ 
ichliessUch  durch  die  kleinen  Labien  gebildet.  Letztere  hangen  als  zwei  weiche, 
lechmutzigrothe,  von  beiden  Seiten  abgeplattete  Lappen  schlaff  herunter  und  be- 
rühren sich  mit  ihren  zugekehrten  Flächen  so,  da^s  nur  im  Bereiche  der  unteren 
ptilnder  einiger  Abstand  existirt  Die  Lange  der  Nymphen,  von  ihrer  Basis  bis 
Bu  der  von  derselben  am  weitesten  entfernten  Stelle  gemessen^  belief  sich  auf 
}^/j  cm,  so  das»  sie  also  das  Maass  der  von  CHvier  und  MnUer  beschriebenen  Fülle 
licht  erreichten,  dagegen  die  gewohnliche  im  Maximum  nur  7  mm  betragende 
'T  "  ler  Nymphen  weit  übertrafen  f^ror/^-^).     Flower  und  Marie  obducirten  ein 

iuann -Mädchen,    welches    im    wahrscheinlichen  Alter    von    21    Jahren    im 
(Jahre  1864  in  London  an  Tuberculose  gestorben  war.     Auch  bei  diesem  Madchen 
^varcu  die  Labia  majora  nur  klein,  und  nur  deshalb  lag  die  ebenfalls  massig  ent- 
rickelte  Clitoris  weit  mehr  zu  Tage,  als  beim  europäischen  Weibe;    doch  war 
Bibe    mit   einem  wohl   ent^nckelten  Praeputium    versehen,    dessen  Seiten    sich 

rarts  in  die  Nymphen  fortsetzten*    Letztere  stellen  sich  als  grosse,  1 ,2  Zoll  lange, 

lehr  ausdehnbare  Lappen  von  dunkelrother,  fast  schwärzlicher  Farbe  dar.  Ferner 
Ihren  Flower  und  Murie  nach  Mittheilungen  eines  ara  Cap  wohnenden  Beobiichters 
über  die  äusseren  Genitalien  zweier  anderer 
lottentottinnen,  Mutter  und  Tochter, 
folgendes  an:  Bei  der  12 jährigen  Tochter 
'~  en  di<^  Glutaei  schon  mit  dem  bekannten 
l>kuge!igen  Fettkissen  bedeckt,  die  Nym- 
t>hen  hingen  in  aufrechter  Stellung  des 
Ichens  als  zwei  S^/j  Zoll  lange  Lappen 
|lb,  das  Hymen  war  nicht  intact.  Die 
nahm  ihre  ungemein  verlängerten 
ftuf,  legte  den  rechten  um  die  rechte 
5m te  Qber  das  Gesäss,  den  linken  ebonsOi 
ind  die  Enden  beider  berührten  sich  hinten 

d<?r  Mittellinie.      Es  wird  bei   dieser  Angabe  ein  gelinder  Zweifel  wohl  kaum 
interdrUckt  werden  künnen. 

Diese  abssonderliche  Bildung  der  Geschlechtatheile  bei  den  Busch weibern, 
»Ig.  128,  bietet  fUr  Blanchard  die  Veranlassung,  um  den  Letzteren  die  niederste 
Stufe  auf  der  Scala  der  menschlichen  Entwickelung  in  anatomischer  Beziehung 
inzuweisen.  Er  sieht  in  ihrer  Genitalbildung  eine  erhebliche  Thierähnlichkeit,  und 
Rwar  im  Speciellen  pithecoide,  affenartige  Zustände.  Er  citirt  Ciwier^  welcher 
lieh  Qhor  die  Steatopygie  der  Buschweiber  folgen dermaassen  äussert; 

«Ellea  oßretii  une  resseEnblaQce  fiuppante  avec  Celles  qui  survientieDt  aux  fentetlev  den 
rill«^  des  papions.  etc.,  et  qui  preaneiit,  a  certaiae«  ^poques  de  lotir  vie,  tin  uccroiit»»- 
ment  Traime^t  moDatrueux/  «Eappelons  tont  d'abonli  fährt  Blanchard  fort,  que  lo  tüblier 
■t  constitut^  par  üne  hjpertropbie  consid^able  des  petitoi  l^vres  et  du  prepuce  du  cHtoriii. 
Ell  mdme  tetapH  que  les  uyniphea  «e  d(!?eloppeiit  de  la  t^rte,  la  t&iUe  du  cliloritf  augmenie 
llJi-ID^me  dan«  da  notabb^s  proportion«,  maiB  le^  grandes  l^rres  et  le  mont  de  V^nus  subia^iont 
f^rettioa  v^ritable  et  sont  loin  de  presenter  an  dereloppemont  comparable  4  celui  qn^il» 
ntat  cbex  le«  teLamee  d'autres  race?.  11  en  resalte  que  le»  njmpbes  debordeat  de  beau- 
le«  graade^  It^vres  et  que  la  rima  pudendi,  c'o^t-ä-dlre  la  ligne  »uiiraDt  laqoelle  s^affroa- 
[C^  derniero«,  ti'exiite  plan;  oa  plut6t,  eile  se  traave  auonxialetneat  coadtitu^e  par  les 
l^re«.  On  ne  saurait  m^connaitre  Tanalogie  remarquable  qui  existe  oatre  cette  dls* 
de  la  raWe  cbex  le  chimpanze  femelle  et  la  confortnation  de  ees  m^mes  parties  che» 
DOie  boBchimaae.* 
In  der  Berliner  anthropologischen  Gesellsehait  besprach  Walde^er  das 
*riparat  Ton  den  Geschlechtstheilen  eines  Koron na* Weibes.  Die  im  südöstlichen 
Lfrika  wohnenden  Koronna  sind  Betschuanen  (Hottentotten),  welche  nach 
friUch  mit  sehr  viel  Buschmanns -Blut  gemischt  sein  sollen. 


Flg.  l'i^.    Uotieatoiteiucliarfe  tuaeli  BinnckarH), 


C-.-.-?:       L-^^r--^.    .    *»::=. 


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K    '   ^/  .'•;-■  •'4'. ;   ;:  .  v«: '. ',;.'.  ';.>:.  <  A '.'... :  -  •  i'  .  -ir-r  Ij  ./:..:-*    :  -r  ?  i  r .  *  r  : 

'.'•      A  :..•.':.■      'in:...'.     %.■■        '\h**      «r.r.«r     'S*:  ."4  .'•..;('!:      Vr.-.4r.i'rrr:r.  ^'      ir'     X^ziTl-r"      ir 

J '...*/*■'.      /.',  .-.M.  ':.«:  M/S/:'/..;,    .'.'j  l  fhs'ru  r.i'Kr  *:*T«'Ä  —  Irj-:    :  ..-ei  lirrlir.n^r- 

';;i'-  4. 'f.  .;  /«-.'f.;!.  .-.y»<-f.  Z'/;.*-r.  'J''r;(l«:*' r.«:?.-  \'hTUA'\'*:.'^^.:.  T/.rkonünr!:.  wie  £r:; » 
v«'r»:iM,^r»,  K;iM«.  fl#-r  *.«•  .r.  I  r  ;i  r.  k  r<:ir h  /ji'.ht  f^-it^n  •rlr.-.'-itig  vorfand.  Er  meint. 
t\'A«  t\ii<  h;i»ifi;/«:  \' *tf\^*iU\u»t:u  \iu  Ori^jfit  dort  die  Verania.<:8untr  gegeben  habe,  eine 
\\tU'A\fut,\f  tU'.r  Nyrfip)jf-ri  f'ir  riOth«'«fridig  X'j  halt^rn  und  hiermit  die  CimuncinoB 
«•iri/ijfrjJir«-ri 


S9,  Die  Hotietitotten£chiirse. 


193 


Nsißh    SffJler^s   Angaben    sollet!    auch  die  KatotscbadaUnnen   lange  und 
ien  fle  Nvmphen    besitzen,   ganz  ähnlich,    wie  wir  sie  bei  den  Hotten* 

totti  Jvonnen  gelernt  haben.     Er  sagt  von  ihnen: 

«Auftser    diesen    haben    einige    und    zwar    die   mebreien  sehr  grosse  Nymphen«   welche 
aaserhalb  der  Scham  auf  einen  Zoü  hervorragen  und  wie  Marteogla£  oder  Pergament  durüh- 
rhiig  sind.     Die  Itälmenon  nennen  diese  ausserordenUichen  Nymphen  «^yraetan  und  lachen 
L selbst  einander  damit  aus/* 

Ich  habe  diese  Angelegenheit  sehr  ausfiübrlicb  besprochen,  weil  es  von 
rosser  Tragweite  ist,  eine  Lösung  der  Frage  zu  erzielen,  ob  hier  eine  ethno- 
^gische  Eigenthümlichkeit  oder  eine  ,, Körperplastik*  vor  uns  liegt.  Ihitfunfttn 
chreibt  in  dieser  Beziehung: 

»Die  Hottentettenschflr^e  braucht  man  nicht  bloss 
Sad «Afrika  tu  suchen^  man  findet  sie  durch  den  ganzen 
'  ,  sogar  ia  Europa  noch  häu6g  genug!  Jeder 
nolog  würde  erstaunen,  wenn  ich  ihm  ein  Gliu 
L»geuannter  Hotte ntottenschOrzen,  aus  dem  Prä- 
le  der  Haupt-  und  WolUtadt  Berlin  stammend,  fein 
berlich  in  Alkohol  aufbewahrt,  vorweisen  würde*  Facta 
utar!  Nach  unserer  eigenen  geburUhülf liehen  Be- 
lung  können  wir  allerdings  bestätigen»  dass  ähnliche 
Dgen  bei  unseren  deutschen  Frauen  nicht  so  selten 
wie  man  wohl  froher  meinte.  Allein  für  die  Etbno* 
^e  handelt  es  »ich  doch  nur  darum ^  festKOstelten,  erstens, 
irelche  durchschnittlichen  Gr&ssenTerh&Unisse  die  bo- 
effenden  Theile  hier  wie  dort  zeigen;  zweitens,  welche  Mi* 
itma  und  Maxima  hier  wie  dort  vorkommen.  Für  jeUt 
Hangelt  e«  noch  an  genügendem  Material/^ 

Waldfitjct  wirft    die  Krage  auf,   ob  wir  in  der 

ktentuttenschnrze     ein     Rassenmerkmal     oder 

ituell  eine  Theromorphie,  eine  thierische  Bildung 

erkennen  haben.     Und  er  citirt  mehrere  Autoren, 

zufolge  die  Hypertrophie  der  Nymphen  in  ihren 

Igen  beim   neugeborenen   Kinde   bereites  deutlich 

scbeidbar    sein    »oll.      y'rolik  z.  B.    schreibt    an 

etnmin : 

,Ki  oe  (|tie  parait  plus  curieux  encore,  dans  Penfaut 

M  »e   trouve  dejii  la    premiere  dbouche  de  ce  pro« 

comme  predisposilion  inn^e/ 
iöe  sehr  bedenkliche  Erschütterung  erhält  diese 
Ansicht    von    der    ethnographischen    Bedeutung    der 

Hottentotten  schürze  durch  eine  Erklärung  des  rifp,  im  uoizgeschnitxt«  Fittur  4h 
liasions- Superintendenten  Mercmkff,  welcher  viele  Knupueosen  (Sud-Afnji*). 
lahre  anter  den  Süd-Afrikanern  gelebt  und  ge* 
'  \t  hat  Er  äusserte  sich  in  der  Berliner  anthro* 
{ischen  GeselUrhaft  folgen d emiaasaen : 
t,Wiis  die  H  ottentotti^nscbtlrze  angeht,  so  geht  meine  Meinung  dahin,  da«9  sie 
itchl  natürlii*h  tsi,  sondern,  wo  sie  vorhanden  war«  künstlich  erzeugt  wurde«  Ich 
tu  dieser  Ansicht  durch  die  ßeobachtung  gefAhrt,  dass  die  Baautho  und  viele  andere 
^frikaniiche  StSlmme  eine  künstliche  Verlängerung  der  Labia  minora  zu  bewirken  wiesen. 
I^i«  dazu  nothwcndii^e  Manipulation  wird  von  den  älteren  Mädchen  an  den  kleineren  fast 
der  Geburt  an  g«-'Übt,  sobald  üie  mit  diesen  allein  sind,  wozu  gemeinsames  Sammeln  von 
lotz  oder  gern  ein  i!amof<  Öucht«n  von  FeldfrÜehten  fast  t&glieh  Anlass  giebt.  Die  Theile  werden 
tpater  r>rui]ich  auf  Hölzchen  gewickelt.'* 

In   der   Debatte    zu    dem    ir^Wf-^rr' sehen   Vortrage    erinnerte  ich  an   den 
^tiiten    Ausspruch  JUcrcnsiys    und    hob  hervor,  dass  hierdurch  auch  die 
fir   beschriebene    Form    der   Hottentottenschürze    ihre    Erklärung 
Harte  lt.  Da«  Wdb.   «,  Aafl.    1.  18 


UifitePinMicht,  die  Uottentoiton- 


4m  W9tbM  ta 


iet  aherm  HktSi  im  kloDoi  SAmaSipf^  im  loäitat  ▼«rnünerl 
m  jß  geswie.  iet  htk  Aan  MiBMiihlinnfn  wm   Woifcegtec 
jdMit  md  dalMT  sodi  snt  mgiifcgjili  ii  griduit  zq  werde» 
Ai^BlkW  ünaittcii  iiiid  mir  kttnfich  «nch  toq  d«  BttT^enda  ans  dtm 
Tra&aTaal  luliligt  worden.  JL 

\^m  Mmcnra  de»  Berltoer  lÜeetooeiimiaes  beeäii  esne  m  Hob  gearbeitete  ^| 
▼an   ojibelauititer  Beetimmoofr«  weiebe  die  Kaopfieosen   im   o5rd-  ^ 

'raosTaal  gefertigt  babes.     Hier  and  die  T9gr6sBertefi  toaereii  Bcbam- 

fippea  m  iBTeifcenJibarer  Wdae  zur  Etestdhuig  gelmiclii  worden  (Fig  129).    Dieee 


iTM  dem  V  (II  Mis  I  tnr   U'^?  rächte  Figur  war 

ikm  Ihr  en  t   A^r  Ii  i  gehalt^  luf  seine  Angaben 

halte    ich    sie    früher  aucli  .^ci  bezeichnet.     Nacli  neuen  Nachrichten,  die  idt 

M*t 


_^«l,f 


Kurd*Tran»Taal   eingezogen    habe,    ist   sie   aber  ron  den   untemii 
Baraenda    lebenden    Knopueusen    gefertigt      Auch    bei*  der    \ 
Senegal   erreichen     ' 
Ul  das   eine   Ri<<**>  ^*! 

fragt   der   anof  ( Armtj  sn^gtonj,     JedenlatU   taut  dieser 


40.  Die  angeborene  Yergröseerang  der  Glitona»! 


19S 


Das8  auch  bei  den  Sddsee- Insulanerinnen  ähnliche  Verhältnisse  vor- 
fcoramen  mnssen,  clas  können  wir  ans  holzgeschnitzten  Figuren  schliesaen,  wie 
bie  die  Neu- Hritaunier  verfertigen*  Fig.  130  zeigt,  eine  solche  Figur,  welche 
loh  in  dem  Museum  fiVr  Völkerkunde  in  Berlin  befindet.  Die  Vulva  ist  weit- 
klaffend dargestellt  und  aus  derselben  ragen  die  stark  vergröaserten  Nymphen 
heraus ;  die  letzteren  erscheinen  mit  ihren  freien  Itändern  fest  an  einander  gelegt, 
wodurch  das  absonderliche  Ansehen  bedingt  ist,  welches  dieser  Theil  der  Fi_'  r 
jdarbietet  Die  gany.e  Ausführung  ist,  wie  man  sieht,  eine  ganz  ausser ordentlih 
ohe^  aber  in  Bezug  auf  die  Körpertheile,  welche  ftlr  die  Frau  charakteristisch 
eine  sehr  naturalistische.  Die  Figur  ist  mit  einer  kreideartigen  Masse  von 
bis  unten  weiss  übertüncht. 

Üebrigens  muss  ich  mich  hier  voUstandig  dem  Ausspruche  Ilartmamis  an- 
cbliessen,  dass  die    Hottentottenschlirze    auch  bei  uns  in    Deutschland  gar 
(licht  so  übermässig  selten  von  den  Aerzten  angetroffen  wird.     Aber  ich  kann  es 
icht   verschweigen,    dass    diejenigen  Fälle,    welche   ich  selber  zu  sehen  Gelegen- 
heit  hatte,    ausschliesslich    bei   solchen  Damen  vorgekommen  sind^    wo  der  aller- 
^ründetste  Verdacht  vorlag,  dass  sie  masturba torische  Reizungen  auf  diese  T heile 
hatten   einwirken    lassen.     Ich   äusserte   mich   in    diesem  Sinne   auch   gegen   den 
Berliner  Gynäkologen  Karl  Schröder,  der  mir  erwiderte,  dass  er  die  Sache  genau 
ßbeuso    auffasse,    und    dass   ihm  in  einer  grossen  Reihe  von  Fällen,   wo  die  vor* 
egenden  Krankheits- Verhältnisse  ein  Inquisitorium  in  dieser  Richtung  erforderten, 
imer   und    übereinstimmend    die   frühere  Masturbation   zugestanden  worden    sei. 
11  einem  solchen  Falle,  den  ich  sah,  war  bei  einer  Dame  in  den  dreissiger  Jahren 
Jie    linkp  Nymphe   stark    verlängert    und  aus   der  Rima   pudendi    hervorhängend, 
rührend  die  rechte  Nymphe  last  noch  normale  Verhältnisse  erkennen  liess.    Nach 
Ikngeffihr  Jahresfrist    Hess    sich    auch    bereits   an   der  rechten  kleinen  Schamlippe 
"ae   erhebliche  Vergrösserung,  annähernd  um    das  Dreifache  ihrer  trüberen  Ans- 
iehnung,    erkennen.     Dass   es   sich  hier  nicht  um  angeborene  Zustände  oder  gar 
Rasseneigenthümlichkeiten   gehandelt  hat,    das  wird  wohl  Niemand  bestreiten 
rollen. 


40.  Die  angeborene  VergrSssening  der  Clltoris. 

Eb  wurde  von  einigen  Anatomen  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  die  Clitoris 
den  südlichen  Ländern  grosser  sei,  als  in  der  gemässigten  Zone,  und  dass 
aentljeh  im  kalten  Norden  die  Weiber  eine  nur  kleine  Clitoris  beeäseen.  Vid 
lenaoes  über  diesen  Gegenstand  kann  man  leider  noch  nicht  angeben;  aber  waa 
etspielsweise  Ihjades  und  Deniher  von  den  Feuerländerinnen  berichteten, 
Dheint  für  diese  Behauptung  zu  sprechen.  Denn  sie  fanden  bei  ihren  15  Weibern 
ie  Clitoris  »toujours  tres-rudiraentaire**.  AndererseiLs  fand  Mungo  Park  bei  den 
landingos  und  bei  den  Ibbos  in  Nord-Afrika  stets  eine  Verlängerung  der 
litorij«,  und  nach  Jacobs  ist  diese  Eigenthilmlichkeit  auch  bei  den  Weibern  auf 
lali  sehr  häufig. 

An   einer   im  Breslau  er  Krankenhause  verstorbenen  und  von  Morgenstern 
bducirten  Negerin  beschreibt  Otto  folgende  eigenthümliche  Bildung: 

K«  hüogt  vor  der  Scbaniepalte   eio  Fleischlappen  wie  eine  Klappe  herab;  die  grouten 
chÄmlippen    Iteten    nicbU  Besonderes    in    ihrer  Erscheinung,    nur    du»  sie  in  ihrem  oberen 
etwaa  weit  aus  einuDder  sleheu ;  die  Nymphen  sind  vielfach  eingekerbt  und  «trecken 
hich  dem  After  eo.     Der  Fleiechhippen  besasa  eine  Lfljige  von  4  Zoll,  wnr  Vj^  Zoll 
ii  and  hing  an  einem  V2  Zoll  langen  Stiele. 

Jakannes  Müller   hatte  wohl  sicher  Becht,    dass  er  dieses  Gebilde  für  f  itie 
pertrophirte  Clitoris  erklärte. 

Bruce  rofi  Kinnaird   berichtet  von  den  Genitalien  der  Äbyssiniermut^u . 

«»Dorjenig«  Thdil,  den  die  Nator  wegen  seiner  aua^eiordentlichen  Empfindlichkeit  voU- 

^iiii]»0ii  bedockt  hat  (e«  itt  hiermit  nutQrlicher  Weise  die  Clitoris  gemeint)«  »teht  in  diesem 

13* 


-•j%   kliWHT^n.   t»txi 


W*f:, 


*^:«  -i  -SIS»;! 


ix*:,  "si   fci-i^-r  7- ••«jx*tIisix*:SE-  Tff'uvTtWT    «:s»2aaL  sack  A«-  Zvcck. 
-r'.Ti  Ü*  Ebt  •^iu^Kizs  TirisE-  rzzi  Tb=£  Twr^Hiärs  wirf." 

k--f  *:::*  Erkläjnng  de»  zrndr  bei  dir^s^  Vclkam  keimi&chen 
G*<>r«:x:h*  c^r  blatigen  Bes-scdon  Mer  Exd^oc  der  Clitoris 
i'iLT^x:^  lyjch  f^n  (>>rr  djg«^-=ci  ac  dadi»  die  Beschneidang 
d^  M^cL«:  ir.  Kamtschatka,  v:*  di?  kleinen  S^umlqipeQ 
;*  a-icL  TcrzrOssiert  «ind.  s->«ie  in  S*d-Afrik».  wo  iis  Gleiche 
<^xz  Lat.  Licht  grbri-;chiicr:  ist.  Er  vä-wechseli  hier  oSenbftr 
d:*r  EicLsio::  d^r  Cütori?  mit  drr  Beschneii'iirg  der  XTinplien, 
zwei  Op^ration<cn.  die  von  eiracder  gecrw.r.t  werden  mäsKn. 
Die  Cütoris  der  JTmges:  Wol-i-ffis  soll  «ehr  stark  eotwickdt 
veiz;  TiLd  i^ch  Erreichxmg  de«  mAzmb«ren  Alters  noch  erheblich 
ar:  Gr<y=öe  ZTHLehmen  fAj^my  .?»#/77-fvH /. 

D&ffs  dec  Afrika  Lere  selbst  diese  iiire  kC^rp^ichen  Eigen- 
thüznlicLkeirec  sehr  w:hl  r:im  Bewnstsein  gekomm«!  sind,  das 
vermöge::  wir  aas  gew-issen  Producten  ihrer  KTisscfertigkeit. 
wie  z.  B.  Fig.  12C-»  zeigt,  zu  ersehem  So  bildet  auch  Sdirtreifi- 
T'0rth'  eine  aTi*  Holz  geschnitzte  weibliche  Figur  der  Bongo 
ao  Fig.  181  .  welche  zur  Erinnenmg  an  eine  verstorbene  Frau 
gefertigt  wrirde.  Man  erkennt  an  ihr  mit  groaser  Deutlich- 
keit die  vergrö-i^erte  Clitoris. 

Wir  dürfen  hierbei  aber  nicht  ausser  Acht  lassen,  das»  die 
Clitori-Jj  wenigsten^  in  Europa  auch  bei  den  Weibern  desselben 
Volke;?  r.icht  immer  di^  gleiche  Grosse  hat.  Es  finden  sich 
Tinter  einer  trrösierec  Anzahl  weiblicher  Wesen  immer  rer- 
einzelte.  die  sich  durch  eine  besonders  grosse  Clitoris  aus- 
zei.-fanen.  Wo  solche  Individuen  mit  anderen  weiblichen  Per- 
sonen in  engerem  Zusammensein  leben,  kommt  es  dann  bis- 
weilen zu  geschlechtlichen  Verirrungen,  auf  die  ich  aber  jetzt 
reicht  näher  eingehen  will.  Pamit  -  Dnchatdet  hat,  wie 
LomhroHO  l>erichtet.  unter  30«X»  Prostituirten  nur  3  mal  eine 
Gbenna><)ige  Entwickelung  der  Clitoris  gesehen :  er  selber  konnte  ö  Fälle  beobachten, 
während  iücrardi  in  6.6",,  seiner  Untersuchten  und  Gurrieri  sogar  in  13*  o  ^i^ 
f'UUjna  hypertrophisch  fand. 


tV.U    '.'.t'-*  'tf./u rtk  -, . 


41.  Ilie  kQnstliche  V^-rgrossemng  der  Sehamlippen  und  der  Clitoris. 

In  den  vorhergehenden  Abschnitten  ist  in  ausführlicher  Weise  von  den  Ver- 
growierungen  der  kleinen  Schamlippen  und  der  Clitoris  die  Rede  gewesen  und  es 
wurde  dajteibst  bereit ••  angedeutet,  dass  die  VergrOsserungen  der  Ersteren  nicht 
naturgeniähMr.  zufallig  auftretende,  sondern  mindestens  in  einer  Reihe  von  Fallen 
ab^iichtliche,  durch  besondere  Manipulationen  hervorgerufene  sind.  Die  Beweg- 
gründe für  diese  ab^tonderliclien  Vornahmen  mögen  nun  aber  nicht  allemal  die 
gleichen  .sein.  In  den  benprr>chenen  Fällen  handelt  es  sich  zugestandenermaassen 
uni  die  onanistiHche  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes,  und  ob  wir  bei  den 
Ilantirung^n  der  grö<)Heren  Ba?(utho- Mädchen  den  kleinen  gegenüber  nur  eine 
uni^:huldige  Spielerei  erkennen  sollen,  das  erscheint  doch  als  in  hohem  Maasse 
fraglich.  Wahrscheinlich  int  auch  hier  eine  Veriming  des  Geschlechtstriebes  die 
Ursache,  welche  in  der  Onanisirung  einer  anderen  seine  Befriedigung  erstrebt. 
Allerdings  lässt  es  sich  nicht  leugnen,  dass  in  anderen  Fällen  vielleicht  nur  eine 
Verschönerung  in  dieser  absrmderlichen  Weise  erzeugt  werden  sollte.  Und  gans 
gewiss  werden  manche  dieser  Dinge  vorgenommen,  um  eine  Steigerung  der 
schlechtlichen  Befriedigung  bei  dem  Coitus  hervorzurufen. 


42.  Die  absichtliche  ■  Zerstörung  des  Jungfernhäutchens.  197 

Schon  Lc  Vaülant  hatte  behauptet,  dass  die  Hottentottinnen  und  die 
Namaqua-Frauen  (nicht  alle,  sondern  nur  einzelne)  aus  Eitelkeit  die  grossen 
Schamlippen  verlängern,  indem  sie  zuerst  durch  Zerren  und  Reiben  diese  Theile 
ausdehnen,  dann  aber  auch  durch  Anhängen  von  Gewichten  die  Länge  derselben 
mehr  und  mehr  steigern. 

Auch  in  Dahome  (Adams)  und  in  Uganda  treffen  wir  auf  den  Gebrauch, 
die  Schamlippen  künstlich  zu  verlängern.  Die  Weiber  in  Wahia  am  Nyassa- 
See  sollen  es  verstehen,  den  Kitzler  bis  auf  die  Länge  eines  Fingers  auszudehnen. 

Diese  Unsitten  sind  nicht  auf  Afrika  beschränkt.  Es  wird  auch  von  den 
Mandan-Indianerinnen  in  Nord-Amerika  berichtet,  dass  sie  ihre  Geschlechts- 
theile  deformiren,  und  unter  den  Menitarie-  und  Krähen-Indianerinnen  ist 
die  künstliche  Verlängerung  der  grossen  und  der  kleinen  Schamlippen  ebenfalls 
gebräuchlich  (t\  Wied). 

Von  Ponape,  einer  Insel  der  östlichen  Carolinen,  berichtet  Finsch  die 
folgende  Thatsache: 

„Als  besonderer  Reiz  eines  Mädchens  oder  einer  Frau  gelten  besonders  verlängerte, 
herabhängende  Labia  interna.  Zu  diesem  Behufe  werden  impotente  Greise  angestellt,  welche 
darch  Ziehen  und  Zupfen  bei  Mädchen,  noch  wenn  dieselben  kleine  Kinder  sind,  diesen 
Schmuck  künstlich  hervorzubringen  bemüht  sind,  und  damit  zu  gewissen  Zeiten  bis  zur  heran- 
nahenden Pubertät  fortfahren.  Zu  gleicher  Zeit  ist  es  ebenso  die  Aufgabe  dieser  Impotenten, 
der  Clitoris  eine  mehr  als  natürliche  Entwickelung  zu  verleihen,  weshalb  dieser  Theil  nicht 
allein  anhaltend  gerieben,  sowie  mit  der  Zunge  beleckt,  sondern  auch  durch  den  Stich  einer 
grossen  Ameise  gereizt  wird,  der  einen  kurzen,'  prickelnden  Reiz  verursacht.  Im  Einklänge 
hiermit  stehen  die  Extravaganzen  im  Genuss  des  Geschlechtstriebes.  Die  Männer  bedienen 
sich  zur  grösseren  Aufreizung  der  Frauen  nicht  allein  der  Zunge,  sondern  auch  der  Zähne, 
mit  welchen  sie  die  verlängerten  Schamlippen  fassen,  um  sie  länger  zu  zerren.*' 

Auf  der  Insel  Sonsol  im  Carolinen -Archipel  bestätigt  Kuhary  die 
gleiche  Gewohnheit.  Er  fand  die  kleinen  Schamlippen  bei  älteren  Frauen  „lang 
ausgezogen,  die  Sitte  des  künstlichen  Verlängerns  durch  Saugen  andeutend,  eine 
Sitte,  die,  so  viel  mir  bekannt,  auf  den  sämmtlichen  bis  heut  von  mir  besuchten 
Inseln  der  Südsee  existirt." 


42.  Die  absichtliehe  Zerstörung  des  Jungfernhäutchens. 

Sind  schon  die  im  vorigen  Abschnitt  besprochenen  Vornahmen  für  unsere 
BegrifiFe  recht  absonderliche  und  unappetitliche,  so  begegnen  wir  doch  auch  noch 
einer  anderen  Art  der  Deformirung  an  den  Geschlechtstheilen,  welche  fiir  unser 
ethisches  Empfinden  erst  recht  unbegreiflich  erscheint;  das  ist  die  absichtliche 
Zerstörung  des  Jungfernhäutchens.  Wir  treffen  diese  bei  verschiedenen  Völkern, 
und  zwar  auch  bei  solchen  mit  einer  relativ  hohen  Cultur.  Während  sonst  bei 
den  meisten  Nationen  und  zwar  ganz  besonders  bei  den  orientalischen  dem  Hymen, 
als  dem  äusseren  Zeichen  der  Jungfräulichkeit,  ein  ganz  besonders  hoher  Werth 
beigelegt  wird,  pflegt  es  vielfach  in  Indien  und  durchgehends  in  China  schon 
in   frühester  Jugend  bei  den   kleinen  Mädchen  vollständig  vernichtet   zu   werden. 

So  kommt  es,  dass  die  Chinesen  und  selbst  die  Aerzte  unter  ihnen 
gar  nichts  von  der  Existenz  des  Hymen  wissen.  Die  Kinderwärterinnen  der 
Chinesen  betreiben  nämlich,  vfie  Hureau  de  Villeneuve  erz^akAi,  beiden  täglichen 
Waschmigen  der  kleinen  Kinder  die  Reinigung  der  Geschlechtstheile  derselben 
und  die  Beseitigung  des  sich  in  den  Genitalien  bei  dem  heissen  Klima  stark 
ansammelnden  Schleimes  so  scrupulös,  dass  sie  stets  den  reinigenden  Finger  in 
die  Scheide  des  kleinen  Mädchens  einführen.  Hierbei  erleidet  das  Häutchen,  das 
Tor  dem  SeheideneiDgaDg  ausgespannt  ist,  eine  wiederholte  Ausdehnung  nach 
ümen  und  yenchwindet  lom  grSssten  TheiL 

^Vd  «bwm  in  China  gäoreoen  halberwachsenen  Mädchen   europäischer 


198  ^*  1^10  ftoBseren  Sexoalorgane  des  Weibes  in  ethnograpluaclier  Hinsicht. 

Abkunft  konnte  ich   bei  einer  zufälligen  Untersuchung  ebenfalls  keine  Spur  des 
Jungfernhäutchens  entdecken. 

Derselbe  Gebrauch  herrscht  auch  in  Indien,  selbst  unter  den  dort  wohnen- 
den Engländern  und  Holländern,  welche  einheimische  Ammen  annehmen. 
IJeberhaupt  wird  dort  die  Reinigung  der  Sexualtheile  sehr  energisch  durchgef&hri 

Epp  sagt:  ,£ine  löbliche  Eigenschaft  des  weiblichen  Geschlechts  ist  die  Reinlichkeit 
der  Genitalien,  und  es  hat  in  dieser  Beziehung  einen  grossen  Vorzog  Yor  dem  in  Earopa, 
bei  welchem  Sorglosigkeit  oder  flbergrosse  Schamhafbigkeit  die  Geschlechtstheile  zn  einer 
mephitischen  Cloake  machen.  Hier  folgt  nach  jeder  natfirlichen  Befriedigung  Abwaachong 
mit  Wasser.* 

Nach  unseren  hausbackenen  Begriffen  sind  hier  aber  die  hygienischen  Maass- 
regeln doch  ein  wenig  zu  weit  getrieben. 

Aehnliches  findet  sich  im  alfurischen  Archipel  auf  der  Insel  A'mbon  und 
auf  den  Uliase-Inseln.  Sehr  wahrscheinlich  ist  auch  hier  der  Reinlichkeitssinn 
der  bestimmende  Factor. 

Auch  bei  den  Machacuras-Indianern  in  Brasilien  soll  es  Jungfrauen 
in  unserem  Sinne  nicht  geben;  denn  auch  hier  zerstört  die  Mutter  schon  den 
kleinen  Kindern  das  Jungfernhäutchen.    Es  heisst  hierüber  in  v.  Fddner's  Bericht: 

«Nnlla  inter  illas  invenitor  virgo,  qnia  mater  inde  a  tenera  aetate  filiae  maxima  com 
cnra  omnem  iraginae  constrictionem  ingredimentnmque  amovere  stndet,  hoc  qoidem  modo: 
manni  dextrae  impooltar  folium  arboris  in  infdndibnli  formam  redactum,  et  dam  index,  in 
partes  genitales  immissus  huc  et  illud  movetnr,  per  infundibnlnm  aqua  tepida  immittitor.* 

Wahrscheinlich  sollen  diese  Manipulationen  weniger  den  Zwecken  der 
Reinigung  dienen,  als  vielmehr  das  junge  Wesen  für  die  späteren  Geschlechts- 
funktionen vorbereiten. 

Ein  absonderlicher  Brauch  herrscht  in  Paraguay:  Wenn  die  Hebamme  ein 
Kind  männlichen  Geschlechts  empfangt,  so  zieht  sie  mit  ihren  Händen  sehr  stark 
den  Penis  lang;  bei  den  dortigen  Einwohnern  soll  überhaupt  das  männliche 
Glied  sehr  lang  sein;  wenn  das  Kind  jedoch  weiblichen  Geschlechts  ist,  so  bohrt 
sie  mit  ihrem  Finger  in  die  Vagina,  indem  sie  sagt:  «Dies  ist  eine  Frau.*  So  giebt 
es  in  Paraguay  keine  Jungfrau,  da  das  Hymen  meist  zerstört  ist.  (Mantegcusaa^s 
schriftliche  Mittheilung.) 

Durch  eine  auf  mehreren  Inseln  des  alfurischen  Archipels  herrschende 
Unsitte,  welche  Riedel^  berichtet,  wird  selbstverständlich  ebenfalls  das  Jungfern- 
häutchen vernichtet.  Dieselbe  besteht  darin,  dass  man  den  Mädchen  während  der 
Menstruation  Tampons  von  weichgeklopftem  Baumbast  in  die  Scheide  hineinsteckt, 
damit  diese  das  Menstrualsecret  aufsaugen  sollen. 

Wenn  man  dieses  noch  als  eine  halb  unbewusste  Zerstörung  des  Jungfern- 
häutchens auffassen  könnte,  so  begegnen  wir  der  absichtlichen  Zerstörung  desselben 
ebenfalls  im  malayischen  Archipel  auf  den  Sawu-Inseln.  Hier  steckt  man 
dem  jungen  Mädchen  bei  der  ersten  Menstruation  ein  zusammengerolltes  Koli-Blatt 
in  die  Scheide,  das  in  dem  Bestreben,  sich  wieder  zu  entrollen,  wie  ein  Dilatator 
auf  die  Vaginalwand  einwirkt.  (Riedel^.)  Wie  schon  gesagt,  bezweckt  wahr- 
scheinlich die  Machacuras-Indianerin  etwas  Aehnliches. 

Von  den  Itälmenen  in  Kamtschatka  giebt  ähnlich  wie  Virey  auch 
Steiler  an,  dass  sie  gewohnt  sind,  zur  Zeit  der  Menstruation  sich  einen  Tampon 
von  einer  Grasart  in  die  Vagina  zu  stecken.  Derselbe  wird  mit  Hülfe  einer  be- 
sonderen Bandage  festgemacht.  Aber  nicht  hierdurch  geht  ihr  Jungfernhäutchen 
verloren,  sondern  sie  haben  es  schon  lange  vorher  eingebüsst.  Denn  da  es  bei 
ihnen  als  Schande  und  als  ein  Zeichen  schlechter  Erziehung  gilt,  wenn  sie  als 
reine  Jungfer  in  die  Ehe  treten,  so  erweitem  die  Mütter,  „damit  sie  dieser  SchmadbL 
vorbeugen  möchten,  in  der  zarten  Jugend  die  Scham  mit  den  Fingern,  «eiP* 
die  Obstacula  und  die  Jungfemschaft  und  lernten  ihnen  das  Hand« 
Jugend  auf.** 


48.  Die  Beschneid ung  der  Mildcbeu* 


199 


43.  Die  Beschueiilnti^  der  Mädefaen. 

Bei  eioer  Anzahl    von  Völkerschaften    besteht   der    absonderliche  Gebrauch, 

lUüh    hei    den  Mädchen   an   den  Geschlechtstheilen  eine  Art    von  Bescbneidung 

^Torztinehmen.     Man   hielt  dies  ursprönglieh  für  eine  speciell  afrikanische  Sitte, 

da   iin  Anfange   nur    aus  Afrika  Nachrichten    über    diesen  Gegenstand    zu    nns 

irangen.    Inzwischen  haben  wir  aber  erfahren,  dass  auch  in  Asien,  und  zwar  in 

Indonesien,  etwas  Derartiges  üblich  ist.     Eine  Uebertragung  des  Gebrauches  von 

Vineni  Volke  zu  dein  anderen  ist  hier  bei  ihrer  Rassenverschiedenheit  und  bei  der 

reiten  Entfernung  ihrer  Wohnsitze  als  vollkommen  ausgeschlossen  zu  betrachten. 

7ir  können  vielmehr  wieder  einmal  sehen,    dass  die  gleichen  absonderlichen  Ge- 

"  engänge  in  den  Gehirnen  weit  getrennter  und   ganz  verschiedener  Menschen- 

zur  Entwickeinng  zu  kommen  vermögen. 

Die  Beschneidung  der  Mädchen  wird  gewöhnlich  mit  dem  Namen  der 

Sxcision    bezeichnet.     Es   handelt  sich    dabei    um   eine    blutige    Abtragung    der 

^leinttn    Schamlippen    sowie   der   Clitoris    mit    ihrer  Vorhaut.      Die   Völker   aber, 

Irelche  diese  Unsitte  Üben,  führen  die  Operation  nicht  alle  in  ganz  gleicher  Weise 

Bei  einzelnen  Stammen   werden  alle  diese   genannten  Theile   fortgeschnitten, 

äderen  aber  wiederum  wird  nur  das  Eine  oder   das  Andere    entfernt      Man 

hi  den  Gebrauch  der  Madchenbeschneidung  in  Aegypten,  in  Nubien  (Kor- 

lofan).    in    Abyssinieu^    im    Sennaar    und    den    umliegenden 

adem,  in  Belad-Sudan,    bei    den  Gallas,  Agows,    Gaffats 

yd  Gongas,  sow^ie  bei  manchen  anderen  V'ölkem  Ost-Afrikas, 

iiith    in    der    kleinen    Oase   der    Libyschen   Wüste    soll    sie 

ibraufhiich  sein,  und  l»ei  den  Arabern  gilt  der  Zuruf:   ^0  Sohn 

^«tn beschnittenen  Fniul*  als  ein  Ausdruck  ganz  besonderer  Ver-   fi^^yjfg.  Ein«  ver* 

ung.  (Wilkan)      Eine    Abbildung    solcher  V^erschnittenen    aus         ftchnitwne 

lubien  bat  Fanvtrf  geliefert,     Dieselbe  ist  in  Fig.  132  wieder-      fjjb/wi/i. 

cebeo« 

Aber  nicht  nur  bei  den  mohammedanischen  Volkerschaften  in  Afrika,  sondern 
lach  im  Westen  dieses  Erdt heiles  bei  den  eigentlichen  N eger- Völkern  wird  diese 
le«chneidung  angetroffen,  so  bei  den  Susus,  in  liambuc,  bei  den  Mandingos, 
der  Gegend  von  Sierra- Leone,  in  Benin,  in  Congo  und  in  Acra  an  der 
hildköste,  bei  den  Peuhls,  bei  den  Negern  in  Old-Calabar  und  in  Luanda; 
m  Südoi<ten  bei  den  Massai-  und  Wakuasi -Stämmen;  im  Süden  bei  einigen 
J*^tiichuana- Völkern,  Dieselbe  Sitte  ist  auch  unter  den  Malayen  des  ost- 
lndischen  Archipels  gefunden.  Auch  von  den  Kamtscbadalen  wurde  sie  be- 
icbteif  und  merkwürdiger  Weise  hat  man  sie  schliesslich  auch  unter  den  In* 
lianern  in  Peru  (den  Chunchos  oder  Campas  und  den  Tuncas),  sowie  bei 
len  Fan  OS  und  bei  allen   Indianern  am  Ucay  al  e-Fluss  entdeckt. 

Es  wurde  oben  schon  erwähnt,  dass  wir  nicht  einem  bestimmten  Volke  die 
amprüngliche  Erlindung  dieses  Gebrauches  zuschreiben  dürfen.     Man  hat  das  mit 
Arabern  versucht  und  mohammedanisch-rituelle  Absichten  darin    erkennen 
rollen«      Aber    schon    Straho    spricht    von    der    Beschneidung    der    Mädchen    in 
rabien,  und  liacho/en  flihrt  einen  Papyrus  au,  der  diese  Sitte  auch  beiden 
A  e g y  p  t e r  n  bestätigt.    Im  fünfzehnten  der  britischen  Papyri  beiast  es 
lieh  nach  ßernardtrut  Vnjron: 

^Armai,    em    in    der  Clausar    de«    inemphi  tisc  ben   Serapeum    lobender  Aegypter, 

,1,.™  ^*  — *-c:!»ii  i>*onyinorf  folgende  Klii|r^»chnft  ©in:  Tntemi,  die  Tochter  der  Nefori  von 

iit  ihm  im  iSerupeum,  ujjd  habe  durch  ihre  Collecten  und  die  freiwillig^ü 

rmU  vtm  VeruiOgcn,  betragend  ein  T&leot  und  390  DraehmeD,  geiamtneU^ 

im  aur  Aufb^wühning  anvertraut  habe.     Darauf  eei  er  von  der  Mutter 

'011  worden:    sie  habe  ihm  vorgegeben,    die  Tochter  eteho  in 

jviitiac  her  Sitte  beschnitten  worden  mÜMe  intgttiftvia^aiji 

bgv  iXu  >  ^»folgen,    damit   Me   bei  der  Vornahme  jener    feierlichen 


200  ^-  1^0  äoBseren  Sexaalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

Handlung  die  Tochter  einkleiden  und  angemessen  dotiren  könne.  Sollte  sie  nicht  dazu  kommen, 
das  Vorhaben  zu  erfüllen  und  die  Tochter  Tatemi  im  Monat  Mechir  des  Jahres  XVni  zu  be- 
schneiden, so  werde  sie  ihm  die  Summe  von  2400  Drachmen  zurückerstatten.  Auf  diesen 
Vorschlag  sei  er  eingegangen  und  habe  der  Nefori  das  Talent  und  die  390  Drachmen  einge- 
händigt. Aber  die  Mutter  habe  von  Allem  Nichts  gehalten,  und  als  nun  die  Tochter  ihm 
Vorwürfe  gemacht  und  ihr  Geld  zurückverlangt,  sei  es  ihm  durch  wichtige  Geschäfte  unmüg- 
lieh  geworden,  sich  selbst  nach  Memphis  zu  begeben  und  dort  seine  Angelegenheit  zu  be- 
sorgen. Darum  gehe  seine  Bitte  dahin,  Nefori  möge  vor  Gericht  geladen  und  die  Sache  zum 
Gegenstand  richterlicher  Beurtheilung  gemacht  werden.* 

Diese  Stelle  beweist,  dass  die  Aegypter,  welche  die  Beschneidang  der 
Knaben  nur  bei  der  Priester-  und  Krieger-Kaste  übten,  das  weibliche  Geschlecht 
allgemein  der  Beschneidung  unterwarfen,  wobei  die  Tochter  ihre  Dotation  erhielt, 
so  dass  sie  gewissermaassen  in  den  Besitz  ihres  Heirathsgntes  gelangte.  Denn  da 
inAegypten,  wie  Herodot  bezeugt,  kein  Weib  irgend  ein  Priesterthum  versah, 
so  konnte  auch  die  Beschneidung  der  Mädchen  nicht  als  priesterlicher  Vorzug  wie 
bei  dem  männlichen  Geschlechte  gelten;  entweder  war  es  also  vielleicht  ein  Vor- 
recht der  im  Serapeum  erzogenen  Mädchen,  im  Pubertätsalter  beschnitten  zu 
werden,  oder  man  beschnitt  überhaupt  alle  Jungfrauen. 

XJebrigens  sprechen  auch  römische  Autoren  von  dieser  Sitte  der  Aegy pt er, 
denn  Paulus  von  Aegina^    welcher  im  7.  Jahrhundert  n.  Chr.  lebte,  sagt: 

sQuapropter  Aegyptiis  visum  est,  ut  antequam  ezuberet,  amputetur,  tunc  praecipue, 
quum  nubiles  virgines  sunt  elocandae.^ 

lieber  den  Zweck  dieser  Operationen  liegen  verschiedene  Meinungen  vor. 
So  äusserte  Brehm  gegen  Ploss  die  Ansicht,  dass  die  Beschneidung  vorgenommen 
werde,  um  den  ausserordentlich  lebhaften  Geschlechtstrieb  der  Frauen  bei  den 
afrikanischen  Volksstämmen  einzuschränken.  Andere  aber  hatten  die  Ansicht, 
dass  die  bedeutende  Vergrösserung,  welche  in  jenen  Ländern  die  Clitoris  und  die 
kleinen  Schamlippen  erreichen,  wie  ich  weiter  oben  auseinandergesetzt  habe,  als 
ein  grosser  Schönheitsfehler  angesehen  würde  und  dass  aus  diesem  Grunde  zu 
der  Abtragung  dieser  Theile  geschritten  wird. 

Es  wurde  schon  in  einem  früheren  Abschnitt  die  Angabe  von  Bruce  von 
Kinnaird  über  die  abnorme  Grösse  der  Clitoris  bei  den  Abyssinierinnen 
wiedergegeben,  welche  ein  Hinderniss  für  den  Zeugungsact  abgeben  sollte. 

,Weil  man  nun  in  den  Ländern,  wo  diese  Ausdehnung  und  Grösse  sehr  gemein  war, 
die  Volksmenge  von  jeher  als  ein  Hauptaugenmerk  aller  Staaten  angesehen  hat,  so  ist  man 
bemüht  gewesen,  diesem  Uebel  abzuhelfen  und  etwas  von  den  über  die  gewöhnlichen  Grenzen 
hervorragenden  Theilen  wegzuschneiden.  Daher  nehmen  alle  Aegypter,  Araber  und  die 
Nationen  in  den  südlichen  Gegenden  von  Afrika,  als  die  Abjssinier,  Gallas,  Agows, 
Gafats  und  Gongas  diese  Operation  mit  ihren  Kindern  vor:  es  ist  keine  gewisse  Zeit  dazu 
bestimmt,  doch  geschiebt  es  allezeit  ehe  sie  heyrathbar  werden.* 

Bruce  erzählt  dann  weiter,  dass  die  Missionare  bei  den  Nenbekehrten  die 
Beschneidung  untersagten,  weil  sie  die  Operation  fQr  eine  jüdische  Geremonie 
erklärten : 

,Als  die  Mädchen  aber  heranwuchsen  und  mannbar  wurden,  war  dieser  Theil  so  gross 
und  hervorragend,  dass  es  beleidigend  für  das  Auge  und  die  Berührung  war.  Die  Männer 
wurden  abgeschreckt,  und  die  Volksmenge  kam  in  Abnahme.  Die  Folge  davon  war,  dass  die 
Männer,  wenn  sie  sich  unter  den  katholischen  Cophten  eine  Frau  wählten,  sich  einer  Ge- 
wohnheit unterwerfen  mussten,  wofür  sie  einen  unüberwindlichen  Abscheu  hatten:  sie  hejra* 
theten  daher  lieber  eine  Ketzerin,  welche  die  Excision  erlitten  hatte  und  von  jener  Unannehm- 
lichkeit befreit  war,  und  daraus  entstand  die  Folge,  dass  sie  wieder  in  ihre  ehemalig«! 
ketzerischen  Irrthümer  zurückfielen.'  Auf  Vorstellung  der  Missionare  wurden  von  dem  Gollfr» 
gium  der  Cardinäle  de  Propaganda  fide  in  Rom  , geschickte  Wundärzte  abgesendet^  um 
einen  aufrichtigen  Bericht  von  der  Beschaffenheit  der  Sache  abzustatten.  Diese  erkUhrten  Imv 
ihrer  Zurückkunfb,  dass  entweder  die  Hitze,  das  Klima  oder  eine  andere  nat&riielM  ^^ 
eine  solche  Veränderung  in  der  Bildung  dieser  Theile  hervorbrächte,  daai  die  dottlg« 
von  denen  in  anderen  Ländern  gar  sehr  verschieden  wären,  data  dieea  TendkMdii 


44.  Das  Lebensalter  und  die  Ausführung  der  Madchenbeschneidung.  201 

Abscheu  yeranlasse  und  folglich  dem  Zwecke  der  Khe  hinderlich  wäre."  Jetzt  gab  die  Geist- 
lichkeit nach,  jedoch  mussten  die  Mütter  erkUlren,  dass  die  Operation  ^keineswegs  aus  jüdischen 
Absichten  geschehe'  und  es  wurde  bestimmt,  dass  das  Hinderniss  für  die  Ehe  ,,auf  alle  Wege 
aus  dem  Wege  zu  räumen  sey**.  Seit  der  Zeit  wird  die  Kxcision  sowohl  mit  den  Katholiken 
als  mit  den  Cophten  in  Aegypten  vorgenommen.  Es  geschieht  vermittelst  eines  Messers 
oder  Kasirmessers  durch  Weiber,  gemeiniglich  wenn  das  Mädchen  8  Jahre  alt  ist. 

Auch  die  Mandingo-Neger  betrachten  nach  Mungo  Park  die  Operation 
nicht  als  eine  religiöse  Ceremonie,  sondern  als  etwas  „Nützliches",  durch  das  die 
Ehen  fruchtbar  würden.  liussegger^  welcher  die  Sitte  im  südlichen  N  u  b  i  e  n 
fand,  sagt  darüber: 

.Diese  uralte  Gewohnheit  ist  meiner  Ansicht  nach  rein  eine  Erfindung  südlicher  Eifer- 
sucht, und  ihr  praktischer  Nutzen  liisst  sich  um  so  woniger  einsehen,  da  dor  Kei/  des  Beischlafs 
weiblicher  Seit<^  durch  diese  Operation  nothwendig  vermindert  und  dadurch  der  Zunahme  der 
I^vOlkerung  entgegengewirkt  wird.  Auch  die  scheinbar  nnthgedrungene  Enthalt^^amkeit  im 
Umgänge  mit  dem  anderen  (jeschlechto  vor  der  EIk;  wird  dadurch  keineswegs  allgemein  er- 
reicht, da  mir  mehrere  Fälle  bekannt  sind,  wo  Mädchen,  auf  diese  Art  prä])arirt,  die  Auf- 
schneidung an  sich  vornehmen  Hessen,  später  aber  dem  Acte  der  Aufschneidung,  nur  mit 
weniger  Umständen  verbunden,  neuerdings  sich  unterwarfen,  eine  neue  Vernarbung  herbei- 
führten, und  ohne  Anstand  als  jungfräuliche  Phönixe  ein  eheliches  liUndniss  eingingen/* 

Hier  wird  die  Beschneidung  der  Mädchen  mit  der  Verniihung  zusammen- 
geworfen. Mit  Letzterer  beschäftigen  wir  uns  später  noch;  sie  ist  allerdings  eine 
Erfindung  der  Eifersucht,  was  man  von  der  Beschneidung  an  sich  aber  nicht  sagen 
kann.  Und  nicht  überall,  wo  die  Excision  geübt  wird,  nimmt  man  auch  die  Ver- 
nähung vor;  diese  ist  viel  weniger  verbreitet  als  jene.  Aber  die  Volksstämme, 
welche  sie  ausfiihren,  scheinen  heute  selber  nicht  mehr  zu  wissen,  warum  sie 
dieses  eigentlich  thun. 

44.  Das  Lebensalter  und  die  Aiisfiilining  der  Mädehenbeselineidung. 

Die  Beschneidung  der  Mädchen  ist  bei  den  meisten  Völkern  mit  eigenthüm- 
lichen  Cerenionien  und  Festen  verbunden.  Das  Lebensalter,  in  welchem  sie  statt- 
findet, ist  meist  ein  sehr  jugendliches.  In  Arabien  wird  ihr  das  Mädclien  schon 
wenige  Wochen  nach  der  Geburt  unterworfen  (Xirhuhr):  bei  den  S<>mrili  mit 
3 — 4  Jahren  (Pmiiitschke);  im  südlichen  Aegypten  wird  sie  vor  der  Pubertät 
im  9.  oder  10.  Jahre  vorgenommen  {]\'rnir),  in  Nubien  im  zarten  Kindesalter 
(Rnsscgger);  bei  den  Mandingo- Negern  zur  Zeit  der  Mannbarktnt  i Mungo  l'aric); 
in  Ahyssinien,  bei  den  ü alias,  Agows  u.  s.  w.  gewöhnlich  wenn  das  Mädchen 
8  Jahre  alt  ist  {lirucc).  Nach  Angabe  von  Stcrhrr  fuhren  jetzt  die  Abyssinier 
die  Beschneidung  der  Mädchen  bereits  am  achtzigsten  Tage  nach  der  (.i«»l)urt  aus. 
In  Dongola  (Kordofan)  erfolgt  sie  um  das  8.  .Fahr  {liüpprU);  bei  den  Mat- 
kisses,  einem  Betschuanen- Volke  in  Süd-Afrika,  zur  Pul)ertätszeit  (Ürlc- 
gorgue);  ebenso  in  Old-Calabar  [Hnvan)\  bei  den  Malayen  des  ostindischen 
Archipels,  in  Java  u.  s.  w.  zur  Zeit  des  zweiten  Zahnens  iEpp}\  bei  den  Indianern 
in  Peru,  den  Ohunchos  oder  Camj)as,  an  Mädchen  von  \i)  .\i\\iven  iUrnndidirr). 
Bei  den  im  südöstlichen  Afrika  lebenden  Massai-  und  Wakuasi-Stäninien, 
welche  die  Söhne  im  3.  Jahre  beschneiden,  werden  die  Töchter  erst  kurz  nach 
ihrer  Verheirathung  beschnitten;  bei  den  Negern  zu  Loanda  8  Tage  vor  der 
Hochzeit  {DouviUe).  Die  Peuhls  im  Westen  Afrikas  beschneiden  die  Mädchen 
bald  nach  der  Geburt.  In  Persien  soll  bei  einigen  Nomadenstämmen  nach 
Chardin  die  Beschneidung  der  Mädchen  zur  Zeit  der  Mannbarkeit  üblich  sein: 
doch  konnte  Folak  trotz  aller  Nachfragen  Nichts  hierQber  constatiren. 

Eine  Beschreibung  der  Operation,  wie  sie  in  Aegypten  ansgef&hrt  wird, 
lieferte  Duhousset: 

.La  Cireoneiiioa  ^^»^  ^"'^  Amm  renUrement  du  clitorii,  et  se  pratique  do 

1a  Bumi^  raivaiita  lor  ^  ^  am.    L*op6nteiir,  qni  est  le  plus  Boavent 


202  V.  Die  ftusseren  Sexoalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

un  barbier,  se  sert  de  ses  doigts  tremp^s  dans  la  cendre  pour  saisir  le  clitoris,  qu*il  ^tire  ä 
plusieurs  reprises  d*arri^re  en  avant,  afin  de  trancher  d'on  seul  coup  de  rasoir,  lorsqu^il  prä- 
sente un  simple  filet  de  pean.  La  plaie  est  recouverte  de  cendre  pour  arrSter  le  sang,  et  se 
cicatrise  apr^s  nn  repos  complet  de  quelques  jours.  J*ai  vu  plus  tard,  de  Taveu  m§me  des 
Operateurs,  le  peu  de  soin  qu'on  apportait  ä  circoncire  les  filles  dans  les  limites  r^lig^euses 
de  Top^ration,  qu'on  pratique  plus  largement  en  saisissant  les  njmphes  &  la  hauteur  du  clitoiis, 
et  les  coupant  presque  ä  leur  naissance,  &  la  face  interne  des  grandes  levres,  dont  les  replis 
muqueux,  qui  nous  occupent,  sont  pour  ainsi  dire  la  doublure,  cachante  les  organes  repro- 
ducteurs;  ce  qui  reste  des  petites  levres  forme,  par  la  cicatrisation  des  parois  lisses,  s^indurant 
et  se  retrecissant,  nne  vulve  braute,  d'un  aspect  singulier  chez  les  Fellas  circondses.** 

Ecker^  erhielt  das  Präparat  der  betreflfenden  Theile  von  einer  Fellachen- 
Frau  von  Bülharz  zum  Geschenk.  An  diesem  Präparat  ist  von  der  Olans  clitoridis, 
dem  Praeputium  und  den  Labia  minora  nichts  zu  sehen;  alle  diese  Theile  sind 
vollständig  entfernt.  Ecker  injicirte  die  Corpora  cavernosa  von  ihrer  Wurzel  aus ; 
hierbei  zeigte  sich,  dass  sie  bis  zu  ihrer  Vereinigung  wegsam  waren;  von  da  an 
drang  die  Masse  nicht  mehr  weiter  vor  und  die  Körper  verloren  sich  in  einem 
narbigen  Gewebe.  Eine  Injection  der  bekanntlich  insbesondere  mit  dem  Gefass- 
System  der  Glans  clitoridis  zusammenhängenden  Bulbi  vestibuli  gelang  nicht.  ISa 
ist  also,  wie  Ecker  sagt,  wohl  anzunehmen,  dass  bei  dieser  Operation  die  Glans 
clitoridis  mit  ihrem  Praeputium  gefasst,  hervorgezogen  und  ziemlich  tief  abge- 
schnitten wird. 

In  Aegypten  und  Abyssinien  wird  nach  Ilartmann^  das  Praeputium 
clitoridis,  seltener  die  Clitoris  selbst  oder  ein  an  der  vorderen  Commissur  der  Labia 
majora  hervorwachsender  „Klunker"  abgetragen. 

Am  oberen  Niger,  bei  den  Malinke  und  Bambara,  herrscht  nach  GaUietii 
ebenfalls  der  Brauch  der  Mädchenbeschneidung.     Er  sagt  darüber: 

^Chez  les  Malink^s  et  les  Bambarres,  les  jeunes  filles  sont  generalement  ägees  de 
douze  ä  quinze  ans  au  moment  de  Top^ration,  qui  a  lieu  apres  Thivernage,  alors  qne  les  in- 
digänes  poss^dent  encore  Tabondant  provision  de  mil,  n^cessaire  pour  les  repas  plantureuz 
prepar^s  a  cette  occasion.  L*operation  est  faite  par  les  forgerons  pour  les  gar9ons,  par  les 
femmes  des  forgerons  pour  les  filles.  L'instrument  emploje  est  un  simple  couteau  en  fer  gros- 
sierement  aiguisä.  Les  patientes  ne  doivent  donner  aucun  signe  de  faiblesse  au  moment  de 
Texcision.  Comme  nous  nous  etonnions  souvent  de  voir  pratiquer  la  circoncision  vis-ä-vis 
des  jeunes  filles,  on  nous  röpondait,  que  celles-ci  restaient  ainsi  plus  fideles  k  leurs  maris; 
cependant,  les  femmes  indig^nes  ne  so  piquent  guäre  de  chastete.** 

„Les  familles,  dont  les  enfants  viennent  de  subir  Toperation  de  la  circoncision,  cel^brent 
cette  fete  par  des  danses  et  des  cbants,  accompagnes  de  repas  plus  copieux  que  d'habitude. 
Les  riches  tuent  des  cbevrop,  des  poulets,  quelques  fois  meme  un  boeuf ;  les  pauvres  ramassent 
deuz  ou  trois  chiens  dans  le  village  et  les  unisent  avec  le  riz  ou  le  couscous :  partout  on  con- 
fectionne  du  dolo  et  on  se  livre  ä  d'abondantes  libations.*' 

, Apres  Topüration,  les  circoncis  vetus  de  longues  robes  munies  de  capuchons  qui  leur 
recouvrent  lu  tote,  ne  repuraissent  dans  leurs  famillcs  que  lorsqu^ils  sont  enti^rement  gu^ris. 
Les  gar^ons  sont  scpar^s  des  filles.  .  .  .  Les  filles  portent  de  petites  calebasses  remplies  de 
menues  cailloux,  semblables  a  nos  jouets  d^enfant.  Au  matin,  de  bonne  heure,  tous  retoornent 
sous  leur  arbre.  Les  cicatrices  sont  longues  a  se  gu^rir,  car  ces  indig^nes  ne  possedent  rien 
pour  retenir  les  peaux  apres  Texcision;  il  faut  bien  compter  40  ä  oO  jours  pour  la  gu^rison. 
Le  retour  dans  les  familles  donne  lieu  a  des  longues  fötes.  Les  jeunes  gar9ons  ont  d^rmaiB 
le  droit  de  porter  des  armes  et  de  donner  leur  avis  dans  los  conseils;  les  jeunes  filles 
peuvent  se  marier. •* 

Bei  den  Woloffen  ist  die  Beschneidung  der  Mädchen  ein  grosses  Fest  für  das 
ganze  Dorf,  und  alles  begiebt  sich  auf  das  Zeichen  der  Trommel  in  den  betten 
Kleidern  auf  den  öffentlichen  Platz.  Unter  den  Klängen  einer  schrecklichen  Musik 
werden  die  für  die  Beschneidung  bestimmten  jungen  Mädchen,  welche  ganz  besonders 
festlich  gekleidet  und  mit  dem  gesammten  Familienschmuck  behängt  sind^  feierlich 
durch  das  ganze  Dorf  und  zurück  zum  öffentlichen  Platze  geführt.  Nun  beginnt 
ein  allgemeiner  Tanz,  welcher  viele  Stunden  andauert.  Von  alten  Frauen  wer 
die  Mädchen  in  die  Hütte  des  Schmiedes  geführt,  dessen  Frau  mit  dem  Moj 


44*  Dum  Lebenflftlter  und  die  Ausfübrang  der  Mädchenbeschneidung. 


203 


grauen  die  Beschneid ung  ausfuhren  muss.  Das  junge  Mädchen  setzt  sieh  auf 
ftnent  wi<:ht  weit  von  der  Wand  abstehenden  Klotz,  spreizt  die  Beine  und  lehnt 
»ich  hinten  liber,  so  dass  die  Wand  ihren  Körper  stützt.  Die  Operateurin  fasst 
die  kleinen  Schamlippen  mit  der  linken  Hand  und  schneidet  sie  mit  kräftigem 
Zugte  mit  einem  alten  Messer  ab,  das  mehr  an  eine  Säge  erinnert  Ein  auf- 
gelegte Pflaster  stillt  die  Blutung.  Eine  Woche  bleiben  die  Operirten  zu  Haus; 
dann  sieht  man  sie  noch  3  bis  4  Wochen  hindurch  täglich  mit  Stocken  in  der 
Band  2uni  Flusse  gehen  und  dort  ihre  vorgeschriebenen  Waschungen  machen. 
Zuletzt  wird  der  Verband  abgenommen.  Eine  eigentlich  religiöse  Bedeutung 
acbeint  die  Beschneidung  nicht  zu  haben.     {Ärnnj  surgefm,) 

Weiter  oben  hatten  wir  schon  gesagt,  dass  auch  in  Indonesien  diese 
Sitte  herrscht. 

Nach  den  Berichten  von  RirdeP  wird  auf  fast  allen  Inseln  des  alfurischen 
Archipels,  namentlich  durchgehends  von  der  mohammedanischen  Bevölkerung,  die 
B<*»chneidung  der  Mädchen  ausgefährt.  Es  handelt  sich  meistens  um  eine  partielle 
Kej*ection  der  Clitoris.     Von  den  Einwohnern  der  Insel  Buru  erzählt  er: 

.Vor  Eintritt  der  ersten  Menstruation  (bei  Knaben  vor  der  Pubertät)  werden  die  ZUhne 

bis  dicht  zum  Zahnfleisch  ran  de  abgefeilt  und  die  Boschneidung  vorgenomtnen.    Die  Mfulchea 

w«rd<in  gtibadet,  auf  einen  Stein  gesetzt,  und  von  eioer  alten  Frau  wird  ihnen  ein  Stück  von 

dfT  Ctlanji  clitoridis  abgeBchnitteo,  angebHcbf  Uta  den  Geschlechtstrieb  vor  der  Verhoiriithung 

m  nnt^rdrUcki^n.     Auf  die  Wunde  werden  ab  blutstillendi;  .\Jittel  gebrannte  und  pulverisirte 

^ÄgfobUttrippen  (okbaa)  aufgelegt.     Dann  trägt  eine  Frau  das  Mädchen  in  die  Hütte,  wo  e» 

^^■Ui^J'   bfisonderen  Diüt  unterzogen   wird  und   bi$  zur  Heilung  das  Haus  nicht  verlassen  darf. 

^'Bi«  Sittö  ist  mohammedanischen  Ursprungs,* 

I  Bei  den  Seranglao-  und  Gorong-Inseln  giebt  Riedel^  an,  dass  die  Clitorid* 

I     ekiotnte  vom  7.  bis  zum  10,  Jahre  stattfindet  und  zwar  mit  einem   grossen  Fest 
I     Nicht  selten  tritt  nach  der  Operation  der  Tod  an  Verblutung  ein;  jedoch  werden 
die  Kinder  dann  gliicklich  gepriesen,  da  sie  dann  in  Mokamtncirts  7.  Uimmel  kommen. 
Die  (>|ieration  wird    bei  Mädchen   durch    die  Frau  des  Geistlichen  ausgeführt  und 
du»  Kind  wird  hinterher  gebadet. 

Auf  Celebes  werden  in  den  Latidsehaften  Holontala,  Bone,  Boalerao, 
Kattinggola  die  jungen  Mädchen  in  ihrem  9.,  12.  und  15.  Jahre  beschnitten; 
diese  Handlung  heisst  ^mopolihoe  olimoe",  d.  h,  »mit  dem  Citrus  histrix  gebadet 
werden*.  Auch  hierbei  finden,  wie  bei  der  Knaben* Beschneidung,  grosse  Feierlich- 
keiten statt,  doch  verursachen  die  Mahlzeiten  weniger  Unkosten.  Die  Operation 
verrichten  weibliche  Personen.     [RfefId'K) 

Wilkfu  sagt:     ,tra    Allgemeinen    werden    die   Mltdchen    in   jugendlichereui   Alter    be- 

•clmiiien,  alt  djo  Knaben.    Daa  bezeugt  Herr  van  HiUaeli  unter  Anderem  von  den  Menangka- 

bawichen  Mulaven.     Auch  bei  den  Javanen  i^t  das  der  Fall;  die  Madchen  werden  gegen 

da*  6*  bit  7.  Jahr  dem  EingriÜ'  unterworfen.      Bei  den  Makaesaren  und  den  Boegi neuen 

f     '  '    '      Oporation  im  Alter  von  H  bis  7  Jahren  statt,  bei   den  Gorontalesen  viel  spater» 

i  immer  noch  früher,   als  bei  den  Knaben,   nrimlich  mit  9,   12  oder  15  Jahren.    Die 

i>'.  wird  im  Cnneren  des  Hauses  aufigelUhrt.  und  »war  stets  von  Frauen,    während 

p'  ^  I  den  ßoegine&en  und  Makaisaren  berichtet  wird,  den  MUnnern,  mit  Auj*- 

r-ijitiiii     1  .iir-  VI   n<»icht,    verboten  iat,    dabei    %\i  sein.      ÜobrigofiB   werden    hRtiÜg    dal>oi 

!      '      '  '    '■r\ .     ,K  '  1,     fi  dicÄC,    wenigst pfis   h**i    den  GorontaloBen,    nicht  den  Umfang  und 

der  Knabonl  ng.      Nur  bei  den  Makasearen  und  Boft|?i- 

lung  gnnz  in    !  ohne  Feierlichkeiten  statt.    Worin  der  EingrifF 

ittihu  un^i  wie  er  aufgeführt  wird,    diiä  wird  un»  nur  von   den  Javanesen,    den  Makati- 

c   i[TjJ  flpii   Ho  rtM  fi  ^>  -  on    b^richt^t.      Bei    ilfn    Grattronnunten    wird    ein    Stück    von   d«r 

i>i    cHtoridi«,  daa  Abgu!*cimittene    mit    einotn 


M 


kleine« 


204  V.  Die  ftoBseren  Sexaalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

Operation  auch  mit  kattang  oder  katta  bezeichnet,  d.  h.  Abschaben.  Die  Sache  geschieht 
durch  zwei  Frauen,  von  denen  die  eine  hinter  dem  Mädchen  Platz  nimmt,  soviel  als  möglich 
die  i^chamtheile  aus  einander  zerrt  und  dadurch  den  Kitzler  hervortreten  lässt.  (Die  Angabe 
von  Kpitj  dass  die  kleinen  Schamlippen  beschnitten  würden,  scheint  auf  einem  Irrthum  zu 
beruhen.)  Ebenso  wie  die  Beschneidung  der  fi[nahen  bei  den  Mohammedanern  in  dem  Archipel 
hat  die  der  Mädchen  mehr  oder  weniger  den  Charakter  einer  Aufnahmeceremonie  in  den 
Glauben.'' 

Ganz  ähnlich  ist  es  nach  RiedeV^  bei  den  Sulanesen.  Er  schreibt: 
«Die  Beschnei  düng  der  Mädchen,  wobei  kein  Mann  gegenwärtig  sein  darf,  ist  nur  bei 
den  Mohammedanern  im  Gebrauch  und  wird  durch  alte  Frauen,  auch  wohl  dukuku  bewerk- 
stelligt, indem  sie  mit  einem  scharfen  Messer  ein  kleines  Stfick  der  pokooti  oder  Glans 
clitoridis  abschneiden.  Das  Kind  sitzt  auf  dem  Schoosse  einer  Frau  mit  weit  aus  einander 
gespreizten  Beinen,  die  durch  zwei  andere  Frauen  festgehalten  werden.  Die  Wunde  wird  mit 
dem  Safte  von  Curcuma  longa  bestrichen,  und  nach  der  Heilung  wird  das  Kind  durch  die- 
Helben  Frauen  gebadet.  So  lange  die  Wunde  nicht  geheilt  ist,  dflrfen  die  Kinder  keine  er- 
hitzenden Speisen  essen.'' 

Diese  Operation  wird  im  Alter  von  9 — 10  Jahren  ausgeführt.  XJnbeschnittenen 
Mädchen  ist  es  auf  das  Strengste  verboten,  in  geschlechtlichen  Verkehr  zu  treten, 
oder  eine  Ehe  einzugehen. 

Von  der  Beschneidung  der  Itälmenen  in  Kamtschatka  erzahlt  Steiler 
bei  der  Besprechung  ihrer  vergrösserten  Nymphen: 

,Es  werden  dieselben  nunmehr  für  eine  grosse  Schande  gehalten  und  ihnen  in  der 
Jugend,  wie  den  Hunden  die  Ohren,  abgeschnitten.'* 

Besonders  bemerkenswerth  ist  schliesslich,  dass  die  Mädchen-Beschneidung 
auch  in  Amerika  als  Volkssitte  vorkommt.  An  eine  Einführung  dieser  Sitte 
von  anderen  Continenten  her  kann  hier  wohl  kaum  gedacht  werden.  In  Ecuador, 
in  der  Landschaft  Maynes  leben  die  Panos- Indianer,  welche  im  vorigen 
Jahrhundert  der  Missionar  Franz  Kavier  Veigl  besuchte;  er  erfuhr,  dass  sie 
früher  die  Mädchen  der  Beschneidung  unterworfen  hatten;  als  er  nach  der  Ur- 
sache dieses  Gebrauches  sich  erkundigte,  sagte  man  ihm,  man  habe  beschnittene 
Weiber  für  fähiger  und  geschickter  erachtet,  ihren  natürlichen  Obliegenheiten 
nachzukommen. 

Die  Indianer  in  Peru  am  Flusse  XJcayale,  welche  man  mit  dem  Namen 
Chunchos  bezeichnet  (auch  Campas),  üben  bei  den  Mädchen  von  10  Jahren 
ebenfalls  die  Excision  aus.  Bei  dieser  Gelegenheit  kommen  die  Nachbarn  mit 
vollem  Schmucke  angethan  zusammen  und  bereiten  sich  7  Tage  lang  durch  feier- 
liche Gesänge  und  Tänze  zu  dem  Feste  vor,  wobei  sie  in  reichlicher  Menge  die 
berauschende  Chicha,  aus  Manioc  bereitet,  geniessen.  Am  achten  Tage  wird  das 
Mädchen  durch  eine  starke  Gabe  des  gegohrenen  Manioc  berauscht  und  unempfind- 
lich gemacht;  in  diesem  Zustande  vollführt  eine  alte  Frau  an  ihr  die  Operation. 
Durch  einfache  Uebergiessungen  stillt  man  die  Blutung.  Alsbald  beginnen  wieder 
die  Gesänge  und  Tänze ;  dann  legt  man  das  Opfer  in  eine  Hängematte  und  tragt 
es  von  Haus  zu  Haus.  Durch  die  Circumcision  ist  das  junge  Mädchen  unter  die 
Frauen  aufgenommen  (Grandidier), 

Ich  kann  dieses  Thema  nicht  verlassen,  ohne  einer  Form  der  Beschneidung 
der  Weiber  zu  gedenken,  welche  leider  auch  in  Europa  noch  vorkommt  und 
namentlich  in  Kussland  und  in  Rumänien  ihre  wesentlichste  Verbreitung  besitzt. 
Sie  wird  ausgeführt  zur  höheren  Ehre  Gottes  von  der  sonderbaren  Secte  der 
Selbstverstümmler  oder  Skopzen,  Ober  welche  wir  r.  Pelikan  ausführliche  Unter- 
suchungen, durch  zahlreiche  Abbildungen  erläutert,  verdanken.  Bekanntlich  stützen 
sich  die  Skopzen  bei  ihren  absonderlichen  Vornahmen  auf  einen  Ausspruch  des 
Evünf^cWsten  Matthäus  (19,  12):  „Denn  es  sind  etliche  verschnitten,  die  sind  ans 
Mutterleibe  also  geboren;  und  sind  etliche  verschnitten,  die  von  Menschen  Ter- 
schnitten  sind;  und  sind  etliche  verschnitten,  die  sich  selbst  verschnitten  haben 
um   des  Himmelreichs  willen/     Die  vorgenommenen  Verstümmelungen  befarellen 


45.  Die  Infibulatiou  oder  die  Vernähung  dor  Madchen.  205 

bei   den  Weibern   entweder    die  Brüste  oder   die  Genitalien  oder  beides  zugleich. 
Wir    betrachten    hier   fürs  erste  nur  die  Verletzungen  an  den  Geschlechtstheilen. 

Dieselben  bestehen  in  dem  Ausschneiden  der  Nymphen  allein  oder  mit  der  Clitoris 
zugleich,  oder  in  dem  Ausschneiden  des  oberen  Theils  der  grossen  Schamlippen  sammt  den 
Nymphen  und  der  Clitoris,  so  dass  durcli  die  darauf  folgende  unregolmässige  Vernarbung 
dieser  Theile  die  Schamspalto  bedeutend  verengt  wird. 

Drei  Abbildungen  der  Genitalien  von  Skopizcn  oder  Skoptschichen  (weiblichen  Skopzen) 
erläutern  die  vorgenommenen  Operationen.  Alle  drei  betreffen  jungfräuliche  Individuen  mit 
intakt  erhaltenem  Hymen  und  unverletztem  Frnnuluiu  der  grossen  Schaniliiipen.  Moi  der  einen 
finden  wir  die  asymmetrische  Excision  dor  kleinen  Labien.  Hie  linke  Nymphe  zeigt  ungefUhr 
in  der  Mitte  ihres  freien  Randes  einen  dreieckigen  Ausschnitt.  Der  dreieckige  Defect  hat  nach 
unten  einen  horizontalen  Rand  von  0,7  cm,  nach  oben  einen  schrrigen  Rund  unter  4o  Grad 
nach  lateral wärts  abgehend,  während  die  I.ück(>  im  äusseren  Kande  der  Nymphen  1  cm  beträgt. 
Die  Ränder  des  Ausschnittes  erscheinen  abgerundet  und  verdickt.  Die  rechte  Nyrajihe  ist  in 
ihrem  unteren  Dritttheil  scheinbar  ganz  von  ihrer  Rasis  herausgeschnitten,  und  nur  an  ihrer 
unteren  Grenze  ist  ein  kleines  Zipfelchen  stehen  geblieben,  das  zu  einem  hanfkorngrossen 
Knötchen  angeschwollen  ist. 

Auf    einer   anderen    Tafel    erkennen   wir    die    symmetrische    Ans- 
sohneidung  der  kleinen  Schamlippen.    Im  oberen  Dritttlieile  der  Nymphe 
hat   ein  «chräger,    von   oben  kommender  Schnitt  .jederseits    einen  unge- 
fähr 0,25  cm   breiten   zungenförmigen  Lai>i)en    aus   den   kleinen  Schani- 
lippen    bis  zu  deren  Basis  hin  herausgeschnitten.     Kine  zweite  Excision 
hat  die  Mitte  der  kleinen  Labien  getrotl'en  und  aus  jeder  ein  dreiecki^e> 
Stück  herausgetrennt  von  ungefähr  derselben  Form  und  <* rosse  wie  der 
Ausschnitt  ander  linken  Nymphe  der  verlier  be>cliriobenen  Person.     Oi»» 
Schnittränder    sind    mit    rumllicher    Verdickung    vernarbt.      Auf   «liese 
"Weise  ist  zwischen  den  Ausschnitten  der  kleineu  Schanilii»ppn  von  di««.-en 
jederseits  ein  ungefähr  0,ii  mi  breiter  Lappen  stehen  geblieben.    I)ci>elbe    ..j.^  j  ..^     v.isrlinitieiu* 
bietet  aber    keinen    freien    Rand    dar,    son<lern    ist  mit    diesem    mit   der    Tof^iihiijj.'  .iiniVfruu  aus 
^Schleimhaut  der    benachbarten  grossen  Schamlijjpen  narbig  verw-.irhsen,    Ifus^land,   lior  skop- 
woraus   geschlossen   werden    njus.>,    dass    l»ei    <b'r    Operation    au«-u    iliese      /-' »-•'l<t'' aiijr^hnrenil 
wund  gemacht  worden    ist,    und    dass   an   den   La]»pen    auch   von  ihrem 
freien    Rande    ein   feiner  Sauin    abgetrennt    wurde.      Denn   )»eide  Theile 

mussten  angefrischt,  wie  der  Ciiirurg  sagt,    d.  li.  wund  gemacht  sein,    wenn  sie  mit  einander 
ven*'achson  sollten. 

Die  dritte  Tafel,  ebenso  wie  die  vorigen  in  Le)>ensgrös>e  an^gefüiirt,  giebt  uns  das 
Bild  einer  Excidirten  (Fig.  l:5o).  Eine  ?Schaiiispiilte  im  eigentlichen  Sinne  existirt  nicht,  sondern 
wir  sehen  statt  derselben  ein  längsovales  Lf.(.li  von  .'J  zu  *2  cm  Durehmesser,  das  trichterfiirmig 
nach  abwärts  (bei  Rückenlage  der  Patientin)  zu  führen  scheint.  An  der  Ilinterwand  dieses 
Loche»  markirt  Mch  in  der  Mitte  die  /.ienilich  gros.«.e  Ilarnröhrenölfnung  und  etwas  seitwärts 
von  dieser  jederseits  eine  kleine  Scbleimhautcarunkel,  welche  wohl  als  einziger  Teberresit  der 
excidirten  Nymphen  betrachtet  werden  muss.  Auf  dem  grau  behaarten  Scliamberge  ist  eine 
breite,  unregelmässige,  annähernd  dreiseitige  Narbe  sichtbar,  im  grös.-ten  Querdurchniesser 
3  cm  breit.  Die  Spitze  dieses  narl»igen  Dn^iecks  ist  nach  unten  gekehrt,  und  v(m  ihr  läuft 
ein  leicht  gezackter  Narbenstreifen  in  der  Medianlinie  abwärts  bis  zu  der  Harnröhrenötfnung 
hin.  Von  einer  Clitoris  existirt  keine  Spur,  statt  der  kh'inen  Schamlippen  -ind  nur  die  beiden 
vnrhererwähnten  Carunkeln  erhalten.  Grosse  Schamlippen  im  gewöhnlichen  Sinne  des  ^Vorte^ 
sind  auch  nicht  vorhanden,  .ledenfalls  wurde  ihre  gesammte  obere  Alttheilung  uiit  fort- 
gejichnitten  und  bei  dem  Verschluss  der  Wunden,  «ler,  wie  gewis>e  regelmä^-ig  angeordnete 
Pigmentflecke  lehren.  <lurch  die  blutige  Naht  stattgofun<len  hat,  musste  «lie  Haut  von  dem 
stehengebliebenen  Reste  der  grossen  Schamlip))en  mit  beträchtlicher  (iewalt  nach  oben  und 
zur  Mitte  zu  herangezogen  werden.  Hierdurch  erscheinen  die  Labia  majora  nieht  mehr  als 
.Lippen'*,  sondern  als  nur  minimal  das  Niveau  der  Umgebung  überragende  llautflächen,  die 
sich  kaum  noch  durch  die  fast  gänzlich  verstrichene  Labial-Schenkelfurche  gegen  die  Nachbar- 
schaft hin  abgrenzen. 

45.  Die  Inflbiilation  oder  die  TernihiiiiK  der  Midehen. 

In  engstem  Zusammenhange  mit  der  MSdeb^^  "^e  andere 

Operation  an  den  weiblichen  GtechlechtaUieilK  n  der 


206  ^*  ^^^  ftoBseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

Infibulation  oder  der  Vernähung  bezeichnet  hat  Wir  werden  jedoch  sogleich 
erfahren,  dass  hier  durchaus  nicht  immer  von  der  Anlegung  wirklicher  chirurgischer 
Nähte  die  Rede  ist.  In  der  Infibulation  haben  wir  nun  in  Wirklichkeit,  wie  man 
es  früher  von  der  Mädchenbeschneidung  überhaupt  angenommen  hatte,  eine  specifisch 
afrikanische  Sitte  vor  uns;  wir  kennen  bis  jetzt  kein  einziges  Land  der  Erde, 
mit  Ausnahme  des  nordöstlichen  und  des  centralen  Afrika,  wo  diese  für  unsere 
Empfindungen  so  höchst  widerwärtige  Sitte  Eingang  gefunden  hätte.  Allerdings 
berichtet  Lindschotten,  dass  er  die  Infibulation  in  Pegu  in  Indien  Torgefunden 
habe,  aber  seine  Angabe  ist  yon  anderen  Reisenden  nicht  bestätigt  worden,  so 
dass  ihm  vielleicht  ein  kleiner  Oedächtnissfehler  mit  untergeschlüpft  ist.  Der  In* 
fibulation  muss  unter  allen  Umständen  eine  Beschneidung  des  Mädchens  vorher- 
gehen, und  zwar  wird  diese  noch  dazu  in  sehr  ausgiebiger  Weise  ausgeführt,  um 
hinlänglich  weite  Wundflächen  zu  schaffen,  damit  durch  deren  Vereinigung  eine 
feste  Narbe  zur  Ausbildung  kommt.  Entweder  durch  wirkliche  Applikation  von 
chirurgischen  Nähten,  oder,  was  das  Häufigere  zu  sein  scheint,  durch  entsprechende 
Lagerung  und  Bandagirung  der  Kranken  werden  die  frisch  angelegten  Wund- 
flächen in  innige  Berührung  mit  einander  gebracht  und  auf  diese  Weise  wird  eine 
narbige  Vereinigung  derselben  hervorgerufen.  Es  wird  dafür  Sorge  getragen,  dass 
durch  diese  Vernarbung  die  ganze  Schamspalte  verschlossen  wird  bis  auf  eine  ganz 
kleine  Oeffnung,  „ dadurch  sie  ihr  jungfrawlich  Wasser  abschlagen  mögen'',  wie  es 
bei  Lindschotten  heisst. 

Schon  im  Mittelalter  wurde  von  Magriei  berichtet,  dass  man  bei  den  Beja 
(Bedscha)  den  Mädchen  die  Schamlippen  beschneide  und  die  Rima  pudendi  zu- 
nähe, und  auch  heute  findet  sich  noch  diese  Sitte  ziemlich  allgemein  bei  den 
südlich  von  den  Nilkatarakten  wohnenden  Völkern,  bei  den  Oalla,  den  Somali^ 
den  Harari  und  den  Einwohnern  von  Massaua  u.  s.  w.  Unter  den  Beduinen 
der  westlichen  Bejuda-Steppe,  im  Norden  von  Chartum,  werden  die  Mädchen 
zwischen  dem  5.  und  dem  S.Jahre  der  Infibulation  unterworfen.  Auch  in  Kor- 
dofan  ist  das  8.  Jahr  dasjenige  der  Beschneidung  und  Vernähung.  Die  Mädchen 
der  Harari  werden  mit  7  Jahren,  diejenigen  der  Somali  mit  8  bis  10  Jahren, 
oder,  wie  Paulitschke  berichtet,  schon  im  Alter  von  3—4  Jahren  vernäht.  Lanßi 
giebt  für  die  Infibulation  bei  den  Danakil  das  3.  Lebensjahr  an. 

Ueber  die  Ausführung  der  Operation  liegen  uns  eine  Reihe  von  Berichten 
vor,  welche  die  bereits  angeführte  Thatsache  bestätigen,  dass  der  modus  procedendi 
nicht  immer  der  nämliche  ist ;  allerdings  ist  das  schliesslich  erzielte  Resultat,  wie 
es  den  Anschein  hat,  in  allen  Fällen  das  gleiche.  Bei  den  Somali  und  Harari 
besteht  die  der  Infibulation  vorhergehende  Beschneidung  in  einer  operativen  Ver- 
kürzung der  Clitoris  und  einer  Wundmachung,  einer  Anfrischung,  wie  der  Chirurg 
sagen  würde,  der  „äusseren  vulvae',  also  der  grossen  Schamlippen.  Wahrscheinlich 
werden  bei  dieser  Gelegenheit  gleichzeitig  aber  auch  die  kleinen  Schamlippen 
abgetragen.  Die  Operation  wird  durch  erfahrene  Frauen  ausgeführt,  welche  der- 
selben umgehend  eine  echte  Vernähung  folgen  lassen,  die  nach  Paulitschke  mit 
Pferdehaaren,  mit  BaumwoUzwim  oder  mit  Bast  gemacht  wird.  Nur  ein  kleiner 
Rest  der  Schamspalte  bleibt  unvemäht.  Eine  mehrtägige  Ruhe,  während  welcher 
dem  Mädchen  die  Füsse  zusammengebunden  werden,  bringt  die  Wundflächen  zur 
narbigen  Vereinigung. 

Von  einer  echten  Vemähung  spricht  auch  Burckhardt  bei  den  mit  dem 
Namen  Mukhaeyt,  d.  h.  consutae,  bezeichneten  Operirten: 

,Mihi  contigit  nigram  qnandam  puellam,  qaae  hanc  Operationen!  suhierat,  inspicere. 
Lahia  pudendomm  acu  et  filo  consuta  mihi  plane  detecta  fuere,  foramine  angusto  in  meatnm 
urinae  relicto.  Apud  Esne,  Sioat  et  Cairo  tonsores  sont,  qui  obstnictionem  novacnla 
amovent,  sed  volnus  hant  raro  letale  evenit' 

Bedeutend  häufiger  scheint  es  vorzukommen,  dass,  anstatt  die  frischen  Wand- 
flächen durch  Nähte  mit  einander  zu  vereinigen,  sie  nur  genau  auf  einander  ge» 


45.  Die  InfibulAiion  oder  die  Vemäbung  der  Mildchen. 


207 


is^t    werden.     Die   Operirte    wird   dann    durch    eotsprechende   Bandagirung   an 

bglicher  Bewegung    gehindert    und    darf  bis  zur  gUkklich  erfolgten  Heilung  ihr 

ftger  nicht  verlassen.     Hierüber  stehen  uns  mehrfache  ausfiihrlicbe  Berichte  zur 

reriTjgung.     Derjenige  des  Dr.  Peney^  Chefarzt  der  Armee  im  Sudan,  mag  den 

LD&ng  machen: 

«C'e^t  vers  l*äge  de  eept  ou  huit  ans,  qne  la  jeune  fille  est  livr^e  k  la  mairona  cbargee 
Toperer-  Quelques  joura  avaot  r^poqu©  fix^e  pour  cet  objet,  la  mere  de  famille  invite 
par^nU  ot  cortnaiiisanceg  do  aexe  feminin  ä  se  reuiiir  chez  eile,  et  c'ewt  par  des  ietes  qu*on 
l«rludo  u  U  cerbmoßie  sanglante,  Le  maiuent  arrive,  la  victime,  enTiroDiiee  de  toutes  les 
ue»  pre^eDtes,  est  couchee  sur  un  lit  oü  eile  est  maintenue  par  les  assistantes,  tandis  que 
rooe,  armee  d'un  raaoir  et  agenouillee  entre  les  cuiBses  de  la  patieote,  procede  a  Tope- 
Celle-ci  comuieace  par  Vablalion  d'une  partie  du  clitoris  et  de«  nymphos;  de  la  le 
»oir,  d<?öcendant  sur  le  rebord  des  grandes  levres,  enl^ve  eur  leur  bord  interne  et  en  con- 
E>urnant  la  vulve  une  languette  do  chair»  large  de  dear  centim^tres  environ.  Cette  Operation 
dure  quatre  ou  cinq  tninutes;  et  x^our  empdcher  les  criR  de  la  patiente  de  «e  faire  entendre, 
les  aitJisUnte«  ont  soin  de  pousser  dea  clameur»  »ur  le  diapason  le  plus  aigu,  tout  que  durent 
le«  manoeune«  operateires.  L'abJation  de«  partie»  ache^ee  et  le  saog  ^tanche,  la  jeuo©  fillo 
e»!  coueh^e  sar  le  dos,  les  jatnbes  etendues  et  liees  fortement  Tune  h  Tautre,  de  favon  a  leur 
tutcrdire  tout  mouTetnent,  Cette  prt^caution  est  n«^ce8saire  pour  menager  la  fonnation  de  la 
Avant  d'abandonner  VopiTÖe  aux  eoin«  de  la  nature,  la  matrono  introduit  dans  la 
tie  inferieure  du  vagin,  entre  lea  IfeTres  saignantes  de  la  plaie,  un  petit  cylindre  de  boia, 
»eur  d'une  plume  d'oie.  LVifficc  de  ce  cylindre,  qui  doit  re»ter  en  place  jusqu'au 
le  travail  do  la  cicatrlEation  sera  achev^^,  est  de  menager  uno  ie^ue  aux  urinea 
fliwi  Card  aux  tnenstmes.  C'est  tout  ce  qui  reste  de  permeable  dans  le  vagin.* 
Neuerdings  berichtet  auch  Vita  Hassan  über  die  Sudanesinnen: 
•  Die  weibliche  Beschneid uug«  wie  sie  bei  allen  Mohammedanern  auegeführt  wird, 
llt  in  der  Entfernung  eines  Theils  der  Clitoris.  Im  Sudan  wird  statt  dessen  von  den 
mei«ten  arabischen  StLlmmen  eine  geradezu  schreckliche  YerätUmmelung  ausgeübt.  Diese 
barl>ari«cbe  Operation  ßndet,  wenn  das  Mädchen  ein  Alter  von  secht;  Jahren  erreicht  bat,  mit 
4«iui9lben  Feierlichkeiten  wie  bei  der  Hochzeit  statt.  On  conpe  avec  le  rasoir  le  clitoris,  le» 
»ode«  l^vret  et  ane  partte  de  la  plus  proeminente  dos  petites  Ifcvrea  en  laissant  la  place 
^  de  ei  tans  un  reüef  On  röanit  en»uiie  les  deux  bords  par  des  sutures  en  ayant  »ein  de 
mettre  ua  petit  tnbe  en  roseau  trt?s-inince,  pour  maintenir  une  petite  ouverture  pour  Tecoule- 
ment  de  Turine.  Au  bout  de  quelques  joars  les  bord«  se  soudent,  la  place  se  forme,  et  on 
peut  alors  dotacher  les  fils  de  la  suture  ainai  que  ia  canule  de  ruseau.  La  femme  est  devenne 
an  monstre,  et  Top^ration  sacree,  ou  sacr<^e  Operation  est  achevee." 

Bei  den  Danakil   hat  nach  Lanii  das  infibulirte  Mädchen  mit  zusammen* 
ebundeaen  Beinen   fest   auf  dem  Lager   auszudauern;   bis  dahin  pflegt  die  voU- 
^indige  Vernarbung  der  an  gefrischten  Theik«  eingetreten  zu  sein. 
Heber  den  Sennaar  giebt  CaUtiatul  Folgendes  an: 

«Api^e  avoir  elague  ces  deux  membranes,  lee  plaies  de  Tune  et  de  Tautre  sont  nippro« 
et  la  pattente  est  tenue  danis  an  »tat  d'immobilit^  presque  enti^re  jusqu'ti  ce  qtt'eUes 
••  toieot  röunies  ensemble  par  agglutination:  au  moyen  d*une  canule  tres-mince,  on  menage 
one  Ouvertüre  ik  peine  süffisante  pour  le«  ecoulementt  naturels.* 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Operation  bei  den  Nubiern  ausgeführt  wird, 
beschrieb  Tanner  in  der  Ueburtshülf liehen  Gesellschaft  zu  London: 

.Puella,  adhuc  tenera,  humi  supina  prosternitur,  cruribus  surBum  trusis,  genubue  flexis 
Ot  in  diversum  extenBis,  Sic  jacenti,  verondnrum  labia  acuta  novacula  utrinque  per  totum 
pa«ii^  08  scalpuntur,  relicta  ad  extremum  deorsos  hiatum  in  longitudinem  quarta  unciae  parte. 
in  quam  calamus  pennam  anserinam  circuio  aequiparans  intro  immittitur.  Hoc  facto  labiorum 
margines,  oanguine  adhuc  stillantes  in  unum  coguntur,  eo  consilio  ut  resanescentes  conjun* 
ganiur,  et  nihil  aUud  apertnm  relinquatur,  quam  exiguum  illud  foramen,  quod  per  oalamum 
insertum  re^ervatur.* 

,Quae  ut  tiat  conjunctio  ot  superBciea  labiorum  scalpro  nuper  inciaa  quam  optime  coeat» 

sUae  crura   itenabus    et    talis    inter   ae    nexis  colligantur.      FUnc   fit,  ut  nuUa  membroruin 

»v^:  '  '     *.i  jamjam  concrescentia  posftint  separari.   Post  paucoa  dies  firmiter 

ce  v,    quam  natura  dederat,   nulla  apparet     Ita  laevis  est  pars  aa, 

«Iva«  moota  qui  y  ctietia  vuc;4>tur  proxime  aubjacet,  ut  speciem  nudae  feminae  quem  admodam 


208  ^'  ^^^  äusseren  Sezualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

ficulptores  statuam  ex  ea  parte  laevigant,  omnino  repraesentet.    Calamo  subdacto  perexigoa 
quae  relinquitur  apertura  officio  urethrae  fung^tur.* 

Pawcer?  hatte  inAegypten  Gelegenheit,  eine  ungefähr  20  jährige  Sadanesin 
zu  untersuchen,  welche  früher  die  Excision  durchgemacht  hatte.  Er  sagt  von  ihr: 
„Man  sah  an  Stelle  der  Schamspalte  eine  lineare  Narbe,  unter  welcher  der  untersuchende 
Finger  die  Clitoris  an  ihrem  Platze,  aber  völlig  beweglich  und  unter  dem  genannten  Narben- 
gewebe versteckt  nachweisen  konnte.  Nur  wenn  man  die  Schenkel  aus  einander  spreizte,  sah 
man  bei  dem  Perinaeum  die  Scheidenöffnung  in  Form  eines  Spaltes,  dessen  Ränder  durch 
den  Kamm  der  kleinen  Labien  gebildet  wurden,  die  gewissermaassen  mit  den  grossen  ver- 
schmolzen waren.  Die  obere  Commissur,  die  Clitoris,  die  Harnröhrenmündung  und  die  vordere 
Hälfte  der  kleinen  Schamlippen  waren  verborgen,  weil  die  grossen  Schamlippen  mit  einander 
verschmolzen  waren."     (Fig.  134.) 

Zum  Schluss  möge  noch  die  Schilderung  von  Werne  kommen,  welche  sich 
auch  auf  die  südlich  vom  ersten  Nilkatarakte  wohnenden  Völker  bezieht: 

„Alte  Weiber  legen  ein  solches,  dem  Volksglauben  unterworfenes 
Opfer  auf  einen  Anqareb  und  scarificiren  mit  einem  scharfen  Meeeer 
die  beiden  Wände  der  grossen  Schamlefzen  bis  auf  einen  kleinen  Raum 
nach  dem  After  hin.  Darauf  nehmen  sie  eine  Ferda  (jenes  lange  Stück 
Baumwollenzeug  mit  verzierten  Enden,  so  Männer  und  Weiber  um  ihren 
Körper  gürten)  und  umwickeln  damit  dem  Mädchen  die  Kniee  fest,  wo- 
durch jene  scarificirten  Theile  an  einander  geschlossen,  auf  die  Dauer 
Fig.  134.  Eine  vernähte  verwachsen,  bis  auf  den  nicht  wund  gemachten  Theil;  in  die  kleine 
Na  hier  in  Oeffnung  wird  wegen  des  möglichen  Zusammen  Wachsens  ein  Federkiel 

(nach  Panceri).         ^^^^  gjjj  dünncs  Rohr  gesteckt,   um  den  Bedürfnissen    der  Natur   den 
Weg  offen   zu  halten.     Vierzig  lange  Tage  muss  das  Mädchen  in  dieser 
Lage  auf  dem  Anqareb  mit  gebundenen  Knieen  aushalten,    ausgenommen,  wo   ein  Bedür&ias 
eintritt;    und  es   scheint  dieser  Zeitraum,    der  Erfahrung  über  wirklich  erfolgte  Zusammen- 
wachsung der  Schamlippen  entsprechend,  gleichsam  gesetzlich  zu  sein." 

Wenn  wir  uns  die  Frage  vorlegen,  was  für  eine  Absicht  der  Infibulation 
zu  Grunde  liegt,  so  kann  darüber  wohl  kaum  ein  Zweifel  herrschen.  Natürlicher 
Weise  war  der  Zweck  der  Operation  kein  anderer,  als  der,  die  Mädchen  zu  ab- 
soluter Enthaltsamkeit  in  Bezug  auf  die  geschlechtliche  Vereinigung  zu  zwingen. 
Und  Wenie  hat  nicht  Unrecht,  wenn  er  sagt,  es  ist  eine  sicherere  Vorkehrung, 
als  alle  die  mit  künstlichen  Schlössern  und  Federn,  mit  welchen  rohe  Ritter  ihre 
Frauen  umschlossen,  wenn  sie  Kreuz-  und  andere  Züge  machten.  So  entschuldigt 
sich,  wie  er  weiter  angiebt.  nicht  selten  ein  Mädchen,  „wenn  man  liebkosend  sich 
ihr  nähert,  mit  einem:  el  bab  makfül,  das  Thor  ist  verschlossen.**  Auch  Tanner 
äussert  sich  in  ähnlicher  Weise: 

„Hoc  artifico  tutis  licet  puellis  cum  pueris  libere  consociari,  dum  dies  nuptialis  advenerit, 
quo  tempore  sponsa  sine  controversia  virgo  est.* 

Von  Sclavenhändlern  wird  die  Vernähung  oder  die  Infibulation  bisweilen 
an  ihren  frisch  erbeuteten  Sclavinnen  vorgenommen,  damit  sie  ihrer  Keuschheit 
sicher  wären.  Aber  es  wird  behauptet,  daes  doch  bisweilen  von  ihnen  unliebsame 
Erfahrungen  gemacht  worden  wären. 

Eine  besondere  Form  der  Vernäh ung  werden  wir  später  noch  kennen  lernen. 
Sie  wird  behufs  Erzeugung  einer  künstlichen  Jungfernschaft  ausgeführt.  Ich 
muss  es  mir  jedoch  versagen,  an  dieser  Stelle  näher  darauf  einzugehen. 


46.  Das  Wiederaufschneiden  der  inflbulirten  Weiber. 

Wir  haben  uns  in  dem  vorigen  Abschnitte  überzeugt,  dass  durch  die  In- 
fibulation im  Allgemeinen  ein  fast  vollständiger  Verschluss  der  Schamspalte  her- 
vorgerufen wird,  wobei  nur  eine  ganz  minimale  Oeffnung  zum  Abfluss  des  Urins 
übrig  gelassen  ist.  Es  bedarf  nun  keiner  besonderen  Auseinandersetzung,  dass 
derartig  zugerichtete  Genitalien  zur  ehelichen  Function  vollständig  unbrauchbar 
sind  und  dass,  wenn  wirklich  ausnahmsweise  einmal  eine  Schwängerung  stattfinden 


46.  Das  Wiederaafschneiden  der  infibnlirten  Weiber.  209 

sollte,  fbr  welche  ja  bekanntlich  nicht  immer  eine  wahre  Immissio  penis  durchaus 
noibwendig  ist,  an  eine  regelmässige  Entbindung  nicht  gedacht  werden  kann. 
Diesen  üebelständen  beugen  nun  die  Völker  vor,  bei  denen  wir  die  Infibulation 
der  Madchen  herrschend  finden,  indem  sie  die  vemarbte  Stelle  im  geeigneten 
Zeitpunkte  von  Neuem  auftrennen. 

Von  den  Weibern  im  Sennaar  sagt  CaiUiaud: 

.Qaelqne  temps  avant  le  mariage,  il  faut  d^truire  par  indsion  cette  adh^rence  con- 
tndre  k  la  natare.  S'il  surrient  quelqne  Symptome  f^heax,  le  fer  rouge  et  le  rasoir  sont  lä. 
On  dirait  qoe  la  sensibilitä  emoossäe  chez  ces  peaples  les  emp^che  d^appr^cier  les  soaffrances 
inoniet  et  les  accidents  graves  et  inevitables  de  ces  pratiques  inhnmaines,  invent^  par  le 
despotisme  da  seze  le  plus  fort,  pour  s^assurer  la  jouissance  premi^re  de  cette  fleor  virg^ale 
81  fngiiive  dans  tous  les  autres  pays.  Quoi  qo^il  en  soit,  il  en  coüte  assez  eher  pour  faire 
remettre  une  jeune  fille  en  ätat  de  remplir  des  devoirs  coigugaux.  S'il  en  est  quelqu^une  qui, 
ä  d^faat  de  moyens  p^cuniaires,  se  marie  sans  avoir  subi  cette  präparation  essentielle,  c^est 
&  ]*6poux  prendre  ä  cet  6gard  le  parti  qui  lui  convient ;  mais  lorsqu'il  räussit,  chose  difficile, 
&  la  rendre  föconde,  eile  a  le  droit  d'exiger  qu'une  des  matrones,  qui  ezercent  ce  cruel  mutier, 
fiyue  disparattre  gratis  des  obstacles,  qui  contrarient  le  travail  de  Tenfantement.  La  jeune 
Yenve,  qui  conserre  Tespoir  de  se  remarier,  n^häsite  point  ä  se  soumettre  une  seconde  fois  auz 
tortures  de  cette  double  laceration;  mais  le  cas  est  rare.' 

Ganz  ähnlich  lautet  es,  was  Vita  Hassan  von  den  unglücklichen  Weibern 
im  Sudan  erzählt: 

.Andere  Qualen  erwarten  die  Unglückliche  später  bei  der  Hochzeit.  Diese  Procedur 
wird  bei  allen  Mohammedanern  des  Sudan  von  Berber  bis  Sennaar  ausgeübt,  einbegriflfen 
Chartam ,  Metamme,  Schendi,  Massalamije,  Walad  Madani,  Refäa,  Haräs, 
Senn  aar  sammt  ihren  Dependenzen.  Man  sagt,  dass  diese  Operation  nicht  bloss  durch  den 
religiösen  Ritus  erfordert  werde,  sondern  noch  den  Zweck  habe,  eine  gewisse  Krankheit  zu  ver- 
hindern, welche,  wie  man  behauptet,  diejenigen  Frauenzimmer  befällt,  welche  diese  Ver- 
stümmelung nicht  durchgemacht  haben.* 

«Wenn  die  Frau  ihrer  Niederkunft  entgegensieht,  wartet  ihrer  noch  eine  furchtbare  Ver- 
stümmelung. Le  nouveau  n^  ne  doit  pas  passer  par  la  route  fray^e  et  connue,  on  coupe  les 
moscles  de  la  femme  au  pli  de  sa  jambe  depuis  la  joincture  jusqu'aux  reins  d*un  seul  cotä 
pour  sortir  Tenfant.  Nach  der  Geburt  näht  man  diese  Oeffiiung  in  gleicher  Weise  wie  die 
oben  bei  der  Hochzeit  erwähnte  wieder  zu,  und  damit  ist  die  Frau  in  den  gleichen  Zustand 
wie  vor  der  Hochzeit  versetzt.  Erst  lange  Zeit  nach  ihrer  Niederkunft  macht  eine  neue 
Ssehäma  die  Frau  für  ihre  ehelichen  Pflichten  wieder  fUhig.'' 

Peney  spricht  in  seinem  weiter  oben  erwähnten  Berichte  über  den  Sudan 
ebenÜEdls  über  die  Wiederauftrennung  der  Mädchen: 

.Quand  la  jeune  Nubienne  prond  un  epoux,  c^est  encore  ä  la  matrone  qu'elle  s^adresse 
pour  que  celle-ci  rendre  aux  parties  sexuelles  les  dimensions  näcessaires  ä  Taccomplissement 
do  mariage.  Car  Touverture  existante  est  trop  streite  et  trop  peu  dilatable  (a  cause  de  la 
cicatrice  dont  eile  est  entouree)  pour  quo  le  mari  le  plus  rigoureux  puisse  compter  sur  ses 
seuls  efforts  pour  p^n^trer  dans  la  place.  La  matrone  intervient  alors,  et,  par  une  incision 
longitudinale,  eile  produit  une  plaie  par  laquolle  s^accomplira  la  copulation.  Mais  comme 
cette  plaie  nouvellc  tendrait  üi  se  refermer,  si  les  parties  saignantes  restaient  en  contact,  la 
matrone  introduit  entre  les  l^vres  de  la  plaie,  et  ä  deux  ou  trois  pouces  de  profondeur  dans 
le  vagin,  un  nouveau  cylindre  veg^tal,  beaucoup  plus  volumineux  que  le  premier:  car  ce 
demier  doit  figurer  les  dimensions  du  p^nis  du  mari.  Ce  deuxi^me  cylindre  reste  en  place  une 
quarantaine  de  jours,  4poque  oü  la  cicatrisation  est  compläte  et  oü  sa  presence  devient  inutile.* 

«Mais  tout  n'est  pas  dit  pour  la  malheureuse  qui  s*est  une  premiero  et  une  deuxi^me 
fois  soumise  k  Topäration.  Si  eile  conyoit,  ce  qui  arrive  ordinairement,  eile  ne  pourra  pas 
accoucher  sans  soubir  encore  les  ^preuves  de  Tinstrument  tranchant;  car  la  mSme  bride 
r^sistanie,  qui  entoure  la  vulve  et  qui  s'opposait  ä  la  copulation,  s^opposait  encore  k  la 
dilatation  de  cette  partie  par  oü  doit  passer  Tenfant.  II  faudra  donc  encore  debrider,  au 
moyen  de  larges  et  profondes  incisions,  les  parties  qui  refusent  de  se  dilater.  Souvent  au 
moment  oü  Tenfant,  en  sortant  du  bassin,  vient  s*appuyer  sur  la  cloison  interne  des  parties 
g^tales,  souvent,  dis-je,  il  arrive  alors  que  la  matrone,  qui  doit  saisir  cet  instant  pour  inciser 
profond^ment  les  grandes  l^vres,  blesse  gri^vement  le  produit  qui  cherche  k  s*6chapper 
au  dehors.  J*ai  vu  moi-m§me,  dans  des  cas  semblables,  des  coups  de  rasoir,  portes  mal  habile- 
Ploss-Bartels,  Das  Weib.    6.  Aufl.    I.  14 


210  ^*  I^io  äusseren  Sexaalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

ment,  produire  chez  Tenfant  des  blessures  mortelles.  Et  cependant,  malgr^  les  doulenrs  qoi 
accompagnent  toujoors  cette  horrible  pratique  de  Tinfibulation,  maigr^  les  dangers  qu*elle  fait 
conrir  ä  la  femme  et  ä  Tenfant  qui  va  naltre,  malgr4  toutes  les  tentives  essais  par  les  agents 
du  gouvemement  6gyptien  poor  bannir  cette  afi&euse  coutume,  les  Sondaniennes  n'en 
persistent  pas  moins  dans  lears  id^es  ä  cet  ^gard;  qnand  anx  jeunes  fiUes,  elles  y  semblent 
encore  plus  attachees  que  les  hommes,  car  elles  pr§tendent  que  sans  Tinfibulation  elles  ne 
trouveraient  aucun  mari.' 

In  dem  Berichte  von  Tanner  heisst  es: 

«Festum,  quod  in  honorem  nuptiarum  celebratur,  ritu,  qui  finem  castitati  alhuc  coactae 
imponat,  concluditur.  Sponsa  a  quibusdam  ex  amicis  suis,  officio  pronobarum  fangentibos, 
tanquam  jure  occupatur.  Mulier,  rei  agendae  perita,  ferramentum  acutum,  curvatnm,  in  falsi 
urethrae  canalem  inserit,  quod  eum  admodum  curvatum  est,  ut,  quum  cuspis  cara  adhibita, 
sursum  propellitur,  cutis,  ubi  opus  est,  perforatur.  Uno  ictu  tegumentum  dissuitur,  et  rimae 
loDgitudo  eadem  prope,  quae  prius  fuerat,  restituitur.  Ex  illo  tempore  sponsa  summa  vigilantia 
a  pronubis  observatur,  a  quibus  ad  mariti  tugurium  deducitur.  Ibi  ante  fores  in  yigilia 
manent  pronubae,  et  signum,  quod  ex  usu  convenit,  auscultantes  exspectant:  quo  intus  edito, 
Chorus  omnis  feminarum  clara  voce,  arguta  simul  et  injucunda,  more  suo  exultantes  ulntant.. . . 
Antequam  mulier  puerum  eniti  possit,  opus  est,  vaginam  secundo  dilatare,  quae  post  partum 
arudine  introducta  ad  priorem  mensuram  iterum  contrahitur.* 

Von  Burckhardt  stammt  die  folgende  Angabe: 

.Cicatrix  post  excisionem  clitoridis  parietes  ipsos  vaginae,  foramine  parvo  relicto  inter 
se  glutinat.  Cum  tempus  nuptiarum  adveniat  membranam,  a  qua  vagina  clauditnr,  coram 
pluribus  inciditur,  sponso  ipso  adjuvante.  Interdum  evenit,  ut  operationem  efficere  nequeat 
sine  ope  mulieris  alicujus  expertae,  quae  scalpello  partes  vaginae  profundius  rescindit.  Maritus 
crastiua  die  cum  uxore  plerumque  habiat;  unde  illa  Arabum  sententia:  Post  diem  aperturae 
dies  coitus.  Ex  hac  consuetudine  fit,  ut  spousus  numquam  decipiatur,  et  ex  hoc  fit,  ut  in 
A egy pto  Superiori  innuptae  repulsare  lascivias  hominum  student,  discentes:  Tabousny  wala* 
takghergang.  Sed  quantum  eis  sit  invita  haec  continentia  post  matrimonium  demonstrant, 
libidini  quam  maxime  indulgentes.' 

Werne  sagt  von  den  Stämmen,  welche  südlich  vom  ersten  Nilkatarakte 
wohnen : 

«Ist  nun  eine  auf  solch'  scandalöso  Art  erhaltene  Jungfrau  —  früher  oder  später  Braut 
geworden,  so  werden  die  obscönen  Handlungen  fortgesetzt.  Eine  von  den  Weibern,  welche 
jene  Operation  ausführen,  kommt  unmittelbar  vor  der  Hochzeit  zum  Bräutigam,  um  dessen 
männliche  Vorzüge  zu  messen;  sie  verfertigt  darauf  eine  Art  Phallus  von  Thon  oder  Hols 
und  verrichtet  nach  dem  Maasse  desselben  eine  theilweise  Aufschneidung;  der  mit  einem 
Fettlappen  umwundene  Zapfen  bleibt  stecken,  um  ein  neues  Zusammenwachsen  zu  verhüten, 
unter  den  gebräuchlichen  lärmenden  Hochzeitsfeierlichkeiten  führt  alsdann  der  Mann  sein 
mit  verbissenem  Schmerze  einherschreitendes  Weib  nach  Hause  auf  das  Gerüst  hinter  einen 
grobwollenen  Vorhang  —  und  schon  nach  4  oder  5  Tagen,  ohne  die  Wunden  heilen  oder 
vernarben  zu  lassen,  fällt  der  Thier mensch  über  sein  Opfer  her.  Vor  dem  Gebären  wird  das 
Muliebre  zwar  durch  totale  Lösung  in  integrum  restituirt,  allein  nach  der  Geburt,  je  nach 
Belieben  des  Mannes,  bis  auf  die  mittlere  oder  die  kleinste  Oeffnung  wieder  g^chlossen, 
und  so  fort.* 

Ganz  ähnlich  äussert  sich  auch  Brehm: 

„Vor  der  Hochzeit  nun  sendet  der  Ehespons  den  Angehörigen  des  Mädchens  ein  aus 
Holz  geschnittenes  Abbild  seines  Penis,  nach  dessen  Maass  die  Oeffnung  in  den  Schamtheilen 
des  Mädchens  gemacht  werden  soll.  Ist  die  Frau  geschwängert,  so  wird  vor  der  Niederkunft 
die  Oeffnung  erweitert.  Das  geschieht  durch  einen  Schnitt  von  hinten  nach  vorn  gegen  den 
Schamberg  hin.* 

Auch  bei  den  Danakil  wird  nach  der  Angabe  von  Lanzi  durch  einen 
kleinen  Schnitt,  welcher  von  unten  nach  oben  geführt  wird,  so  viel  von  der  Scham- 
spalte geöffnet,  dass  der  Ehegatte  nach  glücklich  erfolgter  Verheilung  dieser  kleinen 
Wunde  in  Function  zu  treten  vermag.  Erst  kurz  vor  der  Entbindung  trennt  das 
alte  Weib  die  Verwachsung  vollständig. 

.Dieser  barbarische  Gebrauch  ist  ihnen  aber  derartig  in  Fleisch  nnd  Blnt  übergf^gMMH 
dass  es  Frauen  giebt,  welche  nach  der  Entbindung  sich  aus  eigenem  Antriebe  vernihen  Iwi 


nederaufflchneiden  der  infibulirten  Weiber. 


211 


i--.^,.     ..,.,.,       i.iU, 


Uarinmnn  konnte  eine  ungefähr  30  Jahre  alte  Sudanesin  aus  Alt^Don- 

jola,    welche    vernäht    gewesen    und    wieder    aufgetrennt  war,    nach    der   Natar 

siehnen    und    hat  mir  freundlichst  diese  Zeichnung  zur  Veröffent* 

lichung  überlassen.     Man    erkennt   die  nari>igen  Reste  der  kleinen 

Schamlippen    [ind    den   Stumpf  der   abgeschnittenen   Clitoris,    unter 

dem  «ich  die  Harn  röhr  enöfiimng  präsentirt  (Fig.  135). 

Dass  diese  Narbenbildung  an  den  Geschlechtstheilen  einen 
ntigönstigen  Eindruek  auf  den  Geburt«act  ausüben  kann,  wird  mau 
wohl  von  vornherein  annehmen  dürfen.  Der  Reisende  v»  Beurmann 
hat  auch  Phss  die  Mittheilung  gemacht,  dass  bei  denjenigen 
Völkerschaften,  welche  die  Vemähung  der  Geschlechtstheile  aus- 
üben, die  Frauen  häutig  sehr  schwer  gebaren :  auch  sollen  dort,  wie 
er  sagte,  oft  ^ Missgeburten"  vorkommen.  Dieses  Letztere  aller- 
pngs  kann  man  nicht  auf  Rechnung  der  Vernähung  schieben.  Von  nÄhf  gew^mene 
afrikanischen  Frauen,  an  welchen  die  Operation  nicht  vor-  (>:^"^***'**xaiiir 
genommen  wird,  sagte  t\  Beurmann^   dass  sie  meistens  sehr  leicht    V  von 

mederkommen.  ^  "*"•' 

Aber  auch  noch  andere  Nachtheile  bringt  das  Vernähen  mit  sich;  narnent- 
ch  kann  man  in  den  Spitälern  Aegyptena  vielfach  vernähte  Weiber  sehen^  die 
lii  Syphilis  inficirt,   in  Folge  ihrer  Operation  sehr  ausgedehnte  geschwiirige  Pro- 
zu  überstehen  haben.     ÜJth  sah  dort  mehrere  Neger -Sc lavinnen  mit  fürch- 
rlichen  Zerstörungen.    Man  hatte  sie  aus  dem  Inneren  Afrikas  auf  langem  Zuge 
arch  die  Wüste  geschleppt.     Ein  syphilitischer  Transporteur  hatte  sie  mitten  aus 
i  ^  tte    herausgenommen,    sie    aufgeschnitten    und   gemissbraucht     Ihre 
i'ien  verwandelten  sich  schnell  in  ausgedehnte  syphilitische  Geschwüre, 
mit  ^k:nm\  sie  ohne  Reinigung  bei  furchtbarer  Hitze  wochenlang  weitermarschiren 
mussten,  bis  sie  endlich  im  Hospitale  Unterkunft  fanden, 

Nicht   selten  werden    nach    erfolgter  Entbindung  die  unglücklichen  Weiber 
Neuem  der  Infibulation  unterworfen,  wie  wir  durch  Hartman»^  Vita  Hassan^ 
rrhm  und  Werne  erfahren.     Hartmami  sagt: 

»Aach  Sclavinnen  worden  eolchergeatalt  infittulirt.     Vs  giebt   grausame  Herron   («elbbt 

iropüer!)»    welche    an  Sclavimien,    ihren    «eitwoiaen    Miiitresien,  jene  Operation  zwei-  bii 

dimül  haben  vollziehen  lassctn  uad  die  Armen  dann  schliesslich  doch  noch  verkanft  haben/* 

W^rtw  lernte  in  der  Berber  ei  eine  junge  Wittwe  keanen,  deren  Mann  sie 

knr/cr  Zeit   sieben  Mal  diesen  Operationen  unterworfen  hatte.     Ekelerregende 

rbi*n  waren  davon  zurückgeblieben» 

Bei  Lindschoitün  heisst  es: 

«Wenn  sie  dann  erwachsen  und  verheyrat  werden,  bo  nsag  sie  der  Braatigam  wiedernmb 
lisehneiden,  so  gross  und  so  klein,  als  er  venneint,  dass  iie  ihm  eben  recht  sei/* 

In  Kordofan  muss  nach  Igna^  Vallme  bei  den  meisten  Stammen  die  Braut 
|Tor  der  Hochzeit  sich  der  ^zweiten  Besclineidung*  unterwerfen;  er  meint 
damit  die  Aufschneidung;  Ilüppdl  sagt; 
«(Die  Anfschneidung  der  ßraut,  d,  h.  die  erüffuende  Operation  an  den  GeachlecblAtheilen, 
nicht  eher  stutt,  nU  bis  der  ganze  bedungene  Uochzeitepreis  entrichtet  i«t.  Die  bei  der 
ufechnt^idung  gemachte  Oeffnung  ist  nach  IBedÜrfnif^  de»  Ehemannn  gröflser  oder  kleiner. 
?'enn  nach  erfolgter  Schwangorachaft  die  Zeit  der  Entbindung  aich  nähert,  so  wird  die 
Oeffnuni^  nötbigenfall»  durch  abermaligoä  Schneiden  vergröiiert,  und  nach  erfolgter  Geburt 
^     '  Oetfnung  durch  Auffrischen  der  Wundrflnder  wieder  Ktiin  Verwachsen  geeignet, 

^'  '»chnerin  gleichäaui  in  einen  jungfräulichen  Zustand  zurücktritt.     8io  bleiV>t  in 

tolciitiui  &'  1.^  sie  düa  Kind  stillt;  dann  schreitet  man  abormala  zur  Wiederaufschnei- 

duag.     T>i'  T*->Ti  wird  wiederholt,  bis  nach  dem  dritten  und  vicrtf^n  Wnf^benbett,  wenn 

€•  d<*r  t;    öfter*,    unterbleibt    sie    aber  schon  aa  '  —  Ich  habe 

^W^ib^  Afanner    kurz    nach    einem  der  enteo  Wf^  i  r  (Gattin  ge- 

rWti   waren;    und    da  zur  Zeit  des  Todeffalla  die  Wunde  der  ij-i»wachteo 

•0  befajtilifti  die  Fr.uipu   •'Ich  in  eiiipm   ferini?t>rli.ir»3in   TivA-Amh  ^  m\   Awuni^en 


212 


V.  Die  äUBfieren  Seiualorgane  dea  Weibes  in  ethnographischer  Hinsiebt, 


sie,  in  dem  txaurigen  Status  zu  bleiben;  denn  durch  die  Aufschneidung  würden  sie  freiwillig 
in  die  Klasse  der  Freuden  in  ädchen  sich  versetzt  haben/* 

Bei  den  Somali  lösen  nach  Pmdifsckke  vor  der  Ehe  die  bezeichneten  Chinr- 
inen    oder   die  Mädchen    selber  die  vernähte  Stelle,   welche  indessen  meist  erst 
rvor  der  Niederknnfl  vollständig  aufgetrennt  mrd. 


43.  Der  Mons  Veneria  in  aEthropologischer  Beziehung. 

Die  Physiognomie  des  Mons  Veneris,  des  Scharaberges,  wird  im 
Weaentlichen  durch  drei  Factoren  hervorgerufen,  durch  die  Formverhältnisse  des 
knöchernen  Beckens  (besonders  durch  die  Vergrösserung  oder  die  Verringenmg 
des  Winkels,  welchen  die  beiden  horizontalen  Schambeinäste  mit  einander  bildeo^ 
durch  die  stärkere  oder  geringere  Ablagerung  von  Unterhautfettgewebe,  und  endlicb 
durch  die  Art,  die  Farbe  nud  die  Anordnung  der  Sehambehaaning.  Da  nun  diese 
drei  Dinge  bei  den  Völkern  der  Brde  iu  sehr  verschiedenartiger  Weise  zur  Ent- 
Wickelung  gekommen  sind,  so  versteht  es  sich  wohl  ganz  von  selber,  dass  aocb 
an  dem  Schaniberg  Rassenunterschiede  bemerkbar  sein  müssen.  Aber  wir  sind 
noch  erheblich  weit  davon  entfernt,  hier  fertige  Lehrsätze  formuliren  zu  können. 
Denn  leider  ist  das  zu  Gebote  stehende  Beobachtungsmaterial  noch  ein  in  aller- 
höchstem Maaase  kümmerliches  und  spärliches.  Ja  selbst  über  die  entsprechendeai 
Verhältnisse  bei  dem  weihlichen  Geschlecht  der  civilisirten  europäischen  Nationen 
sind  wir  noch  fast  vollständig  im  Unklaren.  Denn  obgleich  über  ganz  Europa 
eine  enorme  Menge  von  Kliniken  und  Krankenhäusern  zerstreut  ist,  in  welchen 
täglich  zu  Beobachtende  aus-  und  eingehen,  so  hat  es  doch  leider  immer  noch 
an  Beobachtern  gefehlt,  welche  das  sich  ihnen  überreich  darbietende  Material  in 
verwerthen  und  für  eine  genauere  Verarbeitung  zusammenzubringen  sich  bereit 
erklärt  hätten.  An  anderer  Stelle  habe  ich  bereits  meine  Klage  darüber  laut 
werden  lassen  (Bartels)^  und  ganz  ohne  Wiederhall  ist  sie  nicht  verklungen. 
Wenigstens  hat  in  dem  Schema,  welches  die  von  der  deutschen  anthropologischen 
Gesellschaft  im  Jahre  1884  gewählte  Commission  für  das  Studiuoi  der  menschhcheü 
Behaarung  ausgearbeitet  hat,  auch  das  Körperhaar  seine  Berücksichtigtmg  ge- 
funden,   allerdings    ohne   bisher    zu  thatsächUchen  Ergebnissen  getlührt  zu  haben. 

Ueber  den  Schamberg  äusserte  sich  Johannes  Palft/n  im  Anfange  des  vorigeu 
Jahrhunderts  folgendermaassen : 

^On  enteud  par  l&  penil  1a  partie  eup^rieure  de  la  partie  honteuBep  situ^a  en  k  psrtie 
ant^rieure  des  m  pubis;  et  la  Motte  est  cette  partie,  qui  parait  elev^e  comuie  une  petita 
coUine  au-dessua  des  grandes  LävreH,  qui  pour  cela  est  apellee  le  Munt  de  Vinus,  parce  qtie 
tous  ceux  c|ui  s'enrollent  soub  Tetaudart  de  cette  Dresse,  doivent  necessairemeiit  Tescalader. 
La  Bubstance  e^iterzte  de  la  Motte  est  faite  seulement  de  la  peaut  mais  il  n*6D  va  ainsi  de  is 
partie  interne,  puiequ'elle  est  presque  tonte  de  graisse:  ce  qui  est  fait  expr^s  pour  la  rendfc 
^paiflse,  molle  ei  fort  eminente,  priucipalement  dang  lea  jeuues  üllea;  ou  cette  subatanoe  dooca 
et  d^licate  est  trfes- propre  pour  .servir  d'Oreiller  ä  Vinif^^  de  peur  que  Foh  pubia  des  demi 
Sexes  se  froissant  enseuible,  s'opposait  au  plaiair,  qu'ou  doit  trouver  dans  le  congr^s.*  (5rAjiri^*.j 

Der  Schamberg  geht  in  seinen  unteren  Partien  in  die  grossen  Schamlippen 
über  und  nimmt  noch  deren  obere  CommisBur  in  seinen  unteren  Rand  mit  auf. 
Nach  den  Seiten  reicht  er  bis  an  die  Leistenfurchen,  und  nach  oben  wird  er  von 
der  unteren  der  beiden  Bogenlinien  begrenzt,  welche  mit  dem  Nabel  zugekehrter 
Concavität  die  Unterbauchgegend  durchziehen.  Eine  reichliche  Ablagerung  von 
Unterhautfett  lässt  ihn  bei  den  deutschen  Damen  als  flachrundlichen  Hügel  über 
das  Niveau  der  Umgebung  hervortreten.  Auch  zeigt  er  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  von  den  Pubertätsjahren  an  gewöhnlich  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  einen 
mehr  oder  weniger  dichten  Haarwuchs,  welcher  aber  mancherlei  Variationen  unter- 
liegt, die,  wie  bereits  gesagt,  noch  nicht  einmal  in  Deutachland  binreiGfa^n^ 
studirt  worden  sind. 


47.  Der  Mona  Yeneris  in  anthropologischer  Beziehung.  213 

Für  das  etwas  stärkere  oder  geringere  Hervortreten  des  Schamberges  wird 
aach  die  grössere  oder  geringere  Neigung  des  gesammten  Beckens,  wenigstens  in 
einer  Reihe  Ton  Fällen,  yerantwortlich  gemacht  werden  müssen. 

Auch  in  Bezug  auf  die  Färbung  der  Haut  sollen  an  diesen  Stellen  mancherlei 
VeFBchiedenheiten  sich  nachweisen  lassen.  In  vielen  Fallen  scheint  sich  hier  eine 
intensive  Ansanmilung  des  Hautfarbstoffes  vorzufinden.  Genaueres  über  diesen 
Punkt  vermag  ich  aber  nicht  beizubringen. 

Die  Angaben  der  Reisenden  über  die  Eigenthümlichkeiten  des  Schamberges 
fremder  Volker  sind  ganz  ausserordentlich  spärlich.  Theils  haben  sie  dieser 
Korperr^on  wohl  keine  besondere  Bedeutung  für  unser  anthropologisches  Wissen 
beigelegt;  zum  grosseren  Theile  mögen  sie  aber  diese  Partien  gar  nicht  zu  Qe- 
flicht  bekommen  haben.  Anthropologische  Untersuchungen  an  diesen  Körperstellen 
können  ja  natürlicher  Weise  ausserordentlich  leicht  missdeutet  werden. 

Einzelne  photographische  Aufnahmen  entkleideter  Vertreterinnen  fremder 
Völker  können  uns  in  etwas  unterstützen;  allerdings  ist  ihre  Zahl  bisher  erst 
noch  eine  sehr  kleine. 

Mehrere  Negerinnen  der  Loango-Küste  sind  in  für  unsere  Zwecke 
brauchbarer  Weise  von  Falkenstein  photographisch  aufgenommen  worden.  Der 
Mona  Veneris  erscheint  bei  fast  allen  nur  wenig  hervortretend  und  arm  an  Unter- 
hautfettgewebe. Ungefähr  das  gleiche  Urtheil  muss  ich  über  einige  Abyssi- 
nierinnen  der  Colonia  eritrea  aus  der  Gegend  von  Massaua  fallen,  deren 
Photographien  wir  Georg  Schtceinfurth  verdanken. 

Von  Javaninnen  besitzt  die  Berliner  anthropologische  Gesellschaft  durch 
die  Freundlichkeit  des  Herrn  Kuypers  einige  Photographien.  Hier  ist  bei  allen 
dargestellten  Mädchen  der  Mons  Veneris  gut  und  rundlich  entwickelt,  mit  Aus- 
nahme einer  sehr  jungen  Person,  wo  ein  eigentlicher  Schamberg  nicht  zur  Aus- 
bildung gekommen  ist,  obgleich  an  der  Stelle,  wo  er  sitzen  sollte,  doch  auch  das 
Unterhautfett  etwas  stärker  angehäuft  erscheint,  als  in  der  Nachbarschaft. 

Gut  entwickelt  finden  wir  den  Schamberg  bei  Samoanerinnen  und  bei 
einer  Emgeborenen  der  Carolinen,  welche  in  dem  Godeffroy  - k\h\xm  veröffent- 
licht wurden. 

Von  den  Inseln  Lakor,  Moa  und  Leti  hebt  Riedel^  ganz  besonders  hervor, 
dass  die  breitköpfigen  Einwohnerinnen  ein  gut  ausgebildetes  Fettpolster  an  ihrem 
Mons  Veneris  aufzuweisen  hätten.  Sie  scheinen  sich  demnach  hierin  sowohl  von 
der  schmalköpfigen  Bevölkerung  derselben  Eilande,  als  auch  von  den  Weibern  der 
übrigen  Inseln  des  alfurischen  Archipels  zu  unterscheiden. 

Die  Vahine,  d.  h.  die  Weiber  von  Tahiti  sollen  einen  gut  entwickelten 
Mons  Veneris  besitzen,  der  bei  einigen  sogar  very  highly  developed  erscheint. 
(Army  surgeon.) 

Bei  den  Feuerländerinnen  haben  Hyades  und  Deniker  den  Schamberg 
.peu  developpe*  gefunden. 

Eine  sehr  eigenthümliche  Form  des  Schamberges  wird  von  Lockhart  und  von 
Morckche  bei  den  Chinesinnen  beschrieben,  und  mit  der  oben  ausführlich  ge- 
schilderten Verstümmelung  der  FQsse  in  einen  ursächlichen  Zusammenhang  gebracht. 
Morache  sagt  darüber: 

«Plnsienrs  persoDiies  m'ont  affirme  que  chez  laChinoise  toute  la  partie  antärieure  du 
bassin,  le  mont  de  V^nas  formaient  une  masse  consid^rable,  separee  par  un  pli  marque  de 
Tabdomen;  qne  les  grandes  levres  ^taient  egalement  plus  d^veloppäes:  les  Chinois  trouvent 
natarel  qne,  par  une  loi  d'öquilibre,  un  developpement  anormal  compense  une  atropbie  deter- 
min^e  voltutairement.* 

Sdigmann  hat  über  diesen  Gegenstand  nähere  Erkundigungen  eingezogen, 
aber  er  erhielt  keine  Bestätigung  für  diese  Angaben. 

Das  kgL  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin  besitzt  eine  Anzahl  von  höchst 
kunstvoll  ausgeführten  chinesischen  Reliefs  in  farbigem  Speckstein,  welche  den 


214 


y.  Die  äosseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  etlincigraplii»ohor  Hinsicht. 


Kamen  tÄch'üntsch'eh  d.  h.  Frühlingstäfelcheu  oder  pi-hi  d,  h.  geheim« 
Spiele  führen*     Sie  enthalten  erotische  Scenen,  auf  welche  ich  an  anderer  Stelle 
noch    zurückkommen  werde.     Hier   zeigen   die  zur  Darätellong  gebrachten  weib- 
lichen Individuen,  welche  sammtlich  die  Verstümmelung  der  Füsse  aufweisen,  aller- j 
'ags   eine   sehr   kräftige  Eütwickelung   des  Schamberges,    und   auch  die  grossem 


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•  tklddute  Cb  iß  CS  in.    CtiiuosiäLLoä  Kulief  von  «jiDcm  FriüiUögii-TaXclcJicü^ 
(Kgl.  Mneteut»  mr  VölkerkuDde  in  ßorlin.) 


Schamlippen    Bind  von    beträchtlicher  Ausdehuung    und    scheinen    eine   rojchliche 
Menge  von  Unterhautfettgewebe  zu  besitzen.    Mau  vergleiche  hierzu  Fig.  13(>*    Esi 
werden    demnach   die  Angaben    von  MoracJte's  Gewährsmännern    doch   wohl    den 
thataächlichen  Verhältnissen  entsprechen,  und  wir  lernen  somit  hierin  eine  höchst] 
absonderliche  Form  der  Körperplastik  kennen. 


48«  Die  Korperbehaarung. 

Um  ein  abgeeehlossenes  Bild  des  Mons  Yeneris  in  anthropologischer  BttA 
Ziehung  z\x  geben,  muss  auch  noch  von  seiner  Behaarung  gesprochen  werden,! 
welche  bekanntennaasüen  bei  beiden  Geschlechter«  in  den  Jahren  der  Pnbftrtitl 
ÄUr    Ent Wickelung    kommt.     An    anderer    Stelle    habe    ich    bereits    n; 

{Barieh^U   dass    in  Bezug   auf   die  Ausbreitung   dieser  Behaarung   z\\l  den] 

Männern  und  den  Weibern  wohlcharakteriairte  Unterschiede  bestehen*     Dort  gabl 
•'V  folgende  Beschreibung: 

,,Aaf  dem  Ußt^rbaocbe  markireo  eich  in  der  Haut  »^el  bogaii förmige,  ««ichie  Furdum 
üUtT  Fultoii,    dercu  Convedtfit    nach    abwärU    gericht*»t    i»t     Dor 
beginnt  etwits   oberhalb  der  Spina  anterior  »u^ierior  oshih  ilei  un  i 
riigof&br  an  der  Grenze  zwuicheu  ihrem  iiDt«ren  und  mittleren  DriiiÜi«iL     I>i?r  unUüf 


48.  Die  KÖTperbebaarung. 


215 


bi  si&rker  gekrümmt;  er  beginnt  etwas  unterhalb  des  oberen,  vorderen  Hüftbeinstach^h  and 
terUluft  iiimahrend  in  der  Ricbtung  der  Ligamenta  Pouparti.  sich  etwa«  über  dem  oberen 
llAnde  der  Scbaujbeiusympb^'se  mit  dem  entsprechenden  Bogenachenkei  der  anderen  Seite  ver- 
bin igen  d.  Die  mittlere  Partie  dieaes  (unteren)  Bogen»  giebt  die  obere  Greose  der  normalen 
»ebaarnng  der  weiblichen  Scbamtheile  ab/* 

,^Der  untere  Bogen  selbst  ist  nämlich  weiter  nicht»,  ah  die  äussere  Marke  für  die  untere 

(•grenz  ung  der  Bauch  wand»  för  die  Stelle,   wo   die  Bauchrausculatur  sich  theils  an  die  Pou- 

^artiathen  Bänder^    theils   an    die  Symphyse   der  Schambeine    ansetzt.     Alle   Haut   oberbUb 

liese«  Bog«?n9   ist  daher  als  eigentliche  13aQchhaut  in  betrachten,  wUhrend  die  abwärts  von 

phm  gelegene  Haut  schon  der  äusseren  Bedeckung  des  BeckengÜrteli  angehört  und  mit  ihrer 

üittleren  Abtheilung  die  Hautbekleidung  des  Schamberge«  bildet*' 

„Bei  Männern,  wo  die  Mittehibtbeilung  von  Brust  und  Bauch  eine  Ilaarbekleidung  trügt, 
|eht  die  Behaarung  des  Bauches  bis  zu  diesem  unteren  Bogen  herab  und  TerschmilKt  hier 
II  it  der  Becken  beb  aarung,  mit  den  Schamhaaren.  Bei  dem  weiblichen  Geschlechte  aber,  wo 
Jrust  und  Bauch  von  Behaarung  frei  int,  und  nur  die  vordere,  mediane  Partie  des  Becken- 
ürtelü,  der  eigentliche  Mona  Veneria,  mit  einem  Haarwuchs  ausgestattet  ist,  muss  der  ge- 
iert©  untere  Bogen  die  obere  Grenze  der  LetEteren  bilden,  weil,  wie  gesagt,  die  oberhalb 

Bogens  gelegene  Haut  bereits  dem  Bauche  angehört.** 

In  Ausnahmefällen  wird  bei  Weibern  diese  obere  Grenze  Ton  dem  Haar- 
H'trchse  doch  übersch ritten,  so  dass  sich  in  der  Medianlinie  des  Bauches,  bisweilen 
[idbst  bis  zum  Nabel  hin  eine  Behaarung  auffinden  lässt.  Das  ist  dann  eine  so* 
(f.  *  Ileterogenie^    d.  h,  das  Auftreten  anatomischer  Zustände  bei  einem  Ge- 

♦%  welche  bei  diesem  anomal,  bei  dem  anderen  Geschlechte  aber  typisch  sind. 
lanx  ähnlich  müssen  wir  es  bei  Männern  als  eine  Heterogenie  bezeichnen,  wenn 
lie  an  der  Brust  und  am  Bauche  keine  Spur  von  Behaarung  besitzen,  während 
Are  Scham behaaruug  die   beim  weiblichen  Geschlechte  typischen  Grenzen  mnehält. 

Lateral wärts  dehnt  sich  die  Behaarung  normaler  Weiber  nur  bis  zu  der 
eiöteni'urche  ans  und  geht  nicht  auf  die  ijinere  Fläche  des  Oberschenkels  über 
Lusnahaiswtnse  kommt  auch  dieses  vor;  das  ist  dann  aber  ebenfalls  eine  Form 
ler  Heierogenie.  Auch  nach  unten  und  hinten  zu  kann  die  Schambehaarung  eine 
Heterogene  werden,  wenn  sie  über  die  hintere  Commissur  der  grossen  Schamlippen 
reiter  achreitet  und  sich  über  das  Mittelfleisch  hin,  oder  selbst  bis  zu  dem  After 
erstreckt.  Ein  Haarkranz  um  diese  letztere  Korperoffnung  ist  als  eine  besonders 
charakteristische  secundare  Geschlechtseigenschaft  der  Männer  angesehen  worden* 
\ber  in  allerdings  nur  seltenen  Fallen  findet  sich  bei  Vertreterinnen  des  weiblichen 
Geschlechts  auch  diese  Art  der  Heterogenie. 

Also  nach  oben,  nach  den  Seiten  und  nach  unten  und  hinten  (nach  allen 
liesen  drei  Richtungen  gleichzeitig,  oder  nach  der  einen  oder  der  anderen  allein) 
knnnen  die  weiblichen  Pubes  sich  über  das  für  die  Weiber  typische  Gebiet  io 
heterogener  Weise  ausdehnen.  Aber  dieses  typische  Gebiet  wird  bei  einer  grossen 
Eahl  Ton  Frauen  und  erwachsanen  Mädchen  durchaus  nicht  vollständig  von  dem 
Bchamhaare  bedeckt;  im  Gegentheile,  bei  sehr  vielen  Weibeni  ist  nur  ein  relativ 
kleiner  Theil  dieser  Region  mit  Ilaaren  bewachsen.  Hierin  müssen  wir  eine  Art 
ron  Uemmungsbildung,  ein  Stehenbleiben  auf  halb  kindlichen  Zuständen  erblicken, 
ron  denen  später  noch  die  Rede  sein  soll. 

Unsere  speculativen  Vorfahren  haben  auch  darüber  nachgedacht,  was  tiir 
^nen  praktischen  oder  ästhetischen  Zweck  die  Schambefaaarung  eigentlich  zu  er- 
len  hätte.     Der  alte  Galenus  hat  dieselbe  als  eine  besondere  Zierde  betrachtet: 

,,Pili  circa  pudend«  aperinientum  et  orn  amen  tum  ejus  loci  partibas  praebent,  non 
dittTt  quam  nai^s  quidem  ano,  praeputium  aatem  pudendo.* 

Burhird  EhU:  dagegen  sagt: 

^Die  Schamhaare  ncheinen  mir  in  dieser  Beziehung  bloM  dasKti  beyzntrag^n,  die  Scham- 
ftU««  welche  wnhl  nicht  zu  den  schön  geformten  gehören,  dem  Blicke  gehörig  %n  entziehen/' 

Aehnltch  ist  wohl  auch  die  Auffassung  des  alten  dänischen  Anatomen 
war  Bartholinus,     Es  heisst  bei  ihm: 

^Ptli  pabi«  in  matoris  erümpimt  ad  labia,  nt  melius  claadatur  rima.^' 


216  ^'  ^^^  äoasereD  Sexualorgane  des  Weibes  in  etimdgraphiBcher  Hinsicht. 

Eine  eigenthümliche  Reflexion  über  die  Behaanmg  der  Genitalien  finden 
wir  bei  Gerdy: 

„Nach  unten  zeigt  das  Becken  nnr  eine  schmale  Forche,  an  welcher  man  jedoch  nach 
vom  die  geschlechtlichen  Charaktere,  hierauf  den  Damm  (perinaenm)  nnd  endlich  nach  hinten 
die  Afberöffinong  unterscheiden  kann.  Alle  diese  Theile  sind  durch  Haare  verdeckt,  Yomehmlich 
aber  die  Zeugungsorg^e.  Es  wird  dadurch  gleichsam  ein  Schleier  gebildet,  unter  welchem 
sich  diese  schon  durch  ihre  Lage  yersteckten  Organe  dem  Auge  entliehen,  und  wunderbarer 
Weise  gerade  dann,  wenn  die  Geschlechtstheile  aus  ihrer  ursprOnglichen  Keuschheit  heraus- 
treten, wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  wenn  die  Geschlechtedifferens  schon  die  Leiden- 
schaft der  Liebe  aufzuregen  vermag,  —  gerade  dann  bedeckt  sie  die  Natur  mit  einem  Schleier, 
welcher  die  Einbildungskraft  nur  um  so  mehr  aufregt  und  die  mächtigste  Leidenschaft  nur 
um  so  stärker  entflammt." 

Blancard  nahm  an,  dass  die  inneren  Theile  durch  die  Schamhaare  Yor  Kalte 
und  Ungemach  bewahrt  werden  sollten,  während  Fdbricius  ab  Aquapendente  sie 
theils  den  Schweiss  aufsaugen  und  ableiten  und  theüs  bei  dem  eheUchen  Verkehre 
den  gegenseitigen  Druck  nach  Art  eines  Polsters  yermindem  lasst 

Der  schon  erwähnte  Eble  kommt  nach  längeren  Betrachtungen  endlich  noch 
zu  folgendem  Schluss: 

„Es  ist  mir  demnach  wahrscheinlich,  dass  der  Zweck  dieser  Haare  zusammengesetzt 
sey,  und  zwar  1.  in  Absonderung  einer  eigenthümlichen  Flüssigkeit  unter  der  Form  der  un- 
merklichen Ausdünstung,  2.  in  Ableitung  des  vom  Bauche  herabfliessenden  Schweiasee  und 
anderer  Körper,  3.  in  YerhinderuDg  einer  zu  starken  Reibung  der  beyderseitigen  Schamtheile 
bejm  Beyschlafe,  4.  in  Bezeichnung  der  Geschlechtsreife,  und  endlich  5.  in  einem  eigenthüm- 
lichen, bisher  noch  zu  wenig  gewürdigten  Einflnss  auf  den  beym  Beyschlaf  wirkenden,  elek- 
trischen Process  zwischen  den  beyden  sich  polarisch  entgegenstehenden  Individuen  bestehe. 
Sollten  die  so  stark  angehäuften  Schamhaare  nicht  besonders  dazu  dieneo,  das  elektrische 
Fluidum  zurückzuhalten,  oder  vielleicht  durch  gegenseitige  Reibung  höher  zu  poteudren  und 
von  dem  vorwaltenden  Pol  bey  fortgesetztem  Conflict  auf  den  passiven  überzuleiten?  Wenigstens 
spricht  für  den  angegebenen  Einfluss  der  Schamhaare  auf  das  Greschäfl  der  Zeugung  die  That- 
sache,  dass  beym  Menschen  die  Dichtigkeit  und  Krause  der  Schamhaare  meist  in  geradem 
Yerbältniss  zur  Stärke  der  Zeugungskraft  stehe,  und  dass  die  geilsten  Personen  meistentheils 
auch  in  dieser  Gegend  sehr  behaart  sind.  Interessant  wäre  es  nun,  zu  erfahren,  ob  bey  übrigens 
gleichen  Verhältnissen  die  stärker  behaarten  Weiber  auch  fruchtbarer  als  die  andern  sind. 
Wenn  es  endlich  wahr  ist,  was  auch  Jahn  bezeugt,  dass  keine  Frau,  welche  haarlos  an  der 
Scham  ist,  schwanger  werde,  so  könnte  man  wenigstens  den  genauen  Zusammenhang  zwischen 
dem  Erscheinen  dieser  Haare  und  den  Geschlechtsfunctionen  nicht  mehr  leugnen.* 

Kehren  wir  nach  diesem  Excurse  auf  das  Gebiet  der  Thatsachen  zurück! 
Ich  habe  oben  schon  mit  Bedauern  erwähnt,  dass  diese  letzteren  uns  bisher  nur 
ziemlich  spärlich  zu  Gebote  stehen. 

Der  erste,  der  Tabellen  darüber  anlegte,  war  der  yerstorbene  Gynäkologe 
Eggel  in  Berlin,  welcher  mir  dieselben  seinerzeit  zur  Bearbeitung  überlassen 
hatte  (Bartels^).  Es  ging  aus  der  Analyse  dieser  Tabellen  hervor,  dass  die  Be- 
haarung des  Mons  Veneris  in  Bezug  auf  ihre  Farbe  in  einem  ungefähren,  aber 
nicht  ganz  absoluten  AbhängigkeitsTerhältnisse  zu  der  Farbe  der  Kopfhaare  sich 
befindet,  während  die  Färbung  der  Augen  einen  Rückschluss  auf  die  Farbe  der 
Pubes  nur  mit  grosser  Reserve  gestattet. 

Unter  1000  untersuchten  weiblichen  Erwachsenen  waren: 

dunkeläugig 239 

dunkelhaarig  (Kopfhaar) 338 

.  (Schamhaar) 329 

helläugig 761 

hellhaarig  (Kopfhaar) 667 

,  (Schamhaar) 671 

Es  waren  daher  auch  bei  einer  Anzahl  von  dunkeläugigen  Weibern  helle 
Schamhaare  vorhanden,  und  die  letzteren  fanden  sich  in  einigen  Fallen  selbst  bei 
solchen  weiblichen  Individuen,  welche  sich  im  Besitze  eines  dunklen  Kopfhaares 


218  ^^  ^^^  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

als  Heterogenie   der  Behaarung   bezeichnet.    Für  diese  scheinen  ganz  besonders 
unsere  Blondinen  prädisponirt  zu  sein. 

In  jQngster  Zeit  hat  sich  Rothe  auf  meine  Veranlassung  Yon  Neuem  mit 
diesem  wichtigen  Thema  beschäftigt  und  seine  wiederum  an  1000  Frauen  in 
Berlin  gemachten  Erfahrungen  in  einer  fleissigen  Arbeit  niedergelegt.  Er  fami 
die  Schamhaare  der  untersuchten  norddeutschen  Frauen  «überwiegend  blond 
und  zwar  besonders  dunkelblond.  Bei  rothhaarigen  Frauen  sind  die  Schamhaare 
in  allen  Fällen  roth  oder  hell.  Bei  den  Schwarzhaarigen  sind  sie  nur  in  '/s  der 
Fälle  schwarz,  in  fast  ^/g  sind  sie  braun,  in  zwei  Fällen  sogar  dunkelblond.  Die 
Jüdinnen  zeigen  überwiegend  braune  Schamhaare.  Bei  52  von  977  nord- 
deutschen Frauen  waren  die  Schamhaare  an  den  grossen  Schamlippen  heller 
gefärbt,  als  am  Schamhügel.'' 

Ueber  die  Anordnung  der  Schambehaarung  äussert  sich  Rothe  folgender- 
maassen : 

^Hat  man  nun  Gelegenheit,  bei  einer  grossen  Anzahl  Frauen  die  Behaarung  der  Scham- 
theile  zu  untersuchen,  so  ist  man  erstaunt  über  die  grosse  Mannigfaltigkeit,  welche  dieselbe 
nach  Anordnung,  Menge,  Ausdehnung  bietet ;  fast  scheint  es,  als  ob  die  Fälle  der  Erscheinungen 
keine  Regel  zulässt.  Bald  ist  es  ein  kurzer,  krauser  Rasen,  der  den  Schamhügel  und  die 
Schamlippen  deckt,  bald  ein  üppiger  Busch,  der  über  den  Theilen  wuchert  und  sie  den 
Blicken  entzieht;  dann  wieder  sind  sie  spärlich  und  dünn  ges&t;  hier  unregelm&ssig  durch 
einander  gelagert;  dort  ist  nur  ein  schmaler  Streif  von  langen  Haaren,  der  in  der  Mitte  Yom 
Yenushügel  herabzieht.  Die  einen  schneiden  scharf  nach  den  Seiten,  nach  oben  und  hinten 
ab,  andere  überschreiton  die  gewöhnlichen  Grenzen;  fast  in  jedem  Falle  finden  sich  mehr  oder 
minder  ausgeprägte  Besonderheiten,  die  ihn  von  andern  unterscheiden.  Dennoch  Hessen  sich 
bei  einiger  Liberalität  in  der  Zusammenfassung  zwei  grosse,  durch  Zwischenformen  mit  einander 
verbundene  Hauptformen  unterscheiden.* 

Rothe  sagt  dann  an  späterer  Stelle: 

.Die  Schambehaarung  von  490  untersuchten  Frauen,  477  Norddeutschen,  11  Jüdinnen, 
2  Polinnen,  konnte  nach  ihrer  Anordnung  in  zwei  Hauptgruppen  unterschieden  werden: 
in  dem  einen  Falle  waren  die  Schamhaare  ausschliesslich  oder  vornehmlich  in  der  Mittellinie 
des  Schamhügels  gewachsen  und  zogen  in  der  Mittellinie  über  die  grossen  Schamlippen  hin, 
oder  sie  waren  an  allen  Theilen  des  Schamhügels  und  der  Schamlippen  auf  gleicher  Raum- 
einheit in  gleicher  Menge  gewachsen.  Jede  dieser  beiden  Hauptgruppen  umfasst  etwa  die 
Hälfte  der  Fälle.  Bei  beiden  Hauptgruppen  lassen  sich  einige  Unterabtheilung^n  unter- 
scheiden.* 

Von  diesen  Unterabtheilungen  giebt  Rothe  eine  genaue  Schilderung,  die  ich 
jedoch  an  dieser  Stelle  übergehen  kann.  Interessant  sind  aber  noch  seine  An- 
gaben, dass  bei  420  norddeutschen  Frauen  die  Pubes  am  häufigsten  gelockt, 
etwas  weniger  häufig  kraus  oder  weniger  gelockt  und  viel  seltener  schlicht  waren. 
Ueberwiegend  hatten  die  Haare  eine  „mittlere  Länge,  seltener  waren  sie  kurz  und 
noch  seltener  lang*.  Was  ihre  Dichtigkeit  anbetrifft,  so  waren  sie  bei  465  Frauen 
„am  häufigsten  in  massiger  Menge,  seltener  in  reichlicher,  viel  seltener  in  geringer 
Menge  zu  finden*. 

Vollständigen  Mangel  an  Schamhaaren  hat  Rothe  nur  in  einem  Falle,  und 
zwar  bei  einer  Blondine  gesehen.  Heterogenie  der  Schambehaarung  fand  er  unter 
den  1000  Frauen  mehrfach.  42  Mal  war  die  obere  Grenze,  146  die  seitliche 
und  hintere  Grenze  von  dem  Haarwuchs  überschritten.  Darunter  befanden  sich 
im  ersteren  Falle  eine,  im  letzteren  Falle  drei  Jüdinnen.  Auch  Rothe  kam  zu 
dem  Resultat,  dass  hellhaarige  Weiber  eher  zur  Heterogenie  geneigt  sind,  als 
dunkelhaarige. 

Nach  diesen  Erörterungen  möge  folgen,  was  über  die  Schambehaarung 
fremder  Völker  berichtet  worden  ist.  Es  war  oben  schon  von  den  Darstellungen 
entblösster  Weiber  auf  den  chinesischen  Frühlingstäfelchen  die  Bede.  Die 
Schamhaare  sind  hier  in  schwarzer  Färbung  angegeben.  Sie  erscheinen  kurz  und 
schlicht   und   dabei  wenig  dicht   stehend,  auch  decken  sie  bei  weitem  nicht  den 


4B.  Die  Körperbehaarang, 


219 


m  Mona  Venerls^  sondern  sie  bilden  auf  ihm  eine  zienilicli  schmale  dreieckige 
Sgur,  an  ein  lateinisches  V  mit  nach  oben  gerichteter  Spitze  erinnernd. 

^Der  Haarwuchs  am  Mona  Veneris  der  Japanerinnen,  sagt    Wernich,   ist 
egenüher  der  Stärke  des  Haupthaares  und  der  Dicke  des  einzelnen  Haarschaftes 
Irflig;    ausserordentlich  selten  bildet  er  ein  Dreieck,  die  ovale,  die  Vulva  ober* 
Ib  imitirende  Cuntour  herrscht  vor,**     Auch  JBaf/^  sagt  von  den  Japanerinnen, 
ihr  Mons  Veneris  wenig    ausgebildet    und   die  Behaarung  de^sselbeii  spärlich 
borstig    ist.      Doemt£   fand    in    ausserordentlicher    Häufigkeit    vollständigen 
langel    der    SchambehaaruDg»     Duss    dieser    Zustand    aber   von    den    Japanern 
icht   als    eine    Schönheit   betrachtet    wird,    geht    aus    einem   schwerbeleidigeuden 
chimpfwortc    hervor,    das  kawarage  heisst,  zu  deutsch  Ziegelsteinhaar,     Das  be- 
deutet, die  Geschimpfte  habe  an  ihrer  Vulva  so  viel  Haare,  als  sie  ein  Ziegelstein 
it,  also  gar  keine. 

Es  wurde  weiter  oben  schon  das  Bild  von  der  japanischen  Frau  erwähnt, 
ie  in  Wollust  gesündigt  hat.  Ich  gebe  dasselbe  in  Fig,  137  wieder.  Hier  hat 
BT  bertihmte  Martttjama  Ohio  die  Schamtlieile  mit  sehr  starker,  schwarzer  Be- 
laarung  dargestellt  Die  Haare  stehen  dicht  und  sind  von  beträchtlicher  Länge, 
inch  scheinen  sie  ziemlich  dick  zu  sein>  Sie  sind  ungekräiiselt,  schlicht  uud  weit 
Vom  Kr>rper  abstehend.  Nicht  nur  der  ganze  Monit  Veneris  ist  dicht  bestanden, 
andern  die  Behaarung  bekleidet  auch  die  äusseren  Flächen  der  grossen  Scham- 
Pppen  fast  bis  zu  deren  hinterer  Commissur  herab.  Auch  aus  den  AchselhJihlen 
irrt  ein  reichlicher  Haarwuchs  hervor. 

Bei  den  Moy*  Weibern  in  Cochinchina  ist  der  Schamberg  mit  einer  guten 
ihl  krauser  Haare  von  tiefschwarzer  Farbe  bedeckt,     (Army  snrgeon,) 
Die  Annamitinnen    besitzen    nur    wenige  Schamhaare    am    Mons  Veneris, 
fArmy  mrgpoiu) 

Der  Schamberg  der  Weiber  in  Cambodja  ist  epärlich  behaart;    die  Haare 
smd  von   dunkelnussbrauner  Farbe   und  zeigen   eine    leichte  Kräuselung.     (Arm}f 

Im  vorigen  Jahrhundert  behauptete  der  Reisende  Tavermet\  »dass  in  Lahor 
jind  dem  Ktinigreiche  Kascbemir  alle  Weiber  von  Natur  keine  Haare  auf  einem 
"'    igen  Tbeil  des  Leibes  haben*.     (Eile.) 

An  Photographien  von  Javanincen  ist  Folgendem  zu  sehen: 
Fs  hündoU  sich  um  8  junge  Penonen,  von  denea  die  eine  ao  voiläUlodijcr  kahl  erscheint, 
I  \  iiUen  Zweifel  abaichtlicbe  Enthaarung  vorliegen  mtiifi.     Die  sieben  anderen  aind 

tv  rk  beliaiirt.     Der  gut  entwickelto  Mona  Veneria  ist  mit  ziemlich  langen,  krausen 

llaaraa  bewachsen,  welche  dicht  bei  einander  stebeti^  Bei  einigen  sind  die  lateralsten  Partien 
^m  SehamhiirgQfl  von  der  Behaarung  frei  geblieben.  Der  Haarwach»  steigt  ein  erbebliebe» 
^Ittck  an  der  Hosaeren  Seite  der  groaaen  Schamlippen  herab,  «o  daai  er  die  Eima  padendi  dem 
Mick  entiüebt. 

_  Bei   den   See-Dayakinnen    von   Borneo   sind,   wie   Roth   berichtet,   die 

Sdiaaihaare  oft  recht  erheblich  entwickelt. 

Von  den  Weibern  der  Itälmenen  auf  Kamtschatka  berichtet  Steuer: 
^Ueber  der  Scham  haben  sie   ailaine   ein  SchÖpttein  Bchwarrer»  dünner  Haare,  wie  ein 
ochdl  auf  dem  Kopf,  du«  Uebrige  iat  alle«  kahl* 

Bei  den  Cumberland-Eskimos  ist  rxB^ch  SchUephake  die  Korperbehaarung 
nor  schwach  entwickelt. 

Auch  bei  der  älteren  Feuerländerin   fand  v.  Meiner  daa  Fettpolster  auf 
^em  Mons  Veneris  sehr  gering  entwickelt,  so  das»  die  vordere  Fläche  der  Scham- 
eine als  eine  scharf  begrenzte  viereckige  Erhöhung  hervorragte.    Die  Behaarung 
f  Mona  pubiB   bestand    nur  aus   einem  zarten  Flaum  von   \  3  cm  langen  feinen 
&n.     Ebenso  hatte  die  jüngere  Feuerlanderin  nach  v,  Bischoff  nur  einen 
stark  entwickelten  Schamberg, 


idiäi 


ÜfiL. 


SBl 


220  ^'  ^^^  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht 

Hyades  und  Deniker  sagen  von  ihren  Feaerländerinnen: 
,Sur  15  femmes  examin^es,  2  seulement  avaient  des  poils  rares  au  pubis,   les  treise 
autres  avaient  les  pubis  glabre.* 

Wenn  man  aber  die  einzelnen  Falle  durchgeht,  so  gestaltet  sich  die  Sache 
doch  etwas  anders. 

Allerdings  heisst  es:  pubis  absolument  glabre  bei  einer  ISj&hrigen,  pabis  glabre  bei 
einer  18  jährigen;  aber  eine  30 jährige  hatte  schon:  pubis  glabre,  sauf  quelques  poils  extreme- 
ment  rares  et  courts  sur  le  mont  de  Venus,  und  bei  einer  17jährigen  war  le  pubis  ^pile, 
aber  six  mois  apres,  les  poils  de  cette  r^gion  ^taient  extr^mement  courts  et  rares;  ee  waren 
also  doch  auch  Haare  da.  Eine  20jährige  hatte  poils  tr^-rares  et  courts  au  pubis,  eine  40- 
jährige  poils  extr§mement  rares  et  courts  au  pubis.  Endlich  heisst  es  Ton  einer  17jährigen: 
sur  les  pubis,  poils  assez  longs,  fins,  rares,  und  eine  30jährige  hatte  sogar:  poils  du  pubis  asses 
abondants,  ce  qui  est  une  exception  tr^s-rare  chez  les  Fu^giennes. 

Immerbin  Hessen  doch  unter  diesen  12  Personen  genau  die  Hälfte  die 
Schamhaare  nicht  vollständig  vermissen. 

Der  stark  entwickelte  Schamberg  der  Negerinnen  in  Französisch 
Guyana  ist  mit  einigen  starren  und  harten  Haaren  besetzt.     (Army  surgeon.) 

V.  Bischoff  konnte  eine  Sudan -Negerin  obduciren,  welche  einen  gut  aus- 
gebildeten, mit  krausen  schwarzen  Haaren  reichlich  bedeckten  Yenusberg  besass, 
und  Waldeyer  sagt  von  seinem  Koronna-Weibe: 

„Der  Mons  Yeneris  ist  stark  eutwickelt  mit  einem  2  bis  2,5  cm  dicken  Fettpolster. 
Derselbe  ist  mit  schwarzen,  krausen,  jedoch  kurzen  Haaren  dicht  besetzt;  diese  stehen  nicht 
in  Gruppen,  bilden  aber  hier  und  da  kleine  Spirallöckchen.  Die  Behaarung  setzt  sich  auf 
die  beiden  grossen  Schamlippen  fort,  wird  aber  gegen  das  untere  Drittel  der  letzteren  be- 
deutend schwächer;  zu  beiden  Seiten  des  Dammes  finden  sich  nur  noch  vereinzelte  stärkere 
Haare.* 

Bei  der  Pariser  Yenus  Hottentotte  (bekanntlich  keine  Hottentottin, 
sondern  ein  Buschweib)  fanden  sich  nur  einige  sehr  kurze  Flocken  von  Wolle, 
gleich  der  des  Kopfes,  und  auch  bei  dem  von  Luschka  und  Görte  untersuchten 
Busch weibe  Afandi  zeigten  sich  nur  wenige  kurze  Härchen. 

Eine  mir  vorliegende  Photographie  eines  jungen  Mädchens  aus  Britisch- 
Kafferland  zeigt  den  Mons  Yeneris,  wie  auch  die  Aussenflächen  der  stark  ent- 
wickelten grossen  Schamlippen  mit  kurzen,  dichtstehenden  Büscheln  wollig-krauser 
Haare  besetzt. 

Conradt  verdanken  wir  Berichte  über  9  Adeli-Negerinnen  aus  dem 
Hinterlande  von  Togo.  Bei  einer  26jährigen  Yerheiratheten,  bei  einer  22 jahrigen 
und  bei  einem  11 — 12jährigen  Mädchen  werden  Schamhaare  nicht  erwähnt;  bei 
zwei  14jährigen  Mädchen  waren  dieselben  „in  Spuren*  oder  „schwach*  vorhanden, 
eine  16jährige  hatte  sie  „massig",  eine  25jährige  „ziemlich  reichHch*  und  eine 
20jährige  ^ recht  kräftig*.  Bei  einer  Frau  von  25  Jahren  werden  sie  als  schwarz 
bezeichnet,  ohne  dass  über  die  Fülle  der  Schamhaare  etwas  Genaueres  angesagt 
wird.  Yon  zwei  Atakpäme-Weibem  von  18  bis  22  Jahren,  ebenfalls  aus  dem 
Hinterlande  von  Togo,  hatte  die  Aeltere  mittelstarke,  schwarze  Pubes,  während 
die  Jüngere  am  Schamberge  stark  behaart  war. 

Bei  Neu-Britannierinnen  sah  Finsch^  wenn  sie  keine  Aetzmittel  zur  Ent- 
fernung der  Pubes  angewendet  hatten,  nicht  selten  blondes  Schamhaar,  obwohl 
schwarzes  die  Regel  bildet. 

Auch  Bässler  erwähnt  in  einem  kürzlich  vor  der  Berliner  anthropolo- 
gischen Gesellschaft  gehaltenen  Yortrage,  dass  die  Weiber  im  Bismarck- 
Archipel  eine  reichliche  Schambehaarung  besitzen.  Dieselbe  fallt  um  so  mehr 
in  die  Auger,  als  sie  für  gewöhnlich  gleich  den  Kopfhaaren  roth  gefärbt  wird. 
Die  Frauen  pflegen  sie  nach  Art  eines  ELandtuches  zu  benutzen,  um  sich  die  be- 
schmutzten Hände  daran  abzuwischen. 

Der  Schamberg  der  Yahine,  d.  h.  der  Weiber  von  Tahiti,  zeigt  eine  reich- 
liche dichte  Behaarung.    (Artny  surgeon.) 


48.  Die  K5rperbebaarung. 


221 


Bei  den  Kanaka-Weibern   auf  Nea-Caledooien   ist    der  Schamberg  mit 
"eioer  dichten  Behaanmg  überkleidct.     (Anny  surgeon,) 

Nach  Riedel^  ist  auf  den  Äaru-  und  den  Luang-  und  Sermata -Inseln 
ier  weibliche  Schamberg  nur  wenig  behaart.  Auf  Tanembar  und  Timoriao 
laben  die  Weiber  auch  nur  einen  spärlichen  Haarwuchs  auf  dem  Mons  Veneris; 
aber  die  Haare  werden  als  lang  bezeichnet. 

Auf  dem  Seranglao-  und  Gorong- Archipel  gilt  der  Zuruf:  Deine  Mutter 
hat  viel  Haare  an  den  Genitalien,  für  eine  schwere  Beleidigimg.     (RiedeP,) 

Lassen  unsere  Kenntnisse  über  die  Schambehaarung  nun  schon  recht  viel  zu 
ifünschen  übrig,    so   sind   dieselben  über  das  Übrige  Körperhaar  noch  ganz  er- 
heblich   küramerlicher.      unter  dem    Körperhaar    nimmt    nächst    den    Pubes    das 
Ihaar  die  hervorragendste  Stelle  ein.      Bekanntlich  pflegt  ea  gleich  dem 
LiÄF  erst  zu  der  Zeit  der  Mannbarkeit  hervorzusprossen.      Ueber  die  Art, 
^ie  dieses  geschieht,  werde  ich  an  späterer  Stelle  sprechen.     Bei  Ebk  findet  sich 
;)lgende  Bemerkung : 

^üeber  die  Beatimctiung  der  Äcbselbaare  weis«  ich  wenig  Erbeblichea  %u  soifoii.  Ge- 
iilich  wild  sie  so  angegeben,  dass  die  Haare  die  Reibung  der  Haut  mindern  und  die 
ElcHtigung  des  hier  in  Menge  enUtehenden  ^chweistes  beacbleunigen  sollten.  FabricitiB 
'^AquapetitirtUe  sagt,  das«  sie  den  Scbweia«  aufsaugen,  damit  er  die  Haut  nicht  verderbe. 
Püi  Wahre  an  der  Sache  ist,  dass  wir  den  eigentHchen  Zweck  dieser  Uaare  ebensowenig.  aU 
hier  sowohl  durch  seioe  Menge,  als  seinen  Hpecitiuchen  Gerach  ausgezeichneten  Schweie»efi 
kiinreichend  keimen,  üebrigen«  darf  bey  geoauer  Würdigung  dieser  Haare  nicht  vergessen 
werden,  daiw  ihre  Kniwickelung  ebenfalls  njit  der  Pubertät»  und  zwar  in  bejden  Geschlecbtem 
^in  geoaueiu  Zusummenhang  stehe." 

Reihe  hat   in  seinen  Untersuchungen   auch   auf  das  Verhalten  der  Achsei- 
re geachtet.     Er  konnte  über  die  Farbe   derselben  folgende  Zahlen  Verhältnisse 
Jlen: 


Farbe 

der 

Achselhaare  bei  1000  ErwachBenen 

weiblichen  Geschlechts. 

Farbe. 

Norddeutsche.         Jüdinnen.           1  N> 

linnen. 

HoUlinderinnen. 

Schwan  .... 

.-1:                7               1 

— 

—                             -^ 

Braan 

151 

12 

1 

— 

Punketblond 

.  •  * 

393 

2 

— 

1 

Bellblond 

383 

3 

4 

— 

NGranblond  . .  • . . 

14 

— 

— 

■tefoth...... 

1 

— 

— 

— 

Mmrt»th 

a 

— 

iBIondroth . . 

...1^                3 

— 

- 

— 

Fehlend 

17 

— 

— 

— 

»Nach  dieser  Tabelle  war  bei  den  Achselhaaren  der  norddeutschen  Frauen 
starkes  Hervortreten  der  Gelbblonden  zu  finden.  Die  Dunkelblonden  sind  nur 
renig  häufiger  ab  die  Gelb  blonden.  Viel  seltener  finden  sich  braune  Achselhaare, 
n  folgen  der  Zahl  nach  in  grossem  Abstände  die  graublonden,  danach  die 
ifotben,  und  in  nur  sieben  Fällen  waren  die  Achselhaare  schwarz.  Bei  17  Frauen 
IfehUen  die  AchBelhaare.  Bei  den  Jüdinnen  waren  die  Achselhaare  überwiegend 
Ibraun  (12),  bei  5  Frauen  waren  sie  blond,  schwarz  in  keinem  Fall,  Die  Polinnen 
Ihatien  vier  Mal  gelbblonde  und  ein  Mal  branne  Achselhaare.  Die  Holländerin 
ibAtie  dunkelblonde  Achselhaare.  Die  Achselhaare  sind  allgemein  häufiger  als 
lAageubrauen  und  Schamhaare,  heller  als  die  Kopt haare,  und  seltener  als  die 
I Augenbrauen  und  die  Schamhaare  gleich  und  dunkler  als  die  Kopfhaare/ 

Han?    besonders    interessant   ist    es  auch  noch,   dass  Mothe  bei   15  nord- 


^smM 


222 


V.  Die  SLueseren  Sexnalorgane  des  Weibes  in  dthnograpbisclidr  Hmsicht 


deutscten  Frauen  und  einer  Polin  eine  verschiedene  Färbung  der  HAare  der] 

rechten  und  der  Haare  der  linken  Achselhuhle  beobachtete. 

Unter  den  9  Ton  Conrailt  untersuchten  Adeli- Weibern  erwähnt  er  nur 
einmal  das  Vorkommen  von  Achselhaaren,  und  zwar  bei  einem  16  jährigen  MSdchen; 
die  Behaarung  war  aber  sehr  schwach.  Die  18 — 20jährige  Atakpanie-Fmu 
hatte  aber  unter  den  Armen  eine  ziemlich  starke  Behaarung. 

Auf  den  Babar-IuReln   ißt  nach  Ekdel^  bei  vielen  Frauen  die  AehselhS 
vollständig  kahl^    und  auch   auf  den  Luang-    und  S er m ata* Inseln   und  auf 
Aaru- Inseln  ist  die  Behaarung   der  Achselhöhle  bei  dem  weiblichen  Geschlechte' 
gering»     Auf  den    Tanembar-    und   Timoriao- Inseln   haben    die  Weiber    auch 
nur  spärliche«  aber  lange  Haare  unter  der  Achsel 


Fif.  138,    Jnngo  Jap^n^rlnneii,  Toilette  m^cbend.    (Nfteh  einer  Zeidhnun^  von  ffyJht*Ml^ 


Bei  den  Javaninnen   scheint^    wenigstens  nach  den  mehrfach    schon  ci^ 
wähnten  Photographien  der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft,  die BehiuiniQg  | 
der  Achselhöhle  eine   nur  geringe  Entwickehmg  xu  besitzen.     Allerdings  handelt ' 
es  sich  hier,  wie  es  den  Anschein  hat,  noch  um  ziemlich  junge  Personen* 

Dass  das  Achselhaar  auch  bei  den  Japanerinnen  eine  sehr  betrfichUicbe  | 
Entwickelung  erreichen  kann,  das  hat  uns  schon  die  in  Fig.  137  darge^teUtej 
Person  gelehrt.  Fig,  138  führt  uns  nun  noch,  nach  einer  Zeichnung  von  nohtmi., 
eine  Gruppe  junger  Japanerinnen  vor,  welche  ihre  Toilette  machen.  Auch  hier] 
können  wir  »eben»  dass  der  Haarwuchs  in  den  Achselhohlen  als  ein  starker  be-| 
{^lehnet  werden  muss, 

Von  den  FeuerlSude rinnen  heisst  es  bei  Hyades  «nd  Deniktr: 

»Atix  ai89Ql]€ii  ÜB  n  conaltitt*  des  poiU,  ae«<Me  rarM,  an«  foU  tor  huit  efaM  \m  f%mmmi 


CVl*'/.    1»^s    r»>t»itnP^,    li<h     fii.tl«    i^nllit    les    lliaX*!^''*    ^nnt 


l..n.r.     J.V    *¥l 


49.  Das  Schamhaar  im  Volksglauben.  223 

Was  die  Körperbehaarung  anbetriflfk,  so  haben  wir  bisher  nur  Nachricht 
von  den  mehrfach  erwähnten  Weibern  aus  dem  Hinterlande  von  Togo,  die 
Conradl  untersuchte.  Dieselbe  wird  in  2  Fällen  nicht  erwähnt,  bei  einer  25jährigen 
Adeli-Frau  als  fehlend,  bei  den  übrigen  aber  als  schwach  und  fein,  bei  einer 
Atakpäme-Frau  als  ganz  schwach  und  fein  bezeichnet.  Als  Sitz  dieser  Be- 
haarungen, wird  5  Mal  der  Körper  genannt,  3  Mal  sass  sie  an  den  Armen  und 
Beinen,  2  Mal  an  den  Beinen  allein. 

Mehr  Thatsachen  vermag  ich  zur  Zeit  nicht  beizubringen. 


49.  Das  Schamhaar  im  Yolksglanben. 

Von  der  Aesthetik  des  Schamhaares  und  von  dem  Zweck  und  Nutzen,  welchen 
man  ihm  früher  zuschrieb,  ist  weiter  oben  schon  gesprochen  worden.  Wir  haben 
auch  gesehen,  dass  man  die  Ueppigkeit  der  Pubes  als  ein  Zeichen  gesteigerten 
Geschlechtstriebes  ansah,  und  dass  man  Weiber  ohne  Schamhaare  für  unfähig 
hielt,  eine  Nachkommenschaft  zu  erzeugen.  Wenn  dieses  auch  einst  die  An- 
schauungen von  Gelehrten  waren,  so  spiegeln  sie  uns  doch  den  Volksglauben 
wider;  denn  in  der  damaligen  Zeit  stand  die  naturwissenschaftliche  Beobachtung 
doch  nicht  selten  noch  auf  recht  schwachen  Füssen. 

In  dieser  Beziehung  habe  ich  auch  folgende,  ebenfalls  von  Burkard  Eble 
stammende  Notiz  zu  erwähnen: 

.Frauenhaare  sind  meist  schlicht,  und  diese  Eigenschaft  ist  so  auffallend,  dass  selbst 
ihre  Schamhaare  im  reifen  Alter  wieder  schlicht  werden,  da  sie  hingegen  in  dorn  Mittelalter 
der  Frau,  d.  i.  vom  30.  bis  40.  Lebensjahre,  viel  krauser  sind,  als  selbst  bey  Jungfrauen." 

Es  mögen  hier  aber  noch  einige  andere  Anschauungen  ihre  Stelle  finden, 
welche  der  Volksglauben  mit  dem  Haarkleide  des  Mons  Veneris  verbindet. 

Bei  den  Tungusen  wird  nach  Georgias  Mittheilungen  ein  starker  Haar- 
wuchs an  den  Geschlechtstheilen  für  einen  ^  Miss  wachs*  angesehen,  der  nur  durch 
die  Einwirkung  der  bösen  Geister  entstanden  sein  könne.  Aus  diesem  Grunde 
bat  der  Ehegatte  auch  das  Recht,  sich  ohne  Weiteres  von  einer  derartig  behaarten 
Frau  scheiden  zu  lassen. 

Dass  die  Schamhaare  einstmals  in  Europa  eine  medicinische  Bedeutung 
besassen,  das  erfahren  wir  aus  dem  llenricius  ab  Heer.  Sie  wurden  von  den  Feld- 
scheerem  benutzt,  um  Blutungen  zu  stillen.  Zu  diesem  Zwecke  mussten  sie  mit 
gewissen  anderen  Stoffen  vermischt  werden  und  darauf  wurden  sie  den  Kranken 
unter  die  Nase  gehalten.  Sie  konnten  Männern  aber  nur  Hülfe  bringen,  wenn 
sie  von  Weibern  stammten,  und  umgekehrt. 

Sympathetische  Wirkungen  anderer  Art  sehen  wir  die  Schamhaare  auf  einigen 
Inseln  des  alfurischen  Archipels  ausüben.  Auf  Serang,  Eetar  und  den 
Ewabu -Inseln  geben  nach  Riedel^  die  Mädchen  dem  Auserwählten  ihres  Herzens 
als  Liebespfand  einige  ihrer  Kopf-  und  Schamhaare.  Das  soll  ein  sicheres  Mittel 
sein,  um  ihn  treu  und  beständig  zu  erhalten.  Es  kann  uns  nicht  verwundem, 
dass  man  die  Kraft,  die  Liebe  zu  erhalten,  gerade  einem  Theile  von  jenen  Organen 
zutraut,  wo  schliesslich  die  Liebe  perfect  wird.  Uebrigens  findet  sich  bei  dem 
Liebeszauber  europäischer  Volksstämme  auch  bisweilen  das  Schamhaar  verwendet. 

Verwunderlicher  ist  es,  dass  die  Schamhaare  auch  den  Einfluss  böser  Geister 
abzuwehren  vermögen.     Dieses  berichtet  Ribbe  von  den  Arn -Inseln: 

,üm  den  Hals  werden  von  Männern,  Weibern  und  Kindern  Amulette  getragen,  die 
gegen  böfte  Geister,  gegen  Krankheiten  schützen  sollen ;  sie  bestehen  aus  kleinen,  an  Schnüren 
befestigten  S&ckchen,  in  welchen  sich  irgend  ein  als  Pomali  (identisch  mit  tabu)  betrachteter 
Gegenstand  befindet,  z.  B.  merkwQrdig  geformte  Steine,  Perlen,  Magensteine  von  Thieren, 
Schamhaare  von  Frauen  u.  s.  w.* 


224  ^*  ^io  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 

Hierbei  müssen  wir  uns  erinnern,  dass  das  Entblossen  der  OescUecIitsÜieile 
bei  vielen  Völkern  als  ein  unfehlbares  Mittel  angesehen  wird,  um  die  Dämonen 
zu  verscheuchen,  wie  ja  ganz  ähnlich  sogar  noch  Martin  Luther  sich  des  ihn  in 
der  Nacht  belästigenden  Teufels  nicht  anders  zu  erwehren  vermochte,  als  dass  er 
ihm  das  entblösste  Hintertheil  zu  dem  Bett  herausstreckte.  Auch  der  aus  China 
berichtete  Gebrauch,  das  Symbol  der  Geschlechtstheile  an  dem  Hause  anzubringen, 
um  die  bösen  Einflüsse  der  Dämonen  unschädlich  zu  machen,  möge  hier  noch 
einmal  angeführt  werden.  Und  dass  nun  in  dem  uns  vorliegenden  Falle  dem  ein- 
zelnen Theile  die  gleiche  Wirkung  zukommt,  wie  dem  Ganzen,  das  entspricht  so 
recht  den  Anschauungen,  wie  wir  sie  bei  Naturvölkern  nicht  allein,  sondern  auch 
noch  bei  niederen  und  manchmal  sogar  bei  den  höchsten  Schichten  unseres 
eigenen  Yolksstammes  finden.  Es  ist  einer  der  unendlich  vielen  Beweise,  wie 
vielfache  Berührungspunkte  in  dem  menschlichen  Denken  der  Völker  auf  den 
verschiedensten  Entwickelungsstufen  man  bei  einiger  Aufmerksamkeit  nachzu- 
weisen vermag. 

50.  Der  Mons  Veneris  in  ethnographischer  Beziehung. 

Nachdem  wir  uns  mit  den  anthropologischen  Verhältnissen  des  Mons  Veneris 
und  der  Schambehaarung  beschäftigt  haben,  müssen  wir  diese  Theile  auch  noch 
in  ethnographischer  Beziehung  ins  Auge  fassen.  Wir  begegnen  nämlich  bei  ver- 
schiedenen Völkern  der  Sitte,  auch  diese  discreten  Körperregionen  besonderen 
Maassnahmen  und  Behandlungsweisen  zu  unterziehen,  und  von  diesen  soll  jetzt 
die  Bede  sein.  Einen  Theil  solcher  Vornahmen  haben  wir  schon  kennen  gelernt, 
als  wir  oben  von  der  Excision  der  Mädchen  sprachen.  Die  Leser  werden  sich 
erinnern,  dass  nach  der  Aussage  einiger  Autoren  bei  dieser  abscheulichen  Operation 
auch  ein  Stück  des  Mons  Veneris  ausgeschnitten  wird. 

Am  bekanntesten  und  wohl  auch  am  weitesten  verbreitet  von  Allem,  was 
man  dem  Schamberge  zufügt,  ist  aber  wohl  die  Epilation.  Man  versteht 
darunter  die  künstliche  Entfernung  des  natürlichen  Haarwuchses.  Bei  den  moham- 
medanischen Völkern  ist  dieses  eine  durch  den  Ritus  vorgeschriebene  Handlung, 
aber  wir  treffen  sie  ausserdem  noch  weit  über  die  Erde  ven)reitet  an,  in  'Afrika, 
Asien  und  Amerika. 

Das  türkische  Enthaarungsmittel,  welches  man  meist  hierbei  benutzt,  be- 
steht bekanntlich  aus  Auripigment  (Arsenicum  sulphuratum  flavum)  und  gebranntem 
Kalk,  welche  Stoffe  zu  gleichen  Theilen  mit  Rosenwasser  zu  einer  Paste  angerührt 
werden ;  nachdem  diese  Paste  einige  Minuten  auf  der  betreffenden  Stelle  aufgelegen 
und  dann  sorgfaltig  abgewischt  worden,  sind  die  Haare  beseitigt.  Das  Mittel  ist 
im  Orient  ganz  allgemein  im  Gebrauch  und  es  heisst  in  der  Türkei  Rusma,  in 
Persien  nach  Polak  Nur  eh.  Denn  auch  in  Persien  muss  sich  die  mohanune- 
danische  Frau  die  Haare  sowohl  an  den  Geschlechtstheilen  wie  auch  unter  den 
Armen  im  warmen  Bade  regelmässig  wegätzen.  Das  mohammedanische  Mädchen 
und  die  christlichen  Armenierinnen  in  Persien  thun  dieses  aber  nicht,  wie 
Hänizsche  mittheilt.  Polak  sagt:  ,,Die  Schamhaare  werden  dem  Ritualgesetz  ge- 
mäss durch  ein  Präparat  von  Auripigment  (zemich)  und  Kalk  entfernt;  man  nennt 
dies  hadschebi  keschidew,  d.  i.  dem  Gesetzlichen  sich  unterziehen ;  elegante  Frauen 
aber  rupfen  sich  die  Haare  aus,    bis  endlich  der  Haarwuchs  von  selbst  aufhört" 

Petrus  BeUonius  erzählte,  dass  der  Auripigmentverbrauch  im  Morgenlande 
in  Folge  dieser  Sitte  der  Epilation  ein  so  ungeheurer  war,  dass  der  Pächter  der 
Metallzöile  dem  türkischen  Sultan  einen  Tribut  von  jährlich  achzehntausend 
Ducaten  zu  entrichten  hatte. 

Auch  an  der  Guinea-Küste  entfernen  die  jungen  und  unverheiratheten 
Negerinnen  utich  Monrad  die  Haare  in  der  Gegend  der  Geschlechtstheile;  wenn 
sie  aber  in  den  Stand  der  Ehe  treten,  so  lassen  sie  die  ELaare  naturgemäss  wachsen. 


50.  Dör  Mond  Venöria  in  ethnographischer  Bexiebiing. 


225 


den 


Fig.  131).    Indlscbe  Xf^au 
EpiUtioti  t>«ilut3St.    (Nu< 


Die  Wolo  ff  innen   eutfernen   sich   ihre  Scbamhaare  mit  Hülfe  eines  abge- 
»rochenen  Flaschenhalses.     (Army  surgeom) 

In  Niederländisch  Indien  pflegen  die  Weiber   malayischer  Rasse,  wie 

S/3J3  versichert,   sich    die  Schamhaare  ausjtureis&en,   so   dass   bei   ihnen  der  Mons 

Veneria    ganz    kahl    eracheint.     Da«  be- 

ätigte  auch  die  eine  der  oben  erwähnten 

gruphien   der  Berliner  anthropo- 

^  ichen  üesellschaft.    Die  anderen  aber 

lieferten  den  Beweis,  dass  diese  Enthaa- 

nng  nicht  als  allgemeine  Sitte  angesehen 

erden  kann,  wie  auch  die  daselbst  leben- 

Chinesinnen  sich  diesen  Gebrauch 

nicht  angeeignet   haben.      Aber   bei  den 

atta  auf  Sumatra  werden  nach  Hagen 

u   dem  weihlichen  Geschlechte  die  Schanthaare  ausgerissen  und  abrasirt,  sobald 
ie  sich  zeigen. 

Auch  die  See-Dayakinnen  von  Bnrneo  haben  nach  ^oth  die  Gewohnheit^ 
Scham ba^re  mit  besonderen  kleinen  Pinzetten  auszureissen, 

,,^t  von  den  Weibern  der  K hm ers  in  Cambodja,  dass  ihr  Scham- 
iient  rasfi*  sei;  aber  ,les  femmes  reeherchant  les  Europeens  fönt 
ement  labandon  de  cet  nsage^. 
Die   Annamit innen  entfernen  ihre    Schamhaare   sorgfältig.      Das   Gleiche 
un  auch  die  Weiber  in  Cambodja,  und  auch  im  südlichen  China  ist  das  ge- 
iniuchlich,  aber  hier  nur  bei  den  Prostituirten.     (Ärmtj  mirgeon,) 

Auch  in  verschiedenen  Ländern  des  eigentlichen 
ndien  ist  die  absichtliche  Entfernung  der  Scham- 
aare  bei  den  Frauen  ganz  allgemeine  Sitte.  Sie  be- 
ienen  «ich  dazu,  wie  mir  Jugor  mittheilte,  ganz 
derer  Ringe,  von  denen  das  kgL  Museum  für 
;erknnde  in  Berlin  durch  den  genannten  Reisen- 
einige  Exemphire  erhalten  hat.  (Fig.  139.)  Sie 
en  ausschliesslich  zu  dem  angegebenen  Zwecke 
enutzt  und,  wenn  sie  in  Function  treten  sollen, 
nf  dem  Daumen  getragen.  Man  kann  sie  in  ihrem 
uaseben  am  ersten  mit  einem  sehr  grossen  Siegei- 
nge vergleichen,  da  sie  oben  mit  einer  grossen, 
latten  Scheibe  versehen  sind.  Dieselbe  trägt,  von 
nem  zierlich  durchbrochenen  Rande  umgeben,  einen 
leinen  Spiegel»  welcher  bei  den  Manipulationen  einer- 
s^it«  wirklich  zum  Bespiegeln  der  Schamtheile,  anderer- 
aeits  zum  Reflectiren  des  Lichtes  auf  diese  etwas 
versteckten  Regionen  benutzt  wird.  Mit  dem  ziemlich 
harfen  Rande  des  Ringes  sollen  dann  die  Scham- 
direct  entfernt  werden.  Der  indische  Name 
Epilationsringe  ist  arsl. 

Der  bekannte  Nestor  der  deutschen  Gelehrten 
Süd-Amerika,  lludolpii  A  Vhilippi  in  Santiago, 
»Hc  die  grosse  Freundlichkeit,  über  diesen  Punkt  in  Bezug  auf  die  Chileninnen 
ir  mich  Erkundigungen  einzuziehen.   Dieselben  haben  ergeben,  dass  die  Epilation 
©übt  wird,  aber  keineswegs  als  durchgehende  Sitte,  sondern,  wie  es  den  Anschein 
t,   nur  in  gewis,seu,  nicht  sehr  gebildeten  Schichten  der  Bevölkerung. 

Karl  von  den  Steinen  fand  in  B  r a  s 1 1  i en    hei  den  Indianer-  We i  b e  r n  am 
lellengebiet  des  Scbingu,  bei  den  Truiiiai  u.  s.  w.  ganz  allgemein  die  Sitte, 
Haare  vom  Schamberge  säuberlich  zu  entfernen* 

Moti*B»rltlt«  I>«i  Wftib     I»,  Aufl.    L  Ih 


) 


Fig.  14n.     Settain-TikUowJrQitg 


Maas 


g^ 


226 


V.  Die  äusseren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Hinsicht. 


Hyades  und  Deniker  sprechen  auch  von  einer  Feuerländerin,  wie  wir 
oben  gesehen  haben,  welche  sich  der  Epilation  unterzogen  hatte. 

Im  Orient  ist  die  Enthaarung  keine  Erfindung  der  Mohammedaner;  schon 
deren  Voreltern  übten  sie,  und  von  Asien  ging  dieser  Volksbrauch  in  alter  Zeit 
schon  nach  Aegypten  und  von  dort  nach  Griechenland  und  Italien  über. 
In  Griechenland  waren  es  nach  Äristophanes^  vorzüglich  die  Hetären  und  die 
Lustdimen,  welche  sich  die  Schamhaare  entfernten;  aber  es  hat  doch  den  An- 
schein, dass  auch  die  ehrsamen  griechischen  Frauen  diese  Sitte  adoptirt  haben 
{Aristophanes^).  Von  den  Römerinnen  erzählt  Marttal,  dass,  wenn  sie  alter 
wurden,  sie  die  Entfernung  der  Haare  an  den  Genitalien  als  ein  Mittel  gebraachten, 
um  ihr  Alter  zu  verbergen.  Mehrere  Autoren  bezeugen,  dass  die  Sitte  sich  in 
Italien  bis  auf  die  neueren  Zeiten  erhalten  hat;  sie  scheint  daselbst  noch  der 
Reinlichkeit  wegen,  sowie  zum  Schutz  gegen  Ungeziefer  vorgenommen  zu  werden. 
(Rosenbaum), 

Im  Grossen  und  Allgemeinen  macht  es  den  Eindruck,  als  ob  die  Epilation 
mit  Vorliebe  von  solchen  Völkern  ausgeübt  wird,  welche  von  Natur  eine  nur 
geringe  und  dürftige  Behaarung  der  Schamtheile  besitzen, 
ganz  ähnlich  wie  sich  meist  solche  Völker  rasiren,  welche 
kümmerliche  Barte  haben.  Die  scheinbaren  Ausnahmen  hier- 
von sind  wohl  dadurch  bedingt,  dass  die  absichtliche  Enthaa- 
rung, einmal  zur  rituellen  Operation  erhoben,  nun  auch  von 
allen  bekehrten  Nationen  angenommen  werden  musste. 

Eine  besondere  Art  der  Ausschmückung  des  Scham- 
haares haben  wir  oben  schon  kennen  gelernt.  Es  waren  die 
Weiber  des  Bismarck- Archipels  in  Neu-Pommern  (Neu- 
Britannien),  welche,  wie  Bässler  berichtet,  sich  ihre  Pubes, 
ebenso  wie  ihre  Kopfhaare  roth  färben. 

Wir  haben  noch  einen  anderen  kosmetischen  Gebrauch 
unseren  Betrachtungen  zu  unterziehen,  welcher  ebenfalls  an 
den  Mons  Veneris  bei  einzelnen  Volksstämmen  zur  Ausübung 
kommt;  das  ist  die  Tättowirung  dieser  Körpergegend.  Sio 
weit  unsere  jetzige  Kenntniss  reicht,  findet  dieselbe  nur  auf 
gewissen  Inselgruppen  der  Südsee  statt.  Wir  besitzen  darüber 
von  den  beiden  bekannten  Südsee- Reisenden  Ftfisch  und 
Kuhary  eingehende  Berichte. 

^Wie  es  scheint,  sagt  Finsch*,  hängt  in  dem  kleinen  Gebiete 
von  Ho  od- Bai  auf  Neu -Guinea  die  Tättowirung  der  Schamtheile 
mit  vollendeter  Keife  zusammen,  aber  ich  habe  mir  in  diesem  heiklen 
Scham-Tätto-  Kapitel  nicht  aus  eigener  Anschauung  Gewissheit  verschaffen  kOnnen.* 
Die  Tättowirung  der  Mädchen  auf  Ponap^  (Caro- 
linen) ist  von  Finsch  und  von  Kubary  beschrieben.  Dem 
ersteren  entlehne  ich  Fig.  140.  Nach  Kubary^  ist  diese 
Tättowirung  eine  sehr  ausgedehnte.  Sie  wird  im  7.  —  8.  Jahre  angefangen. 
Gegen  das  12.  Jahr  wird  der  Unterleib  und  die  Hüften  in  AngriflF  genommen. 
«Die  Bedeckung  der  Schamtheile  wird  so  sorgfaltig  ausgeführt,  dass  die  Zeich- 
nung sich  auf  die  Labia  majora  wie  auch  auf  den  Meatus  vaginae  erstreckt." 
Von  den  Pelau- Inseln  berichtet  Kubary^: 

^Sobald  ein  M&dchen  Umgang  mit  Männern  pflegt,  trachtet  sie  die  unentbehrliche 
telengekel-Tättowirung  zu  erwerben  (Fig.  141),  weil  ohne  diese  kein  Mann  sie  ansehen  würde. 
Dieselbe  besteht  aus  einem  den  Mons  Veneris  ausfüllenden  Dreiecke,  dessen  äusserer  Umriss 
aus  der  einfachen  greel-Linie  (gerade  Linie)  besteht.  Der  innere  Raum  wird  dann  ogüttam, 
gleichmässig  schwarz  ausgefüllt,  und  die  nach  oben  gerichtete  Basis  des  Dreiecks  erh&lt  eine 
bläsak-Umsäumung  (Zickzacklinie).* 

Auch  der  Eleisende  N.  von  MUducho-Maday"^  spricht  von  der  Tättowirung 
der  Pelau-Insulanerinnen.    Er  sagt,   dass  der  Mons  Veneris  von   einer  fast  an- 


Fig.  141 
wirnng    einer     Pelau- 
luBulanerin. 

(Nach    K'uöury^.) 


50.  Der  Mons  Veneris  in  ethnograpliischer  Beziehung.  227 

onterbrochenen  Tättowirung  bedeckt  wird,  d.  h.  ,,es  finden  sich  keine  besonderen 
Figuren,  Arabesken  u.  s.  w.  dargestellt.  Der  Mons  Veneris  wird  erst  nach  dem 
Auftreten  der  Menstruation  vorgenommen;  auch  die  vorderen,  äusseren  Theile 
der  grossen  Schamlippen  erscheinen  tättowirt.  Das  Tättowiren  dieser  Theile  ist 
auch  der  Grund,  weshalb  die  Haare  an  den  Genitalien  bei  Frauen  ausgerupft 
werden.  Die  Tättowirung  des  Mons  Veneris,  obgleich  sehr  schmerzhaft,  wird, 
wie  man  mir  sagte,  an  einem  Nachmittage  vollendet.^  v.  MiMucho-Maday'^ 
giebt  eine  Abbildung,  zu  der  er  sagt: 

»Der  untere  Theil  der  Tättowirung  ist  dunkler  als  der  obere.  Der  Kariut 
(Rock  aas  Pandanusblattfasern)  wird  gewöhnlich  von  den  Pelau -Weibern  so  ge- 
tragen, dass  er  seitlich  auf  den  Spinae  anteriores  superiores  ossium  ilei  liegend, 
Tome  so  weit  nach  unten  kommt,  dass  die  Reihe  der  Sterne 
der  Tättowirung  zum  Theil  zu  sehen  ist.*" 

Die    Tättowirung    der    Frauen    auf    den    Nukuoro- 
Inseln  beschränkt  sich  nach  Kuhary^  nur  auf  den  Scham-      A  ^ 

hügd  imd  besteht  aus  einem  einfachen  unausgefÜUten  Drei-  Fig.  142.  scham-Tätto- 
ecke,  dessen  zwei  Seiten  schraffirt  sind  und  über  dessen  nach  '^'''"j'ifsuUne^Hn"''''''" 
oben  gerichteter  Basis  sich  eine  einfache,    an  beiden  Enden  (Nach  Kuhary^'.) 

mit  Widerhaken  versehene  Linie  befindet. 

.Trotz  der  Beschränktheit  der  nukuorschen  Tättowirung  ist  ihre  Bedeutung  bei 
den  Frauen  eine  hervorragende,  wie  man  schon  aus  dem  Umstände,  dass  alle  von  nicht 
t&ttowirten  Frauen  geborenen  Kinder  getüdtet  werden,  schliessen  darf.  Sie  bildet  das  Ab- 
zeichen der  Reife  und  des  Eintretens  in  die  Gemeinschaft  der  übrigen  Frauen  und  wird 
auch  deshalb  in  Gesellschaft  ausgeführt,  einen  hervorragenden  Theil  der  Festlichkeiten  der 
takotona-Zeit  bildend.*^     (Fig.  142.) 

Es  kann  für  mich  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  der  ursprüngliche  Sinn 
dieser  Tättowirungen  darin  gesucht  werden  muss,  dass  man  bestrebt  war,  die 
Nacktheit  zu  verdecken.  Das  spricht  sich  auch  in  den  zuletzt  erwähnten  An- 
schauungen noch  ganz  deutlich  aus.  Denn  nur  bei  den  erwachsenen  Menschen 
kann  nach  den  Äuschauungen  dieser  Naturvölker  von  Nacktheit  geredet  werden. 
Die  Nacktheit  der  Kinder  ist  etwas  Selbstverständliches.  Das  Weib  also,  das 
sich  der  hergebrachten  Sitte  der  Schamverhüllung  durch  die  Tättowirung  nicht 
fügt,  erscheint  ihnen  noch  als  Kind;  dasselbe  gilt  daher  nicht  als  ein  reifes  Weib 
und  ihr  Kind  als  etwas  Unnatürliches,  und  aus  diesem  Grunde  darf  dasselbe  nicht 
am  Leben  bleiben,  weil  alles  Unnatürliche  dem  Stamme  Schaden  bringt. 

Auch  hierfür  ist  wieder  eine  Bemerkung  von  r.  Miklucho-Maclay'^  sehr 
interessant.     Er  schreibt: 

.Als  ich,  um  die  Tattuirung  zu  sehen,  mehrere  Mädchen  zu  gleicher  Zeit  ihre  Kariut 
abnehmen  Hess,  erinnerte  ich  mich,  was  Sie  (der  Brief  ist  an  liudolf  Virchow  gerichtet)  über 
den  nackten  tättowirten  Körper  des  Sulioten  Costanti  sagen:  , das  Schamgefühl  wird  durch 
den  Anblick  in  keiner  Weise  erregt.*  Es  schien  mir  beim  ersten  Anblick,  das»  die  Mädchen 
an  dem  Mons  Veneris  ein  dreieckiges  Stück  von  blauem  Zeug  trügen. *" 

Es  ist  das  also  ein  erneuter  Beweis,  dass  hier  die  Tättowirung  die  Be- 
kleidung ersetzt. 


15« 


VI.  Die  inneren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethno- 
graphischer Beziehung. 


51.  Die  Erkenntniss  des  anatomischen  Baues  der  inneren  weiblichen 
Geschlechtsorgane  bei  den  alten  Griechen,  Römern  und  Aegyptern. 

Bei  allen  Völkerschaften,  welche  sich  noch  auf  einer  relativ  niedrigen  Stufe 
der  Culturentwickelung  befinden,  werden  wir  selbstverständlich  nur  höchat  geringe 
oder  gar  keine  Kenntnisse  von  dem  anatomischen  Bau  der  inneren  Organe  voraus- 
zusetzen vermögen.  Wenn  sich  aber  überhaupt  etwas  derartiges  bei  ihnen  vor- 
findet, so  können  sie  ihr  Wissen  nur  durch  gelegentliche  Erfahrungen  an  Thieren 
erworben  haben,  wie  sie  beim  Zerlegen  des  Schlacht-  und  Opferviehes  oder  beim 
Zerstückeln  der  Jagdbeute  gemacht  werden,  und  man  wird  dann  nicht  selten  so- 
fort in  ihren  Anschauungen  erkennen,  dass  ihnen  die  analogen  Erscheinungen  und 
Formverhältnisse  des  thierischen  Körpers  vor  Augen  schweben.  So  sehen  wir 
auch  bei  den  alten  Griechen  und  Römern  die  anatomi- 
schen Kenntnisse  der  weiblichen  ünterleibsorgane  sehr  im 
Argen  liegen.  Das  kann  uns  auch  gar  nicht  verwundem, 
denn  es  war  bei  ihnen  bekanntermaassen  nicht  Gebrauch, 
an  menschlichen  Leichen  Untersuchungen  anzustellen.  Das 
geht  auch  aus  den  Beschreibungen  hervor,  welche  Hippo- 
Irates  von  den  weiblichen  Sexualorganen  giebt.  Es  ist 
danach  gänzlich  unmöglich,  dass  er  dieselben  jemals  in 
Wirklichkeit  gesehen  habe.  Auch  er  überträgt,  wie  man 
sofort  erkennen  kann,  die  Form  und  den  Bau  der  betreffen- 
den thierischen  Organe  ohne  Weiteres  auf  den  Menschen. 
Bei  den  Säugethieren  nämlich  findet  sich  im  Allgemeinen 
die  Gebärmutter,  der  sogenannte  Fruchthalter,  je  nach  der 
Thierspecies  mehr  oder  weniger  gespalten,  oder,  wie  es 
mit  dem  fachmännischen  Ausdrucke  heisst,  zweigetheUt,  während  die  Gebärmutter 
des  Menschen  ein  ungetheiltes  Gebilde  ist.  Solchen  thierischen  Uterus  bipartitus 
muss  nun  Hippohrates^  im  Sinne  gehabt  haben,  wenn  er  nicht  von  einer  Ge- 
bärmutter, sondern  nur  von  den  Hörnern  und  Höhlen  des  Uterus  redet.  Die 
Eierstöcke  sind  ihm  überhaupt  vollständig  unbekannt  geblieben.  Man  hat  aller- 
dings den  Versuch  gemacht,  nach  einer  in  seinen  Werken  befindlichen  Stelle,  wo 
es  heisst  (in  lateinischer  Uebersetzung)  vasa  ad  uterum  plicantur,  ihm  die 
Kenntnisse  der  Eierstöcke  und  der  sich  zu  dem  Uterus  schlängelnden  Eileiter  zu 
vindiciren;  jedoch  ist  das  wohl  bei  seiner  höchst  unzulänglichen  Schilderung  der 
anatomischen  Verhältnisse  mit  Unrecht  geschehen.  In  gleicher  Weise  berichtet 
auch  Aristoteles^  nur  nach  den  bei  den  Thieren  gemachten  Befunden. 


Fig.  143.    Die  inneren  weib- 
lichen Genitalien. 
O^Witi  Magnus  Hundt.     1501.) 


51.  Die  Erkenntniss  des  anatomischen  Baues  der  inneren  weiblichen  Geschlechtsorgane.   229 

Bufus  von  Ephesus,  welcher  sich  besonders  die  Thieruntersuchungen  des 
Herophilus  zu  Nutze  machte,  spricht  gleichfalls  immer  nur  von  den  Hörnern  der 
Gebärmutter.  Er  unterscheidet  aber  an  diesem  Organe  bereits  den  Fundus,  das 
untere  Ende,  und  den  Cervix  und  das  Collum;  auch  hat  er  schon  Kenntniss  von 
der  Existenz  der  Eileiter,  deren  eigentlicher  Entdecker  aber,  wie  Galemis  berichtet, 
der  zu  Aristoteles  Zeiten  lebende  Phäotimos  gewesen  war.  Sie  geriethen  übrigens 
wieder  in  Vergessenheit  und  sind  dann  erst  im  Jahre  1550  von  dem  italieni- 
schen Anatomen  Fallopia  von  Neuem  ebtdeckt  und  genauer  beschrieben  worden, 
und  seinen  Namen  tragen  sie  noch  heute. 

Ein  Volk,  dem  man  etwas  genauere  Kenntnisse  der  inneren  Organe  des 
menschlichen  Körpers  zutrauen  kann,  waren  die  alten  Aegypter,  deren  Einbalsa- 
miren wohl  manche  günstige  Gelegenheit  zu  anatomischen  Beobachtungen  geboten 
haben  muss.  In  wie  weit  hiervon  aber  auch  die  ägyptischen  Aerzte  profitirt 
haben  mögen,  das  entzieht  sich  wohl  fast  vollständig  unserer 
Beurtheilung.  Von  dem  Aegyptologen  Georg  Ebers  erfuhr 
Uennig^  über  die  anatomischen  Kenntnisse  der  alten  Aegypter 
auf  dem  uns  hier  interessirenden  Gebiete  Folgendes,  das  sich 
in  dem  nach  ihm  benannten  Papyrus  findet. 

Im  Aegyptischen  bedeutet  das  Wort  matti,  männlich 
gebraucht  (koptisch  oti),  die  Gebärmutter  (uterus),  dagegen 
weiblich  gebraucht  (auch  oti)  die  Mutterscheide  (vulva).  Ausser- 
dem giebt  es  in  jenem  Papyrus  auch  eine  Bezeichnung  für  die 
Gebärmutter:  „mut*,  worin  Ilennig^  die  Analogie  unserer 
•Mutter*,  juy^vrjQf  mater  finden  will.  Die  Eierstöcke  heissen  im 
Aegyptischen  benti  und  werden  durch  die  Dualform  dieses 
Wortes,  wie  auch  durch  die  ovalen  über  einander  geschriebenen 
Ringel  S  deutlich  bezeichnet,  so  kommen  z.  B.  ^Recepte  vom 
Nichtfallenlassen  der  Eierstöcke^   vor. 

üeber  das  anatomische  Wissen  der  Juden  finden  wir  in 
dem  Talmud  Aufschluss.  Nach  der  Behauptung  von  Israels 
soUen  die  talmudischen  Aerzte  viele  Obductionen  vorgenommen 
haben. 

Kazenelson  schreibt: 

.Alle  Theile  des  weiblichen  Genitalapparates,  die  dorn  adspiciren- 
den  Auge  oder  dem  untersuchenden  Finger  zugänglich  sind,  waren  den 
Talmudisten  und  ebenso  den  Autoren  des  alten  Testaments  bekannt,  die 
über  eine  reiche  Nomonclatur  mit  zahlreichen  Synonymen  für  diese  Or- 
gane yerfQgten.  Folgende  Termini  werden  in  der  talmudischen  Literatur  wefche  mehrmab  ge- 
fÜr  die  Geschlechtstheile  angegeben:    Mons  Veneris,    kaph  tappüach;  boren  hat. 

Vulva,  ervah;  Rima  pudendum,  beth  hasaethurim;  Vestibulum  va-  (Nach ^Wrrax K/xa/iW.) 
gioae,  beth  chison  (wörtlich:   der  äussere  Raum);    Oriliciura  urethrae, 

lul  (wörtlich:  die  Treppe,  der  Durchgang);  Hymen,  bethulim;  und  Ostium  vaginae,  beth 
schinnajim,  d.h.  gezähnte  OefFnung,  wohl  eine  Anspielung  auf  die  Carunculae  myrtiformes, 
titale  basar,  der  Multiparon.  Maimonides  deutet  diese  Benennung  als  Orificium  uteri,  in- 
dem er  vom  Standpunkte  Galen^s  ausgeht,  nach  welchem  der  Canalis  cervicis  uteri  immer 
während  des  Coitus  geöffnet  ist.  Diese  irrige  Ansicht  wurde  aber  niemals  von  den  Talmu- 
disten getheilt.  Femer  werden  genannt :  Vagina,  beth  toreph,  bethha-rechem;  zuweilen 
wird  auch  die  Vagina  sammt  dem  Vestibulum  perozdor,  d.  h.  Vorhof  der  Gebärmutter  ge- 
nannt; Septum  vesico vaginale,  gagh  perozdor,  wörtlich:  Dach  des  Vorhofs;  Septum  vesico- 
rectale,  karka  perozdor,  wörtlich:  Diele  des  Vorhofs.  Ausserdem  sind  folgende  »Synonyma 
als  biblische  Bezeichnungen  des  Uterus  bekannt:  'em,  Mutter;  tarpachath,  Krug  und 
ftchalpuchith,  Blase.  Die  beiden  letzten  Bezeichnungen  können  sich  nicht  auf  den 
zweihömigen  Uterus  beziehen.  Im  Talmud  findet  sich  keine  Andeutung  darüber,  dass 
der  Uterus  ein  doppeltes  Organ  sei.  Am  Uterus  werden  endlich  unterschieden:  der  Canalis 
cervicis  uteri,  makor,  d.  h.  Quelle,  Ursprung,  und  das  Cavum  uteri,  cheder,  beth, 
herajon.* 


Fig.   144.     Die  inneren 
Genitalien  einer  Frau, 


230 


VI.  Die  inneren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnograpliischer  Beziehung. 


Kazenelson  erwähnt  noch  eine  Stelle  der  Mischna:  «Das  Weib  hat  in  ihrem  Inneren 
eine  Kammer,  einen  Yorhof  und  einen  Aufgang.*  Hierzu  bemerkt  er:  «Der  Sinn  dieses  Frag- 
ments ist  auch  verständlich.  Unter  Kammer  verstanden  sie  das  Cavum  uteri,  Yorhof 
nannten  sie  die  Vagina  und  das  Vestibulum  yaginae,  und  mit  Aufgang  bezeichneten  sie  die 
Harnblase,  wobei  das  zu  untersuchende  Individuum  in  Rückenlage  gedacht  werden  mnss. 
Ueber  die  Tubae  Fallopiae  und  die  Ovarien  sind  in  diesem  Fragment  gar  keine  Andeutungen 

gemacht.  Maimonides  aber,  der  einen  Gommentar  zu  diesem 
Fragment  und  zu  den  sich  auf  dasselbe  beziehenden  Debatten 
der  Talmudisten  im  Sinne  der  nach  ihm  unfehlbaren  Galen- 
sehen  Anatomie  geliefert  hat,  will  in  diesem  Bruchstück 
sowohl  Erwähnung  der  Ovarien,  wie  die  der  Tubae  Fallopiae 
und  sogar  auch  der  doppelten  Gebärmutter  gefunden  haben. 
Die  Talmudisten  haben  aber  möglicher  Weise  von  den  Tuben 
nichts  gewusst,  wenigstens  berichten  sie  nichts  über  die- 
selben; dass  sie  aber  an  den  falschen  Anschauungen  Galen^s 
und  dessen  Schüler  keinen  Theil  haben,  ist  gewiss."*) 

Zuerst  war  es  Soranus,  welcher  genau  die  Ge- 
bärmutter von  der  Scheide  trennt;  dabei  beruft  er 
sich  auf  die  von  ihm  selbst  vorgenommenen  Sectionen 
von  Leichen.  Nach  ihm  hat  die  Gebärmutter  des 
Weibes  die  Form  eines  Schröpfkopfes  und  keines- 
wegs die  Gestalt  wie  bei  den  Thieren;  er  unter- 
scheidet an  ihr  einen  Hals,  einen  Nacken,  einen 
Stiel,  die  Flügel,  die  Seiten  und'  den  Grund.  Den 
Muttermund  beschreibt  er  genau  und  sagt,  dass  der 
Uterus  aus  zwei  Membranen  besteht.  Die  Yasa  sper- 
matica  —  so  versteht  Hennig  die  betr.  Stelle  — 
entsenden  je  eine  Arterie  imd  eine  Vene  nach  den 
Eierstöcken,  und  neben  ihnen  hebt  sich  jederseits 
vom  Uterus  ein  dünner  Gang  heraus,  der  als  Eileiter 
anzusprechen  ist.  Der  Lateiner  Muscio,  genannt 
Moschion*"^),  der  später,  vielleicht  erst  im  6.  Jahrhundert,  in  Rom  lebte  und  ein 
compilatorisches  Hebammenbuch  verfasste,  schliesst  sich  dem  Soranns  fast  toU- 
ständig  an;  auch  er  unterscheidet  den  Uterus  von  der  Vagina.     In  diesem  Lehr- 

*)  Da  noch  wiederholentlich  von  dem  Talmud  und  seinen  Gelehrten  die  Rede  sein 
muss,  so  ist  es  manchem  der  Leser  vielleicht  nicht  unerwünscht,  wenn  über  die  Geschichte 
und  die  Anordnung  des  Talmud  Folgendes  hier  mitgetheilt  wird.  Unter  den  veränderten 
Lebensverhältnissen  hatte  sich  allmählich  das  Bedürfniss  herausgestellt,  die  zu  dem  Wortlaute 
des  rituellen  Gesetzes  für  einzelne  besondere  Fälle  gemachten  Zusätze,  Abänderungen  und 
Auslegungen  zu  einem  Ganzen  zu  sammeln.  Das  geschah  schon  durch  die  Hill el' sehe  Schule 
vor  Christi  Geburt,  aber  erst  im  dritten  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  erhielt  diese  Samm- 
lung ihre  jetzige  Gestalt  unter  dem  Namen  der  Mischna,  d.  h.  Auslegung.  Später  wurden 
durch  die  Pricsterschulen  von  Jerusalem  und  Babylon  Gerichtsentscheidungen,  Aussprüche 
der  Weisen  und  Verhandlungen  der  Lehrer  über  den  Sinn  des  Ueberlieferten  gesammelt  and 
als  sogenannte  Gemara  den  Sätzen  der  Mischna  angefügt.  Beides  zusammen  bildet  den 
Talmud.  Daher  giebt  es  einen  jerusalemitischen  Talmud,  der  um  300—400  nach  Chrigto 
entstanden  und  nur  fragmentarisch  auf  uns  gekommen  ist,  und  einen  vollständigeren  baby- 
lonischen Talmud,  der  dem  6.  Jahrhundert  nach  Christo  entstammt.  (Vergl.  Israels,  Wunder- 
bar, Truse»,  Berger,  Kotelmann.)  Zur  Beurtheilung  der  anatomischen  und  medicinischen 
Kenntnisse  der  Talmudisten  muss  nun  aber  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  der  Talmud 
ja  kein  medicinisches  Lehrbuch  ist,  sondern  dass  er  Medicinisches  nur  insoweit  berührt,  als 
es  für  die  besonderen  rituellen  Zwecke  erforderlich  ist.  Deshalb  ist  die  Annahme  berechtigt, 
dass  den  Talmudisten  auch  noch  etwas  mehr  bekannt  war,  als  sie  im  Talmud  zur  Sprache 
bringen.    (^ Kazenelson. J 

**)  Valentin  Böse  wies  in  seiner  Ausgabe  des  Soranus  (Leipzig  1882)  nach,  dass  3fo- 
schion  (eigentlich  Muscio)  dem  Soranus  und  anderen  Schriftstellern  nur  nachgeschrieben  hat; 
das  lat.  Original  des  3fo^ton  wurde  im  15.  Jahrh.  in  das  Griechische  übersetzt,  und  hier 


Fig.  145.    Die  inneren  Genitalien 
des  Weibes.    (1547.) 
(Nach    y.  Dryander.) 


hl.  Die  ErkenjitnisB  dm  anatomischen  Bauea  der  inneren  weiblichen  Gefichlecht^urgane.    231 

bach  ist  Yom  Bau  der  Sexualorgane  alles  dasjenige   gelehrt,    was  die  daziialigeu 

^A0^^te  bei  ihren  anatomischen  Kenntnissen  wussten.     Dann  geht  Galcutis  wieder 

auf  die  den  Thieren   ähnliche    doppelhomige  Gebärmutter    zurück,    und  bei  Ori- 

basius  finden  wir  dieselbe  Ansicht,  eben80  wie  bei  dem  im  Jahre  980  in  Peraien 

eborenen  arabischen  Ärzte  Avicenna, 

Aber  auch  noch  viel  länger  blieb  hm  den  gelehrten  Aerzten  Europas  diese 
fassung   die    herrschende.     So  schrieb    im   Beginne  des  14*  Jahrhunderte  der 
"imte  Chirurg  Philipps  efes"  Schönen  von  Frankreich,  Meister  Heinrich  von 
limdevilh  (nach  Nicais*/s  Ueljersetzung): 

^Lft  matrice  (matrix)  est  un  membre  officia!  compos^,  Bpermatique»  nerveux»  froid  et 
rappareil  de  la  genui-ation  chez  lea  fommea,  semhlable  ä  TappareÜ  de  la  g<JnÄmtioö 
homme«,  eatif  qu'il  e«t  renverse. 
col  de  la  raatnce  repreaente  la  verge  chez 
J'botnQie,  ta  tnatrice  le  scrotum,  et  eUe  le 
fcotnporte  par  rapport  i\  la  verge,  de  la  mßme 
aanit»re  que  celle-ci  par  rapport  au  canal  de 
l^urine*  La  mairice  ©st  forraee  de  deux  tu* 
biqiie«,  compOB^es  cotnroe  cetles  d<^  regiomac^ 
pour  len  luetne«  raiaona,  I.a  mairice  est  placke 
le  rectam»  en  bas,  entre  ce  dornior,  la 
lPi3fl»io  et  le^  aot^e«  intestins.  La  raison  de 
eiÜon  an  milieQ  de  «es  organes  estf  que 
l^et  prot^ent  Tombryon  oontre  les  dorn* 
ext^rieurs.  La  matrice  n*a,  chez  las 
les,  qne  deux  cavitea  ou  eellule«;  les 
animanx  ont  aotant  de  cellules,  qu'ils 
^oai  dt  boutB  de  mamelle«/ 

Eine  höchst  absonderliche  Abbil- 
dong  ist  der  von  Nicaise  veranstalteten 
AttBgabe  beigegeben.  Sie  ist  dem  Werke 
Ton  Magnus  Hundt  entnommen,  das  im 
Jabre  1501  erschien,  und  illustrirt  m 
TortrelTlicher  Weise  den  niederen  Stand 
df*r  anatomischen  Kenntnisse  in  der  da* 
nialigen  Zeit.  Fig.  143  giebt  eine  Copie 
derselben. 

Hennig ^    sagt:     «Einen    grossen 

iKwiBchenraum  überschreiteDd,  treffen  wir 

&rst  wieder  bei  Ve^ial  eine  auf  den  So- 

ranuS'Mosriiion  sehen  Stand  aufgebaute 

jTerbesÄerte  und  vermehrte  Auflage  der 

I Abbildung  von  den  inneren  Zeugungs- 

Itheilen.*     Hier  aber  liegt  ein  Irrthum 

For;  denn  die  in  den  3/oscAiow- Ausgaben 

Ihefindlichen  Bilder  sind  bedeutend  spä- 

rterea   Datums    und    rlihren    nicht   etwa 

,  von  Mosch  ton  selber   her.      Auch  lasst 

[eint?  Darstellung  der  inneren  Genitalien 

lus  dem  Jabre  1547  (Fig.  145),  welche  Joamies  Dryander  in  seinem  Artzenei* 

Spiegel  giebt,  bereits  einen  Fortschritt  zum  Besseren  erkennen.     Allerdings  tritt 

"^  Andreas  Vescdius   die  Darstellung  der   inneren  Genitalien   in  eine 

auch  die  Abbildungen  der  inneren  woibL  OeschlechUtheile  hinzugefügt,  die 

|iich  dann  m  der  von  Dcxvfi  bo«urgten  Aufgabe   der  Schrift  Moschioffi  wiederfinden.     Die«© 

üild^n-    utimmen   in    der   Hauptsache   mit  denjenigen   überein,    welche   wir  beiapielsweifle  bei 

\Iiu^  (Kin  «chöG  lastig  TrOHtbüchlo  etc»  1554)  6nd«*n»  welche  abo  dem  damaligen  Standpunkte 

\  i\nr  MnntAr,oichen  Kenntni»*e  <*ni«pr«»chen. 


1^1' 


Fig.  146,    Di«  L'DterleibBorfPune  «iner  Frau  in  QiTfr 
DfttÜrlicben  Lage.      <N»Ph   An^irrm  yetmlimf.) 


mm 


232  V*  I^e  inneren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Beziehong. 

günstigere  Phase  ein.  Eins  seiner  Bilder  (Fig.  144)  ist  freilich  doch  noch 
ziemlich  mangelhaft.  Hingegen  giebt  die  Frau  mit  geöffnetem  Leibe  (Fig.  146), 
welche  die  inneren  Genitalien  überblicken  lässt,  schon  eine  recht  gute  Yorstellang 
von  dem  wirklichen  Verhalten  dieser  Organe.  Eine  grosse  Entdeckung  des  Ita- 
lieners Fallopia  hat  auch  wesentlich  zur  Aufklärung  beigetragen,  denn  von  ihm 
wurden  die  Eileiter  entdeckt,  die  seitdem  die  Tubae  Fallopii  hiessen.  Viel- 
leicht ist  übrigens  auch  schon  die  oben  erwähnte  Abbildung  bei  Dryander  durch 
anatomische  Tafeln  von  Vesalius  beeinflusst  worden,  deren  erste  Ausgabe  in  das 
Jahr  1538  fäUt. 

Es  ist  hier  natürlicher  Weise  nicht  der  Ort,  eine  Geschichte  der  anatomischen 
Erkenntnisse  auf  diesem  Gebiete  bis  in  die  Neuzeit  hinein  zu  entwickeln. 

Den  Letten  ist,  wie  wir  durch  Älksnis  erfahren,  die  Existenz  der  Gebär- 
mutter wohlbekannt.  Sie  nennen  sie  mähte  (Mutter)  oder  dsemde  und  dsemdes 
mähte  (Gebärmutter).  Aber  auch  Blüthenmutter  wird  sie  genannt  oder,  wenn 
sie  Schmerzen  bereitet,  heisst  sie  Mutter  des  Zornes,  Mutter  der  Schrecken 
oder  Mutter  der  Qualen.  In  den  an  ihre  Adresse  gerichteten  Beschwörungs- 
formeln wird  sie  auch  als  goldenes  Mütterchen,  als  Mutter,  Mutter,  alte 
Frau,  als  liebe  Mahrina  oder  als  Mahrina^  heilige  Frau  angeredet.  Auch 
Mutter  der  Früchte,  Mutter  der  Kinder,  Mutter  des  Lebens  wird  sie 
titulirt  und  einmal  sogar  höchst  respectwidrig,  schwarzes  Schwein  in  jugend- 
lichen Tagen.  Sie  sitzt  in  einer  «Höhle  der  linken  Seite  unter  dem  Nabel*. 
Hier  hat  sie  ihre  Behausung,  ihre  Schwelle,  ihr  Zimmer,  hier  ist  ihr  «Mutterbett'' 
und  ihr  , Mutterstuhl ",  ihr  , goldenes  Bett",  oder  ihre  »Blüthen wiege*  mit  dem 
„Daunenkissen*,  wo  sie  zusammengerollt  wie  ein  Knäuel  oder  zusanmoiengeringelt 
wie  ein  Kätzchen  liegen  und  sich  wärmen  und  zahm  sein  soll  und  schlafen,  weich, 
wie  eine  Wollflocke,  wie  eine  Linde  oder  wie  ein  Bovist.  Oder  sie  soll  dort 
sitzen  auf  dem  goldenen  Stuhl  mit  der  silbernen  Rücklehne.  Sie  ist  süss,  wie 
Honig,  »weiss*  und  »rundlich*  und  „in  ihr  ist  Blut*.  Wir  werden  später  noch 
mehr  von  ihr  hören. 


52.  Die  Erkenntniss  des  anatomischen  Baues  der  inneren  weiblichen  Ge- 
schlechtsorgane bei  den  alten  Indern,  den  Japanern  und  Chinesen. 

Aus  Susrutas  Ayurveda  erfahren  wir  sehr  wenig  darüber,  wie  sich  die 
indischen  Aerzte  die  weiblichen  Genitalien  zusammengesetzt  dachten.  In 
Hessler's  lateinischer  Ausgabe  dieses  Buches  ist  Nichts  enthalten,  was  über  die 
Anatomie  und  Physiologie  der  Schwangerschaft  Aufschluss  geben  könnte.  Zu  der 
Stelle,  wo  die  Gebärrautterkrankheiten  besprochen  werden,  bemerkt  Uessler: 

«Vocabulum  yoni  non  secus  uterum,  acvulvam  significat;  designat  igitur  omnet 
partes  genitales  muliebres,  quae  ad  coitum,  conceptionem,  graviditatem  et  partum  pertinent.* 

In  dem  oben  bereits  citirten  Tamil- Buche  Kokkögam  werden  gewisse 
Unterschiede  in  der  Tiefe  der  Geschlechtstheile  der  Weiber  constatirt  und  diese 
letzteren  hiernach  in  drei  Gruppen  eingetheilt.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
giebt  es  drei  Arten  von  Weibern,  nämlich  die  Gazellenweibchen,  deren  Ge- 
schlechtstheil  eine  Tiefe  von  6  Daumenbreiten  besitzt,  femer  die  Stuten  mit  9 
Daumenbreiten  Tiefe,  und  endlich  die  Elefantenweibchen  mit  12  Daumenbreiten 
Tiefe.  Ihnen  entsprechen  übrigens  drei  Arten  der  Männer,  die  Hasen,  die  Stiere 
und  die  Hengste,  deren  Penis  ebenfalls  6  oder  9  oder  12  Daumenbreiten  misst. 

Die  japanischen  Geburtshelfer,  insbesondere  ihr  Lehrmeister  Kangawa, 
der  in  den  Jahren  1750 — 1760  sein  berühmtes  Werk  schrieb,  hatten,  bevor  sie 
von  europäischen  Aerzten  genauere  Kenntniss  über  den  Bau  des  Körpers  er- 
hielten, noch  ein  sehr  unvollkommenes  Wissen  von  den  anatomischen  Theilen,  welche 
für  die  Geburtshülfe  wichtig  sind.  Eine  eingehende  Bekanntschaft  mit  den  Ver- 
hältnissen der  Gebärmutter  verräth  dieses  San-ron  betitelte  Werk  allerdings  nicht 


53.  Die  Gebärmutter  in  anthropologischer  Beziehung.  233 

Als  die  hierher  gehörenden  Theile  bezeichnen  sie  folgende: 

1.  Das  Hüftbein  (ganzes  Becken);  den  Theil  desselben,  welcher  quer  läuft  und  unter 
dem  Nabel  steht,  nennt  man  Querbein  (offenbar  kein  bestimmter  anatomischer  Begriff).  Der 
indere  Theil  des  Hüftbeins  geht  nach  unten  und  vereinigt  sich  von  beiden  Seiten  mitten 
swischen  beiden  Schenkeln.  Dieser  Theil  heisst  das  vereinigende  Bein  (hiermit  ist  offen- 
bar die  Symphysis  gemeint). 

2.  An  dieser  Stelle  giebt  es  einen  Zwischenraum,  E-in*)  (d.i.  das  Perinaeum);  derselbe 
ist  beim  Manne  3  Bu  (0,024  englische  Fuss)**)  breit,  bei  der  Frau  5  Bu  (0,040  engl.  Fuss), 
BO  lange  sie  nicht  geboren  hat,  nach  der  ersten  Geburt  wird  er  über  1  Sun  (0,08  englische 
Fuss)  breit 

3.  Vor  dem  vereinigenden  Bein  liegt  die  Scham,  dahinter  der  Anus;  dringt  man  4  Sun 
(0,32  engl.  Fuss)  in  die  Scham,  so  findet  man  oberhalb  des  Anus  die  Gebärmutter;  ihre  Länge 
ist  8  Sun  (0,64  engl.  Fuss) ;  ihr  Mund  ist  nach  hinten  gerichtet  und  liegt  gerade  in  der  Höhe 
des  unteren  Randes  des  Querbeins. 

Die  zweite  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  hat  in  dem  medicinischen  Wissen 
der  Japaner  sehr  beträchtliche  Umwälzungen  hervorgerufen.  Immer  emsiger 
sind  sie  bestrebt,  mit  unermüdlicher  Energie  und  Ausdauer  europäische  Wissen- 
schaft zu  erlernen,  und  schon  liegen  eine  ganze  Zahl  von  Veröffentlichungen  aus 
japanischer  Feder  vor,  welche  sich  in  würdigster  Weise  den  wissenschaftlichen 
Arbeits  der  internationalen  Civilisation  einfügen. 

Was  die  Kenntniss  betrifft,  welche  die  Chinesen  von  den  weiblichen  Geni- 
talien haben,  so  steht  dieselbe  auf  einer  sehr  niederen  Stufe.  Vom  Becken  und 
seiner  Anatomie  scheinen  sie  wenig  oder  nichts  zu  wissen;  obgleich  doch  die 
Gestalt  desselben  so  wichtig  für  den  Geburtsmechanismus  ist,  denn  in  den  mit 
anatomischen  Bildern  reich  verzierten  medicinischen  Werken  der  Chinesen  hat 
man  die  Abbildung  eines  Beckens  noch  nicht  finden  können.  Dahingegen  enthalten 
einzelne  chinesische  Abhandlungen  über  Geburtshülfe  Beschreibungen  der  inneren 
Geschlechtsth eile,  wobei  man  leicht  die  Scheide  und  die  Gebärmutter  unterscheiden 
kann:  ,. ähnlich  (wie  die  Beschreibung  lautet)  einer  Nenuphar-Blüthe,  die  auf 
ihrem  Stengel  sitzt**.  Allein  man  kann  in  der  Beschreibung  weder  die  Eileiter 
noch  die  Eierstöcke  wiedererkennen,  auch  erfährt  man  nicht,  ob  der  Verfasser 
von  ihrer  Bedeutung  überhaupt  eine  klare  Vorstellung  hat. 


53.  Die  Gebärmutter  in  anthropologischer  Beziehung. 

Unsere  Kenntnisse  von  dem  Bau  der  inneren  weiblichen  Geschlechtsorgane 
bei  den  verschiedenen  Völkern  der  Erde  sind  bis  heute  leider  noch  so  gering, 
dass  es  sich  nicht  entscheiden  lässt,  ob  es  an  diesen  Theilen  wahre  Rassenunter- 
schiede giebt.  Sollten  dieselben  sich  nachweisen  lassen,  so  sind  sie  gewiss  nicht 
sehr  erheblicher  Natur,  wie  wir  nach  den  gleichartigen  Functionen,  die  sie  bei 
allen  Rassen  haben,  wohl  von  vornherein  voraussetzen  dürfen.  Mögen  die  wenigen 
Thatsachen,  welche  ich  zu  bringen  vermag,  hier  ihre  Stelle  finden : 

Bei  den  Negerinnen  fand  Fruner-Bcy  den  Hals  des  Uterus  dick  und  ver- 
längert. Der  Mutterhals  der  Woloffen-Frau  ist  nach  de  lioclichrunr  birnen- 
förmig, eng  wie  ein  Schleienmaul  und  besonders  charakterisirt  durch  die  Stellung 
des  Orificium  externum  nach  vorn  und  durch  seine  Länge;  man  würde  solche  Ver- 

•)  In  =  beschatteter  Theil;  E  heisst  der  Punkt,  an  welchem  sich  die  Miyaku's  ver- 
einigen; die  drei  Miyaku's  sind  drei  grosse  Adern,  von  denen  die  eine  auf  der  Vorderseite, 
die  zweite  auf  der  Rückseite  die  Mitte  des  Körpers  hinabläuft,  die  dritte  quer  über  den  Damm 
in  beide  Beine  läuft.  Sie  sind,  wie  alle  dergleichen  Bestimmungen,  Resultat  der  Speculation 
and  entsprechen  keinem  anatomischen  Begritfe. 

**)  Das  gewöhnlich  gebräuchliche  Längenmaass  ist  Shiakn,  der  in  10  Sun  und  100  Bu 
getheilt  ist.  Der  im  gewöhnlichen  Handwerkergebrauche  benutzte  ist  so  ziemlich  dem  eng- 
lischen Fuss  gleich.  Der  in  der  Geburtshülfe  gebräuchliche  Shiaku  ist  dagegen  nur  0,8  engl. 
Fass  lang,  also  der  Sun  0,08,  der  Bu  0,008  engl.  Fuss. 


234  ^^^'  ^^6  inneren  Sexaalorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Beziehiuig. 

hältnisse  bei  der  Europäerin  nach  de  Bochebrunes  Ansicht  bereits  als  einen 
beginnenden  Prolapsus  diagnosticiren.  De  Rochebrune  weist  nun  aber  die  An- 
schauung zurück,  dass  diese  Gestaltung  ein  ethnographisches  Merkmal  seL  Viel- 
mehr ist  diese  Form  bei  der  Woloffin  die  Folge  ihrer  Lebensweise.  Neben  den 
Einwirkungen  des  Klimas,  der  Ernährung  und  der  Menstruation  ist  hier  besonders 
das  anstrengende  Tanzen  zu  beschuldigen. 

Die  Durchschnittsverhältnisse  des  Mutterhalses  sind  nach  ihm  folgende: 
bei  der  Europäerin  0,017  m  Länge,  0,031  m  Durchmesser, 
,       ,     Woloffin       0,044   ,        ,       0,019   ,  , 

Unter  ähnlichen  Lebensverhältnissen  soll  bei  Creolinnen,  Hulies  u.  s.  w. 
eine  gleiche  BeschaflFenheit  des  Uterus  vorkommen,  und  St.  Vel  berichtet,  dass 
eine  einfache  hypertrophische  Verlängerung  des  Mutterhalses  auch  auf  den  An- 
tillen unter  älteren  Weibern  beobachtet  wird,  welche  den  verschiedensten  Klassen 
der  Bevölkerung  angehören,  aber  nach  mehreren  Geburten  durch  schwere  Arbeit 
überlastet  wurden. 

Ebenso  fraglich  ist,  ob  der  Bau  des  Uterus,  welchen  Görtj^  bei  dem  Busch- 
weibe  Äfandi  vorfand,  ein  Merkmal  der  Rasse  oder  eine  zufällige  Besonderheit 
des  Individuums  ist.  Diese  Frau,  die  etwa  38  Jahre  alt  verstorben  war.  und  3 
Kinder  geboren  haben  soll,  zeigte  bei  der  Section  einen  Uterus  von  plumpem 
Bau;  der  Fundus  war  convex,  die  Fläche  des  Körpers  stark  gewölbt,  die  Vaginal- 
portion kurz,  cylindrisch,  der  äussere  Muttermund  liess  bequem  einen  Gänsefeder- 
kiel hindurchtreten,  die  Lippen  waren  dick,  aber  weder  gekerbt,  noch  narbig  ein- 
gezogen, die  Maasse  übertrafen  nicht  diejenigen  einer  Gebärmutter  bei  einer  jugend- 
lichen Europäerin. 

Die  französische  Expedition  nach  dem  Cap  Hörn  hat  auch  auf  dem 
hier  vorliegenden  Gebiete  unsere  Kenntnisse  etwas  erweitert.  Hyades  und  Beniker 
beschreiben  den  Mutterhals  bei  einer  Feuerländerin  von  13  Jahren: 

,col  dur,  sito^  en  bas  et  en  avant;  bei  einer  16 jährigen:  col  nt^rin  normal;  bei  einer 
18jährigen:  col  en  bas,  un  peu  en  avant,  arrondi;  bei  einer  20 jährigen :  col  abaiss^,  an  peu 
döviö  k  droite,  contenant  un  tampon  de  paille  qui  Tobstrue  enti^rement.  Diese  Fran  war 
ungefähr  im  3.  Monate  schwanger.  Eine  30jährige,  Mutter  zweier  Kinder,  hatte:  col  large, 
k  Ouvertüre  transversale  un  peu  oblique  de  dedans  en  dehors  et  de  haut  en  bas;  brin  de 
paille  sur  le  col  utärin.  Bei  einer  anderen  30jährigen  war:  Col  ut^rin  situä  en  bas,  et  an 
peu  en  avant,  dur  au  toucher,  4  ouverture  tiunsversale  oblique  de  dehors  en  dedans  et  de 
haut  en  bas,  presentant  de  legeres  tracos  d'incisures  sur  chaque  exträmit^.  Es  bestand  dabei 
ein  kleiner  Scheidenvorfall.  Eine  40 jährige  endlich  hatte:  col  en  bas  et  un  pea  en  avant. 
assez  dur,  arrondi.     Diese  Frau  hatte  drei  Kinder  geboren.* 

Wir  besitzen  aber  auch  einen  Obductionsbefund,  welcher  sich  ebenfalls  auf 
eine  Feuerländerin  bezieht  und  zwar  auf  diejenige,  welche  auf  ihrer  Reise 
durch  Europa  einer  Lungen-  und  Brustfellentzündung  erlegen  war.  v,  Bischoff 
fand  an  ihr  Folgendes: 

Die  inneren  Genitalien  der  jüngeren  Feuerländerin  boten  folgende 
Eigenthümlichkeiten : 

Die  Portio  vaginalis  uteri  tritt  an  dem  ScheidengewOlbe  nur  mit  der  hinteren  Mntter- 
mundslippe  hervor,  die  vordere  ist  ganz  verstrichen.  Der  Muttermund  bildet  eine  etwa  12  mm 
lange  quere  Spalte,  steht  zwar  ziemlich  weit  auf,  hat  aber  keine  Einrisse  oder  Narben,  so 
dass  diese  Person  wohl  gewiss  keine  reife  Frucht  geboren  hat.  Der  Uterus  hat  einen 
Längendurchmesser  von  8  cm,  einen  Querdurchmesser  von  5,5  cm,  einen  Dickendarchmesser 
von  3  cm,  ist  im  Allgemeinen  etwas  platt  und  ein  wenig  schief  gestaltet.  An  den  Eier- 
stöcken fanden  sich  alte  membranöse  Exsudationen  und  Verwachsungen.  Diese  Theile  and 
die  Eierstöcke  zeigten  die  gewöhnliche  Beschaffenheit.  Der  Constrictor  cunni  ist  nur 
schwach,  der  Baibus  vestibuli  in  gewöhnlichem  Grade  entwickelt. 

Hiermit  ist  das  Material  zu  Ende,  was  uns  in  dieser  Beziehung  zu  Gebote 
steht.    Leider  ist  es   viel   zu    gering,   um   zu  sicheren  Schlüssen  zu  f&hren.    Es 


54.  Die  Gebärmutter  im  Volksglauben.  235 

mnfls  daher  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  es  Rassenunterschiede  an  den  inneren 
Genitalien  giebt,  einer  späteren  Zeit  überlassen  werden.  Was  ich  bisher  zu- 
sammenbringen konnte,  macht  dieses  aber  sehr  wenig  wahrscheinlich. 


54.  Die  Oebärmatter  im  Yolksglanben. 

Die  Kenntniss  der  antiken  und  der  uncivilisirten  Völker  von  der  Bedeutung 
der  Gebärmutter  ist  eine  nur  geringe  gewesen  und  manche  absonderliche  Vor- 
stellung wird  mit  derselben  in  Verbindung  gebracht.  Den  alten  Indern  war  sie 
eins  der  drei  Asaya  oder  Receptacula,  um  welche  der  weibliche  Korper  reicher 
ist,  als  der  männliche  (die  beiden  andern  sind  die  Brüste).  (Wise,)  Die  Is- 
raeliten sagten  von  einer  Frau,  welche  keine  Kinder  gebar,  dass  sie  „ver- 
schlossenen Leibes*  sei.  Aehnlich  glauben  auch  die  Araber  in  Algerien,  wie 
Bertherand  berichtet,  von  einer  Frau,  welche  nicht  concipirt  oder  welcher  die 
Menses  fehlen,  dass  sie  die  Gebärmutter  verschlossen  habe. 

Höchst  merkwürdig  ist  die  Thatsache,  dass  man  von  Alters  her  die  Gebär- 
mutter fttr  ein  lebendes  Thier  im  Menschen  angesehen  hat.  Das  war  eine  An- 
schauung, welche  selbst  die  gebildeten  Kreise  beherrschte.  Auch  der  griechische 
Philosoph  Plato  hat  sich  hiervon  nicht  losmachen  können  (Kleinwächter).  Er 
hielt  den  Uterus  für  ein  Thier,  das  nach  der  Befruchtung  begehrlich  ist.  Wird 
diese  seine  Begierde  nicht  befriedigt,  so  zeigt  es  sich  ungehalten  und  beginnt  im 
Körper  herumzuwandern.  Hierdurch  verlegt  es  dann  die  Wege  der  Lebensgeister 
und  behindert  die  Respiration,  und  die  Folgen  davon  sind  schweres  Angstgefühl 
und  zahlreiche  Krankheiten. 

Das  erinnert  an  einen  Ausspruch  des  weisen  Salomo  (Sprüche  30,  15.  16): 

„Drei  Dinge  sind  nicht  zu  sättigen,  und  das  vierte  Kpricht  nicht:  es  ist  genug.  Die 
Hölle,  der  Frauen  verschlossene  Mutter,  die  Erde  wird  nicht  Wasser  satt,  und  das  Feuer 
spricht  nicht,  es  ist  genug.* 

Gleiche  Ansichten  herrschten  zu  Aristoteles'  und  Actuarius  Zeit,  sowie 
lange  später  noch.     Aretäus  sagt: 

,ln  der  Mitte  zwischen  beiden  Flanken  liegt  beim  Weibe  der  Uterus,  ein  weibliches 
Eingeweide,  welches  vollständig  einem  Thicre  gleicht,  denn  es  bewegt  sich  in  den  Flanken 
hin  und  her.  Die  Gebärmutter  ergötzt  sich  an  angenehmen  Gerüchen  und  nähert  sich  den- 
selben,  während  sie  vor  üblen  zurückweicht.  Sic  gleicht  daher  einem  Thiere  und  ist  auch 
ein  solches.* 

Dieser  Auffassung  zufolge  bestand  die  Behandlung  der  Hysterie  namentlich 
darin,  die  Gebärmutter  durch  angenehm  riechende  Mittel  heranzulocken  oder  durch 
üble  Gerüche  zu  verscheuchen.  Auch  Hippokrates  spricht  von  Wanderungen, 
von  Ab-  und  Aufsteigen  der  Gebärmutter,  und  seine  Heilmethode  gegen  die  da- 
mit verknüpften  Leiden  besteht  namentlich  in  Käucherungen,  aromatischen  In- 
jectionen  u.  s.  w. 

Erst  Galenus  verwirft  die  Annahme  einer  Wanderung  der  Gebärmutter,  be- 
folgt jedoch  die  Therapie  des  Hip2)okrates,  während  Soranus  ernstlich  bemüht 
war,    dem  Glauben  von   der  thierischen  Natur  der  Gebärmutter  entgegenzutreten. 

In  Deutschland  und  in  den  österreichischen  Alpen  hat  sich  von 
Alters  her  der  Volksglaube  viel  mit  den  Verhältnissen  des  weiblichen  Unterleibes 
beschäftigt,  und  namentlich  werden  die  mannigfachen  Erscheinungen  der  Hysterie 
der  „Mutter**  in  die  Schuhe  geschoben.  Führte  dieselbe  doch  lange  Zeit  geradezu 
den  Namen  Mutt^rsucht,  und  in  Steyermark  wird  nach  Fossel  der  sogenannte 
Globus  hystericus  noch  heutigen  Tages  als  die  Hebmutter  bezeichnet.  In  Tolz 
sagt  man  nach  Hoefler:  „Die  Bärmutter  ist  ihr  steigend  worden.*  Aber  auch 
hier  begegnen  wir  wiederum  ganz  allgemein  der  Anschauung,  dass  die  Gebär- 
mutter ein  im  Körper  des  Weibes  lebendes  Thier  sei,  welches  schlagen,  beissen 
und   hin    und   her  zu  kriechen  vermag.     Ihr  Name  ist  die  Mutter  (Muata)  oder 


236  ^^-  ^0  inneren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Beziehung. 

die  Bärmutter  (Bermutter).  Die  Bewohner  des  Ennsthales  in  der  G^end  von 
Admont  sagen:  ,Wann  d*Muata  ausn  Häusl  is,  hilft  nix  besser  als  d'Muata 
fuatern/ 

Dieses  Futtern  der  Gebärmutter  geschieht  nach  Fossd  in  folgender  Weise: 
Man  nimmt  Rossmünze  (Mentha  siWestris),  Hirschhomgeist,  Honig,  Muscatnuss 
und  Katzenschmalz,  vermengt  es  und  thut  alles  in  eine  Nussschale,  formt  darauf 
aus  einem  dünnen  Wachskerzchen  ein  Kränzchen,  klebt  auf  demselben  drei  Wachs- 
kerzen aufrechtstehend  an  und  zündet,  indem  man  die  Nussschale  inmitten  des 
Kränzchens  auf  den  Nabel  der  Kranken  legt,  die  drei  Kerzen  an.  Während  dieser 
Procedur  kehrt  die  Muata  in  ihr  Häusl  zurück  und  die  Kranke  ist  genesen. 

Im  Äufkirchner  Mirakel  heisst  es:  «Die 
N.  N.  hat  die  Bermutter  geschlagen."  und  nach 
dem  Fürstenfelder  Mirakel  hat  ^Hansens  Bi- 
hergers  Tochter  die  Bärmutter  den  ganzen  Tag  ohne 
Aufhören  gebissen,  bis  sie  sich  mit  einer  wächsenen 
Bärmutter  allhier  verlobt.*  Solche  wächsernen 
Muttern  haben  die  Gestalt  einer  Kröte  mit  kurzen 
gespreizten  Beinen.  An  ihrem  Hintertheile  ist,  wie 
an  manchen  Urnen,  ein  kleiner,  runder,  fussartiger 
Ansatz,  damit  sie  aufrecht  hingestellt  werden  können; 
ausserdem  aber  tragen  sie  eine  schmale  seidene 
Schnur  um  den  Hals,  xnn.  das  Aufhängen  vor  dem 
Gnadenbilde  zu  ermöglichen. 

Im  Sommer  1890  habe  ich  bei  eine^i  Wachs- 
zieher  in  Salzburg  solch  eine  Votivkröte  erwerben 
können,  die  in  dem  Kapitel  über  die  Unfixichtbar- 
keit  abgebildet  ist.  Derartige  Wachskröten  sollen 
Fig.  147.  Eiaernea  votivbiid  in  Kröten-  übrigens  in  ganz  Ob  erbayem  uud  Tyrol  ZU  haben 
^^^^'^^''iM^L^r^^^r^l^lJ^r^^^^^''^'  sein,    und   in    der    Kirche    in   Kufstein    fand    ich 

(Museum  zu  Wiesoaden.)  .'  „,  ii»i  rw    n 

(Nach  Handelmann.)  cmc  uutcr  anderen  wächsernen  menscnlicnen  wlied- 

maassen  an  einem  Altarbilde  aufgehängt.  Auch 
eiserne  Votivkröten  kommen  bisweilen  vor.  Eine  solche  eiserne  Krötenfigur  be- 
findet sich  im  Wiesbadener  Museum  (Fig.  147),  sie  ist  von  durchschnittlich 
1  cm  dickem  Eisen,  nicht  gegossen,  sondern  geschmiedet  und  die  Verzierungen  sind 
eingepunzt.  In  dem  bayerischen  National  -  Museum  in  München  finden  sich 
auch  ein  Paar  solche  Exemplare. 

Nach  dem  Volksglauben  kriecht  die  „  Bermutter '^  als  Kröte  aus  dem  Munde 
heraus,  um  sich  zu  baden,  und  kehrt  zurück,  während  die  Kranke  schläft;  dann 
folgt  Genesung  (Handelmann).  Hat  aber  die  Frau  indessen  den  Mund  geschlossen, 
so  kann  sie,  wie  wir  später  sehen  werden,  nicht  wieder  zurück,  und  in  diesem 
Falle  wird  die  Frau  unfruchtbar. 

Warum  es  nun  gerade  die  Kröte  ist,  mit  welcher  der  Volksglaube  die  Ge- 
bärmutter identificirt  hat,  das  ist  nicht  so  ohne  Weiteres  zu  verstehen.  Dass 
eine  oberflächliche  Aehnlichkeit  des  platten,  dicken  Uterus  mit  dem  genannten 
Thiere  hierzu  die  Veranlassung  gegeben  haben  sollte,  das  ist  doch  in  hohem 
Grade  unwahrscheinlich,  da  man  nicht  recht  einzusehen  vermag,  wo  denn  dem 
Volke  sich  die  Gelegenheit  geboten  haben  sollte,  eine  menschliche  Gebärmutter 
in  natura  zu  sehen.  Auch  Tamer's  Erklärung  will  uns  nicht  erheblich  fördern; 
er  ist  der  Meinung,  dass  die  Krankheit,  d.  h.  die  Hysterie,  wie  das  Hin-  und 
Herkriechen  einer  Kröte  empfunden  würde.  Es  bleibt  uns  für  das  Erste  nichts 
Anderes  übrig,  als  die  Thatsache  hinzunehmen  uud  eine  befriedigende  Erklärung 
der  Zukunft  zu  überlassen. 

Auf  den  Serang-  oder  Nusaina-Inseln  im  malayischen  Archipel  wird 
nach  Riedel^  der  Uterus  als  ein  lebendes,  mit  der  Frau  nicht  zusammenhängendM 


54.  Die  Gebärmutter  im  Volksglauben.  237 

Wesen  betrachtet,  das,  wenn  die  Frau  nicht  krank  werden  und  ihr  Korper  sich 
ordentlich  entwickehi  soll,  fortdauernd  mit  Sperma  genitale  gef&ttert  werden  muss. 
Auch  bei  den  Sachsen  in  Siebenbürgen  begegnen  wir  einem  ähnlichen 
Okuben,  wie  aus  ihren  Beschwörungsformeln  hervorgeht.  So  heisst  z.  B.  solch 
eine  Formel  aus  Kronstadt: 

,  Wehmutter,  Beermutter, 

Du  willst  Blut  lecken, 

Das  Herz  abstossen. 

Die  Glieder  recken, 

Die  Haut  strecken! 

Darfst  es  nicht  thun. 

Du  musst  ruhn, 

Im  Namen  Gottes.'*  r*'.  Wlislocki^.J 

Ganz  ähnlich  heisst  es  in  Plimb allen  bei  Kraupischken  in  der  Provinz 
Preussen  nach  Frischhier: 

,  Wehremutter,  Beremutter, 

Du  willst  Blut  lecken. 

Das  Herz  abstossen. 

Nein,  das  sollst  Du  nicht  thun! 

Du  bist  von  Gott  gesandt. 

Du  sollst  gehen  in  Deinen  Ruhestand!* 

Als  vollständig  ausserhalb  des  weiblichen  Körpers  stehend  erscheint  die  Ge- 
barmutter in  einer  Beschwörung,  welche  aus  der  siebenbürgischen  Ortschaft 
Ur wegen  stammt;  sie  soll  gegen  Gebärmutterblutungen  helfen: 

Beermutter  sass  auf  marmcindem  Stein, 

Kam  ein  alter  Mann  zu  ihr  herein, 

„Beermutter,  wohin  willst  Du  gehn?" 

„Ich  will  zur  N,  N.  gehn, 

Ich  will  ihr  Blut  sehn, 

Ich  will  ihr  Herz  verzehren. 

Ich  will  ihr  Leben  nehmen." 

„Beermutter,  das  sollst  Du  nicht  thun. 

Du  sollst  im  marmelnden  Stein  ruhn, 

Die  Waldfrau  soll  Dich  fressen, 

Als  wärst  Du  nie  gewesen! 

Im  Namen  Gottes,  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes.'* 

(v-  Wlislocki*j 

Die  Letten  glauben  ebenfalls,  dass  die  Gebärmutter  ihre  normale  Stelle 
verlassen  und  in  die  Höhe  steigen  könne.  Alksnis  führt  eine  ganze  Eleihe  in- 
teressanter Beschwörungsformeln  an,  welche  sich  auf  diesen  Zustand  beziehen. 
Wir  haben  die  Wohnung,  welche  die  Letten  der  Gebärmutter  anweisen,  mit  dem 
goldenen  Bettchen,  oder  dem  goldenen  Stuhle  schon  kennen  gelernt.  In  den  Be- 
schwörungsformeln der  Letten  wird  sie  aufgefordert,  zu  bleiben,  sich  nicht  zu 
rühren,  nicht  zu  sitzen,  nicht  aufzustehen,  sich  nicht  emporzurichten,  nicht  hoch 
und  nicht  tief  zu  steigen,  nicht  herumzustreifen,  sich  nicht  herumzutreiben,  nicht 
zu  springen,  nicht  hohe  Berge  zu  ersteigen,  nicht  zu  Gaste  zu  gehen.  Auch  soll 
sie  nicht  kratzend  gehen,  nicht  schlagen  und  nicht  grunzen.  Man  fordert  sie 
dann  auf,  nach  Hause  zu  gehen  und  sich  wieder  hinabzuwälzen. 

Es  mögen  ein  Paar  Proben  der  Beschwörungen  hier  angeführt  werden : 

aMutter,  Mutter,  was  Du  zu  Sinne  hast,  das  thue  nicht !  Du  hast  im  Sinne,  hohe  Berge 
zu  ersteigen,  —  das  thue  Du  nicht!  Du  hast  im  Sinne,  weit  zu  Gaste  zu  gehen,  —  das  thue 
Du  nicht!  Komm,  komm  nach  Hause,  setze  Dich  auf  einen  goldenen  Stuhl,  schlafe  im 
goldenen  Bett,  wo  Dich  Gott  seihst  hingestellt  hat    Im  Namen  u.  s.  w." 

Eine  andere  Formel  lautet: 

.Liebstes  Mütterchen,  steige  nicht  hoch,  steige  nicht  tief,  dehne  Dich  nicht  aus  in  die 


238 


VI.  Die  inneren  SexaaJorgane  des  Weibes  in  ethnographiscber  Beziehung. 


Breite,  recke  Dich  nicht  in  die  L&nge !    Sitze  auf  Deinem  Stuhl,  schlafe  in  Deinem  Bett,  wo 
Dich  Gott  eingezeichnet  hat* 

In  einer  Beschwörung  ist  sogar  von  den  kleinen  Kindlein  die  Rede,  welche 
die  Gebärmutter  besitzt;  sie  wird  eben  wirklich  mit  einer  Mutter  identificirt. 
Auch  hat  sie  nach  dem  Wortlaute  der  Zauberformel  nicht  nur  ihren  Platz  im 
Leibe  verlassen,  sondern  sie  ist  wirklich  aus  dem  Körper  ausgewandert: 

,, Meine  Mutter  ist  aufs  Feld  gegangen:  Komm  zurück  nach  Hause  —  Deine  kleinen 
Kindlein  weinen  und  schreien  nach  Dir!  Setze  Dich  auf  Deinen  Stuhl;  schlafe  in  Deinem 
Bett,  wo  Dich  Jesus  Mutter,  die  heilige  Maria  hingestellt,  hingesetzt  hat!" 

Auch  die  alten  Aegypter  glaubten  daran,  dass  die  Gebärmutter  ihre 
normale  Stelle  verlassen  könne.  Das  ersehen  wir  aus  dem  Papyrus  Ebers,  in 
welchem  von  Arzneien  die  Rede  ist,  „um  die  Mutter  der  Menschen  einer  Frau  an 
ihre  Stelle  zurückzubringen." 

In  des  getreuen  Eckarth's  unvorsichtiger  Heb-Amme,  welche  im 
Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  verfasst  worden  ist,  lässt  sich  die  Wehe- 
Mutter  folgen dermaassen  aus: 

,, Allerdings  wird  es  mit  Recht  die  Bärmutter  geheissen,  denn  sie  ist  gleich  einem 
Bare,  der,  wann  er  wüthend  wird,  alles  zerreisset  und  beisset,  welches  ebener  massen  auch 
die  Muttor  thut,  und  verrichtet,  denn  was  haben  die  armen  Weiber  nicht  für  Plage,  wann 
die  Mutter  aufsteiget,  und  gleichsam  im  Leibe  herum  wüthet  und  beisset." 

Votivgaben,  und  zwar  solche,  welche  figürlich  die 
erkrankten  Theile  des  Körpers  darstellten,  wurden  schon 
bei  den  Griechen  (vergl.  Palma  di  CesnoWs  Ausgra- 
bungen auf  Cypern)  und  Römern  in  den  Tempeln  der 
Götter  dargebracht,  welchen  man  einen  Einfluss  auf  die 
Heilung  zuschrieb.  So  haben  erst  ganz  neuerdings  die 
in  Rom  im  Tiber  1890  vorgenommenen  Baggerarbeiten 
die  hinabgestürzte  Cella  des  sdten  J.e5cu!ap  •  Tempels  ge- 
troffen und  mehrfach  menschliche  Körpertheile  in  ge- 
branntem Thon  zu  Tage  gefördert.  Es  ist  von  nicht  ge- 
ringem Interesse,  aus  diesen  Funden  zu  ersehen,  dass  die 
Frauen  auch  schon  in  damaliger  Zeit  Nachbildungen  ihrer 
Genitalien  der  Gottheit  weihten,  um  Heilung  zu  erflehen. 
So  hält  Neugebauer  eine  Terracotta  des  Nationalmuseams 
in  Neapel,  die  sich  in  Pompeji  fand,  f&r  die  Dar- 
stellung einer  vorgefallenen  und  mit  der  gefalteten  und 
umgestülpten  Scheidenschleimhaut  überkleideten  Gebär- 
mutter. 

Auch  das  Museo  archeologico  in  Florenz  besitzt 
branntem  Thon"*^(Tm'"Mu8eo  derartige  Votivstücke  in  blassröthlichem  gebranntem  Thon, 
archeologico  in  Florenz),  die  unter  denen  besonders  eins  von  ungefähr  2  Fuss  Höhe 
^Lr^sk^VaM^HeJ^^^  g*^nz  deutlich  die  Vulva,   den  Nabel   und  dazwischen  in 

einer  ovalen,  flachen  Vertiefung  den  quergerunzelten 
Uterus  mit  der  Scheidenportion  und  dem  Muttermunde  erkennen  lässt.  Dieses 
Votivstück  ist  in  Fig.  148  dargestellt. 

Ein  Verständniss  für  das  Wesen  der  Gebärmutter  finden  wir  bei  solchen 
Völkern,  welche  durch  äussere  Manipulationen  auf  die  Lage  des  Kindes  im  Mutter- 
leibe einzuwirken  suchen,  oder  welche  es  verstehen,  absichtliche  Lageverandemngen 
des  Uterus  zu  erzeugen,  um  die  betreffende  Person  vor  einer  Befruchtung  zn  be- 
wahren. Ganz  besonders  aber  gehören  solche  Volksstämme  hierher,  welche  sich 
sogar  an  den  Kaiserschnitt  wagen.  Ich  kann  dieses  Thema  hier  nicht  weiter 
verfolgen,  da  wir  in  einigen  späteren  Abschnitten  noch  einmal  hierauf  zurfick- 
konmien  müssen. 


Fig.  148.    Votivtigur  ans  ge- 


55.  Die  Eierstöcke  und  die  Castration  der  Weiber.  239 

55.  Die  Eierstocke  und  die  Castration  der  Weiber. 

Die  BedeutuDg  der  Eierstocke,  der  Ovarien,  als  derjenigen  Organe,  in  welchen 
ursprünglich  der  erste  Keim  für  eine  Nachkommenschaft  zur  Entwickelang  gelangt, 
ist  schon  frühzeitig  zum  Bewusstsein  gekommen.  So  hat  man  aus  Angaben  des 
Siraho  und  auch  des  Alexander  ab  Alexandra  darauf  geschlossen,  dass  sowohl  die 
alten  Lyder,  als  auch  die  Aegypter  es  verstanden  hätten,  durch  operative  Ent- 
fernung der  Eierstöcke  weibliche  Wesen  zu  Eunuchen  zu  machen.  Allerdings 
könnte  man  auf  die  Yermuthung  kommen,  dass  es  sich  hier  nicht  um  eine  wirk- 
liche Ovariotomie,  sondern  nur  um  eine  Excision  der  Clitoris  gehandelt  haben 
konnte ;  aber  wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  die  gleiche  Operation  an  Schweinen 
seit  alter  Zeit  im  Volke  ausgeübt  worden  ist,  und  dass  sich  auf  diese  Weise  sehr 
wohl  eine  chirurgische  Gewandtheit  entwickeln  konnte. 

Hyrtl  erzählt  einen  Fall  von  Wierus: 

„Ein  Schweineschneider,  welcher  Ursache  hatte,  die  Keuschheit  seiner  Tochter  in  Ver- 
dacht zu  ziehen,  ezstirpirte  ihr  beide  Ovarien,  und  ein  zweiter  desselben  Metiers  beredete 
seine  Frau,  sich  derselben  Operation  zu  unterziehen,  da  sie  ihn  bereits  mit  so  vielen  Kindern 
erfreute,  dass  er  nur  mit  •  Besorgniss  den  annoch  zu  erwartenden  Folgen  ihrer  Fruchtbarkeit 
entgegensah." 

Auch  in  Indien  muss  eine  derartige  Kenntniss  unter  den  Eingeborenen 
bestehen.  Wenigstens  giebt  Boherts  an,  dass  er  auf  einer  Reise  von  Delhi  nach 
Bombay  weibliche  Eunuchen  angetroffen  habe.  Die  von  ihm  untersuchten  Per- 
sonen waren  ungefähr  25  Jahre  alt.  Auf  welche  Weise  die  Operation  ausgeführt 
wurde,  vermochte  er  leider  nicht  zu  ermitteln.  Diese  Weiber  hatten  keinen  Busen 
und  angeblich  auch  keine  Warze.  Mit  dieser  letzteren  Bemerkung  ist  jedoch 
wohl  nur  gemeint,  dass  ihre  Brustwarzen  nicht  prominirend  waren.  Auch  die 
Schamhaare  fehlten  ihnen.  Ob  sie  überhaupt  nicht  enwickelt,  oder  der  Landes- 
sitte gemäss  künstlich  entfernt  worden  waren,  geht  aus  dem  Berichte  nicht  hervor. 
Der  Scheideneingang  war  vollkommen  verschlossen  und  der  Schambogen  so  enge, 
dass  sich  nicht  nur  die  absteigenden  Schambeinäste,  sondern  auch  die  aufsteigenden 
Sitzbeinäste  beider  Seiten  beinahe  berührten.  Die  ganze  Gegend  der  Schamtheile 
zeigte  keine  Fettablagerung,  ebenso  wie  die  Hinterbacken  nicht  mehr,  als  bei 
Männern,  während  der  übrige  Körper  hinreichend  damit  versehen  war.  Es  war 
keine  Spur  einer  Menstrualblutung  oder  eines  deren  Stelle  vertretenden  Blutflusses 
vorhanden,  ebenso  fehlte  der  Geschlechtstrieb.  Mit  Recht  wird  darauf  hingewiesen, 
dass  diese  Unglücklichen  abermals  den  Beweis  liefern,  wie  der  ganze  weibliche 
Habitus  von  den  Eierstöcken  abhängig  ist. 

Es  giebt  aber  auch  noch  ein  anderes  Land,  wo  man  derartige  Verstümme- 
lungen vornimmt,  r.  MikluchO'Maclatß  hat  darüber  berichtet  und  es  kann  uns 
nur  Wunder  nehmen,  dass  es  eins  der  allerrohesten  und  fast  am  tiefsten  in  der 
culturellen  Entwickelung  stehenden  Völker  ist,  welches  diese  Operationen  aus- 
geklügelt hat.  Es  sind  die  Australneger,  welche  die  operative  Entfernung  der 
Eierstöcke  üben,  um  den  jungen  Leuten  eine  besondere  Art  von  Hetären  zu 
schaffen,  welche  nie  Mütter  werden  können.  Diese  Operation  wird  in  einzelnen 
Gegenden  Australiens  von  Zeit  zu  Zeit  an  jungen  Mädchen  vorgenommen: 
am  Parapitschuri-See  fand  ein  Berichterstatter  ein  solches  zwitterhaftes  Mäd- 
chen mit  knabenartigem  Aussehen  und  mit  länglichen  Narben  in  der  Leistengegend. 
Ein  andermal  sah  der  Naturforscher  Mac  Gillivray  am  Cap  York  ein  einge- 
borenes Weib,  dem  man,  wie  die  Narben  zeigten,  die  Ovarien  ausgeschnitten  hatte; 
man  hatte  dies  gethan,  weil  sie  stumm  geboren  war  und  weil  man  nun  verhüten 
wollte,  dass  sie  ebenfalls  stumme  Kinder  zur  Welt  brächte. 

Vor  einiger  Zeit  erhielt  die  Berliner  anthropologische  Gesellschaft  einen 
erneuten  Bericht  über  diesen  Gegenstand  durch  Purceü,     Derselbe  schreibt: 

^EurilthaSf  dieses  ist  die  an  den  Weibern  vorgenommene  Operation,  welche 
man  für  die  Castration   (spaying)   gehalten   hat.     Diese   letztere  Operation   setzt 


240  ^I*  ^i®  inneren  Sexualorgane  des  Weibes  in  ethnographischer  Beziehung. 

voraus,  dass  die  Ovarien  entfernt  werden;  aber  die  weiblichen  Wesen,*  welche  ich 
untersucht  habe,  zeigten  keine  Operationsspuren  an  den  Seiten.  Sie  unterli^en 
einer  viel  schrecklicheren  Verstümmelung;  es  sind  aber  nur  wenige  Stamme  in 
Central-Australien,  welche  sie  ausüben.*^ 

Die  Operation  selber  wird  von  PurceU  folgendermaassen  beschrieben: 
„Ein  junges  Mädchen  von  10  bis  12  Jahren  wird  ausgewählt;  die  alten  Männer  fertigen 
eine  lange  Rolle  von  Emu- Federn,  um  deren  eines  Ende  eine  Haarschnur  gebunden  wird, 
deren  freies  Ende  zu  dem  Ende  der  Rolle  gefQhrt  wird.  Die  Schnur  wird  dann  in  den  Hals 
der  Gebärmutter  geschoben;  hier  wird  sie  einige  Tage  gelassen,  und  dann  zerren  die  alten 
Männer  einen  Theil  der  Gebärmutter,  welche  sie  eröffnet  haben,  heraus.  Nach  drei  Wochen 
fahren  sie  ein  kleines  Steinmesser  ein  und  incidiren  den  Mutterhals  horizontal  und  vertical* 
Daunen  von  der  Ente  oder  vom  Adler  werden  hineingebracht,  um  die  Gebärmutter  offen  zu 
halten.  Dann  sehen  alte  Weiber  nach  dem  Mädchen  und  legen  heisse  Fettklumpen  auf,  um 
die  Wunde  einzuschmieren  und  rein  zu  halten.  Wenn  sie  geheilt  ist,  so  schneiden  sie  die 
Vagina  gegen  den  After  hin  ein.  Das  geschieht,  um  die  „Micka''  (den  aufgeschlitzten  Penis 
der  Männer)  zuzulassen.  Wenn  die  Frau  dieser  Operation  unterworfen  ist,  so  wird  sie 
Eurilthas  genannt.  Wenn  nur  die  Vagina  halb  eingeschnitten  ist,  ohne  andere  Verst&mme- 
lungen,  so  heisst  die  Frau  Woridoh  Windees.'* 

Als  den  Zweck  für  diese  Operation  bezeichnet  PurceU: 

n vorzubeugen,  dass  die  Frau  fremden  Stämmen  Kinder  gebäre  und  durch 
das  Tragen  von  Kindern  behindert  werde,  das  trockene  und  wenig  Nahrung 
bietende  Land  zu  durchziehen.* 

Eine  ganz  besondere  Methode,  die  Eierstocke  functionsunflhig  zu  machen, 
versuchte  man  in  der  kleinen  religiösen  Secte,  welche  am  Anfang  des  vorigen 
Jahrhunderts  unter  der  Leitung  der  Eva  v,  BtUtler  in  der  Grafschaft  Sayn- 
Wittgenstein  (Sassmannshausen)  ihr  Wesen  trieb.  Da  jede  gottesdienstUche 
Handlung  mit  fleischlicher  Vermischung  der  Gemeindeglieder  endete,  so  wurde 
der  Versuch  gemacht,  Mädchen  und  Frauen  bei  ihrer  Aufnahme  ,  durch  eine 
schmerzhafte  und  lebensgefährliche  Operation  der  Zusammendrückung  der  Eier- 
stöcke" für  die  Conception  unfähig  zu  machen,  was  aber  nicht  in  allen  Fallen 
mit  dem  gewünschten  Erfolge  gekrönt  gewesen  ist  (Christiany). 


VII.    Die  Weiberbrust. 

56.  Die  Weiberbrnst  In  ihrer  Bassengestaltung. 

Die  weiblichen  Brüste  in  ihrer  Jugendfrische  sind  bekanntermaassen  ein 
Gegenstand,  welcher  die  Dichter  aller  Zeiten  und  Länder  zu  heller  Begeisterung 
beseeligt  hat.  in  der  That  nehmen  sie  unter  den  secundären  Geschlechtscharak- 
teren wohl  die  allervomehniste  Stelle  ein,  und  wir  vermögen  aus  den  Gesangen 
zu  ermessen,  welche  Anforderungen  der  ästhetische  Geschmack  bei  den  verschiedenen 
Völkern  an  das  Formideal  dieses  Körpertheiles  stellte.  Dieses  aber  ist  es  nicht, 
was  uns  hier  beschäftigen  soll.  Mir  liegt  nur  daran,  vom  naturhistorischen  Stand- 
punkte aus  festzustellen,  wie  sich  thatsächlich  bei  den  verschiedenen  Menschen- 
rassen und  Volksstämmen  die  Form  der  weiblichen  Brust  verhält. 

Ploss^^  hat  schon  im  Jahre  1872  die  Aufmerksamkeit  auf  diesen  Gegenstand 
gerichtet.  Auch  die  französischen  Anthropologen  haben  in  ihren  ,.Instruc- 
tions*  den  Versuch  gemacht,  die  typischen  Gestaltungen  der  Weiberbrust  durch 
einen  bestimmten  Ausdruck  zu  bezeichnen,  welcher  sogleich  ohne  eine  bildliche 
Darstellung  im  Stande  sein  sollte,  eine  klare  und  deutliche  Vorstellung  von  der 
betreffenden  Brustform  zu  geben.     Es  heisst  dort  von  den  Brüsten : 

„Ellas  sont  tantot  hemisph^riques,  tantöt  plus  ou  moinn  pendantes,  tantöt  piri- 
formes,  c'est-ä-dire  en  forme  de  poire.*' 

Allein  man  wird  es  nicht  leugnen  können,  dass  diese  Bezeichnungen  doch 
durchaus  nicht  hinreichend  genau  und  erschöpfend  sind,  um  ohne  eine  ganz  ein- 
gehende Beschreibung  oder  eine  bildliche  Darstellung  verständlich  zu  sein.  Auch 
geben  sie  meiner  Meinung  nach  noch  keineswegs  alle  Hauptformen  der  Brüste 
wieder. 

Die  letzten  Jahrzehnte  haben  wiederholentlich  Vertreterinnen  anderer  Rassen 
nach  Europa  geführt;  auch  steigert  sich  von  Jahr  zu  Jahr  die  schon  recht  er- 
hebliche Anzahl  von  photographischen  Aufnahmen  fremder  Völker.  Durch  diese 
beiden  Umstände  sind  wir  in  die  Lage  gesetzt,  die  Brüste  vieler  Individuen  in 
ihrer  Gestaltung  vergleichen  zu  können.  Trotz  der  ausserordentlichen  Mannig- 
faltigkeit in  der  Form  finden  wir  doch  in  vollem  Umfange  die  schon  früher  aus- 
gesprochene Annahme  bestätigt,  dass  es  wirkliche  Kassenunterschiede  in  der  Form 
der  weiblichen  Brüste  giebt. 

Hyrtl  sagte  schon: 

„Nur  die  BrQste  der  weissen  und  gelben  Rassen  sind  im  jungfräulichen  compacten 
Zustande  halbkugelig;  jene  der  Negerinnen  dagegen  unter  gleichen  Verhältnissen  des  Alters 
und  der  Körperbeschafifenheit  mehr  in  die  Länge  gezogen,  zugespitzt,  nach  aussen  und  unten 
gerichtet,  kurz,  mehr  eutorähnlich." 

Diese  Angabe  hat  aber  nur  für  gewisse  Stämme  ihre  Berechtigung :  in  dieser 
Verallgemeinerung  lässt  sie  sich  nicht  aufrecht  erhalten. 

PlosB-Bartels,  Das  Weib.    G.  Aufl.    I.  16 


244 


VII.  Die  Weiberbrust. 


Das  reicht  aber,  wie  ich  wohl  nicht  erst  weiter  zu  betonen  brauche, 
natürlicher  Weise  nicht  aus,  um  alle  die  vielfachen  Abstufungen  in  der  Form,  der 
Grösse,  der  Consistenz  oder  Festigkeit  u.  s.  w.  anschaulich  zu  machen,  welche  die 
Weiberbrust  bei  den  verschiedenen  Völkern  und  Individuen  darzubieten  vermag. 
Allerdings  darf  man  nicht  vergessen,  dass  jegliche  Frauenbrust  eine  Reihe 
von  Phasen  in  ihrer  Entwickelung  durchzumachen  hat,  je  nach  dem  Lebensalter 
der  Trägerin,  welche  durch  ganz  verschiedenartige  Formgestaltung  gekennzeichnet 
sind.  Wenn  man  von  allen  diesen  Entwickelungsphasen  der  Brust  desselben  In- 
dividuums getreue  Darstellungen  mit  einander  vergleichen  würde,  so  könnte  man 
bisweilen  in  die  Versuchung  kommen,  zu  glauben,  dass  man  die  Brüste  ganz 
verschiedener  Individuen  vor  sich  habe.  Man  muss  daher  bei  dem  Urtheil,  das 
man  über  die  Form  der  Brüste  fremder  Nationen  abgiebt,  recht  sorgföltig  be- 
rücksichtigen, in  welchem  Lebensabschnitte 
sich  die  Besitzerinnen  der  betreffenden  Brüste 
befinden. 

Die  auffallendsten  Unterschiede  be- 
stehen innerhalb  derselben  Rasse  in  der  Form 
der  Brüste,  je  nachdem  die  letzteren  bereits 
ihrer  physiologischen  Bestimmung  genügt 
haben  oder  nicht.  Die  jungfräuliche  Brust 
hat  fast  bei  allen  Völkern  eine  ganz. andere 
Form,  als  die  Brüste  von  Frauen,  welche 
bereits  geboren  haben,  ganz  besonders,  wenn 
sie  schon  längere  Zeit  ein  oder  gar  mehrere 
Kinder  gesäugt  haben.  Durch  das  Säuge- 
geschäft werden  die  Brüste  gewöhnlich  mehr 
oder  weniger  stark  herabhängend,  welk,  faltig 
und  runzelig  und  zeigen  nicht  selten  sehr 
wenig  mit  den  Gesetzen  der  Schönheit  in 
Einklang  stehende  Knotenbildungen.  Darauf 
treten  die  Veränderungen  des  Alters  hinzu, 
welche  bisweilen  die  Brüste  in  platte,  weit 
herabhängende  Lappen  umformen  oder  sie 
auch  wohl  gänzlich  verschwinden  lassen,  so 
dass  nur  noch  eine  unförmige  Warze  die 
Stelle  bezeichnet,  wo  sie  einstmals  den  Brust- 
korb verschönten.  Von  allem  diesem  habe 
ich  später  noch  zu  sprechen.  Es  ist  eine 
der  vielen  noch  ungelösten  Aufgaben  der 
Anthropologie,  das  Lebensalter  festzustellen,  in  welchem  bei  den  verschiedenen  Rassen 
und  Völkern  die  soeben  geschilderten  Veränderungen  einzutreten  pflegen,  sowie  auch 
den  Grad  der  Ausbildung  zu  bestimmen,  welchen  sie  fiir  gewöhnlich  erreichen. 

Schon  wenn  bei  dem  heranwachsenden  Mädchen  die  Brust  aus  dem  neutralen 
oder  puerilen  Zustande  sich  in  den  weiblichen  Typus  umzubilden  beginnt,  sind, 
wie  es  scheint,  wie  es  aber  noch  viel  genauer  studirt  und  erforscht  werden  muss, 
nicht  unwesentliche  Formenunterschiede  zu  beobachten.  Ich  komme  auf  dieselben 
in  einem  späteren  Abschnitte  noch  eingehender  zurück. 

Natürlicher  Weise  nmss  man  auch,  wenn  man  ein  Urtheil  über  die  Form  der 
Brüste  einer  Person  abgeben  will,  dieselben  vollständig  unverhüllt  gesehen  haben. 
Denn  die  Frauen  verstehen  es  bekanntlich  sehr  wohl,  durch  entsprechend  fest 
angelegte  Kleidung  die  bereits  schlaff  herabhängenden  Brüste  voll  und  üppig  er- 
scheinen zu  lassen.  Dieses  zeigen  dem  Leser  klar  und  deutlich  die  Figuren  5 
und  151,  welche  dieselbe  Person,  angeblich  eine  Z  u  1  u  -  Prinzessin  (wahrscheinlich 
aber  eine  Mulattin),  vorfuhren. 


Fip.   151.     Zulu- Frau  (Mulattin 0.   im  Anzug 

mit  lio«.'hKesch()beneii  Brüsten. 

(Nach  rhoto|^rai»bie.) 


5$.  Die  Weiberbrust  in  ihrer  Rass^agestaltimg. 


245 


Wenn  mau  nun  von  der  Rassengestaltung  der  weiblichen  Brust  spricht,  so 

pgt  man  ge wohnlich  nicht  an  die  durch  Wochenbetten  und  SHugungsperioden 
Biuflüs»ten,  auch  nicht  an  die  vom  Alter  veränderten  Brüste  zu  denken,  sondern 
an  die  jugendlichen  und  jimgfräulichen  Brüste  der  jungen  Mädchen  in  dem  kräf- 
tigsten geschlechtsreifen  Alter.  Hier  sind  bei  den  verschiedenen  Rassen  nicht 
unerhebliche  Form  Verschiedenheiten  zu  beobachten.  Bald  ist  die  Warze  klein 
und  thich  wie  ein  Knöpfchen,  bald  etwas  massiger  und  konisch  geformt,  mit  breiter 
Basis  und  abgerundeter  Spitze,  bald  gross  und  cylindrisch,  fast  wie  ein  Finger- 
glied.  Wie  die  Warzen,  so  zeigen  auch  die  Warzenhöfe  nicht  unerhebliche  Unter- 
schiede. Bald  sind  sie  blass,  bald  dunkelrosa,  bald  braim  und  selbst  fast  schwarz 
pigmentirt;  bald  bilden  sie  kleine,  bald  grössere  oder  selbst  ungeheuer  grosse 
Scherben»  bald  treten  sie  leicht,  bald  stark  halbkugelig  gewölbt  Liber  den  Hügel 
der  Brust  hervor,  und  bisweilen  sind  sie  durch  eine  deutlieh  ausgesprochene  ein- 
schnürende Ringfurche  von  dem  letzteren  abgesetzt  Bei  den  Hügeln  der  Brüste 
hat  man  darauf  zu  achten,  ob  sie  mehr  oder  weniger  unvermittelt  aus  der  Fläche 
des  Brustkorbes  herausquellen,  oder  ob  die  letztere  schon  von  den  Schlüsselbeinen 

I  an,  nach  abwärts  albnählich  an  Ünterhautfett  zunehmend,  unmerklich  in  die  Brüste 
übergeht.  Miui  hat  die  Art  ihres  Sitzes  zu  berücksichtigen,  nb  sie  hoher  oder 
tiefer  am  Thorax,  ob  sie  näher  der  Medianlinie 
oder  mehr  zur  Achselhöhle  hin  ihren  Ursprung 
nehmen.  Von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  ist 
aber  die  Berücksichtigung  ihrer  Grösse,  ihrer 
Festigkeit  und  ihrer  Form  und  Gestaltung. 

Die  Unzulänglichkeit  der  französischen 
Bezeichnungen  in  dieser  Beziehung,  wie  sie  die 
Insirficiions  anthropologiques  f^merales  vor- 
schlagen, wurde  oben  bereits  betont.  Auch  die 
Elimenls  iViinlhropologie  gmrrale  von  Topinard 
bringen  hierfür  keine  neuen  Vorschläge.  Die 
Formen ,    welche    meiner    Meinung   nach    unter- 

;  schieden  werden  müssen ,    kann  man  bezeichnen : 
A*  nach  der  Grösse:  als 

1.  stark  oder  üppig, 

2.  voll, 

3.  massig, 

4.  schwach,  klein  oder  spärlich. 
B.  nach  der   Festigkeit,    beziehungsweise 

dem  grösseren  oder  geringeren  Grade  der  Straff- 
heit: als 

K  stehend, 

2,  sich  senkend, 

3.  hängend. 
Hier  darf  man  jedoch  nicht  Übersehen,  dass 

'    u  Brüsten  das  Hängen  durch  die  ur- 
Form  bedingt  ist  und  sehr  wohl  neben 
[«trau er  Consistenz  bestehen  kann, 

na^i»  <1^>    Form  der  Brüste  kann  man  vier  Hauptgruppen  unterscheiden^ 


Fig.  KVi.    KArrerlTiidcben  &ua  NaiaI 

mit  hocbirr-^^lff  ^e^i  !^ "  ■    ■-  1  voniprlTig^u- 
den  Waxz^iüiof'  KrÜstpn. 


1.  sc jtnien förmige  Brüste^ 
(Ich  hatte  sie  ^üher  als  scheibenförmig  bezeichnet,  aber  ich  glaabe,  dasa 

fdas  Bild  einer  umgestülpten  Schale  deutlicher  ihre  Form  wiedergiebt} 

2.  halbkugelige  Brüste, 

3.  konische  Brüste, 

4.  ziegeneuterähnliche  Brüste, 


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248 


Vn.  Die  Weibcrbniflt, 


•;.i* 


Die  schalenförmigen  Brüste  wiederholen  ungefähr  die  Forra  (aber  nteht 
immer  die  Grösse)  einer  halben  Mandarine;  der  Durchmesser  ihrer  Gj  *  '"  ho 
libertrift't  bei  weitem  ihre  Höhe,     Die  halbkugelige«    kann  man  je  a  ar 

Grösse  mit  einem  halben  (oder  Dreiviertel)  Apfel,  mit  einer  halben  Aptebinc, 
oder  mit  einer  halben  Cocosnuss  u.  s,  w,  vergleichen;  immer  ist  ihre  Höhe  dem 
Durchmesser  ihrer  Grundfläche  ungefähr  gleich.  Die  konischen  BrtUrte  «ind 
pyriforui  (birnformig)  oder  besser  gesagt,  citronenförmig  zugespitzt  Bei  ihnen 
ist  ötets  die  Hohe,  d,  h.  die  Eutfernung  ihrer  Warze  von  dem  Mittelpunkte  ihrer 

Grundfläche  erheblich  grösser  als  der 
Durchmesser  der  letzteren.  Diese«  letz- 
tere trifit  auch  bei  der  vierten  Form 
zu,  bei  den  ziegen euterähnlichen 
Brüsten;  wie  aber  schon  ihr  Name  an- 
deutet, erscheinen  sie  lau  kt  und 
mei&t  sind  sie  mit  ihrer  ^[  ;:rh  ab- 
wärts gerichtet 

Kommt  es  nun  also  darauf  an,  die 
Schilderung  der  Brüste  eines  bestimmten 
Weibes  zu  geben,  80  wird  man  sich  zu 
überlegen  haben,  in  welche  Kategorie 
dieser  vier  Formen  man  ihre  Brü»te 
einreihen  soll  Aber  das  wird  noch  nicht 
genügen,  um  Jemandem,  der  die  Person 
nicht  sieht,  eine  annähernde  V  "  ng 
zn  erwecken.  Immer  wird  es  ;  h- 

wendig  sein,  auch  Über  die  Grösse  und 
Festigkeit  noch  entsprechende  Mittbei- 
lung  zu  machen.  So  würde  man  bei- 
spielsweise bei  unserer  Algerierin  in 
Fig.  1 55  die  Brüste  als  schaleniormig,  voll 
und  sich  senkend,  bei  dem  Asch  an ii« 
Mädchen  in  Fig.  163  als  konisch,  stark 
oder  üppig  und  hängend  bezeichnen. 

Die  Figuren  auf  den  beifolgen- 
den Tafeln  haben  den  Zweck,  die  drei 
Haupt grupf>en  A,  B  und  C  in  übersicht- 
licher Weise  zu  illustriren.  In  den  Fi- 
guren der  Europäerinnen  sind  junge 
Malermodells  aus  Budapest  und  Wien 
dargestellt,  während  zum  VeTglmche 
Weiber  von  aussereuropäi-  '  ^'-"d- 
kern  daneben  gestellt  sind,    l'  ^-^n 

149. 150. 153. 154  zeigen  jede  je  ©me  Per- 
son mit  üppigen,  mit  vollen,  mit  massigen 
und  mit  spärlichen  Brüsten,  die  Figurea 
157.  158  führen  jede  je  eine  Person  mit- ' 
stehenden,  mit  sich  senkenden  und  mit  hängenden  Brüsten  vor,  während  die  Figuren 
160.    161  jede  je  eine  Person  mit  schalen  förmigen  ♦  mit  halb'  u  und  mü- 

konischen  Brüsten  bieten.    In  Fig,  165  sind  drei  Inrllvidiieu  i  St^immes 

mit  ziegeneuterähnlichen  Brüsten  wiedergegeben. 

Solche  Ziegeneuter  -  Form   pflegt    bei  Sängen«ifu  ^tü  uutu   ^u  m 
das  in  Fig»  172  bei  einer  jungen  Frau  aus  Tunis  ganz  besonders  scht'm  zu  mL  \ 

7  ■  ■  ^'        f^n  nicht 

famnit  n    über  j:  «le  I 


Mig,  155,    Tttn£«rtTi  rhs  Atj^erjen  mit  g«wÖlbl  don 
RrHiten   '  n  WArseiibAffiii« 


56.  Die  Weiberbrust  in  ihrer  Rassengestaltung.  249 

EinzelindividaeD,  reichliche  photographische  Darstellungen  und  ganz  besonders  Oyps- 
abgQsse  wären  im  Stande,  unsere  anthropologischen  Kenntnisse  auf  diesem  Gebiete 
in  recht  erheblicher  Weise  zu  fordern.  In  der  Regel  nimmt  man  an,  dass  dort,  wo 
die  geschlechtliche  Entwickelung  frQh  eintritt,  z.  B.  in  den  südlichen  Klimaten, 
das  Hervorsprossen,  aber  auch  die  Rückbildung  der  Brüste  am  frühesten  beginnt. 

Nicht  unwesentliche  Verschiedenheiten  vermag  man  auch  an  den  Brust- 
warzen und  an  ihren  Warzenhof en  zu  beobachten.  Jedoch  scheinen  hier 
individuelle  Unterschiede  eine  nicht  unerhebliche  Rolle  mitzuspielen.  Trotzdem 
darf  man  sich  nicht  verleiten  lassen,  hierüber  die  Rassenunterschiede  zu  über- 
sehen. Diese  bestehen  auch  hier  ganz  unzweifelhaft.  Bei  einigen  Personen  ist 
der  Durchmesser  der  Warzenhöfe  ausserordentlich  gross,  während  derselbe  bei 
anderen  von  nur  geringer  Ausdehnung  ist.  Als  Beispiel  solcher  enormen  Warzen- 
höfe wird  ein  Kanaken-Weib  von  Hawaii  in  Fig.  170  und  ein  Hindu- 
Mädchen  in  Fig.  168  vorgeiiihrt.  Auch  in  Bezug  auf  ihre  Pigmentirung  zeigen 
eich  mancherlei  Variationen,  die  aber  natürlicher  Weise  nicht  unwesentlich  von 
der  Rassenfärbung  der  Besitzerin  beeinflusst  wird.  Selbst  unsere  Holzschnitte 
in  schwarzem  Druck  lassen  hierfür  schon  manche  Beispiele  erkennen.  Dem 
Hügel  der  Mamma  sitzt  der  Warzenhof  sehr  häufig  flach  scheibenförmig 
auf;  oft  aber  auch  ist  er  derartig  gewölbt,  dass  er  sich  ganz  gleichmässig  in 
die  allgemeine  Wölbung  der  Mamma  einfügt  und  diese  seiner  Ausdehnung  ent- 
sprechend vervollständigt.  Bei  manchen  Stämmen,  namentlich  in  Afrika  und  in 
der  Südsee,  bilden  die  Warzenhöfe  auch  besondere  kleine  halbkugelige  Hügel, 
welche  sich  aus  dem  Hügel  der  Mamma  mit  einer  scharf  markirten  Grenze  heraus- 
heben. Hierfür  sehen  wir  ein  klassisches  Beispiel  in  dem  jungen  Kaffer-Mädchen 
aus  Natal,  welche  in  Fig.  152  dargestellt  ist.  In  geringerem  Grade  zeigt  es  die 
Indianerin  aus  Arizona,  welche  uns  Fig.  159  vorführt,  und  die  in  Fig.  155 
dargestellte  Algerierin.  Die  soeben  geschilderte  scharfe  Abgrenzung  zwischen 
dem  convexen  Warzenhofe  und  der  Mamma  kann  einen  solchen  Grad  erreichen, 
dass  dieselbe  wie  scharf  eingeschnitten  erscheint.  Das  sehen  wir  bei  der  Bari- 
Frau   aus   Central-Afrika,    welche   in  Fig.  156  dargestellt  ist. 

Wenn  ich  ein  Schema  aufstellen  soll,  nach  welchem  die  Brustwarzenhöfe 
in  anthropologischer  Beziehung  geschildert  werden  könnten,  so  müssten  drei 
Gesichtspunkte  berücksichtigt  werden,  die  Grosse,  die  Form  und  die  Pigmen- 
tirung.    Der  Grösse  nach  kann  man  unterscheiden: 

1.  kleine        \ 

2.  massige     [   , 

3.  grosse  Brustwarzenhofe. 

4.  riesige       ) 

Für  die  Form  lassen  sich  folgende  Gruppen  aufstellen: 

1.  scheibenförmige  \ 

2.  flachschalenförmige    I    t^        ,  ,  ..« 

Q    k«iui,,w«ii':A«,„^^^         /    Brustwarzenhüte, 
o.  naibKugeliormige        i 

4.  fast  kugelförmige       J 

Hierbei  ist  aber  femer  auch  noch  zu  beachten,  ob  der  Warzenhof  gleich- 
massig  und  unvermittelt  in  die  Haut  des  Mammahügels  übergeht,  oder  ob  er 
durch  eine  deutliche,  wallartige  Erhebung  kleinster  knotiger  Erhöhungen,  welche 
Talgdrüsen  entsprechen,  gegen  dieselbe  abgegrenzt  ist,  oder  endlich,  ob  ihn  eine 
kreisförmige  Einfurchung  von  der  Mamma  abschnürt. 

Bei  der  Färbung  muss  man  darauf  sehen,  ob  sie  der  umgebenden  Haut 
gleich  oder  etwas,  oder  bedeutend  dunkler  ist.  Bei  der  weissen  Rasse  kann  die 
Färbung  fleischfarben,  hellrosa,  dunkelrosa,  bräunlich,  dunkelbraun  und  selbst 
schwarz  erscheinen. 

Die  Brustwarze  selbst  kann  nun  ganz  verstrichen  in  der  Mitte  des 
Warzenhofes  liegen,    wie  bei  der  Gashivos-Indianerin   in  Fig.  62,  oder  mehr 


250 


VII.  Die  Weiberbrust. 


9  *^ 


Brustwarzen. 


oder  weniger  knöpf  formig  aus  ihm  hervorragen,  wie  bei  der  jungen  Singha- 
lesin  Fig.  55  und  der  Indianerin  von  Arizona  Fig.  159.  Bisweilen  sitzt  sie 
dem  gewölbten  Warzenhofe  noch  wiederum  halbkugelig  auf;  das  zeigt  die 
Guyuna-Indianerin  in  Fig.  80;  auch  kann  sie  schmal  und  verlängert  eine 
Zapfen  form  darbieten  oder  selbst  an  ein  Fingerglied  erinnern,  wie  bei  der 
Loango-Negerin  in  Fig.  167.  Auch  hier  lässt  sich  natürlicher  Weise  ein 
Schema  für  die  Untersuchung  aufstellen,  in  welchem  wiederum  die  Form  und 
die  Grösse  die  beiden  maassgebenden  Factoren  sind.  Der  Grösse  nach  mQssen 
wir  unterscheiden: 

1.  fehlende^ 

2.  kleine       (   ^        . 

3"_     /   brustwarzeu. 
.  massige   [    *^*"^*'"  «*''^"- 

4.  grosse      J 
Für  die  Form  lässt  sich  folgende  Tabelle  geben: 

1.  ganz  verstrichene 

2.  knopfförmige 

3.  niedrig  cylinderförmige 

4.  halbkugelige 

5.  zapfenförmige 

6.  fingergliedförmige 
Es  ist  in  hohem  Grade  zu  bedauern,   dass   über  den 

Bau  und  die  Form  der  Brüste  genaue  statistische  Angaben 
oder  gar  subtile  Messungen  überhaupt  noch  nicht  vorliegen. 
Man  hat  sich  bisher  im  Allgemeinen  auf  die  einfache  An- 
gabe von  Durchschnitts-Beobachtungen  beschränkt,  d.  b.  auf 
die  Wiedergabe  des  Eindrucks,  welchen  die  Mehrzahl  der 
Weiber  einer  bestimmten  Bevölkerung  in  Bezug  auf  die 
Form  ihrer  Brüste  auf  den  berichtenden  Reisenden  hervor- 
gerufen hatte.  Es  kam  dann  allenfalls  wohl  noch  die 
Schilderung  besonders  auffallender  und  von  dem  bei  uns  Ge- 
wöhnlichen abweichender  Bildungen  hinzu.  Aber  damit  war 
dann  auch  das  Ende  erreicht.  Der  Zukunft  muss  es  daher 
vorbehalten  bleiben,  uns  mit  genauen  anatomischen  Unter- 
suchungen zu  versehen.  Es  müssten  dazu  genaue  Maass- 
bestimnmngen  vorgenommen  werden  hinsichtlich  des  Sitzes 
und  des  Umfanges,  sowie  der  Form  und  der  Grösse  der 
Brust,  auch  müssten  die  gleichen  Untersuchungen  sich  auch 
auf  die  Warze  und  den  Warzenhof  erstrecken. 

Wem  sich  die  Gelegenheit  bietet,  eine  grössere  An- 
zahl von  weiblichen  Wesen  von  unserer  Rasse  in  Bezug 
auf  ihre  Körpergestaltung  beobachten  zu  können,  der  wird 
sicherlich  überrascht  sein  von  der  grossen  Mannigfaltigkeit 
der  Formen,  welche  die  Brüste  darbieten  können,  und 
vielleicht  mag  es  ihm  so  scheinen,  als  sei  es  ziemlich 
bedeutungslos,  ob  die  Brüste  so  oder  so  geformt  sind, 
ob  sie  eine  beträchtliche  oder  nur  massige  Fülle  zeigen,  und  ob  sie  lange 
Zeit  ihre  Festigkeit  bewahrten,  oder  ob  sie  frühzeitig  zum  Herabsinken  neigen. 
Man  kann  sich  aber  wohl  überzeugen,  dass  alle  diese  vielfachen  Formen  sich  in 
die  ol)en  aufgestellten  Gruppen  unterbringen  lassen.  Dass  allerlei  Uebergange 
sich  finden,  das  ist  dabei  wohl  eigentlich  selbstverständlich.  Für  bedeutungslos 
möchte  ich  aber  diese  Formenunterschiede  durchaus  nicht  halten.  Denn  ich  stehe 
auf  dem  Standpunkte,  dass  nichts  in  der  Natur  bedeutungslos  ist.  Alle  Er- 
scheinungen in  der  Natur,  und  so  auch  die  Formen  der  Körpertheile  haben  ihre 
ganz   bestimmten  Ursachen   und   folgen  ganz  bestimmten   Gesetzen.     Und  w«m 


Fig.  l.V>.     Hall -Weil»  mit 
halbkUKeligt^n ,  stark  abge- 
schnürten Warzenhüfen. 
(Nach  Photograiibie ) 


57.  Die  Braste  der  Europäerinnen.  253 

uns  etwas  bedeutungslos  scheint,  dann  gestehen  wir  damit  einfach  nur  zu,  dass 
wir  noch  nicht  im  Stande  waren,  diese  Gesetze  zu  erkennen. 

Die  Bevölkerung  des  gesammten  Europa  hat  bekanntermaassen  im  Laufe 
der  Jahrtausende  vielfache  Verschiebungen  und  Mischungen  erfahren,  so  dass  wohl 
heute  keine  einzige  Nation  mit  Recht  von  sich  behaupten  kann,  dass  sie  eine 
unvermischte  Kasse  bilde.  Die  verschiedenartigen  Componenten  dieser  Völker- 
mischungen zu  isoliren,  hat  sich  die  Geschichtswissenschaft  vergeblich  bemüht. 
Das  ist  natürlich,  aber  auch  verzeihlich,  denn  jedenfalls  begannen  diese  Durch- 
kreuzungen viele  Jahrhunderte  vor  jeder  geschriebenen  Geschichte.  Es  ist  die 
Aufgabe  der  Anthropologen,  hier  den  Historikern  beizuspringen,  und  die  mühe- 
vollen Untersuchungen  über  die  Schädelformen  und  über  die  Farbe  der  Haut,  der 
Haare  und  der  Augen,  wie  sie  bereits  in  einem  Theile  der  civilisirten  Länder 
ausgeführt  wurden,  haben  unsere  Kenntnisse  schon  etwas  gefordert.  Aber  dieses 
sind  natürlicher  Weise  nicht  die  einzigen  anthropologischen  Merkmale,  welche  zur 
Lösung  dieser  schwierigen  Fragen  herangezogen  werden  müssen.  Es  ist  die  Sache 
der  Anthropologen,  immer  wieder  neue  Gesichtspunkte  zur  Erörterung  zu  stellen. 
Körpergrösse  und  „ Habitus'',  d.  h.  Schlankheit  oder  Untersetztheit  u.  s.  w.  des 
Körperbaues  müssen  ihre  Berücksichtigung  finden.  Aber  auch  die  Formen  der 
weiblichen  Brust  sind  nach  meiner  Ueberzeugung  wohl  berufen,  hier  noch  erneute 
Aufklärung  zu  schaffen.  Sicherlich  ist  ihre  Bedeutung,  die  sie  in  dieser  Beziehung 
besitzen,  immer  noch  erheblich  unterschätzt.  Dass  es  noch  an  genauen  Messungen 
fehlt,  das  wurde  oben  schon  angeführt;  ja  selbst  eine  oberflächliche  Statistik  der 
Formen  hat  man  noch  nirgends  aufgestellt.  Wirklich  brauchbare  Resultate  können 
aber  nur  grosse  Beobachtungsreihen  bringen.  Wie  solche  Messungen  auszuführen 
sind,  kann  hier  nicht  eingehend  erörtert  werden. 

So  viel  vermögen  wir  aber  doch  bereits  aus  dem  Material,  welches  uns  bis 
heute  vorliegt,  zu  ersehen,  dass  wir  wirklich  bei  der  Frauenbrust  von  wahren 
Rassenunterschieden  reden  könhen.  Allerdings  kommen  die  meisten  Formen  der 
Mammae,  welche  als  charakteristisch  bei  fremden  Völkern  beobachtet  wurden, 
auch  bei  uns  ab  und  zu  in  besonderen  Fällen  als  vereinzelte  Exemplare  vor,  so 
wie  auch  die  Brustformen  unserer  Weiber  sich  auch  bei  den  fremden  Rassen 
finden  können.  Allein  gerade  darin,  dass  diese  letzteren  nur  vereinzelt  sind 
und  dieselben  nur  als  grosse  Ausnahme  erscheinen,  und  gewöhnlich  auch  jener, 
bei  einem  besonderen  Volke  fast  durchgängig  vorgefundenen  ausgeprägten 
Form  ermangeln,  liegt  eben  die  Bedeutung  der  ethnographischen  Merkmale 
an  der  Frauenbrust. 


57.  Die  Brüste  der  Europäerinnen. 

Wenn  ich  nun  leider  auch  nicht  im  Stande  bin,  in  anthropologischer  Be- 
ziehung befriedigende  Angaben  über  die  Formen  der  Brüste  dem  Leser  vorzuführen, 
so  ist  es  doch  vielleicht  nicht  ohne  Interesse,  zu  sehen,  was  Reisende  und  andere 
Beobachter  über  diesen  Gegenstand  geäussert  haben.  Wir  wollen  zuerst  die  Frauen 
in  Europa  betrachten. 

Es  ist  wahrscheinlich  genügend  bekannt,  dass  auch  hier  die  Brüste  sich  bei 
den  verschiedeneu  Volksstämmen,  selbst  innerhalb  Deutschlands  nicht  gleich 
verhalten.  Ihre  Form  und  ihre  Grösse  zeigen  deutliche  Stammesverschiedenheiten, 
auch  ohne  dass  etwa  künstliche  Mittel  die  Entwickelung  des  Busens  beein- 
trächtigt hätten. 

In  Schlesien  pflegt  die  Ausbildung  der  Brüste,  wie  es  den  Anschein  hat, 
eine  bescheidene,  ja  fast  kümmerliche  zu  sein,  während  in  Mecklenburg,  in  der 
Würzburger  Gegend  und  in  Wien  selbst  noch  sehr  junge  Mädchen  einen  be- 
reits üppig  und  voll  entwickelten  Busen  zu  besitzen  pflegen.  Wir  haben  oben 
schon    das  Liedchen    kennen    gelernt,    nach   dem   die   Oesterreicherinnen  sich 


254  VII.  Die  Weiberbrust 

eines  besonders  guten  Rufes  erfreut  haben  müssen;  denn  der  Sänger  verlangt  für 
eine  schöne  Frau: 

,Die  Brüst'  aus  Oesterreich  im  Schrein.* 

Man  hat  behauptet,  dass  bei  der  Slavin  die  Brüste  sich  früher  ausbilden, 
als  bei  den  deutschen  Mädchen.  Ob  dieses  richtig  ist,  harrt  noch  der  Ent- 
scheidung. Die  Brüste  der  Mädchen  in  Groatien  sollen  sich  durch  gute  Formen 
und  durch  eine  grosse  Härte  auszeichnen.  Weicher  und  nur  von  massiger  Grösse 
ist  der  Busen  der  Serbinnen  im  Banat,  in  der  Bacska  und  in  Sirmien. 
Von  Letzteren  sagt  dagegen  v,  Rajacsich^  dass  sie  vollbusig  sind  und  stark  ent- 
wickelte Waden  und  Hinterbacken  besitzen.  Die  schöne  Form  der  Brüste  wird 
auch  gerühmt  bei  der  starken  Dalmatinerin  oder  Liccanerin,  bei  der 
Buujevka,  oder  hauptsächlich  bei  der  Grenzerin  indem  Brooder  Bregimente. 

Hy7'tl  hat  die  Meinung  ausgesprochen,  dass  in  trockenen  Gebirgsländern  die 
Brüste  keine  so  erhebliche  Grösse  erreichen,  wie  in  feuchten  oder  sumpfigen 
Gegenden.  Vielleicht  haben  die  vollen  üppigen  Formen,  wie  sie  Rubens  bei 
seinen  Niederländerinnen  zur  Darstellung  brachte,  zu  diesem  Ausspruch  die 
Veranlassung  gegeben.  Aber  man  würde  erheblich  irren,  wenn  man  glauben  wollte, 
dass  die  Originale  dieser  üppig  gebauten  Weiber  nun  immer  auch  Nieder- 
länderinnen gewesen  seien.  Die  kunstgeschichtlich-archivalische  Forschung  hat 
mit  Sicherheit  die  Modelle  für  bestimmte  Persönlichkeiten  auf  den  Gemälden  von 
Rubens  feststellen  können.  Man  kennt  ihren  Namen  und  ihre  Nationalität;  es 
waren  junge  Damen  aus  Paris.  Sie  zeigen  dieselbe  Formenfülle,  wie  sie  die 
Weiber  von  Rubens'  Bildern  immer  bieten.  Wir  werden  darin  also  wohl  mehr 
eine  Geschmacksrichtung  der  damaligen  Zeit,  als  die  bewusste  oder  unabsichtliche 
Darstellung  körperlicher  Stammeseigentbümlichkeiten  zu  suchen  haben. 

Bei  den  Süd-Europäerinnen  hat  man  eine  frühere  Entwickelung  und 
eine  üppigere  Ausbildung  der  Brüste  vorausgesetzt.  Dem  widerspricht  aber  eine 
Angabe  von  Abilgaard^  nach  der  unter  allen  Weibern  Europas  die  Castilia- 
ne rinnen  die  kleinsten  Brüste  haben  sollen.  Derselbe  Gewährsmann  schreibt  den 
Portugiesinnen  die  allergrössten  Brüste  zu. 

Eine  besonders  geringe  Entwickelung  der  Brüste  findet  man  auch  bei  den 
Yankee -Frauen  in  Nord-Amerika,  und  namentlich  wird  den  Damen  der  höheren 
Stände  in  England  eine  sehr  spärliche  Ausbildung  der  Brüste  zugeschrieben.  In 
einigen  mir  bekannt  gewordenen  Fällen  habe  ich  diese  Angabe  bestätigt  gefunden. 


58.  Die  Brüste  der  Amerikanerinnen. 

Wir  haben  die  Yankee- Frauen  soeben  schon  besprochen,  da  sie  doch 
naturgemäss  den  Weibern  Europas  anzuschliessen  sind.  Bei  den  übrigen  Völkern 
Amerikas  will  ich  mit  der  Südspitze  des  Continents  den  Anfang  machen. 

Von  den  Fescheres,  den  Bewohnern  des  Feuerlandes  an  der  Magelhaensstrasse, 
hat  Essendörfer  berichtet,  dass  die  Frauen  eine  bedeutende  Fettentwickelung  und  insbesondere 
sehr  üppige  Brüste  zeigen,  während  die  Männer  auffallend  mager  sind.  Dies  bestätigte  sich 
an  den  P  e  seh  er  ä -Weibern,  die  nach  Berlin  gebracht  worden  waren;  Virchotc^  fand  die 
Brüste  sehr  yoll,  stark  und  kräftig,  ohne  dabei  doch  häHslich  zu  sein;  sie  hängen  nur  wenig, 
jedoch  so,  dass  die  grossen  und  wohlgebildeten  Mammillen  mehr  nach  unten  stehen. 

Ilyades  und  Benilcer  sagen  von  den  Feuerländerinnen: 

,Les  seins  sont  disposes  assez  haut  chez  les  femmes.  Chez  les  jeunes  filles,  ils  sont 
arrondis  et  legeroment  coniques  et  redresses.  Chez  les  femmes  dans  un  certain  äge,  surtout 
apres  les  couches,  ils  deviennent  pendants,  mais  toujours  un  peu  coniques  et  point  piriformes. 
£n  g(^neral,  par  leur  forme  et  par  leur  disposition,  les  seins  de  femmes  yahgan  rappellent 
ceux  des  Araucaniennes  et  diffi^rent  beaucoup  de  ceux  des  femmes  mongoles.'* 

Ueber  die  südamerikanischen  Indianerinnen  und  zwar  von  den  Weibern  der 
Kayapo  in  der  Provinz  Matte  Grosso  (Brasilien)   sagt  Kupfer:   „Die  jüngeren  Fraaen 


Sd.  Die  Brüste  der  Afrikansrinnon. 


355 


iSM 


ti 


bi%b4»o  (mt%,  kl«iiie^  etwas  ^pitt  zur  Papilla  sulaufende  Brüste,  die  reiferen  eine  volle,  nicht 
ais«ch(Vnf»  Brufit."  Allein  im  All^'omelnen  stehen  die  1  ndianerinöen  Süd-Amerika»  in 
der  allmÄhlichen  Verlängerung  iler  Brüate  hinter  anderen  nicht  zurück. 

So  berichtet  auch  van  deti  Steineti  ttber  die  Bororö  im  Iimereu  Bratäiliens: 

„Brögte  der  Frauen,  die  geboren  haben,  hängend,  mit  grostem  Warzenhof/* 

^d  auch  in  Chile,  wie  in  Californien  sind  uach  dem  Ausspruch  RoWns,  dea 
Wundarztes  auf  der  Expedition  von  La  Prrou>it\  die  Brllate  der  Weiber  nach  dem 
Woclieübett  ebenso  schlaff  und  herabhängend, 
wie  hei  GuropueriDnen  unter  den  gleichen 
Yerhältniü^sen.  Ebenso  giebt  Schomburffk  an, 
ilfiAü  die  Brüste  der  W  a r  r  a  u  -  I  n  d  i a  n  e  - 
rinnen  in  Britisch  Guyana,  nachdem 
sto  geboren  haben,  schwammig  herabhängen. 

Unter  den  Indianern  aus  Guyana, 
welche  ich  selber^  wie  schon  froher  be- 
richtet, photographisch  aufnehmen  konnte^ 
zeigte  eine  Mutter  in  den  zwanziger  Jahren 
grosse,  schlaue,  stark  Im  :ende  Brü^t»> . 

bei  einem   13jährigen   M  i  wulbte  j^itii 

thm  erst  die  Brustdrüse  halbkugelig  hervor; 
ein  lÖ jähriges  Mädcherj  aber  hatte  volle, 
konische  Br liste,  auf  welchen  der  ^Vurzen- 
hot  iJh  eine  besondere  Halbkugel  aufsass  ; 
aus  seiner  Kuppe  trat  dann,  ebeufallts  halb 
kugelfiirmig,  die  eigentliche  Brustwarze  her- 
--"      Fig.  80. 

Auch  von  den  Quarani- Weibern 
Uebt  Hnigget  als  hesiondere  EigenthUmlich- 
keit  hervor,  dan«  die  Partie  d«*8  Wurzen- 
hofe»  erhaben  dem  Hügel  der  Mamma  auf- 
i^itze.  Aehn liehen,  wenn  auch  nicht  in 
die»er  starken  Ausbildung,  sieht  man  an 
Photographien  von  Indianerinnen  aus 
Ari/.una.  Fig.  159  zeigt  solch  eine  Indianerin  aus  Arizona,  deren  Warzenhöfe 
den  Brüsten  gewölbt  aufsitzen. 

SariorUiH  fand  die  BrUi^te  dei  Xahuatt,  der  Azteken* Weiber ,  konisch 
gefonnt.  Die  Eykimo-Frauen  sollen  nach  Smi'/A  ungewöhnlich  *tark  entwickelt« 
Brüste  besitzen« 


J 


Hg,  \t&,    rndUnerin  «tu  ArUou»  mit  g«- 

vülVi  iXtM  BrtivUu  anfBitiüiiilfti  W^rsenliOf^n. 

CNtcb  l'boiogrttphie.) 


59.  Die  Britt^ie  der  Afrikaneriiiuen. 

Wenden  wir  uns  in  Afrika  zuerst  den  Volkern  der  Nil -Länder  zu,  so 
habe  ich  über  die  Aegypterinnen  eine  Angabe  von  Bartmann^  anzuführen. 

Er  l.ejteichnot  di«  Brüste  derielhen  aU  oval  und  prall  in  dfr  Jugend,  doch  wnriion  di©- 
-rlbrii  mit  siuncihniendor  Körperentwickelung  und  nach  wiederholten  Geburten  wpilk  and 
hilngcnd.  Di«  BrüMe  der  FeUah- M&dchon  »chwöllon  ollt  schon  mit  dem  IL  hin  1-i  Jahre; 
«dJein  hm  diin  Fmuon  von  2o  bis  80  Jahren  werden  sie  fchon  tiüilaff. 

Die  Weiber  in  OberA'  m  standen  im  Alterthum  in  dem  Hufe,  nebr 

starke  Brüste  zu  haben,  wie  -t  nden  Versen  des  Juvcnalis  hervurgeht : 

Wer  *taunt  kropfigton  HaU  in  den  Alpen  an?     Wer  in  dem  Eiland 
u —  ■  !;'riS«»ere  Brünt'  aU  die  fetten  Süaglinge  solber? 


59.  Die  Brüste  der  Afrikanerlnnen. 


259 


i 


braitar,  hoher,  t oller,  manchmal  übervoller  Bösen.  Aber  auch  der  welkt  früh  dahin,  und 
rhalten  sich  an  «eioer  Statt  nur  breitere,  ebenfalls  flache^  leeren  Tabaksbeuteln  gleichende 
e«te  •  Auch  fand  HarUnann,  das«  bei  den  oingoborenen  Weibern  Nord- Afrikas  tehr 
jlfef^llifife  Torsobildungen  nicht  selten  sind.  Die  Bröijte  janger  Mädchen  imtwickeln  sich  nach 
«einen  Wahmehmungen  hier  selten  vor  dem  15.  bis  16.  Jahre;  dieselben  sind  öfters  prall, 
oben  etwas  abgedacht  und  vom  wie  unten  schön  gewölbt,  was  einen  nehr  angenehmen  Ge* 
«aniuit^indruck  hervorruft.  Die  berüchtigte^  von  den  Arabern  so  hliutig  gepriesene  Ziegen* 
brüst  beleidigt  nur  dann  unseren  ft«thetischen  iSinn^  wenn  sie  zu  voll  und  gar  %\i  hängend 
i«l  hl  gonnldertem  Grade,  klein  und  Eierlicb,  passt  nie  ganz  gut  zu  den  häufig  ungemein 
gracilen  Formen  der  dortigen  Mädchen  {Hartmann^^  Mehrere  Abbildungen  der  Büsten 
nord  afrikanisch  er  Mädchen  giebt  Harimann'^  in  sieinem  grösseren  Werke. 
Im  Sudan  sah  i^arfmann  nirgends  jene  schlaffen, 
hl  au  Chart  igen,  verlängerten  Brüste,  wie  sie  bei  vielen 
kfrikanerinnen  vorkommen,  doch  zeigt  der  Busen 
dner  Fungi-  oder  Dinka-Frau  keinesweg«  die  meist 
klassische  Formouachönheit  junger,  noch  jungfräulicher 
Tochter  ihres  Landete 

Bei  den  Nobah^  einem  Bergvolke  in  Kordofan, 
eigen  die  Brüste  nur  in  grosser  Jugend  gefällige  For- 
Ben;  sie  erhalten,  wie  ebenfalls  Hartmann  bencbtet, 
früh  eine  schlauchförmige  Gestalt  mit  tiefrunxeligen 
Warrenhöfen  und  sehr  langen,  spitzen,  hornigen  Warsen. 
B^i  den  Frauen  der  Fudji-Berün  im  Sennaar  sah 
Ihirtmann  im  jugendlichen  Alter  einen  schönen  Torso 
und  pralle,  ein  Kugelsegment  darstellende  Brüste  mit 
)*ehr  erectilen,  aber  weichen  Warxen,  Auch  die  Brüste 
der  Menta-Frauen  in  Ost- Afrika,  welche  sich  schon 
im  Alter  von  10  bis  12  Jahren  zu  entwickeln  beginnen, 
wölken  nacl»  Brekm  rasch  dahin,  üud  im  3U,  Jahre  hat 
ihr  Busen  mit  dem  dcj*  litjubrigea  Mätlchens  keine  Aohn- 
lichkeit  mehr.  Bei  den  Galla  fand  Juiin  Maria  Schuver 
besonders  die  Färbung  der  Brustwarzen  eigonthUmlich; 
dieselben  haben  eine  bläuliche  Farbe  und  werden  mit 
vorriJcktjndem  Alter  hell  indigofarbig.  Pauiitschkc  führt 
•chöne  Büßten  und  starke  Biüstt'  als  typisch  für  die 
Galla-Frauen  an. 

Die  Brüste  der  Tibbu- Weiber  im  östlichen  Li- 
byen  worden   nach   NaehUtfal    schnell    welk    und    ein 
I  Mangel  an  Fettbildung  läast  nur  zn  früh  den  kurze  Zeit 
hindurch  htibi^ch  geformten  Busen   als  eine  leere  Haut- 
ilte  erscheinen,  die  glücklicher  Weise,  da  jene  nie  vo- 
luminös war,  nicht  tief  herabhängt. 

Die  Ent Wickelung  der  Brüste  bei  den  Frauen  der 
Egba  in  Voruba  unweit  dea  Golfft  von  Benin  am 
Hger  iBt  nach  Hurton  ungewöhnlich  stark;  nach  de»' 
en  Geburt  «chon  welken  sie  aber,  und  im  Alter 
forden  sie  zu  blossen  Hautbeuteln.  Auch  sind  V 
forbanden.  wo  nach  Art  der  Amazonen  die  eine  Li 
hre  f  oUe  Kntwickolung  erhalten  hat,  während  die  andere 
iigeii  Nichtgebrauchs  kaum  sichtbar  gehoben  scheint. 

Wie    früh    die    Brüste    bei   die^n    Stummen    auch    ohne    vorhergegangenes 
■Wocfaenbett   hängend  werden  können,    das  zeigt  uns  das  in  Fig.  163  abgebildete 
jung«  Asichanti -Madeben,    welche»    erst  16  Jahre   alt  ist.     Wir  haben  dasselbe 
schon  in  Fig.  118  kennen  gelernt. 

Von  einem  den  Aschanti  benachbarten  Stumme,  den  Pai-Pi-nrl  iH!*»r 
Agnif  berichtet  de  Lanessan: 

^hm  «eins  nont  habituellement  pirtformcä  dans  la  jeunes^e;  plu^  lard,  un  iiMvieiir»f«ut 
tf^  ftanqaea,  altong^^i«  et  pendanta.  Let»  aeins  bemiapheriques  ^ont  rnre.^  et  i:on»idct».vw  Lommo 
im  figne  de  beaut^/ 

17 


It,  mU  bei 


Iti  Jfcliit? 
rüsten. 


260 


VIL  Dio  Weibeibruflt. 


.Da  die  Loango-Negerin/  «chreibt  Pechuel-Loesch^,  .Oberhaupt  xiicbt  »ur  Ueppigkoit 
neigt  und  uiischöne  F<?tibildnng  gar  nicht  vorkommt,  so  sind  utich  die  Rrü«te  derselben  tninii 
proportionirt  und  ©radieiöGn  bei  ju gen d kr Ü fügen  Individuen  eehr  hart  und  derb,  gewiaaer« 
maaBsen  auch  strotscpnd  Dieselben  nähern  sich  weniger  der  halbkugeligen,  aU  der  koniidicn 
Gestalt,  haben  oft  eine  zu  klein«?  und  ä«  wenig  vermittelte  Basis  und  präüentiren  sich  im  sehr 
seltenen  Ejttrem  fa^fc  zitzenähnlicb  und  ungleich  entwickelt,  Brüste  von  Bolcher  Form  folgen 
natürlich  um  bu  leichter  dem  (ie«5etz  der  Schwere,  und  werden  bald  zu  den  herubhUngendeo 
Beuteln,  welche  vorzugsweise  an  Afrikaner  innen  getadelt  werden,  obgleich  m  auch  b«i 
anderen  Kasten  vorkommen  und  bei  Cultur -Nationen  ebenfalla  nicht  unbekannt  dnd.  XHe 
bessere  Form  mit  breiter  Basis  i»t  naturgemlUs  die  dauerhaftere  und  in  manchen  Fällen  auch 
noch  eine  Zierde  de«  reiferen  Weibes:  in  der  Jugend  örscbeint  sie  hHutig  von  vollendeter  schööer 
Bildung,  bia  auf  die  selten  genügend  echarf  und  klein  abgesetzte  Warsse,"  Falkttn^iein-  lagt 
von  den  Loango-Negerinnen:  , Die  weibliche  Brust  ist  nur  in  de«  seltenen  Fallen  wirklich 


Fig.  1dl     2wet  boauga-Kegerlniteii 


-icU  Pholügr*plji 


»ohön  gebildet,  da  sich  schon  beim  Eintritt  der  Rf^if^  die  Neigung  ^nm  Hinuntiiniinkitn  ?et^ 
rÄlh.     Die  halbkugelige  Fonu  ist  s^-i  scheint  da«  V.  u   in  di#  LUng^ 

zu  Überwiegen,  so  dass  mehr   eine  1,  f?nrch  welche  kntifr  bf^ifUnMigl 

wird.    Die   Brust^^iirze,  sowie  dt5r  umgebende   Hut  iwt  c"  '<  stark  entwir !  ^  OmIi 

unseren  Hogriffen   vorhandene  SchÖnljeit  schwindet   ült  .d   schnell,   in  ^•  .^abifn 

ist  die  ©lasiiich©  SlraUheit  der  Jugend  der  verwelktwi  8chinff hcit  des  varteitigen  li^nitMiM 
gewichen/ 

Unter   den  vou   diesem  ßeiseiiden    aufgenomjoenen  Phoiograpliiea 
sich  dio  zweier  Ltian^o-Negeriniien  (Fig.  164;,  bei  wdchen  die  boidr-   ^' 
eine    ^mn,  deutliche  Verschiedenb^Mt  in    der    Grösse    aufwpiHeTi.     Wfmn 
gan?.    klein  Wenig    davon    auf  i  ^^    der  schiefen   ' 

kann    man    doch  nicht  in  Abreu  lu  diu«»  hier  wiri 

Brüste   besteht.     Wie  wir   gesehen    haben,    wurde  solche  Asymmetrie  der  T 
von  Burton  im  Yoruba» Gebiete  beobachtet,  und  auch  die  beiden  Veitern  Sa$* 


262 


VII.  Die  Weiberbrust. 


berichteten  solchen  Fall  von  den  Weddah  in  Ceylon.  Hier  handelt  es  sich 
zweifellos  um  eine  auf  natürlichem  Wege  entstandene  Asymmetrie.  Brehm  sah 
aber  im  Sudan,  dass  die  eine  Brust  dadurch  länger  wurde  als  die  der  anderen 
Seite,  weil  die  auf  der  Hüfte  der  Mutter  reitenden  Kinder  sich  an  ihr  festzu« 
halten  pflegten. 

Ueber  die  Frauenbrust  bei  den  Wol off- Negern  berichtet  de  Rochebrune: 

«L'aspect   piriforme   des   seins   s'observe   surtout   chez  les  jennes  filles,  bien  que  chez 

la  femme  ayant  eu  des  enfants  ces  caracteres  se  maintiennent,  car  les  seins  prodigieusement 

pendants,  que  certains  observateurs  donnent  &  la 
n^gresse  en  g^n^ral,  ne  peuvent  s'appliquer 
ä  la  Ouolove.*  Auch  bemerkte  Birenger- 
Feraud:  «Les  seins  prennent  chez  lesOuoloves 
un  grand  d^veloppement  qnand  eil  es  ont  eu 
des  enfants,  et  soit,  qu^elles  allaitent,  soit  qu'elles 
aient  sevr^  leur  nourrisson,  ils  n^ont  bientöt  plus 
rien  de  gracieux,  d'agr^able  k  la  vue.* 

Von  den  Wanjamuesi  sagt  Paul 
Reichard : 

,Die  Brüste  der  jungen  Mädchen  sind 
höchstens  bis  zum  dreizehnten  Jahre  strotzend 
und  beginnt  die  Entwickelung  derselben  schon 
mit  dem  siebenten  Jahre.  Die  Basis  der  Brust 
ist  kleiner  wie  die  unserer  Frauen,  und  oft 
bildet  sich  die  Brustwarze  mit  dem  Warzenhof 
zu  einem  Ansatz  auf  der  Brust  aus,  so  dass 
diese  wie  eine  zweite  Brust  auf  der  ersten  sitzen.  • 

Man  hat  die  Brüste  der  Busch - 
weiber  und  der  Hottentotten  als  ganz 
besonders  stark  herabhängend  geschildert. 
Schon  Lichtenstein  schrieb: 

^Die  schlaff  herabhängenden  Brüste  und 
die  übermässig  dicken,  weit  unter  dem  hohlen 
Kücken  vorstehenden  Hintertheile,  in  welchen 
sich  gerade  wie  bei  afrikanischen  Schafen 
alles  Fett  des  Körpen  gesammelt  zu  haben 
scheint,  machen  nebst  der  übrigen  Hässlichkeit 
der  ganzen  Gestalt  und  der  Gesichtsbildung 
diese  Frauen  in  den  Augen  des  Europäers  zu 
wahren  Scheusalen.** 

Genauer  beschreibt  Fritsch^  die  Ge- 
stalt der  Hottentotten-Brust: 
«Die  Entwickelung  des  Busens  steht  etwa  derjenigen  bei  europäischen  Frauen  näher, 
als  derjenigen  der  A-bantu.  Ich  habe  bei  den  Koi-koin  das  massige,  euterartige  Ansehen 
der  Brüste  nicht  beobachtet,  welches  bei  den  anderen  Kegel  ist;  der  Busen  ist  vielmehr  ver- 
hältnissmässig  klein,  zugespitzt,  mit  vortretender  Brustwarze,  der  Warzenhof  überragt  die 
Oberfläche  nur  wenig,  wenn  nicht  wiederholtes  Säugen  darin  eine  Abänderung  herbeiführt. 
Natürlich  bleibt  wegen  der  grossen  Hinneigung  aller  Hautpartien  zur  Faltenbildung  auch  die 
Formation  der  Brüste  in  späteren  Jahren  nicht  so,  wie  sie  oben  beschrieben  wurde,  doch  ist 
es  gerade  aus  diesem  Grunde  bemerkenswerth,  dass  man  häufig  Personen  im  Alter  von 
dreissig  Jahren  sieht,  welche  dieselben  noch  ziemlich  unverändert  zeigen.  Je  nach  höherem 
Alter  hört  dieser  Körpertheil  allerdings  auf,  zu  den  Reizen  des  schönen  Geschlechts  zu 
gehören.* 

Barroiv  schreibt  den  Hottentottinnen  Brüste  mit  grosser  Warze  und 
hervorragendem  Warzenhofe  zu. 

Von  dem  38jährigen  Buschweibe  Afandi^  das  in  Tübingen  starb,  be- 
richtet Görte: 


Fig.  166.    Kaffer-Frau  ausNatal  mit  grossen 

stark  hängenden  Brüsten. 

(Nach  Photographie.) 


m. 


der  Ägiatinnen. 


,Die  Brüste  waren  nicht  blLng^etid.  In  der  Formation  der 
Areolft  stimmt  unser  Busch  weih  mit  der  Paris  erVenaH  Hotten- 
totte fVuviera)^  die  einen  vier  Zoll  messenden,  mit  strahlen- 
förmigen  Eunxetn  ver^^benen  fiof  zeigte,  gar  nicht,  dagegen  wohl 
tnit  der  Karopäerin  tlberein;  der  Hof  hat  oinen  Dorchme^ser  70n 
4^1|  ZoU  nnd  ist  un regelmässig,  eher  concentriaeb  als  radiär  ge* 
runzelt.  Die  Fapüle  i«t  wenig  vorstehend*  doch  wohl  sichtbar  und 
nicht  Terstnchen,  vom  Hof  durch  eine  sie  ganz  umfassende  Rinne 
nbgeeetzt.* 

Dass  auch  die  Kaffer- Frauen  sehr  stark  entwickelte 
Brüste  haben  können,  ersehen  wir  aus  Fig.  166,  welche 
uns  eine  Kaffer- Frau  aus  Natal  vorführt.  Eine  sehr 
tippige  Entwickelung  der  Brüste  lässt  sich  auch  auf 
sehen  photographischen  Abbildungen  von  K  affern - 
ichen  con^tatiren. 

unter  ileni  eehr  uncultivirten  Volk&fitmnm  der  Boilakertra 
im  Inneren  von  Madugascur  fand  Audcbert  bei  den  jungen  Mild- 
chen die  Brüst«3  rund,  fest  und  wohIgpstiiUet:  die  Brustwun^e  ist  Fig.  je?.  Loango-Negfrlü 
etwas  stark  entwickelt  und  ton  schwarzer  Farbe  Daa  V^erkommen 
und  HerabbUngen  der  Brust  bei  älteren  Fruuen  entsteht  dadurch, 
daits  ^ie  ihre  Kinder  Jahre  lang  liilugen,  und  zwar  neben  den  Neuge- 
borenen oft  zugleich  solche,  wolcbe  60  grod.s  sind,  dass  sie  die  Brüste  der  steheuden  Mutter 
nneichen  können» 


lolt  ängergUtfduhDUcher 

Bmüt  warne. 

(Nach  PJiotogrftpliie.) 


00.  Die  Brüste  der  Asiatiiiiien. 

Fa*t  hat  es  den  Anschein,  ab  ob  im  hohen  Norden  Asiens  die  Brüste  sich 
langer  jugendlich  erhalten,  al«  in  den  anderen  Ländern  dieses  Erdtheils.    Wenigstens 
SttUrr  von  den  Frauen  der  Itälraenen  in  Kamtschatka: 
. Die  WeibsperHOnen  habon  kloine,  runde  Brüate,  die  bcy  vienci gj übrigen  Frauen «inimern 
[noch  HO  siemlicb  hart  sind,  und  nicht  bald  hangend   werden/' 

In  Persien  entwickeln  sich,  wie  Polak  berichtet,  die  Brüste  frühzeitig, 
gedeihen  »her  nur  zu  mittlerer  Grösse  und  bleiben  selbst  unter  dieser  zurück. 
Eine  Ausnahme  machen  aber  die  Weiber  vom  armenischen  Stamme,  deren  Brüste 
weit  kräftiger  ausgebildet  sind, 

TroUdem  geben  di«  Brüste  der  Ferserinnen  Miicb,  wie  die  Scbweizerkühe  von  guter 

SP,  ^-tp  j;\  flbcrhaupt  von  der  OrAtiNe  der  Mamma  durcbau"*  kein  Itückschiusa  auf  eine  gute 

I  Füll  t    der    Brustdrüse    gemacht  werden   kann.     Im    Gogentheil   sind   sogar    sehr 

star>  ilan  SHugegeschilft  viel  weniger  zu  gebrauchen,  alw  die  iiiittelgro»sen,  wenigstens 

bot  uns  in    Norddeutschland.     Die    Peraerin  trugt  ihre  Brüste  im  .Suspeuiorium  (Polakj^ 

I  die  wohlhabende  Frau  legt  bisweilen  gestrickte  Etui»  um  dieselben  (UäntiBche).     Da  die  ürtJst« 

^  in  Tursien  sonst  aber  frei  und  ohne  beengendes  Schnörleib  getragen  und  nur  mit  Flor  be- 

kt  werden^  mo  sind  sie  nicht  empfindlich  gegen  Erkill tnng» 

Die  Brüste  ebes  Singhalesen-Müdchcns  aus  Ceylon  sehen  wir  in  Fig*  55 ; 
Isejenigen  einer  Hin  du- Frau  mit  grossen  Warzenhöfen  in  Fig,  168. 

Von  den  Weddah  auf  Ceylon   berichten   die  beiden   Vettern  Sarasin: 

«Ueber  die  Brüste  des  weiblichen  GcschlecbtM   ist  zu   bemc>rken,    dass   sie  bei  jungen 

M&dchen  leicht  kegelförmig  sind,  mit  atarker  cylindriscber  Warxe  und  grossem  WarEenhofe. 

I  Zuweilen  schnürt  sich  —  wir  haben  zwei  Fülle  gesehen    —    der   War^enhof  ab   und    bildet 

jmoen  der  übrigen  Brust   aufgesetzten  Kegcb     Nach  den  ersten  Geburten  werden  die  Brüste 

Ixu  starken  Beuteln;  mit  /.unebmendem  Alter  beginnen  sie  wieder  einzugehen  und  verschwinden 

[mari  '       '  '  '    h.     Charukteris tisch  für  alle  Stadien  ist  die  grosse  cylindriscbe  Warre« 

I  In  .  bteten  wir  ungleiche  Entwickelung  der  beiden  Brüste;  beide  Male  war 

e*  die  lUlk^^  die  iii  der  Ausbildung  r.urückblieb.     In  einem  Fall©  war  sie  gar  nicht,  im  anderen 

[viel  weniger  abt  die  rechte  xur  Entwickelang  gekommen.' 

Von  dieser  letzteren  Beobachtung  wurde  weiter  oben  schon  gesprochen* 
Jacitltfi    lipfprl     rine    genaue    Besthrrtbim^y    vnn    den    Brüsten    der    Weiber 
iof  Biil 


264 


VIL  Die  Weibwrbnirt, 


«Die  MaiDma  (tmd  dos  gilt  von  mehr  als  der  H&lfte  der  Bali  Beben  Frauen)  von 
^WlkmDiÜlii  nb  bis  ungefahv  einen  Finger  breit  hiüter  der  Areola  bildet  eine  beaündoro  Her- 
ronragnng.  Bei  einer  saugenden  Frau  kommt  diese  Besonderheit  noch  istClrker  heraus.  Ob 
dieöe  absonderliche  flervorwölbung  eine  Folge  der  stüjrkeren  Erweiterung  der  Sinus  lactd  bei 
dieser  Rasse  ist,  oder  ob  eine  stärkere  Fettablagerung  dieae  Form  bervonuftt  kann  ich  nicht 
enUcheiden.  Der  Umstand,  dass  me  namentlich  bei  Bangenden ,  selbst  mageren  Frauen  vor- 
kommt, spricht  für  die  erste  Ansicht,  doch  spricht  dagegen  einigermaassen  das  Yurkomnien 
bei  noch  jugendlichen  MUdchen,   bei  welchen  die  ßrüste  noch  ,in  Werdnng  begriffen*  Rind.* 


Flg.  108.    Hlndn-Weih  mit  sehr  ^roBen  Warxeaboreo.    C^aoli  FtiotogTAplucO 


Bei  den  malajiichen  Frauen  sind  die  Brüirte  nach  MüUrr^  klein,  spiU  und  kngelig« 
der  Busen  wenig  entwickelt  und  oft  gau»  platt-  Dagegen  sagt  Fim**h*t  ,Die  BrfiÄt-^i  der 
Mala,vlnnon  variiren  ebenso  sehr,  wir»  ftli^mM  nach  Alter  und  Individuahtat;  fuwnilen  Ut 
die  Warze  nuch  ganst  versteckt,  ja»  hderduv  vor,  d« 

Ausdehnung  und  Färbung  vor  hell-  ^\U   alle  >>n  «eis 

Montana  sagt  von  den  Matajen  oder  Moros  von  SuIn 

,Les  mamolles  ne  sout  pas  coniqueji«  et  fVi  i'.'s  Indit*nnt*^,  m»  lu-^  .  i   iliö^i" 

Chez  les  SouloaxneH  jeune^  elles  noni  plut'  üU^a  wo  ndent  pr^i  ittr.  riü^jii 

H  devienneul  tout  ä,  fait  pendantea  chtt  le»  aujut^  u^;«-'«/ 


60.  Die  Brüste  der  Asiatinnen.  265 

Von  den  Bewohnerinnen  der  Insel  Nias  berichtet  Modigliani: 
.Die  Weiber  zeigen,  so  lange  sie  jung  sind,  arglos  ihre  unverhüUte  Brust,  welche  wohl- 
gebaut ist,  mit  stehend-pyriformen  Brüsten,  deren  Warze  klein  und  schwärzlich  ist.  Diese 
natürliche  Schönheit  schwindet  aber  rasch,  und  nach  dem  ersten  Wochenbett  geht  durch  das 
lange  Zeit  hindurch  fortgesetzte  Säugen  und  die  ununterbrochenen  häuslichen  Anstrengungen 
jegliche  Frische  verloren.  Die  Brüste  sinken  schlaff  zum  Bauche  herab,  ihre  Vorderseite  be- 
deckt sich  mit  Runzeln,  und  von  der  schönen  Jungfrau  bleibt  nach  nur  zwei  Jahren  nichts 
übrig,  als  die  Erinnerung.'* 

Von  der  Chinesinnen-Brust  sagt  Mondiere: 

„Le  sein  est  admirablement  conform^,  h^mispherique ,  mais  il  a  une  grande  tendance, 
vers  Tage  de  vingt-cinq  ä  vingt-huit  ans,  ä  se  charger  de  graisse  et  ä  devenir  beaucoup  trop 
volumineux.* 

Die  Frauen  der  Eingeborenen  auf  Formosa  im  Süden  dieser  Insel,  der  Sabari, 
Whang-tschut,  Tuasok  etc.  sind  ebenso  wenig  schön,  wie  ihre  hässlichen  Männer,  eben- 
falls klein  und  schwach  gebaut,  wie  diese ;  ihre  Büste  ist  schlecht  entwickelt,  die  Brüste  klein 
und  konisch  zulaufend;  nur  bei  den  Whang-tschut  und  Bakurut  sah  IbiSf  der  dies  be- 
richtet, einige  bessere  weibliche  Figuren. 

Den  Busen  der  Annamitin  charakterisirt  Mondiere  in  folgender  Weise: 
,Le  sein  est  habituellement  h^misph^rique  et  regulier  chez  la  femme  annamite;  les 
seins  piriformes  sont  rares,  et,  chose  assez  remarquable,  c*est  le  plus  souvent  chez  les  femmes 
qui  ont  la  peau  la  plus  blanche  qu*on  les  rencontre.  L'^cartement  des  mamelons,  chez  la 
jeune  femme  qui  n'a  pas  eu  d*enfant,  est  de  19  centimätres.  Assez  petits  jusque  vers  diz- 
sept  ans,  ils  prennent  un  volume  consid^rable  pendant  la  grossesse  et  deviennent  tr^-d^clives 
dans  les  demiers  temps  de  celle-ci.  L'ar^ole  varie  beaucoup,  mais  eile  est  d*autant  plus 
grande  et  color^e  que  la  femme  est  plus  blanche,  et  son  diam^tre,  dans  ces  circonstancee, 
peut,  comme  jo  Tai  constate  plusieurs  fois,  avoir  de  7  ä  9  centimetres.  Le  mamelon  reste 
court  jusqu*^  Taccouchement,  mais  les  premi^res  succions  de  Tenfant  le  d^veloppent  rapide- 
ment.  Apr^  un  premier  allaitement,  il  reste  proeminent  et  colore,  ce  qui  tient  ä  la  longue 
dur^e  de  Tallaitement.  11  est  rare  qu*apres  le  sein  reprenne  sa  forme  normale,  comme  nous 
le  voyons  chez  beaucoup  de  nos  femmes,  mais  il  diminue  de  volume,  saffaise  sans  devenir 
toutefois  tout  ä  fait  disgracieux.'* 

Die  Brust  einer  Minh-huong,  d.  h.  einer  Mestize,  nähert  sich  in  ihrer  Gestalt  der- 
jenigen  ihrer  annamitischen  Mutter,  wie  Mondiere  fand;  jedoch  waren  bei  ihr  die  Warzen 
mehr  hervorragend. 

Maiirel  schreibt  von  den  Weibern  der  Khmers  in  Cambodja: 
,La  poitrine,  developpee,  porte  des  seins  fermes,  g^n^ralement  piriformes  et  tr^  r^- 
sistants;  le  mamelon  est  rarement  bien  long.*  Nur  bei  zwei  Cambodja -Weibern,  die  noch 
keine  Kinder  hatten,  sah  Mondiere  die  Brust  unbedeckt:  dieselbe  war  «l^gärement  piriforme*; 
er  setzt  hinzu:  ,iMalgre  cette  forme,  les  mamelons  pointent  directement  en  avant  et  sont  moins 
^cart^s  Tun  de  Tautre  de  16  a  20  millimötres  que  chez  les  autres  femmes.* 

Schnelles  Verwelken  der  Brüste  in  Folge  des  S&ugens  kommt  bei  sehr  zahlreichen 
Völkern  vor ,  dagegen  giebt  es  Andere ,  deren  Weiber  sich  die  Fülle  der  Brust  besser  be- 
wahren; im  Nordosten  von  Französisch-Cochinchina,  auf  der  Grenze  von  Annam, 
Cambodja  und  Cochinchina,  wohnen  beispielsweise  die  Mois,  von  welchen  Ämedee  GatUier 
sagt:  »Ihre  Frauen  sind  gewöhnlich  hässlich,  aber  gut  gebaut,  mit  vollen  Brüsten,  die  selbst 
nach  dem  ersten  Kinde  keine  Falten  zeigen.* 

Neis  berichtet  von  den  Einwohnerinnen  von  Laos: 

,Les  femmes,  dont  les  seins  n*ont  jamais  un  d^veloppement  exag^re,  acqui^rent  le  plus 
souvent  avec  Tage  un  certain  degr^  d*embonpoint,  mais  sans  obesite.* 

Von  den  Negritas  der  Philippinen  macht  Montano  die  folgende  Be- 
schreibung: 

,La  forme  des  mamelles  chez  les  jeunes  filles  tient  le  milieu  entre  les  varietes  h^mi- 
spherique  et  piriforme;  d^s  la  premi^re  grossesse,  elles  deviennent  volumineuses  et  pendantes.* 

üeber  die  Bewohnerinnen  der  Inseln  des  alfarischen  Archipels  verdanken 
wir  Riedel^  mehrere  Angaben : 

Auf  Bnru  haben  die  Mädchen  mittelmässig  grosse  Brüste,  die  von  oben  platt  und  von 
nnten  gewölbt  sind.    Nach  der  Niederkunft  werden  sie  hängend   mit  abscheulichen  Falten. 


266 


VII.  Die  Weiberbrust. 


Auf  der  Insel  Ambon  und  den  Uliase-Inseln  sind  die  Brüste  wegen  der  Verstümmelang  in 
der  Jugend  schlecht  entwickelt;  die  Warzenhöfe  sind  klein.  Auf  Serang  oder  Nasaina  be- 
sitzen Frauen,  die  nicht  geboren  haben,  nur  sehr  kleine  Brüste.  Auch  die  Brüste  der  Frauen 
auf  den  Seranglao-  und  Gorong- Inseln  sind  klein  und  dabei  puriform;  ebenso  auf 
den  Wat üb ela- Inseln.  Dagegen  haben  auf  den  Keei-  oder  £ w ab u- Inseln  junge  Frauen 
grosse  und  Yolle  Brüste  mit  birnenförmig  hervortretender  Brustwarze.  Auf  den  Tanembar- 
und  Timorlao-Inseln  haben  die  jungen  Weiber  kleine  birnenförmige,  aber  volle  Brüste. 
Auch  auf  Leti,  Moa  und  Lakor  sind  die  Brüste  bimförmig,  ebenso  auf  Eeisar  oder  Ma- 
kisar,  dabei  aber  klein  und  mit  schwarzen  Warzenhöfen.  Auf  der  Sawu  oder  Hawu- Gruppe 
(BiedeVj  finden  wir  die  Brüste  der  Mädchen  wieder  klein  und  pyriform. 


61.  Die  Brfiste  der  Oeeanierinnen. 

Die  zuletzt  genannten  Inselvolker  haben  uns  schon  nach  Oceanien  hinüber- 
geleitet.  Bei  den  Bewohnerinnen  Oceaniens  scheint  besonders  häufig  an  den 
Brüsten  die  halbkugelige  Form  des  Warzenhofes  vorzukommen,  dessen  Basis  durch 

eine  circuläre  Einschnürung  von  dem  Hügel 
der  eigentlichen  Mamma  abgegrenzt  ist.  Man 
vergleiche  Fig.  169. 

Kübary  fand  bei  den  Frauen  der  Carolinen- 
Insel  Yap  meist  kräftig  entwickelte,  etwas  spitze 
Brüste.  Hiermit  stimmt  dasjenige  überein,  was 
auch  f.  Miklucho-Maclay  auf  anderen  Inseln  des 
Stillen  Oceans  wahrnahm.  Er  sagt:  .Bei  Mäd- 
chen von  circa  15  bis  12  Jahren,  die  noch  keine 
Kinder  geboren  hatten,  fand  ich  die  sonderbare 
Form  der  Brüste,  die  ich  sehen  an  einem  anderen 
Orte  erwähnt  habe.  Der  obere  Theil  war  von  der 
ziemlich  straffen  (jugendlichen)  Mamma  durch  Ein- 
schnürung geschieden.  Die  beigegebene  Skizze 
stellt  diese  Eigenthümlichkeit,  welche  ich  bei 
Papua-Mädchen  von  Neu-Guinea,  sowie  bei 
jungen  Polynesierinnen  (Samoa)  ebenfalls  ge- 
sehen habe,  dar.  Die  asymmetrische  Entwickelung 
der  Brüste,  welche  überhaupt  nicht  selten  ist,  scheint 
in  diesem  Falle  fast  die  Regel  zu  sein :  ich  habe  immer 
die  Einschnürung  an  der  einen  Mamma  tiefer  ge- 
troffen als  an  der  anderen.  Im  abgeschnürten 
Theile  Hess  sich  die  Brustdrüse  leicht  durchfQhlen. 
Dieses  Verhalten  ist  nicht  bei  allen  Mädchen  zu 
beobachten,  aber  findet  sich,  mehr  oder  weniger 
ausgesprochen,  nicht  selten ;  es  schien  mir  auch  mit 
den  Perioden  des  geschlechtlichen  Lebens  (Menstrua- 
tion und  Schwangerschaft)  nicht  in  directem  Zu- 
sammenhange zu  stehen,  jedoch  denke  ich,  dass  nach  wiederholter  Lactation  die  Einschnürung 
verschwindet,  da  bei  älteren  Weibern  ich  nie  diese  Form  der  Brüste  gesehen  habe." 

Bei  den  Insulanerinnen  von  Ponap6  (östl  Carolinen)  haben  nach  Finsch^  die 
Mädchen  meist  tadellos  entwickelte  Brüste,  die  sanft  gewölbt,  halbkugelförmig,  fest  sind, 
selten  zur  üeberfüUe  hinneigen  und  nur  bei  Frauen,  welche  Kinder  säugten,  die  bekannte 
hängende  Form  annehmen.  Die  Entwickelung  der  Brustwarze  ist  sehr  verschieden,  bald  tritt 
der  dunkler  gefUrbto  Hof  besonders  hervorragend  bimfOrmig  vor,  bald  thut  dieses  nur  die 
Warze  allein;  letztere  fand  sich  bei  jungen,  eben  aufblühenden  Mädchen  zuweilen  noch  ganz 
versteckt,  oder  nur  an  der  einen  Mamma  stärker  entwickelt.  Bei  starkbrüstigen  Mädchen, 
wo  der  Hof  der  Brustwarze,  an  der  Basis  sanft  eingeschnürt,  besonders  hervortrat,  war  die 
Warze  trotzdem  noch  ganz  versteckt. 

Die  Frauen  der  Gilbert- Inseln  sind  in  der  Jugend  sehr  hübsche  Erscheinungen  mit 
wohlgeformter  Büste,  die  leicht  zur  Fülle  hinneigt.  Schon  bei  Mädchen  mit  noch  ganz  ver- 
steckter Brustwarze  bemerkt  man  zuweilen  einen  dunklen  Hof  um  die  letztere,  dessen  Aut- 


Fig.  169.     Junge  Australi  erin  (Queens- 
land) mit  eingeschnüiiem,  der  Brust  halbkugelig 
aufsitzendem  Warzenhofe. 
(Nach  Photographie.) 


62.  Die  Pfleg«,  die  Behandlung  und  di^i  AaascbmQckaiig  der  weiblichen  Bmst.       267 

Idebntmg  and  FUrbung    übrigens   i&dividueU   atiflserordeniUcb   variirt.    Sehr   häufig   tritt   bei 
piisgen  MJkdchen  nur  der  dunklere  Warzenhof  halbkugelig  exbaben  vor.     (Finsch^.) 

Auf  Mttiana  (Hall- Intel),    einer  pnlynesiechen    Insel,    fand    lumch    bei    straffen 

[jungen  Mlldcb^n  die  Brüste  klein  und  fest,    den  etwas  dunkleren  Hof  um  die  wenig  bervor- 

tragende  W/irze  wenig  ausgedehnt:  bei  einer  älteren  Frau  hingen  die  stark  entwickelten  Brüste 

ch  ihre  Schwere  weit  herab ;  die  wenig  entwickelte  Warie  war  sehr  dunkel  geßlrbt,  ebenso 

der  merkbar  erhabene  Hef. 

Di©   Brüste    «fer    M el an esie rinnen    sind 

'  in    der    Jugend     gni    geformt     und    entwickelt, 

neigtm  meist  etwas  zur  Ftillö  und  werden  nach  dem 

^<irtt«n  Kindbett   gewöhnlich  hängend.     {Finsck'^,) 

Die  Brdste  eine«  13— H  Jahre  alten  Motu- 

ichens    fand    Finsch   nur    klein    und     dunkel* 

^V>t,    und    aus    ihnen    erhob   sich  eine  kleine, 

pllöre  Wanse      Kine  1^ jahrige  hatte  eine 

auch    noch    kleine   Brust;  jedoch   wiir 

ifiSSSe  schon  etwas  voller,  schön  balbkngelijr  j*' 

Utaltet;    die  Wante    war   klein    und  ragte    weiH^^ 

herror;  nie  war  von  einem  engbegrenxton  dunklen 

Hofe  umgi^ben. 

Die  Brüste  der  V  iti- Insulanerinnen  , 
namentlich  wenn  uw  eben  erst  ihre  Keife  «erlangt 
I  haben,  i^eichnen  nich  nach  Biichnt.r*s  Angabe 
I  durch  eine  Hervorragung  des  War^entheiles  aus, 
I  dar  leicht  abgeschnürt  erscheint  und  ao  dem  ganzen 
[Organ  etwaa  birnförmige»  verleiht. 

Ktnen  besonders  grossen  Warxenhof  ^ehen 
[wir  bei  einer  Frau  ans  Hawaii  (Fig.  170),  welche 
Eidinni  Nruhau^s  photographirt  hat. 

0io  Brüste  der  Mädchen   auf  Samoa  sind,  wie   Graeffe  sagt 
etwiui  ii>itz''. 

Die  Brüste  der  ÄUAtralierinn  eh«  welche  im  Jahre  1HB4  nach  Berlin  kamen  und  in 
CtüUin*!!  runoptikuai  sich  doiu  Publikuiu  zeigten,  wurden  nach  den  photographiwchen  Auf- 
nahmen von  y^irchow'^  in  folgender  W*)ifi0  charakterisirt;  Die  Büste  von  Taipirah  (violleicbt 
16—18  Jahre  alt)  ist  von  grosser  Schönheit,  ihre  Brüste  sind  von  streng  jungfrö-uUchor  Be- 
«cha^enbeit;  die  vollen  Brüwte  halbkugelig,  oben  etwas  flacher,  unten  sillrker  gewölbt,  ein 
gropum-,  im  Ganzen  etwas  vortretender  War^enhof  mit  flacher  rundlicher  VVurxe,  Bei  yembcn 
(viellmcht  in  den  zwansiger  Jahren)  sind  die  Brüste  gross,  aber  scblaflft  hängend,  mit  weil 
berau^gexogener  Wante,  die  bedeckende  Haut  faiji  runzelig. 


Flg.  17a. 


\ 


Fr  AU  von  dr'^n   11h  w»i  i  *  liiKeln   mit 
>ieUr  ^<isj^«n  Wftrr.itnhüfifii 
(Kaoli  Pitotoirtmphie.) 


«ttark  entwickelt   und 


62.  Die  Pflege,  tlie  BeliniHlliiii^c  um\  die  Aiis8cliiiiuekunjcr  der 

weihlteheu  Urtivit. 

Bei  vielen  V51kerBcharten  begegtien  wir  der  Sitte,  die  weiblichen  Brüste 
einer  eigenthümlicben  Behandlungsweise  lu  unterwerfen,  welche  wahrscheinlich 
nicht  immer  achuldloa  an  gewissen  Formverändomngen  dieser  Organe  ist.  Schon 
die  Aerzie  der  Talmudisten  wallten  einen  Einfluse  beobachtet  haben,  welchen 
mmt  g^*wohnheitsgemässe  Pflege  auf  die  Entwickelung    der  Brust  bei  den  jungen 

^  irben  ausübe.     Sie  behaupteten,  dass  bei  den  Toeht^m  der  bemittelten  Stande 

rieh  in  der  Regel  die  rechte  Brust  früher  wölbe,  als  die  linke,  weil  sie  da«  Um- 
Ächlagetuch  gewöhnlich  auf  der  rechten  Seite  trügen.  Denn  da  die  recht«  Hälfte 
de»  Thorax  hierdurch  wärmer  gehalten  würde,  so  sprosse  auf  dieser  Seite  der 
MammahUgel  schneller  hervor.  Bei  den  Mädchen  der  ärmeren  Klassen  entwickele 
sich  aber  die  linke  Brust  früher,  weil  sie  mit  der  linken  Hand  Wasser  schöpfen 
und  auf  ihrem  linken  Arme  ihre  kleineren  Geschwister  tragen. 

Von  dem  Kampf  de.s  Anatomen  Sümmering  und  der  Tausende  von  euro- 
p^itsthen  Aentten  gegen  die  schädlichen  Umformungen  der  Weiberbrugt,  welche 
durch  die  SehnOrleiber  hervorgerufen  werden,  ist  bereits  die  Rede  gewesen.    Dass 


268 


VII.  Die  Weiberbrust 


Fig.  171.  Loango- Negerin, 
mit  der  Brustschnur. 
(Nach  Photographie.) 


er  vergeblich  war,  weiss  Jedermann.  Aber  nicht  nur  bei  den  civilisirten  Nationen, 
sondern  auch  bei  recht  rohen  Völkerschaften  treffen  wir  einen  behindernden  Druck, 
der  absichtlich  oder  unabsichtlich  auf  die  in  der  Entwickelnng  begriffenen  Brfiste 

ausgeübt  wird.  Andere  Stamme  befleissigen  sich 
dagegen  einer  sorgfältigen  Behandlung  und  Pflege 
dieser  dem  Säugungsgeschäfte  gewidmeten  Organe. 
Wem  fielen  hierbei  nicht  die^  Amazonen  ein, 
denen  angeblich  die  eine  Brust  verstümmelt  wurde. 
Ich  spreche  später  noch  ausfuhrlich  von  ihnen. 
Vielleicht  liegt  hier  die  Beobachtung  zu  Grunde, 
dass  bei  einem  Volke  kriegerischer  Frauen  durch 
eine  Eigenthümlichkeit  beengender  Tracht  die  Brust 
der  einen  Seite  in  der  Entwickelnng  zurQckblieb. 
Eine  ungleichmässige  Ausbildung  der  beiden  Brüste 
haben  wir  ja  oben  schon  in  einigen  Beispielen  kennen 
gelernt. 

Bei  den  Kaffern  ist  die  weibliche  Brust  schon 
frühzeitig   ein  Gegenstand   eifriger  Pflege.     Bereits 
im  7.  oder  8.   Jahre   b^nnt    die   Mutter   bei   den 
Töchtern  die  Brüste  mit  einer  Salbe  zu  bestreichen, 
die    aus    einem  Fett,    mit  gepulverten  Wurzeln  ge- 
mischt, bereitet  ist.    Mit  den   Fingerspitzen  umfasst 
sie  die  Weichtheile,  welche  die  Brustwarze  umgeben, 
und  reibt  sie  und  zieht  daran,  als  ob  sie  die  Brust- 
drüse herausziehen   wollte;   später  wird   die  Warze 
hervorgezogen  und   alle  Tage  mit  Bast  umschnürt. 
Holländer  berichtet  von  den  Basutho,    dass   sie   den  Weibern  die  Brüste 
schon  lange  vor  der  Niederkunft  fortwährend  in  die  Länge  ziehen,   damit  sie  sie 
später   ihren   auf  dem  RQcken   reitenden  Kindern   durch    ihren  Arm  hindurch  in, 
den  Mund  reichen  können.     Diese  Angabe  bedarf  der  Bestätigung. 

Eine  grosse  Zahl  afrikanischer  Völker  pflegt  die  Brust  in  besonderer 
Weise  zu  umschnüren.  Es  wird  eine  Schnur  oberhalb  der  Brüste  fest  um  den 
Thorax  gelegt,  und  hierdurch  werden  die  Mammae  niedergehalten.  Das  kann 
auf  die  Ausbildung  derselben  natürlicher  Weise  auch  nicht  ohne  Einfluss  sein. 
Fritsch  bestätigt  diesen  Brauch  von  Süd- Afrika,  wo  bei  den  Ban tu- Völkern 
das  Herunterbinden  der  Brüste  ein  Abzeichen  der  verheiratheten  Frau  sei,  welches 
ihr  Würde  und  Ansehen  verleihe;  ein  Jäeruntersinken  der  Brüste  werde  dadurch 
bedingt,  ohne  dass  jedoch  damit  nothwendiger  Weise  auch  ein  Welken  dieser 
Organe  verknüpft  sein  müsse. 

Boivditch  sagte  von  den  A schau ti: 

,Die  Basen  dor  dreizehn-  und  vierzehnjährigen  M&dchen  sind  wahre  Modelle;  aber  die 
jungen  Weiber  zerstören  absichtlich  die^e  Schönheit,  um  ihnen  eine  Form  zu  geben,  die  sie 
für  schöner  halten,  indem  sie  ein  breites  Band  fest  über  die  Brüste  binden,  bis  diese  endlich 
die  runde  Gestalt  verlieren  und  kegelförmig  werden/ 

Falkenstein  fand,  dass  an  der  Loango-Küste  die  Weiber  eine  Schnur  (Fig.  171),  oder 
biäweilen  auch  ein  zur  Bekleidung  dienendes  langes  Tuch  mit  seinen  Zipfeln  fest  über  der 
Brust  knoten.  £r  glaubt  aber  nicht,  dass  hierdurch  das  frühe  Herabsinken  und  Welken  der 
Brüste  erklärt  werden  könne,  da  aus  anatomischen  Gründen  die  Ernährung  der  Brüste  durch 
diese  Sclmur  nicht  beeinträchtigt  werden  könne.  Letzteres  beabsichtigen  seiner  Meinung  nach 
die  Weiber  auch  gar  nicht,  sondern  sie  setzen  nur  eine  alte  Sitte  gewohnheitsgemäss  fort, 
deren  Ursprung  sie  nicht  kennen,  vielleicht  habe  man  sie  früher  zu  Heilzwecken  geübt. 

«Wenn  man,*  sagt  Pechuel-Loesche,  «aus  dieser  Thatsache,  dass  die  Negerinnen  ver- 
schiedener Volksstämme  eine  Schnur  über  die  Brüste  befestigen,  auf  eine  der  unseren  ent- 
gegengesetzte Bethätigung  des  Schönheitssinnes  oder  auf  eine  aus  anderen  Gründen  erstrebte 
Entstellung  geschlossen  hat,  so  mag  dies  bezüglich  jener  zutreffend  lein,  besüglich  der 
Bafiote-Neger  an  der  Loango-Küste  wäre  es  eine  Unrichtigkeit    Nicht  niederbinden 


i.  Die  Pflege,  die  Beh&tidluAg  imd  die  AusscbmOckimg  der  weiblicbeu  BruBt,        269 

[wolJen  dieee  die  BriUie,  sondern  die  erachlafflen  ond  dem  GeseUe  der  Schwere  folgenden 
hochzieben.  Die  8ehnnr  wird  Über  den  oberen  Rand  gelegt»  um  durch  Spnnnung,  durch 
Verkäriung  der  Haut  die  Fülle  der  locker  gewordenen  Hügel  auf  ihrer  natürlichen  und 
Httnwhenjäwerthen  Stelle  /m  erhalten.  *  , 

Auch  am  Congo  herrscht  diese  Sitte,  und  Poggc  traf  sie  in  Angola,  sowie 
bei  allen  Stämmen  West- Afrikas,  welche  er  besnchte.  Hier  wird  schon  den 
kleinen  Mädchen  eine  Schnur  rings  um  die  Brust  gelegt,  damit,  wie  Pogge  meint^ 
sie  sich  von  Jugend  auf  daran  gewöhnen;  denn  später  seien  die  Frauen  gezwungen, 
sich  auf  diese  Weise  ihre  hängenden  Brüste  niederzuhalten,  damit  sie  ihnen  bei 
der  Arbeit  nicht  hinderlich  werden. 

In  der  Südsee  findet  sich  eine  äbu- 
liehe  Sitte  bei  den  Einwohnerinnen  von 
der  zu  der  Loyality-Gruppe  gehörenden 
Insel  Uvea.  Eine  von  Bernard  abgebildete 
Frau  bat  sich  ein  schmales  Tuch  an  der 
oberen  Grenze  der  Brtlate  so  fest  rings  um 
den  Thorax  geschlungen,  dass  es  tief  ein- 
schneidet. 

Schon  vor  längerer  Zeit  hat  Tlüle 
berichtet,  dass  e»  auch  bei  den  Neger- 
sclavinneu  in  Surinam  Sitte  ist,  um  den 
Oberkörper  ein  dreieckig  zusammengefal- 
tetes Tuch  über  die  Brüste  zu  schlagen, 
dessen  Enden  auf  dem  Kücken  straff  zo- 
KAramengebunden  werden ;  hierdurch  wird 
die  Brust  nach  unten  ge/wängt 

Wir  werden  hier  an  gewisse  Maass- 
nahmen  erinnert^  welche  in Stld -Amerika 
beobachtet  worden  sind. 

Von  den  Payuguas,  die  um  Paragntty- 
Strom  wohnen,  berichtet  v,  Asnra^  deu»  ihre 
Wfiiber  den  Busen  der  jungen  Mädchen,  goba^ld 
domwlbe  ninigewiichfjen  ist  und  «eine  natürliche 
Gr5»e  erreicht  hat,  entweder  mit  den  5länteln 
oder  »uch  mit  einem  ledernen  Kiemen  stnüftmmen- 
pressen,  um  ihn  hinterwilrts  gegen  den  Gürtel 
asti  xiehen,  no  daa«  er,  ehe  sie  noch  24  Jahre  alt 
worden,  wie  ein  Hout«l  an  ihnen  herabh&ngt;  auch 
Eengger  fand,  das»  die  Pay  agn  a- Weiber  mittelat 
eine«  GürteU  die  Brüste  verlUngoru.  Er  ist  der 
iMeinung,  data  «ie  von  Nutur  nicht  mehr  ala  die 
Briiate  der  Enroptterinnen  zur  Verlängerung 
neigen,  aondem  dass  sie  lediglich  durch  da* 
«wn  künstlich  verlllngert  werden. 

Die  Frauen  der  Annamiten  in  Co- 
chinchina  sind,  nach  Amand,  bemüht, 
mittelst  einer  dreieckigen  Brust  binde, 
welche  durch  ein  doppeltes,  um  Hals  und 

Rücken  gewundenes  Rand  sehr  zusammengeschnürt  wird,  Ihre  Brüste  nieder- 
zudrücken. Eine  Umschnarung  des  Thorax  dicht  oberhalb  der  Brüste,  welche 
ganz  der  afrikanischen  Sitte  entspricht,  finde  ich  auf  der  photographischen 
Darstellung  eines  jungen  Weibes  von  der  Pageh- Insel  (Fig.  172),  welche  zu 
[der  westlich  von  Sumatra  gelegenen  Mentavei-Gruppe  gehört.  Die  Üm- 
Hcbllngung  scheint  hier  durch  Pflanzenfaserstreifen,  vielleicht  von  Rottaug  bewirkt 
zu  mm,  und  es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  Brüste  durch  diese 
MaaMnahnie  etwas  gehoben  werden.     Allgemeiner  Gebrauch  seheint  aber  daa  Um- 


liniUtrh  I  Dil  in  tu,  mit  i!nr  BruiitumMbiianing. 
Nach  Phoiojcraphle.) 


270  V^I-  ^^®  Weiberbrust. 

schnüren  nicht  zu  sein,  denn  einige  andere  Weiber  desselben  Dorfes  lassen  die 
Iküste  unbehindert. 

Von  Riedel^  erfahren  wir,  dass  im  östlichen  malayischen  Archipel  auf 
den  Inseln  der  Luang-  und  Sermata-Gruppe  die  Weiber  sich  einer  Art  Leib- 
chen bedienen.  Dieses  Kleidungsstück,  welches  Kutan^  genannt  wird,  drückt  die 
Brüste  nieder  und  verursacht,  dass  sie  mehr  oder  weniger  missgestaltet  sind. 

Auch  die  Üindu-Frauen  tragen  ein  eng  anschliessendes,  kurzes  Leibchen, 
aber  an  demselben  sind  für  die  Brüste  taschenartige  Ausbuchtungen  angebracht. 
Das  können  wir  an  der  Frau  aus  Bombay  in  Fig.  29  erkennen. 

Kehren  wir  nach  Europa  zurück,  so  finden  wir  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
in  Spanien  eine  Unsitte,  von  der  ich  allerdings  nicht  anzugeben  yermag,  ob  sie 
bereits  vollständig  ausgerottet  ist,  oder  ob  sie  noch  in  abgelegeneu  Districten  ihr 
Dasein  fristet.  Es  wurde  nämlich  die  natürliche  Entwicklung  der  Brüste  mit 
aller  Gewalt  hintertrieben  und  verhindert.  Zu  diesem  Zweck  wurden  die  sich 
wölbenden  Brüste  der  zu  Jungfrauen  heranwachsenden  Mädchen  mit  besonderen 
Tafeln  von  Blei  bedeckt  und  durch  die  letzteren  ein  derartiger  Druck  ausgeübt, 
dass  bei  vielen  spanischen  Damen  anstatt  der  Busenhügel  Vertiefungen  und 
Höhlungen  entstanden  waren.  Uebertriebene  Magerkeit  war  eben  damals  die  Mode, 
und  die  Spanierinnen  sorgten  nach  d'Auinay  geflissentlich  dafür,  dass  diese 
Reize,  nämlich  eine  hagere,  knochige  Brust  und  ein  ebensolcher  Rücken  bis  weit 
hinab  dem  Anblick  dargeboten  wurden.  Ganz  entgegengesetzte  Begriffe  von 
Schönheit  hatten  in  der  Zeit,  in  welcher  Montague  seine  Reise  unternahm, 
die  Damen  in  Italien.  Für  sie  war  eine  übermässige  BusenfuUe  das  erstrebens- 
werthe  Schönheitsideal,  und  sie  glaubten  dieselbe  möglichst  sichtbar  machen 
zu  müssen. 

Es  ist  ja  hinreichend  bekannt,  dass  in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts die  Mode  auch  in  Deutschland  von  den  Damen  eine  recht  erhebliche 
Entblössung  des  Busens  forderte.  Da  war  es  ja  freilich  nicht  gar  selten  noth- 
wendig,  durch  besondere  Stütz  Vorrichtungen  den  bereits  erschlafften  Brüsten  ein 
scheinbar  jugendliches  Strotzen  wiederzugeben.  Die  Formveränderungen,  welche 
auf  diese  Weise  den  Brüsten  angekünstelt  werden  können,  sind  recht  erheblicher 
Art,  wovon  sich  zu  überzeugen  den  Aerzten  häufige  Gelegenheit  geboten  ist.  Auch 
die  Figuren  5  und  151  lassen  derartige  Verhältnisse  erkennen. 

Gegen  das  für  unsere  heutigen  Begriffe  schamlose  Präsentiren  der  Brüste, 
wie  es  im  vorigen  Jahrhundert  allgemein  üblich  war,  hat  namentlich  der  alte 
Reinhard  weidlich  geeifert.     Es  heisst  bei  ihm : 

,Freylich  entblössen  die  Frauenspersonen  ihren  Busen  nicht  vor  die  Lange  Weile,  hey- 
lieh  eröffnen  sie  ihre  Fleischbank  nicht  umsonst,  und  freylich  legen  sie  ihre  Waaren  nicht 
ohne  Ursache  aus,  ebenso  wie  der  Vogelsteller  seine  Lockspeise  niemals  ohne  Grund  annasetzen 
gewohnt  ist,  sondern  allemal  die  Absicht  hat,  die  Vögel  damit  zu  betrügen  und  in  das  Garn 
zu  locken.  Die  Schönen  haben  den  Fleischhauern  die  Kunst  recht  meisterlich  abgelemet: 
denn  diese,  wenn  sie  einen  Nierenbraten  ansehnlich  machen  und  zu  ihrem  Nutzen  theuer  ver- 
kaufen wollen,  so  unterstopfen  sie  die  magern  Nieren  mit  dem  Netze:  und  das  Frauenvolk, 
wenn  es  die  Brüste  scheinbarer  machen  will,  so  unterleget  es  die  welken  Brüste  beynahe  mit 
dem  ganzen  Wächsgeräthe,  welches  es  besitzt,  damit  die  lieben  Ihrigen  desto  besser  in  die 
Höhe  treten,  aufschwöllen  und  ansehnlicher  werden  möchten,  da  es  denn  natürlich  so  aus- 
siebet, als  wenn  die  Brüste  vor  Geilheit  aus  dem  Busen  laufen  wollten.  Man  mass  also  solche 
gcbrdstete  Schönheiten  immer  erinnern,  gute  Achtsamkeit  zu  haben,  damit  sie  ihre  Habselig- 
keiten nicht  gar  einbüssen  möchten.  Doch  bey  diesen  Füllen  würde  dem  Schoosshflndchen 
auch  einmal  ein  guter  Bissen  von  dem  Glücke  zu  Theil  werden.  Ich  bin  nun  schon  einmal 
vor  allemal  in  der  Einbildung:  dass  sich  die  Schönheiten  unsers  Zeitpunkts  aus  keiner  andern 
Absicht  entblössen,  ihre  Brüste  aufputzen  und  zur  Schau  tragen,  als  bloss  ihre  ausgelegten 
Waaren  glücklich  an  den  Mann  bringen  zu  mögen.  Ohnerachtet  ihnen  doch  die  Natur  die 
Brüste  aus  weit  erheblichem  Ursachen  und  zu  grösserm  Nutzen  gegeben  hat,  als  dass  sie  mit 
diesen  Vorzüglichkeiten  Eitelkeit  treiben,  auf  ihre  erhabenen  Gaben  bochmflthig  werden,  nod 
die  Mannsbilder  damit  zur  Wollust  und  Sünde  reizen  sollten." 


272 


VII.  Die  Weiberbrust. 


Von  den  Dachaaerinnen  in  Bayern  gilt  das  Gleiche.  In  frühester  Jugend 
schon  hemmen  sie  die  Entwicklung  der  BrQste  durch  starre,  bretiartige  Apparate, 
und  darum  ist  nach  Güster  dort  das  Stillen  der  MQtter  ganz  unbekannt,  und  die 
Sterblichkeit  der  kleinen  Kinder  steigt  bis  auf  40  und  selbst  50  Procent.  Auch 
die  Landmädcheu  in  Württemberg  drücken  durch  ihre  Tracht  die  Brüste  ge- 
flissentlich nieder;  ebenso  ist  dieses  im  Bregenzerwald  in  hohem  Grade  der  Fall. 
Bei  Oppermann  (Scherr^  Ecker)  findet  sich  folgende  Angabe  über  die  Bewohne- 
rinnen dieser  Gegend: 

pDie  Gestalten  sind  kräftig  und  gedrangen,  die  Hüften  breit,  die  Beine  ebenmässig  ge- 
baut. Nur  eins  mangelt  ihnen  vOllig:  die  Brost.  Allerdings  gewalirt  man  denselben  Mangel 
auch  sonst  bei  Bergbewohnerinnen,  aber  es  ist  dennoch  auffallend,  dass  derselbe  hier  sogar 
bei  solchen  angetroffen  wird,  die  sonst  üppig  gebaut  sind.  Dies  mag  daher  kommen,  dass 
Mütter  solchen  Töchtern,  die  etwa  vor  anderen  sich  durch  das,  was  diesen  fehlt,  auszeichnen 
könnton,  tellerartige  Hölzer  anschnallen  und  so -mit  Oewalt  eine  der  schönsten  Zierden  des 
Weibes  in  ihrer  Entwickelung  hemmen.*  Auch  Byr  berichtet  von  den  Mädchen  des  Bre- 
genzerwaldes: «Die  Juppe  umfängt  den  Leib  so  eng,  dass  sie  fast  die  Entwickelang 
der  Brust  verhindert  und  bei  älteren  Frauen  auch  immer  den  Eindruck  von  Verbildungen 
hervorruft." 

Von  der  Pubertätszeit  an  wird  in  Tyrol  der  Brustkasten  der  Weiber  nach  Kleinwächter 
in  ein  festes  Mieder  eingezwängt,  das  man  füglich  einen  Holzpanzer  nennen  kann,  denn  eine 
wohlentwickelte  Brust,  die  in  anderen  Ländern  den  Stolz  eines  Weibes  bildet,  gilt  in  Tyrol 
nicht  als  körperliche  Zierde.  Die  Brüste  gelangen  daher  durch  Druck  zur  Atrophie.  Das 
deutsch-tyroler  Eheweib  stillt  ihr  Neugeborenes  nicht  oder  höchstens  2—8  Wochen  lang, 
theils  weil  die  Brüste  dazu  nicht  mehr  geeignet  sind,  theils  weil  das  Stillen  nicht  Sitte  ist. 
Dagegen  fehlt  in  Wael  seh -Tyrol  dieser  Holzpanzer,  und  dort  ist  auch  die  weibliche  Brust 

besser  entwickelt,  als  im  deutschen  Norden. 

Bei  den   Tscherkessen   wird   dem  jungen 

Mädchen   im  10.  bis  12.  Jahre  Ton  der  Brust  bis 

an  die  Hüfte   herab  ein  Schnürkleid   oder  breiter 

Gürtel  von  rohgarem  Leder  dicht  um  den  Körper 

genäht  oder   bei  Vornehmen  mit  silbernen  Heften 

befestigt.     Die   Ossetinnen   tragen   ebenfalls   ein 

I  1  ^  I  / fc      dicht   ihre  Brüste  einschliessendes  Corset.     Dieses 

1  I  X — \  j  IE      Corset  thut  man  dem  Mädchen  von   7—8  Jahren, 

JcJ         /  1         H^      nach  Pokrowsky  im   10.   oder   11.  Jahre,   an   und 

nimmt  es  bis  zur  Brautnacht  nicht  mehr  ab.  Dann 
zerschneidet  der  junge  Ehemann  die  das  Corset  zu- 
sammenhaltenden Schnüre  und  entfernt  dasselbe. 
Nach  dieser  Operation  entwickeln  sich  die  Brüste 
unverhältnissmässig  rasch.  Diese  Sitte  sollen  die  Osseten  von  den  Kabardinern 
angenommen  haben,  welche  nördlich  vom  Kaukasus  wohnen,  (v.  Seydlits,)  Auch 
der  Kabardiner  Schora  - Bektnursin-Nogmow  spricht  von  diesem  Gebrauche  der 
Tscherkessen: 

„Mädchen  nähte  man  mit  sieben  Jahren  die  Taille  in  Saffian  ein,  um  derselben  ein 
grösseres  Ebenmaass  zu  geben.  Sobald  aber  ein  Mädchen  verheirathet  wurde,  zerschnitt  der 
Neuvermählte  mit  einem  Messer  die  Schnur,  mit  welcher  der  Saffian  zusammengenäht  war, 
dabei  alle  mögliche  Vorsicht  beobachtend,  um  weder  den  Körper  noch  den  Saffian  zu  be- 
rühren. Wenn  er  den  einen  oder  den  anderen  verletzte,  so  wurde  ihm  dieses  zu  grosser 
Schande  angerechnet.  Die  junge  Frau  begann  nach  Abnahme  dieses  Corsets  mit  solcher 
Schnelligkeit  zuzunehmen,  dass  nach  mehreren  Tagen  die  Brust  sich  bei  ihr  sichtbar  ent- 
wickelte. Alle  diese  Gebräuche  erhielten  sich  bis  heute.  Das  Einnähen  schadet  sehr  der 
Gesundheit:  durch  dasselbe  verfallen  viele  der  Schwindsucht.* 

Wie  hoch  und  eng  der  Brustkorb  von  diesem  Instrumente  umschlossen  wird, 
ist  aus  Fig.  174  zu  ersehen.  Auch  die  Kalmückinnen  flachen  die  Brüste  durch 
ein  Schnürleib  ab. 

Man  sieht,  dass  wir  durch  solche  unverständige  Maassnahmen   bereits  hin- 


Fig.  174.    Corset  der  Ossetinnen 
(Kaukasus).     (Nach   Pokrowsky,) 


Di«  Pflege^  die  Bobandlang  und  die  AusEchmüekung  der  weiblichen  Bnist. 

übergefiihrt  werden  in  das  Gebiet  <ler  Versttiramelungen  der  Weiberbrost»  welchem 
ein  späterer  Abschnitt  gewidmet  sein  wird. 

Da  sind  bedeutend  unschuldigerer  Art  die  vermeintlichen  Verschönerungen 
der  weiblichen  Brflate,  wie  sie  durch  bestimmte  Arten  der  Tättowirungen  her- 
vorgerufen werden.  Derartige  Tättowirungen  finden  wir  an  sehr  verschiedenen 
Punkten  der  Erde;  namentlich  sind  bei  manchen  Völkern  im  äquatorialen  Afrika 
kleine,   in  den  Uügel  der  Mamma  eingeschnittene  StrichomHmente  in  senkrechter 


Flg.  173k.    6»H*Frfta  ftos  dem  mnUrlandc  von  KtmArQn  mit  Sohaooluiarbcn  »tif  il«ii  Rr<uit«ii. 

(KftcU  Photogrmphle.J 


fer  (jiierer  Anordnung  nichts  Ungewöhnliches.  Zintfjraff  z.  B.  nahm  im  Hinter- 
ftde  von  Kamerun  eine  Bali -Frau  (Fig,  175)  auf,  welche  auf  jedem  der  Mamma- 
Hfiöfel  eine  Doppelreihe  von  knopfförmigen  Schmucknarben  zeigte.  Von  den  söd- 
»r  ■  ^^cheu  Basutho- Mädchen  sagt  Jorsfii  ,Ihre  oft  sehr  schonen  Brüste 
vei  ü  sie  ausserdem  durch  eine  Menge  horizontaler  oder  vertikaler  Schnitt* 

narben."     Noch   interessautere  Tättomrungen    finden    sich    in    dem    alfurischen 
Archipel.     So    sind   als   Muster    auf   der   Insel   Serang    bogenförmig    gestellte 

Ptotf-Ba?t«U,  Dt«  Weib.    ft.  AuÖ.    L  IB 


274  VU.  Die  Weiberbraat 

Punkte  gebräuchlich,  welche  gleichsam  die  Projektionsfigur  der  Mamma  wieder- 
geben, und  auf  der  Insel  Tanembar  wählt  man  eine  Sternfigur  mit  geraden  oder 
mit  symmetrisch  gekrümmten  Strahlen,  welche  die  Brustwarze  so  umgeben,  dass 
sie  den  Mittelpunkt  des  Sternes  bilden.     Ich  habe  hiervon  in  Fig.  176  dem  Leser 


Fig.  176.    Tättowirung  der  Brüste  bei  den  Tanembar- Insulanerinnen  (nach  Riedel). 

die  Abbildungen  vorgeführt.  Das  sind  natürlicher  Weise  alles  nur  gänzlich  un- 
schädliche Spielereien,  durch  welche  die  spätere  Function  dieses  für  die  Erhaltung 
der  Nachkommenschaft  so  hochwichtigen  Organes  in  keiner  Weise  beeinträchtigt 
werden  kann.  Wir  wollen  den  betreffenden  Völkern  daher  aus  diesen  Gebräuchen 
keinen  Vorwurf  machen. 


63.  .Die  Terstfimmelnngen  der  weibliehen  Brust. 

Bevor  wir  das  Thema  der  Frauenbrust  verlassen,  muss  ich  noch  einiger 
Verletzungen  und  Verstümmelungen  gedenken,  welche  die  Mütter  und  die  An- 
gehörigen der  Besitzerinnen  oder  diese  selbst  an  den  Brüsten  mit  Absicht  und 
Ueberlegung  zur  Ausführung  bringen.  Wir  haben  eine  Reihe  von  Vornahmen 
bereits  kennen  gelernt,  welche  man  wohl  als  unbewusste  Verstümmelungen  der 
Brüste  bezeichnen  könnte.  Es  waren  im  Wesentlichen  schwere  Schädigungen  der 
Brustwarze,  welche  durch  unzweckmässige,  die  Brust  beengende  und  drückende 
Mieder  an  ihrer  Entwickelung  und  Ausbildung  derartig  behindert  und  beeinträchtigt 
wird,  dass  sie  zum  Säugen  eines  Kindes  nur  unvollkommen  oder  gar  nicht  mehr 
gebraucht  werden  kann.  Unsägliche  Schmerzen,  körperliche  sowohl  als  auch 
besonders  solche  der  Seele,  welche  die  jungen  Mütter  erdulden  müssen,  sind  auf 
das  Tragen  derartiger  Corsets  in  den  Jahren  der  Entwickelung  zurückzuführen. 
Dass  diese  Unsitte  nicht  nur  bei  uns  in  den  Städten  und  namentlich  auch 
in  gewissen  ländlichen  Districten  herrschend  ist,  sondern  dass  wir  ihr  auch  auf 
dem  Lande  und  sogar  auf  fernen  Inseln  des  alfurischen  Archipels  (auf  den 
Sermata- Inseln)   begegnen,  das  haben  wir  weiter  oben  bereits  gesehen. 

Diese  Art  der  Schädigung  an  den  Brüsten  nenne  ich  eine  unbewusste,  ob- 
gleich nach  so  häufigen  Warnungen  von  Seiten  der  Aerzte  den  eitlen  und  unver- 
ständigen Müttern  doch  längst  die  Augen  hätten  aufgehen  können.  Zur  bewussten 
und  absichtlichen  Verstümmelung  aber  wird  das  Anlegen  des  Mieders,  wenn  es, 
wie  das  leider  in  einigen  geistlichen  Orden  die  Regel  ist,  in  der  wohldurch- 
dachten Absicht  geschieht,  die  Brüste  möglichst  an  den  Brustkorb  heranzupressen, 
um  sie  womöglich  durch  den  permanenten  Druck  zum  Schwinden  zu  bringen, 
damit  die  Gott  geweihte  Jungfrau  nichts  an  sich  habe,  wonach  lüsterne  Männer- 
augen blicken  könnten,  und  dass  sie  auch  äusserlich  schon  hier  auf  Erden  den 
Engeln  im  Himmel  ähnlich  werde,  welche  bekanntlich  weder  Brüste  noch  auch 
ein  Geschlecht  besitzen.  Hier  ist  auch  daran  zu  erinnern,  was  oben  von  Dachau, 
dem  Bregenzerwalde  und  von  Spanien  gesagt  worden  ist. 

Es  kommen  aber  auch  Verstümmelungen  noch  viel  gröberer  Art  durch 
einige  eingreifendere  Operationen  vor,  welchen  die  Brüste  unterzogen  werden,  und 
hier  wird  wohl  jedem  sofort  die  Erzählung  von  den  alten  Amazonen   in   ^ 


6S*  Die  Ventümmelungen  dar  weiblichen  ßrast. 


275 


ErinneruDg  kommen*  Straha  sagt  von  ihnen:  , Allen  wird  in  der  Jugefid  die 
rechte  Brust  abgebrannt,  damit  sie  sich  des  Armes  zu  jedem  Gebrauche,  beaonderB 
zum  Schleudern  bedienen  können.* 

Diodorus  von  Sicilien  spricht  ihnen  sogar  beide  Brüste  ab:  »Wird  aber 
oin  Mädchen  geboren^  so  werden  ihm  die  Bröste  abgebrannt,  damit  sie  sich  zur 
Zeit  der  Reife  nicht  erheben,  deim  man  hielt  es  flir  kein  geringes  Einderniss  bei 
Föhrung  der  Wafien,  wenn  die  Brüste  über  den  Leib  hervorragten;*  wegen  dieses 
Mangels  werden  sie  auch  von  den  Griechen  Amazonen  genannt  (zu  deutsch 
Brüsteloae,  von  nmza,  weibliche  Brust,  und  dem  a  privativum). 

Nach  Jhpjwkrat^  ieUten  bei  üie^iem  am  Asow^Bcben  Meere  (dem  MäatidcheD  Sumpfe) 
wohnen  den  Volke  der  Sauromaier  die  Mütter  den  jungen  Mädchen  ein  kanatlich  daxu  ge- 
arbeiieiee  und  überdies  noch  glühend  gemachtes  Kupferblech  auf  die  rechte  ßruat,  und 
brannten  dieM  so  aua,  da«s  sie  nicht  mehr  wachsen  kannte,  damit  sich  alle  Krafl  und  8t&rke 
nach  der  rächten  Schulter  and  dem  rechten  Arm  hinziehe. 


Wir  können  nuy  nnt  diesen  Damen  hier  nicht  weiter  beschäftigen,  jedoch 
werde  ich  in  einem  spateren  Abschnitte  auf  dieselben  zurtickzukommen  haben. 

Einen  eigenthüniltchen  Brauch  fand  Cameron  in  Akalunga,  am  Ufer  des 
Tanganjika-Sees,  ebenso  wie  in  Kasangalowa  vor:  dort  scheinen  die  Frauen 
tiicbtt  wie  sonst  die  Negerinnen^  stolx  auf  ihre  Brustwarzen  zu  sein;  sie  haben 
rielmehr  eine  leere  Grube  an  der  betreffenden  Stelle,  Cameron  äussert  den  Ver- 
dacht, dass  es  sich  hier  vielleicht  um  eine  Form  der  Bestrafung  gehandelt    habe. 

Am   r  "   ^ne  in  Aut^tralien    werden    einzelne  junge    Mädchen    nach 

JBofeA  die  ausgerissen,    um  ihnen  das  Säugen  unmöglich  zu  machen. 

Auch  «och  in  unserem  Jahrhundert    werden  abscheuliche  Arten    der  Bnist- 

''*^'"''  '^-•^  '"  p,,..i.. .. -1  ^-^ptaachhch  ihr  Un  weisen  treibenden  Christ- 

IS* 


63,  Die  Ventüiiiinelungen  der  weibliclien  Brust,  277 

An^ebUcb  spielt  in  ihrem  Gottesdienste  eine  Abendmahlafeier  eine  grosse 
Rolle,  bei  welcher  den  CommunicÄnten  statt  der  Hostie  ein  kleines  Stückchen 
einer  frisch  abgeschnittenen,  noch  blutenden  Jungfrauenbrust  zum  Essen  gereicht 
wird;  jedoch  ist  diese  Anschuldigung  durch  die  gerichtlichen  Untersuchungen 
nicht  zur  Geniige  aufgeklart  worden.  Figur  177  zeigt  eine  an  den  Brüsten  ver- 
stümmelte Skopize  von  20  Jahren,  bei  welcher  die  zweite  der  genannten  Arten 
Ton  Verletzungen  ausgeführt  worden  und  eine  Verheilung  der  Araputationswunden 
durch  Narbenbildung  eingetreten  ist. 


^Ä. 


Ftf,  179.    Die  heilige  AgtUks,  too  LcrtHt^  U^pi.    (Nftch  Pliotogrmptaio.) 

Auch    die    christlichen    Heiligen  -  Legenden,    welche    bekanntlich    von    einer 
iunenswerthen   Fülle    der   abscheulichsten    Grausamkeiten    wimmeln,    denen    die 
>trimen  Märtyrer    von    ihren    heidnischen  Peinigern    unterworfen  wurden,  haben 
"ifr'  so    hochempfindliche    tmd    so    vielfach    interessirende  Organe,    me  die 

w»  I  Brüste   CS  sind,    keineswegs  entgehen  lassen.     Das  unglückliche  Opfer 

dieser  Peinigung  war  die  christliche  Jungfrau  Agathe^  welche  in  der  ersten  Hälfte 
de?  J^f*^...  ^ihrhimderts  in  Oatania  auf  Sicilien  gelebt  haben  soll.  Der  Statt- 
h  .m»   beffehrte   de    von    ihreu  Eltern    zum  Weibe.     Da   er  aber  ein 

^üiln^'  '  weil  sie  trotz  aller  Bitten  und  Drohungen 


278  Vn.  Die  Weiberbrufit. 

auf  ihrer  Weigerung  beharrte,  wurde  sie  zur  Strafe  in  ein  Bordell  gesperrt,  ein 
in  den  Legenden  mehrfach  wiederkehrender  Zug.  Aber  auch  hier  bewahrte  sie 
ihre  Keuschheit  und  zur  Strafe  Hess  dann  Quintianus  sie  an  ihren  Brüsten  ver- 
stümmeln. Das  ist  mehrfach  künstlerisch  dargestellt.  Aber  wie  das  geschah, 
darüber  haben  die  Künstler  verschiedene  Auffassungen  gehabt. 

Ein  ausgezeichnetes  Gemälde  des  Palazzo  Pitti  in  Florenz  von  der  Hand 
des  Sebastiano  del  Piombo  (Fig.  178)  zeigt  uns  die  unglückliche  Heilige  mit  ent- 
blösstem  Oberkörper.  Zwei  Henkersknechte  haben  mit  riesigen  Schmiedezangen 
die  Brustwarzen  ihres  Opfers  gepackt  und  sie  sind  gerade  im  Begriff,  ihr  dieselben 
mit  colossaler  Gewalt  auszureissen.  Das  sieht  man  an  der  Spannung  ihrer  musku- 
lösen Arme.  Ein  Schmiedefeuer,  das  man  im  Hintergründe  schürt,  legt  uns  die 
Yermuthung  nahe,  dass  die  Zangen  zuvor  glühend  gemacht  worden  sind. 

Die  Gemäldegalerie  des  Museums  in  Berlin  besitzt  ein  Werk  von  der  Hand 
des  Ribera,  welches  ebenfalls  das  Martyrium  der  heiligen  Agathe  schildert  Hier 
sind  ihre  beiden  Brüste  von  dem  Henker  mit  dem  Schwerte  abgeschnitten.  Letzteres 
trieft  noch  von  Blut,  und  die  amputirten  Körpertheile  trägt  eine  Person  auf  einer 
Schüssel  fort.  Die  Heilige  ist,  bleich  und  mit  schmerzverklärtem  Gesicht,  auf  den 
Stufen  eines  Tempels  niedergesunken  und  eine  hinter  ihr  knieende  Frau  ist  be- 
müht, mit  einem  gegen  die  Brust  gedrückten  Tuche  die  Blutung  aus  den  Wunden 
zu  stillen. 

Ein  Gemälde  von  Lorenzo  Lippi  in  den  Uffizien  in  Florenz  schliesst 
sich  dieser  Auffassung  von  der  völligen  Amputation  der  Brüste  an.  (Fig.  179.) 
Hier  ist  die  Heilige  im  Brustbild  als  Verklärte  dargestellt.  In  den  Händen  trägt 
sie  eine  goldene  Schüssel,  auf  der  ihre  abgeschnittenen  Brüste  liegen,  die  sie  Gott 
darzubieten  scheint.  Ihr  Märtyrertod  wird  auf  den  5.  Februar  des  Jahres  251 
gesetzt,  und  an  ihrem  Feste  werden  in  Sicilien  noch  heute  wächserne  Brüste 
umhergetragen. 

Wessely  macht  darauf  aufmerksam,  dass  an  der  gleichen  Stelle  im  Alterthom 
bei  dem  Jahresfeste  der  Bona  Dea  zwei  colossale  Brüste  als  Symbole  des  mütter- 
lichen Natursegens  herumgetragen  wurden.  „Auch  der  Name  Agathe  (die  Gute) 
erinnert  an  die  JBona  Dea,*^ 

Als  ein  Kriegsgreuel  soll  das  Abschneiden  der  Brüste  von  den  Schaaren  des 
Attüa  an  den  unglücklichen  Weibern  der  Stadt  Cornelia  am  Neckar  ausgeübt 
worden  sein,  die  danach  den  Namen  Weib  er  p  ein  oder  zusammengezogen  Wimpfen 
erhalten  hat.  Wrede  citirt  eine  Angabe  Oldenburgers,  nach  der  im  Rathhause  zu 
Wimpfen  folgende  Verse  angeschrieben  waren: 

, Cornelia  war  diese  Stadt 
Vorzeiten  genannt,  jetzund  so  hat 
Sie  den  Namen  verwandelt,  heisst 
Wimpfen,  kömmt  daher  wie  man  weiss, 
Dass  zu  Zeit  des  Königs  Attüa 
Die  H Ungar  sie  zerachleiffet  gar 
All  Mannsbild  sie  tödten  behend. 
Die  Weibsbilder  erstlich  all  geschänd: 
Hernach  ihr  Brüste  abgeschnitten, 
Darum  die  Stadt  auf  Teutsche  Sitten 
Weibs- Pein,  jetzt  Wimpfen,  sonst  gar  fein 
Mulierum-poena  zu  Latein. 


64.  Die  Weiberbrust  im  Tolksglauben. 

Der  Aberglaube  der  europäischen  Völker  beschäftigt  sich  vielfach  mit  der 
weiblichen  Brust;  aber  fast  immer  sind  es  Maassnahmen,  welche  dem  (Gebiete  ^ 
Volksmedicin   angehören    und    die   Brust   zur  Zeit   ihrer  Functionirung   ab 


I.  Die  Weiberbniflt  im  Yolksglaoben. 


279 


Qgsorgan  fttr  die  Nachkommenschaft  zum  Gegenstand  der  Behandlung  haben. 
Ei»  ist  geeigneter,  wenn  ich  von  ihnen  erst  in  einem  späteren  Kapitel  spreche, 
wo  von  dem  Säugen  die  Rede  sein  solL 

Im  Alterthum  war  man  fest  davon  überzeugt,  dasa  es  echte  Hermaphroditen 
gäbe,  Zwitter  mit  männlichen  Genitalien,  aber  mit  weiblichen  Brüsten  and  rund* 
liehen  Körperformen,  In  der  bildenden  Kunst  der  Römer  haben  sie  bekannter- 
maassen  eine  beträchtliche  Rolle  gespielt.  Baumeister  sagt;  ,Es  kann  kaum  einem 
Zweifel  unterliegen,  dass  dieses  doppelartige  Wesen  seinen  Ursprung  in  den  orien* 
talischen  Religionen  habe:,  in  welchen  eine  mannweiblieha  Vcftus  als  vollkommenstes 
Bild  der  Naturgottheit  bedingt  ist"*  Aber  man  ging  in  der  Phantasie  noch 
weiter:  Plinius  berichtet  von  einem  Volke,  bei  dem  die  Zwitterbildung  noch  ent- 
wickelter war.     Es  heisst  in  seiner  Naturgeschichte: 

•  Hinter  den  NHaamonen,  und  ihren  Nachbarn  den  Maclilyorn  wohnen,  wie  Calli- 
phanes  erxühU,  die  Androgynen,  Menseben  beiderlei  OerchlechU,  die  sich  wecbselweiie 
DDt#r  einander  begatten.  Aristoteles  fügt  noch  hinzn^  ihre  recJito  Brust  sei  von  männlicher, 
ihre  Hoke  von  weiblicher  Bildung.* 

Einen  eigenthümlichen  Glauben  finden  wir  nach  Virc  bei  den  Kabylen 
fon  Djurjura:  Wer  des  Nachts  über  einen  Begräbnissplatz  geht,  der  hört  dort 
einen  schönen  Gesang,  Diesem  rauss  er  unwiderstehlich  folgen.  Er  trifft  dann 
ein  kleines,  ganz  schwarzes,  aber  sehr  hl)bsehei$  Mädchen.  Dieses  entflieht  vor 
ihm,   zuerst   langsam^    dann   immer   schneller    und  schneller,    und  er  moaa  ihr  in 


Fi«,  lao    W^MergQlftHd  d««r  2 u 6  i •  1  n  il ift d  er  CA  r f  tto a ik)  f n 


a)«rbrait. 


t^ichem  Tempo  folgen.  Endlich  läuft  sie  in  schnellstem  Schritt:  ihre  Brüste 
verlängern  sich  immer  mehr  und  mehr  und  sie  wirft  sie  rückwärts  über  ihre 
Schnltern*  Dann  springt  sie  plötzlich  in  einen  Graben ,  und  ihr  Verfolger  stürzt 
imversehens  nach  und  bricht  sich  die  Knochen. 

Aueh  bei  den  alten  Peruanern  spielten  gagpeiiAtiflche  lange  Brüst«  eine 
RoUe.  Nach  r.  TschmJi  glaubten  diese  Indianer  an  Geister,  welche  Ilapinunu 
hiessen*  Dieser  Name  ist  zusammengesetzt  aus  hapi,  ergreifen  und  luiu,  VVeiber- 
brüst.  Die  Gespenst*>r  hatten  die  Gestalt  von  Weibern  mit  langen,  herabhängenden 
Brüsten,  Sie  flogen  nächtlicher  Weile  durch  die  Luft  and  erfassten  mit  ihren 
Brüllten  sogar  auch  Männer,  und  entführten  sie  so. 

Von  den  Karaya  in  Brasilien  erzählt  Ehrenreich: 

,Der  Tnentcbi>nirflg«onde  Wi^ldjjeist  Mapinkuarf.  wird  oft  begleitet  von  »einer  Frau 
Patimirw  mit  nur  einer  Brust,  an*i  der  «e  den  W»iiderer  mit  vergifteter  Milch  anspritxt." 

Die  nördlich  vom  Kaukasus  wohnenden  Ossetinnen  haben  die  eigen- 
Uißmlicbe  Ansicht,  dass  eine  üppige  Kntwickelung  der  Brüste  bei  den  jungen 
Midcben  ein  Anzeichen   dafiir   sei,   dass    sie  mit  den  G^etzeu  der  Sittlichkeit  in 


280  VII.  Die  Weiberbrust. 

Collision  gekommen  wären.  Auf  diesen  Glauben  wird  der  oben  beschriebene 
Gebrauch  zurückgeführt,  dass  die  Mütter  den  heranwachsenden  Mädchen  darch 
das  in  Fig.  174  abgebildete  Corset  den  Brustkorb  einschnüren,  damit  die  BrQste 
nur  ja  nicht  solche  Dimensionen  einnehmen,  welche  die  Tochter  Terdächtigen 
könnten. 

Der  Zuüi-Staram  der  Pueblo-Indianer  in  Arizona  fertigt  eigenthfim- 
liche  Thongei^e  an,  welche  die  Form  einer  Weiberbrust  nachahmen  (Fig.  180). 
Sie  dienen  als  Wasserbehälter  und  werden  auf  dem  Rücken  an  einem  über  die 
Stirn  verlaufenden  Bande  getragen,  damit  die  Leute  bei  dem  beschwerlichen  Auf- 
steigen vom  Flusse  zu  ihren  Felsenwohnungen  die  Arme  und  Beine  zum  Klimmen 
frei  haben.  Der  Name  dieser  Gefasse  ist  me  he  ton  ne,  worin  der  Stamm  m6 
ha  na  die  weibliche  Brust  enthalten  ist.  Das  Wasser,  das  in  ihnen  geholt  wird, 
ist  für  den  Erwachsenen  der  Lebenssaft,  so  wie  es  für  den  Neugeborenen  die  Mutter- 
milch ist.  Wahrscheinlich  hatten  diese  Gefasse  in  früherer  Zeit  ihre  Oeffiiung  da, 
wo  die  Mammilla  ihren  Sitz  hat.  Aus  Gründen  der  Zweckmässigkeit  hat  man 
dann  wohl  die  Ausgussöffnung  halsartig  auf  die  oberste  Stelle  gesetzt.  Aber 
auch  jetzt  noch  bleibt,  wenn  die  Zuhi-Frau  ein  solches  Gefass  in  Arbeit  hat, 
die  Spitze  der  Brustwarze  lochformig  offen,  und  erst  wenn  die  ganze  Arbeit  fertig 
ist,  schliesst  die  Frau  dieses  Loch  mit  einem  besonders  eingesetzten  ThonpfropfiBn 
zu.  Dabei  muss  sie  die  Ceremonie  befolgen,  dass  sie  dieses  nur  mit  abgewendetem 
Blicke  verrichtet.  Auf  sein  Befragen  erhielt  Cnshuig^  dem  wir  diese  Nachrichten 
verdanken,  die  Antwort  von  der  Frau,  dass  es  geföhrlich  sei  hinzusehen,  wenn 
man  das  Gefass  an  dieser  Stelle  schlösse,  denn  dann  würde  man  unfruchtbar,  oder 
wenn  man  doch  Kinder  bekäme,  so  müssten  sie  in  früher  Jugend  sterben,  oder 
die  Frau,  die  solches  thäte,  würde  mit  Blindheit  geschlagen  werden,  oder  wer  aas 
solchen  Gefassen  tränke,   würde  von  Krankheit  befallen  und  müsste  dahinsiechen. 

Cushing  fügt  hinzu: 

«Ich  stehe  unter  dem  Eindruck,  dass  die  Zuni-Frau  der  Meinung  ist, 
dass  wenn  sie  die  Spitze  der  künstlichen  Mamma  verschliesst,  sie  die  Ausgnssstelle 
für  „die  Quelle  des  Lebens*'  versperre,  und  femer,  dass  wenn  Eine  das  wissent- 
lich thäte,  sie  die  Ausiiussöffnung  ft)r  den  Lebensquell  in  ihrer  eigenen  Mamma 
verschlösse,  und  dass  sie  sich  so  des  Vorrechts  beraube,  ferner  noch  Kinder  zur 
Welt  zu  bringen.  Um  dieses  Verschliessen  der  Ausiiussstelle  für  den  Quell  des 
Lebens  nicht  wissentlich  auszuführen,  müssen  sie  den  Sinn  aus  dem  Spiele  lassen, 
welcher  zu  diesem  AVissen  nöthig  ist.*     Darum  wenden  sie  ihre  Augen  w^. 

Georg  Ebers  sagt  von  den  koptischen  Christen  im  mittelalterlichen 
Aegypten: 

„Ihre  Götterbilder  —  auch  die  der  weiblichen  Verehrungswesen  —  hatten 
nie  bezweckt,  auf  die  Sinne  zu  wirken,  wenn  auch  ihre  heidnischen,  priesterlichen 
Vorgänger  bestrebt  gewesen  waren,  die  Göttinnen,  die  in  ihrer  Vorstellung  ab 
anmuthige  Segenspeuderinnen  lebten,  mit  ebenmässigen  Gesichtszügen,  oft  auch 
mit  einem  Lächeln  am  Munde,  und  immer  mit  jener  schönen  Rundung  des  Busens 
zu  bilden,  die  den  Jungfrauen  ihres  Volkes  besonders  eigen  war  und  ist,  und  die 
ihre  Dichter,  wo  es  den  Zauber  weiblicher  Schönheit  hervorzuheben  gidt,  neben 
der  Fülle  des  Haares,  häufiger  und  höher  priesen,  als  die  Wohlgestalt  des  An- 
gesichts. Wird  die  Göttin  Hathor  auch  die  „Schöngesichtige''  genannt,  so  feiert 
man  doch  die  Schönheit  ihres  Busens  besonders.  Bei  der  grossen  Procession  dieser 
Göttin  von  Dendera  zu  Edfu  bestehen  zwei  Festacte  daraus,  dass  ihr  schöner 
Busen  entblösst  («'up",  ,  geöffnet)  und  der  Menge  gezeigt  wird."* 

^ Ilathor  ist  stets  die  Schöne  und  Gute  {ayadt'j\    und  als  wir  zu  Catanea 

in  Sicilien    die  Brüste   der   heiligen  Agathe  in  Procession  umherfÜhren  imd  die 

wächsernen  Frauenbrüste  sahen,    die  ihr  geopfert  worden  waren,  mussten  wir  des 

Busens  der  Hathor^   der  Dea  bona  der  Aegypter,   gedenken   und  zugleich  dar 

'^rfiach   ausgesprochenen  Vermuthung,   dass   die   heilige  Agathe  die  chnatlialir 


282  "^^n.  Die  Weiberbrust. 

Nachfolgerin  jener  Naturgottheit  sei,  deren  Brüste  schon  in  der  Heidenzeit  und 
zuerst  wohl  von  den  Aegyptern  als  die  Segensquellen  verehrt  wurden,  aus  denen 
die  ganze  Kreatur  Leben  und  Nahrung  empföngt/ 

Dieses  in  culturgeschichtlicher  Beziehung  so  wichtige  Thema  kann  ich  nicht 
verlassen,  ohne  daran  erinnert  zu  haben,  dass  auch  die  Brust  der  Jungfrau  Maria 
eine  weite  Bedeutung  gewonnen  hat.  Dass  kleine  Proben  von  der  Milch  der 
Madonna  sich  unter  den  Reliquien  mehrerer  Kirchen,  auch  bei  uns  im  Norden, 
befunden  haben,  das  ist  vielleicht  allgemeiner  bekannt.  Aber  wenigstens  bei  uns 
im  protestantischen  Norden  mag  es  wohl  weniger  zu  allgemeiner  Kenntniss  ge- 
kommen sein,  dass  der  heiligen  Sage  nach  auch  noch  ein  Anderer,  als  das  Christus- 
Kind  selber,  die  göttliche  Mutterbrust  gemessen  durfte.  Das  war  der  heilige 
Abt  der  Cistercienser,  Bernhard  von  Clairvaux^  der  im  Jahre  1153  gestorben 
ist.  Wie  die  Legende  zu  berichten  weiss,  ist  ihm  die  Jungfrau  Maria  erschienen 
und  hat  ihm  ihre  Brust  dargeboten  und  ihn  mit  der  götÜichen  Muttermilch  er- 
quickt. Diesem  Umstände  verdankt  der  Heilige  seine  honigsQsse  Beredsamkeit, 
welche  ihm  das  Epitheton  Mellifluus  eingetragen  hat.  Hierauf  soll  der  Bienen- 
korb anspielen,  der  gewöhnlich  seinem  Bilde  als  Attribut  beigegeben  wird. 

Zwei  alte  Gemälde  des  Wallraf-Richartz-Museums  in  Cöln  führen  uns 
diese  wunderbare  Milchspendung  vor.  Beides  sind  anonyme  Bilder  des  15.  Jahr- 
hunderts; dass  eine  wird  als  „Kölner  Schule*',  das  andere  als  von  dem  «Meister 
des  Jlfarien-Lebens*  herrührend  bezeichnet.  Dieses  letztere  giebt  Fig.  181  wieder. 
Beide  Künstler  stellen  den  heiligen  Abt  mit  andächtiger  Geberde  vor  der  Mutter 
Gottes  und  dem  Christus -ILinie  dar.  Auf  dem  erstgenannten  Bilde  kniet  er 
vor  ihnen  mit  dem  Abtstabe  in  der  Hand;  ein  schwebender  Engel  halt  eine  Krone 
über  dem  Haupte  der  Madonna,  welche  den  Bambino  auf  dem  Arme  trägt.  Das 
zweite  Bild  zeigt  die  Madonna  und  den  Heiligen,  bei  beiden  das  Haupt  mit 
einem  Heiligenschein  umgeben,  in  freier  Landschaft  hinter  einer  Mauerbrüstnng, 
welche  ihre  Unterkörper  verdeckt.  Das  nackte  Christkind  sitzt  auf  einem  Kissen 
auf  dieser  Mauer.  Auf  beiden  Bildern  hat  die  Madonna  ihre  linke  strotzende 
Mutterbrust  entblösst,  aber  beide  Künstler  haben  es  in  sehr  feinfühlender  Weise 
vermieden,  den  Mund  des  Heiligen  in  unmittelbare  Berührung  mit  der  göttlichen 
Brust  zu  bringen;  nur  fast  unmerklich  neigt  er  ihr  den  Kopf  entgegen.  Maria 
hat  ihre  rechte  Hand  so  an  die  entblösste  Brust  gelegt,  dass  die  Warze  zwischen 
dem  gespreizten  Zeige-  und  Mittelfinger  liegt.  So  drückt  sie  sich  die  Milch  aus 
der  Brust  und  spritzt  sie  dem  heiligen  Bernhard  entgegen.  Einen  sinnigen  Zug 
haben  ferner  noch  alle  beide  Maler  zum  Ausdruck  gebracht.  Auf  dem  Bilde  des 
Meisters  des  ilfar/en-Lebens  legt  das  Christkind  seine  linke  Hand  fest  gegen 
die  Hand  der  Maria^  um  deren  spritzenden  Druck  zu  verstärken.  Aber  noch  um 
Vieles  reizender  hat  der  Maler  des  anderen  Bildes  dieses  Motiv  darzustellen  ver- 
standen. Während  die  Madonna  von  unten  her  mit  dem  Daumen  der  linken 
Hand  sich  die  Milch  aus  der  Brust  herausdrückt,  hat  der  kleine  Heiland  beide 
Händchen  von  oben  her  auf  die  Mutterbrust  gelegt  und  mit  vereinten  Kräften 
spritzen  nun  Mutter  und  Kind  einen  grossen  Milchstrahl  gegen  den  Heiligen. 
Auf  beiden  Bildern  nimmt  also  das  Christkind  thätigen  Antheil  an  dem  Aus- 
spritzen der  Muttermilch,  und  somit  wird  die  letztere  also  dem  beglückten  Heiligen 
nicht  allein  von  der  Gottesmutter,  sondern  auch  von  dem  Gottessohne  ge- 
spendet. Auf  diese  Weise  fallt  für  die  Maria  die  Möglichkeit  eines  Vorwurfs  fort, 
dass  sie  über  die  ihrem  göttlichen  Säuglinge  zukommende  Milch  zu  Gunsten  eines 
anderen  eigenmächtig  veAge.  Volenti  non  fit  injuria!  und  da  das  CAm^M^-Kind 
sich  ja  selber  bei  dieser  göttlichen  Spende  betheiligt,  so  drückt  es  damit  auch  seine 
Zustimmung  aus  zu  dem,  was  seine  heilige  Mutter  thut. 


Zweite  Abtheilung. 

Das  Leben  des  Weibes. 


65.  Die  Hauptabschnitte  in  dem  Leben  des  Weibes. 

Wir  haben  in  den  bisherigen  Kapiteln  das  Weib,  um  es  mit  einem  Worte 
auszudrücken,  von  dem  anatomischen  Standpunkte  aus  in  Betracht  gezogen.  Die 
folgenden  Abschnitte  sollen  mehr  den  Lebenserscheinungen  desselben  gewidmet 
werden.  Man  kann  die  gesammte  Lebenszeit  des  Weibes  in  drei  grosse  Perioden 
eintheilen.  Die  erste  Periode  umfasst  die  Zeit  vom  Mutterleibe  bis  zum 
Eintritt  der  geschlechtlichen  Reife.  Man  kann  sie  auch,  wenn  auch  nicht 
mit  einer  für  alle  Fälle  geltenden  Sicherheit,  als  die  Zeit  vor  dem  Geschlechts- 
leben bezeichnen.  Es  darf  hier  aber  nicht  vergessen  werden,  dass,  wie  wir  sehen 
werden,  der  geschlechtliche  Verkehr  bei  nicht  wenigen  Volkern  bereits  vor  dem 
Beginn  der  geschlechtlichen  Reife  zu  regelmässiger  Ausübung  zu  gelangen  pflegt. 
Die  zweite  Periode  ist  die  Zeit  der  Blüthe,  die  Zeit  des  Geschlechtslebens, 
d.  h.  die  Zeit  von  dem  Eintritt  der  Reife  bis  zu  dem  Erlöschen  der  weiblichen 
Fortpflanzungsfahigkeit,  bis  zu  dem  sogenannten  Klimakterium  oder  dem  Abschluss 
der  Wechseljahre.  Dass  häufig  der  geschlechtliche  Verkehr  weit  über  diese  Grenze 
hinaus  ausgedehnt  wird,  das  dürfte  wohl  als  bekannt  vorausgesetzt  werden.  So 
heisst  es  in  einem  Sanskrit-Verse: 

«Dieses  ist  unangemessen  und  verkehrt,  dass  die  M&nner  noch  in  hohem  Alter  sogar 
Liebeserregungen  fQhlen,  und  ebenso  auch  dieses,  dass  bei  schönhüftigen  Weibern  Leben  oder 
Liebesgenuss  nicht  mit  dem  SchlafiPwerden  des  Busens  ihr  Ende  erreichen.*     (BÖhtlinglc.) 

Die  dritte  Periode  endlich  umfasst  die  Zeit  nach  dem  Aufhören  des 
Geschlechtslebens,  die  Zeit  von  den  klimakterischen  Jahren  bis  zum 
Grabe.  Es  sind  diese  genannten  drei  Perioden  in  Bezug  auf  ihre  zeitliche  Aus- 
dehnung von  einer  ganz  ausserordentlichen  Verschiedenheit  nicht  allein  bei  den 
verschiedenen  Rassen  und  Nationalitäten,  sondern  sehr  häufig  auch  bei  den  weib- 
lichen Individuen  derselben  Völkerschaft. 

Wollen  wir  für  die  geschilderten  Epochen  kurze  Ausdrücke  wählen,  so 
können  wir  sie  als  die  Kindheit,  die  Mannbarkeit  und  das  Alter  des 
Weibes  bezeichnen.  Wir  werden  jetzt  das  Weib  durch  alle  diese  drei  wichtigen 
Abschnitte  seines  Lebens  zu  begleiten  haben. 

Ich  brauche  nicht  erst  zu  erwähnen,  dass  diese  drei  Hauptabschnitte  sehr 
wohl  noch  in  Unterabtheilungen  zerlegt  werden  können.  So  scheidet  sich  die 
Kindheit  noch  naturgemäss  in  drei  Perioden,  in  die  frühe  Kindheit,  das  Säng- 
lingsalter  und  ungefär  die  Zeit  der  ersten  Zahnung  umfassend,  in  die  Periode 
des  Zahnwechsels  und  in  das  Backfischalter,  und  in  dem  letzten  Lebensabschnitt 
muss  man  die  Zeit  des  Alterns,  d.  h.  des  beginnenden  Alters  von  derjenigen  des 
vollendeten  Alters  trennen.  Man  hat  bei  manchen  Völkern  theils  im  Scherz, 
theils  im  Ernst  für  die  verschiedenen  Lebensalter  besondere  Vergleiche  und  Be- 
zeichnungen erfunden.  Auf  einem  Stich  des  alten  Tobias  Stimmer  (16.  Jahr- 
hundert) heisst  es: 


286  ^^  Leben  des  Weibes. 

X  Jar  Kindischer  art,  Ix  Jar  des  Alters  schuper, 

XX  Jar  ein  Jungfrau  zart,  Ixx  Jar  alt  Ungestalt, 

XXX  Jar  im  hauss  die  Frau,  Ixxx  Jar  wüst  und  erkalt, 

xl  Jar  ein  Matron  genau,  xc  Jar  ein  Marterbildt, 

1  Jar  eine  Grossmuter,  c  Jar  das  Grab  ausfÜUt. 

Das  Volk  von  Venezuela  hat  nach  der  Angabe  von  Ernst  in  Caracas 
folgenden  Vers: 

„Die  Mädchen  sind  von  Gold 
und  die  Verheiratheten  von  Silber; 
Die  Wittwen  sind  von  Kupfer 
Und  die  Alten  von  Blech/' 

Nach  BöhtlingWs  Angabe  enthält  ein  Sanskritvers  die  folgenden  Ver- 
gleiche : 

,Ein  unerwachsenes  Mädchen  gleicht  dem  Traubensaft,  eine  Jungfrau  dem  Zucker,  eine 
Frau  mittleren  Alters  dem  Safte  dor  Mangofrucht,  ein  altes  Weib  einer  Gocosnuss." 

An  einer  anderen  Stelle  der  altindischen  Gesänge  wird  von  dem  Mäd- 
chen gesagt: 

,Wenn  die  Menses  bei  ihr  noch  nicht  erschienen  sind,  heisst  sie  Gauri  (die  ROth- 
liche);  sind  die  Menses  da,  Rohint  (die  Rothe),  ohne  Pubes  —  Kanja  (Mädchen);  ohne 
Urüste  —  Nagnika  (die  Nackteinhergehen  de)." 

Wir  finden  in  einer  ähnlichen  Angabe  des  Angira  auch  die  betre£Fenden 
Lebensalter  aufgezeichnet,  auf  welche  sich  die  soeben  vorgeführten  Namen  be- 
ziehen.    Er  sagt: 

^Die  Weiber  heissen  Gure  im  8.  Jahr,  Rohine  im  9.  Jahr,  Kangkc^  im  10.  Jahr,  und 
nach  dem  10.  Jahr  Majaswala,  wo  die  Frau  ihre  Regel  hat." 

Die  reichste  Nomenclatur  für  das  weibliche  Geschlecht  finden  wir  aber,  wie 
Beauregard  angiebt,  bei  den  alten  Aegyptern  wieder.  Mehr  als  25  Worte 
sollen  bei  ihnen  existiren,  um  die  kleinen  Kinder  zu  bezeichnen.  Beauregard 
fuhrt  nur  einige  derselben  an,  und  meist  ist  für  die  Knaben  jedesmal  ein  fast 
gleichlautender  Name  vorhanden.  Erst  mit  dem  fortschreitenden  Alter  tritt  eine 
Verschiedenheit  in  den  Bezeichnungen  ein. 

Der  Name  mesi  für  die  kleinen  Mädchen  (mes  fQr  die  Knaben)  hängt  mit  dem  Verbum 
mes,  geboren  werden,  zusammen  und  bezeichnet  die  Neugeborenen.  Set<t  fSr  die  Mädchen 
{sei  für  die  Knaben)  enthält  die  Wurzel  set,  Abbild,  Aehnlichkeit.  «Appliqu^  comme  d^ 
nomination  aux  jeunes  enfants,  cette  expression  me  paralt  §tre  un  compliment  ä  Tadresse  des 
parents  et  peut-etre,  compar^e  a  notre  expression,  exclamative:  portrait  du  papa!  portrait  de 
la  mama!"  Das  Wort  nefer-t  für  die  Mädchen  (nefer  für  die  Knaben)  entspricht  ungefähr 
unserem  «Kleine*.  Jetzt  fangen  die  Bezeichnungen  für  das  weibliche  und  das  männliche 
Geschlecht  an  sich  zu  scheiden;  es  herrscht  ferner  keine  üebereinstimmung  mehr  zwischen 
ihnen.  Das  junge  Mädchen  heisst  renen-t.  „11  r^pond  au  mot  grec  rj  na(f>d'tvog  et  ä  notre 
mot:  jeune  demoiselle.*^  Das  reife  Mädchen  hat  den  Titel  hennu,  demoiselle  ä  marier,  per- 
sonne müre  pour  la  culture.  Als  Ehefrau  heisst  das  Weib  sami-t  (s  a  m  symbolisirt  die  Ver- 
einigung). Das  Weib  als  Mutter  mät  hat  vier  hieroglyphische  Bezeichnungen,  in  deren  einer 
die  männlichen  und  weiblichen  Genitalien  auftreten.  Für  die  Wittwen  hat  die  ägyptische 
Sprache  drei  Ausdrücke;  der  erste,  kenihy  bedeutet  tiefe,  schwarze  Trauer;  der  zweite,  c^ar, 
wüstes,  unbebautes  Feld,  und  der  dritte  endlich,  nennu,  hat  den  Sinn,  vom  Phallus  entwOhnt, 
verlassen. 


VIII.  Das  Weib  im  Mutterleibe. 

66.  Die  Erkenntniss  des  Geschlechts  der  Kinder  im  Matterleibe. 

Es  ist  eine  eigenthümliche  Erscheinung  in  der  Psychologie  der  Völker,  dass 
schon  vom  Mutterleibe  an  sich  eine  üngleichwerthigkeit  der  beiden  Geschlechter 
nachweisen  lässt,  und  zwar  ist  es  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  das  weibliche,  welches 
bereits  von  seiner  Geburt  an  als  das  minderwerthige  betrachtet  zu  werden  pflegt. 
Hört  man  doch  selbst  in  unserem  hochcivilisirten  Lande  nicht  selten  spöttelnde 
Bemerkungen  demjenigen  zuraunen,  welchem  ^nur  ein  Mädchen''  geboren  ist. 
Wir  werden  später  noch  zu  erfahren  haben,  wie  wenig  Berechtigung  einem 
solchen  Spotte  innewohnt,  aber  es  ist  wohl  eine  feststehende  Thatsache,  dass  bei 
uns  fast  durchgehends  die  Geburt  eines  Knaben  mit  grösserer  Freude  begrüsst 
wird,  als  diejenige  eines  Mädchens.  Es  ist  daher  nicht  zu  verwundern,  wenn  die 
in  guter  Hoffnung  sich  befindenden  Frauen  und  vor  allen  Dingen  deren  kluge 
und  viel  erfahrene  Rathgeberinnen  schon  während  der  Schwangerschaft  bemüht 
sind,  das  Geschlecht  des  zukünftigen  Weltbürgers  vorherzusagen.  Und  bis  zu  dem 
achtzehnten  Jahrhunderte  hin  lebten  selbst  die  Aerzte  in  dem  festen  Glauben, 
dass  sie  sich  in  dem  sicheren  Besitze  solcher  Erkennungsmittel  befanden. 

Schon  bei  den  Aerzten  der  alten  Inder  wurde  eine  frische,  helle  Gesichts- 
farbe als  untrügliches  Vorzeichen  für  die  bevorstehende  Geburt  eines  Knaben  an- 
gesehen, auch  hatten  gewisse  Gelüste  und  Träume  ihre  ganz  bestimmte  Vorbe- 
deutung. Hingegen  deutete  nach  Susruta^s  Ayurvedas  ein  auf  beiden  Seiten 
gleich  hoher  Leib  auf  einen  Zwitter  (Napunsaka  genannt,  was  eigentlich  ein 
Nichtmännchen  bedeutet),  hingegen  eine  thalähnliche  Vertiefung  in  der  Mitte  des 
Leibes  zeigte  eine  Zwillings  Schwangerschaft  an. 

Sehr  eigenthümliche  Uebereinstimmungen  in  den  Ansichten  finden  wir  bei 
den  Juden,  den  Griechen  und  den  Römern,  welche  alle  drei  die  rechte  Seite 
der  Schwangeren  (wahrscheinlich  als  die  stärkere  oder  , hitzigere")  als  diejenige 
bezeichnen,  aus  welcher  die  Knaben  herrühren,  während  die  Mädchen  aus  der 
linken  Seite  hervorgehen  sollten.  Und  dieser  Anschauung  entsprechend  stellten 
sie  ihre  Diagnose,  d.  h.  sie  urtheilten  nach  den  Zeichen  rechts  oder  links  am 
Auge,  aus  der  früheren  und  stärkeren  Fülle  der  einen  Brust,  ans  der  grösseren 
Schwellung  der  einen  Bauchseite,  aus  der  schnelleren  und  kräftigeren  Beweglich- 
keit der  einen  Extremität,  aus  der  Pulsbeschafienheit  auf  beiden  Seiten,  aus  dem 
Niederschlage  des  Urins  auf  einer  von  beiden  Seiten  des  Nacht-Geschirrs  (Soranus), 
oder  auch  aus  dem  Untersinken  oder  Schwimmen  eines  Tropfens  Blut  oder  Milch 
aus  der  rechten  Seite. 

Der  Umstand,  dass  sie  innerhalb  der  Gebärmutter  jedem  Geschlechte  eine 
besondere  Seite  zuweisen,  findet  seine  Erklärung  darin,  dass  sie  ihre  anatomischen 
Kenntnisse,  wie  oben  gesagt  wurde,  nur  von  den  Schlacht-  und  Opferthieren  her 


288  VIII.  Das  Weib  im  Mutterleibe. 

besassen,  und  dass  die  Wiederkäuer  einen  zweigetheilten  zweihörnigen  Uterus 
besitzen  und  nicht  eine  einfache  Gebärmutterhohle,  wie  sie  dem  Menschen  zu- 
kommt. 

Eine  andere  Uebereinstimmung  finden  wir  unter  den  alten  Griechen  und 
Römern  darin,  dass  sie  gemeinschaftlich  ein  gerothetes,  blühendes  Angesicht  der 
Schwangeren  auf  einen  Knaben  deuteten.  Sie  meinten  ferner,  dass  sich  die  Knaben 
früher  bewegen,  als  die  Mädchen,  und  dass  man  die  Zeit,  in  welcher  die  Kindes- 
bewegungen von  den  Schwangeren  gefühlt  werden,  als  diagnostisches  Merkmal 
benutzen  könne.  Plinius  sagt:  eine  bessere  Gesichtsfarbe  und  Kindesbewegungen 
am  40.  Tage  deuten  auf  einen  Knaben,  das  Gegentheil  aber,  sowie  eine  leichte 
Anschwellung  der  Schenkel  und  Leisten,  auf  ein  Mädchen.  Den  Glauben  an  diese 
Merkmale  nahmen  auch  die  Araber  an.  Nach  Rhaees  deutet  ein  voller,  runder 
und  harter  Unterleib  und  eine  muntere  Gesichtsfarbe  auf  einen  Knaben,  aber  eine 
rothpunktirte  Haut  auf  ein  Mädchen;  „et  si  caput  mamillae  transmutatum  faerit 
ad  rubedinem,  pariet  masculum,  si  ad  nigredinem,  filiam**.  Aber  auch  die  rechte 
und  linke  Seite  spielen  bei  Ithaees  dieselbe  Rolle,  wie  bei  den  Griechen.  Avi- 
cenna  meinte  gleichfalls,  aus  verschiedenen  Zeichen  rechter-  und  linkerseits  das 
Geschlecht  des  Kindes  erkennen  zu  können.  Nach  Albukasem  deutet  pnlchritudo 
faciei  et  agilis  motus  auf  einen  Knaben,  aber  demigratio  rostri  mamillae  sinistrae, 
discoloratio  et  maculae  faciei  auf  ein  Mädchen. 

Ein  in  Rom  geborener  jüdischer  Dichter,  Namens  ManoeUOy  gab  im  Jahre 
1328  ein  Liederbuch  heraus,  in  welchem  er  als  Zeichen,  dass  eine  Schwangere 
einen  Knaben  gebären  werde,  folgende  8  Merkmale  anführt:  das  Gesicht  der 
Mutter  sieht  schön  und  „ungetrübt**  aus;  die  rechte  Brust  ist  grösser,  als  die 
linke;  die  Pulse  der  rechten  Hand  schlagen  stärker;  die  Adern  unter  der  Zunge 
sind  rechterseits  lebhafter  und  frischer;  die  Adern  der  ganzen  rechten  Seite  sind 
zehnfach  stärker,  als  die  der  linken ;  der  Warzenhof  der  rechten  Brust  ist  dunkel, 
wie  bei  einer  leichten,  kräftigen  Kameeistute;  das  rechte  Nasenloch  pflegt  zu 
bluten;  der  Fötus  liegt  mehr  auf  der  rechten  Seite  des  Leibes. 

Als  Mittel,  zu  erkennen,  ob  eine  Schwangere  ein  Mädchen  oder  einen 
Knaben  haben  wird,  giebt  eine  sehr  alte,  auf  dem  Blatte  eines  Bibelcodex 
(Leipziger  Bibliothek)  geschriebene  und  von  Bursian  veröffentlichte  Recept- 
sammlung  Folgendes :  „Sieh  die  Brustwarzen  an;  wenn  sie  aufwärts  stehen,  wird's 
ein  Knabe,  wenn  abwärts,  ein  Mädchen ;  wenn  sie  schön  gefärbt  sind,  ein  Knabe, 
wenn  schlecht,  ein  Mädchen." 

In  einer  deutschen  Bearbeitung  des  Plinius^  aus  dem  16.  Jahrhundert 
lesen  wir: 

„Die  Weiber,  so  Knäblein  tragen,  Bollen  blase  gefärbt  seyn,  auch  leichtlicher  gebaren, 
und  das  Kind  sich  gemeinlich  am  vierzigsten  Tage  regen.  Mit  den  Meidlein  halte  sichs 
anders,  denn  die  werden  gantz  schwerlich  getragen  und  regen  sich  allererst  umb  den 
neuntzigsten  Tag/'  Dann  heisst  es  weiter:  „Wenn  die  Seele  dem  zubereiten  Leibe  einge- 
gossen wirt,  so  fahnt  er  an  zu  leben,  und  sich  in  Mutterleibe  zu  regen  und  bewegen.'* 

Wir  erfahren  hieraus,  dass  nach  der  Ansicht  der  damaligen  Zeit  die  Mäd- 
chen in  dem  Mutterleibe  um  beinahe  zwei  Monate  später  in  den  Besitz  einer 
Seele  gelangen,  als  die  Knaben.  Vielleicht  klingt  hier  eine  Anschauung  der  tal- 
mudischen Aerzte  nach.  R.  Ismael  erzählt,  dass  die  Sclavinnen  der  griechi- 
schen Königin  Kleopatra^  der  Gattin  Alexander' s^  wegen  eines  Majestätsverbrechens 
zum  Tode  verurtheilt  und  den  Weisen  zu  wissenschaftlichen  Untersuchungen  über- 
lassen wurden.  Man  Hess  'diese  Sclavinnen  begatten,  tödtete  sie  zu  bestimmter 
Zeit  und  secirte  sie.  Dabei  soll  sich  dann  ergeben  haben,  dass  männliche  FrOchte 
in  einundvierzig  Tagen  ihre  vollständige  Entwickelungsreife  erreichen,  weiblidie 
waren  dagegen  erst  in  einundachtzig  Tagen  völlig  ausgebildet.  (KouMoiubtm 
Wir  sehen,  dass  die  hier  angegebenen  Zeiten  sich  ungeföhr  mit  denM  im 
imentators  decken. 


66.  Die  Erkenntniss  des  Geschlechts  der  Kinder  im  Matterleibe.  289 

In  Deutschland,  und  zwar  im  Frankenwalde  glaubt  das  Volk,  dass 
schlechtes  Aussehen  und  besonders  kränkliches  Befinden  in  der  Schwangerschaft 
einen  Knaben  Aerspreche.     (Flügel) 

Nach  dem  Glauben  der  Pfälzer  giebt  es  ein  Mädchen,  wenn  die  Frau 
nach  der  Befruchtung  mit  dem  linken  Fusse  zuerst  aus  dem  Bette  steigt.  Im 
übrigen  Bayern  wird  ein  gelbes,  fleckiges  Aussehen  der  Schwangeren  för  das 
sichere  Anzeichen  genommen,  dass  sie  ein  Mädchen  trage,  und  das  Gleiche  gilt, 
wenn  in  der  zweiten  Hälfte  der  Schwangerschaft  die  Mittellinie  des  Unterbauches 
nicht  dunkel  gefärbt  ist.     (Lammert,) 

Man  glaubt  in  Steyermark,  dass  in  Jahren,  in  denen  mehr  Aepfel  und 
Nüsse  gerathen,  mehr  Knaben,  in  denen  hingegen  mehr  Birnen  gedeihen,  mehr 
Mädchen  zur  Welt  kommen.  Man  deutet  dort  Aufregung  beim  Beischlaf,  blühen- 
des Aussehen  der  Frau  und  energische  Kindesbewegungen  auf  einen  Knaben, 
bleiche  Gesichtsfarbe,  insbesondere  „ Leberflecke'  der  Schwangeren  auf  ein  Mäd- 
chen.    (Fossel.) 

Will  eine  schwangere  Frau  im  Siebenbürger  Sachsenlande  wissen,  ob 
sie  einen  Knaben  oder  ein  Mädchen  haben  werde,  so  nimmt  sie  eines  jener  Holz- 
stäbchen, die  auf  dem  Webstuhl  zwischen  dem  Garn  stecken,  und  reitet  darauf 
mit  zugemachten  Augen  auf  die  Gasse.  Sieht  sie  hier  zuerst  einen  Mann,  so  hat 
sie  einen  Knaben,  wenn  sie  eine  Frau  erblickt,  so  ist  ein  Mädchen  zu  erwarten  (in 
St  Georgen  in  Siebenbürgen),  (v,  Wlislocki,)  Der  Siebenbürger  Zigeu- 
nerin, welche  wissen  will,  ob  sie  in  anderen  umständen  sei  und  welchen  Ge- 
schlechtes ihr  Kind  sein  wird,  wird  Folgendes  gerathen: 

,,äie  nehme  ein  Ei,  giesse  den  Inhalt  desselben,  ohne  jedoch  das  Eiweiss  vom  Dotter 
zu  trennen,  in  einen  Napf  und  lasse  Wasser  aus  ihrem  Munde  hineinträufeln.  Schwimmt  das 
Ei  am  nächsten  Morgen  auf  d(>r  Obei-fläche  des  Wassers,  so  ist  sie  in  gesegneten  Umständen 
und  wird,  wenn  das  Dotter  vom  Eiweiss  getrennt  herumtreibt,  einen  Sohn,  wenn  aber  beide 
Eibestandtheile  vereinigt  auf  der  Oberfläche  schwimmen,  eine  Tochter  zur  Welt  bringen.*' 
(V.  Wlislocki,) 

Auch  die  Zauberfrau  muss  hier  Auskunft  verschaflfen.  Das  macht  dieselbe 
mit  Hülfe  einer  glänzenden  Zinntafel,  in  welcher  sie,  für  die  Schwangere  sichtbar, 
das  Geschlecht  des  Kindes  erscheinen  lässt.     (v,    Wlislocki,) 

Unter  den  Serben  bedeutet  die  Entzündung  der  oberen  Augenwimpern, 
dass  die  Frau  mit  einem  Knaben,  die  der  unteren,  dass  sie  mit  einem  Mädchen 
schwanger  ist.  Will  eine  Serbin,  wenn  sie  schwanger  ist,  wissen,  ob  sie  einen 
Knaben  oder  ein  Mädchen  haben  wird,  so  soll  sie  im  Garten  zwei  gleiche  Gras- 
halme zur  Hälfte  abbeissen,  so  dass  sie  ganz  gleich  lang  sind,  und  dann  werden 
dieselben  Abends  in  die  Erde  gesteckt,  und  zugleich  die  eine  Hälfte  dem  Knaben, 
die  andere  dem  Mädchen  gewidmet.  Morgens  früh  sieht  man  nach,  welches  Ende 
grosser  geworden  ist,  ob  jenes  des  Knaben,  oder  das  des  Mädchens.  Nach  der 
grösseren  Hälfte  wird  auch  das  Geschlecht  des  Kindes  bestimmt.     (Petrowitsch.) 

„Bei  den  altgläubigen  Südslaven  wird  im  Allgemeinen  das  Schwein«  welches  als  Fest- 
braten dienen  soll,  nach  den  Weihnachtsfasten  geschlachtet  und  sorgrfältig  ausgeweidet.  Die 
Eingeweide  legt  man  besonders  in  einen  Schäffel,  darauf  aber  beschauen  zuerst  die  Männer, 
dann  die  Frauen  mit  grösster  Aufmerksamkeit  die  Form  des  in  der  Mitte  zuriickgebliebenen 
ünschlitts  und  prophezeien  daraus,  wenn  es  schlapp  ist,  dass  eine  von  den  jungen  Frauen 
im  Hause  ein  weibliches,  und  wenn  es  aufgeknospet  ist,  dass  sie  ein  männliches  Kind  zur 
Welt  bringen  werde."     (Krauss^,) 

Nach  der  Angabe  von  Glück  behauptet  man  in  Bosnien  und  der  Her- 
cegOTina, 

,dan  das  Kind  ein  Knabe  sein  werde,  wenn  die  Schwangere  die  ersten  Bewegungen 
der  Fmoht  nohU  yenpürt,  wenn  der  Unterleib  mehr  in  der  Breite  als  nach  vom  sich  ver- 
grBwiit  tnd  wwn  die  Warzen  der  Brustdrüsen  schwarz  werden.  Sind  alle  die  Erscheinungen 
aieht  gmoMiMmA  Baüieprftgt  und  kommt  der  weibliche  Familienrath  zu  keinem  endgültigen 
~         ~  die  Entscheidung  dem  ZnfaU.     Ohne  Wissen  der  Schwangeren 

a.A«fl.  L  19 


290  ^f'-  I^  ^eib  im  Motterleibe. 

v^ri^t<)ckt  man  unt^  den  Poldtdrn  cmd  an  den  entgegengesetzten  Enden  des  ^Minden^  eine 
Sch^erA  and  ein  Beil;  »fdzt  nch  die  Schwangere  in  der  Nähe  des  Beiles,  ao  bekommt  sie  eiaen 
KnaheT).  im  anderen  Falle  aber  ein  Mädchen.*' 

Hei  dem  russischen  Volke  gelten  nach  Demic  folgende  Regeln: 

,.Wird  die  Schwangere,  wenn  man  sie  fragt,  ob  es  ein  Knabe  oder  ein  Mädchen  wird, 
roth,  MO  wird  en  ein  Mädchen,  wird  sie  nicht  roth,  so  wird*8  ein  Knabe.  Beschwerden  in 
df  n  drm  ersten  Monaten  denten  aaf  ein  Mädchen  (umgekehrt,  Knabe).  Träamt  die  Schwangere 
7on  ein^m  F^mnnen  oder  einer  Quelle,  so  wird*s  ein  Mädchen,  von  einem  Messer  oder  Beil, 
ein  Kna>>e.  ^?JhHlamlj  Kine  vor  der  Conception  blasse  Frau,  die  hinterher  roth  ist,  be- 
kommt, einen  Knaben.  Die  „schattige  Lanbe'S  ein  Volksheilbach,  sagt,  daas  die  Knaben  im 
dritten,  die  Mä'lchen  im  vierten  Monat  im  Uterus  die  ersten  Bewegungen  machen.'^ 

Ußhf^r  den  entsprechenden  Aberglauben  der  Ehsten  fuhrt  Boder  an: 

,Jn  Wierland  deutet  man  einer  Schwangeren  Träume  dahin,  dass  ein  Brunnen  oder 
^^iiel)  die  (reburt  eines  Mädchens,  ein  Messer  oder  Beil  wiederum  einen  Knaben  bedeute. 
Wenn  zwei  schwangere  Weiber  zugleich  niesen,  dann  bilden  sie  sich  ein,  dass  beyde  Töchter 
liekomnien  werden,  niesen  aber  zweene  Männer,  deren  Weiber  schwanger  seynd,  zugleich,  so 
Solls  Söhne  bedeuten.' 

Kreutzwald  bemerkt  dazu:  „In  Wierland  hört  man  vom  erwähnten 
Weiberniesen  gerade  das  Gegentheil,  und  zwar  stützt  man  sich  dabei  auf  bib- 
lischen Qrund: 

Maria  und  FAmahrAh  begrüssen  sich,    sie  werden  jede  einen  Sohn  zur  Welt  bringen.* 

Von  den  Lappen  erzählt  der  alte  Scheffer : 

„Denn  sobald  Hio  merken,  dass  das  Weib  schwanger  sey,  wollen  sie  auf  diese  Weise, 
ob  sie  ein  Knäblein  oder  Mägdlein  zur  Welt  trage,  erfahren.  Sie  betrachten  alsofort  den 
Mond  (denn  sie  halten  dafür,  die  schwangere  Weiber  seyn  dem  Monde  in  vielen  gleich),  steht 
über  doiiisolbon  ein  Stern,  so  sohliesson  sie,  es  werde  ein  Knäblein  sein,  stehet  er  aber  unter 
demselben,  so  werde  es  ein  Mägdlein  seyn.* 

Auch  bei  der  Hevolkerung  Italiens  begegnet  man  auf  unserem  Gebiete 
mancherlei  Aberglauben,  welcher  theilweise,  ähnlich  wie  in  Deutschland,  die 
Nachwirkung  der  Anschauungen  des  Alterthums  erkennen  lässt.  So  gilt  es  im 
Modenosischen  fUr  das  Zeichen  einer  späteren  Mädchengeburt,  wenn  sich  in  den 
ersten  Monaten  der  Gravidität  bleiche  Gesichtsfarbe,  fleckige  Haut  und  gastrische 
SU)rungen  einstellen.  Auch  wird  ein  Mädchen  geboren  werden,  wenn  der  Bauch 
der  Hohwangeren  abgerundet  und  wenig  vorspringend  erscheint.  (Riccardi)  Allerlei 
Erkennungszeichen  hat  man  in  Unter- Italien  in  der  Provinz  Bari  nach  Karnsio's 
Angabe.  Will  (;ine  Schwangere  wissen,  ob  sie  einen  Knaben  oder  ein  Mädchen 
trage,  MO  muHH  sie  sich  auf  die  Erde  setzen  und  sicli  dann  wieder  erheben  lassen. 
Stützt  sie  sieh  dabei  links,  so  wird  sie  ein  Mädchen  zur  Welt  bringen.  Auch 
eine  triichtige  Eselin  kann  iils  Orakel  dienen,  wenn  sie  von  der  Schwangeren  ge- 
ritten wird.  Das  Kind  der  letzteren  hat  das  entgengesetzte  Geschlecht,  wie  das 
junge  PjselsRlllen.  Wirlt  der  Weiberrock  rechts  und  links  auf  dem  Bauche  eine 
Falte,  so  wird  ein  Mädchen  geboren  werden,  hingegen  zeigt  eine  Mittelfalte  einen 
Knaben  an.  Wenn  in  den  letzten  Monaten  der  Schwangerschaft  die  Frau  im 
Gesichte  eine  unreine  lliiutfarbe  und  Leberflecke  zeigte  so  ist  sie  mit  einem  Mädchen 
schwanger.  Auch  soll  die  Frau  einen  Tropfen  ihrer  Milch  auf  ein  glühendes 
Kohlenbecken  fallen  lassen.  Breitet  sicli  der  Milchtropfen  aus,  so  deutet  das  auf 
ein  Mädchen,  bleibt  er  konisch,  auf  einen  Knaben.  Ganz  sicher  soll  es  ein  Mädchen 
werden,  wenn  sich  schon  ungefähr  l\0  Tage  vor  der  Xiederkmift  Milch  in  den 
Bn'Uten  findet;  ist  das  aber  erst  10  Tage  vorher  der  Fall,  so  wird  ein  Knabe 
geboren  werden. 

Die  türkischen  Hebammen  machen  nach  Hrnni  der  Schwangeren  HoflFhung 
auf  einen  Knaben,  wenn  „la  face  est  turgescimte,  les  joues  coloreos  et  les  yeux 
brillants* ;  sie  erwarten  aber  ein  Mädchen,  »si  la  femme  est  päle,  si  les  yeux  sont 
ternes,  si  la  physiognomie  est  triste*.  Auch  vermögen  sie  Zv**'^"' 
Schäften,  welche  im  Orient  durchaus   nicht   selten  vorkomnv  ifc 

— Wimen  Geschicklichkeit  zu  erkennen  und  vorherzusagen. 


66.  Die  Erkenntniss  des  Geschlechts  der  Kinder  im  Mutterleibe.  291 

Wie  diese  Völker,  so  glauben  auch  die  Chinesen  im  Besitze  bestimmter 
Merkmale  zu  sein,  die  ihnen  das  Geschlecht  des  Kindes  im  Mutterleibe  sicher  an- 
zeigen.    Sie  befühlen  bestimmte  Punkte  an  den  Arterien: 

.Wenn  der  Puls  am  unteren  Punkte  in  der  Gegend  des  rechten  Handwurzelgelenks 
schlüpfend  und  strotzend  ist,  so  ist  die  Frau  mit  einem  Mädchen  schwanger."     (Hureau.) 

Landes  sagt  von  den  Annamitinnen: 

,0n  divine  si  une  femme  est  enceinte  d'un  garvon  ou  d'uno  fille  en  TappoUant  et  en 
tirant  des  augures  du  cöte  oii  eile  se  toume  pour  repondre;  si  eile  &e  tourne  a  gauche,  eile 
aura  un  garvon,  ä  droite  une  fiUe.** 

Auf  den  Philippinen  diagnosticiren  nach  Mallat  die  Uebammen  schon  in 
einer  sehr  frühen  Periode  der  Schwangerschaft  das  Geschlecht  des  zukünftigen 
Kindes.    Was  sie  dabei  als  Merkmale  benutzen,  ist  aber  nicht  bekannt  geworden. 

Nach  dem  Glauben  der  Maori  auf  Neu-Seeland  pflegt  die  Geburt  eines 
neuen  Wesens  schon  vorher  durch  Träume  angezeigt  zu  werden.  Wenn  ein  ver- 
heiratheter  Mann  im  Traume  menschliche  Schädel  mit  Federn  verziert  erblickt, 
so  wird  ihm  damit  gewiss  ein  Kind  verheissen.  Waren  die  Federn,  welche  er 
gesehen,  vom  Kotuku,  so  wird  das  Kind  ein  Knabe,  waren  es  dagegen  Federn 
vom  Huia,  so  wird  das  Kind  ein  Mädchen.     (Novara.) 

Auch  die  Insulanerinnen  des  alfurischen  Archipels  verstehen  es,  bei 
Schwangerschaften  vorherzubestimmen,  ob  ihnen  ein  Knabe  oder  ein  Mädchen 
geboren  werden  wird.  Auf  den  Keei- Inseln  geben  Zaubermittel  hierüber  den 
Aufschluss;  auf  den  Aaru- Inseln  sagen  es  alte  Frauen  den  Schwangeren  vorher, 
weigern  sich  aber  hartnäckig,  ihre  Kennzeichen  anzugeben.  Bei  der  ersten 
Schwangerschaft  ist  auf  den  Babar-Inseln  der  Ehemann  verpflichtet,  unter  der 
Assistenz  eines  Sachverständigen  ein  Ferkel  zu  schlachten.  Diesem  wird  das  Herz 
herausgenommen,  und  erblickt  man  beim  Aufschneiden  desselben  eine  Ader  mit 
einer  Verdickung,  so  ist  das  Kind  ein  Knabe,  und  im  umgekehrten  Falle  ein 
Mädchen.  Lst  das  Orakel  nicht  deutlich  genug,  dann  muss  noch  eine  Henne  ge- 
schlachtet und  an  deren  Herzen  die  Untersuchung  wiederholt  werden.  Wenn  die 
schwangeren  Weiber  auf  Leti,  Moa  und  Lakor  an  der  Hinterseite  ihrer  Schenkel 
Schmerzen  fühlen,  dann  werden  sie  einen  Knaben  zur  Welt  bringen.  Auf  Ambon 
und  den  Uliase- Inseln  gilt  es  als  Vorzeichen  für  eine  Knabengeburt,  wenn  der 
Unterbauch  der  Schwangeren  gross  ist  und  sie  beim  Laufen  ihr  rechtes  Bein 
schwer  aufzuheben  vermag.  Ist  aber  der  Oberbauch  gross  und  kann  sie  ihr  linkes 
Bein  schwer  bewegen,    dann  wird  sie  ein  Mädchen  zur  Welt  bringen.     (Riedel^.) 

Die  Weiber  der  Orang-Djakun  in  Malacca  warten  nach  Stevens,  wenn 
sie  schwanger  sind,  ab,  bis  sie  von  einer  bestimmten  Zahl  träumen.  Von  der 
folgenden  Nacht  an  sitzen  sie  dann  so  viele  Nächte  hinter  einander  auf,  als  die 
Zahl  betrug.  Eine  beliebige  Anzahl  von  Freundinnen  leistet  ihnen  Gesellschaft. 
So  warten  sie  auf  den  Ruf  irgend  eines  Vogels  oder  eines  anderen  Thieres.  Der 
erste  derartige  Schrei,  den  sie  alle  deutlich  gehört  haben,  dient  als  Orakel  für  das 
Geschlecht  des  zukünftigen  Kindes;  kommt  er  von  rechts,  so  wird  es  ein  Knabe, 
kommt  er  von  links,  so  wird  es  ein  Mädchen.     {Bartels'^,) 

Was  von  allen  diesen  untrüglichen  Zeichen  zu  halten  ist,  das  enthüllte  uns 
schon  mit  klaren  Worten  gegen  das  Ende  des  17.  Jahrhunderts  der  alte  Pariser 
Geschworenen-Wundarzt  Fran^ois  Mauriceau: 

„Man  kann  den  Weibern  ihren  Vorwitz  und  Sehnsucht,  indem  sie  /.u  wissen  verlangen, 
ob  sie  schwanger  oder  nit,  wohl  genug  thun.  Es  finden  sich  aber  ihrer  viel,  und  fast  alle,  die 
da  wollen,  man  sol  weiter  gehen,  und  ihnen  sagen,  ob  es  mit  einem  Büblein  oder  einem  Mägdlein 
seye,  das  doch  schlechter  Dinge  unmöglich:  obwohl  fast  keine  Hebamme  ist,  die  sich 
r(Uimet,  solches  nicht  zu  errathen  (in  Wahrheit  wol  errathen;  aber  nicht,  zu  treffen):  denn 
wsnn  das  geschieht,  so  ist  es  vielmehr  ein  gewagter  Handel,  als  einige  Wissenschaill,  oder 
Bedanken,  das  sie  gehabt  haben,  solches  wahrsagen  zn  kOnnen.  Man  wird  aber  offb  so  hart 
D,  and  angefochten,  sein  Bedenken  hiervon  zu  sagen,  sonderlich  von  Frauen,  die  nie 

19* 


292  Vm.  Das  Weib  im  Mutterleibe. 

kein  Kind  gehabt,  ja  auch  von  ihren  Männern,  die  nicht  weniger  vorwitzig:  dass  man  ihnen 
jemals  Schanden  halber  auf  hupfen  muss,  so  gut  man  in  diesem  Fall  kann." 

Die  Barbara  Widenmannin^  geschworene  Hebamme,  und  der  Zeit  Führerin 
derselben  in  des  Heiligen  Römischen  Reichs  Stadt  Augsburg,  schreibt  im 
Jahre  1735  in  ihrer  ,, Anweisung  christlicher  Hebammen*': 

,,0b  aber  eine  schwangere  Frau  mit  einem  Mägdlein  oder  Enäblein  schwanger  gehe, 
weiss  niemand  gewiss,  als  GOTT  allein,  der  auch  in  das  Verborgene  siehet,  und  fleisäg 
darum  muss  gebetten  werden,  dass  er  die  beschehrte  Leibes -Frucht  gnädig  erhalte  und 
zu  rechter  Zeit  die  Eltern  damit  erfreue.  Alsdann  können  sie  selber  sehen  was  ihnen  he- 
schehrt  worden.** 

Ganz  neuerdings  (1888)  hat  Dtipuy  der  Pariser  Soci^te  de  Biologie  ein 
Merkmal  angegeben,  um  das  Geschlecht  des  Kindes  im  Mutterleibe  vorherbe- 
stimmen zu  können,  falls  es  sich  nicht  um  die  erste  Schwangerschaft  handelt 
200  Familien  mit  mehr  als  1000  Kindern  haben  ihm  hierzu  das  Beobachtunge- 
material  geliefert. 

Zu  diesem  Behufe  muss  man  das  Geschlecht  des  ersten  Kindes  kennen. 
Bezeichnet  man  den  Monat  (d.  i.  den  Zwischenraum  zwischen  zwei  Menstruationen), 
in  welchem  das  erste  Kind  concipirt  worden  ist,  mit  1,  so  wird  das  nächstfolgende 
Kind  dasselbe  Geschlecht  haben,  wenn  es  in  einem  paaren  Monat  concipirt  wurde, 
als  im  12.,  14.,  16.  u.  s.  w.,  umgekehrt  wird  das  Kind  das  entgegengesetzte 
Geschlecht  haben,  wenn  es  in  einem  unpaaren  Monat,  also  z.  B.  11.,  13.,  15.  u.  s.  w. 
concipirt  wurde.  Es  ist  mir  nicht  bekannt  geworden,  dass  diese  Art  der  Geschlechts- 
diagnose bereits  zu  unbestrittenen  und  untrüglichen  Resultaten  geführt  hätte. 


67.  Der  Terlauf  der  MSdchengeburten  und  der  Knabengeburten. 

Im  Alterthum  war  man  davon  überzeugt,  dass  die  Mädchengeburten  be- 
schwerlicher vor  sich  gehen  als  die  Geburten  der  Knaben.  Man  findet  bei  Aristo- 
teles^ bei  Plinius  und  bei  Galenus  diese  Ansicht  ausgesprochen.  Der  Letztere 
hat  wahrscheinlich  angenommen,  dass  die  Knabengeburten  deshalb  leichter  sind, 
weil  die  Knaben  sich  kräftiger  bewegen;  denn  er  sagt: 

,,Ma8Culu8  autem  in  corpore  quam  femina  majorem  motum  plerumque  concitat  et  faciliiu 
paritur,  tardius  femina.** 

Auch  in  dem  babylonischen  Talmud  findet  sich  eine  ähnliche  Anschauung. 
Die  Rabbiner  glaubten  nämlich,  dass  der  weibliche  Fötus  bei  der  Geburt  mehr 
Rotation  machen  müsse,  als  der  männliche,  denn  die  Kinder  lägen  im  Uterus, 
so  wie  die  Eltern  beim  Beischlaf  gelegen  hätten,  also  der  Knabe  mit  dem  Gesicht 
nach  unten  und  das  Mädchen  mit  dem  Gesicht  nach  oben.  Diese  Drehungen  sollen 
daran  Schuld  sein,  dass  die  Schmerzen  der  Gebärenden  bei  der  Geburt  eines  Mäd- 
chens grösser  seien,  als  bei  der  eines  Knaben. 

Man  kann  aber  auch  heute  noch  im  Volke  häufig  dem  Glauben  begegnen, 
dass  sich  die  Mädchen  in  ihrer  angeborenen  Schüchternheit  nicht  so  ungenirt  aus 
dem  Mutterleibe  herauswagen,  wie  die  Knaben.  Wenn  daher  eine  Entbindung 
länger  auf  sich  warten  lässt,  als  die  Schwangere  oder  deren  weibliche  Umgebung 
herausgerechnet  haben,  so  wird  hierdurch  bewiesen,  nicht  dass  die  Damen  sich  in 
der  Feststellung  des  Termines  verrechnet  haben,  sondern  dass  der  zukünftige  Spröss- 
ling  ein  Mädchen  ist,  welches  sich  nicht  entschliessen  kann,  das  Licht  der  Welt 
zu  erblicken.  Die  Bayern  sind  allerdings,  wie  Lammert  berichtet,  in  diesem 
Punkte  gerade  der  entgegengesetzten  Meinung.  Sie  sagen,  dass  die  Geburt  eines 
Mädchens  immer  schneller  von  Statten  gehe,  weil  die  Mädchen  vorwitziger  wären. 

Solchen   unbegründeten   Annahmen    gegenüber   steht   eine   hochinteressante 
Thatsache,  welche  sich  aus  der  Sterblichkeits-Statistik  der  Neugeborenen  in  allsr 
Ländern    ergiebt:    Es   unterliegt   keinem  Zweifel,   dass  überall  unter  den  T< 
geborenen  sich  ganz  erheblich  mehr  Knaben  befinden  als  Mädchen.     Was  i 


67.  Der  Verlauf  der  Mädchengeburten  und  der  Knabengeburten. 


293 


Grund  f&r  diese  merkwürdige  ErscheinuDg  ?  Müssen  wir  in  dem  Geburtsacte  selbst 
ftir  die  Knaben  eine  grössere  Gefahr  erblicken  als  für  die  Mädchen?  Das  lässt 
sich  leider  aus  der  Statistik  nicht  ersehen,  da  sich  fär  die  während  der  Geburt 
Gestorbenen  in  den  Mortalitätslisten  keine  Rubriken  finden. 

Nach  den  älteren  Beobachtungen  von  Wappaetis  ist  das  Yerhältniss  bei  den 
Lebendgeborenen  =  100  Mädchen:  105,8  Knaben,  bei  den  Todtgeborenen  dagegen 
100  Mädchen  :  140,3  Knaben.  Quetdet  fand  aus  Beobachtungen  für  verschiedene 
europäische  Länder,  vorzugsweise  aus  den  fünfziger  Jahren  dieses  Jahrhunderts, 
133,5  todtgeborene  Knaben  auf  100  todtgeborene  Mädchen.  Neuere  Unter- 
suchungen von  Bodio  ergeben  f&r  die  todtgeborenen  Knaben  gegenüber  100  todt- 
geborenen Mädchen  folgende  Verhältnisszahlen:. 

Italien  140  (Jahre  1865—1875),  Deutsches  Reich  129  (J.  1872—75),  Oesterreich 
181  (Cisleithanien  J.  1866-1874),  Belgien  135  (J.  1865—1874),  Holland  126  (J.  1865 
bis  1873),  Bayern  134  (J.  1865—1875).  Nach  officiellen  Zahlungen  ergab  sich  während  der 
Jahre  1865—1883  (resp.  1882)  ein  durchschnittliches  Yerhältniss  der  Todtgeborenen  auf  100 
Mädchen,  die  Zahl  der  Knaben:  in  Italien  187,  Frankreich  145,  Preussen  129,  Bayern 
132,  Sachsen  130,  Thüringen  125,  Württemberg  131,  Baden  128,  Oesterreich-Cis- 
leith.  181,  Belgien  184,  Holland  128,  Schweden  134,  Norwegen  129,  Dänemark  ISO. 

Es  ist  wohl  nicht  ohne  Interesse,  ausser  den  relativen  auch  die  wirklichen 
Zahlen  kennen  zu  lernen. 

Todtgeborene. 


Land 


■I 


Zeit 


Knaben 


Mädchen 


Italien 1865—1883 

Frankreich 1865—1882 

Preussen i  1865-1883 

Bayern , 

Sachsen ||      ,        , 

Thüringen '      ,         , 

Württemberg j  1871—1882 

Baden '1  1865—1883 

Elsass-Lothringen ,;  1872—1882 

Oesterreich H  1865—1883 

Ungarn „  1876—1882 

Kroatien  und  Slavonien \  1874—1882 

Schweiz l  1870—1883 

Belgien II  1865—1883 

Holland i  1865—1882 

Schweden i|      ^        , 

Norwegen ;       ,         , 

Dänemark !l      «         » 

Spanien j  1865—1870 

Rumänien  '!  1870—1882 


Russland  (europäisches) 

Finnland 

Massachusetts 

Vermont 

Connecticut 

Rhode  Island 


1875—1878  , 
1878—1882  1 
1870—1881  , 
1873-1876 
1881-1882  : 
1875—1883 
Berlin "  1881—1893  i 


301687 

473204 

455633 

76916 

52391 

15521 

21255 

20203 

13706 

213466 

35072 

4954 

29598 

85358 

73798 

42991 

20601 

20613 

22085 

19730 

10704 

6016 

8777 

424 

412 

1246 

12278 


229478 

329234 

338323 

56325 

40205 

12442 

16228 

15306 

11540 

163381 

27505 

8737 

22141 


57896 

32210 

15963 

15814 

14698 

15014 

8352 

4621 

5928 

292 

273 

781 

9644 


Wenn  es  nun  auch  unter  diesen  Culturlandem  mit  verschiedener  Nationa- 
litat Unterschiede  giebt,  so  sind  dieselben  doch  nicht  so  bedeutend,  um  aus 
ihnen  bestimmte  Schlüsse  ziehen  zu  dürfen;  nur  ist  es  auffallend,  dass  sich  der 
KnabenüberschusB  der  Todtgeborenen  in  den  beiden  LSndem  romanischer  Zunge, 
in  Italien  und  Frankreieh,  so  hoeh  erhebt,  wie  in  keinem  der  übrigen  Lander. 
Doeh  wer  in  fiMMn^M»  il«  Yereinigten  Btst^ten  Nord- Amerikas  derselbe 
u  4t  1870—         :  148). 


294  VIII.  Das  Weib  im  Mutterleibe. 

Warum  mehr  Knaben  bei  der  Gebart  zu  Grunde  gehen,  haben  viele  Forscher 
zu  ergründen  gesucht;  ich  nenne  hier  Clarke^  Simpson^  Caspar^  Veit,  Breslau^ 
MecJcel^  Olshausen  und  Ploss^.  Nach  Clarke  und  Anderen  ist  das  mittlere  Gewicht 
der  neugeborenen  Knaben  grösser  als  das  der  Mädchen,  auch  hat  der  Schädel  der 
Letzteren  einen  kleineren  Umfang  als  der  der  Knaben.  Olshausen  maass  die  Schädel 
von  je  500  Mädchen  und  500  Knaben;  dabei  fand  er  nur  eine  durchschnittliche 
Differenz  des  grossten  Querdurcfamessers  von  noch  nicht  1  mm.  Er  halt  es  aber 
für  unwahrscheinlich,  dass  sich  hiermit  die  Differenz  des  GeschlechtsverhältnisseB 
bei  den  Todtgburten  erklären  lasse;  wahrscheinlich  sei,  dass  rhachitische  Frauen 
mit  engem  Becken  häufiger  als  gesunde  Weiber  Knaben  produciren.  Er  hat  ans 
6  Kliniken  die  Geburten  bei  engem  Becken  je  nach  dem  Geschlechtsyerhältniss 
der  Neugeborenen  berechnet.  Das  Ergebniss  war  hier  310  Knaben  zu  211  Mädchen, 
also  100  Mädchen:  150  Knaben.  Es  wird,  wie  Olshausen  selbst  bemerkt,  freilich 
eingeworfen  werden,  dass  die  Knabengeburten  als  die  durchschnittlich  schwereren 
mehr  zur  Kenntniss  des  Arztes  kommen  als  die  relativ  leichteren  Mädchengeburten. 
Allein  immerhin  ist  es  nicht  unwichtig,  weiter  zu  untersuchen,  ob  rhachitische 
Frauen  einen  so  bedeutenden  Knabenüberschuss  erzeugen,  wie  durch  diese  vor- 
läufige Statistik  wahrscheinlich  wird. 

MecJcel  hatte  den  Versuch  gemacht,  die  Thatsache,  dass  Knaben  beim  Ge- 
burtsact  häufiger  sterben,  als  Mädchen,  dadurch  zu  erklären,  dass  die  Knaben  sich 
lebhafter  bewegen  und  deshalb  häufig  Veranlassung  zur  Drehung  der  Nabelschnur, 
zur  Hemmung  des  Kreislaufes  und  dadurch  zu  dem  Absterben  bieten.  Fernere 
genaue  Beobachtungen  werden  auch  hier  vielleicht  Klarheit  schaffen. 


IX.  Das  Weib  während  der  Zeit  der  geschlechtlichen 
Unreife  oder  die  Kindheit  des  Weibes. 

68.  Die  Anfhahme  des  Mädchens  nach  der  Geburt. 

Es  wurde  bereits  weiter  oben  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  bei  sehr 
vielen  Volkerschaften  die  Geburt  einer  Tochter  mit  sehr  geringer  Freude  begrüsst 
wird,  und  es  geht  das  so  weit,  dass  dieselbe  geradezu  als  eine  Schande  und  ein 
Unglück  angesehen  werden  kann. 

So  haben  die  Uiguren,  welche  zu  den  mittelasiatischen  Türken  ge- 
hören, die  folgenden  Verse: 

,  Besser  wenn  eine  Tochter  nicht  geboren  oder  nicht  am  Leben  bleibt. 
Wird  sie  geboren,  so  ist  es  besser,  wenn  unter  der  Erde, 
Wenn  das  Todtenmahl  mit  der  Geburt  vereint."    (Vambery,) 

Auch  der  Kirgise  sagt: 

„Bewahre  nicht  lange  das  Salz,  denn  es  wird  zu  Wasser;  bewahre  nicht  lange  die 
Tochter,  denn  sie  wird  zur  Sclavin. 

Die  Ossetin  wird  zur  Entbindung  in  die  Heimath  gesendet  und  kehrt  mit 
leeren  Händen  zu  ihrem  Gatten  zurück,  wenn  sie  eine  Tochter  geboren  hat.  Ist 
sie  aber  von  einem  Knaben  entbunden  worden,  dann  bringt  sie  ihrem  Ehemanne 
für  die  günstige  Befruchtung  reiche  Geschenke  mit. 

Eine  Georgierin,  die  nur  von  Töchtern  Mutter  wird,  wagt  es  kaum,  vor 
Menschen  sich  sehen  zu  lassen;  bei  der  Geburt  eines  Knaben  aber  giebt  es  fast 
überall  grossen  Jubel.     (Bodenstedt.) 

Im  Koran  findet  sich  die  Stelle: 

„HOrt  der  Araber,  dass  ihm  eine  Tochter  geboren  worden  ist,  so  f&rbt  die  Traurigkeit 
sein  Angesicht  schwarz;  diese  Nachricht  dQnkt  ihm  ein  so  schmähliches  Uebel,  dass  er  sich 
vor  keinem  Menschen  sehen  lässt,  und  er  ist  zweifelhaft,  ob  er  die  ihm  geborene  Tochter  zu 
seiner  Unehre  behalten,  oder  ob  er  sie  in  die  Erde  scharren  soll." 

Auch  von  den  Montenegrinern  wird  die  Geburt  einer  Tochter  beinahe 
als  ein  Unglück,  mindestens  aber  als  eine  grosse  Enttäuschung  angesehen;  selbst 
in  den  höchsten  Kreisen  findet  sich  diese  merkwürdige  Ansicht.  Ist  eine  Tochter 
geboren,  so  stellt  sich  der  Vater  auf  die  Schwelle  des  Hauses  und  senkt  die 
Augen,  gleichsam  um  seine  Nachbarn  und  Freunde  um  Verzeihung  zu  bitten; 
wird  mdirere  Male  hinter  einander  eine  Tochter  geboren,  statt  eines  Erben  und 
zukünftigen  Soldaten,  so  muss  die  Mutter,  die  ihrem  Manne  nur  Töchter  geschenkt 
httti  nach  dem  Volksglauben  sieben  Priester  susammenrufen,  welche  Oel  weihen 
und  QndMminiiain,  sowie  die  Schwelle  des  Haiises  fortnehmen  und  durch  eine 

A  das  am  Hoehssitrtsg  duieh  böse  Mächte  behexte  Haus 

lier,  wenn  ein  Knabe  geboren 


21^0      J  X.  Dzk  Weib  w&hrend  der  Zeil  der  pefrcidecbil  Unmfe  oder  du  Eindhat  des  Weibe». 

w';rde:  von  fa^t  t-oller  Freude  erdröhnt  da»  gmzize  Haus:  der  Tisch  wird  g«dedi±. 
Tji.d  bald  i^ammelii  sieb  um  ilm  alle  BekacLten  des  Hanses  und  bringeo  den  Eltern 
ihrK  Gl  tick  wünsche  dar.  darunter  anch  einen  sehr  merkvrürdigeD.  da*  zugleich  das 
krie;?eri^cLe  Leben  diese?  Volkes  kennzeichnen  nämlich  den  Wunsch,  dias  der 
Neu;^eborerie  nicht  in  seinem  Bette  sterben  möge. 

In  Bosnien  ^ind  eben&Us  Knaben  aberall  erwünschter,,  als  MadcheiL,  und 
wfrDL  eine  Frau  eine  Tochter  geboren  hat,  so  geht  sie  irgend  einen  Geistlichen« 
ohne  Unterschied  der  Conffösios.  um  seinen  Segen  an.  um  sich  für  künftig  Knaben 
zu  «icbem.  Hilft  da?  nicht,  .so  begiebt  sie  sich  auf  eine  Wiese,  wobei  sie  ein 
ilieosendes  Walser  passiren  muss.  Auf  der  Wiese  angelangt,  benetzt  sie  ihren 
Unterleib  mit  dem  Than.  nimmt  etwas  Gras,  steckt  es  in  den  Bnsen  nnd  sagt 
dabei  folger-den  Spruch : 

Wie^lein,  -ei  bei  Gort  mir  Schwegieriein    Wahlschvester) 

raein  tei  -iÄ*  Deine,  Dein  sei  das  meine,  —  ^ 

mir  -ei  ein  SoLn  und  Dir  ^i  Hea."  ^Milena  MrasovicJ 

Auch  bei  dem  modenesischen  Landvolke  sind  nach  Riccardi  die  Mädchen- 
geburten nicht  äehr  ange»elieu. 

Unter  den  Conibos.  welche  in  Süd- Amerika  am  Ucayale  wohnen,  ist 
dem  Vater  die  Geburt  eines  Mädchens  so  gleichgültig,  ja  sogar  so  widerwärtig, 
dasB  er,  wenn  man  ihm  dieselbe  meldet,  sein  Moskitonetz  anspeit :  dagegen  schlägt 
i:r  vor  Freuden  mit  dem  Bogen  auf  die  Erde,  wenn  ein  Knabe  zur  Welt  ge- 
kommen iüt.  und  sagt  der  Mutter  freundliche  Worte.  Wenn  diese  nach  der  Ge- 
burt eine»  Mädchens  vom  Flusse  zurückkommt,  in  welchem  sie  sich  nnd  das  kleine 
Geschöpf  gewaschen  hat,  senkt  sie  beim  Eintreten  in  die  Hütte  den  Kopf  und  ist 
so  beschämt,  dass  .sie  kein  Wort  spricht.     fMurcoyj 

Wie  bei  fa.st  allen  Völkern  Asiens,  so  ist  insbesondere  bei  den  alten  sowohl 
als  auch  bei  den  jetzigen  Chinesen  die  Geburt  einer  Tochter  ein  wenig  erfreu- 
liches Ereigniss.     Den  Grund  hierfür  erfahren  wir  durch  Hein: 

rln  China  und  Japan  gab  und  giebt  es  wegen  des  Ahnencultus  kaum  ein  grosseres 
CnglQck  für  deu  Familienvater,  als  keinen  Sohn  zu  haben,  da  es  dann  an  jemand  fehlte,  den 
Vorfahren  Opfer  zu  bringen,  damit  dieselben  in  der  Unterwelt  nicht  ewiglich  hungern  und 
•lijr-ilen  iiiü8»ien.^ 

Bei  manchen  Nationen  wird  diesem  Unbehagen  über  die  Gebart  der  Tochter 
aber  nur  ein  >?tumrner  Ausdruck  gegeben,  d.  h.  dieselbe  wird  gleichgültig  und 
ohne  äussere  Zeichen  der  Freude  mit  Stillschweigen  übergangen,  während  bei  der 
Gehurt  eines  Knaben  sehr  grosse,  oft  mehrere  Tage  andauernde  Feste  veranstaltet 
werden.  So  finden  wir  es  bei  den  Arabern  in  Algerien,  so  bei  den  Uiguren 
in  Mittel-Asien,  so  bei  den  Chewsuren  (Radde)  und  so  bei  den  Sarten  in 
Taschkent  nnd  Chokan. 

Auch  von  den  Fiji-Insulanem  sagt  Blyth:  „Abgesehen  von  den  hohen  Ständen 
wird  die  Geburt  eines  Mädchens  mit  grosser  Gleichgültigkeit  aufgenommen,  wäh- 
rend die  Geburt  eines  Knaben  Veranlassung  zu  nicht  endendem  Jubel  giebt ^ 

Sf)  zeigt  sich  auch  bei  den  Niassern  das  geringere  Ansehen  der  Mädchen- 
gebiirten  darin,  dass  sie,  wie  Modigliani  berichtet,  einen  besonderen  Götzen,  den 
Adif  Luiviru  besitzen,  welcher  bei  der  Eheschliessung  angerufen  wird,  dass  er  der 
Frau  eine  stete  Gesundheit  und  männliche  Nachkommenschaft  verleihe. 

Sehr  interessant  ist  es,  zu  sehen,  wie  sich  die  Miuderwerthigkeit  des  weib- 
lif^hen  (leschlechts  sogar  in  gewissen  rituellen  Vorschriften  widerspiegelt,  welchen 
sich  (lii*  Mutter  nach  der  Entbindung  zu  unterziehen  verpflichtet  ist,  und  welche 
verNchieden  sind,  je  nachdem  ein  Mädchen  oder  ein  Knabe  geboren  wurde.  Wenn 
eine  Crih-Indianerin  einen  Knaben  geboren  hat,  so  muss  sie  zwei,  nach  dar 
Geburt  eines  Mädchens  aber  drei  Monate  lang  von  ihrem  Manne  getrennt  M 
(Richardsofi.J 


Die  Anfbahnie  des  Mädchezi»  nach  der  Geburt. 


297 


Aelinliehe  Uuterschiede  in  Bexug  auf  das  Geschlecht  des  Kindes  Anden  wir 
aoch  hereiid  in  den  Reinigungsgeflet?.en  der  alten  Israeliten: 

Beliaiintlich  »teilte  Mose^  (IIL  12)  fest:  ^Wenn  ein  Weib  besamet  wird,  und  gebierst 
ein  Knäblein,  so  boII  sie  deben  Tage  unrein  eeiu,  so  lÄOge  sie  ihre  Krankheit  leidet  und 
am  achten  Tage  soll  man  daa  Fleisch  seiner  Vorbaut  beschneiden.  Und  sie  aoll  daheim  bleiben 
33  Ta^e  im  Blute  ihrer  Reinigung,  Kein  Heiliges  solle  sie  anrühren,  und  zum  Reiligthum 
I  ioU  sie  nicht  kommen,  bis  dass  die  Tage  ihrer  Reinigung  aus  sind.  Gebieret  sie  aber  ein 
hlädchen,  so  soll  sie  zwei  Wochen  lang  unrein  geio,  so  lange  sie  ihre  Krankheit  leidet^  und 
toU  66  Tage  daheim  bleiben^  in  dem  Blute  ihrer  Reinigung.* 

Die  Geburt  eines  Mädchens  machte  eine  Israelitin  also  gerade  doppelt  ho 
[lange  unrein,  als  die  eines  Knaben. 

Die  Griechen  hatten  ebenfalls  eine  ungleiche  Zeitdauer  der  Unreinheit  bei 
[den  Knaben-  und  den  Mädcbengeburten.  llippokrates  sucht  sie  medicinisch  zu 
iaren.  Weil  nämlich  bei  der  Bildongr  tles  Fötus  die 
,_JlderuDg  der  Glieder  im  weiblichen  Kinde  42,  im  männ- 
Bchen  hingegen  30  Tage  in  Anspruch  nimmt,  so  sei  auch 
dementsprechend  nach  der  Geburt  eine«  Mädchens  der  Wocben- 
fluss  ein  längerer. 

Die    Römer    musöten    ftlr   eine    neugeborene    Tochter 
leinen   Quadrans,   Itir    einen  Knaben    einen    Sextans    in    dem 
Tempel  der  Juno  befahlen. 


Tage  nach  der  Ge- 
Bad,  und  lässt  sich 
schütten,   wenn   der 


■*i  n  i-/ 


In  Ober-Aegypten  geht  am  40. 
burt  die  Mutter  mit  dem  Kinde  in  das 
vierzig   Wasserbecher    über    das    Flaupt 

[Sprösslingt  den  sie  geboren,  ein  Knabe,  und  neununddreissig 
Iwenn  es  ein  Mädchen  ist  Dann  erst  sind  Mutter  und  Kind 
rein,     (Klun^mfjerJ 

Auch    in    Deutschland    lässt    sich    hier    und    da   er- 
anen,    dass   man   das   männliche  Geschlecht  hoher   schätzt 
als    das    weibliche.      So    wird    in    der    Schweiz    (Schaff- 
^  hausen)  die  Nachricht  von  der  Geburt  eines  Kindes  durcb 
1  ein    Mädchen    den    Nachbarn    mitgetheilt,    wobei    sie    einen 
groflsen  Blunienntrauss  auf  der  Brust  trägt;  ist  aber  das  Neu- 
.geborene  ein  Knabe,  so  hat  sie  noch  einen  zweiten,  umfang- 
reicheren in  der  Uand.    Auch  war  ehemals  nach  Bhoitschlfs 
tZilr icher    Itechtsgeachichte    verordnet,    dass   der   V^ater   bei 
[der  Gebart  eine^*    Mädchens    ein  Fuder  llolz    bekomme,    bei 
fder  Geburt  eines   Knaben  aber  zwei  Fuder. 

Im  Etschthale   in  Tyrol  wird,   wenn  den  Hirten  in 
den  Sennhütten  ein  Kind  geboren  wird,  das  Familienereigniss 
den  über    den    Bergen    entfernt   wohnenden  Nachbarn  durch 
Flinten-schÜsse  kund  gethan ;  der  erste  Schuss  ruft  die  Hörer 
wach,  die  Anzahl  der  übrigen  Büchsenschiiase  thut  zu  wissen, 
ob  sie  die  Ankunft  eines  Knaben  oder  eines  Mädchens  mit- 
Ifeieni    sollen.      Wem    käme   hierbei  nicht   die   merkwürdige 
[Ceremonie    in  die   Erinnerung,  dem   Volke    durch  Kanonen- 
Iscbtlase  die  glückliche  Entbindung  einer  Prinzessin  oder  Koni- 
aüÄUzeigen?     Bekanntlich  bedeuten  hier   101  Schuss  die 
^ort  eines  Prinzen,   während    eine  neugeborene  Prinzessin   ^^Jl^g^'b'ö^^'jjf  h^i^ 
eil  mit  35  ScbU8sen  begnügen  muss.  (orm.  (Kacji  photognipiu«.) 

Auch  bei  den  Annamiten  treffen  wir   in  bestimmten 
[Gebniuchen    auf   gewisse    UugleichmäsHigkeiten    des   Verhaltens,   je   nachdem    eiJt 
lAtädchv        '        '     *      ^e  zur  Welt  gekommen  ist.     Landes  berichtet  darüber: 

,i  \m  qui  snivent  la  naisiunce  d'an  garyo^i  1^  i^^af  joura  qui  euivent 

ilWt^  ii  i  u(»uant  avec  1e  ploa  grand  i^oin  de  proooncer,  daaa  la  maison^  les  mot« 


Fig.  182.     M 

im  Baekitoobmiter.  im  nv^ 
dl  am  der  erftan  Eoiwirke» 
lang  der  Piimvr-IIamin*  mit 


208     I^-  ^A8  Weib  während  der  Zeit  der  geschlechtl.  Unreife  oder  die  Kindheit  des  Weibes. 

<1p  inort,  de  maladie,  les  noms  des  maladies  qni  peuvent  affecter  Tenfance,  et  plus  pariicali^re- 
nient  celui  du  moguet  (den  khoa),  ainsi  nomnie  parce  qu*il  est  comme  une  sermre  (khoa} 
zni80  ä  ]a  gorge  du  nouveau  ne.  Le  senl  mot  de  khod  et  consid^rä  comme  foneste.  L*oo 
ne  fait  pas  de  friture  dans  la  maison,  cela  donnerait  des  ampooles  ä  la  m^re  et  ä  Tenfant.*' 

Und  an  dem  £nde  des  Wochenbettes  tritt  noch  einmal  bei  der  Annamitin 
ein  Unterschied,  je  nach  dem  Geschlecht  des  Neugeborenen,  zu  Tage.   Landes  sagt: 

,,Un  jour  avant  la  fin  du  premier  mois  pour  les  gar9ons  et  deux  joars  ponr  les  filles, 
on  fait  un  Bocond  sacrifice  aux  d^esses  des  accouchements/* 

Bei  den  Omaha-Indianern  freut  sich  jedoch  der  Vater  über  die  Geburt 
eines  Knaben  ebenso  sehr,  als  über  diejenige  eines  Mädchens,  und  die  letzteren 
pilegen  sogar  eine  bessere  Behandlung  zu  geniessen,  da  sie  ja  doch  nicht  selbst 
fiir  sich  sorgen  können.     (Dorsey.) 

Aehnlich  ist  es  bei  den  Ovaherero  im  südwestlichen  Afrika,  von  wdchoi 
I7^A<?  berichtet: 

„Die  Geburt  eines  Kindes  erregt  grosse  Freude  auf  der  Onganda  (Dorf).  Ist  ein  Sohn 
in  den  meisten  Fällen  auch  willkommener  als  eine  Tochter,  so  freuen  sich  die  Eltern  doch 
auch  über  die  Geburt  der  Letzteren  und  zwar  nicht  etwa  wegen  des  Preises,  den  der  Vater 
später  von  seinem  künftigen  Schwiegersöhne  zu  erwarten  hat,  denn  dem  Vater  einer  Braut 
]»Hßgt  die  Hochzoit  ebensoviel  zu  kosten,  als  der  sogenannte  Kaufpreis  betrifft.  Sobald  das 
Kind  das  Liebt  d(?r  Weit  erblickt  hat,  tritt  eine  Frau  in  die  Thür  des  Hauses  und  giebt 
Kunde  von  dem  frohen  Ereigniss.  Ist  ein  Knabe  geboren,  so  ruft  sie:  Okauta  (ein  Bogen)! 
iHt    es    ein  Mädchen,   so    lautet  ihr  Ruf:    Okaseu  (ein  Zwiebelchen)!     Damit  deutet  sie  den 

künftigen  Iteruf  der  Neugeborenen  an Auf  den  Ruf  Okauta  antwortet  der  Vater  mit 

langgedehntem  ,eh*  als  Ausidruck  freudiger  Zustimmung;  hat  dagegen  die  Frau  O käsen 
gerufen,  so  liisst  er  ein  ebenso  langes  ,.ih"  hören,  womit  er  seine  einfache  Zufriedenheit 
ausdrückt.*' 

Aber  wir  begegnen  auch  solchen  Volksstämmen,  bei  welchen  die  Cteburt 
einer  Tochter  geradezu  als  ein  viel  erfreulicheres  Ereigniss  begrüsst  wird,  als  eine 
Knabengeburt,  lioflt  berichtet  nach  Lote,  dass  bei  den  See-Dajaken  von  Borneo 
die  Mädchen  nicht  mit  geringerer  Liebe  und  Sorgfalt  behandelt  werden,  als  die 
Knaben,  ja  dass  sie  in  ihren  Gebeten  sogar  in  erster  Linie  um  Mädchen  bitten, 
die  ihnen  fast  ebenso  nützlich  .sind  als  Söhne.  Wenn  bei  den  Bewohnern  der 
A  ru-lnseln  im  malayischen  Archipel  eine  Frau  eine  Tochter  zur  Welt  bringt, 
so  entsteht  grosse  Freude,  weil,  wenn  sich  dieselbe  später  verheirathet,  die  Eltern 
einen  Brautpreis  empfangen,  von  dem  auch  alle  diejenigen,  welche  bei  der  Geburt 
anwesend  waren,  einen  gewissen  Theil  bekommen.  Man  feiert  dann  ein  Fest,  wo- 
hc\  ein  Schwein  gesohlachtet  und  eine  ungeheuere  Menge  Arac  getrunken  wird. 
Die  Geburt  eines  Sohnes  wird  mit  Gleichgültigkeit  entgegengenommen.  Die  Gäste 
begeben  sich  dann  traurig  und  enttäuscht  nach  Hause,  und  der  armen  Mutter 
wird  Otters  noch  vorgeworfen,  dass  sie  keiner  Tochter  djis  Leben  geschenkt. 
Ein  Mädchen  wird  gewöhnlich  bei  ihrer  GeV>urt  schon  verlobt  und  die  Grosse 
des  Brautschatzes  gleichzeitig  bestimmt,  (r,  Rosifibfiy,)  Die  Neuseeländer 
Maoris  treuen  sich  ebenfalls  über  die  Geburt  einer  Tochter  mehr,  als  über  die- 
jenige eines  Sohnes.     (Colmsftnj 

Auch  in  Afrika  tinden  wir  Aehnliehes  wieder,  so  namentlich  bei  den 
.Mumbo,  und  bei  den  Kaffern-  und  llottentottenstämmen.  Denn  hier  reprä- 
>entirt  jede  Tochter  einen  Zuwachs  des  Vermögens,  da  sie  derein>t  tur  Rinder 
von  dem  Freier  dem  Vater  abgekauft  werden  muss.  ,le  mehr  Töchter  ein  Mann 
}>esitzt,  desto  mehr  Rinder  stehen  ihm  in  Aussicht,  und  hierin  beruht  ihr  grosster 
Reichthuni. 

Aber  selbst  bis  zum  Extreme  sehen  wir  die  BeTorzugung  der  Mädchen* 
geburten  vor  denjenigen  der  Knaben  bei  den  Hojah  in  /*  "  "V^ebildet,  Ton 
denen  uns  im  Mittelalter  Magrisi  berichtet.     Bei  ihnen  '  dn  Weibern 

die  Lanzen  gefertigt  an  einem  Orte,  wo  kein  Mann  wohn«  mh  durfte, 

aiiaaer  um  sich  L^zen  zu  kaufen.     Wurde  nun  eine  di  fem  Ki» 


69.  Die  Mädcbentödtung.  299 

(eines  dieser  Lanzenkäufer)  entbanden,  so  tödtete  sie  es,  wenn  es  männlichen,  und 
sie  liess  es  leben,  wenn  es  weiblichen  Geschlechtes  war.  {Uartmannr*,)  Wir  werden 
einer  ähnlichen  Erscheinung  später  bei  einer  gewissen  Gruppe  der  Agni  in  West- 
Afrika  begegnen. 


69.  Die  Mädehentodtnng. 

Die  grosse  Missstimmung,  welche  die  Geburt  einer  Tochter  hervorruft,  geht 
bei  einigen  Nationen  so  weit,  dass  sie  bemüht  sind,  diesen  unliebsamen  Zuwachs 
ihrer  Familie  so  schnell  wie  nur  irgend  möglich  wieder  los  zu  werden.  Da  ist 
denn  der  allersicherste  Weg  zur  Erreichung  dieses  Endzweckes,  dass  das  unglück- 
liche kleine  Mädchen  umgebracht  wird. 

So  erzählt  Ilauri^  dass  die  alten  Araber  der  vorislamitischen  Zeit  die 
Gewohnheit  hatten,  die  neugeborenen  Mädchen  lebendig  zu  begraben.  Auch  unter 
den  Hindu  ist  nach  Mantegazza^  die  Tödtung  der  Töchter  gleich  nach  der  Ge- 
burt weit  verbreitet,  und  als  die  Europäer  ihnen  wegen  ihrer  Grausamkeit  Vor- 
würfe machten,  so  antworteten  sie:  Bezahlt  nur  die  Mitgift  für  unsere  Töchter 
und  wir  werden  sie  leben  lassen. 

Böhtlhigh  schildert  das  Loos  der  indischen  Weiber  als  ein  sehr  trauriges, 
und  er  hält  es  für  wohl  begreiflich,  dass  dieselben  ihre  Töchter  dem  Tode  in  den 
heiligen  Strömen  preisgeben,  um  ihnen  ein  gleiches  Geschick  zu  ersparen. 

Die  Tödtung  der  neugeborenen  Mädchen  herrscht  auch  noch  in  anderen  Erd- 
theilen.  Scldiephake  betrachtet  sie  bei  den  Cumberland-Eskimos  für  einen 
Hauptfactor  dafür,  dass  diese  Stämme  so  wenig  zahlreich  wären. 

Nach  Eitel  ist  bei  den  Hok-lo,  den  Hak-ka  und  den  Pun-ti,  drei  in 
der  chinesischen  Provinz  Canton  wohnenden  Stämmen,  die  Tödtung  der  neu- 
geborenen Mädchen  gebräuchlich.     Er  sagt  darüber: 

,0n  peut  dire  que  le  menrtre  des  enfants  da  eexe  feminin  est  la  regle  generale  chez 
les  Hok-lo,  et  surtout  chez  les  Hak-ka  des  classes  agricoles.  La  clasae  instniite  n'est  pas 
aasez  nombreuse,  meme  parmi  les  Hak-ka,  pour  exercer  une  salatairo  inflaence  sur  une  cou- 
tnine  qui  a  enfonce  depnis  des  siecles  les  plus  profondes  racinos  dans  le  coeur  de  toas  les 
individus.** 

,La  moyenne  des  filles  tuees  imm^diatemcnt  apres  leur  naissance  est  evaluee  par  les 
Hak-ka  enz-memes  a  peii  prt»8  aax  denx  tiers.  Dans  un  petit  village  oii  Tauteur  a  vecu 
pendant  plusieurs  annöeK,  une  enquete  habilement  conduite,  avec  Tassistance  de  quelques 
chr^tiennes,  ötablit  que,  sans  aucune  exception,  toutes  les  femmes  de  ce  village  qui  avaient 
donn^  le  joor  a  plus  de  deux  enfants  en  avaient  au  moins  tue  un.*^ 

,Le  menrtre  des  filles  est  d'usage  constant  sur  les  frontieres  du  Tonkin,  parmi  les 
populations  Hak-ka  et  Pun-ti,  et  meme  dans  certains  centres  chinois  de  la  province  de 
Quang-yen  comme  A-koi.  Les  parents  tuent  leurs  enfants  du  sexe  feminin  pour  la  simple 
raison  que  les  filles  sont  couteuses  et  ne  travaillent  pas  comme  les  garyons.  La  mort  est 
donn^e  a  ces  petits  etres,  apres  leur  naissance,  par  immersion  dans  le  vase  ou  Ton  jette  toutes 
les  ordures  et  les  dejections  de  la  maison,  et  que  possede  la  plus  miserable  case  chinois e." 

yQuand  une  femme  accouche  successivement  de  plusieurs  filles,  la  famille  croit  etre  sous 
Fobsession  d'un  diable,  la  fiUe  qui  vient  au  monde  etant  consider^e  comme  une  incamation 
de  ce  diable,  les  parents  se  livrent  ä  une  s^rie  d'exorcismes,  et  le  pere  tue  l'enfant  a  conps 
de  pieds  ou  de  pierre,  ou  bien  encore  il  lui  prise  la  tC^te  contre  la  muraille,  avec  force  im- 
pr^cations  et  blasphemes,  s'efforvant  ainsi  d'6pouvanter  le  mauvais  esprit  pour  Tempecher  de 
revenir  s'incamer  ä  nouveau.** 

Auch  bei  den  Athapasken- Indianern  im  Osten  der  Felsengebirge  war 
es  bis  zur  Ankunft  der  Missionare  sehr  gebräuchlich,  die  Tochter  gleich  nach 
ihrer  Geburt  auszusetzen  oder  zu  erwürgen,   (v.  Hellwald.) 

Die  weiteste  Verbreitung  scheint  die  Mädehentodtnng  noch  in  Oceanien 
luiben  und  iwar   sowohl  auf  dem  Festlande  von  Australien,  als  auch  auf 


';^()()     f  X .  DaB  Weib  w&hrend  der  Zeit  der  geachlechtl.  Unreife  oder  die  Kindheit  des  Weibes. 

einzelnen  Inselgruppen.  Von  den  Australierinnen  berichtet  MüUer^,  dasa  sie 
nidit  .selten  ihre  neugeborenen  Kinder,  namentlich  aber  die  Töchter  ambriogeD, 
weil  es  ihnen  in  ihrer  übergrossen  Dürftigkeit  an  Mitteln  fehlt,  sie  zu  emahien. 
Die  Papua-Weiber  von  Neu-6uinea  sollen  den  Neugeborenen,  besonders  den 
Mädchen,  sogleich  nach  der  Geburt  den  Kopf  nach  vom  überbiegen,  so  dass  dem 
kleinen  Erdenbürger  hierdurch  das  Genick  gebrochen  wird.  Die  Noeforezen 
erHticken  bisweilen  die  neugeborene  Tochter  dadurch,  dass  sie  ihr  den  Mund  und 
die  NaHO  mit  Asche  vollstopfen.  Von  den  Salomon-Insulanerinnen  schreibt 
I*JUo7i  Folgendes: 

^Aiif  dor  Innel  irgi  und  bei  der  Strandbevölkerung  von  San  Christobal  ist  es  eine 
gcwöhnlicbo  Sache,  die  Kinder  bei  ihrer  Geburt  zu  tödten,  indem  man  sie  in  ein  £rdloch 
forn  von  ihren  Wohnungen  eingräbt ;  die  Mutter  lägst  das  Kind  in  das  Loch  fallen  und  deckt 

dasselbe  sofort  zu.  Sie  sagen,  dass  das  Aufziehen  eines 
Kindes  zu  viel  Umstände  verursache.  Sie  ziehen  es  vor,  ein 
herangewachsenes  Kind  fQr  einheimisches  Geld  von  der  Bosch- 
bevölkorung  zu  kaufen,  welche  ihre  Kinder  als  den  einzigen 
Gegenstand  hat,  den  sie  den  Strandleuten  verkaufen  kann. 
Auf  den  anderen  Inseln  der  Salomon- Gruppe  kommt 
Kindermord  nicht  vor,  einzig  nur  in  dem  besonderen  Falles 
wenn  das  Kind  ein  Bastard  ist.*^ 

Von  Neu-Caledonien  berichtet  Moncelon: 
«LMnfanticide  est  commun  de  la  part  de  la  märe  sur 
ua  fiUe,  plus  rare  sur  le  gar^on,  parce  que  le  päre  veille 
sur  lui.  Cela  tient  a  ce  que  la  femme  se  sent  trop  retenue 
^  la  case  par  les  soins  maternels  et  ne  peut  assez  facile- 
ment,  pondant  Tallaitement,  courir  los  pilous  et  les  fi&tes.* 
Aber  ausnahmsweise  finden  sich  auch  die  um- 
gekehrten Anschauungen.  So  hat  auf  den  Banks- 
und Fiji-Inseln,  wo  nach  Eckardt  oft  schon  eine 
Beleidigung  von  Seiten  des  Mannes,  oder  der  eitle 
Wunsch,  lange  Zeit  jung  zu  erscheinen,  das  Weib 
veranlasst,  ihr  Kind  umzubringen,  ein  Mädchen  stets 
eine  grössere  Aussicht,  am  Leben  erhalten  zu  bleiben, 
weil  es  als  die  Stammhalterin  der  Familie  ange- 
sehen wird. 

Wir  finden  also  eine  Ungleichwerthigkeit  der 
beiden  Geschlechter  und  eine  Verschiedenheit  in  der 
Stellung,  welche  sie  in  ihrer  Familie  einnehmen, 
schon  von  dem  Mutterleibe  an  bestehend.  Das  ist 
auch  bei  solchen  Völkern  nachweisbar,  wo  sonst  im 
übrigen  das  weibliche  Geschlecht  niclit  als  das  minder- 
Aber  wir  haben  ja  auch  gesehen,  dass  es  mehrere  Volks- 
stänime  giebt,  die  von  Kindesbeinen  an  das  Mädchen  höher  schätzen  als  den 
Knaben.  Allerdings  tritt  hier  meistens  das  Woib,  nachdem  es  den  Lebensgefährten 
gefunden  hat,  wieder  in  die  untergeordnete  Stellung  zurück. 


KiR.  IX^.  Fji^hl-Lupuen -Mild  «hon 
vom  Altcnfjovil  tNorwegen^  im 
liacktlsohultiT  0''<TitHroalt).  mit  fcrtiR 

ontwickoltor  Trimiir-Mumma  und 

»oheibfuformigi'U  lirust  warzenhiifeii  mit 

prominoiitiMi  DruMw&rxi'ii. 

^Nach   rhotot^raphio  ) 


werthige  l)otracht«»t  wird. 


70.  Das  Leben  des  weiblichen  Kindes. 

Wir    finden,    abgesehen  von    denjenigen  Gebräuchen, 
vorhergehenden  Abschnitten    ihre  Besprechung   gefunden   k 
in  dor  allerersten  Kindheit  in  dem  Leben  des  Knaben  w 
jenigen  der  Mädchen.     Allerding«  behauptet  der  japani 
gauNk:    «In  dem  Moment,   wo  r       ^"  4  geboren  ist  und 
lena  gelangt,   legt  sich  da  Kind  auf  den 


in  den  beiden 

lar  wenig,  was 

%  ab  in  dem- 


mil 


70.  Daa  Leben  des  weibHclieQ  Kinde». 


301 


auf  den  Rücken,*'  Aber  die  Kinder  der  übrigen  Nationen  pflegen  sich  dieser  Sitte 
nicht  zn  flogen.  Alle  die  vielffti'ben  und  von  Heinrich  Ploss  in  seinem  Werke 
^Das  Kind  in  Brauch  und  Sitte  der  Volker*  ausführlich  besprochenen  Ge- 
brauche der  Lagerung^  Salbung,  Waschung,  Pflege  und  ErDährnng  u.  a.  w.  pflegen 
bei  beiden  Geschlechtern  die  gleichen  zn  sein.  Nur  aus  dem  Östlichen  Australien 
berichten  THrnhull,  Ilnnfer  und  Andere,  dass  man  an  der  linken  Hand  der  Mädchen 
bald  nach  der  Geburt  eine  besondere  Operation  vornimmt.  Durch  Abbindung 
oder  wirkliche  Amputatirm  trennt  man  vom  kleinen  Finger 
ein  oder  manchmal  auch  iwel  Glieder  ab  und  viürft  sie 
in  das  Meer.  Das  Mädchen  soll  durch  diese  Procedur  im 
Fischfang  glücklich  werden.  Auch  daa  Bandagiren  und 
Verunstalten  der  Fusschen  bei  den  kleinen  Chinesinnen 
muss  ich  altj  eine  nur  das  weibliche  Kind  betreffende 
Sitte  hier  noch  einmal  iu  Erinnerung  bringen.  Im  übrigen 
verläuft  wohl  bei  den  beiden  Geschlechfeern  in  den  ersten 
Jahren  das  Leben  gleichartig.  Aber  bei  fernerem  Heran- 
■wachsen  macht  sich  dann  bald  in  dem  Kinderspiele  die 
Trennung  der  Geschlechter  iu  charakteristischer  Weise  be- 
merkbar. Denn  für  gew^öhnlich  sind  die  Spiele  der  Kinder 
ja  nur  ein  Widerschein  von  der  Thätigkeit  der  Eltern,  und 
so  erscheint  es  uns  ganz  natürlich,  dass  die  Knaben  mehr 
das  Ge  bah  reu  der  Männer,  die  Mädchen  dagegen  mehr 
die  Verrichtungen  der  Weiber  nachzuahmen  bestrebt  sind. 
Gewisse  mehr  oder  weniger  feierliche  Handlungen  unter- 
brechen das  einförmige  Leben  des  kleinen  Mädchens,  z.  B» 
das  Stechen  der  Ohr-,  Nasen-  und  Lip]>enlöcher,  die  Tätto- 
wirungen  und  andere  in  das  Gebiet  der  Körperplastik  ge- 
hörige Maniimlationen. 

Wir  dürfen  aber  nicht  vergessen,  dass  viele  dieser 
pTOceduren  sogenannter  Verschönerung  auch  bei  den 
Knaben  oft  in  ganz  ähnlicher,  manchmal  sogar  in  gleicher 
Weise  vorgenommen  werden.  Allerdings  giebt  es  aber 
auch  Fälle ,  in  welchen  flir  die  Mädchen  entweder  ein 
anderer  Zeitymnkt  der  Verschönerungsoperation  als  für 
die  Knaben,  oder  eine  etwas  andere  Art  der  Auaflihrung 
oder  etwas  andere  begleitende  Gebräuche  gewählt  zu 
werden  pflegen.  So  erzählt  z,  B.  Miille/^  von  den  Maori 
auf  Neu-Seelaud: 

»Mit  dem  achten  Jahre  wird  der  Knabo  von  den  beiden 
Eltern  an  einen  Strom  geführt^  dort  von  dem  Priester,  welcher  im 
Wasser  steht  nnd  einen  Karamn-ABt  in  der  Uand  hllltT  auf  den 
Arm  genommen  ond  mit  Walser  begossen.  Bei  dieser  Oeremonie 
aind  alle  Peraonen  nur  mit  einem  Maro  (einem  kurzen  Gürtel  ao«  Blä.ttem)  um  die  Lenden 
bekleidet  Während  der  Priester  das  Kind  mit  dem  Kiiramu-Ast  bespritzt,  aingt  er  ein  beson- 
deres Lied,  Beim  Mädchen  wird  dieselbe  Cereoionie  vorgenooimen,  nur  der  Gesang,  welcher 
dabei  vom  Prieeter  angestimmt  wird,  ist  verBchieden.     Er  lautet: 

Getaucht  in  das  Wasser  l'n^s^ 

Werde  kraftvoll 

Durch  die  Kraft  TtCs, 

Zu  erwerben  Nahrung  für  dich  üelhat^ 

Zu  machen  Kleider, 

Za  machen  Kaitaka  Decken, 

Zu  begrüesen  die  Gäate. 

Zusammenzutragen  Feuerholz, 

Zn  sammeln  Muscheln  und  Austern; 


Fig.   184.      Neger-Mädchen 

von  der  LoADj?  o-KÜ^te 
rW«Bt- Afrika)  im  Backflaeli- 
alter,  im  Stntliutn  der  setir 
atftTk  ttiiagebiMet«n  H&Uikug«l- 
form  der  Brustwarzen  höfe, 
welche  bereits  vor  EDtwicka- 
\uug  iler  Frimär-Mamma  eine 
erhebliche  Neigung  zum  üeber- 
hängen  zeigen. 
<Nach  Photographie.) 


302     ^'  ^^  Woib  während  der  Zeit  der  gescblechtl.  Unreife  oder  die  Kindheit  des  Weibes. 

Möge  die  Kraft  IWs 

Gegeben  werden  dieser  Tochter! 

Dann  kommt  die  Kraft  Kiharoa's, 

Za  fassen  mich  hin  zu  den  Sandhügeln  von  Rangaanu, 

Zu  dorn  Platze,  wo  die  Geister  dahingehen  in  Nacht, 

Und  was  weiss  ich  dann  ferner?" 

Eine  eigenthüiiiliche  Sitte,  zu  welcher  die  Feier  des  Ohrlochstechena  bei 
der  ältesten  Tochter  die  Veranlassung  giebt,  berichtete  Fawcett  der  anthropolo- 
gischen Gesellschaft  in  Bombay: 

„Die  Weiber  der  zu  dem  Dravidischen  Stamm  von  Süd-Indien  gehörigen  Beraln 
Kodo'  Vokaligaru-Sokte  in  der  Gegend  von  Bangalore,  Provinz  Mysore,  haben  eine 
bosondore  Feier,  die  Bandi  Devurü  Ceremonie,  welche  darin  besteht,  dasB  den  MQtiem 
derjenigen  Kinder,  welchen  die  Ohren  und  Nasen  durchbohrt  werden  sollen,  die  Endphalangen 
des  Ringfingers  und  den  kleinen  Fingers  der  rechten  Hand  amputirt  werden."     (Fig.  185.) 


Fi^;.  IsTi.    Fniu  sius  HauKalor«'.  Iinlirn.  welch«'!  büi  ilem  Fwte  «los  Ohrlochstechens  ihrer  ältesten 
T«)chter  ilio  NttR«'lf:li«'il«M-  ilc«  lJiiij;tiiiK»rrH  uihl  «Ics  kloinen  Fingers  amputirt  worden  sind. 

(Njich  I\iuw,tt.) 

Ks  ist  oin  uiiiHtiiiullidu''»  Kost,  das  mit  Faston  und  dor  Errichtung  kleiner  Tempel  be- 
ginnt. Kin  (iiildschnnod  ninnnt  unt<>r  bosondoron  ('«^romonion  die  Operation  mit  einem 
Moissi'l  v«)r;   «b»r    abjr,.tronnto  Finj^or  winl    in    eine   Schlangenhöhlo    gesteckt,    als  Opfer   för 

Als  rrspnm^  di(\s«T  Ani|mtjiti()iissitte  wird  oiiie  mystische  Geschichte  erzählt, 
dass  luohren;  .Iim^^rniui'n  ihres  X'olkos,  mii  der  Ehe  mit  einem  Radjah  aus  einer 
niederen  Kaste  zu  entj^eluMi,  vor  <lieseni  tiolu'n  und  dass  die  eine,  den  einen  Ohr- 
ring opfernd,  das  Auseinaiiderweiehen  diM*  Wasser  eines  Flusses  bewirkte,  während 
bei  Opferunj^  des  and«Ten  (Hirrin^^es  die  Wasser  den  verfolf^enden  Radjah  mit 
seinen  Leuten  versehlan^c<*n.  Darum  müssen  alle  Frauen  dieser  Kaste,  wenn  sie 
der  ältesten  Tochter  die  OlirÜMher  stechen  lassen,  /.um  Zeichen  ihrer  Keuschheit 
und  der  Hochachtung  der  Kastenehn»  «lie  hetreiVenden  Fin^erglieder  amputiren 
lassen.  Diese  Erzählun^^  i.sl  wohl  «»in  sicherer  Beweis,  dass  die  Leute  jetzt  selbst 
nicht  mehr  den  l;rsprun>r  «lieser  Sitte  kennen. 

Mit  dem  l'ernt^ren  lieranwaehsen  der  kleinen  Mädchen  tritt  dann  aber  all* 
mählich  der  Ernst  des  Lehens  an  sie  heran ;  immer  mehr  und  mehr  werden  sie 
von  der  Mutter  oder  von  den  anderen  Weihern  deH  Stamn*^  ^  ihren  epStoran 
Beruf  herangebildet    in   lliuis-    und   Feldarbeit    und  in   dl  ^MD  Kfiw 


70.  Das  Leben  des  weiblichen  Kindes.  303 

Auf  Neu-Britannien  müssen  sie  sich  dann  noch  einer  sich  über  mehrere  Jahre 
ausdehnenden  Absperrung  unterwerfen,  worüber  uns  Danks  einige  Bericht«  zu- 
sammengestellt hat.  Es  geht  dieser  Absperrung  eine  Festlichkeit  vorher,  welche 
der  Rev.  lioaney  in  einem  Briefe  an  den  Generalsecretär  der  äusseren  Mission  mit 
folgenden  Worten  beschrieben  hat: 

«Ich  war  gerade  zu  rechter  Zeit  da,  um  Zeuge  der  KSüg-Feier  (ceremony  of  caging) 
eines  der  Mädchen  zu  sein.  Das  arme  kleine  Ding,  beladen  mit  Halsbändern  und  Gürteln 
von  rothen,  weissen  und  blauen  Perlen,  sah  sehr  erschrocken  (frightened)  aus.  Am  Morgen 
wurde  sie  auf  Neu-Irlandische  Art  tättowirt,  d.  h.  allerlei  Muster  wurden  in  ihren  Körper 
geschnitten.  Ein  Theil  der  Ceremonie  bestand  in  einem  Gefechte  zwischen  den  Weibern  der 
Maramara-  und  der  P i ka  1  ab a- Gruppe  [die  beiden  Gruppen,  in  die  die  Bevölkerung  sich 
theilt]  scheinbar  um  den  Besitz  der  Wächtorschaft  für  die  Gefangene.  Nachdem  sie  tüchtig 
mit  allem  geworfen  hatten,  was  ihnen  in  die  Hände  kam,  wurde  von  den  siegreichen  Ama- 
zonen ein  (rush)  Sturmlauf  (?)  vor  das  Haus  gemacht,  wo  das  Mädchen  eingeHperrt  war.  Ein 
allgemeiner  Streit  entspann  sich  bei  dem  engen  Eingänge  dos  Hauses.  Das  Gedränge  war 
fürchterlich,  aber  es  wurden  keine  Knochen  zerbrochen.  Die  Damen  zeigten  sich  von  keiner 
vortheilhaften  Seite  in  diesem  Meleo."* 

Der  Rev.  Brown  hatte  Gelegenheit,  solch  kleine  Neu-Britannierinnen 
in  ihrem  Geliingniss  zu  besuchen.  Allerdings  musste  er  zuvor  einen  grossen 
Widerstand  bei  dem  Häuptling,  nächstdem  bei  der  als  Wächterin  der  Kleinen 
bestellten  alten  Frau  und  endlich  auch  bei  den  Mädchen  selber  überwinden,  weil 
diese  im  Walde  versteckten  Hütten  für  JMäimer,  auch  selbst  für  die  Angehörigen 
der  Eingesperrten,  absolut  tabu  sein  sollen.     Er  schreibt: 

«Dieser  Bau  war  ungefähr  25  Fuss  lang,  und  stand  in  einer  Rohr-  un<l  Bambus-Um- 
zäunung, über  deren  Eingang  ein  Bündel  von  trockenem  Grase  aufgehängt  war,  um  anzu- 
zeigen, dass  es  vollständig  tabu  sei.  Innen  bestand  das  Haus  aus  drei  kegelförmigen  Bauten 
von  ungefUbr  7  oder  8  Fuss  Höhe  und  10  bis  1*2  Fuss  im  Umfangt»  an  der  Grundfiäclie,  und 
ungefähr  4  Fuss  von  dem  Erdboden  entfernt,  von  wo  an  en  sich  bis  zum  obersten  Ende  zu 
einer  Si)itze  verschmälerte.  Diese  Kätige  waren  aus  der  breiten  Kinde  der  Pandanusbäume 
hergestellt,  und  waren  ao  fest  zusammengenäht,  dass  kein  Licht  und  wonig  oder  gar  keine 
Luft  eindringen  konnte.  An  dor  einen  Seite  eines  jeden  befand  sich  eine  Oettnung,  welche 
aus  einer  doppolteii  Thür  von  geflochtener  Cocosbaum-  und  Pandanusbaumrinde  hergestellt  war. 
Ungefähr  drei  Fuss  vom  Boden  ist  ein  Fussboden  von  Bambus,  der  die  Diolo  bildet.  In  jedem 
dieser  Käfige  war,  wie  mir  erzählt  wurde,  ein  jungos  Frauenzimmer  eingesperrt,  von  denen 
jede  mindestens  4  bis  5  Jahre  darin  bleiben  musste,  ohne  dass  ihr  jemals  erlaubt  wurde,  aus 
dem  Hause  zu  gehen.* 

Brown  hatte  es  durchgesetzt,  dass  die  alte  Wärterin  die  Käfige  ötFnete  und 
dass  die  Mädchen  herausguckten  und  ihre  Hände  herausstreckten,  um  die  von 
ihm  als  Geschenke  mitgebrachten  Perlen  in  Empfang  zu  nehmen.  Er  blieb  aber 
in  einer  kleinen  Entfernung  stehen,  so  dass  die  Gefangenen,  wenn  sie  die  Perlen 
abnehmen  wollten,  nothwendiger  Weise  aus  dem  Gefangniss  herauskriechen  mussten. 

„Die  Begierde  nach  meiner  Gabe  verursachte  eine  neue  Schwierigkeit,  da  es  diesen 
Mädchen  nicht  gestattet  ist,  ihre  Füsse  auf  die  Erde  zu  setzen  während  der  ganzen  Zeit,  wo 
sie  an  diesem  Platze  eingeschlossen  eind.  Jedoch  sie  wünschten  die  Perlen  zu  bekommen 
und  80  ging  die  alte  Frau  heraus  und  sammelte  einen  Theil  Holz-  und  Bambusstücke,  die  sie 
auf  den  Erdboden  legte,  und  dann  ging  sie  zu  einem  der  Mädchen,  half  ihr  heraus  und  hielt 
ihre  Hand,  als  sie  von  einem  Stück  Holz  auf  das  andere  trat,  bis  sie  mir  nahe  genug  ge- 
kommen war,  um  die  ihr  hingehaltenen  Perlen  zu  nehmen.  Ich  ging  dann  heran,  um  das 
Innere  des  Käfigs,  aus  dem  sie  herausgekommen  war,  zu  besichtigen,  aber  ich  konnte  kaum 
meinen  Kopf  hineinstecken,  so  heiss  und  dick  war  die  Atmosphäre.  Er  war  rein  und  enthielt 
gpur  nichts,  als  nur  ein  Paar  kurze  Stücke  Bambus  als  Wasserbehälter.  Es  war  nur  Raum 
fQr  das  Mädchen  zu  sitzen,  oder  in  zusammengekrümmter  Stellung  auf  dem  Fussboden  zu 
liegen,  und  wenn  die  Thür  geschlossen  war,  musste  es  beinahe  oder  vollständig  dunkel  darin 
8«in.  Es  ist  ihr  niemals  gestattet,  herauszukommen,  bis  auf  einmal  am  Tage,  wo  sie  in  einer 
Sehflnel  oder  hölzernen  Wanne,  welche  dicht  neben  jedem  Käfig  steht,  badet.  Man  sagt, 
dflM  sie  stark  schwitzen  (perspire  profusolv).  Sie  werden  in  diesen  festen  Käfig  gesetzt,  wenn 
ri»  §m  joDg  nndy  und  sie  mttssen  darin  bleiben,  bis  sie  junge  Frauen  sind  (young  women\ 


-  faijr<fi    Li*-T*fn?^-.'n-',*i::   v»l'    .Win    b"x*er   iMSKU 

<*-    ä*:l   ^r!t.:irvL  £'.  nrv-    luasb'-er  ci»-  di«be  Truözx  n  eznen. 

.ifi.r   r::.:.     c>   JL.'^-vpz.    flL'  Cj'  XLii  6*7  uideren  czumniBC  aap  T^riniBäaK 
r  ;•»•:       Vi^r**:*-  J>fu'v-<r  *f.-z,fa.L:^«r  uxifc.  öijst  äersBltie  CveuruKt  je  mEMÜliccig  Fua 

!    V »- >.ij*' : .    .  It  Mb 'j •.•ii*'L  "t « le- t*ei..'" 

JjfH'h  sei '.»«fr  hbi  trotz  »äxiefr  lAnjSknfgOL  Aidesx- 
Lbi'ue*  ^'.  Ne'J-Br:Thi.:>:«zi  riemiJs  eiDen  saldME  Kiär 
z".   Of*-i»:Li   !>*-i;orLni»:T.. 

'i-y^'fhi  riz^i^L  urir  bL.cL  in  ftnäerai  TheOesi  der  £x^ 
Jj''**il.o]ir  bcLLlden  sie  sehr  ansfuhrlkh  ans  Liberia,  »-o 
er  -;';L  ir:  der  Stadt  Jeh  am  Dn  QTieab-BiTer  acf- 
i.ie:T.     ^eiii   Bericht   erleichtert  wesentlich   das  YerssiBi- 

;.!-^  f'lr  die  aLLlicheD  Einrichtungen  andePH*  Völker:  er 
iiiWjL  düLer  hier  »eine  Stelle  finden: 

.LiLe  n.i  der  KLe  is  engem  Znsunmenhaiig  stebcBd«  li- 
•-TJtvt.vL  >'  der  hogen&nLte  Zniibenr&ld  «engL  Greegree-bstkL 
ofiT  b.e  <r.:.  hu^  da-  Ebele'üeD  Torbereitendee  Penaonat  bctnidscc 
werd'^L  .'j.u'^t.  PI?  giebt  für  Ksiklfen  und  lUdchen  j«  einen  bem- 
df'TeL  Züiioerwa.d.  Beindhe  iede  gr&Esere  Stadt  (Darf«  bentat  j« 
(riLeii  ^o.cLeL.  »owokl  für  Enabes  als  für  M&dchen.  doch  näd 
i.><i;iie  In-titui-e  veit  von  einander  abgelegen  und  stehen  in  keineriei 
]x'z:<:-:.'jl;^  z'^  eiiiander.  Ick  Labe  die  Greegree-bnch-Imtitii- 
tioü  \'*z'.  den  Vej.  Eorso.  Godah.  PesEv,  Qneah  und  dea 
ve^tiiiL'^D  ha-frta  an^etroflen.  habe  aber  keine  Sicherheit,  ob  die- 

^ell'f^  aucL  unter  den  Örtlichen  Stämmen  berteht Wie  ge- 

»a^.  >te>te}it  ein  ä}iulicher  gree-gree-busb  auch  f&r  die  Xadcfaen. 
I»ereeyr..e  wird  bei  den  Vev  ^^andy  genannt  Aach  dieser  Zauber- 
\\<i\'\  i-t  eixi^  Art  von  Pensionat.  da£  auf  einem  dasn  angewieaenen 
riatz  i::.  Waldo.  nahe  bei  der  ^tadt  errichtet  ie^.  Die  Ersiehe- 
riniien.  b*^i  den  Lib*?rianern  preegree-vomen,  deTÜ- 
ru  wouieii  genannt,  sind  alte  Frauen,  deren  Oberhaupt  gewShalich 
die  uUe>te  Frau  de»  Häujitlingit  ii>t.  Diese  «Tenfeltfraoea* 
kennt  man  ^tot^  an  kleinen,  tättowirten  Kreiuchan  hinten  auf 
jeder  Wiule." 

„In  den  Sandy  treten  die  Madchen  im  zehnten  Jahre,  manchmal  schon  früher,  ein 
und  lileiben  dort  hU  zu  ihrer  Heiratli<<iahi^keit.  o!'t  auch  noch  länger.  Wie  an  die  Soh-bah 
für  die  Knaben,  eo  bezahlen  die  Kitern  für  ihro  Mädchen  eine  gewisse  Leistung  in  Natnraliea 
ari  dit;  'J'fuicli- trauen,  um  es  ihren  Kindern  an  nichts  fehlen  zu  lassen.  Aach  die  Madeben 
\ftihfu  iuj  Zaubt^rwalde  nackt  und  haben  beim  Eintritt,  wie  die  Knaben,  die  Verbaodatitto- 
wirun^r  anzuneliuien  und  sich  einer  Beschnoidung  zu  unterziehen,  die  in  der  Entfernung  d«r 
i^pitz*;  d^r  riitoriFi  auf  operativem  Wege  besteht.  Diese  letztere  wird  darauf  in  ein  Lftppchen 
g<'buri<Ji'n.  getrocknet  und  dem  Mädchen  als  Zeichen  der  .lungfräulichkeit  um  den  Hall 
j/«?häij;^t  .•■ 

..Die  Zeichen,  welche  KnabiMi  und  Mädchen  im  Zauberwalde  erhalten,  nnd  meiai  auf 
dem  KU'.-keii  oder  den  Lenden    angebracht   und  werden   durch  Reihen  Ton 
habenen  Hautnarben  gebildet,  die  einigermuassen  an  PerlKchnüre  erinnern  . 
die  Zei<  hnung  bei  den  Vey- Frauen  auf  einen  vertikalen  Streifen  auf  den  Imdn  b 


J-if    l-y..     Kl.  :».--  Mb  lc■ 
^  '  L  bjii.  ■■  1!  t    ü.    ;»'l  zu-ritri: 
Ml» '  tuLt;  u.j»  j  l.elli♦l-iiru^^•-lJ, 


.N"*CJ.  Vh'A- 


7L  Dos  kleine  Mädchen  in  nnihfapologiBcber 


305 


«Bas  Betreten  de«  Zanberwaldes  der  Frauen  ist  Männern  und  uneingeweihten  weihlichen 
i*<»rBonen  streng  untersagt.  Wie  der  Belly  (Knabenzauberwald),  ao  ist  auch  der  Sand/  unter 
he  Obhut  der  N 'Janas  oder  Geister  der  Verstorbenen  gesteUtt  und  wer  m  ■wagt,  denselben 
betreten,  wird,  wie  man  glaubt,  durch  die  wachsaujen  N  janas  sofort  anfgegritien  und  ge* 
ödtet,  Aeitere  Fraiien  dürfen,  wenn  sie  die  Abzeichen  doB  greegree-bnsh  tragen ^  unge- 
bindert  ihre  Angehörigen  besuchen,  doch  sind  sie  vorfiflichtet,  beim  Eintritt  ihre  Kleider  ab- 
bulegen  und  zurückzulassen.  Auch  dürfen  die  MUdchen  gelegentlich  ihre  Verwandten  zu 
Hause  besuchen  ^  doch  beachmieren  sie  sich  vor  dem  Austritt  mit  weissem  Thon,  so  dasi  sie 

iwie  die  Clowns  in  einem  Circus  aussehen;  auch  dürfen  sie,  ebensowenig  wie  die  Knaben, 
baumwollene  Zeuge  tragen«    sondern  kleiden  sich  beim  Ausgehen  mit  einem  Schürzchen  von 

^Baststoffen  oder  Blattfasem  der  Weinpaltne.  In  diesem  Zauberwalde  lernen  die  M&dchen 
unter  der  Aufsicht  ihrer  Erzieherinnen  Gesang,  Spiel  und  Tanz,  sowie  zahlreiche  Gedichte, 
^00  denen  einige,  wie  schon  Dapptr  sich  ausdrückt,  «manches  enthalten,  das  nicht  mit  Ehren 
gesungen  werden  darf,  obschou  sie  in  ihren  tilglichen  Gesprächen  züchtig,  keusch  und  schirm- 
pftft  sind**.  Zudem  lernen  die  Mädchen  kochen,  allerlei  häusliche  Arbeiten  verrichten,  Netze 
iitricken  und  dem  Fischfang  obliegen.  Die  Zauberwaldmädchen  werden  bei  den  Liberianern 
preegree-bush-girls,  bei  den  Vey  sandj-ding  (Zauberwal dkind),  meist  aber  Bony 
itJungfrau)  im  Sinne  von  Virgo  genannt.' 

Mit  dem  Abschlüsse  dieser  Erziehungszeit  sind  dann  nicht  selten  Feste  ter- 
mnden^  so  auch  in  Liberia,  welche  uns  aber  erst  an  späterer  Stelle  beschäftigen 
loUen,     Auch  will  ich  hier  gleich  daran  erinnern,  dass  viele  Yolksstämme  solche 
Absonderung  des  jungen  Mädchens  erst  dann  vornehmen,  wenn  bei  ihr  der  Eintritt 
Ider  Reife  erfolgt  ist.    Wenn  wir  von  diesem  Zeitpunkte  sprechen, 
jkammen  wir  also  noch  einmal  auf  ganz  ähnliche  Gebräuche  zu- 
rück.    Ebenso  werden    uns  gewisse  vorzeitige  Erscheinungen  des 
geschlechtlichen  Lebens,  die  Kinderverlobungen  und    die  Kinder- 
fiochzeiten,    die  Frühreife   und  der  geschlechtlich*?   Umgang  mit 
f  Kindern  in  den  späteren  Kapiteln  dieser  Abhandlung  noch  weiter 
n treten.     Und  so  künnen  wir  an  dieser  Stelle  das  kleine 
.  ..Lti    verlassen,    um    diissetbe    in    dem    nächsten    Kapitel  als 
lungfrau    wiederzufinden.       Zuvor    aber   müssen    wir    ans    noch 
lit   den   anthropologischen    Verhältnissen    der  kleinen    Mädchen 
Eetwaa  eingehender  beschäftigen. 


71.  Das  kleine  Mädchen  In  anthropologischer  Beziehung, 

Wenn  das  Kind  den  Leib  der  Mutter  verlassen  hat,  dann  bietet    pig.  187.  KUmei 
[^  io  seinen  Körperproportionen  ein  erheblich  anderes  Bild  dar,  als  Ma«icii<in  von  o- 
pvir  Hpäter  bei  dem  Erwachsenen  wiederfinden.    Der  Kopf,  nament-    w»djo>*n»cneT  p'^ 
lieh  in  seiner  Hinterhauiitsregion,  ist  länger  und!  grösser,  die  Ex-       rlodc  der  er»t<m 
tremitüten  haben  gegenüber  dem  Rumpfe  eine  beträchtlichere  Länge,   ,xiw5if  pJ^^!JJ— «hie) 
und  dtT  Rumpf  erscheint  verbal tnissmässig  nicht  nur  kürzer,  son- 
dern auch  schmaler  als  später,  wenigstens  in  seinen  dem  Brustkorbe  angehörenden 
Abtheil ungen.     Die  die  Ausdehnung  der  Brust  übertreffende  Dicke  des  Leibes  hat 
ihre  Ursache  einerseits  in  der  unverhältnissmässigen  Grösse  der  Leber  und  anderer- 
ffieit«  in  der  bisherigen  ünthätigkeit  und  Functionslosigkeit  der  Respirationsorgane, 
welche  natürlicher  Weise  erat  nach  der  Geburt  die  ihnen  zukommende  Arbeit  zu 
Übernehmen  vermögen.     Dann    aber    fängt    sehr   bald    der  Brustkorb  an    sich    zu 
I dehnen  und  zu  wachsen,    wodurch   die   obere  Abtheüung   des  Rumpfes   eine  ge- 
wölbtere Form    erhält*     Das    alles  jedoch    sind    körperliche  Eigenthümlichkeiten, 
Iwrlche    fUr    da.**    männliche  Geschlecht    ganz    die   gleiche  Gültigkeit    haben,    wie 
|fär  da«  weibliche. 

Es   ist   nun    auch    bekanutermaassen   in   den  ersten  Lebensjahren   nicht  gut 

aagltch^  an  dem  allgemeinen  Habitus  die  weiblichen  Kinder  von  den  männlichen 

'  '^  ^    -  *'    1  wird  in  dieser  Zeit  wohl  ebenso  häufig  ein  kleines  Mädchen 

<<.  AtiH      I,  20 


3*  .i6     I  ^  •  I>^  Weib  w&hrend  der  Zeit  der  geBchlechtl.  Unreife  oder  die  Kindheit  des  Weibee. 

fTif  einen  Knaben,  wie  umgekehrt  einen  Knaben  für  ein  Madchen  ansehen.  Dieser 
Zustand  der  Neutralität,  der  Geschlechtslosigkeit,  wie  man  ihn  bezeichnen  konnte, 
hält  nun  selbst  bei  unseren  eigenen  Stammesgenossen  nicht  immer  eine  gleich 
knge  Zeit  hindurch  an;  er  erstreckt  sich  aber  immerhin  auf  einen  Zeitraum  Ton 
mehreren  Jahren,  wie  jeder  zugeben  wird,  der  solche  kindlichen  Körper  häufiger 
unbekleidet  zu  sehen  die  Gelegenheit  hat.  Denn  es  braucht  nicht  erst  bemerkt 
zu  werden,  dass  hier  die  durch  die  Kleidung,  den  Schmuck  und  die  Haartracht 
niarkirten  Geschlechtsunterschiede  natürlicher  Weise  ausser  Acht  gelassen  werden 
müssen.  Der  Zeitpunkt,  in  welchem  man  zuerst  mit  etwas  grösserer  Deutlichkeit 
in  den  Formenverhältnissen  des  kindlichen  Körpers  die  secnndären  Geechlechts- 
charaktere,  und  besonders  die  Differenzirung  in  den  weiblichen  Geschlechtstypos 
zu  erkennen  im  Stande  ist,  pflegt  keineswegs  genau  fixirt  zu  sein  und  yermag 
innerhalb  ziemlich  bedeutender  Grenzen  zu  schwanken.  Im  Grossen  und  Allge- 
meinen fallt  er  aber  ungefähr  mit  der  Zeit  des  ersten  Zahnwechsels  zusammen; 
er  ist  somit  in  das  sechste  bis  achte  Lebensjahr  zu  setzen. 

Es  hat  sich  bereits  in  viel  früherer  Zeit  bei  beiden  Ge- 
schlechtern eine  sehr  erhebliche  Veränderung  in  den  allgemeinen 
Formverhältnissen  des  Körpers  vollzogen.  Die  in  den  ersten 
Lebensjahren  unter  gesunden,  normalen  Umständen  runden, 
vollen,  fetten  Kinder,  als  deren  Typus  man  die  bekannten 
Putti  in  der  italienischen  Kunst  bezeichnen  kann,  bekonunen 
nach  vollendetem  dritten  bis  vierten  Jahre  plötzlich  einen  Schuss, 
wie  der  Volksmund  sagt,  d.  h.  sie  zeigen  eine  in  kurzem  Zeit- 
räume sich  vollziehende  Wachsthumszunahme.  Gleichzeitig 
aber  tritt  eine  recht  erhebliche  Abmagerung  ein,  welche  nicht 
nur  den  Rumpf,  sondern  namentlich  auch  das  Gesicht  und  die 
Extremitäten  betrifft,  so  dass  die  bis  dahin  blühenden  und 
runden  Kinder  zum  grössten  Entsetzen  der  besorgten  Mütter 
trotz  aller  guten  Nahrung  und  sorgsamen  Pflege  dennoch  blass 
und  welk  und  dürr  erscheinen.  Das  ist  die  Periode  der  ersten 
Streckung,  die  uns  die  Kleine  aus  Celebes  in  Fig.  187  vor- 
föhrt. 

Wenn  dann  die  Zeit  des  ersten  Zahnwechsels  erreicht 
ist,  gemeinhin  mit  dem  siebenten  oder  achten  Jahre,  dann 
pflegen  die  kindlichen  Körper  sich  allmählich  wieder  mehr 
Fig.  iKs.  Kitines  '^^  ruudeu  imd  an  Turgor  zu  gewinnen,  so  dass  die  Kleinen 
Mädcheuvonserang  wieder  mehr  den  Eindruck  der  Frische  und  Wohlgenährtheit 
ire^ÄnlTtr^^^^^^  hervorrufen.  Jetzt  kann  man  gar  nicht  selten  schon  mit  ziem- 
(Nach  Photogi-aphie.)  licher  Deutlichkeit  unzweifelhafte  Geschlechtsunterschiede  sich 
entwickeln  sehen,  welche  sich  bei  den  kleinen  Mädchen  nament- 
lich durch  eine  starke  Ausbildung  der  Gesässpartien  und  durch  eine  grossere 
Dicke  der  Oberschenkel,  besonders  in  ihren  lateralen  Theilen,  bemerklich  machen. 
Auch  die  Kniee  und  die  Waden,  sowie  die  Arme,  die  Schultern  und  die  obere 
Abtheilung  des  Brustkorbes  zeigen  einen  höheren  Grad  von  Rundlichkeit,  als  bei 
den  Knaben  des  gleichen  xVlters.  Aber  auch  an  den  Gesichtern  vermag  man  nun 
bereits  in  vielen  Fällen  das  Geschlecht  zu  erkennen.  Hier  ist  es  nicht  nur  das 
Abgerundetere  in  allen  Linien  und  Zügen,  sondern  in  noch  viel  höherem  Maasse 
der  Qesammtausdruck,  welcher  der  Physiognomie  aufgeprägt  ist.  Es  ist  nicht 
mitglich,  denselben  näher  zu  präci.siren;  man  kann  nur  sagen,  dass  ein  gewiflsw 
Grad  von  Verschänitlieit  und  Schüchternheit  sich  auf  den  kleinen  Gesichtern  ab- 
spiegelt Man  pflegt  hierfür,  wie  ja  allgemein  bekannt  ist,  die  Bezeichnung  des 
mädchenhaften  Gesichtsausdruckes  in  Anwendung  zu  bringen. 

Zwischen   dem  8.  und  dem  10.  bis  11.  Jahre  pflegt  dann  Ton  Neuein  ab 
Periode  des  relativ  schnellen  Wachsthums,   ein   erneuter  Schua  wUk  «br 


72.  »Statiiftischd«  Über  daa  Wachathum  der  Kinder. 


307 


uns 


Dfts  ist  die  Periode  der  «weiten  Streckung,  für  die  die  Figuren  186,  188,  189  aus 
Serang,  aus  Dahome  und  sonder  Goldküste  Beispiele  bringen.  Auch  hierbei 
tritt  in  den  meisten  Fällen  eine  recht  merkliche  Abmagerung  ein^  und  namentlich 
werden  dabei  die  Arme  und  die  Beine  lang  und  knochig.  Aber  der  mädchenhafte 
Qesichfsausdnick  geht  dabei  nicht  verloren,  sondern  er  wird  sogar  noch  deutlicher 
nls  vorher,  und  trotz  allen  Dürrwerdens  der  Gliedmaassen  nimmt  doch  der  Quer- 
durchmesser des  Beckens  an  Ausdehnung  zu.  Von  jetzt  ab  treten  dann  körper- 
liche Veränderungen  ein,  welche  das  Mädchen  allmählich  der  Pubertät  entgegen- 
f Uhren.  Ich  werde  dieselben  in  einem  der  nächsten  Abfichuitte  einer  genaueren 
Besprechting  unterziehen. 

Vorher  aber  will  ich  noch  besprechen,  was  über  die  Wachsthumsverhältnisse 
der  Kinder  statistische  Untersuchungen  ermittelt  haben. 

Ki2,  Statistische»  über  das  Waehsthuui  der  Kinder. 
Die   letzten    Jahre   haben   uns    eine   Anzahl   ausführlicher    Untersuchungen 
bracht    über    die    Langenzunahme   und    die  Gewichtszunahme   bei    den    Kindern 
iderlei  Geschlechts»     Obgleich  für  das  Thema   unseres  Buches    die  Knaben 
eigentlich    nichts    angehen,    so   bieten  die  von 
den  Forschern  gefundenen  Ergebnisse  doch  auch 
interessante  Unterschiede  zwischen  dem  männ- 
lichen und  dem  weiblichen  Geschlecht,  und  sie 
müssen  uns  daher  zur  Beurtheilung  der  secun- 
flären  Geschlechtscharaktere  ebenfalls  willkom- 
men  sein. 

Als  den  Vater  solcher  Kor^iermeasimgen 
haben  wir  bekanntlich   (Juctelet  zu  betrachten. 

Er  stellte  seine  Beobachtungen  in  den  Schulen,  I  i      *  "/^  " 

Waisen hiingern  u.  s.  w.  an  und  kam  dabei  zu 
^^Igenden  Ergebnissen: 

^^J^  Bei  dor  Geburt  abertreffen  die  Knaben  an 
^^B^  darcbschnittlich  die  Mädchen  und  zi^ar  um 
^^Mrl  cm  (0,499  :  0»4B9).  Dagegen  ist  das  Mädchen 
^Bd  dem  Attf^T  von  10-— 17  Jahron  vorbültnissmasBig 
^^chon  ebenao  weit  in  meinem  Wachstbum  vorgdrUckt, 
aU  dtr  JttngUng  von  18^19  Jahren.  Die  jährlicbo 
Za nähme  zwischen  5—15  Jahren  beträgt  bei  Knaben 
ungefähr  56  mm,  während  sie  tich  bei  don  Mädchen 
nnr  unf  etwa  52  mm  belaufte  Die  Grenzen  de« 
Wachathtima  fand  Quctelet  bei  beiden  Geschlechtern 
ungleich,  weil  die  Individuen  weiblichen  Geschlecht« 
jichüu  boi  der  Geburt  kleiner  sind,  als  die  des  männ- 
lichen; weil  d&B  Wacbuthnm  der  ersteren  früher  sein 
Knde  erreicht^  und  weil  die  jährliche  Zunahme  der 
rperlichen  GrOtie  boi  ihnen  gennger  ist,  als  bei 
männlichen  Geschldchte. 


II 


r^  r 


Fig.  ISCL    Atitis<*'M4dcheti  von  dem  Volt« 

Eiver,  Goldküite  (Weftt- Afrika), 
r  Auf  der  Ervle  ttUeod :  ein  Ki 


West   hat   in    Gemeinschaft   mit   Franz  SJJbku^fr. 


Brüftt'^D.     2.  Steheud:  ein 


riode  d«r  £  weiten  Streckuaff  m 

enlwic  kellet    Priui 

rtDigt^n   Ilnistwarz 
dem  Stöhle  »Uzend:   ein  äHei> 
liädchün  mit  reifer,  yoUii? ftOSKebÜdoUr  Jit^inioib. 
(Nach  PhotogTBpbie.) 


9oai!  und  einer  Anmbl  von  anderen  Forschern 

Worcester,    Masa.   in   Amerika,    3250 

:vder    der    verschiedensten    Stände    ge- 

Bei  der  Bestinmiung  der  ganzen  Hohe  zeigte  sich  die  interessante  Erschei* 

Bnnff,  dm»^  die  Resultate  verschieden  waren  je  nach  derTageszeit^  zu  welcher  gemessen 
riiFdi*      Morgens  waren  die  Kinder  am  grossten,  gegen  den  Abend  hin  nehmen  sie 
ich  an  Länge  ab,  und  zwar  schneller  vom  Morgen  bis  zum  Mittag,  als  vom 
jiuig  ölt  Kiim  Abend.   Da.^  ist  bei  beiden  Geschlechtem  gleich.    Ifc^f  sagt  dann: 

20  • 


•*.    ^4i:.»rxi  .  »»r    i»t'- 


iif  SfMCiitetici  ^TTfZi"  Oder  ütiSaadaeiMift^« 


^t  L:.i  .      MiU*       V        04      V  iicuFLnUL    £     ^f'm^    TP'g'g'    ZnUSIini.    3DE    ÖSt    11^.   hbl  IL 

■.4-..^r         -Tnlir.!        uv*a^.      flu-    «EiriTfCUCn.V     AsiLkSZB-     h!C.    311106'    —    mf    ViTniMTflif  ^WBtC  TtfL 

:::'..T      i-i-  V.  .iiuifLL:-.ixD^?'jrr'    jr   jitifpc   iS'  Mc:  ^tttItbl  der  dtsr  JlMdeneL 

--•  . -L    i?       iH    vuirr   ''^STKi:::!»-    .^     .-j-t-«:    (»eiix-  ^-«ecsieciiEer  sm«:  -wir  riifilnnr 
1  .•••......  t-.       ..1     ^r    Iuu»>r:    ii:^»4M^   €i:   -n-^.;;   ^^J2?:    Li    OA-   Li.  isar  «xpexän  ir.    lim 

-- ur      .1     J :...•'.- i»r:      '&.:..•'.•_   7r.*s^    ^<     i>   LjiUi^s:    :=i.    L-idoa  ^ i iiwi     oi-  zun.  J^.Mnfc 


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•RTezcs'  .aj.i»eL  ' 


-•i*   LijFeTTrjÄr   Ü!«^   liA."  L.ürn*«3P*i7icir  inTiiTT    "wir  ad: 
.i<«    Jl^..  ^^'e:   j?     irr I«  ras"  «le:  xr^rxenszuw^tt^  ia&jnHix..  im 

I.i:..  «rf:     jF"     i..-    Tf>i»T-   ■"TgT-r^--:'— ..     rziüÄiliS"    ^.usxzXüli.* 


-••«eil-    AlÜL.Jlrrn     U'.-"^.V    vt'T     iUilTli^Ua    r.Tixrwiv  r-f-ux,    J.     |i^  ^nn^  Ti 

.11    '■■.•':*r;T3'"-?>:;i-j-fi       **i:**-     "i"^"     ..üv.z    zi'Jl^:'    h-S"  Ixttäjzi?  'Viftöcr  ua 


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li'.-S     A. 


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-'■'  *-  '■'  ^  '-'  '^t'^'^z^   ü;  s-i  änL  IT.  Jaki* 

.^1  '  ..I.-  .:.    A.j^jDiaiBt 


78.  Der  Backfisch  in  autkropologücher  Beziehung. 


309 


mach.  Die  Mädchen  bleiben  den  Knaben  bis  sum  16.  Lebeosjahre  Bowohl  an  Länge«  als  an 
Gewicht  üb<u'legen.  Mit  dem  17.  Jahre  Undert  sich  duii  Verhältniäs  wieder.  Man  siebt,  wie 
die  beiden  KntwickehmgacurTen  der  Knaben  s^tch  dann  über  die  der  Madchen  erheben,  am 
nachher  in  den  folgenden  Jahren  mehr  und  mehr  emporzngehon.  Cnterdessen  verbleiben  die 
der  Müdchen  fast  in  derselben  Höhe«  Die  zeitweilige  Ceberlegenhoit  der  Mädchen  ist  ja  ganz 
~  itürlich  Ton  dem  früheren  Eintritt  und  dem  xeitigQren  Absehlum  ihrer  Puberiätaentwiekelung 
bbringig.' 

Ke^  vergleicht  dann  seine  Uesultate  mit  den  Ergebnissen  aus  anderen 
Indern,  uamentlich  von  Ilertel  in  Kopenhagen,  Roberts  in  England.  KoteU 
\ann  in  Hamburg,  Pagliani  in  Turin  und  Bowdüch  in  Boston  und  kommt 
cb  zu  folgenden  Schlüssen: 
^Die  FuberUtsperiodo  raarkirt  sich  för  beide  Geachlechter  in  der  Regel  tcharf  mit 
einem  Ijfjjjqpr^ehenden  Verlauf  und  durch  dieselben  Eigenthümlichkeiten ,  welche  wir  i«chen 
bei  den  tenwedisclien  Untersuchungen  kennen  gelernt  haben.  lieber- 
all  »»heu  wir  auch,  wie  die  yon  mir  hervorgehobene^  tcbwache  Ent- 
vickelungsperiode,  welche,  wie  wir  gefunden  haben,  der  Pubertäts- 
periode vorangeht f  durch  die  Senkung  oder  den  niedrigen  Stand  der 
F^  '  iDg^curven  gut  markirt  wird.     Auch  ist  %xx  beachten,  daaa  die 

I  ritwickelung   im    Ganzen,    sowohl    bei  Knaben  all  bei  Mild- 

^eii,    iii   Italiea    und  in    Amerika  früher  als    anderswo    vollendet 
•ein  scheint.* 

Endlich  macht  Key  noch  darauf  aufmerksam,  dass 

^nacb  Untersuchungen  an    Orten,    von  welchen  auch  Wägungen 

Dd   Messungen  dur  Mädchen  vorliegen,  die  Menstruation  in  der  Kegel 

am  Ende  der  Pubertai^periode  eintritt  *  also   in  dem  ersten  oder 

dem  ÄweiU?n  Jalire  nach   dem   Aufhören   der    eigentlichen  Ltingen- 


73»  Oer  BackfiMli  in  aiiiliropola^ischer  Ueztehnug. 

Mit  tingpführ  dem  11,  bis  13.,  in  manchen  Füllen  aller- 
3gs  anch  erst  mit  dem   14.  Jahre  sind  die  kleinen  Mädchen 
aserer  Rasse  in  diejenige   Periode   ihres    Lebens   eingetreten, 
eiche  man  als  das  beginnende  Backfischalter  zu  bezeichnen 
legt.      Das    Wachsthum    dauert   an,    der    Körper   und    auch 
Ins  Gesicht  gewinnen  an  Rundung  und   Fülle,  die  Stimme  ver- 
liert den  scharfen  Beiklang   des   kindlichen  Organes  und  wird 
sanfter  und  volltönender.     Auch  der  Ausdruck  der  Augen  ver- 
ändert sich,  und  damit  ist  der  ganzen  Physiognomie  ein  gegen 
früher  veränderter  Charakter  atifgep ragt.    Der  Brustkorb  weitet  Flg.  m.  Auitr^Ucrin 
sich    aus,    namentlich   in  seinen   oberen  Partien,    so   dass    die  ti.^*'n!l"?rt°VJ!.*l*°^iL 
öcnulterbreite    nicht   nur    eme    absolut,    sondern    auch    eme  suaiam    i^r  Halbkugel- 
relativ  grössere  ist,  als  vorher.      Bisweilen  nimmt  jetzt  auch   ^^'  xrzenhöfo, 
HS  die   grossen  Brustmuskeln    bedeckende    Fettpolster    stetig     ^    triwuM  iu^ium» 
ad    beirächtlich    an    Ausdehnung    zu,  namentlich    gegen  die    (^*«h  Photogrmpbir 
iist Warzen     hin,     welche    letzteren    aber,     ebenso    wie    ihr 
Tarzenhof,  noch  längere  Zeit  hindurch  die  kindliche  Fonn  und  Grösse  bewahren. 
iffallendate  Breiten  zunähme  macht  sich  aber  an  der  Beckengegend  bemerkbar, 
Auch    die   Hinterbacken    nehmen    an  Dicke  und  Völle  nicht   unerheblich    zu. 
Mit  dieser  stärkeren  Entwickelung  der  Gesass-  und  Beckengegend  hält  sehr  häufig 
diejenige   der  Unterschenkel   und   namentlich    der  Waden    nicht   gleichen  Schritt, 
and  so  kommt  es  dann,  das»  trotz  der  an  erwacbsene  Zustände  erinnernden  Breite 
de»  ^"              pers   docJi   die   aus    den   kurzen  Kleidern   hervorsehenden  Beine  ein 
iidliches  Aussehen  darbieten. 
Jetxt  beginnt  nun  auch   die  aUmähliche  Ausbildung  der  weiblichen  Brüste. 
*^'*'**    'if?   SchilderungeD    sich    auch    in    erster   Linie   wiederum    auf   '^^-^ 


310     IX.  Das  Weib  während  der  Zeit  der  geschlechtl.  Unreife  oder  die  Kindheit  dei  Wübei. 

Mädchen  der  norddeutschen  Bevölkerung  beziehen,  so  lehrt  doch  das  Stadinm 
der  mir  zugänglichen  photographischen  Abbildungen  fremder  Völker,  dasa  auch 
bei  diesen  die  wichtigsten  dieser  Entwickelungsphasen  beobachtet  werden  können. 
Und  da  ein  entsprechendes  photographisches  Material  von  deutschen  MSdchen 
nicht  existirt,  so  sind  zur  besseren  Erläuterung  die  geschilderten  Verbältniase  an 
Mädchen  fremder  Rassen  zur  Darstellung  gebracht  worden. 

Die  bis  dahin  neutrale  oder  puerile,  d.  h.  mit  den  betreffenden  Formen  bd 
den  Knaben  übereinstimmende  Brustwarze  (man  sehe  die  Figuren  186 — 188)  fiingt 
an,  sich  in  bemerkenswerther  Weise  aus  dem  Niveau  der  benachbarten  Hantober- 
fliiche  lierauszuwölben.  Aus  der  Vorderfläche  des  Brustkorbes  erhebt  sich  dann 
jederseits  eine  kleine  halbkugelige  Erhöhung,  deren  Grundfläche  ungefähr  2,5  bis 
H  Centimeter  beträgt,  während  ihre  Höhe  1,5  bis  2  Centimeter  erreicht.    Sie  wird 

gebildet  durch  die  sich  entwickelnde  Milch- 
drüse. Sie  fühlt  sich  derb-elastisch  an,  un- 
gefähr wie  eine  reife  Kirsche.  Fast  ihre 
gesammte  convexe  Oberfläche  wird  dorch 
den  Warzenhof  eingenommen,  und  die 
Brustwarze  selber  ist  dermaassen  convex- 
flächenhaft  ausgezerrt,  dass  sie  fast  toU- 
ständig  verstrichen  ist  und  dass  sie  sich  fast 
gar  nicht  aus  der  Oberfläche  der  halbkuge- 
ligen Erhöhung  heraushebt,  deren  oberete 
Kuppe  von  ihr  gebildet  wird.  Ein  paar 
Mal  ist  es  mir  begegnet,  dass  ich  von  be- 
ängstigten Eltern  gerufen  wurde,  um  diese 
Zustände  bei  ihrer  Tochter  zu  begutachten: 
sie  waren  in  Sorge,  dass  etwas  Krankhaftes 
zur  Entwickelung  käme,  und  sie  wurden  in 
dieser  Furcht  dadurch  bestärkt,  dass  mit 
diesen  Wachst humsverhältnissen  der  Brust- 
drüse bisweilen  abnorme  Empfindungen  Ter- 
bunden  sind,  namentlich  eine  Hyperästhesie 
der  Ilantnerven,  so  dass  in  manchen  FäUen 
selbst  die  einfache  Berührung  des  Hemdes 
bereits  sohmerzhafte  Empfindungen  hervor- 
rufen kann. 

Dem  soeben  geschilderten  Stadinm 
fol^t  dann  sehr  bald  eine  stärkere  An- 
biMinig  vi)n  Unterhautfettgewebe  in  der 
riiii^ebnng  der  sich  entwickelnden  Bmst- 
drüsi»,  nnd  hierdurch  kommen  nun  all- 
niülilich  ilic  eigentlichen  MammahQgel  zu 
Stande.  MeistentliciU  sind  dit^selbm  /iutsI  Imlbkngelig,  wie  ein  kleiner  halber 
Apfel,  und  »He  Vi>rlu'rgcHciuMi*rti»  liull»ku>^cligc.  vom  Wurzenhofe  und  der  Warze 
überdeckte  Drüseiipiirtic  sit/!  liinf^tMo  Zrit  hindurch  noch  der  Mitte  dieser  Halb- 
kugel auf.  Auf  diese  Wim  so  koiiniit  i«inp  l\\\\\\  di»r  weihlichen  Brüste  zu  Stande, 
wie  sii'  .sich  hei  cinigiMi  NidkiTNcliulliMi  in  Alrikii  und  Oceanien  als  typisch 
voriindi't,  d.  h.  Ilritste  mit  iiiilhktip.nh^  iiurNit/.enthMii  War/enhofe.  Bei  den  nord* 
deutsihen  MiidciiiMi  (l\hi«i-  tlii«)onip,i«ii  iiiiihMi*r  Ah.stammung  fehlt  mir  die  peiBÖn- 
liclit»  Krfahrimgi  gi'ht  ihi'ii'M  Slinliuiii  iIim  Kiitwiikt^iung  ziemlich  rasch  TorQber; 
der  War/.i'iiiiot  nhnnt  nirh  iiml  hipl  «luim  rirhiMhtMilt'irmig  dem  Hügel  der  BrOste 
auf  und  dif  Briintwai/i'  lull  ditini  \yu\  imii  Ihtclior  Knopf  aus  der  Ebene  des 
Warzenhofe.N  ht^auN  Ihm  ^Aii  lui  (iM^nhitluli  luil'  beiden  KBipariiilflan  fiA 
zeitig  vor  Mich;  hiHweiltMi  ulhMiltnua  iImiihiI  iitil  der  einen  Seite  &  Hllbk 
des  War/enhoftw  um  niiiiKi*  /«>!<   lniiH«t|  im,  nln  mii'  ^\^jp  ^^^^^^ 


Fi*j.  IK.*.    KiilftM'-Mudchoii  aus  Nutul  im 

Racktlürlialtor.  itii  .staiUum  dor  sohr  iiUNKc^il^ctiMi 

lIunikuKclform  ilor  Hrustwar/ouliiitV  vor  Kiit wifko- 

liiii^  y\^v  rriiuar-MRiniiia. 

iNai'h  riioto|;iaphio.) 


73.  Der  BiLckügcli  in  aDÜiTopologischer  Besciebutig. 


811 


Ist  nun  der  Wanenhof  mit  seiner  darunter  liegenden  Milchdrüse  in  das 
hrekh  des  Mammahrigels  mit  hineingezogen,  so  treten  sehr  bald  schon  die  indi- 
iduellen  Form  Verschiedenheiten  auf,  wie  sie  auch  bei  den  Erwachsenen  sich 
aden.  Bei  dem  einen  Madchen  erhält  sich  die  Halbkugelfon»  der  Brüste;  bei 
ineni  anderen  werden  dieselben  schalenförmig;  bei  noch  einem  anderen  halb- 
itronenförmig,  konisch  oder  pyriform  iL  s.  w.  Jetzt  pflegen  noch  auf  einige  Zeit^ 
bisweilen  selbst  über  mehrere  Jahre  hm,  Schwankungen  und  Veränderungen  in 
len  Grossenverhältnissen  der  Brüste  sich  zu  zeigen.  Oft  nehmen  dieselben  schnell 
Umfang  zu,  fast  bis  zu  übermässiger  Fülle  sich  ausdehnend;  bald  darauf 
rerden  sie  wieder  um  Vieles  magerer  und  kleiner,  um  dann  kurz  hinterher  von 
Teuem  an  Umfang  zu  gewinnen,  ohne  jedoch 
vielen  Falleu  die  vorige  Fülle  zu  erreichen, 
>ndern  auf  einem  Stadium  zierlicher  Abrundung 
ßhen  bleibend. 

Wir  können  also,  um  es  in  Kürze  zu  wieder- 
>len,  an  der  weiblichen  Brust  die  folgenden 
tadien  der  fortaehreitenden  Entwickelung  unter-       — .^^^^^^ 

1.  Die  neutrale  oder  puerile  Brust- 
rarze  mit  scheibenförmigem  Warzenhofe. 

2.  Die  Halbkugelform  des  Warzen- 
)fea  und  der  Brustwarze,  welch  letztere 
>nvexflHchenhaft  uusgezerrt  die  Kuppe 
»r   lluUikugel    bildet,    bei    gleichzeitigem 

I a n  g ('  1  d er  M  a m  nr a,    Fii r  d ieses  Stadium  kö nn te 
San   wohl    der   grösseren  BecjuemJichkeit  wegen 
BD    Ausdruck    gebrauchen:     Halbkugolwarze 
ine  (primäre)  Mamma. 

3«  Die    primäre  Mamma  mit  noch    er- 
haltener Halbkugelform    des  Warzen hofes       ^— ^^^-«. 
und  der  Brustwarze.  I^^^V^\.  w    \ 

4.  Die  primäre  Mamma  mit  Scheiben- 
kmigem  Warzenhofe  und  prominirender 
(rustwarze.  Man  könnte  für  dieses  Stadium 
»jch  Wohl  die  Bezeichnung  einftibren,  die  fertige 
lack  fisch -Mamma;  es  ist  jedoch  der  erstere 
lame  wohl  vorzuziehen,  da  er  nicht  minder  deut- 
|ch  und  fast  ebenso  kurz  ist. 

Wir   vermögen   bei   allen   Mädchen  unseres 
aes  nach  und  nach  alle  diese  vier  Entwicke-  _ 

ttngsstufen  zu  beobachten,  und   unter  allen  Um-     k%  m.    AndumÄneu-iuMiUnttriii, 
'"aden  ist  die  Keiheutblge  der  Ausbildung  ohne     Mn  B»ekfl»rb*lt*r,  im  sudiam  «ur  iii»jk 

acne  AUÄnanme  me  gieicne.     ot^is  enimcKeit    ^»rfodhdfe  vor  *ier   KntwJck«itiDe  ii*r 
ans    der   puerilen    Warze    die    Halbkugel-    prim&nn  Mammi..    csiwsh  FHotogtmphie.) 
rarz€    ohne    primäre    Mamma,     dann     tritt    die 

rimäre  Mamma   auf,   während    die  Halbkugelwarze    noch    bestehen    bleibt,    und 

Hdlich  verstreicht  die  letztere,  es  bildet  sich  der  scheibenförmige  Warzenhof  mit 

:>minenter  Brustwarze  aus  und  hiermit  ist  die  Backfisch- Mamma  zu  ihrer  voll- 

:»mme»cn    Ausbildung   gelangt.     In    Bezug    auf   die   Zeitdauer    dieser    einzelnen 

ftdien    mlV88#^n  wir   aber    die    allererheblicWen  V'erschiedenheiten    und    Srhwan- 

V  und  wie  bereits  weiter  oben  gesagt  worden  ist,  so  kommt  es 

IUI*  i  vor,  dass  selbst  bei  dem  gleichen  Individuum  die  Brust  der 

aen  K«  e  tUr  die  einzelnen  Entwickelungsstadien   eine  andere  Zeit  inne- 

d»  ütrjf  lu-e  der  anderen  Seite.     Bisweilen,   aber   allerding«  nur  in  seltenen 


•312     IX-  ^M  Weib  während  der  Zeit  der  geschlechÜ.  Unreife  oder  die  Kindheit  dee  Weibet. 

Fällen,  vermag  man  sogar  auch  noch  bei  reifen  jungen  Mädchen  mit  schon  toU- 
HtUndig  jung&äulich  ausgebildeter  Mamma  einen  leichten  Grad  der  Knaelforai  des 
Wurzenhofes  mit  Deutlichkeit  zu  erkennen.  Wir  müssen  dieses  Yerhalten  als  öne 
Art  von  Hemmungsbildung  auffassen. 

Die  in  den  Figuren  182  bis  199  nach  photographischen  Aufnahmen  zur 
Darstellung  gebrachten  jungen  Mädchen,  welche  aus  allen  Welttheilen  stammen 
und  den  verschiedenartigsten  Rassen  angehören,  sollen  dem  Leser  die  in  den  beiden 
letzten  Abschnitten  geschilderten  anatomischen  Veränderungen  und  Umbildangen 
an  dem  jugendlichen  weiblichen  Körper  zur  Anschauung  bring^.  Man  kann  sich 
leicht  davon  überzeugen,  dass  alle  die  geschilderten  Phasen  der  Entwickeinng 
unserer  weiblichen  norddeutschen  Jugend  sich  auch  bei  den  jungen  Madchen 
fremder  Volksstämme  nachweisen  lassen.  Und  wenn  wir  manche  der  erwihnten 
F'ormen  hier  bisweilen  sogar  in  besonders  starker  Ausprägung  und  mit  kleinen 
Variationen  vorfinden,  so  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass 
ein  solches  Verhalten  in  gewissen  Formeigenthümlichkeiten 
der  Brüste  bei  der  betreffenden  Rasse  seine  natürliche  Er- 
klärung findet. 

Wir  sehen  die  noch  neutrale  oder  puerile  Brustwarze 
bei  der  kleinen  Prinzessin  von  Gelebes,  Fig.  187,  sowie 
bei  dem  Dahome-Mädchen,  Fig.  186,  bei  der  kleinen 
Serang-lnsulanerin,  Fig.  188,  und  bei  dem  auf  der  Erde 
sitzenden  Ahuse-Mädchen,  Fig.  189.  Den  üebergang 
von  der  puerilen  in  die  Halbkugelform  der  Brustwanenhofe 
zeigt  das  Loango-Neger-Mädchen,  Fig.  190,  während 
bei  der  kleinen  Australierin  aus  Nord -Queensland, 
Fig.  191,  bei  dem  Kaffer-Mädchen  aus  Natal,  Fig.  192, 
,      r^f.wm  ^^^  ^^^  ^^™  Mincopie-Mädchen  von  den  Andamanen- 

km  frm  Inseln,  Fig.  193,  diese  Form  schon  ihre  volle  Ausbildung 

L\wi  jm^M  erlangt   hat.      Auch  das  auf  der  Erde  knieende    Kaffer- 

J^  V    /l^I  Mädchen  Fig.  199  gehört  hierher.    Von  einer  eigentlichen 

ß    I  if  fi^B  Mamma,  der,  wie  ich  sie  genannt  habe,  primären  Mamma, 

vermag  man  aber  noch  keine  Spur  zu  entdecken.  Die 
überaus  starke  Ausbildung  der  Halbkugelform  der  Bmst- 
warzenhöfe,  wie  sie  uns  die  junge  Person  aus  Natal  in 
Fig.  192  darbietet,  findet  ihre  Erklärung  durch  eine  be- 
sondere Kasseneigenthümlichkeit  der  Brüste  bei  diesem 
Volksstamm.  Ich  habe  davon  in  Fig.  165  ein  sehr  charak- 
L-  .o.  1.'  ^r  «  1  u  teristisches  Beispiel  abgebildet.  Bei  Volksstämmen,  deren 
aus  Britisrh-Kafferiand  Bruste  ZU  der  Zicgenbrustform  mnneigen,  und  daher  ge- 
(Süd-Afrika)  im  Backfisch-  wöhnlich   in   ausserordentlich   früher  Zeit   schon    herabzu- 

jilter,    im    Stadium    der   \w-    i„  n  •j«i*'i  -jt 

Kinueuden  Entwi.keiung  der  hangen  pflegen,  smd  wir  bisweilen  in  der  Lage,  sogar 
Primär -Mamma  mit  halb-  schon  bei  dieser  Halbkugelforui  der  Brustwarzenhofe  vor 
k»«eiförmi»,en^^Brustwarzen-  ^^^  Auftreten  der  primären  Mamma  ein  Hängendwerden  zu 
(Nach  Photographie.)  beobachten.  Wir  sehen  diese  eigenthlimliche  Erscheinung 
bei  den  beiden  jungen  Negerinnen  von  der  Loango- 
K liste,  Fig.  184  und  19G,  bei  der  einen  in  stärkerem  und  bei  der  anderen  in 
geringerem  Grade.  Hier  messen  wir  also  sagen,  so  paradox  dieses  auch  klingen 
mag,  es  können  bei  diesem  Volke  die  Brüste  bereits  hängend  werden,  bevor  sie 
sich  noch  entwickelt  haben. 

Nun  sckliesst  sich  das  Magungo-Mädchen,  Fig.  182,  an,  bei  welchem 
die  Primär-Mamma  in  der  ersten  Entwickelung  begriffen,  die  Halbkugelform  der 
Brustwar/cnhöfü  aber  noch  vollständig  erhalten  ist  Das  Gleiche  gilt  aaoh  Ton 
dem  Kaffer- Mädchen  in  Fig.  199,  welches  hinter  der  Knieendm  itehti  und 
ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Kaff  er- Mädchen,   Fig.  nur  kt  dia 


TS.  Der  Backfiticfa  in  anthropologischor  Beäiehuog. 


ai3 


wiekelang  der  Priinär-Mamma  hier  schon  etwas  weiter  vorgeöchritten*     Auch  das 

'    ^^hen  au5  Britisch-Kafferland,  Fig.  195,  und   dns  stehende   Ahuse-MSd- 

I  n,  Fig.  189,  zeigen  diesen  Zustund,  jedoch  ist  bei  ihnen  die  Primür-Mamma 
a^hon  stärker  ausgebildet  Die  fertig  entwickelte  Backfischbrust  endlich,  d,  h.  also 
die  vollständige  Primitr-Mamma  mit  scheibenförmigen  Brustwarzenhöfen  und  pro- 
minenteo  Brustwarzen,  tinden  wir  bei  dem  in  der  Figur  198  abgebildeten  Akka- 
Mädchen,  bei  dem  Lappen-Mädchen  vom  Altenfjord,  Fig.  183,  und  bei  dem 
stehenden  Kaff  er- Mädchen  (hinter  der  Sitzenden)  in  Fig.  199. 

Dasa   nun   auch   die    fertig  ausgebildete  Backöschbrust   ein  Hängend  werden 

igen    kann,    weon   bei   dem   betreffenden  Volksstamme   das  Hängen   der  Brüste 

berhaupt  ak  die  normale  und  gewöhnliche  Erscheinung  betrachtet  werden  muss, 
kann   uns   natlirUcher  Weise   nicht   überraschen.     Wir  finden  dieses  bei  dem 

eger-Mädchen  aus  Chinchoxo  an  der  Loango- 
Uste,    Fig.    197.      Gerade   bei    den    zwei   jungen 

ädchen   dieses  Volkes,    Fig.  184  und   196,    hatten 

ir  ja   sogar  ein  üeberhängen  der  eben  erst  halb- 

ugelformig    entwickelten    Brustwarzenhöfe    consta- 

reu  können.      Das    sitzende    Kaffer- Mädchen    in 

ig,  199    zeigt   die  Brüste   schon    in  fertiger   Aus- 

ildung. 

Wahrend  nun  die  geschilderten  Umformungen 
m  Bereiche  des  Brustkorbes  sich  vollziehen,  der 
Durchmesser  des  Beckens  grösser  und  die  Gesäss- 
fragend  dicker  und  voller  wird,  treten  auch  an  den 
.Ctosehlecht'jtheilen  und  besonders  am  Mons  Veneris 
merkenswerthe  Veränderungen  ©in.      An  den  Ge* 

hlecht«(theilen  sind  es  namentlich  die  grossen  Scham- 

ppen,    welche  an  Länge,    Dicke  und  Rundüng  da- 

urch    zunehmen,    da.s.s    ihr    Fettpolster    sich    ver- 

rt^ert.  Auch  an  dem  Schamberg  nimmt  das  Unter- 
utfettgewebe  an  Menge  und  Ausdehnung  zu,  und 
hierdurch  wird  der  erstere  voller,  abgerundeter  und 
mehr  über  das  Niveau  der  untersten  Äbtheilung  des 
T^  Ml    herv^ortretend.      Nun    tritt  genau  in 

ie  des  Mons  VcnerLs   die    erste  Scham- 
behaarung Äui,   Auf  der  rechten  Körperhälfte  sowohl 
lU«  auch  auf  der  Unken  sprossen  von  der  Mittellinie  t^HmuT-MÄmmii  mit  u 
aut!$  kurze,  pigmentirte  Härchen  hervor,  emes  mimer  (N»eh  piiou>-i 

etwas    höher    entspringend    als    das    vorhergehende, 

aber  jederseits  nur  einen  einzigen,  der  Medianlinie  dicht  anliegenden  Haarstrich 
bildend;  denn  erst  etwas  später  entwickeln  sich  auch  lateral  von  ihnen  neue 
Härchen.  Die  Haare  sind  zuerst  kurz,  schlicht,  von  der  Medianlinie  nach  oben 
und  lateralwärts  verlaufend  und  der  Oberfläche  der  Haut  dicht  aufliegend,  ähnlich 
wie  in  den  gewöhnlichen  Fällen  die  Augenbrauen  dies  thun.  An  der  oberen 
Commissur  der  Rima  pudendi  pflegen  die  allerersten  Haare  hervorzubrechen.  Jetzt 
ist  der  Zustand  erreicht,  von  welchem  es  in  einem  Sanskritverse  heisst: 

«Der  BusdTt  da  hat  bereite  einec  grosaea  tTmfaDgt  ut  aber  noch  nicht  zu  der  ihm  an- 
gww^jwnitin  Höbe  gelangt ;  die  drei  Falten  aitid  schon  darch  Linieo  bezeichnet,  aber  die  Ver- 
tinfünfpön  and  Erhnhongoii  treten  noch  nicht  deutlich  hervor t  auf  der  Mitte  ihres  Leibet  ist 
i^in»-^  fCaradffr  lani^e,  in«  Braune  fallende  Hilrchenreibe  schon  du;  wir  »ehen  daa  reizende  Alter, 
«ta  Oetaiich  von  Kindheit  and  Jungtränlichkeit,  vor  uns.*     (BtMHngk.J 

Sehr  bald  wachsen  dann  aber  lateralwarts  von  den  soeben  besprochenen 
Hiuiren  neue  Haare  in  analoger  Weise   hervor,   und  auch  der   äussere    freie,    die 

r  grossen  Schamlippen   bedeckt  sich  in  gleicher 


fig.  \9^,    KuffBr^Miilclftn  »tu 
iiltit;  ,    Im  Staitiuui 


314     IX.  Das  Weib  während  der  Zeit  der  geschlechtl.  Unreife  oder  die  Kindheit  dee  Weihet. 


Weise  mit  kurzen  Härchen.  Allmählich  werden  alle  diese  Haare  dicker,  dunkler 
pigmentirt  und  länger  und  heben  sich  aus  dem  Niveau  der  Hautoberfläche  heraus, 
wodurch  dann  leicht  der  Eindruck  des  Krausen  und  Buschigen  der  Scham- 
behaarung hervorgerufen  wird.  Aber  noch  eine  ziemlich  lange  Zeit  hindurch 
bleiben  die  seitlichen  Abtheilungen  des  Mons  Veneris  von  dem  Haarwuchs  toU- 
ständig  frei;  das  Haarfeld  nimmt  fQr  gewöhnlich  in  dieser  Zeit  nur  auf  ungefähr 
zwei  Querfinger  Breite  die  Mittelzone  des  Schambergs  ein.  Die  Behaarung  der 
Seitenpartien  des  Mons  Veneris  pflegt  dann  erst  nach  vollendeter  Pubertät  zu 
Stande  zu  kommen. 

Auch  in  den  Achselhohlen  vollzieht  sich  in  diesen  Jahren 
insofern  eine  Veränderung,  als  hier  die  Ausbildung  der  Schweiss- 
drüsen  sich  steigert  und  damit  auch  die  Schweisssecretion  ver- 
mehrt wird.  Dass  auch  die  Haut  der  Achselhöhle  allmählich 
sich  mit  Haaren  bekleidet,  ist  ja  allgemein  bekannt.  Es  ist 
gerade  ungefähr  der  Mittelpunkt  der  Achselhöhle,  also  deroD 
tiefste  oder  (wenn  man  sie  von  unten  her  betrachtet  denkt) 
deren  höchste,  gewölbteste  Stelle,  an  welcher  die  ersten  ganz 
kurzen,  vereinzelt  stehenden  Haare  sichtbar  werden.  Sie  zeigen 
im  Anfange  gewöhnlich  eine  weniger  intensive  Pigmentimng, 
als  die  Scharahaare,  und  auch  ihr  Wachsthum  geht  viel  lang- 
samer von  Statten.  Von  dem  erwähnten  Mittelpunkte  aus 
überkleidet  sich  zuerst  theils  gegen  den  Oberarm  hin,  theils 
dem  Brustkorbe  zulaufend,  ein  ungefähr  fingerbreiter  Strich, 
durch  welchen  die  Achselhöhle  in  eine  vordere  (ventrale)  und 
eine  hintere  (dorsale)  Abtheilung  geschieden  wird.  Es  dauert 
dann  aber  noch  eine  ziemlich  lange  Zeit,  bis  auch  die  etwas 
mehr  seitlichen  Abtheilungen  der  Achselhöhle  sich  mit  Haaren 
bekleidet  haben. 

Gesellt  sich  nun  zu  allen  diesen  körperlichen  Verände- 
rungen auch  noch  die  erste  Menstruation  hinzu,  so  gilt  im 
Allgemeinen  die  Pubertät  für  erreicht  und  das  sogenannte 
Backfischalter  für  abgeschlossen. 

Wie  bereits  weiter  oben  gesagt  worden  ist,  beziehen 
sich  die  bisher  gemachten  Schilderungen  der  körperlichen 
Eutwickelung  nur  auf  die  mir  allein  bekannte  norddeutsche 
Jugend.  Es  ist  nun  allerdings  in  hohem  Orade  wahrschein- 
lich, dass  nicht  allein  bei  den  übrigen  deutschen  Stämmen, 
sondern  auch  bei  dem  gesammten  Menschengeschlechte  die 
physische  Umbildung  von  dem  Kinde  zur  Jungfrau  in  ganz 
analoger  Weise  sich  vollzieht,  und  manche  der  mir  zugäng- 
Afriifa^^im^^Hacktiöch-  l'chen  Photographien  scheint  diese  Annahme  zu  bestätigen, 
aiU'r,  im  Stadium  der  —  aber  ein  strikter  Beweis  dafür  ist  noch  nicht  geliefert 
ku^ifom'^'def  ^  worden;  es  fehlt  eben  leider  bisher  noch  an  genauen  Angaben. 

waraenhöfe,  welche  be-  Sind  doch  selbst  über  die  Mädchen  unseres  deutschen  Volkes 
reit«  vor  Entwickeiung  die    Berichte    uoch    vollständig   fehlend;    und    doch    ffiebt    es 

der  l'rimär-Mamma  eine    i-  •  i      i.-   i_   l    •    i.  j.      l.^  j        i_    j  t» 

Neigung     zum     Ueixr-  ^^^^  ^^  ^i^*®  hochst  interessante  r ragen,   durch  deren  Lösung 
häng.ii  zfigHii.  unsere  Kenntniss  der  Anthropologie  ganz  erheblich  gefördert 

(Nach  Photographie.)       ^^^^^^   ^^.^j^ 

Auch  bei  den  norddeutschen  Mädchen  nämlich  ist  die  Reihenfolge,  in 
welcher  die  geschilderten  Umbildungen  am  Körper  vor  sich  gehen,  nicht  in  allen 
Fällen  die  gleiche,  typische,  sondern  man  hat  bisweilen  die  Gelegenheit,  recht  er- 
hebliche Schwankungen  zu  beobachten. 

Der  gewöhnliche  Verlauf  ist  folgender.  Es  tritt  zuerst  die  halbkugelige 
Hervorwölbung  der  Brustwarzengegend  auf;  dann  folgt  das  erste  Hervorsprossen 


Fig.    IW.     Neger-Mäd 
chen  von  der  Loango- 


73.  Der  Backfisch  in  anthropologischer  Beziehung.  315 

der  Schamhaare;  darauf  beginnen  sich  die  Hügel  der  Brust  zu  wölben;  nächstdem 
breiten  sich  die  Schamhaare  seitwärts  aus,  und  nun  erst  pflegt  zum  ersten  Male 
die  Menstruation  sich  einzustellen.  Ganz  zuletzt  kleidet  sich  dann  auch  die 
Achselhöhle  mit  Haaren  aus. 

Von  dieser  Regel  giebt  es  nun  aber  recht  häufige  Abweichungen.  So  geht 
bisweilen  die  Behaarung  des  Mons  Veneris  der  ersten  Ausbildung  der  Brüste 
voran,  und  manchmal  zeigt  sich  die  erste  Menstrualblutung  bereits,  während  an 
der  Brust  und  an  dem  Schamberge  noch  Yollständig  kindliche  Zustände  herrschen. 
Nur  eines  scheint  constant  zu  sein,  nämlich  dass  die  Behaarung  der  Achselhöhle 
sich  stets  am  allerspätesten  vollzieht.  Es  ist  im  höchsten  Grade  zu  bedauern, 
dass  über  diese  so  unschwer  zu  erforschenden  Dinge  noch  gar  kein  wissenschaft- 
liches Material  vorhanden  ist.  Wenn  jeder  Arzt  in  seinem  Beobachtungskreise 
sich  jedesmal  auch  nur  ganz  kurze  Notizen  machen  würde,  so  wären  wir  der 
Lösung  der  sich  uns  jetzt  sofort  aufdrängenden  Fragen  schon  ganz  erheblich  näher 
gerückt.  Denn  worin  liegt  die  Ursache  für  die  erwähnten  Schwankungen  in  der 
Reihenfolge?  Sollte  hier  nicht  vielleicht  in  der  sogenannten  hellen  oder  dunklen 
Complexion  der  hauptsächlichste  Grund  zu  suchen  sein,  d.  h.  in  dem  Umstände, 
ob  die  jungen  Mädchen  dem  hellen  oder  dem  dunklen  Typus  angehören,  ob  sie 
helläugig  und  blondhaarig  oder  dunkeläugig  und  dunkelhaarig  sind?  Bis  jetzt 
kann  dieses  nur  als  eine  Vermuthung  ausgesprochen  werden.  Es  liegen  zu  der 
sicheren  Entscheidung  dieser  Frage  auch  noch  nicht  einmal  die  ersten  Anfangs- 
gründe der  Untersuchung  vor.  Erwähnt  mag  übrigens  noch  werden,  dass  man 
bisweilen  schon  ganz  voll  und  üppig,  vollkommen  schon  zur  Jungfrau  ausgebildete 
Mädchen  findet,  bei  welchen  trotz  der  schon  weit  vorgeschrittenen  körperlichen 
Entwickelung  doch  noch  die  erste  Menstruation  lange  Monate  auf  sich  warten  lässt. 


f 


0^ 


X.  Die  Reife  des  Weibes  (die  Pubertät)  in  anthro- 
pologischer Beziehung. 

74.  Das  erste  Auftreten  der  Menstruation. 

Das  Wunder  hat  sich  vollzogen!  Aus  dem  Kinde  ist  eine  Jungfrau  geworden: 
Der  Ausdruck  der  Augen  hat  sich  verändert,  er  ist  sinniger  und  ernster,  der 
Klang   der  Stimme   ist  volltönender   und   melodischer  geworden,  die  Formen  des 

Körpers  haben  an  Fülle  und  Bondung  ge- 
wonnen. Als  Zeichen  derOeschlechts- 
reife  des  Mädchens  gelten  uns  der  Ein- 
tritt der  monatlichen  Reinigung,  die  Ans- 
bildung  der  Brüste  und  der  äusseren 
Genitalien  und  das  Hervorwachsen  von 
Haaren  am  Schamberg  und  in  der  Achsel- 
höhle. Diese  äusseren  Merkmale  wurden 
von  jeher  als  diejenigen  der  Pubertit 
aufgefasst.  So  heisst  es  in  der  Bibel 
bei  Ezechiel  16,  7: 

,Dein  Busen  ist  bereits  gewölbt  and 
dein  Haar  hervorsprossend.* 

Der  altindische  Arzt  Susnäa 
führt  nur  die  regelmässig  wiederkehrende 
Menstruation  als  das  Zeichen  der  Ge- 
schlechtsreife an.  Man  erkenne  eine  Men- 
struirende  daran,  dass  ihr  Gesicht  ge- 
dunsen und  heiter  sei,  der  Mund  und  die 
Zähne  nass,  dass  sie  mannssüchtig  sei  and 
liebkose,  dass  der  Unterleib,  die  Aagen 
und  die  Haare  schluÖ'  seien,  die  Arme 
dagegen,  die  Brüste,  die  Schenkel,  der 
Nabel,  die  Hüften,  der  Schamberg  und 
die  Hinterbacken  strotzen,  dass  sie  voll 
Freude  und  Verlangen  sei. 

Im  römischen    Reiche    galt    die 
Schambehaarung  als  ein  wichtiges  Zeichffli 
der  Mannbarkeit.     „  Deshalb,  *"  sagt  EUe, 
Fig.  197.  xeßer-Mi.ichen  aus  chinchoxo  ander   ^^i^^s  der  Kaiser  JastiHtanus  die  Scham 

Loango-Kttst«  (West -Afrika)  im  Backflschalter.  aller    MadcheU    in    Bezug    auf    Ab-     Und 

im  Stadium  der  fertig  entwickeltea  und  bereits  über-  AnwftSPnbpif  Hpr  Haarft  nntAranrliMi     J^m 

hängenden  Primär-Jlamma  mit  scheibenförmigen  Brust-  AUWesenneit  ÜCr  Haare  UnierSUCnen,  «He 

warzenhöfen  and  prominenten  Bni8twaTze&.  sie  ZUm   Heirathen    f&r    tüchtig 

(Nach  Photographie.)  werden  konnten.* 


7&.  Der  Ebflan  d«a  Elima»  auf  daa  erste  Gintreten  der  Menstro&tion. 


31i 


rrl\r 


Was  die  ehiBesischen  Aerzte  von  der  Menstruation  anfübren,  ist  Folgendes: 

Vom  14. — 15,  Jabro   aw    tritt   h&x  jeder  Frau    ein  monatlicher  Bluti^bflus«  (Kiog-biuel 

IUI    den    weillicben   Gesclüeeht^rtbeilen  (yn-hou)  ein;    er   dauert   gewöhnlich  21,2^  3—4  Tnge 

\ind  regelt  sich    nach  30t!lgigen  Perio^len.     Wenn  er  2  Tage  £U  früh  eintritt^  so  beisst  diese 

^Icrankhafte  Affection  kan*t«ien,  wenn  er  1—2  Tage  tu  spät  eintritt,  so  heisst  diese  tsieou-beou- 

W<*nn  der  Ausfluss    nicht    lauge  Zeit    nach   der  eigentlichen  Periode  eintrittt  ^o  ist  die  Frau 

^iwei  Krankheiten  ansgesetÄt,  entweder  deiu  Hine-tche  oder  Hiae*kou.   Die  Schmerlen,  welche 

bisweilen  vor  der  Men&truntion  eintreten,  heisBen  king-sien,  die  nach  der  Menstruation  Hng- 

I)et  Blutausflugs    kann    fünf  verschiedene  Farben  haben:    die  bellrothe  ist  gesund»  die 

deutet    auf  Schwäche  und  entsteht  durch  innere  ErkältuDg;    die  Kchwiirze  deutet  auf 

tarke  Erhitzung  des  Blutes;  die  gelbe  auf  zn  reichliche  Galtenabsonderung;    die   blaue  out* 

liebt,  wenn  die  Frau  durch  Luftxug  erkältet  ist.     (Bahry.) 

Die  Aerzte  des  Talmud  äussern  sieh  ver- 
schiedentlich über  die  Reife  einer  Jungfrau,  Als 
'deichen  fuhren  sie  einmal  an,  dass  bei  ihr  die 
laare  an  den  Genitalien  zu  wachsen  beginnen; 
fein  anderes  Mal  betonen  sie  eine  merkliche  Wöl- 
bung des  Busens,  und  als  ein  noch  höherer  Grad 
der  Pubertät  wird  angegeben,  dass  die  Brustwarzen 
elastisch  werden.  Andere  Talmudisten  bezeichnen 
tda»  Erscheinen  der  dunkelbraunen  Farbe  an  dem 
lofe  um  die  Warxe  und  auch  das  Lockerwerden 
des  Schamhügels  als  das  Merkmal  der  Reife« 

Die  Naturvolker  achten  im  Allgemeinen 
Eiemlich  genau  auf  den  Eintritt  des  für  sie  allein 
^gültigen  Zeichens  der  Pubertät,  das  ist  das  erste 
Ersoheinen  des  Blutausttue^^es;  denn  dieser  ist  es, 
welcher  bei  vielen  die  Verunlusüung  giebt,  mit  dem 
jungen  Miidchen  ein  besonderes  cereuionielle,s  Ein^ 
(veihungs- Verfahren  vorzunehmen.  Ich  werde 
aierauf  später  noch  in  ausführlicher  Weise  zurück- 
Eukommen  haben. 

Man  nimmt  all  gemein  an,  dass  mit  dem  Ein- 
Itritt    der  Menstruation    das   weibliehe    Individuum    im  BAckOschaUat,  imsudium  derfeniK 
fdas    Pubertäts-Alter    erreicht  hat,    d.  h.  dass  das  ^J^tl^t^Ztl.'^^^Z^^ 

^  „  ,  ,  .  1        i    ♦  1        I         II  1  förmig*!!  Brust wiirzeiihmoti   tina  promi 

l /eichen    emes  Blutaustntts    dasselbe   als  mannbar  nentrn  Bnistwar%«^n. 

lerschetnen  läset    Inwieweit  diese  Annahme  gerecht-  t^'*^**  Pbotograiihic  ) 

[fertigt  ist,    bleibt   fernerer  Erörterung   überlassen 

Uiud  bedarf  noch  eingehender  Untersuchungen.     Fürs  Erste  wollen  wir  betrachten, 
ftir  Factoren  es  sind,  die  nachweislich  oder  scheinbar  einen  befördernden  oder 

Iwimenden  Einfluss   anf   da^    erste  Erscheinen    der  Menstrualblutung   auszuüben 

rennogen. 


Fig-  IW.    A  k  k  »  M  ü il c  h  e  n  (Osl-Afi Ikn . 


75.  Der  Kinflti8S  den  Klimas  auf  Am  erste  Eintreten  der  Metiüftrtiatioii. 

Die  ältesten  Angaben  scheinen  schon  darauf  hinzudeuten,  dass  die  Ditlerenzen 

Hn   der  Zeit    dea   Menstrual -  Eintritts    durch    klimatische    Unterschiede    bedingt 

l^ürden.    Nach  dem  Ausspruche  des  altindischen  Arztes  Siisruia  (im  Ayurveda) 

pflegt   die  Menstruation  mit  dem  12,  Jahre  (bei  den  Mädchen    in  Indien),    nach 

Rabbinern    des  Talmud    (also    bei    \\%n   Jüdinnen    in    Kleinasien)    in    den 

ten    Fällen    im    13.  Jahre,    und    nach  Soninus    aus    Ephesus    zu    Rom    im 

14.  Jahre  einzutreten.     Diejenigen  Schriftsteller  hingegen,  welche  in  Europa  vor 

fdem  15.  Jahrh.  lebten,  wie  der  seiner  Zeit  so  berühmte  Michaelis  Scoius  und  der 

licht  minder  geschätzte  Albertus  Mat/nus^  bezeichnen  das  12,  Lebensjahr  als  das- 

leiiige,    in  welohem    der  weibliche  Körper  diesen  Grad  der  Entwickelong  erreicht 


31  f<  X.  Die  Reife  des  Weites   die  PaberUt   in  anthropologueher  Benehnag. 

habe.  Derselben  Ansicht  ist  auch  Aihncht  r.  Hauer:  nach  ihm  erscheinen  die 
Menses  in  der  Schweiz,  in  Deutschland,  in  Britannien  and  in  anderen 
gemässi^en  Himmelsstrichen  im  Alter  Ton  12  bis  13  Jahren,  aber  apfiter,  je  weiter 
wir  nach  Norden  kommen:  in  den  warmen  Gegenden  Asiens  a.  s.  w.  sollen  sie 
»chon  im  S.  bis  10.  Jahre  eintreten.  Diese  Ansicht  Hallers  galt  lange  Zeit  hin- 
durch unbedingt  ab  die  richtige.  Der  Einäoss  des  Klima»  wurde  namentlich  Ton 
Halter  besprochen,  nnd  wenn  wir  nun  nach  dem  heute  Torliegenden  Materiale  die 
Frage  erörtern,  welche  besonderen  Bedingnngoi  und  Ursachen  anf  die  frOhere 
oder  spätere  Eintrittszeit  der  Menses  einwirken,  so  tritt  uns  zunächst  die  That- 
sache  entgegen,  dass  man  sehr  häuäg  das  Klima,  namentlich  aber  die  durch- 
schnittliche Jahrestemperatur  als  das  einflussreichste  Moment  betrachtei.  In  der 
That  hat  man  durch  Vergleiche  zahlengemass  nachzuweisen  vermocht  (Radborski^ 
Boudin  u.  A.<.  dass  die  herrschende  Temperatur  des  Wohnorts  sehr  einflossreich 
auf  die  zeitigere  oder  spätere  Entwickelung  des  weiblichen  Körpers  in  sexueller 
Hinsicht  ist. 

Diese  Resultate,  welche  sich  aus  umtänglichen  Forschungen  gewinnen  liessen. 
stellte  Marc  d'Espine  in  folgenden  Sätzen  zusammen: 

1.  In  den  gemässigten  Zonen  tritt  die  Mannbarkeit  bei  dem  Weibe  iwiachen  dem  9. 
und  2i.  Jahre  ein.  Das  Alter  aber,  wo  der  Eintritt  am  häufigsten  Statt  hat,  ist  das  14.  oder 
15.  Jahr.  2.  Das  mittlere  Alter  der  Mannbarkeit  erleidet  sehr  merkliche  Variationen  je  nach 
der  geographischen  Breite,  in  welcher  man  sie  in  dieser  gemSssigten  Zone  beobachtet,  nnd 
im  Allgemeinen  kann  man  sagen,  das>  der  Eintritt  um  so  früher  erfolgt,  je  mehr  man  lich 
dem  Aeqaator  nähert.  3.  Das  Klima  (wenn  man  darunter  die  mittlere  Jahrestemperator  ver- 
steht) ist  bei  der  Betrachtung  wichtiger,  als  die  geographische  Breite,  so  dass  das  Oeaets 
hinsichtlich  der  geographischen  Breite  nur  wahr  iet.  insofern  das  Klima  mit  der  Breite  im 
Verhältniss  bleibt.  4.  In  den  Fällen,  wo  alle  wahrnehmbaren  Umstände  gleich  sind  und  wo 
das  Klima  variirt,  sind  die  Verschiedenheiten,  welche  man  in  den  mittleren  Altem  der 
Mannbarkeit  bemerkt,  in  einer  geometrischen  Beziehung  fast  gleich  denjenigen  der  mittleren 
Temperaturen. 

Allein  dass  auch  noch  andere  Lebensbedingungen  dabei  zur  Einwirkung  ge- 
langen, ging  ebenfalls  scbon  mit  grosser  Sicherheit  aus  den  Ergebnissen  Marc 
d'Kspint's  hervor,  auf  welche  wir  später  noch  zurQckkommen  müssen. 

Auch  der  englische  Frauenarzt  Tili  bestätigt  den  Einflnss  des  Klimas, 
denn  bei  einer  Vergleichung  der  Zahlen  verschiedener  Beobachter  fand  er,  dass  in 
heissen  Klimaten  die  mittlere  Zeit  der  ersten  Menstruation :  13  Jahre  16  Tage,  in 
gemässigten:  14  Jahre  4  Monate  4  Tage,  in  kalten:  15  Jahre  10  Monate  5  Tage 
betrug.  Allein  auch  Tat  erkennt  noch  andere  Factoren  als  nicht  ohne  Einfluss 
an,  von  welchen  weiter  unten  noch  zu  sprechen  sein  wird. 

Eine  weit  oingehondero  Znsammenstellang  der  Thatsachen  auf  einer  Tabelle,  welche 
(gleichzeitig  die  mittlere  Jahrentemperatur,  die  geographische  Lage,  die  Raue  oder  den  Volk»- 
fltamiii  rubricirt,  verdanken  wir  dem  Berliner  Arzt  Krieper.  Aus  dieser  Statistik  ergiebt 
HJch  ullerding»  eine  entschiedene  Einwirkung  des  Klimas.  FQhrt  man  die  Orte  der  Beobach- 
tung in  einer  Keihenfolge  je  nach  der  steigenden  mittleren  Jahrestemperatur  an,  so  zeigen  sich 
i'olgr*ndo  mittlere  Durch tücfaiiittsalter  hei  der  ersten  Menstruation  nach  Jahr,  Monat  und  Tag. 

Schwedisch-Lappland  18  J.;  Christiania  16  J.  9  M.  25  T.:  Skeen  (Norwegen) 
15  .1.  :,  M.  14  T.;  Stockholm  15  J.  6  M.  22  T.;  Kopenhagen  16  J.  9  M.  12  T.;  Göt- 
tingon  10  J.  2  M.  2  T.;  Berlin  15  J.  7  M.  6T.;  München  16  J.  5  M.  11  T.;  Wien  15  J. 
'r<  M.  15  T.;  Warschau  15  J.  1  M.;  Manchester  15  J.  6  M.  23  T.;  London  nach  Terschie- 
denen  Zilhlungon  zwiHcbon  15  J.  1  M.  4  T.  und  14  J.  9  M.  9  T.;  Paris  nach  verschiedeBai 
Zahlimgen  zwinchcn  15  .1.  4  M.  18  T.  und  14  J.  5  M.  17  T.;  Sables  d'Olonne  14  J.  8  M. 
23  T.;  Lyon  14  .1.  5  M.  29  T.;  Toulon  14  J.  4  M.  5  T.;  Nimes  14  J.  3  M.  2  T.;  Mont- 
]>Allier  14  J.  J  M.  1  T.;  Marseille  18  J.  11  M.  11  T.;  Corfu  14  J.;  Madeira  14  J.  SM. 
(nach  anderer  Angabo  15  .1.  5  M.  10  T.};  Dekhan  13  J.  3M.;  Calcuttal2J.  6  M.;  Lohaia 
11  J.;  Achmim  (Aegypten)  10  J.  und  Sierra  Leone  10  J. 

Eh    ist    hiermit  unzweifelhait  gezeigt,  dass  die  klimatischen  Verhikaur 
nachdem  einen  zeitigenden  oder  verzögernden  Einfluss  ausüben. 


i 

^B(ßDtmatiiJti  bediagen  können.    Weher"  z.  B.  lehnt  einen  Einfliiss  des  Klimas  ab, 
^B   verglich  Individuen    in  St.  Petersburg,    welche   aus   verschiedenen  Theilf^n 
^Ktslandfi  einjiC^WAud^rt  wareo,  und  er  gelangt  dann  zu  dem  Schlüsse: 
^^        /        '  1.1       r  ,  it  es*  unser  Material  betrtöt,  keinen  dirLgreifeoden 

aütv  nnd  die  Schwankungen,  die  dennoch  vorkommen, 

dea  r^kUiuxioiiUtau  tuiU  dati  Ua^^eii  /.aziucbreilien  zu  sein. 


320  ^'  ^i®  Reife  des  Weibes  (die  Pubertät)  in  anthropologiBcher  Bexiehung. 

Krieger  hingegen  vertheidigt,  nachdem  er  die  Verschiedenheiten  der  Lebens- 
weise als  weniger  einflussreich  für  den  Menstruationseintritt  erklärt  hat,  als  die 
verschiedene  Höhe  des  Wohnortes  über  dem  Meeresspiegel,  die  Ansicht,  dass  dn 
wesentlicher  Unterschied  in  dem  mittleren  Alter  der  ersten  Menstruation  besteht, 
je  nach  dem  Himmelsstriche,  unter  welchem  die  Menschen  leben.  Er  beruft  sich 
dabei  mit  Recht  auf  Dubois  und  Pajot^  welche  in  einer  Tabelle  den  Eintritt  der 
ersten  Regel  bei  je  600  Frauen  im  südlichen  Asien,  in  Frankreich  und  im 
nördlichen  Russland  verzeichnen.  Hieraus  liess  sich  berechnen,  dass  in  der 
heissen  Zone  die  grösste  Zahl  der  Frauen  zwischen  dem  11.  und  14.  Jahre,  in 
der  gemässigten  Zone  zwischen  dem  13.  und  16.  Jahre,  in  der  kalten  Zone 
zwischen  dem  15.  und   18.  Jahre  menstruirt  wird.     Krieger  selbst  sagt  nun: 

^Als  die  hauptsächlichste  Ursache  dieses  Unterschiedes  rnuss  daher  allerdingfi  daa  Klima 
angesehen  werden,  und  nur  innerhalb  dieses  Einflusses,  den  das  Klima  ausübt,  oder  als  con- 
stituirenden  Factoren  des  Klimas  wird  der  mittleren  Jahrestemperatur,  der  geographischen 
Länge  und  Breite,  der  Höhe  über  dem  Meeresspiegel,  der  Nähe  des  Meeres  und  zum  Theil 
auch  dem  städtischen  oder  ländlichen  Wohnsitze  einiges  Gewicht  beizulegen  sein.  In  welchem 
Maasse  aber  jeder  einzelne  dieser  Factoren  ein  yorwiegendes  Interesse  in  Anspruch  nehmen 
darf,  ist  zur  Zeit  wohl  kaum  zu  entscheiden.  Der  Rasse  endlich  wird  sich  nicht  jeder  Ein- 
fluss  auf  den  Menstruations-Eintritt  absprechen  lassen,  doch  möchte  es  schwierig  sein,  den- 
selben zu  detiniren.*^  Dann  aber  entscheidet  sich  Krieger  auf  Grund  der  yon  ihm  aufgestellten 
Tabelle  dahin,  «das  es  nicht  die  Rasse,  sondern  vielmehr  das  Klima  ist,  wodurch  der  Untei^ 
schied  in  dem  Alter  der  ersten  Menstruation  bedingt  wird,'  indem  er  weiterhin  behauptet, 
,.dasB  die  Wärme  der  Luft  im  geraden  Verhältnisse  zu  der  früheren  Entwickelung  der  weib- 
lichen Geschlechtsreife  zu  stehen  scheint." 


76.  Der  Einfluss  der  Basse  auf  das  erste  Eintreten  der  Menstrnatton. 

Während  die  bisher  angeführten  Gelehrten  für  die  Verschiedenheiten  in  dem 
ersten  Auftreten  der  Menstruation  in  erster  Linie  das  Klima  verantwortlich  zu 
machen  bemüht  sind,  haben  namentlich  Alexander  von  Humboldt  und  Röberion 
den  Einfluss  der  Rassenangehörigkeit  und  innerhalb  derselben  den  der  Nationalitat 
nachzuweisen  gesucht.  Auch  Tut  hält  diese  genannten  Factoren  nicht  für  wir- 
kungslos, und  wir  müssen  besonders  hervorheben,  dass  einige  Beobachter,  freilich 
ohne  genauere  Zahlen  anzugeben,  z.  B.  Polak  u.  A.,  diesen  Einfluss  nicht  gering 
anschlagen.    Letzterer  sagt: 

^Ueberhaupt  scheint  das  frühere  oder  spätere  Eintreten  und  Erlöschen  der  Menstruation 
mehr  yon  der  Kasse  als  vom  Klima  abzuhängen,  und  obwohl  sie  durch  ein  kaltes,  nOrdlichet 
Klima  verzögert  wird,  so  verwischt  sich  doch  in  allen  folgenden  Generationen  nicht  der  Em- 
fluss  der  Rasse.  Als  Beleg  hierfür  dienen  die  Jüdinnen  in  Europa  und  die  Negerinnen 
in  Persien  und  den  amerikanischen  Colonien.** 

Auch  Oppenheim  schloss  auf  eine  Rassendiflerenz  in  dem  Auftreten  der 
ersten  Menstruation  nach  seinen  Beobachtungen  an  bulgarischen,  türkischen, 
armenischen  und  jüdischen  Mädchen,  und  Lebrun  fand  bei  100  weiblichen 
Wesen  jüdischer  und  slavischer  Herkunft,  dass  eine  grössere  Anzahl  der 
Jüdinnen  schon  im  13.  Jahre  ihre  Menses  bekam,  in  welchem  nur  eine  Slavin 
menstruirte.     (Corre.) 

Mag  hier  nun  die  Verschiedenheit  der  Lebensweise  vielleicht  auch  nicht 
ganz  ohne  Einfluss  sein,  so  ist  doch  eine  so  völlige  Zurückweisung  der  Rassen- 
differenz, wie  wir  sie  bei  Krieger  und  bei  Topinard  finden,  doch  wohl  keinesw^ 
gerechtfertigt. 

Weber  in  St.  Petersburg  kam  bei  seinen  Untersuchungen  zu  den  folgenden 
Resultaten.  Er  bezeichnet  als  „frühzeitigen''  Eintritt  denjenigen  mit  15  Jahren 
und  als  „späteren'^  Eintritt  den  mit  17  Jahren.     Es  fand  sich  ein: 

Russin.  Jadin.      Deutsche.      Polin.        Finnin. 

Früher  Eintritt:        48.5«/o.  54,50/o.  47,1%.  52,70/o.  190,^ 

Spater  Eintritt:        6,36%.  8,7%.  2,90/«.  2.90'o.  19,250/0. 


77.  Der  Einfluss  d.  Standes  und  d.  Lebensweise  auf  das  erste  Eintreten  d.  Menstruation.     321 

Nimmt  man  nun  noch  die  Verhältnisse  für  , vorzeitig*  bis  12  und  «verspätet*  nach 
18  Jahren,  so  kommen: 

Russin.  Jüdin.      Deutsche.     Polin.        Finnin. 

Vorzeitig:       10,60,o.  12,50/o.  8,20/o.  ll,70o.  2,750/o. 

Verspätet:      2,860/o.  1,2%.  3,80/o.  2,90/o.  0,0<»/o. 

Man  vermag  hieraus  zu  ersehen,  dass  bei  den  Finninnen,  trotzdem  im 
Ganzen  die  Menstruation  erst  spät  eintritt,  doch  Verspätungen  zu  den  grössten 
Seltenheiten  gehören;  dasselbe  kann  man  fast  auch  von  dem  vorzeitigen  Eintritt 
sagen;  wogegen  bei  den  Jüdinnen  und  den  slavischen  Völkern  der  unzeitige 
Eintritt,  und  zwar  besonders  der  vorzeitige,  recht  häufig  vorkommt. 

Dass   sich  bei  verschiedenen  Nationen,   selbst  wenn  sie  in  einem  Lande 
zusammen  wohnen,  grosse  Differenzen  zeigen,  geht  aus  den  in  Ungarn  angestellten 
Untersuchungen  Joachim' s  hervor.     Es  menstruirten  dort  zum  ersten  Male: 
Magyarische  Bauernmädchen  im  15. — 16.  Jahre, 

Israelitinnen ,    14.— 15.      „ 

Raizitische  Mädchen „    13. — 14.      „ 

Slovakische        „  ,    16.— 17.      „ 

In  Strassburg  jedoch  fanden  Stöber  und  Tourdts  bei  29  Judenmädchen,  dass  sich 
der  Menstruationseintritt  durchschnittlich  ebenso  verhielt,  wie  bei  den  Mädchen  der  Qbrigen 
Bevölkerung;  er  war  in  keinem  Falle  vor  dem  12.  Jahre,  das  Maximum  war  zwischen  dem 
14.  und  17.  Jahre.  Freilich  sind  29  Individuen  zu  wenig,  um  eine  solche  Frage  zo  ent- 
scheiden. 

77.  Der  Einfluss  des  Standes  und  der  Lebensweise  auf  das  erste  Eintreten 

der  Menstruation. 

Als  einen  ferneren  Factor,  welcher  das  erste  Eintreten  der  Menstruation  zu 
beeinflussen  vermag,  müssen  wir  die  Standesunterschiede  hervorheben  und  die  da- 
durch bedingten  Verschiedenheiten  in  der  Lebensweise,  sowie  das  Aufwachsen 
auf  dem  Lande,  gegenüber  demjenigen  in  den  Städten. 

Das  hat  in  recht  eingehender  Weise  lienseußer  erörtert,  welcher  an  5G11  weiblichen 
Individuen,  die  während  10  Jahren  in  Moskau  lebten,  den  Eintritt  der  Menstruation  fest- 
stellte. Es  Hess  sich  bezüglich  des  ersten  Auftretens  der  Menses  unterscheiden  eine  frühe 
Periode  von  9  bis  12  Jahren,  eine  mittlere  von  13  bis  16  Jahren,  und  eine  spätere  von  17 
bis  22  Jahren.  In  Moskau  hat  sich  nun  mit  Berücksichtigung  der  Stande  Folgendes  ergeben: 
Das  Maximum  der  frühen  Periode  (9  bis  12  Jahre)  fällt  auf  den  Adel  und  die  Ausländer 
(es  werden  keine  Nationalitäten  genannt):  für  die  zweite,  die  mittlere  Periode  fällt  das 
Maximum  auf  die  Geistlichkeit  und  den  Kaufmannsstand;  für  die  dritte  Periode  fällt  das 
Maximum  auf  die  Bauern.  Hiernach  hat  es  den  Anschein,  als  wenn  weniger  das  Klima, 
als  vielmehr  die  physische  Erziehung,  und  wahrscheinlich  die  Nahrung  einen  Einfluss  habe, 
wobei  jedoch  der  durch  Erblichkeit  sich  fortpflanzenden  Einwirkung  der  physischen  Erziehung 
auf  das  Nervensystem  gewiss  auch  Rechnung  zu  tragen  ist. 

Auch  Weher  fand,  dass  Stand  und  Beruf  auf  die  erste  Regel  sehr  einfluss- 
reich sind: 

Nach  seinen  in  St.  Petersburg  angestellten  Erörterungen  kommt  das  Maximum  des 
ersten  Menstruations-Eintritts  auf  das  Jahr  14  bei  Hausfrauen,  Näherinnen,  Wäscherinnen, 
Ladenmädchen,  Schuhmacherinnen,  Hebammen,  Kindermägden,  Wartefrauen;  auf  das  Jahr  15 
bei  Köchinnen,  Schneiderinnen,  Händlerinnen,  Ammen,  Schauspielerinnen,  Feldarbeiterinnen, 
aof  das  Jahr  16  bei  Stubenmägden,  Prostituirten,  Lehrerinnen,  Wartefrauen;  auf  das  Jahr  13 
bei  Lehrerinnen,  Sängerinnen,  Studentinnen  und  Modistinnen  (allerdings  ist  diese  Rubrik  zu 
gering  an  Zahl). 

Ich  kann  nicht  verhehlen,  dass  hierdurch  doch  immerhin  nur  ein  approxi- 
mativer Rückschluss  auf  die  Einwirkung  der  Lebensstellung  zulässig  ist.  Denn 
alle  die  in  der  obigen  Liste  aufgeführten  Personen  haben  doch  natürlicher  Weise 
um  vieles  später  ihren  Lebensberuf  ergriffen,  als  sich  die  erste  Menstruation  bei 
ihnen  gezeigt  hat. 

Ploss-Bartels.  Das  Weib.    C.  Aufl.    I.  21 


322  ^*  I^ie  Keife  des  Weibee  (die  Pubert&t)  in  anthropologischer  BeziAfaniig. 

^Im  Granzen,  so  schliesst  Weher  ^  kOnnen  wir  von  dem  Einfloss  der  Beichftftigiiiig  und 
Lebensweiue  sagen,  dass  bei  unseren  Städterinnen  die  Menstruation  in  den  besseren  Krtisan, 
in  regelmässigen  Verhältnissen,  wo  das  Weib  seiner  Bestimmung  nachsukommen  Torbereitat 
wird  und  sie  schliesslich  in  den  Stand  der  Hausfrau  tritt,  die  Menstruation  zeitiger  ainfaritt; 
wogegen  bei'  den  Proletariern,  Feldarbeiterinnen,  bei  Mädchen,  die  schon  von  KindesbeiiieB 
an  zu  schweren  Arbeiten  angehalten  worden,  die  Menstruation  später  eintritt.  Auffallend  Irflh 
tritt  dieselbe  bei  Mädchen  ein,  die  sich  dem  Studium  und  überhaupt  den  geistigen  Arbeiten 
widmen,  also  bei  Studentinnen,  Lehrerinnen,  Schauspielerinnen,  Sängerinnen  und  dei^leichen.* 

Auch  den  Einfluss  des  Standesunterschiedes  hinsichtlich  des  elterlichen  Berufet  stndirte 
Weber:  es  waren  beim  Bauernstand  im  Mittel  14,8  Jahre,  im  Maximum  15 — 16,  im  Minimnm 
10—11  Jahre;  dagegen,  wenn  man  das  begonnene  Jahr  als  voll  nimmt,  bekommen  wir  16  Jahr» 
als  mittleren  Menstruations-Eintritt;  beim  Bdrgerstand  im  Mittel  14,6  Jahre,  Maximum  14 — 15 
Jahre;  beim  Kaufmannsstand  im  Mittel  14,1  Jahre,  im  Maximum  14 — 15  Jahre;  bei  Adligim 
und  Officieren  im  Mittel  14,1,  im  Maximum  14 — 15  Jahre;  beim  Beamten-  und  Gelehrtn- 
stände  im  Mittel  14,29  Jahre,  im  Maximum  14—15  Jahre;  beim  Soldatenstand  im  Mittel 
14,8  Jahre,  im  Maximum  16 — 17  Jahre;  beim  geistlichen  Stande  waren  die  Zalden  zu  klein, 
um  sicher  die  Zahl  13,9  Jahre  als  Mittel  bezeichnen  zu  kOnnen. 

Der  bedeutende  Einfluss,  welchen  die  Lebensweise  äussert,  ergiebt  sich 
aus  Brierre  de  Boisnionfs  Berechnungen  in  Paris;  er  fand,  dass  durch  luxariSae 
und  bequeme  Lebensweise  sowie  durch  die  verweichlichende  Erziehung  der  Men- 
struations-Eintritt gezeitigt  w^ird.  In  Paris  ist  nach  ihm  das  durchschnittliche 
Alter  des  Pubertäts-Eintritts: 

Bei  Frauen  der  mittleren  Bürgerklassen     15  Jahre  2    Mon. 

^     Handarbeiterinnen 15      ,     10        , 

,     Mägden 16      ,       2       , 

,     Tagelöhnerinnen 16      ,       IV2    • 

Für  P aris  im  Mittel 14  Jahre  4    Moni 

In  Wien  fand  Setikits  das  mittlere  Menstruations- Alter  15  Jahre  and 
8V2  Monate;  hingegen  auf  dem  Lande  in  Oesterreich  16  Jahre  und  2^/2  Monate. 
Dass  Marc  d^Espine  Aehnliches  gefunden  hatte,  das  haben  wir  bereits  oben  ge- 
sehen. Für  Strassburg  und  das  Departement  Bas-Khin  (Elsass)  £Emd  Stöber 
und  Tourdes^  dass  die  Menstruation  in  der  Stadt  meist  im  Alter  von  13  Jahren 
eintritt  und  nicht  selten  auch  schon  im  11.  und  12.  Jahre;  auf  dem  Lande 
scheint  das  Alter  zwischen  15 — 16  Jahren  das  gewöhnlichere  zu  sein,  and  ofl 
erscheint  sie  hier  noch  viel  später. 

Schon  Hippolitns  Guarinanins^  der  in  Hall  bei  Innsbruck  als  Arzt  lebte 
und  dessen  berühmtes  Buch  «Die  Grewel  der  Verwüstung  menschlichen 
Geschlechts^  im  Jahre  1610  erschienen  ist,  hatte  die  Beobachtung  gemacht, 
dass  der  Eintritt  der  Geschlechtsreife  bei  den  Bäuerinnen  und  Städterinnen  nicht 
zu  gleicher  Zeit  erfolge.     Es  heisst  bei  ihm: 

,Zu  guter  KundschafFt  sehen  wir,  dass  die  Bawren  Mägdlein  in  hiesiger  Landtechaflft» 
wie  auch  allenthalben,  vil  langsamber,  als  die  Bürgers,  oder  £delleuth  Töchter,  und  selten 
vor  dem  17  oder  18  oder  auch  20igi8ten  Jar,  zeitigen,  darumben  auch  dise  umb  vil  länger 
als  die  Bürger  und  Edollouth  Kinder  leben,  und  nit  sobald  als  dieselben  veralten.  Item  wir 
spüren  fein  klar,  und  ohne  \'il  Nachsinnen,  dass  in  gemein,  wann  der  Bawren  M&gden  kanm 
zeitigen,  die  Biu*gerlichen  schon  otlich  Kinder  getragen  haben.  Ursacli,  dass  die  Inn wohner 
der  Stätten,  mehreres  den  gaylen  Speisen  und  Trank  ergeben,  darnach  auch  jhre  Leiber  lart, 
weich  und  gayl,  und  gar  zu  bald  zeitig  werden,  nicht  änderst  als  ein  Baum,  welchen  man 
zu  fast  begeust,  sein  Frucht  zwar  bälder  als  die  andern  zeitigt,  aber  nit  so  vollkommen,  nnd 
veraltet  auch  desto  bälder." 

Auch  Marc  d'Espine  hatte  durch  seine  vergleichenden  Untersuchungen 
herausbekommen,  dass  Frauen,  welche  in  Städten  geboren  sind,  oder  daselbst  ihre 
Kindheit  zubringen,  eine  frühzeitigere  Mannbarkeit  zeigen,  als  diejenigen,  welche 
auf  dem  Lande  in  Dörfern  geboren  sind  und  ihre  Kindheit  verlebt  haben.  Der 
Unterschied  in  den  mittleren  Mannbarkeitsjahren  möchte  jedoch  nicht  mehr  ab 
ein  Jahr  betragen.  Die  Grossstädte  haben,  im  Verhältniss  zu  den  Mittelstädten, 
die  Eigenschaft,  die  Mannbarkeit  noch  früher  zu  zeitigen. 


78.  Der  Einflass  d.  voneit.  Geschlechtsgenasses  auf  das  erste  Eintreten  d.  Menstruation.    323 

Schon  die  Aerzte  des  Talmud  wussten,  dass  die  Lebensweise  des  Mäd- 
chens grossen  Eiufluss  auf  die  Eintrittszeit  ihrer  Pubertät  ausQbt.  So  behauptet 
Rabbi  Simon  ben  Gabiel  von  den  Mädchen,  welche  in  Städten  wohnen  und  dort 
Gelegenheit  haben,  öfter  Bäder  zu  benutzen,  dass  bei  ihnen  das  Behaartwerden 
der  Körpertheile  sich  weit  früher  einstelle,  als  dieses  bei  den  Dorfbewohnerinnen 
der  Fall  sei,  wogegen  bei-  letzteren  die  Wölbung  des  Busens  sich  früher  zeigt 
als  Folge  ihrer  anstrengenden  körperlichen  Arbeiten.     (Wunderbar.) 


78.  Der  Einflnss  des  Torzeitigen  Oeschlechtsgennsses  auf  das  erste 
Eintreten  der  Menstruation. 

In  engem  Zusammenhange  mit  dem  Einfluss,  welchen  die  Lebensweise  im 
Allgemeinen  auf  das  frühere  oder  spätere  Auftreten  der  Menstruation  ausübt,  steht 
derjenige,  welcher  durch  einen  verfrühten  Oeschlechtsgenuss  hervorgerufen  wird. 
Es  scheinen  ftir  eine  derartige  prädisponirende  Einwirkung  mancherlei  wichtige 
Thatsachen  zu  sprechen. 

Bei  den  Ehstinnen  stellt  sich  die  Menstruation  trotz  des  rauhen  Klimas, 
trotz  der  abhärtenden  und  den  Eintritt  der  Menses  verzögernden  Lebensweise, 
trotz  der  durchgängig  torpiden  Constitution,  wenn  auch  selten,  schon  im  15., 
selbst  im  14.  Jahre  ein.  Holst  giebt  dies  der  Unkeuschheit  der  Mädchen 
schuld.  Er  glaubt,  dass  durch  die  geschlechtlichen  Reizungen  die  Genitalien  in 
ihrer  Entwickelung  derjenigen  des  übrigen  Körpers  vorangingen. 

Die  Schwierigkeit  des  Beweises  zeigt  sich  aber  in  Folgendem.  Nach  Chervin 
tritt  bei  den  Hindu- Mädchen  die  erste  Regel  keineswegs  früher  ein,  als  bei 
den  Europäerinnen,  die  unter  gleichen  klimatischen  Einflüssen  leben.  Sie  men- 
struiren  im  12.  Jahre,  was  sich  auch  ganz  ebenso  bei  den  anderen  Orientalinnen 
findet  Also  kann  es  hier  jedenfalls  nicht  allein  der  frühzeitige  Geschlechtsgenuss 
sein,  der  diesen  Zeitpunkt  der  ersten  Menstruation  bedingt.  Denn  die  Hindu- 
Mädchen  heirathen  viel  früher  als  die  anderen  Südländerinnen.  Nach  dem  Ge- 
setze des  Manu  dürfen  sie  schon  mit  8  Jahren  in  die  Ehe  treten ;  jedenfalls  aber 
•ollen  sie  sehen  vermählt  sein,  bevor  ihre  erste  Regel  sich  zeigt. 

Die  geschlechtliche  Reife  pflegt  sich  bei  den  Mädchen  der  Nay  er -Kaste  in 
Indien  zwischen  dem  13.  und  15.  Jahre  einzustellen,  nur  ausnahmsweise  vor 
dem  12.  Speer  Schneider^  der  in  Trovancore  lebt,  kennt  Mädchen  der  lUuvar- 
und  anderer  schlecht  genährter  Kasten  Süd- Indiens,  die  im  16.  Jahre  noch 
nicht  geschlechtsreif  waren  und  noch  unentwickelte  Brüste  hatten.  Viele  Mäd- 
chen der  Nayer-Kaste  leben  aber  schon  vom  11.  Jahre  an  mit  Männern. 
(Jagor.    Meyer^,) 

Auch  auf  den  Sandwichs-Inseln  heirathen  die  Mädchen  vor  dem  Eintritt 
der  Pubertät,  und  nach  Dumas  hält  man  daselbst  die  Menstruation  itir  die  Folge 
des  Coitus  und  ihr  Erscheinen  bei  einem  unverheiratheten  jungen  Mädchen  für 
ein  Zeichen  übler  Aufitihrung. 

Für  europäische  Verhältnisse  liegen  zur  Beurtheilung  des  uns  beschäf- 
tigenden Gegenstandes  einige  interessante  Beobachtungen  vor.  Es  sind  Unter- 
suchungen an  Prostituirten,  von  denen,  wie  ja  hinreichend  bekannt  sein  wird, 
viele  ihren  liederlichen  Lebenswandel  schon  in  einem  noch  kindlichen  Alter  be- 
ginnen. Lombroso  macht  uns  Mittheilungen  aus  Italien.  Er  fand  die  Men- 
struation verfrüht  bei  16  Procent,  verspätet  dagegen  bei  9  Procent.  De  Albertis 
fand  bei  28  Prostituirten  ein  normales  Mittel  für  den  Eintritt  der  ersten  Men- 
struation; auch  hier  zeigten  einzelne  Fälle  wieder  eine  erhebliche  Verfrühung, 
andere  aber  auch  wiederum  eine  beträchtliche  Verspätung.  Orimaldi  stellte  6  Mal 
bei  26  Prostituirten  das  erste  Auftreten  der  monatlichen  Reinigung  zwischen  11 
und  12  Jahren  fest. 

21* 


324  ^-  ^^io  Reif®  <1^  Weibes  (die  Pubertät)  in  anthropologiMher 

Die  ausführlichsten  Beobachtungen  auf  diesem  Oebiete  hat  PauUne  Tomairriiy 
angestellt.  Sie  fand  bei  150  Prostituirten  in  St  Petersburg,  die  thnlweiK 
aus  dessen  ländlicher  Umgebung  stammten,  45,99  Procent,  welche  schon  swiflcha 
11  bis  15  Jahren  menstruirt  waren,  während  die  gleiche  Anzahl  Ton  Bauer* 
niädchen  des  gleichen  Gebietes  hierfür  nur  10  Procent  aufzuweisen  hatte.  Hier 
ist  also  ganz  zweifellos  eine  Beschleunigung  des  Eintrittes  der  ersten  MenstmatioB 
durch  den  verfrühten  Geschlechtsgenuss  nachgewiesen.  Dass  der  letztere  wirkfich 
stattgefunden  hat^  wurde  von  Frau  Tarnowshy  auch  festgestellt: 

^11  r^Kulte  de  ces  chiffres  que  32  filles  ont  exerc^  Tacte  sezuel  avant  d'aroir  itteiit 
15  ans;  38  autres  filles  ^  partir  de  15  ans.  Ce  qui  fait  un  total  de  65  fiUes  sor  150  qvi  k 
8ont  abandonn^es  aux  rapports  sexuels  avant  16  ans,  äge  exigä  par  notre  l^gislatioii  poor  li 
coneöcration  du  mariage.  Les  paysannes  illettrees  prises  k  titre  de  comparaiaon,  dont  la  pfai- 
part  dtaient  mariees  et  nieres  de  familles,  n'ayaient  pas  eo  de  rapports  Mzuela  en  moyeane 
avant  Tage  de  18  ans/ 

Von  diesen  Prostituirten  hatten  12  den  geschlechtlichen  Verkehr  mit  13 
«labren  begonnen,  4  mit  12  Jahren,  eine  mit  10  Jahren  und  eine  sogar  bereife 
mit  9  Jahren. 

Aber  nicht  bei  allen  Prostituirten  hat  sich,  wie  wir  bereits  gesehen  haben, 
eine  Verfrühung  des  ersten  Menstruationseintritts  nachweisen  lassen.  Bei  einiga 
zeigte  sich  im  Gegentheil  die  erste  Kegel  in  abnorm  später  Zeit.  Auch  PaiJiV 
Tanwwsly  fand  dieses  bestätigt: 

ylndöpendamuient  de  la  menstruation  precoce  du  plus  grand  nombre  de  noa  prostitote 
quelques- unen  d'entro  elleH  se  distinguaicnt  au  contraire  par  une  nubilit^  tardive.  La  p^riodc 
menstruelle  nc  s*6tablit  ({u'ä  Tage  de  19  ans  choz  20/0  de  nos  prostitu^es.* 

Nun  vermögen  wir  allerdings  nicht  nachzuweisen,  dass  auch  diese  Ver- 
späteten bereits  vor  dem  Eintritt  ihrer  ersten  Menstruation  sich  der  Prostitution 
ergeben  haben.  Es  wäre  ja  immerhin  wohl  möglich,  dass  sie  erst  spater  zu 
diesem  traurigen  Berufe  gekommen  wären.  In  der  That  f&hrt  die  laste  der 
Tarnonshy  49  Personen  an,  die  relativ  spät  sich  geschlechtlich  hingegeben  haben, 
nämlich  26  mit  17  Jahren,  12  mit  18  Jahren,  9  mit  19  Jahren  and  2  mit  21 
Jahren.  Es  bleibt  also  hier  ferneren  Beobachtern  noch  mancherlei  zur  Ent- 
scheidung vorbehalten. 

« 

79.  Anderweitige  Einflüsse  auf  das  erste  Eintreten  der  MenstruatioiL 

Also  nicht  nur  durch  das  Klima,  sondern  auch  durch  manche  anderen  Ver- 
hältnisse, z.  B.  durch  Kasse  und  Nationalität,  Lebensweise,  Beschäftigung,  Er- 
ziehung, Nahrung,  Wohnung,  Kleidung,  Sitten  und  Gewohnheiten  wird  der  Men- 
struationseiutritt  b(\stimnit.  Auch  wurde  bereits  von  Roherton  darauf  hingewiesen, 
dass  die  Indianermädchen  schon  sehr  früh  menstruiren,  die  NegermädcheU 
aber,  die  in  eben  so  heisseu  Zonen  wohnen,  durchschnittlich  in  etwas  späterem 
Alter  reif  werden:  llohnion  sucht  dies  allerdings  dadurch  zu  erklären,  dass  die 
Indianermädchen  mehr  als  die  Negermädchen  vorzeitiger  geschlechtlicher 
Heizung  ausg<»set/i  werden,  denn  vieh'  Indianerinnen  werden  schon  im  10.  Jahre 
Mütter.  Ebenso  behauptet  Lacepidr^  dass  in  denselben  Breiten  und  Klimateu  die 
Pubertätszeit  der  Neger  und  Mongolen  früher  als  bei  Europäern  eintrete. 
Hierbei  wird  wohl  uuf  die  Thatsache  zu  verweisen  sein,  dass  die  angestammten 
Eigentlühuliclikeiten  sich  nur  langsam  und  im  Verlaufe  zahlreicher  Generationen 
vorändern  können.  Eigen thümlicher  Weise  sollen,  wie  man  allgemein  angiebt 
trotz  des  kalten  Klimas  bei  den  Mongolen,  Kalmücken,  Samojedea,  Lappen. 
Kamtschadalen,  Jakuten,  Ostjaken  u.  a.  die  Mädchen  schon  im  12.  bis  13. 
Jahre  menstruiren.  Mag  diese  Behauptung  im  Allgemeinen  wahr  sein  (f&r  die 
Lappen  hat  sie  sich  als  unrichtig  erwiesen),  so  würde  aus  einer  solchen  Thatsadie 
weder  die  Einflusslosigkeit  des  Klimas,  noch  auch  der  alleinige  Einflnss  der 
resultiren.      Vielleicht    muss   hier  auch   die  ganze   Lebensweise,   die   Tonn 


80.  Das  Lebensalter  für  den  Menstruations-Eintritt  bei  den  Europäerinnen.  325 

animalische  Kost  und  die  Gewohnheit,  in  ihren  Hütten  fortwährend  eine  be- 
deutende Hitze  zu  unterhalten,  mit  in  Rechnung  gezogen  werden.  So  weist  auch 
schon  Krieger  die  Argumentation  Walkers  zurück,  der  das  frühe  Erscheinen  der 
Menses  bei  den  Mongolen  als  eine  Eigenthümlichkeit  der  Rasse  bezeichnet. 

Es  sind  aber  ganz  unbedingt  noch  einige  andere  Factoren  nicht  ausser  Acht 
zu  lassen,  welche  auf  das  frühere  oder  spätere  Auftreten  der  ersten  Menstruation 
nicht  weniger  als  die  bisher  genannten  von  bedingendem  Einflüsse  sein  können. 
Dahin  gehört  in  erster  Linie  die  Erblichkeit.  Ich  meine  hiermit  nicht  die 
einfache  Vererbung  der  Nationalität,  sondern  die  oft  so  überraschende  Uebertragung 
individueller  Eigenschaften  auf  die  nachfolgenden  Generationen.  So  erfilhrt  man 
wenigstens  bei  unserer  Bevölkerung  durchaus  nicht  selten,  dass  die  Töchter  ganz 
genau  in  dem  gleichen  Lebensalter  zum  ersten  Male  ihre  Menstruation  bekamen, 
in  dem  sie  auch  bei  der  Mutter  und  der  Grossmutter  eingetreten  war,  und  diese 
Uebereinstimmung  erstreckt  sich  sehr  oft  selbst  auf  die  Dauer  und  auf  die  Quan- 
tität der  blutigen  Ausscheidungen.  Auch  dasjenige,  was  man  früher  gewöhnlich 
als  das  Temperament  bezeichnete,  ist  zu  berücksichtigen,  d.  h.  die  Eigenthüm- 
lichkeiten  der  körperlichen  Entwickelung  und  die  Färbung  der  Haut,  der  Haare 
und  der  Augen.  So  sagte  auch  bereits  Marc  d'Espine:  Die  Bedingungen,  welche 
von  Seiten  des  Temperaments  am  meisten  auf  frühzeitige  Entwickelung  der 
Pubertät  in  unseren  Klimaten  von  Einfluss  zu  sein  scheinen,  sind:  schwarze  Haare, 
graue  Augen,  eine  feine  weisse  Haut  und  ein  starker  Körperbau.  Ein  verspäteter 
Eintritt  der  ersten  Menstruation  trifft  dagegen  zusammen  mit  kastanienbraunen 
Haaren,  grünlichen  Augen,  einer  rauhen  gefärbten  Haut  und  einem  schwachen, 
zart«n  Körperbau. 

Dass  endlich  auch  der  höhere  oder  geringere  Grad  der  Gesundheit  des 
einzelnen  Individuums  nicht  ohne  bestimmenden  Einfluss  sein  kann,  das  bedarf 
wohl  kaum  einer  weiteren  Erörterung.  Allem  zuletzt  Erwähnten  entsprechen  auch 
die  verschiedenartigen  Resultate,  welche  SuUies  in  Königsberg  bei  der  Unter- 
suchung von  3009  Frauen  herausbekam.  Er  vermochte  nachzuweisen,  dass  im 
Durchschnitte  die  erste  Menstruation  mit  16  Jahren  auftrat,  dass  Krankheiten 
und  das  Leben  auf  dem  Lande  sie  später  eintreten  Hessen,  dass  die  Grossen  früher 
als  die  Kleinen  und  diese  früher  als  die  Mittelgrossen,  die  Schwachen  früher  als 
die  Kräftigen,  die  Blonden  früher  als  die  Brünetten  menstruirt  wurden.  Zuerst 
wurden  die  grossen,  schwachen  Blonden,  zuletzt  die  kleinen,  mittelkräftigen 
Brünetten  menstruirt. 

Inwieweit  vielleicht  auch  die  Jahreszeiten  ihren  Einfluss  auf  das  erste  Auf- 
treten der  Menstrualblutung  ausüben  mögen,  darüber  ist  noch  zu  wenig  bekannt, 
Mac  Diarmid  hat  von  den  Eskimo- Weibern  behauptet,  dass  sie  nur  im  Sommer 
ihre  Regel  hätten.  Somit  schreibt  er  der  Winterkälte  also  eine  hemmende  Ein- 
wirkung zu.  Krieger  hat  aber  für  die  Europäerinnen  festgestellt,  dass  bei 
ihnen  nicht  die  warme  Zeit  fordernd  einwirkt;  denn  weder  im  Frühjahr  noch  im 
Sommer  tritt  bei  ihnen  die  erste  Regel  ein;  weit  mehr  als  die  Hälfte  der  von 
ihm  untersuchten  Frauen  waren  zum  ersten  Male  im  September,  im  Oktober  oder 
im  November  von  ihrer  Menstrualblutung  befallen  worden. 


80.  Das  Lebensalter  fOr  den  Menstruations-Eintritt  bei  den 

Europäerinnen. 

Nach  diesen  Erörterungen  wollen  wir  die  Erde  durchwandern,  um  die  Zeit 
des  ersten  Eintretens  der  Menstruation  bei  den  verschiedenen  Nationen  kennen  zu 
lernen.    Ich  b^^ne  mit  den  Europäerinnen. 

Tarigiano  hat  berichtet,  dass  ftLr  Corfa  das  14.  Jahr  als  das  mittlere  Alter  fftr  den 
der  ÜMMlniatioii  sn  betrachten  sei.    In  Bosnien  werden  die  jongen  M&dchen  nach 


326  X.  Die  Reife  des  Weibes  (die  Pubertät)  in  anthropologischer  Besiehnng. 

Mrazoric  für    gewöhnlich   mit  14  bis  15  Jahren  reif.    Für  Spanien  und  Italien  wird  ron 
Virey  das  Alter  von  12  Jahren  als  das  durchschnittliche  angegeben. 

In  Rom  werden  die  M&dchen  schon  von  Alters  her  mit  12  Jahren  für  heirathafthig 
gehalten,  doch  schon  Zacchias,  der  dort  als  Arzt  prakticirte,  erklärte  nach  TiWa  Angaban, 
dasB  kaum  der  zwölfte  Theil  der  römischen  Mädchen  mit  12  Jahren  schon  menaimirt  sei, 
ja  viele  sogar  noch  nicht  mit  14  Jahren,  obgleich  er  auch  solche  gekannt  hätte,  deren  Ifensei 
schon  im  9.  Jahre  eingetreten  waren. 

Aus  Italien,  besitzen  wir  eine  Liste,  welche  ihren  Werth  durch  Trennung  de«  Landes 
in  einen  nördlichen,  mittleren  und  südlichen  Theil  hat  und  sich  auf  2652  Fälle  erstreckt 
Im  nördlichen  und  mittleren  Italien  fällt  die  Mehrzahl  der  Fälle  auf  das  14.  Jahr  (20,10 
und  19,50  o/o),  im  südlichen  hingegen  auf  das  13.  Jahr  (16,75%),  doch  kommen  auch  im  sfld- 
lichen  Italien  verhältnissmässig  noch  hohe  Procentzahlen  auf  die  späteren  Leben^ahre,  so 
dass  selbst  noch  vom  15.  bis  20.  Jahre  sehr  viele  Mädchen  zum  ersten  Male  menstruiren. 
Bis  zum  16.  Jahre  ist  im  mittleren  Theile  des  Landes  eine  weit  grösser^  Zahl  von  Mädchen 
reif,  als  im  südlichen. 

Cleghom  giebt  von  Minorca  an,  dass  die  erste  Menstruation  meistentheils  vor  dem 
14.  Jahre,  oft  aber  schon  mit  11  Jahren  eintritt. 

Ich  schli esse  hier  gleich  Madeira  an,  obgleich  es  streng  genommen  nicht  za  Europa 
gehört.  BasSf  der  lange  daselbst  lebte,  hat  aus  240  Fällen  das  mittlere  Alter,  in  welchem 
die  eingeborenen  Mädchen  dort  menstruiren,  auf  14  Jahre  und  8  Monate  berechnet»  während 
Dyster  bei  67  der  von  ihm  gesammelten  228  Fälle  den  ersten  Eintritt  erst  im  16.  Jahre 
fand;  als  Durchschnittsalter  bezeichnet  er  15  Jahre  5^/3  Monate. 

Ueber  Frankreich  htit  Brierre  de  Boismont  eine  Arbeit  geliefert,  in  welcher  er  unter 
1111  Fällen  einen  fand,  wo  die  Regeln  im  6.,  einen  zweiten,  wo  sie  im  8.  Jahre  begannen, 
im  10.  Jahre  schon  10,  im  11.  29,  im  12.  93,  die  grösste  Zahl:  190  oder  17,lo/o,  menstmirte 
aber  erst  im  16.  Jahre,  und  auch  im  18.  sind  immer  noch  127  verzeichnet  Als  das  dnrdi- 
schnittlicbe  Alter  lassen  sich  hieraus  für  Paris  nach  dem  Verfasser  14  Jahre  6  Monate  4  Tage 
berechnen.  Aran  giebt  dagegen  15  Jahre  4  Monate  und  8  Tage  als  mittleres  Menetroations- 
alter  für  Paris  an.  Man  ersieht  hieraus  so  recht,  was  für  falsche  Bilder  die  Berechnangen 
eines  sogenannten  durchschnittlichen  Alters  zu  geben  im  Stande  sind. 

Wenden  wir  unsere  Blicke  auf  Deutschland,  so  finden  wir,  dass  aus  mehreren  Städten 
des  Reichs  zablengemässe  Erhebungen  vorliegen.  Die  umfassendsten  Untersuchungen  stammen 
von  Krieger  und  Louis  Mayer  in  Berlin,  dieser  benutzte  6000,  jener  5500  Fälle.  Am  ihrer 
Tabelle  ist  ersichtlich,  dass  der  Beginn  der  Menstruation  am  häufigsten  im  15.  Jahre  erfolgte 
(18,931%  der  Falle),  diesem  steht  das  14.  Jahr  am  nächsten  (18,213<>/o);  bei  den  übrigen  sind 
die  späteren  Lebensjahre  weit  reichlicher  vertreten,  als  die  früheren.  Die  Mehrzahl  dieser 
Fälle  entstammte  der  Privatprazis,  und  somit  kann  es  sich  vielfach  um  von  anderswoher  Ein- 
gewanderte gebandelt  haben.  Marcuse  benutzte  daher  3000  Fälle  aus  der  Berliner  gynä- 
kologischen Klinik,  die  naturgemäss  aber  auch  nicht  frei  von  eingewanderten  Elementen  ist; 
sie  erhält  ihr  Material  aber  nur  aus  den  niederen  Ständen  und  hier  fand  der  durchschnittliche 
Eintritt  der  Menses  im  16,18.  Lebensjahre  statt. 

Ueber  das  Auftreten  der  Menstruation  bei  der  Münchener  Bevölkerung  hat  Heeker 
an  8114  Fällen  aus  der  Gebäranstalt  und  Poliklinik  Untersuchungen  angestellt.  Hier  sind 
das  16.  (16,920  0),  17.  (16,44 O'^)  und  18.  (15,61 0'o)  Jahr  in  absteigender  Folge  die  häufigsten 
Termine  für  den  Eintritt  der  Menstruation,  dann  folgt  das  15.  (15,32  o/o),  19.  (10,37  0^0).  14. 
(8,89  o'o),  20.  (7,51 0,0)  Jahr  u.  s.  w.  In  den  drei  genannten  Jahren  menstruirten  zum  ersten 
Male  im  Ganzen  48,97  "/o,  vor  dieser  Zeit  29,37%,  nach  derselben  21,620o.  Hecker  trennte 
bei  seinen  Untersuchungen  aber  auch  die  Stadtbevölkerung  von  dem  Landvolke,  welch 
letzteres  fast  ausschliesslich  aus  Oberbajern  stammt.  Er  gelangte  zu  dem  Rmoltate: 
,Mü neben  verhält  sich  bezüglich  des  Menstruations-Kintritts  ziemlich  ebenso,  wie  Ober- 
bayern; hier  wie  dort  tritt  die  erste  Menstruation  durchschnittlich  ziemlich  spät  ein.* 
Später  hat  SchUchiing  an  8881  Fällen  der  Münchener  Klinik  und  Poliklinik  ebenfalli  das 
16.  Jahr  als  das  höchstbelastete  (mit  18,534%)  gefunden;  die  Mehrbelastung  des  16.  Jähret 
bei  den  Städterinnen  erklärt  er  daraus,  dass  die  die  Gobilranstalt  besuchenden  Städterinnen 
mehr  der  niederen  Klasse  angehören,  während  die  auswärtigen  zum  Theil  auch  aus  den  be- 
sitzenden Ständen  stammen. 

Vergleicht  man  nun  München  mit  Berlin,  so  findet  man  auffallende  Unterschiede 
zu  Gunsten  der  Berlinerinnen:  In  Berlin  ist  das  14.  Jahr  mit  Id^/o  und  das  15.  ungefthr 
mit  19^,0  vertreten,  während  die  höchsten  Procente  in  München  das  15.  mit  17V2^/o  und 
das  16.  mit  18^/40/0  giebt.    Sdiliehting   macht   darauf  aufmerksam,   dass  Berlin   nngefUir 


80.  Das  Lebensalter  für  den  Menstroations-Eintritt  bei  den  Europäerinnen.         327 

41/2  Grad  nördlicher  liegt,  als  München,  daf&r  aber  fast  um  500  Meter  niedriger.  Diese 
500  Meter  scheinen  nicht  nur  den  Breitengrad-Unterschied  zu  compensiren,  sondern  lassen  so- 
gar die  Jungfrauen  Berlins  um  ein  volles  Jahr  frfiher  ihre  Menses  zeitigen,  als  die 
Mfinchnerinnen.  Er  schliesst  mit  den  Worten:  ,Aus  dem  (Ganzen  möchte  hervorgehen, 
dass  die  klimatischen  Einflüsse  auf  den  Eintritt  der  ersten  Menstruation  sehr  bestimmend 
wirken.*  Allein  wir  fragen,  ob  nicht  auch  die  differente  Lebensweise  mit  in  Anschlag  zu 
bringen  ist? 

Auf  dem  Lande  in  Bayern  scheint  der  Menstruations- Eintritt  überhaupt  ziemlich 
spät  zu  fallen,  denn  Flügel  berechnete  im  Frankenwalde  die  mittlere  Zahl  des  normalen 
Eintritts  auf  17  Jahre  und  5^/2  Monat. 

In  Oesterreich-Ungarn  hat  Szukits  2275  Fälle  der  verschiedenen  Nationalitäten 
analysirt.    Es  zeigte: 

Ungarn aus  118  Fällen  im  Mittel  15  J. 

Schlesien 63       ,         ,         ,       16  ,     1  M.  15  T. 

Böhmen .430       .         ,         ,       16  .     2    , 

Ober-  und  Nieder-Oesterreich     ,    603       ,         „         ^       16  ,     3    , 

Mähren ,273      ,         ,         ,       16  ,     3    .    23    , 

aus  Bayern ,      66       ,         ,         ,16,10, 

Gesammtstaat  Oesterreich 15  J.  7^2  M. 

Unter  665  in  Wien  geborenen  Frauen  fand  Szukits  die  Zahl  der  nach  dem  16.  Jahr 
Menstruirten  (303)  viel  grösser  als  die  der  vor  dieser  Zeit  Menstruirten  (152);  bei  den  1610 
Frauen  vom  Lande  war  dieses  Missverhältniss  noch  grösser,  indem  888  nach  und  nur  304  vor 
dem  16.  Jahre  menstruirt  waren. 

In  Strassburg  traf  bei  600  in  der  Matemite  aufgenommenen  Frauen  nach  Stols'8 
Beobachtung  die  grösste  Zahl  auf  das  Alter  von  14 — 18  Jahren,  das  Maximum  auf  das  18.  Jahr. 
In  einer  Strassburger  Tabaksfabrik  ermittelte  Levy  bei  649  Frauen  als  mittleres  Alter  der 
Arbeiterinnen  15  Jahre  (200/o);  dann  kam  das  14.  (19,630.o)  und  das  16.  Jahr  (19,170/o);  im 
Alter  von  18  Jahren  traten  die  ersten  Menses  aber  immer  noch  bei  10,78%  ein. 

Wenn  für  Lyon  Petrequin  aus  432  Fällen  das  durchschnittliche  Alter  auf  15  Jahre 
6  Monate  berechnete,  so  macht  schon  Krieger  darauf  aufmerksam,  dass  hier  wohl  ein  Rech- 
nungsfehler zu  Grunde  liegt,  da  andere  Beobachter  sehr  abweichende  Resultate  hatten;  denn 
BouchcLCWirt  giebt  den  Menstruationsanfang  für  Lyon  auf  14  Jahre  5  Monate  29  Tage,  für 
Marseille  und  Toulon  auf  13  Jahre  10  Monate,  und  Marc  d'Espine  für  Paris  auf  14  Jahre 
11  Monate  20  Tage,  für  Toulon  auf  14  Jahre  4  Monate  29  Tage,  für  Marseille  auf  13 
Jahre  11  Monate  11  Tage  an.  Diesen  Beobachtern  standen  jedoch  viel  zu  kleine  Zahlen  zu 
Gebote,  um  aus  ihnen  statistisch  sichere  Resultate  zu  gewinnen;  Bouchacourt  nämlich  benutzte 
nur  160,  Marc  d'Espine  für  Toulon  43,  für  Marseille  sogar  nur  24  Fälle. 

Zahlreiche  Berichte,  die  sich  auf  grosse  Zahlen  stützen,  liegen  aus  Grossbritannien 
vor.  Allein  es  ist  keineswegs  thunlich,  für  das  ganze  Land  ein  mittleres  Alter  des  Pubertäts- 
Eintritts  berechnen  zu  wollen.  In  London  fand  Guy  bei  1498  Fällen  die  Mehrzahl  im  15. 
(17,80,o)»  im  16.  (19,40'o)  und  im  17.  (14,6«/o)  Jahre  zum  ersten  Male  menstruirt;  Krieger 
berechnet  hieraus  das  mittlere  Alter  zu  15  Jahren  1  Monat  4  Tagen.  Tut  berechnete  da- 
selbst aus  1551  Fällen  das  Alter  von  15,06  Jahren.  Wir  übergehen  die  Angaben  von  Lee  und 
Murphy  sowie  von  West,  und  führen  nur  noch  die  von  Walter  Higden  aus  2696  Fällen  zu 
London  berechnete  Zahl  von  durchschnittlich  14,96  Jahren  an.  Für  Manchester  liegen 
die  Zählungen  von  Mliitehead  vor,  der  in  4000  Fällen  als  Mittel  15  Jahre  6  Monate  23  Tage 
berechnete,  während  Rdberton  sich  für  Manchester  auf  zu  kleine  Zahlen  beschränkte  und 
bei  seinen  weiteren  Angaben  über  die  Engländerinnen  unterliess,  anzufahren,  aus  welchen 
Gegenden  diese  stammten. 

In  Kopenhagen  fanden  Ba\>en  und  Lety  bei  3840  Fällen  das  mittlere  Alter  zu  16 
Jahren  9  Monaten  12  Tagen,  in  Christiania  Frugel  bei  157  Fällen  13  Tage  mehr;  Vogt 
bei  1821  Norwegerinnen  16,12  Jahre;  in  Stockholm  JFViye  bei  548  Fällen  16,6  Jahre,  der- 
selbe in  Skien  bei  100  Fällen  15  Jahre  5  Monate  14  Tage.  Wretholm  gab  für  das  schwe- 
dische Lappland  18  Jahre,  Vogt  für  die  Quänen  in  Finland  15,2  Jahre,  Berg  für  die 
Faröer-Inseln  bei  122  Fällen  16,13  Jahre,  Heinricius  für  Finland  bei  3500  Fällen  (der  ge- 
burtsh.  Klinik  zu  Helsingfors)  15  Jahre  9  Monate  25  Tage  an. 

Ueber  die  Menstruationsverhältnisse  der  Frauen  in  St  Petersburg  haben  besonders 
die  Arbeiten  von  Horwitt,  Lieven,  Tamowsky,  Enko,  Bodxewitsch  und  Weber  wichtiges 
Material  beigebracht.    Aus  seiner  Privatprazis  hat  Wdier^  2875  Frauen  und  Mädchen  bezüg- 


i'.-L  jm»  -.L''..r<ft<*iii  der  ^rsus.  %en!:inift.tJDz.  ssiierBDrlxi.  -«^»ba  er  &■&.  tes  vob  ika^  10  = 
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:*  -»  .  ::•  .  il:;  2-j  /tLr*fi-  •  =  iüT",  mh  i'l  Jfcijran.  S  =-  it?*^.  nt  22  JbIuvb.  2  = 
...'    .    iij-  !^T  /uu^L  zcn  ffTBLei:  M^«>  :i)eni>-:r=iri  wveiL    ASordiBfi  »mm  kio' aaeh  Kimakt 

i.'.rfr  •!'.  '^u':'  '.•e.  yli-tg^L  Tj*-^eir;>.i  haci.  SiTTnngg:  der  MartnmäoB  Toriii^em.  Das  MkzuBH 
*^^r  A»?;.^'.rLi.":..-.i:k'J:lLir.u*  fijji  irfri#rri  fc^:  21.:;  141»  JkbreiL  MSeter  fiad  ftr  St.  Peteri- 
■.-..'?  :.*:  J.- -..".. 'jv.lx.: i-^iil.  TvL  :.'7J.  BiTtr.::  t:.l  17.58  JAiixvn iiack aeiBer  Fnratptmzü,  md 

'.•1  .'.'-■  ^fcp'.i    '-itL  li*':\»L,:LTL:.r*-L  o^,  q«l  rieeutbera  der  Ambnljuit  im 

-•v.  vr-  .-.^L  i.-^  Itf «;•!.>•  DT^.:  fpL:^:  eiz.'u-e'^L  <-:''. jes.i.  Liereft  häX  fSr  die  aitlieve  Zeit  dei 
l!Ctfzi'-h^-},.'^\r.\Vt  i&s^^.'ci  I'..-r4  .'bi-r?  re^tz'fseLzi  Pbtiezitiimem  d«  Hfhammenmetmit»;-  Ter- 
'  :•  (' < I. .  -^.hw  W.  -'•'.' .•'.'  ?£k tir'i.i: LZ;eL  ües  Peter» bnrgf-r  «jeb8Amn»Bi  die  Wi— ^i»^i  «of 
I- .%  /fci/?  <j:.    £^r.f.':  ihz..  JL  ier  Lrirä:.ru.Ii  de:  jl<«;z:fl«f£?^-MLdebeiiixii4itiru.  also  bei  voU- 


Sl.    IIa«;  LtlMrnMltcr  für  den  Menstnutions-Eintritt  bei  d»  AsiatiBBML 

NL/jl-1  K-r. ;  ä  "if-j^i:  ::r-  5L«r  d«  Lrl-enshlter.  in  welchem  dai  junge  Mädchen  inert 

.:.  PiklarTiLä  :.-■::  r.i.L  J  .^.Vr  -üe  PulienÄ:  neifi  im  13.  Jahre,  seltener  schon  im 
l'-i.  ^k.:.TSr.  :r.  A  .:.-:_äi;Su^f^lleL  hjZaz  z^'y.L  früher  ein.  litpler  giebi  fiir  SmTrnm  daf  II.  b» 
]-'.  Z'A\T.  Oj'j-irfJirtttt  i^  üe  Türke,  sozar  *.cr;:ii  da*  10.  Jahr  an.  Ancfa  die  Araberin  be- 
f.Lz.\  r.ä'.-:.  yi^luhr  in^  AI^?r  v.-  ]0  Jahren  z::  menstrciren. 

In  Persien  zeigen  ^:ii.  7i:ier&cbieäe  je  nach  der  geographischen  Lage.  Hämissdie 
'i^;ri  vvi;  öer^  Mäör-Len  der  Priv:r.>:  Gilar.  a=i  Cafii-5ee.  -ias*  sie  mit  14  Jahren  ihre  Reife 
errel'.LeL:  P'jiah  etel^ie  f^  d&s  z^-rdliciie  Per^ien  diesen  ^itpnnkt  mit  13  Jahren  fest: 
'  h.-irdtn  a^i^tr^jen  fand  iiL  :?ilden  die  ert:e  Keg-e!  zwischen  dem  9.  imd  lö.  Jahre. 

I:j  JI  i  n  d  'j  f  I  a n  L  a  1  c  u :  i  a  häiie  nach  dieser  Eichtang  hin  znent  Ecberfon  Stadien 
g'ra.acLt:  von  C^  be^'V-a^/Lteier.  Kl^liei.  ka=j  hier  die  Mehrzahl  auf  dai  durchschnittliche  Alter 
von  12  Jahren  und  4  Monaten.  NacL  eiüem  Berichte,  den  Bolierlon  aus  Bangalore.  District 
Mvrorf;.  10  Grad  fc^ldliciif-r  w:e  «.  a-cuitft.  erhielt,  traten  dort  die  Mensei  durchschnittlich 
D.it  1^^  Jahren  2  Mina'.en  pii..  Ir.  Dekban.  District  Bo^^l-ay,  fanden  Leith  und  Andere 
;r:t«r  hirLJiziiig  von  ä'jl  Fi.  1er-  1:;  Jahre  und  o  Monate  al>  mittleres  Alter.  Gooder^e  in 
Cal'.-Jtia  er L'.h teile  a-jf  GruL-i  vgl  2>i:^  Beobachtungen  das  durchschnittliche  Alter  fOr  den 
M'rrji»tr-ai:or.>;- Ein  Tritt  a-jf  12  ^az^re  0  M:n.:  ähnlich  5rrTfjrt  au«  nur  37  Fällen  fftr  den  District 
\irafiti\trn  a-j:  12  Jahre  ^^  4  ^lon.  Nach  der  Aussage  von  AUan  IIVW»  tritt  bei  den  Hindn- 
Mä'Jche.'j  die  Menästr-jaiir-ii  -e'.ten  vrr  dem  12.  Jahre  ein:  unter  127  Hindu-Mftdchen  waren 
nur  **•  fj\iher  !:.en=tr jin :  dagegen  kommen  die  Menje»  oft  erst  im  16.  bis  18.  Jahre.  WM 
;;.eirit.  da-^  di-;  j-hysiologi-chen  Verhältnisse  bei  den  Hindu-Weibem  dieselben  eeien,  wie 
oei  defj  K  jroiäerinnen.  d^tsi  sie  weder  durch  die  Nationalität  noch  durch  das  Klima  be- 
«f;ritiu-';t  w-jrden. 

i^ie  Mädchen  der  .'?  inghalesen  auf  L  eylon  menstrniren  nach  Schmarda  zuerst  Ewiacfaea 
«jt'Di  l'j.  'imi  14.  Jahre. 

In  ^iam  tritt  na'.h  CamphiJf  da-  junge  Mädchen  nur  äusserst  selten  früher  als  im 
IJ.  Jahre  und  o  Monat  in  das  Pubertätsalter  ein,  meist  erst  später  ini  14. — 18.  Jahre,  so  dasi 
;ijj  Allgeu-eiiien  die  Menstruation  hier  verhältnissmässig  spät  sich  ündet.  Cumpbell  selbst  be- 
ova«:Mete  keinen  Faü.  in  welchem  i^ich  die  Menses  vor  12  Jahren  3  Monaten  aeigten;  von 
./O  Mä'i'.hen  uienttruirten  '>  nach  zurückgelegtem  zwölften,  S  nach  dem  dreizehnten,  3 
derij  w<'r/ehnten.  10  nach  dem  tünfzehnten.  2  nach  dem  .^sechzehnten.  1  nach  dem 
/••/ifiten  Jahre.  Demnach  tritt  in  Siam  die  Menstruation  mei*t  nach  zurflckgelegtem  IS. — Ift. 
U^re  ein 

In  Cochinchina  hat  Moudün  9S0  annamitische  Frauen  untersucht:  hier  fiel  die 
er>ie  Mentitrwation  i-ehr  spät,  im  Durchschnitt  auf  1«»  Jahre  ?  Monate;  am  hOehatea 
'la%  V».  'M.il  'l'iM'hh  das  16.  (mit  22,i^a^,.)  und  das  17.  (mit  23.26« 0)  Jahr.    Uiilar  < 
P^ai^t^eii   von  Cochinchina  ist  nach  demselben  Autor  die  .\nnamitin  am  frflhHli 
^truirt.  mit   10  Jahren  und  4  Monaten:  nächstdem  folgt  die  Chinesin  mit  16^ 
0  .Monaten:  dieser  schliesst  sich  die  Mischrasse  der  Minh-huong  mit  16  JahmaM* 


82.  Der  Menstniations-Einiritt  bei  d.  Afrikanerinnen,  Oceanierinnen  u.  Amerikanerinnen.     329 

an,  nnd  am  spätesten  tritt  die  Regel  bei  den  Cambodjerinnen  auf,  nämlich  mit  16  Jahren 
und  10  Monaten. 

In  Japan  erfolgt  nach  dem  Bericht  eines  russischen  Arztes  der  Menstruations-Kintritt 
gewöhnlich  im  14.  Jahre,  zuweilen  schon  im  13.  Auch  Wernich  giebt  an,  dass  in  Japan 
die  Menses  im  14.  und  15.  Lebensjahre  eintreten.  Seltener,  als  sehr  früh  menstruirte  Personen, 
sind  später  menstruirte;  doch  gehört  ein  Anfang  der  Periode  vor  dem  12.  Lebensjahre  schon 
zu  den  auffallenderen  Erscheinungen.  Die  Mädchen,  bei  welchen  die  Menstruation  sehr  lange 
(bis  ins  18.  Lebensjahr)  auf  sich  warten  lässt,  sind  gewöhnlich  nicht  krank,  am  seltensten 
bleichsQchtig  in  unserem  Sinne,  sondern  sie  sind  in  der  Entwickelung  einfach  zurückgeblieben 
und  bleiben  auch  geistig  Kinder.  Wemidij  der  dies  nach  seinen  Beobachtungen  in  Yeddo 
mittheilt,  berichtet  eine  Aousserung  seines  Dolmetschers  über  solche  Mädchen,  deren  Men- 
struations-Eintritt  sich  verzögerte:  ,Sie  bekümmern  sich  nicht  um  Haarnadeln  und  künstliches 
Aufloupiren  des  Haares,  sie  pudern  sich  nicht  den  Hals  und  legen  nicht  den  Gürtel  des  er- 
wachsenen Mädchens  an,  sondern  kleiden  und  geberdon  sich  wie  Kinder,  spielen  mit  den 
Knaben  auf  der  Strasse  u.  s.  w.**  Ihre  körperliche  und  geistige  Entwickelung  hat  etwas  Ab- 
weichendes; sie  bleiben  eckig,  während  sonst  die  entwickelte  Japanerin  mit  der  ersten 
Menstruation  sehr  starke  Formen  bekommt  und  besonders  an  den  Brüsten  und  Hüften  ausser- 
ordentlich in  die  Breite  geht. 

Veranlasst  durch  Generalarzt  T.  Ishiguro  hat  Moriyasu  mit  seinen  Collegen  eine  Tabelle 
über  den  Eintritt  der  ersten  Menstruation  bei  Japanerinnen  zusammengestellt,  welche  sich 
auf  584  Frauen  in  Tokyo  bezieht. 

Die  Menstruation  trat  ein: 


11. 

Jahre  bei      2, 

12. 

.         2, 

13. 

.       26, 

14. 

.       78, 

15. 

,    224, 

Itf. 

.    228. 

17. 

.      68, 

18. 

.      44, 

19. 

.       10, 

20. 

2. 

Für  die  Mädchen  der  Mongolen  und  Chinesen  stellte  Hureau  de  Villeneuve  die  Zeit 
zwischen  dem  12.  und  13.  Jahre  als  das  Mittel  für  den  Eintritt  der  ersten  Hegel  fest.  Die 
gleiche  Zeit  giebt  auch  il/orac/ie  für  die  Chinesinnen  von  Peking  an.  Scherzer  hingegen 
behauptet,  dass  in  China  erst  im  Alter  von  15  bis  16  Jahren  die  Pubertät  einzutreten  pflege. 

82.  Das  Lebensalter  fOr  den  Menstruations-Eintritt  bei  den  Afrikanerinnen, 
den  Oceanierinnen  und  den  Amerikanerinnen. 

Es  ist  begreiflicher  Weise  nicht  leicht,  bei  fremden,  und  namentlich  bei  uncivilisirten 
Völkern  entsprechend  genaue  Angaben  zu  erhalten  und  die  nothwendigon  Beobachtungen  zu 
machen  über  das  Lebensalter,  in  welchem  die  erste  Menstruation  sich  einstellt.  Wissen  doch 
die  Leute  häufig  selber  nicht,  wie  alt  sie  sind.  Wenn  die  Reife  eingetreten  ist,  kann  man 
es  bei  vielen  Volksstämmen  an  gewissen  Ceremonien  oder  anderen  Maassnahmon  erkennen, 
und  das  vermag  denn  immerhin  einen  gewissen  Anhalt  zu  geben.  Was  darüber  bekannt  ge- 
worden ist,  möge  hier  seine  Stelle  finden. 

Die  Negerin  wird  im  Allgemeinen  nach  Roberton  nicht  sehr  früh.  d.  h.  zwischen  dem 
13.  und  17.  Jahre,  durchschnittlich  mit  dem  15.  Jahre  menstruirt,  doch  kommen  nach  ihm 
auch  Fälle  vor,  wo  schon  mit  11  Jahren  die  erste  Regel  eintritt.  Bei  den  Woloffen-Mäd- 
chen  am  Senegal  glaubt  de  Bochehrune  die  Reife  zwischen  dem  11.  und  12.  Jahre  annehmen 
xu  dürfen.  In  der  Bai  von  Biaffra  fand  Daniell  das  11.  bis  12.  Jahr,  bei  Negerinnen  in 
Aegypten  Pruner  den  Zeitraum  vom  10.— 13.  Jahr,  Bigler  daselbst  vom  9.— 10.  Jahr.  Die 
Mädchen  tollen  sa  Mensa  nach  Brehm  im  13.,  die  Bogos  nach  Hunzinger  erst  im  16.,  die 
Sxaaheli -Mädchen  in  Zanzibar  gewöhnlich  im  12.  oder  13.  Jahre  reif  werden,  die  Mäd- 
chen der  Wanjamueii  nach  Beidiard  mit  dem  10. —13.  Jahre.  Die  Mädchen  der  Beräbra 
eniwickefai  wdl  aaoh  Bartmann  nicht  so  früh  wie  die  ägyptischen;  sie  gewinnen  ihre 
Blatbenü  miüiliM  Ift  und  19  Jahren,  die  Somali-Mädchen  nach  Haggemacher  erst  im 
Ift.  Jahn. 


330  ^*  ^^0  Reife  des  Weibes  (die  Pubertät)  in  anthropologischer  Besiehung. 

Aus  diesen,  offenbar  nur  durch  Abschätzung  gewonnenen  Angaben  ersehen  wir,  wie 
mannigfach  und  von  einander  abweichend  unter  den  Völkern  Afrikas  die  Verhftibiiise  an- 
genommen werden.  Der  Zukunft  bleibt  die  Richtigstellong  vorbehalten;  und  ITaUcengteiii} 
sagt  gewiss  mit  Recht:  ,Ich  bin  nun  weit  entfernt  davon,  zu  negiren,  dass  unter  den  Tropei 
der  Eintritt  oft  bei  12  Jahren  und  auch  früher  beobachtet  wird,  ich  man  aber  anfUuen, 
das8  mir  in  mindestens  eben  so  vielen  Fällen  die  Mädchen  (der  Neger  an  der  Loango- 
Eüste)  ein  Alter  von  14—15  Jahren  zu  haben  scheinen.  Ich  glaube  also,  dau  die  Gienifln 
für  das  Auftreten  bei  den  verschiedensten  Völkern  näher  liegen,  als  man  annimmt^  und 
möchte  davor  warnen,  das  Alter  nach  dieser  Erscheinung  in  Einklang  mit  den  bisherigen 
Annahmen  schätzen  zu  wollen,  ohne  zugleich  die  ganze  Körperbeschaffenheit  des  Individnanu 
mit  in  Betracht  zu  ziehen.* 

Diese  Meinung  stimmt  im  Allgemeinen  mit  dem  Ausspruche  NcuhtiffaVs  überein.  Dem 
dass  in  Fozzan  die  Pubertät  so  aussergewöhnlich  früh  eintrete,  wie  manche  Reisende  be- 
richten, konnte  Nachtigal,  der  dort  bekanntlich  als  Arzt  prakticirte,  nicht  bestätigen.  Er  ah 
ebenso  viele  Mädchen,  die  mit  15  Jahren  nicht  menstruirt  waren,  als  solche,  die  das  Zeichen 
der  Reife  schon  mit  12  Jahren  darboten.  In  Algier  föllt  die  Pubertätszeit  der  Araberii 
nach  Bertherand  auf  das  Alter  von  9 — 10  Jahren. 

Bei  den  australischen  Schwarzen  am  Finke-Creek  tritt  die  Menstniatioi 
gewöhnlich  wohl  schon  mit  dem  8.,  spätestens  aber  im  12.  Lebensjahre  ein  (nach  Missionar 
Kernpe). 

In  Neuholland  werden  nach  Macgregor  die  Mädchen  mit  dem  10. — 12.  Jahre  mann- 
bar, in  Neu-Caledonien  nach  Bourgarel  im  12.  Jahre,  nach  Vinson  im  12. — 15.  Jahre  und 
später,  nach  Fi'c^or  de  Eoduxs  im  12.-13.  Jahre;  auf  den  Fiji-Inseln  nach  Wilkea  erst  mit 
dem  14.  Jahre.  Ueber  dieselbe  Inselgruppe  berichtet  Blyih:  «Wie  in  allen  tropischen  Gegen- 
den, so  tritt  auch  in  Fiji  die  Pubertät  in  frühem  Alter  ein;  die  Fiji -Mädchen  beginnen  im 
Durchschnitt  mit  10  Jahren  zu  menstruiren.  Das  Auftreten  der  Pubertät  wird  dann  als  ein 
Anzeichen  für  das  Aufhören  des  Wachstbums  betrachtet  Fälle  von  verzögerter  Menstruation 
sind  nicht  unbekannt  bei  zur  Mannbarkeit  herangewachsenen  Fiji -Mädchen.*  Die  Maori- 
Mädchen  auf  Neu -Seeland  menstruiren  nach  Brown  schon  im  12.  Jahre,  nach  Thomson  }t- 
doch  erst  im  13. — 16.  Jahre.  Auf  den  S am oa- Inseln  stellt  sich  bei  den  weiblichen  Einge- 
borenen die  Menstruation  im  12. — 13.  Jahre,  seltener  schon  im  10.  Jahre  ein.  Daför  werden 
sie  schon  im  30.  Jahre  alt  und  hässlich.  (Graeffe.)  Als  das  Alter  des  Pubertäts- Eintritts  aoi 
den  Salomon -Inseln  bezeichnet  Elton  das  15.  Jahr.  Auf  den  Neu-Hebriden,  und  zwar 
speciell  auf  Vate,  menstruiren  nach  der  Schätzung  von  Macdonald  die  Mädchen  ungefähr 
im  13.  Jahre. 

Einige  politisch  noch  zu  Asien  gehörige  Inselgruppen  schliessen  wir  hier  in  unssnn 
Betrachtungen  an,  weil  ihre  Einwohner  eher  den  Öceaniern  als  den  Asiaten  zuzu- 
rechnen sind. 

Auf  den  Inseln  des  ostindischen  Archipels  sind  die  Mehrzahl  der  Frauen  nadi 
Kpi)  schon  im  14.  Jahre  menstruirt,  doch  soll  man  noch  einige  treffen,  bei  denen  die  monat- 
liche Reinigung  erst  im  10. — 18.  Jahre  eintritt.  Auf  dem  Aaru-Archipel  treten  die  Mens« 
aber  gewöhnlich  vor  dem  10.  Jahre  ein.  (KieJfl^.J  Auf  den  Ambon-  und  üliase- Inseln. 
ebenso  auf  den  Tanembar-  und  Timorlao-Inseln,  sowie  in  dem  Ba  bar -Archipel  ist 
nach  Riedel^  die  Zeit  zwischen  dem  9.  und  11.  Jahre  der  gewöhnliche  Termin  für  den  Eintritt 
der  ersten  Regel,  wilhrcnd  man  bei  den  Töchtern  des  Seranglao-  und  Gorong-Archipeli 
das  9.  Jahr  als  das  allgemein  gültige  annehmen  muss.  Auf  den  Watubela-Inseln  schwankt 
der  Zeitpunkt  zwischen  dem  9.  und  12.  Jahre,  und  auf  der  Luang-  und  Sermata-Omppe 
zwischen  dem  10.  und  12.  Jahre.  Nach  Modigliani  tritt  die  Pubertät  auf  Niaa  erst  mit  15 
bis  16  Jahren  ein,  während  in  Sumatra  schon  mit  11  bis  12  Jahren  die  erste  Menstmation 
sich  zeigt. 

Ueber  die  Andamanesinnen  erfahren  wir  von  Man,  dass  sie  nicht  vor  dem  15.  Jahre 
ihre  erste  Kegel  bekommen  und  dass  sie  nicht  vor  16  Jahren  Kinder  gebären.  Das  Maximum 
ihrer  Grösse  und  Körperausdehnung  erreichen  sie  ernt  zwei  bis  drei  Jahre  nach  dem  Eintritt 
ihrer  ersten  Menstruation. 

Bei  den  Negritas  auf  den  Philippinen  schätzt  Schadenberg^  dass  die  Pabert&t  mit 
dem  10.  Jahre  sich  einstelle;  hingegen  sagt  Montana  darüber:  ,11  n'est  pae  possible  d*avoir 
des  renseignements  sur  IV'poque  de  la  menstmation;  les  Negritos  ne  t^nant  ancnn  compte 
de  leur  age.* 

Aus  allen  drei  Zonen  Amerikas  liegen  uns  vereinzelte  Angaben  vor: 


83.  Die. Frühreife.  331 

Die  Araucanierinnen  in  Chile  menstruiren  nach  ISoZZtn  im  11.  oder  12.  Jahre.  Bei 
den  Indianerinnen  in  Peru  sind  die  Menses  sehr  schwach  und  sie  stellen  sich,  wie  be- 
hauptet wird,  bei  ihnen  viel  später  ein,  als  bei  den  übrigen  Rassen,  gewöhnlich  erst  im  14. 
Jahre,  wenigstens  bei  den  Gebirgs-Indianerinnen,  aber  die  Creolinnen  dort  sollen 
schon  im  9.  Jahre  die  Reife  erlangen.  Für  die  Campas  und  Antis  am  Amazonen  ström 
giebt  Grandidier  das  12.  Jahr,  Mantegazza  für  die  Pampas -Indianerinnen  das  10. — 12. 
Jahr  als  den  Zeitpunkt  der  ersten  Regel  an.  Die  Pajagua- Mädchen  in  Paraguay  men- 
struiren  nach  Bengger  im  11.  Jahre,  während  die  Indianerinnen  in  Surinam  nach  Stedt- 
mann  erst  im  12.  Jahre  menstruiren. 

Die  in  gemässigteren  Elimaten  Nord-Amerikas  wohnenden  Indianervölker 
zeigen  auffallende  Verschiedenheiten;  nach  Buscli  menstruiren  ihre  Frauen  im  Allgemeinen 
selten  vor  dem  18.  oder  20.  Jahre.  Nach  Edwin  James  dagegen  treten  bei  ihnen  schon  gegen 
das  12.  oder  13.  Jahr  die  Menses  ein.  Nach  Keating  beginnt  die  Menstruation  der  Poto- 
watomi  am  Michigan-See  gewöhnlich  im  14.  Jahre  und  dauert  bis  zum  50.,  ja  sogar  bis 
zum  60.  Jahre;  dies  erfuhr  Keating  von  einem  Häuptlinge  des  Stammes.  Bei  anderen  In- 
dianerstämmen, den  Dacotas  und  den  Sioux,  erscheint  nach  demselben  Autor  die 
Menstruation  selten  vor  dem  15.  oder  16.  Jahre;  er  erklärt  diesen  Unterschied  durch  das 
rauhere  Klima,  in  welchem  diese  Stämme  wohnen,  und  durch  ibre  grösseren  Entbehrungen. 
^2Lch  Dougherty  menstruiren  die  jungen  Omaha- Mädchen  und  erhalten  die  Fähigkeit,  Kinder 
zu  zeugen,  mit  dem  12.  oder  13.  Jahre.  Bei  82  Indianerinnen  trat  nach  Roberton  die  erste 
Menstruation  ein: 

im    8.  Lebensj.  bei    1  Ind.  im  13.  Lebensj.  bei  9  Ind. 

»      9.         ,  ,      5     ,  n    14.         ,  ,    8     „ 

.    10.         .  .      9     ,  ,    15.         .  ,    7     , 

„11.         „  ,16,  «16.  und  höheren  Lebens- 

,12.         ,  ,    27     ,  Jahren  bei  keiner. 

In  Alaska  tritt  bei  den  Indianerinnen  die  Pubertät  zwischen  dem  14.  und  17.  Jahre 
ein.  lieber  die  Eskimo -Mädchen  aus  Labrador  haben  wir  von  Lundberg  Nachricht. 
5  Mädchen,  die  14  Jahre  oder  jünger  waren,  hatten  ihre  Regel  noch  nicht  gehabt;  16  andere 
waren  bereits  menstruirt,  und  zwar  waren  die  ersten  Menses  erschienen  bei  je  4  im  Alter  von 
14  und  15  Jahren,  bei  je  3  im  Alter  von  16  und  17  Jahren,  bei  2  nach  vollendetem  20.  Jahre. 
Das  mittlere  Alter  beträgt  also  etwa  16  Jahre.  Mac  Viarmid,  welcher  die  Nord  pol -Expe- 
dition unter  John  Rose  als  Arzt  bogleitete,  theilt  mit,  dnss  die  Menses  bei  den  Eskimos  oft 
erst  mit  23  Jahren  eintreten  und  auch  dann  sich  nur  Spuren  davon  während  der  Sommer- 
monate zeigen. 

Von  100  Grönländerinnen,  über  welche  roH /faren  berichtet,  bekamen  88  die  erste 
Menstruation  zwischen  15  bis  17  Jahren;  bei  5  nur  trat  sie  schon  früher  ein,  während  7  sie 
erst  nach  diesem  Alter  bekamen.  Von  den  Cumberland -Eskimos  sagt  Schliephdke :  ,Die 
Geschlechtsreife  tritt  früh  auf;  soviel  sich  bei  einem  Volksstamme,  bei  welchem  Niemand  sein 
eigenes  Alter  kennt,  erfahren  lässt,  beim  weiblichen  Geschlecht  schon  mit  13  bis  14  Jahren.* 

Aus  der  südlichen  kalten  Zone  von  Amerika  liegen  über  die  Feuerländerinnen 
Nachrichten  von  Bridges,  sowie  von  Deniker  und  Ilyadea  vor.  Ersterer  giebt  als  Zeitpunkt 
der  ersten  Regel  das  14.  bis  15.  Lebensjahr  an.  Hyades  und  Deniker  erwähnen  eine  18jährige, 
welche  ihre  Menstruation  noch  nicht  hatte,  wahrend  zwei  11  jährige  Mädchen  bereits  men- 
struirt  waren.  Diese  beiden  Letzteren  litten  an  Tuberkulose.  Die  Autoren  kommen  zu  der 
Ueberzeugung,  dass  die  erste  Menstruation  im  Feuerlande  sich  im  Allgemeinen  später  ein- 
stellt, als  bei  den  jungen  Mädchen  in  Europa. 


83.  Die  Frahreife. 

Wir  können  diese  Besprechungen  über  den  Zeitpunkt,  zu  welchem  bei  dem 
heranwachsenden  Mädchen  die  Menstruation  zum  ersten  Male  eintritt,  nicht  ver- 
lassen, ohne  gewisser  Zustände  zu  gedenken,  die  allerdings  sehr  selten  sind  und 
auch  als  im  Allgemeinen  pathologisch  bezeichnet  werden  müssen,  welche  aber 
doch  noch  einer  eingehenden  Untersuchung  harren.  Man  hat  diese  Dinge  unter 
dem  gemeinsamen  iNamen  der  Frühreife  znsammengefasst.  Wir  werden  aber 
gleich  sehen,  dass  hiermit  sehr  verschiedenartige  Processe  bezeichnet  worden  sind. 
Unter  Frühreife  im  physischen  Sinne  und  bei  dem  uns  hier  ja  nur  allein  interes- 


332  ^'  I^io  Reife  des  Weibes  (die  PubertAt)  in  anthropologiicher  Bendrang. 

sirenden  weiblichen  Geschlechte  versteht  man  das  Eintreten  der  Menatmation  nnd 
die  Entwickelung  der  Brüste  nebst  dem  Hervorsprossen  der  Scham-  and  Aehsel- 
behaarung  in  einem  Lebensalter,  welches  erheblich  vor  demjenigmi  li^t,  in  wei- 
chem unter  normalen  Verhältnissen  allerfrQhestens  zum  ersten  Male  diese  Ding« 
sich  zu  zeigen  ]^flegen.  Namentlich  ist  es  Kussmaul  gewesen,  welcher  diesem 
Gegenstande  seine  ganz  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet  hat. 

Man  hat  das  Ausfliessen  von  Blut  aus  der  Vagina  bei  noch  aoflserordentlich 
jungen  Mädchen,  selbst  noch  vor  dem  Ablaufe  des  ersten  Lebensjahres,  beobachtet 
und  als  Beispiele  von  Frühreife  beschrieben,  auch  wenn  eine  solche  Blatang  aus 
der  Scheide  auch  nur  ein  einziges  Mal  sich  gezeigt  hatte.  Solche  Falle  mas3 
man  natürlicher  Weise  überhaupt  vollständig  ausschliessen.  Denn  ob  eine  solche 
Blutung  analoge  Bedeutung  wie  eine  wirkliche  Menstruationsblutang  besitzt,  das 
ist  doch  als  ausserordentlich  fraglich  zu  betrachten.  Sollen  derartige  Blutabgange 
wirklich  als  Menstruationsblutflüsse  angesehen  werden,  so  moss  man  allermindestens 
doch  verlangen,  dass  sie  mit  einer  gewissen  Periodicitat  sich  wiederholen.  Bei 
manchen  Kindern  bestand  die  Frühreife  nun  allein  in  dem  Auftreten  von  nnr  als 
Menstruation  zu  deutenden  Blutungen. 

Es  mögen  .jetzt  in  aller  Kürze  hier  die  einscblägigen  Beobachtungen  ihre  Stelle  finden: 

1.  X.,  mit  2  Monaten  menstr.     (ZeJkr.) 

2.  X.j  mit  3  Monaten  menstr..  litt  an  Rhachitis.     fComarmond.J 

3.  X,  geb.  im  Febr.  1880,  Nord -Amerika;  van  Dertceer  sah  das  Kind  im  Sept.  1882, 
wo  03  2  Jahre  7  Monate  alt  war.    Das  Mädchen  begann,    als  es  4  Monate  alt   war^    alle  28 

Tage  zu  menstruiron;  die  Menses  flössen  4 — 5  Tage.  Das  Kind 
ist  ungemein  gut  entwickelt,  49  Pfund  schwer,  und  es  sieht  ani 
wie  ein  zehn-  bis  zwölQähriges.  Im  Dec.  1882,  Jan.  and  Febr. 
18S3  blieben  die  Menses  aus.  Ein  ähnlicher  Fall  kam  nicht  in 
der  Familie  vor. 

4.  X.,  mit  6  Monaten  menstr.,  litt  ebenfalLi  an  Bhachiti«. 
fCesarano.) 

o.  Barbara  JCckhofer,  geb.  1806,  im  9.  Monat  menstroirt. 
CiVOutrepontJ 

6.  X.,  Blutabgangmit  9, 11, 14und  18Monaten.  CDieffenbathlJ 

7.  X..    aus  Werdorf,   am   Schluss  des  1.  Jahres  menstr., 

1.-     .^     rw    .    u     «  1  1         litt  ftn  Rhachitis.    (Susetciml ) 
tig.  '200.    Deutsches  Mailohfii  ^     .*  ,,      t^  •     ir   '    i.       i_  i     lortj        «j.      •  t  t 

von  3  Jahren  mit   vorz.ritijjei  ^-  'i>"%  Deweese  m  Kentucky,  geb.  1824,  mit  einem  Jahr 

Ausbildung  <ler  Brii^te  und  ai>-    menstr.,  gebar  im  10.  Jahre.     (Montgomery.) 

uormer  Kettloibißkoit.  9.  ,s\.  mit  2  Jahren  9  Monaten  menstr.    fLieherJ 

.Nach  Photogruphi. .,  j^  ^^^^^^ .^^.  ^,^^^^  ^^^  ^^^2,  gest.  1809,  menstr.  im  4,  Leben^.; 

wur  bartig;  litt,  wie  sich  bei  der  Section  ergab,  an  Hydrocephalus  internus.    (Cooke.J 

11.  Thrrcst'  Fischer  ans  Kogonsburg,  geb.  1807,  im  6.  Jahre  menstr.,  litt  an  H3'dn>- 
c«'i»halus.     Oyltclvrj 

12.  A'.  aus  Königsberg,  im  \K  Jahro  monstr.     fMayer.) 

U\.  A.  M.  aus  r.,  im  \K  Jahre  monstr.,  kurz,  nachher  geschwängert,  starb  14  Monats 
nach  der  Entbindung  an  IMithisis.     (tV(htin}HintJ 

Wir  haben  iiior  uIho  1 1  kloine  MädcluMi,  bei  welchen  die  erste  Menstruation 
bereits  vor  der  Zfit.  dos  Ziiiinwoohsol.s  oinj^otreton  war.  7  unter  ihnen  waren  so- 
güLT  schon  im  Ijaulo  dt*s  orston  lit^bonsiiiliros  nienstruirt.  Ueber  andere  Zeichen 
von  Pubortät  lob  Im  uns  iibor  dio  nilhoron  Angaben.  Zwei  Fälle  mit  einer  ersten 
Menstruation  um  das  U.  .bilir  kommon  noImmi  normaloron  Zuständen  nahe. 

Dio  KäUo  von  Krührrito  im  oi^ontliohon  Sinno  des  Wortes  boten  aber  auch 
nooli  andere,  rooht  in  dio  Aii^on  lalbMido  Morkmulo  dar.  iFi^.200.)  Die  Brüste  wuchsen 
und  inihmon  Kormon  an,  win  wir  sin  sonst  nur  boi  roifon  Jungfrauen  zu  sehen  ge- 
wohnt sind,  dio  l\l)rigtMi  l\rir))orthoilt«  wurdon  rund  und  voll,  und  an  den  Genitalien 
sprosstt»  oin  molir  ndi«r  woni^iM'  ri«irhor  lliiarwuchs  hervor.  In  einigen  Filien, 
welche  an^oblii  li  noImui   Kitii/>  auNsorord«Mitlioh   früh,  seihet  ^  mit  emem  Jahn 

menstruirt   wuron,  mill  dii<  n««li»iinm^  Avr  (lortohhvUistheils  4  Wgttb 

gewesen  nuin. 


8S.  Die  Frühreif«. 


83S 


^ 


Hier  haben  die  uns  bedchriebenen  Fülle  sich  aber  nicht  immer  gleichmässig 
rerhalten,  allerdings   mag    daria  wohl  eine  IJnvollständigkeit  in  der  Beobachtung 
beschuldigen  sein.     So    wird    wiederholentlieh    zwar    von  dem   frühen  Eintritt 
"legel  und  von  einer  vorzeitigen  Entwickehing  der  Brüste  gesprochen :  ob  sieb 
ich  schon  Schamhaare  zeigten,  das  wird  nicht  näher  angegeben, 

14.  Solch  eiD   frahmfea   Kind  mit  abnormer  Fettleibigkeit  \m<\   bereits  deutlich  siebt- 
Brllftten    fahrt    die   Fig,  200  vor.     Nübere  Angaben    über    das   Verhivlte»    des    übrigen 

pers  üteben  leider  nicht  zur  Verfügung.     Daa  Kind  hat  ein  Alter  von  S  Jahren. 

15,  Kelly  0.,    geb.  27.  Jan.  1872    in  London,    vom    22,  Lebensmonat    an    menatruiit, 
geigte  schon  von  ihrer  Goburt  an  sehr  entwickelte  BrÜate;  Men&en  erscheinen  alle  4  Wochen 

evor  sifj  eintreten»  befindet  fich  das  Kind  jedesmal  etwas    unwohl.     Im  Alter  von  4  Jabreü 

Monaten    tand    man    die   Briisto    vollständig    ausgebildet,    du*    Warzen    ro   gross    ,wie  da* 

>aumcngUed  einea  Mannes*,  Hof  rosig  gefärbt»  etwas  hervorragend:  bei  jeder  Alenatr.  nohuieu 

lie  BdUte  an  umfang  zu.     Der  ganze  Körper  tragt  mit  meinen  runden  Ff»rmön   alle  Zeichen 

aber  Reife  und  wiegt  55  Pfund  englisch;    Wesen   und  Charakter  ernätt?r  als  gewöhnlioh  in 

Alter.    (Douchutj 

15.  Josefinc  X,,  geb.  d.  15.  März  1S71,  Zwillinga- 
mlLdchen,  deren  Schwester  als  7^  4 jähr.  Mädchen  keine 
derartige  AbnormitiLt  zeigt.  Sogleich  bei  der  Gebart 
war  d'w  un verbal tnisswüsFige  Gröflse  des  Kindes  auf* 
gefallen  im  Vergleich  zur  Schweater;  achon  nach  dem 
•Estan  tialbjnhr  begannen  die  ßrüate  ku  wachi^en;  im 
jF.  oder  8.  Monat  bekam  sie  wie  die  Schweat^rr  die 
atcn  Zühne.  Ala  aie  ca.  1  Jahr  alt  war,  zeigte  sich 
^1  titspur,  zum  zweit<9n  Male  Anfang  Mai  1^74,  wo 
pa  Blutung  ftilrker  war;  Blutabgang  dauerte  8  Tage; 
tin  da  ab  regelmjiaaig  menstr.  alle  4  Wochen  ohne 
klle  Be<»chworde.  Vom  5.  Lebenej,  an  wurde  die 
püriodt^  ROgar  sehr  reichlich;  aeit  dieuer  Zeit  klagte 
!im  M.ub'lien  y  Tage  vor  Eintritt  der  Menaea  über 
•<  Schmerzen  im  Baucb.  Sie  ist  dunktilblond 
L  u  Augen ;  man  würde  aie  bei  ihrer  körj^er- 
liehon  Aunbildung  für  rijährig,  statt  für  7^/4 jährig 
alten.  Interenaant  iat  der  Vergleich  mit  der  Zwil- 
ingMüchwester:  tiie  wiegt  84»75  kg»  ihre  Schwerter 
0,<)  kg;  ibrt*  CJrßsse  139  cm,  die  der  Schwester  121  cmj 
Jmfang  ül>er  den  Warzen  77  cm,  der  der  Schwester  61 
Umfang  de«  Bauchea  am  Nabel  73  cm,  der  der 
cb weiter  62  cui.     ( Stocket.) 

17.  lAtuiM  H.  aus  R.,  geb.  1840;  mit  15  Monaten  menttr.,    gleichzeitige  Entwickelung 
TBrilate.     (HeuterJ 

18.  X,^  3  Jahre   alt,    raenatruirt   alle  S— 4  Wochen  3 — 4  Tage    lang    ohne    besonderes 
eiden,   bostizt   eine   ihr  Lebemalter   erheblich    überscbreitende  Schwere    und   Länge;    beide 

brutto    halb  kugelförmig,  VV^arzen    prominirend,  Warxenbof  blaaaroth;    Schamlippen    wie    bei 
aduenen  entwickelt,     (Wachs,) 

10.  Jam  JantM,  seit  dem  5.  Jahre  alle  3 — 4  Wochen  2  Tag©  lang  menatr.,  mit  8  Jahren 
Eniwickelnng  der  BrÜate.     (PracockJ 

20.  X.,  steigte  schon  als  zwei  Wochen  altea  Kind  einen  blutigen  AuaHua)!,  der  2  bii  3 
r.ige  anhielt  und  sritdem    faat  genau  jeden  Monat   wiederkehrte;   das  Kind  wird  als  kleine« 

iies  Wonen  be^chri«^ben,  dessen  Brttate  bereits  so  entwickelt  waren,  wie  bei  einer  16-  bi« 
■igen  Jungfrau;  nach  Aussage  der  Mutter  werden  die  Brüst«  zeitweilig  härter  und 
drendi  di««  Wannen  ware^i  bei  der  Cnterauchung  im  4.  Jahre  über  5  cm  lang  und 
bcn»o  wie  die  2  cm  breite  Areola  dunkel  pigmcutirt.  Dieämieren  Genitalien  gut  entwickelt, 
b»  Labia  minom  Hark  hervortretend,  dagegen  fehlte  die  BehaArnng  der  Schamgegend.  Dum 
lind  war  rhaclutiflch  und  hatte  bereits  Genu  valgum.  Die  geistige  Kntwickelung  war  dam 
^lier  «nUproobend.     fDrummondj 

21.  Antm  StroM^  geb.  1S70  bei  St  Louis,  menstr.  mit  IG  Mou.,  hatte  mit  4  Jahren 
MonAMm  liiirk  «nt wickelte  Brüste.    (Btrnatfn,)    (Fig.  20 L) 


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Ftff.  101.     Präbrclfw  uinotlhAtiiicIlM 
Uidchen,  *%  Jkbr  «IC    (Nach  BtT»oft.\ 


334  ^-  ^ie  Reife  des  Weibes  (die  Pubertät)  in  anthropologischer  Besiehnng. 

22.  Mane  Auguste  Coquelin  geb.  Michel  in  Paris,  menstmirte  von  2^2  Jaliren  an 
regelmässig,  hatte  im  8.  Jahre  stark  entwickelte  BrOste,  heirathete  im  27.  Jahre,    CDeteuret.) 

Alle  diese  Kinder,  bis  auf  eins,  hatten  also  schon  vor  dem  vollendeten 
5.  Lebensjahre  eine  beträchtliche  Entwickelung  der  Brüste;  einmal  wurden  dieselben 
schon  bei  der  Geburt  beobachtet,  in  drei  F^en  war  ihre  Entwickelung  der  Men* 
struation  vorausgegangen. 

Bei  dem  3  jährigen  Mädchen  in  No.  18  heisst  es  zwar,  dass  ihre  Schamlippen 
wie  bei  einer  Erwachsenen  entwickelt  wären,  ob  sie  aber  auch  schon  einen  Haar- 
wuchs trugen,  davon  wird  nichts  Näheres  erwähnt.  Eine  bestimmte  Angabe  Qber 
das  vorzeitige  Vorhandensein  der  Pubes  finden  wir  jedoch  in  mehreren  Fällen. 

23.  Russisches  Mädchen  6 1/2  Jahr  alt,  121  cm  hoch,  27,500  g  schwer,  hat  apfelrinen- 
grosse,  schon  etwas  hängende  Mammae,  Labia  majora,  minora,  Clitoris  und  Hymen  wie  eine 
15— 16jährige;  der  Mons  Yeneris  ist  mit  2  —  3  cm  langen,  dunklen  Haaren  bedeckt.  Seit 
einem  Tage  hat  sie  eine  Blutung  aus  den  Genitalien,  die  nach  2  Tagen  sistirte.  Da«  Kind 
ist  rhachitisch,  aber  schamhaft  und  geistig  normal.     ( Wladimir ow.) 

24.  IsabeUa,  Negerkind,  geb.  6.  Juli  1821  in  der  Havanna,  Ende  des  1.  Jafaxes 
menstr.,  bei  der  Geburt  schon  entwickelte  Behaarung  und  Brüste.    (Tiamon  de  la  Sagra,) 

25.  Anna  Mummenthaler  aus  Trachselwald  (im  Canton  Bern),  geb.  1751,  gest.  1826, 
war  mit  2  Jahren  menstruirt;  bei  der  Gebiut  waren  die  Geschlechtstheile  behaart  und  die 
Brustdrüsen  entwickelt;  im  9.  Lebensjahre  wurde  sie  geschwängert;  blieb  bis  zum  52.  Jahre 
menstruirt.    (v.  Haller.J 

26.  X  aus  Ober- Fallen  in  Niederl.- Luxemburg,  geb.  27.  Oct.  1868,  zeigte  so- 
gleich bei  der  Geburt  kräftigen  Körperbau,  die  Schamgegend  war  mit  Haaren  besetzt;  men- 
struirte  mit  4  Jahren;  seit  dem  8.  Jahre  treten  die  Menses  regelmässig  ein;  mit  8  Jahren 
war  sie  133  cm  hoch,  von  kräftigem  Körperbau;  der  Blick  war  kühn;  die  Brüste  gat  ent- 
wickelt, Geschlechtsth.  mit  dichtem  Haarwuchs  bedeckt.  Sie  hatte  schon  mit  8  Jahren 
häufigen  geschlechtlichen  Umgang  mit  einem  32 jährig.  Manne  gepflogen;  sie  klagte  über 
Uebelkeit  und  war  leicht  icterisch.  Seit  3  Monaten  war  die  Menstr.  ausgeblieben,  während 
2V2  Monaten  erfolgten  Blutungen,  dann  wurde  am  27.  Juli  1877  eine  Hjdatidenmole  nebrt 
einem  Embryo  ausgestossen ;  das  Kind  genass  vollständig.    (Molitor.) 

27.  Charlotte  Z.,  mit  7  Jahren  menstr.,  fiaumartiges  Haar  an  den  Geschlechtsth.,  starke 
Entwickelung  der  Brüste;  litt  an  Steatom  und  Hydatiden  der  Ovarien  nach  Ergebnias  der 
Section.    (Gediehe.) 

28.  Anna  S.  in  Ältenburg,  geb.  1860,  mit  1  Jahr  7  Mon.  menstr.,  Geschlechtsth.  mit 
^'4  Zoll  langen  Haaren,  Brustdrüsen  wie  bei  einer  Frau;  bei  der  Section  fand  sich  Sarkom 
der  Ovarien.     (Geinitz.) 

29.  X.,  im  10.  Monat  menstr.,  Behaarung  und  Brüste  mit  2  Jahren  völlig  entwickelt. 
(LefHiossek.) 

30.  X,  mit  9  Monaten  menstr.,  zeigte  im  2.  Jahre  Behaarung  der  Geschlechtsth.  and 
mit  IV2  Jahr  Entwickelung  der  Brüste.     (Wall.) 

31.  Christine  Therese  Ä.,  geb.  27.  Januar  1838;  im  2.  Jahre  menstr.,  zeigte  bei  der 
Untersuchung  im  Dec.  1841  dunkle  Haare  an  den  Geschlechtstheilen  und  Brüste  wie  bei  einem 
16 jährig.  Mädchen.     (Carus,) 

32.  X,  mit  7  Monaten  (am  4.  April  1878)  trat  Tage  lang  Blut  aus  der  Vulva;  im 
folgenden  Monat  kehrte  die  Blutung  wieder  und  währte  gleichfalls  3  Tage;  und  so  allm&hlich 
weiter  bis  zum  März  1879.  um  diese  Zeit,  als  schon  das  Kind  18  Monate  alt  geworden,  trat 
statt  der  Blutung  eine  sehr  reichliche  Leukorrhoe  auf,  die  bis  Mitte  Januar  1880  anhielt. 
Hierauf  zeigt«  sich  nach  einer  heftigen  Kolik  Menorrhagie  von  neuem.  Die  Menge  des  Blntea, 
die  jedesmal  abging,  betrug  bei  45  Gramm.  Das  Kind  hatte  im  Alter  von  28  Monaten  in 
Bezug  auf  seine  runden  Formen,  sowie  seine  75  cm  breite  Taille,  ganz  das  Aussehen  einer 
im  Wachsthum  stark  zurückgebliebenen  Frau.  Die  Brüste  sind  kräftig,  über  citronengroeSv 
elastisch  und  turgescent,  wie  bei  einem  16— 17jährigen  Mädchen,  mit  prominirenden  Warsen 
und  sehr  breitem  Hof.  Die  äusseren  Genitalien  sehr  gut  entwickelt,  die  Vulva-Oeffnung  ist 
sehr  gross,  die  Labien  sind  dick  und  der  Schamberg  mit  ziemlich  langem,  rothem  Haar  be- 
setzt. In  moralischer  und  physischer  Hinsicht  entspricht  das  Kind  den  Verhältniaten  der 
ersten  Kindheit.    (Cortejanera.) 

33.  Mädchen  aus  Dalheim  bei  Gutenfeld,  Ostpreussen,  fast  3  Jahre  alt,  geirtig 
rege,  32  Pfund  schwer,  zeigt  seit  einem  Jahre  eine  Behaarung  der  Genitalien,    die  jetst 
dicht  und  lang  ist.    Menstruation  hat  sich  nicht  gezeigt.    (Papendiek,)    (Fig.  202.) 


83.  Die  Frühreife. 


33h 


34,  X.,  mit  drei  JahrcD  mensir,;  gleiclieeitig  behaarten  «ich  die  Geschlecbtsiheile  und 
entwickelte  eich  die  Bruat, 

85,  Theodor a  Possaj^st  war  mit  Z^jo  Jahren  menstruirt.,  zeigte  an  den  Geächlechtstheilen 
starke,  «chwar^e  Haare,  ihre  Brüste  waren  sehr  stark  entwickelt.  Bei  der  Section  zeigte  sich 
Sarkom  der  Eierstöcke,     (Betern,) 

36.  Johanna  Frieäerike  (Hoch  aus  Köthen,  geb.  28-  April  1799,  gest.  1803,  hatte  an 
pn  Geschlecb tätheilen  starke,  dankle,  krause  üaare;  H&ngebrüste,  litt  an  Hydrooephalus  und 
Btt«ucht,  Bei  der  Section  fanden  sich  Uterus,  Ovarien  und  Vagina  wie  bei  einer  Er- 
ibchsenen.    fTileHus.) 

37.  Kin  S^^jähriges  M&dchen  wurde  den  15.  Oct  1883  der  geburtsh,  Geaellschaft  «u 
Leipzig  voi^estellt;  ihr  Aussehen  war  das  eines  Mädchens  ?on  6—7  Jahren.  Brüste,  Schani- 
haare, Schamlippen  sehr  entwickelt,  seit  Weihnachten  1881  war  bei  ihr  Menstruation  mit 
Yierwdeh entlichem  Tjpae  eingetreten. 

38.  Mary  Anna  G.,  geb.  im  M&i^  1845;  Blutung  im  5,  Lebenamonat  mit  5  monatL, 
dann  3  monatl.^  dann  7  monatl.  Tjpus  bis  zum  6.  Lebensjahre,  mit  schwarzen  Haaren  an  den 
GeschleehtHtheilen  und  bei  der  Geburt  hühnereigroasen  Brüsten,    (WihonJ 

39.  Elisabeth  KUnck,  geb.  31,  Oct  1875  in  Bnrnheim;  mit  9  Monaten  raenstr.,  die 
Menses  im  2,  Lebensj.  geregelt;  bei  der  im  Febr.  1882  atattändenden  Untersuchung  ergab 
sich  reichlicher,  dunkler  Haarwuchs  an  den  Geschlechts theilen  und  gute  Entwickelung  der 
BrÜflIe,  sie  wog  47  Pfund  mit  G  Jahren  4  Monaten  und  war  120  cm  gross.    fLorttfJ 


-'M^ 

»4^^^^^^ 


Fig.  'SJ'2.     Ftiiluciica.  IääI  dr«  ijiüirii;L'j  l|AdGti«ti  mit  beiiÄArteii  CJüuilÄlieii. 
(Nucki  Photogr«pliicj 


M&dchen  ans  der  Schweiz  hatte  im  Alter  von  3  Jahren   die  erste  Menstruation, 
lie  dch  8—9  Mal  wiederholt  hat.     Mit  6  Jahren  zeigt  «ie  rollen twickelte  Brüste,  «ehr  starke, 
lichte  Behaarung  der  Genitalien,    die  sieb  in  der  Linea  alba  bis  zu  dem  Nabel  hinaufzieht. 
Aber  auch  am  geeammten  Körijer  ist  der  Haarwuchs  aboonn  stark  entwickelt.     (Leaaer,) 

Walirscheinlich   ist   hier   auch    noch   gleick   die   folgende  Beobachtang  an- 
uschliesaen : 

£va  ChHxftne  Fißchtr  an»  Eise  nacht  geb.  1750,  gest.  18.  Mai  1753,  war  wie  ein 
MMchou    entwickelt    und  wurde    175^1  auf  der   Leipziger  Osterme&se  eur  Sohau 
teilt     Sie    wog   82    Pfund   (Leipziger  Fleisch  ergewicht)   und   ist   in   der  Anatomie   tu, 
ipsig  abgebildet. 

In  allen  Fällen  trat  die  Schambehaarung  bereitö  vor  dem  ersten  Zahnwechsel 
f;  3  Mal  soll  sie  sogar  schon  bei  der  Geburt  vorhanden  gewesen  sein. 

In  dem  folgenden  Falle  wird  nichb  über  den  Zustand  der  Brüste  gesagt 
42.  MaÜUlde  H,  aus  Louieiana,  g«b.  S0<  8ept  1H27|    mit  3  Jahren  mentitr  ,    von  da 
ma  regelm&isig  jeden  Monat  jedesmal   4  Tage   lang;   schon   bei   der   Geburt   behaarte   Ge* 
Liechtttth*     fLe  BtauJ 


83.  Die  Frühreife.  337 

Derartige  Fälle  sind  wahrscheinlich  gar  nicht  so  übermässig  selten. 

Wie  nun  hier  die  prämature  Entwickelung  der  Brüste  ohne  sonstige  Zeichen 
der  Reifung  einhergeht,  so  finden  wir  in  einem  anderen  Falle  als  einziges  Merkmal 
einer  Frühreife  ein  vorzeitiges  Hervorsprossen  der  Schambehaarung.  Einen  solchen 
Fall  habe  ich  vor  einigen  Jahren  beobachtet  und  ich  konnte  ihn  photographisch 
aufnehmen  lassen;  seine  Abbildung  ist  in  Fig.  203  gegeben: 

44.  Eine  kleine  Berlinerin,  die  ihr  5.  Lebeosjahr  beinahe  vollendet  hat  (geb.  16.  Juni 
1886,  photographirt  31.  Mai  1891),  erscheint  fQr  ihr  Alter  sehr  gross,  hat  jedoch  vollständig 
den  kindlichen  Habitus.  Ihre  Stimme  aber  ist  sehr  tief,  ungefähr  wie  bei  einem  im  Stimm- 
wechsel begriffenen  Knaben.  Ihre  Achselhöhlen  sind  kahl,  ihre  Brüste  haben  noch  einen 
vollständig  kindlichen  Charakter ;  irgend  welche  Spuren  einer  Menstruation  haben  sich  bisher 
noch  nicht  gezeigt.  Ihr  Mons  Yeneris  und  die  grossen  Labien  sind  aber  schon  recht  stark 
entwickelt  und  sie  trägt  eine  dichte  Schambehaarung  von  langen,  blonden,  leicht  gekräuselten 
Haaren,  wie  eine  vollerwachsene  Jungfrau.  In  geistiger  Beziehung  machte  die  Kleine  voll- 
ständig den  Eindruck  eines  Kindes  von  ungef&hr  acht  Jahren. 

Sehr  lehrreich  für  die  Beurtheilung  der  Ursachen,  welche  in  der  äusseren 
Erscheinung  des  Körpers  so  auffallende  Veränderungen  hervorzurufen  vermögen, 
ist  die  Beobachtung,  in  welcher  die  Obduction  die  Gebärmutter,  die  Eierstöcke 
und  die  Scheide  wie  bei  einer  Erwachsenen  ausgebildet  nachzuweisen  vermochte. 
Durch  diesen  Umstand  werden  uns  auch  solche  Fälle  verständlich,  in  welchen  in 
sehr  ftrühem  Lebensalter,  im  13.,  12.,  11.,  ja  selbst  ein  paar  Mal  schon  im  9. 
Lebensjahre  eine  Schwangerschaft  eingetreten  und  das  Kind  sogar  ausgetragen 
worden  war.  Wir  werden  in  einem  späteren  Abschnitte  noch  einmal  von  solchen 
Kinderschwangerschaften  zu  sprechen  haben. 

Wie  weit  bei  diesen  vorzeitig  entwickelten  Kindern  die  Heterochronie  ihrer 
Entwickelung  von  speciellen  pathologischen  Vorgängen  abgeleitet  werden  muss, 
das  ist  für  uns  nicht  gut  möglich  zu  entscheiden.  Jedenfalls  aber  fanden  sich 
bei  mehreren  solchen  frühreifen  Kindern,  die  gestorben  waren,  bei  der  Obduction 
recht  bedeutende  Abnormitäten  der  inneren  Organe  vor,  nämlich  einige  Male 
Sarkom-  und  Hydatidenbildung  in  den  Ovarien,  einige  Male  Hydrocephalus,  und 
ausserdem  wird  bei  einigen  Kindern  das  Bestehen  einer  Rhachitis  besonders  hervor- 
gehoben.    Auch  Fettsucht  wurde  in  einem  Falle  verzeichnet. 

Einige  dieser  Kinder  schienen  dagegen,  abgesehen  von  ihrer  prämaturen 
Reife,  keine  Spur  einer  pathologischen  Veränderung  zu  zeigen.  Besondere  Um- 
stände in  der  Lebensweise  der  Mutter,  oder  eine  erbliche  Veranlagung  hat  man 
für  die  Frühreife  nicht  verantwortlich  machen  können.  Und  so  ist  die  eigent- 
liche Ursache  dieser  absonderlichen  Erscheinung  inuner  noch  in  Dunkel  gehüllt. 
Uebrigens  sind  bei  fremden  Rassen,  wie  wir  in  einem  späteren  Abschnitt  sehen 
werden,  Schwangerschaften  in  einem  Lebensalter,  in  welchem  wir  das  Weib  noch 
als  ein  Kind  zu  betrachten  gewohnt  sind,  durchaus  nicht  zu  den  Seltenheiten 
zu  zählen.  Das  ist  in  heissen  Klimaten  sowohl  wie  auch  in  kalten  beobachtet 
worden. 


Ploss-Bartels,  Dms  Weib.    6.  Aufl.    I.  22 


XL  Die  monatliche  Beinigiing. 

84.  Die  Menstruation  im  Tolksmunde. 

Die  für  das  junge  Mädchen  oft  zuerst  so  überraschende  und  beängstigende 
Menstrualblutung,  welche  auch  später  immer  noch  das  Schamgefühl  wachmft, 
hat  im  Laufe  der  Zeiten  und  bei  verschiedenen  Yolksstämmen  mancherlei  um- 
schreibende Bezeichnungen  hervorgerufen.  Bei  den  Nayers  in  Malabar  heiast 
das  von  einer  Prinzessin  während  dieser  Zeit  ausgeschiedene  Blut  tirrapickerdu, 
das  bedeutet  heilige  Blüthen. 

Auch  die  Letten  bezeichnen  nach  Älksnis  die  Menstruation  mit  dem  Worte 
Blüthen  (seedi)  und  danach  ist  auch  einer  ihrer  Namen  für  den  Uterus  gebildet, 
nämlich  seedu  mähte  d.  h.  Blüthenmutter. 

Zendavesta  sagt  von  einer  menstruirenden  Frau:  ,Sie  hat  ihre  Merkmale 
und  Blut.* 

Die  Bibel  spricht  an  verschiedenen  Stellen  von  der  Weiber  Weise,  der 
Weiber  gewöhnliche  Zeit,  der  Weiber  Absonderung  und  der  Weiber 
Krankheit. 

Bei  den  Japanerinnen  sind  mehrere  Ausdrücke  für  die  Menstruation  in 
Gebrauch: 

Der  gewöhnlichste  ist  „Gek-ke*,  was  einfach  monatliche  Regel  bedeutet  «Mengori* 
oder  ^Megori",  das  demnächst  gebräuchlichste,  etwas  feinere  Wort  ist  wörtlich  Cirkeltonr 
oder  dasjenige,  was  regelmässig  wiederkehrt.  .Akane  Son-ke**  (ein  etwas  ordinärer,  vielfkch 
in  Voklsliedem  und  Witzen  gebrauchter  Ausdruck)  heisst  Rothfärbung;  «Geschin*  heint 
monatliche  Botschaft  oder  Verkündigung,  und  «Jakh*"  heisst  einfach:  Pflicht.  Die 
beiden  letzten  sind  schon  etwas  ungebräuchlichere  Bezeichnungen. 

Das  erste  Eintreten  der  Menstruation  wird,  wie  wir  schon  sahen,  Ton  den 
Xosa-Kaffern  das  Autknospen  der  Blume  genannt.     (Kropf.) 

Der  Serbe  nennt  sie  die  weibliche  BlUthe.  Bei  unseren  Landsmanninnen 
ist  der  gebräuchlichste  Ausdruck  die  Regel.  Aber  auch  als  das  Unwohlsein,  die 
Periode,  das  Blut,  die  monatliche  Reinigung  hört  man  die  Menstruation 
sehr  häufig  bezeichnen. 

Die  Steyermärkerinnen  bezeichnen,  wi^  Fossel  angiebt,  die  Menstruation 
mit  dem  Namen  Monat,  Zeit,  Geschieht,  Sach\  Periode,  rother  König. 
Der  letztere  Ausdruck  ist  bekanntlich  auch  in  Norddeutschland  gebrfiuchli<£, 
aber  nur  in  den  allemiedrigsten  Schichten  der  Bevölkerung.  Die  AusdrQcke 
Periode,  Sache,  Geschichte,  Zeit  benutzen  nach  Lammert  auch  die  Leute 
in  Bayern. 

Sehr  erfinderisch  in  poetischen  Umschreibungen  war  man  in  den  früheren 
Jahrhunderten  in  Deutschland:  Die  Blume,  die  monatliche  Blume,  oder 
Blüthe,  die  monatliche  weibliche  Blödigkeit  sind  Ausdrücke,  denen 


85.  Die  Quantität  des  Menstmationsblutes.  339 

in  älteren  Schriften  öfter  begegnet.  Cruarinonius  sagt  auch,  das  Mägdlein 
zeitigt.  Vdsch  nannte  das  erste  Menstrualblut  einer  JungÄ*au  den  Zenit h. 
Der  getreue  Eckarth  spricht  von  der  Rosenblüth  oder  von  den  rothen  Äma- 
ranthen,  Schurig  in  seiner  Parthenologia  vom  Rosenkrantz.  Der  Letztere 
führt  als  volksthümliche  Bezeichnungen  auch  femer  noch  an  die  böse  Sieben 
oder  «ich  habe  Briefe  erhalten,  der  Vetter  oder  die  Frau  Muhme  ist 
gekommen*'. 

Auch  die  alten  Inder  hatten  ihre  umschreibenden  Bezeichnungen  für  die 
Menstruation.  So  giebt  Vätsyäyana  in  seinem  Werke  Kamasütram  dem  Mäd- 
chen ihrem  Liebhaber  gegenüber,  dem  sie  nichts  gewähren  darf,  die  folgende 
Vorschrift: 

.Sie  spreche  von  ein  und  derselben  Krankheit,  die  ohne  Veranlassung  auftritt,  nicht 
zu  verheimlichen  ist,  nicht  mit  den  Augen  zu  erfassen  und  nicht  ständig  vorhanden  ist.* 
(Schmidt^.J 

Es  ist  hier  woU  kaum  misszuverstehen,  welche  Krankheit  der  alte  Verfasser 
gemeint  hat. 

85.  Die  Quantität  des  Menstmationsblutes. 

Eine  Bestimmung  der  Menge  des  Blutes,  welches  während  der  Menstruation 
aus  dem  Korper  ausgeschieden  wird,  hat  selbstverständlich  ihre  erheblichen  Schwierig- 
keiten, und  man  wird  gut  thun,  die  bisher  vorliegenden  Angaben,  welche  übrigens 
ganz  ausserordentlich  spärlich  sind,  nur  als  approximative  Schätzungen  zu  be- 
trachten. So  hören  wir  von  dem  Physiologen  Burdach^  dass  das  Gewicht  dieses 
Blutes  in  kälteren  Gegenden  (England  und  Norddeutschland)  90  Gramm, 
in  gemässigten  150 — 180,  in  südlichen  (Italien  und  Spanien)  360  und  in  den 
tropischen  Gegenden  600  Gramm  betrage. 

Ganz  treffend  sagt  der  bekannte  Physiolog  Ludwig:  „  Zahlenangaben,  wie 
die  von  Burdach,  müssen  mit  einem  Fragezeichen  aufgenommen  werden.  **  Dem- 
gemäss  geben  mit  grosser  Vorsicht  Wundt,  L,  Hermann  und  andere  Verfasser  von 
Lehrbüchern  der  Physiologie  auch  eine  ganz  runde,  noch  dazu  in  weiten  Grenzen 
schwankende  Zahl  an,  indem  sie  von  einer  100 — 200  Gramm  betragenden  Quantität 
sprechen;  und  ebenso  vorsichtig  äussert  sich  Funke:  »Man  schätzt  die  mittlere 
Menge  zu  4 — 5  Unzen;  bei  manchen  Frauen  reducirt  sich  dieselbe  zu  einem  sehr 
geringen  Quantum,  bei  anderen  dagegen  ist  die  Blutung  profus.'' 

So  sind  denn  auch  alle  Vermuthungen  über  den  Einfluss  des  Klimas  oder 
der  Rasse  auf  die  Menge  des  ausgeschiedenen  Menstrualblutes  kaum  benutzbar; 
es  schwanken  ja  auch  die  Schätzungen  der  verschiedenen  Beobachter  gar  nicht 
unbedeutend:  Von  England  und  Oberdeutschland  besitzen  wir  Angaben  von 
Dehaen^  der  sie  auf  3  Unzen,  von  SmeUie  und  Dobson,  die  sie  auf  4  Unzen,  und 
von  Pasta,  der  sie  auf  5  Unzen  bestimmt. 

Emtnett  und  Fitegerald  geben  für  Spanien  bis  zu  einem  Pfunde,  SneUen 
unter  dem  Wendekreise  sogar  bis  zu  2 — 3  Pfund  an.  Ob  diese  Angaben  aber 
zuverlässig  sind,  ob  sie  das  Normale  oder  individuelle  Eigenthümlichkeiten  wieder- 
geben, das  müssen  wir  dahingestellt  sein  lassen. 

Bei  140  Woloffen-Negerinnen  fand  de  Rochebrtme  den  Blutverlust  zu 
95  Gramm.  Riedel^  bezeichnet  die  Menstruation  bei  den  Weibern  der  Ambon- 
und  Uliase-Inseln  als  spärlich,  ebenso  auf  den  Tanembar-  und  Timorlao-Inseln. 

Dass  aber  bei  einem  Wechsel  des  Klimas  recht  erhebliche  Veränderungen 
in  der  Menge  des  Menstrualblutes  hervorgerufen  werden  können,  das  ist  seit  langer 
Zeit  bekannt.  Schon  Blumenbach  giebt  an,  dass  die  Mehrzahl  der  Europäe- 
rinnen, welche  nach  Guinea  übersiedeln,  sofort  Gebärmutterblutungen  bekommen. 

Wenn  Europäerinnen,  welche  in  ein  heisses  Klima  ziehen,  an  allzu  reich- 
lichem Blutabgang  bei  den  Menses  leiden,  so  wird  vielleicht  nicht  selten  die  Ur- 

22* 


340  ^I-  ^io  monatliche  Reinigung. 

Sache  dieser  Metrorrhagien  darin  beruhen,  dass  sie  in  Folge  einer  Infection  durch 
Malaria  anämisch  geworden  und  hierdurch  zu  dergleichen  Blutflüssen  disponitt 
worden  sind.  Dies  wollen  französische  Aerzte,  z.  B.  Bestion^  namentlich  in 
ungesunden  Oegenden  Afrikas  beobachtet  haben.  Einen  solchen  Grund  hat 
vielleicht  auch  die  von  Stormofit  berichtete  Erscheinung,  dass  die  Negerinnen 
der  Sierra  Leone  beim  Eintritt  der  ersten  Menstruation  an  einem  ephemeren 
Fieber  leiden.  Dagegen  hat  Saint  Vd  auf  Martinique  durch  das  Klima  keine 
Vermehrung  des  Menstrualflusses  wahrgenommen.  Das  vermag  nun  aber  die  Be- 
obachtungen anderer  Autoren  natürlicher  Weise  nicht  umzustossen. 

In  St.  Petersburg  scheint  es  nach  Weher  für  die  Menge  des  ausg^eschie- 
denen  Menstrualblutes  im  Ganzen  von  untergeordneter  Bedeutung  zu  sein,  ob  der 
Eintritt  der  ersten  Regel  ein  frühzeitigerer  oder  ein  späterer  war.  Hingegen 
spielen  in  dieser  Beziehung  die  Körperconstitution  und  die  Haarfarbe  zweifellM 
eine  grosse  Rolle.  Profuse  Menses  hat  Weher  sehr  häufig  bei  Blonden,  and 
namentlich  bei  Rothblonden  getroffen;  die  gewohnliche  Annahme,  dass  bei  Brü- 
netten der  Monatsfluss  ein  reichlicherer  sei,  als  bei  anderen  Frauen,  hat  sich  hier 
nicht  als  zutreffend  erwiesen. 


86.  Beeinträchtignngen  der  Menstrnation. 

Bei  manchen  Völkerschaften  scheinen  gewisse  Lebensverhältnisse  eine  Neigting 
zu  besonderen  Menstruationsstörungen  herbeizufahren.  Von  Velpeau  und 
Gardieii  wurde  angegeben,  dass  Grönländerinnen  nur  alle  3  Monate  oder  selbst 
nur  2 — 3  Mal  im  Jahre  menstruirt  werden.  Es  ist  nicht  mitgetheilt,  woher  diese 
beiden  französischen  Geburtshelfer  ihre  Notiz  haben.  Nach  Guerald  soll  bei 
den  Eskimos  die  Menstruation  während  der  Zeit  des  Winters  und  des  Mangels 
an  Nahrung  ausbleiben. 

Auch  im  Memoire  sur  les  Samojedes  et  les  Lappons  vom  Jahre  1762 
heisst  es: 

„Ceux,  qui  ont  prötendu,  que  les  femmes  des  Samojedes  ne  sont  point  sujettes  aox 
evacuations  pdriodiquos,  se  sont  trompös;  cependant  il  est  vrai,  qu^elles  ne  les  ont  que  in»- 
faiblement  et  en  petita  quantitii/ 

Auch  nach  Linnc  haben  die  Weiber  der  Lappen  spärlichere  ELatamenien 
als  die  Schwedinnen. 

V,  Bischoff'  hat  bei  den  Feuerländerinnen,  welche  in  Europa  umher- 
reisten, den  Nachweis  zu  führen  vermocht,  dass  während  mindestens  sechs  Mo- 
naten keine  Menstruation,  d.  h.  keine  bemerkbare  stärkere  Blutung  aus  den  Geni- 
talien wahrgenommen  wurde,  obgleich  sie  auf  dem  Schiffe  noch  ganz  nackt  gingen; 
ihr  Führer  dagegen  fand  zuweilen  geringe  Blutspuren,  ohne  in  Beziehung  auf  den 
Typus  etwas  Genaues  aussagen  zu  können. 

Es  wäre  nun  allerdings  noch  denkbar  gewesen,  dass  die  Reifung  und  Los- 
lösung der  Eier  im  Eierstock  doch  zu  den  bestimmten  vierwöchentlichen  Perioden 
bei  diesen  Weibern  vor  sich  ginge,  trotzdem  die  Menstrualblutung  ausgeblieben 
war.  Um  diese  interessante  Frage  zu  entscheiden,  bot  sich  die  günstige  Gelegen- 
heit, da  zwei  dieser  Frauen  starben  und  die  Obduction  gemacht  werden  konnte. 
Hierbei  zeigten  die  Eierstöcke  keine  Spur  von  solchen  Eiern,  welche  der  Reifung 
nahe  gewesen  wären.  Und  somit  ist  es  als  bewiesen  zu  betrachten,  dass  hier 
nicht  nur  die  Menstruation,  sondern  auch  die  Ovulation  cessirt  hatte,  dass  sie  bei 
den  Feuerländerinnen  also  nur  in  langen,  bis  halbjährigen  Zwischenpausen 
zu  Stande  kommt.  Hier  ist  alHO  die  Annahme  nicht  abzuweisen,  dass  sich  die 
physische  Verkümmerung  dieses  Yolksstammes  auch  in  denjenigen  Organen  aus- 
spricht, welche  den  Zwecken  der  Fortpflanzung  dienen. 

Eine  unverständige  Lebensweise  hat  auf  das  Verhalten  der  Menstruation 
einen  ganz  deutlich  schädigenden  Einfluss.    Darum  fand  Rigler  bei  Orientalinnen 


86.  Beeinträchtigungen  der  Menstruation.  341 

häufig  Störungen  des  Monatsflusses,  namentlich  Metrorrhagien,  aber  auch  Dysme« 
norrhöe  und  Amenorrhoe.  Auch  die  eingeborenen  Frauen  in  Indien  leiden  nach 
Stewart  ausserordentlich  häufig  an  Gebärmutterkrankheiten.  Hingegen  gehören, 
wie  Folak  sagt,  in  Persien  Unregelmässigkeiten  der  Menstruation  zu  den  grossen 
Seltenheiten,  und  sie  kommen  nur  bei  Frauen  vor,  die  von  ihrem  Manne  ver- 
nachlässigt werden. 

Von  den  Viti-Insulanerinnen  berichtet  Blyth: 
»Menstrualanomalien  sind  nicht  unbekannt,   was  nicht  zu  verwundern  ist,  da  sie  sehr 
unvorsichtig  während  der  Menstruation  in  den  Flüssen  baden,  oder  in  der  See  herumwaten, 
um  zu  fischen.** 

Suppressio  mensium  kommt  nach  Raven  auf  den  Faröer  häufig  vor.  Die 
Weiber  gehen  dort  ohne  Schuhe  und  tragen  nur  ein  Fell  um  die  Füsse,  so  dass 
diese  inuner  der  feuchten  Kälte  ausgesetzt  sind.  Hierdurch  werden  diese  Störungen 
verursacht. 

Von  Nord-Island  schreibt  Olaffen: 

.Das  Frauenzimmer  hat  bej  Weitem  keine  so  gute  Gesundheit;  indem  Obstructio 
mensium,  insbesondere  beym  unverheiratheten  Frauenzimmer,  hier  so  wie  in  ganz  Island 
sehr  allgemein  ist.  Ihre  gar  zu  stille  Lebensart  scheint  vornehmlich  Schuld  daran  zu  seyn: 
denn  ausserdem,  dass  sie  wenige  Belustigungen  haben,  wodurch  sie  schon  gezwungen,  still- 
schweigend und  schwermüthig  in  ihrem  Umgange  und  ihrer  AuffQhrung  werden,  trägt  es  auch 
vieles  dazu  boy,  dass  sie,  wenige  Tage  im  Sommer  ausgenommen,  stets  bey  ihrer  Haus-  und 
Wollarbeit  siüen,  ohne  in  die  freye  Luft  zu  kommen.  Hierzu  kömmt,  dass  sie  bei  ihrer 
Arbeit  nicht  auf  Stühlen  oder  Bänken,  sondern  mit  untergeschlagenen  Beinen  auf  dem  Fuss- 
boden,  auf  einer  Matte,  einem  Easseu  oder  einem  Schaffelle  sitzen.  Vielleicht  giebt  es  noch 
viele  andere  Ursachen  zu  der  schlechten  Gesundheit  dieses  Geschlechtes,  die  Niemand  achtet 
oder  zu  achten  wertb  hält.    Die  angeführten  sind  aber  wohl  die  Hauptursache.* 

Die  bei  den  ehstnischen  Mädchen  zur  Zeit  der  Pubertätsentwickelung  ein* 
tretenden  Störungen  müssen  zum  Theil  davon  abgeleitet  werden,  dass  den  jugend- 
lichen Körperu  zu  gewaltige  Anstrengungen  zugemuthet  werden,  die  um  so  eher 
als  Krankheitsursachen  wirken,  als  diesem  starken  Verbrauch  in  dem  noch  nicht 
erwachsenen  Körper  und  Alter  oft  nicht  die  solchem  Gonsum  entsprechende 
Nahrung  geboten  wird.  Beachten  wir  nun  noch  die  grosse  Unkeuschheit  der 
Ehstenmädchen,  so  haben  wir  ein  drittes  krankmachendes  Moment,  welches 
die  Bleichsucht,  die  Menstruationsstörungen  und  selbst  üterusleiden  entstehen 
lässt  (Holst), 

Keating  erfuhr  von  einem  Potowatomi- Häuptling,  dass  unter  den  Frauen 
seines  Stammes  Unregelmässigkeiten  im  Monatsflusse  nicht  selten  seien,  ebenso 
wenig  als  Verb  alt ungen ;  allein  er  schien  sich  hierüber  nur  mit  Zurückhaltung 
auszusprechen.  Auch  in  Guatemala  sind  nach  JSernof4/h' Menstruationsstörungen 
eine  sehr  häufige  Erscheinung. 

In  der  Sierra  Leone  kommen,  wie  der  dort  beschäftigte  Chirurg  Robert 
Clarke  fand,  Amenorrhoe,  Dysmenorrhöe,  Leukorrhoe  und  profuse  Menstruation 
bei  den  Negerinnen  gleich  häufig  vor,  wie  bei  den  Engländerinnen. 

Die  chinesischen  Aerzte  glauben  bei  den  Weibern  die  Menstruations- 
störungen  am  Pulse  erkennen  zu  können.  Sie  setzen  bekanntlich  drei  Finger  auf 
drei  verschiedene  Punkte  der  Arterien  auf,  und  diese  drei  Punkte  nennen  sie 
tauen,  tsche  und  koun.  Ist  der  Puls  beim  Punkte  tsche  voll  und  kräftiger  am 
rechten  Arme,  als  am  linken,  so  erklären  sie  die  Frau  für  gesund;  ist  er  klein, 
hart  und  oberflächlich,  so  vermuthen  sie  eine  Menstruationsstörung;  ist  er  schwer 
fühlbar  und  schwach  am  Punkte  tsche,  so  sind  die  Regeln  zu  reichlich;  ist  er 
schwer  fühlbar,  schnell  und  hart,  so  sind  sie  zu  früh  eingetreten;  ist  er  schwer 
fühlbar  und  langsam,  so  sind  sie  verzögert;  ist  er  klein,  hart  und  oberflächUck 
so  sind  sie  ungenügend;  ist  er  schwer  fühlbar  und  schwach,  so  sind  sie  unter 
drückt  (de  ViUeneuve).  Eine  Menstruationsstörung  wollen  die  *  ' 
Aerzte  nach  anderer  Angabe  erkennen  (Dabry)y  wenn  der  Nierei 


342  ^I-  ^16  monatliche  Reinigang. 

und  oberflächlich,  wenn  der  Leber-Puls  spröde  und  übereilt  ist.  Za  reLcUicke 
Menstniation  soll  sich  nach  ihnen  durch  einen  tiefen  und  schwachen  Puls  knnd 
geben.  Wenn  die  Menses  vorzeitig  eintreten,  soll  der  Puls  tief  und  langsun^ 
wenn  sie  ungenügend  sind,  soll  er  klein,  spröde  und  oberfifichlich  sein;  bei  der 
Unterdrückung  der  Menses  ist  der  Puls  tief  und  gedehnt  oder  tief  und  schwach. 

Bei  einem  Blicke  auf  die  Gynäkologie  des  Alterthums  (Kleinwädäer) 
finden  wir,  dass  die  altgriechischen  Aerzte  sich  eine  ganz  besondere  Ansicht 
über  die  Menstruation  und  ihre  Störungen  zurechtlegten.  Nach  Hippohrates  sbd 
Weiber,  die  nie  schwanger  waren,  menstrualen  Leiden  viel  mehr  aosgesetzti  als 
jene,  die  geboren  haben,  denn  der  Lochienfluss  (der  Ausfluss  im  Wochenbett) 
wirkt  auf  die  Circulation  wohlthätig  ein.  Durch  die  Schwangerschaft,  so  stellte 
er  sich  vor,  werden  die  Blutgefässe  der  Baucheingeweide,  des  Uterus  sowie  der 
Brüste  gehörig  erweitert,  so  dass  späterhin  nach  überstandener  (Geburt  der  Blnt- 
abgang  leichter  stattfindet.  Bei  jenen  dagegen,  die  nie  geboren  haben,  sind  die 
Blutgefässe  nicht  gewöhnt,  sich  auszudehnen,  und  es  kann  daher  das  menstraale 
Blut  nicht  so  leicht  abfliessen.  Die  Gewebe  des  Weibes  sind  zarter  und  erhitzen 
sich  mehr.  Dadurch  entstehen  Beschwerden,  die  durch  die  Ausdehnung  der  Blnt- 
gefässe  gemildert  werden.  Deshalb  ist  auch  die  Wärme  des  Weibes  eine  höhere. 
als  die  des  Mannes.  Durch  den  monatlichen  Blutfluss  wird  ein  zu  hohes  An- 
steigen der  Körperwärme  verhindert. 

Es  folgt  nun  bei  Hippokrates  die  Besprechung  der  Ursachen,  der  Erschm- 
nungen,  sowie  der  Behandlung  einer  Stockung  und  eines  zu  reichlichen  Flusses 
der  Menses;  seine  Darstellung  gründet  sich  nicht  auf  genaue  anatomische  Unter- 
suchung, die  man  ja  auch  noch  bei  seinen  Nachfolgern  vermisst.  Paidus  vanAegina 
empfiehlt  bei  Ausbleiben  des  Blutflusses  durch  Uterusleiden  Blutentziehung,  Liga- 
turen an  den  unteren  Extremitäten  3  —  4  Tage  lang,  wobei  man  die  Binde  knn 
vor  der  zu  erwartenden  Menstruation  abnimmt,  und  femer  einen  Trank  von 
Myrrhen,  Räucherungen  u.  s.  w.  Galenus  entwickelte  wiederum  andere  Ansichten. 
Die  arabischen  Schriftsteller  behandeln  die  Menstrualstörungen  ziemlich  gleich- 
artig: Aviccfina  empfiehlt  ebenso  wie  Serapion  Ligaturen  um  die  Oberschenkel, 
ferner  den  Aderlass,  und  als  menstruationstreibende  Mittel  Moschus,  Castoreum 
und  Myrrhen. 

S7.  Die  normale  Menstniation. 

Der  vorige  Abschnitt  hat  uns  bewiesen,  dass  bei  verkümmerten  Völkern  in 
arktischen  Gegenden  Anomalien  der  Menstruation  sich  zum  regelmässigen  Zustande 
ausbilden  können.  Wir  haben  nun  zu  untersuchen,  ob  wir  auch  aus  anderen 
Theilen  der  Erde,  namentlich  aus  tropischen  Ländern,  Aehnliches  nachzuweisen 
vermögen.  Leider  ist  hierfür  das  Material  noch  von  bedauerlicher  Spärlichkeit; 
die  vereinzelten  Angaben  aber,  die  mir  bekannt  wurden,  will  ich  nachstehend  zu- 
sammenstellen. Als  bekannt  setze  ich  dabei  voraus,  dass  die  Menstruation  des 
europäischen  Weibes  3  bis  4  Tage  zu  dauern  pflegt. 

Für  die  Talmudisten   war  es  aus  rituellen  Gründen  Pflicht,   auf  den  Blut- 
fluss der  Weiber  ein  besonderes  Augenmerk  zu  haben.  KazeneUon  schreibt  hierüber: 
^Da  (las  poriodische  Eintreffen  der  Monstruation,  die  Menf^^e  und  Farbe  des  Blotet  be- 
deutenden .Schwankungen  unterworfen  sind,  bemühen  sie  sich,  einige  allgemeine  Regeln  anf- 
zustellon,  von  denen  sie  sich  bei  der  Differentialdiagnose  zwischen  Menstruation  und  anfUlig 
auftretenden  Blutungen  auH  den  Geburtswegen  leiten   lassen.    Regelmässig  bei  einem  W«be 
auftretende  Prodromalencheinungen  erleichterten  bedeutend    die  Diagnose.     Derartige  mam 
Krau  eigenthQmlicbe  Prodromalerscbeinungen  waren  G&hnen,  Niesen,   SchmengefUü  im  Ea- 
gange    oder  abschüssigen  Theile  des  Magens;   ferner  SchleiraOuss,  Angstgefühl  odar  llnli 
Erscheinungen,  sobald  sich  dieselben  dreimal  wiederholten.    Ein  zweites  diagnosti««" 
war  die  Untersuchung  mit  dem  Mutterspiegel  (derselbe  wird  n&her  bosohriobr 
führten  gewöhnlich  selbst  den  Spiegel  ein,  und  war  dann  kein  Blv<^  *■ 


88.  Die  Störungen  der  Menstmaiion  und  die  Volksmedicin.  343 

merken,  so  war  das  ein  Beweis  dafür,  dass  das  Blut  nicht  aus  dem  Cerncalcanal  stammte. 
Ausserdem  waren  auch  die  Farbe  des  Menstruationsblutes  und  dessen  Flecken  auf  der  Wäsche 
ein  diagnostisches  Mittel.  Einige  Gelehrte  sollen  eine  bewundernswürdige  üebung  in  dieser 
Kunst  erlangt  haben.  Ein  Eingehen  auf  die  im  Talmud  dafür  angeführte  Farbenscala  und 
einige  damals  zur  Analyse  der  Flecken  gebräuchlichen  Reagentien  (Nid da  61  a)  würde  jedoch 
die  Grenzen  unserer  Aufgabe  überschreiten.' 

Auf  der  Insel  Minorca  erscheint  nach  Cleghom  die  Menstruation  bei  jungen 
Mädchen  zweimal  in  einem  Monat,  bei  allen  anderen  alle  drei  Wochen. 

Bei  gesunden  Japanerinnen  dauert  nach  Wernich  die  Menstruation  3  bis 
4  Tage;  im  Krankenhause  bei  den  verschiedenen  pathologischen  Formen  natürlich 
meist  länger.  Ein  nicht  sehr  sauberes  japanesisches  Volkslied,  in  welchem  das 
Mädchen  den  Oeliebten  beklagt,  dass  er  sich  während  dieser  Zeit  ohne  normalen 
Genuss  behelfen  müsse,  nimmt  die  Dauer  der  Periode  auf  7  Tage  an.  Die  Be- 
rechnung wird  sehr  sorgfältig  gefQhrt,  da  sowohl  die  Verkürzung  der  Menstrua- 
tionstage als  auch  des  freien  Intervalls  für  ein  Krankheitssjmptom  gilt.  Als  noch 
zur  physiologischen  Menstruation  gehörig  betrachtet  man  in  Japan  leichte  wehen- 
artige Schmerzen  im  Unterleibe  und  einen  geringen  Druck  in  der  Schläfengegend. 
Schmerz  und  Kältegefühl  im  Kreuz,  Ziehen  an  den  Schenkeln,  Schmerzen  im 
Hinterhaupte  und  in  der  Stirn  sind  als  pathologische  Symptome  wohlbekannt. 

Die  Dauer  ihrer  Menstruation  wird  bei  den  Nayers  (Jagor^)  zu  3  Tagen, 
bei  den  Hindu- Weibern  (Ckervin)  zu  3  bis  5  Tagen  angegeben.  Bei  den  Chew- 
suren  dauert  die  Menstruation  selten  länger  als  2  Tage  (Radde), 

Bei  den  Dayakinnen  von  Sarawak  giebt  Houghton  die  Dauer  der  Men- 
struation auf  4  Tage  au. 

Bush  sagt  von  den  Weibern  der  nordamerikanischen  Volksstämme,  dass 
sie  ihre  Katamenien  in  geringer  Menge,  aber  in  regelmässigen  Zwischenräumen 
hatten.     Die  Omaha-Indianerinnen  haben  die  Regel  3  bis  4  Tage.' 

Auch  von  den  Weibern  der  Charucas  und  Guaranis  in  Paraguay  be- 
tont AjBfara  die  Spärlichkeit  ihrer  Menses ;  auch  sollen  sie  durch  grosse  Intervalle 
getrennt  sein.  RoUin^  der  Wundarzt  von  La  Perouse's  Expedition,  giebt  die 
Dauer  der  Menstruation  bei  den  Indianerinnen  in  Chile  und  Galifornien  auf 
3  bis  8  Tage  an,  je  nach  ihrer  Constitution  und  Lebensweise. 

Bei  den  Negerinnen  der  Küste  von  Old  Calabar  dauert  nach  llewan  die 
Menstruation  ebenfalls  3  bis  4  Tage.  Nach  de  Rochebrune  sind  bei  den  Woloff- 
Negerinnen  die  Menses  kurz  und  der  Blutverlust  schwach. 

Aus  diesen  leider  nur  spärlichen  Thatsachen  lassen  sich  begreiflicher  Weise 
keine  weitgehenden  Schlüsse  ziehen.  Immerhin  können  wir  wohl  hervorheben, 
dass  ein  wesentlicher  Einfluss  der  Tropen  auf  eine  Verlängerung  oder  Verkürzung 
in  der  Dauer  der  Menstruation  sich  nicht  nachweisen  lässt.  Interessant  ist  noch 
eine  Erscheinung,  die  sich  bei  den  Loango-Negerinnen  gezeigt  hat.  In 
den  Tagen,  wo  sie  menstruirten,  schien  ihre  Haut  um  eine  Schattirung  dunkler 
zu  sein,  als  in  ihrer  menstruationsfreien  Zeit.  Es  lohnte  sich  wohl,  darauf  zu 
achten,  ob  auch  bei  anderen  farbigen  Völkern  sich  etwas  Aehnliches  nach- 
weisen lässt. 

8S.  Die  Störungen  der  Menstruation  and  die  Volksmedicin. 

Störungen  der  Regel  gelten  dem  Volke  als  eine  Quelle  grosser  Gefahr. 
Allerlei  Gebresten  und  körperliche  Beschwerden,  allerlei  nervöse  Leiden  und  viele 
Formen  geistiger  Umnachtung  werden  mit  dem  „versetzten  Geblüte'  in  ursäch- 
lichen Zoiammenhang  gebracht.  Kein  Wunder  daher,  wenn  wir  in  der  Volks- 
mediein  mkIi  dm  mannigfachsten  Mitteln  gegen  diese  so  gefürchteten  Zustände 
^  ^nie  darartige  Fürsorge  ist  nicht  auf  die  Völker  Europas  be- 

«ndi  in  anderen  Welttheilen  und  wir  können  hieraas 
^imeienscfaatz  Mittel  gegen  Menstruationsanomalien 


344  XI*  ^ie  monatliche  Reinigong. 

aufweist,   diese  Letzteren  bei  dem  betrefifenden  Yolksstamme  keine  nngewöhnlidie 
Erscheinung  sein  können. 

Will  bei  den  Frauen  in  Algier  die  Menstruation  nicht  eintreten,  so  be- 
sitzen sie  mehrfache  Recepte,  um  dieselbe  hervorzurufen.  Die  Einen  werfen  ein 
Ammoniaksalz,  Nehader  genannt,  auf  das  Feuer  imd  setzen  sich  direct  über  den 
Dampf;  Andere  räuchern  ihre  Genitalien  mit  anderen  StofiFen  und  zwar  im  un- 
mittelbaren Anschlüsse  an  die  Yorgeschriebenen  Abwaschungen.  Aach  Tamponi 
von  Wolle,  die  mit  Schwefelantimon  eingepudert  wurden,  führen  sie  sich  in  die 
Scheide  ein.  Als  sehr  wirksam  wird  es  auch  angesehen,  wenn  die  Frau  auf  4  bis 
5  Blätter  der  Pappel  den  Namen  ihres  Vaters,  ihrer  Mutter  und  anderer  Ange- 
hörigen schreibt;  dann  muss  sie  diese  Blätter  in  ein  kupfernes  Schächtelchen  thnn 
und  dasselbe  in  ein  Feuer  legen.  Sobald  es  sich  nun  mit  Rauchwolken  bedeckt» 
so  ist  sie  überzeugt,  dass  die  Regel  erscheinen  werde.  Wenn  aber  die  Menses 
zur  rechten  Zeit  kommen,  jedoch  zu  gering  und  schwierig  sind,  dann  muss  die 
Frau  eine  Abkochung  der  Nigella  sativa  trinken  (Bertherand).  Fliessen  dagq^ 
die  Menses  zu  stark,  so  bringt  man  in  die  Scheide  eine  Mischung  von  Essig  and 
Vitriol,  oder  von  Honig,  den  man  mit  Vitriol  und  Granatrinde  versetzt  hat. 

Ist  in  Fez z an  bei  einem  jungen  Mädchen  der  Korper  bereits  voll  ent- 
wickelt, ohne  dass  die  Menstruation  sich  zeigen  will,  so  muss  sie,  wie  Nctcktigol 
berichtet,  drei  Tage  lang  einen  Brei  von  Gerstenmehl  mit  Butter  und  Zucker  und 
eine  Paste  von  Färberröthe  geniessen. 

Die  Weiber  der  Galla  und  Hararf  scheinen  wenig  von  Anomalien  der 
Menstruation  zu  leiden;  unter  einer  Liste  von  66  Medicinaldroguen,  welche  Pau- 
litsclike  von  ihnen  veröffentlicht  hat,  befindet  sich  nur  ein  einziges  Medicament, 
welches  bei  Frauenleiden-  Anwendung  findet. 

Im  ostindischen  Archipel  steht  unter  den  Mitteln,  den  Eintritt  der  Men- 
struation zu  befördern,  das  Kneten  bestimmter  Theile  des  Leibes  obenan;  nebenbei 
besitzen  sie  aber  allerlei  Kräuter,  welche  auf  die  Regel  fordernd  einwirken  sollen. 
Sie  haben  dort  die  Ansicht,  dass  der  Mond  einen  sehr  bedeutenden  Einflnss  auf 
die  monatliche  Reinigung  übe,  und  zwar  so,  dass  junge  Mädchen  zur  Zeit  des 
Neumondes,  ältere  Frauen  aber  nach  dem  Vollmonde  menstruiren.  Nur  ungemein 
selten  kommt  es  vor,  dass  daselbst  Schwangere  menstruiren.     (Epp.) 

In  Japan  gilt  als  menstruationstreibendes  Mittel  besonders  die  Abkochung 
der  Wurzel  von  Rubia  cordiflora,  welche  die  Frauen  Shenkong  Akane  nennen. 
Doch  sind  neuerdings  Eisen-  und  Chinin -Präparate,  Fussbäder  und  Senf  teige  be- 
reits populär  geworden;  zuweilen  kommen  auch  Capsicum  und  Senf  innerlich  zor 
Anwendung.  Auch  gebraucht  man  dort  nach  Williafn^  als  Mittel  gegen  Ame- 
norrhoe Key-tu-sing,  das  ist  die  Tinctur  aus  den  Blättern  eines  Baumes  aus  der 
Klasse  der  Tenistromaceae ;  man  nimmt  dieselbe  zur  Zeit  des  Vollmondes  unter 
kabbalistischen  Ceremouien  ein. 

Die  Chinesinnen  benutzen  bei  Menstruationsstörungeu  sehr  verschiedene 
Arzneien.  Beim  Ausbleiben  des  Monatsfiusses  wird  Ning-kuen-tschi-pao-tan  zu- 
gleich mit  Knabenham  und  altem  Wein  eingenommen.  Bei  Schmerzen  in  der 
Herzgegend  kurz  vor  dem  Eintritt  der  Menses  wird  es  mit  Absud  von  Cypem« 
graswurzeln  und  von  alten  Citronen  gegeben;  ist  der  Monatsfluss  dunkelblau  oder 
schwarz,  dann  kommt  eine  Abkochung  von  Päonienrinde  mit  Schwarzwunel, 
Safran  und  grünen  Citronen  an  die  Reihe;  bei  übermässiger  Menstruation  nehmen 
sie  ein  Decoct  von  Seekohl  und  weisser  Bergdistel  ein.     (Schwarz,) 

Ueber   die  Viti-Insulanerinnen   hat   uns  Blyth  Bericht   erstattetb     Voa 
ihnen  wird   als  Mittel   gegen   die  Suppressio   mensium   die  Rinde  von   der  Ymi 
Ndina  (a  tree  of  the  greenheart  species)  geschabt  und  davon  ein  Infus  gor* 
Das  hilft  in  manchen  Fällen,  und  wenn  es  fehlschlägt,  so  hilft  anch  nichtF 
Die  Hebammen   behaupten,   dass  sie  auch  Todesfölle   nach   Bar* 
kennen,  aber  damit  ist  wahrscheinlich  gemeint,  dass  Krankhr 


88.  Die  Störungen  der  Menstruation  und  die  Volksmedicin.  345 

sation  der  Menses  Veranlassung  geben,  oder  mit  ihr  einhergehen,  in  Fiji  vor- 
kommen. Auch  schmerzhafte  Menstruationen  werden  beobachtet  (Dravutu  ge- 
nannt) und  von  den  Hebammen  mit  einem  Infus  von  dem  geschabten  Stamm  und 
den  Blättern  eines  Weinstockes  (Wa  Ndamu)  behandelt.  Für  die  Hebamme  wird 
dann,  bevor  sie  fortgeht,  ein  Mahl  bereitet,  nach  dessen  Einnahme  sie  zu  ihrer 
gewohnten  Beschäftigung  zurückkehrt,  mit  der  Weisung,  dass  wenn  die  Kranke 
nicht  in  vier  Tagen  vollständig  wohl  ist,  man  sie  wieder  rufen  solle;  dann  wird 
die  gleiche  Behandlung  wiederholt. 

Kehren  wir  nun  nach  Europa  zurück,  so  treffen  wir  in  Kleinrussland 
als  das  die  Menstruation  befördernde  Mittel  den  Aufguss  von  Lathraea  squamaria 
mit  Wasser  oder  Branntwein,  zu  einigen  Spitzgläsern  täglich,  in  Gebrauch.  Im 
Nowgorodschen  Gouvernement  nimmt  man  Bierhefe  und  frischgemolkene 
Milch  zu  einem  halben  Bierglase  des  Morgens  nüchtern.  Ausserdem  wird  noch 
in  den  südlichen  Gouvernements  Russlands  sowohl  bei  zu  geringer,  als 
auch  bei  ausbleibender  Menstruation  der  Splint  des  Kirschbaumes  benutzt.  Mit 
einem  Messer  muss  man  dabei  den  Bast  abschaben,  und  zwar  nach  oben,  wenn 
die  Regel  zu  schwach  ist,  und  nach  unten,  wenn  sie  zu  reichlich  auftritt.  Auch 
trinkt  man  in  Russland  den  Thee  von  Tanacetum  vulgare  und  gebraucht  inner- 
lich seit  den  ältesten  Zeiten  Ol.  Terebinthinae  zu  12 — 15  Tropfen,  Morgens  und 
Abends,  mit  einem  starken  Aufguss  von  Artemisia  (Krebel),  In  Sibirien  wird 
der  gesättigte  Aufguss  von  Geranium  pratense  getrunken. 

Bei  den  Serben  müssen  Weiber,  die  an  Menstruationsbeschwerden  leiden, 
den  Saft  rother  Blüthen  trinken.  Wenn  es  dagegen  einer  Frau  lästig  ist,  jeden 
Monat  von  der  monatlichen  Reinigung  heimgesucht  zu  werden,  dann  soll  sie  sich 
bei  dem  Eintreten  derselben  waschen  und  mit  dem  Abwaschwasser  eine  rothe  Rose 
begiessen  (Petrowitsch). 

Bei  den  Polen  und  Ruthenen  wird  nach  Glück  der  Beifuss  bei  Frauen- 
krankheiten und  namentlich  bei  Menstruationsstörungen  empfohlen.  In  Bosnien 
und  der  Hercegovina  benutzt  man  das  gekochte  Kraut  des  Wermuth  mit  Honig, 
als  Umschlag  auf  den  Unterleib  gelegt,  gegen  Dysmenorrhöe;  aber  auch  den 
Beifuss  wenden  sie  bei  Amenorrhoe  an  und  zwar  innerlich  genommen  als  Ab- 
kochung. Gegen  die  gleiche  Beschwerde  wird  von  ihnen  der  Saft  von  Tausend- 
güldenkraut mit  einem  Weinabsud  gebraucht. 

In  den  Provinzen  Treviso  und  Belluno  in  Italien  wird  das  Ausbleiben 
der  Regel  mit  Malven  und  Venushaar  behandelt  (Bastanzi).  Gegen  Gebärmutter- 
blutungen benutzt  man  in  der  Provinz  Bari  die  Stricke,  welche  zum  Zubinden 
der  Schlauche  gebraucht  werden.  Man  umbindet  damit  die  Taille,  die  Hand- 
gelenke und  die  Fussgelenke  der  Kranken,  und  wenn  das  nicht  ausreicht,  so  bindet 
man  noch  Fäden  von  schwarzer  Wolle  um  jeden  Finger  und  um  jede  Zehe:  dann 
steht  die  Blutung  (Karnsio). 

Gegen  das  Ausbleiben  der  Menstruation  hilft,  wie  es  in  der  Mark  Bran- 
denburg (in  einer  alten  Handschrift)  heisst,  ein  Stück  von  einem  Fischernetz 
und  ein  Zipfel  von  einem  Mannshemde  zu  Pulver  gebrannt  und  eingegeben.  Im 
Frankenwalde  (Flügel)  ist  unter  den  Hausmitteln  gegen  mangelhafte  Menstrua- 
tion wohl  Safran  mit  Wein  das  gewöhnlichste.  Einige  Mittel  zur  Hervorrufung 
der  Regel  im  bayerischen  Franken,  bei  welchem  Menstruationsblut  die  Haupt- 
rolle spielt,  werden  wir  noch  kennen  lernen. 

Gegen  zu  reichliche  Menstruation  gebraucht  man  daselbst  frische  Muttermilch, 

ebenso  luitzendreck  und  Rosenöl.    Bei  Mutterblutfluss  giebt  man  Hirtentäschlein 

mit  Wein  und  Wasser  gesotten.     Dort  glaubt  man  auch,   dass  bittere  Mandeln 

die  Menstnifttioii  aufhören   machen.    In  der  Pfalz   gebrauchen   die  Frauen    auf 

t  iMBBi  Venstnialio&iBtSnuiffen  G^etränke  aus  gemeiner  und  auch  romischer 

ArUieninm),  Stabkraut  (Artemisia  Abrotanum), 
•^Qpirbe  und  Bosmarin  werden  zu  diesem  Zwecke 


346  ^^'  ^^®  monatliche  Reinigung. 

schon  seltener  benutzt,  wenn  sie  gleich  minder  schädlich  sind,  als  beispielsweise 
Zwetschenbranntwein,  allein  oder  mit  Safran  oder  Aloe,  «Lohröl*  (Lorbeerol), 
wovon  die  Bäuerinnen  gern  Gebrauch  machen,  wenn  ihre  Periode  ganz  zurück- 
bleibt. Sie  lassen  wohl  auch  bei  Amenorrhoe  einen  Aderlass  am  Fnss  vornehmen, 
nehmen  auch  Thee  vom  Sevenbaum,  besonders  dann,  wenn  sie  eine  vermuthete 
Schwangerschaft  beseitigen  wollen  (Pauli). 

In  Schwaben  giebt  man  Melisse  oder  Mutterkraut  bei  schwachem  Gteblüt, 
auch  Raute  treibt  dort  die  Menstruation,  ebenso  Sabina,  auch  thut  es  das  Trinken 
von  Geisham  (Bück),  femer  wird  Akelei  als  weiberzeittreibendes  Mittel  benutzt. 
Auch  Regenwasser  und  Stutenmilch  soll  sehr  wirksam  sein.  Zu  reichliche  Men- 
struation hemmen  sie  durch  den  Genuss  von  bitteren  -Mandeln.     (LammerU) 

Auf  die  Dauer  des  Blutflusses  bei  der  Menstruation  vermag  nach  dem 
Glauben  der  Bayerischen  Bevölkerung  die  Weibsperson  selber,  oder  deren  Mutter 
oder  Verwandte  einen  ganz  erheblichen  Einfluss  auszuüben.  »So  viele  Finger  die 
Mutter  bei  der  Wäsche  des  vom  erstmaligen  Monatsblute  befleckten  Hemdes  in 
das  Wasser  taucht,  so  viele  Tage  wird  künftighin  die  Menstruation  ihrer  Tochter 
andauern.  **  Mit  diesem  Wasch wasser  muss  dann  ein  Rosenstock  begossen  werden, 
dann  wird  der  Monatsfluss  immer  mit  Regelmässigkeit  von  Statten  gehen.  Soll 
zu  reichliche  Menstruationsblutung  beseitigt  werden,  so  muss  man  die  Ohrfiboger 
beider  Hände  mit  carmoisinrothen  Seidenfaden  umwickeln.  So  oftmal  man  den 
Faden  umgewickelt,  so  viele  Tage  bleibt  die  Regel  aus.     (Lammert) 

Im  Mittelalter  spielten  in  Deutschland  bei  den  Menstruationsstörungea 
Räucherungen  eine  sehr  grosse  Rolle.  Das  war  aber  eine  Behandlungsweise,  welche 
der  griechischen  Medicin  entlehnt  worden  war.  In  dem  Arzneibuche  des  Sar- 
tholomaeus  Anglicus  aus  dem  XIII.  Jahrhundert,  das  von  Pfeiffer  herausgegeben 
wurde,  kommt  die  folgende  Stelle  vor: 

^Swelh  w!p  ir  siechtuomes  (siech tum  de  wibe  i.  e.  menstrua)  niht  haben  muge,  diu 
neme  myrren  unde  temper  si  mit  dem  sfige  (Safte)  arternysien,  unde  86  diu  temperonge  daime 
getruchne,  so  so!  si  vigelen  (chaben,  feilen)  ein  hirzes  hörn  (Hirschhorn)  unde  mische  diu  ra- 
samme  unde  behulle  si  vlizechltch  unde  mach  einen  rouch  dar  üz  unde  setze  den  under  dia 
bein:  an  der  wile  so  gewinnet  si  ir  wiphoit. 

,Ze  gelicher  wie  sol  si  rüten  (Raute)  ezzen  unde  den  souch  (Saft)  vaste  (stark)  trinchen 
undo  Bol  die  wurzenschtben  zwischen  diu  bein  haben:  so  ledigen  sich  diu  menstroa. 

,Ez  erget  vil  dicke  (es  geschieht  sehr  oft),  daz  diu  matriz  ersticket,  dft  das  chint  ihm 
lit,  eintweder  von  dem  smerwe  oder  von  dem  foulen  pluote,  daz  sie  sich  nicht  erfurben  (rei- 
nigen) mach.  Des  sol  man  sus  buozen  (bessern).  Daz  w!p  sol  nemen  gruone  rOten,  unde  rtbe 
die  wol  yast  unde  stozo  die  an  die  statt.  Ze  gelicher  wis  du  sold  nemen  swebel  unde  temper 
den  mit  starchem  ezziche  und  habe  die  temporunge  lange  für  die  nase  unde  stöz  ir  ein  teil 
an  die  tougen  (geheime)  stat,  so  wird  dir  baz. 

,Swenne  daz  wip  den  siechtuom  hat,  so  geswillet  si  ein  teil  umbe  den  nabel  unde 
walget  (rollet)  ir  daz  gclibcrte  bluot  imter  den  rippen  also  diu  eiger  unde  beginnet  fir  dia 
äder  swellen  undo  get  ir  der  toum  in  daz  houbet  als  der  dicke  rouch.  Wil  du  des  tiech- 
tuomes  schiere  (sogleich)  buozen,  so  nim  ruten  ünde  temper  die  mit  guotem  honege  ande 
salbe  dich  da  mit  al  umbe  die  tougen  stat.  Wellest  dfi  aver  schiere  gesunt  werden,  so  nSm 
linse  und  beize  die  mit  wenc,  da  nfib  temper  siu  mit  honege  unde  neuz  die  erzente  alle  tage: 
du  wirdes  schiere  gesunt.* 


XII.  Die  Menstruation  in  ethnographischer  Beziehung. 

89.  Gebräuche  bei  dem  Eintritt  der  Menstruation. 

Das  zum  ersten  Male  menstruirende  Mädchen  tritt  in  eine  neue  Entwicke- 
lungsepoche  des  Lebens  ein:  sie  ist  reif  geworden,  einen  eigenen  Hausstand  za 
gründen,  zur  Vermehrung  des  Stammes  auch  ihrerseits  beizutragen;  mit  einem 
Worte,  sie  ist  mannbar  geworden.  Mit  dem  Erreichen  der  Pubertät  verbindet 
sich  aber  in  dem  Volksglauben  sehr  vieler  Nationen  die  Ansicht,  dass  das  weib- 
liche Wesen  mit  dieser  erstmaligen  Blutausscheidung  in  einen  Zustand  temporärer 
Unreinheit  versetzt  wird,  in  der  sie  abgesondert  werden  muss,  um  nicht  auch 
Andere  zu  verunreinigen. 

Gleichzeitig  hat  man  diesen  Lebensabschnitt  aber  auch  für  ganz  besonders 
geeignet  angesehen,  um  das  junge  Wesen  durch  die  Auferlegung  von  Leiden  und 
Weh  eine  Art  von  Prüfung  durchmachen  zu  lassen,  durch  deren  Ablegung  sie 
sich  erst  der  Stammesangehörigkeit  für  würdig  erweisen  muss.  Erst  wenn  sie 
diese  Maassnahmen  erduldet  hat,  wird  sie  als  eine  Erwachsene  betrachtet 

Es  kommen  bei  weniger  civilisirten  Volksstämmen  recht  widerwärtige  und 
bisweilen  sogar  lebensgefahrliche  Peinigungen  in  Anwendung,  die  vielleicht  nicht 
immer  nur  den  Endzweck  haben,  die  Standhafbigkeit  des  armen  Wesens  zu  prüfen. 
In  vielen  Fällen  dienen  sie  wohl  auch  dazu,  den  vermeintlichen  Dämon  der  Un- 
reinheit und  der  Krankheit,  welcher  das  junge  Mädchen  ergriffen  hat,  durch  ge- 
waltsame Eingriffe  zu  vertreiben. 

Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung,  was  vofi  den  Steinen  über  die  Er- 
findung der  Schambinde  bei  den  Mädchen  der  Bakairl  entwickelt: 

«Plötzlich  treten  Blutangen  auf;  hier  ist  eine  Erkrankung  gegeben.  Dass  der  Indianer 
ursprünglich  so  dachte,  wird  klar  bewiesen  durch  die  bei  den  meisten  Stämmen  Übliche,  höchst 
überOüssige  medicinische  Behandlung  des  menstruirenden  Mädchens  mit  Isolirung,  Ausräuche- 
rung, Diät,  Incisionen  und  den  übrigen  Hülfsmitteln  wider  die  unbekannten  Feinde.  Man 
entfernte  säuberlich  das  Schamhaar,  und  legte  einen  Verband  an,  die  Bastschlinge,  oder 
eine  Pelotte,  das  Uluri.  Die  Bastschlinge  ist  bei  den  Tru  mal -Frauen  —  eine  Combination 
von  Verband  und  Pelotte  —  strickartig  gedreht.  Bei  den  Üluri-Trägerinnen  bewirkt  der 
schmale  Rindenstreifen  die  Anspannung  Über  den  Damm;  in  beiden  Fällen  wird  ein  gegen 
die  Schambeinfuge  hin  andrückendes  Widerlager  geschaffen,  bei  jenen  durch  das  Röllchen, 
bei  diesen  durch  das  federnde  Dreieck.  Man  sieht,  es  war  nicht  die  Reinlichkeit,  die  das 
Ver&hren  eingab,  sondern  das  ärztliche  Bemühen,  dem  Blutverlast  entgegen  zu  arbeiten. 
Das  nnd  aber  wahrlich  keine  Erfindongen  der  Schamhaftigkeit,  wie  Schürzen  oder  dergleichen 
tbnhai«.* 

•■indieeka  wiid  dann  aber  auch  fernerhin  von  den  reif  gewordenen 
^**  liier  finden  wir  auch  bei  anderen  Völkern,   dass 
Mneichen  oder  ein  besonderer  Schmuck  auch 
eine  Jungfirau  geworden  sei. 


348  XII.  Die  Menstruation  in  ethnographischer  Besiehnng. 

Vielfach  schliessen  diesem  ^svichtigen  Ereigniss  sich  dann  langdauemde  Feste 
an,  und  so  erhält  der  ganze  Vorgang  hierdurch  den  Charakter  des  Feierlichen 
und  des  Weihevollen.  So  werden  wir  allmählich  hinübergeleitet  in  die  edleren 
Gebräuche,  wie  sie  bei  den  civilisirten  Völkern  mit  dem  Abschlösse  der  Kindheit 
verbunden  sind. 


90.  Die  Reifeprüfung  and  das  Beifezelehen. 

Wir  wollen  ffir  die  vielfachen  Oebräuche,  welche  die  verschiedenen  Völker 
des  Erdballs  bei  der  Reifung  der  Jungfrauen  befolgen,  den  Lesern  nur  einzelne 
Beispiele  vorßihren,  ohne  dabei  auf  Vollständigkeit  Anspruch  zu  machen.  Immer* 
hin  werden  dieselben  wohl  ausreichend  sein,  um  das  in  dem  vorigen  Abschnitt 
Gesagte  in  befriedigender  Weise  zu  illustriren. 

Bei  mehreren  australischen  Stämmen  werden  sowohl  bei  den  Mädchen 
als  auch  bei  den  Knaben  als  Einfuhrung  in  die  Mannbarkeit  unter  grossen  Gere- 
monien  zwei  Zähne  ausgeschlagen,  z.  B.  im  Seengebiet,  wo  diese  Operation 
Tschirrintschirri  genannt  wird:  Zwei  Stäbe  von  Holz,  die  keilförmig  zugescharft 
sind,  werden  zu  beiden  Seiten  eines  Zahnes  eingetrieben;  auf  den  Ztäm  legt  man 
ein  Stück  Fell  und  setzt  darauf  ein  scharfes,  etwa  60  cm  langes  Holz;  ein  bis 
zwei  Schläge  mit  einem  schweren  Stein  auf  dieses  Holz  genügen  in  der  Rq^ 
um  den  Zahn  so  zu  losen,  dass  er  mit  der  Hand  herausgenommen  werden  kann. 
In  gleicher  Weise  wird  der  zweite  Zahn  entfernt,  und  dann  feuchter  Thon  auf 
die  Wunde  gedrückt,  um  die  Blutung  zu  stillen.  Die  Kinder  verrathen  kaum 
durch  ein  Zucken  des  Gesichts,  dass  sie  einen  Schmerz  empfinden. 

Auch  in  dem  ostindischen  Archipel  ist  bei  den  Malayen  überall  die 
Sitte  verbreitet,  dass  bei  eingetretener  Pubertät  die  Zähne  bei  beiden  Oeschlechtem 
um  ein  Viertel  ihrer  Länge  abgefeilt  werden.  Danach  werden  sie  schwarz  gefirbt 
und  häufig  legt  man  sie  ausserdem  auch  noch  mit  kleinen  Goldplättchen  ans. 

Die  grossen  Festlichkeiten,  welche  bei  dem  Abfeilen  der  Zähne  einer  Prin- 
zessin in  Baren  auf  Celebes  veranstaltet  wurden,  hat  uns  Ida  Pfeifer  be- 
schrieben. Das  auf  einer  Matratze  liegende  Mädchen  wurde  von  einem  alten 
Manne  mit  drei  Feilen  au  ihren  Zähnen  so  behandelt,  dass  die  obere  Zahnreihe 
erst  mit  der  gröberen,  dann  mit  einer  feineren,  schliesslich  mit  der  kleinsten  und 
feinsten  Feile  abgeraspelt  wurde,  wobei  der  Operateur  im  Allgemeinen  g^eschickt 
verfuhr  und  die  Prinzessin  keinen  Laut  von  sich  gab.  Der  Operateur  erhielt  da- 
für ein  Huhn,  welchem  er  ein  kleines  Stück  des  Kammes  abriss  und  hierauf  das 
herausspritzende  Blut  auf  die  Zähne  und  Lippen  der  Prinzessin  brachte.  Dann 
wurde  auch  dieselbe  Operation  an  sechs  jungen  Mädchen  des  Hofstaates  vollzogen, 
aber  mit  weniger  Umständen,  worauf  ein  grosses  Gastmahl  die  Festlichkeit  be- 
schloss.  Ist  das  Feilen  der  Zähne  auf  Timoriao  bei  einem  reif  gewordenen 
Mädchen  versäumt  worden,  so  muss  die  Operation  während  der  Schwangerschaft 
nachgeholt  werden.     (RiedeP,) 

Auch  die  jungen  Mädchen  der  Sawu-Inseln  (oder  Haawu-Inseln)  in  In- 
donesien werden  bei  dem  Eintreten  der  ersten  Regel  der  Operation  des  Zahne- 
feilens  unterworfen.  Aber  man  nimmt  bei  ihnen  auch  noch  andere  Manipulationen 
vor,  welche  auf  das  spätere  Geschlechtsleben  des  Weibes  ganz  unzweideutige  Be- 
ziehungen haben.  Den  Mädchen  werden  nämlich  die  Brüste  geknetet  und  ein 
zusammengerolltes  Koliblatt  wird  ihnen  in  die  Vagina  geschoben,  natürlicher  Weise, 
um  diese  wegsamer  zu  machen.     (RiedeV.) 

Auch  die  Tättowirungen,  von  denen  ich  ja  bereits  ausfuhrlich  sprach,  werden 
bei  vielen  Volksstämmen  mit  der  Reifung  der  jungen  Mädchen  in  Zusammenhang 
gebracht.     So  sagt  Forst  er: 

, Auf  Tahiti  t&ttowirt  man  die  geschlechtsreifen  Mädchen;  diese  harren  dieses  Momentes 
sehnsüchtig,  denn  nicht  mannbar  zu  sein  gut  für  sie  als  eine  Schande.' 


90.  Die  Reifeprüfung  und  das  Reifezeichen.  349 

Ebenso  haben  nach  MaucVs  Bericht  die  Makalaka  in  Süd-Afrika  die 
Sitte,  dass  die  alten  Frauen  das  junge  Mädchen  zur  Pubertätszeit  tättowiren,  wo- 
bei unter  grossem  Schmerz  dem  armen  Wesen  etwa  4000  Schnittchen  in  die 
Haut  gemacht  werden;  dann  reibt  man  eine  ätzende,  durch  Kohlenpulver  ge- 
schwärzte Salbe  ein. 

Tättowirungen,  und  zwar  im  Gesicht,  nehmen  bei  den  mannbar  werdenden 
Mädchen  auch  die  Lenguas  und  die  Payaguas,  sowie  andere  Stämme  in  Para- 
guay vor,  auch  berichten  Demersay  und  Dohrizhoffcr  Gleiches  von  den  Abi- 
ponern.     (v.  Azara,) 

Ebenso  tättowiren  auch  die  Kaders  in  den  Anamally-Bergen  in  Indien 
die  jungen  Mädchen  zur  Zeit  der  Reife. 

Für  das  Stechen  der  Schmuckdurchbohrungen  an  den  Ohren,  den  Lippen 
oder  der  Nasenscheidewand  wird  ebenfalls  die  eingetretene  erste  Menstruation  als 
der  gewohnheitsgemässe  Zeitpunkt  gewählt.  Das  findet  z.  B.  in  Birma  statt. 
Das  Ohrläppchen  des  jungen  Mädchens  wird  mit  einer  silbernen  Nadel  durch- 
stochen. In  die  gemachte  Oeffnung  werden  so  viele  Stengel  eines  bestimmten 
Grases  gesteckt,  als  sie  fasst.  Dann  wird  durch  Schrauben-Ohrringe  das  Loch 
erweitert,  in  welches  später  mächtige  Ohrscheiben  gesteckt  werden. 

Die  Koljuschen  an  der  Küste  der  Bering-Strasse  sondern  das  reif  ge- 
wordene Mädchen  ab,  und  zu  der  gleichen  Zeit  wird  die  Durchstech ung  der  Unter- 
lippe vorgenommen,  um  den  als  Schmuck  dienenden  Holzklotz  in  dieselbe  ein- 
zusetzen. 

Aehnlich  ist  es  bei  den  Thlinkiten,  wo  am  Schlüsse  der  Absperrungszeit 
ihre  Unterlippe  durchstochen  wird.  In  das  Loch  wird  ein  dicker  Draht  von  Silber 
oder  ein  hölzerner  Doppelknopf  gebracht.  Allmählich  wird  diese  Oeffnung  nach 
mehreren  Monaten  und  Jahren  immer  grösser  geschlitzt  und  die  Lippe  durch  ein 
in  sie  gebrachtes  ovales  oder  elliptisches  Brettchen  oder  Schüsselchen  immer  weiter 
ausgedehnt.  Hierdurch  gewinnt  dann  jede  Frau  das  Ansehen,  als  wenn  ein  grosser, 
flacher,  hölzerner  Suppenlöffel  in  das  Fleisch  der  Unterlippe  eingewachsen  wäre. 
Der  äussere  Rand  dieses  Tellerchens  ist  mit  einer  Rinne  versehen,  damit  die  be- 
trachtlich ausgedehnte  Unterlippe  desto  fester  um  dieselbe  anliegt.  Der  Teller 
ist  meist  2 — 3  Zoll  breit  und  höchstens  ^'2  Zoll  dick;  bei  vornehmen  Damen  ist 
er  jedoch  grösser  und  Langsdorff  sah  einen  solchen,  der  5  Zoll  lang  und  3  Zoll 
breit  war.     (Krause,) 

Es  genügt,  an  dieser  Stelle  auch  noch  auf  die  Beschneidung  und  die  Ver- 
nähung hinzuweisen,  von  welchen  ich  oben  schon  gesprochen  hatte. 

Peinigungen  anderer  Art  sehen  wir  die  jungen,  reif  gewordenen  Mädchen 
in  Amerika  ausgesetzt.  Den  Caraiben-Mädchen  in  Britisch  Guyana  werden 
dabei,  wie  Schomburgk  erzählt,  die  Kopfhaare  abgebrannt  und  dann  muss  ihnen 
ein  Zauberer  mit  den  Zähnen  eines  Aguti  quer  über  den  Röcken  zwei  tiefe  Ein- 
schnitte machen,  in  welche  Pfeffer  eingerieben  wird;  Schmerz  darf  die  Gepeinigte 
nicht  äussern.  So  wird  sie  mit  an  den  Körper  gebundenen  Armen  in  eine  Hänge- 
matte gelegt  und  ihr  ein  Amulet  von  Zähnen  umgehangen.  Nachdem  sie  3  Tage 
ohne  Speise  und  Trank  und  ohne  ein  Wort  zu  sprechen  zugebracht  hat,  wird 
sie  von  den  Banden,  welche  die  Arme  an  den  Körper  befestigen,  befreit  und  in 
eine  Hängematte  gelegt,  die  sie  nun  einen  Monat  lang  hüten  muss,  ohne  Anderes 
zu  geniessen,  als  ungekochte  Wurzeln,  Cassadahrod  und  Wasser.  Am  Ende  des 
Monats  wiederholen  sich  diese  Operationen,  und  erst  nach  dem  Ablaufe  des  dritten 
Monats  wird  die  Prüfung  als  vollendet  angesehen. 

Bei  den  Uaupes  wird  mit  dem  Eintritt  der  Pubertät  die  Jungfrau  auf 
kärgliche  Kost  beschränkt  und  in  dem  oberen  Theile  der  Hütte  zurückgehalten. 
Ausserdem  hat  sie  aber  noch  Peinigungen  zu  überstehen.  Sie  empfängt  von  jedem 
Familiengliede  und  Freunde  mehrere  Hiebe  mit  schmi^^men  Ranken  über  den 
ganzen  naekten  Leib.    Hierbei  sind  Ohnmächten  nicht  selten  und  bisweilen  erfolgt 


i^l'>^    i*r   T>L     Difse  Opertti&r:   wird   in 

V^     vie-i^holt.    v££T«sd    sich    die   Az:^<s£:o]ig«Q 

S:;-7i.*iri.  :;:i.i  G»mick€£i  ^berias&a::    die  r::  PrSende  aber  darf  hut  an  don  in  die 

'^'z.'j-^jL  eeraicLi«^  Z^cLtürnursirjcrizz&ectsi  kdcoi.    Hak  sie  fieae  PrftfuiigHi 

li'rrr^Ai.iriL    »:    durf   »   wi^er  ftlles  essec  und  ae  vixd  mm  für  mannliar  er- 

brri  i*^  )I&c:i§i5-I:;diazierz:i2i  Briiisch  Gavana.  anf  wddbe  ich  spitnr 
r.v.r.  z.r!:ckkc=iiLtr.  m:ise  raek  Pt/iofr  d&5  Madefaec  «von  es  nadi  Beendigong 
^^r  ^rt^rL  Ueci^Trii&tion  Tom  Bade  zx^nckkehrt.  sich  auf  einen  Stohl  oder  Stm 
^V:L^.  iro  ^  Ton  der  Matter  mit  düni^en  Bathen  gepeitscht  wiid,  ohne  einen 
T!^:L::.sirviZj^L,Tri  aosstosses  za  dOrfRi.  Bei  der  zweiten  Periode  der  MenstmatioB 
T.i.i'iz.  iWrtf:  Geis&elargen  wieder  statt,  aber  dann  qnter  nicht  mdir.  Von  da  an 
Ir*.  iAti  MädcLec  sofort  Leirathsfahig. 

Wir  har>Err.  in  einem  früheren  Abschzdne  schon  gesehen,  daas  manche  Volker 
dl-;  ailmählich  heranwachsenden  Mädchen  längen^  Zeit  ans  dem  Dorfe  enfcfienien, 
\nx  ih&ec  eine  Art  von  Einweihocg  und  von  Unterricht  angedeihen  zu  lassen. 
Aehnliches  nnden  wir  auch  bei  den  herangereiften  Jnngfranen  mancher  VoDn- 
stämiTie  und  e*  mögen  hierfür  einige  Beispiele  folgen. 

Von  Frttidr  liegt  hierfär  ein  Bericht  über  die  Betschaanen  Tor: 

«Ei^entLüzilich  «^Leist  den  Be-cb::aDa  die  Aiubildaiig  einer  dem  Bognera  (KiiabeB- 
'y^ftcr^ceiducg >  ^nalo^n  Sit:-?  flr  d^s  weibliche  Ges&chlecht  zu  Min,  Bojale  geaamiit  weUe 
r^ei  den  anderen  htksLZLrn  n;ir  angedeutet  ist.  Die  heran vachMiiden  Mädchen  mfisMB  nimlifh, 
'r/«Tor  iiie  als  heirathjf^lhig  in  den  Stamm  aufgenommen  werden,  aneh  eine  etrenge  Unter- 
vtilk-jL^g  in  ihren  zak-önftigen  Pflichten  darchmachen.  welche  ebcaio  geheimnüiToll  bstrisbcB 
wird.  aU  die  der  Knaben,  und  mehrere  Wochen  andauert.  Daza  Tcreinigen  tich  die  Noriia 
in  kleinen  Trapp s  Ton  etwa  sechs  und  ziehen,  unter  eigenthümlicfaea  monotoaen  Getiagen 
hinter  einander  hertrabend,  hinaus  in  die  Wildni»,  wo  sie  von  einer  beMmden  dazn  be- 
Ktimmten  Matrone  unterwiesen  werden.  Um  sie  als  dem  B ovale  angehOrig  zn  kmmeirfiBen, 
Viemalen  sich  die  Mädchen  mit  weissem  Thon  und  kleiden  sich  in  eine  phantaatiaeha  üm> 
ijQliarig  von  Rf;hricht  und  Schnüre  von  getrockneten  Kürbiskemen.  Die  Bohre  werden  zu 
^chQrz^n  /.usaminengefQgt  um  die  Lenden,  sie  umziehen  den  bloasen  Leib  in  dicken  WOlztHU 
hängen  locker  um  don  Hals  und  die  Schultern  herab  und  selbst  der  Kopf  trftgt  no<di  einen 
AuH^au  von  demselben  Material.  Die  Schnüre  von  getrockneten  Kernen,  welche  daiw&Mhen 
hängen,  \erureachen  mit  den  Schilfstengeln  zusammen  bei  jeder  Bewegong  eigenthfinüiehei 
Ka&cheln,  und  wenn  ein  ganzer  Zug  so  verkleideter  Mädchen  eiligen  Laofee  daherkommt^ 
hört  man  die-«  Oeräu^^ch  für  grossere  Entfernungen.  Eine  derartige  Anmeldung  tcheiat  beab- 
nichtigt  zu  feein;  denn  ea  im  nicht  erlaubt,  dieselben  zu  stOren.  und  beeonden  die  MiUiner 
hahen  »-ich  entfernt  zu  halten,  widrigenfalls  die  Mädchen  von  den  langen  Stocken,  welche  lie 
in  tinn  Händen  tragen,  ungestraft  den  freiesten  Gebrauch  machen. 

«Ah  einem  einsamen  Urte  der  Nachbarschaft  geht  dann  die  Unterweisong  dnrch  eine 
alt^  Krau  vor  f^i'^h.  wobei  e»  wiederum  darauf  ankommt,  die  Novizen  an  die  Leiden  nnd 
Mühen  de«  harten  Lebenn,  dsm  sie  erwartet,  zu  gewöhnen  und  sie  mit  den  Pflichten  gegen 
den  zukünftigen  Herrn  und  Gebieter  vertraut  zu  machen.  Sie  müssen  Wasser  und  Hols  nater 
Mcbwierigen  Verhältnissen  zusammenschleppen.  Feuer  anmachen,  erhitzte  Gegenitftnde  anfawen, 
rim  die  Haut  der  Hände  abzuhärten,  sowie  körperliche  Misshandlungen  ertragen  lernen. 

,\Vie  bei  der  Hoguera  der  Knaben,  nimmt  die  ganze  Einwohnerschaft  des  Oriee  leb- 
haften Antheil  an  dem  Verlauf  des  Boyale,  und  nahen  die  Unterweisungen  eich  ihrem  Bnde^ 
KO  wird  ein  grosses  Fest  veranstaltet.  Die  Frauen  spielen  dabei  die  Hauptrolle,  ne  ver- 
sammeln sich  zum  Schluss  der  Ceremonien  nächtlicher  Weile  bei  der  Khotlannd  führen  mite 
Singen  und  Händeklatschen  feierliche  Tänze  auf,  während  die  Mädchen  ihre  VenfaflUo^gM 
von  Kohr  auf  grosse  Haufen  zusammentragen  und  den  Flammen  übergeben.  Um  dieee  Frendea« 
fiMier  iJrehen  sich  alsdann  die  wilden  Reihentänze  der  dunklen  Mänaden,  bii  die  aUgeaeiae 
Ermüdung  dem  Feste  Grenzen  setzt.  Am  nächsten  Morgen  kommen  alsdann  die  neiMidiqgi 
unter  die  Zahl  der  Frauen  aufgenommenen  Mädchen  zum  nächsten  WasMr,  waechea  Mb.  4» 
ganzen  Kürpor  und  bemalen  sich  darauf  mit  rother  Ockererdc  und  Fett,  den  HmiwA^m^ 
Scheitols  aber  und  die  rasirten  Seiten  des  Kopfes  mit  der  glitzernden  Pomade  «sr 
glimmer  und  Fett,  Sibilo  genannt,  wie  sie  es  für  ihr  flbriges  Leben  la  thui  pB 


Die  Eeifeprüfung  und  dtts  Reifezeicfaen. 


351 


lädchen  sind  damit  betrathsfühig  geworden  und  pflegen  auch  meist  sebr  jung  in  den  Beat« 
einesi  Mannes  üheneugeben/ 

Boi  den  Basutho  werden  die  Mädchen  (nach  Undemann)  dem  ^ Polio* 
aterworfen:  Sie  ziehen  in  Begleitung  einer  Aufaeherin  nach  einer  Stelle  am 
iTasser,  wo  es  tief  genug  ist  zum  Untertauchen.  Dort  müssen  sie  einen  in  das 
i^aflser  geworfenen  Armring  tauchend  herausholen.  Des  Tages  über  treiben  sie 
ich  im  Felde  umher^  um  für  den  weiblichen  Beruf  geschult  zu  werden,  daneben 
tanzen  und  zu  singen.  Aber  Nachts  brauchen  sie  nicht  im  Felde  zu  bleiben: 
loch  leben  sie  abgesondert.  Sie  beschmieren  sich  mit  Asche.  In  dieser  Zeit  ist 
Weibervolk  wie  unsinnig;  sie  verkleiden  sich  und  treiben  viel  Muth willen. 
)ie  Mädchen  des  Polio  müssen  verschiedene  Waschungen  vornehmen.  Zu  Ende 
Polio  giebt  es  ein  Fest,  zu  dem  die  zuletzt  beschnittenen  Knaben  eingeladen 
rerden;  da  giebt  es  Schmaus,  Tanz  und  Unzucht. 

Merensky  berichtete  ebenfalls  von  den  Basutho: 

«Koma  ist  der  tnVtegrifT  der  Proceduren,  deuten  Knaben  wie  Mädchen  sich  unterwerfen 
um  in  die  Reihe  der  M&^nner  und  Frauen  aufgenommen  zu  werden,  V^on  dieeen 
Singen  darf  kein  Uneingeweihter  je  etwo^  erfahren.  ,Du  verriithfit  die  Koma-Gebräuche*  ist 
eiii<3  Art  Fluch  oder  Schimpfwort,  welches  schwer  wiegt.  Freiwillig  gchlieasan  »ich  die  Kinder 
dem  Zuge  jin,  der  sie  in  irgend  welche  Waldkluft  führt.  Tobeu  uod  wüstes  SingeUi  echter 
rechter  HeidenliLrm,  tönt  aus  dieser  Kluft  hx^t  ohne  Uuterbrechung  bei  Tag  und  Nacht. 
Monatelang  dauert  das  wüst©  Weaen;  im  Jahre  darauf  folgt  noch  ein  Nachspiel»  ,  .  .  Figuren, 
Reiche  unter  wunderlichen  Namen  gezeigt  werden,  erinnern  daran,  duds  früher  Einweihung 
giltzendienerischei»  Wissen  dabei  atattgefunden  bat.  Daran  erinnert  auch,  dass  in  Nord- 
rrane\raal  die  Mädchen  bei  der  Koma  um  eine  aus  Lehm  gebildete  Schlange  tanzen.  Die 
liidchtsn  werden  von  Frauen  unterrichtet,  Sie  müssen  Feuer  anblrtaeu,  in  der  Kälte  des 
Ibesten  Morgeni  baden,  eine  mit  Domen  gespickte  Lehmfigur  ald  Kind  auf  dem  Rücken  im 
Tragetuch  wiegen ^  und  erhalten  dabei  aUerband  Lehren.  Unter  anderem  wird  dem  Mitdchen 
getagt:  ,Etn  Weib  darf  nicht  lllgen»  Iftget  nie,*  Wenn  ein  junger  MenBch  ein  Kind  zeugt, 
der  noch  nicht  die  Koma  durchmachte,  oder  ein  Madchen,  welches  in  ebendemselben  Fall 
ist,  ein  Kind  gebiert^  so  mttsaen  die  betheiligten  Personen  unerbittlich  sterben,  wie  auch 
das  Kind.* 

Die  Bawenda  der  Station  Ha  Tschewasse  (Nord-Transvaal)  haben 
neuerdings  von  den  Basutho  das  Beschneidungstest  der  Frauen  aufgenommen. 
berliner  Missionsbenchte  1890.) 

«Die  Frauen  nmcihten  einen  sonderbaren  Aufzug  hier  In  der  Nähe  im  freien  Felde,  in- 

em  sie  den  Tag  über  die  Trommeln  schlugen  und  wunderliche«  ganz  alberne  Aufzüge  hielten, 

Rrobei  »ich  einige  Frauen  mit  weisser  Erde  beschmierten  und  ins  Feld  liefen«  als  ob  sie  wabn- 

noig  seien;  andere  nicht  geweisete  und  wahnsinnige  Franen  waren  ihnen  als  Begleiter  und 

ahror  beigegeben.    Nachdem  man  einige  Tage  lang  diese  Possen  hier  in  der  Nähe  getrieben, 

og  man  etwas  weiter  ins  Feld,  wo  sie  noch  gegenwärtig  ihr  Wesen  haben.* 

Misaionar  Schloemami,  der  ebenfalls  unter  den  Bawenda  in  Nord-Trans- 
raat,  in  Malakong  seinen  Wohnsitz  hat,  tbeilte  mir  mit^  dass  bei  diesen  Feiern 
Qe  ganx  kleine  menschliche  Thonfigur  vor  jeden  der  Katechumenen  hingestellt 
und  es  wird  ihnen  dabei  gesagt,  dass  diese  Figur  die  Koma  sei.  Was  das 
jdeutet,  wissen  sie  selbst  nicht  Aber  Merensky  hat  das  gleiche  Wort  bei  den 
ntnen  am  Nyasaa-See  unter  der  Bedeutung  von  Gott  gefunden. 
ml  diese  kleinen  Konia- Figuren  ursprliuglieh  also  wirklich  üötter- 
Id^r.  Jetzt  sind  aber  bildliche  Darstellungen  von  Gottheiten  der  Bawenda 
ibekannt.  Daher  sind  sie  also  wahrscheinlich  nur  noch  eine  Art  von  Symbol, 
reiche«  anzeigen  soll,  daaa  es  sich  um  gottliche  Vorschriften  handelt. 

ScMaor  "  '  ':  '       *         h  hem  die  Weiber 

ihr©  (koma-^  rchen    hatte    der 

eingeborene,  aber  be  am  Hände  des  Busches  stehende 

"Tickt      Dieses   hai.  i.     .*^     -^  ,^....     m**^    ^^    pnti$tand   ein    ungeheurer 

fumiilt,     Sie  MiClrmten  auf  ditii  ^  m  und  n  ihn  mit  Schreien  und 

apfen  hu  auf  di«?  MissioaisiaUuu,    uouderte  vau  V>  üibem  sammelten  sich  an. 


352  ^^I*  ^^8  Menstruation  in  ethnographischer  Betiehung. 

und  sie  machten  ernstlich  Miene,  Alles  zu  demoliren  und  das  Stationagebaade  in 
Brand  zu  stecken.  Dabei  schrieen  sie  unaufhörlich:  ,Er  hat  sie  gesehen,  er  hat 
sie  gesehen,  die  Koma  des  Korbes!*  Das  soll  soviel  heissen,  wie  die  Koma, 
welche  sonst  unter  Korbe,  d.  h.  unsichtbar  ist.  Endlich  schaffte  der  Häupt- 
ling Hülfe  und  die  Weiber  wurden  aus  einander  gejagt. 

Von  den  Bawenda  schrieb  mir  auch  Missionar  Beuster  aus  Ha  Tschewasse 
in  Nord-Transvaal: 

„Die  Candidatinnen  nehmen  auch  an  der  eigentlichen  Koma  Theil;  fie  haben  auch  ge- 
wisse Uobungen  durchzumachen,  meistens  tagelange  Rundzüge  im  VersammlangBraaine  der 
Hauptstadt,  und  zum  Schluss  zeigt  man  ihnen  irgendwelchen  GiBgenstand  nur  f!ir  einige  Angu- 
blicke.  Dieser  Gegenstand  wird  dann  als  Geheimniss  der  Boscha,  wie  diese  BeiÜBfoier- 
lichkeiten  genannt  werden,  betrachtet,  und  dafür,  dass  man  dies  Geheimnin  hat  sdiaw 
dürfen,  muss  bezahlt  werden,  fQr  jedes  Kind  von  dem  Vater  desselben  eine  Ziege  oder  der 
Werth  derselben  in  anderen  Sachen.  Ich  bemerke,  dass  es  mir  vorgekommen  ist,  dn»  die 
Veranstalter  der  Boscha  sehr  in  mich  gedrungen  haben,  ihnen  eine  Gelenk-  oder  8<ihreipoppe 
oder  Gelenkschlange,  welche  sie  hier  bei  mir  sahen,  zu  dem  Zweck  zu  fiberlassen.  Man  gidit 
daraus,  dass  es  ihnen  nur  darauf  ankommt,  etwas  recht  Sonder-  und  Wunderbares  Tono- 
bringen,  ein  Ding,  das  scheinbar  lebt,  und  die  Leute  dann  bei  dem  Glauben  xn  lassen,  dssi 
die  Anstifter  so  etwas  Wunderbares  besitzen,  dass  der  Reiz  bleibt,  es  ku  sehen  und  die  Be- 
sitzer zu  fürchten.  Das  ist  der  einzige  Zweck  bei  der  Mädchen- Boscha,  wie  sie  hier  bei  mt 
besteht.  iSonst  existirt  noch  eine  andere  Weise  der  Keifefeierlichkeiten,  dass  man  die  jungen 
Mädchen  ohne  Unterschied  der  Jahreszeit,  auch  im  Winter,  schon  am  frühen  Morgen  in*t 
Wasser  bringt,  worin  sie  stundenlang  bleiben  müssen.  Die  Trommel  wird  von  Frauen  ge- 
schlagen, und  während  die  Leiter  und  Aufseher  der  Feierlichkeit  sich  am  Ufer  am  Feuer  er- 
wärmen, sitzen  ihre  unglQcklichen  Zöglinge  im  Wasser  und  frieren,  dass  sie  steif  werden  und 
oft  sich  nicht  mehr  selbst  aus  dem  Wasser  fortbewegen  können,  sondern  heransgefaagen 
werden  müssen.  Wenn  man  den  Leitern  die  Grausamkeit  vorwirft,  antworten  sie  gewöhnlidi 
nur,  dass  sie  nelbst  auch  dasselbe  durchgemacht  haben.*     (Bartels^.) 

Zu  den  Koma -Festen  wird  eine  besondere  lange,  mehrtönige  Pfeife  ge- 
braucht. Diese  hält  man  auch  vor  den  jungen  Leuten  streng  geheim,  da  sie 
sicherlich  Geisterstimmen  nachahmen  soll.     {Wangetnann,) 

Dass  bei  dem  jungen  Mädchen  die  Reife  eingetreten  ist,  wird  auch  Suseer- 
lieh  nicht  selten  an  ihr  bezeichnet.  Zu  solchen  Abzeichen  gehört  z.  B.  das  An- 
legen der  Schamschnur  bei  den  Bakairi  und  Trumai  in  Brasilien  und  die 
besondere  Tracht  der  K r ob o- Mädchen  au  der  GoldkUste  (Fig.  206);  von  ersterem 
haben  wir  schon  gesprochen. 

Dclafoifse  sagt  von  den  Agni  in  West- Afrika: 

yLorsqu'une  jeuno  fillc  comnicnce  a  manifester  Ics  si^nes  de  la  puberte,  on  la  pare  de 
tous  les  ornenients  de  la  famillo,  bracolets,  coUiors,  plaques  frontales  et  pectorales,  anneaoz 
auz  janibes  et  aux  brah  etc.,  et  eile  proniene  ]>eudant  plusieiirs  jours  cet  etalage  d*orf6vrerie.* 

Als  Zeichen  der  eingetretenen  *1  ungfrauschaft  erhält  in  Abyssinien  das 
junge  Mädchen  einen  besonderen  Schmuck:  sie  trägt  mitten  auf  der  Stirn  eine 
runde  Elfenbeinplatte,  welche  mittelst  eines  Stirnbandes  festgehalten  wird.  {Stecker,) 

Bei  den  Chinesen  und  den  Japanern  schmückt  man  das  herangereifte 
Mädchen  mit  der  Haarnadel,  dem  Kopfputz  der  Frauen.  Bei  den  Japanern  ist 
dieses  ein  Akt  von  besonderer  Feierlichkeit,  und  das  durch  die  Ausschmückung 
mit  den  Haarnadeln  nun  ftir  ^erwachsen*"  erklärte  junge  Mädchen  wird  dann  den 
Anverwandten  und  Befreundeten  vorgestellt.  Wir  sehen  eine  solche  Vorstellang 
in  Fig.  204  nach  einem  ja[)anischen  Hol/schniit  von  dem  Jahre  1769.  Zwei 
grössere  Mädchen  stellen  die  allerdings  noch  sehr  kleine  Erwachsene  zwei  anderen 
jungen  Mädchen  vor,  deren  erste  scheinbar  im  BegriflFe  ist,  eine  Beglückwünschunge- 
rede an  die  Kleine  zu  richten. 

Die  Mädchen  der  Nootka-lndianer  in  Britisch  Columbien  legen  mm 
vierten  Tage  nach  dem  Eintritt  ihrer  ersten  Kegel  einen  besonderen  Kopfschmuck 
an,  welcben  sie  dann,  wie  lioas  berichtet,  während  ihrer  ersten  acht  Menstrua- 
tionen auf  je  vier  Tage  tragen  mUssen. 


VblCacb  treflen  wir  den  Gebrauch,  die  jungen  Mädchen  zur  Bezeichnuncr 
betreffenden  Ereigniases  mit  rother  oder  schwarzer  Farbe  anzumalen,  so  nacn 
-\iot  in  Canada.  nach  Wisstnann  bei  den  Negern  von  Lubuku,  nach  Dohne 

MQft*a«7telB,  1>M  Wdb,    «  Aiid.    h  23 


mmsä 


354 


XII.  Die  Menstruation  in  eÜl&oigApbischer  Beadbong. 


bei   dea  Zulu- Kaffern,   nach   Wdff^   im  Kuango*Gebiete,   nach     Wemjiu 
bei  den  Koljuschen  u.  8.  w.     Wir  werden  davon  noch  weiter  * 

In  Siani    werden    nach    den  Berichten    des    verstorbenen    >^  t-j^k 

Mädchen  beim  Eintritt  der  Menses  die  Haare  abgeschoren. 

Auch    bei    den    Marolong    (Betschuanen-Stamm)    werden    die 
sobald  sie  mannbar  sind,  2—3  Monate  lang  unter  strenger  Clausur  in  den 
der  Hausfrauen  unterrichtet,     ^Sobald  die  Menses  vorbei  sind,  werdr-    --■     ^r- 
ihr  Kopf  wird  bis  auf  eine  kleine  Stelle  rasirt  und  statt  des  Perk   . 
sie  ein  kleines  SchUrzchen,  dann  sind  sie  heiratbstahig.*     (JoesL) 

Die  Nama-Hottentotten    bekleiden    das    mannbare    Mädchen    mit 
reicbgeacbmfickten  Kaross,  der  sie  als  beirathsfahig  bezeicbuet  (bis  dahin 
nackt   einher).     Nach   dieser  Einkleidung  sitzt  sie  drei  Tage  lang  dem  £ii 


Fig,  90$,    Ko[»r[iuU  einer  Hilf  gewcirdeneo  llo«karaiL- (ndiÄn-nn.  VftiicoiiTtir. 
(MasAum  für  VölkerUund«  ia  Berlin  J    (K*tth  riioiogr»nhio.) 


der  Hütte  gegenüber  an  der  Seite,  wo  das  Hausgeräth  sich  betindel,  in  eineni  Tl 
I  fussbohen  Stäben  eingeschlossenen,  2^/2  bis  3  Fuss  im  Durchmesser  wetten 
mit    nntergeschlageuen   Beinen,    den   Mund    zam  Zeichen    ihres  Hocb^«»''^!^'^ 
^Stokes   fischmaulartig  vorgestreckt    und   zuweilen   mit  dem  Kopfe  h- 
nickend.     Am  dritten  Tage    wird  eine  fette  V  schlachtet,     T 

verwandte,   gewöhnlich    ein    älterer  Vetter,    .  mit   der  ^ 

Gratulation  und  zum  Schmaus.     (Hahn.)     Daun  folgt  eine  I' 

\\\r  Wiir  riiu  - 1  rul  1  nni»  r    \\\  BrifiKrh  Guyana    hni'itiili»  .Iü 


91.  Das  Einsperren  der  zum  ersten  Male  Menstmirenden.  355 

Mädchen  ihres  langen  Haares  und  schmücken  es  unter  Tänzen  mit  Perlen  und 
mit  weichen  Vogel-Daunen,  die  man  mit  Gummi  auf  den  geschorenen  Kopf,  sowie 
an  Arme  und  Schenkel  klebt.    (Schomburgk.) 


91.  Das  Einsperren  der  zum  ersten  Haie  Menstmirenden. 

Als  eine  besondere  Prüfungszeit  rauss  man  auch  das  Einsperren  der  jungen 
Mädchen  betrachten,  das  bei  einer  grossen  Zahl  von  Yolksstämmen  bei  der  ersten 
Regel  in  Anwendung  kommt.  Nicht  selten  ist  Fasten  hiermit  verbunden.  Es 
geht  aus  dieser  Maassnahme  hervor,  dass  man  das  Mädchen  jetzt  für  unrein  be- 
trachtet und  dass  sie  somit  auch  verunreinigend  auf  Alles  einwirkt,  das  sie  be- 
rührt. Bisweilen  schliesst  ein  wahrer  Reinigungsprocess  sich  dieser  zwangsweisen 
Absperrung  an. 

Wird  in  Neu-Irland  ein  Mädchen  mannbar,  so  steckt  man  sie,  wie  PaweU 
berichtet,  auf  etwa  4  Wochen  in  eine  Art  Käfig  innerhalb  des  Hauses,  welches 
sie  bewohnt.  Kränze  aus  wohlriechenden  Pflanzen  werden  um  ihre  Taille  und 
um  ihren  Hals  gebunden.  Der  Käfig  wird  gewöhnlich  zweistöckig  gebaut;  oben 
wohnt  die  junge  Dame,  unten  entweder  ein  altes  Weib  oder  ein  kleines  Kind. 
Der  Raum,  in  dem  das  Mädchen  verweilt,  ist  so  klein,  dass  sie  nicht  aufrecht 
stehen,  sondern  nur  liegen  oder  sitzen  kann.  Nur  bei  Nacht  darf  sie  diesen  un- 
bequemen Aufenthaltsort  verlassen. 

Wir  haben  früher  schon  gesehen,  dass  in  einigen  Distrikten  dieses  Landes 
die  jungen  Mädchen  in  der  Backfischzeit  schon  solche  Einsperrungen  durchzu- 
machen haben. 

Auf  Yap,  einer  der  Carolinen-Inseln,  wird  das  reif  gewordene  Mädchen 
isolirt;  es  lebt  2 — 3  Monate  in  einer  Hütte,  die  unweit  des  Dorfes  nur  zu  diesem 
Zwecke  dient,     (v.  Miklucho-Maday.) 

Das  zum  ersten  Male  menstruirende  Mädchen  wird  auf  der  Insel  Vate(Neu- 
Hebriden)  abgesondert,  weil  sie  für  unrein  gilt.  In  einigen  Gegenden  der  Insel 
muss  sie  in  einem  besonderen  Hause  verweilen.  Ein  Mann,  der  mit  einer  solchen 
unreinen  Person  verkehrt,  muss  sich  wegen  der  Verunreinigung  ceremoniellen 
Waschungen  unterziehen;  thut  er  dieses  nicht,  so  haben  sie  den  Glauben,  dass 
ihm  seine  Yams-Pflanzen  verfaulen  werden. 

Auch  im  nördlichen  Amerika  finden  wir  die  Absonderung  des  zum  ersten 
Male  menstmirenden  Mädchens  im  Gebrauch,  so  in  Canada  und  in  Britisch 
Golumbien.  Bei  den  Shushwap  im  Inneren  des  zuletzt  genannten  Landes  muss 
nach  Boas  ein  Mädchen,  das  ihre  Reife  erreicht,  das  Dorf  verlassen  und  allein  in 
einer  kleinen  Hütte  in  den  Bergen  leben.  Sie  kocht  ihre  Mahlzeit  allein  und 
darf  nicht  essen,  was  blutet.  Auch  sonst  hat  sie  noch  Allerlei  streng  zu  be- 
obachten, wovon  ich  später  noch  reden  werde. 

In  ähnlicher  Weise  werden  die  Nootka- Mädchen  in  Britisch  Columbien 
zu  derselben  Zeit  ihres  Lebens  von  den  anderen  Hausbewohnern  abgesperrt.  Sie 
sitzen  dann  auf  der  Plattform  des  Daches  und  es  schliesst  sich  eine  Festlichkeit 
an,  die  ich  an  dieser  Stelle  nicht  näher  erörtern  werde,  da  der  Besprechung  der- 
artiger Feierlichkeiten  ein  besonderer  Abschnitt  gewidmet  werden  soll.  Nachdem 
die  Reife  erreicht  ist,  müssen  die  Nootka- Mädchen  regelmässig  im  Walde  baden. 
Sie  dürfen  das  Bad  nicht  in  der  Nähe  des  Dorfes  nehmen,  wo  die  Männer  häufig 
vorübergehen. 

Während  der  Absperrung  in  dem  engen  Räume  müssen  sie  dann  fasten 
und  acht  Monate  hindurch,  nachdem  sie  ihre  Reife  erreicht  haben,  ist  es  ihnen 
verboten,  frische  Nahrung  zu  sich  zu  nehmen,  namentlich  Lachs.  Während  dieser 
acht  Monate  müssen  sie  auch  allein  essen  und  ihren  eigenen  Napf  und  ihre  eigene 
Schüssel  benutzen. 

28* 


356 


XII.  Die  Menstruation  in  ethnographischer  Besiehungp 


Die  Thlinkiten  sondern  die  Mädchen,  welche  das  Zeichen  der  Reife  zeigen, 
jetzt  auf  3  Monate,  je  nach  der  Jahreszeit,  in  einer  Zweig-  oder  Schneehütte  ab. 
Früher  Hess  man  sie  ein  ganzes  Jahr  darin.  Nach  Ablauf  dieser  Frist  werden  die 
alten  Kleider  verbrannt,  das  Mädchen  wird  von  Neuem  geschmückt  und  es  folgt 
dann  ein  grosses  Fest.  Bei  diesem  wird  die  Durchbohrung  der  Lippe  aosg^ef&hit, 
von  welcher  wir  schon  gesprochen  haben. 

Die  Koljuschen  an  der  Küste  der  Bering-Strasse  haben  ebenfidk  den 
Gebrauch,  die  Mädchen  zu  der  betreffenden  Zeit  8 — 6  Monate  einzusperren.  Nach 
Erman  werden  sie  in  Hütten  oder  6 — 8  Fuss  hohe,  nur  mit  einem  vei^tterten 
Lichtloch  versehene  Käfige  verbannt,  nachdem  ihre  Gesichter  mit  Buss  geschwärzt 
worden.  In  jedem  dieser  Ställe  steckt  ein  Mädchen.  Wenjamow  giebt  an,  daas 
die  erste  solcher  Einspeil-ungen,  die  ein  Mädchen  erlebte,  nach  altem  Gebrauche 
ein  Jahr  gedauert  habe. 

Die  Absonderung  des  jungen  Mädchens  bei  dem  Eintritt  der  Reife  dauert 
unter   den  Indianern   der  Nordwestküste  Amerikas  nach  Capitän  Jacobsen  30 

Tage;  während  dieser  Zeit  muss  es,  in  einen  kleinen 
Raum  des  elterlichen  Hauses  gesperrt,  verweilen  und 
erhält  von  irgend  einer  weiblichen  Verwandten 
eine  nur  spärliche  Nahrung.  Nach  Beendigung  der 
Abgeschlossenheit  darf  sie  wieder  wie  gewöhnlich 
im  Hause  wohnen  und  erhält  ein  neues  Kleid  und 
andere  festliche  Geschenke  von  ihrem  Vater  oder 
von  dem  nächsten  Verwandten.  Gewöhnlich  wird  sie 
bald  danach  verlieirathet  und  bekommt  dann  eben- 
falls von  den  Eltern  Geschenke. 
.  1  ^^i  .^^K.  Auch    bei    den   Indianern   Süd- Amerikas 

WK'^^    'M^^  ^    rS^Mi   ^i6d6i*bolen  sich  ähnliche  Anschauungen. 
MVi^  JM  L^flL  Iivl^^r  In  Brasilien  sondern  die  Goroades  die  jungen 

V  1 '   /Um^m^tFjMK       Mädchen  während  der  ersten  Menstruation  von  allem 
f        il  VvR^H^M        Verkehre  ab.     Sie   müssen   dann,    wie   Bnrmeist^ 

sagt,  diese  Zeit  in  einem  Behälter  zubringen,  welcher 
aus  Baumrinde  geflochten  ist. 

Unter  den  Passes  übersteht  die  angehende 
Jungfrau«  in  den  oberen  Raum  der  Hütte  auf  die 
Hängematte  verwiesen,  ein  Monate  langes  Fasten. 
Auch  die  zahmen  Tucunas  am  Amazonas  Ter- 
weisen  ebenso  wie  die  Colli  na  und  Mauhe  die 
Mädclien  in  den  Itnuchfang  der  Hütte  und  setzai 
.sie  einen  Monat  lang  auf  magere  Kost. 

Die  Macunis-lndianer  in  Britisch  Guy- 
ana sondern  auf  die  Weise  das  Mädchen  als  unrein 
ab,  daHH  sie  seine  Hängematte  in  die  Kuppelspitze 
d(T  Hütte  hängen,  wo  die  arme  Person  nun  dem 
({uälenden  Itauclie  ausgesetzt  ist.  Uort  bleibt  das 
Mädchen  mehrere  Tage  und  darf  nur  Nuclits  henibkommen;  während  der  ganzen 
Zeit  des  Menstrualflusses  nniss  es  streng  fasten.  Alsdann  darf  es  herabsteigen, 
muss  sich  jedoch  noch  in  einen  dunklen  Platz  der  Hütte  zurückziehen  und  ihren 
Cassada-Mehlbrei  an  einem  liesonderen  Feuer  kochen:  nach  10  Tagen  wird  68 
selbst,  sowie  alle  von  ihm  berrihrt.en  Sachen,  von  einem  Piay  (Zauberer)  ent- 
zaubert; die  von  ihm  benutzten  Tö|»te  werden  zertrümmert  und  die  Scherben 
vergraben. 

Die  Kro))o-Mäd(-iien  an  der  (Iuldkiiste  müssen  sich  b 
der  Mannbarkeit  auf  lange  Zeit  in  den  Wald  zurüekziehen.  Sie  h 
besondere  Tracht,  welche  in   Kig.  'Jnd  dargestellt   ist. 


Fij;.  2«>i.    Kiülio-Minlfihen  vdii  iler 

üuM-Küst»*  (West -Afrika)  iu  der 

Tracht  tWr  beKiiuieiulcn  Miiiniluirkiät. 

(Nach  I*h«it<»j:i-tt|ihie.) 


91.  Das  Einsperren  der  zum  ersten  Male  Mens tmir enden.  357 

Wissmann  erzählt  von  West-Afrika:  „Wenn  bei  einem  Mädchen  zum 
ersten  Mal  die  Menstruation  eintritt,  wird  dasselbe  4—6  Tage  in  eine  Hütte  ein- 
geschlossen.^ 

An  der  Loango-Küste  bringen  die  Bafiote-Neger  das  junge  Mädchen  in 
eine  abgesonderte  Hütte;  dasselbe  heisst  von  diesem  Tage  an  bis  zur  Hingabe  an 
einen  Mann  ukumbi  oder  tschikumbi;  die  Töchter  weniger  bemittelter  Leute  be- 
wohnen eine  gemeinschaftliche  Hütte.  Hier  werden  die  Jungfrauen  von  einer 
Frau,  die  von  den  Eltern  als  Yertrauensperson  gewählt  worden,  unterrichtet;  viel- 
leicht bezieht  sich  dieser  Unterricht  auf  zukünftige  Pflichten;  hier  ist  übrigens 
das  Mädchen  als  unrein  betrachtet  und  wird  schliesslich  gebadet.    (Pechuel-Loesche.) 

Der  Eintritt  der  Reife  des  Mädchens  wird  im  Kuango- Gebiete  nach  Wolfp 
mit  grösseren  Ceremonien  gefeiert,  wie  an  der  Meeresküste,  zumal  in  Kabinda. 
Dort  kommt  das  Mädchen  nach  ihrer  ersten  Menstruation  in  ein  kleines  Häuschen, 
das  innen  vollständig  mit  roth  geförbtem  Zeug  ausgeschlagen  resp.  mit  rother 
Farbe  angestrichen  ist.  Die  rothe  Farbe  macht  das  Mädchen  gewöhnlich  selbst, 
indem  sie  Etothholz  auf  einem  Steine  zerreibt.  Sie  selbst  ist  ebenfalls  roth  bemalt 
und  trägt  roth  geförbte  Kleider.  Das  Essen  wird  ihr  von  den  Anverwandten  in 
die  Hütte  gebracht.  Sie  bleibt  nun  so  lange  in  dem  Farbenhaus,  bis  sie  entweder 
herausgeheirathet  wird,  oder  von  den  Anverwandten  nur  das  jus  primae  noctis 
abgekauft  ist;  in  diesem  Falle  bleibt  sie  dann  Mädchen.  Man  sieht  hier  auch 
bisweilen  schon  längst  verheirathete  Weiber  sich  theilweise  roth  färben,  jedenfalls 
um  ihren  Ehegemahl  an  die  Zeit  der  ersten  Liebe  zu  erinnern  und  dadurch  in 
neues  Entzücken  zu  versetzen. 

Bei  den  Madi  in  Mittel-Afrika  (zwischen  Dufile  und  Fatiko)  herrscht 
die  Sitte,  dass  die  Mädchen  zur  Pubertätszeit  in  abgesonderten  Bauten  mit  ovalen 
Eingangsöffnungen  verharren;  zu  ihnen  gesellen  sich  alle  mannbaren  Knaben. 
Wird  ein  Mädchen  schwanger,  so  ist  ihr  bisheriger  Gefährte  verpflichtet,  sie  zu 
heirathen  und  ihr  den  üblichen  Brautpreis  zu  erlegen.  (Emin  lieyKj  Aehn- 
liches  soll  Burton  von  den  südlich  vom  Aequator  wohnenden  Stämmen  berichtet 
haben.  Hier  ist  also  der  Begriff  der  Unreinheit  zweifellos  schon  in  Vergessen- 
heit gerathen. 

Auch  bei  den  Kaders  in  den  Anamally-Bergen  in  Indien  und  bei  den 
Badagas  im  Nilgiri-Gebirge  werden  die  zum  ersten  Male  menstruirenden  Mäd- 
chen in  eine  besondere,  nur  den  Weibern  zugängliche  Hütte  verbannt.  Bei  den 
letzteren  dauert  diese  Absperrung  aber  nur  drei  Tage  und  findet  später  nicht  mehr 
statt.     Im  Anschlüsse  daran  werden  die  Mädchen  tättowirt.     (Jagor.) 

Wenn  bei  den  Vedas,  einer  südindischen  Sclavenkaste,  sich  bei  einem 
jungen  Weibe  die  Menses  zum  ersten  Male  einstellen,  so  wird  dasselbe  in  einer 
für  diesen  Zweck  erbauten  besonderen  Hütte  untergebracht,  in  welcher  es  5  Tage 
weilt;  nach  Ablauf  dieser  Frist  bezieht  es  eine  andere,  halbwegs  zwischen  jener 
imd  der  Wohnstätte  ihres  Mannes  belegene  Hütte,  in  der  es  abermals  5  Tage 
zubringt.  Täglich  geht  das  junge  Weib  aus,  um  sich  zu  waschen.  Am  10.  Tage 
aber  wird  sie  von  ihrer  und  ihres  Mannes  Schwester  an  das  Wasser  geführt,  sie 
badet,  wäscht  ihre  Kleider,  reibt  sich  mit  Tumeric  ein,  badet  abermals,  ölt  ihren 
Körper  und  kehrt  dann  (am  10.  Tage)  mit  ihren  Begleiterinnen  in  ihre  Wohnung 
zurück.  Dort  angekommen,  kochen  die  drei  Frauen  Reis  und  verzehren  ihn  ge- 
meinschaftlich. Während  jener  Tage  der  Absonderung  darf  der  Mann  in  seiner 
Hotte  nur  Wurzeln  essen,  aber  keinen  Reis,  aus  Furcht,  vom  Teufel  umgebracht 
zu  werden;  am  9.  Tage  findet  ein  Fest  statt  Der  Boden  der  Hütte  wird  mit 
Palmbranntwein  besprengt,  man  ladet  Freunde  ein  und  bewirthet  sie  mit  Reis  und 
Bnointwein.  Die  Frau  hält  sich  noch  abgesondert  in  der  zweiten  Hütte.  Am 
10.  Tage  aber  muss  sich  der  Gatte  aus  seiner  Wohnung  entfernen  und  darf  sie 
Mit  wieder  betreten,  nachdem  die  Weiber  den  Reis  aufgezehrt  haben.  Während 
^        .  4  Tage  darf  der  Mann   weder  Reis  im  eigenen  Hause  essen,  noch 


358  ^11-  ^io  Menstruation  in  ethnographischer  Besiehnng. 

Umgang  mit  seiner  Frau  pflegen.    Jedes  Versehen  in  dem  Torgeschriebenen  Cer»- 
moniell  wird  von  den  Tschawus  (den  zu  Teufeln  gewordenen  Geistern  gestorbener 

Vorfahren)  streng  geahndet!     (Schlagintweit) 

Von  dem  Tage  an,  wo  in  Cambodja  bei  den  jungen  Mädchen  das  erste 
Zeichen  ihrer  Mannbarkeit  erscheint,  müssen  sie  »in  den  Schatten*  eintreten. 

An  demselben  Abende  noch  befestigen  die  Eltern  BaumwoUf&den  nm  das  Handgelenk 
und  bereiten  ein  vollständiges  Opfer  fQr  die  Ahnen,  bestehend  in  Speisen,  Kersen  und  RAocfan- 
werk.  Das  Ereigniss  wird  den  Verstorbenen  förmlich  kund  gethan:  .Untere  Tochter  wird 
mannbar:  Wir  lassen  sie  in  den  Schatten  eintreten;  schenkt  ihr  Eure  Gunst*  An  demiellMS 
Tage  pflanzen  sie  eine  Banane,  deren  Früchte  nur  fQr  das  junge  Mädchen  bestimmt  sind,  oder 
von  ihr  an  die  IBonzen  geschickt  werden.  Die  von  den  Eltern  dem  Mädchen  fSr  die  Zeit  der 
ZurQckgezogenheit  gegebenen  Regeln  lauten:  „Lass  Dich  vor  keinem  fremden  Manne  lehai: 
Hcbau  keinen  Mann,  selbst  nicht  verstohlener  Weise  an ;  nimm  ebenso,  wie  die  Bonien,  DeiM 
Nahrung  nur  zwischen  Sonnenaufgang  und  Mittag;  iss  nur  Reis,  Salz,  CocomoBS,  Erbtso. 
ScHam  und  Früchte;  enthalte  Dich  von  Fisch  und  jeglichem  Fleisch.  Bade  Dich  nur,  wem 
die  Nacht  eingetreten  ist,  zu  einer  Stunde,  wenn  man  die  Menschen  nicht  mehr  erkennt,  damit 
Du  von  keinem  lebenden  Wesen  gesehen  wirst'  Ueberhaupt  darf  das  Mädchen  nicht  allein 
baden,  sie  wird  von  ihren  Schwestern  oder  von  anderen  Verwandten  begleitet.  Sie  arbeitet 
nur  im  Hause  und  geht  nirgendwo  hin,  nicht  einmal  nach  der  Pagode. 

Je  nach  der  Lebensstellung  und  dorn  Vermögen  der  Familie  ist  diese  Zurückgeiogenheit 
von  längerer  oder  kürzerer  Dauer,  sie  wilhrt  einige  Monate  bis  zu  mehreren  Jahren;  anne 
Leute  beachten  sie  wenigstens  8  bis  5  Tage  lang.  Diese  Zurückgezogenheit  wird  während  dff 
KinbterniBH  unterbrochen;  dann  steckt  das  junge,  ,|im  Schatten*  befindliche  Mädchen  ebenso 
wie  die  schwangere  Frau  ein  Betolmesser  und  den  Behälter  fQr  den  zum  Betelkanen  nOthigen 
Kalk  in  die  von  den  Falten  des  Langati  (Schurz)  gebildete  Tasche;  es  zündet  Lichter  nnd 
Räucherkerzchen  an  und  geht  weg,  um  Rdlin  (das  Ungeheuer,  welches  die  Finstemiss  entstehen 
lasst,  indem  es  die  Sterne  zwischen  den  Zähnen  schüttelt)  anzubeten,  auf  dass  es  sein  Flehen 
um  Glück  erhöre.  Darauf  kehrt  es  wieder  ,in  den  Schatten*  zurück.  Arme  Leate,  welche 
keine  Mittel  zur  Anschaffung  von  Kerzen  und  Räucherwerk  besitzen,  lassen  das  Mädchen, 
welches  hingeht,  um  Kahn  zu  verehren,  wenigstens  die  schönsten  Kleider  anlegen  und  benuticn 
die  Gelegenheit,  um  die  Tochter,  welche  gewissermaassen  Hahn  zum  Herrn  annimmt,  aas  der 
Zurückgezogenheit  hervortreten  zu  lassen.  Wohlgestellte  Leute  erwarten  eine  günstige  Gelegen- 
heit besonders  im  Januar,  Februar  oder  Mai,  um  die  Ceremonie  des  Austritts  aus  dem  Schatten 
zu  begehen.  Die  Bonzen  werden  gebeten  zu  erscheinen  und  ihre  Gebete  zu  wiederholen :  das 
junge  Mädchen  muss  sich  vor  ihnen  in  den  Staub  werfen;  Nachbarn  nnd  Freunde  werden 
eingeladen,  dem  Feste  beizuwohnen. 

Manchmal  werden  auch  die  Zähne  des  Mädchens  dabei  gefUrbt,  anstatt  bis  snr  Heirath 
damit  zu  warten.  Ebenso  wird  bei  den  jungen  Männern  diese  Ceremonie  bei  der  Aufnahme 
in  die  Religionsgemeinschaft  oder  bei  der  Heirath  vorgenommen.  Das  Verfahren ,  welche« 
hinsichtlich  der  jungen  Mädchen  beobachtet  wird,  ist  folgendes: 

Ein  Achar  (ein  weiser  Mann)  breitet  ein  Stück  weissen  Baumwollenzeuges  aus,  legt  acht 
Strohhalme  in  der  Richtung  der  Himmelsgogenden  auf  dasselbe,  nimmt  einen  aus  Cocoenav 
verfertigten  Napf  und  ein  Weberschilfehen.  Dann  geht  er  in  die  Scheuer,  nimmt  dort  eben 
so  viel  mal  Paddie  (oder  ungedroschenon  Reis),  als  das  Mädchen  Jahre  zählt,  and  schtlttet 
denselben  auf  das  Zeug;  wenn  das  Mädchen  also  15  Jahre  zählt,  füllt  er  15  mal  den  Napf 
und  15  mal  das  Schiffchen.  In  diesem  Haufen  Paddie  versteckt  er  den  Napf*  das  Schiffchen, 
einen  Bronzebecher  und  ein  kleines  Metallschiif;  darüber  hin  macht  er  den  Paddie  glatt  nnd 
bedeckt  ihn  mit  den  Zipfeln  des  weissen  Baumwollenzeuges.  Alles  dies  muss  in  Abwetenheit 
des  jungen  Mädchens  geschehen,  das  danach  eingeladen  wird,  auf  diesem  glattgemachten 
Paddie  während  der  weiteren  Dauer  der  Feierlichkeit  Platz  zu  nehmen. 

Der  Achar  murmelt  nun  Formeln,  die  den  Zähnen  Glück  bringen  sollen.  Ein  attei 
Paar,  am  liebsten  Mann  und  Frau,  stampft  Lack  in  einem  Mörser,  während  7  Knaben,  welehe 
Bunanenzwoigo  mit  Früchten  in  der  Hand  halten,  mit  denen  sie  das  Stampfen  im 
nachahmen,  dabei  folgende  Worte  Hingen:  „Grossvuter  Ku1u\  Grossmutter  ÜCiiAc  itunpft 
Lack  gut,  damit  er  an  den  Zähnen  hängen  bleibt.*  Jedesmal  wenn  das  Wort  bok  «■  i 
gesungen  wird,  lassen  der  Mann  und  die  Frau  die  Stampfer  im  Takt  niederfallen.  1i 
Gesang  so  oft,  wie  die  Sitte  es  will,  wiederholt  ist,  hören  die  Knaben  anl^  wÜinp 
Leute  mit  Stampfen  fortfahren.  Endlich  wird  der  Lack  durch  ein  Stflok  V 
nur  das  feinste  Pulver  sn   gebrauchen.     Man  schneidet  ein  Blatt  d 


92.  Du  Reifefest. 


3ö9 


form  dee  uienseblicbeii  Gebisiea  und  amgiebt  dieses  Blatt  mit  ein  wenig  auBgefasortem  Ganm- 

roUonseug,  welühes  Torber  in  den  Lack  eingetaucht  ist.     Der  Ta  Kubt^   bietet  dieses  Fucket 

r^em  jungen  Mädchen  an,  welchem  es  auf  die  Zähne  legt  und  bia   zum  Morgen   auf  denselben 

liegen  lilfat.      Es   darf  ntir   in  Pisang- Blätter  speien,   welche  in  Form  oinee  Spucknapfes  zu- 

^mmengenjlbt  sind.     Hierauf  fangen  die    sieben  Knaben   ihren    Umzug  aufs  Neue   an«     um 

fiiternitcbt  folgt  dann  die  HeschwOning  der  Waldgeister.     ßei  dem  HahnenBobrei  geben  die 

deben  Tbeilnebmer  an  der  Processioni  welche  jetzt  mit  dem  Beinamen  äeb  (Pferde)  bezeichnet 

r erden«  nachdem  sie  vorher  noch  einige  vom  Ta  Kuh^  hergesagte  Poesien  angehört  haben,  in 

ie  Nachbartfcbaft,  um  Jagd   auf  die  Hühner  und  Enten  der  Eingeladenen  zu   mivcben.     Bei 

Tagesanbruch  gebt  das  junge  Mfidchen  aus  dem  Hause  and   betet   die  aufgehende  Sonne  an^ 

ödem  es  sieh  dreimal  in  den  Stanb  wirft.     Nach  langer  und  sorgfältiger  Vorbereitung  macht 

er  Ta  Kube  die  Bewegung,  als  ob  er  ihr  die  Zähne   mit  Hammerschlägen   entfernen   wollte, 

.  beutreicbt  sie  mit  einem  an  Ort  und  Stelle  bereiteten  Russ.     Das  Mädchen  wirft  sich  drei- 

^Tor  einem  kleinen  Altar  nieder«  auf  welchem  die  bei  häuslichen  Festlichkeiten  gewöhnlich 

~g#Fraucht«n   Gegenstände    aufgestellt  sind,  und  kehrt  dann   in  das   Hau»   ztirück«     Bei  allen 

dieeen  Festlichkeiten  mus8  es  mit  einem  Uaarwulst  geschmückt  »ein,  und  wenn  ee  aus  irgend 

etneto  Grunde  (Neuralgie  u,  s«  w.i  kurzes  Haar  trägt,  wie  dies   in  Cambodja  gebrS.nehlich, 

•ooinss  es  sich  mit  falschen  Zöpfen  schmücken.     (Äymmii<r.j 


92.  Das  Beifefest. 

Sb  jifc  biXieiti  ugedeuiet  worden^  dass  viele  Völkerschaften  die  erste  Men- 
struation im  jutlgan  Mädchen  durch  hesoudere  Feste  feiern,  während  bei  uns  die 
letetereu  ihr  Geheimniss  möglichst  verbergen, 

Prao  Antonie   J/cr/' erzählt  van  Java:    ,So  »ah  ich  jüngst  einen  Aufzug,   über  deesen 
Sadeutung  ich,  so  lange  ich  ihn  sah,   mich  in  völliger  Unklarheit   befand      Voran  zogen  un- 
12  junge  unbekleidete  Javanesen,     Alle  waren  gelb  gepudert,    wodurch   ihre  Körper 
i  in  knapf>  anschliessenden  Tricot  gekleidet  erschienen.     Sie  trugen  die    verschiedensten 
f\  htnde;  der   eine   einen   kostbaren,    zierlichen   Spiegel    in    glänzendem   Rahmen. 

bl'  >k  der  Sonne  funkelnden  Steinen  besetzt  wan    Ein  anderer  hatte  einen  grosien, 

[»ühonen  F&cher  in  der  Hand,  ein  dritter  Kamm  und  Bürste  in  ofienem,  heschnitztem 
hbeinkasten,  der  mit  rothem  Sammet  ausgeschlagen  war;  der  uüehirte  trug  auf  goldenem 
Teller  zwei  Slickchen  von  dünnem,  durchsichtigem  Gewebe,  von  welchen  das  eine  den  hier 
lllgemein  üblichen  ScbÖnbettspuder,  aus  dem  Samen  einer  seltenen  einbeimi»chen  Pflanze 
bereitet,  das  andere  Curcuma  enthielt,  ein  FiLrbungsmittel,  da«  ich  schon  früher  einmal  er- 
r&hnt  habe.  Verschiedene  andere  Gegenstände,  die  noch  weiter  von  den  gelben  Jünglingen 
forübt»rge tragen  wurden,  waren  mir  theils  unerkennbar,  theils  überhaupt  unbekannt.  Ein 
lusikcorp»  folgte.  Hinter  demselben  wurden  lange,  breite  Bretter  getragen,  welche  von 
veissen,  mit  Blumen  und  Blindem  geschmückten  Tüchern  bedeckt  waren.  PrUchtige,  riesige 
^lamonitträuäse  prangten  auf  denselben;  verschiedene  reich  verzierte  Gerichte,  Kuchen  und 
l^rüchli*  kennzeichneten  sie  aln  ambulante  Festtafel.  Dieser  folgten  wiederum  Javaneeen- 
inge,  welche  Hauahaltungsgegenstände  in  idealisirter  Form  und  verschwenderischer  Aua- 
|llckung  trugen.  In  der  Mitte  des  Zuges  bewegte  sich  langsam  ein  pbantoatisch  auB- 
ier,  mit  farbigen  Tüchern  drapirter  offener  Wagen,  welcher  von  vier  blumenbekrÄ.n«teii 
bewimpelten  Schimmeln  gezogen  wurde.  In  demselben  sass  ein  drollig  herauageputctes 
Javanenkindy  etwa  stehn  Jahre  alt  und  recht  unglücklich  dreinschauend.  Ihm  folgte 
wiedennn  eine  Schar  Javanen  in  den  denkbar  buntesten  Sarongs  und  Eabayen,  und  ein 
cweitee  MuBikcorps  machte  den  Beschlusi.  Und  was  bedeutet  diese  wunderliche  Komddie? 
•n  Trtumpbzug  eines  stur  Jungfrau  herangereiften  Kindes,  welches  nun  feierlich  als  heiraths- 
big  proklamirt  war!* 

Auch  in  Siam  werden  bei  dem  Reifwerden  der  Jungfrau  Feste  gefeiert, 
reiche  bisweilen  5  bis  0  Tage  in  Anspruch  nehmen.  Ganz  besonders  grosaartig 
pflegen  jfie  bei  königlichen  Prinzessionen  zu  sein. 

In  Afrika  nind  dtrartige  Feete  eine  weitverbreitete  Gewohnheit     Wur  hatten 
lao   oben    von    Wissmann   gehört,   daas    das  junge  Mädchen  in  dem  Congo- 
'  te  tv'*'    --ttyii  Tage  eingesperrt  wird.     Er  erzählt  dann  weiter; 

»A  ig«,  an  dem  sie  wieder  herauage lasten   wird,    wird  der  ganze  Körper  mit 

nt4äm   .  ^  ^:  r!  eingerieben  und  aach  das  Gesicht  rotb  angemalt    Sid 


360  ^^  ^^^  Menstruation  in  ethnographischer  Beziehung. 

erhält  ein  kleines  Fell  ausser  ihrer  gewöhnlichen  Bekleidung,  und  um  den  Hals  wird  ein  Stück 
Zeug  gehängt,  das  aus  dem  Bast  des  Lukanda-Baumes  bereitet  ist,  und  auch  der  Kopf  wird 
auf  dieselbe  Art  geschmückt.  Dann  wird  sie  auf  den  Schultern  eines  Mannes  durch  das 
Dorf  getragen  und  ihr  Vater  giebt  ein  grosses  Fest.  Da  die  meisten  Mädchen  schon  Yorho- 
von  ihren  Vätern  vergeben  sind,  so  wird  meist  an  demselben  Tage  auch  anr  Heiiath  ge- 
schritten, so  dass  dann  beide  Festlichkeiten  vereinigt  stattfinden,  aber  die  eben  beschriebene 
Ceremonie  besteht  ganz  selbständig  für  sich.  Dieselbe  wird  Hetta  genannt,  das  betreffBnde 
Mädchen  Muhetta." 

Ebenso  werden  nach  Falkemtein^  bei  den  Loango-Negem  die  jungen 
Mädchen  im  Dorfe  durch  Gesang  und  Tanz  gefeiert,  und,  begleitet  Ton  der  Jagend 
beiderlei  Geschlechts,  sogar  den  Europäern  vorgeführt. 

Eine  solche  Procession  giebt  «ich  schon  von  Weitem  durch  ihren  ausgelassenen  Jnbel 
kund  und  führt  die  völlig  Vermummte  in  die  Mitte  des  Hofes,  wo  sie  auf  einer  Kiste  unter 
einem  Schirm  Platz  nimmt  und  von  ihren  Gespielen  in  höchst  deutlicher  Weise  ihre  Aus- 
sichten für  die  Zukunft  besingen  hört.  Für  ein  Glas  Rum  entschleiert  sie  gern  ihr  Gesicht 
und  bietet  höchstens  den  Ausdruck  des  befriedigten  Stolzes,  nun  zu  den  Erwachsenen  tu 
rechnen,  niemals  aber  den  der  Scham.  (Falkenstein^.)  Ebenso  führen  die  Neger  der  Gold- 
küste das  zum  ersten  Male  monstruironde  Mädchen  im  grössten  Putze  durch  die  Starawcn. 
dabei  werden  Loblieder  auf  ihre  Jun^räulichkeit  gesungen  CBrodie,  CruücshankJ. 

An  einer  früheren  Stelle  habe  ich  über  den  Aufenthalt  der  heranwachsenden 
Mädchen  von  Liberia  in  dem  Zauberwalde  gesprochen.  BiUtikofer  berichtet 
weiter  hierüber: 

«Auch  dor  Sandy  hat  sein  besonderes  jährliches  Auatrittsfest.  Dabei  werden  die  aus- 
tretenden  Mädchen,  nachdem  der  ganze  Körper  reichlich  eingeölt,  durch  ihre  Angehörigen 
mit  oft  sehr  kostbarem  Schmuck,  wie  silberne  Halsketten,  Armbänder,  Beinringe  und  Schellsn, 
behangen,  welche  letztere  um  die  Füsse  getragen  werden,  um  beim  Tanzen  möglichst  yiel 
Lärm  zu  machen.  An  diesem  Feste  tragen  die  Soh  und  Soh-bah  hölzerne  Masken  (Deyil- 
heads,  Teufels  köpfe).  Diese  sind  mehr  oder  weniger  kunstreich  aus  einem  Stück  WoU- 
baumholz  geschnitzte  Masken,  von  unten  genügend  ausgehöhlt,  um  den  ganzen  Kopf  hinein- 
zustecken. Ein  solcher  Teufolskopf  wird  der  Person,  für  die  er  bestimmt  ist,  auf  Maass  ge- 
macht und  so  tief  ausgehöhlt,  dass  sie,  wenn  sie  denselben  über  den  Kopf  stülpt,  durch  die 
vom  an  der  Stelle  der  Augen  angebrachten  kleinen  Oeffnungen  bequem  sehen  kann.  Die 
Masken  der  Soh-bah  stellen  Mannsgesichter,  diejenigen  dor  Soh  Frauengesichter  vor,  bei 
welchen  die  eigenthümlichen  Haarfrisuren  mit  vieler  Sorgfalt  nachgeahmt  sind.  [Soh  ■«  Teufel, 
Waldteufel;  bah  =  gross.  Soh-bah  heisst  somit  Grossteufel  zum  Unterschiede  von  Soh,  wie 
die  weiblichen  Teufel  genannt  werden.]* 

.Diese  schwarz  gebeizten  Maskon  sind  meist  einfarbig,  manchmal  aber  auch  auf  eine 
phantastische  Weise  mit  grellen  Farben,  besonders  mit  Weiss  und  Roth  bemalt.  Der  antere 
Rand  der  Maske  hat  eine  starke  Einkerbung,  um  welche  der  früher  beschriebene  Blfttter- 
mantel  befestigt  werden  kann.  Von  dem  in  Nieder-Guinea  sehr  beliebten  Federschmuck 
findet  sich  an  demselben  keine  Spur."* 

«Die  weiblichen  Teufel  'pflegen  unter  ihrem  Blättermantel  oft  europäische  Manns- 
kleider,  Strümpfe,  Schuhe  oder  Pantoffel  zu  tragen.  Sie  werden,  sobald  sie  sich  in  der  Oeffent- 
lichkeit  zeigen,  von  einigen  Frauen  begleitet,  welche  Matten  bei  sich  tragen,  um  bei 
etwaigen  Toilettenunglück  die  Soh  vor  neugierigen  Blicken  zu  schützen.* 

,Um   ihren  Einfluss   besser  geltend  machen    zu   können,    halten  die  Häuptlinge 
darauf,    dass   die   Jugend,    besonders    die   männliche,    eine   gewisse   Zeit   im  Greegree-Bush 
zubringt.* 

„Der  Festteufel  erschien,  vom  Kinn  bis  auf  den  Boden  mit  an  Schnüre  geteihten 
trockenen  Federblüttem  der  Wcinpalme  behangen,  so  dass  man  nicht  gewusst  hätte,  was  Tom 
oder  hinten  wäre,  hätte  er  nicht  auf  dem  Kopfe  eine  schwarze,  hölzerne  Maske,  den  soge- 
nannten deviVs  head,  mit  hässlichem  Fratzengesicht  getragen.  Diese  Gestalt  machte  beim 
Vortreten  allseitig  plumpe  Verbeugungen,  spazierte  bedächtig  auf  dem  freien  Platu  hin  md 
her,  drehte  sich  auf  einmal  wie  ein  Wirbelwind  im  Kreise  herum,  schüttelte  sein  ] 
lilätterkleid  und  war  nach  einigen  Bockssprüng^n  wieder  in  der  Hütte  verschwandsB.* 

Baumann  sagt  vou  den  Suaheli: 

«Das  Reifwerden  eines  Mädchens  wird  mit  Tänzen  gefeiert     Dann  genienk  ^i 
7tägigen  Unterricht  bei  einem  alten  Weibe,  sowohl  theoretisch  in  den  PfliohteB  di 


92.  Das  Reifefest.  361 

in  Bezog  auf  Trene  nnd  Qehorsam,  als  auch  praktisch  in  Form  von  obscönen  Tänzen.  Dabei 
wird  das  von  Kersien  erwähnte  „Digiticha"  besonders  geübt.  Auch  Massiren  wird  gelehrt 
and  ist  als  sanftes  Kneten  mit  der  Handfläche  sehr  üblich.'' 

Bei  den  Wabondei  in  Ost-Afrika  fand  Baumann  ebenfalls  die  Reife- 
feste im  Gebrauch.     Er  sagt  hierüber: 

.Dem  ,Qalo*  der  jungen  Männer  entspricht  das  «Kiuanga*  der  Mädchen.  Dasselbe  findet 
statt,  wenn  man  ein  Mädchen  als  erwachsen  erklären  will,  fällt  jedoch  keineswegs  immer 
mit  dem  Eintritt  der  Pubertät  zusammen.  Auch  hierbei  wird  die  Siammesmarke  durch  Hitzen 
mit  dem  Messer  angebracht.  Dann  begeben  sich  die  Mädchen  splitteruackt  mit  einer  ,  weisen 
Frau*  in  den  Wald,  wo  sie  6  bis  8  Tage  verweilen.  Doch  können  sie  während  dieser  Zeit 
manchmal  nackt  in  das  Dorf  zurückkehren,  um  etwaige  Verrichtungen  zu  besorgen.  Der 
Schlusstanz,  der  alles  junge  Volk  der  Umgebung  vereint,  findet  im  Dorfe  statt.  Dabei  sitzen 
die  Mädchen  nackt  in  der  Dorfschenke  auf  den  ausgestreckten  Beinen  ihrer  Mutter,  werden 
am  EOrper  und  im  Gesichte  mit  weissen  Zeichnungen  bemalt  und  müssen  später  laufend 
glühende  Kohlen  in  der  Hand  durchs  Dorf  tragen.  Dies  dauert  ein  bis  zwei  Tage,  während 
welcher  Alles,  was  Beine  hat,  tanzt  und  sich  am  Palmweingenuss  ergötzt.* 

Kropf  berichtet  von  den  Xosa-Kaffern,  unter  denen  er  seit  Jahrzehnten  als 
Missionar  lebt: 

„Der  Beschneidung  der  Jünglinge  entspricht  das  intenjane  der  Mädchen,  wodurch  sie 
zur  Zeit  ihrer  Pubertät  unter  die  heirathsföhigen  Jungfrauen  eingeführt  werden.  Das  Erscheinen 
der  Pubertät  nennt  der  Kaffer  in  seiner  bilderreichen  Sprache  „Das  Auf  knospen  der  Blume*. 
Sobald  dies  eintritt,  muss  es  sich  hinter  einer  von  Matten  im  Hause  gebildeten  Scheidewand 
verborgen  aufhalten,  wo  sie  der  Obhut  einiger  Mädchen  und  Frauen  (gefallene  oder  von  ihren 
Männern  getrennte)  anvertraut  ist.  Die  Speise  für  sie  und  ihre  Umgebung  haben  ihre  Eltern 
zu  besorgen.  Der  Vater  des  Mädchens  ladet  alle  jungen  Mädchen,  Frauen  und  Männer  der 
Nachbarschaft  ein.  Nachdem  am  Vormittage  die  Kühe  gemolken  und  die  Milch  aus  dem 
Milchsack  getrunken  ist,  beginnen  die  Mädchen  den  Tanz.  Sie  kommen  aus  der  Hütte  des 
Mädchens,  um  dessen twillen  das  Fest  angerichtet  ist,  das  aber  in  der  Hütte  bleiben  muss,  im 
Gänsemarsch  und  begeben  sich  in  feierlicher  Procession  zu  dem  Platz  ausserhalb  des  Vieh- 
kraals, jedes  einen  Spiess  in  der  Hand,  um  den  nackten  Leib  einen  mit  messingenen  Hingen 
besetzten  Kiemen  und  ein  rothes  Taschentuch.  Angekommen  beim  Viehkraal  schliessen  sie 
einen  Kreis,  sich  bald  nach  links,  bald  nach  rechts  bewegend,  mit  den  Füssen  stampfend  und 
„hoha  hoch*  johlend.  Bald  darauf  kommen  auch  die  an  einem  besonderen  Orte  sitzenden 
Frauen,  in  ihre  Decken  und  Mäntel  gehüllt,  einen  rothen  Turban  um  den  Kopf,  herbei,  um 
in  einem  weiteren  Kreise  um  die  Mädchen  herzutanzen,  mit  diesen  um  die  Wette  stampfend 
und  johlend.  Sind  die  Frauen  müde,  so  werden  sie  von  den  Männern  abgelöst,  die  bei  ihrem 
Stampfen,  Springen  und  Gliederverdrehen  jede  Muskel  in  zitternde  Bewegung  versetzen.  Ein 
Ochse  wird  vom  Vater  des  Mädchens  geschlachtet,  worauf,  wenn  er  aufgezehrt  ist,  das  Tanzen 
aufs  Neue  beginnt.  Junge  Männer,  ja  selbst  Knaben  kommen  von  verschiedenen  Orten,  um  den 
greulichen  Tanz  umtshotsho  in  der  Hütte  der  Gefeierten  mit  den  Mädchen  zu  vollführen. 
Die  Tänze  werden  nackt  aufgeführt,  ohne  jegliche  Scham,  und  viel  Schmutziges  dabei  geredet. 
Den  jungen  Leuten  ist  gegen  Bezahlung  erlaubt,  mit  unverheiratheten  Weibern  und  Wittwen 
zusammen  zu  kommen,  und  in  Bezug  auf  die  alten  Männer  muss  der  von  ihnen  erwählte  Auf- 
passer dafür  sorgen,  dass  sie  mit  jungen  Mädchen  versehen  werden.  Auch  ein  ordentliches 
Mädchen  kann  dabei  mit  Gewalt  missbraucht  werden,  wenn  sie  so  leichtHinnig  war,  sich  zu 
solchem  Feste  zu  begeben.  Oft  entstehen  dabei  unter  den  jungen  Männern  Schlägereien  um 
ein  Mädchen.  Solche  Feier  bringt  manchen  Vater  in  Armuth,  denn  hätte  er  auch  nur  eine 
einzige  Kuh,  so  muss  sie  geschlachtet  werden.*' 

»Sieht  der  Vater,  dass  es  mit  der  Speise  zu  Ende  g^ht,  so  lässt  er  wissen,  die  Feier 
solle  aufhören.  Wenn  der  Schluss  nahe  ist,  manchmal  nach  3  Tagen,  manchmal  nach  4  bis 
8  Wochen,  dann  kommen  die  Leute  der  benachbarten  Plätze  mit  ihren  Ochsen,  um  die  Feier 
dorch  eine  OchMnschau  und  Ochsenwettrennen  zu  y erherrlichen.  Die  Ochsen,  die  zu  einem 
bestimmten  Kraal  gehören,  werden  gewöhnlich  in  ein  oder  zwei  von  den  jungen  Männern 
nach  einander  in  die  Mitte  des  Kraab  getrieben,  womaf  ein  Tans  beginnt  Hat  jede  Ab- 
theilong  dies  gethan,  so  begimit  der  growe  Tau  dar  Tmeliiedenen  Kiaale  nnter  ihren  Vor- 
stehern nnd  Hiaptlingen.    Dm  OcIumip^ ■"■■—■-  — **  Mi^  Sehlui." 

.Zwei  oder  drä  Tige  danv^  ^^  Otfafarten  anlgewartet  hatten 

nach  dem  Walde  und  liok*  ¥irtter  brii^ieii,  wonmf  ne 

lieh  nach  Hmm  Im^  iMehen  TiriieiniftlMt,  bei 


362  Xn.  Die  Menstruation  in  ethnographischer  Beiiohnng. 

deren  Pubertät  diese  Feier  unterlassen  wurde;  solche  müssen  aber  zu  ihren  Kraalen  snrflck- 
kehren  und  das  Versäumte  nachholen.* 

Auch  bei  den  Völkern  Amerikas  treffen  wir  vielfach   derartige  Feste  an. 

In  Peru  begehen  die  am  Ucayale- Strom  hausenden  Conibos  bei  solcher 
Gelegenheit  das  sogenannte  Chenianabiqui-Fest,  wobei  mit  Flöten  gespielt  und 
Yon  beiden  Geschlechtem  getanzt  wird;  die  jungen  Mädchen  müssen  sich  toll 
und  voll  trinken  und  werden  einen  Tag  und  eine  Nacht  lang  von  den  alten 
Frauen  im  Tanze  herumgedreht,  bis  sie  niedersinken  und  wie  Leichen  am  Boden 
liegen.     (Marcey.) 

Die  Patagonier  feiern  den  Pubertätseintritt  durch  Pferdeopfer.  (Musters^ 
Die  Chibchas  (auch  Muistas  oder  Mozcas),  ein  fast  ganz  untergegangener 
Volksstamm,  der  in  Neugranada  lebte,  begingen  zu  diesem  Zeitpunkte  ebenfalls 
ein  grosses  Fest.     (Waitjs.) 

Unter  den  Apache-Indianern  ist  es  ein  wichtiges  Familienfest,  zu  dem 
alle  Familienglieder  eingeladen  werden,  das  beim  Eintreten  der  Mannbarkeit  eines 
Mädchens  gefeiert  wird.     (Spring,) 

Einige  californische  Indianer-Stämme,  z.B.  dieHupa,  feiern  aach  den 
Keifeeintritt  als  Fest.  Fühlt  ein  junges  Mädchen  den  Zeitpunkt  nahen,  so  mnsa 
sie,  wo  immer  sie  sich  auch  befindet,  den  väterlichen  Wigwam  aufsuchen;  bleibt 
sie  diesem  fern,  so  wird  sie  ausgestossen  und  gilt  fortan  als  Fremde.  Es  folgt 
dem  Eintritt  der  Reife  ein  langes  Fest,  der  Kin-Alktha  oder  Jungfemtanz:  Neun 
Tage  kommen  die  Männer  des  Abends  zum  Tanze  zusammen,  von  dem  die  Weiber 
ausgeschlossen  sind.  Das  Mädchen  darf  unterdessen  kein  Fleisch  essen  und  sich 
vor  keinem  Manne  sehen  lassen.  In  der  10.  Nacht  versteckt  es  sich  in  einem 
Winkel  der  Hütte.  Dann  kommen  zwei  junge  Männer  und  zwei  alte  Weiber  aas 
ihrer  Verwandtschaft,  um  die  Jungfrau  zu  suchen  und  abzuholen.  Die  jungen 
Burschen  stülpen  sich  eine  Maske  aus  Leder  oder  Schilf  über  den  Kopf,  die  an 
den  Seelöwen  erinnert,  und  nehmen  das  Mädchen  in  die  Mitte;  rechts  und  links 
von  ihnen  stellen  sich  die  alten  Frauen  auf  So  treten  die  Fünf  unter  die  Ver- 
sammlung. Das  Mädchen  schreitet  zehn  Mal  vorwärts  und  rückwärts,  erhebt  die 
Hände  zu  den  Schultern  und  singt.  Das  letzte  Vorwärtsschreiten  endigt  mit  dem 
Hochsprung.  Darauf  begrüsst  die  Versammlung  das  junge  Geschöpf  durch  laute 
Zurufe,  und  die  Ceremonie  ist  beendigt.     (Powers.) 

Die  Wintun- Indianer,  ein  anderer  californischer  Stamm,  veranstalten 
bei  dem  Eintritt  der  Geschleclitsreife  eines  Mädchens  gleichfalls  einen  „ Reifheits- 
tanz **,  zu  welchem  die  Bewohner  der  nächsten  Dörfer  geladen  werden.  Schon 
drei  Tage  vor  diesem  Feste  muss  sich  das  Mädchen  jeder  animalischen  Kost  ent- 
halten, sie  darf  nur  Eichelbrei  geniessen.  Während  dieser  Fastenzeit  ist  die 
Aermste  aus  dem  Lager  verbannt  in  eine  entfernt  gelegene  Hütte.  Todesstrafe 
wird  über  denjenigen  verhängt,  der  sie  während  dieser  Zeit  berührt  oder  es  wagt, 
sich  ihr  zu  nähern.  Nach  Ablauf  dieser  Vorbereitungsfrist  nimmt  sie  eine  ge- 
weihte Suppe  zu  sich,  die  von  den  Früchten  der  Buckeye  califomica  bereitet 
wird,  aus  denen  zuvor  durch  Einweichen  in  Wasser  das  Gift  entfernt  wurde. 
Durch  das  Verzehren  dieser  Masse  macht  sich  das  Mädchen  würdig,  sich  an  dem 
bevorstehenden  Tanze  zu  betheiligen,  sowie  die  Pflichten  einer  Frau  zu  über- 
nehmen. Nunmehr  erscheinen  die  eingeladenen  Stämme,  indem  sie  in  langen 
Reihen  herbeiziehen  und  um  den  Lagerplatz  feurige,  sinnliche  Lieder  singen. 
Sind  alle  Stämme  oder  Deputationen  derselben  versammelt,  was  2  bis  3  Tage  in 
Anspruch  nimmt,  so  vereinigen  sich  Alle  zu  einem  grossen  Tanze,  der  in  einem 
Knndmarsch  um  das  Dorf  besteht,  während  ununterbrochen  Chorgesänge  erschallen. 
Zum  Schluss  der  Ceremonie  nimmt  der  Häuptling  das  Mädchen  bei  der  Hand  n; 
tanzt  mit  ihm  die  ganze  Linie  entlang,  während  die  Gäste  improvisirte  Geri^ 
anstimmen.  Nicht  immer  sind  letztere  keusch  und  unschuldig,  biswdlsD 
Dann  kommen  auch  Gesänge,  in  welchen  jeder  Indianer  seine 


ISn^m  ausdrückt,  wobei  «ie  seltsamer  Weise  vollkommen  Takt  mit^^BSmüer  halten* 
7ie  Frauen    drücken    bei   solchen  Gelegenheiten    keine   un keuschen  Gefühle    aus. 

Ein  Klamath-Indianer  in  Oregon  sagte  zu  Gatchet:  „Die  Modocs  bei 
ler  ersten  Menstruation  tanzen  fünf  Tage  und  (tinf  Nächte,  ohne  zu  schlafen;  die 
'eiber  essen  vierzehn  Tage  keine  Nahrung/ 

Auch  Pctitot  liefert  uns  einen  Originalbericht  der  Ganada-Indianer  in 
wortgetreuer  französischer  Uebertragung,  Dadurch  erklärt  es  sich^  daas  die  Stei- 
lhang der  Worte  eine  etwas  absonderliche  ist;  man  liest  sich  aber  schnell  hinein: 
(»Deniierenient  une  femnie  (qui)  ^e&  menstruefl  n'avait  pas,  lor&que  pour  ta  pretxiitiro  foie 
ei  i^gle«  ayant  [litt:  ses  rcins  eUe  r^pand]  h  sa  nitre:  Mes  mois  viennent  eile  oe  disait  pas, 
lort  sa  taere:  De  quelque  chaae  tu  es  ^'tnue  si,  sauve^oi,  ton  capulet  avec  ta  tete  courre  la, 
iiifl  coucbe-toi,  sa  m^re  lui  disait.  Alors  apres  cela  la  fiUe  de  quoi  e^est-elld  apervue^  je 
lippove,  eile  e«t  emue  ^a  arrive^  eile  se  sauve  aloi^  et  son  capulot  dans  eile  m  cache.  Oa  la 
it.  an  Tatteint,  BOn  veteinent  on  oxannnef  donc^  8on  vetement  ce  qui  n'est  piLs  bon  comme 
parait  vu  que,  eile  pour  une  hutte  on  construii,  de  Teau  olle  pour  on  pulse.  Malade  eile 
lt  com  tue,  cinq  joura  pendant  eile  est  forte  ne  pas  eile  Uenieure  couch^e.  On  travaille  pour 
He,  quelque  cbose  eile  pour  on  coud,  joliment  sa  ceintiue  on  brode,  son  viiiage  on  peint  en 


.^ 


:^. 


<^     <^M 


Pllp.  207.    nerji&Ile  Holzw&nd  d«r  NootUm-Indiftacr,  Britisch  Colambien,  Eum  Verbergen 
der  rel/ge worden «n  Jaugfrfta.    (Aus  Sima.) 

^ttg«,  ifa  t^ie  on  pommade.  Üi  Toili  qae  d^  lora  un  jour  pendant  du  bouillon  [litt:  viaade- 
l.u]  «eulemont  on  lui  donne  &  boire,  un  uatendle  dani  non  paj«,  un  eygne  son  aile-os  avec 
elJe  pour  un  cbaltimeau  ayant  fait,  par  cela  ello  bume  leau.  Peu  bois,  peu  uiange!  Ba  m^re 
11  tlit.  Trt^bien  joliment  on  la  traite.  Cn  bonnet  grand  pour  eile  on  fait,  ses  seina  sur 
place  doux  bob  en  croix,  \m  ll^vren-os  eile  casse  ne  pas;  du  c^i'ur  anssif  du  eang  au^si, 
b  frai  de  poiiiaon  ausmi,  du  lard  (ou  du  gras)  aussi  eile  mange  ne  pas;  une  lune  pendant 
Dute  la  durt^e  de  c*eet  ainai  qu*on  la  traite*  ,C*eiit  ainsi  que  une  tille  nubile  (Litt:  mal 
[iii  renitent«  ou  Celle  qui  est  dans  le  mal]  on  traitait  autrefoia,  la  premiere  fote  que  Mes  mois 
ile  avait,' 

V^on   den  Stämmen   aus  Britisch  Colunibien   giebt   uns   Boas   über   die 
Toolka-Indianer  Bericht: 

«Wenn  ein  M&dcben  ibre  Helfe  erlangt,  m  mosa  tie  auf  der  Plattform  des  Uaueas,  der 

[|Ür  gogenöber,  Platz  nebmen,   und  der  gan«e  Stamm   wird  eingeladen,   um   an   einer  Feier 

il  zu  nehmen.     Eine  Anzahl   von  M&nnem  und  Frauen  wird  angenommen,  um  su  singen 

aae  aaszuf^hren,  und   die  Leute  werden  fUr   die«e   Dienstleistung  bezahlt.     W&brend 

pi*a'mä  genannten  Gesänge  gesungen  werden^  steht  xu  joder  Seite  des  M&dcbena  ein 

in   dem  Anzüge  des  Donnervogels,     Dieser  besteht  au£   einer  grossen  Ma^ke  und   aus 

TolltUndigen  mit  Federn  und  zwei  Flügeln  versehenen  Kleidung.     Die  Tänzer  sind  nicht 

Dann  ergreifen  acht  Männer  je  eine  tScbüsseU  laufen  zum  Flasae,  schöpfen  friBcbet 

und  kebtwa  damit  zu  dem  Hause  zurück*     Hierbei  müeeen  sie  sich  im  Kreise  bewegen, 

tfiö  die  link«  Hand  im  Inneren  des  Kreinet  haben  müssen.     Dann  gieasen  sie  das  WaeMf 

^FriBki*  lioi  MAdcItens  und  kehren  darauf  zum  FlnsH«  zurück,  sich  beetändig  im  KreiJie 

linken  Hand  nach  innen/ 


364  XII.  Die  Menstruation  in  ethnographischer  Besiehnng. 

,Wenn  dieses  geschehen  ist,  so  wird  eine  mit  Figuren  des  DonnenrogeU  bemalte  Holi- 
wand  (Fig.  207)  auf  die  Plattform  des  Hauses  vor  das  M&dchen  gestellt,  so  dan  dieselbe  n« 
vollständig  verbirgt.  An  beiden  Seiten  werden  Matten  aufgeh&ngt|  so  daat  nur  ein  kleiner 
Raum  für  das  Mädchen  übrig  bleibt,  in  dem  sie  für  mehrere  Tage,  verborgen  vor  den  Bliekn 
der  Männer,  verbleiben  muss.  Während  dieser  Zeit  wird  sie  immer  von  einer  AwTahl  tob 
Mädchen  und  Frauen  bedient.  Nach  Sproat's  Angabe  ist  es  ihr  nicht  erlaubt,  die  Sonne  oder 
das  Feuer  zu  sehen.  Nach  meinen  Informationen  wird  sie  nur  davor  behütet.  Wfthrend  sie 
hinter  der  Wand  versteckt  ist,  nimmt  das  Fest  seinen  Fortgang.  Hier  folgen  swei  Greiftnge, 
welche  bei  diesen  Gelegenheiten  angestimmt  werden" : 

„Ich  hatte  einen  schlechten  Traum  letzte  Nacht. 
Mir  träumte,  mein  Gatte  nahm  ein  zweites  Weib. 
Da  packte  ich  meinen  kleinen  Korb  und? 
Und  ich  sagte,  bevor  ich  ihn  verliess, 
Hier  ist  ein  Ueberfluss  an  Männern. 
So  habe  ich  geträumt.* 


„Ich  wünschte,  ich  hätte  mein  Gesicht  an  eines  Mädchens  Busen. 

Ich  würde  mich  wohl  fühlen.    Oh,  dead! 

Ja,  Dein  Antlitz  ist  gross  genug  für  ein  Ding,  das  niemals  befriedigt  ist.* 

Wir  finden  hier  eine  ähnliche  Anspielung,  wie  in  dem  oben  angef&hiien 
Ausspruche  König  Salomo's. 

Bei  einigen  Völkern  gestalten  sich  aber  diese  Reifefeste  doch  bereits  weihe- 
voller; sie  nehmen  schon  mehr  den  Charakter  einer  feierlichen  Handlung  an,  bei 
welcher,  wenn  auch  manchmal  noch  in  absonderlicher  Form,  eine  Art  von  Segens- 
wünschen gespendet  und  bestimmte  Weihen  vorgenommen  werden. 

Bei  den  Wanjamuesi  ist  nach  Reichard  die  Beifeerklarung  der  jungen 
Mädchen  eine  ausschliessliche  Festlichkeit  der  Weiber,  bei  welcher  allerdings  Ge- 
sang und  Tanz  und  auch  ein  Biergelage  nicht  fehlen.  Das  nunmehr  mannbare 
Mädchen,  dessen  Jungfräulichkeit  jedoch  immer  schon  verloren  ist,  wird  dann  im 
Kreise  der  Waganga  (Fetischweiber)  mit  Kräuterabsuden  gewaschen,  mit  Oel  ein- 
gerieben und  zuletzt  über  und  über  mit  Mehlwasser  aus  dem  Munde  des  Fetisch- 
weibes bespritzt.  Es  schliesst  sich  darauf  noch  eine  Art  von  Examen  an.  Das 
Mädchen  muss  nämlich  vor  allen  Weibern  eine  Probe  in  der  Fertigkeit  ge- 
wisser Bewegungen  in  verschiedenen  Stellungen  ablegen.  Männer  haben  dabei 
keinen  Zutritt. 

Die  Makololo  und  andere  Stämme  im  Marudse-Mambunda-Reiche  am 
Zambesi-See  benachrichtigen,  sobald  ein  Mädchen  reif  wird,  deren  Freundinnen, 
die  nun  jeden  Abend  8  Tage  lang  zu  ihr  kommen  und  sie  bis  tief  in  die  Nacht 
hinein  mit  Tanz  unter  Castagnetten-Begleitung  unterhalten.  Ist  die  Tochter  eines 
Königs  zu  dieser  Zeit  schon  verlobt,  so  wird  sie  von  einer  weiblichen  Verwandten 
in  ein  Dickicht  geführt,  wo  sie  eine  Woche  lang,  von  einer  Sclavin  bedient,  ein 
abgeschiedenes  Leben  führt;  doch  wird  sie  auch  hier  von  ihren  Genossinnen  des 
Abends  aufgesuclit,  die  ihr  Nahrung  hinstellen,  ihren  Kopf  mit  Parfüm  einreiben 
und  sie  mit  Ermahnungen  und  Zureden  fQr  den  ehelichen  Stand  vorbereiten,  um 
nach  Ablauf  der  Frist  sie  ihrem  Qemahl  zu  übergeben.     (Holub,) 

Bei  dem  Reifefest  der  Nama-Hottentotten,  von  welchem  wir  oben  ge- 
sprochen haben,  nimmt  der  nächste  Anverwandte  des  jungen  Mädchens,  gewöhnheh 
nach  Ilahn^  ein  älterer  Vetter,  die  Magenhaut  des  geschlachteten  Rindes  und  hangt 
sie  dem  Mädchen  über  den  Kopf  Dabei  spricht  er  ihr  den  Wunsch  aus,  dass  M 
ebenso  fruchtbar  sein  möge,  wie  eine  junge  Kuh.  Dann  kommen  die  Freunde  und 
Freundinnen  mit  ähnlichen  Glückwünschen,  und  nun  beginnt  ein  FeetedimMia  ]i# 
Gesang  und  Tanz,  der  mit  einem  Zechgelage  endigt 

Den  Eintritt   der   ersten  Menses   zeigt  das  Nayer-Mtdeb*" 
durch  ihre  Mutter  ihrer  Schwiegermutter  an,  d.  L  der  Mi 


92.  Das  Reifefest.  365 

günstigten  Liebhabers;  Letzterer  giesst  ihr  darauf  eineu  Krug  Wasser  über  den 
Kop£    {Jagar^.) 

Bei  den  Hill  Arrians  in  Travancore  werden  nach  Painter^  wenn  ein 
Mädchen  ihre  Reife  erreicht,  die  Freunde  und  Verwandten  zu  einer  Geremonie 
zusammengerufen,  bei  welcher  das  junge  Mädchen  auf  ein  Brett  von  dem  für 
heilig  angesehenen  Jack-Holz  treten  muss.  Dann  bindet  ihr  die  Schwester  ihres 
Vaters  einen  Faden  um  den  Hals  und  damit  ist  die  Feierlichkeit  beendet. 

Erreichte   bei  den   alten  Mexikanern    ein  junges  Mädchen  ihre  Reife,   so 

gib  ihm  der  Vater  in  wohlgesetzter  Rede  Ermahnungen  auf  ihren  Lebenspfad  mit. 
ann  wurde  das  Mädchen  in  einer  Tempelschule  unterrichtet  und  aus  dieser  erst 
entlassen,  wenn  es  sich  verheirathen  wollte. 

Wir  sehen  hier,  wie  von  dem  einfachen  Freudenfeste  an  allmählich  die  An- 
schauung sich  Bahn  bricht,  dass  das  junge  Mädchen  nun  in  ihre  späteren  Frauen- 
pflichten eingeftihrt  und  durch  besondere  Ceremonien  eingeweiht  werden  muss,  bis 
schliesslich  bei  den  Mexikanern,  ähnlich  wie  bei  den  heutigen  civilisirten  Völkern, 
der  Zeitpimkt  der  eingetretenen  Reife  allerdings  auch  eine  festliche  Stimmung 
veranlasst,  welche  aber  bereits  als  eine  mehr  geistige,  an  die  christliche  Einseg- 
nung erinnernde,  aufgefasst  worden  ist. 


XIII.  Die  Menstmation  im  Volksglanben. 

93.  Abergl&ablsche  Verhaltangsniaassregelii  bei  der  ersten  Menstnuttoi. 

In  mehreren  Berichten  sahen  wir  bereits,  dass  den  zum  ersten  Male  men- 
struirenden  Mädchen  eine  besondere  Fastendiät  vorgeschrieben  wurde:  das  heittt 
mit  anderen  Worten,  sie  unterlagen  ganz  bestimmten  Speiseverboten.  Das  ist  ein 
ziemlich  weit  verbreiteter  Brauch,  und  bisweilen  erfahren  wir  sogar,  was  die 
Leute  mit  diesen  Vorschriften  &Xr  Gedanken  in  Verbindung  bringen.  Aber  nicht 
auf  die  Ernährung  allein  bleiben  diese  Verbote  beschrankt;  auch  mancherlei 
Anderes  wird  angeordnet,  was  sie  zu  thun  oder  zu  unterlassen  haben,  und  den 
Befehl  im  Winkel  zu  verharren,  oder  in  einer  besonderen  Hütte,  müssen  wir  ji 
eigentlich  auch  hinzurechnen. 

Jacohsen  erzählt  von  den  Indianern  im  nordwestlichen  Amerika,  dia 
das  abgesonderte  junge  Mädchen  sich  stets  derartig  niederlegen  muss,  dass  ihr 
Kopf  nach  Süden  gerichtet  ist. 

Wenn  das  junge  Mädchen  der  Lku'ügen  oder  Songish  im  südöstlichen 
Vancouver  die  ihm  angewiesene  Hütte  verlässt,  so  muss  sie  in  solcher  Richtong 
zurückkehren,  dass,  wenn  sie  den  Rückweg  antritt,  sie  die  Sonne  im  Rücken  hat, 
und  dann  muss  sie  in  der  Richtung  gehen,  wie  die  Sonne  sich  bewegt.     (Boas,) 

Ebenso  darf  bei  den  Sitchaer  Koljuschen  und  in  gleicher  Weise  auch 
auf  den  Aleuten  das  junge  Mädchen  die  Sonne  nicht  sehen.  Es  wird  ihr  während 
dieser  Zeit  ein  Hut  mit  sehr  breiter  Krempe  aufgesetzt,  damit  sie  nicht  durch 
ihre  Blicke  den  Himmel  verunreinige. 

Von  den  Nootka-Mädchen  sagt  -öoa.s": 

«Während  der  Zeit  ihrer  Absperrung  trägt  »io  kein  Hemd  und  es  ist  ihr  verboten,  tich 
zu  bewogen  und  sich  niederzulegen,  sondern  HJe  muss  immerwährend  in  hockender  SteUnng 
verharren.  Sie  mu».s  es  vermeiden,  ilir  Haar  zu  berühren,  aber  sie  muss  ihren  Kopf  mit  einem 
Kamm  oder  mit  einem  hierfUr  hergt^richtoten  Stück  Knochen  kratzen.  Niemals  aber  darf  sie 
ihren  Körper  kratzen,  da  jede  gekratzte  Stelle  eine  Narbe  hinterlassen  würde,  wie  sie 
glauben." 

Dieses  Verbot,  den  Ko])f  zu  kratzen,  so  lange  sie  ihre  erste  Regel  haben, 
führt  lioas  auch  von  den  Mädchen  der  Shushwap-Indianer  in  Britisch 
Columbien  an: 

pKs  iHt  ihr  verboten,  ihren  Kopf  zu  berüliren,  deshalb  bedient  sie  sich  einei  Kammei 
mit  drei  Spitzen.  Nirgends  ist  es  ihr  erlaubt,  ihren  Körper  zu  kratzen,  als  nur  mit  omt« 
bemalten  Thiorknochen.  Sie  trägt  dieHon  Knochen  und  diesen  Kamm  an  ihrem  Gllrtel  ■>- 
gehängt." 

Das   Nootka-Mädch(*ii    hiuhh   in   der  betrettenden   Zeit  sich  hAten« 
Hässliches  oder  etwa  gar  Männer  zu  sehen.   Auch  die  MSdohen  auf  dtt  7 
von  Darien  dUrfen  dann  keinen  Fremden  erblicken.     (Wdfer^ 

Die  Mädchen   der  Sjhushwup-Indianer  bedienen   iMik  in 
Trinken   einer  bemalten  Schale   ans  Birkenrinde,   die  ne 


94.  Die  Menstmirende  gilt  fQr  unrein.  3g7 

müssen.  Die  Nootka- Mädchen  dürfen  dann  nur  trockene  Fische  essen,  sie  müssen 
frische  Muscheln  essen.  Stachelbeeren  und  Holzäpfel  sind  ihnen  verboten,  weil 
man  glaubt,  dass  sie  ihren  Zähnen  schaden.     (Boas,) 

Die  Mädchen  der  Lku'ngen,  „welche  kurz  vor  der  Reife  stehen,  dürfen 
von  den  Fischen  nicht  Stücke  aus  der  Nachbarschaft  des  Kopfes  essen,  sondern 
nur  Schwänze  und  die  angrenzenden  Theile,  damit  sie  sich  Glück  in  der  Ehe 
sichern.'*     (Boas,) 

Noch  einigen  anderen  Aberglauben  fuhrt  Boas  ebenfalls  von  den  Shushwap 
an.  Das  abgesperrte  junge  Mädchen  geht  alle  Nächte  aus  ihrer  Hütte,  ,und  pflanzt 
Weidenzwoige,  die  sie  bemalt  hat,  und  an  deren  Enden  sie  Zeugstücke  befestigt  hat,  in  die 
Erde.  Man  glaubt,  dass  sie  dieses  im  späteren  Leben  reich  macht.  Um  stark  zu  werden, 
mnss  sie  auf  Bäume  klettern,  und  versuchen,  deren  Spitzen  abzubrechen/ 

Weiter  sagt  Boas: 

,,ln  Victoria  muss  ein  Mädchen,  das  ihre  Reife  erreicht  hat,  einige  Lachse  auf  eine 
Anzahl  von  grossen  Steinen  legen,  nicht  weit  von  der  Finlajson  Point  Battery.  Man  nimmt 
an,  dass  sie  dieses  freigebig  mache.  Sie  muss  forner  die  Hügel  Petle'wan,  in  der  Nähe  von 
Cloverdale,  besuchen,  an  deren  Spitze  ein  Weiher  ist.  Hier  muss  sie  die  Hand  in  das 
Wasser  stecken  und  sie  langsam  geschlossen  wieder  herausziehen.  Hat  sie  Gras  u.  s.  w.  in 
derselben,  so  wird  sie  reich  und  das  Weib  eines  Chief  werden;  im  anderen  Falle  wird  sie 
eines  armen  Mannes  Weib.* 

Der  jungen  Australierin  werden,  wie  oben  gesagt,  bei  dem  Eintreten  der 
ersten  Menstruation  einige  Zähne  ausgeschlagen,  und  es  bringt  ihr  Unglück,  wenn 
sie  drei  Tage  nach  dieser  Procedur  irgend  Jemandes  Rücken  sieht.  Dann  wächst 
ihr  der  Mund  zu  und  sie  muss  Hungers  sterben.  Auch  mit  den  ausgebrochenen 
Zähnen  muss  man  äusserst  vorsichtig  umgehen.  Man  hüllt  sie  in  Emu-Federn 
ein  und  hebt  sie  auf  das  Sorgfältigste  auf,  damit  sie  nicht  die  Adler  ünden. 
Denn  wenn  dieses  geschieht,  so  wachsen  an  der  Stelle  der  ausgezogenen  Zähne 
grössere,  und  diese  krümmen  sich  in  die  Höhe  und  verursachen  unter  grossen 
Schmerzen  den  Tod. 

94.  Die  Henstruirende  gilt  fQr  unrein. 

Bekanntlich  wird  die  Menstruation  gemeinhin  als  die  monatliche  Reinigung 
bezeichnet.  Man  ist  im  Volke  der  Ueberzeugung,  dass  in  dem  Körper  des  er- 
wachsenen Weibes  von  Monat  zu  Monat  sich  Unreinigkeiten  ansammeln,  welche 
durch  den  Blutfluss  der  Menstruation  aus  dem  Körper  ausgeschieden  würden.  Da 
nun  das  Menstrualblut  diese  Unreinigkeiten  enthält,  so  sieht  man  es  als  ver- 
unreinigend für  Alle  an,  die  damit  in  Berührung  kommen,  und  allmählich  bildete 
sich  der  Glaube  aus,  dass  es  nicht  allein  verunreinige,  nicht  nur  schmutzig  mache 
im  gewöhnlichen  Sinne,  sondern  dass  es  auch  schädliche  und  selbst  giftige  Wir- 
kungen ausüben  müsse.  Um  sich  nun  wirksam  vor  einer  unfreiwilligen  Berührung 
zu  schützen,  lag  es  am  nächsten,  das  Weib  überhaupt  in  diesen  Tagen  des  Blut- 
ausflusses als  venmreinigend  zu  betrachten  und  ein  Verkehren  mit  ihm  sorglich 
zu  meiden.  Und  so  erklärt  es  sich  von  selbst,  dass  auch  zu  einer  anderen  Zeit, 
in  welcher  ebenfalls  die  Frauen  Blut  aus  ihren  Geschlechtstheilen  verlieren,  nämlich 
zur  Zeit  des  Wochenbettes,  sich  der  Begriff  der  Unreinheit  mit  ihnen  verbindet. 

So  einfach  uns  die  Sache  erscheint,  so  hat  sie  doch  etwas  Ueberraschendes. 
Bei  den  Sängethieren  hat  nämlich  die  Menstruation  ihr  Analogon  in  der  weiblichen 
Bmiut.  Wirrend  nun,  wie  gesagt,  der  Mann  sich  sorgfaltig  von  dem  menstruiren- 
den  Weibe  mrückzieht,  dient  bei  dem  Thiere  bekanntlich  die  Brunst  dem  Männchen 
ab  ein  unwiderstehliches  Anlockungsmittel. 

Die  Thetiche  steht  aber  unerschüttert  fest,   dass  die  Weiber  während  der 

Meiietrunl         Ton  allen  Völkern   des  gesammten  Erdballs   als   unrein   angesehen 

^       P^  A  der  Unreinheit  allerdings  unterliegt  erheblichen  Abstufungen. 

■nmen  aber  alle  Volksstämme  überein,  auch  bei  der  grössten 


't^n 


HIL  Zia  XfBucrnacon.  jn.  T 


iii^    *r--'^  iii^iarr-ianna    iuiht    xrui::    itanniitfrai  '/bii&m  lodocf   iiini   w»  ädk  & 

")-<^  :irfr.*!i    *nr-r:i'k»*in    i^rnnren .      iie    jcsl   -'iräiar    ifizuiaiiBiJit  i« 
~"it^  ^r.iiniue    näSto,   i\ur   ia^    *!?««  }SsiL  -äne    «i  incz   'naami 

'  'u    i;l!i>iit>.-i»*ii  Zc*rcit*^ier.    iiu  T'TiTtiMim>*»T    !«£-  \f!ui;g!i»iT:  jn.  lauminnEr  SteOe  sil 
i.::   *L::t»!ii  *::r-fi»*rL    T»^'uirr.    üb»  imien  '▼'j:  iütär  "▼aar  ^»arjpäuB.;    Im»  i^iSü  Ab- 

t;i.-:s  liis,  ~  *«'.i    üir^i  *!ii   iiix-**rr=  Zisr'jtai  iiiräi  i»»iiHniii*»T  JunsoBui  lannsinsa.  ita^? 
La  i.iiiiL   iiuui  uii'-a.  iiivir  i.:Km»'ai-L  ^sm  vx  amau  'w^  •&  Vg'inraiai» 

ii*r  *!ini»'!:i*!i        iÄTi-aiiiir     *i*^^    i»*iii  3iut»*    ^ü?    n    ir-j*äiaEti2Xisr  Eimämmixic  sc. 


_ '^   **"■*?!    T  "".*■•  i*i    :^r  I.Li' 11   iruii   ~ .  rxiiiiT^    te*  ^«a»^Är-iPf*  os"  Itmas- 
■  ■»;   '"irr«*!!   r^iir.    v-ti^i    tii*   _•  ""u:  r-:i  ■•-ii   iil:.    vril    r:»?  ^     ui*  SjiShDsn.  jnr^ser 

:.ia-      ■  Uli: '"!:■•.•  :•-!!  -*•— .-^11  in:  i:_.>  iL-7*Ji   t;'"j.  i-.i!ar  fmuntai..  at  Ds*  SZrÄ! 

■■"'■■'-*''-    ■> '»r'-    1. — ^:    ^.'..-'i.:  L.      _•'   "  -•:•:■•    t\.--:i    li:^- A-rfs^fü.    '«^'■T   viir*c-i 
:  •-"    .".  -  :i:.;'*.  :^   -.  •  "»»^    -  uT-    -^*»i^    *-:  ~-"': "  :  1.  "■■:    l:  i    _i     *"*•**  r»«xniki&sr2.  n 

-  *C*  -  '.:.:':'-  1-1:-::  i.: :  :.  -=~i..."  .;,-■  •  :  ^.  -.^  ■  ■--  •.*"_:,^.:.  r*fr  Vl*^**'^  crr^* 
•-.VI  V  i.:  "-^:  i  l: "^^r  -  ~  v -L-i-  : '- :;  ?»  '  :.:~:.  :  •  :  ?s-t  zl^  ti*c  HiaiL  ^e- 
'.:-"•'".  ! : -  -'"1  :.^  i^-*  :■:  v -.^  •--  .-  \  -  .  ^  ^-  ^  •.  -  ^^-  ürrä.  tnün. 
i  i'.  ■.  • .:  .-1.-^-  V-  :--  --%  .>  .  •  :..:^—  -■  •  :  •  :'-»:  -.:^r-j:.r;^»  ':»=rtine. 
V  ••..*  '^u'.  1"  :  .:,•*-.:  _•_  ■  : -:  •■;■.■  :■:  V':.j..:^  »'-■  •:.  vh-^ül  ^as*  xzs 
>" "    .-••:"  .'".i.^jz^  ^.lt  i  T  •o-'->~^.."r    •  -    ••    ;     ".••.■•     'S  i'  :    Sftj-TLiCTinc  fkrcr 

:'  -■'    '.i*'!    ,  t..::  :'_-"-:     •:"-~4^  ■     .  i.:  •    :   :    >  ^    ■      t-i.:  .     •  ^-.■:  \:r±   La    i.  xn 

7  b--    ZI.-   ^-.     xLi^-^Lt    ;.:•   >:..;■    :->  S  /    ..       : -s     o«.  -v-r^Li^-itsL  lansna  des 


95.  Die  Üareiahett  d.  Meastmirendezi  bei  den  alten  CaltuTTölkem  u,  ihren  Nachfolgern,     360 

Die  Talmudisten  bildeteo  das  mosaische  Reinigungsgesetz  dahin  aas,  dass 
sie  den  Weibern  nach  der  Menstmation  verordneten,  den  Korper  zu  waschen  und 
danach  noch  ein  Tauchbad  zu  nehraen.  Dieses  letztere  kann  entweder  in  Seen, 
Flüssen  oder  Quellen,  oder  auch  (was  am  gewohnlichsten  geschieht)  in  einem  Wasser- 
1  '  " '  's  vorgenommen  werden,  welches  mindestens  eine  Wassermenge  von  40  Sea 
t  ;  muss.    Doch  darf  solches  Wasser  kein  geschöpftes  sein,  sondern  entweder 

ein  unmittelbar  aus  der  Erde  quellendes  oder  ein  durch  Regen  angesammeltes  Wasser. 

Bei  Wall  beisst  es  nach  Weissbrodt's  Uebersetzung;  „Während  der  Rei- 
ignngszeit  trug   das  jüdische  Weib   eine   besondere  Kleidung    und    nach  Ablauf 


zyv  »I 


'^ 


y^ 


D«T  Zngmigvhof  Aw  Jadflnbado«  in  Ff  iedberg  in  4«r  WetterA«,    (KMs  Photoffr«|ililtO 


erselben    musste   es   in  Gegenwart  zweier  Weiber,   die   gewöhnlich  von   der  Qe- 

leinde  eigens    fUr  dieses  Amt    bestellt  und    besoldet  wurden,   ein  Qtiellwasserbad 

^i^hmen,    gleich vrültig   ob   es   eben   Sommer   oder   Winter   war.      Die   Gereinigte 

lioa^t^  dff'iTnHl  iint»^Hauchen,  so  dass  kein  Haar  trocken  blieb.   Auch  die  kleinste 

einen  Mikwa,    d.  b,   ein  Quellbad,    welches    so  eingerichtet 

r  zur  Winterszeit  erwärmt  werden  konnte.     Die  Kosten  dieses 

ie»  tnigen  für  unbemittelte  Frauen  die  wohlhabenderen  Gemeindeglieder    Nach- 

r>in    das  Weib    dieses   Bad   genommen    und    danach    ihre   gewöhnliche    Kleidung 

^lOSA-BftcUU,  Di«  Weit).    6.  Aull.    L  %A 


Hole 


xin.  IM« 

wieder  uDgtUfii  hstt«,  erkaimte  ei  der  Gtatle  aIs  geremigt  «a.*  Solch  eb  Ji  ^^ 
b«i/l  hiit  iieb  in  Spayer  aiu  dem  14.  Jahrhundert  eriialtao.  Za  dem  |;i  CMtt 
((uiwlretincb«!!  Btatb  nteigt  mao  rieb  Stufen  henib,  auf  deren  halber  flObe  eiii 
kleiof^r,  en^i^f  Kiiunt  wahm^hfiiriUch  zam  AiKskleiden  gedient  bat,  wäkreod  fitr 
die  Wart4fnd«'n  «licb  eini;  Kiitik  nn  der  Treppeswand  befindet. 

Audi  in  der  alten  Stadt  Friedberg  in  der  Wetteraa  befindel  aieli  s>lc 
nbttd,    descten    K'  '  ^     ^    fhach^*   wohl  Cnrecht    in  df o^ 

fjV  i^'fi  13«  JabrhurKl  14.  Jahrhutii'i  .¥ird    es    brrfttti 

iirkimdliüh  erwühnt,     £a  ist  ein    kühner  Bau  mit    quadrsti scher  Grundflädie    to 

20  Fufls  Breite,  welcher 
Fuas  tief  in  einen  Berg 
rücken  hineinge^nkt  ist. 
Man  beiritt  das  Bad  tob 
einem  kleinen,  engen  Hofe 
aus  dorch  eine  niedrige« 
scheinbare  Thür  (Fig, 
Dann  steigt  man  auf 
Stufen  zu  dem  Wasserspf 
hinab  ^  der  die  unleratm 
Stufen  Qber^pült.  I>ielVe|ip« 
ist  an  den  Wänden  m 
ipart  und  immer  nach  11 
Stufen  folgt  ein  kleines  P< 
diunt,  von  df^m  es  auf  die 
niit'hsten  11  Stufen  an  der 
rechtwinldig  anschliessenden 
Wund  übergeht-  Jedes  Po*^ 
iHuru  ist  von  einem  Rand* 
bogen  überdacht,  der  von 
einer  Halbsaule  in  der  Wand 
und  von  einer    t  mie 

getragen  vrird.   1j.      ..^^aile 
derselben    sind    mit     Blatt 
werk  geschmückt  (Fig.  2(J9 
Der   ganze    Bau    wird    toj 
ctitier     tlachen     Kuppel 
deckt,     deren     Mitte 
uüisstg  groese«  runde 
nung  besitsd*    In  dem 
gangshof^  markirt  sich 
die:«  r1  nur  die  mit- 

telst  1  luit  der 

erwihnteo  Oelbtmg« 
tnSehle  glaobeo*  des»  m 
um  emee  Zielibrtmiien 
delt    Dteser  Theil  tel 
1%.  SllH  nttiht  sichiber.   Die  Oeflhmig  der  Kumiel  ist  es  siniijr.  durch  wdlebei 
tiefe  Bau  Luft  nnd  Licht  etfailt     Audi  bei  oisaem  Bede  hi-  h  gans 

etsMi  Anfinge  *V'*  ^— npe  üie  kletnei  eJsdbeeartiir-  ^*^'  ...X;,- 

graeser  Wahmh^  t  ab  prinitiTer  AoUsidera 

Ueber   ein^n  /.unass  oder  Abfluea  des  Wi 
Fried berf*  ist  njchts  tu  bemerka^BkAii^  ^^  ^ui^ 


I 

i1 


f1«    tfLWv     1^1«  lUiNtlnllccte  Tr*f<t»tifcttlif»  4m  . 


swpecalur  soll  nai 

*0    »or^nph     fhd 


}kßtw^  iU% 


95,  Die  Unreinheit  d,  Menstrnirenden  bei  den  alten  Cnlturvölkern  u.  ihren  Nachfol^rn.     371 

lieh  Vorsorge  getroffen,  daas  das  Baden  an  diesem  der  Gesundheit  so  nachtheiligen 
Platze  nicht  mehr  stattfindetw'*  Auch  heute  noch  ist  dieses  Verbot  in  Kraft. 
Aber  nicht  an  allen  Orten  hatten  die  jüdischen  Gemeinden  so  stattliche  Bauten. 
Bis  noch  vor  wenigen  Decennien  befanden  sich  diese  Frauenbüder  sowohl 
im  Auslande  als  auch  bei  uns  in  sehr  vielen  Gemeinden  in  einem  höchst  gesund- 
heitswidrigen Zustande.  In  grösseren  Städten  waren  sie  in  den  Kellern  der 
Synagoge,  in  kleineren  Orten  in  Privatkellem,  sehr  schmutzig,  in  einem  feuchten 
Loche  gelegen,  und  ^ie  wurden  von  vielen  Frauen  benutzt,  so  dass  sich  allmählich 
^em  ekelhafter  Schlamm  am  Boden  des  Wassers  ansammelte.  M€tztjef\  FriedHch^ 
Trtisefiy  Wunderbar  besprachen  die  sanitatspolizeiliche  Seite  dieses  Gegenstandes. 
(Picard,) 

Die  Vorstellung,  dass  jede  menstruirende  Frau  unrein  ist,  findet  sich  schon 
bei    den    Iranern    im    grauen    Alterthume.      Die    alten    Meder,    Baktrer    und 
■Perser   hatten  in  dieser  Beziehung  sehr   strenge    religiöse  Vorschriften.     Sobald 
^ein  Mädchen  oder    eine  Frau    die   eintretende  Menstruation   bemerkte,    musste    sie 
eich  an  einen  einsamen,   von    aller    menschlichen  Gesellschaft    entfernten  Ort    be- 
geben,   wie    es    auch    bis   auf  diesen  Tag    Sitte    ist    unter   den  Ürbe wohnern    des 
Hochgebirges    zwischen   Tibet    und   Indien.      Im   Zendavesta    heisst    es,    das 
iMiidchen    werde    unrein    durch    ihre   Zeiten,    durch    „Merkmale    und    Blut"*.      Die 
jWeiber  wurden  dann  als  unrein  betrachtet  und  mussfcen  einen  eigenen  Platz  ein- 
aehmen,  welcher  völlig  abgeschlossen  war.    Für  die  Anlage  dieses  Platzes  bestanden 
Hat  besondere  Vorschriften.     Er  soll   mit  trockenem  Staube  beschüttet  und  von 
azen    und   Kräutern   gereinigt   werden;   er   soll    höher   liegen    als    das    Haus, 
äarait   das  Auge   des  Weibes    nicht    auf  das  Herdfeuer  falle  und  es  verunreinige, 
'Fünfzehn  Schritte  muss  der  Ort  entfernt  sein  von  den  heiligen  Elementen  Wasser 
und  Feuer,   sowie  von    den   zum  Opfer   gebrauchten  Geräthen,     Die  Männer   und 
alle  frommen  Menschen   durften    sich   nur  auf  drei  Schritte   nähern.     Noch  jetzt 
bestebt  in  jedem  Perserhause  eine   solche  AufenthaltMätte   für  unreine  Frauen. 
Als    normale  Zeitdauer    der  Menses    gelten    drei  Tage,    als    ausserste    Grenze   der 
neunte  Tag;  die  Isolirung  wäiirt  imter  gewöhnlichen  Verhältnissen  vier  Tage. 

Avesta  verbietet  ausdrücklich  den  Männern  den  ehelichen  Verkehr  mit 
rsnenstniireuden  Weibern.  Erst  nach  entsprechenden  Waschungen  durfte  die  Frau 
livieder  mit  anderen  Menschen  zusammenkommen.  (Geiger,)  Pflegt  sie  während 
Jieser  Zeit  Umgang  mit  einem  Manne,  so  bekommt  sie  20  Riemenstreiche;  begeht 
|ßie  dieses  Verbrechen  zum  zweiten  Male,  so  erhält  sie  20  Streiche  mehr.  Der 
lann,  welcher  an  diesem  Orte  mit  ihr  sich  eingelasaen,  begeht  nach  Zoroastcr  ein 
I Verbrechen,  für  welches  es  keine  Aussöhnung  giebt:  er  muss  dafür  bis  zur  Auf- 
Jemtehung  der  Todten  in  der  Hölle  büssen.  Hatte  ein  Mann  mit  seiner  eigenen 
"^rau  den  Coitus  voUzogen,  so  wurde  er  „Tanafur*,  bekam  200  Riemenat reiche 
>der  musste  statt  derselben  200  Derecus  zahlen.     (Altj 

Die  Vorschriften  für  die  Behandlung  menstruirender  Weiber  sind  bei 
oraasier  und  Moses  ähnlich.  Das  Weib  wird  an  einen  abgesonderten  Ort  ge- 
bracht und  Alias,  was  sie  berührt,  ist  unrein.  Hier  hat  sie  4  Nächte  zu  verweilen; 
ch  soll  sie  sich  untersuchen.  Findet  sie  dann,  dass  die  Menstruation  noch 
llt  ihr  Ende  erreicht  hat,  so  wird  ihr  gezwungener  Aufenthalt  hier  nochmab 
Bin  5  Nachte  verlängert.  Dann  aber  zahlt  sie  noch  9  Tage  hinzu,  die  sie  auch 
auch  an  diesem  Orte  verbringen  muss.  Nun  lasst  sie  sich  nach  V^orschrift  reinigen 
md  darf  dann  ihre  Einsiedelei  verlassen  und  sich  in  die  menschliche  Geselkcfaaft 
iteben.     Die  Zahl  9  ist  bei  Moses  auf  7  herabgesetzt. 

Bekanntlich    halten  die  Pars i    in  Indien  noch  heute  an   den  Vorschriften 

oaster's  fest.     Auch    bei    ihnen    muss   sich   die   menstruirende   Frau,    weil    sie 

ist,  an  einen  abgesonderten  Ort  des  Hauses  begeben:  man  nennt  denselben 

btaa-satan,  und  legt  ihn  so  an,  dass  die  Sonnenstrahlen  keinen  Zutritt  haben. 

^Wn^-'^^-    "'•  ^  t:  ..  .„  ^^^  Alles,  was  zum  Leben  gehört^  ihm  fern  bleibt.  Ehe- 

24* 


{\^2  XIII.  Die  Menstruation  im  Volksglauben. 

iniils  Holl  es  öffentliche  Daschtan-satans  gegeben  haben;  doch  im  Laufe  der  Zeit 
veriuinderte  sich  auch  bei  den  Persern  diese  Sitte.  Wahrend  die  armen  Men- 
struirenden  in  ihren  Gefangnissen  sitzen,  dürfen  sie  mit  Niemandem  sprecheo. 
Niemand  darf  ihnen  nahe  kommen;  das  Essen  wird  ihnen  von  Weitem  zugeechoben. 
Kr.st  zwei  Tage  nach  Ablauf  der  monatlichen  Reinigung  ist  dem  Manne  der  Ver- 
kehr mit  dem  Weibe  wieder  gestattet.     (Du  Perron.) 

Unter  den  Mohammedanern  gelten  ähnliche  religidse  Bräuche  in  Bezug 
auf  die  MeiiHtruation.  Im  Koran  (Wahl)  heisst  es:  «Trennt  Euch  von  den  Weibern 
zur  Zeit  der  monatlichen  Reinigung  und  nähert  Euch  ihnen  nicht,  als  bis  sie  rein 
sind.''  So  betrachten  denn  alle  mohammedanischen  Volker  die  Frau  wahrend  der 
Menstruation  ftlr  unrein;  das  gilt  für  Arabien,  für  Aegypten  und  für  viele 
Völker  in  Ost-  und  West- Afrika.  Ebenso  wird  die  Mohammedanerin  in  Persien, 
während  sie  menstniirt,  für  unrein  gehalten,  aber  abgesondert  wird  sie  nickt,  wie 
ll(in(::sclic  an  Ploss  berichtete.  Hier  sowohl,  wie  in  der  Türkei  müssen  sich  die 
Krauen  während  der  Menstruation  sogar  dreimal  täglich  baden,  und  sich,  da  sie 
unrein  sind,  aller  religiösen  Pflichten  enthalten. 

Ks  mögen  hier  gleich  einige  Bemerkungen  über  die  Japanerinnen  und 
die  Chinesinnen  angeschlossen  werden,  lieber  die  Ersteren  bat  Wemich  eine 
Reihe  von  interossunten  Thatsachen  gesammelt. 

In  einzelnen  Provinzen  des  Inneren  von  Japan,  speciell  in  Hida,  ist  den 
Krauen  während  dieser  Zeit  der  Tempelbesuch  und  das  Beten  zu  den  Göttern  und 
^uten  (leistern  aut  das  Strengste  untersagt:  in  anderen  müssen  sie  sogar  die  ganze 
Zeit  in  abgesonderten  Oemäcliern  zubringen  und  dürfen  nicht  mit  ihren  Familien 
/usamnien  essen. 

Die  in  Japan  gebräuchlichen  Ausdrücke  für  die  Menstruation  liefern  nach 
Wnnivh  auch  den  Beweis,  dass  die  Japanerin  das  hierbei  ausfliessende  Blut  als 
eine  höchst  unreine,  violleicht  sogar  als  die  allerunreinste  Aussonderung  ihres 
Körpers  betraelitet:  aber  nirgends  tritt  uns  der  BegriÖ*  entgegen,  dass  diese  Aus- 
sonderung ttlr  den  weiblichen  Körper  eine  reinigende  Eigenschaft  besitze.  In  den 
melir  zugänglichen  Theilen  Japans  triiit  man  tür  die  menstruirenden  Weiber  nur 
sehr  ullgemeiiu'  Verbote.  Sie  sollen  sich  anstrengender  Arbeit  enthalten,  sie  sollen 
nicht  baden  und  den  i'oitus  meiden  und  sieh  vor  Erkältung  schützen,  welche  sie 
sehr  oharakteristiseli  Shimokase.  d.  h.  .Wind  von  unten'  nennen.  Das  Theater 
ilürton  sie  besuchen,  jedoeh  scheint  dieses  nicht  streng  eingehalten  zu  werden. 

Pie  Japanerinnen  befleissigen  sich  grosser  Reinlichkeit,  woftir  sie  Blatt« 
dien  feinen  Papieres  benutzen,  Sie  kneten  aus  einem  der  stets  (zu  verschiedenen 
/wecken  ■  ui  grösserem  Vorrath  mit  geführten  Papierblätter  eine  etwa  knackmandel- 
bis  wallnussgrv^sse  Kugel  und  stopfen  sich  diese  je  nadi  Beilurfniss  in  die  Vagina. 
Kine  Frau,  die  während  der  Periode  i.  B.  das  Theater  besucht,  nimmt  diese 
Procedur  aut'  dem  Abtritt  mehrere  Male  vor.  Sie  weiss  ziemlich  genau«  wenn 
die  eingetuhrte  Kugel  von  Blut  durchtränkt  ist,  und  knetet  dann  eine  neue.  Auch 
bei  starkem  Fluor  albus  hat  W^pnich  solche  Fapierkugeln  in  der  Vagina  ge- 
bunden. Aus  der  Zahl  neun,  die  während  eines  Meustrualtages  verbraucht  wird, 
tur  gewöhnlich  sind  es  l>  bis  l'J  Stück,  machen  die  Frauer.  ei::en  Schluäs  auf  den 
iTuten  Ablauf  der  Periode  und  aut  die  l\eicl;lichkeit  derselben.  Diese  letztere  und 
eine  kurze  Dauer  gilt  vornehmlich  tür  eir.  Zeicl.en  guter  Gesundheit;  weit  weniger 
Gewicht  wird  aut  die  Farbe,  aul'  die  Consister./  ur.d  aut  erwaige  Beimenffungen 
srclegt.  Um  die  Papierkugeln  in  der  richtigen  Li^e  zw  er'::Alteu.  legen  die  Fraaen 
austatt  des  gewohnlich  um  die  Hütte  geschlur.ger.ei;  Tuches  eine  wokleoMftniirte 
T-Bir.de  an,  welche  Kama,  d  h.  Pierdcher.  ge::;i::::t  wrd.  Bemerf'  *  *NaB  daf 
Authöreu   des  Blutäusses.  s^^  rammt  sie  e::i  Kad,  jiel::  andere  1U#  t  kgt 

die  T-Binde  wieder  ab.    Mit  dieser  Ke*^»»!"    s^^wie  ir.::  der  Auff  mm 

Vorganges  werden  die  jungen  Mädc^  ^  bekannt,  da  ^^ 

dar  etwas  alteren  Madchen  und  dei  Frauen  zuiuk 


96.  Die  Unreinheit  der  Menstruirenden  bei  den  Naturvölkern.  373 

Ganz  ähnlich  ist  das  Verfahren  in  China.  Die  Frauen  tragen  dort  während 
ihrer  Menses  ein  als  Enveloppe  zusammengefaltetes  Papier  vor  den  Geschlechts- 
theilen  zwischen  den  Schenkeln  und  fangen  in  dieser  Papierdüte  das  Menstrualblut 
auf;  dabei  befestigen  sie  an  einem  Gürtel  ein  Tuch,  das  zwischen  den  Schenkeln 
hindurchgezogen  wird  und  durch  welches  die  Papierdüte  an  ihrem  Platze  gehalten 
wird.  So  kommt  also  auch  eine  Art  von  T-Binde  zu  Stande.  Unsere  europäi- 
schen Damen  sind  gewöhnt,  während  ihrer  Menses  ein  Tuch  zwischen  den 
Schenkeln  zu  tragen,  allein  in  China  verweigern  nach  KaiUer  die  eingeborenen 
Dienerinnen  ein  solches  mit  Menstrualblut  verunreingtes  Tuch  zu  waschen ;  daher 
sehen  sich  die  europäischen  Frauen  in  China  genöthigt,  ebenfalls  jene  Papier- 
düte bei  der  Menstruation  zu  tragen.  Eine  mir  befreundete  Dame,  welche  lange 
Jahre  in  Shanghai  lebte,  theilte  mir  dagegen  mit,  dass  sie  bei  ihren  Dienstboten 
niemals  -auf  Schwierigkeiten  gestossen  sei,  wenn  derartige  Wäsche  gewaschen 
werden  musste. 

96.  Die  Unreinheit  der  Menstruirenden  bei  den  Naturvölkern. 

Wie  die  alten  Inder,  so  pflegen  noch  heute  mehrere  Völker  Ostindiens 
die  Menstruirenden  streng  abzusondern;  dies  gilt  nicht  nur  bei  den  noch  immer 
den  Geboten  Zoroaster^s  folgenden  Völkern,  sondern  auch  von  anderen  Stämmen. 
So  berichtete   Wolp  über  die  Hindu: 

,In  Ostindien  ist  es  Sitte,  dass  jedes  Mädchen  ihren  periodischen  Blutabgang  durch 
ein  mit  ihrem  Blute  gefärbtes  Läppchen  Leinwand,  das  am  Halse  befestigt  wird,  bekannt  macht.' 

Das  Gleiche  schreibt  auch  Engelmann^.     Gentü  sagt: 

,So  lange  die  Frauen  in  Ostindien  ihre  Reinigung  haben,  erlaubt  man  ihnen  kaum 
einen  Platz  im  Hause;  sie  halten  sich  gemeiniglich  in  einer  besonderen,  vor  dem  Hause  an- 
gebauten Gallerie  auf,  wohin  man  ihnen  auch  das  Essen  bringt.** 

Bei  den  Nayers  in  Malabar  ist  die  Menstruirende  während  der  ersten  drei 
Tage  unrein:  sie  muss  in  einem  besonderen  Räume  des  Hauses  weilen  und  darf 
kein  Koch-  oder  Speisegeräth  berühren.  Am  4.  Tage  badet  sie  und  ist  dann  bis 
zum  7.  Tage  einschliesslich  halbrein;  sie  darf  dann  das  Zimmer  verlassen,  aber 
noch  nicht  den  Tempel  betreten.  Die  Nayer-Frau  sagt  in  solchen  Fällen  viitii- 
durum  (fern  vom  Hause).  Verlangt  man  dann*  einen  Trunk  Wasser  von  ihr,  so 
antwortet  sie:  ich  bin  nicht  zu  Hause.  Bei  Erbauung  eines  Nay er- Hauses  wird 
ein  besonderer  Raum  für  menstruirende  Frauen  und  Wöchnerinnen  bestimmt.  In 
Travancore  ist  für  Ranis  (Prinzessinnen)  in  solchen  Umständen  ein  eigener 
Palast  vorhanden.     (Jagor^.) 

Die  Hindus  haben  für  die  verschiedenen  Tage  der  Menstruation  eine  ganz 
besondere  Stufenleiter  der  Unreinheit;  das  geht,  wie  Dubois  berichtet,  aus  den 
Schriften  Nittia  carma  und  Padmapurana  hervor: 

.Sobald  eine  Frau  ihre  Regel  bekommt,  so  wird  sie  in  ein  abgesondertes  Local  gebracht 
and  es  darf  drei  Tage  lang  Niemand  mit  ihr  verkehren.  Am  ersten  Tage  betrachtet  sie  sich 
als  eine  Paria  (der  Autor  nimmt  an,  die  Frau  sei  von  höherer  Kaste).  Am  zweiten  Tage 
h&lt  sie  sich  in  gleicher  Weise  für  unrein,  als  ob  sie  einen  Brahma  getödtot  hätte.  Am 
dritten  Tage  befindet  sie  sich  in  einem  Zustande,  der  die  Mitte  zwischen  beiden  vorausge- 
gangenen Tagen  hat.  Am  vierten  Tage  reinigt  sie  sich  durch  Abwaschungen  und  alle  die 
für  diese  Gelegenheit  vorgeschriebenen  Ceremonien.  Bevor  dies  geschehen  ist,  darf  sie  weder 
baden,  noch  irgend  einen  Theil  des  Körpers  waschen,  noch  auch  weinen.  Sie  muss  sich  hüten, 
laMkteo  oder  irgend  ein  lebendes  Wesen  zu  tödten.  Es  ist  ihr  verboten,  ein  Pferd  oder  einen 
oder  Elephanten  zu  besteigen,  sich  im  Palankin  tragen  zu  lassen  oder  im  Wagen  zu 

ihren  Kopf  mit  Oel  zu  salben,  ein  Spiel  zu  spielen,  Wohlgerüche,  wie  Moschus  u.  s.  w., 

m  bringen,  auf  einem  Bett  zu  liegen,  am  Tage  zu  schlafen,  die  Zähne  zu  reiben  und 
^^  Ifamd  anniiBpülen.     Schon  der  Wunsch,  mit  ihrem  Ehemanne  zu  cohabitiren,  ist  eine 

8llnd0»    Sie  darf  nicht  denken  an  Gott,  noch  an  die  Sonne,  an  die  Opfer  and  Gebete, 

^tm  ne  verpflichtet  ist.    Sie  soll  Personen  höheren  Ranges  nicht  begrfissen.    Wenn 

m  Wmaaikf  die  ihre  Begel  haben,  zugleich  in  einem  Gemach  befinden,  so  dürfen  sie 


374 


XIII.  Die  Menstraation  im  Volksglauben. 


kein  Wort  mit  einander  wechseln,  noch  sich  unter  einander  berühren.  Eine  Fnui  in  diesem 
Zustande  kann  sich  nicht  einmal  ihren  Eindem  n&hem,  es  ist  ihr  versagt,  sie  amgfasson  oder 
mit  ihnen  zu  spielen.  Hat  die  Frau  demgemäss  drei  Tage  zugebracht,  so  yerlftsst  sie  am 
vierten  das  Gemach,  in  dem  sie  abgeschlossen  war,  und  man  übergiebt  sie  den  Wftscherinnea 
zur  Reinigung;  sie  zieht  ein  reines  Hemd  an,  und  darfiber  noch  ein  zweites,  und  so  führt 
man  sie  zum  Flusse,  um  ein  Bad  zu  nehmen.  ** 

Die  im  Norden  Indiens  wohnenden  Stamme  von  ürein- 
wohnern  befolgen  zum  Theil  gleichfalls  den  Brauch  der  Frauen- 
Absonderung.  Bei  den  Gauri,  einem  sanskritsprechenden,  nicht 
dem  Zoroaster  anhängenden  Volke  in  Bengalen,  existirt  nach 
Tavemier  folgende  eigenthümliche  Sitte. 

„Es  begiebt  sich  jedes  Mädchen  und  jede  Frau,  sobald  sie  ihre  Zeit 
bemerkt,  schleunigst  aus  ihrer  Wohnung  und  geht  nach  einer  kleinen 
auf  dem  Felde  besonders  stehenden  Hütte,  so  von  Baomftsten  als  ein 
Korb  geflochten  ist  und  vor  welcher  vorwärts  ein  langes  leinenes  Tach 
herabhängt,  welches  als  Thür  dient.  So  lange,  als  ihre  Menstruation 
währt,  wird  ihr  alle  Tage  zu  essen  gegeben.  Wenn  die  Zeit  verflossen 
ist,  schickt  sie  je  nach  Umständen  dem  Priester  eine  Ziege,  ein  junges 
Huhn  oder  Taube  zum  Opfer.  Nachher  geht  sie  in  das  Bad  und  ladet 
ihre  Verwandten  zu  einem  Mahle  ein." 

Fi    210    (Abgerolltes)  ^^^  ^®°  K afir-Stämmen  im  Hinduh-Kush  müssen  sich 

Zauber  '-  Muster  eines  ebenfalls  die  Frauen  bei  jeder  Menstruation  in  ein  besonderes, 
chit-nort(BambMgefä8-  yQ^  Dorfe  entfernt  stehendes  Gebäude  zurückziehen,  weil  sie 
das  In  M^au^ca,  für  dieselben  für  unrein  halten.  Auch  hier  müssen  sich  die  Weiber 
die  Abwaschungen  nach  zum  Schlusse  einem  religiösen  Reinigungsverfehren  Unterwerfen. 
2»ucW.Tas'Vl^-S:  Dagegen  findet  bei  den  B adagas  im  Nilgiri-Gebirge  die 
Stevens,  Barteis'.)  Absondcrung  der  Mädchen  nur  für  das  erste  Mal  des  Men- 
struations-Eintritts statt.     {Jagor) 

Von  Vaughan  Stevens^  {Bartels^ ^  dem  wir  eingehende  Forschungen  über 
die  Orang  Hü  tan,  die  wilden  Stämme  in  dem  Inneren  von  Malacca  verdanken, 
erfahren  wir,  dass  früher  die  Mädchen  und  Frauen  der  Djaküns,  wenn  sie  ihre 
Katamenien  hatten,  das  Lagerfeuer  nicht  anzünden  durften.  Bei  den  Orang  Laut 
ist  es  ihnen  verboten,  aus  dem  gleichen  Gefasse,  wie  die  Männer,  ihr  Trinkwasser 
zu  entnehmen,  und  bei  allen  Stämmen  dürfen  sie  keine  Speisen  berühren,  welche 
ein  Mann  später  essen  soll;  es  wird  aber  für  genügend  gehalten,  dass  Warzeln, 
die  sie  für  die  Männer  gegraben  haben,  von  diesen,  bevor  sie  sie  essen,  abgeschält 
werden.  Die  Belendas-Frauen  bleiben  in  dieser  Zeit  im  Hause  und  manche 
schliessen  sogar  die  Thür,  aber  der  Ehemaon  hat  freien  Zutritt. 

Ihre  durch  das  Menstrualblut  besudelten  Korpertheile  müssen  die  Weiber 
mit  Wasser  abwaschen,  das  in  bestimmte  grosse  Bambusröhren,  Chit-nort  genannt, 
eingefüllt  ist.  Diese  Chit-nort  sind  mit  Zaubermustern  bemalt  (Fig.  210),  welche 
in  dem  Leben  der  Orang  Hütan  überhaupt  eine  grosse  Rolle  spielen,  denn  sie  dienen 
dazu,  allerlei  böse  Geister  und  Gespenster,  sogenannte  Hantu,  von  den  Menschen 
fern  zu  halten.  Die  Zaubermuster  im  Allgemeinen  darf  nur  der  Medicin-Mann 
aufmalen,  wenn  sie  die  entsprechende  Kraft  haben  sollen.  Mit  den  Mustern  auf 
den  Bambusgefassen,  welche  bei  der  Menstruation  gebraucht  werden,  ist  das  aber 
etwas  anderes.  Hiermit  wollen  die  Medicin-Männer  nichts  zu  thun  haben,  und 
es  ist  Sache  der  Hebamme,  die  betreffenden  Muster  aufzumalen.  Sie  bedient  sich 
hierzu  hölzerner  Instrumente,  welche  die  Form  kleiner  Stichsägen  haben,  und  die 
sie  auch  zur  Durchtrennung  der  Nabelschnur  bei  den  Neugeborenen  benutzt.  Ich 
werde  von  ihnen  eine  Abbildung  im  zweiten  Bande  dieses  Werkes  geben. 

Die  Muster  sind  verschieden  bei  den  Mädchen  und  bei  den  verheiratheten  Frauen. 
Das  Ornament  stellt  eine  Blume  dar,  welche  an  den  alten  Wohnplätzen  dieser 
Stamme  diesem  Wasch wasser  zugemischt  wurde;  in  ihrem  jetzigen  Lande  wachst 
sie  nicht  und  so  muss  sie  nun  in  efligie  wirken.     Sie  dient  dazu,  um  »das  Blut 


%.  Die  ÜDreinbeit  der  MeiL^niirenden  bei  den  Natiirv51kern. 


375 


\^ 


3 


\ 


^ 


I 


^K 


zu  zerstören*.  Geschieht  das  nicht,  so  entstehen  die  Hantu  Därah  {Blut- 
Hantu)  daraus,  welche  sofort  in  deo  Leib  des  Weibes  kriechen,  um  ihreD  Blut- 
fluss  zu  Ternichten.  Dann  ist  die  Frau  ferner  nicht  mehr  im  Stande,  gesunde 
Kinder  zur  Welt  zu  bringen. 

Die  Männer  wollten  Steveiis  über  den  Hantu  Därah 
keine  Auskunft  geben.  Sie  behaupteten,  nichts  von  ihm 
zu  wissen^  und  wiesen  ihn  an  die  Hebamme. 
Die  erwähnten  Chit-nort  werden  auch  vor 
den  Männern  verborgen  gehalten  und  kein 
Belen  das -Mann  wird  sie  berühren.  Die 
Weiber  der  Orang  Laut  sagten  dem 
Reisenden,  ihre  Männer  hätten  den  Glau- 
ben, dass  wenn  sie  ein  menstruirendes 
Weib  berührten,  so  würden  sie  in  ihrer 
Mannbarkeit  geschwächt. 

Auch  die  Mädchen   der  Orang  Be* 
lendas  müssen   ein   solches   mit   Zauber- 
Mustern    bemaltes  Chit-nort  flir  ihre  Ab- 
waschungen   nach    der    Menstruation    be-    ;^ 
nutzen*     Dieses   Chit-nort   wird  mit  dem 
Namen  Karpet  bezeichnet.    Bei  den  Unter-   ^^   ^12   cAbgoroU- 
atämmen     der    Orang    Belendas,     den  te«)  ZAober  Mtister 
^  J     Orang  Sinnoi   und  den  Orang  Kenä-  ^^"Ü^SSfl ^^""' 

(Ahg,.f«Ut^)  z»ttb«T-   boi,  sind  die  Muster  derselben  etwas  anders,   ormg    Kfeiiboi 
•inw  KariHjt  (B»mbii»*   Fig,  211  zeigt  uus   das  Zaubermnater  des  ia  MaIäcc*,   rar 
^,Lr..",;.rfi/X:!  karpet  der  Orang  Sinnoi    während  Fig.  tb^lT^SlÄ: 
ft««n  UÄch  der  MettBtnm-   212  dasjenige  der  Orang  KOnaboi  vor-  tion  von  Unv«rbd- 
Ymi  ruv«rh«i,-jitheu-t.  ^,-   fQ^rt.  Es  erscheint  mir  besonders  beachtens-   "»>»•*«?*  ^*^^*- 
BnrMiK)  wertb»  dass  bei  diesen  Volksstammen  also      ^^m,  ^-r/r/*?.) 

die   Unverheiratheten   auf  ihren  Bambus- 
in denen  sie  das  Wasser  haben,  mit  dem  sie  sich  nach  der  Menstruation 
'müssen,   andere  Zauberomamente  fiihren,  als   die  verheiratheten  Weiber 
aaf  den  ihrigen. 

In  dem  nördlichen  China  und  speciell  in  Peking  haben  die  Frauen  und 
liidchen  den  Gebrauch,  sieht  wenn  sie  ihre  Menstruation  bekommen,  einen  Ring 
it  den  Finger  zu  stecken,  um  hierdurch  ihren  Zustand  kenntlich  zu  machen. 
)ieser  Ring  führt  den  Namen  chieh  chih,  d.  h.  Warnungsring.*) 

Die  menstruirenden  Mäilchen  und  Frauen  müssen  bei  den  Cbewsuren  (im 

laukasus)    in    entlegenen  Hütten    als    „unrein*    abgesondert    leben;    solche  aus 

^chieferpbtten    hergestellte    Häuschen   sieht    man   stets  in    der  Nähe  der  Chew- 

»rendörfer.     Während   dieser  Zeit   mtSssen    die  Weiber  alte    Kleider    anziehen. 

It  schönes  Wetter,   so  sitzen  sie  auf  dem  Dache,    und  im  Sommer  leisten  sie  in 

ßr  Vertilgung    von    allerlei    wilden  Kräutern    das   Unglaubliche.      Abends    aber 

en   diese    , unreinen"  Wesen  doch  die  Kühe  besorgen,  und  dann  begeben  sie 

zur  Nacht   wieder  an  den  abgesonderten  Ort.     Der  Process  der  Menses  ver* 

in  normalerweise,  langer  als  zwei  Tage  sitzt  selten  ein  Chewsuren-Weib 

Ich  verdaoko  dieee,  sowie  auch  einige  spüter  Docb  antufObrende  Angaben  (iber  Ge- 
der   Chinesinnen    von    Peking    während    der   SchwangerBchaffc,    der  Niederkunft 
i.  w.  der  freundlichen  Mittheilung  des  DirektonalaeaMtenten  am  KgL  Muaeum  fQr  Völker* 
ind«   in    Berlin»    Herrn    Profeator    Dr,   Wil^ifilm    Oruhe.     Deraelbo    bat    dieae   That«Achßn 
in  jangsUt  Zeit  in  Peking  selber  festgestellt,  wobei  ihm  ein  chinesiacher  Arzt  behQlflich 
int     Sie  werden  gemeinsam  mit  seinen  anderen  Reiaeergebnissen  in  den  ,Veröffent- 
on    des  Kgl.  Museuroe   för  Völkerkunde  zu  Berlin*  erscheinen.     Ich  habe  jedoch  di« 
ilicit*  Erlaabnia«  erbalten,  ftchon  hier  davon  Mittheilung  machen  tn  dürfen. 


diiüiBiitt 


iibi^ 


376  ^^^'  ^^®  Menstruation  im  Yolksglanben. 

in   der  „Samrewlo-HQtte^.     (Badde.)     Bevor  die  Frau  wieder  ins  Dorf  kommtf 
muss  sie  sich  am  ganzen  Körper  waschen. 

Unter  den  Samojeden  gilt  das  Weib  überhaupt  als  unreines  Wesen,  zar 
Zeit  der  monatlichen  Reinigung  wird  sie  aber  am  meisten  verachtet;  da  muas  sie 
gar  oft  über  das  Feuer  schreiten  und  mit  den  Dämpfen  von  Rennthierbaaren  oder 
Bibergeil  sich  räuchern;  da  darf  sie  keine  Speise  ftlr  Männer  bereiten  und  ihnen 
gar  nichts  darreichen.     (Paüas.) 

Auf  den  aleutischen  Inseln  dauert  die  Absperrung  für  Frauen  und 
Mädchen  während  der  Menstruation  jedesmal  7  Tage;  sie  ist  dort  durch  das  Ein- 
dringen des  Christenthums  ziemlich  abgeschafft.  Bei  den  Ttynai  sah  GapitSn 
Sagoskin  im  Jahre  1842  die  menstruirenden  Mädchen  mit  schwarz  bemalten  Ge- 
sichtern unter  einer  ledernen  Zeltdecke  abgesperrt.  Die  Eoljuschen  auf  Sitcha 
sperren  nach  Erman  die  Mädchen  und  die  Frauen  in  dieser  Zeit  drei  Tage  lang  ab. 

Die  Ansicht  von  der  Unreinheit  der  Menstruirenden  hat  Schoniburgk  auch 
in  Siam  vorgefunden. 

Auf  mehreren  Inseln  des  alfurischen  Archipels  wird  das  Mensfaraationsblut 
als  sehr  unrein  betrachtet.  Die  Mädchen  und  Frauen  stecken  sich  in  dieser  Zeit 
Tampons  aus  weich  geklopftem  Baumbast  in  die  Scheide,  und  sie  werden  während 
der  Regel  von  den  Männern  nicht  geschlechtlich  berührt;  auf  den  Seranglao- 
Inseln  werden  sie  sogar  von  den  Männern  sorgfaltig  gemieden.  Sie  dürfen  kein 
Feld  und  keinen  Garten  besuchen,  kein  Oam  färben  und  beim  Fischen  nicht 
gegenwärtig  sein.  Auf  den  Aaru- Inseln  dürfen  sie  nichts  pflanzen,  kochen  oder  zu- 
bereiten, auch  nicht  baden  oder  sich  waschen.  Von  ihren  Männern  sondern  sie  sich  ab. 

Auf  der  Insel  Serang  schicken  die  Bergbewohner,  die  sogenannten  Hali- 
furu,  ihre  Frauen  während  dieser  Zeit  in  den  Wald.  Dagegen  berichtet  C^pitän 
Schuhe  von  derselben  Insel: 

,In  Geram  befindet  sieb  in  jedem  Dorfe  ein  apartes  Menstmationshaas,  worin  alle 
Frauen  die  ganze  Zeit  der  Reinigung  zubringen  und  mit  den  Männern  und  selbst  mit  den 
grösseren  Kindern  in  keine  Berührung  kommen. 

Die  Völker  der  Südsee  glauben  ebenfalls  an  das  Unreinsein  der  Mensbniren- 
den.  Auf  den  Marianen-,  Carolinen-,  Marshall-  und  Gilbert-Inseln  gelten 
nach  Merten's  Bericht  Meustruirende  für  unrein.  Wilson^  Nichclas  und  Andere 
bestätigen,  dass  auch  auf  fast  allen  Inseln  Polynesiens  die  Weiber  während 
ihrer  Periode  unrein  und  von  den  Männern  abgesondert  sind. 

Auf  der  Carolinen-Insel  Yap  {sLni  v.  MiMucho-Maclay^^  dass  die  Weiber 
während  des  Monatsflusses  in  einer  Hütte,  die  entfernt  vom  Dorfe  errichtet  ist, 
sich  aufhalten  müssen.  Sie  gelten  in  dieser  Zeit  für  unrein  und  dürfen  sich  im 
Dorfe  nicht  sehen  lassen. 

Auf  Tahiti  reibt  man  die  Frauen  während  der  Periode  mit  Kurkuma  ein, 
das  dort,  wie  Mariner  berichtet,  als  Präservativ  betrachtet  wird. 

In  Neuholland  gelten  bei  den  Eingeborenen  die  Weiber  während  der 
Periode  7  Tage  lang  iiir  unrein  und  so  lange  enthalten  sich  ihrer  die  M&nner; 
sie  wohnen  dann  in  einer  abgesonderten  Hütte  für  sich  allein.     (Schürmann.) 

Auch  auf  Neu-Cajedonien  sind  solche  Hütten,  und  die  Weiber  werden  in 
dieser  Zeit  als  tabu,  d.  h.  als  unberührbar,  betrachtet,     {de  Rochas.) 

Bei  den  amerikanischen  Völkern  haben  sich  fiir  die  Absperrung  der  zum 
ersten  Male  Menstruirenden  viele  Beispiele  beibringen  lassen.  Auch  bei  der 
Wiederkehr  der  Regel  ist  solche  Absperrung  gar  nicht  selten. 

Manche  Stämme  Süd- Amerikas,  sagt  La  Potherie^  sondern  die  Menstmi- 
rende  ängstlich  ab;  es  werden  ihr  besondere  Cabanen  angewiesen  und  sie  dürfen 
sich  nicht  erlauben,  irgend  etwas  anzurühren,  was  noch  gebraucht  werden  könnte. 

Die  Quayquiries  am  Orinoco  glauben,  dass  die  Menstruation  f&r  andere 
eine  vergiftende  Wirkung  besitze,  und  die  menstruirenden  Weiber  fasten  deshalb 
4  Tage  lang,   damit  sie   kein  Gift   mehr  enthalten,    sondern  dies  vollständig  ein- 


378  ^m*  ^i®  Menstruation  im  Volksglauben. 

(Carver,)  Auch  die  Weiber  der  Crih-Indianer  dürfen  sich  wahrend  der  monat- 
lichen Reinigung  nicht  mit  den  Männern  geschlechtlich  vermischen.  {Richardsan.) 
Der  Maler  ^ane,  welcher  die  Ojibeways  am  Huron-See  besuchte,  schreibt: 

„Zu  gewissen  bestimmten  Zeiten  ist  den  Frauen  nicht  der  geringste  Verkehr  mit  dam 
übrigen  Stamme  gestattet,  sondern  sie  müssen  eine  Hütte  nicht  weit  Tom  Lager  baaen,  in 
der  sie  bis  zu  ihrer  Genesung  völlig  abgeschieden  leben/ 

unter  den  Omahas  und  Ponkas  macht  die  Frau,  wenn  sie  menstruirt, 
auf  vier  Tage  ein  abgesondertes  Feuer  in  einem  kleinen  Räume  und  wohnt  ge- 
trennt vom  übrigen  Haushalte.  Sie  kocht  und  isst  allein  und  sagt  Niemandem 
etwas  von  ihrem  Unwohlsein,  nicht  einmal  ihrem  Ehegatten«  Am  vierten  oder 
fünften  Tage  badet  sie  sich  und  wäscht  ihr  Geschirr  u.  s.  w.  Dann  darf  sie  in 
ihren  Haushalt  zurückkehren.  Eine  andere,  ebenfalls  menstruirende  Frau  darf  mit 
ihr  zusammenwohnen.  Während  der  Regel  wollen  die  Männer  mit  ihren  Frauen 
weder  zusammen  liegen,  noch  essen,  und  sie  wollen  nicht  dieselbe  Schüssel,  den- 
selben Napf  oder  Löffel  benutzen.  Seit  über  10  Jahren,  wo  die  Leute  mehr  mit 
den  Weissen  in  Berührung  kommen,  ist  diese  letztere  Sitte,  nicht  von  derselben 
Schüssel  zu  essen,  aber  bereits  abgekommen. 

Eine  nordamerikanische  Indianerin,  wahrscheinlich  vom  Stamme  der 
Dacota,  abgesondert  in  einem  besonderen  Menstruations-Zelte  sitzend,  ist  in  dem 
grossen  Werke  von  Schoolcraft  abgebildet  worden.  Fig.  213  führt  uns  diese  Ab- 
bildung vor. 

Auch  bei  den  Stämmen  des  amerikanischen  Nordens  begegnen  wir  der 
Auffassung  von  der  Unreinheit  der  menstruirenden  Frau. 

Bei  den  Eingeborenen  im  Westen  der  Hudsonsbay,  den  Athapasken, 
den  Hundsrippen-  und  Kupfer-Indianern,  dürfen  die  Weiber  während  dieser 
Zeit  nicht  in  einem  Zelte  mit  ihren  Männern  bleiben,  sondern  sie  kriechen  in 
kleine,  elende  Hütten,  welche  in  einiger  Entfernung  vom  Lager  der  Horde  er- 
richtet sind.  Die  Weiber  benutzen  zuweilen  diesen  Gebrauch,  um  sich  auf  einige 
Zeit  der  üblen  Laune  ihres  Eheherrn  zu  entziehen. 

Bei  den  Eskimos  der  Nordwestküste  Amerikas  gelten  nach  Jacobsen  in 
diesem  Zustande  ebenfalls  die  Mädchen  und  Frauen  für  imrein;  sie  dürfen  nicht 
mit  den  übrigen  Hausbewohnern  gemeinsam  dieselben  Speise-  und  Trinkgefasse 
benutzen  und  sie  bedienen  sich  während  dieser  Tage  besonderer  Geschirre. 

Hamilton  berichtet  Aehnliches  von  den  Indianern  am  Stuarts-Lake  und 
Fraser-River  in  Britisch  Golumbien. 

Auch  die  Nootka- Weiber  müssen,  wie  Boas  berichtet,  in  diesem  Zeitraum 
abgesondert  essen  und  ihre  besonderen  Geschirre  benutzen.  Und  von  den  Shush- 
wap -Indianern  erzählt  er: 

«Den  Frauen  ist  es  während  der  Menstruation  verboten,  frisches  Fleisch  cu  essen,  son- 
dern sie  müssen  hauptsächlich  von  Wurzeln  leben.  Sie  dürfen  nicht  für  ihre  Familie  kochen, 
weil  man  glaubt,  dass  das  JB^ssen  dadurch  vergiftet  würde.  W&hrend  dieser  Zeit  man  sich 
der  Ehemann  abgesondert  von  seinem  Weibe  halten,  weil  ihn  sonst,  wenn  er  jagen  geht,  die 
Bären  anfallen  würden.* 

Der  Brauch,  die  Menstruirende  als  eine  „ Unreine*'  abzusondern,  geht  auch 
durch  ganz  Afrika.  Auf  der  Westküste  verbieten  die  Ibu-Neger  in  Old- 
Galabar  der  Frau,  das  Haus  zu  verlassen;  dieselbe  muss  auf  einer  Art  Nacht- 
stuhl mit  untergestelltem  Gefasse  sitzen.  (Hewan,)  Bei  den  Negern  an  der 
Guinea-Küste,  sowie  an  der  Zahn-  und  Elfenbein-Küste  (in  Issini)  hat 
ji'des  Dorf  eine  abgesonderte,  an  hundert  Schritte  von  der  Wohnung  entfernte 
Hütte,  ^^Bumamon"  genannt,  in  welche  sich  alle  Weiber  und  Mädchen  begeben 
und  sich  des  Umgangs  mit  anderen  Menschen  enthalten  müssen,  bis  die  Zeit  der 
Reinigung  verflossen  ist;  während  dieser  Zeit  wird  ihnen  der  Lebensunterhalt 
dorthingebracht.  (Loyer)  Beiden  Gongo-Negern  müssen  Menstruirende  volle 
sechs  Tage  in  Abgeschlossenheit  leben  und  dürfen  vor  Niemandem  sich  blicken 


96.  Die  Unreinheit  der  Menstruirenden  bei  den  Naturvölkern. 


379 


lassen;  geschieht  hierin  ein  Versehen,  so  fangen  die  sechs  Tage  von  netiem  an. 
Nach  dem  Ablauf  dieser  Frist  nmss  die  Frau  mit  rother  Erde  und  alsdann  durch 
ein  Bad  sich  reinigen.     {Degrandpre.) 

Aehnlich  ist  es  unter  den  weiter  im  Inneren  wohoenden  Kalunda-Negern 
in  der  südlichen  Hälfte  des  Co ngo- Beckens;  die  Frau  des  gemeinen  Negers 
wohnt  alsdann  hier  allein  in  einer  besonderen  Hütte  und  darf  nicht  für  Andere 
Wasser  holen  oder  Speisen  bereiten;  die  vornehmen  Weiber  verhissen  mit  ihrer 
nächsten  Sclaven-Umgebung  ihre  gewöhnlichen  Wohnungen,  um  in  entfernten, 
einsam  gelegenen  Wohnungen  die  Zeit  ihrer  Reinigung  abzuwarten.     (Fogge,) 

Unter  den  Negern  der  Loango-KQste  (Bafiote)  bleibt  das  menstruirende 
Weib  den  Hütten  fern,  in  welchen  Männer  hausen;  die  Frau  gilt  also  während 
dieser  Zeit  für  unrein,  (PechKel-Loesche^)  Hier  wird  ein  Stoff  TakuUa  genannt, 
welchen  ein  im  Majombe^Gebiet  wachsender  Baum  liefert,  zu  F*ul¥er  verarbeitet 
und  dazu  von  den  Weibern  benutzt,  sich  znr  Zeit  der  Periode  roth  zu  bemalen. 
Während  der  Menstruation  wird  die  Reinlichkeit,  welche  die  Bafiote-Neger  an 
der  Loango -Küste  überhaupt  auszeichnet,  keineswegs  vernachlässigt 5  man  wäscht 
und  badet  sich  ohne  Rücksicht  zu  nehmen  auf  den  jeweiligen  Zustand,  welcher 
Überhaupt  die  Betreuenden  wenig  zu  alteriren  scheint  (Pvchuel-Loescke,)  Audi 
bei  den  Äschanti  in  West» Afrika  sondern  sich  die  menstruirenden  Weiber  von 
anderen  ab.     (Botüditeh,) 

Die  Wol  off- Neger  innen  tragen  nach  de  Rochebrune  während  der  Men- 
struation stets  über  dem  Buhu  als  Abzeichen  ein  Schnupftuch  oder  einen  Foulard 
in  schreienden  Farben,  dreieckig  zusammengelegt  und  leicht  über  dem  Vordertheil 
der  Brust  zusammetigeknüpft.  Dies  ist  das  Merkmal  ihres  physiologischen  Zustandes. 
_^  Ueber  die  Volksstämme  Süd- Afrikas  Hegen  analoge  Berichte  vor. 
Bt  Von  den  Hottentottinnen  wird  auch  von  mehreren  Seiten  bestätigt,  dass 
sie  sich  während  ihrer  Menses  in  eine  abgesonderte  Hütte  zurückziehen  und  dass 
sich  bei  einigen  Stämmen  die  Weiber  obendrein  ihr  Gesicht  mit  einem  brillen- 
förmigen  Zeichen  zu  bemalen  pflegen.  {Novara.)  Die  Kaft er- Frauen  halten  sich 
in  dieser  Zeit  von  ihren  Männern  streng  getrennt,  {Älherii.)  Von  beiden  Volks- 
stämmen und  von  den  Gonaquas  berichtet  Le   VmUmid  folgendes: 

,Wenn  bei  diesen  Völkern  eine  Frau  oder  ßin  MädcheQ  die  Vorboten  der  Menstruation 
spürt,  80  verliisst  aie  aogleicli  die  Hütte  ihres  Mannes  oder  ihrer  Eltern  und  bleibt  in  einer 
g«wiaaen  Entfernung  von  dem  Woknplatze  der  Horde^  mit  welcher  sie  alsdann  keine  weitere 
Gameinschaft  hat  Gewöhnlich  errichtet  sie  für  sich  eine  Hülte^  in  welcher  i^ie  sich  so  lange 
verschlossen  bält^  bis  die  Menstruation  vorüber  und  sie  durch  Bilder  gereinigt  ist* 

Er  t\igi  dann  noch  hinzu: 

,Da  zu  solcher  Zeit  die  Kleidung  dieser  wilden  Frau  ihren  Zustand  nur  sehr  unvoll* 
kommen  verbergen  kann,  so  würde  ein  solches  Weib  dem  Spotte  der  übrigen  ausgesetzt  sein, 
wenn  man  äusserlich  die  geringste  Spur  ihrer  Krankheit  entdeckte;  ein  dergleichen  verspottetes 
Weib  würde  alsdann  die  Zuneigung  ihres  Mannes  oder  Liebhahers  sogleich  verlieren*  Man 
sieht  also,  dass  diese  natürliche  Schanihnftigkeit  lediglich  in  dem  Bewusstsein  ihrer  LTnvoU- 
kommenhcit  und  der  Furcht  äu  misa fallen  gegründet  ist." 

Bei  den  Makalolo  nnd  anderen  Stämmen  des  Marutse  -  Mambnnda- 
Eeiches  am  Zambesi  in  Afrika  wird  die  verheirathete  Fran  während  der  Zeit 
ihrer  Menstruation  für  unrein  gehalten  und  muss  durch  7  Tage  ihren  Mann 
meiden;  gewöhnlich  muss  sie  sich  in  einer  Nebenhiitte  installiren,  und  dazu  dienen 
namentlich  die  backofenformigen  Häuser  in  der  Hof  um  friedigung  der  königlichen 
Weiber.     (IIolHk) 

Derartige  afrikanische  Sitten  sehen  wir  auch  hei  den  freien  Busch - 
Degern  in  Surinam.  Dort  müssen  die  Weiber  während  der  Dauer  ihrer  monat- 
lichen Reinigung  in  einem  besonders  dazu  eingerichteten  Hause  verweilen.  Auf 
dem  Wege  in  dieses  Quarantäne -Haus  muss  die  Frau  sich  sorgtaltig  hüten,  dass 
sie  keiner  ihr  etwa  begegnenden  Mannsperson  den  Kücken  zukehrt,  noch  weniger 
darf  sie  Jemand  hinter  sich  geheo  lassen^  sondern  sie  muss,  sobald  man  ihr  oiiher 


330  ^^^  I^  Menitniativii  im  V<rikpglABlMB. 

kommt.  30  lange  stehen  bleiben,  bis  die  ihr  Begegnenden  Toifiber  sind.  Ereignet 
e«;  sieb,  das»  ihr  auf  diesem  Wege  ein  Mann  oder  eine  Ffmi  entgegoikommt,  so 
bleibt  äie  sogleich  stehen  and  roft  mit  ängstlicher  Stimme:  mi  kay!  mi  kay!  (ich 
bin  unrein!;.  Ihres  Mannes  Wohnung  darf  sie  nicht  eher  wieder  betraten,  ab  bis 
AUeä  vorüber  ist.  Wenn  sie  wahrend  dieser  Zeit  ans  ihrer  Wohnung  etwas  nöthig 
oder  bei  einem  Nachbar  eine  Verrichtung  hat,  so  mnss  sie  an  der  Hansthür  stdien 
bleiben  und  das  Benothigte  sich  heranslangen  lassen;  dann  mnss  sie  sofort  wieder 
vorsichtig  nach  ihrer  Herberge  eilen  and  sie  darf  wihrend  dieser  Zeit  auch  mit 
keinem  anderen  Weibe  Umgang  haben.     (Biemer^j 


97.  Das  Unheil,  welehes  die  XenstniireBde  auiehtet. 

Wir  haben  soeben  kennen  gelernt,  eine  wie  nngemon  weite  Yerbreitang  der 
Glaube  gefunden  hat,  dass  die  Menstrairende  venmreinigt  sä  and  dass  sie  aoch 
auf  andere  Teranreinigend  wirke.  Diese  Anschanong  allein  genGgte  dem  Volks- 
glauben aber  nicht,  sondern  derselbe  mosste  za  seiner  ToUen  Befiiedigang  auch 
noch  über  directe  Thatsachen  Terfögen.  Und  so  entwickelte  sich  allmählich  ein 
reichhaltiges  Register  von  allerhand  Schaden  und  Unheil«  Ton  Zanberhaftem  nnd 
Uebernatürlichem,  welches  die  Menstrairende  und  namentlich  ihr  Blut  aaf  Lebende 
sowohl,  als  auch  auf  leblose  Gegenstande  ausüben  sollte.  Wir  begegnen  derartigen 
Auffassungen  vom  Alterthum  an  bis  in  unsere  Tage,  und  nicht  fdlein  rohe  und 
uncivilisirte  Volker  sind  es.  die  derartiges  glauben,  sondern  auch  bei  den  Ter^ 
scbiedenst^n  Nationen  Europas  hat  dieser  Glaube  Warzel  geschlagen  und  ist 
auch  heute  noch  nicht  ausgerottet. 

Von  allerlei  Unheil  berichtet  schon  Flinius: 

.Aber  nicht  leicht  wird  man  etwas  finden,  was  wanderbarere  Wirkungea  herrorbringt, 
als  der  Blutfiuss  der  Weiber.  Kommen  sie  in  diesem  Zustande  in  die  N&he  ron  Most,  so 
wird  er  sauer,  die  FeldfrQchte  werden  durch  ihre  Berührung  unfruchtbar,  Pfropfreiter  sterben 
ab,  die  Keime  in  den  Gärten  Terdorren,  und  die  Früchte  der  Bäume,  unter  denen  sie  gooMScn 
haben,  fallen  ab.  Der  Glans  der  Spiegel  wird  durch  ihren  blossen  Blick  matt,  die  Schneide 
einemer  Geräthc  wird  stumpf,  das  Elfenbein  verliert  seinen  Glanz,  ja  sogar  Ert  und  Eisen 
rotten  und  bekommen  einen  üblen  Geruch;  Hunde,  die  davon  lecken,  werden  wfithend  md 
ihr  Fiiss  wird  dadurch  zum  unheilbaren  Gifte.  Selbst  das  sonst  so  z&he  nnd  klebrige  Harz, 
welches  zu  einer  gewissen  Zeit  auf  dem  Asphaltsee  in  Judfta  henimschwimmty  das  nch 
nicht  ablösen  lä^st  und  an  Alles,  was  damit  in  Berührung  kommt,  sich  fest  anhingt,  haftet 
nicht  an  einem  Faden,  der  mit  diesem  Gifte  benetzt  ist.  Sogar  die  Ameise,  dieees  so  kleine 
Thier,  hoU  eine  Empfindung  davon  haben,  denn  sie  wirft  die  zusammengetragenen  Körner. 
welche  davon  berührt  sind,  weg  und  sucht  sie  niemals  wieder  auf.' 

Im  Sidi-Khelil.  einem  Gesetzbuche  der  Mohammedaner,  heisst  es:  Der- 
jenige, welcher  mit  der  Absicht,  seine  Wollust  zu  befriedigen,  seine  Frao,  während 
sie  ihre  Menstruation  hat,  berührt,  verliert  die  Kraft  der  geistigen  Buhe. 

An  eine  Beeinträchtigung  der  körperlichen  Kräfte  durch  die  Menstrairende 
glauben  in  Vancouver  die  Sonkish-  oder  Lku'ngen-Indianer.  Nach  Boas 
dQrfen  dort  menstruirende  Frauen  sich  niemals  einem  Kranken  nahem,  weil  sie 
denselben  schwach  machen  würden.  Aehnliche  Anschauungen  herrschen  auch  bei 
den  Bewohnern  der  Insel  Eetar  im  ostlichen  malayischen  Archipel.  Siedet^ 
berichtet,  dass  dieselben  sorgfaltig  die  Nähe  der  Hütten  vermeiden,  in  welchen 
die  Mädchen  sich  während  ihrer  Kegel  aufhalten  müssen.  Denn  wer  zufällig  aof 
Menstrualblut  tritt,  der  wird  in  jeder  Beziehung  kraftlos,  ganz  besonders  aber 
würde  er  im  Kriege  unglücklich  sein.  Auch  auf  den  W  a tu  bela- Inseln  bringt 
das  Menstrualblut  den  Männern  Unglück. 

Bi.s  zu  welchen  Consequenzen  solcher  Glaube  fuhren  kann,  das  beweist 
Erzählung  von  Armit: 

,Im  Jahre  1870  tOdtete  ein   AuHtralier  in  der  Nähe  von  Townsville  MUi  "^ 
weil  eH  sich  cur  Zeit  der  Menstruation  in  die  Decke  des  Mannes  gehfiUt  hatte  und  la 
Schaden  brachte.' 


97.  Das  Unheil,  welehes  die  Menstrairende  anrichtet.  Sgl 

Bei  den  Guayquiries  am  Orinoco  herrscht,  wie  Gumilla  berichtet,  die 
Ansicht,  dass  überall  da  eine  Dürre  entstehe,  wo  die  menstruirende  Frau  ihr 
Wasser  hinlässt.  Wenn  dann  ein  Mann  auf  derselben  Stelle  urinirt,  so  bekommt 
er  Anschwellungen  der  Schenkel.  Auch  die  Omaha-  und  Ponka-Indianerinnen 
richten  während  ihrer  Regel  Unheil  an: 

.Erwachsene  Leute  fürchten  sie  nicht,  aber  Kinder  haben  Ursache,  den  Geruch  zu 
fiirchten,  welchen  sie  verbreitet.  Wenn  eins  mit  ihr  isst,  bekommt  es  eine  auszehrende 
Brustkrankheit  und  seine  Lippen  verdorren  im  Umkreise  von  zwei  Zoll.  Sein  Blut  wird  schwarz 
und  das  Kind  muss  brechen.  *" 

Auch  in  Italien  glaubt  man  heute  noch,  dass  die  Weiber  zur  Zeit  ihrer 
Regel  allerlei  Schaden  und  Unglück  bringen. 

In  der  Provinz  Bari  in  Unteritalien  dürfen  sie  nicht  unter  einem 
Kirschbaum  pökeln,  weil  dieser  sonst  eingeht;  sind  sie  in  dem  Hause,  dann  ge- 
rinnt die  Milch  nicht,  deshalb  schicken  sie  die  Hirten  hinaus;  sitzen  sie  auf  einem 
Wagen,  so  können  denselben  die  Thiere  nicht  ziehen,  wenn  sie  nicht  3  Steinchen 
auf  dem  Rücken  tragen.     (Karusio.) 

In  den  Provinzen  Belluno  und  Treviso  lässt  die  Menstruirende  das  Gras 
verdorren  wo  sie  hintritt,  und  vernichtet  auch  für  später  jegliche  Vegetation,  und 
wenn  ein  Mann  neben  ihr  schläft,  so  wird  er  von  Kreuzschmerzen  befallen,  ebenso 
auch  wenn  im  Waschbottich  das  Hemd,  das  er  anzieht,  gerade  unter  einem  durch 
Menstruationsblut  verunreinigten  Wäschestück  gelegen  hat;  darum  packt  man  die 
letzteren  sorgfaltig  zu  unterst.  (BastaneL)  Im  Mündungsgebiete  des  Po  darf  eine 
Frau,  welche  ihre  Regel  hat,  zu  keiner  Säugenden,  weil  dieser  sonst  die  Milch 
vergehen  würde.     (Mazzuchi,) 

Ueber  die  Zigeuner  sagt  v,   Wlislocki^: 

.Hat  eine  Frau  die  Menses,  so  soll  sie  weder  Brot  backen,  noch  Kraut  einsäuern,  noch 
spinnen  oder  buttern,  denn  air  diese  Geschäfte  misslingen  ihr.* 

Bei  den  deutschen  Volksstämmen  ist  der  Glaube  an  die  Schädlichkeit  der 
Menstruirenden  ebenfalls  ein  althergebrachter.  Schon  die  heilige  Hildegard  gab  an, 
dass  durch  die  Anwesenheit  solcher  Menstruirenden  die  Pflanzen  verwelken,  der  Wein 
und  Essig  umschlage  und  die  eingekochten  Früchte  und  Gemüse  schlecht  werden. 

In  »des  getreuen  Eckarth's  unvorsichtiger  Heb-Amme*,  die  im 
Anfange  des  18.  Jahrhunderts  erschien,  steht  geschrieben: 

.Dieses  ausgeworfene,  monatliche  Blut  ist  nicht,  wie  einige  vorgeben,  ein  so  gutes  Blut, 
wie  es  aus  den  Adern  gelassen  wird,  oder  aus  der  Nase  und  Hals  gehet,  sondern  ein  scharfes, 
unreines  und  gleichsam  durch  den  ganzen  Leib  ausgesondertes  Geblüt,  welches  durch  der- 
gleichen Abstösse,  gleich  einem  Gifft,  sowohl  Menschen  als  Vieh  und  andern  Sachen  schaden 
kann.  Wo  dergleichen  Geblüt  hinfallet,  ist  es  als  ein  Scheide-Wasser,  und  hlsst  in  denen 
Tüchern,  auch  nach  dem  genauesten  Auswaschen  (welches  ein  ander  Blut  nicht  thut),  einen 
röthlichen  Flecken  nach  sich,  man  erfahret,  dass  ein  Spiegel,  in  welchem  eine  dergleichen 
Frauensperson  und  Jungfer  sich  bespiegelt,  gleich  denen  Augen  runde  Girkel- form  ige  Flecke 
bekommt,  welche  nicht  wieder  können  abgebracht  werden,  vornehmlich  die  von  schönem  Glase, 
and  mit  Zinn  und  Quecksilber  beleget  sind.  Zuweilen  wird  man  auch  auf  dem  feinen  Zinn 
gleiche  Merckmal  finden,  so  will  man  auch  vorgeben,  ob  selten  die  Weine,  die  zu  der  Zeit 
von  einem  Weibsbilde  traktirt  würden,  verfallen  und  ihre  Kratft  verliehren.  Einige  wollen 
behaupten,  dass  wenn  man  ein  Haar  einem  Frauenzimmer  zur  Zeit  dieses  Auswurffs  ausziehet 
und  in  den  Mist  vergrabet,  eine  Schlange  draus  werden  soll.  Dieses  ist  gewiss,  wann  ein 
dergleichen  Mensch  eine  Wunde  beschauet,  dieselbe  nicht  wohl  zu  heilen  ist,  und  wofern  sie 
im  Zorn  einen  Menschen  beisset,  und  mit  denen  Zähnen  verwundet,  gar  gefährliche  und  un- 
heilsame Wanden  entstehen.  In  Candia  und  Cypern  sollen  solche  Bisse  so  übel  gerathen, 
dan  die  Oebissenen  (gleich  von  tollen  Hunden  geschehen)  in  eine  Raserey  gerathen  und  daran 
sterben,  wie  gemeldete  Personen  denen  armen  Kindern  schaden  (welches  man  das  Beschreyen 
nennt),  ist  bekannt»  sehen  sie  darsa  in  Monden,  nnd  beschauen  einen  Menschen,  ist  es  weit 
ftrger/    fEekarih,) 

QuarmamiMß  <■  le  Yerhaltungsregehi 

.wiluraad 


382  XII [.  Die  Menstruation  im  Yolksglanben. 

«Die  Töchter  lass  nicht  nnter  d'Leat,  noch  Hochzeit  noch  Tantz, 

Die  verehelichten  mercken  besonders  an  ff  ihre  Schantz, 

Damit  sie  zu  wehrender  Blumens  Zeit 

Von  ihren  M&nnem  sich  schrauffen  weit, 

Nicht  greinen,  nicht  zQmen,  nicht  schlagen  umb, 

Sonst  schlägt  das  Gifft  in  d'Glieder  und  werden  krumb, 

Die  jungen  Kinder  nicht  yiel  kOssen  noch  berühren, 

In  der  Euchel  die  Speiss  nicht  selbst  anrühren, 

Nicht  in  die  Keller  noch  zum  Weinfass  gehen, 

In  Gärten  umb  die  jungen  B&umblein  auch  nicht  stehen, 

In  keinen  reinen  Spiegel  hinein  sehen, 

Daheymbs  still  sitzen,  dafür  neben. 

Sich  sonsten  auch  gar  wol  verwahren, 

Das  leinen  Tuch  hierinn  nicht  zu  fast  sparen. 

Damit  nicht  das  unwissend  Hausgesinde 

Das  Gspor  der  Kranckheit  auf  dem  Boden  finde.' 

In  dem  Volke  sind  derartige  Anschauungen  aber  auch  heute  noch  erhalten 
und  zwar  gar  nicht  selten  sogar  bei  den  sogenannten  gebildeten  Ständen.  Es 
darf  die  Menstruirende  nicht  in  den  Keller,  weil  man  glaubt,  durch  ihre  Aus- 
dünstung verderbe  der  Wein.  Betritt  imMeininger  Oberlande  eine  menstruirende 
Frau  eine  Brauerei,  so  schlägt  das  Gebräu  um;  von  einer  solchen  Frau  Einge- 
machtes hält  sich  nicht;  Wein,  Essig,  Bier,  das  sie  abzieht,  verdirbt.  (Schleicher.) 
In  Schlesien  darf  sie  nach  Wuttke  nicht  pflanzen  und  auch  nichts  Gepflanztes 
berühren,  sonst  geht  es  ein.  In  Schwaben  gilt  das  Menstrualblut  f&r  giftig; 
Weiber  sollen  damit  schon  öfters  ihre  Gatten  umgebracht  haben;  wo  dasselbe 
hinfällt,  wächst  kein  Gras  mehr,  und  der  Beischlaf  mit  einer  Menstruirenden  soll 
dem  Manne  den  Tripper  bringen.  Letzterer  Glaube  ist  aber  auch  in  dem  nord- 
lichen Deutschland  sehr  verbreitet. 

Am  Rhein  wird  nach  einer  mir  von  W.  Joest  gewordenen  Mittheilung  von 
den  Weinproducenten  streng  darauf  gesehen,  dass  während  der  Gähnmg  des 
Weines  kein  Frauenzimmer  den  Raum  betritt.  Denn  wenn  sie  zufällig  menstruiren 
sollte,  so  ginge  die  Gährung  zu  schnell  vor  sich  und  der  Most  würde  dann  über 
die  Bottiche  überfliessen.  Auch  beim  Ansetzen  der  Backwaaren  mit  Hefe  und 
selbst  beim  Wurstmachen  soll  man  in  dieser  Beziehung  vorsichtig  sein. 

Dass  auch  bereits  die  Talmudisten  ganz  ähnlichen  Anschauungen  huldigten, 
das  ersehen  wir  aus  folgender  Geschichte,  die  im  Midrasch  Wajikra  Rabba 
erzählt  wird: 

^Fabritha,  die  Magd  des  Rabban  Gamlielj  untersuchte  die  Weinf&sser;  als  sie  bemerkte, 
dass  ihr  Menstruum  eintrat,  setzte  sie  sich  hin  (d.  i.  sie  setzte  die  Prüfung  nicht  fort).  Der 
Wein,  sagte  er,  ist  gewiss  sauer  geworden.  Nein,  gab  sie  zur  Antwort.  Wehe,  rief  er  ans, 
da  er  die  wahre  Ursache  erkannte,  der  Wein  ist  nun  dahin.  Darauf  sagte  die  Magd:  Ich 
habe  viele  Fässer  untersucht,  und  merkte  es  erst  bei  diesem.  Beruhige  Dich  (gieb  Dich  xn- 
frieden),  sprach  er  zu  ihr,  denn  Du  hast  mich  beruhigt."     f^TTtin^c^^ 

Die  Giftigkeit  des  Menstrualblutes  wurde  vor  noch  nicht  so  übermässig 
langer  Zeit  selbst  von  den  Aerzten  vertheidigt.  Der  Leibarzt  des  grossen  Kur- 
fürsten Baidassar  Timaeus  von  GüldenTclee  schrieb  ein  dickes  Werk,  das  von 
Coschwite  im  Jahre  1704  unter  dem  Titel  Timaeanisches  Zeug-Haus  der  Ge- 
sundheit herausgegeben  wurde.  Darin  heisst  es  von  dem  , weiblichen  Monats-Blut*: 

Dieses,  so  es  in  den  Leib  genommen  wird,  machet  den  Menschen  vergessen,  ttampff- 
sinnig.  Melancholisch,  unterweilen  gar  rasend  und  uusinnig  oder  aussätzig. 

Zum  Glück  erfahren  wir  aber  auch,  wie  solch  ein  schwerer  Schaden  wieder 
gut  gemacht  werden  kann: 

Hiervon  gebrauchet  man  ein  Quintlein  Perlen- Pulver  in  Melissen- Wasser,  oder  2  Scnipel 
von  den  Trochiscis  de  vipera,  item  Bezoar,  Theriak.  Der  Erancke  soll  offl  baden,  schwÜMH 
und  Melissen- Wein  trinken. 

Die  giftige  Wirkung  des  Menstrualblutes  ist  auch  den  Zigeunern  bekaimt 


98.  Das  Menstrualblut  als  Arzneimittel.  333 

Wird  es  mit  der  Erde  von  einem  sogenannten  Mondberge  gemischt  und  dem 
Manne  unter  die  Speisen  gethan,  so  verliert  er  seine  Potenz;  ausserdem  stellt  sich 
noch  eine  heftige  Abneigung  gegen  seine  Ehehälfte  ein. 

Schurig^  gab  im  vorigen  Jahrhundert  an,  dass  der,  dem  Menstrualblut  mit 
Wein  beigebracht  würde,  mondsüchtig,  wahnsinnig  oder  liebestoll  werden  könne. 
Auf  letzteren  Glauben  komme  ich  noch  zurück. 

Auch  dem  Weibe  selber  kann  das  Menstrualblut  Schaden  bringen,  und  zwar 
nicht  nur  in  der  Form  der  üblen  Vorbedeutung,  wie  sie  z.  B.  nach  Hüdehrandt 
in  der  Gegend  von  Königsberg  in  Preussen  gilt:  Wenn  hier  ein  Mädchen 
an  ihrem  Yerlobungstage  die  Regel  hat,  bringt  ihr  das  für  ihr  ganzes  Leben 
Unglück.  Ein  weit  schlimmeres  Unheil  aber  kann  unter  Umständen  die  Zigeu- 
nerin treffen.  Bei  ihnen  glaubt  man  nach  v.  Wlishcki^  an  bestimmte  „glück- 
liche Berge*,  um  die  sich  allerhand  Zauber  schlingt: 

«Aber  wehe  dem  Weibe,  das  sein  Menstruationsblut  in  eine  solche  Quelle  oder  gar 
auf  den  Gipfel  des  glücklichen  Berges  fliessen  lässt!  Es  wird  unbewusst  ein  Wesen,  halb  Mensch 
halb  Thier  zur  Welt  bringen,  das  allnächtlich  seine  Gebärerin  im  Traume  erschreckt  und  quält. 
Gewöhnlich  hat  ein  solches  Wesen  den  Kopf  und  Unterleib  von  demjenigen  Thiere,  nach 
welchem  der  betrefifende  glückliche  Berg  benannt  worden  ist." 


98.  Das  Menstrualblut  als  Arzneimittel. 

Von  der  Anschauung,  dass  das  bei  der  Menstruation  aus  den  Geschlechts- 
theilen  ausfliessende  Blut  auf  alle  möglichen  Dinge  eine  schädliche  oder  sogar 
eine  giftige  Wirkung  auszuüben  im  Stande  sei,  war  es  naturgemäss  nur  ein  Schritt 
zu  dem  Versuche,  ob  diese  Verderben  und  Untergang  bringende  Giftigkeit  sich 
nicht  auch  an  dem  Feinde  der  Menschheit,  an  der  Krankheit,  bestätigen  würde. 
Man  kam  also  dazu,  das  Menstrualblut  als  Medicament  zu  benutzen.  Es  handelte 
sich  hier  aber  keineswegs  allein  um  Arzneimittel,  welche  vom  Volke  nach  eigener 
Initiative  heimlich  und  hinter  dem  Rücken  der  Aerzte  angeordnet  wurden,  sondern 
diese  letzteren  selbst  verordneten  es,  wie  wir  in  älteren  medicinischen  Werken 
finden  können.  Dem  Menstrualblute  traute  man  nach  Plinius  folgende  Heilkräfte 
zu:  durch  Bestreichen  mit  demselben  glaubte  man  Podagra,  Kropf,  Speicheldrüsen- 
entzündung, Rose,  Furunkel,  Wochenbettfieber,  den  Biss  toller  Hunde,  Epilepsie, 
Kopfschmerz  u.  s.  w.  beseitigen  zu  können.     (Abt.) 

Da  aber  das  Ungewöhnliche,  das  Absonderliche  sich  von  jeher  unter  den 
vom  Volke  geschätzten  Heilmitteln  eine  hervorragende  Stellung  erobert  hat,  so 
ist  es  auch  in  unserem  Falle  sehr  häufig  nicht  jedes  Menstrualblut,  dem  die  hei- 
lende Kraft  innewohnt,  sondern  es  muss  dasjenige  sein,  welches  ein  Mädchen  als 
das  erste  Zeichen  ihrer  eingetretenen  Geschlechtsreife  von  sich  giebt. 

Die  durch  dasselbe  gefärbte  Wäsche  getrocknet  und  mit  Rheinwein  oder 
mit  Meerzwiebelessig  extrahirt,  giebt  nach  Velsch  ein  Medicament  zu  verschieden- 
artigem wirksamen  Gebrauch.  EttmüUer  gab  es  gegen  Epilepsie,  und  gegen  den 
Morbus  comitalis  galt  es  ebenfalls  als  bewährt.  Auch  als  Mittel  gegen  den  Stein 
und  als  Emenagogum  wurde  es  gebraucht;  als  letzteres  auch  in  Brod  einge- 
schlossen, femer  zusammen  mit  Theriak,  gegen  Tertianfieber. 

Unter  den  russischen  Volksheilmitteln,  welche  v.  Henrici  zusammengestellt 
hat,  spielt  das  Menstrualblut  auch  eine  Rolle.  In  Nowaja  Uschytza  wird  ein 
damit  befiecktes  Hemde  in  Wasser  gebracht  und  dieses  Wasser  müssen  dann  die 
Fieberkranken  trinken.  In  Ryshanowka  wird  das  Blut  mittelst  eines  Leinwand- 
stückes dreimal  auf  ein  Muttermal  gestrichen  und  den  Lappen  muss  man  darauf 
in  das  Feuer  werfen.  In  Nowaja  Uschytza  soll  es  auch  die  Warzen  vertreiben, 
wenn  man  sie  damit  bestreicht. 

Nach  Schurig^  ist  das  Menstrualblut  gut  «wider  das  Verschlagen  (con- 
tractura)   der  Pferde*,  und   äusserlich   wurde    es   angewendet   gegen   Blutungen, 


384  ^^11-  ^^®  Menstruation  im  Yolksglauben. 

Metrorrhagien,   Erysipelas,   Gicht,  Ausschläge,   Mutterm&ler,   Kropf,  Aogenkrank- 
heiten,  Pest,  Biss  vom  tollen  Hunde,  Wörmer,  Brand  u.  s.  w. 

Die  heilige  Hildegard  empfahl  als  ein  unfehlbares  Mittel  gegen  den  Aussatz 
die  Anwendung  von  Vollbädern  aus  Menstrualblut,  ein  gewiss  ni^t  gerade  leicht 
in  der  nothwendigen  Menge  zu  beschaffendes  Medicament.  Sehr  wirksam  gegen 
das  Podagra,  und  vor  allen  Dingen  sehr  schmerzstillend,  sollen  ITmschlSge  mit 
dem  warmen  Menstrualblute  einer  Jungfrau  sein.  In  Steyermark  glaubt  man, 
dass  Warzen  verschwinden,  welche  mit  frischem  Menstrualblute  bestrichen  werden, 
und  auch  hier  sind  nach  Fasset  gegen  die  Oicht  «mit  Menstrualblut  getr&nkte 
Leinwandflecke  allbekannte  Umschläge*. 

Die  Siebenbürger  Sachsen  und  ebenso  auch  die  dortigen  Rumänen 
heilen  mit  den  Menses  einer  Jungfrau  die  Gerstenkörner,  indem  sie  diese  damit 
einreiben,     (v.   Wlislocki^.) 

Ein  Säugling,  der  nicht  gedeihen  will,  «wird  bei  den  Zigeunern  auch  in 
einem  Bad  aus  Erbsenstroh  und  Heublumen  gebadet,  dem  Menstruationsblnt  der 
Mutter  beigemengt  ist.  Das  Badewasser  wird  dann  auf  einen  weissen  Hund  ge- 
gossen, wobei  man  spricht: 

Was  Gutes  darin  ist,  komme  zurück, 

Was  Schlechtes  darin  ist,  gehe  weg!'     (v,  Wlislocki*.J 

In  den  Provinzen  Belluno  und  Treviso  glaubt  man,  ähnlich  wie  in 
Steyermark,  dass  ein  Bestreichen  mit  Menstrualblut  Warzen  zu  vertreiben  ver- 
möge, und  ein  damit  getränkter  Lappen  soll  die  Kreuzschmerzen  heilen  können. 
(JBastanzi,) 

Von  den  bayerischen  Franken  berichtet  Lämmer^  noch  einige  absonder- 
liche Auwendungsweisen  des  Menstrualblutes,  aus  welchen  so  recht  deutlich  der 
in  der  Volksmedicin  so  weit  verbreitete  Glaubenssatz  similia  similibus  erkannt 
werden  kann.  Wenn  einer  Person  die  Regel  ausgeblieben  ist  und  sie  wttnscht 
deren  Eintritt  wieder  herbeizuführen,  so  soll  sie  ein  mit  frischem  Menstrualblute 
beflecktes  Hemd  anziehen,  oder  sie  soll  Wasser  trinken,  in  welchem  das  bei  der 
ersten  Menstruation  einer  unbefleckten  Jungfrau  geflossene  Blut  aufgelöst  worden 
ist.  Ja  sogar  schon  ein  Stückchen  Brod  in  den  Mund  genommen,  das  eine  gerade 
menstruirende  Frau  gekaut  hat,  soll  sofort  den  Monatsfluss  wieder  herbeifbhreo. 
Das  leitet  uns  schon  hinüber  zu  den  Zauber  Wirkungen,  welche  die  Menstruirenden 
auszuüben  vermögen.  Wir  werden  dieselben  im  nächstfolgenden  Abschnitte  niher 
kennen  lernen. 

09.  Das  Menstrualblut  als  Zaubermittel. 

Aber  nicht  allein  als  Medicament  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes 
wird  das  Menstruationsblut  gebraucht,  auch  als  Amulet  und  als  Zaubermittel  hat 
es  seine  hohe  Bedeutung  gewonnen.  Natürlich  kann  es  uns  nicht  fiberraschen, 
dass  hier  wiederum  das  Menstruum  primum  einer  unberührten  Jungfrau  sich 
eines  ganz  besonderen  Ansehens  erfreut.  Aber  auch  das  Menstrualblut  selbst  der 
verheiratheten  Weiber  verrichtet  doch  noch  immerhin  auch  ganz  anerkennens- 
werthe  Leistungen. 

Interessant  ist  ein  Aberglauben,  welchen  die  heilige  Hüdegardis  anfbbrt; 
danach  vermag  ein  mit  dem  Menstrualblute  beflecktes  Hemd,  in  die  Flammen 
geworfen,  eine  Feuersbrunst  zu  löschen,  auch  macht  solch  Hemde,  auf  dem  Leibe 
getragen,  unverwundbar  gegen  Hieb  und  Stich.  In  Schwaben  gebraucht  man 
noch  nach  heutigem  Aberglauben  zum  Schmieden  allzeit  siegreicher  Waffen  das 
Menstrualblut  einer  reinen  Jungfrau,  sowie  das  Hemd,  in  dem  sie  ihre  Periode 
gehabt  hat. 

Zur  Zeit  des  Plinius  glaubte  man,  dass  eine  Menstruirende  Sturm  and  Hagel  fsitieibw 
könne:   befinde   sich   eine   menstruirende  Frau   auf  einem  mit  den  Wogen  und  dsm  Orkn 


99.  Das  MenBtraalblut  als  Zaubermittel.  385 

kämpfenden  Schiffe,  so  werde  dasselbe  gerettet.  Alle  Insecten  sollen  von  den  Bäumen  fallen, 
wenn  sich  denselben  eine  Menstniirende  entkleidet  nähert.  So  vertrieb  man  die  Ganthariden 
in  Eappadocien  nach  Meirodorus  ScepsttiSy  indem  eine  Frau  zur  Zeit  ihrer  Regel  mit  bis 
an  die  Lenden  aufgehobenen  Kleidern,  oder  auch  nur  mit  blossen  Füssen,  gelöstem  Gürtel 
und  flatterndem  Haar  durch  das  Feld  ging;  doch  musste  nach  PHntus  diese  Geremonie  vor 
Sonnenaufgang  geschehen,  da  sonst  die  Saat  verderben  würde,  denn  auch  junge  Weinstöcke, 
Raute  und  Bpheu  verkümmern,  sobald  sie  von  einer  Menetruirenden  berührt  werden. 

Danid  Becker  erzählt,  dass,  wenn  man  im  Felde  ein  mit  dem  ersten 
Menstruationsblute  beflecktes  Tuch  an  einen  Stock  hefte,  an  dieser  Stelle  die 
Hasen  so  zusammenlaufen,  dass  man  sie  leicht  schiessen  und  selbst  mit  den  Händen 
greifen  kann. 

Die  in  Judäa  wachsende  fabelhafte  Pflanze  Barbaras,  deren  Berührung  den 
Menschen  tödtet,  kann  nur  dadurch  unschädlich  gemacht  werden,  dass  man  sie 
mit  der  Wurzel  ausreisst.  Dies  ist  aber  unmöglich,  wenn  man  sie  nicht  vorher 
mit  Menstruationsblut  oder  mit  Frauenurin  begiesst.  (Valentino  Andrea  MoeUen- 
hroccio.) 

Wir  lesen  ferner  in  des  getreuen  Eckarth's  unvorsichtiger  Heb -Amme: 
,So  scheinet  es  doch,  als  wenn  das  Menstruum  virginis  primum  vor  anderen  einen  Vorzug 
habe,  wiewohl  manche  es  allzuweit  in  ihren  Tugenden  exaltiren,  und  ausbreiten  wollen, 
dannenhero  ich  allen  Eltern  rathe,  dass  sie  das  erste  Geblüte,  welches  von  ihren  Töchtern 
ausgehet,  wohl  in  obacht  nehmen,  denn  wofern  ein  bosshaffbiges  etwas  davon  habhaffb  würdet 
kan  es  der  Person  von  der  solche  gegangen  ist,  schaden.  Die  alten  Gothen  und  Finnen 
als  auch  Lappländer,  gebrauchten  eich  desselben  entgegen  der  Zauberey  in  ihren  Schiff- 
fahrten, dann  wann  ein  Schiff  an  seinem  Gange  durch  Zauberey  verhindert  wurde,  nahmen 
sie  ein  solch  Flecklcin,  machten  es  feuchte,  und  bestrichen  damit  die  obersten  Theile  der 
Umg&nge,  womit  die  Zauberey  wiche.  Ein  Mägdlein,  die  von  ihrem  eigenen  Menstruo  primo 
ein  beflecktes  Stücklein  mit  ein  Wenig  Farrenkraut  Wurzel  in  ein  Tüchlein  eingenehet  am 
Halse  traget,  wird  nicht  leichtlich  von  bössen  Leuten  angetastet  werden.*  Es  bringt  auch 
auf  dem  blossen  Leibe  getragen,  Glück  im  Spiel,  und  Sieg  im  Kampfe,  mit  warmem  Essig 
heilt  es  die  lioso,  es  dämpft  das  Feuer  und  heilt,  in  da»  Trinkwasser  gethan,  verschlagene 
Pferde  und  Schweine  und  Hunde,  ,wenn  sie  finnigt  und  schäbigt  seyn*.  Jedoch  ist  es  am 
wirksamsten,  «wenn  ein  Sohn  von  seiner  leiblichen  Mutter  das  primum  menstruum  zu  einem 
Angehencke  haben  kann*.  ,ln  Italien  und  andern  Orten  pflegen  einige  Leute  diese  mit 
dem  primo  menstruo  befleckte  Tücher  zu  verkauffen,  weil  man  aber  des  Vortheils  halben,  da 
es  wol  von  andern  oder  mehren  mal  kan  genommen  seyn,  des  rechten  nicht  gewiss  seyn  kan, 
ist  nicht  wol  zu  trauen.  Weswegen  am  besten,  dass  man  von  redlichen  Leuten  solches  zu 
bekommen  sich  bemühe.  Vorsichtige  Eltern  aber  sollen  sich  wol  in  acht  nehmen  und  zusehen, 
wem  sie  es  geben,  denn  mit  selbigem  man  per  magnetismum  ihnen  grossen  Schaden  und  Unfug 
zurichten  kan.* 

Bei  den  Sachsen  in  Siebenbürgen  vergräbt  nach  v.  WUslockf'*  »die  Frau 
Haare  von  einem  Todten  und  die  eigenen  Menses  an  dem  Orte,  wo  der  Mann  das 
Wasser  abzuschlagen  pflegt,  um  sich  seiner  ehelichen  Treue  zu  versichern". 

Ueberhaupt  spielt  die  Menstruation  in  dem  Liebesleben  eine  recht  hervor- 
ragende Rolle,  und  bei  der  Besprechung  des  Liebeszaubers  werden  wir  noch  zu 
wiederholten  Malen  wieder  dem  Menstruationsblute  begegnen.  Auch  auf  die 
Heilung  der  Unfruchtbarkeit  vermag  es  fordernd  einzuwirken.  Das  ist  ein  Glauben, 
welchen  wir  namentlich  wieder  bei  den  Zigeunern  finden,  v.  Wlislocki  schreibt 
darüber: 

,Weiber,  welche  sich  Kinder  wünschen,  und  bei  denen  schon  alle  Geheimmittel  erfolg- 
los blieben,  bringen  dem  Monde  ein  Opfer  dar,  indem  sie  bei  Vollmond  die  Genitalien  zweier 
y^gel  und  zweier  vierfüssigen  Thiere,  männlichen  und  weiblichen  Geschlechts,  auf  einem  Berg 
in  die  Erde  graben  und  ihr  Menstruationsblut  auf  den  Ort  fliessen  lassen.  Bei  den  nord- 
ungarischen  Zigeunern  werden  die  Genitalien  kinderloser  Eheleute  mit  einer  Salbe  ante 
coitum  eingerieben,  die  aus  dem  Menstruationsblute  einer  Jungfrau,  dem  Blute  einer  Nach- 
geburt, dem  Urin  eines  ungetauften  En&bleins  und  einigen  Eflrbiskemen  bereitet  wird;  ein 
Mittel,  das  auch  slovakische  Bäuerinnen  gar  häufig  anwenden.* 

In  dem  Volksglauben  findet  man  nicht  selten,   dass  demselben  Gegenstande 

Ploss-Bartels,  Dms  Weib.    6.  Aufl.    I.  25 


386  ^^^*  ^0  Menstraaiion  im  Volksglaaben. 

bald  die  eine,  bald  aber  auch  die  geradezu  entgegengesetzte  Eigenschaft  zuge- 
schrieben wird.  So  geht  es  auch  mit  dem  uns  beschäftigenden  Stoffe.  Haben 
wir  oben  gesehen,  dass  das  Blut,  welches  die  Frau  bei  der  Regel  yerliert,  dem 
Manne  die  Zeugungskraft  nehmen  kann,  so  finden  wir  andererseits  wiederum,  daas 
es,  in  richtiger  Weise  angewendet,  seine  Potenz  zu  steigern  vermag.  Das  war 
schon  den  alten  Indern  bekannt,  wie  wir  aus  Yagödharas  Kommentar  zum 
Kämasütram  von   Vätsyäyana  ersehen  können.     Hier  heisst  es: 

.Eine  Speise  aus  Asparagus  ramosus,  Asteracantha  longifolia  und  Meline-Saft,  mit 
einer  Paste  von  Piper  longum  und  Honig,  sowie  Kuhmilch  und  Ziegenschmebbatter,  sammt 
dem  ersten  Menstrualblute,  wer  das  t&glich  geniesst,  der  hat  davon  einen  lauteren  Tnuik,  der 
auf  die  Potenz  und  lange  Lebensdauer  günstig  wirkt,  wie  man  sagt' 

Interessant  ist  es,  daSs  wir  bei  den,  den  alten  Indern  bekanntermaaasen 
stammverwandten  Zigeunern  auf  ganz  ähnliche  Anschauungen  stossen.  So  lesen 
wir  bei  v.  Wlislocki^: 

,Membrum  virile  firmandi  causa  wird  dasselbe  vor  dem  Act  in  Eselsmilch,  der  Men- 
struationsblut der  Gattin  beigemengt  ist,  gebadet.  Zu  Pulver  geriebene  Fachshoden  mit  ihrtm 
Menstruationsblute  vermischt,  giebt  die  siebenbürgische  Zelt-Zigeunerin  dem  Mamie 
in  Speisen  gemengt  ein,  um  seine  Potenz  zu  steigern.  Menstruationsblut  auf  ein  Etelsfell 
gegossen,  wird  bei  den  südungarischen,  ansässigen  Zigeunern  ins  Ehebett  gelegt,  um 
stimulirend  zu  wirken.* 

Aber  nicht  dem  Manne  allein,  sondern  auch  dem  Weibe  selber  kommt  der 
Zaubersegen  des  Menstruationsblutes  zu  Statten: 

«Das  Menstruationsblut  und  einige  Haare  vom  Membrum  virile  des  (xatten  giessen  die 
siebenbÜrgischen  ansässigen  Zigeunerinnen  bei  Vollmond  auf  einen  Rosenstranch 
oder  in  ein  Baumloch  und  sagen,  dabei  den  Mond  anblickend,  dreimal  die  Worte  her: 
Wie  der  Mond  nehme  zu  mein  Leib!' 

Auch  noch  in  einer  anderen  Weise  hilft  das  Menstrualblut  den  Zigeunern. 
Wir  folgen  wieder  v,  Wlislocki^: 

, Wollen  die  siebenbÜrgischen  Kesselflicker- Zigeuner  ihre  Arbeiten  rasch  an  den 
Mann  bringen,  so  lassen  sie  ihre  Weiber  etwas  Menstruationsblut  in  das  Feuer  werfen,  bei 
welchem  sie  die  Gegenstände  schmieden.  Unter  der  europäischen  Bevölkerung  der  sieben- 
bÜrgischen Gebirge  beisst  es,  dass  die  jüdischen  Schankwirtbe  dasselbe  Mittel  anwenden» 
um  ihren  Branntwein  rasch  loszuschlagen,  indem  sie  das  Menstruationsblut  ihrer  Jongfranen- 
Töchter  in  das  Schnapsfass  werfen.  Wer  davon  getrunken,  der  kann  vom  Trinken  nimmer 
lassen  und  kehrt  alltäglich  in  die  Schenke  des  Juden  ein.' 

Beiläufig  will  ich  hier  erwähnen,  dass  Flinixis,  wie  es  den  Anschein  hat,  das 
Menstruationsblut  mit  dem  weiblichen  Samen  identificirt.  Er  sagt,  dass  manche 
Weiber  niemals  den  Monatsfluss  hätten,  und  dann  fahrt  er  fort: 

«Allein  Letzere  gebären  auch  nicht,  denn  dieses  ist  der  Stoff  zur  Erzeugung  des 
Menschen,  mit  welchem  sich  der  Same  des  Mannes  wie  eine  geronnene  Masse  vereinigt  und 
mit  der  Zeit  Leben  und  Form  bekommt.  ** 


100.  Der  Glaube  von  dem  Ursprung  der  Menstraation. 

Ueber  den  ersten  Ursprung  der  Menstruation  begegnen  wir  bei  einigen 
Völkern  sehr  eigenthümlichen  Anschauungen  und  Glaubenssätzen,  durch  welche 
dieselbe  bisweilen  mit  Gottheiten  und  Dämonen  und  mit  übernatürlichen  Gewalten 
in  Verbindung  gebracht  wird. 

Die  Menstruation  galt  den  Iranern  als  eine  Schöpfung  der  bösen  Geister. 
Es  sind  also  die  Frauen  während  ihrer  Regel  gewissermaassen  in  der  Gewalt  des 
Bösen;  und  so  erklärt  sich  auch  die  Anschauung  von  ihrer  hochgradigen  Un- 
reinheit, und  wir  begreifen  die  strengen  Vorschriften,  von  denen  wir  oben  ge- 
sprochen haben,  durch  welche  das  Weib  zu  dieser  Zeit  von  der  übrigen  mensch- 
lichen Gesellschaft  ausgestossen  wird.  Die  Iraner  hatten  die  Legende,  daaa  es 
ursprünglich  Dsckahi^  die  Dämonin  der  Unzucht  gewesen  sei,  an  welcher  Ämgra 


Der  Glaabe  von  de«  Draprung  der  Meastruaüon. 


387 


'  I 


.Mdfiia   zuerst  die  Menstruation  hervorgerufen  habe.     Es  liegt  wohl  im  Bereiche 

Ider  Möglichkeit,  dass  hierfür  die  Beohachtung  nicht  ohne  Einfluss  gewesen  ist, 
dass  bei  frühzeitigem  geschlechtlichen  Verkehr  vor  fertig  erlangter  Reife  die 
Menstnialblutungen  sich  früher  einzustellen  pflegen. 

Bei  den  Omaha- In  dianern  wird  die  Menstruation  als  ^zu    Wakauda  ge- 
hörig*  betrachtet     Iti  der  Mythe  vom  Kaninchen  und  dem  schwarzen  TtHrf^n 

[warf  Mactcinge^    das  Kaninchen,    ein  Stück  vom   schwarzen 

I Bären- Häuptling  gegen  seine  Qrossmatter,  verwundete  sie  und 

f veranlasste  hierdurch,  dass  sie  die  Katamenieu  bekam.  Seit 
dieser  Zeit  sind  die  Weiber  damit  behaftet. 

Üass  auch  die  Neu-Britannier   mit   dem    Auftreten 

[der  Menstruation  Übernatürliche  Gewalten  in  Verbindung 
bringen,  das  beweist  eine  ihrer  phantastischen  Holzschnitze- 
reien, die  das  kgL  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin  be- 
sitzt Dieselbe  wurde  von  der  Südsee-Expeditiou  der 
Gazelle  mitgebracht    (Fig.  214) 

Eme  grotesk  geschnitzte  weibliche  Figur  mit  deutlich 
markirtem  Munde,  breiter,  gebogener  Käse  und  sehr  grossem 

[Auge    trägt    über   dem    wolligen    Haare    eine    grosse    Kopf* 

ibedeckung    in   Form  einer  Schnecke,   deren   Windungsspitze 

'die  Spitze  dieses  absonderlichen  Hutes  bildet.  Das  sehr 
grosse  Ohr  reicht  vom  äusseren  Augenwinkel  bis  zum  unteren 
Bande  des    Unterkiefers   herab,    entwickelt    dann  aber  noch 

[010  grosties  Ohrläppchen  von  der  Form  eines  spitzwinkligen 

I  Dreiecks,  dessen  Spitze  die  Schulter  erreicht.  Dasselbe  be- 
sitzt eine  grosse  Durchbohrung  von  ebenfalls  dreieckiger 
lorm,  welche  dem  äusseren  Umfange  des  Ohrläppchens  con- 
gruent  ist. 

Die  Person   liegt  auf  dem  Rücken,   bat  die  Arme  im 

^  Ellbogengelenke  rechtwinklig  gebeugt  und  die  Hände  um- 
fassen das  untere  Ende  je  einer  Mamma,  welche  schmal,  lang 
und  in  einer  stumpfen  Spitze  auslaufend,  in  ihrer  Form  an 

(Gurken  erinnernd,    von  dem  Brustkörbe  bis  zur  Grenze  des 

[Epigastrium  und  Mesogastrium  herabreichen*  Ütt  Bauch 
tritt  spitzig  hervor  und  besitzt  einen  grossen,  convexen 
Nabel  Die  Beine  sind  in  den  Hüft-  und  Kniegelenken  leicht 
gebeugt.  Aus  den  Geschlechtsth eilen  ragt,  die  Schamspalte 
vollständig  ausfüllend,  ein  rothgeförbtes  Gebilde  hervor, 
welches  man  in  seiner  Form  am  besten  mit  einem  Apfel- 
ainensegmente  vergleichen    kann.     Dieses  Gebilde  packt  ein 

[Vogel  mit   seinem  grossen,   gebogenen    Schnabel,    als   wenn   Fig,  214.    üoizg^^ohniuus 
er  es  aus  den  Schamtheilen  herauszerren  wollte.     Auf  seinen   ßTi^Jinfe^f^Ui^her^ 
halb  vom  Körper  abgehobenen  Flügeln  ruhen  die  Füsse  der  Vog«i  «tww  \m  den  o<*- 
Frau,    Bei    diesem  Vogel    läsat    die   Form    des    Kopfes    und    M^'^i^^Vilr^'wa^^^^^ 
namentlich   eine   charakteristische  Verdickung  auf  der  Über-      ^"^^Tn  Beril'ii.r  "° 
Seite    des  Schnabels    keinen  Zweifel    darüber    bestehen,    daas       (Nach  Fiwtographi*.) 
lier   der  Künstler  den  Nashornvogel   hat   darstellen   wollen, 
(reicher  in  den  mystischen  Anschauungen   der  Neu-Britannier  eine  so  hervor- 

^ragende  Rolle  spielt  Er  ist  es  hier,  der  aus  den  Genitalien  des  Weibes  das 
Menstruationsblut  mit  seinem  Schnabel  herausholt  Die  ganze  Gruppe  ist  in  der  auf 
Neu- Britannien  gebräuchlichen  Weise  weiss,   roth  und  schwant  bemalt;  sie  ist 

ivon  leichtem  Holze  gefertigt   und  besitzt  eine  Länge   von  ungefähr  einem  Meter. 
Von  der  Neu-Guinea-Compagnie  sind  dem  kgL  Museum  für  Völkerkunde 
in  Berlin  einige  lange  Planken  mit  Holzschnitzereien  käuflich  tiberlassen  worden. 

25* 


LT'.ll 


888 


11  I 


Fif];.  215.  Uolzf^eMChnitzte 
weibliche  Figur  auf 
einer  Planke  aus  Neu- Gui- 
nea. Kin  (nicht  vollständig 
ilargest eilte«)  Krokodil  packt 
den  Kojif  der  weildichen 
Figur,  während  ein  zweites 
Krokodil  mit  dem  Maule 
etwas  aus  ihren  Oeschlechts- 

t heilen  zieht. 

(Museum  für  Völkerkunde  in 

Berlin.) 

(Nach  Photographie.) 


XIII.  Die  Menstruation  im  Volkaglanben. 

welche  aus  der  Dorfschaft  Suam  in  der  Umgebung  von 
Finsch-Hafen  auf  Neu -Guinea  stammen.  Sie  waren  in 
horizontaler  Richtung  an  einem  Hause  als  Verziemng  an- 
gebracht, ungefähr  1^/2  m  von  dem  Erdboden  entfernt 
Dieses  Haus  diente  nach  der  brieflichen  Angabe  des  Sta- 
tionsvorstehers Menteel  einem  ganz  besonderen  Zwecke.  «Es 
wurden  darin  junge  Mädchen  im  Alter  von  8  bis  12  Jahren 
von  einer  Alten  bewacht,  und  war  der  Eintritt  mir  wie 
auch  den  unverheiratheteu  Eingeborenen  verwehrt  Möglich, 
dass  man  es  hier  mit  einer  Herberge  fQr  Jungfiranen  ante 
menses  zu  thun  hat.  Darauf  deuten  auch  die  Schnitzereien 
hin.**    Die  Planken  sind  mehrere  Meter  lang. 

Die  eine  der  Planken  (VI.  10  521)  zeigt  links  ein 
grosses,  fast  voll  ausgeschnitztes  Krokodil,  in  dessen  Schwanz 
ein  flacher,  breiter  Fisch  sich  festgebissen  hat.  Das  Kroko- 
dil packt  mit  seinem  Maule  von  oben  her  den  viereckigen, 
seitlich  mit  Federn  geschmückten  Hut  einer  grotesk  ge- 
schnitzten kleinen  Weibsperson.  (Fig.  215.)  Dieselbe  hat 
ein  grosses  Gesicht  mit  lang  ausgezogenem  spitzen  Kinn, 
welches  fast  bis  zu  der  Magengrube  herabreicht.  Die  Schul- 
tern sind  hochgezogen  und  reichen  weit  an  dem  Gesichte 
herauf.  An  jeder  derselben  ist  an  der  Vorderflache  ein 
kleines  Kreisomament  angebracht,  durch  welches  ohne 
Zweifel  die  Brustwarzen  angedeutet  werden  sollen.  Ein 
etwas  grösserer  Kreis  markirt  den  Nabel.  Die  Hände  liegen 
in  der  Leistengegend,  als  wollten  sie  die  Schamlippen  aus- 
einanderziehen, um  die  Rima  pudendi  zum  Klaffen  zu  bringen. 
Die  kurzen  Beine  sind  leicht  gespreizt  und  lassen  die  finger- 
breit klafl'ende  Vulva  deutlich  übersehen.  Von  rechts  her 
kommt  ein  zweites  Krokodil,  an  Grösse  dem  ersten  gleich, 
mit  lauggestreckter  schmaler  Schnauze,  deren  Spitze  es  in 
die  Vulva  der  Frau  gesteckt  hat.  Dass  dieses  wirklich  die 
Schnauze  und  nicht,  wie  man  bei  der  Rohheit  der  Aus- 
führung glauben  konnte,  der  Schwanz  des  Thieres  ist,  das 
wird  durch  zwei  seitlich  angebrachte  kleine  Kreise  bewiesen, 
welche  sicherlich  die  Augen  des  Thieres  vorstellen  sollen. 
Alle  Figuren  sind  weiss,  roth  und  schwarz  gefärbt. 

Das  Brett  VI.  10523  a,  b  zeigt  eine  im  Hochrelief 
geschnitzte,  groteske  menschliche  Figur.  Dieselbe  hat  anf 
dem  Kopfe  einen  fast  quadratischen  Hut,  von  dessen  Seiten 
kurze  Federn  abgehen.  Von  der  Oberfläche  des  Hutes  aus 
entwickelt  sich  nach  dem  Ende  der  Planke  zu  ein  ganz 
flach  geschnittener  sehr  hoher  Aufsatz,  der  in  seiner  Form 
an  einen  Fisch  mit  breitem  Schwänze  erinnert.  Die  kurzen 
Beine  der  menschlichen  Figur  sind  im  Knie  leicht  ge- 
krümmt und  so  gestellt,  dass  man  die  Genitalien  übersehen 
kann.  Die  Hände  liegen  in  der  Leistengegend,  als  wollten 
sie  die  Besichtigung  der  Genitalien  erleichtem.  Letztere 
sind  weiblich,  die  Schamspalte  ist  gross  und  klaffend  nnd 
aus  ihrer  der  hinteren  Commissur  benachbarten  Abtheilong 
kriecht  ein  Thier  hervor  mit  schmalem,  rundlichem  Leibe, 
wie  derjenige  einer  Schlange,  und  mit  grossem,  breitem, 
rautenförmigem  Kopfe.  Von  diesem  sowohl,  wie  auch 
von   den  oberen  Abtheilungen  des  Schlangenleibes    gehen 


100.  Der  Glaube  von  dem  Unprurig  der  Menstruation. 

.flache,  seitliche  Fortsätze  aus,  welche  an  Federn    oder  an 
^ischflosaen  erinnern.     (Fig.  216.) 

Während  dieses  alles  in  der  Längsrichtung  der  Planke 
liegt,  wird  die  Mitte  derselben  durch  eine  quergestellte 
deine,  ebenfalls  weibliche  Figur  eingenommen.  Dieselbe 
bat  die  in  der  Höfte  und  ira  Knie  ad  maximum  flectirten 
)eine  vollständig  nach  den  Seiten  gekehrt,  so  daas  die 
**U8asohlen  mit  dem  Sitzknorren  in  gleicher  Linie  liegen 
and  da&s  der  Kopf  sich  zwischen  den  Knieen  befindet.  Die 
lulvA  ist  klaffend  dargestellt  und  aus  derselben  kommt 
Bin  roth  gefärbter  Gegenstand  von  rhombischer  Gestalt 
berror,    (Fig.  217.) 

Der   andere   Seitentheil    der   Planke    wird    von  einer 
ieder  in  der  Längsrichtung  angebrachten  Reliefdarstellung 
eingenommen,    welche   fast    vollständig    das   Gegenbild   der 
IUI  der  ersten  Hälfte  befindlichen  ist.      Es   ist  eine  weib- 
liche Gestalt  mit  klaffender  Vulva,    aus  welcher  gegen  die 
litte    der    Planke    hin    ein    schlangenartiges    Wesen     mit 
jrosaem  rhombischen  Kopfe  kriecht.     Die  Hände  der  Frau 
ihen    auf    der    obersten    Abtheilung   der   vorderen   Ober- 
chenkelfläche ;  der  Kopf  trägt  den  quadratischen  Hat  und 
von  diesem  aus  entwickelt  sich  der  hohe,  flache  Aufsatz,  der 
an  einen  grossen  Fisch  mit  breiter  Schwanzflosse   erinnert. 
Auf    dem    Brett   VI.  10  522   befindet    sich    links    ein 
ro88er,  flach  geschnittener  Fischleib,  wie  wir  ihn  auf  der 
rorigen  Planke  auf  den  quadratischen  Hüten  sahen.    Er  ent- 
pringt  hier  aber  nicht  von  solchem  Hut,  sondern  er  steht 
der  Concavität    eines    grossen    Halbmondes,    an    dessen 
[^onvexitlit    zwei    Menschen  köpfe    neben    einander    hängen. 
Mitte  der  Planke  nimmt  ein  kleiner,  in   hohem  Relief 
tinittener    Mensch    ein^    mit   breitem    Kopf   und    lang- 
aiiflgezogenem  Untergesicht«   Von  dem  Kopfe  stehen  seitlich 
^radiär  kleine    Federn    ab    und    von    dem    Scheitel    gehen 
^öi   sehr   gronse  Fddern  (ähnlich   den  Schwanzfedern   des 
eien^ogels)  gerade  nach  oben  mit  leicht  eingerollter  Spitze, 
tinen    K5rper  besitzt  diese  kleine  Menschengestalt  eigent- 
überhaupt  nicht,  die  Beine  sitzen  gleich  am  Kopfe;  sie 
tehen    aus  einander,  aber  von   den  Genitalien    findet    sich 
keine  Andeutung.     An  der  Stelle,   wo  diese  sitzen  mUssten, 
kriecht  aus  der  Vereinigungsstelle  der  Oberschenkel  in  der 
Mittellinie  eine  kleine  rundliche  Schlange  mit  abgesetztem, 
schmalem  Kopfe   hervor.     Oberflächlich   betrachtet,    könnte 
_man   diese  auch  fllr  einen  Penis  ansehen.     Da  jedoch   ein 
lodensack  fehlt  und  da  bei  den  anderen  menschlichen  Ge- 
ilten   an    der  analogen   Stelle  Schlangen   aus    dem   Leibe 
kervorkriecheu  I  die  in  ähnlicher  Weise  dargestellt  sind,  so 
3U88  auch   mit    grösster  Wahrscheinlichkeit    dies    Gebilde 
ils  Schlange    und   nicht  als  Penis  gedeutet   werden.      Der 
fechte  Theil  der  Planke  wird  wieder  durch  eine  ganz  ähn- 
Vli^   Darstellung    eingenonmien ,    wie   wir   sie    bereits  auf 
len   beiden   Seitentheilen  der  vorigen    Planke  kennen    ge- 
tmt  haben.    Eine  groteske,    in    hohem   Relief  geschnitzte 
Prau  hat   auf  ihrem  nach   dem   lateralen   Ende   hingerich- 
eten    Ko[)fe    einen    quadratischen    Hut    mit    seitlich    ab- 


w  n  i  b  1  i  c  b  e  F  i  g  a  r  «of 
einer  Flanke  «na  Nea-Oni- 
na».  Aa.^  fkn  Oeschleobta- 
theUen    eintsr   Frsn    kriecht 

eine  Schliuig«  bervor. 

iMoseiuD  für  Völk«irkuiide  Iti 

B  erlitt.) 

lK»cb  Pbotö^TAtihi»' 


390 


XIIL  Die  Menstruation  im  Yolksglüubeu. 


gehenden  Federn.     Auf  dem   letzteren   befindet  sich   wiederum  d€ 
geschnitzte  Aufsatz  in  Gestalt  eines  Fischleibes.    Die  Hände  der  Frau  Hegen  oben 
auf   den  etwas   aoseinanderstehenden  Schenkeln,   zwischen  denen  sich  eir       -  ^?e, 
kl&ffende  Vulva   befindet.     Aus  dieser   und  zwar  aus  ihrer  hintersten  A  ig 

kriecht  eine  Schlange  hervor  mit  schmalem,  rundlichem  Leibe  und  breite j  n- 

fcirmigem  Kopfe,   von   dem  seitlich  ganz  flach  geschnitzte  federartige  G'  ii>- 

gehen.  Innerhalb  der  Vulva  scheint  vom  Schlangenleibe  noch  nach  obtm  etwa« 
in  die  Höhe  zu  gehen,  so  das»  diese  Stelle  auch  an  eine  Haifischschw»n7t^^— 
erinnert. 


I 


Fig,  217,     Ilolz^eaehuil  zt»^  w«^i  bliebe  Figur,     Eelief  von  *iiner  litü*ke  uuh  liti  0\'giiti4 

\oft  Fiusi  h-U*fen,  Neu- Guinea. 

(Itufieam  für  Völkcrkimde  in  BerUn.)    (Nacta  Photogtmphi«^) 

Auch   auf  Rudern  aus   Neu^Ouinea  finden  sich    bisweilen  Hhnliche  Dar- 
sFellungen,  Wo  der  Stiel  an  die  Ruderschaufel  ansetzt,  befindet  sich  auf  d»-  '  >*n 

eine   erhaben  geschnitzte,   rohe,  weibliche    Figur  (ungefähr  12 — 18  cm   i  üit 

gespreizten  Beinen  und  klaffenden  Geschlechtstheilen.  Die  Hände  sind  auf  die 
Oberschenkel  gelegt,  dicht  an  deren  Ursprung  am  Unterleib.  Zwischen  den  Beinen 
dieser  Figur  ist  in  flacherem  Relief  eine  kriechende  Schlange  dargestellt,  düren 
Form  auf  jedem  Ruder  kleine  Abweichungen  nachweisen  lässt.  Die  Schlange 
kriecht  in  den  meiftiten  Fällen  unmittelbar  aus  den  Genitalien  heraus.  Bei  einem 
Ruder  vom  Uuon-Golf  schlängelt  sie  sich  aber  umgekehrt  gerade  in  di«  VuItb 
hinein.  Solche  Stücke  finden  sich  im  Museum  für  Völkerkunrb^  '"  RMrl^n  i^^d 
im  Ethnographischen  Museum  in  München. 


101*  Anderweitiger  Henstraations-Aberglaiibe. 

Das  vorliegende  Kapitel  kann  ich  nicht  schliessen,  ohne  noch  einiger 
(»onderlieher  abergläubischer  Anschauungen  zu  gedenken,  welche  ebenfu^ 
Menstruation  zu  ihrem  speciellen  Gegenstande  haben« 

Wenn  bei  den  alten  Iranern  das  Weib  noch  nach  9  Tagen  Spuren  11 
ßlutflusaea  zeigte,  so  war  man  fest  davon  Qberzeugt,  dasa  sie  unter  der  Einwirkunir 
böser  Geister  stand.  Sie  wurde  dann  mit  400  Schlägen  bestraft  und  ullerl  '•  '  '  ^^^ 
Ceremonien  mit  Wasser  und  Kuhharu  wurden  in  ihrer  Umg«^lning  «.^o. 

Auch  mussten  zur  weiteren  Sühnung  Ameben  und  andere  »chlUlliciie  rhiere  erlogt  | 
werden. 

Die  Zigeuner  glauben, 

ydaa»  die  Hexen  jöd«r  Prorinx  ihren  ,&onntag*  m  dor  i  rmta^jnacUt  *Aüf  ein«im  ^Moitil- 


101.  Anderweitiger  MeDstruations-Aberglaabe.  391 

berge*  abhalten;  ebenso  erneuern  sie  ihren  Bund  mit  dem  Teufel  jedes  siebente  Jahr  auf 
einem  solchen  Berge,  indem  sie  sieben  Jahre  lang  ihr  Mentruationsblut  sammeln  und  ihm 
auf  einem  solchen  Berge  zu  trinken  geben.  Manchmal  sieht  man  auch  auf  diesen  Bergen 
Steine,  die,  wenn  man  sie  mit  Wasser  begiesst,  blutigroth  werden,  was  daher  kommt,  dass 
der  Teufel,  während  er  dies  Blut  schlfirfte,  etwas  davon  auf  den  Stein  vergoss."  (v,  WUslocki^.) 

Vielfach  haben  wir  die  Vorschrift  getroffen,  dass  die  Mädchen  bei  der 
ersten  Regel  sich  besonderen  Speiseverboten  unterwerfen  mussten.  Bei  manchen 
Volksstämmen  ist  das  auch  bei  jeder  späteren  Menstruation  der  Fall,  so  z.  B.  nach 
t;.  Azara  bei  den  Mayas  und  nach  Rengger  bei  den  Payaguas;  die  verheira- 
theten  Frauen  der  ersteren  dürfen  überhaupt  niemals  Fleisch  von  Kühen  und  Ochsen 
geniessen;  während  der  Menses  ernähren  sie  sich  lediglich  von  Gemüsen  und  Obst, 
sie  vermeiden  zu  dieser  Zeit  Alles  was  fett  ist,  denn  sie  glauben,  dass  nach  dem 
Genuss  von  Fett  in  dieser  kritischen  Zeit  Hörner  aus  ihrer  Stirn  wachsen  würden. 

Interessant  ist  auch  noch  eine  Anschauung,  weil  wir  sie  in  fast  überein- 
stimmender Form  wiederum  bei  zwei  weit  von  einander  wohnenden  Völkerschaften 
finden.  In  Portugal  nämlich  existirt  nach  Reys'  Angabe  der  Glaube,  dass  die 
Frauen,  wenn  sie  von  ihrer  Menstruation  befallen  sind,  von  den  Eidechsen  ge- 
bissen werden,  und  um  sich  vor  dieser  Gefahr  zu  schützen,  pflegen  sie,  solange 
der  betreffende  Zustand  andauert,  Hosen  zu  tragen.  Ganz  etwas  Aehnliches  nun 
vernehmen  wir  durch  Schomburgk  von  den  Macusi-Indianern  in  Britisch- 
Guyana.  Bei  ihnen  dürfen  die  menstruirenden  Frauen  und  Mädchen  den  Wald 
nicht  betreten,  weil  sie  sonst  den  verliebten  Angriffen  der  Schlangen  ausgesetzt 
sein  würden.  Sollte  in  diesen  beiden  Fällen  nicht  eine  ursprüngliche,  uralte 
mystische  Anschauung  zu  Grunde  liegen,  ganz  ähnlich  derjenigen,  welche  uns  die 
weiter  oben  beschriebenen  plastischen  Darstellungen  von  Neu- Britannien  und 
Neu- Guinea  vorgeführt  haben?  Es  möchte  mir  scheinen,  als  ob  es  sich  hierum 
den  Glauben  handelt,  dass  ursprünglich  bei  dem  ersten  Weibe  die  Menstrualblutung 
durch  ein  Thier  verursacht  worden  sei,  welches  dem  Mädchen  eine  Bisswunde  an 
den  Geschlechtstheilen  beigebracht  habe.  Nur  über  die  Thierspecies  schwanken 
die  Ansichten.  In  Portugal  war  es  die  Eidechse,  in  Neu-Guinea  das  Krokodil, 
in  Guyana  die  Schlange  und  in  Neu-Britannien  der  Nashornvogel.  Dass  dieser 
Biss  nicht  ein  eigentlich  feindseliger  Angriff  war,  sondern  dass  er  mehr  in 
erotischer,  verliebter  Ekstase  ausgeführt  wurde,  das  mag  vielleicht  aus  den  Besorg- 
nissen der  Macusi-Indianerinnen  hervorgehen. 

Jedenfalls  verdient  es  aber  noch  hervorgehoben  zu  werden,  dass  wir  die 
Schlange  nicht  allein  bei  den  Indianern  in  Guyana  als  zu  der  Menstruation  in 
Beziehung  stehend  vorfinden,  denn  wir  haben  ja  auch  auf  den  sculptirten  Planken 
aus  Neu-Guinea  Schlangen  aus  den  Genitalien  der  Weiber  hervorkriechen  sehen. 
Aber  auch  bei  den  Basutho  in  Nord-Transvaal  sahen  wir,  dass  die  zu  der 
Koma  vereinigten  halbreifen  Mädchen  um  eine  aus  Lehm  gebildete  Schlange 
tanzen  müssen,  und  selbst  in  Deutschland  glaubte  man  im  18.  Jahrhundert, 
wie  ich  berichtete,  dass  ein  der  Menstruirenden  ausgerissenes  und  in  den  Mist  ver- 
grabenes Haar  sich  in  eine  Schlange  umwandele.  Warum  es  immer  die  Schlange 
ist,  vermag  ich  heut  noch  nicht  in  befriedigender  Weise  aufzuklären. 


XIV.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 

102.  Die  Beziehungen  des  Weibes  zum  männlichen  Geschlecht. 

Je  höher  ein  Volk  in  der  Cultur  steht,  um  so  geistiger  und  sittenreiner  ist 
das  Band,  welches  beide  Geschlechter  mit  einander  verknüpft.  Bei  den  rohesten 
Völkern  ist  das  Yerhältniss  ein  sinnliches  und  es  kommen  da  fast  nur  die  Triebe 
zur  Geltung,  die  auch  beim  Thiere  eine  bald  länger,  bald  kürzer  dauernde  Ver- 
bindung zwischen  den  Geschlechtem  herstellen.  Dann  kann  uns  aber  auch  nicht 
auffallend  erscheinen,  wenn  dergleichen  Völker  ruhig  gestatten,  dass  schon  bei 
Kindern  der  kaum  erwachende  Trieb  mit  einer  Freiheit  befriedigt  wird,  die  wir 
selbst  als  freche  Unzucht  bezeichnen,  die  von  den  Erwachsenen  dort  aber  als 
«Spielen''  aufgefasst  wird.  Eine  Zurückhaltung  von  beiden  Seiten  gebietet  die 
herrschende  Sitte  bei  Culturvölkem,  denen  noch  nicht  durch  üebercultur  die  Ethik 
abhanden  gekommen  ist;  dagegen  begegnen  sich  mit  der  naivsten  Hingebung 
Knaben  und  Mädchen  unter  vielen  Naturvölkern. 

Auf  Madagascar  stören  und  hindern  nach  Audebert  die  Eltern  ihre  Kinder 
nicht;  und  bei  den  Basuthos  in  Süd-Afrika  giebt  es  nach  Missionar  GriUzner 
„neben  der  sanctionirten  Hurerei  eine  heimliche,  welche  die  kleinsten  Kinder  treiben, 
und  wobei  die  Knaben  den  Mädchen  Perlen,  Messingdraht  u.  s.  w.  als  Hurenlohn 
geben".  Für  den  unbehinderten  Geschlechtsverkehr  der  herangewachsenen  Jugend 
werden  wir  ebenfalls  zahlreiche  Beispiele  kennen  lernen.  Von  dieser  untersten 
Sprosse  kann  man  die  Stufenleiter  bis  zu  derjenigen  Höhe  der  civilisirten  Zustande 
verfolgen,  wo  sich  zwischen  Jüngling  und  Mädchen,  sowie  zwischen  Mann  und 
VP'eib  das  reine  Gefühl  der  Liebe  und  Achtung  herstellt,  und  wo  die  Würde  der 
Frauen  in  ihr  moralisches  Recht  eingetreten  ist. 

Bei  der  culturgeschichtlichen  Betrachtung  der  Verhältnisse,  die  wir  im  sitt- 
lichen Verhalten  der  Volker  vorfinden,  müssen  wir  uns  vor  allem  frei  halten  von 
der  Neigung,  jede  Erscheinung  von  unserem  eigenen  Bildungszustande  ans  zu 
betrachten  und  mit  einem  Maassstabe  zu  messen,  wie  wir  ihn  bei  unseren  Stammes- 
genossen anzulegen  gewohnt  sind.  Hierdurch  würde  unsere  Beurtheilung  auf  er- 
hebliche Irrwege  gerathen,  und  unser  subjectives  Gefallen  oder  Missfallen  an  den 
Gewohnheiten,  wie  wir  sie  bei  den  Naturvölkern  finden,  giebt  uns  gar  za  lacht 
eine  schiefe  Stellung  zu  der  Sache.  Es  ist  uns  gerade  auf  dem  (Gebiete,  das  wir 
nunmehr  zu  betreten  haben,  vorzugsweise  eine  ganz  objective  Auffassung  geboten. 
Wir  müssen  die  Frage  zu  entscheiden  suchen,  ob  gewisse  Begriffe,  die  wir 
uns  bei  unserem  Bildungsgrade  vom  Weiblichen  in  ethischer  Hinsioit  geschaffen 
haben,  eingepflanzt  sind  schon  in  das  ursprüngliche  Gefühl  und  Denken  des 
Menschen?  Liegen  die  Begriffe  der  Schamhaftigkeit,  der  Keuschheit  nnd 
die  Werthschätzung  der  Jungfräulichkeit  schon  vorgebildet  in  der  Psyche  dos 


108.  Die  Schamhaftigkeit  der  Weibet.  393 

Menschen?  Unter  welchen  Formen  und  Erscheinungen  treten  sie  uns  bei  den 
Natnrvölkem  entgegen?  Wie  haben  sich  solche  B^riffe  dann  mit  der  Gesittung 
weiter  entwickelt,  oder  wie  sind  sie  später  wieder  verwischt  worden?  Dies  Alles 
sind  Fragen  der  Ethik  und  Culturgeschichte,  die  uns  im  Folgenden  beschäftigen 
müssen. 

Nächstdem  werden  wir  zu  ergründen  suchen,  wie  sich  das  sexuelle  Verhalt- 
niss  des  Weibes  zum  Mann  gestaltet  hat,  und  was  für  Thatsachen  wir  in  dieser 
Beziehung  bei  den  Naturvölkern  nachzuweisen  vermögen.  Manchen  socialen  und 
geschlechtlichen  Yerirrungen  werden  wir  nach  unseren  Begrififen  begegnen,  und 
auch  die  Ehe  wird  uns  dabei  in  ungewohnten  Formen  entgegentreten.  Die  Liebe 
und  die  künstliche  Erweckung  derselben,  die  verschiedenen  Formen  des  Verlöb- 
nisses, das  Heirathsalter,  die  Zeugung,  die  Befruchtung  und  Empföngniss  müssen 
wir  ebenfalls  genauer  studiren.  Denn  wir  sind  leider  noch  weit  entfernt,  diese 
Fragen  endgültig  beantworten  zu  können.  Aber  einiges  Material,  um  sie  ihrer 
Lösung  entgegenzufuhren,  sollen  die  folgenden  Abschnitte  bringen. 


103.  Die  Schamhaftigkeit  des  Weibes. 

Ein  dunkles  Gesammtbewusstsein  hat,  wie  der  Psycholog  Lotee  bemerkt,  in 
der  beginnenden  sittlichen  Ausbildung  die  verschiedenen  Arten  der  Scham  erzeugt, 
«durch  die  das  menschliche  Geschlecht  überall  die  Naturbasis  seines  geistigen 
Daseins  zu  verhüllen  sucht,  und  da  am  meisten,  wo  sie  zu  den  zartesten  und 
geistigsten  Gütern  der  Liebe  und  des  Lebens  die  allersinnlichste  Vermittelung 
bildet ''.  Man  hat  das  Gefühl  der  Schamhaftigkeit  als  den  ersten  Grad  der  sitt- 
lichen Regung  aufgefasst,  die  in  den  Menschen  erst  dann  einzieht,  wenn  für  ihn 
die  niedrigsten  Stufen  der  Cultur  bereits  ein  überwundener  Standpunkt  sind. 

Ganz  ähnlich  sind  die  Anschauungen  PescheVs^  welcher  den  folgenden  Satz 
aufstellt : 

«Brauch  und  Sitte  entscheiden  über  Verdtattetes  und  AnstOssi^es,  und  erst  nachdem  sich 
eine  Ansicht  befestigt  hat,  wird  irgend  ein  Verstoss  zu  einer  verwerflichen  Handlung.  Das 
Schamgefühl  hat  sich  noch  gar  nicht  geregt,  es  herrscht  also  Nacktheit  beider  Geschlechter 
bei  den  Australiern,  bei  den  Andamanen,  bei  etlichen  Stämmen  am  weissen  Nil,  bei  den 
rohen  Negern  des  Sudan  und  bei  den  Buschmännern.  Durchaus  irrig  wäre  die  An- 
nahme, dass  sich  das  Schamgefühl  früher  beim  weiblichen  Geschlecht  rege  als 
beim  männlichen,  denn  die  Zahl  solcher  Menschenstämme,  bei  denen  die  Männer  allein 
sich  bekleiden,  ist  nicht  unbeträchtlich.  Am  Orinoco  versicherten  Missionare  unHorem 
Alexander  von  Humboldt,  dass  die  Weiber  weit  weniger  Schamgefühl  zeigten  als  die  Männer. 
Bei  den  Obbo-Negern  am  Albert-See  besteht  die  Bedeckung  der  Frauen  in  einem  Laub- 
büschel,  während  die  Männer  einen  Fellschurz  tragen  u.  s.  w.' 

Solche  Ansichten  sind,  wie  ich  glaube,  weit  davon  entfernt,  das  Richtige 
zu  treffen.  Bei  den  allerniedrigsten  Naturvölkern  bereits  finden  wir  unzweideutige 
Zeichen  eines  entwickelten  Schamgefühls.  Man  muss  in  dieser  Beziehung  ausser- 
ordentlich vorsichtig  mit  seinem  Urtheile  sein,  und  man  darf  vor  allen  Dingen 
nicht  in  den  Fehler  verfallen,  dass  man  einen  Mangel  an  Bekleidung  mit  einem 
Mangel  an  Schamhaftigkeit  identificire.  Die  völlige  oder  fast  vollständige  Nackt- 
heit vieler  Stamme  unseres  Erdkreises  ist  sehr  wohl  mit  einem  hohen  Grade  von 
Decenz  vereinbar  und  thatsächlich  auch  damit  verbunden;  während  andererseits 
die  Bekleidung  durchaus  noch  keine  Garantie  fär  das  Bestehen  einer  ausgebildeten 
Schamhaftigkeit  abgiebt. 

Ganz  neuerdings  hat  Heinrich  Schürte  den  Satz  aufgestellt:  ^Das  Scham- 
gefühl ist  nicht  etwas  zuföUig  und  nebenher  Entstandenes;  es  ist  vielmehr  eine 
nothwendige  Folge  einer  gesellschaftlichen  Entwickelung  der  Menschheit,  und  die 
Kleidertracht  ist  nichts  anderes,  ab  die  äussere  Andeutung  eines  seelischen  Vor- 
gangs:   sie  geht  parallel  dem  Entstehen  eines  geschlechtlichen  Alleinbesitzes,  mit 


394  XIV.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Creschlechtsleben. 

anderen  Worten  der  Ehe/  Mit  der  Entstehung  der  Einzelehe  bilden  sich  fest 
geregelte  Verhältnisse  der  einzelnen  Frau  zu  dem  einzelnen  Manne;  dieser  wahrte 
eifersüchtig,  während  die  XJnverheiratheten  der  Bewerbung  freigegeben  waren, 
das  mit  ihm  verbundene  Weib  für  seine  Person  und  hatte  das  grösste  Interesse, 
dass  es  andere  nicht  anlockte;  unter  dem  Zwange  einer  solchen  Eifersucht  entstand 
die  Kleidung,  die  auch  in  ihrer  primitivsten  Art  symbolisch  ausdrückte,  dass  die 
Gattin  nur  ihrem  Gatten  angehöre.  Am  ersten  und  am  stärksten  bekleidet  er- 
scheint deshalb  zuerst  auch  die  verheirathete  Frau. 

Diesen  von  Karl  von  den  Steinen  reproducirten  Anschauungen  von  Schürte 
tritt  der  erstere  in  einem  Artikel  des  Ätidandes  entgegen,  gestützt  auf  seine  Er- 
fahrungen, welche  er  unter  einer  Anzahl  von  beinahe  oder  gänzlich  nackt  gehenden 
Indianer-Stämmen  Brasiliens  gesammelt  hat.  Er  ist  der  Meinung,  .dass  der 
Mensch  zu  einer  Zeit,  wo  er  das  physiologische  Schamgefühl  schon  voll  besitzt,  wo 
er  den  Act  versteckt,  noch  nicht  daran  zu  denken  braucht,  die  Organe  zu  verbergen, 
sondern  eher  als  ein  anatomisches  Schamgefühl  ein  InteressegefÜhl  ffir  dieselben 
hat,  das  theils  auf  einer  bei  geringer  Yolkszahl  und  niederer  Culturstufe  nodi 
lebensfähigen  ganz  gesunden  Unbefangenheit,  theils  auf  Nützlichkeitsgründen,  theils 
auf  dem  Schmuckbedürfniss  beruht.  Ich  beantworte  meinerseits  also  die  Frage: 
haben  alle  Naturvölker  Schamgefühl  und  Kleidung  ?  Physiologisches  SchamgeftLhl 
haben  wenigstens  die  allermeisten  und  haben  es  in  Folge  einer  einst  sehr  zweck- 
mässigen, den  Fortschritt  begründenden  Verheimlichung  des  geschlechtlichen  Einzel- 
verkehrs; zum  anatomischen  Schamgefühl  sind  viele  noch  nicht  gekommen,  und 
diese  haben  „Kleidung''  nur  in  dem  Sinn,  dass  man  darunter  den  Schutz  und  die 
Ausschmückung  des  Sexualapparates  versteht,  dessen  Verheimlichung  dem  Yor- 
stellungskreis  der  Naturkinder  noch  gänzlich  fern  liegen  kann." 

Karl  von  den  Steinen  fand,  dass  dieselben  Leute,  deren  Schambekleidung 
derartig  gewählt  war,  dass  sie  so  recht  die  Aufmerksamkeit  auf  die  nur  unvoll- 
ständig verhüllten  Theile  lenken  musste,  in  tiefer  Beschämung  die  Köpfe  senkten, 
als  er  so  schamlos  war,  in  ihrer  Gegenwart  einen  Bissen  zu  essen,  den  sie  ihm 
soeben  als  Geschenk  übergeben  hatten. 

Es  muss  daher  als  durchaus  unrichtig  bezeichnet  werden,  wenn  man  als 
allererstes  Zeichen  der  weiblichen  Schamhaftigkeit  das  Verhüllen  der  Schamtheile 
hat  hinstellen  wollen.  Die  Schamhaftigkeit  geht  diesem  Acte  ganz  offenbar  schon 
lange  voraus.  Und  wo  wir  dann  die  Anfange  einer  Schambekleidung  finden,  da 
steht  es  immer  noch  nicht  fest,  ob  diese  ein  Verhüllen  im  ästhetischen  Sinne,  oder 
vielleicht  etwas  ganz  anderes  bewirken  soll. 

Allerdings  finden  wir  fast  immer  bei  den  wenig  bekleideten  Völkern,  dass 
die  Kinder  beider  Geschlechter  bis  zu  dem  Beginne  der  Pubertät  vollständig  nackt 
einherzugehen  pflegen.  Erst  zu  der  Zeit,  wo  die  Menstruation  beginnt,  fangt  das 
Bekleiden  der  Schamtheile  an.  Aber  bei  einzelnen  Volksstämmen  bleiben  auch 
noch  die  erwachsenen  Mädchen  ganz  nackt,  z.  B.  bei  einigen  südamerikanischen 
In  dianer- Stämmen;  und  erst  nach  erfolgter  Verheirathung  wird  das  Schamband 
angelegt.  Hier  hat  schon  Waitjs^,  ganz  ähnlich  wie  Schürte^  die  Eifersucht  der 
Männer  als  die  Ursache  der  beginnenden  Bekleidung  betrachtet,  von  den  Steinen^ 
stimmt  aber  auch  hier  nicht  zu;  er  erkennt  in  dem  Schambande  nur  eine  Vor- 
richtung, um  ein  Klaffen  der  Vulva  zu  verhindern  und  die  Schleimhaut  vor  In- 
sulten zu  bewahren,  und  er  sagt  dann: 

,Ks  ist  ferner  anzuerkennen,  dass,  die  Absicht  des  Schutzes  der  Schleimhaut  voraus- 
>?esctzt,  ein  Bedürfniss  sich  dafür  durch  das  geschlechtliche  Leben  wenigstem  steigert«,  weil 
bei  der  jungen  Frau  die  Mucosa  zugänglicher  wurde,  im  Zustande  der  Schwangerschaft  tur^ 
gescirte,  und  durch  die  Entbindung  gelockert  wurde.* 

Ich  schliesse  diese  Erörterungen  mit  dem  Hinweise  auf  den  Ausspruch  eines 
ungenannten  Anthropologen,  dem  man  gewiss  beistimmen  darf: 

,Mit  der  Ethik  ist  es  ungeachtet  mehrerer  achtungswerther  Versuche,  den  Bann  an 
durchbrechen,  noch  nicht  viel  besser  bestellt,  als  mit  vielen  anderen  Gebieten  der  «GrätM- 


104.  Das  weibliche  ScbamgeiQbl  bei  den  Natu 


395 


i^cbaften'r  welcbe  Ja  «ämmtlich  auf  psycho! ogiacher  Btuis  beruhen.     Die  Parole  hcdMt 

uelj  hier*  »elbat  bei  Yorurtbeilsloeeni  noch  Inuner;  Coijstnuren!     Zuerst  macht  man  sich  nach 

öor  Bilduog  und  Neigung,  wie  nach  UedankenÄtröaiung  dt?r  Zeit  einen  Begriff  von  Tugend 

d   Ftlichti    und    sucht    dann    dessen    geschichtliche   Kr>'9talli6ation   zu  finden  und    nnchzu- 

n.     Einzig  die    Anthropologie^   die   Kenntnis.«!  der  moralischen  Anschatiungen 

&r  Urvölker,    soweit    «ie    zu  eruiren  sind,   dann   der    noch    lebenden   Naturvölker, 

lien  sie  auch  nur  Rudera  älterer  Stämme  und  Rassen,   kann  hier  therapeutisch  und  corri- 

lirend  wirken.* 


104.  Da8  wcnklielie  SehitingerUhl  bai  den  Naturyölkerti, 

Wollen  wir  die  ThateÄchen,  die  über  dos  Schamgefilhl  des  weiblichen  Ge- 
plilccbts  bei  den  verschiedenen  Volksstiimraen  beobachtet  werden  konnten,  einer 
päheren  Mnsterunj^  unterziehen,  8o  beginnen  wir  wohl  am  besten  mit  den  in  der 
Itur  tief  stehenden  Rasseu»  Auch  hier  ist  es  wiederum  sehr  lehrreich,  was 
faW  von  deft  Stanen-  über  die  von  ihm  besuchten  Indianer* Stämme  in  Bra- 
ilion  berichtet,  welche  sich  bekanDtermaaseen  bei  seiner  Ankunft  noch  in  der 
Jt^inzeit  befanden: 

.Unvere  Eingeborenen  haben  keine  geheimen  Körpertbeile.  Sie  scherzen  dber  sie  in 
>^ori  und  Bild  mit  voller  rnbeiangenheit,  so  daii*8  es  thöricht  wäre,  sie  deshalb  um&nettlndig 
uenuen.  Sie  beneiden  uns  um  unsere  Kleidung  als  um  einen  werth vollen  Schmuck,  «de 
a^eu  ihn  an  und  tnigen  ihn  in  unserer  Gesellschaft  mit  einer  so  gänzlichen  Niebtaehtung 
tiserer  einfachsten  Regeln  und  einer  i^o  gänzUchen  Verkennung  aller 
piesoii  gewidmeten  Vorrichtungen^  daas  ihre  paradiesische  Ahnnngs- 
ligkeit  auf  das  AufflLlligste  bewiesen  wird.  Einige  TOn  ihneu  be- 
»hea  den  Eintritt  in  die  Mannbarkeit  für  beide  Geschlechter  mit 
lut#n  Volksfesten,  wobei  sich  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  und 
Ausgelassenheit  mit  den  , private  parts^  demonstrativ  beschäftigt.  Ein 
der  dem  Fremden  mittheilon  will,  dass  er  der  Vater  eines 
deren  sei;  eine  Frau,  die  »ich  als  die  Mutter  eines  Kindog  vor- 
will,  eie  bekennen  sich  ernsthaft  ala  würdige  Erzeuger,  indem 
Bit  der  unwillkürlichsten  und  natürlichsten  Verdeutlichung  von 
Welt  die  Organe  anfassen,  denen  das  Leben  entspringt.* 
^Die  Suya- Frauen,  die  sich  mit  Halsketten  dchmücktdn  und 
in  den  durchbohrten  Ohrlilppcbeu  dicke  band  maassartig  aufg^^roUte 
F VI mblattüt reifen  trugen,  gingen  durchaus  nackt.  Die  Trumai- 
Frauen  trugen  eine  Binde  aus  weichem»  grauweiKalichem  Batt:  fda 
war  XU  (linem  Strick  gedreht,  «o  daw  eine  Verhüllung  nur  in  den  pjg  2\i^.  b 
allerbeacboidensten  Grenzen  vorhanden  war  und  sicherlich  nicht  beab«  U  ä  d  c  h  «  n  i 
sichtigt  sein  konnte,  da  man  den  Streifen  nur  hjltte  breiter  zu  nehmen  »»**^''*  ***'  tl]  \ 
ImiQchAn.  .  .  .  Die  Boror 6- Frauen  hatten  ebenfalls  die  weiche 
grane  Baatbinde,  die  sie  während  der  Mensea  durch  eine  8chwar7,e 
ervetzten ;  nur  befestigten  sie  die  ßinde  an  einer  Htiftschnur,  .  .  Die 
Krauen    der    Karaiben,    der    Nu-Aruak    und    Tupi -Stämme    dea 

Seh ingu- Quellgebiet«  trugen  sUmmtlioh  das  dreieckige  Stückchen  starren  Rindenbaates  (das 
Durip  das  der  Verfasser  genau  beechreibt).  Sie  bedecken  gerade  den  Anfang  der  Scham- 
8palte  und  liegen  dort  fest  an.  Der  Introitua  vaginae  wird  durch  das  Dreieck  nicht  erreicht» 
lit'cr  durch  den  Gesammtdrock  von  vom  nach  hinten  verschlossen  oder  mindestens  nach  innen 
c'u  nick  geh  alten,  da  der  zwischen  den  unbehemmten  Labia  miyora  »n  der  Spalte  eingebettete 
Pjinmstreifen  scharf  angezogen  ist* 

von  den  Steinen  kommt  dann  zu  folgendem  Schlug«; 

«Den  venschiedenen  Methoden  der  Frauen  gemeinsam  ist  der  V«r9chluM,  nicht  die  Ver- 
hllllung.     Sie  halten  die  Schleimhauttheile  sturQck,  wie  bei  den  Männern  die  Glans  verhindert 
wird,    vorzutreten.     Zurückhalten    der  Schleimhaut    ist    der  allen   Vorrichtungen    beider   U^ 
'     r  gemeinsame  Effect     Das  Uluri  erreicht  ihn  bei  einer  so  weit  getriebenen  Reduction 
jkung,  dasa  die  Verbdllung  eher  möglichst  vermieden,  aU  gewiUiBcht  erscheint.     Dit^ 
i!Ciilt:uulmüt  bleibt  .  <  .  der  Aussen  weit  .  .  .  verborgen.     Kleidung«stiicke,  deren  H  ^  ^^ 

«8  wäre,  dem  Schamgefühl  zu  dienen,  kann  man  doch  nur  im  Scherz  in  jenen  Von  i 

erblicken.     Das   rothe   Fädchen    der   Trumai«    die   riarlichen  Hloris,    die  bunte  Fakn^  der 


Ver- 

tleckung    der    ScliAmtbftilo 

bc  nutze  tiiU 

(Kfecli  Photoj^r»phb4 


396 


XIY.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlectitsleben. 


Bororö  fordern  wie  ein  Schmack  die  Aufmerksiimkeit  heiuoa,  statt  Bit  absuJenken. 
Auch  bei  den  Frimen  wörde»  wenn  Schatz  der  Scbleiuihaut  darch  ihr©  Vorrl  *  i 

werden  aoUte»  dieser  Zweck  wohl  erreicht,    und  aicberUcb   besser  erreicht   iv  dek  ilo 

Verhüllung.     Die  absolut  nackten  Suy4-FrAuen  wuschen  sich  die  GeBcblecbUtUüiU  am  Fla» 
in  unserer  Gegenwart.* 

In  Bezug  auf  die  Schaiiitheile   berrscht   hier   also   keine  Scham;    und  doch 
hat  gerade  von  den  Steinen  gezeigt^  dass  diesen  Wilden,  me  wir  oben  V^Ht-'^^it« 
trotzdem  die  Empfindung  des  Schämens  nicht  fremd  ist. 

Bei    einem    gänzlich    nackten    Botoku  den -Mädchen,    welches 
photographisch   aufgenommen    hat  (Fig,  218),    erkennt    man  schon   du-  1 

Bestreben,  beim  Niedersiizen  eine  solche  Stellung  einzunebmea,  dass  die  Gemtatu 


FSg.  21^     »- ' 


oh  bodcckend.    CKach  Phot«gt«phU.) 


!urch  das  Bein  verdeckt  werden.     Auf   der  Photographie  einer  T!  '  la- 

nttrin,  welche  im  Dammann- Album   enthalten  ist,  können  vrir  l 

njerken.     Ebenso  zeigt  68  sich  auf  den    in  dern  Werke  von  It^ades  ann  lltnth 
enthaltenen  photographischen  Aufnahmen  von  Feuerländerinnen,  oh'i-'-i^  die 
ftelben,  ebenso  wie  die  Ticunas^Indianerin,  nicht  gfinzüch  narkend  ei 
eine  kleiit'  ''-  '       -lecke  tragen.    Nur  eine   > 
wurd»^    [)li  iirt,   als  sie  zufiLlHg    ihr- 

verhüllte  sich  mit  der  Hand  und  e«  wird  zu  diesem  Bütl«,*  bemerkt  it'ig,  2\i^}\ 
»La  Fig,  1   la  repr^sente  au  tmnnent  oü,  par  tmo  axception  fr      •  ^-    „n.  .:#,♦  .;,..r.^ 


104.  Das  weibliche  Schamgefühl  bei  den  Nati 

Epetit  tablier;  noire  regrett^  camarade,  M,  le  lieateaant  de  vaisseau  Fipjen,  qui  a  pris 
[  eette  Photographie,  etait  tret^  coimu  de  cetie  jeune  fttle,  mai&  ü  ne  put  jamais  obtenir  qaVlle 
ität  iia  main  droite  de  la  place  aasign^e  au  tablierv' 

Ganz    ähnlich   erging   es  r.  Bischoff  bei  den  von  ihm  in  Miinchen  unter- 
suchten P  e  ue  r  1  ä  n  d  e  r  i  n  n  e  n. 

Nur  unter  Widerstreben  konnte  er  sju  einer  «ehr  oberflächlichen  Anachauujig  gelangen; 
telbtl  bei   den  kleinen  vier-  und  dreijährigen  Mädchen   der  Truppe  war  es  ihm 
unmöglicbi   sich    von   dem    Verhalten  ihrer  Geechlechtsilieile  zm  überiseugon«   da  ihr  eigenes 
'  Btr&uben  auch  noch  von  ihrer  Matter  unterstQki  wurde. 


'i^v. 


Mi 


Fig.  220.    FeaerUnderinoeD,  Im  SiUou  %\^h  uiit  den  Beiaoti  diu  Si^bamtliQilo  v«rc1«ckfltiil. 

(N»ob  Pbotogmpbie.) 

Ihjailes  und  DeniJcer  äussern  sich  über  die  Öchamhaftigkeit  der  Pen  ei- 
lend er  folgendemiaaHsen: 

»Qu  pourra  peut*L«tre  d'etouner  de  lire  ici  que  le  sentiment  de  la  pudeur  est  tr^s  d6ve- 
lopp^^  ches  le«  Fudgiena,  habittieä  a  virre  nue«i.  IIa  la  maniJostent  dan»  leur  main tien,  dann 
Vaiaance  avec  taquelte  iis  äe  montrent  Bana  vetement,  compares  ^  la  gene,  4  la  rougeur,  u  la 
honte  qu^ili  t^prouvent,  hommei  ou  temmes,  si  Ton  üxe  le  regard  aur  certaines  parties  de  leur 
Corps.  £ntre  euz  Jamals  ce  dernier  fait  no  se  realifio«  meme,  si  Ton  reut  pouBser  robservation 
de  honte  4  l'extrdmei  dans  les  rapports  ontre  ejHJuz/ 

Eine  Gruppe  von  Feuerlünderinnen,  welche  von  den  Genannten  sitzend 
photographtrt  wurden  (Fig.  220),  lassen  deutlich  erkennen,  wie  geschickt  sie  es 
verstehen,  den  Beinen  beim  Niedersitzen  eine  solche  Stellung  zu  geben,  dass  die- 
selben die  Schamtheile  verbergen,  obgleich  die  letzteren  durch  einen  Schamschorz 
hinreichend  verhüllt  werden. 

Auch  bei  einem  sehr  wenig  cultivirten  Indianer-Stamme  amGoyabero* 

Flusse,  den  Mitua,    welche    die  Nachbarn  als  Wilde  bezeichnen,   fand   Creveaux 

I  die  offenbaren  Zeichen  von  natürlicher  Scliamhaftigkeit  der  Frauen*     Die  Weiber 


398  ^^^-  ^01^  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 

tragen  dort  ein  sackartiges  Gewand;  Creveaux  kaufte  einem  Weibe  ein  solches 
ab,  und  als  sie  nun  das  neue  mit  dem  alten  vertauschen  sollte,  da  konnte  sie  nur 
mit  grosser  Mühe  von  ihrem  Manne  dazu  bestimmt  werden,  diesen  Kleiderwechsel 
in  der  Gegenwart  der  Fremden  vorzunehmen.  Von  den  Araucanierinnen  in 
Chile  behauptet  Treidler^  dass  sie  bedeutend  verschämter  seien,  als  die  chrisÜiche 
weisse  Bevölkerung. 

Bei  den  Völkern  Oceanieus  begegnen  wir  auch  schon  dem  erwachenden 
Schamgefühl.  Jung  bestätigt  es  von  den  Australierinnen,  und  LabiUadiere 
erzählt  von  den  Tasmaniern,  dass  die  Männer  mit  auswärtsgelegten  Beinen  zu 
sitzen  pflegten;  ihre  Weiber  aber  legten  beim  Sitzen  die  Beine  so,  dass  ihre 
Scham  durch  den  Fuss  bedeckt  wurde. 

Hagen^  berichtet  von  den  Salomon-Inseln: 

«A  San  Cristoval  on  ä  Malayta,  les  femmes  se  pr^sentent  sur  la  plage  absolomeni 
nues:  dans  les  autres  lies,  soules  les  femmes,  ayant  eu  des  enfants,  portent  antoor  des  reias 
une  ceinture  en  feuilles  de  pandanus  qui  laisse  les  hancbes  ä  decouvert." 

Auf  Neu-Caledonien  tragen  die  Männer  nur  einen  dünnen  Strick  am  den 
Leib,  die  Weiber  hingegen  einen  freilich  äusserst  schmalen  Rock  aus  Rindenfasen^ 
gelb  oder  schwarz  gefärbt,  auch  wohl  mit  Muscheln  besetzt  (Jung).  Dieses  Tragen 
des  Franzengtirtels  auf  Neu-Caledonien  ist  nach  de  Eochas  den  Madchen  unter- 
sagt, und  nur  ein  Recht  der  verheiratheten  Frauen. 

Von  denselben  Insulanern  schreibt  Moncdon: 
„Le  sentiment  de  la  pudeur  eziste  tr^-certainement  malgr^  la  facilit^  et  le  r^lachement 
des  moeurs.  On  le  reconnait  ä  certains  mouvements,  certaines  ezclamations  qui  se  prodoisent 
ä  un  moment  donn^.  Ainsi,  il  m'est  arrive  de  couper  brusquement  la  feaille  de  baoaniar 
servant  de  tapa  (Schamschurz)  u  des  femmes,  qui  s^enfujaient  imm^diatement  dans  les  fourr^ 
voisins  en  cherchant  ä  s'abriter  de  leurs  mains  ^tendues.* 

Man  wird  sich  hier  allerdings  kaum  des  Gedankens  erwehren  können,  dass 
diese  Weiber  wahrscheinlich  gefürchtet  haben,  dass  man  ihnen  Gewalt  anthun  wollte. 

In  Polynesien  legen  die  Weiber,  wenn  ein  Schiff  die  Küste  ihrer  Insel 
anläuft,  mit  der  grössten  Leichtigkeit  ihre  Kleider  ab,  die  nur  aus  zwei  Theilen 
bestehen,  einem  oberen,  Poncho-ähnlichen  und  einem  um  die  Hüften  gewundenen 
Lendentuch,  man  sieht  sie  dann  um  das  Schiff  herumschwimmen  und  an  Bord  des- 
selben steigen,  ohne  dem  völlig  nackten  Zustande  irgendwie  Rechnung  zu  tragen. 
Dies  fand  schon  statt,  als  die  ersten  Europäer  dort  landeten,  und  noch  heute 
besteht  solcher  Brauch.  D^e  Damen  der  Sand  wich -Inseln  begeben  sich  auf 
diese  Weise  auf  die  europäischen  Schiffe,  indem  sie  beim  Schwimmen  ihre 
seidene  Robe,  ihre  Schuhe  und  ihre  Sonnenschirme  über  die  Wogen  emporhalten 
(Beechy),  Dieses  nach  unseren  Begriffen  ,, schamlose*  Gebahren  ist  ursprünglich 
wohl  nur  das  Ergebniss  einer  naiven  Auffassung  von  Freiheit  und  Reinheit  der 
Sitten,  die  von  jenen,  damals  noch  wenig  verdorbenen  Weibern  dem  enterteten 
Geschlechte  der  europäischen  Matrosen  entgegen  gebracht  wurde;  allein  gar 
bald  machte  solche  Naivetät  bei  so  unreiner  Berührung  der  schmählichsten  Pro- 
stitution Platz.  Ursprünglich  schien  nicht  das  Schamgefühl  die  Verhüllung  der 
Blosse  vorzuschreiben;  auf  Tahiti  bedeckten  sich  die  Frauen  in  den  unteren 
Partien  nach  Cook's  Beobachtung  lediglich  ^aus  Artigkeit**.  Wenn  die  Missionare 
auf  mehreren  Inseln  der  Südsee  die  Mädchen  veranlassten,  sich  mit  einer  wenig 
anmuthigen  Tracht  zu  bekleiden,  so  haben  dieselben  neue  Begriffe  von  Anständig- 
keit  gewonnen,    aber  zugleich   das  natürliche  Gefühl   der  „Artigkeit*"  verloren. 

Früher  waren  die  Weiber  der  Mikronesier  sehr  streng,  schamhaft,  durch- 
aus taktvoll  und  zurückhaltend.  Auch  im  freien  Verkehr  mit  den  Jünglingen  ihres 
Volkes,  welche  den  Mädchen  für  ihre  Gunst  Geschenke  geben  müssen,  herrscht 
bei  aller  Freiheit  eine  gewisse  Schamhafbigkeit.     (Waitz-Gerland.) 

Grosse  Naivetät  zeigen  dagegen  die  Chi nwan- Weiber  auf  der  Insel  For* 
mosa.     Joest^  berichtet: 


104.  Das  weibliche  Schamgefühl  bei  den  NaiaryOlkern.  399 

«Schamgefühl  ist  nicht  der  Grund  ihrer  dichten  Bekleidung;  die  Frauen  und  M&dchen 
zeigen,  zumal  beim  Hocken,  ohne  Scheu  ihre  Geschlechtstheüe,  und  häufig  äusserten  sie  den 
Wunsch,  die  meinigen  zu  besehen  oder  zu  betasten,  allein  aus  Neugierde." 

Von  den  alfurischen  Frauen  auf  Serang  sagt  Gapitan  Schubse: 

„Trotz  der  spärlichen  Bekleidung  sind  sie  sehr  keusch  und  züchtig." 

Ueber  die  Schamhaftigkeit  der  Weiber  in  Cochinchiua  äusserte  Mondiere 
Folgendes: 

„La  pudeur,  ou  au  moins  se  que  nous  nommons  ainsi  chez  nous,  g§ne  pou  la  femme 
d^Annam,  et  eile  vous  dit  de  Tair  le  plus  natusel  et  sans  que  la  moindre  rougeur  appa- 
raisse  sur  son  front,  Tage  oü  pour  la  premiere  fois  eile  s'est  abandonnee.  Et  ce  n'est  pas 
leulement  dans  les  classes  inferieures  que  les  choses  sont  ainsi.  J'ai  eu  Thonneur  d'^tre  con- 
sult^  ou  Visits  par  plusieurs  dames  de  ce  que  Ton  appelle  la  cour  de  Hu^  et  qui  ressemblent 
beauconp  aux  helles  et  honn§tes  dames  du  sire  de  Brantöme,  EUes  m'ont  racont^  leur 
d^buts  amoureux  avec  la  mSme  franchise  et  la  memo  impudeur  que  les  filles  de  Dan  (lisez 
Yä-n,  paisan).*' 

Nach  dem  letzten  Tagebuche  des  verstorbenen  Ludwig  Wolf  traf  derselbe 
in  Tschau tjo,  einem  der  Hinterländer  des  Togo- Gebietes,  eine  herrschende 
und  eine  eingeborene  beherrschte  Bevölkerung  an.  Von  der  letzteren  gingen 
nicht  nur  die  Kinder,  sondern  auch  die  Männer  und  die  Frauen  und  die  er- 
wachsenen Mädchen  vollständig  nackend.  Von  Schamlosigkeit  wird  aber  nichts 
berichtet. 

Auch  in  der  Stadt  Lari  in  Central -Afrika  sind  alle  Frauen  völlig  un- 
bekleidet (Detiham). 

Eine  Prinzessin  des  Stammes  der  Apingi  in  Gentral-Afrika  erhielt  von 
Du  Chaiüu  als  Geschenk  ein  schöngefärbtes  Hemd,  und  sofort  entkleidete  sie  sich 
vor  seinen  Augen,  um  dasselbe  anzulegen. 

Bei  dem  6  alla- Häuptling  Tidu  in  Gobo  im  oberen  Nil  gebiet  fand  Juan 
Maria  Schuver  eine  sehr  primitive  Hottracht:  er  bemerkte,  dass  ein  halbes 
Dutzend  gelber  wie  schwarzer  junger  Mädchen  in  völlig  nacktem  Zustande,  ohne 
Kleidung,  ohne  irgendwelchen  Zierath  einfaergingen,  obwohl  manche  unter  ihnen 
wohl  kurz  vor  der  Heirath  standen.  Bei  dem  benachbarten  Stamm  der  Koma- 
Neger  fand  er  dagegen,  dass  die  Mädchen  ein  sehr  entwickeltes  Schamgeftihl 
haben.  Schuver  verfällt  hier  in  den  gewöhnlichen  Fehler,  Nacktheit  mit  Scham- 
losigkeit zu  verwechseln. 

Bei  den  Frauen  der  Fan  an  der  Küste  von  Guinea  beschränkt  sich  die 
Bekleidung  auf  ein  Affenfell  rückwärts,  ein  schmales  Stück  Zeug  oder  einen  Qras- 
büschel  vorn;  trotz  dieser  geringfügigen  Verhüllung  sind  die  Frauen  der  Fan  weit 
schamhafter,  als  die  der  anderen  Stämme. 

Von  den  Negerinnen  der  Westküste  sagt  Zöllner: 

,Das,  was  wir  Schamhaftigkeit  nennen,  ist  ganz  gewiss  auch  hier  vorhanden,  nur  weit 
weniger  entwickelt  als  bei  den  civilisirten  Völkern.  Die  jungen  M&dchen  nahmen  nicht  den 
geringsten  Anstand,  sich  vor  den  Augen  der  weissen  Männer  sowohl  wie  der  schwarzen  Männer 
selbst  ihres  Shlipses,  jenes  fingerbreiten,  zwischen  den  Schenkeln  von  vorn  nach  hin  ton  ge- 
zogenen Bändchens  zu  entledigen,  sich  mit  einer  schwarzen,  im  Lande  verfertigten  Seife  ein- 
zureiben, und  dann  an  der  Lagune  abzuspülen.* 

Pechuel'Loesche  sagt  von  den  Loango-Negerinnen: 

,iDie  theil weise  Nacktheit  der  Negerinnen  wird  gemildert  durch  die  entschieden  vor- 
theUhafte  dunkle  Farbe  der  Haut,  und  sie  erscheint  keineswegs  so  unzüchtig  und  wirkt  nicht 
so  entsittlichend,  wie  das  Verführerische  halb  verhüllter  Reize.  Die  wohlerzogene  Negerin 
liebt  es,  den  Busen  zu  bedecken  und  ist  empfindlich  gegenüber  musternden  Männeraugen. 
Begegnet  sie  ohne  Obergewand  dem  Europäer,  so  führt  sie  instinctiv,  wiewohl  auch  oft 
nicht  ohne  Coquetterie,  die  Bewegung  aus,  welche  an  der  mediceischen  Venus  so  vielfach  be- 
leuchtet wurde.* 

Hier  darf  man  nicht  übersehen,  dass  der  erste  Satz  doch  nur  den  Eindruck 
wiedergiebt,  den  diese  Farbigen  auf  den  Europäer  hervorrufen.  Dass  sie  ihren 
Landsleuten  vrirklich  nackt  erscheinen,  darüber  kann  wohl  kein  Zweifel  bestehen. 


400  ^1^*  ^61*  Eintritt  des  Weibes  in  das  (Geschlechtsleben. 

Die  Bedeckung  der  Blossen  ist  bei  den  Weibern  noch  mancher  anderen 
Neger-Völker  eine  äusserst  geringe  oder  nichtige.  Emin  bemerkte  auf  seiner 
Reise  vom  weissen  Nil  durch  Njambara  nach  Kedibe,  dass  im  Bezirke  Amadi 
die  Laubschürzen  der  Frauen  oft  eine  pure  Formalitat,  Muster  fttr  die  Breite 
individuellen  Geschmacks  sind;  vom  dichten  Büschel  grün  belaubter  Zweige,  die 
wirklich  Blossen  zu  verdecken  vermögen,  bis  zur  einfach  grünen  Ranke,  die  sich 
von  der  Gürtelschnur  vorn  nach  der  Gürtelschnur  hinten  zieht.     Emin  sagt: 

^Das  schwächere,  hier  aber  sehr  stämmige  Geschlecht  ist  im  Bedecken  sehr  sparsam, 
und  viele  der  fettglänzenden,  eisenbeladenen  Schönen  hüllen  sich  absolut  nur  in  ihre  Farbe. 
Im  Moru-Lande  gehen  die  Franen  meist  vöfiig  nackt,  nur  einzelne  hängen  hinten  an  die 
Gürtelschnur  ein  Laubfragment.  Sonderbar  dabei  ist,  dass,  wenn  man  einem  Zug^  Reicher 
decollotirten  Schönen  begegnet,  die  Wasser  tragen,  sie  zunächst  mit  der  freien  Hand  ihr  Ge- 
sicht verdecken.  Nach  allem,  was  man  in  Afrika  sieht,  ist  Scham  doch  auch  nur  ein  Er- 
zieh ungsproduct.  " 

Obwohl  die  Frauen  der  Berabra  sehr  virenig  bekleidet  einhergehen,  und  die 
Mädchen  bei  ihrer  Verheirathung  nur  eine  sogenannte  Rahat  (einen  den  Unter- 
leib umfassenden  Riemen,  von  dem  nur  dünne  Riemchen  von  verschiedener  Lange 
herabhängen)  tragen,  und  auch  sonst  den  Fremden  gegenüber  sich  frei  bewegen, 
sind  sie  doch  von  grosser  Eingezogenheit  und  Sittenreinheit.  Bei  einzelnen 
Neger  Völkern  bedecken  die  Weiber  das  Hintertheil;  nimmt  man  ihnen  den 
Schurz,  so  werfen  sie  sich  mit  dem  Rücken  auf  die  Erde,  um  diesen  Theil  nicht 
sehen  zu  lassen;  sie  besitzen  also  ein  perverses  Anstandsgefühl. 

Wir  werden  aber  für  die  Mehrzahl  der  Fälle  Merensky^  zustimmen  müssen, 
welcher  sich  nach  eigenster  Erfahrung  unter  sehr  verschiedenen  Stämmen  von 
Afrika  mit  folgenden  Worten  über  gewisse  Fehler  äussert,  welche  in  unseren 
Kolonien  begangen  wurden. 

„Jeder  Kenner  von  Naturvölkern  weiss,  dass  auch  unter  solchen  Völkern, 
bei  denen  das  von  der  Sitte  vorgeschriebene  Maass  der  Bedeckung  vielleicht  recht 
gering  und  kümmerlich  ist,  die  Leute  gerade  in  Bezug  auf  die  Bewahrung  dieses 
Maasses  meist  ängstlich  peinlich  sind,  und  es  als  tiefe  Schmach  empfinden,  wenn 
man  sie  dessen  beraubt/ 

105.  Die  weibliche  Scliamhaftigkeit  bei  den  hoher  cultiTirten 

Yolksstiiinmen. 

Auch  bei  den  Völkern  höherer  Cultur  finden  wir  sehr  verschiedenartige 
Abstufungen  in  Bezug  auf  die  weibliche  Schamhaftigkeit.  So  kommen  in  Japan 
Gebräuche  vor,  welche  sich  ganz  wesentlich  von  unseren  heutigen  Begri£Pen  von 
der  Schamhaftigkeit  unterscheiden.  Dahin  gehört  vor  Allem,  dass  beide  Ge- 
schlechter in  den  öffentlichen  Bädern  völlig  unbekleidet  mit  einander  verkehren. 
Wir  dürfen  hierbei  aber  nicht  vergessen,  dass  noch  bis  in  das  17.  Jahrhundert 
hinein  auch  bei  uns  ganz  ähnliche  Zustände  geherrscht  haben,  wie  ich  später 
noch  besprechen  werde. 

Haben  wir  in  dem  vorigen  Abschnitte  gesehen,  wie  bei  vielen  Volkern  es 
sehr  wohl  mit  der  Schamhaftigkeit  verträglich  ist,  dass  die  erwachsenen  Madchen 
und  Frauen  entweder  vollständig,  oder  doch  so  gut  wie  nackend  gehen,  so  finden 
wir  das  andere  Extrem  bei  den  Mohammedanerinnen,  welche,  wie  ja  allgemein 
bekannt  ist,  sogar  ihr  Gesicht  unter  einem  Schleier  verbergen  müssen.  Bodenstedt 
konnte  in  Tiflis  von  seiner  Wohnung  aus  das  Frauengemach  eines  armenischen 
Kaufmanns  überblicken: 

,Da  sassen  (bei  jedem  festlichen  Anläse)  30—40  armenische  Frauen  mit  gekreuzten 
Beinen  auf  einem  grossen,  das  ganze  Zimmer  ausmessenden  Teppich,  in  buntem  Kreise,  aUe 
angethan  mit  schweren  kostbaren  Stoffen,  den  Nacken  von  einem  weissen  Schleier  überwallt, 
und  das  Leibchen  zwiefach  halbmondförmig  so  weit  ausgeschnitten,  dass  des  Dofeni  besserer 
Theil  offen  zur  Schau  lag.    Ich  kann  hier  die  Bemerkung  einschalten,  dass  im  Iforgenlande 


m 


Did  weibliche  Scham baftigkeit  bei  den  höher  culÜvirton  VoIkssULmmen.        401 

te  Frauen  mit  ihrem  ßiuen  noch  Tie)  weniger  heimlich  thnn  aU  bei  nns.  Dem  i»trengateci 
Schamgefllhl  itt  dort  Genüge  gethan  mit  dem  Verhüllen  des  Gesichts.  Alle  Qbrigen  Körper- 
thmio  werden  geringerer  Berückcichtignng  gewürdigt.  Es  iat  um  da^  Bebte  kl  ichkeiis-  und 
AnatandHgefQbl  (wie  es  im  Grunde  allen  Völkern  inne  wohnt»  »ich  aber  auf  die  verschied enatc 
Art  kundgiebt)  ein  eigenes  Bing.  Eine  Schottin  kann  vor  lauter  Scham haftigkeit  in  Obn- 
tiiiicht  falleu,  wenn  sie  einen  Mann  mit  einem  Barte  «iebt,  findet  e^  ah^er  ganz  ihren  Begrifien 
von  Anstand  gernfts^^  dass  die  Männer  ohne  Hosen  einhergehen,  ein  Zustand,  der  den  Damen 
anderer  Lünder  wieder  das  Blut  der  Scham  in   die  Wangen   treiben   würde.     Eine   badende 

uropUerin  wird«  wenn  de  sich  von  Männeraugen  erspähet  weij^s,  alles  andere  eher  ver- 
Ueut  aU  ihr  Gesicht,  Eine  Aiiatin  wird,  unter  ähnlichen  Umständen,  fremden  Blicken 
'altes  andere  eher  preisgeben  als  ihr  Gesicht.  Diese  wenigen  Beispiele  mögen  genügen,  um 
darsuthünf  wie  schwer  m  ist,  in  dem,  wa«  man  Sitte  und  Anstand  nennt,  die  Scheidelinie 
zwiacben  dem  Ernsten  und  Komischen^  zwischen  Weisheit  und  Thorhoit  zu  ziehen«  Der  be- 
echränkte  Mensch  ist  immer  am  meisten  geneigt,  das  zu  belächeln,  was  über  meinen  engen 
Geiichtskreis  hinausreicht  j  je  weiter  der  Blick»  desto  milder  das  ürtheil/ 

In    der  Art    und   Weise  der   Verhüllung    des    Gesichts    durch    den    Schleier 
&rr«cben  aber  bei  den  Orientalinnen   recht  erhebliche  Untei'schiede,  wie  wir  aus 


»wissen  Photographien  entnehmen  können. 

au  der  vornehmen  Klasse  aus  Tunis    in 

brem  Strassenanzuge,    im  Begriff,  das  Bad 

besuchen.    Hier  hat  die  Verhüllung  des 

leaichts  ihr  Maximum  erreicht.     Bei  einer 

lauriu    aus    Algier   dagegen    iVig.  222) 

^finden  wir  den  Schleier  so  diinu  und  durch- 

pichtig,  daea  er  doch  fast  das  ganze  Antlitz 

rkennen  lasai 

Zwischen  diesen  beiden  Extremen  findei 
ich  allerlei  Uebergänge,    und    bei    eir 
Tolksstiimmen  sind  es  nur  die  verheirah 
Weiber,  welche  das  Gesicht  verhüllen  milssen, 
während  die  erwachsenen  Mädchen  ihr  Ant- 
litz unverhüllt  zeigen  dürfen.    Bei  manchen 
Volkern  erstreckt  sich  die  Verhüllung  nur 
auf  das   Untergesiebt,    den    Mund   und   das 
tinn,  und  noch  andere  gestatten  ihren  Wei* 
ern,  obgleich  sie  Mohammedaner  sind,  voll- 
Andig  un verschleiert  einherzugehen. 

Bei  den  Armenierinnen  des  Dorfes 
Kurd-i-Bala  in  der  Nähe  von  Ispahan 
musB   nach   Benins  Bericht  das  Untergesicbt 


Fig.  221  zeigt  uns  eine  verheirathete 


if; 


Kig  221.    Verhelmthetd  Fra«  «ler  vor* 


Stet«  verscnieiert  getragen  werden,  und  den         ^^  ^^^  ,^^,,  ^j^.^  ^,,^,,  ^^vith^  j^a  «eher. 
Mund   der  rrau  oder  gar  ihre  Zunge  darf  (KEch  Pboiogimpiiieo 

nicht  einmal  der  Ehemann  sehen. 

Komisch  wirkt   es  nun  allerdinga   auf  una,   wenn  wir  von  Mitiich  erfahren, 
BS  die  Tschuwaschinnen   (Wolga- Türken)  es  ftir  unmoralisch  halten,   ihre 
ckten  Füsse  zu  zeigen,  und  dass  sie  sich  sogar  mit  umwickelten  Füssen  zu  Bette 
egeben.     Ab  Pendant  hierzu  erzählt    Vamhirij^   dass  die  Türkinnen  Central- 
^siens   etwas  Aehnliches    thun,    und    die    Turkomaninnen   als    lasterhaft   ver- 
schreien, weil  letztere  selbst  in  Gegenwart  von  Fremden  barfüssig  einhergehen. 

Bei  den  Japanern  ist  es  gebräiichlich,  tiiglich  ein  heisses  Bad  zu  nehmen 
Jach  Svlcftla  finden  die  unbemittelten  Klassen  an  verschiedenen  Stellen  der  Stadt« 
Tentliche  Badehäuser,  wo  oft  Mann  und  Weib,  Mädchen  und  Jüngling  un be- 
kleidet neben  einander  bocken.  In  harmloser  Unschuld,  wie  Adam  und  Eva  vor 
^m  Sünden  fall,  gieht  man  sich  plaudernd  und  scherzend  der  Abbrüh  ung  hin,  um 
i)enso  ungenirt  dem  Bade  zu  entsteigen,  sich  zu  trocknen  und  wieder  anzukleiden. 


402 


XIV.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 


Bei  den  Chinesen  darf  dagegen  nicht  einmal  der  Gatte  die  nackten  FOsse 
seiner  Ehefrau  sehen,  und  überhaupt  gilt  es  dort  für  unanständig  und  sogar  für 
eine  Sünde,  welche  gebeichtet  werden  muss,  nach  den  Füssen  der  Damen  zu  blicken. 
Ich  hatte  dieses  früher  schon  erwähnt. 

Es  wäre  nun  aber  ein  ausserordentlicher  Irrthum,  wenn  man  glauben  wollte, 
dass  dasjenige,  was  man  als  weibliche  Schamhaftigkeit  und  Züchtigkeit  zu  be- 
zeichnen pflegt,  bei  den  Culturvölkem  Europas  bereits  zu  einem  absolut  fest- 
stehenden BegrifiTe  sich  herausgebildet  habe.  Wie  ausserordentlich  wechselnd  hier 
noch  in  den  letzten  Jahrhunderten  die  Anschauungen  der  Damen  gewesen  sind, 
selbst  in  den  höchsten  und  den  gebildetsten  Kreisen,  das  lehrt  uns  einfach  ein 
Blick  auf  die  rhythmischen  Schwankungen  der  Damenmoden.  Was  den  einen  Tag 
als  frivol  und  gemein  im  höchsten  Grade  betrachtet  wird,  das  gilt  bereits  den 
nächsten  Tag  in  noch  gesteigerter  Potenz  für  fein,  naturgemäss  und  wohlanständig. 

Gilt  es  heute  noch  für  unschicklich, 
auch  nur  das  Handgelenk  unbedeckt  zu 
zeigen,  so  trägt  mau  morgen  ohne  Scheu 
den  ganzen  Arm  bis  zu  seinem  Ur- 
sprung entblösst,  und  gestattet  sogar 
einen  unbeschränkten  Einblick  in  die 
Achselhöhle.  Muss  das  eine  Mal  der 
Hals  verhüllt  sein  bis  unter  das  Kinn, 
so  erregt  es  Tags  darauf  keinen  An- 
stoss,  die  Schultern  bis  tief  hinab  zum 
Rücken  und  die  Brüste  fast  bis  zu  ihrer 
Warze  zu  präsentiren.  Darf  eben  noch 
auch  nicht  einmal  die  Fussspitze  unter 
dem  Gewände  hervorblicken,  so  ist  es 
im  nächsten  Augenblick  erlaubt,  das 
Hein  bis  über  das  Knie  hinaus  den  pro- 
fanen Männerblicken  blosszustellen.  Muss 
endlich  einmal  die  gesammt«  Kleidung 
so  gewählt  werden,  dass  man  in  ihr 
selbst  bei  der  blühendsten  Phantasie 
einen  menschlichen  Körper  nicht  mehr 
zu  ahnen  vermag,  so  ist  es  in  kurzer 
Zeit  schicklich,    dass  das  Gewand    dem 

Fig.  222.    Maarin  uas  Algier,  versrhleiert,   aber    Körper   sich   SO  knapp  anschmiegt,    dass 

80  feiu.  dass  das ^ga^M^ii^skht^^^^^         ist.  ^an   ihn  in  allen   seinen  anatomischen 

0  o^nrap  le.)  Eigenthümlichkeiteu    sofort     zu    über- 

blickeu  im  Stande  ist.  Dass  das  Radfahren  neuerdings  eine  ganz  plötzliche  Um- 
wandlung in  den  ethischen  Anschauungen  unserer  Damen  hervorgerufen  hat,  das 
brauche  ich  nicht  weiter  auseinanderzusetzen. 

Aber  auch  abgesehen  von  diesen  Launen  der  Mode  hat  die  Schamhaftigkeit 
bei  uns  recht  erhebliche  Wandlungen  erfahren,  und  wenn  wir  uns  bemühen,  aus 
unseren  Dichtern  und  Busspredigern  in  dieser  Beziehung  die  Anschauungen  der 
Damen  des  Mittelalters  kennen  zu  lernen,  so  begegnen  wir  dort  für  unsere  heutige 
Auffassung  und  Empfindung  sehr  eigenthümlichen  Sitten  und  Gebräuchen.  Lesen 
wir  z.  B.  den  Parzival,  so  finden  wir,  dass  er  in  der  Burg  des  heiligen  Graal 
als  Gast  aufgenommen  und  Abends  von  Jünglingen  entkleidet  wird: 

Jungherren  gar  behendiglich 

Entschuhen  ihm  Beine,  die  sind  blank: 

Mancher  ihm  zu  Hülfe  sprang, 

Auch  zog  ihm  seine  Kleider  ab 

Mancher  wohlgebome  Knab: 

Es  waren  schmucke  Herrlein. 


105.  Die  weibliche  Sohamhaftigkeit  bei  den  hoher  coltivirten  Volkast&mmen.        403 

Als  er  nun  entkleidet  auf  dem  Polster  vor  dem  Bette  sitzt,  da  erscheinen 
▼omehme  Jangfranen,  um  ihm  noch  Erfrischungen  zu  bringen: 

Zur  Thüre  traten  jetzt  herein  Sie  sprachen:  „Ihr  sollt  wachen 

Vier  klare  Jungfrauen,  Uns  zu  Lieb  noch  eine  Weile.* 

Die  man  gesandt  zu  schauen,  Verborgen  in  der  Eile 

Ob  man  ihn  wohl  yerpfl&ge  Hat  er  unterm  Bett  sich  ganz; 

und  ob  er  sanft  gebettet  l&ge Nur  seines  Antlitzes  Glanz 

Pareival  der  schnelle  Mann  Gab  ihren  Augen  Hochgenuss, 

Sprang  unters  Decklachen.  £h  sie  empfingen  seinen  Gruss 

Sie  bieten   ihm   nun  Morass,    Wein    und  Lautertrank   und  Aepfel   aus  dem 

Paradeis  an  * 

Süsser  Red  er  nicht  vergass; 

Der  Herr  trank,  einen  Theil  er  ass, 
Dann  gingen  sie  mit  Urlaub  wieder. 

Natürlicher  Weise  kann  bei  dem  Einnehmen  der  Mahlzeit  die  Verhüllung 
dieses  hemdenlosen  Ritters  nur  eine  ziemlich  dürftige  gewesen  sein,  denn  man 
darf  dabei  nicht  vergessen,  dass  man  in  damaliger  Zeit  vollständig  nackend  zu 
schlafen  pflegte.  Legt  ausnahmsweise  einmal  Jemand  ein  Hemd  an,  so  wird  das 
ganz  besonders  rühmend  berichtet. 

An  einer  anderen  Stelle  wünscht  eine  Königin,  dass  ParzivcU  sie  von  ihren 
Feinden  befreie.  Sie  sucht  ihn,  um  diesen  Beistand  von  ihm  zu  erbitten,  Nachts 
allein  in  seinem  Schlafgemach  auf  .nicht  zu  solcher  Lust  Gewinn,  die  aus  Mädchen 
Frauen  macht  unversehends  in  einer  Nacht",  sondern  „sie  suchte  Half  und  Freundes  Rath. 
Sie  trug  auch  wehrlichen  Staat;  Ein  Hemd  von  weisser  Seide  fein.  Wie  könnte  streitbarer 
sein,  wenn  sie  zum  Manne  geht,  ein  Weib?  Auch  schwang  die  Frau  um  ihren  Leib  von 
Sammet  einen  Mantel  lang:  Sie  ging,  wie  sie  der  Kummer  zwang. **  Dann  kniet  sie  an  seinem 
Bette  nieder,  er  will  das  nicht  leiden  und  bietet  ihr  seinen  Platz  an.  „Sie  sprach,  wollt  ihr 
Euch  ehren,  mir  solche  Zucht  bewähren,  nicht  zu  rühren  meine  Glieder,  leg  ich  mich  zu  Euch 
nieder.  Den  Frieden  gab  er  feierlich:  Da  barg  sie  in  dem  Bette  sich.*  und  nun  setzt  sie 
ihm  ihr  Gesuch  aus  einander,  dem  er  auch  Folge  giebt,  und  ihre  Stadt  befreit,  worauf  sie  sich 
ihm  ergiebt.     „Den  alten  immer  neuen  Brauch  übten  da  die  Beiden  auch.* 

Ueberhaupt  erscheint  es  als  Sitte,  dass  die  Ritter  für  irgend  eine  ihnen 
bisher  ganz  unbekannte  Dame  kämpfen,  deren  Feinde  besiegen  und  dann  sofort 
nach  erfolgter  Reinigung  und  leiblicher  Erquickung  mit  der  Dame  zu  Bette 
gehen,  ein  Kind  mit  ihr  zeugen  und  darauf  von  dannen  ziehen.  (Wolfram  von 
Eschenbach.) 

Auch  noch  im  15.  Jahrhundert  müssen  sehr  freie  Sitten  geherrscht  haben, 
gegen  welche  Geyler  von  Keyserszherg  eiferte: 

„Die  dritt  Schell  ist,  ein  lust  haben  auif  blosse  Haut  szugreiffon,  nemlich  den  Weibern 
oder  Jungfrawe  an  die  Bruestle  zugreiifen.  Dann  es  sein  etliche  darauif  gantz  geneigt,  das 
sie  meine,  sie  können  mit  keiner  rede,  sie  muessen  jr  an  die  Bruestle  greiffen,  dass  ist  ein 
grosse  geilheit.*     (KotelmannJ 

Im  13.  Jahrhundert  predigte  der  Franziskanermönch  Berthold  von  Regere- 
bürg  gegen  die  eingerissenen  Unsitten: 

„Das  vierte  daz  schentlich  küssen.  Daz  fünfte  diu  schentlich  begrifunge  der  lider' 
(d.  h.  das  Begreifen  der  weiblichen  Geschlechtstheile). 

Er  fahrt  dann  fort: 

,ünd  etliche  tuont  so  getaniü  dinc,  daz  sie  niemer  dehein  (d.  h.  irgend  ein)  reinez  dinc 
selten  an  grffen,  weder  wSn  noch  bröt  noch  becher  noch  schüzzeln  noch  den  galgen;  sie  w&ren 
des  halt  niht  wert,  daz  sie  den  narten  (Trog)  selten  an  grffen,  dar  üz  diu  swin  ezzent,  noch 
deheine  kr^tiure,  die  diu  werlt  (Welt)  ie  gewan.*     (Kotelmann,) 

Man  ersieht  hieraus,  dass  die  Frauen  und  Mädchen  damals  doch  fär  der- 
artige Betastungen  leicht  zugänglich  gewesen  sein  mOsseii. 

Ueber  die  Schamhaftigkeit  im  15.  Jahrhnnderfc  EuBfirt  r« 

«Auch  die  Öffentlichen  Badeh&user  der  St&dte,  in  «*lfl^ 
chen  und  Jünglinge,  MOnche  und  Nonnen  unter 


404 


XIV.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 


häufig  splitternackt  sich  begegneten,  konnten  zur  Hebung  der  Keuschheit  gewiss  nicht  bei- 
tragen. *" 

Derselbe  Autor  berichtet  dann  noch  nach  den  Angaben  Poggio's  aus  dem 
Jahre  1447  über  das  Leben  in  Baden  im  Aargau: 

pIn  der  Morgenfrühe  waren  die  Bäder  am  belebtesten.  Wer  nicht  selber  badete,  stattete 
seinen  badenden  Bekannten  Besuche  ab.  Von  den  um  die  Bäder  laufenden  Galerien  konnte 
er  mit  ihnen  sprechen  und  sie  auf  schwimmenden  Tischen  essen  und  spielen  sehen.  SchOne 
Madchen  baten  ihn  um  Almosen,  und  warf  er  ihnen  Münzen  hinab,  spreiteten  sie,  dieselben 
aufzufangen,  wetteifernd  die  Gewänder  aus  und  enthüllten  dabei  üppige  Reize* 

Im  16.  Jahrhundert  nahm  Johann  von  Schwarteenberg^  an,  dass  die  Scham- 
haftigkeit  prädisponirt  sei  durch  die  versteckte  Lage,  welche  die  Natar  den  Geni- 
talien gegeben  habe.  Er  bringt  dem 
Leser  das  Bild  eines  nackten,  aber  am 
Mittelkörper  verhüllten  Weibes  (Fig.  223) 
und  schreibt  dazu: 

,A11  zier  des  leibs  macht  angenehm, 
Darzu  den  Menschen  ist  bequem. 
Welch  glydmass  die  Natur  versteckt. 
Das  solchs  von  vns  bleib  vnentdeckt. 

Erstlich  soll  vermercket  werden,  das  der 
Natur  zu  der  formierung  vnsers  leibs  grossen 
fleiss  gebraucht,  wann  sy  die  glydmass  vnd 
Form,  darinne  eyn  erbare  gestalt  ist  zu  gesiebt 
gestelt,  aber  die  leiblichen  teil  (zu  nottürftigem 
aussgange  des  vberfluss  gesatzt,  vnnd  schnöd 
anzusehen)  bedeckt  hat.  Dem  selben  fleissigen 
paw  der  natur,  hat  nachgewolgt  menschliche 
schanihaütigkeit,  also  das  sollche  verborgne 
ding  der  natur,  alle  rechtsinnige  menschen, 
von  den  Augen  wenden,  vnd  notürflftige  ge- 
brauchung auif  das  aller  heimlichest  volbringen. 
vnd  darzu  (wyewol  es  on  bossheit  geschehen 
iiHig)  hie  nit  öffentlich  mit  jren  namen  nennen 
sollen,  dann  gemolte  offenliche  vnsaübere  wort 
vnd  werck,  von  der  schnöden  geylikeit  nicht 
geschoiden  seindt.* 

Aus  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
schildert  uns  Guarinonius  absonderliche 
Sitten,  die  in  Hall  im  Innthale  in  den 
Badstuben  herrschten: 

„Der  Schlüssel  der  Jungkfrawschafft,  ist 
die  Cioschämigkcit,  dann  eben  von  der  Ge- 
Hchäuiigkeit  wegen,  wirdt  manche  wider  ihren 
eignen  Willen,  von  der  Unzucht  abgehalten, 
durch  diese  Bäder  aber,  verleurt  man  allgemach 
dio.  Gcächämigkeit,  und  übet  sich  fein  ent- 
blösHtcr  vor  den  Männern  sehen  zu  lassen.  In 
dern  vilon  man  auch  gar  kein  Unterschied, 
der  abgesimderten  Zimmer  zu  der  Entblössung  noch  zum  Baden  hat,  ja  die  Bad  wannen,  darin 
man  sitzt  zu  sondcrm  Fleiss  unter  einander  Mann  und  Weib  spicken,  damit  eins  das  ander 
dento  besser  und  fQglicher  »eben,  und  <lio  Schambarkeit  gegen  einander  verlieren  lernen.  AVie 
viel  mal  sihe  ich  (ich  nenn  darumb  die  Stadt  nicht)  die  Magdlein  vom  10.  12.  14.  16  und  18 
Jaren  giintz  cntblüsst,  und  allein  mit  einem  kurtzen  leinen  oift  schleussigen  und  zerrissnen 
Badniantel,  oder  wie  maus  hier  zu  Land  nennt,  mit  einer  Badehr  allein  vomen  bedeckt,  und 
hinten  umb  den  Rucken!  Dieser  und  Fflsscn  offen,  und  die  ein  Hand  mit  Gebühr  in  dem 
Hindern  haltend,  von  ihrem  Hauss  auss,  über  die  lang  Gassen  bey  mitten  tag,  bis  zum  Bad 
lauffen?  Wie  viel  laufft  neben  ihnen  die  gantz  entblOssten,  zehen,  swOlff,  viertxehn  und 
sechtzehn  jährigen  Knaben  her,  und  begleit  das  erbar  Gesindel.* 


Kip:.  223.    Ein  srhamhaftcs  Weib.    (1531.) 

(Nach   J.   t:  Schwor f Bender ^^.) 


106.  Die  Keuschheit  des  Weibes.  405 

Aehnliche  Sitten  sollen  nach  du  Chaiüu  noch  heute  im  nördlichen  Nor- 
wegen und  in  Finnland  bestehen. 

Dass  noch  zu  der  Zeit  Kaiser  KarVs  des  Fünften  bei  seinen  feierlichen 
Einzügen  die  Tochter  vornehmer  Patrizier  es  sich  zur  Ehre  anrechneten,  voll- 
standig  nackt  dem  Kaiser  voranzuschreiten,  und  dass  die  Väter  willig  ihre 
Töchter  dem  Kaiser  als  Concubinen  überliessen,  das  möchte  wohl  hinreichend 
bekannt  sein. 

Einem  eigenthümlichen  Grade  der  Gastfreundschaft  begegnen  wir  noch  vor 
wenigen  Jahren  in  Island  in  der  Nähe  der  Geisire,  die  uns  der  den  Lord 
Dufferin  begleitende  Arzt  folgendermaassen  schildert: 

Die  erwachsene  Tochter  der  Familie,  bei  welcher  er  Unterkunft  gefunden  hatte,  führt 
ihn  des  Abends  auf  sein  Schlafzimmer,  ^und  ich  war  eben  im  Begriff  mich  zu  vorbeugen  und 
ihr  gute  Nacht  zu  wünschen,  als  sie  auf  mich  zutrat  und  mit  einnehmender  Grazie,  der  nicht 
zu  widerstehen  war,  darauf  bestand,  mir  den  Rock  ausziehen  zu  helfen  und  dann  (zu  den 
Extremitäten  übergehend)  mich  auch  der  Schuhe  und  Strümpfe  zu  entledigen.  Mit  diesem 
höchst  kritischen  Theile  ihrer  Verrichtungen,  dacbt'  ich  natürlich,  würden  ihre  Geschäfte 
enden  und  ich  endlich  des  Alleinseins  theilhaftig  werden,  das  man  zu  einer  solchen  Stunde 
gewöhnlich  für  schicklich  erachtet.  Nicht  dran  zu  denken.  Ehe  ich  wusste,  wie  mir  geschah, 
sass  ich  da  im  Hemde  und  hosenlos,  während  meine  schöne  Zofe  vollauf  beschäftigt  war,  die 
geraubten  Kleider  nett  zusammenzufalten  und  auf  den  nächsten  Stuhl  hinzulegen.  Mit  der 
grössten  Natürlichkeit  von  der  Welt  half  sie  mir  ins  Bett,  steckte  die  Decke  überall  hübsch 
ein,  sagte  mir  noch  allerlei  hübsche  Dinge  in  Isländisch,  gab  mir  einen  herzlichen  Kuss 
und  ging.*     Morgens  wurde  er  durch  einen  Kuss  wieder  aufgeweckt. 

Aus  allen  diesen  Thatsachen  sehen  wir,  dass  dasjenige,  was  wir  als  Scham- 
hafbigkeit  bezeichnen,  sehr  verschiedene  Abstufungen  und  Schattirungen  darbietet. 
von  den  Steinen^  kommt  zu  dem  Ausspruch : 

„Ich  vermag  nicht  zu  glauben,  dass  ein  Schamgefühl,  das  den  unbekleideten  Indianern 
entschieden  fehlt,  bei  anderen  Menschen  ein  primäres  Gefühl  sein  könne,  sondern  nehme  an, 
dass  es  sich  erst  entwickelte,  als  man  die  Theile  schon  verhüllte,  und  dass  man  die  Blosse 
der  Frauen  den  Blicken  erst  entzog,  als  unter  vielleicht  nur  wenig  complicirteren  wirthschaft- 
lichen  und  socialen  Verhältnissen  mit  regerem  Verkehrsleben  der  Werth  des  in  die  Ehe  aus- 
gelieferten Mädchens  höher  gestiegen  war,  als  er  noch  bei  den  grossen  Familien  am  »Schingu 
galt.  Auch  bin  ich  der  Meinung,  dass  wir  uns  die  Erklärung  schwerer  macheu,  als  sie  ist, 
indem  wir  uns  theoretisch  ein  grösseres  Schamgefühl  zulegen,  als  wir  praktisch  haben." 

Auch  nach  meiner  Ueberzeugung  ist  das  Schamgefühl  nicht  eine  Regung, 
welche  dem  Menschen  angeboren  ist;  denn  bekann termaassen  fehlt  es  bei  den 
kleineren  Kindern  vollständig.  Aber  die  Anlage  dazu  ist  sicherlich  in  jedem 
Menschen  vorhanden  und  kommt  auch  bei  sehr  rohen  Völkern  verhäitnissmässig 
früh  schon  zur  Entwickelung,  um  allmählich  mit  der  fortschreitenden  Cultur 
immer  mehr  und  mehr  an  Ausbildung  zu  gewinnen. 


106.  Die  Keuschheit  des  Weibes. 

Je  tiefer  eine  Volkerschaft  auf  der  Stufenleiter  der  culturellen  Entwickelung 
ihre  Stelle  hat,  um  so  freier  und  ungehinderter,  ist  für  gewöhnlich  den  Individuen 
die  Befriedigung  des  sexuellen  Bedürfnisses  gestattet,  so  lange  das  Weib  noch 
unverheirathet  ist.  Der  Begriff  der  Keuschheit  bei  den  Mädchen  ist  wenig  ge- 
kannt. Aber  mit  der  Verheirathung  treten  dann  nicht  selten  vollständig  andere 
Anschauungen  in  Kraft.  Bei  einigen  Nationen  hält  allerdings  die  Unkeuschheit 
der  Weiber  auch  noch  nach  der  Verehelichung  an,  und  bisweilen  werden  sie  sogar 
von  ihren  Männern  selber  veranlasst,  ihnen  die  eheliche  Treue  zu  brechen. 

Eyre  macht  von  der  Keuschheit  der  Australierinnen  eine  recht  uner- 
freuliche Schilderung. 

Nach  seiner  Beschreibung  ist  das  Leben  der  australiichen  F^nm  im  O« 
als  eine  fortgesetite  Prostitution.     Von   ihrem   zehnten  Jahre  ai 


406  ^V.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 

Burschen  von  vierzehn  bis  fünfzehn  Jahren.  Später  bietet  sie  sich  auch  jedem  Gaste  an,  der 
den  Stamm  auf  eine  Nacht  besucht  Die  Australierin,  die  verheirathet  ist  oder  vielmehr 
im  Besitz  eines  Mannes  sich  befindet,  kann  auch  von  diesem  verliehen  werden.  Wenn  der 
Mann  abwesend  ist,  nimmt  ein  anderer  seinen  Platz  ein.  Wenn  mehrere  St&mme  neben 
einander  ihr  Lager  aufgeschlagen  haben,  so  bringen  die  Männer  des  einen  Stammes  die  Nacht 
über  bei  den  Frauen  des  benachbarten  Stammes  zu;  denn  die  Prostitution  der  am  Murray- 
Flusse  wohnenden  Australier  ist,  ähnlich  wie  ihre  Heirath,  ezogamisch.  Allein  schon 
Fescliel  macht  darauf  aufmerksam,  dass  die  Abtheilungen  der  Australier  schon  durch  den 
Verkehr  mit  europäischen  Ansiedlern  verwildert  sind,  und  auch  Jung,  der  vielfach  noch 
unverdorbene  Stämme  Central-Australiens  persönlich  kennen  lernte,  versichert,  dass  die- 
selben keine  so  üble  Nachrede  verdienen. 

Cook's  Matrosen  fanden  auf  den  Loyalitäts-Inseln,  auf  den  Neu-He- 
briden  und  in  Neu-Caledonien  die  verheiratheten  Frauen  und  auch  die  Mad- 
chen ungemein  zurückhaltend. 

Jener  Ruhm  der  Neu-Caledonierinnen  wird  allerdings  durch  neuere 
Berichte  abgeschwächt;  vielleicht  haben  europäische  Einflüsse  hier  gewaltet. 
Dort  ist  die  Keuschheit  jetzt  wenig  geschätzt;  de  Rochas  nannte  die  Frauen  der 
Eingeborenen  wilde  Messalinen,  und  die  alten  Frauen  fuhren  schon  früh  das  junge 
Mädchen  auf  den  Pfad  des  Lasters. 

Auf  Neu-Britannien  sind  nach  Finsch  die  Weiber  keusch;  auf  Neu- 
Guinea  ist  das  nicht  so  streng,  aber  es  herrscht  keine  Prostitution. 

Auf  den  Salomons-Inseln  sind  nach  Guppy  die  Weiber  im  Ganzen 
keusch.  Es  kommt  allerdings  vor,  dass  die  Bewohner  der  benachbarten  Inseln 
Sancta  Anna  und  St.  Christobal  auf  einige  Zeit  ihre  Weiber  austauschen, 
nachher  nehmen  sie  dieselben  aber  wieder  zurück  und  das  wird  nicht  als  Ehe- 
bruch angesehen. 

Die  Bhutia  in  Indien  legen  nach  Mantegazea^  kein  grosses  Gewicht  auf 
die  Keuschheit  ihrer  Weiber,  eine  Duldsamkeit,  von  welcher  die  letzteren  in  aus- 
gedehntester Weise  Gebrauch  machen.  Eine  alasolute  Keuschheit  vor  der  Ehe  ist 
auch  bei  den  Limboo  in  Indien  nicht  durchaus  nothig,  und  die  männlichen 
Kinder  des  Mädchens  werden  vom  Vater,  die  weiblichen  von  der  Mutter  unterhalten. 

Bei  den  Berulu  Kodo  Vokaligaru  in  Indien  wird  streng  auf  die  ehe- 
liche Treue  gehalten.  Die  Sitte  der  Weiber,  von  der  wir  durch  Fawcett  erfuhren, 
bei  dem  Ohrlochstechen  der  ältesten  Tochter  sich  ein  Fingerglied  des  Ring-  und 
kleinen  Fingers  amputiren  zu  lassen  (Fig.  185),  gilt  ihnen  als  ein  Keuschheitsorakel. 
Nur  eine  Frau,  die  ihrem  Manne  treu  geblieben  ist,  kann  diese  Amputation  gut 
ertragen;  dem  untreuen  Weibe  aber  würde  am  Fingerstumpf  als  Zeichen  ihrer 
Unkeuschheit  wieder  ein  Nagel  hervorwachsen. 

Die  nicht  civilisirten  Weddahs  auf  Ceylon  halten  eheliche  Treue  für 
selbstverständlich,  und  schon  eine  einfache  Berührung  der  Frau  kann  den  Mann 
veranlassen,  den  Frevler  zu  tödten.  (Sarasin.)  Von  Ehebruch  hört  man  bei  den 
Weddahs  nur  da,  wo  man  den  Versuch  gemacht  hat,  sie  zu  civilisiren.  Bei  den 
ihnen  benachbarten  singhalesischen  Kandiern  ist  der  Ehebruch  sehr  ver- 
breitet.    (  Virchow^.) 

Die  Chewsuren-Mädchen  gelten  für  keusch,  ünverheirathet  niederzukommen 
gilt  für  eine  so  grosse  Schande,  dass  sie  gewohnlich  nicht  überlebt  wird.  Ent- 
weder erhängt  sich  das  schwangere  Mädchen  öderes  erschiesst  sich.  Die  Pscha- 
wen- Mädchen  sind  minder  züchtig.     (Radde.) 

Die  geschlechtliche  Moral  der  Wotjäken  weicht  von  der  europäisch- 
christlichen  Sitte  ganz  erheblich  ab.     Max  Buch  sagt  darüber: 

«Mädcben  und  Burschen  verkehren  mit  einander  durchaus  zwanglos  und  die  sogenannte 
Keuschheit  setzt  der  Liebe  keine  Schranken.  Ja  es  ist  sogar  schimpflich  für  ein  Mädchen, 
wenn  sie  wenig  von  den  Burschen  aufgesucht  wird.  Charakteristisch  ist  folgendes  Sprichwort 
der  Wotjäken:  «Liebt  der  Bauer  (ein  Mädchen)  nicht,  liebt  auch  Gott  (es)  nicht*  Die 
hierauf  bezüglichen  Schilderungen  der  Autoren  sind  dorchaus  in  keiner  Weise  übertrieben; 


106*  Die  K^uficbheit  des  Weibes. 


407 


OtirmcBkff  enJMt  Ton  einem  Spiele,  dos  von  Mildchen  und  Burschen  gespielt  und  Heiratba- 
tpiel  gen^innt  wird.  Einige  Burschen  und  Müdeben  TeriheUen  Bieh  paarweis;  jeder  Bursche 
wählt  bich  ein  Mädchen,  wobei  es  aetbsiverständlioh  ntcbi  immer  ohne  Streit  abgeht;  jedes 
Paar  versteckt  sich  dann  an  einem  dunklen  Ort,  wo  das  Spiel  dann  sehr  realistisch  aufgefust 
werden  »oll;  darauf  versammeln  sich  die  ^Familienpaare*  alle  wieder  zur  Fortsetzung  des 
Spiels;  —  da  es  fQr  ein  Mädchen  schimpÜich  ist,  wenige  Besucher  xu  haben«  so  ist  nur  eine 
logische  Folge»  daes  es  fär  ein  Mädchen  ehrenvoll  ist,  Kinder  lu  haben.  Sie  bekommt  danu 
einen  reicheren  Mann  und  ihr  Vater  bekomuit  einen  höheren  Kalym  (Brautgeld)  för  sie  be- 
zahlt.* Buch  bemerkt  schlieaslich:  ,Ein  wohlerhaltenor  Rest  jener,  ,comm«neB  Ehe'  (LuhhocVs) 
ist  nun  in  der  sogenannten  Sittenlosigkeit  der  Mädchen  ku  finden,  welche  ihren  («efUhlen 
keinen  Zwang  antbun  und  dem  Bedürfnisse  der  Liebe  in  vollem  Maasse  genügen.  Dieso  Eigen- 
thtlmlichkeit  ist  also  nicht  als  die  Folge  späterer  Entsittlichung,  sondern  als  etwas  durchaus 
NatüjUehes,  Ursprüngliches  anzusehen/ 

Alle  alteren  Berichte  kommen  darin  uberein,  daaa  Korjaken  wie  Tschak- 
1  sehen  streng  auf  die  Keuschheit  ihrer  Weiber  Fremden  gegenüber  hielten, 
dass  sie  nie  ihre  Weiber  ihren  Gästen  anboten;  ja  es  standen  schwere  Strafen  auf 
der  Verletzung  ehelicher  Treue  oder  der  Keuschheit.  Andere  Berichte  wider- 
sprechen dem  aber.  Auch  v,  Nordenshjöld  und  Bove  schildern  die  Tschuk- 
tschinnen  als  gittlich,  doch  führt  letzterer  diese  Eigenschaft  auf  Zwang  zurück, 
DasB  sich  heutzutage  die  alte  Sittenstrenge  bei  dem  reichlicheren  Fremdenverkehre 
etwas  gelockert  hat,  ist  begreiflich. 

Mit  Hecht  wird  von  Feschei-Kirchhoff'  bemerkt:  dass  sehr  viele  Stamme 
grosse  Gleichgültigkeit  gegen  jugendliche  Unkeuschheit  zeigen  und  erst  mit  der 
Ehe  den  Frauen  Wandel  auferlegen.  Allein  es  wird  auch  mit  eben  so  vielem 
Hechte  der  Versuch  zurückgewiesen,  aus  dem  Mangel  eines  sprachlichen  Aus- 
drucks, durch  welchen  ,, Jungfrau**  und  ,.Prau*  unterschieden  werden,  auf  eine 
Gleichgültigkeit  gegen  geschlechtliche  Reinheit  zu  schliessen;  denn  manche  Völker, 
«»  B.  die  Abiponen,  besitzen  kein  Wort  ftlr  „Jungfrau*,  werden  aber  doch  hin- 
sichtlich  ihrer  Sittenstrenge  gerühmt.     (DohrishoffvrJ 

Die  Franzosen  der  zweiten  Reise  d' Un^/Wt's  fanden  auf  Isabel,  sowie  auf 
Modera  in  der  Marianenstrasse,  dass  die  Weiber  angeboten  wurden.  (Waitjs* 
Gerland,)  Von  den  Bewohnern  der  Insel  Spiritu  Santo  (auf  den  Neu- 
riebriden)  heisat  es: 

„üti  ont  1a  r^putation  de  o4der  leurs  femmes,  maia  assurement  ils  ne  les  oflrent  pa«  et 
je  n  en  at  pa»  apervu  une  Beule;  hion  plun^  quelques  ofßcierB  etant  all6s  dans  un  Wllage  »itu^ 
tur  une  de«  tle»  de  la  baie.   Tont  trouve  «SvacuL*   par  les  fem  nies   et  les  enfants/     fltobfrjot,) 

Auf  Tahiti,  auf  den  Gesellschafts-lnseln  u.  s,  w.  wird  der  Liebesgenuss 
als  der  höchste  Reiz  des  Lebens  betrachtet;  und  die  Gesellschaft  der  Areol's 
setzen  ihre  ganze  Lebensaufgabe  in  die  Befriedigung  dieses  Vergnügens.  Ich 
konnte  die  Listen  dieser  zügellosen  Sitten  noch  sehr  vergrössern.  Die  Einführung 
des  Christenthums  hat  die  Zustände  allerdings  öchon  sehr  geändert.  Allein  auf 
den  Sandwich- Inseln  fanden  die  Missionare  die  grösste  Schwierigkeit  t*Ür  ihre 
christlichen  Predigten  in  dem  völlig  maogelnden  Vei^ständnisse  dessen,  was  wir 
unter  ^ Keuschheit*  verstehen:  ,Die  Frauen  kannten  weder  das  Wort  noch  die 
Sache,'     (De   Varigntf.) 

Auf  den  meisten  polynesischen  Inseln  herrscht  eine  grosse  Sittenlosig- 
keit.  Nur  auf  Neu -Seeland  waren,  wie  Cook  bezeugt,  die  Frauen  zurück- 
haltender. Sonst  zeigte  sich  auf  allen  Inseln  kaum  eine  Idee  von  Schamgefühl, 
und  derselbe  Reisende  fand  überall  in  den  Hütten  der  Wilden  einen  so  wenig 
durch  Zurückhaltung  gezügelten  Verkehr,  dass  die  sexuellen  Vereinigungen  gleich- 
Batii  coram  populo  geschahen.  Eine  Prinzessin,  Namens  Oberca^  verschmähte  es 
nicht,  ein  junges  Miidchen  anzuleiten,  dass  sie  mit  einem  jungen  Menschen  öffent- 
lich cohabitire.     (Cook.) 

Das  Leben  des  weiblichen  Geschlechts  auf  Hawaii  fand  auch  Ihchard 
Neuhauss  sehr   sittenlos;    Miidchen   von   12 — M  Jahren   sind   in  der  Regel   nicht 


408  ^IV^-  ^er  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 

mehr  jungiräalich;  Unzucht  zwischen  Vater  und  Tochter  gehört  keineswegs  za 
den  Seltenheiten. 

Bei  den  Rotinesen  ist  die  freie  Liebe  zwischen  den  jungen  Leuten  eine 
ganz  gewöhnliche  Sache;  aber  sie  geschieht  nur  im  Verborgenen.  Denn  werden 
sie  dabei  erwischt,  so  muss  der  Verführer  25  Gulden  oder  einen  Büffel  bezahlen. 
Bisweilen  folgt  auf  solche  Entdeckungen  die  Hochzeit,  aber  nicht  in  allen  Fallen. 
(Graafland.) 

Die  Behütung  der  Keuschheit  der  Mädchen  ist  bei  den  Igorroten  auf 
Luzon  (Philippinen)  eine  geradezu  ängstliche,  und  Fehltritte  werden  mit 
schweren  körperlichen  Züchtigungen  oder  sogar  mit  dem  Tode  bestraft.  Die  un- 
verheiratheten  mannbaren  Igorrotinnen  bringen  die  Nächte  in  einem  besonderen 
Schlafhause  zu.  Ein  solches  ist  in  Fig.  224  abgebildet.  Bei  den  Lepanto- 
Igorroten  muss  der  Verführer  das  Mädchen  heirathen  oder  ihr  ein  vollständiges 
Weibergewand  und  ein  belegtes  Mutterschwein  schenken,  und  falls  das  Mädchen 
niederkommen  sollte,  so  muss  er  auch  das  Kind  erhalten.  Eine  Scheidung  aber 
der  geschlechtsreifen  Jünglinge  und  Mädchen  einer  Rancherie  in  zwei  grosse 
Hütten,  wie  sie  Lillo  de  Garcia  angiebt,  besteht  bei  den  Lepanto-Igorroten 
nirgends  mehr.     (Meyer^,) 

Auf  mehreren  Inseln  des  malayischen  Archipels,  namentlich  auf  den  öst- 
lichen Gruppen,  herrscht  zwischen  den  jungen  Leuten  ein  ganz  unbeanstandeter 
geschlechtlicher  Verkehr.  Es  ist  aber  auf  das  strengste  verboten,  doppelsinnige 
oder  gar  unzüchtige  Ausdrücke  im  Beisein  der  Frauen  zu  gebrauchen. 

Unter  den  Malayen  lebt  überhaupt  das  Mädchen  völlig  ungebunden,  so 
lange  man  sie  noch  nicht  verheirathet  hat;  allein  in  Lombok  gilt  Ehebruch  ab 
Verbrechen;  man  wirft  den  Verbrecher  mit  der  Verbrecherin  Rücken  an  Rücken 
zusammengebunden  den  Krokodilen  vor.  Auch  in  Niederländisch-Indien  aind 
schon  lange  vor  der  Entwickelungs-Periode  die  Kinder  dem  GeschlechtsgennaBe 
ergeben  und  der  Coitus  zwischen  Brüdern  und  Schwestern  von  5  bis  6  Jahren 
ist  keine  Seltenheit,  (van  der  Burg.)  In  Cochinchina  und  Japan  halt  man 
auf  Treue  in  der  Ehe,  allein  die  Eltern  dürfen  ihre  Töchter  ohne  Scham  rer- 
kaufeu,  sei  es  an  Private,  sei  es  an  Prostitutionshäuser.  In  China  kaufen  rieh 
reiche  Männer  junge  Mädchen  von  14  Jahren  fiir  ihren  Gebrauch.  Nach  Tun^er 
kann  in  Tibet  jedes  junge  Mädchen  ausserehelichen  Umgang  pflegen,  ohne  dass 
ihr  Ruf  darunter  leidet. 

Wenn  bei  den  Altajern  ein  Mädchen  verführt  wird,  was  nur  höchst  selten 
vorkommt,  so  versammeln  sich  alle  männlichen  Verwandten  des  Mädchens  und 
versuchen  den  Verführer  zu  überreden,  jene  als  seine  Frau  heimzuführen  und  dem 
Vater  einen  verhältnissmässigen  Kalym  zu  zahlen.  Weigert  sich  derselbe,  so 
fallen  sie  über  ihn  her  und  prügeln  ihn  so  lange,  bis  er  um  Gnade  bittet.  Dann 
bezahlt  er  dem  Vater  ein  kleines  Strafgeld,  giebt  ihm  eine  Flinte  und  einen  Pelz 
und  kann  nun  unangefochten  nach  Hause  gehen,  das  Mädchen  wird  aber  in 
diesem  Falle  nic^ht  mehr  als  Tochter  betrachtet,  sondern  muss  gemeine  Dienste 
als  Magd  verrichten.     {liadloff,) 

Der  Indianer  folgt  in  seinen  sexuellen  Beziehungen  lediglich  seinem  Wohl- 
gefallen, er  darf  mit  einem  fremden  Weibe,  selbst  mit  dem  seines  Freundes  sexuell 
verkehren.  Bei  den  Sioux  fand  früher  alljährlich  eine  seltsame  öffentliche  Beichte 
statt.  Die  in  zwei  Reihen  gegen  einander  aufgestellten  Jünglinge  und  Männer 
Hessen  sämmtliche  Mädchen  und  Frauen  hindurch  passiren,  und  jeder  legte  die 
Hand  auf  diejenige,  mit  welcher  er  während  des  Jahres  Umgang  gepflogen  hatte. 
Schlimme  Folgen  hat  dieses  Bekenntniss  für  keinen  der  beiden  Theile;  nur  wurde 
das  Weib  ein  Jahr  lang,  so  oft  sich  dasselbe  ohne  Frauenbegleitung  ausserhalb 
des  Lagers  befand,  als  Prostituirte  behandelt.     {Dodge) 

Die  Indianer- Frauen  einiger  Stämme  besitzen  einen  Keuschheitsschutz,  der 
bei  Männern  Ansehen   und  Geltung  hat:   Ein  Angriff  auf  ein  Cheyenne-Weib, 


106.  Die  Eenschbeit  des  Weibee. 


409 


ich   die  Ftisse   mit  einem  Lariat,    eiaem  Stricke,    umwickelt   hat,    würde  aU 
l^-ucht    mit   dem  Tode  geahndet   werden:    ohne  diesen  Talisman  aber  ißt  das- 
^selbe    io    Abwesenheit    ihres    Eheher m    jedem    fremden  Menschen    wehrlos    preis- 
geben.    iDodffe,) 

Die  Schetfmascha-Indianer  im  südlichen  Louisiana  lebten  in  mono- 
ganiischer  Ehe  und  hielten  streng  auf  Beobachtung  der  Keuschheit.  Liess  ein 
Mädchen  sich  'i\x  weit  mit  einem  Manne  ihrer  Bekanntschaft  ein,  so  harrte  ihrer 
zu  Hause  die  Prügelstrafe.    (Gafschet.) 

Dagegen  fand  Riehard  Rhode  die  Weiber  der  Bororö-lndianer  an  den 
Ufern  des  Paraguay  wenig  keusch,  denn  sie  machten  ihm,  sowie  seineu  Leuten, 
häufig  Liebesanträge, 


Fig.  324.    Jttfic^  ttuvtrheh-aUiät«  jgoi  rot  m  (?1it1lp]^ln«n)  vor  «lern  Scblmrhutistt  <)er  Mudi^heii. 

Einen  Einblick  in  die  im  Lande  herrschende  Keuschheit  gestattet  der  Stauts- 
axeiger  ron  Surinam,  der  fi5r  das  Jahr  1889  eine  Zahl  von  1 935  Geburten  an- 
liebt, von  denen  nur  30M  ehelich   waren,     {Joesf.) 

V,  Turhiifit    berichtet  von   einem  Gebrauche  der  alten  Peruaner,    welcher 
ein  Licht  auf  die  »Itimals  herrschenden  Keuschheit^begritfe  wirft; 

.In  iDiuichon  <T«»gendöii  der  Kbetsoa  pflegten  junge  Leute,  die  in  ein  M&dcben  ver- 
Wf^y*  «  "■■'^n,  mit  Steinen  oder  Stäben  nach  einem  grosien  8tein  oder  Felsen  tn  werfen,  um 
i\  in  eine  ^ptvlte  desselben  hineinzubringen.     Wenn  es  gel&ng,  bo  wurde  das  MTidchen 

lifMiitigt,  und  e«  muaate  dann  dem  Sieger  iu  Willen  sein»  weuaa  iich,    wie    V%ilagomei 


410  ^I^^*  I^er  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 

sagt,  dasselbe  nie  weigert,   da  es  als  grosse  Ehre  galt  und  sich  eine  Menge  abergl&abischer 
Traditionen  daran  knüpften.* 

Im  Allgemeinen  herrschen  in  Beziehung  auf  dasjenige,  was  wir  Keuschheit 
nennen,  auch  unter  den  Völkern  Afrikas  sehr  di£Perente  Zustände.  In  Wadai 
wie  in  Darfur  leben  die  Mädchen  völlig  ungebunden,  und  es  tritt  erst  dann  ein 
festeres  Verhältniss  ein,  wenn  einer  der  Bewerber  einen  Vorzug  erhält.  Bei  an- 
deren Völkern,  in  Akra,  am  Congo  u.  s.  w.  geben  Ausschweifungen  der  Mädchen 
keinen  Anstoss,  ebenso  wenig  bei  den  Papels,  wo  jedoch  auf  Treue  des  Weibes 
streng  gehalten  wird.  Dergleichen  Thatsachen  findet  man  noch  mehrfach  bei 
Waits,  der  jedoch  auch  anführt,  dass  man  dagegen  an  der  Goldküste,  in  Da- 
bo me  u.  s.  w.  die  Verführte  bestraft,  oder  den  Verführer  nöthigt,  sie  zu  heirathen. 
Nach  Thomsmi  tödten  die  Massai  in  Ost-A  f rika  jede  ausserehelich  Geschwängerte, 
gleichgültig  ob  es  sich  um  eine  Unverheirathete  oder  um  eine  Verheirathete  handelt. 
Bei  den  Agahr,  einem  Dinka- Stamme,  muss  nach  Schweinfurth  und  Ratäel  schon 
derjenige,  der  die  Brust  eines  Mädchens  berührt,  den  Kaufpreis  zahlen  und  das 
Mädchen  heirathen.  Weigert  er  sich,  das  letztere  zu  thun,  so  muss  er  die  Kühe 
als  Brautpreis  doch  geben;  das  Mädchen  kann  dann  einen  anderen  heirathen,  aber 
ihr  Werth  wird  dann  als  geringer  betrachtet.  Bei  den  Kaffern  hat  der  Ver- 
führer eines  Mädchens  Busse  zu  zahlen,  und  es  ist  ihm  verboten,  die  Verfahrte  zu 
heirathen.  {Dohne.)  Von  allen  Autoren  wird,  ausser  der  Schönheit,  die  Keusch- 
heit der  Zulumädchen  gelobt;  das  bezieht  sich  aber  doch  wohl  nur  auf  ihren 
Verkehr  mit  Europäern,  üebrigens  würde  jedes  Mädchen,  das  bei  intimem  Ver- 
kehr mit  einem  Weissen  überrascht  oder  das  gar  einem  Weissen  ein  Kind  ge- 
bären würde,  sofort  todtgeschlagen,  und  da  ist  die  Keuschheit  am  Ende  etwas 
nicht  sehr  Verdienstvolles.    (Joest^,) 

Wie  soll  sich  denn  auch  der  Begrifi  ,  Keuschheit'  entwickeln  in  einem 
Volke,  dessen  Anschauungen  so  tief  stehen,  dass  es  am  Kinde  selbst  unzüchtiges 
Wesen  zulässt?     Von  den  Basutho  sagt  Missionar  Griitzner: 

n  Unzucht  ist  Yolkssitte.  Nur  in  dem  Fall,  dass  ein  Mädchen  dabei  geschwängert  wird, 
was  übrigens  wunderbar  genug  nicht  allzu  oft  vorkommt  (die  Mädchen  sagen  za  den  Kerlen, 
die  bei  ihnen  liegen:  verdirb  mich  nicht!),  so  heisst  es:  Bezahle  Strafe!  Der  Betreffende 
bezahlt  dann  an  einigen  Orten  1 — 2  Ziegen,  anderwärts  bis  zu  7  Kühen.  So  lange  aber  ein 
Mädchen  nicht  schwanger  ist,  so  ist  sie  noch  trotz  aller  Unzucht  Xo  lokile  (in  Ordnung). 
Solche  Unzucht  der  Kinder  und  Halberwachsenen  heisst  auch  nicht  anders  als:  Xo  raloka, 
d.  h.  spielen.  Ein  Seotsoa  (Hurer)  ist  nur  ein  solcher  Mensch,  der  überall  und  mit  jedem, 
sonderlich  verheiratheten  Weibe  sich  abgiebt.  Alle  anderen  oben  Genannten  ,spielen'  bloss, 
,wie  die  Hühner'.* 

Aehnlich  schrieb  mir  auch  der  Missionar  W essmann  {Bartels^  dass  die 
eben  geschlechtsreif  gewordenen  Bawenda-Mädchen  in  Nord-Transvaal  von 
den  Frauen  angehalten  werden,  mit  den  jungen  Männern  zu  ,, spielen*.  Weigern 
sie  sich,  so  werden  sie  von  den  anderen  Mädchen  verachtet;  man  spricht  nicht 
mit  ihnen  und  wirfb  sie  auch  wohl  mit  Steinen.  Das  Spielen  ist  nun  ein  weiter 
Begriff,  es  ist  jedoch  streng  von  dem  Beschlafen  unterschieden.  Hierüber  wird 
von  den  alten  Frauen  in  monatlichen  Zwischenräumen  eine  Controle  ausgeübt, 
wobei  das  Mädchen  auf  einem  Steine  sitzt.  Wenn  ihre  Schamlippen  aus  einander 
stehen,  so  erkennt  man  daran,  dass  sie  den  Beischlaf  zugelassen  hat,  und  sie  wird 
dann  gescholten  oder  bestraft.  Dem  Jüngling  ist  nach  erreichter  Mannbarkeit 
das  „Sj)ielen'*  ebenfalls  erlaubt.  Um  einem  Mädchen  seine  Wünsche  in  dieser 
Beziehung  anzuzeigen,  schickt  er  demselben  ganz  öffentlich  ein  Geschenk,  dem  er 
sehr  bald  selber  folgt.  !Nach  der  allgemeinen  Begrüssung  verschwindet  er  mit  ihr 
im  Hause  und  thut  mit  ihr,  was  ihm  gefallt.  Jedermann,  auch  die  Eltern  wissen 
davon.  Wenn  nun  aber  doch  einmal  ein  Mädchen  hierbei  geschwängert  wird,  so 
muss  der  junge  Mann  eine  Busse  in  Ochsen  bezahlen.  Danach  ist  dann  alles  ver- 
gessen.    Solche  Uebertretung  kommt  aber  selten  vor. 


106.  Die  Keuschheit  des  Weibes.  411 

Von  den  Ovaherero  sagt  Fritsch^: 

«Dieselben  haben  eine  Art  von  VerbrQderung  zwischen  Personen  desselben  Geschlechts, 
welche  sie  Omapanga  nennen.  Sind  M&nner  in  dem  Verh&ltniss  zu  einander,  so  haben  sie 
ihre  Frauen  gemeinsam,  es  findet  also  Polyandrie  statt;  handelt  es  sich  aber  um  Personen 
weiblichen  Geschlechts,  die  Omapanga  sind,  so  bedeutet  dies,  sie  treiben  gewohnheitsgemässe 
Unzucht  mit  einander,  was  mit  Wissen  und  Willen  der  Eltern  geschehen  kann.    {Rath.J 

Bei  den  Vaiave  auf  Madagascar  begatten  sich  die  Kinder,  ohne  dass  die 
Eltern  dagegen  einschreiten,  schon  sehr  früh,  und  ahmen  mit  wachsender  Beweg- 
lichkeit immer  mehr  das  Oebahren  der  Eltern  nach,  leider  auch  zum  grössten  Ver- 
gnügen letzterer  und  unter  ihrer  Ermunterung  die  Handlung  sich  täglich  vor 
ihren  Augen  begattender  Hausthiere,  so  dass  ein  civilisirter  Mensch  mit  Ekel  von 
dem  Treiben  dieser  verthierten  Jugend  sich  abwenden  muss.     (Audebert,) 

Schon  früh  hat  die  religiöse  Gesetzgebung  ein  grosses  Gewicht  auf  ein 
keusches  Leben  gelegt.  Unschuld  der  weiblichen  Jugend  und  Keuschheit  wird 
schon  im  mosaischen  Gesetze  geboten:  Es  soll  keine  Hure  sein  unter  den 
Töchtern  Israels  und  kein  Schaudbube  unter  den  Söhnen  Israels;  und  eines 
Priesters  Tochter,  die  also  thuet,  die  anfanget,  also  zu  thun,  soll  mit  Feuer  ver- 
brannt werden  (3.  Moses  19,  29.    21,  9.    6.  Moses  23,  17). 

Die  Einführung  des  Christenthums  hat  bei  manchen  wilden  Stämmen  nicht 
auch  allemal  zu  besseren  Sitten  geführt.  So  hat  z.  B.  der  gewiss  gute  und  heil- 
same Gebrauch  der  wilden  Alfuren  auf  der  Insel  Serang  (Joest^)^  dass  die 
jungen  Leute  im  Baileo  schlafen  müssen,  bei  den  Christen  aufgehört  zu  existiren; 
da  schläft  die  ganze  Familie  in  einem  Hause,  leider  aber  auch  die  Töchter  mit 
ihren  Geliebten  und  die  Söhne  mit  ihren  Freundinnen,  dabei  herrscht  die  unge- 
bundenste freie  Liebe;  und  wenn  einmal  ein  Mädchen  heirathet,  dann  vereinigt 
sie  sich  meist  mit  dem  Manne,  von  dem  sie  glaubt,  schon  mehrere  Kinder  zu 
haben.  Die  Sitten  der  Wilden  lockern  und  verschlechtern  sich  vielfach  in  der 
Berührung  mit  einer  Cultur,  für  die  ihnen  das  Verständniss  fehlt,  die  ihnen 
auch  nur  den  altgewohnten  Brauch  nimmt,  ohne  ihnen  wirklich  bessere  Gebräuche 
beizubringen. 

Wenn  wir  im  Allgemeinen  wohl  in  der  Ueberwachung  der  Weiber  in 
Bezug  auf  ihre  Keuschheit  einen  Fortschritt  zu  höherer  Sittlichkeit  erblicken 
müssen,  so  wird  dieses  Bild  sehr  getrübt,  wenn  wir  sehen,  dass  ein  Theil  der 
mohammedanischen  Völker  als  Keuschheitswächter  Eunuchen  anstellt.  Aber  mit 
Bedauern  müssen  wir  eingestehen,  dass  es  nicht  der  Islam  war,  wo  der  Ursprung 
des  Eunuchenwesens  zu  suchen  ist,  sondern  dass  die  Mohammedaner  dasselbe  von 
den  Cniiristen  übernommen  haben.  Hauri  sagt  sehr  richtig:  «Wir  brauchen  kaum 
zu  sagen,  dass  der  Prophet  solche  Verhältnisse  nicht  gewollt  hat.  Die  gute 
altarabische  Sitte  ist  hauptsächlich  durch  fremde,  persische  und  byzantinische 
Einflüsse  zerstört  worden.''  An  dem  Hofe  von  Byzanz  waren  Verschnittene  ganz 
gebräuchlich.  Ein  moslimischer  Theologe  der  ältesten  Zeit  berichtet:  „Die  Sitte 
des  Verschneidens  stammt  von  den  Byzantinern,  und  wunderbar  ist  es,  dass 
gerade  sie  Christen  sind  und  vor  anderen  Völkern  der  Milde,  der  Humanität  und 
der  Barmherzigkeit  sich  rühmen.*  Die  Ghalifen  von  Damascus  bezogen  ihre 
Eunuchen  ursprünglich  aus  dem  byzantinischen  Reiche,  und  die  von  Cordova 
die  ihrigen  aus  Frankreich,  besonders  aus  Verdun,  wo  die  Juden  weltbe- 
rühmte Eunuchenanstalten  hatten  {Doey).  Trotzdem  fallt  ein  grosser  Theil  der 
Schuld  aus  diesen  Verhältnissen  auf  den  Islam  mit  der  Polygamie  und  dem 
Haremsleben.  Dnsittlichkeit  wird  die  Folge  sein,  wo  das  Weib  sich  in  die  vom 
Koran  gezogenen  Schranken  fägt,  aber  ebenso  gut  da,  wo  es  nach  grösserer 
Freiheit  trachtet;  denn  dass  es  nur  durch  Uebertretung  göttlichen  Gesetzes  sich 
eine  freiere  Stellung  in  der  Gesellschaft  erringen  kann,  führt  natürlich  zu  einer 
ungesunden,  unsittlichen  Freiheit. 

Die  Eifersucht  der  Männer   hat   es  sowohl  bei   den  Naturvölkern  als  auch 


412  ^^^'  ^or  Einixitt  des  Weibes  in  das  Oeschlechtsleben. 

bei  den  sogenannten  Vertretern  der  Civilisation  verstanden,  mechanische  Vor- 
kehrungen zu  treffen,  welche  eine  etwaige  Untreue  der  Frauen  zu  verhüten  im 
Stande  waren.  Es  waren  Apparate,  welche  den  Zugang  zu  den  weiblichen  Ge- 
schlechtstheilen  verschlossen.  Einige  afrikanische  Volker  sollen,  wie  es  heisst, 
ihre  Frauen  nicht  ausgehen  lassen,  ohne  dass  dieselben  sich  ein  Sieb  oder  eine 
Rosen-Muschel  vor  die  Geschlechtstheile  binden. 

Ein  anderes  Verfahren,  welches  die  Eifersucht  der  Ehemänner  ersann,  ist 
eine  Art  der  Infibulation,  d.  h.  das  Einziehen  eines  Ringes  in  die  beiderseitigen 
Schamlippen,  um  den  Introitus  vaginae  zu  verschliessen.  Dieses  soll  im  Orient 
sehr  gebräuchlich  gewesen  sein.  In  Ost- Afrika  wird  bei  vielen  Völkern  ans 
den  gleichen  Gründen  bei  jungen  Mädchen  die  operative  Verschliessung  der  Scheide 
durch  Wundmachen  und  narbiges  Zusammenheilen  der  Schamlippen  geübt,  wie 
wir  das  in  einem  der  vorigen  Kapitel  ausführlich  kennen  gelernt  haben. 

Bei  den  Indianern  beschreibt  Fauw  eine  Art  von  KeuschheitsgOrtel: 

«II  coDsiste  en  une  ceinture  tressee  de  fils  d*airain  et  cadenass^e;  an-dessos  des  hancheB, 
au  moyen  d'une  serrure  composee  de  cercles  mobiles,  oü  Ton  a  grav^  nn  certain  nombre  de 
caractdres  et  de  chiifres.  II  ny  a  qu'une  seule  combinaison  pour  compriiner  le  ressort  qui 
ouvre,  et  c'est  le  secret  du  mari.* 

So  finden  wir  bei  den  uncivilisirten  Volkern  eine  volle  Stufenleiter  in  Bezug 
auf  die  Würdigung  der  weiblichen  Keuschheit,  von  der  grossten  Laxheit  and 
Toleranz  bis  zu  der  unerbittlichsten  Strenge,  welche  die  Verletzung  derselben  mit 
hoher  Strafe,  ja  selbst  mit  dem  Tode  der  Sünderin  ahndet. 


107.  Europftische  Weiberkenschheit. 

Die  Sittenreinheit  der  Weiber  in  Europa  ist  auch  durchaus  nicht  zu  allen 
Zeiten  eine  mustergültige  gewesen,  und  es  ist  ja  hinreichend  bekannt,  dass  ähn- 
liche Marterwerkzeuge,  wie  ich  sie  am  Schlüsse  des  vorigen  Abschnittes  besprochen 
habe,  auch  in  Europa  in  Gebrauch  gezogen  wurden. 

Wahrscheinlich  waren  es  die  Kreuzzüge,  welchen  diese  barbarische  Erfindong 
zu  danken  ist,  durch  die  der  eine  oder  der  andere  der  zu  langer  Abwesenheit  ge- 
zwungenen Ritter  sich  der  ehelichen  Treue  seiner  Hausfrau  unverbrüchlich  ver- 
sichern wollte.  Wie  absprechend  aber  bereits  die  Zeitgenossen  über  eine  solche 
Grausamkeit  aburtheilten,  das  können  wir  aus  folgenden  Thatsachen  entnehmen. 

Im  Arsenal  zu  Venedig  soll  sich  ein  Instrument  befinden,  das  aus  einem 
Process  gegen  Carrara^  einen  kaiserlichen  Gouverneur  in  Padua  vom  J.  1405, 
herstammt;  dasselbe  diente  als  Beweismittel  für  seine  Vergehen,  für  die  er  auf 
Befehl  des  Senats  eingekerkert  wurde:  „Ibi  sunt  serae  et  varia  repagula,  quibus 
turpe  illut  monstrum  pellices  suas  occludebat.**     {Miss(yn,) 

Trotz  der  exemplarischen  Bestrafung  dieses  Mannes  scheint  sich  das  Instrument 
nicht  nur  in  Italien,  sondern  auch  in  Frankreich  verbreitet  zu  haben.  Zuerst 
wurde  der  Versuch  der  Einführung  unter  König  Heinrich  IL  von  einem  Geschäfts- 
manne  gemacht,  welcher  eiserne  Keuschheitsgtirtel,  genannt  „ä  la  Bergamasque*, 
auf  der  Messe  zu  Saint-Germain  ausbot. 

,Du  temps  du  roy  Henry,  heisst  es  bei  Brantome,  il  y  avait  un  certain  quinqaailleor, 
qui  apporta  une  douzaine  de  certains  engins  ük,  la  foire  de  Saint  Germain  pour  brider  le 
cas  des  femmes,  qui  estoient  faicts  de  fer  et  ceinturoient  comme  une  ceinture,  et  venoient  & 
prendro  par  le  bas  et  se  fermer  b.  clef,  si  subtilement  faicts  qu'il  n'estoit  pas  possible  que  la 
fomme  eüt  ce  doulx  plaisir,  n*ayant  que  quelques  petits  trous  menus  pour  servir  ä  pisser.* 

Der  Erfolg  dieses  Kaufmannes  war  ein  höchst  ungünstiger.  Er  musste 
fliehen,  denn  die  Bevölkerung  drohte,  ihn  in  die  Seine  zu  werfen.  Später  freilich 
mochte  man  sich  wenigstens  heimlich  mit  dem  Gebrauche  und  der  Benutzung 
vertraut  gemacht  haben,  denn  im  Musee  de  Cluny  zu  Paris  befindet  sich  ein 
solches  Instrument,  das  durch  seine  Abnutzung  es  wahrscheinlich  macht,  dass  es 


107.  Earop&iscbe  Weiberkenschheit. 


413  . 


vielföltig  in  Anwendnng  war.  Es  besteht  aus  einer  Platte  von  Elfenbein,  befestigt 
an  einem  Gürtel  von  Stahl,  der  von  rothem  Roste  bedeckt  ist  und  mittelst  eines 
Schlosses  zugehalten  werden  kann. 

In  der  berühmten  Waffensammlung  im  Schloss  Erbach  im  Odenwald  sah 
ich  zwei  solche  Keuschheitsgürtel  aus  Eisenblech. 

Der  eine  ist  mit  rothem  Sammet  überzogen,  aber  sonst  ohne  jede  Verzierung;  dem 
anderen  feblt  der  Stoffüberzug,  jedoch  hat  er  früher  wohl  einen  solchen  getragen,  zu  dessen 
Befestigung  die  Ränder  des  Instruments  in  gleichen  Abständen 
Yon  feinen  Löchern  durchbohrt  sind.  Die  Aussenfläche  des 
Letzteren  zeigt  in  ziemlich  roher  Weise  eingeätzte  bildliche 
Darstellungen  im  Stile  der  Wende  des  16.  Jahrhunderts.  Yon 
einem  dreitheiligen,  ungefähr  nur  1  cm  breiten  eisernen  Leib- 
gurt geht  vom  und  hinten  je  ein  schmales,  der  Eörperrun- 
düng  entsprechend  gebogenes  Eisenblech  nach  unten  ab.  Diese 
beiden  Stücke  sind  mit  dem  Leibgurt  durch  ein  Chamier 
verbunden  und  haben  eine  breite  Basis,  nehmen  aber  dann 
ungefähr  eine  Lanzettform  an.  Die  Spitzen  dieser  beiden 
Lanzetten  treffen  sich  in  der  Dammgegend  der  Frau  und  sind 
hier  ebenfalls  durch  ein  Chamier  mit  einander  verbunden. 
Die  hintere  Platte  besitzt  dem  After  entsprechend  eine  klee- 
blattfOrmige  Oeffnung  von  5,2  cm  Breite  und  4,5  cm  Höhe. 
Bei  dem  unverzierten  Gürtel  ist  diese  Oeffnung  rund  und 
von  nur  3,1  cm  Durchmesser.  Auch  der  vordere  Theil  der 
Gürtel  ist  mit  einer  Oeffnung,  der  Schamspalte  entsprechend, 
vorsehen.  Dieselbe  bildet  einen  schmalen,  spindelförmigen 
Längsspalt  von  7  cm  Länge  und  1  cm  grösster  Breite.  (Bei 
dem  nicht  verzierten  Gürtel  7,6  cm  und  1,7  cm.)  Bei  beiden 
Gürteln  ist  dieser  Längsspalt  mit  feinen  Zähnen  besetzt.  Etwas 
oberhalb  dieses  Spaltes  ist  bei  dem  schöneren  Gürtel  noch  ein 
Ausschnitt  von  der  Form  eines  Pique-Ass  angebracht,  der  wohl 
nur  einen  omamentalen  Zweck  besitzt.  Auf  der  Bauchplatte 
sowohl,  als  auch  auf  der  Gesässplatte  finden  sich  flach  ein- 
geätzte Verzierungen.  Dieselben  stellen  ein  Rankenwerk  dar, 
welches  nach  oben  aus  einander  weicht,  um  je  eine  bildliche 
Darstellung  zu  umrahmen.  Vom  ist  dieses  ein  Paar,  das 
sich  umschlungen  hält  und  sich  küsst,  wobei  die  Frau,  viel- 
leicht cohabitirend,  auf  dem  Schoosse  des  Mannes  sitzt. 
Damnter  findet  sich  die  Unterschrift: 

Ach  Das  sey  Eich 
geklagt  Das  mir 
Weiber  sein  mit  der 
Bruch  (Brück?)  geplagt. 

Etwas  tiefer  ist  im  Ranken  werk  noch  ein  kleiner  bekleideter  Mann  zu  erkennen. 
Die  Hinterplatte  hat  als  Bild  eine  im  halben  Profil  sitzende  nackte  Frau  mit  ziemlich 
hängenden  Brüsten.  Sie  ergreift  mit  der  Hand  den  senkrecht  aufstehenden  Schwanz  eines 
Fuchses,  welch  letzterer  ihr  zwischen  den  Waden  hindurchkriecht.  Auch  hierunter  befindet 
sich  ein  Vers: 

Halt  Füxel  ich 

Hab  Dich  er  Wischt 

Du  büst  mir  Oft  dar 

Durch  Gewist. 

Noch  in  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  war  eine  Frau  in  Frank- 
reich gegen  ihren  Ehegatten  klagbar  geworden,  weil  er  ihr  einen  derartigen 
Keuschheitsgürtel  angelegt  hatte.  Die  Rede  seines  Yertheidigers  im  Parlamente 
ist  uns  noch  erhalten  geblieben.     (Freydier,) 

Die  Abbildung  eines  solchen  Gürtels  hat  uns  ein  unbekannter  Meister  des 
16.  Jahrhunderts  geliefert.     Dieser   Stich   ist   von   Hirth   in    seinem    culturge- 


Fig.  225.    Keaschheitsgürtel. 

(Nach  einem  aiumyinen  Stich  den 

10.  JahrhuoderUi.) 


414 


XIV.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geschlechtsleben. 


schichtlichen  Bilderbuche  wiedergegeben.  (Fig.  225.)  Ueber  der  ge- 
schlossenen Dame,  die  aus  der  Geldtasche  eines  Alten  mit  einer  Hand  Münzen 
herausnimmt  und  mit  der  anderen  Hand  das  Oeld  einem  jungen,  einen  grossen 
Schlüssel   haltenden  Manne  giebt,   steht   auf  einem  Spruchbande  folgender  Vers: 

Es  hilft  kain  shloss  für  franwen  list 
kain  trew  mag  sein  dar  lieb  nit  ist 
Darumb  ain  schlüsseli  der  mir  gefeit 
Den  wOl  ich  kauffen  umb  dein  gelt. 

Auch  noch  mancherlei  andere  Thatsachen  sprechen  dafür,  dass  in  den  frQheren 
Jahrhunderten  es  die  Weiber  in  dem  Punkte  der  Keuschheit  nicht  gerade  allzu 
genau  genommen  haben.  In  einem  berühmten  Werke  des  16.  Jahrhunderts,  des 
Franrisci    Petrarchae   Trostspiegel    in    Glück    und    Unglück,    handelt   ein 


Fig.  2^.    VoD  anehi'lkher  Unkeuschlieit.    (Xa«h  Fetrarckae  Trostspiegel.)    (1584.) 


Kapitel  „von  vnehrlicher  Vnkeuschheit**.  Der  beigegebene  Holzschnitt  (Fig.  226) 
zeigt,  wie  die  Teufel  die  Unkeuschen  zusammenführen,  und  als  Trost  ist  folgender 
Spruch  hinzugefügt: 

«Für  böse  Lust  und  Büberey 

Findt  man  kein  besser  Artzcney, 

Dann  Abstinentz  in  Speiss  und  Trauck, 

Vnd  ^eb  dich  nicht  in  Müssiggang.* 

Als  eine  grosse  Quelle  der  Unkeuschheit  wird  von  Petrarcha  der  Tanz 
bezeichnet.     Er  giebt  dazu  die  Abbildung  Fig.  228  und  den  folgenden  Vers: 

«Der  Teuffei  hat  den  Tantz  erdacht, 
Damit  vii  vbels  auifgebracht. 
Wie  man  der  Bulschaift  pflegen  sol, 
Das  lernt  man  an  den  T&ntzen  wol." 

Wie  der  menschliche  Geist  bei  seinen  Sünden  aber  stets  auf  eine  gute  Ent- 
schuldigung sinnt,  so  suchte  man  die  Unzucht  dadurch  zu  beschönigen,  dass  man 
die  Sterne  dafür  verantwortlich  machte.  Denn  wer  unter  dem  Planeten  Venus 
geboren  war,  der  musste  nach  dem  damaligen  Glauben  unwiderruflich  der  Wollart 


416 


XIY.  Der  Eintritt  des  Weibes  in  das  Geseblechbleben. 


nommeü-     Jedem  Planetenbilde  ist  ein  Gedicht  beigefügt,  das  deru  Planeioi  io  dt^o 
Mund  gelegt  ist.     Bei  dem  Bilde  der  Vmus^  das  in   der  Fig,  227  wicderg«geb6Q 

ist,  ^^*^i"^*   f"^ ' 

„Venus  der  funfft  planet  fein 
Hojss  ich  vnd  ptn  der  niynne  «cbein 
Feucht  TDcl  kult  pin  ich  mit  craöl 
Natürlich  dick  mit  meiiterBcbaift, 

WsLH  Kinder  vntter  mir  geporen  werden 
Die  »int  frolich  hie  auM'  erden 
Ein  «eit  arm  die  ander  xeit  reich 
In  mittelkeit  ist  in  nymant  gleich 
Harpffen  lauten  sinjc^en  alle  seytenspit 
Hören  sie  gern  vnd  kunnen  sein  vil 
Orgeln  pfeiffen  vnd  pusaunen 
Tanntzen  heben  kudsen  vnd  rawmen 
Ir  leip  ist  schon  ein  hübschen  mitnt 
Augpraven  gefug  ir  antlutx  runt 
Vnkeusch  vnd  der  mynne  pflegen 
Sein  venus  kint  all  wegen/ 


./^•j 


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Fift.  22^    Der  Tft««.    Uolzicbaitt  vam  J  , 


'■fj"    Vr<>sl>>.}Arit¥\  \ 


Von  den  Zuständen  in  den  Bädern  habe  ich  oben  bereits  erzahlt  Das» 
liier  nicht  nur  bei  der  Betrachtung  der  körperlichen  Iteize  des  anderen  Q^^ 
schlechtes  geblieben  ist,  dafür  finden  sich  vielfache  Belege.  Aus  dem  II»,  Jahr- 
hundert berichtet  der  Florentiner  Poggio  von   Baden  im  Aargan: 

«l)ie  Bader&ume  m  den  Gastbiluseni  waren  zierlich,  jedoch  ebcnfalli  boidon  Oeiokiloollivm 
geDieinaani.  BretterwUnde  gingen  %war  xwijchtmdurdi.  alloin  dieselben  haltian  iO  violo  O^fT- 
fiungen,  daün  man  von  beiden  Seiten  ttich  «oheii.  und  anch,  wiu  hAuHg  vorkanr  »-^^^-t-r 
koiint4>/    CSdierr^^ 

Und    80    sprach    PoggiO    nber    diesen    Badeort    das    charaktorisiWhti    Ui 

theil  aus: 

,Nnlla  in  nrbo  temutini  baln«a  ad  Foeeunditat4}iii  mulifiram  tnagi*  ftiuii  j 


107,  EuropAiflcbe  Weiberkeuschheit. 


417 


Alwin  Srhnlts  äussert  sich  über  die  Wannen biider  im  Mittelalter  folgender- 
en: 

,Wir  upHitztm  zwßi  Intereggante  Darstellungen  eines  solchen  Badesaalea,  beide  bur* 
gundiscbe  Miniaturen  in  den  fr  an  z5d  lachen  Uebersetzungen  des  VcderhM  Maximxis^  die 
eine  in  der  Stadtbibliothek  zu  Breslau,  die  andere  in  der  zu  Leipzig*  Voransechicken 
möchte  ich,  dass  ich  die  Bilder  für  übertrieben  halte,  und  dase  nach  meiner  Ansicht  auch  in 
ihnen  nur  der  Vorliebe  des  Mittelalters  für  derbe  handgreifliche  Scherze  EechnuAg  getragen 
worden  ist.  Die  Breslauer  Miniatur  zeigt  uns  eino  Reihe  von  Badewannen,  in  denen  immer 
ein  Mann  und  ein  Weib  gegenüber  Platz  genommen  haben.  Ein  Brett,  das  über  die  Wanne 
gelegt'  ist,  dient  als  Tische  iat  mit  einer  hQhBchen  Decke  überbreitet,  und  auf  ihm  stehen 
Früchte,  GetrÄnke  u,  ?;,  w.  Die  M&nner  haben  ein  Kopftuch  und  tragen  eine  Schambinde; 
die  Frauen  sind  mit  KopfpntE,  Halsketten  u.  ä.  w.  geziert,  sonst  aber  ganz  nackt.  Die  Leip- 
ziger Miniatur  ist  ähnlich,  nur  stehen  die  Wannen  getrennt,  und  über  jene  ist  eine  Art 
Hube,  aus  Stoff  gefertigti  angebracht,  deren  Yorh&nge  zugezogen  werden  k5nnen.  Gar  zu 
Icbtig  ist  es  in  dieser  Art  von  Badestuhen  nicht  zugegangen,  und  anstftndige  Frauen  worden 
lle  wohl  nicht  benutzt  haben** 


i 


#^ 


J^?r§fe< 


Fig.  2Sh».    B»del«b«n  im  16.  JabrbaDdert     Nach  Rf^.    (IM«.) 


Hier  befindet  sich  Schtdf^  wobi  im  Irrtbum,  sonst  wäre  vod  der  Kirche  gegen 
die  Badestubeo  nicht  so  energisch  geeifert  worden.    Und  Schulijs  selber  fahrt  fort: 

,Dafig  jedoch  die  Badest  üben  von  Liebeapaaren  hin  and  wieder  benutzt  wurden,  das 
tcheint  ebenso  sicher.  Die  BAder  galten  als  Gelegeoheitamacber,  wie  in  dem  Gedichte  ;,Det 
Teufeb  Netz*  (um  142Q  entstanden)  klar  ausgesprochen  wird.     Eis  heiait  da: 

«Der  bader  und  sin  geaind 
Gern  huoren  und  buoben  sind 
(Daz  sich  wol  dick  empfint), 
Diep,  lieger  und  kuppler 
Und  wissend  alle  fremde  mär 
Och  kunnen  sie  wol  schatfen 
Mit  laigAn  und  mit  pfaffen. 
Die  ir  Üppigkeit  went  triV«en, 
Krmnen  die  froulin  zuo  in  schiben^ 

LDm   Bedeleben    im    Ul  Jahrhundert  flihrt  ans   ein    Holzschnitt  aus  Owol- 
Itifff:  Spiegel   UDd  Regiment   der  dedundbeit  iPig.  229.)    An 


no«»Hart»lt.  Vm  WsT- 


*'»«»    I. 


27 


418  XIV.  Der  Eintritt  det  Weibes  in  das  Geechlechtaleben. 

einem  gedeckten  Tische  sitzt  ein  Herr  und  eine  Dame;  za  ihren  Seiten  steht  ein 
Narr  und  ein  musicir^nder  Pfeifer.  Ein  reich  gekleideter  Diener  tragt  fiisclie 
SchüsHeln  auf.  Dabei  steht  der  Arzt,  den  Urin  beschauend.  Vor  dem  Tische 
sitzt  nackt  in  einer  Badewanne  ein  Mann,  und  ein  zweiter,  ebenfalls  nackt,  sitzt 
auf  einer  Fussbank  daneben;  'er  scheint  einen  Schröpf  köpf  auf  der  Schulter  zu 
haben.  Ihm  zur  Seite  sitzt  eine  Dame,  die  Kleider  bis  auf  die  Oberschenkel  zurfick- 
geschoben;  der  rechte  Fuss  steht,  in  einer  Fusswanne  und  am  rechten  Arme  ist 
ihr  die  Ader  geschlagen.  Ein  hinter  ihr  stehender  Herr  beugt  sich  über  sie  und 
legt  ihr  seine  Hand  auf  die  Schulter.  Diese  ungenirte  Scene  spielt  sich  im  Freien 
in  einem  Garten  ab. 

Bekanntlich  spielt  die  Untreue  der  Weiber  und  das  Hintergehen  ihrer  Ehe- 
männer in  vielen  mittelalterlichen  Erzählungen  den  wesentlichen  Kern  der  Ebmd- 
lung.  Hier  sind  namentlich  die  Novellen  von  Boccaccio  zu  erwähnen.  Auch  die 
Sittenprediger  berühren  wiederholentlich  dieses  Thema;  hierfür  finden  wir  bei 
Kotelmann  mehrere  charakteristische  Bel^e.     Er  sagt: 

«Auch  von  der  Prostitution  abgesehen,  war  der  aussereheliche  Verkehr  der  beiden  Gre- 
schlechter  sehr  häuBg.  Berthold  von  Regensbttrg  bezeichnet  denselben  ab  «üne*  (Unehe, 
Concubinat),  da  ein  lediger  man  ein  lediges  w!b  hat.  Oder  er  sagt  davon:  ,£z  heizet  das 
unkiusche,  daz  die  nescher  unde  die  nescherin  naschent  von  einem  zu  dem  andern,  als  das 
▼the,"  wie  dies  oft  bei  Ledigen  der  Fall  war.  War  doch  die  angeborene,  von  allen  Zeugen 
gerühmte  Keuschheit  der  alten  Germanen  l&Dgst  verloren  gegangen  und  an  deren  Stelle  eine 
weit  verbreitete  sittliche  Laxheit  getreten.  Berthold  weiss  nicht  oft  genug  zu  klagen,  in  wie 
grosso  Kreise  die  Unzucht  eingedrungen  sei.'' 

An  anderer  Stelle  sagt  Berthold  dann: 

«Die  jungen  toechteren,  und  die  jungen  meytlin  gedencken,  wie  sye  ettwann  inünch, 
unnd  pfafTon  herumb  bringen.* 

Und  Geiler  von  Keyserseberg  predigt: 

„Das  man  aber  in  den  kloesterenn  zuo  ersten  messen  (Kirchweih),  oder  sunst  zur  an- 
deren zeitten  sollich  buobenteding  uffrichtet,  unnd  das  die  Frowen  in  die  kloester  gond 
(gehen),  unnd  mitt  den  münchen  uft  unnd  ab  hupffent,  und  in  die  Zellenn  unnd  winckel 
doraiftor  (danach)  schlieffent  (schlüpfen),  das  ist  einn  öffentlicher  miszbrnch,  unnd  sol  nit 
gestattet  worden,  denn  kein  frow  soll  in  kein  münch  kloster  nit  gon.  es  ist  luter 
buobenteding.  Menge  fromme  frow  got  in  ein  kloster,  und  aber  got  ein  hurr  wider 
heruiz.  Doran  sein  schuldig  ir  mann,  die  do  eweren  (euren)  wyboren  sollichs  gestatten.* 
( Kotelmann  J 

Die  heutigen  ungarischen  Zelt-Zigeuner  bedienen  sich,  wie  r.  Wlislocki^ 
«Tziihlt,  eines  besonderen  Apparates,  um  ihre  Eheherrin  vor  Verführung  zu  sichern : 

fiDor  junge  Gatto  lilsst  sie  in  der  Brautnacht  unbemerkt  auf  eine  kleine  Scheibe  aus 
Lindenholz,  von  der  Grösse  eines  Thalen«,  barfuss  treten.  Auf  der  einen  Fläche  dieser  Scheibe, 
die  die  Dicko  und  Grösse  eines  Thalors  hat,  sind,  wie  aus  folgender  Abbildung  (Fig.   230) 


Fig.  'J:k\    Ziiaberbolr.  xur  Krhaltung  der  Fig.  ZM.    Zaabcrholx  zar  Erhaltiing  der 

ohelichon  Trvuo  d«r  Zigeunerin.  ehelichen  Treue  der  Zigeunerin. 

iVorierüeite.)      vNach  t\  U7tW4hrki^.  (Rückseite.)     (Xach  r.  init/<^kiK) 

orsichtlich.  Zeichen  und  Figuren  mit  einer  noch  nie  gebrauchten,  im  Feuer  erhitsicn  Nad«! 
oingeritxt.  Kino  Zigeunerin  erklrurte  mir  diese  Zeichen  folgendermaasMa:  Bia  am  Budt 
der  Flüche  hinlaufenden  verschlungenen  Linien  bedeuten  eine  Kette  (wie  w^  4 

Frau  an  den  Mann  gefeeselt  sein);  die  Kreuze  bedeuten  das  ,b{We  Glflok*  • 
^  «Loch*  ffültn  soll.    Die  darunter  befindlicht  Figur  stellt  die  Schlag» 


107.  Eorop&ische  Weiberkeuschheit  419 

symbolisch  den  zukanftigen  VerfAhrer);  und  die  darunter  befindliche  Figur  ist  ,Thurm",  ,wie 
der  Gatte  wachen  soll*  über  die  Treue  seiner  Gattin,  oder  , seine  Glieder  sollen  so  stark  sein, 
wie  der  Thurm*,  damit  seine  Gattin  mit  ihm  zufrieden  sei.  Auf  diese  Seite  der  Scheibe  soll 
die  junge  Gattin  in  der  Brautnacht  mit  dem  linken  Fuss  treten,  mit  dem  rechten  aber  auf 
die  andere  Seite,  die  mit  folgenden  Zeichnungen  versehen  ist.  (Fig.  231.)  Die  obere  Figur 
soll  eine  Blume  darstellen,  ,das  ist  die  Liebe*;  die  untere  aber  zwei  gekreuzte  Stöcke,  für 
den  Fall,  wenn  sich  die  Ehefrau  in  der  Liebe  vergessen  sollte.* 

Dieser  Zauber  scheint  aber  nicht  unter  allen  Umständen  seine  schützende 
Wirkung  auszuüben,  denn  v.   Wlislocki^  erzählt  femer  noch: 

»Einen  eigenthümlich  geformten  Zauberapparat  verkaufen  bisweilen  die  südunga- 
rischen Zolt-Zigeunerinnen,  der  als  ein  zuverlässiger  Probirstein  für  die  Treue  einer 
Ehefrau  betrachtet  wird.  Derselbe  besteht  aus  drei  entblätterten  Buchsbaum-  und  ebenso 
vielen  Rosmarin-Zweiglein,  die  mit  einem  rothen  Faden  umwunden  durch  drei  entfleischte 
Klstornschädel  gezogen  werden.  Der  eifersüchtige  Gatte  legt  nun  diesen  Zauberapparat  unter 
das  Kopfkissen  seiner  Frau:  ist  sie  rein,  so  wird  sie  ruhig  schlafen,  im  anderen  Falle  aber 
wird  ihr  Schlaf  unruhig  sein,  ja*  sie  wird  im  Traum  alle  ihre  Fehltritte  ausplaudern.  Wirk- 
samer wird  dieser  Apparat,  wenn  er  neun  Tage  vorher  in  dem  Grabhügel  eines  ungetauft  ge- 
storbenen Kindes  eingeschurrt  gelegen  und  dann  mit  dem  Menstrnationsblute  eines  Weibes 
besprengt  worden  ist. 


27* 


XV.  Die  Jungfranschaft 

108.  Jnngfranenzanber  nnd  JnngfSraaschaftsorakel. 

Allerlei  mystischer  Einfluss  im  günstigen  Sinne  wird  einer  keuschen  Jung- 
frau zugeschrieben,  bisweilen  leider  sehr  zu  deren  Schaden.  So  erscheint  über 
ganz  Deutschland  der  unselige  Aberglaube  in  dem  Volke  verbreitet,  dass  kein 
wirksameres  Mittel  gegen  venerische  Erkrankungen  aller  Art  existire,  als  der  Bei- 
schlaf mit  einer  unbefleckten  Jungfrau,  oder  wenigstens  die  directe  Berührung 
ihrer  Oeschlechtstheile  mit  dem  erkrankten  Penis.  Unendliches  UnglQck  ist  auf 
diese  Weise  verbreitet  worden.  Auch  in  den  Gebieten  von  Belluno  und  Tre- 
viso  findet  sich  nach  der  Angabe  von  Bastanzi  die  gleiche  schreckliche  Unge- 
heuerlichkeit. 

Wie  das  primum  menstruum  der  jungfräulichen  Mädchen  zu  allerhand  Zauber 
und  Medicin  gebräuchlich  ist,  das  haben  wir  bereits  oben  kennen  gelernt.  Eben- 
falls in  den  Provinzen  Belluno  und  Treviso  vermag  die  Jungfrau  die  Frucht- 
barkeit der  Schweine  zu  vermehren,  wenn  sie  dabei  anwesend  ist,  während  der 
Eber  das  Bespringen  ausfuhrt.     {BastanzL) 

Eine  merkwürdige  Sitte,  die  Raupen  zu  vertreiben,  berichtet  Bastanzi  aas 
dem  Gebiete  von  Belluno.  Sowohl  ein  Priester  als  auch  ein  völlig  nacktes 
junges  Mädchen  müssen  Morgens  früh  in  der  Anpflanzung  erscheinen.  Und  wenn 
sie  sich  treflfen?     „Mio  Dio,  non  ci  pensiamo!* 

Hieran  erinnert  ein  Gebrauch  in  Litthauen,  von  welchem  uns  Beejsenberger 
Nachricht  giebt     Er  sagt: 

«Wenn  in  einem  Hause  viol  Flöhe  sind,  so  muss  es  ein  Mädchen  ganz  nackt  am  ersten 
Ostertage  vor  Sonnenaufgang  auskehren  und  den  Kehricht  über  die  Feldgrenze  werfen.* 

Die  gestriegelte  Rocken-Philosophia  führt  den  im  Jahre  1709  in 
Deutschland  noch  herrschenden,  merkwürdigen  Aberglauben  an,  dass  wenn  einem 
frühmorgens  eine  reine  Jungfrau  begegnet,  dieses  Unglück  bedeute. 

Nun  ist  es  aber  dann  natürlicher  Weise  auch  wünschenswerth,  ein  sicheres 
Kennzeichen  zu  besitzen,  imi  zu  wissen,  ob  das  betreffende  Mädchen  auch  ihre 
Jungfrauschaft;  noch  nicht  verloren  habe.  Auch  in  dieser  Beziehung  begegnen 
wir  im  Volksaberglauben  mancherlei  absonderlichen  Prüfungsmitteln  und  Orakeln. 
Schon  nach  Ovid  zeigte  ein  Faden,  mit  welchem  man  den  Halsumfang  maass, 
eine  Zunahme  des  Letzteren  an,  wenn  das  Mädchen  die  Keuschheit  verloren  hatte. 
Noch  heutigen  Tages  hat  man  nach  Karusio  solch  ein  Faden-Orakel  in  der  Pro- 
vinz Bari.  Man  muss  von  hinten  her  über  den  Nacken  und  die  Lippen  messen. 
Wenn  dann  der  Faden  sich  nicht  über  den  Kopf  des  Mädchens  abstreifen  lässt, 
so  befindet  sie  sich  noch  im  Besitze  ihrer  Jungfranschaft. 

Von  den  Ossetinnen  im  Kaukasus  hatten  wir  schon  oben  berichtet,  dass 
eine  üppige  Ausbildung  der  Brüste  bei  jungen  Mädchen  für  ein  sicheres  Zeichen 
eines  unsittlichen  Lebenswandels  angesehen  wird. 


109,  Die  Mueftchtung  der  Jongtraußcbaft. 


421 


Auch  von  dem  Landvolke  in  Bayern  führt  Lammert  solche  Keaschheits- 
Prüfungen  an.  Wenn  ein  Mädchen  einen  Topf  kochenden  Wassers  vom  Fener 
hebts,  und  derselbe  hört  auf  zu  kochen,  so  hat  es  seine  Jungfernschaft  verloren. 
Weniger  ästhetisch  ist  die  folgende  Probe;  Giebt  man  einem  Mädchen  das  Pulver 
von  verbrannten  Epheu wurzeln  ein,  so  vermag  es,  wenn  es  nicht  mehr  Jungfrau 
ist,  seinen  Urin  nicht  zu  halten. 

Nach  der  gestriegelten  Rocken-Philosophia  glaubte  man  in  Nord- 
Deutschland,  dass  OS  ein  Beweis  für  die  noch  erhaltene  Jungfernschaft  sei,  wenn 
das  Mädchen  ein  verlöschtes  Licht  wieder  anzublasen  vermochte,  so  dass  dieses 
wieder  zu  brennen  begann. 

Die  Neu -Griechen  auf  Morea  besitzen  eine  ganz  absonderliche  Jungfern- 
schaftsprobe, Hier  rausste  die  Braut,  bevor  sie  das  Brantbett  bestieg,  auf  ein 
ledernes  Sieb  steigen.  Durchtrat  sie  hierbei  das  letztere,  so  lag  ihre  Unbefleckt- 
heit klar  zu  Tage.     (PouqueviUe) 


109*  Die  Mlssftchtnng  der  Jnngfranschaft. 

Der  Begriff  der  Jungfrauschaft  ist  ein  ethischer,  der  von  der  Annahme 
ausgeht,  dass  die  9e:itaeUe  Unberiihrtheit  des  Mädchens  einen  ganz  besonders  hohen 
sittlichen  Werth  besitze.  Die  Anschauungen  über  diesen  Werth  sind  aber  bei 
den  verschiedenen  Völkern  sehr  verschiedenartig  abgestuft;  aber  selbst  bei  einer 
ziemlich  niederen  Cnltur  finden  wir  bisweilen  als  ein  untrügliches  Zeichen  einer 
ethischen  Kegimg  die  Achtuüg  und  die  Werthschätzung  der  Jungfräulichkeit 
Wir  selbst  haben  uns  allerdings  schon  längst  gewöhnt,  in  der  Unnahbarkeit  und 
Keinheit  des  jungfräulichen  Zustandes  das  Ideal  schöner  und  keuscher  Weiblich- 
keit zu  verehren.  Schon  im  altgernianischeu  Rechte  wird  die  Jungfräulichkeit 
als  achtungswerth  aufgefasst,  und  auch  die  christliche  Religion  legt  bekanntlich 
von  Alters  her  ein  so  hohes  Gewicht  auf  ein  keusches  jungfräuliches  Leben,  dass 
manche  verehelichte  Frauen  als  Heilige  noch  heutigen  Tages  verehrt  werden,  weil 
sie  auch  in  dem  Ehestande  sich  die  J  unglVauschat^  zu  bewahren  wussteu, 

Ganz  andere  Momente  hingegen  liegen  der  Werthschätzung  jungfräulichen 
Zustandes  bei  vielen  weniger  civilisirten  Völkern  zu  Grunde;  es  ist  bisweilen  hier 
ein  Naturalismus  der  gröbsten  Sorte,  der  ihre  Auffassung  leitet,  und  der  zugleich 
in  schroffen,  unsere  Gefühle  verletzenden  Formen  zu  Tage  tritt.  Nichts  Sinniges, 
vielmehr  nur  Sinnliches  ist  dann  das  Motiv,  welches  die  eifersüchtige  Männerwelt 
bei  niedrigem  Culturgrade  veranlasst^  das  deflorirte  Mädchen  zu  missachten  und 
von  dem  Ehebette  zuHlckzu weisen. 

Ein    unverletztes  Hymen   gilt  bei  den  meisten  Völkern  als  einziges  Zeichen 
der  Jungfrauschaft.     Auch    bei    uns   war  das  von  jeher  der  Fall,    und  die  grosse 
[Masse    des  Volkes   hält   an    dieser  Signatur    noch    fest,    obgleich    die  gerichtliche 
I  Medicin   schon  längst  über  diesen  populären  Staudpunkt  hinaus  ist*     Das  Hymen 
i  oder  das  Jungfernhäutchen  bildet  eine  hohe  Schleimhautfalte  am  Scheideneingange, 
vor  dem  es  in  den  meisten  Fällen  halbmondförmig  ausgespannt  ist.    Man  glaubte 
allgemein,    dass    die  an  einzelnen    Stellen    des   Scheideneingangs   sich   erhebenden 
warzigen  Excresceuzen,  welche  die  Anatomen  als  Carunculae  myrtiformes  beseich* 
neten,  sich  unmittelbar  nach  der  Zerreissung  des  Hymen  beim  ersten  Coitus  aus- 
bildeten.    Allein  Karl  Schröder  hat  mit  Sicherheit  nachgewiesen,    dass  das  Jung- 
I fernhäntehen  bei  der  Cohabitation  nicht  selten  ziemlich  unverändert  bleibt;  selbst 
nach    häufig  wiederholtem  Coitus    erscheint    es   nicht  selten  nur  ausgedehnt  oder 
eingekerbt.     Durch    das  Eindringen  des  Penis  wird  höchstens  der  freie  Rand  des 
Hymen  zerrissen.     In  der  Regel  kommen  erst  in  Folge  einer  Geburt  solche  Ver- 
länderungen  zu  Stande,  als  deren  Ergebniss  sich  jene  Carunculae  myrtiformes  dar- 
I  stellen.     Demgemäss  ist  das  Vorhandensein  des  Hymen  kein  Kriterium  daflir,  dass 
die  betreffende  Person  noch  nicht  cohabitirt  hat.    Auf  der  anderen  Seite  ist  aber 


422  XV.  Die  Jungfrauschaft. 

auch,  wenn  das  Hymen  fehlt,  die  Annahme  noch  nicht  ohne  Weiteres  berechtigt^ 
dass  schon  ein  sexueller  Verkehr  mit  einem  Manne  stattgefunden  habe,  denn  es 
giebt  auch  eine  Reihe  anderer  Eingriffe,  durch  welche  das  Hymen  zerstört  werden 
kann.  Hiernach  erleidet  also  die  weitverbreitete  Meinung  über  das  Kennzeichen 
der  Defloration  sehr  erhebliche  Einschränkungen  und  Abänderungen. 

Wir  finden,  wie  bereits  gesagt  wurde,  durchaus  nicht  bei  allen  Völkern  der 
Erde  die  gleiche  Auffassung  und  Werthschätzung  der  Jungfrauschaft,  beziehungs- 
weise eines  unverletzten  Jungfernhäutchens.  Wenn,  wie  wir  soeben  gesehen  haben, 
nun  auch  diese  beiden  Begriffe  sich  nicht  vollständig  decken,  so  sind  wir  doch 
nicht  im  Stande,  sie  absolut  aus  einander  zu  halten.  Und  da  zeigt  es  sich,  dass 
man  eine  ganze  Stufenleiter  der  Achtung  oder  Nichtachtung  aufzustellen  vermag, 
welche  diese  Zustände  in  der  Meinung  der  verschiedenen  Völker  gemessen.  Be- 
ginnen wir  mit  denjenigen  Nationen,  welche  der  Jungfrauschaft  eine  vollständige 
Nichtachtung  entgegenbringen,  so  steht  hier  obenan  die  absichtliche  Zerstörung 
des  Jungfernhäutchens  oft  schon  von  den  ersten  Lebenstagen  an  durch  die  Hana 
der  eigenen  Mutter. 

War  es  bei  den  Chinesinnen,  bei  den  Bewohnerinnen  von  Amben  und 
den  Uliase-Inseln  und  bei  den  Indianern  in  übertriebener  Reinlichkeit  ein 
wiederholtes  und  ganz  energisches  Waschen,  welches  zu  der  Zerstörung  des  Hymen 
führt,  waren  es  bei  den  soeben  reif  gewordenen  Mädchen  des  Banda-Archipek 
wahrscheinlich  ebenfalls  religiös- hygienische  Ursachen,  welche  dazu  fähren,  Tam- 
pons aus  Baumbast  in  die  Scheide  zu  stecken,  wahrscheinlich  wohl,  damit  das  in 
hohem  Grade  für  unrein  angesehene  Menstruationsblut  nicht  sichtbar  wird  und 
die  Schenkel  nicht  besudeln  kann,  so  ist  die  Absicht  bei  den  Machacuras-In- 
dianern  eine  durchaus  andere,  wenn  sie  durch  ihre  bereits  oben  beschriebenen 
Manipulationen  ihren  kleinen  Kindern  die  Jungfernhaut  vernichten  und  die  Scheide 
erweitem.  Hier  soll  das  Mädchen  für  einen  recht  frühzeitigen  Verkehr  mit  er- 
wachsenen Männern  hergerichtet  werden.  Ganz  ähnliche  Zwecke  verfolgen  die 
onanistischen  Reizungen,  welche  die  alten  Impotenten  auf  den  Philippinen  bei 
den  kleinen  Mädchen  vornehmen,  und  auch  die  ähnlichen  Spielereien,  wie  wir  sie 
bei  manchen  afrikanischen  Völkern  die  grösseren  Mädchen  bei  den  kleineren 
haben  ausführen  sehen,  mögen  halb  bewusst,  halb  unbewusst  die  gleichen  Ziele 
zu  erstreben  suchen.  Jedenfalls  gehört  hierhin  der  oben  erwähnte  Gebranch  der 
Savu -Insulanerinnen,  den  jungen  Mädchen  bei  der  ersten  Menstruation  ein 
zusammengerolltes  Koli-JBlatt  in  die  Vagina  zu  stecken,  um  diese  zu  erweitem. 
Eine  absolute  Gleichgültigkeit  gegen  die  Jung&auschaft  müssen  wir  überall 
da  erkennen,  wo  wir  einen  vollkommen  unbehinderten  geschlechtlichen  Verkehr 
zwischen  den  unverbeiratheten  jungen  Leuten  beiderlei  Geschlechts  vorfinden.  Wir 
haben  hierfür  bereits  mehrere  Beispiele  kennen  gelernt  und  ich  brauche  an  dieser 
Stelle  dieselben  wohl  kaum  zu  wiederholen,  (Südsee-Insulaner,  Bewohner  des 
malayi sehen  Archipels,  Nord-Asiaten,  Japaner,  Indische  Stämme,  Afri- 
kaner u.  s.  w.),  und  eine  derartige  Unbeschränktheit  finden  wir  bei  den  Mada- 
gassen, den  Basutho,  den  Bawenda  u.  s.  w.  sogar  schon  im  kindlichen  Alter. 
Dass  hier  der  Bräutigam  bei  seiner  Auserwählten  bei  der  Verheirathung  ein  Be- 
stehen der  Jungfernschaft  nicht  voraussetzen  kann,  das  bedarf  wohl  keiner  weiteren 
Darlegung. 

Es  giebt  nun  aber  auch  gewisse  Stämme,  welche  noch  einen  Schritt  weiter 
gehen,  indem  sie  das  Fortbesteben  der  Jungfrauschaft  bei  einer  Erwachsenen  ge- 
radezu für  eine  Schande  betrachten,  für  einen  sicheren  Beweis,  dass  das  MBdchen 
vor  keines  Mannes  Auge  Gnade  gefunden  hat.  Aehnliches  haben  wir  weiter  oben 
bei  den  Wotjäken  gesehen.  Auch  bei  den  ühibchas  (auch  Muiscaa 
Mozcas)  in  Neu-Granada,  welche  jetzt  fast  ganz  untergegangen  sind-  w\ 
die  Jungfrauschaft  als  Beweis  dafür  angesehen,  dass  das  Mädchen  onfl 
Liebe  zu  erwecken. 


109.  Die  Missachtung  der  Jungfraoschafb.  423 

Aehnlich  war  es  nach  Gemelli  Carreri  im  16.  JahrhuDdert  bei  den  Bisayern 
auf  den  Philippinen  (Jagor^): 

«Mais  aujourd*hui  meme  an  Bisayos  s'afflige  de  trouver  sa  femme  ä  T^preave  du 
Boup^on  parcequ'il  en  conclat,  que  n^ayant  et^  däsir^  de  personne,  eile  doit  avoir  quelqae 
mauvaiso  qualit^,  qui  rempöchera  d  etre  heureux  avec  eile.* 

Wenn  nun  auch  andere  Nationen  nicht  soweit  gegangen  sind,  etwas  Ent- 
ehrendes in  dem  Vorhandensein  eines  Jungfernhäutchens  zu  erblicken,  so  sehen 
sie  dasselbe  doch  als  etwas  an,  das  das  eheliche  Vergnügen  hindert  und  beein- 
trächtigt und  welches  daher  vor  dem  Eintritt  in  die  Ehe  entfernt  werden  muss. 
Inwieweit  geschlechtliches  Unvermögen  in  geringerem  Grade,  bedingt  durch  Aus- 
schweifungen in  der  Jugend,  die  erste  Veranlassung  zu  diesen  Gebräuchen  gegeben 
haben  mag,  das  werden  wir  wohl  niemals  zu  entscheiden  im  Stande  sein. 

Bei  den  Sakkalaven  in  Madagascar  entjungfern  sich  die  jungen  Mädchen 
selbst  vor  ihrer  Verheirathung,  faUs  ihre  Eltern  nicht  schon  früher  dafür  gesorgt 
haben,  dass  diese  Präliminar-Operation  ausgeführt  wurde.  (Noel.)  Abscheulich 
ist  die  ungemein  rohe  Art,  in  welcher  australische  Stämme  am  Peak-Flusse, 
um  den  geschlechtlichen  Verkehr  mit  sehr  jungen  Mädchen  zu  ermöglichen,  diesen 
die  Vagina  nach  und  nach  bis  zu  den  gewünschten  Dimensionen  erweitem.  Dieses 
Geschäft  sollen  die  älteren  Männer  der  Gesellschaft  übernehmen.  Wenn  des  jungen 
Mädchens  Brüste  schwellen  und  sich  der  Haarwuchs  zeigt,  so  entführt  sie  eine 
Anzahl  älterer  Männer  an  einen  einsamen  Ort;  dort  wird  sie  niedergelegt,  ein 
Mann  hält  ihre  Arme,  zwei  andere  die  Beine.  Der  vornehmste  Mann  führt  dann 
zuerst  einen  Finger  in  die  Vagina  ein,  dann  zwei,  zuletzt  vier.  Zurückgekehrt 
an  den  Lagerplatz,  kann  das  arme  Ding  in  Folge  der  Misshandlung  3 — 4  Tage 
denselben  wegen  der  heftigen  Schmerzen  nicht  verlassen.  Sobald  sie  kann,  geht 
sie  fort,  wird  aber  in  jedem  Winkel  von  den  Männern  verfolgt  und  muss  sich 
den  Coitus  von  4 — G  derselben  gefallen  lassen.  Dann  aber  lebt  derjenige,  mit 
dem  sie  als  Kind  versprochen  worden  war,  mit  ihr  als  Gatte,  wobei  der  Mann 
zuweilen  circa  5  mal  älter  sein  kann,  als  die  Neuvermählte.  Hill  in  Sydney  be- 
richtet auch,  dass  die  Eingeborenen  von  Neu-Süd-Wales  vor  der  Heirath  an 
der  Braut,  einem  meist  sehr  jungen  Mädchen,  die  Defloration  mittelst  eines 
Feuersteinsplitters  vornehmen,  der  Bogenan  genannt  wird,  und  mit  welchem  das 
Hymen  aufgeschlitzt  wird.  Dies  geschieht  angeblich,  um  den  Eingang  so  gross 
oder  so  klein  herzustellen,  wie  es  dem  Gemahl  passend  erschien. 

Es  ist  nicht  deutlich  zu  verstehen,  wie  sich  der  Berichterstatter  hier  die 
Verhältnisse  eigentlich  vorgestellt  hat.  Ein  mehr  oder  weniger  tiefes  Einschneiden 
der  Jungfemhaut  macht  einen  engen,  jugendlichen  Scheideneingang  noch  nicht 
für  einen  starken  Penis  zugänglich.  Wahrscheinlich  liegt  hier  eine  Verwechslung 
vor  mit  der  weiter  oben  geschilderten  Operation,  von  welcher  Furcell  berichtet 
hat.  Sie  besteht  darin,  dass  die  hintere  Abtheilung  des  Scheideneingangs  mit 
dem  Feuersteinmesser  eingeschnitten  wird;  eine  solche  Vornahme  muss  ihn  aller- 
dings erweitem. 

Dieses  letztere  erinnert  an  die  Operationen,  welche  bei  den  excidirten  und 
vernähten  Mädchen  in  Afrika  vor  der  Hochzeit  nothwendig  werden  und  bei 
welchen  von  Priestem  oder  von  alten  Weibern  dieses  Wiederaufschneiden  meistens 
mit  sehr  fragwürdigen  Instmmenten  ausgeführt  wird.  •  Die  alten  Aegypter 
schnitten  das  Hymen  durch. 

Bei  anderen  Völkern  wieder  begegnen  wir  der  Sitte,  dass  die  Entjungfemng 
der  Braut  allerdings  «lege  artis**  vor  sich  geht,  d.  b.  durch  die  Ausübung  eines 
Beischlafes.  Diesen  vollföhrt  aber  nicht  der  Bräutigam,  sondern  irgend  ein  anderer 
Mann  an  seiner  Stelle.  Wir  dürfen  diesen  Gebrauch  aber  nicht  mit  einem  ähn- 
lichen Terwedneln,  welchen  wir  später  bei  den  verschiedenen  Formen  der  Ehe 
kennen  lenm  werden.  Ich  meine  die  einmalige  Preisgebung  des  Mädchens  an 
die  StüinuMMgenoceni  bevor  sie  durch  die  Ehe  das  ausschliessliche,   unantastbare 


J-j,~.  ^V    Die  JiuigtrauHciiaU. 

Li^*:-atijLiu  «^iiitic  Einz^iu^L  vrird.  Hier  liegen,  wie  icb  seiuer  Zeit  erluatem  werde, 
utiiviziiur  ii:ju^rt  Mütivr  zi;  (Truuüe.  \'n-  iiui.  zu  imüsereni  Falle  zurückzukeihren, 
?i  ujUs>f^i  V  ir  II.  dies*?iL  priimireL  Coitus  dunri.  eiuen  Stellvertreter  doch  wiederum 
^iiii^*  VMl•r^^'.'UHidulJ^eI:  trefiei..  jSacli  einem  Ausspruche  des  heiligen  Athanasius 
Ui*.'i'i«fL  >i'.-i  (ij^  ^'tii>i:ii'.  [ev  einei:  iiesüadereii  N:laven.  dem  das  Amt  oblag,  die 
brttu-  ZI  uehviT-ir-fi.  Bei  den  ViMcavern  auf  dei!  }'hLli]»pinon  eziBtiren  nach 
JJitt/h^u:'  /T'  iiiuivjuuei:.  welche  die  Lutiunglemiip  gewerbamkssifr  betreiben.  Auch 
."//»r/;  «'■'••  v.^iireiüi  im  Uv  .lalirhunden..  wit  Jaanr  berichtet  von  den 
b'.5L:;r'i.  all'   u^i    j-'l.  .lijipiiieu: 

.'.'1  u*  cuijuui:  poiiit  i!  tf^tfonpH-  d  uiit  iroutumr  auäs.  üurbarf:  quf  celle  qui  f'y  etait 
r-ui  .i»  ^' ii\  'i:  ue-  ol'liVier^  puuiic&.  e:  uuyt'h  xu'jzut  iort  ciierenieni.  priur  Ata*  la  vizginite  aux 
:.:.•?-  pa:'.-*  <a  «^li«-  '.'Uti:  re^iiüf^t  L-umiui-  ul  oü.nuLie  uu^  piaisir.-  du  niari.  A  la  Terite  il 
:i>.   \»f.i\'    uu'.uiK   iru'.'*   u«    (;tftu   iiiluojt   pratiijut?  uel)ui^  iu  uumiiuiiioi.  de»  ll6]iupnolK.* 

r^<;llIliiclitf^  üericjii-ei  uuci-  S^itthrriiUi  vul  Neii-Cujeü(»i:ien.  Er  sagt  Ober 
ti»*i.   \\  H-ii     weioiieij   m.»ri   die  .UinpieruschafT   hesitzr: 

.'.•1  '  lui:  pei.  aiiexiiiOL.  L-a;  t*lie  ib  ]H*ri:  ei.  tuLirrani  der  >oi.  bat'  äpc.  Ghoae  fort 
•juvieu»^  ;  u.  «L  iu  i'ivLixt-  qut.  iortijL'iix:  uiur.  iit  ]ieii:  OL  xiv  v«nT  defiore;  sa  femxne.  ü  w 
;Luit\t     VI     {lii^un:     •jeruiu.'^    ludi^iiiu^.    uu.    -  ei    ui-Liiiiit^n:    :.  si.  piucc       C'e  eont   dof^  j^er- 

•  *\.'i    ar;ii:>rt     .' a     M    \o-ili*."    iii'\iL   viiiufTi  la    i>.    it   iioninii    Th-n   iuisaiT  cette  besogne 

^^  I»  *;iii*fi  J  i»ri»oii-i::  ii.  der  Sirilii-nktn:  müssei.  wir  t*  dalier  betrachten. 
v^fiii  V"  ^ell••l..  Vi»  diese  tiiTJuiiirieruiij:  eiiit  Ehr*  isr^.  die  nur  einem  hochge* 
»•.^livei  Maiiiit  :'.iii;.»niiu:  jut  ])rimue  mKtl^..  nde:  eiL  '^Veingeschenk.  welche?  der 
'ji\jt:iiei:  (ia'>!»^o'*a'.'ii:  v>'rat?i  mus^.  und  vei'.ile^  duijt»r  äa>  Bild  der  Gottheit  selbst 
\jtkK'  de'  bMive-ire'rfr  •.^l•n'e^  auf  Erdvi..  der  l'riesier,  Vi^rzunehmen  l>erufen  ist. 
EU.  i>ei?j»ie!  tlsr  dei.  er^i-eL  Vul.  tiüdeL  wi!  ne.  d^'i.  BaiuLttL  iLSecegambien, 
eiueii  beiir  rouei  ^  ejierbTamu.  t.  Hier  iii;:  d^r  HLui^Timxr  die  Terjiflichtung, 
die  fcriiuu  si.  QHti<..rirei..  vfi'.i:  er  sicL  i^f:  i;il-  C'.*S'^'1  ausftiiniit:he  Geschenke  her- 
ueiiiiMii :  v»niit  diewr  LT;iuBtiie'.:eiirunc  de^  Hüu:•I::lu^^  ist  *■<  ai»er  keinem  Mädchen 
«•■iaiii»!.  -tu   iieiraüiieL.       Miwi** 

Alt  '.*;»ief piT.it  uL  dit  *!.Tt»nüe:T  sehei,  wi:  dit  ErsTlinre  «er  .^ungiemscbaft 
•^e  ve'-b'.iiiedeLiei.  N''.*»li;e''L  Qe^  A■^■e^i:um^  dareevrat-i:!.  r;:  denäL  auch  die  alten 
K'.u.e»^  >:eli'.'r^'. .  A:  ju^e'.'iivi.  !*.»liei.  sji-L  dit  rC  n:->(i.eL  BrLüTt  auf  den  Schooss 
ciÄ  «.".•: :.et  JMiCi'i'.-.f  t:*£>f\:z.\  i:a:»eL.  d::re'L  äe>>e::  }*:ial:u^  äa>  B;»-men  zerrissen 
. 'iC  c.t  '^'u>:  ::i.  e-v *■!:>•-.  vvrd*  AvivL  il:;  der^  L.:;^Ln:-r»i:'ns:  :l  Indien  sind 
i.'.  '.  .1 V 1*».    '  ,/»r ' ». ■  '.Il ". ' « ".e L    *  e '".»•.i  '.*  ae* . . 

.  .'.■i.'n^^i.»  i.  ».     '.le»-.'.!.:;-«  ,'t..  liv    .;L!ib  ie^  e:v.r.■li^  i«   •     :  :.    .  1  : :  •     !*»*  .»flun»  znajie«? 

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J>.t  !»jL'.»:  ■.  "..d  Arve::  Jür  is.r  ».^"  TT-rr*  i-i  '.:»rr::;tL:-e:.  iki.r.  >:»5i'er  Opfer- 
«:_-.;£  •:.»:  Pr.e*:-er  vder  öu.L  :.e  ZaWrrrr.  I>ä<  le;r:rr;  w.-.:  r::.  "r^  -Jahrhundert 
» V-  dei  A '. '.  w  ii > '. i *:  1  -.Li  K u II. a L «r L  A IL r r : *i :i *  :»r r. . :.: e:,  "«^ .iirr-r- i  in  N i ca- 
•^a^^.a  der  '.''.-er;. r:e^>r  iic  Brauir  eL:;u:.*rrnT.  uii  A.%s>  .»../:.  he-l«  noch  in 
' '.  ■: .  •- :.  :  r  r  •  i  ri  •, :  ;(:a  'j-  >e .  Le  B ra  - :  r  u  r : l r "-  Bri : ::. u-  ri.  :T. : .  r: .  iir.-. \\  dieser  ihr 
;=-*:  .'.•;!*'« :.^  '.*::  r-ei-'r.e.  >:  enr  .  r:  ■rrjll]:^  T:-.i:>...  :,r  l»t:  iTiredriide  Brah- 
•j..'.»:  H.'.i;-  :■. .  N*r  L-  Br-j-^:.Ji./  tii:  Ge>\.LT^r.k.  iÄ^  •>^::".:r.  t  .:  •  c^nx  betxicht- 
i  :•..'-•:  ii-y"  r   »T-re-'L:.    l'.r  ;:rw>>r  BraL:-:*  t  r.  .^■.::  M.-».ji.sr  s.  ..   v.t^es  Amt  sogar 

• '•:   »:.•/;:*:    Ber ..>:.r i'.Lt   iTrwe^r::   >e:n. 

}■    •    ':-*r;eii;^»eL  YkW^.    «o  *ivh   .iie  J^:.*rra.'.  »'>.:  »:-.itr  .:::::  Priester 
ix\i*'l    'i*::i.    KOr::;;e.    *'>Lderr.    i'^jei.d    eiami    FrMv.ier.    irt^ssoivr:    u:usk» 

•i    Bü'yvjoü    und    Cvpvrn    der   Fali    war.    eri»I:i*ki    ?»..>:  •..•■.:?*w   .:;e  FiHjf 
(ieii.   L'i/i»iaiide.  das$  nicht  cur  da»  MenstruJÜbhit,   $o:iden:  a*.;o!;  das  bei 


110.  Die  Werthsch&tzmig  der  Jungfrauschaft.  425 

floration  durch  die  Zerreissung   des  Hymen   fliessende  Blut,   und  somit  auch  der 

Act  der  Entjungferung  selber  für  verunreinigend  gehalten  wurde.  Daher  überliess 
man  ihn  den  Fremden. 


110.  Die  WerthscUtzung  der  Jungfranschaft. 

Bisweilen  finden  wir  bei  solchen  Volksstämmen,  welche  die  freie  Liebe  der 
Jugend  nicht  hindern,  dennoch  eine  Werthschätzung  der  Jungfrauschaft.  Dahin 
gehören  beispielsweise  die  Eingeborenen  des  Haawu-Ärchipels  in  Nieder- 
ländisch-Indien.  Sie  gestatten  zwar  den  jungen  Leuten  einen  ganz  ungestörten 
geschlechtlichen  Verkehr,  und  daher  verlangen  sie  durchaus  nicht  bei  dem  Ein- 
gehen der  Ehe  ein  Bestehen  der  Jungfrauschaft;  aber  dennoch  geben  sie  unter 
allen  Umständen  einer  Virgo  intacta  den  Vorzug. 

Den  grössten  Werth  legt  man  auf  das  angebliche  specifische  Merkmal  der 
Virginität  in  Asien  und  in  Afrika,  und  in  den  meisten  Ländern  dieser  Continente 
wünscht  der  Mann  regelmässig  bei  dem  Vollzuge  der  Verheirathung  untrügliche 
Beweise  zu  erhalten,  dass  das  in  seinen  Augen  allein  maassgebende  Zeichen  der 
Jungfrauschaft,  das  Jungfernhäutchen,  bei  seiner  oft  für  schweres  Geld  oder  Oeldes- 
werth  erkauften  Braut  noch  unberührt  und  unverletzt  erhalten  sei.  Auch  hier 
begegnen  wir  wieder  einer  sehr  beachtenswerthen  Stufenfolge  in  der  Art  und 
Weise,  wie  sich  der  Bräutigam  die  Ueberzeugung  von  der  geschlechtlichen  Un- 
berührtheit seiner  Braut  zu  verschaffen  suchte.  Als  ersten  Grad  in  dieser  Be- 
ziehung können  wir  die  Sitte  betrachten,  nach  welcher,  wie  Clot  berichtet,  in 
Aegypten  das  Hymen  nicht  etwa  durch  den  ersten  Beischlaf  zerrissen  wird, 
sondern  der  Mann  hüllt  ein  weisses  Mousselintuch  um  den  Zeigefinger  der  rechten 
Hand  und  dringt  in  die  Mutterscheide  der  jungfräulichen  Braut  ein;  das  blutige 
Tuch  nun  zeigt  er  den  Angehörigen  vor.  Unter  anderen  orientalischen  Völker- 
schaften wird  diese  Angelegenheit  mit  noch  weniger  Delicatesse  behandelt. 

In  Nubien  wird  gegen  das  9.  Lebensjahr  hin  das  Mädchen  verlobt;  der 
Ehemann  defiorirt  dasselbe  mit  seinem  Finger  und  vor  Zeugen;  als  wirkliche 
Gattin  führt  er  sie  erst  nach  einem  Jahre  oder  später  heim.  Bei  den  Arabern 
wird  die  Verlobte,  wenn  sie  nicht  Wittwe  ist,  ebenfalls  wie  in  Aegypten  mittelst 
des  von  einem  leinenen  Tuche  umhüllten  Zeigefingers  der  rechten  Hand  entjung- 
fert, doch  besorgt  dies  Geschäft  nicht  der  Mann,  sondern  eine  Matrone,  und  jene 
führt  dasselbe  vorsichtiger  Weise  nur  dann  aus,  wenn  die  Verlobte  gerade  men- 
struirt;  das  Tuch  wird  stets  den  Eltern  gezeigt.  Die  Kopten  verhalten  sich  in 
dieser  Beziehung  ähnlich  wie  die  Araber. 

Bei  der  Mehrzahl  der  orientalischen  Völker  und  auch  bei  einigen  ihrer 
Nachbarn  verlangt  der  Bräutigam  in  der  Brautnacht  nach  dem  ersten  Coitus  im 
Ehebette  Blutspuren  zu  finden  zum  Zeichen,  dass  das  Hymen  von  ihm  selbst 
durchrissen,  seine  Frau  also  nur  erst  von  ihm  selbst  entjungfert  worden  sei.  Diese 
Trophäen  seines  Sieges  und  gleichzeitig  die  Keuschheitsbeweise  seiner  Braut  werden 
dem  Kreise  der  Freunde  und  Verwandten  im  Triumphe  vorgezeigt. 

Auch  die  Bulgaren  verlangen  nach  Bogisic  von  dem  jungen  Ehemanne 
die  sichtlichen  Beweise  dafür,  dass  seine  Braut  noch  Jungirau  war. 

Bei  den  Samojeden  und  Ostjaken  ist  es  nach  Pallas  sogar  gebräuchlich, 
die  Schwiegermutter  für  die  überbrachten  Zeichen  der  Jungfrauschaft  zu  be- 
schenken. 

Bei  den  Chinesen  von  Peking  wird,  nach  mir  von  Herrn  Professor 
Dr.  WOMm  Orube  gemachten  Mittheilungen,  die  Braut  am  Hochzeitsabende  von 
einer  Ehzakboie  entkleidet,  wobei  sie  aber  die  Strümpfe,  die  Beinkleider  und 
den  LendflBgttrtel  anbehält,  in  dessen  Tasche  sich  ein  weisses  Tuch  befindet. 
Der  ^  "»  4wf  ihr  die  Unterkleider  nicht  ausziehen,  aber  das  weisse  Tuch 

p  der  Tasche  nnd   breitet  es  über  das  Lager  hin,   damit  es   bei 


426  ^^-  ^ie  Jungfrauschaft. 

der  Cohabitation  das  hsi  hang,  »das  glückbringende  Roth*  anfifiehmen 
könne.  Fehlt  das  letztere,  so  ist  das  ein  Unglück  und  eine  grosse  Schmach.  Die 
Hochzeitsdecorationen  werden  dann  von  der  Thüre  herabgenommen  und  die  Gaato 
verlassen  schleunigst  das  Haus.  Von  der  Jungvermählten  sagt  man  dann: 
öffentlich  Frau,  heimlich  Concubine.  Der  Mann  darf  seine  Gattin  zurückschicken, 
oder  auch  eine  zweite  Gemahlin  nehmen.  Diese  letztere  hat  dann  den  vollen 
Rang  einer  rechtmässigen  Frau  und  gilt  nicht  als  Concubine.  Wenn  die  Matter 
behauptet,  dass  ihre  Tochter  durch  einen  früheren  Unfall  das  Jungfernhäatchen 
verloren  habe,  so  muss  sie  zum  Beweise  dessen  die  blutigen  Beinkleider  der 
Tochter  herbeibringen,  welche  dieselbe  damals  trug,  oder  die  Watte,  mit  welcher 
das  Blut  aufgefangen  worden  war.  Beides  wird  für  diesen  Zweck  von  der  Matter 
sorgfaltig  aufbewahrt. 

Ueber  die  Afrikaner  finden  wir  auch  schon  im  Anfange  des  vorigen  Jahr- 
hunderts analoge  Angaben  in  des  getreuen  Eckarth's  anvorsichtiger 
Heb- Am  nie.     Es  heisst  daselbst: 

, Dergleichen  Gebrauch  sollen  auch  die  Afrikaner  unter  sich  zuhalten  pflegen.  Denn 
sobald  der  Bräutigam  und  die  Braut  nach  verrichteten  Ehren-Verpflegungen  nach  Hange  ge- 
langen, 80  verfQgen  sich  beyde  alleine,  unterdessen  das  Hochzeit-Mahl  zubereitet  wird,  in  ein 
sonderlich  Zimmer,  vor  welchen  ein  altes  Weib  aufzuwarten  bestellet  wird,  in  welchen  der 
Br&utigam  die  Jungfrauschafft  aufsuchet,  wann  er  nun  solche  gefunden,  so  reichet  er  selbige 
dem  alten  Weibe  zur  Thüre  aus.  Diese  nimmt  nun  das  mit  rothen  Rosen-Bl&ttem  angefüllte 
Leinwand,  und  zeiget  es  denen  anwesenden  Gästen  als  ein  sonderbares  Triumphs-Zeichen,  mit 
grossen  Freudens-Bezeigungen  der  eroberten  Jungferschafft  vor,  worauf  die  Gäste  sich  setsen, 
und  sich  fröhlich  erzeigen.  Wofern  aber  die  Rose  die  Blätter  nicht  fallen  last,  wird  die 
Braut  den  Eltern  zurück  gesendet,  die  eingeladenen  Gäste  aber  müssen  traurig  und  uoge- 
speiset  nach  Hause  kehren." 

,So  bezeugen  auch  des  Claudiani  Garmina,  dass  gleiche  Gewohnheit  die  ROmer 
celebriret  haben,  wenn  er  saget: 

Et  Yestes  Tyrio  sanguine  fulgidas 
Alter  virgineus  nobilitet  cruor. 
Tunc  Victor  madido  prosiliat  thoro. 
Noctumi  referens  vulnera  praelii. 

Gleichwie  das  Ober-Bett  von  hohem  Purpur  strahlt. 
So  ist  das  Unter-Tuch  mit  Jungfer  Blut  bemahlt, 
Das  aus  dem  feuchten  Ort  der  Ueberwinder  springt. 
Und  vom  erhaltnen  Kampf  die  Sieges-Lieder  singt.  ** 

«Dergleichen  Gebräuche  halten  einige  Nationen  noch  mit  in  Europa  wohnende,  daes 
gleiche  BogobeDheiton  das  wahre  Kennzeichen  einer  unverletzten  Jungfrauschafft  sej.* 

Es  ist  wohl  sehr  schwierig,  zu  entscheiden,  ob  es  sich  lediglich  um  eine 
eigenthümliche,  besonders  scrupulöse  Art  handelt^  das  Vorhandensein  oder  Fehlen 
der  Jungfrauschaft  zu  constatiren,  oder  ob  wir  darin  eine  Art  von  Analogie  ftbr 
die  Institution  unserer  Trauzeugen  erblicken  müssen,  wenn  wir  sehen,  dass  bei 
manchen  Völkern  bestimmte  Freunde  oder  Anverwandte  bei  dem  ersten  Goitus 
des  jungen  Paares  zugegen  sein  und  sogar  hierbei  handgreiflich  helfen  und  aflsis- 
tiren  müssen.  So  erfolgt  z.  B.  bei  den  katholischen  Christen  in  Aegypten  die 
Entjungferung  durch  den  Beischlaf,  welchem  die  beiden  Schwiegermütter,  die 
Mutter  des  Mannes  sowohl  als  auch  diejenige  der  jungen  Frau,  beizuwohnen  Ter- 
pflichtet  sind. 

Bei  dem  ersten  Coitus  eines  Ehepaares  assistiren  auch  in  Abyssinien 
Zeugen,   welche   dabei    der   liegenden  Frau   die  Beine   so   hinaufhalten, 
Ehemann  zwischen  denselben   seine  Lust  befriedigen  kann.     Diese  beiden 
treten  von  da  an  zu  dem  Paare  in  ein  Verhältniss,  welches  einem  verwandtnl 
liehen  gleicht;  dasselbe  ist  ähnlich  wie  bei  uns  die  Pathenschaft.    Stedser, 
Ploss  dies  mittheilte,  giebt  auch  an,  dass  dieses  Halter 


111.  Die  verlorene  Jungfraoschaft.  427 

Goitus  deshalb  vorgenommen  wird,  weil  die  junge  Frau  dort  wie  überhaupt  in 
vielen  Ländern  Ost-Afrikas  eine  durch  künstlich  eingeleitete  Verwachsung  ver- 
schlossene Scheide  hat,  die  jedoch  nicht,  wie  anderwärts  durch  Schnitt,  sondern 
von  dem  jungen  Ehemanne  selbst  durch  gewaltsames  Einschieben  des  Penis  ge- 
ofihet  wird. 

Eines  eigenthümlichen  Edictes  muss  ich  noch  gedenken,  welches  in  Rom 
der  Kaiser  Tiberias  ergehen  Hess.  Er  verbot,  dass  Jungfrauen  hingerichtet 
würden.  Hatten  dieselben  ihr  Leben  verwirkt,  so  war  es  die  Pflicht  des  Henkers, 
sie  vor  der  Hinrichtung  zu  defloriren.  (Hyrtl.)  Was  ftir  Motive  ihn  hierzu 
bewogen  haben  mögen,  das  sind  wir  heute  wohl  nicht  mehr  im  Stande  zu 
entscheiden. 

Zum  Beschluss  sei  noch  eine  Sitte  erwähnt,  welche  Paasonen  von  den 
Mordwinen  berichtet: 

«Arn  Vorabend  der  Hochzeit  legt  die  Braat  ihre  Kopfbinde  mit  einem  eingesteckten 
Ringe  um  den  Hals  einer  ihrer  Freundinnen ;  die  Kopfbinde  wird  Jungfernschaft  genannt. 

Dabei  wird  gesungen: 

, Meine  kleine  Schwester  Najo  (AnastasiaJ, 

Komm,  Schwesterchen,  vor  mich, 

Komm,  Schwesterchen,  in  meine  N&he! 

Ein  kleines  Geschenk  will  ich  schenken , 

Eine  kleine  Gabe  will  ich  Dir  geben, 

0,  ich  lasse  Dir 

Meine  Bojarinnen  -Jungfemschaft, 

Meine  Herrinnen-Freiheit. 

Trage  sie  auch  hübsch  herum! 

0,  lass  sie  nicht 

Die  Häuser  der  Todten,  Hingeschwundenen  besuchen! 

0,  lass  sie  nicht 

Der  Todten  Reiche  besuchen  (die  Gottesäcker). 

Nein,  trage  sie  in  Hochzeits- 

In  Hochzeitshäusem,  in  Häusern,  wo  ein  (fröhliches)  Gespräch  geführt  wird,  herum, 

Zwischen  den  Tanzenden,  Singenden  entlang.* 

Die  Hochschätzung  der  Jungfräulichkeit  kommt  bei  den  Finnen  in  ihrer 
Volkspoesie  zum  Ausdruck.     Es  heisst  in  einem  ihrer  Verse: 

,  Heilig  selber  ist  dem  Bösen 

Mädchenunschuld,  Mädchenehre. 

Hiisi  (das  böse  Prinzip)  selbst  geht  einer  Jungfrau 

Mit  gesenktem  Blick  vorüber.*  (AUmann,) 


111.  Die  yerlorene  Jnngfranschaft. 

Aber  wehe  der  unglücklichen  Braut,  welche  die  Probe  der  Keuschheit  nicht 
zu  bestehen  vermag!  Es  giebt  bei  vielen  Völkern  keinerlei  Entschuldigung  fttr 
den  Mangel  des  Jungfernhäutchens.  In  Persien  kann,  wie  Folak  berichtet,  in 
einem  solchen  Falle  die  Frau  auf  die  einfache  Aussage  des  Mannes  hin  nach  der 
ersten  Nacht  Verstössen  werden.  Dieser  ungerechte  Brauch  wird  oft  benutzt  zum 
Zwecke  der  Gelderpressung  von  den  Schwiegereltern,  die  den  Ruf  der  Frau  nicht 
beflecken  lassen  wollen.  Andererseits  aber  hat  diese  Sitte  den  Erfolg,  dass 
gemeinhin  in  Persien  die  jungen  Mädchen  fast  alle  in  voller  Virginalitat  in  die 
Ehe  gelangen. 

Auch  in  Nicaragua  durfte  der  junge  Oatte  seine  Verlobte  (nach  Squier) 
ihren  Bltem  surOdkiMlikk«!,  wenn  dieselbe  schon  ArQher  ihr  Hymen  eingebüsst 
hatta  Bbanao  äbnoff  wmde  ea  niit  der  Reinheit  der  Braut  nach  Äcosta's  und 
B  ^'^  txikaner-Beiche  genommen. 


428  ^V.  Die  Jungfrauachaft 

Aehnlich  ist  es  bei  einigen  anderen  orientalischen  Yölkem,  aber  auch 
bei  gewissen  afrikanischen  Stammen  schickt  der  Bräutigam  die  Braut  den 
Eltern  wieder  zurück,  wenn  er  sie  in  der  Brautnacht  nicht  ds  Jungfrau  erfunden 
zu  haben  glaubt.  Die  Ehe  ist  damit  einfach  für  angültig  erklärt  und  aufgelOet«. 
Ist  bei  den  Szuaheli  im  östlichen  Afrika  bei  der  Verheirathung  das  Jungfern- 
häutchen zerrissen  gefunden,  so  müssen  die  Eltern  die  Hälfte  des  Brautgeldes  an 
den  jungen  Ehemann  zurückbezahlen. 

Findet  der  Qatte  bei  einer  Zulu -Hochzeit  heraus,  dass  es  mit  der  Jung- 
fräulichkeit der  Braut  schlecht  bestellt  war,  so  zahlt  der  Bruder  oder  der  Vater 
derselben  an  den  jungen  Ehemann  einen  Ochsen:  „to  stop  the  hole',  wie  der 
Zulu- Ausdruck  im  Englischen  lautet.     (Joest.^) 

Asboth  berichtet  aus  dem  südlichen  Rassland,  dass  eine  Braut,  deren  Jung- 
frauschaft sich  bei  der  Hochzeit  als  verloren  erwies,  der  verächtlichsten  Behand- 
lung gewärtig  sein  konnte. 

Bei  den  Bulgaren  wird  die  Schande  des  Mädchens  laut  verkündet,  wenn 
bei  Vollzug  der  Ehe  die  Beweise  für  ihre  bisherige  Jungfräulichkeit  ungünstig 
ausgefallen  sind,  jedoch  pflegen  in  einem  solchen  Falle  ihre  Eltern  die  Bedenken 
des  Schwiegersohnes  durch  eine  entsprechende  Vermehrung  der  Aussteuer  zu  be- 
schwichtigen. 

Schon  die  Juden  der  Bibel  hielten  nach  Moses'  Qebot  (5,  22)  gar  streng 
auf  die  Jungfernschaft.  Wenn  ein  Mann  ein  Weib  genommen  und  wenn  er  sie 
dann  unter  dem  Vorgeben,  sie  sei  nicht  mehr  Jungfrau,  deren  Eltern  zurückgiebt, 
so  soll  ihr  Vater  die  Aeltesten  der  Stadt  als  Richter  anrufen,  vor  diesen  aber 
sollen  die  Kleider  ausgebreitet  werden.  Der  Mann  soll  dann  für  die  ungerechte 
Bezichtigung  einer  Jungfrau  Strafe  zahlen  und  das  Weib  zur  Gattin  nehmen. 
Wird  jedoch  die  Dirne  nicht  als  Jungfrau  befunden,  so  soll  sie  öffentlich  zu  Tode 
gesteinigt  werden. 

112.  Die  kfinstliche  Jnngfranschaft 

Bei  derartig  strengen  Maassregeln,  welche  das  gesammte  Lebensglück  des 
Mädchens,  oder  selbst  sein  Leben  bedrohen,  wenn  dasselbe  seine  Keuschheit  nicht 
zu  wahren  vermocht  hatte,  muss  es  wohl  begreiflich  sein,  wie  sie  selbst  oder  die 
Ihrigen  auf  Mittel  sannen,  die  verlorene  Jungfernschaft  zu  entschuldigen,  zu  be- 
mänteln oder  ttlr  die  Zeit  der  Prüfung  scheinbar  wiederherzustellen. 

Nach  des  getreuen  Eckarth's  unvorsichtiger  Heb-Amme  ist  die 
Sache  nicht  gerade  schwierig;  sie  sagt: 

,Wann  die  guten  Bräutigam  in  diesem  Stücke  die  Gewissheit  suchen,  kan  ihnen  hier- 
innen  gar  wohl  ge willfahret  werden,  indem,  wann  sie  nicht  sonsten  von  denen  AoBgefochtenen 
oder  Grillenfängern  seyn,  durch  ein  beygebracht  kleines  Riluschgen,  und  beygelegten  Betrags, 
so  wol  der  Engigkeit  als  Rosen-Saffts,  die  Einbildung  erlangter  grosser  Beute  der  gefaaste 
Argwohn  benommen  wird.*  Es  wird  ihr  dann  entgegnet:  ,Frau  Carilla,  ich  will  wohl  nicht 
vor  gewiss  euch  dessen  beschuldigen,  sondern  nur  wehnen,  ihr  werdet  mancher  ausgeblatterter 
Rose  EU  einer  scheinbaren  völligen  Knospe  geboltfen,  und  das  untergelegte  Leylach  mit  einem 
rothen  Mohn-Satft  bestrichen  und  also  manchen  Actaeon  vor  der  Zeit  gemacht  haben.*  Sie 
entschuldigt  sich:  «Es  sind  doch  nicht  alles  Huren,  die  nicht  eben  Jungfern  sind,  es  geschieht 
ja  zuweilen,  dasH  eine  oder  die  andere  durch  Gewalt>  Krankheit  und  andern  Zuf&llen,  in  ein 
weit  Loch  oder  Grube  fallen  kan,  oder  auch  die  armen  Mägdgen.  wenn  sie  so  verklaiutert 
und  alleine  gelassen  werden,  ihnen  manchmal  ein  Extra-Lust  zu  machen,  das  Kleine  in  ein 
Grosses  verftndem.  (Aus  ein  Omicron  ein  Omega  bereiten,  warf  einer  der  Begleiter  ein.) 
Solte  man  denenselben  nicht  mit  guten  Zusammonzieh-  und  Anhaltungs-Mitteln,  nebenst 
andern  untergelegten  Kunst-Stücken,  entgegen  gehen,  und  ihnen  einer  bOoe  Ehe  wa  entgehen, 
beynithig  seyn?' 

Die  Begleiter  lassen  ihr  dieees  aber  nicht  durchgehen, 
es  ihr  mit  folgenden  Worten: 


112.  Die  kOnstliche  Jungfrauschaft.  429 

.Es  ist  nicht  genug,  dass  eine  Abele  Ehe  zu  verhüten,  man  einen  ehrlichen  Biedermann 
berücken  und  ihme  eine  Ganalie,  die  in  allen  Sträuchem  herum  gekrochen  ist,  und  jedermann 
feil  getragen  hat,  wai  sie  vor  denjenigen,  der  sie  Lebens  lang  behalten  sollen,  vor  eine  ehr- 
liche Jungfrau  verkauffen.  Frau  Carilla,  ihr  könnet  der  Sachen,  wie  euers  gleichen  Leute 
gemeiniglich  zu  thun  gewohnet  sind,  ein  besonderes  Färblein,  von  Gewalt,  Krankheit  und 
andern  Zufällen  anstreichen,  allein  ihr  werdet  unter  denen  Redlichen  damit  nicht  fortkommen. 
Gewall  und  Krankheit  können  noch  passiren*  was  aber  unter  denen  andern  Zufällen  verstanden 
wird,  wird  keine  Entschuldigung  der  betrügerischen  Jungfemschafft  gefunden  werden.  Man 
muss  keinem  ehrlichen  Mann  an  den  Narren-Seile  herum  führen,  und  ist  unverantwortlich  es 
geschehe  vor  einem  Medice,  Empjrico  oder  Kinder-Mutter,  dass  man  eine  geile  Bräckin  so- 
phisticire,  es  wäre  denn  Sach,  dass  mit  jener  Sünderin  eine  Summa  contritio  vitae  anteactae 
sich  rechtschaffen  finden  thäte,  sonsten  soll  es  nicht  seyn.'' 

Nach  einefr  Krankengeschichte,  welche  Hechstetter  berichtet,  waren  solche 
künstlichen  Hülfsmittel  in  dem  ersten  Viertel  des  17.  Jahrhunderts  auch  in  der 
Gegend  von  Augsburg  bekannt.  Man  benutzte  hierzu  das  Sjmphytum  majus: 
„Noverat  serva  illa  sponsa  hoc  secretum,  quae  ante  nuptias  usa  est  solio  aquae,  in 
qua  haec  radix  decocta  fuit,  ut  antrum  virginale  amico  olim  Pölyphemo  pervium  angustius 
arctaret." 

In  Sibirien  geniesst  das  junge  Mädchen,  das  nicht  mehr  Jungfrau  ist,  vor 
der  Brautnacht  die  gekochten  Früchte  der  Iris  sibirica.     (Krebd,) 

Wir  sahen  schon,  dass  die  Matronen  bei  den  Arabern  die  Digitalentjnng- 
ferung  vorsichtiger  Weise  am  Ende  der  Menstruation  vornehmen. 

Auch  soll  in  Persien  öfter  ein  mit  Blut  getränktes  Schwämmchen  mit 
Vortheil  in  der  Brautnacht  in  die  Vagina  gesteckt  worden  sein. 

Hat  bei  den  Persern  ein  Mädchen  das  Unglück  gehabt,  ihre  Jungfemschaft 
einzubüssen,  so  wird  sie,  um  die  Schande  abzuwenden,  entweder  an  einen  armen 
Teufel  oder  an  einen  jungen  Knaben  verheirathet,  und  die  EUem  sorgen  daftir, 
dass  die  Tochter  dann  schnell  wieder  geschieden  wird.  Dann  kann  sie  hinterher 
ohne  Mühe  einem  angesehenen  Manne  zur  Frau  gegeben  werden.  Aber  es  giebt 
auch  noch  ein  anderes  Mittel,  um  an  dem  Tage  der  Entscheidung  die  verlorene 
Jungfernschaft  scheinbar  wieder  zurückzuerhalten.  Die  persischen  Chirurgen 
pflegen  dann  dem  Mädchen  einige  Stunden  vor  der  Verheirathung  die  Scham- 
lippen durch  ein  paar  eingelegte  Nähte  zu  vereinigen,  die  dann  durch  die  Coha- 
bitationsversuche  des  Mannes  unfehlbar  ausgerissen  werden  müssen.  Natürlicher 
Weise  fliesst  hierbei  Blut,  das  dann  der  Mann  ftir  das  Zeichen  ansieht,  dass  die 
Braut  eine  Virgo  intacta  war. 

Das  gleiche  Verfahren  war  auch  Cervantes  bekannt,  und  vielleicht  ist  es 
also  in  Spanien  noch  von  den  Zeiten  der  Mauren  her  haften  geblieben.  Cer- 
vantes  erzählt  in  seiner  NoveUe  „die  vorgebliche  Tante'  das  Zwiegespräch  zweier 
Damen,  der  Nichte  und  der  Tante,  welche  nach  Salamanca  zugereist  sind.  Die 
Nichte  sagt: 

«Aber  eines  will  ich  euch  noch  sagen  und  versichern,  damit  ihr  euch  darüber  keine 
Täuschungen  und  Vorspiegelungen  macht,  nämlich  dass  ich  mich  nicht  mehr  von  eurer  Hand 
martern  lasse,  so  grossen  Gewinn  ihr  mir  auch  dafQr  anbieten  mügt.  Drei  Blumen  habe  ich 
schon  hingegeben  und  ebenso  viele  hat  Euer  Gnaden  verkauft,  und  dreimal  habe  ich  die  unaus- 
stehliche Pein  durchgemacht.  Bin  ich  denn  etwa  von  Elrz?  Hat  mein  Fleisch  kein  Gefühl? 
Wisst  ihr  denn  nichts  besseres  zu  thun,  als  es  mit  der  Nadel  zu  flicken,  wie  einen  aufge- 
trennten Rock?  Bei  der  Seligkeit  meiner  Mutter,  die  ich  nicht  gekannt  habe,  ich  werde  es 
nicht  mehr  zugeben.  Lasst  mich,  Frau  Tante,  in  meinem  Weinberge  jetzt  Nachlese  halten, 
denn  in  vielen  Fällen  ist  die  Nachlese  schmackhafter,  als  die  erste  Ernte!  Wenn  ihr  aber 
durchaus  entschlossen  seid,  meinen  Garten  für  rein  und  unberührt  zu  verkaufen,  so  sucht  eine 
andere,  mildere  Weise  der  Verschliessung  für  sein  Pförtchen,  denn  ein  Verschluss  mit  gezwirnter 
Seide  und  Nadel  müsst  ihr  euch  nicht  einbilden,  dass  wieder  meinem  Fleische  nahe  kommen 
soll."     Die  Alte  erwidert  dann  aber: 

«£•  giebt  nichts  auf  dieser  Welt,  was  sich  mit  Nadel  und  fleischrother,  gezwirnter 
Seide  vergleichen  liesse;   alles  andere  sind  Lumpereien.     Der  Sumacb  und   geriebenes  Glas 


4;3i~)  XT-  I>ü  JuigfrumeitaifL 

iixifb  ▼'Oii^r.  aock  ?ieL  waii^vr  haiibn  Bln&igel.  d»  Xjnte-  nfc  «an  ga 

•'^«»mesunei.  wru  ouut  ijazii  hac:  «üsui  hont  sl  Tag«  mn  kmat  Umarh   mn.  «Isbar  IHlIyaL 
•V.  W'nm  «r  aizr  lun  aÜKhiiiL  iuRhaf  ourks.  w^u  or  chnlL  niefafi  sogiiadk.  «ib&«L  Ji» 
•i«r  likiJMmm  X.laaa  ipiirc     E*  leb*  moa.  Fin^vriiufi  oiui  aunu  3UbI;  «i  laiica 
■  r^üiiiiii  iiLii  dtfiiie  Aaadaoar  o.  i.  w.* 

In  dem  aüiJHt'faen  Bn^ilaad  mogoL  wt^fal  derartig  KozxsiikSEfeDL 

'zäih^TL  zia«:h  ^^<:i(A  der:  den  Gebranelu   da«  die  Bmzc  suk  miror.  c&e 

Eifäari^äzn  5b«rIa^e«XL  wird.   Tor  Zeug*iXL  ToIIacicdop  eafekLeöioL 

sr4>ä)tellT:  w>»rdi».  ob  ik  nLekt  ecwa  TSaaelniTiCTnhteL  bei  äeiL  bafae.    Döe . 

dtiä  B*»iä«:blafä  in  d^r  Braatnaehc  hilc  man  dort  ab^  äo  dnnryfcaiw  fir  mackwoiii^. 

iaüB,   w.»iin  di»r  BriizcigauzL   etwa  tmlSkig  iesR  soOte.  den  Coänu   MfiKlr  m  tqB- 

zieceii,  •»in  Ar-derer  an  «eine  SceDe  b^nifen  wird,  am  der  Irmz^ennSUbm  ^ 

Diener  m  leistec- 


XVI.  Das  Weib  im  Geschlechtsverkehr. 

118.  Der  Beischlaf. 

Die  Stellung  des  Weibes  in  der  Familie  und  in  dem  Volke,  die  gegenseitigen 
Beziehungen  zwischen  Mann  und  Frau  sind  für  die  Stufe  der  Sittlichkeit,  auf  der 
ein  jedes  Volk  sich  befindet,  von  höchster  Bedeutung.  Eine  wahre  Stufenleiter 
zeigt  sich  da,  von  der  tiefsten  Missachtung  an  bis  zur  grössten  Hochschätzung, 
von  der  schändlichsten  Behandlung  bis  zu  den  zartesten  Rücksichten.  Das  rein 
geschlechtliche  Verhaltniss  tritt  eben  nur  bei  den  rohesten  Völkern  in  den  Vorder- 
grund, spielt  aber  auch  noch  bei  den  halbcivilisirten  Nationen  eine  ganz  wesent- 
liche Rolle,  während  bei  entwickelten  Culturzuständen  das  geistige  und  sittliche 
Wesen  dem  weiblichen  Geschlechte  seinen  Werth  verleiht,  die  sexuellen  Be- 
ziehungen aber  unter  der  Herrschaft  geläuterter  ästhetischer  Anschauung  in  die 
engsten  moralischen  Grenzen  eingeschränkt  werden.  Wo  das  Weib  nichts  ist, 
als  der  Gegenstand,  durch  welchen  einestheils  die  viehischen  Gelüste  befriedigt, 
anderentheils  die  anstrengende  Arbeit  des  Mannes  verringert  werden  kann,  da 
wird  der  Frau  auch  das  Aergste  in  Bezug  auf  den  sexuellen  Verkehr  zugemuthet. 

Die  Ethnologie  kann  nicht  umhin,  sich  auch  mit  diesen  Dingen  zu  be- 
schäftigen, welche  gemeinhin  „unter  dem  Ausschluss  der  OefiTentlichkeit*  ver- 
handelt werden,  und  auch  wir  können  solche  Erörterungen  nicht  entbehren, 
wenn  wir  das  Weib  in  der  Natur-  und  Völkerkunde  in  Wahrheit  kennen 
lernen  wollen. 

Dass  bei  südlichen  Völkern  nicht  überall  die  Sinnlichkeit  des  Weibes  bei 
der  Ausübung  des  Coitus  zu  besonderer  Erregung  gelangt,  ist  eine  nicht  zu  be- 
streitende Thatsache,  wenn  man  den  Berichterstattern  Glauben  schenken  darf. 
Von  den  Mädchen  und  Frauen  auf  Ponape  (Carolinen),  welche  unendlich  kalt 
und  eisig  zu  sein  scheinen,  erfahren  wir  von  einem  derselben  durch  Finsch: 

«Drei  Mädchen,  die  ich  behafs  Constatining  der  Beweglichkeit  vorzanehmen  Gelegenheit 
fand,  blieben  bei  den  einleitenden  Manipulationen  total  indifferent,  verhielten  sich  während 
der  Operation  völlig  passiv  und  reagirten  selbst  im  Culminationspunkte  kaum  wahrnehmbar; 
dagegen  zeigten  sich  alle  drei  Wiederholungen  nicht  abgeneigt  und  namentlich  ftlr  den  Nervus 
rerum  sehr  empfänglich.  Ein  unter  dem  Arme  getragener  angefeuchteter  Schwamm  wurde 
jedesmal  nach  vollbrachtem  Actus  mit  grosser  Behendigkeit  zur  Aufsaugung  der  überflOsaigen 
Materie  introducirt,  wodurch  allzu  grosser  SchlOpfrigkeit  bei  nachfolgenden  Einführungen 
kunstvoll  vorgebeugt  wird." 

Allerdings  hatte  es  der  berichterstattende  Experimentator  wohl  lediglich 
mit  Sabjekten  sa  thun,  die  gewerbsmässig  zum  Orden  der  Venus  vulgivaga  gehörten. 

Aber  w«iiii  dieees  auch  nicht  der  Fall  gewesen  sein  sollte,  so  ist  doch  noch 

Dieht  ohn*  ^  ^  ansonehmen,  dass  so,  wie  sich  diese  Weiber  dem  Fremdlinge 

mmfih  haben,  sie  sich  nun  auch  im  Verkehr  mit  ihren  Stammes- 


4:32  ^^t-  ^^  ^e^^  ün  Geschlechtaverkehr. 

genossen  verhalten  wQrden.    Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  eine  Bemerining. 
welche  Rifthi^  über  die  Einwohnerinnen  der  Insel  Barn  machte: 

,L>ie  Fnuien  haben  ötter  intimen  Umgang  mit  fremden  Münnem,  jedoch  Teriialten  li« 
^ich  wiihrend  der  geschlechtlichen  Vereinigung  sehr  pamir  and  indifferent,  ans  Furcht,  be- 
fruchtet zu  werden.* 

Daj^regen  bezeugt  Appun,  der  lange  anter  ganz  unciTÜisirten  Indianern 
von  Gnyaua  gelebt  hat  and  selbst  nach  der  Sitte  des  Landes  zeitweilig  mit 
einer  Eingeborenen  verheirathet  war,  ^dass  alle  Indianerinnen  geringere  Neigong 
zu  physischer  Liebe  haben."  Aach  anter  civilüirten  Nationen  scheint  die  Frau 
beim  ^exaell*^n  Acte  nicht  überall  sinnlich  aufgeregt  zu  sein.  Temperament  and 
Reizbarkeit  sind  jedenfalls  in  differenter  Weise  auftretende  EigenthumliclLkeiten. 
<)b  dieselben  nur  individaeller  Art  sind,  oder  ob  es  hier  wirklich  Rasseniinter- 
schiede  giebt,  das  werden  fernere  Angaben  entscheiden  müssen. 

Man  darf  nun  aber  nicht  vergessen,  dass  gar  nicht  selten  die  scheinbare 
F*aäsivitüt  des  Weibes,  oder  gar  ihre  rnempfindlichkeit  ihren  Grand  in  sexueUer 
Schwäche  des  Mannes  bar.  welche  der  Frau  nicht  die  vollständige  Vollendung  des 
Actes  gestattet  nnd  die  hinreichende  Betriedigung  gewährt. 

Bei  oulturell  tiet'stehenilen  V"ilfcem  sind  es  wesentlich  zwei  Erscheinangen. 
welche  wir  als  allgemeinen  Volksb rauch  auftreten  sehen,  während  sie  unserem 
Frihien  und  Emprin-len  auf  das  Entschiedenste  widerstreben.  Die  eine  ist  der 
ceschlrchtliche  Verkehr  «ier  Männer  mit  Mädchen,  welche  dem  Kindesalter  noch 
lüch:  »»nt wachsen  sind,  un.i  liie  zweite  ist  die  Ausübung  des  C«?itas  vor  den  Augen 
einer  z. -.schauenden  t'^r-^na. 

Bei  nicht  wenigen  Völkern  kommt  es  v-i-r,  dass.  wie  ich  im  Artikel  ttber 
dds  Heirathsalter  zeigen  werde,  geschlechtlicher  l'mgang  schon  mit  )l2dchen 
v..'r  der  Geschiech  tsreile  getrieben  wird:  so  z.B.  bei  den  Australiern.  Hier  ist 
nach  der  Angabe  von  ••.  3IiJiI*t*'h':'3L.idau  nichc  selten  ein  zehn-  bis  elf- 
jähriiT^  Kind  liie  Frau  eines  ->'j jährigen  Mannes,  oder  die  Maitresse  eines  Bnggi- 
Marrosen. 

Aach  r-*:  den  Woloff-Neg-rrn  a!n  Senegal  wird  der  •Virus  gar  nicht 
-r-ten  nii:  iinjrii  Mäd-ihen  v.>r  dem  ersten  Eintritt  der  Mensimarlon  vollzogen, 
wie  wir  au«:h   r^ei  n:an:hen  Indianerstiimmen  die  glriche  l'nsirre  antreten. 

Nimenrli  h  a-er  ist  iie  Ehe  mi:  unreifrn  Mäijhen  in  In  iien  eine  weil 
T-=-rrrei:'=-tr  Gew.-'nnh-.:.     Ion  k-:n:n:e  dArin:  a!is:~;nriich  zurl.k. 

Man:"r.e  V  /isstlr-ime  rn:"' 1' irr.  *i:"n  nicht,  irz  Beischli:  "^enilich  vorzu- 
:>^r.r..er.  Tih-^-  <  r-'s.,^.:  .Die  «>e5-^r.tli.*nkeit  irr  BegittjLug  ist  ein  Merkmal  der 
:.-2.-.>tIr.i.i"hr"  Kr.ev^rLlltn:s>e  Wir  r-nien  -.1  hr  r^i  irn  Massigeren.  Mosst- 
niiken.  Ai^rrn  Vei  einigen  in::^:"r.er.  Stln-nien.  ien  Etriskern.  Ich  deute 
".  .;:i  Äi:'  i.r  re:  =  -:hr-Nr*:rr.  ".'r-r  wrl.he  ier  ari:is:hT  Oer-graph  ^1^4i- 
/••."    sihrri'rt  :      .?i-=-    rsser.    n:ir  Hirse    .^i    wl--^-     irr.  W-:*:^.-n   iut*  cfenem 

7^.  i';;-   >.  rer:  htet  nich  J :    ■'  im  Uhre  v-ül  u:^r  iie  WirÄger-R -ssen: 

Vi..:  ■-.  --.   i  .*  :  -  -  '•'*:£.!  i:  ;*»:.-  r  ;  -iz:  i     A  :■: :  t  iz-^  :  -m  r  -r  .li  : :  -  :  i  - '; .:  k=. .  :•:  Ai*T  :ci«nte 
f-'  .nvr:;-   :  zir.-r«   ;   ...n.srr- : -r  i   ;  -   •:    il.:  .-  ::::?:■=•::-  i  .  .-_-     tT  ir:^r£-=  ^-ereator 

r»ie  ;.:nc-^r:  Le-tr  ä.::  der  Ir.s«-!  ri:v..i  i:v.  nii'.üv  :s: :  t  :.  Arci.ir«rl  haben 
-.-r-7  ?er-r  ?-:n:rr"..  hen  »lerrav-cr.  ::r/.  ^5r:':".:/n  :-  .•..■::mrr.:.r*r.  .iass  sie  eine 
hrr  c*s:^::.>s-n  r.iV-rn  W.r.-.  tcc  einen:  :nrgrr  M^i.:r:  ri..i  einigen  Besuches: 
ir.r-f^  r-^«rr"rirr4  ein  t-  dit^-n:  geS.i^nes  Ge^htni.  Vift-ithtii  in  eii^esn  Svc«^ 
v.r.d  -migen  Kcril-en.  Är-genonimen.  so  is:  die  Veri.'Mir^:  gwiciiloäcen.  Der  jusge 
Mann  VifiM  in:  Hi-is*  der  Brkni,   .coimin  cr.n:  ilia  exereel;  «^'  ^md 

THlTiL  erhrbrn  d:e  Anverw*nd;eii  der  Braut  ein  ctoäms  fici  | 


113.  Der  Beischlaf 


438 


imd  verfolgen  ibn  scheinbar  wüthend  und  bewaffnet  bis  zu  seinem  Hause,  indem 
sie  den  Brautscliatai  fordern.  Die  Anverwandten  des  jungen  Mannes  kommen  dann 
ebenfaUö  bewaffnet  heraus.  Bald  aber  hat  man  sich  über  deji  Brautschatz  geeinigt 
und  in  Frieden  und  Freundschaft  geht  alles  aus  einander.  Der  junge  Gatt©  lebt 
fortan  im  Hause  der  Frau,     {liiedeV,) 

Bei  den  Malayen  der  Philippinen  wird  der  Coitua  nach  Canamaque  an- 
geblich ganz  ungenirt  auf  ofteuer  Strasse  vollzogen;  derselbe  Autor  beschuldigt 
elbst  Kinder  dieser  Unzucht.  [Blmncntritt.)  Auch  in  Tahiti  wurde  die  Begattung, 
ie  Coök's  Reisebegleiter  sahen,  öffentlich  vor  aller  Augen  ausgeführt,  tmter  gutem 
der  Umstehenden,  namentlich  der  Weiber,  worunter  die  Vornehmsten  sich 
befanden ;  doch  wusste  das  betheiligte  Mädchen  (von  1 1  Jahren)  schon  allein  guten 
Bescheid,     Aehnliches  erlebte  La  Ferome  auf  Samoa. 

licider  lässt  es  sich  nicht  verhehlen,  dasa  es  wenigstens  auf  den  Inseln  der 
Judsee  wesentlich  europäische  Einflüsse  waren,  welche  solche  Schamlosigkeiten 
Bingeftihrt  haben;  denn  auf  Tahiti  und  anderen  Inseln  waren  früher  die  Weiber, 
isbesondere  diejenigen  der  besseren  Klassen,  wie  EUis,  Forster  u.  A,  bezeugen, 
nel  sittenstrengen  Die  öffentliche  Begattung,  die  Inderlichste  Unzucht  haben 
^ioui/aifiviUe's,  Marchand' s,  Dumoni  d'  VrrHhfs^  Laplaccs  Schifföleute  in  den 
Häfen  eingeführt.     (WaitZ' Gerland J 

Dagegen  durften  auf  Neu- Seeland,  wie  Duffmhach^  PoiaÄ;  u.  A.  berichten, 
lie  Madchen  allerdings  ihre  Gunst  schenken  wem  sie  wollten^  allein  sie  entzogen 
pich  doch  dabei  aus  Schamhaftigkeit  den  Blicken  der  Fremden,  wenigstens  dort, 
vo  Europäer  noch  nicht  hingekommen  waren. 

Die  Friitien  der  Gebvuka  auf  der  Insel  Buru  sind  in  Folge  der  ihnen  auf- 
_  bürdeten  Arbeiten  des  Nacht«  gewöhnlich  zu  müde,  um  den  Coitus  »sicut  oportet 
et  commode*  zu  vollziehen*  Derselbe  wird  daher  bei  Tage  unter  Büumen  aus- 
jeführt.  Bei  den  Bewohnern  der  Insel  Arabon  und  der  Uliase-Inseln  ist  das 
»commercium  inter  sexus  satiä  libidinoaum*.  Auch  die  Serang-  und  dieEetar- 
1  lauer  fuhren  den  Coitus  im  Walde  aus.  In  dem  Seranglao-  und  Qorong- 
Lrchipel  bestreicht  der  junge  Gatte  vor  dem  ersten  Coitus  die  Pudenda  der  Frau 
riit  einer  Salbe  aus  Opium,  Muscus  u.  s.  w.,  obgleich  er  schon  seit  langer  Zeit  in 
Bette  seiner  Braut  geschlafen  hat,  (Rkdd^J 
Bei  den  Drang  Bülendas  in  Malncca  konnte  Stevens  constafciren,  daas 
die  Frauen  nicht  hitzig  sind  und  dass  ihr  Verlangen  bald  wieder  vorübergeht. 
Auch  bei  den  Männeni  ist  der  Geschlechtstrieb  nur  in  geringem  Grade  entwickelt 
und  für  gewöhnlich  wohnen  sie  ihrer  Frau  nicht  öfter  als  dreimal  im  Monat  bei. 
,Die  Orang  Laut  scheinen  wollüstiger  zu   sein.     (Bartels^.) 

Eine   absonderliche    Bemerkung    über    den    Beischlaf  der    alten    Israeliten 
[befindet   sich    in    dem    Midrasch    Bereschid    Rabba.      Dort   sagt    der    Rabbi 
fMlemar:    „Die  Müssiggänger  üben  den  Beischlaf  täglich  aus,  die  Arbeiter  wöchent- 
lich zweimal,  die  Schiffiüleute  nur  alle  sechs  Moüate.*     (Wunsche^.) 

Je   niederer   in    der  Cultur   ein  Volksstamm   steht,    um    so   häufiger  äussert 
sich    die  Lüsternheit   und   thierische   Sinnlichkeit.     Manches  Urvolk   bedient  sich 
Erregung   weiblicher  Wollust   excessiver  Reizmittel     Auf  der  Insel  Ponape 
|(we8th  Carolinen)    gilt   es   als   besondere   weibliche  Schönheit,   dass  die  kleinen 
Bchanilippen  sehr  verlängert  werden:  und  die  Verlängerung  derselben^  wie  die  der 
IJlitoris,  wurde  schon«  wie  wir  sahen,  bei  den  kleinen  Mädchen  künstlich  erzeugt. 
[Der   Mann    erregt   die  Wollust   beim  Weibe,    indem  er  mit  den  Zähnen  die  ver- 
längerten Schamlippen  fasst,    um  sie  länger  zu  zerren,  und  einige  Männer  gehen, 
wie  Kuhart/  versichert,  so  weit^  der  Frau  ein  Stück  Fisch  in  die  Vulva  zu  stecken, 
'   nach   und  nach  her  '  ^-ken.     Solche  widerliche  und  abscheuliche 

•  '   werden    mit  der  U     ^        u   mit  welcher  der 'Mann  ein  Kind  zu  er- 
zeugen wünscht,   so  weit  getrieben,   bis  dieselbe  zu  uriniren  anfangt,  und  hierauf 
wird  zum  Coitus  geschritten,    {Finsch^,) 


{UifB^rttli.  Du  Wftik    it.  Aafl.    t 


28 


434  XVI.  Das  Weib  im  GeMhlechtsverkehr. 

Auf  den  Inseln  des  Aaru- Archipels  findet  die  Beschneidung  der  Knaben 
in  der  Weise  statt^  dass  ihnen  das  obere  Stück  der  Vorhaat  abgeklemmt  wird. 
Diese  ganze  Operation  wird  in  der  aasgesprochenen  Absicht  aoagerahrt,  der  Frma 
das  Wollustgeföhl  bei  der  Aus&bong  des  B^sehlaÜBS  zq  erhöhen.  Auch  die  Serang- 
Insulaner  lassen  sich  in  ahnlicher  Weise  beschneiden,  wenn  die  Schamhaare  herror- 
znsprossen  beginnen«  nnd  zwar  aaf  Andrangen  der  von  ihnen  erwählten  Midchen, 
.ut  augeant  Toluptatem  in  coitu*.    {Riedel^,) 

In  Abyssinien  haben  ebenso  wie  an  der  Zanzibar- Küste  die  jangm 
Mädchen  Unterricht  in  den  Rompfbewegongen,  welche  sie  zur  Erhöhung  wol- 
lüstigen Reizes  beim  Coitus  auszufahren  haben;  die  Unkenntniss  dieses  Muskdr 
spieb  gilt  unter  den  Jungfrauen  als  Schande;  hier  heisst  das  rotirende  Hin-  and 
Herbewegen  Duk-Duk.     iStecter^^ 

Um  dem  Weibe  den  Genuss  beim  Coitus  durch  ein  starkes  Reizmittel  zu 
erhohen,  durchbohren  sich  Tide  Dajaks  die  Glans  penis  mit  einer  silbemen  Nadd 
Ton  oben  nach  unten:  sie  lassen  diese  Nadel  so  lauge  darin,  bis  die  dnrchstodieDe 
Stelle  als  Kanal  Terheilt  ist.  Vor  dem  Beischlaf  wird  dann  hier  hinein  ein  fest- 
sitzender Apparat  gef&gt^  welcher  eine  starke  Reibung  der  Vagina  bewirkt  and 
hierdurch  den  Geschlechtsgenuss  der  Frau  erheblich  steigert. 

Die  in  diesen  Kanal  eingebrachten  Körper  sind  Terschieden:  kleine  Stäbeben 
aus  Messing,  Elfenbein,  Silber,  ja  auch  aus  Bambus.  Auch  werden  eompfiaitere 
Instrumente  hineingesteckt,  die  Ton  Silber  und  mit  Oeffnungen  an  beiden  Enden 
Tersehen  sind:  in  diese  Oeäiiungen  werden  Tor  dem  Coitus  kleine  Bündd  ron 
Borsten  befestigt,  so  dass  der  Apparat  eine  Art  kleiner  Bürsten  darstellt,  r.  Jtfr- 
UHcAt^Ma(kiit^  sagt: 

,Es  ist  wahr»hein!ich.  da  diese  Opention  ichmenhaft.  ja  gef&hrlich  ist»  die  Folgen 
denelben  aber  den  G«*ckleckt8geniia$,  beionden  der  Fraaen  erltöb«i.  da»  diese  Sitte  wmmt 
alle»  den  Apparaten  Ton  Fimoen  selbst  oder  nur  für  die  Frauen  erfanden  ift.  Jcdeafiüls 
vird  dieser  Gebraaoli  dnrch  die  nicht  nadilaaenden  Fordeningen  der  Frauen  crhaHen.  inde« 
die  M  inner  ohne  diese  Acc.nnzi'XUktion  zum  Festhalten  der  Reiiapc^umte  von  den  FEanen 
zarSckgeviewn  verden:  die  Leate,  die  mehrere  solcher  Perforadc-nen  lich  gefaUcn  InaMn 
^nd  sehrere  der  In>tra=:ente  fahren  kennen,  verden  von  den  Fraaen  besosdetv  gesocht  und 
sei«ch2£z:.* 

Der  Appar&t  heissi  Ampallang:  die  Frau  aber  giebt  dem  Manne  ihren 
Wunsch,  dass  er  «ich  einen  solchen  anschaffe,  auf  sjmbolische  Weise  zn  er- 
kennen:  er  dr.det  in  seiner  Reissch3ssel  ein  zusammengerolltes  Siriblatt  mit  einer 
hineinffe^eckien  Ci^ar^tte.  deren  Länsre  das  Maass?  des  s^wücschrec  Amp^lUwg 
dar^tei:-. 

A-ch  unter  den  Alfuren  anf  Xord-Celebes  tinl  BiVifoj  ihnlfdie,  doch 
ncvh  compÜc irrere  Apr-^rare.  die  dort  Kambiong  o-ier  Kambi  heissec  üxhi  wie 
n:an  diselbst  susserien:  rzr  Sceigenng  des  WoUnstg^flhls  flr  die  Frau  tim  die 
Corona  der  Gl^ns  iezi  Angenlidrand  eines  B-x'kes  n::;  den  Wir^periaanen  Ter* 
sehen  wie  einen  bcrstiairen  Krwren  binde:,  so  nmwickel:  n:an  an:  Jara  teäI  b« 
dec  Snlanesen  Tcr  den:  Co:::rs  den  Penis  =::  S:r>»i:rn  t;-  ZievrenfetL  doch  so. 
ias$  üe  Glans  fr^  bleib:.  Dervrleichen  5:::en  sind  w^i:  rertreiie:.  Dnn  in 
Peff'i  fand  schon  Lih^:^.^^^,  iass  eini«  Minner  am  T:r£Tr»n  Theäe  des 
Prnis  Scifllen  von  der  Gr:«?e  einer  welschec  N,»?  :mc?n :  .mi  in  China 
nniirix'kein  WoH^tlinire  die  Corona  eianiis  m::  i*n  aV-^risÄ-n-n  F^^Jem  einer 
V>^j:eier.  üe  beim'  CoitTis  sich  bdretenArtiir  a-fsteilec  .mi  fi-^  K«b«is  be- 
wirken. flr>»k  rn:de-:r:c  nnter  dea  Baita  in  SumATri  fir.  i^:^  rTinhcr 
nrhenirn  Medirlnminnem  cee«es  orern:Te*  \  erfah^fc.  w.Sr:  ;iz:«'  die  HaM 
des  Penisw  iie  einireschnin«  wiri  Äetschec  P<r?imVr*:n  cecaart»  m^  «^er 
Ä>fiar  :■:•  ScCck  deneiben.   btsveüec   anch  dr^Kkarti-  SrZckchca  A  «dir 

Silber  cingeKhob«  vmcc  damit  sie  eisbeikc:  &ai  dec  Reu  ^  Sm 

Fiaa  erhoben. 


113,  Der  Beischlaf. 


435 


v\\ 


Aebnlich  wird,     wie  Meper^  mittheilt,  von  den  Malajeu  auf  Borneo  der 
Penis    perforirt    und    ein    zusammengedrehter   sehr  feiner  Messingdraht  eingefügt, 
der  an  den  Enden  bürstenartig  auseinandergezogen  ist.    Das  durch  das  Bohrloch  zu 
steckende  Ende  wird  wahrscheinlich  vor  der  Einführung  in  dasselbe  zusammenge- 
drückt   und    erst   vor  der  Ausübung  des  Beischlafs  wieder  aus  einander  gebogen. 
Vaughan  Stevens  (Bartds'^)  ist  es  gelungen,   eine  sonderbare  Umwandlung 
eines    solchen   Gebrauches    bei    den  Orang    Utan  in  Malacca  aufzufinden.     Die 
)rang   Temiä    hatten    in  früheren  Jahren  die  Gewohnheit,   solchen  Reizapparat 
verwenden.    Er  bestand  aus  einem  hölzernen  Stäbchen,  dessen  eines  Ende  eine 
lopfartige  Verdickung    trug.     Wenn   nun  dieses  Stäbchen  in  die  Durchbohrung 
des  F*eni8    eingeführt    war,    dann    wurde    dem   freien 
Ende  ein  ganz  symmetrisch  gearbeiteter  zweiter  Knopf 
fiufgeschraubt  und    nun    sass  der  kleine  Apparat  fest 
seinem  Platze.    Heutiges  Tages  wird  er  nicht  mehr 
genutzt.      Diesen    Apparat    lernten    nun    die    Orang 
linnoi  von  den  Orang  Temiä  kennen.    Sie  wussten, 

kss  er  irgend  etwas  mit  dem  Geschlechtsakt  zu  thun  pj^  .^  ZwbereerÄth  von  HoU 
habe,  und  so  bildeten  sie  ihn  nach  und  fanden  nun  der  Orang  SiünoidfaUocw  wir 
in  dem  Stäbchen  mit  dem  festanhängeuden  Knopf  eine  !*^*KT^  **?  GeBeUieobutri«bes 
\ennlichkeit  mit  männlichen  üenitahen»     bie  durch-  Baru/fK) 

>hren  sich  den  Penis  nicht  und  so  konnten  sie  das 
)ing  natürlich  auch  nicht,  wie  die  Orang  Tömiä  anwenden.  Sie  waren  nun 
kber  doch  davon  überzeugt,  dass  es  von  Einfluss  auf  die  Geschlechtsthatigkeit 
Bin  müsse,  und  so  legen  sie  es  unter  die  Schlafmatten,  um  bei  ihren  Weibern 
^während  der  Copulation  den  Geschlechtstrieb  zu  erhöhen*.  So  ist  es  also  zu 
'aem  Zaubermittel  geworden,  von  welchem  Fig.  232  eine  Abbildung  giebi 
Von  den  Balinesen  berichtet  Jacobs: 

«Die  6alt€rs  kennen  oine  Menge  Mittel,  die  Wellavt  bei  dem  Coitui  (mSkatoekan) 
|nd  den  Gescblechtstrieb  zu  steigern,  und  et  wird  ein  nicht  allzu  geringer  Gebrauch  von 
«en  Mitteln  gemacht...,,  Dieee  Mittel  gehören  meist  dem  PÜanzeu reiche  an.  Eins  der 
gebrftachlicbätcn  ist  der  Padangderraan  (bal.)  (oder  jav.t  Patideruian),  die  Blatter  von 
Aitemifiia  vulgaris  L.  Auch  die  Ghinasen  liefern  ihnen  vielfach  Mittel  ftlr  diesen  Zweck. 
In  der  Absiebt,  den  Gennas  bei  dem  Coüub  %u  erhöhen,  wird  auch  von  den  Frauen  vqr 
sm  Coitim  ein  rothee,  harzartige«  Pulver,  Gopita  geuanntf  das  prickelnde  und  zusammen- 
ebende  Eigenschaften  besitzt  und  eine  Vertlnderung  des  Lumens  der  Vagina  zu  be* 
Krken  «cheint,  in  die  Vulva  (platt  bali:  tSIi,  hoch  bali;  srira)  gectreut  Mit  Unrecht 
igt  can  Kckf  d9*9  man  dieses  Mittel  zu  dem  Zwacke  anwende,  die  Fruchtbarkeit  der  Frau 
EU  befördern.* 

lieber  die  Viti-Insulaner  berichtet  Blyth  das  Folgende: 
,, Allgemein  wird  von  den  Fiji-Intulanern  geglaubt,  dass  die  einer  Ehe  entspringenden 
Einder  kräftig  and  gesund  werden,  wenn  die  Ehegatten  selten  cohabitiren,  und  wenn  ein  oder 
^•brere  Rinder  schwach  und  krank  werden,  so  schiebt  dies  die  Mntter  auf  geschlechtliche 
Kcesse  das  Vaters.'' 

,^Die  Fijt-Insutuner  sind  der  Ansicht^  daas  ein  Beischlaf  zur  Befruchtung  nicht  hin- 
reichend sei.     Sie   haben  einen  sonderbaren  Aberglauben,  dass  wenn  ein  junger  unvarheiratheter 
[ann  einen  unerlaubten  Verkehr  gehabt  hat,  und  denselben  nicht  wiederholt,   er  sicher  ist. 
t&her   oder  später  von   einer  zehrenden  Krankheit  befallen  zu   werden    und    schliesslich    zo 
titerben,     üieraua  folgt,  dass  er  ge^w^ungen   ist,  den  Beischlaf  su  wiederholen,    um  nicht  der 
Bvermetdlichen  Krankheit  Kum  Opfer  zu  fallen/^ 

Auf  sümmtlichen  Inseln  der  Südsee,  welche  Kubanf^  besucht  hat,  fand  er 
Sie  Gonorrhoe  stark  verbreitet  Als  die  Ursache  dieser  Erkrankung  betrachteten 
Üe  Eingeborenen  die  geschlechtliche  Ueberanstrengung,  oder,  wie  sie  sich  aus* 
Icken«  ,das  Brechen  der  Frau*.  Nur  auf  der  Insel  Sonol  in  den  CarolinoD 
irde  die  Besatzung  eines  Schifles  als  Infectionsquelle  erklärt. 

Eine  sonderbare  Vorstellung  von  der  sympathischen  Vt^irkung  des  Zeu- 
mgsgescbäftes  auf  den  Pflanzenwnchs  findet  sich  bei  manchen  Naturvölkeni : 

2S* 


-  T...    *i ;.:    -:::     .•»:»>     ii    ifftt  if-'^.iiunim*-:  -^inar-.    it-.a   -r^r*    n   uafe-  tteoiS' 

•  r.  .  -iLi^wr     i:     f  Vu-K     "  '.irun    luxDiTZinvr.     u::i    v-rnjriirr   rrf^    üiip^    n    liHsftsr 

uiv;ii:.     ::i!T.itt;     ).  ?■-:«♦.     unii-3in.     ui>u-     iun    y^^f-rrc,   iL*  Tumr.     ir    iiirnnr  «uim. 

•  .  ,  .-r-.i.     •.  r:»-?-    ii-«tii:fr:    Äimnif    -rftir-iun.-      Ifeas-"   I»Hi=r    uirr     "nn     iw  Jtui 


:  1  *w   L.wr^nMissr''^  tr^^mrSwL 

'  -«i  u*r.    r.i^.-r:.    v      .:i-    in--   it-:!'*;    Xür.    mr  ^s-iurei  i»=s«-ni4**nTiii-ai«i   -iarimt- 

-.:.i.T.  ^-.-rW.fl      it*.^'         ■.:::l     11     l»*r    Tu**       äT     Uiie     iilv:!     Ilrli?TFSls     tl^    J  uL        ÜlXlL 

•. .- .     ■/•:    ■>*;.••:    *  "i\*. — :.    Tf    VI-  x«r>^»-"    iiii-»*n.    n    liii^^r  I.-ir   dt*  "^fiii»«"    lji»ar- 
::*i  ;/     -iijnii.  1    :i\i\   1 -r-?-:L- v.ii.'.riif:!.    "  •:    ii*.Ti    iiiIii::Jt  iusi    rf*=.  uii— ar  ^rilüfumaic 

»    H-    -.liTiT     :!    «4l»f:    .•  iV.tri  V  :"-i     liir*-   -'-ij*!!!  IUI'   ^1    null*    :iir«!itiif    T.iTrtiuh. 

.--HU. •••••:     -.Mr «liti'-iir»'       *r:ir.j:     Uk»'  iii  -h;."?'J1i-    ti^^-'u    i;irri*    tr    ;&    T^^s^inTTTTfmuiMnn'T' 

*\\'    ii '.ir*nii;ii    j:*'i:i4:*-n,     i:»*r":;;'  i»r?"  »iitt*--    ri*^!»  n-    r.i    -rjus^SL     \na    «iniMuL    2«. 

«.»n    ./'ic»       ■•  :     *■:!     'uu'   üirsi««"  i»-^'.:!;''::?'    r.rviüe"    iiuiiü*ipf.     ^:     iucn*n     itniö* 

•>-•  •       t;iw    I.-'-.  :.•".     V  :-    i.w    t.*i   .'"-Vur"-*!:     ii*ft   2'- ''»*'*[    '  n    J./»'i. -•'»!/ -r    «rv«*iijÄ. 
,f>i     t*»-.<s'     ♦;i;':i 

•  .   r  — .      -%,u        y  '   i**^  IT»."   T      r"' -'.'•'■»' ^    iii-:    -*   *i!*   i:.»^'-    1:.*    "liimn     ix-ir 

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114.  Abttinens-VorBcbriften. 


487 


Auch  die  übrigen  ^funktionellen*  Zeiten  der  Frau,  d.  h,  die  Zeit  der  Gra- 
tidität,  da.>i  Wochenbett  und  die  Säugungsperiode  halten  bei  halb  civilisirten,  aber 
knch  bei  manchen  ganzlich  rohen  Völkern  den  Gatten  von  der  ehelichen  Um- 
armung fem.  Da  die  Saugungszeit  sich  gar  nicht  selten  Über  mehrere  Jahre  hin 
rstreckt,  so  ist  die  geschlechtliche  Trennung  der  Gatten  dann  eine  ausserordent- 
Sch  lauge  dauernde.  Es  ist  das  sicherlich  ein  sehr  bemerkenswerther  Zug  im 
Tölkerleben,  der  wohl  verdient,  als  eine  halb  unbewusste  Maassregel  primitiver 
lygiene  aofgetasst  zu  werden. 

Bei  den  Baktrern,    den  Medern    und   den  Persern   war  auch   für  eisen 
Beischlaf  in  den  soeben  genannten  Zuständen  des  Weibes  die  gleiche  Strafe  fest- 
gesetzt»   wie  för   einen  Coitus  in  der  Menstruation:    200  Ruthenstreiche  oder  die 
&hlung   von   200  Decems   waren   die  Strafe  fiir  denjenigen,    welcher   gegen   daa 
Terbofc  sündigte. 

Bei  den  Drusen  ist  es  dem  Ehemanne  nicht  gestattet>,  mehr  als  einmal 
in  jedem  Monat  seiner  Frau  nach  ihrer  Reinigung  beizuwohnen;  und  wenn  der 
Monat  vorüber  gegangen  ist,  ohne  dass  sie  die  Menstruation  gehabt  hat,  so  nähert 
sich  ihr  nicht ;  denn  er  darf  den  Beischlaf  während  der  Schwangerschaft  nicht 
irollziehen;  t'benso  wenig  darf  er  sie  während  der  zwei  Jahre  berühren,  wo  sie 
stillt.     (Pderniann,) 

Aber  auch  abgesehen  von  der  Menstruation,  giebt  es  Zeiten,  in  welchen  der 
Jeischlaf  unterbleiben  solL  Im  christlichen  Mittelalter  waren  es  namentlich  be- 
kimmte  Feiertage.     Hier  predigt  Berihold  von  Reßen$hurg: 

«[f  m\\i  da^  wol,  da^  keiner  kr^atüre  got  ^t  viJ  xlt  gellUen  ha  %e  86  ^etäaen  dingen» 
iiit  halt  vil  krt'ati^re.  diu  niwan  (nur)  ein  fAl  in  dem  j^e  bütl  tö  hat  iu  gar  vil  zSt  gctlän 
ela«»)en)  in  dem  langen  j&re,    amle  da,  von  ist  daz  gar  mflgelicH,  daz  ir  die  fünf  £lt  mäze 
ultet  unde  maexicücheti  dt  mit  einander  an  dem  bette/ 

Nun  werden  die  heiligen  Zeiten  genatmt   und   den  Frauen  gesagt^    dass  die 
Männer  sich  diesem  Verbote  vielleicht  nicht  gutwillig  fügen  wollen: 

,  Wirt  aber  er  s^6  gar  tiuvelheftic,  da»  er  »prichet  übel  unde  von  dir  wil  hin  zur  einer 

ttndern  unde  im  daz  gar  ern«t  werde  ande  du  e%  itn  niht  erwern  (erwehren)  mflgest;  ^>  lehe) 

ünne  daz  dil  in  zur  einer  andern  l&sest,  aioh,  frouwe,  aI  oz  danne  au  der  heiligen  kristnaht 

bder  an  der  heiligen   karfritagesnabtf  aO    too   ez  mit   trtirigem   herzen;   waa  «ö   bist  du    an« 

Dhuldie»  ist  eht  (nur)  dln  wille  da  bt  niht/     C^^otrlmann.j 

StM  erzählt:  »War  bei  den  Stämmen  der  Verapaz  in  Guatemala  die  Zeit 
les  Festes  bestimmt,  so  begannen  die  Vorbereitungen  dazu  mit  allerlei  Kaateiungen. 
ßblecbtlicher  Umgang  war  selbst  für  Verheirathete  verboten/ 

In  Abysi^inien  darf  Sonnabends  kein  ehelicher  Coitus  stattfinden. 
Das  Enthalten  des  geschlechtlichen  Umganges  ist  bei  den  Wakamba  und 
Wakikuyu  in  Ost-Afrika  geboten:  so  lange  das  Vieh  sich  auf  der  Weide  be- 
tindet,  also  tagsüber  vom  Austreiben  vom  Morgen  bis  zum  Eintreiben  am  Abend. 
Ferner  gehen  bei  diesen  Völkern  die  Männer  nicht  zum  Weibe,  so  lange  sie  sich 
auf  einer  Reise  befinden,  selbst  nicht  zu  ihrem  eigenen,  wenn  es  sich  in  der  Kara- 
rane  befinden  sollte.  Als  Trauer  beim  Tode  eines  Verwandten  oder  Häuptlings 
£nd  die  Wanika  gehalten,  drei  Tage  lang  nicht  zum  Weibe  zu  gehen. 

Von  den  Aschanti  berichtet  Bowditch  folgende  Geschichte:  Der  Königssohn 

litte  sich  von  dem  Fetischmann  einen  Fetisch  liefern  lassen,  welcher  ihn  schuasfest 

chen  sollte«     £r   versucht  es  und   zerschiesMt    sich  den  Arm.     Da   erklart  der 

i  anUf   dass  ihm  der  Fetisch    offenbart   habe,    warum   der    erhoffte   Schutz 

ben   sei;    der    Königssohn    habe    zu    einer    ungehörigen    Zeit   einen    ver- 

t^Ueneo  Umgang  mit  seiner  Frau  gehabt. 

Bei  einzelnen  Völkern,  z  B.  bei  den  Kaffera,  ist  der  Brauch  des  Probe- 

|oitu»  vor  der  Verheirathung  eingeführt,  doch  muss  der  junge  Mann  sich  dabei 

-;t-,.  *^rV:v  iTirj^rung    herbeizut^hren,    da    ihn    dieselbe    veri>flichten    würde, 

■ib  zu  behsUten-     Dei^halb   befriedigt  er  seine  Ge&chlechtslust 

Ödiüükehi 


438  ^^I-  ^CM  Weib  im  GeschlechUTerkehr. 

Bei  anderen  Völkern  ist  die  eheliche  Beiwohnung  in  der  Brautnacht  durch 
die  Sitte  verpönt.  Bei  den  Ehsten  darf  in  der  Hochzeitsnacht  weder  die  fleisch- 
liche Vermischung  noch  auch  sonst  etwas  darauf  Hinzielendes  stattfinden.  In 
einigen  Gegenden  Ehstlands  hütet  man  sich  sogar,  dass  der  Mann  selbst  nur 
den  Busen  seiner  Frau  berfihre,  weil  sonst  beim  späteren  Stillen  Milchknoten, 
Entzündung  und  Abscesse  der  Brustdrüse  folgen  würiden.     (Kr^}d.) 

Auf  den  Keei- Inseln  in  dem  B an  da- Archipel  dürfen  die  Jungvermihlten 
erst  nach  dem  Verlaufe  dreier  Nächte  den  Beischlaf  ausüben,  und  um  sie  mit 
Sicherheit  vor  einer  Uebertretung  dieses  Gebotes  zu  schützen,  muss  in  den  ersten 
drei  Nächten  ihrer  Ehe  eine  alte  Frau  oder  ein  junges  Kind  zwischen  ihnen 
schlafen.  Was  ist  der  Grund  für  eine  so  merkwürdige  Sitte,  die  wir  bei  xwei 
weit  von  einander  wohnenden  und  nach  Rasse  und  Lebensrerhaltnissen  g&nxlich 
verschiedenen  Volksstämmen  antreffen?  Sollte  es  nicht  ein  unbewusster  Nach- 
klang jener  Gebräuche  sein,  welche  wir  oben  kennen  lernten,  dass  nfimlioh 
die  erste  Nacht  nicht  dem  Gatten  gehört,  sondern  der  Gbttheit  dargebradit 
werden  muss? 

Man  wird  hier  auch  an  die  mittelalterliche  Gewohnheit  erinnert,  dass  der 
Ritter,  welcher  mit  einer  Dame  das  Lager  theilte,  aber  ihre  Keuschheit  zu  schonen 
versprochen  hatte,  zwischen  sich  und  seine  Bettgenossin  ein  entblösstes  Schwert 
als  Tugendhüter  legte. 

Blyth  erzählt  von  den  Fiji -Inseln: 

,Wenn  ein  Fiji-Insalaner  und  eine  Frau  sich  geheirathet  haben,  verbleiben  aie  drei 
Tage  in  strenger  Absonderung  (strict  seclusion).  Am  vierten  Tage  versammeln  sich  die  Weiber 
desselben  Ortes  und  führen  die  Neuverm&blte  zu  einem  Flusse  zum  Baden,  und  der  Gatte  ist 
nun  verpflichtet,  sich  l&ngere  Zeit  des  Geschlechtsgenusses  zu  enthalten.  Diese  aus  der  Zeit 
der  Polvgamie  stammende  Crewohnheit  wurde  früher  so  streng  eingehalten,  dass  Zuwider- 
handelnde unfehlbar  der  Tod  erwartete.  Jetzt,  wo  durch  den  Einfluss  der  Missionare  die 
Monogamie  herrscht,  ist  der  Brauch  vergessen.* 

Nach  Graaflatid  ziehen  sich  auf  der  Insel  Rote  die  Neuvemwhlten,  von 
zwei  alten  Weibern  begleitet,  zurück.  Der  Gatte  muss  der  Braut  einen  Gürtel, 
dessen  neun  Knopfe  mit  Wachs  überzogen  sind,  abknöpfen  und  zwar  nur  mit  dem 
Daumen  und  dem  Zeigefinger  der  linken  Hand.  Hierüber  wachen  die  alten  Frauen. 
Bevor  der  Gürtel  nicht  völlig  gelöst  ist,  darf  der  Bräutigam  nicht  in  eheliche 
Gemeinschaft  mit  seiner  Braut  treten:  wie  man  ihm  erzahlte,  verginge  maochmal 
ein  Monat,  ja  ein  Jahr  darüber. 

Auch  in  Deutschland  begegnen  wir  an  einer  Stelle  einer  besonderen  Ent- 
haltsamkeit.    Lamtntrt  sagt: 

,Am  ersten  Samstage  nach  der  Hochieit  verlaust  in  manchen  Gegenden  Oberbayerns 
die  junge  Frau  ihr  Hans  und  eheliches  Bett  und  macht  eine  einsame  Wanderung  m  einem 
nahen  Wallfahrtsorte  (so  im  Traungau  nach  Mariaegg  im  Bergenerthal  oder  int 
Kirchenthal  bei  Lofer),  indem  sie  im  Hause  ihn^r  Eltern  oder  Verwandteil  diese  Nadit 
im  Kirchtagbett  lubringt.  Denn  die  Samstagnacht  ist  der  Jungfrau  Maria  geweiht,  vmd 
solch  ein  Opfer  der  Enthaltsamkeit  sichert  der  Ehe  den  be^ondersn  Schutt  der  Himmeb- 
kSnigin.^ 

Bei  allen  Zigeuner-Stammen   gilt    nach  r.   ir^.c/i'rK  das  Wieed  als  daa 
Lieblingsthier  der  Krankheits-Dimonen.  und  eine  zufällige  I^egegnung  ^t  ihm 
ist   daher   von   schlimmer    Vorbedeutung.     , Sehen    Eheleute,   auf  dem 
Hegend,    ein  Wiesel    vorbeilaufen,    so    müasmi    sie  sich   jeder  Vermischimg 
Tage  lang  enthalten.* 

115.  Die  StHlufT  bei  dem  loili». 

Es  mag  wohl  sonderbar  erecheineiu  wenn  ich  der  La 
in  welcher  der  Brischlaf  aui^t^bt  wird,  eine  l^esondere 
Keineswegs   ist   es   die  Abeichl,   nach  '   des   ISHro   JL 


116.  Dm  SteUtwg  bei  dem  Coitai. 


439 


1^ 


Stellungen  zu  durch  mustern,  welche  mffinirte  Sinnlichkeit  und  Wollust  auszu- 
denken  vermochte,  sondern  nur  diejenigen  Positionen  verdienen  unser  Interesse, 
welche  von  bestimmten  Völkern  gewohnheitsgemäss  und  der  Regel  nach  ausgeführt 
werden,  welche  aber  von  der  uns  als  gewöhnlich  geltenden  Art  abweichen.  Nicht 
das  erotische,  sondern  das  ethnographisch-anthropologische  Interesse  ist  es  also, 
welches  mich  diese  Angelegenheit  hier  zu  erörtern  veranlasst     Denn  wir  müssen 

Eier  Sache  schon  deshalb  unsere  Aufmerksamkeit  zuwenden,  weil  in  Folge  der 
Irahrgenoramenen  Differenzen  die  Frage  aufgeworfen  werden  muss^  wenn  sie  auch 
heute  noch  nicht  definitiv  beantwortet  werden  kann,  welche  Ursachen  und  Be- 
engungen denn  hier  eigentlich  im  Spiele  sind^  ob  etwa  nur  die  Nachahmung  des 
Bebahrens  gewisser  Thiere,  oder  ob  besondere 
Abweichungen  von  der  Korperbildung  der 
übrigen  Menschenrassen  als  die  eigentliche  Ur- 
sache hierfür  angesehen  werden  müssen. 

Wohl  ist  es  nun   ein  naheliegender  Ge- 
danke^   dass    der  Mensch   zu  allen  physiologi- 
schen   Verrichtungen    diejenige    Stellung   oder 
Lage  fast    instlnctiv    schon    wählen    wird,    in 
welcher  ihm  dieses  Geschäft  am  leichtesten  und 
angenehmsten  von  Statten  geht*    Und  so  müsste 
man    auch   erwarten,   dass  für  die   Ausübung 
der  sexuellen  Verrichtungen  auf  der  gesaramten 
bewohnten    Erde    dieselbe    Lage   gebräuchlich 
wäre,   Ist  denn  nun  aber  die  Prämisse  richtig? 
Dass  sie  dieses  nicht  ist,  lehren  einfache  Bei* 
spiele.    Man  denke  nur  an  die  Art  des  Sitzens 
bei  den  verschiedenen  Völkerstämraen,  an  die 
Stellungen  wie  sie  beim  Essen,  an  die  Lagen, 
wie   sie    beim  Schlafen    selbst    bei    nahe   ver- 
wandten Völkern  durchaus  nicht  immer  ül)er- 
nstimniende  sind;    und  dann  wird   man  sich 
cht  mehr  verwundern,    dass  auch  von    einer 
pischeu    Lage   für   den    Beischlaf   nicht   die 
ede    sein   kann,    sondern   dass  wir   bei   ver- 
hiedenen    Völkern    mancherlei    verschiedene 
ormen  auffinden,  die  durch  althergebrachten 
auch  und  Gewohnheit  bei  ihnen  traditionell 
Orden  sind* 

Unter  den  anatomiachen  Handzeichnungeo 
des  Leonardo  da  Vinci  hat  sich  ein  sehr  inter- 
eitaiites    Blatt    erhalten,    welches    die    8r 
Venus  ahversa  als  die  dem  Bau  der  meii  l- 
liehen    Geschlechtstheile    entsprechendste   dar* 
stellt.   (Fig.  233,)     Der  alte  Blumetibach  sagt 

darüber;    ,  Besonders    lehrreich   ist   eine  Zeichnung,    wo   ein  männlicher   und  ein 

weihlicher  Körper  zusammen  in  copula,    den  Vorderleib   gegen   einander  gekehrt, 

id  beide  von    hinten    nach   vorn    (in  sagittaler  Richtung,   wie  wir  beute  8ageQ)| 

mlich  vom  Rückgrat  bis  zum  Brustbein  und  der  Synchondrose  der  Schambetno 

bnitten«  um  die  Richtung  der  männlichen  Ruthe^zu  der  Axe  der  weiblichen 

ie  zu  zeißen,   und  die  natürlichen  Bestimmungen  zur  Venus  obversa  zu  er- 


/ 


i^ 


Kig,  233,    Veaas  obversft,    (Km&h  eta«r 


I  ir^eichnete  Lajrc    Leib  an  Leib,   ist  bekanntennaasaen 

tigen  (Jti  che;   aber   auch   bei   vielen  anderen 

n^^^  ,  welche  man  daher  wohl  nicht  mit 


7  :r^::r  ii.s  ii^  N'^^rmaLärrilunif  >t*zeioimen  -rann.  Die  rrau  )emdet  äeh  dabei 
.:;  '>r  Ri:-  ^.-r.iae^  nir  ^esprwzrea  ind  Irichr  im  5aie  ind  m  ier  Hülte  :ze- 
••=-;;vr*^r.  3»-!nrr..  Tihn^ad  ier  Wanr.  nriächen  irei  Srhenkein  iegr  and  sürii  mit 
.-::ir.'i    ;:-.ä   Zller. .''nireri  •vüir=-nd   ii^r  Cmarmunc  anitzr. 

'::  ir-n  Trii'r-r:  -oa  3»?n:'aaa'!:ia  Ji  Ae-j^^aTen.  "xeicne  iem  liten  R«9che 
'.!;.i  :tvi-  i»-r  a!'.  Z'^nasn»*  nurehör^a.  imd  Lco.^*"^  inrer  irti  Hieroeivphffi- 
!:>i''".rr'.-':  iir-  lar-tr-diiiu?  -^nei^  Paares,  Teicäe»  Aiir  -»ineni  Riihtrbetie  t^nabiiirt. 
r.'ri  r.T»::  "iesr  »astr^srr^kr  mi  iem  3:iciKi  ind  ier  Mann  hat  äch  ib«-  ae 
.::-.';j^'"-^"ür.     Iv   3»-dt*ar.iiitf    iiesea  Znchens  jsz  xir  iinrnr  'gekannt. 

Z.  Ä"ii  ies  a/*"/ 'f  "»H#*r  H»ii^'>*L  .Lb»t  ''tnni*(n  ziebr  ins  lack  sÄr  die 
.\r  -:r-n::::    i->  V-r.v.s     ■i'"-frsÄ  lis    iie  yomaifTeiliing  in: 

>  r,. '.tr-rr*.  ir  ••**  v-::r:r=  r:  ^^  ■«^r.:*-  .Tj.  ri-iile  «r  -a  ziesm«  ie  r^c-riir.  atbc 
.r".".  .i  :■.  if^'.T  «Tj^rtEji;! :':•*.  "T":-  "■  'lä  xetrrei  --ir  -»ile.  "^a«£"  .-:nc»  Tiäaiz*.  ""»nire  amra 
--r.*v^  -ä::-  r:B»:-.i*r..»-  i/^»  me  -serz::".:'-  ioiceo-.  «  -ous  ..r.rr.gacsgsg  ^  prnifizaszan  -s 
•':^.r^:;"    •?*  :"■  r*»?*  ««•.:  :?m»s.'        r-   -t»  ■.-:. 

"^  .ü    irr*     ■  r  i ::  j  3 - .  -  r.  i i  ^  ji  iE a  1  ^ ■: »! a  ?a^    ^ (;«//•<<. i   ii^i-r^  rk? 

.2:»»  ?ra;:    :::n:n::    i:.*  3;;c*i»n.A^«*   ■»!::.    nur    iea   2-iixiki   ^nr    tt»:    «.^inr'kra    mii    ifli 

'^ .r  ia«it*!:  2".s::  w-^r.  ■^.-  .t*h  :»?r»iT5  lade^r-re.  ?»»l  je^v-Äen  '^jüem  •^inzeiiie 
. V.  »*:^  '  r.    ii*j  wen '  11  ea I it?  S rr-ü ■ ::: <j-n  .ni  ■  T«»ri  ra'jc ::- 

I;%?.s  i4>riir-tfs  i^--?--^  Xrrni^ü^reil  :ii;r  M.'iii:!!  iz  iir«?a  Zeiwn  and  bä 
l»*r*    "■*r3rJi;t»d«*ai*r«r.   '^"iki*r::     iie    -r^rr?«:iieade    ttit.    z*äir    lu*    ^eiöi   ZeoiCiDSwa 

L"".T:ref^a«n.  iie  ;:LaBnsi'a  -^ia  iea  'I«:in?  iiiäu  :ea'i*r?  ?iar  iarsreilen,  wnn^i  ie 
r.-A:-.  in:'  iem  Itli'sen  liar,  ^ilir^ad  ier  Msui=.  iioii  nur  Iir  Ensc  in  Eng« 
Vd■.:"ie^  ^c  iai»9  -vr  aiir  «e'^eai  ilüide  iaa  iizz  ier  r  7:1:1  rerlän  An*  jüm 
?:w<j^r  ier  naar-liciiea  rurir  -erln«ier  ^iii'z  ii»?  etin:!  irs  ■^rla&esw  los  ier 
Xi;:    "r!r.  i-^a    i,i;:a      Aica    ia.'»    lrrli2■^r    if  .ärini    rlr  " ' •^■rrr-^'iv:    ifs&zrz   -ia 

^i*  V- •■ . ;  *  j"  i-rf-^r. 'r-r.  ■.'*  •  i.--^  i.::  i-r*a  Ir^k-L  rLie  7rki  —  i-fr  iz_r-ZIlea3«:«n- 
-ü'-  r^-vj^r-  ■--  ..::  s.  \-.  -a,-.-.  ^—^n  v^in-.eiz.  r-a  ^Lkza-f  iz:s:-r!i-  ier  üarer 
.--  -'er.e-. :    :-.:   i-^-^-r   riir.i^,    i::     v.--   Elr-ra   .**-:ai.    ?  e'-r~    2:_*:     ier  IzaniKio 

•a--. --".r.  :a-  ?vitr  i--r  '*--'.-s  .^  A't.t.  v  ■  :r.  i.-^  r>ii  L-r  rÄk*!i7«rce 
•--i.-i  .-.  :.-  --:'--*  .-.r-  r.:  iv*-.  ia:er*c  ri^rz  rz:— -  i.r?  F-k;  iie  Klckeclage 
*:".  '«•l •.."*:::  :-."  M.w^  i--:'"-*rir  ;"«•:?*•  ira  :  irra  S;i.*a£-Lz.  cz_-»r.  .1  i-er  Sfcaiai- 
.\'2  M  ^-..i  ,:.   ■    ".  :•      ie :.-.•.  ▼.?   i  >*^7    *z^r^-i   A-?!iZ-:    .tZ  i ::   ^Ji-rr  Vis^  *3ch 


7.7A^.,  £A::a  **  »:"rl  kfia-r—  Zwrir^l  -■r:^r-:>r^r.   ii*-  *;-?  \>ri;AT* 
t.*:.*7.  rtliiÄ'iica  ris.  Z-ir^ii*  c^  S:aafa*k::r=*>  ^:^:7r:^  »w« 


115.  Die  Stellung  bei  dem  Ooiiue. 


441 


anders   verhält   ea   sich  Tielleicht   mit  den   cliinesischen  Figuren.     Hier  kommt 

"namentlich  die  bereits  weiter  oben  erwähnte  Gruppe  von  Kunstwerken  in  Betracht, 

reiche    unter    dem  Namen   tsch'un-tschV    «Frühlingstäf eichen*  oder  pi-hi 

Lgeheime  Spiele'  bekannt  sind,     Sie   gleichen    in   der  Form  ungefähr  unseren 

TuBchkästchen    und   haben    auf  dem    Schiebedeckel    in    farbigem    Elfenbein    eine 

}ruppe  von  zwei  oder  mehreren  menschlichen  Figuren  verschiedenen  Geschlechts, 

welche  meist  in  harmloser  Unterhaltung    oder    auf   der  Promenade    sich  befinden. 

iieht  man  den  Deckel  auf,  so  findet  man  im  Inneren  de^  Kästchens  ebenfalls  eine 

irbige  Relief  darstell  ung    in  Elfenbein,    welche  ein  ganzlich  oder  nahezu  voUstän- 

lig  entkleidetes  Paar  in  verschiedenen  Stellungen  der  Begattung  zeigt.     Das  Vor* 

lierrsehen    einer  bestimmten  Stellung   lässt   sich  dabei  nicht  erkennen,    nur  ist  es 

luffallend,  wie  hantig  die  Frau  die  Beine  ad  maximum  in  den  Knieen  und  in  der 

löfte  gebeugt  hJilt.     Ich  komme  hierauf  noch  zurück, 

Eugen  Pander  theilte  mir  mit,  dass  diese  Frühlingstäfelchen  noch  in 
der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  als  Geschenk  flir  Bräute  benutzt  worden 
wären.  Prof.  Dr.  Grube  gab  mir  über  dieselben  Folgendes  an:  ,Nach  mündlicher, 
China  ziemlich  allgemein  verbreiteter  Ueberlieferung  dienten  sie  wahrend  der 
ling-IJyinastie  (1368 — 1644)  als  Wahrzeichen  gegen  Feuersgefahr-  Pander  s 
Mittbeilung,  dass  dergleichen  Bilder  früher  Bräuten  vor  der  Hochzeit  geschenkt 
|i¥urden,  beruht,  wie  mir  mein  chinesischer  Freund,  Herr  Knei-lin,  mittheilt^ 
ntschieden  auf  einem  Irrthum.  Hingegen  soll  es  vorkommen,  dass  sie  jungen 
länncm  geschenkt  werden,  die  in  den  Ehestand  treten  wollen  und  nicht  wissen, 
iWie  man  es  macht*.* 

Es  ist  überhaupt  nicht  leicht  zu  sagen,  welchen  Grad  von  Beweiskraft  man 
wichen  bildlichen  Darstellungen  beizulegen  berechtigt  ist.  Das  Museum  für 
Völkerkunde  in  Berlin  besitzt  eine  in  Holz  geschnitzt«  Gruppe  aus  dem  Benue- 
^Gebiete  in  West-Afrika,  wo  das  Paar  in  der  gewöhnlichen  Stellung,  die  Frau 
in  vollständiger  Rücfceulage,  der  Mann  auf  ihr  liegend,  gebildet  ist  Eine  in  der- 
selben Sammlung  befindliche  fignrenreiche  Gruppe  in  Messing  von  der  west- 
^afrikanischen  Sclavenküste  zeigt  zweimal  die  Frau  in  der  Rückenlage  mit 
gespreizten  Beinen,  hochgezogenen  Knieen  und  fast  wagerecht  gehaltenen  Unter- 
chenkeln^  während  der  Mann  in  beiden  Fällen  in  aufrechter  Stellung,  aber  mit 
Jebeugten  Knieen  seinen  Unterkörper  der  Erde  nähernd,  die  Immissio  penis  voll- 
debt.  Auf  den  berühmten  prähistorischen  Felseuzeichuungen  bei  Bohuelaen  in 
Schweden  finden  sich  nach  den  von  Bntmus  und  Holmberg  gegebenen  Nach- 
bildungen zwei  Paare,  welche  die  Cohabitirung  im  Stehen  ausfiihren. 

Das  Museum  für  ViMkerkunde  in  Leipzig  besitzt  einen  Löffel  von  den 
Philippinen,  dessen  Stiel  durch  ein  cohabitirendes  Paar  gebildet  wird.  Die 
Vnden  befinden  sich  Brust  an  Bru&t,  der  Mann  zwischen  den  Beinen  der  Frau, 
ler  er  die  rechte  Hand  auf  die  Kreuzbeingegend  gelegt  hat,  um  sie  gegen  sich 
zu  drücken;  beide  halten  die  Beine  in  den  Knieen  leicht  gekrümmt.  Wenn  man 
len  Wflel  aufrecht  halt,  so  wird  dieser  Beischlaf  im  Stehen  ausgeführt;  legt  man 
|en  Löffel  aber  hin,  so  nimmt  auch  das  Paar  eine  liegende  Stellung  an,  so  dass 
|ie  Frau  unten  und  auf  dem  Rücken  liegt.  Diese  Stellung  war  vermuthiich  be- 
ibsicfatigt. 

Der  Coitus  wird,  wie  es  scheint,  bei  der  Mehrzahl  der  Naturvölker  in  der 
lückenlage  der  Frau  vollzogen;  wenigstens  würde  wohl,  wenn  dies  nicht  der 
Fall  wäre,  häufiger  von  Reisenden  und  Beobachtern  das  Vorkommen  einer  anderen 
'  erwähnt  werden.  Von  den  Fe u er l ändern,  welche  1881  in  Europa 
t  worden  sind,  wurde  nach  Angabe  ihrer  Führer  der  Coitus  ,ab  anteriore* 
,  Bisrhoff'};  Vh'xmxi  ist  freilich  nicht  ausgeschlossen,  dass  nicht  auch 
mgcn  ausnahmsweise  gewählt  werden. 
^♦^  Suaheli  in  Zanzibar  haben  ausser  dieser  ^natürlichen*  Lage  nach 
heilaDi:^  ^'"    fi' .--^  ..  *ixi  ploss  auch  noch   die  umgekehrte  Position   im 


^42  XYL  Das  Weib  im  Geschlechtsverkehr. 

Gebrauche,  so  dass  der  Mann  also  unten  und  die  Frau  auf  ihm  liegt:  dabei  macht 
die  Frau  eine  eigenthümlich  mahlende  Bewegung  mit  dem  Leibe,  Digitischa  ge- 
nannt, welche  jedenfalls  zur  Erhöhung  des  Genusses  für  den  Mann  dienen  boU. 
Diese  Bewegungen  werden  den  Mädchen  von  alten  Weibern  gelehrt,  bei  welchen 
sie  vierzig  Tage  lang  in  die  Schule  gehen.  Es  ist  dort  beleidigend,  wenn  man 
einer  Fran  sagt,  dass  sie  nicht  Digitischa  machen  könne.  Aehnliches  wird  aus 
Niederländisch-Indien  berichtet. 

In  Ost-Afrika  scheinen  noch  andere  Manieren  beliebt  zu  sein.  In  Abys- 
sinien  wird  der  Goitus  auf  zweifache  Art  vollzogen;  zumeist  in  der  halben 
Seitenlage,  dann  aber  auch  so,  dass  die  Frau  sich  in  der  Rückenlage  befindet, 
während   der  Mann   die  Beine  derselben   über  seine  Schultern  nimmt.     (Stecker.) 

Bei  den  Sudanesen  wird  der  Goitus,  wie  Ploss  you  Brehm  erfuhr,  in  ganz 
eigenthümlicher  Weise  vollzogen,  denn  er  findet  nicht  bloss  im  Liegen,  sondern 
auch  im  Stehen  statt;  dabei  beugt  sich  das  Weib  nach  vom  und  stemmt  die 
Hände  auf  die  Knie,  das  Hintertheil  streckt  sie  nach  hinten,  während  der  Mann 
den  Goitus  a  posteriori  ausübt. 

In  Italien  mag  früher  Aehnliches  vorgekommen  sein.  Freshun^  welcher 
die  Wandgemälde  Pompejis  genau  studirte  und  viele  derselben  copiren  Hess 
und  publicirte,  hat  die  Beobachtung  gemacht,  dass  auf  diesen  Bildern  stets  dort, 
wo  zwischen  einem  Paare  der  Goitus  zur  Darstellung  kommt,  das  Paar  die  Stellung 
wie  bei  solchen  Thieren  einnimmt,  bei  denen  das  Weibchen  nach  vorn  vorgebeuj^ 
ist  und  das  Männchen  demselben  von  hinten  beikommt.  Freshun  sprach  gegen 
Ploss  die  Vemmthung  aus,  dass  diese  Stellung  vielleicht  zu  jener  Zeit  im  süd- 
lichen Italien  sehr  häufig  war. 

Wir  dürfen  aber  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  raffinirte  Wollust  im  da- 
maligen römischen  Reiche  sehr  verbreitet  war,  und  ich  konnte  mich  an  Ort  und 
Stelle  überzeugen,  dass  die  Wandgemälde  Pompejis  auch  noch  andere  höchst 
unnatürliche  Positionen  für  die  Ausübung  des  Goitus  zur  Darstellung  bringen. 

Doch  auch  hoch  im  Norden  giebt  es  ein  Volk,  bei  dem  der  Mann  sich  der 
Frau  gleichfalls  von  hinten  nähert.  Nach  Bessels  vollzieht  der  Inuit  (Eskimo) 
des  Smith-Sunds  mit  besonderer  Vorliebe  den  Beischlaf  nach  Art  der  Vier- 
füsser;  nach  mündlicher  Mittheilung  eines  Freundes  erfuhr  Bessels,  dass  dies  auch 
bei  den  Kon  jagen  der  Fall  ist. 

Ein  anderer  Gebrauch  besteht  in  der  Seitenlage:  Von  den  Kamtscha- 
dale n  sagt  Steiler: 

„Bei  ihnen  boisst  es,  wer  den  Concubitus  verrichtet  dergestalt,  dass  er  oben  aufliegt, 
begehe  eine  grosse  Sünde.  Ein  rechtgläubiger  Itälmeno  muss  es  von  der  Seite  verrichten, 
aus  Ursache,  weil  es  die  Fische  auch  so  machen,  von  denen  sie  ihre  meiste  Nahrung  haben.* 

Hier  wird  also  doch  ein  Grund  angeführt:  es  ist  die  Nachahmung  der 
Thiere,  welche  als  Modell  oder  Vorbild  dienen.  Auch  die  Tschuktschen  und 
die  Namollos  haben  den  gleichen  Gebrauch. 

Bei  den  Bafiote-Negern  an  der  Loango-Küste  wird  ebenfalls  die  Bei- 
wohnung liegend  von  der  Seite  ausgeführt.  Besondere  Gründe  hierfür  konnte 
Pechuel'Loesche  nicht  in  Erfahrung  bringen;  es  liesse  sich  vielleicht,  wie  er  sagt, 
die  Grosse  des  Penis  als  Ursache  hierfür  anfllhren.  Jedoch  haben,  wie  wir  sehen, 
auch  andere  Völker  einen  ähnlichen  Gebrauch,  obgleich  ihr  Penis  die  gewöhn- 
lichen Dimensionen  nicht  überschreitet. 

Sehr  wechselnd  sind  die  Gewohnheiten  in  dieser  BeMkHMr  bei  den  Ein- 
wohnern der  verschiedenen  Inseln  des  alfurischen  Ardh^^^^uMB  Baru-In- 
sulaner  föhren  den  Goitus  unter  Bäp  9,  wobei  die  F  "  kenla^  ein- 

nimmt.    Auch  die  Bewohner  von  abitiren  in  li  wurd  die 

Angelegenheit  im  Stehen  abgem»  Xeei-  um  der  komnw 

iA  noch  weiter  unten  zurück.     ( 

Ein  Paar  &rbige  Thonfigur  in  f&r  VUI 


115.  Die  SteliuBg  bei  dem  CoitoB. 


443 


konde  in  Berlin  ȟf  der  Insel  Bali  im  malayischea  Archipel  erworben  hat, 
stellen  die  Cohabitirenden  flach  auf  der  Erde  sich  gegenübersitzend  dar  In  der 
einen  Gruppe  liegen  hierbei  die  Schenkel  der  Frau  auf  denen  des  Mannes,  und 
mit  den  Bänden  hält  der  Letztere  die  Genossin  unter  den  Achseln  fest.  In  de|^ 
anderen  Gruppe  hat  die  Frau  die  Schenkel  in  den  Knieen  und  den  Hüften  ge- 
beugt und  hat  dem  Manne  ihre  Füsse  auf  die  Scholtern  gelegt,  Ihren  Körper 
"ixat  sie  ein  Wenig  nach  hintenüber  gelegt  und  sie  wird  von  hinten  her  von 
ßinem  zweiten  Manne  gestützt^  mit  dessen  Penis  ihre  linke  Hand  sich  zu  schaÖen 
aacht.  In  dem  letzten  Falle  ist  wohl  «licherlich  nicht  mehr  an  alltagliebe  Ver- 
hältnisse zu  denken. 

Hierzu  stimmt  es  sehr  gut,  wa»  Jacobs  von  den  Bai  lern  berichtet: 
.Auch  in  der  Anwendung  mecbaDischer  Mittel,  um  den  GenuBs  boi  dem  Coitus  zu  er- 
höhen und  in  dem  Auffinden  verschiedener  tjehaglicher  Stellungen  wllbrend  diese«  Actes  bleibt 
ler  Baliftr  nicht  hinter  der  Pariser  Demi-mondo  zurück.  Manche  tragen  auch  die  Renn- 
eichen der  passiven  (lijdelijk)  Stellung  der  Frau  an  sich,  da  iie  mehr  die  Erhöhung  des 
Eilichen  Genusses  von  dem  Manne  berücksichtigen,  ohne  dem  Schaden  und  den  Schmerzen 
echnung  zu  tragen^  welche  dadurch  manchmal  der  Frau  veruraacht  werden.  So  ist  z.  B.  oine 
Sethodß  bei  ihnen  allgemein  bekannt,  ngongk^kang  (wörtlich  ,zur  Seite  stossen*»  mit  einem 
Bpaten  oder  einem  andnren  Werkzeuge  beim  Umgraben)  genannt,  die  dajin  besteht,  diws  der 
Mann  vor  der  Immisflio  penis  mit  aller  der  Kraft,  welche  er  in  stadio  sunimae  voluptati»  zu 
produciren  vermag,  gegen  die  oder  längs  der  Labia  m^jora  oder  gegen  die  Clitoris  stösst»  ein 
MftnOver,  das  bei  den  Frauen  häußg  Erosionen  und  Blutungen,  z.  B.  durch  das  Aufscheuern 
dei  Frenulum  clitoridis,  im  Gefolge  hat,  ohne  ihr  Wollustgefühl  zu  erhöben/ 

pSebr  beliebt  ist  auch  bei  den  Baliern  die  St-ellung  der  Frau  k  la  vache  w&ihrend  des 
Doitua.     Als    ein  Muster   von    dem  Wortreichthum    der    Balischen  Sprache  kann  es  dienen, 
MW  sie    selbst  ein  Wort  besritzt  für  den  Fall,    dass  der  Mann  durch  zu  grosse  Aufgeregtheit 
Dt  dieser  Stellung  der  Frau  in  einen  falschen  Hafon  segelt;  man  nennt  diese«  m^glajaban: 
er  zu  sehr  auf  der  einen  Seite^  es  sei  rechts  oder  links  oder  schief,  dann  sprechen  sie 
"ro©  bagor  mekossod.^ 

In  der  Dessa-Koebe-Tambaan  in  BoeUleng  war  Jacobs  der  Gast  des 
)or!bberhaupte8. 

.Die  Kammer  wurde  fast  ganz  von  zwei  grossen  Bettstellen  eingenommen,  beide  um- 
liangen  mit  buntgef  Erbten  Gardinen,  reich  mit  möglichst  vielen  Figuren  verziert,  ein  Product 
Malischen  Kunstfleisses,  Bei  näherer  Betrachtung  zeigte  sich,  dass  sie  hundorte  von  ver- 
ehiedenen  Darstellungen  enthielten,  wie  der  GcBchlechtstneb  befriedigt  werden  kann,  sowie 
pin0  Zahl  von  verschiedenen  Stellungen  bei  dem  Coitns/ 

Der  Beischlaf  wird  nach  dem  Bericht  des  Missionar  Kcnipe  bei  den  cen- 
tral australischen  Schwarzen  am  Finke-Creek  liegend  vollzogen;  diese  Be- 
i>bacbtung  bezieht  sich  auf  die  Umgebung  der  Missiansstation  Herrn annsburg 
nahe  der  Mac  Donnel-Kette. 

Bei  den  Australierinnen  am  Vincent-Golf  (bei  Adelaide)  sollen  nach 
{öhler  die  Schamtheile  etwas  mehr  als  bei  anderen  Volkern  zurßckstehen,    daher 
|ie  Männer,   ,was  Übrigens  bei  den  meisten  Australiern  Sitte  ist"*,  die  Begattynjr 
ron    hinten    vollziehen.     Dagegen    sind    in    einigen  Gegenden   Australiens  unter 
Stammen    besondere    Stellungen    beliebt.     Eine    Coitus-Stellung,    welche  sich 
Inzlich  von  der  anderer  Völker  unterscheidet,  ist  in  West-Australien  gebrauch- 
Seh;  Fletcher  Moore  berichtet,  dass  sie  dort  mit  dem  Worte  Mu-yang  bezeichnet 
Die  Weise  ihrer  Begattung  ist  sitzend,  Gesicht  gegen  Gesicht,    Auch  ver* 
Brte  Oberländer^  der  sich  in  Australien  längere  Zeit  aufhielt,  dass  sich  dort 
ire   im    Sitzen  auf  der  Erde  hockend  Brust  an  Brust  bei  eigenthümlicher 
iriLnkung    der  Beine  umfassen,     v.  Miklucho-Maday^  hat  hierüber  genauere 
iigungen  eingezogen.    Die  Eingeborenen  entblöden  sich  nicht,  die  Begattung 
am    hellen   Tage   vorzunehmen,    wenn  man   ihnen  ein  Glas    Gin 
,/»  fi^KiDpT^  ^\q  die  hockende  Stellung  ein  in  einer  von  Millucho- 
^»''  n  Weise.    Die  Frau  befindet  sich  zunächst  in  Rücken- 

heu  ihren  Schenkeln  nieder  und  zieht  die  noch  imnur 


Ben 


rird. 


444  XVI.  Das  Weib  im  Geschlechtsverkehr. 

liegende  Frau  an  sich,  bis  die  Geschlechtstheile  an  einander  treffen.  Zuweilen 
wird  der  Coitus  in  dieser  Stellung,  der  Mann  hockend,  die  Frau  liegend,  zum 
Äbschluss  gebracht;  in  den  meisten  Fällen  aber  ist  dieselbe  nur  die  Praliminar- 
ßtellung  für  ein  weiteres  Verfahren,  indem  der  im  Niederhocken  verharrende  Mann, 
den  Oberkörper  der  Frau  vom  Boden  erhebend  und  an  den  seinigen  heranziehend^ 
Brust  an  Brust  in  engster  ümschlingung  den  Begattungsact  vollzieht. 

Ein  zuverlässiger  junger  Mann,  Morton^  berichtet  ab  Augenzeuge  Weiteres: 
Eines  Abends,  als  er  sich  in  der  Nähe  eines  Camps  von  Eingeborenen  be&nd, 
fiel  es  ihm  ein,  einen  Eingeborenen,  der  um  ein  Gläschen  Oin  bettelte,  aofira- 
fordern,  vor  ihm  den  Coitus  auszuüben.  Der  Eingeborene  entfernte  sich  willig, 
um  ein  Weib  zu  rufen,  welches  auch  bald  darauf  erschien.  Ohne  irgend  welche 
Zeichen  von  Verlegenheit  zu  äussern,  nur  mit  dem  Gedanken,  sein  Gläschen  Gin 
rasch  zu  verdienen,  machte  sich  der  Mann  an  das  Weib,  wobei  das  Paar  die  vor- 
stehend erwähnte  Positur  annahm.  Die  Operation  in  dieser  Stellung  ging  nach 
der  Meinung  des  Mannes  nicht  rasch  genug  von  Statten,  weshalb  er  mit  der  Be- 
merkung: ,,so  dauert  es  zu  lange,  werde  es  auf  die  englische  Manier  (english 
fashion)  versuchen, '^  das  Weib  auf  den  Rücken  sich  zu  legen  nöthigte  und  selber, 
auch  liegend,  den  Coitus  zu  Ende  brachte.  In  Folge  von  Erzählungen  anderer 
erfahrener  Weisser  war  die  Aufmerksamkeit  Morton*s  nach  dem  Coitus  auf  das 
Weib  gerichtet.  Er  bemerkte  daher  Folgendes:  Nachdem  der  Mann  aufgestanden 
war  und  nach  dem  Gläschen  Gin  langte,  richtete  sich  auch  die  Frau  auf,  stellte 
die  Beine  aus  einander,  und  mit  einer  schlängelnden  Bewegung  des  Mittelkörpers 
warf  sie  mit  einem  kräftigen  Ruck  nach  vorne  ein  Convolut  von  weisslichem 
Schleim  (Sperma?)  auf  den  Boden,  wonach  sie  sich  entfernte.  Diese  Art,  sich 
des  Sperma  zu  entledigen,  welche  sogar  eine  bestimmte  Benennung  im  Dialect 
der  Eingeborenen  aufweisen  soll,  wird,  nach  den  Aussagen  der  weissen  Ansiedler 
Nord-Australiens,  von  den  eingeborenen  Weibern  nach  dem  Coitus  gewöhn- 
lich ausgeübt,  mit  der  Absicht,  keine  weiteren  Folgen  des  Zusammenseins  mit 
einem  weissen  Manne  durchzumachen.  Wenn  die  Weissen  solche  Schaustellungen 
fordern,  werden  diese  schon  corrumpirten  Eingeborenen  allerdings  in  ihrer  Sitt- 
lichkeit nicht  gerade  gefördert  werden. 

Den  Coitus  in  sitzender  Stellung  führen  nach  Eiedel^  auch  die  Bewohner 
der  Keei-Inseln  aus,  während  die  Aaru-Insulaner  denselben  hockend  voll- 
ziehen, wie  die  Marege  in  Nord-Queensland  oder  wie  die  Orang-Utan  und 
andere  Affenarten.  Von  Herrn  Dr.  Max  Uhle  werde  ich  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  die  Amsterdamer  Ausstellung  im  Jahre  1883  eine  Holzschnitzerei  von 
einem  Sarge  der  Longwai-Dayaks  in  Ost-Borneo  besass,  welche  die  Cohabi- 
tation  in  der  gleichen  Stellung  zur  Darstellung  brachte.  Uebrigens  findet  diese 
letztere  sich  ebenfalls  unter  den  peruanischen  Vasen  der  Sammlung  Ettore  Minas 
in  Cuzco,  und  auch  eine  rohe  Thongruppe  der  Malanga  in  Afrika  (im  Ber- 
liner Museum  für  Völkerkunde),  welche  zur  Aufstellung  auf  einem  Grabe  beatimmt 
ist,  führt  sie  uns  vor.  Es  liegt  aber  kein  Beweis  dafär  vor,  dass  diese  Stellung 
bei  den  Malange  die  typische  wäre. 

Die  alten  Inder  waren  davon  überzeugt,  dass  die  Bewohnerinnen  der  ver- 
schiedenen Districte  ihres  Landes  in  Bezug  auf  ihren  geschlechtlichen  Geschmack 
ganz  zweifellose  Rassenunterschiede  erkennen  lassen.  Vatsyayana  schreibt  davon 
in  seinem  berühmten  Werke  Kama  Sutra  oder  die  Gesetze  der  Liebe,  welches 
Lamairesse  aus  dem  Sanskrit  übersetzt  hat.     Es  heisst  darin: 

,Les  femmes  du  Centre,  entre  le  Gange  et  la  Jumna,  ont  des  sentiments  Kleves 
et  ne  so  laissont  point  faire  de  marques  avec  les  ongles  ni  avec  les  dents.  Les  femmes 
d*Avantika  ont  le  goüt  des  plaisirs  bas  et  des  mani^res  grossi^res.  Les  femmes  du  Maha- 
rashtra  aiment  les  soixante-quatre  sortes  de  volupt^.  Elles  so  plaisent  aux  propos  ob«c^6s 
ot  sont  ardentes  au  plaisir.  Les  femmes  de  Patalipoutra  (aujourd^hui  Padma)  ont  let 
mdmes  ardeurs  que  les  pr^^entes,  mais  ne  les  manifestent  point  pabliqaement.   Les  femmM 


115.  Die  StelloDg  bei  dem  CoitUB. 


445 


>ravtdieiiii6s,  malgre  loa  careraes  de   toutes  sorte«,   s'^chauffeiit  iHfßcileiueiii  et  n^arriveDt 

Fq^oe    lontement   au   spasme    g^n^sique,     he&   femmes  de  Vanavasi  sotit  aaset  frotdea  et  pea 

fiensibles    ai]x    careraea    et    au  attoucbements  et  ne  soaSrent  poinl  de  propos  obdc^ne«.    Lee 

femmes  d'Avanti  aiment  runion  sou^  toutes  ses  fonnes,    maifl  ä  rexclusion  des  caresse^  ac- 

eeasoiree.     Les  femmeg  de  Malva  ainient  les  baber«,  le«  embraseements  e«  surtont  les  ooiips» 

tuait   DOD  les  ögratignures  et  les  tuoraureg.    he^  femmes  de  Funjab  soQt  folles  de  Taupa* 

risbtaka   (careeses  iwec  la  lan^ue).     Les  femmes  d'Aparattka  et   de   Lat    soot  tr^  pae^ 

sioimeea    et    pouuent    doucement    1e    cii  SitT     Les  femmeä  de  POude  OBt  les  d^sirs  les  pitii 

imp^tueux,    Icar   semence  coule  avec  abondance  et  olles  j  aident  par  des  m^dicamants.     Les 

jfcnime«  du  pays  d^Audbra  ont  des  membres  d^licats  et  sont  tr^  voluptueöses.    Les  femmen 

■de  Ganda  dODt  douces  de  corps  et  de  langage.* 

Man  ersieht  hieraus,  dass  der  alte  Vatstfayana  sich  das  exacte  Studium 
dieser  Verhältnisse  hat  sehr  angelegen  sein  lassen.  Wahrscheinlich  Hegen  aber 
seinen  Angaben  wirkliche  rassen-anthropologiache  Tbatsachen  zu  Grunde^  die  wir 
daher  nicht  unterschätzen  dürfen. 

Neuerdings  hat  Richard  Sckmidf^  mit  Unterstützung  der  Berliner  Aka- 
lemie  der  Wissenschaften  dieses  Werk  mit  dem  Commentare  des  Ya^dhara  in» 
deutsche  übersetzt.  Man  kann  nur  staunen,  welchen  Fleiss  die  beiden  indi- 
ichen  Autoren  auf  ihren  Gegenstand  verwendet  haben.  Jedenfalls  vermag  man 
)icht  zu  leugnen,  dass  sich  die  physische  Liebe  in  Indien  zu  einer  wahren  Kunst 
l«ntwickelt  hatt^\ 

Die  talmudischen  Aerzte  waren  der  Ansicht^  das  ein  im  Stehen  aus- 
geführter Coitus  kein©  Befruchtung  nach  sich  ziehen  könne.     (Wunderbar.) 

Eines    im    Modenesischen     herrschenden     Aberglaubens    m\is9    ich    noch 

Erwähnung    thun.     Hier    sagen   nach  Rkcardi  die  Bauern,    dass  wenn  ein  Mann, 

dessen  Gattin  ihm  immer  Mädchen  zur  Welt  bringt,    einen  Knaben  haben  wolle. 

so    müsse    er   beim  Coitus   eine  andere  Stellung  einnehmen.     Es  soll  aber  bereits 

^auch    Abhülfe    schaffen,    wenn    er    seine    Frau    während    des    Beischlafs    in    das 

)hr  beisst. 

Bei  Lageveränderungen  der  Gebärjuutter,  wo  ein  Zur  echt  rilcken  unaus  fuhr  bar 
wird  in  des    getreuen  JCckarth's  iiuvorsichtiger  Heh-Ämme  als  ,^das 
näheste  und  sicherste  Mittel*   ausgeführt, 

I  .doM   man  den  Modom  coogressus  mutire  und  ändere,  und  Ut  im  geringsten  vor  kein 

Ipeccatunt  mortale  (es  w&re  denn  das  man  GeiJheit  wegen  allerband  modus  co^undi  exercirte) 
Ita  achten^  wenn  ein  paar  verebelichle  Personen  nm  Kinder  2u  sengen  a  parte  anteriori«  la- 
eriaU  vel  posteriori,  modo  locus  congresgui  destinatus  tangatur  einander  beywohneti,  denn 
0,  und  alle  mechaniscbe  Hanthierung  zeigen  mir  aolcbes,  dass  diss,  was  mir  von  vom  im 
siebet,  auf  der  Seiten  oder  im  Hi&thertheile  mir  einen  füglichen  Vortheil  dem  Woreke 
vorweiset,  und  dieser  modus  congrediendi  kan  in  vermejnten  Hindemiss  Kinder 
A,  beiderseits  so  wol  bei  Manna-  als  Weibsperaooen  in  acbt  genommen  werden,'* 
Kkodja  Omer  Haleby^  Abu  Othtnim  sagt  in  seinem  e  1  K  t  a  b  genannten 
IWerke: 

»Dieu  Mt  pntssant  et  mia^ricordieux  I  £n  C6  qoi  conc^me  les  antres  maniäres  de  colter, 

oit  qne  la  femme  preune  la  place  de  Tbomme*   soit  qn*el!e  seit  ä  demi-pencbee  sur  le  bord 

l'un  baut  sopha,   fM>it  qu'elle  se  tienne  de  beut,  ou   ados^ee  h.  un  arbre,    soit  qu'eUe  se  mette 

ians    la  posture  des   femeUes  des  animaui,    ce  sont  la  jeax  d*amoareux,    que  la  loi  aotorise, 

onform^ment  ^  cette  parole  du  Propb^te:    Les  femmes   sont  votre  cbamp;    cultives-le  de 

"la  maniere  que  voua  Tenti^ndrez,  ayant  fait  auparavany  quelque  acte  de  piete,*   Cde  livgla,) 

Bei    der  Durchmusterung  dieser  Berichte  macht  es  doch  den  Eindruck,    als 

ob   einige    dieser  Stellungen    durch    körperliche  Verhältnisse    der  Frauen    bedingt 

.siud.    Dahin  sind  namentlich  diejenigen  zu  rechnen,  bei  denen  die  Beine  der  Frau 

[besonders    stark    in    die    Höhe    gehoben    werden.     Es    kommt   auch    bei  Weibern 

unserer  Rasse    vor,    dass   der  Scheiden eingang   etwas  weiter    nach  hinten  gerückt 

st,   als   gewöhnlich.     Dann    gelingt   die    Immiso    penis    nur,    wenn    die   Frau    die 

Heine    in  den  Knieen    und  Hüften   stark  beugt,   oder  mit  anderen  Worten,   wenn 

hie   sie    in    die  Höhe    hebt.     Da    wir    dieses  Erheben    der  Beine    nun  gerade  auf 


446  ^^I-  ^^  ^01^  ^^  GeechlechtsTerkehr. 

chinesischen  Darstellungen  sehen,  so  könnte  man  vermuthen,  dass  die  Ver- 
krüppelung  der  Flisse  und  das  hierdurch  bedingte  abnorme  Verhalten  auch  der 
Weichtheile  des  Beckens  eine  Verschiebung  des  Introitns  vaginae  nach  hinten 
verursacht.     Sichere  Angaben  hierüber  liegen  aber  nicht  vor. 


116.  Der  rituelle  Beischlaf. 

Wenn  wir  uns  in  die  Erinnerung  zurückrufen,  welch  eine  wichtige  Trieb- 
feder, sowohl  in  dem  Leben  des  Einzelnen  als  auch  in  dem  Geschicke  ganzer 
Völker,  der  Geschlechtstrieb  zu  werden  vermag,  dann  wird  es  uns  nicht  Wunder 
nehmen,  dass  schon  in  verhaltnissmässig  früher  Zeit  die  Priesterschafi;  auch  den 
Beischlaf  in  den  Bereich  ihrer  Einflusssphäre  gezogen  hat.  Man  kann  filr  diesoi 
von  religiösen  Vorstellungen  und  Vorschriften  beeinflussten  geschlechtlichen  Ver- 
kehr, ganz  gleichgültig,  ob  er  zwischen  Eheleuten  oder  ausserehelich  stattfindet, 
die  Bezeichnung  des  rituellen  Beischlafs  einführen. 

Zu  dem  an  dieser  Stelle  uns  interessirenden  Rituale  mQssen  solche  Be- 
stimmungen gerechnet  werden,  welche  den  Neuvermählten  für  die  erste  eheliche 
Beiwohnung  einen  ganz  bestimmten  Tag  nach  dem  Abschluss  der  Hochzeitscere- 
monien  vorschreiben,  wie  wir  das  bereits  in  einem  früheren  Abschnitte  kennoi 
gelernt  haben.  Hierher  gehören  auch  ebenfalls  alle  diejenigen  Vorschriften,  welche 
den  ersten  Goitus  der  neuvermählten  Frau  der  Gottheit  oder  deren  Vertreter  vor- 
behalten, wofür  dann  der  unglückliche  junge  Ehegatte  diesem  Substituten  noch 
Opfer  und  Geschenke  darzubringen  hat.  Wir  werden  hierfür  später  noch  eine 
Reihe  von  Beispielen  kennen  lernen.  Dass  nun  aber  auch  der  S^en  der  Gotttieit 
für  diesen  so  ausserordentlich  wichtigen  Act  erfleht  werden  muss,  das  erscheint 
uns  ganz  naturgemäss. 

Auch  nach  den  Gesetzen  Zoroaster's  soll  man  nicht  nur  vor  dem  Goitos 
gewisse  Gebete  aussprechen,  sondern  es  müssen  auch  nach  demselben  beide  Ehe- 
leute gemeinschaftlich  ausrufen: 

,0  Sapondomad,  ich  vertraue  dir  diesen  Samen  an,  erhalte  mir  denselben,  denn  er  ist 
ein  Mensch!* 

Ebenso  müssen  Mann  und  Frau  im  Seranglao- und  Gorong-Archipel  vor 
dem  Beischlaf  ein  Gebet  sprechen. 

Von  den  Abstinenz -Vorschriften  während  der  Menstruation,  sowie  in  der 
Zeit  der  Schwangerschaft,  des  Wochenbettes  und  der  Säugungsperiode  ist  früher 
schon  die  Rede  gewesen. 

Hier  schliessen  sich  bestimmte  Reinigungsvorschriften  an,  welche  uns  bei 
gewissen  Nationen  entgegen  treten.  Denn  bei  manchen  Völkern  herrscht  der 
Glaube,  dass  der  Coitus  „unrein**  mache.  „So  oft  ein  Babylonier,*^  sagt  Herodat, 
„seiner  Frau  beigewohnt  hat,  zündet  er  Weihrauch  an  und  setzt  sich  daneben, 
welches  die  Frau  gleichfalls  thut.  Bei  Tagesanbruch  baden  sich  dann  beide,  denn 
ungewaschen  rührt  bei  ihnen  keiner  etwas  an.  Beides  findet  man  auch  bei  den 
Arabern."  Hiermit  kommt  eine  hygienische  Volkssitte  zum  Vorschein,  die 
später  zum  Cultus  geworden  ist. 

Schon  unter  den  alten  Juden  der  Bibel  verunreinigte  jeder  Act  ehelicher 
Beiwohnung  beide  Theile  bis  an  den  Abend  (3.  Moses,  15,  18);  beide,  der  Mann, 
sowohl  als  aucli  die  Frau,  mussten  sich  hinterher  durch  ein  Bad  reinigen. 

Auch  der  Muselmann  soll  bei  dem  Beischlaf  beten,  um  die  bösen  Geister 
fern  zu  halten.     Khodja  Om^r  Halehy  sagt  hierüber: 

„II  est  bon  de  prononcer,  au  moment  on  le  Dkeur  (penis)  pen^tre  dans  la  vhIt«,  1a 
parole  sacrue:  Au  nom  du  Dieu  Clement  et  misericordieux !  On  öloignera  ainri  let  <Qiaai  e^ 
les  mauvais  esprits,  dont  la  mission  est  de  presider  ä  la  confection  des  enfants 
malsains/' 

Später  heisst  es  dann,  wenn  die  Einführung  des  Gliedes  be|P' 


116.  Der  rituelle  Beischlaf. 


447 


m 


,C*e6t  &  ce  momont-l^  que»  poar  motlre  )e  diable  en  faite,  vous  diaez  ious  deux:  au  som 
teu!     Si,  au  momont  du  spaäine  final,  au   moinent  de  rejaculartion,    1a  femiuo  &e  tenftnt 
hüe,    comme  en  eita^e»    vuus  pouvez  ajout^r  Je  refite»  de  la  forniüle  aacrde;   clt^ment  et 
niia^ricordieux!  Vuearro  Mra  parfaite  et  renfant  que  voub  procr^erez  ne  eeBtim  jauiais  la  m&lii 
u  d^moa."     (de  Regia, J 

Nach  deu  religiösen  GBboten  der  Mohammedaner  (Sikhelil)  ist  der  Ehe- 
ann  nur  dann  verhindert^  seiner  Frau  beizuwohnen,  wenn  sie  krank,  menstruirt 
er  im  Wochenbett  ist;  heirathet  er  eine  Jungfrau,  so  soll  er  ihr  sieben  auf 
einander  folgende  Nächte  sich  widmen;  nimmt  er  eine  neue  nicht  mehr  jung- 
frauliehe Gattin,  so  ist  er  ihr  nur  drei  auf  einander  folgende  Nächte  schuldig. 
So  heisat  es  auch  bei  Khodja  Omer  Halehy: 

,8i,  ayaot  dej&  uoe  femme,  irous  en  prenesE  ttne  seconde,  voas  derres  pasBor  troU 
nuitfi  cons^cutive«  avec  votre  nouvelle  femme;    vous  lui  aooorderez  eept  si  eile  est  vierge/* 

Der  Gatte  kann  mit  einer  seiner  Frauen  in  der  Reihe  seiner  Besuche  häufiger 
zusammenkommen,    sobald  die  andere  Frau  zustimmt^   dass    sie    übergangen  wird, 
i  es  freiwillig  oder  nicht;    auf  der  anderen  Seite  kann  eine  Frau  ihrer  Gefährtin 
re  eigene  Reihe  der  Begattungsbesuche  abtreten. 

Wenn  nun  andererseits  die  Mohammedaner  nach  dem  Koran  verbunden  sind, 
fr  Frau  regelmüsöig  wöchentlich  einmal  beizuwohnen,  dasselbe  Gesetz  aber  auch 
an  Eheleuten  verbietet,  während  der  ganzen  Zeit  der  Schwangerschaft  und 
"Nährens,  während  des  Monatsflusses,  sowie  acht  Tage  vor  und  nach  dieser 
it,  endlich  während  der  dreissigtagigen  Fasten  im  Monat  Ramasun  mit  einander 
cohabitiren,  so  möchten,  wie  Oppenheim  hervorhebt,,  dem  streng  an  das  Gebot 
sich  haltenden  Muselmann  selbst  bei  seinen  vier  Weibern  die  uns  nach  Ltdher  s 
Ausspruch  erlaubten  hundertundvier  Umarmungen  im  Jahr  nicht  einmal  zu  Gute 
kommen. 

Aber  überhaupt  fa«t  alle  Völker  enthalten  sich  der  Gattin  während  der 
enstruation,  die,  wie  wir  ja  bereits  oben  gesehen  haben,  die  Frau  in  hohem 
ade  unrein  macht. 

Zoroaster  schrieb  vor,  dass  ein  Gatte  seiner  Frau  einmal  binnen  neun  Tagen 
beiwohne;  Solon  setzte  das  Minimum  auf  dreimal  des  Monats  fest;  Mohammed 
erklärte  es  für  einen  Ehescheidungsgrund,  wenn  der  Mann  nicht  wenigstens  ein 
Mal  in  der  Woche  seine  Pflicht  erfüllte. 

Bei  den  Wakamba  in  Afrika  ist  der  Beischlaf  geboten,  wenn  eine  Wittwe 
heirathen  will;  dann  muss  ein  fremder  Mann,  z.  B.  ein  M'swaheli  oder  M*kamba 
aus  anderer  Gegend,  vorher  mit  ihr  einmal  Umgang  gehabt  haben.  Dieser  Mann 
erhält  zum  Lohn  einen  Ochsen. 

Steuer  sagt  von  den  Itälmenen,  daas  sie  nach  der  Hochzeit  den  Beischlaf 
,^aiobt  auf  einmal  vollbringen  durften,  sondern  sie  mussten  grndutim  noch  und  nach  immer 
weiter  kommen^  wodurch  die  Mannspereon  erhitzter  and  dii<  Weiber  vergnügter  worden.  Nach 
diesem  Acte  wurden  weder  MahUeiten  noch  LuatbEirkeiten  angeetellet,  tondem  richteten  iie 
dch  nach  den  Thieren,  welche  nach  verrichtetem  Concubitu,  wohin  jedee  will,  nach  Belieben 
gehet»  nnd  deriviren  sie  auch  ihre  Gwateien  (Uaachen,  man  vergleiche  den  Abechnitt  ßraut- 
Werbung)  daher,  weil  keine  Hündin  einen  Hund  Über  sich  läAst,  ohne  dich  vorher  eine  Zeit 
lang  KU  sperren/' 

Es  mu88  aber  noch  daran  erinnert  werden,  dass  sich  in  den  alten  Calendarien 

des  15.^ — 18,  Jahrhunderts    ganz    ähnlich    wie    tilr   den  Aderlass,    so  auch  tur  die 

eheliche  Beiwohnung    ganz   bestimmte   Gebote   und  Verbote  verzeichnet    und  für 

Verrichtung  günstige    oder    ungünstige    Tage    angegeben    finden.     Es  steckt 

I   mit  grosser  Wabrscheinlichkeif,   wie  es  mir  erscheinen  will,   ein  bemerkens- 

f>iel  von    altem  \  '    dessen  Wurzeln  vielleicht,  ganz  ebenso 

,  -..^_a  unseres  gesamrui  ..    rwesens,  bis  in  die  graue  Vorzeit  Asiens 

reir.h^Ti»     Ich  werde  in  dieser  Annahme  bestärkt  durch  das  schon  oben  einmal 
d^r   Tamil- Sprache   vorliegende    alte    Sanskritwerk    Ivokkögam* 


448 


XVI.  Das  Weib  im  Geschlechtsverkehr. 


Dasselbe  enthält  ein  besonderes  Kapitel,  welches  den  Titel  führt:  Oeschlecht- 
liche  Umarmung  je  nach  den  Monatstagen.  In  diesem  finden  sich  ancb 
gleichzeitig  ganz  genaue  Vorschriften,  in  welcher  Weise  der  Beischlaf  ao^ef&brt 
werden  soll,  und  welches  „Aussenspiel"  man  mit  ihm  verbinden  müsse.  Diese 
beiden  Punkte  spielen  noch  immer  in  gewissen  Theilen  Indiens  eine  nicht  unbe- 
deutende Rolle  in  ritueller  oder  religiöser  Beziehung.  Es  befinden  sich  nament- 
lich in  Orissa  eine  Reihe  von  Tempeln,  an  welchen  in  plastischen  Gruppen  sowohl 
dieses  Aussenspiel,  als  auch  die  nach  unseren  europäischen  B^riffen  raf&nirtesten 
und  obscönsten  Stellungen  und  Arten  des  Beischlafes  zur  Darstellung  gebracht 
sind.  Nach  Rdjendralala  Miira  finden  sich  diese  Obsconitäten  ausschließlich  an 
den  Tempeln  und  den  zu  ihnen  gehörigen  Vorhallen,  aber  niemals  an  den  die- 
selben umschliessenden  Wällen,  Thoren  oder  anderen  Bauten  von  nicht  religiösem 
Charakter.     Ich  kann  hinzufügen,    dass   sie   als  Holzrelieis   auch   an  den  grossen 

Wagen  angebracht  sind,  welche  zum 
Herumfahren  der  Götterbilder  des 
Dschagannätha^  seines  Bruders  JBSa2d- 
räva  und  ihrer  Schwester  SiMadhra 
in  feierlicher  Procession  benutzt  werden. 
Solch  ein  Wagen  ist  von  Wilhelm  Jbest 
im  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin 
ausgestellt.  Er  stammt  aus  Pari  in 
Orissa.  Unter  den  Reliefdarstellangen 
sind  6  unschuldigerer  Natur,  während 
20  das  Licht  der  Oeffentlichkeit  scheuen 
müssen.  Von  diesen  letzteren  zeigen 
16  je  ein  Paar  in  der  Cohabitation, 
und  zwar  in  Stellungen,  wie  sie  die 
kühnste  Phantasie  wohl  kaum  erdenken 
könnte.  Vier  weitere  Platten  führen 
uns  ebenfalls  je  ein  Pärchen  vor,  aber 
noch  ante  actum  mit  yerschiedenen 
Arten  des  purattolll,  des  schon  er- 
wähnten Augenspieles  beschäftigt 
Alle  Darstellungen  bezeugen  einen  ziem- 
lichen Grad  von  Kunstfertigkeit  bei 
dem  Bildhauer,  der  diese  Kunstwerke 
in  sehr  hohem  Relief  aus  je  einer  Holz- 
platte in  der  Weise  herausgearbeitet 
hat,  dass  der  Rand  der  Platte,  sie  wie 
einen  Rahmen  einschliessecd  und  bis  über  ihr  höchstes  Relief  hervorragend,  stehen 
geblieben  ist. 

Tausend  und  aber  tausend  Hindus,  Männer,  Frauen  und  Kinder,  sagt 
lidjendraläla  Mitra^  besuchen  jedes  Jahr  die  Tempel  von  Orissa;  sie  legen  lange 
und  anstrengende  Reisen  in  der  härtesten  Jahreszeit  Indiens  zurück,  sie  ertragen 
die  grössten  Entbehrungen,  um  sie  zu  erreichen,  und  sie  kehren  mit  der  festen 
Ueberzeugung  nach  Hause  zurück,  dass  sie  sich  durch  diese  Pilgerfahrt  von 
allen  ihren  Sünden  gereinigt  haben,  und  sie  haben  auch  nicht  den  Schatten 
von  einem  Gedanken,  dass  irgend  etwas,  was  sie  gesehen  haben,  unsauber  oder 
unanständig  sei.  Das  Ganze  ist  ein  Mysterium,  ein  Mysterium  aus  alter  Zeit« 
heilig  durch  das  Alter  und  gehüllt  in  Alles,  was  rein  und  heilig  ist.  und  sie 
verlangen  nicht,  den  Schleier  zu  heben  und  in  die  Geheimnisse  einzudringen  oder 
deren  Gründe  zu  erforschen,  welche  ihre  Vorfahren  Jahrhunderte  lang  unberOhit 
gelassen  haben. 


Fig.  234.     Lamaistische   Yi-dam-Figar   (Schatz- 

gottheit)  mit  seiner  Yum  in  der  Yab-y  am -Stellung. 

(Chinesische   Bron/egruppe    des    kgl.    Museums   für 

Völkerkunde  in  Berlin.)    (Nach  Photographie.) 


U6.  D^r  rituelle  Beischlaf. 


449 


Rajrndraldla  Mifra  ist  der  gewiss  ganz  ztitTefTenden  Meinung,  dass  es  auch 

fien  ersten  Bildnern  dieser  ftir  unsere  verfeinerten  Begriffe  obaconen  Sculfitnren 
rollkomraen  fern  gelegen  habe,  etwas  Unanständiges  darstellen  zu  wollen.  Es  war 
nar  ihre  Absicht,  einen  religiösen  Gedanken  in  entsprechend  realer  Weise  zur  Ver- 
körperung zu  bringen.  Und  dieser  Gedanke  hängt  ohne  allen  Zweifel  mit  der 
Verehrung  der  Gottheiten  der  Zeugung,  mit  dem  Phallusdienste  zusammen,  der  in 
früheren  Jahrhunderten  wohl  fast  über  das  gesammte  Asien  die  allgemeinste  Ver- 
breitung hakte. 

Aber  auch  noch  in  einer  anderen  Heligion  spielen  plaj^tische  und  gemalte 
Darstellungen  des  Coitus  eine  ganz  hervorragende  Holle,  das  ist  der  Lamaismus. 
Hugett  Pander^  *  ^^  dessen  liber- 

*ÄU8  reiche  Sammlung  seit  einiger 
Zeit  in  den  Besitz  des  Museums 

Ifiir  Völkerkunde  in  Berlin  ober- 
gegangen  ist,  hat  darüber  inter* 
ate  Mittheilungen  gemacht 
Inder  sagt:  dass  die  Schutz- 
jottheiten  Yi-dam  meistens  in 
Umarmung  mit  ihrer  Vuni  dar- 
restdlt  werden,  und  ebenso  auch 
iie  Dhiftini-Buddahs  und  Bodhi- 
$aUvas*  Diese  Stellung,  welche 
Ibrigens    gewissen    Variationen 

[unterliegt,     heisst     Yah-yum 

[tshudpa  d.  h,  der  Vater  mit 
äer  Mutter    den    Beischlaf  aus- 

(übend.    Diese  Yab-yum-SbeHung 

Ider  lamaischen  Götter  hat  der 
lamaischen  Kirche  einen  üblen 
Ruf  eingetragen.  Die  Lamas 
weisen  indessen  die  Zumuthung^ 
dass  in  ihrer  Religion  etwas 
Obscönes  vorkommen  könne,  mit 
Entrüstung  zurück.  Sie  erklären 
die  Yab-yum- Stellung  durch  den 
Terminus  Täbsdang  ses-rab,  d. 
i.  Vereinigung  der  Materie  mit 
der   Weisheit.      Die    durch   die 

L  Bione  nicht  wahrnehmbare  Weis- 
heit oder  der  Geist  sei  in  der 
Tatur    latent;    die    Materie  sei 

[ftber  todt*  Erst  durch  die  Ver- 
Binigung  und  Wechselwirkung 
beider  entstehe   Leben   und  Be* 

[wusstsein.  Die  primitive  Formt  "i  der  die  Befruchtung  der  Materie  durch  den 
ieist  stattfinde,  sei  die  geschlechtliche  Umarmung,  welche  —  als  Ursache  alles 
[organischen  Lebens  auf  Erden  —  der  höchsten  Verehrung  würdig  sei.  Nur  der 
geschlechtliche  Verkehr  zwischen    Mann    und  Weib  könne  als  indecent  betrachtet 

iWerden,  da  beide,  ungleich  den  Göttern,  sündhaft  und  unrein  seien  und  den  Bei- 

[schlaf  nicht  behufs  Verherrlichung  der  grossen  Principien  der  Natur,  sondern  nur 

\zn  ihrem  persönlichen  Vergnügen  ausübten. 

Meist  ist  die  Gottheit    stehend    dargestellt,    während   die  von    ihr  umarmte 
\YHm  beide  Beine  um  de»  Gottes  Hüften  gelegt  hat.    (Fig.  235.)     Auch  steht  die 
^*'^»»i  lYiauchmal  mit  einem  Beine  »»»»f  -'»'^  F!"«»^   »i^"^  schlingt  nur  das  andere  Bein 
fi«rf«lt,  Dm  W«l1t,   Q,  Ann  29 


■m 


Fig.  23.=»,    Liim*istiirli«  Yh'!"'-    ^ 

fl«uier    Vum     jtt    «kr    Yab-yi 
6ronzegni|i|)«  des  kgK  Mtist?HTn 


-otUielt)  mit 
Berlin  ) 


%VL  Dju  Weib  im  Geschleckta verkehr. 


um  die  Hüfte  des  Oottes.  (Fig,  234»)  Bisweilen  auch  sitzt  der  Gott  auf 
Erde  mit  untergeschlagenen  Beiuen  und  hat  dann  ebenfalls  die  Yum  auf 
Hüften  reitend,  (Fig.  236.)  Die  letztere  hat  stete  den  Kopf  mit  vertückteii 
Ausdruck  zurückgebogen,  und  an  der  krampfhaften  Stellung  ihrer  FoBSi^heD 
erkennt  man  deutlich,  dass  sie  sich  auf  dem  Gipfelpunkte  ihrer  woUOsl|a|^J 
Empfindungen  befindet.  Die  kleinen  Bronzefiguren  sind  Meisterwerke  metallq^^H 
öcher  Technik.     In    den    Fig,  234   bis  236   führe   ich   dem   Leser    Proheu    diMf  ■ 


/   ^ 


■M0 


Götterbilder  vor, 

nEs  bleibt  eine  interessante  Thateache,  sskgt  Pander,  daas  der  chiDesi^chl 

Hof  den  Lamas  verboten  hat,  in  den  Tempeln,    die    von    den  Damen   de»  kaiser 

liehen  HarennB  besucht  werden ,  di^ 
Yi'dam  in  der  Yab-yum-Stellanf^  cui4 
die  Draggshed  (welche  als  atreitb«re^ 
Gotter  zur  Symbolisirung  ihrer  nitomfr 
erschlafiTendea  Cnergie  phallisch  dar- 
gestellt werden)  mit  einem  Penia  abzu-^ 
bilden.  Die  Lamas  zucken  darn* 
Achseln  und  bedauern,  dass  li 
nesen  eich  nicht  zu  einer  i 
Auffassung  dieser  Dinge  aufzu^i! 
vermögen.* 

In   Japan    ist   nach  ^c'7^ 
Phallus  -  Cultu8    noch    weit    t 
Ein  männlicher  und  weibli* 
stein  in  der  Cohabitation  bt..i.^..w 
in  Netsu  mura.   Ogatagori    in 
Provinz  Shinano.     3L 
davon  eine  Abbildung  l 
von  Schedd  wiedergegeben  wird. 

In  Dorej  im  südwestlichen  Nea^ 
Guinea    fand    v,    Mmenhcrg    nahe    de 
Küste,  frei  im  Meere  st»'  ^^rk-^ 

würdigem?  Haus,  das  bei  yoi 

nur  6  Fus9   eine    Länge  von    tSb   Fu 
beBafis,       Die     eigenthllmlic!  -^     ^-m 
desselben  wird  ausführlieh  f 
eine  Verbindungsbrücke 
an    demselben    nicht  aii^ 
interessirt  daran  das  Folgende: 

goltlieiU  nut  seiner  V  um  in  tii^r  V  Ab-ynm-ätolltt&g,      *     q  iiL  r        i  i.  i        -i.    ■ 

[rbiiiesUchB    Brouiftgruppe    df»  kgl.   MuMum»  mr   em öalkeu,  ttut  welchem  rj  tu  w^ü^i 

Völkerkunde  in  B«rUiiO   (Kach  Pfaotogniiibie.)  liobe  Figuren,   den    Beiedilaf  vallxioba 

rober  Arbeit  liuegesclinitrt  i»ind.     ßUd<»r^ 

SchUingGD,  Fiscben,  Krokodilen  u,,^.  w.  webt  man  an  den  Trug balken  de  wlbffi|i# 

an  den  beiden  HaupUtülzpfUhlen  zwei  groflse  Fig^anm  befeBtigt  *jind,   xv  inm  doc 

Doreaen  var«tellon.     An   der  weatwärt«    gekehrten^    ottonen  Seit«  de?  -'«n 

hAlzome,  4  Fq89  lange  Figuren,  Mann  und  Frau  in  V'olktebung  dei  Coitu  ,  an^fii 

tnifc  in  die  U(^be  gezogon^^n  Knieen,  beide    mit  beuiiilteui  Aniliüc   und  an  dwuemg«i  KOir|ii 
theiien,  welche  mit  Haar  bewachsen  sind,  in  Nachahmung  desselben  mit  Gumutu  iTk»r7ri   ^ 
di'r  Blattscbeide  der  Siigopalmo)  belegt.     Der  Kopf  do»  Mannei  iat  d«rgecl^ 
mau  ihn  an  einem  darin  befestigten  Tau  in  die  Höhe  ziehon  und  auf  da«  .' 
wieder  nied^rfüllen  loggen  kann,     f  Unter  dem  Manne  liegt  ein  l^j  Fu»  Inn 
Rtlckou.  »eine  Beine    gegen    den   Anus    do«    männlichen  Bildes    steinoi"*^  ' 
lieferung   Nt  dan  Kind   ärgerlich   auf  den    Vater,   dtub»    er    die  Muttor 
'vilhrend  ee  wölbst  noch  höl^bedttrftig  i*t     Hinter  dem  Kind. 


117.  Masturbation  und  Tribadie  und  die  Unzucht  mit  Thieren.  451 

Vertiefung  ausgehauen,  worin  sich  frisches  Wasser  befindet,  womit  sich  die  das  Gebäude  be- 
suchenden Personen  das  Haar  anfeuchten.  An  der  gegenüberstehenden  Seite  des  Gebäudes 
liegen  ähnliche  Figuren,  jedoch  ohne  Kind.  An  der  Aussenseite  der  Pf&hle,  welche  das  Ge- 
bäude tragen,  sind  männliche  und  weibliche  Figuren  von  3  Fuss  Höhe  mit  unverhältnissmässig 
grossen  Geschlechtstheilen  angebracht.  Die  an  der  dem  Meere  zugekehrten  Seite  strecken 
den  rechten  Arm  drohend  in  die  Höhe,  die  an  der  Landseite  befindlichen  Frauen  bedecken 
damit  die  Schamtheile.  Bezüglich  des  Ursprungs  der  Bilder  und  des  Gebäudes,  welches 
nimmer  durch  Frauen  mag  betreten  werden,  erzählen  die  Doresen,  dass  die  Figuren  ihre 
Stammeltem  yorstellen,  und  die  Bilder  von  Schlangen,  Krokodilen  und  Fischen  auf  diejenigen 
ihrer  Vorfahren  hindeuten,  welche  von  solchen  Thieren  abstammen.  Noch  bis  vor  Kurzem 
stand  ein  ähnliches  Gebäude  im  Dorfe  Mansinam;  im  Jahre  1857  ist  dasselbe  eingestürzt 
und  bis  heute  (1870)  nicht  wieder  aufgebaut.' 

Es  möge  hier  daran  erinnert  sein,  dass  man  auch  auf  anderen  Punkten 
Neu-Guineas  Bauwerke  mit  plastischen  Darstellungen  gefunden  hat,  welche 
unseren  Augen  obscön  erscheinen.  Auch  bei  ihnen  spielen,  wie  wir  oben  gesehen 
haben  (man  vergleiche  Fig.  214 — 217),  Schlangen  und  Fische  und  Krokodile  eine 
ganz  hervorragende  Rolle. 

Es  mag  hiermit  dieses  für  die  Völkerpsychologie  so  lehrreiche  und  hoch- 
wichtige Kapitel  abgeschlossen  werden;  aber  noch  einige  andere  Formen  des  rituellen 
Goitus  werden  wir  in  einem  späteren  Abschnitte  kennen  lernen;  es  ist  der  ausser- 
eheliche,  durch  göttliche  Institution  gebotene  Geschlechtsverkehr,  wie  er  uns  in 
den  heiligen  Orgien  entgegentreten  wird. 


117.  Masturbation  und  Tribadie  und  die  Unzucht  mit  Thieren. 

Man  begegnet  gar  nicht  selten  der  Ansicht,  dass  Alles,  was  man  als  wider- 
natürlichen Geschlechtsgenuss  zu  bezeichnen  pflegt,  erst  der  überreizten  Sinnlich- 
keit einer  hohen  Cultur  seinen  Ursprung  verdankt.  Das  ist  aber  vollkommen 
unzutreffend,  und  wir  finden  im  Gegentheil  gar  nicht  selten  eine  höchst  raffinirte 
Unzucht  bei  Volksstämmen  von  sehr  geringer  Civilisation,  die  man  sich  so  gern 
als  in  einem  idyllischen  Naturzustande  lebend  vorzustellen  pflegtf  von  denen  man 
bisweilen  Schilderungen  hört,  als  wenn  bei  ihnen  das  goldene  Zeitalter  mit  allen 
seinen  Segnungen  noch  existire. 

Es  fand  sich  schon  oben  Gelegenheit,  auf  einige  künstliche  Gestaltsverände- 
nmgen  der  weiblichen  Geschlechtstheile  hinzuweisen,  die  offenbar  mit  der  schon 
bei  jungen  Mädchen  erregten  Sinnenlust  zusammenhängen.  Die  Kinder  der  Wilden 
denken  sich  dabei  gewiss  nichts  Schlimmes.  Letourneau  sagt  mit  Recht:  „Les 
ecarts  genesiques  sont  anormauz,  mais,  ä  vrai  dire,  ne  sont  pas  contre  nature, 
puisqu'on  les  observe  chez  nombre  d'animaux.* 

In  der  That  müssen  wir  in  der  Masturbation  und  den  ähnlichen  geschlecht- 
lichen Reizungen  einen  allgemein  thierischen  Trieb  erkennen,  und  es  braucht  hier 
nur  an  das  Gebahren  der  Hunde,  an  das  gegenseitige  Bespringen  der  Kühe  und 
an  das  Onaniren  der  Affen  erinnert  zu  werden.  Auch  bei  zwei  Hyänen  hatte  ich 
Gelegenheit,  ein  gegenseitiges  offenbar  beide  Theile  sehr  befriedigendes  Lecken 
an  den  Genitalien  zu  beobachten. 

Es  ist  wohl  sicher  anzunehmen,  dass  die  Masturbation  eine  Gestaltsver- 
änderung der  Genitalien  zu  verursachen  vermag.  Aber  abgesehen  von  diesem 
örtlich  anatomischen  Einfluss,  kann  sie  auch  nicht  ohne  schwere  Folgen  auf  den 
gesammten  Organismus  bleiben,  unter  denen  ein  frühzeitiges  Verblühen,  ein  Welken 
und  Abmagern  und  vielleicht  sogar  eine  Beeinträchtigung  der  Zeugungskraft  in 
erster  Linie  zu  nennen  sind. 

Eram,  der  längere  2«eit  im  Orient  die  ärztliche  Praxis  ausübte,  äussert 
sich,  dass  die  MastarlMition  eine  .condiiion  extremement  commune  chez  les  jeunes 
filles  en  Orient*  ist;  er  eeM  hinin:  ,Poar  se  rendre  compte  de  sa  fr^quence 
en  gSmianl  dies  lee  jeanei  fiDee   en  Orient,   on  n'a  quen   penser  au  defaut 

29» 


452  XVI.  Das  Weib  im  Geschlechtaverkehr. 

d'exercice,  ä  la  vie  sedentaire,  ä  roisivet^,  ä  Tennui  et  surtoat  ä  la  confiance  et 
ä  la  credulite  des  meres,  qoi  D^gligent  toute  esp^  de  surveillauce  ä  T^^rd  de 
tout  ce  qui  se  passe  chez  lear  fille  ä  ses  heures  de  solitude." 

Bei  den  Khoikhoin  (Nama-Hottentotten)  ist  unter  dem  jüngeren  weib- 
lichen Geschlechte  Masturbation  so  häufig,  dass  man  sie  als  Landessitte  betrachten 
könnte.  Es  wird  daher  auch  kein  besonderes  Geheimniss  daraus  gemacht,  sondern 
in  den  Erzählungen  und  Sagen  sprechen  die  Leute  davon  wie  von  der  gewöhn- 
lichsten Sache.     (Fritsch\) 

Wir  haben  oben  bei  denBasutho  und  bei  den  Ovaherero  ganz  ahnliche 
Unsitten  kennen  gelernt. 

Die  ünsittlichkeit  war  unter  den  Weibern  der  Viscayer  auf  den  Philip- 
pin en  schon  zur  Zeit  der  Ankunft  der  Spanier  daselbst  grenzenlos;  sie  hatten 
sogar  die  Erfindung  eines  künstlichen  Penis  gemacht,  um  die  unstillbaren  GtelQste 
befriedigen  zu  können,  und  ähnliche  Mittel  zur  Sättigung  unnatürlicher  WoUiut 
besassen  sie  noch  mehr.    (Blumentritt,) 

Bei  den  Japanerinnen  spielt  ebenfalls  ein  künstlicher  Penis  eine  groase 
Rolle,  ausserdem  sind  aber  dort,  wie  Joest^  berichtet,  kleine  Kugeln  gebräachlich, 
Rin-no  -tama  genannt,  welche  zum  Zwecke  geschlechtlicher  Reizung  von  Weibern 
in  die  Vagina  gesteckt  und  durch  einen  Papiertampon  an  ihrer  Stelle  festge- 
halten werden. 

,  Gewöhnliche  Mädchen,  auch  wenn  sie  in  der  ars  amandi  ziemlich  erfahren  waren, 
kannten  die  Kugeln  nur  dem  Namen  und  Ansehen  nach;  benutzt  wurden  sie  von  «yomehmen* 
(wenn  der  Ausdruck  gestattet  ist)  Geishas  (Tänzerinnen,  Sängerinnen)  und  den,  dem  Euro- 
päer meist  unnahbaren  Venuspriesterinnen  u.  s.  w.  Die  Kugeln  sind  bohl  und  in  ihnen 
befinden  sich  zwei  Böden  aus  je  4  kleinen  Metallzungen  gebildet,  zwischen  denen  eine  ganz 
kleine,  massive  Metallkugel  frei  beweglich  liegt.  Die  leiseste  Bewegung  bringt  diese  int 
Rollen  und  verursacht  durch  Vermittelung  der  Metallzungen  eine  leichte  Vibration,  .einen 
nicht  unangenehmen  Kitzel,  einen  leichten  Schlag,  wie  etwa  den  eines  ganz  schwachen  In- 
ductionsapparates*.  Auch  die  Chinesinnen  sollen  von  solchen  Reizkugeln  oder  „Klingel- 
kugeln*' Gebrauch  machen/* 

Bei  den  Balinesen  herrscht  nach  Jacobs  ebenfalls  eine  grosse  Ünsittlichkeit 
Er  sagt  von  den  dortigen  Weibern: 

.  .  .  „Onanie  und  Masturbation  ist  allgemein;  sie  nennen  das  njoktjok.  Kentimoen 
und  Pisang  werden  von  den  Balischen  Mädchen  vielfach  als  Leckerbissen,  aber  nicht 
allein  als  Mundkost  benutzt.  In  dem  Boudoir  von  mancher  Balischen  Schönen  und  sicher 
in  jedem  Harem  kann  man  ein  aus  Wachs  verfertigtes  plaisir  des  dames  finden,  das  den  be- 
scheidenen Namen  ganem  oder  tjglak-tjSlakan  mal^m  trägt  (tjSlak  =  penis,  mal^m  ■■ 
Wachs),  und  manches  Stündchen  wird  in  stiller  Abgeschiedenheit  mit  diesem  consolatenr 
zugebracht.     Der  ganem  heisst  auch  wohl  koempSntji.** 

Auch  den  Damen  der  alten  Israeliten  schienen  solche  Gebräuche  nicht 
fremd  gewesen  zu  sein.  Im  Midrasch  SchemotRabba  wird  folgendes  hierf&r 
charakteristische  Gleichniss  gebracht: 

„Gleich  einem  König,  der,  als  er  in  sein  Haus  ging,  seine  Gemahlin  einen  Tisch 
(mensa  delphica)  umarmend  antraf,  worüber  er  in  Zorn  gerieth.  Da  trat  sein  Brautführer 
vor  ihn  und  sprach:  „Wenn  er  Kinder  gebiert  (d.  h.  wenn  von  diesem  Umgange  ein  Kind 
zu  erwarten  stünde),  würdest  Du  mit  Recht  zürnen.'*  Der  König  antwortete:  „Es  ist  an  der 
Sache  nichts  Wichtiges,  als  ihr  zu  lehren,  dass  sie  so  etwas  nicht  thun  soll."    CWiin9ehe*,J 

Eine  nicht  sehr  seltene  Unzucht,  mit  welcher  ein  Weib  dem  anderen  eine 
geschlechtliche  Befriedigung  zu  verschafifen  bestrebt  ist,  besteht  in  der  sogenanntoi 
Tribadie.  Diese  Perversität  geschlechtlicher  Vermischung  wird  auch  von  Alters 
her  mit  dem  Namen  der  Lesbischen  Liebe  belegt,  weil  sie  besonders  bei  den 
Weibern  von  Mjteiene,  der  Hauptstadt  der  Insel  Lesbos,  verbreitet  gewesen 
sein  soll.  Angeblich  ist  sie  von  hier  nach  Griechenland,  nach  Rom  and  nach 
Aegypten  gewandert.  Im  Orient  und  namentlich  bei  den  Arabern  soll  sie 
auch  heute  noch  weit  verbreitet  sein;  aber  nach  Parent-Duchatdet  und  anderen 
Autoren  kommt  sie  auch  bei  den  Völkern  des  westlichen  Europas  vor,  und  xwar 


117.  Masturbation  und  Tribadie  und  die  Unzucht  mit  Thieren.  453 

häufiger  als  man  es  ahnen  mochte.  Lucian  hat  sie  in  seinen  Hetären- Gesprächen 
klassisch  geschildert 

Eine  excessive  Grossenentwickelung  der  Glitoris  erleichtert  natürlich  den 
aktiven  •  Tribaden,  den  Pictrices  oder  Subigatorices,  wie  die  alten  Römer  sie 
nannten,  wesentlich  diese  wollüstige  Arbeit,  und  es  ist  in  hohem  Grade  wahr- 
scheinlich, dass  das  Bestreben  mancher  Völker,  den  Kitzler  durch  oft  wiederholte 
Reizungen  in  seinem  Wachsthum  zu  befördern,  mit  dieser  Unzucht  in  Zusammen- 
hang steht.  Auch  in  ihr  sollen  die  Weiber  auf  Bali  excelliren.  Jacobs  be- 
richtet darüber: 

.Beinahe  in  demselben  Maasse,  wie  die  Päderastie,  doch  mehr  geheim,  herrscht  unter 
den  Mädchen  die  sogenannte  lesbische  Liebe  (mgtjengtj^ng  djoeoek,  wörtlich:  mit  den 
Becken  gegen  einander  schlagen,  ohne  Klang  zu  verursachen)  [im  Malayischen:  bertampoeh 
laboe.  —  tampoeh  die  Krone  von  einer  Frucht,  vielleicht  eine  Anspielung  auf  die  Glitoris] 
mit  ihrer  digitalen  und  lingualen  Variation.  Die  starke  Entwickelung  der  Glitoris,  womit 
nach  den  Kundigen  viele  Baiische  Schönen  gesegnet  sind,  arbeitet  diesem  Missbrauche  sehr 
in  die  Hand.* 

Auch  bei  anderen  Orientalinnen  sollen  natürliche  Vergrösserungen  des 
Kitzlers  nicht  selten  sein,  und  hieraus  wird  sich  schon  die  Möglichkeit  erklären 
lassen,  dass  dort  überhaupt  ohne  weitere  künstliche  Hülfsmittel  unter  Frauen  bis- 
weilen ein  geschlechtlicher  Verkehr  stattfinden  kann. 

Duhousset  will  sogar  erlebt  haben,  dass  durch  solche  lesbische  Liebe  die 
eine  Tribadin  geschwängert  wurde;  wir  müssen  ihm  den  Beweis  für  diese  That- 
sache  überlassen.  Er  berichtet  nämlich,  es  sollen  in  Aegypten  zwei  Freundinnen 
dergleichen  Unzucht  mit  einander  getrieben  und  auch  dann  noch  fortgesetzt  haben, 
als  sich  die  eine  derselben  verheirathete;  darauf  sei  es  denn  geschehen,  dass  die 
nicht  verheirathete  Freundin  schwanger  wurde  und  zwar,  wie  die  Erklärung 
lautet,  dadurch,  dass  die  andere  noch  Samen  des  vorher  mit  ihr  cohabitirenden 
Mannes  in  der  Scheide  barg  und  von  diesem  ihrer  Genossin  bei  der  Umarmung 
abgab.  Dieser  Fall  wurde  der  Pariser  anthropologischen  Gesellschaft  im  Jahre 
1877  mitgetheilt. 

Eine  grausame  Bestrafung  solcher  Tribadie  berichtete  Jan  Mocquet  in  seinem 
Itinerarium: 

«Als  ein  gewisser  König  von  Siam  in  Erfahrung  kommen,  dass  seine  Beyschläfferinnen 
und  Nebenfrauen,  derer  eine  grosse  Anzahl,  unter  sich  zuweilen  durch  Nachahmung  der 
m&nnlichen  Natur,  in  Geilheit  sich  belustigten,  so  die  Schönsten  von  dem  Lande,  die  er  nur 
bekommen  kunte,  hat  er  sie  für  sich  bescheiden,  einer  jeden,  zum  Zeichen  ihrer  Unkeusch- 
heit,  ein  natürliches  Glied  auf  die  Stirn  und  beide  Backen  brennen,  und  also  lebendig  ins 
Feuer  werfen  lassen.* 

Dass  auch  bei  den  deutschen  Frauen  des  Mittelalters  manche  grobe 
Unsitte  geherrscht  haben  muss,  das  ersehen  wir  aus  dem  vom  Bischof  Biirchard 
von  Worms  im  12.  Jahrhundert  verfassten  Verzeichnisse  der  Kirchenstrafen. 
Es  heisst  darin: 

«Fecisti  quod  quaedam  mulieres  facere  solent,  ut  faceres  quoddam  molimen  aut  machi- 
namentum  in  modum  virilis  membri,  ad  mensuram  tuae  voluntatis,  et  illud  loca  verendorum 
tuorum,  aut  alterius,  cum  aliquibus  ligaturis  colligares,  et  fomicationem  faceres  cum  aliis 
mulierculis,  vel  aliae  eodem  instrumento  sive  alio  tecum?  Si  fedsti,  quinque  annos  per 
legitimas  ferias  poeniteas.  Fecisti  quod  quaedam  mulieres  facere  solent,  ut  jam  supradicto 
molimine,  vel  alio  aliquo  machinamento,  tu  ipsa  in  te  solam  faceres  fomicationem?  Si  fecisti, 
unum  annum  per  legitimas  ferias  poeniteas.*     (DulaureJ 

Ein  widernatürlicher  Verkehr  zwischen  Weibern  und  Thieren  ist  ebenfEÜls 
nicht  erst  eine  Erfindung  der  Neuzeit.     Mantegazza^  sagt  darüber: 

,Auch  der  Frau  wird  die  Schmach  der  Bestialität  nicht  erspart.  Seit  den  ältesten 
Zeiten  schon  erzählt  uns  Plutarch^  dass  die  Frauen  sich  den  unzüchtigen  Launen  des  heiligen 
Bockes  in  Mendes  hingaben.  Heute,  nach  einer  langen  Reihe  von  Jahrhunderten,  ist  der 
Hund  derjenige,  welcher  die  Stelle  jenes  Bockes  einnimmt  Mehr  als  einmal  beten  reizende 
Damen,  in  den  höchsten  Sphären  der  gebildeten  Gesellschaft  Europas,   ihren  Schoossbund 


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r>^i   t.i^>^ii  Tiiir^a  Lina^n.  ^iids  aoi^li  iL^r  Afr  »ane  gnseae  BoQi^^    Ex  ioL 

»riii.:.:  ^  .1:  i{.iiii!i:»*n?ar.'-i,   iiHi   iiej»  zr<:i»(iiL  Bt*gcit*ii  loatfi^äüirTL  omi  wie  ss  mn 

.11. r  :«*•:  7-".:»*r»!i  -vir  ii:i»r  i.-.iili  imnuar  --r  tan  •irzwnzupmia.  Acer  süim.  1^ 
r-*^  v.lliuv  '7-»f*f.ii;.i*i*.iir^'*7^r2iiA!ii:;M   2w-j»«iiit*ii  iSai    izi  Fraa«ai    biaäsziaL   wir  Be- 

r.rr.v.      "-•-.   riar.r.eu    iitr  I- i:A-^r  iai  AüiiiiaeiitiroaiZHhbLe^'»-  «iski»  £*  i*r«f 

2.::   ^i-.>ci»M  Zti*ui:2:t»iili»»:»ai  nii-s    irici  •".V.ad  £z:'i»*n  zai:ii  FrmciA  id  Ou&d'm» 
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FfTjLit.Tr-.  *-?  Ni  iTiii::  -irr  Air.  iL?  '.  jm  :  :.r-i7r?  riT?  Aaihncker 
'  -  zr: ! ' :.  1  r- r: r.  Di r. .  *  t'  »  ir-z  *-r Tr i:?  '  1  r  1  r  '  - : . ri  -  7  i r  r:  r  '  T  in* -  ^r?  Z^iiTechniiiig 
:-r.  •'.,.-  .7- -.irrT.  W-?: -Asi-rr.*  l-ri-uiz.:  .:::i  ^  .:r,:-".  i  r:  il*  X  Ä:i:=:iniicken 
7*sT  Nir.TT-:- :'::*-  ^-r^irc-LTr:  II  irr.  S.:.:.r*v  ^."  N:r.:Teh  h*5  skk  be- 
KJk'.L'...:.  r  :.r  .T >fr  Krihr  T ; r.  TrrTic : "ÄtÄTV'./re:  :v::  Kellichrlft  beieckt  ge- 
:.:.:r:..  t^.  i^^  -!•  *-;-  Tneil  i-r  B:b'.:  :*r.rk  .:-.<  ,t><  •:•;■;.■>  oes  T  ~ 
B.-.-^;.  r7iÄLi-  wr.rir-  ?!:::  Es  >•  =  £  rv.r.:  T>.::'.  1::  ..r*:'.<^'*:-.z- ii«*ig«^  ] 
r.m-.-  --i  «je*.-*:r  :•  ir7  Srr&*:he  vier  *l:er.  Ak^iAer»  w» 
V-..i:    ixL   i-Är.-:*.      EK*    nioirmer.  As?>rlo'.v>c«:-.    iVav«!   «i*  ^mm 

-•s-irc^ r*r.    wkJLr-zi    i-Ach^eviesei:    wurde,   d*^  Akk^der   c«  I 


118.  Geschlechtlicher  Verkehr  mit  Göttern,  Geistern,  Teufeln  und  Dämonen.        466 

Zeichnung  för  die  semitische  Bevölkerung  Assyriens  und  Babyloniens  ist. 
Die  Sumerer  waren  aber  ein  nicht  semitisches  Volk,  welches  lange  vor  den 
Assyrern  das  Euphrat-Tigris-Land  inne  hatte  und  von  Letzteren  erst  ver- 
drängt worden  war.  Die  auf  den  Thontafeln  entdeckten  liturgischen  Gesänge 
tragen  eine  interlineare  Uebersetzung  in  assyrischer  Sprache;  einzelne  Worte 
des  Sumerischen  vermochte  man  aber  schon  damals  nicht  mehr  zu  übersetzen. 
Darin  li^  der  untrügliche  Beweis,  dass  die  sumerische  Sprache  schon  damals 
selbst  von  den  Gelehrten  nicht  mehr  völlig  verstanden  wurde,  und  hieraus  kann 
man  auf  ihr  hohes  Alter  schliessen. 

Unter  den  Beschwörungsformeln  kommt  auch  die  Stelle  vor: 

Gegen  die  Dämonen,  den  Genius,  den  rabisu,  den  ekimmu, 

das  Gespenst,  das  Schattenbild,  den  Vampyr, 

das  Nachtmännchen,  das  Nachtweibchen,  den  weiblichen  Kobold, 

und  alles  Uebel,  das  den  Menschen  erfasst, 

veranstaltet  Festlichkeiten,  opfert  und  kommt  alle  zusammen. 

Dass  euer  Weihrauch  zum  Himmel  emporsteige! 

Dass  die  Sonne  das  Fleisch  eures  Opfers  verzehre! 

Dass  i^a's  Sohn,  der  Held,  dessen  Zauber 

euer  Leben  verlängere! 

Das  Nachtmännchen  und  das  Nachtweibchen  heissen  sumerisch  lillal  und 
kiel-lilla),  das  bedeutet  «der  Bezwingende**  oder  «die  bezwingende  Beischläferin". 
Dieser  Name  giebt  die  Art  und  Weise  an,  wie  sie  sich  derer  bemächtigen,  denen 
sie  ihre  Umarmungen  aufdrängen.  Der  assyrische  Name  ist  lilu  und  lilitur. 
(Lenarmant.)  Beide  Sprachen  erinnern  an  die  Lüith,  welche  in  der  Dämonologie 
des  Talmud  einen  wichtigen  Platz  einnimmt.  Es  war  das  ein  Dämon,  mit  welchem 
Adam  in  ein  Liebesverhältniss  trat,  bevor  Eva  erschaffen  wurde. 

Eine  grosse  Rolle  spielte  dieser  geschlechtliche  Verkehr  zwischen  Weibern 
und  allerhand  überirdischen  Wesen  bekanntlich  auch  in  den  Heldensagen  der 
europäischen  Völker.  Es  sei  hier  zuerst  an  die  verschiedenen  Kinder  des  Zeus 
erinnert.  Aber  auch  die  merovingischen  Könige,  und  zwar  in  erster  Linie 
Meroveus  selber,  stammen  von  einem  Meerungeheuer  ab,  das  aus  dem  Wasser 
auftauchend  sich  zu  der  am  Ufer  schlafenden  Mutter  des  letzteren  legte.  In 
anderen  Fallen  nehmen  die  Geister  die  Gestalt  des  Ehemanns  an,  so  dass  die  Frau 
den  Betrug  erst  gewahr  wird,  wenn  er  bereits  vollendet  ist.  So  wurde  der  grimme 
Hagen  von  einem  Alf  erzeugt,  so  der  König  Otnü  vom  Zwergkönig  Alberich^ 
und  die  Gemahlin  des  Königs  Aldrian  empfing  von  einem  Elfen  in  der  Gestalt 
ihres  Gbtten  ein  Kind.    (Schwartz.) 

Auch  in  dem  B ab ar- Archipel  in  Indonesien  besitzen  böse  Geister  die 
Macht,  junge  Frauen  in  der  Gestalt  von  deren  Gatten  zu  schwängern,  und  wenn 
auf  Nias  ein  Albino  geboren  wird,  so  behauptet  die  Frau,  dass  ein  Teufel  der 
Vater  des  Kindes  sei.     (Modigliani.)     Aus  Neu-Guinea  berichtet  Kühn: 

«Von  einem  dritten  Götzen,  der  in  Aerfanas  stand,  erzählte  man  mir,  dass  er  für 
junge  Mftdchen  nnd  Frauen  sehr  gef&hrlich  sei.  Wenn  dieselben  nämlich  sich  in  seiner 
N&he  onvonichtiger  Weise  schlafen  legten,  könnten  sie  sicher  sein,  dass  sie  nach  9  Monaton 
einet  kleinen  Papnas  genäsen.  Die  Männer  von  Sekar  hätten  es  gern  gesehen,  wenn  ich 
diesen  Burschen  mit  mir  genommen  hätte.  Sie  hatten  einige  aus  ihrer  Mitte  dorthin  ge- 
Mndt,  mn  ihn  für  mich  holen  zu  lassen,  diese  waren  aber  bis  zu  meiner  Abreise  noch  nicht 
wieder  tnrflok." 

Dan  Ghnben  an  den  Beischlaf  mit  der  Gottheit  können  wir  in  allen  den 
FBkn  dp  bestehend  annehmen,  wo  wir  die  Sitte  finden,  dass  das  reif  gewordene 
odiP  -— ::  I«.-  ichreitende  Mädchen  ihre  Jungfrauschaft  im  Tempel  darzubringen 
geh  'Vnn  der  diesen  Dienst    übernehmende  Priester   ist   ohne  Zweifel 

T  Allerer  Zeit   fbr  eine   wahre   Incamation    des  Gottes   angesehen 

8  «och  an  die  Angabe   des  Herodot  über   den    ^Thurm    7a\ 


456  XVT.  Das  Weib  im  Geschlechtsverkehr. 

Dieses  Heiligthum  des  f,Zeti8  Belus*'  schildert  er  als  aus  acht  auf  einander  geitellien 
Thürmen  bestehend.  ,Id  dem  letzten  Thurm  ist  ein  grosser  Tempel;  in  diesem  Tempel  be- 
findet sich  eine  grosse,  wohlgebettete  Lagerstätte  und  daneben  steht  ein  goldener  TiBch,  ein 
Götterbild  ist  aber  dort  nicht  aufgerichtet,  auch  verweilt  kein  Mensch  darin  des  Nachtt, 
ausser  ein  Weib,  eine  von  den  Eingeborenen,  welche  der  Gott  sich  aus  allen  erwfthlt  hat,  wie 
die  Chaldäer  yersichem,  welche  Priester  dieses  Gottes  sind.  Ebendieselben  behaupten  auch, 
wovon  sie  jedoch  mich  nicht  überzeugt  haben,  dass  der  Gott  selbst  in  den  Tempel  komme 
und  auf  dem  Lager  ruhe,  gerade  wie  in  dem  ägyptischen  Theben  auf  dieselbe  Weite, 
nach  Angabe  der  Aegypter;  denn  auch  dort  schläft  in  dem  Tempel  ein  Weib:  diese  beiden 
pflegen,  wie  man  sagt,  mit  keinem  Manne  Umgang;  ebenso  auch  verhält  es  sich  in  dem 
lykischen  Patara  mit  der  Priesterin  des  Gottes  (A^loJ  zur  Zeit  der  Orakelnng,  denn  es 
findet  diese  nicht  immer  daselbst  statt;  wenn  sie  aber  stattfindet,  so  wird  sie  dann  die  Nächte 
hindurch  mit  dem  Gott  in  den  Tempel  eingeschlossen.* 

Auch  der  oben  erwähnte  heilige  Bock  zu  Man  des  wurde  von  den  sich  ihm 
prostituirenden  Weibern  ganz  sicherlich  als  eine  Personification  des  Sonnengottes 
selbst  angesehen. 

Fabelhafte,  dämonische  Thiere  als  Stammväter  ganzer  Glanschaften  findet 
man  vielfach  erwähnt,  namentlich  bei  Indianern  und  Polynesiern,  aber  anch 
in  Indien  und  auf  den  Sunda-Inseln;  selbst  die  dänischen  Könige  und  die 
Gothen  sollten  von  einem  Bären  abstammen,  wozu  Mannhardt  bemerkt,  dass 
Bjoern  ein  Beiname  Thors  gewesen  sei. 

Eine  ganz  besondere  Rolle  spielte  im  15.  und  16.  Jahrhundert,  aber  auch 
noch  in  viel  späterer  Zeit,  der  Glaube  an  die  sogenannten  Teufelsbuhlschaften, 
und  Jean  Bodin^  der  ebenfalls  fest  an  dieselben  glaubte,  hat  viele  Beispiele  zu- 
sammengebracht, in  denen  die  Weiber  ihre  wiederholte,  oft  Jahrzehnte  lanff  fort- 
gesetzte Unzucht  mit  dem  Teufel  bekannt  und  mit  dem  Feuertode  gebüsst  nahen. 

FQr  gewöhnlich  geht  dieser  geschlechtliche  Verkehr  des  Nachts  vor  sich;  man  hat  aber 
auch  Frauen  , gefunden,  welche  bey  hellem  Tage  mit  dem  Teufel  ungeheure  Gemeinschafft 
gepflegt  haben,  und  auf  dem  Felde  offt  gantz  nackend  sind  gesehen  worden.  Ja  biasweilen 
haben  ihre  Männer  sie  mit  den  Teufeln  verkuppelt  gefunden,  und  als  sie  vermeynet,  es  wftre 
sonsten  leckerhaffte  Gesellen,  mit  Prügel  auff  sie  zugeschlagen,  aber,  leyder!  nichts  getroffen.* 

In  Jacob  Rueff's  Hebammenbuch  vom  Jahre  1581  heisst  es: 
,Es  sol  niemand  zweiffein,  dass  sich  der  Teuffei  nicht  möge  in  Menschliche  form  vnd 
gestalt  verkehren  vnd  verwandlen,  auch  mit  dem  Menschen  reden.  Dann  so  sich  der  Tenffel 
in  eines  Engels  Gestalt  (wie  Paulus  sagt)  verkehren  mag,  ist  es  auch  möglich  sich  sa  ver- 
wandeln in  eines  Menschen  gestalt,  das  viel  malen  beschehen  vnd  offenbar  gemacht  ist  worden. 
Ob  aber  der  Teuffei  bey  den  Menschen  möge  schlaffen  oder  beiwohnung  haben  mit  den  vn- 
keuschen  werckon,  vnnd  Kinder  bey  jhnen  pflantzen,  muss  eigentlich  entscheiden  werden. 
Dass  der  Teuflei  solche  weiss  möge  treiben,  bezeuget  auch  der  heilig  Augustintis,  da  er  also 
redt,  Es  reden  viel  davon  die,  so  solche  ding  erfahren  vnd  orkent  haben,  auch  jnen  begegnet 
vnd  davon  gehört  haben,  dass  da  seyen  Geister,  Sylvani  genomt,  so  den  Weibern  viel  sn  leid 
gethan  haben,  bei  jnen  schlaffen  oflt  begert  vnd  vnkeusche  werck  mit  jhnen  getrieben.  Solches 
ist  nicht  nun  allein  bey  den  alten  erkant,  sondern  zu  vnserer  zeit  auch  genug^m  erfahzen. 
Dann  allhie  ein  gemeine  Mätz,  so  zu  Nacht  von  dem  Teuffei  in  Menschliche  gestalt  beschlaffim 
worden,  ist  angehend«  von  stund  ahn  kranck  worden,  vnnd  dermassen  der  forder  Leib  er- 
brunnen  mit  dem  kalten  Brandt,  dass  kein  schneiden  darvon  nichts  geholffen,  vnnd  vor  dem 
neundten  tag  gestorben.  Dann  sie  so  elend  vnnd  jämmerlich  ward,  dass  jr  all  jr  Einge- 
weidt aussfiel." 

Die  Meinungen  der  Gelehrten  waren  darüber  getheilt,  ob  solch  ein  Beiechlaf 
mit  dem  Teufel  fruchtbar  sein  könne  oder  nicht.  Es  fanden  sich  aber  doch  videi 
die  die  Erzeugung  einer  „Teufelsbrut*"  für  möglich  hielten.  Das  sind  dann  die 
Wechselbälge  oder  Kilkröpfe,  die  sich  durch  Missgestalt  und  ungeheure  GefirSsaig- 
keit  auszeichnen.  Die  Weiber,  welche  mit  den  Teufeln  Gemeinschaft  hatten, 
gaben  übereinstimmend  an,  dass  sie  deren  Samen  ganz  kalt  gefunden  haben.  Das 
ist  ganz  natürlich,  da  er  nicht  irisch  ejaculirt  ist,  denn  es  ist  gestohlener  i 
lieber  Same;   „die  hyphial tische  oder  succubische  Geister  fangen  den 


118.  Geschlechiliclaer  Verkehr  mit  GötterD,  Gei«tem,  Teufeln  und  Dämoueii*        457 


ea  Menschen  auff,  und  behelffen  steh  desselbigen  gegeo  den  Weibern  in  Qestalt 
,er  Aüff bucker/ 

Rueff  tritt  dieser  Anschauung  entgegen: 

«Wiewol  aber  aueb  Tiel  Leut  glauben  vnd  veroieinen»  der  Touffel  Sueeu^iis  möge  m 
eiblicher  gestalt  bey  einem  man  wohnen,  auch  von  jm  <lie  Natur  oder  den  Samen  empfiilioM. 
vnnd  deuBelben  bebalten»  vnd  demnach  so  verwandte  er  sich  ku  einea  Manns  geetalt,  /».lm'  < 
genannt,  vnnd  verfüge  sich  zu  den  b?>8en  Weibern,  oder  Hexen^  die  jm  versprochen  sind,  \h 
giesse  den  solche  Natur  oder  Manns  samon  in  sie,  vnd  mache  sie  sciiwanger,  daraus  denn 
nder  geboren  werden^  so  ist  doch  das  alles  wider  den  Christlichen  Glanben,  wider  die  Natur^ 
ch  aller  vermüglichkeit,  Dan  ob  gleich  schon  der  Teuffei  den  Männlichen  Saraen  behalten 
kr>ndte  oder  möchte,  «o  bald  er  verschQt  wirdt,  möcht  doch  davon  nichts  lebendig«,  guts  noch 
Naturlicbea  geboren  werden,  ob  er  achon  zu  einer  Frauwen  käme,  dieweil  er  kalt,  vnkrefftig^ 
mit  seiner  kr^^  vnnütz  gemacht,  md  von  hin  vnd  widertragen  verenderet  worden  vnd 
kältet* 

Die  Erzählungen  ?on  den  Teufelskindern  sucht  Rue/f  auf  folgende  Weise 

erklären,  wozu  er  das  Beispiel  von  dem  TeufeUkinde  Merlimis  heranzieht: 

«Das«  dieser  Merlin  hu,  wie  s^ein  Mutter  vor  dorn  König  bekennt,   von  einem  Geist  em- 

aeye,  vnd  also  von  jr  geboren,  \»i  nur  ein  beBchiess  vnd  trug  sol  auch  von  niemandts 

bet    werden,    dann    er   ein    lauter   purer  Mensch    von  einem  Menschen  empfangen  vnd 

ihoren   ist,  rechter   vnd  natürlicher  geburt     Dann  die  Mutter  den  Hexen  gleich,  treffenlich 

»jrrt,    vnnd   durch    den  Teutfel    betrogen  worden»    also,    dass  sie  venneint  hat,    durch  einen 

"een    Traum    im    uchlaff  sie  habe  Mirlitmm  von  dem  Teuffei  empfangen»    dieweil  sie  allen 

augenscheinlich  mit  dem  Teuffei,  als  sie  vermeint,  gebraucht  vnnd  empfunden  habe.    Wie 

er  die  Mutter  des  Merlini  zu  «okben  jrrthumb,    beschiess  vnnd  trug  gebracht  aey  worden, 

il  ich  nieio  einfeltige  meinung  anzeigen.    Nach  dem  vnd  sich  die  Mutter  Merlini  dem  Teuffei 

:ebeo,    vnd  jn  in  allen  seinen  aaohen  bewilliget,  als  alle  verzweifelte  Weiber,    vnnd  Hexen 

;nn,   so  dem  Teuffei  verlobt  vnd    versprochen    sind,    bat  jr  der  Teuffei  ein  solch  starke  ein* 

düng  mit  fantaseien  in  jr  gemQt  eingeben  vnd  ©ingeworffen,  dadurch  ihre  Siu  bezwungen, 

sie  gemeint  hat,  er  sei  bej  jr  gelegen,  dieweil  sie  jin  Schlaff  alle  Vorbildung  des  wollusts 

pfunden  habe.     Der  Teuftel  bat  auch  jr  durch  den  Trug  vn  beschiss,  auch  Kunst,  prästi- 

ium,   jren  Leib  autJgeblUhet  mit  Lufft  und  Athem^    auch  andern  Dingen,  dass  sie  vermeint 

le  se/  schwanger.    Vnd  ao  bald  die  Zeit  der  betrüglichen  geburt  kommen  ist  (das  dann  auss 

verhvngnuss  Gottes,    von  desa  vnglaubens  wegen  nach  gelassen)    er  jren  schmertzen  vnd  weh 

in    de  Leib  gemacht  vnd  den  feucbtigkeiLtfn  die  sie  dann  gehabt,    ausgetrieben  vnd  bald  ein 

ander  Kind    so  er  vor  gei^tohlen»   jr  verborgenlich  vndergelegt,   welches  dann  die  Mutter  mit 

betrogenen  Sinnen  genommen,  vnd  also  anferzogen  habe.* 

Dass  der  Teufel  die  >lacht  habe,  Kinder  zu  stehlen,  das  unterliegt  för  Rufiff 
keinem  Zweifel     Er  vermag  seine  Macht  auszuüben: 

»besonder  an  denen  Kindern,  m  vngottesfürchtig  vnd  verrucht  Vatter  vnd  Matter  auch 
Knecht  vnd  Ulkgt  haben,  ja  so  aller  Bdberey  vnd  vnkeoBchheit  ergeben,  gern  viel  Kinder 
helffen  zu  rüsten,  tragen  vnd  bringen  aber  die  mit  grotsem  mwillen,  ziehen  auch  die  obn 
alle  forcht  vnnd  zucht.  Dann  sobald  die  selben  geboren  werden,  vnd  nach  jrer  art  greinen 
vnd  schreien,  so  entspricht  jnen  Vatter  vnd  Mutter,  auch  die  Dienstm&gde  mit  fluchen  vnnd 
schweren,  oder  so  sie  nieder  gelegt,  vnnd  auffgehebt  sollen  werden,  es  leye  dass  Tags  oder 
"aehtä,  so  segnet  man  sie  in  aller  Teuffei  namen  nider,  im  selben  Namen  bebt  man  sie  auch 
;ff^  das  gar  vnchristlich  ist,* 

Nach  einer  Angabe  in  des  getreuen  £cÄ'ar^A'5  ungewissenhaftem  Ai'^j- 
theker  glaubte  man  im  17,  Jahrhundert  in  Schweden,  dass  die  Hexen  dem 
Teufel  in  Biockulle  gestohlene  Kinder  zuführen  mussten.  Dort  hatten  sie  mit 
ihm  und  die  Kinder  mit  anderen  Teufeln  geschlechtlichen  V'erkehr.  Sie  machen 
dabei  eine  vollständige  Trauungsceremonie  durch,  deren  Formel  lautet:  , verflucht 
«ey,  der  Über  sechs  Jahre  alt  nicht  zwei  oder  drei  Männer  oder  Weiber  habe.* 
Den  sie  heiratheu  ist  ein  Bock  oder  eine  Sau,  mit  welcher  sie  zwei,  vier  bis 
Iizebn  '  '  haben  Diese  sind  halb  so  gross  wie  „Christen-Kinder  und 
hen  Al  r   denen    Ratzen    gleich,    aber    kein  Haar   und    feuerrothe  Ange- 

hter.     Ihre  Geburt    haben    sie    denen  Hexen    gleich  alle  Monat,   seclis  Wochen 
zvrey   Monier*     r»!«  Tonf^^i^i^inder  werden  sofort  nach  der  Geburt  zerhackt, 


458  ^^1-  ^^  ^oi^  "^  Geschlechtsverkehr. 

in  einem  Kessel  gekocht  und  eine  Salbe  daraus  gemacht,  «so  hernach  ausge- 
theilet  wird*. 

Von  jeher  hat  der  Wald  als  das  bevorzugte  Bereich  der  unkeuschen  An- 
griffe der  Dämonen  gegen  die  Weiber  gegolten,  und  die  Lüsternheit  der  Satjpri, 
der  Fauni  und  der  Sylvani  ist  ja  allbekannt.  Es  schliessen  sich  hier  die  Dum 
der  alten  Gallier  und  die  Forst-  und  Waldteufel  der  Deutschen  an.  Aueh 
heute  noch  müssen  die  Einwohner  mehrerer  indonesischer  Eilande  (Ambon, 
Uliase-Inseln,  Serang)  und  zwar  die  Männer  ebenso  gut  wie  die  Frauen,  bei 
ihren  Wanderungen  im  Walde  sehr  vorsichtig  sein.  Denn  bestimmte  Dfimonen 
beiderlei  Geschlechts  hausen  dort  und  zwingen  die  Menschen,  die  in  ihre  Nähe 
kommen,  zum  Beischlaf.  Wem  das  geschehen  ist,  der  stirbt  in  wenigen  Tagen, 
da  der  Dämon  seine  Seele  mitnimmt.  Auf  Eetar  sind  diese  Walddämonen  nar 
den  Weibern  und  Mädchen  gefahrlich,  so  dass  diese,  wenn  sie  im  Walde  Holx 
sammeln,  stets  von  einer  Anzahl  von  Männern  zum  Schutze  begleitet  werden 
müssen.  Auf  den  Aaru -Inseln  hat  der  unzüchtige  Waldgeist  nur  Macht  über 
die  menstruirenden  Weiber,  die  in  dieser  Zeit  daher  den  Wald  nicht  betreten 
dürfen.  Einen  ähnlichen  Aberglauben  haben  wir  bereits  weiter  oben  von  Aea 
Macusis-Indianern  kennen  gelernt.  Thun  sie  es  dennoch,  dann  beschlaft  sie 
der  Geist  und  sie  bekommen  davon  einen  Stein  in  dem  Uterus,  oder  sie  mfisaeii 
bald  darauf  sterben.     (Riedel^.) 

Derartige  Anschauungen,  welche  einen  noch  ziemlich  niedrigen  Gulturzustand 
verrathen,  sind  aber  auch  heutigen  Tages  in  Europa  noch  nicht  abgethan.  Noch 
immer  vermögen  zu  Dämonen  umgewandelte  Menschen  mit  den  Frauen  geschlecht- 
lichen Unfug  zu  treiben.     So  berichtet  Krauss^: 

«Vampire  sind  nach  dem  allgemeinon  Volksglauben  der  Slaven,  Lithauer  und 
Deutschen  verstorbene  Menschen,  die  als  Plagegeister  die  überlebenden  Angehörigen  heim- 
suchen,  um   ihnen    das  Blut   auszusaugen. Danach   entsteigt  der  Wärwolf  n&chtlicher 

Weile   dem   Grabe,   würgt   die   Menschen   in   den  Häusern    und   saugt   ihr  Blut. Der 

Wärwolf  sucht  mitunter  sein  Weib  heim,  besonders  wenn  sie  schön  und  jung  ist,  und  liegt 
ihm  bei;  man  sagt,  ein  Kind  aus  solchem  Beisammensein  entsprossen,  habe  keine  Knochea 
im  Leibe.  "^ 

Ist  dieser  Aberglaube  noch  ziemlich  unschuldiger  Natur,  so  findet  sich  ein 
für  die  gesellschaftliche  Stellung  des  Weibes  noch  viel  bedenklicherer  nach  wn 
^VlislocJci  bei  dem  wandernden  Zigeunervolk  in  Siebenbürgen: 

.Ein  kinderloses  Weib  wird  bemitleidet  und  gering  geschätzt,  und  ihre  Stellung  dem 
Gatten  gegenüber  wird  mit  der  Zeit  ganz  unhaltbar,  denn  dem  Volksglauben  der  Zigeuner 
gemäss  hat  ein  kinderloses  Weib  vor  ihrer  Verehelichung  mit  einem  Vampyr  ein  Liebesver- 
hältniss  gehabt  und  dies  ist  der  Grund  ihrer  Unfruchtbarkeit." 

Nach  einer  Angabe  von  Glück  wird  auch  in  Bosnien  und  der  Hercego- 
vina  die  Kinderlosigkeit  der  Frau  darauf  geschoben,  dass  die  Letztere  geschlecht- 
lichen Verkehr  mit  dem  Busen  gehabt  habe. 

Die  Sachsen  in  Siebenbürgen  haben  ebenfalls  noch  den  Glauben  an  einen 
Beischlaf  mit  übernatürlichen  Wesen  bewahrt,     v.  Wlislocki^  sagt  darüber: 

„Der  dlf  ist  in  erster  R^ihe  der  AJp,  der  Geist,  welcher  dem  Menschen  leibhaftig  er- 
scheint und  ihn  seine  Macht  spüren  lässt.    £r   kommt  in  der  Nacht  zu  den  Schlafenden  and 

sucht  sie  zu  erdrücken,  ja  selbst  als  Buhlgeist  (als  Incubus  und  Succuhus)  tritt  er  auf 

Tritt  er  als  Buhlgeist  auf,  so  nimmt  er  die  Gestalt  eines  Jünglings  oder  einer  Jungfrau  an. 
Von  einer  Frau  in  Mühlbach,  die  bereits  8—10  Kinder  todt  zur  Welt  gebracht  hat,  tagt 
das  Volk:  .Der  alf  hot  se  ämgestälpt"  (der  Alj)  hat  sie  umgestülpt).  Man  glaubt,  da« 
wenn  eine  Schwangere  vom  alf  ad  coitum  benutzt  wird,  dieselbe  ihr  Kind  todt  zur  Welt 
bringe." 

Von  einem  hierb ergehörigen  Glauben  der  Zigeuner  ist  bereits  die  Rede 
gewesen.  Die  Letzteren  halten  aber  auch  noch  andere  überirdische  Wesen  für 
fähig,  sich  geschlechtlich  mit  den  Menschen  einzulassen.  Auch  hierfür  ist  r. 
Wlislocki^  unser  Gewährsmann.    Er  sagt: 


460  XVI.  Das  Weib  im  Geschlechtsverkehr. 

,  Ausser  diesen  erbgesessenen  Zauberfrauen  giebt  es  auch  solche,  die  ihre  Kunst  nicht 
durch  Blutyererbung  erlangt,  sondern  von  den  Nivashi-  und  Pguvush-liexiiAn  (Wasser-  und 
Erdgeistern)  erlernt  haben,  indem  sie  mit  denselben  geschlechtlichen  Umgang  gepflogen.  Der 
Act  selbst  geschieht  ohne  Wissen  des  Weibes,  das  erwachend,  erst  die  mit  ihr  yorgenonunene 
Veränderung  wahrnimmt  und  nur  dadurch  zum  Schweigen  gebracht  wird,  daas  sie  eben  der 
Nivashi  oder  P{'uvu8h  in  den  geheimen  Künsten  unterrichtet.  Thut  er  es  nicht,  oder  schreit 
das  Weib  um  Hülfe,  so  ist  er  verloren,  denn  er  verliert  auf  einige  Stunden  seine  Kraft  ond 
ist  nicht  im  Stande,  sich  von  der  Stelle  zu  rühren,  so  dass  er  leicht  erschlagen  werden  kann. 
Ein  weiter  Spielraum  für  Betrug  und  Schwindel  ist  hierbei  selbstverständlich  geOffnei.  So 
lebte  vor  einigen  Jahren  in  Siebenbürgen  eine  wunderschöne  siebzehnjährige  Zigeuner- 
Maid,  die  bereits  drei  uneheliche  Kinder  hatte,  deren  Väter  jedem  anderen,  aber  nor  nicht 
dem  Zigeuner- Volke  angehörten.  Sie  war  deshalb  die  Zielscheibe  des  Spottes  von  Seiten 
ihrer  Stammesgenossen,  ja  selbst  der  Verachtung  ausgesetzt,  und  mit  dem  Schimpfworte  Parm 
Lubhi  (weisse  Dirne)  mit  Bezug  auf  ihre  Liebeshändel  mit  «weissen*  Leuten,  also  Nicht- 
Zigeunern,  benannt.  Wir  sagten  ihr  oft  und  oft,  sie  möge  der  Truppe  den  Rücken  kehren 
und  sich  irgendwo  niederlassen,  um  so  diesen  fortwährenden  Gehässigkeiten  zu  entgehen. 
Bei  einer  solchen  Gelegenheit  antwortete  sie  einmal :  Ich  gehe  nicht,  ich  werde  eine  Zauber- 
frau!  Sieh  dann,  wie  mich  die  Leute  lieben!  Sie  bat  mich  nun,  der  Truppe  mitzutheilen, 
dass  ich  die  nächste  Nacht  im  Dorfe  zubringen  wollte.  Ich  that  es,  worauf  sie  mich  ersuchte, 
die  Nacht  über  mich  in  der  Nähe  der  Zelte  versteckt  zu  halten,  und  von  ferne  und  unbe- 
merkt den  kommenden  Skandal  anzusehen.  In  der  Nacht  erwachte  die  Horde  auf  ein  ohren- 
zerreissendes  Geschrei.  Alle  rannten  zum  Zelte  der  Pame  Lübni,  die,  am  ganzen  Leibe 
zitternd,  den  Stammesgenossen  erklärte,  ein  Nivashi  habe  sie  besucht,  und  dabei  auf  die  am 
Boden  sichtbaren  Hufspuren  hinwies.  Hierauf  warf  sie  sich  auf  den  Boden,  murmelte  Zauber- 
sprüche und  verfiel  scheinbar  in  Verzückungen.  Am  nächsten  Morgen  wurde  mir  der  nächt- 
liche Vorfall  mitgetheilt.  Als  ich  die  Leute  fragte,  woher  sie  es  wissen,  dass  auch  in  der 
That  ein  Nivashi  die  Pame  Luhni  besucht  habe,  meinten  sie,  sie  hätte  es  ihnen  bewiesoi, 
und  ich  dürfe  sie  nicht  mehr  Pame  Lubni  nennen,  sonst  könnte  es  mir  schlecht  ergehen. 
Wie  sie  den  näheren  Beweis  für  die  Richtigkeit  ihrer  Angabe  führte,  unterlasse  ich  aus  An- 
standsgründen  hier  zu  erwähnen;  kurz  und  gut,  von  dieser  Zeit  an  genoss  sie  ein  grosses 
Ansehen  unter  ihren  Stammesgenossen  und  ist  als  Zauberfrau  auch  bei  der  siebenbürgischen 
Landbevölkerung  weit  und  breit  berühmt.    Sie  heisst  Ihatia  Dar^!* 

Solche  ÄnschauuDgen  sind  nun  wohl  absonderlich  genug;  aber  unerhört 
erscheint  es  nach  unseren  Begriffen,  dass  selbst  die  Heiligen  sich  nicht  entblöden, 
mit  den  Sterblichen  geschlechtlichen  Umgang  zu  halten.  So  etwas  wird  von  den 
Magyaren  geglaubt.  Es  sind  die  Schatzgräberinnen,  die  sich  dem  heiligen 
Christoph  ad  coitum  versprechen,  wenn  er  ihnen  zu  dem  gesuchten  Schatze  ver- 
hilft. Sie  haben  ein  besonderes  Gebet  an  den  Heiligen,  das  v.  WlislocJci^  in  der 
Uebersetzung  mittheilt. 

„Treu  gedenke  ich  Deiner  jeden  Tag,  zu  jeder  Stunde,  damit  der  Funken  Deiner  Kraft, 
der  in  mir  ist,  nicht  erlischt,  sondern  einmal  zu  einem  goldenen  Feuer  wird,  zu  einem  dia- 
mantenen Feuer  wird,  zu  einem  Karfunkelfeuer  wird,  das  uns  in  der  Brautnacht  leuchten  soll ! 
Hilf  mir,  heiliger  Chnstoph,  mit  der  Macht  Deines  Hammers!  Amen!" 

Aber  nach  dem  Glauben  unserer  Vorväter  konnte  der  geschlechtliche  Um- 
gang mit  einem  Geiste  auch  ein  ganz  legitimer  und  von  Kirche  und  Gesetz  ge- 
billigter Verkehr  sein,  vorausgesetzt  nämlich,  dass  der  den  nächtlichen  Besuch 
abstattende  Geist  derjenige  des  in  weiter  Feme  weilenden  Ehegatten  sei.  Man 
hielt  es  nämlich  noch  im  17.  Jahrhundert  für  möglich,  dass  die  Seele  den  leben- 
den Körper  verlassen,  in  der  Welt  umherfliegen  und  nach  einiger  Zeit  in  den 
Körper  zurückkehren  könne.  Im  Jahre  1637  bestätigte  das  Parlament  zu  Gre- 
noble  die  eheliche  Geburt  eines  Knaben,  der  nach  vierjähriger  Abwesenheit  seines 
Vaters  geboren  war,  da  seine  Mutter  ,  zugestünde,  dass  obgleich  ihr  Gemahl  aus 
Teutschland  unter  4  Jahren  nicht  kommen  wäre,  sie  ihn  auch  nicht  gesehen 
nocli  fleischlich  erkannt  hätte,  so  wäre  nichts  desto  weniger  gar  zu  gewiss,  dass 
sie  ihr  im  Traume  die  Gegenwart  und  Umbfassung  ihres  Gemahls  feste  einge- 
meldet, und  alle  Empfindungen,  sowohl  der  Empfangniss,  als  Schwängerung  so 
accurat   gef&hlt   hätte,   als  sie  sonsten  bey  würcklicher  Gegenwart  ihres   Herrn 


118.  Geschlechtlicher  Verkehr  mit  Göttern,  Geistern,  Teufeln  und  Dämonen.        461 

empfinden  können.*'  Eine  solche  Art  der  Schwängerung  ¥nirde  als  Lucina  sine 
concubitu  bezeichnet. 

In  den  Sagen  der  Isländer  und  der  Bulgaren  ist  von  Verstorbenen  die  Rede, 
welche  mit  bestimmten  Mädchen  ihre  geschlechtlichen  Gelüste  befriedigen.  In 
Island  war  es  der  verschmähte  Geliebte  des  Mädchens,  der  dann  endlich  durch 
eine  beherzte  Frau  gebannt  wurde.  Das  Mädchen  war  aber  von  ihm  schwanger 
geworden  und  kam  später  mit  einem  Sohn  nieder,  der  dann,  als  er  erwachsen  war, 
zur  Rettung  der  Gemeinde  erstochen  werden  musste.     (Maurer^  Amason.) 

Im  Dorfe  Orzoja  in  Bulgarien  starb,  wie  Straiisz  berichtet,  im  Jahre 
1888  ein  Mädchen,  von  dem  die  Leute  glaubten,  dass  der  geschlechtliche  Umgang, 
welchen  die  Seelen  Verstorbener  mit  ihr  unterhalten  hätten,  ihren  Tod  herbei- 
geführt habe. 

Bei  den  Japanern  spielen  die  Fuchsgeister  eine  grosse  Rolle.  Dieselben 
können  die  Gestalt  von  schönen  Frauen  annehmen  und  mit  den  Männern  ge- 
schlechtlich verkehren.  Sie  müssen  aber  ab  und  zu  ihre  ursprüngliche  Körper- 
form wieder  annehmen.  Fig.  237  giebt  eine  Abbildung  aus  einem  japanischen 
Bilderbuche  wieder.  Die  gespenstische  Frau  verlässt  nächtlicher  Weile  das  Haus, 
und  der  Schatten,  welchen  ihr  Kopf  und  ihre  Hand,  die  beide  schon  ausserhalb 
des  Hauses  sind,  gegen  die  Mauer  werfen,  lassen  keinen  Zweifel  mehr  darüber, 
wie  eigentlich  die  Gestalt  der  Frau  beschaffen  ist.  Das  ihr  nachkriechende  Kind 
sieht  dieses  mit  Staunen. 


XVII.  Die  Prostitution. 

119.  Die  Preisgebung  der  Weiber. 

Dass  es  nicht  immer  der  legitime  Ehegatte  ist,  mit  dem  die  Weiber  ge- 
schlechtlichen Umgang  halten,  das  haben  wir  in  den  vorigen  Abschnitten  zu 
wiederholten  Malen  schon  erfahren.  Man  war  in  früheren  Zeiten  in  Deutsch- 
land in  solchen  Fällen  schnell  bei  der  Hand,  ein  Frauenzimmer,  die  so  etwas 
that,  mit  dem  Namen  einer  Hure  zu  belegen.  Das  galt  dann  natürlich  als  grosse 
Schande.  Mit  solchen  Anschauungen  darf  man  in  der  Ethnologie  an  das  Thema 
von  der  Preisgebung  der  Frauen  nicht  herantreten.  Denn  mancher  Yolksstamm 
gestattet  nicht  nur,  sondern  fordert  sogar  von  seinen  Weibern,  dass  sie  sich  auf 
ausserehelichen  Verkehr  einlassen;  und  hiermit  fallt  dann  selbstverständlich  jeg- 
liche Spur  des  Beschämenden  hinweg. 

Mustern  wir  nun  die  Umstände  durch,  unter  welchen  bei  den  verschiedenen 
Völkern  der  aussereheliche  Beischlaf  zur  Ausübung  kommt,  so  müssen  wir  uns 
sehr  bald  überzeugen,  dass  hierfür  sehr  verschiedene  Bedingungen  die  Veran- 
lassung geben  können.  Das  heisst  mit  anderen  Worten,  wenn  wir  für  solche 
Preisgebung  der  Weiber  den  einmal  dafür  eingeführten  Namen  der  Prostitution 
gebrauchen,  so  sind  wir  gezwungen,  sehr  verschiedene  Arten  der  Prostitution  zu 
unterscheiden. 

Von  einzelnen  Formen  des  ausserehelichen  Verkehrs  ist  schon  früher  die 
Rede  gewesen.  Die  Preisgebung  einer  Braut  an  den  Vertreter  der  Gottheit,  an 
den  Landesherm  oder  an  einen  Beamten,  der  die  Entjungferung  der  Neuvermählten 
an  Stelle  des  Bräutigams  zu  vollziehen  hat,  können  wir  als  Prostitution  nicht 
bezeichnen.  Hier  ist  es  doch  nur  ein  einziger  Beischlaf,  welcher  ausserehelich 
vollzogen  wird ;  unter  der  Prostitution  pflegt  man  jedoch  immer  nur  eine  wieder- 
holte Hingabe  der  Weiber  zu  verstehen. 

Eine  andere  Art  der  Prostitution,  für  welche  ebenfalls  sich  die  Mädchen 
besonders  Auserwählten  hingeben  mussten,  aber  nicht  nur  einmal,  sondern  wieder- 
holentlich,  finden  wir  auf  einigen  Inseln  der  Südsee.  So  bildeten  auf  den 
Marianen-Inseln  die  Ulitaos  eine  Art  von  geschlossener  Gesellschaft,  die  nnter 
dem  besonderen  Schutze  der  Götter  stand.  (Waitjs^.)  Sie  lebten  uirvermahlt  mit 
Mädchen  aus  den  vornehmsten  Familien,  und  es  galt,  wie  Freycinet  bezeugt,  als 
die  höchste  Ehre  für  ein  Mädchen,  den  Ausschweifungen  dieser  Männer  zu  dienen; 
ein  solches  weibliches  Wesen  wurde  sogar  höher  geachtet,  als  eine  wirkliche 
Jungfrau.  Aehnliche  Vorrechte  genossen  die  Areois  auf  den  Gesellschafts- 
Inseln  und  auf  anderen  Inseln  Polynesiens. 

Eine  vorübergehende  Preisgebung  der  Weiber,  für  welche  auch  kein  Ent- 
gelt geleistet  wird,  kann  man  mit  dem  Namen  der  gastlichen  Prostitution 
bezeichnen.  Sie  tritt  uns  in  zwei  Formen  entgegen,  von  denen  die  eine  unserem 
Fühlen   und  Empfinden  ganz   besonders  widerw^tig   ist.    Ihre  Erklärong   giebt 


119.  Die  Preisgebong  der  Weiber.  4g3 

V,  Chamisso  und  es  wird  dayon  noch  die  Rede  sein.  Bei  der  einen  dieser  Formen 
ist  es  die  Dienerin  oder  die  Sclavin,  welche  dem  Gaste  f&r  die  Nacht  übersendet 
wird;  bei  der  anderen  muss  sogar  die  Tochter  oder  die  eigene  Gattin  des  Wirthes 
das  nächtliche  Lager  mit  dem  Gastfreunde  theilen. 

Mit  dem  Namen  der  heiligen  Prostitution  kann  man  es  belegen,  wenn 
zu  Ehren  der  Gottheit  im  Tempel  entweder  alle  Weiber  des  Stammes  oder  be- 
sonders angestellte  Priesterinnen  sich  dem  Liebesgenuss  ergeben  müssen.  Ihr  nahe 
verwandt  und  ursprünglich  vielleicht  sogar  aus  der  heiligen  Prostitution  hervor- 
gegangen ist  die  festliche  Prostitution,  d.  h.  die  Preisgebung  der  Weiber  an 
besonders  feierlichen  Tagen. 

Die  Prostitution  als  Form  der  Ehe  findet  sich  bei  manchen  rohen 
Völkern.  Lubhock  hat  für  diesen  Zustand  den  nicht  gerade  sehr  treffenden  Namen 
Hetärismus  eingeführt.  Er  sieht  darin  einen  allgemeinen  Gebrauch  des  mensch- 
lichen Geschlechts  auf  allemiedrigster  Entwickelungsstufe,  bei  dem  die  Frauen 
einer  Horde  Gemeingut  aller  Männer  gewesen  sein  sollen.  Eine  nicht  geringe 
Reihe  anderer  Forscher,  MLennaviy  Morgan^  Post^  Julius  Lippert  u.  s.  w. 
schlössen  sich  ihm  an.  Auch  als  Gemeinschafts-  oder  Genossenschaftsehe 
hat  man  dieses  Verhalten  bezeichnet;  ob  es  aber  den  Thatsachen  entspricht,  dass 
diese  mehr  als  Prostitution,  denn  als  Ehe  zu  bezeichnende  Verbindung  der  beiden 
Geschlechter  überall  in  der  Vorzeit  vor  der  Begründung  einer  Familienzusammen- 
gehörigkeit geherrscht  habe,  das  ist  noch  nicht  endgültig  entschieden. 

Anders  verhält  es  sich  nun  allerdings  mit  der  freien  Liebe  der  Unver- 
heiratheten,  wie  wir  sie  bei  vielen  Volksstämmen  fanden.  Diese  kann  man 
füglich  wohl  als  eine  Form  der  Prostitution  bezeichnen,  wenn  auch  oft  nur  einem 
Einzigen  von  dem  Mädchen  ihre  Gunst  gespendet  wird.  Gegenseitige  Zuneigung 
führt  die  jungen  Leute  zusammen,  und  sie  unterhalten  mit  einander  die  ge- 
schlechtlichen Beziehungen  so  lange,  bis  eine  gegenseitige  Erkaltung  eintritt,  oder 
bis  der  eine  Theil  heirathet.  Oft  gehen  sie  aber  später  auch  mit  einander  die 
Ehe  ein.  Hierin  findet  man  nichts  Anstössiges,  denn  es  erscheint  als  selbst- 
verständlich, dass  erwachsene  junge  Leute  den  Geschlechtsgenuss  nicht  entbehren 
können.  Auch  besteht  zwischen  den  jungen  Paaren  in  den  meisten  Fällen  eine 
Art  von  Treue  und  Beständigkeit.  Hat  sich  das  Verhältniss  gelöst,  so  kann  ein 
neues  angeknüpft  werden,  und  das  erschwert  dem  Mädchen  nicht  etwa  die  spätere 
Verheirathung ,  sondern  bei  manchen  Volksstämmen  steigern  sich  hierfür  ihre 
Aussichten  sogar  wesentlich,  je  grösser  die  Zahl  ihrer  Liebhaber  war,  die  sie  nach 
und  nach  mit  ihrer  Gunst  beglückte. 

Nahe  verwandt  mit  diesen  Verhältnissen  ist  das,  was  man  gewöhnlich  mit 
dem  Namen  des  Concubinates  bezeichnet.  Dieses  ist  auch  eine  Eheform,  und 
in  dem  Kapitel,  wo  von  der  Ehe  gesprochen  wird,  muss  auch  das  Goncubinat  er- 
örtert werden. 

Dem  Concubinate  ähnlich,  aber  doch  nicht  mit  ihm  übereinstimmend,  war 
eine  Form  der  Prostitution,  wie  wir  sie  in  dem  alten  Griechenland  finden. 
Es  ist  dieses  das  Hetärenthum,  welches  man  wieder  nicht  mit  dem  oben  er- 
wähnten Hetärismus  verwechseln  darf.  In  Griechenland  waren  die  legitimen 
Ehefi^uen  auf  das  häusliche  Leben  beschränkt,  und  die  Männer  fanden  einen  reiz- 
vollen Genuss  im  freien  Umgange  mit  Weibern,  welche  durch  Bildung,  Feinheit 
des  Benehmens  und  geistvolle  Unterhaltung  neben  der  Hingebung  ihrer  weiblichen 
Reize  eine  unwiderstehliche  Anziehungskraft  auf  die  Männer  der  höheren  Stande 
ausübten.  Meist  waren  es  Freigelassene,  welche  den  Hetärenstand  ergriffen,  doch 
auch  freigeborene  Bürgerinnen  gingen,  durch  Armuth  getrieben,  derartige  Ver- 
bindungen mit  Männern  ein. 

Die  Geliebten  des  Jlktbiades^  Timandra  und  Theodata^  bewahrten  ihrem 
Freunde  noch  nach  seinem  Tode  ein  treues  Andenken,  während  allerdings  andere 
Hetären  lediglich  auf  Ausbeutung  ihres  Liebhabers  bedacht  waren,   wie  aus  den 


464  XVU.  Die  Prostitution. 

Hetärengesprächen  Lukian^s  hervorgeht.    Im  bürgerlichen  Leben  Athens  spidtea 
die  Hetären  eine  grosse  Rolle. 

An'stophanes  von  Byzanz  führt  in  seinem  Buche  die  Namen  von  185  be* 
rühmten  Hetären  auf,  und  Solon  soll  das  Hetärengewerbe  gesetzlich  gestattet  haboiii 
aus  Rücksicht  ftür  die  öffentliche  Sittlichkeit;  denn  er  hoffte  auf  diese  Weise  die 
Ehemänner  von  dem  unerlaubten  Umgange  mit  verheiratheten  Frauen  zut 
halten.  Perikles^  welcher,  obgleich  verheirathet,  die  berühmte  Aspctöia  su 
Freundin  erkor,  gab  das  erste  Beispiel  und  fand  nicht  wenige  Nachahmer. 
verkaufte  ihre  Gunst  zu  den  höchsten  Preisen;  Phryne  konnte  mit  ihrem 
benen  Reichthum  den  Thebanern  anbieten,  einen  Theil  ihrer  zerstörten  Stedk^ 
mauern  wiederherstellen  zu  lassen.  Der  Hetärismus  war  dort  ein  freies,  nidA 
durch  die  Sitte  verpöntes  Gewerbe. 

Diese  griechischen  Hetären  bieten  uns  in  ihrem  Benehmen  nun  B6baä 
ein  Beispiel  iür  dasjenige  dar,  was  man  gewöhnlich  unter  Prostitution  im  enffemi 
Sinne  des  Wortes  versteht,  nämlich  die  Preisgebung  des  Körpers  gegen  Besamugi 
Diese  Art  der  Prostitution  pflegt  man  als  die  gewerbsmässige  Prostitution 
zu  bezeichnen.  Auch  bei  ihr  lassen  sich  noch  mehrere  Unterarten  unterschrnden, 
so  z  B.  die  Prostitution  als  Nebenerwerb,  die  vorübergehende  Prosti- 
tution und  endlich  die  Prostitution  als  Lebensberuf. 

So  werden  wohl  annähernd  alle  Formen,  unter  denen  die  Preisgebung  des 
weiblichen  Geschlechts  bei  den  verschiedenen  Völkern  uns  entgegentritt,  ihre  Er- 
wähnung gefunden  haben;  von  einigen  soll  in  den  folgenden  Abschnitten  nodi 
etwas  ausführlicher  gesprochen  werden. 

120.  Die  gastHche  Prostitution. 

Was  man  unter  der  gastlichen  Prostitution  versteht,  das  habe  ich  weiter 
oben  schon  erläutert;  es  ist  die  Versorgung  des  fremden  Gastes  mit  einer  Bett- 
genossin  für  die  Nacht.  Man  wird  in  diesem  Punkte  wohl  gewiss  demjenigen 
beipflichten,  was  Adalhert  von  Chamisso  hierüber  sagt: 

„Die  Keuschheit  ist  nur  nach  unseren  Satzungen  eine  Tugend.  In  einem  der  Nstur 
näheren  Zustande  wird  das  Weib  in  dieser  Hinsicht  erst  durch  den  Willen  des  Mannet  ge- 
bunden, dessen  Besitzthum  es  geworden  ist.  Der  Mensch  lebt  von  der  Jagd.  Der  Mann  aoxgt 
für  seine  Wafion  und  den  Fang:  das  Weib  dient  und  duldet.  £r  hat  gegen  den  Frerndn 
keine  Pflicht;  wo  er  ihm  begegnet,  mag  er  ihn  tödten  und  sein  Besitzthum  sich  aneigiMB. 
Schenkt  er  aber  dem  Fremdling  das  Leben,  so  schuldet  er  ihm  turdor,  was  zum  Leben  gehOit^ 
Das  Mahl  ist  für  alle  bereitet  und  der  Mann  bedarf  eines  Weibes.  Auf  einer  höheren  Stufe 
wird  die  GastfrcundKchaft  zu  einer  Tugend  und  der  Hausvater  erwartet  am  Wege  den  Fremd- 
ling und  zieht  ihn  unter  sein  Zelt  oder  sein  Dach,  dass  er  in  seine  Wohnung  den  Segen  dM 
Höchsten  bringe.  Da  macht  es  sich  leicht  zur  Pflicht,  ihm  sein  Weib  anzubieten,  welches 
dann  zu  verschmähen  eine  Beleidigung  sein  würde.     Das  sind  reine  un verderbte  Sitten.* 

Solche  Sitten  sind  aber  sehr  weit  verbreitet,  und  wenn  wir  die  Berichte 
unserer  It eisenden  lesen,  sei  es  aus  Afrika,  oder  aus  Asien,  oder  auch  Yon  den 
Insehi  der  Südsee,  so  finden  wir  in  einer  grossen  Reihe  der  Fälle  auch  die  An- 
gabe beigeiiigt,  dass,  wo  sie  freundlich  aufgenommen  wurden,  man  ihnen  ausser 
den  Lebensmitteln  auch  eine  junge  Weibsperson  übersandte.  Was  ftkr  einen  Zweck 
diese  Sendung  hatte,  das  bedarf  wohl  keiner  näheren  Erklärung.  Hier  ist  es  aller- 
dings wohl  für  gewöhnlich  eine  Sclavin  oder  eine  der  vielen  Nebenfrauen,  welche 
sich  dem  Fremdling  zur  Verfügung  stellen  muss. 

Auch  in  alten  Zeiten  hat  es  Derartiges  gegeben.  In  dem  Tractate  des  Talmud, 
Abodah  Sarah,  ,vom  Götzendienste",  findet  sich  hierfür  ein  merkwürdiger  Be- 
leg, den  ich  nach  EivaWs  Uebersetzung  wiedergebe: 

r Einst  sass  Mar  Jehuda  und  Bati,  S.  Tuhi,  bei  dem  persischen  Könige  Sthabur  sor 
Tafel;  da  wurde  ein  Ethrog  aufgetragen.  Der  König  nahm  sich  davon  ein  Stück,  nnd  ein 
StQck  gab  er  Jiati,  S.  Tubi:  hierauf  nahm  er  das  Mesßer,   steckte  es  zehnmal  in  die  Erde; 


466  XVII.  Die  Prostitutioii. 

dann  schnitt  er  ein  anderes  Stück  ab  und  gab  es  Mar  Jehuda.  Daraaf  sagte  BaH,  S.  T^Uri: 
bin  ich  denn  kein  Jude,  dass  du  für  ihn  zehnmal  das  Messer  in  die  Erde  steckst  and  flür 
mich  nicht?  Der  König  erwiderte:  ich  bin  von  der  Frömmigkeit  Mar  Jehuda  fibeneugt,  aber 
nicht  von  deiner.  Andere  meinen,  der  König  habe  Bati  geantwortet:  erinnere  dich,  wm  da 
gethan  hast  in  der  verflossenen  Nacht." 

Der  König  hatte  nämlich  in  der  Nacht  vorher  ihnen  zwei  Sclavinnen  über- 
sendet. Mar  Jehuda  hatte  die  seine  unberührt  zurückgeschickt,  Bati  aber  hatte  mit 
der  für  ihn  bestimmten  Sclavin  das  Bett  getheilt,  und  daher  hielt  es  der  ESnig 
nicht  für  nötbig,  mit  dem  Messer  die  für  einen  Juden  vorgeschriebene  Reinigong 
vorzunehmen. 

Häufig  ist  es  nun,  wie  gesagt,  die  eigene  Tochter  oder  die  Ehefrau,  welche 
dem  Gastfreunde  überlassen  wird.  Die  Beweggründe  für  diese  Unsitte  hat  ja 
t\  Chamisso  klargelegt.  Er  sprach  über  die  Völker  der  Südsee.  Auch  Bougain' 
viUe  sagt,  dass  es  in  Polynesien  gar  nichts  Seltenes  sei,  dass  dem  Gh»te  die 
Ehegattin  oder  die  Tochter  angeboten  wird. 

Aber  auch  in  vielen  anderen  Regionen  treffen  wir  die  gleiche  Abscheolich- 
keit  an.  Bindtdph  berichtet  sie  von  den  Einwohnern  Hunsas  im  westlichen 
Himalaya.  Erman  nuA  Krascheninnikow  fanden  die  Sitte,  dem  Gastfreunde  die 
Frau  zu  überlassen,  in  Kamtschatka,  v,  Middendorff  bei  den  Samojeden.  Bei 
mehreren  sibirischen  Völkern  besteht  diese  Sitte  nach  Middefidorff  noch  heute. 

Allein  wir  würden  irren,  wenn  wir  nun  annehmen  wollten,  dass  bei  diesen 
Völkern,  deren  Frauen  so  wenig  unsere  Begriffe  von  Keuschheit  theilen,  deshalb 
die  weibliche  Treue  vermisst  wird;  die  Hingebung  des  Weibes  geschieht  nur  auf 
Geheiss  des  Mannes,  der  über  seine  Frau  ein  Besitzrecht  ausübt  und  dasselbe  ledig- 
lich aus  freien  Stücken  auf  kurze  Zeit  einem  anderen  überträgt. 

Bei  den  sesshaften,  angesiedelten  Tschuktschen  und  Korjaken  galt  es 
nach  Georgi  sogar  als  eine  Beleidigung,  wenn  der  Gast  die  vom  Hausherrn  ange- 
botene Tochter  oder  Hausfrau  zurückwies. 

Die  Soegstie  halten,  wie '  Os^a^ie/' erzählt,  es  ebenfalls  für  ihre  Pflicht, 
ihre  Frauen  und  ihre  Töchter  den  Gastfreunden  zu  prostituiren.  Von  den  Co- 
manche-Indianern  berichtet  das  Gleiche  Schoolcraft^  von  den  Tinne-India- 
nern  Hearne,  Auch  von  den  Eskimos  wird  es  berichtet;  sie  sind  auch  wohl 
die  schamlosesten. 

Männer  und  Frauen  Hegen  nackt  dicht  an  einander  während  der  Nacht  unter  einem 
Seehundsfelle;  dem  Gaste  macht  man  Platz,  indem  man,  wie  Parry  fand,  nur  ein  wenig  lu- 
rückt.     Auch  bietet  man  dem  Gastfreunde  die  Weiber  zur  Benutzung  an. 

Uebrigens  können  hier  die  Weiber  auch  verschenkt,  verkauft  oder  verliehen 
werden,  und  sie  sind  weit  davon  entfernt,  dem  Gatten  die  eheliche  Treue  zu  halten. 
Nach  Parry  prostituiren  sie  sich  in  der  Abwesenheit  ihrer  Eheherren. 

Uebrigens  wird  selbst  aus  Europa  etwas  Aehnliches  berichtet.   Mxirrer  sagt: 

»Es  ist  in  dem  Niderlandt  der  Bruch,  so  der  Wyrt  einen  lieben  Gast  hat,  dass  er 
ihm  seine  Frau  zulegt  auf  guten  Glauben." 

Somit  war  dieser  absonderliche  Gebrauch  also  weiter  verbreitet,  als  man 
vermuthen  sollte. 

121.  Die  heilige  Prostitution. 

Man  hat  die  Yerptiichtung  der  Frauen  und  Mädchen,  sich  im  Tempel  der 
Gottheit  an  bestimmten  hohen  Festtagen  entweder  dem  Priester  oder  den  anderen 
Festgenossen  zu  überlassen,  mit  dem  Namen  der  religiösen  oder  heiligen 
Prostitution  bezeichnet. 

Eine  heilige  Prostitution  gab  es  bei  mehreren  Völkerschaften:  in  Babylon 
trieb  man  die  Prostitution  in  Form  eines  Cultus  der  Mylitta  (einer  der  Venus 
analogen  Göttin);  dort  zwang  das  Gesetz  jede  Frau,  einmal  in  ihrem  Leben  Aea 
Tempel  dieser  Göttin  zu  besuchen,    um  sich  in  demselben  einem  Fremden  preis- 


121.  Die  heilige  Prostitution.  467 

zugeben.  Dieser  Cultus  breitete  sich  über  Cypem,  Phönikien  und  andere 
Länder  Kleinasiens  aus. 

Bei  den  Armeniern  mussten  sich  nach  Sfrabo  die  Mädchen  vor  ihrer  Ver- 
heirathung  längere  Zeit  der  Anaitis  weihen. 

Die  Griechen  scheinen  einen  solchen  Cultus  für  ihre  Aphrodite  in  gleicher 
Gestalt  nicht  gekannt  zu  haben;  jedoch  sind  wir  über  die  rituellen  Gebräuche 
der  Aphrodite  Pandemos  zu  wenig  unterrichtet  und  wissen  nicht,  ob  deren  Hiero- 
dulen  ihren  Dienst  nur  vorübergehend  zu  verrichten  hatten,  oder  ob  ihre  Anstellung 
eine  dauernde  war.  In  späterer  Zeit  scheint  allerdings  das  Letztere  der  Fall  ge- 
wesen zu  sein,  und  Lomlyroso  schreibt  hierüber: 

y Hetären  hatten  manchmal  die  Stellen  der  Priesterinnen  in  den  Fenii^-Tempeln  inne 
oder  waren  denselben  beigegeben,  um  die  Einkünfte  des  Heiligthums  zu  steigern;  dem 
Äphrodite'TQmi^QX  zu  Eorinth  gehörten  nach  Strabo  mehr  als  tausend  Hetären,  die  den  Tempel- 
besuchom  als  geweiht  galten.  Sehr  häufig  weihte  man  in  Griechenland  der  Aphrodite ,  um 
ihre  Gunst  zu  gewinnen,  eine  Anzahl  ganz  junger  Mädchen;  so  versprach  der  Korinther 
Xenophon  vor  den  olympischen  Spielen  ihr  fünfzig  Hetären,  falls  er  siegen  würde,  und  erfQllte 
sein  Versprechen,  wie  das  Pindar  in  der  Ode  zu  Ehren  seines  Sieges  schildert.*^ 

^0  Herrscherin  von  Cjprus,  Xenophofi  ftLhrt  in  deinen  weiten  Hain  fünfzig  reizende 
Mädchen;  ihr,  o  schöne  Kinder,  werdet  die  Pilger  gastlich  empfangen;  ihr  spendet,  Prieste- 
rinnen der  Peit^w,  im  glänzenden  Korint h  duftenden  Weihi*auch  vor  Aphrodites  Bilde  und 
betet  zur  Mutter  der  Liebesfreuden,  für  euch  spendet  sie  uns  ihre  himmlische  Huld  und 
jässt  uns  auf  wonnigem  Pfühl  die  zarte  Frucht  eurer  Schönheit  pflücken.  Stunden  der  Lust 
gemessen.  ** 

Heute  noch  treffen  wir  solche  Institutionen  bei  den  Tempeln  in  Indien  an. 
Shortt  berichtet  darüber: 

Hindu -Mädchen  jeder  Kaste  können  Tempeln  zum  Tanzen  geweiht  werden. 
Sie  heirathen  nicht,  dürfen  aber  mit  Leuten  aus  der  gleichen  oder  aus  höherer 
Kaste  sich  prostituiren.  Es  giebt  zwei  Arten  Prostituirter;  1.  Thassee  oder 
einer  Pagode  attachirte  Tanzmädchen;  2.  Vashee  oder  Prostituirte.  Die  letzteren 
leben  in  Bordellen  in  grossen  Städten,  oder  in  der  Nähe  von  Aracschänken  oder 
kleinen  Tempeln.  Die  ersteren  werden  als  Kinder  mit  der  Gottheit  des  Tempels 
verehelicht,  sie  stammen  nicht  selten  aus  den  vornehmsten  Kasten,  wenn  ihr  Vater 
in  Folge  eines  Gelübdes  sie  dem  Tempel  geweiht  hat.  Sie  erhalten  täglich  zwei 
Tanzstunden  und  zwei  Gesangstunden.  Je  nach  der  Bedeutung  des  Tempels,  dem 
sie  angehören,  richtet  sich  die  Höhe  ihres  Gehaltes.  Der  Unterricht  beginnt  mit 
5  Jahren,  und  mit  7  bis  8  Jahren  haben  sie  ausgelernt  und  tanzen  bis  zum  14. 
oder  15.  Jahre  6  mal  täglich.  Wenn  sie  auftreten,  sind  sie  reich  mit  Gold  und 
Edelsteinen  geschmückt.  Sie  bilden  gleichsam  eine  eigene  Kaste  mit  festen  Ge- 
setzen. Sie  geniessen  grosses  Ansehen  und  sitzen  bei  Versammlungen  bei  den 
vornehmsten  Männern.  Sobald  das  Mädchen  ihre  Reife  erlangt  hat,  wird,  wenn 
sie  nicht  bereits  von  einem  Brahminen  deflorirt  ist,  ihre  Jungfrauschaft  einem 
diese  Ehre  suchenden  Fremden  für  eine  entsprechende  Summe  überlassen,  und  von 
da  an  führt  sie  ein  Leben  fortgesetzter  Prostitution  mit  Fremden.  Nicht  selten 
werden  Kinder  eigens  von  alten  Weibern  aufgefangen,  um  an  weit  von  ihrer 
Heimath  abgelegene  Tempel  verkauft  zu  werden. 

Ueber  diese  Prostituirten  der  indischen  Tempel  findet  sich  bei  Warneck 
das  folgende  Citat: 

«Jeder  Hindu-Tempel  von  einiger  Bedeutung  besitzt  eine  Anzahl  Nautsches,  d.  h. 
Tanzmädchen  (Fig.  238),  welche  nächst  den  Opferem  das  höchste  Ansehen  im  Tempelpersonal 
geniessen.  Es  ist  noch  nicht  lange  her,  dass  diese  Tempelmädchen  fast  die  einzig  einiger- 
maassen  gebildeten  Frauen  in  Indien  waren.  Sie  wurden  nämlich  in  Gesang  und  Tanz 
unterrichtet,  auch  besser  gekleidet  als  ihre  Geschlechtsgenossinnen ;  und  als  die  evangelische 
Mission  begann,  Mädchenschulen  zu  errichten,  so  trat  ihr  das  Yorurtheil  entgegen,  sie  wollte 
Tempelmädchen  ausbilden.  Diese  von  ihrer  Kindheit  her  den  Götzen  vermählten  Priesterinnen 
müssen  von  Berufs  wegen   sich    für  jedermann  aus  jeder  Kaste  prostituiren,  und  diese  Preis- 

30* 


468  XVII.  Die  Proßtitution. 

gebung  ist  bo  weit  entfernt,  als  Schande  zu  gelten,  dass  selbst  angesehene  Familien  ob  Tiel- 
mehr  für  eine  Ehre  achten,  ihre  Töchter  dem  Tempeldienste  zu  weihen.  Allein  in  der  Pzft- 
sidentschaft  Madras  giebt  es  gegen  12000  dieser  Tempelprostitoirten.  Ihr  Dienst  boBehränkt 
sich  aber  nicht  auf  den  Tempel.  Die  Tanzmädchen  sind  auch  häufig  in  den  H&osem;  bei 
Hochzeiten,  Weihungen  oder  sonstigen  festlichen  Gelegenheiten  spielen  sie  eine  grosse  Rolle: 
so  ist  es  auch  ziemlich  allgemein  Sitte,  dass  man  sie  einladet,  wenn  man  Fremde  zom  Besuch 
hat,  ja  Europäer  oder  Amerikaner  laden  sie  selbst  zu  ihren  Vergnügungen  ein  nnd  be- 
schenken »ie  reichlich.*^ 

Fig.  239  führt  solch   ein  Tanzmädchen  in   trunkenem  Zastande  ans  Bom- 
bay vor. 

Hier  wäre  ferner  noch  zu  sprechen  von  einer  Art  der  heiligen  Prostitution, 
wie  sie  an  ganz  bestimmten  Festen  .  von  der  gesammten  weiblichen  Bevölkerang 
ausgeübt  wurde.  Ich  spreche  davon  in  einem  späteren  Abschnitt,  in  welchem 
diese  heiligen  Orgien  gemeinsam  mit  den  erotischen  Festen  abgehandelt 
werden  sollen. 


122.  Die  gewerbsmässige  Prostitution  in  ihrer  ethnographischen 

Ausbreitung. 

Es  giebt  wohl  wenige  Punkte  auf  der  Erde,  wo  nicht  die  Vertreterinnen 
des  weiblichen  Geschlechts  gelegentlich  auch  einem  nicht  zu  ihnen  gehörigen 
Manne  die  Freuden  des  geschlechtlichen  Genusses  bereitwilligst  überlassen.  Nicht 
überall  fordern  sie  dafür  eine  pecuniäre  oder  materielle  Entschädigung.  Aber  bei 
nicht  wenigen  Volksstämmen  wird  die  Preisgebung  des  Körpers  ganz  ohne  Scheu 
benutzt,  um  sich  einen  Nebenerwerb  zu  verschaiSen.  Manche  fremde  Völker  haben 
nun  aber  auch  wirkliche  Prostituirte  in  der  Weise,  wie  wir  sie  in  Europa  an- 
treffen, also  Frauenzimmer,  deren  Lebensberuf  es  ist,  sich  ftir  Bezahlung  preis- 
zugeben und  sich  auf  diese  Weise  ihren  Lebensunterhalt  zu  erwerben. 

So  gab  es  bei  den  alten  Mexikanern  öffentliche  Mädchen,  doch  war 
ihr  Gewerbe  allgemein  verachtet;  dasselbe  war  bei  den  alten  Peruanern 
der  Fall. 

In  den  halbcivilisirten  Ländern  der  Neuzeit  tritt  die  Prostitution  in  sehr 
ungezügelter  Form  auf:  Die  Almehs  in  Aegypten,  die  Nautsch-Mädchen  in  In- 
dien sind  die  Vertreterinnen  der  gemeinen  Prostitution,  wie  bei  rohen  Völkern 
die  Puzen  auf  Java  und  die  Sives  in  Polynesien. 

Auch  in  Neu-Caledonien  existirt  nach  Moncelon  die  Prostitution:  .Elle 
se  produit  par  cas  isoles.     Elle  est  toleree,  mais  meprisee." 

Ueber  die  Prostitution  in  Neu -Britannien  spreche  ich  in  einem  spateren 
Abschnitt. 

Auf  den  Pelau-Inseln  ist  die  Prostitution  eine  ganz  gewöhnliche  Erschei- 
nung. Wenn  das  Mädchen  10  oder  12  Jahre  alt  ist  und  noch  keinen  Mann  hat, 
so  geht  sie  als  ^yArmengol**  nach  einem  fremden  Districte  und  tritt  dort  in  ein 
Baj  ein,  wo  sie  als  bezahlte  Maitresse  eines  Eingeborenen  lebt,  im  Geheimen  aber 
auch  flir  Geld  mit  allen  übrigen  Männern  des  Bajs  zu  thun  hat.  Findet  sie 
keinen  Mann,  so  geht  sie  in  ein  zweites  Baj,  ein  drittes  u.  s.  w.,  bis  sie  endlich 
die  Ehefrau  eines  Eingeborenen  wird.  Eine  solche  Ehe  ist  natürlich  meist  un- 
fruchtbar; nach  Kuhary  ist  letzteres  bei  drei  Viertheil  der  Ehen  der  Fall.  Der 
Mann  bat  eine  ebenso  wilde  Vergangenheit  wie  die  Fiau. 

In  China  ist  das  Prostitutionswesen  sehr  ausgebildet;  besondere  Gesetze 
stören  die  Freudenmädchen  nicht.  Sie  sind  in  Bordellen  untergebracht,  die  fast 
alle  mit  grossem  Luxus  ausgestattet  sind.  Wegen  ihrer  blauen  Jalousien  heissen 
sie  die  blauen  Häuser  (Tsing  Lao).  In  denjenigen  Städten,  welche  wie  k.  B. 
Canton,   am  Flusse  liegen,   werden   auch   eigens   gebaute,   festgeankerte  Schiffe, 


470 


XVU.  Die  ProstitutiöD. 


sogenannte  ^BlumenBchiffe*  (Hoa  ThiBg),  häufig  als  Bordelle  beDot^t.    ^Fig.  240J 
Die  daselbßt  beherbergten  Madchen    siod  Sclavinnen  des  Bordellbi 
Zustand,  sowie  das  ihnen  meist  bevorstehende  Schicksal  sind  wahrli  j, 

werth.     Sie  werden  gewöhnlich  zu  ihrem  Gewerbe  systematisch  herangebildel  iindj 
ebenso  systematisch   vou    ihren   herzlosen  Besitzern    ausgebeutet.     Im   Alter    vool 
6 — 7  Jahren  müssen  sie  die  älteren  Mädchen  und  ihre  Besucher  bedienen,  in  d^roj 
Alter  von  10 — 11  Jahren  lernen  sie  singen  und  spielen,  auch  lesen ,  sclv   "'         ind 
malen,  allein  bereits  im  Alter   von  13 — 15  Jahren  werden   sie    von   ilu  rm 

gewinnbringend  ausgenutzt,  zunächst  noch  ausserhalb  des  Hauses,  nachher  aber 
in  dem  Institute  selbst.  Bis  dieses  eintritt,  vergehen  2 — 3  Jahre*  Diese  ms- 
glücklichen  Wesen  verwelken  früh;  dann  sieht  man  sie  in  allen  Strassen  der 
grossen  Städte  sit/en,  um  vorübergehenden  Soldaten  und  Tagelöhnern  tje- 

ringes  Entgelt   die   zerrissenen  Kleider   auszubessern.     Nach    ofticieÜeii  len 

gab    es    im    Jahre    18öl    in    Amoj,    einer   Seestadt    mit   300000    Einwohnern,^ 
3650  Bordelle,  welche  25  000  Mädchen  beherbergten. 


Flg.  340,    OhineBlscheii  Hltinietiichlff.    (Naoh  einem  ebineiUobeD  AqnsreU.) 


In  den  alten  Geschichten  Chinas  spielen  diese  , Blumenmädchen *,  d.  h,  die! 
Insassen  der  auf  dem  Wasser  schwimmenden  eBlumenböte*,  ungefähr  die  gliTipbr» 
Rolle,    wie   die    vornehmen    Hetären  in   Griechenland.     Sie    sind   der  Inbegriff  | 
aller  Schönheit)  guten  Erziehung  und  Bildung,  die  die  männliche  Jugend  anfmcht« 
um  die  eigene  Bildung  zu  vervoUstündigen.     Auch  heute  noch  besteht  diese  Kn» 
richtung,  und  theils  in  den  Blumenschiileu,  theils  in  den  blauen  Häusern  werden 
Gäste  empfangen.     Arme  Kinder    werden    gestohlen    oder  von    ihren  Eltern   Ter- 1 
kaatl,    um    hier    lediglich    zur   Prostitution  herangebildet    zu    werden.     Aber  das 
Ideale,  was  frUher  dieser  Einrichtung  einen  veredelnden  Anstrich  gab,   ist  bmite,| 
wenn  wir  CoIqnfioun*s  Schilderungen  Glauben   schenken    dürfen,    vollst&iidir 
loren  gegangen.     Er  sagt: 

,Von  den  Mildchoii    haben    miiDche   r  - rnohrao  Züge   und   ein  '  a, 

»her  aio  Bind  sUm tut bch  im  höchsten  Grade  u  l   und  kÖTurcn  wod«^r  M*  co, 

gwichweig«  denn  Lieder  iutproviBiren,  wie  nm  in  der  ^uUsn   all  toüaiL 

In)  Norden  findet  tuun  AlUrding«!  wi«  t'>  lu?i^-t,  auch  beutikMii  '.l:1;<m. 

welche  diese  Kunst  ven)t«ihon*    Nur  die  nthche  l 

Familien ti^ he riÄ  kann  vefininrTii.n'  T>fluio  >►  n     Jii>  Cr 


t^:  Dtä  gew^^rbsmaisfgd  FrosiiiutioD  m  ihrer  otbnographiBcben  AoaLreilüng.       471 

en  aufzusuchen,  wo  da«  einfÄltigBte  Spiel,  da^  i»  Italien  gebräuchliche  Morrai  die  einzige» 
rech*laiig  in  den  Gesäugen  aud  kindiachen  Scheraen  bildet,' 
Pig.  241  zeif^k  das  Innere  eines  solchen  Blumen bootes. 
Ganz  anders  klingt  es  nun  freilich,  was  uns  der  Militär-Attache  der  chine- 
aiscfaen  Gesandtschaft  in  Paris^  Herr  Tscheng  Ki  Tong^  hierüber  erzählt: 

,Gowifi8e  Reisende  halben  es  sich  in  don  Kopf  gectetzt,  jene  mit  dem  Namen  Bluiuen- 
schiff  beÄeichneten  Fabrzeage,  welche  sich  in  der  Nahe  grosser  Städte  «eigen,  ak  Statten  der 
AuaschreituBg  su  scbildem,     Das  i&t  durchaus  unrichtig.     Die  Blumenachiffe  verdienen  diesen 


Fig.  241.    InnGt««  ein«  c]iiii«siscbeD  Bliim«aboat6B.    (K»ob  Seh/rgeL} 


[Huf  eVion80  wenig,  wie  die  Concertaale  Europas.  Kb  ist  dies  ein  Lieblingsvergnügen  der 
chine4i*ichen  Jugend.     Man  veranstaltet  Wasserpartien  hauptsächlich  Abends  in  Gesellschaft. 

IvoD  Frauen^  welche  die  Einladung  dazu  annehmen.  Diese  Frauen  sind  aicht  verheirathet ;  sie 
sind  muaikaligch,  und  aus  diesem  Grun«le  werden  sie  eingeladen.    Will  man  eine  Partie  ver- 

[anstalten,  so  findet  man  an  Bord  Einladungskarten,  auf  welchen  man  nur  »einen  eigenen 
Namen  und  den  der  Künstlerin  und  die  Zeit  der  Zusammenkunft  aussufQllen  braucht.  Es 
ist  dies  eine  sehr  angenehme  Art,  sich  die  langsam  dahinschleichende  Zeit  %\x  vertreiben.  Man. 
findet  auf  dem  Schiffe  Alles,  was  ein  Feioscbn  t>n  kann,  und  die  GeaelUcbaft 

der  Frauen,  deren  harmonit^che  ^Stimmen   in   ^  u  melodischen  Tönen  der  In« 


472 


XVI L  Die  Prostitution, 


stramente  bei  einer  Toöde  ¥cyiilicli  daftenden  Theea  die  Abendfrieclie  beleben^  wird  mehi  a1» 
eine  n&ebtliche  Anaschweifung  betrachtet/ 

,I)ie  Einladungen  gelten  nur  für  eine  Stunde,  Man  kimn  die  Zeit  jedoch  aQsdfüioeit, 
wenn  die  Frau  nicht  anderweitig  engagirt  ist;  —  natürlich  masi  das  Honorar  danss  r^r- 
doppelt  werden.  Diese  Frauen  werden  in  unserer  Gesellschaft  nicht  in  Bezug  auf  ihre  Sliteti 
beuriheilt:   sie  können  in  dieser  Hinsicht  sein,   wie   äie  wollen;  das  ist  ihre  Sache. .  .  .     Drr 

Reiz    ihrer   Unterhaltung    wird    ebenso    hoch    geschätzt,    ak   ihre    Kunst. Wann    man 

von  diesen  Zasammenkünften   etwas   anderes   behauptet,   so  ist  am  einfach   eine  F&lBcliaag 
der  Wahrheit.* 

Nachher  wird  aber  zugegeben,  dass  der  Platonismua,  den  uns  dieser  Cbine«e 
glauben  machen  mochte,  doch  auch  nicht  Yon  absolutem  Bestände  ist. 

Die  Hak-ka  im  südlichen  China,  bei  denen,  wie  wir  früher  sahen,  di« 
Tödtung  der  neugeborenen  Mädchen  gewöhnlich  ist,  unternehmen,  wie  Eitel  be- 
richtet, Raubzöge  über  die 
Grenze  nach  Tonkin  hinetii« 
um  sich  mit  Weibern  zu  ver- 
sorgen; 

«Lea  plus  jolie«  sont  Tv4^nttm 
aus  maisona  de  profitituti»n  de  Oaii- 
ton,  et  leor  prix  est  de  beauooup 
fiup^riear  a  celni  des  auti^*  Ob  las 
place  encore  comme  eervaiites  dmxm 
lea  nombreusee  aaberges  qui  jmloQ* 
nent  lea  grandee  routes  dt  Chlni» 
et  011  le  vojageur  peut  tonjour»,  poiir 
une  somme  dörisoire,  100  sap^qu«« 
environ,  troaver  de  Teau  ei  da  feit 
pour  faire  cuire  aon  ris  et  pateer  lii 
nuit  ä  couvert,  Le»  propri^talrtie  d«« 
aubergeB  joignent  i\  cotin  indiMri« 
peu  Incrative  eelle  du  proxtfo^Usm^« 
et  beaucoap  de  femmott  voIm  au 
Tonkin  v  <nUjr  leperMknaol 

de  ces  eta  s.' 

Auch    die    Japaner    b^ 

treiben  die  Prostitution  '^" 
4  rossen  Stil : 

.Man    klagt   aU    ^  «tr 

tichlimmon  Verbreitung  <j  iii- 

tion  in  Japan  die  grotae  Loeknriimi 
der  Ehe,  iniibeaondern  das  lUciit  dm 
^faniies  an,  leine  Frau  noch  BeU»Uoii 
zu  rerlaesen«  Wenn  in  Japan  »in« 
Fran  von  ihrem  Manni*  yfintocMii 
w^rde,  fro  gebt  si«  unrettbar  dem 
Elende   entgegen,    aobald    nie    nicht 

'  •^':nht 
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Flg.  243.    CurUaMien  von  Yoddo  In  einer  BArkc. 
Z*iithnüng  von  Ji^f^kuHi  /.    {K»cli  dm,»* 


im  HauBe  ihrer  Eltern  «i 
zM  finden  vnmiiLg.  In 
"greift  sid  zum  letj^ten  verzweifelten  Mittel,  um  ilire  Existenz  zu  fristen,  sie  v 
Tochter  uro  einen  niedrigen  IVeia  an  eines  der  ProstitutionshÄuaer,  die  anter 
Th ©ob Unser  oder  (innldrcii!  unter  dem  Schutze  der  Regiemng  stehen.  Youhiwiir; 
felder)  nennt  man  in  Jitprin  die  Htadtthoile  und  oft  auch  die  einr.eln»n,  m 
niaftmäMiig  AphrmliU  gewidmet  iind.      Nach  dem   I  « 

welche    die  genau    kenneu,    erscheint   \r\    Japtin    r! 

Fnwienadmmer  n  t»  Stufe,  wie  in  unseren  gtv 

werden  die  Bew  ra«  vom  bei»fteren   Theile  dr 

achtet,  sondern  doch,  da*«  «ie  nicht  au*  eig«n«r  Schuld  w 

ihrem  niedrigen    ..  ^.„^  w;.Uem  nach  dem  wriim,  ihr.^r  Fitom  mUr  t^ 


474 


XVII.  Die  Prostitution. 


von  der   einen   heisst  es:    «Sie  hat  ihren  Korper  befleckt,   aber  nicht  ihr  Herz* 
und  sie  wird  als  «der  Lotus  im  Moraste **  bezeichnet.     (Mihi  Tei^chi.) 

Fig.  242  zeigt  uns  Prostituirte  vornehmeren  Ranges  aus  Yeddo  nach  einer 
Zeichnung  von  dem  japanischen  Maler  Toyokuni  L 

Als  einen  der  Namen,  mit  denen  die  Japaner  ihre  Gurtisanen  zu  bezeichnen 
pflegen,  führt  Herr  Dr.  F,  W,  K.  MüUer^  den  Ausdruck  Keisei  an,  welcher  nadi 
Sen-urier  «citadelles  deversantes  ou  fragiles''  bedeutet.  Müller  sagt:  «Keisei  ist 
die  japanische  Aussprache  der  chinesischen  Ideogranmie  k*ing-6*^ng.  Letz- 
teres ist  eine  uralte  Metapher  der  Chinesen  zur  Bezeichnung  der  Frauen-Schönheit 

und  der  Gefährlichkeit  dieser  Schönheit.* 

Selenha  schreibt  über  die  Prostitution 
in  Japan: 

«Die  Hässlichkeiten,  welche  in  etlichen  Thee- 
bäusern  der  Hafenstädte  gangbar  geworden,  sind 
keineswegs  national -jap  an  is  ob  and  wurzeln  nur 
in  der  Gewinnsuebt  einiger  geldgieriger  Unter- 
nebmer.  Dagegen  ist  die  Scbaar  der  professionirten 
Halbweltdamen  in  den  Städten  eine  ständige  Kaste, 
sanctionirt  durcb  alte  Sitte  und  Gewobnbeit,  indem 
unbemittelte  Eltern  ihre  Töcbter  an  Häuser  be- 
denklieben Rufes  verkaufen.  Obne  Murren  fügen 
sich  die  armen  Mädchen  in  ibr  Geschick,  denn 
die  tiefgewurzelte  confucianiscbe  «Pietät  gegen  die 
Eltern '^  macht  die  Kinder  zu  deren  Sclaven.  Die 
grösseren  Städte  Japans  besitzen  meist  besondere 
Strassen  mit  glänzend  eingerichteten  Häusern,  die 
Yoshiwara,  in  deren  Parterre  die  Halbwelt  mit 
bunten  Kleidern  angethan  hinter  Holzgittem  den 
männlichen  Besuchern  als  Waare  ausgesteUt  ist. 
Da  diese  Mädchen  ein  wenig  Erziehung  gemessen, 
finden  sie  in  der  Regel  einen  Gatten,  wenn  auch 
geringereu  Standes,  und  gelten  nach  der  Ver- 
beirathung  als  ehrbare  Frauen.  Sind  sie  doch 
selten  an  ihrer  Lebensweise  selber  schuld.  In 
Kioto  gewahrte  ich  eines  Tages  ein  junges  Mädchen 
inmitten  eines  grossen  Zuschauerkreises.  Sie  war 
soeben  „eingekleidet*,  trug  seidene,  bunte  Gewänder, 
einen  ganzen  Heiligenschein  von  goldenen  Nadeln 
im  Haar,  und  wurde  in  den  Strassen  umherge- 
führt, um  die  Aufmerksamkeit  der  Männer  auf  sich 
zu  lenken.  Die  angehende  Halbweltdame  schien 
mit  ihrem  Schicksale  gar  nicht  unzufrieden  zu  sein  * 

Die  soeben  erwähnte  ungeheure  Zahl 
von  Haarnadeln  macht  in  den  japanischen 

Fig.  244.     Laterne,  Schirm  und  , Wappen-  einer    Abbildungen      fiir      gewöhnlich     die     Prosti- 

(Nach  Ällpa nU^^H^z^hnitt.)      tuirten  kenntUch.    Ausserdem  pflegen  sie  aber 

auch   die    eigentlich   für  das  Hintertheil  be- 
stimmte grosse  Schleife  sich  nach  vorn  auf  den  Leib  zu  schieben. 

Eine  berühmte  japanische  Gurtisane  wird  vielfach  in  japanischen 
Büchern  dargestellt.  Fig.  243  zeigt  sie  uns  nach  Yoshitoshi  aus  einem  japa- 
nischen Farbendruckwerke  vom  Jahre  1892,  welches  sechs  und  dreissig  wunder- 
bare Begebenheiten  behandelt.  Sie  wandert  im  Mondschein  über  das  Feld,  den 
Kopf  mit  einem  grossen  Tuche  verhüllt.  Unter  ihrem  linken  Arme  trägt  sie  eine 
aufgerollte  Matte.  Diese  ist  dazu  bestimmt,  ihr  bei  der  Ausübung  ihres  Berufes 
als  geeignete  Unterlage  zu  dienen.  Angeblich  verliess  sie  niemals  ihr  Haus,  ohne 
diese  Matte  mit  sich  zu  führen. 


128.  Die  tempor&re,  gewerbsmässige  Prostitution.  475 

In  den  grösseren  Städten  ist  an  den  Häusern  der  Prostituirten  eine  Laterne 
aufgehängt,  welche  mit  dem  Wappen  des  betreffenden  Mädchens  geschmückt  ist. 
Es  giebt  besondere  Bücher,  in  welchen  diese  Laternen,  sowie  die  „  Wappen  **  und 
der  Schirm,  der  der  Prostituirten  vorangetragen  wird,  nach  Art  eines  Verzeich- 
nisses abgebildet  sind.  Fig.  244  giebt  eine  Probe  aus  solchem  Yerzeichniss  für 
die  betreffenden  Mädchen  in  Tokyo. 

Eine  gelegentliche  Hurerei  ist,  wie  gesagt,  ausserordentlich  verbreitet. 

Alle  Reisenden  in  Polynesien  stimmen  darin  überein,  dass  den  europäischen  See- 
leuten Mädchen  und  Weiber  durch  deren  Brüder,  Väter  oder  Gatten  zum  beliebigen  Gebrauch 
für  geringen  Entgelt  angeboten  werden.  Die  Weiber  schwammen  nackt  zum  Schifife  und 
stiegen  an  Bord,  und  ihre  Väter  oder  Brüder  instruirten  sie  über  den  Preis,  für  den  sie  ihre 
Gunst  hingeben  sollten. 

Elton  sagte  von  den  Salomons-Inseln:  Von  allen  ihm  bekannten  Einge- 
borenen sind  diejenigen  von  Ugi  und  Ghristobal  die  faulsten,  habgierigsten 
und  unmoralischsten.  Alle  jungen  Weiber,  von  der  Häuptlingstochter  bis  zur 
Sclavin,  prostituiren  sich,  und  in  Ugi  ziehen  die  Männer  für  die  Ehe  ein  Mäd- 
chen vor,  welches  in  dem  Geschäfte  gross  geworden  ist. 

Auf  den  Haawu-Inseln  im  malayischen  Archipel  hat  es  nach  RiedeV 
für  den  Fremden  keine  Schwierigkeit,  für  ein  Spielzeug  oder  ein  Geschenk  mit 
einem  noch  unbefleckten  Mädchen  zu  cohabitiren. 

Die  Männer  der  Haida-Indianer  unternehmen  mit  ihren  Frauen  all- 
sommerlich „Speculationsreisen  nach  Victoria,  woselbst  jeder  von  beiden  auf 
eigene  Faust  sein  Glück  macht,  und  sie  dann  gemeinsam  wieder  heimkehren.  Die 
traurigen  Folgen  äussern  sich  auch  bei  den  Weibern  in  verderblichen  Krankheiten.*^ 
(Jacohsen.) 

Bei  den  Burjäten  giebt  es  keine  Frau  und  kein  junges  Mädchen,  die  nicht 
bereit  wäre,  ihre  Reize  für  klingende  Münze  preiszugeben.  Eine  Folge  der  ge- 
schlechtlichen Ausschweifungen  sind  geheime  Krankheiten,  welche  in  den  Jurten 
der  Kerschinsker  Steppe  grassiren,  fast  unheilbar  sind  und  viele  Opfer  dahin- 
raflFen.     (Albin  Kohn.) 

Bei  einigen  Volksstämmen  geht  es  so  weit,  dass  die  Weiber  eigens  von  ihren 
Männern  des  Erwerbes  wegen  zur  Prostitution  gezwuugen  werden.  So  heirathen 
z.  B.  nach  Harrehomee  im  Lambongschen  Distrikte  auch  viele  Männer  zweite 
und  dritte  Frauen,  um  sie  gegen  Bezahlung  auszuleihen. 

Auch  fast  überall  im  äquatorialen  Afrika  betrachtet  man  das  Weib  als 
lucrativen  Besitz,  dessen  Reize  noch  mehr  eintragen  sollen,  als  die  Arbeit  des 
Sclaven.  Daher  sind  die  Ehemänner  gern  bereit,  ihre  Gattinnen  dem  Ersten  Besten 
zu  überlassen,  ja  sie  ihm  anzubieten;  denn  ist  der  Fremde  reich,  so  wird  er  zahlen, 
ist  er  aber  arm,  so  wird  er  der  Sclave  des  Gemahls.  Sprödigkeit  gegen  einen 
freigebigen  Liebhaber  würde  der  Gemahl  seiner  Gattin  mit  dem  „Kassingo''  in  der 
Hand  bald  austreiben. 

Wissmann  schrieb  aus  dem  Congo-Gebiete: 

^Der  schlaue  Songo  sendet  oft  sein  Weib  am  Abend  in  das  Lager  eines  Händlers  und 
wartet,  in  der  N&he  verborgen,  bis  der  Verabredung  gem&ss,  wie  um  zu  handeln,  sich  die 
Schöne  in  die  Hütte  eines  Tr&gers  begeben  hat.  Dann  erscheint  er  sofort,  um  den  Träger 
wegen  Verführung  seines  Weibes  anzuklagen  und  von  ihm,  je  nachdem  die  Karawane  gross 
oder  klein,  friedlich  oder  dreist  auftritt,  Bezahlung  für  das  ,Milong^*  zu  fordern.* 


123.  Die  temporäre^  gewerbsmässige  Prostitntion. 

Ganz  sonderbar  muss  es  uns  anmuthen,  wenn  wir  von  einigen  Volksstämmen 
erfahren,  dass  bei  ihnen  die  gewerbsmässige  Prostitution  von  den  gesammten 
Mädchen  des  Stammes  ohne  Annuilmie  ausgeübt  wird.    Das  dauert  aber  nur  eine 


476 


XVll  Die  Profltitution. 


bestimmte  Zeit,    und  wenn  sie  genügenden  Hurenlohn  erworben,    dann  g^ben  siel 
diese  scbmäbliche  Bescbäftigung  auf  und  kebren  in  das  bürgerliche  Leben  surück, 
um  nun  einen  ehrbaren  Wandel  zu  fübren: 

Herodot  erzählt  schon  von  den  L  y  d  e  r  n : 

tiEs  hubeu  die  Ljder  dieselben  Gebräuche,  wie  die  Hellen en«  tiusfior  dam  M  üum  . 
Töcbter  Hurerei  treiben  lassen.  Bei  dem  Volke  der  Lj der  geben  alle  die  Töchter  Hieb  prci«, 
um  eine  Mitgift  damit  zu  gewinnen,  und  sie  thun  dien,  bia  sie  sieb  verheirnthen^  indet;^  tje 
sieb  selbst  ausstatten.  Bewunderungswürdige  Gegenstände  zur  Aufzeichnung,  wie  sie  wohl  »uch 
in  anderen  Ländern  vorkommen,  enthalt  das  Lj  die  che  Land  gerade  keine,  auAgenomtnen 
den  Goldsand,  der  von  dem  Tmolua  herabgeführt  wird.  Nur  ein  Werk  findet  sich  datfilb^i. 
bei  Weitem  das  grosseste,  mit  Ausnahme  der  Aegyptischen  und  Babylonischen  Wtsrke; 
dort  nämlich  ist  das  Grabmal  des  Alifatk»^  des  Vaters  des  Kröiewi,  dessen  Grundla^  i^ui 
grossen  Steinen  besteht,  der  übrige  Theü  aber  ist  ein  Aufwurf  von  Erde.    Es  hatten  daoMlbe 


Ptg.  M5.    JOdGheu  »u 


aufgeführt  die  Marktleu te^  die  Sftolen  standen  noch  bis  auf  mein«  Zeit  nben  uuf  dem  Oiubanl 
und  war  an  denseJben  In  Schrift  eingegraben»  was  Jegliche  gearbeitet  hutien  an  dam  Bau. 
Und  wenn  man  es  ausmaas»,  so  erschien  der  Theil,  den  die  Dirnen  gearbeitet  batlitp,  aU 
der  grosseste/ 

Gauz  ähnlich^  wie  mit  den  Lydi sehen  Mädchen,  verhält  es  »«ich  auch  bmito 
noch  mit  dem  algerischen  Stamm  der  Uled  Kail,  von  deren  Verir^teritioca 
die  Figuren  245  und  246  Beispiele  vorführen.  Der  alte  Seh riflst eller  Vttleriuä 
Maxinms  betont  die  V  '   des    V^  ■  '^ua,   dem  die  1'T 


all*  Sicca  Veneria  b* 


egetid  b 


Nach  ibju 


.st 


Frauen  aus  guter  Familie  von  allen  Theilen  der  Provinz  hierher  zu  begeben,  um 
hier  durch  Prostitution  ihrer  pr-  -  -rh  eine  ihrem  Gatten  zuzubringende  Mitmft 
za    erwerben   und    ao   das    «ch  e  Gewerbe   ala  Mittel   zu   einem   ebrUcoeii 

Zwecke  auszubeuten.     Die  alte  btuüt  :Si«'ca  lag  in  dem  Gebiet,   v^»'  '  *U 

Goff  oder  Keff  bezeichnet  wird.     Hier  wohnen   jelit    die  Uled    N  d 


123»  Die  temporäre,  gewerbsmllseige  Prostitution. 


477 


sagt,  dass  sie  dea  bedeutendsten  Araberstamm  der  Sahara  bilden,  and  berichtet 
von  ihnen: 

yLee  Ould'NaTl  Bont  la  plös  convid^rable  do  cca  tiibus.  Ils  96  diviflent  an  deax  grnndes 
fraciions  nommeee,  h.  caiiae  de  leur  position,  Cheraga  ou  de  Test  et  Eeraba  ou  de  Touest. 
lU  sollt  industneux  et  commeryanta,  bona  et  hofirpitaliers,  mais  de  moeurs  forte  dissolues. 
Leora  filles,  tr^t*r^put^e«  pour  leur  beautt^,  jouiisent  du  triste  privilege  d'etre  Bacrifi6es,  d^9 
ieur  tendree  anneeä,  ä  la  Venus  banale.  La  Prostitution  dans  cette  tribu  est  une  v6ritable 
institution.  ChaquG  fille,  avant  de  se  marier,  ira,  en  coinpagiüe  de  aa  m^re  ou  d'une  eoeur 
afnee,  se  livrer  aux  caresaes  publique«.  Apr^a  avoir  (jIus  nn  moina  cauru,  elles  rentrent  dona 
la  tribu,  acb^tent  un  troupeau,  et  tost  d^autaDt  plus  aures  de  trouver  un  mari  que  la  aoninie 
qu^elles  ont  ramasa^e  est  plus  ronde.  Cet  eonrüaaneB  de  TAlg^rie  «ant  en  m^me  temps  de« 
danseuBea  fort  reput^ee.* 


W 


^4 


f'^Ä«^ 


m 


.<»krft  (Algerlan).    (Smeh  FhatogrnphI«.) 


Auch  V.  MaUzan  hat  diesen  Stamm  besucht  und  sagt  von  ihm: 
, Dieter  uralte  Sitten zug  dprNumidier  lebt  nocb  beute  bei  den  Stämmen  der  Sab ara 
fort.    Die  Mädcben  Yom  Stamme  der  Ouhid  KäjK  Najrliya  genannt,  und  auch  solche  Ton 
anderen  St3Lmmen.  pflegen  aicb  in  grosaer  Anzahl  in  die  vielfach  von  Fremden  und  Nomaden 
beaucbten  Oasen-Städte  zu  dem  Zwecke  zu   begeben,   um    dort   mehrere  Jahre   das  Geschäft  d 
einer  Alma  (ursprJin glich  Tänzerin)  zu  betreibeni  bii  sie  eich  so  viel  erworben  haben,  um  alt  { 
vermögende  Frauen  in  ihrer  Heimatb  einen   angesehenen  Gatten  bekommen  zu   können;    daa  < 
gelingt  ihnen  auch   fast  immer,  da  der  Wüsten  bewohn  er  nur  auf  die  Gegenwart,   nicht  aber 
auf  die  Antecedentien  seiner  Frau  eifersüchtig  zu  sein  pflegt.*     i\  MalUayi  kannte  hochange- J 
tehene    algerische    Stamm  es- Häuptlinge,   mit   franiösi  sehen   Orden  geschmücktT    welche 
aich  gar  nicht  schämten,   eine  solche  Frostituirte    zu   heirathen^   um    aus   dem    von    ihr   so 
schändlich  erworbenen  Gelde  Yortheil  zu  ziehen. 

Diese  Erscheinungen  sind  so  eigener  Art,  dasa  sie  eine  besondere  Mittheilung 
verdienten. 

Khodja  Omer  Ilaleby  sagt  hierüber: 

,La  K'ah'ba  (la  prostitution)  e»i  contxaire  aux  loia  de  VUlam  et  aux  principe«  moranx 
'de  pudeor  qui  doivent  nous  diriger  dans  nos  relatious  avec  la  femme.    Aussi  cette  proatitutioo 


478 


XVil.  Die  Prostitution. 


de  la  femme  etait-elle  inconnue  pendant  les  premiers  siäcles  qui  suivirent  la  pz^dieation  de 
Moliamed.  Si  donc  on  trouve  aujourdliui ,  dans  une  tribn  de  TAfriqae  sonmiae  auz 
Fran^ais,  des  filleR  qui  vont  faire  commerce  de  leur  corps  dans  les  grandes  villes,  pour 
revenir  apr^s  se  marier  et  s'installer  dans  lear  pays,  il  faut  ne  voir  dans  ce  fait  qa*im  ezemple 
d^plorable  de  la  profonde  ignorance  dans  laquelle  sont  tomb^  plusieurs  de  not  fr^res  et  de 
nos  soeurs.* 


124.  Zur  Geschichte  der  gewerbsmässigen  Prostitution  in  Europa. 

Ueber  die  Geschichte  der  Prostitution  hat  Diifoiir  ein  Werk  von  sechs 
Bänden  verfasst.  Der  Leser  wird  daher  nicht  erwarten  können,  dass  ihm  in  dieser 
Beziehung  hier  bei  dem  so  knapp  bemessenen  Räume  etwas  Erschöpfendes  geboten 
werden  könne.  Es  ist  nur  eine  flüchtige  Skizze,  welche  ich  zu  geben  im  Stande 
bin.  Aber  doch  kommt  sie  vielleicht  nicht  unerwünscht.  Denn  gerade  in  den 
civilisirten  Ländern  haben  sich  wohl  auf  keinem  Gebiete  die  jeweilig  herrschenden 
Anschauungen  so  wesentlich  geändert,  als  bei  der  gewerbsmässigen  Prostitution. 
Bald    auf   das    Aeusserste    geächtet    und   verfolgt,    bald    von    den    Fürsten,    den 

Magistraten  und  dem  Clerus  ganz  besonders  beschützt 
und  gefordert,  dann  wiederum  nur  eben  geduldet 
und  durch  strenge  Polizeimaassregeln  im  Zaume  ge- 
halten, hat  sie  doch  ihre  zähe  Lebenskraft  bewiesen, 
die  sie  bis  heutigen  Tages  in  Blüthe  erhielt.  Sie 
spiegelt  ein  Stück  Culturgeschichte  wieder,  wie  es 
wenige  andere  Dinge  vermögen.  Wer  sich  aber  ge- 
nauer zu  unterrichten  wünscht,  dem  werden  ausser 
dem  bereits  citirten  Werke  von  Dufour  auch  noch 
die  Schriften  von  RabiUaux^  Didaure  und  Lombroso 
befriedigende  Belehrung  bieten. 

In  Griechenland  und  speciell  in  Athen,  ist  es 
Sohn  gewesen,  welcher  die  Prostitution  einführte;  und 
auch  das  Hetärenwesen,  von  dem  wir  schon  sprachen, 
war  doch  im  Grunde  nichts  anderes,  als  eine  dem 
Culturzustande  des  Volkes  entsprechende  verfeinerte 
Prostitution.  Wenigstens  kann  man  Personen,  wie 
die  Fhryne^  etwa  als  ein  Analogon  jetziger  Zuhälte- 
rinnen oder  femmes  entretenues  auffassen,  die  nur  so 
lange  einem  angehören,  als  derselbe  sie  bezahlt.  Und 
daneben  bestand  bei  den  Hellenen  in  arger  Weise 
die  gemeine  Prostitution,  wie  aus  mehreren  Stellen 
des  Aristophanes  hervorgeht.  Von  den  öffentlichen 
Dirnen  und  den  Wollusthäusern  wurden  gesetzmässige 
Steuern  erhoben  zum  Besten  von  Tempeln  u.  s.  w. 
Wie  in  Griechenland,  so  trug  auch  in  Rom  der  Venus-Cult  nicht  wenig 
zur  Ausbildung  des  Prostitutionswesens  bei.  Die  Römer  hatten  öffentliche 
Freudenhäuser  (Lupanaria  und  Fomices),  sowie  selbständige  Lustdirnen  (Meretrices 
und  Prostibulae),  und  in  ihren  Bädern  pflegten  sich  feile  Frauen  einzufinden,  um 
die  Sinnlichkeit  für  ihr  Gewerbe  auszubeuten.  Ein  solches  antikes  Bordell  ist  in 
Pom))eji  wieder  aufgedeckt  worden.  Man  muss  aber  erstaunen  über  die  ausser- 
ordentliche Engigkeit  und  Kleinheit  der  Räume. 

Der  keusche  Sinn,  die  Sittlichkeit  und  Ehrbarkeit,  welche  den  Frauen  und 
Mädchen  der  alten  Germanen  in  hohem  Grade  eigen  waren,  gingen  zu  einem 
grossen  Theile  mit  dem  Eindringen  römischer  Cultur  und  in  der  Berührung  mit 
anderen  Völkern  verloren,  und  an  der  sich  steigernden  Entartung  der  Sitten  im 
Mittelalter  nahm  das  weibliche  Geschlecht  einen  hervorragenden  AntheiL  DJa 
Prostitution  nahm  ausserordentlich  überhand,  trotzdem  die  christlichen  Gesefe 


Fig.  247.  Italienische  Curtisaue 

aus  der  Zeit  Papst  Pitts  K 

(Nach   Cfsar,:  l'ccfiiio.) 


12i.  Zur  Gefichichte  der  gewerbsmässigen  Prostitution  in  Europa. 


479 


id  Regenten  dem  Uebel  anfangs  energisch    zu  steuern  suchten.     So  gab  Karl 
Grosse  in  seinen  Capitularien   das   erste  Beispiel   eiserner  Streng©   gegen   die 
Lustdimen   und   diejenigen,    welche   sie   Termietbeten.     Friedrich    L    Barbarossa 
rerbot  in   den   auf  seinem    ersten  Heeresznge   nach  Italien   im  Jahre  1158    er- 
lassenen sogenannten  PViedensgesetzen  den  Kriegsleuten  bei  strenger  Strafe,  Dirnen 
bei  sich  im  Quartier  zu  haben;   den   betroffenen  Weibspersonen   wurde   die  Nase 
abgeschnitten.     Aber   trotz  aller  Maassregeln,    mit  welchen  die  Unzucht   verfolgt 
rurde,  war  doch  nichts  häufiger  in  allen  Städten  als  liederliche  Frauen  und  Frauen- 
Häuser.     Und  hierzu  trugen  die  Kreuzzüge  wesentlich  bei.    Dann  entstanden  jene 
igdalenenorden,    von     denen     Sprengel 
dass  jedes  Mädchen,  die  des  sinnlichen 
Genusses    überdrüssig    war,    in  einen  solchen 
)rden  eintrat,   um  mit  Geschmack  und  Aus- 
rahl    ihren    Vergnügimgeo     nachgehen     zu 
)unen*      Im    12.   und    13.  Jahrhundert   er- 
lessen    die  Städte  Regulative  für  die  ofl'ent- 
ichen  lläuser,  so  Augsburg  1276  unter  dem 
Titel  .Verordnung   der  fahrenden  Fräulein*. 
>ie   coneesaionirten    Wirthe   solcher   Häuser 
zahlten   grosse  Abgaben;    in  Wien    gab  es 
zwei  Frauenhäuser  als  landesherrliche  Lehen, 
eren    Insassinnen    dem    Kaiser    bei    seinem 
Einzüge  feierlich  entgegenzogen. 

Johanna  J.,    Königin   beider  Sicilieo 
und  Gräfin  von    der  Provence,   stiftete   ein  W    •     '^ST^ 

lenirtige^  Mädchen kloster  in  Avignon.  Sie 
rar  damals  23  Jahre  alt.  Die  Statuten  des- 
elben  sind  noch  erhalten  und  werden  von 
Yreudenherg  wiedergegeben.  Es  heisst  darin: 
,1.  Im  Jabr@  1347  d^n  8.  August  bat  unsere 
jte  Königin  Johanna  erlaubt  *  ein  Miidcben- 
tlonter  zum  Vergnügen  des  PablikumB  in  Avig- 
non tM  errichten.  Sie  will  nicht  zugeben,  dosa 
ite  Weibsloute  aich  in  der  ganxen  Stadt 
I.  sondern  äie  befiehlt  ihnen«  sich  in  dem 
»Hein  aufzuhulten,  und  üe  will,  dosa  sie, 
m  kenntlicb  xu  seyn,  auf  der  linken  Schulter  einen 
Dthea  Ne«tel  (Hiische)  ü^en. 

2,  Wenn  ©in  Mädchen  einmal  schwach  ge- 
freiten ist  und  auiä  Neue  fortftibrt,  scbwacb  werden 

vollen,  so  soll  sie  der  Gericbtsdiener  bei  dem 
krme  nelimen  and  unter  Trominclacblug,  mit  der 
»then  Masche  auf  der  Schulter,  durch  die  Stadt 
Ibren  und  in  daa  Haus  bringen,  wo  ihre  küuf- 
^en  Gespielinnen  vereamuielt  aind.  Er  toll  ihr 
rbieten,  sieb  in  der  Stadt  antreflen  56u  laaien,  bei 
fife  im  ersten  üebertretungsfall  im  Gebeimen  gepeitschet,  im  zweiten  aber  dffentlicb  mit 
iitben  gestrichen  und  des  Landes  verwiesen  zu  werden. 

3,  ....    *   Es  soll  eine  Tbiir  daran  angebracht  werden,  durch  welche  Jedermann  ein- 
eben  könne:  nbrr  sie  soll  verschlossen  bleiben,  das«  keine  Mannesperaon  ohne  ErlaubniÄS  der 

^    alle  Jahr    durch    den  Stadtrath    neu    zu    erwählen    ist,    die    genestelten 

Die  Aebtissin  soll  den  Schlüssel  in  Verwahrung    haben,    und    die   jungen 

keinen  LUrmen  su  erheben«  noch   die  Madchen  zu  qu&lea;  denn   bei 

^.  .^-.   -.e  erhobenen  Klage  müssen  solche  «ogleich  in  den  Thurm  zum  Verhafl 

4,  r^*^*   u*r^^,*u  WlK^   ,5*    <jt4^  an  jedem  Sonnabend  die  Äebtiaain  und  ein  rom  Rath 
*>lhller   ^  han  untersuchen  sollen i  und  wenn  sich  darunter  eine  Jindet, 


Iv 


'1./ 


Fig,  '248.    TrossweH». 
(Nftoh  elDcm  anonymen  Sttcb  «tes  IC.  J»lirb  ) 
(Nach  //trik:) 


480 


XVII.  Die  PitMtitatioii. 


die  mit  einem  ani  dem  Beischlaf  entspringenden  üebel  behaftet  ist,  so  soll  man  ne  Ton  den 
Uebrigen  absondern  und  in  ein  besonderes  Gemach  thnn,  damit  eich  Niemand  ihr  nfihere.  mid 
der  Ansteckung  der  Jugend  vorgebeogt  werde*  n.  s.  w. 

Dieser  letztere  Paragraph  ist  von  ganz  besonders  gprossem  cnltargeschicht- 
lichem  Interesse. 

Auch  die  hohe  Geistlichkeit  schente  sich  ebenfi&Us  nicht,  das  Protectorat 
über  solche  Franenhauser  zu  fibemehmen,  gestützt  auf  einen  Aussprach  des  hei- 
ligen Thomas^  welcher  sagt: 

,Die  Prostitation  in  den  Städten  gleicht  der  Kloake  im  Palast:  schafft  die  Kloake  ab, 
und  der  Palast  wird  ein  unreiner  und  stinkender  Ort  werden/ 

Der  Erzbischof  von  Mainz  beschwert  sich  1422,  die  Stadt  ihue  ihm 
durch  Licenzen  Eintrag  in  seinem  Einkommen  an  den  gemeinen  Frauen  und  an 
der  Buhlerei. 

Nach  Schultz  beginnt  die  «Ordnung  der  gemeinen  weiber  in  den 
frauenhäusern'',  welche  vom  NQrnberger  Rath  im  15.  Jahrhundert  erlassen 
wurde,  mit  den  Worten: 

.Wiewol  ein  erber  rate  diser  stat  nach  loblichem  irem  herkomen  mer  genaigt  ist  ond 
sein  sol,  erberkeit  und  gute  sitten  zu  meren  und  zu  hauffen,  dann  sünde  und  strefflich  weeoi 
bey  ynen  zu  verhenngen,  jedoch  nachdem  umb  Termejdung  willen  merers  Übels  in  der  cristenn- 

hait  gemaine  weyber  von  der  heilichen  kirchen  geduldet 
werden  u.  s.  w.' 

Bei  besonderen  Gelegenheiten,  wie  bei  Reichs- 
tagen und  Concilien,  stellten  sich  Tagirende  Frauen 
schaarenweise  ein,  und  alle  Kriegszüge  der  damaligen 
Zeit  waren  immer  von  einem  gewaltigen  Trosa  yon 
fahrenden  Weibern  begleitet,  deren  Disdplin  of&ciell 
unter  die  Autorität  eines  Huren waibels  (gestellt  werden 
musste.  Bei  der  Beschreibung  eines  Heereszuges  heisst 
es  im  Farzival  (I.  459): 

Auch  Frauen  sah  man  da  genug; 
Manche  den  zwölften  Schwertgurt  trug 
Zu  Pfände  für  verkaufte  Lust. 
Nicht  Königinnen  waren  es  just: 
Dieselben  Buhlerinnen 
Hiessen  Marketenderinnen. 

Das  Concil  zu  Constanz  (1414)  lockte  nicht 
weniger  als  700  feile  Frauen  herbei,  und  nach  Schultz 
waren  im  Heere  KarVs  des  Kühnen  vor  Neuss  900 
Pfaffen  und  1600  Dirnen,  und  1476  sind  in  dessen 
Heeresgefolge  sogar  ge^en  2000  feile  Weiber.  Fig.  248 
fuhrt  uns  ein  solches  Trossweib  des  16.  Jahrhunderts 
nach  dem  Stiche  eines  unbekannten  zeitgenossischen 
deutschen  Meisters  vor. 
Beim  ersten  Reichstage  zu  Worms,  welchen  Carl  V.  abhielt,  waren  alle 
Strassen  dieser  Stadt  mit  schönen  Frauen  oder  mit  feilen  Dirnen  angeftlUt.  Nicht 
lange  nachher  folgten  dem  Heere,  welches  Herzog  Alba  nach  den  Niederlanden 
führte,  vierhundert  Buhlerinnen  zu  Pferde  und  achthundert  zu  Fuss  nach.  J,f 
Langwierige  Reisen  waren  im  Mittelalter  mit  grossen  Beschwerden  Ter- 
bunden;  daher  konnten  die  Fürsten  jener  Zeit,  wenn  sie  eine  solche  Reise  unter- 
nahmen, ihren  Gemahlinnen  und  Töchtern  nicht  zumuthen,  sie  zu  begleiten.  Nor 
öffentliche  Weiber  waren  abgehärtet  genug,  um  den  Fürsten  bei 
Heereszügen  zu  Fuss  oder  zu  Pferde  folgen  zu  können;  so  wurden  äa 
ein  nothwendiger  Theil  des  fürstlichen  Gefolges  und  im  Kriege  als  i 
behrlicher  Theil  des  Trosses  angesehen. 


Fiff.  249.    Prostitairte  aas  Bo 

log  na.    16.  Jahrhandert. 

(Nach  Cetare  Veceltio.) 


124.  Znr  Getchichte  der  gewerbsm&Migen  Proititution  in  Burop». 


481 


Mm 


Leotihard  Fronsperger  hat  in  seinem  Kriegsbuch  vom  Jahre  1578  von 
den  Pflichten  des  Huren weybela  einen  genauen  Bericht  entworfen: 

,ltem  wo  ein  aUrck  Regiment  o^er  viel  Hauffen  aeind,  da  ist  aach  der  Trogs  nicht 
klein,  dazu  gehört  ein  geechickter,  ehrlicher»  verstendiger  Krieg^mann»  wie  oben  auch  ange- 
zeigt worden,  nerolich  der  viel  Schlacht  vnnd  Siörm  bat  belffen  thun*  solcher  Wejbel  m\  von 
dem  Obersten  darzu  beatettigt  werden.  Es  gebürt  jm  auch  etwan  äein  eigen  Leutenani  vnd 
^Tendericht  wann  der  Trosg  alao  stark  ist.  So  gebürt  jm  Hauptmanns  Besoldung,  seinen  Leute- 
isant  vnd  Fenderichen»  wie  ander  zu  entrichten »  denn  nicht  wenig  dem  gantzen  Hauffen  daran 
gelegen,  derwegeu  ein  solcher  Weybel  wissens  soll  haben,  solche  Hauff'en  zu  regieren  vnnd  zu 
fahren,  gleich  wie  man  ander  rechte  oder  verlorne  Hauffen,  ordnen  vnd  faliren  soll,' 

Er  mu88  dafür  sorgen»  daas  sie  nicht  die  Zöge  der  Eriegstruppen  im  Marsche  behindern, 
dase  sie  nicht  vor  diesen  in  das  Lager  kommen,  wo  sie  den  Kriegern  alles  Brauchlmre  fort- 
nehmen würden.  Ausserdem  aber  mugs  er  darauf  sehen,  daas  die  Huren  und  Buben  die 
Pl&tse  beim  Lager  reinigen,  die  für  die  Defakation  vorgeschrieben  sind,  und  ferner: 

.dass  sie  ge treu wl ich  auff  ihre  Herrn  warten,  sie  nach  notturfft  vorsehen,  die  gemeinen 
^Weiber  mit  kochen,  fegen,  waschen,  sonderlich  der  Kranken  damit  zu  warten,  sich  dess  nicht 
weigern,  sonst  wo  man  zu  Feld  vor  oder  in  Besatzungen 
ligt,  mit  beben digkeit  lauffen,  rennen,  eynschenken,  Fütte- 
rung, essende  vnd  trinckende  Spei^  zu  holen,  neben  anderer 
notturfft  sich  bescheidenlich  wissen  zu  halten,  auff  der  reyen 
oder  sonst  nach  Ordnung  zn  stehen,  gelegener  Mürckt  sich  ge^ 
brauchen  vnd  halten.* 

Unter  dem  Huren  weybel    steht  dann    noch   der  Rumor* 
Imeister,   der   ebenfalls  Ordnung  und  Frieden  stiften  muss; 

„Wo  es  aber  nicht  statt  haben  wollte,  so  hat  er  ein 
|Ieicher,  ist  vngefehrlich  eines  Arms  lang,  damit  hat  er  ge- 
lt von  jren  Herrn,  so  jm  zuvor  vbergeben,  sie  zn  straffen. 
"fiblehe  Büren  vnd  Buben  werden  als  denn  sonst  auch  one  da», 
darneben  für  wol  essen  vnd  trincken,  mechtig  vbel  geschlagen, 
ehe  sie  solches  jhrea  Ampts  recht  gewonen»  der  guttbaten  sie 
wenig  geniessen,  welche  jhnen  dem  zuvor  versprochen,  man 
muss  aber  dem  Thuch  also  thun,  es  verleuret  sonst  die  Färb, 
würden  der  faulen  Schwengel  vnd  Huren  gar  zu  vieL" 

Wir  ersehen  aus  Fronspertjer^s  Angaben,  da8§ 
diese  Weiber  nicht  einzig  und  allein  des  Geschlechti!» 
genufises  wegen  mit  dem  Heere  mitzogen,  sondern  das« 
auf  ihren  Schultern  auch  noch  viele  andere  Pflichten 
lasteten. 

Ludwiff  der  f ledige  war  der  einzige  König  des 
Mittelalters,  der  zwar  Bordelle  in  seinem  Reiche  duldete, 
sie  jedoch  auf  seinem  Krenzzuge  streng  untersagte. 
Die  anderen  Fürsten  vor  und  nach  ihm  trösteten  sich 
in  den  Annen  von  Buhleriunen  Ober  die  Trennung  vom 
Hause:  die  vielen  Hunderte  von  Dirnen,  welche  den  Kriegsschaaren  folgten,  galten 
ihnen  als  Harem,  aus  dem  sie  sich  das  Beste  aussuchten.  Die  Schriftsteller  jener 
Zeit  sahen  in  solchem  Gebahren  nichts  Besonderes,  nur  das  fanden  sie  tadelns- 
werth,  dass  die  Könige  bisweilen  die  von  ihnen  geliebtjen  Buhlerinnen  wie  Prin- 
zessinnen herausputzten  und  in  die  Gesellschaft  erlauchter  und  edler  Frauen  ein- 
führten, so  dass  die  eigenen  Gattinnen  in  Gefahr  kamen,  öffentlichen  Mädchen 
den  Kuss  des  Friedens  bieten  zu  müssen. 

In  den  Städten  besuchte  man  die  Bordelle  ohne  Scham  und  Scheu.  Be- 
dankt sich  doch  der  Kaiser  Sigismmid  bei  den  Beruern  »vor  Fürsten  und  Herren*, 
diktö  der  Ratb  sein  Gefolge  drei  Tage  lang  unentgeltlich  in  den  Gäsalein  der 
schün»^n  Frauen  bewirthet  habe;  und  als  er  einst  in  Ulm  war,  konnte  er  sich  nicht 
enthalten,  selbst  das  Frauenhaus  zu  besuchen.  Mit  dieser  Begünstigung  käuflicher 
Wollust  verband  sich  ein  schmählicher  Menschenhandel;  Rostocker  Kaufleute 
»  'Tnnze  Ladungen  fahrender  W^ eiber  zu  den  Häringstangern  auf  Schonen; 

\  Dm  Wflib.    C.  iLuA.    I.  31 


Fig   25<J,    Prost  ituirte  von 
Eli  od  OS.     16,  J&brhunilert. 


482 


XVU.  Die  PnMiitiitioii. 


schwäbische  Dirnen  worden  nach  Venedig,  ylämische  nach  London  gebndit 
und  galten  dort  als  gute  Waare. 

Den  feilen  Weibern  waren  gewohnlich  besondere  Strassen  zum  Wohnen  an- 
gewiesen. Häufig  lagen  sie  der  Stadtmauer  nahe  oder  dicht  neben  KlSafceni.  Yen 
vielen  kann  man  nach  den  erhaltenen  Urkunden  ziemlich  genau  die  Stelle  angeben, 
wo  sie  sich  einstmals  be£Emden.  Diesen  Stadttheil  durften  sie  |{ew5hnlid[i  nicht 
verlassen,  wo  es  ihnen  aber  erlaubt  war,  in  der  Stadt  sich  zu  zeigen,  muasten  aie 
sich  durch  eine  besonders  vorgeschriebene  Tracht  kenntlich  machen.  Das  Ter- 
hältniss  zu  ihrem  Wirthe  und  dasjenige  dieses  Letzteren  zum  Uagistrat  war  durch 
strenge  Verordnungen  geregelt. 

Die  von  der  Behörde  vorgeschriebenen  AnzQge  dieser  Weiber  boten  je  nach 
den    Zeiten    und   Orten   allerlei   unterschiede   dar.     Man  kann  sie  aber  in  zwei 

Hauptgruppen  theilen.  Das  eine  Mal  sollte  der  An- 
zug so  keusch  und  so  veriiOllend  wie  möglich  sein; 
das  andere  Mal  aber  sollte  er  durch  das  AufCEÜlende 
seiner  Erscheinung  sofort  die  Aufinerksamkeit  der 
Männer  erregen.  In  dem  berühmten  Kostüm -Werk 
des  16.  Jahrhunderts  von  dem  Venezianer  Cesare 
Vecellio  sind  uns  aus  beiden  Ghruppen  Beispiele  er- 
halten. Zu  der  Gruppe  der  «Verhüllten*  gdiört  die 
Cnrtisane  aus  der  Zeit  des  Papstes  Pius  V.  (1565) 
(Fig.  247)  und  die  Prostituirte  aus  Bologna  (Fig.  249); 
der  Gruppe  der  ,  Auffallenden '^  gehören  die  Prostituirte 
von  Rhodos  (Fig.  250)  und  die  Venezianische 
Meretrix  an,  welche  Fig.  251  wiedergiebt. 

In  einzelnen  Städten  wurde  streng  befohlen,  keinem 
Priester  und  keinem  Ehemann  den  Eintritt  in  ein 
Frauenhaus  zu  gestatten,  und  Juden  durften  unter 
keinen  Umstanden  hinein.  In  der  oben  citirten  Ver- 
ordnung f&r  Avignon  lautet  der  letzte  Paragraph: 

.Femer  ist  es  der  Königin  Wille,  daas  die  Aebtinin 
keinem  Jadenden  Eintritt  in  dieses  Hans  verstatte.  Schleicht 
sich  dessen  ungeachtet  einer  listigerweise  ein,  und  macht  sich 
mit  einer  Elosterjungfer  ku  schaffen,  so  soll  er  in  Verhaft  ge- 
nommen und  sofort  dorch  alle  Strassen  der  Stadt  gepeitscht 
werden.* 

Die  Insassinnen  der  Frauenhäuser  bildeten  eine 
eigene  Zunft,  aber  sie  konnten  es  doch  nicht  vermeiden, 
dass  ihnen  allerlei  Goncurrentinnen  erwuchsen.  Nament- 
lich waren  es  die  Badehäuser,  in  welchen  die  weibliche 
Bedienung  sich  den  Gästen  gefallig  erzeigte.  SchuUs 
citirt  den  folgenden  Vers: 

«Und  von  dem  foorstuck  süll  wir  gann 

Dann  von  zu  dem  bade. 

Lade  wir  die  h&bschen  fräwlin  dar  swar, 

Das  sy  reiben 

Und  Tertreiben 

Uns  die  weil. 

Njemant  ejl 

Von  dannen  vast: 

Er  rast 

Damach  als  eine  f&rste. 

Sj,  baderin 

Nun  besjnn 

Und  gewynn 

Jedem  nach  ^«  rOeches  pelte 


Fig.  föl.     Prostitairte  aas 

Venedig.     16.  Jahrhundert. 

rNach  Cesare  Veeetlio.) 


lii.  Zar  Oeschicbte  der  gewerbsm&egigen  Proatitution  ia  Europa. 


483 


Auch  vornehme  Damen  entblödeten  sich  nicht,  sich  an  aoleher  Concurrenz 
zu  betheiligen,  denn  nach  ÄVArrr'^  ,ist  es  urkundlich  bezeugt,  dasa  ura  1476  zu 
Lübeck  vornehme  Bürgerinnen,  das  Antlitz  unter  dichtem  Schleier  bergend, 
Abends  in  die  Weinkeller  gingen,  um  an  diesen  Orten  der  Prostitution  unerkannt 
messaliniscbea  Lüsten  zu  fröbnen/ 

Ganz  besonders  gefahrliche  Concurrentbnen  scheinen  aber  die  Nonnen  ab- 
gegeben zu  haben.     Hans  Rosenphlt  singt; 

«Die  gemeynen  weib  clagen  auch  ir  ordea, 
Ir  weyde  §ey  vil  lu  mager  wordeo, 
Die  winke!  wejb^r  und  die  hansmejde, 

Die  fretzen  tegÜch  ab  ir  weide 

Auch  clagen  sie  über  die  closterfrawen, 

Die  können  so  hübschlich  über  die  snur  bauen, 

Wenn  eie  2U  ad  er  la^en  oder  paden, 

So  haben  «ie  junkher  Conradeti  geladen,* 

Uans  Ilolbeins  berühmter  Tod  teutanz  führt  uns  diese  Verhältnisse  vor. 
i  Der  Tod  holt  die  Nonne  ab,  welche  in  ihrer  Zelle  betend  vor  dem  Altare  kniet« 
'  Sie  wendet  aber  ihren  Kopf  einem  jungen  Manne 
jxu,  welcher  auf  ihrem  Bette  sitzt  und  ihr  auf 
jder  Mandoline  etwas  vorspielt.     (Fig.  252.) 

SchtdtJSf    welcher    den    obigen   Vers    citirt» 
[fShrt  dann  fort:    ^Ja  die  Obrigkeit  erkannte  ihr 
fgutes  Recht    auch    an    und    gestattete  ihnen  Re- 
pressalien : 

,loOO,  Uem  danach  an  selben  tag*  (November  26)  i 
erzählt  Htinrich  DHchaler,  ,da  kommen  acht  gemaine 
waib  hin  aunifi  dem  gemaiaen  fruweahaus  zam  bnrgor- 
maieter,  Matklhnrt  Wendel  und  sagten»  ee  wer  da  unter 
der  vesten  des  Kolhenhauti  ein  taibor  (Blockhaue)  vollür 
haimlicher  burn,  und  die  wirtin  hi(?1t  eemener  in  einer 
ftuben  und  in  einer  andern  jung  gesellen  tag  und  nacht 
und  Meas  $ie  puberei  treiben,  und  paten  iu^  er  aolt  in 
geben,  Bie  wollten  sie  auiitünnen  und  wollen  den 
Eitaiber  zubrechen  und  zerstören,  er  gab  ia  laub; 
da  stürmten  sie  das  HauSf  stieftsen  die  tür  auf  und 
schlugen  die  Ofen  ein,  und  »e  zerpmchea  die  renster- 
gleser  und  trug  jede  etwas  mit  ir  davon,  und  die  vogel 
warn  ausgetlogen,  und  aie  schlugen  die  alte  huritwirtin 
gar  greulichen.* 

In  manchen  Bordellen  herrschte  im  17.  Jahrhundert  die  Sitte,  dass  in  dem 
Empfangszimmer  an  den  Wänden  die  Portraits  der  Insaüsinnen  aufgehängt  waren. 
Nach  dieser  Musterkarte  traf  der  CTast  seine  Wahl.  Ein  alter  Stich  (Fig.  253) 
führt  uns  diese  Scene  vor.  Es  handelt  sich  um  das  berühmte  Bordell,  welches 
damals  in  Brüssel  unterhalten  wurde  und  das  den  Namen  Ia  Schoon  Majken 
führte.  Näheres  darüber  findet  sich  bei  Ftancisfjue  und  Fournier  in  ihrer  Histoire 
[des  Hotelleries  u.  8*  w, 

Freiulenherg  schreibt  im  Jahre  1790 ; 

«Heutiges  Tage^  ist  in  allen  grossen  europäiBchen  Haaptfitädten,  wo  Bordelle  ent- 
privilegirt,  oder  atillachwei gen d  geduldet  werden^  ihre  Einrichtung  und  die  Aufsicht 
dieselben  äusserst  mangelhaft.  Wenigstens  stehen  tie  nirgendei  als  in  Berlin  unter 
einer  besonderen  gesetzlichen  PoUzeieiariehtung*  Diese  bestand  ehemali  (daa  war  vor  1792) 
aas  folgenden  Punkten: 

1.  Gesetzlich  erlaubt  ist  diese  Wirthschaft  freilich  nicht,  sie  wird  aber  aar  als  noth- 
iwoadtgc«  Uebel  geduldet. 

2.  Jeder  Wirth   ist  Torpäichtet,   «obald  ein  H&dchea  von  ihm  geht,    e«  dem  VierteU 
MffiuA  tu  melden.    Ebeniao,  wenn  er  ein  neues  erhIÜt 

81  • 


Ki«.  252.    Die  Noniit*  an»  Mi**  ^.»^ 


484 


XVIL  Die  Prostitution. 


8.  Kein  Wirth  darf  mehrere  MMcben  in  seineoi  Ilaüäd  halten,  als  in  seinem  SaBlimct« 
sieben.  .   .    . 

4.  Die  Gesundbeit  der  SchwErmer  sowohl,  ala  auch  der  Mädchen  selbst  su  erkalti 
musa  in  jedem  Viertel  alle  14  Tage  ein  daxu  bestellter  Chirurgus  forensi«  ftUe  M&dcbiQ  dti 
Art  in  seinem  Viertel  visitiren  n,  s.  w.* 

Wie    es    in    solchem    Hause    zuging,    das    schildert    uns    ein   Gem»Ide    i»t 
Niederländers  Jan  Sanders,   genannt   Jan  van  HemtisscUf   welches  da«  kg 
Museum  in  Berlin  besitzt     Es   trägt  die  Bezeichnung :    eine   Instige    de* 
Seilschaft.     In  Fig.  254  gebe  ich  eine  Nachbildung  desselben.    Eine  iibnlioh^ 
Darstellung  besitzt  die  Krmigliche  Gemälde-Galerie  in  Kopenhagen. 


P, 


IN. 


^    /  ^ 


Flg.  259.    V9S  Bordell  l»8cbooti  Mnjkeu  iu  Brliiiel    (17,  Jultrli ändert.) 

Der  anonyme  Verfasser  der  „  Li  t^  r  1 1  a  i  ü  c h e  n  dächte"  schildert  Docb  I 
Jahre  1803  eine  Festlichkeit  »bei  Einweihung  der  dritten  neuen  El] 
in  dem  Uause  der  freiniüthigen  Schwertern  in  der  Fr,  Strasse*. 

Jetzt  ist  seit  vielen  Jahrzehnten  in  Berlin  das  Holten  von  Bordelleii 
boten  und  auch  in  dem  übrigen  Deutschland  herrecht  seit  ungefähr  20  Jahf 
das  gleiche  Verbot.  Aber  trotz  aller  strengen  üeberwachung  hat  «ich  weder  ial 
Deutschland  bisher»  noch  auch  in  den  andern  Staaten  Europas  die  PfoüHhitioül 
unterdrücken    lassen,    und    neben    den    concessionirteu  und  von  d»'r  Sat  zeif 

tiberwachten  Personen    fristet  dit*  Winkelhurerei   noch   ungesrhiAürbt   il 
gefährliches  Dasein. 


125.  Die  Torhatuttg  der  Proitltittlon. 

der  Pai 

^  da*«  fr. 


486  XVIL  Die  ProsUtotion. 

durch  YerbrennoDg  festgesetzt  war.  (1.  Moses  38.)  Aber  mit  den  Prostitiiirtai 
der  Nachbarstämme  Hessen  sich  die  Manner  bisweilen  wl  In  spüerai  Zeiten 
war  aber  auch  bei  den  Juden  die  Hurerei  nicht  zu  unterdrQcken,  und  die  Priester 
durften  sogar  für  das  Heiligthnm  Geld  oder  andere  Gteschenke  annehmoi,  welche 
durch  die  Prostitution  erworben  waren. 

Uneingedenk  des  oben  citirten  Ausspruches  des  heiligen  Thomas  ond  trotz 
des  Ton  dem  Kirchenvater  Augustinus  angestellten  Satzes: 

«Hebt  die  Prostitution  auf  und  ihr  werdet  üboull  ünordnniig  sehen* 
haben  in  Europa  im  Mittelalter  doch  wiederholentlich  weltliche  und  Kirchen- 
fQrsten  den  Versuch  gemacht,  die  Prostitution  zu  unterdrQcken.  An  raffinirter 
Grausamkeit  hat  es  dem  damaligen  Zeitgeiste  entsprechend,  wie  man  erwarten 
kann,  nicht  gemangelt.  Nicht  selten  wurden  die  Prostituirten  öffentlich  gepeitscht, 
so  unter  Karl  dem  Grossen^  aber  auch  schon  unter  dem  Westgothen- König 
liecareth,  welcher  300  Ruthenhiebe  fQr  sie  festgesetzt  hatte.  In  manch«  Orten 
wurden  sie  schmachToU  durch  die  Stadt  gef&hrt,  bisweilen  nackt  und  Terkehrt  aof 
einem  Esel  sitzend.  In  England  bewarf  man  sie  dabei  mit  Schmutz  (oletnm 
et  stercusj. 

Aus  Toulouse  berichtet,  nach  Rabutaux^  Jousse  das  Folgende  über  die 
Behandlung  der  Prostituirten: 

,Oii  coDduit  ä  lliötel-de-ville  celle  qai  est  condamD^  poor  ce  crime;  Texäciiteiir  Ini 
lie  les  mains,  et  la  coiffe  d'on  bonnet  fait  en  pain  de  sucre,  om^  de  plumes,  arec  an  teiteaa 
derriere  le  dos.  Sar  cet  ^riteau  on  lisait  la  T^ritable  qnalification  de  la  conpable  .... 
Ensuite,  eile  est  conduite,  prei  le  pont,  sor  on  rocher  qui  est  an  milien  de  la  liTi^re;  Ik  on 
la  fait  eotrer  dans  une  eage  de  fer  faite  expr^  et  on  la  plonge  ä  trois  fois  diflS^rentes,  et  on 
la  laisse  pendant  qaelque  temps,  de  maniere  cependant,  qn*elle  ne  poisse  ßtre  soffoqa^,  ee 
qui  fait  an  spectacle  qui  attira  la  coriosit^  de  presque  tons  les  habitants  de  cette  rille. 
Cela  fait,  od  condait  la  femme  on  la  fille  k  Thöpital,  oü  eile  est  condamn^  ä  passer  le  reste 
de  ses  joors  dans  le  quartier  de  force.* 

Ein  ganz  ähnliches  Verfahren  wurde  auch  in  Bordeaux  geQbt. 
•    Aber  auch  dort,  wo  die  Mädchen  geduldet  wurden,  Terfielen  sie  in  Strafen, 
wenn  sie  sich    den    Ober   sie  verhängten  Bestimmungen  und  Verordnungen   nicht 
f&gten.     Schulte  citirt  in  dieser  Beziehung  aus  einem  Fastnachtsspiele  den  folgen- 
den Vers: 

,Ich  hab  aber  des  auch  nit  Tergessen, 

Dass  du  selb  bist  bj  der  laden  gsessen 

In  gelben  huomhus  mee  dann  zehen  jar, 

Kempt  von  Strassborg  nss  der  schwanzgass  dar. 

Du  wärest  gemeinlich  die  heerhuor  genennt. 

Man  hat  dich  oueh  z  Strassburg  geschwemmt, 

Und  bist  euch  fast  kum  worden  erbätten; 

Und  wo  sy  dich  möchtend  betr&tten, 

So  wurdest  du  von  inen  ertrenkt.* 

Man  suchte  dem  Krebsschaden  aber  auch  dadurch  zu  Leibe  zu  gehen,  dass 
man  mit  unerbittlicher  Strenge  auch  gegen  die  Wirthe  und  Wirthinnen  einschritt, 
welche  Prostituirte  bei  sich  unterhielten.  Stäupung,  Brandmarkung  mit  dem 
GlQheisen,  Verbannung  und  Confiscation  ihres  Eigenthums  spielen  hierbei  eine 
grosse  Rolle.  Im  Wiederbetretungsfalle  wurde  auch  wohl  die  Hinrichtung  ver- 
fbgt.  Auch  Ludteig  IX.  von  Frankreich  machte  sehr  energische  Versuche,  durch 
eine  unnachsichtliche  Strenge  die  Prostitution  in  seinem  Lande  auszurotten.  Aber 
Rahutaux  bemerkt: 

,Le  Saint  roi  manqua  son  but,  et  le  mal  empira.  L'ordonnance  fiit  ex^ntte  avec 
rigueur.  La  Prostitution  clandestine  succeda  ä  la  prostitution  jusqu^ä  un  ceiiain  pqint  sor» 
veilld;  eile  n*en  fnt  ni  moins  active  ni  moins  scandaleose;  les  femmr- 
plus  en  süret^  dans  des  villes  oü  les  filles  pnbliques  4taient  oblig^ 
se  confondre  avee  elles,  celles-ci  d^ailleors,  activement  poorsuiviee,  se 


125.  Die  Yerbütung  der  Prostitation. 


487 


pagnes  et  lee  corrompiretit,  et  apr^s  deux  ans  d'esaai,  il  fallut  tol^rer  nn  fl^aa  qu*oii  ne  poo* 
vait  vaincre.* 

Ludwig  IX,  sowohl  als  auch  sein  Nachfolger  wurden  trotz  aller  erneuten 
Versuche  dennoch  der  Prostitution  nicht  Herr  und  mussten  sich  schliesslich  damit 
begnUgen,  sie  durch  scharfe  Straf bestimmungen  einzuhegen* 

In  den  eivilisirten  Staaten  der  Gegenwart  hat  man  sich  in  immer  erhöhtem 
Grade  um  die  Einschränkung  der  Prostitution  bemüht.  Aus  zwei  Motiven  sah 
sich  der  moderne  Staat  genothigt,  dem  Prostitutionswesen  beschränkend  entgegen 
zvi  treten:  einestheils  ans  Gründen  der  öffentlichen  Moral^  auderentheils  aus 
sanitären  Rücksichten;  das  eine  Mal  wurden  Sitten-Bureaux  zu  solchem 
Zwecke  angeordnet,  das  andere  Mal  hat  die  Medicinal-PoUzei  den  Auftrag 
erhalten,  die  Prostitution  als  schlimmste  Verbreiterin  syphilitischer  Erkrankungen 
zu  überwachen.  Die  legislatorische  Praxis  hat  dabei  verschiedene  Wege  einge- 
schlagen. Im  Allgemeinen  beobachtet  man  zwei  entgegengesetzte  Systeme:  auf 
der  einen  Seite  die  , bedingte  Toleranz*,  auf  der  anderen  Seite  die  gew^altigsten 
Anstrengungen  zur  Unterdrückung  der  Prostitution.  Man  erkannte  mehr  und 
mehr,  dass  die  heimliche  wie  die  offene  Prostitution,  die  in  allen  grossen  Ver- 
kehrsplätzen auftritt^  das  sociale  Leben  unbedingt  als  grosse  sociale  üebel 
schädigen.  Allein  beide  Arten  der  Prostitution  wirken  in  verschiedenem  Grade. 
Wie  überall  die  geheime  FVostitution  in  umgekehrtem  Verhältnis«  zur  öffentlichen 
steht,  so  herrscht  jene  dort  am  zügellosesten  und  ausgebreitetsten»  wo  letztere 
gar   nicht    besteht    und    die  Abzugskanäle    der  Unlauterkeit   fehlen.      Sie    steckt 

Idann  alle  Gesellschaftsklassen  an,  und  selbst  das  Familienleben  wird  von  ihrem 
Geist  ergriffen. 
Auf  der  anderen  Seite  wurde  freilich  dem  Bordellwesen  der  Vorwurf  ge- 
macht, dass  aus  einem  Bordell  der  Rücktritt  eines  reuigen  Mädchens  in  eine  ge* 
ordnete  Lebensweise  schwer  möglich  ist.  Und  auch  schon  in  dem  Mittelalter  be- 
gegnen  wir  bestimmten  Vorschriften  und  Verordnungen,  welche  es  zum  Zwecke 
■iben,  die  Insasnen  der  offentliehen  Häuser  in  pecuniärer  Unabhängigkeit  von 
InTen  Hurenwirthen  zu  halten,  damit  sie  sich,  wenn  sie  die  Reue  packt,  der 
Machtsphäre  ihrer  Arbeitgeber  entziehen  können. 

Ein  fernerer  Vorwurf  gegen  das  Bordellwesen  liegt  darin,  dass  die  Unter- 
halter dieser  Häuser  mit  List  und  Gewalt  und  durch  allerlei  Intriguen  unbeschol- 
tene Mädchen  in  ihre  Gewalt  zu  bringen  suchen,  denen  dann  die  Verzweiflung  und 
die  Scham  den  Rücktritt  in  geordnete  Verhältnisse  unmöglich  machen. 

Und  was  für  Niederträchtigkeiten  ausgeführt  werden,  um  neuen  Nachwuchs 
für  dieses  unglückliche  BordelUeben  zu  erhalten,    da«   haben   zur  Genüge   und  in 
erschreckender  Weise  die  Enthüllungen  der  Pall-Mall-Gaselte  zu  zeigen  vermocht. 
Auch  hiergegen  kämpfte  man  im  Mittelalter  an,   wie  sich  aus  vielen  Straf- 
androhungen ersehen  läset     Im  Jahre  1357  w^urde  z.  B.  eine  gewisse 

,^  Y^ahtlhy  qui  av&it  vendu  uno  jeune  fille  4  une  cbanoine,  apr^s  avoir  ^t^  ejcpo»ee  «ur 
uae  dchelle,  et  lä  tourment^e  et  bruKe  avec  utie  torcbe  ardetite,  fut  bannie  de  la  terre  ou 
ella  avaia  commia  son  crirao.*     fRalmUinxJ 

Gerade  in  den  letzten  Jahren  ist  eine  weitausgebreitete  Strömung  entstandent 
welche  unter  dem  Namen  der  Aböl  itio  nisten  in  einer  zwar  wohlgemeinten^ 
aber  auf  falschem  Gebiete  angewendeten  Philanthropie  gegen  die  polizeiliche  Ein- 
schreibung und  Ueberwachung  der  Prostituirten  energisch  Front  zu  machen  sucht. 
Ich  kann  hier  auf  ihre  durch  eine  fehlerhafte  Statistik  gestützten  Erörterungen 
nicht  näher  eingehen  und  ich  muss  auf  die  wichtige  Arbeit  Taniowsky^H'  Über  diesen 
Punkt  verweisen.  Die  unendlichen  Gefahren,  welche  die  Forderungen  der  Aboli- 
tionisten  in  sich  begreifen,  denen  unfehlbar  eine  Durchseuchung  aller  ciTilisirten 
Nationen  mit  der  Syphilis  in  einer  bisher  ganz  ungeahnten  Ausbreitung  folgen 
würde,  findet  man  dort  auseinandergesetzt.  Die  Prostitution,  wie  die  Abolitio- 
«ten  dießes  erwarten,  würde  aber  darum  nicht  aus  der  Welt  verschwinden* 


488  XVII.  Die  Prostitution. 

,Die  Prostitution,  sagt  Tamotosky^f  wird  in  dieser  oder  jener  Gestalt  weiter  beeteheiiy 
da  unabhängig  von  Veränderung  der  socialen  Verhältnisse  hier  noch  eine  ganze  Reihe  anderer 
Factoren  in  Rechnung  kommt  —  Einfluss  des  Klimas,  der  Rasse,  der  Erblichkeit,  der  Lebern- 
weise,  der  Erziehung,  des  Beispiels  der  Eltern  u.  a.  — ,  Factoren,  die  wir  nur  zum  Theil  und 
meistens  nicht  genügend  oder  gar  nicht  kennen,  krafb  deren  das  geschlechtliche  BedflrfiiiM  der 
Menschen  in  äusserst  verschiedener  Mächtigkeit  und  Intensität  entwickelt  ist,  ebenso  wie  die 
Befähigung  zur  Enthaltsamkeit,  zum  Unterdrücken  leidenschaftlicher  Impulse,  zur  Aneignniig 
moralischer  Principien  u.  s.  w.  Die  Zeit  der  geschlechtlichen  Reife,  die  Kraft  und  Intensität  des 
Geschlechtstriebes  sind  ebenso,  wie  die  moralische  und  physische  Individualität  überhaupt,  bei 
verschiedenen  Menschen  äusserst  mannigfaltig  und  lassen  sich  nicht  einer  sittlichen  Theorie 
zu  Gefallen  auf  ein  gemeinsames,  unveränderliches  Maass  zurückführen.  Geschlechtliche  Ent- 
haltung wird  von  Einem,  dank  angeborener  Eigenschaften  seines  Organismus,  gut  yertrsgen, 
während  ein  Anderer  dadurch  veranlasst  wird,  Befriedigung  der  ihn  verzehrenden  Glnth  in 
weiblicher  Umarmung  zu  suchen,  oder  Sinnestäuschungen,  wie  diejenigen  des  heiligen  AntoniuB, 
oder  dämonomanischen  Hallucinationen  unterliegt,  oder  endlich  durch  Onanismus  unrettbar 
zu  Grunde  geht.* 

Uebrigens  tritt  Tamowsky^  auch  der  optimistischen  Annahme  entgegen, 
dass  die  Prostituirten  sich  bessern  würden.  Er  zeigt,  Mrie  ganz  verschwindend 
die  Erfolge  der  sogenannten  Magdalenenstifte  selbst  unter  der  menschenfreund- 
lichsten Leitung  sind,  wie  die  Mädchen  in  die  Bordelle  zurückkehren  und  wie  rae 
selbst,  wenn  das  Schicksal  sie  in  eine  glückliche,  sorgenlose  Ehe  geführt  hat, 
dennoch  nach  einiger  Zeit  den  Gatten  verlassen  und  wiederum  zu  einer  Bordell- 
wirthin fliehen. 

Es  liegt  nicht  in  dem  Rahmen  dieser  Arbeit,  zu  untersuchen,  welche  Ge- 
setze und  Polizeiverordnungen  die  modernen  Staaten  in  dieser  Angelegenheit  er- 
lassen haben;  das  muss  einer  staatsrechtlichen  Monographie  über  dieses  hygienisch 
so  wichtige  Thema  überlassen  bleiben.  Wir  müssen  aber  noch  unsere  Aufmerk- 
samkeit auf  gewisse  Arten  temporärer  Prostitution  hinlenken,  welche  in  einem  der 
folgenden  Abschnitte  flüchtig  skizzirt  werden  sollen. 

Bemerken  will  ich  aber  noch,  dass  auch  vereinzelte  Naturvölker  sehr 
energisch  gegen  die  Prostitution  vorgehen.  So  steht  z.  B.  bei  den  Eingeborenen 
der  westlichen  Gruppe  der  Salomons-Inseln  nv^h.  Elton  eine  schwere  Geldstrafe 
darauf,  bisweilen  auch  sogar  der  Tod.  Prostituirte  sind  dort  nur  die  kriegs- 
gefangenen  Weiber  feindlicher  Stämme.  Auch  auf  der  Insel  Nias  wird  die  Pro- 
stitution mit  dem  Tode  bestraft. 


126.  Die  Anthropologie  der  Prostituirten. 

Die  neuere  Anthropologie  ist  bestrebt  gewesen,  die  so  oft  bestätigte  That- 
sache  in  befriedigender  Weise  zu  erklären,  dass  gewerbsmässig  sich  prostituirende 
Frauenzimmer  fast  immer  zu  ihrem  lasterhaften  Lebensberufe  zurückzukehren  be- 
müht sind,  wenn  auch  die  Möglichkeit  sich  ihnen  eröffnet  hat,  anstatt  dieses  Da- 
seins voll  Schande,  Verfolgung,  Sorge  und  Entbehrungen  ein  sorgenloses  und  ge- 
regeltes Leben  führen  zu  können.  Ganz  ähnlich,  wie  man  bei  dem  Verbrecher 
versucht  hat,  angeborene  körperliche  und  geistige  Abnormitäten  als  die  Ursache 
dafür  anzusehen,  dass  er  ein  Verbrecher  geworden  ist,  so  hat  man  auch  diesen 
Prostituirten  gewisse  anthropologische  Eigenthümlichkeiten  zusprechen  wollen, 
welche  die  Veranlassung  dazu  werden  sollten,  dass  sie  das  Gewerbe  der  Prostitu- 
tion ergriffen.  So  ist  die  Anthropologie  der  Prostituirten  nur  ein  Theil  der  so- 
genannten Verbrecher-Anthropologie,  und  namentlich  sind  es  auch  hier  Lombroso 
und  seine  Schüler,  aber  auch  die  beiden  Tarnotvsky,  welche  mit  ganz  besonderem 
Eifer  diese  Theorie  zu  bekräftigen  suchten. 

Diese  beiden  Bevölkerungsgruppen  haben  nun  ja  in  der  That  mannigfache 
Berührungspunkte;  denn  einerseits  giebt  es  viele  Verbrecherinnen,  welche  sich 
ausserdem  auch  prostituiren,  und  andererseits  sind  bei  Prostituirten  bestimmte 
Verbrechen  nicht  ungewöhnlich.     Unter  diesen  steht  der  Diebstahl  obenan. 


126»  Die  Änthropologio  der  Prostitoiirteii, 


489 


Die  ersten  grundlegenden  BeobachtungeQ,  welche  man  als  die  Anfange  einer 
Anthropologie  der  Prostituirten  bezeichnen  kann,  finden  sich  schon  im  Jahre  1836 
in  dem  berühmten  Werke  von  Pareni-Duchatelet :  ,De  la  Prostitation  de  la 
ville  de  Paris**.  Er  hat  dort  zwei  ausführliche  Kapitel  gegeben  unter  den 
Titeln:  »Physiologische  Betrachtungen  über  Lustdirnen*  und  »Von  dem 
Einflüsse,  welchen  die  Ausübung  ihres  Gewerbes  auf  die  Gesundheit 
der  Lustdirnen  überhaupt  haben  kann".  Ihm  liegt  aber  der  Gedanke  völlig 
fem,  dass  diese  anatomischen  und  funktionellen  Absonderlichkeiten,  welche  er  bei 
den  Prostituirten  nachzuweisen  vermochte,  ursprönglich  schon  bestehende  wären, 
welche  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  die  Mädchen  der  Prostitution  in  die  Arme 
trieben.  Er  ist  vielmehr  keinen  Augenblick  darüber  im  Zweifel,  daas  alle  diese 
Veränderungen  erst  eine  Folge  des  Lebenswandels  sind,  welchen  die  Lustdirnen 
zu  führen  pflegen.  Hierin  unterscheidet  er  sich  durchaus  von  den  oben  genannten 
Gelehrten. 

In  erster  Linie  macht  er  auf  die  Wohlbeleibtheit  aufmerksam,  welche  sich 
bei  vielen  von  ihnen  findet.  Diese  pfiegt  erst  im  Alt^r  von  25  bis  30  Jahren 
einzutreten  und  ist  wahrscheinlich  eine  Folge  der  reichlichen  Ernährung  und  des 
Mangels  an  Arbeit  und  an  k<}q}erlicher  Bewegung-  Allerdings  hatte  er  aber  auch 
Gelegenheit,  einige  übermässig  magere  Prostituirte  zu  beobachten.  Er  macht  dann 
ferner  auf  die  Veränderung  der  Stimme  aufmerksam^  und  äussert  sich  darüber: 

,E8  giebt  Madchön  derart,  die  weh  durch  Schönheit  und  Mscbee  Wesen,  ausgeauchtei 
Benehmen,  elegante  Haltung  bemcrkenswerth  machoDi  bei  denen  man  ihrer  ganzen  Kracheinong 
nach  die  beste  Ei-ziehung  suchen  iiollte,  die  mit  einem  Worte  Alles  haben,  was  gefallen  und 
verführen  kann.  Allein  wie  verändert  gich  Alles,  wenn  man  ftie  %\im  Sprechen  bringt!  Da 
i«t  nicht  mehr  jener  Klang  der  Stimme,  welcher  die  ReiM  eine«  Weibe«  so  sehr  erhöbt.  Ka 
gehen  aus  ihrem  Munde  nur  ra.ühet  widrig  dift  Ohren  zerreissende  Töne,  welche  man  kaum 
nachahmen  kt^nnte.  Sie  findet  bei  den  meisten,  aber  doch  nicht  bei  allen  statt;  es  giebt  in 
der  Art  71  ele  Ausnahmen.  In  der  Hegel  sieht  man  diese  rauhe  Stimme  erst  gegen  das  25»  Jahr 
kommen,  und  am  gewöhnlichsten  beobachtet  man  sie  bei  Mädchen  der  niedrigsten  Klasse, 
bei  solchen,  die  7or  den  Schenken  stehen^  die  betrunken,  su  schreien  und  zw  toben  pflegen; 
liei  Mädchen,  die  aus  der  h5beren  Klasse  in  die  niedere  herabstiegen  und  sich  die  ärgste 
Völlerei  und  Verworfenheit  aneigneten.* 

Auch  die  Unbilden  der  Witterung,  denen  sich  diese  Personen  auszusetzen 
gezwungen  sind,  tragen  hier  einen  Theil  der  Schuld.  An  den  Geschlechtstheilen 
haben  die  Untersuchungen  keine  charakteristischen  Veränderungen  auffinden  lassen. 
Weder  waren  die  Vaginen  wesentlich  erweitert^  noch  auch  Hess  sich  an  der  Clitoris 
irgend  etwas  Besonderes  eotdecken.  «Wie  bei  allen  Frauenzimmern  sind  auch  bei 
ihnen  manche  Abweichungen  derselben,  aber  diese  zeigen  nichts  Auffallendes/ 
Ziemlich   hiiufig  soll  die  Entwickelung  der  kleinen  Scharalippen  eine  ungewöhnliche 

fewesen  sein;  aber  auch  dies  hält  Fartfit-Duchatelet  nicht  für  etwas,  das  den 
reudenmädchen  allein  zukäme.  Auffallend  ist  aber  in  einer  grossen  Zahl  der 
Fälle  die  Seltenheit  und  Unregelmässigkeit  der  Menstruation,  welche  oft  mehr- 
monatliche  Pausen  macht.  Die  Fruchtbarkeit  der  Prostituirten  ist  ebenfalls  be- 
trächtlich herabgesetzt  und  Todtgeburten ,  sowie  Abortus  sind  bei  ihnen  eine 
häufige  Erscheinung, 

Dass  die  Prostitution  auf  die  inneren  Genitalien  schädigend  einwirkt,  ist 
aber  eine  seitdem  den  Aerzten  ganz  allgemein  bekannte  Thatsache,  Und  aucJi 
för  fremde  Kassen  gilt  das  Gleiche.  Strats  konnte  in  Batavia  1000  Javane- 
ainnen  untersuchen»  welche  zum  gröseten  Theil  Prostituirte  im  Alter  von  IG  hh 
30  Jahren  waren, 

Nut  162  waren  gesund;  die  übrigen  8^8  zeigten  folgende  Krankheiten: 

Retroflexio  uteri 605  =  60  % 

Omrialtumoren 130  =  18  % 

Myome 90  =    9  % 

Salpingitis  und  Tubartumoren  .  104  ==  10  ^.ti 


490  XVII.  Die  Prostitution. 

Parametritia 25  =  2^0/^ 

Prolapsus 22  =    2  o/o 

Uteri  in  der  Entwickelung  zurückgeblieben     24  =    2  0/0. 

Die  grosse  Zahl  der  Retroflezionen,  d.  h.  der  Rückwärtsknickongen  der  Ge- 
bärmutter, ist  hier  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  absichtlich  durch  Massage  er- 
zeugt, um  eine  Empfangniss  zu  verhüten.  Dieser  Art  der  Massage  sind  Yermnth- 
lich  auch  die  vielen  Eierstocksgeschwülste  zuzuschreiben,  weil  sie  in  den  breiten 
Mutterbändem  nassen  und  keinen  deutlichen  Stiel  entwickelt  hatten. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  erworbenen  Processen  hat  nun  Pauline  Tamawsky^ 
bei  den  Prostituirten  eine  ganze  Anzahl  angeborener  Abnormitäten  feststellen 
können.  Daraus  schliesst  sie  auf  eine  erbliche  psychische  Belastung  und  auf  eine 
fehlerhafte  geistige  Veranlagung,  welche  diese  unglücklichen  Wesen  mit  unwider- 
stehlicher Gewalt  in  ihr  lasterhaftes  L^ben  hineinzwingt.  Sie  formulirt  die  folgen- 
den Sätze: 

.Les  prostituäes  habituelles  sont  des  §tres  entacb^s  d'ane  h^r^ditc  morbide  plas  oa  moins 
lourde,  teile  que:  Talcoolismei  la  phtbisie,  la  Syphilis  et  les  maladies  nervenses  et  mentales 
qu'elles  comptent  dans  leur  ascendance.  Elles  pr^sentent  des  signes  de  d^g^n^rescence  phy- 
sique  et  psychique  incontestables,  gräce  auzquels  lo  plus  grand  nombre  d'entre  elles  ne  san- 
rait  dtre  class^  parmi  les  individus  sains  et  normauz.  L'anomalie  psychique  des  prostitnto 
se  Signale  soit  par  une  d^bilit^  de  Tintelligence  plus  ou  moins  manifeste,  soit  par  one  Con- 
stitution nevropatbique,  soit  par  une  absence  notoire  du  sens  moral.  Elle  est  confirm^e  en 
outre  par  Tabus  des  fonctions  gen^siques,  ainsi  que  par  Tattrait  que  les  prostitu^es  ^prouvent 
pour  leur  mutier  abject,  auquel  elles  retoument  volontairement  apr^  en  avoir  ^t^  lib^r^es.' 
Es  mögen  aber  noch  die  ezacten  That^achen  hier  zum  Belege  des  Gesagten 
ihre  Stelle  finden.  150  Gewohnheits-Prostituirte  wurden  mit  100  Landarbeiterinnen 
und  mit  50  intelligenten  städtischen  Weibern  verglichen.  Sie  blieben  hinter  beiden 
Gategorien  und  namentlich  hinter  den  letzteren  zurück  in  Bezug  auf  den  üm&ng 
und  den  Hauptdurchmesser  ihrer  Schädelkapsel,  hingegen  überragten  sie  sie  in 
den  Dimensionen  der  Jochbögen  und  der  Unterkiefer.  Ihr  Gesichtsschädel  war 
also  auf  Kosten  der  Gehimkapsel  vergrössert.  An  körperlichen  Anomalien  wurden 
an  ihnen  beobachtet  Abnormitäten  der  Schädelentwickelung  (Oxycephalie,  Steno- 
cephalie  und  Platjcephalie),  des  Gaumens  (Sattelform  und  Spaltbildungen),  der 
Zähne  (Atrophie,  falsche  Stellung  u.  s.  w.),  der  Ohrmuscheln,  des  Gesichtes  (Asym- 
metrien) und  der  Extremitäten. 

Es  batten  je  1  Anomalie  15  Prostituirte 

.2  .34 

f   3  ,35  , 

.4  .30 

.5  .14 

.6,6 

.7.4 

.8.1 
Somit  fanden  sich  unter  den  150  Prostituirten  bei  nicht  weniger  ak  139 
die  sogenannten  physischen  Degenerationszeichen.  Lässt  man  die  ersten  15  ans 
der  Rechnung  heraus,  weil  sie  nur  eine  einzige  Anomalie  aufzuweisen  haben,  so 
ergiebt  sich  immer  noch  ein  Verhältniss  von  82,64%  der  mit  Degenerations- 
zeichen Behafteten.  Diesen  stehen  entsprechende  Personen  unter  den  Land- 
mädchen im  Verhältniss  von  14%  und  unter  den  intelligenten  Frauen  von  2% 
gegenüber.  Scheinbar  sprechen  diese  Zahlen  ftir  sich  und  bedürfen  keinerlei 
Erläuterung. 

Ein  begeisterter  Vertheidiger  der  gleichen  Anschauungen  ist  der  Tamowshy 
auch  in  Lonibroso  erwachsen.  Er  kommt  nach  seinen  Untersuchungen  zu  den 
folgenden  Ergebnissen: 

Das  Gewicht  ist  mit  Rücksicht  auf  die  Körperhöhe  bei  Prostituirten  relativ  höher  (als 
bei  den  Unbescholtenen);  die  Hand  ist  länger,  die  Wade  st&rker  entwickelt;  der  Fingeriheil 
der  Hand  ist  weniger  entwickelt,  als  der  Hohlhandtheil ;  der  Fuss  ist  kfiner.    Nach  Inhalt 


126i  Die  Anthropologie  der  Prostiiuirten, 


491 


und  Umfangr  des  Schädels  bleiben  sie  unter  der  Norm  zurück;  die  Sch&deldurchmefi&er  sind 
kleiner,  die  GesichUdurchmeaser,  besonders  des  Unterkiefer!^  Bind  grösser  als  in  der  Norm, 
Behaarte  Mutterraäler  (Naevi  pilosi)  fand  Lombrma  bei  4P,o  der  Prostituirten,  aber  nur  bei 
14%  der  unbescholtenen  Weiber.  Den  männlichen  Typus  der  Schambebaarung  fand  er  bei 
4^/tj  dieser  Letzteren,  aber  bei  15%  (234)  der  Proetituirten.  /iftccarrfi  giebt  dieaes  Verbaltnii»« 
igar  auf  16%  an  und  beobachtete  in  21*^/(i  eine  übennäasige  Entwickelong  der  Schamhaare. 
[e  Genitalien  zeigten  in  16%  eine  Hypertrophie  der  Labia  minora,  darunter  zweimal  in 
monstrÖBer  Form,  in  6  Fälleu  neben  Hypertrophie  der  CHtoris  und  der  Labia  niajora. 

Auf  die  Veränderung  der  Stimnie  bei  den  Freudenmädchen  hatte  schon,  wie 
wir  oben  sahen,  Parent-Duchatdet  hingewiesen.  Lombroso  fuhrt  in  dieser  Be- 
ziehang  die  Beobachtungen  von  Masini  an: 

,Von  t50  Prostituirten  hatten  15  mUnnlicbe  Stimme  bei  dicken  Stimmbändern  und 
weiter  Kehl kopfbö hie;  21  hatten  femer  volle  Basnst im men  mit  gelegentlich  hoben  Fistelti^nen. 
Die  Breitheit  der  Schildknorpelflögel  und  die  Weite  de»  Schildknorpel  winkeis  waren  sehr  be- 
merkenswerth;  an  den  dicken  Stimmbändern  ist  das  Tuberculum  vocale  deutlich  ausgßprfl^, 
das  ganze  Organ  gleicht  dem  des  Mannes,  wie  Schädel  und  Gesicht  der  Prostituirten  sich  dem 
m&nnlichen  Typus  nähern," 

Und  80  kommt  Lombroso  zu  dem  Schluss,  dass  iVist  alle  Anomalien  bei 
Prostituirten  häufiger  sind,  oft  viele  Male  häufiger,  als  bei  Verbrecherinnen,  jedoch 
bieten  beide  Klassen  social  abnormer  Weiber  häufiger  DegeneratioDszeichen  dar, 
als  man  sie  in  der  Norm  findet. 

In  einem  ausgedehnten  Kapitel  bespricht  Lombroso  dann  die  „geborene 
Prostituirte*,  ein  Analogon  des  von  ihm  vertheiditrten  Typus  des  geborenen 
Verbrechers.  Auch  bei  Brsterer  sollen  allerlei  kürperliche  und  seeUsche  De- 
fecte  als  die  zwingende  Ursache  zu  betrachten  sein,  welche  sie  auf  die  Bahn  der 
ünsittlichkeit  trieb.  Mangel  des, Farn iliengeflihls  und  der  Mutterliebe,  welcher 
in  auffallendem  Gegensatze  steht  zu  der  ausgeprägten  Liebe  zu  Thieren  und  zo 
der  festen  Anhänglichkeit  an  die  sie  quälenden  und  ausbeutenden  Zuhälter,  un- 
regelmässige AnfSile  von  Gutmüthigkeit,  BeligiosiUit,  bei  Verlogenheit,  Trunk- 
sucht, Habsucht  und  Neigung  zum  Verbrechen,  Eitelkeit,  Gefrassigkeit,  Spiel- 
öucht  und  Arbeitsscheu,  das  sind  die  Eigenschaften,  die  sie  charakterisiren.  Die 
Intelligenz  zeigt  sich  bei  ihnen  vielfach  herabgesetzt,  nicht  selten  selbst  an  Blöd- 
sinn grenzend;  einzelne  Prostituirte  aber  zeigen  auch  eine  fast  an  Genialität 
streifende  Begabung. 

, Schon  bei  Erörterung  der  sexuellen  Gefühle,  sagt  Iximbroso,  ihi  darauf  hingewieaen 
worden,  daat  bei  Prostituirten  geac  hl  echt  liehe  Frigidität  vorherrscht  und  in  V^erbindung  und 
anscheinend  ira  Gegensatze  2U  einer  gleichzeitigen  bemerkenswerthen  Frühreife  besteht.  So 
findet  »ich  hier  ein  Gewirr  von  Gegenäätzen.  Ein  durchaus  sexuelles  Uewerbo,  ^on  Weibern 
ansgeObt»  denen  ein  eigentliche«  Genchlocht^leben  fast  vOUig  fehlt,  die  sieb  mit  kaum  fnas- 
barer  Frbhreifet  mit  lnuen  oder  perversen  Gedchlecbtsgefühlen  in  einem  Alter,  in  dem  tie  rein 
pbjTBbcb  kaum  ftihig  zur  Pa&rnng  sind^  dem  Laster  in  die  Arme  werfen.  Welches  ist  nun  die 
Qene«e  der  Prostitution?  Die  psychologiitche  Analyse  wird  uns  zeigen,  dass  sie  nicht  in  der 
8innlichkoit,  sondern  in  der  ethischen  Idiotie  zu  suchen  ist.* 

Lonthroso  sagt  dann  später: 

»Die  geborene  Prostituirte  zeigt  sich  uns  ohne  MuttergefCIhl,  ohne  Liebe  zu  ihren  An* 
gehörigen,  skrupellos  nur  auf  die  Befriedigung  ihrer  Gelüste  bedacht,  und  zugleich  als  Ver- 
brecherin auf  dem  Gebiete  der  kleinen  Crimioalitilt;  damit  zeigt  sie  gan«  den  Typus  der 
Moral  insanity»  Der  Mangel  dea  SchamgefahU  ist  das  beinnhe  pathognomische  Zeichen 
der  Moral  inaanity  de«  Weibes,  Die  ganze  Kraft  der  Ent Wickelung  auf  ethisohöm  Gebiete 
hat  beim  W<!ibe  darauf  hingedrängt,  das  Schamgefühl  zu  scbatifen  und  zu  krliRigen, 
«nd  80  bedingt  denn  die  üusBerste  sittliche  Entartnng,  die  Moral  intanity,  den  Verlust  dieses 
Gefühls/  So  ist  also  der  Ursprung  der  Prostitution  aus  einem  schweren  aittlichen  Defecte 
abtitleiten. 

Aber  Lombroso  erkennt  doch  an,  dads  nicht  alle  Prostituirten  als  , ethisch 
bl5dsinnig*  bezeichnet  werden  müssen,  sondern  dass  es  auch  ^Gelegenheits- 
Prostituirte*  giebt  Es  wiederholt  sich  hier  dasselbe,  was  wir  bereits  bei  dem 
aogenatinten  Verbrecheptypiu   sahen.     Eine   grosse  Zahl  der   Anomalien    ergaben 


492  XVII.  Die  Prostdtution. 

sich  als  solche,  die  überhaupt  im  Proletariate  häufig  sind,  aber  nicht  nur  bei 
den  Prostituirten  und  den  Verbrechern,  sondern  auch  bei  unbescholtenen  LeuteOt 
welche  niemals  mit  den  Vorschriften  der  Moral  und  Sittsamkait  in  irgendwelche 
Gollision  gerathen  sind.  So  wichtig  wie  Lombroso's  Erörterungen  sind,  so  wird 
es  doch  auf  diesem  Oebiete  noch  vielfacher  vergleichender  Untersuchungen  be- 
dürfen, bis  wir  zu  einer  abschliessenden  Erkenntniss  dieser  Processe  gelangen  werden. 


127.  Heilige  Orgien  und  erotische  Feste. 

Bevor  ich  diese  Besprechungen  schliesse,  muss  ich  von  der  gewerbs- 
mässigen Prostitution  noch  einmal  auf  die  Preisgebung  der  Weiber  abschweifeut 
wie  sie  bei  nicht  wenigen  Völkern  an  bestimmten  Festen  gebräuchlich  war.  Nicht 
selten  waren  es  Feste  der  Oötter,  welche  dann  mit  heiligen  Orgien  verbunden 
waren,  in  anderen  Fällen  aber  waren  es  erotische  Feste  profaner  Natur,  bei 
welchen  ausnahmsweise  die  sonst  bestehenden  Schranken  der  Sitte  und  Ehrbarkeit 
fielen  und  der  sonst  auf  das  strengste  verpönte  aussereheliche  geschlechtliche  Ver- 
kehr geduldet  und  erlaubt,  bisweilen  sogar  angeordnet  wurde. 

Bei  den  Festen  der  Isis^  der  Pascht,  fanden  im  alten  Aegypten  die  er- 
schrecklichsten Ausschweifungen  statt.  Das  Oleiche  galt  in  Byblos  am  Trauer- 
feste des  Adonis;  ausserdem  wurden  hier  denjenigen  Weibern,  welche  die  ein- 
tägige Preisgebung  in  dem  Tempel  der  Aphrodite  verweigert  hatten,  zur  Strafe 
die  Haare  abgeschnitten. 

Das  Fest  der  Bona  Dea  in  Rom  wurde  eigentlich  nur  von  den  Weibern 
gefeiert.  Es  artete  aber,  wie  Juvenalis  schildert,  in  die  ungezügeltsten  Orgien 
aus,  bei  welchen  sich  die  vornehmen  Damen  nicht  entblödeten,  sich  mit  dem 
niedersten  Pöbel  einzulassen. 

Auch  in  anderen  Centren  der  Gultur  stossen  wir  auf  ähnliche  Dinge.  So 
berichtet  StoU,  dass  an  den  Tagen  der  grossen  Opfer  bei  den  alten  Eingeborenen 
von  Guatemala  feierliche  Qelage  stattfanden. 

,Die  Schranken  der  Zucht  hören  auf,  die  Betrunkenen  ergaben  sich  ohne  Unterschied 
der  sexuellen  Ausschweifung  mit  ihren  Töchtern,  Schwestern,  Müttern  und  Kebsweibem,  und 
verschonten  selbst  Kinder  von  sechs  und  sieben  Jahren  nicht.* 

Von  den  alten  Peruanern  erzählt  v,  Tschudi: 

«Im  Monat  December,  nämlich  zur  Zeit  der  herannahenden  Reife  der  Frucht  partaj 
oder  paTta,  bereiteten  sich  die  Theilnehmer  an  dem  Feste  durch  fünftägiges  Fasten,  d«  h. 
Enthaltung  von  Salz,  utsu  (Beisspfeffor,  Capsici  spec.)  und  vom  Beischlaf  darauf  vor.  An 
dem  zum  Anfange  des  Festes  bezeichneten  Tage  versammelten  sich  M&nner  und  Weiber  auf 
einem  bestimmten  Platze  zwischen  den  Obstgärten,  alle  splitternackt.  Auf  ein  gegebenes 
Zeichen  begannen  sie  einen  Wettlauf  nach  einem  ziemlich  entfernten  Hügel.  Ein  jeder  Mann, 
der  während  des  Wettlaufes  ein  Weib  erreichte,  übte  auf  der  Stelle  den  Beischlaf  mit  ihr 
aus.    Dieses  Fest  dauerte  sechs  Tage  und  sechs  Nächte.* 

.Dieses  nur  vom  Erzbischof  von  Lima  Bon  Pedro  de  ViUagomes  in  seiner  ausser- 
ordentlich seltenen  Carta  pastoral  de  exortacion  e  instruccion  etc.,  Fol.  47,  erwähnte  Fest 
hiess  Akhataymita.* 

Hier  handelte  es  sich  um  heidnische  Völker;  aber  auch  das  Ghristenthum 
hat  derartige  Dinge  hervorgebracht.  Dahin  gebort  die  im  4.  Jahrhundert  auf- 
tauchende Secte  der  Nicolaiten,  , welche  das  Aufgeben  jeden  Schamgef&hls  in 
geschlechtlichen  Dingen  zur  religiösen  Pflicht  machte  und  jede  Ausschweifung 
für  recht  und  heilig  erklärte."  (Lomhroso.)  Aehnliche  Anschauungen  vertheidigten 
die  Anhänger  des  Karpohrates  und  Epiphanhis,  sowie  die  Secten  der  Kanaiten« 
der  Adamiten  und  der  Picarden,  sowie  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  die- 
jenige der  Turlupins.     Man  findet  Näheres  hierüber  bei  Lonibroso. 

Aber  bis  in  die  Neuzeit  hinein  haben  solche  geschlechtliche  Ausschweifungen, 
welche  angeblich  zur  Ehre  Qottes  stattfanden,  ihre  begeisterten  Anhänger  gefunden. 
Das   beweisen   die   von  Dixan  in   seinen  Seelenbrauten   geschilderten  Mucker» 


127,  Hdülge  OrgieD  und  «rotiache  Feste, 


4d3 


flecten,  das  beweisen  die  Gottesdieoste  der  Eva  von  BuHltr  und  ihrer  Oeno&seD, 
und  das  beweisen  endlich  die  gerichtlichen  Verhöre,  welche  in  Rassland  mit 
den  Mitgliedern  der  Skopzen-Secte  angestellt  worden  sind. 

Wie  vorher  schon  angegeben  wurde,  sind  es  nicht  allein  religiöge  Feste, 
welche  »ich  mit  solchen  Orgien  verbinden,  soudera  es  wurden  und  werden  noch 
heute  vielfach  auch  Feste  profanen  Charakters  gefeiert,  bei  denen  der  geschlecht- 
liche Verkehr  zwischen  Weib  und  Mann  theils  pantomimisch  zur  Darstellung  ge- 
bracht wird,  theils  aber  auch  wirklich  in  natura  zur  Ausführung  gelangt. 

So  berichtet  Müüer^  Folgendes  über  die  Einwohner  Australiens: 

, Merkwürdig  und  an  den  thierischen  Zuitand  des  Australierin  erinnernd  ist  die  That- 
fittobej  da63  die  Yerbeinitbung  und  Begattung  meiBtens  während  der  warmen  Jahreszeit,  wo 
die  von  der  Natur  dargebotene  Nahrung  in  reicher  Fülle  vorbanden  und  der  Körper  zn  wol- 
tttfliigen  Regungen  ditiponlrt  ist,  zu  goscbeben  pfiegt,  und  letztere  Bicb  in  vielen  Füllen  darauf 
betcbrUnkt.  Bei  einigen  SULmmen,  wie  %,B.  bei  den  WatEcbandießi  soll  die  Begattung  in 
der  wiirmen  JabresKoit  mit  einem  eigenen  Fest^e  gefeiert  werden,  wolcbes  sie  Kaaro  nennen. 
Biosei  beginnt  nach  dem  ersten  Neumonde,  nachdem  die  Vams  reif  geworden  sind,  und  wird 
mit  einem  Freas-  tind  Saufgelage  tou  Seite  der  Milnner  eröünet.  Zu  diesem  Zwecke  reiben 
sich  die  Männer  mit  Asche  und  Wallabyfett  ein«  und  fübren  im  Mondlicbte  einen  höcb^t  ob* 
to5nen  Tanz  um  eine  irnibe  auf,  welche  mit  Gebüsch  umgeben  ist.  Grube  und  Gebüsch  re- 
prÜsentiren  den  Cunnus,  dem  sie  !khnlicb  gemacht  werden;  die  von  den  Malnnem  geschwungenen 
Speere  stellen  die  Mentulae  vor.  Die  Männer  springen  mit  höchst  wilden  und  leideuschaft' 
liehen  Geberden,  welche  ihre  erregte  Wollust  verrathen,  umher,  und  ntosHen  unter  Abaingung 
einOK  Liedes  ihre  ^^peere  in  die  Grube.     Dieses  Lied,  angemessen  dem  ubscdnen  Feste,  lautete 

Pulli  nira,  puUi  nira, 
pulll  nira,  wataka! 
(non  fossa,  non  fossa, 
non  fossa,  »ed  cunnus  !)■ 
_         Die  Kanaken  auf  Hawaii   haben  einen  lasciven  Tanz,   der  nach  Buchner 
unter  allen  polynesi sehen  Tänzen  der  lascivste  ist  und  Hula-Hula  heisst.    Der- 
selbe wird  folgendermaassen  geschildert: 

^Zuerst  setzten  sich  die  Tänzerinnen  sowohl  wie  die  Musikanten  mit  gekreuzten  Lieinen 
in  zwei  Reiben  auf  den  Boden  und  erhoben  einen  Wecbselgesang,  wobei  sie  bald  laugsam, 
bald  rasch  und  leiden §cbafllich  den  Oberkörper  und  die  Arme  hin  und  her  warfen  und  kleine 
mit  Steinen  gefüllte  Calabassen  schüttelten,  so  dasa  ein  heilloser  rasselnder  Lärm  entstand. 
Die  Melodie  war  vie)  complicirter,  al«  die  beim  Haka  der  Maori  und  beim  Meke  Meke  der 
VitL  Die  zwei  TSiizerinnen  trugen  eigenthümlichen  Schmuck  um  die  Knöchel,  eine  Art 
Mieder  und  aufgeacbürzte  Röcke;  ehemals  beschränkte  sich  das  Costüm  anf  ein  Röckchen,  das 
nur  dazu  diente,  emporgeschnellt  zu  werden.  Nach  einiger  Zeit  sprangen  sie  auf  und  machten 
unter  wildem  ächreieu  und  Haasein  mit  dem  Decken  höchst  unzüchtige  Bewegungen.  Die 
eingeborenen  Zuschauer  betheüigten  sich  höchst  lebhaft  an  dem  Vergnügen,  lachten  entzückt 
und  machten  dieselben  Uüftbeweguugen.* 

Ueber  die  Belustigungen  der  Schwarzen  im  Rnango-Gebiete  (West- 
Afrika)  berichtete  der  Stabsarzt    Wolff'^: 

pDer  Tanz  besteht  hier  überall  zumeist  aus  möglichst  schnellem  seitlicbeu  Hin-  und 
Herhewegen  des  Hinteren^  indem  sich  Manner  und  Weiber  gegenübentehen^  dann  mehrmals 
anf  einander  zugehen  nnd  zurückweichen,  endlich  sich  umfoaten.  Hier  sieben  sie  in  dieser 
Stellung  ein  Weücben  still,  nm  dann  wieder  aus  einander  zu  gehen  und  von  vom  anzufangon- 
In  manchen  Dörfern  in  Madimba  machen  sie  erst  in  dieser  Umarmung  die  unzweideutigsten 
Bewegungen,  um  dann  danach,  wie  ermattet,  noch  in  einander  verschlungen  ein  Weilchen 
stili  zu  verharren.* 

i\  Spix  und  t\  Martius  wohnten  im  nächtlichen  Dunkel  einem  Tanze  der 
Puri  in  SQd-Amerika  bei,  in  dessen  zweiter  Abtheilung  die  Weiber  anfingen, 
das  Becken  stark  zu  rotiren  und  abwechselnd  nach  vorn  und  hinten  zu  stosaen. 
Auch  die  Männer  machten  Stos^bewegungen  mit  dem  Mittelkurper,  aber  nur 
nach  vorn. 

Dass  derartige,  die  Sinne  aufregende  Tänze  hei  Volkern,  '  h- 

tmlt  der  jungen  Mädchen    nicht   verlangen,    <*^1ir  haLl  vur  T)\  ird 


494  XVII.  Die  Prostitution. 

man  wohl  nicht  wunderbar  finden,  und  Kulischer  glaubt,  dass  hierdurch  eine  Art 
von  Zuchtwahl  ausgeübt  werde.  Er  f&hrt  eine  Reihe  von  Beispielen  an,  welche 
seine  Annahme  zu  bestätigen  geeignet  sind.  Es  möge  das  Folgende  hier  noch 
seine  Stelle  finden. 

«Die  Ausübung  der  Wahl  seitens  der  Frauen  und  die  Aufmerksamkeit,  die  sie  der 
äusseren  Erscheinung  der  Männer  widmen,  kann  aus  einem  Tanze  der  Raffern  constatirt 
werden.  Bei  demselben,  erzählt  Alberti,  schaart  sich  eine  beliebige  Anzahl  Männer,  gewöhn- 
lich ganz  entkleidet,  in  gerader  Linie  dicht  zusammen,  wobei  jeder  seinen  rechten,  aufwärts 
gerichteten  Arm,  einen  Streitkolben  in  der  Hand,  mit  dem  linken  seines  Nebenmannes  ver- 
kettet. Dicht  hinter  den  Männern  steht  eine  Linie  Frauen,  deren  Arme  jedoch  nicht  verkettet 
sind.  Die  Männer  springen  anhaltend  und  ohne  alle  Veränderung  mit  gleichen  Füssen  in  die 
Höhe,  während  man  an  den  Frauen  eine  sich  beinahe  an  dem  g^zen  Körper  äussemde 
krampfhafte  Bewegung  wahrnimmt,  welche  vorzüglich  in  Vor-  und  Zurückbeugen  der  Achseln 
und  einer  damit  in  Verbindung  stehenden  Eopfbewegung  besteht.  Dabei  machen  diese  von 
Zeit  zu  Zeit,  indem  sie  nach  einer  halben  Wendung  sich  einander  in  sehr  langsamem 
Schritte  folgen,  einen  Gang  um  die  Linie  der  Männer  und  nehmen  dann  ihre  erste 
Stellung  wieder  ein.  Bei  diesem  Allem  wissen  sie  sich,  vorzflglich  durch  Nieder- 
schlagen der  Augen,  ein  sehr  sittsames  Ansehen  zu  geben.  Es  ist  klar,  dass  durch  das 
Niederschlagen  der  Augen  der  eigentliche  Zweck  der  Umschau,  die  die  Frauen  über  die  Reihe 
der  Männer  machen,  deutlich  angegeben  wird.* 

Aber  auch  in  der  Christenheit  gab  es  Feste,  bei  denen  die  Sittlichkeit  om 
keine  Spur  grösser  war,  als  bei  diesen  Heiden.  Besonders  waren  es  die  Esels- 
und Narrenfeste,  aber  auch  Kirchweihen  und  Processionen,  welche  zu  den  scham- 
losesten Ausschweifungen  führten.  Und  auch  gewisse  Tänze  erfreuten  sich  keines 
sehr  feinen  Rufes.     So  schreibt  Praetorius  (1688)  von  dem  Tanze  Gallarda: 

«Zudem  dass  solcher  Wirbeltanz  voller  schändlicher  unfläthiger  Geberden  und  unzüch- 
tiger Bewegungen  ist.* 

Und  Spangenberg  sagt  in  seinen  Brautpredigten: 

,  Behüte  Gott  alle  frommen  Gesellen  für  solchen  Jungfrauen,  die  da  Lust  zu  den  Abend- 
tänzen haben  und  sich  da  gerne  umbdrehen,  unzüchtig  küssen  und  begreifen  lassen,  es  muss 
freylich  nichts  gutes  an  ihnen  sein;  da  reizet  nur  eins  das  ander  zur  Unzucht  und  fiddem 
dem  Teufel  seine  Bolze.  An  solchen  Tänzen  verleuret  manch  Weib  ihre  Ehre  und  gut  Gerücht. 
Maniche  Jungfraw  lernt  allda,  dass  ihr  besser  wäre,  sie  hätte  es  nie  erfahren.  Summa,  es 
geschieht  da  nichts  ehrliches,  nichts  göttliches.*     (Kulischer,) 

Zu  den  grössten  Schamlosigkeiten  gaben,  wie  gesagt,  auch  die  Narren  feste 
Anlass.  In  Masken  und  in  komischen  Anzügen  wurde  in  der  Kirche  eine  paro- 
distische  Messe  gehalten,  gespielt,  gewürfelt  und  getanzt  und  Zotenlieder  an- 
gestimmt. 

,Apr^s  la  messe,  nouveaux  actes  d'extravagance  et  d'impi^t^.  Les  prfttres,  confondus 
avec  les  habitants  des  deux  sexes,  couraient,  dansaient  dans  T^glise,  s'excitaient  ä  toutes  les 
actions  licencieuses  que  leur  inspirait  une  imagination  effrenee.  Plus  de  honte,  plus  de  pu- 
deur;  aucune  digue  n'arretait  le  d^bordement  de  la  folie  et  des  passions.  Au  milieu  du 
tumulte,  des  blasphemes  et  des  chants  dissolus,  on  vojait  les  uns  se  depouiller  enti^rement 
de  leurs  habits,  d'autres  se  livrer  aux  actes  du  plus  honteux  libertinage.'  Dann  ging  der 
Unfug  auf  der  Strasse  weiter.  ,Les  plus  libertins  d'entre  les  s^culiers  se  mßlaient  parmi  le 
clerg^,  et,  sous  des  habits  de  meines  ou  de  religieuses,  ex^cutaient  des  mouvements  lascifs, 
prenaient  toutes  les  postures  de  la  d^bauche  la  plus  effir^n^e.*    (Dulaure,) 

Ganz  ähnliche  Ungeheuerlichkeiten  fanden  auch  bei  den  Eselsfesten  statt. 
Sie  werfen  ein  sehr  eigenthümliches  Licht  auf  die  sittlichen  Anschauungen  des 
Mittelalters  in  Europa. 

Bei  den  Neu-Britanniern  werden  nach  Weisser  die  jungen  Mädchen  mit 
Eifersucht  gehütet,  und  ein  freier  Verkehr  mit  jungen  Männern  wird  ihnen  im 
Dorfe  nicht  gestattet;  allein  zu  gewissen  Zeiten  ertönt  eine  besonders  hellklingende 
Trommel  des  Abends  aus  dem  Busch,  worauf  denselben  erlaubt  ist,  sich  dorthin 
zu  begeben,  wo  sie  dann  mit  jungen  Männern  zusammentreffen. 

Etwas  anders  lantet  ein  anderer  Bericht,  der  von  der  gleichen  Inselgruppe 
handelt.     Es  ist  daher  nicht  ausgeschlossen,  dass  Weisser  ein  MissveratSndninB 


127.  Heilige  Orgien  und  erotische  Feste.  495 

begegnet  ist.  Der  Bericht  sagt,  dass  sich  in  Neu- Britannien  jede  Frau  ohne 
lebende  Verwandte  Preis  geben  könne,  an  wen  sie  wolle;  wenn  sie  aber  getödtet 
wird,  braucht  ihr  Stamm  sie  nicht  zu  rächen.  Sollte  ein  Mann  sie  heirathen 
wollen,  so  hat  sie  gleiche  Rechte  wie  die  übrigen  Frauen.  Lebt  Vater  und 
Mutter  noch,  so  ist  zur  Prostitution  die  elterliche  Einwilligung  nothwendig,  die- 
selbe wird  aber  oft  gegeben.  Anderenfalls  läuft  die  Frau  Gefahr,  von  irgend 
einem  ihrer  Verwandten  getödtet  zu  werden,  da  sie  möglicherweise  zum  Weibe 
eines  hervorragenden  Mannes  bestimmt  oder  schon  von  einem  Häuptlinge  gekauft 
worden  ist.  In  gewissen  Nächten  wird  eine  Trommel  geschlagen,  alle  Prostituirte 
laufen  in  den  Wald  und  werden  dort  von  den  jungen  Männern  gejagt.  Dies 
nennt  man  ,Lu-Lu*,  ein  Ausdruck,  welcher  sich  auch  auf  die  Frauen  selbst  oder 
auf  irgend  etwas  mit  diesem  Oebrauche  zusammenhängendes  bezieht. 

Kreutzwald  berichtet  von  den  Ehsten: 

,Im  Anhange  eines  Reval-Ehstnischen  Kalenders  (1840)  wird  erzählt,  dass  vor 
60  Jahren  im  Fellinschen  bei  einer  alten  Kirchenruine  taasende  von  Menschen  am  Johannis- 
abend  zusammengeströmt,  auf  der  Ruine  ein  Opferfeuer  angezündet  und  Opfergaben  ins  Feuer 
geworfen  hätten.  Unfruchtbare  Weiber  tanzten  nackt  um  die  Ruine,  andere  sassen  beim 
Essen  und  Trinken,  während  Jünglinge  und  Mädchen  in  den  Wäldern  sich  verlustirten  und 
viel  Unart  ausübten.* 

Vielleicht  haben  wir  es  als  Nachklänge  im  ethnographischen  Sinne  aufzu- 
fassen, wenn  wir  zwar  nicht  mehr  den  unbehinderten  geschlechtlichen  Verkehr 
bei  den  jungen  Leuten  antreffen,  wenn  wir  aber  doch  noch  finden,  dass  bei  aller 
sonstigen  Decenz  und  Keuschheit  in  den  Worten  doch  bei  gewissen  Gelegenheiten 
unsittUche  und  anstössige  Dinge  zwischen  den  Jünglingen  und  den  jungen  Mäd- 
chen frei  zu  verhandeln  erlaubt  ist  und  dieses  auf  beiden  Seiten  die  grösste 
Heiterkeit  verursacht. 

Noch  heutigen  Tages  bt  diese  Unsitte  bei  uns,  namentlich  auf  dem  Lande, 
nicht  ausgestorben,  und  für  gewöhnlich  ist  es  der  Polterabend,  der  hierfür  die 
Gelegenheit  abgiebt,  während  früher  im  Mittelalter  selbst  in  den  vornehmsten 
Kreisen  bei  dem  Öffentlichen  Beilager  des  jungen  Paares  die  ärgsten  Zoten  ohne 
Scheu  ausgesprochen  wurden.  Auch  pflegten  auf  dem  Lande  die  Spinnstuben 
nicht  immer  eine  absolute  Sittenreinheit  in  den  Reden  darzubieten.  Etwas  Aehn- 
liches  finden  wir  auch  bei  einem  der  Türkenvölker  im  westlichen  Asien,  bei 
den  Kumücken. 

,Zu  den  Spielen  der  Kumücken  gehört  unter  andern  das  Süjdün-Tajak,  d.  h. 
Liebesstock,  welches  meistens  bei  Hochzeiten  und  von  Unverheiratheten  gespielt  wird,  und 
wobei  die  Verliebten,  indem  sie  sich  gegenseitig  mit  einem  Stabe  auf  die  Schulter  schlagen, 
Dialoge  theils  sarkastischen,  theils  erotischen  Inhalts  wechseln."     fVambery.) 


XVIIL  Liebe  und  Liebeswerben. 

128.  Die  Liebe. 

Es  wird  wohl  immer  eine  unentschiedene  Frage  bleiben,  wo  dasjenige,  was 
wir  unter  dem  Begriff  der  Liebe  zu  dem  anderen  Geschlecht  verstehen,  in  der 
Stufenfolge  der  Völker  seinen  Anfang  nimmt.  Ob  sie  dem  Menschen  auf  der 
niedersten  Stufe  der  Gulturentwickelung  wohl  ganzlich  fehlt?  Fast  möchte  es  den 
Anschein  haben,  als  wenn  sie  bei  manchen  Völkern  mr  nicht  existirte,  wenn  wir 
das  Weib  fast  schlechter  und  schmachvoller  behandelt  sehen,  als  die  Haosthieie, 
wenn  wir  sehen,  wie  nicht  selten  der  geschlechtliche  Verkehr  durch  Gewalt  und 
Misshandlung  erzwungen  wird.  Und  dennoch  können  wir  nicht  behaupten  und 
beweisen,  dass  trotz  dieser  Rohheiten  nicht  doch  die  Liebe  zum  anderen  Geschlecht 
in  ihren  Keimen  schon  Torhanden  ist,  wenn  sie  auch  noch  ab  ein  schwach  glim- 
mender, leicht  Terlöschender  und  fftr  einen  andern  Gegenstand  wieder  aufglühenda* 
Funke  ihr  verborgenes  Dasein  fristet  und  noch  nicht  zu  der  hellen  weitstrahlenden 
Flamme  geworden  ist,  als  welche  wir  bei  den  civilisirten  Völkern  die  Liebe  kennen. 
Es  spricht  gar  manche  Thatsache  für  die  Existenz  solcher  Liebe,  und  man  muas 
in  der  Behauptung,  dass  dieselbe  nicht  existire,  doch  eine  vorsichtige  Zurück- 
haltung üben.  Wer  wollte  z.  B.  den  Feuerländern  die  Liebe  zu  ihren  Kindern 
absprechen,  weil  einmal  ein  Vater  sein  Kind  erschlug,  weil  es  einen  Korb  mit 
Muscheln  verschüttete?  (Darwin^.)  Der  Mann  hatte  nur  nicht  seine  Stimmungen 
in  seiner  Gewalt  und  liess  unüberlegt  auf  einen  Zomanfall  sofort  die  That  folgoi, 
und  hat  vielleicht  in  seinem  Herzen  später  den  Verlust  seines  Kindes  tief  be- 
trauert. So  mag  es  auch  mit  der  uns  hier  beschäfkigenden  Liebe  sein;  oft  mag 
sie  scheinbar  durch  augenblickliche  Missstimmungen  verdrängt  und  yemichtet 
werden,  und  dennoch  tritt  sie  später  yielleicht  wieder  kräftig  in  ihre  Rechte. 

Die  Mutterliebe  allerdings  scheint  bei  den  meisten  Völkern  stärker  zu  sein, 
als  die  Liebe  zum  Manne.  Die  Hingebung  an  den  Mann  ist  bei  der  Paarung 
entweder  eine  freiwillige  oder  eine  gezwungene.  Der  Mann  erwirbt  sich  seine 
von  ihm  selbst  nach  eigenem  Gutdünken  oder  durch  Andere  Erwählte  in  mannig- 
fachster Weise  und  nach  festgesetztem  Brauche  nicht  immer  durch  Werbung, 
sondern  durch  Kauf  und  durch  Raub.  Die  Rolle,  welche  dabei  das  Weib  spielt, 
ist  meistens  eine  untergeordnete;  sie  hat  gar  selten  die  freie  Wahl.  Aber  das 
Alles  berechtigt  uns  nicht,  diesen  Völkern  cUe  Liebe  gänzlich  abzusprechen,  und 
wenn  das  geraubte  oder  gekaufte  Weib  auch  vielleicht  im  Anfange  dem  Manne 
mit  Widerwillen  und  mit  Widerstreben  sich  hingeben  mag,  warum  soll  sich  nicht 
später  bei  ihr  die  Liebe  entwickeln?  Sind  nicht  die  geraubten  Sabinerinnen 
sehr  treue  Gattinnen  geworden? 

Aehnliches  wird  von  Eitd  über  die  Tonkinesen-Weiber  berichtet, 
von  den  Hak-ka  in  Süd-China  geraubt  wurden: 


128»  Dil»  Liebe. 


497 


»P&nnl  les  femmes  miGii  captor^es,  les  plus  laidee  sont  vendues  &ux  Ohinois  qm  les 
fpoueent ;  le  prix  moyen  d*uiie  femme  qu^on  ^powse  eat  de  cent  piastres.  Lenr  eort  est  suppor« 
tiiblc«  elloa  dem  luideni  rarem  eilt  ä  retounier  an  Tonkin,  m^me  quand  dies  ont  laisse  de« 
enfantf  dans  leur  famitle  annamite.'' 

Nun  kommt  noch  hinzu,  dass^  wie  wir  sehen  werden,  bei  vielen  Stammen 
ein  solcher  Raub  oder  Kauf  gar  nicht  Yorkommen  kann,  wenn  nicht  schon  ein 
gewisses  Ein  verstand  nies  zwischen  den  beiden  jangen  Leuten  herrscht,  dass  also 
auch  der  Frau  ein  gewisser  Grad  der  Selbstbestimmung  erhalten  bleibt.  Solch 
ein  Scheinraub  fand  bei  den  Tasmaniern  statt,  und  auch  bei  den  Polynesiern 


L  L    (Nftch  BUtzlJclii-FtkotOKTophi«.} 


auf  Tukopia  und   bei  einigen  Polarvölkern   kommt  er  vor.     Aber   auch    bei 
manchen  anderen  Nationen  sind  Anklänge  hieran  erhalten  geblieben. 

Einen    nicht    unwichtigen    Factor    der  Erweckung    der  Liebe   zum    anderen 

Geschlecht   müssen   wir    bei  einer  grossen  Zahl  der  Naturvolker  in  ihren  Tänzen 

I  erkennen.     Selten  tanzen  beide  Geschlechter  gemeinsam;   meistens  aber  findet  der 

rTanz  der  Männer  vor  der  Corona  der  Weiber  statt,  und  wenn  sie  geendet  haben, 

dann  beginnen  die  Weiber  den  Tanz  und  die  Männer  bilden  die  Zuschauerschaft, 

Avif- — '^ra  folgt  das   prüfende  Auge  den  Bewegungen  und  Formen  des  anderen 


'l#|4,   D»»  WeJli,    «.  Auil.    i. 


32 


498  Xyni.  Liebe  und  Liebeswerben. 

Geschlechts,  und  unzweideutig  drücken  sehr  häufig  die  Tänze  erotische  Motive 
aus.  Bei  den  Weibern  sind  Schwenkungen  und  Drehungen  des  Mitielkörpers 
ganz  gewohnlich.  Das  sind  Bewegungen,  die  sich  in  der  Südsee,  sowie  bei 
afrikanischen  Völkern  finden. 

Diese  Schwingungen  des  Beckens  machen  einen  eigenthümlichen  Eindruck. 
Fig.  255  giebt  einen  Begriff  davon.  Es  handelt  sich  um  eine  photographiache 
Aufnahme  von  drei  Tänzerinnen  aus  Hawaii,  welche  mit  Blitzlicht  hergestellt 
wurde.  An  dem  Faltenwurf  der  Kleider  und  der  Stellung  der  Hüften  kann  man 
das  Rotiren  des  Beckens  erkennen.  Sie  tanzen  den  auf  Seite  493  beschriebenen 
Hula-Hula-Tanz. 

Einen  Beweis,  dass  die  wilden  Volker  die  Fähigkeit  zu  sanften  Herzens- 
regungen nicht  besässen,  suchte  man  auch  darin  zu  finden,  dass  manchen  derselben 
ein  Wort  für  Liebe  gänzlich  fehlt.  Damit  ist  aber  noch  gar  nichts  bewiesen, 
denn  nicht  immer  hat  ein  Volk  für  dasjenige,  was  ihm  zum  Be¥ni88tsein  kommt, 
sofort  auch  eine  Bezeichnung  in  seiner  Sprache.  Und  für  derartige  abstracte 
Begriffe  werden  die  Worte  am  allerspätesten  erfunden. 

Ein  Mangel  des  Begriffes  Liebe  kann  auch  dadurch  vorgetäuscht  werden, 
dass  der  uncivilisirte  Mensch  es  für  unanständig  und  gegen  seine  Würde  ver- 
stossend  ansieht,  wenn  er  einen  Anderen  seine  Gefühle  und  Empfindungen  erkennen 
oder  ahnen  lässt. 

Der  Arawake  in  Ouyana  hält  es  nach  Peschel  für  unverträglich  mit  seiner 
Mannes  würde,  empfindsam  gegen  sein  Weib  zu  erscheinen.  Wenn  er  sich  aber 
unbemerkt  glaubt,  dann  überhäuft  er  dasselbe  mit  feurigen  Zärtlichkeiten. 

Im  Lande  der  Muskogee  giebt  es  einen  Lover's  Leap,  einen  Felsen,  von  dem  lich 
zwei  verfolgte  unglücklich  Liebende  herabstürzten  in  den  Fluss,  und  der  Missiisippi  hat 
seinen  Maiden's  rock,  an  den  sich  eine  ähnliche  Sage  knüpft.  Dass  sich  M&dchen  unter  den 
Indianern  Nord-Amerikas  in  Folge  von  nngldcklicher  Liebe  erhingen,  kam  öfters  vor; 
und  Hecketcseder  sowie  Tanner  erzählen  selbst  Fälle  von  Selbstmord  bei  Männern  der  In- 
dianer aus  gleichem  Grunde.  Selbstmord,  den  manchmal  schon  ein  geringer  ehelicher  Zwist 
veranlasst,  ist  bei  den  In  dianer -Weibern  häufiger,  als  bei  deren  Männern,  welche  sich  (nach 
Keaiing)  bisweilen  aus  Neid  gegen  den  Ruhm  eines  Rivalen  umbringen.  In  den  Fällen  dee 
Mississippi  von  St.  Anthony  ertränkte  sich  einst  ein  Weib  mit  ihren  Kindern,  da  ihr 
Mann  ein  zweites  nahm;  und  bei  den  Kuisteno  opferte  sich  nicht  selten  ein  Weib  auf  dem 
Grabe  ihres  Mannes.  Das  berühmte  Beispiel  einer  südamerikanischen  Indianerin,  die 
sich  auf  dem  Grabe  ihres  Geliebten  umbrachte,  um  nicht  in  die  Hand  der  Spanier  zu  fallen, 
hat  Guevara  berichtet  und  später  dd  Barco  Center a  ausführlich  besungen. 

Von  den  Ilarar!  im  nordöstlichen  Afrika  ss^  PauHtsdike:  .Die  Neigung  der  beiden 
Geschlechter  zu  einander  ist  in  der  Jugend  eine  ganz  intensive  und  edle,  und  in  einer  ganzen 
Reihe  von  Liebesliedern  wird  den  Gefühlen  des  Herzens  oft  in  überschwänglicher  Weise  Aus- 
druck gegeben.  *"  Unter  den  Galla  und  ßantu  kam  es  vor,  dass  erkaufte  Weiber,  welche 
den  aufgenöthigten  Ehemännern  nicht  gut  waren,  sich  lieber  das  Leben  nahmen,  als  daas  de 
den  für  sie  entehrenden  Ehebund  schlössen. 

Polak  stellt  den  Satz  auf:  Der  Begriff  von  Liebe,  den  wir  haben,  ezistirt, 
wie  im  ganzen  Orient,  auch  in  Persien  nicht.  Jedoch  widersprechen  dem  doch 
ganz  entschieden  die  glühenden  Schilderungen  treuer  Liebe,  wie  sie  uns  in  Tausend 
und  einer  Nacht  gegeben  werden. 

Treue  Liebe  zu  ihrem  Gatten  und  zartes  Liebeswerben  unter  den  Unverhei- 
ratheten  treffen  wir  auch  bei  den  Bewohnern  der  Südsee-Inseln  an. 

So  berichtet  uns  auch  Moncelon  von  den  Neu-Caledoniern: 

,.11  y  a  accouplement  sans  amour,  absolument  comme  ailleurs;  mais  Tamonr  existe  et 
j'ai  vu  des  suicides  par  amour.  Le  baiser  est  connu:  L'etait-il  jadis?  Aujourd*hni,  il  est 
apprecie  cbez  les  jeunes  gens,  qui  sont  avides  du  plus  sensuel  de  tous:  celui  lar  les  l^vree.* 

Und  wo  Lieder  gesungen  werden,  wie  das  sogleich  folgende,  dm  famn  man 
wohl  an  der  Existenz  von  zarten  Liebesempfindungen  keinen  Zwofiol  bMin.  DieMS 
Lied  fand  Parkinson  ebenfalls  in  der  Südsee  und  zwar  bei  den  fiilD6ffc^In«n« 
lauern.     Er  theilt  uns  die  folgende  Uebersetzung  mit: 


129.  Der  Liebeszauber.  499 

Man  hat  es  gehört, 

Es  ist  über  ganz  E*tnei  (ein  Dorf)  verbreitet 

Und  macht  viel  Aufruhr  in  Arorai. 

Soll  ich  es  yerleugnen? 

Es  bricht  mein  Herz. 

Sein  Oel  riecht  so  schön 

Und  er  ist  so  schön  und  gut! 

Ich  hab  ihn  so  sehr  lieb, 

Und  er  scheint  mich  wieder  zu  lieben. 

Jetzt  steht  er  unter  jenem  Baum, 

Ich  will  ihn  rufen.    Ngo,  Ngo,  Ngo, 

Ich  muss  hingehen,  wo  ich  Ruhe  finde. 

Nach  Norden  über  das  tiefe  Wasser. 

Ngo,  Ngo,  Ngo  (Weinen). 

Jetzt  sehe  ich  ihn  am  Strande  stehen. 

Er  nimmt  sein  Canoe  und  segelt 

Hinauf  zwischen  Tarawa  und  Apalang. 

Dort  wirft  er  Anker,  er  hat  sie  wiedergefunden, 

0,  dort  kommt  der  Vogel  te  Eabane, 

0  Kabane,  0  Eabane,  0  Kabane! 
Man  muss  wahrscheinlich  in  demjenigen,   was  wir  als  Liebe  zu  bezeichnen 
pflegen,  verschiedene  Grade  and  Abstufungen  anerkennen;  aber  voraussichtlich  giebt 
es  kein  einziges  Volk,  dem  die  Liebe  völlig  fehle,  wenn  sie  auch  nur  ein  scheinbar 
verstecktes  und  schwer  zu  bemerkendes  Dasein  fristet. 


129.  Der  Liebeszauber. 

Ist  nun  einmal  die  Liebe  erwacht  und  hat  sie  nicht  die  erwünschte  Gegen- 
liebe gefunden,  so  hat  sie  von  jeher  nach  übernatürlichen  Mitteln  gesucht,  um 
dieselbe  dennoch  zu  erringen.  Hat  sie  diese  Gegenliebe  aber  erlangt,  so  schwebt 
sie  nicht  selten  in  banger  Furcht,  sie  wieder  zu  verlieren,  und  wiederum  müssen 
magische  Processe  hier  die  schützende  Hülfe  gewähren. 

Der  Glaube  an  dergleichen  Mittel  ist  über  sehr  viele  Volker  verbreitet,  und 
die  besonderen  Maassnahmen  wechseln  je  nach  den  Sitten  und  der  Anschauung  der 
Nation,  und  wie  in  so  vielen  Formen  des  Volksaberglaubens,  so  lassen  sich  auch 
auf  diesem  Gebiete  manche  Anklänge  an  altmythologische  Anschauungen  erkennen. 

Bei  der  Anwendung  des  Liebeszaubers  haben  wir  verschiedene  Grade  und 
Methoden  zu  unterscheiden.  Einestheils  sind  es  rein  sympathetische  Mittel,  welche 
von  fern  her  auf  denjenigen  wirken,  dessen  Namen  der  den  Zauber  Ausübende 
nennt,  oder  es  sind  besondere  geheimnissvolle  Dinge,  die  man  aber  mit  dem  zu 
Bezaubernden  in  directe  Berührung  bringen  muss,  oder  endlich  die  Zaubermittel 
müssen  von  demjenigen,  auf  den  es  abgesehen  ist,  in  irgend  einem  Nahrungsmittel, 
selbstverständlich  ohne  sein  Wissen,  genossen  worden  sein,  sie  müssen  also  wirk- 
lich in  seinen  Körper  eindringen. 

Hier  schliesst  sich  das  Liebesorakel  an,  durch  das  man  überhaupt  erst 
den  Gegenstand  kennen  zu  lernen  ho£Ft,  von  welchem  man  einst  geliebt  werden 
wird.  Femer  muss  man  eine  schon  gewonnene  Liebe  zu  erhalten,  eine  verlorene 
wieder  zu  erwerben  und  endlich  die  Fesseln  einer  lästigen  Liebe  wieder  los  zu 
werden  suchen. 

Bis  in  das  graue  Alterthum  sind  wir  im  Stande,  derartige  magische  Hand- 
lungen nachzuweisen.  So  gab  es  schon  im  alten  Indien  einen  Liebeszauber, 
durch  dessen  Beihülfe  das  Mädchen  auf  das  Herz  ihres  heiss  Geliebten  zu  wirken 
suchte.  Ein  Beispiel  findet  sich  in  einem  Zauberspruch  zur  Fesselung  eines  Mannes 
und  zur  Vertreibimg  einer  glücklichen  Nebenbuhlerin  (R  Veda  10,  145): 

.Dwte  Pflama  grabe  loh  aas,  das  kr&ftige  Kraat,  durch  welches  man  die  Nebenbuhlerin 
verdringii  daNk  ««Um»  man  einen  Gatten  erlangt. 

82* 


500  XVIIl.  Liebe  and  Liebetwerben. 

Da  mit  den  aasgebreiteten  Bl&ttern,   heilbringende,   knflreiche,   von  den  G^ttam 
spendete,  blase  weit  weg  meine  Nebenbahlerin,  Tenchaffe  mir  einen  eigenen  Gatten. 

Herrlicher  bin  ich,   o   herrliches  Gewächs,   herrlicher  als   die  Herrlichen,  aber 
Nebenbuhlerin,  die  soll  niedriger  sein  als  die  Niedrigen. 

Nicht  nehme  ich  ihren  Namen  in  den  Mand,  nicht  weile  sie  gerne  bei  diesem  Stemme^ 
in  weite  Feme  treiben  wir  die  Nebenbahlerin. 

Ich  bio  Qberwältigend,  du  bist  siegreich,  wir  beide  liegreich,  wollen  die  Nebenbnhleria 
bewältigen. 

Dir  legte  ich  die  siegreiche  zur  Seite,  dich  belegte  ich  mit  der  siegreichen;  mir  lanfe 
dein  Streben  nach  wie  die  Eah  dem  Kalb,  wie  Wasser  dem  Wege  entlang  eile  et.* 

Eine  ganze  Reihe  solcher  Segen  zur  Entflammung  ((uc)  von  liebe  in  dem 
Herzen  eines  Mannes  hat  uns  der  Atharva-Veda  aufbewahrt.  (Zimmer.)  Nach 
GriWs  Uebersetzung  möge  die  folgende  Probe  hier  Platz  finden: 

,Aus  Honig  dies  Gewächs  entstund.  So  red*  ich  sQss  mit  meiner  Stimm*: 

Mit  Honig  graben  wir  Dich  aus,  Wie  Honig  eitel  will  ich  sein! 

Der  Honig  ist^s,  der  Dich  gezeugt.  Ja  mehr  als  Honig  bin  ich  süss. 

So  mache  uns  denn  honigsfiss.  Hab'  mehr  als  Süssholz  Sflssigkeit: 

An  meiner  Zang*  yorn  Honig  klebt.  So  sei  denn  ich  das  Liebste  Dir, 

An  ihrer  Wurzel  Honigseim:  Gleich  einem  honigsQssen  Zweig! 

In  meiner  Macht  nur  sollst  Du  stehn.  Ich  wind*  Geschling  Ton  Zackerrohr 

Mir  sollHt  Da  ganz  zu  Willen  sein.  Um  Dich,  dass  es  den  Hasa  vertreib. 

Wie  Honig  ist  mein  Eingang  sQsb,  Dass  Du  ganz  in  mich  seist  verliebt. 

Und  honigHOsH  mein  Ausgang  ist,  Dass  Du  mir  nicht  abspenstig  wirst.* 

Die  letzten  Verse  lassen  vermutben,  dass  bei  der  Hersagung  dieses  Zauber- 
spruchs irgend  eine  mystische  Manipulation  mit  Zuckerrohrstengeln  ausg^eAhrt 
worden  ist. 

Einen  Liebeszauber  bei  den  alten  Aegyptern  hat  Erman^  aus  dem  grossen 
Pariser  Zaubeq^apyrus  nachgewiesen.     Eine  der  Formeln  lautet: 

, Mein... zu  legen  an  den  Nabel  des  Leibes  der  N.  N.,  es  zu  bringen  (?)  den... der 
N.  N.  und  dass  sie  gebe,  was  in  ihrer  Hand  ist  in  meine  Hand,  was  in  ihrem  Mond  ist  in 
meinen  Mund,  was  in  ihrem  Leib  ist  in  meinen  Leib,  was  in  ihren  weiblichen  Gliedmaaien, 
gleich,  gleich,  augenblicklich,  augenblicklich/ 

Die  alten  Römer  brauten  Liebestränke,  welchen  man  die  Kraft  zuschrieb, 
Personen  beiderlei  Geschlechts,  die  sich  früher  ganz  gleichgültig  gewesen,  in 
einander  verliebt  zu  machen,  oder  durch  die  man  dem  Gegenstande  seiner  An- 
betung Gegenliebe  einzuimpfen  hoffte.  LucuUus  soll  durch  einen  solchen  den 
Verstund  und  zuletzt  das  Leben  eingebüsst  haben.  Der  Dichter  Lucretius  nahm 
sich  das  Leben  im  Liebeswahn,  der  ihm  angeblich  durch  ein  Philtrum  —  so 
nannte  man  einen  Liebfstrank  —  beigebracht  wurde.  Apulejus  soll  das  Herz 
der  reichen  Pudentilla  durch  ein  Philtrum  gewonnen  haben,  das  aus  Spargel. 
Krebsschwänzen,  Fischlaich,  Taubenblut  und  der  Zunge  des  fabelhaften  Vogels 
Jyop  zusammengesetzt  war. 

Der  Italiener  Porta  erzählt  Wunderdinge  von  der  Wirkung  des  Hippo- 
manes,  einer  schwarzen  Haut,  die,  von  der  Grösse  einer  getrockneten  Feige,  auf 
der  Stirn  neugeborener  Füllen  wachsen  soll  und,  von  den  Griechen  zu  Pulver 
verbrannt,  im  Blute  des  Liebenden  aufgelöst,  als  Philtrum  gebraucht  wurde. 

Der  Liebeszauber  war  auch  unseren  germanischen  Vorfuhren  nicht  fremd: 
Man  suchte  im  skandinavischen  Norden  zur  Erregung  der  Liebe  die  mystische 
Wirkung  der  Kunen  zu  verwenden,  wie  Wcinhold  darthut.  Ausser  in  mehreren 
nordischen  Sagen,  die  von  solcher  Kraft  der  Runen  Beispiele  bringen,  lernen 
wir  aus  den  Liedern  von  Siegfried  dergleichen  Liebesmittel  kennen.  In  OdkMs 
K  u  n  e  n  1  i  e  d  in  der  Edda  heisst  es: 

„Ein  sechzehntos  knnn  ich,  will  ich  8ch5ner  Maid 
In  Lieb*  und  Lust  mich  freuen; 
Den  Willen  wandl'  ich  der  Weissarmigen, 
Dass  gani  ihr  Sinn  sich  mir  gesellt. 


502  XVIII.  Liebe  und  Liebeswerben. 

Ein  siebzehntes  kann  ich,  dass  schwerlich  wieder 
Die  holde  Maid  mich  meidet. 
Dieser  Lieder  magst  Du,  Lodfafnir, 
Lange  ledig  bleiben." 

In  der  isländischen  Egüs  Saga,  welche  Asmundarson  aufgezeichnet  hat, 
ist  von  solchen  Zauberrunen  die  Rede.  Ich  verdanke  den  Hinweis  und  die  üeber- 
setzung  dieser  Stelle  Fräulein  Margarethe  Lehtnann-Fühes.  Ein  Bauemsohn  in 
Norwegen  warb  um  die  Liebe  eines  Mädchens,  und  als  dieses  ihn  nicht  erhörte, 
da  schnitzte  er  ihr  Runen,  um  sie  zu  bethoren;  aber  er  verstand  es  nicht  ordent- 
lich, und  da  verfiel  sie  durch  diesen  Zauber  in  eine  lange  Krankheit.  Egü^  der 
das  Gehöft  ihres  Vaters  besuchte,  sah  sie  dort  elend  im  Bette  liegen,  und  ihr 
Vater  berichtete  ihm  auf  seine  theilnehmende  Frage:  ,Sie  hat  eine  lange  Kraft- 
losigkeit gehabt  und  das  war  eine  harte  Krankheit.  Sie  bekam  keine  Nadit  ScUaf 
und  sie  war  ganz  wie  ausser  sich,  als  sei  ihre  Haut  gestohlen  worden.*^  Effä 
Hess  die  Kranke  aus  dem  Bette  heben  und  untersuchte  dasselbe.  Da  fand  er 
einen  Fischknochen,  auf  welchen  die  Zauberrunen  geritzt  worden  waren.  Er  las 
dieselben,  schnitzte  sie  ab  und  schabte  sie  in  das  Feuer  nieder.  Darauf  verbrannte 
er  den  Fischknochen  ganz  und  liess  die  Betttücher  in  den  Wind  tragen  und  die 
Kranke  auf  reine  Betttücher  lagern.    Als  dieses  geschehen,  sprach  Egü  den  Vers: 

«Der  Mensch  soll  nicht  Ronen  ritzen, 

Ausser  wenn  er  (sie)  gut  beherrschen  kann! 

Das  geschieht  manchem  Manne, 

Dass  er  im  Dunklen  den  Stab  (Buchstaben)  verwirrt. 

Ich  sah  auf  einem  geschnitzten  Fischknochen 

Zehn  Geheimstäbe  geritzt: 

Das  hat  einer  Frau  Laukalind  (Lauchlinde!) 

Lange  Trübsal  verursacht." 

Als  dann  Egü  auf  seiner  Rückreise  wiederum  bei  dem  Bauern  vorsprach, 
fand  er  dessen  Tochter  auf  den  Füssen  und  von  ihrem  Leiden  wiederhergestellt 
Diese  Geschichte  ereignete  sich  im  Jahre  951. 

Als  besonders  kräftig  galt  auch  ein  Trunk,  durch  Zaubersprüche  und  Lieder 
und  Runen  reich  gesegnet,     lieber  diesen  Aberglauben   spricht  Bruder  Berthold: 

«Pfui,  glaubst  du,  dass  du  einem  Manne  sein  Herz  aus  dem  Leibe  nehmen  und  ihm 
Stroh  dafür  hineinstossen  könntest?*  Ein  andermal  ruft  er:  ,Es  gehn  manche  mit  bOsem 
Zauberwerk  um,  dass  sie  wähnen,  eines  Bauern  Sohn  oder  einen  Knecht  zu  bezaubern.  Pfui, 
du  rechte  ThGrin!  warum  bezauberst  du  nicht  einen  Grafen  oder  einen  König?  dann  würdest 
du  ja  eine  Königin  werden.*  Allein  nicht  bloss  durch  Ermahnungen  in  Predigten,  sondern 
noch  mit  viel  kräftigeren  Mitteln  zog  die  Kirche  gegen  solchen  Aberglauben  zu  Felde;  und 
Weinhold  führt  an:  «Als  die  Hexenyerfolgungen  blühten,  brachte  nicht  selten  vermeintlicher 
Liebeszauber  ein  Weib  auf  den  Scheiterhaufen,  und  manches  Mädchen  musste  fftr  seinen  Lieb- 
reiz mit  dem  Tode  büssen." 

Der  europäische  Volksaberglaube  ist  noch  heute  ungemein  reich  an  Mitteln  zur 
Liebes-Erwerbung,  die  Welleicht  aus  sehr  alter  Zeit  herstammen.  Zuerst  sind  hier  gewisse 
Zaubersprüche  zu  erwähnen:  Es  giebt  in  der  Oberpfalz  einen  solchen,  in  dem  sich  das 
Mädchen  mit  ihren  Bitten  an  die  hülfreichen  Gestirne  wendet,  sobald  der  Liebhaber  lau  wird; 
doch  ist  nur  bei  zunehmendem  Monde  der  Spruch  von  Erfolg: 

«Grüss  dich  Gott,  lieber  Abendstem! 
Ich  seh  dich  heut  und  allzeit  gern; 
Scheint  der  Mond  über^s  Eck, 
Meinem  Herzallerliebsten  auf's  Bett: 
Lass  ihm  nicht  Rast,  lass  ihm  nicht  Ruh, 
Dass  er  zu  mir  kommen  mu  (muss)!* 

Die  Ausübung  eines  Liebeszaubers  ist  in  einem  ^  ^d«  der  flandrisch^  i 

dem  15.  Jahrhundert  dargestellt,  das  sich  im  Le  Wim  befindet  o 

besprochen  wurde;  dazu  ist  eine  treffliche  Copie  ^hß):  In  der  ) 

Kamin  und  reichlichem  Hansgerftth  versel  «lit  ein  n» 


129.  Der  Liebeszauber.  503 

am  Unterleibe  nur  mit  einem  dünnen  Schleier  bedeckt;  neben  ihr  befindet  sich  auf  einem 
Schemel  eine  Trohe  mit  geöffnetem  Deckel;  in  derselben  erblickt  man  ein  Herz,  wahrschein- 
lich ein  Wachsbild.  In  der  rechten  Hand  hält  das  Mädchen  Feuerstein  und  Schwamm,  in 
der  erhobenen  Linken  einen  Stahl,  mit  dem  sie  aus  dem  Feuerstein  Funken  schlägt;  diese 
letzteren  sprühen  auf  das  Herz  herunter,  während  auch  von  dem  Schwamm  auf  dasselbe 
Funken  herabfallen.  Durch  eine  im  Hintergrunde  sich  öffnende  Thür  tritt  ein  junger  Mann 
in  das  Gemach. 

üeber  die  Bedeutung  dieser  Scene  kann  man  nicht  lange  zweifelhaft  sein:  Offenbar  ist 
hier  die  magische  Handlung  eines  Liebeszaubers  dargestellt,  der  in  solcher  Form  namentlich 
im  Mittelalter  verbreitet  war.  Sie  bestand  darin,  dass  man  ein  Bild  aus  Wachs  oder  anderem 
Stoffe  (in  ganzer  menschlicher  Figur  oder  auch  in  Gestalt  eines  Herzens)  mit  dem  Namen 
dessen,  auf  den  es  abgesehen  war,  taufte  und  es  dann  glühen  oder  schmelzen  machte.  Durch 
diese  Wirkung  galt  nun  Derjenige,  dessen  Namen  das  Bild  trug,  mit  seinem  Wesen  als  magisch 
an  dasselbe  gebunden;  er  sollte,  indem  er  Aehnliches  erlitt,  wie  das  Bild,  in  Liebe  entzündet 
werden.     Jacob  Grimm   erwähnt  folgende  Stelle   aus  dem  Gedicht  eines  fahrenden  Schülers: 

«Mit  wunderlichen  Sachen 
13r  ich  sie  denne  machen 
von  wahs  (Wachs)  einen  Kobold 
wil  si  daz  er  ihr  werde  holt 
und  töufez  in  den  brunnen 
und  leg  in  an  die  sunnen.* 

In  der  Regel  Hess  man  das  Zauberbild  (den  „Atzmann*),  statt  es  in  die  Sonne  zu  legen, 
am  Feuer  ,bähen*. 

Auch  bei  den  Indianern  in  Nord -Amerika  spielt  ein  Bild  des  Geliebten  bei  dem 
Liebeszauber  eine  wichtige  Rolle.  Nach  Ktating  fertigen  die  Chippeway- Mädchen  ein 
solches  Abbild  des  begehrten  Mannes  und  streuen  ihm  ein  gewisses  Pulver  auf  die  Herzgegend. 
Bemerkenswerth  ist  hier,  dass  auch  bei  diesem  uncivilisirten  Volke  der  Sitz  der  Liebe  in  die 
Herzgegend  verlegt  wird. 

Aehnlich  ist  es  nach  v.Wlislocki^  hei  den  siebenbürgischen  Zigeunern: 

«Will  eine  Maid  sich  die  Liebe  eines  bestimmten  Burschen  erzwingen,  so  formt  sie  aus 
dem  Teige,  dem  sie  noch  womöglich  Haare,  Speichel,  Blut,  Nägel  u.  s.  w.  des  geliebten  Mannes 
beimischt,  ein  menschliches  Gebilde,  das  sie  mit  dem  Namen  des  Betreffenden  belegt.  Dann 
vergräbt  sie  die  Figur  bei  zunehmendem  Mond  auf  einem  Kreuzwege  in  die  Erde,  lässt  ihr 
Wasser  auf  die  Stolle  rinnen  und  spricht  die  Worte: 

Peter,  Peter,  ich  liebe  Dich!  Wenn  verfault  Dein  Bildchen  ist,  sollst  Du  wie  der 
Hund  der  Hündin,  also  Liebster,  mir  nachlaufen!* 

Ein  eigen thümliches  magisches  Mittel  ist  der  Sudzauber,  auch  Siedzauber,  nordisch: 
seidr  genannt.  Wird  unter  gewissen  Sprüchen  ein  Stück  gebrauchter  Kleider  oder  Haar  in 
einem  neuen  Geschirr  gesotten,  so  kommt  Über  die  spröde  Person  plötzlich  die  Liebe  mit 
solcher  Gewalt,  dass  sie  dahinlaufen  muss,  wo  die  Liebe  gesotten  wird,  und  zwar  um  so 
schneller,  je  stärker  das  Wasser  im  Topfe  wallt;  und  kann  sie  es  nicht  erlaufen,  so  muss  sie 
sich  zu  Tode  rennen;  kein  Hindemiss  auf  dem  Wege  ist  so  stark,  dass  es  nicht  Überwunden 
werden  wollte.  Schönicerili  berichtet  von  einigen  Fällen,  in  welchen  die  Verliebten,  wie  sie 
fest  zu  wissen  glaubten,  unter  dem  Banne  solchen  Zaubers  gestanden  haben. 

Derartiger  Zauber  ist  aber  nicht  allein  auf  die  europäischen  Völkerschaften 
beschränkt.     Das  beweist  eine  Angabe  von  Riedel^: 

, Sympathetische  Mittel,  Liebeswahn  zu  erregen,  werden  von  den  auf  Djailolo  und 
Halmahera  (Niederländisch-lndien)  lebenden  Galela  und  Tobelorcsen  unter  der 
Bezeichnung  «goleu  laha*  oft  angewendet.  Die  ursprüngliche  Galela  weise  ist  die  ßezauberung 
mittelst  Blumen.  Man  pflückt  zu  dem  Zweck  3  Tage  nach  Neumond  4  Urunuru-  und  4  Gabi- 
Blumen,  stellt  sie  in  einen  weissen  Topf  mit  Wasser,  setzt  dieselben  unter  freiem  Himmel 
Tor  sich  hin  und  spricht,  wenn  die  Sterne  sich  zeigen: 

.Frau  Sonne,  du  hell  leuchtende  Frau,  ich  glänze  wie  die  Sonne,  die  aufspringt  (auf- 
geht), ich  glänze  wie  der  Mond,  der  sich  zeigt,  ich  glänze  wie  der  Stern  am  Himmel,  ich 
gl&nse  wie  das  Feuer,  das  flammt,  ich  glänze  wie  die  Sonnenblume,  die  sich  öffnet,  möge  X 
ndob  lüben,  an  mich  denken  bei  Tage,  wie  bei  Nacht. ' 

iNaeh  diesen  Worten  muss  Gesicht  und  Körper  dreimal  mit  dem  Wasser  gewaschen 
•idmt  in  dam  die  BluMn  legen.* 


504  XYIIL  Liebe  und  Liebefwerben. 

Auf  den  Aaro-  und  T an em bar- Inseln  (Niederländisch-Indion)  wenden  aodi  Tiale 
Männer  sympathetische  Zaabermittel  an,  om  eine  Frao  in  sich  rerliebt  sn  ^»fhm\  CRitäid^,) 
Ganz  ähnlich  ist  es  aof  den  Seranglao-  and  Gor ong -Inseln.  Will  hier  eine  Frau  oder 
ein  Mann  Jemanden  in  sich  Terliebt  machen,  dann  geht  sie  (oder  er)  nackt  in  das  WaaMr, 
setzt  sich  aof  den  Boden,  streckt  die  H&nde  in  die  Höhe  nnd  sagt: 

,Im  Namen  des  barmherzigen  Gottes,  Schein  der  Feoerfliege  Mantara,  sieh  auf  midi, 
Vollmond  sieh  auf  mich,  Sonne  sieh  aof  mich,  der  Segen  daron  es  ist  kein  Gott,  alt  Gott,  der 
Segen  von  Mohammed,  Gottes  Abgesandten,  N,  N.  sieh  auf  mich,  die  wie  der  Mond  aeiieiBi, 
sieh  auf  mich  den  Vollmond,  sieh  auf  mich  den  Stern,  sieh  auf  mich  die  Sonne,  sieh  anf  mich 
den  Propheten  Mohammed,  den  Abgesandten  Gottes.* 

Dann  bläst  man  zweimal  über  beide  H&nde  und  macht  das  Hanpt  dreimal  mit  Warner  nam. 

Ausserordentlich  mannigfaltig  ist  die  zweite  Art  des  Liebenaabera,  bei 
welchem    das    geliebte    Wesen    mit   bestimmten    absonderlichen    Dingen    berfihrt 

werden  muss. 

Im  Spreewalde,  der  bekanntlich  eine  wendische  BeTölkemng  beutst,  sagt  man  an 
einzelnen  Orten,  dass  der  junge  Mann,  um  eines  Mädchens  Liebe  su  gewinnen,  in  einen 
Ameisenhaufen  einen  lebenden  Frosch  hineinthun  und  so  weit  weggehen  soll,  dam  er  nichts 
sieht  und  nichts  hört;  dann  nach  einigen  Stunden  muss  er  wiederkommen  und  eine  «Hand* 
des  Frosches  nehmen,  darauf  soll  er  dem  Mädchen  eine  Hand  geben  nnd  ihr  dabei  die  Froscfa- 
hand  in  ihre  Hand  drücken. 

Auch  sonst  in  Deutschland  ist  der  Frosch  ein  wichtiges  Hülfsmittel  fdr  den  Liebes- 
Zauber.  In  Schwaben,  Böhmen,  Hessen,  Oldenburg  thut  der  Bursch  einen  Laubfrosch  in 
einen  neuen  Topf  und  bindet  ihn  am  Georgitage  Tor  Sonnenaufgang  in  einen  Ameisenhanfen; 
ist  der  Frosch  dann  von  den  Ameisen  verzehrt,  so  nimmt  man  am  folgenden  Georgitage  (also 
nach  Jahresfrist!)  die  Knöchelchen  heraus  und  bestreicht  mit  einem  solchen  (dem  Schenkel- 
knochen) das  Mädchen  auf  sich  zu.  In  Ostpreussen  sticht  man  zwei  sich  begattende 
Frösche  mit  einer  Nadel  durch,  und  mit  dieser  Nadel  heftet  man  dann  einen  Augenblick  die 
eigenen  Kleider  mit  denen  des  Geliebten  zusammen.  (TöppenJ  In  der  Oberpfals  mnss  der 
Bursche  die  Hand  des  Mädchens  mit  den  FOsschen  eines  am  Lnkastage  gefangenen  Laub- 
frosches blutig  ritzen. 

Dem  Frosch  schliesst  sich  die  Fledermaus,  die  Eule  und  der  Hahn  an,  also  s&mmtlich 
Thiere,  welche  in  der  Mythologie  und  in  der  schwarzen  Kunst  tou  jeher  eine  wichtige  Rolle 
zu  spielen  bestimmt  gewesen  sind.  In  Ostpreussen  berührt  das  Mädchen  ihren  Geliebten 
heimlich  mit  einer  Fledermaoskralle;  sie  muss  dabei  aber  einen  Zaubersegen  murmeln.  Im 
Samlande  heisst  es:  Man  schiesse  eine  Eule  und  koche  sie  in  der  Mittemachtsstunde.  Als- 
dann suche  man  aus  ihrem  Kopfe  zwei  Knöchelchen,  welche  wie  Hacke  und  Schaufel  gestaltet 
sind.  Das  Uebrige  von  der  Eule  vergrabe  man  unter  die  Traufe.  Wflnscht  man  nun  ein 
Mädchen  für  sich  zu  gewinnen,  so  darf  man  sie  nur  heimlich  mit  der  Hacke  berühren:  sie  ist 
«festgehackt*.  Reisst  man  einem  Hahn  die  Schwanzfedern  aus  und  drückt  sie  dem  begehrten 
Mädchen  heimlich  in  die  Hand,  so  hat  man  ihre  Liebe  erobert  (in  Seh  waben).  In  Böhmen 
genügt  es,  mit  diesen  drei  Federn  aus  dem  Hahnenschwanzo  den  Hals  des  Mädchens  zu  be- 
streichen, um  seine  Liebe  zu  erwerben. 

Auch  manche  Pflanzen  stehen  in  ganz  besonderem  Ansehen.  In  Franken  trägt  das 
Mädchen  Liebstöckelwurzel,  im  Spessart  Liebstöckelblüthe  im  Rosmarinbüschel  bei  sich,  um 
den  Geliebten  an  sich  zu  fesseln.  Es  kann,  so  heisst  es  in  Posen,  der  Bursch  von  der  reinen 
Jungfrau  dann  nicht  mehr  lassen,  wenn  letztere  in  seinen  Brustlatz  die  Spitze  eines  Rosmarins 
einnäht  Und  wie  in  Neo-Griechenland,  so  ist  auch  in  Ostpreussen  und  in  der  Ober- 
pfalz das  heimliche  Zustecken  von  vierblättrigem  Klee  besonders  in  die  Schuhe  Ton  treu- 
machender Wirkung;  anderwärts,  z.  B.  in  Böhmen,  legt  man  Rosenäpfel  dem  Schatz  ins 
Bett.  Bei  den  Süd-Slaven  gräbt  nach  Krausa^  «das  Mädchen  die  Erde  aus,  in  welcher  die 
Fussspur  des  geliebten  Burschen  sich  abgedrückt  hat,  giebt  die  Erde  in  einen  Blumentopf  und 
pflanzt  darin  die  Nevenblume  (Calendula  ofßcinalis).  Das  ist  die  Blume,  die  nicht  welkt!  So 
wie  die  gelbe  Blume  wächst  und  blüht  und  nicht  hinwelkt,  so  soll  auch  die  Liebe  des  Burschen 
zu  dem  Mädchen  wachsen,  blühen  und  nicht  verwelken.* 

In  Italien  giebt  es  für  das  Mädchen  ein  unfehlbares  Mittel,  tioh  daii  JUairliag  geneigt 
zu  machen;  sie  muss  ihm  «das  Pulver  werfen*.    .Da  ist  die  Eidechse,  Oalabrien 

allgemein  respectirtes  Thierchen,  denn  es  trägt  ja  Wasser  in  die  H^ 
diesmal   muss  sie  daran;   die  Liebe   respectirt   kein  Gesetz.    Das 
Eidechse,  ertränkt  sie  in  Wein,  dörrt  sie  an  der  Sonne  und  stöett  < 


129.  Der  Liebeszaaber.  505 

Pulver  nimmt  sie  eine  Prise  und  bestäabt  damit  den  Geliebten.  Dies  hält  man  für  ein  un- 
fehlbares Liebeszwangsmittel,  und  davon  stammt  die  Phrase:  Sie  hat  mir  das  Pulver  geworfen, 
d.  h.  mich  in  sie  verliebt  gemacht*    (Kaden.) 

Etwas  unbequemer  ist  das  in  der  Provinz  Bari  in  hohem  Ansehen  stehende  Mittel,  um 
den  Geliebten  fest  an  sich  zu  fesseln,  dass  er  sich  nicht  wieder  von  dem  Mädchen  trennt. 
Die  Liebende  soll  nach  Karu9%&8  Angabe  auf  einem  Begräbnissplatz  den  Knochen  eines  Todten 
stehlen,  der  dann  ohne  Wissen  des  Bäckers  in  ein  Brod  eingebacken  werden  muss.  Letzteres 
muss  puiverisirt  und  unter  die  heilige  Steinplatte  eines  Altars  gelegt  werden,  damit  die  Messe 
darüber  gelesen  wird.  Mit  diesem  Pulver  soll  man  dann  den  Geliebten,  ohne  dass  er  es  ge- 
wahr wird,  bestreuen. 

Sympathetische  Zaubermittel,  um  Männer  und  Frauen  liebestoll  zu  machen,  werden  auf 
Buru  angewendet.  Man  benutzt  dazu  Sirih-Pinang,  oder  Tabak,  die  man,  nachdem  eine  Be- 
schwörungsformel über  sie  gesprochen  ist,  in  die  Sirih-Dose  legt.  Macht  der  Erwählte  davon 
Gebrauch,  so  muss  er  dauernd  in  Liebe  der  Beschwörerin  folgen.  Noch  kräftiger  wirkt  es, 
wenn  man  ein  Stück  zubereiteten  Gember  (Zingiber  officinale)  unter  Segenssprüchen  in  die 
Erde  gräbt.  Geht  der  Erwählte  über  diese  Stelle  fort,  so  tritt  der  Zauber  in  Kraft.  (Riedel^ J 
Auch  in  Mittel-Sumatra  hat  man,  wie  van  Ha^selt  erzählt,  allerlei  Zaubermittel  zur 
Erweckung  der  Liebe.  Eines  besonderen  Rufes  erfreut  sich  das  Sperma  des  Elephanten,  der 
in  dem  Augenblick,  wo  er  das  Weibchen  bespringen  wollte,  durch  einen  Menschen  erschreckt 
worden  ist.  Es  ist  dazu  nöthig,  dass  es  auf  den  Körper  oder  auf  die  Kleidung  des  Betreffenden 
gebracht  wird,  dessen  Liebe  man  zu  erringen  hofft. 

Am  Georgi-TsLge  backen  nach  von  Wli^locki  die  transsilvanischen  Zelt- 
Zigeunerinnen  ein  mit  Kräutern  gewürztes  Brod,  das  sie  unter  Freund  und 
Feind  vertheilen.  ,  Diesem  Kuchen  werden  auch  geheimnissvolle  Wirkungen  zu- 
geschrieben und  namentlich  soll  seine  Kraft  in  Liebesangelegenheiten  unzweifel- 
haft sein.  Manche  Maid  raubt  durch  diesen  Kuchen  «das  Herz  und  den  Verstand ** 
des  Burschen,  der  dann  später  in  seliger  Erinnerung  singt: 

Wohl  kein  Weib  btlckt  solches  Brod, 

Wie  mein  süsses  Lieb  es  bot 

In  dem  Wald  beim  Festgelag' 

Mir  am  Sankt  Georgi-Ta^, 

Knetet  Blumen  von  der  Au* 

In  den  Teig  und  frischen  Thau, 

Bäckt  hinein  die  Liebe  gross,  — 

Sclav*  wird  ihr,  der  es  genoss.** 

Ganz  besonders  wirksam  und  erfolgreich  ist  es  nun  aber,  wenn  man  ent- 
weder von  dem  Körper  des  geliebten  Wesens  etwas  zu  erlangen  vermag,  oder 
wenn  man  ihm  von  dem  eigenen  Körper  etwas  heimlich  anbringen  kann.  Das 
letztere  sind  durchaus  nicht  immer  sehr  appetitliche  Dinge.  Das,  was  man  sich 
von  dem  begehrten  Menschen  zu  scha£Fen  sucht,  sind  besonders  einige  Haare. 

Kann  man  vom  Haupte  des  Mädchens,  das  man  begehrt,  drei  Haare  bekommen,  so  klemme 
man  diese  in  eine  Baumspalte,  so  dass  sie  mit  dem  Baume  verwachsen ;  auch  soll  der  Bursche 
dem  Mädchen,  wenn  es  schläft,  dreimal  Haare  hinten  im  Nacken  abschneiden  und  sie  in 
der  Westentasche  tragen,  dann  ist  er  ihrer  Liebe  sicher. 

Solchen  Liebeszauber  mit  Haaren  kennen  auch  die  siebenbürgischen 
Zigeuner.     Darüber  sagt  v.  Wlislocki^: 

«Die  Maid  stiehlt  vom  Haupte  des  betreffenden  Burschen  einige  Haupthaare,  kocht  sie 
mit  Quittenkemen  und  einigen  Tropfen  ihres  Blutes,  das  sie  aus  ihrem  linken  kleineu  Finger 
gewinnt,  zu  einem  Brei,  den  sie  im  Munde  kaut  und  den  Vollmond  anblickend  dreimal  den 
Spruch  hersagt: 

.Ich  kaue  Dein  Haar, 
Ich  kaue  mein  Blut, 
Aus  Haar  und  Blut 
Werde  Liebe, 
Werde  neues  Leben 
Für  uns.* 
«Dann  schmiert  sie  mit  diesem  Brei  ein  Kleidungsstück  ihres  Qeliebten  ein ,    damit  er 
nizgendfl  Buhe  finde,  nur  bei  ihr.* 


506  XYIII.  Liebe  und  Liebeiwerben. 

F.'nter  den  Derivaten  des  eigenen  Körpers,  welche  man  dem  Anderen  nnbringcn  man, 
um  in  ihm  die  Gegenliebe  zu  entzflnden,  spielt  namentlich  der  Schweiss  eine  berromgende 
Kolle.  Ea  ist  eine  bekannte  Thatsache,  dass  der  Gemch  der  Transpiration  nicht  immer  der 
gleiche  ijtt  und  namf»ntlich  bei  geschlechtlichen  Erregnngen  einen  reiAnderten  Charakter  mn- 
nimmt;  e-t  ist  aber  femer  auch  nicht  za  leugnen,  dass  der  Gemchssinn  mit  den  geschleehtlicfaen 
Empfindungen  in  einer  sympathetischen  Beziehung  steht,  und  da  ist  es  wohl  nicht  sa  rer- 
wundem,  dasi)  in  dem  Glauben  des  Volkes  die  Ausdünstung  und  der  Duft  des  eigenen  KOipers 
eine  Wirkung  auf  die  Pfiyche  eines  Nebenmenschen  auszuüben  vermag,  wohlventandea,  wenn 
er  vom  entgegengesetzten  Geschlechte  ist. 

Man  führt  manche  Beispiele  als  Beleg  dafOr  an,  dass  die  nähere  Bekanntschaft  mit 
der  Transpiration  eines  Menschen  der  erste  Anlass  zu  einer  leidenschaftlichen  Liebe  gewordoi 
Bei ;  Heinrich  II L  ward  plötzlich  von  der  heftigen  und  bis  zu  seinem  Tode  andanemden  Liebe 
zu  der  PrinzeHsin  Maria  ton  Ckve  ergriffen,  als  er  sich  am  Tage  ihrer  Yennfthlung  mit  dam 
Prinzen  von  C'f/nde  (18.  August  1572)  zufällig  das  Gesicht  mit  einem  leinenen  Tuche  abtrocknete, 
welcberi  die  vom  Tanze  erhitzte  Prinzessin  kurz  vorher  von  ihrem  schwitzenden  KOrper  ge- 
nommen und  im  Nebenzimmer  abgelegt  hatte.  Auch  Heinrid^  IV.  würde  vielleicht  nie  eine 
feurige  I^eidenBchaft  für  die  schöne  Gabriele  empfunden  haben,  hätte  er  nicht  auf  einem  Balle 
unmittelbar  nach  ihr  mit  ihrem  Schnupftuch  sich  die  Stirn  getrocknet.  Solche  legendenhaften 
Erzählungen  gingen  fort  durch  die  gläubige  Welt  und  galten  als  Beweismittel  für  die  mate- 
rielle Kraft  magiM:hen  Liebeszaubers. 

•So  reicht  auch  im  Samlande  das  Mädchen  dem  jungen  Manne,  welchen  sie  zu  fesseln 
bestrebt  int,  wenn  sie  ihn  antrifft,  wie  er  sich  die  Hände  wäscht,  ihr  Taschentuch  oder  auch 
ihre  Schürze  zum  Abtrocknen.  In  Hessen  entwendet  man  dem  Geliebten  einen  Schuh  oder 
Stiefel,  trägt  ihn  acht  Tage  lang  selbst  und  giebt  ihn  dann  wieder  zurück. 

Nimmt  man  zu  dem  Abendmahle  eine  Blume  mit  und  wischt  mit  dieser  nach  dem 
GenuBHC  des  Weines  den  Mund,  so  erhält  die  Blume  die  Kraft,  den  Anderen  dauernd  in  Liebe 
zu  fosfieln,  wenn  er  die  Blume  annimmt. 

Sehr  leicht  vermag  ein  Mädchen  einem  Manne  Liebe  zu  erwecken,  wenn  sie  ihren  Urin 
in  seine  Stiefel  lässt. 

Aber  auch  solch  eine  Sympathie  erscheint  vielen  Leuten  nicht  sicher  genug. 
Sie  halten  den  Zauber  erst  dann  für  vollgültig,  wenn  sie  das  Zaubermittel  wirk- 
lich dem  zu  Bezaubernden  einverleibt  haben,  mit  anderen  Worten,  wenn  sie  im 
Stande  gewesen  sind,  dasselbe  seinem  Trank  oder  seinen  Speisen  beizumischen. 

Hier  stehen  obenan  die  sogenannten  Liebestränke,  die  Philtra  der  alten  Griechen 
und  Körner,  von  denen  schon  oben  die  Hede  war,  und  wie  bei  allen  Völkern,  so  spielen  sie 
auch  unter  den  DeutHchen  und  den  Süd-Slaven  eine  bevorzugte  Rolle.  Die  alte  Magie 
kommt  da  zum  Vorschein,  und  noch  bis  in  die  neueste  Zeit  giebt  es  Verblendete,  die  an  ihre 
Macht  glauben.  Eine  Frau,  die  mit  Liebestränken  handelte,  wurde  im  Jahre  1859  zu  Berlin 
verhaftet;  Hie  hatte  täglich  gute  GoHchäfte  gemacht.  Von  der  Liebstöckel- Wurzel,  deren 
myHtische  Kraft  hochgeschätzt  wurde,  macht  man  in  Franken  einen  Liebestrank;  die 
Höhiiieri  aber  tröpfeln  zu  gleichem  Zweck  Fledermaus-Hlut  ins  Bier;  nicht  ungefährlich  mag 
allerdings  die  Lieboswuth  sein,  welche  die  fränkischen  Mädchen  bei  ihren  Geliebten  da- 
durch erzeugen,  dass  sie  denselben  in  Kaffee  eine  Abkochung  von  spanischen  Fliegen  reichen, 
denen  sie  vorher  den  Kopf  abgebissen  haben;  denn  das  in  diesen  Thierchen  enthaltene 
Cantharidin  wirkt  schwer  schädigend  auf  die  inneren  Organe,  namentlich  auf  die  Nieren  ein. 

l' Oberhaupt  waren  die  Liebestränke  früher  sehr  gefürchtet,  und  nach  dem  Ausspruch 
der  alten  Aorzte  sollen  Leute  dadurch  wahnsinnig  geworden  sein,  ein  Ausspruch,  der  sich 
vielleicht  auf  die  angeführten  Beispiele  von  angeblichem  Liebeswahn  im  alten  Rom  stützte. 
Zacliias  sagt:  ^Focula  amatoria  hominem  infatuunt  et  insaniam  pariunt,  ut  nonnullorum  ani- 
nialiuni  cerobra  et  Solanum  furiosum.* 

Kine  meisterhafte  Schilderung  von  der  Wirkung  eines  solchen  Liebestrankea 

verdunk(fii  wir  bekanntlich  Gottfried  von  Strassburg: 

I)ie  Königin  bereitete  ^r^^  ^^^^^  ^^^^   ^^^  ^^^  ^^  ^^ 

hrer  WeiHieit  gemdss  ^.^  ^.^^^  ^^^         ^^^^  ^.^^ 

In  einem  Glangofilss  *#      x        -u         •  j 

v         M,      ,7     «j-  Musst  er  ihn  mmnen  und  mi 

Linon     rank  dor  M.nne.  ^^^  j^„„  j^     ^„^  .^^  ^ 

Der  mit  ho  feinem  Sinne  jj,^^  ^  ^„  ^^  ^od,  Ein  UW- 

Und  r rrwii^J'^lrach,  =^"  ^-^  ^  ^'"^  «^'- 


508  XVIII.  Liebe  und  Liebeswerben. 

Wie  beide  blind  auch  vor  Begier  Zu  begixmeii«  aarafangen: 

Sich  einem  Wunsche  möchten  nahn,  Das  barg  ihr  Wfinschen  und  Verlangen. 

Zq  schwer  doch  kam  es  ihnen  an 

Aber  auch  hier  sehen  wir  bald  wieder  bei  dem  Landrolke  die  Sacht,  von  dem  eigenen 
Körper  dem  anderen  etwas  einzugeben.  Im  Spreewalde  macht  der  Jfingling  das  Ifftdchen 
in  sich  verliebt,  wenn  er  sich  in  den  kleinen  Finger  der  linken  Hand  schneidet  und  das  dabei 
hervorr^uellende  Blut  dem  Mädchen  heimlich  zu  essen  giebt.  fr.  Sdiuleidmrg.J  Aadi  in 
Böhmen  schneidet  man  sich  in  der  letzten  Stunde  des  Jahres  in  den  Finger,  mischt  drei 
Tropfen  Blut  in  einen  Trank  und  lässt  ihn  den  oder  die  Geliebte  trinken. 

Ein  Liebespulver  fschätzt  man  in  den  Niederlanden.  fWolf^.J  Man  nimmt  eine 
Hostie,  die  jedoch  noch  nicht  geweiht  sein  darf,  schreibt  auf  dieselbe  einige  Worte  mit  dem 
Blute  aus  dem  Ringfinger  und  lässt  alsdann  von  einem  Priester  f&nf  Messen  darflber  lesen* 
Dann  t heilt  man  die  Hostie  in  zwei  gleiche  Theile,  deren  einen  man  selbst  nimmt  und  den 
anderen  der  Person  giebt,  deren  Liebe  man  gewinnen  will.  Dadurch  .ist  schon  viel  Unheil 
geschehen  und  manches  keusche  Mädchen  verfahrt  worden*. 

Doch  auch  das  gewöhnliche  Blut  genügte  dem  VorstellnngsvermÖgen  des  nngebildeten 
Volkes  nicht.  Es  mnsste  noch  etwas  Besonderes  dabei  sein.  Und  so  wählte  man  dann  das 
Menstruationsblut,  um  es  fQr  die  Zauberspeise  zu  benutzen.  Der  bereits  im  9.  Jahrhondert 
vorkommende  Zauber,  den  Männern  weibliches  Menstmalblut  in  Speise  und  Trank  zu  mischen, 
kommt  in  Deutschland  vereinzelt  noch  vor,  z.  B.  im  Rheinlande.  Bei  JBMrdbarfl  Ton 
Worms  heisst  es:  ^Fecisti  quod  quaedam  mulieres  facere  solent?  ToUnnt  menstninm  säum 
Fanguinem:  et  immiscent  cibo  vel  potui,  et  dant  viris  suis  ad  manducandum  vel  ad  bibendon, 
ut  plus  diligantur  ab  eis.    Si  fecisti,  quinque  annos  per  legitimas  ferias  poeniteas.*^ 

Auch  heute  noch  wird  in  Unter-Italien  in  der  Provinz  Bari  fest  geglaobt,  dass 
ein  mit  BFenstrualblut  befeuchtetes  Gebäck,  einem  Mann  zu  essen  gegeben,  diesen  unfehlbar 
in  Liebe  an  das  Mädchen,  welcher  das  Blut  entstammt,  zu  fesseln  vermöge.    (Karusio.) 

Ebenso  sind  die  Zigeunerinnen  in  Siebenbürgen  der  Ansicht,  ,dass  Apfialkenie 
zu  Staub  verbrannt  und  mit  dem  Menstruationsblut  vermischt,  einem  Jüngling  in  die  Speise 
gemengt,  diesen  zu  «toller  Liebe*  treiben  soll.*  Aber  noch  grössere  Kraft  besitzt  dieses  Blnt, 
wenn  es  in  der  Nenjahrsnacht  geflossen  ist: 

, Menstruationsblut  des  eigenen  Leibes,  in  der  Nei^ahrsnacht  erlangt,  ist  f&r  die 
siebenbürgische  Zigeuner- Maid  ein  unfehlbares  Mittel,  um  Liebe  zu  entfachen.  Wessen 
Kleider  sie  damit  besprengt,  der  kann  von  ihr  schwer  lassen.  Im  Jahre  1884  wnrde  von 
ihren  Stammesgenossinnen  Joane  Gindare,  eine  Zigeuner- Maid  des  Stammes  Leila,  bei 
der  Polizeibehörde  zu  Mühlbach  (Siebenbürgen)  angeklagt,  sie  habe  mit  ihrem  Men- 
struationsblut, zu  Neujahr  erlangt,  alle  Männer  des  Stammes  verrückt.  Klägerinnen  worden 
mit  ihrer  Klage  abgewiesen."     Ct\  Wlislocki*.J 

Die  hervorragendste  Rolle  spielt  hier  jedoch  ebenfalls  wieder  der  Seh  weiss.  Man  muss 
Aepfel  oder  Semmel,  welche  der  Andere  essen  soll,  im  Samlande  mit  dem  Schweisse  des 
Körpers  bethauen:  in  Schlesien,  Böhmen  und  Oldenburg  trägt  man  Obst,  besonders 
einen  Apfel,  oder  Woissbrod,  oder  ein  Stück  Zucker  so  lange  auf  der  blossen  Haut  anter  dem 
Arme,  bis  es  von  Schweiss  durchdrungen  ist,  und  giebt  es  dem  Anderen  zu  essen.  Ganz 
«Heiches  geschieht  im  Spreewalde.  Wenn  dort  aber  ein  Mädchen  die  Liebe  eines  «Jungen* 
liaben  will,  ho  soll  sie  sich  die  Nacht  Über  ein  Knäulchen  Semmel  oder  Zwieback  oder  einen 
A])fol  zwiHchen  die  Beine  auf  die  Pudenda  legen,  es  da  durchschwitzen  lassen  und  dann  dem 
Jungen  zu  essen  geben,  so  kann  er  nicht  von  ihr  lassen.  Auch  ein  durchgeschwitztes  seidenes 
HalHtuch,  das  zu  Zunder  verbrannt,  pulverisirt  und  dem  Essen  beigemengt  wird,  giebt  einen 
wirknamon  Lieboszauber  ab. 

In  der  südlichsten  Provinz  von  Chile  benutzten  die  Mädchen  ebenfalls  den  Schweiss 
als  Mittel  für  Liobcszauber.  Die  junge  Chilotin  webt  aus  Fäden  von  gewisser  Farbe  Tücher, 
die  sie  eine  Zeit  lang  bei  sich  trägt;  dann  weiss  sie  sie  dem  geliebten  Jüngling  entweder 
in  die  Kleidung  zu  bringen,  oder  sie  kocht  ihm  ein  Getränk  und  seiht  dasselbe  dnreh  das 
Zaubortucli.     Nach  dem  Genüsse  widersteht  er  ihrem  Anblicke  nicht. 

Dan  int  aber  alles  den  Leuten  noch  nicht  unappetitlich  genug.  Man  Usst  in  Böhmen 
Ilaare  uuh  der  Achselhöhle  gepulvert  in  den  Kuchen  backen,  und  Capitftn  Jaeobtem  enlUi 
mir,  <laHH  oh  in  Norwegen  ein  bekannter  Liebeszauber  sei,  klein  gehackte 
gebacken  dem  Anderen  zum  Kssen  zu  geben.  Anderwärts  bestreicht  man  dar 
Andere  essen  soll,  mit  Ohrenschmalz,  Selbst  das  Semen  virile  wird,  wie  im  ^ 
iilter  CWofuierscMebenJ,  noch  jetzt  in  Böhmen  der  »«^ise  oder  dem  Tranke 
beigomiicht.    (Grohmann.J    Andere  geniessen  e^  v  die  dann  wi 


510  XYlIl.  Liebe  und  Liebeswerben. 

dorn  Geliebten  zum  Genüsse  heimlich  beigebracht  wird.  Will  Einer,  dass  Jemand  sn  ihm  in 
Liebe  entbrenne,  so  muss  er  auf  nüchternen  Magen  drei  Pfefferkörner  Terschlucken,  späterhin, 
nachdem  er  sich  entleert,  die  Körner  ans  seinem  Abgang  heraussuchen,  sie  trocknen  und  sn 
Pulver  stossen  Dieses  PüWerchen  wird  in  einen  Kuchen  verbacken  und  der  Geliebten  oder 
dem  Burschen  zum  Essen  gegeben.    (Gegend  von  Varazdin.)    (Krausa^.) 

In  den  Decreten  des  Bischofs  Burchard  von  Worms  finden  wir:  .Fecisti  quod  qaaedam 
mulieres  facere  solent?  prostemunt  se  in  faciem,  et  discoopertis  natibus,  jubent  ut  tapra 
nudas  nates  conficiatur  panis,  et,  eo  decocto  tradunt  maritis  suis  ad  comedendum.  Hoc  ideo 
faciunt,  ut  plus  oxardescant  in  amorem  illarum.  Si  fecisti,  duos  annos  per  legitimas  feriat 
poeniteas.  Gustasti  de  semine  viri  tui  ut  propter  tua  diabolica  facta,  plus  in  amorem  taum 
exardesceret?  Si  fecisti  septem  annos  per  legitimas  ferias  poenitere  debes.  Fecisti  qnod 
quaedam  mulieres  facere  solent?  Tollunt  piscem  vivum  et  mittunt  eum  in  puerperium  sonm 
et  tamdiu  ibi  tenent,  donec  mortuus  fuerit,  et,  decocto,  pisce,  vel  assato,  maritis  snis  ad 
comondendum  tradunt.  Ideo  faciunt  hoc  ut  plus  in  amorem  earum  ezardescant.  Si  fecisti, 
duos  annos  per  legitimas  annos  poeniteas.* 

In  früher  gebrauchten  Liebestränken  gab  es  folgende  Ingredienzien:  (Mark)  Lorbeer- 
zweige, das  Gehirn  eines  Sperlings,  die  E^nochen  von  der  linken  Seite  einer  von  Ameisen  an- 
gefressenen Kröte,  das  Blut  und  Herz  von  Tauben,  die  Testikel  des  Esels,  Pferdes,  Hahns, 
und  ganz  besonders  wieder  das  Menstrualblut.     (Schwaben.) 

In  Marocco  wird  nach  Quedenfeldt  der  Kopf  eines  Geiers  und  eines  grossen  Saorien 
benutzt,  um,  gepulvert,  heimlich  dem  Gatten  beigebracht  zu  werden,  damit  seine  der  Fraa 
verloren  gegangene  Liebe  wiederkehre. 

In  Deutschland  sind  bestimmte  Tage  dem  Liebeszwange  besonders  günstig;  ee  und 
dies  Johanni  (24.  Juni),  Andreas  (80.  November)  und  Sylvester  (31.  December).  An  diesen 
Tagen  sind  besondere  Zaubersprüche  von  grosser  Kraft.  Aber  auch  Ostern  reiht  sich  hier 
an.  So  giebt  die  Verliebte  in  Tyrol  ihrem  Schatze  Ostereier  zn  essen,  welche  sie  am  Oster- 
sonntage auf  einem  geweihten  Feuer  gesotten  hat. 

In  dem  Samlande  kann  man  den  Geliebten  zwingen,  wenigstens  an  sein  M&dchen 
zu  denken,  wenn  das  Letztere  da,  wo  es  Niemand  hört,  dreimal  laut  den  Namen  des  Schatzes 
ruft.    (Frischbier.J 

Bei  den  Japanern  sucht  eine  verlassene  Braut  sich  an  ihrem  treulosen  Geliebten 
durch  Zaubermittel  zu  rächen.  ,Um  2  Uhr  in  der  Nacht  begiebt  sich  die  Verlassene  zn  dem 
Orte  ihres  Schutzpatrons  in  den  Wald.  In  weissem  Gewände,  mit  aufgelöstem  Haar,  drei 
brennende  Kerzen  auf  dem  Haupte  und  mit  einem  Spiegel  unter  der  Brust,  nagelt  sie  das 
Puppenbild  des  Entflohenen  an  den  Stamm,  unter  Anrufung  der  Götter,  den  Verr&ther  zu 
strafen.*  (Selenka.J  Fig.  257  führt  uns  diese  Scene  nach  dem  Holzschnitt  einer  japanischen 
Encyclopädie  vor. 

Dr.  F,  W.  K.  Müller  theilt  mir  mit,  dass  diese  Ceremonie  den  Namen  Ushi  no  toki 
mairi  führt;  das  bedeutet,  „zur  Stunde  des  Stieres  (um  2  Uhr  Nachts)  ehrfurchtsvoll  besuchen.* 

Den  gleichen  Gegenstand  behandelt  ein  Holzschnitt  des  berühmten  japanischen  Malers 
Hokusai,  ungeßlhr  vom  Jahre  1820,  den  ich  in  Fig.  258  wiedergebe.  Es  geht  dabei  recht 
gespenstisch  zu,  und  der  unglücklichen  Braut  mag  wohl  recht  bange  werden.  Der  mystische 
Stier,  nach  welchem  die  Stunde  benannt  ist,  windet  sich  zwischen  den  Bäumen  durch  und  bat 
mit  seinem  rüsselartig  verlängerten  Maule  den  Zipfel  der  Schärpe  erfasst,  mit  welcher  die 
Braut  umgürtet  ist.  Diese  bemüht  sich  mit  beiden  Händen,  sich  von  dem  Stiere  zu  befreien. 
Einen  Pinsel,  mit  dem  sie  vielleicht  das  f^ild  des  ungetreuen  Geliebten  an  den  Stamm  des 
Baumes  malen  wollte,  hat  sie  mit  dem  Munde  gefasst,  um  ihre  Hände  gebrauchen  zu  können. 
Ihr  Oberkörper  ist  weit  vorgebeugt;  ihre  Haare  wehen  und  die  Kerzen  auf  ihrem  Haupte 
flackern  im  Winde.  An  zwei  Baumstämmen  hält  sich  je  ein  Tengu,  ein  Waldgeist  ange- 
klammert, mit  Sperlingsflügeln  und  phantastischem  Vogelkopfe.  P]iner  derselben  scheint  mit 
einem  Fächer  den  Luftzug  zu  verursachen,  welcher  die  Kerzen  flackern  macht. 

Ein  Liebeszauber  Tvird  nun  aber  nicht  allein  von  solchen  angewendet,  welche 
bereits  ihr  Auge  auf  einen  ihrer  Mitmenschen  geworfen  haben,  sondern  der  Mensch 
ist  von  jeher  liebebedürftig,  wenn  er  auch  selber  noch  nicht  weiss,  wen  er  mit 
seiner  Liebe  beglücken  soll.     Und  da  müssen  wieder  Zaubermittel  helfen. 

In  Frankreich  wird  man  den  Damen  unwiderstehlich,  wenn  man  ein  Scbwalbenhen 
bei  sich  trägt.  Die  Eingeborenen  des  östlichen  Neu-Guinea  glauben  nach  Comrie  feit  an 
einen  Liebeszauber,  der  dem  genannten  Berichterstatter  höchst  geheimnissvoll  mitgetiieili 
wurde.    Er  besteht  darin,   dass  man  das  Gesicht  mit  einem   wohlriechenden  Hane  enmibt; 


180.  Die  Liebes-Helfer.  511 

das  andere  Geschlecht  kann  dem  so  beschmierten  nicht  widerstehen.  Der  einheimische  Name 
für  diesen  Zauber  ist  tübäl.  Die  E ei sar- Insulaner  glauben  dadurch  Liebeswahn  zu  erzeugen, 
(lass  sie  auf  die  Fussstapfen  der  Männer  und  Frauen  geheime  Mittel  legen,  oder  auf  die  Stellen, 
wo  diese  ihren  Urin  hingelassen  haben,  hintreten  und  ebenfalls  dahin  uriniren.    (RiedelK) 

Ein  einfacheres  Mittel  giebt  es  für  indische  Männer;  sie  verschaffen  sich  einen  ge- 
wöhnlichen kleinen  Hufeisenmagnet;  weiss  der  Besitzer  eines  solchen  dann  noch  gewisse  kleine 
Zauberformeln  geschickt  anzubringen,  so  ist  kein  weibliches  Herz  vor  ihm  sicher.    (Martin^,) 

Bei  den  Dajaken  des  südöstlichen  Borneo  ist  es  genügend,  der  glückliche  Besitzer 
eines  Djawet,  d.  h.  eines  heiligen  Topfes  zu  sein,  um  Glück  in  allen  Dingen,  namentlich  aber 
auch  in  der  Liebe,  zu  haben.    (Qrahovsski.) 


130.  Die  Liebes-Helfer. 

Zaubern  ist  nicht  Jedermanns  Sache  und  auch  in  den  Liebesangelegenheiteu 
wagen  Viele  nicht  selber  den  Zauber  zu  treiben.  Sie  bedürfen  der  Hülfe  geistes- 
starker Naturen,  die  in  der  schwarzen  Magie  die  nöthige  Erfahrung  besitzen. 
Vielfach  ist  es  ein  altes  Weib,  „das  mehr  kann  als  Brod  essen **,  wie  der  Volks- 
mund spricht,  welche  die  nöthigeu  Weisungen  giebt.  Auch  den  fahrenden  Schüler 
haben  wir  bereits  als  solchen  Helfershelfer  kennen  gelernt.  Der  Wirkungskreis 
der  weisen  Frau  in  dieser  Beziehung  liegt  nicht  nur  in  Europa.  In  Mittel- 
Sumatra  ist  es  die  Doekoen,  ein  Mittelding  zwischen  Hebamme  und  Aerztln, 
welche  hier  die  nöthige  Hülfe  giebt.  Nach  van  Hasselt  verkaufen  sie  dort 
Päkäsie  genannte  Geheimmittel,  „die  man  zwischen  Trank  und  Speise  mischt, 
für  denjenigen,  dessen  Geneigtheit  oder  Liebe  man  sich  versichern  will.  Der  Leser 
erlässt  mir  die  Aufzählung  ihres  unreinlichen  Inhalts.*  Diese  „ekelhaften 
Schmutzereien '^  sind  geeignet,  dem  Betreffenden  Schaden  zu  bringen. 

Bei  den  Indianer-Völkern  Amerikas  kommt  solch  eine  Zauberkraft 
einzig  und  allein  den  Medicin-Männern  zu.  Die  alten  Indianer  in  Peru  hatten 
nach  von  Tschudi  eine  besondere  Art  von  Zauberern  unter  diesen,  die  sich  damit 
beschäftigten,  Liebende  zusammenzubringen. 

,Sie  verfertigten  zu  diesem  Zwecke  Talismane  aus  Wurzeln  oder  Federn,  die  in  die 
Kleider  oder  in  die  Lagerstätte  derer,  die  man  sich  geneigt  machen  wollte,  so  viel  wie  möglich 
verFteckt,  hineingebracht  wurden,  oder  von  Haaren  der  Person,  von  der  die  oder  der  Be- 
treffende geliebt  sein  wollte,  oder  von  kleinen  bunten  Vögeln  aus  den  Urwäldern  oder  bloss 
von  deren  Federn.  Sie  verkauften  den  Verliebten  auch  einen  sogenannten  Kuyanarumi 
(Stein,  um  geliebt  zu  werden),  von  dem  sie  behaupteten,  er  werde  nur  da  gefunden,  wo  der 
Blitz  eingeschlagen  habe  (Donnerkeile).  Es  waren  meist  schwarze,  weiss  geäderte  Achatstücke, 
und  wurden  Sonko  apatsinakux  (gegenseitige  Herzensträger)  genannt.  Diese  Kunat- 
Kinkiz  (Menschenvereiniger)  bereiteten  auch  unfehlbare  und  unwiderstehliche  Liebestränke.* 

Bei  den  Indianern  Nord-Amerikas  findet  sich  für  alles  Zauberwesen 
eine  weitverbreitete  Ordensbrüderschaft,  deren  Mitglieder  den  Namen  Mi  de  führen. 
Nur  die  höchsten  Grade  derselben,  zu  denen  man  nur  mühsam  vorzudringen  ver- 
mag, sind  zu  dem  mächtigsten  Zauber  befähigt.  Sie  bereiten  auch  ein  Liebes- 
pulver. Iloffmann  macht  uns  darüber  Mittheilung.  Es  war  ein  Midö  der  Ojibwa, 
oder  wie  sie  gewöhnlich  genannt  werden,  der  Ghippeway-Indianer,  welcher 
dieses  Pulver  verfertigte.  Er  hatte  den  vierten  Grad  erreicht,  den  höchsten,  der 
in  der  Genossenschaft  zu  erlangen  war.  ,  Dieses  Liebespulver, '^  sagt  Uoffmann^ 
,  steht  in  hohen  Ehren,  und  seine  Zusammensetzung  ist  ein  tiefes  Geheimniss; 
nur  gegen  eine  hohe  Bezahlimg  wird  es  einem  Änderen  überlassen.  Es  besteht 
aus  folgenden  Ingredienzien:  Yermillon,  gepulverte  Schlangen wurzel  (Polygala 
Senega  L.),  eine  Ueine  Spur  von  dem  Menstrualblute  eines  Madchens,  das  zum 
ersten  Male  die  Regel  hat,  und  ein  Stück  Ginseng,  das  yor  der  Bifurkation  der 
Wurzel  abgeschnitt«!  und  gepulvert  ist.  Das  wird  gemiflcht  und  in  einen  kleinen 
Cattunbeutel  getham  Dass  es  gerade  au  dar  Biforkation  der  Wurzel  genommen 
werden  moss,  darin  Uegt  woU  vifc  ^  nit  wie  fiberaatOrliohe 

Beziehung  za  den  Gemta?^  "^ifbrkation,  d.  h. 


X*ilL  lJuk0b  "OA  LbHiHVi 


^T.    <^r  h^LfMr.Tju   ^  Ekm&  ikreii  Siez  liaÜKii.    Die  HenceilB&g 

p-«:Tfrr%  ^<t  ;kr,^T  r:>:i:i:  so  ;cu:z  «icfahdi:  <s  gdbdrt  daac  m  Opfer. 
^^.u^^'^s.   \z,  ^K,   K^^Uki  ^aW%d/ß.  ioA   mit   eiB«m  Mide-  ~ 
Tif,ux^.  A*:T  7jk^\*AiTT\i^iA  }>stid«it^  Mxc  mo».    Wild  e 
«^y  rr,\.^  «iiitA^  ^  :;£.^!7  fSa*  Lager  ifA  za  BezMibentdat  praktidzcm. 

Diete  Mide  und  «ine  Ahozt  dffwBw,  &WmbeKO. 
r^ben   für  ihre   magiicbeii   Gf ringe 
ar.f    deQJün    hieroglTpheiiiliiilkhe    Figuzcn 
\}\«i9i0i   ^Matik-Bretter*  bilden   eine    UntersHitzBig   fbr 
da»  ^iy&£ioXsam  der  Medicin- Männer.     Jedes  Bild 
•i^  an  die  Beschworongsformd,  die  sie 
^^1«    jed«  einzelne  dieser  "iM^mnkffSL  hat  ihre  ganz 
K^^^  Bedeataog.    Aach  der  laebennaber   kommt  in 
»'.;r    ^>'      ;,.<i'.««z*?'.4r  ^hwoninffen    ror.   wahrschonlich   im    InteieaK 
J'!.  ^'^^ /*»'^''  ««'"  zahlenden  Clienten.    ikhodarafl  hat  mehrere  sokhe 
<i^,t.Kt.   o*v,L  '.<h^^urm/t.,   Bretter   Teronentlicbt ;   aoch   sie   entstammten  wahrscMni- 
lieh   den  Chippewaj-Indianern.      Auf  einem   derselben 
findet  ^\i\\  niiUif  anderen  Figuren  «ein  junger  Mann  in  Liebes-Extase.  mit  Federn 
auf  vfjn^m  Kopfe  und  mit  einer  Trommel  und  einem  Trommelstock  in  den  Händen*, 
^f'jg.  2r/^;     Kr   giekt    vor,   die  Maeht  zu  besitzen,   dass  er  auf  den  Gegenstand 
.Heiner  WnnM;fae  EinÜJXMH  habe.     Dazu  gehört  der  Zaubergesang: 
^Ut/rti  r/.eine  Trommel,  obicbon  Da  am  anderen 
Knd«  der  Welt  but,  h^re  meine  Trommel!* 

Auf  einem  anderen  Brette  findet  sich  die  Darstellung  einer  Frau. 

,hif9  ijkt  'iar^««tellt  aU  eine,  'lie  die  Anträge  von  vielen  zorückgevieien  haL  Ein  zn- 
rOck^evrioitener  Lieb  basier  bereitet  myntijiche  Medicin  and  applicirte  sie  ihr  an  den  BritoteB 
und  fuMkohlen.  1)hh  verietzt  «ie  in  .Schlaf,  während  dewten  er  sie  gefangen  nimmt  und  sie 
in  den  Wald  bringt.* 

Der  dazu  gehörige  GeHang  iht  nicht  angegeben. 

In  TheHhalien  und  KpiruH  giebt  e«  Weiber,  welche,  wie  die  Xeu- 
0  riech  ff  n  glauben,  mit  Dämonen  und  Geistern  in  enger  Verbindung  stehen  und 
daraiih  ein  eintrügliches  Gewerbe  machen. 

, Schon  irn  Ahnrihnui  war  die  Bezeichnung  Thessalierin  gleichbedeutend  mit  Zauberin. 
Kif)  vi'.rni<i)uin  <\'n'.  IJobeiitrMnke,  l'biltra  der  Alten,  zu  brauen,  oder  sie  sind  im  Beiitz  Ton 
Wund^ffkrliijUirn,  mit  d«n«!n  man  die  Geliebte  oder  den  Geliebten  nur  zu  berühren  hat,  om 
MIO  ganz  willfährig  zu  machen.'     fJ)OHBiuH.j 

Auch  in  Monnien  iht  der  Ghiube  und  (\vm  Vertrauen  auf  gewisse  alte  Frauen  sehr  gross, 
wolcho  in  dMin  Rufe  htehon,  durch  WoiNHagungen,  Salben  und  andere  Mittel  Hexenmeisterei  zu 
treiben.  Sie  «ind  oh  auch,  welche  abergläubiHche  Frauen  in  vielen  Dingen,  so  auch  in  Sachen 
der  Liebe,  um  Kath  und  Hülfe  befragen.  Wird  ein  Mohammedaner  seiner  Gattin  untren,  so 
darf  di^rtelbe  nicht  dagegen  murren,  sie  bleibt  treu  und  schweigt  —  zu  Hause.  Sie  sacht 
dann  aber  die  IKlIfe  Holcher  klugen  Frau  auf.  Ist  ihre  Lage  eine  derartige,  dass  ein  Gebet 
allein  noch  nfU/.en  kann,  so  wird  die  Quacksalberin  befragt,  welches  Gebet  und  wie  oft  sie 
AN  taglich  verrichten,  welche  Speisen  sie  ihrem  Gatten  kochen,  wie  sie  das  zum  Ardea 
(WaHchen)  noth wendige  ProHkir  (Tuch)  ntccken  sollV  Die  Quacksalberin  hört  die  Klagen  ihrer 
('lientin  ho  ruhig  und  gleichmäsHig  an,  wie  dies  bei  uns  die  Advokaten  zu  thun  pflegen.  Ist 
dann  die  ('lientin  zu  Kndo,  ho  tritt  eine  kleine  Pause  ein,  nach  welcher  die  Magierin  die  Taxe  für 
ihre  l'rophe/.eihung  feHtntellt  und  gleich  auch  einhebt  und  bei  Seite  legt,  und  dann  erst  sinnt 
Hie  (larnbnr  nach,  welche  Mittel  in  diesem  Falle  angewendet  werden  sollen.  Bei  Treu-  und 
Khebruc.li  werden  von  der  Quacknalborin  bei  älteren  Clienten  BohnenkOmer,  bei  jOngeren 
FlrbNenk^rner  angewendet.  Dif^so  Körner  tragen  gewisse  Püinschnitte;  wenn  nun  die  Clientin 
ihr  Keid  geklagt,  welchen  in  der  Kegel  darin  bcHteht,  dass  ihr  Mann  in  der  Nachbarschaft 
Mich  ein  iindereH  Weib  halt,  und  wenn  sie  dann  die  vereinbarte  Taxe  zuvor  entrichtet  hat, 
dann  ntreut  die  alte  Hexe  diese  Bohnen*  und  £rbsenkömer  mit  einer  eigenthümlichen  Ge- 
wandtheit auf  die  groHHC  TtiMHe,  welche  sich  auf  dem  Teppich  befindet,  prüft  dann  die  Lag« 
der  KinHchnitte  <ler  Bohnen-  oder  KrbsenkOrner  und  liest  aus  denselben  ihre  von  jeher  alp 
unfehlbar  anerkannten  Ansichten  heraus.    Sie  erzählt  dann,  warum  der  Gatte  treulos 


181.  Liebes-Abwehr.  513 

wodurch  die  Rivalin  ihn  an  sich  fessele,  was  zu  ihun  sei,  um  dem  Uebel  abzuhelfen  und 
dergleichen  mehr.  Nie  vergrisst  sie  aber,  die  Clientin  auf  einen  späteren  Tag  wieder  zu  sich 
zu  bestellen,  selbstverständlich  mit  Geschenken.    (Strauss.) 

Bei   den  Zigeunern   mass    die  Zauberfrau   auch   noch   nach   ihrem  Tode 
den  Liebenden  helfen,     v.  Wlislocki^  schreibt: 

„Stirbt  ein  Weib,  das  bei  den  siebenbürgischen  Wander-Zigeunern  im  Rufe 
stand,  eine  sogenannte  Zauberfrau  gewesen  zu  sein,  so  reiben  die  Maide  das  Brustbein  (als 
Sitz  des  Lebens)  der  Verstorbenen  heimlich  mit  einem  Tuchlappen,  tragen  denselben  neun 
Tage  lang  am  blossen  Leibe,  lassen  dann  einige  Tropfen  Blut  aus  ihrer  linken  Hand  auf  den 
Lappen  rinnen  und  verbrennen  denselben.  Die  übriggebliebene  Asche  mischen  sie  in  die 
Speisen  und  Getränke  der  betreffenden  Personen,  deren  Liebe  sie  sich  erzaubem  wollen.* 

Auch  andere  Todte  können  hülfreich  werden,  wie  wir  ebenfalls  durch 
r.   Wlislocki^  erfahren: 

„Serbische  Zigeuner-Maide  schneiden  sich  am  Tage  des  heiligen  Basilius  (30.  Ja- 
nuar a.  K.)  mit  einem  Glasscherben  in  den  linken  Fuss  und  fangen  das  entströmende  Blut  zur 
Zeit  des  Kirchen geläutes  in  einem  neuen  Napfe  auf.  Dieser  Napf  wird  dann  verschlossen  und 
sammt  seinem  Inhalte  in  den  Grabhagel  eines  Mannes  mit  den  Worten  eingegraben: 

„Alle  Liebe,  welche  diesem  Todten  im  Leben  gewesen  ist,  komme  in  den  N.  N.;  Blut, 
lock'  sie  herbei,  damit  ich  sie  dem  N.  N.  gebe!  Liebt  er  mich  dann  nicht,  so  vertrockne 
sein  Leben,  so  wie  dies,  mein  Blut,  vertrocknet. 

Nach  neun  Tagen  wird  der  Topf  herausgegraben,  und  in  demselben  fQr  den  betreffen- 
den Burschen  eine  beliebige  Speise  gekocht.    Daher  die  Redensart:  Er  hat  Blut  gegessen.* 


131.  Liebes-Abwehr. 

Es  geht  den  Verliebten,  welche  durch  Zauberei  Jemandem  „den  Nachlauf 
angethan  haben**,  wie  man  in  Schwaben  sagt,  nicht  selten  ähnlich,  wie  dem 
bekannten  Zauberlehrling.  Sie  sind  des  Segens  überdrüssig  und  möchten  die  Liebe 
des  Anderen  wieder  mit  guter  Manier  loswerden.  Das  geht  natürlich  nur  durch 
einen  neuen  Zauber. 

Wer  die  oben  erwähnte  Eule  geschossen  und  mit  dem  hakenförmigen  Knochen  sein 
Mädchen  festgehakt  hat,  der  thut  gut,  auch  den  Schaufel knochen  sorgfältig  zu  bewahren. 
Denn  wenn  er  das  Mädchen  wieder  los  sein  will,  so  braucht  er  sie  nur  mit  dieser  Schaufel 
zu  berühren. 

So  wie  man  Liebe  gewinnt,  indem  man  Theile  des  eigenen  Ich  den  anderen  Menschen 
an  oder  in  den  Leib  bringt,  ebenso  kann  man  sich  auch  in  analoger  Weise  wieder  von  ihr 
befreien.  Man  verschafft  sich  zu  diesem  Zwecke  umgekehrt  Etwas  von  des  Anderen  Leibe, 
und  macht  es  im  Lichte  der  Sonne  oder  in  der  Nacht  des  Rauches  vertrocknen  oder  vergehen ; 
damit  schwindet  die  Liebe,  nicht  selten  aber  auch  der  Körper  des  einst  geliebten  Neben* 
menschen.  Was  Liebe  hervorbringt,  kann  sie  unter  anderen  Verhältnissen  auch  aufhören 
machen. 

Hieran  reiht  sich  noch  die  Bosheit,  welche  verschmähte  Liebe  oder  gebrochene  Treue 
aus  Rache  ersinnt  oder  vollzieht.  Ausser  mehreren  anderen  Zaubermitteln,  welche  namentlich 
die  gegenseitige  Liebe  eines  Brautpaares  zu  stören  geeignet  sein  sollen,  führt  Schöntcerth  aus 
der  Oberpfalz  Folgendes  an:  Ein  solches  rachsüchtiges  Wesen  zündet  um  Mittemacht  eine 
Kerze  an  und  steckt  nach  vorgängiger  Beschwörung  eine  Anzahl  Nadeln  mit  den  Worten  in 
dieselbe:  ,Ich  stech  das  Licht,  ich  stech  das  Licht,  ich  stech  das  Herz,  das  ich  liebe.*  Wird 
der  Geliebte  nun  später  untreu,  so  ist  es  sein  Tod.  Daher  ist  es  wichtig,  zu  erfahren,  dass 
Allelujah-Klee ,  welcher  gegen  Ostern  seine  kleinen  weissen  Blüthen  trägt,  gegen  Liebes- 
tr&nke  schützt. 

Dem  Volksgeschmack  mehr  zusagend  ist  ein  Mittel,  welches  Paulini  in  seiner  hejlsamen 
Dreck-Apotheke  anführt:  .Wenn  ein  böses  Weibsbild  einem  etwas  sie  zu  lieben  bejgebracht 
hat,  der  befleisse  sich  nur,  von  ihrem  Koth  etwas  zu  bekommen,  und  lege  es  in  seinen  Schlich. 
Sobald  der  Koth  erwärmet,  und  ihme  der  Gestanck  unter  die  Nasen  gehet,  so  wird  er  einen 
Abscheu  vor  ihr  tragen.* 

Ovid  warnt  vor  solchem  Zauberglaubeu: 

»Drum,  w«r  immer  Du  bist,  der  an  uiBere  Kunst  Du  Dich  wendest, 
GlaaV  KD  Imaibmg&matg  akbi  und  sn  magischen  Trank.* 
Ploes-Bariele,  Dm  WA.  a.  Aü.    L  33 


514  XYIII.  Liebe  and  Liebeswerben. 

Doch  ist  zu  seiner  Zeit  solch  Aberglauben  weit  verbreitet  gewesen: 
,Seh'  er's,  wenn  Jemand  glaubt,  dass  H&monias  schädliche  Kräuter, 
Oder  die  magische  Kunst  helfen  ihm  können  dabei. 
Zaubrischer  Mittel  Gebrauch  ist  alt;  unschädliche  Hülfe 
Macht  in  heiligem  Sang  unser  Apollo  Euch  kund.' 
Ovid  verzichtet  auf  solche  Zaubermittel  und  er  schlagt  seinen  Schfitzlingen 
wirksamere  Mittel  vor,  welche  seine  , Heilmittel  der  Liebe*  entwickeln: 
,Bin  ich  Führer,  so  wird  sein  Grab  kein  Schatten  verlassen, 
Nicht  den  Boden  ein  Weib  spalten  mit  Zaubergesang, 
Nicht  von  einem  Gefild  die  Saat  auf  das  andere  gehen, 
Noch  wird  bleich  auf  einmal  werden  die  Scheibe  des  Sol. 
Fliessen  wird,  wie  gewohnt,  in  die  Meereefluthen  der  Tiber; 
Luna  wird,  wie  gewohnt,  fahren  mit  weissem  Gespann. 
Weder  werden  der  Brust  je  weggesaubert  die  Sorgen, 
Noch  wird  Liebe  die  Flucht  nehmen  von  Schwefel  besiegt!' 

Seines  Erfolges  ist  Ovid  so  sicher,  dass  er  seinen  Schülern  und  Schülerinnen 

tu 

.Fromm  Gelübd'  einst  werdet  Ihr  thun  für  den  heiligen  Dichter, 
Mann  und  Weib,  die  mein  Sang  Euch  von  der  Liebe  geheilt." 

Aber  von  Alters  her  giebt  es  eine  Menge  gläubige  Gemüther,  und  manches 
schützende  Amulet  muss  auch  den  Besitzer  vor  Liebeszauber  bewahren.  Bei  den 
Germanen  ist  solcher  Glaube  uralt.  Wir  begegnen  ihm  bereits  in  den  Helden- 
sagen der  älteren  Edda.  Die  aus  dem  Schlaf  erweckte  Walküre  Sigurdrifa  giebt 
dem  Sigurd  den  Rath: 

.Aelrunen  kenne,  dass  des  Anderen  Frau 

Dich  nicht  trüge,  wenn  Du  traust. 

Auf  das  Hom  ritze  sie  und  den  Rücken  der  Hand 

Und  mal  ein  N  auf  den  Nagel. 

Die  Füllung  segne,  vor  Gefahr  Dich  zu  schützen 

Und  lege  Lauch  in  den  Trank. 

So  weiss  ich  wohl,  wird  Dir  nimmerdar 

Der  Meth  mit  Wein  gemischt." 

Die  Rune  N,  welche  hier  schützend  wirkt,  wird  von  Simrock  als  Noth 
gedeutet. 

132.  Heirathsorakel  und  Ehestandsprognose. 

Man  wird  nun  wohl  zugeben  müssen,  dass  es  eine  ganz  berechtigte  Neugierde 
ist,  wenn  die  jungen  Leute  zu  erfahren  wünschen,  wer  ihnen  denn  eigentlich 
seine  Liebe  entgegenbringt.  Da  müssen  die  Liebesorakel  aushelfen,  die  man  aber 
nicht  beliebig  anwenden  kann,  sondern  die  nur  an  ganz  besonders  heiligen  Tagen 
oder  Nächten  die  erwünschte  Wirkung  zu  bringen  vermögen. 

Am  Andreasahend  stOsst  man  (in  Königsberg)  dreimal  mit  den  Füssen  an  das  untere 
Ende  des  Bettes  und  spricht: 

.Bettlad  ich  trete  dich, 

Heiliger  Andreas^  ich  bitte  dich: 

Lass  mir  im  Traum  erscheinen 

Heute  den  Liebsten  mein.* 
Am  Johannisabend  streut  man  in  der  Gegend  von  Angerberg  (nach  Müllenhoff)  einen 
beliebigen  Samen  in  die  Erde  und  spricht  dabei: 

«Ich  streue  meinen  Samen 

In  Abrahams  Namen 

Diese  Nacht  mein  Feinslieb 

Im  Schlafe  su  erwarten, 

Wie  er  geht  und  steht, 

Wie  er  auf  der  Gasse  geht!* 


i.  ÜvmÜaonkel  und  Ebeetandcprognoae. 


51& 


Fig.  2bt).  L  1  e  ■ 
»acht.  Eine 
lülKTgeben  '* 

den  / 

(D  0  u  t  s 


«ieckt  vom- 
•  '  'ooh^  am 


Bei    den   ZtgeaDern  kt  nach   t?.  W7iÄ?ocfet'*  die  heilige  (rcor/ys-Nacht  Ton 

Wichtigkeit ; 

,Wül  öine  M&id  ihren  inr  noch  unbekannten  Gatten  onchauen,  so  geht  sie  in  der 
SL  Oeorg^}i acht  auf  einen  Kreuzweg»  kiimmt  ihr  Haar  nach  rtickwärt»,  «ticht  sich  dann  mit 
einer  neuen  Nadel  in  den  kleinen  Finger  ihrer  linken  Hand  und  l&sst  dann  drei  Tropfen  Blut 
auf  die  Erde  fallen,  wobei  aie  spricht: 

•  Mein  Blut  gebe  ich  meinem  Liebsten; 
Den  ich  sehe,  dem  soll  ich  angehören!* 

^Dann  soll  den  BluUtropfen  die  Gestalt  des  xukünftigen  Gatten  entsteigen  und  langsam 
in  der  Luft  xerÜiefisen.      Das    rergostiene  Blut    aber    muss  dann    die   \UilA  ^Rnimt  Staub  und 
Koth  aufheben  und  in  ein  fliessendes  Waaaer  werfen, 
sonet  lecken   die  Nivaahi  ( Wassergeister)  die   Bluts- 
tropfen  auf  und  die  betretfende  Maid  findet  aU  Braut 
ilen  TchJ  im  Wasser.* 

Besondere  Zauberkraft  besitzt  auch  die  Christ- 
nacht.  Die  Magyar  in  muas  sich  in  derüelben  nackend 
vor  einen  Spiegel  stellen,  dann  wird  eie  darin  den 
zukünftigen  Gatten  erblicken,     (v.    WJiHlocki'^J 

Am  wirksamsten  ist  aher  die  Zeit  der 
Jahreswende.  In  der  Sylvesternacht  stellt  sich 
in  manchen  Gegenden  Deutschlands  das 
Mädchen  um  Mitternacht  nackt  auf  den  Feuer- 
herd und  sieht  durch  die  Beine  in  den  Schora- 
'  stein  oder  ins  Ofenloch ;  dort  erblickt  sie  den 
ihr  bestimmten  Bräutigam.    Praeiorius  erwähnt 

dafi  auch  in  seiner  Hocken- Philosophie  und  bildt;  w   ^uf  dem  Titelkupfer  ab, 
(Fig.  260  und  261.)    Auf  dieee  Scene  beziehen  sich  die  folgenden  erklärenden  Verse: 

«Ihr  (der  alten  Heie)  folget  nach  nolcb  MUgde-Yolk,  die  nackt  ins  finstre  treten, 

Und  sanct  AndreBen  eiferig  um  einen  Mann  anbeten; 

Auch  die,  die  sich  im  Ofen  Top{f  mit  ihrem  Kopf  Tersteoken, 

Und  unver^bämt  den  Fetzer  bloss  abscheulich  hinaas  recken. 

Und  wollen  horchen,  wsü  hinfort  ihr  Liebster  werde  können.* 

Bei  den  Stld*Slaven  fangt  das  Mädchen  eine  Spinne^  steckt  sie  in  ein 
Rohr  und  stopft  dasselbe  an  beiden  Enden  zu«  Vor  dem  Schlafengehen  gedenkt 
sie  aller  Heiligen,  macht  dreimal  das  Kreuzeszeichen  über  das  Kopfpolster  und 
spricht:  ,0  du  Spinne,  du  kletterst  in  die  Höhen  und  in  die  Tiefen,  suche  meinen 
mir  vom  Schicksal  bestimmten  Manu  auf  und  ftlhre  mir  ihn  als  Traumbild  vor. 
Führst  du  ihn  her,  so  lasse  ich  dich  am  Morgen  wieder  frei,  dassi  du  weiterhin 
durch  die  Welt  ziehen  kannst;  wenn  du  ihn  mir  nicht  herführst,  so  werde  ich 
dich  zerdrücken.*     (KranssK) 

V,  Wlishcki  erzählt:  ,Am  Vorabend  des  Andreas-  oder  Sylvester -TB^ge» 
gehen  die  siebenbtirgischen  Zigeuner-Maide  zu  einem  Baum,  den  sie  einzeln 
schütteln,  während  im  Chor  gesungen  wird: 

.E«  fällt,  es  fUlt  das  Blatt  herab, 
Wo  ist  der,  den  lieb  ich  hab'? 
Du  weisser  Hund,  du  belle,  belle. 
Mein  Liebster  komm  zu  mir  gar  schnelle!* 
^  Bellt  wahrend  des  Baumschatteins  und  des  Gesänge«  in  der  Ferne  ein  Hund,  so  heirathet 
die  betreifende  Maid  noch  vor  Jahreafri^** 

In  Neapel  ist  San  Raffaelle^  der  seine  Kirche  in  einer  der  steilsten  und 
engsten  Strassen  hat,  als  Ehestifter  von  ganz  besonderer  Bedeutung.  Am  Fest- 
tage des  Heiligen  ist  die  Kirche  von  der  Frühmesse  bis  zum  Ave  Maria  gedrängt 
voll.  Grösstentheils  sind  wohlgekleidete  junge  Mädchen  die  Besuchenden.  Es 
hat  damit  folgende  Bewandtniss:  San  Raffaelle  ist  nach  dem  neapolitanischen 
Volksglauben  der  Schutzpatron  der  jungen  Mädchen  und  steht  in  dem  Huf e^ 

33* 


516  XYIII.  Liebe  und  Liebeswerben. 

dass  er  an  seinem  Namenstage  deren  fromme  Gebete  f&r  einen  Efaegemahl  eriioitL 
Die  in  die  Kirche  ein-  und  ausziehenden  bunten  Gruppen  der  Mädchen,  die  ein 
sehr  bescheidenes,  fast  yerschämtes  Wesen  zur  Schau  tragen,  nehmen  sich  höchst 
malerisch  aus  und  werden  Yon  den  an  den  Eirchenthüren  wartenden  jungen 
Männern  ohne  Anstandsverletzung  bewundert.  Hier  und  da  fallt  wohl  eine  sar- 
kastische Bemerkung  beim  Vorüberziehen  einer  Jungfrau,  die  sichtlich  seit  30 
Jahren  vergeblich  den  beschwerlichen  Weg  zur  San-Raffaelle-Kirche  znrQckgelegk 
hat.  In  der  Nähe  der  Kirche  ist  ein  vollstHndiger  Jahrmarkt  eingerichtet,  wo 
auf  Bänken  und  in  Buden  Früchte  aller  Art,  besonders  Granatapfel,  indische 
Feigen,  auch  Spielwaren  und  Heiligenbilder  feilgehalten  werden.  Heute  endet  dms 
Fest  mit  dem  Läuten  der  Vesperglocke;  früher  wurden  die  Strassen  bei  eintreten- 
der Dunkelheit  glänzend  beleuchtet,  und  ein  Musikchor  spielte  auf  dem  Kirch- 
platze  bis  spät  in  die  Nacht  abwechselnd  Tänze  und  neapolitanische  Volk»- 
melodien,  zu  denen  sich  die  von  San  RaffaeUe  erhörten  und  auf  ihn  glaabig 
hoffenden  Paare  zahlreich  einfanden. 

Das  auch  in  Deutschland  bekannte  Schuh-Orakel  ist  in  dem  Gebiete  Ton 
Belluno  nach  dem  von  Bastami  citirten  Soravia  an  die  Sylvesternacht  gebunden. 
Wenn  es  Mitternacht  schlägt,  müssen  die  Eltern  einen  alten 
Schuh  aufs  Gerathewohl  zur  Treppe  hin  werfen.  Fallt  er 
so,  dass  die  Schuhspitze  die  Treppe  herab  zeigt,  dann  hei- 
rathet  die  Tochter  noch  im  Laufe  des  Jahres.  Die  Madchen 
lassen  ebenfalls  im  Bellunesischen  am  ersten  Januar  ein 
Band  aus  dem  Fenster  herausflattem,  das  schon  24  Standen 
in  ungebrauchter  Lauge  war.  Wenn  dann  in  dem  Augen- 
blick ein  junger  Mann  vorbeigeht,  so  ist  er  der  Zukünftige. 
Wenn  aber  in  Bari  ein  Mädchen  sein  Haus  schlecht  kehrt, 
dann  wird  sie  einen  grindigen  Mann  bekommen.  (Karusio,) 
Fiß.  261.    Liebes-Orakel  Higj.  gchliesst   sich  allerlei   anderweitiger  Abercrlaabe 

in  der  ^»</rraf  nacht.  •*#        i  i  •  tt     i   i  .  \ 

Eine  Jungfrau  tritt  nackt  in  »"•     Man  kann  ersehen,  wer  von  zwei  Verlobten  am  sehn* 
da«  Dunkle,  um  den  zukünf-  liebsten  die  Heirath  herbeiwünscht;  man  hat  für  die  Hoch- 
''oTeu^sITe^KupÄr*  ^^^^  bestimmte  Tage   zu   vermeiden;    bestimmte  Witterung 
vom  Jahre  1709.)  am  Hochzeitstage,  bestimmte  Begegnungen   des  Hochzeits- 

zuges prognosticiren  Glück  oder  Unglück  für  die  künftige 
Ehe,  und  endlich  kann  man  durch  bestimmte  sympathetische  Maassnahmen  während 
der  priesterlichen  Einsegnung  sich  die  Herrschaft  im  zukünftigen  Ehestande  sdchenu 
Wir  geben  hierfür  nur  wenige  Beispiele.  Bei  Belluno  fertigt  man  zwei  Stroh- 
puppen, welche  die  Neuverlobten  vorstellen,  und  legt  diese  zum  Feuer.  Wessen 
Puppe  sich  zuerst  entzündet,  der  ist  der  auf  die  Heirath  Begierigere.    (Soravia.) 

,N6  de  Venere  ne  de  Marto  no  se  sposo  e  no  se  parte*, 
sagt  das  Volk  in  Belluno  und  Treviso.  (Bastanei,)  Hingegen  ist  in  den  nicht 
katholischen  Th eilen  Masurens  nach  Toq)pefi  der  Freitag  gerade  bevorzugt,  nur 
darf  er  nicht  unter  dem  Zeichen  des  Krebses  stehen.  Regenwetter  am  Hochzeits- 
tage bringt  in  der  Provinz  Bari  den  Ehegatten  ein  Leben  voll  Thränen  (Karusio)^ 
und  die  Begegnung  mit  einem  Leichenzuge  prognosticirt  in  dem  gleichen  Landes- 
theile  dem  Ehestande  Trauer  und  Klagen. 

Wahrend  des  Trauaktes  muss  in  Soldau  und  Gilgenburg  in  Ostpreussen 
die  Braut  dem  Bräutigam  auf  den  Fuss  treten,  oder  auf  seinen  Rock  knieen,  oder 
beim  Zusammenlegen  der  Hände  ihre  Hand  nach  oben  bringen,  dann  hat  sie 
während  der  Ehe  das  Regiment. 

Die  Buddhisten  in  Tibet  halten  es  itir  nothwendig,  dass  Brautleute  durch 
die  Hülfe    eines  Astrologen   in  Erfahrung  bringen,    ob    ihre  Ehe   eine   gltteUiGhe 
oder  unglückliche  werden  wird.     Das  Orakel  geben  zwölf  Thiere  ab,  nhme  mid 
wilde,  und  zwar  durch  die  Art,  wie  sie  sich  einander  begegnen,  ob  frenndUoh  0> 
feindlich.     Damit  das  Erstere  stattfände,   erhalt   der  Astrologe  hohe  BelH 


1^.  Die  Brautwerbung  and  der  Brautstand. 


517 


denn  ein  Wiederauseinandergehen  von  Brautleuten  wird  bei  diesem  Volke  in 
[höchstem  Grade  ungern  gesehen.     (Wernen) 

In  einem  meiner  japanischen  Werke,  dem  Ehon  kon-rei  te-biki  guya, 
7Ai  deutseh:  lUustrirte  Hochzeitsceremonien  Handleitung  (vom  Jahre 
1769),  fand  Herr  Dr.  jF,  Tf.  JT.  J/tV/Ze/-»^  einen  Abschnitt,  der  betitelt  ist:  Wörter, 
welche  in  der  Hochxeitanacht  nicht  gebraucht  werden  dQrfen.  Es  sind 
das  die  Ausdrücke:  zurückschicken,  geschieden  sein,  zurückgeben,  sich  zurückziehen, 
verlassen,  sich  ernüchtern,  dünn,  weggeben,  senden,  genug  haben,  zurückkehren, 
hinausgeleiteo,  wegsenden,  trennen,  nicht  durchdringen,  nicht  gern  mögen,  ver- 
abscheuen, Abschied,  Wir  sehen,  dass  es  lauter  Redewendungen  mali  ominis  aind^ 
welche  die  Jungverraahltea  zu  vermeiden  haben,  damit  sie  nicht  auf  ihr  junges 
Glück  das  in  diesen  Worten  liegende  böse  Schicksal  heraufbeschwören. 

Wer  noch  mehr  dergleichen  Dinge  zu  erfahren  wünscht,  den  verweise  ich  auf  die  Abhänd* 
Inngen  von  FrUchbieTf  Krausn^f  Wtätke,  Toeppe^i  ü.  a.  w.,  woselbst  er  der  mannigfachsten  Ge- 
stultung  des  Ltebesomkela  nnd  de»  Hochieitflaberglanbene  nachgehen  kann. 


133.  Die  Brautwerbung  und  der  IlrantHtsind, 

Dasjenige,  was  wir  unter  der  Brautwerbung  verstehen,  ist  einer  Keihe  von 
Völkern  ein  absolut  unbekannter  Begriff,  Die  Werbung  ist  der  Raub,  die  Hoch- 
[zeit  ist  Gewalt.  Aber  es  giebt  doch  auch  manche  ziemlich  tiefstehende  Nationen, 
bei  welchen  schon  ein  reguläres  BemUhen  nicht  zu  verkennen  ist,  sich  auch  der 
Zuneigung  imd  Einwilligung  der  Auserwahlten  zu  versichern.  Allerdings  müssen 
wir  auch  hier  an  die  Verhältnisse  mit  einem  gänzlich  anderen  Maassstabe  heran- 
treten, als  wir  ihn  bei  hochcivilisirten  Völkern  auszulegen  gewohnt  sind.  Denn 
gar  nicht  selten  hat  dieses  Liebeswerben  durchaus  nicht  den  Zweck,  eine  eheliche 
Verbindung  für  das  Leben  einzuleiten,  sondern  dasselbe  wiU  nur  die  Einwilligung 
[tu  einem  regelmässigen  geschlechtlichen  Verkehre  erlangen,  welcher  aber,  wenn 
er  später  wirklich  zur  Ehe  führen  sollte,  noch  eine  Werbung  in  veränderter  Form 
nothwendig  macht. 

Sehr  eigen thümlichen  Gebräuchen  begegnen  wir  auf  diesem  Gebiete,  welche 
sämmtlich  zu  verfolgen  weit  über  den  Rahmen  dieses  Buches  hinausgehen  würde. 
Nur  einige  Beispiele  sollen  hier  aufgeführt  werden. 

Anf  den  Tanembar*  und  Tiinorlao-lnBeln  geht  der  Jüngling,  der  sich  um  die  Gunnt 
eine«  Mädchens  bewerben  will»   Nachts  an    ihr   Uaus  und  klopft  dort  nn^  wo  ihre  Lagerstatt 
ist    Aus  Anstand srücksiehten  fragt  sie,  wer  da  iat,  und  wenn  or  »einen  Namen  genannt  liat, 
was  er  will.     Er  antwortet  darauf:  ,Ich  habe  keinen  Pinang,  ich  bitte  Dich  nm  getrockneten« 
entzwei  gespaltenen  Pinang  mit  Sirih/     Ist  ihm  das  Mädchen  geneigt,  dann  tagt  sie:  ,Wart« 
ein  wenig,  ich  will  sehen,  ob  er  jetxt  noch  zu  finden  ist,  und  reicht  ihm  durch  eine  Oe&ung 
den  Sirih-Pinang,     üni  auf  solche  Eventualitäten  vorbereitet  ku  sein,  pflegen  daher  die  jungen 
Mädchen  von  dem  Eintritt  ihrer  Keife  an  stets  nur  mit  einem  mit  Sirih  gefüllten  Korbe  neben 
[fich   zu   schlafen.     Das  junge  MTidchen   kraut  darauf  durch  die  Oeffnung  dem  jungen  Manne 
die  Haare,  wahrend  er  ihren  Busen  betastet.     Beides  geschieht  sonst  niemals^  da  beidos  tabu 
ist     Die  folgende  Nacht   bringen  sie  an  einem   stiUen  Platze  ausserhalb  des  Hauses  zu    und 
treffen    sich    bei  Tage   im    Busch,    wo  dos  Mädchen   Holz    sammeln    muss.     Nach  dem  ersten 
I  Beischlaf  nimmt  das  Mädchen  ihrem  Auserwahlten  den  Schamgürtel,    die  Ohrringe  oder  den 
[Kamm  fort,  um  ihn  zu  Kwingen,   ihr  treu  zu  sein    und  um  bei  eintretender  Schwangerschaft 
feinen  Beweis  in  Hunden  zu  haben,  wie  sie  sich  au&drftcken»  als  Vergütung  filr  den  gegebenen 
Birih^Pinang.    So   leben  sie  einige  Zeit  mit  einander,  und  wenn  ihre  Liebe  7on  Bestand  ist, 
läist  der  Jüngling   erst  dann   durch    eine  alte  Frau  der  Form  wegen  bei  dem  Mädchen  an- 
fragen, ob  sie  ihn  heirathen  wolle*     CRUdtl^.j 

Will  hei  den  Papuas  der  Astrolabe-Baj  in  Neu«Gninea  ein  junger  Mann  um  ein 
Mädchen  werben,  lo  dreht  er  eine  Cigarette,  in  welche  er  eines  »einer  Kopfhaare,  seiner  Achsel- 
liaaro  und  seiner  Sehanihaare  einwickelt.  Diese  raucht  er  sar  Eälfbe  auf  und  giebt  sie  dann 
Btter  mit  der  Bitt^.  dieselbe  seiner  Aaserwählten  zu  bringen«  Baucht  diese  darauf 
Btte  £U  Ende,  so  iet  der  Bewerber  angenommen.  Bagen^,  welcher  dieses  berichtet, 
st  ä^  MeiAung,  dftai  hiar  ein  Liebe^aauber  verborgen  sei 


516  XVIII.  Liebe  und  Liebes  werben. 

dass  er  an  seinem  Namenstage  deren  fromme  Gebete  für  einen  Ehegemahl  erhure. 
Die  in  die  Kirche  ein-  und  ausziehenden  bunten  Gruppen  der  Mädchen,  die  ein 
sehr  bescheidenes,  fast  verschämtes  Wesen  zur  Schau  tragen,  nehmen  sich  höchst 
malerisch  aus  und  werden  von  den  an  den  Kirchenthüren  wartenden  jungen 
Männern  ohne  Anstandsverletzung  bewundert.  Hier  und  da  fallt  wohl  eine  sar- 
kastische Bemerkung  beim  Vorüberziehen  einer  Jungfrau,  die  sichtlich  seit  30 
Jahren  vergeblich  den  beschwerlichen  Weg  zur  San-Iia/faelle-Kirche  zurückgelegt 
hat.  In  der  Nähe  der  Kirche  ist  ein  vollständiger  Jahrmarkt  eingerichtet,  wo 
auf  Bänken  und  in  Buden  Früchte  aller  Art,  besonders  Granatapfel,  indische 
Feigen,  auch  Spielwaren  und  Heiligenbilder  feilgehalten  werden.  Heute  endet  das 
Fest  mit  dem  Läuten  der  Vesperglocke;  früher  wurden  die  Strassen  bei  eintreten- 
der Dunkelheit  glänzend  beleuchtet,  und  ein  Musikchor  spielte  auf  dem  Kirch- 
platze  bis  spät  in  die  Nacht  abwechselnd  Tänze  und  neapolitanische  Volks- 
melodien,  zu  denen  sich  die  von  San  liaffaelU  erhörten  und  auf  ihn  glaubig 
hoffenden  Paare  zahlreich  einfanden. 

Das  auch  in  Deutschland  bekannte  Schuh-Orakel  ist  in  dem  Gebiete  tod 
Belluno  nach  dem  von  Bastatizi  citirten  Soravia  an  die  Sylvesternacht  gebunden. 
Wenn  es  Mittemacht  schlägt,  müssen  die  Eltern  einen  alten 
Schuh  aufs  Gerathewohl  zur  Treppe  hin  werfen.  FälU  er 
so,  dass  die  Schuhspitze  die  Treppe  herab  zeigt,  dann  hei- 
rathet  die  Tochter  noch  im  Laufe  des  Jahres.  Die  Mädchen 
lassen  ebenfalls  im  Bellunesischen  am  ersten  Janoar  ein 
Band  aus  dem  Fenster  herausflattem,  das  schon  24  Stunden 
in  ungebrauchter  Lauge  war.  Wenn  dann  in  dem  Augen- 
blick ein  junger  Mann  vorbeigeht,  so  ist  er  der  Zukünftige. 
Wenn  aber  in  Bari  ein  Mädchen  sein  Haus  schlecht  kdut 
dann  wird  sie  einen  grindigen  Mann  bekommen.  (Bdomsio) 
Fig.  L^i.    Liebes-Orakel  Hier  schlicsst  sich  allerlei  anderweitiirer  Abenrlanbe 

in  der  ^Wr^^j nacht.  x/r        i  i  •  xr      i    t  ,  ^    \ 

Eine  Junpfrau  tritt  nackt  in  an.    Man  kann  ersehen,  wer  von  zwei  Verlobten  am  sehn- 
•Iah  Dunkle,  um  den  zukünf-  liebsten  die  Heirath  herbeiwünscht;  man  hat  für  die  Hoch- 
'lD"u?:lh'e.Ku,Äh"-  '-eit  bestimmte  Tage   zu  vermeiden;    bestimmte  WitteroM 
vom  Jahre  17CK«.;  am  Hochzeitstage,  bestimmte  Begegnungen    des  Hochzeits- 

zuges  prognosticiren  Glück  oder  Unglück  für  die  künftige 
Ehe,  und  endlich  kann  man  durch  bestimmte  sympathetische  Maasanahmen  wahrend 
der  priesterlichen  Eiuse^niung  sich  die  Herrschaft  im  zukünftigen  Ehestände  sichern. 
Wir  geben  hiertür  nur  wenige  Beispiele.  Bei  Belluno  fertigt  man  zwei  Stroh- 
jjuppen,  welche  die  Xeuverlobten  vorstellen,  und  legt  diese  znm  Feuer.  Wesse: 
Puppe  sich  zuerst  entzündet,  der  ist  der  auf  die  Heirath  Begierigere.    (Soraviti 

^Ne  de  Vencre  ne  de  Marte  no  se  spose  e  no  se  parte*, 
sagt  das  Volk  in  Belluno  und  Treviso.  (Bastanei,)     Hingegen  ist  in  den  ■ 
katholischen  Tlieilen  Masurens  nach  Toeppeii  der  Freitag  gerade  bevorzn.- 
darf  er  nicht  unter  dem  Zeichen  des  Krebses  stehen.     Begenwetter  am  Ho 
tage  bringt  in  der  Provinz  Bari  den  Ehegatten  ein  Leben  voll  Thranen  i  I< 
und  die  Begegnung  mit  einem  Leichenzuge  prognosticirt  in  dem  gleiche« = 
theile  dem  Ehestande  Trauer  und  Klagen. 

Während  des  Tniuaktes  muss  in  Soldau  und  Gilffenbarff  in  Ost; 
die  Braut  dem  Bräutigam  auf  den  Fuss  treten,  oder  auf  seinen  Bock  k:' 
beim    Zutsammenlegen    der   Hände   ihre   Hand   nach  oben   bringen,    u^. 
wälirend  der  Ehe  das  Regiment. 

Die  Buddhisten  in  Tibet  halten  es  ftr  nothwsr  "       *        Bmni 
die  Hülfe    eines  Astrologen   in  Erfahrung  bringen,   '  pfn-» 

oder  unglückliche  werden  wird.     Das  Orakel  gebf"  il 

wilde,  und  zwar  durch  die  Art,  wie  sie  sich  air* 
/'eindlich.     Damit  das  Erstere  stattfände,   erbi  i-H""*"^^ 


183.  Die  Brautwerbung  und  der  Brautstand.  519 

sich  gegenüber,  mit  einer  Bewegung  und  einem  Athem.  Immer  rascher,  immer  leidenschaft- 
licher, rasender.    Ihre  Körper  scheinen  zu  blinken. . . .      Die   einzelnen  Glieder  sind   beinahe 

nicht  zu  erkennen Es  ist  ein  Chaos,  in  welchem  sich  die  beiden  verstehen,  ein  Chaos,  das 

die  ganze  Versammlung  in  äusserstes  Entzücken  versetzt.  Alle  tanzen  im  Herzen  mit.  Alle 
sind  der  Erde  entrückt  und  vergessen  die  Sorgen  des  Lebens.  Wilde  Rufe:  malie!  malie! 
lelei!  lelei!  (o  süss,  o  hübsch)  mit  heftigem  Händeklatschen  untermengt,  übertönen  die  Chöre 
und  der  Tanz  löst  sich  in  allgemeinem  Wirrwarr  der  Zufriedenheit  und  des  Lobpreisens  auf.* 

,,  Indessen  ist  die  Zeit  der  Abendgebete  und  des  Abendmahles   herangerückt,   und  die 

Kreise  zerstreuen  sich Von  allen  Seiten  hallen  in  der  Luft  die  Abschiedsgprüsse:    Tofa! 

tofa!  kreuz  und  quer,  und  alle  g^hen  nach  ihren  Häusern.' 

,Wer  jedoch  in  der  Nähe  des  sich  zerstreuenden  Kreises  der  Tänzer  war,  der  konnte 
zwischen  den  hingeworfenen  Abschiedsgrüssen  einige  vielbedeutende  Worte  auffangen.  «Tofa 
inga*,  ,tofa  soifüa*  sind  mehr  als  gleichgültige  Grüsse,  und  ein  rasches  ,töro'  als  Antwort 
würde  das  Ohr  des  Horchers  treffen.* 

«Das  geheimnissvolle  Wort  Töro  bedeutet  Zuckerrohr,  und  hier  neben  dem  Wege  sehen 
wir  ein  damit  bestelltes  Feld.  Aber  was  ist  das?  Ganz  leise,  kaum  hörbar,  ertönt  der  Ruf 
der  samoanischen  Eule  ...  von  einer  anderen  Richtung  ereilt  uns  wieder  ein  Gekreisch, 
wie  es  die  kleine  Gecko-Eidechse  hervorbringt.  . . .  Nachts  . . .  auf  dieser  Stelle,  das  ist  unge- 
wöhnlich !  Plötzlich  erschrecken  wir  beinahe.  Unfern  von  uns  sehen  wir  einen  Kopf  zwischen 
den  schwankenden  Halmen  versteckt.    Wir  erkennen  unseren  Tänzer.    Nun,  dann  wird  wohl 

auch  die  schöne  Eidechse  nicht  weit  entfernt  sein Und  wirklich,  bald  gleitet  an  uns  eine 

Gestalt  vorbei,  rasch  und  leicht  wie  ein  Traum.  Die  beiden  Köpfe  vereinigten  sich,  wankten, 
sanken  und  verschwanden,  und  in  der  Feme  erschallte  dieses  Mal  wirklich  der  Ruf  einer 
samoanischen  Eule  (Strix  delicutula  Gld.).' 

«Ein  Zuckerrohrfeld  ist  des  Nachts  ein  sicheres  Versteck  für  zwei  Liebende.  Niemand 
wird  sie  hier  in  der  Zeit  der  Geister  und  Gespenster  stören.  Unser  Pärchen  weiss  es,  und 
unbesorgt  um  einen  Lauscher  kann  man  sie  sprechen  hören.' 

—  ,Du  weiest,  JAlomajava^  dass  meine  Eltern  dich  hassen;  uns  bleibt  nur  die 
.awenga*  übrig.* 

Die  Awenga,  die  Flucht  wird  verabredet;  in  der  dritten  Nacht  soll  sie  stattfinden. 

«Am  Strande  des  nachbarlichen  Dorfes  herrscht  Stille,  aber  auf  dem  weissen  Sande  be- 
wegen sich  dunkle  Gestalten.  Ein  Toumalua,  das  einheimische  Reisecanoe,  wird  ins  Wasser 
hinuntergeschoben.  Die  dunklen  Gestalten  sind  verschwunden,  ein  aufrechtes  dreieckiges  Segel 
entfaltet  sich,  und  dem  Strande  entlang  gleitend  entschwindet  es  dem  Blicke.  Erst  aus  weiter 
Feme  erreicht  uns  der  gedämpfe  Schall  eines  Tritonhomes,  dieser  Schall  begleitet  das  glück- 
liche Liebespaar  der  Küste  entlang,  den  aus  dem  Schlafe  gestörten  Bewohnern  etwas  Beson- 
deres anzeigend.  Er  eilt  ihm  voraus  nach  Palauli,  wo  die  Liebenden  den  Zorn  der  Eltern 
vorübergehen  lassen  wollen." 

« Am  nächsten  Morgen  Aufruhr  in  beiden  Dörfem.  Die  Freunde  des  glücklichen  Bräu- 
tigams durchschreiten  ihr  Dorf  und  rafen  aus:  .Awängaü  Awängaü  Die  schöne  Tänetäsi 
und  der  tapfere  Lilomajava  sind  Aw&nga!I  Awängaü*  Die  stolzen  Eltern  der  Braut  hören 
mit  verbissener  Wuth  die  öffentliche  Ausmfung,  die  das  Schicksal  ihrer  Tochter  besiegelt. 
Während  einiger  Zeit  böses  Blut  auf  beiden  Seiten.  Die  alten  Väter  vermeiden  sich,  die 
jungen  Männer  betrachten  ihre  Keulen  und  Speere,  die  hauptsächlichste  Rolle  spielen  aber 
die  Jungen.* 

«Nach  ein  paar  Wochen  legt  sich  alles,  und  die  Eltern  schicken  ihrer  Tochter  eine  weisse 
Matte  als  Zeichen  der  Verzeihung.  Das  Paar,  das  sich  bis  jetzt  noch  fremd  blieb,  kommt 
zurück.  Es  wird  die  «feiaing^*  vorgenommen,  und  die  weisse  Matte,  mit  Spuren  der  Würdig- 
keit der  Braut,  wird  gegen  einen  Theil  der  Aussteuer  ausgetauscht.  Der  andere  wird  bei  der 
ersten  Niederkunft  ausgehändig^t.* 

«Heirathet  das  Paar  nicht  aus  Liebe,  oder  stehen  keine  Schwierigkeiten  bevor,  so  wird 
alles  von  den  Verwandten  geordnet.  Früher  war  die  «Awänga*  (die  Brautflucht)  in  Samoa 
an  der  Tagesordnung.' 

Die  Brautwerbung  der  Hottentotten  in  der  Umgebung  von  Angra  Pequena  ist 
ebenfaUs  originell.  Der  Liebhaber  geht  zu  den  Eltern  seiner  Auserwählten,  setzt  sich  still- 
8chweig6iid  med«r  und  kocht  ebenso  wortlos  Kaffee.  Ist  derselbe  zubereitet,  so  giesst  er 
einen  Beohor  toU,  um  ihn  der  Braut  hinzureichen ;  trinkt  diese  ihn  zur  Hälfte  aus  und  giebt 
dem  Brinftigu  den  Becher  zurück,  damit  dieser  die  andere  Hälfte  trinke,  so  ist  er  ange- 
iia  Wort  zu  sagen,  wird  ihn  das  Mädchen  leeren,  wenn  der  Brautwerber  ein 
A  ond  die  Eltern  ihr  Töchterchen  hoch  genug  bezahlt  bekommen.    Dann 


520  XVIII.  Liebe  und  Liebes  werben. 

bedeutet  das  Leeren  des  Bechers:  ja,  ich  will  deine  Frau  werden.  Lftwt  lie  das  GMriLnk 
stehen,  so  grämt  sich  der  Liebhaber  nicht  sehr,  vielmehr  wandert  er  in  eine  andere  Hfitte, 
am  dort  nochmals  sein  Glück  zu  versachen.    CSiegümund  Israel.) 

.Wenn  Jemand  von  den  It&lmenen  heyrathen  will,  berichtet  Steiler ,  so  kann  er  auf 
keine  andere  Art  zu  einer  Frau  kommen,  als  er  muss  sie  dem  Vater  abdienen.  Wo  er  dch 
nun  eine  Jungfer  ausgesehen,  da  gehet  er  hin,  spricht  nicht  ein  Wort,  londem  stellt  nch  ab 
ob  er  noch  so  lange  daselbst  bekannt  gewesen  wäre.  Fanget  an  alle  Hauaarbeiten  gemein- 
ächaftlich  mit  vorzunehmen,  und  sich  vor  anderen  durch  Stärke  und  Leistung  angenehmer  und 
schwerer  Dienste  den  Schwiegereltern  und  seiner  Braut  ang^ehmer  zu  machen.  Ob  nnn 
gleich  in  den  ersten  Tagen  sowohl  die  Eltern  als  die  Braut  wahrnimmt,  auf  wen  es  abge- 
sehen, dadurch  weil  er  sich  allezeit  besonders  um  diejenige  Person  machet,  mit  allerlei  Hand- 
reichung bemühet,  und  sich  des  Nachts  so  nahe  zu  ihr  schlafen  legt,  als  er  immer  kann, 
nichtsdestoweniger  fraget  ihn  niemand,  bis  er  nach  ein-,  zwei-,  drei-,  vieijfthrigen  Knechti- 
diensten  soweit  kommt,  dass  er  nicht  allein  den  Schwiegereltern,  sondern  auch  der  Braoi 
gefallig  werde.  Gefället  er  nicht,  so  sind  alle  seine  Dienste  verloren  und  vergebensy  und  er 
muss  sich  wieder  ohne  alle  Bezahlung  und  Revanche  wegpacken.  Giebt  ihm  die  letstere 
Zeichen  von  ihrer  Gunst,  so  spricht  er  den  Vater  alsdann  erst  um  die  Tochter  an  imd 
erkläret  die  Absicht  seiner  Dienste,  oder  die  Eltern  sagen  selbst  zu  ihm,  nun  du  bist  ein  fertiger 
und  fleissiger  Mensch,  fahre  also  fort  und  sehe  zu,  wie  du  deine  Braut  bald  betrflgeet  und 
überkommst.  Der  Vater  entsaget  ihm  niemalen  seine  Tochter,  thut  aber  auch  nicht  mehr, 
als  dass  er  spricht,  gwatei,  hasche,  greife  sie,  alsdann  gehet  die  Freyerey  und  Hochseit  sogleich 
an.  Von  der  Zeit  aber  an,  da  der  Bräutigam  in  der  Wohnung  arbeitet  und  dienet,  hat  er 
allezeit  das  Recht,  zu  probiren  seiner  Braut  auf  den  Dienst  zu  lauem,  ob  er  ne  nicht  unver- 
sehens ühomimpeln  könne.  Die  Braut  hingegen  siebet  sich  allezeit  für,  dass  sie  nicht  mit  ihm 
alleino  in  oder  ausserhalb  der  Wohnung  zusammenkomme,  machet  ihre  Hosen  fest  so,  und 
verbindet  dieselbe  mit  vielen  starken  Riemen,  umwickelt  sie  mit  Fischemetzen,  nimmt  er 
aber  seine  Gelegenheit  in  Acht,  so  fallt  er  auf  einmal  über  sie  her,  schneidet  mit  steinern 
Messern  die  Fischemetze  oder  Riemen  entzwei,  auch  wo  er  die  Hosen  nicht  aufknfipfen  kann, 
zerschneidet  er  dieselbe;  sobald  die  Passago  offen,  fährt  er  mit  dem  Mittelfinger  in  die  Scham, 
ziehet  darauf  sein  Halsgehänge  von  dem  Hals  ab  und  steckt  solches  zum  Zeichen  der  Er- 
oberung in  der  Braut  Hosen.  So  aber  die  andern  solches  sehen,  oder  das  Geschrei  der  Braut, 
welche  sich  zur  Wehre  stellet,  hören,  fielen  sie  alle  über  den  Bestürmer  der  Jungfemechaft 
her,  schlugen  ihn  mit  Fausten,  zogen  ihn  von  der  Braut  mit  den  Haaren  ab,  hielten  ihm  die 
Arme,  und  musste  er  sich  öfters  bei  dieser  Bestürmung  überaus  zerschlagen  lassen,  bis  er 
nun  stark  genug  war,  und  zum  Einstecken  des  Fingers  in  die  Scham  kam,  da  hatte  er  ge- 
wonnen. Die  Braut  selber  verkündete  sogleich  die  Uebergabe,  und  alle  liefen  weg,  lieaaen 
den  Bräutigam  bei  seiner  Braut;  gelangte  er  aber  nicht  dazu,  sondern  sähe,  datt  der  Storm 
abgeschlagen  war,  so  fing  er  wieder  nach  wie  vorher  an  zu  dienen;  niemand  aber  sagte  ihm 
ein  Wort,  und  er  lauerte  alle  Tage  und  Stunden  auf  frische  Gelegenheit.  War  die  Braut 
dem  Bräutigam  sehr  gewogen,  so  ergab  sie  sich  bald  in  seinen  Willen,  verschanzte  sich  nicht 
so  stark  und  gab  ihm  selbst  Gelegenheit,  dass  er  bald  dazu  käme,  doch  aber  musste  alleieit 
eine  Weigerung  um  die  Ehre  und  Oekonomie  willen  simulirt  werden.* 

üebrigens  ist  es  auch  nicht  immer  der  Jüngling,  welcher  um  das  Madchen, 
sondern  bisweilen  umgekehrt  das  Mädchen,  welches  um  den  Jüngling  wirbt. 

So  schickt  auf  der  Insel  Eotar  im  malayischon  Archipel  ein  Mädchen,  wenn  sie 
einem  Manne  gewogen  ist,  diesem  eine  mit  Tabak  gefüllte  Dose  aus  geflochtenen  Eoliblftttem, 
welche  symbolisch  ihre  Geschlechtstheile  darstellen  soll. 

Um  den  berühmten  Krieger  dagegen  warben  auch  bei  den  Osagen  die  Mädchen  durch 
Darbieten  einer  Maisruhre,  ohne  sich  etwas  dadurch  zu  vergeben,  und  die  Ehe  selbst  wurde 
meist  nur  dadurch  geschlossen,  dass  bei  einem  Feste,  das  man  veranstaltete,  beide  Theile 
ihren  Willen,  als  Mann  und  Frau  zu  leben,  öffentlich  erklärten:  dann  baute  man  ihnen  mit 
gemeinsamen  Kriiften  eine  Hütte.     rWaitz.J 

Haben  wir  hier  entweder  den  Jüngling  oder  ausnahmsweise  auch  wohl  das 
junge  Mädchen  in  eigener  Person  als  Werber  auftreten  sehen,  so  ist  es  doch  bei 
weitem  gebräuchlicher,  seine  Werbung  durch  eine  Mittelsperson  anbringen  xa 
lassen.  Während  diese  Freiwerber  fast  auf  der  ganzen  Erde  männlichen  Geacnlechte 
sind,  und  zwar  entweder  der  Vater  oder  die  Freunde  des  BräutigamB,  so  findisii 
wir  auf  den  Inseln  des  malayischen  Archipels  die  Sitte,  dass  gende  WsSl»« 
dieses  Werbegeschäft  libemehmen  müssen,  und  zwar  müssen  sie  selber  ' 


Idd.  Die  Braut wdrbQDg  und  der  ßrautetand. 


521 


lind  an  Jahren  bereits  etwas  vorgeschritten  sein.  Auch  darf  sich  die  Mutter  des 
jungen  Mannes  dieser  Obliegenheit  unterziehen. 

Die  sibirischen  Tßrketi  (Tataren)  werdeü  schon  als  Kinder  mit  einander  verlobt. 
Der  Vater  des  Knaben  reitet  mit  einigen  Bekannten  zum  Vater  des  Mädchens,  am  da«  er 
anhalten  will^  stellt  sich  und  die  Seinen  vor,  und  nach  der  Begrüssnng  aa^t  der  werbende 
Vater  xum  Brautvater: 

,Wenn  die  Flut  vor  Deinem  Hause  stürmt,  so  will  ich  gern  ein  scbfltaender  Damm 
Dir  werden;  wenn  der  Wind  vor  Deinem  Hanse  tobt,  wiD  ich  gern  eine  bergende  Mauer 
werden;  pfeifst  Du  mir,  so  will  ich  Dein  Hund  sein  und  berbeilaufen,  und  wenn  Du  mich 
nicht  auf  den  Kopf  schl&gst^  so  trete  ich  gern  in  Dein  Haus  und  will  Dein  Anverwandter 
werden,* 

Dann  nehmen  die  Werbenden  die  gestopften  Pfeifen  ans  dem  Munde  und  legen  sie  an 
den  Herd.  Darauf  verlassen  sie  das  Haus  und  kehren  nach  kurzer  Pause  wieder.  Sind  die 
Pfeifen  nicht  benutzt,  ao  ist  die  Werbung  abgewiesen  und  sie  reiten  nach  HauHe;  8ind  die 
Pfeifen  aber  angeraucht»  so  ist  der  Werber  willkommen.  Dann  zieht  der  Vater  des  Bräuti- 
gams eine  Schale  hervor  und  füllt  sie  mit  Airamt  einer  seiner  Begleiter  stopft  eine  Pfeife, 
ein  anderer  ergreift  eine  glimmende  Kohle  vom  Herd.  So  stehen  sie  harrend.  Nun  giebt 
der  Vater  des  M&dchens  seine  Zustimmung.  Er  leert  die  Schale,  nimmt  die  dargebotene 
Pfeife  an  und  l&sst  sie  sich  durch  die  Kohle  des  Dritten  antOnden.     Dann  folgt  die  Bewirthung 


Fig.  202.    Braat-ischnupttabR  k»cto»ea  der  üftiiutlio.    (S^ua- Afrika  > 
(Mtueiun  fßr  Völkerkunde  in  Berlin)    (K»eli  Photographlfi.) 

und  die  BeiprechuDg  des  Kalym,  d.h.  des  Brautpreises.  Er  wird  bei  Aermeren  auf  5  bis  15 
Rubel  angegeben.  «Der  Verlobongsact  endet  damit,  dass  der  Vater  de»  ßrlluiigarni  den  KUem 
und  den  nächsten  Anverwandten  der  Braut  einige  Geschenke  macht*  Der  kleine  BrlLutigam 
hat  dann,  mit  Geschenken  versehen,  wioderholentlich  im  Hause  der  Braut  Beguche  zu  machen 
und  hält  sich  oft  längere  Zeit  dort  auf.  ,Er  wird  dann  in  Spiel  und  Arbeit  der  Genoase 
I  seiner  Braut*     fVambery.J 

Die  Werbung  bei  den  Basutho  ist  nach  den  interessanten  Berichten  des  Missions* 
[Superintendenten  Griitzner  eine  sehr  compUcirte  Sache*  «Zunächst  sucht  der  Jüngling  sich 
\  meistens  mit  dem  Mädchen  ins  Einvernehmen  su  setzen  und  von  seinem  Vater  die  Zustimmung  zu 
I  erhalten.  Dieser  begiebt  sich  alsdann  zum  Vater  des  Mädchens.  £^  wird  zuerst  über  allerlei 
1  Gleichgültiges  gesprochen.  Endlich  rückt  er  mit  dem  eigentlichen  Grunde  seines  Kommens  heraus 
[und  sagt:  «Ich  bin  gekommen,  ein  Hündchen  von  Euch  zu  erbitten.*  Nach  langer  Pause  und 
[scheinbar  tiefem  Nachdenken  antwortet  der  Angeredete:  «Wir  sind  arm,  wir  haben  kein  Vieh; 
[hast  Du  Vieh?*  Nun  klagt  der  Werbende  über  die  schlechten  Zeiten,  aber  endlich,  nach  langem 
{Feilschen^  einigt  er  i^ich  mit  dem  Anderen  schlieselich  über  den  zu  zahlenden  Kaufpreis  in 
^Yieh  und  kehrt  nach  Hause  zurQck.  Danach  wird  ein  zweiter  Abgesandter,  der  den  Titel 
,iiuaa  ditsela*,  «Mutter  der  Wege*»  d.  h.  Wegebereiter,  fUhrt,  zum  Kraale  des  Mädchens  ge* 


522  XVIII.  Liebe  und  Liebeswerben. 

schickt,  der  zu  sagen  hat:  «Ich  bin  gekommen,  Schnupftabak  zu  erbitten.'  Die  alten  F*i 
fangen  nun  an,  Schnupftabak  zu  mahlen  (derselbe  bildet  steinharte,  brodfOrmige  Kuchen),  und 
füllen  eine  als  Schnupftabaksdose  dienende  Kalabasse  damit,  die  dann  durch  einen  besonderen 
Boten  dem  Bräutigam  aberbracht  wird.  Dieser  ruft  nun  seine  ganze  Sippe  zu  der  Feierlich- 
keit des  Schnupfens  zusammen.  Nur  dem  Hanne  der  ältesten  Schwester  des  Bräutigams  steht 
es  zu,  die  Dose  zu  öffnen.  Er  schnupft  einen  reichlichen  Theelöffel  von  dem  Tabak  und  giebt 
die  Dose  weiter,  die  dann  feierlich  leer  geschnupft  wird.  Tags  darauf  schickt  man  dem  Vater 
des  Mädchens  ein  Angeld  an  Kleinvieh.  Die  Dose  wandert  mit  und  wird  der  Braut  über- 
geben; diese  umwickelt  sie  zierlich  mit  Perlen  und  trägt  sie  immer,  oder  doch  wenigstens 
bei  feierlichen  Gelegenheiten,  um  den  Hals.  (Fig.  262.)  Das  ist  ihr  , Kind *",  wie  die  Basntho 
sagen,  d.  h.  das  Zeichen,  dass  sie  eine  «Gekaufte',  oder  nach  unserer  Bezeichnimg  eine  Braut  ist 
Die  Dose  wird  erst  abgelegt,  nachdem  die  junge  Frau  ihr  erstes  Kind  geboren  hat;  dann 
löst  sie  die  Perlen  von  ihr  ab  und  hängt  diese  ihrem  Kinde  um.  Die  Boten,  welche  das 
Vieh  überbrachten,  sagen,  sie  seien  geschickt,  um  ein  .Schöpfeimerchen*  zu  erbitten.  Darauf 
stossen  die  Frauen  ein  Freudengeschrei  aus,  welches  klingt,  «als  wenn  ein  Dutzend  Katsen 
ihre  Musik  anheben".  Dann  wird  gemeinsam  Bier  gezecht,  und  Nachts  liegen  die  3 — 4  Boten 
mit  8 — 12  Mädchen  in  einem  besonderen  Hause.  Zechen  und  Unzucht  dauert  3 — 6  Tage. 
Die  zweite  Rate  Vieh  bringt  nach  einiger  Zeit  der  BiHutigam  selber  mit  nur  einem  Begleiter, 
ein  Ehrenamt,  zu  dem  sich  Alle  drängen.  Sie  bleiben  dann  2 — 3  Monate  dort,  während 
welcher  Zeit  ein  ähnliches  Leben  geführt  wird.  Das  Essen  dürfen  sie  aber  nicht  selber  ans 
der  Schüssel  nehmen,  sondern  stets  sitzen  die  Mädchen  des  Kraales  neben  ihnen,  nehmen  mit 
Stäbchen  den  Brei  aus  der  Schüssel,  und  nun  erst,  von  dem  Stäbchen  weg,  fassen  die  beiden 
mit  der  Hand  zu  und  führen  den  Brei  zum  Munde.  So  oft  der  Bräutigam  von  neuem  Vieh 
mitbringt,  darf  er  wiederkommen.  Die  Heimholung  der  Braut  und  die  eigentliche  Hochseit 
findet  aber  erst  viel  später  statt.  Wie  himmelweit  sind  diese  Leute  von  dem  idealen  Nimbas 
entfernt,  den  bei  civilisirten  Völkern  ein  Brautpaar  zu  umgeben  pflegt!* 

In  dem  Glauben,  oder  besser  gesagt  in  dem  Aberglauben  mancher  Völker 
nimmt  die  Braut  den  übrigen  Menschen  gegenüber  eine  ganz  besondere  Ausnahme- 
stellung ein,  und  man  sieht  in  dieser  Beziehung  bisweilen  selbst  bei  noch  ziem- 
lich niedrig  in  der  Gultur  stehenden  Nationen  einen  ersten  Schimmer  von  Idealis- 
mus zu  Tage  treten.  Bei  den  Schlachtopfem  der  Tschuwassen  wird  das  Fleisch 
des  Opferthieres  gekocht,  die  Eingeweide  werden  yerbrannt  und  Kopf,  Füsse  and 
Haut  an  den  Bäumen  aufgehängt.  „Es  legt  nun  jeder  in  die  Höhlung  eines 
Baumes  eine  Oeldgabe,  während  die  Frauen,  die  anwesend  sind,  auf  den  Zweigen 
irgend  eine  Handarbeit  aufhängen.  Die  Frauen  dürfen  aber  bei  dieser  feier- 
lichen Handlung  kein  Gebet  sprechen,  nur  eine  Braut  ist  von  diesem  Verbote 
nicht  betrofiTen.     (Vamhery.) 

In  der  deutschen  Schweiz  muss  eine  Braut  sich  wohl  hüten,  einem 
Kinde  ein  unfreundliches  Gesicht  zu  machen,  weil  sie  sonst  böse  Kinder  bekommt. 
Wenn  sie  aber  gar  sich  so  weit  vergüsse,  einem  Kinde  etwas  Böses  anzu- 
wünschen,  dann  würde  sie  in  ihrem  ersten  Wochenbette  ganz  sicherlich  ihren 
Tod  erleiden. 

Die  magyarische  Braut  muss  vorsichtig  aufpassen,  dass  ihr  nicht 
Jemand  beim  Gange  zur  Trauung  Todtenhaare  in  den  Zopf  hineinpflicht;  sie 
wird  sonst  ihren  Gatten  bald  satt  bekommen  und  an  andere  Männer  denken« 
(v,   Wlislocki^.) 

Ich  muss  der  Versuchung  widerstehen,  mich  hier  auf  eine  ausführliche  Er- 
örterung aller  der  Förmlichkeiten  einzulassen,  welche  die  althergebrachte  Sitte 
bei  den  verschiedenen  Völkern  unseres  Erdballes  für  die  Brautwerbung  erfordert. 
In  gleicher  Weise  bin  ich  auch  gezwungen,  die  mannigfachen  Hochzeitsceremo- 
nien  zu  übergehen,  welche  bei  den  einzelnen  Volksstämmen  gebräuchlich  sind. 
Das  bei  den  verschiedenen  Völkern  der  Erde  in  dieser  Beziehung  herrschende 
Ceremoniell  ist  ein  derartig  ausgedehntes,  dass  eine  auch  nur  oberflSfihliclie 
Schilderung  desselben  viele  Seiten  in  AnHi)ruch  nehmen  und  weit  film  dfli 
zulässigen  Raum  hinausgehen  würde.  Eh  wäre  das  eben  ein  Weiic  ftr 
ich  jedoch  einer  anderen  Feder  ühi»rla8Hon  muss. 


XIX.   Die  Ehe. 

134.  Die  EntWickelung  der  Ehe. 

Man  pflegt  gewöhnlich  za  sagen,  der  nächste  und  höchste  Zweck  der  Ehe 
ist  die  Erzeugung  der  Nachkommenschaft.  Dass,  um  diesen  Erfolg  zu  erzielen, 
aber  die  Ehe  nicht  durchaus  erforderlich  ist,  das  bedarf  wohl  kaum  einer  weiteren 
Erörterung.  Viel  schwerer  ist  die  Frage  zu  entscheiden,  wie  entstand  die  Ehe, 
und  ist  das,  was  man  heutzutage  Ehe  nennt,  schon  im  Urzustände  der  Mensch- 
heit vorhanden  gewesen?  Mit  dieser  culturhistorisch  wichtigen  Frage  haben 
sich  in  neuerer  Zeit  viele  Anthropologen  beschäftigt.  Die  Idee,  dass  Weiber- 
gemein Schaft  und  zwanglose  Vermischung  beider  Geschlechter  im  Urzustände 
der  Menschheit  geherrscht  habe,  ist  nicht  neu.  Die  alten  Schriftsteller  Plinius, 
Herodot  und  Strabo  berichteten  von  Völkern,  die  zu  ihrer  Zeit  in  einem  solchen 
oder  einem  ähnlichen  Zustande  lebten;  daraufhin  wurde  von  französischen 
Philosophen  des  vorigen  Jahrhunderts  die  Meinung  ausgesprochen:  „Die  Vernunft 
allein  würde  eher  den  gemeinschaftlichen  Gebrauch,  als  den  ausschliessenden 
Besitz  der  Weiber  anrathen."  (Baue,)  Zweifel  erhoben  sich  allerdings  gar  bald 
gegen  diese  Theorie:  „Wenn  diese  vollkommene  Gemeinschaft  der  Weiber  und 
Güter  je  bestanden  hat,  so  konnte  sie  doch  nur  unter  Volkshaufen  bestehen,  die 
nach  Art  der  Wilden  bloss  von  den  Wohlthaten  der  unbebauten  Natur,  d.  h.  in 
sehr  geringer  Anzahl  auf  einer  grossen  Strecke  Landes  lebten.  Wären  die 
Weiber  gemeinschaftlich,  welcher  Mann  würde  sich  mit  dem  Kinde  belastigen, 
bei  welchem  er  mit  vollem  Rechte  zweifeln  könnte,  ob  er  der  Vater  sei?  Und 
da  sich  die  Frau  für  sich  allein  ausser  Stande  befände,  ihr  Kind  zu  ernähren« 
so  würde  sich  das  Menschengeschlecht  nicht  erhalten  können.*  Mit  diesen 
Worten  (Virey)  und  durch  andere  Einwürfe  war  die  Angelegenheit  keineswegs 
abgeschlossen,  vielmehr  war  es  die  Aufgabe  der  Culturgeschichte  und  der  Anthro- 
pologie, ihr  ernstlich  näher  zu  treten.  Zunächst  musste  man  eine  Beantwortung 
durch  die  bei  vielen  Urvölkem  noch  heute  in  ihrem  Familienwesen  wahrge- 
nommenen Verhältnisse  zu  gewinnen  hofien.  Schon  längst  hatte  man  gefunden, 
dass  bei  nicht  wenig  Völkern  alle  Familienrechte  von  der  Mutter,  nicht  vom 
Vater  abgeleitet  werden.  Dahin  gehört  das  Neffenerbrecht,  d.  i.  das  Recht,  den 
Bruder  der  Mutter  mit  Ausschluss  von  dessen  Nachkommen  zu  beerben.  Ans 
dieser  and  ähnlichen  Erscheinungen  constatirte  man  ein  sogenanntes  Matriarchat, 
welches,  wie  man  annahm,  dem  Patriarchat,  d.  h.  der  Vaterherrschaft,  voraus- 
geganffen  wfire. 

Vor  Allem  aber  war  es  Lubbock^,  dann  auch  M'Lennan^  Lewis^  Morgan^ 
Posi^  V.  HeBwäld  und  Wilken^  welche  die  Ansicht  aufstellten,  dass  ursprünglich 
keine  eigODiliclien  Ehen,  daher  auch  keine  Familien  existirten,  sondern  nur  Ge- 
■cUachterrwUnde    oder  Oeschlechtsgenossenschaften,    in    denen    eine    Gemein- 


524  XIX,  Die  Ehe. 

schaftsehe  (communal  marriage)  bestand.  In  dieser  hätten  sich  alle  za  dieser 
kleinen  Gemeinschaft  gehörenden  Männer  und  Frauen  als  gleichmasrig  unter 
einander  yerheirathet  betrachtet.  Diese  eigenthümlichen  Zustande  bei  den  Horden 
der  Urmenschen  bezeichnete  Lübbock  als  Hetärismus. 

Giraud'Teulon,  KaÜenbrunner  u.  A.  hielten  folgende  Formen  der  Ehe  i&r 
typisch:  1)  Ungetheilte  Familie  (famille  indivise)  ist  eine  Gruppe  von  meift 
blutsverwandten  Personen,  worin  die  Frauen  und  Kinder  nicht  einem  bestinunten 
Gatten  oder  Vater  speciell,  sondern  mehr  oder  weniger  allen  zusammen  gehören. 
2)  Segmentarische  Familien:  das  Familienhaupt  besitzt  seine  eigenen  BVaaen, 
die  Brüder  haben  die  ihrigen  gemeinsam  und  die  Schwestern  gehören  coUectir 
denselben  Gatten  (Hindostan,  Todas).  8)  Die  Individual-Familie,  in  der 
es  sich  nicht  mehr  um  CoUectivbesitz,  sondern  um  persönliche  Sondeirerbande 
handelt;  jeder  Mann  besitzt  eine  oder  mehrere  Frauen  (Monogynie,  Polygynie), 
oder  eine  Frau  besitzt  mehrere  Männer  (Polyandrie). 

Bachofen  war  bemüht,  als  Urtypus  der  primitiven  Geschlechtsgenossenschaft 
das  Zusammenhalten  einer  Gruppe  von  Blutsverwandten  durch  dieselbe  Stammes- 
mutter zu  vertheidigen.  Nach  Straho  bezeichnete  er  dieses  als  Gynäkokratie, 
und  er  brachte  aus  römischen  und  griechischen  Schriftstellern  Beispiele  hier- 
für zusammen.  Auch  bei  den  verschiedensten  nord-  und  südamerikanischen 
Indianerstämmen,  bei  zahlreichen  Völkerschaften  der  Südsee,  bei  indischen 
Urbevölkerungen,  bei  vielen  afrikanischen  Stämmen  findet  sich  Aehnliches. 
Ob  aber  jemals  zu  irgend  einer  Zeit  diese  Organisation  allein  auf  der  !Erde 
die  herrschende  war,  das  wird  wohl  niemals  bewiesen  werden  können.  Wie 
Schmidt  bemerkt,  kann  aus  dem  regellosen  Geschlechtsverkehr,  der  im  Leben 
einzelner  sogenannter  Naturvölker  beobachtet  wurde,  nicht  ohne  weiteres  g^ 
folgert  werden,  dass  dieser  Gebrauch  aus  der  Urzeit  der  Menschheit  stammt. 
Solchem  Hetärismus  können  örtliche  Verirrungen  und  Sittenverwildemng  zu 
Grunde  liegen. 

Tscherntscheff  sagt: 

«Eine  der  hervorragenden  Stellen  unter  den  üeberbleibseln  des  ehelichen  Gommnnismiia 
gehört  den  Erscheinungen,  in  welchen  der  freie  geschlechtliche  Umgang  der  Mädchen  mit  dem 
strengen  Umgange  der  verheiratheten  Frauen  verbunden  auftritt.  Solche  Erscheinungen 
wurden  bei  vielen  Völkern  constatirt.  Wir  begegnen  ihnen  bei  den  Kaffern,  in  Guinea, 
Mayumbe,  bei  den  Bergstämmen  Garos  und  Loatschai,  in  der  Provinz  Arakana,  aaf 
den  Andamanen,  auf  den  Poggi-  und  Nassau-Inseln,  in  Wadai  und  Darfur,  auf 
den  Marianen,  Carolinen-  und  Marshall-Inseln,  bei  den  Chibchas  in  Neu-Granada, 
den  Rankelen,  Patagoniern  u.  s.  w." 

Jetzt  kann  man  diesem  langen  Register  noch  die  Slaven  anreihen,  über 
welche  der  arabische  Geograph  Al-BeJcri  (11.  Jahrh.)  schreibt: 

„Die  Frauen  der  Slaven,  nachdem  sie  in  die  Ehe  getreten  sind,  brechen  die  Ehe 
nicht.  Liebt  aber  die  Jungfrau  Jemanden,  so  geht  sie  zu  ihm  und  befriedigt  bei  ihm  ihre 
Leidenschaft.  Und  wenn  der  Mann  heirathet  und  seine  Braut  jungfräulich  findet,  so  sagt  er 
ihr:  Wäre  an  Dir  etwas  Gutes,  so  hätten  die  Männer  Dich  geliebt  und  Du  hättest  Jemand 
gewählt,  der  Dich  Deiner  Jungfräulichkeit  beraubt  hätte,  dann  verjagt  er  sie  und  sagt  ihr  ab.* 

Lippert^  welcher  nachzuweisen  sucht,  dass  das  Mutterrecht  dem  Vater- 
recht  vorausging,  stützt  seine  Hypothese,  dass  die  Frauenherrschaft  die 
culturgeschichtlich  früheste  Stufe  war,  auf  eine  Reihe  von  Erscheinungen  im 
Völkerleben,  welche  einen  bestimmten  Schluss  auf  ])rähistorische  VerhätniBM* 
namentlich  auf  allgemein  herrschende  Rechtszustände  des  Weibes  kaum  zulaaseii. 
Die  Wahrscheinlichkeit  ist  nicht  abzuleugnen,  dass,  so  lange  sich  feste  Eheverlillt* 
nisse  noch  nicht  ausgebildet  hatten,  aber  auch  noch  über  diese  Zeit  hinaus,  das 
Mutterrecht  in  grosser  Ausdehnung  dem  Vaterrechte  vorausgegangen  ist.  Auch  bei 
vielen  lebenden  Völkern  steht  das  Erstere  noch  unverändert  in  Kraft. 

In  ausgezeichneterweise  äusserte  Adolf  Bastian  in  einem  Vortrage 
Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  seine  Ansichten  über  die  Enm« 


134.  Die  Entwickelung  der  Ehe. 


525 


der  verschiedenen  Formen  der  Ehe  nnd  über  das  Mafcriarchat  und  Patriarchat 
Es  handelt  sich  bei  dem  Mutterrechte,  bei  dem  Matriarchate  nicht  etwa  um 
eine  Bevorzugung  der  Frau,  sondern  vielmehr  um  jene  tiefste  Verachtung,  die 
dem  schwächeren  Geschlechte  unter  dem  Hechte  des  Stärkeren  nicht  erspart  werden 
kann*  Man  muss  zunächst  den  Primärzustand  primitiver  Horden  in  Betracht 
ziehen^  wo  sich  der  Gegensatz  der  Geschlechter  so  entschieden  ausspricht,  dass  sie 
»ich  feindlich  gegenüberstehen.  Nicht  liberorum  quaerendorum  causa  findet  ge- 
legentliches Zusammentrefien  statt,  sondern  die  Ursächlichkeit  liegt  in  der  Brunst 
des  Geschlechtstriebes,  und  hierbei  vennögen  die  Frauen,  als  das  passiv  gewährende 
Element,  durch  die  zustehende  Macht  der  Versagung  eine  Art  Superiorität  zu  be- 
wahren, 80  dasa  bei  den  Papua  z.  B,  jede  Beiwohnung  mit  dem  dort  üblichen 
Muschelgeld  besonders  bezahlt  werden  muss.  Bei  den  Aschanti  herrscht,  wie 
der  König  über  die  Männer,  so  seine  Schwester  über  die  Frauen. 

Eine  fernere  Trennung  in  der  primären  Horde  ist  diejenige  nach  Alters- 
klassen, wo  in  jeder  einzehien  und  bei  allen  unter  einander  das  Recht  des  Stärkeren 
so  recht  zur  Geltung  gelangt,  und  aus  diesem  Rechte  dee  physisch  Stärkeren  ent- 
steht durch  fortschreitende  Cultivirung  das  Recht  des  geistig  Stärkeren :  der  bisher 
dem  Tode  verfallene  Alteraschwache  wird  fortgepflegt,  um  aus  seinem  durch  lang- 
jährige Erfahrung  angesammelten  Weisheitsschatze  Vortheile  zu  ziehen.  Hier 
lassen  sich  schon  culturelle  Prädispositionen  spüren^  während  im  Zustande  wilder 
Rohheit  nur  die  Stärkeren  herrschen«  Diese  also,  von  der  im  Thiere  schon  mäch- 
tigsten Lust  getrieben,  werden  sich  zunächst  die  Frauen  aneignen,  und  zwar  die 
anlockenden  besonders,  also  die  Jüngeren  und  Verführerischen,  Die  nächst  tiefere 
Altersklasse,  die,  obwohl  körperlich  vorläufig  schwächer,  den  Geschlechtstrieb  doch 
feuriger  noch  gähren  tühlt,  kommt  dadurch  in  eine  missliche  Lage,  da,  wenn 
Frauen  überhaupt,  höclistens  die  Widerlichen  und  Abgelebten  noch  übrig  sind, 
Sie  kommen  daher  dazu,  sich  aus  einem  Nachbarstamme  Weiber  zu  rauben,  was 
von  Seiten  dieses  zu  entsprechenden  IWheraubzügen  führt.  Die  schUessliche 
Losung  pflegt  in  Herstellung  einer  Epigamie  gefunden  zu  sein,  und  mit  solchem 
gegenseitigen  Veratandniss  über  Connubium  und  Commercium  taOt  dann  in  die 
Nacht  roher  Barbaren  der  erste  Lichtstrahl  künftiger  Civilisation  unter  dem  Schutz 
|4NU9astrecht8  durch  den  Deus  üdius.  So  wird  es  Braoch  und  Sitte,  aus  fremdem 
fsiptoe  zu  heirathen;  so  folgt  die  Exogamie,  die  die  Ueirathen  zwischen  Ge- 
Qoaseo  desselben  Stammes,  desselben  Totems  u,  s.  w.  vollständig  verbietet.  Die 
hennchende  Kaste  bleibt  aber  bisweilen  bei  der  Endogamie,  bei  der  Heirath  unter 
den  Stammesgenossen,  um  das  edle  Blut  un vermischt  zu  erhalten.  Und  das  kann 
f^  steigern,  dass  m  selbst  zu  Heirathen  zwischen  Bruder  und  Schwester 
war  es  in  den  Dynastien  der  Inca  und  der  Achämeniden,  so 
finden  wir  es  noch  bei  den  Weddah  in  Ceylon,  während  die  Beduinen  sich 
mit  dem  Anrecht  auf  die  Cousine  begnügen. 

Für  die  aus  dem  anderen  Stamme  entnommene  Frau  ist  nun  diesem  eine 
Entschädigung  oder  mit  anderen  Worten  ein  Kaufpreis  zu  zahlen.  Damit  ist  aber 
bestenfalls  nur  die  Frau  selbst  verkauft,  wogegen  der  Stamm  auf  dasjenige,  was 
in  ihr  noch  zeugungsiahig  verschlossen  liegt,  sein  Besitzrecht  fortbewahrt,  also 
auf  die  Kinder.  Diese  gehören  deshalb  überall  bei  den  Naturstämmen  nicht  dem 
Vater,  sondern  der  Mutter,  und  eraterer  kann  selbst  zu  einer  Strafzahlung  ange- 
halten werden,  wenn  ihm  ein  Kind  stirbt.  Denn  durch  diesen  Tod  wird  das  Ver- 
mögen des  Stammes  der  Mutter  geschmälert  Deshalb  wird  bei  den  Dualla  im 
Voraas  für  die  Kinder  eine  Zahlung  geleistet^  welche  bei  etwaiger  Kinderlosigkeit 
wieder  zurückgezalilt  wird.  So  finden  wir  die  Ehe  durch  Kauf  als  die  am  weitesten 
verbreitete,  und  so  lange  die  Kinder  der  Mutter  angehören,  sind  sie  auf  den 
Mnitarbruder  als  den  natürlichen  Beschützer  hingewiesen.  Mit  dem  Vater  haben 
^ii*  K"ind*»r  niobts  weiter  zu  thim  und  ebensowenig  mit  dem  Stamme,  in  welchem 
I  ja  eben   dem  Stamme  der  Mutter  angehören.     Dnd  so  kann  es 


526  XrX.  Die  Ehe. 

kommen,  dass  sie  in  Kriegszeiten  mit  dem  letzteren  gegen  den  Stamm  za  kämpfen 
irezwungen  sind,  in  welchem  sie  geboren  wurden. 

.£n  Australie,  lorsqu'une  guerre  edate  entre  deux  peuplades,  eile  est  dans  cbaqiM 
tril-u  le  ^ifmal  du  depart  d'an  grand  nombro  de  jeunes  gexu.  qui  Tont  rejoindre  la  triba  de 
>ii»  parents  maternels,  de  sorte  qu'il  n^eat  pas  rare  de  voir  le  pere  et  le  fils  dane  dea  campe 
-.jpostrs. "     '  Giraud' Tcuion.) 

Stevens  fand  das  Matriarchat  auch  bei  den  Orang  Laut  in  Malacca.  Elr 
t-rkennt  darin  aber  nicht  eine  Bevorzugung  des  weiblichen  Geschlechts;  denn 
gerade  bei  diesem  Stamme  werden  die  Weiber  besonders  schlecht  behandelt. 
^  Barieis',  f 

Auch  bei  den  Wander-Zigeunern  in  Ungarn  herrscht  noch  immer  das 
Mutterrecht,     r.    Wlislocki  schreibt  darüber: 

,Iiri  Uebrigen  [abgesehen  von  Verwandtechaft  mit  Wojvo  den -Familien]  aber  treten 
die  vemandtscbaft lieben  Beziehungen  väterlicheneiU  ganz  und  gar  in  den  Hintergrund.  Diet 
ist  ein  seltener.  eigenthQ  ml  icher  Umstand  und  findet  seinen  Grund  darin,  dasa  der  Zelt- 
Zigeuner,  sobald  er  sich  beweibt,  der  Truppe  resp.  Sippe  sich  anscblieesen  mnss,  zu  welcher 
seine  Gattin  gehört ;  femer,  dass  er  bei  der  Sippe,  zu  der  er  durch  Geburt  gehört,  nach  seiner 
Verheirathung  wohl  als  Person,  als  Einheit  mitgezählt  wird,  er  aber  und  seine  Nachkommen 
nur  der  Sippe  seiner  Frau  angehören.  Wenn  z.  H.  Peter  der  Sippe  A  die  Maria  der  Sippe  B 
heirathet,  so  gehört  er  der  Sippe  B  an.  wird  aber  bis  zu  seinem  Tode  von  der  Sippe  A  als 
Glied  gezählt ;  seine  Kinder  dagegen  gehören  der  Sippe  B  an,  werden  von  der  Sippe  A  nicht 
als  nahe  Verwandte  betrachtet,  und  können  in  diese  zurückheirathen,  nur  dürfen  sie  nicht  die 
Schwestern  ihres  Vaters  zu  Frauen  nehmen.  Wahrscheinlich  ist  der  Grund  für  dies  eigenthüm- 
liche  Verwandtschaftsvorh&ltniss  in  dem  Umstände  zu  suchen,  dass  der  junge  £hemaiiD  die 
ganze  Einrichtung  eines  zigeunerischen  ^ Hauswesens*  —  Zelte,  Wagen,  Pferde,  Werkxeuge 
u.  s.  w.  —  von  seiner  Frau  erhält,  deren  Anverwandte  sorgsam  wachen,  dass  deijenige,  der  in 
ihre  Sippe  hineingeheirathet  hat,  das  ,  Vermögen"  seiner  Frau  nicht  verschleudere.  Er  ist 
demna<:h  gezwungen,  mit  der  Sippschaft  seiner  Frau  zu  wandern,  und  wenn  es  die  Nothwen- 
digkeit  erheischt,  sich  sogar  von  seinen  nächsten  Geburt!* verwandten  zu  trennen,  mit  denen 
er  dann  nur  zuweilen  in  den  gemeinsamen  Winterquartieren  —  in  den  Orten,  wo  eben  der 
ganze  Stamm  überwintert  —  zusammentrifil.* 

Für  deu  im  Culturint^resse  ]>eremptori8ch  geforderten  Uebergang  von  dem 
Matriarchat  zu  dem  Patriarchat  ist  es  möglich  geworden,  einige  Phasen  in  ethischer 
Entwickelung  zu  belauschen.  Das  durchgreifende  Motiv  liegt  in  den  in  der  Vater- 
brust  erwachenden  Symi^athien  fiir  die  Kinder  seines  eigenen  Fleisches,  wenn  auch 
nur  deshalb,  weil  sie  bei  dem  mit  dem  Sesshattwerden  verknüpften  Ackerbau  in 
dem  Hause  als  Mitarbeiter  geboren  sind,  da  es  unvortheilhaft  wäre,  sie  daraus 
wieder  zu  entlassen,  und  die  deshalb  lieber  mit  der  Aussicht  auf  zustehende  Erb- 
folge an  der  heimischen  Scholle  festgehalten  werden.  Bisweilen  giebt  es  dann 
Competenzcontlicte  mit  dem  Oheim,  und  bei  den  Navajo  kommt  es  vor,  dass  der 
Vater  noch  bei  Lebzeiten  den  eigenen  Kindern  sein  Vermögen  schenkt,  um  die 
Fremden,  denen  es  rechtlich  zustehen  würde,  danim  zu  betrügen.  Auch  in  der 
wunderlichen  Sitte  des  Männerkindbett^s  haben  wir  eine  symbolische  Form  der 
Ablösung  des  Mutterrecht^s  durch  den  Vater  zu  erkennen.  Ein  Erobererstamm 
jedoch,  der  sich  aus  den  Unterworfenen  seine  Frauen  gewaltsam  entnimmt,  wird 
uhne  Weiteres  das  Vaterrecht  einfuhren.  Und  so  gelangen  wir  zu  der  Tereinigten 
Familie  mit  dem  geheiligten  häuslichen  Herd  und  mit  dem  Vater  als  Patriarchen 
an  der  Spitze. 

Ausser  der  Endogamie  und  Exogamie,  welche  wir  bereits  kennen  gelernt 
haben,  die  erstere  als  Heirath  aus  dem  gleichen,  die  letztere  als  Heirath  mis 
einem  fremden  Stamme,  haben  wir  noch  einiger  andeier  Bewichnungen  so  ge- 
denken. 

Polygamie  heisst  eigentlich  Vielheirath,   wird  [fiwBhnlii li  aber  flir  Viel- 
weiberei  (Polygynie),   d.  h.  eheliche  Verbindung  i  •       "         ~ 
Frauen,  gebraucht     In  der  Form  der  Violmftnneref  ^)  war  *• 
Polygamie  weit  seltener.    Je  nach  der  Zahl  dff  1  ghe  J 


134.  Die  EntwickeluDg  der  Ehe.  527 

Person  des  anderen  Geschlechts  ehelich  yereinigt  sind,  heisst  die  Polygamie  wieder 
Bigamie,  Trigamie  u.  s.  w.  Die  Vielweiberei  ist  über  ganz  Afrika  verbreitet 
und  bei  fast  allen  asiatischen  Völkern  durch  Sitte  und  Religion  verstattet, 
dagegen  wird  sie  in  Amerika  unter  den  Indianervölkern  selten  angetroffen. 
Schon  bei  den  alten  Hebräern  kam  nach  dem  Zeugniss  einiger  Bibelstellen  Poly- 
gamie vor,  wie  jedenfalls  auch  bei  manchen  anderen  semitischen  Völkern  des 
Alterthums ;  den  Mohammedanern  erlaubt  der  Koran  (Sure  4)  ausdrücklich  die  Ehe 
mit  mehreren  Weibern.  In  der  Türkei  ist  Polygynie  erlaubt,  aber  sie  kommt 
weit  seltener  vor,  als  man  in  Europa  annimmt;  nur  Wohlbemittelte  können  dort 
mehrere  Frauen  unterhalten,  denn  ein  zahlreich  bevölkerter  Harem  verursacht  einen 
grossen  Kostenaufwand.  Namentlich  pflegen  Beamte,  welche  Versetzungen  an 
einen  anderen  Ort  ausgesetzt  sind,  selten  in  Polygamie  zu  leben,  weil  die  Frauen 
nicht  gezwungen  sind,  dem  Manne  in  seinen  neuen  Bestimmungsort  zu  folgen, 
während  andererseits  der  Mann  auch  die  zurückbleibende  Frau  standesgemäss  zu 
unterhalten  verpflichtet  ist. 

Der  Perser  darf  gesetzlich  nicht  mehr  als  vier  rechtmässige  Frauen  zu 
gleicher  Zeit  haben,  mit  denen  er  eine  auf  die  Dauer  verbindliche  Ehe  geschlossen 
hat.      Vamhiry  äussert  sich  in  folgender  Weise: 

,In  den  mohammedanischen  Ländern  —  ich  schrecke  vor  der  Kühnheit  der  Behauptung 
nicht  zurück  —  wird  unter  Tausenden  von  Familien  höchstens  eine  einzige  gefunden,  in  der 
man  die  legale  Krlaubniss  der  Vielweiberei  in  Anspruch  nimmt.  Beim  türkischen,  per- 
sischen, afghanischon  und  tatarischen  Volke  (d.  h.  bei  den  unteren  Ständen)  ist  sie 
unerhört,  ja  undenkbar,  da  mehrere  Frauen  auch  grösseren  Aufwand  bedingen.  Ebenso  selten 
und  ganz  vereinzelt  kommt  sie  bei  den  Mittelklassen  vor.  In  den  hohen  und  allerhöchsten 
Kreisen  freilich  wuchert  dieses  sociale  Uebel  in  erschreckender  Weise." 

Dagegen  fand  v.  Maltzan  in  den  Städten  Arabiens  in  der  Regel  mehrere 
Frauen  in  einem  Hause,  und  von  den  Arabern  Jerusalems  haben  auch  die 
allerärmsten  wenigstens  zwei. 

Auch  die  Germanen  hatten  Polygynie.  Adam  von  Bremen  erzählt  von 
den  Schweden,  dass  sie  in  allem  Maass  hielten,  nur  nicht  in  der  Zahl  ihrer 
Weiber:  Ein  jeder  nehme  nach  Verhältniss  seines  Vermögens  zwei  oder  drei  oder 
noch  mehr,  die  Reichen  und  die  Fürsten  ohne  Beschränkung  der  Zahl,  und  es 
seien  dieses  rechte  Ehen,  denn  die  Kinder  daraus  seien  vollberechtigt.  Ausser 
bei  den  Skandinaviern  kommt  die  Vielweiberei  noch  ziemlich  spät  bei  den  vor- 
nehmen Franken  vor:  König  Chlotar  L  nahm  zwei  Schwestern  zu  Gemahlinnen, 
Chariber  L  hatte  viele  Frauen,  Dagobert  I.  drei  Frauen  (und  unzählige  Kebse). 
Es  waren  dies  wirkliche,  durch  Brautkauf,  Verlobung  und  HeimfUhrung  geschlossene 
Ehen,  neben  welchen  bei  den  Germanen  das  Concubinat  bestand,  wo  aber 
die  Kebse  weder  Rang  noch  Rechte  der  Ehefrau  hatten. 

Die  Kebse  war  zwar  nicht  gekauft  oder  vermählt,  sondern  die  gegenseitige 
Neigung  schloss  ohne  Förmlichkeit  die  Verbindung,  welche  der  Frau  nicht  Rang 
und  Recht  der  Ehefrau,  den  Kindern  nicht  die  Ansprüche  ehelicher  Nachkommen 
gewährte.  Allein  die  Kebse  erhielt  dann  auch  nach  nordischen  Gesetzen  durch 
Verjährung  rechtliche  Erhöhung:  Das  Gulathingsbuch  bestimmte,  dass  nach 
zwanzigjähriger  öffentlicher  Dauer  des  Concubinats  die  Kinder  erbfähig  seien. 

Das  Concubinat  bestand  während  des  ganzen  Mittelalters  bei  den  Reicheren 
noch  fort,  ohne  dass  die  öffentliche  Meinung  Anstoss  daran  nahm.  Schliesslich 
bestand  auch  unter  den  Slaven  bis  zur  Einführung  des  Christenthums  eine  durch 
kein  Gesetz  beschränkte  Polygynie. 

Wenn  aber  das  indische  Gesetz  Monogamie  vorschrieb,  so  galt  dies  nur 
für  die  Sadras,  die  unterste  Kaste,  die  armen  Leute,  deren  Mittellosigkeit  schon 
TOD  selbst  SU  dem  Braache  monogamischen  Lebens  geführt  hatte;  die  Vaicja- 
Kaste  durfte  eine  bis  zwei  Frauen  nehmen,  die  der  Krieger  zwei  oder  drei, 
^  BrftliBMBaB  wwana  sogur  Tier  gestattet. 


528  XIX.  Die  Ehe. 

Das  jüdische  Recht  setzte  fest,  dass  eine  Beischläferin,  die  Jemand  drei 
Jahre  lang  im  Hause  hatte,  zur  rechtmässigen  Ehe-  und  Hausfrau  werde. 

Unter  allen  christlichen  Völkern  wird  aber  seit  langer  Zeit  die  Polygamie 
durch  Kirche  und  Staat  verpönt;  nur  die  Mormonen  lassen  die  Vielweiberei 
gesetzlich  zu  und  halten  sie  sogar  für  eine  Gott  wohlgefällige  Institntion.  Aller- 
dings traten  auch  in  Deutschland  zu  manchen  Zeiten  Anhänger  der  Polygynie 
auf  (Wiedertäufer  zu  Münster  1588);  auch  suchten  im  17.  Jahrhundert  Joh. 
Lyser^  Lorenz;  Berger  u.  a.  durch  ihre  Schriften  die  Polygynie  zu  Tertheldigeii, 
letztere  insbesondere  auf  Anstiften  des  Kurfürsten  von  der  Pfalz,  der  zwei 
Frauen  nahm.  Allein  allgemein  ist  unter  den  civilisirten  Völkern  anerkannt,  dass 
die  sittliche  Ordnung  den  polygamischen  Ehen  entschieden  abhold  sei,  and  das« 
man,  namentlich  im  Hinblick  auf  den  Orient  und  auf  die  Geschichte  der  morgen- 
ländischen Königshäuser,  die  Vielweiberei  als  schlinmies  sociales  Gebrechen  be- 
zeichnen müsse.  Als  Gründe  för  die  Herrschaft  der  Polygynie  bei  vielen  Völkern 
werden  angeführt:  die  schnelle  Entwickelung  und  frühe  HeirathsfiLhigkeit  der 
Mädchen  und  die  ausdauernde  Kräftigkeit  der  Männer.  Allein  die  religiösen  und 
ethischen  Anschauungen  von  der  Ehe  und  von  der  Stellung  der  Frau  in  der 
Familie  verurtheilten  bei  allen  gebildeten  Nationen  die  Polygynie. 

V.  Nordenskiöld  sagt  von  den  Eskimos: 

„Gewöhnlich  haben  die  Eskimos  nur  eine  Frau,  selten  zwei,  drei  oder  vier.  DaJager 
kannte  einen  Mann,  welcher  elf  Frauen  hatte.  Es  gilt  als  ein  Zeichen  von  Tüchtigkeit  und 
Rührigkeit,  mehrere  Frauen  mit  vielen  Kindern  ernähren  zu  können.* 

Polyandrie  (Vielmännerei)  ist  die  Verbindung  einer  Frau  mit  mehreren 
Männern.  Sie  ist  am  verbreitetsten  unter  den  Völkern  auf  Ceylon,  in  Indien, 
insbesondere  bei  den  Toda,  Cong,  Nair  und  anderen  Stämmen  im  Nilgiri- 
gebirge,  femer  in  Tibet,  bei  den  Eskimo,  Aleuten,  Konjagen  und  Kol- 
juschen;  auch  fand  man  diese  Sitte  unter  den  Ureinwohnern  am  Orinoco,  so- 
wie bei  australischen,  nukahiwischen  und  irokesischen  Stämmen.  Auf 
Ceylon  und  bei  den  Völkerschaften  am  Fusse  des  Himalaya  sind  die  gemein- 
samen Gatten  der  Frau  stets  Brüder.  Fast  genau  so  hielten  es  die  alten  Briten 
zu  Cäsar  s  Zeit.  Die  Sitte  der  Polyandrie  scheinen  Sparsamkeitsrücksichten  bei 
mehreren  der  genannten  Völker  aufrecht  zu  erhalten;  ebenso  ist  Armnth  die 
Veranlassung,  dass  unter  den  Herero  in  Süd-Afrika  Polyandrie  bisweilen 
vorkommt. 

V,  Ujfalvy  hat  im  Kululande  im  westlichen  Himalaya  Ehegenossenschaflen 
angetroffen,  wo  4  bis  6  Männer  mit  einer  Frau  lebten.  Diese  Männer  waren 
immer  Brüder.  Die  Kinder  sprechen  von  einem  älteren  und  jüngeren  Vater,  und 
sobald  ein  Gatte  die  Schuhe  eines  seiner  Brüder  vor  dem  Ehegemache  erblickt, 
so  weiss  er,  dass  er  dasselbe  nicht  zu  betreten  hat. 

Auch  bei  den  Garros  in  Ladak  und  bei  den  Spiti  im  Himalaya  ist  die 
Polyandrie  gebräuchlich. 

Von  den  Ladak is  sagt  v.  Ujfalvy: 

,Um  der  Zersplitterung  des  Grundbesitzes  vorzubeugen  und  vielleicht  auch  aus  Spar- 
samkeitsracksichten  ist  es  dort  Sitte,  dass  einem  Mädchen,  das  die  Ehe  mit  einem  Manne 
eingegangen  ist,  es  frei  steht,  sich  noch  eine  beliebige  Anzahl  von  anderen  M&nnem  zu  Gatten 
zu  nehmen;  jedoch  bilden  alle  zusammen  eine  Familie.  Meist  sind  indessen  die  sp&ter  er- 
wählten Gatten  die  Brüder  des  ersten,  und  man  hört  daher  oft  die  Kinder  von  einem  älteren 
oder  jüngeren  Vater  sprechen.  Doch  ist  es  den  Frauen  in  Ladak  gestattet,  auch  noch  einen 
weiteren  fremden  Gatten  zu  wfihlen,  den  sie,  ohne  Widerspruch  befürchten  zu  müssen,  in  die 
Ehogemeinschaft  einführen  dürfen.  Indessen  kommen  auch  Fälle  von  Vielweiberei  vor;  hin 
und  wieder  ereignet  sich  auch,  dass  ein  wohlhabendes  Mädchen  nur  einem  einzigen  Manne 
mich  ihrer  Wahl  die  Hand  reicht.' 

lieber  die  Polyandrie  bei  den  Völkern  des  oberen  Industhaies  sagt 
lionssckt: 

,Die  Ehe  mehrerer  Männer  mit  einer  Frau  ist  wahrscheinlich  der  Typus  der  UtesisM 


134.  Die  EntwickoluDg  der  Ehe. 


529 


I 


soeialea  OrganiBatioii  der  üryöUcer  dea  Indus  and  de«  westlichen  Hiinalaya.  Für  da«  hohe 
Alter  diesor  8Hie  äpricbt  der  Crnntand,  dasa  wir  sie  heute  noch  bei  vorBcbiedenen  8t£.mmen 
lierrachond  finden,  die  durch  weite,  von  Anhungern  der  Polygamie  bevölkerte  Gebiete  von 
einander  geschieden  sind.  So  sehen  wir  die  Polyandrie  bei  den  Nairs  im  S^ussersten  Buden 
Indiens,  bei  den  UaTga  in  Gobwana»  bei  den  Garros  an  der  indisch-chineBischen 
Grenze,  und  endlich  im  westlichen  üimalaya,  in  Ladak,  Rapechu  und  Eulu.  .  .  Inder 
Regel  werden,  wenn  der  ältei^e  Brader  heirathet,  alle  seine  Bruder  dadurch  auch  Gatten 
Beiner  Frau.  Ihe  Kinder,  die  aus  dieser  Verbindung  hervorgehen,  gehören  nicht  dem  Einzelnen, 
sondern  geben  den  verschiedenen  vereinten  Gatten  ihrer  Mutter  unterschiedjslos  den  Namen 
Vater.  So  hat  eine  Frau  biBweilen  vier  M&nner  auf  einmal;  doch  ist  die  Zahl  keineswegs 
beschränkt.  Ausser  dieser  regelm&asigen  Fortn  der  Polyandrie  hat  die  Frau  auch  das  Recht, 
»ich  noch  einen  oder  mehrere  Gatten  (nicht  Liebhaber)  neben  der  Gruppe  von  BrÖdem  zu 
wählen.  Das  Eeeultat  dieses  merkwürdigen  Brauche»  ist,  das«  die  Bevölkerung  stationär  bleibt; 
indessen  vermindert  sie  sich  nicht.  Unter  den  polyandrischen  Kulus  bildet  die  Frau  das 
Haupt  der  Gemeinschaft.  Sie  verwaltet  das  Besitzthum»  das  die  Gatten  bearbeiten  und  dessen 
Betrag  sie  ihr  übergeben.  Sie  allein  stattet  die  Kinder  aus  und  vermacht  ihnen  ihr  Beaits« 
thum  als  Erbtheil.' 

Einst  floh  ein  Mädchen  des  Daphla-Valkes  (zwischen  China  und  Britiscb-Indien) 
auf  indischen  Boden  und  stellte  sich  unter  englischen  Schutz  gegen  ihren  Vater,  der  sie 
einem  in  polygamiflchor  Ehe  lebenden  Nachbar  hatte  verheirathen  wollen.  Man  verlieh  ihr 
das  Niederlasflungarecht}  »ofort  schmückte  ^ie  sich  und  holte  aus  einem  Versteck  ihren  Ent- 
führer^  stellte  diesem  aber  auch  als  ihre  Gatten  zwei  Männer  vor;  es  stellte  sich  heraus,  dass 
unter  ihren  Landsleuten  Vielweiberei  die  Ausnahme ,  dagegen  unter  den  Tibetern  Viel- 
männerei die  Regel  eeL  Dabei  besclir^kt  !«ich  die  Polyandrie  nicht,  wie  in  Tibet«  auf 
Brüder,  sondern  erfolgt  nach  freier  WahL    (SchlaffintweitJ 

Weon  im  südlichen  Indien  Eheu  von  einer  Briiderzalil  mit  mehreren 
Schwestern  geschlossen  werden,  und  wenn  bei  den  Polynesiern  der  Hawaii- 
Inseln  unter  dem  Namen  Pimula  die  Sitte  herrschte,  das»  Brüder  gemeinsam  ihre 
Frauen,  Schwestern  gemeinsam  ihre  Männer  besassen,  so  bemerkt  Fcschel  hierzu 
ganz  richtige  dass  es  sehr  gewagt  sein  würde,  diese  vereLmcelten  Bräuche  als  noth- 
wendige  Vorstufen  zur  strengen  Ehe  zu  bezeichnen.  Bei  mancheu  Polynesiern 
gilt  sogar  als  eigenthtiraliche  Sitte  die  sogenannte  Blutafreundschall,  wonach  zwei 
Männer,  nachdem  sie  mit  einander  eine  auf  einem  gegenseitigen  Schutz-  und 
Trutstbrtndniss  beruhende  Freundschaft  geschlossen,  zur  Weib  erge  meinschaft 
«ich  verpflichten. 

Nicht  immer  ist  bei  emem  Volke  nur  eine  bestimmte,  einheitliche  Form 
der  Eheschliessung  gebräuchlicL  Unter  den  Malayen  zu  Menangka- 
bao  auf  Sumatra,  bei  denen  sich  die  verwandtschaftlichen  Beziehungen  nach 
der  Frau  bestimmen  und  das  Vermögen  der  Frau  durch  sie  vererbt  wird,  giebt  es 
eine  dreifache  Art  der  Ehe:  die  Heirath  durch  djudjur  Ist  ein  vollständiger  Kauf 
der  Frau;  diese  und  die  Kinder  werden  Eigenthum  des  Mannes  und  fallen  nach 
seinem  Tode  an  seine  Erben.  Bei  der  Heirath  durch  s  e  m  a  n  d  o  giebt  der  Mann 
ein  bestimmtes  Geschenk,  beide  Ehegeuossen  stehen  auf  dem  Fusse  der  Gleichheit 
und  haben  gleiche  Rechte  auf  Kinder  und  errungenes  Vermögen.  Bei  der  durch 
ambil  anak  geschlossenen  Ehe  zahlt  der  Mann  nichts  und  tritt  in  eine  unter- 
geordnete Stellung  zur  Familie  der  Frau;  er  hat  kein  Recht  auf  die  Kinder. 
Neben  diesen  Hauptarten  der  Ehe  giebt  es  noch  mehrere  Uebergangsformen.  Um 
nur  noch  ein  Volk  zu  nennen,  erwähne  ich,  dass  in  Persien  die  Ehe  entweder 
akdi  ist,  d.h.  auf  die  Dauer  verbindlich,  so  lange  nicht  ein  Gnmd  zur  Scheidung 
geltend  gemacht  werden  kann,  oder  sighei,  d.  h.  nur  auf  eine  vertragsmässige 
Zeit.  Die  Akdi  entspricht  ganz  unserer  Ehefrau,  auch  darf  gesetzlich  der  Perser 
deren  nicht  mehr  ab  eine  zu  gleicher  Zeit  haben.  Sighe,  d.  h.  die  durch  Vertrag 
geheirathete  Frau,  wird  gegen  mn*:'  '^       olt  und  gegen  fe-'  " 't- 

schädigung  bei  eintretender  Schwai  athet;    während  -u 

Zeit  geniesst  sie  die  vollen  Rechte  emer  legalen  Frau;  nach  Ablauf  des  Vertraga- 
tarmins  aber  ist  sie  dem  Manne  if*-^*'i/V]r]i   v^rnr^nf. 

Pl0l9>  BftTUIt,  Ü«A  W«ib.    6.  Auf) 


530  X^-  ^ie  Ehe. 

Ich  denke,  die  vorstehenden  Auseinandersetzungen  werden  genügend  sein, 
um  dem  Leser  ein  ungeföhres  Bild  Yon  der  Vielseitigkeit  der  Formen  zu  geben, 
unter  welchen  das  Weib  sich  mit  dem  Manne  zu  einer  mehr  oder  weniger  dauern- 
den Gemeinschaft  verbindet,  und  für  manche  Gebrauche,  welche  im  ersten  Augen- 
blick uns  sinnlos  und  paradox  erscheinen,  ist  hier  auch  wieder  das  genaue  Studium 
der  vergleichenden  EÜmologie  die  nothigen  Erläuterungen  und  das  volle  Ver- 
ständniss  zu  geben  im  Stande  gewesen. 


135.  Die  Probe-Ehe. 

Es  ist  hier  noch  einer  Form  der  Ehe  zu  gedenken,  welche  man  mit  dem 
Namen  der  Probe-Ehe  bezeichnen  kann.  Dieselbe  besteht  in  der  sonderbaren 
Sitte,  dass  ein  verlobtes  Paar  eine  bestimmte  Zeit  hindurch,  bisweilen  selbst  auf 
mehrere  Jahre  hin,  in  regelmässiger  geschlechtlicher  Gemeinschaft  lebt,  dass  aber 
die  Ehe  nur  dann  definitv  abgeschlossen  wird,  wenn  während  dieser  Probezeit  es 
dem  Bräutigam  gelingt,  bei  seiner  Verlobten  eine  Schwängerung  zu  erzielen. 
Bleibt  die  Befruchtung  aus,  so  wird  angenommen,  dass  diese  beiden  Menschen 
nicht  zu  einander  passen,  und  sie  gehen  dann  wieder  aus  einander.  Nicht  selten 
findet  sich  für  die  unter  solchen  Umständen  verlassene  Braut  sehr  bald  wiederum 
ein  neuer  Bewerber,  der  willig  eine  neue  Probezeit  mit  ihr  durchlebt.  Ein 
Mädchen  wieder  zu  verlassen,  das  man  in  einer  solchen  Probe-Ehe  geschwängert 
hat,  gilt  für  eine  ganz  besondere  Schändlichkeit  und  unterliegt  der  allgemeinen 
Verachtung. 

G.  V,  Bunsen  berichtet,  dass  in  mehreren  Theilen  von  Yorkshire  noch 
die  Ehe  auf  Probe  besteht.  Das  Verlassen  der  Braut  nach  eingetretener 
Schwängerung  wird  von  der  Nachbarschaft  auf  das  Strengste  geahndet.  .Die 
solennen  Worte  des  Bräutigams  beim  Eingehen  eines  solchen  Probeverhältnisses 
lauten:  If  thee  tak,  I  tak  thee  (wenn  Du  empfängst,  nehme  ich  Dich). 

Ganz  ähnlich  wurde  mir  im  Jahre  1864  in  Masuren  (Ostpreussen)  mit- 
getheilt,  dass  dort  das  sogenannte  Probejahr  bei  der  Landbevölkerung  ein  ganz 
allgemeiner  Gebrauch  wäre.  Auch  hier  wird  nur  die  Ehe  später  wirklich  ge- 
schlossen, wenn  sich  bei  der  Braut  eine  Schwangerschaft  einstellt.  Das  Gleiche 
erzählt  auch  Fischer^  aus  dem  Schwarzwalde,  wo  man  eine  Unterscheidung 
zwischen  den  Kommnächten  und  den  Probenächten  macht  Die  ersteren 
gehen  den  letzteren  immer  vorauf  und  die  jungen  Mädchen  beginnen  mit  ihnen, 
sobald  sie  eben  erwachsen  sind.  „Die  Landleute  finden  ihre  Gewohnheit  so  un- 
schuldig, dass  es  nicht  selten  geschieht,  wenn  der  Geistliche  im  Orte  einen  Bauern 
nach  dem  Wohlsein  seiner  Töchter  fragt,  dieser  ihm  zum  Beweise,  dass  sie  gut 
heranwüchsen,  mit  aller  Offenherzigkeit  und  mit  einem  väterlichen  Wohlgefallen 
erzählt,  dass  sie  schon  anfingen,  ihre  Kommnächte  zu  halten.* 

Die  Komnmächte  sind  nun  allerdings  noch  ziemlich  unschuldiger  Natur. 

Der  jang^  Barsche  darf  nicht  zur  Thüre  in  das  Haus  hinein,  sondern  er  muss  den  Weg 
durch  das  Fenster  in  die  Schlafkammer  seiner  Geliebten  wählen,  was  bisweilen  einige  hals- 
brecherische Turnübungen  erforderlich  macht.  In  der  Kammer  findet  er  das  M&dcben  toII- 
ständig  angekleidet  im  Bette  liegen  und  alle  seine  Mühe  und  Anstrengung  schafft  ihm  flin 
Erste  keinerlei  andere  Vortheile,  als  dass  er  einige  Stunden  mit  seiner  Geliebten  plaudern 
kann.  «Sobald  sie  eingeschlafen  ist,  muss  er  sich  plötzlich  entfernen,  und  erst  nach  und  nach 
werden  ihre  Unterhaltungen  lebhafter.*  Nun  gehen  die  Eommnächte  allmählich  in  die  Probe- 
nächte über.  ,In  der  Folge  giebt  die  Dirne  ihrem  Buhlen  unter  allerlei  ländlichen  Scherxen 
und  Neckereien  Gelegenheit,  sich  von  ihren  verborgenen  Schönheiten  eine  Erkenntniss  za  er- 
werben, lässt  sich  Überhaupt  von  ihm  in  einer  leichten  Kleidung  überraschen  und  gestattet 
ihm  zuletzt  alles,  womit  ein  Frauenzimmer  die  Sinnlichkeit  einer  Mannsperson  befriedigen 
kann.  Doch  auch  hier  wird  immer  noch  ein  gewisses  Stnfenmaass  beobachtet.  Sehr  oft  ver^ 
weigern  die  Mädchen  ihrem  Liebhaber  die  Gewährung  seiner  letzten  Wünsche  so  lange,  bis  er 


136.  HmderuDgsgründe  der  ifl^^^^^^^^^^BF  581 

ewalt  braucht    Diet  geschieht  allezeit,  wenn  ihnen  wegen  »einer  Leibeestärke  einige  Zweife ' 
;urück  Bind/ 

,Eiti  Wiederauseinandergehen  nach  einigen  Frobenächten  findet  nicht  selten  statt.  Das 
lülLdchen  bat  dabei  keine  Gefahr,  in  einen  üblen  Ruf  su  kommen^  denn  ea  zeigt  sich  bald 
ein  Anderer,  der  gern  den  Homan  mit  ihr  von  vorne  anhebt.  Nur  dann  ist  ihr  Name  rwei- 
deutigen  Anmerkungen  ausgesetzt,  wenn  sie  mehrnaals  die  Probezeit  vergebens  gehalten  Hat. 
Das  Drtrfpnblikum  halt  «ich  auf  diesen  Fall  schlechterdings  für  berechtigt,  verborgene  Ünvoll 
kommecibeiten  bei  ihr  zu  argwöhnen/ 

Es  ist  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dass  auch  noch  in  vielen  anderen 
Theilen  Deutschlands  unter  der  Landbevölkerung  solche  Probe-Ehen,  wenn  auch 
vielleicht  nicht  ganz  allgemein,  so  doch  vielfach  gebräuchlich  sind.  Das  ge- 
schwängerte Mädchen  sucht  sich  später  einen  lukrativen  Amuiendienst^  und  nach 
Ablauf  ihrer  Ammen  zeit  kehrt  sie  in  ihre  Heimath  zurück  und  pflegt  sich  dann 
bald  definitiv  zu  verheirathen.  Auch  hier  wird  es  gewöhnlich  als  ein  grober 
Treubruch  angesehen,  wenn  der  ehemalige  Geliebte  sich  weigert,  daa  Mädchen  jetzt 
zum  Altäre  zu  Tühren. 

Von  FiscJicr^  werden  viele  Beispiele  herangezogen,  aus  denen  ea  sehr  wahr- 
scheinlich gemacht  wird^  dass  diese  Sitte  der  geschlechtlichen  Probe  vor  der  Hoch- 
zeit früher  eine  bei  Hoch  und  Niedrig  allgemein  gebräuchliche  gewesen  eet  Er 
bringt  hiermit  den  Gebrauch  des  feierlichen  öffentlichen  Beilagera  vor  der  Hoch- 

ixeit  in  Verbindung  und  sucht  seine  Behauptung  dadurch  zu  stützen,  dass  auch 
bei  den  Ehen  per  procuram  der  gekrönten  Häupter  deren  bestellter  Vertreter 
mit  der  fürstlichen  Braut  das  Beilager  abhalten  musste,  allerdings  geharnischt  an 
der  rechten  Körperhälfte.  Papst  Alexander  IJL  traf  die  Verordnung,  dass  von 
Swei  Bräuten  diejenige  die  wahre  Ehefrau  bleiben  solle,  mit  der  der  Verlobte 
bereits  den  Beischlaf  ausgeübt  habe;  und  daa  52.  Gesetz  der  Alemannen  besagt, 
dass  wer  mit  einer  Braut  das  Verhältniss  abgebrochen  hatte,  schwören  musste, 
,dass  er  sie  weder  aus  Argwohn  irgend  eines  Gebrechens  auf  die  Probe  gestellt, 
noch  auch  wirklich  etwas  dergleichen  bei  ihr  entdeckt  habe*. 
Der  Gebrauch  der  Probe-Ehe  kann  übrigens  auf  ein  respektables  Lebensalter 
zurückblicken,  denn  er  bestand  schon,  wie  Ehtrs  bezeugt,  bei  den  alten  Aegyptern; 
ich  werde  später  davon  zu  sprechen  haben. 

Dass  auch  bei  niederen  Völkerschaften  mancherlei  Anklang*^  an  diese  Sitten 
herrschen,  daa  haben  wir  in  früheren  Abschnitten  bereits  ersehen  können.  Von  den 
Igorroten  auf  den  Philippinen  wird  sie  von  Hans  Meyer  bezeugt.  Er  sagt: 
«Haben  arwei  Verliebte  die  Zoatimtnnng  der  Eltern  2ur  Heirath,  bö  findet  ein  Fentfichmau« 
fltatti  bei  welchem  gebratene  Schweine  oud  Heisbasig  die  Hauptrolle  spielen ,  und  während 
de«  Schinauie«  werden  die  beiden  su  Verheirathenden  allein  in  eine  Hütte  gesperrt,  wo  sie 
mit  Speisen  versorgt  4 — 5  Tag«  bia  lur  Boendigung  des  Festes  bleiben.  Nach  dieser  Probe- 
»eit  steht  es  jeder  der  beiden  Parteien  frei,  von  der  Heirath  abzustehen.  Tritt  der  Mann 
zurück,  so  hat  er  das  M&dchen  mit  einem  Gewand,  einem  Feldspateo,  einem  Kochkessel,  einem 
Jkrmband  und  Ohrringen  su  beschenken  und  die  Kosten  des  Festschmauseft  £U  tragen;  tritt 
das  M&dchen  surück,  so  fallen  ihr  die  Kosten  des  SchmauseB  zu.  Wenn  aber  das  MZldehen 
Ton  dieser  Probeheirath  schwanger  wird,  dann  mnss  ihr  der  Mann  eine  HCltte  bauen  und  ihr 
n  Schwein  nebst  einem  Paar  Hühner  schenken,* 


laß,  HiiifleruQgHgründe  der  Ehe. 

Wir  haben  soeben  kennen  gelernt^  dass  unter  Umstanden  die  definitive 
iessung  der  Ehe  von  dein  Eintreten  einer  Befruchtung  abhängig  ist  Wenn 
letztere  ausbleibt,  so  dürfen  sich  die  jungen  Leute  nicht  mit  einander  ver- 
ieinithen,  auch  wenn  sie  selber  den  Wunsch  dazu  hätten.  Wir  begegnen  hier 
ilöo  einem  Hinderungsgrunde  für  die  Ehe,  deren  e»  nun  bei  den  verschie* 
lenen  Volkern  sehr  verschiedene  giebt.  Sie  zerfallen  in  solche,  die  eine  Schliessung 
Jer   Ehe   überhaupt   von  vornherein   unmöglich    machen,    und   in  solche^   welche, 

34  ♦ 


532  XK.  Die  Ehe. 

wenn  sie  sicli  herausstellen,  die  soeben  geschlossene  Ehe  sofort  wiedenun  lösen.   Sie 
alle  durchzusprechen,   wQrde   Qber  den  Rahmen  dieses  Buches  weit  hinaoi^ehen. 

Dass  bei  fast  allen  Völkern  Standesunterschiede  existiren,  welche  anter  um- 
ständen einen  Hinderungsgrund  der  Ehe  abgeben  können,  das  ist  wohl  in  hin- 
reichender Weise  bekannt.  Auch  Qbergehe  ich  hier  die  HinderungsgrOnde,  welche 
in  gewissen  blutsverwandtschaftlichen  Beziehungen  ihre  Begründung  haben.  Es 
wird  denselben  ein  besonderer  Abschnitt  gewidmet  werden. 

Vorwegnehmen  will  ich  aber  gleich  einige  Formen  künstlicher  Bluts- 
verwandtschaft, wie  man  diese  Verhältnisse  bezeichnen  könnte,  welche  es  den 
Betheiligten  ebenfalls  unmöglich  machen,  das  Band  der  Ehe  zu  knüpfen.  Dazu 
gehört  bei  einigen  Völkern  die  einstige  Ernährung  mit  derselben  Weiberbrast, 
die  Milchbruderschaft,  z.  B.  bei  den  Armeniern,  bei  den  Truchmenen 
und  in  Dardestan,  wo  eine  Ehe  zwischen  Milchgeschwistem  als  Blutschande 
gilt.  Bei  anderen  Völkern,  namentlich  bei  den  Süd-Slaven,  aber  auch  bei  den 
Wanjamuesi  in  Afrika,  ist  es  die  Wahlbruderschaft,  oder  die  Bluts- 
bruderschaft; femer  auch,  und  zwar  weit  über  die  Erde  verbreitet,  die  Ange- 
hörigkeit zu  der  gleichen  Stammesgruppe,  zu  dem  gleichen  Totem,  wie  es  bei 
den  Indianern  heissen  würde.  Jeder  auch  noch  so  kleine  Stamm  zerfallt  bei 
derartigen  Völkern  in  einzelne  Gruppen,  welche  durch  besondere  Namen  unter- 
schieden werden.  Ofb  ist  es  der  Name  eines  Thieres,  welchen  jede  Gruppe  tragt, 
dieses  Thier  ist  dann  ihre  schützende  Gottheit  und  es  darf  von  ihnen  niemals 
weder  getödtet  noch  gegessen  werden.  Diese  Thiere  heissen  bei  den  Indianern 
der  Totem  der  Gruppe.  Ganz  ähnliche  Verhältnisse  finden  sich  in  Australien, 
auf  einigen  Inseln  der  Südsee  u.  s.  w.  Niemals  dürfen  sich  Angehörige  des 
gleichen  Totem  heirathen;  stets  muss  der  andere  Theil  einem  anderen  Totem 
entsprossen  sein.  Es  ist  das  ein  Ueberlebsel  der  sogenannten  Exogamie,  das 
seine  Nachklänge  auch  selbst  noch  in  Europa  verspüren  lässt.  Derartiges 
berichtet  v.  Wlislocki  von  den  Zelt-Zigeunern  Siebenbürgens,  bei  welchen 
stets  der  Mann  in  die  Sippe  seiner  Frau  übertreten  muss  und  wo  die  Kinder 
dieser  Sippe  angehören,  aber  in  des  Vaters  Sippe  zurückheirathen  dürfen«  Von 
welcher  ausserordentlichen  Unverletzlichkeit  derartige  Hinderungsgründe  für  die 
Ehe  sind,  das  zeigt  recht  deutlich  eine  uns  von  Dmiks  über  die  Inselgruppen 
Duke  of  York,  Neu-Irland  und  N eu- Britannien  berichtete  Thatsadie.  Hier 
zerfallen  die  Eingeborenen  in  zwei  Gruppen,  welche  dem  geschilderten  Gesetze 
der  Exogamie  unterliegen,  und  wenn  Jemand  des  Ehebruchs  oder  der  Hurerei 
mit  einer  Person  angeklagt  wird  und  er  kann  nachweisen,  dass  sie  seiner  Gruppe 
angehört,  so  gilt  allein  durch  diesen  Umstand  schon  seine  Unschuld  als  erwiesen. 

Hinreichend  bekannt  ist  es,  dass  die  Verehelichuug  mit  gewissen ,  dem 
Dienste  der  Gottheit  oder  das  Königs  geweihten  Jungfrauen  verboten  ist,  wie  sie 
sich  bei  sehr  vielen  Völkern  vorfinden.  Auch  ist  in  Indien  bekanntlich  die  Ehe 
mit  einer  Wittwe  unmöglich,  selbst  wenn  sie  noch  in  jungfräulichem  Zustande 
sich  befindet.  An  der  Loango-Küste  müssen  sich  unter  Umständen  die  Jüng- 
linge gefallen  lassen,  dass  ihnen  die  Heirath  mit  der  Auserwählten  untersagt  wird, 
weil  eine  Prinzessin  sie  zur  Ehe  begehrt.  Da  hilft  kein  Sträuben,  sie  müssen 
sich  dem  allerhöchsten  Willen  fügen. 

Unter  denjenigen  Dingen,  welche  als  Ehebehinderung  in  dem  Sinne  auf- 
treten, dass  sie  eine  soeben  geschlossene  Ehe  sofort  wieder  zu  lösen  und  ungültig 
zu  machen  vermögen,  haben  wir  das  Eine  bereits  in  einem  früheren  Abschnitte 
kennen  gelernt,  das  ist  der  nachgewiesene  Verlust  des  Jungfernhäutchens.  Aber 
auch  körperliche  Gebrechen  aller  Art  gehören  in  diese  Gruppe  hinein,  vor 
Dingen  aber  die  Im])otenz.     Fost  sagt  über  diesen  Gegenstand: 

„AIh  stillscbweigender  Inhalt  des  geschlechtsrechtlichen  VeriobnogSYertragss  gil^ 
m&Bsig,   dass    das  Mädchen   frei    von   körperlichen  Mängeln  sei.     Verschweigt  dar 
solche  Mängel,    so   kann  er  dadurch   bnssfallig  werden.     Die  Verlobangsfonnal  « 


1B7.  Die  £he  swischen  Blutsverw^andten.  ^^^^F  5S3 

iitehen  Hechts  gebt  dahin,  dasa  der  Verlober  dem  Bräaiigam  die  Bmut  geBetsdich  amm'- 
äobt  ohne  körperliche  Mängel,  und  nach  indischem  Recht  mu8s  der  Vater  der  Braut  dem 
FBr&utigiim  etwaige  Mängel  derselben  anseigen^  sonst  wird  er  bestraft  und  der  Vertrag  kann 
rückgUngig  gemacht  werden»  Nach  birmanischem  Rechte  kann,  wenn  bei  der  Verlobung 
wesentliche  Mängel  verschwiegen  werden,  dieselbe  rückgängig  gemacht  werden.*  Nacb  süd- 
alavischen  Gewöhn  heiterechten  sind  Impotenz  ujid  Bon«tige  schwere,  körperliche  Gebrechen, 
%.  B,  ein  Brach,  Blindheit,  stinkender  Äthem  u.  b.  w.  Ehehinderniase,  Verstandesachw&che 
dagegen  nicht.    (KraussJ 

Etwas  anders  ist   es  in    dem  Rechte  der  Hindu.     Hier  kann  die  Impotenz 
und    das  Auftreten   von   Geisteskrankheiten    allerdings   einen  Grund    abgeben,    die 
einmal    versprochene   Ehe   nicht   einzugehen;    wenn  jedoch    die   Ehe    bereits    ge- 
P  schlössen  ist,  dann  kann  sie  aus  diesen  Gründen  nicht  wieder  gelöst  werden. 


137.  Die  Ehe  zwischen  Blutsyerwaiidten. 

Wir  haben  in  dem  vorigen  Abschnitte  bereits  darauf  hingewiesen,    dass  bei 
vielen  Völkern  einer  der  wichtigsten  Behinderungsgrlinde  für  das  Eingehen  einer 
Ehe    in    der    gegenseitigen    Blutsverwandtschaft    der    Betheüigten    begründet    ist. 
Wir   werden   jetzt   die   verschiedenartigen   Anschauungen   kennen   lernen,   welche 
Ober  diesen  Punkt   bei  den  einzelnen  Völkern   herrschend  sind.      Wenn    wir    uns 
nun    dasjenige  in    das  Gedächtniss   zurückrufen,    was    weiter    oben    Über    die  Ent- 
]  Wickelung  der  Ehe  und  über  deren  noch  heute  zu  Recht  bestehende  verschiedene 
|Arten   gesagt  worden  ist,    so  werden  wir  es  wolü  verstehen,    wenn    wir    auf   der 
einen  Seite  hei   bestimmten   Stämmen   der  Sitte   begegnen,   das»   die   allerengsten 
|Verwandt8chaftsbande    das    Eingehen    einer    ehelichen    Gemeinschaft    nicht    allein 
licht  zu  hindern  im  Stunde  sind,  sontlern  dasselbe  eher  sogar  noch  zu  begünstigen 
[scheinen,  während  wiederum  andererseits  bei  anderen  Stämmen  auch  nicht  einmal 
^lolche   Verwandte   eine  Ehe   mit   einander    achliessen    dürfen,    bei    welchen    nach 
unseren    modernen  Anschauungen   von  einer  Verwandtschaft  eigentlich   gar   nicht 
diehr    die    Kede    sein    kann*      Das    eine    ist    eben    ein  Auswuchs    der   Exo^mie, 
Fwährend  das  eratere  eine  auf  die  Spitze    getriebene  Endogamie  repräsentirt.     Bei 
uns    ist  68  bekanntlich  erlaubt,  dass  Geschwisterkinder  mit  einander  sich   verhei- 
rathen,    und  zwar  ist  es   hier  ganz  gleichgültig,    ob  die  Vettern  oder  Basen  von 
Wer  Seite  des  Vaters  oder  von  derjenigen  der  Mutter  herstammen.    Bei  den  Katho- 
liken hingegen  gelten  schon  strengere  Verordnungen.    Den  Dajaks  auf  Borneo 
und  den  Bewoliuern  von  Ambon   und   den  Uliase-Inseln    ist   dagegen    die  Ehe 
zwischen  Geschwisterkindern  absolut  verboten,  wahrend  man  in  Neu-Britannien 
nur  die  Heirath  mit  mütterlichen  Verwandten  streng  untersagt    Auf  den  Aaru- 
[Inseln  in  Niederländisch^Indien    ist   aber    gerade    die  Ehe    mit    den   Kindern 
[eines  Onkels  verpönt,  die  Kinder  einer  Tante  darf  man  dagegen  heirathen.  (Riedtf^  ) 
[Ganz  ähnlich  ist  es  nach  Marnden  auch  in  Sumatra. 

Von    den   Gilbert-Insulanern    berichtet   Parkinson t    dass   streng    daraui 
sehen  wird,  dass  zwischen  den  zu  Verheirathenden  auch  nicht  der  weitläufigste 
irad  von  Verwandtschaft  bestehe,  und  auch  von  den  Malayen  sagt  Midier: 

yBlutsverwandtüchtift*  seihst  die  entfernteste«  bildet  ein  wichti^^-es  B^hehindemif«.    Die«6i 
rird  anf  ein  directes  Verbot  der  Götter  xuriickgü führt.      Bei  den  Sit^ori   auf  Neu-Seeland 
eijid  nach  dexriselben  Autor  Heirathen  zwischen  nahen  Verwandten  tmd  aogar  zwischen 
Schwester  wohl  gestattet  und  kommen  auch  bisweilen  vor.* 
Jei  den  Wanjamuesi  in  Afr"  m  ^Jr   bereits  durch  Reichard 

^erfahren  habeUf  dass  die  Ehe  mit  d«  mit  den»  Weibe  eine^  Bluts- 

bruders als  Blutp^*"«ndA   \jilt,    wird    auch    die  Ehe  oder  auch  der    geschlechtliche 
Terkehr  ^  idern*    sow^*         '  "    •  ...   FUem    und  Kindern 

dei  dif  tze  wird  ziemlich 


534  XfT.  Die  Ehe. 

Bei  den  Makusi-In dianern  ist  es  dem  Oheim  TiteriicheraeifB  anf  dai 
Btrengbte  untersagt,  seine  \ichte  zu  heirathen.  da  dieses  als  der  den  GeBchwiateni 
nächste  Verwandtechaftsgrad  angesehen  und  dieser  Oheim  gleich  dem  Vmter  «Papa* 
genannt  wird.  Es  ist  dagegen  jedem  erlaubt,  sich  mit  der  Tochter  seiner  Schwester, 
mit  der  Frau  seines  Terstorbenen  Bniders  oder  nach  dem  Tode  seinea  Vaters  so- 
gar mit  meiner  Stiefmutter  zu  rerheirathen. 

Von  den  alten  Einwohnern  Guatemalas  berichtet  Stoff: 

«Die  Fraa  trat  durch  die  Heirath  in  dat  chinamit  ihr»  llaones  ein,  und  wurde  dem- 
helben  to  Tollftändig  einrerleibt.  dwu  ihre  Kinder  weder  ihre  mfltterlichen  Groneltem,  nodi 
die  übrigen  Verwandten  ihrer  Matter  als  Verwandte  betrachteten.  Diet  hatte  wieder  snr 
Folge,  daw  die  Eingehang  rechtsgültiger  Ehen  mit  den  Verwandten  der  Matter  als  dem 
Princip  der  Exogamie  nicht  zuwiderlaufend  gestattet  war.  So  konnte  der  Sohn  einer  Fraa 
lait  seiner  Halbschwester  ans  einer  früheren  Ehe  einer  Matter  eine  rechtigAltigttr  Ehe  ein- 
gehen, da  der  Begriff  der  Verwandtschaft  sich  nur  auf  die  m&nnliche  Linie  entreckte.  Ja 
es  kam  vor,  dass  ein  Mann  sich  nicht  nar  mit  einer  Schwägerin,  sondern  eogar  mit  seiner 
Stiefmutter  rerheirathete.* 

Nach  Garcäasso  hatten  die  Incas  in  Peru  das  Recht,  ihre  älteste 
Schwester,  welche  nicht  Ton  derselben  Mutter  stanunte.  zu  ehelichen,  um  auf  diese 
Weise  das  Blut  der  Sonne  rein  zu  erhalten. 

Unter  der  Schin-Kaste  in  Indien  treffen  wir  wieder  das  Verbot  der 
Vettern-  und  Basen-Ehe  an.  obgleich  der  mohammedanische  Ritus  gegen  eine  aolche 
Ehe  nichts  einzuwenden  hat;  auch  darf  der  Onkel  nicht  die  Nichte  und  in  Bnsch- 
kar  selbst  nicht  einmal  die  Tochter  der  Nichte  heirathen.  Es  ist  vielleicht  nicht 
unnöthig,  daran  zu  erinnern,  dass  bei  uns  bis  Tor  Kurzem  allerdings  dem  Onkd 
die  Nichte  und  auch  dem  Neffen  die  Tante  zu  ehelichen  gestattet  war;  während 
aber  das  Erstere  unbeanstandet  geschehen  konnte,  bedurfte  eine  eheliche  Verbin« 
düng  zwischen  dem  Neffen  und  seiner  Tante,  gleichgültig  ob  es  die  Vaterschwester 
oder  die  Mutterschwester  ist,  der  landesherrlichen  Genehmigung. 

Die  englische  Kirche  unterscheidet  30  Verwandtschaftsgrade,  innerhalb 
derer  nicht  geheirathet  werden  darf.  Der  Engländer,  der  eine  diesen  Gteaetzen 
widersprechende  Ehe  eingehen  wollte,  fluchtete  früher  nach  Dänemark,  oder  an 
den  Rhein  nach  Duisburg,  um  sich  dort  trauen  zu  lassen,  denn  nach  heimischen 
Gesetzen  war  eine  so  vollzogene  Verbindung  eine  ,.voIIendete  Thatsache^.  Im 
Juli  1895  hat  aber  das  Oberhaus  mit  142  gegen  104  Stimmen  eine  Bill  ange- 
nommen, wonach  es  einem  Manne  gestattet  ist,  die  Schwester  seiner  verstorbenen 
Frau  zu  heirathen. 

Die  Tungusen,  Samojeden  und  Lappen  verabscheuen  eine  Heirath  in 
der  Blutsverwandtschaft.  Den  Hebräern  waren  nach  mosaischem  Gesetz  die 
Ehen  verboten  mit  der  Stiefmutter,  Stieftochter,  Schwiegermutter,  Schwieger- 
tochter, Tochter  des  Stiefsohns  und  der  Stieftochter,  des  Bruders  Frau  und  des 
Vaterbruders  Frau.  Hatte  dagegen  der  verstorbene  Bruder  mit  seiner  Frau  keinen 
Sohn  erzrfijgt,  so  war  den  Hebräern  (wie  auch  den  Alt-Mexikanern  und  an« 
deren  Völkernj  die  Ehe  mit  seiner  Wittwe  nicht  nur  erlaubt,  sondern  sie  waren  zu  der- 
selben sogar  verpflichtet.   Bekanntlich  bezeichnete  man  dieses  als  dieLevirats-Ehe. 

Auch  bei  den  Hörnern  war  die  Ehe  verboten  zwischen  Ascendenten  and 
Descendenten,  sowie  zwischen  allen  Personen,  die,  wenn  auch  nur  bedingt,  in 
ein(*rn  ähnliclien  Verhältniss  zu  einander  standen,  nämlich  zwischen  Stiefeltern  und 
Stielkindorn,  Schwiegereltern  und  Schwiegerkindern,  zwischen  Adoptiveltern  und 
Adoptivkindern.  Dagegen  durften  in  Athen  und  Sparta  Halbgeschwister  sich 
ehelichen. 

Aber  selbst  mit  der  rechten  Schwester  sehen  wir  manche  Volker  eheliche 
Verbindungen  eingehen  (Perser,  Phonikier,  Araber,  die  Griechen  zu  Cimon*8 
Zeit  und  andere),  und  zwar  ist  es  hier  wieder  von  besonderem  Interesse,  dass  es 
HJrh  bei  den  Weddah  auf  Ceylon  um  die  jüngere  Schwester  handelt,  wahrend 
sie  die  ältere  nicht  heirathen  dürfen. 


137.  Die  Ehe  zwiaeheu  Blutsverwandten. 


535 


I 


Ueber  diesen  GegeDsiand  sagt   Virchow: 

«Wdnn  bcii  dan  Wedda«  weder  Polygamie  noch  Polyandrie  beobacbiet  ifit,  so  mag  lich 
diet  aus  der  geringen  Dichtigkeit  des  Volke»  nnd  ans  der  Vereinsamung  der  Familien  er* 
klären.  Vielleicht  darf  man  auf  dieselbe  Weise  auch  die  andere»  am  meisten  antf^llige  Sitte 
deuten«  welche  von  verschiedenen  Reisenden  bezeugt  ist,  nämlich  die  Heirath  mit  der 
Schwester,  und  zwar  die  Ueiratb  mit  einer  jüngeren  Schwester,  während  die  mit  der 
älteren  für  unzüchtig  gilt.  Nach  Hartshorne  wQ.re  sogar  die  Ehe  mit  einer  Tochter  znlässig, 
indees  wird  es  sich  hier  wahrscheinlich  um  thatfiächliche  und  nicht  um  rechtliche  Verhältnisse 
handeln.  Knox  erzählt  auch  von  einem  Könige  von  Kandy,  der  mit  seiner  Tochter  ein  Kind 
hatte,  aber  keiner  seiner  Unterthanen  scheint  dies  fQr  ein  zulässiges  Verhältniss  gehalten  zu 
haben.  Bailetf  ist  geneigt^  in  der  Schwesterehe  ein  altes  Ueberbleibael  zu  sehen.  Er  er- 
innert daran,  das«  schon  Wija^o,  der  Begr&nder  der  Sikala-DymiBtie^  aus  einer  Schwesterehe 
in  Indien  hervorgegangen  sei,  ond  dass  hinwiederum  der  (23)  Sohn  JiwafiaUo,  den  er  mit 
einer  FaX:^'^- Prinzessin  in  Ceylon  erzeugt  hatte,  seine  Schwester  heirathete  und  der  Ahn- 
herr eines  beeonderen  Stammes»  der  Pu  lind  ah,  wurde.  Nachher  sei  dieser  Gebrauch  auch 
in  den  sin ghal es i sehen  Eönigsfamilien  geübt  worden.  Man  kann  zugestehen,  dass  dieee 
Ausfabrungen  recht  bemerkenswerth  sind,  aber  schwerlich  sind  die  alten  Mythen  als  sichere 
historifiche  Tbatsachen  anzusehen.  Sie  scheinen  nur  zu  beweisen^  dass  ein  Gebrauch,  der 
auch  in  Persien  and  Aegypten  bestand,  in  Ceylon  frühzeitig  zur  Duldung  gelangte;  der 
Grund  wird  überall  derselbe  gewesen  sein«  in  den  Königshäusern  wie  bei  den  nackten 
Weddas:  der  Mangel  an  geeigneten  Weibern  oder  an  Weibern  überhaupt  Jedenfalls  ist 
es  nicht  Unkeuschbeit  oder  Zachtlosigkeit,  welche  die  Weddas  zu  einem  solchen  Ehe- 
bündnjÄS  führt.» 

Doch  auch  noch  nähere  VerwaQdtachafbgrade  nach  unserer  Auffassung  sind 
bei  gewisseu  Stämmen  kein  Hindemlss  fiir  die  Ehe.  So  durtle  bei  den  PhÖ- 
nikiern  sowohl  die  Mutter  den  Sohn,  als  auch  der  Vater  die  Tochter  heiratben, 
und  unier  den  alten  Arabern  sprach  das  Qe&etz  dem  Sohne  die  Yerpfiichtung, 
die  verwittwete  Mutter  zu  ehelichen,  sogar  als  ein  besonderes  Vorrecht  zu.  Bei 
den  Chinesen  dagegen  dürfen  sich  nicht  einmal  Leute  des  gleichen  Namens 
heiratlien,   auch   wenn  sie  gar  nicht  mit  einander  verwandt  sind.     {Mantegas^a*^») 

In  den  civilisirten  Ländern  hat  man  den  Ehen  zwischen  Blutsverwandten 
^pn  dem  Standj>unkte  der  Öesundheitsptlege  aus  in  den  letzten  Jahren  eine  ganz 
indere  Aufmerksamkeit  gewidmet,  und  zwar  sind  in  allen  Fällen  damit  die 
Bhen  zwischen  Geschwisterkindern  verstanden.  Es  wird  wohl  kaum  einen  be- 
schäftigten Arzt  oder  einen  aufmerksamen  Laien  geben,  dem  nicht  derartige  ehe- 
liche Verbindungen  bekannt  geworden  sind,  aus  denen  schwächliche  oder  geradezu 
kranke  Kinder  hervorgegangen  waren,  und  viele  Autoren  haben  sich  eingehend 
mit  dieser  Frage  beschäftigt 

Besonders  sorgfältige  Versuche,  diese  wichtige  Angelegenheit  ins  Klare  zu 
bringen,  hat  George  Danvin\  der  Sohn  dee  grossen  Naturforschers,  angestellt. 
Durch  sehr  mühevolle  stiitistische  Erhebungen  kommt  er  zu  dem  Resultate,  dass 
die  gefürchteten  schädlichen  Folgen  für  die  Nachkommenschaft  aus  den  Ehen 
zi^-ischen  Geschwisterkindern  durch  die  gefundenen  Zahlen  nicht  nachgewiesen 
werden  können.  Er  giebt  aber  selber  zu,  dass  diese  Zahlen  noch  nicht  zuver- 
lässige gewesen  sind  und  dass,  wenn  es  gelänge,  eine  unanfechtbare  Statistik  zu 
bekommen,  man  sehr  wohl  statt  dieser  negativen  eine  positive  Beantwortung 
der  Frage  erhalten  könnt«.  Es  stehen  nun  auch  seinem  verneinenden  Befunde 
recht  gewichtige  Aeuäserungen  und  Behauptungen  erfahrener  praktischer  Aerzte 
gegenüber,  welche  beobachtet  hatten,  dass  Taubstummheit,  Stumpfsinn  und  Blöd- 
sinn oder  sonstige  Gebrechlichkeit  in  besonders  grosser  Häufigkeit  bei  den  Nach- 
men  von  Geschwisterkindern  aufzutreten  pflegen.    Allerdings  erkennen  sie  an, 

diese  unglücklichen  Erkrankungen  bei  der  Deecendenz  nicht  eine  absolut 
nothwendtge  Folge  solcher  Eheschliessungen  zu  sein  brauchten.  Im  Gegentheil, 
es  giebt  eine  ganze  Reihe  von  Fällen,  in  denen  die  Kinder,  welche  aus  diesen 
Ehen  entsprossen  sind,  durchaus  gesund  und  in  dem  angegebenen  Sinne  intact 
durch  ihr  ganzes  Leben   sich    verhalten   haben.     Aber  nicht  selten  sind  dann  die 


536  ^^I^-  I>ie  Sbe. 

erwähnten  Gebrechen  später  bei  ihren  eigenen  Kindern  zur  Beobachtang  ge- 
kommen, und  diese  haben  so  den  Missgriff  ihrer  Orosseltem  in  der  Ghttenwahl 
zu  büssen  gehabt. 

Es  würde  nun  aber  zu  weit  gegangen  sein,  wenn  man  die  erwähnten  Er^ 
krankungen  im  zweiten  oder  dritten  Gliede  als  eine  durchaus  sichere  and  onmna- 
bleibliche  Gonsequenz  einer  Ehe  zwischen  Geschwisterkindern  hinstellen  wollte. 
Sind  diese  letzteren  besonders  gesunde,  kräftige  Leute,  und  stammen  sie  Ton  ganx 
normalen  Eltern  ab,  dann  können  sie  trotz  ihres  nahen  YerwandtschaftsgradeB 
dennoch  ganz  gesunde  Kinder  erzeugen.  Aber  deswegen  sind  doch  diejenigen 
Fälle  nicht  fortzuleugnen,  in  welchen  man  die  genannten  Schäden  zur  Beobachtang 
bekam.  Und  wenn  Mitchell^  Mantegcusea^  und  andere  Autoren  in  den  Irrenhäusern 
und  den  Idiotenanstalten  eine  yerhältnissmässig  grosse  Zahl  von  Kranken  fanden, 
deren  Eltern  Geschwisterkinder  gewesen  sind;  wenn  nach  Scott  Htäton  in  der 
Halifax -Taubstummenschule  (Ganada)  unter  110  taubstummen  Kindern  nicht 
weniger  als  56  aus  Ehen  zwischen  Blutsverwandten  entsprossen  sind,  dann  wird 
man  sich  den  Worten  George  Darwin' s  gewiss  mit  voller  Ueberzeugung  anschliessend 
wenn  er  sagt:  „Eine  so  allgemeine  Uebereinstimmung  in  Bezug  auf  die  üblen 
Folgen  der  Geschwisterkinder-Ehen  muss  unzweifelhaft  viel  grosseres  Gewicht 
haben,  als  meine  rein  negativen  Resultate.'' 

Die  Widersprüche  und  entgegengesetzten  Meinungen  der  Autoren,  von  denen 
die  einen  immer  Beispiele  für  die  Schädlichkeit,  die  anderen  solche  fQr  die  Un- 
schädlichkeit derartiger  Ehen  in  das  Feld  führen,  finden  wohl  ihre  Losang  in 
folgenden  Sätzen:  Sind  die  sich  mit  einander  verheirathenden  Geschwisterkinder 
ganz  gesund  und  kräftig,  dann  können  sie  gesunde  Kinder  erzeugen,  aber  eine 
Garantie  hierfür  besitzen  sie  nicht,  und  sollten  ihre  Kinder  auch  gesund  sein,  dann 
können  die  besprochenen  Degenerationsprocesse  doch  noch  an  deren  Nachkommen- 
schaft zur  Erscheinung  kommen.  Ist  aber  von  den  Geschwisterkindern,  welche 
mit  einander  in  die  Ehe  treten  wollen,  das  eine  nicht  intact,  oder  bieten  sie  g^ar 
alle  beide  krankhafte  Zustände  dar,  dann  werden  diese  mit  um  so  grosserer  Wahr- 
scheinlichkeit bei  ihren  Nachkommen  und  zwar  in  gesteigertem  Maasse  auftreten. 
Denn  gewiss  hat  Crichton  Browne  das  Richtige  getroffen,  wenn  er  sagt: 

^Es  hat  mir  immer  geschienen,  dass  die  grosse  Gefahr,  welche  solche  £hen  begleitet, 
in  der  Steigerung  der  krankhaften  Eörperanlagen  besteht,  welche  sie  begünstigen.  Erbliche 
Krankheiten  und  Kachexien  werden  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit  von  Geschwisterkindern 
getheilt,  als  von  Personen,  die  auf  keine  Weise  verwandt  sind,  und  sie  werden  mit  mehr  als 
doppelter  Stärke  yererbt,  wenn  sie  beiden  Eltern  gemein  sind.  Sie  scheinen  das  Quadrat 
oder  der  Cubus  des  combinirten  Volumens  zu  sein.  Selbst  gesunde  Anlagen  schlagen, 
wenn  sie  beiden  Eltern  gemein  sind,  bei  den  Kindern  oft  in  entschiedene 
Kachexien  um." 

Als  die  bestbewiesenen  schädlichen  Folgen  der  Ehen  zwischen  Geschwister- 
kindern stellt  Mayitegazza*^  ausser  den  bereits  genannten  noch  die  folgenden  auf: 
Ausbleiben  der  Empfangniss,  verkümmerte  Empfängniss  und  Fehlgeburt,  Miss- 
geburten, Neigung  zu  nervösen  Beschwerden,  gehemmte  Geistesentwickelung, 
Anlage  zu  Skrofeln  und  Tuberkeln,  verringerte  Lebensfähigkeit,  hohe  Kindersterb- 
lichkeit, Störungen  der  Menstruation,  geringe  Zeugungskraft  und  bestimmte  Leiden 
des  Auges. 

13S.  Das  Heirathsalter  nnd  die  Erstgeburt  bei  den  Culturvolkern. 

Die  sociale  Stellung  der  Frauen,  welche  in  innigstem  Zusammenhange  mit 
der  allgemeinen  Gesittung  eines  jeden  Volkes  steht,  ist  sehr  maassgebend  für  die 
Höhe  des  Alters,  in  welchem  die  jungen  Mädchen  gewöhnlich  heirathen  und  in 
welchem  die  meisten  Frauen  gewöhnlich  zum  ersten  Male  Kinder  gebären. 

Das  Klima  und  der  je  nach  den  klimatischen  Verhältnissen  mehr  oder  weniger 
früh  eintretende  Geschlechtstrieb  haben  wohl  auch  in  dieser  Beziehung  eine  ganz 


138,  Das  Heirathstilier  aod  die  Erstgeburt  bei  den  CaUurrölkern» 


537 


erhebliche  bestimmende  Kraft;  jedoch  die  Sitieügesetxe  sind  nicht  allein  vom 
Klima,  mindestens  nicht  immer  dirert  von  demselben,  abhängig.  Ja  wir  kennen 
gewisse  Völker»  bei  welchen  die  sextieUe  Reife  und  der  Geschlechtstrieb  xwar  von 
einer  heissen  Sonne  früh  geweckt,  aber  von  der  kühlen  Sitte  mindestens  in  Bezug 
luf  das  Heirathsalter  beschränkt  und  im  Zaum  gehalten  werden. 

Im  Allgemeinen    kann  man  sagen,   da^s  das  Heiratbsalter  der  Mädchen  um 

Bo  niedriger  ist,    auf  je    tieferer  Stufe   socialer  Cultur    sich   das    betreffende  Volk 

'^befindet.      Geläuterte  Sitten   heben  die  Achtung  und  den  moralischen  Werth  der 

Frau;    die  Gemeinschaft  mit  ihr  wird  dann  mehr  zum    geistigen  Bedürfniss  des 

■  Mannes;   er  wartet  ihre  psychische  Reife  ab  und  sucht  sie  erst  später,  als  bei  rohen 

'Völkern,  zur  Ehe,    Dazu  kommt,  dass  unter  unseren  modernen  Culturvölkern  die 

leider  oft  sehr  spat  erst  eintretende  Selbständigkeit   des  Mannes   die  Begründung 

eines  eigenen  Hausstandes  häufig  genug  gegen  Wunsch  und  Willen  verzögert,  und 

dass  somit  das  von  demselben  zur  Frau  gewählte  MäJchen  oft  mehrere  Jahre  lang 

|bis  zur  Eheschliessung  warten  muss. 

Dass  man  , sieben  Jahre  umsonst  freien ""  muss,  ist  ja  eine  allbekannte  aber- 
gläubische Drohung,  welche  den  Unverheiratheten  gewisse  unschuldige  Handlungen 
iTerbietet    (z.  B.   die  Butter  anzuschneiden,    sich  eine  Kopfbedeckung  des  anderen 
Geschlechts   aufzusetzen    o.  s,  w.).      Mir  war    aber   in  Berlin  ein   Ehepaar    be- 
kannt,  welches  erst  nach  sechzehnjährigem  Brautstande    so  weit  gekommen  war, 
tsich  heirathen  zu  können.     Die  junge  Frau  hatte  dabei  ein  Älter  von  32  Jahren 
erreicht. 

Allein  auch  der  Staat  und  seine  Gesetze  geben  bei  den  Culturvölkern  eine 
[Miniroal-Qrenze  ft\r  das  Heirathsalter  an.  Die  Anschauungen  der  Staatsmänner 
und  Gesetzgeber  stimmen  hierin  aber  nicht  stets  liberein,  denn  sie  glauben  bald 
mehr  die  geistige,  bald  mehr  die  kör}*erlicbe  Reife  berücksichtigen  zu  müssen. 
Das  lässt  es  wünscheuswerth  erscheinen,  dass  wir  in  einer  ethnographischen  Um- 
schau über  das  Heirathsalter  der  Mädchen  die  verschiedenen  Gewohnheiten  zu 
erforschen  versuchen.  Zuvor  jedoch  wollen  wir  uns  mit  demjenigen  bekannt 
machen,  was  in  cultivirteu  Staaten  als  das  Gesetzliche  betrachtet  werden  muss. 

Wenn  wir  die  »Hen  und  die  neuen  Cultur vcilker  mit  einander  vergleichen,  bo 
Inden  mr,  dtti»  mit  der  erhöhten  Getiitung  da«  Reiratb«aUer  der  Müdchon  wesentlich  hinant* 
gerückt  wird. 

Boi    den    alten    Indern    »oheinen   die  Mädchen    früh  in   die  Ehe  gekommen  xu  sein, 

nach  dem  Gesetze  de»  Manu  paait  für  einen  Mann  von  24  Jahren  ein  Mädchen  von  8, 

fUr  einen  Mann    von   ^0  Jahren   mn  12jfihrigefl  Mädchen.      (Vuncker.)     Auch    bei    den    alten 

Medern^    Pereorn  und  Buktrern  wurde  fUr    biildigc»  Verheirnthen  der  Mildchen    gesorgt., 

■doch  sollten  die  Mädchen,    wio  es  nach  Vendidad  XIV,    «6  scheint,    nicht  vor  dem  15.  Jahre 

»lur  Ehe    gegeben  werden,      Kheloiigkeit  aus    freien  Stücken  wurde    bei  den  Madchnn,    »ucb 

wenn  sie  nur  bis  xum  18.  Jahre  dauerte,  mit  den  längsten  H^Uenstriifen  bedroht,  und  es  w^r 

idon  MUdchen  vorgeschrieben,    wenn  sie  das  heirnths fähige  Alter  erreichten«    von   den  Eltern 

Biiien  Mann  r.ü  fordern.     Nach  dem  Gebote  des  Avesta  gab  es  nur  drei  Unreinigkeiten,    für 

reiche  eine  Sühne  und  Heinigung  eine  UnmUgUcbkeit  war,  weder  hier  auf  Enlen,  noch  auch 

Aem  jenseitigen  Leben.    Da^  wHr,  wenn  man  von  einem  todten  Hunde  aas,  wenn  man  den 

(51  oh n am  eines  Menschen  verspeiste,  und  endlich,   wenn  ein  Mädchen  bis  in  «ein  20stes  Jahr 

Sioch  nicht  in  die  Ehe  getreten  war. 

Buhihriffk  führt  einige  Sanskri  tverse  an^  welche  sich  auf  diesen  Gegenstand  beciehen. 
heisst  in  dem  einen: 

«In  wessen  Hause  eine  Tochter  die  Menses  bekommt,  ohne  verbeirathet  zu  sein,  deismi 
sinken  «ut  BüUe,  befüiulen  <i%^  sir  h  auch  in  Folge  ihrer  Vorzüge  im  Himmel/ 
Ein  anderer  lautet: 

»Sowohl  die  Matter,  ai^  aucii  qoi   Vater  und  auch  der  älteste  Bruder,  alle  drei  fahren 
sur  Hö)le^  wenn  sie  ein  Madchen  die  Menses  erleben  lassen  (ehe  sie  verbeirathet  ist).* 
Aber  auch  das  Mfidchen  selber  wird  dadurch  schwer  geschädigt: 

yVon  einem  Mädchen^  das  im  Hau^e  »eines  Vaters  noch  nngetrant  seine  Menses  erblickt, 
e«,  das«  es  von  da  an  die  niedrigste  i^töiii   »ei«  die  man  nicht  mehr  heirathen  dürfe* 


538  ^IX-  ^'^^  ^^' 

Dieses  letztere  findet  aber  eine  Art  Ton  Einschränkung  durch  den  folgenden  Yen: 

,Wenn  aber  ein  Mädchen  mannbar  ist,  so  ist  es  ihr  gestattet,  nach  eigenem  WnnBche 
sich  einem  Gatten  hinzogeben.  Darum  soll  man,  wie  Manu,  der  Sohn  Scajämbhus,  erklärt 
hat,  das  Mädchen  verheirathen,  solange  es  noch  unreif  ist.* 

Während  bei  den  Griechen  Lykurg  den  Janglingen  vor  dem  87.  Jahre  an  heirathen 
verbot,  verlangte  Plaio  für  die  Heirath  beim  Manne  das  80.,  bei  dem  Weibe  das  20.  Jahr.  Bei 
den  Kömern  worden  die  Mädchen  zwischen  dem  18.  und  16.  Jahre  verheirathet  Eine  Frau, 
die  20  Jahre  alt  geworden,  ohne  Mutter  zu  werden,  verfiel  schon  den  Strafen,  die  Auguahu 
über  Ehe-  und  Kinderlosigkeit  verhängt  hatte.  (Eiaendecher.)  Es  war  also  das  Alier  Ton 
19  Jahren  die  äusserste  Grenze  für  die  Schliessung  der  Ehe.  Die  römischen  Juristen  stellten 
fQr  Mädchen  das  12.  Jahr  als  das  der  Pubertät  fest  (Marquardt),  und  zum  Schlieesen  einer 
gültigen  Ehe  wurde  dasselbe  Lebensjahr  bestimmt,  doch  fiemden  in  späterer  Zeit  auch  frflhere 
Verheirathungen  statt.  Friedländer  und  Eossbach  zeigen  nach  Leichensteinen,  wie  jung  in  der 
Kegel  Römerinnen  gebaren.  Bei  ülpianus  heisst  es:  .Justnm  matrimonium  est,  si  inter 
eos  qui  nuptias  contrahunt,  connubium  est,  et  tam  masculus  pnbes,  quam  femina  poiens  mt' 
Dio  Cassius  erzählt  vom  Kaiser  Aiigustus  unter  anderem:  Weil  auch  einige  sich  mit  Kindern 
verlobten,  nur  um  auf  die  Belohnung  Verehelichter  Anspruch  machen  zu  können,  ohne  doch 
den  wahren  Endzweck  der  Ehe  zu  befördern,  so  verordnet  er,  dass  keine  Verlobnng  Kraft 
haben  sollte,  auf  die  nicht  wenigstens  nach  zwei  Jahren  die  wirkliche  Vollziehung  der  Ehe 
erfolgen  könnte,  mithin  die  Braut  wenigstens  10  Jahre  alt  sein  müsste,  wenn  Einer  jener  Be- 
lohnung fähig  sein  wollte,  denn  man  rechnet  das  12.  Jahr  für  das  reife  Alter  zur  Voll- 
ziehung der  Ehe. 

Die  minder  cultivirten  Völker  Europas,  namentlich  diejenigen  in  südlichen  Gegenden, 
haben  auch  heute  noch  den  Brauch,  die  jungen  Mädchen  früh  zu  verheirathen.  üeber  die 
Insel  Minorca  schreibt  Cleghorn:  .Die  Mädchen  werden  zeitig  mannbar  und  zeitig  alt.  Sie 
heirathen  in  einem  Alter  von  14  Jahren.'  Im  südlichen  Spanien  finden  Heirathen  im  Alter 
von  12  Jahren  statt.  (Virey.)  Bei  den  Mainoten,  den  Bewohnern  der  Halbinsel  Maina 
in  Griechenland,  heirathen  die  Mädchen  schon  mit  dem  13.  oder  14.  Jahre,  die  Männer 
vom  15.  Jahre  ab.  In  dem  gleichen  Alter  heirathen  die  Mädchen  der  Walachen,  wie  Paget 
berichtet,  nach  Czaphvics  aber  schon  mit  12  Jahren,  und  bei  den  Zigeunern  will  derselbe 
Autor  12jährige  Mütter  gesehen  haben.  Auch  Schwicker  bestätigt  von  den  ungarischen 
Zigeunern,  dass  bei  ihnen  Mütter  mit  18 — 14  Jahren  vorkommen.  Die  Moldauerinnen 
heirathen  auch  sehr  früh,  und  es  ist  nichts  Seltenes,  Mädchen  von  15  Jahren  schon  mit 
Kindern  gesegnet  zu  sehen.  .Aus  dieser  Thatsache,*  sagt  lieiss,  .dürfte  sich  vielleicht  die 
geringe  Zunahme  der  Bevölkerung  erklären,  da  so  viele  nicht  lebensfähige  Kinder  geboren 
worden.*  In  Bosnien  und  der  llercegovina  werden  ebenfalls  Mädchen  mit  dem  18.  oder 
höchstens  15.  Jahre,  nach  Milena  Mrasovic  im  Alter  von  13  bis  17  Jahren  verheiratheL  Ihre 
körperlichen  Reize  nehmen  rasch  ab,  und  mit  dem  35.  Jahre  zählen  sie  meist  schon  zu  den 
alten  Frauen.  (Raskiexcicz,)  lieber  die  Süd-Slaven  berichtet  Krauss^:  „Im  Allgemeinen 
heirathen  Mädchen  nach  zurückgelegtem  sechzehnten  Lebensjahre,  wann  die  Brüste  zu  schwellen 
beginnen."  Auf  die  Frage:  Mit  wieviel  Jahren  ist  ein  Mädchen  heirathsfähig ?  antwortete  ein 
nltos  Mütterchen:  „Sobald  sie  sich  selbst  einen  Dorn  aus  der  Ferse  herauszuziehen  vermag.* 
Auch  ältere  Mädchen  wurden  oft  mit  ganz  jungen  Burschen  verheirathet.  Die  Ruthenen  in 
Ungarn  (CzaplovicsJ  pflegen  die  Mädchen  ebenfalls  schon  im  12.  Jahre  zu  verheirathen,  and 
in  früherer  Zeit  ging  es  damit  noch  viel  ärger  zu,  denn  nach  Szirmay  wurden  Mädchen  von 
5—6  Jahren  verlobt  und  in  die  Wohnung  des  ihnen  zugedachten  Knaben  gebracht,  wo  sie 
bei  den  künftigen  Schwiegermüttern  schliefen,  bis  sie  heranreiften. 

Anders  schon  ist  es  in  dem  Norden  Europas.  So  heirathen  beispielsweise  die  Ehstinnen 
sehr  selten  in  sehr  jugendlichem  Alter.  In  den  Jahren  1834—59  wurden  in  der  ehstni sehen 
Stadtgemeinde  nur  4,5  Proc,  in  der  Ijandgemeinde  11,5  Proc.  und  in  mehreren  Kirchspielen 
15,0  Proc.  aller  Heirathen  vor  beendigtem  20.  Lebensjahre  geschlossen.  Wir  finden  hier  ein 
Verhältniss  zwischen  Land-  und  Stadtbewohnern,  welches  darauf  hindeutet,  dass  die  Beschäf- 
tigungsweise auf  das  Heirathsalter  von  Einfluss  ist;  andere  Arbeit,  andere  Kost  und  andere 
Gesittung  wirken  in  diflbrenter  Weise  bei  einer  und  derselben  Rasse  und  bei  gleichen  klima- 
tinchen  Verhältnissen. 

Wappaeus  berechnet  als  mittleres  Heirathsalter  aller  Getrauten  für  die  Frauen: 

in  Sardinien 24,42  in  Norwegen 28,o5 

„  England 25,9«  ,   den  Niederlanden.  28,88 

,  Frankreich   ....  2ß^^  ,  Belgien 29,u. 


188.  Das  Heirathsalter  und  die  Erstgeburt  bei  den  CuUurvOlkem. 
Von  10000  getrauten  Mädchen  standen  in  einem  Alter: 


539 


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9 

0         \ 

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unter  20  Jalireti 

isaa 

20SO 

604 

791 

959 

wün  20—25        .        1 

5383 

4009 

3799 

2962 

2883 

TOn  25— SO 

2069 

2229 

3460 

B550 

3144 

TOD  30—35        » 

695 

970 

1406 

1649 

1614 

Ton  35^0 

282 

422 

475 

636 

760 

Ton  40—45 

135 

(271 

196 

246 

373 

von  45—50 

57 

98 

106 

159 

über  50 

35 

69 

54 

60 

88 

*)  In  den  Niederlanden  und  Belgien  unter  21  Jahren  und  von  21—25  Jahren. 

FQr  ganz  Oesterreich  und  speciell  für  Stejermark  fand  Flosa:  Es  heiratheten  von 
je  10000: 


Frauen 

Oesterreich 

Stejermark 

1860 

1865 

1860-1865 

unter  20  Jahren 

1656 

1873 

761 

von  20—24       , 

2584 

2647 

1908 

von  24—80       , 

2995 

2783 

8180 

von  80—40 

3065 

1770 

2890 

von  40—50 

600 

581 

1038 

über  50       . 

150 

166 

228 

In  allen  civilisirten  Staaten  ging  die  Oesetzgebung  von  dem  gewiss  nicht 
unrichtigen  Principe  aus,  dass  einer  das  allgemeine  Wohl  der  Bevölkerung  schä- 
digenden Willkür  durch  gesetzliche  Bestimmungen  vorgebeugt  werden  müsse. 
Naturgemäss  war  es  zuerst  die  Kirche,  die  sich  in  diese  Heirathsangelegenheiten 
mischte,  und  das  kanonische  Recht  erklärte  die  Mädchen  mit  12,  die  Knaben  mit 
14  Jahren  für  eheberechtigt.     (Giteler.) 

Die  gleiche  Altersgrenze  finden  wir  im  Mittelalter  im  longobardischen,  dem  frie- 
sischen und  dem  sächsischen  Rechte,  und  auch  in  dem  Scbwabenspiegel  findet  sich 
eine  analoge  Bestimmung.  Auch  das  gemeioe  Recht  in  Preussen  bestimmte  ebenfalls  das 
12.  Jahr  als  noch  zulässiges  Heirathsalter  für  Mädchen,  während  nach  dem  Landrecbte  der 
braunschweigischen  Kirchenordnung  und  Eheordnung  für  das  Grossherzogthum  Baden 
Mädchen  erst  mit  14  und  Männer  mit  18  Jahren  heirathen  durften.  Dagegen  wird  nunmehr 
für  das  ganze  Deutsche  Reich  für  Männer  20,  für  Weiber  16  Jahre  als  Minimum  des 
Heirathsaltors  festgestellt. 

Einige  Eronländer  des  Osterreichischen  Staates  bestimmen  für  Mädchen  15,  für 
Jünglinge  19  Jahre  als  das  früheste  Alter  für  die  Verehelichung.    (John.) 

In  Schweden  existiren  Verbote  des  Eingehens  zu  früher  Ehen,  wobei  aber  den 
Lappenmädchen  bereits  im  17.  Lebensjahre  die  Verheirathung  entsprechend  ihrer  früheren 
Pubertätsentwickelung  gestattet  ist. 

Napoleon  L  verschob  das  Heirathsalter  der  Mädchen  von  13  auf  15,  das  der  jungen 
Männer  von  15  auf  18  Jahre,  denn  da  nur  für  Einzelne  eine  Ehe  im  13.  oder  14.  Jahre  nicht 
von  überwiegend  nachtheiligen  Folgen  begleitet  sei,  so  sei  es  unpassend,  durch  ein  Gesetz  die 
ganze  Generation  in  diesen  Jahren  zur  Eingehung  von  Ehen  zu  berechtigen.    (MaletiUe.) 

Im  ganzen  russischen  Reiche  giebt  es  ein  Landesgesetz,  welches  die  Ehe  mit  Mäd- 
chen vor  dem  16.  Jahre  verbietet,  sogar  bei  Strafe  der  Verschickung  nach  Sibirien. 
(Häntzacke,)  Die  russische  Jungfrau  in  Astrachan  heirathet  mit  16^18  Jahren,  die 
Kalmückin  nach  Meyersohn  mit  16  Jahren,  unter  den  Chewsuren  im  Kaukasus  wird 
nach  Angabe  des  Fürsten  Eristow  das  Mädchen  zwar  schon  in  den  Kinderjahren  verlobt, 
allein  die  Heirath  findet  erst  im  20.  Lebenqahre  statt 

Für  gewöhnlich  heirathen  auch  die  Tatarinnen  in  Astrachan  nBch.  Meyersohn  erst 
mit  dem  20.  Jahre,  die  Männer  mit  25  bis  80  Jahren.    Allein  manche  arme  Tataren,  denen 


540  XIX.  Die  Ehe. 

es  um  den  Brautpreis  zu  thun  ist,   yerheirathen   ihre  Töchter  fast  in  der  Kindheit,    obgleidi 
die  Landesgesetze  des  russischen  Reiches  ihnen  das  firühe  Heirathen  verbieten. 

In  England  ist  ,the  age  for  consent  to  the  matrimony*  14  Jahre  fftr  das  m&imlichey 
12  Jahre  für  das  weibliche  Geschlecht.  Jedoch  ist  eine  unter  diesem  Lebensalter  abge- 
schlossene Ehe  an  sich  nicht  nichtig,  vielmehr  nur  noch  unvollständig  (imperfect)  in  der 
Weise,  dass  das  zum  Consens  erforderliche  Alter  abzuwarten  ist  und  dann,  je  nachdem  der 
Consens  erfolgt  oder  nicht,  die  Ehe  ohne  weiteres  gültig  oder  ungültig  ist  Dies  gilt  jedoch 
nur  für  Ehen  Solcher,  die  unter  7  Jahre  alt  sind.  Die  Ehen  von  Kindern  bis  za  diesem 
Lebensalter  sind  ohne  Weiteres  nichtig.  Bis  zum  Jahre  1866  ist  eine  Aenderung  dieses  Rechts- 
zustandes nicht  erfolgt,  und  man  scheint  mit  demselben  bisher  zufrieden  gewesen  zu  sein. 
Li  London  heiratheten  während  des  Jahres  1861  35  Mädchen  im  Alter  von  15  Jahren 
(10  Knaben  im  Alter  von  16  Jahren). 

Roberton  äussert  über  dieses  Thema: 

„In  England,  Deutschland  und  dem  übrigen  protestantischen  Europa  ist  frühes 
und  vorzeitiges  Heirathen  selten.  Frühes  Heirathen  waltet  hingegen  unter  jenen  uncivilisirten 
Volksstämmen  vor,  welche  in  der  arktischen  Zone  umherschweifen.  Auch  im  europ&ischen 
Russland  ist  ein  besonders  frühes  Yerheirathen  gebräuchlich.  Insbesondere  pflegt  man  in 
allen  Staaten  Europas,  in  welchen  Aberglaube  und  Unwissenheit  herrschen,  die  M&dchen 
früh  zu  yerheirathen,  vorzugsweise  ist  bei  der  römisch-katholischen  Bevölkerung  Irlands 
frühes  Heirathen  Sitte.  So  ist  denn  überhaupt  das  frühe  Yerheirathen  nur  durch 
die  Rohheit  der  Bevölkerung  und  nicht  durch  das  Klima  bedingt.  Auch  in  den 
Gegenden  des  Orients,  in  welchen  frühes  Heirathen  stattfindet,  steht  diese  Sitte  unter  dem 
Einfluss  moralischer  und  politischer  Zustände.  Anstatt  nun  aber  das  frühe  Heirathen,  welches 
in  Asien  heimisch  ist,  der  vorzeitigen  Pubertät  zuschreiben  zu  wollen,  sollte  man  mehr  als 
bisher  durch  moralische  und  gesetzliche  Mittel  gegen  diese  Gewohnheit  einschreiten.* 

Wir  werden  ihm  nicht  Unrecht  geben  können,  wenn  er  den  Qrund  fÄr  ein 
frühes  Heirathen  weniger  durch  die  Einwirkungen  des  Klimas,  als  durch  sociale 
Zustände  zu  erklären  versucht. 


139.  Das  Heirathsalter  und  die  Erstgeburt  bei  den  Natnryolkern. 

Es  ist  schon  davon  die  Rede  gewesen,  dass  wir  bei  den  niederen  Völkern 
ganz  ausserordentlich  junge  Ehegattinnen  antreflFen,  und  wie  wir  ebenfalls  frülier 
gesehen  haben,  scheint  durch  einen  frühzeitigen  Geschlechtsgenuss  der  Eintritt  der 
Reife  beschleunigt  zu  werden.  Aber  es  scheint  dann  auch  gewöhnlich  ein  schnelles 
Verblühen  die  Folge  zu  sein.  Das  bestätigt  Schomburgk  von  den  Warrau- 
Indianerinnen  in  Britisch  Guyana,  wo  die  Mädchen  schon  im  10.  Jahre  in 
die  Ehe  treten. 

Schomburgk  sah  oft  Mütter,  die  kaum  11  oder  12  Jahre  alt  sein  konnten  und  doch 
schon  Kinder  von  1 — 2  Jahren  hesassen.  Auch  unter  den  Wapisiana-Indianerinnen  in 
Britisch  Guyana  fand  er  eine  Dreizehnjährige,  die  schon  zwei  Kinder  hatte.  Auch  in 
Surinam  ist  nach  Stedtmann  12  Jahre  das  Heirathsalter,  und  die  Guarani -M&dchen  heirathen 
ebenfalls  nach  v,  Aeara^  schon  mit  10 — 12  Jahren. 

Andere  In  dianer- Stämme  in  Paraguay  haben  ein  relativ  spätes  Heirathsalter;  so 
verzögert  sich  bei  den  Guana  die  Eheschliesäung  oft  bis  in  das  19.  Jahr,  und  bei  den  Abi- 
ponern  traf  Dobrizlwffer  selten  ein  Mädchen,  das  sich  vor  19  bis  20  Jahren  nach  einem 
Freier  umgesehen  hätte.  Dagegen  musste  in  Neu-Spanien  im  vorigen  Jahrhundert  der 
Jesuitenpater  Och  nicht  selten  13jährige  Mädchen  copuliren  und  zwar  bisweilen  mit  alten 
Männern  von  50  bis  60  Jahren ;  sie  brachten  im  folgenden  Jahre  ein  Kind  zur  Welt.  (v.  MurrJ 
Auch  die  Cayapo- In  dianer  innen  verheirathen  sich  früh  (Kupfer)  ^  und  unter  den  Guatos- 
Indianern  am  Einflüsse  des  Rio  Sao  Lourenzo  in  den  Rio  Paraguay  fand  i^Aode  sogar 
verheirathete  Mädchen  von  5 — 8  Jahren. 

Die  Smu-Indianerinnen  im  Mosquito-Gebiete  heirathen  mit  10—18  Jahren 
(de  ObignyJ,  die  Chayma-Mädchen  nach  v,  Humboldt  mit  12  Jahren,  ebenso  die  Mädchen 
in  Buenos-Ayres  nach  Maniegasza,  die  Coroados-Indianerinnen  nach  Burmeister  mit 
14  Jahren.  £r  sieht  hierin  die  Ursache,  dass  sie  nicht  zu  Kräften  gelangen.  Long  sah  auf 
Jamaica  die  Mädchen  früher  mannbar  werden  und  schneller  verwelken,  als  in  den  nördlichen 


139,  Pils  Heirathaatter  und  die  Eratgeburt  bdi  den  NaturTölkern.  541 

enden;  sio  verbeiralhen  sieb  tehr  jung  und  werden  im  12.  Jahre  Matter.    Aehnüch  ist  ee 
Trinidad  nach  Daitxwn  TMvatfsst,   und  aucb  auf  Cuba  werden  viele  Frauen  im  Älter 
von  13  Jahrtm  Mütter  und  fahren  fort  bia  in  das  50.  Jahr  zn  gebllren. 

In  BraaUien  fanden  SpuE  und  mm  Martim  20jährige  Weiber^  die  schon  vier  Kinder 
hatten.  Bei  den  alten  Culturvölkern  Amerikas  »eigt  eich  gegenüber  den  heutigen  Stiimnien 
in  den  gleichen  sÜdUchen  üegenden  ein  erheblicher  Unterschied  in  Be^ug  auf  die  Festsetzung 
de«  Heirathialtera,  Zur  Zeit  der  Entdeckung  Amerikas  galt  bei  den  Mexikanern  beim 
Manne  da»  Alter  von  20—22,  beim  Weibe  das  von  16  und  18  Jahren  für  daa  zur  Verheirathang 
geeignete.  (Clavigero.)  Im  alten  Inca-Reiche  Perus  musaten  gesetzlich  die  Mädchen  mit 
dem  18.— 20,  Jahre  sich  verheirathen.     (Garcilassü,) 

Ueber  65  Indianerinnen  Nord-Amerikas  gab  lloberton  die  folgende  Tabelle.  Es 
gebaren  tum  ersten  Male: 

im  10.  Lebenijahrc     1 


Auch  Sehockraft  giebt  an:  «Die  Sioux- und  Dacota-Indianerinnen  geblLren  schon 
^jugendlichen  Alter;  sie  selbst  wissen  selten,  wie  alt  sie  sind;  die  Beobachter  ihrer  Sitten 
icbten  aber,  dm&  sie  schon  im  13.  bis  jcum  15.  Jahre  niederkommen.*  Bei  den  Dela- 
waren  und  Irokesen  werden  die  Mädchen  meist  mit  14  Jahren  verheiratbet,  (LoskUlJ 
Unter  den  in  den  nördlichen  Gegenden  Amerikas  wohnenden  Indianern  ereignet  es  sich 
oft,  dass  der  Mann  von  35  Jahren  ein  10-  bis  I2j Übriges  M&dchen  xur  Frau  nimmt;  in  Folge 
des  frühzeitigen  Ueiratbens  sind  die  Indianerinnen  des  Nordens  minder  fruchtbar  und 
können  nicht  so  lange  geb&ren,  als  in  eüdlicben  itegenden.  (Samuel  Hearnt,)  John  Franklin 
sagt:  »Die  Indianer-Mudchen  in  den  Fort«,  vontflglich  die  Töchter  der  Canadier,  dürfen 
«ehr  früh  sich  verbeimthen ;  hUußg  sieht  man  Frauen  von  12  und  Mütter  von  14  Jahren." 
Auch  bei  den  Indianern  der  Nord  Westküste  Amerika«  werden  die  Mädchen  sehr  früh, 
oft  bereite  bald  nach  der  Geburt  verheiratbet,  aber  erst  im  12.  bis  14.  Lebensjahre  wird  die 
Ehe  in  Wirklichkeit  geaoblosHen.  £bem»o  werden  bei  den  Eskimos  des  Cumberland- 
Sundes  Knaben  und  Mftdchen  schon  in  früher  Kindheit  füreinander  bestimmt.  Die  Knaben 
heirfttben  ungefähr  mit  dem  17.,  dio  Mädchen  von  14  Jahren  an.  Die  Ehen  ertreuen  sich 
keines  grossen  Rindersegens«  selten  triüt  man  in  der  Familie  mehr  aln  zwei  Kinder.   CAlihtJt,) 

Von  den  Frauen  der  Fcuerllinder  sagt  öiacomo  Boce:  Dan  Verlangen  nach  dem 
Manne  l&sst  sieb  bei  ihnen  früh  schon  fühlen  und  der  Eingriff  der  Mission  in  diese  Yerbtllt' 
niaae  wird  als  die  gröbste  Tyrannei  der  Civilisation  angesehen;  die  Heiratheu  der  Feuer- 
Kinder  worden  daher  im  Allgemeinen  früh  geschlossen;  mit  12  bis  13  Jahren  schon  machen 
die  Mädchen  Jagd  auf  einen  Mann,  doch  erst  mit  17  oder  18  Jahren  werden  sie  Mütter;  die 
M&nncr  heirathen  twiachen  14  und  16  Jahren. 

Frühe  Ueirathen  sind  auch  inOceanien  gebrAuchlich;  so  verheiratben  sich  die  Mtldohen 
Eingeborenen  Büd-Anstraliens  mit  8  bia  12  Jahren  und  leben  mit  ihren  Männern 
Vom  B.  Jabre  an  pflegen  sie  den  Beischlaf.  Mit  lÜ  Jahren  etwa  werden  sie 
Mfllier;  sie  betrachten  sich  dann  nicht  mehr  als  Ötfentliches  Eigenthum,  sondern  leben  fried* 
lieh  mit  ihren  Mönnern  zusammen.  (Jlerstfoch.J  Nach  Wilhetmi  aber  bekommen  die  Weiber 
in  Neu -Ho  Hand  selten  vor  dem  18.— 19.  Jahre  Kinder,  obgleich  sie  schon  mit  10— 12  Jahren 
mannbar  werden. 

Die  Neu-Caledonierinnen  sollen  nach  r.  Iloehas  erst  mit  16  Jahren  heirathen. 
w&brend  Knoblauch  behauptet,  dass  sie  dies  bereits  mit  13  Jahren  thäten.  Tuke  meint,  dass 
die  Maori-Mrtdchen  auf  Neu-Seeland  oft  im  1*2.  und  13.  Jahre  heirathen  und  aller  W^ahr- 
st'heiulichkeit  nacb  schon  in  einer  früheren  Periode  ihre  Jungfernüchatl  eingebüsst  haben.  An 
einer  anderen  Stelle  schreibt  Tukt:  .Die  Periode  der  Fruchtbarkeit  beginnt  beim  Maori- 
Weibe  früher^  als  bei  der  weissen  Frau;  aber  die  Entwicklung  der  eingeborenen  Mädchen 
geschieht  verbal tniasmiUsig  später.  Ea  ist  schwierig,  das  Alter  einer  Maori-Fran  iQ  be- 
stimmen  j  von  denjenigen,  welche  man  für  40—55  Jahre  alt  bElt,  erfilhrt  man,  dass  de  25 
oder  30  Jahre  alt  sind.  Allein  ich  sweifle  nichts  daas  die  eingeborenen  Weiber  von  Neu- 
Seeland  früher  al»  die  Frauen  unserer  Roase  auf  hören  Rinder  xu  bekommen.*     Englische 


542  ^I^-  ^«  ^^0* 

Reisende  behaupten,  bei  ihnen  Mütter  Ton  11  Jahren  gesehen  zu  haben.  Gewöhnlich  war  du 
erste  Frau  eines  jungen  Häuptlings  viel  älter,  als  er  selbst,  dagegen  sah  man  alte  Hftopfliiigie 
sehr  junge  Mädchen  freien.  (WüUersdorf-Urbair,)  Auf  den  Gilbert-Inseln  werden  umA 
Parkinson  die  Mädchen  mit  ungefähr  14  Jahren  yerheirathet. 

In  Asien  treffen  wir  eine  frOhzeitige  Eheschliessung  keineswegs  nur  in  den  tropischen 
Gegenden  an.  Bei  den  Samojeden  werden  yiele  Frauen  schon  im  10.  Jahre  yerheiraihety  nnd 
im  11.  oder  12.  Jahre  werden  sie  Mutter.  Ebenso  treten  nach  Georgi  die  Tunguten -Mftdchen 
mit  12  Jahren  in  die  Ehe.  Auch  die  Frauen  der  Ostjaken  heirathen  bisweilen  im  10.  Jahre 
und  bringen  oft  schon  im  15.  Jahre  Kinder  zur  Welt.  Ganz  anders  die  Wo tj&k innen, 
die  fast  nie  vor  dem  22.  oder  23.  Jahre  in  die  Ehe  treten,  denn  das  Mädchen  mats  dem 
Manne  in  sein  Haus  folgen,  und  ihr  Vater  würde,  wenn  sie  früher  heirathete,  sn  früh  eine 
Arbeiterin  verlieren;  der  junge  Mann  müsste  dann  auch  einen  sehr  hohen  ELanfschillin^  ent- 
richten.   (Buch,) 

Das  Heirathsalter  der  Chinesin  ist  nach  v.  Möllendorfdus  15.  Jahr;  bei  den  Japanern 
wird  nach  Hureau  de  Villefieuve  erwartet,  dass  das  Weib  bereits  mit   15  Jahren  Matter  ist 

In  Cochinchina  heirathen  die  Frauen  der  niederen  Stände  allerdings  schon  im  7^ 
oft  aber  auch  erst  im  20.  Lebensjahre.  (Cratofurd,)  Mandiere^  sagt  über  die  Einwolinerinnen 
von  Cochinchina:  ,Sur  440  Annamites  ayant  accouch^,  le  premier  enfant  est  venu  4  20 
ans  6  mois;  sur  15  Chinoises  ayant  accouch^,  le  premier  enfant  est  venu  ä  18  ans  10  mois; 
sur  40  Minh-huong  ayant  accouch^,  le  premier  enfant  est  venu  ä  20  ans  9  mois;  et  snr 
45  Cambodgiennes  ayant  accouche,  le  premier  enfant  est  venu  ä  22  ans  6  mois.* 

Die  meisten  malayischen  Mädchen  an  der  Süd  Westküste  der  malayischen  Halb- 
insel werden  nach  Isabella  Bird  im  Alter  von  14—15  Jahren  verheirathet,  die  Javaninnen 
mit  10—12  Jahren;  Walbaum  sagt:  „Wenn  auf  Java  ein  Mädchen  7  oder  8  Jahre  alt  ist, 
so  kann  sie  alle  Tage  in  den  ehelichen  Stand  treten;  und  sind  die  Mädchen  über  diese  Jahre 
hinaus,  vielleicht  14  oder  15  Jahre  alt  geworden,  so  rechnet  man  sie  schon  unter  die  alten 
Jungfern.* 

Die  Weiber  der  Banjanesen  auf  Borneo  heirathen  bereits  im  8.  oder  9.  Jahre;  im 
20.  aber  hOren  sie  schon  auf,  Kinder  zu  zeugen;  dass  im  80.  noch  eine  Frau  schwanger  ge- 
worden wäre,  ist  ganz  unerhört.  (Finke,)  Bei  den  Alfuren  auf  Gelebes  geschieht  die 
Verheirathung  der  Mädchen  in  ihrem  14.  Jahre  oder  selbst  früher.  Jagor  berichtet,  dass  bei 
den  Bicolindiern  (Philippinen)  die  Frauen  selten  vor  dem  14.  Jahre  heirathen;  12  Jahre 
ist  der  gesetzliche  Termin.  Er  fand  im  Eirchenbuche  von  Polangui  eine  Traunng  ver- 
zeichnet, bei  welcher  die  Frau  bei  Vollziehung  der; Ehe  nur  9  Jahre  10  Monate  alt  war.  Die 
Mincopie,  d.  h.  die  Eingeborenen  der  Andama neu- Inseln,  scheinen  ihre  TOchter  früh  so 
verheirathen.  Einem  Brahminen-Sträfling,  welcher  im  Jahre  1858  zu  ihnen  entfloh  nnd  die 
ersten  Nachrichten  von  ihrer  Lebensweise  mit  zurückbrachte,  gab  ein  Andamane  seine 
Tochter  von  20  Jahren  und  wiederum  deren  Tochter  von  9  Jahren,  seine  Enkelin  also,  gleich- 
zeitig zur  Ehe.    Mutter  und  Tochter  fügten  sich  willig  in  ihre  Pflichten. 

Unter  den  jetzigen  Parsi  in  Vorderasien,  die  noch  immer  die  Lehren  Zoroaster'g 
und  des  Avesta  befolgen,  wird  es  mit  der  Verlobung  und  mit  der  Vollziehung  des  Bei- 
schlafes in  verschiedenen  Theilen  des  Landes  verschieden  gehalten.  In  Guzurate,  wo 
indische  Gewohnheiton  maassgebend  sind,  verspricht  man  dreijährige  Kinder  mit  einander, 
behält  sie  aber  bis  zum  6.  Jahre  im  Eltemhause  und  thut  sie  alsdann  zusammen;  indeesen 
wird  die  Ehe  nicht  früher  vollzogen,  als  bis  beim  Mädchen  die  monatliche  Reinigung  ein- 
tritt. In  Kirman  verlobt  man  die  Kinder  im  Alter  von  9  Jahren,  lässt  aber  die  Ehe  nicht 
vor  dem  12.  Jahre  vollziehen  und  übergiebt  das  Mädchen  erst  dann  dem  jungen  Ehemanne, 
wenn  die  Menstruation  eingetreten  ist;  doch  wenn  die  Tochter  das  13.  Lebenqahr  zurflck- 
gelegt  hat,  darf  sie,  gleichgültig  ob  menstruirt  oder  nicht,  mit  ihrem  Manne  leben.  Ein 
Mädchen  vor  dem  13.  Jahre  in  das  Ehebett  zu  schicken,  gilt  als  schwere  Sünde;  doch  noch  eines 
grösseren  Verbrechens  machen  die  Eltern  sich  schuldig,  wenn  sie  dem  Verlangen  ihrer  Tochter, 
sich  zu  verheirathen,  kein  GehOr  schenken.  Denn  die  Parsen  glauben,  dass  ein  Mftdchen, 
welches  aus  Vorsatz  unverheirathet  bleibt  und  nach  zurückgelegtem  18.  Jahre  stirbt,  der  HOlle 
verfallen  ist.     (Du  Perron  J 

Auf  Ceylon  pflegt,  wie  Böbert  Perdval  im  Anfang  des  Jahrhunderts  berichtete,  das 
Mädchen  schon  im  12.  Jahre  in  die  Ehe  zu  treten,  und  dies  frühzeitige  Heirathen  wird  als 
Grund  des  raschen  Verblühens  der  Weiber  betrachtet.  Eine  ausserordentlich  frühe  Verhei- 
rathung findet  nicht  minder  bei  den  Hindu  statt.  Dort  wird  nämlich  die  Ehe  geschlossen, 
wenn  der  Knabe  7—10  Jahre,  das  Mädchen  nach  Bocr  4—6  Jahre,  nach  Beierlein  8  Jahre 
alt  ist.    Nach  den  Heirathsceremonien  kehrt  die  Braut  in  das  Hans  ihrer  Eltern  zurflck; 


139.  Das  Heirathsalter  and  die  Erstgeburt  bei  den  NatorrOlkem.  543 

wenn  nach  einigen  Jahren  die  Menstroation  eintritt,  wird  das  Mädchen  unter  Veranstaltung 
einer  öffentlichen  Festlichkeit  mit  ihrem  Knabengatten  vereinigt.  Sie  wohnen  alsdann  im 
Hause  ihrer  Eltern.  So  hat  es  denn,  wie  Boer  Tersichert,  Beispiele  gegeben,  wo  in  ein  und 
derselben  Schule  Vater  und  Sohn  in  verschiedenen  Klassen  sassen.  Diese  Angaben  beziehen 
sich  auf  Dekan.  In  Unter- Bengalen  hingegen  findet  nach  Boherton,  wie  wir  später 
sehen  werden,  die  Begattung  schon  vor  dem  Menstruationseintritt  statt.  In  Calcutta  herrscht, 
wie  Allan  Wehh  berichtet,  unter  den  Hindu  allgemein  die  Sitte,  die  Kinder  frühzeitig  zu 
verheirathen,  und  es  wird  dem  Vater  als  ein  dem  Kindesmord  analoges  Verbrechen  angerechnet, 
wenn  seine  Tochter  im  elterlichen  Hause  menstruirt  wird ;  daher  werden  die  Kinder  im  8.  bis 

10.  Jahre  verheirathet,  selten  aber  (unter  80  Fällen  28  mal)  gebären  die  Frauen  vor  erreichtem 
14.  Jahre.  In  Madras  ist  es  nach  Best  in  der  Kaste  der  Vornehmen  herkömmlich,  kein 
Mädchen  zu  freien,  welches  älter  ist  als  14  Jahre;  ist  nun  ein  Mädchen  15  oder  16  Jahre  alt 
geworden,  ohne  dass  sich  ein  Freier  für  sie  gefunden  hätte,  so  weiht  sie  sich  dem  Tempeldienst 
der  Kali  oder  heiligen  Mutter  CBhawaniJ,  sie  wird  Mozli,  weibliche  Priesterin,  und  hier- 
mit ist  sie  dann  der  heiligen  Prostitution  geweiht. 

L'nter  den  Vedas  (südindische  Sclavenkaste)  pflegen  die  Männer  bei  der  Heirath 
15 — 16  Jahre  alt  zu  sein,  die  Mädchen  7 — 9  Jahre;  sie  cohabitiren  aber  mit  ihren  Männern 
schon  vor  dem  Eintritt  der  Geschlechtsreife.     (Jagor.) 

Die  Afghanen  pflegen  die  Mädchen  im  15.  oder  16.  Jahre  in  die  Ehe  zu  geben, 
doch  trifft  man  auch  nicht  gar  selten  25jährige  Jungfrauen.  (Mountstuart-Elphinstone.)  Da- 
gegen heirathen  bei  den  Durahnern,  einem  die  Berge  Afghanistans  bewohnenden  Stamme, 
die  Mädchen  im  14.  oder  16.  Jahre.  Bei  den  Kafir -Stämmen  am  Hindukush  ist  das 
Heirathsalter  der  Mädchen  zwischen  15  —  20  Jahren.  Die  wilden  Bewohner  Central- 
Indiens  (im  Busthar)  verheirathen  ihre  Töchter  mit  15 — 17,  die  Söhne  mit  14— 24  Jahren. 
(Glasfurd.) 

Nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Sitte  des  frühen  Verheirathens  im  Orient  mögen  die  reli- 
giösen Institutionen  gewesen  sein,  die  in  Gemeinschaft  mit  den  klimatischen  Einflüssen  ihre 
Wirkung  äusserten.  Die  Heirath  gehört  (nach  Si  Khelil)  unter  die  religiösen  Pflichten  der 
Mohammedaner,  und  mit  dem  10.  Lebensjahre  ist  es  allen  Mohammedanerinnen  erlaubt,  die 
Ehe  einzugehen,  d.  h.  mit  etwa  9^/3  Jahren  unserer  Sonnenrechnung.  Mohammedy  welcher 
um  jeden  Preis  seine  Anhänger  schnell  vermehren  wollte,  hat  dabei  vorerst  nur  an  das 
südliche  Arabien  gedacht;  er  wusste  aber  nicht,  dass  bei  den  Völkern  der  anderen  Länder 
die  Geschlechtsreife  später  auftritt,  als  dort.  Die  Araberinnen  reifen  aber  jedenfalls  früher; 
auch  diejenigen,  welche  in  Afrika  leben.     , Eine  Araberin/  sagt  ^rticf ,  «gebiert  schon  im 

11.  Jahre  Kinder,  hört  aber  auch  schon  im  20.  Jahre  wieder  auf;  ihre  Zeit  beträgt  also  nur 
9  Jahre."  Später  setzt  er  hinzu,  dass  die  Männer  auf  der  afrikanischen  Küste  des 
arabischen  Meerbusens  den  schönen  arabischen  Frauen  die  abyssinischen  Mädchen 
vorziehen,  die  man  um  Geld  kauft,  weil  diese  länger  Kinder  gebären. 

Das  frühe  Heirathen  der  Mädchen  ist  auch  in  Persien  Brauch;  Polack  berichtet  aus 
eigener  Wahrnehmung,  dass  in  Teheran  das  Mädchen  gewöhnlich  schon  im  13.  bis  14.  Lebens- 
jahre, in  Schiras  sogar  schon  häufig  mit  dem  12.  Jahre  Mutter  wird.  Gesetzlich  soll  das 
Mädchen  erst  heirathen,  wenn  die  Menstruation  sich  bereits  eingestellt  hat  und  die  Scham- 
haare und  Achselhaare  zu  keimen  beginnen,  also  mit  erlangter  Pubertät;  das  ist  der  mosai- 
schen Vorschrift  ganz  ähnlich.  Man  hält  sich  jedoch  in  den  ärmeren  Klassen  nicht  daran, 
Hondern  erkauft  den  Dispens  von  einem  Priester.  Es  heirathen  Mädchen  mit  noch  unent- 
wickelten Menstruen  und  ganz  platter  Brust,  jedoch  entwickelt  sich  beides  in  der  Ehe  rasch. 
Aus  Nord-Persien,  insbesondere  aus  der  Provinz  Gilan,  berichtet  Häntzsclie:  Wenn  auch 
mehr  als  die  Hälfte  der  Mädchen  zur  Zeit  der  Pubertät,  d.  h.  im  14.  Jahre,  heirathet, 
so  wird  doch  noch  eine  sehr  grosse  Menge  Mädchen  zwischen  dem  10.  und  H.  Jahre 
verheirathet.  Auch  die  Kurden- Mädchen  heirathen  früh,  nach  Wagner  zwischen  dem  10. 
und  12.  Jahre. 

Die  allgemeine  Annahme,  dass  in  Syrien  die  Reife  der  Mädchen  früher  auftritt,  als 
bei  uns,  wird  von  Bohson  für  einen  Irrthnm  erklärt;  derselbe  habe  seinen  Grund  darin,  dass 
die  Mädchen  frühzeitiger  heirathen;  das  geschieht  aber  schon  vor  dem  Eintritt  der  Pubertät 
und  zwar  von  10  Jahren  aufwärts;  18 — 15  Jahre  ist  das  gebräuchlichste  Heirathsalter.  Man 
hält  es  dort  bei  der  Jugend  der  Bräute  für  unwahrscheinlich,  dass  schon  im  ersten  Jahre  der 
Ehe  ein  Kind  geboren  werde;  gewöhnlich  vergehen  2 — 4  Jahre,  bis  die  junge  Frau  ein  Kind 
zur  Welt  bringt. 

Oppenheim  sagt  von  den  Türkinnen:  „Schon  im  10.  Jahre  menstruirt,  verheirathen 
neh  dieMlben  im  12.,  werden  rasch  Mütter,  sind   sehr  fruchtbar,  verlieren  im  20.  Jahre  ihre 


544  XLX.  Die  Ehe. 

Regeln,  verblühen  und  altem  früh/  Doch  gilt  auch  Aehnliches  Ton  den  Franen  in  Klein- 
asien.  lu  Isaurien,  wie  überhaupt  in  der  kleinasiatischen  Türkei,  wird  sehr  frtib 
gehcirathet,  die  Knaben  mit  18,  die  Mädchen  mit  14  Jahren.  Es  ist  besonders  erwüUKht, 
dass  möglichst  bald  ein  Sohn  erzeugt  werde,  der,  wenn  er  herangewachsen  ist,  den  Vater  e^ 
nähren  muss.  Ein  junger  Türke,  den  Sperling  kennen  lernte,  war  erst  83  Jahre  alt,  and 
schon  Gross vater.  Die  Schriftstellerin  Friederike  Bremer  besuchte  auf  ihrer  Heise  im  Orient 
den  Harem  des  Efendi  Musa  in  Jerusalem,  und  sah  ein  achtjähriges  Mädchen  mit  gnt- 
müthigem  Gesichte,  aber  ohne  Zeichen  Ton  Leben  und  Frische  der  Jugend,  sn  ihren  FflisMi 
sitzend;  sie  erfuhr,  dass  das  Kind  schon  mit  einem  alten  Manne  verheirathet  war;  e«  wnrdei 
ihr  noch  andere  Frauen  von  10— 12  Jahren  gezeigt.  Auch  der  Arzt  Titus  Tobler  kannte  eias 
Frau  in  Palästina,  welche  im  13.  Jahre  geboren  hatte,  und  eine  andere,  eine  elQfthrig« 
Jüdin,  welche  schon  seit  zwei  Jahren  menstruirt  und  seit  IV2  Jfthren  yerheirathet  war.  Bei 
den  Samaritanern  pflegen  sich  die  Knaben  in  ihrem  15.  oder  16.  Lebensjahre,  die  Mftdchea 
im  12.  oder  noch  früher  zu  verheirathen. 

Aehnliche  Gebräuche  finden  wir  bei  den  Völkern  Nord-Afrikas  wieder.  Die  Aegyp- 
torinnen  heirathen  nach  Hartmann  in  einem  Alter  von  11 — 18  Jahren.  Die  Kopten  rer- 
eholichen  ihre  Kinder  aber  schon  im  7.  oder  8.  Jahre,  und  man  sieht  bei  ihnen  oft  Mütter, 
die  erst  12  Jahre  alt  sind.  In  Ober-Aegypten  verheirathen  sich  nducAi  Bruce  die  Mftdchea 
selten  nachdem  IG.  Jahre,  und  einige,  die  erschwangersah,  waren  ihrer  Aussage  nach  kanm 
11  Jahre  alt;  sie  erschienen  in  ihrem  16.  Jahre  älter  als  manche  Engländerinnen  in  ihrem 
60.  Jahre.  Klunzinger  berichtet,  dass  in  Ober-Aegypten  Knaben  von  15 — 18  Jahren, 
Mädchen  von  12 — 14  Jahren  heirathen,  und  fügt  hinzu,  dass  solche  in  unseren  Augen  rer- 
frühte  Ehen  (dort  obendrein  zu  etwa  zwei  Dritttheilen  zwischen  Geschwisterkindern  getchlossea) 
doch  in  Bezug  auf  den  Kindersegen  keine  üblen  Wirkungen  wahrnehmen  lassen. 

Die  Weiber  der  Fezzaner  haben  nach  Capitän  Lyon  im  12.  und  18.  Jahre  Kinder 
und  gleichen  im  15.  und  16.  Jahre  alten  Weibern.  In  Tunis  findet  nach  Giovanni  Ferrini 
zu  frühe  und  zu  häufige  Begattung  statt,  und  ist  dies  unter  anderen  Einflüssen  eine  Ursache, 
dass  die  Bevölkerung  abnimmt.  Auch  die  Beni  Mezab  in  der  Sahara  liefern  nach  Dutef- 
rier  oft  schon  zwölfjährige  Mütter,  und  bei  den  Kabilen  werden  die  Mädchen  im  6.  Jahre 
versprochen,  und  sie  heirathen  zwischen  dem  10.  und  12.  Jahre.  Die  Mensa- Mädchen  hei- 
rathen nach  Brehm  sehr  selten  vor  dem  14.  Jahre. 

Die  Frau  bei  den  Schangalla,  welche  angeblich  mit  12  Jahren  schon  mehrere  Kinder 
geboren  hat,  wird  nach  dem  20.  Jahre  selten  Mutter  und  hat  mehr  Runzeln  als  eine  ÖOj&hrige 
Europäerin.  Unter  den  Agow,  einem  Volksstamme  im  Süden  Abyssiniens,  werden  ^e 
Mädchen  Hchon  im  9.  Jahre  mannbar,  heirathen  meist  im  11.  Jahre,  hören  aber  schon  im 
30.  Jahre  auf,  Kinder  zu  bekommen.  Die  Frauen  der  Abyssinier  werden  in  der  Regel  un- 
gemein jung  verheirathet;  liiippeU  berichtet  von  einer  10jährigen  Frau;  das  Alter  des  Mannei 
kommt  bei  keiner  Ehe  in  Berücksichtigung,  und  sehr  alte  Männer  heirathen  oft  gans  jange 
Mädchen.  In  Keradif,  das  tief  in  Abyssinien  liegt,  fand  einst  der  Missionar  Stern  eine 
sonderbare  Aufregung:  es  war  plötzlich  der  Befehl  erlassen  worden,  dass  alle  Knaben  Über  14, 
alle  Mädchen  über  9  Jahre  alt  binnen  14  Tagen  heirathen  sollten;  die  Uebertretung*  dieses 
Gesetzes  sollte  mit  Geld,  eventuell  durch  Peitschenhiebe  bestraft  werden;  die  ganze  Bevölkerung 
feierte  demnach  grosse  Hochzeitsfeste,  und  überall  sah  man  kleine  Bräute  und  Bräutigams. 
Nach  Munzinger  erfolgt  bei  den  Beduy  in  den  Habab-  und  Bogos- Ländern  die  Verhei- 
rathung  der  Mädchen  bisweilen  im  12.  Jahre,  doch  in  der  Regel  später;  in  Massau a  hei- 
rathen die  Mädchen  im  12.,  die  Jünglinge  im  17.  Jahre;  die  Sundanesinnen  nach  Brehm 
mit  12—14  Jahren,  die  Mädchen  der  Abbadie  in  Nubien  mit  10—12  Jahren,  und  auch 
die  Somali  lassen  ihre  Töchter  von  dem  13.  Jahre  an  in  die  Ehe  treten. 

An  der  Goldküste  werden  die  Heirathen  sehr  frühzeitig  geschlossen.  CCruickshankj 
Bei  den  M*Pongo  an  der  Küste  von  Nord-Guinea  pflegen  die  Mädchen  zwischen  dem 
10.  bis  12.  Lebensjahre  in  die  Ehe  zu  treten.  (Hyacinth  llecquard.)  Von  den  Vey- 
Ncgerinnen  glaubt  Büttiko/er,  dass  sie  nicht  vor  dem  15.  Jahre  heirathen,  und  bei  den 
Egba  in  Yoruba  finden  nach  Burton  die  Verheirathuiigen  sogar  selten  vor  dem  18.  bis 
'JO,  Jahre  ritatt. 

An  der  Sierra-Leone-Küste  bei  den  »Susu,  Mandingo  u.  s.  w.  werden  die  Mäd- 
chen schon  vor  ihrer  Geburt  verlobt,  die  Hochzeit  wird  jedoch  nie  vor  dem  14.  Jahre  voll- 
zogen; auch  erinnert  sich  Winterbottom  nicht,  in  diesem  Theile  von  Afrika  je  eine  schwangere 
Frau  gesehen  zu  haben,  die  nicht  bereits  dieses  Alter  erreicht  hatte.  Eine  frühzeitige  Ver- 
lobung der  Mädchen  findet  auch  in  Old-Calabar,  namentlich  bei  den  höheren  Klassen, 
statt,  bisweilen  schon  wenige  Tage  nach  der  Geburt  und  zwar  nicht  selten  mit  einem  Manne 


140.  Die  Kinder-Ebe  und  Uue  pbysiologfieche  Beden 


545 


in  den  mittleren  oder  h^iberen  Jahren,  im  7*  oder  8«  Jahre  wird  das  M&dehen  zur  To(r- 
bereitQtig  für  die  Ehe  in  einer  von  der  8 ladt  entfernten  Farm  gemästet;  dann  lebt  sie 
noch  ein  Paar  Jahre  frei  unter  den  Weibern  ihres  OemahJs.  Du  Chaiila  fand,  daa  die 
Aschira  in  West-Äfrika  mit  der  Verheirathnng  nicht  erst  abwarten«  bis  das  Alter  der 
Pubertät  eintritt. 

Bei  den  Kaffern  beginnt  schon  der  14 jährige  Jtinge  sich  nach  einer  Dirne  umsu- 
ichauen,  die  er  heiratben  kann.  Das  junge  Ama-Xosa- (Kaffer ')Mädchen  wird  bei  dem 
üin tritt  ihrer  Mannbarkeit  feierlich  fßr  heirathsfübig  erklärt.  Bei  dem  hierbei  begangenen 
Pect  geniesat  sie  das  Vorrecht,  mit  einem  von  ihr  erwählten  Geführten,  gewöhnlich  2 — 4  Tage, 
zusammenzuleben. 

Sobald  bei  den  Basutho  die  Kinder  das  14«  Jahr  erreicht  haben,  denken  die  Eltern 
an  eine  Heirath.  (CasalisJ  Allein  die  Mädchen  heiratben  nicht  so  früh,  als  man  ee  von  dem 
Ijsüdlichen  Klima  erwarten  sollte;  erstens  ist  es  in  ihrem  gebij^gen  Lande  nicht  so  warm  wie 
übrigen  Afrika,  anderenfalls  snchen  die  Yilter  ihre  Töchter  recht  lange  anzubieten,  um 
nen  grösseren  Preis  zu  erzielen.  (Holländer,)  Andere  Betschuanen-M tidchen  werden 
benfaUs  durch  Ceremonien  bei  dem  Eintritt  der  Menses  für  heirathsfUhig  erklärt:  ,12  oder 
Jahre  ist  wohl  ein  gans  gewöhnliches  Alter  für  die  Verheirathung/  doch  läast  sich  diesem 
Uter  selten  genau  angeben.  Bei  den  Ovaherero  braucht  das  Mädchen  zum  Heiratben 
nicht  älter  als  12  Jahre  zu  sein.  Unter  den  Hottentotten  werden  schöne  Mädchen  nicht 
gelten  schon  mit  dem  S.  oder  9.  Jahre  verheirathet.  (DambergerJ  Die  Mädchen  der  Busch- 
männer sind  vielfach  schon  im  7,  Jahre  verheirathet,  und  bisweilen  mit  12,  auch  wohl 
sogar  schon  mit  10  Jahren  Mütter.  (BurchdlJ  Die  Frauen  der  Boers  in  Süd-Afrika 
heirathon  gleichfalls  sehr  jung,  zu  einer  Zeit,  wo  der  Körper  kaum  Zeit  gehabt  hat,  sich 
_5U  entwickeln,  daher  haben  gie  auch  eine  sehr  kurze  darchschnittliche  Lebensdauer.  (FriUth.j 
Vwi  Madagascar  traten  nach  den  Angaben  des  Hieronymm  MtQÜcerus  aus  dem  Jahre  1609 
üe  Mädchen  der  Eingeborenen  im  10.  Lebensgahre  in  die  Ehe,  und  die  jungen  Männer  eb^u- 
Alls  schon  mit  10  bis  12  Jahren* 


140.  Die  Kitider-EIiQ  und  ihre  physiologische  BiHleiitung. 

Wir  haben  aus  dem  obigen  Abschnitt  ersehen  können,  wie  ausserordentlich 

weit  verbreitet  die  Sitte  ist  —  oder  vieUeieht  besser  gesagt  die  Unsitte  — ,    die 

"Mädchen  schon    in    sehr    frühen  liebensaltern    in    den  Ehestund    treten   zu  lasBen. 

JekunntermaasseQ  verloben  einzelne  Völker  die  Kinder  bereite  im  Mtitterleibe,  aber 

lamit  ist  nicht    gesagt,    dass    dann    die  £he   auch   frühzeitig  geschlosgen    würde. 

iingegen  finden  sich  auch  Beispiele  dafür,  dass  wirklich  bei  einigen  Völkern  Ehen 

it  ganx  jungen  Kindern  in  den  ersten  Lebensjahren  eingegangen  werden.     Wir 

iden  das  bei  einigen  Indianerstämmen;  auch  kommt  es  bei  den  Basutho  m 

•  Afrika  vor  und  ebenso  in  Old-Calabar.     Hier    hält   mitunter    ein  Mann, 

reicher  bereits  mehrere  Weiber  besitzt,  einen  Säugling  im  Alter  von  2 — 3  Wochen 

^  »einem  Schoosse  und    herzt    und  küsst  ihn    als  sein   neues  Weib.     Gattinnen 

4—6  Jahren  fanden   wir  vereinzelt   (in  China,   Ouzurate,   Ceylon  und  in 

l>rasilien)f  von  7 — 9  Jahren  sind  sie  schon  nicht  mehr  selten,  und  10 — ^12  Jabre 

ist  ein  sehr  weitverbreitetes  Ueirathsalter. 

Dasa  ich  in  allen  diesen  Fällen  von  Kinder* Ehen  spreche,  das  wird  uns 
niemand  übel  nehmen.  Es  wird  aber  wohl  nicht  unnütz  sein,  wenn  ich  es 
lier  besonders  hervorhebe,  dass  mit  einer  solchen  frühzeitigen  Schliessung  der 
^he  nun  nicht  in  allen  Fällen  auch  eine  sofortige  Eröffnung  des  geschlechtlichen 
Verkehrs  verbunden  ist.  Im  Gegentheil,  es  wird  bei  manchen  derartigen  Angaben 
besonders  hervorgehoben,  das«  ftir  die  eheliche  Beiwohnung  der  Eintritt  der 
blechtlichen  Keife  abgewartet  wird.  So  kam  es  nach  Krams  zuweilen  bei 
len  Süd-Slaven  vor,  daas  mftQ  ein  zehnjähriges  Mädchen  heimf&hrte,  doch  sah 
aan  streng  darauf,  dass  sie  vor  ihrer  Reife  mit  ihrem  Manne  das  Lager  nicht 
'*«ilte.  Auch  bei  den  Chinesen  werden  ot^,  wenn  das  Mädchen  erst  6  Jahre 
'  Heil  abgeschlossen   und  die  junge  Ehegattin  tritt 

,jn  d^.   iL..,  rrn  ein.     Aber  wirklich  vollständig  wird  die 

Um  W  tii  35 


546  ^l^-  ^ie  ^^0- 

Ehe  nicht  eher,  bevor  nicht  das  Mädchen  das  12.  bis  13.  Jahr  erreicht  hat,  wo 
sie  dann  auch  vollständig  entwickelt  ist.  Nach  Morache  wird  in  Peking  die 
junge  Gattin  nicht  selten  auch  bis  zu  ihrer  Geschlechtsreife  im  Hause  ihrer  Eltern 
zurückgehalten.  Auch  bei  den  Malayen  auf  Java  gestattet  man  nach  Epp  der 
jungen  Frau  den  Beischlaf  nicht  vor  ihrem  10.  bis  12.  Lebensjahre. 

ff  Wurde  einem  Manne  in  Guatemala  ein  M&dchen  angetraut,  welche  noch  nicht  reif 
war,  80  gaben  dessen  Eltern  für  die  Zeit  bis  zu  ihrer  Reife  ihrem  Schwiegersöhne  eine  Sclarin 
als  Stellvertreterin,  deren  Kinder  aber  nie  den  Rang  ihres  Vaters  theilten,  auch  wenn  nicht 
gesagt  ist,  dass  sie  Sclaven  blieben." 

Ein  zweiter  Factor,  welcher  bei  diesen  Kinder-Ehen  berücksichtigt  werden 
muss,  ist  der,  dass  bei  vielen  Yolksstämmen  die  Mädchen  in  einem  mr  unsere 
Begriffe  noch  der  späteren  Kindheit  angehörigen  Lebensalter  bereits  ihre  geschlecht- 
liche Reife  erlangt  haben  und  eine  Eheschliessung  mit  ihnen  daher  nicht  so  un- 
geheuerlich ist,  wie  das  nach  unserem  Empfinden  den  Anschein  hat. 

Allerdings  ist  es  traurig  zu  hören,  dass  auch  Europäer  es  nicht  verschmäheii, 
mit  diesen  kaum  entwickelten  Mädchen  sich  in  geschlechtliche  Verbindungen  ein- 
zulassen. Das  findet  beispielsweise  auf  Gelebes  statt,  wo  sich  die  Europaer 
12 — 13  Jahre  alte  Mädchen  zu  Goncubinen  nehmen,  und  diese  Sitte  ist  dort  an- 
geblich so  allgemein,  dass  niemand  daran  etwas  Anstossiges  findet.  Uebrigens 
verbot  auch  bereits  Justinianus  den  ehelosen  Männern,  sich  Beischläferinnen  su 
halten,  welche  unter  12  Jahren  alt  waren.  Es  musste  demnach  damals  wohl  nicht 
selten  vorkommen,  dass  man  sich  so  junger  Goncubinen  bediente. 

Als  Ursache  der  so  auffallend  frühen  Schliessung  der  Ehe  müssen  wir  in 
einzelnen  Fällen,  z.  B.  bei  den  Tataren,  pecuniäre  Bedrängniss  der  Eltern  er- 
kennen. Sie  werden  auf  diese  Weise  die  Nahrungssorgen  för  ihre  Tochter  loa 
und  erhalten  ausserdem  noch  von  dem  Gatten  den  Kaufpreis.  Das  mag  auch  der 
Grund  dafür  sein,  dass  bei  manchen  Stämmen  die  Töchter  der  niederen  Be- 
völkerung früher  heirathen,  als  diejenigen  der  Reichen.  Von  den  Persern  giebt 
Folak  an: 

,In  weniger  bemittelten  Familien  trachtet  man  danach,  die  Tochter  schon  in  ihrem 
10.  oder  11.  Jahre  zu  verheirathen,  ja  mir  sind  Fälle  bekannt,  dass  nach  erkauftem  Dispens 
des  Priesters  die  Vorheirathung  schon  im  7.  Jahre  stattfand.  In  guten  Häusern  jedoch  werden 
die  Töchter  erst  im  Alter  von  12 — 18  Jahren  ausgestattet." 

Es  kann  nun  leider  nicht  geleugnet  werden,  dass  bei  einigen  Völkern  der 
geschlechtliche  Verkehr  mit  den  jungen  Frauen  in  zweifellos  kindlichem  Lebens- 
alter gebräuchlich  ist.  Wir  besitzen  hierüber  directe  Berichte.  So  werden  nach 
Äbbadic  in  Nubien  die  Mädchen  schon  lange,  bevor  ihre  Menstruation  einge« 
treten  ist,  gekauft  und  zu  dem  Beischlafe  benutzt,  und  von  den  Quatos-In- 
dianern  in  Brasilien  berichtet  Rhode: 

Es  herrscht  die  Sitte,  Mädchen  von  5—8  Jahren  zu  heirathen,  oder  richtiger  gesagt, 
von  den  Eltern  zu  kaufen.  Er  sah  in  jedem  Lagerplatze  kleine  Mädchen  benutzen,  und  als 
er  einen  Indianer,  dessen  acht-  bis  neunjährige  Frau  sehr  elend  aussah,  fragte,  wie  es 
möglich  sei,  mit  einem  solchen  Kinde  Unzucht  zu  treiben,  antwortete  er :  «Ich  thue  der- 
gleichen nicht,  sie  schläft  i\ur  bei  mir,  weil  sie  mein  Eigenthum  ist,  und  ich  werde  sie  erst 
dann  als  Frau  benutzen,  wenn  sie  doppelt  so  gross  sein  wird.'  Der  Kerl  sprach  aber  nicht 
die  Wahrheit,  denn  Bhode  sah  denselben,  als  er  trunken  war,  die  gemeinste  Unzucht  mit  dem 
Kinde  treiben. 

Vire  glaubt,  dass  die  Kabylen-Weiber  in  Folge  der  frühen  Verehelichung 
in  ihrem  körperlichen  Wachsthum  gehemmt  werden.     Er  sagt: 

„Les  femmes  sont  träs  petites,  quoique  assez  resistantes.  Cela  tient  probablement  ä  la 
coutume  <le  les  marier  entre  huit  et  douze  ans;  elles  n'ont  pas  le  temps  de  se  developper;  je 
n'ai  pu  en  mesurer  qu*une  seule,  qui  peut  passer  pour  une  belle  femme;  sa  taille  n*est  que 
de  Im.  51,  et  je  ne  crois  gu^re  que  Ton  puisse  trouver  des  femmes  au-dessus  de  Im-  55.' 

Dass  das  frühzeitige  Heirathen  bei  den  Annamiten  von  den  noch  im 
Kindesalter  stehenden    Weibern  recht  h&ufig   schmerzlich   empfunden  wird,   das 


liO.  Die  Kinder-Ehe  und  ihre  pbyiiologiBch©  Bedeutung. 


547 


itäntien  wir  aus  einem   ihrer  Lieder  abuebmen,   dessea  Uebersetzung  wir  Villard 
Kerdanken«    Dasselbe  lautet: 

^Je  g^mia  sur  tua  trop  grande  jouneise: 

Prendre  un  mari  plus  ilg«  qiie  moi. 

Je  ne  pourrai  supporter  son  ardeur; 

J'aiiue  mleuK  retourner  chez;  mea  parenU, 

Et  leur  dire  de  rendre  lea  cadeaux  de  fianvaiUes/ 

Auf  einige  Beispiele  werde  ich  noch  zurückkommen. 

Bei   diesen  Verbälinissen    drängen    sich    uns    eine    ganze    Reihe    wichtiger 
'physiologischer  Fragen  auf,   ohne    dass    ich   jedoch    im  Stande  wäre,    schon  jetzt 
ihre  endgültige  Beantwortung  zu  geben.     Man  nimmt  fllr  die  civilisirten  Bevölke- 
rungen Europas  an,  dass  die  Gebännutter  und  die  Eierstöcke  im  Durchschnitte 
nicht  vor  dem  19,  Lebensjahre  ihren  Wachsthumsprocess  vollendet  haben  und  daas 
lerst  von  diesem  Zeitpunkte    ab    eine    kräftige  Nachkommenschaft    erzielt    werden 
^konne.     Wenn  nun  auch  Schwängerungen    in    etwas  früherem  Alter  nicht  ausge- 
schlossen sind,    so  herrscht  doch    allgemein   die  Ansicht,    dass    hierzu    mindestens 
bereits  die  Menstruation  sich  gezeigt  haben,  die  geschlechtliche  Reife  eingetreten 
sein  rauss.     Sind  nun  bei  den  Völkern,  von  denen  wir  oben  gesehen  haben,  dass 
Kinder-Ehen  bei  ihnen  gebräuchlich  sind,    Fälle  bekannt  geworden,    wo   die  Em- 
pfängniss   und  die  Niederkunft    vor   dem   ersten  Eintreten   der  Menstruation  sich 
vollzogen  hatte?     Dass  die  jungen  Ehegattinnen  auch  gar  nicht  selten  schon  sehr 
Lfrühzeitig  Mütter  werden,    dafür    haben    wir  ja  schon   viele  Beispiele  kennen  ge- 
lernt,    Dass  aber  auch  die  Schwangerschaft  eintritt,  bevor  die  erste  Menstruation 
Bich  ge7,eigt   hatte,   das    wurde  Poiak   in  Persieu   von  glaubwürdiger  Seite  mit- 
;(etheUt.     Bei  einigen  anderen  dieser  jungen  Mütter    erscheint  es  wenigstens  sehr 
wahrscheinlich,  das»  ihre  Befruchtung  früher  eingetreten  ist.,    als  ihre  erste  Men- 
itruation  sich  zeigte. 

Wir   stehen    hier   vor    einem   physiologischen    Probleme,   dessen  Erklärung 

aber  nicht    unternehmen    will.     Ich    gehe  vielmehr  zu    anderen  Fragen  über, 

Iche    uns    hier    ohne    Weiteres    entgegentreten.      Allerdings    moas    ich    leider 

Inf  die  meisten    derselben   die    Antwort   vollständig    schuldig    bleiben,    und   auch 

3r  diejenigen  Probleme,  für  welche  das  bisher  vorhandene  Alaterial  eine  gewisse 

Ürläuterung   bietet,    sind    wir   doch    noch    himmelweit    von    einer    befriedigenden 

Liösung  entfernt. 

Ueber  den  Verlauf  der  Schwangerschaflen  bei  diesen  Kindern  oder  den  kaum 
reif  gewordenen  Jungfrauen  sind  wir  gänzlich  ohne  Nachrichten,  jedoch  besitzen 
wir  einige,  allerdings  ziemlich  spärliche  und  zum  Theil  einander  widei^sprechende 
Angaben  über  den  Verlauf  ihrer  Entbindungen,     Man  konnte  ja  wohl  von  vorn- 
herein vermuthen,  dass  das  verfrühte  Mutterwerden  im  Allgemeinen  die  Geburten 
lehr  erschwert.     So  wird  von  Ttoherion  berichtet,    da»ss  das  jugendliche  Alter  der 
lütter    in    Hindustan    gewöhnlich    die   Ursache   schwerer    Geburten    sei.     Und 
ichon  im  Jahre   1798  schrieb   Fra  Faolino  da  San  Barihototneo  aus  Ostindien: 
I Viele  indische  Weiber  büssen  ihr  Leben  ein,  wenn  sie  »um  ersten  Male  in  die 
Tochen  kommen.''     Der  Missionar  lieicrlem,  welcher  lange  in  der  Provinz  Madras 
^thätig  war,  bestreitet    das  und  behauptet,    dass   daselbst   aUe  Weiber,    und  sogar 
anch  die  eingewanderten  Frauen,  die  Geburten  verhältnissmässig  leichter  überstehen, 
l<als  in  Europa.     Auf  den  Antillen    heiratben  die  Mädchen  der  Colonisten  auch 
ßhr  früh,  wie  Du  Tertre  im  Jahre   1667  berichtete:  derselbe  sah  dort  eine  12 ^2- 
JEhrige  Frau,  die  schon  geboren   hatte,  ihn  aber  versicherte,  dass  ihre  Niederkunft 
jicht    länger    als   eine  halbe  Viertelstunde  gedauert  habe    und  wenig  schmerzhaft 
sen    sei,     Dass    aber  von   den  Frauen    im    abyssinischen   Mensa  30^/u  im 
chenbett  sterben,  ist  nach  Hassensiein  wohl  zum  Theil  Folge  der  vor  gehöriger 
Snt Wickelung  des  Körpers  eingegangenen  Ehen. 

Hier  ist  übrigens  die  Antwort  auch  nicht  genügend  präcisirt,  und  bei  späteren 

35« 


548  XIX.  Die  Ehe. 

Beobachtungen  der  Beisenden  auf  diesem  Oebiete  würde  wohl  scharf  unterschieden 
werden  müssen,  ob  die  jungen  Weiber  bereits  vor,  oder  bald  nach  dem  Einfareten 
der  Geschlechtsreife  geschwängert  worden  waren. 

Es  wäre  femer  interessant  zu  wissen,  wie  sich  bei  diesen  jungen  Müttern 
die  Nachkommenschaft  verhalten  mag.  Wie  steht  es  mit  der  Lebensfähigkeit  ihrer 
Kinder  und  sind  diese  von  normaler  Grosse,  oder  bleiben  ihre  Ghrössen-  und  Ge- 
wichtsverhältnisse erheblich  hinter  der  Norm  zurück?  Da  eine  Anzahl  von 
Reisenden  berichtet,  dass  sie  solche  Mütter  mit  ihren  Kindern  gesehen  hätten,  so 
müssen  diese  Sprösslinge  doch  immerhin  einen  gewissen  Grad  von  Lebensfähigkeit 
besessen  haben. 

Ueber  die  Frage,  inwieweit  das  Alter  der  Motter  einen  Einfloss  auf  die  Entwickelnog 
von  Gewicht  und  Länge  des  Kindes  äussert,  hat  Wemieh^  Untersuchungen  angestellt.  Er 
fand:  1.  Das  Gewicht  der  Neugeborenen  nimmt  mit  steigendem  Alter  der  Mutter  bis  som  89., 
ihre  Länge  bis  zum  44.  Lebensjahre  der  Mutter  constant  zu.  2.  Jedes  Product  einer  spftteren 
Schwangerschaft  übertrifft  an  Gewicht  und  Länge  die  ihm  vorausgegangenen.  8.  Sowohl  das 
Alter  der  Mutter  als  die  Zahl  der  Schwangerschaften  bewirken  die  Gewichts-  und  Lftngeo- 
zunahme,  und  zwar  jeder  dieser  Factoren  in  einem  progpressionsweise  auszudrückenden  Maaase. 
Das  Zusammentreffen  einer  bestimmten  Schwangerschaft  mit  ihrem  Durchschnittsjahre  wirkt 
auf  die  Entwickelung  der  Frucht  besonders  günstig.  So  ergiebt  sich  aus  den  Tabellen,  dass 
z.  B.  eine  Frau  in  Bayern  unter  sonst  gleichen  umständen  ihr  erstes  Kind  im  24.,  ihr  sweitos 
im  27.,  ihr  drittes  um  das  29.  Lebensjahr  am  vollkommensten  entwickelt  gebären  wird. 
4.  Erste  Kinder,  deren  Mütter  sehr  spät  menstruirt  wurden,  stehen  an  Gewicht  den  Kindern 
anderer,  besonders  sehr  früh  menstruirter  Mütter  nach. 

Ueber  die  Gewichtsverhältnisse,  wie  die  Lebensfähigkeit  und  die  Gesundheit 
solcher  Kinder,  welche  in  den  oben  besprochenen  Volksstämmen  von  sehr  jungen 
und  nach  unseren  Begriffen  noch  ganz  unreifen  Weibern  geboren  worden  sind, 
fehlen  uns  leider  noch  alle  genaueren  Angaben,  jedoch  werden  wir  kaum  fehl- 
greifen, wenn  wir  uns  unter  diesen  Erstgeburten  nicht  gerade  Hünen-  und  Becken- 
gestalten vorstellen. 

Eine  weitere  Frage  wäre  dann  wohl  die,  wie  es  sich  mit  den  Geschlechts- 
verhältnissen dieser  Kindeskinder,  wie  man  sie  wohl  mit  vollem  Rechte  nennen 
könnte,  zu  verhalten  pflegt.  Herrscht  bei  ihnen  ein  besonderes  Geschlecht  vor 
imd  lassen  sich  in  dieser  Beziehung  Unterschiede  constatiren,  je  nachdem  die 
Väter  schon  bejahrte,  oder  vollkräftige  Erwachsene  sind,  oder  sich  selber  noch 
in  einem  halbkindlichen  Alter  befinden? 

Wie  steht  es  femer  mit  der  Fruchtbarkeit  dieser  Mütter?  Pflegt  dieser 
ersten  Schwangerschaft  in  kurzer  Zeit  eine  zweite  sich  anzuschliessen?  Hierauf 
müssen  wir  erwidern,  dass  bei  den  Schangalla  nicht  selten  die  Frauen  in  einem 
Alter  von  12  Jahren  bereits  mehrere  Kinder  geboren  haben  sollen.  Es  muss  also 
die  Möglichkeit  einer  baldigen  erneuten  Befruchtung  vorhanden  sein. 

Schon  Genaueres  vermag  ich  auszusagen  über  die  Wirkungen,  welchen  ein 
so  frühzeitiger  geschlechtlicher  Verkehr  auf  den  jungen  weiblichen  Organismus 
ausübt,  namentlich  wenn  derselbe  auch  noch  eine  Schwängerung  zur  Folge  hat. 
Da  scheint  es,  wie  wir  in  einem  früheren  Abschnitte  bereits  gesehen  haben,  in 
erster  Linie  festzustehen,  dass  ein  vorzeitiger  geschlechtlicher  Verkehr  das  erste 
Auftreten  der  Menstruation  zu  beschleunigen  im  Stande  ist.  Auch  deuten  gewisse 
Untersuchungen,  welche  Coste  an  Kaninchen  angestellt  hatte,  darauf  hin,  dass 
durch  Reizungen  an  den  Geschlechtstheilen  die  Reifung  und  die  Loslösung  der 
Eier  in  den  Eierstöcken  beschleunigt  werden  könnte.  Wie  steht  es  nun  aber 
mit  den  Einflüssen  und  Rückwirkungen,  welche  diese  künstlich  und  gewaltsam 
herbeigeführte  vorzeitige  Entwickelung  auf  den  jugendlichen  Organismus  ausübt? 
Wir  lassen  hier  wieder  die  Beobachter  selber  sprechen.  Blyth  sagt  von  den  Viti- 
Insulanerinnen: 

«Wenn  ein  Mädchen  heirathet,  ohne  vorher  menstruirt  zu  sein,  so  ist  der  erste  Coitns 
unabänderlich  von  einer  viel  ernsteren  und  mehr  andauernden  Beunruhigung  des  Systems  (of 


141.  Der  Kampf  gegen  die  Kinder-Ehe  in  Indien. 

Üie  System)  gefolgt^  als  wenn  die  Monstrualfiinolionen  sicli  reohizeitig  entvriükelt  haben.  In 
dieeen  FlÜIen  von  verBpU^ietem  Auftreten  der  Menses  i^t  nicht  als  Bülfsmittel  die  lanetionelle 
Kühe  versucht»  sondern  alles  der  Natur  überlassen** 

Öeber  die  Neu -Britannie rinnen  berichtet  Danis: 

,Die  Mftdchen  werden  in  manchen  Füllen  in  sehr  frühem  ilter  verheirathet.  Ich  habe 
gediehen,  dasn  ein  xartes  gesundes  (fine  healthy)  MJldchen  von  nicht  mehr  aU  11  oder  12  Jahren 
mit  einem  Manne  von  25  oder  80  Jahren  verheirathet  wurde.  Die  Wirkung  einer  so  früh- 
zeitigen Ehe  ist  för  das  Mildchen  schrecklich.  Wenn  man  von  ihrem  Terilnderten  Aussehen 
auf  ihre  Leiden  schliessen  kann,  »o  mussten  dieselben  sehr  gro^s  sein.* 

Bruce  hebt  bei  den  von  ihm  in  Ober-Aegypten  gesehenen  Schwangeren 
Ton  11  Jahren  hervor,  dass  sie  wie  eine  Leiche  aussahen.  Auch  Mhode  betont 
das  elende  Aussehen  der  kleinen  ßuato&*Indianeriu,  von  deren  nicht  zu  be- 
zweifelndem VerheirathetseiB  er  sich  durch  den  Augenschein  zu  tiberzeugeu  ver- 
mochte, Auch  fand  er  im  Allgemeinen  ^  wohl  aus  dem  gleichen  Grunde,  die^ 
Weiber  meist  schwächlich  und  ihre  Gesichtsfarbe  krankhaft.  Von  Leake  ist  früher 
bereits  behauptet  worden,  dasa  frühes  Ueirathen  bei  dem  weiblichen  Geachlechte 
nicht  selten  Lungenkrankheiten  und  namentlich  die  Disposition  zu  Phthisis  im 
Wochenbett  herorriefe.     Das  vermag    ich    aus    unserem  Material  nicht  zu  ersehen. 

Aber  ein  vorzeitiges  Altern  und  ein  frühes  Erloschen  der  Fruchtbarkeit 
wird  Von  einer  ziemliehen  Anzahl  von  Autoreu  als  eine  directe  Folge  der  Kinder- 
Ehen  hervorgehoben.  So  berichtet  SchiUbach  von  den  Mainotinnen,  dass  sie 
mit  einigen  20  Jahren  schon  ganz  alt  aussehen.  Auch  die  Coroados-India- 
nerinnon  werden  nach  Burmeistcr  schnell  alt  und  verlieren  frühzeitig  ihre  Em- 
pfSngnissfiihigkeit.  Die  weitverbreitete  Unfruchtbarkeit  der  Guatos- India- 
nerinnen wird  übrigens  von  lihode  auch  auf  Rechnung  des  frühen  Heirathens 
gesetzt.  Auch  die  Neu -Caledo nierinnen  altern  aus  gleichem  Grunde  nach 
von  Rochas  früh,  ebenso  sind  die  Japanerinnen  frühzeitig  verwelkt  DieJava- 
Ininnen  verlieren  nach  Kugel  ihre  Fortpflanzungstahigkeit  schon  15  —  20  Jahre 
früher»  als  die  deutschen  Mädchen,  denn  in  der  zweiten  Hälfte  der  dreissiger 
Jahre  wird  selten  eine  javanische  Frau  noch  schwanger.  Die  Negerinnen 
von  Gabun  smd  bereits  mit  20  Jahren  alte  Weiber.  Als  Wirkung  des  frühen 
Heirathens  bei  den  Maori  in  Neu-Seeland  vermochte  Tuke  ebenfalls  frühzeitige 
Unfruchtbarkeit  zu  constatiren,  aber  auch  ein  hoher  Grad  von  Sterblichkeit  fiel 
ihm  auf,  und  in  gleicher  Weise  w*ird  von  den  Samojedinnen  behauptet,  dass 
sie  selten  das  30.  Jahr  überleben. 

Einige  höchst  bemerkenswerthe  Tbatsachen  über  die  traurigen  Folgen  der 
vorzeitigen  Verehelichung  werden  un»  noch  aus  Indien  berichtet.  Wir  wollen 
dieselben  in  dem  folgenden  Abschnitte  betrachten. 


141.  Der  Kampf  gegen  die  Kinder-Ehe  in  Indien. 

Indien  ist  bekanntlich  das  Land,  das  man  bei  uns  in  Europa  gewohnt 
ist,  als  die  klassische  Heimath  der  Kinder-Ehen  anzusprechen.  Der  Grund  hierftir 
ist  wohl  darin  zu  suchen,  dass  wir  mit  Indien  eher  bekannt  wurden,  als  mit 
vielen  anderen  Ländern  der  Erde,  in  welchen,  wie  der  vorige  Abschnitt  lehrte, 
nicht  minder  diese  grosse  Unsitte  herrscht.  Besitzen  wir  doch  auch  von  keinem 
Volke  so  uralte  Bestätigungen  über  diesen  Brauch,  als  gerade  von  den  Indern, 
Wir  haben  ja  schon  oben  die  Anschauungen  kennen  gelernt,  welche  in  den  San* 
skrit-Versen  ausgedrückt  sind.  So  uralthergebrachte  Institutionen  über  den  Haafen 
rennen  zu  wollen,  das  ist  allerdings  ein  kühnes  Unternehmen,  und  noch  manches 
Jahrzehnt  wird  vergehen,  bis  dieser  philanthropische  Ansturm  von  glücklichem 
Erfolge  gekrönt  sein  wird.  Aber  der  Anfang  ist  bereits  gemacht  und  verursachte 
eine  grosse  Erregung  in  der  indischen  Tagespresse. 

Man  hatte  nftmlieh  nach  X«ni'  in  der  Sitzung  des  geaetzgebenden  Rathea  in  Calcutia 


550  XIX.  Die  Ehe. 

einen  Gesetzentwurf  eingebracht,  dass  das  Heirathsalter  der  Mädchen  von  10  aaf  12  Jabr» 
erhöht  worden  sollte.  Die  Veranlassung  gab  der  Tod  einer  solchen  jugendlichen  Ehegattin, 
welche  in  der  Brautnacht  an  den  erlittenen  Zerreissungen  der  Geschlechtsorgane  gestorbai 
war.    Lenz^  bemerkt  hierzu: 

^Es  giebt  zwei  Arten  von  Einderheirathen  in  Indien;  Denzil  Ibbertsan  sagt:  üebar* 
all,  wo  Kinderheirath  Sitte  ist,  kommen  Braut  und  Br&utigam  erst  dann  zasammen,  wenn 
eine  zweite  Ceremonie,  muklawa  genannt,  yorgenommen  worden  ist.  Bis  dahin  lebt  die  Braat 
als  Jungfrau  im  väterlichen  Hause.  Diese  Ceremonie  ist  von  der  wirklichen  Hochseit  dorch 
einen  Zeitraum  von  3,  5,  7,  9  oder  11  Jahren  getrennt,  und  die  Eltern  des  Mftdcheiie  be- 
stimmen den  Zeitpunkt  für  dieselbe.  So  kommt  es  oft  vor,  dass  das  eheliche  Zusammenleben 
um  80  später  beginnt,  je  früher  die  Verheirathung  stattfindet.  In  den  östlichen  Disiricten 
z.  B.  heirathen  die  Jats  gewöhnlich  im  Alter  von  5  bis  7  Jahren,  und  die  Rajput<in  mit 
15  oder  16  Jahren  oder  auch  noch  später;  während  aber  bei  diesen  das  junge  Paar  sofort 
mit  der  geschlechtlichen  Beiwohnung  beginnt,  so  finden  bei  den  Jats  die  Eltern  das  heran- 
<  wachsende  Mädchen  oft  so  nützlich  in  der  Haushaltung,  dass  ein  Druck  auf  sie  ausgeflbt 
werden  muss,  um  sie  zur  Auslieferung  desselben  an  den  Gatten  zu  bewegen.  Und  so  nimmt 
hier  das  eheliche  Zusammenleben  meist  später  seinen  Anfang  als  bei  den  Rajputen.* 

Das  klingt  ja  nun  allerdings  sehr  tröstlich,  und  man  wird  fragen,  wozu  der 
Lärm?  Warum  soll  man  versuchen,  dass  die  Hindu  solche  unschuldigen  Gebrauche 
ändern?     Aber  Lenjs^^  berichtet  dann  weiter: 

„Bereits  in  den  nordwestlichen  Provinzen  darf  bei  den  drei  höchsten  Kasten  —  der 
Brahmanen-,  Chattri-  und  Kayasth-Easte  —  die  Braut  unmittelbar  nach  der  Hochieit 
dem  Gatten  ins  Haus  gesandt  werden,  sie  sei  nun  apta  viro  oder  nicht;  freilich  sieht  man 
es  gewöhnlich  vor,  bis  zur  Vornahme  einer  zweiten  Ceremonie,  gaunä  genannt,  zu  warten, 
welche  1,  3,  5  oder  7  Jahre  nach  der  ersten  stattfinden  kann,  und  fOr  welche  der  passende 
Zeitpunkt  nach  der  körperlichen  Entwickeluog  der  Braut  gewählt  wird.  In  Bengalen  ist 
die  Kegel,  dass  die  Mädchen  der  besseren  Elassea  das  eheliche  Leben  mit  9  Jahren  beg^innen 
und  so  frQh  Mutter  werden,  als  dies  Oberhaupt  für  sie  physisch  möglich  ist." 

Len/g^  citirt  noch  einen  Bericht  von  Risley^  in  welchem  es  heisst: 

„Es  ist  allgemein  Sitte,  dass  Mann  und  Frau,  ohne  dazu  nach  den  heiligen  Schriften 
der  Hindus  berechtigt  zu  sein,  sofort  nach  ihrer  Verehelichung  mit  der  geschlechtlichen 
Beiwohnung  beginnen.  Die  Eltern  leisten  dem  Gebrauch  unbewusst  Vorschub,  ja  sie  mach«i 
ihn  zu  einer  Nothwendigkeit. .. .  Am  zweiten  Tage  nach  der  Hochzeit  ist  die  Blumenbett- 
ceremonie;  Mann  und  Frau,  ein  Knabe  und  ein  Mädchen,  oder  heutzutage  gewöhnlich  ein 
junger  Mann  und  ein  Mädchen,  müssen  in  dem  Hochzeitsbett  zusammenliegen.  Innerhalb  8 
Tagen  nach  ihrer  Verheirathung  muss  die  junge  Frau  in  ihr  väterliches  Haus  und  dann  wieder 
zu  ihrem  Schwiegervater  zurückkehren,  oder  sie  darf  die  Thürschwelle  ihres  Gatten  ein  Jahr 
lang  nicht  überschreiten.  In  den  meisten  Familien  hält  man  den  achttägigen  Termin  ans 
Bequemlichkeit  ein.* 

Ein  besonderes  Werkchen  hat  über  the  little  wives  of  India  Brainerd 
Ryder  in  Melbourne  veröflFentlicht  und  darin  eine  Reihe  wichtiger  Angaben 
aus  den  Schriften  anderer  Autoren  gemacht.  So  führt  er  einen  Ausspruch  von 
Lyall^  dem  Commissionar  of  Chittagong-Division  an,  der  nach  ganz  genauen 
Informationen  feststellen  konnte,  dass  die  Verheirathung  mit  unentwickelten  Mäd- 
chen (immature  girls)  zwar  weniger  verbreitet  bei  den  Mohammedanern,  aber  all- 
gemein in  Chittagong,  wie  in  Bengalen  unter  allen  Kasten  und  Klassen  der 
Hindu  sei.  In  einzelnen  Districten  und  unter  gewissen  Klassen  werden  Hinda- 
Knaben  von  6,  7  oder  8  Jahren  mit  Mädchen  von  noch  jüngerem  Alter  verhei- 
rathet.  Aber  ein  Vater  verschachert  auch  seine  7-  oder  8  jährige  Tochter  in  der 
Ueberlegung,  dass  er  20  Rupien  den  Monat  erhält,  an  einen  4:7  jährigen  Mann, 
der  allgemein  dafür  bekannt  ist,  dass  er  die  Frau  schlecht  behandelt. 

Die  Folgen  dieser  vorzeitigen  Ehen  sind  nun  höchst  erschreckende.  Der 
Bengal  Medico-Legal  Report  berichtet  von  205  Fällen  von  Beischlaf  mit  solchen 
kindlichen  Weibern;  5  von  diesen  endeten  mit  dem  Tode,  und  38  dieser  kleinen 
Geschöpfe  trugen  sehr  schwere  Verletzungen  davon. 

Ein  weiblicher  Arzt,  Dr,  Mansell,  reichte  eine  Petition  zum  Schutze  dieser 
unglücklichen  Mädchen  ein,  in  welcher  über  folgende  Fälle  berichtet  wird: 


142.  DnQ  Jua  primae  nocti«. 


551 


L  ZwlSlfjfthrige  Fmu,   kreieaendi  dm  Kind    tu ussie  we^n  des  unreifen  Zastanddi  ihres 

Beokena  ertttiiotomirt  werden. 

2.  Elfjährige  Frim,  ist  in  Folge  der  graben  Gewalt  filr  ihr  Leben  ein  Krüppel;  sie  hat 
die  Gebräu  oh  sfahigk  ei  t  ihrer  Beine  Terloren. 

S«  Zehnjährige  Frau,  «ie  ist  unfUhig  zu  stehen. 

4*  Zehnjährige  Frau  in  buchst  bedauerlichem  Zustande.  Am  Tage  nach  ihzier  Aufnahme 
inrurde  sie  von  ihrem  Ehegatten  wieder  aua  dem  Hospitale  herausgeholt,  wie  er  sagte,  „zu 
^seinem  gesetislichen  Gebrauche^. 

b,  Zehivj&hrige  Frau«  auf  ihren  Knieen  und  H&nden  zum  Hospitale  kriechend;  sie  war 
aeit  ihrer  Yerheirathung  nicht  mehr  im  Stande  gewesen  aufrecht  zu  stehen. 

6<  Neunj&hrige  Frau  mit  völlig  gellLhmten  ünterextremitäten. 

7.  Neunjährige  Frau,  am  Tage  nach  der  Ueiratb;  das  Becken  ist  aus  seiner  Form  ge- 
I  drückt  und  der  linke  Oberachenkel  rerrenkt. 

8*  Neunjtlhrige  Frau;  Dielocation  dea  Schambogens;  sie  ist  unfähig  tu  stehen  nnd  einen 
^Fosi  vor  den  andern  zu  wetzen, 

9.  Eine  siebenjährige,  mit  ihrem  Gatten  lebende  Frau  starb  nach  3  Tagen  an  grosser 
Kntkr&ftnng. 

Diese  Fälle  sind  wohl  schon  bezeichnend  genug;  aber  auch  einen  Obductious- 
befund  theili  R^der  mit. 

Kin  elfjähriges»  gut  entwickeltes  Mtldchen  hatte  einen  45jährigen  Mann  geheirathet 
Sie  starb  an  einer  Blutung  aus  einem  Scheidonrtas  von  1  Zoll  Lange  und  einem  Zoll  Breite^ 
welcher  in  die  Bauchhöhle  perforirte.  Alle  Unterleibsorgane  waren  klein  und  unentwickelt, 
und  die  Eierstöcke  zeigten  keinerlei  Spur  von  Ovulation. 

,K5nntet  Ihr  sie  sehen,  ruft  Ihjder  aus,  diese  leidvollen  Gesichter  der  kleinen  Mädchen, 
welche  fast  wie  ein  Taschenmesser  zusammengezogen  sind  durch  die  von  der  brutalen  Leiden- 
schaft verursachten  Contracturen  ihres  Becken^  welche  nicht  mehr  im  Stande  sind,  aufrecht 
SU  stehen;  könntet  Ihr  die  gelähmten  Glieder  betrachten,  die  nicht  mehr  willkOrlich  be- 
ws^  werden  können;  könntet  Ihr  die  jammervollen  Klagen  der  kleinen  Dulderinnen  hören, 
welche  mit  ihren  mageren  Händchen  zusammenschlagen  und  Euch  bitten,  daes  Ihr  sie  hier 
laterben  lasst!* 

Nun  sterben  freilich  nicht  alle  diese  kindlichen  Weiber  und  auch  nicht  alle 
^tragen   so   schwere  Verletzungen    davon.      Aber   die   Beschreibungen   auch   dieeer 
anderen  klingen  doch  im  höchsten  Qrade  betrüblich: 

«Nie,    sagt  Ki/der,   vermag  ich  den  Herzenskummer  zu  schildern,  welchen  ich  empfand. 

.  wenn  ich   tlieae    halbentwickelten  Frauen   aah^    mit   ihrem  Ausdruck    boifnungsloser  Duldung, 

'  ihren  skelettdürren  Armen  und  Beinen,  und   sah,   wie  sie  in   dem   vorgeschriebenen  Abstände 

hinter  ihrem  Gatten  ein  herschritten,   niemals  mit  einem  Lächeln  auf  ihrem  Antlitze.    Mit  16 

Jahren  sind  diese  Frauen  nicht  so  gross,  so  kräftig  und  wohlentwickelt,  als  die  meisten  Mäd- 

'  cheu  in  Europa  mit  10  und  11  Jahren.    Ein  Hindu -Mädchen  von  10  Jahren  gleicht  unseren 

f5*  oder  6j&hrigen  Kindern*     Dieser  Gebrauch  der  Kinder-Ehe   lässt  viele  Hindu -Weiber    mit 

14  Jahren  Mutt-er  werden    und   ein  Üntzend  oder    mehr    unentwickelter    kranker  Kinder   zur 

.Welt  bringen.     Ein  zwölfjähriges  Sundra-Weib  gebar  Drillinge  und  starb  mit  diesen  ö  zarten 

[Kindern  wenige  »stunden  nach  der  Entbindung/ 

Wohl  ruft  auch  der  aufgeklärte  Hindu  Gopinath  Saddshivjee  Ildie  Toni 
Bombay  Uigh  Court  seinen  Landsleuten  zu: 

, Unsere  Heirathsgebräuche  enthalten  UebelsULnde  von  grosser  Bedeutung,  welche 
dringend  eine  Reform  verlangen.  Sie  widersprechen  der  Moral  und  Vernunft  und  bilden  eine 
der  mächtigsten  Ursachen  für  don  physischen  Verfall  unseres  Volkes* 

Jeder  Menschenfreund  kann  nur  wUnscben,  dasa  sein  Mahnruf  nicht  unbe- 
achtet verklingt,  aber,  wie  ich  schon  oben  sagte,  eine  lange  Zeit  wird  wohl  noch 
vergehen,  bis  gesunde  Vernunft  und  Ueberlegung  über  diesen  Jahrhunderte  alten 
Unfug  endlich  den  Sieg  davontragen  werden. 


142.  Das  Jos  primae  noctis. 

Wo  eine  bevorxugte  Gesellschaft  von  Männern,  wie  dies  bei  einigen  Völkern 
rorkommt,  sich  Rechte  auf  die  Töchter  des  Landes  Tindicirt,  sind  diese  zuw>^tl^n 


552  XIX.  Die  Ehe. 

gehalten,  sich  eine  Zeit  lang  dem  Hetärismus,  der  Prostitution  hinzugeben.  Man 
hat  die  Vermuthung  ausgesprochen,  dass  ein  solches  Vorrecht  (Herrenrecht)  der 
Urtypus  des  Jus  primae  noctis  gewesen  sei,  eines  Brauches,  dessen  ThatsSch- 
lichkeit  neuere  Forschungen  in  Frage  zu  stellen  versucht  haben. 

Ganz  allgemein  hat  man  bis  in  die  jüngste  Zeit  das  Jus  primae  noctis, 
wonach  der  Grundherr  bei  Hochzeiten  seiner  Untergebenen  das  Recht  haben  sollte, 
den  ersten  Beischlaf  mit  der  neuvermählten  Jungfrau  zu  vollziehen,  als  geschichtlich 
feststehende  Thatsache  betrachtet.  Seit  dem  16.  Jahrhundert  sagte  man,  der  König 
von  Schottland  Evenus  IlL^  zur  Zeit  des  Kaisers  Augustus,  habe  dieses  Recht 
aufgebracht,  das  erst  nach  mehr  als  tausend  Jahren  durch  König  Malcolm  wieder 
abgeschafft  worden  sei.  Namentlich  viele  französische  Schriftsteller,  darunter 
die  Encyclopädisten,  hielten  an  dieser  weit  verbreiteten  Meinung  fest,  obgleich 
schon  im  18.  Jahrhundert  Manche,  darunter  nicht  wenige  deutsche  Gelehrte, 
die  Sache  bezweifelten.  Seit  1854  kam  nun  der  Streit  in  Folge  eines  von  2>ttptii 
in  der  Academie  der  Wissenschaften  zu  Paris  gelieferten  Berichtes  zu  grösserer 
Lebhaftigkeit.  Insbesondere  behauptet  Louis  VeuiUot  in  mehreren  Aufsätzen  und 
Schriften,  dass  das  sogenannte  Droit  du  seigneur  in  Wirklichkeit  niemals  be» 
standen  habe;  auch  gab  eine  Commission  vor  der  Academie  der  Inschriften  ihr 
Gutachten  in  gleichem  negirenden  Sinne  ab.  In  ebiem  umfangreichen  Werke 
suchte  Jules  Delpit  VeuiUofs  Ansicht  zu  widerlegen;  ihm  reihten  sich  zahlreiche 
Gelehrte  aus  verschiedenen  Ländern  an;  von  deutschen:  Jacob  Grimm^  Weinhold^ 
Scharr,  v.  Maurer,  Liehrecht^  Bastian^  v,  HeUwald  u.  A. 

Vor  wenig  Jahren  heX  Karl  Schmidt^  in  Colmar  sich  eingehend  mit  dieser 
Angelegenheit  beschäftigt  und  alle  Umstände,  alle  in  der  Literatur  zerstrentsn 
Angaben  mit  einer  anzuerkennenden  Schärfe  beleuchtet;  man  muss  wohl  zugeben« 
dass  er  allermindestens  die  Stützen,  auf  welche  sich  seine  Gegner  berufen  könntaii 
nicht  unerheblich  erschüttert  hat. 

Schmidt  geht  aufs  genaaeste  Alles  durch,  was  wir  angeblich  Über  die  Einfahmng  dsi 
Jus  primae  noctis  durch  König  Evenus  HL  von  Schottland  wissen;  doch  zeigt  er  auch, 
dosB  die  Erzählung  völlig  in  der  Luft  schwebt.  Dann  forscht  er,  auf  welcher  Grundlage  sich 
die  im  Mittelalter  aufgetauchte  Sage  befindet,  dass  ein  Häuptling  der  weissen  Hannen, 
Namens  Skorhot,  bei  joder  Heirath  in  der  Stadt  Harapa  das  Vorrecht  des  Ehemannes  in  Ab- 
Spruch  genommen  habe;  er  findet,  dass  in  der  Quelle  eigentlich  nur  von  , Blutschande*  die 
Rede  sei.  Femer  soll  Marco  Polo  von  einem  Jus  primae  noctis  in  Cambodja  gesprochea 
haben;  Schmidt  findet,  dass  Marco  nur  sagte,  der  König  wählte  nach  Belieben  Mädchen  filr 
seinen  Harem;  nach  der  Entlassung  aus  demselben  stattete  er  sie  aus.  Ebenso  wenig  und 
ihm  die  Berichte  über  die  Brahmanen  in  Ostindien  zuverlässig. 

Ganz  unbestimmt  sind  die  Nachrichten  aus  Deutschland,  dass  hier,  wie  lAebreM 
behauptete,  das  Jus  primae  noctis  einst  bestanden  habe.  Wenn  v.  Hormayr  sagt,  die  Herrea 
von  Peraan  (Süd- Tirol),  v.  Bavenstein  und  Vatz  (Schweiz)  seien  deshalb  vertrieben  worden, 
so  fehlt  darüber  die  Quelle.  Dergleichen  Sagen  von  einem  Privileg  der  Herren  della  Barere 
in  Italien,  der  Herren  von  Prelley  und  Parsanny  in  Piemont  geht  Schmidt  in  gleicher 
Weise  ganz  vergeblich  nach. 

In  Frankreich  soll  das  Gewohnheitsrecht  der  Kanoniker  zu  Lyon  bestanden  haben, 
ihnen  die  Bräute  die  erste  Nacht  zu  überlassen  für  das  Jus  coxae  locandae,  und  man  beruft 
sich  auf  eine  Urkunde  vom  J.  1132,  in  der  ein  Verzicht  auf  dieses  Recht  ausgesprochen  sei. 
Doch  beschränkt  sich  dieser  Verzicht  lediglich  auf  den  Erlass  einer  Abgabe  vom  Hochzeits- 
mahl; von  Weiterem  ist  nicht  die  Rede. 

Ferner  gab  es  in  Frankreich  bis  zum  17.  Jahrhundert  ein  Droit  de  Braconnage, 
z.  B.  bei  den  Herren  von  Mareuil  in  der  Picardie,  welche  bei  den  Töchtern  ihrer  Herr- 
schaft boi  deren  Verheiratbung  das  Lehnsrecht  beanspruchten,  sie  zu  ^hraconner".  Schmidt 
erklärt  das  Wort  mit  «umarmen*,  also  nicht  gleichbedeutend  mit  defloror.  So  geht  er  alle 
Behauptungen  durch  bezüglich  der  vermeintlichen  Rechte  der  Aebte  von  St.  Michel,  des 
Grafen  Guido  vofi  ChatilhUf  der  Herren  von  Lariviere,  Bourdet  u.  s.  w.  —  überall  vermiest 
er  den  Nachweis.  In  Frankreich,  z.B.  in  der  Gascogne,  existirte  das  sog.  Droit  de  cnis- 
tage  oder  jambage;  das  ist  aber  nicht  das  Jos  primae  noctis,  sondern  es  war  das  Recht, 
ein  Bein  in  das  Bett  der  Braut  zu  legen;  ebenso  gab  es  dort  ein  Recht  des  Lehnsherrn,  Aber 


142,  Da«  JuB  pnjnae  noctis. 


553 


das  Bett  der  Braut  hinwegzusteigen;  docli  Hält  letzteres  Schmidt  nur  fQr  einen  sebertbiiften 
Brauch,  keineswegs  identiBch  mit  dem  Jus  primae  noctis. 

Völlig  ungerecht fertij^t  sei  die  Behituptutig  Blnu's,  diias  die  Urbewohner  der  canii- 
riachen  Inseln  das  Jüb  primae  noctis  besessen  hätten;  die  Berichterstatter  sprechen  nur  davon^ 
doBs  die  Häuptlinge  überhaupt  die  Jungfrauen  deBorirteUf  aber  ein  beBonderes  Hecht  aal 
die  HochzeiUnacht  hattiin  sie  nicht.  Mehr  zu  echaffen  macht  dem  Autor  die  Angabe  Var- 
thema'St  dass  in  Calicut  (Ostindien)  die  Brabminen  da?  Recht  gehabt,  nicht  nur  allen 
PtJioen  nach  Belieben  beiwohnen  tu  dürfen,  sondern  auch  der  jungen  Frau  des  Königs  bei 
dessen  Verraäblung.  In  die«em  Falle,  wo  auch  noch  andere  Reisende  Aehnliches  benchten« 
handelt  es  sich  um  eine  Institution  des  Cultus. 

Schliesslich  weisst  der  Verfasser  sämmtliche  gerichtliche  Entscheidungen  ab,  auf  die  man 
sich  Vorzug« weise  beruft.     Innbesondeve  nennt  or  das  im  J,  1812  entdeckte  angebliche  Urtheil 


^.'^^ 


^ 


Flg.  M. 


Ansbietnng  des  Jas  ptimfte  n 
(N*cb  i 


iaer  reif  gewcrdsnen  Lo»ngo->'e<erin. 


des  Grosaseneschalls  der  Gnyenne  vom  13.  Juli  1802  ein  «tlUschJich  angefertigtes  Acteostück'. 
Obwohl  die  Motive  der  FUlschung  nicht  feststehen,  so  bezeichnet  Schmklt  doch  den  Verdacht 
als  dringend,  dass  die  Fälschung  in  unlauterer  Absicht  durch  Vertheidiger  der  Irrlehre  vom 
Droit  du  seigneur  des  Mittelalters  vorgenommen  wurde. 

Das  einzige  ürtheil,  aus  dem  der  Beweis  eines  Anspruchs  auf  das  vermeintliche  Jus 
primae  noctis  mit  einem  gewissen  Scheine  von  Berechtigung  hergeleitet  werden  könnte»  ist, 
wie  Schmidt  sagt»  das  Schiedsurtheil  de«  Königs  Ferdinand  des  Katholischen  vom  21.  April 
1486.  'Daaatlbd  beseitigt  im  9.  Artikel  unter  anderen  Dingen  einen  Missbrauch,  der  darin 
bestand,  dass  einige  Grundherren  (aus  Herrschaften  in  Catalonien)  bei  Heirathen  ihrer 
Bauern  den  Anspruch  erhoben,  in  der  ersten  Nacht  mit  der  neuvermählten  Frau  zu  schlafen, 
oiler   tum   Zeich^i   der   Herrschaft   über   die    Frau,    nachdem   sie  eich  zn  Bett  gelegt  hatte. 


554  XIX.  Die  Ehe. 

hinüberzuschreiten.  „Allein  gerade  dadurch,  dass  diese  Urkunde  g&nzUch  vereinzelt  dastehen 
würde  als  Beweis  f!lr  das  Jus  primae  nocÜB,  scheint  aus  dem  Zusammenhange  der  Urkonda 
die  Annahme  gerechtfertigt  zu  sein,  daes  die  in  Anspruch  genommene  Berechtigung  sich  auf 
die  Vornahme  einer  Förmlichkeit  beschränkte,  die  als  symbolische  Handlung  die  Abh&Dgigkeii 
der  Bauern  von  ihrem  Grundherrn  bezeichnen  sollte.' 

Es  seien  eben  .Hochzeitsgebräuche',  die  im  Geiste  der  Zeit  lagen,  wie  wenn  beispiels- 
weise nach  kirchlichem  Herkommen  die  Einsegnung  erst  einen  oder  drei  Tage  nach  dem  Ab- 
schluss  der  Ehe  erfolgte;  allein  so  ganz  fremde  Dinge  dürfe  man  doch  nicht  mit  angeblichen 
Herrenrechten  in  Verbindung  bringen.  Nach  germanischen  Rechtsgnmds&tsen  war  be- 
kanntlich das  Beilager  (vor  den  Hochzeitsgästen)  die  Form,  in  der  die  Ehen  geschlossen 
wurden.  Auch  diesen  Brauch  hat  man  zum  Beweise  eines  Herrenrechtee  der  ersten  Nacht  ver- 
werthet,  indem  es  in  einer  Urkunde  vom  J.  1507  als  Gewohnheitsrecht  oder  contame  tob 
Drucat  heisst:  «Wenn  ein  Unterthan  oder  eine  ünterthanin  des  Ortes  Drucat  sich  ver- 
heirathet  und  das  Hochzeitsfest  stattfindet,  so  kann  der  junge  Ehemann  die  erste  Nacht  mit 
seiner  Hochzeitsdame  nur  dann  schlafen,  wenn  dazu  die  Erlaubniss  des  genannten  Herrn  er- 
theilt  wird,  oder  der  genannte  Herr  mit  der  Hochzeitsdame  geschlafen  hat* 
Schmidt  legt  diese  Stelle  so  aus :  dass  es  der  Erlaubniss  (die  sonst  unter  Ueberreichnng  einer 
Ehrengabe  vom  Hochzeitsmahle  nachzusuchen  war)  nicht  bedurfte,  wenn  eine  Person  heirathete, 
die  mit  dem  Grundherrn  unerlaubten  Umgang  gehabt  hatte;  von  einem  Herrenrechte  der 
ersten  Nacht  ist  nach  seiner  Ansicht  hier  nicht  die  Rede.  Alle  weiteren  Urkunden,  die  man 
anführte,  lehnt  Schmidt  in  ihrer  Bedeutung  als  Zeugnisse  ab. 

Wenn  man  nun  auch  Schmidt  gerne  zugeben  wird,  dass  nicht  aUe  f&r  die 
einstmalige  Existenz  eines  Jus  primae  noctis  beigebrachten  Beweise  stichhaltig 
sind,  so  wird  man  doch  auch  den  Schlüssen  beitreten  müssen,  welche  Pfannen-' 
Schmidt  in  der  Kritik  des  iScAm /c^^'schen  Werkes  entwickelte.  Wir  stossen  danach 
auf  Grund  sicherer  Zeugnisse  zur  Zeit  des  Mittelalters  in  Europa  auf  eigen- 
thümliche  Hochzeitsgebräuche,  welche  sich  ftir  diese  Zeit  zwar  als  symbolische 
herausstellen,  aber  in  früheren  Zeiten  nicht  solche  haben  sein  können.  Vielmehr 
deutet  alles  darauf  hin,  dass  einst  dasjenige  thatsächlich  geübt  wurde,  was  später 
nur  noch  sinnbildlich  seinen  Ausdruck  fand  und  in  alterthümlicher  Redeweise 
schriftlich  fixirt  wurde.  Da  aber  mit  den  symbolischen  Gebrauchen,  wo  sie  sich 
fanden,  in  historischen  Zeiten  sich  leicht  Missbrauche  verbinden  konnten  mid 
solche  in  der  That  auch  vorkamen,  so  führte  dies  zu  der  irrthümlichen  Annahme, 
dass  noch  zu  der  Zeit,  in  welcher  man  diese  Gebräuche  aufzuzeichnen  anfing,  ein 
sogenanntes  Herrenrecht  thatsächlich  geherrscht  habe. 

Dass  aber  eine  ganze  Anzahl  von  Gebrauchen,  wie  wir  sie  in  dem  Ab- 
schnitte über  die  Jungfrauschaft  kennen  gelernt  haben,  thatsächlich  doch  nichts 
anderes  sind,  als  ein  Jus  primae  noctis,  das  je  nach  der  Bevölkerung  dem  Könige, 
dem  Häuptlinge  oder  den  Priestern  zustand,  das  wird  man  doch  trotz  aUer  auf- 
gewandten Mühe  und  Gelehrsamkeit  nicht  wegzudisputiren  vermögen,  und  die  be- 
trefienden  Berichterstatter  haben  das  Kind  auch  nicht  selten  bei  dem  richtigen 
Namen  genannt.     So  sagt  noch  neuerdings  von  Luschan: 

„Es  giebt  übrigens  unter  den  lykischen  Tachtadschys  Stämme,  bei  denen  das 
geiHtlicho  Oberhaupt,  der  ,Dede",  ein  Jus  primae  noctis  besitzt,  wenn  auch  nicht  regelmässig 
ausübt,  und  andere,  bei  denen  ihm  das  Recht  zusteht,  bei  den  jährlich  abgehaltenen  religiösen 
Versammlungen  eine  beliebige  Frau  zu  wählen,  deren  Gatte  sich  durch  diese  Auszeichnimg 
wesentlich  geehrt  fühlen  soll.* 

Diese  Stelle  ist  auch  insofern  lehrreich,  als  sie  beweist,  dass  das  Jus  primae 
noctis  mit  der  Zeit  von  denjenigen,  welchen  es  zusteht,  nicht  mehr  mit  Kegel- 
mässigkeit  ausgeübt  wird.  So  kann  man  es  wohl  begreifen,  wie  es  bei  fort- 
schreitender Cultur  allmählich  abgelöst  werden,  oder  nur  noch  zu  gleichsam 
symbolischer  Ausübung  gelangen  und  schliesslich  vollständig  in  Vergessenheit 
gerathen  konnte.  Warum  nicht  etwas  Aehnliches  einstmals  auch  in  Earopa 
stattgehabt  haben  soll,  das  ist  doch  wohl  nicht  einzusehen. 

Auch  von  der  Loango-Küste  wird  die  Ausübung  des  Jus  primae  noctia 
bestätigt.  Aber  hier  ist  jedermann  berechtigt,  dieses  Jus  gegen  BezaUuig  aa  «^ 
werben.    Soyaux  berichtet  hierüber: 


U9.  Der  Ebebrncb. 


555 


, Bevor  eine  mannbare  Jungfraa  Hieb  Tersprochen  hat,  wird  sie  in  lange  Gewftnder  ge^ 

hflllt,  unter  eigentbQmliclieQ  Tänzen  und  Gesängen  von  Dorf  tu  Dorf  gefUhrt,  und,  unbe- 
schadet ihrer  künftigen  Verebelichung^  das  Jus  primae  neciis  zum  Verkauf  angeboten,  eine 
Robheit«  die  mit  dem  sonstigen  Schamgefühl  der  M-fiöten  im  merkwürdigen  Wider* 
Spruch  steht.* 

Auch  nach  Falkenstein  findet  maii  nichts  dariu,  .die  heranreifende  Jungfrau  in 
voller  Verhüllung  unter  eigenen  Tiinsten  und  Gesängen  dem  Publikum  vorzuführen  und  das 
Jus  primae  noctis  gegen  Vergütung  »u  überlassen.  Kür  die  künftige  Verehelich ung  erwachst 
kein  Anstots  daraus," 

Fig.  263  ftihrt  uns  ein  solches  Ausbieten  des  Jus  primae  noctis  nach  der 
photographischen  Aufnahme  von  Fdlketistein  vor. 

Man  möge  hierbei  aber  nicht  vergessen,  dass  dieses  sogenannte  Recht  in 
alten  Zeiten  vielleicht  vielmehr  eine  Pflicht  gewesen  sein  mag.  Die  Frau  musste 
von  ihren  Angehörigen  in  brauchbarem  Zustande  dem  Ehegatten  übergeben  werden, 
und  da  der  erste  Coitus  durch  die  mit  ihm  verbundene  Blutung  in  Folge  der 
Zerreissung  des  Jungfernhäutchens  verunreinigend  oder  giftig  war,  so  mnssten 
diejenigen  ihn  ausüben,  welche  in  Folge  ihres  intimen  Verhältnisses  zu  der  herr- 
schenden Gottheit  durch  eine  solche  Verunreinigung  weniger  geschädigt  werden 
konnten.  Aus  diesem  Grunde  sahen  wir  auch,  dasa  die  Verwandten  der  Neu- 
vermählten dem  das  Jus  primae  noctis  ausübenden  Priester  oder  Könige  eine 
besondere  Entschädigung  zu  zahlen  hatten.  Aus  dieser  Pflicht  mag  dann  all- 
mählich das  Recht  hervorgegangen  sein. 

Eine  ganz  besondere  Form  des  Jua  primae  noctis  soll  nach  v,  MiUucho* 
Maclatj  bei  einem  ganz  primitiv  lebenden  melanesischen  Volke,  den  Orang- 
Sakai  auf  der  malajischen  Halbinsel,  stattfinden;  dort  nimmt  der  Vater  der 
Braut  ft\r  sich  das  Recht  des  Jus  primae  noctis  in  Anspruch,  eine  Unsitte^  die 
man  auch  auf  Sumatra  bei  Battas  und  auf  Celebes  {District  Tonsawang) 
bei  Alfuren  wiederfindet  Vielleicht  liegt  auch  diesen  Ungeheuerlichkeiten  der 
Gedanke  zu  Grunde,  dass  der  Vater  seine  Tochter  körperlich  brauchbar  in  die 
Ehe  zu  liefern  hat. 


148,  Der  Eliebnicli. 

Es  kann  natUriicher  Weise  von  Ehebruch  bei  solchen  Völkern  füglich  nicht 
die  Rede  sein,  wo  die  eigenen  Ehemänner  ihre  Weiber,  sei  es  aus  einem  (iber- 
triebenen  Geflihle  der  Gastfreundschaft,  «ei  es  aus  Gründen  schmutzigster  Gewinn- 
sucht, anderen  Männern  zu  geschlechtlichem  Verkehre  überlassen;  denn  volenti 
non  fit  injuria.  Und  das  Unrecht,  das  dem  Gatten  geschieht,  die  Unterschlagung 
und  Beeintriicbtigung  seinem  ihm  allein  zustehenden  Rechtes,  ist  es  doch  immer, 
das  vorliegen  mua«,  wenn  wir  von  einem  Bruche  der  Ehe  sprechen  sollen.  Aber 
auch  wenn  wir  diesen  Maassstab  anlegen,  so  finden  wir,  dass  die  Anschauungen 
über  diesen  Punkt  bei  verschiedenen  Völkern  ausserordentlich  verschieden  sind. 
Ist  es  vielleicht  auch  nicht  ohne  Weiteres  gestattet,  den  Schluss  zu  ziehen^  daas 
bei  denjenigen  Nationen,  wo  wir  die  Weiber  zum  Ehebruche  sehr  leicht  geneigt 
finden,  die  Heiligkeit  der  Ehe  in  einem  nur  geringen  Ansehen  steht,  so  können 
wir  dieses  letztere  doch  dort  ganz  sicher  annehmen,  wo  w^ir  für  den  Ehebruch 
nur  ganz  unbedeutende  und  milde  Strafen  angesetzt  finden.  Denn  hierin  müssen 
wir  doch  sicher  von  Seiten  des  Mannes  eine  Geringschätzung  des  ausschliesslichen 
Besitzes  seines  W^eibes  erkennen,  während  in  dem  ersteren  Falle  die  Annahme 
immer  noch  nicht  abgewiesen  werden  konnte,  dass  die  leicht  erregbare  Natur  des 
Weibes  stärker  gewesen  war,  als  die  heiligen  Bande  der  Ehe* 

üeber  die  Auflassung  der  Ehe  von  Seiten  der  Frauen  der  alten  Dpiifsrhpo 
macht  TacÜMs  eine  sehr  anerkennende  Schilderung.     Er  sagt: 

^Keinßti  ThuÜ  ihrer  Sitten  kannte  mnn  mehr  loben;  bei  einem  so  zablrcicheu   V  gike 


oo6  XIX*  l^ie  Ehe. 

mius  man  die  unter  ihnen  Torkommenden  Ehebrüche  selten  nennen.    So  c 

•jatten,    sind  mit  ihm  ein  Körper  und  eine  Seele,  darüber  geht  kein  Gedanke 

keine  Begierde  führt  sie  weiter,  und  wenn  sie  ihren  Ehemann  nicht  lieben,  eo  lieben  sm  dock 

die  Khe;  mit  ihrem  Ehegemahl  glauben  sie  leben  und  sterben  m  müssen,  auch  Tetmcbton  sie 

nicht  ihre  Rathschläge  und  beachten  aufmerksam  ihre  Antworten.* 

Eine  sehr  starke  eheliche  Treue  finden  wir  aber  auch  bei  manchen  YöIkenL 
welche  dem  Mädchen  einen  unbehinderten  geschlechtlichen  Yerkelir  mit  jungen 
Leuten  gestatten.  Sobald  das  Mädchen  in  die  Ehe  getreten  ist,  so  ist  ein  Ehe- 
bruch etwas  Unerhörtes.  So  treffen  wir  es  namentlich  auf  einigen  Inaeln  de» 
raalayischen  Archipels.  Die  Frauen  in  der  Mongolei  allerdings  aolloi  ancfa 
nach  der  Verheirathung  das  zügellose  Leben  fortsetzen,  das  sie  ua  "^s^rhwi  zn 
führen  gewohnt  gewesen  sind. 

t\  üjt'alvi  erzählt,  dass,  wenn  ein  Siaposch  die  Untreue  seiner  Fma  ent- 
deckt, er  ihr  eine  Tracht  Prügel  zukommen  lässt  und  von  seinem  Nebenbuhler 
irgend  einen  geringwerthigen  Gegenstand  als  Entschädigung  fordert.  Auf  Foi^ 
mosa  ist  der  hintergangene  Gatte  berechtigt,  die  Scheidung  zu  Terhuigen,  und 
beiden  Theilen  ist  danach  eine  Wiederverheirathung  gestattet. 

Wir  haben  bereits  in  dem  Abschnitte  über  die  Keuschheit  des  Weibes  das 
Gebiet  der  ehelichen  Treue  berühren  müssen,  und  es  sollen  die  dort  angefllhrten 
Beispiele  hier  nicht  noch  einmal  vorgeführt  werden. 

Bei  den  Apache-Indianern  verstösst  der  Mann  die  Ehebrecherin  ans 
seinem  Hause,  zuvor  aber  schneidet  er  ihr  die  Nase  ab  und  lässt  sich  das  An- 
kaufsgeld wieder  zurückzahlen.  {Spring)  Die  Völker  am  Orinoeo  dagegen  be- 
strafen den  Ehebruch  mit  dem  Tode;  bisweilen  allerdings  findet  die  Frau  Ver- 
zeihung, niemals  jedoch  der  Verführer.  Wie  leicht  sich  aber  die  Sioux-Indianer 
über  den  Ehebruch  hinwegsetzen,  das  haben  wir  oben  gesehen.  Verging  sich  in 
dem  alten  Peru  eine  Frau  mit  einem  anderen  Manne,  so  wurden  die  Ehebrecherin 
sowie  ihr  Verführer  mit  dem  Tode  bestraft;  der  Ehemann  konnte  eine  mild^e 
Strafe  beantragen.  (Acosta^  Garcilasso.)  Ebenso  wurde  in  Mexiko  vor  der  An- 
kunft der  Spanier  eheliche  Untreue  schwer  bestraft. 

In  Bezug  auf  die  Bestrafung  des  Ehebruchs  haben  sich  auf  den  Inseln  im 
Südosten  des  malayischen  Archipels  die  Anschauungen  gegen  früher  sehr  ge- 
ändert. Während  früher  der  Mann  den  Ehebrecher  und  sein  ungetreues  Weib 
(oder  dieses  allein)  sofort  iödten  durfte,  führt  die  Sache  jetzt  meistens  zur  Schei- 
dung, wobei  gewöhnlich  von  den  Eltern  der  Frau  der  Brautschatz  zurückerstattet 
werden  muss,  während  auf  Leti,  Moa  und  Lakor  der  Ehebrecher  dem  betrogenen 
Manne  ausserdem  noch  eine  Busse  zu  bezahlen  verpflichtet  ist.  Die  Keisar- 
(Makisar-)  Insulaner  begnügen  sich  nur  mit  dieser  Busszahlung  und  behalten 
die  Frau;  übrigens  ist  bei  ihnen  Ehebruch  eine  grosse  Seltenheit.  Auf  den 
Babar-Inseln  darf  noch  heute  der  Mann  den  Ehebrecher  todtstechen.  Thut  er 
dieses  nicht,  so  zieht  er  mit  seinen  Blutsverwandten  bewaffnet  aus  und  tödtet 
Schweine  und  anderes  Vieh  der  Dorfbewohner,  während  die  Angehörigen  des 
Ehebrechers  sie  zu  besänftigen  suchen  und  den  Schaden  ersetzen,  um  Krieg  zu 
vermeiden.  Hat  der  Ehebrecher  dann  eine  Buhho  bezahlt,  so  ist  die  Frau  frei  und 
kann  ersteren,  ohne  dass  er  einen  Brautsctiaiz  zalilt,  heirathen.  In  öffentlicher 
Versammlung  lässt  sich  der  neue  Gatte  dann  vnn  dem  alten  einen  Eid  schwören, 
dass  er  nicht  mehr  versuchen  wird,  mit  seiner  Frau  geschlechtlich  zu  verkehren. 
Das  geschieht  unter  besonderer  Cerenioni«*,  worauf  der  erste  Mann  sich  aus  dem 
Hause  der  Frau  seine  Sachen  holt  und  die  »S<*heidung  als  erfolgt  betrachtet  wird. 
(Iiiedel\) 

Auf  den  Marshalls-Inseln  wird  Ehelinirh  am  Manne  gar  nicht,  an  der  fVan 
aber   nur   durch  Verstossung  bestraft.      Auf  Sanioa,  Tonga,   den  SaB'      *nlt»> 
und  Marquesas-Inseln  aber  wird  der  Khcfbnirli  Ntrong  geahndet,  und  Av' 
^Carolinen)  wird  er  sogar  häufig  mit  dittii  Todu  bcwtrafl.. 


143.  Der  Ehebruch. 


557 


I 


Eine  ungetreue  Gattin  schickt  auf  den  Pe lau- Inseln  der  betrogene  Ehe- 
mann einfach  fort  {Kubart/);  war  aber  auf  den  M ari an en- Inseln  der  letztere 
ehebrüchig,  so  rotteten  sich  die  Frauen  zusammen  und  fielen  über  seine  Habe  her 
imd  zerstörten  sie  gründlich. 

Die  Strafe,  welche  bisweilen  den  Ehebrecher  und  die  Ehebrecherin  iu  Neu- 
Britannien  triÖt,  ist  nach  Danks  ausaerordentlich  schwer.  Die  Frau  wird  un- 
mittelbar und  ohne  Bai-mherzigkeit  geapieast.  Der  Mann  jedoch  fällt  in  einen 
Hinterhalt,  der  ihm  vom  Ehegatten  und  dessen  Freunden  gelegt  ist.  Sie  fallen 
über  ihn  her,  hauen  ihn  gewaltig  mit  dem  Stock  und  würgen  seinen  Hals  (twist 
hia  neck)  so  stark  es  ihnen  nur  möglich  ist  Sie  lassen  ihn  dann  tu  furchtbarer 
Agonie  auf  dem  Wege  liegen,  wo  ihm  helten  mag,  wer  da  will.  Er  spricht  nicht 
mehr.  Er  schmachtet  wenige  Tage,  während  seine  Zunge  zu  grosser  Dicke  an- 
schwillt,  und  er  stirbt  eines  schrecklichen  Todes» 

Die  Weiber  der  Orang  Belendas  in  Malacca  haben  nach  Stevens  eine 
absonderliche  Art,  um  ihre  Männer  vom  Ehebruch  abzuhalten.  Sie  befestigen 
etwas  Baumwolle  an  einem  dünnen  Stäbchen  und  fuhren  sie  post  cohabitationem 
in  ihre  Vagina  ein,  um  das  Semen  virile  aufzusaugen.  Dann  wird  die  Baumwolle 
getrocknet  und  sorgfaltig  aufgehoben,  und  solange  sie  trocken  bleibt,  vermag  der 
Mann  mit  keiner  anderen  Frau  geschlechtlich  zu  verkehren.  Macht  die  Gattin 
sich  nichts  mehr  aus  ihrem  Manne,  so  wirft  sie  die  Baumwolle  fort»  und  sowie 
diese  nass  geworden  ist,  kehrt  dem  Manne  wieder  die  Fähigkeit  zum  Umgange 
mit  anderen  Weibern  zurück. 

Aber  auch  die  Männer  besitzen  ein  Mittel,  dass  ihre  Gattin  sich  nicht  darüber 
aufregt,  wenn  sie  sich  mit  anderen  Frauen  vergehen.  Sie  legen  ein  Stück  einer 
bestimmten  Pflanze  der  Frau  miter  die  Matte,  wenn  sie  ihr  beiwohnen ;  dann 
werden  sie  ihr  so  widerwärtig,  dass  ihr  ein  Ehebruch  von  Seiten  des  Mannes  völlig 
gleichgültig  lileibt 

Beging,  was  sehr  selten  vorkam,  die  Frau  Ehebrach,  so  band  ihr  Mann  sie 
an  Händen  und  Füssen  und  legte  sie  in  einiger  Entfern uug  von  der  Hütte  auf 
die  Erde,  während  er  selber  dch  mit  drei  Bambusspeeren  bewalFnet  im  Unterholze 
verbarg.  Die  unglückliche  Frau  erhielt  weder  Speise  noch  Trank  und  musste 
liegen  bleiben,  bis  die  Erschöpfung  und  die  Bisse  der  Ameisen  sie  getödtet  hatten. 
Zuvor  musst«  aber  der  schuldige  Mann  den  Versuch  machen,  ihre  Bande  zu  durch- 
schneiden und  sie  in  das  Haus  ihres  Gatten  zurück zufiihren,  Tödtete  ihn  dabei 
einer  der  Speere  des  Gatten»  so  konnte  dieser  nach  Belieben  die  Frau  dort  um- 
kommen lassen,  oder  sie  fortschicken»  Gelang  es  dem  Verführer,  die  Frau  zu  be- 
freien, so  konnte  der  betrogene  Gatte  gegen  ihn  nichts  mehr  unternehmen,  aber 
seine  Frau  durfte  er  fortjageo.  Wenn  der  Liebhaber  sich  weigerte,  diesen  Ver- 
such zu  wagen,  so  musste  er  eine  Strafe  zahlen,  die  der  Betrogene  selber  be- 
sti  mmte.     (Bartels'^,) 

Bei  den  Kalmücken  wird  Ehebruch  mit  4 — 5  Stück  Vieh  gebüsst;  bei  den 
Persern  war  Ehebruch  ein  Scheidungsgrund,  jedoch  durfte  auch  hier  der  Mann, 
wenn  es  ihm  gelang,  die  Untreue  seiner  Gattin  durch  Zeugen  zu  erhärten,  seine 
Frau  tödten. 

Sehr  streng  ist  das  Gesetz  des  Mohammed  gegen  die  Ehebrecherin,  Der 
Koran  befiehlt,  das  Weih,  welches  durch  vier  Zeugen  des  Ehebruchs  Überführt 
ist,  im  Hause  einzukerkern,  bis  der  Tod  sie  befreit  oder  Gott  ihr  ein  Befreiungs- 
mittel an  die  Hand  giebt.  Später  lies«  man  dem  Weibe  die  Wahl  zwischen  Ein- 
kerkerung und  Steinigung.  Gemildert  wird  die  Strenge  des  Gesetzes  dadurch,  dass 
vier  Zeugen  erforderlich  sind,  um  den  Ehebruch  zu  beweisen.  Wer  ein  Weib 
dieses  Verbrechens  bezichtigt,  ohne  den  Beweis  dafür  erbringen  zu  können,  erhält 
achtzig  Peitschenhiebe.  Der  Ehemann  kann  die  vier  Zeugen  durch  einen  fünf- 
fachen Eid  ersetzen,  jedoch  steht  es  der  Frau  frei,  sich  durch  denselben  Eid  zu 
n.  imd  wenn  sie  dies  thut,  ist  die  Ehe  gelöst. 


VT   I  V  Zmfc. 


Y:zL  den  Cii-e**i.  i«2m«  *>:«  Brat^ 
Heil:    ?':ri.fl>.    "«'s:!  er  T:a    ocbhil  Lara::  r^ai  öir  uf 
s^ir.    E-rii?.    Eieirfiisrir  rai  Kn^trsüirty^   i-TtSiet  sfia»:   änal 


oder  bei« 

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rirc  ZDS  der  ftr  dieaelbe  «nMte  Pnä 
Teucf  Bis&üA  «Be  i^io—ii  Sdmide 
«r  r:?  da  EMbnAer  gctfdtet,  Use 
k??t*9Kkbft.  («sSBliclie  Sismfe  erleidei. 
öu  OmeM  ia  TnHilMiwiilwjiii  in  dv 
rrnier  u^cAkrtCB  Form  lebt.  Ana»- 
iei.  läcÄBK  FiDe.  im  ilpa—  nur  der  Ehe- 
i-TMur  Medice  Tizd.  iteti  langwierige 
rz.iess9e£aBfCB  baA  sicli,  da  d«r  n 
«izxe-IxMs  Filica  mach  voU  gcitcht- 
fficiifw  TczdAcht  berteht,  daei  dieFna 
£i;r  a1?  IjMkTQpel  beaatit  vordea  wi, 
^r£  «»  ££21  in  dem  hfwondeieu  Falle 
rirri  -^^  BeMiafimg  eiaei  Biebrada, 
i>:ri«:a  zz  Mozd  nad  Beranboag  einei 

Auch  in  Japan  scheint  es 
frlher  wenigstens  gebraachlich  ge- 
vresec  zn  sein,  da»  da*  Ehegatte  sich 
mi:  dem  Schwerte  an  dem  Schander 
seiner  ehelichm  Ehre  rächte.  Das 
:«i  in  einer  japanischen  Encjklo- 
p&die  aus  dem  An&nge  des  rorigen 
Jahrhunderts  dargestellt,  der  ich 
die  Fiir.264  entnehme.  Dieselbe  ist 
ohne  Elriäatemng  verständlich. 

Auf  offenkandigen  Ehebruch 
wurde  bei  den  alten  Israeliten 
über  die  beiden  Verbrecher  das 
Todesurtheil  ausgesprochen,  doch 
ecTschiedec  darüber  die  Gerichte, 
i:ieht  etwa  der  beleidigte  Ehemann. 
Schon  der  blosse  Verdacht  auf  be- 
eüQirer.e  Untreue  des  Eheweibes 
wurdr  streng  geahndet :  leugnete  die 
Verdächtige,  so  erhielt  sie  einen 
ekelhatten  Probetrank:  gestand  sie, 
so  wurde  sie  gerichtlich  geschieden 
und  ging  der  ihr  zukommenden 
M-Tgengabe  verlustig.  Dem  mo- 
saischen Gesetze,  d^  der  WillkQr 
eines  eifersüchtigen  Ehemannes  Thor 
und  Thür  öffnet,  wurden  spater  Ton 
den  Talmudisten  Schranken  ge- 
f^i.'txt.  \h'.r  Ehemann  konnte  nur  dann  als  Kläger  auftreten,  wenn  er  vor  swei 
Zeugf-n  s«;in(:rri  Weibe  den  Umgang  mit  einem  gewissen  Manne  verboten,  und  sie 
fJenrioch  nach  Aii.s.sage  zweier  Zeugen  einen  .solchen  Umgang  fortgesetzt  hatte. 

Für  Ehebruch   bestimmte    ein   angelsächsisches  Gesetz,   dass  der  Ver* 
bre<:her   da»  Wehrgeld   der   Frau    erlege   und   dem  verletzten  Gatten 
Weib   kaufe.      In    unseren  Volksrechten    herrscht   aber  wie   bei    der 


-Upanife':K':r  \i'>\3L*AYs,u\\\  vom  Jahr-  1715. 


143.  Der  Ehebruch. 


559 


einer  Verlobten  die  fränkische  Forderung  der  Rückgabe  der  entführten  Frau 
neben  der  zu  leistenden  Geldbusse, 

Unter  den  heutigen  Volkern  Europas  sind  es  namentlich  zwei,  deren  Damen 
sich  in  Bezug  auf  die  eheliche  Treue  eines  sehr  weuig  rühmlichen  Leumundes 
erfreuen.  Das  sind  die  Französinnen  und  die  Italienerinnen.  Wieviel  bei 
den  ersteren  die  dramatische  und  Romanliteratur  dazu  beigetragen  hat,  sie  in 
einen  solchen  Ruf  zu  setzen,  der  vielleicht  weit  über  das  Thatsächliche  hinaus- 
;eht,  das  ist  natürlich  nicht  möglich  zu  entscheiden.  In  Italien  ist  das  soge- 
nnte  Cicisbeat  so  allgemein  bekannt  geworden,  dass  man  sich,  wahrscheinlich 
r  mit  Unrecht,  eine  italienische  Dame  ohne  einen  solchen  Begleiter  gar  nicht 
recht  vorzustellen  vermag,  und  noch  mehr  hat  man  sich  getäuscht,  wenn  man  in 
einem  solchen  VerhäUnis8e  sofort  einen  Ehebruch  witterte. 

Wenn  es  in  früherer  Zeit  zum  guten  Ton  gehörte,  dass  sich  die  verheirathete 
au  von  einem  Cicisbeo  bedienen    und   begleiten   Hess,   welcher  morgens  bei  ihr 
"  ien,  um  sich  Verhaltungsmaii  '  i  fßr  den  Tag  ertheilen  zu  lassen,  so  lag 

_       esem  Verhältnisse  nichts  Vw  ,  wie  wir  etwa  bei  einem   , Hausfreund* 

auch  nur  in  besonderen  Fällen  anstüssige  Beziehungen  annehmen  dürfen.  Es  war 
dies  ein  dienender  Ca  valier,  ein  Vertrauter,  bisweilen  ein  Geistlicher,  andere  Male 
ein  Milchbruder  der  Dame*  Namentlich  dieser  letztere  galt  wie  ein  Verwandter; 
denn  die  Milchbrnderschaft  versetzt  die  beiden  von  einer  Amme  Ernährten  bei 
vielen  Völkern  in  einen  mystischen  Rapport.  Cicisbeo  hat  die  Bedeutung  Galan, 
aber  auch  , Bandschleife*:  wie  eine  solche  hing  der  Betreffende  an  der  Dame, 
welcher  er  ergeben  und  zu  Diensten  war. 

Ob  dieses  Verbal tuiss  nun  aber  wirklich  immer  ein  so  unschuldiges  ist,  als 
welches  es  erscheint,  das  möchte  doch  die  Frage  sein.  Manteya^sa,  welcher  seine 
Landsmänninnen  doch  wold  kennen  muss,  sagt; 

„Der  Ehebruch  ist  eine  so  gewöhnliche  Würze  goworden,  dass  er  in   unsere  Literatur, 
in  an««re  Sitten  eindringt  und  auf  den  Bühnen  unserer  Theater  dÄrprestelU  wird.     Wahrend 
uns   Monogamen    nennen,  sind    wir  Polygamen  und  Poiyander  zu   gleicher   Zeit,   und  in 
en  anscheinend  glücklichen  und  moralischen  Familien  hat  die  Frau  mehrere  Geliebten  und 
ann  ist  der  Geliebte  anderer   Frauen   oder   Weiber,   welche  die    Liebe   verkaufon.      Der 
ch  \it.i  daher  die  noth wendige  und  erste  ConsequenZf  weil  Mäuner  und  Frauen  der  aaf- 
iigen,  freien»  glühenden  Liebe  bedürfen,  und  wenn  daher  die  Ehe  dieselbe    auflschliesst, 
suchtin  MUnner  und  Frauen  sie  andet^wo.^ 

Ein  untrügliches  Zeichen,  dass  die  Frau  es  mit  mehr  als  einem  Manne  ge- 
lten hat,  haben  die  Einwohner  von  Ambon  und  den  Uliase- Inseln.  Es  ist 
Gebrauch,  dass  eine  Frau  die  Nachgebnrt  schweigenden  Mundes  zum  Strande 
und  in  das  Meer  wirft.  Treibt  dieselbe  auf  dem  Wasser,  so  ist  die  Frau 
dichtet,  es  dem  Ehegatten  der  Entbundenen  mitzutheilen,  der  daran  erkennt, 
sein  Weib  ihm  untreu  war.  (RiedeV,) 
Wir  haben  oben  schon  durch  i\  Brandt  erfahren,  dass  bei  den  Chinesen 
der  beleidigte  Ehegatte  die  beiden  Ehebrecher  tödten  darf.  Er  erzählt  dann  weiter, 
dass  die  Chinesen  eine  höchst  absonderliche  Maassnahme  haben,  um  mit  Sicher- 
heit  festzustellen,  ob  die  Beiden  denn  mm  auch  in  der  That  die  Ehe  wirkücii 
gebrochen  haben.     Er  berichtet! 

,üm  zu  entdecken,  ob  die  Getödteteii  wirklich  Ehebruch  begiuigen  bÄben.  wird 
manchmal,  auch  von  Beamten,  wie  es  scheint,  ein  höchst  oigenthü  ml  icher  Versuch  angestellt. 
Die  abgeschnittenen  Eöpfo  der  beiden  Oetödteten  werden  in  ein  gross ea  GefHa»  mit  Walser 
gethnn  und  da«  Letztere  mittelst  eines  Stockes  in  heftige  rotirende  Bewegung  vernetzt,  Kommt 
dilti  Wa«fet(>r  dann  7>um  Stehen  und  die  Köpfe  berühren  lich  mit  den  Gesichtern,  als  wenn 
nie  sich  kO^tpi'T^  wollten,  so  ut  die  Schuld  der  Get^Hlteteu  erwiesen;  sind  die  öeaicbter  Ton 
ander  n  f,  ihre   Unet-huld-* 

All*  US  berichtet  von  einem  abäonderlichen  Ehebruchszeichen: 

,In  Afrika  lebte  nueb  Afiaihardndca  ein  Xlhnliches  Volk,  die  Psyller,  m  genannt 
li  ihrom  Ki:if>M'*>  />...//,...  -i-^^^n  Grabtsal  «ich  an  der  Seite  der  gröweren  Syrte  befindet. 
KArfie«^  Mft '  iüangen  todüichea  Gift,  durch  de«»en  Geruch  die«e  in  Schlaf 


560  XIX.  Die  Ehe. 

versetzt  würden.  Bei  ihnen  herrschte  die  Sitte,  die  neugeborenen  Kinder  den  gefUuüchiteB 
Schlangen  vorzuwerfen  und  auf  diese  Weise  die  Keuschheit  ihrer  Gattinnen  £U  prdfea:  wenn 
nämlich  die  Schlangen  nicht  vor  den  Kindern  flohen,  so  waren  diese  im  Ehebrüche  enaogt' 
Ueberhaupt  ist  die  Zeit  der  Niederkunft,  in  welcher  die  Seele  von  Furcht 
und  Bangen  erflillt  ist,  auch  der  rechte  Augenblick,  um  das  schuldbefleckte  Ge- 
wissen sich  regen  zu  lassen.  So  fdhlt  sich  bei  dem  Beginne  der  Entbindang  die 
Samojedin  veranlasst,  einer  alten  Frau  alle  die  einzelnen  FSHe  zu  berichten,  in 
denen  sie  ihrem  Manne  die  eheliche  Treue  brach,  denn  nur  nach  gewissenhafter 
Beichte  kann  die  Geburt  ohne  Störung  von  Statten  gehen.  Äehnlicnes  findet  sich 
auch  bei  anderen  Völkern.  Aber  auch  selbst  die  Sünden  der  Yor&hren  kommen 
in  dieser  kritischen  Zeit  an  das  Tageslicht.  Das  beweist  ein  absonderlicher  Glaube, 
welcher  auf  den  Luang-Sermata-Inseln  herrscht.  Man  hält  das  lange  Aus- 
bleiben der  Wehen  bei  einer  Kreissenden  für  den  sicheren  Beweis,  dass  deren 
Mutter  früher  unerlaubten  Umgang  gepflogen  hat.     {RiedeV.) 


144.  Die  Ehescheidung. 

Nicht  jegliche  Ehe  entspricht  dem  Bilde,  welches  der  Minnesänger  Reinmar 
von  Zweier  von  dem  Ehebunde  entworfen  hat: 

«Ein  Herz,  ein  Leib,  ein  Mund,  ein  Muth 

Und  eine  Treue  wohlbebut, 

Wo  Furcht  entfleucht  und  Scham  entweicht 

Und  Zwei  sind  Eins  geworden  ganz, 

Wo  Lieb'  mit  Lieb  ist  im  Verein: 

Da  denk'  ich  nicht,  dass  Silber,  Gold  und  Edelstein 

Die  Freuden  Übergoldet,  die  da  bietet  lichter  Augen  Glanz. 

Da,  wo  zwei  Herzen,  welche  Minne  bindet, 

Man  unter  einer  Decke  findet. 

Und  wo  sich  Eins  an*s  Andre  schliesset, 

Da  mag  wohl  sein  des  Glückes  Dach/ 

Des  „Glückes  Dach"  findet  sich  nicht  überall;  und  wenn  auch  die  Trauungs- 
formel der  evangelischen  Kirche  lautet:  „Was  Oott  zusammengefügt,  das  soll  der 
Mensch  nicht  scheiden,''  so  hat  dennoch  das  bürgerliche  Recht  sich  gezwungen 
gesehen,  eine  Reihe  von  Fällen  festzustellen,  in  denen  der  für  das  Leben  ge- 
schlossene eheliche  Bund  durch  richterlichen  Spruch  vorzeitig  wieder  gelöst  werden 
kann.  Und  selbst  die  katholische  Kirche,  welcher  die  einmal  geschlossene  Ehe 
als  unauflöslich  gilt,  musste  dennoch  anerkennen,  dass  es  Lebenslagen  giebt,  in 
welchen  das  heilige  Band  doch  durchaus  wieder  getrennt  werden  muss.  Hierbei 
ist  es  in  meinen  Augen  ein  rein  äusserlicher  Unterschied,  dass  hier  nicht  der 
Richter,  sondern  der  Pontifex  maximus  das  erlösende  Wort  zu  sprechen  berechtigt 
ist.  Es  ist  nun  nicht  etwa  meine  Absicht,  hier  die  Gesetzesparagraphen  der  civi- 
lisirten  Völker  durchzusprechen,  welche  eine  Ehescheidung  für  zulässig  erklären, 
sondern  gerade  die  Zustände  bei  weniger  hochstehenden  Rassen  sind  es,  welche 
uns  an  dieser  Stelle  zu  interessiren  vermögen. 

Wir  haben  weiter  oben  schon  gesehen,  dass  bei  den  Persern,  den  nord- 
afrikanischen Mohammedanern  und  auch  bei  einzelnen  Völkern  des  südöstlichen 
Afrikas  der  in  der  Brautnacht  entdeckte  Mangel  des  Jungfernhäutchens,  also  in 
den  Augen  dieser  Leute  den  Verlust  der  Jungfrauschaft  vor  dem  Abschluss  der 
Ehe,  diese  letztere  ohne  weiteres  wieder  aufzulösen  im  Stande  ist. 

Der  Mohammedaner  kann  aber  auch  sonst  jeden  Augenblick  nach  Belieben 
ohne  Angabe  des  Grundes  die  Scheidung  aussprechen.  Er  muss  seiner  Frau  dann 
allerdings  das  Heirathsgut  verabfolgen  und  ihr  über  die  Iddahzeit,  d.  h.  über  die 
dreimonatliche  Frist,  während  welcher  sie  sich  nicht  wieder  verheirathen  darf, 
oder  bis  zu  ihrer  Entbindung  den  Unterhalt  gewähren.     Allein  diese  schützende 


144.  Die  Eheacbeidong. 


561 


V 


Maassregel  hat  wenig  zu  bedeuten;  denn  wenn  die  Frau  durch  ungehorsam  die 
Scheidung  verrinlasst  hat,  oder  wenn  der  Mann  ^die  Gebote  Gottes  nicht  erfüllen 
zu  können  ^  fürchtet,  falls  er  das  Gut  herausgiebt,  so  darf  er  einen  Theil  desselben 
oder  sogar  das  Ganze  behalten. 

Gänzlich  fremd  ist  dem  Koran  der  Gedanke,  da^s  die  Frau  auf  Scheidung 
dringen  könnte.  AUerdings  hat  das  mosliminische  Recht  hierüber  einige  Bestim- 
mungen getroffen;  es  kann  das  Weib  bei  gewissen  Gebrechen  des  Mannes  oder 
bei  hoffnungslosem  ehelichem  Zwist  Scheidung  verlangen,  aber  dann  hat  es  den 
Mann  atu  entschädigen  oder  auf  das  Heirathsgut  zu  verzichten.  Die  ausgesprochene 
Scheidung  gilt  für  unwiderruflich,  wenn  sie  durch  Zeugen  beglaubigt  ist;  manche 
Frau  ist  aus  drückender  Knechtschaft  befreit  worden,  weil  der  Mann  in  der  Hitze 
des  Zornes  sein:  »Du  bist  entlassen*  sprach.  Denn  diese  Erklärung  genügt,  um  die 
Ehe  zu  lösen.    InAegypten  muss  diese  Erklärung  aber  dreimal  abgegeben  werden. 

Den  Muselmännern  ist  es  erlaubt,  sich  dreimal  von  ihrer  Frau  scheiden  zu 
lassen  und  sie  nach  der  Scheidung  wieder  zu  heirathen.  Nach  dem  dritten  Male 
aber  ist  ihnen  die  Wiederheirath  verboten,  wenn  nicht  die  Frau  inzwischen  mit 
einem  anderen  Manne  die  Ehe  eingegangen  war,  welche  natürlicher  Weise  eben- 
falls erst  wieder  getrennt  sein  muss. 

Bei  den  Persern  pflegt  der  Ehebruch  zur  Scheidung  zu  führen,  aber  in 
der  Regel  erfolgt  die  Scheidung  nur,  wenn  die  Frau  kinderlos  bleibt  und  ihr  die 
Schuld  davon  beigemessen  werden  kann^  zweitens  wenn  sie  liederlich  ist  und 
dritteofl  wenn  der  Mann  glaubt,  dass  mit  ihrem  Eintritte  in  das  Haus  Unglück 
über  dasselbe  kam;  man  hfilt  sie  dann  fUr  ein  böses  Omen.  Auch  der  Perser 
kann  seine  geschiedene  Frau  wieder  ins  Haus  nehmen,  nach  der  zweiten  Scheidung 
jedoch  nur  in  dem  Fhlle,  wenn  sie  indessen  an  einen  Anderen  verheirathet  war 
und  von  diesem  den  Scheidebrief  erhielt.  Bei  der  Sighe,  d.  h,  bei  einer  weih- 
liehen  Person,  mit  der  er  nur  eine  Ehe  auf  Zeit  eingegangen  ist,  kommt  die 
Scheidung  nicht  in  Frage,  da  der  Vertrag  mit  ihr  von  selbst  nach  bestimmter 
Zeit  abläuft. 

Bei  den  heutigen  Abchasen  darf  eine  unzufriedene  Gattin  ohne  Weiteres 
ihren  Gemahl  verlassen  und  zu  ihrer  Familie  zurückkehren,  ohne  dass  dieser  das 
Recht  hätte,  sich  zu  beschweren,  fScrendJ  Die  Naya-Kurumbas  im  Nil- 
ghiri^Gebirge  halten  die  Ehe  überhaupt  nur  so  lange  für  bindend,  als  es  ihnen 
beliebt  (JagorJ  Bei  den  Samojeden  ist  das  Band  der  Ehe  sehr  locker;  ge- 
ringfügige Ursachen  können  Scheidungen  herbeiführen;  dann  geht  der  Manu  des 
Kaufpreises  verlustig;  lauft  eine  Frau  fort,  so  sind  ihre  Eltern  verpflichtet,  den 
Kaufpreis  zurückzuerstatten. 

Bei  den  Sumerern,  den  Vorfahren  der  alten  A  s s y r e r ,  die  man  früher 
fälschlich  als  Akkader  bezeichnete,  durfte  sich,  wie  glücklich  erhaltene  und 
von  Lenormani  gelesene  Keilschrifttäf eichen  aussagen,  wohl  der  Mann  von  der 
Frau,  aber  nicht  die  Frau  von  dem  Manne  trennen: 

, Rechtsspruch:  Hat  eine  Frau  ihren  Eh«nianti  beleidigt,  hat  sie  ,du  bist  nicht  «»ehr 
mein  Mann*  «u  ihm  gesagt,  «o  soll  aie  in  deu  Fluas  geworfen  werden.*  Ein  VerBuch  der  Ebe- 
Bcheidung  von  Seiten  der  Frau  wnrde  aJ»o  mit  dem  Tode  bestraft.  Der  Mann  dagegen  konnte 
die  Gattin  ohne  Weiteres  verstoaaen,  wenn  er  noch  nicht  in  ehelichen  Verkehr  mit  ihr  getreten 
war:  Bat  ein  Mann  ein  Weib  geehelicht,  und  aubigendo  eam  non  conipreatit,  so  kann  er  eine 
Andere  wählen.  War  aber  die  Ehe  in  dieflem  Sinne  schon  perfect  geworden,  bo  stand  es  ihm 
dennoch  frei,  mit  Hinterlegung  einer  Geldbuäse  die  Ehe  wieder  rückgängig  zu  machen.  ,  Rechts« 
epmch:  Hat  etn  Mann  zxx  seiner  Ehefrau  ,dü  bist  nicht  mehr  meine  Frau*  genagt,  so  aoll  er 
«ine  halbe  Silbormine  »ahlen.*  Bestimmt«  Vergehen  von  Seiten  der  Frau,  welche  un«  leider 
nicht  n^lher  bezeichnet  werden,  gestatteten  dem  Manne  die  Verstoa^ung  der  Ehefrau  in  tehr 
entehrender  Form.  E»  lH^st  sich  vermuthen^  daae  Ehebruch  von  ihrer  Seite  die  Ursache  hier* 
für  abgegebftn  haben  musä.  «Ihre  Verstossung  hat  er  auf  dem  pasaur  ausgesprochen«  und  eu 
ihrem  Vater  hat  er  sie  zurückkehren  lassen. ...  Er  bat  ihr  seine  Verstossungsurkunde  über- 
I  geben,  er  hat  dioselbe  an  ihren  Rücken  geheftet,  und  sie  sodann  aus  dem  Hause  gejagt.  In 
Ploü-HurtoU,  Das  Weib.    6.  Aufl.    I.  36 


562  ^I^-  I>ie  Sbe. 

allen  Fällen  wird  der  Ehemann  sein  Kind  bei  sich  überwachen  d&rfen,  doch  darf  er  jime  nickt 
weiter  belästigen.  Hierauf,  da  sie  zur  Hure  geworden,  wird  man  sie  auf  dar  Strasse  anlgraiffls 
und  mit  sich  fortführen  können.  Wo  es  am  besten  ihr  passend  wird,  darf  sie  ihr  HureDgewsrbe 
betreiben.  Als  Hure  wird  sie  der  Sohn  der  Strasse  zu  sich  nehmen  dürfen.  Ihre  Brost... 
Ihr  Vater  und  ihre  Mutter  sie  nicht  wieder  anerkennen  sollen.* 

Der  Vorgang  der  Scheidung  war  bei  den  alten  Israeliten  zur  Zeit  des  noch 
bestehenden  Tempels  sehr  umständlich.     Es  gab  verschiedene  ScheiduDgegrfinde: 

Der  Mann  konnte  klagen,  wenn  die  Frau  Leibesfehler  hatte,  die  den  Beischlaf  hindeitsn, 
wenn  sie  in  der  Führung  des  Hauswesens  oder  sonst  gegen  die  jüdischen  Gesetse  reratifiai, 
wenn  sie  ein  unsittliches  Leben  fahrte  oder  des  Ehebruchs  überfahrt  wurde,  wenn  sie  die 
Schwiegereltern  beschimpfte  oder  die  ehelichen  Pflichten  verweigerte,  endlich,  wenn  sie  idm 
Jahre  kinderlo»  blieb.  Andererseits  konnte  die  Frau  klagen,  wenn  der  Mann  die  ehelidisn 
Pflichten  versagte,  wenn  er  sie  tyrannisch  behandelte,  von  widerlicher  oder  ansteckender 
Krankheit  befallen  war,  ein  verachtetes  Gewerbe  erg^ffen  hatte,  wenn  er  eines  Verbrechsn 
wegen  flüchtig  geworden  war,  und  schliesslich  wenn  er  sich  zur  ehelichen  Pflicht  anf&hig  zeigte. 

Anders  war  es  allerdings,  wenn  es  sich  um  eine  Ehefrau  handelte,  die  bereits 
als  Unmündige  verheirathet  worden  war.  Hier  heisst  es  in  den  Erläuterungen  zn 
dem  Traktate  Berakhöth  des  Babylonischen  Talmud: 

„Jedes  unmündige  Mädchen,  welches  ihren  Vater  früh  verloren  und  durch  die  Mutter 
verheirathet  wurde,  kann  bei  reiferem  Alter  sich  weigern,  bei  diesem  Manne  zu  bleiben,  und 
darf  denselben  verlassen  und  einen  anderen  heirathen,  ohne  dass  er  nGthig  habe  ihr  einen 
Scheidebrief  zu  geben,  weil  die  Verheirathung,  welche  durch  die  Mutter  entstanden,  als  un- 
gültig betrachtet  wird.  Anders  verhält  es  sich,  wenn  der  Vater  seine  unmündig^  Tochter 
verheirathet  hat,  dann  ist  im  Weigerungsfalle  ein  Scheidebrief  nöthig/     fPinner.J 

Die  chinesischen  Bestimmungen  über  die  Ehescheidung  waren  nach  den 
Vorschriften  des  Confudus  folgende: 

ungehorsam  gegen  die  Eltern  des  Mannes,  Unfruchtbarkeit,  Ehebruch,  Abneignng  oder 
Eifersucht,  böse  Krankheit,  Schwatzhaftigkeit,  Diebstahl  an  des  Mannes  Eigenthum.  In  drei 
Fällen  durfte  der  Mann  die  Frau  nicht  Verstössen:  1.  wenn  ihre  Eltern,  die  zur  Zeit  der  Ver- 
heirathung  noch  lebten,  gestorben  sind,  2.  wenn  sie  die  dreijährige  Trauer  um  des  Mannet 
Eltern  getragen   hat,    3.  wenn  sie  erst  arm  und  niedrig,   jetzt  aber  reich  und  angesehen  iit 

Erst  durch  einen  Erlass  des  Staatsrathes  vom  5.  Mai  1873,  berichtet  Hering^  hat  die 
Frau   das    Recht,    unter  Beistand   des  Vaters    oder   eines  Verwandten  vor  dem   Richter  aut 

Scheidung  klagbar  zu  werden. .Nach  der  ofüciellen  Statistik   kamen  im  Jahre 

1884  auf  100  Khcschliessungen  38,2,  1885  43,7,  1886  38,3  Ehescheidungen.  Allerdings  ist  e« 
möglich,  dass  die  Zahlen  der  Statistik  nicht  ganz  richtig  sind.  Aber  sie  scheinen  uns  eher 
noch  zu  niedrig  zu  sein,  da  die  Ehen  gewöhnlich  erst  sehr  spät  angemeldet  werden  und  daher 
viele  Ehen  wieder  geschieden  werden,  bevor  sie  als  geschlossen  angemeldet  waren,  also  in 
den  statistischen  Tabellen  gar  nicht  berücksichtigt  sind/ 

Der  Japaner  kann  sich  ohne  besondere  Gründe  von  seiner  Frau  trennen 
und  er  darf  sich  danach  so  oft  wieder  verheirathen,  als  er  will,  nur  nicht  mit 
der  leiblichen  Schwester  der  Frau  oder   mit  der  Schwester  einer  Yorigen   Gattin. 

Auf  den  Maria nen  dauert  die  Ehe  nur  so  lange,  als  beide  Ghitten  es 
wollen.  Ist  der  Mann  nicht  unterwürfig  genug,  so  yerlässt  ihn  die  Gattin  und 
geht  zu  ihren  Eltern,  die  dann  über  des  Mannes  Eigenthum  herzufallen  pfl^en 
und  dasselbe  zerstören.  Will  auf  den  Pelau-Iuseln  sich  der  Mann  von  seiner 
Frau  trennen,  so  schickt  er  sie  einfach  fort.  Ihr  folgen  die  Kinder,  die  von  der 
Mutter  den  Stand  erben.  (Kubary.)  Behandelt  auf  den  Gilbert- Inseln  der  jange 
Ehemann  seine  Frau  schlecht,  so  kann  der  Adoptivvater  derselben  sie  wieder  zu- 
rückverlangen und  die  Ehe  ist  dann  aufgelöst.     (Parkinson.) 

Auf  den  südöstlichen  Inseln  des  malayischen  Archipels,  von  denen  ans 
der  schon  so  oft  citirte  Riedel  so  vortreffliche  Schilderungen  geliefert  hat,  herr- 
schen in  Bezug  auf  die  Ehescheidung  sehr  verschiedenartige  Gebräuche.  Auf  Buru 
findet  eine  Ehescheidung  überhaupt  nicht  statt,  und  wenn  die  Frau  den  Mann 
verlässt,  so  sind  ihre  Verwandten  verpflichtet,  sie  ihm  wieder  zurückzubringen. 
Auf  den  meisten  anderen  Inseln  ist  der  hauptsächlichste  Grund  für  eine  Trennung 
der  Ehe  Untreue  von  Seiten   der  Frau   oder  auch   wohl   von  Seiten   des  Mannes 


144.  Die  Ehescheidung.  563 

(Serang).  Nächstdem  bildet  Misshandlung  der  Frau  einen  Scheidungsgrund,  und 
zwar  hat  der  Mann  dann  im  Gegensätze  zu  der  vorhergenannten  Ursache  keinen 
Anspruch  auf  eine  Rückerstattung  des  Brautschatzes.  Im  Oegentheil,  er  muss  die 
Geschenke  wieder  herausgeben,  die  er  bei  der  Hochzeit  von  den  Anverwandten 
der  Frau  erhalten  hat,  er  muss  ihnen  die  Kosten  zurückerstatten,  welche  die  Hoch- 
zeit verursacht  hat  (Ambon),  und  muss  ihnen  sogar  eine  Busse  bezahlen  (Leti, 
Moa  und  La  kor). 

Auf  den  Tanembar-  und  Timorlao-Inseln  darf  die  Frau  auch  dann  alles 
Gut  an  sich  nehmen,  was  sie  während  der  Ehe  erworben  hat,  und  die  Kinder 
verbleiben  ihr,  während  auf  den  Aru- Inseln  die  Kinder  bei  Ehescheidung  dem 
V^ater  folgen.  Auch  bei  dauerndem  häuslichem  Unfrieden  kann  die  Scheidung 
ausgesprochen  werden  (Ambon,  Leti,  Moa,  Lakor).  Die  Frauen  auf  Serang 
oder  Nusaina  dürfen  die  Scheidung  beantragen  bei  Impotenz  des  Mannes,  oder 
wenn  letzterer  mit  seinen  Schwiegereltern  in  dauerndem  Streite  lebt.  Die  Schei- 
dung wird  hier  von  den  Aeltesten,  auf  Leti,  Moa  und  Lakor  von  der  Familie, 
auf  den  Seranglao-  und  Gorong-Inseln  von  den  Häuptern  und  Geistlichen  aus- 
gesprochen. Auf  letzteren  geben  sie  dann  den  Scheidebrief,  vertheilen  den  Besitz 
und  die  Kinder,  lassen  aber  die  Scheidung  nicht  zu,  wenn  die  Gründe  nicht  sehr 
gewichtig  sind.  Eine  Wiederverheirathung  einer  geschiedenen  Frau  darf  nicht 
vor  dem  135.  Tage  stattfinden,  und  bis  zu  diesem  Termine  gehört  sie  noch  dem 
Manne  und  muss  von  ihm  unterhalten  werden. 

„Ehescheidungen  sind  in  Java  ohne  grosse  Schwierigkeit  zu  bewerkstelligen. 
Eine  geschiedene  Frau  darf  sich  jedoch  erst  nach  drei  Monaten  und  zehn  Tagen 
wieder  verheirathen.  Wollen  zwei  geschiedene  Gatten  sich  später  wieder  ver- 
einigen, so  kann  dies  gesetzlich  erst  dann  geschehen,  wenn  die  Frau  mittlerweile 
sich  einen  anderen  Mann  genommen  hat,  von  dem  sie  sich  scheiden  lassen  muss. 
Wird  sie  von  diesem  Manne  schwanger,  so  muss  sie  zuerst  ihre  Niederkunft  ab- 
warten und  kann  erst  nach  dieser  sich  wieder  verheirathen.*     (Müller,) 

Bei  den  Kaff  er  n  ist  die  Ehescheidung  überall  üblich  und  wird  oft  wegen 
geringfügiger  Ursachen  ins  Werk  gesetzt.  [Merenshj.)  Auch  unter  den  Bet- 
schuunen  kann  der  Mann  die  Scheidung  leicht  ausführen,  doch  muss  er  für  den 
Unterhalt  der  Geschiedenen  sorgen,  falls  diese  nicht  schuldig  befunden  wird.  Bei 
den  Kassanga  in  Afrika  wird  die  Scheidung  durch  eine  einfache  Mittheilung  an 
den  ältesten  Oheim  der  Frau  bewirkt,  der  nun  die  letztere  von  neuem  verkaufen 
kann.  Je  öfter  also  eine  Scheidung  erfolgt,  desto  einträglicher  erweist  sich  der 
Besitz  einer  Nichte,  denn  der  Kaufpreis  wird  dem  sich  scheidenden  Gatten  nicht 
zurückerstattet.  (Schute,)  Es  kann  nach  Reichard  bei  den  Wanjamuesi  die 
Scheidung  durch  den  Häuptling  herbeigeführt  werden,  wenn  genügende  Gründe 
für  dieselbe  vorhanden  sind,  z.  B.  wenn  die  Frau  keine  Kinder  bekommt,  wegen 
Ehebruchs,  wegen  Syphilis,  oder  wenn  sich  beide  Gatten  nicht  vertragen  können, 
oder  wenn  die  Frau  den  Mann  böswillig  verlässt.  In  allen  Fällen  jedoch,  sei  der 
Mann  oder  die  junge  Frau  der  schuldige  Theil,  muss  das  Brautgeld  dem  Manne 
zurückerstattet  werden. 

Auch  die  Eskimo  kennen  die  Ehescheidung.  Darüber  berichtet  v.  Norden- 
shjöld: 

, Zuweilen  wird  die  Ehe  ein  halbes  oder  auch  ein  ganzes  Jahr  nach  der  Verheirathung 
wieder  gelöst.  In  solchem  Falle  entfernt  sich  der  Mann  Abends  von  der  Frau  ohne  ihr  ein 
Wort  zu  sagen,  worauf  diese  sich  am  folgenden  Morgen  dem  Anschein  nach  heiter  und  bei 
guter  Laune  wieder  zu  ihren  Eltern  zurflckbegiebt.  Kommt  der  Mann  nachher  in  ihren 
Wohnort,  so  zeigt  sie  sich  gern  einige  Augenblicke  in  voller  Festkleidung.  Auch  die  neuver- 
beiratheie  Frau  verlässt  ihren  Mann  bisweilen  allen  Ernstes,  besonders  wenn  sie  gegen  eine 
der  Frauen  seiner  Umgebung  einen  Hass  gefasst  hat.  Aber  nachdem  ein  Kind  geboren  worden, 
zumal  wenn  es  ein  Knabe  ist,  findet  eine  Trennung  nicht  mehr  statt* 

86* 


XX.  Das  Weib  im  Zustande  der  Befruchtung. 

145.  Die  Zeugung. 

Es  bedarf  niclit  erst  einer  besonderen  Erwähnung,  dass  f&r  die  Erhaltimg 
und  die  Fortpflanzung  des  menschlichen  Geschlechts  das  Weib  in  ganz  erheblicher 
Weise  mehr  in  Anspruch  genommen  wird  als  der  Mann.  Während  der  letzten 
dem  jungen  Keime  des  neuen  Individuums  nur  die  Fähigkeit  der  Entwickelnn^  in 
kurzem,  einmaligem  Acte  überträgt,  ist  das  Weib  berufen,  im  Inneren  ihres  Leibes 
ihm  das  schützende  Nest  zu  gewähren,  in  welchem  er  wachsen  und  einen  be- 
stimmten Grad  der  Reife  erreichen  kann,  von  ihrem  Blute  ihm  die  Materialieo 
zuzuführen,  die  er  zu  seinem  Wachsthum  nöthig  hat,  und  wenn  er  endUch  nach 
monatelanger  Verborgenheit  das  Licht  der  Welt  erblickte,  ihm  mit  dem  wichtigsten 
Produkte  ihres  Körpers,  der  Milch,  noch  lange  Zeit  hindurch  die  ausschliesaliche 
Nahrung  darzubieten.  Alle  diese  wichtigen  Functionen  fallen  in  die  Periode  der 
vollsten  Körperkraft  und  der  Höhe  der  Entwickelung  des  weiblichen  Qeachlechts. 
unter  normalen  Verhältnissen  wenigstens,  und  fast  zwei  volle  Jahre  veretreicheiL 
und  gar  nicht  selten  sogar  noch  mehr,  um  einem  einzigen  Keime  das  aUes  lu 
leisten,  was  ich  soeben  entwickelt  habe.  Hierbei  ist  es  ja  auch  noch  das  Ge- 
wöhnliche, dass,  wenn  die  erwähnte  Leistung  für  ein  neues  Individuum  soeben 
ihren  Abschluss  erreicht  hat,  bereits  ein  anderer  frisch  befruchteter  Keim  die 
gleichen  Ansprüche  an  die  Mutter  stellt.  Es  ist  daher  durchaus  in  der  Ordnung, 
dass  ich  in  diesem  von  dem  Weibe  handelnden  Werke  den  besprochenen  Zu- 
ständen und  Thätigkeiten  eine  ganz  ausführliche  Berücksichtigung  zu  Theil 
werden  lasse. 

Erst  seit  Swammerdam  (f  1685)  weiss  man,  dass  zur  Befruchtung  der  Contact 
des  Eies  mit  dem  männlichen  Samen  nöthig  ist,  seit  SpaUaneani  (1768)  kennt 
man  die  Befruchtungskraft  der  Samenfaden,  seit  du  Barry  (1850)  das  Eindringen 
derselben  in  das  Ei,  in  dem  dann  eine  Zellenbildung  vor  sich  geht 

Ganz  neuerdings  weiss  man  nun  auch  durch  den  wunderbaren  Process  der 
Karyokinese,  der  Zellkernbewegung,  wie  auch  der  männliche  Keim  nicht 
nur  den  weiblichen  zur  Zellenneubildung  und  zum  Wachsthum  veranlasst,  sondern 
wie  er  selber  an  diesen  Wachsthumsprocessen  einen  ganz  thätigen  Antheil  nimmt, 
was  besonders  Waldoyer"^  und  Hertwig  sehr  übersichtlich  auseinandergesetzt  haben. 
Wir  müssen  in  dieser  Einverleibung  von  Formelementen  des  väterlichen  Organismus 
in  diejenigen  des  Sprösslings  ohne  allen  Zweifel  die  eigentliche  organische  Orond- 
läge  finden  für  die  ja  allgemein  bekannte  Thatsache,  dass  nicht  allein  die  Eiflen- 
schafteu  der  Mutter,  sondern  auch  diejenigen  des  Vaters  auf  die  Nachkommensäaft 
übertragnen  werden. 

Wie  die  Zeugungslehre  auch  heute  noch  viele   problematische  Punkte 
hält,  so  galt  Zeugung  von  jeher  bei  allen  Völkern  als  ein  Mysterium, 


145.  Die  Zeagung. 


56Ö 


Losung  man  kaam  enträthselo  kann.  Welchen  Antbeil  nimmt  der  Mann,  welchen 
das  Weib  an  der  Erzeugung  eines  neuen  Indinduums,  und  wie  sind  beide  im 
Stande^  körperliche  und  geistige  Eigenschaften  auf  ihre  Nachkommen  zu  übertragen, 
das  ist  von  jeher  die  Frage  gewesen.  Und  überall  dort,  wo  sich  eine  primitive 
Wissenschaft,  wo  sieh  die  ersten  Ansätze  und  Anfange  der  Philosophie  und  Natur- 
lehre zu  zeigen  begannen,  suchte  man  durcli  Nachdenken  and  durch  Aufteilung 
einer  Zeugungstheorie  diesem  Problem  auf  die  Spur  zu  kommen.  Dass  dabei 
manches  Absonderliche  zu  Tage  trat,  das  wird  uns  nicht  überraschen  können. 

Nach  der  Anschauung  der  Talmudiaten  sind  es  drei  Faktoren,  welche  an 
hHer  Bildung  des  Embryo  betheiligt  sind: 

^^"  ,Der  Vater   liefert  den  weiasen   Samen,    aus  welchem  die  Knochen,    das  Gehirn  und 

1  die  weissen  Theile  des  Auge«^  enUteheo;  die  Mutter  giebt  den  rothen  tarnen  her  enr  Bildung 
I  von  Haut,  Fleiicb,  Haaren  und  der  Kegonbogenhaut;  den  Ätbem  dagegen,  das  Fneunia,  welches 
I  GeflichtÄausdnick,  Gesicht,  Gehör»  Sprache,  Bewegung,  Verstand  und  Auffawangavermögen  be- 
I      dingt,  fögt  dann  die  Gottheit  selbst  hinzu/    (Kazendmn.) 

^^  Die  Anacbauungen  der  alten  Inder  werden  uns  durch  Susruia  überliefert: 

^^m  «B^im  Beuchlaf  geht   durch   den  Yaju  (den  Hauch)  die   Knergeia  aus  dem  Körper, 

^^ann  ergieast  sieh  durch  die  Vereinigung  der  Energeia  mit  doiu  Vayu  der  mannliche  Samen 
in  die  weiblichen  Geschlecbts theile  und  vermischt  sich  mit  dem  monatlichen  Geblüte;  darauf 
gelangt  der  werdondo  Embr>'o  durch  die  Verbindung  des  Agni  (Gott  des  Feuere)  mit  dem 
Sonia  (die  Mondgottheit  als  Zeugende)  in  den  Uteruif.  Zugleich  mit  dem  £mbryo  geht  auch 
die  Seele  in  den  Uterus,   b«>gabt  mit  göttlichen   und  dämonischen  Eigenschaften/     fVnUen.) 

^-  Aus    den    wissenschaftlichen    Büchern    der   Tamulen    lernen    wir   auch    die 

^^Physiologie  (tatva-sastra  geuannt)  der  Hindus  kennen  (Schafu);  unter  den  fünf 
^H)rganen  der  Thätigkeit  gelten  ihnen  die  letzten  derselben^  die  Qescblechtstheilef 
^Blä  Organf»  der  Absonderung  und  der  Zeugung;  nach  ihrer  mystischen  Auflassung 
'  ^spiegelt  sich  Alles,  was  im  Makrokosmus,  d.  k  in  der  Welt^  sich  vorfindet,  auch 
im  Mikrokosmus,  d.  h.  im  menschlichen  Leibe,  ab;  die  mittlere  Region  des  letzteren 
wird  als  eine  Lotosblume  dargestellt  und  hei  der  Anbetung  dreien  von  den  weib- 

Khen  Energien  (Saldis)  zugeschrieben. 
Nach  des  Uippokrates  Ansicht  geht  die  Befruchtung  im  Uterus  vor  sich 
Igpli  Vermischung  des  männlichen  und  weiblichen  Samens^  ohne  dass  das  Men- 
Tiationsblut  dabei  betheiligt  ist*  Ist  aber  die  Befruchtung  geschehen,  so  treten 
die  Katamenien  in  den  Uterus  und  zwar  nicht  monatlich,  sondern  jeden  Tag  und 
werden  %\x  Fleisch,  und  so  wächst  das  Kind. 

Nach  der  Hippokratischen  Theorie  bildet  das  Weib  ebensowohl  Samen,  als 
der  Mann.  Der  Keim  enUteht  beim  Zusammentreffen  männlichen  Samens  mit  dem 
weiblichen,  und  die  Aehnlichkeit  des  erzeugten  Geschöpfes  mit  den  Erzeugern 
rührt  daher,  dassi  der  Same,  von  allen  Theilen  des  Körpers  geliefert,  eine  Art  von 
repräsentativem  Extract  des  letzteren  darstellt.  Diese  jedenfalls  schon  vor  Hippo* 
.  krates  (nach  Flutarch  schon  bei  Pythagorm)  geltende  Theorie  wurde  namentlich 
I  Ton  Aristoteles  bekämpft;  er  selbst  aber  behauptete,  dass  das  Männchen  den  An- 
k^oss  der  Bewegung  (do/q  rij^  nivifjöeio^)  giebt,  das  Weibchen  aber  den  Stoff. 
^HUs  den  Stoff  beitrag,  welchen  das  Weib  an  das  Erzeugniss  abgiebt»  sieht  Aristoteles 
die  Katamenien  an.  und  es  ist  bekannt,  wie  er  bereits  die  Menstruation  des 
menschlichen  Weibes  mit  den  Blut-  und  Schleimabgängen  parallelisirt  hat,  welche 
zur  Zeit  der  Brunst  bei  Tbieren  beobachtet  werden.  Die  Zeugung  vergleicht  er 
mit  der  Gerinnung  der  Milch  durch  Lab,  bei  welcher  die  Milch  den  Stoff,  das  Lab 
aber  das  Princip  der  Gerinoung  abgebe.  Uippokrates  meinte  also,  dass  im  Samen 
gleich  '^  j mische  und  dan  "      '        ^p  enthalten  sei;  Aristoteles  hin* 

^gen  vii,  ihm  nur  das  dyu  (i/'V,> 

Galentm  bekämpft  des  AristateUs  Ansicht,   aber  „das  Durchlesen  seiner  Ab- 
handlung/ aagt  //i>,  vbinterlässi  trotz  mancher  vortrefflichen  Beobachtungen  und 


5f3ß  XX.  Das  Weib  im  Zustande  der  Befrachtung. 

Bemerkungen   den   peinlichen   Eindruck,   den  wir   empfinden,    wenn   uns  ein  be- 
deutendes thatsächliches  Material   in  gekünstelter  Verknüpfung  vorgeftihrt  wird.* 

Die  Aerzte  der  Araber  gingen  in  ihrer  Zeugungstheorie  wieder  auf  ArisUh 
fdffH  zurück.  Einer  derselben,  Averro'es^  welcher  1198  in  Marokko  starb,  er- 
klärt die  Ovarien  als  die  Hoden  der  Weiber;  bei  der  Zeugung  seien  sie  unbe- 
theili^  und  nie  stellten  verkümmerte  Organe  dar,  ebenso  wie  bei  den  Männern 
die  Brüste.  Der  Embryo  werde  durch  das  Menstrualblut  ausgebildeti  seine  Form 
jedoch  bedinge  hauptsächlich  der  männliche  Same  durch  seinen  Luftgeist.  Daher 
bezweifelte  er  auch  nicht,  dass  eine  Frau  in  einem  Bade  geschwängert  werden 
könnte,  worin  vor  Kurzem  ein  Mann  eine  Pollution  gehabt  habe.  Diese  letztere 
Beliuuptung  wurde  noch  in  unserem  Jahrhundert  in  England  Gegenstand  einer 
gerichtsär/tlichcn  Discussion. 

Auch  in  den  Gülten  verschiedener  Völker  spielt  die  Zeugung  eine 
inyHtiHche  Itolle.  Ich  führe  einige  Beispiele  an.  Bei  den  Schiwaiten,  welche 
die  Hclireckliche  lihavani  verehrten  (man  vergleiche  Fig.  103),  gilt  die  Zengang 
selbst  als  eine  theilweise  oder  gänzliche  Zerstörung;  mit  der  Geburt  ist  der  Tod 
eng  verbunden;  daher  ist  die  lihavani  zugleich  die  Göttin  der  Wollust,  der  Zer* 
Störung  und  des  Todes.  Im  Lamaismus  haben  alle  organischen  Wesen  eine 
doppelte  Seele;  die  eine  derselben  wird  die  denkende  Seele,  die  andere  das  Leben 
genannt,  .lene  hat  keinen  bestimmten  Sitz,  irrt  durch  alle  Glieder  und  kommt 
erst  bei  der  Geliurt  in  den  Menschen,  das  Leben  aber  schon  bei  der  Empfangniss. 
Dagegen  liegen  nach  der  Ansicht  der  Khond^s  in  Indien  im  Menschen  Tier 
Seelen:  die  erste  ist  die  der  Seligkeit  fähige  Seele,  die  zu  Gott  {JBoura)  zurGck- 
k<^hrt,  die  zweite  gehört  dem  besonderen  Stamme  auf  der  Erde  an  und  wird 
innerhalb  desselben  wiedergeboren,  weshalb  der  Priester  bei  der  Geburt  jedes 
Kindes  zu  erklären  hat,  welches  der  Faniilienglieder  in  demselben  zurückgekehrt 
sei;  die  dritte  hat  die  in  Folge  der  Sünden  als  Strafe  verhängten  Leiden  zu  tragm, 
die  vierte  ist  die,  welche  mit  der  Auflösung  des  Körpers  stirbt.  {JBastian  nach 
Macpherson.) 

Es  ist  ])ei  ims  auf  dem  Lande  noch  eine  weit  verbreitete  Ansicht,  dass  zu 
einer  Schwängerung  die  beiderseitige  Voluptas  unumgänglich  nothwendig  sei,  weil 
nur  auf  diese  Weise  die  männliche  mit  der  weiblichen  ,,Natur*  zusammenzutreffen 
vermöge,  und  wenn  einem  Manne  Zwillinge  geboren  werden,  so  lässt  er  sich  im 
Gefühle  seiner  Mannestüchtigkeit  gerne  necken,  dass  er  „ebenso  tüchtig  wie  fleissig 
gewesen".  Je  grösser  die  Aufregung,  desto  grösser  ist  nach  dem  Volksglauben 
die  Aussicht  auf  einen  Buben.  Das  letztere  hat  nun  allerdings  gewisse  That- 
sachen  ftlr  sich,  wenn  nämlich  die  erwähnte  Aufregung  auf  Seiten  der  Frau  sich 
befindet.  Aber  auch  ohne  Erregung  der  Frau  kann  eine  Schwängerung  zu  Stande 
kommen;  das  wird  durch  eine  Anzahl  von  Nothzüchtigungsföllen  bewiesen,  welche 
an  Bewusstlosen  vorgenommen  waren. 

Dass  zu  der  Zeugung  das  Eindringen  des  männlichen  Sperma  in  den  Genital- 
apparat der  Frau  ein  nothwendiges  Erfordemiss  ist,  das  wissen  auch  die  wilden 
Völker  ganz  genau,  und  manche  von  diesen,  die  sogar  noch  auf  sehr  niederer 
Culturstufe  sich  befinden,  wissen  hiernach  ihre  Vorkehrungen  zu  treffen.  Dahin 
gehört  z.  B.  die  Mika-Operation,  welche  bestimmte  Stämme  Australiens  an  ihren 
jungen  Leuten  ausführen  und  welche  darin  besteht,  dass  sie  mit  einem  Messer  aus 
Feuerstein  ihnen  die  Harnröhre  von  der  Eichelspitze  bis  zum  Hodensack  aufspalten 
und  die  Wiedervereinigung  zu  verhindern  wissen.  Bei  der  geschlechtlichen  Ver- 
einigung kommt  dann  der  Ausfluss  des  Samens  ausserhalb  der  weiblichen  Ge- 
schlechtstheile  zu  Stande.  Bei  den  oben  erwähnten  Orgien,  welche  bei  Braut- 
werbungen der  Basutho  die  zu  diesem  Zwecke  abgesandten  jungen  Manner  mit 
den  Freundinnen  der  Braut  zu  veranstalten  pflegen,  spricht  das  sich  hingebenis 
Mädchen  dem  «lünglinge  immer  nur  die  Bitte  aus:  „Verdirb  mich  nicht,*  d.li«  va* 
hüte  eine  Schwängerung;   und  von  den  Jünglingen  der  Massai,   welche  i 


146.  Die  EnipfängnUs. 


567 


blädcben  freien  Verkehr  haben,  bei  denen  aber  eine  Schwangerschaft  die  unab- 
Fwendbare  Tödtung  des  Mädchen  zur  Folge  haben  wUrde,  berichtet  Thompson, 
Idass  sie  ante  ejacuhitioneni  den  Penis  extrahiren. 


14G«  Die  Empfäugniss. 

Durch  den  Physiologen  Bisehoff  wurde   in   unserem  Jahrhundert  die  Lehre 
Indet,   dasg  bei  Jeder  Menstruation  ein  reifes  Ei  aus  dem  platzenden  Follikel 
Eierstockefl    eich    loslöst    und    durch    die    Muttertrompete    in    die    Hohle   der 
■Gebärmutter  gelangt.     Und    aus   diesem    Grunde   sei   auch    die   Empfanguiss,    die 
»Conception,  um  so  sicherer  zu  erwarten,  wenn  der  Beischlaf   zu   der  Zeit  erfolgt, 
wo  die  Menstruation  herannaht,  oder  wo  sie  noch  nicht  lange  vorüber  ist.    Reichert r 
KtwfJrat,  EfKjeltnann  und  Ahlfeld  waren  nicht  der  gleichen  Meinung,  sondern  sie 
behaupteten,    dass    das  Ei   nur   befruchtet  werden  könne,    welches   sich  lost  kurz 
ivor  der  Zeit,    wo  die  Blutung  wiederkehren    sollte.     Ist   die    Befruchtung   einge- 
treten,  dann  bleibt  die  Blutung  aus,   weil  die  gelockerte  Gebännuttersehleitnhaut^ 
die  Decidua  menstrualis  nun  zur  Schwangerscbafts-Decidua  sich  ausbildet.    Manche 
Erscheinungen  sprechen  für  diese  Einwürfe*     So  vermochte  Leopold  nachzuweisen, 
dass  die  Loslösung  der  Eier  vom  Eierstocke  auch  in  der  menstruationsfreien  Zeit 
vor  sich  gehen  kdnne;    demnach  knüpfe   sich  die  Befruchtung  nicht  au  den  Zeit- 
punkt der  Menstruation,     Jieigel  imd  Andere  hatten  dieses  auch  schon  behauptet 
und  sie    stützten    sich    auf  die  Thatsache,    dass   die    orthodoxen   Jüdinnen    sehr 
ifruchtbar    sind,    obgleich    ihnen  (nach   Mosen  3,   15.    18.    19.)   bei  der  Menstruation 
peizu wohnen  verboten  ist,  und  obgleich  ihnen  als  Todsünde  (nach  Mischna,   Tractai 
lidila  7)  angerechnet  wird,  in  kür/.erer  Frist,  als  nach  sieben  reinen  Tagen  nach 
Aufhören  des  Blutflusses,  mit  ihrem  Manne  Umgang  zu  pflegen. 
Auf  die  Erörterung  dieser  Streitfrage  kann  ich  mich  hier  nicht  weiter  ein- 
en,   aber    ich  werde    in  Folgendem  zeigen,    welche  Anschauungen  hierüber  in 
alter  und  neuer  Zeit  bei  den  Völkern  zu  Tage  treten. 

Einige  alt-indische  Aerzte  rechneten  den  Beginn  der  Schwangerschaft  von 
der  letzten  Menstniation  an;  sie  rathen,  um  eine  Conception  herbeizuführen: 

«Mau  nbe  don  IJeischliif  immer  niich  Ablauf  der  Mooaet  aat,  wenn  der  Ta^  vorüber 
iflt  uad  der  Lotus  sieh  schliefst.* 

SuSruta  dagegen  behauptete: 

„Die  Zeit  der  Zeugung  ut  die  zwölfte  Nacbt  nach  dem  Erscheinen  der  Menses.* 

Die  Aerzte  der  Griechen  und  Römer  knüpften  die  Empfangniss  gleichfalU 
an  den  Zeitpunkt  der  Menses.     HippoJcraies  (De  geoitura)  sagt: 

^tlao  nenipc  poH  inenstTuam  pargationem  ntero  concipiont/  AfUMtUä:  .Pleratque 
poat  mensium  fluxum,  oaüntillas  vera  fluentibus  adhuc  menstruis.*  Galenui:  ,Uoc  aatetn 
oncepüonis  teiDpua  est  vel  incipientibu»  vol  cessantibus  meoetrais.* 

Sorantis  sagt,  dass  die  Zeit  nach  der  Menstruation  die  geeignetste  fßr  die 
Smpfangnisfi  sei,  denn  kurz  vorher  ist  der  Uterus  von  dem  Menstrualblute  zu 
erschwert;    er   leugnet   aber  nicht,    dass    die   Frauen   auch  zu   anderer  Zeit  con- 

Bipiren  können. 

Der  Talmud  (Israels}  vertritt  schon  die  Ansicht,  dass,  wenn  der  Zu-  '  '  r 
venitalien    oder   auch  die  Beschafi'enheit  des  Samens    eine  Ejaculation   ui  u 

:iachen,  der  Coitus  in  Rücksicht  auf  eine  Empfangniss  als  erfolglos  betrachtet 
rerden  inuss.  Ein  Beischlaf  mit  gewöhnlicher  Erection  könne  aber  befruchtend 
rirkeu,  selbst  wenn  eine  Immissio  penis  in  die  Vagina  nicht  stattgefunden  habe. 
Luch  sei  e»  ^.,    dass   weibliche  Individuen,    auch  ohne  den  Coitus  ausgeübt 

tu  httbeü,  tJ'  ?chwanf:rpr  werden  könnten,  wenn  sich  in  einem  Bade,  das  sie 

^ehmen,  Kufullig  frisch  ;  '»^rter  Same  eines  männlichen  Individuums  befindet, 

erste   r-^n^    fiinc.  ^..^a    ist   aber    nach   dem  Talmud   niemals  von  einer 


5()8  ^X.  Das  Weib  im  Zastande  der  Befrachtang. 

Schwangerschaft  gefolgt.  Einer  ganz  analogen  Anschauung  sind  wir  bei  den 
Viti-Insulanern  begegnet. 

Die  Möglichkeit  der  Schwängerung  durch  einen  Goitus  w&hrend  der  Hen- 
struation  wird  von  den  Talmudisten  anerkannt;  die  Gonception  findet  am  1^  2. 
oder  H.  Tage  nach  dem  Coitus  statt,  und  gewöhnlich  kurz  vor  dem  Eintritt  oder 
bald  nach  dem  Ablauf  der  Menstruation.  Dass  ein  im  Stehen  ausgeübter  Coitns 
für  unfruchtbar  gehalten  wurde,   haben  wir  oben  bereits  gesehen.     (Wunderbar.) 

Für  die  Empfangniss  gilt  bei  den  Nayers  in  Malabar  der  4.  Tag  der 
Menstruation  als  besonders  günstig;  in  vielen  Hindu-Kasten  muss  der  Mann  an 
diesem  Tage  mit  seiner  Frau  cohabitiren,  und  er  begeht  eine  Sünde,  wenn  er  es 
unterlässt.     {Jagor,) 

Nach  der  Annahme  des  japanischen  Arztes  Kangawa  ist  die  Frau  wahrend 
der  ersten  xelui  Tage  nach  den  Menses  befruchtungsfahig,  nachher  ist  aber  diese 
Möglichkeit  vorbei.     (Miyake,) 

Die  chinesischen  Aerzte  sagen,  dass  der  Same,  welchen  sie  tsir  nennen, 
in  das  Behältniss  der  Kinder  eindringe.  Letzteres,  tse  kong  genannt,  ist  wahr- 
scheinlicli  der  Eierstock,  denn  hier  kommt  das  Sperma  mit  Bl&schen  zusammen, 
welche  als  die  Keime  zu  betrachten  sind.  Einer  dieser  Keime  wird  von  tsir  be- 
rührt und  befruchtet  und  beginnt  nun  sich  zu  entwickeln.     {Hureau.) 

In  verschiedenen  Gegenden  Deutschlands  imd  so  auch  im  Franken- 
walde glaubt  man,  dass  fiir  das  Zustandekommen  einer  Empfangpaiss  eine  starke 
Erregung  nothwendig  sei,  die  aber  bei  beiden  Theilen  gleichzeitig  eintreten  mfisse; 
und  je  nachdem  die  Erregung  rasch  und  kräftig  oder  langsam  und  schwach  er- 
folgt, unterscheidet  man  hitzige  und  kalte  Naturen  und  sagt,  sie  passen  nicht  zu 
einander.  Auch  weiss  man  hier,  wie  fast  überall,  recht  wohl,  dass  die  Unter- 
brechung des  Coitus  vor  der  Ejaculation  vor  Befruchtung  sicher  stelle.  Besorgte 
Mädchen  im  Frankenwalde  halten  oft  wiederholten  Aderlass  für  ein  Mittel  gegen 
die  Schwangerschaft,  sowohl  gegen  befürchtete,  als  auch  gegen  eine  wirklich  vor- 
handene. Auch  glaubt  man  daselbst  noch  häufig,  dass  der  Beischlaf  wahrend 
des  Monatsflusses  wie  während  der  Säugungsperiode  nicht  schwängere,  und  nur 
die  Ansicht,  dass  ein  Beiwohnen  während  der  Periode  dem  Manne  schädlich  sei, 
hindere  eine  häufigere  Enttäuschung.     {Flügel.) 


147.  Der  Einfluss  der  Jahreszeiten  und  der  socialen  Zustände  aaf  die 

Empfilngniss. 

Die  Physiologie  hat  in  dem  Vorgange,  welcher  sich  im  weiblichen  Körper 
durch  die  Menstruation,  durch  die  Ovulation,  d.  h.  durch  die  Lösung  eines  reifen 
Eichens  vom  Eierstocke,  und  durch  die  Gonception,  die  Empfangniss  kundgiebt, 
80  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem  bei  Thieren  auftretenden  Processe  gefunden,  den 
man  als  Brunst  zu  bezeichnen  pflegt,  dass  sie  meist  für  identisch  gehalten  werden. 
Allein  schon  in  der  regelmässigen,  von  der  «lahreszeit  abhängigen  Wieder- 
kehr der  Brunst  schien  ein  Moment  zu  liegen,  durch  welches  ein  wesentlicher 
Unterschied  derselben  von  der  ziemlich  gleichmässig  allmonatlich  auftretenden 
Menstruation  des  Weibes  bedingt  ist.  Es  wird  daher  von  einigem  Werthe  sein, 
an  der  Hand  der  Statistik  zu  prüfen,  ob  sich  auch  bei  der  Empfiingniss  der  Ein- 
fluss der  Jahreszeiten  bemerklich  macht.  Hierbei  wird  aber  zu  berücksichtigm 
sein,  dass  der  Wechsel  der  Jahreszeiten  nicht  nur  auf  den  weiblichen  Organismns 
einwirken  wird,  sondern  auch  auf  den  männlichen,  und  dass  der  Letztere  ui  Folge 
dessen  einen  grösseren  oder  geringeren  Appetitus  coeundi  zeigen  wird.  Und  so» 
mit  muss  die  Steigerung  oder  Verminderung  der  Gonceptionen  je  nach  den  Jahres- 
zeiten mindestens  zu  einem  grossen  Theile  durch  die  sexuelle  Erregung  des 
liehen  Theiles  der  Bevölkerung  ihre  Erklärung  finden. 


147.  Der  Einfluss  der  Jahreszeiten  und  der  socialen  Zust&nde  auf  die  Empfängniss.      569 

Im  vorigen  Jahrhundert  war  Wargentih  mit  der  Bearbeitung  einer  BevGlkerungs- 
Statistik  von  Schweden  beauftragt  worden.  Er  hat  darin  bereits  auf  die  regelmässig  all- 
jährlich wiederkehrenden  Monats-Mazima  und  Minima  der  Fruchtbarkeit  hingewiesen.  Später 
wies  dann  Quetelet  nach,  dass  meist  ein  Geburten- Maximum  im  Februar,  ein  Minimum  un- 
gefähr auf  den  Juli  traf;  seine  Beobachtungen  erstreckten  sich  besonders  auf  dio  Nieder- 
lande (1815 — 26)  und  auf  Brüssel.  Er  zeigte  auch,  dass  dieser  Einfluss  deutlicher  bemerk- 
bar ist  auf  dem  Lande  als  in  den  Städten;  das  Maximum  der  Conception  im  Mai  entspricht 
nach  ihm  der  Erhebung  der  Lebenskraft  Dach  der  Winterkälte;  auf  dem  Lande  aber,  so 
meinte  er,  finde  die  Bevölkerung  weniger  Schutz  vor  den  Unbilden  der  Witterung,  wie  in 
den  Städten. 

Villerme  fand  ebenfalls,  dass  in  Europa  das  Geburten-Maximum,  entsprechend  den 
Conceptioncn  im  Mai  und  Juni,  im  Februar  und  März  stattfindet,  und  dass  diese  Steigerung 
jedenfalls  dem  Einflüsse  des  Frühlings  zuzuschreiben  sei.  Um  nun  zu  zeigen,  dass  die  un- 
gleiche Vertheilung  der  Geburten  auf  die  verschiedenen  Monate  ganz  überwiegend  eine  Folge 
des  Einflusses  des  jährlichen  Laufes  der  Erde  um  die  Sonne  und  der  daraus  hervorgehenden 
grossen  Temperaturveränderungen  sei,  beschränkte  sich  Ft72erfitc' nicht  auf  die  europäischen 
Staaten,  sondern  er  dehnte  seine  statistischen  Untersuchungen  auch  auf  die  südliche  Hemi- 
sphilre  aus:  in  Buenos  Ayres,  wo  die  Jahreszeiten  in  derselben  Ordnung  wie  im  Norden, 
nur  zu  entgegengesetzter  Zeit  sich  folgen,  erweisen  sich  dieselben  Einflüsse  auch  auf  die  Ge- 
burten-Frequenz wirksam. 

Nach  ViUerme  haben  die  Zeiten,  in  welchen  die  Heirathen  am  häufigsten,  und  jene, 
in  welchen  sie  am  seltensten  sind,  keinen  sichtlichen  Einfluss  auf  die  Vertheilung  der  Ge- 
burten nach  Jahreszeiten.  Dagegen  zeigt  sich  ein  Einfluss  jener  Jahreszeiten,  die  man  als 
Epoche  der  Ruhe  und  Arbeitserholung  beobachtet,  und  jener,  welche  sich  durch  reichliche 
Nahrungsmittel  und  erhöhtes  gesellschaftliches  Leben  auszeichnen.  Erniedrigend  auf  die 
Häufigkeit  der  Geburten  (resp.  Conceptioncn)  wirken  die  Zeiten  der  beschwerlichen  Arbeit 
(Erntezeit),  der  Lebensmitteltheuerung,  die  strenge  Beobachtung  der  Fasten.  Und  Villerme 
kommt  dann  zu  folgendem  Schluss: 

,Die  Umstände,  welche  uns  kräftigen,  erhöhen  unsere  Fruchtbarkeit,  und  diejenigen, 
welche  uns  schwächen,  und  noch  vielmehr  die,  weiche  die  Gesundheit  untergraben,  vermindern 
sie,  womit  jedoch  keineswegs  gesagt  ist,  dass  die  Gesundheit  allein  die  Fruchtbarkeit  regelt.* 

Wappäns  hat  durch  seine  Untersuchungen,  die  sich  auf  Sachsen,  Belgien, 
die  Niederlande,  Schweden,  Sardinien  und  Chile  erstreckten,  folgendes 
gefunden : 

Das  erste  allgemein  sich  zeigende  Steigen  der  Geburtenzahl  in  den  Monaton  Februar 
und  März,  entsprechend  der  grösseren  Zahl  der  Conceptioncn  im  Mai  und  Juni,  ist  der  be- 
lebenden Einwirkung  der  Jahreszeit  zuzuschreiben.  Diese  physische  Wirkung  wird  aber 
bei  den  katholischen  Bevölkerungen  verstärkt  durch  die  mit  den  Einrichtungen  der  Kirche 
in  Beziehung  stehenden  besonderen  Sitten  und  Gebräuche.  Von  dem  Maximum  dieser 
ernten  Steigerung  an  sinkt  die  Zahl  der  monatlichen  Geburten  wieder  schnell  herab,  bis  sie 
in  den  Monaton  Juni,  Juli  und  Augast  ihr  Minimum  erreicht.  Dieses  Sinken  hat  ebenfalls 
überwiegend  einen  physischen  Grund;  es  wird  bewirkt  theils  durch  die  mit  der  Höhe  des 
Sommers  anfangende  und  allmählich  zunehmende  Erschlaffung  der  allgemeinen  natürlichen 
Productionskraft,  theils  durch  die  von  der  Sommerhitze  vielfach  erzeugten,  mehr  oder  weniger 
gefährlichen  epidemischen  Krankheiten.  Verstärkt  aber  wird  diese  natürliche  Einwirkung 
besonders  gegen  das  Ende  dieser  Periode  durch  den  den  Conceptionen  ebenfalls  nachtheiligen 
Einfluss  der  sehr  angestrengten  und  oft  selbst  wenig  nächtliche  Ruhe  zulassenden  Arbeit 
der  Erntezeit.  Beide  Ursachen  zusammen  bewirken,  dass  in  allen  Ländern  die  erste 
Senkung  der  Curve  die  tiefste  ist.  Das  Minimum  tritt  im  Norden  später  ein,  als  im  Süden, 
theils  weil  im  Süden  die  allgemeine  Erschlaffung  in  der  natürlichen  Lebenskraft  sich  früher 
einstellt,  als  im  Norden,  theils  weil  im  Norden  die  anstrengenden  Erntearbeiten  später  fallen, 
als  im  Süden.  Von  der  Mitte  des  Sommers  an,  oder  in  Schweden  vom  August  an,  steigt 
die  monatliche  Zahl  der  Geburten  aufs  Neue  und  erreicht  überall  ihr  zweites  Maximum  im 
Monat  September.  Die  Ursachen  dieses  iweiten Steigens  sind  entschieden  nicht  physischer, 
sondern  socialer  Natur.  Die  tweite  Erhebung  ist  im  Süden  und  bei  katholischen  Be- 
völkerungen im  VerhäUniM  lur  ersten  nur  gering,  im  Norden  dagegen  übertrifft  sie  die  erste, 
so  dass  in  Schweden  der  Monat  September  dai  absolute  Maximum  der  Geburten  darbietet. 
Der  Qrund  dieser  merkwttidigen  Encheiiiiiiig  ist  darin  su  suchen,  dass  im  Norden  die  die 
Beprodnetioii  begttMtigflBdeB  Kige&tMmUehkeiteii  des  Lebens  im  Winter  viel  entschiedener 


570 


XX.  Das  Weib  im  Zustande  der  Befruchtung. 


hervortreten,  als  im  Süden,  vielleicht  dass  tiusserdem  auch  die  Btrengere  Beobachtung  d« 
kirchlichen  Vorschriften  für  die  Adventszeit  bei  den  katholischen  Bev5lkertingeii  des  Sfidvi 
die  Fruchtbarkeit  des  Monats  December  beschr&nkt.  Nach  dieser  sweiten  Steigening  erfolgt 
nun  wieder  ein  zweites  Fallen  bis  zum  November  oder  December,  jedoch  nicht  ao  tief,  m 
das  erste  im  Sommer,  und  im  protestantischen  Norden  weniger  tief,  als  im  katholitehn 
Süden.  Die  allgemein  wirkende  Ursache  dieses  Fallens  ist  wohl  ohne  Zweifel  in  den  überall 
auf  die  Gesundheit  mehr  oder  weniger  ungünstig  wirkenden  üebergftngen  dee  Winters  mm 
Frühling  zu  suchen,  welche  ungünstige  physbche  Einwirkung  auf  die  Coneeptionen  in 
Februar  und  März  im  katholischen  Süden  durch  die  in  demselben  Sinne  wirkenden  auf- 
gelassenen Vergnügungen  des  Carnevals  und  die  strenge  Beobachtung  der  Fasteuzeit 
verstärkt  wird. 

,VVie  Sachsen  den  übrigen  europäischen  Staaten  gegenüber  gewiner maaaMn  sich 
verhält  wie  eine  städtische,  industrielle  Bevölkerung  gegenüber  einer  ackerbauenden,  so  drückt 
sich  in  der  die  Verhältnisse  Chiles  darstellenden  Curve  noch  potenzirt  der  Charakter  nnienr 
ackerbauenden  Bevölkerung  aus.*^ 

Sormani  hat  diese  Verhältnisse  für  Italien  studirt: 

Die  Anschwellung  der  Empfängnisszahl  tritt  im  Süden  Italiens  frühzeitig^,  im  Norden 
dagegen  erst  später  im  Jahre  ein,  so  zwar,  dass  sie  in  den  südlichsten  Gegenden  schon  anf 
den  April  trifft  und  mehr  und  mehr  sich  bis  in  den  Mai  und  Juni  verspätet,  je  mehr  man 
sich  dem  Norden  nähert,  bis  sie  schliesslich  im  nördlichsten  Theile  der  Halbinsel  auf  den  Jnli 
fUllt.  In  den  südlichsten  Landstrichen  von  Italien  ist  nur  ein  Maximum  und  Minimum 
vorhanden,  während  in  den  nördlichsten  Landestheilen  zwei  auftreten.  Das  Minimum,  welches 
der  heissen  Jahreszeit  folgt,  hat  eine  entschiedene  Neigung  um  so  erheblicher  su  werden,  je 
mehr  man  sich  dem  Süden  nähert,  während  das  Minimum,  welches  sich  an  die  Winterkftlt« 
knüpft,  mit  dem  Norden  zunimmt,  bis  in  den  nördlichsten  Theilen  das  nachwinterliche  Mini- 
mum grösser  wird,  als  das  herbstliche.  Im  Allgemeinen  sind  die  Schwankungen  in  den  Gurren 
der  Empfängnisse  um  so  stärker,  je  mehr  man  sich  nach  Süden  wendet 

Am  besten  Yeranschaulicht  eine  Tabelle,  welche  Mayr  aufstellte,  die  Grenzen. 
innerhalb  welcher  sich  die  Geburten  und  die  Empfangnisse  nach  Monaten  bewegen: 

Tagesbetrag  der  Geburten  (mit  Einschluss  der  Todtgeborenen). 


Deutsches 
Reich 

,  Jahre  1872-187:> 


Bayern 
Jahre  1872-1875 


Italien 
Jahre  1863-1871 


! 


Frankreich 
Jahre  188S— 1871 


Januar  

Februar 

März 

April 

Mai 

Juni 

Juli 

August   

September. . . 

Oc  tober 

November  . . . 
December  . . . 
Kalenderjahr 


4889 
4997 
4913 
4739 
4605 
4497 
4582 
4691 
5029 
4770 
4756 
4710 
4763 


578 
603 
594 
582 
575 
566 
566 
552 
582 
5(34 
566 
553 
573 


2848 
3025 
2928 
2805 
2533 
2371 
2419 
2496 
2663 
2605 
2624 
2587 
2656 


I 


2887 
8060 
8018 
2911 
2742 
2610 
2625 
2620 


2661 
2608 
2749 


Beiikemann  zerlegte  das  deutsche  Reich  in  vier  verschiedene  Gruppen  für 
die  Jahre  1873—1877: 

1.  Der  Nordosten:  Provinz  Preussen,  Pommern,  Grossherzog^um  Mecklen- 
burg-Schwerin. 2.  Der  Nordwesten:  Provinz  Hannover,  Schleswig-Holstein,  Ham- 
burg, Bremen,  Reg.-Bez.  Münster.  3.  Der  Südosten  resp.  die  Mitte:  Provinz  Schi  et  ien, 
Sachsen,  Königreich  Sachsen.  4.  Der  Südwesten:  Königreich  Bayern,  Württem- 
berg, Grosshorzogthum  Baden,  und  Elsass-Lothringen. 

.ledcs  Jahr  hatte  den  Typus  des  Gcsammtreichs,  obgleich  gewisse  Abweichungen  im 
Einzelnen  vorkamen.  Die  beiden  Jahresmaxima  der  Geburten  fallen  im  Reiche  auf  Fabnur 
und  September,  und  so  verhält  es  sich  auch  in  den  einzelnen  Jahren,  mit  Anmahmo  dfli 
Jahres  1877,  wo  das  erste  Maximum  auf  den  März  fällt.     Das   erste  Minimum  gehOct   i 


147.  Dor  EiDÜu8»  der  Jähredseiteti  und  der  socialen  Zasiande  auf  die  Empfl^ngniss.      57 1 

Juni  an,  nur  im  Jahre  1875  tritt  es  bereite  im  April  und  Mai  ein»  das  zweite  Minimam  im 
December  oder  November.  In  drei  Jahren  ist  das  Winter- Maximum  daa  bedeotenderet  in 
zweien  füllt  dasBelbe  auf  den  SepU^mber,  Es  ist  noch  herTor^ubeben,  dasa  zuweilen  ein 
drittea  Maximum  und  Minimum  am  Knde  des  Jahres  auftritt^  nämlich  ein  Maximum  im  No* 
vember,  ein  Minimum  im  October. 

In  der  1.  Gruppe  (Nordosten)  eröffnet  der  Monat  Januar  den  jährlichen  Geburtentag 

yoü  einem  hohen  Yerhfiltniss,  dat  jedoch  zum    Februar  noch  steift   und  damit   das  erstem  daa 

nannte  FrÜhjahrs-Maxirnnm  erzeu|^^     Vom  Februar  nü.mlich  sinken  die  Geburten  ununtor- 

ben  bis  stum  Juni,  dem  Monat  des  absoluten  Minimums,  nach  welchem  sogleich  ein  Steigen 

erfolgt,  plötzlicher  und  stärker  als  das  vorangegangene  Fallen.    Im  September  wird  dann  das 

zweit«  und  höchste  Maximum  erreicht;   doch  bereits  im  folgenden  Monat  October  »eigt  sich 

I  das  zweite  Minimum^  das  Über  dem  Durchschnitt  bleibt. 

Die  hohe  Zahl  der  ConcepUonen  von  April  bis  Juni   rQhrt  von  dem  Einflusa  dea  FrQb- 
lings  her,  welcher  den  Conceptionen  besonders  günstig  ist.     Die   starke   Abnahme   der  Con- 
''Ceptionen  von  Juli  bis  September  und  der  noch   niedrigere   Stand  im    October  sind  weniger 
dem  physischen  KinÜusse  der    heissen  Jahreszeit  «uxuschreiben,  sondern  atehen  hauptsIlchUch 
mit    dem    wirthi?chaftl)chen   Leben  der  Bevölkerung   in    innigem    Zusammenhange:    ein  Über- 
wiegender Theil  deriselben  ist  im  Ackerbau  thUtig,  deshalb  auch  im  Sp^t^ommer  bei  der  Ernte 
und    Bestellung    der   Winterfrüchte  physisch  so  sehr  in    Anspruch  geuommen^  daj»  aueh   die 
I  Conceptionen    darunter  leiden.     Die  Zeit,  welche    hier  im  Nordosten  stur  Feldbestellung  frei 
I  bleibt,  ist  bereits  um  etwa  einen  Monat  kurier,   als    im   Westen;    ein  Theil   der   mUnnlichen 
iBevölkertmg    ist   in    der    warmen    Jahresxeit    auf  See.     Nachdem    aber   die  Ernte   vollendet, 
[leichtere  Arbeit  und   Erholung  eingetreten,   dann   beginnt  ein   bedeutender  Aufschwung    der 
I  Conceptionen,    der    im    protestantischen    Norden    durch  die    Weihnivcbtszeit    befördert    wird. 
[Doch    darauf    tritt  im  Januar  ein   natürlicher  Riickichlag  ein,  und  in  den  Monaten  Februar 
Innd   MB.rs   scheinen    die    wirthachaftlichen    und    socialen   Factoren    wieder    Anlaiis  zu    einer 
[Bteigening  ku  geben. 

Die  »weite  Gnippe,  der  Nordwesten,  welcher  im  Wesentlichen  auf  denselben  wirth- 
[•chaftlichen  Grundlagen  beruht^  wie  der  Osten,  und  noch  manches  andere  mit  ihm  gemein  hat, 
auch  im  Allgemeinen  einen  lihnlichen  Typus  der  Vertheilung  der  Geburten.  Das  Mini- 
im  Juni  tritt  nicht  ganx  so  stark*  auf«  wie  im  Nordosten;  das  Minimum  der  Geborten 
im  Winter  dagegen  Hlllt  tiefer  und  spILter  Einmal  werden  die  grossen  Städte  Hamburg 
und  Bremen  das  Element  des  Handels  und  der  Gewerbe  mehr  asur  Geltung  bringen  als  die 
Seestädte  der  Ostsee,  andererseits  wird,  namentlich  in  Bezug  auf  das  sweile  Minimum,  die 
Kirche  von  Einfluss  sein,  indem  der  Nordwesten  ein  gr&eseres  YerhaUnisa  der  katholischen 
Bevölkerung  aufweist  als  dt^r  Nordosten,  wodurch  sich  der  Unterschied  begründen  lässt. 

Beihen  wir  die  dritte  Gruppe  (den  äQdostun)  hier  an,  so  treten  uds,  insbesondere 
wenn  dieselbe  auf  dasi  Königreich  Sacbson  boechrUnkt  wird,  gewichtige  Differenzen  ent* 
gegen.  Dai  Vorherrschen  der  Industrie^  alno  die  Beschüftigung  der  Bevölkerung ,  scheint 
I  hier  für  die  Vertheilung  der  Gebarten  maasfgebend  ku  sein,  was  sich  in  den  Hommermonateii 
I  geltend  macht.  Da  die  industrielle  Beschäftigung  gemeiniglich  in  allen  Jahreszeiten  dieselbe 
!  Anstrengung  verlangt  und  insofern  also  die  Vertheilung  der  Geburten  nicht  beeinHuBnen 
I  wird,  so  müssen  es  einmal  die  klimatischen  und  socialen  Verhllltnisse,  andererseits  die  wirth- 
I  •chaftlichen  Wechsel  und  Conjuncturen  sein,  welche  die  Schwankungen  der  Geburten  nach 
[Monaten  bestimmen. 

Hieran  ächliesst   sich  die  vierte  Gruppe   (der  Südwesten)  sowohl  dem  Gebiete  nach, 

der  Aehnlicbkeit    der    betreffenden   VerbMtnisse   gemlLss.     Die  Vertheilung   der  Geburten 

^  in  der  That  manches  mit  der  dritten  Gruppe  gemein»    vor  allem  die  schwachen  Extreme. 

1t    Eigenthrimlichkeiten    sind    hervorzuheben,    dass  in    Süd-Deutschland    das  Frühjahra- 

maximum    der  Conceptionen  dasjenige  im  Herbst  regelmässig  übertrifft,    während    es    in    den 

LHbrigen  Gruppen  gewöhnlich  übertroffen  wird,  femer  dass  in  der  vierten  Gruppe  das  Moment 

Ider  katholischen  Kirche  am  mächtigsten  wird.     Hier  gehört  bekanntlich  die  Mehrzahl  dieser 

lEirche  an,    während    im  Übrigen  Deutechland   die  protestantische  Kirche  vorherrscht.     Die 

katholische  Kirche    erzeugt    im   ganzen  Winter    eine   Erniedrigung    der   Conceptionen,   dabei 

wird  aber  im  Februar  gewöhnlich  ein  Maximum  und  im  folgenden  März  ein  Minimum  gebildet. 

Da  Ostern  aber  nicht  auf  dasselbe  Datum  fQllt,  sondern  in  den  Grenzen  eines  Monats  schwanlrt, 

»o  kommt  es  in  vielen  Jahren  natürlich  vor,  dasä  die  letztgenannte  Beeinflussung  sich  zxtweilen 

|irerd«ckt,  ohne  dass  aossergewöhnliche  Beeinflussungen  eintreten. 

Auch  in  Eussland  giebt  es,  wie  fast  überall »  zwei  Geburten-Maxima;  allein  hier  fallen 
feie  auf  den  Januar  und  October;  die  relative  Mehrzahl  der  ConceptioDen  Hndet  demnach  im 


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D?:  i^L  EiTi/lTTT.  -•-  iir  Irintz^  MrÄ-i*  "»^iti«  rr7»"-Ty.  SooLiMr.  Herbst:  bei  da 
HtlrUr:.  JrL'  "r.  i*:=^rr.  EsröK.  'S'iiT«:  le.  f-si  r'r:«Rizs^:  FraUin^,  Winter. 
v,':iii.?r.  E TT :■•':-  .lie  ÄiTr-ii-Eiif  "^«rLirJrir  iar  C.:3l^Ktä^l«l  ^mA  den  JahiVBieiSBB. 
rie  ri»  E^-ftl  <.*£  L-iiv»^':.  -  u^  fcj  r*£r-:iT'fcrLLT?<a:  Ji^^t^tSJhi  .  ,iss  bediagt  durch  die 
iiiklwi.i^  --i  i-iT?!^*  Jftr:*z.:^i:  :~  Trül-zj  s*:-*-!*  i=":i  =i*  «K-deBden  Feldarbeiten  in 
V.  =.:!*?.■'.  Iz.  Z-rÄn.— TiJiLi^T  i-fmi":  ncii  Ai:ii  ü*  i-svicciec^i  c?<TiHere  a»»^1i1  ^^,|  pi». 
!<:ili*'if:ir.?rr.  1=1  Hrr":-*  i^i  "K'n.-.-s:  ü  i=.  S:'L=;er  ^ii  Früjfatff.  «ae  EnebeiBtii^,  welche 
tizi.  Tl.*:.  i-r:i  i.r  ^rr'uiz.'.'rz.  7r**LiEi  r:zi  Tiril  i:=-:i  üe  N:--±ve&iSigkeit  d«s  Abwwtm 
c*r  y.zzJ\-^  cr'tlLn  "■"^ri-rz.  ili-.-.' 

A"-*r  in  irr-  Siai:^-  r*-fs".ä-i?  vxniiilei  tili,  ü*  CosceptioaeB  andez«.  als  auf 
ikzz.  Lüir.  iiez.  iä.-  2»-äi:~-:L  i-:  i*-  Hert-r.  illl::  i*:*i&rr  f:üg«ti:  Winter.  Sommer  and 
rrtLlii-iv  "K-ie  Ali  z:^z^z.Lr:Z  ZäHt=.  r-  -rrt^iTr.  isi: 


Kr-iLlin^ ITT,-.?  1552^ 

y>mE.er i^-:.?.^  1333,$ 

HerUt 40M.?  4462.7 

^V:::ter c>T?.5  4651.2. 

W-Ai  fi:e  ::LrL^' ichen  C-.nc-rTiiiren  Ir.  Kasflatd  wirifFt.  »  änsseil  ach  bei  ihnen 
ihr  tat'jrücLe  tinf -=•  ier  -.■s-rschiei^r.«  Jihreizeites  ie::tl:cher  als  bei  den  ehelichen.  Die 
Nfaz:r£.&  der  ':r.-r>.f:!:icr:r.  '.-.r.cepni.er.  : allen  ia  den  ire^ienropäischen  Staaten  aaf  doi 
KrrjhÜLy  Mt'i  S .::::.'. *rr.  die  Mir.ina  auf  den  Herb?*  :itd  Wirier,  wol-ei  die  Difleremi  xviachen 
it:r.  Mazir.'.i^  :2r.'i  MiE:rr.ir  •.ede-:eci  grTs^er  i*:.  al*  fc-e:  den  ehelichen  Conoeptionea.  In 
ft^ik-lund  :'al!t  dir  Maii.v.i^.  der  «nehelichen  Concep lionen  auf  den  Winier  und  Frühling, 
i a-  hin/.  II. : m  a -j f  den  .S o s.  l-. er  - r. ■ :  Her b ^t .  Fol ge n de  Zahl ea  .znterrichten  üb«'  die  Vert heilang 
1  «T  u  n «j t* ".  lieh e:i  C  oi.  ';e j  t i  o r. en  : 

V.'inier :3161.4 

Frühling oOTT.? 

Herbrt 2s2^.b 

.Somicer ■J42"2,3. 

Auch  ffir  Deutschland  and  für  Frankreich  fand  Beukemann^  daas  die 
\ HT\.\\*{\\nu^  der  unehelichen  Conceptionen  von  den  sogenannten  physischen  Ean- 
lij'^H"n  Htärker  hew«-^  wird,  als  die  der  ehelichen. 


XXI.  Die  Unfruchtbarkeit  des  Weibes. 

148.  Warnm  sind  Frauen  nnfrnchtbar ! 

Bevor  wir  uns  auf  eine  genauere  Untersuchung  über  die  Fruchtbarkeit  der 
Weiber  bei  den  verschiedenen  Völkerschaften  einlassen,  wollen  wir  zu  erfahren 
suchen,  was  fttr  Anschauungen  bei  ihnen  in  Bezug  auf  die  Unfruchtbarkeit 
herrschend  sind,  auf  was  für  Ursachen  sie  dieselben  zurückf&hren  und  welcher 
Mittel  sie  sich  bedienen,  um  sie  zu  bekämpfen  und  zu  heilen.  Es  ist  hierbei 
allerdings  nicht  gut  zu  umgehen,  auch  des  Vergleiches  wegen  die  betreffenden 
Ansichten  über  die  Fruchtbarkeit  mit  heranzuziehen,  jedoch  will  ich  bemüht  sein, 
Wiederholungen  nach  besten  Kräften  zu  vermeiden. 

Die  Unfruchtbarkeit  wird  bei  den  meisten  Völkern  als  ein  besonderes  Un- 
glück angesehen,  als  ein  Fluch,  welcher  entweder  auf  beiden  Eheleuten,  oder, 
und  das  ist  bei  Weitem  das  Häufigere,  allein  auf  dem  unglücklichen  Weibe 
lastet.  Aber  die  Ursache  dieses  Unglücks  wird  nicht  immer  in  den  gleichen  Um- 
ständen gesucht. 

Die  Talmudisten  waren  der  Meinung,  dass  die  Fruchtbarkeit  oder  die 
Unfruchtbarkeit  der  Weiber  von  dem  Willen  Gottes  abhängig  sei.  In  dem 
Midrasch  Debarim  Rabba  wird  ein  Ausspruch  des  Rabbi  Jonathan  angeiiihrt, 
welcher  lautet: 

«Drei  Schlüssel  befinden  sich  in  Gottes  Hand,  Ober  welche  kein  Geschöpf  verfügen 
kann,  weder  ein  Engel  noch  ein  Seraph.  Es  sind  der  Schlüssel  zur  Todtenbelebung ,  der 
Schlüssel  für  die  Unfruchtbaren  und  der  Schlüssel  zum  Regen.*     fWünsche^.J 

Die  Mohammedaner  zeigen  auch  hier  ihre  Ergebenheit  in  den  Willen 
ÄUahs,  Seine  FQgung  ist  es,  welcher  die  Frau  ihren  Unsegen  zuzuschreiben  hat. 
Dementsprechend  steht  auch  im  Koran: 

Gott  macht  nach  seinem  Willen,  dass  eine  Frau  M&dchen,  eine  andere  Knaben,  eine 
andere  Kinder  von  beiderlei  Geschlecht  bekommt;  er  macht  auch  nach  seinem  Willen 
die  Frau  unfruchtbar. 

Bei  den  Slaveninlstrien  gilt  die  Kinderlosigkeit  für  ein  Zeichen  von  Gottes 
Zorn;  unfruchtbare  Weiber  heissen  dort  »Scirke*  d.  h.  Zwitter,    (v.  Düringsfeld.) 

Aber  nicht  Gott  allein  scha£Pt  Unfruchtbarkeit,  sondern  auch  Dämonen  und 
böse  Zauberer.  Wir  hatten  ja  frOher  bereits  gesehen,  dass  in  Bosnien  und  in 
der  Hercegoyina  die  Unfruchtbarkeit  dadurch  ihre  Erklärung  findet,  dass  man 
behauptet,  die  Frau  habe  mit  dem  Bösen  im  geschlechtlichen  Verkehre  gestanden. 
Allerdings  wird  auch  anderweitige  Bezauberung  als  die  Ursache  angesehen,  und 
dann  muss  der  Geistliche  über  Johanniskraut  (Gospina  trava,  Hypericonum)  den 
Segen  sprechen.  „Dieses  Kraut  ist  dann  zu  kochen  und  einige  Tage  in  der  Frühe 
zu  trinken.   Ausserdem  aber  soll  die  Frau  diese  Pflanze  bei  sich  tragen.*^   (Glück,) 

Die  Zauberer  oder  Medicin-Männer  in  Süd-Australien  werden  von  den 
Weibern  sehr  geftirchtet,  weil  man  fest  von  ihnen  glaubt,  dass  sie  die  Macht  be- 
sitzen, sie  unfruchtbar  zu  macheiL    (Brough-Smüh.) 

Doch  Moh  bei  anderen  Nationen  hUt  man  es  f&r  möglich,  dass  böse  Men- 
schen doiüh  ihre  ZanbeikOnito  die  Befroehtang  der  Frauen  zu  verhindern  ver- 
mögen, 1  nl  ad  in  Rvssland,  aber  auch  bei  den  Ma- 


574  XXI.  Die  Unfrachtbarkeit  des  Weibei. 

f^yaren.  Will  man  bei  den  Letzteren  eine  Frau  unfhichtbar  machen,  «so  reibe 
man  die  Genitalien  eines  todten  Mannes  mit  den  Menses  des  betreflEenden  Weiba 
ein/  (V,  Wlislocki^.)  Ferner  haben  die  Magyaren  noch  einen  Zauber,  welchen  eben- 
tall.s  r.  WUslocki^  berichtet.  Wenn  eine  Frau  einer  anderen,  während  sie  schlaft, 
ihre  Milch  auf  den  Kopf  spritzen  lässt,  so  wird  sie  niemals  ein  Kind  geb&ren. 

Die  Weiber  der  Bakhtyaren  im  westlichen  Persien  pflegen  sich  mit 
Amiileten  zu  behängen,  welche  die  Zauberkraft  besitzen,  ihre  Rivalinnen  un- 
fruchtbar zu  machen,  während  sie  die  Treue  des  Oatten  gewährleisten  nnd  ihnen 
selbst  ein(;  reiche  Nachkommenschaft  sichern.     (HoussayT) 

Auch  durch  Unvorsichtigkeiten  in  der  Diät,  oder  in  dem  sonstigen  Verhalten 
kann  l-nfruchtbarkeit  hervorgerufen  werden.  Ist  auf  den  Vi ti- Inseln  eine  Fraa 
.stcriK  so  glaubt  man,  dass  sie  irgend  einmal  ,»das  Wasser  der  Unfruchtbarkeit* 
getrunken  habe,     (lilyth.) 

Die  Frauen  der  Kitsch-Neger  und  Adael  im  äquatorialen  Afrika  west- 
lich vom  weissen  Nil  verrichten  ihre  Abwaschungen  nicht  nodt  Wasser,  weil 
sie  davon  Unfruchtbarkeit  ft\rchten;  sie  nehmen  dazu  viel  weniger  unschuldige 
Flüssigkeiten. 

Unter  den  West-Australiern  herrscht  die  Ansicht,  dass  die  Mädchen  un- 
fruchtbar werden,  wenn  sie  nach  dem  11.  und  12.  Jahre  Fleisch  vom  Beuteldachs 
(Bandicut)  geniessen. 

Bei  den  vorher  erwähnten  Bakhtyaren  ist  es  genügend,  um  eine  Frau 
unfruchtbar  zu  machen,  dass  sie,  ohne  es  zu  wissen,  irgendwo  Schweinefleisch 
angerührt  hat. 

pDioser  Abor^hiubo  ist  otibnbar  sehr  alt,  jedenfalls  älter  als  der  Islam;  denn  seit  Be- 
kehrung der  Stumme  haben  die  Frauen  ja  gar  keine  Gelegenheit  mehr,  dieses  Prodact  ni 
berühren.*     Cllouasaij.J 

lieber  die  Weiber  in  Liberia  sagt  liüttikofer: 

n£igonthamlich  ist  der  schon  zu  Dapper's  Zeiten  unter  den  Vey  herrschende  Aberglaube, 
(losH  eine  Frau  unfruchtbar  werde,  wenn  sie  zutUllig  die  Eier  der  auf  der  Erde  brfltenden 
Nachtächwulbe  zertreten  habe.  Indessen  weiss  auch  hier,  wie  überall,  der  buli  kai,  der  Fetisch- 
liricMtor,  durch  allerlei  Mittel  den  vorgeblichen  Zauber  zu  beschworen." 

Bei  den  Magyaren  bezeugt  eine  Kedensart,  dass  auch  das  Uriniren  auf 
einen  Todten  Sterilität  zu  erzeugen  vermag;  denn  in  dem  Kalotaszeger  Bezirk 
sagt  man  von  einem  unfruchtbaren  Weibe:  sie  hat  auf  einen  Todten  urinirL 
(V.  WlislocJci''.) 

Bei  den  Chippeways  und  einigen  anderen  Indianer-Stämmen  sieht  man 
die  Unfruchtbarkeit  der  Weiber  als  einen  Beweis  der  ehelichen  Untreue  und 
künstlicher  Fehlgeburten  an.     {de  Lact- Ken fi)Uf.) 

Bei  manchen  Negervölkern  wird  die  Unfruchtbarkeit  als  eine  Folge  daTon 
betrachtet,  dass  die  Frau  vor  ihrer  Verheirathung  einen  liederlichen  Lebens- 
wandel führte. 

149.  Physische  Ursachen  für  die  Unfruchtbarkeit. 

Trotz  aller  derartigen  mystischen  Anschauungen  dringt  doch  ziemlich  früh- 
zeitig die  Erkenntniss  durch,  dass  der  Unfruchtbarkeit  der  Weiber  auch  noch 
andere  Ursachen  zu  Grunde  liegen  können,  welche  in  Äbnonnitäten  der  körper- 
lichen Entwickelung  oder  in  ähnlichen  physischen  Eigenschaften  der  betrefiFenden 
Frau  bedingt  sein  mögen.     So  sagt  auch  bereits  Mohammed: 

y Ziehet  oinc  Frau  vor,  deren  Haut  braun  ist.  denn  «ie  ist  fruchtbar  gegenüber  einar 
Frau  mit  allzu  Iicllcr  Haut,  die  violloicht  unfruchtbar  ist." 

In  Bosnien  und  der  liercegovina  sucht  man  sich  durch  bestimmte  Mittel 
davon   zu    überzeugen,    ob   eine  Frau   im  Stande   ist,   befruchtet  zu  werden. 
diesem  Zwecke  giebt  man  ihr,   ohne    dass   sie   den  Grund   dafür 


149.  Phjiische  Ursachen  Air  die  rttfrucbibarkeit. 


575 


röh  ein  Glas  warmes  Wasser  zu  tritikeu,  m  welchem  etwas  Lab  von  einem  Haseu 

ifgeweicht  wurde.  Wenn  sie  darauf  Schmerzen  im  Unterleib  versiiürt,  so  wird 
ie  gebären,  wenn  aber  diese  Schmerzen  sich  nicht  einstellen,  so  wird  sie  un- 
fruchtbar bleibeiL     (GUkfcj 

Eine  ähnliche  Probe  für  die  Conceptionsiahigkeit   wird  von  HippokrcUes  an- 
jfegeben : 

,Wenn   du   ein  Weib  bebandelst,  um  sie  fähig  /.ur  Conception  za  machdn,  achelnt  «ie 

Qägereinigt   und  der  Matiermund   in  löblichem  Zueiund  tu  sein,  so  bado  sie^  reibe   ibr  dea 
Kopf   nb,    aalbe   sie  aber   in  keiner  Wei^e  ein.     Dann  acblage   ibr  ein  nicht  riechendes,  g^e- 
ebenes  Leinwandiuch  um  den  Hala  und  binde  eine  rein  gewaschene  oder  nicht  riechende 
baube  diurQber,    nacbüem    du    zuerst    dtu  leinene  Tuch  eingebunden  hti^t,   dann  lege  der 

^ftu  abj^ekochtes  Mutterbarx,  welches  wxn  Feuer  und  nicht  un  der  Sonne  erweicht  worden, 
^8  Mutterkranz  ein  und  taas  nie  schlafen.  Weun  sie  Hieb  dann  am  anderen  Morgen  früh  die 
jletzhaube  mit  dem  Leinwand tuche  abgenommen  bat,   bö  lasse  sie  jemand   an  ihrem  Scheitel 

echen;  giebt  ^ie  einen  Geruch  von  sich,  ao  steht  ea  mit  der  AuBreinigung  gut,  wenn  nicht, 
Ipblecbt.     Das  Weib    thue  dies  aber  nöchtern,     Ist    sie    aber  unfruchtbar,    so  wird   sie  weder 

»reinigt,  noch  soufet  einen  Geruch  verbreiten.  E«  wird  aber  auch  nicht  eo  gut  riechen,  wenn 
||}  Jenes  einer  Schwangeren  einlegst.  Bei  einem  Weibe  aber^  welches  oft  schwunger  wird, 
Weht  concipirt  und  gesund  ist,  wird  der  Scheitel  riechen,  selbst  wenn  du   ihr  kein  Mutter- 

Ipfchen  einleget  und  sie  nicht  ausreinigst:  ausserdem  aber  wird  er  nicht  riechen.* 

Eine  Vorstellung  von  den  Ursachen  der  Sterilität  und  eine  sich  gegen  die- 
elben  richtende  Therapie  besassen  ohne  Zweifel  schon  die  alt  griechischen 
Aerzte.  T^nch  Hippolrates  können  folgende  Zustände  Sterili tut  bedingen:  l.  Ver- 
Jrehung  und  HciiiefHtellung  der  Gebärmutter;  2.  ssu  grosse  Glätte  der  Innenwand 
"erselben,  bei  der  der  Same  nicht  zurückgehalten  wird;  3.  Suppression  der  Menses 
ind  Obstructioü  oberhalb  des  Mutternnmdes;  4.  Ueberfiillung  des  Uterus  luit 
^hit    und    Obermässige    Secretion    des  Menstrualblutes,    welches   das  Sperma  weg- 

»ölt;    5.  Gebärmuttervorfall»    bei  dem  die  Uterusmündung    hart   und   callös  wird. 

fach  PaiduH  von  Acffina  wird  die  Sterilität   zuweilen  durch  mangelhafte  Ernah- 

ruDg,    zuweilen  durch  Plethora  hervorgerufen.     Demgemäss   muss    die  allgemeine 

»beusweise  geregelt  werden,  Fette  Weiber  sind  zur  Zeugnng  untauglich,  w^eil 
Ke  nicht  genug  Samen  haben,  ebenso  heruntergekommene.  Die  Weiber  müssen 
eine  Kost  zu  t^ich  nehmen,  die  den  Monatsfluss  befördert.  In  solchen  Fallen,  wo 
die  [ible  Beschaffenheit  (Intemperamentura)  des  Uterus  die  Sterilität  bedingt  und 
pe  sich  durch  Ausbleiben  der  Menses  kennzeichnen,  muss  eine  aromatische,  stimu- 

reude  Nahrung  gegeben  werden,    um  die    natürliche  Wärme   anzuregen;    gleich- 

Bitig  soll  der  Unterleib  frottirt  werden,     Ist    der    ganze  Kdrper  warmer   als   ge- 

röbnlieh,    die  Mi  ?on   spärlicher    als   sonst    und   schmerzhaft,    sind   die  Ge- 

chlechtstheile  g»  j,    so  muse  man  hieraus  schliessen,    das»    der  Uterus    ein 

rarmes  Intemperauient  hat.     Da  ist  eine  kdhlende,   feucht-e    Kost    angezeigt    und 

bhenso  kühle  Umschläge.     Bei  Sterilität,  bedingt  durch  Feuchte  des  Uterus,  «ind 

die  Menses  dünn  und  profus;  hier  ist  austrocknende  Kost  zu  wählen.     Bei  grosser 

Trockenheit  der  Gebärmutter  heilt  man  die  Sterilität  mittelst  Bäder  uud  Salben* 

Behindert  dicker  ,,  Humor*  die  Conception,  so  muss  dieser  lierausbelordert  w^erden 

durch  Purgantien,     Ist    dagegen  die  Gebärmutter  aufgebläht,  so   wende  man  Aro- 

latica  und  F*essarien  an.     Einen  verschlossenen  Muttermund  erööne  man  mittelst 

pmatischer  Injectionen,  und  gleichzeitig  gebe  man  Terpentin,  Nitrum,  Elaterium, 

Rssia   und  Theerwasser;    hei    klaflfendem  Muttermunde   hingegen    Adatringentien. 

iweilen  ist  die  Befruchtung  dadurch  behindert,  daas  eine  Distorsion  des  Uterus 

esteht;  hier  ist  der  Coitus  a  posteriori  jr  '  res  empfiehlt  auch  Ori- 

usius^   der   aber   auch    weiterhin    sagt,    n  Muttermund    erweitern, 

um  eine  Schwangerschaft  zu  ermöglichen,  vrährend  in  anderen  Fällen  mittelst 
Adstringcntien  die  klaffenden  MnttermundsUppen  einander  genähert  werden 
^püasien,  um  das  Abtliessen  de»  Sperma  zu  verhüten,  (Jenks.)  So  verworren 
h  diese  Ideen   und  i{atfai«cbluge  zu  einem  grossen  Theile  waren,  so  sind 


576  2^-  ^®  Unfruchtbarkeit  des  Weibes. 

sie  doch  immerhin  die  ersten  ernsten  Anlaufe  zu  einer  rationellen  Behandlung  der 
Sterilität. 

Auch  im  Talmud  ist  von  physischen  Zeichen  die  Bede,  an  welchen  man 
eine  imfruchtbare  Frau  zu  erkennen  vermöge.  Man  kann  bei  einem  Weibe  Ste- 
rilität vermuthen,  wenn  sie  bereits  ihr  zwanzigstes  Jahr  erreicht  hat,  ohne  an 
den  Genitalien  eine  Behaarung  zu  besitzen.  Femer  galt  dann  eine  Frau  f&r  sieril, 
wenn  die  Brüste  nicht  ausgebildet  waren,  wenn  eine  Abnormität  in  der  Bildung 
des  weiblichen  Schoosses  bestand,  wenn  die  Frau  Beschwerlichkeiten  bei  der  Aus- 
übung des  Beischlafes  hatte  und  wenn  sie  eine  männliche  Stimme  besage. 
(Wunderbar.)  Es  ist  nun  allerdings  zu  vermuthen,  dass  diese  so  geschilderten 
Personen  überhaupt  gar  keine  Weiber,  sondern  missgebildete,  mit  Spaltbildongen 
der  Genitalien  behaftete  Männer  gewesen  sind. 

Die  Ideen  iea  Hippokrates  haben  sich  lange  Zeit  in  Europa  erhalten.  Noch 
im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  schlägt  ,des  getreuen  Eckarth's  Heb- 
amme *"  vor,  auf  folgende  Weise  zu  probiren, 

,ob  eine  Frau  (in  die  ein  Zweifel  der  Fruchtbarkeit  gesetzt  wird)  fruchtbar  tey  oder 
nicht.  Ich  nehme  eine  dergleichen  Person,  umhülle  ihren  gantzen  Leib  mit  decken,  da» 
nichts  heraus  kommen  kann,  nachdem  nehme  ich  eine  Feuersorge,  darein  lege  ich  einige 
glüende  Kohlen  und  auf  solche  streue  ich  zerqvetschte  Wacholder-  oder  Jochandel-Beeren 
(baccae  Juniperi),  lasse  den  Dampft  davon  in  die  Mutterscheide  gehen,  wann  man  nach  einer 
Weile  den  Geruch  aus  den)  Munde  oder  Nasenlöchern  der  Frauen  empfindet,  so  ist  die  Penon 
vor  fruchtbar,  wo  aber  das  Zeichen  nicht  erfolget,  vor  unfruchtbar  zu  urtheilen.* 

Diese  Anschauung  stösst  aber  bereits  auf  Widerspruch  und  es  wird  ihr 
entgegengehalten : 

,Ja  wenn  ein  Mensch  einem  Trichter  gleich  w&re  und  in  der  Cavität  des  Leibes  keioe 
viscera  und  intestina  entgegen  stünden,  damit  der  Broden  durchgehen  kOnnte,  Hesse  ich  ei 
(dass  der  Dampff  die  obem  Theile  berühre)  noch  passiren.  Aber  diejenigen  Personen,  die 
den  Geruch  nicht  empfinden  vor  unfruchtbar  zu  sprechen,  wäre  ein  gar  unbilliges  ürtbeilt 
und  würden  also  fast  die  meisten  Weibespersonen,  die  doch  sonsten  gute  Eindermütter  sejr. 
vor  unfruchtbar  gehalten  werden,  mit  dieser  Probe  werdet  ihr  vielleicht  manche  verdrieesliche 
Ehe,  und  bey  andern  Erfolg  euer  Aussage  euch  eine  böse  Nachrede  und  Gelächter  verursacht 
haben.* 

Im  Jahre  1628  giebt  der  Dr.  David  Ilerlicius,  Medicus  zu  Stargardt  iü 
Pommern,  folgende  Schilderung  von  den  physischen  Ursachen  der  weiblichen 
Sterilität: 

, Gleich  wie  ein  Acker,  der  gar  zu  wol  gedünget  oder  gemistet  ist,  Den  Samen  ersteckt, 
ein  mager  aber  vnd  ßteinicbter  jhn  verbrennet,  Dagegen  einen  der  nicht  zu  fett,  auch  nicht 
zu  mager,  gute  Frucht  bringet,  wie  solches  Slrabus  Gallus  in  seinen  Gartenbuch  vermeldet. 
Also  sind  die  gantz  schweren  vnnd  sehr  feisten  Weiber  unfruchtbar,  wie  Hippokrates  dü^; 
bezeugt.  Dieweil  sie  wogen  der  grossen  Fettigkeit  den  Männlichen  Samen  nicht  wol  behalten 
können,  wie  auch  gar  magere  Frawen  selten  empfahen,  oder  ja  die  empfangene  Frucht  nicht 
herfür  bringen,  weil  dieselbe  von  jhnen  nicht  gnug  Nahrung  haben  mag,  als  dieses  auch 
Ävicenna  bezeuget  vnnd  mit  dem  Hippokrate  der  meinung  ist,  dass  allein  die  Weiber,  so  nicht 
zu  fett,  vnnd  auch  nicht  zu  mager  sind,  fruchtbar  werden  können.  Welche  Frawen  schwertzlich 
von  färben  sindt,  vbertreflfen  die  bleichen.  [Man  vergleiche  hier  den  Ausspruch  des  Koran, 
welcher  oben  citirt  wurde.]  Denn  die  bleichen  werden  sehr  feuchter  Natur  geachtet,  welche 
feuchte  den  Samen  weiniger  an  sich  halten  vnd  ernehren  kann.  Welche  vnordentlich  Leben 
helt  in  Essen  und  Trinken,  Item  die  mit  jhrer  natürlichen  Monats  Reinigung  nicht  recht  zu- 
frieden ist,  vnnd  dieselbe  entweder  gar  zu  viel  oder  zu  wenig  hat,  oder  die  mit  andern 
Mutter  Krankheiten  behafftet,  als  geschwellen  der  Mutter,  entzündung,  geschwer,  erhartung. 
verschliossung,  grosse  kälte,  feuchtigkeit,  auflfsteigen,  sencken  oder  ausfallen,  weiss  gesuchte 
oder  Fluss,  Krebs,  Wind  oder  auffbiehung  derselben,  vnd  dergleichen  andern  sind  auch  zur 
ompfängnuss  vngeschickt.* 

Wusste  man  schon  zu  Aristoteles  Zeit,  dass  Säufer,  Kranke  und  Abgelebte 
auch  mit  einem  gesunden  Weibe  keine  Kinder  erzeugen  könnten,  so  drang  in  den 
letzten  Jahrhunderten  allmählich  immer  mehr  die  Erkenntniss  durch,  dass  es  nicht 
immer    die    Gattin    ist,    welche    fiir  die  Unfruchtbarkeit  verantwortlich  gemacht 


150*  Das  Ansehen,  iu  welcbeui  die  ünfhtchibEirkelt  steht. 


S77 


werden  müsse.  Herliaus  führt  schon  Proben  an,  welche  eniBcheiden  solleDf  wer 
von  den  Ehegatten  eigentlich  der  unfruchtbare  sei.  Eine  denselben  entnimmt  er 
dem  »newen  Wasserschatz*'    des  Jacohus  Theodorus  Tahernamontanus: 

,Wiltu  wiBsen,  eo  zwej  Eheleute  bey  einander  wohnen,  vnnd  keine  Kinder  miteinander 
zielen,  ob  der  Mann  oder  die  Fraw  vnfruchtbar  &ey.  So  nimb  xween  Häfen  oder  Töpffe,  vnd 
thu  in  beyde  Baffen,  Klejen,  vnd  in  den  einen  Haffon  gie«s  zu  den  Klejen  des  Mannes  Harn, 
%nn<l  in  dem  andern  des  Weibes  Harn:  Vnd  stell  die  bejde  Haffen  neun  oder  Zehn  Tage 
verdeckt  hin.  Ist  die  schiald  der  vnfnichtbarkeit  desWeibee,  so  findest  da  die  Kleyen  in  der 
Frawen  Haffen  ?be)  stinkend  vnd  viel  Warm  darin.  Dergleichen  anzeigen  vnd  »eichen  findest 
du  in  dem  andern  Haffen»  so  die  schuld  die  vnfmchtbarkeit  des  Mannes  wehre-  Wann  du 
aber  in  keinem  Haffen  solche  anzeigung  befindest,  so  wird  jhrer  keins  die  schuld t  der  vnfnicht- 
barkeit  se^Ti,  vnnd  mögen  derwegen  jhneu  durch  mittel  vnnd  höW  der  Artxney  helffen  lassen, 
darmit  sie  empfangen  mögend t^ 

Daes  an  der  Sterilität  sehr  wohl  auch  der  Mann  die  Schuld  tragen  kann, 
ist  auch  den  chinesischen  Aerzten  bekannt.  Als  Ursachen  der  Unfruchtbarkeit 
führen  sie  an  beim  Manne  Excesse  in  der  Liebe,  den  Gebrauch  des  die  Fettbildung 
ülierraäaaig  fordenden  Arseniks  und  des  die  Geschlechtsfunctionen  zerstörenden 
Quecksilbers,  endlich  auch  die  Ausübung  des  ^Cong-fu*  (d,  i,  einer  Manipulation, 
um  die  Empündong  durch  Anspannung  der  Aufmerksamkeit  herabzusetzen,  ähnlich 
dem  Hypuotismue  oder  dem  thierischen  Magnetismus). 

Beim  Weibe  entsteht  die  Unfruchtbarkeit  ebenfalls  durch  Excesse  in  Yenere^ 
aber  auch  durch  starke  Fettent Wickelung,  w^ eiche  das  Eindringen  des  Sperma  in 
die  Genitalien  verhindern  soll.  Aber  auch  ausserordentliche  Magerkeit,  ein  Ueber- 
maass  der  Gallenabsonderung,  Anomalien  in  der  Menstruation,  Fluor  albus  und 
Vorfall  des  Uterus  werden  von  den  chinesischen  Aerzten  als  Ursachen  der 
Unfruchtbarkeit  angesehen. 

In  allerjüngster  Zeit  nun  ist  die  Lehre  von  der  Sterilität  in  ein  ganz  neues 
»tadium  getreten  und  es  ist  wesentlich  Fürhringers  Verdienst,  dass  hier  eine 
"andelung  eingetreten  ist*  Mikroskopische  Untersuchungen  ermöglichten  es  ihm, 
den  nicht  zu  bezweifelnden  Nachweis  zu  liefern,  dass  die  Schuld  der  Unfruchtbar- 
keit viel  häufiger  dem  männlichen  Geschlechte  als  den  Weibern  zuzuschreiben 
ist.  Ich  muss  es  mir  versagen,  auf  dieses  Thema  an  dieser  SteUe  näher  ein- 
zugehen. 


150.  Um  Annehen,  in  welchem  die  Unfniehtkarkeit  ^teht. 

Bei  den  meisten  Völkern  der  Erde  ist  ein  reicher  Kindersegen  erwünscht 
und  die  Fruchtbarkeit  der  Frau  gilt  als  eine  besondere  Begnadigung  und  als  ein 
hohes  eheliches  Glück.  Hingegen  wird  die  Unfruchtbarkeit  als  eine  Unvoll- 
kommenheit  des  Weibes  betrachtet  und  letzteres  wird  ab  unfähig  angeaehen, 
seine  ehelichen  Aufgaben  zu  erfüllen.  Kann  das  Uebel  nicht  gehoben  werden, 
will  es  trotz  aller  Mühe  nicht  gelingen,  den  auf  dem  Weibe  lastenden  Zauber  zu 
rechen,  den  Zorn  der  Gottheit  zu  besäntligen  und  zu  sühnen,  m  wird  gar  <>n 
ie  Ehefrau  Verstössen. 

Diese  Hochschätzung  der  Fruchtbarkeit  ist  aber  nicht  aUen  Nationen  gemein ; 
bei  manchen  Völkerschailen  betrachtet  man  sogar  eine  grössere  Fruchtbarkeit  als 
etwas  Verächtliches  und  Thierisches.  Eine  Frau  bei  den  Grönländern  hat 
—  6  Kinder  und  gebiert  alle  2 — ^3  Jahre;  wenn  daher  die  Grönländer  von  der 
ruchtbarkeit  anderer  Nationen  hören,  so  vergleichen  sie  dieselben  mit  ihren 
In  ähnlicher  Weise  verzogen  die  Indianerinnen  in  Britisch-Guyana 
\i^,  \\  den  Mund,  als  sie  von  Schomburgh  erfuhren,   dass  bei  Europäerinnen 

gsgeburten  nichts  weniger  als  selten  sind;  auch  sieaagten:   ^ Wir  sind  keine 
Imnen,    die  einen  ganzen  Haufen  Junge  werfen/ 
So  ist  auch  in  Europa  die  Freude  über  ein  schnell  folgendes  Gebären  der 
uen  bei  manchen  Volksstammen   recht  gering.     In  Frankreich  schUdert   ein 

P)ii«fB»ri(}|«»  Dm  WeiU.    d,  Anrt.    1.  37 


Oi& 


XXI.  Ihe  Tainicfaüiftzkät  6m  Wcibei. 


altes  Volkslied  die  Ehe.  welche  mit  zo  vielem  Eindenegen  bedacht  ist  and  desUh, 

als  eise  Tinglückliehe  betrachtet  wird,  in  folgender 


.Nach  eiseiD  Jahre  ein  Eiad.    Ist  da*  eine  Fxcnde! 

Nach  zwei  .^ahrm  zirei  Eiader:  da  kommt  Mhon  die  Sehwarinnth. 

N&cL  drei  .^ahren  dra  £ind«r:  es  ist  ein  wahrer  TeufelHpnk. 

Pa$  eine  s^hreii  nach  Brou  das  andere  nach  Suppe, 

I'as  drillt  'vril]  ires^iült  irerden.  und  die  Broit  iit  neoh. 

I>er  Vfit«r  iii  in  der  Schenke  nnd  führt  dn  ■dilarhtei  Leben, 

l*':e  Mutier  is^T  daDeim  und  veint  nnd  sra&t.*     fUtaaietJ 

iT&nz  anders  war  es  bei  unseren  germanischen  Vorfiahran,  welche  trob 
der  relarlv  dürftigen  Verhaltnisse,  unter  denen  äe  lebten,  dennoch  die  ehelidie 
Fruchibarkei:  und  einen  reichen  Kindersegen  als  ein  GlQck  nnd  einen  Vonif 
priesen.  Nach  ah  deutschem  R^^htsbrauch  durfte  der  Mann  flieh  scheiden  leaseo, 
wenn  die  Fravi  ihm  keine  Kinder  gebar,  aber  auch  sie  konnte  die  Scheidung  be- 
ar.rrage::.  wenn  der  Gatte  aus  Unvermögen  oder  aus  iigend  welchen  endo« 
Gründen  keinen  geschlechtlichen  Verkehr  mit  ihr  unterhielt.  {(rrteuM.)  Und  nodi 
heute  gilt  ja  als  ein  rechtlicher  Scheidungsgrund  das  Unvermögen,  dien 
Zweck  der  Ehe  zi;  e.rfrJlen. 

Aber  ai:ch  dem  Deutschen  konnte  zu  grosser  Kindoisegen  drückend 
und  in  dem  bekannte:i  Werke  des  Frii^cisrua  Pftrardiah  Von  der  Artiney 
baydi-r  Glück,  des  guten  und  widerwertigen  ans  dem  16.  Jahihnndert 
nnde:  sich  auch  eir.  Kaj-iiel:  Von  v:l  md  schwerer  Pnrde  der  Kinder,  n 
welihen  sich  der  Scbnunr.  beklag:  ;ind  die  Vernunfft  ihn  zu  trCeten  nicll 
An  eir  er  anderen  5:elie  alvr  ;;r.v.mer:  der  Schmertz  von  den  vnfrachtbarei 
Hausslrawen.  und  auch  hür  girb;  :hm  die  Vernunfft  tr5stliehai  ZnpraeL 
In  einem  drittvn  Kavi:el  is:  es  die  Freude,  welche  jubebd  ausruft:  «Ich  hab  eis 
fruchtj'ari  weiK*     AKt  die  Vernun:fi  ;nr»  ihr  entg-egen  nnd  spridht: 

fSv  wyraT  dir  gr:>o:r  ri'.  «i.-rj:.  v.I  kr:iäri«  Yxl  unfmchiba»  ehe  we^b  iit  eine  iijeju. 
fii*er  eis  fruirbi^^&rs  eLewevV  i>;  olr:^  v/.:V.iJ^  :  .irir  de^  hanssi.  Offenhai«  ist  der  apnefc 
Sfn.:\/\  :cfc  hÄi«  eiE?  wf\l  ce^ic^sir.-.t-is.  ira>  ^4:  irh  al*.3c  :ur  armnt  md  trfibaftligk^jt  ah 
irwer-er.  Vä  die  acier  s.r,:  :*:  kisi"  :.:  v*»erk:r^:-..er.' 

Ein  be:gelug:or  Holr.sci.n:::  F:g.  -(>o  zeigi  die  Eltern  in  eifrigem  Öe- 
>;'räcbe.  Dtr  Vater  st;::  ,icr  aufn.trksau:  ruhrrerden  Mutter,  wdcbe  ein  Kind 
:»::  der  Brust  hat.  etwas  aus  eiuauder.  E:r.e  halberwachsene  Tochter  spinnt;  dn 
Kind  sitz:  :m  K::.»iers:.;hi.  eiues  sieb:  :n:  LautsTubl  iwe:  sitzen  an  der  Erde  nnd 
essen  aus  e;ner  C&sserollc ;  eii:  K::a':»e  rei:<t  au:  dem  Steckenpferd,  ein  MUcfaen 
ba:  ein  KCrt^cben  am  Arme  u::i  v:ne>  ha:  sieb  a::  den  Vater  augesckmi^L  Im 
Ganzen  hat  das  Eh^n.paar  also  :.e;:n  Ki::.ier  :u  ernähren.  Da  ist  es  wohl 
begreiflich,  dass  die  Vfn:un:^  zu  weil  eu  trr^te::  r.:',:ss. 

Bei  den  Rr-mvrr.  hatte  der  K.vsir  .-l....?  •>•...':  besondere  Strafen  fÄr  Kinder- 
lose festgesetzt. 

I^ie  alten  Inder  Ifgt«::  au:  K.r.der>egcu  i:no::  hoben  Werth:  Im  Geeetz- 
buche  J/.2>i./>.  weUhes  etwa  in:  4  .lahrbuu.itr:  v.  Chr.  entstand,  heisst  es  (Bach  9. 
:s*  Streune 

»Weiii  2-41.  keioe  Kir.ier  b:it.  j^.  i*v.r.  :v.ur.  .v.o  c^»  :::.*.'i.:t-  Nacbk.-'sime&flcliaft  doi^ 
ii-  Verl'irduue  »einer  iär-  er-ioructev.  ».iün-.n  .■..•.:  .ii^r.:  l-r.-..^-er  .vier  einem  Verwaadlaa 
erlang:..*  l'nd  d^s  bierm::  er'an^e  K.r..:  «v.-.i  :ir.ctv<»hri: .  .-^U  wart*  es  Ti?m  wirkliehflB 
•Thiten  rixeuri:  denn  in  der  140  Strj^ybe  :e:s>:  o>  »o:i:r  .IVr  Samen  und  dia  I^vdit  ga- 
:-T'ren  tjh  R^btsvegeL  des:  !>««::  r er  »i-.-»*  >\v.i«v  • 

Freilich  war  dabei  ganz  beso:^der>  ro.ar.r.l.cb«  N.-icbkommen»*^ 
und  nach  JJatfn's^  Gesetz   durfte   sogar    o:r.  \\e:b,    i^elches   nach  r 

nur  Mädchen  und  noch  keinen  Knaben  gt^bortui  hatte.  Ton  i 
Blossen  werden.  Nach  CJfaln's  Zvugn^.«$  giebi  es  in;  Kulu-T 
ganz  ähnliche  Gebräuche. 


150.  Da«  Ansdien,  in  welchem  die  (Jofmohtbarkeit  steht 


579 


unter  den  alten  Persern  galt  ea,  nach  Herodot,  für  ehrenvoll^  viele  Kinder 
zu  erzeugen,  und  Zoroaster  sagte: 

^Ich  oenoe  tloo  FiiimUeDvaier  vor  dem  Einderlüsen/ 

Auch  den  Israeliten  galt  Unfruchtbarkeit  fttr  ein  grosses  ÜDgUick,  und  die 
Rabbiner  des  babylonischen  Talmud  that^n  den  Ausspruch: 

«Der  Arme,   der  Aui«jlt7agei    der  Blinde    und   der  Kinderlose   sind   für  nicht  lebend 
zu  betraohten.* 

Kinderlosigkeit  gilt  im  Morgenlande  für  schmachvoll,  und  die  Moslim  sowohl 

Is    auch    die    orientalischen    Juden    machen    die    Unfruchtbarkeit    zu    einem 

cheidungsgrund.     Vom  Araber    wird   sie    im    eigentlichen    Sinne   als  Unsegeu, 

den  tVauen  noch   dazu   als  Schmach   betrachtet.     Ja,    eine    arabische  Frau^ 

die  nur  Mädchen  gebiert,  sieht  sogar  sich  schon  als  Yerflucht  und  mit  einem  Makel 

behaftet  an.     (Sandrezcki,) 


;.«  n:..f 


^^Lä%. 


Fla«  365.    Von  dinein  fhiohtbsres  Hmiwsweyb.    (Nftoh  Fr^citcu*  f^rarcM^.) 


Das  türkische  Weib,  das  kinderlos  ist,  geniesst  wenig  Ansehen  und  wird 

Ton  ihrem  Gatten  vernacbläsaigt  und  in  vielen  Fällen    auch    Verstössen.     Das    ist 

^ein  grosses  Unglück  für  sie,  denn  da  die  Türken  die  Unfruchtbarkeit  für  einen 

Fehler  in  der  Organisation  der  Frau  betrachten,  so  wird  sich  ihr  sehr  selten  die 

''Gelegenheit  bieten,  dass  sie  eine  neue  Ehe  eingehen  kann.     (Oppenheim.) 

In    Süd-Albanien    sind   bei    den  Türken   unfruchtbare  Weiber   förmlich 
irerachtet  und  daher,  weil  sie  Fruchtbarkeit  erlangen  wollen,  in  steter  Verbindung 
lit  alten  Zigeunerinnen,  welche  Geheimmittel  besitzen  sollen,  um  eine  schnelle 
Emjifiingnisa  herbeizufuhren.     (Lehnert,) 

Auch  in  mehreren  anderen  Provinzen  Indiens  gilt  die  Unfruchtbarkeit  der 
?rau  als  etwas  Verächtliches  und  als  ein  grosses  Unglück.  Verfehlen  in  Madras 
iie        i  *  '■'     1,    welche   bei    der  Unfruchtbarkeit   angewendet  werden,    ihre 

Ml!  der  Mann  seine  Gattin  Verstössen,  weil  sie  ihm  keine  Hoff- 

|iung  auf  Nachkommenschaft  giebt.     (Bestj 

Wenn  bei  den  Badagas  am  Nilgiri*Gebirge  in  Indien   eine  Frau   keine 
der  bekommt,  so  nimmt  sie  ihre  Schwester  als  ^zweite  Frau*  in  das  Haus,  si* 
bleibt  aber  darin  die  Herrin*     Ist  dies  Auskunfismittel  nicht  ausfuhrbar,  so 

37  ♦ 


•^iri  iir  Fr^-  n  iLrer  ElLem  heJTr.gea^rlcki,  cier  s*  tfcwfrmthK  äueu  AHwi,  der 
f-r-i*  7.-4--  .1:=.  T.ili  Z^i-5r.  T:r  fc"y~  Tit*  >Ti=*  s-*ftai:i.  CiSKnäsi  äHbt  w^Km.  die  Eade 

--_i^r  -.-rr-iiT'iiJrr.  Fri;  ir.i  LAilr*iii  rlii  iü^  ki:i  Sff  C'iss'.  die  däe  JongieiHiUüif 
.-.-  5T-^:  ■^.  z^rTZ'^  '-.-s-sti^— ^?=.  jriiüiffit  n::  yk=.*=.  I  t"»-*  Bw&'tfft-ff.««  Bftc&  madovi  kt 
'.-'  Ni^r    i-tsrr   r:rLi4--:  Ir-=-i   fafc^-jis,;:*     iiririzÄ    z:=.  >ae?K   fe   ür  Ehebett    la  «r- 

:-T*--  iz.  --*:.:  s-^:*::;!^?  Iatt«:*!!:-  *':•?=*:  •«-.*  früc  :-si  i*E  Griicr^B  dftc  Svaadbild  da 
-'-•"  :;»!  -^i  -«ri  i^-  2l:-r=.   ^er -*:.*=.  iij  Tir  ir=.  Sisze^fiTi  F'C*'  *^*«"  JFnäL  die  ebew- 

:-==:•=- ir:^-  :*rz-_i  •'- 1  *s  illfi.  1=..  ::  *i*  liizrci  ie:  ICnsarfrTwäeK  lä&Ibftäi^  vird.  Kxmaxt 
:.-  zj-iir.  in  Lrfiinr^  irirr-rrL    Iri?   zr:»»«  ELuriz^r    »  i*=.  S^fcina»  td«  BataTia  wird. 

F!lr  di*  Frzi-en  irr  Chinesrz  :?:  eize  z*Llre::ie  Kirdsisduuir  die  gro»tt 
Frr:ide.  Dar::  ?:*i:  iir.  s^hreirzircE  Wi.irr?rr::c*::  die  P^Atsafhe.  das  chinesische 
Elt-rm  =i:  kal:e=.  Bl-tc  iLre  Kinier  =::rirz.  i-ier  «ich  icr  Neogeboreoen  durch 

A'c-er  üici:  Ic-erill.  *:  -^r.  üe  Fr:i:i::cArke::  ^n  jich  hxhsckätzt.  ist  anch 
•Bririli.L  eheliche  Fr-ohtiÄrkri:  viriÄLdec,  ä*:-.  z.  B.  iz  JapaE.  Denn  obgleich 
-irr  :er  KLiier^^ei.  ils  t-ä-.i.ierr  *t-.:i:5:  ies  HizLii.e:«  irges«:h«:  wird,  toid  dieser 
A-fsÄ-ui.^  &-:•:  das  Sirlihwm:  .bieirre  Le^:*  r:*t-rn  ririe  Kirder*  Ansdnick 
Z-^'j'^  Tini  d'>ci.  di-r  niei«:*::  Firiilirn  wrni^  i&iilr>ei:h  und  bilden  dr>?i  Kinder  wohl 
drL  D::rcL5':i.::ir::  Lier  ir:  ;«>:•:  k±iem;ri  :i::i  das  Aass«tzec  dorrkaos  nicht 
*o  Lijrg.  wie  ii:  CLiza. 

A-i  d^n  kl^^inez  Iz«i?I^n:pi«:  iz:  5-:ii:*«:.rz  des  rualÄjischea  Arrhipds  ist 
dir  Ai.?icL:  ^b^r  die  Fn:L:r«rie::  eine  «enr  Tersonieden&rtge-  Während  auf 
den  Aar-i-  .ni  auf  dei  Babar-Ins-rln  die  El:em  sich  t:*!*  Kinder  wünschoL 
?«Len  wir  &.:  :is:  allen  ien  -":rlzen  Inseln  des  al:nr:«:nen  Meer»  künstliche 
Abtre:bi.ng?in.:tel  an:n  c«ei  Terieiraibr-.er.  Franen  niun*:  im  Gebrauch,  wmhrecd 
aiderer-^iti  ab-er  a-cn  wieder  aller Lini  Heilnieih r-ien  i:e*rn  absolcte  Unfrncht- 
varke!:  aizewende:  -werden.  A-f  Ke:?ar  ?lni  den  Männern  viele  Kinder  er- 
•w^n^.n:.  iie  Yrwi-.z.  -eii-fn  ?:rren  iarlr.  dis«  ?:r  ni:h:  mehr  al«  zwei  bis  drei 
''.-rk.n.r.ri.  Dir  Wä  —  '-ela-In^ilanerinnen  -  iUen  *  j-^r  nnr  ein  einziges  Kind 
oder  Lxhrten?  irren  zwei  bib-rn  "ni  V-e?e:::^eL  emen:e  >ch'nrin^er5chaftcn  durch 
Abvr.ivrLiv.ri.     •K'-uV-.. 

A--:  den  V::i-In?el::  ?lni.  wir  i.\-'"i  'ericb-.e:.  nnfr-.r.r'.&re  Ehen  hänäg. 
*irw"bilicb  w-:rd  lier  die  Fran  '  es'ib-Ji:^::  iber  a;.:b  FiUr  v:n  loipoteni  der 
MiiLrr  sind  1a- V'.  bekann:  ^ew-iriei. 

Un:r::':L:bÄrke::  is:  h-e:  den  V'lkem  A:rika>  r\e':all>  schindend  für  die 
Frau  und  in  manchen  Nejzer-Läniem  zil:  >:r  äI*  ein  Bewri?  früherer  grober 
A:i^Khwr;f::r.g:  cie  k;::derl:-e  Fri.  ii  Arirr'.a  w-.ri  il'.^tn.rin  vrrspoltet.  and 
dtthalb  mai:h:  rir  biiweileL  d-r-ih  >7l:?:m:rd  ihren:  L-f^tz  nn  Ende,  Weiber 
-id  K:r.der  ?ind  die  hocbsie^n  «jiCter  ie*  Nejer*  an  de:  L.-^aciiro- Küste;  sie 
bilden  srlier.  ReicLthum.  rie  mehre-  -i:!  te^r^en  d:e  F^imiüenl 
rrnöhen  -eir.  AL~rhen  und  seinen  Einnn«*:  die  ----.hiVÄre  FrA.: 
-terilr  Wei'.-  n-U^achtet.  Ff^hufl^Lofr:}'^..  I'is>rlVr  ^/.:  nzter 
O-iLea-K-ste.  wo  die  Achtung,  deren  r  n  We:b  <:ch  -rTreu:. 
Kiüder.  r.^s^.r.der*  der  r'-jhne.  steigt.     J/  i    Auch  in  »/^ber- 

Daalla-Xegern    gilt  Kinderreichrhn:  ^^noases  Glück, 

lort  selten  tof.    da:^^  eine  Frau  mehr  *r  hat:    bek 

doch  gar  kei&e  Kinder,  «o  fordert  d  ^fcomme  n 


151.  Die  VerhütuDg  der  Befruchtang.  581 

Die  Kamerun-Negerin,  welche  einmal  geboren  hat,  ist  stolz  anf  ihre 
Mutterschaft;  dagegen  sind  diejenigen  Franen,  welchen  die  Mutterireuden  versagt 
sind,  weniger  angesehen.  (Pauli.)  Aehnliches  berichtet  man  von  anderen  Völkern 
Afrikas.  Einem  unfruchtbaren  Weibe  begegnet  in  Kordofan  der  Ehemann  mit 
Verachtung,  wenn  er  es  auch  früher  geliebt  hatte.  {Igncus  Pcdlme.)  Bei  den 
G alias  verhilft  sogar  die  Grattin  selbst  ihrem  Manne  zu  einer  zweiten,  dritten 
oder  vierten  Frau,  indem  sie  ihm  «schone  und  fruchtbare  Mädchen '^  vorschlägt 
und  zuführt.    (Bruce,) 

Unfruchtbarkeit  der  Weiber  gilt  bei  manchen  In  dianer- Völkern  als  grosses 
Unglück  und  hat  gewöhnlich  die  Verstossung  der  Frau  zur  Folge.  Die  Indianer 
des  Gran  Chaco  in  Süd- Amerika  trennen  sich  nicht  selten  von  ihrem  Weibe 
und  nehmen  einfach  ein  anderes,  aber  nur  solange  noch  keine  Kinder  da  sind. 
Ist  jedoch  das  erste  Kind  geboren,  so  gehören  die  Ehescheidungen  zu  den  Aus- 
nahmen.    (Amelung,) 

Nach  slavischer  Anschauung  sind  Kinder  ein  Segen  Gottes;  eine  Ehe 
ohne  Kinder  ist  unglücklich  und  der  Gattin  wird  die  Schuld  beigemessen.  In 
Böhmen  wird  die  junge  Frau,  welche  im  ersten  Jahre  der  Ehe  ein  Kind  hat, 
belobt  und  reich  beschenkt.     (Lumzow.) 

Den  Serben  gereicht  Kindersegen  zur  grössten  Freude  (Petrountsch),  und 
Krauss^  sagt: 

„Das  unfruchtbare  Weib  wird  bemitleidet  und  geringgeschätzt.  Ihre  Stellang  im  Heim 
des  Mannes  wird  immer  unhaltbarer.  Der  Mann  sucht  in  Gemeinschaft  mit  seinem  Weibe 
durch  zauberkräftige  Mittel  diesem  üebelstande  abzuhelfen.  Im  Sprücbworte  heisst  es:  Ein 
Weib  ist  kein  Weib,  ehe  sie  nicht  gebärt' 


151.  Die  Terhfitang  der  Befruchtung. 

Wir  werden  in  dem  folgenden  Kapitel  sehen,  wie  erfindungsreich  der  mensch- 
liche Geist  in  den  Versuchen  gewesen  ist,  dem  unfruchtbaren  Weibe  die  Mutter- 
schaft zu  ermöglichen.  Es  giebt  aber  andererseits  auch  eine  Reihe  von  Situationen, 
bei  welchen  die  zeitliche  oder  die  dauernde  Uniruchtbarkeit  als  ganz  besonders 
wünschenswerth  erscheint.  Nicht  immer  ist  dieses  nur  der  illegitime  geschlecht- 
liche Verkehr  zwischen  Unverheiratheten,  welcher  hier  in  Frage  kommt,  sondern 
auch  in  der  Ehe  finden  sich  Zeiten,  wo  ein  fernerer  Kindersegen  unerwünscht 
erscheint.  Wird  ja  doch  sogar  von  einem  frommen  Landpfarrer  erzählt,  den  seine 
Gattin  mit  Drillingen  beschenkte,  dass  er  bei  dem  Erscheinen  des  dritten  Kindes 
die  Hände  gefaltet  und  gerufen  habe:  «Herr,  höre  auf  mit  Deinem  Segen!'' 

Absonderliche  Sitten  haben  aber  auch  bei  manchen  Völkern  eine  Schwanger- 
schaft vor  dem  Ablauf  einer  bestimmten  Anzahl  von  Jahren  nach  der  Ver- 
ehelichung als  unschicklich  gebrandmarki  In  allen  diesen  Fällen  ist  man  durch 
allerhand  Kunstgriffe  bemüht  gewesen,  einer  unliebsamen  Befruchtung  aus  dem 
Wege  zu  gehen. 

Die  jüdische  Frau,  welche  ihre  Schwangerschaft  vereitelte,  beging  nach 
Josephus  ein  todeswürdiges  Verbrechen.  Die  Juden  des  alten  Testaments 
kannten  ohne  Zweifel  Methoden,  die  Befruchtung  zu  verhüten.  Eis  wird  wenigstens 
von  Onan  berichtet,  dass  er  den  Actus  in  dem  Augenblicke  unterbrach,  wo  er 
fruchtbildende  Folgen  desselben  vermuthen  durfte. 

Bei  den  Talmudisten  finden  wir  die  Frage  erörtert,  ob  eine  Frau  eine 
Schwängerung  vermeiden  dürfe,  und  in  der  Thosaphta  findet  sich  die  von 
Kazen^on  citirie  Stelle: 

,Ib  drei  Fllkn  isi  den  Weibern  der  Gebraach  von  Watte  rar  Yermeidimg  der  Gon- 
oeption  geiAaH«^«  -*  wann  dM  Weib  jünger  als  12  Jahre  iat  und   eine  Geburt  lebens- 

gelihriinh  n  ein  tängendet  Kind  an  der  Brost  hat,  und  endlich 

dF^Pi  SaMehmig  eines  SandalinmH  zu  befQrcbten  ist. 


.  -..li"^  Mi^-   ii*  ÜL:  '^-c  z-j-itn  t.ir.^Li,Ä=.  ia:rf- 

'^-r-r   '^4..:-  -  .r:»sti;Lj:-:!i    ▼-_!     T:r     sas.    T-'..pTr>f^»wT   Tf« 


v^L-iij^      L/ni^r-i-    -.•ütjijl'jK  .    •jfc'r    in    iiÄsi^r   ^^TT.^firs  V^s»   Ag^m»   Cmibs  in 

kiii-T^^^r-r^-r  JLr^rl    JrL-'^    irrrj:ri-::kr   n  rAiLiei-     Xnci    ä*r  Lekr«  der  Sjm- 

Arr-    r«:^ -.«.#.;    ri".    i-s^rir-     :-fi  r^TJ:.    i:-*  Irkz  »zIj».    irsaz.    fir    «e2#  Gcbnn 

t^ir:.!---.!  i-->^.-l:-;-  r^r  *•: r.  I-^i-rZ':  :*r  ^;A::Lkr:c  £-ri  Aiuol  »i  säet  baJtaL 

IL.-    '.•i.   : Irr  ri.i-*.  =-*  .7«-:*Lsk:i   :-:-=t  AT^rnii  raaiisci,^  t-ftsSTSsÄ*^  nsjd  «ärii 

.Vi.  1  .--ir-  lir^'Zr:^i.'.:z.  zrZ^.r.crz.  il?    .lir :;'-:: :kr  -i/i-rr:.  ri-scji:   der  &si:is« 
T—    Z.V..-..::.-  --•.  r^z.-vitn  Li_j;i::i .  rÜTiTüiii.^   ^i  A : fl i7::i::i*-:r  ^Ufr  Art. 

:.*/.!   i*-  Hv.:.2A.:  .-  i.*.  Wy.i*c  zy-  innr::.     Iz^Ci'-'r-r  O—äs 
'       W.^  ii  r^^ir:^  i^ifr  Kiri^r  Li:ei,  >:  n^i:  .-  .^=.  f-nri  Äi 

W«:i:  ii':  Fr*a  fe  ••erben  will.  *r  Kiri«  b 


l&l.  Die  Verbat ung  der  Betruchtiuig. 

soll  sie  mit  den  Beinen  des  Neugeborenen  die  HausihDre  zunaacben.  (Petrowitsek.) 
Wenn  bei  den  Süd-SlaTeo  ein  Kind  stirbt,  so  darf  der  Sargdeckel  zu  Kopf  und 
Füssen  der  Leiche  nicht  vernagelt  sein,  weil  sonst  die  Mutter  unfruchtbar  bliebe, 
oder  wenn  es  gut  ginge»  eine  sehr  schwere  Entbindung  bei  der  nächsten  Nieder- 
kunft zu  bestehen  hätte.  Will  ein  Weib  einige  Jahre  hindurch  nicht  mehr  Kinder 
zur  Welt  bringen,  so  braucht  sie  nur  die  Finger  in  das  erste  Badewaaser  ihres 
Kindes  zu  tauchen  und  dieselben  dann  abzulecken.  Jeder  eingetauchte  Finger 
entspricht  einem  Jahre,  dass  sie  kinderlos  bleibt.     (Krams^,) 

In  Bosnien  bedient  sich  nach  Truhelka  die  Braut,  die  vor  Kindern  be- 
wahrt sein  will,  folgenden  Mittels: 

«Wenn  die  Hochzeiter  um  ne  kommen  und  sie  im  Begriffe  ist.  in  den  Sattel  zusteigen, 
soll  sie  ihre  Hand  unter  die  feetan gesogenen  Bauchgurte  schieben.  Soviel  Finger  sie  unter  die 
Baacbgurte  schiebt,  soviel  Jahre  bleibt  sie  unfruchtbar;  und  waren  ee  beide  Hllnde,  so  wird 
sie  niemals  gebaren/ 

GlUck  berichtet  noch  einen  anderen  Zauber: 

,Wio  heb  und  theuer  dem  Bosnier  auuh  die  Kinder  sind,  so  ist  man  doch  hier  und 
da«  nt^m entlich  unter  den  Städtern,  wenn  der  Kindersegen  zu  rasch  sunimmt^  oder  wenn  mun 
gli&ubt»  schon  genug  Kinder  zu  haben,  bedacht,  dem  Zuwachs  Einhalt  zu  thun.  Will  man 
daher  f?ir  eine  gewisse  Reihe  von  Jahren  keine  Kinder  hüben,  no  steckt  man  ein  Messer  zwischen 
zwei  Bretter  der  Zimmerdecke,  und  swar  in  einen  Spalt,  welcher  durch  eeine  Lage  zugleich 
anseigt,  durch  wie  viele  Jahre  man  keine  Kinder  haben  will.  Beabsichtigt  z.  B.  die  Frau 
durch  drei  Jahre  nicht  fruchtbar  zu  werden,  so  steckt  sie  das  Messer  in  den  dritten  Spalt  von 
der  Thüre  oder  vom  Fenster  gerechnet.  Will  man  Qberhaupt  keine  Kinder  mehr  haben,  so 
verriegelt  man  die  Zimmerthür  mit  einem  Fusse  des  letztgeborenen  Eindee/ 

In  RuBsland  trinkt  man  zur  Verhütung  der  Schwangerschaft  einen  Aufguss 

Ivon  Lycopodiuni  annotium,  oder  am  Morgen  nüchtern  ein  Glas  warmes  Wasser. 
In  Ehntland  nehmen  die  Weiber  Quecksilber  ein  und  im  Gouvernement 
Kiew  den  wlUsrigen  Aufgnss  der  Paeonia  ofticinalia;  auch  der  frische  Saft  des 
BchöUkrautes  (Cheltdonium  majus)  ist  bernhmt,  und  die  Tatarinnen  benutzen 
|en  Thee  von  dem  Adler- Farnkraut  (Filix  intis). 
^  In  Sibirien  sollen  die  W^ eiber,  wenn  die  Menses  sich  einstellen,  ein  be- 
stimmtes Quantum  Bleiweiss  nehmen,  wodurch  diese  angeblich  unterdrückt  und 
bis  zum  nächsten  Eintritte  derselben  die  Euipfangniss  verhütet  werden  soll;  beim 
Aussetzen  des  Mittels  kehrt  nach  der  im  Volke  herrschenden  Meinung  auch  die 
Möglichkeit  der  Empfangniss  wieder  zurück.     (KrebdJ 

Um  nicht  schwanger  20  werden,  sollen  nach  Kbimnnger  in  Ober- Aegypten 
die  Weiber  von  dem  Pulver  der  gebrannten  Porzellanschnecken-Schale  (Cypraea) 
drei  Mund  voll  nüchiem  nehmen.  Wenn  in  Algier  eine  Frau  nicht  sobald 
wieder  schwanger  werden  will,  so  trinkt  sie  einige  Tage  lang  Wasser,  in  welchem 
man  die  Blätter  der  Salsola  und  der  Pfirsich  eingeweicht  hat,  oder  sie  geniesst 
den  Saft  der  Frucht  des  Feigenbaums,  auch  braucht  sie  nur  auf  ihrem  Kopfe  ein 
Amulet  zu  tragen,  ein  Papier,  auf  dem  zwei  Vierecke  gezeichnet  sind;  an  jeder 
Ecke  der  letzteren  sind  die  folgenden  Zeichen  i  |  t  angebracht,  um  welche  herum 
rabische  Worte  stehen.  |    |    | 

Um  sich  vor  unerwünschter  Befrachtung  zu  schützen,  tragen  die  Weiber  in 
Mekka  eine  Büchse  mit  Kaninchenkoth  auf  der  Brust     (Snouck  Hurgronje,) 
Von  den  Viti- Insulanerinnen  berichtet  Blyth: 

«Wie  die  eingeborenen  Hebammen  es  antemehtDen,  Unfrncbtbarkeit  su  heilen,  io  nehmen 

7M  Präyentiv mittein    ihre  Zuflacht,    die    manchmaJ  Erfolg  haben,    manchmal  nicht. 

nutzen   ßie  einen  Aufguss  der  Blätter  und  der  entrindeten,   geeefaabtea  Wonel  des 

oga-Uoliee    und  der  Samalo.     Hat  Abends    der  BeiscbUf  stattgefunden,   80  wird  der  Trank 

^n  Tuge  gonomroen.     Dieaes  PrftrentiT mittel   für   eine  Erstscbw&ngemng  wird   auch 

genommen,  welcbe  keine  Schwaagertchaft  mehr  wünschen,   nachdem  sie  ein  oder 

rbet/aituhren^  gebraucht  man  auf  den  Neu-Hebriden 
wticüc  awj  Weiber  verspeisen.     (Jamieson) 


584  ^XI.  Die  Unfruchtbarkeit  des  Weibes. 

Verschiedene  rein  mechanische  Arten,  sich  vor  der  Befruchtung  zu  schätzen. 
haben  wir  bereits  bei  Australierinnen  und  bei  Bewohnerinnen  des  malayischen 
Archipels  kennen  gelernt.  Letztere  verhalten  sich  nach  Biedd^  bei  dem  Goitus 
sehr  indifferent,  um  nicht  geschwängert  zu  werden;  erstere  verstehen  es,  durch 
eine  schlenkernde  Bewegung  der  Beckenregion  sich  des  eingedrungenen  Sperma 
zu  entledigen.  Auch  kommen,  wie  wir  gesehen  haben,  bei  ihnen  Madchen  vor, 
denen,  um  sie  unfruchtbar  zu  machen,  die  Eierstöcke  herausgeschnitten  waren, 
und  das  Gleiche  fand  sich  in  Ostindien.  Ebenfalls  in  Indien,  bei  denMunda- 
Kohls  und  in  Niederländisch-Indien,  verstehen  sie  es,  eine  Conception  durch 
absichtlich  vorgenommene  Lageveränderungen  (Knickungen)  der  Gebärmatter  zu 
verhüten.  So  sind  jedenfalls  die  Worte  des  Missionars  JeUinghaus  zu  denten, 
welcher  erzählt,  dass  arme  Weiber  unter  den  Munda-Kohls  in  Indien  sich 
ohne  Wissen  der  Männer  die  Gebärmutter  verschieben  und  verdrQcken  lassen,  um 
die  Plage  der  Schwangerschaft  los  zu  sein.  Und  aus  Niederländisch-Indien 
berichtet  van  der  Burg: 

,Der  dort  schon  früh  entwickelte  Geschlechtstrieb  der  M&dchen  wird  amtandalos  be- 
friedigt, wobei  man  sich  der  Hülfe  einer  Doekoen,  einer  der  zahlreich  vertretenen  heilkondigen 
alten  Franen  bedient,  um  nicht  zu  concipiren.  In  der  That  scheinen  diese  Weiber  sa  ver- 
stehen, durch  äussere  Manipulationen,  durch  Drücken,  Reiben,  Kneten  durch  die  Baachdecken 
hindurch,  nicht  von  der  Scheide  aus,  eine  Lageverilnderung,  Vor-  oder  RfickwartBknickung 
der  Gebärmutter  zu  Stande  zu  bringen,  welche  die  Conception  verhindert,  und  zwar  ohne 
dass  weitere  Beschwerden  davon  die  Folge  sind,  als  leichte  Kreuz-  und  Leistenschmerzen  und 
ürinbeschwerden  in  den  ersten  Tagen  der  Procedur.  Will  ein  derartiges  Mädchen  tpfttar 
heirathen  und  Mutter  werden,  so  wird  die  Gebärmutter  wieder  auf  dieselbe  Weise  in  Ordnung 
gebracht.* 

Wie  wir  oben  durch  Stratz  erfahren  haben,  gelingt  dieses  aber  nicht  in 
allen  Fällen. 

Dass  auch  bei  den  civilisirten  Völkern  Europas  allerhand  Vorkehrnngs- 
maassnahmen  eine  weite  Verbreitung  besitzen,  bedarf  wohl  an  dieser  Stelle  keiner 
besonderen  Erörterung.  Es  sind  die  allbekannten  Fisch-  und  Gummiblasen  und 
die  Schwämrachen,  und  auf  der  gynäkologischen  Klinik  in  Berlin  entdeckte 
E,  Martin  zu  meiner  Studienzeit  in  der  Vagina  einer  Frau  sogar  einen  kleinen 
Borsdorfer  Apfel. 

Wer  sich  über  die  schädlichen  Wirkungen  unterrichten  will,  welche  der 
sogenannte  Coitus  interruptus  auf  den  Genitalapparat  und  das  Nervensystem 
der  Frau  auszuüben  pflegt,  den  muss  ich  auf  die  Abhandlung  von  Valenta 
verweisen. 

Ganz  neuerdings  ist  ein  neuer,  sinnreich  construirter  Apparat,  das  Pessarium 
occlusivum,  zur  Verhinderung  der  Empfangniss,  von  Dr.  Mensinga  in  Flensburg 
(unter  dem  Pseudonym  Hasse)  in  die  ärztliche  Praxis  eingeführt  worden,  welcher 
für  gewisse  Fälle  ganz  unbestritten  eine  grosse  Wichtigkeit  und  Berechtigung 
besitzt.  Dass  vielleicht  von  einzelnen  Leuten  damit  ein  Missbrauch  getrieben 
werden  wird,  das  werden  die  Aerzte  nicht  zu  verhindern  vermögen. 


XXII.  Die  Therapie  der  Unfruchtbarkeit. 

152.  Die  Terhfitang  der  Unfruchtbarkeit. 

Wir  kÖDnenes  sehr  wohl  begreifea,  dass  namentlich  bei  solchen  Völkern, 
bei  denen  eine  unfruchtbare  Frau  der  Schande  und  Verachtung  und  allerlei  Un- 
bilden von  Seiten  des  Gkitten  und  ihrer  Angehörigen  ausgesetzt  ist,  die  Braut 
und  deren  Freundschaft  bange  Sorgen  bei  der  Schliessung  der  Ehe  beschleichen, 
ob  nicht  auch  ihr  solch  ungünstiges  Geschick  beschieden  sei.  Und  da  erscheint 
es  uns  denn  ganz  natürlich,  dass  man  zu  rechter  Zeit  auf  allerlei  vorbeugende 
Mittel  Bedacht  genommen  hat.  Sollen  solche  Zaubermittel  aber  von  rechter 
Wirkung  sein,  so  kommt  es  auch  darauf  an,  dass  man  die  richtige  Stunde  wählt, 
um  sie  m  Anwendung  zu  ziehen. 

Da  finden  wir  denn,  dass  man  so  früh  wie  möglich  mit  den  sympathetischen 
Maassnahmen  vorgeht  und  dass  man  namentlich  drei  Zeitpunkte  besonders  bevorzugt 
hat,  nämlich  den  Hochzeitstag,  die  Hochzeitsnacht  und  den  Morgen  nach  der 
Hochzeit.  Am  Tage  der  Hochzeit  kann  der  Zauber  bereits  in  der  Kirche  während 
der  Trauung  seinen  Anfang  nehmen,  oder  es  wird  der  Augenblick  gewählt,  wo  das 
junge  Paar  zum  ersten  Mäe  als  Neuvermählte  das  neue  Heim  betritt.  Aber  auch 
die  Zeit  des  Festmahles    ist  noch  für  die  vorbeugende  Hülfe  geeignet. 

In  Ungarn  herrscht  der  Aberglaube,  dass  die  junge  Frau  schon  bei  der 
Trauung  durch  eine  Art  Zauberei  die  Zahl  der  Kinder  bestimmen  könne,  welche 
sie  künftig  bekommen  wird:  So  viele  Kinder  sie  haben  will,  auf  so  viele  Finger 
muss  sie  sich  vor  der  Copulation  in  der  Kirche  setzen,     (v.  Csaplovics.) 

Auch  in  Aegina  pflegen  die  Trauzeugen,  um  der  jungen  Ehefrau  die 
Fruchtbarkeit  zu  sichern,  dieselbe  sofort  nach  erfolgter  Einsegnung  mit  Erbsen 
und  Granatapfel-Kernen  zu  bewerfen. 

Die  Serbin  hängt  ihr  Hemd  umgekehrt  an  einen  gepfropften  Baum,  so 
dass  die  Aermel  nach  unten  hängen.  Unter  das  Hemd  stellt  sie  ein  Glas  voll 
Wasser.  Den  nächsten  Morgen  trinkt  die  Frau  das  Wasser  aus  und  das  Hemd 
zieht  sie  an.  Andere  lassen  sich  von  einer  Schwangeren  Sauerteig  in  den 
Gürtel  geben  und  schlafen  mit  demselben  eine  Nacht.  Den  nächsten  Tag  isst  die 
Frau  den  Sauerteig  zum  Frühstück  auf. 

Wenn  bei  den  Serben  die  jungen  Ehegatten  ihr  Haus  betreten,  dann  muss 
die  Frau  nach  dem  Dachbalken  blicken.  So  vielen  Söhnen  wird  sie  das  Leben 
schenken,  als  sie  in  diesem  Augenblicke  Balken  erblickt. 

Die  Zelt-Zigeuner  in  Siebenbürgen  werfen  nach  v.  Wlidocki^  den  Neu- 
vermählten, wenn  diese  ihr  Zelt  betreten,  ,alte  Stiefel,  Schuhe  und  Bundschuhe 
nach,  wodurch  die  Fruchtbarkeit  der  Ehe  gesteigert  werden  soll.* 


586  ^^n.  Die  Therapie  der  Unfrnchtbarkeit. 

An  einigen  Orten  in  Rassland  wird  schon  bei  Gelegenheit  der  Hochzeit 
Rücksicht  darauf  genommen,  dass  der  jungen  Frau  der  Eindersegen  nicht  fehle; 
in  Nishni-Nowgorod  z.  B.  werden  die  Neuvermählten  so  vom  Hochzeitsiiach 
geleitet,  dass  sie  keinen  Kreis  zu  beschreiben  haben,  sonst  bleibt  die  Ehe  un- 
fruchtbar.    (Sumzoio,) 

Die  Ehsten  werfen  bei  Hochzeiten  Geld  und  Bänder  in  den  Brunnen  und 
ins  Feuer  „für  die  Wasser-  und  Feuermutter  zur  Sühne*',  und  noch  am  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  wurden  bei  ihnen  am  Johannisabend  Opfer  in  ein  grosses 
Feuer  geworfen,  um  welches  unfruchtbare  Weiber  nackt  tanzten,  während  Opfer- 
schmäuse  gehalten  und  Unzucht  getrieben  wurde.     (Bäder.) 

Der  Brauch,  der  Braut  Kuchenstücke  auf  den  Leib  zu  stossen,  welcher  sich 
vereinzelt  in  Deutschland  findet,  bezieht  sich  wohl  auch  auf  die  künftige 
Fruchtbarkeit  im  ehelichen  Leben. 

Bei  den  alten  Preussen  stellte  man  in  der  Hochzeitsnacht  gebratene  Bocks- 
und Bären-Nieren  unter  das  Brautbett;  hierdurch  wollte  man  Fruchtbarkeit  her- 
vorrufen. Auch  durfte  für  das  Hochzeitsmahl  kein  weibliches  Vieh  geschlachtet 
werden,  sondern  es  durften  nur  Böcke  oder  Bullen  sein.  Am  anderen  Morgen 
kam  die  Hochzeitsgesellschaft  wieder  vor  das  Bett  und  der  unter  das  Bett  ge- 
stellte ,  Brauthahn "  wurde  visitirt;  war  noch  etwas  übrig,  so  mussten  es  die 
jungen  Eheleute  schnell  aufessen. 

Bei  den  Tataren  ist  es  der  Morgen  nach  der  Hochzeit,  welcher  seine 
mystische  Kraft  entfaltet.  Bei  ihnen  war  es  früher  Sitte,  dass  man  am  Morgen 
nach  der  Hochzeitsnacht  die  Jungvermählten  aus  der  Jurte  zur  Begrüssung  der 
neu  aufgehenden  Sonne  herausführte.  Man  nimmt  nicht  mit  Unredit  an,  dass 
dieser  Gebrauch  aus  der  alt  persischen  Culturwelt  stammt,  denn  in  der  That 
ist  dies  noch  heute  in  Iran  und  in  Mittel-Asien  gewöhnlich,  ein  üeberbleibsel 
des  alten  Parsi-Cultus.  Es  liegt  dieser  Sitte  der  Glauben  zu  Grunde,  dass  die 
Strahlen  der  aufgehenden  Sonne  das  wirksamste  Mittel  zur  Erlangung  der  Frucht- 
barkeit  bei  den  Neuvermählten  seien. 

Aber  auch  der  Lingam-  und  Phallusdienst  ist  ja  im  Grunde  genommen  gar 
nichts  anderes,  als  eine  Verehrung  des  befruchtenden  Sonnenstrahls,  wenn  die 
Götterbilder  auch  allmählich  zum  besseren  Verständniss  für  die  rohe  Menge 
menschliche  Formen  angenommen  haben. 

Bei  den  wandernden  Zigeunern  Siebenbürgens  wird  der  Fruchtbarkeits- 
zauber etwas  hinausgeschoben.  Aber  auch  sie  lassen  nur  die  allerersten  Wochen 
der  jungen  Ehe  vorübergehen ;  dann  wird  gleich  zu  folgendem  zauberkräftigen 
Mittel  geschritten:  Die  Gattin  sammelt  die  Fäden  der  Herbstspinne,  welche  als 
sogenannte  Sommeriaden  oder  Altweibersommer  über  die  Felder  fliegen,  und  ver- 
zehrt dieselben  in  Gemeinschaft  mit  ihrem  Ehemanne.  Dabei  müssen  sie  mit 
leiser  Stimme  den  folgenden  Spruch  hersagen: 

,Ihr  Kesclialyi  (Schicksalsgöttinnen)  spinnet,  spinnt, 

Bis  noch  Wasser  in  den  Bilchen  rinnt! 

Euch  zur  Eindtaaf  wir  einladen. 

Wenn  die  rothen  Glückesfaden 

Ihr  gesponnen,  ihr  gesponnen 

Für  duH  Kind,  das  wir  gewonnen 

Haben  von  Euer  Gnad\  ihr  Keschalyu"    (v,  Wlislocki^.J 


153.  Die  Torhersage  der  Unfk*achtbarkeit. 

Man  sollte  eigentlich  erwarten  können,  dass  bei  der  ungemeinen  Wichtig- 
keit, welche  es  bei  vielen  Völkern  für  das  Weib  besitzt,  ob  sie  in  der  zukünftigen 
Ehe  fruchtbar  sein  werde,  oder  nicht,  die  Volksweisheit  bemüht  sein  müsse,  ge- 


153.  Di©  Vorher«agö  der  ünfrachtbiirkeit. 

wisse  Zeichen  und  Merkmale  ausfindig  zu  machen,  um  ihr  dieses  vorher  anseheu 
zu  können.  In  dieser  Beziehung  aber  lässt  uns  die  Volkskunde  fasst  aller  Stämme 
der  Erde  im  Stich.  Allerdings  müssen  wir  hier  die  schon  im  Alterthume  herr- 
schende Ansicht  erwähnen,  daas  fettleibige  Frauen  för  die  Erzeugung  von  Kindern 
untauglich  sind. 

Ein  Volk  ist  es  nun  aber  dach,  welches  auch  in  dieser  Beziehung  seine 
besonderen  Kennzeichen  zu  haben  glaubt.  Das  sind  die  Japaner.  In  einer 
„Encyklopädie  der  Wahrsagekunst**,  welche  1856  inYeddo  erschienen  ist 
(als  Neudruck  einer  Ausgabe  von  1842),  sind  zwei  Frauen  in  halber  Figur  mit 
entblösstera  Körper  dargestellt.  Ich  gebe  in  den  Figuren  266  und  267  die  Nach- 
bildung dieser  Abbildungen.  Eine  üebersetzung  des  Textes  verdanke  ich  der 
grossen  Freundlichkeit  des  Herrn  Dr.  F.  W.  JT.  3IüUer,  Directorial- Assistenten  am 
Kgl.  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin. 

Die  eine  Figur  (266)  giebt  die 
Abbildung  einer  unfruchtbaren 
Frau.  In  dem  Texte  heisst  es  dazu: 
^Ob  eine  Frau  Kinder  haben  werde, 
ut  au9  dem  Gesichte  schwer  zu  erkennen. 
Trotzdem  kann  man  wissen,  dasa  eine 
Frau  kinderlos  aein  wijd,  nämlich  wenn 
die  beiden  Augen  tief  liegen,  wenn  da» 
Philtnim  der  Naie  (die  senkrechte  Rinne 
in  der  Mitte   der  Oberlippe)    oben    offen 

j(weit),  unten  aber  fein,  oder  auch  sehr 
Oach  ist.  Femer,  wenn  das  Philtram 
ttnlen  xwar  breit  ist,  beim  Lachen  aber 
!  Querlinie  zeigt,  so  ist  die  Vtetreffende 
Frau  unfruchtbar.  Dieses  ist  eine  Tradi* 
tion  der  ÄBE-FAmüie." 

,Auch    wenn     die    Lippen     wenig 
roth,  im  Inneren  aber  bläulich  erscheinen, 
Ist  die  Frau  nn fruchtbar*  • 

»Wenn  der  ganze  Körper  rund  ist» 
das  Gewebe  der  Haat  fein  und  von  -^ohr 
weisser  Farbe  ist,  wenn  die  Haut  und 
das  Fleisch  wie    gespannt    erscheint,    der 

,  Nabel  klein  und  flach,  der  Bauch  klein 
and  wie  geglättet,  die  HüftknocJien  ddnn, 
3ach  uod  klein,  das  Geaäss  rund  und 
klein,    der  Theil  zwischen    den  Schultern 

^nnd  den  Hüften  rund  erscheint  und  karz 
ist,   die  Brustwarzen  ein  wenig  flach  uod 

■  ein  wenig  schief  oder  gelb  sind,    so  ist 

■die  Frau  unfruchtbar.  * 


^- 


^•^ 


^ 


.Wenn    die   ZS^hne  von  selbst  sehr    Piß-  2fl6.    Eine  Fr»u,  w«lche  keine  lünder  eneiigen  wird. 
Iweiss   und  scharf  sind,   so  ist   deren   Be-  (Aas  einer  jap^nUcheii  EncyWopidie.) 

•itf.erin   unfruchtbar.      Wenn   der   Bauch 

klein  uod  in  der  Nabelgegend  nach  aussen  hervorgewölbt  ist,  so  ist  die  Frau  unfruchtbar, 
sehr  iettes  und  gleichsam  knochenloses  Weib  ist  unfruchtbar.  Dergleichen  Kennzeichen 
en  sich  noch  manche  anfuhren,  doch  müssen  wir  uns  hier  kurz  fassen.* 

Wir  sehen,  daas    auch    den  Japanern    die  Thaisache    nicht  unbekannt  ge- 
^blieben  ist,  dass  junge  Weiber,  bei  denen  es  zn   einer    Übermassigen  Fettbildimg 
kommt,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nicht  schwanger  werden. 

Zum  Vergleiche  hat  die  ^Encyklopädie  der  Wahrsagekunst*  nun 
auch  die  Abbildung  einer  fruchtbaren  Frau  gegeben.  (Fig.  267,)  Hier  werden 
aber  gleichzeitig  die  Anzeichen  geschildert^  welche  eine  Vorherbestimraung  des 
Geschlechts  ermöglichen. 


588 


XXII.  Die  Therapie  der  Unfruchtbarkeit. 


,Eine  Frau,  welche  beständig  bescheiden  ist^  und  welche  nichts  von  Bedeatong  redet, 
wird  viele  Mädchen  zur  Welt  bringen.  Wenn  das  linke  Ohr  einer  Frau  grOsser  all  das 
rechte  ist,  so  wird  sie  Knaben  gebären,  wenn  aber  das  rechte  Ohr  grosser  als  das  linke  ift, 

so  wird  sie  Mädchen  gebären.' 

,  Niederer  Nasenrücken,  Dfinno  des 
Kopfhaares  und  rothe  Farbe  leigen  an, 
dass  eine  Frau  viele  Mädchen,  aber  wenig 
Knaben  haben  wird.  Viele  nnd  lange 
Querfalten  am  äusseren  Augenwinkel  und 
schwarzes  Haar  zeigen  an,  dasi  eine  Frau 
viel  Knaben,  aber  wenig  Mädchen  haben 
wird." 

«Wenn  auf  dem  Nasen  -  Philtmm 
Male  (Flecken)  vorkommen,  so  wird  die 
betreffende  Frau  Zwillinge  gebären.  Bei 
unfruchtbaren  Frauen  aber  leigen  Flecken 
an  dieser  Stelle  an,  dass  die  betreffende 
Person  sehr  woIlOstig  ist.' 

Ich  habe  diese  Angaben  hier 
gleich  angeschlossen,  und  sie  nicht 
dem  Abschnitte  über  die  Vorherbe- 
stimmung des  Geschlechts  im  Matter- 
leibe eingefügt,  weil  es  sich  hier 
doch  um  etwas  Anderes  handelt. 
Dort  soll  nach  eingetretener  Be- 
fruchtung festgestellt  werden,  ob  die 
Schwangere  mit  einem  Knaben  oder 
mit  einem  Mädchen  schwanger  geht 
Hier  hingegen  wird  vorhergesagt, 
welches  Geschlecht  erzeugt  werden 
wird,  wenn  die  bisher  noch  nicht 
befruchtete  Frau  den  Geschlechtsact 
vollzieht  und  wenn  sie  durch  den- 
selben geschwängert  wird.  Das  junge 
Datum   der  Publikation   liefert  uns 


Fig.  267.    Eine  Frau,  welche  Kinder  erzeugen  wird. 
(Am  einer  Japanischen  Eucyklopädie.) 


den  klaren  Beweis,  dass  in  breiten  Volksschichten  Japans  diese  Anzeichen  noch 
für  untrüglich  gelten. 


154.  Arzneiliche  and  mechanische  Mittel  gegen  die  Unfruchtbarkeit. 

Der  den  Menschen  aller  Kassen  so  natürliche  Wunsch,  Nachkommenschaft 
zu  erzeugen,  und  die  grossen  Nachtheile  und  Unliebsamkeiten,  welche  bei  vielen 
Völkern,  wie  wir  gesehen  haben,  einer  unfruchtbaren  Frau  zu  erwachsen  pflegen, 
mussten  natürlicher  Weise  zu  Versuchen  führen,  den  bis  dahin  erho£ften  Kinder- 
segen durch  künstliche  Hülfsmittel  doch  noch  zu  erzielen.  Die  für  diesen  End* 
zweck  eingeschlagenen  Wege  sind  dreierlei  Art,  nämlich  erstens  das  Anflehen  des 
göttlichen  Beistandes,  zweitens  die  Ausführung  gewisser  zauberischer,  sympathetisch 
wirkender  Handlungen,  und  endlich  die  Anwendung  mehr  oder  weniger  zweck- 
mässig gewählter,  innerlich  oder  äusserlich  zu  gebrauchender  Medicationen.  Wir 
wollen  mit  dieser  dritten  Gruppe  unsere  Betrachtungen  beginnen. 

In  erster  Linie  waren  es  Producte  aus  dem  Pflanzenreiche,  welchen  man  die 
arzneiliche  Kraft  zutraute,  und  die  aus  ihnen  bereiteten  Mittel  gehören  zweifellos 
zum  Theil  wenigstens  in  das  Gebiet  der  Liebestränke,  d.  h.  der  theik  auch  amnlich 
aufregenden  Medicamente,  welche  die  wollüstige  Empfindung  des  Weibes  steigem 
und  es  hiermit  sexuell  empfanglicher  machen  sollen. 


154.  Arxnetliche  and  mechaniAcbe  Mittel  geigen  die  ÜD&uchtbarkeit. 


589 


In  diese  Kategorie  gehören  nach  Ansicht  der  Bibelausleger  auch  die  Dudaim,  welche 
'  Bt*hen  während  der  Weizenernte  auf  dem  Felde  fand  und  seiner  Mutter  Leah  brachte 
(L  Mo8*  30)»  Auf  Ttühtrit  Bitten  gab  ihr  Leah  dieselben,  wahrend  sie  dagegren  der  LeaJi  für 
die  nächste  Nacht  den  gemeinaamen  Gatten  überliess.  Aber  trotz  der  auf  diese  Weise  er- 
bandelten Dudaitn  blieb  Jiahtl  noch  auf  Jahre  hinaus  unfruchtbar,  während  Leah  auch  ohne 
dieselben  schwanger  wurde.  Die  Mehrzahl  der  Ausleger  hält  die  Dudaim  für  idenitdch  mit 
|der  Mandragora.     Martin  Luther  gesteht  aber  offen  ein«  dass  er  nicht  wi«fie,  was  es  sei. 

Anderen  Stoffen    schrieb   man    dagegen   auch   eine   directe  Einwirkung  za, 
theüs  dass  sie  van  innen  her  die  Safte  des  Weibes  reinigen  und  ihre  Natur  kräf- 
tigen sollten,  theils  dass  sie,  ausserlich  angewendet,  d*  h,  in  die  Vagina  eingelegt, 
Jdie  Bestiramung  hatten,    die  , Mutter*  zu  erweichen    und    zu    eröflnen.     Aus    der 
[Medicin  des  Volkes  entsprossen,  in  die  Hände  der  alten  Aerzte  tibergegangen,  war 
ihr  Schicksal,  von  Neuem  in  die  Volkstnedicin  zurückzusinken,    wo    sie    auch 
[heute  noch  in  vielen  Gegenden  ihr  ungeschwächtes  Dasein  friaten. 

In  dem  grossen  Wust  dieser  volksthi\ milchen  Medicamente  bat  sich  bisweilen 
auch  wohl  etwas  wirklicl»  Brauchbares  und  Wirksames  auffinden  lassen.  Ein  in 
Japan  gebräuchliches  Medicament  gegen  MensiruaÜonsstörungen  und  Unfrucht* 
barkeit,  kay-tu-sing  genannt,  wird  von  WtUiams  empfohlen;  es  ist  die  Tinctur 
aus  den  Blättern  eines  perennirenden  Baumes  aus  der  Claase  der  Ternstromacea ; 
schon  nach  einigeu  Stunden  soll  das  Mittel  sicher  (I)  auf  die  Menstruation  wirken 
und  die  Sterilität  heben.  In  China  und  Japan  wird  es  zur  Zeit  des  VoUraondee 
unter  kabbalistischen  Formeln  genommen. 

Unter  jenen  als  heilkräftig  betrachteten  Pflanzen  ist  vor  allen  eine,  im  Alter- 

thum  bei  den  Baktrern,  Medern  und  Persern  in  hohem  Ansehen  stehende  zu 

nennen.     Das  ist  die  im  Zendavesta  erwähnte  Soma-Pflanze  (Asclepias  acida).     Den 

iSaft  derselben  nannten  sie  Homa  und  sie    schrieben    ihm    göttliche  Eigenschaften 

Uu;    auch    hatte    er    die    überaatttrliche   kräftigende   Wirkung,    den    unfruchtbaren 

[Weibern  schone  Kinder  und  eine  reine  Nachkommenschaft  zu  gehen.    (Duncket*.) 

Die    Rabbiner    des    Talmud    gaben    einige    Heilmittel    (Pocula  sterilium) 

en  Unfruchtbarkeit   an.     Zumeist   scheinen    diese  Mittel  den  Zweck  zu  haben, 

iie  etwa  stockende  Menstruation  zu  fördern,  denn  man  hielt  das  Ausbleiben  der 
Regel  ohne  dass  eine  Schwangerschaft  vorhanden  ist,  für  die  Ursache  oder  für 
ein  Zeichen  der  Ünffihigkeit,  zu  concipiren.  Wir  finden  halb  bewusst,  halb  un» 
bewusst  auch  bei  vielen  anderen  Völkern  ganz  ähnliche  Anschauungen;  denn  auch 
I  ihre  Mittel  gegen  die  Unfruchtbarkeit  zielen  in  erster  Linie  dahin  ab,  die  Störungen 
[in  der  monatlichen  Reinigung  wieder  in  Ordnung  zu  bringen. 

Als  die  Geschlechtslust  erregende  und  wahrscheinlich  auch  die  Sterilität  be- 
seitigende Mittel  dienen  in  Ober-Aegyten  nach  Kluminger  besonders  Ingwer, 
das  theure  Ambra  (eine  fettwachsartige  Substanz  aus  dem  Darm  und  der  Blatte 
des  Pottwals)  und  Honig  oder  Ziinmt  und  Karotten-  oder  Rettig-Samen  mit  Honig 
gekocht ;  ferner  die  Galle  des  Raben,  die  gebrannten  Schalen  der  Tridacna-Muschel 
mit  Honig,  auch  der  Blüthenstaub  der  Dattelpalme. 

In  Fezzan  sucht  man  die  Fruchtbarkeit  der  Frauen  durch  reichlichen 
I Genuas  getrockneter  Eingeweide  junger  Häschen  zu  vermehren,  die  noch  an  der 
[Mutter  saugten,     {NacJditjaL) 

Wenn  eine  Frau  in  Algier  schon  ein  Kind  geboren  hat,  dann  aber  längere 

fZeit  nicht  wieder  concipirt,    so  muss  sie  Schafs-Ürin    oder  auch  Wasser  trinken» 

in  welchem  man  Ohrenschmalz  eines  Esels   hat   maceriren   lassen.     (Beriheramh) 

Auch  örtliche  Curen  sind  im  Orient  im  Gebrauch.     Post  in  Beirut  giebt  an,  dass 

in  Syrien    unter    den    Frauen    besonders  Ulcerationen    der  Portio  vaginalis    vor- 

I  kommen,  herbei geflihrt  durch  unsinnige  Äpplicationen  von  reizenden  Stoffen  behufs 

►  Förderung  der  Conception.     In  Ober-Aegypten  %vird  nach  Kboiringer  ein  kleines 

Stückchen  Opium  fljr  den  ersten  Tag  der  Cur  in  den  Schooss  eingelegt,  und  die 

drei  folgenden  Tage  ein  Stückchen  vom  Wanst  eines  Wiederkäuers. 


590  ^^n.  Die  Therapie  der  ünfrachtbarkeit. 

Die  Indianer  in  Peru  sollen  Aphrodisiaca  besitzen,  welche  besonders  aaf 
das  weibliche  Geschlecht  wirken;  sie  ftüiren  den  gemeinschaftlicben  Namen  Piri- 
piri.     (Mercurio.) 

Auch  auf  den  Luang-  und  Sermata-Inseln  im  malayischen  Archipel 
sind  Aphrodisiaca  bei  beiden  Geschlechtern  stark  in  Gebrauch.  Auf  Amben  und 
den  Uliase- Inseln  müssen  unfruchtbare  Weiber  bestimmte  Medicamente  einnehmen 
und  in  besonders  vorgeschriebener  Weise  baden.  Ebenso  giebt  esauf  Leti,  Moa 
und  Lakor  allerhand  Arzneien  gegen  die  Unfruchtbarkeit,  aber  hier  müssen  die 
Männer  ebenfalls  diese  Pocula  sterilium  trinken.  Die  Weiber  der  Galela  auf 
Djailolo  (Niederländisch-Indieu)  kennen  ebenfalls  Medicinen,  welche  ihnoi 
die  Schwängerung  sichern.     (Riedel.) 

Als  Mittel  gegen  die  Unfruchtbarkeit  muss  auf  den  Viti-Inseln  die  Frau 
in  einem  Flusse  baden  und  darauf  müssen  beide  Gatten  einen  Trank  nehmen,  der 
aus  einer  Abkochung  von  der  geschabten  Wurzel  der  Mbokase,  einer  Art  Brod- 
baum, und  von  der  Nuss  der  Rerega  oder  Cago  (ausgesprochenen  Thango),  einer 
Art  Tumeric,  hergestellt  wird.  Unmittelbar  nach  dem  Geniessen  dieses  Trankes 
wird  der  Coitus  ausgeführt  Eine  Hebamme  versicherte  Blyth^  dass  sie  dieses 
Verfahren  in  drei  Fällen  von  Erfolg  gekrönt  gesehen  hätte. 

Unter  den  West -Australiern  herrscht  die  Meinung,  dass,  wenn  die 
Frauen  viel  Känguru- Fleisch  geniessen,  ihre  Fruchtbarkeit  wesentlich  gesteigert 
wird.     (Jtmh) 

In  Sibirien  gebrauchen  die  Mädchen  vor  der  Brautnacht  die  gekochten 
Früchte  der  Iris  sibirica.  Die  Weiber  in  Kamtschatka,  welche  gern  Kinder 
gebären  wollen,  essen  Spinnen;  einige  Wöchnerinnen,  die  dort  bald  wieder 
schwanger  werden  wollen,  verzehren  die  Nabelschnur  ihres  neugeborenen  Kindes. 
(Kraschne7iinnikow.) 

Hier  finden  wir  also  bereits  bei  selbst  noch  sehr  tief  stehenden  Völkern  die 
Vorstellung,  dass  wenn  eine  Empfangniss  nicht  zu  Stande  kommt,  etwas  Krank- 
haftes vorliegen  müsse,  und  dass  es  nicht  genügend  sei,  durch  sympathetische 
Maassnahmen  hier  Hülfe  schaffen  zu  wollen,  sondern  dass  durch  eine  Regelung 
der  Diät  und  durch  therapeutische  Verordnungen  hier  vorzugehen  nothwendig  sei. 
Wo  dann  eine  geordnete  Heilkunde  sich  der  Sache  anzunehmen  begann,  da  kam 
es  schon  zu  noch  besserer  Einsicht;  und  wenn  die  eingeschlagene  Behandlungs- 
weise  auch  noch  eine  recht  primitive  war,  so  war  sie  doch  immerhin  erheblich 
zweckentsprechender,  als  in  den  früheren  culturellen  Stadien. 

In  den  hippokratischen  Schriften  wird  eine  Menge  solcher  Mittel  an- 
gegeben, welche  uns  heute  allerdings  sinnlos  erscheinen.  Einige  haben  wir  bereits 
kennen  gelernt.     Es  heisst  dann  dort  auch  unter  Anderem: 

,Wenn  du  willst,  dass  eine  Frau  schwanger  werde,  so  musst  du  sie  selbst  und  ihre 
Gebärmutter  ausroinigen,  d.  h.  es  niuss  ein  Mutterzäpfcben  von  feingeriebenem  Natron,  Krenz- 
kümmel,  Knoblauch  und  Feigen  mit  Honig  bereitet  in  die  Gebärmutter  gelegt  werden  and 
die  Frau  muss  sich  warm  baden;  nachdem  dieselbe  nüchtern  Dill  gegessen  und  echten  Wein 
nachgetrunken  hat^  wird  rothes  Natron,  Kümmel  und  Harz  mit  Honig  angemacht  und  in 
einem  Stück  Leinwand  als  Mutterzäpfchen  eingelegt.  Wenn  nun  Wasser  abfliesst,  so  lege  der 
Frau  schwarze  erweichende  Mutterkränze  ein  und  rathe  ihr  den  ehelichen  Umgang  an.  Wenn 
du  willst,  dass  eine  Frau  schwanger  werde,  so  reinige  sie  selbst  und  ihre  Gebärmotter,  und 
lege  dann  ein  abgetragenes,  möglichst  feines  und  trockenes  Leinwandläppchen  in  die  Oeb&r- 
mutter  ein  und  zwar  tauche  das  Läppchen  in  Honig;  forme  ein  Mutterzäpfchen  daraus,  tauche 
es  in  Feigensaffc,  lege  es  ein,  bis  sieb  der  Muttermund  erweitert  hat,  und  schiebe  es  dann  noch 
weiter  hinein.  Ist  nun  aber  das  Wasser  abgezogen,  so  spüle  sich  die  Frau  mit  Oel  und  Wein 
aus,  schlafe  beim  Manne,  und  trinke,  wenn  sie  ehelichen  Umgang  geniessen  will,  Poley  in 
Kedros-Wein.* 

Eine  andere  Stelle  lautet: 

.Wenn  nun  Alles  dem  Anscheine  nach  in  löblichem  Zustande  ist,  und  das  Weib  rieh 
mit  dem  Manne  fleischlich  vermischen  soll,  so  muss  das  Weib  nüchtern,  der  Mann  aber  nieht 


155.  Badekuren  gegen  die  Unfruchtbarkeit.  591 

berauscht  sein,  sich  kalt  gebadet  und  gemessene  Speisen  genossen  haben.  Merkt  das  Weib, 
dass  sie  die  Samenflüssigkeit  bei  sich  behalten  hat,  so  nähere  sie  sich  dann  dem  Manne  nicht, 
sondern  verhalte  sich  ruhig.  Sie  kann  dies  aber  gewahr  werden,  wenn  der  Mann  sagt,  er 
habe  den  Samen  ejaculirt,  und  das  Weib  dies  vor  Trockenheit  nicht  bemerkt.  Giebt  aber 
die  Gebärmutter  die  Samenflüssigkeit  in  die  äusseren  Schamtheile  zurück,  wird  das  Weib 
nass,  so  vermische  sie  sich  wieder  fleischlich,  bis  sie  concipirt." 

Ich  lege  dieses  Verfahren  so  ausführlich  dar,  um  zu  zeigen,  wie  sehr  die 
Aerzte  jener  Zeit  durch  eine  örtliche  Behandlung  zu  helfen  suchten,  die  zwar 
nicht  zum  Ziele  führen  konnte,  die  aber  ohne  Zweifel  noch  lange  Zeit  Vertrauen 
und  Anwendung  fand.  Ausser  dieser  örtlichen  Behandlung  stand  aber  auch  eine 
innerliche  bei  den  Alt-Griechen  in  grossem  Ausehen.  Frauen,  welche  sich 
Kinder  wünschten,  rieth  man  zur  Zeit  des  Hippokrates  Silphium  mit  Wein  zu 
nehmen,  jenes  räthselhafte  Mittel,  welches  die  Alten  so  hoch  schätzten,  und  das 
vielleicht,  wie  Schroff  meinte,  in  der  Thapsia  Silphium  Vivian  vor  einiger  Zeit 
wieder  aufgefunden  worden  ist. 

In  dem  17.  Jahrhundert  mussten  die  unfruchtbaren  Weiber  bei  »kalter  und 
allzufeuchter  Complexion'  Tränke  aus  „Würznägelein"  (Caryophyllen)  mit  Melissen- 
kraut und  Pomeranzenschalen  zu  sich  nehmen.  Auch  Rosmarin  mit  Mastixkömem 
war  ein  beliebtes  Mittel.  Noch  heute  wird  inSteyermark  nach  Fasset  Spargel- 
samen mit  Wein  und  die  jungen  Hopfensprossen  als  Salat  zubereitet  als  Mittel 
gegen  die  Unfruchtbarkeit  angewendet.  Auch  soll  die  Frau  zwei  Monate  den 
ehelichen  Verkehr  meiden,  sich  dann  die  Ader  schlagen  lassen  und  am  darauf- 
folgenden Tage  den  Beischlaf  ausüben.  Im  Frankenwalde  geniesst  der  Kaffee 
in  dieser  Beziehung  ein  besonderes  Vertrauen.     (Flügd,) 

In  Böhmen  braucht  die  junge  Frau  einen  Aufguss  von  Wachholderbeeren, 
um  Kinder  zu  bekommen.  Die  Wander-Zigeunerinnen  der  Donau-Länder 
glauben  ihre  Unfruchtbarkeit  heilen  zu  können,  wenn  sie  das  Blut  einer  Fleder- 
maus mit  Eselsmilch  zusammen  geniessen.  Aber  die  Fledermaus  hat  nur  diese 
Heilkraft,  wenn  sie  in  der  «grossen  Woche**,  d.  h.  in  der  Woche  vor  Weihnachten 
geschossen  worden  war. 

Die  Russen  gebrauchen  unter  anderen  Volksmitteln  auch  eine  Auf- 
lösung von  Salpeter,  innerlich  genommen,  um  den  Weibern  Fruchtbarkeit  zu 
verschaffen. 

Die  Volksmedicin  in  Bosnien  und  der  Hercegovina  kennt  verschiedene 
Medicamente  gegen  Unfruchtbarkeit.     Glück  hat  über  dieselben  berichtet: 

,Als  befrachtungsbefördemd  werden  empfohlen:  saure  Milch,  in  die  Blätter  von  Dillen- 
kraut  (Anaethum  graveolens)  eingeweicht  wurden,  und  der  Genuss  des  Diilenkrautes  selbst. 
Dieses  Mittel  ist  durch  mehrere  Tage  Früh  und  Abends  zu  nehmen.  Vier  Tage  nach  der 
Menstruation  darf  kein  Beischlaf  geübt  werden ;  am  Abend  des  fünften  Tages  soll  die  Frau 
ein  kleines  Glas  voll  des  aus  finschem  Königssalbei  (Salvia  hortensis)  gewonnenen  Saftes 
trinken  und  eine  Viertelstunde  darauf  coitiren.  Wiederholt  sie  dies  mehrmals  nach  einander, 
so  wird  sie,  wie  versichert  wird,  Kinder  haben.  Nächst  diesen  dem  Pflanzenreiche  entnommenen 
Mitteln  werden  als  befruchtungsbefördemd  noch  empfohlen :  eine  Suppe  von  einem  alten  Hahn, 
die  getrocknete,  gebackene  und  gepulverte  Hoden  eines  Ebers  enthält,  oder  gewöhnliches 
Trinkwasser,  in  dem  sich  etwas  Pulver  von  der  gereinigten  und  getrockneten  Gebärmutter 
einer  Häsin  befinden.    Beide  Mittel  sind  durch  längere  Zeit  zu  gebrauchen.* 


155.  Badekuren  gegen  die  Unfruchtbarkeit. 

Heutzutage  ist  ein  wichtiges  Mittel  zur  Beseitigung  der  Sterilität  der  Frauen 
der  Gebrauch  von  Brunnen-  und  Badekuren,  und  eine  wichtige  Quelle  in  Ems 
hat  bekanntlich  von  dieser  segensreichen  Wirkung  den  Namen  »Bubenquelle** 
erhalten.    Aber  die  Verordnung  der  Badekuren  ist  durchaus  nicht  eine  Erfindung 


592  ^^n.  Die  Therapie  der  Unfruchtbarkeit 

der  Neuzeit     Schon  im  Jahre  1715  heisst  es  in  des  getreuen  Eckarth^s  un- 
vorsichtiger Heb-Amme: 

,68  würden  nach  verrichteter  Cur  die  warmen  Bäder,  als  das  Garlsbad,  Aacher, 
Emser,  Hirschberger,  Landecker  nnd  anders  berühmte  Bäder  nicht  nndienlich  seyn, 
die  die  Kosten,  an  dergleichen  örter  zu  reisen,  nicht  ertragen  künnen,  müssen  mit  denen 
Kräutern  und  Lohe-Bädom  vorlieb  nehmen.'' 

An  einer  früheren  Stelle  wurde  schon  erwähnt,  dass  fast  300  Jahre  zuvor 
der  Italiener  Poggio  von  dem  auch  heute  noch  wichtigen  Kurorte  Baden  bei 
Zürich  geäussert  hatte: 

,Nulla  in  orbe  terrarum  balnea  ad  foecunditatem  mulierum  magis  sunt  aocommodata.' 

Auch  in  der  deutschen  Sage  hat  die  Holda^  die  Spenderin  der  Frucht- 
barkeit und  des  Kindersegens,  im  Wasser  des  Brunnens  ihren  Wohnsitz,  aus  dem 
ja  auch  die  Neugeborenen  abgeholt  werden.  Die  Brunnen  spielen  aber  auch  in 
den  Mythen  anderer  Völker  eine  Rolle  bezüglich  der  Fruchtbarkeit. 

In  Alt-Griechenland  wurde  der  Fluss  Elatus  in  Arkadien  als  heilsam 
gegen  Unfruchtbarkeit  empfohlen;  ebenso  der  thespische  Quell  am  Helikon. 
Nach  Sonidas'  und  Photius*  Bericht  hat  die  Quelle  zu  Pyna  auf  dem  Hymettos 
in  der  Nähe  des  Tempels  der  Aphrodite  die  Eigenschaft,  Frauen,  deren  Leib  ver- 
schlossen, zu  Kindern  und  überdies  zu  leichter  Geburt  zu  verhelfen.  Plinius 
erzählt  von  der  Eigenschaft  der  Thermen  Sinuessas,  Fruchtbarkeit  zu  er- 
zeugen. Bajae  war  in  dieser  Beziehung  geradezu  berüchtigt.  So  sagt  Mariiäl 
von  einer  Frau: 

«Als  Penelope  kam  sie  nach  Bajae,  aber  als  Helena  ging  sie, 
ihren  Gemahl  verlassend  und  einem  JQnglinge  folgend." 

Auch  in  der  indischen  und  chinesischen  Mythologie  haben  die  Bäder 
eine  Rolle  gespielt.  Die  indische  Gottin  Pravati  war  im  Bade,  ohne  mit  einem 
Manne  zu  thun  gehabt  zu  haben,  schwanger  geworden;  sie  gebar  den  Genesa, 
Die  Mütter  des  chinesischen  JFo,  des  Buddha^  des  Zaroaster  verdanken  es 
säramtlich  dem  Bade,  dass  ihre  Unfruchtbarkeit  von  ihnen  genommen  wurde. 

In  Algerien,  unweit  Constantine,  befindet  sich  ein  ganz  im  Felsen  ge- 
legenes Bad  mit  der  Quelle  Burmal  er  Rabba,  welches  Jüdinnen  und  Maa- 
rinnen seit  uralter  Zeit  frequentiren ,  um  bei  Unfruchtbarkeit  Hülfe  zu  suchen. 
An  mehreren  Wochentagen  kommen  die  eingeborenen  Damen  aus  Constantine 
herab  nach  Sidi-Mecid,  schlachten  vor  der  Thür  der  Grotte  ein  schwarzes  Huhn, 
opfern  im  Inneren  noch  eine  Wachskerze  und  einen  Honigkuchen,  nehmen  ein 
Bad  und  sind  dann  sicher,  dass  ihre  Wünsche  bald  in  Erfüllung  gehen.  Der 
Brauch  ist  jedenfalls  altheidnisch,  eine  uralte  Berber-Sitte;  denn  Thieropfer  sind 
dem  Islam  fremd.     (KobeU.) 

Bei  den  Negern  in  Yoruba  an  der  Westküste  von  Afrika  ist  das  Wasser 
berühmt,  das  im  Tempel  der  Naturgöttin  aufbewahrt  wird.  Diese  wird  als 
schwangere  Frau  dargestellt,  und  das  Wasser,  das  ihr  geheiligt  ist,  benutzt  man 
gegen  Unfruchtbarkeit  und  schwere  Entbindung. 

In  Grusien  ist  ein  Kloster  des  heil.  Davide  welches  einen  Bach  besitzt, 
dessen  Wasser  im  Gerüche  steht,  Frauen  fruchtbar  zu  machen. 

Einen  sehr  absonderlichen  Wasserzauber  zur  Heilung  der  Unfruchtbarkeit 
erzählt  Petrowitsch  von  den  Serben:  Die  unfruchtbare  junge  Ehegattin  soll  ein 
Bohr  abschneiden  und  dasselbe  mit  Wein  füllen.  Darauf  näht  sie  es  gemeinsam 
mit  einem  alten  Messer  und  mit  einem  Kuchen  aus  Weizenmehl  in  einen  leinenen 
Beutel  ein.  Diesen  Beutel  unter  dem  linken  Arme  haltend,  muss  dann  die  Frau 
in  ein  fliessendes  Gewässer  waten,  während  am  Ufer  Jemand  für  sie  betet:  «Er- 
fülle mein  Gebet,  o  Gott,  o  Mutter  Gottes''  u.  s.  w.  (unter  Anrufung  aller  Hei- 
ligen). Bei  diesem  Gebet  lässt  die  Frau  den  Beutel  in  das  Wasser  fallen  und 
setzt,  nachdem   sie   aus   dem  Bach   gewatet  ist,   ihre  Füsse  in   zwei  Kessel,   ans 


156.  GOtüiche  Hülfe  gegen  die  Unfruchtbarkeit.  593 

denen  sie  der  Ehemann  herausheben  und  sie  nach  Hause  tragen  muss.  Wir  finden 
hier  also  ein  ganz  regelmässiges  Trank-  und  Speiseopfer,  welches  der  Gottheit 
des  Wassers  dargebracht  wird. 

156.  Gottliche  Hülfe  gegen  die  llnfruclitbarkeit. 

Es  ist  ein  weitverbreiteter  Zug  des  menschlichen  Geistes,  nicht  allein  den 
Medicamenten  die  Fähigkeit  und  Kraft  zuzutrauen,  dass  sie  die  verlorene  Gesund- 
heit wiederzubringen  vermöchten.  Er  ruft  deswegen  noch  die  Hülfe  und  den 
Beistand  der  Gottheit  oder  diejenige  von  dämonischen  Gewalten  herbei  und  greift 
ausserdem  zu  ganz  absonderlichen  Handlungen,  welche  durch  Sympathie,  ihm  selbst 
unerklärlich,  aber  um  so  gläubiger  betrachtet,  je  abgeschmackter  und  sinnloser 
dieselben  sind,  unfehlbar  die  ersehnte  Heilung  herbeiführen  sollen.  So  begegnen 
wir  auch  bei  der  Unfruchtbarkeit  nicht  selten,  wie  wir  gesehen  haben,  der  An- 
schauung, dass  sie  ein  Fluch  sei,  von  den  Göttern  verhängt,  eine  Bezauberung 
durch  böse  Geister  oder  mit  diesen  verbundene  Menschen  verursacht,  und  dass  eine 
Entsühnung  oder  eine  Lösung  und  Ueberwältigung  des  Zaubers  den  „verschlossenen 
Leib''  zu  öffnen  vermöge.  Daher  finden  wir  bei  den  Kelten  die  zu  Staub  ge- 
riebene heilige  Mistel  als  Mittel  gegen  die  Unfruchtbarkeit. 

Auch  der  Araber  geht  gegen  die  vermeintliche  Verzauberung,  die  er  ftlr 
die  Ursache  der  Unfruchtbarkeit  hält,  durch  Entzauberung  vor;  er  nimmt  zum 
Koran  seine  Zuflucht  und  zwar  zur  dritten  Sure,  welche  die  Ueberschrift  flihrt: 
„Die  Familie  (oder  das  Geschlecht)  lmrdw'5*.  Dieser  ganze,  aus  200  Versen  be- 
stehende Abschnitt  muss  mit  Safran  in  ein  kupfernes  Becken  geschrieben  werden, 
dann  wird  siedendes  Wasser  darauf  gegossen,  und  von  diesem  Weihwasser  muss  die 
hülfsbedürftige  Frau  einen  Theil  trinken,  mit  dem  übrigen  aber  werden  Gesicht, 
Brust  und  Schooss  der  Frau  besprengt.  Die  Wahl  dieser  Sure  ist  dadurch  er- 
klärlich, dass  die  Araber  meinen,  des  Imrän  Frau  Namens  Hanneh  sei  Anfangs 
unfruchtbar  gewesen,  habe  jedoch  dann  Gnade  gefunden  und  sei  noch  in  späten 
Jahren  die  Mutter  der  Jungfrau  Maria  geworden.     (SandreceTci,) 

Im  alten  Rom  wendete  sich  die  unfruchtbare  Frau  mit  Gebeten  an  die 
Juno  Febnialis  (von  februare,  reinigen),  also  die  Reinigende,  Entsühnende.  Die 
Entsühnung  geschah  auch  in  den  Luperealien,  bei  denen  die  Priester,  Luperci 
genannt,  Ziegen  opferten  und  dann  mit  Stückchen  aus  dem  Felle  derselben  durch 
die  Strassen  liefen  und  die  ihnen  begegnenden  und  für  diesen  Zweck  nackend 
umherlaufenden  Frauen  mit  denselben  schlugen;  hierdurch  sollte  Fruchtbarkeit 
erzielt  werden.  Man  will  eine  ähnliche  Procedur  in  dem  Aufpeitschen  wieder- 
finden, welches  am  ersten  Osterfeiertage  die  jungen  Burschen  im  Voigtlande 
und  in  anderen  Theilen  Deutschlands  in  der  Frühe  vornehmen,  indem  sie  mit 
frischen  grünen  Reisern  die  Mädchen  aus  dem  Bette  jagen.  Ebenso  erinnert 
an  die  Luperealien  das  Niederlausitzer  Zempern  und  das  Budissiner 
Semperlaufen. 

Thomas  BarihoUnus  erinnert  auch  an  die  Luperealien  bei  den  Römern, 
aber  ausserdem  noch  an  die  Verehrung,  welche  der  Gott  Mutinus  genoss: 

jfMutini  Fascino  insident  feminae,  ut  concipiant.  Lapercis  quoque  se  oiferunt,  et  ferula 
ceduntur  caprina  pelle  corioque  tecta.  Gestant  praeterea  pixide  Lyden,  immonso  prolis 
desiderio  qno  Reipublicae  aagendae  causa,  connubii  retinendi  et  ob  jus  trium  liberorum  ardent" 

Von  Bali  horten  wir  ganz  Aehnliches. 

In  Griechenland  galt  die  Demeter  als  die  Vertreterin  der  Fruchtbarkeit; 
sie  stand  in  Beziehung  zur  Zeugung,  Geburt  und  Kindespflege  und  war  die  eigent- 
liche Göttin  des  weiblichen  Lebens,  insbesondere  der  Ehe.  Man  feierte  ihr  zu 
Ehren  die  Thesmophorien;  in  Athen  begingen  die  Frauen  dieses  Fest  (die 
Pyanepsia)  unter  Ausschluss  der  Männer  im  October;  dabei  riefen  die  Ehefrauen 
die  Göttin  an:  sie  möge  ebenso,  wie  sie  dem  Acker  Gedeihen  gegeben,  auch  der 

PI088- Bartels,  Daa  Weib.    6.  Aufl.    I.  38 


594  XXII.  Die  Therapie  der  Unfruchtbarkeit. 

Ehe  Frucht  gewahren.  Die  Vorbereitung  zu  diesem  Feste  (Enthaltn^  der  (Ge- 
meinschaft mit  dem  Ehemanne)  begann  mit  dem  Neumonde  des  PyaDepaion 
(October),  mit  der  neunten  Nacht  vor  dem  Feste.  Nach  diesen  Vorbereitongen 
zogen  die  Ehefrauen  aus  allen  Gemarkungen  Attikas  an  das  Meer  z?rischen 
Halimus  und  dem  Vorgebirge  Kolias,  trauerten  am  Boden  sitzend,  hielten  da- 
nach aber  Spiel  und  Tanz  am  Strande  des  Meeres  ab,  worauf  sie  im  feierlichen 
Zuge  nach  Athen  zurückkehrten.  In  ihrer  Mitte  trugen  Einige  Behälter  auf 
dem  Haupte,  welche  die  „Satzungen"  der  Demeter  (Ehesatzungen)  bargen.  In 
Athen  angelangt,  vollzogen  die  Frauen  im  Thesmophorion  unter  der  Burg  ge- 
wisse Gebräuche.  Der  letzte  Tag  der  Feier  gehörte  der  Demeter  KaUigeneiü^ 
d.  h.  der  Schönes,  Ackerfrucht  und  Kinder  erzeugenden  Demeter.  Der  Zweck  des 
Festes,  der  Demeter  Gunst  für  die  Geburt  schöner  Kinder  zu  gewinnen,  galt  f&r 
erreicht:  man  freute  sich  der  neuerworbenen  Huld  der  Göttin,  des  kommenden 
Segens  in  Lust  und  Scherz.     (Duncker.) 

Noch  jetzt  giebt  es  in  Neu-Griechenland  Sitten,  welche  man  mit  jenen 
Bräuchen  in  Verbindung  bringen  will.  Noch  bis  vor  Kurzem  sah  man  Athe- 
nienserinnen,  wenn  sie  guter  Hoffnung  waren  und  die  Gunst  des  Schicksals 
fbr  eine  glückliche  Entbindung  herbeifuhren  wollten,  am  nördlichen  Abhang  des 
sogenannten  Nymphenhügels,  in  der  Nähe  der  hochalten  Inschrift  ÖQOg  diög,  an 
einer  durch  vielfachen  Gebrauch  bereits  geglätteten  Stelle  den  Fels  hinunter- 
rutschen. Und  nach  Ponqueville  existirt  in  Athen  nicht  bloss  bei  Schwangeren, 
sondern  auch  bei  solchen  Frauen,  die  fruchtbar  werden  wollen,  die  Sitte,  an  einem 
Felsen  in  der  Nähe  der  Kallirrhoe  sich  zu  reiben  und  dabei  die  Moiren  anzu- 
rufen, ihnen  gnädig  zu  sein.  Bernhard  Schmidt  glaubt,  diese  Sitte  mit  dem 
antiken  Cultus  der  Aphrodite  Urania  zusammenbringen  zu  müssen,  die  in  dieser 
Gegend  (d.  h.  am  rechten  Ufer  des  Ilissos,  aber  ein  Stück  oberhalb  der  Kallir- 
rhoe) als  älteste  der  Moiren  verehrt  wurde.  Dagegen  kann  sich  Wctchsmuth  von 
der  Richtigkeit  dieser  Annahme  nicht  überzeugen.  Vielleicht  dürfte  das  Reiben 
der  unteren  Körpertheile  am  Fels  darauf  hindeuten,  dass  es  die  Demeter^  die 
Erdmutter  und  Vertreterin  der  Fruchtbarkeit  war,  deren  Einfluss  als  Demeter 
Kalligeneia  ehemals  mit  solchem  Gebahren  herbeigezaubert  werden  sollte,  nun- 
mehr aber  durch  die  Nymphe  der  Kallirrhoe  ersetzt  wird. 

Auch  bei  den  Dayaken  auf  Borneo  haben  die  Wassergötter,  Djafa  ge- 
nannt, einen  besonderen  Einfluss  auf  die  Unfruchtbarkeit,  welche  sie  nach  unnm* 
schränktem  Willen  über  die  Weiber  verhängen  oder  sie  davon  erlösen.  So  be- 
richtet Hein: 

,  Wollen  unfruchtbare  Frauen  (und  auch  Mfinner)  Kindersegen  erlangen,  so  veranstalten 
die  einem  DJata  ein  grosKoa  Fest,  Buraramin  genannt,  bei  welchem  man  in  einem  tchOn  ge- 
schmückten Boote  nach  einem  Wohnsitze  der  Djatas  fährt  und  dort  Hühner  (und  anderes 
Geflügel),  deren  Schnäbel  mit  Goldblech  belegt  sind,  zum  Opfer  darbringt,  indem  man  lie 
entweder  lebendig  in  das  Wasser  wirft,  oder  ihnen  den  Kopf  abschneidet  und  bloss  diesen 
opfert,  den  Rumpf  des  Thicres  aber  verzehrt.  In  manchen  Fällen  scheint  man  sich  jedoch 
mit  aus  Holz  geschnitzten  Vogelfigurcn  zu  begnügen." 

An  der  Sclavenktiste  von  Guinea  unter  den  Otschi-Negern  verschreibt 
sich  das  kinderlose  Weib  einem  Fetisch  zum  Eigenthum,  falls  er  ihr  Kinder  geben 
wolle;  tritt  dieser  Fall  ein,  so  ist  das  Kind  ein  Fetischkind  und  ist  nun  das 
Eigenthum  desselben. 

In  Abbeokuta  wird  von  den  unfruchtbaren  Frauen  auch  zu  der  herm- 
aphroditischen Form  des  Abhatdlla  gebetet,  die  aus  einer  nackten  Frau  und  einem 
bekleideten  Manne  zusammengesetzt  ist.     (Bastian,) 

Auf  dem  Wege  von  Malanga  in  West-Afrika  ins  Innere,  über  die  Grenze 
von  Angola  hinaus,  fand  Lux^  dass  die  unfruchtbaren  Negerinnen  als  frucht- 
bar machenden  Fetisch  zwei  kleine,  aus  Elfenbein  geschnitzte  Figuren  (die  beiden 
Geschlechter  darstellend)  an  einer  Schnur  um  den  Leib  tragen. 


156.  GötÜiclie  Hülfe  gegen  die  ünfriicbtbarkeit 


S95 


Sterile  Frauen  in  Bombay  (Indien)  gehen,  um  fruchtbar  zu  werden,  zu  einem 

Pgrofisen  Lingam  (dem  Bilde  eines  männlichen  Gliedea  als  religiöses  Sjmbol),  und 

Ldreben  sich  um  denselben  im  Kreise  unter  Gebeten  (mündliche  Mittheilung  Jagor's). 

unweit  Bombay  befindet  sich,  wie  Haeckel  berichtet,  das  heilige  Brahminendorf 

fWalkeschwar,    wo    die  höchsten    Hindu-Kasten   (Brahminen)    mit    Ausschluss 

tunreiner  Kasten  wohnen.     Einen  im  Mittelpunkt  des  Dorfes  liegenden  viereckigen 

|Teich  umschliessen  zahlreiche  kleine  Tempel,  in  deren  Innerem  ein  heiliger  Stier 
iegt.  Andere  Gegenstände  der  Verehrung,  gleich  den  Stieren  mit  Blumen  ge- 
Bchmückt,    sind  steinerne  Symbole  der  Fruchtbarkeit,    zum    Theil    von    obscönster 

^und  grotesker  Form  (Lingam).  Solche  sind  auch  an  vielen  Stellen  der  Wege 
innerhalb  und  ausserhalb  der  Stadt  Bombay  zerstreut  und  mit  rother  Farbe 
bemalt«     Sie    werden    namentlich    von    kinderlosen    Eheleuten    besucht    und    ihre 

.rothen    Theile    werden    mit    Goldpapierchen    beklebt    und    auch     mit    duftenden 
Humen   bedeckt,   in   der  Hoßnung,    durch    diese  Opferspenden   mit  Kindern   ge- 
jfnet  zu  werden. 

In  Puna,    einem  Hauptarte   Ostindiens   zwischen  Bombay  und  Madras, 

^besuchte  Jollt/  das  berühmte  Heiligthum  der  Göttin  Farvati,  das  auf  einem  steilen 
Hügfl  liegt.  Vor  einem  heiligen  Baume,  einer  Ficus  indica,  in  der  Mitte  des 
)orfes,  durch  welches  er  kam,  war  eine  fromme  Schar  Hinduweiber  beschäftigt, 
ien  LiDgani  oder  Phallus  und  andere  aus  Stein  gearbeitete  Symbole  mit  Spenden 
ron  Rosen    zu  ehren    und    mit  rothem  Farbstoft'  zu  bestreichen,    den  sie  nachher 

|jEnra  Betupfen  ihrer  eigenen  Stirn  verwendeten.  Das  Stirojseichen  wird  jeden  Morgen 
nach  dem  Bade  erneuert* 

Bei  den  Badagas  im  Nilgiri-Gebirge  pflegen  Gatten,  die  in  unfruchtbarer 
She  leben,  einem  Gotte  einen  kleinen  silbernen  Sonnenschirm  oder  hundert  Cocos- 
lüsse  zu  geloben,  falls  er  ihnen  ein  Kind  bescheert.  Am  Tage  der  Namengebung 
r  er  den  diene  Gelübde  abgetragen.  Unf nicht  bare  Frauen  wenden  sich  in  ihrer 
loth  an  MahalifUfa  (Maha  =  gross,  linga  =  phallus;  ein  Name  Smas),  der  in 
den  Bergen  an  vielen  Orten  in  Gesttilt  eines  aufrechten  Steins  verehrt  wird.     Eine 

^wegen  der  ihnen  zugemutheten  wunderbaren  Entstehung  für  besonders  wirksam 
rehaltene  Klasse  von  Mahalitufas  sind  die  beim  Pflügen  zuweilen  im  Boden  ge- 
bundenen Steinbeile,  die  für  spontan  der  Erde  entsprossen  gelten  und  daher  auch 
iwagamphu  (selbst  entstanden)    genannt  werden      Dies  erinnert  au  die  Wunder- 

[kraft,  die   man  auch   in  Deutschland  den    sogenannten   Donnerkeilen,   den   auf- 

^gefundenen  Steinbeilen  der  Vorzeit  beilegt. 

Zwischen  Tan  j  höre  und  Trieb  in  opoli  sieht  man  viele  Hunderte  grosser 
?ferde  von   gebranntem  Thon    aufgestellt,    die    dem    Gotte  Agamr  von    sterilen 

[Weibeni  dargebracht  sind,  damit  er  ihnen  Kinder  schenke.  Auch  er  verdankt  die 
grosse  Kundschaft   seiner  wunderbaren   Geburt:    denn  Aganttrs  Eltern,  Siwa  und 

[Vishint^    sind    beide    männlich.      Auch    Hetie^    eine    Specialgöttin    der    Badaga- 
|üen,  die  in  dem  Nilgiri  viele  Tempel  hat,  wird  häufig  angerufen. 

Auf  Am  hon  und  den  Uliase-Inseln  opfern  die  unfruchtbaren  Weiber  auf 
einem  heiligen  Stein  und  beten  nachher  in  dem  TerapeL 

Eine  ähnliche  Kraft  und  Bedeutung  hat  auf  Java  eine  alte  holländische 
Kanone,  die  bei  Batavia  auf  freiem  Felde  liegt.  Auf  ihr  pflegen  die  Weiber  in 
ihren  besten  Kleidern,  mit  Blumen  geschmückt,  rittlings  zu  sitzen,  manchmal  zwei 

«auf  einmal ;  dabei  werden  Opfergaben  an  Reis,  Früchten  u.  s.  w.  niedergelegt,  die 
iaun  natürlicher  Weise  von  den  Priestern  eingesteckt  werden.     (KiehL) 

Diese  wunderwirkende  Kanone  führt  die  Fig.  268  vor,  und  wir  sehen  in  ihrer 
Im  gebung    allerlei    Opfergaben    niedergelegt;    namentlich    auch    kleine    Schirme, 
welche    bei  den  Völkern    in  Niederländisch  Indien  als  Votivgabe  eine  grosse 

^oUe  spielen.     Wenn  wir  die  Kanone  näher  betrachten,  so  begreifen  wir,  wie  sie 
den  Ruf  als  Fruchtbarkeit« bringerin  gekommen  ist*     Der  nach  hinten  den  Ab- 
chluss  des  Laufes  bildende  Knopf  hat  nämlich  die  Form  einer  menschlichen  Hand, 

3ö* 


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XXH.  Die 


Uoiracbtbarkcit. 


deren  Finger  die  sogenannte  Fica  bilden,  d.  h.  sie  sind  zur  Faust  geb^t  tind  def 
Daumen  ist  dabei  zwischen  dem  Zeigefinger  und  dem  Mittelfinger  vorgesIreclctJ 
Diese  Fingerstellung  wird  aber  allgemein  für  eine  Allegorie  des  Coitus  angesabi 
damit  hängt  es  sicherlich  zusammen,  dass  diese  Kanone,  dem  Glauben  des  Volkei| 
gemäss,  den  Weibern  Kindersegen  zu  verschaffen  vennag. 

Als  Göttin  des  Kindersegens  verehren  die  Chinesen  nach  Pander^  vieileicbl 
schon  aus  vorbuddhistischen  Zeiten  her,  die  Kuan  yin^  welche  häufig  mit  einem 
Kinde  dargestellt  wird,  Ihre  sehr  schonen  Porzellan-Statuetten  haben  eine  ctoss* 
Aehnlichkeit  mit  Madonnenbildern. 

^^Biitmo,''   sagen  die  Japaner,    »welche  viele  Jahre   ohne  Kinder   in  der  Eh«    g'-nnn 
hatte,   richtete  ihr  Gebet  an  die  Götter,   wurde  erhört  und  gebar   —    fünfhundert  Eier     iH 
sie  befiirchteti),  däjßs  die  Eier  vieUeicbt  Ungeheuer  hervorbringen  möchten,  so  päd ' 
in  eine  Schachtel  und  warf  sie  ina  Wasser.     Ein  alter  Fischer,  der  die  Schachtel 
die  Eier  in  einem  Ofen  ftu#,  welche  fünfhundert  Kinder  hervorbrachten.    Die  Kiti4tjr  wuiUtui, 


1  V'^ 


Fig  2fiei 


Alte&  UotUuiliaeliea  Kvüoueurobr  bei  BatftViii,  d&e  d«o  Weibern  El»  i 
(Nach  PhotogTft|ihio.> 


»ngc 


mit  gekochtem  Reu  und  Beifuseb lüttem  gefüttert,   und  da  man  sie  endlich  aich  »elUw  OImt* 
lies«,  io  fingen  &ie  an,  Htraaaenrüuber  zu  werden.     Da  sie  von  einem  Mstnne  hörton.  ämr  y^wt^ptm 
seines  grossen  Reichthnms  herühmt  war»    eo    erxJlhlten    sie    ihre  Geschichto  vor  dotMii  TbOfv 
und  bettelten  einige  Spebe.     Es    fügte    «ich,    daaa    dieses  Hau«    daa  Haus    ihrer  Mutier    ww 
welche  sie  sogleich    für    ihre  Kinder  erkannte   und    ihren  Freunden    und  Nachbarn    *M*f>    -^^^ti 
grossea  Gastmahl  gab.     Sie  wurde  nachher    untor  dem  Namen  Bensaita   unter  die  U 
versetzt.    Ihre  500  Söhne  wurden  boatimmt,  ihre  beiiti^ndigGn  Begleiter  xu  #ciD^  und 
bU  auf  diesen  Tag   noch  in  Japan   alu   die  GiHtin    der  Fruchtbarkeit   und  de«  ßr: 
verehrt/     (tlorjitj 

Bei  Kinderlosigkeit  scheinen  die  Oroken, 
Sachalin,  die  Ehe  dadurch  fruchtbar  zu  machen, 
sonderbaren  Götzen  hängen,  wie  Poljak^w  ben*-^^-* 


niai,»  ^%m 


I 


die 


Urbewühner    der 
aii;  Über  das  fielt 


loiel 


L>6.  Göttliche  Hälfe  gegen  die  Unt'roehtbarkeit. 


597 


^Kb  war  eine  Grappe,  die  eine  Frau  nnd  einen  Seehand,  mit  einer  gemeinschaftlichen 

Decke  bedeckt,   zuBaromen  schlafend  reprS,aentirte.     Ich    hatte   schon   früher  erfahren,   welche 

wichtige   materielle  Bedeutujsg    im  Leben   der  Oroken    und  Giljaken  der  Seehund  besitzt; 

lieh  Überzeugte  mich   indeg«  auch  von  der  religiösen  Bedeutung,    die  diesem  Thiere  beigelegt 

[wird,  Bo  dass  ich  auch  diejenige  dea  Götzen  unschwer  erfassen  konnte.*    Poljakoic  nahm  das 

[Götzenbild  und  hing  es  an  seine  Hütte.     Der  Orok  bat,  es  ihm  wiederzugeben,  da  er  ee  zum 

Schutze  gegen  Magenschmerzen  halte;  diea  war  jedoch  eine  falsche  Angabe. 

Auf   Serang    betet    der    Priester,   der   nachher   mit    den   Dorfgenossen   dif 
Opfergaben  verspeist,  mit  der  Frau: 

«Herr  Firmament,  Herr  Erde,  Himmel,  Erde,  seid  gnädig  and  gebt  mir  ein  Kind.* 
Die  Fmuen  der  alten  Peruaner,  die  sieh  Kinder  wtlDschien,  [»flegten  nach 
H?.  Tschudi 

«irgend  einen  kleinen  8tein  in  ein  Stück  Zeug  einzuwickeln  und  mit  Wollläden  zu 
[umbinden;  sie  legten  diesen  eingewickelten  Stein  neben  einen  Feisblock  und  eraseigten  dieeem 
[ihre  Verehrung  durch  kleine  Opfergaben.     Dieser  WickeUtein  hiess  Wasit.* 

Der  germanische  Gott  Fro  oder  Frmjr  war  auch 
'der  Gott  der  Liebe  und  der  Fruchtbarkeit;  ihm  scheint  der 

Johannistag  geweiht  gewesen  zu  ssin,  denn  diesen  Tag 
[bringt  rnan  noch  heute  mit  Liebe,  Beiehthum  und  Frucht- 
Ibarkeit  in  abergläubische  Beziehung,  Die  NüBse  sind  das 
ISinnbild  der  Fruchtbarkeit,  auch  der  geschlechtlichen. 
\(Zingcrlc^.)      Unrl    nun    heisst's   im  Volke:    Wenn    es  den 

l^anzen  Johannistag  nicht  regnet^  so  giebt*8  viele  Küsse  (in 
[Schwaben,  Schlesien  und  Thüringen),  und  am  Lech 
[giigt  man:    Wenn    es    an    diesem  Tage   regnet,    so    werden 

iie  Nüsse  wurmig  und  viele  Mädchen  schwanger.  (  Wutike,) 
In  Tyrol  sind  unter  Mirakelbildem  auch  sogenannte 

Muettern    aufgehängt.      Es    sind    das    kleine   Kröten   von 

Wachs,    welche    die    Gebärmutter    darstellen    sollen.      Man 

glaubt,  die  Weiber  hätten  ein  solches  krötenartiges  Wesen 

im  Leibe,     Manche   Mütter  legten   sich  nieder    und  hätten 

während   des    Schlafes    den    Mund    geöffnet,    da   kroch  die 

Muctter   heraus    und    zum    näclisten    Wasser,    wo    sie    sich 

badete.     Wenn  nun  das  Weib  inzwischen  den  Mund  nicht 

feachloasen  hatte,  kroch  die  zurückkehrende  Muetter  wieder  hinein  und  die  frühere 
Tanke  war  wieder  gesund;  hatte  das  Weib  aber  inzwischen  den  Mund  geschlossen, 
[80  starb  sie.  Unfruchtbare  Weiber  opfern  solche  Wachsfiguren  bei  Bildern  der 
iGottesmutter  und  der  heiligen  Kümmernisa.     (ZinfferleK) 

Solch  eine  krötenförmige  Wachsmutter,  welche  ich  im  Jahre  1890  in  einem 
Wachsziehergeschäft  in  Salzburg  kaufte,   zeigt  die  Figur  269,     Dieselbe  ist  auf 
.Seite  236  schon  erwähnt  worden. 

In    katholischen    Ländern    hält   man    zur    Beseitigung    der   Unfruchtbarkeit 

natürlicher  Weise  auch  Gebete  zu  den  Heiligen  für  hülfreich;  so  stehen  in  Steyer- 

mark  Wallfahrten    zu    wunderthätigen    Gnadenbildem,    namentlich    nach  Maria 

[Zell,   Maria  Trost,   Maria  Lankowitz«   Frauenberg  bei   Admont  u,  s,  w. 

in  hohem  Ansehen.     (FosseL) 

In  der  sUd italienischen  Provinz    Bari   steht  der  heilige    Francesco   di 
ißaoto   in    besonderem  Rufe  als  Helfer    bei    Unfruchtbarkeit.      (Kanmo,)      Nach 
IjJemic  glaubt  man  im  russischen  Gouvernement  Tscher nigoff,  dass  eine  Wall- 
fahrt nach  der  Lawra,  dem  berühmten  Kloster  in  Kiew,  und  die  Berührung  der 
[dort  in  den  Katakomben  aufgestellten  Heiligen  die  Unfruchtbarkeit  heile. 

Kindersegen  verschafft  im  Luxemburgischen  die  Muttergottes  Maria  im 
Walde  auf  einer  Eiche  zwischen  Alttrier  und  Hersberg  wie  früher  auf  dem 
Helperberg,  die  heil.  Ltteia  dagegen  im  wallonischen  Luxemburg.  Ander 
I  südlichen  Grenze  dieses  Landstrichs,  nahe  bei  Verdun,  sieht  man  noch  in  einem 


Fig  269.     V  L»  i  i  V  -  K  r ö  I «  Att» 
Wachs,    (S»l2bQrg.) 
(K&ch  Photog^raphio.) 


598  XXII.  Die  Therapie  der  Unfruchtbarkeit 

Felsen  den  Lehnstuhl  dieser  Heiligen;  diesen  steinernen  Sitz  nehmen  betend  kinder- 
lose Frauen  ein  und  erwarten  mit  Zuversicht  die  Erf&llang  ihrer  Wttnsche.  (de 
la  Fontaine.) 

Auch  die  Französinnen  riefen  in  der  Noth  der  üiAmcfatbarkeit  die  Hülfe 
der  Heiligen  an,  aber  hier  waren  es  mannliche  Heilige,  welche  das  Wunder  ver- 
richteteu.  Noch  bis  zu  der  Zeit  der  Revolution  bestand  in  Brest  eine  Kapelle 
des  heiligen  Guignolet^  der  das  Attribut  des  Priapus  f&hrte. 

^Lea  femmes  steriles  ou  qui  craignaient  de  TStre  allaient  &  cette  statae,  et,  apres  avoir 
gratte  ou  racle  ce  quo  je  n'ose  nommer,  et  bu  cette  poudre  infos^e  dans  an  verre  d*eaa  de 
la  füntaine,  ces  femmes  s^en  retoumaient  avec  Teapoir  d*dtre  fertiles.* 

Sf,  Guerlichon  wird  ähnlich  verehrt  und  hat  die  gleichen  Erfolge  aafzu- 
w eisen.  {Harmand) 

In  den  Pyrenäen  bei  Bourg-d'Oueil  befindet  sich  eine  steinerne  männ- 
liche Figur  von  1^2  Meter  Höhe,  welche  6ra  peyra  d^  Peyrahita  genannt 
wird.  An  ihr  reiben  sich  die  unfruchtbaren  Weiber  and  umarmen  und 
küssen  sie. 

Dass  wir  in  diesen  Dingen  die  Reminiscenzen  eines  alten  Phalluscnltus 
wiedererkennen  müssen,  das  liegt  wohl  auf  der  Hand  und  es  ist  wohl  nicht  un- 
wahrscheinlich, dass  es  hier  ursprünglich  phönicische  Gottheiten  sind,  welche 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  allmählich  die  Wandlung  in  christliche  Heilige  durch- 
gemacht haben. 


157.  Vebernatttrliche  menschliche  Hülfe  zur  Bekämpfting  der 

Unfruchtbarkeit. 

Unter  den  Menschen,  welche  einem  Weibe,  das  mit  dem  Flache  der  Un- 
fruchtbarkeit behaftet  ist,  eine  wirksame  Hülfe  zu  leisten  yermögen,  stehen  die 
IMester  obenan.     So  erzählt  Büttikofer  von  den  Vey-Negern  in  Liberia: 

„Der  unter  den  Eingeborenen  allgemein  herrschende  Aberglaube  ermöglicht  den  zahl- 
reichen Fetischdoctoren,  in  der  Vey spräche  buli-kai  genannt,  eine  lohnende  Existenz,  da 
dieselben  nicht  allein  durch  das  Anfertigen  und  Einsegnen  von  Grigris,  sondern  auch  durch 
Beschwörungen  von  Zauber  u.  dcrgl.  viel  Geld  verdienen.  Ein  richtiger  buli-kai  weiss  überall 
Kath  zu  schauen.  Bekommt  z.  B.  eine  Frau  keine  Kinder  —  was  als  eine  grosse  Schande 
gilt  — ,  so  schreibt  sie  dies  einem  auf  ihr  lastenden  Zauber  zu  und  holt  sich  beim  Fetisch- 
doctor  Rath,  welcher  sofort  bereit  ist,  für  eine  geringe  Entschädigung  den  Zauber  zu  lösen. 
Kh  müsson  dann  saras  gelegt,  oder  auf  andere  Weise  die  bösen  Geister  günstig  gestimmt 
wonloii.  Ott  vorlangt  der  Doctor  eine  ganze  Reihe  von  Gegenständen.  Einige  derselben 
werden,  nachdem  die  nöthigen  Zauberformeln  darüber  gesprochen  sind,  begraben  oder  in  den 
Fluss  geworfen,  andere  sind  dazu  bestimmt,  um  .verkauft*  zu  werden,  worunter  der  Doctor 
vorsteht,  dass  dieselben  ihm  übergeben  worden  müssen.  Unter  den  letzteren  sind  ein  gewisses 
C^uiiiitum  Reis  oder  ein  weisses  Huhn  die  gebräuchlichsten.  Immer  nennt  der  Zauberer  genau 
die  Färbt»  dieser  Opfer,  und  wenn  z.  B.  kein  weisses  Huhn  herbeigeschafiFt  werden  kann,  so 
inuHH  ein  Stück  weisses  Baumwollzeug  an  «lessen  l?telle  treten.  Weiss  und  Roth  scheinen  die 
beiden  Farben  zu  sein,  welcho  bei  solchen  Gegenständen  allen  anderen  vorgezogen  werden. 
Dabei  macht  der  Doctor  seinen  Clienten  allerlei  Vorschriften  über  das  Vermeiden  gewisser 
Speisen.  So  findet  man  z.  B.  Personen,  die  kein  Huhn,  Andere  die  kein  Aftenfleisch,  und 
wieder  Andere,  die  kein  Fleisch  einer  ihnon  spocioll  genannten  Antilopenart  essen  dürfen. 
Dieso  Enthaltungsvorschriften  gehen  oft  von  Eltern  auf  Kinder  und  Enkel  über.  Als  ich  zu- 
fällig oinmul  einen  meiner  Diener  fragte,  warum  er  kein  Artenfleisch  essen  wolle,  antwortete 
«r,  weil  moine  Mutter  es  nicht  essen  darf." 

Bei  (lujrat  im  Punjab  in  Indien  befindet  sich  der  Tempel  Sbadowla,  in 
wolchoiu  seit  dem  17.  Jahrhundert  mikroceplmle  Priester,  die  Chua  id.  b.  Ratten, 
nach  dtT  Missbildimg  ihres  Schädels  genannt),  den  Tempeldienst  versehen. 

-Dor  Tempel  wird  heimlich  von  Weibern  besucht,  welche  die  Nacht  darin  subringoi. 
und  am  Morgen  nur  einen  Chua  an  ihrer  Seite  finden,  was  die  Conception  begünstigen  nad 
'^Vuas  erzengen  soll."     {Jagor\) 


X-LH   l'rf  Tian.::»*  äs  l  r±i>hnr«LT^fiT- 


'•Zltz.  nczikTU  welches  sie  in  der  linken 
iL'f  Irks^   Ton    der  Gestalt   der  soge- 


:  n  Alpen  gebriocUich  sind.  An 
:-ri-  w*l:lr  kjeii.*  Kisoer  darstellen  sollen.  Wie 
1    iei   Frj:i:":*r£eai&rLber    ansfiben.    Termag   ich 

■?:i--TV>:!r.   i:&i:£el:   t«  seh  um  ähnliche    Manipola- 


.:   :t1   Bä*.  är-LLj-rli:   veT^^i^raLtei    lif  Wefticr.   w«in  ihnen  der    Kinder- 
Tri^är:  i^*.  -ä.~  :ii.srrTi.  Be^riffrz  >rhr  a'nsr'üderliche  Maassnahmen: 
t  --::.ri.  iLi^  i:^  Htl:*  *iiier  V. t ^ ws  i=f-  ifc  t^m  Kisd«r  besitzt,  damit  er  fSr  sie 
t::  : .:>      Irr  Eie^ä":-.*    i?-    Frfcz   Vrzir:    isrhzf  ^-^— §ö  ixsnge  EalapafrÜchte  zo- 

^zL-z-ez..  -v-^rieDd  öe  ani  rotfaem  Kattun 
eizff  P=T-pe  Tcz  eznem  halben  Meter  Länge 
T  «r:  «niA  Aa  renbiedeten  Tage  kommt 
i-rz  ':*^irf5esde  Mann  in  das  Hans  der 
Tri.:,  llsn  das  Ehepaar  neben  einander 
iiii^z.  -zz-i  seixt  tot  sie  einen  Teller  mit 
Sirir-i  irjuiz  scd  einer  jungen  Kaiapa- 
frz  jl:  "-ii.  r^abei  büt  die  Fran  die  Pappe 
'jz.  Azzzi.  als  ob  sie  dieselbe  s&ugte.  Die 
Fr:::h.T  "^Ird  j:e^Äet  und  mit  dem  darin 
er:lAliezez  Wasser  Mann  und  Frau  be- 
»ire::^.  I'äraaf  nimmt  der  Helfer  ein 
H-r^  Tini  hält  dessen  Fflsse  gegen  den 
K.'t:"  der  Fra::.  indem  er  dazu  spricht: 

.«.•  OiifUro.  mache  Gebrauch  tod 
tiez:  Huhn,  laes  &llen.  lass  hernieder- 
>:<?:zeL  einen  Menschen,  ich  bitte  dich,  ich 


iebe  iicb  an.  einen  Menschen  lasa  fallen. 
*.Äj«  ihn  bemieder^teigen  in  meine  Hände 
uci  d-f  meinen  Schoiws!* 

S:fon  fragt  er  dann  die  Frau:  »Ist 
diä  Kind  gekommen?*  Worauf  sie  ant- 
w.ne;:  .»U.  es  sangt  bereits.*  Dann  be- 
rlhn  or  d.^s  Uiupt  des  Mannes  mit  den 
H::hnerfr:>sen  und  murmelt  dazu  einige 
F:<r:-e'.n.  Das  Huhn  wird  danach  durch 
einen  Schlag  gegen  den  Hauspfotten  ge- 
iCKite:.  dann  wird  es  geöffnet  und  die 
Ader  Azn  Herzen  untersucht  Es  wird  dar- 
au:  auf  den  Teller  gelegt  und  aut  den 
Op:en'*atz  in:  Hause  gestellt.  Dann  wird 
im  Dorfe  verkfindigt.  dass  die  Frau 
»ch wanger  wäre,  und  alles  kommt  und 
l>eglückwjn<cht  sie.  Ihr  Mann  leiht  eine 
Schaukel  wiege,  in  die  sie  die  Puppe  hinein- 
legt und  dieselbe  sieben  Tage  lang  wie 
ein  neug>?borenes  Kind  bebandelt.  fRiedel^.i 
In  ;iliiiliclj«:r  \V»rise  wird  d^rr  unfruchtbaren  Nischinam-Frau  in  Californien 
von  ilin^r  i'n.'un'lin  ein«f  l^upyie  aus  Gms  treschenkt.  die  sie  dann,  um  ihre  Un- 
triirhtbarkfiit  zu  be:-eiti^en.  NVin^enlieJer  sinkend,  an  die  Brust  legt.    {Power,) 

Da«  Ml  IS»' um  für  Völkerkunde  in  lierlin  besitzt  aus  Sumatra  zwei  Holz- 
W^urf'.n.  w«rlrh»r  den  Xanien  Debata  idu]»  führen.  Diese  mU.^ssen  von  unfrucht- 
lmr«rn  W^rihern,  w»iif  lur  Kinderstuben  erbitten  wollen,  wie  Kinder  auf  dem  RQcken 
^etra^ftn  wffrfi'-n.  ^'ut  stellen  in  sehr  rober  Ausführung  einen  Mann  und  eine 
l'riiu  flar.  b(;i'l>;  vollständig  nackt;  es  sind  sicherlich  erwachsene  Leute,  und  man 
könnt«;  auf  die  Verniiithung  kommen,  dass  hier  der  Gedanke  von  einem  mystischen 
CoitiiH  (li<'s<?r  Figuren  zu  Grunde  liegt,  deren  befruchtender  Erfolg   dann  auf  die 


y 


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!  .:    Volfc«: 


li  .»ik' r.  grtrj^m.      SumaTri. 
it.:-,  Berlin        Nici.  PL-v.'jrÄpLie. 


158.  Die  Hülfe  der  Todten  gegen  die  Unfruchtbarkeit.  601 

Trägerin  der  Puppen  übergehen  soll.  Beide  Figuren  haben  die  Hände  über 
ihren  Genitalien  gefaltet.  Fig.  271  führt  sie  nach  einer  photographischen  Auf- 
nahme vor. 

Eine  übernatürliche  Hülfe  bei  der  Unfruchtbarkeit  finden  wir  in  einer  hand- 
schriftlichen Sammlung  von  Yolks-Heilmitteln  aus  Bosnien  vom  Jahre  1749, 
welche  Truhelka  mittheilt.     Es  heisst  darin: 

, Welches  Weib  keine  Kinder  gebiert,  suche  eiue  Frau,  die  sich  in  gesegneten  Um- 
ständen befindet,  nehme  gesäuertes  Brod  durch  einen  Zaun  aus  ihrem  Mund  in  den  eigenen 
Mund,  esse  es  auf,  und  sie  wird  ein  Kind  gebären." 


158.  Die  Hülfe  der  Todten  gegen  die  UnfrnchtbariLeit. 

Eine  sehr  naive,  aber  echt  menschliche  Anschauung  liegt  einer  Maassnahme 
zu  Grunde,  welche  nach  Krauss  von  den  Süd-Slaven  in  Anwendung  gezogen 
wird,  wenn  unfruchtbare  Frauen  sich  Kindersegen  verschaffen  wollen.  Solch  un- 
glückliches Weib  begiebt  sich  dann  zu  dem  Grabe  einer  Frau,  welche  während 
der  Schwangerschaft  gestorben  ist.  Sie  ruft  diese  bei  Namen,  heisst  von  dem 
Grase,  das  auf  dem  Grabe  wächst,  etwas  ab  und  wiederholt  die  Anrufungen,  wo- 
bei sie  die  Verstorbene  beschwört,  dass  sie  ihr  ihre  Leibesfrucht  schenken  möge. 
Dann  muss  sie  etwas  von  der  Erde  des  Grabes  nehmen  und  diese  am  Gürtel  mit 
sich  herumtragen. 

Ganz  ähnlich  muss  auch  bei  den  wandernden  Zigeunern  Siebenbürgens 
die  unfruchtbare  Frau  Gras  von  dem  Grabe  einer  Wöchnerin  essen,  welche  im 
Kindbett  gestorben  ist;  dieses  hat  aber  bei  zunehmendem  Mond  zu  geschehen. 
(v,   JVlislocki^) 

Bei  den  Nord-Basutho  in  Malakong  im  nördlichen  Transvaal  wird  bei 
Kinderlosigkeit  nicht  der  Frau,  sondern  dem  Manne  die  Schuld  beigemessen,  und 
ihm  kommt  es  daher  auch  zu,  die  Sühne  zu  versuchen,  und  nicht  der  Gattin. 
Missionar  Schloemann  berichtet  hierüber: 

^Nachher  kam  unser  (National-)  Helfer  Salomo  und  sagte,  dass  allerdings  auch  die 
Heiden  ein  Bewusstsein  dafür  hätten,  dass  man  durch  Kränkungen  seinen  Nächsten  tödte: 
sie  würden  nach  dem  Tode  eines  an  Gram  gestorbenen  Menschen  oft  durch  ihr  Gewissen  von 
ihrer  Schuld  überzeugt.  Ihr  Sprachgebrauch  sagt  geradezu:  ,Er  ist  an  Gram  gestorben." 
Das  Gewissen  eines  solchen,  der  einen  Gestorbenen  viel  gekränkt  hat,  erwacht  oft  bei  etwa 
eintretenden  Unglücksfällen,  als  Sterblichkeit  unter  den  Kindern,  oder  bei  gänzlichem  Mangel 
derselben,  Krankheit  unter  dem  Vieh  u.  s.  w.  Der  dadurch  Betroifene  trägt  diese  Schläge 
zuerst  mit  dumpfer  Ergebung,  nimmt  aber  bald  seine  Zuflucht  zu  den  Zauberern  und  lässt 
es  sich  viel  kosten,  damit  derselbe  durch  allerlei  heilkräftiges  Kraut  und  altüberlieferte  Ge- 
bete und  Zauberformeln  das  Unglück  von  Haus  und  Hof  vertreibe.  Sieht  er  aber,  dass  den- 
noch das  Missgeschick  nicht  von  ihm  weicht,  so  giebt  er  sich  gefangen,  sein  Gewissen  er- 
wacht und  sagt:  ,Es  ist  der  Vater  (oder  sonst  einer),  den  du  zu  Tode  gekränkt  hast,  welcher 
dir  das  Unglück  zuschickt."  Sein  Plan  ist  dann  schnell  gefasst,  der  Todte  muss  versöhnt 
werden,  damit  Glück  und  Frieden  zurückkehrt.  Er  geht  in  die  Wildniss,  sucht  dort  das  Grab 
des  Vaters  auf,  und  bekennt  an  demselben  im  Gebete,  was  ihm  Kummer  macht.  ,  Vater, 
ich  habe  keine  Kinder,  denn  ich  habe  an  dir  gesündigt.  Lass  ab  von  Deinem  Zorn  und  kehre 
mir  Dein  Herz  wieder  zu!"  So  fleht  er  und  dabei  ergreift  er  irgend  einen  Gegenstand  beim 
Grabe,  etwa  ein  Steinchen  oder  einen  Zweig,  und  nimmt  ihn  mit  nach  Hau8e.  Dort  wird 
derselbe  zu  seinem  Fetisch,  welchen  er  als  Amulet  mit  sich  herumträgt  oder  in  seinem  Hof- 
raum irgendwo  unterbringt.  Die  nahe  Beziehung,  welche  er  niui  mit  dem  von  ihm  verehrten 
Gegenstande  pflegt,  soll  die  wiederhergestellte  Gemeinschaft  zwischen  ihm  und  dem  Ver- 
storbenen andeuten,  welchem  dieser  ganze  Cultus  gilt.  Ein  solcher  Fetisch  ist  auch  der  Baum- 
stamm, welcher  als  Eingangsschwelle  zum  gprossen  Versammlungsplatze  der  Hauptstadt  dient. 
In  ihm  wird  der  verstorbene  Häuptling  Mancopane  verehrt,  zu  dessen  Versöhnung  er  dort 
niedergelegt  wurde." 

Einen  Orab-Gulhis  finden  wir  auch  bei  einigen  anderen  Völkern  wieder^ 
jedoch  lasrt  sieh  derselbe  noch  wiedemm  in  zwei  Onippen  eintheilen,  je  nachdem 


502  XXII.  Die  Therapie  der  Unfrachtbarkeit. 

es  sich  um  männliche  oder  um  weibliche  Begrabene  handelt.  Von  der  letzteren 
Gruppe  soll  weiter  unten  geisprochen  werden.  Der  ersten  Gruppe,  welcher  ja  auch 
das  soeben  berichtete  Beispiel  angehört,  können  wir  noch  einige  andere  Thatsachen 
hinzufügen.     So  berichtet  Demic: 

„Unfruchtbare  Kirgisen- Weiber  begeben  sich  zur  Nachtzeit  auf  die  Gr&ber  hervor- 
ragender Personen  und  opfern  hier  einen  Widder  und  bringen  dort  die  ganze  Nacht  bei 
loderndem  Feuer  unter  Gebeten  zu.* 

Um  einen  Sohn  zu  bekommen,  treffen  die  Zeltbewohner  in  Marokko  viele 
abergläubische  Vorkehrungen;  sie  pilgern  während  der  Schwangerschaft  ihrer  Frau 
nach  der  heiligen  Stadt  Nesan  und  suchen  von  dem  Orossscherif  derselben,  Sidi, 
das  feste  Versprechen  zu  erlangen,  dass  der  Allerhöchste  einen  Sohn  schenken 
möchte;  daflir  nimmt  der  Grossscherif  als  Geschenk  ein  Pferd;  um  ganz  sicher 
zu  gehen,  pilgert  der  gläubige  Mann  wohl  auch  nach  Fez  zum  Grabmal  Mtdei 
Edris^  und  opfert  den  Schriftgelehrten  des  dortigen  Gotteshauses  eine  Summe 
Geldes.     (RoMfs.) 

Bei  Eskischehir  in  Kleinasien  liegt  nach  Dernhurg  das  Grab  des  heiligen  Helden 
Sidi  Ghasi  BattaL  „In  der  Kibia,  der  gegen  Mekka  orientirten  Nische  (der  Grabkapelle 
des  Heiligen),  hängen  Votiv-  und  Dankinschriften,  wie  wir  sie  auch  bei  uns  in  den  katho- 
lischen Kirchen  als  Dank  fär  die  durch  Heilige  bewirkte  Genesung  aufgehängt  sehen.  Die 
Wunder  des  Heiligen  vollziehen  sich  noch  immer  an  den  Gläubigen.  Unfruchtbare  Weiber 
erhielten  hier  Kindersegen  durch  Binden,  die  sie  auf  den  Sarg  des  starken  Helden  auf- 
gelegt hatten.* 

Folgendes  erzählt  Riedel^  von  den  Watubela-  und  Aaru-Inseln,  sowie 
von  den  Inseln  des  Sula-Archipels: 

Hier  gehen  unfruchtbare  Weiber  mit  ihren  Männern  zu  den  Gräbern  der  Eltern,  oder. 
wenn  sie  Mohammedaner  sind,  Freitags  nach  der  sogenannten  Knb  Karana,  dem  heiligen  Grabe. 
um  im  Verein  mit  einigen  alten  Frauen  daselbst  zu  beten.  Sie  nehmen  dabei  mit  eich  einige 
piga  mena-mena,  einen  gefüllten  Sirih-Kober,  einen  Bambus  mit  Wasser  und  eine  lebende 
Geis,  die  Heiden  auch  wohl  ein  junges  Ferkel.  Das  Grab  wird  dann  rein  gekehrt,  die  piga 
mena-mena  mit  dem  dareingegossenen  Wasser  und  der  Sirih-pinang  auf  das  Grab  gelegt 
wahrend  die  Geis  oder  das  Schwein  in  der  Nachbarschaft  festgebunden  wird.  Nachdem  sie 
dies  verrichtet  haben,  spricht  der  Mann  flüsternd: 

„(ich)  theile  mit  dem  Grabe  meiner  £ltern,  wenn  ich  ein  Kind  kriege,  dann  will  ich 
eine  Geis  (Schwein)  opfern  oder  dem  Volke  zu  speisen  geben,  ich  verlange  nach  Heilmitteln. 
um  ein  Kind  zu  kriegen,  Medicin,  die  ich  trinken  kann;  wenn  ein  Kind  mir  gegeben  ist. 
komme  ich  zurück  (um  zu  opfern)/ 

Die  betrettende  Medicin  wird  im  Traume  sowohl  der  F'rau,  als  dem  Manne  bekannt  ge- 
macht. Dann  waschen  sich  die  Ehegatten  mit  dem  Wasser,  das  dadurch  geweiht  wurde,  das« 
es  auf  dem  Grabe  gestanden  hat,  und  essen  zusammen  Sirih  pinang.  Ein  Theil  des  letzteren 
wird  in  einer  Schüssel  auf  dem  Grabe  zurückgelassen.  Darauf  kehren  sie  nach  ihrer  Wohnung 
zurück  und  nehmen  die  Geis  oder  das  Schwein  wieder  mit.  Wird  die  Frau  schwanger,  dann 
wird  das  bewusste  Thier  geschlachtet  und  den  Negari-Genossen  gekocht  vorgesetzt,  damit  sie 
den  Xiaua,  den  Geist  des  Vaters  oder  des  Heiligen,  dessen  Grab  besucht  worden  iat,  loben 
und  preisen  können. 

Im  Orient  schreiten  Frauen,  die  sich  Nachkommenschaft  wünschen,  ohne 
zu  sprechen  sieben  Mal  über  den  Körper  eines  Enthaupteten.  Andere  tauchen  zu 
dem.selben  Zweck  schweigend  ein  Stück  Baumwolle  in  das  Blut  des  Geköpften 
und  wenden  dies  in  einer  ganz  besonderen  Weise  an. 

Die  wandernden  Zigeuner  in  den  Donau-Ländern  haben  noch  den  Ge- 
brauch, Nägel  von  Särgen  oder  von  Grabkreuzen  in  Wasser  zu  legen,  und  dieses 
letztere  müssen  kinderlose  Eheleute  bei  zunehmendem  Monde  trinken,  um  sich 
Nachkommenschaft  zu  verschilften.  Bei  den  türkischen  Zigeunern  wird  die 
Leiche  eines  Verstorbenen  mit  dem  Blute  eines  schwarzen  Huhnes  besprengt. 
Sind  diese  Blutstropfen  am  Körper  des  Todten  getrocknet,  so  werden  sie  sorg- 
laltig  abgeschabt.  Unfruchtbare  Frauen  mischen  dann  diesen  Blutstaub  mit  Esels- 
milch,  die  sie  darauf  aus  einem  Kürbisnapfe  trinken.     (i\   Wlislocki\) 


1 59.  Die  Baumseele,  d.  Feuerftinken  u.  andere  sy  mpath.  Hülfsmittel  geg.  d.  Unfruchtbarkeit.     603 

Wir  müssen  dieses  ebenfalls  als  eine  Hülfe  ansehen,  die  der  Todte  der  Unfrucht- 
barkeit leistet;  und  dahin  gehört  auch  das  Folgende,  was  wiederum  von  den 
Zigeunern  gemacht  wird.  Sie  fertigen  die  sogenannten  «Todtenmänner'',  kleine 
Menschen-  oder  Thiergestalten  aus  einem  Teig  von  Baumharz,  das  den  Bäumen 
eines  Kirchhofs  entnommen  ist,  femer  aus  den  „gepulverten  Haaren,  Finger-  und 
Fussnägelstücken  eines  todten  Kindes  oder  einer  Jungfrau,  und  aus  Aschentheilen, 
welche  man  nach  dem  üblichen  Verbrennen  der  Kleider  eines  Verstorbenen  erhält. 
Diese  kleinen  Figuren  werden  an  der  Sonne  getrocknet  und  bei  vorkommender 
Gelegenheit  zu  Pulver  gerieben.  Wird  von  diesem  so  gewonnenen  Pulver  unfrucht- 
baren VTeibern  etwas  in  einen  Hirsebrei  gemischt,  den  sie  bei  zunehmendem  Monde 
verzehren,  so  wird  die  Conception  befordert.*     (t\  Wlislocki^.) 

Der  Grab-Cultus  mit  weiblichen  Todten  zur  Erlangung  der  Fruchtbarkeit 
wird  im  zweiten  Bande  besprochen  werden. 


159.  Die  Baumseele,  der  Fenerfanken  und  andere  sympathetische  HQlfs- 
mittel  gegen  die  Unfruchtbarkeit. 

An  eine  sympathetische  Verknüpfung  zwischen  der  Seele  bestimmter  Bäume 
und  Pflanzen  und  den  Lebensschicksalen  der  Menschen  wird  von  vielen  Nationen 
geglaubt.  Auch  auf  das  Wichtigste  im  Leben  des  Weibes,  auf  die  Erweckung 
von  Kindersegen,  vermag  die  Baumseele  Einfluss  zu  üben. 

Die  Weiber  der  Schins  im  Himalaya  richten  ihre  Gebete  um  Kindersegen  an  den 
Tschili-Haum.  (v,  Ujfalvy,)  Bei  den  Enra-Kirgisen  gelten  ebenfalls  Bäume,  und  zwar 
vereinzelt  stehende  Apfelbäume,  als  Zufluchtsstätten  für  unfruchtbare  Weiber.  So  heisst  es  in 
einem  ihrer  Gedichte,  das  Kadloff  übersetzt  hat: 

^Tachiritschi,  des  Aidar  Tochter,  Sind  schon  14  Jahr  verflossen. 

Hatt'  einst  Jacyb  Chan  gefreit/  Nie  ging  sie  zur  heiFgon  Stätte, 

«Wenn  auch  Tschiritschi  gefreit  ich,  Wälzt  sich  nicht  beim  Apfelbaume, 

Eüsste  ich  doch  nie  ein  Kind,  Uebemachtet  nie  beim  Heilquell, 

Tschiritschi  band  nie  ihre  Haare  auf,  0,  erbarme  Dich,  mein  Herrgott, 

Gott   um    Hülfe    flehend,    schaut*    sie   mich      MOg'  im  Leib  der  Tschiritschi 

nicht  an.  Doch  ein  Knabe  jetzt  entstehen! 

Fest  nie  band  sie  ihre  Hüften,  Könnt*  ich  binden  ihre  Hüften, 

Und  gebar  mir  keinen  Knaben.  Mir  *nen  Sohn  gebären  lassen  u.  s,  w.* 

Seit  die  2'schiritschi  gefreit  ich  (Vamhery,) 

Von  den  Süd-Slaven  erzählt  uns  Kr  aussei 

„Folgende  zwei  Zaubereien  beruhen  auf  altem  Glauben  an  die  Baumseele,  welche  in 
der  Gestalt  eines  Holzwurmes  in  dem  Baum  ihren  Aufenthalt  hat.  Das  Weib  nimmt  eine 
Holzschüsscl  voll  Wasser  und  stellt  sie  unter  einen  Dachbalken,  wo  aus  dem  wurmstichigen 
Holze  feiner  Wurmfrass  herabrieselt.  Ihr  Mann  schlägt  mit  einem  schweren  Gegenstande  auf 
don  Balken  und  schüttelt  den  Wurmstaub  heraus.  Glückt  es  dem  Weibe,  auch  nur  ein 
Br(">cklein  dos  Wurmstaubes  aufzufangen,  so  trinkt  sie  es  sammt  dem  Wasser  aus.  Manches  Weib 
sucht  im  Knoten  der  Haselstaude  nach  einem  Wurm  und  isst  ihn  auf,  wenn   sie  ihn  findet." 

In  dieselbe  Anschauungsgruppe  gehört  auch  folgender  Zauber  aus  Bosnien. 
Das  Weib,  das  seine  Fruchtbarkeit  zu  beseitigen  wünscht,  muss  am  ersten  Sonn- 
tage nach  dem  Neumonde  aus  einer  Frucht  der  wilden  Heckenrose  drei  Würmer 
heraussuchen.  Hat  sie  diese  glücklich  gefunden,  so  steigt  sie  auf  einen  Weidenbaum, 
blickt  gegen  die  Sonne  und  isst  die  Würmer  auf.   Dabei  muss  sie  dreimal  sprechen: 

„Die  Sonne  ging  hinter  die  Berge  und  ich  werde  in  die  Hoffnung  kommen."  (TruhelkaJ 

Bei  den  Zigeunern  sollen  unfruchtbare  Frauen  sich  bei  zunehmendem  Monde 
von  einer  Zauberfrau  von  jedem  Nagel  an  den  Händen  und  Füssen  und  von  den 
Haaren  auf  ihrem  Wirbel  etwas  abschneiden  lassen.  Das  müssen  sie  dann  in  ein 
Säckchen  nähen  \ind  dieses  in  das  Bohrloch  eines  Baumes  schieben.  Das  Bohr- 
loch wird  mit  Wachs  verklebt,  und  sobald  es  mit  frischer  Rinde  tiberwachsen  ist, 
kann  sich  die  Frau  als  geheilt  betrachten,    (v,  WlislocJci^.) 


604 


XXII.  Die  Therapie  der  Unfrachtbarkeit. 


Die  Miaotze,  Ureinwohner  in  der  Provinz  Ganton,  haben,  wie  Miasionar 
Krosczyk  berichtet,  eigenthümliche  Gebrauche,  um  Fruchtbarkeit  za  erzielen.  Ist 
bei  ihnen  eine  Ehe  kinderlos,  so  nimmt  man  einen  Korb,  legt  weiaaes  Papier 
hinein  und  stellt  einen  Priester  an,  um  dieses  Papier  anzubeten.  Daaselbe  stellt 
numlich  die  Fa-hnig-mo  vor.  Die  Fa-kung-mo^  BlumengrossTater  and  Blumen- 
grossmutter,  sind  Geister,  welche  die  Seele  des  Kindes  in  einem  Garten  zorQck- 
halten.  Der  Priester  bringt  nun  Opfer  Ton  Hühnern  oder  Schweinen  diesen 
Blumenahnen,  um  sie  gunstig  zu  stimmen.  £s  hängt  ja  nar  daron  ab,  dass  des 
Kindes  Seele  aus  dem  Garten  entlassen  werde,  so  muss  das  Kind  selbstTerstfindlich 
zum  Vorschein  kommen.     Die  Ceremonie  nennt  man  Kaa-£^  d.  h.  Blamen  anbeten. 

Aus  Bosnien  lautet  eine  Vorschrift: 

^Wenn  ein  Weib  keine  Kinder  hat,  suche  sie  im  Miste  einei  imbekaimten  Hensiies 
ganze  Gerstenkümcr  und  baue  selbe  an.  Wenn  aie  keimen,  soll  sie  drei  Kömer  aafeuen»  und 
sie  wird  ein  Kind  gebären.*     (Truhelkaj 

Truhelka  fährt  fort: 

,Auch  der  Feuerfunke  hat  ähnliche  Kraft,  das  Weib  za  befruchten.  Das  Weib  hält  eine 
Holzschtbf^el  voll  Wasser  neben  dem  Feuer  auf  dem  Herde.  Der  Mann  schlägt  indeüen  zwei 
Feuerbrände  an  einander,  dass  die  Funken  sprühen.  Nachdem  einige  Funken  in  die  Schflssel 
gefallen,  trinkt  das  Weib  das  Wasser  aus  der  Schüssel  aus  * 


Fii;.  lT^.    Kruihtbiirkeits-Ziulw-T.    i'Nach  /VfrarcAa^  Trostspiegel.) 


Mit  der  reini<(<.'nden  und  entsühnenden  Kraft  des  Feuers  hängen  auch  wohl 
die  folgenden  üebriiuche  zusammen: 

B^'i  den  wanderndem  Zigeunern  in  Siebenbürgen  muss  nach  t\  Wlislocki- 
das  Weil),  welclicfs  befürchtet,  unfruchtbar  zu  sein,  Wasser  trinken,  in  welches  der 
(luttu  glühf'ndc  Kohlen  geworfen,  oder  noch  besser,  seinen  Speichel  hat  rinnen 
lassen,  mit  den  Wort»*n:  .Wo  ich  die  Flamme  bin,  sei  Du  die  Kohle,  wo  ich  der 
Keg<?n  l)in,  si*i  Du  das  WaHs»;r.' 

Einen  eigen tlin ml ichen  Fruchtbarkeitszauber,  welcher  sich  am  besten  gleich 
ansrhliesst,  finden  wir  in  Pctnirrhne  Trostspiegel  abgebildet.  Eine  Frau  steht 
mit  aufgeht jbenen  liilnden,  wie  anbetend,  zwischen  Buschwerk  im  Freien,  während 
aus  ciiifiu  starken  Gewölk  ein  dichter  Regen  auf  sie  niederprasselt.  Ihre  Kleider 
liat  sie  mit  mehreren  Stricken  fest  um  den  Leib  zusanmiengebunden.  Eine  solche 
Unmchnüriing  liegt  dicht  n1)er  dt>n  Knöcheln,  eine  zweite  um  die  Höhe  der  Waden 
und  eim^  dritte  ist  über  die  Kniee  gebunden.  Das  ist  also  wohl  ein  ähnlicher 
Zauber,  wie  derjenige,  welchen  die  Kara- Kirgisin  TschiritscJn  unterlasBen 
hatte:  ,Fest  nie  l;an(l  sie  ihre  Hüften **.     Ob  es  sich  hier  um  den  Mairegen  handelt. 


1 59.  Die  Baumseele,  d.  Feuerfanken  u.  andere  sympath.  HOl&mittel  geg.  d.  Unfruchtbarkeit.    605 

oder  um  die  befruchtende  Gewitterwolke,  das  ist  leider  aus  dem  Text  nicht  zu 
ersehen.  Im  Vordergründe  kniet  ein  Mann,  die  Hände  gegen  den  Himmel  ge- 
streckt, um  aus  den  Händen  Gottvaters,  der  in  vollem  Ornate  aus  dem  Wolken- 
fenster hervorschaut,  ein  nacktes  Kindlein  zu  empfangen.  Fig.  272  giebt  eine 
Nachbildung  dieses  Holzschnittes. 

Unter  dem  übrigen  sympathetischen  Zauber,  welchen  wir  die  Unfruchtbaren 
unternehmen  sehen,  spielen  natürlicher  Weise  auch  die  Amulete  ihre  wichtige 
Rolle.  Wir  trafen  sie  bereits  bei  den  Weibern  der  Bakhtyaren  in  Persien  an. 
Auch  die  Sudanesinnen  tragen  nach  Brehm  Amulete  gegen  die  Unfruchtbarkeit 
unter  ihrer  Schürze. 

Ebenso  behängen  sich  die  Weiber  der  Mauren  in  Marokko  mit  einem 
Talisman  oder  einem  Amulet,  um  sich  gegen  Unfruchtbarkeit  zu  schützen;  be- 
sonders beliebt  soll  unter  ihnen  zu  diesem  Zwecke  der  Fuss  eines  Stachelschweins 
sein,  welchem  die  Eigenschaft  beigelegt  wird,  die  Fruchtbarkeit  zu  erhöhen. 
(Schlagintweit) 

Bei  den  Mekkanerinnen  ist  das  Tragen  eines  Zaubergürtels  als  Mittel, 
Fruchtbarkeit  zu  verschaffen,  sehr  gebräuchlich.     (Snouck  Hurgronje,) 

In  Persien  gilt  die  Alraunwurzel  (Mandragora)  als  Amulet  gegen  die 
Unfruchtbarkeit;  sie  heisst  dort  Mannskraut  (merdum  giäh)  oder  auch  Liebeskraut 
(mehr-e-giä). 

Die  Mandragora  hat  sich  übrigens  auch  in  verschiedenen  Gauen  Deutsch- 
lands eines  grossen  Rufes  erfreut,  und  manche  Gelehrte  wollen  sie  mit  den  Du- 
daim  der  Bibel  (1.  Mos.  80,  16)  indentificiren  und  sie  haben  geglaubt,  dass  ihr  die 
Lecih  ihre  Schwangerschaft  zu  danken  habe.  Ich  vermag  dieses  aus  der  betreffen- 
den Bibelstelle  nicht  zu  entnehmen. 

Die  Zigeunerinnen  der  Donau-Länder  tragen,  wenn  sie  unfruchtbar 
sind,  „Schlangenpulver'  in  ein  Kinderhäubchen  eingewickelt  auf  ihrem  blossen 
Leibe.  Tritt  dann  eine  Schwangerschaft  ein,  so  wird  dieses  Amulet  in  einen  Fluss 
geworfen,  damit  es  die  „Schlange  auffange  und  dadurch  zu  Gift  gelange*.  Ueber- 
haupt  sehen  wir  hier  wiederum  die  Schlange  in  directer  Beziehung  zur  Frucht- 
barkeit stehen,  wie  wir  an  früherer  Stelle  schon  ihre  Verbindungen  mit  der  Men- 
struation kennen  gelernt  haben.  Wenn  bei  den  Zigeunern  nämlich  eine  Schlange 
in  der  Oster-  oder  Pfingstwoche  gefangen  wurde,  so  ist  es  nach  r.  WUslocki^  ge- 
nügend, dass  ein  unfruchtbares  Weib  sie  berührt,  um  von  ihrer  Sterilität  geheilt 
zu  werden.  Dabei  muss  sie  die  Schlange  aber  dreimal  anspeien  und  mit  ihrem 
Menstrualblute  besprengen;  auch  hat  sie  folgende  Beschwörung  zu  sprechen: 

,  Werde  dick,  du  Schlange, 
Damit  ein  Kind  ich  erlange! 
Dann  bin  ich  jetzt,  so  wie  du, 
Habe  deshalb  keine  Ruh*! 
Schlange,  Schlange,  gleite  hin! 
Wenn  ich  einmal  schwanger  bin, 
Geb'  ich  eine  Haube  dir,  eine  alte, 
Damit  dein  Zahn  viel  Gift  erhalte!* 

Das  Letztere  bezieht  sich  auf  das  vorher  erwähnte  Kinderhäubchen. 

Die  sympathetisch  befruchtende  Wirksamkeit  männlicher  Thiere  oder  deren 
charakteristischer  Körpertheile  ist  uns  auch  bereits  begegnet  Hier  mögen  noch 
einige  Beispiele  folgen. 

Die  Masuren  in  Westpreussen  wenden  gegen  Unfruchtbarkeit  der  Weiber 
das  Wasser  an,  welches  vom  Maule  des  Hengstes  abläuft,  nachdem  er  getrunken. 
(Ko2)eniicki.) 

In  Bosnien  heisst  es  nach  TruheUca  in  einer  alten  Handschrift: 

«Auch  dagegen  giebt  es  ein  Mittel,  wenn  Mann  und  Weib  nicht  zusammen  schlafen 
können  imd  keine  Kinder  haben:  Man  nehme  einen  schwarzen  Hahn,  aus  dessen  Eanmie  soll 


6U6  XXII.  Die  Therapie  der  Unfniehtbarkeit 

der  Mann  Blut  saugen,  w&hrend  aus  dem  Lappen  das  Weib  Blut  saiigen  mag,  and  dann  laue 
man  den  Hahn  aus;  man  sagt,  dass  sie  dann  Kinder  haben  werden.* 

Im  Sa  ml  an  de  wird  eine  Frau  erhört,  deren  Wunsch,  gesegneten  Leibes  zn 
werden,  sich  wegen  Verhexuug  nicht  erflillt,  wenn  sie  in  der  Sonnwendnacht  drei 
Stunden  lang  in  einer  Wagengabel,  in  welche  eine  trachtige  Stute  gespannt  war, 
steht,   und  während  dieser  Zeit  ununterbrochen  den  Rosenkranz  betet.     {Spitzer,) 

Einen  Eierzauber  haben  die  Zigeuner  und  die  Keisar-Insulaner.  Bei 
den  Zigeunern  nimmt  bisweilen  der  Gatte  ein  Ei,  macht  an  beiden  Enden  des- 
selben je  ein  kleines  Loch  und  bläst  dann  den  Inhalt  des  Eies  in  den  Mund  der 
Gattin,  die  ihn  hinabschluckt. 

Unfruchtbare  Frauen  auf  Keisar  nehmen  das  erste  Ei  einer  Henne,  gehen 
damit  zu  einem  sachverständigen  alten  Manne  und  fragen  ihn  um  Hülfe.  Er 
legt  das  Ei  auf  ein  Nunu-Blatt  (Ficus  altimeraloo)  und  drückt  damit  die  BrGste 
der  Frau  unter  dem  Murmeln  von  Segenswünschen,  kocht  dann  das  Ei  in  einem 
zusammengefalteten  Koli-Blatt  (Borassus  flabelliformis),  nimmt  ein  Stückchen  da- 
von, legt  es  wieder  auf  das  Nunu-BIatt  und  lässt  es  die  Frau  essen.  Darauf 
drückt  er  mit  dem  Blatt  die  Nase  und  die  Brüste  der  Frau  aufs  Neue  und  be- 
streicht die  rechte  und  linke  Schulter  von  oben  nach  unten,  wickelt  darauf  wieder 
ein  Stück  von  dem  Ei  in  das  Nunu-Blatt  und  lässt  es  in  den  Zweigen  eines  der 
höchsten  Bäume  in  der  Nachbarschaft  der  Wohnung  aufbewahren. 

Bei  Unfruchtbarkeit  soll  in  Steyermark  die  Braut  von  ihrem  Eheringe 
Oold  abschaben  und  gemessen  (in  Frohnleiten). 

Die  unfruchtbare  Sächsin  in  Siebenbürgen  soll  sich  am  Johannistage 
heimlich  Wasser  aus  dem  Taufbecken  aneiffnen  und  sich  dann  damit  waschen. 
rt.  WlislorkiKj 

Auf  Engano  in  Niederländisch-Indien  begegnen  wir  einem  Gebrauche, 
dessen  Analogien  wir  auch  bei  anderen  Gelegenheiten  noch  antre£Fen  werden. 

\W<i\in  auf  Kn^ano  eine  Kho  unfruchtbar  bleibt,  so  nehmen  manche,  die  sich  Kinder 
wfln-ohrm,  don  Naiiion  einoi  Thieres  an,  zumal  den  eines  Hundes,  welchen  Thieren  lie  ebenso. 
wie  wir  Kiirojiiior,    Namen   ^oljcn:    ein  Häuptling,  den  ton  Rasenberg  besuchte,  hiets  nach 

Wir  müssen  liierin  den  Versuch  erblicken,  schädigende  Dämonen  irre  zu 
flHir<-n  und  ihn*  Aul'merksairikeit  von  den  verfolgten  Menschen  abzulenken. 


XXUI.  Die  Fruchtbarkeit  des  Weibes. 

160.  Die  Bassennnterschiede  in  der  Fruchtbarkeit. 

Es  ist,  wie  Niemand  wohl  bezweifeln  wird,  von  einem  hohen  anthropolo- 
gischen Interesse,  eine  Untersuchung  darüber  anzustellen,  ob  bei  den  verschiedenen 
Völkern  der  Erde  die  Fähigkeit,  sich  zu  vermehren  und  ihren  Stanmi  fortzu- 
pflanzen, in  gleichmässiger  Weise  vorhanden  ist,  oder  ob  sich  in  dieser  Beziehung 
ethnologische  Difierenzen  nachweisen  lassen.  So  mangelhaft  nun  auch  das  mir 
zu  Gebote  stehende  Material  in  dieser  Beziehung  bisher  leider  ist,  so  gelingt  es 
doch  auch  mit  diesen  geringen  Mitteln  schon,  den  sicheren  Beweis  zu  liefern, 
dass  hier  wirklich  recht  erhebliche  Verschiedenheiten  existiren,  und  bisweilen  können 
wir  sogar  auch  einen  Einblick  in  die  Gründe  gewinnen,  durch  welche  dieselben 
veranlasst  werden. 

Zunächst  möchte  ich  darauf  hinweisen,  wie  die  Statistik  die  weibliche 
Fruchtbarkeit  zu  untersuchen  hat.  Zur  Messung  der  Fruchtbarkeit  einer  Bevöl- 
kerung dient  in  der  Regel  die  allgemeine  Geburtenziffer,  welche  lediglich  die 
Gesammtzahl  der  Geburten  mit  der  Gesammtbevölkerung  vergleicht.  Ein  Jahres- 
betrag von  weniger  ab  30  Geburten  auf  1000  Einwohner  ist  nach  den  inter- 
nationalen statistischen  Ermittelungen  als  gering,  ein  solcher  von  30  bis  gegen 
40  als  normal,  ein  Betrag  von  40  und  mehr  Geburten  auf  1000  Einwohner  aber 
als  sehr  hoch  anzusehen.  Allein  mehrere  Statistiker  (unter  Anderen  Mayr)  machen 
darauf  aufmerksam,  dass  diese  allgemeine  Geburtenziffer  als  richtiger  Ausdruck 
der  Fruchtbarkeit  der  Bevölkerung  nicht  angesehen  werden  darf.  Bei  deren 
Ermittelung  wird  nämlich  die  gesammte  Bevölkerung  in  Rechnung  gebracht, 
während  doch  nur  ein  Bruchtheil  der  letzteren  wirklich  bei  der  Fortpflanzung 
betheiligt  und  derselben  fähig  ist.  „Wäre  überall  der  Bestand  an  Greisen  und 
Kindern  verhältnissmässig  gleich,  dann  wäre  die  Folgerung  minder  unrichtig,  weil 
dann  die  Fruchtbarkeit  sich  wenigstens  proportional  den  allgemeinen  Geburten- 
ziffern verhalten  würde."  Auch  nicht  etwa  das  Verhältniss  der  Gesammtzahl  der 
Weiber  in  einer  Bevölkerung  kann  uns  einen  richtigen  Aufschluss  über  die  weib- 
liche Fruchtbarkeit  geben;  denn  die  Frau  ist  eben  nur  eine  gewisse  Zeit  lang 
gebärfähig,  und  es  müssten  alle  diejenigen  weiblichen  Personen  von  der  Zählung 
ausgeschlossen  werden,  welche  theils  noch  nicht  in  die  Periode  der  Gebärfahig- 
keit  eingetreten,  theils  aber  durch  Ueberschreiten  dieser  Periode  bereits  steril 
geworden  sind. 

Wenn  man  nun  bei  zwei  Völkern  verschiedener  Rasse  verschiedene  Grade 
der  Fruchtbarkeit  vorfindet,  so  muss  man  sich  wohl  hüten,  hierin  ohne  Weiteres 
einen  Rassenunterschied  erkennen  zu  wollen.  Denn  es  zeigt  sich  bei  näherer 
Untersuchung,  dass  die  grössere  oder  geringere  Fruchtbarkeit  noch  durch  eine 
Reihe  anderer  Factoren  recht  erheblich  beeinflusst  werden  muss.    Hierher  gehört 


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-—•.■:-.    vtc.:    :..:    i.-?."i  ^-'r:   :    i^-  >..:..     ..;.:•-   v-d    ür«-  "«lüoi   "- — :    .':Air«  ilier 

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!-•  -    ^r-:.::^:-'!    _-r-:_-i-r  .:   :'    i^t*:  :■:■:.    ;  .»ü.:i.i:»ro      >...:•    *-Ll    Äeitj.eg«!.'»  Ehec 

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"----•"'•^^  v-ll-  i."  ■:  ■  -  ..:.  ::i:>  i,- _- -  ■>.  i.>  i:-  *'^i.;.  :'lr  Sziliri 
-■A.~-  •«-:•:>  -L-      ..-.--.    .:..■.....     :  i.  j^v  v  ..>f.:.    :i»c*  "^•.-icwir^  Eh^c 

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160.  Die  Raasenuiitenohiede  in  der  Fruchtbarkeit.  609 

und  Klima,  als  vielmehr  die  mit  historisch  gegebenen  Verhältnissen  im  Zusammen- 
hang stehenden  Culturzustande,  sowie  die  hiervon  wieder  abhängige,  die  Sexual- 
verhältnisse beherrschende  Lebensweise  maassgebend. 

Daher  kommt  es,  dass  beispielsweise  Volkerschaften  im  Orient,  die  unter 
gleichen  klimatischen  Verhältnissen  leben,  grosse  Differenzen  in  der  Fruchtbarkeit 
zeigen.  So  schrieb  über  die  in  Griechenland  lebenden  Volker  Damian  Georg, 
dass  die  Juden  und  die  Armenier  daselbst  sehr  fruchtbar  sind,  die  Griechen 
aber  weniger  und  am  allerwenigsten  die  Türken. 

Das  die  jüdische  Bevölkerung  überall  eine  grosse  Fruchtbarkeit  zeigt,  ist 
aber  gewiss  die  Folge  einer  dieser  Rasse  besonders  zukommenden  Eigenschaft. 

Auch  die  Süd-Slavinnen  sind  nach  Krat4SS^  sehr  fruchtbar. 

Der  Einfluss  des  Landes  und  des  Klimas  auf  die  Fruchtbarkeit  ist  von 
manchen  Seiten  betont  worden;  aber  er  darf  nicht  überschätzt  werden.  So  hatte 
man  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  gegen  den  Norden  zu  die  Fruchtbarkeit  ab- 
nehme, und  dementsprechend  sagte  DaJd: 

,Die  Lappländer  sind  bekanntlich  sehr  unfruchtbar,  so  dass  eine  grosse  Einderzahl  in 
einer  Familie  eine  grosse  Seltenheit  ist.**     Zahlen  brachte  freilich  dieser  Autor  nicht  bei. 

Diesem  Ausspruche  aber  steht  eine  Angabe  du  ChaiUu's  entgegen: 
«Ehe  ich  Lappland  besuchte,  war  ich  in  dem  Wahn  befangen,  dass  der  Einfluss  des 
langandauemden  Tageslichts,  wie  umgekehrt  dann  wieder  der  kurzen,  dunklen  Tage  und 
langen  N&chte  nothwendiger  Weise  eine  Entartung  der  menschlichen  Rasse  zur  Folge  haben 
müsse;  aber  gerade  das  Gegentheil  sollte  sich  finden:  je  weiter  ich  in  Schweden  wie  in 
Norwegen  nach  Norden  vordrang,  um  so  kr&ftiger  und  stärker  schien  mir  der  Menschen- 
schlag, um  80  grösser  waren  die  Familien  und  um  so  höher  der  Procentsatz  der  Ge- 
burten im  Verhältniss  zur  Zahl  der  Bevölkerung;  betrug  derselbe  doch  in  Tromsö  34^/10 
und  in  Finmarken  gar  86^;io  auf  1000  Personen  jährlich.  Es  ist  durchaus  nichts  Unge- 
wöhnliches, in  einer  Familie  und  von  einer  Frau  eine  Zahl  von  15 — 18  Kindern  zu  treffen, 
und  manchmal,  obgleich  dies  seltener  vorkommt,  steigt  sie  wohl  auch  auf  20—24  Köpfe. 
Allem  Anschein  nach  zeigt  sich  die  Fisch-  und  Milchdiät  der  Vermehrung  der  menschlichen 
Rasse  sehr  förderlich.* 

Uebrigens  besitzen  auch  die  Bevölkerungen  von  Ländern  mit  gleichem  Klima 
ganz  differente  Geburtenziffern. 

Diese  Ziffer  betrügt  nach  Quetelet  für  Island  87,  England  85,  Cap  der  guten 
Hoffnung  88,7,  Frankreich  81,6,  Schweden  37,  Insel  Bourbon  24,5,  Sicilien  24, 
Preussen  28,8,  Venetien  22,  Vereinigte  Staaten  20;  es  zeigte  sich  somit  keine  Be- 
ziehung zwischen  diesen  Zahlen  und  den  Breitegraden.  Wappäus  führt  femer  folgende  Ge- 
burtenziffern an:  Mexiko  17,  Venezuela  21,9,  Bolivische  Provinzen  Mozos  und  Chi- 
quito8l7,7,  Unter-Canada24,2,  Ober-Canada29,l,  Neu-Süd- Wales 28,6,  Martinique 
bei  Weissen  89,1,  Martinique  bei  Farbigen  25,9,  Bourbon  28,5.  Hier  zeigt  sich  beispiels- 
weise bei  Martinique,  wie  gross  an  einem  Orte  die  Unterschiede  zwischen  verschiedenen 
BevölkerungRklassen  sind. 

Bei  den  Yankees  will  man  bemerkt  haben,  dass  ihre  Frauen  in  der  fünften 
und  sechsten  Generation  immer  blasser,  immer  zarter  und  magerer  werden.  In 
der  That  sinkt,  wie  das  Bureau  of  Education  in  seiner  Schrift  über  Vital 
Statistics  of  America  nachwies,  die  Zahl  der  Geburten  in  Amerika  von  Jahr 
zu  Jahr;  dieser  Rückgang  findet  sich  in  allen  Staaten  stetig  und  allgemein:  in 
Arkansas,  Alabama,  Massachusetts,  Connecticut,  Michigan,  Indiana, 
Pennsylvania  und  New  York.  Allerdings  sind  die  XJeberschOsse  der  Geburten 
bei  den  Einwanderern  starker,  immerhin  aber  geringer,  als  in  irgend  einem  Lande 
Europas,  Frankreich  in  seinen  trübsten  Zeiten  nicht  ausgenommen.  Die  Ab- 
neigung der  Frauen  in  Amerika  gegen  die  Mühen  der  Kindererziehung  hat  nicht 
geringen  Antheil  an  dieser  Erscheinung. 

Eine  ganz  erhebliche  Abnahme  der  Fruchtbarkeit  wird  auch  von  verschie- 
denen Autoren  bei  europäischen  Familien  behauptet,  welche  dauernd  in  die 
Tropen    übergesiedelt   sind.     „Die   Fruchtbarkeit  der  Frau,''    sagt    Virdiow^   in 

Ploss-Bartels,  Dms  Wdb.    6.  Aufl.    I.  39 


610  XXIII.  Die  Frachtbarkeit  des  Weibes. 

seinem  Vortrage  über  die  Acclimatisation,  «geht  erfahrangsgemass  in  den  Tropen 
allmählich,  aber  doch  sehr  schnell,  in  wenigen  Generationen  zn  Gmnda*  und 
selbst  von  Cuba,  das  immer  als  das  Muster  eines  f&r  die  AcclimatiBation  der 
Europäer  geeigneten  Tropenlandes  hingestellt  worden  ist,  bestätigte  jRamon  de 
la  Sagra^  »was  für  andere  Antillen,  namentlich  für  die  französischen,  schon 
seit  längerer  Zeit  als  ausgemachter  Lehrsatz  gilt,  dass  eine  weisse  Familie,  eine 
Creolenfamilie,  die  im  Lände  ansässig  ist  und  nicht  durch  neues  earopaisches 
Blut  wieder  aufgefrischt  wird,  sich  überhaupt  über  die  dritte  Oeneration  hinaus 
nicht  mehr  als  fruchtbar  erweist." 

Es  ist  ferner  zu  berücksichtigen,  dass  überall  bei  den  Völkern  Europas 
die  zeitlichen  Schwankungen  in  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  besonders  von  den 
Preisen  der  wichtigste  n  Nahrungsmittel  beherrscht  werden,  wie  viele 
Statistiker  nachgewiesen  haben.  Ueberhaupt  üben  günstige  LebensyerhSltnisse 
wohl  bei  jeder  Bevölkerung  einen  grossen  Einfluss  auf  die  Erzeugung  der  Nach- 
kommenschaft aus.  Dass  aber  zahlreiche  Momente,  wie  Ueberlastung  des 
weiblichen  Geschlechts  und  hierdurch  bedingte  Häufigkeit  des  Abortus,  allzu 
frühes  Heirathen,  die  Verbreitung  gewisser  Krankheiten,  entnervende  Gewohn- 
heiten des  männlichen  Geschlechts  u.  s.  w.  der  Erzeugung  von  Kindern  hinderlich 
sind,  wird  wohl  auch  bei  manchen  Völkern  als  Grund  der  relativ  geringen  Frucht- 
barkeit aufzufassen  sein. 

Eine  besonders  bei  vielen  wilden  Völkern  heimische  Gewohnheit  mag  die 
Fruchtbarkeit  ebenfalls  beschränken,  nämlich  das  sehr  lange,  oft  mehrere  Jahre 
andauernde  Säugen  der  Kinder.  Denn  schon  an  sich  ist  es  physiologisch, 
dass  für  gewöhnlich,  aber  freilich  nicht  immer,  die  stillenden  Frauen  nicht  con- 
cipiren;  ausserdem  aber  verbietet  bei  vielen  Völkern  die  Sitte,  bei  anderen  die 
religiöse  Vorschrift  den  sexuellen  Umgang  während  der  ganzen  Saugungspeiiode: 
in  Folge  dessen  wird  auch  die  Möglichkeit  der  Empfangniss  während  des  Stillens 
ausgeschlossen.  Dass  viele,  namentlich  auch  wilde  Völker  das  Stillen  der  Kinder 
ausdrücklich  deshalb  jahrelang  fortsetzen,  um  nicht  so  bald  wieder  schwanger  zu 
werden,  davon  wird  noch  die  Rede  sein. 

Wir  dürfen  nicht  unberücksichtigt  lassen,  dass  die  angebliche  Unfrucht- 
barkeit sehr  wohl  auch  nur  eine  scheinbare  sein  kann.  Denn  bei  manchen  Völkern 
haben  wir  den  Grund,  dass  ihre  Ehen  arm  an  Kindern  sind,  in  dem  traurigen 
Umstände  zu  suchen,  dass  bei  ihnen  die  Fruchtabtreibung  oder  die  Tödtung  der 
Neugeborenen  in  grösserem  Umfange  gebräuchlich  ist. 

Die  Annahme,  dass  die  Mischlinge  aus  verschiedenen  Rassen  meist  wenig 
fruchtbar  seien,  ist  falsch;  wenigstens  hat  sie  durchaus  keine  allgemeine  Gültigkeit. 
So  lebt  in  Süd-Amerika,  namentlich  in  Brasilien,  eine  sehr  zahlreiche  Bastard- 
bevölkerung von  Negern  und  Portugiesen,  in  Chile  eine  solche  aus  Indianern 
und  Spaniern,  in  anderen  Theilen  dieses  Continents  kommen  die  complicirtesten 
Kreuzungen  zwischen  Indianern,  Negern  und  Weissen  vor,  doch  gerade  diese 
dreifachen  Kreuzungen  bieten  die  schärfste  Probe  ft\r  die  wechselseitige  Frucht- 
barkeit der  verschiedenen  Stämme  dar.  Boas  fand  bei  statistischen  Untersuchungen 
von  nordamerikanischen  Indianerinnen  im  Alter  von  40  Jahren  im  Mittel 
6  Kinder,  während  bei  gleich  alten  Mischlingen  dieser  Stämme  mit  Weissen  im 
Mittel  8  Kinder  vorhanden  waren.  Kinderlose  Frauen  traf  er  häufiger  bei  Voll- 
blut-Indianern an.  Von  den  Aleutinnen  berichtet  Ritter^  dass  ihre  Ehen  mit 
den  Russen  kinderreicher  wären,  als  diejenigen  mit  ihren  Stammesgenossen.  Die 
gemischte  Rasse  in  Paraguay  übertrifft  sogar  in  der  Fruchtbarkeit  die  beiden 
Rassen,  aus  denen  sie  hervorgegangen.  Insbesondere  vermehren  sich  die  in  den 
europäischen  Colonien,  sowie  in  den  Staaten  Süd -Amerikas  verbreiteten 
Mulatten,  die  Nachkömmlinge  von  Weissen  und  Negern.  Le  Vaülahi  sagt: 
,Die  Hottentotten  erhalten,  wenn  sie  sich  unter  sich  verheirathen,  3  oder 4 


16L  Die  Fruchtbarkeit  der  asiatischen  Völker, 


611 


Kinder;    wenn  sie  sich  mit  Negern  verbinden,  verdreifachen  sie  diese  Zahl,  nnd 

erhöhen  sie  noch  mehr,  wenn  sie  sich  mit  den  Weissen  vermischen.' 

Als  ein  Hinderniss  der  Conception  betrachtet  man  seit  ältester  Zeit  Fett- 
ftibigkeit;  deshalb  galten  den  Griechen  die  skytischen  Frauen  als  un- 
rn  chtbar.     (HaeserJ 

Bei  den  Kaders  in  den  Anamali j- Bergen  (Indien)  gilt  es  ab  gutes 
Reichen,  wenn  das  erste  Kind  ein  Mädchen  ist,  man  glaubt  dann  auf  viele  Kinder 
sehnen  zu  können;  später  werden  Knaben  vorgezogen,     (Jagor^J 

Wenn  wir  jetzt  eine  Umschau  halten  wollen,  wie  es  bei  den  verschiedenen 
Tölkern  des  Erdballs  mit  der  Fruchtbarkeit  beschaffen  ist,  so  muss  ich  leider 
schon  im  Voraus  gestehen,  dass  die  meisten  Angaben,  die  ich  herbeiziibringen 
vermag,  eines  zahlenraassigen  Beleges  entbehren.  Vor  der  strengen  Kritik  einer 
wissenschaftlichen  Statistik  können  sie  daher  nicht  bestehen.  Trotz  aller  Lücken- 
iftigkeit  mögen  diese  Thatsachen  aber  doch  den  einen  Vortheil  bringen,  dass 
Ke  die  Aufmerksamkeit  derer,  denen  sich  die  glückliche  Gelegenheit  bietet,  solche 
Beobachtungen  anzustellen,  auf  dasjenige  lenken,  was  uns  fehlt.  Und  vielleicht 
auf  die-se  Weiaie  nach  und  nach  manche  schmerzliche  Lücke  in  unserem 
m  ausgefllllt. 


161.  Die  Fruchtbarkeit  der  asiatlsclieu  Yölkon 

üntdr  den  transkaukasischen  Völkern,  inäbesondere  den  Grutiern  und  den  gruei- 
fiisebeii  Armeniern,  gehören  kinderreiche  Familien  za  den  Seltenheiten;  nicht  mit  Unrecht 
wird,  wie  gesugt,  die  üraache  dieser  Erscheinung  in  dem  ku  frühen  Abschlüsse  dor  Ehen  ge- 
sucht. (Koch,)  Die  Ehen  der  Chowsuren  sind  kinderarm.  Es  werden  selten  mehr  als  drei 
Eünder  in  einer  Familie  gefanden.  Diese  Kinderarm ulh  ist  eine  absichtliche.  Zun&chst  ist 
es  Braucht  die  Ehe  bis  znm  20.  »Jahre  des  Mädchens  zu  versögern«  Bei  den  verheiratheten 
Chewenren  gilt  es  aber  ausserdem  noch  aU  eine  grosse  Schande,  wenn  dem  jungen  Paare 
vor  dem  Ablauf  der  ersten  vier  Jahre  ein  Kind  geboren  wird.  Auch  ffpS^ter  darf  er«t  im 
Verlaufe  von  abermals  drei  Jahren  eine  Niederkunft  stattfinden.  Die  Leute  meineUf  daas  bei  der 
rascheren  Aufeinanderfolge  der  Kinder  das  jüngere  dem  Ulteren  die  nöthige  Pflege  rauben 
würde.     (UaddeJ 

Die  Beduinen -Weiber  sind  nach  Xayar(i  wenig  fruchtbar;  er  glaubt,  dass  das  2  bis 
8  Jahre  lange  Stillen  daiu  beitrügt. 

In  Persien  empfangen  nach  Polak  Franen,  welche  für  ihre  Kinder  Ammen  halten, 
msch  nach  einander  nnd  gebUren  fast  jedes  Jahr,  wahrend  in  den  ärmeren  Klassen,  wo  dos 
Kind  bis  zum  dritten  Jahre  von  der  Mutter  gesäugt  wird,  Empflngniss  und  Geburten  sich 
langsamer  folgen.  Doch  geschieht  es  auch,  dass  Frauen  wlLhren«i  und  trete  der  Lactation  im 
zweiten  Jahre  wieder  menstruiren  und  empfangen.  Durchschnittlich  gebären  die  Perse- 
rinnen  6 — 8  mal»  Die  unfruchtbare  Frau  wird  in  Peraien  vom  Manne  fast  immer  Verstössen. 
Frühe  Heirathen,  Missverh&ltniss  des  Alters  zwischen  den  Eheleuten,  Hysterie,  MenstruationS' 
anomalien  und  andere  krankhafte  Zustande  des  Uterinaystems,  grosaentheils  wohl  erzeugt 
durch  dvk»  widernatürliche  Gebären,  sind  nach  Häntinche  als  die  Grande  anzusehen,  welche 
die  Weither  in  der  persischen  Pro¥inz  Gilan  am  Kaspischen  Meer  lüs  wenig  fruchtbar 
erscheinen  losten. 

Die  S arten  in  Taschkent  und  Chokand  sind  sehr  fruchtbar;  es  findet  «^ich  nicht 
ilten,  dass  eine  Familie  15  lebende  Kinder  aufweist.  Besitzt  der  S arte  aber  mehrere  Frauen, 
begegnet  man  in  seiner  Familie  wohl  mehr  als  3Q  Seelen.     (Rmsi^che  Itevurj 

Von  den  Völkern  im  äussersten  Nordottten  Asiens  wissen  wir  im  Gansten  nur  Weniges; 
Die  Ynit  nennt  Hall  nicht  fruchtbar.  Die  Tschnktschen  scheinen  kinderreicher  «u  sein; 
Hoaper  wenigsten!*  rechnete  bei  ihnen  5 — 6  Kinder  auf  jedes  Weib.  Auch  in  den  Tschukt- 
schen-Dörfem  am  Eismeer  giebt  es  nach  den  Berichten  der  Vega- Expedition  «Kinder  in 
Menge*.    (  Gerland  J 

Die  «tibi ri sehe  Bevölkerung  seigt  bedeutende  Differenzen  bezüglich  der  Fruchtbarkeit^ 

einem  Berichte  (JcfiisseiJ  wird  erwähnt,  da«s  daselbst  die  Fruchtbarkeit   der  Frauen   ab- 

amt^  je  höher  nach  Norden  »u  das  Volk  wohnt.     So   sind  die  Ehen   im   Turuchan'schen 

ebiete  aulfallend  weniger  ergiebig,    als  e.  B.  im  südlichen  und  östlichen  Sibirien.     Wenn 

39* 


612  XXni.  Die  Fruchtbarkeit  des  Weibes. 

die  Russin  im  südlichen  Sibirien,  aber  auch  noch  unter  dem  50.— 57.^  n.  B.,  bis  24 
Kinder  gebären  kann,  so  bringt  es  ihre  Landsmännin  nahe  am  Polarkreis  etwa  auf  10,  12, 
selten  15,  in  der  Gegend  von  Worogof  selten  bis  19  Kinder;  die  Ostjak  in  höchstens  bis  8 
oder  9,  die  Tun  gusin  im  Maximum  auf  8 — 10.  Die  letzteren  (Tungusinnen  und  Ost- 
jakinnen)  gebären  überhaupt  nur  bis  zu  30  bis  85  Jahren,  nie  mehr  mit  40  Jahren.  Die 
besten  und  jüngsten  Jahre  in  den  Ehen,  gewöhnlich  anderwärts  durch  grössere  Frucht- 
barkeit ausgezeichnet,  sind  bei  den  Familien  der  Eingewanderten  in  Turuchan  durch  Karg- 
heit der  Geburten  bemerkbar.  Die  Ostjaken  sind  nicht  sehr  fruchtbar,  selten  trifft  man 
Familien  mit  3  oder  4  Kindern;  der  Hauptgrund  des  Kindermangels  scheint  Jedoch  in  der 
grossen  Kindersterblichkeit  zu  liegen.  (Alexandrow,)  Auch  Pallas  äusserte  ndi  in  ähnlicher 
Weise.    Er  sagt: 

«Von  Eifersucht  wissen  die  Ostjaken  wenig.  Ihre  Ehen  sind  auch  nicht  sonderlich 
fruchtbar,  obgleich  man  von  ihnen  sagt,  dass  sie  der  thierischen  Liebe  sehr  ergeben  Bind. 
Man  findet  wenig  Väter,  die  mehr  als  drei,  höchstens  vier  Kinder  haben.  Vielleicht  ist 
daran  auch  dieses  schuld,  dass  viele  Kinder  wegen  der  groben  Behandlung  und  Nahrung  im 
zarten  Alter  wegsterben,  obgleich  die  Mütter  selbige,  solange  sie  nur  selbst  wollen,  oft  bis 
ins  fünfte  Jahr  säugen.* 

Die  Samojeden  nehmen  an  Zahl  ab,  da  ihre  Ehen  sehr  unfruchtbar  sind.  Unter  den 
von  Sograf  untersuchten  Individuen  befanden  sich  18  verheirathete  Männer  und  10  verhei- 
rathete  Frauen;  auf  diese  28  Personen  kamen  im  Ganzen  nur  25  lebende  Kinder,  gewiss  eine 
sehr  kleine  Zahl.  Mit  den  verstorbenen  Kindern  betrug  die  Anzahl  47,  welche  sich  auf  19 
Ehen  vertheilt,  darunter  waren  6  Ehen  kinderlos.  Diese  geringe  Kinderzahl  ist  wohl  zu 
einem  Theil  auf  die  erhebliche  Schwächung  des  Körpers  durch  den  Branntweingenuss  zu 
rechnen;  andererseits  scheint  das  überaus  frühe  Heirathen  einen  schlechten  Einfluss  zu  üben. 
Knaben  von  16—17  Jahren  werden  mit  Mädchen  von  13 — 14  Jahren  verheirathet.  Auch  die 
Tungusen  sind  nicht  sehr  fruchtbar;  die  wenigsten  Eltern  sollen  bei  ihnen  mehr  als  4  Kinder 
zeugen.    (Georgi,) 

Die  Chinesen  sind  nach  Scherzer  ebenfalls  wenig  fruchtbar,  da  die  Familie  (d.  h.  der 
Mann  mit  in  der  Regel  2—6  Frauen)  durchschnittlich  nicht  mehr  als  4  Kinder  hat.  Allein 
Scherzer  scheint  die  Ursache  nicht  in  dem  langdauemden  Säugen  zu  finden,  denn  er  setzt 
noch  hinzu:  «Viele  Frauen  werden  häufig  nach  einigen  Jahren  wieder  schwanger,  selbst  wenn 
sie  noch  säugen.* 

Wernich  giebt  an,  dass  die  Japanerinnen  im  Allgemeinen  sehr  fruchtbar  sind;  der 
um  die  Häuser  sich  tummelnde  Kindersegen  würde,  wie  er  sagt,  noch  bedeutender  sein, 
wenn  nicht  eine  Beschränkung  durch  das  lange  Säugen  und  durch  Abortus  stattfände.  Ob- 
gleich in  Japan  wie  in  China  die  jungen  Mädchen  sich  vor  der  Verheirathung  ziemlich  frei 
prostituiren  dürfen,  so  ist  doch  dies  dem  Wachsthum  der  Bevölkerungszahl  nicht  hinderlich. 
CLetoumeau.J 

Ueber  die  Fruchtbarkeit  der  Annamiten- Frauen  Cochinchinas  hat  MondÜre Studien 
gemacht.  Die  Menstruation  tritt  bei  ihnen  durchschnittlich  spät  (16  Jahre  und  4  Mon.)  ein: 
nur  4  Procent  der  Frauen  trat  vor  diesem  Zeitpunkt  in  die  Ehe,  die  grösste  Mehrzahl  (941 
Individuen)  waren  älter  als  17  Jahre  bei  ihrer  Vereinigung  mit  dem  Manne.  Von  diesen  aber, 
die  bei  geschlechtlichem  Umgange  Gelegenheit  gehabt  hätten,  zu  gebären,  hatte  noch  nicht 
die  Hälfte  (440)  ein  oder  mehrere  Kinder  geboren.  Das  mittlere  Alter,  in  welchem  bei  diesen 
die  erste  Geburt  stattfand,  war  20i;2  Jahr.  Die  erste  Geburt  fällt  also  ziemlich  spät;  und 
während  86  Procent  schon  vor  dem  Eintritt  der  Regeln  den  Coitus  üben,  sind  95  Procent 
vier  Jahre  menstruirt,  bevor  sie  ihr  erstes  Kind  bekommen.  Mondiere  fand,  dass  119  Frauen, 
die  im  gebärfUbigen  Alter  standen,  545  Kinder  hatten.  Da  das  junge  Mädchen  hier  meist  erat 
im  Alter  von  19  bis  20  Jahren  in  die  Ehe  tritt,  wo  sie  am  geeignetsten  ist  zur  Zeugung,  so 
begünstigt  die  bis  dahin  den  Sexualorganen  gewährte  Ruhe  die  Empfängniss,  imd  so  werden 
sie  auch  in  diesem  Lebensalter  meistens  schwanger. 

Bei  den  Orang  Utan  in  Malakka  ist  nach  Stevens  die  Fruchtbarkeit  eine  günstige; 
aber  die  Sterblichkeit  der  Kinder  ist  sehr  gross.  Eine  B  Sien  das -Frau  hatte  16  Kinder 
(5  Knaben  und  11  Mädchen),  aber  7  starben  schon  im  ersten  Lebensjahre  und  noch  5,  bevor 
sie  die  Pubertät  erreicht  hatten.    (BarteW^.) 

Die  Weiber  der  Nay  er -Kaste  in  Indien  bleiben  bis  zum  40.,  auch  wohl  bis  sum 
45.  Jahre  fruchtbar;  Mütter  mit  10  Kindern  sind  nicht  sehr  selten.  Eine  Frau  in  Calicut 
soll  16,  eine  andere  sogar  20  Kinder  geboren  haben,    fjagorj 

Ueber  die  Fruchtbarkeit  der  Todas  hat  Mar shall  genaue  Tabellen  geliefert.  Er  fiuid, 
dass  86  Frauen  167  Kinder  geboren  hatten.    Von  diesen  hatten 


162.  Die  Fruchtbarkeit  der  amerikanischen  Völker.  813 

1  Kind       8  Fraaen  6  Kinder    4  Frauen 

2  Kinder  8  ,  7,1, 
3,8,  8,3, 
4.3,  9.8, 
5.6,  10        ,         2        , 

Die  Weiber  hatten  mit  ungefähr  14  Jahren  (im  Durchschnitt  mit  17^2  Jahren)  ihr  erstes 
Kind  und  hörten  durchschnittlich  mit  37,4  Jahren  auf,  Kinder  zu  gebären.  Das  ist  aber  nur 
die  Mittelzahl,  und  in  Wirklichkeit  fanden  sich  9  Frauen  darunter,  welche  nach  dem  40.  Jahre 
noch  ein  Kind  geboren  hatten;  eine  von  diesen  war  43  Jahre  gewesen,  eine  48  Jahre  und  eine 
sogar  53  Jahre.  Die  Fruchtbarkeit  dieses  indischen  Volksstammes  lässt  also  nichts  zu 
wünschen  übrig. 

Zu  Banka  in  Niederländisch-Indien  sind  nach  J^pp  die  Frauen  nicht  sehr  frucht- 
bar; derselbe  sucht  die  Ursachen  in  der  schmalen  Kost.  Dagegen  werden  die  Frauen  auf 
Amboina,  welche  meist  von  Fischen  und  Sago  sich  nähren,  als  ganz  besonders  fruchtbar 
geschildert. 


162.  Die  Fruchtbarkeit  der  amerikanisehen  Tolker. 

Bei  den  Aleuten  im  Nordwesten  Amerikas  ist  eine  Familie  selten  mit  mehr  als 
2—3  Kindern  gesegnet.  (Bitter.)  In  Alaska  findet  man  in  den  Ehen  der  Eingeborenen  ge- 
wöhnlich nur  1 — 3  Kinder;  die  höchste  Zahl,  welche  Dali  gefunden,  betrug  6,  und  auffallend 
viele  Ehen  sind  ganz  kinderlos. 

Landsher g  fand  bei  den  Eskimos,  dass  21  Frauen  im  Durchschnitt  6  Kinder  hatten; 
unter  66  Frauen  waren  nur  2,  die  kinderlos  waren.  (Boberton.J  Dagegen  berichtet  Abbes, 
dass  die  Ehen  der  Eskimos  des  Cumberl  and -Sundes  sich  keines  grossen  Kindersegens 
erfreuen;  selten  trifft  man  mehr  als  zwei  Kinder;  die  Ursache  vermuthet  er  darin,  dass  der 
Mangel  an  passendem  Ersatz  für  die  Muttermilch  die  Frauen  zwingt,  ihre  Kinder  möglichst 
lange  an  der  Brust  zu  halten.  Auch  die  grosse  Sterblichkeit  der  Kinder  ist  hierbei  in  Rech- 
nung zu  ziehen. 

Die  nordamerikanischen  Indianer  scheinen  weniger  fruchtbar  zu  sein,  als  die 
Weissen.  Ueckewelder  sah  in  indianischen  Familien,  die  ehemals  in  Pennsylvanien 
lebten,  selten  mehr  als  4 — 5  Kinder.  Auch  LeBeau  berichtet,  dass  die  Frauen  der  Indianer 
in  Canada  minder  fruchtbar  sind  als  die  Weissen.  Weid  betrachtet  die  Preisgebung  im 
zarten  Alter  und  das  lange  Säugen  der  Kinder,  während  dessen  sie  keinen  Verkehr  mit  den 
Männern  unterhalten,  als  die  Ursache  der  geringen  Fruchtbarkeit.  Gänzliche  Unfruchtbarkeit 
soll  übrigens  bei  den  Indianern  selten  sein,  häufig  dagegen  künstliche  Fehlgeburten  bei 
Verheiratheten  und  Unverheiratheten ;  meist  werden  nicht  mehr  als  8—4  Kinder  aufgezogen. 
(Waitz,)  Aehnlich  lauten  die  Berichte  aus  dem  tropischen  Amerika.  Die  Frauen  in  Jalapa 
(Mexiko)  sind  in  der  Regel  fruchtbar  und  Beispiele  von  Sterilität  findet  man  selten;  allein 
häufig  vermeiden  sie  es,  Mütter  zu  werden,  und  sie  legen  sich  freiwillig  eine  strenge  Enthalt- 
samkeit auf,  um  nicht  die  häuslichen  Sorgen  zu  vermehren.    CÄnnales.J 

Die  Fruchtbarkeit  der  Frauen  in  Nicaragua  ist  sehr  gross.  Selbst  eingewanderte 
Frauen  scheinen  hier  fruchtbarer  zu  werden,  wenn  Bernhard  Recht  hat,  welcher  sagt,  dass  es 
nichts  Seltenes  sei,  Frauen  zu  finden,  die  15 — 20  Kinder  geboren  haben;  eine  Frau  in  Massy  a, 
die  in  der  ersten  Ehe  kein  Kind  hatte,  gebar  in  der  zweiten  Ehe  27  Kinder. 

In  den  Städten  im  Inneren  der  Insel  Cuba,  in  Trinidad,  Santo -Espiritu  und 
Villa  Clara  sind  nach  Baman  de  la  Sagra  (Mayer- Ahrens^J  die  Ehen  ausserordentlich  frucht- 
bar; viele  derselben  zählen  12,  manche  sogar  20—25  oder  26  Kinder.  In  Trinidad  (im  Jahre 
1853  mit  14,463  Einw.)  waren  1  Ehe  mit  24  Kindern  gesegnet,  2  Ehen  mit  21,  1  Ehe  mit  18, 
1  mit  16  Kindern,  2  Ehen  mit  15  Kindern,  10  Ehen  mit  13  Kindern,  also  entstammen  260 
Kinder  aus  17  Ehen.  Im  Jahre  1853  zählte  man  zu  Trinidad  123  Familien  von  Weissen, 
welche  je  8—10  lebende  Kinder  hatten.  In  Villa  Clara  gab  es  12  Ehen  mit  206  Kindern. 
Zu  Santiago  soll  die  Fruchtbarkeit  der  Ehen  noch  grösser  sein.  Viele  Cubanerinnen 
gebären  schon  im  13.  Jahre,  andere  sind  bis  zum  50.  Jahre  fruchtbar.  Es  ist  bemerkenswertfa, 
dass  fast  alle  Frauen  in  den  Städten  der  Insel  Cuba  ihre  Kinder  selbst  stillen.  Der  Bericht- 
erstatter setzt  hinzu:  «Die  glücklichen  Verbältnisse  des  Klimas,  die  gleichmäsaige  Einförmig- 
keit des  ruhigen  Lebens  und  das  materielle  Wohlbefinden,  dessen  sich  die  Familien  erfreuen, 
dies  alles  bringt  die  Frauen  in  die  günstige  Lage  zur  Erfüllung  ihrer  Mntterpflichten  in  reichem 
Maasse.*    Dem  widerspricht  die  Angabe  Virehaw's,  welche  wir  oben  kennen  gelernt  haben. 


614  XXIII.  Die  Fruchtbarkeit  des  Weibes. 

Dagegen  ist  in  Cayenne  und  dem  französischen  Guyana  die  Fruchtbarkeit  der 
Frauen  nicht  so  gross,  w  ie  in  den  hier  genannten  Plätzen  und  selbst  wie  in  k&lteren  Gegenden. 
Bajon,  welcher  dies  schon  vor  100  Jahren  berichtete,  findet  die  Ursache  theils  in  der* aus- 
schweifenden Lebensweise  der  Männer,  theils  in  der  Unordnung  der  Menstruation  der  Frauen, 
und  in  der  Häufigkeit  des  unter  letzteren  herrschenden  Fluor  albus. 

Die  Indianerinnen  Brasiliens  sind  nach  v.  Spixund  v.  Martins  nicht  sehr  frucht- 
bar; diese  Reisenden  sahen  in  einer  Familie  selten  mehr  als  4  Kinder.  Dasselbe  fand  Kupfer 
bei  den  Gay  apo-Indianern  in  der  Provinz  Matto-Grosso:  ,Drei  bis  vier  Kinder  in  einer 
Familie  waren  schon  selten  zu  finden.* 

Karl  Ranke  hB.t  in  Dörfern  derTrumai-  und  Nahuqua-Indianer  im  8chingu-Ge- 
biete  von  Brasilien  die  Fruchtbarkeit  der  Weiber  derjenigen  in  Deutschland  ungefUir 
gleich  gefunden.     Aber  viele  Kinder  sterben  bei  diesen  Stämmen  schon  im  frühen  Alter. 

Die  Fruchtbarkeit  der  Fi*auen  in  Columbia  ist  nicht  unbedeutend.  Pöscida-Avaf^o 
schreibt,  dass  in  Columbien  arme  wie  reiche  Frauen  ihre  Kinder  selbst  stillen,  und  daas  in 
der  Regel  dort  die  Kinder  im  Alter  nur  18  Monate  von  einander  entfernt  sind.  Im  Staate 
Antioquia  ist  jede  Ehe  gewöhnlich  mit  10  bis  15  Kindern  gesegnet.  Eine  Mutter  weist 
dort  84  lebende  Kinder,  darunter  verschiedene  Zwillingspaare  auf.  Ein  Mann,  der  sich  drei 
Mal  verheirathete,  besitzt  deren  51 !    Die  Frauen  heirathen  dort  im  Alter  von  13 — 16  Jahren. 

Die  Frauen  der  Feuerländer  sind  sehr  fruchtbar;  7  oder  8  Kinder  sind  der  Durch- 
schnitt, doch  findet  man  nicht  selten  junge  Frauen,  die  schon  deren  12—15  haben.     (Bote.) 

Auch  Hyades  und  Deniker  berichten:  ,La  st^rilit^  doit  §tre  tr^s  rare  chez  les  Fu^en- 
nes:  nous  n'avons  vu  aucun  cas  de  femme  au-dessus  de  25  ans  sterile.* 


163.  Die  Fruchtbarkeit  der  afrikanischen  Yolker. 

Lane  und  Frankl  geben  an,  dass  die  Aegypterinnen  einen  hohen  Grad  von  Frucht- 
barkeit besitzen.  Das  Gleiche  berichten  auch  die  griechischen  Schriftsteller  von  ihren 
antiken  Vorfahren.  Dagegen  bleiben  die  Europäerinnen,  welche  nach  Aegypten  Überge- 
siedelt sind,  auffallend  häufig  kinderlos.  In  Kairo  rechnet  man  im  Durchschnitt  eine  Geburt 
auf  22 — 23  Individuen.  Die  Frauen  sagen  gewöhnlich,  dass  sie  8  bis  10  Mal  geboren  hätten, 
aber  mehr  als  5  bis  6  Kinder  bleiben  bei  ihnen  selten  am  Leben. 

Die  Weiber  im  Sennaar  und  bei  denDinka  werden  von  Caüliaud  als  sehr  fruchtbar 
geschildert.  Man  sieht  unter  ihnen  nicht  selten  Mütter,  welche  ein  Kind  säugen,  2—3  in 
einer  Art  Tornister  tragen  «und  von  einem  vierten  gefolgt  werden.  Bei  den  Madi  in  Central- 
Afrika  scheint  die  Familie  durchschnittlich  4  Kinder  zu  haben.    (Felkin.) 

Die  Ehen  der  Abyssinier  sind  sehr  wenig  fruchtbar;  Büppel  erinnert  sich  nicht,  eine 
Abyssiniorin  gesehen  zu  haben,  die  mehr  als  vier  lebende  Kinder  hatte;  man  betrachtet 
dort  allgemein  diese  Zahl  schon  als  eine  Seltenheit.  Dagegen  sagte  Bruce  van  Kinnaird: 
„Die  abyssini sehen  Mädchen,  die  man  für  Geld  kauft,  werden  sehr  vorgezogen;  unter 
anderm  auch  deswegen,  weil  sie  mehrere  Jahre  tüchtig  sind,  Kinder  zu  gebären;  wenige 
arabische  Weiber  bekommen  nach  20  Jahren  noch  Kinder.* 

Bei  den  Stämmen  im  Inneren  Ost -Afrikas  ist  nach  Hildehrandt  die  Fruchtbarkeit 
anscheinend  eine  ziemlich  grosse;  die  Mutter  eines  Kikuyu  hatte  13  Kinder  geboren.  Der 
Häuptling  Mitu  hatte  mit  10  Frauen  etwa  25  Söhne ;  Töchter  werden  nicht  gern  aufgezählt. 
.Die  Küsten  Völker  Ost-Afrikas,"  sagt  Hildehrandt,  «sind  als  Mischlinge  sehr  heterogener 
Rassen  durch  mancherlei  Unsitten  und  Krankheiten,  welche  geschlechtlichen  und  klimatischen 
Ursprungs  sind,  weniger  kinderreich.* 

Die  Waswaheli  im  Inneren  Ost-Afrikas  haben  wenig  Kinder,  wegen  der  grossen 
Unsittlichkeit,  die  unter  ihnen  herrscht,  und  wegen  des  Gebrauches  von  Arzneimitteln,  um  Fehl- 
geburten zu  erzielen,  da  ihnen  Kinder  gewöhnlich  als  eine  Last  erscheinen.    (TfiomsanJ 

Nach  Beichard  bringen  die  Wanjamuesi- Weiber  selten  mehr  als  4  Kinder  zur  Welt. 

Pruner-Beif  sagt  von  den  Neger- Frauen,  dass  sie  nicht  übermässig  fruchtbar  sind 
und  häufig  Fehlgeburten  unterliegen;  einzelne  allerdings  sollen  bis  10  Kinder  gebären. 

Dagegen  galten  die  Frauen  der  ehemaligen,  jetzt  ausgestorbenen  Eingeborenen  der 
canarischen  Inseln,  der  Guanchen,  als  sehr  fruchtbar,     (v.  Minutoli.) 

Auch    bei   den  Negern    der  Westküste   ist    im  Allgemeinen   die  Fruchtbarkeifc 
gering;  bei  den  Wol offen  sogar  nach  de  Bochehrune  sehr  gross.  Wenn  es  in  einem  ~ 
heisst:  „Die  Negerin  des  Ewe-Gebietes  ist  selten  mit  mehr  als  6  Kindern  gotegae< 
ein  solcher  Segen  doch  schon  ein  recht  ansehnlicher.     Bei  den  Fulbe-   oder  Fa*^' 


164.  Die  Fruchtbarkeit  der  Australier  und  Oceanier.  615 

ist  der  Einderreichthum  dagegen  viel  ganger,  denn  man  fand,  dass  eine  Pullo- Frau  selten 
mehr  als  3 — 4  Kinder  hatte,  während  in  den  Familien  anderer  Neger  stamme  selten  unter 
6 — 8,  oft  aber  10 — 12  Kinder  auf  eine  Mutter  kommen.  Eine  geringere  Fruchtbarkeit  zeigen 
die  Loango-Negerinnen,  da  durchschnittlich  bei  ihnen  ein  Weib  nur  2  oder  8  Kindern 
das  Leben  schenkt.  Pechtiel-Loesche  vermuthet,  dass  hierfQr  die  Verlängerung  der  Lactations- 
Periode  von  Einfluss  ist.  Auch  Burton  sagt  von  den  Egba-Negerinnen,  dass  wegen  des 
lauge  fortgesetzten  Stillens  ihre  Ehen  selten  fruchtbar  sind.  Und  von  den  Bewohnern  der 
Sierra-Leone-Küste,  denBullamer,  Susa  u.  s.  w.  B&gt  Winterbottom  ebenfalls^  dass  an  der 
geringen  Zunahme  der  Bevölkerung  das  lange  fortgesetzte  Nähren  die  Schuld  trage,  .denn 
während  dieser  Zeit,  welche  gemeiniglich  zwei  Jahre  oder  wenigstens  so  lange  dauert,  bis 
das  Kind  im  Stande  ist,  seiner  Mutter  eine  Kürbisflasche  voll  Wasser  zu  bringen,  leben  sie 
von  ihren  Männern  abgesondert.  Es  ist  eben  nichts  Ungewöhnliches,  dass  eine  Frau,  die  ein 
stillendes  Kind  hat,  ihrem  Manne  eine  andere  Frau  verschafft,  die  so  lange  ihre  Stelle  ver- 
tritt, bis  das  Kind  entwöhnt  ist.  Weiber,  die  mehr  als  3 — 4  Kinder  zur  Welt  bringen,  sind 
in  Afrika  selten*  Dies  rührt  jedoch  keineswegs  davon  her,  dass  sie  frühzeitig  zu  gebären 
aufhören,  vielmehr  kannte  Winterbottom  Frauen,  die  85  bis  40  Jahre  alt  waren  und  gleichwohl 
noch  Kinder  gebaren.  Er  macht  noch  auf  eine  andere  Ursache  der  Unfruchtbarkeit  an  der 
Sierra-Leone-Küste  aufmerksam:  Solange  eine  Frau  um  eine  verstorbene  Freundin  oder 
eine  Verwandte  trauert,  lebt  sie  vom  Manne  abgesondert.  Schon  Mungo  Park  glaubte  die 
Unfruchtbarkeit  der  Negerinnen  so  erklären  zu  können:  ,Da  die  Mandingo-Negerinnen 
lange,  nicht  selten  auch  8  Jahre  lang  säugen,  und  da  während  dieser  ganzen  Zeit  der  Mann 
seine  Gunst  den  anderen  Frauen  zuwendet,  so  kommt  es,  dass  seine  Frau  selten  eine  zahl- 
reiche Familie  hat,  wenige  haben  mehr  als  5  oder  6  Kinder.*  Dagegen  führt  de  Eochebrune 
für  die  Kinderarm uth  der  von  ihm  beobachteten  Neger  noch  die  Häufigkeit  des  natürlichen 
Abortus  als  Grund  an. 

Für  das  äquatoriale  Afrika  hält  Winwood  Beade  die  Polygamie  für  geboten,  da  es 
trotz  derselben  dort  weniger  Kinder  als  Frauen  gäbe. 

Die  Weiber  der  Guinea-Neger  im  Bis sago- Archipel  sind  ausserordentlich  fruchtbar. 

Barrow  erklärt  die  Fruchtbarkeit  bei  den  Hottentotten  für  sehr  gering;  es  gingen 
durchschnittlich  aus  den  Ehen  nicht  mehr  als  3  Kinder  hervor.  Anders  soll  es  sich,  wie  ge- 
sagt, verhalten,  wenn  Vermischung  einer  Hottentottin  mit  einem  Europäer  stattfindet; 
dann  nei  die  Fruchtbarkeit  der  Weiber  weit  grösser.  Die  Kaffern  haben  trotz  der  vielen 
Frauen  wenig  Kinder.    (Holländer,) 

Auch  Hendrik  Muller  sagt  von  den  gemeinhin  als  Kaf  fern  bezeichneten  Stämmen  in 
Gaza,  Sofala  und  Mozambique:  „Peut-etre  bien  u  cause  de  la  polygamie,  partout  pra- 
tiquee  par  ceux  qui  sont  assez  riches  pour  acheter  plusieurs  femmes,  nos  noirs  n*ont  pas  de 
nombreuse  progeniture.* 

164.  Die  Fruchtbarkeit  der  Australier  und  Oceanier. 

Die  Weiber  der  Eingeborenen  inNeu-Holland  sind  sehr  fruchtbar;  Qrey  zählte  188 
Kinder  von  41  Frauen,  einzelne  Mütter  hatten  deren  7 ;  unter  222  Geburten  waren  93  Mädchen 
und  129  Knaben.  Dagegen  sind  die  australischen  Weiber  der  Golonie  Victoria  nicht 
besonders  kinderreich,  im  Jahre  1862  wurden  nur  2  Kinder  auf  einem  Flächenraum  von 
Tausenden  von  Quadratmeilen  im  Portland- Bay-District  geboren.  (Oberländer,)  Ein  Ehe- 
paar der  centralaustralischen  Schwarzen  am  Finke-Creek  hat,  nach  den  Beobach- 
tungen des  Missionars  Kempe^  ungefähr  3  Kinder;  indessen  wird  man  bei  dem  wohl  nicht 
seltenen  Kindermord  die  Zahl  der  Geburten  gewiss  höher  anzuschlagen  haben. 

Die  Maoris  auf  Neu-Seeland  sind  dagegen  sehr  unfruchtbar  und  dem  Aussterben 
nahe.  Fenton,  von  dem  1859  nach  Scherzer'a  Angabe  in  Auckland  eine  officielle  Arbeit 
gedruckt  wurde,  berechnete,  dass  bei  ihnen  eine  Geburt  auf  67,13  Personen  trifit.  Unter 
Anderem  liegt  eine  Ursache  dieser  verringerten  Fruchtbarkeit  wohl  in  zu  früher  Vollziehung 
der  Geschlechtsverrichtungen. 

Die  Papua  der  Humboldt-Baj  in  Neu-Guinea  fand  ran  der  Grab  nur  wenig 
kinderreich;  sie  haben  selber  den  Wunsch,  nicht  mehr  als  2  Kinder  zu  besitzen. 

Auf  Neu-Caledonien  bat  selten  eine  Frau  mehr  als  4—5  Kinder;  die  Ursache  dieser 
massigen  Fruchtbarkeit  findet  Lorsch  in  der  rohen  Behandlung,  der  die  Weiber  von  Seiten 
des  Mannet  augeMtat  und« 

Von  N^r  ^^^  ^««nolitot  Ikmka:  ,Eine  beträchtliche  Zeit  vergeht  zwischen  den 

Oebott*^  Tinniii  ist  ungeföhr  3  Jahre.     Das  eine  Kind  ist 


616  XXm.  Die  Fruchtbarkeit  des  Weibes. 

stets  aus  der  Haiid  (vell  out  of  haut),  bevor  das  andere  erscheint.  Ich  habe  dayon  nur  2  bis 
8  Ausuahmen  kennen  gelernt.* 

Elton  sagt  von  den  Salomon-Insulanerinnen:  Mit  ung^föhr  45  Jahren  hören  die 
Frauen  auf,  Kinder  zu  gebären.  Mehr  wie  5  Kinder  in  einer  Familie  (in  10  Jahren  geboroi) 
hat  er  nicht  gesehen. 

Ein  sehr  geringer  Grad  von  Fruchtbarkeit  wird  durch  Blyth  auch  von  den  Bewohne- 
rinnen der  Yiti-Inseln  als  die  allgemeine  Regel  bestätigt.  Ausnahmen  kommen  hier  aber 
vor,  und  es  giebt  vereinzelt  Weiber,  welche  10  bis  12  Kindes  zur  Welt  gebracht  haben. 

Man  hat  behauptet,  dass  die  Polynesierinnen  nicht  fruchtbar  seien,  ja  man  wollte 
darin  eine  besondere  Rasseneigenthümlichkeit  finden.  Allein  Oerland  wies  nach,  dasi  diese 
Annahme  falsch  sei.  Cheeber  und  Forster  kannten  Beispiele  grosser  Fruchtbarkeit  auf  Hawaii 
und  Tahiti,  l>te/fen2)ac^  auf  Neu -Seeland,  ebenso  Andere  auf  Tonga,  Tukopia,  Samoa. 
Jetzt,  wo  der  Kiudermord  imd  die  Ausschweifungen  aufgehört  haben,  da  werden  aach  die 
Geburten  und  die  Kinderzahl  reichlicher. 

Die  Marquesas-Insulanerinnen  sollen  erst  gebären,  wenn  sie  alt  und  hAsslich 
werden,  weil  sie  fürchten,  dass  wenn  sie  kinderlos  sind,  sie  von  ihren  Männern  weggejagt 
würden.  Es  handelt  sich  hier  um  Verhältnisse,  welche  ich  später  noch  besprechen  muss, 
wenn  von  der  absichtlichen  Fehlg:eburt  die  Rede  sein  wird. 


XXIV.  Des  Kindes  Geschlecht. 

165.  Mädchen-  und  Knaben-Erzengang. 

Wir  haben  in  einem  der  früheren  Abschnitte  bereits  erfahren,  wie  von  vielen 
Völkern  die  Geburt  einer  Tochter  nicht  nur  als  etwas  Unerwünschtes,  sondern 
geradezu  als  eine  Schande  und  ein  Unglück  angesehen  wird,  während  wiederum 
andere  Nationen  sich  weniger  über  Söhne  freuen,  da  sie  durch  den  Besitz  vieler 
Töchter  durch  deren  späteren  Verkauf  zu  Reichthnm  und  Ansehen  gelangen.  Und 
so  können  wir  es  dann  wohl  verstehen,  dass  man  von  Alters  her  bestrebt  gewesen 
ist,  die  Ursachen  kennen  zu  lernen,  warum  in  dem  einen  Fall  ein  Knabe  und  in 
einem  anderen  ein  Mädchen  sich  bildet,  und  die  Mittel  und  Wege  ausfindig  zu 
machen,  um  nach  eigener  Willkür  das  gewünschte  Geschlecht  zu  erzeugen.  Man 
hat  sich  bisher  noch  nicht  der  Mühe  unterzogen,  geschichtlich  diesen  Bestrebungen 
nachzugehen,  obgleich  sie  doch  gar  sehr  zur  Charakteristik  des  culturellen  Zn- 
standes der  einzelnen  Nationen  und  zu  der  Kenntniss  von  ihren  Vorstellungen 
beizutragen  vermögen.  Und  was  die  Gebildeten  und  Gelehrten  halbcivilisirter 
Völker  als  eine  besondere  Kunst  auszubilden  bestrebt  waren,  das  brachte,  wie  wir 
sehen  werden,  in  der  Mystik  des  Volksaberglaubens  ganz  wunderliche  und  originelle 
Zaubermittel  zu  Tage. 

In  Susrtita^s  Ayurvedas  wird  von  dem  altindischen  Arzte  eine  Anweisung 
zu  der  Kunst  gegeben,  willkürlich  Knaben  und  Mädchen  zu  erzeugen.  Drei  Tage 
nach  der  Menstruation  soll,  wenn  man  einen  Knaben  erzeugen  will,  sich  die  Frau 
bei  einer  besonderen  Diät  und  in  einem  von  einer  besonderen  Pflanze  bereiteten 
Bette  von  ihrem  Manne  fem  halten.  Am  vierten  Tage  soll  sie,  gewaschen,  mit 
neuen  Kleidern  geschmückt,  sich  unter  mystisch-religiösen  Ceremonien  dem  Manne 
zeigen.  Denn  man  glaubte,  dass  nach  der  Beschaffenheit  desjenigen  Mannes,  den 
sie  zuerst  nach  ihrer  Reinigung  durch  die  Menstruation  erblickt,  sich  die  Qualität 
des  Sohnes  richtet,  den  sie  gebären  wird.  Sie  selbst  und  ihr  Gatte  sind  für  einen 
ganzen  Monat  dem  Brahma  geweiht,  und  erst  nach  dem  Ablauf  dieser  Frist  muss 
der  Beischlaf  vollzogen  werden.  Der  Mann  aber  muss  sich  zuvor  mit  gereinigter 
Butter  salben  und  Reis  mit  reiner  Butter  und  Milch  gekocht  geniessen;  die  Frau 
dagegen  muss  sich  mit  Sesamöl  salben  und  Sesamöl  mit  einer  bestimmten  Bohnen- 
art geniessen.  Ebenso  soll  der  Mann  nach  jedesmaligen  Trostgebeten  in  der  4., 
6.,  8.,  10.  und  12.  Nacht  den  Coitus  mit  ihr  vollziehen.  Diese  Tage  sind  die  der 
Knabenerzeugung  günstigen.  Wünschte  sich  aber  der  Mann  eine  Tochter,  so 
musste  er  den  Beischlaf  in  der  5.,  7.,  9.  und  11.  Nacht  ausüben.  Nach  den  drei 
der  Menstruation  folgenden  Tagen  der  Vereinigung  gab  der  Arzt  der  Frau,  wenn 
sie  sich  einen  Knaben  wünschte,  3  oder  4  Tropfen  oiiiet  IdkBm  mm  Qwmff^ 
marina,  Lakschana,  Ficus  indica  oder  Hedyaanim  iMOPod  »^  * 
bereitet  in  das  rechte  Nasenloch,  doch  durfte  v 
schneuzen.    Die  altindischea  Aente  bei 


618  XXIV.  Des  Kindes  Geschlecht. 

entstehe,  wenn  des  Mannes  Zeugungsstoff  in  grösseren  Mengen  vorhanden  sei,  ein 
Mädchen  bei  grösseren  Mengen  des  weiblichen  Zeugungsstoffes,  aber  ein  Napnnsaka 
(Androgynus,  Neuter,  Zwitter  oder  Geschlechtsloser)  entstehe  bei  gleichen  Theilen 
männlichen  und  weiblichen  Stoffes. 

Die  talmudischen  Aerzte  behaupten  ebenfalls,  dass  der  Mann  nach 
Belieben  männliche  oder  weibliche  Früchte  zeugen  könne;  einer  von  ihnen,  Rabbi 
Jiechak^  Sohn  Ilab  Amis^  sagte: 

^Wenn  der  Mann  bringt  Samen  zuerst,  dann  gebiert  sie  ein  Weibliches;  wenn  die  Frau 
Samen  bringt  zuerst,  dann  gebiert  sie  ein  Männliches/     (Traktat  Berachoth.) 

Femer  wird  im  Talmud  (Nidda)  der  Grundsatz  aufgestellt,  dass,  wenn 
während  des  Goitus  das  Weib  leidenschaftlicher  betheiligt  sei  als  der  Mann,  daraus 
eine  männliche  Frucht  erzielt  werde,  wogegen  aber  im  umgekehrten  Falle  ein 
Mägdlein  geboren  werde.  Wir  werden  später  sehen,  dass  dieser  Anschauung 
ganz  richtige  Thatsachen  zu  Gnmde  liegen.  Etwas  bedenklicher  aber  ist  es 
mit  folgender  Behauptung  des  Talmud,  die  sich  ebenfalls  im  Traktate  Berachoth 
findet: 

»Denn  es  sagte  Bah  Chama,  Sohn  Chanina's,  im  Namen  Bah  JizdhaVs:  Jeder,  welcher 
sein  Bett  setzt  zwischen  Mittemacht  und  Mittag,  der  bekommt  Kinder  männlichen  Geschlechtes. 
Denn  es  heisst  (Psalm  17,  U):  Und  mit  Deinem  Zaphun  füllest  Du  ihren  Leib;  sie  werden 
Söhne  die  Fülle  haben/ 

Dieses  Zaphun  übersetzt  Luther  mit  Schatz. 

Einer  sehr  absonderlichen  Auffassung  der  alten  Israeliten  begegnen  wir  im 
Midrasch  Echa  Rabbati.  Es  tritt  uns  hier  der  Glaube  entgegen,  dass  die 
Oertlichkeit,  wo  die  Niederkunft  erfolgt,  bestimmend  für  das  Geschlecht  des  Kindes 
sei.     Es  heisst  daselbst  bei  der  Auslegung   der  Klagelieder  Jeremiae  (2.  1): 

«Warum  heisst  es  Kephar  Dichrin?  Weil  jede  Frau  daselbst  Knaben  zur  Welt 
brachte,  nnd  jede  Frau,  welche  Mädchen  gebären  wollte,  zog  von  ihrem  Orte  weg,  und  ne 
gebar  ein  Mädchen,  und  jede  Frau,  die  einen  Knaben  haben  wollte,  begab  sich  dahin  und  sie 
bekam  einen  Knaben.    CWünsche^J 

Noch  merkwürdiger  ist  die  im  Midrasch  Bereschit  Rabba  dargelegte 
Anschauung,  dass  das  Geschlecht  des  Kindes  sich  noch  während  der  Niederkunft 
verändern  könne.     Bei  der  Besprechung  von  Genesis  (80.  V.  21)  wird  gesagt: 

«Es  ist  gelehrt  worden:  Wenn  ein  Mann,  dessen  Frau  schwanger  ist,  betet:  möchte  doch 
meine  Frau  einen  Knaben  gebären,  so  ist  das  Gebet  ein  vergebliches.  Nach  R,  Janai  handelt 
die  Misch  na  aber  nur  von  einem  Weibe,  welche  schon  auf  dem  Gebärstuhle  sitzt.  Allein 
nach  B,  Jehuda  hen  Pasi  kann  selbst  dann  noch  eine  Aenderung  eintreten  (vergl.  Jerem.  18.  6.) 
Sowie  nämlich  der  Töpfer  einen  gefertigten  Krug  wieder  zerbrechen  und  einen  anderen  daraus 
bilden  kann,  so  kann  auch  ich  (spricht   Gott)  selbst  dann  noch  eine  Aenderung  treffen,  wenn 

die  Frau  bereits  auf  dem  Gebärstuhle  sitzt.    Es  heisst  doch  aber  hier er  ist  ein  anderer. 

Da  antwortete  er  ihnen:  Ursprünglich  gehörte  das  Kind  dem  männlichen  Geschlechte  an, 
durch  das  Gebet  Bacheis  aber,  Gott  möchte  ihr  einen  andern  Sohn  geben,  wurde  es  in  ein 
Mädchen  verwandelt.*    fWünscihe^J 

Der  griechische  Dichter  Alkmäon,  welcher  etwa  540  v.  Chr.  lebte,  war 
der  Meinung,  dass  das  Geschlecht  des  Fötus  je  nach  dem  Vorherrschen  der  männ- 
lichen oder  weiblichen  Potenz  bestimmt  werde.  Empedokles  (etwa  472  v.  Chr.) 
erklärte  die  Geschlechtsverschiedenheit  aus  der  wärmeren  oder  kälteren  Temperatur, 
aus  dem  Verhältniss  der  Quantität  des  Samens  und  der  Wirkung  der  Einbildungs- 
kraft. (Pltäarch,)  Nach  den  Untersuchungen  von  Ilis  nahmen  die  Aerzte  in  dem 
alten  Griechenland  und  Rom  nicht  an,  dass  es  möglich  sei,  das  Geschlecht 
des  Kindes  willkürlich  zu  beeinflussen.  Wohl  ergeht  sich  das  dem  Hippokrates 
(mit  Unrecht)  zugeschriebene  Buch  „Von  der  Zeugung**  in  der  Ansicht,  dass  beide 
Zeugende  sowohl  männlichen  als  weiblichen  Samen  enthalten  und  dass  nur  dann 
männliche  Kinder  erzeugt  werden,  wenn  der  kräftigere  Same  überwiegt.  Parme- 
nides  und  Anaxagoras  dagegen  meinten,  dass  in  dem  rechten  Eierstock  die  Kaiaben, 
in  dem  linken  die  Mädchen  entständen.    Nach  Aristoteles  rührt  die  Entscheidung 


165.  Mädchen-  und  Enaben-£rzeagang.  619 

darüber,  welches  Geschlecht  die  Kinder  erhalten  werden,  lediglich  von  dem  Manne 
her.  Gälenus  sagt:  Die  ungleiche  Temperatur  beider  Seiten  des  menschlichen 
Körpers  ist  der  Grund,  weshalb  die  warme  rechte  Seite  zur  Bildung  von  männ- 
lichen, die  kalte  linke  Seite  zu  der  von  weiblichen  Kindern  dient. 

Auch  der  arabische  Arzt  Avicenna  (f  1036)  hielt  es  für  möglich,  nach 
Belieben  Knaben  oder  Mädchen  zu  erzeugen. 

üeber  dieselbe  Frage  äussern  sich  auch  mehrere  deutsche  Schriftsteller 
vergangener  Jahrhunderte.  So  sagt  z.  B.  Eucharius  Rösslin  in  seinem  „Heb- 
anmienbüchlein^ : 

«Wann  des  Mannes  Samen  heiss  und  fein  viel  ist,  so  hat  er'  die  Kraft,  dass  er  ein 
Knäblein  giebt.  Die  andere  Sache  ist,  wann  des  Mannes  Same  nach  dem  meisten  Theil  kompt 
aus  dem  gerechten  Zeuglin  des  Mannes,  und  genommen  wird  in  der  Mutter  gerechte  Seiten, 
das  ist  darumb,  dass  die  gerechte  Seite  hitziger  ist,  denn  die  linke,  und  der  Same  aus  dem 
gerechten  Zeuglin  kreftiger,  dann  aus  dem  linken.  Darum  soll  sich  die  Frau  auif  die  gerechte 
Seite  neigen  zuband  nach  dem  Werk,  ob  sie  gern  einen  Knaben  woll  haben.* 

Desgleichen  sagt  Rueff  in  seinem  Buche:  «Ein  schön  lustig  Trostbüch- 
lein etc.*: 

«Die  Knäblein  werden  mehr  in  der  rechten  Syten  der  B&rmutter  empfangen  und  mehr 
von  dem  Samen,  der  von  dem  gerechten  Gemächt  kommt.  Aber  die  Mägdlein  in  der  linken 
Seite  der  Gebärmutter  von  dem  linken  Gemächt  empfangen.  Denn  die  rechte  Seite  von  wegen 
der  Leber  hitziger  ist  im  Leib,  und  die  linke  Seite  kälter.  Aber  fQmehmlich  ist  die  grössere 
Hitz  des  Samens  ein  Ursach  der  Knäblein.  *" 

Eine  andere  Ansicht  findet  sich  in  dem  Werke:  «Der  aus  seiner  Asche  sich 
wieder  schön  verjüngende  Phönix  oder  ganz  neue  Albertus  Magnus  von  Casp. 
Nigrino'^ ;  dort  heisst  es: 

.Wann  aber  ein  Mann  seiner  Frauen  in  einem  Monat  nicht  mehr,  als  8  oder  4  malen 
beiwohnt,  so  wäre  der  Samen  bei  einem  wie  dem  andern  viel  durchkochtor,  dicker  und  von 
Geistern  mehr  angefüllt.  Er  hätte  mehr  Fähigkeit  einen  Knaben  zu  formiren,  wenn  man  ihn 
nicht  so  oft  vergösse.  Und  daher  geschieht  es  gewiss! ich  aus  dieser  Ursachen,  dass  die  Alten 
bisweilen  Söhne  zeugen,  denn  gleichwie  es  an  der  natürlichen  Hitze  mangelt  und  ihr  Samen 
roh  und  schwach  ist*  u.  s.  w. 

Nach  den  Berichten  von  vonMartius  hat  ein  chinesischer  Arzt  folgenden 
Ausspruch  gethan: 

„Ob  ein  Sohn  oder  eine  Tochter  geboren  werde,  dies  hängt  von  dem  Manne  und  nicht 
von  dem  Weibe  ab.  Die  tägliche  Erfahrung  lehrt,  dass  mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren 
werden.  Wir  sehen  aber  auch  wieder  häufig,  dass  in  manchen  Familien  die  Mutter  lauter 
Töchter  zur  Welt  bringt." 

Nach  einer  anderen  Theorie  der  Chinesen,  welche  von  Hur^au  mitgetheilt 
wird,  soll  die  Geschlechtsentwickelung  des  Fötus  von  den  Elementen  Yang  und 
Yn  entschieden  werden.  Wenn  nämlich  das  starke  Princip  Yang  beim  Manne  und 
das  schwache  Princip  Yn  beim  Weibe  vorherrscht,  so  erzeugen  sie  einen  Knaben; 
im  entgegengesetzten  Falle  wird  es  ein  Mädchen. 

Aus  allen  diesen  verschiedenen  Ansichten  können  wir  drei  sich  entgegen- 
stehende Meinungen  formuliren.  Die  erste  will  nur  dem  Manne  die  Fähigkeit  der 
Einwirkung  auf  die  Bildung  des  Geschlecht«  zuweisen,  und  zwar  erzeugt  seine 
rechte  Seite,  als  die  stärkere,  heiligere  und  glücklichere,  die  Knaben,  seine  linke 
Seite  die  Mädchen.  Die  beiden  anderen  Meinungen  lassen  auch  dem  Weibe  Ge- 
rechtigkeit widerfahren  und  weisen  auch  ihm  £e  Fähigkeit  zu,  die  Entstehung 
des  Geschlechts  zu  beeinflussen.  Aber  sie  weichen  insofern  diametral  aus  einander, 
als  die  eine  eine  directe,  die  andere  eine  gekreuzte  Vererbung  des  Geschlechts  zu 
vertheidigen  sucht.  Die  eine  behauptet,  um  es  mit  anderen  Worten  auszudrücken, 
dass  der  in  geschlechtlicher  Beziehung  Kräftigere  der  beiden  Zeugenden  dem  Kinde 
das  eigene  Geschlecht  vererbe,  während  die  andere  ihn  gerade  das  entgegengesetzte 
Geschlecht  in  der  Frucht  hervorrufen  lässt.  Wir  wollen  sehen,  wie  sich  die  neuere 
Wissenschaft  über  diese  Punkte  äussert. 


620  XXIV.  Des  Kindes  Geschlecht. 

Zahlreiche  Autoren  haben  den  Versuch  gemacht,  auf  dem  Wege  statistischer 
Forschung  festzustellen,  welchen  Einfluss  das  Alter  der  Zeugenden  auf  das  Ge- 
schlecht des  Kindes  ausübt.  Hier  sind  namentlich  Hofacker^  ScuUer,  Hoss^  und 
Schumann  zu  nennen.  Nach  Letzterem  haben  beide  Erzeuger  die  Tendenz,  ihr. 
eigenes  Geschlecht  auf  das  werdende  zu  übertragen.  Dem  Grade  nach  ist  aber 
diese  Einwirkung  eine  sehr  ungleiche:  in  erster  Linie  ist  es  der  Vater,  welcher 
die  Geschlechtseutscheidung  herbeiführt,  wohingegen  der  Einfluss  der  Matter  Ton 
untergeordneter  Bedeutung  ist.  Wenn  das  richtig  wäre,  so  würden  alle  Hypo- 
thesen fallen,  welche  der  Mutter  einen  hervorragenden  Antheil  bei  der  Geschlechts- 
bestimmung  vindicireil.  Ausserdem  sollen  Mann  und  Weib  sowohl  bezüglich  ihres 
absoluten,  als  auch  ihres  relativen  Alters  einen  Einfluss  auf  die  Geschlechtsver- 
hältnisse der  Nachkommenschaft  besitzen. 

Floss  hatte  die  Meinung  vertreten,  dass  die  Emähnmg,  welche  die  Matter 
dem  Fötus  in  den  ersten  Monaten  gewährt,  für  das  Geschlecht  des  Kindes  maass- 
gebend  sei.  Sehr  bald  aber  überzeugte  er  sich  von  ihrer  Unrichtigkeit,  und  er 
hielt  es  für  erwiesen,  dass  die  Entscheidung  des  Geschlechts  der  Kinder  schon  im 
BefruchtuDgsacte  sich  vollzieht  und  dass  das  Geschlecht  durch  Vererbung  bestimmt 
wird.  Er  schloss  sich  den  Ansichten  Schumanns  an,  dass  je  grosser  die  sexuelle 
Befähigung  der  Erzeuger,  desto  grosser  der  Einfluss  der  letzteren  ist,  und  dass 
vorzugsweise  der  Mann  als  der  maassgebende  Theil  betrachtet  werden  müsse.  Auf 
des  Mannes  Befähigung  käme  es  in  erster  Linie  an,  und  mit  dem  Grade  derselben 
wechsele  auch  der  Knaben-Ueberschuss. 

Die  seit  einiger  Zeit  vielfach  discutirte  Theorie  von  Schenck  macht  das 
zukünftige  Geschlecht  des  Kindes  auch  wesentlich  von  der  Ernährung  der  Eltern 
abhängig. 

Zur  Bestimmung  des  Geschlechts  der  Kinder  vor  der  Geburt  führt  Dupuy, 
gestützt  auf  mehr  als  200  Familien  und  mehr  als  1000  Kinder,  die  folgenden 
Merkmale  an.  Er  giebt  den  Männern,  die  bereits  einen  Sohn  haben  und  nun  sich 
eine  Tochter  wünschen,  den  Rath,  die  Menstruationsperioden,  die  seit  der  Ent- 
bindung ihrer  Frau  verstrichen  sind,  zu  zählen,  und  den  Goitus  in  einem  paaren, 
Monat,  abo  im  2.,  4.,  6.  u.  s.  w.  auszuüben.  Will  man  noch  einen  Sohn  haben, 
so  muss  die  Frau  in  einem  unpaaren  Monat  geschwängert  werden.  Eine  Aus- 
nahme von  dieser  Regel  bilden  nur  Zwillinge  mit  zwei  Placenten  und  die  Fälle, 
wo  das  eine  Kind  von  einem  anderen  Vater  herrührt. 

Fürst  kommt  zu  dem  Resultate,  dass  allerdings  das  Alter,  die  Ernährung, 
die  Jahreszeit  und  die  klimatischen  Verhältnisse  für  die  Bildung  des  Geschlechts 
nicht  ohne  Einfluss  sind,  dass  man  den  wesentlichen  Factor  aber  in  dem  Zeit- 
punkte der  menstruationsfreien  Zeit  zu  suchen  habe,  in  welcher  die  Befruchtung 
stattfindet.  Tritt  die  letztere  in  den  ersten  4  bis  5  Tagen  nach  der  Menstruation 
ein,  so  würden  gewöhnlich  Knaben  geboren,  während  eine  Gonception  in  den 
späteren  Tagen  überwiegend  Mädchen  entstehen  Hesse. 

Die  meiste  Berechtigung  scheint  die  Ansicht  von  Heinrich  Ja^ike  zu  haben, 
die  sich  mit  der  vorher  bereits  erwähnten  gekreuzten  Vererbung  insofern 
deckt,  als  der  geschlechtlich  Mächtigere  der  beiden  Erzeuger  dem  Kinde  das  ent* 
gegengesetzte  Geschlecht  aufprägt,  aber  ihm  seine  Eigenschaften  vererbt  Er 
findet  eine  gewichtige  Stütze  für  seine  Annahme  in  höchst  interessanten  Ver- 
suchen, welche  Fiquef,  ein  bedeutender  Rindviehzüchter  in  Houston  in  Texas, 
von  denselben  Annahmen  ausgehend,  bei  seinen  Heerden  angestellt  hatte.  Es 
war  diesem  Herrn  gelungen,  in  mehr  als  30  Fällen  hinter  einander  ohne  einen 
einzigen  Misserfolg  bereits  mehrere  Wochen  vor  der  Befruchtung  das  Geschlecht 
willkürlich  zu  bestimmen,  welches  das  später  geworfene  Kalb  aufweisen  sollte. 
Wünschte  er  Bullenkälber  zu  haben,  so  liess  er  den  Kühen  eine  sorgftUtige  Pflege 
angedeihen,  den  Deckstier  dagegen  bei  schmaler  Kost  zum  Bespringen  einer  Reihe 
nicht  für  den  Versuch  bestimmter  Kühe  benutzen.    Erst  bei   dem   zweiten  oder 


166.  Die  willkürliche  Yorherbestiminung  des  Geschlechts  im  Volksglauben.         621 

dritten  Rindern  der  Yersuchskuh  wurde  sie  mit  dem  Bullen  zusammengelassen, 
der  dann  nur  eine  sehr  geringe  Neigung  zum  Bespringen  an  den  Tag  legte, 
während  die  Kuh  eine  starke  Qeschlechtslust  bezeigte.  Zu  dem  bestimmten  Termine 
warf  dann  die  Kuh  das  erwartete  Bullenkalb.  Sollte  aber  die  Yersuchskuh  eine 
Färse  werfen,  so  wurde  umgekehrt  der  Stier  sehr  gut  und  kräftig  genährt  und 
aufmerksam  verpflegt,  während  die  Kuh  sich  auf  magerer  Weide  mit  einem  frisch 
verschnittenen  Ochsen  umhertreiben  musste,  der  seine  vergeblichen  Deckversuche 
anstellte.  Wenn  dann  die  Versuchsthiere  später  zusammengeführt  wurden,  so  war 
der  Stier  sehr  springlustig,  während  die  Kuh  nur  einen  sehr  massigen  Trieb  für 
die  Qeschlechtsbefriedigung  an  den  Tag  legte:  und  zum  bestimmten  Termine  warf 
sie  ein  Kuhkalb. 

Wenn  es  auch  nun  im  Allgemeinen  richtig  ist,  dass  man  nicht  alle  Resul- 
tate von  Thierversuchen  ohne  Weiteres  auf  den  Menschen  zu  übertragen  vermag, 
so  wird  der  aufmerksame  Beobachter  doch  viele  Analogien  für  die  soeben  ge- 
schilderten Verhältnisse  auch  bei  den  menschlichen  Ehen  erkennen,  und  manche 
scheinbar  paradoxe  Erscheinung  des  täglichen  Lebens  findet  hierdurch  ihre  be- 
friedigende Aufklärung. 


166.  Die  willkfirliehe  Yorherbestimmuiig  des  Geschlechts  im 

Yolksglauben. 

Im  Volke  ist  vielfach  der  Qlaube  vorhanden,  dass  man  nach  eigenem  Be- 
lieben das  Qeschlecht  des  zukünftigen  Kindes  durch  besondere  Maassnahmen  her- 
vorrufen könne. 

Bei  den  C  z  e  c  h  e  n  schlagen  am  Hochzeitstage  die  Knaben  die  Braut  mit 
ihren  Mützen,  damit  sie  einen  Sohn  bekomme.  Bei  den  Kassuben  legt  man 
noch  heute,  während  der  jungen  Frau  der  Kopf  umhüllt  wird,  einen  männlichen 
Säugling  auf  ihre  Kniee;  ebenso  in  Serbien,  in  Oalizien,  bei  den  südmace- 
donischen  Bulgaren  und  an  vielen  Orten  in  Russland.     (Lumeow.) 

Aus  dem  gleichen  Qrunde  giebt  man  in  Bosnien  der  Braut,  wenn  sie  das 
Haus  des  Bräutigams  besucht,  einen  Knaben  in  die  Hände,  den  sie  dreimal  um 
sich  herumdreht,  ihn  dann  auf  die  Stirn  küsst  und  ihn  hierauf  beschenkt. 
{Mrazovic) 

Wir  haben  hier  einen  uralten  Brauch,  denn  auch  schon  bei  den  alten 
Indern  wurde  der  Braut  ein  Knabe  zugeführt;  der  Priester  setzte  den  Knaben 
der  Braut  auf  den  Schooss,  diese  beschenkte  das  Kind  mit  Süssigkeiten  und  ent- 
liess  es  dann. 

Will  im  Spessart  der  Mann  einen  Knaben  erzeugen,  so  steckt  er  eine 
Holzaxt  zu  sich  in  das  Bett  und  spricht  eine  Formel  mit  dem  Endreim:  „Du 
sollst  hob*  an  Bub^;  will  er  ein  Mädchen,  so  setzt  er  sich  die  Mütze  seiner  Frau 
auf  und  spricht  eine  Formel  mit  dem  Endreim:  ,Du  sollst  hob'  an  Mad**. 

Bei  Kaltenbruch  bei  Ellingen  im  bayerischen  Franken  steht,  wie 
Mayer  berichtet,  eine  alte  Buche,  welche  die  Wunderbuche  genannt  wird.  Ein 
Absud  von  ihrem  Holze,  von  schwangeren  Weibern  getrunken,  bringt  die  Geburt 
eines  Knaben,  dagegen  ein  Decoct  der  Rinde  die  eines  Mädchens  zu  Stande. 

Eine  von  Truhdka  verofifentlichte  alte  Handschrift  aus  Bosnien  enthält 
ein  Mittel,   „wenn  ein  Weib  nur  Mädchen  gebiert*.     Es  ist  folgendes: 

«Wenn  sie  die  Menstruation  hat,  möge  sie  auf  einem  fremden  Felde,  wo  geackert  wird, 
einen  Pflag  zur  Hand  nehmen,  mit  dem  Pflug  bergauf  gehen  und  dreimal  sprechen:  Ein  Ochs 
nach  dem  anderen,  ein  Sohn  nach  dem  anderen!  und  sie  wird  einen  Sohn  gebären.* 

Auch  Glück  berichtet  aus  Bosnien  und  der  Hercegovina: 

, Zahlreich  sind  die  Praktiken,  welche  angewendet  werden,  um  von  einer  Frau,  die  schon 
wiederholt  Mädchen  geboren  hat,  fernerhin  m&nnliche  Nachkommenschaft  zu  erhalten.  Man 
bettet  die  Wöchnerin  gleich  nach  der  Entbindung   auf  Heu,   man  wirft  die  Nachgeburt  in 


622  XXIV.  Des  Kindes  Geschlecht 

einem  Strumpfe  des  Mannes  ins  Wasser,  oder  man  zerreisst  sie  in  vier  Theile;  man  wickelt 
das  Neugeborene  in  die  Unterhosen  des  Vaters  ein;  dem  Pathen  wird  nach  der  Tanfe  die 
Kappe  gewendet;  den  Gästen  werden  die  Opanken  so  umgestellt,  daaa  die  rechte  ft&r  den 
linken  Fuss  und  die  linke  für  den  rechten  Fnss  vorbereitet  ist;  oder  man  wecheelt  die  Pathen, 
was  bei  den  Orientalisch- Orthodoxen  nur  selten  ohne  triftigen  Grund  geschieht.* 

Milena  Mra^ovic  sagt: 

,Wenn  aber  die  Frau  (in  Bosnien)  nur  Töchter  geboren  hat,  so  versucht  sie  vor  allem 
den  ihr  von  einem  Geistlichen,  ohne  Unterschie<l  der  Confession  ertheilten  Segen;  hilft  letzterer 
nicht,  dann  begiebt  sie  sich  auf  eine  Wiese,  wobei  sie  ein  fliessendee  Wasser  passiren  man. 
Auf  der  Wiese  angelangt,  benetzt  sie  ihren  Unterleib  mit  dem  Thau,  nimmt  etwas  Gras,  steckt 
es  in  den  Busen  und  sagt  dabei  folgenden  Spruch : 

«Wicslein  sei,  bei  Gott,  mir  Schwesterlein  (Wahlschwester), 
Mein  sei  das  Deine,  Dein  sei  das  Meine!* 

Wir  haben  oben  schon  gesehen,  dass  im  früheren  Herzogthum  Modena 
uacli  Eiccardi  das  Gleiche  erzielt  wird,  wenn  der  Gatte  bei  dem  Coitos  seine 
Ehefrau  in  die  Ohren  beisst,  oder  wenn  er  für  diese  Yerrichtung  eine  andere 
Stellung  wählt. 

Zingerle  sagt,  wenn  in  Tyrol  der  Gatte  einen  Knaben  zu  erzeugen  wünscht, 
so  muss  er  beim  Beischlafe  Stiefel  anhaben.  Auch  giebt  es  dort  eine  sogenannte 
„  Kunstzeugung ".  Dieselbe  besteht  darin,  dass  sich  der  Vater,  der  einen  Sohn 
wünscht,  ante  actum  den  Penis  mit  Hasenblut  einschmieren  soll;  wenn  er 
aber  ein  Mädchen  erzeugen  will,  so  muss  er  für  diese  Einsalbung  Gänseschmalz 
benutzen. 

Wird  bei  der  Nay er- Kaste  in  Indien  ein  Knabe  gewünscht,  so  trinkt 
die  Frau  einen  Monat  nach  der  Em])fangniss  sieben  Tage  lang  gewisse  Krauter- 
brtihen.  Am  Abend  des  7.  Tages  wird  das  goldene  oder  silberne  Bild  eines 
männlichen  Kindes  in  einen  Topf  mit  kochender  Milch  versenkt  und  nach  einigen 
Stunden  herausgenommen.  Die  von  einem  Priester  durch  Gebete  und  Zauber- 
formeln vorbereitete  Frau  trinkt  dann  die  Milch  in  Gegenwart  des  Gatten.  Dieser 
zermalmt  einige  Tamarinden-Blätter  und  träufelt  den  Safb  in  das  rechte  Nasenloch 
der  Frau,  falls  ein  Knabe,  in  das  linke,  falls  ein  Mädchen  gewünscht  wird.  Dass 
in  diesen  Maassnahmen  alt-indische  Reminiscenzen  erkannt  werden  müssen,  das 
kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Da  die  Weiber  sich  zuweilen  irrthümlich  für 
schwanger  halten,  so  werden  diese  Ceremonien  mitunter  auch  erst  im  5.  oder 
7.  Monat  zugleich  mit  der  Pulli-kuddi-Ceremonie  (zum  Schutz  der  Schwangeren 
und  des  Embryo  gegen  den  Teufel)  vorgenommen.  Am  folgenden  Morgen  trinkt 
die  Schwangere  den  Saft  in  der  Hand  zerdrückter  Tamarinden-Blätter  mit  Wasser 
gemischt,     \jagor.) 

Aber  es  giebt  nach  dem  Glauben  des  Volkes  auch  noch  eine  Reihe  von 
Zufälligkeiten,  welche  unabhängig  von  dem  Willen  der  Erzeuger,  doch  bestimmend 
auf  das  Geschlecht  des  Kindes  einwirken.  In  der  Hercegovina  und  in  Bosnien 
helsöt  es,  nach  Gliick: 

.iHt  die  erste  Arbeit,  die  die  Frau  nach  dem  Wochenbette  unternimmt,  eine  Frauen- 
arbeit, 80  wird  das  nachfolgende  Kind  ein  Mädchen  sein:  ist  es  aber  zuftillig  eine  solche 
Arbeit,  die  gewöhnlich  nur  Männer  vorrichten,  so  bekommt  sie  einen  Knaben.* 

In  Ungarn  darf  die  junge  Frau  bei  der  Uebersiedelung  in  das  Haus  ihres 
Mannes  ihren  Spinnrocken  oder  das  Nähzeug  nicht  mitnehmen,  weil  sie  sonst 
lauter  Mädchen  zu  gebären  Gefahr  läuft,     (v.  Csaplovics,) 

Bei  uns  in  Deutschland  herrscht  in  manchen  Gegenden  der  Aberglaube, 
diiss,  wenn  es  beim  Coitus  regnet,  das  Kind  ein  Mädchen  wird,  ist  es  aber 
trockenes  Wetter,  so  wird  das  Kind  ein  Knabe.  (Praetorius.)  Im  Franken- 
walde ist  man  der  Meinung,  dass  der  zunehmende  Mond  Knaben,  der  abnehmende 
Mädchen  bringe.     {Flügel) 

In  dem  heutigen  Griechenland  wünscht  man  keine  Töchter,  denn  sie 
sind  eine  Bürde  des  Hauses,  und  nicht  selten   und   stets   sehr  gefBrchtefe   isfc  die 


166.  Die  willkürliche  Vorherbeetimmang  des  Geschlechts  im  Volksglauben.  g23 

VerwQnschuDg ,  dass  eine  Frau  mit  Mädchen  niederkommen  solle.  Ein  Zauber, 
um  dieses  Unglück  Jemandem  zu  bereiten,  besteht  darin,  dass  man  vor  der  Thüre 
des  BetreflFenden   eine  Anzahl  durchlöcherter  Geldstücke   vergrabt.     {Wachsinuth.) 

Sogar  wenn  die  Schwangerschaft  schon  eingetreten  ist,  hält  man  es  vielfach 
doch  noch  für  möglich,  dass  auf  das  Geschlecht  des  zukünftigen  Weltbürgers  ab- 
sichtslos oder  wohlüberlegt  eine  Einwirkung  ausgeübt  werden  könnte.  Bei  den 
Griechen  muss  z.  B.  nach  Wachsmuth  die  Schwangere,  um  die  Geburt  einer 
Tochter  zu  verhüten,  das  Kraut  Arseniko-botanö  geniessen. 

Bei  den  Ehsten  setzt  sich  die  Frau  während  der  Schwangerschaft  nicht 
auf  einen  Wassereimer,  weil  dann  nur  Töchter  geboren  werden.  Ja  selbst  nur 
der  Traum  von  einem  solchen  Sitzen  wird  noch  als  einfiussreich  für  das  ent- 
stehende Geschlecht  angesehen.  Man  deutet  bei  ihnen  einen  Traum  von  einem 
Brunnen  oder  Quell  dahin,  dass  ein  Mädchen,  dem  von  einem  Messer  oder  Beil, 
dass  eine  Knabe  zu  erwarten  sei.     (Krebel.) 

Wenn  unter  den  Alfuren  auf  der  Insel  Celebes  eine  junge  Frau  bemerkt, 
dass  sie  schwanger  ist,  so  dreht  sie  mit  ihrem  Gatten  aus  dem  Baste  eines  ge- 
wissen Baumes,  Cola  genannt,  ein  Ende  Tau,  Tali  rarahum  genannt.  Hierauf 
wird  ein  Priester  gerufen.  Während  derselbe  ein  Huhn  zum  Opfer  darbringt, 
bittet  er  die  Götter,  den  Wunsch  der  jungen  Leute  zu  erfüllen.  Wünschen  sie 
sich  einen  Sohn,  dann  müssen  sie  ihren  Wunsch  durch  die  Bitte  um  ein  Schwert 
kundgeben,  wünschen  sie  sich  eine  Tochter,  dann  müssen  sie  um  Korallen  oder 
Ohrgehänge  bitten.  Hierauf  übergiebt  der  Priester  obengenannte  Gegenstände 
nebst  einem  Sarong  (Ueberwurf,  Kleidungsstück)  der  schwangeren  Frau  zum  Ge- 
brauch.    (Diederich.) 

Solche  Beeinflussung  des  Geschlechts  ist  nach  dem  Glauben  einiger  Völker 
noch  während  der  ganzen  Schwangerschaft  möglich  und  reicht  sogar  bis  zu  der 
Entbindung  hin.  Auch  hier  liefern  uns  die  Neu-Griechen  wieder  ein  Beispiel: 
bei  ihnen  muss,  wie  Wachsmuth  berichtet,  sich  eine  Schwangere  sehr  sorgfältig 
hüten,  einen  weiblichen  Namen  zu  nennen,  weil  sonst  das  Neugeborene  ein 
Mädchen  wird. 


XXV.  Mehrfache  Schwangerschaft. 

167.  Die  lleberfrnchtuiig. 

Die  Besprechung  der  weiblichen  Fruchtbarkeit  möchte  ich  nicht  zum  Ab- 
schlüsse bringen,  ohne  derjenigen  Zustände  zu  gedenken,  in  welchen  nicht  nur 
eins,  sondern  gleichzeitig  mehrere  Kinder  im  Mutterleibe  zur  Entwickelang  ge- 
langen. Man  pflegt  hier  die  Unterscheidung  zu  machen  in  die  Fälle  gewöhmicher 
Mehrschwangerschafb  (Zwillinge,  Drillinge,  Vierlinge  u.  s.  w.},  und  in  dicgeniffen 
der  Ueberfruchtung.  Die  letztere,  glaubt  man,  habe  stattgefunden,  wenn  in  den 
Grössendimensionen  der  beiden  Früchte  ein  erhebliches,  in  die  Augen  üallendeB 
MissYerhältniss  besteht,  oder,  wenn,  wie  das  zuweilen  vorkommt,  zwischen  der 
Geburt  der  beiden  Früchte  ein  Zeitraum  von  mehreren  Tagen  verstrichen  ist 
Manche  niedere  Yolksstämme  betrachten  allerdings  jede  Zwillingsschwangerschaft 
als  eine  Ueberfruchtung,  und  zwar  halten  sie  deren  Zustandekommen  nur  dann 
für  möglich,  wenn  noch  ein  zweiter  Mann  sich  an  dem  Zeugungsgeschfift  be- 
theiligt hat.  So  nur  erklärt  es  sich,  dass  die  Eingeborenen  in  Guinea,  Guyana 
und  die  Chibchas-  und  Salivas-Indianer  Zwillingsgeburten  f&r  den  aidbieren 
Beweis  des  Ehebruchs  der  Frau  ansehen  und  diese  und  die  Kinder  dementsprechend 
behandeln. 

Gebildetere  Völker  dachten  sich  die  Ueberfruchtung  auf  verschiedene  Weise, 
aber  immer  doch  durch  die  alleinige  Beihülfe  des  Ehemannes  entstanden.  So 
hatte  Empedokles  die  Ansicht  aufgestellt,  dass  eine  doppelte  SchwangA'schaft  einer 
Theilung  des  männlichen  Samens  ihren  Ursprung  verdanke.  Erasistraios  dagegen 
(um  300  vor  Christo)  hielt  eine  doppelte  Befruchtung  für  möglich. 

Die  talmudischen  Aerzte  hielten  eine  Ueberfruchtung  in  den  ersten  drei 
Monaten  für  möglich,  und  eine  solche  von  nicht  mehr  als  40  Tagen  wurde  f&r 
die  Kinder  nicht  als  schadenbringend  betrachtet.  Dagegen  sprechen  sie  sidi  dahin 
aus,  dass  die  eine  der  Früchte  als  ein  Saudalium  zur  Welt  kommen  könne.  In 
dem  Traktate  Berachoth  heisst  es: 

ySo  wie  wir  die  Lehre  haben,  die  drei  orsten  Tage  bitte  der  Mensch  die  Bannhenig- 
keit,  dass  er  nicht  verderbe;  von  drei  bis  vierzig  bitte  er  die  Barmherzigkeit,  dass  er  sei 
kein  San  dal,  von  drei  Monaten  bis  sechs  bitte  er  die  Barmherzigkeit,  dass  er  herausgehe 
in  Frieden.* 

Zu  dem  Worte  Sandal  findet  sich  dann  die  Erklärung:  „Name  eines  flachoi 
Meerfisches,  nämlich  eine  Missgeburt,  die  diesem  ähnlich  ist.  Hier  liegt  o£Fenbar 
die  erste  Beobachtung  jener  bisweilen  vorkommenden  Zwillingsgeburten  vor, 
bei  denen  das  eine,  schon  vor  mehreren  Monaten  abgestorbene  Kind  platt  gedrückt, 
eingeschrumpft  und  vertrocknet  geboren  wird,  wobei  aber  an  eine  SuperfÖtation 
nicht  zu  denken  ist. 

Nach  Kaeendsmi  musste  das  Antlitz  des  Sandalium  an  einen  Menschen 
erinnern,  und  trotzdem  diese  Missgeburt  nicht  lebensfähig  ist,  so  g^hSrt  sie  in 
ritueller  Beziehung  doch  in  die  Klasse  normal  entwickelter  FrQchte.   Da  man  aber 


167.  Die  Ueberfrnchtung. 


625 


über  ibr  Geschlecht  keine  Aussage  machen  konnte,  so  half  sich  die  Mischna 
dadurch,  dass  sie  die  Entbnndene  ftbr  unrein  erklärte,  als  ob  sie  einen  Knaben 
und  ein  Mädchen  geboren  habe.     Es  heisst  im  Tractat  Tosaphta: 

yQaae  ejecerit  sandaüam  vel  secondiiULs,  ea  sedeat  pro  mascnlo  et  pro  foemella.* 

Kasetidson  berichtet  dann  weiter: 

,  Einst  wurde  in  einer  Schule  in  einem  Lehrhause  die  Frage  aofgeworfen,  wie  g^ross 
bei  mehrfachen  Gebarten  die  Zeitabst&nde  zwischen  der  ersten  und  der  zweiten  Fracht  wären. 
Zar  Beantwortung  dieser  Fage  werden  Fälle  angefahrt,  in  welchen  die  Zwischenzeiten  10, 
23,  und  sogar  34  Tage  betragen.  Unter  Anderen  macht  auch  Rabbi  Menadtem  aas  Caper- 
schearim  eine  Zwillingsgebart  namhaft«  bei  welcher  ein  Kind  3  ganze  Monate  später  ak 
das  Andere  zur  Welt  kam,  and  wies  dabei  aaf  die  beiden  anwesenden  Söhne  des  Rabbi  Chia 
hin.  üeber  diese  Thatsache  entwickelte  sich  nun  eine  rege  Debatte,  in  der  einige  in  der- 
selben einen  Beweis  f&r  das  Zastandekommen  des  Ueberfrachtangsproceeses  suchen,  während 
andere  sie  dahin  deuteten,  dass  «eine  Zersplitterung  des  Tropfens*  die  Entwickeluag  zweier 
Embryonen  zur  Folge  hatte,  von  denen  einer  dem  Anderen  um  3  Monate  zuvorgekommen  war.* 

Die  Möglichkeit  einer  Soperfotation  nahm  auch  Aristoteles  an.  Flinius  be- 
richtet ebenfalls  davon.     Er  äussert  sich  darüber  folgendermaassen: 

y Ausser  dem  Weibe  dulden  nur  wenige  Thiere,  während  sie  trächtig  sind,  die  Be- 
gattung. Eins  oder  das  Andere  wird  höchstens  überfrachtet  Man  findet  in  den  Schriften 
der  Aerzte  und  Anderer,  die  sich 
die  Erforschung  solcher  Dinge  an- 
gelegen sein  liessen,  dass  durch 
eine  Fehlgeburt  schon  zwOlf  Leibes- 
früchte abgingen.  Wenn  aber 
zwischen  zwei  Empfängnissen 
einige  Zeit  verflossen  ist,  dann 
kommen  sie  beide  zur  Reife,  wie 
dies  beim  Hercules  und  seinem 
Brnder  Iphicles  der  Fall  war;  des- 
gleichen bei  einer  Frau,  die 
Zwillinge  gebar,  von  denen  der 
eine  ihrem  Manne,  der  andere 
aber  dem  Ehebrecher  ähnlich  sah. 
Dasselbe  geschah  mit  einer  pro- 
conesischen  Magd,  die  nach 
einem  doppelten  Beischlafe  an 
ein  und  demselben  Tage  mit  einem 
Kinde,  was  ihrem  Herrn,  und  mit 
einem  zweiten,  was  dessen  Ver- 
walter ähnlich  sah,  niederkam. 
Eine  Andere  gebar  ein  recht- 
zeitiges Kind  und  ein  5  Monate 
altes  zugleich;  noch  eine  Andere  gebar  nach  7  Monaten  und  bekam  zwei  Monate  nachher 
noch  Zwillinge.' 

Einer  eigenthümlichen  Vorstellung  von  der  Ueberfruchtung  begegnen  wir 
in  der  Pesikta  des  Rab  Kdhana: 

.Und  der  Ewigo  schlug  alles  Erstgeborne  im  Lande  Aegjpten.*  (Ev.  12,  20.)  d.  i. 
den  Erstgebornen  des  Mannes,  den  Erstgebornen  des  Weibes,  den  Erstgebornen  des  Weib- 
lichen. Wie  so  das?  Ein  Mann  kam  über  zehn  Weiber,  und '  ebenso  kamen  10  Männer 
über  ein  Weib  und  sie  gebar  zehn  Kinder  von  ihnen,  folglich  waren  alle  Erstgeborne  der 
Männer.«    {Wünscht.) 

Auch  später  noch  hielten  arabische  Aerzte  eine  Superfotation  f&r  möglich. 
Ävicenna  erklärte  sie  für  gefahrlich,  und  AbuUcasem  meinte,  dass  das  erste  Kind 
Yom  zweiten  leicht  getödtet  werde,  dass  aber  auch  das  zweite  Kind  möglicher- 
weise sterbe. 

Die  Superfotation  oder,  wie  Scanjsoni  sie  zu  nennen  vorschlägt,  Super- 
föcundation,  hat  bis  in  die  neuere  Zeit  ihre  Verfechter  gefunden.    Im  17.  Jahr- 
hundert herrschten  darüber  sehr  absonderliche  Ansichten.    Der  anonyme  Verfasser 
Ploss-Bartels,  Das  Weib.   6.  Aufl.    I.  40 


Fig.  273.    Der  zweite  Embryo  bei  Ueberfirnchtasg. 
(Nach  RmjscAims^ 


626  ^^^-  Mehrfache  Schwangerschaft 

von  des  getreuen  EckartVs  unvorsichtiger  Hebamme  erzählt,  dass  er  selbst  xwei 
derartige  Fälle  beobachtet  habe,  einen  im  Jahre  1686,  wo  ein  Intervall  Ton  zvrei 
Monaten  zwischen  beiden  Geburten  bestand,  und  den  anderen  im  Jahre  1677,  wo 
eine  Dame  zuerst  von  einem  Sohne  und  12  Wochen  später  von  einer  Tochter 
entbunden  worden  war.     Er  sagt: 

,Im  Anfange  und  währenden  12  biss  20  Tagen  kann  dergleichen  Nachschwftngeniiig  nicht 
geschehen,  denn  sie  würde  in  zukommenden  Saamen  eine  Yerwirrung  machen  und  eins  dai 
andere  verderben.* 

Buy  Schills^  der  berühmte  holländische  Anatom  des  17.  Jahrhunderts,  be- 
richtet von  einem  Falle  von  Superfotation,  welcher  sich  im  Jahre  1686  bei  der 
Frau  eines  Chirurgen  in  Amsterdam  ereignet  hatte.  Sie  hatte  ein  kraftiges, 
lebendes  Kind  geboren,  und  6  Stunden  später  folgte  noch  ein  kleiner  Embryo  Ton 
der  ungefähren  Grösse  einer  Bohne,  dessen  verkleinerte  Abbildung  in  Fig.  273 
wiedergegeben  ist.  Die  zu  diesem  Embryo  gehörige  Nachgeburt  hak  die  Grösse 
und  Dicke,  wie  sie  im  dritten  Monate  der  Schwangerschaft  gewöhnlich  ist.  Der 
Nabelstrang  dieses  kleinen  Wesens  liess  eine  Reihe  von  blasenartigen  Auftreibungen 
erkennen. 

Auch  der  bekannte  Gynäkologe  Busch  verfocht  noch  im  Jahre  1849  die 
Möglichkeit  der  Superfotation,  und  es  sprachen  hierfür  scheinbar  diejenigen  Be- 
obachtungen, wo  Europäerinnen  Zwillinge  von  zwei  Rassen,  ein  weisses  und 
ein  Mulatten -Kind,  geboren,  nachdem  sie  sich  kurz  nach  einander  mit  einem 
Europäer  und  einem  Neger  begattet  hatten.  Doch  sind  diese  Fälle,  auf  deren 
Berichte  ich  nicht  näher  eingehe,  keineswegs  sicher  gestellt. 

Wollte  man  eine  solche  Möglichkeit  statuiren,  so  müsste  der  zweite  frucht- 
bare Coitus  dem  ersten  in  sehr  kurzer  Zeit  nachfolgen  und  es  mOssten  zwei  Ovula, 
zur  Befruchtung  bereit,  in  der  Gebärmutter  sich  befinden.  Doch  ist  auch  dieses 
noch  nicht  einmal  bewiesen.  Wir  werden  daher  Scaneoni  and  Wagner  bei- 
stimmen müssen,  welche  die  Ueberfruchtung  als  eine  physiologische  Unmöglich- 
keit hinstellen. 


168.  Paarlinge. 

Es  wird  den  Lesern  ohne  Zweifel  schon  seit  langer  Zeit  aufgefallen  sein, 
dass  unendlich  viel  häufiger  Zwillinge  von  gleichem,  als  solche  von  verschiedenem 
Geschlechte  geboren  werden.  Nur  die  letzteren  sind  immer  als  Zwillinge  im  eigent- 
lichen Sinne  des  Wortes  anzusehen,  d.  h.  als  das  Product  zweier  gleichzeitig  ge- 
reifter und  durch  denselben  Coitus  befruchteter  Eier.  Die  Zwillinge  gleichen  Ge- 
schlechts können  allerdings  ebenfalls  auf  die  soeben  geschilderte  Weise  sich  ent- 
wickelt haben.  In  einer  grossen  Reihe  der  Fälle  sind  sie  aber  ganz  unzweifelhaft 
nur  einem  einzigen  Eichen  entsprossen,  dessen  Bildungskeim  sich  verdoppelt  hat. 
FQr  diese  letztere  Gattung  der  Doppelgeburten  hatte  der  verstorbene  Berliner 
Anatom  und  Embryologe  Karl  Bogislaus  Beichert  die  Bezeichnung  Paarlinge 
vorgeschlagen,  während  er  den  Namen  Zwillinge  f&r  die  erstere  Gattung  beibehielt. 

Zu  den  Paarungen  gehören  nun  unter  allen  Umständen  die  oft  beschriebenen 
und  nicht  selten  fUr  Geld  gezeigten,  mit  einander  verwachsenen  Zwillinge.  Ich 
erinnere  hier  an  die  Gebrüder  Tocci^  an  die  zweiköpfige  Nachtigall  und  an 
die  siamesischen  Zwillinge.  Es  handelt  sich  hierüberall  durchaus  nicht,  wie 
der  Laie  glauben  könnte  und  wie  auch  die  Gelehrten  vergangener  Jahrhunderte 
wirklich  angenommen  haben,  um  einen  Process  der  Verwachsung  und  Verschmelzung, 
sondern  um  einen  solchen  der  Verdoppelung.  Die  Keimanlage  verdoppelt  sich,  und 
zwar  von  einem  oder  von  beiden  Enden  her.  Geht  nun  diese  die  Verdoppelung 
erzeugende  Längstheilung  nicht  durch  die  ganze  lÄnge  des  Keimes  hindurch,  dann 
wird  die  eine  Abtheilung  desselben  einfach  bleiben,  und  an  dieser  Stelle  scheineB 
dann   die  Zwillinge  verwachsen  zu  sein,    während   sie  also  eigentlich  nur  uhtoU- 


628  XK.Y.  Mehrfache  Schwangerschaft 

sind  doch  die  Mittelkörper  durch  eine  mehr  oder  weniger  breite  Brücke  von 
Weichtheilen  mit  einander  yerbnnden.  Solche  Wesen  waren  die  siamesiBchen 
Zwillinge  und  die  sogenannte  zweiköpfige  Nachtigall. 

Fig.  274  flihrt  ebenfalls  solche  unglückliche  Wesen  vor.  ESs  sind  die  ans 
Orissa  in  Indien  stammenden  Schwestern  Badika  und  Doodika^  welche  im  Jahre 
1892  Deutschland  durchzogen.  Sie  hatten  damals  ein  Alter  von  3^2  Jahren. 
Auch  bei  ihnen  ist  die  Trennung  eine  fast  vollständige;  nur  in  der  Oberbauch- 
region sind  sie  mit  einander  verschmolzen. 

Ist  die  Langstheilung  und  Verdoppelung  nun  aber  durch  die  ganze  Lange 
des  Keimes  zu  Stande  gekommen,  dann  entstehen  zwei  vollständig  von  einander 
getrennte  Kinder,  jedes  ftSr  sich  vollkommen  entwickelt,  aber  immer  in  einer  g^ 
meinsamen  Eihülle  steckend,  immer  gleichen  Qeschlechts  und  gewöhnlich  mit  ge- 
meinsamem oder  unvollständig  verdoppeltem  Mutterkuchen.    Das  sind  die  Paarlii^. 

Wenn  wir  uns  nun  eine  Vorstellung  machen  wollen,  um  wieviel  häufiger 
solche  Paarlinge  als  echte  Zwillinge  geboren  werden,  so  zeigt  uns  das  die  Statirtik 
von  Berlin.  In  den  11  Jahren  1883^1893  kamen  daselbst  532658  Einzelgebarten 
und  5872  Zwillingsgeburten  vor.  Unter  den  letzteren  waren  aber  nur  2094  un- 
zweifelhafte Zwillingsgeburten  uach  unserer  Nomenclatur,  d.  h.  solche,  wo  ein 
Knabe  und  ein  Mädchen  geboren  war.  Bei  3778  Geburten  handelte  es  sich  um 
Kinder  des  gleichen  Geschlechts,  also  um  Paarlinge,  und  zwar  waren  hier  3934 
Knaben  und  3622  Mädchen  geboren  worden.  Das  männliche  Geschlecht  ist  hier 
also  etwas  in  der  Ueberzahl. 


169.  Zwillinge. 


Soweit  bis  jetzt  unsere  Kenntnisse  reichen,  sind  Zwillingsgeburten  bei  allen 
Rassen  der  Erde  beobachtet  worden,  aber  das  Verhältniss  derselben  gegenüber 
den  normalen  Geburten  ist,  wie  wir  auch  heute  bereits  zu  behaupten  vermögen, 
ein  sehr  ungleichmässiges  bei  den  verschiedenen  Völkern.  Rassenunterschiede 
allein  können  hierfür  keine  befriedigende  Erklärung  abgeben.  Denn  oft  sehen  wir 
unter  Völkern  der  gleichen  Abstammung  und  ganz  nahe  bei  einander  wohnend 
bei  dem  einen  Zwillingsgeburten  als  eine  grosse  Seltenheit,  bei  dem  anderen  da- 
gegen mit  einer  auffallenden  Häufigkeit  auftreten.  Es  wäre  in  hohem  Grade  inter- 
essant, wenn  die  Reisenden  und  die  in  den  Colonien  Angestellten  diesem  Gegen- 
stande ihre  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  sich  entschliessen  wollten. 

So  berichtet  Mondiere  über  die  Weiber  in  Cochinchina,  dass  bei  ihnen 
Zwillingsgeburten  sehr  selten  vorzukommen  pflegen;  nach  seiner  Berechnung  nicht 
mehr  als  ein  Fall  auf  10211  Geburten.     Jedoch  fahrt  er  fort: 

.Chose  plus  remarquable  encore,  un  seul  arrondissement,  Bentr^,  semble  avoir  le 
privil^ge  de  ces  naissances  gemellaires;  car  sur  les  15  qui  ont  eu  lieu  en  6  ans,  Bentre 
compte  9  ä  lui  seul.'' 

Wir  finden  auch  auf  den  kleinen  Inseln  des  malayischen  Archipels  in  ver- 
schiedener Häufigkeit  Zwillingsgeburten  auftreten.  Auf  den  Watubela-Inseln 
sind  sie  eine  ganz  ausserordentliche  Rarität,  auf  Buru,  Eetar  und  den  Aaru- 
Inseln  sind  sie  auch  noch  selten,  auf  den  Tanembar-  und  Timorlao-Inseln 
werden  sie  schon  etwas  häufiger  beobachtet.  AufLeti,  Moa  und  Lakor  besitzen 
die  Eingeborenen  sogar  besondere  Namen  für  die  drei  möglichen  Geschlechts- 
combinationen  (zwei  Knaben,  zwei  Mädchen  oder  Knabe  und  Mädchen),  und  ani 
den  Keei-  oder  Ew ab u- Inseln  werden  mit  relativer  Häufigkeit  Zwillinge  geboren. 
Auch  die  Siamesinnen  sollen  nach  Turpin  und  Schonten  sehr  fruchtbar  and 
Zwillinge  bei  ihnen  nicht  selten  sein. 

Von  den  Orang  Belendas  in  Malacca  sagt  Stevens: 

, Zwillinge  sind  bei  ihnen  fast  unbekannt.    Es  kann  das  kaum  ein  Zufall  sein,  da«  uk 


169.  Zwillinge. 


629 


keinen  Fall  hiervon  anter  ihnen  gesehen  habe,  denn  die  Djäkun  sagen  mir,  dass  sie  auch 
keine  gesehen  hätten.  **     (BarUW,) 

Zwillingsgeburten  sind  unter  den  Fiji-Insulanern  nach  Blyth  nicht  un- 
gewöhnlich. Auch  auf  den  Salomon-Inseln  kommen  nach  £tton  Zwillinge  vor, 
sie  sind  aber  selten  und  die  Eingeborenen  sind  erstaunt,  wenn  sie  hören,  dass 
sich  das  bei  den  Weissen  öfters  ereignet. 

Bei  den  Wakimbus  und  Wanjamuesi  am  Ujiji-See  in  Central-Afrika 
werden  nach  Burton  und  Speke  Zwillingsgeburten  viel  seltener  beobachtet,  als  bei 
den  Dinka-Negern  und  bei  den  Kaff  er  n.  Jedoch  sind  sie  auch  unter  den 
letzteren  bei  den  einzelnen  Stämmen  von  wechselnder  Häufigkeit.  Calloway  be- 
richtet einen  Fall,  wo  ein  Mann,  in  dessen  Familie  wiederholt  bereits  Zwillings- 
schwangerschaften vorgekommen  waren,  eine  Frau  aus  einem  anderen  Stamme 
heirathete,  in  welchem  sie  fast  gar  nicht  vorkamen.  Bei  der  ersten  Entbindung 
brachte  diese  Frau  Zwillinge  zur  Welt.  Hier  würde  also  ein  Einfiuss  des  Vaters 
auf  die  Entstehung  der  Zwillingsschwangerschafb  nicht  zu  verkennen  sein.  Nach 
Reichard  sind  bei  den  Wanjamuesi  Zwillingsgeburten  verhältnissmässig  häufig. 

Aus  Ha  Tschewasse  im  nördlichen  Transvaal  schrieb  mir  Missionar 
Beiister:  „Ich  bin  zu  der  üeberzeugung  gekommen,  dass  unter  den  schwarzen 
Völkern,  wenigstens  unter  dem  Volke,  wo  ich  mein  Arbeitsfeld  habe  (Bawaenda, 
eine  Abtheilung  der  Basutho),  viel  mehr  Zwillingsgeburten  stattfinden,  als  daheim 
in  Europa.  Unter  etwa  zwölf  Frauen  meiner  Station  fanden  vor  einigen  Jahren 
3  nach  einander  folgende  Zwillingsgeburten  statt.  "^ 

Von  den  Aegypterinnen  erzählt  schon  Aristoteles^  dass  sie  sehr  häufig 
mit  Zwillingen  niederkämen. 

Im  Jahre  1853  gab  es  in  Trinidad  bei  einer  Bevölkerungszahl  von  noch 
nicht  ganz  7000  Seelen  mehr  als  80  Fälle  von  Zwillingen  unter  den  Erwachsenen, 
und  im  Jahre  1856  wurden  in  Santo-Espiritu  auf  Cuba  6  Zwillingsgeburten 
beobachtet.  In  Nicaragua  bringen  die  eingeborenen  Frauen  sehr  häufig  Zwillinge 
zur  Welt. 

Die  Zwillingsschwangerschafben  unter  den  europäischen  Völkern  hat  in 
neuerer  Zeit  besonders  BertiUon  zum  Gegenstände  seiner  Studien  gemacht.  Er 
stellt  folgende  Tabelle  zusammen: 


Land                .  Beob^htungs- 

ZwiUinf^^sgebarten 

pro  lOOO 
SchwangerscliAften 

Unter  100  Zwi 
eingesohlechtUch 

Uingsgebnrten 

zweigesohlechtlioh 

Frankreich...    .      1858—68 

10,00 

65,1 

34,9 

Italien 

1868—70 

10,36 
12,50 

64,3 

35,7 

Preussen 

1859-67 

62,5 

37,5 

Galizien 

Oestorreich   

1851-59 

12,50 

62,4 

37,6 

1851-70 

11,90 

62,0 

38,0 

Ungarn  

1851-59 

13,00 

61,3 

38,7 

Es  ist  sehr  beachtenswerth,  dass  hierin  sich  Preussen,  Qalizien  und 
0 esterreich  einerseits  und  Prankreich  und  Italien  andererseits  als  zu- 
sammenstehend ergeben,  während  Ungarn  die  höchste  Stelle  einnimmt.  BertiUon 
hält  sich  für  berechtigt,  hierin  Differenzen  zwischen  der  teutonischen  und  der 
lateinischen  Rasse  zu  erblicken. 

Aus  dieser  Tabelle  geht  auch  hervor,  um  wieviel  häufiger  die  Zwillinge  das 
gleiche,  als  ein  verschiedenes  Qeschlecht  aufeu weisen  haben,  und  auch  in  diesen 
Zahlen  lässt  sich  ein  Unterschied  zwischen  den  beiden  Rassen  nicht  ableugnen. 
Die  Zwillinge  gleichen  Qeschlechts  sind  Qbrigens  in  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Pälle  Mädchen.  Das  für  die  angegebenen  Zeiträume  im  Ghmzen  in  der  Tabelle 
ausgesprochene  procentuale  Verhaltniss  bleibt  für  Preussen   und   Frankreich 


630  XXV.  Mehrfache  Sohwangenchaft. 

ein  unverändertes,   auch  wenn   man  Jahr  für  Jahr  mit   einander  Tergleicht;  die 
Schwankungen  betragen  in  maximo  ^/lo  Procent. 

So  wichtig  diese  Untersuchungen  nun  auch  sind,  so  wurde  doch  bereits 
vorhin  der  Beweis  geliefert,  dass  nidit  allein  die  Bassenunterschiede  f&r  diese 
Frage  den  Ausschlag  geben,  und  es  wäre  zur  weiteren  Klärung  dieser  Angelegen- 
heit durchaus  nothwendig,  nicht  die  Zwillingsgeburten  ganzer  Lander,  sondeni 
einzelner  eng  umschriebener  Bezirke  mit  einander  in  Vergleich  zu  ziehen.  Erst 
dann  Hesse  sich  angeben,  auf  welche  Punkte  nun  weiter  noch  Gewicht  kq 
legen  wäre. 

Bei  den  Süd-Slaven  sind  nach  Krauss^  Zwillinge  ein  häufiges  Vorkommniss. 
Auch  in  Bosnien  kommen  nach  Mrcusovic  Zwillingsgeburten  häufig  vor. 

Wir  haben  früher  schon  gesehen,  dass  die  altgriechischen  Aerzte  zu  der 
Zeit  des  Hippokrates  die  menschliche  Gebärmutter,  welche  sie  sicherlich  niemals 
zu  Gesicht  bekommen  hatten,  sich  genau  so  vorstellten,  wie  diejenige  der  ScUacht- 
thiere,  d.  h.  sie  glaubten,  dass  auch  das  Weib  einen  zweigehömten  Uterus  beeässe. 
Nun  war  natQrlicher  Weise  für  sie  das  Verständniss  der  Zwillingsgeburten  sehr 
vereinfacht,  denn  für  sie  stand  es  fest,  das  in  jedem  der  Homer  eines  der  Kinder 
sich  entwickelt  habe. 

Die  chinesischen  Aerzte  diagnosticiren  eine  Zwillingsschwangerschaft,  wenn 
der  auf  bestimmte  Punkte  der  Arterie  der  Handwurzel  aufgesetzte  Finger  an 
beiden  Korperseiten  den  Puls  schlüpfend  und  strotzend  findet. 

Bei  den  Japanern  ist  durch  Kangawa  die  Lehre  von  der  Zwillingsschwangrer- 
Schaft  ausgebildet.     Er  stellte  die  folgenden  Sätze  auf: 

Sind  Zwillinge  vorhanden,  so  hat  regelrecht  der  linke  den  Kopf  nach  unten,  der  rechte 
hat  ihn  nach  oben.  Jeder  hat  seine  eigene  Placenta;  der  linke  kommt  bei  der  Geburt  znexst 
Liegen  dagegen  beide  Zwillinge  mit  dem  Kopfe  nach  oben  oder  nach  unten,  so  haben  sie  nur 
eine  gemeinschaftliche  Placenta,  und  die  Geburt  ist  stets  mit  grosser  Gefahr  verknfipft.  Dm 
Geschlecht  beider  Zwillinge  kann  verschieden  sein.  Zuweilen  entwickelt  sich  ein  Zwilling  auf 
Kosten  des  anderen:  dann  wird  letzterer  im  7.  Monat  mit  dem  Sack  geboren. 

Dass  eine  Frau  sich  mit  Zwillingen  trägt,  erkennt  man  nach  Kangawa  daran, 
dass  ihr  Leib  in  der  Mittellinie  eingesunken  ist 


170.  Drillinge,  Yierlinge^  Ffinflinge  u.  s.  w. 

Bekanntlich  werden  bisweilen  aber  auch  nicht  nur  zwei,  sondern  sogar  drei 
und  selbst  noch  mehr  Kinder  gleichzeitig  im  Mutterleibe  zur  Entwickelung  ge- 
bracht, und  wenn  wir  die  folgende  ebenfalls  von  BertiUon  herrührende  Zusammen- 
stellung betrachten,  so  werden  wir  uns  nicht  dem  Eindrucke  verschliessen  können, 
dass  solche  Drillingsgeburten  viel  häufiger  vorkommen,  als  man  von  vorn- 
herein erwarten  sollte. 

Zahl   der  jährlichen  Drillingsgeburten. 

Frankreich   (1858—68)  120 

Italien  (1868—70)  130 

Preussen        (1858—67)  107 

Ungarn  (1851—59)  62,5 

Oesterreich  (1851—70)  125 

Galizien         (1841-59)  36. 

Für  Frankreich  gestaltet  sich  das  Yerhältniss  so,  dass  eine  Drillingsgeburt 
auf  8570  normale  Geburten,  oder  auf  86  Zwillingsgeburten  triflPfc.  Gerschun  giebt 
an,  dass  in  Irland  auf  4995,  in  Russland  auf  4045  und  in  Württemberg  auf 
5464  normale  Geburten  je  eine  Drillingsgeburt  beobachtet  wurde. 

Bei  Drillingsgeburten  sbd  natürlicher  Weise  bei  den  Kindern  Tiererlei  Qe- 
schlechts-Combinationen  möglich:  Es  können  3  Knaben  sein,  oder  3  M«^^|y^ 
Mer  2  Mädchen  und  1  Knabe,  oder  2  Knaben  und  1  Madchen. 


170*  Drillinge,  Viorlinge,  FitofUnge  a,  a.  w. 

Wie  diese  sich  in  Zahlen- VerbältDissen  gestalten,  zeigt  die  folgende  Tabelle: 

Drillingageb  urteil. 


Oestorreich. 
(1851—70) 


3  Enaben    . 
3  M&dchen.    ,    .   .    .    . 
2  lUabdo,  1  Mädchen 
I  KjiAbe,  2  Madchen  . 


Preuisen. 

(l82e-48)        (1859—67) 


45,1 


1;?| ».» 


48 


52 


3  Knahon 

3  Mädchen.    , 

2  Knaben,  1  M&dcbeu 


.1 


^8 


25/ 
Frankreich. 
(1858— eSO,  1866—68) 
27,7) 

»24  2) 

1  Knabe,  2  Mädchen 24i7j  ^'^ 

Hier  ist  oun  gleich  von  vornherein  eine  höchst  eigenthtimliche  Thataache 
2u  conatatiren,  welche  die  Ürillingsgeburten  ganz  scharf  von  den  Zwillingsgeburten 
abtrennt.  Während  bei  den  letzteren  nämlich,  wie  wir  gesehen  haben,  bei  weitem 
[häufiger  Mädchen  als  Knaben  geboren  werden,  finden  wir  hier  bei  den  Drillingen 
"gerade  die  Knaben  in  der  Ueberzahl.  Auch  lässt  sich  hier  wieder  wie  in  den 
früheren  Tabellen  erkennen,  dass  Frankreich  eine  besondere  Stellung  einnimmt 
gegenüber  von  Prenssen  und  0  est  er  reich. 

In  Berlin  sind  in  den  11  Jahren  1883 — 1893,  wie  schon  früher  angegeben 
wurde,  532658  Einzelgeburteu  und  5872  Paarlings-  und  Zwillingsgeb arten  vor- 
gekommen. Dazu  kommen  48  Drillingsgeburten*  Vierlinge  u,  s.  w.  sind  nicht 
beobachtet  worden. 

Bei  diesen  Drillingsgeburten  wuretj : 

3  Knaben  .     .  12  Mal 

2  Knaben  und  1  Mädchen  .  .  .  13  I^lai 
2  Mudcben  und  1  Knabe  .  .  .11  Mal 
8  Mädcbaa 12  Mab 

Somit    waren    unter   diesen  Drillingskindern    67  Knaben    und    71  Mädchen. 
Wir  sehen   also,  dass  die  beiden  Geschlechter  ziemlich  gleichmässig  vertreten  sind, 
lund    ich    vermag    daher   nicht    zu  constatiren,    dase    bei    den  Drillingsschwanger- 
schaften  die  Neigung  vorläge,  eines  der  beiden  Geschlechter  vornehmlich  zur  Aus- 
bildung zu  bringen. 

Auch  in  Bosnien  kommen  nach  Mrasovtc  Drillingsgeburten  bisweilen  vor 
Von  Drillingsgeburtcn  aus  anderen  Welttheilen  wird  so  gut  wie  nicht«  be- 
richtet In  Cochinchina  kommen  sie  nach  Motidwre  nicht  vor,  auf  den  Viti- 
Inseln  sind  sie  nach  Blyth  gänzlich  unbekannt,  und  in  Central- Afrika  erklärt 
sie  Barth  für  etwas  Unerhörtes,  Auf  Cuba  aber  ereigneten  sich  in  einem  Dorfe 
Namens  Bando  im  Jahre  1856  nicht  weniger  als  4  Drillingsgeburten.  Auch  auf 
[Serang  werden  sie  nach  Riedel  bisweilen  beobachtet 

Noch  grösserer  Kindersegen  als  drei  auf  einmal  wird  dem  Menschen  selten 
^ lieschieden.     Ueber  die  Geburt  von  Vierlingen  haben  sich  im  Verlaufe  der  letzten 
Jahre  mehrmals  Nachrichten  in  den  Zeitungen  gefunden.    Ich  möchte  hier  aber  auch 
auf  eine  höchst  interessante  antike  Fi^ur  aufmerksam  machen,  welche  sich  in  der 
berühmten    Ny  Carlsberg  Glyptothek    des   Herrn  Carl  Jacohsen  bei  Kopen- 
hagen befindet     Es  ist  eine  auf  einem  Sessel  sitzende  junge  Frau  von  ungefähr 
75  cm  Höhe,  die  sich  in  einer  Nekropole  in  Capua  gefunden   hat.     Das  Gewand 
[ist  auf  der  rechten  Schulter   geknöpft;    die    linke   Schulter   und    die    linke   Brust 
Ifiind  frei.     Auf  ihrem  Schoosse  nihen,   von  ihrem  linken  Vorderarme  unterstützt, 
[Tier  Wickelkinder  neben  einander,   welche    die  Frau   mit  ihrer  rechten  Hand  auf 
lihrem  Schoosse  festhält     WahrBcheiaHdi  ^  ^nmgs- 


170.  Drilling©^  Vierlinge,  Fünflinge  u,  s,  w. 


633 


Die  neueren  Beobachtungen  haben  das  Vorkommen  von  Fünf  lingen  bestätigen 

itissen,  aber  immerhio  handelt  es  sich  hier  stets  um  so  grosse  Seltenheiten,  dass 

aan  sie  nur  als  Ciiriositäten  zu  betrachten  hat.      Wappaetis  ist  bemüht  gewesen, 

die  statistischen   Verhältnisse  der  mehrfachen  Geburten  festzustellen.     Kr  fand  im 

Jgemeinen  auf  10  Millionen  Geborene  9768334  Einzelgeborene,  227597  ZwU- 

age,  3948  Drillinge,   118  Vierlinge  und  3,5  Ftinflinge. 

Der  Berliner  Gynäkologe  Karl  Schroeder  äusserte  sich  dahin,   dasa  sicher 
:>nBtatirte  Beobachtungen  von  mehr  als  fünf  gleichzeitig  entwickelten  Frlichten 
ehlen.     Um  so  interessanter  ist  daher  ein  Grabstein  in  Hameln,  dessen  Photo- 
phie   ich    dem    Regierungshaumeister    Weisstein   verdanke.     Der  Grabstein   be- 
sieh, wie  ich  später  selber  zu  sehen  Gelegenheit  hatte,    in  die  Aussenwand 
eines  Hauses  eingefügt,    welches  neben 
ainer    der    Kirchen    steht.      Auf    dem 
Grabstein  ist  folgende  Inschrift  deutlich 
lenen: 


AUhier  ein  Bürger  Thkle  Moemtr  genannt 
ine  Hausfruu  Anna  Brctjer»  woWbekiuinfc 

M  muD  wählte  1600  J»hr 
Den  9  JanunriuB  des  Morgena  3  Uhr  wur 
Von  ihr  zwei  Kn&belein  und  fQnf  Madelein 
Auf  eine  Zeit  geboren  seyn 

abcD  auch  die  heilige  Tauf  erworben 

*o1genda  den  20t<fü  12  Uhr  eeelig  gestorben 
■Oott  wolle  ihn  geben  die  Selligkeit 
Die  allen  Gläubigen  ist  bereit.* 

Figur  275  führt  diesen  Grabstein 
ohne  die  Inschrift)  vor  und  xeigt  die 
"iltern  und  deren  Angehörige  unter  dem 
Irucifixe  kuieend ;  sechs  Wickelkinder 
egen  auf  der  Erde  in  einem  Kissen, 
ährend  der  Vater  das  siebente  dem 
ekreuatigten  entgegenhiilt. 

In  der    Berliner    anthropologi- 
en  Gesellschaft,   wo  ich  diesen  Fall 
rochen  habe,  machte  ich  schon  dar- 
auf aufmerksam,  dass  wahrscheinlich  als 
,erTag  der  Geburt  nicht  der  9.,  sondern 
er  19.  Januar  gemeint  sein  wird.    Dann 
litten   die  Kinder  also  nicht  1 1  Tage. 
sondern  nur  33  Stunden  gelebt.    Das  er- 
scheint glaubwürdiger,  denn  auch  schon 
i Drillinge   haben   bekanntermaassen  nur 
■ine  sehr  geringe  Lebensfiihigkeit.    Da 
ban  in  der  damaligen  Zeit  mit  heiligen 
Pingen  keinen  Spott  zu  treiben  pflegte, 
Eral 


Fig.  2Tt>.     Die  ItaUenerin   Z>^r  rirt    \\;ihreiid  i1if*r 
tieunfAcLrin  oder  eUfjkQhAti  Sch'Aiiing'^i'äiehUt, 


werden  wir  wohl  mit  Sicherheit  annehmen  dürfen,  daas  es  sieh  hier  um  eine 
ahre  Thatsache  gehandelt  hat. 

Einen  neuen  Fall  von  Siebenlingen  berichtete  die  römische  Zeitong 
Opinione  vom  19.  März  1899. 

Einige  Tage  fraher  ^U  in  Madrid  die  Fraa  einoB  Schxuiedefi  toh  einem  dicken  kräftigen 
KnaVen  entbunden  sein.  Eine  halbe  Stunde  später  b teilten  sich  wiederum  Wehen  ein  und  oj 
irurden  dmrauf  twel  todte  Knaben  geboren.  Aber  auch  jetzt  noch  hielten  die  Wehen  an  und 
dauerten  des  Tag  über,  die  Nacht  hindurch  und  noch  den  folgenden  Tag  bis  zum  Abend  hin, 
und  darauf  wurden  in  zweistfindigen  Pausen  noch  ein  vierter,  ein  fünfler,  ein  sechster  und 
sogar  noch  ein  siebenter  Sohn  geboren:  aber  sie  waren  sämmtlich  todt«  jedoch  volbtändig 
ausgiebildei^    Die  WlVcbnerin,  eine  sehr  kräftige  Frau»  befand  »ich  danach  vollkommen  wohl. 


684  ^^V*.  Mehrfache  SchwaDgerachaft. 

In  wie  weit  diese  Zeitungsnotiz,  welche  die  Redaktion  einem  Original-Tele- 
gramm ihres  Berichterstatters  verdankt,  in  allen  Punkten  der  Wahrheit  entspricht, 
vermag  ich  natürlich  nicht  zu  entscheiden.  Dass  es  sich  um  keine  Unmöglichkeit 
handelt,  das  beweisen  die  Siebenlinge  von  Hameln. 

*"  Anders  ist  das  nun  allerdings  in  einem  Falle,  welchen  zuerst  Francesco 
Pico  ddla  Mirandola  beschrieben  hat  und  von  dem  dann  Ambrtnse  Pore  be- 
richtet. Es  handelt  sich  um  die  Italienerin  Dorothea^  welche  in  nur  zwei 
Niederkünften  zwanzig  Sohne  zur  Welt  gebracht  haben  soll.  Das  erste  Mal 
kam  sie  mit  nennen  nieder,  und  das  zweite  .Mal  soll  sie  dann  gleichzeitig  elf 
Kinder  geboren  haben.  Nach  der  Beschreibung  war  sie  dermaassen  dick  in  ihrer 
Schwangerschaft,  dass  ihr  der  Bauch  bis  auf  die  Eniee  herabhing,  und  um  den- 
selben tragen  zu  können,  musste  sie  ihn  mit  einer  Binde  umsdilingen,  die  sie 
dann  über  ihre  Schultern  und  über  ihr  Qenick  gelegt  hatte.  Die  Abbildung, 
welche  Paraeus  giebt,  wird  dem  Leser  in  Fig.  276  vorgeführt. 

Bei  einigen  der  alten  Rabbiner  begegnen  wir  noch  absonderlicheren  An- 
schauungen. Es  heisst  im  Midrasch  Schemot  Rabba  bei  der  Erläuterung  der 
Bibelstelle  U.  Mosis  I,  7: 

.Obgleich  Joseph  nnd  seine  Brüder  todt  waren,  so  war  doch  ihr  Gott  nicht  todt, 
sondern  die  Kinder  Israels  waren  fruchtbar  und  wimmelten.*  Oder:  Jede  gebar  secha  aaf 
einmal  (eig.  in  einem  Leibe),  wie  es  heisst:  ,ünd  die  Kinder  Israels  waren  frachtbar  und 
wimmelten.'     Manche  sagen,  es  wären  gleich  zwölf  auf  einmal  zur  Welt  gekommen,  weil  ei 

heisst:  «sie  waren  fruchtbar  ( )*,  das  sind  zwei,  «sie  wimmelten  ( )',  das  find  zwei, 

.sie  wurden  zahlreich  ( )',  das  sind  zwei,  .sie  wurden  stark  ( )*,  das  sind  zwei,  «gar 

sehr  ( )',  das  sind  zwei,  .und  erfüllten  das  Land  ( )',  das  sind  zwei,  siehe  das  sind 

zusammen  zwölf,  .und  sie  wurden  stark."  Manche  sagen,  jede  Frau  gebar  sechzig  auf 
einmal.  Wundere  dich  nicht  darüber,  denn  der  Scorpion,  welcher  zu  den  Kriechenden  gehört, 
bringt  70  zur  Welt.**     (Wünsche^.) 

Man  sieht,  was  die  gläubige  Theologie  fQr  naturwissenschaftliche  Lehrsätze 
zu  zeitigen  vermag. 

171.  Das  Schändende  und  Gefährliche  der  Zwillingsgebnrten. 

Wir  haben  es  schon  in  einem  früheren  Abschnitte  gesehen,  dass  manche 
Völker  es  nicht  fQr  möglich  halten,  dass  eine  Frau,  welche  ihrem  Manne  die 
eheliche  Treue  gehalten  hat,  von  Zwillingen  entbunden  würde.  Eine  solche 
Zwillingsgeburt  ist  ihnen  immer  ein  untrügliches  Zeichen,  dass  sich  die  unglück- 
liche Mutter  einen  Ehebruch  hat  zu  Schulden  kommen  lassen,  und  die  armen  Neu- 
geboreneu  erwartet  dann  für  gewöhnlich  der  Tod.  Dem  letzterwähnten  Schick- 
sale sind  sie  aber  auch,  ohne  dass  der  Mutter  ein  Ehebruch  zugemuthet  wurde, 
sehr  häufig  verfallen,  und  für  diese  Unsitte,  die  Zwillinge  umzubringen,  werden 
von  den  betrefi'enden  Stämmen  sehr  verschiedenartige  Gründe  angeführt  Bei 
vielen  ist  es  nur  das  Unnatürliche,  das  Ungewöhnliche  überhaupt,  was  sie  als 
etwas  Unheilbringendes  ansehen.  Diesen  Glauben  finden  wir  in  vielen  Gegenden 
des  centralen  und  des  südlichen  Afrika  verbreitet,  und  der  unter  den  Bawaenda 
in  Nord-Transvaal  wirkende  Missionar  JBet/^^er  meldet  im  Jahre  1886  als  einen 
wichtigen  Erfolg  von  der  Aussenstation  Mpafudi,  dass  er  ein  Zwillingspaar  ge- 
tauft habe,  das  erste,  das  nicht  getödtet  sei: 

,So  hat  das  Heiden thum  einen  neuen  Stoss  bekommen.  Denn  wenn  man  weiss,  in  wie 
grosser  Angst  die  Heiden  in  dieser  Hinsicht  befangen  sind  und  wie  sie  sorgen,  dass  nicht 
durch  irgend  welche  Berührung  mit  solchen  Zwillingskindem  oder  deren  Eltern  daatelbe 
Unheil  sich  bei  ihnen  vollziehen  möchte,  dann  muss  man  diesen  Entschluss  u.  s.  w.  be- 
wundem ....  Wenn  nämlich  bei  einem  heidnischen  Eltempaar  ein  solches  Unglück  eintritt, 
so  ist  es  das  nächste,  dass  die  Kinder  baldigst  umgebracht  und  fortgreschafft  werden  an  einen 
nassen  Ort:  meistens  werden  sie  in  Töpfen  an  den  Ufern  der  Flüsse  verscharrt.  Dann  wird 
der  Doctor  gerufen,  der  mit  allerlei  Medizin  für  gute  Bezahlung  gegen  die  Wiederkehr  de»- 
selben  Unglücks  wirken  soll.    Alle  Kleidung  des  Mannes  und  der  Frau  nimmt  der  Do^or  ndt^ 


171t  Pas  SchlLndeode  und  GefUhrlicbe  der  ZwilUngsgeburteD. 


635 


weil  diurm  dar  Sits  «ein  kannte  fdr  Wiederholung  deflaelben  Ueb^ls.  M&n  rerlftsti  das  Hau» 
Diolit  durch  die  Thür,  sondern  doroh  eine  gewaltaam  gemachte  ÖeSaxmg  auf  der  hinteren 
Gelte  des  Hause«/ 

Die  Australier  tödten  die  Zwillingskinder,  weil  die  Mittel  zu  ihrer  Er- 
nährung nicht  hinreichen.  In  Neu-Britannien  lasst  man,  wie  IJaftks  berichtet, 
Zwillinge  gleichen  Geschlechts  am  Leben.  Wenn  aber  gleichzeitig  ein  Knabe  und 
ein  Mädchen  geboren  wird,  so  werden  sie  getudtet,  weil  sie  aus  der  gleichen  Volke- 
grnppe  staramen  und  entgegengesetzten  Geschlechts  sind,  und  so  wird  angenommen, 
daaa  sie  innerhalb  der  Gebärmutter  eine  Verbindung  und  eine  Vereinigung  ein- 
gegangen sind^  welche  als  eine  Verletzung  der  Ebegesetze  angesehen  werden  muss. 

Man  kann  es  bereits  ala  eine  Art  von  Fortschritt  in  der  Culturentwickelung 
bebrachten,  wenn  von  neugeborenen  Zwillingen  nur  das  eine  Kind  sein  Leben  ver- 
lieren muss.  Auch  hier  sind  die  als  Erklärung  und  Entschuldigung  ftir  den 
Kindermord  angeführten  Gründe  nicht  überall  die  gleichen.  Die  Indianer  Cali- 
forniens  tödten  das  eine  Kind,  weil  das  Aufziehen  von  zweien  der  Mutter  zu 
viel  Last  bereiten  würde.  Die  alten  Mexikaner  fürchteten,  dass  eins  der  Zwillings- 
kinder einstmals  die  Eltern  umbringen  wdrde,  und  diesem  ünheile  kamen  sie 
durch  die  Tödtung  des  einen  Kindes  zuvor.  Die  Campas*  und  Anti -Indianer 
in  Peru  tödten  nach  Grandidier  das  zuletzt  geborene  Kind»  weil  sie  nur  das 
erstgeborene  als  da^  legitime  Kind  des  Ehegatten,  das  zweitgeborene  aber  für 
einen  Sprössling  des  Teufeb  halten. 

Von  den  alten  Peruanern  sagt  v,  Tschudi: 

^  Eines  der  sonderbarsten  Faaien  war  jenes,  welches  in  manchen  Provinzen  abgehalten 
ien  musate,  wenn  ein  Weib  Zwillinge  (Lsuti^u)  gebar,  was  als  etwas  gunz  Ungeheuerlicbea 
Schändliches  betruchtet  wurde.  Das  Fasteu  bestand  bei  dieser  Gelegenheit  gelindester 
Form  in  der  Enthallang  von  Salz»  spanischem  Pfefi'er  und  vom  ßeischlaf  in  der  Dauer  bis 
za  sechs  Monaten.  In  einigen  Gegenden  wurde  e»  aber  derart  verschärft,  dass  Vater  und 
Mutter  im  Hause  eingeschlossen  oder  an  einem  anderen^  verborgenen  Orte  jedes  sich  auf  die 
eine  Beite  legte  und  den  Fuss  der  entgegengesetzten  Seite  an  sich  zog;  in  die  Kniebeuge 
deeselbcD  wurde  eine  Bohne  gelegt  und  blieb  an  dieser  Stelle,  bis  sie  durch  den  Schweiss 
und  die  Warme  zu  keimen  begann,  was  in  der  Regel  nach  Hlnf  Tagen  geschah.  Dann  erst 
durften  die  Fastenden  ihre  SteUnng  Undem  und  mussten  nun  mit  dem  anderen  Fuss  ebenso 
verfahren,  bis  wiederum  am  fünften  Tage  die  zweite  Bohne  keimte.  Nachdem  diese  Strafe 
abgebüsst  war,  erlegten  die  Verwandton  ein  Keh,  zogen  ihm  das  Fell  ab  und  machten  aus 
demsell>en  eine  Art  TraghimmeU  und  unter  dieeem  mussten  die  schuldigen  filtern  mit  eitiem 
6trick  um  den  Hall  einherschreiten,  den  Strick  aber,  nachdem  diese  Ceremonie  vorüber  war« 
noch  viele  Tage  um  den  Hals  trafen.* 

Noch  eine    andere  Sache  erzählt  t\  Tschudi   ebenfalls   von    den   alten    Pe- 


ruanern: 

,ßei  den  grossen  Kreisjagden  der  Gebirgs -Indianer  wird  er  (derTarukkat  cervus 
antisiensis)  häufig  erlegt.  Sein  Fell  spielte  auch  bei  gewi^en  Ceremonien  der  alten  Peruaner 
eine  Rolle.  Wenn  nämlich  nach  der  Geburt  von  Zwillingen  die  Eltern  die  vorgeschriebenen 
strengen  Fasten  vollzogen  hatten,  jagten  deren  Verwandte  einen  Hirsch,  zogen  ihm  die  Haut 
abf  und  machten  eine  Art  Traghimmel,  unter  dem  die  Eltern  der  Zwillinge  mit  Stricken 
oder  Schnüren  um  den  Hals  einherschreiteti  mussten.  Diese  Stricke  mussten  sie  dann  noch 
mehrere  Tage  um  den  Hals  behalten.  Es  ist  daher  ein  Irrthum  von  Wiener,  wenn  er 
glaubt,  dasa  die  mit  einem  Strick  um  den  Hals  versehenen  menschlichen  Ton*  oder  Holz* 
figuren,  die  man  nicht  sehr  selten  findet,  Kriegsgefangene  dantellten;  diese  Figuren  wurden 
vielmehr  in  die  Gräber  derjenigen  Personen  gegeben»  die  Zwillinge  geseugt  hatten.  Der  Strick 
war,  wie  es  scheint,  ein  Symbol  der  Todesstrafe  durch  ErwQrgen,  denn  Zwillinge  in  die  Welt 
zu  setzen  war  nach  indianischen  Begriffen  in  mehreren  Provinzen  Perus  eine  schwer  zo 
sühnende  Schuld." 

Derjenige  Vater  in  Nias,    welcher   ein  Zwillingskind  getödtet   hat,    stiftet, 

[wie  Modigliani  erzählt,  ein  grosses  Holzbild  der  Gottheit  Adit  Horo, 

Zwillingsgebnrten  gelten  bei  den  Eingeborenen  von  Guyana  und  bei  den 
Salivas-Indianem  in  Brasilien  als  eine  grosse  Schande;  solche  Mütter  werden 

iTon  den  anderen  Weibern  verspottet,  weil  sie  wie  die  Mäose  gebären  nnd  mehrere 


636  XXV.  Mehrfache  Schwangerschaft. 

Junge  auf  einmal  zur  Welt  bringen.  Um  dieser  Unannehmlichkeit  za  entgehen, 
pflegt  die  Mutter  sofort  das  eine  Zwillingskind  zu  tödten,  was  onvermerkt  ge- 
schehen kann,  da  hier  die  Weiber  ganz  allein  und  einsam  im  Walde  ihre  Nieder- 
kunft abzumachen  pflegen.  Auch  auf  der  Insel  Bomang  im  alfurischen  Meere 
wird  die  Geburt  von  Zwillingen  als  eine  Schande  angesehen  and  eins  der  Kinder, 
für  gewöhnlich  das  schwächlichste,  sofort  nach  der  Geburt  todt  gedrückt.  Aehn- 
liche  Anschauungen  herrschen  auf  den  Inseln  Dama,  Nila  und  Serna.  Bei  den 
Makalaka  in  Süd- Afrika  wird  nach  Mauch  der  eine  Zwilling  in  einen  Topf 
gelegt  und  als  Frass  für  die  Hyänen  ausgesetzt.  Hier  entscheidet  das  Loos, 
welchen  von  den  beiden  Geschwistern  dieses  Schicksal  trifft,  und  zwar  wird  mit 
bestimmten  Zauber-Wurfhölzem  hierüber  entschieden. 

«Wenn  eine  Baiische  Frau/  sagt  Jacobs,  „aus  irgend  einer  Kaste  von  ZwiUingen 
verschiedenen  Geschlechts  entbunden  wird  (man  nennt  dieses  kSmbar  boenljiiig,  Braut- 
Zwillinge),  dann  muss  die  Mutter  unmittelbar  nach  der  Entbindung  nach  dem  Begrftbnin- 
platze  laufen,  wohin  ihr  die  beiden  Kinder  nachgetragen  werden,  und  daselbst  in  einem  in 
der  Eile  errichteten  Hüttchen  drei  fernere  Monate  verbleiben,  w&hrend  derer  ihr  das  Essen 
dorthin  gebracht  wird.  Ihr  Haus  wird  in  Asche  gelegt,  so  dass  auch  ihr  Mann  nnd  die 
übrigen  Familienglieder  ihr  Unterkommen  fortan  wo  anders  suchen  müssen;  die  dösa  (Dorf), 
worin  die  Wohnung  stand,  wird  gereinigt;  die  Tempel  der  däsa,  mit  ein  Paar  Ausnahmen, 
namentlich  derjenigen,  die  dem  Gedächtniss  der  Todten  geweiht  sind,  werden  60  Tage  lang 
geschlossen ;  fürchterlich  viele  Opfer  werden  dargebracht  und  die  Dessa,  sowie  die  Mutter  und 
die  Kinder  mit  Weihwasser  (toja  tirta)  besprengt,  und  dieses  alles,  um  die  Blutschande  ab- 
zuwaschen, die  die  Zwillinge  in  utero  getrieben  haben  sollten.  Die  Frau  des  Forsten  oder 
eines  Brahmanen  ist  hiervon  allein  ausgenommen.  Man  kann  begreifen,  dass  auch  diese 
gottesdienstliche  Gepflogenheit  mehrmals  Menschenopfer  fordert.' 

Die  Ehsten  glaubten,  dass  die  Geburt  von  männlichen  Zwillingen  ein  Jahr 
der  Kriegesnöthe  prophezeihe.  (Bäder.)  Plinitis  hält  die  Niederkunft  mit  Zwil- 
lingen für  die  Mutter  für  gefahrlich.     Er  sagt: 

„Bei  Zwillingsgeburten  geschieht  es  selten,  dass  entweder  die  Mutter  oder  beide  Kinder 
am  Leben  bleiben.  Sind  aber  die  Zwillinge  verschiedenen  Geschlechts,  so  ist  die  Bettung 
beider,  der  Mutter  und  der  Kinder,  noch  seltener." 

Bei  manchen  Völkern  sucht  man  sich  ängstlich  vor  Zwillingsschwangerschaften 
zu  schützen.  So  glaubt  auf  Ambon  und  den  Uliase-Inseln  die  Schwangere  die 
Entwickelung  zweier  Kinder  dadurch  verhindern  zu  können,  dass  sie  vermeidet, 
auf  dem  Rücken  zu  schlafen,  oder  zusammengewachsene  Pinang-  oder  Pisang- 
Früchte  zu  essen.  In  ganz  ähnlicher  Weise  muss  auch  heutigen  Tages  noch  in 
manchen  Theilen  Deutschlands  die  Schwangere  sorgfältig  sich  hüten,  von  zu- 
sammengewachsenen Früchten  oder  Rüben  etwas  zu  geniessen,  wenn  sie  vermeiden 
will,  mit  Zwillingen  niederzukommen. 

Auch  die  Sächsin  in  Siebenbürgen  bekommt  Zwillinge,  wenn  sie  eine 
zusammengewachsene  Frucht  isst,  oder  wenn  sie  „über  Eck*  bei  Tische  sitzt. 
(V.   WlislockiK)  

172.  Die  Werthschätznng  der  Zwillingsgeburteiu 

Aber  bei  anderen  und  nicht  selten  den  im  vorigen  Abschnitte  genamiten 
nahe  benachbarten  Stämmen  treten  uns  auch  mildere  Sitten  entgegen.  So  sind 
auf  den  Babar-lnseln  Zwillinge  zwar  nicht  erwünscht,  aber  sie  werden  doch 
mit  Sorgfalt  aufgezogen,  wobei  der  eine  meistens  anderen  Dorfgenossen  überlassen 
wird.  Auch  in  Keisar  wird  gut  für  die  Zwillinge  gesorgt.  In  E et ar  betrachtet 
man  sie  als  ein  Geschenk  des  grossen  Geistes  im  Firmament.  Auch  in  Leti, 
Moa  und  La  kor,  auf  den  Luang-  und  Sermata-Inseln  und  auf  Serang 
gelten  sie  für  ein  Geschenk  der  Gottheit  und  werden  dem  entsprechend  gat  ge- 
halten. Auf  der  letzteren  Insel  herrscht  ebenfalls  die  Sitte,  nur  das  eine  Kind  im 
Eltemhause  zu  behalten;  das  andere  wird  einem  Blutsverwandten  zom  Aofinehen 
übergeben.    Ebenso  dürfen  nach  v.  Siebold  bei  den  Ainos  die  Zwillingagaicfaiwirter 


172,  Die  WeitliBchMzuD^  der  Zwillliig^BgeborieQ. 


637 


aicht  in  dem  gleichen  Hause  erzogen  werden,  es  würde  dieses  nach  ihrer  Meinung 
unfehlbar  den  Tod  de»  einen  Kindes  zur  Folge  hiiben. 

Wenn  bei  den  Golden  in  Sibirien  Zwillinge  geboren  werden,  so  fertigt 
der  Schamane  ans  Hok  ein  besonderes  Amulet,  Es  besteht  aus  einer  rohei 
Menschenfignr  und  einer  rohen  Thierfignr,  welche  neben  einander  gelegt  und  an 
ihrem  unteren  Ende  mit  einem  Stück  Zeug  umwickelt  werden.  (Fig  277.)  Zu 
diesen  Figürchen  gehört  ausserdem  eine  kleine  doppelte  Opferachale,  welche  in 
der  Form  eines  flachen,  langen  Doppel-Troges  ebenfalls  in  Holz  geschnitten  ist. 
|Herr  ümlauff  in  Hamburg  besitzt  solche  Stücke,  und  er  erlaubte  mir  freundlichst, 
^dieselben  zu  photographiren.     Die  Opferschale  ist  in  Fig.  278  dargestellt. 

Auf  den  Aaru-Inseln  sind  die  Zwillingsgebnrten  sehr  eraehnt,  weil  die 
Eltern  dann  viel  Ferlmutterschalen  als  Geschenk  erhalten.  Wenn  beiden  Kamerun- 
Negern  eine  Frau  Zwillinge  bekommt,  so  wird  sie  vom  Manne  hochgehalten, 
denn  die  Frauen  werden  dort  nach  der  Fruchtbarkeit  geschätzt.     (Rekhenou  ^ 


Tig,  277,    Amulat  d«r  Ooiaeii  (SlbirUn)  bei  Zwmingtg«barteii.    (K^ch  Phot<»gripkile.) 

Bei  den  Wanjamuesi  in  Central-Afrika  werden  die,  wie  schon  erwähnt, 
[nicht  selten  vorkommenden  Zwilling«  Mpassa  genannt.  Eckhard  berichtet  von 
f ihnen  Folgendes: 

«Bei  den  Wanjamneai  kommeD  unverh^tniasmO^sig  yie\&  Zwillingsgebarieo  vor,  mehr 
als  bei  anderen  St&miiaeQ,  wie  man  mir  allgemein  versicherte.  ZwilUnge  spielen  denn  auch 
bei  ihnen  eine  gproftae  Holle,  eie  werden  dort  Mpassa  genannt.  Bei  der  Geburt  dersdben 
müisen  die  Eltern  Abgaben  an  den  Dorfältesten  and  an  den  Hänpiling  de«  Lande»  stahlen, 
meiat  eine  Oacke  oder  Kleinvieh.  Alte  Weiber  ziehen  dann  im  Dorfe  und  in  den  umliegenden 
Ortschaften  umher,  Gaben  für  die  Zwillinge  sammelnd,  Perlen,  Tucbfetzen  oder  Getreide,  hier 
Innd  da  erhalten  sie  sogar  ein  Quhn.  Sie  ertcbeincn  dabei  mit  einigen  Ein  den  schachieldec  Icein, 
auf  welche  sie  ebenso  wie  auf  eine  eiserne  Hacke  in  langsamen  Takten  scUfagen  und  einen 


638 


XXV.  Mehrfache  Schwangerschaft. 


greulichen  Gesang,  dessen  Texte  immer  in  der  Verherrlichung  der  semellen  Theile  des  Hannes 
und  Weibes  gipfeln,  also  denkbar  obscönster  Natur  sind,  anstimmen.  Man  baut  sofort  iwei 
kleine  Fetischfaütten  vor  dem  Hause  der  Wöchnerin  fär  die  Zwillinge,  und  bei  jeder  pasaenden 
oder  unpassenden  Gelegenheit  opfert  man  darin  fOr  dieselben;  besonders  wenn  Jemand  krank 
ist,  oder  auf  Reisen  ziehen  will,  oder  in  den  Krieg.  Wenn  ein  Zwilling  Aber  ein  Wasser, 
ßach,  Fluss  oder  See  hinüber  will,  so  mnss  er  den  Mund  voll  Wasser  nehmen  und  dieeee  Aber 
die  Wasserfläche  zerstäuben,  sodann  sagen:  ich  bin  ein  Zwilling,  ebenso  wenn  er  s.  B.  auf 
einem  See  in  Sturm  gerSth.  Unterlässt  er  dies,  so  kann  ihm  sowohl  wie  den  Begleitern  leicht 
Unheil  widerfahren.  Stirbt  einer  oder  beide  Zwillinge,  so  werden  neben  die  kleine  Fetisch- 
hütte an  der  Geburtshütte  zwei  Aloe  gepflanzt.* 

Bei  den  Ovaherero  in  Süd-Afrika  werden  durch  die  Geburt  von  Zwillingen 
die  Eltern  heilig. 

Den  Teton-  oder  Lakota-Indianern  erscheinen  Zwillinge  als  ein  Mysterium 
von  übernatürlicher  Herkunft.  Sie  kommen  aus  dem  Zwillingslande,  und  da 
sie  nicht  menschliche  Wesen  sind,  so  muss  man  sie  mit  ganz  besonderer  Vorsicht 


FiK.  '^"iS.    Uulzerne  Opferschale  der  Golden  (Sibirien),  bei  ZwiUinet gebarten  benuUt. 

(Nach  Photographie.) 

und  Zartheit  behandeln,  sonst  werden  sie  beleidigt  und  kehren  in  das  Zwillings- 
land zurück.     (Üorsey.) 

Sehr  complicirte  Vorschriften  bei  Zwillingsgeburt^n  haben  nach  den  Be- 
richten von  Boas  die  Nootka-Indianer  in  Vancouver: 

,Dio  Eltern  müuen  eine  kleine  Hütte  im  Walde  fem  vom  Dorfe  errichten.  Hierin 
haben  sie  zwei  Jahre  zu  hausen.  Der  Vater  muss  seine  Reinigung  durch  Baden  in  einem 
Weiher  ein  ganzes  Jahr  hindurch  fortsetzen  und  muss  sein  Gesicht  roth  färben.  Beim  Baden 
muss  er  bestimmte  Ges&nge  singen,  welche  nur  für  diese  Gelegenheit  im  Gebranch  und.  Beide 
Eltern  müssen  sich  fem  von  den  Stammesgenossen  halten.    Sie  dürfen  keine  ftiBche  Nahmi^v 


172,  Die  Werth^chS^tzung  der  ZwillingegeburteD.         ^^^^p         g39 

.mentticb  keine  Lachee,  essen,  oder  aacli  nur  berühren,    Höheme  Bilder  und  Masken,  Vögel 

d  Fiacbe  darstellend,  werden  rund  um  die  Hütte  aufgeetellt,  und  andere*  Fische  darstellend^ 

,he  dem  Flusae,  an  der  Stelle,  wo  die  Hütte  etand.     Der  Grund  hiervon  iet»  alle  V5gel  und 

Fische  einzuladen,  dass  sie  kommen,  um  die  Zwillinge  lu  «eben   und   freundlich   zu   ihnen   zu 

sein.     Sie  eind  dauernd  in  Gefahr,  die  Geister  zu  TerscbeucheD»  und  die  Masken  und  Bilder, 

oder  vielmehr  die  durch  dieselben  dargestellten  Thiere,  eollen  diese  Gefahr  abwenden,* 

,Die  Zwillinge  werden  aU  in  mancherlei  Beziehungen  zu  den  Lachsen  stehend  angesehen, 
jedoch  werden  sie  nicht  als  identisch  mit  ihnen  betrachtet,  wie  bei  den  KwakiutL  Der 
Gesang,  welchen  der  Vater  anstimmt  bei  seinen  Reinigungen,  ist  eine  Einladung  an  die  Lachse, 
dass  sie  kommen  mögen,  und  ist  zu  ihrem  Preise  gesungen-  Wenn  die  Lachse  den  Gesang 
vernehmen,  und  die  Bilder  und  Masken  erblicken,  dann  kommen  sie  in  grossen  Mengen,  um 
die  Zwillinge  zu  sehen.  Daher  wird  die  Geburt  von  Zwillingen  als  ein  Voneeichen  fUr  ein 
gutes  Lachsjahr  angesehen.  Wenn  die  Lachse  ee  aber  imterlaseen,  in  grosser  Zahl  herbeiiu- 
kommen,  so  wird  das  aL*  ein  Zeichen  betrachtet,  daes  die  Kinder  getödtet  werden  sollen. 
Zwillingen  ist  es  verboten,  Lachse  zu  fangen,  auch  dürfen  sie  frische  Lachse  weder  essen  noch 
berühren.  Sie  dürfen  nicht  segeln,  weil  die  Eobben  sie  angreifen  würden.  Sie  besitzen  die 
Machte  gute«  und  schlechtesi  Wetter  zu  machen.  Sie  machen  Regen  dadurch,  dass  sie  ihre 
Gesichter  mit  schwarzer  Farbe  beschmieren  und  sie  dann  waschen,  oder  dass  sie  nur  ihre 
Köpfe  schütteln. - 

Bei  den  Lku'ügen  oder  Sonkish- Indianern  besitzen  „Zwillinge  unmittelbar  nach 
ihrer  Geburt  üborniitQrliehe  Kräfte.  Sie  werden  zugleich  in  den  Wald  gebracht  und  in  einem 
Weiher  gewaachon^  um  ordentliche  Männer  zu  werden.  Sind  die  Zwillinge  Mädchen,  so  ist 
das  ein  Zeichen,  dass  ein  reichlicher  Zuzug  von  Fischen  stattfinden  wird.  Wenn  es  Knaben 
lind,  so  werden  sie  gute  Krieger  werden.*     (Boas,) 

Bei  einem  benachbarten  Stamme  müssen  i^die  Eltern  von  Zwillingen  für  16  Tage  nach 
^^er  Geburt  der  Kinder  in  einem  Winkel  des  Hauses  leben,  ihre  Gesichter  roth  bemalen  und 
^H^lglich  ihr  Haar  mit  Adlerdaunen  bestreuen.  Zwillinge,  besonders  solche  gleichen  Ge- 
^Hpblechts,  sind  vor  ihrer  Geburt  Lachse  gewesen.  Bei  den  Nak'o'mgjilisila  tanzt  der 
^^■ater  während  vier  Tagen  nach  der  Geburt  der  Kinder  mit  einer  grossen  viereckigen  KasseL 
^Bl^enn  die  Kinder  diese  Rassel  schwingen,  können  sie  Krankheiten  heilen  und  Wind  und  Wetter 
^fviacbeii.«    (Boas,) 

.Wenn  bei  den  Shushwap  in  Britisch  Columbien  Zwillinge  geboren  werden, 
mnss  die  Mutter  eine  Schlafhütte  in  den  Bergen  oder  am  Rande  einer  Bucht  errichten 
und  hier  mit  ihren  Kindern  leben^  bis  sie  zu  laufen  beginnen.  Sie  kann  von  ihrer  Familie 
oder  von  jedem,  der  sie  zu  sehen  wünscht,  besucht  werden,  aber  sie  darf  nicht  in  daa  Dorf 
gehen,  weil  sonst  ihre  anderen  Kinder  sterben.' 

.Zwillinge  werden  »junge  Grizzly-Bären*  genannt.  Man  glaubt,  da««  ihnen  für  ihr 
ganzes  Leben  übernatürliche  Kräfte  innewohnen-  Sie  können  gutes  und  schlechtes  Wetter 
machen.  Um  Regen  zu  machen,  füllen  sie  einen  kloinen  Korb  voll  Wasser  und  spritzen  es  in 
die  Luft.  Um  gutes  Wetter  zu  machen,  benutzen  sie  einen  kleinen  Stock,  an  dessen  Ende 
eine  Schnur  gebunden  ist.  Hieran  wird  ein  Haches  Stück  Holz  gebunden  und  dieses  ge- 
schwangen.  Sturm  wird  dadurch  bereitet,  das«  die  Sprossen  von  Zweigen  herabgestreut 
werden.  Solange  sie  Kinder  sind,  kann  die  Mutter  an  ihrem  Spiel  sehen,  ob  ihr  Ehegatte, 
wenn  er  zur  Jagd  gegangen  iat,  Erfolg  gehabt  hat  oder  nicht.  Wenn  die  Zwillinge  umher- 
spielen  und  sie  spielen,  dass  sie  einander  beissen,  so  ist  er  von  Erfolg  gekrönt,  aber  wenn  sie 
sich  rahig  halten,  so  wird  er  mit  leeren  Händen  zurückkehren.  Wenn  ein  Kind  von  dem 
Zwillingspaare  stirbt,  so  muss  das  andere  sich  in  dem  Scb witzhause  reinigen,  ,um  das  Blut 
des  Gestorbenen  aus  seinem  Körper  zu  bringen*     (BoasJ 

Nach  einem  in  Oldenburg  herrschenden  Glauben  besitzt  eine  Frau^  welche 

K*t  Zwilligen  niedergekommen  ist,  die  Kraft,  ein  Segensband  zu  knüpfen. 
In  Bosnien  wird  eine  Frau»  die  mit  Zwillingen  niederkommt,  mebr  geschätzt 
d  als  ganz  besonders  gesegnet  angesehen.     (Mra^ovie,) 

Bei  den  Magyaren  darf  eine  Frau,  welche  ZwilltDge  geboren  hatte,  die 
sonst  nur  während  der  Wochen bettszeit  erlaubten  Pau totfei  der  Geburtsgöttin 
Baldogasssonij  für  ihr  ganzes  Leben  tragen.     (i\  Wlishvki^j 

Bei  den  Zigeunern  wird  mit  dem  präparirten  Körper  todtgeborener 
ZwilUnge  allerlei  Zauber  getrieben.  Die  Gegchlechtslust  wird  dadurch  gefordert 
und  die  Diebe  werden  unsichtbar  gemacht.     (i\  Wlislocki^,) 


r-   I -M*-fr-'ii  r^-fiP^' 


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XXVI.  Das  physische  Verhalten  wahrend  der 
Schwangerschaft. 

173.  Die  Erkenntniss  der  Schwangerschaft. 

Wir  stehen  jetzt  vor  einem  der  allerwichtigsten  Abschnitte  in  dem  Leben 
des  Weibes.  Die  von  ihrem  Eierstocke  gelieferte  Keimzelle  ist  befrachtet  worden 
und  in  ihrer  Gebärmutter  beginnt  das  Wachsthum  und  die  Ausbildung  eines  neuen 
Individuums.  Ein  neues  Leben  ist  geweckt:  aber  auch  die  Frau  tritt  durch  diesen 
für  sie  neuen  Zustand  gleichsam  in  ein  neues  Leben  ein.  Vieles  hat  sie  zu  thun, 
und  vieles  zu  meiden,  bis  es  ihr  nach  erfolgter  Entbindung  und  nach  glücklich 
überstandenem  Wochenbett  endlich  gestattet  ist,  zu  der  gewohnten  Lebensweise 
ihrer  Stammesgenossen  zurückzukehren. 

Wir  werden  erfahren,  wie  man  zu  den  verschiedenen  Zeiten  und  bei  ver- 
schiedenen Völkern  bestrebt  gewesen  ist,  untrügliche  Zeichen  für  den  Eintritt  der 
Schwangerschaft  ausfindig  zu  machen,  wie  derselbe  feierlich  begrüsst  wird  und 
durch  bestimmte  ceremonielle  Handlungen  seine  Weihe  erhält;  wir  werden  sehen, 
wie  die  Schwangere  sich  einer  bestimmten  Diät  zu  unterziehen,  besondere  manuelle 
Behandlungsmethoden  zu  erdulden,  sich  in  bestimmt  vorgeschriebener  Weise  zu 
verhalten  hat,  und  auch  die  bei  den  Völkern  herrschenden  Ansichten  über  die 
Schwangerschaftsdauer,  sowie  über  die  Kindeslage  und  schliesslich  die  Ursachen 
des  mehr  oder  weniger  häufig  vorkommenden  natürlichen  Abortus  werden  wir 
kennen  lernen.  Das  alles  bietet  ohne  Zweifel  wichtige  Erscheinungen  im  coltureUen 
Leben  der  verschiedenen  Nationen  dar. 

Fast  bei  allen  Völkern  der  Erde  musste  es  aufgefallen  sein,  dass  der  Ge- 
burt eines  Kindes  ein  monatelanges  Ausbleiben  der  regelmässigen  Menstruations- 
Ausscheidung  vorhergegangen  sein  muss.  Und  daher  ist  das  Ausbleiben  der 
Menstruation  wohl  überall  als  das  erste  und  sicherste  objective  Merkmal  der 
Schwangerschaft  betrachtet  worden.  (Upp.)  Das  Anschwellen  des  Leibes  and 
das  Stärkerwerden  der  BrQste  steht  dann  erst  in  zweiter  Linie.  Aber  schon 
Aristoteles  (VII,  2)  beobachtete,  dass  in  seltenen  Fällen  auch  die  Menses  wahrend 
der  Schwangerschaft  flössen,  und  er  war  der  Ansicht,  dass  hierbei  die  Fracht 
schlecht  gebildet  werde. 

Das  Zurückbleiben  des  Samens  beim  Coitus  wird  als  Zeichen  der  Empf&ngniSB 
bei  den  alten  Indern,  den  Griechen,  den  Römern  imd  den  Deutschen  a. s.w. 
betrachtet.  Stisruta  (in  den  Ayurveda)  führt  als  Zeichen,  dass  eine  Frau  con- 
cipirt  hat,  Folgendes  an: 

«Müdigkeit,  Erschöpfmig,  Durst,  Einfallen  der  Lenden,  Zorfickbleiben  des  Samens  imd 
Blutes,  und  zitternde  Bewegung  der  Vulva.  Dahin  gehOren  auch  die  Bchwane  Fftrbmig  dar 
Brustwarzen,  das  Zubergestehen  der  Haare  und  das  Strotzen  der  Adern,  das  Sinken  der  AngM* 


173.  Die  Erkenni&isa  der  Schwangerschaft. 


641 


lider,  du  ErbrecheDi  die  Furcht  vor  der  Begattung,  daa  Fliess^n  aus  Mund  und  Na««  und  tue 
Ohnniach  t .  *     (  V^tührnj 

Das  Ausbleiben  der  Menstruation  wurde  dadurch   erklärt,    dass  der  Mutter- 
[inund  nach  erfolgter  Empfangniss  verschlossen  sei. 

Nach  VuUers  betrachten  die  alten  Inder  auch  einen  Ausflass  aus  Mund 
und  Nase  als  ein  Scfawangerschaftssymptom.  Dahingegen  ist  in  He^sler's  latei- 
nischer Uebersetzung  des  Susrtäa  überhaupt  nur  von  einem  Abträufeln  oder 
Abfliessen  von  Schleim  die  Rede^  ohne  dass  die  Nase  oder  der  Mund  erwähnt  wird, 
so  dass  es  danach  ungewiss  bleibt,  aus  welchem  Organe  dasselbe  stattfindet,  und  dass 
man  auch  an  einen  Ausfluss  aus  der  Scheide  denken  konnte.  Es  ist  jedoch  sehr 
wahrscheinlich,  dass    Vullers  den  Sinn  der  Stelle  richtig  verstanden  hat. 

Wie  die  alten  Aeg ypter  die  Diagnose  auf  das  Vorhandensein  einer  Schwanger- 
schaft stellten,  das  erfahren  wir  aus  einem  Pap}Tus  des  königlichen  Museums  in 
Berlin,  der  wahrscheinlich  unter  der  19.  oder  20,  D^Tiastie  entstand  und  dem 
XIV.  Jahrhundert  vor  Christi  Geburt  zugeschrieben  werden  muss.  Nächst  dem 
Papyrus  Ebers  ist  er  somit  das  älteste  medicinische  Werk,  das  wir  besitzen.  In 
dem  Papyrus  findet  sich  die  Anleitung  zur  Heilung  verschiedener  Krankheiten, 
und  die  zahlreichen  Receptformeln,  welche  die  Schrift  euthiilt,  sowie  das  schon 
ausgebildete  System  in  der  Methode,  solche  Recepte  zu  verschreiben,  lassen  uns 
vermuthen,  dass  schon  lauge  zuvor  die  Heilkuust  mit  einem  gewissen  Grade  von 
rSorgfalt  cultivirt  worden  war.  Brugsch  übersetzte  eine  Stelle,  die  die  Schwanger- 
{BchaftS'Diagnose  behandelt,  folgendermaassen: 

,Man  gebe  der  Frau  das  Kraut  ßoudodou-k;^  mit  Milch  von  einem  Weibe,   welche  ein 
^möjinliche«  Kind  geboren  hat;  wenn  sich  dann  die  Frau  erbricht,  so  wird  «ie  gebären;  wenn 
sie  aber  Rorborygmen  bekommt,   au  wird  de  nieruaU  gebären.     Dann  wird  dasselbe  ßecept 
noch  einmal  empfohlen  mit  dem  einzigen  Unterschiede,  dass  man  davon  eine  Injection  in  die 
K&  (V)  der  Frau  macht,     Daitn   folgt  ein  andere«  Mittel   zu  gleichem  Zwecke  der  Schwanger- 
I  BchafU- Diagnose  nach  Chahas'  Uebersetzung:  Wenn  die  Frau  einen  salzigen,  trüben  oder  sedi- 
[luetiti^Hen   Urin   hat»  so  wird  sie  gebären;   findet  man  dies  nicht«  ao  gebiert  sie  nicht.    £ine 
ere  Frobe  ist  folgende:  Die  Frau  muss  sich  hinlegen,  und  man  reibt  dann  ihren  Arm  bis 
Vorderarm  kräftig  mit  frischeoi  Oele  ein;  wenn  man  sie  dann  am  anderen  Morgen  UDter- 
[  sucht    und  ihre  GefiUse  sehr  trocken  findet,    so   beweist  dtes,    däss   sie   nicht  gebären  wird; 
I  findet  man  dieselben  aber  feucht,  ebenso  wie  auch  die  Haut  ihrer  Glieder,  so  darf  man  ver- 
muthen,   dasji   sie  gebären   wird*"     Ein   ferner  beschriebene«   Beweismittel  wird  von  Brugsdi 
als  sehr  obscön  bezeichnet.   Auch  lehrt  der  Verfasser  der  Papyrus-Schrift,  die  Schwangerschaft 
I  aus  der  Beschaffenheit   der  Augen   zu  erkennen:    ^ Wenn   das   eine  ihrer    Augen   die    (braune 
Haut-)  Farbe  eines  Amou  (Asiaten)  hat,   das  andere  Auge   aber  die  Farbe  eines  Negers, 
so    hti   sie    nicht   schwanger;    wenn    aber   beide  Augen  die    gleiche  Farbe   haben,    so  ist  sie 
schwanger.*     Zum  Scbluss  kommt   ein   noch  sonderbareres  BeweismitteL     Weizen  und  Gerste 
möge  die  Frau  in   zwei  Säcken  den  Tag  über  in  ihrem  Urine  einweichen«   wenn  sie  keimen, 
so  ist  sie  schwanger,  keimen  sie  aber  nicht,  so  ist  sie  auch  nicht  schwanger.     Ist  es  nur  der 
Weizen,  welcher  aufkeimt,  ao  wird  sie  einen  Knaben  gebären ;  keimt  hingegen  die  Gerste,  no 
r  wird  es  ein  Mädchen. 

Aehnliches  vermögen  wir  auch  beiden  griechischen  Aerzten  nachzuweisen. 

So  heissi  es  in  dem  pseudohippokratisehen  Buche  «de  natura  mulierum': 

^Um  es  zu  orfahrent  ob  die  Frau  empfangen  wird,  schabe  (kocbe)  einen  KnobUuchskopf 

I  ftb  und  lege    ihn  (oder  Netopon   in  Wolle  gewickelt)   in   die  Gebärmutter  ein,    am  folgenden 

bringe  die  Frau  ihren  Finger  zur  Untermchung  ein«    und  gebe  darauf  Acht,    ob  sie  aus 

Munde  riecht,    denn   dann    steht  es  gut,   wenn  nicht,  so  lege  man  den  Knoblauchskopf 

Frieder  ein** 

«Wenn  du  ermitteln  willst,  ob  eine  Frau  schwanger  ist  oder  nicht,  so  bestreiche  ihr 
die  Augen  mit  rothem  Stein  (Bolus?),  dringt  nun  dos  Mittel  ein,  so  ist  die  Fran  schwanger, 
wenn  nicht,  so  ist  sie  nicht  schwanger." 

Im  Talmud  werden  für  eine  eingetretene  Schwangerschaft  die  folgenden 
Zeichen  angegeben:  Der  Unterleib  ist  hoch  aufgetrieben,  namentlich  wenn  nach 
dem  CoituB  bereits  drei  Monate  Yergangen  sind;  die  Brüste  schwellen  an.  Und 
wenn  aus  letzteren  nun  gar  Milch  ausfliegst,   oder  wenn    die   Füsse   der   Frau   in 

FVosa-Bittcli.  Dm  Weib,    Ö,  Aufl.     L  ^1 


äm^M 


642  XXVI.  Das  ^ihygische  Verhalten  während  der  Schwangerschaft. 

lockerer  Erde   gewisse  Spurzeichen  zurücklassen,   so   ist   an   der  Schwangersdiaft 
nicht  mehr  zu  zweifeln. 

Aus  der  Fussspur  diagnosticirt  in  einer  buddhistischen  ErzShlong,  die 
uns  Schief ner  zugänglich  gemacht  hat,  ein  Brahmanenarzt  die  GraTiditSt  nicht 
allein  eines  Weibes,  sondern  sogar  einer  Elephantin.  Die  Fassspur  musste  einem 
Elephantenweibchen  angehören,  da  sie  länglich  war,  während  die  Spur  der  Mann- 
chen  eine  runde  ist,  und  trächtig  musste  das  Thier  gewesen  sein,  «weil  sie  beide 
Füsse  drückend  gegangen  war^.  Mit  einem  Männchen  aber  musste  sie  trachtig 
sein,  »weil  sie  mit  dem  rechten  Fusse  mehr  gedrückt  hatte".  Die  Schwangerschaft 
der  Frau,  die  von  dem  Thiere  gestiegen  war,  erkannte  der  Arzt,  «weil  der  Absatz 
des  Fusses  rechts  tief  eingedrückt  hatte**. 

Die  Aerzte  bei  den  Chinesen  prüfen  den  Puls,  wenn  sie  ermitteln  wollen, 
ob  eine  Frau  schwanger  ist.  (du  Halde,)  Sie  halten  eine  Frau  für  schwanger, 
wenn  sie  bei  allgemeiner  Gesundheit  und  bei  dem  Ausbleiben  der  Menstruation 
einen  regelmässigen  und  stark  anschlagenden  Puls  hat,  namentlich  an  den  SteUen 
der  Pulsader,  welche  tsuen,  tsche  und  kuan  genannt  werden.     (Hureau,) 

Ddbry  flihrt  noch  an,  dass  die  Chinesen  eine  Schwangerschaft  diagnosticiren, 
wenn  die  Menstruation  ausblieb  und  die  Frau  sich  dabei  im  Allgemeinen  wohl  befindet, 
während  ihr  Puls  regelmässig,  aber  tief  oder  oberfifichlich  ist.  Um  so  sicherer  liegt  eine 
SchwangerRchaft  vor,  wenn  der  Tsche-Puls  hoch  und  heftiger  als  gewöhnlich  ist,  oder  wenn 
man  bei  einer  zarten  Frau  beim  festen  Aufsetzen  des  Fingers  auf  den  Puls  im  Ellenbog^- 
gelenk  Pulsschläge  ohne  Unterbrechung  fühlt.  Schwanger  ist  die  Frau  auch  dann,  wenn  der 
Tsuen-Puls  klein,  der  Kuan-  (Ellenbogen-)  Puls  gleitend,  der  Tsche-Puls  beschleunigt  ist.  Im 
ersten  Monat  ist  der  Puls  bald  langsam,  bald  beschleunigt;  im  zweiten  und  dritten  Monat 
gleitend  und  schwach  oder  massig  langsam,  oder  bald  langsam,  bald  beschleunigt;  im  vierten 
Monat  mllssig  langsam,  gleitend  oder  langsam  und  abwechselnd  beschleunigt;  im  fünften 
Monat  kräftig  anschlagend« 

Die  japanischen  Aerzte  gingen  bereits  rationeller  vor.  Sie  verliessen  sich 
nicht  nur  auf  den  Puls,  sondern  sie  befühlten  die  Brüste  und  sie  betrachteten 
den  Unterleib.  Bis  vor  einigen  Jahrzehnten  kannten  sie  aber  die  innerliche  Unter- 
suchung mit  dem  per  vaginam  eingeführten  Finger  nicht.  Jetzt  aber,  da  sie,  wie 
der  japanische  Arzt  Mimazunza  sagte,  von  „dieser  hübschen  Methode*"  gehört 
und  ihren  hohen  Werth  anerkannt  haben,  wird  sie  von  vielen  Aerzten  geübt. 

Einen  Monat  nach  der  Befruchtung  zeigen  sich  nach  der  Ansicht  des  Ja- 
paners Kangawa  die  ersten  Symptome  der  Schwangerschaft.  Wegen  Behin- 
derung der  Regel  treten  leichte  Kopfschmerzen,  Unbehaglichkeit  in  der  Magen- 
gegend und  Verdriesslichkeit  ein.  Bis  zum  45.  Tage  steigern  sich  die  Symptome, 
es  tritt  Erbrechen  hinzu,  weil  das  Blut  gegen  den  Magen  stösst,  dazu  gesellen  sich 
Blutandrang  zum  Kopf,  Frost,  Fieber,  Durst,  zuweilen  Leibschmerz  und  Durchfall: 
nach  dem  45.  bis  50.  Tage  zeigt  sich  Mattigkeit,  die  Schwangere  liegt  lieber, 
als  dass  sie  sich  aufsetzt;  sie  isst  gern  säuerliches  Obst.    (Miyake,)    Kangawa  sagt: 

„Da  nun  alle  oben  genannten  Symptome  denen  des  Fiebers  sehr  ähnlich  sind,  so  muss 
man  zur  genauen  Dia<;nose  die  Untersuchung  der  drei  Orte  vornehmen:  1.  die  Arterien 
der  vier  Fingerspitzen;  behufs  dieser  l'nterriuchung  legt  der  Arzt  seine  Fingerspitzen  gegen 
diejenigen  der  Frau ;  2.  die  Arteria  cruralis ;  3.  die  Artcria  radialis.  Ist  Schwangerschaft  vor- 
handen, so  schlagen  die  Arterien  No.  1  und  2  stSjrker,  als  No.  3.*  In  einem  sp&teren  Buche 
wird  angefahrt ,  dass  die  Untersuchung  der  drei  Arterien  nicht  immer  genügend  sei ,  da 
während  der  heissen  Jahreszeit  auch  ohne  die  Schwangerschaft  die  Fingerarterien  stärker 
schlagen  als  die  radialis.  Genügt  diese  Methode  zur  Feststellung  der  Diagnose  im  2.  und  3. 
Monat  nicht,  so  legt  der  Arzt  seine  rechte  Hand  auf  Kiubi  d.  i.  die  Herzgrube,  und  palpirt 
allm&hlich  bi^  Tonsuh  d.  i.  der  Punkt  ^o  Zoll  unter  dem  Nabel;  mit  der  linken  Hand  geht 
or  von  der  Schambeingegend  leicht  drückend  in  der  Mittellinie  aufwärts  bis  nach  den  Tensuh 
der  anderen  Seite.  Er  fühlt  dann  bei  Schwangerschaft  einen  kugelf(>rmigen  glatten  Gegen- 
stand von  der  Grösse  einer  Kastanie.  Die  Palpation  muss  mit  leisem  Druck  geschehen.  Ist 
der  Gcgcnntand,  den  man  hier  fühlt,  hart,  eckig,  lang,  so  ist  er  als  Kothmasse  zn  betrachten. 
Sind  dagegen  mehrere  Gegenstande  zu  fühlen,  so  ist  es  ein  Blutklompen. 


174.  Uebernatürliche  Schwangenchaftszeichen  und  der  Sprachgebrauch.  643 

Als  weiteres  Symptom  der  Schwangerschaft  wird  der  dunkle  Hof  um  die  Brustwarze 
angefahrt  (der  allerdings  bei  Japanerinnen  ganz  dunkelbraun,  fast  schwarz  wird),  doch 
wird  gleichzeitig  ein  Fall  erwähnt,  wo  ohne  vorhandene  Schwangerschaft  der  Hof  sich  braun 
zeigte  und  sogar  etwas   Flüssigkeit  aus  den  Brustwarzen  auszudrücken  war. 

Kommt  die  Frau  im  angeblich  4.  oder  5.  Monat  der  Schwangerschaft  zum  Arzt,  so  soll 
dieser  sie  fragen,  ob  sie  früher  ihre  Menses  regelmässig  und  reichlich  hatte;  im  Bejahungs- 
falle liegt  Schwangerschaft  vor,  im  Vemeinungsfalle  dagegen,  namentlich  wenn  der  Leib  ver* 
hältnissmässig  klein  ist,  hat  man  es  mit  einem  Blutklumpen  zu  thun.  Im  6.  oder  7.  Monat 
fühlt  man  in  der  Gegend  des  Nabels  und  etwas  darunter  einen  weichen  kugelförmigen  Gegen- 
stand, in  welchem  eine  Pulsation  mit  der  Hand  wahrnehmbar  ist.  Fohlt  dieses  letztere 
Symptom,  so  giebt  das  stärkere  Pulsiren  der  Cruralarterie  und  eine  Adhärenz  und  erschwerte 
Verschiobbarkeit  der  Haut  zwischen  Nabel  und  Schambein  Anhaltspunkte  für  die  Diagnose 
der  Schwangerschaft. 

Als  eine  besonders  weise  Fürsorge  der  Natur  führt  Kangaxca  an,  dass  das  weibliche 
Kreuz  breit  und  ausgebuchtet  ist,  das  männliche  dagegen  gerade  und  schmal.  Dieses  Kreuz 
ist  die  ideale  Figur,  welche  auf  dem  Rücken  durch  die  Verbindung  der  Hervorragungen  und 
Vertiefungen  gebildet  wird,  die  an  den  untersten  Dornfortsätzen  der  Wirbel  und  an  den 
Hüftbeinkämmen  sich  zeigen. 

Im  Orient  kennen  die  Hebammen  auch  heute  noch  nicht  die  innere  Unter- 
suchung.    Er  am  berichtet: 

,La  conception  d'une  jeune  femme  est  le  plus  souvent  constat^e  par  les  sages-femmes 
en  Orient.  Du  moment  que  la  famille  aper^oit  une  grosseur  dans  le  ventre  de  la  jeune 
marieo  eile  fait  appeler  imm^diatement  la  sage- femme,  qui  juge  la  nature  de  la  grosseur  et 
pose  son  diagnostic* 

Natürlicher  Weise  bleiben  hierbei  diagnostische  Irrthümer  nicht  aus,  wie 
auch  Eram  einen  solchen  berichtet. 

Bei  den  Negern  in  Old-Calabar  gilt  als  Schwangerschaftszeichen  das 
Ausbleiben  der  Menses,  ein  bleiches,  aschfarbenes  Aussehen  des  Gesichts  und  des 
oberen  Theiles  der  Brust  mit  zerstreuten  gelblichen  Flecken,  und  das  Dunkler- 
werden des  Warzenhofes.  Diese  letztere  Verfärbung  gilt  den  Negern  für  ein 
so  untrügliches  Zeichen,  dass  sich  die  Männer  gegen  den  Versuch  sträubten,  eine 
Kleidung  einzuführen,  welches  dieses  Zeichen  verdeckt.     (Hewan.) 

Die  Schwangerschaft  ist  bei  den  Fiji-Frauen  nach  Blyth  nicht  von  den 
bei  Europäerinnen  gewöhnlichen  Erscheinungen  begleitet.  Die  Menstruation 
dauert  bisweilen  während  der  ganzen  Gravidität  an.  Uebelbefinden  am  Morgen 
kommt  nicht  vor,  dagegen  Anfälle  von  Erbrechen  am  Mittag.  Während  der 
Schwangerschaft  werden  die  Frauen  häufig  von  Schwindel  befallen,  so  dass  sie 
zu  Boden  stürzen.  Dieser  Schwindel  und  das  plötzliche  Hinfallen  ist  so  allgemein, 
dass  es  als  ein  charakteristisches  Zeichen  für  das  Bestehen  einer  Schwangerschaft 
betrachtet  wird,  und  wenn  eine  Frau  plötzlich  hinfallt,  so  sagt  man,  sie  ist 
schwanger.     Andere  Beschwerden  haben  die  schwangeren  Fiji-Frauen  nicht. 

Kindsbewegungen  sollen  nach  Aussage  der  Fiji- Hebammen  zwei  Monate  nach 
dem  Ausbleiben  der  Menses  auftreten,  da  sie  aber  sehr  unvollkommene  Begriffe 
vom  Zeitmaasse  haben,  so  ist  hierauf  um  so  weniger  zu  geben,  als  diese  Angabe 
sehr  viel  Unwahrscheinlichkeit  enthält. 

Unter  dem  niederen  Volke  Russlands  gilt  als  Zeichen  der  Schwangerschaft 
das  plötzliche  Erscheinen  von  Sommersprossen  auf  der  Stirn  oder  auf  den  Wangen. 
(Krebel) 

174.  üebernatürHche  Schwangerschaftszeichen   und  der  Sprachgebranch. 

Waren  die  in  dem  vorigen  Abschnitte  angegebenen  Erkennungszeichen  der 
Schwangerschaft  sämmtlich  in  mehr  oder  weniger  berechtigter  Weise  aus  einer 
Veränderung  in  dem  physischen  Verhalten  der  betreffenden  Frauen  hergeleitet,  so 
begegnen  wir  doch  auch  ab  und  zu  dem  Versuche,  durch  übernatürliche  Mittel 
zu  erforschen,   ob   sich  die  Frau  in   geflegnetmi  ümatSnden  befindet.    Aehnliches 

41» 


rj44  XXVI.  Das  phydlsche  Verhalten  w&hrend  der  SchwangeiMihaft. 

haben  wir  schon  kennen  gelernt,  als  ich  von  den  Maassnahmen  sprach,  welche 
gebrauchlich  sind,  um  festzustellen,  welches  Geschlecht  der  junge  Erdenbürger 
haben  wird,  der  noch  unter  dem  Herzen  der  Mutter  ruht. 

Wenn  bei  den  Wander-Zigeunern  der  Donaa-LSnder  ein  Mädchen 
im  Frühjahr  den  ersten  Storch  erblickt  und  derselbe  klappert,  so  wird  sie  Matter 
werden,  ohne  geheirathet  zu  haben.  Wenn  ein  Weib  von  einem  Rinde  geeckt 
wird,  so  steht  demselben  eine  Schwangerschaft  bevor.  Das  Gleiche  findet  statt, 
wenn  ihr  eine  Cicade  anspringt  (r.  Wlislocii\)  Bei  den  Abyssiniern  zeigt 
eine  Xachteule  an,  welche  das  Haus  umflattert,  dass  bald  eine  Frau  in  demselben 
niederkommen  werde.  {Hartmann)  Bei  den  Wenden  in  der  Lausitz  herrscht 
ein  ganz  ähnlicher  Aberglaube.  Welches  Weib  in  dem  Hanse  durch  dieses  Orakel 
gemeint  ist,  das  wird  wohl  meistens  f&r  die  Insassen  des  Hauses 
ohne  grosse  Mühe  zu  enraihen  sein. 

Wenn  die  Zigeunerin  in  Siebenbürgen  das  früher  er- 
wähnte Experiment  anstellt,  aus  welchem  sie  ersehen  will,  ob 
sie  einen  Knaben  oder  ein  Madchen  tragt,  dann  kann  sie 
auch  erfahren,  ob  sie  in  den  Morgenstunden  gebaren  wird. 
Letzteres  findet  statt,  wenn  sie  am  Abend  Gänse  oder  Enten 
Fi«.  -/Ty.    Apparat  der   Siegen  sieht. 

Zigeuner  zur Bestim-  Die  W a n  d c r -  Zi g eu u e r i unou  der  Donauländer 

laung  .ler^^sr^wanger-  bedienen  sich  eines  besonderen  Apparates,  um  zu  er£EÜiren, 
'Au»  xcnir/is/ücki*.)  ob  sie  schwanger  sind.  Es  ist  ein  herzförmiges  Täfelchen  ans 
Lindenholz  (Fig.  279),  auf  dessen  einer  Seite  verschiedene 
Figuren  eingebrannt  sind.  Dieselben  stellen  neun  Sterne  dar  und  den  Vollmond, 
sowie  auch  den  zunehmenden  Mond,  welche  alle  von  einer  Schlange  umzingelt 
werden.  Im  oberen  Theile  befindet  sich  ein  Loch  (bei  A),  in  das  eine  Haselnuss 
eingezwängt  wird,  welche  künstlich  mit  Haaren  aus  einem  Eselsschwanz  über- 
spönnen  ist.  Wenn  dann  nach  einiger  Zeit  diese  Haselnuss  aus  dem  Loche  fallt, 
so  glaubt  die  junge  Frau,  dass  nun  eine  Schwangerschaft  eingetreten  sei. 
(v.   Wlislocki\) 

Ein  höchst  wunderliches  Schwangerschaftszeichen  haben  die  Serben: 
Bekommt  dort  irgend  Jemand  ein  Gerstenkorn,  so  bedeutet  das,  dass  seine  Tante 
schwanger  sei. 

Kranss^  berichtet  Folgendes: 

„Kann  bei  den  Süd-Slaven  das  Weib  sich  auf  keine  andere  Weise  die  Gewistheit 
verschaffen,  dass  sie  in  gesegneten  Umständen  sich  befinde,  so  soll  sie  an  drei  auf  einander 
folgenden  Abenden  hinter  der  Thttr  eine  Axt  nass  machen  und  sie  daselbst  Aber  Nacht 
liegen  lassen.  Ist  die  Axt  alle  drei  Mal  am  Morgen  verrostet,  so  ist  das  Weib  gewiss 
auch  schwanger." 

Zur  Erkennung  der  Schwangerschaft  thut  man  in  der  Bheinpfalz  eine 
geistige  Flüssigkeit,  Apfel-,  Bim-  oder  anderen  Wein,  in  eine  „Bell*  (einen  grossen, 
runden,  langstieligen  Metalllöffel)  und  lässt  sie  über  Nacht  stehen;  bricht  nach  dem 
Geiiuss  die  Frau,  dann  ist  es  richtig.  Wenn  im  Frankenwalde  ein  zeugnngs- 
fiihiges  Weib  krank  ist,  so  sagt  die  Nachbarschaft  vermuthungsweise:  «sie  hebt 
wohl  an."     {Flügel.) 

Der  Volksnmnd  hat  überhaupt  sehr  verschiedenartige  Ausdrücke  erfunden, 
um  zu  bezeichnen,  dass  eine  Frau  „ein  Kind  unter  dem  Herzen  trage*.  Durch 
ganz  Deutschland  sagt  man  ausserdem:  „sie  ist  schwanger,  sie  ist  in  anderen, 
in  interessanten  oder  in  gesegneten  Umständen.*'  In  Oesterreich  spricht  man 
davon,  dass  sie  .punkert*  sei.     So  heisst  es  in  einem  „Gsangl*: 

Das  Mädel  ist  punkert, 
Das  Madel  ist  dick; 
Wer  mag  der  Vater  »ein, 
Wer  hat  das  Glück? 


175.  Die  Schwangere  in  der  bildenden  Kunst, 


645 


Bei  den  Sachsen  in  Siebenbürgen  herrschen  aber  auch  noch  verächiedene 
Bezeichnungen^  welche  diesen  Zustand  bildlich  ausdrücken:  «Sie  ist  wie  die 
Leute*;  ^sie  ist  bleiben  gehen*;  »sie  ist  in  Erwartung';  ^auf  schwerem  Fuss*: 
,sie  soll  nach  Rom  reisen*;  »sie  ist  des  Herrn  Magd*;  ^sie  ist  so  geschickt*; 
,sie  ist  nicht  allein* .  In  einzelnen  Ortschaften  des  siebenburgischen 
Sachsenlandes  sind  humoriatische  derbe  Redensarten  gebräuchlich:  »Sie  hat  den 
Kalender  verloren*  (Eibesdorf);  «sie  hat  eine  neue  Schürze  erhalten*  (Qer- 
geschdorfi;  ^sie  hat  sich  gestossen,  ist  widergelaufen,  daher  ist  sie  geschwollen" 
(Deutsch- Kreuz);  ^sie  bekommt  einen  Rain  am  Bauch*  (daselbst);  ^^sie  hat  eine 
Bohne  verschluckt  und  darauf  Wasser  getrunken,  nun  quillt  dieselbe*  (daselbst); 
gjSie  hat  das  Neunmonatswasser*   (daselbst).     (HiUner) 

Wie  Professor  Gruhe  mir  mittheilte,  bezeichnen  die  Chinesen  eine 
Schwangere  als  vi  eräugig.  Aber  nicht  nur  sie  allein,  sondern  auch  ihr  Mann 
wird  vier  äugig  genannt.  Die  Schwangerschaft  wird  auch  die  Betttrennung 
genannt;  ich  komme  darauf  später  noch  zurück. 

Die  Zigeuner  sagen  von  einem  Weibe,  das  ohne  verheirathet  au  sein, 
schwanger  wird:  „Sie  hat  an  der  Blume  des  Mondes  gerochen.*  Es  spielt  dieses 
auf  einen  Volksglauben  an,  nach  welchen  auf  den  sogenannten  Mondbergen, 
d.  h»  auf  den  dem  Monde  geheiligten  Bergen,  in  einer  Nacht  eine  weitliin  leuch- 
tende Pflanze  wächst,  von  deren  Geruch  die  Weiber  ohne  geschlechtlichen  Umgang 
schwanger  werden  können,     (r.  WUslockiK) 


175*  Die  Schwangere  In  der  bildenden  Knust* 

Der  Anblick  einer  schwangeren  Frau ,  besonders  wenn  sie  sich  bereits  in 
vorgeschrittenen  Monaten  der  Gravidität  befindet,  gehört  nicht  gerade  zu  den 
ästhetischen  Genossen,  und  wir  mtissen  es  daher  begreiflich  ünden«  dass  wir  in 
Werken  der  bildenden  Kunst  nur  selten  einer  Schwangeren  begegnen.  Ganz 
haben  die  Künstler  es  aber  nicht  vermieden,   auch  diesen  Zustand  des  weiblichen 


P$g«  28(X    Daraunnng  einer  Ucgendeu  St.bwmugiii-eii  auf  «iu6r  RenulklefschftufeL 

Geschlechts  in  den  Bereich  ihrer  Thätigkeit  zu  ziehen,  imd  es  bietet  immerhin 
ein  cuiturgeschichtliches  Interesse  dar,  diesen  Kunstwerken  nachzuspüren.  Einige 
Beispiele  wollen  wir  hier  betrachten. 

Die  unstreitig  ältesten  Darstellungen  von  schwangeren  Frauen  gehören  noch 
tder  jüngeren  Steinzeit  an  und  haben  sich  in  verschiedenen  Theilen  Frankreichs 


646 


XXYl.  Das  phyaisehd  Verbalien  während  der  Scbwangerftcbaft. 


gefunden.     In  dem  einen  Falle  handelt  es  steh  um  eine  Oravirutig  oder  Einnt/nn^ 

auf  der  vSchaufel  eines  Rennthiers,    die  in  Gemeinschaft  mit  anderen  neolif 
Gegenstunden  in  Lauge rie- Basse  Mntr|.^rl,f  wnrrlpn  int    i'Fi*r  '^J^n '^     D;»- 
nur  im  Bruchstück  erhalten. 

Die  Schwangero   Hegt  auf  dem  Kücken  mi  der  Kido;    ihr  Leib   UaL   beieiU   eiue  erUeb^ 
lieh©  AuBdehnuiig  angenommen;    leider    fehlt    der  Kopf,     lieber    sie  fort  schroitet  ein  bimclj 
artige»  Thier,  von  dem  man  aber  nur  die  Hinterbeine  sieht,    WabrBcheinlieh  soll  es  ein  Henn-l 
thier  sein,  da  Hirsche  in  jener  Zeit  nicht  mit  dem  Menschen  zuBammenlebten. 

Ebenfalls  der  neolithischen  Zeit  gehört  der  voll  in  Elfenbein  geschnitzt 
kleine  Torao  einer  weiblichen  Figur  an,  welche  in  der  Grotte  du  Pape 
Brassempouj  im  Departement  des  Landes  mit  mehreren  anderen  Figuren  siel 
fand.  Hier  fehlt  der  Kopf  und  die  UnterschenkeL  Nach  den 
von  Pietie  gegebenen  Photographien  scheint  ea  mir  keinen 
Zweifel  zu  unterliegen,  dass  der  neolithidche  Künstler  ainf 
Schwangere  darstellen  wollte.  PieUe  glaubt  an  dieser  FigB 
ausserdem  noch  eine  Steatopygie  und  die  nnzweifeUiafle  An^ 
deutnng  einer  Hottentotten- Schürze  nachweisen  zu  können 

Auch  in  den 
Kunstwerken  eini- 
ger wilder  Volks* 
stamme  vermögen 
wir  die  Darstellung 
Schwangerer  zu 
entdecken.  So  hat 
z.  B*  Paul  Ehren- 
reich von  den  Ka- 
raya  •  Indianern 
am  RioÄragnaya 
in  Brasilien  eine 
Anzahl  von  kleinen 
menschlichen ,  au^ 
Tbon  und  Wachs 
gefertigten  Figllr- 
chen  mitgebracht, 
unter  denen  sich  un- 
verkennbar Seh  wai  i 
gere  befinden.  Si 
8ind  jetzt  im  köni- 
lieben  Museum  für 
Völkerkunde  in 
Berlin.  Beispiele 
davon  geben  die  Fi- 
guren 281  und  282, 

Eine    besondere    mystische  Bedeuttmg   scheinen   rl 
nicht  zu  besitzen,    Ehrnirtich  wurden  sie  von  den 
als  Likokü  bezeichnet;  das  bedeutet  wahrscheinlich  weiter  nichts  als  Ki 
Eine  tiefere  Bedeutung  messen    wir    aber   bei    ein  Paar  Darsteil 
nmthen,   die  wir  aus  West- Afrika  und  ans  Sibirien  kennen.     Die 
eine  Zeichnung  auf  einem  A mulet-Zettel  aus  Dahome;  os  ist  hier  ' 
in  spaten  Monaten  in  ganzer  Figur  mit  stark   überhangendem  B 
wnnlfTL     Das  andere  Stück  ist  eine  Hulzfigur  der  Golden,  v 
iuhrung  deutlich  eine  Schwangere    erkennen    lä^st.     Von    beia 
diu  Abbildungen  spateren  Abschnitten  eingi^fügt  werden.     Da» 
Bedeutung  dahintersteckt,   kann  gar  keinem  Zweifel  unterliegen 


Fl«,  281*     TbonÖRürcheü 

vt\r-  -■'■-- -■■        r.fy. 

If 

■|:        .  nu 

iVi\kavMm  ititVulkorkuttd« 

in  llerUnj 

(Nm^Ii  Photogrftphi« ) 


Fig.  2»^    TbottftKutctieM 
vou  Aetk  K  b  I 
iMuseutEi 


1  HcLvrjuijs' i*ik      G^ifaitijfl 


648 


XXVI.  Das  physische  Verhalten  während  der  Schwangrerschafk. 


gesetzt  wird  von  eckiger,  runder  oder  ovaler  Form;  oft  ist  in  dieselbe  ein  Spiegel 
eingelassen,  meist  aber  sind  Nägel  hineingeschlagen,  und  da  sich  bei  unzweifelhaft 
männlichen  Figuren  wiederholentlich  das  Gleiche  findet,  so  kann  hiermit  natürlicher 
Weise  nicht  eine  Schwangerschaft  gemeint  sein  sollen. 

Auch  in  den  Bilderwerken  der  Japaner  kommen  mehrfach  Darstellungen 
Schwangerer  vor.  Es  handelt  sich  dabei  ftlr  gewohnlich  um  die  Anlegung  der 
Leibbinde,  eine  Ceremonie,  von  welcher  ich  später  noch  ganz  ausfuhrlich  zu  sprechen 
habe.  Von  den  erwähnten  Abbildungen  werden  dann  auch  einige  YorgeftQirt  werden. 
Eine  mehrfach  nachgebildete  Zeichnung  des  berühmten  japanischen  Malers 
Hokusai  zeigt  uns  eine  völlig  entkleidete  Schwangere.  Wir  lernen  sie  in  Fig.  283 
kennen.  Sie  bezeugt  uns  wiederum  die  hervorragende  Qabe  für  eine  genaue  Be- 
obachtung der  Natur  bei  den  Japanern. 

Es  ist  hier  eines  der  öffentlichen  Bäder  dargestellt,  von  denen  aof  Seite  401  die  Rede 
war.    Ein  Kind  hat  sich  auf  die  Stufen  niedergelegt :  die  Matter  trägt  einen  kleineren  Bmder, 


Fig.  284.    Schwangere  deutsche  Patrizierin  des  16.  Jahrhunderts  im  Gespräch  mit  der  Hebamme. 

(Nach  J'^coif  Rueff.) 


ihn  hängend  unter  beiden  Armen  haltend,  zu  dem  Wasser  hinunter.  Da  sie  beide  H&nda 
voll  hat,  80  hält  sie  den  Seiflappen  mit  dem  Munde  fest,  während  das  Kindchen  ein  kleines 
Holzgefäss  zum  Spielen  in  der  Hand  trägt.  Eine  Nonne  mit  gänzlich  kahl  g^eschorenem  Schädel 
kauert  auf  der  Erde  und  ist  bemüht,  auch  ihren  Bartwuchs  mit  dem  Scheermetser  su  entfernen. 
Die  für  uns  besonders  interessante  Person  ist  aber  die  ganz  oben  knieende 
Frau,  die  sich  wäscht.  Dass  sie  sich  in  gesegneten  Umständen  befindet,  das  be- 
weist ganz  unzweifelhaft  die  um  ihren  Mittelkörper  gelegte  Leibbinde,  das  charak- 
teristische Zeichen  der  Schwangeren  in  Japan.  Aber  auch  die  Configuration  ihres 
Körpers  lässt  uns  über  ihren  Zustand  nicht  im  Dunkeln,  obgleich  sie  uns  den 
Rücken  zudreht  und  von  ihrem  Leibe  fast  gar  nichts  zu  sehen  ist.  Es  ist  ja  be- 
kannt, dass  in  der  Schwangerschaft  nicht  allein  der  Bauch  an  Wölbung  und  Aus- 
dehnung zunimmt,  sondern  dass  auch  die  ganze  Kreuzbeingegend  und  das  Gesfiss 
sich  in  ganz  beträchtlichem  Maasse  verbreitern.  Daher  kommt  es,  dass  man  Tieleo 
jungen  Frauen  die  Schwangerschaft  von  hinten  anzusehen  vermaff.  Und  dM  hat 
nun  Hokusai  in  vortrefflicher  Weise  zur  Anschauung  gebracht.    & 


175.  Die  Scbwangere  in  der  bildenden  Kunst. 


049 


Se  er  iwit  wenigen  Strichen  diese  beträchtliche  Verbreiterung  der  Kreiubeinregion 
äes  Beckens  in  chÄrakteristischer  Weise  kenntlich  gemacht  hat. 

Einige  weitere  Abbildungen  Schwangerer,  wie  wir  sie  in  japanischen 
Werken  finden,  haben  den  ausgeprochenen  Zweck,  in  bestimmter  Weise  belehrend 
zu  wirken.  Wir  sehen  später  einige  Beispiele  hierfür,  deshalb  gehe  ich  jetzt  nicht 
weiter  darauf  ein. 

Eine  Belehrung  wird  ebenfalls  auch  von  einer  Miniature  des  15,  Jahr- 
hunderts bezweckt,  die  sich  in  einer  belgischen  Ga/f/i/^s-Handschrift  in  Dresden 
befindet*     Wir  werden  die  Copie  derselben  in  einem  späteren  Abschnitte  sehen. 


X  .#.. 


-*iym 


^^1 


Ä. 


ti 


Fig.  38^.    B^Uüli  a«f 


'tUfi^  bei  der  LiU^^tM.    j^iederlÄudisdiea  Oeroilde  des  W.  JihthwmlertAj 


«Eine  v&llig  entkleidete  Schwangere  steht  hier  vor  einem  sitf.enden  Docenien«  der  sweieii 
danebeoflteheßden  Studenten  über  dieselbe  eine  Vorlesung  hält.* 

Hier  schliessen  sich  auch  die  Abbildungen  anatomischer  und  gynäkologischer 
Lehrbücher  des  16.  bis  18.  Jahrhunderts  an,  von  denen  wir  manche  kennen  lernen 
werden.  Meistens  erscheint  auf  diesen  Bildern  der  Leib  der  Schwangeren  eröffnet, 
um  die  Lage  der  ausgedehnten  Gebärmutter  oder  des  Embryo  in  derselben  zu 
zeigen.    Auch  hiervon  wird  später  einiges  vorgeführt  werden. 

ICHnm    noch    zum  Zwecke  der  Demonstration  und  Belehrung,  sondern  mehr 


650 


XXn.  Das  phjri^ische  Verhalten  wiLhrend  der  Seh«raDg«»ckftfl. 


als  Genrebild  finden  wir  die  Darstellung   einer  ScbTrangeren   in  dem  Hcbi 
buch  des  Jacob  Jineff\     Die  Schwangere,  die  hier  völlig  bekleidet  jäI,  erhalt 
der  vor  ihr  stehenden  Hebamme  den  nöthigen  Trost  und  Unterweisung,   Fig;S 
zeigt  dieses  Bild, 

Aber  auch  die  cbristliche  Kunst   hat   sich  unseres  Gegenstandes  bemachti 
und  von  vielen  berühmten  Malern  der  verschiedensten  Malerschulen  sind  vins  eii| 
sprechende  Bilder  erhalten    w ordern     Immer  handelt  es  sieh  hier  uro  den  Bei»o€ 
der  Maria  bei  der  Elisabeth^  wie  er  von  dem  Evangelisten  Lucas  berichtet 
Manche  dieser  Künstler  haben   sich  mit  ihrer  schwierigen  Aufgabe  in  der  Weii 


Fig.  2^.      ikABcU  fiel'  vMrtrM    n*^|    i]n     I   -;.,*,,'-        ii..  ni.il. t*'   ►]«    U4>i.%w.'    f 

Ac«t!amU  (iKlla  UeUe  Arti  iu  Finrenz. 

ibgefunden,  dass  sie  es  mit  Geschick  verstanden,  den  körfierlichea  Zustand  die 

beiden  heiligen  Frauen    nach  Möglichkeit  den  Blicken   zu  entzieht^»'      ^'^>  ^**^i^' 

sie  in  gegenseitiger  Umarmung  dar,  so  dass  die  dem  Beschauer 

ihm    ihren  Rücken  pnisentirte,    und  sontit  nicljt 

auch    den    der   anderen  Fruu    anf   diese  WeiKe    m 

haben  geglaubt^   dass   die  von  ihnen  vorgeführte  Ejusod«*  für  die  iiajTpii  üc 

der  frommen  Gemeinde  nicht  die  nüihige  Deutlichkeit  grAvr.iin*» 

die  »tarke  Rundung  der  Leiber  in  völliger  Natürlichkeit 

Bei   der   berühmte»  „Visitaziono*    des  Mahotio    t/«  mm^^ 


"nri     Tua'ii 


175.  Die  Schwangere  in  der  bildenden  Kunst. 


651 


der  Uffizieu  iu  Florenz  mildero  noch  die  faltigen  Mäntel  einigermaiiasen  die 
ErsclieiDUDg.  In  dem  Gemälde  des  Sienesen  Giacomo  Pacchiaröflo  in  der  Aca- 
demia  delle  belle  Arfci  in  Florenz  (Fig.  286)  ist  aber  trotz  der  Kleider  und 
Mäntel  der  Zustand  keineswegs  mehr  verborgen.  Auch  in  einem  Bild  der  nieder- 
ländischen Schule  des  16.  Jahrhunderts  (Fig.  285),  das  sich  in  dem  Königlichen 
Museum  in  Berlin  befindet,  ist  die  Schwangerschaft  unverkennbar,  und  um  die 
Deutlichkeit  noch  weiter  zu  treiben,  lässt  der  Maler  die  heiligen  Frauen  sich 
gegenseitig  den  Leib  betasten. 


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Fig.  *i87     Besncto  der  MtMria  (Mti  der  £iis«ltth,    fHolaactmitt  von  Ai^rvcAt  Dä^igt-.) 

In  seinem  Leben  der  Maria  hat  auch  Albreeht  l>ürer  begreiflicher  Weise 
Eese  Erzählung  zur  Darstellung  gebracht,  und  er  hat  sich  in  Beziehung  auf  den 
kön^'^rlithen  Zustand  der  beiden  heiligen  Frauen  der  allergrössten  Deutlichkeit 
b>  (Fig.  287,)     Auch  hat  er  bei  der  einen  dei'selben,  unter  der  wir  uns 

w;i  .  iilich  die  Elisabeth  zu  denken  haben,  auch  die  starke  Rundung  der  Ge- 

ÄtuHs^MKriid    recht  sichtbar  gemacht,    die   als  ein  erhebliches  Charakteristikum  der 
Schwangerschaft  schon  weiter  oben  erwähnt  worden  ist.     Bei  der  anderen  Fran, 


654  XXVI.  Das  physische  Verhalten  während  der  Schwangerschaft. 

hebt,  so  dass  ihr  schwangerer  Leib  sichtbar  wird;  denn  das  ihn  noch  bedeckende 
zarte  Hemd  vermag  ihn  nicht  mehr  den  Blicken  zu  verhüllen.  Angst  und  Ver- 
zweiflung malt  sich  auf  dem  Gesichte  des  armen,  von  Jupiter  so  schnöde  über- 
rumpelten Mädchens. 

Derselbe  Gegenstand  in  plastischer  Ausführung  wird  den  meisten  Lesern 
wohl  aus  eigenem  Augenscheine  bekannt  sein.  Er  bildet  eine  der  schönen  Relief- 
platten aus  weissem  Marmor  in  dem  berühmten  Marmorbade  in  derKarls-Au 
von  Gas  sei.  Diese  in  fast  völliger  Rundung  der  Figuren  hergestellte  BUdhauer- 
arbeit  wurde  im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  von  Monnot  ausgeführt. 
(Fig.  289.) 

Den  gegebenen  Raum  Verhältnissen  entsprechend  ist  hier  die  CaUisto  stehend  dargestellt. 
Nur  ein  umgeschlagenes  Tuch  umhüllt  ihre  Hüften,  während  der  hochschwangere  Leib  nackt 
und  unverhOllt  den  Blicken  sich  darbietet.  Zwei  Nymphen  führen  sie  der  Diana  zq;  eine 
dritte  kniet  auf  der  Erde  und  zeigt,  mit  dem  Kopf  zur  Diana  gewendet,  m^t  der  Hand  auf 
CaUisto'8  hervorgewölbten  Bauch,  der  ihren  Fehltritt  unleugbar  beweist.  Diana,  unter  einem 
Baume  sitzend,  weist  mit  einem  strengen  Ausdruck  ihres  Antlitzes  die  unglückliche  Verführte 
aus  dem  Bereiche  ihrer  jungfräulichen  Nähe. 

Von  den  Gruppen  des  Marmorbades  ist  diese  eine  der  allerschönsten,  vor- 
trefflich gelungen  im  Bezug  auf  den  Ausdruck  der  Gesichter  und  auf  die  Dar- 
stellung der  Formen  der  weiblichen  Körper. 

Für  uns  besitzt  die  in  den  vorigen  Seiten  besprochene  Gruppe  von  Kunst- 
werken ihre  wichtige  culturgeschichtliche  Bedeutung,  und  wenn  vielleicht  die 
eigenartige  Wahl  des  Gegenstandes  manchem  unserer  Leser  absonderlich  erscheinen 
mag,  so  möchte  ich  nur  daran  erinnern,  dass  ja  auch  das  Wochenbett  vielfach 
von  Künstlern  zum  Vorwurf  gewählt  worden  ist;  wir  lernen  später  mehrere  Bei- 
spiele davon  kennen.  Und  selbst  der  geschlechtliche  Verkehr  hat  ja  seine  künst- 
lerischen Interpreten  gefunden,  und  einige  von  diesen  Kunstwerken  gehören  be- 
kanntlich mit  dem  Schönsten  an,  das  die  bildende  Kunst  geliefert  hat..  Es  sei 
hier  nur  an  Correggio's  Leda  mit  dem  Schwan  und  Jupiter  mit  der  Jo  erinnert. 
Aber  auch  des  Giidio  Romano  Freskogemälde  im  Palazzo  del  Te  in  Mantna 
verdient  hier  angeführt  zu  werden;  anderer  Beispiele  nicht  zu  gedenken. 


176.  Aeltere  Anschanungen  über  die  Entwickelnng  der  Frucht. 

Ueber  die  Entwickelnng  der  Frucht  im  Mutterleibe  hatten  sich  bei  den  alten 
Aerzten  der  Inder  schon  vor  Susrtita  erhebliche  Meinungsverschiedenheiten  ge- 
zeigt; doch  waren  sie  alle  in  dem  einen  Punkte  einig,  dass  Saunaka  den  Kopf, 
Kritaviryya  das  Herz,  Farasaryya  den  Nabel,  Malkandaya  Hände  und  Füsse, 
Suhhusi  und  Gautama  den  Rumpf  für  das  erste  Gebilde  hielten.  Dhavantara 
endlich  entschied  sich  dafür,  dass  alle  Theile  gleichzeitig  entstehen  und  nur  der 
Zartheit  des  Embryo  wegen  noch  nicht  erkannt  werden  könnten;  man  finde  ja 
auch  in  der  Frucht  der  Bambusa  arundinacea  und  der  Magnifica  indica  alle  einzel- 
nen Theile  der  künftigen  Pflanze  schon  vorgebildet. 

Susruta  beschreibt  das  Wachsen  des  Fötus  in  den  verschiedenen  Schwanger- 
schaftsmonaten auf  folgende  Weise: 

„Im  ersten  Monat  entsteht  der  Embryo;  im  zweiten  bildet  sich  durch  Kälte,  Wärme 
und  Wind  eine  härtliche  Masse  von  zeitig  werdenden  Grundelementen  des  Körpers ;  im  dritten 
werden  die  fünf  KlQmpchen  der  Extremitäten  und  des  Kopfes  ausgebildet,  aber  die  grossen 
und  kleinen  Glieder  Hind  noch  sehr  kleine  Theilchen ;  im  vierten  und  den  folgenden  Monaten 
werden  die  Abtheilungen  aller  grossen  und  kleinen  Glieder  schon  fQhlbar.  Im  achten  ist  die 
Lebenskraft  noch  schwach;  im  neunten,  zehnten  oder  zwölften  Monat  endlich  erfolgt  die 
Geburt.*  (Vullers,)  Auch  im  Einzelnen  construirte  sich  Siisruta  (HesslcrJ  nach  GutdOnken 
eine  eigenthümliche  Kntwickelungsgeschichte  des  Embryo.  Nach  ihm  entsteht  Leber  imd 
Milz  des  £mbr}'0  aus  dem  Blute,  die  Lungen  aus  Blut  und  Schaum,  der  Unterleib  am  Blot 
und  Sekreten;  dann  bilden  sich  im  Uterus  die  Eingeweide,   der  After  und  der  Bauch  durch 


176.  Aeltere  Anschaaungen  über  die  Entwickelung  der  Fracht.  355 

Auftreibung  der  Luft,  und  es  entsteht  aus  den  fllementen  des  Blutes  und  Fleisches  die  Zunge, 
aus  der  Vereinigung  des  Blutes  und  des  Zellgewebes  das  Zwerchfell,  aus  der  Vereinigung  von 
Fleisch,  Blut,  Schleim  und  Zellgewebe  die  Testikel,  aus  der  Vereinigung  von  Blut  und 
Schleim  das  Herz  und  in  dessen  Nachbarschaft  die  Nerven  als  Träger  der  Lebenskraft.* 

Susriäa  wusste  auch  bereits,  dass  die  Ernährung  des  Fötus  vermittelst  der 
Nabelgefässe  stattfindet. 

„Ohne  Zweifel,"  heisst  es  bei  ihm,  „ist  in  dem  saftfQhrenden  Kanäle  (Placenta)  der 
Mutter  das  Nabelgef&ss  des  Fötus  verschlossen.  Dieses  fährt  die  Quintessenz  des  Speisesaftes 
der  Mutter  dem  Fötus  zu.  Durch  diese  innige  Verbindung  der  Mutter  erhält  der  Fötus  sein 
Wachsthum,  und  die  den  ganzen  Körper  und  die  Glieder  begleitenden  saftfahrenden  und  ge- 
krümmten Gefilsse  beleben  durch  ihre  innige  Verbindung  unter  einander  von  der  Zeit  der 
Empfängniss  an  die  Abtheilungen  der  noch  nicht  gebildeten  grossen  und  kleinen  Glieder.* 

Die  Chinesen  stellen  sich  die  Entwickelungsgeschichte  des  Fötus  nach  der 
Darstellung   des   Buches    »Pao-tsam-ta-seng-Pien*'    in    folgender   Weise   vor: 

„Im  ersten  Monat  gleicht  der  befruchtete  Keim  oder  das  £i  einem  Wassertropfen;  im 
zweiten  einer  Rosenknospe;  im  dritten  verlängert  sich  das  £i  und  zeigt  einen  Kopf;  im  vierten 
sieht  man  die  vorzQglichsten  Organe  erscheinen;  im  fünften  zeigen  sich  die  Gliedmaassen ;  im 
sechsten  kann  man  Augen  und  Mund  unterscheiden ;  im  siebenten  Monat  hat  es  eine  mensch- 
liche Form  und  kann  leben,  doch  verläset  es  in  dieser  Zeit  nicht  anders  die  Mutter,  als  wie 
eine  grüne  Frucht,  die,  wenn  sie  abreisst,  einen  Theil  des  Astes  mit  fortnimmt,  der  sie  trägt ; 
während  des  achten  Monats  vervollkommnet  sich  das  Kind  so  weit,  dass  es  im  neunten  Monat 
einer  reifen  Frucht  gleicht,  welche  nur  des  Herabfallens  gewärtig  ist.*  (Hureau.)  Dieser 
Vergleich  des  reifen  Kindes  mit  der  reifen  Frucht  scheint  durch  mehrere  chinesische  Werke 
hindurchzugehen.  Denn  in  der  .Abhandlung  über  die  Geburshülfe",  welche  v.  Martiua  aus 
dem  Chinesischen  übersetzte,  heisst  es:  «Der  Arzt  Dschuli  sagt:  Unreife  Geburten  sind 
genüglich  von  den  natürlichen  verschieden.  Denn  die  natürliche  Geburt  eines  Kindes  ist  mit 
einer  reifen  Kastanie  zu  vergleichen,  die  in  der  Periode  ihrer  Zeitigung  von  selbst  sanft  ab- 
gilt. Eine  unzeitige  Geburt  aber  ähnelt  einer  unreifen  Frucht,  die  vom  Sturme  gebrochen 
beim  Herabfallen  die  Zweige  mit  abreisst.  ** 

Aristoteles^  führt  an,  dass  der  um  540  v.  Christo  lebende  Alkmaeon  be- 
hauptet habe,  der  Kopf  des  Embryo  bilde  sich  zuerst,  weil  er  der  Sitz  der  Seele 
sei,  und  dass  der  Fötus  zum  Theile  seine  Ernährung  durch  die  Haut  erhalte. 

IlippoTcrates  empfahl,  dass  man  bebrlitete  Hühnereier  untersuchen  und 
zwischen  diesen  und  der  menschlichen  Frucht  Vergleiche  anstellen  solle. 

Auch  von  den  indischen  und  talmudischen  Aerzten  ist  es  wahrscheinlich, 
dass  sie  entwickelungsgeschichtliche  Untersuchungen  an  Vogeleiem  angestellt  haben. 
Aber  die  Talmudisten  benutzten  auch  noch  ein  anderes  wichtiges  Material  für 
ihre  embryologischen  Studien. 

Kazenelson  sagt: 

„Die  Entwickelungsgeschichte  des  menschlichen  Embryo  beschäftigte  die  talmudischen 
Forscher  nicht  so  sehr  aus  wissenschaftlichen  Motiven,  wie  gerade  deshalb,  weil  die  Kenntnisa 
der  Embryologie  für  die  Lösung  mancher  rituellen  Fragen  unentbehrlich  war.  Da  aber  ein 
unbegründetes  Pietätsgefühl,  welches  sie  für  ihre  Todten  hegten,  Untersuchungen  an  mensch- 
lichen Körpern  verbot,  so  wandten  sich  die  Talmudisten  mit  besonderer  Vorliebe  den 
Untersuchungen  von  Fehlgeburten  zu,  bei  denen  das  erwähnte  Verbot  wegzufallen  schien. 
Wie  die  Weisen  des  Talmud  sich  zu  diesen  Arbeiten  verhielten,  ersehen  wir  aus  jener 
Legende,  die  König  David  folgende  Worte  in  den  Mund  legt: 

,Bin  ich  nicht  rechtschaffen?  Während  alle  Herrscher  des  Ostens  und  des  Westens  in 
ihrem  ganzen  Glänze,  umgeben  von  ihren  Höflingen,  auf  ihren  Thronen  sitzen,  sitze  ich  mit 
von  Blute  besudelten  Händen  und  studire  die  Frühgeburten  und  ihre  Häute.* 

Wiederholen tlich  begegnen  wir  in  den  Aufzeichnungen  der  Rabbiner  allerlei 
Betrachtungen  und  Erörterungen  über  die  Entwickelung  und  das  Verhalten  des  Em- 
bryo  im  Mutterleibe.   In  dem  Midrasch  Wajikra  Rabba  sagt  der  Rabbi  Ekasar: 

,Wenn  der  Mensch  im  Heissen  auch  nur  eine  Stunde  verweilt,  wird  er  nicht  um's 
Leben  kommen?  Und  das  Innere  des  Weibes  ist  siedend,  und  das  Kind  liegt  darin  und  Gott 
behütet  es,  dass  es  nicht  in  eine  Haut,  oder  in  eine  leblose  Masse,  oder  in  eine  Sandale 
übergehe.* 


6oD  XXVI.  Das  physische  Verhalten  während  der  Schwangenchaft. 

Rabbi  Tachlipha  von  Cäsarea  sagte  darauf: 

,Wenn  ein  Mensch  ein  Stück  nach  dem  andern  ist,  wird  nicht  das  sweite  das  ente 
verdrängen?  Das  Weib  aber,  wieviel  Speise  isst  sie  und  wie  viele  Getränke  trinkt  sie»  ohne 
dass  das  Kind  verdrängt  wird.*     (Wünscht.) 

In  demselben  Midrasch  wird  dann  ein  Aussprach  der  Schale  Schamais 
berichtet : 

«Nicht,  wie  die  Bildung  des  Kindes  in  dieser  Welt  ist  auch  die  Bildung  in  jener  Welt 
In  dieser  Welt  beginnt  die  Bildung  mit  Haut  und  Fleisch  und  endet  mit  Sehnen  und  Knochen. 
aber  einst  beginnt  sie  mit  Sehnen  und  Knochen  und  endet  mit  der  Haut* 

Rabbi  Abuhu  sagte  hierzu: 

«Eine  grosse  Wohlthat  thut  Gott  dem  Weibe  in  dieser  Welt,  dass  er  die  Bildung  des 
Kindes  nicht  gleich  mit  Sehnen  und  Knochen  beginnen  lässt,  denn  wenn  das  der  Fall  wftrp, 
so  würde  es  ihren  Leib  spalten  und  ans  Licht  treten.* 

Die  sogenannten  Eihäute,  das  Chorion,  welches  den  Fötus  von  allen  Seiten  um- 
giebt,  die  Allantois,  eine  doppelte  Membran,  und  das  Amnion,  eine  zarte  Membran, 
werden  von  Soranus  beschrieben;  ihm  folgt  ziemlich  treu  Moschian;  sie  beide 
heben  namentlich  die  Bedeutung  des  Chorion  hervor.  Wir  erfahren  auch  darch 
Soranus  die  Ansichten  einiger  früheren  Autoren  über  den  Ursprung  der  Nabel- 
geßsse;  nach  Empedokles  geboren  dieselben  der  Leber  an,  nach  Phaedrtis  dem 
Herzen;  nach  Uerophilus  gelangen  die  Venen  zur  Vena  cava,  die  Arterien  zur 
Arteria  trachea;  Eudetnus  endlich  meinte,  die  im  Nabel  des  Embryo  verbundenen 
Gefasse  gehen  von  da  in  zwei  Bögen  unter  dem  Zwerchfell  aus  einander. 

Ueber  das  Amnion  waren  die  Autoren  jener  Zeit  noch  verschiedener  An- 
sicht; dessen  Vorhandensein  beim  Menschen  wurde  von  Einigen  sogar  geleugnet. 
Die  Cotyledonen  werden  von  Soranus  ausführlich  besprochen  (Pinoff);  er  vergleicht 
diejenigen  der  Thierplacenta  mit  den  kleineren  Excrescenzen  der  Placenta  beim 
Menschen;  durch  sie  wird  der  Fötus  ernährt.  Die  in  ihnen  gebildeten  Gefasse 
verbinden  sich  zu  zwei  Venen  und  zwei  Arterien,  zu  denen  sich  der  ürachus  ge- 
sellt; diese  f&nf  Gefasse  bilden  den  Nabelstrang;  die  zwei  Venen  vereinigen  sich 
und  gehen  zur  Vena  cava  über,  um  dem  Kinde  das  Blut  der  Mutter  zur  Emäh- 
nmg  zuzuführen,  und  auch  die  beiden  Arterien  werden  zu  einer  einzigen,  d.  h.  zur 
grossen  Arterie  (Aorta)  verschmolzen. 

Galenus  kennt  auch  das  Chorion  und  lasst  es  aus  dem  ergossenen  Blute 
sich  bilden;  die  Allantois  zählt  er  ebenfalls  den  Eihäuten  zu.  Er  sagt,  dass  An- 
fangs der  Fötus  wegen  seiner  Kleinheit  nicht  zu  erkennen  sei,  und  dass  sich 
zuerst  das  Gehirn,  das  Herz  und  die  Leber  bilden;  diese  Organe  senden  dann  die 
Medulla  spinalis,  die  Aorta  und  die  Vena  cava  aus,  worauf  sich  die  Rückenwirbel, 
der  Schädel  und  der  Brustkorb  bilden. 

Die  arabischen  Aerzte  folgen  fast  ganz  den  Angaben  der  griechisch- 
römischen  Autoren. 

Dass  den  Talmudisten  auch  die  Eihäute  nicht  unbekannt  waren,  daf&r 
finden  wir  wiederum  in  dem  Midrasch  Wajikra  Rabba  einen  Beleg.  Rabbi 
Akika  erläutert  einige  Bibelstellen  folgen dermaassen: 

,Al8  ich  ihm  Gewölk  gab  zum  Gewand",  darunter  ist  die  Haut  des  Embryos  su  ver- 
stehen, ,und  Wolkonnacht  zu  seiner  Windel"  d.  i.  die  dicke  Fleischmasse;  „als  ich  ihm  leine 
Grenzen  bestimmte',  das  sind  die  ersten  drei  Monate;  „und  Riegel  setzte  und  ThOren*  d.  s. 
die  mittleren  drei  Monate;  «und  sprach:  bis  hierher  sollst  du  kommen  und  nicht  weiter*  d.  t. 
die  letzten  drei  Monate;  »hier  sei  ein  Ziel  gesetzt  bei  deiner  Wogen  Trotz.*     (Wün^ckf^.) 

Ueber  die  Entwickelung  der  Frucht  waren  die  talmudischen  Aerzte  ge- 
theilter  Meinung.  Einige  glaubten,  dass  das  Haupt  und  die  ihm  zunichst 
liegenden  Organe  sich  zuerst  bildeten,  Andere  hingegen  hielten  dafür,  dass  der 
Mittelpunkt  des  menschlichen  Körpers  und  namentlich  die  den  Nabel  umgebenden 
Theile  zuerst  gebildet  werden.     (Nidda.) 

Erst  etwa  zu  Ende  des  3.  Monats  seien  die  Nasenlöcher  deutlich  Torb 
"^atremitäten  zeigen  Finger-  und  Zehenbildung,  auch   könne   * 


176.  Aeltere  Anschaaungen  über  die  EntWickelung  der  Frucht.  657 

Geschlecht  unterscheiden;  um  dieses  besser  bewerkstelligen  zu  können,  empfiehlt 
der  Talmud  die  Sondirung  mit  einer  hölzernen  Sonde;  doch  liesse  sich  vor  dem 
41.  Tag  über  das  Geschlecht  nichts  entscheiden.  Erst  als  sicheres  Zeichen  einer 
fortgeschrittenen  Ausbildung  sei  die  Haarbildung  zu  betrachten. 

Aba-Saul  beschreibt  den  ,in  den  Häuten  noch  eingehüllten  Embryo* 
folgendermaassen : 

«Der  ganze  Embryo  ist  so  gross  wie  eine  Grille,  die  Augen  gleichen  etwa  zwei  Punkten 
Von  Fliegengrösse,  die  in  einiger  Entfernung  von  einander  sich  befinden;  die  Nasenlöcher 
ähneln  auch  solchen  zwei  Punkten,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  sie  in  geringerer  Ent- 
fernung von  einander  localisirt  sind;  der  Mund  hat  das  Aussehen  eines  ausgezogenen  Haares, 
Hände  und  FUsse  das  von  seidenen  Schnüren,  während  das  Geschlechtsorgan  von  der  Grösse 
einer  Linse  ist.  Beim  weiblichen  Embryo  aber  sieht  diese  Stelle  wie  ein  in  der  Mitte  mit 
einer  Längsfurche  versehenes  Gerstenkorn  aus.  So  heisst  es  denn  auch  im  Buche  Hiob:  Hast 
Du  mich  nicht  wie  Milch  gemolken  und  wie  Käse  lassen  gerinnen?  Du  hast  mir  Haut  und 
Fleisch  angezogen,  mit  Beinen  und  Adern  hast  du  mich  zusammengefüget,  Leben  und  Wohl- 
that  hast  Du  mir  gethan  und  Dein  Aufsehen  bewahret  meinen  Odem.*     (KazenelsonJ 

Ganz  ähnlich  heisst  es  auch  in  dem  Midrasch  Wajikra  Rabba: 

«Es  ist  gelehrt  worden,  wie  die  Gestalt  des  Kindes  (des  Embryos)  ist.  Im  Anfang  seiner 
p]ntstehung  (Schöpfung)  gleicht  es  einer  Kammerheuschrecke,  seine  zwei  Augen  sind  wie  zwei 
Tropfen  der  Fliege,  seine  beiden  Nasenlöcher  sind  wie  zwei  Tropfen  der  Fliege,  und  seine 
beiden  Arme  sind  wie  zwei  glänzende  Streifen,  sein  Mund  gleicht  dem  Gerstenkorn,  sein  Leib 
ist  wie  eine  Linse,  und  die  anderen  Glieder  sind  zusammengerollt  (gewickelt)  und  an  ihm  wie 
eine  ungeformte  Masse.  Darauf  sagt  David  (Ps.  139,  16):  .Meinen  Klos  haben  Deine  Augen 
gesehen."  Ist  es  aber  ein  weibliches  Wesen,  so  ist  es  der  Länge  nach  wie  ein  Gerstenkorn 
gespalten.     Hände  und  Füsse  sind  nicht  an  ihm  ausgestreckt."    (Wünsche^,) 

Die  Differenzirung  des  Geschlechts  liessen  die  Talmud isten,  wie  gesagt, 
erst  mit  41  Tagen  eintreten.  Gleichzeitig  sollten  dann  auch  die  Haut  und  die 
Haare  zur  Ausbildung  kommen. 

Hier  ist  noch  eine  interessante  Angabe  aus  dem  Midrasch  Kohelet  an- 
zuführen.    Es  heisst  daselbst: 

.Es  ist  gelehrt  worden:  In  der  Zeit,  wo  das  Kind  im  Mutterleibe  gebildet  wird,  wirken 
drei  (Factoron),  Gott,  der  Vater  und  die  Mutter  zusammen.  Der  Vater  giebt  das  Weisse,  wo- 
raus die  Farbe,  das  Gehirn,  die  Nägel,  das  Weisse  im  Auge,  die  Knochen  und  die  Sehnen 
werden ;  die  Mutter  giebt  das  Rothe,  woraus  das  Blut,  die  Haut,  das  Fleisch  und  das  Schwarze 
im  Auge  werden;  Gott  aber  giebt  zehn  Dinge;  den  Geist,  die  Seele,  die  Gesichtszüge,  das 
Gesicht,  das  Gehör,  die  Sprache,  das  Händeschwingen,  den  Gang,  die  Weisheit,  die  Vernunft, 
die  Einsicht,  das  Erkenntniss vermögen  und  die  Stärke.  Wenn  die  Scheidestunde  des  Menschen 
kommt,  nimmt  Gott  seinen  Theil  und  lässt  den  Theil  der  Eltern  liegen,  weshalb  diese  weinen. 
Da  spricht  Gott  zu  ihnen:  Warum  weinet  ihr?  ich  habe  nur  das  Meinige  genommen.  Herr 
der  Welt!  entgegnen  die  Eltern,  so  lange  Dein  Theil  mit  dem  unsrigen  vereinigt  war, 
war  unser  llieil  vor  Moder  und  Gewürm  bewahrt,  jetzt  aber,  wo  Du  Deinen  Theil  zurückge- 
nommen hast,  liegt  unser  Theil  hier,  preisgegeben  dem  Moder  und  dem  Gewürm.*  (Wünsche^,) 

Von  VindicianiiSj  der  um  370  n.  Chr.  lebte,  stammt  die  Lehre  her,  dass 
das  Geschlecht  des  Embryo  im  vierten  Monate  der  Schwangerschaft  zur  Aus- 
bildung käme,  dass  aber  die  Beseelung  desselben  schon  im  zweiten  Monate  statt- 
finde. Diese  Ansicht  hat  in  der  mittelalterlichen  Gesetzgebung  Geltung  gewonnen 
und  wirkte  strafverschärfend  bei  künstlichem  Abortus,  bei  der  Verletzung 
Schwangerer  und  bei  ähnlichen  Umständen  ein. 

Der  Aufschwung  der  neueren  Embryologie  ging  im  16.  Jahrhundert  von 
Italien  aus.  Nachdem  bereits  Fällopia  und  Arantius  der  Anatomie  des  Fötus 
ihre  Aufmerksamkeit  zugewendet  hatten,  wurde  vom  Grafen  Aldrovandi  sowie 
von  Volcher  Coiter  zuerst  wiederum  die  Entwickelung  des  Hühnchens  im  Ei  zum 
Gegenstande  wissenschaftlicher  Beobachtung  gemacht,  und  bald  trat  Fdbricius  ab 
Aquapendente  in  deren  Fusstapfen.  Schliesslich  hat  aber  Harvey^  welcher  im 
Jahre  1657  starb,  für  diese  Angelegenheit  durch  seine  mustergültige  naturwissen- 
schaftliche Methode  grundlegend  gewirkt. 

PloiB-BarUU,  Dm  Wetb.   6.  Anfl.    L  42 


658  XXVI.  Das  physische  Verhalten  während  der  Schwangerschaft. 

Wir  können  hier  weder  die  Geschichte  der  Embryologie,  noch  auch  die 
Entwickelung  der  Frucht  im  Mutterleibe  durch  alle  ihre  Phasen  weiter  verfolgen. 
Wer  über  die  letztere  sich  zu  belehren  wünscht,  den  verweise  ich  auf  die  vor- 
treffliche Darstellung,  welche  in  allgemeinverständlicher  Weise  Johanties  Ranke^ 
von  diesem  Gegenstande  gegeben  hat.  Dort  wird  er,  durch  Abbildungen  reichlich 
erläutert,  dasjenige  finden,  was  er  sucht. 


177.  Die  Schwangerschaftsdaner. 

Ueber  die  Zeitdauer,  welche  normaler  Weise  der  Embryo  in  dem  Mutterleibe 
sich  aufhalten  könne,  herrschen  bei  einzelnen  Völkern  sehr  absonderliche  AnsichteD. 
So  steht  in  dem  chinesischen  Buche  Dan-zi-nan-fan  geschrieben: 

,Die  tägliche  Erfahrung  beweist  es,  dass  eine  Frau  7 — 10  Monate  schwanger  gehe. 
Aber  es  giebt  auch  Frauen,  deren  Schwangerschaft  1  bis  2  Jahre  währet. '^ 

Ein  chinesischer  Arzt  in  Peking  theilte  vor  Kurzem  Herrn  Professor 
Grube  mit,  dass  sie  die  Dauer  der  normten  Schwangerschaft  auf  S  Monate  und 
10  Tage  berechnen.     Es  sind  damit  Mondmonate  gemeint. 

Als  sicherster  Anhaltspunkt  für  die  Schwangerschaftsberechnung  gilt  bei  den 
japanischen  Frauen  das  Ausbleiben  der  Menstruation;  früher  war  dieses  Zeichen 
bei  der  ofßciellen  Eintheilung  des  Jahres  in  Mondmonate  noch  bequemer,  indem 
sie  einfach  vom  ersten  Ausbleiben  der  Regel  10  derartige  Zeitabschnitte  als  zur 
Vollendung  der  Schwangerschaft  nöthig  ansahen.  Sonderbarer  Weise  setzte  es 
sie  in  Verlegenheit,  wenn  die  letzte  Menstruation  aus  den  Schlusstagen  des  einen 
(Kalender-)Monats  bis  in  die  ersten  des  nächsten  hinüber  reichte;  es  wurde  dann 
die  Berechnung  ungenau,  da  sie  den  angefangenen  Monat  noch  als  einen  vollen 
mitrechneten.  Jetzt  rechnen  die  Frauen  280  Tage,  sie  geben  aber  zu,  dass  sie 
sich  oft  verzählen.     (Wemich.) 

Der  japanische  Arzt  Kangawa  nimmt  in  seinem  Buche  Sanrong  an,  dass 
bei  Erstgebärenden  der  Termin  der  Geburt  300  Tage,  bei  Mehrgebärenden  275 
Tage  nach  der  Empfängniss  sei.     (Miyake,) 

Als  normale  Schwangerschaftsdauer  galt  den  talmudischen  Aerzten  ein 
Zeitraum  von  271  oder  272,  oder  auch  273  Tagen.  Doch  konnte  nach  dem 
Talmud  ein  Weib  auch  12  Monate  lang  schwanger  gehen.     (Israels,) 

Die  buddhistische  Legende  berichtet,  dass  Buddha  von  seiner  Mutter  nach 
Verlauf  von  10  Monaten  geboren  worden  sei. 

Der  Po towatomi- Häuptling  Meta  berichtete  Keating,  dass  bei  seinem 
Stamme  die  Schwangerschaft  8  und  9  Monate  zu  dauern  pflege. 

Wenn  bei  den  Omaha-Indianern  die  Frau  nicht  berechnen  kann,  wie 
lange  sie  schwanger  sein  wird,  so  bittet  sie  ihren  Gatten  oder  einen  alten  Mann, 
es  ihr  zu  sagen. 

Die  Dauer  der  Schwangerschaft  berechnen  die  eingeborenen  Hebammen  der 
Viti-Insulaner  nach  Blytlis  Angabe  auf  10  Mondmonate. 

Die  Hindu  rechnen  nach  Kirttkar  die  Zeit  der  Schwangerschaft  auf  261  Tage, 
gleich  neun  Monaten  nach  der  letzten  Menstruation. 

In  Bezug  auf  die  Dauer  der  Schwangerschaft  hat,  wie  Karl  Schroeder  sagt, 
die  Erfahrung  gezeigt,  dass  man  etwa  270 — 280  Tage  nach  dem  ersten  Tage  der 
letzten  Periode  den  Eintritt  der  Geburt  erwarten  kann.  Fürst  glaubt  einen  Unter- 
schied in  der  Schwangerschaftsdauer  zwischen  solchen  Frauen,  die  zum  ersten 
Male  schwanger  wurden,  und  solchen,  die  bereits  mehrmals  geboren  hatten,  fest- 
stellen zu  können,  und  zwar  ist  bei  den  letzteren  die  Zeit  eine  längere.  Er 
berechnet  die  Dauer  der  Gravidität  bei  Erstgebärenden  vom  Ende  der  letzten 
Menstruation  auf  278  Tage,  vom  Tage  der  Empfängniss  an  auf  268^2  Tage, 
während  bei  Mehrgebärenden  diese  beiden  Zeiträume  282  Tage  beziehungsweise 
271  Tage  betragen  haben. 


178.  Ungebührlich  lange  Dauer  der  Schwangerschaft.  659 

Bei  den  Süd-Slaven  herrscht  nach  Kraiiss^  ,im  Bauemvolke  der  wunder- 
bare Glaube,  dass  unter  gewissen  umständen  das  Weib  in  sechs  Wochen  ein  yoll- 
kommen  ausgereiftes  Kind  austragen  kann.  Vielleicht  ist  dieser  Glaube  dadurch 
hervorgerufen  worden,  dass  manche  junge  Frau  kurz  nach  ihrer  Vermählung  eines 
Kindes  genas.  Zur  Erklärung  des  Wunders  wurde  die  Zeit  der  Schwangerschaft 
so  tief  hinabgedrückt. " 


178.  Ungebührlich  lange  Dauer  der  Schwangerschaft. 

Die  Angaben  über  die  Schwangerschafksdauer,  wie  wir  sie  bisher  vernommen 
haben,  entsprechen  im  Grossen  und  Ganzen  dem,  was  uns  bei  den  Weibern  unseres 
Stammes  die  allgemeine  Erfahrung  lehrt.  Es  finden  sich  nun  aber  auch  einige 
bemerkenswerthe  Ausnahmen  von  dieser  Regel,  von  denen  die  einen  der  Leicht- 
gläubigkeit des  Volkes  ihren  Ursprung  verdanken,  während  die  anderen  dagegen 
auf  pathologische  Verhältnisse  zu  schieben  sind. 

Der  ersten  Gruppe  haben  wir  schon  Angaben  hinzuzurechnen,  wie  wir  sie 
in  den  pseudo-hippokratischen  Schriften  und  hei  Aristoteles  und  Plinius  an- 
treffen. Die  Alten  waren  sich  aber  noch  nicht  darüber  klar,  ob  unter  Umständen 
eine  Schwangerschaft  den  gewohnlichen  Zeitraum  von  9  Monaten  um  ein  Beträcht- 
liches überdauern  könne.  In  dem  pseudo-hippokratischen  Werke  De  Diaeta 
wird  dieses  für  möglich  gehalten,  während  der  Verfasser  des  pseudo-hippo- 
kratischen Werkes  De  natura  pueri  Zweifel  in  diese  Angaben  setzt.  JlW- 
stoteles  berichtet,  dass  nach  Einigen  eine  Schwangerschaft  sich  11  Monate  hinziehen 
könne;  aber  er  schenkt  diesem  keinen  Glauben.  Plinius  dagegen  erzählt  einen 
Fall,  in  welchem  die  Niederkunft  angeblich  erst  nach  13  Monaten  erfolgte. 

Aber  auch  in  unserer  Zeit  kommen  solche  Anschauungen  vor.  So  berichtet 
Quedenfeldt  aus  Marocco: 

»Es  giebt  viele  maurische  Weiber,  Geschiedene  oder  Wittwen,  welche  behaupten, 
dass  ihnen  seit  Jahren  ein  Kind  im  Leibe  schlafe,  was  allgemein  geglaubt  und  sogar  als  etwas 
sehr  Gewöhnliches  angenommen  wird.  Bei  der  lockeren  Moral  der  Wittwen  und  geschiedenen 
Frauen  ist  en  vielen  sehr  angenehm,  ein  schlafendes  Kind  vorräthig  zu  haben;  denn  gebären 
sie  zwei  oder  drei  Jahre  nach  der  Trennung  von  ihrem  Gatten  wieder  einmal,  nun  so  ist  es 
eben  jenes  wieder  aufgewachte  Kindlein.  ** 

Auch  das  Multeka  ül  übbQr  der  Türken,  das  Gesetzbuch,  welches  die 
Grundlage  der  religiösen,  politischen  und  sittlichen  Verfassung  in  dem  türkischen 
Reiche  bildet,  weicht  in  seinen  Anschauungen  erheblich  von  unseren  Erfahrungen 
ab.  Nach  ihm  wird  die  Dauer  der  Schwangerschaft  auf  6  bis  24  Monate  fest- 
gesetzt. Nach  Oppefiheim^  der  dieses  berichtet,  entscheiden  die  türkischen 
Rechtsgelehrten  folgendermaassen: 

Wenn  eine  Frau,  die  zur  zweiten  Ehe  schreitet,  schwanger  wird,  ohne  zuvor  ihre  Zurück- 
gezogenheit  erklärt  zu  haben,  so  wird  ihr  in  den  ersten  6  Monaten  geborenes  Kind  dem  ersten 
Manne  zugeschrieben  (und  dieser  Umstand  bewirkt  zugleich  die  Auflösung  der  Ehe).  Wenn 
aber  eine  Frau  erklärt,  sie  sei  nicht  schwanger,  und  wenn  sie  dann  dennoch  vor  dem  Ende 
des  11.  Monats  nach  dem  Tode  des  Mannes  niederkommt,  so  wird  das  Kind  nichtsdesto- 
weniger als  ehelich  und  dem  Verstorbenen  angehörig  betrachtet. 

Hier  möchte  ich  auch  noch  einmal  auf  den  vorher  citirten  Glauben  der 
Chinesen  an  die  1-  bis  2jährige  Schwangerschaft;  hinweisen. 

Nun  habe  ich  noch  von  der  zweiten  Gruppe  zu  sprechen,  d.  h.  von  der- 
jenigen, in  welcher  die  Schwangerschaft  aus  pathologischen  Ursachen  länger  als 
gewöhnlich  anhält.  Hier  ist  die  Ueberschreitung  des  Termins  dann  aber  stets 
eine  sehr  bedeutende,  und  diese  Fälle  unterscheiden  sich  von  den  vorigen  ganz 
wesentlich,  denn  hier  kommt  dann  die  Schwangerschaft  überhaupt  nicht  zum 
normalen  Abschluss,  das  Kind  wird  überhaupt  nicht  geboren.  Dass  die  Frauen 
aber  wirklich  schwanger  waren,  das  bewies  der  Obduktionsbefund. 

42» 


g^O  XXVI.  Daä  physische  Verhalten  während  der  Schwangerschaft. 

Der  BegrQnder  des  Berliner  anatomischen  Museums  Johann  Gottlieb 
Walter  berichtete  im  Jahre  1778  an  die  preussische  Akademie  der  Wissen* 
.^ehalten  in  Berlin  die  .Geschichte  einer  Frau,  die  in  ihrem  Unterleibe 
ein  verhärtetes  Kind  zwey  und  zwanzig  Jahre  getragen  hat**.  In  Fig.  291 
gebe  ich  eine  verkleinerte  ßeproduction  einer  seiner  Abbildungen,  welche  Walter 
seiner  Arbeit  beigefügt  hat.  Sie  zeigt  den  geöffneten  Leib  der  Frau  und  die  Lage 
des  22jährigen  Embryo. 

Die  Kinder,  welche  so  lange  Zeit  in  dem  Korper  der  Mutter  verbleiben, 
sind  begreiflicher  Weise  nicht  lebend,  wie  ein  normaler  Embryo  im  Mutterleibe, 
sondern  sie  sind  längst  abgestorben.  Aber  sie  unterli^en  nicht  der  Fäulniss, 
sondern  in  ihrem  todten  Körper  gehen  andere  chemische  Veränderungen  Tor.  Sie 
verfallen  der  sogenannten  fettigen  Metamorphose,  und  ausserdem  kommt  es  zur 
Ablagerung  von  Kalksalzen  sowohl  in  die  Gewebe  ihres  Körpers,  als  auch  in 
die  sie  unischliessenden  Eihüllen.  Daher  macht  dann  ein  solches  Kind  den  Ein- 
druck, als  wenn  es  versteinert  wäre,  und  aus  diesem  Grunde  hat  man  f&r  derartige 
Embryonen  von  Alters  her  den  Namen  Lithopaedion,  zu  Deutsch  , Steinkind', 


Fi^.  'J^-).    I.ithopaedion,  Steiukind,  ilas  2*2  Jahre  im  Leibe  iler  Matter  verblieben  war. 

(Nach  7.  t'\  ir,i/ur.) 

eingeführt.  Das  von  Walter  beobachtete  Steinkind  führt  die  Fig.  290  vor.  Der 
rechte,  durch  die  Verkalkung  unbewegliche  Fuss  liegt  gerade  so  vor  den  Geni- 
talit'n,  dass  man  das  Geschlecht  des  Kindes  nicht  zu  bestimmen  vermag.  Dass 
seine  Länge  derjenigen  eines  nüttelmässig  grossen  9  monatlichen  Embryos  ent- 
spricht, würde  man,  wie  Walter  angiebt,  sehen  können,  wenn  man  das  Kind 
gerade  strecken  könnte. 

^Allein  dioscs  ist  unmöglich,  ileiin  einmal  ist  dieses  Kind  vom  Kopf  bis  an  den  Hintern 
mit  einor  in  dem  l-ntorleib  au.sgedampften  Feuchtigkeit  überzogen,  und  sodann  zweitens  ist 
dieses  Kind  in  allen  seinen  Theilen  durch  eine  steinartige  Materie  verhärtet,  folglich  ist  ft 
ein  Lithopaedium  incrustatum.  Ich  habe,  wie  dieses  die  dritte  Figur  (Fig.  290)  zeiget, 
diese  überzogene  Itinde  (Incrustation)  vom  (lesicht,  dem  Halse  und  oberen  Theile  der  Brurt 
mit  dem  Stiel  oincs  anatomischen  Messers  abgeluHct,  damit  das  linke  Ohr,  das  Auge  und  die 
Huaro  des  Kopfes  deutlich  gesehen  wcrdon  können.  Die  übrigen  Muskeln  des  Gesichte  sind 
völlig  steinhart,  um  den  unbeweglichen  Mund  und  die  Nase  hatte  sich  die  in  dem  Unterleib 
ausgedunstete  Feuchtigkeit  ho  fost  angeleget,  dass  es  mit  diesen  Theilen  des  Gesichts  unzer- 
trennlich zusammonhing,  und  daher  aus  der  gewöhnlichen  Bildung  des  Gesichts  ein  monztrOt- 
scheinendes  Ansehen  gemacht  hatte.* 


FJß,  29L    Frau  imcU  ÄJlüiriecj  Sc.Jiwaiig(?twJb»fl,  mit  einem  SUinkiöilc  im  Leibe.    fN»ch  7,  G.  *f*^#r 

eiut  es  sich  darum  gehandelt  tu  haben,    dass   während   der   angestrengten  Ge- 
^"weheu  die  GebÄrmutter  gerissen   und   das  Kijid  in  die  Bauchhöhle  geglitten 


652  XXVI.  Das  physische  Verhalten  während  der  Schwangerschaft 

war,  aus  der  es  nun  nicht  mehr  heraus  konnte.*  Hierher  gehört  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  der  Fall  von  einer  Frau  in  Toulouse,  welche  26  Jahre 
schwanger  war,  sowie  auch  der  besonders  berühmte  von  der  Anna  MuUer  aus 
Leinzell  in  Württemberg.  Diese  wurde  mit  48  Jahren  schwanger  und  konnte 
trotz  7  Wochen  anhaltender  Wehen  nicht  gebären.  Eine  Badekur  besserte  ihre 
Beschwerden,  aber  ihr  Leib  blieb  dick.  Trotzdem  gebar  sie  noch  zwei  lebende 
Kinder,  und  als  sie  mit  94  Jahren  starb,  fand  man  in  ihr  ein  Lithopaedion,  das 
sie  46  Jahre  getragen  hatte. 

Eine  zweite  Ursache,  welche  den  Embryo  im  Leibe  seiner  Mutter  zurück- 
halten kann,  vermag  unter  ganz  besonderen  Umstanden  eine  Extranterinschwanger- 
schaft  abzugeben.  Von  dieser  letzteren  spreche  ich  später  noch  and  wir  werden 
daselbst  sehen,  dass  wahrscheinlich  schon  den  alten  Indern  eine  solche  Möglich- 
keit nicht  unbekannt  war.  Wenigstens  spricht  StisrtUa  an  einer  Stelle  des 
Ayurvedas  von  einer  Art  des  Fötus,  den  er  Magodara  nennt  Das  bedeutet 
Brustharnisch,  und  wahrscheinlich  ist  hier  ein  Steinkind  gemeint.  Walter 
glaubt  von  seinem  Fall,  dass  er  in  diese  Kategorie  gehöre;  aber  auf  seine  Be- 
weise hierfür  vermag  ich  hier  nicht  näher  einzugehen.  Uebrigens  gehören  beide 
Arten  der  Lithopaedien  zu  den  allergrössten  Seltenheiten. 


XXVII.  Normale  und  abnorme  Schwangerschaft. 


179.  Die  Lage  und  das  Stürzen  des  Kindes  im  Matterleibe. 

Durch  den  Mangel  genauer  geburtshülflicher  Untersuchungen  im  Alterthum 
und  Mittelalter  erklärt  es  sich,  dass  man  lange  Zeit  über  die  normale  Lage  des 
Kindes  innerhalb  der  Gebärmutter  im  Unklaren  blieb,  aber  höchst  merkwürdig 
ist  die  Uebereinstimmung  scheinbar  von  einander  ganz  unabhängiger  Völker  in  der 
Vorstellung,  dass  das  Kind  während  der  Schwangerschaft  ganz  plötzlich  seine 
Lage  im  Mutterleibe  ändere.  Erst  die  neuesten  klinischen  Beobachtungen  haben 
über  die  letztere  Thatsache  das  nöthige  Licht  verbreitet. 

Ueber  die  Lage  des  Embryo  im  Uterus  haben  auch  die  Talmudisten 
ihre  Betrachtungen  angestellt.  In  dem  Midrasch  Wajikra  Rabba  wird  ein 
Ausspruch  des  Rabbi  Äbba  bar  Kahana  berichtet: 

«Gewöhnlich,  wenn  der  Mensch  einen  Beutel  mit  Geld 
mit  der  OefFnung  herunterwärts  kehrt,  ftUt  nicht  da  das  Geld 
heraus  (wird  es  nicht  verstreut?).  Das  Kind  ist  im  Leibe  seiner 
Mutter  und  Gott  behQtet  es,  dass  es  nicht  herausfUllt  und 
stirbt;  verdient  er  deshalb  nicht  Lob?* 

Derselbe  Rabbi  fügte  dann  noch  hinzu: 

p Gewöhn! ich  geht  das  Thicr  gekrümmt  und  das  Junge 
beflndet  sich  in  seinem  Leibe,  wie  in  einer  Art  Sack;  das 
Weib  dagegen  geht  aufrecht,  und  das  Kind  befindet  sich  in 
seinem  Leibe  und  Gott  behütet  es,  dass  es  nicht  herausf&llt 
und  stirbt."     {Wünsche^.) 

In  demselben  Midrasch  wird  dann  noch  eine 
Aeusserung  des  Rabbi  Sinüai  berichtet,  welcher  von 
der  Lage  des  Embryo  folgende  genauere  Schilderung 
macht : 

„Wie  liegt  das  Kind  im  Leibe  seiner  Mutter?  Einge- 
wickelt wie  ein  Buch,  sein  Kopf  liegt  zwischen  seinen  Knieen, 
seine  beiden  Hände  liegen  an  seinen  beiden  Seiten,  seine  beiden 

Fersen  an  seinen  beiden  Hüften  (Dicken  der  Hüfte),  sein  Mund  ist  geschlossen,  sein  Nabel 
ist  offen  und  es  isst  von  dem,  was  seine  Mutter  isst,  und  trinkt  von  dem,  i^as  seine  Mutter 
trinkt,  und  giebt  keinen  Koth  von  sich,  denn  sonst  würde  es  seine  Mutter  umbringen.  Tritt 
es  dann  an  die  Luft  der  Welt,  so  wird  das  Geschlossene  geöffiiet  und  das  Offene  geschlossen.* 

Bei  Hippokrates  finden  wir  zuerst  den  Satz  aufgestellt,  dass 

»alle  Kinder  mit  dem  Kopfe  nach  oben  erzeugt  werden,  an  den  Tag  aber  treten  viele 
auf  dem  Kopfe  und  werden  viel  sicherer  frei,  als  welche  auf  die  Füsse  geboren  werden." 

So  finden  wir  auch  in  Rueffs  Hebammen -Buch  das  Kindlein  in  seinen  Ei- 
häuten sitzend  mit  dem  Kopfe  nach  oben  dargestellt.  Ich  gebe  in  Fig.  292  die 
Abbildung  der  Ausgabe  vom  Jahre  1581  wieder. 

Hippokrates  nahm  dann  weiter   an,   dass   sich   die  Gebart  durch  eine  Zer- 


Flg.  292.    Die  Lage  des  Embryo  in 
den  Eihäuten.    (Aus  Rneff.) 


XXVII.  Normale  und  abnorme  Schwangerschaft. 


r^:-- .r.tr  der  Eihäute  einleiten  niQsse.     Zuvor  aber   sei   es   unerlasslich,    dass   der 
Körper  de?  Kindes  sich  in  eine  andere  Lage  wälze.    Er  sagt: 

.In  -ien  letzten  Tagen  der  Schwangerschaft  tragen  die  Frauen  ihre  Bäuche  am  leich- 
Trrtrr..  -A-cri!  e.t  dem  Kinde  gelungen  ist,  sich  zu  wenden.*  Ein  Aengstigen  des  Kindes, 
s^'ivi-.*.  'rr.  -itvre  'iessen  selb-^tändige  Wendung. 

Lr.  die=^em  Irrthum  des  Uippokrafes^  der  sich  lange  Zeit  durch  die  ganze 
Literat  *r  als  Dogma  erhielt,  verfiel  auch  Aristoteles^  bei  dem  es  heisst: 

.Bei  allen  Tbicren  befindet  sich  gleichmässig  der  Kopf  im  £ie  oben,  wenn  sie  aber  ge- 
"ä'.iirer.  sind  und  schon  auszutreten  streben,  bewegen  sie  sich  abwärts.*  Und  in  dem  Buche 
.L«;  i^e&eratione  aninialium"  sagt  er :  ^  Der  Kopf  sucht  deshalb  bei  der  Geburt  den  Mutter- 
jL-^r/:.  'A-ei!  ein  gp'jgserer  Theil  über,  als  unter  dem  Nabel  liegt;  das  GrOssere  aber  mehr  Ge- 
wicht hat  und  daher  wie  das  Ge- 
hänge einer  Wage  dahin  neigt, 
wohin  es  gezogen  wird.* 

Aristoteles  beschreibt  die 
Lage  des  Embryo  beim  Men- 
schen so,  dass  er  die  Xase 
zwischen  den  Knieen,  die  Äugen 
auf  denselben,  die  Ohren  aber 
ausser  denselben  hat.  Anfangs 
liegt  der  Kopf  aufwärts,  bei 
weiterem  Wachsthum  und 
Drange  zur  Geburt  gelangt  der 
Kopf  durch  ein  Umstürzen  des 
Embryo  nach  unten,  indem 
er  durch  sein  Gewicht  auf  den 
Muttermund  sinkt. 

Diese  Umdrehung  der 
Frucht  nannte  man  später  das 
Sttirzen  des  Embryo  oder  la 
C  u  1  b  t* 1 1  e.  Nach  Susruta  erfolgt 
dasselbe  kurz  vor  der  Geburt. 
Eine  bildliche  Darstellung 
von  dem  Stürzen  des  Kindes 
findet  sich  in  dem  anonymen 
Werke  des  S,  J.  M.  D.:  ,Von 
der  Erzeugung  der  Menschen 
und  dem  Kinder- Gebären-, 
welches,  aus  dem  Holländi- 
schen übersetzt,  im  Jahre  1766 
in  Franckfurt  am  Mayn  er- 
schienen Lst.  Auf  der  in  Fig.  293 
wiedergegebenen  Tafel  findet 
sich  die  Bezeichnung:  «Stellet 
ein  Kind  dar,  welches  sich 
herum  zu  drehen  fertig  und  in 
seinen  natürlichen  Stand  ist"^. 
Wir  wissen,  wie  selir  sich  dieser  Irrthimi  durch  alle  Culturvolker  hinzieht. 
Jii  selbst  zu  der  Zeit,  als  man  begann,  Leichenöffnungen  vorzunehmen,  beherrschte 
der  Lehrsatz  vom  Stürzen  noch  lange  die  Anschauung.  OhglexcYLArancioiArautins^, 
ein  Schüler  VtsuVs  und  Professor  in  Bologna,  seiner  eigenen  Aussage  nach  bei 
Leichenöflnungen  sehr  häufig  den  Kopf  des  Fötus  schon  in  der  frühesten  Zeit  der 
Schwangerschaft  auf  dem  Muttermunde  fand,  so  vertlieidigte  er  doch  die  Ansicht 
vom  Stürzen  des  Kindes  auf  den  Kopf,  verlegte  aber  die  Zeit  dieses  Vorgangei 
f  den  Beginn  der  Geburt.     Nach    ihm  sitzt  das  Kind,    wenn  keine  besonderen 


h"\K.  'JiX\.    Scl]»:inatiiii:hc  DaisWUuDf;  eiuer  schwangeren  Frau,  deren 

Kiml  im  Be^ritl  Hteht,  das  Stürzen  uuHZufUlircn.     Nach  einem 

an>>nyni>:n  Werke  vom  Jaliro  17H»]. 


179.  Die  Lage  und  dus  Stürzen  det  Kindes  im  Muiierleibe. 


665 


Störungen  eiDireten,  bis  zur  Qeburt  auf  dem  Muttermunde,  da  der  Grund  des 
Iterus  mehr  Raum  für  den  Kopf  de^  Fötus  darbiete,  als  der  dem  Mutt^rhalse 
benachbarte  Theil  der  Gebärtnutter. 

In  einer  Abbildung  (Fig.  294)  des  Grafen  lUifsses  Aldrovandi  aus  dem 
L7,  Jahrhundert  tiudea  wir  etwas  Aehnliches  dargestellt*  Wir  sehen  die  präparirten 
)rgane  de^  Unterleibes  und  dabei  den  eröffneten,  schwangeren  Uterus.  In  diesem 
bockt  das  Kind,  mit  dem  Kopfe  nach  oben,  mit  dem  Rücken  nach  vom.  Seine 
linterbacken  ruhen  auf  seinen  Fersen  inid  die  Händchen  hat  es  gegen  die  Ohren 
erhoben. 

Eine  sehr  genaue  SchilderuDg  von  der  Lage  des  Kindes  im  Mütterleibe  giebt 
Bciphne  Mercuria  im  Jahre  KiO-i,  und  zwar  nach  eigener  Anschauung.  Es 
Ätte  sich  ihm  hierzu  im  Jahre  1578  die  Gelegenheit  geboten,  als  sein  Lehrer 
rudio  Cesare  Arancio  aus  einer  todten  Schwangeren  das  lebende  Kind  heraus- 
schneiden  musste; 

«Ks  hielt  diese  Creatura  bumana 
den  Kopf  im  oberen  Theilo  des  Uterus  in 
«sen  grr»8«erem  Räume»  die  Arme  in  der 
Teiae  gebeugt ,  das«  die  Ellenbogen  an 
lie  Flanken  angelegt  waren;  die  Hand- 
Ichen  lagen  auf  den  Knie^n,  die  Beine 
raren  angezogen  und  gekreuzt,  »o  dass 
Ise  FaiSftohlen  auf  den  Hinterbacken  lagen; 
lie  Augen  befanden  sieb  über  den  Knieeu, 
lie  Wangen  berührten  nacb  aussen  die 
lande  und  die  Na^o  hing  zwischen  den 
Lnieen.^ 

Auf  diese  Weise  bildet  das 
Kind,  wie  Mtrcurio  sich  ausdrückt^ 
Meichsam  eine  Kretsform«  (Laoreatura 
lunque  cohI  raccolta  forma  di  ^  quasi 
aa  tigura  circoiare.)  Das  ist  nun  seiner 
leinung  nach  von  der  Natur  beab- 
iichtigt,  denn  es  ist  die  vollkom- 
menste aller  mathematischen  Figuren, 
ad  in  dieser  Form  kann  sich  die 
,Creatura*  mit  jeglicher  Leichtigkeit 
bewegen,  ohne  irgend  welchen  Scha- 
len durch  die  Bewegungen  der  Mutter 
ZQ  erleiden. 

Diese  Lage  des  Kindes  zeigt 
auch  noch  eine  von  WeUdi  (1671) 
gegebene  Abbildung  (Fig.  295),  welche 

ezeichnet  ist;    ^Das  Kind  in  seiner  rechten  und  natürlichen  Stellung,  wie  es  hn 
lutter  leibe  heget**. 

Nach  der  Ansicht  des  in  seinem  Jahrhundert  so  hochangesehenen  Maurimut 

indet  diese  plötzliche  Lageveränderimg   im  siebenten  Monat  der  Schwangerschaft 

att,  und  man  ,nius8  in  Acht  nehmen,    wann  das  Kind    sein    erstes  Lager  durch 

]{edachten  Sturzbaum    verändert    und    dieses   letzten    nicht    gewohnt    ist,   ea   sich 

manchmal  dermaasseu  rühret   und  wälzet,  dass  die  Schwangere   meinet,   sie  müsse 

abr  Kind  gleich  haben  wegen  der  Schmerzen,  die  aie  dahier  empfindet^ *" 

Noch  weniger  darf  es  uns  überraschen,  wenn  wir  finden,  dasa  noch  heute 
Deutschland,  vielleicht  auch  in  Frankreich  und  in  England,  hier  und  da 
Volk  vom  Stiirzen  des  Kindes  im  Mutterleibe  spricht.  Es  war  ja  in  den 
ältesten  Hebammeoböchem  der  Deutschen  ebenfalls  vom  Stürzen  des  Kindes  die 
Rede,  und  jedenfalls  trugen  die  Hebammen  diese  Sage  in  das  Volk  hinein. 


Fig.  2M.    nat^tcUting  «Icr  normalen  KindeiUge. 


666 


XXVII.  Normale  und  abnorme  Schwangerschaft. 


Die  Gelehrten  waren  darüber  uneinig,  worin  man  den  Grund  dieser  Lase- 
veränderung  des  Embryo  zu  suchen  habe,  ob  es  sich  hier  um  einen  Instinct  des 
Kindes  oder  um  rein  mechanische  Verhältnisse  handele.  Die  erstere  Ansicht  ver- 
trat Hippokrates^  die  letztere  Aristoteles. 

Uebrigens  glaubten  auch  die  israelitischen  Aerzte  an  das  Stürzen,  denn 
es  heisst  in  dem  Talmud:  „Wenn  die  Zeit  der  Geburt  gekommen  ist,  so  wendet 
sich  das  Kind  und  geht  heraus;  und  daraus  entstehen  die  Schmerzen  der  Frau.* 
{Israels) 

Die  Lehre  von  dem  Stürzen  des  Kindes  im  Mutterleibe  wurde  zuerst  von 
einem  Schüler  VesaVs,  dem  Realdus  Columhus  bekämpft.  In  seinem  Werke  ,jde 
re  anatomica*^  (1559)  verwirft  er  Alles,  was  bisher  über  diesen  Gegenstand  ge- 
lehrt worden  war,    und  er  spottet  darüber,  dass  die  Embryonen  „simiaruro  instar 

seu  funambulorum  et  mimorom"  in  dem 
Uterus  sich  herumdrehen  sollten;  denn  die 
Enge  des  Ortes  gestatte  schon  diesen  Wechsel 
der  Stellung  nicht.  Trotz  dieses  Einspruchs 
verharrte  man  aber  lange  Zeit  noch  bei  der 
alten  Ansicht,  und  erst  später  gelang  es 
Smellie^  Solayres  de  Renhac  und  Anderen, 
diese  Hypothese  zu  Falle  zu  bringen. 

Als  nun  nach  so  langer  Dauer  und  so 
allgemeiner  Anerkennung  die  Lehre  von  dem 
Stürzen  des  Kindes  gestürzt  worden  war, 
horte  man  lange  Zeit  nichts  mehr  über  diesen 
einst  so  berühmten  Gegenstand.  Erst  vor 
wenigen  Jalirzehnten  wurden  thatsachliche 
Erscheinungen  festgestellt,  welche  die  höchste 
Verwunderung  erregen  müssen.  Wie  konnte 
es  kommen,  muss  man  sich  fragen,  dass  so 
zahlreiche  tüchtige  Geburtshelfer  in  unserem 
Jahrhundert  die  Erscheinungen  nicht  fanden? 
Warum  entgingen  ihnen  dieselben?  Haben 
sie  sie  überhaupt  nicht  beobachtet?  Die 
Erklärung  für  dieses  Problem  liegt  wahr- 
scheinlich in  folgendem  Umstände.  Unter 
dem  Drucke  eines  herrschenden  Dogmas 
stehend,  vermieden  es  diejenigen,  die  solche 
Beobachtungen  machten,  letztere  an  die 
Oeffentlichkeit  zu  geben,  weil  sie  fürchten 
Fig. 'jo:,.    i>arsteiiuiig  «ler  normalen  Kindeslage    mussten,    verlacht   oder   für   schlechte   Be- 

nach  llWscA.    (1671.)  i       i_i.  i  i-  i.  j 

obachter  erklart  zu  werden. 

Onymus  scheint  der  erste  gewesen  zu  sein,  der  durch  Untersuchungen  an 
Schwangeren,  welche  schon  früher  geboren  hatten,  durch  den  inneren  Muttermund 
hindurch  das  Vorkommen  eines  Wechsels  in  der  Lage  des  Kindes  constatireu 
konnte.  Er  fand,  dass  unter  43  Schwangeren  nur  bei  27  die  Fruchtlage  bis  zur 
Geburt  dieselbe  blieb;  er  erklärte  sowohl  die  normale  Schädellage  als  auch  die 
verschiedenen  Veränderungen  der  Fruchtlage  aus  den  Gesetzen  der  Gravitation. 
Seine  Angaben  haben  jedoch  nicht  die  genügende  Beachtung  gefunden. 

Da  aber  so  erfahrene  Geburtshelfer,  wie  Justiis  Heinrich  Wigand  und 
Franz  Carl  Naegelc^  in  ihren  Werken  die  Lageveränderung  der  Frucht  nicht  er- 
wähnen, so  wird  man  wohl  annehmen  müssen,  dass  sich  ihnen  nie  die  Gelegenheit 
geboten  hatte,   dieselbe  zu  beobachten. 

Erst  Taid  Dubois  und  Scaneoni  wagten  es  von  Neuem,  gegen  den  Autori- 
tätenglauben  anzukämpfen  und  für  Lageveränderungen  der  Kinder  im  Mutterleibe 


179.  Die  Lftge  und  das  Stürzen  des  KindeB  im  Mutterleibe. 


667 


Binzutreten.    Allein  es  waren  keineswegs  die  Resultate  wiederholter  Untersuchungen 
[giu  Schwangeren,  welche  sie  als  Beleg  für  ihre  Meinung  anftihrten.   Vielmehr  be- 
[riefen  sie  sich   auf  den  statistischen  Vergleich    der  Frühgeburten    und    der  recht- 
jxeitigen    Niederkunft   mit   der   relativen   Zahl   der  Kopf-,   Steiss-  und  Querkgen: 
'Tsei  Frlihgeburten  kommt,    so  fand  man,    in   den  ersten  Schwan gerschaftsmonaten 
der  Fötus  unverhältnissmässig  oft  mit  dem  Steisse  gegen  den  Hals  des  Uterus  ge- 
richtet, und  die  Häutigkeit  dieser  Lagen  nimmt  in  eben  dem  Maasse  ab,  als  sich 
die  Schwangerschaft    ihrem   Ende   nähert.     Gleichsam   entschuldigend   Ober   seine 
^AbtrUnnigkeit  sagt  v.  Scanmni  (1853): 

„Man  wird  uns  nun  Torwerfen,    duss  wir  g^g&n   die  Annicbt    der  ^Össten  Autoritriten 
die  Lehre  vom  sogenannten  Stürzen  (Culbüie)  des  Fötas  zu  veriheidigen  suchen.    Wir  nsü^en 


^vj- 


Wi 


/^ 


Fi«    U1*i     Pie  til'ün 


lyo  in  der  Oebännuttor.    rs^ch  Z>r/viW#r.) 


jedoch  bemerken,  dass  uns  einestlieiU  die  von  d&n  Oeg-uem  dieser  Ansieht  vorgeVtrachten  Ein- 
r würfe  nicht  stichhaltig  und   umlrrnniAi]-   unsnro  P»oaha^cbtungen   im  Verein  i"U  it^i'u>T:i    Thtlxux 
heweiakräftig  erscheinen/ 

Scan^oni  spricht  hier  nur  von  emem   Vorgänge,   der   sich  vor   aun    lerzien 
pSchwangerschaftsöionaten  ereignete,  denn  er  sagt: 

»Wir  hegen  die  feste  Ueber^engung,    das«    der  Fötua    in  den  ersten  Schwangen'chafta- 
nionaten,    wenn   nicht  häufiger»   »e  doch  gewiss  ebenso  oft  mit  dem  Steissende  nach  abwärta 
Igerichtet  ist,  als  mit  dem  Kopfe,    und   dass  eine  nn vollkommen»?  Umdrehung  de««eJben  nicht 
Tjiiir  niTn/lHh  erscheint,  ficndem  gewiss  auch  in  sehr  rieten  Füllen  wirklich  erfolgt.* 


668  XXVII.  Normale  und  abnorme  Schwangerschaft. 

Von  einem  Wechsel  der  Lagerung  im  Verlaufe  der  letzten  Schwangerscliafl»- 
periode  sprach  er  damals  noch  nicht. 

Die  neueren  Beobachtungen  haben  nun  unzweifelhaft  bewiesen,  dass  ein 
Wechsel  in  der  Lage  des  Embryo  sehr  häufig  vorkommt  und  um  so  leichter  ein* 
tritt,  je  weniger  weit  die  Schwangerschaft  bereits  vorgerückt  ist.  Auch  ist  der- 
selbe bei  Mehrgeschwängerten  weit  häufiger  und  selbst  noch  kurz  vor  der  Geburt 
nicht  selten,  während  er  bei  Erstgeschwängerten  in  den  drei  letzten  Schwanger- 
schaftswochen nur  sehr  ausnahmsweise  noch  sich  einstellt.  Am  häufigsten  wandeln 
sich  Querlagen  und  Steisslagen  in  Schädellagen  um,  nächstdem  Schädellagen  in 
(Querlagen  und  Steisslagen,  aber  Steisslagen  gehen  sehr  selten  in  Querlagen  Ober 
und  auch  das  Umgekehrte  findet  selten  statt.     (Schroeder,) 

Der  Kampf  der  Aristoteliker  und  Hippokratiker  über  die  Ursache 
der  Lageveränderung  des  Embryo  ist  durch  die  neueren  Forschungen  dahin  ent- 
schieden worden,  dass  sie  alle  beide  Recht  haben.  Denn  einerseits  b^Qnstigt  die 
Schwere  des  kindlichen  Kopfes  die  Ausbildung  der  Schädellagen,  andererseits  aber 
wirkt  auch  der  Embryo  selber  durch  refiectorische  Bewegungen  hierzu  mit,  da  er 
stets  bemüht  ist,  dem  Drucke  der  Gebärmutter  auszuweichen. 

Aus  diesen  Erörterungen  geht  schon 
hervor,  dass  es  unseren  Vorfahren  nicht  un- 
bekannt war,  dass  der  Embryo  im  Mutterleibe 
nicht  unter  allen  Umstanden  sich  in  derselben 
Lage  befände,  sondern  dass  es  ausser  der 
gewöhnlichen  auch  noch  einige  ungewöhn- 
liche Lagen  gäbe.  Man  ist  dann  bemüht 
gewesen,  sich  darüber  Rechenschaft  zu  geben, 
welche  Stellungen  denn  überhaupt  die  Frucht 
im  Uterus  einnehmen  könne,  und  in  den  Ana- 
tomien und  Hebammenbüchem  finden  sich 
diese  Lagen  des  Embryo  in  ausf&hrlicher 
bildlicher  Darstellung.  Fig.  296  führt  eine 
solche  Zusammenstellung  nach  Joanes  Dryati" 
Fi«.  Lw.  Die  Lage  des  Embryo  im  Mntterieibe.   der^s  Artzeuci-Spiegel  aus  dem  Jahre  1547 

(Nach  einem  japanischen  Holzschnitt.)         ^^^       gj^  ^^^.^^  ^^  j^^  Kfi^üAl    .Vnnatür- 

lich  geburt*^.  Man  sieht  daraus,  dass  der 
Autor  vorführen  wollte,  was  von  der  Natur  abweicht.  Wenn  uns  nun  seine  Ab- 
bildungen auch  recht  phantastisch  erscheinen  mögen,  so  sind  doch  diejenigen 
seiner  Zeitgenossen  um  gar  nichts  besser  oder  naturwahrer.  Erst  die  neuere  Zeit 
hat  hier  durch  genaue  Untersuchungen  diese  Verhältnisse  in  befriedigender  Weise 
klar  gestellt. 

180.  Die  Ansichten  der  aussereuropäischen  Tölker  über  die  Lage  des 

Embryo  Im  Matterleibe. 

Die  Anschauungen,  dass  der  Embryo  kurz  vor  der  Qeburt  seine  Lage  ändere, 
welche  er  bisher  im  Mutterleibe  eingenommen  hatte,  finden  wir  auch  bei  den 
Chinesen  und  Japanern.  In  einer  chinesischen  Abhandlung  wird  gesagt, 
dass  sich  das  Kind  im  Mutterleibe  drehe,  bevor  es  geboren  werde.  Ein  Aengstigen 
des  Kindes  störe  die  Geburt.  Aus  einem  anderen  chinesischen  Werke  übersetzt 
V,  Martins: 

^  Sowie  nun  das  Kind  sich  umgewendet  und  nach  unten  hingekehrt  hat,  werden  auch 
alsbald  die  Geburtswehen  bei  der  Mutter  zunehmen*/  und  es  wird  die  Frage  aufgeworfen: 
, Wendet  sich  denn  das  Kind  im  Mutterleibe  Kelbst?'  worauf  die  Antwort  erfolgt:  «FVti- 
lich  wohl!** 

Bei  den  Japanern  war,  wie  gesagt,  die  gleiche  Ansicht  ebenfidls  Te 


180.  Die  Ansichten  d.  aussereurop&ischen  Völker  über  d.  Lage  d.  Embryo  im  Mutterleibe.    669 

Kangawa^  der  dort  auf  dem  Gebiete  der  Geburtshülfe  in  vielfacher  Beziehung  re- 
formatorisch wirkte,  hat  sich  auch  gegen  diesen  Glauben  gewendet.    Er  sagt: 

«Ein  bedauerlicher  Irrthum  ist  es,  wenn  man  glaubt,  dass  vor  der  Geburt  die  Frucht 
sich  umdreht;  man  sieht  dann  nicht  ein,  dass  die  Querlage  oder  umgekehrte  Lage  von  Anfang 
der  Schwangerschaft  besteht  und  sich  mehr  von  selbst  einrichtet;  es  wird  dadurch  ein  recht- 
zeitiges Handeln  der  Hebammen  oder  des  Geburtshelfers  verhindert.* 

In  einem  japanischen  Werke,  welches  den  Titel  führt:  ^Wie  man  bei 
kranker  Familie  zu  verfahren  hat*,  findet  sich  ein  Embryo,  in  seinen  Ei- 
häuten liegend,  abgebildet.  Fig.  297  giebt  diesen  Holzschnitt  wieder.  Man  er- 
kennt die  Placenta,  den  Nabelstrang  und  den  kleinen  Embryo,  dessen  zusammen- 
gekauerte  Haltung  der  Wahrheit  schon  sehr  nahe  kommt. 

Die  ebenfalls  nach  einem  japanischen  Holzschnitt  gefertigte  Fig.  298, 
welche  einige  Lagen  des  Kindes  im  Mutterleibe  veranschaulicht,  lässt  wohl  schon 


Fig.  298.    Japaniiche  DarsteUung  der  Kindeslagen  im  Matterleibe. 
(Nach  einem  Japanischen  Holzschnitt.) 

die  Einwirkung  europäischer  Lehren  erkennen,  jedoch  sehen  wir,  dass  nur  bei 
einer  der  Frauen  der  Kopf  des  Kindes  nach  unten  gerichtet  ist. 

Hier  muss  auch  ein  Fächer  Erwähnung  finden,  welchen  Faul  Ehrenreich 
vor  3  Jahren  in  Tokio  in  einem  Theehause  als  eine  Art  von  Empfehlungskarte 
erhielt.  Auf  demselben  sehen  wir  in  Farbendruck  eine  Anzahl  von  nackenden 
Weibern  in  den  absonderlichsten  Stellungen.  Ihre  Bäuche  sind  geöflnet  und  man 
erkennt  darin  den  zusammengekauerten  Embryo  oder  bei  dreien  auch  die  Nach- 
geburt. Solcher  Bäuche  zählt  man  neun,  aber  Oberkörper  und  Köpfe  finden  sich 
nur  fünf  auf  dem  Bilde,  und  in  gleicher  Weise  sind  auch  nur  fünf  Unterkörper 
und  zehn  Beine  zu  zählen.  Die  Figuren  sind  nämlich  so  geschickt  gruppirt,  dass 
die  Oberkörper  mit  den  Unterkörpern  sich  in  verschiedener  Weise  combiniren, 
so  dass  der  Oberkörper  bald  zu  dem  einen,  bald  zu  dem  anderen  Unterkörper  zu 
^"^  tclieiiit     Durch  eine  geschickte  Einschaltung  der  Bäuche  und  unter  Be- 


XXYIL  Nonnale  und  abnorme  Schwangferscbatt 


nutziiDg  der  erwähnten  CombinatioDen  lassen  sich  dann  neun  verschiedene  Weiber^ 
herauszählen.     Ein  Knabe  sitzt  bei  dieser  reichbewegten  Gruppe,  aber  er  schenkt 
ihr  keine  Aufmerksamkeit,   sondeni  er  ist  fast  ganz  verborgeu  hinter  einem  auf* 
geschlagenen  Buche,     Dieser   interessante  Fächer    ist   in  Fig,  299  wiedergegeben. 


» Axucichten  d,  ftusaerettrop&iachen  Völker  11  ber  cL  Lagd  d.  Embryo  im  Muttörleibe.    671 


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Im  üebrigen  sind  uDsere  Kenntnisse  höchst  spärlich  ober  die  Vorstellungen, 
welche  sich  fremde  Völker  von  der  Lage  des  Embryo  innerhalb  der  Gebärmutter 
machen. 

Eine  hölzerne  Figur  der  Golden  in  Sibirien,  deren  Abbildung  im  zweiten 

de  gegeben  wird,  muas  uns  die  Vermuthung  nahe  legen,  dass  dieses  Volk  das 

d  im  Mutterleibe  aufrecht  mit  gestreckten  Beinen  stehend  sich  vorstellt 

Eiue    bildliehe  Darstelluog   von    dem  Fötus    im  Mutterleibe    liegt  uns  auch 

ou    den    nordamerikanischen  ludianern  vor*     (Fig.  301.)     Dieselbe  befindet 

sich  auf  einem  sogenannten  Musikbrett  der  W ab  eno- Brüderschaft,  wie  diese  Leute 

es  gleichsam  als  hieroglyphisches  Textbuch  für  ihre  ceremoniellen  Gesänge  brauchen. 

Die  Erklärung,  welche  Schoolcraft  giebt,  lautet: 

, Diese  Figur  atelH  einen  halbauagewachsenen  Fötus  im  Mutterleibe  dnv.  Die  VorEtellüng 
seines  Altera  ist  dadurch  symboUäirt,  dasa  er  nur  einen  Flügel  bat/ 
Zu  dem  Bilde  gehört  der  Gesanges-Text: 

,Mein  kleine»  Kind,  mein  kleines  Kind,  du  dauerst  mich!* 
Der  Flügel,  von  welchem  die  Rede  ist, 
sitzt  an  der  linken  Hüfte.  Auch  dieses  Kind 
steht  aufrecht,  es  hat  aber  beide  Arme  er- 
hoben und  nicht  wie  das  vorhererwähnte  Gol- 
den-Kind  die  Arme  an  dem  Körper,  glatt 
herabhängend,  angelegt. 

Aus     dem     niederländischen     Neu- 
uinea  wurde  eine  uns  hier  interessireude  Ab- 
ildung  von  Clercq  veröffentlicht    Dieselbe  be- 
findet  sich   auf   einer    mit  Zickzacklinien   be- 
malten Thür  von  gelbbraunem  Holze  und  stellt 
K'ne  schwangere  Frau    vor,   bei    welcher  viel- 
icht  die  Entbindung  nahe  bevorsteht.     (Fig. 
)0.)    Die  Frau  mit  einem  unförmlichen  Kopfe 
[id  einem  Rumpfe,    der   aus   einem  Oval  ge- 
ijildet    wird,    sitzt    aufrecht    da    mit    weit   ge- 
spreizten  und  in  den  Knieen  gebeugten  Beinen. 
Die  Arme   mit    gespreizten   Fingern    sind   er- 
hoben;   die    mit    Haaren    besetzte    Vulva    ist 
deutlich  markirt*    Im  Inneren  ihres  Leibes  be- 
merkt man  einen  auf  der  Schmalseite  stehen- 
den rechteckigen  Raum,  dessen  oberer  Schmal- 
seite  eine  Art   von   mützentornngem  Anhang 
au%esetzt   ist     Dieses  obere  Ende  reicht  der 
Frau  bis  hoch  in   die  Herzgrube  hinauf.     Es 
it  der  weit  ausgedehnte  Uterus;  denn  in  ihm 
blickt  man  den  Embryo*     Dieser  «treckt  die 
Beine    nach    oben,    während    der    Kopf    nach 
ten  gerichtet  ist     Er  beftndet  sich   also  in 

ädellage,  und  das  ist  gewiss  ein  Beweis,  dass  diese  Art,  das  Licht  der  Welt  zu 
erblicken,  auch  bei  den  Papuas  von  Neu-Guinea  die  gewöhnliche  ist  Uebrigens 
streckt  der  Embryo  auch  beide  Arme  aus  und  er  ist  ganz  unverkennbar  als  ein 
Knabe  gekennzeichnet  worden.  Sogar  auch  von  dem  Nabelstrang  ist  eine  An- 
>utung  gegeben  worden,  und  der  mUtzenförmige  Aufeatz  soU  wahrscheinlich  *\^n 
'utterkuchen  vorstellen. 

ist  die  Behauptung  aufgestellt  worden,  dass  gewisse  eigenthümlicue 
^_^_^  der  Leichenbestattung  ihre  Ursache  in  der  Auffassung  hätten,  dass  der 
erstorbene  der  Mutter  Erde  zurückzugeben  sei  in  derselben  Stellung,  die  er  im 
eiKe  seiner  Mutter  eingenonimen  habe.     Ob  das  aber  richtii^  ist,  muss  doch  sehr 


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Fig.  3(i>.    Bfimalt«  Thür  aas  K  e  a  •  i  J  u  1  u  • 
die  Lag«  des  Kii^dci  im  UuUeiicib«  dar 
tUllend.    (Ana  d!#  C/^^vy.) 


(572  XX VII.  Normale  und  abnorme  Schwangerschaft 

dakiugestellt  bleiben.  Man  hat  die  Beisetzung  der  Leichen  bei  den  Basutlios 
und  bei  den  Peruanern  in  dieser  Weise  zu  deuten  versucht,  und  man  münte 
dann  natürlich  auch  daraus  den  Schluss  ziehen,  dass  diese  Völker  bereits  eine 
deutliche  Vorstellung  von  der  Lage  der  Frucht  in  der  Oebärmutter  beBfissen. 

Bei  den  Wanjamuesi  in  Afrika  griebt  nach  Ileiehard 
eine  abnorme  Kindeslage  die  Veranlassung  zu  einer  Namen- 
gebung,  z.  B.  Kasinde,  die  mit  den  Füssen  zuerst  Geborene. 
Die  Orang  Belendas  in  Malacca  bezeichnen  ein  Kind, 
das  in  der  Schädellage  geboren  wurde,  nach  Stevens  mit  BeMi 
während  sie  ein  Kind,  das  mit  den  Füssen  zuerst  kommt, 
Jimyong  nennen.     {Bartels'^.) 

So    etwas    war   auch    früher   schon    gebriuchlich    und 

Fit?.  :$01.    Embryo  von    FlhlhlS   Sagt: 

L^kbr"ett^er  rVi'^.e-  ^^^^   ^®^  ^®'"  ^^^^""^   ^^®  ^^^^  ^^^^  kommen,  iit  gegen  die 

way-Indiaiier.         Natur,  und  daher  hat  man  solche  Kinder  Agrippen   d.  h.  Schwer- 

(Nach  Schooicraß.)        geborene  genannt.     Auf  diese  Weise  soll  Marcus  Ägrippa  cor  Welt 

gekommen  sein  u.  s.  w/ 

Dass   die  Embryonen   sich  im  Leibe  bewegen  können,  ist  durch  das  Eran- 

gelium  von  der  Begegnung  der  Maria  und  der  Elisabeth  allgemein  bekannt.   Die 

Weiber   der  Annamiten   fühlen   diese  Bewegungen   gegen   das  Ende  des  dritten 

Monats,  häufiger  aber  erst  noch  im  yierten  Monat.     Dann  kündigen  sie  dies  sofort 

allen  Nachbarinnen  mit  grösster  Befriedigung  an,  indem  sie  bei  jeder  Bewegung 

des  Fötus  sagen:  „er  amüsirt  sich,  indem  er  sich  schaukelt.*^ 


ISl.  Der  Christus-Embryo  in  der  bildenden  Kunst. 

Der  reale  Sinn  unserer  Altvorderen,  denen  es  in  ihren  künstlerischen  Dar- 
stellungen darauf  ankam,  auch  ft\r  die  Einfältigsten  unter  ihren  Beschauern  eine 
nicht  misszuverstehende  Deutlichkeit  darzubieten,  hat  sich  auch  die  redlichste 
Mühe  gegeben,  dem  gläubigen  Volke  das  höchste  Mysterium,  die  Menschwerdung 
des  Gottessohnes,  vor  Augen  zu  ftihren.  Dass  die  Jimgfrau  Maria  empfangen 
hatte,  dass  sie  schwanger  war  und  dass  sie  in  der  Christnacht  den  Erlöser  gebar, 
das  lehren  verschiedene  Stellen  des  Evangeliums.  Wie  das  Alles  geschehen  ist, 
darüber  sind  von  den  Theologen  viele  gelehrte  Abhandlungen  geschrieben,  auf  die 
ich  hier  nicht  näher  eingehen  kann.  Es  konnte  aber  weder  bei  Clerikem,  noch 
auch  bei  Laien  darüber  irgend  ein  Zweifel  bestehen,  dass  Christus  wirklich  im 
Leibe  der  gebenedeiten  Jungfrau  ein  Leben  als  Embryo  durchgemacht  hat,  und 
somit  musste  er  also  auch  in  den  Uterus  der  Gottesmutter  in  irgend  einer  Form 
hineingelangt  sein.  Nur  über  die  Art  und  Weise,  und  wann  das  geschehen,  ent- 
brannte der  gelehrte  Streit,  in  dessen  Controversen  wir  nicht  einzudringen  brauchen. 
Für  unsere  kulturhistorische  Betrachtung  ist  es  genügend,  zu  untersuchen,  wie 
sich  die  Künstler  der  früheren  Jahrhunderte  mit  diesem  schwierigen  Gegenstande 
abgefunden  haben.  Ihre  Kunstwerke  sollten  ja  nicht  allein  nur  die  Seele  erbauen, 
sondern  sie  sollten  den  Analphabeten  zugleich  auch  als  eine  Bilderschrift,  gleich- 
sam als  eine  gemalte  Predigt  dienen. 

In  einigen  sehr  frühen  Kunstwerken  scheint  es  den  Meistern  allerdings 
schon  genügend  gewesen  zu  sein,  allein  den  das  Heil  verkündenden  Engel  vor 
der  tfungfrau  Marin  knieen  zu  lassen.  So  erledigt  er  sich  der  göttlichen  Botschaft, 
ohne  dass  der  Ilinnnel  dabei  mit  vorgeführt  wird. 

Diese  ohne  allen  Zweifel  bei  Weitem  edelste  und  geistigste  Auflassung  der 
Scene  war  aber  für  den  kindlichen  Sinn  der  Gläubigen  nicht  hinreichend  ver- 
ständlich. Man  musste  es  den  Beschauern  vor  Augen  führen,  wie  Gott  selber 
bei  diesem  Wunder  betheiligt  war.  So  wird  dann  Gott  Vater,  gewöhnlich  als 
Brustbild,   aus  einer  Oeifnung   des  Himmels  herausblickend,   an   die   oberste  Ab- 


674  XXVn.  Normale  und  abnorme  SchwaDgenchaft. 

tbeiluug  des  Kunstwerkes  gesetzt,  und  nun  vermögen  wir  auch  hierbei  wiederum 
eine  ganze  Stufenleiter  von  dem  Geistigen  zum  R^Ien  zu  verfolgen,  ja  beinahe 
bis  zum  grob  Sinnlichen  hin. 

Unterhalb  der  segnend  ausgebreiteten  Hände  Oott  Vaters  erscheint  nicht 
selten  auch  noch  der  heilige  Geist  unter  dem  Bilde  einer  schwebenden,  weissen 
Taube.  Um  nun  das  Mysterium  in  sichtbarer  Gestalt  dem  Beschauer  vor  Augen 
zu  fähren,  fiigen  viele  Künstler  goldene  Strahlen  hinzu,  welche  sich  von  dem 
Körper  Gott  Vaters  auf  die  knieende  Maria  niedersenken.  In  dem  einen  oder 
anderen  Kunstwerke  nehmen  diese  Strahlen  auch  die  Gestalt  von  goldenen  Tropfen 
an.  Es  besteht  somit  wohl  kaum  ein  Zweifel,  dass  die  Künstler  hier  den  gött- 
lichen Samen  haben  darstellen  wollen. 

Die  höchste  Stufe  der  Realität  treffen  wir  auf  einigen  Kunstwerken  an, 
welche  uns  in  verschiedenen  Theilen  Europas  erhalten  worden  sind.  Hier  wird 
der  Jungfrau  Maria  der  Gottessohn  bereits  als  kleiner  Embryo  übermittelt.  Auf 
einem  Oelgemälde  der  Kölner  Schule,  welches  einem  unbekannten  Meister  nm 
das  Jahr  1400  entstammt  und  das  sich  jetzt  in  dem  erzbischöflichen  Museum  in 
Utrecht  befindet  (Fig.  302),  kniet  der  Erzengel  mit  einem  Spruchbande  in  der 
Hand  vor  der  Maria.  Diese  sitzt  vor  einer  geöffneten  Truhe  und  hält  ein  auf- 
geschlagenes Gebetbuch  in  den  Händen,  von  dem  sie  aufblickt,  um  den  Eng^el  zu 
betrachten.  Von  oben  her  senkt  sich  ein  Strahlenbündel  auf  sie  hernieder,  das 
in  ihrem  Heiligenscheine  endet.  In  dem  letzteren  befindet  sich  die  Taube,  deren 
Kopf  ebenfalls  ein  Heiligenschein  umschliesst.  Sie  fliegt  mit  dem  Schnabel  voima 
nach  abwärts  und  berührt  mit  demselben  den  Scheitel  der  Maria,  Etwas  höher 
in  dem  Strahlenbündel  erkennt  man  den  kleinen,  embryonalen  Christus.  Mit  dem 
Kopfe  voran  gleitet  er  in  dem  Strahlenbündel  zu  seiner  Mutter  hinunter;  dieses 
bietet  ihm  abo  die  übernatürliche  Strasse,  ganz  in  der  gleichen  Weise,  wie  wir 
in  den  Gesängen  des  Homer  die  Götterbotin  Iris  auf  dem  Regenbogen  zur  Erde 
hinabgleiten  sehen.  Der  GÄm^M^-Embryo  ist  hier  merkwürdiger  Weise  mit  einem 
Flügelpaare  dargestellt;  sein  Köpfchen  umgiebt  ein  Heiligenschein,  die  linke  Hand 
streckt  er  segnend  seiner  Mutter  entgegen.  Er  ist  vollständig  unbekleidet.  In 
dem  obersten  Theile  des  Bildes  halten  zwei  Engelgestalten  einen  horizontalen  Quer- 
balken gegen  das  Strahlenbündel,  so  dass  auf  die  Weise  eine  sinnige  Anspielung 
auf  das  Kreuz  und  den  Kreuzestod  hervorgerufen  wird. 

Die  Münchener  alte  Pinakothek  besitzt  eine  Verkündigung  aus  dem 
Ende  des  15.  Jahrhunderts,  welche  dem  anonymen  Meister  der  Lyversbergschen 
Passion  zugeschrieben  wird.  In  dem  oberen  Theile  desselben  erscheint,  umgeben 
von  13  Engelsköpfen,  Gott  Vater  mit  hocherhobenen  Händen,  als  ob  er  selber 
über  sein  herrliches  Wunder  in  das  grösste  Erstaunen  geriethe.  Unten  sehen  wir 
den  Erzengel  Raphael  und  die  Jungfrau  Maria,  an  deren  Heiligenschein  heran  mit 
erhobenem  Kopfe  die  Taube  des  heiligen  Geistes  schwebt.  Zwischen  Gott  Vater 
und  der  Taube  ist  in  den  Goldgrund  des  Gemäldes  ein  System  von  Strahlen  ein- 
gerissen, welche  gegen  die  Madonna  gerichtet  sind.  Auf  ihnen  schwebt  der 
nackte  Christus-'EmhTyo  hernieder,  mit  dem  Kopfe  voran,  die  Beine  leicht  in  den 
Knieen  und  in  der  Hüfte  gebeugt.  Er  führt  bereits  sein  Kreuz  mit  sich,  das 
man  ebenfalls  als  embryonal  bezeichnen  könnte,  denn  es  ist  in  seiner  Grösse  dem 
kleinen  Christ us-Fig^vchen  angepasst.  Dieses  hat  das  kleine  Kreuz  wie  ein  G(e* 
wehr  über  die  Schulter  genommen. 

In  dem  Kreuzgange  des  Domes  von  Brixen  im  Eisackthale  in  Süd- 
Tyrol  findet  sich  ein  Freskogemälde,  das  wahrscheinlich  aus  dem  15.  Jahrhundert 
stammt.  Dasselbe  behandelt  ebenfalls  unseren  Gegenstand.  Wieder  sehen  wir  die 
Taube  dicht  an  dem  Haupte  der  Maria.  Gott  Vater  blickt  aus  der  mandel- 
förmigen Glorie.  Er  streckt  seine  Hände  aus  derselben  heraus  und  entlässt  aus 
ihnen  gerade  eine  kleine  langgestreckte  Wolke,  welche  den  Christus-Embryo  um- 
hüllt.   Der  kleine  Christus  erscheint  wieder  unbekleidet,  mit  lang  ausgestreckten 


676  XXVII.  Normale  und  abnorme  Schwangerschaft. 

Beinen  und  nach  abwärts  gerichtetem  Kopfe,  welchen  der  Heiligenschein  unigiebt. 
Die  Hände  sind  wie  zum  Gebet  erhoben.  Zwischen  seinem  Kopfe  und  dem 
Schwänze  der  Taube  sieht  man  eine  Anzalü  unterbrochener  Strahlen.  Vielleicht 
hat  der  Maler  hiermit,  wie  schon  oben  gesagt,  die  Tropfen  des  göttlichen  Samens 
zur  Anschauung  bringen  wollen. 

Eine  plastische  Darstellung  in  dem  Giebelfelde  eines  der  Portale  von  der 
Marienkapelle  in  Würzburg  bietet  eine  noch  originellere  Darstellung.  Ich 
gebe  sie  in  t'ig.  303  wieder.  Die  Kapelle  wurde  in  den  Jahren  1377  bis  1441 
erbaut,  und  innerhalb  dieses  Zeitraumes  haben  wir  auch  die  Herstellusg  dieses 
Keliefs  anzunehmen.  Gott  Vater  sitzt  auf  seinem  Throne  von  der  mandelformigeu 
Gloria  umgeben.  In  der  linken  Hand  hat  er  die  Weltkugel,  während  er  mit  der 
Rechten  sich  einen  Schlauch  an  seinen  Mund  hält.  Dieser  Schlauch  hat  einen 
wechselnden  Durchmesser  und  er  verläuft  in  leichten  Windungen  nach  unten 
herab  bis  zu  dem  Hinterhaupte  der  Jungfrau  Maria,  welche  unten  vor  dem  Ter- 
kündenden  Erzengel  kniet.  Das  untere  Ende  des  Schlauches,  das  den  Kopf  der 
Maria  berührt,  läuft  in  die  Figur  einer  Taube  aus,  die  den  Schnabel  an  das 
Ohr  der  Maria  legt.  Auf  dem  Schlauche  gleitet,  mit  dem  Kopfe  voran,  ein 
kleiner  ChristHS-Emhryo  zu  der  Gottesmutter  hernieder.  Origineller  Weise  ist  der- 
selbe mit  einem  Kittel  und  mit  Hosen  bekleidet  dargestellt.  Hier  hat  der  Rea- 
lismus, wie  wir  zugeben  müssen,  seinen  vollen  Höhepunkt  erreicht 

Dass  die  Künstler  auch  die  Schwangerschaft  der  Maria,  von  welcher  die 
Evangelien  sprechen,  zum  Gegenstande  ihrer  Darstellungen  gemacht  haben,  das 
haben  wir  in  dem  Abschnitt  gesehen,  der  die  Schwangere  in  der  bildenden  Kunst 
behandelt.  Haben  sie  sich  im  Allgemeinen  damit  begnügt,  die  Vergrösserung  des 
Unterleibes  anzudeuten,  so  sind  doch  einzelne  Künstler  auch  hier  noch  um  ein 
erhebliches  Maass  weitergegangen.  Ich  verdanke  Herrn  Geheimen  R^erungsrath 
Friedcii8hur<i  die  interessante  Mittheilung,  dass  es  mittelalterliche  Madonnen- 
statuen  giebt,  welche  das  Jesuslcind  im  Mutterleibe  zeigen.  An  der  betreffenden 
Stelle  des  Körpers  ist  dann  die  Gewandung  durch  ein  kleines  Glasfenster  ersetzt. 
Eine  solche  Statue  aus  dem  15.  Jahrhundert,  welche  einer  Kirche  in  Görlitz  ent- 
stammte, soll  Professor  von  Saürt  besessen  haben.  Mir  selber  ist  bisher  zu  meinem 
Bedauern  ein  solches  Muttergottesstandbild  noch  nicht  zu  Gesicht  gekommen. 

Aber  eine  ganz  ähnliche  Auffassung  findet  sich  auf  einem  Gemälde,  das  ein 
Meister  der  Kölner  Schule  um  das  Jahr  1400  gemalt  hat.  Es  befindet  sich  in 
dem  erzbischöflichen  Museum  in  Utrecht  (Fig.  304).  Hier  finden  wir  ebenfialk 
den  Christus 'Emhryo  in  dem  schwangeren  Leibe  der  Madc^nna  dargestellt;  im 
Uebrigen  i.st  die  Letztere  völlig  bekleidet.  Der  Gegenstand,  welchen  das  Bild 
uns  vorführt,  ist  die  sogenannte  Visitazione,  die  Begegnung  der  Maria  mit  der 
Klisahcth,  und  in  ganz  ähnlicher  Weise,  wie  bei  der  ersteren  den  kleinen  Christus^ 
>ieht  man  auch  den  embryonalen  Johannes  in  dem  Leibe  seiner  Mutter.  Bei 
})eiden  Frauen  erscheint  der  Embryo  hi  einem  Ausschnitte  ihres  Gewandes,  der 
die  Form  einer  mandelförmigen  Gloria  besitzt. 

Wir  dürfen  in  dieser  Vorstelhing  der  beiden  heiligen  Embryonen  im  Mutter- 
leibe nun  aber  nicht  etwa  einen  untrüglichen  Ausdruck  und  Beleg  f&r  die  An- 
schauung finden  wollen,  wie  sich  damals  die  gebildeten  Laienkreise  die  Lage  des 
Fötus  im  Uterus  vorstellten.  Noch  viel  weniger  können  wir  aber  eine  wissen- 
schaftliche Abbildung,  dem  Zeitgeiste  entsprechend,  darin  vermuthen.  Weder  die 
Kenntnisse  der  Gelehrten,  noch  auch  die  Anschauungen  der  Gebildeten  haben  auf 
den  Künstler  Einfluss  gehabt.  Sicherlicli  liat  er  vielmehr  gar  nichts  Anderes  in 
Absicht  gehabt,  als  den  Worten  der  heiligen  Evangelien  durch  seinen  Pinsel 
Formen  zu  verleihen.  Wir  werden  ihm  die  Anerkennung  nicht  versagen  können, 
dass  dieses  ilini  auch  glücklich  gelungen  ist,  und  wenn  wir  die  Embironen  ge- 
nauer })etrachten,  so  finden  wir  einen  kindlich  naiven  Zug,  der  ohne  Zweifel  auf 
die  Gemüther  der  Gläubigen  seine  ergreifende  Wirkung  nicht  verfehlt  hab«" 


678  XXVII.  Normale  und  abnorme  Schwangerachaft. 

Wir  sehen  den  kleinen  Christas '"Emhijo  im  schwangeren  Leibe  seiner 
Mutter  sitzend,  das  Antlitz  der  Elisabeth  zugekehrt.  Die  Hände  hat  er,  wie 
betend,  gegen  das  Kinn  erhoben,  vielleicht  soll  es  auch  eine  Stellang  des  S^^ens 
bedeuten.  Damit  man  seine  Heiligkeit  nicht  verkennt,  ziert  ihn  auch  im  Uterus 
ein  Heiligenschein. 

Das  Verhalten  des  embryonalen  Johannes  ist  ein  anderes.  Knieend  sehen 
wir  ihn  im  Profil  gegen  den  Messias  hin  gewendet.  Beide  Hände  hat  er  im 
Gebete  erhoben,  und  auch  er  ist  mit  dem  Heiligenscheine  geziert.  Selbst  schon 
im  Mutterleibe  bringt  also  der  heilige  Johannes  dem  Erlöser  der  Menschheit  seine 
Huldigung  dar.    Das  ist  der  Gedanke,  den  der  fromme  Künstler  ausdrücken  wollte. 

Diese  eigenthümliche  Gruppe  von  Werken  der  bildenden  Kunst  lässt  uns 
nun  freilich,  wie  schon  gesagt,  keine  naturwissenschaftlichen  Darstellungen  er- 
kennen, wie  sie  dem  medicinischen  Wissen  der  damaligen  Zeit  entsprochen  hatten. 
Es  hat  auch  den  Künstlern  sicherlich  ferne  gelegen,  so  etwas  mit  ihren  Werken 
prätendiren  zu  wollen.  Die  hier  vorgeführten  Erörterungen,  welche  von  der 
Empfangniss  des  Menschen  und  von  dem  Verhalten  des  Embryo  im  Matterleibe 
handeln,  haben  nun  aber  auch  nicht  ausschliesslich  den  Zweck,  streng  wissen- 
schaftliche Standpunkte  vorzuführen.  Auch  die  volksthümlichen  Anschauungen 
müssen  hier  ihre  volle  Berücksichtigung  finden.  Denn  das  vorliegende  Werk  ist 
bestimmt,  ein  umgrenztes  Stück  Kulturgeschichte  darzubieten.  Dazu  gehört  es 
aber,  dass  je  nach  den  verschiedenen  Zeitperioden  und  Ländern,  das  neben  einander 
gestellt  wird,  was  die  Wissenschaft  lehrt,  und  das  was  im  Volke  als  Dogma  gilt, 
und  somit  wäre  es  nicht  berechtigt  gewesen,  diese  Auffassungen  der  Künstler  mit 
Stillschweigen  zu  übergehen,  die  sicherlich  auf  eine  sehr  grosse  Zahl  der  Gläubigen 
ihre  befruchtende  Wirkung  ausgeübt  haben. 


1S2.  Die  Schwangerschaft  ausserhalb  der  Gebärmutter. 

Bei  einigen  Völkern  finden  wir  mehr  oder  weniger  deutliche  Spuren  davon, 
dass  ihnen  das  Vorkommen  einer  Schwangerschaft  ausserhalb  der  Gebärmutter 
bekannt  geworden  ist.  So  scheint  iSwsrM^a  an  einer  Stelle  des  Ayurvedas,  wenn 
auch  nur  undeutlich,  auf  eine  solche  Schwangerschaft  hinzuweisen: 

.Das  von  Vayu  beunruhigte  und  zum  Leben  gekommene  Samenblut  bl&ht  den  Leib 
auf.  Dieses  wird  dann  bisweilen  durch  seinen  eigenen  Gang  in  Ruhe  gebracht  und  auf  dem 
Wege  der  Speisen  fortgeschaflft;  bisweilen  aber  stirbt  es  ab  und  man  nennt  es  dann  Nago- 
dara  (Brustharnisch).    In  diesem  Falle  verfährt  man  wie  beim  todten  Fötus.* 

VuUers  glaubt,  dass  hier  von  zwei  Ausgängen  der  Extrauterinschwanger- 
schaften  die  Rede  ist;  einmal  handelt  es  sich  um  die  Auflosung  der  Frucht  und 
deren  stückweise  Entleerung  nach  Aussen  oder  in  den  Mastdarm  oder  in  die 
Blase.  Mit  dem  Brustharnisch  ist^  wie  ich  früher  schon  sagte,  wahrscheinlich 
ein  Lithopaedion  gemeint. 

Die  Rabbiner  des  Talmud  nannten  «Jotze  Dofan*^  ein  Kind,  welches 
aus  der  Bauchseite  der  Mutter  heraustritt.  Ein  Jotze  Dofan  kann  nach  ihrer 
Ansicht  lebend  geboren  werden;  sie  behaupteten,  dass  sowohl  das  Kind  als  auch 
die  Mutter  in  solchem  Falle  mit  dem  Leben  davon  kämen.  (Israels.)  Sie  nannten 
aber  auch  Jotze  Dofan  ein  durch  den  Schnitt  aus  dem  Leibe  der  Mutter  ge- 
schnittenes Kind. 

Bei  Soranus  findet  sich  ein  Kapitel,  in  welchem  vielleicht  von  einer  Ex- 
trauterinschwangerschaft  die  Rede  ist:  „Wie  erkennt  man  die,  welche  am  Magen 
empfangen  haben  (Bauchschwangerschaft?),  ob  sie  nach  der  Art  der  Pica  oder 
nach  dem  vorliegenden  Zustande  leiden?*^  Doch  ist  das  Kapitel  so  corrumpirt, 
dass  ein  bestimmter  Sinn  nicht  herauszufinden  ist.     {Emierins.) 

Der  &lt2kr2khishe  Arzt  Äbulkasem  flihrt  in  einem  Kapitel  ,de  extractione 
foetus   mortui*"    die  Beobachtung  einer  Extrauterinschwangerschaft  au^  wo  er 


188.  Falficbe  Scbwangencbaften. 


679 


einen  in  der  Nabelgegend  der  Mutter  sich  öffnenden  Abscess  Knochen  des 
?6tufi  entfernte. 

Eine  abaonderliche  Form  von  Schwangerschaft  ausserhalb  der  Gebärmutter 
treffen  wir  bei  den  Buddhisten  an*  Ihre  Legende  sagt,  dass  der  Knabe  Buddha 
durch  die  rechte  Seite  oder  die  Achselhöhle  seiner  Mutter  geboren  worden  sei. 
[Koeppen,) 

Hier  konnte  ich  die  Geburt  der  Athene  aus  dem  Haupte  des  Zeus  und 
andere  merkwürdige  Dinge  anfügen,  aber  das  führte  uns  zu  weit 

Unsere  Kenntniss  von  der  Extrauterinschwangerschaft  und  ihren  verschiedenen 
Formen  hat  in  dem  letzten  Jahrzehnt  durch  die  ausserordentlichen  Vervollkomm- 
nungen der  operativen  Chirurgie  sehr  erhebliche  Fortschritte  gemacht^  und  viele 
Frauen  sind  gerettet  worden,  welche  sonst  an  diesen  durchaus  nicht  seltenen 
Processen  in  elender  Weise  zu  Grunde  gegangen  wären.  Die  grosse  Gefahr, 
welcher  dieser  abnorme  Zustand  för  die  Schwangere  mit  sich  bringt,  liegt  darin, 
daas  die  Fruchtblase  leicht  im  Leibe  platzen  und  hierdurch  zu  einer  tödtlichen 
Blutung,  oder  zu  einer  Bauch  feilen tziindung  und  durch  Zersetzung  des  Embryo 
|U  schweren  septischen  Processen  führen  kann^  wodurch  entweder  schon  nach 
öhr  kurzer  Zeit  oder  nach  sehr  langem,  quälendem  Siechthum  der  Tod  erfolgt. 
Ich  kann  dieses  Thema  hier  nicht  weiter  verfolgen;  es  gehört  in  die  Pathologie, 


183.  Falsche  Schwangerschafteit. 

nsere  Besprechung  der  anatomischen  VerhiLltnisse  der  Schwangerschaft 
möchte  ich  nicht  absehliessen,  ohne  noch  mit  wenigen  Worten  gewisser  krank- 
hafter Zustände  zu  gedenken,  welche  im  Stande  sind,  für  Andere  oder  sogar  auch 
r  die  von  ihnen  betroffene  Frau  selber  die  irrthümliche  Vermuthung  wach  zu 
fen,  dass  eine  Schwangerschaft  vorhanden  sei.  Es  gehören  hierher  in  erster 
änie  gewisse  Arten  von  Geschwülsten  des  Unterleibes,  Blasen würraer  der  Leber 
und  des  grossen  Netzes,  Gebärmuttertumoren  und  namentlich  aber  Cysten-Bildungen 
der  Eierstöcke,  die  sogenannte  Eierstockswassersucht.  Da  dieselben  gar  nicht  selten 
^jinverheirathete  und  oft  sogar  noch  recht  jagendliche  Individuen  befallen,  und  da 
^^Besen  ihr  allmähüch  dicker  und  dicker  werdender  Leib,  wenn  sie  bekleidet  sind, 
^Hn bestreitbar  das  Aussehen  einer  Schwangeren  giebt,  so  haben  die  armen  Mädchen 
^Btisser  unter  ihrer  Krankheit  gar  häutig  auch  noch  unter  mancher  spöttischen 
^Rnd  unliebsamen  Bemerkung  zu  leiden. 

^^  Die  höheren  Grade  dieser  unglücklichen  Aifection  laaaen  den  Bauch  zu  ganz 

unglaublichen  Dimensionen  sich  ausdehnen  (Fig.  305),  und  nicht  mit  Unrecht  hat 
man  gesagt,  dass  schliesslich  der  gesamrate  Körper  wie  ein  Anhängsel  des  Bauches 
erscheine. 

Gewisse    Formen   der    freien    Bauchwassersucht,    welche    den  Leib    ebenfalls 

I ähnlich  wie  in  der  Schwangerschaft,  auszudehnen  vermögen,  werden  dennoch  selten 
kl  Verwechselungen  Veranlassung  geben,  weil  sie  fast  ausschliesslich  bei  älteren 
Personen  sich  finden,  deren  allgemeine  Erscheinung  keinerlei  Zweifel  über  die 
ichwere  ihres  Leidens  aufkommen  lässt. 
Eine  Affection,  welche  nicht  nur  die  Umgebung  der  Frau,  sondern  auch 
diese  selbst  irre  zu  führen  vermag,  ist  zum  Glück  nicht  sehr  häufig:  sie  hat  aber 
nichtsdestoweniger  in  den  früheren  Jahrhunderten  eine  ganz  hervorragende  Rolle 
gespielt.  Es  ist  das  die  »falsche  Schwängerung*,  welche  zu  der  Entstehung 
der  Mondkälber  führt.  Der  Name  Mondkalb»  auch  Mondkind,  ungestaltet  Fleisch, 
L^ose  Bürde  genannt,  stammt  daher,  dass  man  sich  einbildete,  dass  der  Mond  eine 
Hpnz  direct^  Einwirkung  auf  die  Entstehung  dieser  Dinge  habe.  Im  Latei- 
nischen heissen  sie  Mola,  was  angeblich  von  der  durch  sie  verursachten  Beschwerde 
(molesl    herkam  tuen    soll.     Man    hat    hier  zweierlei  Zustände  zusammengeworfen. 


680 


XXVII.  Normale  und  abnorme  SchwangerMhaft. 


einerseits  wahre  Monstrositäten,  die  zu  der  Ghmppe  der  kopflosoi  Missgeboiten 
gehören,  und  andererseits  krankhaft  entartete  Eier,  welche  aach  als  aogenaimte 
Fleischmolen  beschrieben  worden  sind.  Die  in  dem  üteras  festgewachsenen  Mond- 
kalber, Ton  denen  bei  einigen  Schriftstellern  die  Bede  ist,  sind  besonders  grosse, 
breit  aufsitzende  Gebärmutter-Polypen  gewesen. 
Plinius  sagt: 

^Das  einzige  GeschOpf,  welches  einen  monatlichen  Biotabgang  hat,  ifi  das  Weib: 
daher  kommen  nur  in  ihrer  Gebärmutter  die  sogenannten  Mondkftlber  vor.  Dies  ist  ein  im- 
förmliches  Stück  Fleisch,  ohne  Leben,  das  dem  Stiche  und  Schnitte  des  Eiwas  widersteht. 
Es  bewegt  sich  und  hemmt  den  Monatsfloss,  gleich  wie  eine  Leibesfrncht;  bisweilen  wird  es 
den  Weibern  tödtlich,  bisweilen  behalten  sie  es  bis  in  ihr  Alter,  oder  es  geht  bei  schneUer 
Eröffnung  des  Leibes  ab/ 

Bei  Mauriceau  heisst  es: 

«Ein  Mondkalb  aber  ist  nichts  anderes,  als  ein  Fleisch-Klumpen,  ohne  Beine,  ohne  Grelenk 
und  ohne  Unterschied  der  Gliedmaassen.  Das  hat  keine  Gestalt,  noch  ordentliche  and  aus- 
gemachte Büdnns,  und  wird  wider  die  Natur,  in 
der  Beer -Mutter,  nach  dem  Beischlaff  von  des 
Manns  und  Weibs  verdorbenen  Samen  gesenget. 
Jedoch  giebt  es  je  zu  Zeiten  einige,  die  einen  An- 
fang einer  entworffenen  Gestalt  haben.  Gewiss 
ist,  dass  die  Weiber  diese  Grewftchse  nicht  zeugen, 
sie  haben  denn  beygeschlaffen,  und  werden  so  wol 
beede  Samen  dazu  erfordert,  als  zu  einer  rechten 
Zeugung.* 

,Die  Mondk&lber  erzeugen  sich  gemeiniglich, 
wenn  einer  von  den  Samen,  sowohl  der  von  dem 
Mann,  als  der  von  dem  Weib,  oder  alle  beede  zu- 
gleich schwach  und  verdorben  sind,  da  die  Beer- 
Mutter  sich  nicht  bemühet,  um  eine  wahre  Zeu- 
gung, als  vermittelst  der  Geister,  deren  die  Samen 
aller  voll  seyn  müssen,  aber  um  so  viel  desto 
leichter,  je  mehr  das  wenige,  das  sich  da  befindet, 
ausgeloschen,  und  gleichsam  ersteckt  und  ertr&nkt 
ist  von  der  Menge  grobes  verdorbenen  Monat- 
Bluts,  das  da  manchmal,  bald  nach  der  Empfbg- 
nus  zufleust,  und  der  Natur  nicht  der  Weil  iSsst, 
dasjenige,  so  sie  mit  grosser  MQhe  hat  ange- 
fangen, auszumachen,  und  indem  sie  also  ihr  Werck, 
dasselbe  alles  durch  einander  und  in  eine  Unord- 
nung werffend,  verwirret,  so  wird  aus  dem  Samen 
und  diesem  GeblQt  ein  rechter  ungeschaffener 
Klumpen,  das  wir  ein  Mondkalb  nennen,  und  sich  gemeiniglich  anderswo  nicht  erzeuget,  aU 
nur  in  der  Frauen  ihrer  Beer-Mutter,  und  sich  nimmermehr  oder  doch  gar  selten,  in  allen 
andern  Thiere  Beer-Mutter,  weil  diese  keine  Monat-Zeit  haben,  wie  jene  finden  l&sset.* 

Die  Anzeichen,  woran  die  Schwangerschaft  mit  einem  solchen  Mondkalbe  za 
erkennen  sei,  die  Unterschiede,  welche  seine  Bewegungen  von  denen  eines  wirk- 
lichen Fötus  darbieten,  die  medicamentösen  imd  die  operativen  Mittel,  welche 
nothwendig  sind,  um  die  Frau  von  dieser  Mola  zu  befreien,  finden  in  den  älteren 
geburtshQlflichen  Werken  ihre  ausführliche  Erörterung;  ich  kann  sie  aber  an 
dieser  Stelle  mit  Stillschweigen  übergehen. 

Noch  eine  dritte  Gattung  der  scheinbaren  Schwangerschaft  muss  ich  aber 
einer  kurzen  Betrachtung  unterziehen.  Sie  ist  es,  welche  dem  Volksmunde  zu  dem 
Spottverse  die  Veranlassung  gegeben  hat: 

.und  wenn  sie  denkt,  sie  hat  ein  Kind, 
Dann  hat  sie  den  ganzen  Bauch  voll  Wind.* 

Ein  allgemein  anerkannter  deutscher  Name   existirt   f&r   diesen  Zustaad 
hi\  die  Franzosen  nennen  ihn  grosses se  nerveuse,  die  Englfinder  flufc 


Fig.  ;x»r>. 


Siamesin  mit  Eierstockswassersacht. 
vNach  Photographie.) 


183.  Falsche  Schwangerschaften.  681 

weniger  trefifender  Bezeichnung  spuriouspregnancy.  Es  handelt  sich  hierbei 
um  die  volle,  aber  irrige  Ueberzeugung  von  Seiten  der  Frau,  dass  sie  schwanger 
sei,  und  sie  empfindet  nach  und  nach  wirklich  alle  subjectiven  Erscheinungen  der 
Gravidität. 

Von  diesen  Zustanden  sagt  Schroeder: 

, Dieselben  kommen  ebenso  hftofig  vor  bald  nach  der  Heirath,  als  im  Beginn  des 
klimakterischen  Alters,  am  häufigsten,  aber  doch  nicht  ausschliesslich,  bei  verheiratheten 
Frauen,  besonders  solchen,  die  sich  dringend  Kinder  wünschen.  Dabei  schwillt  das  Abdomen 
in  Folge  von  Tympanitis  und  Fettablagerung  in  den  Bauchdecken  und  im  Netz  oft  zu  einer 
beträchtlichen  Ausdehnung  an,  Linea  alba  und  Warzenhof  färben  sich  bräunlich,  die  Brust- 
drüsen schwellen  stark  an  und  entleeren  Colostrum.  Ausserdem  glauben  die  Frauen  deutliche, 
mitunter  sogar  häufige  und  lästige  Fruchtbewegungen  zu  spüren;  ja  am  berechneten  Ende 
der  Schwangerschaft  legen  sie  sich  wohl  ins  Bett  und  klagen  Über  heftige  Wehen.** 

Wenn  nun  auch  Schroeder  sich  dahin  äussert,  dass  diese  Fälle  mehr  „psycho- 
logisch interessant  als  diagnostisch  schwierig"  sind,  so  giebt  er  doch  selber  zu, 
dass  nicht  selten  die  sichere  Entscheidung  nur  in  der  Ghloroformnarkose  getroffen 
werden  kann,  und  die  Erfahrung  hat  gelehrt,  dass  hier  bisweilen  sogar  berühmte 
Geburtshelfer  sich  haben  irreführen  lassen.  Was  für  deprimirende  Empfindungen, 
wieviel  getäuschte  Hoffnungen  mit  der  Erkenntniss  dieser  Grossesse  nerveuse 
für  die  arme  Frau  und  ihre  Umgebung  verbunden  sind,  das  bedarf  wohl  keiner 
weiteren  Auseinandersetzung.  Wenn  übrigens  die  Frauen  die  Ueberzeugung 
erlangt  haben,  dass  sie  nicht  schwanger  waren,  dann  verschwinden  alle  die  vorher 
beschriebenen  Symptome  der  Schwangerschaft  sehr  schnell)  ohne  ein  weiteres 
Zuthun  des  Arztes. 


XXVin.  Das  sociale  Verhalten  während  der 
Schwangerschaft. 

184.  Ceremonien  und  religiöse  Gebräuehe  bei  dem  Eintreten  der 

Schwangerschaft. 

Der  Eintritt  der  Schwangerschaft  giebt  nicht  wenigen  Nationen  die  Ver- 
anlassung, der  Gottheit  in  religiösen  Geföhlen  den  Dank  za  sagen  und  durch  eine 
besondere  Weihung  die  in  gesegneten  Umstanden  befindliche  Frau,  sowie  das 
keimende  junge  Leben,  dem  ferneren  Schutze  der  Gottheit  zu  empfehlen.  In  diesem 
Gebahren  tritt  schon,  wie  man  zugeben  wird,  ein  ziemlicher  Grad  Ton  Gesittung 
zu  Tage. 

Wenn  in  dem  alten  Mexiko  sich  bei  einer  jungen  Ehefrau  die  ersten  An- 
zeichen einer  Schwangerschaft  fanden,  so  wurde  das  mit  einem  Feste  gefeiert  und 
die  dabei  üblichen  Reden  warnten  sie,  das  ihr  bevorstehende  Glück  ihrem  eigenen 
Verdienste  zuzuschreiben  und  sich  nicht  zum  Stolze  hinreissen  zu  lassen,  denn 
nur  Gottes  Gnade  sei  es,  der  sie  es  zu  verdanken  habe.  Bei  einem  spateren  Feste 
wurde  ihr  unter  ähnlichen  Reden  eine  Hebamme  bestellt,  von  der  sie  gebadet 
wurde  und  mancherlei  Rathschläge  erhielt.    (Waitz.) 

Auch  bei  den  alten  Juden  wurde  während  der  Schwangerschaft  ftir  das 
Kind  gebetet,  und  es  waren  von  den  Talmudisten  für  die  verschiedenen  Perioden 
der  Schwangerschaft  besondere  Gebetformeln  vorgeschrieben.  Dieselben  wurden 
früher  schon  angeföhrt. 

Die  Griechinnen  feierten  in  der  Schwangerschaft  Feste  zu  Ehren  der 
Aphrodite  Genetyllis^  um  eine  glückliclie  Entbindung  zu  erbitten.  Ein  Gebrauch 
der  heutigen  Griechinnen  zu  dem  gleichen  Zwecke  wurde  schon  erwähnt,  nämlich 
das  Herabrutschen  am  Nymphenhügel  bei  Athen.  Auch  existirt  bei  ihnen  die 
Gewohnheit,  am  Ende  der  Schwangerschaft  einen  Hahn  zu  opfern.  Manche 
glauben,  dass  dieses  zu  dem  Hahnopfer  in  Beziehung  steht,  welches  in  dem  alten 
Griechenland  dem  AsJUepios  dargebracht  wurde.     {Wachsmuth,) 

Die  Römerinnen  brachten  zwei  göttlichen  Schwestern  Opfer  dar,  der 
Porrima  oder  Frosa  und  der  Postverta.  Die  Erstere  konnte  es  bewirken,  dass 
das  Kind  bei  der  Niederkunft  in  richtiger  Weise  und  nicht  verkehrt  sich  zur  G^ 
burt  einstelle,  und  die  Letzte  sorgte  dafür,  dess  wenn  doch  unglücklicher  Weise 
das  Kind  solche  verkehrte  Lage  angenommen  hatte,  dass  dann  doch  noch  die 
Entbindung  zu  einem  glücklichen  Ende  gelangte.  Sie  hatten  nach  Varro  einen 
gemeinsamen  Altar  in  Rom.     {Hederich.) 

Von  den  Hindu  in  Madras  berichtet  schon  Best  im  Jahre  1788,  dass  dort 
die  Männer  bei  der  ersten  Schwangerschaft  ihrer  Frauen  ein  Freudenfest  sn  Ter* 
anstalten   pflegten;   im   siebenten   Monat    bringt   darauf  die  ganze  Familia 
Göttern  Opfer  dar. 


184.  Ceretnonien  und  religiöfi«  Gebrilucbo  bei  dem  Eintreten  der  SchwangerBcbaft.      5g3 

Ist  bei  den  Badagas  im  Nilgiri-Oebirge  eise  Frau  im  7.  Monat  schwanger, 
findet  eine  zweite  Heirath  als  Confirination  der  ersten  statt;  Verwandte  und 
reimde  versammeln  sich;  die  Gäste  sitzen  an  der  einen  Wand,  die  Qatten  an  der 
anderen.  Der  Ehemann  fragt  seinen  Schwiegervater:  Soll  ich  diese  Schnur  um 
den  Hals  eurer  Tochter  legen?  Wird  diese  Frage  bejaht,  so  wird  die  Schnur 
umgebunden  und  nach  wenigen  Minuten  wieder  abgenommen.  Vor  dem  Paare 
stehen  swei  ScbOsseln,  in  welche  die  Verwandten  Geldstücke  ftir  das  Ehepaar  legen; 
alsdann  findet  ein  Fest«chmaus  statt,     (Jagorj 

Bei  den  Lamaiten  in  Tibet  und  der  Mongolei  ist  es  erlaubt  dass  Gebete 
ftir  die  glückliche  Entbindung  der  Schwangeren  gehalten  werden,  aber  es  muss 
dafür  bezahlt  werden.    (Koeppen,) 

Wir  werden  später  sehen,  daas  in  Japan  die  Schwangere  einen  Gürtel  anlegt. 
Das  war  früher  mit  zahlreichen  Ceremouien  verbunden,  welche  im  vorigen  Jahr- 
hundert Kangawa  in  seinem  Werke  San-ron  geschildert  hat  Miyake,  der  uns 
mit  dem  Inhalte  des  Letzteren  bekannt  machte,  imterlässt  es  aber  leider,  von 
diesen  Cereraonien  genauer  zu  sprechen,  da  sie  in  den  Palästen  der  Shiogune  und 
Daimios  8ehr  verschieden  sind  nach  Zeit  ond  Ort.  In  Japan  verschlucken 
hvvangere  kurz  vor  ihrer  Entbindung  ein  Stückchen  Papier,  auf  welchem  der 
chutzpatron  der  Gebärenden  abgebildet  ist,  in  der  Hoffnung,  so  einer  leichteren 
ntbindung  entgegenzugehen. 

Auf  Java  wird,  wenn  sich  die  Frau  im  dritten  Monate  der  Gravidität  be- 
ndet,  dies  allen  Verwandten  und  Freunden  gemeldet  und  darauf  werden  ver- 
hiedene  Geschenke  dargebracht.  (NovaraJ  Im  siebenten  Monate  werden  alle 
Verwandten  zu  einem  Festmahle  geladen.  Die  Frau  badet  sich  darauf  in  der 
Milch  einer  unreifen  Cocosnuss,  welche  der  Ehemann  geöflnet  haben  muss.  Vor- 
her werden  auf  der  Schale  derselben  zwei  schöne  Figuren,  eine  männliche  und 
line  weibliche,  eingegraben,  damit  die  Schwangere  dieselbe  betrachte  und  ein 
'  önes  Kind  zur  Welt  bringe.  Sie  zieht  nun  ein  neues  Kleid  an  und  verschenkt 
alte  an  eine  ihrer  Mitfrauen,  welche  ihr  bei  diesen  Verrichtungen  behülflich 
'€8en  ist  Am  Abend  wird  den  Gästen  ein  Schattenspiel  (Wayangspeel)  ge- 
geben, welches  das  Leben  und  die  Abenteuer  eines  alten  Helden  zum  Gegenstande 
hat.     (Maßes.) 

Von  der  Ceremonie  des  Seildrehens  der  Alfuren  auf  Celebes  bei  etnge- 
etener  Schwangerschaft  ist  schon  in  einem  früheren  Abschnitte  die  Rede  gewesen. 
Fühlt  sich  auf  den  Seranglao-  und  Gorong -Inseln  eine  Frau  schwanger, 
dann  muss  sie  ein  Stück  Gember  zum  Priester  bringen,  uju  durch  ihn  geweiht 
zu  werden.  Der  Priester  thut  dieses,  indem  er  sie  dreimal  anbläst  und  die  112.  Sure 
aus  dem  Koran  betet.  Den  Gember  bewahrt  die  Frau  dauernd  bei  sich,  um  böse 
^inflüsse  abzuhalten;  auch  kaut  sie  Stückchen  davon,  und  speit  diese  von  sich, 
uf  Tanembar  und  Timoriao  muss  die  Frau«  wenn  sie  sich  schwanger  fühlt,  ein 
Opfer  bringen  und  sich,  wenn  das  nicht  schon  bei  der  Verheirathung  geschehen 
ist,  die  Zähne  abfeilen  lassen,  Thut  sie  das  nicht,  dann  wird  sie  verachtet  als 
eine^  die  die  mores  majorum  beschimpft.  Auf  den  Inseln  Komang,  Dama, 
Teun,  Nila  und  Serua  muss  die  Schwangere,  sowie  sie  ihre  Gravidität  bemerkt, 
ein  Huhn  schlachten  und  davon  den  Kopf,  ein  Stück  von  der  Zunge  und  die 
'eher  an  dem  gewöhnlichen  Opferplatze  dem  Upulero  opfern;  alle  Monat  muss 
e  dieses  Opfer  wiederholen.  Auf  den  Keei-Inseln  setzt  man,  wenn  die  ersten 
nzeichen  der  Schwangerschaft  sich  bemerklich  machen,  die  Blutsverwandten 
avon  in  Kenntnisa,  besondere  Feste  werden  aber  nicht  gefeiert.     [RiedeV,) 

Tritt  auf  der  Insel  Rote  die  Frau   in    den    7.  Monat  der  Schwangerschaft 

so  bringt  nach  Graaflami  der  Mann  ein  Opfer  dar,  welches  aus  einem  rothen 

in,  einem  HüMcbel   Pisang,   sieben  Sirihfrüchten ,    einem  Teller  rohen  Reis  und 

lit    einem    Zweige   de^   Tuakbaumes   besteht.     Dies  Opfer 

nder  Ki*kelat€ih\  um  ihn  zu  bestimmen,  tiass  er  der  Frau 

>  verhelfe. 


684  XXVIII.  Das  sociale  Verhalten  w&hrend  der  Schwangerschaft 

Auf  den  Gilbert-Inseln  lassen  nach  Parkinson  schwangere  Frauen  ihr  sonst 
kahl  abgeschorenes  Kopfhaar  wachsen  und  schneiden  es  erst  wieder  ab,  wenn  ihr 
Kind  ungefähr  ein  Jahr  alt  ist.  Auch  sonst  haben  sie,  wie  derselbe  Autor  be- 
richtete, allerhand  bemerkenswerthe  Gebrauche: 

Bei  der  ersten  Schwangerschaft  wird  schon  am  Ende  des  zweiten  Monats  eine  alte  Fiao 
gerufen,  die  später  Hebammendienste  verrichten  soll.  Diese  lässt  von  den  Hfilsen  von  ongefthr 
50  Cocosnüssen  eine  Pjrramide  errichten,  in  deren  Spitze  das  Herzblatt  einer  Ccooipalme  ein- 
gesteckt wird.  Die  junge  Frau  setzt  sich  auf  eine  Matte  daneben.  Die  Alte  nimmt  von  einem 
hierzu  besonders  bereiteten  Brode  aus  geschabten  Taroknollen  und  Gocosnnsskem  ein  nnge- 
War  einen  Fuss  langes,  2  Zoll  breites  und  1  Zoll  dickes  StQck,  rollt  es  zwischen  den  H&nden 
und  berührt  damit  die  junge  Frau  an  verschiedenen  Stellen  des  EOrpers.  Dabei  murmelt  sie 
ein  Gebet  an  die  Göttin  der  Schwangeren,  Eihong,  dass  sie  das  Kind  schOn  und  wohlgestaltet 
mache,  dass  es,  wenn  es  ein  Knabe  wird,  sp&ter  die  Liebe  und  Zuneigung  der  jungen  Mftdchen 
gewinnen  möge,  und  wenn  es  ein  Mädchen  wird,  dass  es  eines  reichen  Mannes  oder  tapferen 
Kriegers  Liebe  erringe.  Dann  bricht  sie  ein  StQck  von  dem  Gebäck  ab,  reicht  es  der  jungen 
Frau  zum  Essen,  und  den  Rest  verzehrt  der  Ehemann.  Bis  zum  Morgen  des  vierten  Tages 
schläft  die  Alte  mit  der  Schwangeren  jede  Nacht  neben  der  Cocoshülsenpyramide.  Jetzt 
melden  sich  Adoptiveltern  für  das  Kind,  da  es  Sitte  ist,  dasselbe  nach  beendeter  Säugezeit 
anderen  Eltern  zu  Qborgebon. 

Am  Ende  des  dritten  Monats  begiebt  sich  das  Paar  mit  der  Alten  und  allen  Verwandten 
an  einen  unbewohnten  Ort.  Speisen  und  Getränke  werden  unter  einen  Baum  gestellt,  welchen 
der  Adoptivvater  des  Mannes  der  Schwangeren  mit  dieser  dreimal  umgeht;  darauf  nehmen 
Beide  unter  demselben  Platz  und  werden  von  der  alten  Frau  mit  den  besten  Speisen  versorgt. 
Dann  folgt  ein  allgemeines  Gelage  mit  Tanz  und  Gesang.  Am  Schluss  des  vierten  Monats 
geht  die  Alte  mit  der  Schwangeren  und  dem  Adoptivvater  von  deren  Mann  zu  einem  Kreuz- 
wege. Hier  wird  der  jungen  Frau  ihre  Bekleidung  abgenommen  und  verbrannt.  Der  Schwieger- 
vater hat  jedoch  eine  neue  Bekleidimg  mitgebracht,  die  von  der  alten  Frau  um  die  Hüften 
der  jungen  befestigt  wird.  Dabei  wird  ihr  gesagt,  dass  sie  von  nun  an  zu  den  alten  Frauen 
gerechnet  wird,  dass  sie  mit  dem  alten  Kleid  auch  ihre  Kindheit  abgelegt  hat  und  von  nun 
an  nur  daran  zu  denken  hat,  wie  sie  ihrem  Manne  sich  angenehm  zeigen  kann,  und  dass  sie 
vor  allen  Dingen  demselben  treu  bleiben  muss.  Dann  gehen  sie  nach  Hause,  wo  die  Yer- 
wandtschafb  sie  schon  zu  einem  Gelage  erwartet. 

In  Afrika  kommen  ebenfalls  bei  manchen  Völkerschaften  charakteristische 
Gebräuche  vor:  Hat  bei  den  Massai  in  Ost-Afrika  die  Frau  empfangen,  so  holt 
der  Mann  einen  grossen  Topf  mit  Honig  herbei,  mischt  andere  Dinge  hinzu  und 
rührt  es  um,  bis  die  Masse  ganz  dünn  ist;  dann  ruft  er  die  Häuptlinge  zusammen. 
Mann  und  Weib  setzen  sich  nieder,  die  Häuptlinge  nehmen  etwas  von  dem 
Honig  und  spucken  es  über  sie  aus.  Danach  sprechen  sie  ein  Gebet  f&r  das  Wohl- 
ergehen der  Eltern  und  des  zu  erwartenden  Kindes,  und  dann  hält  noch  jeder  eine 
Rede,  worauf  der  übrige  Honig  getrunken  wird.     (Last) 

Die  Irländer  und  die  Skandinavier  feierten  bis  vor  Kurzem  noch  in 
der  Johannisnacht  das  Baalsfestj  oder,  wie  es  in  Norwegen  heisst,  das 
y,Balderf€st^\  indem  sie  in  der  Mitsommemacht  auf  den  Anhohen  ein  Feuer  an- 
zündeten und  dasselbe  umtanzten.  Hierbei  lief  man  durch  das  Feuer,  wenn  man 
einen  besonderen  Wunsch  hegte;  schwangere  Frauen  sah  man  hindurch  gehen,  um 
eine  glückliche  Niederkunft  zu  erlangen.     (Wild.  Nilsofi.) 

In  Oesterreich  ob  der  Enns  kommt  man  am  Falkenstein  zu  einer 
Kapelle,  in  der  sich  angeblich  der  heilige  Wolfgang  verborgen  hielt;  hier  befindet 
sich  ein  Stein,  durch  welchen  Schwangere  kriechen,  um  glücklich  entbunden  zu 
werden.  (Panjser,)  Solch  ein  Kriechen  durch  eine  enge  Oeffhung,  oft  unter 
einem  Altar  hindurch,  ist  ein  weit  verbreiteter  Brauch,  um  Segen  oder  Heilung 
zu  erlangen. 

In  Schwaben  wallfahrten  die  Schwangeren  zur  heil.  Margarethe  mit  dem 
Drachen  (z.  B.  nach  Maria  Schrei  bei  Pfullendorf),  oder  zum  heiL  Christo- 
phorus  (z.  B.  nach  Laiz  bei  Sigmaringen),  oder  zu  St.Bochus,  in  dessen  KapeUflO 
geweihte  eiserne  Kröten  hängen  als  Symbole  der  Gebärmutter.    (Bück.) 


185.  Die  Abwehr  biVaer  Geister  und  D&monen  während  der  Schwangerichaft.        685 


1H5.  Die  Abwehr  bÖser  Geister  und  Datiioneu  während  der 
8chwangerscbalt. 

Der  Glaube  an  die  Macht  der  Dämonen  tritt  bei  den  meisten  Naturvölkern 
den  verschiedensten  Formen  auf  und  er  hat  sich  auch  bei  den  civüisirten 
fationen  unter  den  minder  gebildeten  Klassen  bis  in  unsere  Tage  erhalten.  Die 
(Gefahr  und  Noth,  die  Furcht,  erzengt  und  erhält  diesen  Glauben;  denn  alles 
chlinjme,  welches  dem  Menscheu  widerfährt,  alle  Krankheit  und  alles  Ungemach 
rird  als  von  den  Dämonen  verursacht  angesehen.  Daher  gilt  es  in  Krankheits- 
fjallcn,  (iberhaupt  hei  allen  abnormen  Erscheinungen,  die  hosen  Geister  7ai  bannen 
und  zu  beschwichtigen  und  ihren  schadenbringenden  Einfluss  durch  entsprechende 
lilaassnabmen  wirkungslos  zu  machen.  Die  hierzu  in  Anwendung  gezogenen 
IHittel  sind  ausserordentlich  mannigfaltiger  Natur.  Amulete,  Besprechungen  und 
iZaubermittel,  aber  auch  Waftenlarm  und  Räucherungen  spielen  hierbei  eine  hervor- 
[ragende  Rolle. 

Die  Dämonologie  gestaltete  die  Geister,    welche  sich  um  die  Gebärende  be- 
lümmern,  selir  verschiedenartig.     Nicht  selten  sind  es  Luftgeister,  welche  das  Haus 
der  Schwangeren    umgeben    und    sie    unheilvoll    bedrohen;    dies  ist  z,  B.  bei  den 
Kalmücken,  bei  den  Persern,  aber  auch  bei  einigen  anderen  Völkern  der  Fall. 
Es  existirt  auf  den  Philippinen  eine  eigen thümliche  Sage: 
Man  er^iUilt,  der  A»uang  wäre  ein  Disag'a  (Bewohner  der  ^wiechen  Luxon  und  Hin- 
tan ao  befindlichen  Inseln)«  der  mit  dem  Teufel  einen  Pact  geschlosaen  hat.    Er  betritt  weder 
iKirchen,  noch  andere  heihge  Orte.     Unter 
Ider  Achse Igrnhe  besitzt  er   eine  Drüse  voll 
lOel.    das    ihm    ermöglicht*    Qherall   hinsn- 
[fliegen,  wohin  er  will.  Kr  hat  ferner  Krallen 
I  tind  eine  unendlich  lange  Zunge  von  i^chwarzer 
[Farhe,  weich  und  ghinzend,     Seine  Haupt* 
laufgftbe    Vieateht   durin,  Schwangeren  den 
IFötui   tinn  dem  Leibe  zu  reissen;    die«  ge- 
ichieht^    indem    er    (mit    der    Zunge)    den 
»letzteren  berührt.     Hierdurch  wird  der  Tod 
|der  Schwangeren    veranla^^t^    «o    dass  der 
istm^ig  den  Fötufl  nun  ruhig  uufjtehren  kann. 
'Bin  von  den   Tagalen  Tictic  genannter 
Nachtvogel  kündigt  den  Asunti^  an;  wenn 
Heuer  singt,  so    weiss  man,    da^s  lich   dci 
^^««m>i47  herumtreibt    (OctaniaJ 

Von  den  Dayaken  auf  Borneo 
^sagt  Hehl: 

^Schwangere  Frauen  opfernden  Djata 
F(Wat0ergei9tern)   und    Panii  klebe    »balei 
Ipanti*  genannte  Häubchen,  welche  entweder 
f  in  einen  Flusa  versenkt   oder  in   der  NJihe 
des  Hauded  in  die  Wipfel  eines  Baunioi  gehüngt  worden;   denselben  Zweck,  böse  Getgier  Ton 
dem  Kj^rper   der  Schwangeren    abzuhalten,    versieht  die  hQttenartige   «pasah    kasgk&midk*, 
in  welcher  den  Hatitus  Hühner  geopfert  werden/     (Fig.  306.) 

Es  heisst  dann  weiter:    «Der  Kammk  ist  ein  tehr  böswilliger  Geist,   dem   die  Gabe  tn 

fliegen  eigen  ist  und  der  von  schwangeren  Frauen  auf  das  Aenasemte  gefürchtet  wird,   da  er 

Laich  stets  bcrtrebt,  in  den  Körper  derselben  unsichtbar  einzudringen  und  die  Geburt  des  Kinder 

^entweder  zu  erschweren  oder  ganz  unmtSglich  tu  machen.     Ihm  wird   in  kleinen  Häuschen  in 

IUhnlicher  Weise  wie  den  iJjat^  geopfert/ 

Nach  Harddand  sind  die  Kamiak  oder  Kanfjihamiak  weibliche  HanUttn^  welche  während 
d^  GebSi'ens  gestorben  Bind. 

Ai»  nitif*i   iiriilorpTi  Stplli*  wird  dann  von  Hein  über  die  Hühneropfer  berichtet,   welche 
von  dM  'id  werden  oder  von  Andt?ren  für  diese.    Das  hat,  wie  er  meint, 

»m^fi%  in  : .-.  -l^c>  während  des  Gebtlrens  sterbenden  weiblichen  iZönf ii^w 


0m^i 


^r>i  "i 


Fi;;,   v^.      l'Asali  k in ^k siti i t k *  Totiv-HEoscketi  *li«r 

Ol  oh  Nj^'ttdja  aafllorneo,  in  denen  Hiilinaropfftr  «lÄr- 

gcbrxkclii  wenlt^D,  axD  die  Scbvr&tisere  vor  den  Dimonsn 

Kamtkamimk  icii  «chütsen.     (Kacb  CrmS^unäy;^ 


o86  XXVIIL  Das  sociale  Verhalten  während  der  Schwaogonchaft. 

:d  böse  Geister  Kangkamiak  oder  Kamiak  verwandelt  werden,  welche  sameist  in  Gestalt 
Hohnes  in  schwangere  Frauen  zu  fahren  suchen,  um  sie  am  Geb&ren  sn  hindern;  aogar  die 
.Stimme  eines  solchen  Kangkamiak  fthnelt  dem  Geschrei  einer  Henne;  Hühneropfer  bringt  man 
daher  auch  den  WassergOttem  Djata,  welche  die  Schwangeren  vor  den  bösen  Geistern  be- 
schützen und  leicht  gebären  lassen. 

Aber  vollständig  sicher  scheint  sich  die.Dayakin  doch  trotzdem  nicht  za 
fQhlen,  denn  nach  t\  Kessel  nimmt  die  junge  Frau,  sobald  sie  in  gesegnetem  Zu- 
stande einmal  das  Haus  verlässt,  aus  Furcht  vor  bösen  Gteistem  stets  einen  Talis- 
man (Ejun  oder  Upuk)  mit  sich,  d.  i.  ein  Körbchen,  das  mit  Blattern,  Worzeln, 
Holzstückchen,    namentlich    aber   mit  zahlreichen  Scimeckenhausem  behangen  ist 

Van  HasseÜ  berichtet  aus  Mittel- Sumatra: 

„Manibang  ist  ein  Djihin,  der  den  schwangeren  Frauen  feindselig  ist  und  in  Leben g 
Tindoeng  genannt  wird;  er  fährt  in  die  Mutter,  um  das  ungeborene  Kind  zn  yenefaren.* 

Bei  den  Alfuren  in  Limo  lo  Pahalaä  im  nordlichen  Celebes  moes  die 
Schwangere  sich  wohl  hßten,  mit  flatternden  Haaren  umherzugehen.  Wahrschein- 
lich liegt  diesem  Verbote  der  Glaube  zu  Grunde,  dass  in  diesen  losen  Haaren  die 
bösen  Geister  sich  besonders  leicht  festsetzen  können.  In  Böhmen  und  Mähren 
muss  die  Schwangere  ihre  Haare  sorgfaltig  bedecken,  weil  sie  sonst  ein  todtes 
Kind  zur  Welt  bringt.  Wahrscheinlich  ist  auch  f&r  diese  Anschauung  ein  ganz 
ähnlicher  Gedankengang  die  ursprtingliche  Ursache  gewesen. 

Das  schwangere  Alfuren-Weib  von  Celebes  darf  nicht  des  Abends  oder 
wenn  es  regnet  aus  dem  Hause  gehen,  damit  nicht  die  Frucht  durch  den  WäUuh 
lati  oder  die  an  den  dunkeln  Plätzen  anwesenden  Teufel  aufger^t  oder  gemiss- 
handelt  werde.     (Riedel.) 

Hieran  erinnert  ein  Glaube  der  Wander-Zigeuner,  dass  eine  Schwangere 
ihre  Leibesfrucht  verliert,  wenn  sie  bei  Mondschein  in  das  Freie  geht.  (v.  Wlidocki.) 

Nach  Jacobs  sieht  die  schwangere  Frau  in  Bali  in  vielen  sehr  natürlichen 
Dingen  schlechte  Vorzeichen  für  ihre  Niederkunft. 

„In  ihren  Gedanken  bevölkert  sie  ihre  Umgebung  mit  hunderten  von  Kala«  (bOeen 
Geistern),  die  es  auf  ihr  und  ihres  Kindes  Leben  abgesehen  haben  und  die  ihre  Schwänget^ 
Schaft  erschweren  wollen.  Das  Heulen  eines  Hundes,  das  Kr&chzen  eines  Vogels,  das  Arbeiten 
eines  Kraters  u.  s.  w.  jagt  ihr  Schrecken  ein;  ihre  persönlichen  Feinde,  die  Nachbarn,  mit 
denen  sie  auf  nicht  allzu  freundlichem  Fusse  lebt,  suchen  sie  auf  alle  Weise  zu  bezaubern, 
um  ihr  Leben  und  das  ihres  Kindes  in  Gefahr  zu  bringen,  imd  in  der  Verzweiflung  greift  sie 
zu  einem  der  ihr  bekannten  Mittel,  und  opfert  ihr  neugeborenes  Kind  atff,  um  ihr  eigenes 
Loben  zu  retten.*^ 

Ganz  ähnliche  Ursachen  sind  es,  welche  auf  den  südöstlichen  Inselgruppen 
des  malayischen  Archipels  das  Ausgehen  des  Nachts  und  namentlich  das 
Passiren  von  Qräbem  verbieten.  Wenn  die  Schwangeren  auf  den  Watubela- 
Inseln  bei  Tage  das  Haus  verlassen,  so  müssen  sie  stets  ein  Stück  Eisen  bei  sich 
führen,  damit  die  bösen  Geister  nicht  den  Fötus  quälen.  Auch  auf  Ambon,  den 
U Hase- Inseln  und  auf  Keisar  und  Nias  dürfen  die  Schwangeren  nur  mit  einem 
Messer  bewaffnet  ausgehen.  Ebenso  müssen  sie  sich  auf  Serang  durch  allerhand 
Mittel  vor  den  bösen  Geistern  schützen. 

Die  Seranglao- Insulanerinnen  tragen,  abgesehen  von  dem  bereits  oben  er- 
wähnten Gember,  nicht  selten  ein  mit  einem  Koranspruche  beschriebenes  und  in 
Leinwand  gewickeltes  Stückchen  Papier  bei  sich,  um  gegen  die  schädlichen  Ein» 
Wirkungen  der  bösen  Geister  gefeit  zu  sein. 

Auf  Nias  bringen  die  Schwangeren  dem  Ädti  Sawowo  Opfer  dar,  um  sich 
vor  Fehlgeburten  zu  schützen.  Auch  müssen  sie  stets  mit  einem  Messer  bewaffnet 
gehen,  um  sich  gegen  die  Bvchii  matiana  genannten  Plagegeister  zu  vertheidigen. 
Das  sind  die  Seelen  von  Frauen,  welche  während  der  Entbindung  gestorben  sind 
und  welche  sich  nun  bemühen,  den  Schwangeren  die  Leibesfirucht  zu  entreissen 
und  Abort  bei  ihnen  zu  verursachen.     (Modigliani.) 

Bei  den  Cambodjanern  muss  man  sich  wohl  hüten,  einen  Oegaoil* 


185.  Die  Abwehr  bOser  Geister  und  Dämonen  während  der  Schwangerschaft.        6g7 

Tamarindenholz  in  dem  Hause  eines  yerbeiratheteu  Mannes  zu  lassen,  v^eil  sonst 
die  Preaiy  die  Geister  dieses  Holzes,  das  Kind  im  Mutterleibe  verschlingen  und 
in  jeder  Schwangerschaft  einen  Abortus  herbeiführen  würden.     {Aymonier,) 

Die  Annamiten  fürchten  nach  Landes  ausserordentlich  die  Geister  Con 
Ranhj  welche  immer  bestrebt  sind,  sich  zu  verkörpern.  Zu  diesem  Zwecke  suchen 
sie  sich  den  Körper  eines  Embryo  im  Mutterleibe  aus.  Wenn  ihnen  dieses  aber 
glücklich  gelungen  ist,  so  sind  sie  nicht  im  Stande,  am  Leben  zu  bleiben,  sondern 
die  Mütter,  in  deren  Leibe  sie  den  gesuchten  embryonalen  Körper  gefunden  haben, 
kommen  mit  einem  todten  Kinde  nieder,  und  nun  beginnt  das  Suchen  der  Con 
Ranh  von  Neuem  nach  einem  anderen  Körper. 

,Le  d^mon,  qui  cause  les  morts  pr^maturees,  est  appe16  par  les  Annamitos  Me  Con 
üanh,  la  märe  des  Ranh.  On  pr^tend  qu'on  le  voit  dans  les  lieuz  solitaires,  sous  la  forme 
d'une  femme  v§tue  de  blanc,  pos^e  sur  les  arbres,  principalement  sur  le  giii,  et  oceup^e  ä 
bercer  ses  enfants.  C'ötait,  dit-on,  une  femme  qui  perdit  successivement  cinq  enfants  et  mourut 
en  couches  du  sixiäme.^ 

Ein  abergläubischer  Gebrauch,  welcher  wohl  auch  auf  die  Absicht,  Dämonen 
zu  verscheuchen,  hindeutet,  besteht  unter  den  Eingeborenen  der  australischen 
Colonie  Vi  ctoria;  dort  sah  Oberländer,  wie  ein  Medicinmann  an  drei  eingeborenen 
Frauen,  welche  schwanger  waren,  eine  sonderbare  Geremonie  vollzog:  Sie  standen 
vor  ihm  und  blickten  ihm  fest  in  die  Augen.  Darauf  zog  er  sich  murmelnd  nach 
einem  Baumstumpfe  zurück,  schritt  dann  wieder  auf  die  Frauen  zu  und  blies  auf 
ihre  Leiber.  Dies  alles  sollte  ohne  Zweifel  eine  sichere  und  glückliche  Entbindung 
bewirken. 

Wahrscheinlich  haben  wir  in  absonderlichen  Gebräuchen  in  Afrika  auch 
eine  Art  von  Dämonenaustreibung  zu  erblicken.  Wenn  an  der  Goldküste  eine 
Negerin  zum  ersten  Male  schwanger  wird,  so  treibt  man  sie  unter  Kothwürfen 
und  Schimpfen  in  das  Meer,  wo  sie  untertauchen  muss;  nach  Beendigung  dieser 
Geremonie  lässt  sie  Jedermann  unbehelligt,  nur  eine  Fetischpriesterin  macht  mit 
ihr  allerhand  Dinge,  um  sie  nach  dem  Volksglauben  vor  der  Einwirkung  böser 
Geister  zu  schützen.  (Brodle  Cruickshank.)  Vornehme  Frauen  in  Guinea  werden 
kurz  vor  ihrer  Entbindung  ganz  nackend  in  zahlreicher  Gesellschaft  durch  ihren 
Ort  geführt,  wie  Römer  erzählt.  Bosman  bemerkt  dasselbe,  fügt  aber  hinzu,  dass 
sie  auf  diesem  Wege  von  einer  Anzahl  junger  Leute  ebenfalls,  wie  an  der  Gold- 
küste, mit  Schmutz  beworfen  und  dann  am  Seestrande  gebadet  werden.  (Klemm.) 
Nach  Hutton  weinen  sie  auf  dem  ganzen  Wege. 

Wenn  bei  den  Ewe-Negern  an  der  Sclavenküste  eine  Frau  sich  Mutter 
liihlt,  so  bringt  sie  den  Göttern  ein  Opfer  und  wird  vom  Priester  mit  einer  Menge 
von  Zauberzeichen  am  Körper  behängt. 

Auch  der  Glaube  an  den  helfenden  Fetisch  ist  bei  den  Neger-Völkern 
ein  weitverbreiteter. 

Bei  den  Malange  tragen  nach  Liix  schwangere  Weiber  stets  eine  kleine 
Kalabasse  (Kürbis),  welche  mit  Erdnüssen  und  Palmöl  gefüllt  ist,  bei  sich,  um 
einer  leichten  Entbindung  sicher  zu  sein.  Bei  den  Negern,  welche  Buchner  in 
ihren  Bräuchen  beobachtete,  spielte  als  Amulet  das  „Pemba*  eine  wichtige  Rolle. 

,Pemba  ist  ein  feiner  weisser,  kaolinartiger  Thon,  der  nicht  überall  zu  finden  ist  und 
deshalb  oft  weit  hergeholt  wird  und  einen  Handelsartikel  bildet.  Seine  Anwendung  erinnert 
vielfach  an  das  Weihwasser  der  Katholiken,  und  der  Ausdruck  Pemba  wird  auch  oft  im  Sinne 
von  Glück  oder  Segen  gebraucht.  Man  sagt  Pemba  geben,  indem  man  sich  die  angefeuchtete 
Substanz  gegenseitig  auf  die  Arme  oder  auf  die  Brust  streicht.  Schwangere  sowie  Kranke 
beschmieren  sich  häufig  damit  das  ganze  Gesicht.* 

Bei  den  Negervölkern  West-Afrikas  behängt  sich  die  Schwangere  an 
Hals,  Arm  und  Fuss  mit  Zauberzeichen  und  Zauberschnüren,  und  sie  bekommt 
Ton  einer  Priesterin  Manschetten  aus  Bast  um  Hände  und  Kniee  gelegt,  welche 
ihr  eine  glüekliche  Entbindung  garantiren  sollen. 


688 


XXVIII.  Das  sociale  Verhalten  w&hrend  der  Schwangendiaft. 


AA/\AAAAAAAAAAA 


WeoD  eine  eingeborene  Frau  in  Algerien,  nachdem  sie  schon  eine  schwere 
Niederkunft  erlitten  hat,  fürchtet,  abermals  einer  solchen  entgegenzugehen,  so 
tragt  sie  zur  Erleichterung  derselben  während  der  Schwangerschaft  in  den  Falten 
ihres  Haiks  eine  Mischung  Ton  Oel  mit  Asche  von  Eicheln  (bellonth),  oder  sie 
bindet  sich  auf  den  einen  ihrer  Schenkel  einen  Flintenstein  auf,  auch  tragt  sie 
vielleicht  noch  auf  ihrem  rechten  Schenkel  ihren  eigenen  Haarkamm,  auf  welchem 

die  Worte  aufgeschrieben  sind: 

, Derjenige,  dessen  Name  in  Wahrheit  besteht,  sei  günitig 
gesinnt  dem  Kinde,  das  in  deinem  Leibe  ist.  nnd  alles  wird  gut 
gehen.    Heil  sei  der  Mutter*  (dasu  der  Name  der  letsteren). 

Sehr  interessant  ist  eine  Entdeckung,  welche 
Vaiighan  Stevens  bei  den  Orang  Semang  in  Malacca 
gemacht  hat  und  über  welche  Gränwedd^  berichtete. 
Bei  ihnen  tragen  die  schwangeren  Frauen  unter  dem 
Oürtel  versteckt  ein  Bambusstück,  Tahong  genannt, 
in  welches  geometrische  Muster  eingeschnitten  sind. 

,Die  Höhlung  des  Bambus  wird,  nachdem  jede  Seite  mit 
einem  Stöpsel  aus  Holz  oder  Baumrinde  verstopft  ist,  als  Büchse 
für  Stein  und  Stahl  zum  Feueranmachen  u.  s.  w.  benutzt.  Die 
Zeichnung  (Fig.  307)  besteht  in  der  Hauptsache  aus  zwei  Theilen: 
der  obere^  aus  herumlaufenden  Zickzacklinien  bestehende  Theil 
ist  ein  Zaubermittel  gegenEkel  und  Erbrechen,  welches  Schwanger« 
auszustehen  haben;  der  untere  Theil  enth&lt  eine  Anzahl  tod 
ColonneD,  von  denen  eine  jede  einen  der  Zustande  darstellt 
welche  eine  Schwangere  vom  Moment  der  EmpfUngniss  bis  zur 
Geburt  durchmachen  muss.  Es  ist  schwer,  diese  Stadien  genaa 
zu  fixiren,  da  die  Semang- Leute  oft  den  Sitz  des  Unwohlseins 
an  eine  andere  Stelle  versetzen,  als  es  in  Wirklichkeit  der  Fall 
ist.  Sicher  ist  Folgendes:  Das  kragenartige  Zeichen  an  der 
Spitze  der  einen  der  Golonnenlinien  am  Ende  der  schwarzen 
zahnartigen  Striche  ist  das  Kind  in  der  Gebärmutter.  Die 
schwarzen  Zähne  bilden  den  Zusammenhang  zwischen  Kind  und 
Mutter  und  gehen  von  der  Seite  des  Kindes  zu  der  der  Mutter 
hinunter,  welcher  Theil  viel  grösser  dargestellt  ist.  Zur  Rechten 
dieser  vertikalen  Reihe  von  Zähnen  ist  die  Colonne  von  scheibenartigen  Figuren,  welche  blosi« 
auf  der  Seite  der  Mutter  dargestellt  sind,  die  Abbildung  des  Blutverlustes  durch  Zerreissen 
der  Gefässe  bei  der  Geburt.* 

„Wie  erwähnt,  wird  der  Tahong  von  den  Semang-Frauen  unter  dem  Gürtel  sorg- 
fTiltig  verborgen  und  darf  keinem  fremden  Manne  zu  Gesicht  kommen.  Der  Ehemann 
schneidet  das  Muster,  und  eine  schwangere  Frau,  welche  ohne  Tahong  sich  betreffen  lässt. 
wird  von  den  anderen  Semang -Weibern  etwa  ebenso  angesehen,  wie  in  Europa  eine  Mutter 
ohne  Trauring.  Die  Muster  der  Tahongs  differiren  unter  sich  nur  unbedeutend,  wie  den 
Männern  eben  das  Eingraviren  des  allgemein  anerkannten  Musters  gelingt.  Der  H&nptling 
ist  im  Besitz  des  orthodoxen  Musters  und  stet»  im  Stande,  falls  angefragt  würde,  die  einzig 
echte  Zeichnung  zu  geben.  *" 

Aehnliche  Bambusstücke  mit  anderen  Mustern  dienen  zur  Abwehr  von  allerlei 
Krankheit;  aber  einzig  nur  die  Tahongs  dürfen  kein  Intemodium  haben.  Hier 
klingt,  wie  ich  glaube,  der  Gedankengang  an,  dass  die  Schwangere  alles  sorgfaltig 
zu  meiden  hat,  was  von  Natur  verschlossen,  verknotet  oder  verschlungen  ist,  weU 
sie  sonst  eine  schwere  Entbindung  zu  gewärtigen  hätte. 


Fig.  307.  Master  anf  einem  Bambus- 
Talisman  der  Orang  Semang 
(Malacca)  zum  Schutze  der 
Sckwangeren. 
(Nach  GrÜHtvedel.) 


ISft.  Schwaiigersohaft^-Dänionen  in  Europa  und  der  Schutz  Tor  denselben. 

Auch  die  europäischen  Völker  sind  von  dem  Aberglauben  an  solche 
Dämonen  nicht  frei.  Im  heutigen  Griechenland  hat  man  den  Glauben,  dass 
die  Neraiden  eine  schädigende  Gewalt  über  die  Schwangeren  besitzen.  Damm  i 


186,  ScbwangerschafU'Dämonen  in  Europa  und  der  Schutz  vor  denselben. 


AI 
Bö 


,ch  die  LetztereQ  durch  Amulete  zu  sichern,  unter  denen  namentlich  der  Jaspis  eine 

ervorragende  Rolle  spielt»  Es  ist  ungliickbringend,  wenn  Jemand  über  ein  schwangeres 

"eib  steigt;   er  öffnet  damit  den  Ncraidcfi  den  Weg;  jenem  bösen  Einfliiss  varzu- 

lengen,  muas  er  nieder  über  dasselbe  zurücksteigen.    Auch  darf  sich  die  Schwangere 

icht   unter   einem  Platanen-   oder  Pappelbaum^   noch   au  Quellen  oder  sonstigen 

essenden  Wassern  lagern,  weil  hier  die  Neraiden  sich  aufzuhalten  pflegen. 

Die  schwangere  Ehstin  pflegt  jede  Woche  die  Schuhe  zu  wechseln,  um  den 

Teufel,  von  dem  man  glaubt,  dass  er  ihr  stets  nachfolgt,  um  baldigst  den  jungen 

Weltbürger  in  seine  Krallen  zu  bekommen,  aus  der  Spur  zu  bringen. 

In  Russland  ist  der  Glaube  an  den  , bösen  Blick*,  den  der  Russe  einfach 
Qlas",  das  Auge^  nennt,  sehr  verbreitet;  namentlich  aber  ängstigen  sich  vor  ihm  die 
Frauen,  wenn  sie  schwanger  sind,  denn  dann  fltrchten  sie  ihn  für  sich  selber,  wie 
ftir  die  Frucht  ihres  Leibes,  die  sie  dann  unter  grossen  Schmerzeu  gebären  müssen. 
Die  schwangere  SpagnioHn,  d*  h.  die  Jüdin  in  Bosnien  und  der  Her- 
cegovina,  ist  nach  Glück  mehr  als  andere  Leute  dem  , Verschreien*  ausgesetzt 
Aber  auch  von  den  eigentlichen  Bosniakinnen  sagt  Olück: 

«Wenn  der  Mansch  überhaupt  von  einer  gani^n  Scbaar  von  Feinden  »eines  eigenen 
eschlecbU  und  von  bSaen  Geistern  umgeben  ist,  die  ihm  das  Dasein,  wie  and  wo  sie  nur 
Onnen,  verbittern,  so  vermehrt  sich  dieselbe  noch  vielfach  einer  schwangeren  Frau  gegenüber. 
Böse  Weiber  gönnen  ihr  nicht  dae  Glück  und  versuchen  sie  zu  verzaubern  oder  zu  verdchreion ; 
feindhche  Geister,  wie  die  verschiedenen  ViU  oder  Djins^  legen  die  versebiedenaten  Binder* 
nisse  in  den  Weg,  um  ja  nmr  einen  Abortus  herbeizuführen.  Nur  der  Satan  verliert  einer 
Schwangeren  gegenüber  seine  Macht,  denn  sie  ist  durch  den  Segen  Gottes,  welchen  sie  unter 
dem  Herzen  tr&gt,  geheiligt.  Der  ganze  Schatz  der  SchutÄmaa^sregeln  gegen  das  Verachreien, 
das  Verzaubern,  den  Geisterschlag  wird  nun  in  Form  der  verschiedensten  Zierrate  als  Ab- 
lenkungsmittel, als  AnQu)ete  und  Talisman  aufgewendet,  um  die  Schwangere  vor  Schaden  zu 
schützen.     In  der  Nacht  darf  eine  Schwangere  nie  allein  das  Haus  verlatsen;  mutt  sie  es  aber 

I dennoch  thun,  m   darf  sie  nicht  vergessen,   ein  Stück  Brod  unter  der  rechten  Achsel  miUu- 
Äehmen;  sonst  wird  sie  das  Opfer  eines  bösen  Zauberers.* 
t  Die   Furcht    der   Schwangeren   vor  Dämonen   findet   «ich 

nach   v.Wlislocki^   auch    bei   deo    wandernden  Zigeunern  in 
piebenbOrgen.     Wenn  dort  eine  Frau,  welche  schwanger  ist, 
gähnt,  so  muss  sie  sofort  ihre  Hand  vor  den  Mund  halten,  damit 
nicht  böse  Geister  in  ihren  Leib  schlüpfen  können,      Sie  muss 
rothe  Haare  vom  Barte  oder  vom  Kopfe,   in  ein  Säckchen  ge- 
näht^ am  blossen  Leibe  tragen,  ^ damit  keine  Qefahr  ftlr  Mutter 
und  Kind  erwachse*.    Auch  pulverisirte  Hirschkäfer  und  Krebs-   jj*^»^*    stick n 
schalen  muss  die  Schwangere  bei  sich  tragen.     Das  hat  Bezug  ^ie   die'schwulv 
auf  einen  Dämou,  der  den  Namen  l\tdo^  der  Dicke  oder  Fette,  uuäioija*ii      DjUnoaou 
fahrt  und  der  Sohn  der  Keshalyi- Königin  Ana  ist.     Er  ist   ''^^ÄnuZU'" 
verheirathet    mit    seiner    Schwester    T^aridyi ^    der    Heissen,  8t«Ueü.i 

Glühenden,    und    zeugte    zahlreiche  Kinder  mit  ihr,   die  aUe,      ^^''*  *  /r/M/.-cA/*.) 
gleich  ihren  Eltern,  die  Weiber  namentlich   in  der  Schwangerschaft  quälen.     Die 
erbischen  Zigeunerinnen    opfern   am   Tage   Mariae  Emptangnis»   mit   Hülfe 
ner  Zauberfrau    einen    besonderen   Eierkuchen,   der    in   einen   hohlen  Baum  ge- 
orfen,  und  dieser  darauf  umtanzt  wird.     Die  in  der  Mitte  der  tanzenden  Weiher 
tehende  Zauberfrau  spricht  dazu  das  folgende  Gebet: 

,0  Ihr   8Ü8seti    mächtigen  Keshaltfi!    Lebet  £ure  Königin,   die  gute  Ana!    Lobet  tie 

von  Morgen  bis  Abend,  von  Abend  bis  Morgen  I    Lobet  sie  immerdar.  lobet  sie  ewig!     M5ge 

sie  lieb  unserer  erbarmen,    Möge  ^le  den  Tcuh  und  die  T^aridy*  von  ana    abwenden,    M5ge 

e  ihre  Enkel  und  Enkelkinder  beschwichtigen,  Damit  sie  uns  nicbt  peinigen!  Diimit  sie  ansere 

eibesfnicbt   schonen t     Unsere  Manner    sind    die  Steine    am  Wegel    Jeder  weicht  ihnen  ans, 

Jeder  tritt  eie  mit  Föesenl  Wir  sind  arme,  achwarze  Weiber,  Jeder  speit  uns  an^  Jeder  höhnt 

und  spottet  uns»  Jeder  schlägt  nnd  quilt  nna.     Wir  haben  gesQndigt,   Und  dftrfen  um  nicht 

[  Wenn  wir  schwanger  »ind,  Wir  arme  schwarte  Weiber,  Dann  kommen  die  Böaen  und 

lagen  und  quälen  ans.    Wir  geben  Euch  Knchen,    Wir   geben  Euch  Alles,   Was    wir   arme 

FlQM«  Bart«U,  Dm  Weib     G  AntL.    l,  44 


590  XXVIIL  Das  BOciaJe  Verbalten  w&hrend  der  Scbwangerscbaft. 

Weiber  beöitÄenl  Scbonet  unseren  Leib!  Schonet  unsere  Gliederl    Unglück  im  Leben, 

im  Sterben.  Diw  ist  das  Schicksal  der  armen  schwarzen  Weiber!    Erbarniet  Eucb  ausefer«  \hf 

gütigen  Keshalt/ü* 

, Schwangere  Weiber  pflegen  sich  auf  die  bauschigen  Heuadärmel  von  der  Achsel  bia 
tum  Handgelenk  herab  Lein  wandstreifen  von  ungefUhr  2  cm  Breite  aufzonähen,  worauf  die 
Figuren  der  Traridyi  und  des  Tgulo  mit  schwarzer  Wolle  gestickt  sind.  Je  ein  T^ulo  wechselt 
mit  je  einer  T{'aridt/i  den  ganzen  Leinwandstreifen  entlang  ab.  Beim  J\uto  wird  mit  Wolle 
ein  erhabener  Knoten  genäht,  an  den  dann  die  WollfUden  angeheftet  werden,  die  lose 
hängen  und  die  zahlreichen  Stacheln  des  Ti^ulo  andeuten  sollen.  Bei  dar  Darstellung 
Traridyi  wird  eine  wurm&hnliche  Figur  genäht»  an  welche  viele  dünne  Fäden  aogei 
werden,  die  auch  lose  herabhängen  imd  die  vielen  Härchen  am  Leibe  der  l\aridyi  ftodeutoi' 
eollen.  Solche  Stickereien  sieht  miin  auf  den  Hemdärmeln  der  Zigeunerinnen  Serbiens 
und  Süd- Ungarns  nicht  selten.  Diese  gestickten  Streifen  sollen  eben  die  genannten  beiden 
Krankheits-Dämonen  oder  deren  Familienglieder  für  die  betreii*ende  schwangere  Frau  gOnstig 
stimmeiu   Solche  Streifen  heisscn  P^arimakelyi,  Schwangerachaftsieug.*   fr.  WlislockiK) 

Figur  308  führt  die  Muster  dieser  Stickereien  in  natlirüeher  Grosse  Tor; 
oben  ist  der  Trulo,  unten  die  Tf;aridyi. 

Manche  siebenbürgischeo  Zelt-Zigeunerinnen  tragen  nach  v.  Wlishdfl 
während  der  Schwangerschaft  ein  Täfelchen  am  Unterleibe,  das  aus  dem  Schult^r- 
knochen  eines  Esels  geachnitKt  ist  Dasselbe  wird  jedesmal  bei  abnehmenden] 
Mond  mit  einigen  Tropfen  Kinderblut  bespritstt;  es  ißt  mit  einem  Schnürchen  aus 
den  Schwanzhaaren  des  Esels  am  Leibe  befestigt. 


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mg  dflgH 
fehdUfl 

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187,  Die  Bedeutung  des  Gürtels  in  der  Scliwaiigerseliaft. 

Eine  ganz  eigentbiim liebe  und  gewissermaassen  culturgeschichtliche  RoTle 
sehen  wir  bei  verschiedenen  Völkern  den  Gürtel  in  der  Schwangerschaft  spielen. 
Da  derselbe,  wie  wir  sehr  bald  erfahren  werden,  nicht  allein  als  ein  mechanisch 
wirkendes  Werkzeug  in  Anw^endung  gezogen  wird,  sondern  da  ihm  auch  vielfach 
überirdische,  nivstiache  Beziehungen  zugeschrieben  werden,  durch  welche  er  im 
Stande  ist,  von  der  Schwangeren  sowohl»  als  auch  von  der  Gebärenden  allerlei 
Unbilden  und  Fährlichkeifcen  fern  zu  halten,  so  glaube  ich  seiner  Besprechung 
keine  bessere  Stelle  anweisen  zu  köimeu,  als  im  Anschlüsse  an  den  vorigen  Ab- 
schnitt, welcher  sich  mit  der  Schilderung  derjenigen  Mtiassregeln  beschäftigte^  durch 
welche  böse  Geister  und  Dämonen  von  der  Schwangeren  abgewehrt  werden  können- 

Der  Gürtel,  von  welchem  ich  zu  reden  habe,  ist  nun  uicht  immer  von  der 
gleichen  Art.  Das  eine  Mal  ist  es  derjenige,  welchen  die  Frau  als  ihr  gewöhn- 
liches Kleidungsstück  vor  dem  Eintritt  der  Befruchtung  getragen  hatte,  ein  anderes 
Mal  ist  es  eine  besondere  Leibbinde,  welche  ihr  gegeben  wird,  weil  sie  schwanger 
geworden  ist;  wiederum  in  anderen  Fallen  sind  es  gürtelähnliche  Dinge,  welche 
für  gewöhnlich  niemals  Theile  des  weiblichen  Anzuges  ausmachen,  und  endlich 
können  es  Gtirtel  sein,  welche  zu  der  Schwangeren  in  gar  keiner  persönlichen, 
sondern  in  einer  rein  mystischen  Beziehung  stehen. 

Einem  weiblichen  Wesen  die  Zone  oder  das  Lingulum,  den  Gürtel,  zu  lösen, 
betrachtete  man  im  klassischen  Alterthum  als  gleichbedeutend  mit  der  Ausübung 
des  Beischlafes-  Man  vermocht«  sich  das  Eine  ohue  das  Andere  nicht  zu  denken. 
Es  ist  wohl  nicht  unwahrscheinlich,  dass  hiermit  der  Brauch  zusammenhängt, 
welchen  die  alten  Griechinnen  übten*  Wenn  bei  ihnen  zum  ersten  Male  eine 
Schwangerschaft  eingetreten  w^ar,  so  lösten  sie  selber  ihren  Gürtel  und  weihten 
ihn  im  Tempel  der  Artemis. 

Bei  den  Römerinnen  hatte  sich  die  Sitte  eingebürgert,  von  dem  8.  Monate 
der  Schwangerschaft  an  den  Leib  mit  einem  Gürtel  in  Gestalt  einer  Leibbinde  zu 
umschliessen.  Soranus  von  Ephesus  empfahl  ebenfalls  das  Tragen  einer  Leib- 
binde während  der  Gravidität.  Er  will  dieselbe  aber  nicht  länger  als  bis  zum 
Beginne  des  achten  Monats  gestatten,  damit  das  Gewicht  des  Kindes  mitwirken 
könne*  um  die  herannahende  Geburt  zu  beschleunigen.     Da  nun  bei  der  beginnen* 


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I 


692  XXVIII.  Das  sociale  Verhalten  während  der  Schwangenohaft. 

Asiens.  Der  in  dem  vorliegenden  Bache  bereits  mehrfiach  dtirte  chineBische 
Arzt  empfiehlt  seinen  Patientinnen  ebenfalls,  in  der  Schwangerschaft  eine  Leib- 
binde zu  tragen.  Dieselbe  soll  eine  Breite  von  12  bis  14  Daumen  besitzen. 
Ueber  den  Nutzen,  welchen  solch  ein  Gürtel  der  Schwangeren  schafft,  fioasert  er 
sich  folgendermaassen: 

„Zuvörderst  werden  durch  selbige  die  Lenden  gest&rkt.  Alsdann  h&lt  eine  ■olche  breite 
Binde  den  Leib  der  Schwangeren  zusammen^  und  wenn  man  unmittelbar  vor  der  Niederkonft 
dieselbe  losbindet,  so  wird  alsdann  der  Bauch  erweitert  und  der  Frucht  dadurch  Raum  ge- 
schafft, sich  umzukehren.  ** 

Auch  die  Birmaninnen  haben  die  Sitte,  in  der  Schwangerschaft  den  Leib 
mit  einem  Oürtel  zu  umschliessen.  Sie  legen  diese  Leibbinde  erst  nach  dem  Ab- 
laufe des  siebenten  Monats  an  und  schlingen  dieselbe  fest  um  den  Leib  in  der 
Absicht,  das  Aufsteigen  der  Gebärmutter  zu  verhindern.  Denn  sie  sind  der 
Meinung,  dass,  je  hoher  die  Frucht  im  Bauche  steigt,  einen  um  so  längeren  Weg 
müsse  sie  beim  Heruntersteigen  zurückzulegen  haben,  und  um  so  schmerzhafter 
werde  die  Entbindung  sein.    (Engelmann.) 

In  Japan  herrscht,  vielleicht  ursprünglich  von  China  her  beeinflusst,  eben&Ils 
der  Gebrauch  bei  den  Schwangeren,  dass  sie  eine  Leibbinde  oder  einen  GKLrtel  tragen, 
und  zwar  stammt  diese  Gewohnheit  ohne  Zweifel  schon  aus  einer  sehr  alten  Zeit 

Verrier  hat  über  diesen  Punkt  die  folgende  Angabe  in  einem  Berichte  des 
Guido  GueÜeri  über  die  Ankunft  einer  japanischen  Gesandtschaft  in  Rom  im 
Jahre  1586  aufgefunden: 

.Et  avant  qu'elles  ne  soient  enceintes  (les  Japonaises),  elles  portent  une  ceinture 
large  et  flottante;  mais  das  qu'olles  s'aper9oiYent  de  leur  grosseese,  ellee  resserrent  cette  cein- 
ture si  fortement  avec  une  bandelette  qu'ü  semble  qu*elle8  vont  diäter.  MaJgrä  cela,  disent- 
elles,  nous  savons  par  expörience  que  si  nous  ne  nous  serrions  pas  ainsi,  il  en  r^tolterait  pour 
nous  un  tr^s  mauvais  accouchemont.* 

Auf  den  japanischen  Abbildungen  wird  der  Gürtel  nicht  immer  in  der  gleichen 
Weise  dargestellt.  In  Fig.  309  sehen  wir  eine  knieende  Schwangere,  bei  welcher 
der  Gürtel  oben  über  den  Leib  nach  Art  eines  breiten  Tuches  gelegt  ist.  Das 
Bild  entstammt  einem  japanischen  Buche,  welches  den  Titel  führt:  Wie  man 
bei  kranker  Familie  zu  verfahren  hat.  Von  anderen  japanischen  Dar- 
stellungen des  Gürtels  wird  sogleich  noch  die  Rede  sein. 

In  seinen  reformatorischen  Bestrebungen  hat  Kangawa  in  Japan  auch  gegen 
die  Anlegung  der  Leibbinde  angekämpft.  Er  sagt  über  die  Herkunft  dieses  Gebrauches : 

»In  Japan  ist  es  allgemein  Sitte,  dass  die  Frau  vom  fünften  Monate  an  um  ihren 
Leib  ein  seidenes  Tuch  fest  bindet;  der  Zweck,  den  man  damit  zu  erreichen  sucht,  ist,  den 
fötalen  Dunst  (Geist,  Lebenskraft)  zu  beruhigen,  damit  er  nicht  aufsteige.  Man  sagt,  das» 
diese  Sitte  aus  der  Zeit  der  Kaiserin  Hjin-go-kogu  stamme,  die  im  Kriege  geg^n  Korea  selbst 
als  Feldherrin  einen  Panzer  trug,  den  sie,  weil  sie  schwanger  war,  dadurch  an  ihren  Leib 
befestigte,  dass  sie  ein  zusammeogefaltetes  seidenes  Tuch  um  letzteren  fest  anlegte.  Nach  der 
Eroberung  von  Korea  gab  sie  einem  Prinzen,  dem  nachmaligen  16.  Kaiser  O-djin  (sp&ter  zum 
Gott  des  Krieges  erhoben)  glücklich  das  Leben.  Der  Kaiserin  zu  Ehren  leg^n  dann  die 
schwangeren  Frauen  ebenfalls  die  Binde  an,  in  der  Hoffnung,  dadurch  Friede  und  Wohlstand 
zu  verewigen.*     (Miydke.) 

Hiemach  würde  dieser  Gebrauch  ungeföhr  200  nach  Christi  Geburt  ent- 
standen sein.  Das  ist  aber,  wie  Kangawa  sagt,  nicht  richtig,  sondern  in  den  ge- 
schichtlichen Quellen  wird  erst  1118  nach  Christo  die  Leibbinde  erwähnt,  und 
erst  noch  viel  später  wird  davon  gesprochen,  dass  die  Gemahlin  des  Yoritomo  in 
ihrer  Schwangerschaft  mit  besonderen  Ceremonien  die  Leibbinde  anlegte. 

Aus  dem  japanischen  Buche  Schorei  Hikki  übersetzt  Mitford: 

.In  dem  fünften  Monate  der  Schwangerschaft  einer  Frau  wird  ffir  die  Anlegung  eines 
Gürtels  aus  weisser  und  rother  Seide,  gefaltet  und  von  acht  Fuss  Länge,  ein  glückrerheiasender 
Tag  bestimmt.  Der  Gatte  zieht  diesen  Gürtel  aus  dem  linken  Aermel  seines  Kleides  hervor 
imd  die  Gattin  empf&ngt  ihn  in  dem  rechten  Aermel  ihres  Gewandes  und  legt  ihn  Eiun  enUn 
Male  an.    Diese  Ceremonie  hat  nur  einmal  statt.    Nach   der  Geburt  des   Kindes  wird  der 


187,  Dtd  BedeatuDg  des  GürteU  in  der  Schwangerschaft. 


693 


reisse  Theil  des  Gürtela  himmelblau  gefärbt  mit  einer  besonderen  Marke  darauf,  nnd  daraus 

rird  ein  Kleid  lUr  das  Kind  gemacht.  Dies  sind  aber  nicht  die  ersten  Kleider,  welche  das 
(ind  tnlgt.  Dem  Färber  giebt  man  bei  dieser  Gelegenheit  Wein  nnd  Kingemachtee,  wenn 
ihm  der  Gürtel  anvertraut  wird.  Gewöhnlich  erbittet  man  sich  dazu  den  Gürtel,  den  eine 
Frau,  die  sehr  leicht  entbunden  wnrde,  während  ihrer  Schwangerschaft  getragen  hat,  und 
äiese  Frau  wird  die  Görtelmutter  genannt.     0er  geliehene  Gürtel   wird  mit  dem^  welchen 

er  Gatte  gab,  «usammengebunden ,  und  die  Gürtelmutter  giebt  und  empt^gt  bei  dieser 

elegenheit  ein  Geschenk.* 

Kangawa    erklärt    die   Leibbinde    ,nach    einer    vieljährigen    Erfahrung    fUr 

chädlich*.     Die  Natur  besitze  vollständig  die  Kraft,  alles  Lebende   wachsen  und 
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Fig.  Hlü.    Schwangere  JftpuDtirin,  welch«r  die  LeibbindH  &n^le^.  wird. 
(Naeb  etnem  jAii&niscb«ii  Uolzaobnitt.) 

lieh    entwickeln    zu    lassen,    die  Leibbinde   aber   könne   diese    naturgemäflse  Eni- 
Wickelung  nur  henunen,    ganz  ebenso  als   wenn  man   einen  Stein  auf  die  Wurzel 
einer    Pflanze    lege    und    letztere   dadurch    in    ihrem    Wachsthum    behindere.      Es 
_brächten    ja    auch    die  Thiere    ihre  Jungen    ohne    die   Hölfe   einer  Leibbinde    zur 
^elt.     Die  Leibbinde  habe  nur  schädliche  Wirkungen,   denn    sie   störe  den  Blut- 
lauf, sie  erzeuge  Schwindel  und  Blutungen,  und  sie  verursache  Schieflagen  der 
[Inder  und  allerlei  andere  Schädlichkeiten. 

Kangawa  schlieest  dann  seine  Verwerfung   der  Leibbinde  mit  de»  Worten: 
«t#eider  kann  ich  allein»  oiu   so  kleiner  Körf»er  in  der   grossen  WeH»   meine  M«il*o* 
licht  verbreiteo,  ich  hoflfe  aber  dennoch,  das»  eie  allmähUch  durchdringen 


694  XXVIII.  Das  sociale  Verhalten  während  der  Schwanj^erschaft. 

Mit  allen  solchen  rationellen  Neuerungen  geht  es  wie  überall,  so  aach  in 
Japan,  ziemlich  langsam.  Zwar  erklärte  in  den  zwanziger  Jahren  unseres  Jahr- 
hunderts der  japanische  Arzt  Mimaeunea: 

, Früher  trugen  die  Schwangeren  vom  fQnften  Monat  an  die  Leibbinde,  jotst  ist  tie 
durch  den  £influ88  des  Kangawa-Gen-Uts  abgeschafft.' 

Dagegen  war  nach  dem  Ausspruche  eines  russischen  Arztes  diese  Sitte 
noch  in  den  sechziger  Jahren  unseres  Jahrhunderts  in  Japan  verbreitet;  er  sagt: 

«Schwangere  schnüren  sich  im  fünften  Monat  den  Leib  in  der  epigastriBchen  Gegend 
mit  einem  schmalen  Gurt  sehr  fest  in  der  Absicht,  dass  der  Fötus  nicht  zu  gross  werde  und 
die  Geburt  nicht  erschwere.* 

Das  Anlegen  des  Gürtels  bei  einer  schwangeren  Japanerin  zeigt  uns  ein 
Holzschnitt  in  einem  der  japanischen  Werke,  welche  sich  in  dem  Besitze  des 
kgl.  Museums  für  Völkerkunde  in  Berlin  be&iden.  Die  Schwangere  (Fig.  310) 
kniet  aufrecht  auf  dem  Fussboden  des  Zimmers  mit  vom  weit  geoffiietem  Kleide, 
so  dass  ihre  Brust  und  ihr  Bauch  gänzlich  entblosst  sind.  Vor  ihr  kniet  eine 
andere  weibliche  Person,  vielleicht  eine  Verwandte  oder  die  Hebamme,  und  schlingt 
ihr  eben  die  Leibbinde  um  den  Leib.  Ein  junges  Mädchen  sieht,  eben&Us  knieend, 
dieser  Handleistung  zu. 

In  der  Fig.  283  lernten  wir  bereits  eine  schwangere  Japanerin  nach  der 
Zeichnung  von  Uohusai  kennen.  Ich  habe  dort  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass 
der  um  ihren  Leib  geschlungene  Gürtel  als  ein  sicheres  Zeichen  angesehen  werden 
muss,  dass  die  Frau  sich  wirklich  in  dem  Zustande  der  Schwangerschaft  befindet. 

Christian  weist  in  der  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  des  Ossian   darauf  hin: 

,que  les  anciens  Geltes  de  laCaledonie  attribuaient  des  vertus  merveilleuses  ä certaines 
ceintures.  Suivant  une  expression  d* Ossian  qu'ii  cite,  elles  ^taient  propres  ä  acc^lörer  la 
naissance  des  h^ros.  Le  m^me  autenr  ajoute  <)u'il  n*y  a  pas  longtemps  encore  on  conservait 
dans  le  aord  de  TEcosse  plusieurs  de  ces  ceintures;  on  y  yoyait  trac^es  des  figures  mysi«- 
rienses,  et  on  les  ceignait  autour  des  femmes  avec  des  gestes  et  des  paroles  qui  prouvaient 
que  cet  usage  venait  originairement  des  dniides.* 

BonnefUfve,  welcher  dieses  citirt,  wurde  hierdurch  veranlasst,  der  anthro- 
pologischen Gesellschaft  von  Paris  einen  Gürtel  vorzulegen,  wie  ihn  auch  heute 
noch  die  Ursuliuerinnen  von  Quintin  (Cötes-du-Nord)  zu  fertigen  pflegen. 

nCes  religieuses  tiennent  une  des  principales  maisons  d'^ducation  de  la  Bretagne. 
Lorsque,  apres  sa  sortie  du  couvent,  une  jenne  fille  qu*elle8  ont  comptee  au  nombre  de  leun 
Kleves  86  marie  et  qu'elle  vient  d  Otre  enceinte,  les  pieuses  nonnes  lui  envoient  un  ruban 
semblable  u  celui  que  j*ai  Thonneur  de  vous  presenter  aujourd*hui.  11  est  en  soie  blanche, 
et  rhabile  pinceau  de  la  meilleure  calligraphe  de  la  communaut^  Ta  d^core  d'une  belle 
inscription  en  lettres  bleues.  Avant  de  Texpedier  on  a  eu  g^rand  soin  de  le  faire  toucher  au 
reliquaire  de  Feglise  paroissiale  dans  lequel  on  conserve  un  pröcieux  Fragment  d*une  ceinture 
ayant  appartenu  ä  la  sainte  Vierge.  De  nombreux  parchemins  garantissent  Tauthenticite 
de  ce  morceau  d'ötofiPe.  L'inscription  peinte  dont  je  vous  ai  parl^  est  la  suivante:  ,yXotre 
Dame  de  Velivrance,  protegoz-nous.*  La  jeune  femme  qui  regoit  le  ruban  b^ni  s'empresse  de 
se  le  mettre  autour  du  corps  afin  que  ses  couches  se  passent  heureosement.* 

Es  ist  wohl  nicht  mit  Sicherheit  zu  sagen,  ob  wir  hierin  ein  üeberlebsel 
interessanter  Art  aus  dem  Heidenthum  anerkennen  sollen,  wenn  auch  dieser  Ge- 
danke unleugbar  manches  Bestechende  hat.  Aber  wir  finden  auch  innerhalb  der 
katholischen  Christenheit  in  manchen  anderen  Ländern  heilige  Gürtel,  namentlich 
bei  schwerer  Niederkunft,  eine  ganz  besonders  wichtige  Rolle  spielen.  So  war 
es  in  Frankreich  nach  Witkowski  der  Gürtel  des  Saint  Oyan  und  der  auch 
jetzt  noch  käufliche  Cordon  de  Saint  Joseph,  in  England  im  Jahre  1159  der 
Gürtel  des  Abtes  jRofter/  von  Newminster,  und  in  Schwaben  steht  noch  heute, 
wie  wir  später  sehen  werden,  der  Gürtel  der  heiligen  Margarethe  in  hohem  Ansehen. 

Ein  mit  besonderen  Ornamenten  gestickter  Gürtel  von  ungefähr  10  cm  Breite 
spielt  auch  bei  den  Zigeunern  der  Donau-Länder  eine  Rolle,  r.  Wlislocki^ 
bildet   diese  als  „Kreuz"   oder  , Glück*   bezeichneten  Stickereien   ab   und  sagt, 


188.  Die  rechtliche  Stellung  der  Schwangeren.  695 

dass   solche  Gürtel   schwangere  Weiber    um   den  Leib   geschlungen   tragen.     Die 
Kreuze  sind  mit  grüner,  die  Flächen  mit  rother  oder  gelber  Wolle  ausgenäht. 

^Zu  bemerken  ist,  dass  die  Leibgürtel  der  angarischen  und  siebenbürgischen 
Zigeunerinnen  gewöhnlich  aus  einem  IV2  bis  2  Meter  langen  groben  Leinwandstreifen 
bestehen,  selten  aus  weichgegerbtem  Ealbleder.  An  diesen  Gürtel  werden  auch  einige  Bären- 
klauen und  Einderzähne  oder  auch  nur  Hasenpfoten  angehängt,  damit  das  betrefiPende  Weib 
ein  gesundes,  starkes  und  flinkes,  lebhaftes  Kind  zur  Welt  bringe.* 

„Serbische  und  bosnische  Zigeunerinnen  tragen,  sobald  sie  sich  in  anderen 
Umständen  fühlen,  um  den  blossen  Leib  einen  aus  Eselschwanzhaaren  gewirkten,  ungefähr 
5  Finger  breiten  Gürtel,  in  den  fortlaufend  je  ein  Stern,  ein  zunehmender  und  ein  ab- 
nehmender Mond  mit  rother  Baumwolle  gestickt  ist.  Durch  das  Tragen  dieses  Gürtels  glauben 
sie  die  ihnen  bevorstehenden  Geburtswehen  zu  erleichtem  und  die  Erankheits-Dämonen  von 
ihrem  Leibe  ferne  halten  zu  können.  Mit  Bärenklauen  besetzte  Gürtel,  die  über  das  Ober- 
kleid geschlungen  und  nicht  am  blossen  Leibe  getragen  werden,  sollen  dieselben  Dienste 
leisten."     Cv.  Wlislocki^.J 

Die  Bärenklauen  beziehen  sich  auf  eine  zigeunerische  Sage  von  einer 
sehr  starken  Königin,  welche  Bären  zur  Welt  brachte,  {v.  Wlishdci^.)  Darum 
heisst  es  in  einem  Volksliede  der  Zigeuner: 

aJa!  Ihr  könnt  mich  wohl  anschauen! 
Mütterchen  trug  Bärenklauen; 
Stark  bin  ich  drum,  wie  die  Eiche, 
Teufeln  selbst  ich  nicht  ausweiche  u.  s.  w.* 

Ein  Paar  eigenthümliche  Ausläufer  dieser  Anschauungen  von  der  helfenden 
Kraft  des  Gürtels  in  der  Schwangerschaft  und  bei  der  Entbindung  treffen  wir 
in  der  italienischen  Provinz  Bari  und  in  der  Mark  Brandenburg  an.  In 
Bari  yermag  man  der  Kreissenden  eine  glückliche  Entbindung  zu  sichern,  wenn 
man  um  ihre  Körpermitte  einen  Strick  gürtet,  welcher  dazu  gedient  hatte,  bei 
der  Schafschur  die  vier  Füsse  der  Schafe  zusammenzubinden  (Kartisio\  und  im 
Brandenburgischen  suchen  sich  die  Schwangeren  nach  Engelien  dadurch  eine 
leichte  Niederkunft  zu  yerschaffen,  dass  sie  um  ihren  Leib  die  üaut  einer  Schlange 
binden,  welche  sie  gefunden  haben.  Dass  auch  hier  etwas  Mystisches  und  zwar 
Toraussichtlich  aus  dem  Heidenthume  her  im  Hintergninde  steckt,  das  muss  man 
wohl  mit  Sicherheit  annehmen. 

188.  Die  rechtliche  Stellung  der  Schwangeren. 

Die  meisten  Völker  lassen  die  Frauen  während  ihrer  Schwangerschaft  bis 
zum  Beginne  der  Niederkunft  der  Arbeit  nachgehen.  An  sich  ist  dies  allerdings 
nicht  schädlich,  insoweit  keine  Ueberlastung  damit  verbunden  ist.  JRighy  und 
andere  Geburtshelfer  haben  in  der  That  auch  gefunden,  dass  die  Geburt  dann  am 
leichtesten  verläuft  und  die  besten  Resultate  giebt,  wenn  das  Weib  bis  zuletzt 
ihre  gewohnte  Beschäftigung  fortgesetzt  hat.  Diese  Beobachtung  wird  wohl  jeder 
Arzt  in  seiner  Praxis  bestätigt  finden.  Dagegen  sind  die  vornehmeren  Damen, 
welche  ihre  Körj)erkräfte  kaum  ausgiebig  verwerthen,  vielmehr  jede  Anstrengung 
ängstlich  vermeiden  und  namentlich  während  der  Schwangerschaft  ein  möglichst 
ruhiges  Leben  führen,  wenig  geeignet,  die  Geburtsarbeit  leicht  und  ohne  Hülfe 
zu  überstehen.  Auch  in  Deutschland  arbeiten  fleissige  Frauen  aus  dem  Volke, 
wenn  sie  guter  Hoffnung  sind,  meist  fort  bis  zur  letzten  Stunde  vor  der  Nieder- 
kunft; freilich  mag  dies  wohl  an  manchen  Plätzen  übertrieben  werden. 

üeberall  dort  aber,  wo  die  gesellschaftliche  Stellung  der  Frau  und  Mutter 
eine  achtungsvolle,  ihre  Behandlung  keine  rohe  ist,  wird  ihr  in  dem  Zustande  der 
Schwangerschaft  eine  vermehrte  Rücksicht  entgegengebracht,  während  ihr  bei  den 
rohesten  Völkern  dieselben  Lasten  aufgebürdet,  dieselben  Mühen  zugemuthet  werden, 
die  der  Mann  ihr  auch  sonst  auferlegt,  wo  sie  ein  Kind  nicht  unter  ihrem  Herzen 
trägt.  Je  cultivirter  ein  Volk  ist,  je  mehr  bei  ihm  sich  der  Familiensinn  ausge- 
bildet hat,  um  so  vorsichtiger  werden  die  Schwangeren  behandelt. 


696  XXVIII.  Das  sociale  Verhalten  w&hrend  der  Schwangerschaft. 

Die  Schonung,  welche  man  der  Schwangeren  zu  Theil  werden  ISsst,  hfingt 
vielfach  von  der  Werthschätzung  des  zu  erwsurtenden  Kindes  ab.  Denn  wo  man 
die  Kinder  als  »Segen  Gottes '^  betrachtet,  wo  man  die  Trägerin  dieses  zu  erhoffenden 
Segens  als  Eine  bezeichnet,  die  „gesegneten  Leibes **  ist,  die  sich  in  «guter  Hoff- 
nung' befindet,  da  ist  es  ja  auch  ganz  natürlich,  dass  man  ihr  von  allen  Seiten 
eine  freundliche  Fürsorge  entgegenbringt. 

Bei  den  Indianern  in  Süd-Amerika,  welche  Prinz  Max  zu  Wied  be- 
suchte, werden  die  Weiber  fast  wie  die  Lastthiere  behandelt.  Dieses  ändert  sich 
aber  sofort,  wenn  eine  Schwangerschaft  eingetreten  ist;  dann  wird  ihr  mühevolles 
Leben  erleichtert.  Auch  die  Indios  da  Matte  ersparen  ihren  schwangeren 
Frauen  die  harte  Arbeit. 

Von  den  nordamerikanischen  Indianern  sagt  Engdmann^  dass  man 
bei  den  umherziehenden  Stämmen  sich  wenig  oder  nichts  aus  dem  Zustande  der 
Schwangerschaft  macht.  Mehr  Aufmerksamkeit  erregt  er  schon  bei  der  ansässigen 
Bevölkerung,  wie  den  Pueblo-Indianern  oder  den  Eingeborenen  Mexikos.  Man 
erlaubt  der  Schwangeren  keine  üeberanstrengung  und  lässt  sie  häufig  warm  baden. 

Auf  den  Carolinen-Inseln  verdoppelt  der  Mann,  der  jederzeit  voll  Auf- 
merksamkeit für  seine  Frau  ist,  seine  Rücksicht  und  Zärtlichkeit  während  ihrer 
Schwangerschaft.  Sobald  er  diesen  Zustand  bemerkt,  arbeitet  sie  nicht  mehr  und 
bleibt  beinahe  immer  zu  Hause  in  Matten  eingehüllt;  in  dieser  Zeit  wird  sie  von 
ihrem  Ehemann  bedient. 

Auch  auf  den  Pelau-Inseln  wird  die  Schwangere  von  der  schweren  Arbeit 
befreit  und  sie  wird  dabei  von  alten  Weibern  in  Obhut  genommen. 

Best  fand  im  Jahre  1788,  dass  in  Madras  nicht  nur  die  Familie,  sondern 
auch  alle  Dorfgenossen  der  Schwangeren  stets  mit  Achtung  begegnen.  Alles, 
was  ihr  gefährlich  werden  kann,  wird  entfernt;  Alles,  was  ihr  Wohlsein  fSrdem 
kann,  herbeigeschafft. 

Die  Frauen  der  Battaker  in  Sumatra  unterbrechen  während  der  Schwanger- 
schaft ihre  Feldarbeiten  nicht;  nur  die  Gattin  des  Häuptlings  hat  das  Recht, 
während  der  letzten  zwei  Monate  zu  Hause  zu  bleiben. 

Nicht  nur  auf  den  Carolinen-,  sondern  auch  auf  den  Marianen-,  Mar- 
shall- und  Oilbert-Inseln  im  Stillen  Ocean  werden  die  schwangeren  Frauen 
gut  geflegt,  sind  aber  manchen  religiösen  Beschränkungen  in  Bezug  auf  die 
Speisen,  das  Zusammensein  mit  den  Männern  u.  s.  w.  unterworfen. 

Die  Annamiten-Frau  in  Cochinchina  hält  im  Allgemeinen  während  der 
Schwangerschaft  eine  besondere  Lebensweise  nicht  für  nothig  (mit  Ausnahme 
einiger  später  zu  erwähnenden  Rücksichten  auf  die  Kost),  allein  vom  sechsten 
oder  siebenten  Monat  an  will  sie  der  Sorge  für  den  Haushalt  enthoben  sein. 

Abgesehen  von  diesen  mehr  in  das  äebiet  der  Gesundheitspflege  gehörenden 
Bestimmungen  weisen  die  Gesetze  mancher  Völker  der  Schwangeren  auch  noch 
in  anderer  Beziehung  eine  rücksichtsvolle  Ausnahmestellung  zu.  So  besteht  bei 
den  Süd-Slaven  die  Zadruga,  eine  Familiengemeinschaft,  welche  unter  be- 
stimmten Umständen  die  Nahrungsmittel  nach  Köpfen  zu  vertheilen  pflegt ;  dabei 
bekommt  nach  BogiUc  im  Kreise  von  Sabac  in  Serbien  jede  schwangere  Frau 
für  das  noch  nicht  geborene  Kind  so  viel  mehr,  als  sie  im  Rocke  wegtr^en  kann. 

Bei  den  Römern  genossen  die  Schwangeren  insofern  gewisse  Vorrechte, 
als  sie  nicht  vor  Gericht  gezogen  werden  konnten,  bevor  sie  ihre  Entbindung 
überstanden  hatten.  Das  Gleiche  berichtet  Plutarch  von  den  Griechen,  aber 
hier  wurde  es  so  weit  ausgedehnt,  dass  selbst  auch  nur  bei  einem  Verdachte,  dass 
eine  Schwangerschaft  bestehen  könne,  das  Verfahren  bis  auf  Weiteres  ausgesetzt 
wurde.  Nacn  seiner  Angabe  stammt  das  Gesetz  bereits  von  den  alten  Aegyptern 
her.  Auch  die  altgermanischen  Rechtsgebräuche  nehmen  auf  die  Schwanger- 
schaft Rücksicht.  Strafen  wurden  erst  nach  der  Entbindung  vollzogen;  nur  im 
Hexenprocess  kannte  man  keine  Schonung.     (Weinhald.) 


189.  Die  Fernhftltuag  der  Schwangeren.        ^^^^^BP         697 

Begeht  bei  deu  AnnaraiteD  eine  Frau  ein  VergeheD,  das  mit  Stockschlägen 
Bstraft  wird,  so  darf  der  Richter  diese  Strafe  nicht  vollziehen  lassen,  solange  die 
i^rau  in  anderen  Umständen  ist;  auch  muss  noch  hundert  Tage  nach  der  Ent- 
bindung mit  der  Strafe  gewartet  werden.  Handelt  der  Richter  dem  zuwider  und 
tritt  danach  bei  der  Frau  eine  Fehlgeburt  ein,  so  bekommt  er  selber  hundert 
Stockschläge  und  eine  dreijährige  Kettenstrafe.  Auch  mit  der  Todesstrafe  wartet 
man  bei  den  Schwangeren,  bis  hundert  Tage  nach  der  Niederkunft  Terflossen  sind. 
(Mondure,) 

Fast    über    die    gesammten  Inselgruppen    im  Südosten    des    mala ji sehen 

■Archipels   finden  wir  die  Bestimmung  getroffen,    dass    eine    schwangere  Frau    in 

keiner  Sache  als  Zeugin  auftreten  darf.     Was  der  Grund  für  dieae  Maassregel  ist^ 

'fts  hissi  sich    nicht   so    ohne  Weiteres    sagen.     Vielleicht    hatte    man    dabei    die 

lückwicht,  der  Schwangeren  das  bei  solchen  Gelegenheiten  unvermeidliche  Anhören 

iron  Zank  und  Streit  zu  ersparen,    vielleicht   aber  war  es  die  Sorge,   dass   durch 

jmpathetischen  Einfluss  auf  das  Kind  dieses  sich  später  zu  einem  Menschen  ent- 

rickeln  würde,  der  dauernd  mit  den  Gerichten  zu  thun  hatte.     Dieses  letztere  ist 

B.  die  Ursache,  warum  in  Oldenburg  die  schwangere  Frau  nach  dem  Glauben 

ies  Volkes   vor  Gericht    nicht   schwören    darf.     Es    könnte    diesem    Gesetze    aber 

fcuch  Doch  eine  dritte  Idee  zu  Grunde  liegen,  dass  man  nämlich  der  Schwangeren, 

reiche  durch  ihren  Leibeszustand  mehr  in  sich   gekehrt   und    mit  sich  selbst  be- 

chäftigt,  dasjenige»  was  um  sie   her   vorgeht,   weniger   beachtend,   in    ihren  An- 

"gaben  nicht  eine  genügende  Glaubwürdigkeit  zutraute,    und    dass   sie  daher  auch 

als  Zeugin   nicht  die    für   eine    so    wichtige  Sache    durchaus    nothwendige  Zuver- 

Llaasigkeit  besitzt.     Vielleicht  ist  es  nicht   zu    weit    gegangen,    wenn    wir    die    in 

'Europa  so  vielfach  angetroffene  Sitte,  dass  eine  schwangere  Frau  nicht  Gevatter 

stehen    darf,    dass   e«    ihr   also   verboten   ist,    als   Taufzeugin    zu    functioniren 

(Ostpreussen,     Pommern,     Schlesien,     Voigtland,     Kleinrussland),    ur- 

q>rünglich  aus  einem  ähnlichen  Gedankengange  zu  erklären  versuchen.    Allerdings 

giebt  das  Volk  jetzt  als  Ursache  dafür  an,  dass  eine  solche  Pathenschaft  entweder 

lern  Täufling  oder  dem  zukünftigen  Weltbürger  unfehlbar  den  Tod  bringen  würde- 

Ira    birmanischen  Reiche    feiert    man    den    ersten  Tag    des  Jahres    durch 

rosse  Feste,    wobei  Jedermann,    der  sich    auf  der  Strasse  blicken  lässt,   er   mag 

loch  so  hohen  Rang  haben,  in  das  Wasser  getaucht  wird;  nur  schwangere  Frauen 

sind  von  dieser  Ceremonie  befreit,  sie  brauchen  nur  durch  ein  Zeichen  anzudeuten, 

^dass  sie    respectirt    sein    wollen,     {Hureau,)     Wir    müssen    auch    bierin    ein  Äus- 

Eiahmerecht  der  Frauen  während  der  Gravidität  erkennen. 

Für  glückbringend  wird   die  Schwangere  bei  den  nördlichen  Slaven   be- 
trachtet.    Die  jungen  slavischen  Eheleute  in  Böhmen  und  Mähren  sind  buch 
freut,   wenn  eine  Schwangere  sie  besucht.     Denn  das  bringt  der  jungen  Gattin 
ine  günstige  Fruchtbarkeit.     (Grvhmann.) 


189,  Die  Fernlialtuug  der  Schwangeren. 

Es  wurde  in  einem  früheren  Abschnitte  bereits  auf  eine  Bemerkung  des 
7fitttf^  aufmerksam  gemacht,  welcher  sagt,  dass  «ausser  dem  Weibe*  nur  sehr 
renige  Thiere  die  Begattung  ausluhren,  wenn  sie  trächtig  sind.  Dieser  Satz  be- 
irf  sehr  erheblicher  Einschränkungen,  denn  es  giebt  eine  grosse  Anzahl  von 
Völkern  in  allen  Theilen  der  bewohnten  Erde,  bei  welchen  der  Beischlaf  mit 
iner  Schwangeren  auf  das  allerstrengste  verboten  ist.  In  den  allermeisten  Fällen 
rird  dieses  Gebot  auch  nicht  übertreten,  sondern  mit  der  grössten  Peinlichkeit 
und  Strenge  von  dem  Ehegatten  emgebalten.  Nicht  immer  ist  es  nur  eine 
Trennung  vom  Bett,  sondern  auch  eine  Trennung  vom  Tisch;  denn  ganz  ähnlich, 
rie  tut  Zeit  der  Menstruation,  ist  es  dem  Weibe  häufig  nicht  gestattet,  mit  dem 
oder   selbst   auch  mit  den  übrigen  Gliedern   der  Familie    gemeinsam   die 


098  XXVIII.  Das  sociale  Verhalten  während  der  Schwangerschaft. 

Mahlzeiten  einzunehmen.     Bisweilen  darf  sie  nicht  einmal  unter  dem  gleichen  Dache 
mit  ihnen  weilen. 

Diese  Femhaltung  hat  nicht  immer  sofort  im  Anfange  der  Schwangerschaft 
statt.  Bei  den  Szuaheli  in  Ost-Afrika  z.  B.  wird,  wie  Kersten  angiebt,  die 
Frau  bis  zum  sechsten  Monate  nach  der  Empfangniss  von  dem  Manne  geschlecht- 
lich benutzt.  Dann  allerdings  muss  er  Zurückhaltung  üben,  weil  man  annimmt, 
dass  sonst  eine  schwere  Entbindung  die  Folge  sein  würde. 

Bei  den  Parsen  ist  es  gestattet,  die  eheliche  Beiwohnung  fortzusetzen,  bis 
seit  den  ersten  Anzeichen  der  Schwangerschaft  4  Monate  und  10  Tage  Terstrichen 
sind.  Ein  Beischlaf  aber  nach  dieser  Zeit  gilt  als  ein  todeswürdiges  Verbrechen, 
denn  man  glaubt  nach  du  Perron^  dass  dadurch  das  Kind  im  Mutterleibe  Schaden 
erlitte.  Bei  anderen  Volksstämmen  aber  muss  sich  der  Mann  während  der  ganzen 
Dauer  der  Schwangerschaft  sorgfaltig  seiner  Frau  enthalten.  Solche  Enthaltsam- 
keit üben  die  Aschanti  und  nach  Holländer  auch  die  Basutho;  das  Gleiche 
gilt  von  den  Indianern  Nord-Amerikas  und  von  den  Eingeborenen  der  An- 
tillen. In  Florida  wird  die  Trennung  sogar  noch  nach  der  Entbindung  bis  anf 
einen  Zeitraum  von  zwei  Jahren  ausgedehnt. 

Auch  auf  den  kleinen  Inseln  des  malayischen  Archipels  ist  die  Enthaltung 
vom  Beischlaf  während  der  Schwangerschaft  eine  allgemeine  und  streng  durch- 
geführte Vorschrift,  und  der  Wunsch,  dieses  lästigen  Verbotes  überhoben  zn  sein, 
giebt  den  Weibern  bisweilen  die  Veranlassung   zur  künstlichen  Fruchtabtreibung. 

Der  geschlechtliche  Umgang  mit  einer  Schwangeren  war  bei  den  alten 
Iranern,  den  Baktrern,  Medern  und  Persern  durch  religiöse  Gesetze  streng 
verboten:  wer  eine  solche  beschlief,  erhielt  nach  den  Bestimmungen  des  Vendidad 
2000  Schläge;  ausserdem  musste  er  zur  Sühne  seines  Vergehens  1000  Ladungen 
harten  und  ebenso  viele  weichen  Holzes  zum  Feuer  bringen,  1000  Stück  Kleinrieh 
opfern,  1000  Schlangen,  1000  Landeidechsen,  2000  Wassereidechsen,  3000  Ameisen 
tödten,  und  30  Stege  über  fliessendes  Wasser  legen.  Der  Keim  des  Lebens 
durfte  nicht  verschwendet  und  das  bereits  vorhandene  neue  Leben  nicht  verletzt 
werden.     (Dnncker,) 

Aehnlich  stellten  die  Ilabbiner  des  Talmud  die  Lehre  auf: 

,In  «Ion  ersten  drei  Monaten  nach  der  Empfangniss  ist  der  Coitas  sowohl  für  die 
Schwangeren,  als  auch  für  die  Frucht  nehr  nachtheilig;  wer  denselben  am  90.  Tage  aasflbt 
begeht  eine  Handlung,  als  wenn  er  ein  Menschenleben  vernichtet.*  Der  vorsichtige  Rabbi 
AhlHija  fügt  hinzu:  ^Da  man  <lieKen  Tag  jedoch  nicht  immer  genau  wissen  kann,  so  hütet 
Gott  die  Einfältigen/ 

Und  auch  bei  den  Indern  widerräth  Susruta  die  Ausübung  des  Coitus 
während  der  Schwangerschaft,  und  ebenso  erklären  die  Aerzte  der  Chinesen  ,,al8 
erste  und  wichtigste  Regel*  während  der  Schwangerschaft  die  gänzliche  Enthaltung 
von  physischer  Liebe.     (i\  Martins.) 

Die  schwangere  Annami tin,  die  sich  von  ihrem  Gatten  trennt,  sucht  flir 
ihn  eine  sogenannte  Vö  be,  d.  h.  eine  Gattin  niederen  Ranges,  welche  ihm  in  dieser 
Zeit  der  Absonderung  zugleich  als  Magd  und  als  Beischläferin  dient.    (Mondirre.^ 

Wenn  auf  der  Carolinen -Insel  Yab  ein  Weib  die  ersten  Zeichen  der 
Schwangerschaft  ilihlt,  so  enthält  sie  sich  des  weiteren  Verkehrs  mit  dem  Manne 
und  })leibt  ihm  auch  8 — 10  Monate  nach  der  Entbindung  fern.  Der  Mann,  der 
zu  seinem  Club  (bai-bai)  gehört,  hat  dort  eine  oder  mehrere  Geliebte  und  fttgt 
sich  ohne  Murren  in  diese  Sitte.     (Miklucho-Maclay.) 

Man  kann  aus  solchen  Gebräuchen  schon  entnehmen,  dass  nach  dem  Glauben 
der  Völker  die  Schwangere  in  einem  Zustande  der  Unreinheit  sich  befindet.  Von 
einigen  Volksstämmen  wird  dieses  auch  besonders  gesagt,  so  von  den  Siame- 
s in  n e n  (Schomhurffk);  von  den  Marianen-,  Gilbert-  und  Marshall-Insu- 
lanerinnen  (Keate)  und  von  den  Neu-Caledonierinnen  (de  Eochas). 

Eine   Absonderung   der    Schwangeren    aus   dem   gewöhnlichen   Wohnhause 


189.  Die  Fernhaltung  der  Schwangeren.  gQQ 

spricht  auch  schon  dafür,  dass  man  sie  für  unrein  hält.  Schutt  sagt  über  die 
West-Afrikaner: 

^  Jeder  Neger  sieht  die  Frau,  die  demnächst  gebären  wird,  als  unrein  an;  drei  Wochen 
vor  ihrer  Entbindung  muss  sie  das  Dorf  verlassen  und  darf  keiner  mit  ihr  verkehren;  ohne 
jegliche  Hülfe  sieht  sie  meistens  der  schweren  Stunde  entgegen.*^ 

In  früheren  Zeiten  wurde  auch  in  China  die  Frau  während  der  letzten  Zeit 
ihrer   Schwangerschaft    abgesondert.      Der  Li-ki  (im  Cap.  Nei-tse  12  fol.  73  v.)  sagt: 

«Wenn  eine  Frau  ein  Kind  gebären  soll,  so  bewohnt  sie  einen  Monat  ein  Seitenhaus. 
Der  Mann  schickt  zweimal  des  Tages  Jemanden  nachzufragen  und  fragt  auch  selber  nach; 
seine  Frau  wagt  ihn  aber  nicht  zu  sehen,  sondern  schickt  die  Mu,  seine  Anfrage  zu  beant- 
worten, bis  das  Kind  geboren  ist." 

Jetzt  ist  es,  wie  Herr  Professor  Grube  mir  mittheilt,  in  Peking  gebräuch- 
lich, dass  die  Frau,  wenn  sie  empfindet,  dass  sie  schwanger  geworden  ist,  sich  in 
der  Weise  von  ihrem  Ehegatten  trennt,  dass  sie  in  einem  besonderen  Bette  schläft. 
Hiemach  wird  von  den  Chinesen  die  Schwangerschaft  auch  als  die  Bett- 
trennung bezeichnet. 

Bei  den  Pschawen  in  Transkaukasien  erstreckt  sich  die  Unreinheit 
während  der  Schwangerschaft  nach  einer  Angabe  des  Fürsten  Eristow  in  gewisser 
Beziehung  auch  auf  den  Mann.  Beide  Eh^atten  sind  in  dieser  Zeit  von  allen 
Festlichkeiten  ausgeschlossen,  und  das  ist  der  Grund,  weshalb  sie  eine  Schwanger- 
schaft solange  wie  irgend  möglich  geheim  zu  halten  suchen. 

Im  centralen  Afrika  lebt  die  Schwangere  zurückgezogen.  Barth  äusserte 
hierüber  gegen  Floss^  „es  sei  ihm  auffallend,  dass  er  sich  nicht  ein  einziges  Mal 
erinnere,  eine  hochschwangere  Frau  gesehen  zu  haben,  was  doch  bei  der  spärlichen 
Bekleidung  um  so  eher  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  ziehen  muss.""  Er  erklärt 
sich  diesen  Umstand  daraus,  dass  unter  den  zum  Islam  übergegangenen  Völker- 
schaften die  Frau  im  höchsten  Zustande  der  Schwangerschaft  gar  nicht  mehr  aus- 
geht, was  schon  die  enge  ThOr  vieler  Wohnhütten  gar  nicht  erlaube,  und  ein 
gleiches  scheine  auch  unter  vielen  heidnischen  Stämmen  üblich  zu  sein.  Die  Ent- 
haltung vom  Coitus  besteht  nach  Barth  auch  hier,  aber  eine  Unreinheit  der 
Schwangeren  würde  nicht  angenommen. 

Als  einen  Ausläufer  des  Unreinheitsglaubens  werden  wir  es  wohl  zu  be- 
trachten haben,  dass  man  in  manchen  Gegenden  und  unter  bestimmten  Verhält- 
nissen die  Schwangere  als  schadenbringend  für  ihre  Mitmenschen  betrachtet. 

Das  letztere  sahen  wir  ja  bereits  bei  dem  Gevatterstehen,  das  dem  Täufling 
ein  frühes  Ende  bereiten  soll.  Bei  den  Magyaren  trifft  dieser  Schaden  die  eigene 
Leibesfrucht  der  Gevatterin,  denn  wenn  die  Schwangere  Gevatter  steht,  dann  kommt 
sie  später  mit  einem  todten  Kinde  nieder,     (r.  Wlislocki) 

Bei  den  Süd-Slaven,  wo  im  Allgemeinen  die  Sittenreinheit  keine  sehr 
grosse  ist,  darf  ein  Mädchen,  welches  schwanger  geworden  ist,  an  dem  allgemeinen 
Reigentanze  keinen  Antheil  nehmen.     Dies  besagt  auch  eines  ihrer  Lieder: 

,0  Du  Mädchen,  gelbe  Birne! 

In  Dir  ist  ein  männlich  Kind. 

Geh  heim  und  gebär  es; 

Dann  komm  und  führ  den  Reigen  an.*       (Zeugung.) 

In  der  Bezeichnung  als  gelbe  Birne  liegt  eine  Anspielung  auf  das  schlechte, 
gelbliche  Aussehen  der  Schwangeren. 

In  Weiss-Russland  darf  aber  auch  eine  Schwangere  nicht  zugegen  sein, 
wenn  man  der  Braut  die  Haube  aufsetzt,  sonst  ist  die  junge  Frau  das  ganze  Jahr 
hindurch  schläfrig.     (Sumeow,) 

Bei  den  Mosquito-Indianern  werden  bisweilen  Kranke  in  besonderen 
Hütten  untergebracht.  (Bartels^)  Bei  einer  solchen  Hütte  darf  nach  Bancrofl^ 
wenn  der  Patient  genesen  soll,  niemals  eine  Schwangere  vorübergehen. 


XXXI.  Die  Gesundheitspflege  der  Schwangerschaft 

190.  AerztHche  Torschriften  wfthrend  der  Schwangersehaft. 

Die  EnthaltsamkeitsYorschriften  und  die  Oebräuche  in  Bezug  auf  die  Ab- 
sonderung der  Schwangeren,  wie  wir  sie  im  vorigen  Kapitel  besprochen,  gehören 
bereits  dem  Gebiete  einer  primitiven  Gesundsheitspflege  an,  und  ganz  dem  Stand- 
punkte niederer  Völker  angemessen,  werden  derartige  hygienische  Yerordnungen 
sehr  bald  durch  unbeugsame  Volkssitte  fixirt  und  bisweilen  auch  durch  rituelle 
Vorschriften  erweitert.  Ausser  den  bereits  besprochenen  Dingen  finden  wir  ftir 
die  Zeit  der  Schwangerschaft  aber  auch  noch  weitere  Anordnungen  im  Gebrauch, 
welche  ebenfalls  der  Hygiene  zuzuzählen  sind,  und  wir  können  sie  daher  als  arzt- 
liche bezeichnen,  selbst  wenn  sie  nicht  in  allen  Fällen  dem  Medicin-Manne  ihre 
Existenz  zu  danken  haben.  Bei  einzelnen  Völkern  allerdings  entstammen  sie  wirk- 
lich den  berufenen  Vertretern  der  einheimischen  ärztlichen  Kunst. 

Bei  den  alten  Indern  z.  B.  empfahlen  die  Aerzte  den  schwangeren  Weibern, 
mit  ihrer  Ernährung  sehr  vorsichtig  zu  sein.  Susruta  warnte  sie  vor  Ueber- 
müdung  und  Ueberanstrengung  vor  übermässigen  Bewegungen  und  dem  Tragen 
von  Lasten,  vor  dem  Einsteigen  in  den  Wagen,  vor  nächtlichem  Wachen  und  vor 
Schlafen  am  Tage,  und  absonderlicher  Weise  auch  vor  aufrechtem  Sitzen.  Auch 
vor  unzeitigem  Aderlassen  warnte  er,  sowie  vor  dem  Fasten  und  dem  Genuss  von 
trockenen,  angebrannten  oder  verdorbenen  Speisen.  Ausserdem  empfahl  er  ihnen, 
reinlich  am  Körper  und  in  der  Kleidung  zu  sein.     (Hessler,     Vidlers.) 

Die  alten  Chinesen  hielten  es  für  das  Gedeihen  des  Kindes  für  sehr  forder- 
lich, dass  sich  die  Schwangere  körperlich  und  geistig  möglichst  ruhig  verhielt. 
Das  Buch  von  den  berühmten  Frauen  des  Lietihiang  im  Siao-hio  sagt: 

„Einst  unterstand  eine  schwangere  Frau  sich  Nachts  nicht  auf  die  Seite  zu  legen,  beim 
Sitzen  (auf  der  Matte)  den  Körper  nicht  zu  biegen,  nicht  auf  einem  Fusse  zu  stehen,  keine 
ungesunde  oder  schlecht  zerschnittene  Speise  zu  geniessen,  auf  keiner  schlecht  gemachten  Matt« 
zu  sitzen,  keinen  garstigen  Gegenstand  anzuschauen,  noch  üppige  Töne  zu  hören.  Abends 
musste  der  Blinde  (Musiker)  die  beiden  ersten  Oden  des  Tschen  und  Tschao  nan  im  Lieder- 
buche (die  von  der  Hausordnung  handeln)  singen,  und  sie  Hess  sich  anständige  Geschichten 
erzählen.     So  wurde  ein  auch  geistig  gut  geartetes  Kind  geboren." 

Der  chinesische  Arzt,  welchen  v,  Martins  citirt,  stellte  als  Hauptregel  für 
die  Schwangere  hin:   „eine  massige  Bewegung,   die  nicht  allzusehr  ermüdet.* 

Wenn  sich  nach  dem  Verlaufe  von  3  Monaten  der  Schwangerschaft  bei 
einer  Chinesin  Erbrechen  einstellt,  so  wird,  wie  ich  durch  Herrn  Professor  CTnibr 
erfahre,  ein  Arzt  gerufen,  welcher  feststellen  muss,  ob  der  Puls  normal  ist,  oder 
nicht.  Im  nördlichen  China  nennt  man  diesen  Arzt  Tao-tai,  d.h.  Beschützer 
der  Leibesfrucht.  Steigen  und  das  Ausrecken  der  Arme  wird  der  Schwangeren 
von  dem  Arzte  untersagt. 

Die  Japaner  hatten  früher  den  Gebrauch,  dass  eine  Frau  während  der 
Gravidität  stets  mit  gekrümmten  Beinen  liegen  musste,   man  hielt  sogar  während 


IdO.  AerEÜiche  Yorschiiften  während  der  Schwangerscliaft 


701 


des  Schlafes  die  Beine  der  Schwangeren  durch  ein  um  die  Knie  und  deo  Nacken 
gelegtes  Band  in  einer  gekriimmten  Lage.  Der  Grund  für  diese  Maasanahme  lag 
in  der  merkwürdigen  Vorstellung,  dass  nian  tUrchtete,  das  Kind  könne  in  die  aus- 
gestreckten Beine  der  Mutter  die  eigenen  Beine  wie  in  eine  Hose  hineinstecken, 
was  natürlicher  Weise  die  Entbindung  sehr  erschweren  oder  vielleicht  gar  nn- 
raöglich  machen  würde*  Kangawa  kämpfte  dagegen  an,  und  er  erklärte,  daas 
diese  Sitte  viel  mehr  schädlich  als  nützlich  sei;  denn  durch  die  gekrümmten  Schenkel 
der  Mutter  würden  die  Beine  des  Embryo  nach  oben  gedrängt,  und  auf  diese 
Weise  könnten  leicht  Querlagen  verursacht  werden.  Letztere  konnten  übrigens 
auch  durch  zu  reichliches  Essen  entstehen,     (Miyake.) 

Die  mediciniache  WiBsenachaft  der  Römer  theilte  nach  dem  Vorbilde  des 
Soranus  von  Ephesua  die  Zeit  der  Schwangerschaft  in  drei  Perioden  ein.  Jede 
derselben  erforderte  nach  ihm  ganz  besondere  ärztliche  Maassnahmen« 

In  der  ersten  Zeit  handelt  ea  sich  um  die  Erhaltung  der  Fnicht,  in  der  zweiten  um 
Milderung  der  mit  der  SclLwaDgdrficliiift  verbundenen  Erscheinungen,  Geliläie  u.  s.  w.,  in  der 
dritten  und  letzten  Periode  um  die  Vorbereitung  einer  günstigen  Niederkunft.  Die  erste  Periode 
erfordert  VertneiduDg  aller  körperlichen  und  geiatigen  Erregung:  Furcht,  Schreck,  plötzliche 
heftige  Freude  u,  s.  w*,  dann  Husten,  Nieaon,  Fallen,  ychwer-Tragen»  Tanzen,  Gebrauch  der 
AhfOhr mittel,  Trunkenheit^  ErhrecheD^  Durchfall  ti.  a.  w.,  kurz  ÄUes,  was  Fehlgeburt  bedingen 
kann.  Ruhiges  Verhalten  und  miksige  Bewegung  inuäs  die  Frau  gleichm&^sig  wechseln  lassen, 
dagegen  sich  aller  Reibung  des  Unterleibes  enthalten.  Sie  darf  deuäelhen  nur  mit  frisch 
auagepreastem  Oei  aus  unreifen  Oliven  bestreichea.  Während  der  ersten  sieben  Tage  boU  die 
Frau  nicht  baden,  auch  nicht  Wein  trinken.  Dann  kann  aie  jedoch  nicht  alku  fettes  Fleisch 
und  Fiüche  genieatien;  scharfe  Speisen  und  Gewünse  sind  ihr  verboten. 

Eine  ganz  ausführliche  Besprechung  der  Diät  in  der  Zeit,  in  welcher  die  sogenannten 
Gelüste  auftreten  [etwa  im  zweiten  Monat],  finden  wir  in  einem  besonderen  Ka{>itel  seines 
Baches;  wir  kommen  noch  darauf  zurück. 

Ist  nun  diese  Periode  vorüber,  ao  hat  sich  die  Constitution  der  Frau  bereits  mehr  ge* 
kräftigt,  und  das  sich  entwickelnde  Kind  bedarf  einer  reichlicheren  Nahrungszufuhr.  Deshalb 
braucht  in  Bezug  auf  das  Essen  und  den  Weingenuss,  aber  auch  auf  das  Liegen,  Schlafen 
und  Baden  nicht  mehr  so  vorsichtige  Sorgfalt  zu  herrschen. 

Doch  vom  siebenten  Monat  an  wird  wiederum  die  Enthaltung  heftigerer  Bewegung 
empfohlen*  wegen  der  Gefahr,  dass  sich  die  Frucht  vom  Uterus  trenne,  wenngleich  die  Er- 
fahrung lehre,  dass  eine  7monatliche  Frucht  lebensfähig  ist.  Drücken  der  Brüate  und  Ein- 
schnüren derselben  wird  als  mögliche  Ursache  von  Abacessen  als  schädlich  verboten.  Itn  achten 
Monatf  den  der  Volksmund  zu  Soranus'  Zeit  als  „leichten'^  beKoichnet«,  der  jedoch  auch  seine 
Beschwerden  hat,  muas  die  Menge  der  Speisen  wieder  vermindert  werden:  Die  Frau  aoll  nun 
mehr  liegen,  wenig  gehen,  kalte  Bäder,  welche  beim  Volke  jener  Zeit  sehr  beliebt  waren, 
sind  verboten.  In  den  letzten  Monaten  hat  die  Frau  den  Unterleib,  wenn  derselbe  zu  sehr 
überhä^ngt,  mit  einer  Binde  zn  stützen  und  ihn  mit  Oel  einzusalben ;  nach  Verlauf  des  achten 
Monats  aber  soll  diese  Binde  entfernt  werden,  und  ea  sind  dann  warme  Bäder  zu  gebrauchen, 
und  es  wird  sogar  Schwimmen  in  aüssem,  warmem  Wasser  erlaubt,  um  die  Körpertheile  ge- 
schmeidig zu  machen;  zu  letzterem  Zwecke  dienen  auch  Bähungen,  Sitzbäder  mit  Abkochungen 
von  Leinmehl,  Malven  u.  s.  w,^  Einspritzungen  mit  süssem  Oel  und  Pessi  aus  Gänsefett. 

HOchat  bedenklich  ist  Soranus^  Anordnung  für  die  Bebammen ^  dass  sie  bei  Erst- 
gebärenden, welche  festes  Muskelieisch  und  einen  harten  Cervix  Uteri  haben,  mit  dem  Finger 
den  lUuttermund  einaalben  und  erdfoen  soUeD. 

Im  Mittelalter  und  bei  den  arabisclien  Aerzten  blieben  die  gleichen  An- 
sichten herrschend,  und  auch  in  den  frühesten  deutschen  Hebammenbücheru 
treten  uns  dieselben  Lehren  entgegen.  Beispielsweise  sagt  Rtisslm  in  seinem  „Der 
Schwangeren  Frawen  Rosegarten*:  Die  Schwangere  soll  nicht  faul  und  müssig 
sein,  sanft  einhergehen,  unmässiges  Drücken  und  Springen  unterlassen.  Mao  soll 
sich  hüten,  sie  auf  die  Schulter  oder  auf  den  Nacken  zu  schlagen.  Wenn  die 
Entbindung  nahe  ist,  so  moU  sie  bisweilen  mit  ausgestreckten  Schenkeln  eine  Stunde 
lang  sitzen»  dann  schoeü  wieder  aufstehen,  hohe  Stiegen  auf  und  ab  laufen,  singen, 
oder  stark  rufen.     In  dem  unterweisenden  Gedichte,  welches  Eösslin  seinem  Heb- 


L 


702  XXIX.  Die  Gesandheitspflege  der  Schwangenchaft. 

ammenbüchlein  angehängt  hat,  heisst  es,  nachdem  die  Diät  der  Schwangeren  aua- 
ftihrlich  angegeben  wurde: 

,Wonn  sich  dann  nahet  ihre  Zeit, 
Dass  sie  der  Fracht  soll  werden  queit. 
So  sollen  sie  spacieren  thon, 
Die  Treppen  auf  und  nieder  gohn. 
Dardurch  sie  ring  und  fertig  werden, 
Zu  geberen  ohn  all  Beschwerden.* 

Von  den  Yorschrifben  des  Stisruta  unterscheidet  sich  dieses  wesentlich  darin, 
dass  hier  gerade  etwas  anstrengendere  Bewegungen  verordnet  werden,  welche 
in  den  Augen  Eüsslins  ohne  Zweifel  die  Bedeutung  gymnastischer  Uebongen 
besitzen. 

Auch  die  Weiber  der  Mincopies  auf  den  Andamanen  haben,  wie  Man 
berichtet,  die  Gewohnheit,  während  der  Schwangerschaft  körperliche  üebungen  vor- 
zunehmen,  weil  sie  glauben,  dass  hierdurch  eine  leichte  Entbindung  vorbereitet 
werde.  

191.  Die  Ernährung  der  Schwangeren  nnd  die  Speiseverbote. 

Vorschriften  über  die  Ernährung  der  Schwangeren  haben  wir  schon  im 
vorigen  Abschnitt  gestreift.  Sie  waren  mehr  allgemeiner  Natur.  Wir  wollen 
nun  hier  der  Sitte  gedenken,  dass  die  Schwangerschaft  bei  manchen  Völkern  in 
der  Ernährungsweise  der  Frau  ganz  erhebliche  Umwälzungen  hervorruft,  dass  sie 
ihre  sonst  täglich  gewohnten  Nahrungsmittel  zu  meiden  hat  und  dass  man  ihr 
an  Stelle  dieser  solche  Speisen  zu  geniesen  vorschreibt,  welche  sie  zu  gewöhnlichen 
Zeiten  nie,  oder  nur  ausnahmsweise  zu  essen  pflegt. 

Unbewusste  Gesundheitspflege  spielt  auch  hierbei  eine  Rolle.  Häufig  aber 
sind  es  auch  nur  unbestimmte  mystische  Vorstellungen,  welche  zu  solchen  Be- 
stimmungen fuhren.  So  haben  wir  ja  oben  schon  gesehen,  dass  bei  manchen 
Volksstämmen  die  Schwangere  sorgfältig  vermeiden  muss,  zusammengewachsene 
Früchte  zu  essen,  weil  sie  sonst  ohne  allen  Zweifel  Zwillinge  zur  Welt  befördern 
würde.     (Voigtland,  Mecklenburg,  Seranglao- und  Gorong-Inseln  u.8.w.) 

Für  derartige  mystische  Beziehungen  zwischen  bestimmten  Nahrungsmitteln 
und  der  Schwangeren  lassen  sich  vielfache  Beispiele  bringen.  Für  gewöhnlich 
trifft  der  Schaden  nicht  die  Schwangere,  sondern  ihr  Kind. 

So  darf  die  schwangere  Serbin  kein  Schweinefleisch  essen,  weil  sonst  ihr  Kind  schielend 
würde,  und  sie  darf  keine  Fische  essen,  weil  Honst  ihr  Kind  lange  stumm  bleibt. 

Auch  der  Zigeunerin  Siebenbürgens  ist  der  Genuss  von  Fischen  während  der 
SchwangorHchaft  aus  dem  gleichen  Grunde  untersagt,  und  sie  darf  auch  keine  Schnecken  essen, 
weil  sonst  ihr  Kind  schwer  gehen  lernen  würde,    (c.  Wlislocki.J 

In  Bari  in  Unter-Italien  muss  die  Schwangere  vermeiden,  Wolfsfleifch  xu  essen, 
weil  sie  sonst  ein  heisshungriges  Kind  zur  Welt  bringen  müsste.  (Karusio.)  In  der  Gegend 
von  Pola  hat  Naschhaftigkeit  der  Mutter  einen  ungünstigen  Einfluss  auf  die  KOrpereni- 
wickelung  des  Embryo.    (Mazzucdii,) 

Auf  Ambon  und  den  Uli ase- Inseln  gilt  die  Regel,  dass  die  Frau  in  der  Schwanger- 
schaft überhaupt  nicht  zuviel  essen  soll,  weil  sonst  ihr  Kind  gefrässig  werden  würde. 

Die  schwangere  Japanerin  verschmäht  Kaninchen  und  Hasen  zu  essen,  aus  Furcht, 
dass  das  Kind  eine  Hasenscharte  bekomme. 

Die  Indianerinnen  des  Gran  Chaco  essen,  wenn  sie  verheirathet  sind,  kein  Schaf- 
fleisch,  weil  sie  meinen,  dass  die  zu  erwartenden  Kinder  dann  stumpfnasig  werden.  Die 
schwangere  Negerin  der  Loango-Küste  trinkt  keinen  Rum  mehr,  weil  das  Kind  hierdurch 
Muttermale  bekommen  könnte.  Diesem  Aberglauben  wird  jedoch  nicht  allgemein  gehuldigt« 
da  von  Pechuel-ljoeifche  auch  ein  abweichendes  Verhalten  beobachtet  wurde. 

Bei  vielen  Völkern  treffen  wir  ähnliche  Speiseverbote,  ohne  dass  uns  der 
Grund  flir  dieselben  des  Genaueren  niitgetheilt  wird. 

Auf  den  Seranglao-  und  Gorong-Inseln  dürfen  die  Schwangeren  keine  Kaiapa  nnd 
Kanari  und  nur  wenig  Sah  und  spanischen  Pfeffer  zu  sich  nehmen,  nnd  anf  denWatnbela- 


191.  Die  Kmäbrung  der  Schwangeren  and  die  Speiseverbote. 


703 


Inseln  fiind  ihnen  atiAa^rdem  auch  Yolvoli  and  Haspen  verboten«    Zu  den  verbotenen  Speisen 
l  geboren  auch  Fische  mit  einem  kleinen  Schnabel  und  alles  Fleisch  von  geschlachteten  Thier^n, 
sowie  von  den  ßeuteh'atten. 

Haitische  und  Aale  sind  für  die    schwangere  Topantunnase-Frau  in  Celebes  ver- 
botene Speisen;  ausaerdem  darf  sie  aber  auch  keine  Eier,  kein  Birschfleisch  und  kein  Btlffel- 
I fleisch  ©Äsen,     (Ricdct^K)    Auch  die  Sulanesin  hat  unter  den  gleichen  Umständen  den  Ge- 
[tiuss  von  Hirschfleisch  zu  vermeiden. 

Die  Indianerinnen  Brasiliens    enthalton    sich  während  der  Schwangerschaft  über- 
lüpt  des  FleischgenuBses,  und  das  Gleiche  hüt  in  einigen  Gegenden  Japans  statt. 

Auf  den  Andamanen  darf  nach  Man  die  Schwangere  weder  Honig  noch  Schweine» 
,  noch  Farad oxurua,  noch  Eidechsen  essen. 

In  Limo  lo  Pahalaa  auf  der  nördlichen  Landzunge  von  Celebea  haben  die  AI  füren* 

iFrauen    während    der  Schwangerschaft    sich    des  Eaaene    von    stark  riechenden  Früchten  zu 

lenthalten,  z.  B.  der  Doerian^  Koeini,  ferner  auch  der  Krabben,  der  Heekrebse,  der  Aale  u.  n,  w. 

|Auf  den  Banks-Inseln    im    westlichen  Theil  des  Stillen  Oceans   darf   die  Ftau    niemals 

riaohe   essen,    die    mit  der  Schlinge,    dem  Netze  oder  in  einer  Falle  gefangen  sind.     Es  gilt 

ledoch  hier  dieses  Speiaeverbot  nur  für  die  erste  Schwangerschaft.     Aehnliche  Gebräuche  sind 

lach  von  den  Viti- Inseln  bekannt.     (Eckurdt.) 

Die  Carolinen-Insulanerin  darf  in  der  Schwangerschaft  mehrere  Arien  von  Cocos- 
liüssen  und  Brodfrncbten  nicht  gemessen.     {Merte^m,) 

Der   schwangeren  Jädin    werden  in  der  Bibel    (I.  Buch    der  Richter  13,  7)  Wein  und 
starke  Getränke  verboten. 
In  Deuts  cht  and  nahmen  im  16.  Jahrhundert  auf  Anrutheu  der  Aerzte,  t.  B,  RondifCft^ 
die  Schwangeren  gegen  Endo  der  Schwangerschaft  keine  scharten  Speisten  zu  sich. 

Im  Beginn  der  Schwangerschaft  wird  bei  den  Annamitinnen  nichts  in  der  LebeuB- 
veise  geändert.  Nur  von  einigen  furchtsamen  Weibern  wird  eine  besondere,  von  alten  Frauen 
[Torgcschriebene  Diätetik  befolgt:  sie  enthalten  sich  des  Genusses  von  Ochsenfleisch  und  von 
Papaya- Früchten;  man  glaubt  nämlich,  dasa  jenes  Fleisch  über  Nacht  Abortus  herbeiführt, 
während  man  von  diesen  Frücht-en  eine  ähnliche  Wirkung  durch  Erregung  der  Milch  Abson- 
l^terung  fürchtet.  Allein  die  grosse  Mehrzahl  bleibt  bei  der  gewohnten  Nahrung  in  der  Kr- 
rartung,  da^js  sich  das  Kind  ruhig  weiter  entwickele. 

Neben  diesen  Verboten  finden   wir   aber  auch  ganz  beatimmte  Vorschriften 
^m  Bezag  auf  die  zu  wählende  Nahrung. 

So    muBs   auf  den  malayischen  Inseln  Romang,  Daina»  Teun«  Nila  and  Serua 
^die  Schwangere  täglich  rohe  Fische  mit  dem  Safte  von  Citrus  hystrix  geniessen. 

Auf  den  Carolinen-Inseln  darf  die  Schwangere  als  Getränk  nur  die  MUch  ?on 
Cocosnüssen  zu  sich  nehmen.     Deren  bedarf  sie  dann  eine  grosse  Menge. 

Auf  Java  gemessen  dl«  Schwangeren  vorzugswei.se  gern  eine  dort  sehr  beliebte  Speise, 
iie  man  Hadja  nennt  und  die  aus  verschiodenen  unreifen  Baumfrüchten  bereitet  wird;  man 
schält  dieselben,  schneidet  sie  in  Stücke,  zerstampft  sie  und  dann  isst  man  sie  mit  Sal»  und 
'reichlich  mit  spanischen  Pfeilerschoten  vermischt,      (KttgelJ 

Ein  chinesischer  Ainst  berichtet:  ^Da  der  Appetit  in  der  8chwangertchaft  an  sich 
chwach  ist,  so  geniesst  die  t'rau  schon  von  selbst  nicht  viel;  am  besten  geniesst  sie  Hühner- 
|)rühe,  in  Scheiben  geschnitt^^ne  Früchte,  niemals  aber  fette  Speisen.* 

Aus    einer    anderen    mediciniscben  Schrift    der  Chinesen    ftihrt   t\  Martins 
^die  folgende  Stelle  an: 

Die  Schwangere  darf  bloss  süsse  und  frische,  mehr  vegetabilische  als  animalische, 
iurchaus  aber  keine  widrigen  und  schS.dlichen  Dinge  genieaten.  Enthalten  muss  sie  sich  gana 
rorzüglich  aller  fetten  Speisen,  aller  bitteren,  aller  scharf  geeialzeneuT  sowie  aller  sehr  heitsen 
jonchte,  Gartengewilchse  vermehren  die  S&fle  ihres  Körpers  und  machen  ein  bnchtcs,  fröh- 
icbes  Blut,  V'^orzUglich  empfchleuHwerth  für  Schwangere  ist  ein  dünner  Krbsenbrei ,  junger 
EobI,  nebst  anderen  leicht  verdaulichen  Erd-  und  Wumel fruchten.  Von  PUeischgattungen  kann 
dne  Schwangere  alles  leicht  Verdauliche  und  Zarte  sum  Genuss  auswählen,  namentlich  nützten 
hr  Hühner,  Knten,  Tauben,  junge  üundo  und  magere  Ferkel.  Nur  mues  man  alles  so  viel 
Js  möglich  achmackhait  zubereiten  und  den  Schaum  stuvor  abnehmen.  Ein  gans  vorxügliches 
Nahrungsmittel  für  Schwangere  sind  Milchspeisen  alUu"  Art.  Dugegon  ist  ihnen  dt*r  Genuas 
(ron  allerhand  unverdaulichen  und  erhitzenden  Speisen  durchaus  zu  verbieten;  hierunter  ge- 
hören Ingwer«  Zittwer«  Galgant,  PfeÜer,  Cardamom  u,  s.  w.  Nachtheilig  fUr  eine  Schwanger*- 
ftt  ferner  Hunde-,  Esel*«  Pferde-  und  Schweinefleisch^  sowie  das  Fleisch  von  wilden  Thieren  ] 


704  XXIX.  Die  Gesundheitspflege  der  Schwangenchaft 

ebenso  das  der  Muscusthiere,  Igel,  Ratten,  Mäuse,  Schildkröten,  Ottern,  Frttoohe,  Knbee. 
Heuschrecken,  Muscheln  u.  a.  m.;  desgleichen  Schweineblut,  Enteneier  and  endlich  All«, 
was  in  Butter  gebraten  ist.  Trinken  mag  eine  Schwangere  Alles,  was  laicht  und  Mhinack- 
haft  ist  und  nicht  trunken  macht.  Jedoch  Wein,  Bier  oder  gar  Branntwein  and  Arte 
sowie  Überhaupt  alle  anderen  erhitzenden  Getr&nke,  dürfen  einer  Schwangeren  niemala  ge- 
stattet werden. 

Herr  Professor  Grube  berichtet  mir,  dass  die  Aerzte  jetzt  im  nördlichen 
China  den  Schwangeren  den  Qenuss  von  salzigen  und  gewürzten  Speisen  Terbieten. 
Bei  den  Lappen  tranken  die  Schwangeren  vor  ihrer  Entbindung  8arakka-Wein  und 
sie  assen  nach  derselben  Sai-akka-Grütze.  Die  Sarakka  war  die  eigentliche  GebartigOttin  der 
Lappen,  die  alles  Werdende,  besonders  aber  die  Leibesfrucht  schfltite.  Au  lie  richtete  Bau 
auch  während  der  Schwangerschaft  Qebete,  und  man  errichtete  ihr  in  der  NShe  ein  Zelti  ib 
dem  sie  wohnte,  bis  die  Stunde  der  Niederkunft  gekommen  war.    C^astargeJ 

Nach  Le  Bean  essen  die  Indianer- Weiber  in  Ganada  wenig,  und  die  Gnarani- 
Frauen  unterwerfen  sich  sogar  einem  regulären  Fasten.  Auch  die  Pah- Uta- In  dianer  innen 
in  Nord-Amerika  fasten  wenigstens  in  den  letzten  Wochen  vor  der  Niederkonft.  Nach 
Engelmann  hat  diese  Gasteiung  den  Zweck,  die  Weichtheile  der  Gebartswege  lam  Schwinden 
zu  bringen  und  somit  das  Thor  für  den  hindurchtretenden  SprOasling  weit  so  machen. 
Ausserdem  aber  beabsichtigen  sie  auch  dadurch  die  Frucht  zu  nOthigen,  dan  rie  mflglickit 
bald  danach  strebe,  an  dos  Tageslicht  zu  treten,  um  sich  an  der  Milch  der  Matter  gfltlidi 
zu  thun. 

Auch  die  Yolksmedicin  in  Deutschland  ermangelt  nicht  beetinunter  Speise- 
vorschriften. 

In  Berlin  und  Potsdam  soll  die  Frau  in  der  Gravidität  immer  die  Kanten  vom  Brode 
essen,  weil  sie  dann  einen  kriiftigen  Jungen  bekommt. 

In  der  Rheinpfalz  gestattet  sich  die  Schwangere  den  Branntweingennae,  um  ein 
schönes  Kind  zu  erzielen;  im  Pongau  in  Oestcrreich  dagegen  trinken  die  Schwangeren 
viel  Branntwein  und  lassen  zur  Ader,  in  der  Absicht,  dass  der  Fotos  klein  bleibe  nnd  so  die 
Entbindung  leichter  wird.    fScodaJ 

Der  alte  Rösslin  empfahl  den  Schwangeren  nahrhafte  Speisen  und  xnr  Stftrknng  einen 
kräftigen  wohlriechenden  Wein,  den  Ciaret  aus  Ingwer,  Nelken,  Liebstöckel,  Oalgant,  WeiH- 
kümmel  und  weissem  Pfeifer. 

In  alter  Zeit  herrschte  unter  dem  russischen  Adel  die  Ueberzengnng,  dan  eine  Frau 
in  anderen  Umständen  guten  Appetit  haben  und  ungehindert  viel  fettes  und  nahrhafte« 
Essen  zu  sich  nehmen  müsse;  um  das  zu  erreichen,  nahm  man  40  Stück  Brod  von  Bettlern 
und  das  musste  die  Frau  verzehren. 

Die  alten  Inder  hatten  für  jeden  einzelnen  Monat  der  Schwangerschaft  ihre  betondezen 
Diät- Vorschriften.  Im  Allgemeinen  galt  bei  ihnen  die  Kegel,  dass  die  Schwangere  bis  tum 
achton  Monat  nur  solche  Speisen  geniessen  solle,  die  zum  Wachsthum  des  Embryo  beitragen 
könnten;  von  diesem  Zeitpunkte  an  sollte  sie  dann  aber  eine  Ernährung  wählen,  die  auch 
seine  Kräftigung  befördern  könne. 

In  Susruta's  Ayurvedas  heisst  es:  ^Die  Schwangere  muss  angenehm  und  süss  achmeckende. 
milde  aromatische  Speisen  geniessen.  Namentlich  sei  in  den  drei  ersten  Schwaogerschafti- 
monaten  die  Speise  süss  und  erfrischend,  im  dritten  Monat  Reis  in  Wasser  gekocht,  im  vierten 
in  geronnener  Milch,  im  fünften  in  Wasser,  im  sechsten  mit  gereinigter  Butter  gekocht.  Die« 
ist  nach  Piinigcn  die  Diät  der  Schwangeren." 
Snsnda  sagt  daun  ferner  noch: 

,1m  vierten  Monat  darf  sie  Wasser  mit  frischer  Butter  gemischt  und  RebhQhnerfleiscfa 
geniessen:  im  fünften  eine  mit  Milch  und  Butter  bereitete  Speise;  im  sechsten  eine  EMeni 
aus  Butter  mit  Flacourtia  cataphracta  bereitet  oder  gegohrenes  lieiswasser;  im  siebenten 
Butter  mit  Heniionitis  cordifoliu  bereitet.  Das  alles  soll  zum  Wachsthum  der  Fracht  bei- 
trugen. Von  da  an  wird  der  Kuibryo  gekräftigt,  wenn  die  Frau  im  achten  Monat  Wasser 
mit  ZiziphiiK  jujuba,  Pavonia  odorata,  Sida  cordifolia,  Anethum  sowo,  Fleischbrühe,  geronnene 
Milch,  Molkon,  Sesaniöl,  Seesalz,  Früchte  der  Vangueria  spinosa,  Honig  und  gereinigte  Butter 
geniesst.  Zulötet  geniesse  sie  bis  zur  Niederkunft  mildes  Wasser  mit  gegohrenem  Reis  und 
Kebhühner-  (nach   VuUers:  Antilopen-)  Brühe." 

Bei  den  Atheniensern  ass  die  Schwangere  zum  besseren  Gedeihen  des  Kindes  Kohl 
(Athenaeüsjy  Muscheln  und  Aepfelschalen,  und  sie  erhielt  ein  Getränk  aus  Diptam  bereitet 
( Bartholinus.)    Nach  Kphipptis  genoss  sie  den  Kohl  mit  Oel  und  Käse: 


7n6  XXIX.  Die  Gesundheitspflege  der  Schwangenchaft. 

Aui  Neujahrstage  darf  die  schwangere  Zigeunerin  nur  das  Fleiich  von  einem  Hohne 
oder  Hahne  e^^-en.  der  zu  Opfern  benutzt  worden  ist,  wie  sie  sich  der  übematfirlichen  Ge- 
Tchlechts-Diagnose  anschliessen.     A*.   ^Vlislocki.J 

Wir  haben  gehört,  was  und  wie  die  schwangere  Frau  essen  soll,  wir 
wollen  aber  auch  noch  einen  ganz  flQchtigen  Einblick  gewinnen,  wo  sie  ihre 
Nahrung  zu  sich  nehmen  und  wo  sie  sie  nicht  zu  sich  nehmen  soll. 

Das.s  eine  Schwangere  überall  dort,  wo  sie  für  unrein  güt^  an  dem  ge- 
wohnlichen Speiseplatz  nicht  ihr  Mahl  verzehren  darf,  sondern  dass  sie  gezwangen 
i^t,  sich  ein  abgesondertes  Winkelchen  aufzusuchen,  das  versteht  sich  Yon  selbst. 

Auf  den  Carolinen-Inseln  ist  den  Männern  streng  untersagt,  mit  der  schwajigervB 
Frau  zui*ammen  zu  essen,  aber  die  kleinen  Knaben,  die  noch  keinen  Gflrtel  tragen,  dürfen  ec 
und  sie  haben  auch  die  Verpflichtung,  sie  reichlich  mit  Gocosnüssen  zu  venorgen.   {MerUn^j 

Die  Schwangere  auf  Ambon  und  den  U  Hase -Inseln  darf  sich  sam  Essen  nicht  auf 
die  Treppe  des  Hauses  setzen,  weil  sonst  ihr  Kind  eine  Hasenscharte  bekäme,  sie  darf  auf  den 
Seran^lao-  und  Gorong- Inseln  nicht  aus  einer  Wanne  oder  einem  Siebe  essen,  und 
dää  Gleiche  ist  der  Sulanesin  verboten:  sie  darf  im  sächsischen  Ober-Ersgebirge  und 
im  Voigtland  nicht  bei  der  Mahlzeit  vor  dem  Brodschranke  stehen,  sonst  bekommt  ihr 
Kind  die  Mitesser,  und  nach  der  Ansicht  der  Leute  in  Fahrland  bei  Potsdam  darf  die 
Schwangere  nicht  von  der  Kochkelle  kosten,  sonst  bekommt  sie  eine  schlimme  Brost  Wenn 
die  schwangere  Wendin  in  Hannover  direct  aus  der  Flasche  trinkt,  so  bekommt  das  Kind 
Athembesch  werden.     fWendlayxd.) 

Derartige  Verbote  Hessen  sich  noch  in  grosserer  Anzahl  hinzufügen. 


1U2.  Die  Tracht  der  Schwangeren. 

Bei  den  meisten  der  europäischen  Völker  hat  sich,  wenigstens  in  den 
hr>heren  Ständen,  allmählich  der  Gebrauch  herausgebildet,  dass  die  Schwangeren 
in  der  Art  und  Weise  ihrer  Bekleidung  allerlei  Abänderungen  eintreten  lassen, 
gegen  das,  was  sie  sonst  in  dieser  Beziehung  gewohnt  waren.  Meistens  haben 
die  Umformungen  in  der  Toilette  einen  doppelten  Zweck,  einmal  den  Anzug  für 
die  stetig  zunehmende  FQlle  des  Leibes,  und  später  auch  der  Briiste,  so  bequem 
wie  möglich  zu  machen,  andererseits  erkennen  wir  auch  den  allerdings  meistens 
misslingenden  Versuch,  den  veränderten  Zustand  der  Frau  nach  Möglichkeit  zu 
Terhüllen  und  zu  verbergen.  In  dem  Proletariate  ist  es  oft  die  Armuth,  häufig 
aber  iiuch  die  Gleichgültigkeit,  welche  die  Schwangeren  dazu  führt,  ihre  alltäg- 
liche Kleidung  ruhig  weiter  zu  tragen.  Dadurcli  kommt  dann  die  von  Carricatur- 
Malern  und  Dichtern  so  oft  dargestellte  Erscheinung  zu  Stande,  mit  dem  Kleide, 
was  vom  zu  kurz  und  hinten  zu  lang  ist.  Als  schön  kann  man  dieselbe  wohl 
kaum  bezeichnen,  und  auch  schon  die  Rabbinen  sagten  im  Midrasch  Schir 
Ha-Schirim: 

^Donn  solange  daa  Weib  Bchwanger  wird,  wird  sie  hässlich  und  garstig.*    (WikmchK'^.) 

Jungt*  Frauen  machen  nun  bei  der  ersten  Schwangerschaft  leider  gar  nicht 
selten  den  groben  Fehler,  dass  sie  ihren  an  Umfang  zunehmenden  Leib  ganz  be- 
sonders stark  einschnüren  und  einzwängen,  ^damit  man  nichts  merkt*^.  Diese 
falsche  Scham  liat  schon  viel  Trauer  und  Unglück  über  die  Familien  gebracht. 
Denn  die  beengende,  einschnürende  Kleidung  behindert,  wie  man  leicht  begreifen 
wird,  die  normale  Entwickelung  des  Embryo  und  manche  Formen  angeborener 
Monstrositäten  haben  in  dieser  Unsitte  ihre  Veranlassung. 

Die  Naturvölker,  welclie  gewohnt  sind,  ohne  eigentliche  Kleidung  einher- 
zugehen,  sind  in  dieser  Beziehung  glücklicher  daran.  Denn  auch  während  der 
Schwangerschaft  pflegen  die  Weiber  ihren  Leib  nicht  zu  verhüllen.  Als  ein  Bei- 
spiel hierilir  möge  die  Feuer  länder  in  (Fig.  311)  dienen,  welche  sich  im  siebenten 
Monat  ihrer  Gravidität  befindet.  Ich  entnahm  sie  dem  Werke  von  Ilyades  und 
Denikrr,     Auch  sie,  eine  ungefähr  25 jährige  Frau,  ist  zum  ersten  Male  schwanger; 


708  XXIX.  Die  Gesnndiieiüpfiege  der  Schwangenchaft. 

Wir  haben  in  einem  früheren  Abschnitte  schon  gesehen •  dass  die 
Ne^er  in  Old-Calabar  sich  weigerten,  ihren  schwangeren  Frauen  das  Anlegen 
einer  Kleidung  za  gestatten,  weil  sie  sonst  nicht  im  Stande  waren«  die  an  den 
Bn'isten  und  am  Leibe  auftretenden  Schwangerschafiszeichen  zn  erkennen.  {Hewan,) 

Aber  auch  solche  Naturvölker,  bei  denen  f&r  die  Weiber  schon  langst  eine 
Bekleidung  gebräuchlich  ist,  scheuen  es  sehr  Terstandiger  Weise,  dieser  letzteren 
einen  beengenden  Zuschnitt  zu  geben.  Sie  begreifen  es  sehr  wohL.  dass  der  Leib 
der  schwangeren  Frau  keinem  Drucke  ausgesetzt  werden  darf.  Eine  solche 
lockere  Bekleidung  lässt  uns  Fig.  312  erkennen.  Es  handelt  sich  hier  om  eine 
Javanin,  eine  Frau  aus  Buitenzorg,  welche  sich  im  achten  Monate  ihrer 
Schwangerschaft  befindet. 

Das  ist  wiedenmi  eine  Gewohnheit  und  eine  primitive  Hygiene,  an  der 
viele  Frauen  in  Europa  sich  ein  gntes  Beispiel  nehmen  könnten. 


193.  Die  Gelfiste  der  Schwangeren. 

Von  Alters  her  stehen  die  Schwangeren  in  dem  Rufe,  dass  sie  zeitweilig 
von  sogenannten  GelQsten  befallen  werden,  d.  h.  von  der  unüberwindlichen 
Neigung,  bestimmte  Dinge  zu  essen  und  zu  trinken,  die  entweder  sehr  schwer 
verdaulich  und  ihnen  eigentlich  verboten  oder  unerreichbar  sind,  oder  die  selbst 
gar  nicht  zu  den  essbaren  Gegenständen  gehören.  Einem  solchen  Gelüste,  dessen 
Hauptzeit,  wie  wir  gesehen  haben,  Soranus  in  den  zweiten  Monat  der  Schwanger- 
schaft verlegt,  die  aber  von  anderen  bis  in  den  dritten  Monat  ausgedehnt  wird, 
darf  man  unter  keinen  Umständen  nach  der  Meinung  des  Volkes  entgegentreten, 
weil  sonst  sowohl  die  Mutter  als  auch  das  im  Werden  begriffene  Kind  an  Leib 
und  Leben  Schaden  zu  nehmen  vermöchte.  Allermindestens  würde  das  Kind  , malig* 
werden,  während  die  Mutter  dadurch,  dass  man  es  ihr  abschlüge  oder  es  ihr 
nicht  zu  schaffen  vermöchte,  sich  in  för  sie  gefahrdrohender  Weise  erschrecken 
und  erregen  würde.  Die  alten  Aerzte  nannten  diese  Gelüste  gewöhnlich  pica. 
auch  wohl  citra  oder  malatia.  Der  alte  David  Herlicius  aus  Stargard 
schreibt  darüber  1628: 

^Trpgt  sich  bisweilen  za,  das  sie  (gemeiniglich  im  2.  oder  3.  Monat  abscbewliche  onU 
ungebührliche  dinge  zu  essen  begehren,  als  Kreyde,  Kolon,  Gambrfihe,  Pech,  Flachü,  Wagen- 
schmiero,  rohes  Fleisch,  rohe  Fische  und  Krebs,  viel  Saltz  und  dergleichen.  Dieses  ist  wohl 
zn  nielironiial  ein  einbilden  und  eitel  fümehmen  unartiger  woiber.* 

P>  giebt  dann  den  Tcrständigen  Rath: 

„Solchen  frawen  soll  man  dieselben  dinge,  derer  sie  gelüstet,  weinig  unter  Augen 
stellen,  und  auss  den  Sinn  reden,  wie  man  nur  kan,  in  ihrer  Gegenwart  nicht  gedenken, 
und  solche  Sachen  ich  ihr  mit  Verachtung  verleide,  auch  anzeige,  was  für  grosser  Schade  und 
gefalir  daraus  entstehe.* 

Um  nun  aber  die  schädliche  Wirkung  einer  solchen  Verweigerung  nicht 
aufkommen  zu  lassen,  muss  man  ihr  einen  Aufguss  von  jungen  Weinblättem,  die 
im  Mai  gesammelt  wurden,  dreimal  nach  einander  zu  trinken  geben. 

Die  Ursache  dieser  Gelüste  ist,  wie  die  Physiologie  gelehrt  hat,  in  Reizungs* 
zuständen  des  sogenannten  Sonnengeflechtes,  d.  h.  der  Verzweigungen  des  Bauch- 
theih^s  von  dem  sympathischen  Nervensystem  zu  suchen,  und  es  bedarf  natürlicher 
Weisi»  weiter  gar  keinft  Versicherung,  dass  eine  willensstarke  Frau  dieselben  ohne 
Weiteres  zu  unterdrücken  vermag. 

Unter  dem  Volke,  namentlich  auf  dem  Lande,  spielen  die  Gelüste  der 
Schwangeren  aber  auch  heute  noch  eine  grosse  Rolle,  und  es  geht  dieses  so  weit, 
dass  z.  R.  im  Schwarzwalde  eine  schwangere  Frau,  wenn  sie  von  dem  Gelüste 
h«»fullen  wird,  ohne  Weiteres  Früchte  aus  einem  fremden  Garten  zu  nehmen  be- 
rechtigt ist,  jedoch  })e8teht  dabei  die  Bedingung,  dass  sie  dieselben  dann  auch  so- 
fort verzehren   muss.     Auch   schon   nach   den  Weisthümem  durften,  wie  Orimm 


193.  Die  Gelüste  der  SchwaDgeren.  709 

berichtet,  die.  Schwangeren  nach  Belieben  und  ohne  dass  sie  strafbar  waren,  ihr 
Gelüste  nach  Wildpret,  Obst  und  Gemüse  befriedigen,  selbst  wenn  es  anderen 
Leuten  gehörte.  Wenn  in  Brandenburg  eine  Schwangere  ihre  Gelüste  unter- 
drückt, so  befurchtet  man,  dass  ihr  Kind  niemals  die  betreffenden  Speisen  wird 
essen  können.  In  Schwaben  glaubt  man  (Btick),  dass  eine  Schwangere,  deren 
Sehnsucht  nach  einer  gewissen  Speise  unerfüllt  bleibt,  ein  Kind  mit  einem  Mutter- 
male gebären  werde,  dessen  Form  an  die  betreffende  Speise  erinnert. 

Die  Gelüste  der  Schwangeren,  la  voglia,  kennt  auch  der  Italiener  sehr 
wohl,  und  wer  in  der  Provinz  Bari  ihnen  eine  Speise,  nach  der  sie  ihr  krank- 
haftes Begehren  befällt,  verweigerte,  der  würde  ein  Gerstenkorn  am  Auge  be- 
kommen. Denn  wenn  solch  Gelüst  unbefriedigt  bleibt,  so  würde  das  Kind  un- 
fehlbar an  seinem  Körper  hiervon  irgend  ein  Mal  oder  ein  Zeichen  bekommen. 
Ist  nun  aber  das  Gelüst  absolut  nicht  zu  befriedigen,  dann  soll  die  Schwangere 
sich  die  Hinterbacken  kratzen;  hierdurch  ist  sie  im  Stande,  die  schädliche  Ein- 
wirkung von  dem  Kinde,  dass  sie  unter  ihrem  Herzen  trägt,  abzuwenden.  (Karusio,) 
Bei  Pola  herrschen  ähnliche  Anschauungen,  aber  hier  erstrecken  sich  die  Ge- 
lüste niemals  auf  Nahrungsmittel,  welche  nur  käuflich  in  den  Läden  zu  haben 
sind.     (Mazzucchi.) 

Man  darf  aber  nicht  etwa  denken,  dass  Gelüste  nur  bei  Schwangeren  höher 
civilisirter  Völkerschaften  vorkommen;  vielmehr  werden  auch  die  Frauen  der  Ur- 
völker  von  ihnen  geplagt,  und  auch  bei  ihnen  herrscht  die  Meinung,  dass  es  dem 
Kinde  schade,  wenn  man  den  Schwangeren  die  absonderlichen  Genüsse  versagt, 
nach  denen  sie  gelüstet.  Wie  die  altindischen  Aerzte  schon  meinten,  die  Ge- 
lüste der  Schwangeren  müssen  befriedigt  werden,  so  stellten  denselben  Grundsatz 
die  jüdischen  Aerzte  des  Talmud  auf;  im  Falle  der  Nichtbefolgung  derselben 
hielten  sie  Leben  und  Gesundheit  der  Schwangeren  oder  ihrer  Frucht  für  so  sehr 
gefährdet,  dass  man  nöthigenfalls  selbst  den  Versöhnungstag  entweihen  und  die 
Speisegesetze  unberücksichtigt  lassen  durfte. 

Auch  bei  den  heute  lebenden  wilden  Völkerschaften  spielen  die  Gelüste  eine 
grosse  Rolle.  So  werden  nach  dem  Zeugnisse  des  Abtes  CfjY/  die  Indianerinnen 
amOrinoco  nicht  wenig  von  Gelüsten  geplagt,  und  von  den  Indianern,  welche 
ehemals  Pennsylvanien  bewohnten,  erzählt  Heckewelder: 

„Wenn  eine  kranke  oder  schwangere  Frau  zu  irgend  einer  Speise  Lust  hat,  so  mach^ 
der  Ehemann  sich  gleich  auf,  sie  zu  besorgen. **  Er  fQhrt  Beispiele  an,  wo  der  Mann  40  bis 
50  Meilen  lief,  um  eine  Schüssel  Eranichbeeren  oder  ein  Gericht  Welschkom  zu  schaffen. 
Eichhörnchen,  Enten  und  dergleichen  Leckerbissen  sind  die  Dinge,  wonach  die  Frauen  im 
Anfange  der  Schwangerschaft  gewöhnlich  gelüstet;  der  Mann  spart  keine  MQhe,  sie  herbei- 
zuholen. 

Die  Gelüste  der  Schwangeren  erstrecken  sich  durchaus  nicht  immer  auf 
essbare  Dinge,  sondern  es  werden  bisweilen  die  absonderlichsten  Stoffe  von  den 
Schwangeren  als  Nahrungsmittel  begehrt.  In  den  Nilländern,  wo  nach  Robert 
Hartmann  diese  Zustände  nicht  selten  sind,  werden  sie  mit  dem  Namen  Tama 
bezeichnet,  und  im  Sudan  sucht  man  derartigen  pathologischen  Begierden  der 
Schwangeren  nach  Möglichkeit  Genüge  zu  leisten. 

Während  der  Schwangerschaft  pflegen  die  Frauen  zu  Lucknow  in  Indien 
Erde  zu  essen,  die  sie  in  kleinen  Knollen  verzehren.  In  Bengalen  dagegen  ist 
diese  Erde  in  kleine  Scheiben  von  zierlicher  Form  gebracht.  Sie  essen  dieselben 
in  grossen  Massen  trotz  des  Verbotes  ihrer  Ehemänner.     (Jagor.) 

Auch  in  Persien  verzehren  die  Schwangeren  nach  Polak  während  der 
letzten  Monate  besonders  viele  Erde,  Magnesia-Tabaschir.  Ob  wir  hier  Gelüste 
zu  erkennen  haben,  oder  ob  diese  absonderlichen  Nahrangsmittel  nicht  vielmehr 
eine  medicamentöse  Bedeutung  besiisen,  lasse  ich  dahingeaiellt. 

Sicherlich  ist  das  Letsstere  der  Fall  bei  «pn«m  q  Steine,  Namens 

Tubaret  homra,  d.  L  rother  '  ichtet,  die 


710  XXIX.  Die  Gesundheitspflege  der  Schwangerschaft. 

schwangeren  Damascenerinnen  gepulvert  der  Gesandheit  wegen  verzehren: 
allerdings  soll  auch  der  angenehme  Geruch  ein  Grund  daftir  sein,  dass  das  Pulver 
gegessen  wird. 

Die  Mincopie -Weiber  auf  den  Ändamanen  haben  während  der  Schwanger- 
schaft die  Gewohnheit,  ab  und  zu  kleine  Mengen  eines  weissen  Thones  zu  knabbern, 
den  sie  auch  zum  Bemalen  ihres  Korpers  benutzen.  Sie  haben  den  Glauben,  dass 
dieses  segenbringend  für  ihren  Zustand  sei. 

Die  Sulanesinnen  bekommen  in  der  Schwangerschaft  bisweilen  das  Ge- 
lüste, Baumharz  zu  essen. 

Um  echte  Gelüste  handelt  es  sich  bei  den  Bewohnerinnen  der  kleinen  Inseb 
im  Südosten  des  malayi sehen  Archipels.  Wir  haben  bereits  oben  einige  Speise- 
verbote  kennen  gelernt,  die  für  diese  Frauen  während  der  Schwangerschaft  Gdtung 
haben.  Sie  werden  aber  sämmtlich  hinfällig,  sobald  eine  solche  Frau  von  Ge- 
lüsten befallen  wird.  Dann  darf  sie  eben  alles  essen,  z.  6.  auf  Serang  auch 
herbe  und  sauere  Früchte,  auf  Ambon  und  den  Üliase-Inseln  ausser  unreifen 
Früchten  selbst  gebrannten  Thon  und  Scherben  von  Töpfen  und  Pfannen.  Streng 
für  die  Schwangeren  verpönt  ist  aber  trotz  aller  sonstigen  Nachsicht  gegen  die 
Gelüste  auf  Keisar  die  Ananas,  und  auf  den  Inseln  Leti,  Moa  und  Lakor  die 
Erdmandel  (Arachis  hjpogaea),  letztere  weil  sie  angeblich  Fieber  verursacht. 


194.  Die  Sorge  für  die  psychische  Stimmung  der  Schwangeren. 

Während  die  auf  niederer  Cultur  stehenden  Völker  ebenso  wenig  auf  die 
geistige  wie  auf  die  körperliche  Ruhe  der,  wie  bei  uns  der  Yolksmund  sagt^  ,io 
guter  Hoffnung*  befindlichen  Frau  bedacht  sind,  beginnt  man  mit  einiger  Civili- 
sation  in  dieser  Hinsicht  meistens  rücksichtsvoller  zu  verfahren.  Unter  allen 
Gulturvöikem  denkt  man  schon  daran,  dass  Heiterkeit  des  Gemüths,  Reinlichkeit, 
Massigkeit  in  allen  Genüssen  die  besten  Vorsichtsmaassregeln  in  dieser  Beziehung 
sind  und  dass  insbesondere  alle  heftigen  Afiecte  vermieden  werden  müssen.  Schon 
die  altindischen  Aerzte  beginnen  ihre  guten  Rathschläge  für  Schwangere  damit, 
dass  sie  ihnen  empfehlen,  beständig  heiter  und  guter  Dinge  zu  sein;  auch  soUten 
sie  sich  vor  Furcht  und  Zorn  und  selbst  vor  lautem  Reden  hüten.  (Ilessler, 
Vullers.) 

Die  Autoren  unserer  ältesten  Hebanmienbücher  (aus  dem  16.  Jahrh.)  sagen, 
die  Schwangere  solle  in  , Freude  und  Wollust*  leben.  Jene  rathen,  Alles,  was 
übel  riecht,  zu  vermeiden,  und  auch  die  Inder  meinten,  die  Schwangere  müsse  dem 
Gestank  ausweichen.  Der  altindische  Arzt  Susruta  warnt  vor  Grabstätten,  und 
ein  chinesischer  Arzt  (r.  Martius)  sagt:  „Eine  Schwangere  vermeide  solche 
Orte,  wo  man  ein  Grab  bereitet,  eine  Leiche  begräbt  u.  s.  w.* 

Das  Verbot,  sich  bei  Gräbern  aufzuhalten  und  Leichen  zu  sehen,  ist  ein 
weitverbreitetes.  Wir  begegnen  ihm  im  malayischen  Archipel  auf  Seranglao 
undGorong,  und  ebenso  auch  in  Schlesien,  Pommern,  Thüringen  und  dem 
y  oigtlande.  Hier  nimmt  man  übrigens  auch  an,  dass  der  Besuch  des  Kirchhofes 
dem  entstehenden  Kinde  zeitlebens  eine  Leichenfarbe  oder  gar  der  Schwangeren 
selber  den  Tod  zu  bringen  vermöchte.  Ganz  ähnliche  Beweggründe  sind  es  wohl, 
welche  zu  folgender,  uns  von  Kat scher  berichteten  Sitte  führen:  In  manchen 
Gegenden  Chinas  erleidet,  wenn  Weiber  der  trauernden  Familie  schwanger  sind, 
das  Leichenbegängniss  einen  Aufschub  bis  nach  der  Vollendung  der  erwarteten 
Geburten.  Die  Grossmutter  eines  intimen  Freundes  Grays  blieb  mehrere  Jahre 
unbeerdigt,  weil  immer  eine  oder  die  andere  Verwandte  sich  in  gesegneten  Um- 
ständen befand. 

Die  schwangere  Zigeunerin  verliert  ihre  Leibesfrucht,  wenn  sie  über  den 
Schatten  von  Grabkreuzen  ihre  Schritte  setzt. 


194.  Die  Sorge  fQr  die  psychiRche  Stimmang  der  Schwangeren.  711 

Streit  und  Zank  muss  die  Schwangere  meiden,  und  sie  darf  vor  allen  Dingen 
selbst  nicht  schelten  oder  gar  jähzornig  werden,  weil  sonst  auch  ihr  Kind  böse 
werden  würde  (Ost-Preussen,  Archangel,  Luang-  und  Sermata-Inseln, 
Seranglao  und  Gorong).  Dass  vielleicht  die  Sorge,  der  Schwangeren  eine 
ruhige  und  fröhliche  Stimmung  zu  erhalten,  die  Ursache  ist,  dass  sie  bei  so  ver- 
schiedenen Völkern  nicht  als  Zeugin  vor  Gericht  erscheinen  darf,  das  wurde  bereits 
früher  erwähnt.  Auch  das  Verbot  für  die  Schwangeren,  Thiere  zu  tödten,  muss 
wohl  mit  hierher  gerechnet  werden.  Wir  finden  dasselbe  auf  Seranglao  und 
Gorong  und  auch  im  bayerischen  Franken.  Hier  darf  sie  keine  jungen 
Katzen  oder  Hunde  ins  Wasser  werfen,  um  sie  zu  ersäufen;  thut  sie  es  dennoch, 
so  wird  sie  kein  lebendes  Kind  zur  Welt  bringen.  Auf  Ambon  imd  den  Ulia se- 
insein darf  sie  nicht  einmal  rohes  Fleisch  schneiden. 

Man  war  im  klassischen  Alterthum  bekanntlich  davon  überzeugt,  dass  es 
für  die  Schwangere  segensreich  sei,  wenn  ihr  Auge  auf  schönen  Gegenständen 
ruhte.  Das  sollte  bewirken,  dass  auch  bei  ihrem  Kinde  jsich  schöne  Körperformen 
entwickelten.  In  dieser  Beziehung  ist  eine  Stelle  des  Talmud  sehr  charak- 
teristisch, welche  im  Traktate  Berachoth  enthalten  ist.  Pinner  übersetzte  sie 
folgendermaassen : 

,22.  Jochnanan  war  gewohnt  zu  gehen  und  sich  zu  setzen  vor  die  Thore  der  B&der. 
£r  sagte:  Wenn  sie  hinaufsteigen,  die  Töchter  Jisraeh,  und  kommen  aus  dem  Bade,  so  mögen 
sie  mich  ansehen,  damit  sie  Kinder  bekommen,  die  so  schön  sind,  wie  ich  bin.  £^  sagten  zu 
ihm  die  Rabbinen:  Ist  nicht  der  Herr  besorgt  wegen  eines  bösen  Auges?  Er  sagte  zu 
ihnen:  Ich,  von  dem  Stamme  JoatpKa  stamme  ich  ab,  welchen  nicht  beherrschen  kann  ein 
böses  Auge.** 

Andererseits  aber  scheinen  die  Rabbiner  durchaus  nicht  davon  durchdrungen 
gewesen  zu  sein,  dass  die  Stimmung  der  Schwangeren  eine  fröhliche  sei.  Denn 
in  dem  Midrasch  Schir  Ha-Schirim  heisst  es  zur  Erklärung  von  5.  6.  des 
Hohen  Liedes  Salomonis: 

»Später  aber  war  er  gegen  mich  von  Zorn  erfüllt,  wie  ein  schwangeres  Weib.* 
(Wünsche^.J 

Zu  der  Fürsorge  für  die  gute  Stimmung  der  Schwangeren  gehört  es  auch, 
dass  man  ihr  keinen  ihrer  Wünsche  versagt.  Bittet  sie  bei  den  weissrussischen 
Bauern  um  Geld  und  man  schlägt  ihr  diese  Bitte  ab,  so  werden  Mäuse  oder 
Ratten  dem  Hartherzigen  die  Kleider  zernagen.  Wer  die  Bitte  nicht  erfiillen 
kann,  muss  sofort  der  Frau  ein  kleines  Kohlenstückchen,  etwas  Erde  oder  etwas 
Schutt  nachwerfen. 


XXX.  Die  Gefahren  und  der  Schutz  der  Schwangeren. 

195.  Das  Versehen  der  Sehwangeren. 

Der  Glaube,  dass  das  plötzliche  Sehen  von  etwas  Hässlichem  oder  gar  Ver- 
krüppeltem und  Missgestaltetem,  über  das  die  Schwangere  erschrickt,  in  sym- 
pathetischer Weise  dem  Embryo  Schaden  bringe,  so  dass  das  Kind  an  irgend 
einer  Stelle  seines  Körpers  eine  an  das  Gesehene  erinnernde  Missbildong  be- 
komme, ist  über  ganz  Deutschland  verbreitet;  er  findet  sich  aber  ebenfalls  auch 
bei  manchen  aussereuropäischen  Völkern.  Es  ist  noch  nicht  sehr  lange  her, 
dass  nicht  allein  das  gebildete  Publikum,  sondern  sogar  die  Äerzte  jede  Monstro- 
sität, jede  Missgeburt  aus  dem  Versehen  zu  erklären  sich  bemühten,  und  natür- 
licher Weise  gefiel  es  einer  jungen  Mutter,  welche  ein  missgebildetes  Kind  zur 
Welt  gebracht  hatte,  sich  zu  erinnern,  dass  sie  innerhalb  der  neun  Monate  ihrer 
Schwangerschaft  einmal  etwas  Widerwärtiges  gesehen  oder  sich  über  etwas  er- 
schreckt habe,  dem  sie  dann  bereitwilligst  die  Schuld  an  der  Anomalie  ihres 
Kindes  in  die  Schuhe  schob. 

So  glaubt  man  allgemein  in  Deutschland,  dass  die  Feuermäler  entstehen, 
wenn  die  Schwangere  vor  einem  Feuer  erschrickt,  oder  wenn  sie  einen  Schreck 
bekommt,  weil  sie  plötzlich  Jemanden  bluten  sieht.  Immer  soll  dann  das  Feuer- 
mal das  Bild  der  blutüberströmten  Stelle  wiedergeben.  Auch  das  Erschrecken 
vor  Thieren  ist  höchst  gefahrlich,  weil  die  Schwangere  sich  ebenfalls  daran  ver- 
sieht und  dann  die  Kinder  je  nach  der  Thiergattung  mit  behaarten  Muttermälem, 
mit  Hasenscharten,  mit  Schweineschwänzen  oder  Ziegenklauen,  und  wenn  das  Thier, 
welches  den  Schreck  eingejagt  hat,  zufallig  ein  frischgeschlachtetes  war,  auch  mit 
offenem  Bauche  und  vorliegenden  Eingeweiden  geboren  werden.  Wenn  die  Mutter 
vor  einem  Hasen  erschrickt  und  sich  dabei  in  das  Gesicht  fasst,  so  bekommt  das 
Kind  eine  Hasenscharte;  es  kann  aber  auch  einen  Hasenkopf  bekommen  (Spree - 
wald).  Wenn  die  schwangere  Serbin  in  das  Blut  eines  frischgeschlachteten 
Schweines  tritt,  so  bekommt  ihr  Kind  dadurch  rothe  Flecke. 

An  das  Versehen  der  Schwangeren  glaubt  man  auch  in  Klein-Russland, 
wo  man  es  ilir  besonders  gefahrlich  hält,  wenn  sie  ein  brennendes  Haus  erblickt, 
denn  dann  bekommt  das  Kind  auf  der  Stirn  einen  schwarzen  Strich  oder  einen 
dunkelrothen  Fleck  am  Leibe.  Im  Gouvernement  Charkow  vermeiden  Schwangere 
den  Anblick  sehr  hässlicher  Menschen,  besonders  solcher,  welche  Narben  oder  etwas 
Aehnliches  im  Gesicht  haben. 

Vielleicht  hatten  auch  die  alten  Inder  den  Glauben  an  das  Versehen  der 
Schwangeren,  denn  SHsnda  warnte  Schwangere,  schmutzige  und  «ungestaltete* 
Dinge  zu  berühren.  Der  oben  genannte  chinesische  Arzt  sagt:  Man  hüte  sich, 
eine  Schwangere  Hasen,  Mäuse,  Igel  Schildkröten,  Ottern,  Frösche,  Kröten  und 
dergl.  sehen  zu  lassen.  Ebenso  muss  auf  Ambon  und  den  Uliase-Inseln  die 
schwangere  Frau  vorsichtig  vermeiden,  auf  ihren  Ausgängen  Schlangen  oder  Affen 
zu  begegnen. 


195.  Das  Versehen  der  Schwangeren.  713 

Auch  an  Bildern  und  Bildwerken  vermögen  sich  nach  dem  Glauben  früherer 
Jahrhunderte  die  Schwangeren  zu  versehen.  So  haben  die  Talmud isten  im 
Midrasch  Bereschit  Rabba  folgende  Geschichte  niedergelegt: 

,Es  war  einmal  ein  Mohr,  der  eine  Mohrin  goheirathet  und  mit  ihr  einen  weissen  Sohn 
erzeugt  hatte.  Der  Vater  nahm  den  Sohn  und  kam  zu  Rabbi  und  sprach:  Dass  ist  vielleicht 
nicht  mein  Sohn.  Da  fragte  er  ihn:  Hast  Du  Bilder  in  deinem  Hause?  Ja.  Sind  sie  schwarz 
oder  weiss?    Weiss?     Daher,  sagte  hierauf  Rabbi,   hast  Du  den  weissen  Sohn/     CWänsche^.J 

Auch  im  13.  Jahrhundert  Hess  der  Papst  Martin  IV.  aus  seinem  Hause 
sämmtliche  Darstellungen  seines  Wappen thieres,  des  Bären,  entfernen,  weil  sich 
eine  Dame  seines  Hofstaates  an  demselben  versehen  hatte  und  mit  einem  gänzlich 
behaarten  Kinde  niedergekommen  war. 

Auch  unter  den  Urvölkern  Amerikas  ist  der  Glaube  an  das  Versehen 
heimisch,  z.  B.  unter  den  Indianern  am  Orinoco.     (Güli.) 

Den  V^akamba  in  Ost- Afrika  ist  nach  Hüdebrandt  das  Versehen  eben- 
falls eine  sehr  bekannte  Erscheinung.  Empfindet  die  Frau  rechtzeitig,  dass  sie 
sich  versehen  hat,  so  muss  sie  die  Arme  nach  hinten  bewegen  und  dazu  sprechen 
„weggesagt*,  dann  wird  das  Versehen  unschädlich. 

In  Altpreussen  herrscht,  um  das  Versehen  zu  verhüten,  die  Vorschrift, 
dass  die  Frau,  sobald  sie  einem  Krüppel  u.  s.  w.  begegnet,  nach  dem  Himmel 
oder  auf  ihre  Fingernägel  schauen  soll. 

In  Schässburg  und  in  Unterwald  in  Siebenbürgen  räth  man  der 
Schwangeren,  Dinge,  vor  denen  sie  erschrecken  könnte,  sich  recht  genau  anzu- 
sehen, oder  den  Blick  sofort  davon  zu  wenden.  Fürchtet  die  Frau,  sich  an  etwas 
zu  versehen,  so  soll  sie  sich  sogleich  an  den  Hinteren  greifen  und  sich  in  Er- 
innerung bringen,  sich  nicht  versehen  zu  wollen,  dann  wird  es  keine  Folge  haben, 
oder  das  Kind  wird  das  „Mal*  an  diesem  Körpertheil  erhalten.  Ein  anderes  Mittel 
ist,  auf  den  Thurm  zu  steigen  und  von  dort  herunter  zu  sehen. 

Es  steht  ja  nun  natürlich  ausser  allem  Zweifel,  dass  Schreck  und  Gemüths- 
bewegungen  einer  schwangeren  Frau  auf  deren  Nervensystem  und  auf  ihre  Blut- 
circulation  eine  alterirende  Wirkung  haben  müssen,  die  sehr  wohl  zu  Störungen 
in  dem  Wachsthum  des  Embryo  zu  führen  vermögen,  und  neuerdings  verficht  der 
Leipziger  Gynäkologe  llennig  die  Schädlichkeit  eines  Erschreckens  der  Mutter 
für  das  Kind  im  Uterus: 

«Dagegen  werde  ich  wieder  zu  einer  schon  früher  in  meinen  Vorlesungen  vertheidigten 
Ansicht  hingezogen,  welche  eine  heftige,  unvorbereitet  die  Schwangere  treifendo  Geiuflths- 
bewegung,  hier  den  Schreck,  bei  einer  abergläubischen  Person  als  primum  anspricht.  Meine 
Theorie  ist  folgende:  während  der  körperlichen  Erschütterung,  welche  jeden  Schreck  begleitet, 
trifft  ausser  dem  bekannten  präcardialen  Irradiationsgefühle  ein  centrifugaler  (Hirn-)  Strom 
die  bei  Frauen  so  leicht  erregbaren  Verbindungsstränge,  welche  aus  dem  Rückenmarko  zum 
Uterusgeflechte  hinstreichen.  Dass  dieser  psychische  Reiz  zunächst  nicht  den  Plexus  spermaticus 
trifft,  wird  durch  die  Thatsache  erhärtet,  dass  die  von  heftiger  Gemüthsbewcgung  betroffenen 
Frauen  meist  nicht  hypogastrische  Schmerzen,  sondern  einen  kurzen  centrischen  Schmerz  oder 
Krampf  in  der  Gegend  der  Gebärmutter  angeben,  der  gern  reflectorisch  die  BeinumHkeln  lähmt, 
zunächst  Yorübergehend.  Sitzt  nun  im  Uterus  ein  junges  Ei,  so  stelle  ich  mir  vor,  dass  die 
vorzeitige  Wehe  eine  Welle  im  Fruchtwasser  erregt.  Diese  Welle  stürzt  gegen  den  Scheiden- 
theil, drückt  entweder  die  Frucht  abwärts,  oder  stösst  im  Rückprall  gegen  den  Grund  des 
Uterus,  gelegentlich  nochmals  von  oben  abprallend.  Hierbei  werden  die  noch  zarten  Gebilde 
des  Embryo  leicht  gezerrt,  Spalten  um  Verschlusse  gehindert  oder  wieder  gesprengt,  die  Haltung 
der  Gliedmaassen  verschoben,  ihr  Wachsthum  gestört.** 

Was  der  Lehre  von  dem  Versehen  der  Schwangeren  in  der  Aligemeinheit, 
wie  man  sie  früher  aufgestellt  hatte,  aber  mit  Recht  den  Boden  entzogen  hat, 
das  ist  der  Umstand,  dass  der  von  der  Mutter  mit  aller  Bestimmtheit  angegebene 
Schreck,  der  dem  Kinde  die  Missbildung  gebracht  haben  sollte,  in  den  meisten 
Fallen  in  den  letzten  Monaten  der  Schwangerschaft  der  Mutter  begegnet  war, 
während  die  betreffenden  Monstrositäten,   wie  die  Entwickelungsgeschichte  in  un- 


714  XXX.  Die  Gefahren  und  der  Schutz  der  SchwmngereD. 

bi^x  reit  barer  Weiser  darthat.  bestimmten  Stadien  unserer  Entwickelong  im  Matter- 
UirA:  entäprechen.  welche  in  die  allerersten  Wochen  des  embryonalen  Lebens  fallen. 
Dirr^e  Sudien  sind  darch  eine  Hemmung  der  weiteren  Ansbildoi^  in  diesen  Mon- 
strositäten erhalten  eeblieben. 


1%.  Aben^linbische  Terbaltungsregeln  wihrend  der  SehwftBgenekaft 

Wir  haben  in  den  vorigen  Abschnitten  schon  so  rielerlei  kennen  gelernt. 
wa?  die  Schwangere  thon  und  was  sie  renneiden  soll,  dass  man  glauben  mochte, 
die  Verhaltangsregeln  seien  nnn  damit  endlich  erschöpft.  Dem  ist  aber  nicht  so; 
.rondem  noch  vor  mancherlei  Anderem  hat  sich  die  Schwangere  sorgfiLltig  zu 
baten,  wenn  .sie  nicht  sich  oder  ihrem  Kinde  einen  Schaden  zufbgen  wilL  £r- 
.scheinen  nna  nun  auch  manche  von  diesen  Bestimmungen  ganz  absurd,  so  können 
wir  doch  wieder  bei  anderen  den  Gedankengang  ahnen«  welcher  die  Leute  zu 
diesen  Vorschriften  veranlasst  hat.  Alles  Knüpfen.  Knoten  und  Verbinden  Ter- 
urnacht  einen  Verschluss  und  muss  daher  von  der  Schwangeren  unterlassen  werden, 
wenn  .sie  nicht  selbst  verschlossen  sein  will  oder  mit  anderen  Worten,  wenn  sie 
einer  schweren  Entbindung  ausweichen  mochte.  Darum  darf  sie  auch  auf  den 
Luang-  und  Sermata-  und  den  Babar- Inseln  keine  Stoffe  weben  und  auf  den 
letzteren  auch  keine  Matten  flechten.  In  Franken  darf  die  Schwangere  aus 
dem  gleichen  Grunde  nicht  Qber  eine  Pflugschleife  hinwegschreiten,  oder  wenn 
sie  es  aus  Versehen  dennoch  gethan  hat.  so  muss  dieselbe  wieder  zusammen- 
geharkt werden. 

Darum  wahrscheinlich  legen  die  Songish-Indianerinnen  in  VancouTer 
und  eben.so  die  Weiber  der  Nootka-Indianer.  wenn  sie  schwanger  sind,  alle 
Armbänder,  Beinringe  und  Halsketten  ab.  wie  von  Boas  berichtet  wird. 

Alles  Kriechen  und  Sichwinden  macht  dem  Kinde  Umschlingungen  der 
Nabelschnur,  dlajer.j  Deshalb  vermeidet  in  der  Pfalz  die  Frau,  unter  einer 
Waschleine  hindurchzuschlQpfen:  auch  darf  sie  weder  spinnen,  haspeln,  noch 
zwirnen.  ^Fatdi,/  Im  bayerischen  Franken  darf  sie  ebenfalls  nicht  unter  einem 
Seile  oder  einer  Planke  hindurchkriechen,  und  dieselbe  Besorgniss  ist  bei  den 
Ehsten  die  Ursache,  dass  Schwangere  beim  Waschen  und  Abspulen  der  Kleidungs- 
.stucke  nicht  kreisförmige  Drehungen  ausfuhren. 

Von  der  Sächsin   in  Siebenbürgen  sagt  r.  Wh'slocki'^: 

.Kine  ^chwangere  darf  keinen  Zwirn  um  ihren  Nacken  wickeln  oder  Perlen  am  Halt« 
tragen,  sonst  wickelt  s>ich  dem  Kinde  Ijei  iler  <ieburt  die  Nabelschnur  um  den  Hals;  dasselbe 
geschieht,  wenn  sie  über  eine  Wagendeichsel  springt.* 

J^etzteres  gilt  auch  für  Oldenburg,  auch  darf  hier  die  Schwangere  nicht 
unter  dem  Halse  des  Pferdes  hindurchkriechen,  nicht  über  eine  Egge  schreiten  und 
nicht  über  eine  Wagendeichsel  kriechen. 

Auch  im  Modenesischen  darf  nach  Ä/rrrtrrf/  die  Schwangere  nicht  unter 
einer  ausgespannten  Leine  oder  unter  einem  Pferdekopf  hindurchgehen,  denn  so 
oft  sie  dieses  thut,  so  oft  würde  sich  die  Nabelschnur  um  den  Hals  des  Fötus 
schlingen. 

Ebenso  durchsichtig  ist  die  Ideenassociation,  wenn  wir  hören,  dass  die 
Siebenbürger  Sächsin  ein  Kind  .verkehrt*  zur  Welt  bringen  würde,  wenn  sie 
rückwärts  in  dem  Wagen  fährt,  oder  die  Ehstin  und  die  Schwangere  auf  den 
Luang-  und  Serniata-Inseln,  wenn  das  Brennholz  verkehrt  oder  gegen  den 
Ast  in  das  Feuer  geschoben  wird.  Schwerer  ist  es  schon  zu  verstehen,  warum 
der  Siebenbürger  Sächsin  das  Gleiche  widerfahrt,  wenn  sie  beim  Backen  über 
die  Ofenbank  schreitet,     fv.  Wlislocki^.j 

Bei  den  Bulgaren  fStrausjs)  heisst  es  nur,  dass  die  Schwangere  eine 
schwere  Niederkunft  haben  würde,  wenn  sie  über  ein  Holz  hinwegschreitet  Aber 
^-'s  gleiche  Unglück  begegnet  ihr  auch,  wenn  sie  mit  übergeschlagenen  Beinen  r'*  * 


196.  Abergl&ubische  Verhaltungsregeln  während  der  Schwangerschaft.  715 

Abgesehen  von  diesen  Erscliwerungen  der  Niederkunft  kann  ein  unvorsichtiges 
Verhalten  der  Schwangeren  auch  noch  allerlei  bleibenden  Schaden  für  das  sich 
bildende  Kind  verursachen.  Die  Magyarin  würde  z.  B.  ganz  sicher  ein  ver- 
krüppeltes Kind  gebären,  wenn  unter  ihrem  Lager  Mäuse  nisten  und  sie  nicht 
ihren  Koth  oder  Urin  in  deren  Löcher  prakticiren  würde.  Auf  Ambon  und  den 
Uliase-Inseln,  auf  den  Seranglao-  und  Gorong-Inseln  und  aufden  Watu- 
bela-Inseln  kommt  ein  verkrüppeltes  Kind  zur  Welt,  wenn  die  Schwangere 
Krüppel  verspottet. 

Die  schwangere  Sächsin  in  Siebenbürgen  darf  man  nicht  mit  Blumen 
werfen,  sonst  bekommt  ihr  Kind  an  der  Stelle,  wo  sie  getrofTen  ist,  ein  Mal.  Sie 
darf  keine  Bohnen  in  ihre  Schürze  schütten  und  auch  nicht  auf  Hanfabfalle 
uriniren,  sonst  bekommt  das  Kind  einen  Hautausschlag.  Das  Gleiche  verursacht 
die  Zelt-Zigeunerin  in  Siebenbürgen,  wenn  sie  Hirse,  Hanfsamen,  Perlen 
oder  sonstige  kleinkörnige  Gegenstände  in  ihrer  Schürze  trägt;  und  spritzt  ihr 
zufällig  das  Blut  eines  abgeschlachteten  Thieres  ins  Gesicht,  so  treten  bei  ihrem 
Kinde  an  derselben  Stelle  rothe  Flecken  hervor,  wenn  sie  die  angespritzte  Stelle 
ihres  Gesichtes  nicht  bei  abnehmendem  Monde  mit  Salzwasser  einigemale  befeuchtet. 

Das  Kind  der  Wendin  in  Hannover  bekommt  Sommersprossen  und 
Muttermale,  wenn  sie  in  der  Schwangerschaft  etwas  kocht,  was  spritzt,  oder  wenn 
sie  gelbe  Rüben  schabt.  Die  Krätze  bekommt  das  Zigeuner-Kind,  wenn  die 
Schwangere  einer  Kröte  begegnet  und  wenn  sie  dieselbe  anspeit.  Aehnliche  Be- 
fürchtungen sind  vielleicht  der  Grund,  dass  auf  Ambon  und  den  Uliase-Inseln 
die  Schwangere  keine  Aussätzigen  oder  Leute  mit  bösen  Geschwüren  hinter  ihrem 
Rücken  vorbeigehen  lassen  darf. 

Auf  den  Uliase-Inseln  vermeidet  die  Frau,  in  der  Schwangerschaft  mit 
dem  Rücken  gegen  einen  Kochtopf  gekehrt  zu  sitzen,  weil  sonst  das  Kind  schwarz 
werden  würde.  Die  Siebenbürger  Sächsin  darf  kein  Schwein  mit  dem  Fusse 
stossen,  sonst  bekommt  das  Kind  Borsten  auf  dem  Rücken;  sie  darf  keinen  Hund 
und  keine  Katze  schlagen,  sonst  wachsen  dem  Kinde  Haare  im  Gesicht.  Rothe 
Haare  bekommt  das  Kind  im  Spreewalde,  wenn  die  Schwangere,  um  den  Flachs 
zu  trocknen,  in  den  Backofen  kriecht. 

Einen  Wasserkopf  bekommt  das  Kind,  wenn  die  Mutter  sich  am  Wasser 
zu  thun  macht  (Preussen).  Damit  das  Kind  nicht  schielend  werde,  darf  in 
Preussen  die  Schwangere  durch  kein  Ast-  oder  Schlüsselloch  und  in  keine  Flasche 
sehen,  in  Serbien  die  Frau  nicht  über  eine  Heugabel  schreiten  (Pelrowitsch), 
und  auf  der  Insel  Ambon  und  den  Uliase-Inseln  die  Schwangere  nicht  auf 
Riffen  fischen. 

Hält  sich  die  Wendin  in  Hannover  und  im  Spreewalde  bei  etwas 
Uebelriechendem  die  Augen  zu,  so  bekommt  das  Kind  einen  stinkenden  Athem, 
und  zu  einem  Bettnässer  macht  die  letztere  ihr  Kind,  wenn  sie  ihr  Wasser  bei 
einer  laufenden  Dachtraufe  abschlägt. 

Epileptisch  wird  das  Kind,  wenn  die  schwangere  Serbin  das  Kreuz  küsst; 
an  Engbrüstigkeit  stirbt  es,  wenn  die  Siebenbürger  Sächsin  in  der  Schwanger- 
schaft den  Ofen  putzt.  Trinkt  sie  aus  einer  hölzernen  Kanne  oder  aus  einem 
Schöpfeimer,  so  bekommt  ihr  Kind  den  Speichelfluss.  Sieht  die  schwangere  Zelt- 
Zigeunerin  in  Siebenbürgen  das  aufgesperrte  Maul  eines  verendenden  Thieres, 
so  bekommt  das  Kind  einen  hässlichen  Mund.  Die  Ehstin  glaubt  beim  An- 
schneiden eines  Brodes  ihren  Kindern  dadurch  einen  wohlgeformten  Mund  zu  ver- 
schaffen, dass  sie  zunächst  nur  ein  kleines  Stück  abschneidet. 

Die  Zelt-Zigeunerin  in  Siebenbürgen  soll  während  der  Schwangerschaft 

jede  Schnecke,  die  sie  erblickt,  zertreten,  weil  sonst  ihr  Kind  schwer  gehen  lernen 

wird,    und   die    Sächsin    in  dem   gleichen  Lande  muss  es  vermeiden,  in  diesem 

Zustande  auf  ein  getödtetes  Thier  zu  treten,  weil  ihr  Kind  sonst  überhaupt  nicht 

'^n  lemfln  wOrde.    Speit  die  erstere  eine  Kröte  an,   so  wird  ihr  Kind  schwer 


716  XXX.  Die  Gefahren  und  der  Schutz  der  Schwangeren. 

sprechen  lernen;  und  wenn  sie  bei  dem  Schrei  einer  Wiesenralle  niclit  schnell 
ihren  Mund  mit  der  linken  Hand  bedeckt,  so  wird  sie  ein  Kind  gebären,  das 
Tag  und  Nacht  weint. 

Will  die  Frau  auf  Seranglao  und  Gorong  gesunde  und  wohlgestaltete 
Kinder  zur  Welt  bringen,  so  darf'  sie,  wenn  sie  schwanger  ist,  nicht  vor  der  Thüre 
sitzen,  kein  Holz  aufsammeln,  nichts  Stachliches  fischen  und  nicht  auf  dem  Rücken 
liegen.  Auf  den  Luang-  und  Sermata-Inseln  darf  nicht  gekocht  werden,  wo 
eine  Schwangere  im  Hause  ist.  Katzen  oder  Hunde  mit  FUssen  stossen,  verursacht 
in  Böhmen  und  Mähren  Fehlgeburt. 

Auch  auf  die  spätere  Moral  des  Kindes  vermag  ein  unvorsichtiges  Verhalten 
von  Seiten  der  Schwangeren  einzuwirken.  Trägt  sie  bei  den  Siebenbtirger 
Zelt -Zigeunern  die  Federn  eines  Raubvogels  bei  sich,  so  wird  ihr  Kind  ein 
grosser  Dieb  und  es  wird  sein  Leben  einst  im  Kerker  oder  gar  an  dem  Galgen 
beschliessen.  Wenn  in  Bayern  die  Schwangere  einem  armen  SUnder  auf  seinem 
letzten  Gange  folgt,  so  wird  das  Kind  einst  denselben  Weg  gehen.  Sie  darf  nicht 
Jemandem  etwas  fortnehmen  oder  heimlich  essen,  weil  sonst  ihr  Kind  die  Neigung 
zum  Stehlen  bekommt  (Ost-Preussen);  aus  dem  gleichen  Grunde  darf  sie  auf 
Ambon  imd  den  U Hase- Inseln  nichts  heimlich  verbergen. 

Während  der  Schwangerschaft  soll  die  Zigeunerin  mit  keiner  Katze 
spielen,  oder  sie  gar  in  den  Schooss  nehmen,  weil  sonst  das  Kind  im  Leben  viele 
Feinde  bekommen  würde.  Im  Gebiet  von  Modena  muss  der  heiligen  Liberata 
eine  Messe  gelesen  werden,  wenn  die  Weiber  von  Beschwerden  wahrend  der 
Schwangerschaft  befallen  werden,  weil  sonst  das  Kind  später  auf  die  Galeere  oder 
an  den  Galgen  kommen  würde.     (Riccardi,) 

Eine  schwangere  Magyarin  darf  den  Blitz  nicht  sehen,  weil  sonst  ihre 
Kinder  ruhelose  Wanderer  würden  und  zu  ihr  nie  mehr  zurückkehren.  Und  doch 
sind  bei  ihnen  Spähne  von  einem  Baume,  den  der  Blitz  getroffen  hatte,  ein  heil- 
bringendes Amulet  für  eine  glückliche  Geburt. 

Als  ein  sehr  schweres  Vergehen  gilt  es,  wenn  bei  den  Magyaren  oder  den 
Siebenbürger  Sachsen  die  Schwangere  den  Segen  ihres  Leibes  ableugnen 
wollte.  Die  Kinder  lernen  dann  bei  den  Ersteren  spät,  kei  den  Letzteren  aber 
überhaupt  nicht  sprechen. 

Auch  die  Bulgarinnen  glauben,  dass  sie  ein  stummes  Kind  gebären,  wenn 
sie  ihre  Schwangerschaft  ableugnen.     (Strausz.) 

Die  Weiber  der  Orang  P&nggang  in  Malacca  legen  während  ihrer 
Schwangerschaft,  wie  Stevens  berichtet,  Blumen  an  einem  Baume  nieder,  der  der 
gleichen  Species,  wie  ihr  sogenannter  Lebensbaum  angehört.  Auf  diesem  Baume 
wartet  die  Seele  des  zukünftigen  Kindes  in  der  Gestalt  eines  Vogels,  bis  sie  von 
der  Schwangeren  gegessen  wird. 

„Der  Vogel,  welcher  die  Seele  für  das  Kind  der  SchwaDgeren  besitzt,  bewohnt  stets 
dieselbe  Art  von  Bäumen,  wie  der  Geburtsbaum  (Lebensbaum);  er  fliegt  von  dem  einen  zum 
anderen  und  folgt  dem  noch  ungeborenen  Körper.  Die  Seelen  der  ersten  Kinder  sind  stets 
junge,  aus  den  Eiern  entwickelte  Vögel,  die  Brut  eines  Vogels,  der  die  Seele  der  betreftenden 
Mutter  besass.  Die  Vögel  können  die  Placenta  eines  Knaben  von  der  eines  M&dchens  unter- 
scheiden.    Die  Seelen  erhielten  die  Vögel  von  Keii  (dem  höchsten  Gott).*     (Grümcedel^.J 

Weiber,  die  in  ihrer  Schwangerschaft  es  versäumen,  den  Seelenvogel  zu 
essen,  bringen  ein  todtes  Kind  zur  Welt,  oder  dasselbe  stirbt  bald  nach  der  Geburt. 

Eine  Reihe  anderweitiger  schädlicher  Einwirkungen  auf  den  sich  entwickeln- 
den Embryo  werden  wir  noch  im  folgenden  Abschnitte  kennen  lernen. 


197.  Die  Pflichten  des  Ehemannes  während  der  Schwangerschaft. 

Der  Eintritt  der  Schwangerschaft  legt  nun  aber  nicht  nur  der  Frau,  sondern 
bei   manchen  Völkern   sogar   auch   dem  Manne   ganz   bestimmte  Verpflichtungen 


197.  Die  Pflichten  des  Ehemannes  während  der  Schwangerschaft.  717 

auf,  und  zu  diesen  muss  man  ja  eigentlich  auch  schon  die  bereits  erwähnte  Vor- 
schrift rechnen,  dass  der  Gatte  während  der  Gravidität  den  Coitus  und  bisweilen 
sogar  jeglichen  Umgang  mit  der  Frau  zu  meiden  hat.  Bei  den  Pschawen 
(Transkaukasien)  geht  die  Unreinheit  der  Frau  während  der  Schwangerschaft 
auch  auf  den  Mann  mit  über,  der  dann  ebenso  wie  seine  Gattin  von  allen  Fest- 
lichkeiten ausgeschlossen  wird. 

Bei  mehreren  südamerikanischen  Indianerstämmen  enthalten  sich  so- 
wohl die  Frau  als  auch  der  Mann  während  der  Schwangerschaft  des  Genusses  der 
Fleischspeisen;  bei  den  Guaranis  geht  der  Mann  nicht  auf  die  Jagd,  so  lange 
seine  Frau  schwanger  ist.  Bei  anderen  Stämmen,  z.  B.  den  Manhees  (nach 
v,Spix\  muss  der  Ehemann  fasten  und  nur  von  Fischen  und  Früchten  leben. 
Schon  die  alten  Peruaner  im  Inca-Reiche  liessen  den  Mann  fasten,  um  Zwillings- 
oder Missgeburten  zu  verhüten.  Am  Amazonenstrom  giebt  es  nach  Chandless 
Stämme,  die  den  Ehemännern  Schwangerer  Fische,  männliche  Schildkröten  und 
Schildkröten eier  zu  speisen,  ausserdem  aber  auch  angestrengte  Arbeit  verbieten. 
Besonders  sind  die  Cariben,  bei  denen  auch  das  Männerkindbett  Sitte  ist,  in 
dieser  Hinsicht  für  das  Wohl  des  zu  erwartenden  Kindes  besorgt. 

Der  Arbeit  muss  sich  der  Ehemann  auch  in  Grönland  bis  zur  Niederkunft 
enthalten,  weil  sonst  das  Kind  sterben  würde.  Und  in  Kamtschatka  machte  man 
den  Gatten  für  die  falsche  Lage  des  Kindes  bei  der  Geburt  verantwortlich,  weil  er 
zur  Zeit  der  Niederkunft  seiner  Frau  Holz  über  das  Knie  gebogen  hatte.    (Steiler.) 

Auf  den  Andamanen-Inseln  darf  der  Mann,  ebenso  wie  seine  Ehegattin, 
während  der  Schwangerschaft  der  Letzteren  keine  Marder  (Paradoxurus)  und  keine 
Eidechsen  (Inguaja)  essen.     (Man,) 

Der  wilde  Land-Dajak  auf  Borneo  darf  vor  der  Geburt  des  Kindes  nicht 
mit  scharfen  Instrumenten  arbeiten,  kein  Thier  tödten  und  keine  Flinte  abfeuern. 

Bei  den  Topantunuasu  in  Celebes  ist  es  dem  Manne,  dessen  Gattin 
schwanger  ist,  „verboten,  Thiere  zu  tödten.  Köpfe  zu  schnellen,  mit  einem  Worte, 
Blut  zu  vergiessen;  auch  darf  er  bei  einigen  Stämmen  nicht  mit  einer  anderen 
Frau  den  Beischlaf  ausüben.     (Riedel^^.) 

Während  der  Schwangerschaft  einer  Frau  der  Kota  im  Nilghiri- Gebirge 
läset  sich  ihr  Ehegatte  weder  die  Haare  noch  die  Nägel  schneiden.    [Mantegazza,) 

Ueber  die  Einwohner  der  Insel  Nias  besitzen  wir  von  dem  Missionar  Thomas 
die  folgenden  Angaben: 

«Ist  eine  Niassor-Frau  schwanger,  so  muss  sie  sowohl,  als  ihr  Mann  sich  einer  solchen 
Menge  Dinge  enthalten,  die  an  und  für  sich  durchaus  nicht  böse  sind,  dass  man  meinen  sollte, 
sie  mflssten  in  steter  Angst  leben  während  der  ganzen  Zeit  der  Schwangerschaft.  Sie  dürfen 
nicht  an  solchen  Orten  vorübergehen,  wo  früher  eine  Ermordung  eines  Menschen  oder 
Schlachtung  eines  Karabau,  oder  Verbrennung  eines  Hundes  (wie  letzteres  bei  gewissen  Ver- 
flachnngen  geschieht)  stattfand,  weil  sich  sonst  bei  dem  zu  erwartenden  Kinde  irgend  etwas 
finden  wird  von  den  Krümmungen  und  Windungen  des  sterbenden  Menschen  oder  Thieres. 
Aü8  demselben  Grunde  (und  noch  anderen)  stechen  sie  kein  zahmes  oder  wildes  Schwein, 
noch  serschneiden  sie  sie,  es  sei  denn,  es  hätte  ein  anderer  vorgeschnitten,  noch  schlachten 
sie  ein  Huhn.  Und  wenn  sie  dass  Unglück  haben,  ein  Hühnchen  todtzutreten,  dann  ist  das 
natürlich  etwas  Böses  und  es  muss  der  Fehltritt  durch  Opfern  wieder  gut  gemacht  werden  so 
wie  jeder  andere  Fehltritt.  Sie  dürfen  an  keinem  Hause  zimmern,  noch  es  decken,  noch  NSgel 
einschlagen,  sich  in  keine  Thür  und  auf  keine  Leiter  stellen,  weder  Tabak  noch  Sirih-Blatt 
im  Betel-Sack  abbrechen,  sondern  dasselbe  erst  herausnehmen,  das  alles,  weil  sonst  das  Kind 
nicht  zur  Welt  geboren  werden  kann.  Dennoch  hatte  ein  freisinniger  Niasser  bei  mir  ge- 
zimmert; als  aber  seine  Frau  nicht  gebären  konnte,  kam  und  fragte  er  mich,  ob  er  einen 
Nagel  ausziehen  dürfe;  er  erhielt  von  mir  angemessene  Belehrung,  aber  auch  die  Freiheit, 
nach  seinem  Glauben  thun  zu  dürfen;  er  zog  also  einen  Nagel  aus  und  bald  war  er  glücklicher 
Vater.  Sie  gucken  in  keinen  Spiegel  und  in  kein  Bambus-Kohr,  weil  sonst  das  Kind  schielen 
wird;  sie  essen  keinen  bujuwu  (Art  Vogel),  denn  sonst  spricht  das  Kind  nicht,  sondern  krächzt 
gleich  diesem  Vogel.  Sie  packen  keinen  Affen  an,  weil  sonst  das  Kind  Augen  und  Stirn 
bekommt  wie  ein  Affe.    Sie  gehen  nicht  in  das  Haus,  worin  ein  Todter  liegt,  weil  sonst  die 


718  XXX.  Die  Gefahren  und  der  Schutz  der  Schwangeren. 

Frucht  des  Leibes  stirbt;  essen  nichts  von  dem  zu  einer  Beerdigung  geschlachteten  Seh  weine, 
weil  sonst  das  Kind  Krätze  bekommt,  pflanzen  keine  Pisang-Bäume,  weil  das  Kind  sonst  Ge- 
schwüre bekommen  wird.  Sie  essen  keinen  era  (Art  Holzkäfer),  weil  sonst  das  Kind  brüst- 
leidend  wird.  Sie  fassen  keinen  baiwa  (gewisser  Fisch)  an,  noch  schlagen  sie  eine  Schlange, 
weil  sonst  das  Kind  magenkrank  wird ;  keltern  auch  kein  Oel,  denn  sonst  bekommt  das  Kind 
Kopfschmerzen  in  Folge  dieses  Fressens.  Auch  kochen  sie  kein  Oel,  weil  es  sonst  einen  wehen 
Kopf  bekommt.  Sie  gehen  an  keinem  Ort  vorbei,  wo  früher  der  Blitz  eingeschlagen  hat, 
weil  sonst  der  Körper  des  Kindes  schwarz  sein  wird.  Sie  stecken  kein  Feld  in  Brand,  denn 
dabei  möchten  Ratten  und  Mäuse  verbrennen  und  das  Kind  krank  werden.  Sie  treten  nicht 
über  die  ausgestreckten  Beine  eines  andern,  weil  sonst  das  Kind  nicht  kann  geboren  werden. 
Sie  essen  keine  Eule,  weil  sonst  das  Kind  ebenso  schreien  wird  wie  diese.  Sie  werfen  kein 
Salz  in  Schweinefutter,  weil  das  Kind  sonst  krank  werden  wird;  eben  ans  demselben  Grande 
essen  sie  kein  Aas  und  schwören  nicht.  Aus  dem  Kochtopf  essen  sie  nicht,  weil  sonst  das 
Kind  an  der  Nachgeburt  festhängen  wird.*' 

Wir  finden  hier  vielfache  BerQhrungspankte  mit  dem  Aberglauben,  der  im 
vorigen  Abschnitte  besprochen  wurde.  Trotzdem  hat  er  hier  seine  Stelle  ge- 
funden, da  eben  auch  der  Ehemann  verpflichtet  ist,  alle  diese  Schädlichkeiten 
sorglich  zu  vermeiden. 

Von  den  Orang  hütan  in  Malacca  berichtet  Stevens: 

«Ein  Djäkun- Ehemann  geht  niemals,  wenn  er  es  irgend  vermeiden  kann,  aas  dem 
Gesichtskreise  seines  Weibes,  wenn  dasselbe  in  gesegneten  Umständen  ist.  Das  machte  mir 
recht  oft  Schwierigkeiten,  Männer  als  Träger  oder  Führer  zu  erhalten.  Durch  die  Anwesen- 
heit des  Mannes  soll  gewissermaassen  das  Gedeihen  des  ungeborenen  Kindes  im  Mutterleibe 
gefördert  werden.*     (BarteW,) 

Auf  Neu- Britannien  soll  nach  Powell  der  Ehemann  einer  Schwangeren 
das  Haus  nicht  verlassen  dürfen. 

Auf  Ambon  und  den  Uliase- Inseln  darf  er  nicht  im  Mondenschein  uriniren, 
denn  dadurch,  dass  er  seine  Scham  entblösst,  beleidigt  er  die  auf  dem  Monde 
befindlichen  Frauen,  was  für  seine  Gattin  eine  schwere  Entbindung  zur  Folge 
haben  würde. 

In  Massaua  hütet  sich  der  Mann,  während  der  Schwangerschaft  seiner  Frau 
ein  Thier  zu  tödten,   weil   sie   sonst  das  Kind  leicht  verlieren  würde.     (Brehm.) 

Dies  Alles  sind  abergläubische  Vorstellungen,  welche  zeigen,  wie  zauberhaft 
man  sich  die  Wirkung  und  den  Einfluss  des  Vaters  und  seiner  Lebensweise  auf 
das  Kind  und  sein  Gedeihen  denkt. 

Es  möchte  mir  aber  auch  hier  scheinen,  als  wenn  wenigstens  hinter  einem 
Theil  dieser  abergläubischen  Handlungen  halb  bewusst,  halb  unbewusst  ein 
tieferer  Sinn  verborgen  läge.  Es  handelt  sich  hier  mit  grosser  Wahrscheinlich- 
keit um  ganz  ähnliche  Verpflichtungen,  wie  wir  sie  in  der  Sitte  des  Männer- 
kindbettes erkennen  müssen,  dass  nämlich  der  Vater  das  Anrecht  auf  das  Kind 
dadurch  zu  erwerben  bestrebt  ist,  dass  er  an  den  Leiden  und  Entbehrungen, 
welche  die  Schwangerschaft  und  das  Wochenbett  der  Frau  auferlegen,  in  annähernd 
gleicher  Weise  wie  die  Gattin  Antheil  nimmt.  Von  grossem  Interesse  ist  es,  dass 
wir  bei   den  Cariben  diese  Gebräuche  neben  dem  Männerkindbette  antreffen. 


XXXI.  Die  Therapie  und  die  Prognose  der  Schwanger- 
schaft. 


198.  Mechanische  Torkehrangen  während  der  Schwangerschaft. 

Wir  haben  gesehen,  wie  selbst  bei  vielen  rohen  Völkern  die  Einsicht  sich 
Bahn  gebrochen  hat,  dass  körperliche  üeberanstrengungen  während  der  Schwanger- 
schaft der  Matter  sowohl,  als  auch  ihrem  Kinde  zum  Schaden  gereichen.  Aber 
andererseits  lässt  sich  auch  nicht  verkennen,  dass  eine  zu  grosse  Verweichlichung 
während  der  Gravidität  die  Entbindung  zu  erschweren  pflegt.  Der  englische 
Geburtshelfer  Righy  wies  schon  darauf  hin,  dass  Schwangerschaft  und  Geburt 
gerade  dort  am  besten  verlaufen,  wo  die  Schwangeren  ihre  gewohnte  Beschäftigung 
bis  zur  Niederkunft  fortsetzen;  auch  lehrt  uns  die  tägliche  Beobachtung,  dass 
unsere  Arbeiterfrauen  die  Entbindung  gemeinhin  leichter  tiberstehen,  als  die  in 
der  Schwangerschaft  sich  möglichst  ruhig  verhaltenden  vornehmen  Damen.  Auch 
Martin^  sagt: 

«Nul  n^ignore  que  plus  la  femme  se  rapproche  des  conditions  de  la  nature,  plus  aussi 
la  fonetion  g^n^ratrice  s'accomplit  sans  bruit,  et  eans  ces  troubles  synergiques  des  fonctions 
physiques  et  morales  qui  sont  souvent  pouss^s  jusqu^ä,  Texaltation  chez  la  femme  eivilisee.' 

Immer  aber  sehen  wir  auch  schon  in  den  Anfangen  der  Cultur  das  Erdenken 
von  Schutzmaassregeln  auftauchen,  durch  welche  das  Wohl  der  Schwangeren  ge- 
fordert werden  soll. 

Den  altindischen  Frauen 
rieth  Susruta^  sich  in  der  Schwanger- 
schaft als  Lager  eines  mit  Schranken 
▼ersehenen  Bettes  zu  bedienen,  in 
welchem  sie  in  mehr  sitzender 
Stellung  schlafen  mussten.  Ein  chi- 
nesischer Arzt  (v.  Martins)  giebt 
der  Schwangeren  den  Rath,  wechsel- 
weise auf  beiden  Seiten  zu  liegen, 
nie  aber  allein  auf  einer  Seite  zu 
schlafen.  Auf  dem  Rücken  zu  liegen 
sei  nachtheilig,  auf  dem  Bauche  aber 
höchst  schädlich. 

In  einem  früheren  Abschnitte 
habe  ich  bereits  von  der  Anwen- 
dung der  Leibbinde  gesprochen,  wie 
sie  namentlich  bei  den  Japanerinnen  in  Gebrauch  gewesen  ist.  Durch  diese 
wird  auf  den  Unterleib  der  Schwangeren  ein  stetiger,  ziemlich  gleichmässiger  Druck 
ausgeQbt.  Bei  vielen  anderen  Völkern  ist  es  Sitte,  einen  periodischen,  unter- 
brochenen Druck   anzuwenden   durch  Manipulationen,   welche   in   das  Gebiet   des 


Fig.  313.    Ma.ssage  einer  schwangeren  Japanerin. 
(Nach  einem  japanischen  Holzschnitt.) 


720 


XXXI.  Die  Therapie  und  die  Prognose  der  Schwangerschaft. 


Knetens  und  des  Massirens  gehören.  In  den  meisten  Fällen  ruht  dieses  Ge- 
schäft in  den  Händen  derjenigen  Personen,  welche  gewerbsmässig  der  Gebärenden 
später  die  nöthige  Hülfe  zu  leisten  pflegen.  Gewohnlich  handelt  es  sich  um  solche 
Volksstämrae,  bei  welchen  überhaupt  die  Knetungen  des  Körpers  bei  allen  mög- 
lichen Zuständen  ein  sehr  beliebtes  Verfahren  abgeben.  Nicht  selten  allerdings 
liegt  bei  der  uns  an  dieser  Stelle  interessirenden  Massage  die  ausgesprochene 
Absicht  vor,  dem  Embryo  im  Mutterleibe  eine  günstige  Lage  zu  erwirken. 

In  dem  malayischen  Archipel  ist  die  Massage  sehr  verbreitet  und  sie 
wird  von  den  weiblichen  Aerzten  oder  Hebammen  auch  während  der  Schwanger- 
schaft in  Anwendung  gezogen.  Auf  Java  heisst  dieses  Verfahren  nach  Kögel 
Pitjak  und  nach  Haaskarl  Pitjed.  Auf  Celebes  wird  es,  \7\q  Riedel  berichtet, 
angewendet,  um  dem  Kinde  in  dem  Mutterleibe  die  richtige  Lage  zu  verschaffen. 
Auf  Nias  sind  nach  Modigliani  die  Schwangeren  fest  davon  überzeugt,  dass  ihre 
sachverständigen  Dorfgenossinnen  im  Stande  wären,  ihnen  zu  sagen,  ob  das  Kind 
in  ihrem  Leibe  sich  in  der  richtigen  Lage  befinde,  und  dass  sie,  falls  die  Rindes- 
lage eine  fehlerhafte  sein  sollte,  dieselbe  in  eine  richtige  umzuwandeln  und 
ihnen  eine  glückliche  Niederkunft  zu  sichern  verständen.     Das  Letztere  geschieht 


Fiß.  MA.     Massage  eiuer  schwangeren  Japanerin. 
(Nach  einem  japanischen  Holzschnitt.) 


durch  Massiren  des  Leibes  und  durch  Einreibungen  desselben  mit  Cocos-Oel. 
Vielleicht  erklären  sich  hieraus  die  für  diese  Hebammen  gebräuchlichen  ein- 
heimischen Namen  salomo  talu  und  sangamäi  talu:  denn  talu  bedeutet  Bauch, 
salomo  heisst  reiben  und  sangamäi  heisst  der  Hersteller  (fabbricatore). 

Von  einem  ähnlichen  Gebrauche  der  Hebammen  in  Mexiko  berichtet 
V.  Vslar,  Auch  wird  in  der  Republik  Guatemala  der  Schwangeren  von  der 
Hebamme  allmonatlich  der  Unterleib  gerieben  und  geschüttelt,  „um  der  Frucht 
die  gehörige  Jjage  7ai  geben**.     (Bernoidli.) 

Den  russischen  Frauen  in  Astrachan  wird  ^im  Falle  einer  zu  frühen 
Senkung  des  Fötus  oder  einer  ungünstigen  liage  desselben"  der  Leib  eingerichtet 
(im  Russischen  heisst  es  „pravit*).  Diese  Operation  verrichten  alte  Weiber, 
indem  sie  mit  der  rechten  Hand  nach  oben  und  mit  der  linken  nach  unten  sanft 
drücken  und  stossen.     (Meyerson,) 

In  Japan  ist  die  Massage  ebenfalls  bekannt  und  sie  wird  dort  mit  dem 
Namen  Am  buk  bezeichnet. 

In  einem  Berichte  (Eugelmann)  heisst  es: 


199.  Das  Baden  und  das  Einsalben  während  der  Schwangerschaft.  721 

«Dort  bearbeitet  der  Heilgehülfe  den  Bauch  der  an  seinem  Nacken  hängenden  Schwangeren; 
er  stemmt  seine  Schultern  an  deren  Brüste  und  seine  Kniee  zwischen  ihre,  so  dass  er  sie  fest 
im  Griff  hat.  Dann  beginnt  er  von  der  Seite  her  mit  den  Händen  zu  kneten,  reibt  vom 
siebenten  Halswirbel  an  nach  unten  und  vorne,  auch  die  Hinterbacken  und  Hüften,  mit  seinen 
Handflächen  und  wiederholt  diese  Behandlung  nach  dem  fünften  Monat  jeden  Morgen  60  bis 
70  Male.« 

Es  lehren  uns  jedoch  japanische  Abbildungen,  dass  die  Massage  der 
Schwangeren  auch  in  hockender  Stellung  ausgeführt  wird,  wie  es  in  den  Figg.  313 
und  314  dargestellt  ist.  In  Fig.  313  wird  die  Massage  von  einem  Manne  gemacht, 
und  die  Leibbinde  der  Schwangeren  ist  dabei  nur  etwas  nach  unten  geschoben. 
In  Fig.  314  massirt  eine  Frau  die  vor  ihr  hockende  Schwangere,  welche  Ihre 
Leibbinde  abgenommen  und  neben  sich  auf  die  Erde  gelegt  hat. 

Man  geht  aber  in  der  mechanischen  Hülfeleistung,  welche  die  glückliche 
Entbindung  vorbereiten  soll,  bei  manchen  Völkern  noch  viel  weiter  und  leitet 
sogar  eine  künstliche  Erweiterung  der  Qeburtswege  ein. 

Schon  die  römischen  Hebammen  pflegten,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
während  des  neunten  Monats  Pessarien  von  Fett  einzulegen  und  mechanische 
Reizungen  des  Muttermundes  vorzunehmen.  Auf  der  Insel  Yab  (Carolinen)  werden 
den  Schwangeren  schon  ungefähr  einen  Monat  vor  der  Entbindung  aufgerollte 
Blätter  einer  nicht  überall  auf  dieser  Insel  wachsenden  Pflanze  in  den  Muttermund 
eingeführt  imd  immer  gegen  neue,  dickere  Rollen  gewechselt.  Dieselben  sollen  den 
Zweck  haben,  den  Muttermund  zu  erweitern,  um  die  Niederkunft  schmerzloser  zu 
machen,  (v.  MiMucho-Maclay,)  Sie  wirken  also  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie  die 
Pressschwämme  oder  wie  die  Laminaria-  oder  Tupelo-Quellstifte  in  der  modernen 
Gynäkologie. 

199.  Das  Baden  und  Einsalben  während  der  Schwangerschaft. 

Der  öedanke,  dass  Bäder  und  Oeleinreibungen  der  Schwangeren  förderlich 
sein  können,  liegt  sehr  nahe  und  so  finden  wir  dieselben  auch  vielfach  in  An- 
wendung; namentlich  sind  sie  während  der  letzten  Zeit  der  Schwangerschaft  bei 
den  Orientalen  sehr  gebräuchlich;  doch  auch  viele  andere  Völker  benutzen  die- 
selben. Wie  noch  jetzt  in  Indien,  so  wird  auch  wohl  in  der  frühesten  Zeit  im 
Lande  des  Ganges  von  diesen  Mitteln  Gebrauch  gemacht  worden  sein.  Doch 
hielt  nach  VuUers  Stisruta  es  für  schädlich,  wenn  die  Schwangeren  sich  selber  ein- 
salbten. Nicht  nur  bei  den  höheren  Kasten  Indiens  ist  das  Baden  in  der 
Schwangerschaft  sehr  beliebt,  sondern  auch  die  Na  y  er -Frau  nimmt,  wenn  sie 
schwanger  ist,  mehrfach  Bäder  und  sorgt  überhaupt  für  das  gute  Befinden  des 
Korpers. 

Bäder  und  Einreibungen  des  Körpers  mit  Fett  verordneten  im  neunten 
Monate  der  Schwangerschaft  auch  die  römischen  Aerzte;  die  Araber  aber  unter 
der  Führung  von  Rhaees  Hessen  dieses  nur  in  den  letzten  14  Tagen  zu. 

Den  schwangeren  Japanerinnen  wurde  der  Gebrauch  warmer  Bäder  von 
Kangawa  empfohlen,  und  in  China  werden  den  Schwangeren  Bäder  von  kaltem 
Wasser  und  Seebäder  angerathen;  doch  fürchtet  man  in  anderen  Gegenden,  durch 
das  Baden  den  Schwangeren  Schaden  zu  bringen. 

Auch  sehr  uncultivirte  Völkerschaften  haben  ganz  ähnliche  diätetische  Ge- 
bräuche. Auf  den  Tonga-Inseln  reiben  die  Weiber  den  schwangeren  Leib  mit 
einer  Mischung  von  Oel  und  Gelbwurz  ein,  um  sich  vor  Erkältung  zu  schützen. 
(de  Bienjsi.)  Ebenso  müssen  die  schwangeren  Frauen  auf  Seranglao  und  Gorong, 
sowie  auf  Ambon  und  den  Uliase-Inseln  sehr  viel  baden,  und  auf  den  letzteren 
Inseln  müssen  sie  ihren  Körper  täglich  zweimal  mit  feingestampften  Pinien-  und 
Warear-Blättern  bestreichen. 

Die  schwangeren  Sulanesinnen  müssen  nach  Riedel^^  täglich  baden  und 
den  Korper  mit  Kalapa-Nuss  waschen. 

Ploss-Bartels,  Das  Weib.    6.  Aufl.    1.  46 


722  XXXI.  Die  Therapie  und  die  Prognose  der  Schwangarschaft. 

Bei  den  russischen  Frauen  in  Astrachan  besteht  die  PflMe  der 
Schwangeren  hauptsachlich  im  Einreiben  des  Unterleibes  mit  Oel  oder  Butter. 
(Meyerson.) 

Bei  den  Zigeuuerinnen  in  Siebenbürgen  ist  das  Waschen  des  Leibes 
in  der  Schwangerschaft  auf  einem  sogenannten  ^ücklichen  Berge  mit  dem  Wasser 
der  dort  entspringenden  Quelle  sehr  beliebt,  weil  nach  dem  allgemein  herrschen- 
den Glauben  hiemach  starke  und  schone  Kinder  geboren  werden. 

Die  französischen  Geburtshelfer,  und  im  16.  Jahrhundert  schon  AnibriMe 
Pare^  empfahlen  während  der  Schwangerschaft  zur  Erleichterung  der  Niederkunft 
fette  Stoffe  in  die  Schenkel,  die  Schoossgegend,  das  Mittelfleisch  und  die  Genitalien 
einzureiben.  In  dem  ältesten  deutschen  Hebanmienbuche  von  Rösslin  finden 
wir  aber  das  Verbot:  „Auch  darf  sie  keine  Schwitzbäder,  Salbungen  des  Leibes 
und  Kopfes  Yomehmen.'*  Dagegen  sind  jetzt  in  Deutschland  bei  den  wohl- 
habenden Städterinnen  laue  Bäder  am  Ende  der  Schwangerschaft  sehr  beliebt, 
um  die  Geburtstheile  zu  erschlaffen  und  die  Spannung  der  Bauchhaut  zu  mindern. 

Die  Zigeunerinnen  wenden  Dunstbäder  an,  wenn  in  der  Schwangerschaft 
die  Genitalien  anschwellen.  Sie  nehmen  dann  ein  Gefäss  mit  warmer  Esels-  oder 
Stutenmilch,  der  etwas  Menschenblut  beigemischt  ist,  und  setzen  sich  entkleidet 
darüber,     (v.   Wlislocki.) 

200.  Die  Blutentzlehungen  während  der  Schwangerschaft. 

Bekanntlich  hat  Jahrhunderte  lang  das  Blutlassen  bei  den  Gulturvölkem 
eine  ganz  besondere  Rolle  gespielt;  imd  auch  während  der  Schwangerschaft  war 
es  noch  bis  vor  gar  nicht  zu  entfernter  Zeit  ein  sehr  beliebtes,  vorbeugendes 
Volksmittel.  Aber  auch  bei  rohen  Völkern  finden  wir  vereinzelte  Spuren  von 
der  Anschauung,  dass  der  Aderlass  nützlich  in  der  Schwangerschaft  sei.  In 
Brasilien  bringen  sich  unter  den  Mauhee- Indianern  aus  diesem  Grunde 
manche  schwangeren  Frauen  an  den  Armen  und  Beinen  Wunden  bei  (v.  Martins.) 

Mitunter  wird  auch  in  China  während  der  Schwangerschaft  ein  Aderlass 
gemacht,  eine  Operation,  welche  erst  durch  Missionare  in  China  eingeftihrt 
wurde  und  deshalb  ^düs  Mittel  der  Fremden*  genannt  wird.  Das  Volk  glaubt,  dass 
eine  Schwangere  sich  nie  von  einem  Manne  die  Ader  offnen  lassen  dürfe,  und  die 
Hebammen  erhalten  natürlich  diesen  Glauben  zu  ihrem  eigenen  Vortheil.    (Hureau.) 

Sehr  beliebt  ist  das  Aderlassen  während  der  Schwangerschaft  unter  den 
Dalmatinern.  Dort  müssen,  wie  Derblich  berichtet,  die  schwangeren  Weiber, 
wenn  die  Entbindung  ohne  üble  Zufalle  vor  sich  gehen  soll,  zweimal  sich  die  Ader 
offnen  und  wenigstens  einige  Pfund  Blut  entziehen  lassen.  Das  eine  Mal  geschieht 
es,  innerhalb  der  ersten  fünf  Monate,  falls  Erbrechen,  Schwindel,  Kreuz-  oder 
Brustschmerzen,  Harndrang,  Zahnweh  u.  dergl.  sich  einstellen.  Zeigen  sich  aber 
diese  Zufalle  nicht,  oder  nur  in  sehr  geringem  Grade,  dann  muss  man  erst  recht 
zum  Aderlass  seine  Zuflucht  nehmen,  um  diesen  üblen  Symptomen  vorzubeugen. 
Das  zweite  Mal  findet  dann  das  Blutlassen  in  den  letzten  Wochen  der  Schwanger- 
schaft statt;  man  hält  es  für  ein  Präservativmittel  gegen  Krämpfe,  Blutfluss  und 
Apoplexie,  wenn  die  Schwangere  mit  der  Aderlassbinde  sich  in  das  Wochenbett 
begiebt. 

Schon  früh  begann  der  Kampf  der  Aerzte  gegen  die  Unsitte  dieses  Volks- 
gebrauchs, und  schon  Susruta  erklärt  den  Aderlass  in  der  Schwangerschaft  als 
schadenbringend.  Ob  die  nach  ihm  kommenden  Brahmanen-Aerzte  diesem  Verbote 
Folge  geleistet  haben,  das  wissen  wir  nicht.  Wohl  aber  muss  bis  zu  den  Zeiten 
des  Arabers  Rhazes  diese  Unsitte  wieder  einen  grossen  Umfang  erreicht  haben, 
denn  er  muss  von  Neuem  dag^en  seine  warnende  Stimme  erheben. 

Der  Aderlass  ist  auch  heute  noch  bei  manchen  Völkern  im  Orients  aalir 
^^liebt,  und  namentlich  bei  den  Persern  wird  er  von  dem  weil " 


I 


201.  Dia  medicament^e  BeHuudluDg  der  Schwangeren. 

läufig  angewendet.  Auch  während  der  Schwangerschaft  wird  zur  Ader  gelassen^ 
besondere  im  sechsten  und  im  siebenten  Monat.  Ein  Aderlass  aber  in  den  erfiten 
3ehwangerschaftsmonaten,  namentlich  gegen  das  Ende  des  dritten,  wird  von  den 
Persern  für  schadenbringend  angesehen. 

Nach  der  Hebammen-Ordnung  des  Lotücerus  zu  Frankfurt  a.  M,  (1573) 
soll  die  Schwangere  «in  den  ersten  Tier  Monaten  nicht  Blut  lassen,  auch  nicht 
Piirgiren,  denn  es  sind  in  diesen  Monaten  die  Bande  der  Frucht  gar  weich»  zart 
ad  schwach. " 

Im  Anfange  des  17.  Jahrhunderfcs  hat  aber  bereits  Hippohjtus  Guarinonius 
seinem  grossen  Werke  ror  dem  Schaden  gewarnt,  der  ftir  Mutter  und  Kind 
va»  dem  Aderlass  erwächst.  Er  betitelt  das  entsprechende  Kapitel:  Von  dopelt 
Tyrannischen,  dopelt  verwep^enen,  aller  gebür  straffwürdigen  Ader- 
lass-Grewln  der  schwängern  Weibern. 

Trotzdem  ist  auch  in  Deutachland  diese  Unsitte  noch  nicht  ausgerottet, 
ind  in  den  letzten  Jahrzehnten  glaubten  die  Frauen  im  Frankenwalde,  während 
der  Schwangerschaft  den  wiederholten  Aderlass  nicht  entbehren  zu  können;  ganz 
ähnlich  wie  die  Dalmatinerinnen  halten  sie  es  för  richtig,  selbst  noch  kurz 
vor  der  Entbindung  sich  einem  Aderlass  zu  unterziehen,  so  dass  sie  noch  mit 
der  Binde  am  Arm  ihr  Wochenbett  beginnen,  {Flügel,)  Dasselbe  berichtet  Fanh 
von  der  Pfalz;  es  wird  dort  von  den  Schwangeren  auf  dem  Lande  fast  aus- 
nahmslos der  Aderlass  vorgenommen. 

Die  schwangere  Zigeunerin  aber  scheut  den  Blutverlust  so,  dass  sie  sogar 
bei  Nasenbluten  das  Blut  mit  einem  Tuchlappen  auöangt  und  diesen  an  ihren 
Unterleib  bindet,  „um  dem  Kinde  die  Kraft  nicht  zu  rauben*,     {ü.  Wlislocki) 


^Pn< 


201,  Die  medieamentlose  Behandln ng  der  Scliwangereu« 

In  Deutschland  hatten  im  16.  Jahrhundert  die  Hebammen  einen  reich- 
haltigen Medieamenten  -  Apparat  gegen  die  kleinen  und  grossen  Leiden  der 
Schwangerschaft: 

Wenn  die  Schwangere  gefallen  oder  erschreckt  ist,  so  dtiss  man  einen  Arbortna  fürchtet, 

90  Boll  sie  nach  der  ÄDweisnng'  alter  HebammenbÜcher  zur  Verhütung  desselben  sich  die  Ge* 

ffohlechtstheile  beräuchf^m  laaeen  and  den  Leib  vorn  waschen  mit  W&Bser,  in  welchem  Alaun, 

Galläpfel,  Schwarzwurz,  Wein  und  Essig  gesotten  wurde.     Frauen,  welche  gewöhnlich  im  frflh 

niederkommen,  sollen  wübrend  der  Schwangerschaft  tich  alle  Tage  ein  Fnssbad  bereiten  lassen 

Odermennig»    Camillenblumen ,    Dill,  Steinbrech  und  Salz  zu  gleichen  TheLlen,    und  darin 

e  Stunde   vor  dem  Nachtessen   und   drei  Stundtin    nach  demaelben  die  Schenkel  erwärmen 

und  mit  warmen  Tüchern  abtrocknen,   auch  etliche  Tage   nüchtern  einen  GoldgÜlden  schwer 

von  der   gedörrten  inneren  Haut  des  Hühnermagena   mit  Wein  einnehmen*     Bei  Verstopfung 

masste  die  Schwangere  nnch  Angtibe  der  Hebammenordnuiig  de«  Adam  Lomeer ns  ,ßiretach- 

kr&utlein    mit  Butter  oder  LattichmÜElein*  gebrauchen,  n^ihigenfalls  auch  Stuhlzäpflein  aus 

Honig    und  Eidotter   oder    von  Venetianischer  Seife;   wenn  das  nicht  half,  80  wurde  mit 

Rath  eines  Medici   eine  Purgation  aus  Manna   und  Caeaia  (Senna)  gereicht.     Wenn  die  Frau 

viel  Ohnmacht  und  Beschweniias  nach   der  EmpfUngniBs  empfindet,  so  »oll  sie  einen  «Moret- 

ik*    oder  einen  Trank    von  Rosenwaaser,  Ampferwaeaer ,  Zimmet  und  Manuchrigtiküchlein 

im  acht  trinken.    So  sie  «Unlust  xur  Speiae*    hat,  ioll   sie  dee  Morgens    ein  Trünklein  von 

lianateneyrup,  ZimmetrÖhren  und  Ampferwasser  oder  einen  guten  «Morettrank"  gebrauchen, 

Magenpflaster  legen    und    die  Herzgrube    mit  MaätixÖl,    BalsamÖl,    Wemiuth5U    Quitten- 

H  u.  8,  w.  schmieren.     So  eine  Frau  ihre  , gewöhnliche  Blume*  (die  Menstruation)  bekommt^ 

ioU   sie  folgenden  Schwaden  unten   an  sich  geben   lassen  und  davon  schwitzen:  von  groasiem 

'"  egerich,  Eichenlaub,  ßrombeerlaub,  Fünffinger kraut,  Taubenmist.    Bohnenstroh  und  Haber- 

h  von  jedem   gleich  viel  in  Wasser  gesotten;  auch  soll  sie  all  ihre  Kost  mit  Wasser  be- 

iten  lattsen,  darin  ein  Stahl  gelöscht  ist. 

Jetzt  kennt  man  in  Deutschland  unter  dem  Landvolk  allerlei  Mittel  gegen 

Beschwerden    der  Schwangeren.     In  der  Pfalz   rathen   gegen  das  Erbrechen 

iimnen  gewöhnlich  Chamillen*,  Pfefferminz-,  Zimmetthee,  einen  Löffel  voll 

46* 


724  XXXI.  Die  Therapie  und  die  Prognose  der  Schwangerschaft. 

Malaga- Wein,  auch  aromatische  Aufschlage  Yon  Lebkuchen,  Branntwein,  Nelken, 
Zimmet,  Muskatnuss  oder  Fliesspapier  mit  Kirschenwasser.  Auch  sympathetische 
Mittel  werden  hier  und  da  nicht  verschmäht.  Die  in  der  letzten  Zeit  der  Schwanger- 
schaft bisweilen  eintretende  Verstopfung  bekämpft  man  durch  ein  Olas  Honig- 
wasser, Abends  vor  dem  Schlafengehen  getrunken,  oder  durch  Sennisblätter  und 
kleine  Rosinen  mit  Zwetschenwassser  infundirt,  des  Morgens  getrunken;  zuweilen 
auch  durch  Bittersalz  in  Fleischbrühe;  auch  nimmt  man  zu  Klystieren  seine  Zu- 
flucht. Gegen  XJrinbeschwerden  brauchen  die  Schwangeren  Dämpfe  von  Ghamillen, 
Kleien  und  HoUunder  in  knieender  Stellung,  auch  Einreibungen  von  weissem 
Lilienöl,  sowie  Trinken  von  Mandelmilch.  Bei  varicösen  Venen  werden  spirituöse 
Einreibungen  angewendet;  bei  Oedem  der  Schamlippen  trockene  aromatische 
Fomentationen,  auch  örtliche  Dampfbäder.  Beim  Herzklopfen  Schwangerer 
wenden  die  Hebammen  ein  Getränk  von  kaltem  Wasser  oder  Zuckerwasser  an. 
(Pauli.) 

Abführmittel  zur  „ Blutreinigung ^  waren  überall  in  Deutschland  bei  den 
Schwangeren  sehr  beliebt,  und  die  Frankfurter  Hebammenordnung  musste 
ernstlich  davor  warnen,  und  auch  schon  der  altarabische  Arzt  Bhcuses  warnte 
vor  dem  Missbrauch  der  Purgantien  gegen  das  Ende  der  Schwangerschaft  hin. 

Auch  im  Talmud,  im  Traktate  Pasachim,  wird  auf  die  Abort  erzeugende 
Wirkung  starker  Abführmittel  hingewiesen. 

Bei  den  Römern  genossen  die  schwangeren  Frauen  zur  Vorbereitung  auf 
eine  glückliche  Geburt  und  um  den  zu  frühen  Abgang  der  Frucht  zu  verhindern, 
Schnecken  und  einen  Trank  von  Diptam  und  Granatapfelschalen;  unter  den  aber- 
gläubischen Mitteln  befanden  sich  ferner  Asche  vom  Ibis,  Steine,  die  sich  in  Bäumen 
befanden,  das  Auge  eines  Chamäleon,  das  einem  Kinde  zum  ersten  Male  abge- 
schnittene Haar,  Harnsteine  u.  s.  w. 

Die  heutigen  Griechinnen  haben  in  der  Schwangerschaft  eine  solche  Scheu 
vor  Medicamenten,  dass  sie  selbst  in  Krankheitsfallen  sich  nicht  von  einem  Arzte 
behandeln  lassen.  Jede  Medicin  muss  in  ihren  Augen  unfehlbar  einen  Abortus 
zur  Folge  haben.     (Damian  Georg,) 

Die  Japanerinnen  trinken,  wenn  sie  schwanger  sind,  eine  Abkochung  von 
getrockneten  und  gepulverten  Hirschkälbern,  die  noch  nicht  geboren  waren. 

Macht  der  Chinesin  in  der  Schwangerschaft  die  Bewegung  der  Leibesfrucht 
Ungelegenheiten,  so  geniesst  sie  eine  Abkochung  von  Seekohl  und  der  weissen 
Bergdistel,  und  ausserdem  rothe  Mennige,  welche  ^ing  kuen-tschi-pao-tan  genannt 
wird.  {Schwarz.)  Wenn  in  China  eine  Schwangere  von  einer  Krankheit  befallen 
wird,  so  hQten  sich  die  Aerzte,  diejenigen  Mittel  zu  verordnen,  welche  im  normalen 
Zustande  Hülfe  leisten ;  denn  sie  glauben,  durch  die  Schwangerschaft  sei  die  Natur 
der  Frau  völlig  umgeändert.  Sie  verordnen  dann  besondere  Arzneien,  von  denen 
uns  einige  auch  bekannt  geworden  sind.  Ginseng  gilt  als  Tonicum;  Pfeffer  und 
Ingwer  als  eröffnendes  Mittel;  Rhabarber  als  Purgans.  Das  Erbrechen  der 
Schwangeren  bekämpfen  die  Chinesen  mit  Erfolg,  wie  sie  sagen,  durch  das 
arsenigsaure  Schwefeleisen,  das  sie  auch  als  Abführmittel  benutzen;  ausserdem 
geben  sie,  obgleich  in  kleinerer  Gabe,  die  arsenige  Säure,  welche  sie  im  Wechsel- 
fieber höher  schätzen  als  Chinin.  Gegen  den  Medicamenten- Unfug  während  der 
Schwangerschaft  eifert  ein  chinesischer  Arzt  (v.  Martius)\  am  unschädlichsten 
ist  nach  ihm  noch  die  Arznei  Dschah-wa-ru-rah.  Hat  die  Schwangere  Schmerzen 
in  der  Gebärmutter  oder  in  der  Lendengegend,  so  wendet  die  Hebamme  die  Acu- 
punctur  an,  wobei  sie  die  Nadeln  selbst  bis  in  die  Gebärmutterhöhle  hineinstösst; 
ja  sie  sucht  sogar  den  zu  lebhaften  Fötus  dadurch  zu  beruhigen,  dass  sie  ihn  an- 
sticht.    {Hureau.) 

Bei   den  Naturvölkern  wird  nur  selten,   nach  den  Berichten  der  Reisendea, 
in  der  Schwangerschaft  von  Arzneien  Gebrauch  gemacht.     Doch   smd  einige  Be- 
^achtungen  in  dieser  Hinsicht  immerhin  bemerkenswerth. 


202.  Die  abergläubische  Prognose  der  Schwangerschaft.  725 

Wenn  die  Schwangere  bei  den  Aschanti  Schmerzen  im  Unterleibe  hat,  so 
werden  die  Blätter  eines  Baumes,  der  Lee a  Sambucina,  abgekocht,  und  hiervon 
muss  sie  jeden  Morgen  trinken.     (Bowditch) 

Einen  sonderbaren  Zweck  verfolgen  nach  Hewan  die  Negerinnen  in  Old- 
Galabar  mit  dem  Einnehmen  von  Medicamenten  während  der  Schwangerschaft. 
Sie  wollen  nämlich  dadurch  die  Art  der  Empfangniss  prüfen. 

Drei  Arten  von  Schwangerschaft  gelten  ihnen  als  verhängnissvoll ;  das  ist  diejenige  mit 
Zwillingen,  die  mit  einer  abgestorbenen  Frucht  und  die  mit  einem  bald  nach  der  Geburt 
wieder  sterbenden  Kinde.  Die  Medicamente  sollen  nun  die  Entwickelung  solcher  dem  Unter- 
gange geweihter  Früchte  stören,  und  man  hat  die  Ueberseugung ,  dass  eine  diesen  Arznei- 
prflfungen  widerstehende  Frucht  eine  gesunde  und  kräftige  sein  müsse.  Wird  darauf  das  Ei 
ausgestossen,  so  gilt  es  als  unter  die  unglückliche  Rubrik  gehörig.  Die  Mittel  werden  zuerst 
durch  den  Mund  und  den  Mastdarm  beigebracht,  dann  aber  durch  die  Scheide,  und  in  dem 
Falle,  dass  den  ersteren  ein  blutiger  Abfluss  nachfolgt,  werden  sie  auf  den  Muttermund  selbst 
applicirt.  Zu  diesem  Behufe  bedienen  sie  sich  dreier  Kräuter:  einer  Leguminose,  einer  Wolfs- 
milchart (Euphorbia)  und  eines  Amomum.  Der  Stengel  der  Wolfsmilch  wird,  vom  Safte 
triefend,  in  die  Scheide  hinaufgeschoben;  auf  den  Leguminosenstengel  wird  etwas  gekauter 
und  eingespeichelter  Guinea- Pfeffer  gestrichen,  und  darauf  erfolgt  in  wenigen  Tagen  die 
Fehlgeburt.  Die  angewandten  Mittel  wirken  nicht  selten  so  heftig,  dass  allgemeines  Uebel- 
befinden,  bisweilen  sogar  der  Tod  eintritt. 

Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  diese  Angaben  nicht  sehr  wahrscheinlich 
klingen.  Es  macht  den  Eindruck,  als  wenn  das  alles  Maassnahmen  sind,  um 
einen  Abortus  herbeizuführen,  für  den  die  eigentlichen  Gründe  dem  Beisenden 
nicht  mitgetheilt  worden  sind. 

202.  Die  aberglSnbische  Prognose  der  Schwangerschaft. 

Wir  haben  schon  vielerlei  kennen  gelernt,  was  der  Schwangeren  eine  ge- 
wisse Garantie  bieten  kann,  dass  ihre  Schwangerschaft  ein  glückliches  Ende  er- 
reichen wird,  und  wenn  sie  die  betreffenden  Vorschriften  verabsäumt,  so  hat 
sie  es  sich  nach  dem  Volksglauben  selber  zuzuschreiben,  wenn  sie  ihr  Kind  nicht 
austragen  kann,  wenn  ihre  Entbindung  eine  sehr  schwere  wird,  oder  wenn  der 
kleine  Weltbürger  mit  Entstelltem  oder  verkrüppeltem  Leibe  zur  Welt  kommt. 
Aber  es  giebt  auch  noch  zufallige  Vorzeichen,  welche  den  Ausgang  der  Gravidität 
ahnen  lassen. 

Namentlich  von  den  wandernden  Zigeunern  der  Donau-Länder  sind  uns 
solche  Orakel  bekannt.  Eine  leichte  und  glückliche  Geburt  zeigt  es  an,  wenn  sie 
während  der  Schwangerschaft  einen  Storch  auffliegen  sehen,  oder  wenn  sie  bei 
Tage  ein  Pferd  wiehern  hören;  aber  unglücklich  wird  die  Entbindung,  wenn  ein 
n&chÜicher  Raubvogel  seinen  Schrei  ertönen  lässt,  und  wenn  die  Schwangere  eine 
Schildkröte  trifft,  so  wird  sie  grosse  Geburtswehen  erdulden;  nur  wenn  sie  auf 
dieselbe  speit,  vermag  sie  den  Schaden  abzuwenden.  Setzt  sich  auf  sie  ein 
Schmetterling,  so  verunglückt  sie  bei  der  Niederkunft,  wenn  nicht  die  betreffende 
Stelle  ihres  Leibes  oder  ihrer  Kleider  abgewaschen  wird. 

Hört  eine  schwangere  Zigeunerin  den  Wachtelruf,  so  bringt  sie  ein  todtes 
Kind  zur  Welt,  wenn  sie  versäumt,  sofort  auszuspeien.  Das  gleiche  Unglück  er- 
eignet sich,  wenn  Schafe  der  Schwangeren  nachlaufen.  Aber  auch  hier  giebt  es 
noch  eine  Rettung.  Sie  muss  etwas  Milch  von  diesen  Thieren  trinken,  oder  wenn 
diese  nicht  zu  erhalten  ist,  einige  Haare  von  denselben  neun  Tage  hinter  einander 
bei  sich  tragen,     (v,   Wlishcki^.) 

Die  Wander-Zigeunerinnen  in  Siebenbürgen  und  in  Rumänien  haben 
noch  ein  anderes  Orakel  fiir  die  Prognose  ihrer  Entbindung.  Am  zweiten  Oster- 
feiertage  feiern  sie  ihr  eigentliches  Frühlingsfest,  das  Fest  des  grüiien  Georg.  Am 
Vorabend  wird  ein  Weidenbäumchen  geföllt  und  mit  Kränzen  und  Laubgewinden 
geschmückt. 


726  XXXI.  Die  Therapie  und  die  Prognose  der  Sohwangerschaft. 

, Schwangere  Weiber  legen  über  Nacht  eines  ihrer  Kleidungsstücke  unter  das  B&umchen; 
finden  sie  am  nächsten  Morgen  vor  Sonnenaofgang  ein  Bl&ttchen  von  dem  Baume  auf  dem 
Kleidungsstücke  liegen,  so  wird  die  Geburt  glücklich  von  Statten  gehen,    (v,  Wlislocki^.J 

Einen  günstigen  Ausgang  der  Schwangerschaft  sollen  vielfach  die  Amnlete 
erwirken.  Es  war  von  ihnen  bereits  die  Rede.  Hier  mögen  noch  ein  paar  Maaas- 
nahmen  ihre  Stelle  finden. 

Die  im  bayerischen  Franken  wohnenden  israelitischen  Frauen  pflegen  in 
der  Schwangerschaft  die  Stiele  der  Paradiesäpfel  abzubeissen,  um  eine  leichte  und 
glückliche  Entbindung  zu  erlangen.     (Mayer.) 

In  Bayern  schlafen  die  Schwangeren  auf  Oam,  welches  ein  noch  nicht 
sieben  Jahre  altes  Mädchen  gesponnen  hat,  weil  das  glückbringend  ist. 

Wenn  bei  den  Zigeunern  eine  Schwangere  einer  Schlange  begegnet,  so 
soll  sie  umkehren,  weil  sie  sonst  Unglück  haben  wird. 

Es  verdient  hier  aber  erwähnt  zu  werden,  dass  in  den  Gebieten  von  Treviso 
und  Belluno  nach  Bckstanjsi  dem  Jäger  die  Begegnung  mit  einer  Schwangeren 
ebenso  unheilvoll  ist,  als  diejenige  mit  einem  alten  Weibe,  und  in  Bari  glaubt 
man,  wie  Karusio  berichtet,  dass  wenn  eine  Schwangere  eine  trächtige  Stute  oder 
Eselin  besteigt,  diese  abortiren  müsse. 

Wenn  die  Djäkun-Weiber  in  Malacca,  wie  oben  beschrieben  wurde,  in 
der  Nacht  lauschend  sitzen,  um  das  Geschlecht  ihres  zukünftigen  Kindes  zu  er- 
forschen, so  gilt  es  nach  Stevens  für  ein  Unglückszeichen,  wenn  der  Ruf  des 
Orakelthieres  nicht  von  einer  oder  der  anderen  Seite  erschallt.  Tönt  er  nämlich 
von  vorne  her,  so  beweist  das,  dass  das  Kind  nicht  bis  zu  seiner  Pubertät  leben 
bleiben  würde.  Aber  noch  schlimmer  ist  der  Ruf  von  hinten,  welcher  vorhersagt, 
dass  das  Kind  todt  geboren,  oder  bald  nach  der  Geburt  sterben  wird.  In  diesem 
Falle  wecken  die  Anwesenden  mit  ihren  Klagetonen  den  Mann,  der  nun  schnell 
aufstehen  und  das  Thier  derartig  fortjagen  muss,  dass  nun  sein  Rufen  von  der 
Seite  her  erschallt.     (Bartels'^.) 


XXXII.  Unzeitige  Geburten  und  Fehlgeburten, 

203.  Die  Arten  der  nnzeitigen  Geburten. 

Bekanntermaassen  führt  nicht  jeder  in  normaler  Weise  ausgeführte  Coitus  zu 
einer  Empfangniss,  aber  ebensowenig  fuhrt  jegliche  Empfangniss  und  Schwängerung 
nun  auch  zu  einer  normalen  Geburt.  Wie  die  Früchte  an  dem  Baume  nicht  alle 
ihre  vollständige  Reife  erreichen,  sondern  ein  Theil  derselben  bereits  vorzeitig 
abzufallen  pflegt,  so  kommt  es  auch  verhältnissmässig  nicht  selten  vor,  dass  die 
menschliche  Frucht  bereits  vor  abgelaufener  Reifungszeit  aus  dem  Mutterleibe 
ansgestossen  wird. 

Tritt  dieses  Ausstossen  der  unreifen  Frucht  in  einem  Stadium  ein,  wo  die- 
selbe unter  ganz  besonders  günstigen  Verhältnissen  noch  am  Leben  erhalten  werden 
kann,  so  spricht  man  von  einer  Frühgeburt.  Eine  Fehlgeburt  (Abortus)  da- 
gegen nennt  man  das  zu  Tage  treten  des  Kindes  zu  einer  Zeit,  in  der  es  noch 
ausser  Stande  ist,  ausserhalb  des  Mutterleibes  ein  selbständiges  Leben  zu  führen. 

Man  findet  den  Glauben  sehr  weit  verbreitet,  dass  immer  von  aussen  her 
auf  die  Schwangere  etwas  Schädliches  eingewirkt  haben  müsse,  wenn  sie  nicht 
im  Stande  war,  ihr  Kind  bis  zu  der  normalen  Zeit  auszutragen.  Das  ist  nicht 
richtig,  denn  sehr  oft  sind  die  Gründe  für  die  unzeitige  Geburt  in  dem  Organismus 
der  Mutter  oder  selbst  in  demjenigen  des  Vaters  zu  suchen. 

Aber  beide  Arten  der  vorzeitigen  Geburt  werden  auch  absichtlich  hervor- 
gerufen, theils  aus  verbrecherischer  Absicht  von  den  Müttern  selber,  theils,  um 
das  Leben  der  letzteren  zu  erhalten,  durch  die  ärztliche  Kunst. 

Wir  müssen  nun  zuerst  die  Frage  aufwerfen,  wann  ist  denn  eigentlich  der 
Fötus  lebensfähig?  Diese  Frage  soll  in  dem  nächsten  Abschnitte  ihre  Erörterung 
finden  und  ich  werde  dann  sogleich  die  Besprechung  der  Frühgeburten  und  der 
Todtgeburten  anschliessen.  Den  zufalligen  und  den  absichtlichen  Fehlgeburten, 
bei  denen  eine  grössere  Reihe  von  Gesichtspunkten  zu  erörtern  sind,  sollen  dann 
die  beiden  folgenden  Kapitel  vorbehalten  bleiben. 


204.  Wann  ist  die  Frucht  lebensfähig? 

Es  hat  nicht  unwesentlich  zu  der  Entschuldigung  der  absichtlichen  Fehl- 
geburten mit  beigetragen,  dass  man  in  der  ersten  Zeit  der  Schwangerschaft  den 
Embryo  als  einen  unbelebten  Gegenstand  betrachtete.  Lange  Abhandlungen  sind 
darüber  geschrieben  worden,  von  wann  an  die  Frucht  als  belebt  anzusehen  sei, 
oder  mit  anderen  Worten,  zu  welcher  Zeit  ihr  die  Seele  gegeben  würde.  lAiigi 
Bonaciolo  (1639)  ist  der  Meinung,  dass  der  männliche  und  weibliche  Same  45  Tage 
gebraucht,  um  Saft,  Blut,  Fleisch  und  die  übrigen  Theile  des  Embryo  zu  bilden. 
,Tunc  anima  rationalis  a  sablimi  Deo  creatur,  creataque  infanditur." 
Diese  Frage  war  von  principieller  Wichtigkeit  in  ritueller  und  forensischer 
Beziehung.  Sehr  interessant  für  die  Tragweite  derselben  in  Bezug  auf  das  sociale 
Leben  ist  eine  Erzählung  des  Talmud  in  dem  Traktate  Abodah  Sarah: 


728  XXXn.  Unzeitige  Geburten  und  Fehlgebarten. 

,Wir  wurden  belehrt,  dass  Eab  Jehuda  sagte:  einst  hatte  die  Magd  eines  b(ysen  Joden 
zu  Rimon  eine  anzeitige  Gebart  gehabt  and  solche  in  eine  Grabe  geworfen,  da  kam  ein 
gelehrter  Priester  and  legte  sich  über  die  Grabe,  am  za  sehen,  ob  die  anzeitige  Gebart  mftnn- 
lichen  oder  weiblichen  Geschlecht«  war,  am  dadarch  die  Zeit  der  Unreinheit  f&r  die  Magd 
za  bestimmen.  Allein  er  fand  nichts  in  der  Grabe,  and  als  es  vor  die  Weisen  kam,  so  er- 
klärten sie  den  Priester  fQr  rein,  obschon  er  hätte  unrein  sein  sollen,  weil  er  über  der  Grabe 
lag,  in  welcher  ein  todtes  Kind  war.  Da  aber  der  Priester  nichts  in  der  Grube  sah,  so  sagten 
die  Weisen,  vielleicht  waren  Ratten  und  Mäuse  in  der  Grube  und  haben  das  Kind  aufgezehrt 
oder  weggeschleppt.  Hier  ist  es  ja  gewiss,  dass  die  unzeitige  Greburt  in  der  Grube  war,  und 
nur  ungewiss,  ob  die  Ratten  und  Mäuse  solche  aufgezehrt  haben,  und  dennoch  hebt  \nw  die 
Ungewissheit  die  Gewissheit  auf?  Nein,  das  war  nicht  der  Fall.  Es  war  hier  nicht  ein  Kind, 
welches  die  Magd  in  die  Grube  warf,  sondern  eine  Mutterblase,  und  dadarch  wird  der 
Priester  nicht  verunreinigt.' 

Das  Kind  war  also  noch  nicht  genügend  geformt,  und  deshalb  galt  es  noch 
nicht  für  einen  Todten,  der  den  Priester  hätte  verunreinigen  können.  Ein  bereits 
geformtes  Kind,  das  abgestorben  war,  verunreinigte  aber,  selbst  wenn  es  sich  noch 
im  Mutterleibe  befand.     So  heisst  es  im  Midrasch  Bemidbar  Rabba: 

«Wenn  einem  Weibe  das  Kind  in  ihrem  Leibe  gestorben  ist,  und  die  Hebamme  hat  es 
mit  ihrer  Hand  berührt,  so  ist  diese  sieben  Tage  lang  unrein  und  die  Mutter  ist  solange  rein, 
bis  das  Kind  heraus  (aus  dem  Mutterleibe)  ist.*^     fWünsche^^J 

Uippokrates  hatte  den  Satz  aufgestellt,  dass  eine  im  8.  Monat  geborene 
Frucht  (Foetus  octimestris)  nicht  lebensfähig  sei,  eine  siebenmonatliche  dagegen 
fortleben  könne.  Aristoteles  fühlt  sich  in  der  Sache  nicht  ganz  sicher;  denn 
obgleich  er  die  Octimestres  für  lebensfähig  erklart,  so  setzt  er  doch  hinzu :  zumal 
in  Aegypten,  dagegen  weniger  in  Griechenland.  Galenus  schliesst  sich  dieser 
Ansicht  an. 

Plinius  sagt: 

.Vor  dem  siebenten  Monate  ist  kein  Kind  lebensfähig.  Im  siebenten  Monate  ßndet  eine 
Geburt  nicht  anders  als  am  Tage  vor  oder  nach  dem  Vollmonde  oder  auch  im  Neumonde 
statt.  Bekanntlich  erfolgen  in  Aegypten  die  Geburten  im  achten  Monate,  und  selbst  in 
Italien  sind  solche  Kinder  lebensfähig,  obgleich  die  Alten  das  Gegen theil  behaupteten, 
üebrigens  gestalten  sich  derartige  Ereignisse  auf  mannigfache  Weise.  Vestüia,  die  Gattin 
des  C.  Herdicius,  nachher  des  Pomponius,  und  dann  des  Orfitus,  dreier  berühmter  Bfirger, 
kam  von  diesen  viermal  im  siebenten  Monat  nieder;  darauf  gebar  sie  im  elften  den  Suilius 
Rufus,  im  siebenten  den  Corbulo,  welche  beide  Consuln  waren,  später  im  achten  Caesaniaj 
die  Gemahlin  des  Kaisers  Cajus.  Alle  in  einem  dieser  Zeiträume  Geborenen  schweben  bis 
zum  vierzigsten  Tage  in  der  grössten  Gefahr,  die  Schwangeren  aber  im  vierten  und  achten 
Monate,  in  welchen  unzeitige  Geburten  tödtlich  sind.' 

Diese  Meinung  über  die  Lebensunfahigkeit  eines  achtmonatlichen  Kindes 
theilten  auch  die  Talmudisten.  Da  sich  in  der  Erfahrung  diese  Theorie  jedoch 
nicht  bewährte,  so  halfen  sie  sich  in  ihrer  geschickten  Dialektik  aus  der  Ver- 
legenheit, dass  sie  ein  Kind,  welches  im  8.  Monat  lebend  geboren  wurde,  f&r  ein 
nur  siebenmonatliches  erklärten,  welches  nur  einen  Monat  zu  lange  im  Uterus 
verweilt  habe. 

Im  Midrasch  Bemidbar  Rabba  finden  wir,  dass  aus  diesen  Anschauungen 
höchst  absonderliche  Consequenzen  gezogen  sind.     Die  Stelle  lautet: 

,Es  ist  dort  gelehrt  worden:  Bei  einem  Kinde,  das  im  8.  Monat  zur  Welt  kommt, 
darf  man  seinetwegen  den  Sabbath  nicht  entheiligen,  und  man  darf  ihm  seinen  Nabel  nicht 
abschneiden  und  man  darf  es  nicht  einmal  von  einem  Orte  zum  andern  tragen,  sondern  seine 
Mutter  bücke  sich  zu  ihm  nieder  und  säuge  es,  und  wer  es  am  Sabbath  von  einem  Ort  sum 
andern  trägt,  ist  so  anzusehen,  als  ob  er  einen  Stein  am  Sabbath  trQge.  Dasselbe  gilt  auch, 
wenn  ein  Zweifel  herrscht,  ob  es  im  siebenten  oder  achten  Monat  geboren  ist,  man  darf 
seinetwegen  nicht  den  Sabbath  entweihen,  ihm  nicht  seinen  Nabel  abschneiden,  nicht  seine 
Nachgeburt  verbergen  und  auch  nicht  von  einem  Ort  zum  andern  tragen.  Ist  es  aber  gewiss, 
dass  es  ein  siebenmonatliches  Kind  ist,  und  es  ist  für  lebensfähig  anzusehen,  so  darf  man 
seinetwegen  den  Sabbath  entweihen,  ihm  seinen  Nabel  abschneiden  und  seine  Nachgeburt 
verbergen,  damit  das  Geborene  nicht  erfriere,   und  man  darf  es  von  einem  Orte  lum  andern 


204.  Wann  ist  die  Fracht  lebeosf&hig?  729 

tragen.  Warum  darf  man  wegen  eines  siebenmonatlichen  Kindes  den  Sabbath  entweihen? 
Deshalb,  weil  es  lebensföhig  ist.  Aber  ein  Kind,  was  im  achten  Monat  geboren  ist,  hat  seinen 
(vollen)  Monat  nicht  beendet  (es  ist  nicht  aasgetragen)  and  es  ist  nicht  lebensföhig,  deshalb 
darf  man  seinetwegen  nicht  den  Sabbath  entweihen.  Rabbi  Abuhu  wurde  gefragt:  Woher 
l&Bst  sich  beweisen,  dass  ein  im  siebenten  Monat  geborenes  Kind  lebensfähig  ist?  Er  ant- 
wortete: Von  dem  Eurigen  werde  ich  Euch  einen  Beweis  führen:  ii^ra,  ^nza,  tjt cc,  oxra. 
Woran  kann  man  aber  sehen,  dass  es  ein  achtmonatliches  ist?  Wenn  seine  Nägel  und  Haare 
nicht  vollendet  (ausgebildet)  sind.  Rabbi  Simeon  ben  Gandiel  sagt:  Ein  Kind,  was  nicht 
dreissig  Tage  lebt,  hat  seinen  vollen  Monat  nicht  beendet,  sondern  es  ist  eine  Frühgeburt. 
Worauf  stützt  sich  die  Meinung  des  Rabbi  Simeon  ben  Gamliel?  Auf  die  Thora,  weil  Gott 
die  Erstgeborenen  zum  Zwecke  der  Auslösung  erst  nach  dreissig  Tagen  zu  zählen  befohlen 
hat."     (Wünsdhe^^O 

Noch  lange  hielt  man  an  der  Lehre  des  Hippokrates  fest.  So  finden  wir 
sie  bei  dem  arabischen  Arzte  Avicenna  wieder,  obgleich  er,  ebenso  wie  Hippo- 
krcUeSy  für  Aegjpten,  ausserdem  aber  noch  für  Spanien  zugiebt,  dass  hier  die 
Achtmonatskinder  leben  bleiben  und  sich  wie  die  ausgetragenen  entwickeln  können. 
Im  übrigen  Europa  allerdings  wären  sie  nicht  lebensfähig. 

Auch  Bernard  von  Cordon  zu  Montpellier  trug  diesen  Satz  in  seinem  1305 
verfassten  ,Lilium  medicinae*^  vor  und  suchte  ihn  aus  planetarischen  Gründen 
zu  beweisen.  Noch  weiter  aber  in  dem  Glauben  an  den  Einfluss  der  Gestirne 
auf  das  Leben  des  Fötus  in  den  verschiedenen  Schwangerschaftsmonaten  ging  der 
um  1400  als  Lehrer  zu  Padua  lebende  Jacob  von  ForlL  In  seiner  Expositio 
zu  Avicenna^s  Kapitel  de  generatione  embryonis  meint  er: 

,Im  1.  Monat  herrscht  Jupiter  quasi  juvans  pater  als  Geber  des  Lebens;  im  7.  Monat 
die  Luna  als  Beförderin  des  Lebens  durch  ihre  Feuchtigkeit  und  das  von  der  Sonne  empfangene 
Licht;  dagegen  im  8.  Monat  Saturn^  der  kalte  und  trockene,  dessen  Natur  dem  Leben  mit 
seinem  feuchten  und  warmen  Anfange  entgegengesetzt  ist;  daher  könnten  die  Geschöpfci 
welche  unter  seiner  Herrschaft  geboren  sind,  nicht  am  Leben  bleiben;  im  9.  Monat  aber 
regiere  wieder  der  erhaltende  Jupiter. 

Gegen  diese  planetarischen  Einflüsse  kämpfte  schon  Pico  deUa  Mirandöla 
an,  sowie  auch  Rueff  und  Scipione  Mermrio.  Der  Lehrsatz  von  der  Lebensunfähig- 
keit der  Achtmonatskinder  blieb  aber  bestehen  und  hielt  sich  bis  in  das  17.  Jahr- 
hundert; er  findet  sich  bei  Amhroise  Pare  und  bei  Sdpiofie  Mermrio,  Letzterer 
suchte  die  Gründe  dafür,  dass  in  Aegypten  und  in  Spanien  diese  Achtmonat- 
lichen am  Leben  blieben,  während  sie  in  Italien  stürben,  in  der  geringeren  Kraft 
der  italienischen  Weiber  und  in  der  grösseren  Kälte  der  Luft,  welche  dem 
durch  die  Wärme  im  Mutterleibe  verwöhnten  Kinde  in  Italien  gefahrlicher  sei, 
als  in  dem  wärmeren  Spanien  und  in  Aegjpten. 

Auch  durch  das  Stürzen  des  Embryo  im  Mutterleibe  suchte  man  die  be- 
treffende Controverse  zu  erklären.  Mit  sieben  Monaten  sollte  dieses  Stürzen  er- 
folgen und  dann  konnte  das  Kind  sofort  geboren  werden  und  am  Leben  bleiben. 
Wenn  es  aber  nach  dem  Stürzen  noch  ferner  im  Mutterleibe  verharrte,  dann  konnte 
es  sich  von  der  Erschütterung  im  Laufe  nur  eines  Monats  noch  nicht  wieder  so 
weit  erholt  haben,  um  die  Strapazen  der  Geburt  überleben  zu  können;  dazu  waren 
zwei  volle  Monate  erforderlich. 

Bei  dem  Volke  in  Philadelphia  herrscht  nach  einer  Angabe  von  Fhillips 
auch  heute  noch  die  Ansicht,  dass  ein  Siebenmonatskind  lebensunfähig  sei,  während 
dagegen  ein  Embryo  von  sechs  Monaten  am  Leben  bleiben  könne. 

Bei  den  Kabilen  gilt  die  Frucht  mit  dem  7.  Monat  für  lebensfähig. 

Nach  Karl  Schroeder  sieht  man  Kinder,  welche  vor  der  29.  Woche  geboren 
werden,  ganz  regelmässig  zu  Grunde  gehen,  aber  auch  die  Mehrzahl  der  vor 
der  32.  Woche  geborenen  Kinder  pflegen  in  den  ersten  Tagen  nach  der  Geburt 
schon  wieder  zu  sterben.  Später  Geborene  können  jedoch  am  Leben  bleiben, 
wenn  man  ihnen  eine  ganz  besonders  sorgfältige  und  vorsichtige  Pflege  ange- 
deihen  lässt. 


730  XXXII.  ünzeitige  Gebarien  und  Fehlgeburten. 

205.  Die  kfinstliche  Frühgeburt. 

Die  Aerzte  haben  ziemlich  früh  Abnormitäten  an  dem  weiblichen  Körper 
kennen  gelernt,  welche  die  Frau  in  die  höchste  Lebensgefahr  bringen  massten, 
wenn  sie  zu  normaler  Zeit  einer  Entbindung  unterb'egen  sollte.  Daher  scheaten 
sie  sich,  und  zwar  mit  vollem  Rechte,  nicht,  in  solchen  Fällen  den  künstlichen 
Abortus  einzuleiten.     Dieses  schreibt  auch  bereits  Moschion  vor: 

.Wenn  die  Schwangere  einen  festen  Auswuchi  oder  sonst  ein  Hindemiss  am  Matter- 
munde hat,  so  soll  die  Fehlgeburt  erregt  werden;  denn  die  reife  Frucht,  die  sie  nicht 
gebären  könnte,  müsste  absterben,  und  sie  selbst  würde  in  die  grösste  Lebensgefahr  ver- 
setzt werden." 

Nun  war  es  natürlicher  Weise  nicht  mehr  femliegend,  zu  überlegen,  ob 
man  nicht  die  Einleitung  dieses  künstlichen  Abortus  bis  zu  einem  solchen  Termin 
hinausschieben  könne,  zu  dem  das  Kind  bereits  lebensfähig  sei  So  hat  sich  aus 
dem  künstlichen  Abortus  die  künstliche  Frühgeburt  entwickelt.  Ich  kann  nicht 
umhin,  auch  ihrer  hier  mit  wenig  Worten  zu  gedenken.  Liegt  bei  den  Eindes- 
abtreibungen, mit  welchen  wir  uns  nachher  beschäftigen  werden,  fast  immer  die 
bewusste  Absicht  vor,  das  Leben  des  sich  bildenden  Kindes  zu  vernichten,  so  ist 
es  der  wesentliche  Zweck  der  künstlichen  Frühgeburt  gerade,  das  Leben  des  Kindes 
womöglich  zu  erhalten.  Dieser  operative  Eingriff  befindet  sich  daher  auch  nicht, 
wie  die  Einleitung  der  absichtlichen  Fehlgeburten,  in  den  Händen  gewissenloser 
Geheimmittelkrämer,  sondern  ganz  ausschliesslich  in  denjenigen  der  Aerzte.  Stets 
handelt  es  sich  nur  um  solche  Fälle,  in  denen  die  mechanischen  Verhältnisse  in 
dem  Körperbau  der  Schwangeren  das  Austreten  eines  ausgetra^enen  Kindes  un- 
möglich machen  und  wo  die  Mutter  daher  unfehlbar  bei  der  Entbindung  zu  Grunde 
gehen  würde. 

Allerdings  haben  gewichtige  ärztliche  Stimmen  noch  im  vorigen  Jahrhundert 
unter  diesen  Bedingungen  den  künstlichen  Abortus  vertheidigt.  und  auch  jetzt 
noch  muss  derselbe  bei  gewissen  plötzlichen  Erkrankungen  des  Kindes  zur  Lebens- 
rettimg der  Mutter  eingeleitet  werden.  Aber  für  gewöhnlich  macht  man  heute  den 
Versuch,  ausser  dem  Leben  der  Mutter  auch  noch  dasjenige  des  Kindes  zu  er- 
halten. Und  so  lässt  man  der  Schwangerschaft  ungestört  ihren  Gang,  bis  die 
Zeit  herangekommen  ist,  in  welcher  man  hoffen  darf,  dass  das  Kind  schon  seine 
Lebensfähigkeit  erreicht  hat,  wie  wir  gesehen  haben,  also  nicht  vor  der  zweiund- 
dreissigsten  Woche.  Für  die  Ausführung  sind  verschiedene  Methoden  empfohlen, 
die  der  operativen  Geburtshülfe  angehören  und  auf  welche  ich  hier  nicht  näher 
eingehen  kann. 

Die  erste  Empfehlung  der  künstlichen  Frühgeburt  ging  um  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  von  England  aus,  namentlich  Yon  Denman  xmi  Macauley ; 
in  Deutschland  wurde  sie  im  Jahre  1804  zum  ersten  Male  von  Menzel  aus- 
geführt. Ablehnend  verhielten  sich  die  Franzosen  unter  der  Führung  von 
Baudelocque  gegen  die  Operation,  aber  seit  1831,  wo  Stoltjs  in  Strassburg  sie 
zum  ersten  Male  im  Lande  in  Anwendung  zog,  ist  sie  auch  allmählich  dort  zum 
Gemeingut  aller  Gynäkologen  geworden. 


206.  Die  Todtgebnrten. 

Obgleich  in  den  folgenden  Kapiteln  über  die  todten  Früchte  gehandelt 
werden  soll,  wie  sie  durch  den  natürlichen  Abortus  oder  durch  den  willkürlich 
hervorgerufenen  geboren  werden,  so  mag  es  doch  nicht  als  überflüssig  erscheinen, 
wenn  ich  hier  nun  noch  einmal  auf  die  Todtgebnrten  zu  sprechen  komme.  Wenn 
ich  aber  auch  manches  Aehnliche  werde  berühren  müssen,  so  wird  man  doch  wohl 
sehr  bald  herausfühlen,  dass  diese  Wiederholungen  in  Wirklichkeit  dennoch  nur 
scheinbare  sind. 


206.  Die  Todtgebnrten.  731 

Von  einem  Abortus  im  strengeren  Sinne  des  Wortes  pflegt  man  dem  all- 
gemeinen Sprachgebrauche  gemäss  nämlich  nur  in  denjenigen  FäUen  zu  sprechen, 
in  welchen  der  innerhalb  des  Mutterleibes  abgestorbene  und  durch  vorzeitige 
Wehenthätigkeit  aus  der  Gebärmutter  ausgestossene  und  zu  Tage  geforderte 
Embryo  noch  im  Ganzen  massige  und  geringe  Eörperdimensionen  darbietet,  wo 
derselbe  also,  um  es  mit  anderen  Worten  auszudrücken,  sich  noch  in  einem  relativ 
jugendlichen  Alter  seiner  Entwickelung  innerhalb  des  mütterlichen  Organismus 
befunden  hatte.  Wenn  nun  aber  die  Frucht  eine  bedeutend  längere  Zeit  im 
Mutterleibe  gelebt  hatte,  wenn  sie  bereits  den  Zeitpunkt  erreichte,  in  welcher 
normaler  Weise  der  Fötus  ausgetragen  ist,  oder  wenn  an  diesem  Termine  nicht 
viel  mehr  mangelte,  oder  wenn  wenigstens  diejenigen  Monate  der  Schwangerschaft 
bereits  herangekommen  waren,  in  welchen  unter  günstigen  Umständen  ein  zwar 
zu  früh  aber  doch  lebend  geborenes  Kind  schon  am  Leben  erhalten  werden  kann, 
wenn  also  die  körperliche  Ausbildung  und  die  Grössendimensionen  des  Embryo 
schon  einen  ziemlich  erheblichen  Grad  angenommen  haben,  dann  pflegt  man,  wenn 
die  Frucht  ohne  Leben  zu  Tage  gefordert  wird,  nicht  mehr  von  einem  Abortus 
zu  sprechen,  sondern  von  einer  Todtgeburt. 

Jedes  Kind  also,  was  mit  gänzlich  oder  fast  vollständig  vollendeter  körper- 
licher Entwickelung  nicht  lebend  geboren  wird,  ist  eine  Todtgeburt.  Naturgemäss 
haben  wir  hier  aber  mancherlei  Unterschiede  und  Abstufungen  zu  statuiren. 
Denn  es  ist,  wie  wohl  kaum  erst  für  uns  zu  erwähnen  nothwendig  ist,  eine  recht 
erhebliche  Differenz,  ob  das  sich  entwickelnde  Kindchen  innerhalb  des  mütter- 
lichen Organismus  abstirbt  und  ob  dann  die  kleine  Leiche  noch  eine  mehr  oder 
weniger  lange  Zeit  von  der  Mutter  getragen  wird,  oder  ob  der  Fötus  zwar  lebend 
und  gesund  den  normalen  Abschluss  seiner  intrauterinen  Entwickelung  erreichte, 
dann  aber  durch  das  unglückliche  Zusammentreffen  besonderer  unheilbringender 
umstände  noch  während  des  Geburtsactes  oder  sogleich  nach  der  Beendigung  des- 
selben sein  junges  Leben  wieder  einbüssen  musste. 

Sehr  mit  Unrecht  haben  bei  manchen  Völkern  die  Mütter  oder  die  Hebammen  als 
Todtgebnrten  diejenigen  Geburtsfölle  bezeichnet,  wo  sie  das  Neugeborene  sogleich  nach  er- 
folgter Entbindung  umgebracht  haben.  Wir  finden  solche  traurigen  Verhältnisse  bei  gewissen 
Indianerstämmen,  aber  auch  bei  den  Hindu,  auf  den  Philippinen  und  in  gewissen 
Gebieten  Central-Afrikas.  Eine  besonders  hochgradige  Verbreitung  hatte  diese  Form  der 
gewaltsamen  Todtgebnrten  angeblich  im  Anfange  unseres  Jahrhunderts  in  den  Sclavenstaaten 
des  südlichen  Nord-Amerika.  Hier  soll  es  in  gewissen  Districten  lange  Zeit  als  die  Regel 
gegolten  haben,  dass  die  schwarzen  Hebammen  die  neugeborenen  Kinder  der  Sclavinnen  be- 
reits während  der  Geburt  durch  einen  Stich  mit  der  Nadel  in  das  Gehirn  tödteten,  um  sie 
Tor  einem  ähnlichen  grausamen  und  unglücklichen  Schicksale,  wie  dasjenige  ihrer  Erzeuger 
war,  zu  behüten. 

Ein  Absterben  eines  lebenden  und  bis  zu  der  Zeit  der  Reife  und  vollen  Entwickelung 
aasgetragenen  Kindes  während  der  Geburt  kommt  im  Uebrigen  immer  nur  bei  schweren 
Störungen  des  Geburtsmechanismus  und  ganz  besonders  durch  lange  Zeit  hindurch  fortge- 
setite  Gompression  des  Nabelstranges  durch  die  Wandungen  der  Geburtswege  zu  Stande. 
Hierdurch  wird  die  Blutcirculation  von  dem  Mutterkuchen  aus  in  dem  kindlichen  Organismus 
unterbrochen  und  auf  diese  Weise  ein  Stillstand  seines  Herzens  und  damit  naturgemäss  sein 
Tod  herbeigeführt. 

Diese  Gefahr  war  auch  schon  den  alten  Rabbinern  nicht  unbekannt.  Darum 
beisst  es  im  Midrasch  Schemot  Rabba: 

„Rabbi  Jochanan  sagt:  Wer  die  Thora  kennt,  aber  nicht  danach  handelt,  für  den 
wäre  es  besser,  er  wäre  nicht  in  die  Welt  herausgetreten,  sondern  es  wäre  die  Nabelschnur 
über  sein  Gesicht  gekehrt  worden."    f  Wünsche^.) 

Dass  auch  bisweilen  unglückliche  Grössenverhältnisse  des  Fötus  im  Vergleiche  zu  der 
Weite  der  Geburtswege  der  Mutter  fQr  die  Aerzte  die  zwingende  Veranlassung  werden  können, 
das  Kind,  um  seine  Geburt  zu  ermöglichen  und  das  bedrohte  Leben  der  Mutter  zu  erhalten, 
innerhalb  des  mütterlichen  Leibes  zu  tödten,  zu  zerstückeln  und  zu  zerkleinem,  das  werde 
ich  in  einem  späteren  Abschnitt  ausführlicher  zu  besprechen  haben. 


732  XXXII.  Unzeitige  Geburten  und  Fehlgeburten. 

Die  Ursachen  nun,  welche  das  Absterben  eineB  dem  Zeitpunkte  des  Ansge- 
tragenseins  bereits  nahen  Fötus  herbeizuführen  yermogen,  sind  sehr  mannigfacher 
Art  und  decken  sich  im  Grossen  und  Ganzen  mit  den  Ursachen  des  natürlichen 
Abortus.  Vor  Allem  sind  es  starke  Gewalteinwirkungen  auf  den  mütterlichen 
Organismus  oder  erhebliche  psychische  Erregungen  und  schwere  acute  Erkrankungen 
der  Mutter,  aber  auch  gewisse  constitutionelle  Krankheiten,  an  welchen  entw^er 
die  Schwangere  oder  auch  ihr  Ehegatte  leidet. 

Wenn  der  Embryo  abgestorben  ist,  so  hat  natürlicherweise  die  Schwanger- 
schaft, wenigstens  in  ihrer  physiologischen  Bedeutung,  ihr  Ende  erreicht.  Es  ist 
damit  aber  durchaus  noch  nicht  gesagt,  dass  nun  das  todte  Kind  auch  sogleich 
durch  die  Kräfte  der  Natur  aus  dem  Mutterleibe  herausbefordert  würde.  Aller- 
dings kann  unter  Umstanden  die  Ausstossung  des  abgestorbenen  Fötus  schon  sehr 
bald  nach  seinem  Tode  erfolgen;  in  ausserordentlich  zahlreichen  Fällen  jedoch  wird 
er  mehrere  Wochen  und  selbst  Monate  hindurch  in  der  mütterlichen  Oebärmatter 
zurückgehalten,  und  es  kann  sogar  vorkommen,  dass  er  einen  beträchtlich  langen 
Zeitraum  über  die  normale  Schwangerschaftsdauer  hinaus  immer  noch  eine  Stelle 
innerhalb  des  Mutterleibes  behauptet. 

Man  möchte  nun  glauben,  dass  dieses  längere  Verweilen  der  kleinen  Leiche  im  Inneren 
des  Uterus  bei  ihr  einen  ganz  erheblichen  Fäulnissprocess  hervorufen  müsste.  Das  ist  nun 
aber  keineswegs  der  Fall.  Solch  ein  abgestorbenes  Kind  verbreitet,  wenn  es  zu  Tage  gefördert 
ist,  nicht  einen  fauligen,  sondern  nur  einen  faden  Geruch;  es  ist  matschig  weich  und  alle 
seine  Theile  zeigen  eine  yoUkommene  Durchtr&nkung  mit  einem  röthlichen  Blutwasser,  w&hrend 
die  Oberhaut  sich  in  Blasen  oder  in  Fetzen  abhebt.  Man  bezeichnet  diesen  Zustand  als  eine 
Erweichung,  als  eine  Maceration  des  Embryo.  Ist  der  letztere  sehr  lange  Zeit  über  die  nor- 
male Schwangerschafbsdauer  hinaus  im  Inneren  des  mütterlichen  Organismus  zurückgehalten 
worden,  dann  kann  er  durch  einen  bestimmten  Modus  der  fettigen  Degeneration  oder  durch 
die  Imprägnirung  mit  Ealksalzen  ein  wachsartiges  oder  selbst  ein  steinartig  verb&rtetes  An- 
sehen darbieten,  und  wir  haben  dann  ein  Beispiel  eines  sogenannten  Lithopädion,  einet 
Steinkindes  vor  uns.  Von  dieser  letzteren  Abnormität  ist  oben  bereits  die  Rede  ge- 
wesen. 

Es  ist  nun  wohl  ausserordentlich  natürlich  und  begreiflich,  dass,  wenn  einem 
Weibe  in  den  vorgerückten  Monaten  der  Schwangerschaft  irgend  eine  von  den 
weiter  oben  auseinandergesetzten  Schädlichkeiten  begegnet  war,  unter  denen  ihr 
ganzer  Organismus  und  namentlich  ihr  Nervensystem  in  erheblicher  Weise  ge- 
litten hatte,  sie  selber  sowohl  als  auch  ihre  Umgebung  einige  Sicherheit  darüber 
zu  haben  wünschten,  ob  der  unter  ihrem  Herzen  sich  entwickelnde  Sprössling 
durch  diese  unglücklichen  Zufalle  getödtet  wurde,  oder  ob  er  trotz  derselben 
noch  am  Leben  geblieben  sei.  Bereits  vor  mehreren  Jahrhunderten  sind  die  Aerzte 
bemüht  gewesen,  für  ein  solches  Abgestorbensein  der  Kinder  im  Mutterleibe  un- 
trügliche Kennzeichen  aufzustellen.  Aber  schon  die  grosse  Anzahl  dieser  Merkmale, 
die  sie  zusammengebracht  haben,  liefert  uns  den  deutlichen  Beweis  von  der  ausser- 
ordentlichen Schwierigkeit,  diese  Angelegenheit  mit  unumstösslicher  Sicherheit 
zu  entscheiden.  So  finden  wir  in  Boesslin's  Rosengarten  die  folgenden  Be- 
merkungen : 

.Durch  zwölff  zeichen  hinunten  beschrieben  wird  erkand  ein  tod  Kind  in  Mutterleib. 
Erstlich,  so  der  Frawen  brüste  welk  und  weich  werden.  Das  ander  zeichen  eines  todten 
Kindes,  So  sich  das  Kind  nicht  mehr  reget  in  Mutter  leib,  und  sich  doch  vorhin  gereget  bat. 
Das  dritte,  Wenn  das  Kind  im  Mutterleib  liegt,  feit  von  einer  seiten  zur  anderen,  wie  ein 
stein,  so  sich  die  Frawe  umbkeret.  Das  vierde  zeichen.  So  der  Frawen  ihr  leib  erkaldet, 
und  der  Nabel,  und  sind  doch  vorhin  warm  gewesen.  Das  fünfifte  zeichen  ist,  So  aus  der 
Bermutter  geben  böse  stinkende  Flüsse,  und  besonder,  so  die  Frawe  scbarpffe  hitzige  krank- 
heit  gehabt.  Das  sechste  zeichen,  Wenn  den  Frawen  ihr  äugen  tieff  stehen  im  Henbt,  und 
das  weis  braun  wird,  und  ihre  äugen  starren,  die  Lefftzen  werden  bleifarb  und  tunckelblaw. 
Das  sibende  zeichen  eines  todten  Kindes  inn  Mutterleib,  so  die  Fraw  unterm  Nabel  and  inn 
den  gemechten  gros  wee  hat,  ihr  angesiebt  gantz  ungestalt  und  missfarbe.  Das  achte,  So  die 
Fraw  begierde  hat,  zu  widerwertiger  speii  und  trenck,  so  man  nicht  sonst  pflegt  so 


206.  Die  Todtgeburten.  733 

Pas  neund,  so  sie  nicht  schlaffen  mag.  Das  zehend,  so  die  Frawe  die  hamwinde  on  unterlas 
hat,  begirde  zu  stuelgang  mit  drängen  und  nöten,  schafft  doch  wenig  oder  gar  nicht  Das 
eüffte  zeichen,  Der  Frawen  wird  gewonlich  ihr  athem  stincken  und  Übel  riechen  am  andern 
oder  dritten  tag,  nach  dem  das  Kind  tod  ist  Das  zwelffte  zeichen,  So  mercket  man,  ob  das 
kind  tod  ist  inn  Mutter  leib,  wenn  man  ein  Hand  inn  warmem  wasser  gewermet,  und  geleget 
anff  der  Frawen  leib,  reget  sich  denn  das  Kind  nicht,  von  der  werme,  so  ist  es  Tod.  Und 
ihemehr  der  zeichen  funden  werden  an  einer  Schwangor  Frawen,  je  gewisser  man  ist,  das  das 
kind  im  Mutter  leib  tod  ist." 

Die  Trüglichkeit  und  XJnzuverlässigkeit  von  einem  grossen  Theile  dieser 
Zeichen  wird  auch  wohl  dem  Nichtmediciner  sofort  einleuchtend  sein,  und  die 
heutigen  Geburtshelfer  sind  sich  über  die  erheblichen  Schwierigkeiten  wohl  im 
Klaren,  hier  einen  absolut  sicheren  Entscheid  zu  treffen. 

Noch  im  Jahre  1886  sagt  Karl  Schroeder:  „Gewissheit  von  dem  erfolgten 
Tode  geben  nur  die  durch  den  etwa  geöffneten  Muttermund  hindurch  deutlich 
gefühlten  schlotternden  Kopfknochen.'' 

Allerdings  existirt  ja  nun  eine  Reihe  von  Vorkommnissen,  welche  den  Ver- 
dacht auf  den  erfolgten  Tod  der  Frucht  in  hohem  Grade  zu  erwecken  im  Stande 
sind.  Das  ist  namentlich  das  Aufhören  der  Kindesbewegungen  und  das  Ver- 
schwinden der  Herztöne  des  Embryo. 

Die  Herztöne  des  Embryo  sind  von  einem  geschulten  Geburtshelfer  deutlich  zu  diagno- 
BÜciren.  Verschwinden  dieselben  gleichzeitig  mit  den  Kindesbewegungen,  nachdem  sie  soeben 
noch  mit  Sicherheit  nachweisbar  waren,  dann  ist  ein  gegründeter  Verdacht  auf  ein  erfolgtes 
AbBterben  der  Frucht  vorhanden. 

Die  KindesbeweguDgen  haben  in  der  Meinung  der  Frauen  eine  ganz  hervorragende  Be- 
deutung. Von  ihrem  ersten  Auftreten  an  rechnen  sie  die  Hälfte  der  Schwaugerschaft,  sehr 
mit  Unrecht,  denn  Bmch  erwähnt,  dass  die  erste  Bewegung  bald  schon  in  der  zwölften  Woche, 
bald  erst  in  dem  siebenten  Monat  bemerkt  wurde.  Man  glaubte  auch,  dass  die  Knaben  sich 
frOher  bewegen,  als  die  Mädchen. 

Aus  allen  diesen  Auseinandersetzungen  wird  der  Leser  die  Ueberzeugung  ge- 
wonnen haben,  dass  eine  absolut  sichere  Entscheidung,  ob  eine  Frucht  im  Leibe 
abgestorben  sei  oder  nicht,  durchaus  keine  leichte  Sache  ist,  und  dass  nur  ein 
geschulter  Geburtshelfer  im  Stande  sein  kann,  hierüber  ein  endgültiges  ürtheil 
abgzugeben. 


XXXIII.  Die  zufällige  Fehlgeburt  oder  der  natttrliche 

Abortus. 

207.  Der  natürliche  Abortus  In  seinen  Ursachen  und  seiner  Yerbreitung. 

Wenn  wir  uns  nnter  den  Völkern  des  Erdballs  umsehen,  so  finden  wir  bei 
nicht  wenigen  derselben  die  natürlichen  Fehlgeburten  mit  einer  grossen  Häufigkeit 
auftreten,  und  gewiss  haben  wir  sehr  oft  in  diesem  Umstände  den  Grund  zu 
suchen,  warum  bei  manchen  Stammen  eine  so  geringe  Zahl  neugeboirener  Kinder 
beobachtet  wird«  Die  Ursachen  dieser  häufigen  Fehlgeburten  geben  in  sehr  vielen 
Fällen  unverständige  Lebensgewohnheiten  ab.  Aber  den  Völkern  fehlt  meisten- 
theils  die  Einsicht  in  die  Gefahr.  Bisweilen  sucht  man  im  volksthümlichen  Glauben 
auch  wohl  die  Ursache  des  häufigen  Vorkommens  von  Abortus  in  ganz  falschen 
Dingen.  So  deutet  Patdus  die  Angabe  von  2.  Könige  2,  19.  ff.  dahin,  dass  die 
Quelle  in  Jericho,  welche  Elisa  durch  Hineinschütten  von  Salz  unschädlich 
machte,  bei  den  Weibern  Abortus  hervorgerufen  habe.  Allein  es  liegt  doch  nahe, 
anzunehmen,  dass  nicht  der  Genuss  dieses  Wassers,  sondern  vielleicht  das  Tragen 
der  schwergefullten  Wassergefässe  die  häufigen  Fehlgeburten  veranlasst  habe. 

Ebenso  trägt  auch  ganz  gewiss  bei  vielen  Naturvölkern  die  Ueberlastung 
der  Weiber  einen  grossen  Theil  der  Schuld  an  dem  Abortus. 

So  ist  an  der  auffallenden  Unfruchtbarkeit  in  Neu- Seeland  gewiss  nicht 
allein  die  dort  herrschende  Unsitte  des  Kindesmordes  schuld,  sondern  wahrschein- 
lich auch  die  auf  die  Frauen  einwirkenden  Mühseligkeiten  ihres  beständigen 
Wanderlebens,  die  harte  Arbeit  und  das  Tragen  schwerer  Lasten.  Das  Alles  ist, 
wie  TuJce  bereits  vermuthet,  wohl  der  hauptsächlichste  Grund  für  ihr  häufiges 
Abortiren.  Während  nach  Mutet  in  Europa  durchschnittlich  von  487  nur  20 
Frauen  (1:24,25)  unfruchtbar  sind,  stellte  sich  bei  den  Maori-Frauen  das  Ver- 
hältniss  wie  155:444  oder  1:2,86.  (WUÜersdorf-ürbair,)  Die  Maori  selber  aber 
beschuldigen  nicht  den  Abort,  sondern  sie  glauben,  dass  die  Ursache  der  Unfrucht- 
barkeit ihrer  Weiber  in  dem  gewohnheitsmässigen  Genüsse  eines  gegohrenen  Ge- 
tränkes aus  Mais  gesucht  werden  müsse. 

Auch  in  Australien  sind  nach  Gerhfid  in  Folge  der  schlechten  Behandlung, 
welche  dort  die  Weiber  auch  während  der  Schwangerschaft  erdulden,  Fehlgeburten 
häufiger  als  bei  uns.  Bei  den  Weibern  der  Orang  Belendas  in  Malacca 
ist  nach  Stevens  Abortus  im   3.  oder  4.  Monat   ziemlich  gewöhnlich.    {Bartels^) 

Bei  den  Woloffen  kommt  nach  de  Rochehrune  das  Abortiren  sehr  häufig 
vor,  und  nach  seiner  Ansicht  hängen  die  Ursachen  hierfür  eng  mit  der  Lebens- 
weise der  Weiber  zusammen :  in  ihren  häuslichen  Geschäften  steht  das  ermüdende, 
stundenlange  Zerstossen  der  Hirse  obenan;  auf  der  anderen  Seite  aber  machen  sie 
Nächte  lang  Festlichkeiten  mit,  wobei  sie  unter  Musik  aufregende  obscöne  Tänze 
ausfuhren,  die  mit  Rotation  der  Beckengegend  verbunden  und  den  Schwangeren 
gewiss  gefahrlich  sind. 


207.  Der  naiürliche  Aborioa  in  seinen  ürBaohen  und  seiner  Verbreitung. 


733 


Auch   schon    die    Aerzte    der   alten   Inder    warnten   die   Schwangeren   vor 

solchen  anstrengenden  Dingen,  denn  Fehlgeburten  könnten  hervorgerufen  werden 
durch  rohes  Betragen,  schlechten  Gang,  darch  Fahren,  Reiten,  Wackeln,  Fallen, 
Quälen,  Laufen,  Schlagen,  schiefes  Liegen  und  Sitzen,  durch  Fasten,  starke  Stösse. 
Iber  auch  durch  allzu  rauhe,  scharfe  und  bittere  Nahrungsmittel  aus  dem  Pflanzen- 
eiche, durch  unverdauliche  Kost,  sowie  durch  Dysenterie,  Durchfall  und  Er- 
brechen, endlich  noch  durch  zu  viele  Aetzmittel  und  durch  die  Abzehrung  des 
^Embryo  wird  dieser  von  seinen  Banden  gelöst,  sowie  die  Frucht  durch  verschie- 
iene  Unfälle  von  den  Fesseln  des  Stieles,  Bis  zum  vierten  Monat  kann  Abortus 
attfinden,  aber  bei  einem  starken  Fötus  auch  bis  zum  fünften  und  sechsten  Monat, 
Aber  eine  gewisse  körperliche  Prädisposition  dieser  Völker  fiir  Fehlgeburten 
doch  ausserdem  noch  vorausgesetzt  werden.  Denn  von  anderen  Naturvolkern 
sen  wir,  dass  sie  trotz  nicht  minder  grosser  Anstrengungen  und  schlechter  Be» 
bandlung  während  der  Schwangerschaft  dennoch  höchst  selten  zu.  abortiren  pflegen. 
Auch  die  unteren  Klassen  in  China  sprechen  für  eine  solche  Annahme; 
|enn  Weiber  müssen  dort  auf  den  Flüssen  häufig  einen  sehr  anstrengenden  Ruder- 
"ienst  versehen.  Trotz  dieser  grossen  Mühseligkeiten  ist  das  Abortiren  bei  ihnen 
icht  häufig.  Anders  ist  dieses  allerdings  bei  den  Frauen  der  höheren  Stände; 
ie  reichen  Chinesinnen  haben  in  Folge  ihrer  Lebensweise  eine  Prädisposition 
Enm  Abort,  denn  die  Verunstaltung  ihrer  Püsse  zwingt  sie  zu  einer  überwiegend 
sitzenden  Lebensweise  und  zu  grosser  Verweichlichung,  Daher  giebt  auch  das 
chinesische  Lehrbuch  über  Geburtshülfe  «Pao-tsan-ta,  seng-Pieu*  eine  ganze 
Reihe  von  Maassregeln  an,  um  einen  Abortus  zu  verhüten. 

Bekanntlich  werden  auch  die  In  dianer- Weiber  Nord -Amerikas  im  All- 
remeinen  von  ihren  Männern  mit  Arbeit  überlastet;  allein  trotzdem  behauptet 
lei^cA,  dass  bei  den  Indianer -Frauen  Fehlgeburten  sehr  selten  sind.  Und  James 
fand  das  Gleiche. 

Trotzdem  in  Persien  die  Weiber  auch  während  der  Schwangerscliaft  nach 
Lrt    der  Männer    zu  Pferde  sitzen,    kommt    doch  bei    ihnen,    wie  Polak  von  der 
liegend    von  Teheran    und  Uüntzsche   von    Gilan   am   kaspischen    Meere   be- 
achtete,  der   natürliche  Abortus   selten   vor.     Ist   er  aber  einmd  aufgetreten,  so 
iederholt  er  sich  in  der  nächsten  Schwangerschaft,  und  Polak  machte  Fhss  die 
_  littheilung,  dass  er  dort  eine  Frau  gesehen  habe,  welche  12  mal  hinter  einander 
ßbortirte. 

Als  Ursache  für  die  Hervorrufung   von  Fehlgeburten    müssen  wir  auch  ge- 
wisse manuelle  Behandlungsmethoden  beschuldigen,  welchen  bei  manchen  Völkern 
ie   schwangeren    Frauen    unterzogen   werden.     So   sind   z.  B.  Fehlgeburten    und 
Frühgeburten   bei   den    Mexikanerinnen   häufig,    als   deren  Grund    t\   (Mar  iu 
^ajaca  (Mexiko)    die  Unsitte   der  Weiber   anttihrt,    dass   sie   sich   im  siebenten 
lonate  durch  eine  Hebamme  am  üuterleibe  kneten  lassen,  um  eine  günstige  Lage 
des  Kindes  zu  erzielen.     Es  ist  von  derartigen  Manipulationen  weiter  oben  bereits 
die  Rede  gewesen.     Es  mag  übrigens  auch  noch  angeführt  werden,  dass  in  Java, 
nach  KugeVs  Bericht,  sehr  viele  Frauen  unzeitige  Leibesfrüchte  gebären.   Als  Gnmd 
hierfür  betrachtet  er  das  Pidjet,  d.  h.  die  dortige  Methode  des  Massirens,  wobei 
an   den  Haaren    und    den  Gliedmaassen   gezogen  und  der  Kopf  und  der  Leib  der 
Schwangeren  gedrückt  wird. 

Einen  ferneren  Grund  aber  muss  man  darin  suchen,  dass  die  Schwangeren 
wegen  der  kleinen  Leiden  und  Unbequemlichkeiten,  welche  mit  der  Gravidität 
verbunden  sind,  von  den  alten  Matronen  allerhand  Medicinen  erhalten,  die  sie 
zwar  nicht  von  ihrer  vermeintlichen  Krankheit  befreien,  aber  die  Frucht  zu 
Schaden  bringen. 

Die  Unsitte  zu  heisser  Bäder  muss  man  nach  Ferrhi  in  Tunis  und  nach 
Damian  Georg  in  der  Türkei  als  den  Grund  des  häufig  auftretenden  Abortus 
~  ßzeichnen.     Es  kommt  aber  hier  noch  der  Missbrauch  onregelmässiger  Diät,  das 


^^m^^^gmuii 


736  XXXIII.  Die  zuföllige  Fehlgeburt  oder  der  natürliche  Abortas. 

Fahren  auf  schlechten  Wegen,  das  Aufhängen  der  Wäsche  auf  der  Terrasse  der 
Häuser  und  das  mehrere  Stunden  lang  dauernde  Bereiten  des  Confects  hinzu. 
Auch  sollen  nach  anderer  Angabe  die  Türkinnen  sehr  häufig  in  Folge  des  rohen 
geburtshülflichen  Verfahrens  an  gewissen  Frauenkrankheiten  leiden,  welche  wieder- 
holte Schwangerschaft  oder  das  Austragen  gesunder  Kinder  nicht  zulassen. 

Auch  in  der  Einwirkung  eines  ungewohnten  Klimas  haben  wir  eine  Gelegen- 
heitsursache für  den  Abortus  zu  erblicken,  doch  ist  hierbei  wohl  der  eigentliche 
Grund  weniger  die  hohe  Temperatur,  als  vielmehr  die  in  solchen  lindern  gewöhn- 
lich nicht  fehlende  Malaria.  Acclimatisirte  sind  dann  minder  gefährdet,  als  Ein- 
wandernde. Bei  den  Eingeborenen  in  Cayenne  und  Guyana  ist  Abortus  selten; 
dagegen  kommt  derselbe  bei  Europäerinnen,  die  entweder  schwanger  dorthin 
kommen,  oder  alsbald  nach  ihrer  Ankunft  schwanger  werden,  ehe  sie  das  klimatische 
Fieber  überstanden  haben,  namentlich  im  7.  und  8.  Monat,  in  Folge  des  sich  dann 
ge wohnlich  einstellenden  Fiebers  häufiger  vor.  {Bajon)  Auch  in  den  Nilländern 
treten  bei  Europäerinnen  öfter  Fehlgeburten  auf.     {Uartmann) 

Ebenso  abortiren  die  in  Indien  lebenden  Europäerinnen  nach  dem  Zeug- 
niss  von  Johnson  und  Martin  besonders  in  der  heissen  Jahreszeit  ausserordentlich 
häufig.  Auch  die  allerdings  seltenen  Aborte  in  der  persischen  Provinz  Gilan 
werden  von  Häntzsche  dem  Sumpffieber  zugeschrieben. 

Ein  von  Kangatva  bekämpfter  Volksglaube  der  Japaner  behauptet,  dass 
der  Genuss  von  Süsswasserfischen  Fehlgeburten  hervorrufe.  Es  kann  wohl  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  wenigstens  ein  Theil  der  absonderlichen  Speisevorschriften, 
denen  bei  vielen  Völkern  die  schwangeren  Frauen  unterworfen  sind,  auf  ähnlichen 
Anschauungen  beruhe. 

Bei  den  Weibern  der  Hottentotten  soll  nach  Scherzer  Abortus  im  2.  und 
3.  Monate  häufig  sein.  Die  Negerinnen  in  Old-Calabar  fürchten  dagegen, 
wie  Uewan  berichtet,  ganz  besonders  den  7.  Monat. 

Auch  in  Jaffa  ist  nach  Tobler  der  Abortus  eine  sehr  häufige  Erscheinung, 
und  bisweilen  werden  dabei  die  Hebammen  zu  Hülfe  gerufen.  Ebenso  sind  den 
Fehlgeburten  die  Weiber  in  Cambodja  vielfach  unterworfen.  Hingegen  ist  bei 
den  Ann  am iten -Frauen  der  Abortus  äusserst  selten,  und,  wie  wir  oben  gesehen 
haben,  bestehen  dort  besonders  scharfe  Gesetze,  um  eine  Schwangere  vor  Strafen 
zu  schützen,  welche  etwa  eine  Fehlgeburt  veranlassen  könnten.  Die  Bestrafung 
des  betreffenden  Richters  tritt  aber  nur  dann  in  ihrer  ganzen  Schwere  ein,  wenn 
die  Schwangerschaft  bereits  den  dritten  Monat  überschritten  hatte;  innerhalb  der 
ersten  drei  Monate  wird  für  solche  Veranlassung  einer  Fehlgeburt  nur  das  auf  eine 
einfache  Verletzung  stehende  Strafmaass  verhängt. 

Auf  den  Viti- Inseln  ist  nach  Blyth  der  natürliche  Abortus  eine  sehr  grosse 
Ausnahme;  ebenso  nach  Mac  Gregor  auf  den  can arischen  Inseln  und  nach 
Paulitschke  bei  den  Somali. 

Die  niederen  Volksschichten  in  Deutschland  halten  Fehlgeburten  nicht 
für  etwas  besonders  Beachtenswerthes ;  sie  sprechen  nur  davon,  dass  es  der  Frau 
„unrichtig  gegangen*,  dass  sie  „umgekippt*  oder,  wie  es  im  Siebenbürger 
Sachsenlande  heisst,  dass  sie  „verzettelt*  oder  „verschüttet*  hat.  Auf  der  Insel 
Amrum  wird  die  Fehlgeburt  mit  dem  Worte  „Maassgang*  bezeichnet,  das  bedeutet 
so  viel  wie  ein   Missgang,  ein.  vergeblicher  Gang. 

Die  Ebstinnen  kennen  nach  Holst  (Dorpat)  Abort  und  Frühgeburten 
fast  gar  nicht,  obgleich  sie  während  der  Schwangerschaft  sich  keinerlei  Schonung 
auferlegen. 

Unter  den  Europäerinnen  hat  man  namentlich  von  den  Französinnen 
angenommen,  dass  sie  in  hervorragender  Weise  zu  Fehlgeburten  geneigt  sind. 
Auch  hier  wollte  man  den  Grund  in  dem  reichlichen  Gebrauche  warmer  Bäder 
suchen,  jedoch  sollen  auch  gerade  bei  ihnen  Anomalien  an  den  GFenitalorganen 
nicht  selten  sein. 


208.  Die  MaasBregeln  zur  Verhütung  von  Fehlgeburten.  737 

Plinitis  stellte  die  merkwürdige  Behauptung  auf,  dass  das  Niesen  nach  dem 
Beischlafe  einen  Abortus  hervorrufe,  und  er  fahrt  dann  fort: 

.Man  wird  mit  Bedauern  und  Scham  erfüllt,  wenn  man  bedenkt,  von  welch'  unbe- 
deutenden Zufällen  die  Entstehung  des  Stolzesten  unter  den  Geschöpfen  abhängt,  da  sehr  oft 
schon  der  Geruch  ausgelöschter  Lampen  die  Ursache  unzeitiger  Geburten  ist.  Einen  solchen 
Anfang  hat  der  Tyrann,  einen  solchen  das  blutdürstige  Gemüth.  Du,  der  Du  auf  die  Kräfte 
Deines  Körpers  pochst,  der  Du  nach  den  Gaben  des  Glückes  haschest  und  Dich  nicht  einmal 
für  den  Pflegling,  sondern  für  das  Kind  desselben  hältst;  Du,  dessen  Geist  stets  mit  Siegen 
umgeht,  der  Du,  aufgeblasen  durch  irgend  ein  glückliches  Ereigniss,  Dich  für  einen  Gott  hältst, 
Dich  konnte  ein  so  unbedeutender  Umstand  umbringen!** 

Dass  für  die  schwangeren  Frauen  in  Deutschland  der  dritte  und  der  sechste 
Monat  die  für  den  Abortus  geföhrlichsten  sind,  möge  hier  noch  eine  kurze  Er- 
wähnung finden. 

208.  Die  Maassregeln  zur  YerhUtnng  Ton  Fehlgeburten. 

Gewiss  ist,  wie  wir  schon  oben  andeuteten,  ein  Theil  von  alle  den  ver- 
wickelten Vorschriften,  denen  die  schwangeren  Frauen  nachleben  sollen,  aus  dem 
Gedanken  hervorgegangen,  das  Eintreten  von  Fehlgeburten  zu  verhüten,  und  gewiss 
muss  wenigstens  theilweise  auch  das  Verbot,  mit  der  schwangeren  Frau  den  Bei- 
schlaf auszuüben,  hierher  gerechnet  werden.  Aber  wir  begegnen  auch  bisweilen 
ganz  directen  Angaben  über  die  Sache.  So  muss  sich  die  Frau  in  Old-Calabar 
ganz  besonders  vor  dem  bösen  Blicke  zu  schützen  suchen;  denn  dieser  ist  es,  der 
üir  den  Abortus  zuzuziehen  vermag.  Auch  anderem  Zauber  und  dem  Lärmen  und 
den  Aufregungen  des  Dorfes  muss  sie  sich  bei  vorgerückter  Schwangerschaft 
entziehen,  um  nicht  einer  Fehlgeburt  zu  verfallen,  und  deshalb  pflegt  sie  ihre 
Wohnung  in  einer  stillen  Farm  aufzuschlagen. 

Unter  den  alten  Romern  herrschte  die  Sitte,  dass  die  Schwangeren  der 
Juno  zur  Verhütung  des  Abortus  im  Hain  am  Esquilinischen  Hügel  Blumen 
opferten,  wobei  sie  keine  Knoten  in  den  Gewändern  und  in  den  Haaren  haben 
durften.  Es  ging  in  Rom  die  Sage,  dass,  als  einst  der  Abortus  häufig  vorkam, 
die  Frauen  die  Jtmo  in  diesem  Haine  um  Offenbarung  eines  Verhütungsmittels 
baten.  Die  Göttin  rief:  „Der  Bock  muss  die  italischen  Matronen  bespringen ! ** 
Das  erinnert  an  den  oben  erwähnten  heiligen  Bock  zu  Mendes,  der  die  Frucht- 
barkeit schaffen  sollte. 

Die  Bulgaren  begehen  den  24.  und  den  25.  September  als  besondere  Feier- 
tage ,zu  Ehren  der  Wölfe  und  der  Schwangeren,  damit  letztere  keine  Frühgeburt 
haben/     (Strauss) 

Wir  müssen  selbstverständlich  zu  diesen  Verhütungsmaassregeln  auch  fast 
alle  diejenigen  religiösen  Ceremonien  rechnen,  welche  mit  den  schwangeren  Frauen 
vorgenommen  werden.  Denn  ihr  ethischer  Sinn  ist  ja  doch  im  Wesentlichen  nur 
das  Erflehen  einer  ungestörten  und  gesunden  Schwangerschaft  und  einer  leichten 
und  glücklichen  Niederkunft.  Zur  Unterstützung  dieser  Gebete  j)flegen,  wie  wir 
oben  gesehen  haben,  noch  bisweilen  gewisse  Amulete  in  Gebrauch  und  Ansehen 
zu  stehen. 

Ein  solches  Schutzmittel  vor  Abortus  kommt  schon  im  Talmud  (Tr.  Sabbath  66) 
vor,     der  Aetites,     der    Adlerstein    oder   Klapperstein,    welcher    von    der 
Schwangeren  getragen  wurde.     Auch  Plinms  erwähnt  die  Eigenschaft  dieses  Steines 
als  Präservativ  gegen  Frühgeburt.     In  demLiber  lapidum  seu  de  gemmis  des 
im  11.  Jahrhundert  lebenden  Bischofs  Marhodus  heisst  es  von  dem  Aetites: 
Creditur  ergo  potens  praegnantibus  auxiliari, 
Ne  vel  abortivum  faciant,  partuve  laborent; 
Appensus  laevo  solito  de  more  lacerto. 

Die  Hippokratiker  Hessen  zur  Verhütung  des  Abortus  viel  Knoblauch 
oder   den  Stempel   von  Silphium  (Thapsia   Silphium  Viv.?)   geniessen,   denn   der 

PlOBB-BarteU,  Das  Weib.    6.  Aufl.    I.  47 


738 


XXX  TTT.  Die  zafUUige  Fehlgeburt  oder  der  natürliche  Abortus. 


Saft  dieser  Pflanze  galt  als  blähungerzeagend,  und  alles  was  blSht  war  ihrer 
Meinung  nach  für  die  Schwangerschaft  günstig. 

Glaubten  die  Aerzte  im  aiten  Indien,  dass  eine  Fehlgeburt  sich  vorbereite, 
so  verordneten  sie  ölige  und  kühlende  Mittel. 

Gegen  die  Schmerzen  Hessen  sie  Wrightia  antidysenterica,  Pbaseolns  trilobos,  Glycyrrhiza 
glabra,  Flacortia  cataphracta  und  F.  sapida  im  Getr&nk  mit  Zucker  und  Honig  nehmen ;  gegen 
Unterdrückung  des  Urins  gaben  sie  ein  Getränk  aus  Asa  foetida,  Saurabala,  AUium  sativurn  und 
Acorus  calamus  bereitet.  Bei  heftiger  Blutung  wurde  Pulver  von  Gostus  arabicus,  Andropogon 
serratum,  Domestica  terra,  Mimosa  pudica,  Blüthen  von  Grislea  tomentosa,  Jasminum  arbo- 
rescens  u.  s.  w.  gereicht,  bei  Schmerzen  ohne  Blutung  gaben  sie  Milch  mit  Glycyrrhisa  glabra, 
Pinus  Devadara  und  Asclepias  rosea,  auch  Milch  mit  Oxalis,  Asparagus  racemosus  und  Asclepias 
rosea,  sowie  verschiedene  ähnliche  Zusammensetzuugen.  War  trotzdem  die  Frucht  abgegangen, 
so  gaben  sie  der  Frau  eine  Speise  aus  Kuhmilch  mit  Ficus  carica  und  Sälätü;  war  aber  der 
Embryo  abgestorben,  so  erhielt  die  Frau  eine  Ptisane  von  Paspalus  frnmentaceus. 

In  noch  älterer  Zeit  aber  nahm  man  in  Indien  auch  bei  drohender  Fehl- 
geburt zu  Beschwörungsformeln  seine  Zuflucht.  Ein  solcher  Zauberspruch  ist  uns 
in  dem  Atharva-Veda   erhalten.     Er   lautet  nach  der  Uebersetzung  von  Grill: 


,Die  Göttin  Prgniparni  schuf 
Uns  Heil,  Unheil  der  Nirfti, 
Die  Kanva  reibt  sich  mächtig  auf; 
Ich  nütze  ihre  Wunderkrafb, 
Die  Prgfiiparni  hier  ward  gleich 
Als  mächtig  wirkende  erzeugt. 
Verrufenen  trenn'  ich  den  Kopf 
Mit  ihr,  wie  einem  Vogel  ab! 
Den  Unhold,  der  das  Blut  aussaugt, 
Und  den,  der  das  Gedeihen  stört, 


Den  Kanva,  der  den  Embryo  frisst. 

Scheuch  Prgniparni  und  bezwing*! 

Treib  diese  Kanva  in  den  Berg! 

Sie,  die  des  Lebens  Störer  sind! 

Wie  Feuer  folg',  und  brenn'  sie  auf, 

Prgniparni j  Du  Göttliche  I 

Weit  jage  diese  Kanva  fort! 

Sie,  die  des  Lebens  Störer  sind! 

Wohin  die  Finsternisse  geh'n, 

Da  schick'  ich  die  Fleischfresser  hin.' 


Es  wurde  in  einem  früheren  Abschnitte  schon  gesagt,  dass  dieAnnamiten 
den  Abortus  verursacht  glauben  durch  •  die  Geister  Con  Banh^  welche  in  die 
Körper  der  Embryonen  fahren,  um  sich  so  zu  einer  Incamation  zu  verhelfen,  die 
dann  aber  niemals  lebend  geboren  werden  können.  Ihre  Zauberpriester,  die 
Thäy  phap,  veranstalten  eine  besondere  Beschwörung,  um  die  Frauen  von  den 
Con  Bank  zu  be&eien.  Landes  schildert  dieselbe  folgendermaassen.  Man  fertigt 
aus  Stroh  zwei  Puppen,  welche  die  Mutter  und  das  Kind  darstellen  sollen,  und 
zwar  in  einer  Stellung  des  gewöhnlichen  Lebens,  z.  B.  die  Mutter  das  Kind  vriegend 
oder  ihm  die  Brust  gebend.  Dann  wird  ein  Con  Döng  herbeigeholt,  das  heisst 
eine  Person,  welche  bei  der  Beschwörung  als  Medium  fungirt,  denn  stets  spielt 
bei  den  Zaubermanipulationen  der  Thiiy  phap,  der  Hypnotismus,  eine  hervor- 
ragende Rolle. 

Dieses  Medium  «est  suppose  anim6  par  le  demon  des  morts  pr^matur^es.  On  ^prouve 
quelquefois  sa  lucidite  en  lui  faisant  deviner  quelque  chose;  ce  que  Von  a  cachä  dans  une 
boite,  par  exemple.  Le  Thäy  phap  interpelle  le  dämon,  Tadjure  de  s'engager  ä  ne  plus 
tourmenter  la  famille  oü  se  pratique  l'exorcisme  et  lui  ordonne  d'apposer,  en  signe  de  con- 
sentement,  sa  signature,  c'est-ä-dire  la  marque  de  ses  phalanges  sur  une  feuille  de  papier. 
Quand  le  d^mon  consent,  le  medium  trempe  sa  main  dans  Tencre  et  l'imprime  sur  le  papier. 
S'il  r^siste,  on  le  menace,  on  fiche  dans  les  joues  du  medium  de  longues  aiguilles  et  le  plus 
souvent  il  finit  par  ceder.    A  la  fin  de  la  c^r^monie,  od  brüle  les  deux  mannequins." 

Sie  haben  aber  auch  noch  ein  anderes  Mittel: 

,Pour  se  d^barrasser  de  cette  mal^diction,  plusieurs  pratiques  sont  miset  en  usage. 
D'abord,  par  une  espece  de  mesure  preventive,  on  tue  un  jeune  chien,  on  le  coupe  en  trois 
morceaux  et  on  les  enterre  sous  le  lit  oü  accouchera  la  femme.  Du  sang  de  ce  chien  on  ^crit 
des  caract^res  magiques  sur  les  amulettes  qu*elle  porte.  Enfin,  ä  l'entree  de  la  cbambre, 
on  grave  une  inscription  dont  le  sens  est:  Quand  tu  vitrais,  ton  sang  a  teint  le  couteau 
magique  de  HWng  dao  (et  cependant)  tu  veux  toujours  rentrer  du  sein  des  femmes.  Cef 
pratiques  sont  destin^es  ä  rappeler  au  Con  ranh  le  sort  qui  Tattend  s'il  oontinue  ä  tronbler 
le  repos  de  la  famille." 


209.  Das  Scbickaal  dea  Abortus. 


739 


Man  glttubt  tiamlicb,  dags  wenn  die  Con  BanJt  einmal  von  einer  Frau  Besitz 

rgriffen  haben,  dass  sie  dann  bei  jeder  erneuten  Schwangerschaft  derselben  sofort 

ier  in  den  Embryo  fahren,  und  die  Änoamiten  haben,   wie  Landes  erzählt, 

besondere  Methode,  um  diese  Annahme  sicher  zu  stellen: 

,Pour  v^rifier  cette  opimon,  on    peut  faire  sur  le  corps  du  mort-n6,  au  front,  au  bra-p. 

jdes  marques  qoi  sont  suppoae^s  se  reprodiiiro  sur  le  corpg  da  saivftnt,  dont  rideotit«^  malfai- 

ftnte  est  ainsi  constatee.* 

Eine  Frau,  welche  das  Unglück    hat,    von    den  Con  Rank  befallen  zu  sein, 
kann   dieselben    aber    auf  eine    andere  Weibsperson    überleiten.     Für    gewöhnlich 
^pflegt  man  die  für  eine  solche  Frau  und   ihr  Kind  benutzten  Betten,    Kleidungs- 
stücke und  Geräthe  an  einen  abgelegeneu  Ort  zu  bringen   und    dieselben    daselbst 
"in  verbrennen. 

,Dea  gens  peu  scrupuleuz  pr^f^rent  lea  abandonner,  afin  que  lea  effet^  eiant  rama^ae« 
par  des  pauvrea,  le  con  ranh  sattachp  a  eui  et  passe  daas  lear  famille  ' 

Solch  ein  Verfahren  wird  allerdings  als  im  höchsten 
}rade  unmoralisch  angesehen  und  von  der  öffentlichen 
leinung  streng  verurt heilt 

Die  Furcht  vor  der  Berührung  mit  einer  Frau, 
reiche  von  den  Con  Ranh  befallen  wurde,  ist  bei  den 
i^nnamitinnen  eine  ganz  ausserordentUch  grosse: 

«ÄUBsi  nne  nouvelle  mariee  ti'oserait-elle   pos  recevoir  nne 

bhiqoQ    de    b^tel    d^une    fem  nie   qui  a  de  ja  fait  une  ou  pluBieur.'« 

Biaases  couches,  porter  un  de  aes  habits,  de  ees  cbapeaiix  etc.    Ort 

p^'abatieDt  meme  de   parier   des  Con  ranh    devant  les  femniea,   d^' 

peur  que  cette  conversation    ae  leur   porte    malbeur   et  que   ce> 

pritfl  ne  s'attachent  a  elles.* 


309.  Das  Hcliieksal  des  Abortus. 


'"^f- 


Die  Beseitigung  des  Abortus    bietet  in  den  Cultur- 
dern  manche  Schwierigkeiten  dar.    War  die  Schwanger- 
aft  noch  nicht  weit  vorgeschritten,  dann  weiss  isich  die 
Umgebung    der  Wöchnerin    allerdings    einfach  Rath    und 
bereitet  der  abgegangeneu  Leibesfrucht  die   letzte  Ruhe- 
ätte    in   der  Senkgrube,     Das  ist   aber  mit  Embryonen, 
ie  schon   älter  sind,    nun    nicht  mehr  ohne  Weiteres  zu 
skiren;    denn    die   findige   Polizei  konnte  an  diesem  un- 
rürdigen  Orte  die  menschlichen  Ueberrest^  entdecken,  und 
das  würde    im    günstigsten  Falle    doch   immer    zu  unlieb- 
samen Nachforschungen  führen.   Wandert  der  Embryo  nicht 
in  irgend  eine  anatomische  Samralong,  dann   muss  die  Ge- 
vatterin Hebamme   für    eine    stille    Art    von    christlichem 
ßegräbniss  sorgen. 

Dass  auch  bei  den  Juden  eine  Fehlgeburt  iu  eine 
Grube  geworfen  wurde,  das  ersehen  wir  aus  der  oben  au- 
fgeführten Geschichte  aus  dem  Talmud,  welche  der  Rab 
JehmUt  erzählt 

Aber  die  Talmudisten  waren,  wie  wir  ebenfaihs  schon 
gesehen  haben,  auch  bemüht,  die  durch  den  Abortus  ausgestossene  Frucht  in  ihre 
Hände  zu  bekommen,  um  über  den  Grad  ihrer  Entwickelung,  sowie  über  ihr  Ge- 
schlecht aus  rituellen  Rücksichten  Untersuchungen  anzustellen.  Bei  diesen  Gelegen- 
heiten wurden  auch  manche  wichtige  Beobachtungen  für  die  Embryologie  gemacht. 

j Die  Aerzte  des  16,  und  17.  Jahrhunderts  bemühten  sich  ebenfalls,  für  ihre  embryo- 

■^Dgischen  Studien   abgegangene  Früchte  zu  erlangen.     Die  erste  Abbildung   eines 

L: 


Flg.  31&,  »A.1h>i<u^  ^ 


,iismiitämemi^ 


740  XXXIII.  Die  zufällige  Fehlgeburt  oder  der  natfirliche  Abortus. 

solchen  Abortus,  und  zwar  eines  solchen  im  dritten  Monate  der  Schwangerschaft, 
verdanken  wir  dem  Grafen  Ulysses  Äldrovandi  aus  Bologna,  dessen  hochherzige 
Geldopfer  für  die  Naturwissenschaften  ihn  im  Armenhause  seiner  Vaterstadt  sem 
Leben  beschliessen  Hessen.    Unsere  Fig.  315  zeigt  eine  verkleinerte  Copie  derselben. 

Bei  seinen  Ausgrabungen  in  üissarlik  fknd  Heinridi  SMiemann  die  Beste 
dreier  menschlicher  Embryonen  sorgfaltig  in  Urnen  beigesetzt.  Sie  waren  unver- 
brannt und  die  Skelette  Hessen  sich  fast  vollständig  wieder  zusammensetzen.  Sie 
befinden  sich  jetzt  im  Museum  för  Völkerkunde  in  Berlin.  Diese  Embryonen 
gehörten  der  sogenannten  dritten  Stadt  an,  der  eine  aber,  ein  sechsmonatlicher, 
wurde  sogar  in  der  ersten  Stadt  gefunden  und  bezeugt  damit  das  ausserordentlich 
hohe  Alter  der  merkwürdigen  Sitte,  zu  einer  Zeit,  in  welcher  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  die  Leichenverbrennung  gebräuchlich  gewesen  ist,  solche  Fehlgeburten 
nicht  zu  verbrennen,  sondern  sie  unverbrannt  beizusetzen.  Wir  werden  an  einer 
späteren  Stelle  sehen,  dass  man  auch  bei  den  Banianen  in  Bombay  ungeborene 
Kinder  nicht  verbrennt.     Uebrigens   findet  sich  auch  bei  Flinüis  der  Ausspruch: 

, Einen  Menschen  zu  verbrennen,  bevor  er  die  Zähne  bekommen  hat,  ist  bei  keinem 
Volke  gebräuchlich." 


Fig.  316.    Thongefäss  ans  Hissarlik-Troja,  in  dem  ein  Embryo  beigesetzt  war. 
(Aus  Hfinrich  Schliemann:  Ilias.) 

Ob  mit  einer  solchen  Anschauung  der  Gebrauch,  die  Embryonen  beizusetzen, 
in  Verbindung  gebracht  werden  kann,  muss  ich  allerdings  unentschieden  lassen. 

Das  Thongefäss,  in  welchem  sich  der  Embryo  aus  der  ersten  Stadt  von 
Hissarlik  fand,  ist  in  Fig.  316  abgebildet. 

Wenn  bei  den  Orang  Belendas  in  Malacca  ein  Abortus  stattgefunden 
hat,  so  wird,  wie  Sfevais  berichtet,  das  Ganze  irgendwo  ohne  besondere  Feier- 
lichkeit begraben,  nachdem  ein  einfaches  Loch  für  diesen  Zweck  ausgehoben  ist. 
(Bartels^) 

In  einem  handschriftlichen  Bilderwerk  des  Kgl.  Kupferstichkabinets  in 
Dresden  findet  sich  bei  dem  Bilde  einer  Tapuya-Frau  unter  anderen  folgende 
Bemerkung: 

„Das  int  aber  dchröcklich  undt  für  vieler  Menschen  obren  grewlich,  dass  nemlich  ein 
Weib,  wen  sie  ein  todtes  Kind  zur  Welt  gebohren  hat,  dasselbe  von  stunden  an  zerreist 
undt  autt*  so  viel  mahl  ihr  zu  thun  möglich,  wiederumb  hineinfrisst,  vorgebende,  es  sej  ihr 
Kindt,  auss  ihrem  Leibe  gekommen,  undt  wehre  nirgends  besser  als  wieder  in  denselben  ver- 
wahrt."    (Richter.) 

Bastian^  sagt  von  den  Siamesen: 

«Da  sich  mit  einem  Abortus  geföhrliche  Zaubereien  ausfahren  lassen,  so  wird  derselbe 
sogleich  einem  zuverlässigen  Magier  übergeben,  der  ihn,   einen  blanken  S&bel  in  der  Hand, 


210.  Die  Anzeichen  des  beginnenden  Abortus.  741 

in  einem  Topfe  nach  dem  Flusse  trägt  und  dort  unter  Verwünschungen  ins  Wasser  wirft.  — 
Nach  Finlayson  werden  in  Siam  die  abgeschnittenen  Hände  und  Füsse  nebst  dem  Kopfe 
eines  der  in  der  Schwangerschaft  verstorbenen  Mutter  ausgeschnittenen  Kindes  an  einen 
Körper  von  Thon  angefügt  und  als  Zauber  aufgestellt.** 

Derartigen  Zauber  mit  den  Körpertheilen  unausgetragener  Kinder  kennt 
auch  die  Volks-Magie  der  europäischen  Völker.  So  vergräbt  man  in  einigen 
ungarischen  und  rumänischen  Gegenden  Siebenbürgens  den  kleinen  Finger 
von  der  linken  Hand  eines  todtgeborenen  Kindes  in  den  Orund  des  neuen  Öe- 
bäudes,  um  es  vor  dem  Blitze  zu  schützen.  Wer  diesen  Finger  abschneidet,  dem 
leuchtet  er  in  der  Nacht  und  er  v^ird  von  Niemandem  gesehen  werden.  Auch 
das  Herz  eines  solchen  Kindes,  in  eine  gewöhnliche,  brennende  Kerze  gesteckt, 
oder  ein  Licht  aus  Talg,  vermischt  mit  Blut  des  eigenen  Leibes  und  dem  Fleische 
eines  solchen  Kindes,  soll  nach  dem  Glauben  der  Magyaren  bewirken,  dass  man 
Jeglichem  unsichtbar  bleibt,     (v,   Wlislocki\) 

Die  ungarischen  Wander-Zigeuner  benutzten  das  Blut  solcher  Fehl- 
geburten zu  der  Herstellung  einer  Salbe,  indem  es  zusammen  mit  dem  Blute,  das 
der  verunglückten  Mutter  entströmt,  sowie  mit  den  weiblichen  und  den  männlichen 
Geschlechtstheilen  zweier  krepirter  Hunde  in  der  Johannis-  oder  TAowas-Nacht 
zu  einem  festen  Brei  gekocht  wird. 

,Geht  man  nun  auf  Diebstahl  aus,  so  schmiert  man  seine  Hände  mit  dieser  Salbe  ein 
und  spricht  dabei  die  Formel: 

.Des  Kindes  und  der  Mutter 

Todtes  Blut 

Ist  hier  gebunden; 

Todter  Hund 

Zur  Hündin 

Hier  er  kommt! 

Wie  die  Thiere,  wie  das  Blut 

Hier  ist  gebunden, 

So  das,  was  ich  wünsche, 

Sei  mir  jetzt! 

So  dass,  was  ich  will, 

Kleben  möge  an  meinen  Händen!'' 
.Bevor  ein  nord-ungarischer  Zigeuner  auf  ein  gestohlenes  Pferd  steigt,  so  schmiert 
er  die  innere  Seite  seiner  nackten  Beine  mit  dieser  Salbe  ein,  ebenso  die  beiden  Seiten  des 
Pferdes,  und  indem  er  nun  auf  das  Pferd  steigt,  spricht  er  den  oben  mitgetheilten  Spruch.' 
Cv.  WlislockiKj 

Von  den  Annamiten  berichtet  Landes: 

«Qnand  une  femme  fait  successivement  plusieurs  fausses  couches  ou  perd  plusieurs  en- 
fants  en  bas  age  avant  que  le  suivant  soit  ne,  on  pense,  que  c'est  le  m6me  esprit,  qui 
8*attache  obstinement  ä  la  famille,  et  y  revient  sans  cesse.* 

Diese  Geister  sind  die  Con  Ranh,  von  denen  schon  wiederholt  die  Rede 
war,  und  wir  haben  bereits  gesehen,  wie  man  sich  von  ihnen  zu  befreien  sucht. 
Der  Olaube  an  dieselben  bedingt  aber  auch,  dass  die  durch  einen  Abortus  ge- 
borenen Kinder  in  ganz  besonderer  Weise  beerdigt  werden. 

,0n  coupe  le  corps  du  mort-nö  en  trois  parts,  jambes,  tete  et  tronc,  et  on  les  enterre 
t^par^ment,  chacune  ä  un  carrefour,  de  mani^re  que  Tesprit  retrouve  le  moins  possible  le 
chemin  de  la  maison.  Ici,  si  on  ne  d^coupe  pas  le  corps,  on  T^nterre  du  moins,  dans  le 
mdme  but,  k  un  carrefour." 

210.  Die  Anzeichen  des  beginnenden  Abortus. 

Als  Zeichen  eines  eintretenden  Abortus  ftihrt  Hippokrates  das  Weichwerden 
oder  GoUabiren  der  Brüste  an.  Den  Einfluss  der  Witterung  auf  den  häufigen 
Abortus  kannte  er  sehr  genau.  Nach  Diokles  treten  Kälteschauer  und  Schwere 
in  den  Oliedem  ein.  Genauer  ist  schon  Saranus  aus  Ephesus  in  der  Semiotik 
des  Abortus:    Nach  ihm  fliesst  zuerst   wässrige  Flüssigkeit   aus   den  Geschlechts- 


742  XXXIII.  Die  zufällige  Fehlgeburt  oder  der  natttrliche  Abortus. 

theilen  ab,  dann  folgt  Blut,  welches  dem  Fleischwasser  ähnlich  ist;  ist  der  Embyro 
gelost,  so  fliesst  reines  Blut  ab,  welches  in  der  Hohle  des  Uterus  angehäuft, 
coagulirt  und  dann  excemirt  wird.  Bei  Frauen,  welche  Abortiva  genommen,  be- 
steht Schwere  und  Schmerz  in  der  Kreuzgegend,  im  ünterleibe,  in  den  Weichen, 
an  den  Augen,  den  Gliedern,  Magenbeschwerden,  Kälte  der  Glieder,  Seh  weiss, 
Ohnmacht,  Opisthotonus,  Epilepsie,  Schluchzen,  Krampf  und  Schlaflosigkeit 
(Pinoff,)  Nach  Moschion  sind  die  Zeichen  eines  eintretenden  Abortus:  An- 
schwellen der  Brüste  ohne  bekannte  Veranlassung,  ein  Gefühl  von  Kälte  und 
Schwere  in  der  Nierengegend,  ein  Ausfliessen  von  verschiedenartiger  Flüssigkeit 
aus  der  Scheide;  dann  endlich  erscheint  die  abgehende  Frucht  unter  wiederholten 
Horripilationen.  Nach  Hijypokrates^  sagt  Soranus,  erdulden  die  Frauen,  welche  einen 
mittelmässigen  Körper  haben,  einen  zwei-  oder  dreimonatlichen  Abortus;  denn  ihre 
Gotjledonen  seien  von  Schleim  zu  sehr  erfdllt,  wodurch  der  Fötus  nicht  in  ihnen 
festgehalten,  sondern  von  ihnen  getrennt  wird.  Es  werden  daher  Mittel  empfohlen, 
welche  den  Schleim  lösen,  namentlich  Pessi  aus  Goloquinthen  bereitet,  wärmende 
und  trocknende  Nahrung,  Frictionen  u.  s.  w.  Alles  dieses  sind  offenbar  Mittel, 
um  den  Abortus  zu  beschleunigen. 

Bei  den  Medicinem  des  Talmud  bestand  eine  Meinungsverschiedenheit  dar- 
über, ob  sich  der  Uterus  beim  Abortus  ohne  Blutverlust  öffnen  könne  oder  nicht, 
und  ob  jedesmal  der  Abortus  von  Schmerzen  begleitet  sei.  Sie  glaubten,  wie 
Hippokrates,  dass  der  Südwind  grossen  Einfluss  auf  die  Entstehung  des  Abortus 
habe.     Der  Rabbiner  Jehoschuah  sagt  im  babylonischen  Talmud: 

«Die  meisten  Frauen  geb&ren  regelmässig,  die  wenigsten  erleiden  einen  Abortus,  and 
wenn  dies  der  Fall,  so  sind  es  Kinder  weiblichen  Geschlecht«.* 

Das  entspricht  nun  nicht  dem  wahren  Verhalten,  denn  es  ist  statistisch  fest- 
gestellt, dass  unter  den  durch  Abortus  ausgestossenen  Kindern  das  männliche 
Oeschlecht  noch  weit  mehr  überwiegt,  als  unter  den  ausgetragenen  Neugeborenen. 
Diejenige  Form  der  Fehlgeburt,  welche  die  Talmudisten  als  Samenfluss  aus  dem 
Uterus  (ä/Quöeig  des  Aristoteles)  erwähnen,  wird  von  ihnen  als  eine  Corruption 
des  mäunlichen  Samens  angesehen,  welchen  der  Uterus  drei  Tage  nach  dem  Coitus 
wieder  ausstösst.  Sie  nehmen  auch  einen  Abortus  secundinarum  an.  Vorschriften 
zur  Behandlung  des  Abortus  führen  die  Rabbiner  ausser  dem  vorerwähnten 
Amulet  nicht  an. 

Nach  der  Ansicht  der  chinesischen  Aerzte  droht  bei  einer  Schwangeren 
der  Abortus,  wenn  die  Frau  in  den  ersten  Monaten  zitternd  ist. 

Schmerzen  im  Rücken  und  in  den  Seiten,  Blutung,  Hamretention,  Hin- 
und  Herlaufen  der  Schwangeren,  reissende  Schmerzen  im  Uterus  und  in  den 
Unterleibseingeweiden  galten  den  Arezten  im  alten  Indien  als  die  Zeichen  einer 
beginnenden  Fehlgeburt. 

In  dem  Frankenwalde  ist  nach  Flügel  bei  einer  drohenden  Frühgeburt 
der  neunte  Tag  besonders  gefürchtet;  denn  man  glaubt,  dass  an  diesem  Tage  die 
Gefahr  leicht  wiederkehrt. 

In  Galizien  suchen  die  Hebammen  durch  Schmieren  des  Unterleibes  und 
durch  warme  Kataplasmen  so  lange  zu  helfen,  bis  die  Blutung  aus  der  Gebär- 
mutter entweder  durch  die  Ausstossung  des  Embryo,  oder  durch  den  Tod  der 
Mutter  ihren  definitiven  Stillstand  erreicht. 

In  der  Provinz  Cayambe  in  Ecuador  beobachtete  Stübel^  wie  ein  Mann 
einer  abortirenden  Peone-Frau  zu  Hülfe  kam.  Er  ging  mit  der  Hand  in  die 
Scheide  ein  und  zog,  während  die  Frau  vor  ihm  stend,  die  Frucht  aus  ihren 
Genitalien  heraus. 


XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung 

der  Leibesfrucht. 

211.  Die  Bedentnng  der  Fmchtabtreibnng. 

Eine  Betrachtung  der  mit  Absicht  hervorgerufenen  Fehlgeburten  bietet  von 
verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  ein  ganz  erhebliches  Interesse  dar  und  zwar  in 
erster  Linie  ein  culturgeschichtliches,  dann  aber  auch  ein  staatliches  oder  recht- 
liches, und  schliesslich  ein  medicinisches. 

Wir  werden  aus  diesen  Untersuchungen  lernen,  dass  nicht,  wie  sehr  häufig 
behauptet  wird,  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht  ein  Ergebniss  degenerirter 
socialer  Verhältnisse  sei,  wie  sie  die  Schattenseiten  der  Cultur  neben  anderen 
Uebelständen  mit  sich  bringen.  Wer  die  Ueberzeugung  hegt,  dass  in  dieser  Be- 
ziehung „die  Wilden  bessere  Menschen  sind**,  der  wird  sich  ernstlich  enttäuscht 
fohlen  müssen.  Denn  nicht  allein  bei  den  halbcivilisirten,  sondern  auch  bei  den 
in  den  primitivsten  Zuständen  lebenden  Völkern  finden  wir  den  Gebrauch  weit 
verbreitet,  die  Schwangerschaft  absichtlich  zu  unterbrechen.  Jedenfalls  ist  dieser 
Uebelstand  älter  als  jegliche  Civilisation. 

Dass  solch  ein  eigenmächtiger  Eingriff  als  ein  Unrecht  zu  betrachten  sei, 
diese  Empfindung  kommt  erst  ganz  langsam  und  aUmählich  zum  Bewusstsein  des 
Volkes,  und  erst  ziemlich  spät  treten  religiöse  und  politische  Gesetzgeber  dieser 
, Vernichtung  keimenden  Lebens*  durch  Verbote  und  Strafandrohungen  entgegen. 

Aber  man  soll  nur  ja  nicht  glauben,  dass  der  Einfluss  der  Strafgesetzbücher 
machtig  genug  gewesen  ist,  um  die  Abtreibung  in  Wahrheit  zu  beseitigen.  Leider 
lebt  sie  auch  bei  den  Culturvölkem  fort  als  eine  Volkskrankbeit  von  grösserem 
Umfang,  als  man  sich  selber  gestehen  mag.  Zur  Zeit  wissen  wir  über  die  Ver- 
breitung der  betreffenden  Unsitte  bei  zahlreichen  fremden  Völkern  viel  Genaueres 
als  über  dasjenige,  was  sich  bei  uns  selber  zuträgt  und  nur  deshalb  verborgen 
bleibt,  weil,  vielleicht  in  dem  irrigen  Glauben,  dass  sie  sich  doch  nicht  ausrotten 
lasst,  viel  zu  wenig  in  ernster  Weise  von  den  dazu  berufenen  Personen  über  die 
Mittel  nachgedacht  ist,  wie  durch  Aenderung  der  socialen  Verhältnisse  diesem 
Uebel  gesteuert  werden  könne. 


212.  Die  Verbreitung  der  Fmchtabtreibnng  nnter  den  jetzigen  Völkern. 

Es  wurde  bereits  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  wir  in  der  Frucht- 
abtreibung durchaus  nicht  einen  krankhaften  Auswuchs  der  Civilisation  zu  erblicken 
berechtigt  sind,  denn  wenn  wir  uns  unter  den  jetzigen  Völkern  des  Erdballes 
umsehen,  so  finden  wir,  dass  nicht  nur  manche  nur  halbcivilisirte  Nationen,  son- 
dern auch  viele  der  allerrohesten  die  Abtreibung  der  Frucht  sehr  häufig  ausüben. 


744         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfimoht. 

Hieraus  geht  hervor,  dass  sie  einerseits  den  Werth  eines  noch  nicht  geborenen 
Kindes  sehr  gering  schätzen,  und  dass  sie  auch  andererseits  die  Gefahren,  welche 
sie  der  Mutter  durch  die  Äbtreibung  bereiten,  nicht  gar  zu  hoch  veranschlagen 
können. 

Die  Bedingungen  für  die  Sitte  der  Äbtreibung  mögen  im  Allgemeinen  die- 
selben sein,  wie  die,  welche  den  Kindermord  veranlassen.  Allein  bei  der  Ab- 
treibung fällt  auch  noch  die  schwache  Schranke  hinweg,  welche  wohl  manchmal 
die  Mutter  abhält,  das  Eigenerzeugte  zu  vertilgen,  die  Liebe  zu  dem  ebengeborenen 
lebenden  Wesen  und  die  Furcht  vor  der  Schuld,  ein  Leben  zu  vernichten. 

Unter  den  Naturvölkern  stehen  in  der  Civilisation  die  Oceanier  und 
Australier  mit  am  tiefsten.  In  Australien  will  man  bemerkt  haben,  dass 
„wegen  der  Schwierigkeit,  womit  die  Auferziehnng  der  Kinder  verbunden  ist*, 
die  eingeborenen  Mütter  oftmals  Fehlgeburten  herbeiführen.  (Klemm^  Oberländer.) 
Li  Neu-Süd- Wales  sterben  nach  v. Scherzer  die  Eingeborenen  immer  mehr  aus, 
weil  dort  die  Äbtreibung  überhand  nimmt. 

Auf  Neu-Seeland  war  bis  vor  einiger  Zeit  das  Abtreiben  der  Frucht 
nicht  minder  gebräuchlich,  als  der  Kindermord.  TuJce  berichtet,  dass  die  Maori- 
Frauen  auf  Neu-Seeland  häufig  abortiren;  bei  manchen  derselben  soll  dies,  wie 
er  sagt,  2  oder  3  mal,  ja  sogar  10  bis  12  mal  geschehen  sein.  Er  weiss  zwar 
nicht  genau,  ob  der  Abortus  künstlich  hervorgerufen  wird  oder  zufällig  ist,  doch 
glaubt  man  annehmen  zu  müssen,  dass  häufig  das  Erstere  der  Fall  ist.  Domeny  de 
Rienzi  schildert  in  seinem  Werke  über  Oceanien  die  Entbehrungen  und  Qualen, 
welche  den  eingeborenen  Frauen  bei  Schwangerschaft  und  Geburt  von  den  Ihrigen 
auferlegt  werden,  und  fragt:  Darf  man  sich  wundem,  dass  manche  dieser  Frauen 
dem  Glücke  entsagen,  Mutter  zu  werden,  und  durch  gewaltsame  Mittel  den  Folgen 
ihrer  Fruchtbarkeit  vorbeugen?  Unter  den  Eingeborenen  Neu-Caledoniens 
huldigen  nach  den  Berichten  von  Rochas  nicht  etwa  bloss  ledige  Dirnen  dem 
Gebrauche  des  Abtreibens,  sondern  auch  verheirathete  Frauen,  um  der  Mühe 
des  Säugens  zu  entgehen,  und  um  gewisse  Körperreize  länger  zu  bewahren. 
A}x<^  Moncelon  bestätigt  diese  Angabe.  Die  Loyalitäts-Insulanerinnen  trinken 
nach  Samuel  Ella  das  Wasser  einer  heisseu  Schwefelquelle,  um  sich  die  Leibes- 
frucht abzutreiben. 

Von  den  Einwohnerinnen  von  Neu-Caledonien,  von  Samoa,  Tahiti 
und  Hawaii  wird  uns  berichtet,  dass  sie  die  Kinder  abtreiben,  damit  ihre  Brüste 
nicht  schlaff  und  welk  werden.  Bei  den  D o r e s e n  auf  Neu-Guinea  bringen 
wegen  der  häuslichen  Lasten  die  Weiber  nicht  mehr  als  zwei  Kinder  zur  Welt 
und  treiben  bei  jeder  folgenden  Schwangerschaft  die  Frucht  ab.  Daher  erklärt 
sich  die  geringe  Zunahme  der  Bevölkerung. 

Auf  den  Gesellschafts-Inseln  trat  nach  Bemet  die  Fruchtabtreibung 
an  die  Stelle  des  früher  gebräuchlichen  Kindermordes.  Auf  der  zu  der  Sa- 
lomon-Gruppe  gehörigen  Insel  Ugi  rufen  die  Frauen  oft  Abort  hervor.  Eltons 
Berichterstatter  sind  mehrere  Fälle  bekannt,  wo  bei  Gravidität  von  3  bis  7  Mo- 
naten Abort  verursacht  wurde,  aber  er  hat  nicht  erfahren  können,  was  für  ein 
Mittel  sie  dazu  benutzten.  Er  weiss,  dass  es  ein  Trank  aus  den  Blättern  eines 
auf  der  Insel  wachsenden  Strauches  ist;  auch  legen  sie  feste  Bandagen  um  ihre 
Taille.  Es  giebt  nur  wenige  Frauen,  welche  das  verstehen,  und  diese  betreiben 
damit  ein  einträgliches  Geschäft. 

Auf  den  Sandwichs-Inseln,  auf  denen  der  Kindermord  früher  sehr  ge- 
bräuchlich war,  ist  jetzt  nach  Angabe  der  Missionare  nur  die  Hälfte  der  Ehen 
fruchtbar.  Andrew  fand  von  96  verheiratheten  Sand  wichs- Insulanerinnen  23 
in  kinderloser  Ehe,  also  den  vierten  Theil.  Nach  Wilkes  ist  hier  der  freiwillige 
Abortus  sehr  häufig.  Auf  den  Viti-Inseln,  sagt  Wilkes^  giebt  es  sehr  viele 
Hebammen,  die  meistens  auch  mit  dem  Geschäfte  der  hier  sehr  häufig  exercirten 
Fruchtabtreibung  sich  befassen.     Die  eingeborenen  Hebammen  versicherten  Blfth^ 


212.  Die  Yerbreitong  der  Fruchtabireibung  unter  den  jetzigen  Völkern.  745 

das8  zufalliger  Abort  unter  den  Viti-Frauen  vollständig  unbekannt  ist  und  dass, 
wenn  Abortus  vorkommt,  er  ganz  sicher  ein  absichtlicher  sei.  Für  die  Einleitung 
des  künstlichen  Abortus  scheinen  mehrere  Beweggründe  maassgebend  zu  sein. 
Die  Viti-Frauen  haben  eine  ausgesprochene  Abneigung  gegen  eine  zahlreiche 
Familie  und  ftihlen  sich  beschämt,  wenn  sie  zu  häufig  schwanger  werden,  da  sie 
glauben,  dass  eine  Frau,  welche  eine  grosse  Zahl  von  Kindern  zur  Welt  bringt, 
zum  Gespött  der  Gemeinde  wird.  So  suchen  sie  durch  den  künstlichen  Abort  die 
Zahl  der  Geburten  zu  verringern  oder  es  zu  vermeiden,  dass  einer  Schwanger- 
schaft zu  bald  eine  andere  folge.  Auch  fuhren  sie  häufig  die  absichtliche  Fehl- 
geburt herbei,  um  ihre  Männer  zu  ärgern,  wenn  sie  auf  diese  wegen  vermeintlicher 
Untreue  eifersüchtig  sind.  Das  Gleiche  geschieht  bei  illegitimer  Schwangerschaft, 
um  der  Schande  zu  entgehen.  Auf  Samoa  ist  der  Kindermord  etwas  ganz  Un- 
erhörtes, Abtreibung  der  Frucht  dagegen,  und  zwar  mit  Anwendung  mechanischer 
Mittel,  ist  ausserordentlich  in  Uebung.  Die  Beweggründe  dafür  sind  verschiedene; 
theils  geschieht  es  aus  Scham,  theils  aus  der  Furcht  vor  zu  frühem  Altem,  theils 
ist  aber  auch  die  Scheu  vor  den  Mühen  der  Kindererziehung  als  die  Ursache 
anzusehen. 

Künstlicher  Abortus  war  auf  den  Gilbert-Inseln  wegen  der  Unfruchtbar- 
keit des  Bodens  und  der  daraus  erwachsenden  Nahrungssorgen  sehr  gebräuchlich. 

Es  scheinen  auch  die  Ulitaos  auf  den  Maria  neu  diese  Sitte  geübt  zu 
haben,  obwohl  bestimmte  Angaben  darüber  nicht  vorliegen. 

Auf  Buru  im  malayischen  Archipel  sind  Emmenagoga  viel  gebraucht, 
um  keine  Kinder  zu  bekommen,  und  ebenso  wird  der  künstliche  Abortus  allge- 
mein geduldet  und  an  Mädchen  und  Frauen  vielfach  ausgeübt.  Die  hierzu  in 
Anwendung  gezogenen  Geheimmittel  scheinen  dem  Körper  der  Frau  keinen  blei- 
benden Nachtheil  zu  verursachen.  Auch  auf  Ambon  und  den  Uliase- Inseln, 
auf  Babar,  Keisar  und  den  Watubela-Inseln  werden  Abortiva  vielfach  benutzt. 
Auf  Keisar  thun  es  die  Weiber  gegen  den  Willen  ihrer  Männer,  um  nicht  mehr 
als  höchstens  zwei  Kinder  zu  bekommen.  Die  Wat übel a- Insulanerinnen  führen 
in  gleicher  Weise  das  Zweikindersystem  durch.  Auf  Babar  greifen  schwangere 
Frauen  zur  künstlichen  Fruchtabtreibung,  um  nicht  vom  Coitus  ausgeschlossen  zu 
sein,  der  während  der  Gravidität  auf  das  strengste  verboten  ist.  Auch  die 
Eetar- Insulanerinnen  bedienen  sich  der  Abortiva,  jedoch  nur  ganz  im  Geheimen. 
Die  Galela  und  Tobeloresen  gebrauchen  sie  ebenfalls  viel.     {Riedel^,) 

Von  den  Aaru -Inseln  sagt  Ribhe:  „Selten  findet  man  mehr  als  3  Kinder 
bei  einem  Ehepaare;  wie  in  ganz  Indien,  so  ist  auch  hier  das  Abtreiben  der 
Leibesfrucht  etwas  Erlaubtes  und  wohl  auch  einer  der  Hauptgründe,  dass  die  Be- 
völkerung sich  von  Jahr  zu  Jahr  vermindert.** 

Nach  Stevens  gab  es  bei  den  OrangLäut  inMalacca  keine  Maassnahme, 
sich  vor  Kindern  zu  schützen;  solch  eine  Abscheulichkeit  wurde  nicht  für  mög- 
lich gehalten.  Den  Weibern  der  Orang  Djäkun  auf  der  gleichen  Halbinsel 
war  aber  die  absichtliche  Abtreibung  der  Leibesfrucht  wohlbekannt;  sie  fand  statt, 
um  die  Arbeit  zu  vermindern,  welche  mit  dem  Aufziehen  des  Kindes  verbunden 
war,  sie  wurde  aber  doch  nur  sehr  selten  ausgeübt;  denn  wenn  sie  bei  einem 
verheiratheten  Weibe  entdeckt  wurde,  so  war  es  dem  Ehemanne  gestattet,  seine 
Frau  mit  einer  Keule  streng  zu  bestrafen;  und  wenn  er  sie  bei  dieser  Gelegenheit 
unabsichtlich  tödtete,  so  wurde  er  daliir  nicht  zur  Rechenschaft  gezogen.  Wenn 
eine  vorzeitige  Geburt  vorkam,  so  fand  ein  gerichtliches  Verhör  von  Hebanmien 
oder  älteren  Frauen  statt,  die  von  dem  Ehemanne  ausgewählt  wurden,  um  fest- 
zustellen, ob  das  Weib  sich  absichtlich  die  Frucht  abgetrieben  hatte.  Wenn  sie 
fftr  schuldig  befunden  wurde,  so  durfte^  wie  gesagt,  der  Ehemann  seine  Frau  be- 
strafen. Er  war  aber  dazu  nicht  verpflichtet,  und  that  er  es  nicht,  ging  sie  frei 
aus.  Wenn  ein  unverheirathetes  Mädchen  zur  Fruchtabtreibung  ihre  Zuflucht  ge- 
nommen hatte,  so  verlor  es  jeden  Platz  und  Halt  im  Stamm;    es  wurde  von  den 


746         XXXIY.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  LeibeBfracht 

anderen  Weibem  verachtet  und  von  den  Männern  als  Ehefiran  verschmäht;  auch 
setzte  es  sich  der  Schande  aus,  von  ihren  Eltern  gezüchtigt  zu  werden.    {Bartds^) 

Von  den  Einwohnerinnen  der  Philippinen  glaubt  Mmtano^  dass  der  Ge- 
brauch von  abtreibenden  Mitteln  bei  ihnen  nicht  besteht. 

In  Brunei  auf  Borneo  sind  die  Kindesmorde  nur  deswegen  so  selten,  weil 
man  ihnen  durch  Abtreibung  der  Leibesfrucht  zuvorkommt,  worin  die  Einge- 
borenen eine  solche  Meisterschaft  haben,  dass  sie  ihren  Zweck  ohne  Gefahrdung 
der  Patientin  zu  erreichen  wissen.  Da  die  Vornehmen  ihre  Goncubinen  nach  der 
ersten  und  zweiten  Entbindung  in  den  Ruhestand  zu  versetzen  pflegen,  so  schrecken 
die  Weiber  vor  keinem  Mittel  zurück,  um  sich  in  ihrer  begünstigten  Stellung  langer 
zu  behaupten.  Femer  bleibt  die  Hälfte  der  adeligen  Tochter  unvermählt;  damit 
sie  in  Folge  des  unerlaubten  Umgangs  nicht  niederkommen,  wird  bei  Zeiten  vor- 
gebeugt.    (Spencer  St.  John.) 

In  Kroe  und  in  Lampong  auf  Sumatra  ist  nach  Helferich  und  Harre- 
bomce  die  Hervorrufung  des  Abortus  häufig.  Dasselbe  bestätigt  Jacobs  von  Java, 
und  von  Bali  sagt  er: 

sAbortivmittel  kennt  jede  Bali  sehe  Frau  in  Menge,  und  es  unterliegrt  keinem 
Zweifel,  dass  vielfach  davon  Gebrauch  gemacht  wird.  Daher  kommt  es  auch,  dass  so  wenig 
aussereheliche  Kinder  geboren  werden  (obgleich  die  meisten  Töchter  dieses  sehr  woUfistigen 
Volkes  auch  noch  Prostitution  treiben).  Und  nicht  allein  unverehelichte  Frauen  greifen  zu 
diesen  Mitteln.  Eine  der  Panjeroäns,  d.  h.  der  leibeigenen  Weiber  des  Fürsten  von 
Badong  auf  Bali,  machte  Jacobs  die  Mittheilung,  „dass  sobald  eine  von  ihnen  schwanger 
wird,  sie  sich  bei  dem  Fürsten  melden  muss,  der  ihr  dann  sofort  ein  chinesisches  Obat 
(pänger^t  genannt)  giebt.  Dieses  „mixtum  quid**,  von  schwarzer  Farbe  und  herbem  Ge- 
schmack, verursacht  nach  dem  Gebrauch  ein  GefQhl  von  Wärme  und  hat  beinahe  stets  den 
gewQnschten  Erfolg. '^ 

Bei  den  Hindu  beschäftigen  sich  sowohl  die  Hebanmien,  als  auch  die  Barbier- 
frauen sehr  viel  mit  Fruchtabtreibungen.  (G,  Smith,)  In  keinem  Lande  der  Welt, 
sagt  Allan  Webb  in  Calcutta,  sind  Kindesmord  und  künstlicher  Abortus  so 
häufig,  als  in  Indien,  und  wenn  es  auch  der  englischen  Regierung  gelungen 
ist,  die  Tödtung  der  Neugeborenen  zu  verhindern,  so  kann  sie  doch  nichts  gegen 
den  Missbrauch  der  Äbortusbeforderung  ausrichten,  die  schon  so  manche  Mutter 
mit  ihrem  Leben  bezahlt  hat;  überall  giebt  es  dort  Leute,  die  sich  gewerbsmässig 
mit  dem  Abtreiben  der  Frucht  beschäftigen. 

Als  besondere  Ursache  des  häufigen  Vorkommens  von  künstlichem  Abortus 
bei  den  Indern  bezeichnet  Huillet  die  Sitte,  dass  die  Mädchen  schon  im  zartesten 
Alter  verheirathet  und  hierdurch  häufig  schon  früh  zu  Wittwen  werden ;  in  diesem 
Wittwenstaude  ergeben  sich  viele  der  Prostitution,  um  nur  ihren  Lebensunterhalt 
zu  finden,  schreiten  dann  aber  nach  eintretender  Schwangerschaft  zum  Abortus, 
um  die  Schande  von  sich  selbst  und  von  der  Familie  abzuwenden. 

Bei  den  Munda- Kohls  in  Chota  Nagpore  kommt  es  nach  Missionar 
Jellinghaus  vor,  dass  ärmere  Ehefrauen,  wenn  ihnen  die  Schwangerschaften  zu 
rasch  auf  einander  folgen,  zu  alten  Weibem  gehen  und  Abtreibungsmittel  anwenden. 

lieber  den  enormen  Umfang,  welchen  in  Indien  die  Abtreibung  genommen 
hat,  berichtet  Shortt,  Sie  wird  aus  religiösem  Vorurtheil  sowohl  unter  den 
Hindus,  die  unter  den  englischen  Präsidentschaften  wohnen,  als  auch  unter  den 
wilden  Stämmen  getrieben. 

In  Kutsch,  einer  Halbinsel  nördlich  von  Bombay,  fand  Macwurdo  die 
Weiber  sehr  ausschweifend  und  den  künstlichen  Abortus  allgemein.  Eine  Mutter 
rühmte  sich,  dass  sie  sich  fünfmal  ihre  Leibesfrucht  abgetrieben  habe. 

Wenn  bei  den  Kafir  in  Mittel-Asien  eine  Frau  den  Abortus  vornehmen 
will  mit  oder  ohne  Vorwissen  des  Mannes,  so  ist  sie  straflos,  ebenso  der  Heil- 
kOnstler,  der  den  Abortus  vollbringt.  Das  Tödten  der  Kinder  nach  der  Geburt 
jedoch  gilt  als  ebenso  strafbar  wie  ein  Mord.    (Maclean.) 


212.  Die  Verbreitung  der  Fruchtabtreibung  unter  den  jetzigen  Völkern.  747 

In  Gochinchiua  ist  die  Abtreibung  ein  sehr  gewöhnliches  und  dort  zu 
Lande  durchaus  nicht  als  verbrecherisch  betrachtetes  Mittel,  der  Unannehmlichkeit 
ausserehelicher  Schwangerschaft  rasch  ein  Ende  zu  machen.     (Crawfurd.) 

Auch  die  Chinesen  haben  Kenntniss  von  den  Abortirmitteln  und  sie  wenden 
dieselben  nicht  selten  an. 

Abtreibungen  der  Frucht  sind  nach  Rutherford  Alcock  in  Japan  unter 
unverheiratheten  Frauenspersonen  sehr  im  Schwange.  Wie  wenig  man  dort  sich 
vor  der  Abtreibung  scheut,  geht  aus  der  Angabe  Wemich's  hervor,  welcher  sagt: 

«Der  Fremde,  wenn  er  eine  Japanerin  zur  Concubine  nimmt,  erklärt  in  sehr  vielen 
F&llen  von  vornherein,  dass  er  nicht  Kinder  wünsche;  wie  die  Betreifende  diesen  Wunsch 
erHÜlt,  bleibt  ihr  überlassen/ 

Pölak  leugnet,  dass  in  Persien  bei  verheiratheten  Weibern  der  absichtliche 
Abortus  vorkäme.  Chardin  aber  versicherte,  dass  Frauen  dann  den  Abortus  zu 
bewirken  suchen,  wenn  sie  bemerken,  dass  ihre  Männer  durch  die  Zurückhaltung, 
welche  sie  dem  persischen  Brauche  gemäss  während  ihrer  Schwangerschaft  be- 
obachten müssen,  bewogen  werden,  sich  mit  anderen  Frauen  einzulassen. 

Ich  schliesse  hier  gleich  die  Türken  an,  weil  sie  ja  eigentlich  vielmehr 
als  Asiaten,  wie  als  Europäer  betrachtet  werden  müssen.  Bei  der  Leichtigkeit 
und  Straflosigkeit  des  künstlichen  Abortus  giebt  es  im  Orient  keine  unehelichen 
Kinder.  Aber  bei  den  besseren  Ständen  in  Gonstantinopel  kommt  es  auch 
gar  nicht  selten  vor,  dass  sich  Verheirathete  die  Leibesfrucht  abtreiben,  wenn  sie 
bereits  zwei  lebende  Kinder,  und  darunter  einen  Knaben,  geboren  haben.  Nach 
Eram  beschäftigen  sich  dort  vornehmlich  die  Hebammen  mit  diesem  unsauberen 
Handwerk,  und  ein  englischer  Arzt  berichtet: 

«Die  Hälfte  dieser  Hebammen,  dieser  ungebildeten  Frauen  aus  allen  Nationen ,  welche 
die  unvernünftigsten  Manipulationen  mit  der  Gebärenden  vornehmen,  erstreckt  sich  nicht 
bloss  auf  das  Geschäft  der  Entbindung,  sie  werden  vielmehr  auch  bei  Frauen-  und  Kinder- 
krankheiten zugezogen,  verschreiben  Mittel  gegen  Unfruchtbarkeit  und  erzeugen  so  manche 
G^b&rmutterkrankheit.  Aber  ihr  besonderer  Beruf  ist  der  künstliche  Abortus.  Die  Türken 
halten  die  Abtreibung  des  Kindes  für  nichts  Schlechtes.  Wenn  eine  Türkin  ihre  Nach- 
kommenschaft nicht  mehr  anwachsen  lassen  will,  oder  wenn  sie  fürchtet,  dEiss  durch  eine  er- 
neute Schwangerschaft  das  Stillen,  das  gewöhnlich  bis  in  das  dritte  Jahr  fortgesetzt  wird, 
unterbrochen  werden  könnte,  so  unterwirft  sie  sich  mit  der  grössten  Ruhe  der  Behandlung 
einer  Hebamme  zur  Einleitung  einer  Frühgeburt,  bisweilen  mit,  andere  Male  aber  auch  ohne 
Vorwissen  des  Ehemannes.  Gefährliche  Blutungen,  Entzündungen  und  Verwundungen  der 
(}eb&rmutter  sind  die  häufigen  Folgen  solchen  Verfahrens.  Diese  Sitten  herrschen  in  den 
ännsten  wie  in  den  reichsten  Häusern ,  und  die  Regierung  schreitet  nicht  gegen  sie  ein.  Im 
Jahre  1859  brachte  die  medicinische  Gesellschaft  zu  Gonstantinopel  das  Treiben  eines  übel- 
berüchtigten Gesellen,  der  sich  selbst  Doctor  nannte  und  Handel  mit  Abortivmitteln  trieb, 
zur  Kenntniss  des  Grossveziers ,  doch  ohne  allen  Erfolg.  Dieser  Gebrauch  des  Abtreibens  ist 
nach  der  Meinung  des  Berichterstatters  Ursache  des  schnellen  Abnehmens  der  türkischen 
Bevölkerung." 

Aehnlich  äussert  sich  auch  Oppenheim: 

,In  der  Türkei  wird  der  Abortus  häufig  versucht  und  ist  bis  zum  5.  !Monat  erlaubt, 
weil  nach  der  Meinung  der  Mohammedaner  bis  dahin  noch  kein  Leben  im  Fötus  ist.  Es  werden 
häufig  von  verheiratheten  Leuten  Abortivmittel  öffentlich  und  ohne  Scheu  verlangt,  vom  Manne, 
um  nicht  zu  viele  Kinder  zu  ernähren,  von  der  Frau  mit  Bewilligung  ihres  Gatten,  aus  Furcht, 
ein  Wochenbett  möchte  ihren  Reizen  Abbruch  thun ;  oft  aber  auch  vom  Manne,  der  mit  einer 
Sclavin  Umgang  hatte.* 

In  Gonstantinopel  wurde  auf  Veranlassung  von  Prado  eine  amtliche 
Untersuchung  über  diejenigen  Abtreibungen  angestellt,  welche  zu  der  Kenntniss 
des  Gerichtes  gekommen  waren.  Es  ergab  sich,  dass  in  zehn  Monaten  des  Jahres 
1872  dieses  Verbrechen  in  mehr  als  3000  Fällen  zu  criminellen  Untersuchungen 
Veranlassung  gegeben  hatte. 

Die  türkische  Zeitung  „Dscheride  i-Havadis*  vom  Februar  1877  berichtet, 
dass  95  Procent  der  Kinder  und  mehr  als  ^jz  der  Mütter  diesem  Verbrechen  zum 
Opfer  fallen. 


748  XXXIV.  Die  absichtliche  Fohlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  Leibeefirachi. 

,Zur  Schande  unseres  Berufes/  sagt  Prado,  «müssen  wir  gestehen,  dass  es  heute  selbtt 
noch  unter  unseren  Collegen  solche  Elende  giebt,  welche  trotz  eines  Diploms  dieses  strafbare 
Handwerk  ausüben ;  allein  ihre  Zahl  ist  glücklicherweise  in  unseren  Tagen  eine  sehr  beschrftnkte 
geworden.  Dieses  ehrlose  Gewerbe  wird  heute  beinahe  ganz  ausschliesslich  von  gefährlichen 
Hebammen  betrieben,  von  unwürdigen  Lucinen,  welche  uns  an  die  Abtreibungen  alter  Zeiten 
erinnern,  deren  Thaten  Plinius  beschrieben  hat,  wie  Olympias,  die  Thebanerin,  Salpe  and 
Sotira^  und  wenn  wir  Beispiele  aus  der  Gegenwart  anführen  wollen,  finden  wir  sie  in  den 
geföhrlichen  Giftmischerinuen  von  Marseille  u.  s.  w.  Die  Zunft  der  Hebammen  besteht  mit 
Ausnahme  einzelner  Persönlichkeiten,  welche  ihre  Kunst  rechtschafTen  ausüben,  im  Allgemeinen 
aus  verrufenen  und  unwissenden  Frauenzimmern,  welche  vorher  die  schamlosesten  Handwerke 
ausgeübt  haben.  Diese  unheilvollen  und  schamlosen  Frauenzimmer  beflecken  täglich  die 
Schwellen  angesehener  Häuser  und  entehren  durch  ihre  Gegenwart  die  achtbarsten  Familien, 
indem  sie  diejenigen  zum  Verbrechen  aufifordem,  welche  sie  vorher  zu  Fehltritten  verleitet 
haben,  und  die  dann  in  der  Regel  damit  enden,  gänzlich  ihr  Opfer  zu  werden." 

Eine  nicht  geringe  Anzahl  der  Volker  Afrikas  huldigt  ebenfedls  der  Unsitte 
des  Abtreibens.  Wir  werden  bei  der  Besprechung  der  gebräuchlichen  Abortiv- 
mittel auf  mehrere  dieser  Völker  zurückkommen.  Hier  erwähnen  wir  nur  die 
Aegypterinnen  {Hartmann)  und  die  Algerierinnen  (Bertherand).  In  Algier 
sieht  man    in  Butiken  an  öffentlichen  Plätzen  Jüdinnen   diese  Praxis   betreiben. 

Auf  den  Ganarischen  Inseln  ist  die  Fruchtbarkeit  der  Weiber  sehr  gross, 
und  selbst  Lustdirnen  bringen  oft  Kinder  zur  Welt,  wenn  sie  keine  Mittel  an- 
wenden, einen  Abortus  zu  bewirken.  Man  nimmt  oft  zu  Abortivmitteln  seine 
Zuflucht,  und  dies  ist  um  so  leichter,  da  auf  dem  Lande  die  Pflanzen  und  Kräuter 
nur  zu  gut  bekannt  sind,  durch  welche  die  Abtreibung  bewirkt  werden  kann; 
in  den  Städten  ist  kein  Mangel  an  alten  Weibern,  die  neben  der  Kuppelei  dieses 
abscheuliche  Gewerbe  ungestraft  betreiben.     (Mac  Gregor.) 

Auf  Massaua  im  arabischen  Meerbusen  ist  das  Abtreiben  der  Frucht 
sehr  häufig,  weil  die  Väter  verpflichtet  sind,  ihre  Töchter  aufzuhängen,  falls  sie, 
ohne  verheirathet  zu  sein,  schwanger  werden.     (Brehm.) 

Die  Szuaheli  halten  nach  Kersten  vom  2.  bis  zum  4.  Schwangerschafls- 
monat  das  Abtreiben  der  Leibesfrucht  für  möglich.  Auch  bei  den  Woloff- 
Negern  ist  dieselbe  häufig  (de  Rochebrune) ,  aber  bei  den  Loango-Negern 
kommt  sie  selten  vor. 

Von  den  Bafiote-Negern  sagt  Pechiel-Loesche : 

,£s  scheint,  dass  nur  ledige  Frauenzimmer,  namentlich  solche,  welche  längere  Zeit  ein 
allzu  freies  Leben  geführt  haben  und  in  reiferen  Jahren  sich  vor  der  Entbindung  fürchten, 
im  Geheimen  den  Abortus  zu  bewirken  suchen,  durch  Kneten  und  Drücken  des  Leibes  sowohl« 
wie  durch  übermässigen  Genuss  von  rothem  Pfeifer." 

Büttner  ist  der  Ueberzeugung,  dass  auch  bei  den  Her  er  o  der  künstliche 
Abortus  ausgeübt  wird.  Er  kannte  einen  Fall,  wo  eine  Frau,  die  allerdings  von 
ihrem  Manne  auf  das  schändlichste  betrogen  und  Verstössen  war,  aus  Ingrimm 
das  Kind,  das  sie  unter  ihrem  Herzen  trug,  zu  tödten  versuchte. 

Las  Casas  und  Fetrt4S  Martyr  bestätigten  schon  die  Fruchtabtreibung  bei 
den  Eingeborenen  Amerikas;  die  üeberbürdung  mit  Arbeit,  welche  die  Spanier 
ihnen  auferlegten,  sollen  die  Weiber  dazu  getrieben  haben,  weil  sie  ihre  Kinder 
nicht  in  ein  gleiches  Elend  gerathen  lassen  wollten,  v.  Äjsara  und  Eschwege  be- 
stätigen von  mehreren  südamerikanischen  Stämmen,  dass  die  Familien  nicht 
mehr  wie  höchstens  zwei,  manche  sogar  nur  ein  einziges  Kind  aufzuziehen  pflegen, 
und  dass  sie  fernere  Schwangerschaften  durch  künstliche  Mittel  unterbrechen. 
Dahin  gehören  auch  die  Lengua  oder  Shuiadsche,  die  Gujacurus  am  Parana, 
und  nach  Dohriehoffer  auch  die  Abiponer.  Werden  die  6 uya cum- Weiber 
aber  noch  nach  dem  30.  Jahre  schwanger,  dann  ziehen  sie  ihre  Kinder  auf.  Als 
wahrscheinlicher  Grund  für  die  Kindesabtreibung  bei  diesen  Völkern  wird  das 
Verbot  angesehen,  während  der  Zeit  der  Schwangerschaft  und  während  der  ganzen 
langen  Zeit  des  Säugens  mit  dem  Manne  Umgang  haben  zu  dürfen. 

Die  Mbayas  in  Paraguay  treiben  deshalb  die  Kinder  ab,  weil  die  Frauen 


213.  Die  Fruchtabtreibang  unter  den  Völkern  weisser  Rasse.  749 

fbrchten,  durch  das  Austragen  der  Kinder  frühzeitig  zu  altern,  und  weil  ihnen 
bei  ihren  Strapazen  das  Aufziehen  der  Kinder  zu  beschwerlich  ist.  Auch  die  bereits 
auf  200  Seelen  zusammengeschmolzenen  Payaguas  üben  die  Abtreibung  fleissig. 

Ein  Theil  der  Indianerinnen  am  Orinoco  glauben,  wie  der  Abt  Crüt 
berichtet,  dass  durch  Entbindung  in  sehr  jugendlichem  Älter  am  besten  die  weib- 
liche Schönheit  erhalten  werde.  Andere  aber  glauben  dagegen,  dass  sie  gerade 
hierdurch  schnell  verblühen,  und  sie  suchen  sich  daher  ihrer  Schwangerschaft  zu 
entledigen. 

Während  einige  nordamerikanische  Indianerstämme  den  künstlichen 
Abortus  verabscheuen,  z.  B.  die  Chippeways,  sind  viele  andere  Stämme  wegen 
der  bei  ihnen  heimischen  Sitte,  die  Kinder  abzutreiben,  dem  Aussterben  nahe. 
Bei  den  Winipegs  z.  B.  hatte  im  Jahre  1842  eine  Frau  durchschnittlich  nur 
ein  Kind;  im  Oregon-Gebiete  fanden  sich  deren  meist  nur  zwei.  Es  ist  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  an  dieser  scheinbaren  Unfruchtbarkeit  der  natürliche  und 
künstliche  Abortus  ihre  Schuld  tragen.  In  einigen  nordamerikanischen 
Yolksstämmen  pflegen  nach  Hiinter  die  Familien  nur  3  bis  4  Kinder  aufzuziehen, 
die  übrigen  werden  abgetrieben.  Häufig  ist  das  Abtreiben  bei  den  Knistenaux 
nach  Mackensie,  und  bei  den  Indianern  von  Astoria  im  Oregon- Gebiete 
nach  Moses. 

Die  Weiber  der  Cadawba-Indianer  üben  nach  Smith  die  Abtreibung 
der  Frucht  sehr,  besonders  wenn  sie  ausserehelich  geschwängert  wurden.  Es  ist 
begreiflich,  dass  solches  widernatürliche  Verhalten  ihre  Gesundheit  zerstört,  ihr 
Geschlecht  entnervt  und  viel  Veranlassung  zu  Fehlgeburten  gegeben  hat.  Dass 
Smith  selten  Mütter  fand,  die  mehr  als  2  Kinder  hatten,  lässt  sich  hieraus  mit 
Leichtigkeit  erklären. 

Von  den  Dakotas  berichtet  Schoolcraft,  dass  sie  als  Abortivmittel  mehrere 
Pflanzen  benutzen,  die  aber  in  manchen  Fällen  Mutter  und  Kind  den  Tod  bringen. 
Unehelich  Geschwängerte  üben  regelmässig  die  Abtreibung,  aber  auch  Verlieirathete 
ihun  das  nicht  selten. 

Engelmann  scheint  also  doch  nicht  im  Rechte  zu  sein,  wenn  er  die  Unsitte 
der  Abtreibung  der  Berührung  der  Indianer  mit  der  weissen  Rasse  zu- 
schreiben will. 

213.  Die  Frnchtabtreibiing  unter  den  Tölkern  weisser  Basse. 

Es  ist  bekannt,  dass  unter  den  Weissen  Nord-Amerikas  die  Abtreibung 
sehr  üblich  ist,  und  dass  insbesondere  in  allen  grossen  Städten  der  Vereinigten 
Staaten  eigene  Anstalten  existiren,  in  denen  Mädchen  und  Frauen  eine  frühzeitige 
Entbindung  bewerkstelligen,  denn  alle  amerikanischen  Zeitungen  der  Union 
enthalten  öffentliche  Anzeigen  solcher  unlauteren  Anstalten.  Nicht  selten  sollen 
Weiber  mit  Wissen  ihrer  Ehegatten  diese  Institute  aufsuchen.  Man  findet  darin 
so  wenig  etwas  Unmoralisches,  dass,  wie  berichtet  wird,  Frauen  ganz  flüchtigen 
Bekannten  erzählen,  dass  sie  keine  Kinder  zu  haben  wünschten  und  daher  nach 
St.  Louis  oder  New  Orleans  gehen,  um  ihre  Leibesfrucht  abzutreiben.  Diese 
Sitte  hat  sich  auch  schnell  in  den  Städten  Californiens  heimisch  gemacht. 

In  New  York  schickt  ein  Quacksalber  ein  Circular  umhor»  welches  ,To  Ladies  onceinto* 
adreasirt  ist  und  in  welchem  er  den  Ladies  empfiehlt:  „whosc  hoalth  will  not  Warrant  their 
incurring  risks  incident  to  maternitj ,  or  the  culmination  of  which  threatens  an  unpleasant 

denouement, a  new  and  highly  important  scientific  discoverj,  recently  made  by  a  regularly 

educated  physician  and  surgeon  of  extensive  experience.' 

Auch  in  Europas  grossen  Städten  scheint  die  Fruchtabtreibung  über- 
hand zu  nehmen.  Dies  wird  dadurch  wahrscheinlich,  dass,  wie  Tardieu  in  Paris 
statistisch  nachwies,  sich  die  Untersuchungen  gegen  gewerbsmässige  Fruchtab- 
treibung mehren. 


750         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht. 

In  Paris  wurden  1826 — 1830  nur  12  Personen  wegen  Abtreibung  angeklagt,  1846^50 
aber  48,  und  im  Jahre  1853  sogar  111  Personen,  von  denen  58  verurtheilt  wurden.  Aber  der 
Verdacht  der  Zunahme  der  Fruchtabtreibung  trifft  nicht  nur  Paris,  sondern  auch  andere 
Städte.  Nach  Tardieu  waren  unter  1000  wegen  dieses  Verbrechens  von  1854  bis  1861  Ab- 
geurtheilten  87  Hebammen,  9  Aerzte,  1  Droguist,  2  Gharlatane  u.  s.  w. 

Nach  der  Ansicht  aller  Sachverständigen  wird  die  Fruchtabtreibong  in  Paris 
vollkommen  handwerksmässig  namentlich  durch  die  Hebammen  und  in  den  Privat- 
entbindungsanstalien  betrieben,  deren  wahrer  Zweck  allgemein  bekannt  ist.  Manche 
führen  darüber  in  fast  unumwundenen  Ausdrücken  Buch,  wie  über  andere  geburts- 
hülf  liehe  Verrichtungen,  und  machen  ihre  Operationen  um  eine  geringe  Belohnung. 
Ausser  den  Hebammen  sind  es  nur  noch  einzelne  Aerzte,  welche  sich  mechanischer 
Mittel  bedienen;  die  alten  Weiber,  die  Pfuscher  und  die  Schwangeren  selbst  be- 
schränken sich  gewöhnlich  auf  abtreibende  Trankchen. 

Eine  ausführliche  statistische  Arbeit  über  die  seit  1789  in  Frankreich  vorgekommenen 
gerichtlichen  Fälle  von  Fruchtabtreibung  verdanken  wir  Gäüiot,  nach  dessen  Berechnung  sich 
die  zwischen  1831  und  1880  anhängig  gemachten  Fälle  auf  1082  belaufen.  Die  Anklagen 
vertheilen  sich  nach  Perioden  folgendermaassen : 

im  Jahre  1831—1835  zu    41  Fällen,      im  Jahre  1856—1860  zu  147  Fällen, 
,       ,      1836-1840    ,     67      ^  ,        ,      1861—1865    ,    118      . 

,       ,       1841-1845    „     91       ,  ,        ,       1866—1870    ,      84      , 

,       ,       1846-1850    ,    113       ,  .        ,      1871—1875    ,      99      , 

,       ,       1851-1855    ,    172      ,  ,        ^       1876—1880    ,    100      , 

Auch  Foley  gab  an,  dass  auf  der  Morgue  in  Paris  die  Zahl  der  unreif  ausgestoesenen 
Kinder  in  wachsender  Zunahme  begriifen  ist.  Im  Jahre  1805  kam  in  Paris  1  Todtgeburt 
auf  1612,12  Einwohner,  1840  dagegen  1  auf  340,90,  was  gewiss  auch  durch  die  steigende 
Häufigkeit  der  Abtreibung  bedingt  ist. 

Unter  683  in  den  Jahren  1846 — 50  in  die  Morgue  eingelieferten  unausgetragenen  Kindern 
stammten  519  aus  den  ersten  6  Monaten,  und  sicherlich  war  die  Mehrzahl  von  ihnen  abge- 
trieben worden. 

Die  Statistik  Galliofs  weist  aus,  dass  sich  die  Zahl  derjenigen  Hebammen,  welche  als 
Abtreiborinnen  unter  Anklage  gestellt  sind,  allmählich  vergrössert  hat,  dass  aber  ihre  Yer- 
theilung  auf  Stadt  und  Land  eine  ganz  besondere  Bevorzugung  der  grossen  St&dte  zeigt. 
Galliot  schliesst  seine  Resultate  mit  den  Worten:  „On  se  plaint  de  tous  cöt^s,  en  France, 
de  la  decroissance  de  la  population.  On  a  fait  recemment  de  nombreuses  lois  pour  prot^ger 
l'enfant;  nous  venons  ä  notre  tour  demander  une  protection  pour  le  foetus.* 

GaUiot  fordert  eine  strenge  staatliche  Ueberwachung  der  Privatentbindungs- 
anstalten,  die  ebenso  nothwendig  sei,  wie  diejenige  der  Privatirrenanstalten. 

Der  künstliche  Abortus  ist  nach  Galliot  in  bestimmten  Monaten  besonders 
häufig,  nämlich  4  bis  5  Monate  nach  denjenigen  Monaten,  in  denen  die  meisten 
Conceptionen  vorkommen.  Diese  letzteren  sind  die  Zeiten  der  Weinernte  und 
des  Camevals.  Uebrigens  giebt  es  in  Frankreich  bestimmte  Orte,  welche  im 
besonderen  Rufe  stehen,  dass  Schwangeren  dort  geholfen  wird:  Paris  wird  häufig 
deshalb  von  schwangeren  Engländerinnen  aufgesucht,  und  namentlich  wird 
Oivors  von  Lyonerinnen  frequentirt,  da  dort  ein  Arzt,  eine  Hebamme  und  ein  Oe- 
Würzkrämer  das  betreffende  Geschäft  betrieben;  letzterer,  der  die  Operation  mit  einer 
Stecknadel  vollführte,  gestand,  seit  mindestens  10  Jahren  thätig  gewesen  zu  sein. 

Uausncr  fand  durch  statistische  Erhebungen,  dass  die  Abtreibung  der  Leibes- 
frucht entdeckt  wurde 


[n  Oesterreich 

in    7 

Fällen  jährlich, 

,  Grossbritannien 

.  35 

,  Preussen 

.  21 

,  Frankreich 

,  20 

„  Bayern 

.  20 

,  Hannover 

,  12 

,  Spanien 

.  11 

,  Sachsen 

,     8 

,  Württemberg 

,     5 

214.  Die  Beweggründe  f&r  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht.  751 

Demnacli  kamen  solche  Falle  relativ  am  häufigsten  zur  Bevölkerungszahl  in 
Hannover,  am  seltensten  in  Frankreich  vor.  ÄÜeii)  aus  solchen  Zahlen  kann 
man  über  die  relative  Verbreitung  des  Uebels  durchaus  nicht  schliessen ;  denn  wir 
wissen  nicht,  wie  solche  Fälle  den  Gerichten  entgingen. 

Von  Steyermark  sagt  Fossel,  dass  dort  Fruchtabtreibungen  nicht  seltener 
sind  als  anderswo. 

Die  Städterinnen  in  Serbien  sollen  nach  Valenta  sehr  häufig  von  Ab- 
treibungsmitteln Gebrauch  machen,  um  den  Beschwerden  der  Entbindung  aus  dem 
Wege  zu  gehen,  und  es  vergeht  kein  Jahr,  wo  nicht  junge  Frauen  diesen  Unfug 
mit  dem  Leben  bezahlen. 

,Wie  Jukic^  bezeugt,  sind  Kindesmorde  unter  den  slaviscben  Türken  und,  wie  er 
zOgemd  hinzusetzt,  in  Nachahmung  der  türkischen  Dummheit  auch  unter  Christen  an  der 
Tagesordnung.  Dasselbe  ist  auch  in  den  slavonischen  Niederungen  der  Fall,  wo  die  Bäue- 
rinnen noch  häufiger  ihre  Leibesfrucht  abtreiben.  Vor  zehn  Jahren  wurden  die  Weiber  eines 
ganzen  Dorfes  bei  Pozega  wegen  Fruchtabtreibung  in  Untersuchung  gezogen.  Eine  Mutter 
hatte  ihrer  eigenen  Tochter  eine  Spindel  in  den  Leib  gestossen,  um  eine  Abortirung  zu  er- 
zielen. Die  Tochter  starb  an  der  inneren  Verletzung.  Der  Mann  führte  Klage  und  so  kam 
die  ganze  Sache  ans  Tageslicht.  Im  Ganzen  wurden  etwa  30  Frauen  angeklagt.  Die  Sache 
verlief  aber  im  Sande."    (Krauss^J 

Bei  den  SQdslaven  zwingen  manche  gewissenlose  Männer  öfters  ihre 
schwangeren  Frauen  zu  schweren  Arbeiten,  damit  sie  abortiren.  Die  Volksstimme 
yerurtheilt  indessen  scharf  ein  solches  Vorgehen  und  brandmarkt  es  mit  Schimpf 
und  Schande.     (Krauss.^) 

Nach  Maschka  soll  auch  in  Schweden  die  Kindesabtreibung  gewerbsmässig 
geübt  werden. 

In  Italien  kommt  Fruchtabtreibung  häufig  vor.  Ziino  berichtet  in  seinem 
Lehrbuche  der  gerichtlichen  Medicin,  dass  es  in  Neapel  bestimmte  Häuser  giebt, 
in  welchen  dieselbe  vorgenommen  wird;  als  Keclame  dient  diesen  Häusern  ein 
eleganter  Glaskasten,  in  dem  sich  eine  Sammlung  von  Alkohol- Präparaten  conser- 
virter  Föten  befindet.  Ich  habe .  dort  leider  derartige  Aushängekästen  zu  sehen 
keine  Gelegenheit  gehabt. 

Auch  schon  im  alten  Rom  war  die  Fruchtabtreibung  wohlbekannt;  anfang- 
lich waren  die  Sitten  allerdings  streng  und  die  Ehe  heilig;  aber  mit  der  mora- 
ÜBchen  Zerrüttung  während  der  Kaiserzeit  wurde  auch  dieses  Verbrechen  häufig, 
80  dass  Juvenah's  sang: 

Aber  in  reich  vergoldetem  Bett  ist  die  Wöchnerin  selten. 

Dahin  bringet  es  Kunst,  dahin  arzneiliche  Hülfe. 

Freue  Dich,  Unglückseliger,  dess,  und  was  immer  es  sein  mag« 

Reich'  ihr  selber  den  Trank,  denn  träfs,  und  würde  sie  Mutter, 

Ein  Aethiopier  vielleicht  erschiene  Dein  Söhnlein,  es  erbte 

Sämmtliches  Gut  ein  Brauner,  vor  welchem  Du  Morgens  entfliehn  musst. 

Die  Zauberinnen  und  Wahrsagerinnen  in  Rom,  welche  als  Nebenbeschäf- 
tigung und  besondere  Specialität  die  Fruchtabtreibungen  ausübten,  hiessen  Sagae. 
Man  meint,  dass  hiervon  das  französische  Sage- femme  herzuleiten  sei.  {Galliot) 

214.  Die  Beweggründe  fär  die  Abtreibung  der  Leibesfrnclit. 

Fast  möchte  es  wohl  überflüssig  erscheinen,  dass  ich  hier  einen  besonderen 
Abschnitt  den  Beweggründen  widme,  welche  die  Frauen  und  Mädchen  zu  dem 
gewaltsamen  Mittel  der  Fruchtabtreibung  zu  veranlassen  vermögen;  aber  wer  die 
vorhin  zusammengestellten  Angaben  mit  Aufmerksamkeit  gelesen  hat,  dem  wird 
es  längst  schon  aufgefallen  sein,  dass  hier  die  treibende  Ursache  durchaus  nicht 
in  allen  Fällen  die  gleiche  ist.  „Es  bedarf  inuner  mächtiger  Motive,  sagt  iS/ncArer, 
um  die  natürliche  Zärtlichkeit  der  Mutter  zu  ihrem  geborenen  oder  ungeborenen 
Kinde    in    Zerstorungstrieb    umzuwandeln.  **     Auch    diesem    Satze    stimmt   unser 


752         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfracht. 

Material  nicht  zu.  Selbst  bei  ziemlich  hoch  civillsirten  Völkern  ist  woU  die 
Zärtlichkeit  der  Mutter  gegen  das  noch  ungeborene  Kind  im  Allgemeinen  keines- 
wegs sehr  tiefgehend.  Recht  charakteristisch  sagen  die  Mädchen  im  Franken- 
walde: «Das  kann  ja  kein  Mord  sein,  denn  es  hat  ja  kein  Leben."  und  bei  den 
wilden  Nationen  genügt,  wie  wir  sahen,  oft  ein  kleiner  ehelicher  Zwist,  um  die 
Frau  zu  dem  künstlichen  Aborte  zu  bewegen. 

Allerdings  ist  die  allerge wohnlichste  und  am  weitesten  Yerbreitete  Ursache 
der  Fruchtabtreibung  die  Absicht,  eine  entehrende  Schwangerschaft  zu  beseitigen, 
sei  es,  dass  es  sich  um  die  Schwängerung  einer  Unverehelichten  handelt,  sei  es, 
dass  eine  Ehefrau  das  Product  eines  Ehebruches  zu  vernichten  gedenkt.  Also  die 
Furcht  vor  der  Schande  oder  vor  der  in  solchen  Fällen  nicht  selten  sehr  harten 
Strafe  lässt  die  Weiber  zu  den  Abortivmitteln  greifen.  Nächstdem  sind  es  die 
Nahrungssorgen,  welche  der  Fruchtabtreibung  zu  Grunde  liegen,  die  gefürchtete 
oder  die  reale  Unmöglichkeit,  f&r  einen  neuen  Zuwachs  der  Familie  den  noth- 
wendigen  Lebensunterhalt  zu  erwerben.  Doch  spielt  hier  nicht  selten  auch  die 
Mode  ihre  Rolle;  es  ist  bei  manchen  Stämmen  nicht  Sitte,  in  den  ersten  Jahren 
der  Ehe  niederzukommen,  oder  es  ist  gebräuchlich,  nicht  mehr  als  ein  oder  zwei 
Kinder  zu  besitzen,  folglich  werden  alle  übrigen  Befruchtungen  vorzeitig  wieder 
vernichtet.  Auch  die  Scheu  der  Frau,  sich  den  Mühen  des  Säugens  zu  unter- 
ziehen, oder  den  Strapazen,  die  mit  der  Wartung  eines  jungen  Kindes,  namentlich 
bei  nomadisirenden  Völkern,  verbunden  sind,  kommen  als  Beweggrund  in  Betracht, 
sowie  das  Bestreben,  dem  gestrengen  Ehemanne  die  Unbequemlichkeiten  einer  Klein- 
kinderstube zu  ersparen.  Die  Eifersucht  und  die  weibliche  Eitelkeit  sind  auch 
keineswegs  ganz  ohne  Schuld.  Die  erstere  veranlasst  den  künstlichen  Abort,  wenn 
die  Frau  fürchtet,  dass  in  Folge  ihrer  Schwangerschaft  ihr  Ehegemahl  sich  anderen 
Weibern  zuwenden  möchte.  Aus  Eitelkeit  abortiren  die  Weiber  in  der  Hoffnung, 
sich  durch  die  Vermeidung  einer  Gravidität  möglichst  lange  ihre  Körperformen 
jugendlich  und  mädchenhaft  und  namentlich  ihre  Brüste  prall  und  rund  zu  er- 
halten. Das  unstillbare  Verlangen  nach  geschlechtlichem  Verkehr  mit  dem  Gatten, 
welcher  der  Frau  während  der  Schwangerschaft  vollständig  fem  bleiben  muss, 
giebt  bei  manchen  Nationen  eine  wichtige  Triebfeder  für  die  absichtlichen  Aborte 
ab.  Manche  Frauen,  die  mehrere  Jahre  ihr  Kind  zu  säugen  pfl^en,  unterbrechen 
auch  künstlich  eine  erneute  Gravidität,  um  nicht  durch  dieselbe  ihre  Milch  zu  ver- 
lieren. Dass  auch  bei  einem  vorübergehenden  oder  einem  tieferen  Groll  gegen 
den  Ehemann  manche  Weiber  den  letzteren  dadurch  zu  kränken  suchen,  dass  sie 
ihre  Leibesfrucht  abtreiben,  das  habe  ich  bereits  gesagt. 

Nur  ein  Beweggnmd  ist  noch  zu  erwähnen,  und  das  ist  gerade  der  einzige, 
welcher  vor  der  Moral  zu  bestehen  vermag,  nämlich  die  zärtliche  Sorge  für  die 
Gesundheit  und  das  Leben  der  Mutter,  welche  durch  die  Entbindung  zu  normaler 
Zeit  in  die  höchste  Gefahr  gebracht  werden  würde.  Dass  auch  Naturvölker  solche 
Rücksichten  kennen,  das  beweist  eine  Angabe,  welche  Engelmann  über  die 
Indianer  der  Vereinigten  Staaten  macht.     Er  sagt: 

,6ei  manchen  unserer  Indianer,  namentlich  bei  denen,  die  durch  die  Berührang  mit 
der  Civilisation  laxere  Moral  haben,  findet  sich  Abtreibung  häufig.  Einige  Stämme  haben 
ein  Recht  hierzu,  in  Rücksicht  auf  die  Gefahr,  welche  der  Mutter  durch  die  Geburt  eines 
Half-Hred-Kindes  erwächst,  das  für  gewöhnlich  so  gross  ist,  dass  ein  Durchtritt  durch  das 
Bocken  dor  indianischen  Mutter  meist  eine  Unmöglichkeit  ist.* 


215.  Die  Abortivmittel  im  Alterthiini  und  Mittelalter. 

Eine  sehr  grosse  Zahl  von  Mitteln  und  Wegen  haben  die  verschiedenen 
Völker  herausgefunden,  um  das  in  dem  Mutterleibe  keimende  Leben  noch  vor 
der  Geburt  wieder  auszulöschen.  Theils  sind  es  Arzneien  und  Medicamente,  die 
sie  zu  diesem  Zwecke  in  Anwendung  bringen,  theils  sind  es  Manipulationen  mecha- 


215.  Die  Abortivmittel  im  Alterthum  und  Mittelalter.  753 

Discher  Natur.  Je  roher  ein  Volk  ist,  mit  um  so  rücksichtsloseren  Mittehi  geht 
es  zu  Werke.  Viele  der  jetzt  auch  noch  bei  uns  als  Volksmittel  benutzten 
Arzneien  wurden  schon  von  den  Aerzten  der  früheren  Epochen  als  Abortivmittel 
angewendet.  Allein  auch  gewisse  operative  Eingriffe,  deren  sich  die  Aerzte  bei 
uns  erst  in  der  Neuzeit  bedienen,  sind  schon  seit  sehr  alter  Zeit  bei  einzelnen 
Volkerschaften  in  Gebrauch. 

«Die  altindischen  Aerzte  hatten  Abortivmittel  meist  vegetabilischer  Abstammung,  die 
sie  gaben,  wenn  der  Leib  der  Schwangeren  sich  krankhaft  auftrieb;  doch  behaupteten  schon 
damals  einige  Aerzte,  dass  dieses  Leiden  bisweilen  von  selbst  verschwindet.  Für  die  einzelnen 
Schwangerschaftsmonate  hielten  sie  besondere  Abtreibungsmittel  für  indicirt,  so  für  den  ersten 
Monat:  Glycjrrhiza  glabra,  Tectonae  grandis  semen,  Asclepias  rosea  und  Pinus  D^vandaru; 
für  den  zweiten  Monat:  Oxalis  (asmantasa),  Sesamum  Orientale,  Piper  longum,  Rubia  man- 
justa  und  Asparagus  racemosus  —  und  so  fort  bis  zum  9.  Monat:  Glycyrrhiza  glabra,  Panicum 
dactjlum,  Asclepias  rosea  und  Echites  frutescens. 

Auch  den  alten  Juden  waren  Abortivmittel  bekannt,  ihr  Gebrauch  war  aber  auf  das 
strengste  verboten. 

Bei  den  Griechen  war  es  zu  Plato's  Zeit  den  Hebammen  erlaubt,  Abortus  hervorzubringen, 
wo  es  ihnen  nützlich  schien.  f^t\  Siebold.J  Die  Alten  schieden  die  Abortiva  in  Phthöria  und 
Atökia;  letztere  verhindern  die  Gonception,  das  Phthörion  zerstört  die  eingetretene  Befruchtung. 

Ein  Abortivmittel  rieth  auch  Hippokrates  in  dem  Buche:  ,De  natura  pueri'  einer 
Harfenspielerin,  und  obgleich  er  ausspricht,  dass  keiner  Frau  ein  Phthörion  gereicht  werden 
dürfe,  weil  es  Sache  der  Heilkunst  sei,  das  von  der  Natur  Erzeugte  zu  schützen  und  zu  er- 
halten, so  hat  er  in  diesem  Falle  doch  bewirkt,  dass  nach  7  maligem  Springen  eine  angeblich 
6  Tage  alte  Frucht  abging,  die  er  möglichst  genau  beschreibt. 

Als  Abortiva  sollen  bei  den  alten  Griechen  und  Römern  Mentha  pelugium  und  Safran 
(Crocus  sativus)  gebräuchlich  gewesen  sein. 

Bei  den  Baktrern,  Modern  und  Persern  gab  es  ntich  Duncker  alte  Weiber,  welche 
den  geschwängerten  Mädchen  die  Frucht  mittelst  „Baga*  oder  „Fra^pata*"  oder  anderer  „auf- 
lösender Baumarten  abtrieben;  welche  das  aber  waren,  ist  nicht  bekannt. 

Bei  den  alten  Römern  erklärte  Soranus  jedes  Abortiren  für  gefährlich,  obgleich  er 
es  bei  einzelnen  körperlichen  Gebrechen  doch  auch  selber  in  Anwendung  zog.  Er  hielt  es 
für  besser,  die  Conception  zu  verhindern,  als  dass  man  später  genöthigt  wurde,  das  Leben  des 
Embryo  zu  zerstören.  Die  Entfernung  eines  todten  Kindes  aus  dem  Uterus  sollte  nach  Soranus 
durch  Einlegen  trockener  Schwämme,  zuerst  dünner,  später  dicker,  oder  durch  Einlegen  von 
Papyrus  in  das  Orificium  bewirkt  werden. 

Für  die  Einleitung  des  Abortus  empfahl  sowohl  er,  als  auch  Aetius  und  Andere  die 
Compression  des  Unterleibes  mit  Binden,  Conquassationen,  Klystiere  von  Adstringentien, 
Fei  tauri  und  Absynthium;  Frictionen  der  Schamtheile,  Bäder,  Adstringentien,  zum  inneren 
Gebrauch,  Pflaster  aus  Cyclamen,  Elaterium,  Artemisia,  Absynthium,  Coloquinthen ,  Goccus 
cnidius,  Nitrum,  Opoponax  u.  s.  w.;  Brechmittel,  Niesemittel;  endlich  legte  man  auch  einen 
Pessus  aus  Iris,  Galbanum,  Goccus  cnidius,  Terpenthin  mit  Rosen-  und  Cypemöl  gemischt, 
ein  und  brachte  am  anderen  Morgen  an  die  Genitalien  Dämpfe  mit  einer  Abkochung  von 
Foenu  graecum  und  Artemisia.  Ovid  spricht  auch  von  einem  eigenen  Instrumente  für  diesen 
Zweck,  dem  Embryosphactes;  seine  Construction  ist  aber  nicht  bekannt. 

Aderlass,  Heben  und  Tragen  von  schweren  Lasten,  Hungern,  Reiz  des  Muttermundes 
durch  Einbringen  von  zusammengerolltem  Papier,  einer  Federspule,  eines  Stückchen  Holz  u.  s.  w. 
benutzten  die  arabischen  Aerzte  zur  Einleitung  der  künstlichen  Fehlgeburt,  namentlich 
wenn  die  normale  Entbindung  der  Schwangeren  wegen  ihrer  Kleinheit  gefährlich  werden 
konnte.  Dabei  war  noch  eine  grosse  Menge  innerer  Arzneimittel  gebräuchlich.  Namentlich 
bei  Ävicenna  findet  man  diese  Dinge  aufgezählt;  aber  auch  ein  eigenthümliches  langhalsiges 
ylnstrumentum  triangulatae  extremitatis*"  benutzte  er,  um  den  Muttermund  damit  zu  eröffnen 
und  hierauf  Stoffe  zur  Erregung  des  Abortus  zu  injiciren. 

Abulkasenit  der  im  Anfange  des  12.  Jahrhunderts  in  Spanien  lebte,  tritt  in  einem 
Kapitel:  ,De  Cautela  medici,  quod  non  docipiatur  a  mulieribus  in  provocatione  menstrui  ne 
destruatur  conceptus'^,  kräftig  gegen  den  überall  verbreiteten  Gebrauch,  sich  das  Kind  abtreiben 
zu  lassen,  auf.  Sollte  der  künstliche  Abortus  nöthig  erscheinen,  so  solle  man  eine  geschickte 
Hebamme  zu  Rathe  ziehen. 

Die  Abtreibemittel  der  alt-arabischen  Aerzte  huLtPfaff  zusammengestellt.  Es  sind: 
Calendula  ofücinales,  Gummi  ammoniac,  Herb.  Aleali,  Epidemium  alpin,  Anagyris  foetida, 
Ploss-Bartels,  Dm  Weib.    6.  Aafl.    I.  48 


754         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibnng  der  Leibeefiracht. 

Juniperos  Sabina,  Iris  florent.  Cyclamen  europaeum,  Artemisia  arborescens,  Adianthum  Ca- 
pillos  Yenerifl,  Am^'ris  Gileadensis,  Lumbricus  terrestris,  Sopinus  Termes,  PanaceB  Heraclion, 
Daucus  Garota,  Gentiana  lutea,  Nux  Abyssinica,  Lepidinm  satiynm.  Cucomis  ColocynthidiB 
(in  der  Scheide  getragen,  tödtet  die  Frucht),  Cheiranthus  Cheiri,  ArpaslathuB,  Oleum  Abro- 
tani,  Oleum  irinum,  Meloe  vesicator,  Aristolocbia  rotunda,  Crocus  tativus,  Gnaphalium  sangai- 
neum,  Aspidium  filix  mas,  Seseli  tortuosum,  Saponaria  offic.  StachiB  germanica,  Femla  pezvica, 
Laurus  caseica,  Angujum  senecta,  Sesamum  Orientale,  Alumen,  Pinna  Cedrus,  Anchnsatinctor, 
Nigella  sativa,  Strobili  Pini,  Imula,  Laurus  nobilis.  Bryonia  dioica,  Marmbinm  plicatum, 
Rubia  Tinctor.  Mentha,  Momordica  elaterium,  Gardamomum,  Yeronica  anagmllis,  Costos 
arabicus,  Hedera  helix,  Glinopodium  vulgare,  Centaureum  majus,  Galbanom,  Apium  petrose- 
linum,  Bubon  macedonicum,  Daphne  cnidium,  Myrrha,  Thymus  Serpilli. 

Diese  Mittel  wurden  theils  innerlich  angewendet,  Üieils  als  reiiende  Pestarien  in  die 
Scheide  eingeführt,  theils  wurde  Abortus  erzeugt  durch  Einföhrung  kleiner,  mit  reizenden 
Pulvern  bestreuter  Wollbäusche  in  die  Gebärmutter,  nachdem  vorher  durch  erweichende  Pes- 
sarien  eine  Oeffnung  des  Muttermundes  bewerkstelligt  war. 

Die  deutschen  Aerzte  des  16.  Jahrhunderts  nennen  unter  den  arsneilichen  Mitteln 
zur  Abtreibung  des  abgestorbenen  Kindes  den  Rauch  von  Hufen  und  Eselsmist,  von  einem 
Nattembalg,  von  Myrrhe,  BibergeD,  Schwefel,  Galbanum,  Opoponax,  F&rberrOthe,  Habicht- 
und  Taubenmist.  Man  gab  der  Frau  Wein  mit  Asa  foetida,  Raute,  Myrrhe  oder  mit  Seven- 
bäum,  auch  eine  Abkochung  von  Feigen,  Foenu  graecum,  Raute  oder  Doste,  legte  ihr  einen 
Zapfen  von  Baumwolle  in  die  Scheide  mit  Gummi  ammoniacum,  Opoponax,  Christwurs  (Helle- 
borus),  Läusesamen  (Staphysagria) ,  Osterlucey  (Aristolocbia),  Coloquinthen ,  Kuhgalle  und 
Rautensaft;  auch  bestrich  man  dieses  Zäpfchen  mit  Rautensafb  und  Scammonium,  mit  Hohl- 
würz,  Sevenbaum,  Gartenkresse  u.  s.  w.  Die  Schwangere  musste  die  Milch  einer  anderen 
Frau  trinken;  femer  Diptamsaft  mit  Wein;  dann  folgten  Bäder  mit  Wasserminze,  Gertwurx, 
Beifuss,  Judenpech  u.  s.  w.  Erst  ziemlich  spät  kamen  wirksamere  Anneien  cur  Kenntnis« 
der  Aerzte.  Nach  Bichard  ist  das  Mutterkorn  erst  seit  dem  Jahre  1747  in  den 
schaftlicben  Arzneischatz  der  Geburtshelfer  gekommen. 


216.  Die  Abortiymittel  der  heutigen  ansserenropUschen  Yolker. 

Wir  gelangen  nunmehr  zu  einer  Uebersicht  des  Verfahrens  bei  den  jetzigen 
Völkerschaften,  und  zwar  will  ich  mit  den  uncivilisirten  beginnen. 

Azara  fragte  einst  die  Mbaya-Frauen  in  Paraguay,  durch  welche  Mittel 
sie  die  Abtreibung  bewerkstelligen?  „Du  sollst  es  gleich  sehen/  gaben  sie  ihm 
zur  Antwort.  Darauf  legte  sich  eine  der  Frauen  vollkommen  nackt  auf  die  Erde 
nieder  und  zwei  alte  Weiber  fingen  an,  ihr  mit  den  Fäusten  die  heftigsten  Schlage 
auf  den  Unterleib  zu  versetzen,  bis  das  Blut  aus  den  Geschlechtstheilen  heraus- 
lief. Dies  war  für  sie  ein  Zeichen,  dass  die  Frucht  im  Abgehen  begriffen  sei, 
und  Azara  erfuhr  auch  nach  wenig  Stunden,  dass  sie  wirklich  abgegangen  war. 
Zugleich  berichtete  man  ihm  aber  auch,  dass  manche  von  diesen  Weibern  ftLr  ihr 
ganzes  Leben  die  nachtheiligsten  Folgen  davon  empfinden  und  dass  viele  sogar 
theils  während  der  Operation  selbst,  theils  an  den  Folgen  derselben  sterben.  Auch 
Rengger  sagt  von  den  Payaguas  in  Paraguay: 

,Hat  eine  Frau  schon  mehrere  Kinder,  so  lässt  sie  sich  bei  der  n&chsten  Schwanger- 
schaft den  Leib  mit  Fäusten  kneten,  um  eine  frühzeitige  Niederkunft  herbeizuführen,  ein  Ver- 
fahren, welches  sog^  von  weissen  Mädchen  in  Paraguay  nachgeahmt  wurde.' 

Bei  den  Queka-Indianern  im  hohen  Nordwesten  Amerikas  hat  Jacobsm 
mit  angesehen,  wie  die  Medicinmänner  auf  den  Magen  von  Mädchen  und  Weibern 
knieen,  um  keimendes  Leben  zu  ersticken. 

Die  Indianerinnen  von  Alaska  lassen  sich  auch  zuweilen  im  4.  Schwanger- 
schaftsmonate die  Abtreibung  der  Frucht  hervorrufen.  Das  geschieht  durch 
Kneten  und  Gomprimiren  des  Uterus  vermittelst  der  Hand  durch  die  Bauchdecken. 

Von  den  Eskimo-Weibern  berichtet  Bessds: 

«Aehnlich  wie  sich  im  missionarisirten  Grönland  die  Schwaagereii  des  1g^miii»t^Vf 
(ein  Stück  Hok  zum  Ausweiten  der  naion  Fussbekleidung)   zu  diätem  Zweeke  b6di«BM^  so 


216.  Die  Abortivmittel  der  heutigen  ausBerearopäischen  Völker.  755 

benutzen  die  Itanerinnen  des  Smith -Sundes  entweder  den  -Peitschenstiel  oder  einen 
anderen  Gegenstand  und  klopfen  oder  pressen  sich  damit  gegen  das  Abdomen,  welche  Procedur 
mehrmals  des  Tages  wiederholt  wird.  Eine  andere  Art  der  Abtreibung  der  Leibesfrucht  besteht 
in  der  Perforation  der  Embryonalhüllen,  eine  Operation,  die  uns  in  gelindes  Staunen  versetzt. 
Eine  dünngeschnitzte  Wallross-  oder  Seehundsrippe  ist  an  ihrem  einen  Ende  messerschneiden- 
artig zugeschärft,  während  das  entgegengesetzte  Ende  stumpf  und  abgerundet  ist.  Das  erstere 
trägt  einen  aus  gegerbtem  Seehundsfell  genähten  cylindrischen  Ueberzug,  der  an  beiden  Enden 
offen  ist  und  dessen  Länge  derjenigen  des  schneidenden  Theiles  des  Enochehstücks  entspricht. 
Sowohl  an  das  obere,  als  an  das  untere  Ende  dieses  Futterals  ist  ein  etwa  15—18  Zoll  langer 
Faden  aus  Rennthiersehne  befestigt.  Wird  diese  Sonde  in  die  Vagina  eingeführt,  so  ist  der 
schneidende  Theil  durch  den  Lederüberzug  gedeckt.  Wenn  die  Operirende  weit  genug  in  die 
Geschlechtsöffnung  eingedrungen  zu  sein  glaubt,  so  übt  sie  einen  sanften  Zug  auf  den  an  dem 
unteren  Ende  des  Futterals  befestigten  Faden  aus.  Hierdurch  wird  selbstverständlich  die 
Messerschneide  blossgelegt,  worauf  eine  halbe  Umdrehung  der  Sonde  vorgenommen  wird,  ver- 
bunden mit  einem  Stosse  nach  oben  und  innen.  Nachdem  die  Ruptur  der  Embryonalhüllen 
erfolgt,  zieht  man  das  Instrument  wieder  zurück;  zuvor  aber  wird  ein  Zug  auf  den  oberen 
Faden  des  Messerfutterals  ausgeführt,  um  den  scharfen  Theil  der  Sonde  zu  bedecken  und  hier- 
durch einer  Verletzung  des  Geschlechtscanais  vorzubeugen.' 

Bessels  erfuhr,  dass  diese  Operation  von  den  Schwangeren  stets  selbst  aus- 
gef&hrt  wird. 

Die  Bewohner  der  nördlichen  Hudsonsbay  nöthigen  ihre  Weiber,  sich 
durch  den  Gebrauch  eines  gewissen,  dort  allgemein  wachsenden  Krautes  ihre  Frucht 
abzutreiben,  um  sich  von  den  Mühsalen  der  Eindererziehung  zu  befreien.  (Ellis,) 
Von  den  Irokesinnen  in  Ganada  berichtet  Frank  das  Gleiche. 

Bei  den  Omaha-Indianern  ist  die  Tödtung  der  Frucht  im  Mutterleibe 
eine  ganz  ungewöhnliche  Sache. 

Vor  einer  Reihe  von  Jahren  , wurde  Standing  HaicVs  Frau  schwanger.  Er  sagte  zu  ihr: 
Es  ist  schlecht  für  Dich,  ein  Kind  zu  haben,  tödte  es.  Sie  fragte  ihre  Mutter  nach  Medicin. 
Die  Mutter  bereitete  sie  und  gab  sie  ihr.  Das  Kind  wurde  todt  geboren.  Die  Tochter  von 
Waclca^'ma^'i\ii^  trieb  sich,  wenn  sie  schwanger  war,  jedesmal  die  Frucht  ab.  Das  sind  aber 
Ausnahmefölle.' 

Die  Shastas-Indianer  in  Nord-Californien  benutzten  nach  Bancroft  a\3 
Abtreibungsmittel  grosse  Mengen  von  der  Wurzel  einer  parasitischen  Farre,  welche 
auf  der  Spitze  ihrer  Fichtenbäume  wächst. 

Bei  den  Weissen  in  Amerika  sollen  nach  Wait  die  gewerbsmässigen  Ab- 
treiber  besonders  Juniperus  yirginiana  gebrauchen.  Geübtere  Personen  wenden 
aber  stets  auch  noch  mechanische  Mittel  an. 

Von  den  Eingeborenen  Kamtschatkas  berichtet  Steuer: 

«Man  kann  von  den  Itälmenen  sagen,  dass  sie  in  der  Ehe  mehr  Absicht  auf  die 
Wollust,  als  auf  Erzeugung  der  Sander  haben,  indem  sie  die  Schwangerschaft  mit  allerlei 
Arzneimitteln  hintertreiben  und  die  Geburt  sowohl  mit  Kräutern,  als  mit  violenten  äusser- 
lichen  Unternehmungen  abzutreiben  suchen.  Die  Kinder  abzutreiben  haben  sie  verschiedene 
Mittel,  welche  ich  bis  dato  nur  dem  Namen  nach  weiss,  aber  noch  nicht  gesehen  habe.  Das 
grausamste  ist,  dass  sie  die  Kinder  im  Mutterleibe  todt  drücken  und  ihnen  Arme  und  Beine 
durch  alte  Weiber  zerbrechen  und  zerquetschen  lassen.  Und  abortiren  sie  nach  diesen  die 
todte  Frucht  ganz,  oder  sie  putrescirt  und  kommt  in  Stücken  von  ihnen,  und  geschieht  es 
öfters,  dass  auch  die  Mutter  ihr  Leben  darüber  lassen  muss  * 

In  Sibirien  benutzen  die  Mädchen  die  Wurzel  Yon  Adonis  Vernalis  und 
Adonis  apennina  zur  Abtreibung.     (Fratik.) 

Bei  den  Kalmücken  wird  eine  unliebsame  Schwangerschaft  durch  alte 
Weiber  beseitigt,  die  durch  lange  fortgesetztes  Reiben  des  Unterleibes,  durch 
Auflegen  glühender,  in  eine  alte  Schuhsohle  gewickelter  Kohlen  auf  die  Gegend 
der  Gebärmutter  und  durch  andere  hautreizende  Manipulationen,  welche  die 
Mädchen  mit  der  grössten  Geduld  ertragen  sollen,  diesen  Zweck  zu  erreichen 
suchen.  (Pallas.)  Als  Abortivmittel  der  Jakuten  führt  Dornte  einen  Thee  von 
Ledum  palustre  an. 

48» 


756         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgebart  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht. 

In  Japan  ist  die  künstliche  Erregung  des  Abortus  nicht  gestattet;  sie  gilt 
in  den  besseren  Gesellschaftsklassen  für  eine  grosse  Schande.  Dennoch  wird  die- 
selbe bei  unehelich  Schwangeren  und  selbst  bei  yerheiratheten  Frauen  aus  den 
niederen  Ständen  sehr  häufig  ausgeführt  von  einer  Art  von  Hebammen,  die  im 
Uebrigen  ganz  unwissend  sind. 

Ihr  Verfahren  besteht  darin,  dass  ein  mehr  als  Fuss  langes  Stück  der  biegsamen,  etwa 
an  Dicke  einem  Gänsekiel  gleichenden  Wurzel  von  ArchjanÜies  aspera  Thunberg  zwischen 
Uteruswand  und  Eihäute  geschoben  und  daselbst  1 — 2  Tage  liegen  gelassen  wird.  Die  Wnnel 
wird  vor  dem  Einführen,  das  mit  Hülfe  von  zwei  in  die  Vagina  eingeschobenen  Fingern 
geschieht,  mit  Moschus  bestrichen,  ausserdem  wird  auch  innerlich  Moschus  gegeben.  Der 
Erfolg  hiervon  soll  ein  sicherer  sein.  Auch  Seidenfäden  mit  Moschus  bestrichen  werden  in  die 
Gebärmutter  eingeführt,  und  auch  die  rohe  Methode  des  Einstossens  Yon  schwertförmig  zu- 
gespitzten Bambusstäben  oder  zugespitzten  Zweigen  einiger  Sträucher  in  den  Muttermund 
kommt  vor  und  führt  nicht  selten  zum  Tode.  Als  geeignetste  Zeit  zur  Ausführung  gilt  der 
4.  und  5.  Schwangerschaftsmonat 

V,  Martius  übersetzt  aus  einem  chinesischen  Werke: 

„Im  Falle  man  vergewissert  ist,  dass  die  Frucht  bereits  im  Leibe  der  Mutter  abg^torben, 
so  muss  man  der  Mutter  die  Arznei  Fo-schu-san  eingeben.  Nach  dieser  wird  die  Frucht  sehr 
leicht  und  ohne  Schmerzen  abgehen.  Sollte  genanntes  Mittel  nicht  die  gewünschte  Wirkung 
hervorbringen,  dann  mische  man  einen  Theil  von  der  Arznei  Pinwei-san  mit  drei  Theilen  von 
der  Arznei  Pu-si-uh-jem  zusammen  und  lasse  diese  Mischung  die  Mutter  einnehmen.  Diese 
vortrefflichen  Mittel  haben  uralte  weise  Männer  zum  Besten  der  Nachkommenschaft  zusammen- 
gesetzt. Das  Mittel  selbst  zu  bereiten  ist  eine  sehr  leichte  Sache,  es  kann  dies  ein  Jedes. 
Mache  daher  ja  von  keiner  anderen  unbekannten  oder  ungewöhnlichen  Medicin  Gebrauch.* 

Der  Arzt  hält  diese  Abortivmittel  demnach  nur  beim  Tode  der  Frucht  für 
indicirt.  Das  Volk  in  China  wird  sich  aber  wohl  kaum  allein  auf  diese  Indication 
beschränken. 

Auf  der  Insel  Formosa  wird  der  Leib  der  Schwangeren  mit  Füssen  ge- 
treten, um  Abortus  zu  bewirken.  Von  den  Chinesen  wird  ausserdem  hierzu, 
nach  Scherzer,  vielfach  wie  in  Japan,  der  Moschus  (Shaheung)  gebraucht. 

In  Siam  existirt  ein  pflanzliches  Abortivmittel,  welches  von  den  Einge- 
borenen vielfach  benutzt,  aber  geheim  gehalten  wird,  wenigstens  konnte  Schomburgk 
nichts  Näheres  darüber  erfahren. 

In  Karikal,  einer  französischen  Besitzung  in  Ost-Indien,  wird  unter 
der  Bezeichnung  schwarzer  Kümmel  die  Nigella  sativa  (eine  Helleborus-Art)  be- 
nutzt, deren  scharf  ätherische  Samen  in  kleineren  Gaben  (bis  15  Gran)  als  Em- 
menagogum,  in  grösseren  als  Abortivum  wirken  sollen ;  sie  werden  gepulvert  und 
mit  Palmzucker  als  Paste  genommen.  (Canoüe,)  Die  dort  wohnenden  Mainaten 
führen  auch  ein  Stäbchen  oder  eine  zugeschnittene  Binse  in  den  Uterus  ein  und 
lassen  sie  darin  liegen. 

Auch  in  dem  übrigen  Indien  ist  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht  sehr 
gebräuchlich.     Ueber  die  Mittel,  welche  hier  angewendet  werden,  berichtet  Shortt: 

^Der  Saft  der  frischen  Blätter  von  Bambusa  arundicea,  der  Milchsaft  verschiedener 
Euphorbiaceen  (E.  tirucalli,  E.  fortilis,  E.  Antiquorum  und  Calatrapis  gigantea),  auch  Asa 
foetida,  vermischt  mit  verschiedenen  wohlriechenden  und  gewürzhaften  Substanzen,  wird  viel 
benutzt.  Als  das  wirksamste  Mittel  wird  jedoch  die  Plumbago  Zeylanica  angesehen,  deren 
Wurzel  gewöhnlich  innerlich  gereicht,  aber  auch  local  angewendet  wird.  Die  Wuntel  wird 
dann  zugespitzt  und  muss  mit  grosser  Gewalt  in  den  Uterus  geschoben  werden,  da  Shortt 
die  Wurzel  in  mehreren  Fällen  noch  daselbst  antraf,  während  die  Frucht  bereits  auBgeetotsen 
war.  In  der  Leiche  einer  Frau,  die  abortirt  hatte,  ward  der  Fundus  uteri  an  drei  ver- 
Bchiedenen  Stellen  perforirt  gefunden.  Solche  Fälle  sollen  nicht  selten  sein,  wie  denn  ander- 
weitige (jiebärmutterkrankheit^n  in  Folge  solcher  Behandlung  dort  sehr  häufig  sind.* 

Unter  den  Hindus  in  Galcutta  giebt  es  Leute,  die  sich  berufsmässig  mit 
dem  Geschäft  des  Abortus  befassen  und  sich  dazu  entweder  des  Eihautatiches 
oder  medicamentöser  Tränke  bedienen,  in  welchen  Asa  foetida  eine  grosse  Bolle 
zu  spielen  scheint.     (Webb.) 


216.  Die  Abortivinittel  der  heutigen  aussereuropäischen  Völker.  757 

Nach  einem  älteren  Berichte  (Krünitss)  sollen  in  Ost-Indien  die  lüderlichen 
Frauenzimmer  sich  ihr  Kind  durch  unreife  Ananas  abtreiben,  und  hiermit  steht 
es  vielleicht  im  Zusammenhang,  dass  den  Schwangeren  auf  K  e  i  s  a  r ,  selbst  wenn 
sie  an  Gelüsten  leiden,  die  Ananas  zu  essen  verboten  ist. 

Um  gleich  bei  dem  malayischen  Archipel  zu  bleiben,  sei  eine  andere 
Angabe  von  Riedel  erwähnt,  dass  die  Frauen  auf  Babar,  um  den  Abortus  ein- 
zuleiten, einen  Extract  von  spanischem  Pfeflfer  in  Arac  trinken.  Ausserdem  aber 
tritt  derjenige,  der  sie  schwängerte,  tl^lich  im  Hause  oder  im  Walde  vorsichtig 
ihren  Leib,  um  die  Frucht  zu  entfernen.  Bei  den  Galela  und  Tobeloresen  auf 
Djailolo  sind  Abortiva,  aus  Kalapa-Oel,  Citronensaft  und  verschiedenen  Baum- 
wurzeln bereitet,  vielfach  im  Gebrauch. 

Die  Weiber  auf  Bali  gebrauchen  nach  Jacobs  als  abtreibendes  Mittel  unter 
Anderem  »einen  kalten  Auszug  von  kleingemachtem  Bast  des  kepoh  (Sterculia  foetida  L.); 
ferner  einen  kalten  Auszug  von  der  Manga  kawini  (magnifera  foetida).  Auf  Java  (Ban- 
joewangi)  werden  die  unreifen  Früchte  von  diesem  Baume  zu  diesem  Zwecke  gehraucht. 
Unter  den  mechanischen  Mitteln  ist  vor  allem  das  Reihen  und  Kneifen  des  Bauches  hei  ihnen 
viel  im  Schwange;   sie  nennen  dieses  ugoe-oet  (mal.  oeroet)." 

In  K  r  0  e  auf  Sumatra  rufen  nach  Helferich  die  Hebammen  dadurch  Abortus 
hervor,  dass  sie  der  Schwangeren  mit  Eidotter  geschlagenen  Arac  oder  Branntwein 
zu  trinken  geben  und  ihr  warme  Asche  oder  einen  warmen  Stein  auf  den  Bauch 
l^en  und  den  letzteren  massiren. 

Harrebomee  sagt  von  Lampong  in  Sumatra: 

,£in  Mädchen  hegieht  sich  zu  einer  Heilkilnstlerin  (Doekoen),  wenn  sie  schwanger  zu 
sein  glauht,  und  hittet  sie,  einen  Abortus  zu  veranlassen.  Dann  werden  die  Anfangsbuch- 
staben ihres  Namens  in  eine  Gitrone  geschnitten,  und  das  Mädchen  wird,  unter  dem  Sprechen 
von  Gebeten,  gebadet.  Jedesmal,  wenn  die  Doekoen  durch  Drücken  der  Gitrone  einige  Tropfen 
aus  dem  Kopf  der  moeli  niederfallen  lässt,  wird  die  Formel  gebraucht: 

„Kind,    das  Du  noch  nicht   geboren,  ja  noch  nicht  eimal  geformt  bist, 
Komm  vor  Deiner  Zeit  heraus,  sonst  bringst  Du  Schande  über  Deine  Mutter." 

An  diese  werden  ekelhafte  Tränke  gegeben,  welche  zu  bestimmten  Zeiten,  mit  gegen 
Osten  gekehrtem  Antlitz,  eingenommen  werden  müssen.  Die  ausgepresste  Gitrone  muss  dann 
unter  Geremonien,  in  einen  hohlen  Baum,  in  die  rimba  gestopft  werden.  Zuletzt  thut 
meistens  das  Pidjet  (die  Massage)  die  gewünschte  Wirkung,  wenn  die  stark  adstringirenden 
Tränke  nicht  schnell  genug  von  Erfolg  sind.* 

Kindesabtreibung  ist  auch  auf  den  Neu-Hebriden  (Insel  Vate)  gebräuchlich, 
und  zwar  wird  dieselbe  theils  durch  pflanzliche,  theils  durch  mechanische  Mittel 
angestrebt.  Für  jede  dieser  beiden  Arten  haben  sie  einen  besonderen  Namen. 
Die  in  Anwendung  gezogene  Pflanze  ist  nicht  bekannt,  sie  heisst  bei  ihnen  nur 
Pflanze  der  Fruchtabtreibung  (Pflanze  des  Saibirien).  Die  mechanische  Art 
besteht  in  Drücken  und  Kneten  des  Leibes  durch  die  Hebammen,  wodurch  das 
Kind  getödtet  wird.  An  dieser  Behandlung  geht  ein  Theil  der  Frauen  zu  Grunde. 
(Jamieson.) 

Von  den  Samoa-Inseln  wird  berichtet,  dass  man  sich  dort  ,, mechanischer 
Mittel*   zum  Abortiren  unter  den  Eingeborenen  bedient. 

Eine  grosse  Fertigkeit  in  der  Kunst  des  Abtreibens  besitzen  nach  de  Rochas* 
Angabe  die  Papuas  auf  Neu-Galedonien;  eine  sehr  gebräuchliche  Art  der  Ab- 
treibung nennen  sie  die  „Bananen-Kur''.  Scheinbar  besteht  dieselbe  darin,  dass 
die  Schwangere  gekochte  grüne  Bananen  siedend  verschlingt.  Da  die  Bananen 
völlig  unschädlich  sind,  so  dienen  sie,  wie  Rochas  meint,  nur  zur  Verschleierung 
des  wahren,  bis  jetzt  noch  nicht  entdeckten  Abortivmittels.  Nicht  selten  horte 
Rochas  aus  dem  Munde  der  Eingeborenen:  „Da  geht  auch  eine,  die  Bananen  ge- 
nommen hat.**  Auch  Moncdon  giebt  an,  dass  ihre  Mittel  unbekannt,  aber 
vegetabilischer  Natur  wären.  Er  glaubt,  dass  gewisse  Baumrinden  dazu  benutzt 
werden. 


758         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibang  der  Leibesfracht. 

Von  den  Eingeborenen  der  australischen  Golonie  Victoria  schreibt 
Oberländer:  «Abortion  durch  Druck  kommt  keineswegs  selten  Yor,  besonders  nach 
einem  Zanke  zwischen  Mann  und  Frau.*" 

Auf  Neu-Guinea  treiben  sich  die  Weiber  selbst  noch  bei  weit  vorge- 
schrittener Schwangerschaft  die  Leibesfrucht  mit  den  Blattern  eines  Woninderoc 
genannten  Baumes  ab,  wenn  sie  keine  Kinder  mehr  haben  wollen.  Auf  der  nahe- 
gelegenen Insel  Noefoor  gebrauchen  nach  van  Hassdt  die  Frauen  zu  gleichem 
Zwecke  einen  Trank;  aber  sie  lassen  dazu  sich  auch  ihren  Leib  mit  einem  Rohr- 
bande fest  zusammenschnüren   und  dann  mit  Füssen  treten. 

Ueber  die  Neu- Britannierinnen  berichtet  Danks  das  Folgende: 

«Nach  der  Verehelichang  werden  von  den  Frauen  Kinder  nicht  früher  als  nach  Ablaaf 
von  2 — 4  Jahren  geboren.  Ich  habe  erfahren,  dass  dieses  der  Ansflnss  einer  Abneigung  des 
Volkes  ist,  dass  die  Frauen  so  schnell  Mutter  werden,  so  dass  diese  verschiedene  Arten  der 
Fruchtabtreibung  und  zwar  mit  Erfolg  ausüben.  Die  bevorzugte  Methode  besteht  darin,  dass 
sie  den  Leib  zwischen  Daumen  und  Fingern  von  beiden  Seiten  her  schlagen  und  drücken 
und  die  Finger  gewaltsam  in  die  Magengegend  hineinpressen  und  diese  comprimiren.  Andere 
führen  einen  scharf  zugespitzten  Stock  in  die  Gebärmutter,  wodurch  sie  den  Fötus  zerstören. 
Die  letztere  Operation  gebe  ich  nur  nach  Hörensagen.  Aber  es  ist  eine  sehr  zweckmässige 
Art,  um  Abort  herbeizuführen.    Andere  wilde  Stämme  haben  dieselbe  Gewohnheit' 

„In  einem  Berichte  des  Rev.  L.  Fison  theilte  er  mir  mit,  dass  in  Fiji  dieselbe  Sache 
in  der  früheren  heidnischen  Zeit  bestand,  nur  dass  zwei  Stöcke  benutzt  wurden.  Einige  sagen, 
dass  auch  ein  Kraut  zu  demselben  Zweck  angewendet  würde.  Dieser  Gebrauch  besteht  eben- 
falls in  Fiji.  Aber  es  ist  schwer,  genaue  Auskunft  über  diesen  Punkt  zu  erhalten,  da  die 
Weiber  sehr  zurückhaltend  in  Bezug  auf  diese  Angelegenheit  sind,  und  die  Männer  sich  nicht 
darum  bekümmern.  Die  Thatsache  bleibt  aber  bestehen,  dass  ich  in  keiner  heidnischen  Ehe 
gefunden  habe,  dass  die  Frau  vor  der  oben  angegebenen  Zeit  ein  Kind  bekommt.  Sehr  be- 
zeichnend ist  es  nun,  dass  wenn  ein  Fiji-Lehrer  eine  christliche  Frau  in  Neu -Britannien 
heirathet,  diese  schwanger  wird  und  ein  Kind  bekommt  ganz  zu  der  Zeit  wie  bei  uns.  Wenn 
zwei  christliche  Eingeborene  heirathen,  so  ist  die  Sache  dieselbe.  Wir  tragen  Sorge,  sowohl 
den  Mann  als  auch  die  Frau,  als  Glieder  der  christlichen  Kirche,  zu  belehren  über  das  Ver- 
derbliche und  Sündige  der  Kindesabtreibung.  Das  Resultat,  welches  auf  solche  Belehrung 
folgt,  beweist,  dass  wir  allgemeine  Begriffe  davon  haben,  wie  die  Fruchtabtreibung  geübt 
wird,  und  wir  haben  damit  den  Beweis,  dass  manche  Frauen  solch  eine  Praxis  anwenden  und 
dass  solcher  Gebrauch  existiren  muss  und  allgemein  ausgeübt  wird." 

Blyth  erfuhr  durch  eingeborene  Hebammen,  dass  auf  den  Fiji-Inseln  die 
Methode  der  Fruchtabtreibung  einzig  und  allein  im  Genüsse  von  Pflanzenab- 
kochungen besteht,  welche  angewendet  werden,  wenn  zuerst  das  Leben  empfunden 
wird.  Es  werden  dazu  fünf  Pflanzen  benutzt,  zwei  Malvaceae  (Kalakalauaisoni- 
Hibiscus  diversifolius  und  Wakiwaki-Hibiscus  abelmoschus),  eine  Tiliacee  (Siti- 
Grewia  prunifolia),  eine  Convolvulacee  (Wa  Wuti-Pharbitis  insularis)  und  eine 
Liliacee  (Ti  kula-Dracaena  ferrea).  Man  benutzte  den  Saft  und  die  Blatter  und 
von  der  Dritten  und  Fünften  ausserdem  auch  noch  die  Oberfläche  des  Stammes. 
Die  Letzte  wird  für  die  wirksamste  gehalten  und  angewendet,  wenn  die  anderen 
fehlschlugen. 

Eine  ganz  absonderliche  Erscheinung  hat  sich  bei  den  Sandwichs-Insu- 
lanerinnen gefunden,  und  soweit  bis  heute  unsere  Kenntnisse  reichen,  giebt  es 
bei  keinem  •  der  übrigen  Völker  hierzu  irgend  eine  Analogie.  Die  Einwohnerinnen 
von  Hawaii  besitzen  nämlich  ein  besonderes  Götterbild,  welches  den  Fehlgeburten 
vorsteht.  Während  wir  nun  aber  bei  anderen  Volksstämmen  gesehen  haben,  dass 
bestimmte  Gottheiten  verehrt  werden,  um  die  Schwangeren  vor  einer  Fehlgeburt 
zu  schützen,  so  ist  es  gerade  die  Bestimmung  und  die  Function  dieses  Idoles,  die 
Fehlgeburten  hervorzurufen,  und  zwar  ist  es  die  Gottheit  und  das  Instrumentum 
in  einer  Person.  Dieses  mit  dem  Namen  Kapo  bezeichnete  Götterbild  hat  Aming 
auf  seinen  Reisen  in  Hawaii  erworben,  und  mit  seiner  reichen  Sammlung  ist 
dasselbe  in   den  Besitz   des  Museums   ftlr  Völkerkunde  in  Berlin  Übergegangen. 


216.  Die  Abortiymittel  der  heutigen  aussereurop&ischen  Völker. 


759 


Es  ist  in  Fig.  317   nach   einer  von  mir  aufgenommenen  Photographie  dem  Leser 
Yorgef&hrt. 

Der  Kapo  ist  aus  einem  braunen  Holze  geschnitzt  und  hat  an  seinem  oberen 
Ende  einen  phantastischen  Kopf  mit  einem  hahnenkammähnlichen  Aufsatze.  Nach 
unten  zu  bildet  er  einen  abgerundeten»  leicht  konisch  zulaufenden  pfriemenförmigen 
Stock  von  der  ungefähren  Dicke  eines  mittelstarken  Zeigefingers.  Seine  ganze 
Lange  betragt  jetzt  22  cm,  jedoch  ist  das  Instrument  ursprünglich  etwas  länger 
gewesen,  oeine  untere  Spitze  erscheint  nämlich  rauh,  unregelmässig  geformt  und 
stark  abgenutzt,  ein  untrügliches  Zeichen,  das  diese  gefUirliche  Gottheit  sehr 
fleissig  ihres  blutigen  Amtes  gewaltet  hat.  Es  kann  nämlich  kein  Zweifel  darüber 
bestehen,  dass  diese  Spitze  des  Idoles  direct  ia  die  Gebärmutter 
eingeführt  wurde,  um  die  Eihäute  des  Embryo  zu  zersprengen 
und  auf  diese  Weise  den  Abortus  hervorzurufen.  Wie  ich 
weiter  oben  bereits  angegeben  habe,  diente  dasselbe  Idol  aber 
nicht  nur  dazu,  um  eine  unerwünschte  Fruchtbarkeit  zu  be- 
seitigen, sondern  auch  eine  dem  armen  Weibe  versagte  hervor- 
zurufen und  herbeizuschaffen.  Man  kann  sich  hiervon  keine 
andere  Vorstellung  machen,  als  dass  man  annimmt,  das  Idol  habe 
in  derartigen  Fällen  dazu  gedient,  eine  künstliche  Erweiterung 
des  Muttermundes  vorzunehmen,  um  das  Sperma  leichter  ein* 
dringen  zu  lassen. 

In  Persien  lassen  sich  die  Schwangeren,  insbesondere  die 
Unverheiratheten,  im  6.  oder  7.  Monat  den  Abortus  dadurch  her- 
beiführen, dass  die  Hebamme  mittelst  eines  Hakens  die  Eihäute 
sprengt,  was  in  Teheran  von  mehreren  deshalb  renommirten 
Hebammen  mit  grosser  Geschicklichkeit  ausgeführt  wird.  Nur 
einzelne  Unglückliche  wollen  sich  selbst  helfen;  sie  setzen  massen- 
haft Blutegel  an,  machen  Aderlässe  an  den  Füssen,  nehmen 
Brechmittel  aus  Sulphas  cupri,  Drastica  oder  die  Sprossen  von 
der  Dattelkrone;  und  fruchten  alle  diese  Mittel  nicht,  so  lassen  j-jg  317,  av, 
sie  sich  den  Unterleib  walken  und  treten.  Viele  gehen  dadurch  hölzernes  Götter- 
zu  Grunde.  {Polah.)  In  Gilan  am  caspischen  Meere  bewirkt  ^'^teiches^thr'"' 
man  nach  Hlbüzsche  die  Abtreibung  durch  Schläge,  Stösse,  gebarten  hervorruft. 
Druck  u.  s.  w.  auf  den  Bauch,  und  ausserdem  innerlich  durch  ^^^'^  Photographie.) 
drastische  Purganzen. 

Den  türkischen  Weibern  sind  nach  Oppenheim  der  Safran  und  die  Sabina 
als  Abortivmittel  bekannt;  ausserdem  bedienen  sie  sich  häufig  der  Folia  auran- 
tiorum  mit  der  Jalappen- Wurzel,  die  sie  mit  kochendem  Wasser  infundireu  und 
als  Thee  trinken  lassen,  ein  Mittel,  das  sie  seiner  Sicherheit  wegen  allen  anderen 
vorziehen,  nur  sollen  seiner  Anwendung  lebensgefahrliche  Blutungen  folgen. 

Nach  Eram  fahren  die  Hebammen  den  Schwangeren  auch  fremde  Körper 
in  die  Gebärmutter  ein,  z.  B.  Pfeifenspitzen. 

Gerhard  berichtet,  dass  in  Alexandrien  die  Frauen,  welche  einen  Abortus 
sich  wünschen,  die  Gebärmuttter  mit  Holzstücken  reizen ;  ausserdem  aber  benutzen 
sie  Pfeffer,  Lorbeer  und  andere  Mittel. 

Die  Hebammen  der  Araber  in  Algerien  leiten  nach  Riqiie  den  künst- 
lichen Abortus  ein,  indem  sie  die  Punction  der  Eihäute  ausführen. 

Bique  sah  selbst  bei  einer  auf  solche  Weise  entbandenen  Frau  in  der  Nähe  des  Mutter- 
mundes, den  die  ungeschickte  Hand  der  Matrone  verfehlt  hatte,  zwei  bis  drei  Wunden,  die 
von  einem  spitzen  Instrumente  herrührten.  Hält  man  das  Kind  fttr  abgestorben,  so  muss  die 
Schwangere  ein  Getränk  zu  sich  nehmen,  bestehend  aus  Honig  und  warmer  Milch,  in  welchem 
Pulver  von  Vitriol  Zdadj  aufgelöst  ist,  dann  soll  das  Kind  abgehen;  sollte  letzteres  aber  noch 
nicht  ganz  todt  sein,  so  wird  es  sich  auf  die  Seite  wenden  und  dann  bestimmt  ausgetrieben 
werden.    (Bertherand.) 


760         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgebort  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfiracht. 

Als  Abtreibemittel  gelten  dort  auch  die  saure  Milch  einer  HOndin,  vermischt  mit  zer- 
quetschten und  geschälten  Quitten  getrunken,  oder  die  Frau  muss  drei  Tage  lang  eine  Ab- 
kochung der  Spargelwurzel  und  der  Färberröthe-(Erapp-)wurzel  trinken.  Wirksam  ist  es  auch, 
wenn  ein  Taleb  auf  den  Boden  einer  Tasse  zwei  Worte  aus  dem  Koran  schreibt.  Diese 
werden  dann  abgewaschen  imd  zwar  mit  einer  Mischung  von  Wasser,  Oel,  Kümmel,  Raute 
und  Rettig;  diese  Substanzen  muss  die  Frau  selbst  auf  dem  Boden  der  beschriebenen  Tasse 
zerquetschen  und  hin-  und  herreiben  und  dann  drei  Tage  lang  davon  trinken;  hierauf  wird 
das  Kind  in  ihrem  Leibe  eine  solche  Lage  bekommen,  dass  es  leicht  abgeht.  Aich  muss  die 
Schwangere  10  Tage  lang  fünfmal  täglich  eine  Mischung  von  Milch  und  Salz  trinken;  ist  das  Kind 
hiervon  nicht  herabgestiegen,  so  trinke  sie  süsse  und  saure  Milch  von  zwei  Kühen,  gemischt 
mit  Essig;  schon  ein  Schluck  davon  befreit  sie  vom  Kinde.  Sie  mischen  Spargel  und  Tafar- 
farat  (?)  durch  einander,  setzen  ein  ^enig  Mehl  hinzu  und  kochen  es  mit  etwas  Wasser; 
hiervon  essen  sie  drei  Tage  lang,  während  derer  sie  gleichzeitig  Wasser  aus  dieser  Tasse 
trinken,  auf  deren  Boden  die  Worte  geschrieben  stehen: 

,Mit  Gott!  Djbrahil!  (Name  eines  Engels.)  Mit  Gott,  mein  Engel!  (hier  folgt  der 
Name  des  Engels  der  Frau).  Mit  Gott!  Srafil!  (Name  eines  Engels.)  Mit  Gott!  Azrall! 
(Name  eines  Engels.)  Mit  Gott!  Mohammed!  (der  Prophet).  Gruss  sei  ihm,  zweimal  Gruss! 
Er  ist  es,  welcher  auferweckt,  der  durch  seine  Kraft  vom  Tode  wieder  erstehen  l&sst. 
Er  hat  gesagt:  Er  lebe!  zu  dir,  die  zum  ersten  Male  empfangen  hat:  er  hat  es  gesagt, 
wenn  sie  trinkt  während  dreier  Tage  die  Farbe,  mit  welcher  in  die  Tasse  geschrieben  ist.* 
(IBertherandJ 

Vor  der  Einleitung  des  Abortus  schreckt  man  nach  Nachtigal  auch  in 
Fezzan  nicht  zurück,  denn  kein  Gesetz  verbietet  ihn;  alte  Weiber  besorgen  ihn 
mittelst  Kügelchen  von  Rauchtabak  oder  von  Baumwolle,  getränkt  mit  dem  Safte 
des  Oschar  (Colotropis  precera);  innerlich  soll  der  Russ  irdener  Kochgeschirre  und 
eine  Henna-Maceration  dieselbe  Wirkung  haben.  In  Aethiopien  wird  Holz  und 
Harz  der  Geder  und  des  Sadebaumes  zur  Hervorrufung  des  Abortus  benutzt 
{Hartmatin);  in  Massaua  nach  Brehm's  Bericht  die  Abkochung  von  einer  Thuja- 
Art.  Bei  den  Woloffen  sind  es  bestimmte  Fetisch-Männer,  namentlich  in  der 
Gegend  von  Gayor,  welche  sich  in  der  Abtreibung  der  Kinder  eines  besonderen 
Rufes  erfreuen,     (de  Rochebrune,) 

Die  Negerinnen  in  Old-Calabar  nehmen,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
im  dritten  Schwangerschaftsmonat  Medicin,  angeblich  um  zu  prüfen,  welchen 
Werth  die  Empfangniss  habe.  Aber  nicht  selten  kommt  es  vor,  dass  die  Wirkung 
eine  zu  starke  war;  später  entwickeln  sich  constitutionelle  Störungen  und  organische 
Leiden,  und  es  folgt  der  Tod.  (Hewan.)  Bei  den  Herero  gilt  PfefiFer  als 
Abtreibemittel. 


217.  Die  in  Enropa  gebränchliclieii  ArbortiTmitteL 

Obgleich  in  allen  Ländern  Europas  die  vorsätzliche  Abtreibung  der 
Leibesfrucht  als  ein  strafwürdiges  Verbrechen  betrachtet  und  dem  entsprechend 
auch  geahndet  wird,  so  ist  doch  unter  allen  Nationen  dieselbe  immer  noch  im 
Gebrauch. 

Die  Engländerinnen  benutzen  dazu  nach  Taylor  Juniperus  Sabina,  oder 
die  Nadeln  des  Eibenbaumes,  auch  werden  Eisensulphat  und  Eisenchlorid  und  in 
seltenen  Fällen  wohl  auch  noch  Canthariden  angewendet. 

In  Russland  sind  als  Abortivmittel  nach  KreheVs  Angabe  innerlich  Sublimat 
und  Sabina  gebräuchlich.  In  Ehstland  nehmen  die  schwangeren  Mädchen  Mer- 
curius  vivus  mit  Fett  gemischt;  nach  v,  Luce  immer  vergeblich. 

Nach  Demic  gebrauchen  die  Kleinrussinnen  Juniperus  sabina  und  Bryonia 
alba,  die  Tatarinnen  Menyantes  trifoliata  (Bitterklee)  und  Bernstein  oder  Bern- 
stein wasser;  die  Volksärzte  im  Kaukasus  geben  den  Aufguss  von  Eupatorium 
carmalinum  L.,  vier  ganze  Pflanzen  auf  eine  Flasche  Wein,  oder  Ruscus  aculeatus  L 
oder  Pulmonaria  officinalis  L.,  vier  Wurzeln  auf  eine  Flasche  Wein,  früh  und 
Abends  ein  Weinglas  zu  nehmen. 


217.  Die  in  Europa  gebräuchlichen  AbortiTmittei.  761 

Ein  Kurpfuscher  in  Schweden  hatte  nach  Edling  einer  Schwangeren  eine 
Röhre  gegeben,  welche  sie  sich  möglichst  weit  in  den  Leib  einführen  musste; 
dann  blies  er  durch  dieselbe  arsenige  Säure  in  den  Uterus,  wie  bei  der  Obduction 
dieser  Unglücklichen  festgestellt  werden  konnte. 

Damian  Georg  giebt  von  den  Griechinnen  an,  dass  es  jetzt  bei  ihnen 
üblich  ist,  wenn  sie  die  Frucht  abtreiben  wollen,  sich  Opium  oder  Belladonna 
gewaltsam  in  die  Scheide  einzufuhren;  auch  nehmen  sie  innerlich  Ruta  odorans, 
Sabina  oder  Bernstein;  seltener  werden  starke  Aderlässe,  und  dann  immer  am 
Fusse  angewendet;  weniger  häufig  findet  man  auch,  dass  diese  Weiber  in  dem 
Bade  sich  auf  sehr  heisse  steinerne  Becken  setzen. 

Zahlreich  sind  die  Abtreibungsmittel,  welche  die  Französinnen  benutzen. 
Tardieu  und  Gallard  bezeichnen  als  solche  Meerzwiebel,  Sassaparille,  Guajak, 
Aloe,  Melisse,  Chamille,  Artemisia,  Safran,  Absinth,  Vanille,  Wachholder,  aber 
auch  Seeale  cornutum,  Jodpräparate  und  Aloe,  Juniperus  Sabina  und  dessen  äthe- 
risches Oel  kamen  ihnen  vor.  Durch  letzteres,  durch  Cantharidenpulver  mit 
Magnesia  sulphurica,  und  durch  einen  Trank,  welcher  aus  Feldkelle,  Rainfarrn, 
Johanniskraut,  Sadebaum  und  Russ  bereitet  ist,  sahen  sie  mehr  als  die  Hälfte  der 
Schwangeren  zu  Grunde  gehen. 

Bäder  und  Blutentziehungen,  Ueberanstrengung,  absichtliches  Fallen  und 
Stösse  und  Schläge  gegen  den  Leib  werden  ebenfalls  in  Anwendung  gezogen; 
auch  die  Elektricität  war  versucht  worden,  sowie  das  Einführen  spitzer  Gegen- 
stande in  die  Gebärmutterhöhle,  namentlich  Stricknadeln  und  Häkelhaken. 

Die  Mortalität  der  zur  Kenntniss  der  Behörden  gekommenen  Fälle  betrug 
60  Procent. 

In  Böhmen  suchten  sich  nach  Maschka  schwangere  Mädchen  die  Frucht 
durch  Bier  mit  Paeonia,  durch  Asarum  europaeum,  oder  durch  ein  Decoct  von 
Ruta  graveolens  und  Glaubersalzlösung  abzutreiben.  In  Essegg  fand  Zechmeister ^ 
dass  einige  Weiber  daraus  ein  Gewerbe  machten,  Schwangeren  im  5.  oder  6.  Monat 
eine  Spindel  durch  den  Muttermund  einzuführen,  um  auf  diese  Weise  die  Eihäute 
und  den  Kindskopf  zu  durchstechen.  In  einem  Falle  war  dem  Mädchen  ein  sechs 
Zoll  langer  federkieldicker  Zweig  in  die  Scheide  derartig  eingestossen  worden, 
dass  sein  vorderes  Ende  im  Muttermunde  sich  befand,  während  das  andere  rück- 
wärts in  der  Masse  des  Kreuzbeines  steckte. 

Als  Mittel,  eine  Fehlgeburt  zu  provociren,  bezeichnet  man  nach  Flügel  im 
Frankenwalde  hohes  und  weites  Hinauslangen  mit  den  Armen,  schweres  Heben, 
Tragen,  Tanzen,  Springen,  Fahren  auf  holprigen  Wegen,  freiwilliges  Fallen,  Be- 
lastung des  Leibes,  sich  treten  lassen  u.  s.  w.  Manche  Weiber  legen  einen  hohen 
Werth  auf  das  kräftige  Auswinden  von  nasser  Wäsche. 

„Mutter kraut''  wird  im  Frankenwalde  jedes  Kraut  genannt,  von 
dem  man  glaubt,  dass  es  treibende,  die  Thätigkeit  der  Gebärmutter  anregende 
oder  auch  beruhigende  Kräfte  besitzt,  so  Melisse,  Minze,  Raute  u.  s.  w.  Fast 
durchweg  kennt  man  den  Sadebaum,  Segelsbaum,  weit  weniger  aber  das  Mutter- 
korn. Brechmittel  und  Laxantien,  besonders  Aloe,  dann  aber  auch  Kaö'ee,  Zimmet 
und  Safran  stehen  in  geringerem  Ansehen;  aber  die  „Mutterblätter'',  Folia  Sennae, 
sollen  die  Gebärmutter  reinigen.  Essig  trinken,  viel  Kochsalz  essen,  andauernd 
hungern,  viel  Branntwein,  überhaupt  scharfe  giftige  Sachen  zu  sich  zu  nehmen, 
gilt  ebenfalls  als  Abortus  bewirkend;  auch  der  Stern-  und  Planetenbalsam  (Peru- 
balsam) erfreut  sich  eines  guten  Rufes;  ebenso  das  Schiesspulver,  von  dem  sie 
sagen:  „es  macht  offen,  da  müsse  es  zu  einem  Loche  heraus."  Das  Einstossen 
spitzer  Gegenstände  und  ein  Uebermaass  im  Aderlassen  ist  für  den  gleichen  Zweck 
auch  im  Frankenwalde  nicht  unbekannt  und  es  soll  bisweilen  vorkommen,  dass 
ein  Mädchen  den  Arzt  direct  um  ein  Mittel  bittet,  „welches  die  Nabelschnur 
abfrisst". 

Nach   dem    dort   herrschenden  Glauben   des  Volkes  sollen  „Buben  leichter 


762         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht. 

abzutreiben  sein  als  Mädchen".  Dieser  Anschauung  liegt  wahrscheinlich  die  that- 
sächliche  Beobachtung  zu  Grunde,  dass  unter  den  unzeitig  ausgestossenen  Kindern 
sich  wirklich  überwiegend  Knaben  befinden. 

Pauli  giebt  an,  dass,  wenn  in  der  Pfalz  der  Arzt  von  einem  (ihn  conaul- 
-tirenden)  Mädchen  erföhrt,  dass  sie  schon  Seyenbaumthee  getrunken  habe,  dann 
könne  man  sicher  sein,  dass  sie  nur  eine  Krankheit  vorschütze,  um  ein  Abortivom 
zu  erhalten. 

In  Schwaben  ist  nach  Bück  der  Sadebaum  und  der  Beifuss  in  grossem 
Ansehen,  auch  glaubt  man  dort,  dass  man  die  todte  Frucht  abtreiben  kann,  wenn 
man  die  Frau  mit  Rossschmalz  von  unten  hinauf  räuchert. 

Die  Steyermärkerinnen  benutzen  nach  Fossd  als  Abortiva  scharfe  Ab- 
fährmittel, Mutterkorn,  Juniperus  Sabina,  die  Zweige  und  Blätter  vom  Rosmarin 
und  Aufgüsse  von  Theer. 

In  der  Gegend  von  Ohrdruff  (Thüringen)  glaubt  man  im  Volke,  dass 
die  Schwangerschaft  verschwinde,  wenn  eine  Schwangere  einen  Tropfen  Blut  unter 
gewissen  Ceremonien  in  einen  Baum  bohrt. 

In  früherer  Zeit  scheint  schwarze  Seife  als  Abortivmittel  gegolten  zu  haben, 
denn  schon  Lindenstolpe  nennt  sie  unter  denselben:  «famosus  in  Belgio 
Sapo  niger**. 

Eine  als  Abtreiberin  berühmte  Frau  iu  Cappeln  in  Schleswig  verordnete  nach 
Thotnsen  zuerst  Abkochungen  von  Hopfen  und  Brombeerblättem  (Rubus  fhicticosus) ,  dann 
Thymian  oder  Quendel  (Thymus  serpyllum),  Rosmarin  und  Chamillen;  femer  Geil  (Spartium 
scoparium),  der  aus  einer  entfernten  Haidegegend  herbeigeschafft  werden  musste.  Half  das 
nicht,  dann  wurde  Thuja  occidentalis  oder  Juniperus  Sabina  versucht.  Auch  dae  Kraut  der 
Artemisia  vulgaris,  Abkochungen  der  Paeonien-Bläthen  und  Brechmittel  wurden  in  Anwendung 
gezogen.  Als  Hauptmittel  aber  benutzte  sie  den  Safran  (Crocus  sativus),  von  dem  die 
Schwangere  etwa  eine  Drachme  mit  einer  Flasche  Wasser  unter  Zusatz  von  etwas  St&rke  ge- 
kocht in  zwei  Portionen  früh  und  Abends  zu  sich  nehmen  musste  (die  Folgen  waren  nach 
^/2  Stunde  Uebelkeit  mit  Würgen,  Müdigkeit,  Eingenommensein  und  Schmerzen  des  Kopfes, 
und  nach  dreitägigem  Gebrauche  des  Mittels  Schmerzen  im  Leibe  und  Reissen  in  allen  Glie- 
dern). Wurde  hierdurch  nicht  die  erwünschte  Wirkung  erzielt,  so  nahm  die  Abtreiberin  mit 
Hülfe  eines  Mannes  mechanische  Manipulationen  vor:  Die  Schwangere  musste  sich  auf  den 
Rücken  logen,  worauf  die  Abtreiberin  beide  Fäuste  auf  deren  Bauch  stemmte  und  damit  so 
stark  als  letztere  es  aushalten  konnte,  vom  Nabel  abwärts  ins  Becken  presste.  Nun  legte 
sich  der  Gehülfe  der  Abtreiberin  auf  die  Eniee  zwischen  die  beiden  ausgespreizten  Beine  der 
Schwangeren  hin,  fuhr  mit  zwei  Fingern  in  die  Scheide  und  arbeitete  darin  so  lange  herum, 
bis  es  ihm  gelang,  eine  , dünne  Haut*  zu  durchstossen.  Diese  Operation,  welche  als  eine  sehr 
schmerzhafte  bezeichnet  wurde,  hatte  nicht  jedesmal  sogleich  den  gewünschten  Erfolg,  sondern 
musste  in  mehrtägigen  Zwischenräumen,  in  einem  Falle  sogar  fünfmal,  wiederholt  werden,  ehe 
der  Abortus  wirklich  eintrat. 


218.  Die  Methoden  der  Fruchtabtreibnng. 

Werfen  wir  noch  einmal  einen  Blick  zurück  auf  die  Fülle  der  Abtreibe- 
mittel, wie  das  Volk  sie  in  den  verschiedensten  Theilen  der  Erde  in  Anwendung 
zieht,  so  sind  wir  im  Stande,  sie  in  bestimmte  grössere  Kategorien  zu  ordnen. 
Am  spärlichsten  vertreten  finden  wir  die  sympathetischen  Mittel;  sie  konnten,  wie 
es  den  Anschein  hat,  in  einer  so  wichtigen  und  beängstigenden  Lebenslage  sich 
nicht  das  hinreichende  Vertrauen  erwerben.  Und  selbst  die  Gottheit  auf  den 
Sandwichs-Inseln  wird  doch  zum  mechanischen  Werkzeuge,  nur  dass  ihm 
nebenbei  auch  noch  göttliche  Verehrung  zu  Theil  wird. 

Unter  den  innerlich,  meistens  in  der  Form  heisser  Aufgüsse,  also  von  Thee, 
gebrauchten  Medicamenten  finden  sich,  unter  vielen  absolut  wirkungslosen,  starke 
Aromatica,  Brech-  und  Abfährmittel,   reizende  Stoffe,  aber  endlich   auch  solche, 


219.  Versuche  zur  Beschränkung  der  Fruchtabtreibung.  763 

welche  eine  directe  Einwirkung  auf  die  Musculatur  der  Gebärmutter  ausüben. 
Dann  folgen  die  Maassnahmen,  welche  man  als  die  „nicht  Verdacht  erregenden" 
bezeichnen  konnte.  Das  sind  in  erster  Linie  die  grossen  Anstrengungen  des 
Körpers:  übermüdendes  Gehen  und  Tanzen,  Lastenheben,  V^äscheringen  und  ab- 
sichtliches Fallen.  Hier  schliessen  sich  das  gewaltsame  Schütteln  des  Körpers, 
sowie  auch  die  heissen  Bäder,  die  Aderlässe  und  das  Hungern  an.  Den  Ueber- 
gang  zu  den  örtlichen  Mitteln  bilden  die  medicamentösen  Kly stiere,  die  Applica- 
tion von  reizenden  Pflastern  oder  von  glühenden,  in  eine  Schuhsohle  gehüllten 
Kohlen  auf  den  Leib  gelegt,  und  endlich  die  heissen  Räucherungen  der  Genitalien. 

Die  eigentlich  local  angewendeten  Methoden  der  Fruchtabtreibung  scheiden 
sich  wieder  in  solche,  welche  von  aussen  vom  Bauche  her  die  Gebärmutter  treffen, 
und  solche,  welche  theils  auf  die  Vulva,  theils  auf  die  Vagina  mit  dem  Scheiden- 
theile  der  Gebärmutter,  theils  endlich  auf  die  Höhle  des  Uterus  selbst  direct  ein- 
zuwirken suchen. 

Der  Leib  wird  lange  Zeit  gerieben,  geknetet,  mit  den  Fäusten  gepresst, 
gewalkt  und  geschlagen,  gestossen  und  mit  den  Füssen  getreten.  Auch  kniet 
man  sich  darauf.  Bisweilen  wird  der  Bauch  vorher  durch  fest  umgelegte  Binden 
oder  durch  ein  Rohrband  eingeschnürt.  Die  äussere  Scham  wird  mit  starken 
Reibungen  behandelt  oder  dicht  mit  Blutegeln  besetzt.  Li  die  Vagina  legt  man 
irritirende  Stoffe.  Diese  sind  theils  fest,  theils  in  Pastenform,  oder  man  imprägnirt 
auch  mit  ihnen  Pessarien  oder  Baumwollentampons.  Der  Scheidentheil  des  Uterus 
wird  mit  Stöckchen  gekitzelt.  Der  Muttermund  wird  durch  Pressschwämme, 
Papyrusröllchen,  Federspuhlen ,  Stöckchen  oder  Pfeifenspitzen  eröffnet,  V^ieken 
und  V^attebäusche,  mit  Arzneistoffen  imbibirt,  werden  hineingelegt,  Einblasungen 
und  Einspritzungen  werden  ausgeführt.  Endlich  haben  die  Leute  auch  gelernt, 
spitzige  Instrumente  zwischen  die  Frucht  und  die  Gebärmutterwand  zu  schieben 
oder  die  Eihäute  zu  perforiren,  und  die  hierzu  benutzten  Gegenstände  haben  wir 
von  sehr  verschiedenartiger  Natur  befunden. 

Wenn  nun  auch  von  diesen  letzteren  Manipulationen  manche  nicht  gerade 
sehr  geschickt  ausgefallen  war,  so  lassen  sie  doch  bereits  ein  Verständniss  und 
eine  Einsicht  in  das  V7esen  und  in  die  anatomischen  Verhältnisse  der  Schwanger- 
schaft erkennen,  wie  man  sie  so  tiefstehenden  Schichten  der  Bevölkerung  und  so 
wenig  civilisirten  Nationen  durchaus  nicht  ohne  Weiteres  zugetraut  hätte. 


219.  Yersuche  zur  Beschränkung  der  Fruchtabtreibung. 

Schon  in  frühen  Zeiten  hat  die  Gesetzgebung  der  Fruchtabtreibung  ihre  Auf- 
merksamkeit zugewendet.  Denn  bereits  in  dem  alten  Gesetzbuche  der  Perser, 
„Vendidad**,  welches  die  Rechtsgrundsätze  Zoroasters  enthält,  lesen  wir: 

,Wenn  ein  Mann  ein  Mädchen  geschwängert  hat  und  zu  dieser  sagt:  suche  dich  mit 
einer  alten  Frau  zu  befreunden,  und  diese  Frau  bringt  Bangha  oder  Fraypata  oder  eine  andere 
der  auflösenden  Baumarten,  so  sind  das  Mädchen,  der  Mann  und  die  Alte  gleich  strafbar. 
Jedes  Mädchen,  welches  aus  Scham  vor  den  Menschen  seiner  Leibesfrucht  einen  Schaden  bei- 
fügt, muss  für  die  Beschädigung  des  Kindes  bQssen.*     (Dunclcer,) 

Auch  die  Med  er  und  Baktrer  bestraften  die  Abtreibung. 

Das  brahmänische  Gesetzbuch  des  Manu^  welches  die  Lebensweise  in  den 
Haupt-  und  Misch-Kasten  der  Hindu  regelt,  verbietet  und  bestraft  ebenfalls  die 
Abtreibung. 

Die  Abtreibungsmittel  waren  bei  den  Juden  streng  verboten;  eine  An- 
wendung derselben  wurde  als  eine  Abart  des  Kindesmordes  betrachtet  und  nach 
Flavius  Josephus  mit  dem  Tode  bestraft. 

Wichtig  ist  hier  auch  die  Bestimmung  von  2.  Moses  21: 

«Wenn  Männer  sich  hadern  und  verletzen  ein  schwangeres  Weib,  dass  ihr  die  Frucht 
abgeht  und  ihr  kein  Schaden  widerfährt,  so  soll  man  ihn  um  Geld  strafen,  wieviel  des  Weibee 


764         XXXIV.  Die  absichtliche  Fehlgeburt  oder  die  Abtreibung  der  Leibesfrucht. 

Mann  ihm  auferlegt,  und  soll  es  geben  nach  der  Schiedsrichter  Erkennen.  Kommt  ihr  aber 
ein  Schaden  daraus,  so  soll  er  lassen  Seele  um  Seele,  Auge  um  Auge,  Zahn  um  Zahn,  Hand 
um  Hand,  Fuss  um  Fuss,  Brand  um  Brand,  Wunde  um  Wunde,  Beule  um  Beule.' 

Dass  die  Griechen  das  Herbeifuhren  einer  Fehlgeburt  nicht  als  ein  Ver- 
brechen betrachteten,  das  geht  aus  folgenden  Worten  des  Aristoteles  hervor: 

„Wenn  aber  in  der  £he  wider  Erwarten  Kinder  erzeugt  werden,  so  soll  die  Fracht, 
bevor  sie  Empfindung  und  Leben  empfangen  hat,  abgetrieben  werden;  was  hierbei  mit  der 
Heiligkeit  der  Gesetze  übereinstimmt,  was  nicht,  ist  eben  nach  der  Empfindung  und  dem 
Leben  der  Frucht  zu  beurthoilen.* 

Es  scheint  demnach  die  Absicht  gewesen  zu  sein,  die  Eltern,  welche  keine 
Kinder  erzeugen  wollten,  zur  Fruchtabtreibung  zu  berechtigen,  damit  nicht  etwa 
durch  übermässige  Belastung  der  wenig  bemittelten  Familie  mit  Kindersegen  das 
Gemeinwesen  geschädigt  werde;  nur  durfte  das  Kind  noch  nicht  lebensfähig  sein. 

Aehnliche  Ansichten  sprach  Plato  aus;  er  gestattete*  den  Hebammen  die  Abtreibung 
der  Frucht  vorzunehmen,  denn  er  sagte:  ,Sie  können  die  Gebärende  erleichtem  oder  auch 
eine  Fehlgeburt  herbeiführen,  wenn  man  eine  solche  beabsichtigt.*  lAchtenstädt  und  SchUter- 
macher  betrachteten  diese  Beförderung  der  Frühgeburt  durch  Hebammen  als  ein  auf  den 
Wunsch  der  Schwangeren  veranstaltetes  Abtreiben  der  Leibesfrucht. 

In  Rom  herrschte  dieselbe  Sitte,  selbst  bei  den  Frauen  der  Vornehmen. 
Seneca  erwähnt  dieses  Laster  als  eine  gewohnliche  Sache. 

«Nie/  sagt  er  zu  seiner  Mutter  Helvia,  .hast  Du  Dich  Deiner  Fruchtbarkeit  geschämt, 
als  wäre  es  ein  Vorwurf  Deines  Alters,  nie  hast  Du  gleich  Anderen  Deinen  gesegneten  Leib 
als  eine  unanständige  Last  verborgen,  nie  Deine  hoffnungsvolle  Frucht  in  Deinen  Eingeweiden 
selbst  getödtet.* 

Wie  stark  verbreitet  im  damaligen  Rom  die  Unsitte  der  Fruchtabtreibung 
war,  das  haben  wir  bereits  oben  aus  JuvenaVs  Munde  gehört.  Es  kam  so  weit, 
dass  der  Mann  für  seine  schwangere  Frau  einen  sogenannten  Bauchhüter  anstellte. 

Der  Grund  dieser  Erscheinung,  dass  die  civilisirten  Völker  des  classischen 
Alterthums  das  Abtreiben  so  gleichgültig  ansahen,  ist  in  der  bei  ihnen  yerbreiieten 
Meinung  zu  suchen,  dass  der  Fötus  noch  kein  Mensch,  sondern  nur  ein  Theil 
der  mütterlichen  Eingeweide  sei.  Grosse  Unterstützung  gewährte  einer  solchen 
Ansicht  auch  die  stoische  Schule.  Die  Geringschätzung  eines  kindlichen  Lebens 
ging  ja  unter  den  Griechen  und  Römern  bekanntlich  so  weit,  dass  man  ein 
soeben  zur  Welt  gekommenes  Kind  noch  keineswegs  für  einen  zum  Fortleben 
berechtigten  Menschen  hielt,  so  lange  dasselbe  noch  nicht  vom  Vater  durch  die 
Aufhebung  (Sublatio)  anerkannt  und  in  die  Familie  aufgenommen  wurde.  Noch 
rücksichtsloser  durfte  man  wohl  gegen  ein  noch  nicht  geborenes  Kind  verfahren. 
Dennoch  gab  es  Männer,  wie  Seneca,  Juvetml^  Ovid^  die  aufgeklärt  genug  waren, 
die  Abtreibung  für  eine  verabscheuungswürdige  Handlung  zu  erklären.  Der 
Letztere  sagt: 

Die  zuerst  es  begann,  sich  die  keimende  Frucht  zu  entreissen, 
Hätt*  in  der  blutigen  Tbat  wahrlich  zu  sterben  verdient. 
Also  allein,  dass  den  Leib  man  nicht  zeih'  entstellender  Runzeln, 
Rüstest  den  Kampfplatz  Du.  zu  entsetzlichem  Werk? 

Was  durchwühlt  ihr  den  eigenen  Leib  mit  spitzigen  Waffen? 
Gebt  entsetzliches  Gift  Kindern  noch  vor  der  Geburt? 

Das  hat  die  Tigerin  nimmer  gethan  in  Armeniens  Bergschlucht, 

Selber  die  Löwin  hat  nimmer  die  Jungen  erwürgt! 

Aber  die  zärtlichen  Mädchen,  sie  thun*s  —  doch  trifft  sie  die  Strafe. 

Oft,  wer  vernichtet  die  Frucht,  tödtet  sich  selber  dadurch; 

Tödtet  sich  selbst  und  liegt  mit  entfesseltem  Haar  auf  dem  Holzstoss, 

Und  wer  immer  sie  sieht,  ruft:  Ihr  geschah  nach  Verdienst! 

Im  Einklänge  mit  den  erwähnten  allgemein  herrschenden  Anschaaungen  war 
denn  auch  die  Kindesabtreibung  nach   den  Gesetzen  der  Römer  nicht  verboten 


219.  Versuche  zar  Beschränkung  der  Fruchtabtreibung.  765 

oder  f&r  strafbar  erklärt.  Es  stand  ja  den  Eltern  frei,  die  Neugeborenen  nach 
Willkür  aufzuziehen  oder  auszusetzen.  Nur  dann,  wenn  besondere,  strafbare 
Zwecke  mit  der  Kindesabtreibung  verbunden  waren,  wurde  gegen  die  betreflPende 
Person  vorgegangen. 

Die  Müesia,  deren  Cicero  erwähnt,  Hess  sich  durch  Geld  bestechen,  um  mit  dem  Ab- 
treiben ihrer  Frucht  gewissen  Verwandten  einen  Dienst  zu  leisten;  er  behandelte  in  seiner 
Oratio  pro  Cluentio  den  Fall  der  Abtreibung,  wobei  er  die  Verurtheilung  der  von  Seitenerben 
bestochenen  Mutter  lediglich  vom  Gesichtspunkte  einer  Eigenthumsbeschädigung  des  Vaters 
motivirt.  Die  Kaiser  Severus  und  Antonius  haben,  wie  das  Justinianische  Rechtsbuch  zeigt, 
als  eine  ausserordentliche  Strafe  die  Verbannung  für  eine  Kindesab treiberin  festgesetzt 
bloss  wegen  des  dem  Ehemanne  dadurch  erwachsenen  Schadens: 

«Indignum  enim  videri  potest,  impune  eam  maritum  liberis  fraudasse.' 

Allerdings  hat  derselbe  Codex  auch  Strafen  auf  den  gewerbsmässigen  Verkauf  von 
Liebestränken  und  Abtreibemitteln  gesetzt: 

,Qui  abortionis  aut  amatorium  poculum  dant,  etsi  dolo  non  faciant  tamen,  quia  mali 
exempli  res  est,  humuliores  in  metallum,  honestiores  in  insulam,  amissa  parte  bonorum,  rele- 
gantur,  quodsi  eo  mulier  aut  homo  perierit,  summo  supplicio  afficiantur.'' 

Allein  diese  Verfügung  zeigt,  dass  man  nur  in  diesem  Handel  ein  eigentliches  Delictum 
sah;  dagegen  wird  die  abtreibende  Schwangere  dabei  gar  nicht  erwähnt. 

Von  den  Germanen  hatte  Tacitus  zwar  behauptet,  dass  sie  die  Zahl  der 
Kinder  zu  beschränken  für  verbrecherisch  halten.  Dagegen  ist  durch  Grimm  u.  A. 
nachgewiesen  worden,  dass  bei  ihnen  einst  allgemein  die  Sitte  herrschte,  die 
Sander  auszusetzen.  So  scheint  es,  dass  Tacitus  lediglich  darauf  hindeuten  wollte, 
dass  die  Germanen  jenen  römischen  Brauch,  durch  künstliche  Mittel  Abortus 
zu  bewirken,  nicht  übten. 

Dass  jedoch  auch  diese  Sitte  der  Fruchtabtreibung  germanischen  Völkern 
bekannt. war,  beweist  das  bajuvarische  Gesetz  (VII,  18)  und  das  salische  Gesetz 
(XXI,  2).  Andeutungen  über  die  Anwendung  von  Abortivmitteln  bei  den  Nord- 
Germanen  machen  Hävan  26,  Fiölsvinnsm.  23;  vgl.  Lex  Rectitudines  89. 
Bei  den  Friesen  war  nach  der  Lex.  Frision.  V,  1  die  Abtreibung  straflos. 
(Weinhold,)  Jedoch  rechnet  das  friesische  Gesetzbuch  unter  die  Menschen,  die 
man,  ohne  Wehrgeld  zu  zahlen,  tödten  könne,  auch  solche,  die  ein  Kind  von  der 
Mutter  abtreiben. 

Die  ältesten  deutschen  Gesetzbücher  beschränken  sich  darauf,  den  durch 
Kindesabtreibung  angestellten  Schaden  darch  Geldstrafe  büssen  zu  lassen.  Das 
alemannische,  vom  Frankenkönig  Dagobert  (f  638)  erneute  Rechtsbuch  be- 
strafte lediglich  den,  der  eine  Schwangere  abortiren  machte  (höher,  wenn  es  eine 
weibliche  Frucht  betraf,  als  wenn  diese  männlichen  Geschlechts  war  oder  letzteres 
nicht  erkannt  wurde).  Das  salf ränkische  und  das  ripuarische  Recht  straft 
den  Thäter  um  Geld,  und  zwar  um  so  höher,  wenn  die  Mutter  dabei  zu 
Grunde  ging. 

Nach  dem  bavarischen  Gesetze  aus  dem  7.  Jahrhundert  bestrafte  man 
Mitschuld  an  der  Fruchtabtreibung  mit  200  Geisseihieben,  die  Mutter  aber  mit 
Sclaverei;  starb  die  Mutter,  so  wurde  die  Mitschuldige  mit  dem  Tode  bestraft. 
Auch  die  Sammlung  von  westgothischen  Gesetzen  von  Chindaswind  (f  652) 
und  seinem  Sohne  Receswind  (f  672)  enthält  unter  der  Rubrik  „Antiqua**  Be- 
stimmungen gegen  die  Abtreibung: 

»Wer  einen  Ahtreihetrank  einer  Schwangeren  giebt,  wird  hingerichtet;  eine  Sclavin, 
die  ein  solches  Mittel  sich  verschafft,  erhält  200  Peitschenhiebe;  eine  freie  Schuldige  wird  zur 
Sclavin  gemacht.  Ein  Freier,  der  durch  Gewaltthat  Abortus  einer  Frau  herbeiführte,  bezahlte 
bei  einem  ausgebildeten  Fötus  250  Solidi,  bei  einem  nichtausgebildeten  nur  100.  Ging  die 
Mutter  zu  Grunde,  so  trat  stets  die  Todesstrafe  ein."     {Spangeni>erg.) 

Von  den  Kirchenvätern  wurde  die  Fruchtabtreibung  geradezu  als  Homici- 
dium  bezeichnet,  und  wenn  auch  einige  Synodalbeschlüsse  auf  dieses  Vergehen 
nur  eine  Busse  gesetzt  hatten,  bald  von  sechs,  bald  von  zehn  Jahren,  so  bezeichnete 


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1;..^-  /..';.•.  «rrr'  'U'  ^  i.rirr'rr.rhMrr:  t-.  ;r*rwer^r.  i=t,  wrlohe*  das  «ittiicce 
Kn.ji?. /.':</;  ./.  'J.'^'-r  II.' f. »'j.'.;/  •Aa':hri*:f-  'U-  fi«-w*r:^r.  die  Mrder,  die  Bakirer, 
•;.»  T'  f .' I  f  .j;.'j  ;i ./ h  rli<r  J  , 'J  f:  f j  :  \:A  irn  alt*:L  K*riche  der  Inka  wurde  die 
r«  »f..»Ii' r.'    J  i'hJ;/<r'/'ift   iiijt   'i<*[fi   'I'od'r   rj<-<irrÄft. 

h»/»/i'*  '/i*'hl  <•*,  lif.t'-r  'i'ji  h<iit.i;{«:n  unrultivirten  Volkeir*  einzelne,  wenn  auch 
.  ir  v/<  /jipri  Kf'j  riiri'/i  vf/fi  i-ificr  H<f-.t  rafiin^  d«:r  kiin.st  liehen  Frühgeburt  die  Rede 
ji,  <"  .:ifi<l 'Iji- <)i«'  M;it.t:i-  jM  SnrriHtra  ;ind  die  K  äff  er  n  .st  it  mme  ■  ir*iiYj  . 
//« j' i.i     r.UiiU'h    iiijf   di«'«:«H   V'«T^<ih«;ri    -setzten:    letzterr?    bestrafen    sogar   den    mit- 

'/Jii'«  li'lili    A»/l.       (J'tHr/itlj 

V'<fi  rlf'fi    \  fMti  -  Kliff  (irn  Hfi^t  auch   Kropf: 

«Mif  t/iMidkif  hti((tiffi  Ati'/rfim  einer  Klicfruii,  mit  oder  ohne  den  Willen  des  Ehemanaei, 
itUftt^u  4  lii«  '1     trti  kn  Vii*)i  )f«*xiihl(   werden.     Khenso  ist  «lerjeni^  strafbar,  der  die  Medicin 


219.  Versuche  zur  Beschränkung  der  Fruchtabfcreibung.  767 

dazu  bereitet  oder  gegeben  bat.  Die  Strafe  geht  an  den  Häuptling,  weil  ihm  dadurch  ein 
Menschenleben  verloren  geht.  Die  Strafe  der  Frau  kann  vom  Manne  verlangt  werden,  wenn 
er  darum  gewusst  hat,  oder  von  den  Eltern,  oder  von  dem  Manne,  dessen  Frucht  es  war 
(wenn  es  nicht  der  Ehemann  war).  Nichtsdestoweniger  wird  dieses  Verbrechen  unter  allen 
Klassen  ausgeübt.* 

Auch  der  chinesische  Straf  codex  verbietet  die  Abtreibung  der  Leibes- 
frucht und  bedroht  den  üebertreter  mit  100  Bambushieben  und  3  Jahren  Ver- 
bannung. Trotzdem  aber  findet  man  in  allen  Städten,  besonders  in  Peking,  die 
Wände  an  den  Strassen  mit  Annoncen  bedeckt,  welche  Mittel  zur  Herstellung  der 
Menstruation  anbieten,  unter  denen  man  natürlich  Abtreibemittel  zu  verstehen 
hat.    Martin  sagt: 

,Wenn  dennoch  einmal  die  Sache  zur  Untersuchung  gelangt,  so  erkundigt  sich  der 
Mandarine  nicht  nach  der  Thatsache  des  Abortus,  sondern  nach  den  persönlichen  Verhält- 
nissen, die  das  Verbrechen  entschuldbar  machen,  und  dieses  bleibt  dann  imbestraft.  Auch 
soll  die  Magistratsperson  durch  eine  Hebamme  constatiren  lassen,  ob  das,  was  aus  der  Scheide 
abgegangen  ist,  ein  Fötus  oder  ein  Blutcoagulum  sei.* 

In  dem  Buche  Si-Yuen-Lu  findet  sich  auch  angegeben,  wie  man  erkennen 
kann,  ob  eine  Fruchtabtreibung  stattgefunden  hat:  man  soll  in  die  Scheide  Queck- 
silber bringen;  wird  dessen  Glanz  matt,  so  fand  Abtreibung  statt. 

Der  türkische  Strafcodex  enthält  zwar  ebenfalls  Sb^fbestimmungen  über 
die  Fruchtabtreibung,  aber  in  einer  so  undeutlichen  Fassung,  dass  die  Richter 
nie  genau  ermitteln  können,  wer  eigentlich  zu  bestrafen  ist.  Und  von  wie  ge- 
ringem Erfolge  diese  Gesetze  in  Wirklichkeit  sind,  das  haben  wir  ja  schon  weiter 
oben  gesehen.  Höchst  bezeichnend  für  die  Verhaltnisse  in  der  Türkei  ist  der 
folgende  Bericht: 

«Noch  im  December  des  Jahres  1875  erliess  die  Mutter  des  Sultans  Abdul  Asis  eine 
Verordnung,  in  welcher  sie  allen  Insassen  des  grossftlrstlichen  Palastes  ein  Gesetz  einschärfte, 
das  in  letzter  Zeit  ausser  Gebrauch  gekommen  zu  sein  schien,  n&mlich  dass,  so  oft  eine  Be- 
wohnerin des  Palastes  schwanger  sei,  dafür  gesorgt  werden  müsse,  dass  sie  abortire;  gelinge 
die  Operation  nicht,  so  dürfe  bei  der  Geburt  des  Kindes  die  Nabelschnur  nicht  unterbunden 
werden;  diejenigen  Kinder  aber,  die  jetzt  im  Palaste  wären,  dürften  niemals  zum  Vorschein 
kommen.  Zur  Ausführung  dieser  Barbarei  existirt  eine  eigene  Klasse  von  Megären,  welche 
unter  dem  Namen  Canlü  ebe,  «die  blutigen  Hebammen*,  bekannt  sind,  und  welche  ihr 
schauerliches  Gewerbe  in  den  Palästen  der  Grossen  ungescheut  treiben.* 

Da  das  vorliegende  Buch  nicht  juristischen  Zwecken  dient,  so  entgehe  ich 
der  Versuchung,  einen  Vergleich  zwischen  den  heute  in  den  Culturstaaten  über 
die  Fruchtabtreibung  gültigen  Gesetzen  anzustellen,  und  ich  überlasse  es  dem 
Gesetzgeber,  die  Schattenseiten  der  bestehenden  Verordnungen  zu  erkennen  und 
deren  Verbesserung  herbeizuführen.  Für  mich  ist  es  genügend  gewesen,  die  unge- 
heuere Verbreitung  zu  zeigen,  welche  dieses  Laster  besitzt,  und  auf  die  Gefahren 
hinzuweisen,  welche  dem  einzelnen  Individuum  nicht  allein,  sondern  dem  ganzen 
Volke  daraus  erwachsen.  Denn  manche  Naturvölker  verdanken  ihr  rapides  Zu- 
sammenschmelzen und  ihr  definitives  Verschwinden  von  der  Erde  zum  nicht  ge- 
ringen Theile  dem  Verbrechen  der  Fruchtabtreibung. 


Ende  des  ersten  Bandes. 


Drnfik  tob  TIu  HoAbimui  üi  G«m. 


«•Barieil,  Dm  Weib. 


Tafel  I. 
Afrikaner  innen. 


1. 

Baschmann-FraQ, 


2. 

Xosa-Kaffer-Fraa« 


3. 

Sttd-Basatho-Frau. 


Ga«NegeriD. 

(Ooldkttste.) 


Dahome-Weib. 


Wmnjoro-Weib. 


Bedaloen-Fraa« 

(Tunis.) 


Tlgre-Jungfraa« 

(Colonia  Eritrea.) 


AegriptarlD. 


Ebätln* 


Ploi9'BftrUli^  Dma  Waib. 


Tafel  IIL 
Amerikanerinnen. 


1. 

Comanehe-lDdlaneriD. 


Hajonishag-Indianerln, 

(Peru.) 


Eskimo-Fnia. 

(Labrador.) 


CoroadoB-IndianeriD. 

(Braailieii.) 


Siou-lBdlanerlii. 


6. 


Gnfana-IndiaDeiiD. 


Feaerlftnderln, 


Araneaiiieriii« 

(Chile.) 


Patagonieiin. 


riaU,  Bai  Walb. 


Ploii-Barteli,  Bm  W«ib. 


Tafel  IV. 
Oceanierinnen. 

Melanesierinnen 


Aastrallen. 

(Nord-Qneengland .) 


Neu-Hebiiden« 


Yitl.   (Fidschi.) 


Mikronesierinnen 

von  den 


KiDgrs-Mill-lDseln. 


Gilbert-Inseln. 


Marianen-Inseln. 


Polynesierinnen 

von 


Nen-Seeland. 

(Maori.) 


8. 

HawaU. 

(Kanakin.) 


Tonga-Inseln. 


Tafel  V. 
Asiatinnen  I. 


1.  2.  8. 

Kara-KalmOeUn.  Tatarin.  Klrgrisln. 


4.  5.  6. 

Jakatln.  Tangvslii.  Uibekln. 


7.  ».  9. 

Mandseharin.  Goldin.  »iljakliu 


Flof