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DENKWÜRDIGES
AUS MEINEM LEBEN
VON
J. C. BLÜNT8CHLI.
I. BAND.
ZÜRICH.
(1808—1848).
■ NÖBDLINGEN 1884.
VERLAG DER C. H. BECK'SCHEN BUCHHANDLUNG.
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DENKWUßüIGES
AUS MEINEM LEBEN
VON
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J; C: BLUNTSCHLL
AUF VERANLASSUNG DER FAMILIE DURCHGESEHEN UND VERÖFFENTLICHT
VON
Dg, RUDOLF SEYERLEN.
ERSTER TEIL.
DIE SCHWEIZERISCHE PERIODE.
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NÖRDLINÖEN 1884.
VERLAG DER C. H. BECK'SCHEN BUCHHANDLUNG.
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DBUCK VON C. H. BECK IN NÖBDLINGEN.
Vorwort des Herausgebers.
Indem ich hiermit Bluntschli's Selbst-Bio-
graphie im Auftrag seiner Familie im Druck er-
scheinen lasse, genügen wir der Pfliclit, sein letztes
Vermächtnis an die Mit- und Nachwelt zu vollziehen.
Er legte Hand an seine Lebensbeschreibung im Herbst
des Jahres 1872 und hat sie noch bis zum Schluss
des Jahres 1870 selbst niedergeschrieben. Das letzte
Jahrzehnt seines Lebens habe ich auf Grund seiner sehr
genau geführten Tagebücher , jjnd . der. üli^rAu« .• reich-
haltigen Correspondenz in : &x - Wbise • scinli> •Nieder-
Schrift zur Darstellung zu brirtgön-je^^su^ht.
Mit der Niederschrift rdiesen'rDß.iü^/digkeiten
aus seinem Leben fügt der Voireli&ete* Itiöht nur sei-
nem Lebenswerk, dem Tod zum Trotz, der ihn so
rasch und unvorhergesehen hinwegrief, den Schluss-
stein ein, so dass dasselbe jetzt als ein harmonisch in
VI VOKWOBT.
sich Yoll('ii(lct(\s Ganze vor dem Auge des Beschauers
steht, sondern er leistet damit zugleicli der Welt einen
l(»tzten grossen Dienst.
Aus der durchaus oLjectiv gehaltenen Darstel-
lung tritt uns in plastisclier Euhe und Klarheit sein
WesensLild entgegen als eines Menschen von selten-
ster Universalität neben entschieden ausgesprochener
Originalität. Er war Statsmann und Wissenschafter,
philosophischer Denker und religiöser Charakter, eifri-
ger Patriot und wanner Freund der gesamten Mensch-
heit, Mitglied des Maurerbundes und Mann der Kirche,
in der ausgebreitetsten Beziehung zu Männern fast aller
Gesellscliaftskreise, in Verbindung mit Angehörigen fast
aller civilisierten Nationen, daneben aber für das stille
Glück des Familienlebens, wie nicht minder auch für
das hohe Gut der Freundschaft ebenso empfänglich,
wie derselben bedürftig, ausgezeichnet gleichermaassen
durch emen olfenen Sinn für die Natur wie durch
feinen Kunstsinn; — aber bei all dieser Vielseitigkeit
keine .Sgiir .yqn. ^eff^llivppheit, entfernt nichts Streber-
haftes/ rsJohäöVir ehShr iärXJefühl ihres Vollwertes fest
auf sich bejrhheriSö Jitiid in sich ffesammelte Persön-
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lichkeit, iJie«göist«ßkc^ftig und starkrautig überall und
immer niff*'gn)sse nrnd-edle Ziele verfolgte, man darf
wohl sagen, dem Höchsten zugewandt war.
In dem Bilde dieses reichen, nach so vielen Sei-
ten hin sich verzweigenden Einzelnlcbens, von welchem[
J-^
Vorwort. yn
wenn von irgend einem das Wort gilt: „nichts Mensch-
liches ist ihm fremd geblieben", spiegelt sich nun aber
die Geschichte von acht Jahrzehnten. Die vollen vier
ersten Fünftel unseres Jahrhunderts erscheinen so zu
sagen in conccntriertcm Auszug innerhalb seines Eah-
mens, und immer stehen wir im Mittelpunct der Zeit-
bewegung. Denn es ist vor Allem das politische und
kirchliche Leben, zunächst allerdings der Schweiz und
Deutschlands, aber weiterhin auch des gesamten Welt-
teils, von dessen Wellenschlag dieses Einzelnleben in
erster Linie bewegt wird. Daneben erhalten wir aber
aus Anlass der Schilderung seiner fachmännischen Thä-
tigkeit als Rechtsgelehrter den Einblick in den Ent-
wickelungsgang der Rechtswissenschaft des 19. Jahr-
hunderts und namentlich des Völkerrechts, dessen
wissenschaftliche Fortbildung, und zwar ganz wesent-
lich durch Bluntschli's Einwirkung, einen internatio-
nalen Charakter an sich nimmt.
Endlich deckt Bluntschli hier eine Seite seines
Lebens auf, welche den meisten seiner Freunde und
Verehrer bisher unverständlich geblieben ist, weil er
selbst darüber mehr nur gelegentlich und andeutungs-
weise sich zu äussern pflegte, nämlich seine Beziehung
zu Friedrich Rehmer, zu dessen Person wie zu
dessen Wissenschaft. Wie tief diese Persönlichkeit in
Bluntschli's Leben eingegriffen hat, und in welchem
Grade bestimmend die Rohmer'sche Wissenschaft für
VIII Vorwort.
Bluntschli's innerstes Denken geworden ist, das liegt
nunmelir offen zu Tage.
Ich habe in dieser Hinsicht nur ein Zweifaches
zu bemerken, einmal dass die Skizze der Eohmer'schen
Gotteslehre, welclie Bluntschli in seinen Denkwürdig-
keiten gibt, von ilim selbst ausgeführt worden ist in
dem Werke: „Friedricli Eohmer's Wissenschaft und
Leben. Erster Band: Die Wissenschaft von Gott."
Nördlingcn, 0. H. Beck, 1871. In Betreff sodann des
leicht misszuverstehenden Gerippes der Eohmer'schen
Psychologie, welches Bluntschli hier (in den Denk-
würdigkeiten) entwirft, verweise ich auf meine dem-
nächst in demselben Verlag erscheinende eingehende
Bearbeitung und ausführliche Darstellung von „Fried-
rich Kohmer's Wissenschaft vom Menschen".
Jena, im Mai 1884.
Dr. Rudolf Seyerlen.
Erster Teil.
Die Schweizerische Periode.
1808 bis 1848.
Bluntschli, Dr., J. C, Aus meinem Leben. I, 1
1.
Geburt. Vaterhaus. Die Eltern. Das Geschlecht.
Stadt Zürich.
Ich wurde am 7. März 1808 in der Stadt Zürich
geboren, als erstes Kind meiner Eltern. Das Haus zum
Steinböckli war kurze Zeit vor meiner Geburt von meinem
Vater gekauft worden. Es wurde nun das Stammhaus der
Familie, die öfters die Bluntschli zum Steinböckli genannt
wurden. Ich und meine Geschwister wurden in diesem
Hause geboren und erzogen. Die Steinbockhörner, die als
Helmschmuck mein Wappen zieren, erinnern an diess Be-
sitztum.
Das Haus liegt am linken Ufer der Limmat, welche
die Stadt durchschneidet, an der „hinteren Schipfi", einer
engen im Mittelalter von Schiffern bewohnten Gasse, zu der
von drei Seiten her steile Wege hinabführen. Von dem
Flusse, der in scharfem Laufe abwärts strömt, ist es durch
ein niedriges Fabrikgebäude getrennt. Es ist schmal, aber
hoch gebaut, für zwei Familien berechnet. Die Häuser der
Schipfi sind die Anhöhe hinein und hinauf gebaut, welche
sich schroff über den Fluss erhebt und in dem „Linden-
liofe** gipfelt, einem der schönen Höhepunkte der Stadt, .
den schon die alten Römer befestigt hatten, als noch die
1*
Vaterhaus. [cap. 1.
keltischen Helvetier da hausten. In der späteren aleman-
nischen Zeit der Reichsstadt Zürich wurde dieser Lindenhof
oft zu bürgerlichen Festen benutzt. Man genoss daselbst
eine schöne Aussicht über die Stadt, die Limmat, den See
und die Berge.
In meiner Jugend war dieser freie Platz mit herr-
lichen alten Lindenbäumen geschmückt. In den laubreichen
Ästen und Kronen nisteten zahlreiche Singvögel. Als Kind
schon lauschte ich oft mit Entzücken ihren Morgen- und
Abendliedern und freute mich über die prächtige Baum-
gruppe, welche stolz über die Häuser der Stadt emporragte.
Zu den Schipfihäusern gehörten Gärten, die hinter
den Häusern, aber hoch über der Strasse allmälich gegen
den Lindenhof aufstiegen. Wir mussten bis über das dritte
Stockwerk unsers Hauses die Treppen hinaufsteigen, um
dann in den Garten zu gelangen.
Zu Oberst ist das Haus mit einem schlanken Türm-
chen geziert, dessen Windfahne den trotzigen Spruch ver-
kündete: „Besser Neid als Mitleid." Von dem Turmzim-
mer aus hat man eine schöne Rundsicht, ähnlich der vom
Lindenhof, mit dem man hier auf ziemlich gleicher Höhe
steht. Man übersieht da einen grossen Teil der Stadt,
auf beiden Seiten der Limmat, mit ihren Kirchen und dem
Rathause, nach Osten den freundlichen Zürichberg, im
Norden das Limmatthal, gegen Süden den Seespiegel, ein-
gerahmt von grünen Hügelreihen, in der Feme die Glarner
Schneeberge mit ihren weissen Häuptern. Ich war als Knabe
oft in diesem Turmzimmer und erfreute mich an sonnigen
Tagen dieser reichen Aussicht. Insbesondere betrachtete
ich den breiten Glärnisch und den schneidigen Tödi mit
grossem Wohlgefallen. Der Vorsatz, so fest und stark, so
cap. 1.] Gkossmütter üi«d Taüfname.
gross und rein zu werden, wie diese Berge, spannte öfters
die Brust des Knaben und reizte seine Kräfte.
Die Familie meines Vaters bewohnte die drei oberen
schöneren und helleren Stockwerke des Hauses. Mit Be-
hagen gedenke ich unsers Wohnzimmers, einer grossen
Stube, welche die ganze vordere Front des Hauses ein-
nahm. Ihre Wände und die Decke waren mit polii'tem
Nussbaumholze getäfelt. Ganze Reihen von Wandschränken,
grossen und kleinen, dienten zur Aufbewahrung und zum
Verschluss der mannigfaltigen Fahrhabe. Gegen die Limmat
hin waren zwei Erker angebracht, die wie zwei Augen
umherschauten. Mit der Wohnstube war ein Alkoven ver-
bunden, der als Schlafzimmer benützt wurde und zu einem
andern Hinterzimmer führte.
Die beiden unteren Stockwerke waren meiner väter-
lichen Grossmutter, Regula Bluntschli, geborenen Stein-
brüchel, zu ihrem Wittwensitze überlassen, Sie war eine
Geschlechtsverwandte des gelehrten Chorherrn Joh. Jakob
Steinbrüchel, welcher sich um die antike klassische Litte-
ratur und das Schulwesen Verdienste erworben hatte. Die
alte schlichte Frau liebte ihren erstgeborenen Enkel zärtr
lieh, und dieser liebte die Grossmutter. Ich erinnere mich
nicht mehr ihrer Züge, aber wohl noch dieser Liebe. Ich
war täglich bei ihr. Der Segen, den sie mir sterbend zu-
rückliess, war ihr letztes Wort.
Ich wurde am 9. März in der Peterskirche getauft.
Mein Taufname, Johann Caspar, war, wie in manchen
Zürcherfamilien, so auch in der meinigen herkömmlich.
Mein Vater und mein Grossvater Messen Hans Caspar.
Mir selber gefiel er niemals, obwohl mir zuweilen die be-
rühmten Züricher Hans Caspar Lavater und Hans Caspar
6 Die Eltern. [cap. 1.
Orelli vorgehalten und versichert wurde, dass einer der
„heiligen drei Könige** Caspar geheissen habe.
Ein Ölbild, welches von dem Portraitmaler Oeri mit
Liebe gemalt wurde, stellte meine Mutter dar, wie sie
mich als ungefähr einjähriges Kind auf dem Arme trägt.
Die hellblonden Haare und die glänzenden blau -grauen
Augen weisen auf den germanischen Ursprung hin, das
Stumpfnäschen aber auf den Bluntschlischen Familientypus.
Auch bei meinen Enkeln zeigte sich anfangs öfters dieses
charakteristische Naschen, das sich freilich im späteren
Leben aüswächst. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der
alte Geschlechtsname sich daraus erklärt.*
Mein Vater, geboren den 18. Februar 1774, war ein
Mann ohne höhere Schulbildung, aber von gesundem und
scharfem Verstand, und durch das Leben zur Selbständig-
keit erzogen. Er hatte nicht ohne Erfolg versucht, die
Mängel seines Schulunterrichtes durch Lesen von Büchern
zu ergänzen. Mit Vorliebe las er Geschichtsbücher und er
machte sich Notizen und Auszüge aus denselben. Die Augs-
burger Allgemeine Zeitung bot seinem geistigen Bedürfnisse
die tägliche Nahrung.
Da sein Vater, der Zunftschreiber Hans Caspar Blunt-
schli, frühzeitig gestorben war, so war er als der älteste und
tüchtigste Sohn der Familie genötigt, für die Mutter und
die Geschwister zu sorgen. Er hatte eine ehehafte Metzg-
gerechtigkeit ererbt, die eine Zeit lang durch Knechte be-
* Jakob Grimm citirt im deutschen Wörterbuch zu dem Worte
„bluntsch** eine Stelle von Hans Sachs: „mein nas ist breit, bluntsch,
munk und kurz", und Stolder (I. 191) erklfirt blunschi als eine ^ dicke,
feste Person**,
cap. 1.] Die Eltern.
trieben und später verkauft ward. Er selber gründete eine
Kerzen- und Seifenfabrik, welche der Familie ein gutes
Auskommen verschaffte und auch die allmähliche Ansamm-
lung von Kapitalvermögen ermöglichte. Unter seinen Mit-
bürgern war er geachtet. Für gemeinnützige Unternehm-
ungen und wohlthätige Werke war er immer bereit, nach
seinen Kräften Beiträge zu geben.
Meine Mutter Katharina, geborene Koller, Tochter
des Freihauptmanns Koller auf der grossen Hofstatt (ge-
tauft 7. September 1785), war eine stattliche Bürgers-
frau, von echt-weiblichem Gemüte und voll Liebe zu ih-
ren Kindern. Sie gebar in ihrer Ehe drei Söhne und drei
Töchter.
Während mein Vater dem Geiste der Aufklärung hul-
digte, welcher die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhun-
derts erhellte und belebte, war meine Mutter der herge-
brachten frommen Sitte treu geblieben. In ihrem Glauben
fand sie Kühe und Trost für ihr Gemüt, viel zu denken
liebte sie nicht. Sie war nicht frei von mancherlei Aber-
glauben, den sie freilich vor dem spottenden Manne mög-
lichst zu verbergen suchte. Ihre Kinder hielt sie zu täg-
lichem Gebete und regelmässigem Kirchenbesuche an. Als
sie später zu bemerken glaubte, dass ihr ältester Knabe, wie
sie es nannte, zum „Freigeist" heranwachse, war sie nicht
ohne Besorgnis für sein Seelenheil. Aber die Mutterliebe
war mächtiger in ihr, als die anerzogene enge Kirchlich-
keit. Sie hatte trotzdem ihre Freude an den geistigen
Fortschritten des Kindes und vertraute der guten Anlage
desselben. Auch vor dem überlegenen Verstände ihres
Mannes hatte sie grossen Respekt und plagte ihn niemals
mit kirchlichen Zumutungen.
8 Das Geschlecht der Bluktschli. [cap. 1.
Das Geschlecht der Bluntschli gehört zu den älteren
Bürgergeschlechtern der Stadt. Schon im Jahr 1401
wurde der erste Bluntschli, der von ZoUikon eingewandert
war, in das städtische Bürgerrecht aufgenommen. Der
Name findet sich schon im dreizehnten Jahrhunderte ur-
kundlich auf dem Lande.*
Die Bürger der freien und im Mittelalter souverain
gewordenen Stadt hatten sich während Jahrhunderten den
Bewohnern der Landschaft gegenüber als „herrschenden
Stand" gefühlt. Jedes Geschlecht hatte auch sein beson-
deres Wappen. Die Bluntschli führten im fünfzehnten Jahr-
hunderte ein altes Hauszeichen 7Ä im Wappen, dann seit
dem sechszehnten Jahrhunderte zwei stehende Rüden an
der Kette, der eine schwarz in gelbem Felde und der an-
dere gelb in schwarzem Felde. Wenn J. Egli in seinem
Wappenbuch der Stadt Zürich das Geschlecht zu den pa-
tricischen Geschlechtem zählt, so ist diese Bezeichnung nur
in dem Sinne richtig, als er alle die Geschlechter Patricier
nennt, welche schon vor der Revolution von 1798 in den
höchsten Räten der Stadt vertreten waren. Aber einen
eigentlichen patricischen Stand gab es in Zürich überhaupt
in den letzten Jahrhunderten nicht mehr. Die drei grossen
reformatorischen Bewegungen unter dem ersten Bürger-
meister Brun (1336), dem gewaltigen Bürgermeister Wald-
mann (zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts) und der
Zwinglischen Reform in der ersten Hälfte des sechszehnten
* Altes Jahrzeitbuch der Insel Ufenau aus dem XIII. Jahrhun-
dert: „ülricus Stapfer de Urikon, qui constituit annuatim dari plebano
hujus ecclesiae in anniversario suo et suorum unum quartale tritici de
bonis suis sitis in Alikon vulgo dictis ^des pluntzlis Gut*,**
cap. 1.] Alte Zürcher Stadtverfassukg. 9
Jahrhunderts hatten den Grundsatz der Gleichberechtigung
und insbesondere auch der Ratsfahigkeit aller Stadtbürger
durchgesetzt und die ältere privilegirte Stellung der alten
Geschlechter längst beseitigt.
Wohl aber bestand in Zürich auch damals noch ein
tliatsächlicher Gegensatz zwischen zwei Klassen der Stadt-
bürger, der eine grosse sociale Bedeutung hatte und zu-
weilen auch politisch wirkte, nämlich der Unterschied der
sogenannten „Herren" und der sogenannten „Burger". Zu
den Herren wurden gerechnet hauptsächlich die Gelehrten
(Geistlichen, Professoren, Arzte, Advokaten), die Grosshänd-
ler und die Kapitalisten, welche von ihren Renten lebten,
zu den Bürgern vorzugsweise die Handwerker, Krämer,
kleinen Gewerbsleute.
Die ganze Bürgerschaft war seit Jahrhunderten in
dreizehn Zünfte geteilt (anfanglich die Konstabier und
zwölf Zünfte), welche durch ihre Wahlen auch den grossen
Rat noch teilweise besetzten. Die verschiedenen Berufs-
klassen der Handwerker teilten sich in diese Zünfte und
gaben denselben grossenteils den Namen. Aber eine gute
Sitte mischte durchweg Herren und Burger in denselben
Zünften. Dadurch wurden auch thatsächlich die beiden
Klassen einander nahe gebracht, und den gebildeteren Ele-
menten ward ein erhöhter Einfluss gesichert. Oft auch
hatten dieselben Familien sowohl Herren als Burger zu An-
gehörigen. Wenn der Sohn eines Handwerkers studierte,
so kam er unter die Herren. Die Zunft zum Widder, zu
der mein Vater gehörte, und der ich später auch beitrat,
hielt besonders zähe an der Gewohnheit fest, bei Wahlen
in den Grossen Rat immer gleich viel Herren und Burger
zu wählen. Mein Vater hielt sich entschieden zu den
10 Bluntschli'bche Gesculeoutsoenossen. [cap. 1.
Burgern und wurde auch als Burger in den Dreissiger-
jahren in den Grossen Rat gewählt. Die alte Sitte wurde
zuerst durchbrochen, als die Zunft später mich anstatt
meines ausscheidenden Vaters erwählte.
Im fünfzehnten und im sechszehnten Jahrhunderte
waren die Bluntschli angesehener als im siebenzehenten und
achtzehnten Jahrhunderte. Einige Geschlechtsgenossen hat-
ten sich in der Zürcherischen Geschichte einen Namen er-
worben.
Ich erwähne folgende Personen:
Johann Bluntschli, der zur Zeit des alten Zürich-
krieges Mitglied des regierenden Rates war und 1444 als
Gesandter der Stadt nach Baden geschickt wurde, um mit
den Eidgenossen über den Frieden zu verhandeln. Während
die Botschaft in Baden war, siegte in der Stadt die öster-
reichische Partei über die eidgenössische und drängte zur
Fortsetzung des Krieges gegen die „Schwyzer". Bluntschli
wurde bei der Rückkehr nebst seinen Mitgesandten, Hans
Meiss und Ulmen Trinkler, in Folge eines Auflaufes der
österreichischen Partei gefangen gesetzt und angeklagt, die
Interessen der Stadt den Feinden preisgegeben zu haben.
Obwohl nur eine Minderheit der Urteiler eine todeswürdige
Schuld aussprach, eine andere Minderheit beharrlich für
Freisprechung stimmte und eine dritte vermittelnde Min-
derheit auf eine Geldbusse antrug, so wurde trotzdem der
Angeklagte auf Befehl des österreichisch gesinnten „Reichs-
vogts" unter dem Beifall der tobenden Menge auf dem
Fischmarkte vor dem Rathause enthauptet. Die spätere
gerechtere Nachwelt hat dieselben als Märtyrer der Schwei-
zerfreiheit geehrt.
Heinrich Bluntschli, welcher gleichzeitig als
Cap. 1.] Ge8CHL£C1IT»0£N088EN. |]
Freund der Eidgenossen derselben aufgeregten Parteiwut
zum Opfer fiel und ebenfalls hingerichtet wurde.
Friedrieh Bluntschli, des Rats seits 1482, ein
Freund des Bürgermeisters Waldmann, und nach dessen
Sturz in dem Aufruhr von 1489 ebenfalls aus dem Rate
gestossen.
Hauptmann Nikiaus Bluntschli, welcher mit seiner
Schar im Schwabenkriege bei Ermatingen von überlegenen
schwäbischen Truppen überfallen und nach tapferer Gegen-
wehr erschlagen ward. Von ihm war das geflügelte Wort:
„Wer sich fürchtet, der ziehe einen Panzer an."
Die beiden Glasmaler Nikolaus und Rudolf Blunt-
schli., zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, in der
besten Zeit der schweizerischen Glasmalerei.
Fridli (Friedrich) Bluntschli, Ratsherr zur Zeit der
Kirchenreform. Er fiel in der Schlacht zu Cappel 1531
als Verteidiger des gereinigten Glaubens.
Der Fähnrich Hans Georg Bluntschli, welcher in
dem Kriege wider die Liga 1587 den Heldentod starb. Er
nahm den angebotenen Pardon nicht an, sondern vertei-
digte seine Regiment^ahne bis zum Tode aufs äusserste.
Man fand noch ein Stück der Fahne in dem Munde seiner
Leiche.
Hans Heinrich Bluntschli, Büchsenschmied und
Artilleriehauptmann, zwang im Jahre 1712 an der Spitze
der Konstabier die Stadt Baden zur Übergabe und erhielt mit
Hauptmann Füssli „hundert Duplonen als Glockenlosung."
Er ist der Verfasser des Buches: „Memorabilia Tigurina",
einer topographisch-statistischen Beschreibung der Stadt
und Landschaft Zürich mit historischen Erinnerungen, ge-
druckt 1721,
12 Zürich ükter Napoleon. [cap. 1.
Heinrich Bluntschli, der früh verblichene Jugend-
freund von Heinrich Pestalozzi, welcher auf des letzteren
geistige Befreiung und Entwicklung einen starken Einfluss
geübt hat.
Im achtzehenten Jahrhunderte und zu Anfang des
neunzehnten gab es wohl einige Geistliche, ein paar Archi-
tekten, mehrere Offiziere in fremden Diensten von meinem
Geschlechte; aber die meisten waren ehrsame Handwerker
und einfache „Burger". In den Räten erschienen sie da-
mals nur noch selten und keineswegs in hervorragender
Stellung.
Meine Geburt und die erste Kindheit fiel in die Zeit,
in welcher der Kaiser Napoleon auf dem Gipfel seiner
Macht stand, Europa mit seiner Universalherrschaft be-
drohte, dann aber bald in jähem Sturze von seiner Höhe
herab fiel. Die Stadt und der Kanton Zürich waren seit
1803 durch die sogenannte Mediationsverfassung neu ge-
ordnet worden. Diese war ein Werk des ersten Konsuls.
Napoleon hatte, nicht ohne persönliches Wohlwollen für
die Schweiz, es unternommen, als Vermittler die ge-
schichtlichen Erinnerungen und Ansprüche der schweizeri-
schen Städte und Länder mit den modernen Stats- und
Rechtsbegriflfen zu versöhnen und die so befriedete Schweiz
der Schutzhoheit des französischen Reiches unterzuordnen.
Die Stadt Zürich hatte ihre mittelalterliche Landes-
hoheit, welche sie über die anderen kleineren Städte und
über die zahlreichen Herrschaften des Kantons Zürich mei-
stens in der Form des Kaufes und des Pfandrechts schon
vor Jahrhunderten erworben hatte, in der helvetischen Re-
volution von 1798 für immer verloren. Ihre Souveränetät
var nun auf den Kanton Zürich ausgebreitet und die vor-
X
i
cap. 1.] Zürich ukd die Schweiz kach Napoleon's Stubzä. 13
mals unterthänigen Landleute waren nun den Stadtbürgern
rechtlich gleichgestellt worden.
Die thatsächlichen Zustände, die Sitten, die Meinungen
und die Vorurteile änderten sich aber nicht so plötzlich
und nicht so durchgreifend wie die Staatsverfassung und
die Gesetze. Ahnlich wie unter dem deutschen Reichsadel
erhielt sich unter den Stadtbürgern eine Zeit lang noch
das hochmütige Gefühl der vornehmeren Rasse und der
höheren Fähigkeit, den Staat zu regieren. Dies souveräne
Selbstgefühl der Stadtbürger reizte hinwieder das Miss-
trauen und den Hass der Landbürger. Gesellschaftlich
blieben die beiden Stände noch lange getrennt, auch nach-
dem sie rechtlich und politisch geeinigt waren.
Die Erhebung Europas wider Napoleon und der Sturz
des französischen Kaisertums hatte auch den Untergang
der schweizerischen Mediationsverfassung zur Folge. Für
die deutsche Nation bedeutete der grosse Krieg jener Tage
Befreiung von einer unwürdigen und verhassten Fremd-
herrschaft. Für die Schweiz aber bedeutete die damalige
Wandelung einen politischen Rückschritt in vergangene
Zustände. Die damalige Züricher Regierung, an deren
Spitze die Bürgermeister von Reinhard und von Wyss
standen, verhütete besonnen den vollen Sieg der Reaktion,
indem sie sowohl den Fortbestand der neuen Kantone (der
vormaligen gemeinen Heri'schaft) zu schützen, als die po-
litische Befreiung der Landschaft von der Unterthänigkeit
unter die Stadt im Prinzip zu bewahren suchte.
Die neue Bundesverfassung der Schweiz vom
17. August 1815, welche endlich unter der Vermittlung
der europäischen Mächte zu Stande gekommen war, be-
stätigte die Gleichberechtigung der neuen mit den alten
\4: Zürcher Kaktoksverfasbvno von 1814. [cap. 1.
Kantonen und verwarf jede Erbunterthänigkeit für die
Schweiz, aber sie zerstörte wieder das bescheidene Mass
von politisclier Einigung der Kantone, welches die Media-
tionsverfassung gewährt hatte, und begünstigte so den Par-
tikularismus der „souveränen Kantone** und damit den
„Kantönligeist** im Gegensatze zu dem nationalen Gemein-
geiste.
Auch die Zürcherische Kantonsverfassung vom
11. Juni 1814 war im Vergleich mit der Mediationsver-
fassung von 1803 eher ein Rückschritt aus der neuen Zeit
in die Vergangenheit. Zwar erkannte sie die Souveränetät
des Kantons an und ebenso die Berechtigung der Land-
bürger, aber sie begünstigte doch wieder möglichst die that-
sächliche Herrschaft der Hauptstadt und die Vorrechte der
Stadtbürger.
In den Grossen Rat von 212 Mitgliedern, das oberste
souveräne Organ für die Gesetzgebung und die Oberaufsicht
über die Regierung und die Gerichte, wurden 26 Mitglieder
von den 13 Zünften der Stadt, 5 von Winterthur, 51 von
den 51 Zünften der Landschaft gewählt. Zu den so ge-
wählten traten dann 130 von dem Grossen Rate selber
gewählte Mitglieder hinzu. Diese indirekte Wahl wurde
aber so eingerichtet, dass von 5 Mitgliedern nur eines vom
Lande, die übrigen vier aus den Stadtbürgern gewählt
wurden. Die Stadtbürger erhielten so im Grossen Rate
das entschiedene Übergewicht.
Ebenso bestand die grosse Mehrheit der Ratsherren
in dem Kleinen Rate (der Regierung) und in dem Ober-
gerichte aus Stadtbürgern. Die meisten Oberämter auf
dem Lande wurden wieder thatsächlich mit Stadtbürgern
besetzt. Fast alle Offizieisst eilen in der Miliz und die
\
cap. 1.] Erste Kindheitsebiknerunoek. 15
meisten Pfarrämter wurden ebenso von Stadtbürgern ver-
waltet. Es war daher begreiflich, dass trotz der Verfas-
sungsvorschrift, dass es keine ausschliesslich privilegierten
Klassen geben dürfe, die Stadtbürger sich vorzugsweise
für berufen ansahen, die öffentlichen Amter zu besetzen.
Politische Ereignisse spielten in einzelnen gehobenen
Momenten auch in das Leben des Kindes hinein. Ich .er-
innere mich, dass uns Kindern «loch manche haarsträubende
Geschichte erzählt wurde von den Kämpfen der Franzosen
nüt den Bussen und Österreichern, zumal von der Schlacht
bei Zürich (25. September 1799), in welcher der franzö-
sische General Massena den russischen General Korsakow
zurück warf. Auch die Beschiessung der Stadt durch den
helvetischen General Andermett (13. September 1802) leuch-
tete mit ihren glühenden Kugeln noch in die Bilder hinein,
Avelche mein Kindesleben umgaben.
Die vorherrschende Strömung in der Stadt war wäh-
rend der Revolutionskämpfe auf Seite der AUierten Oster-
reich und Russland, welche die Revolution bekämpften.
Auf dem Lande dagegen waren die Sympathien meistens
für Frankreich. Die Landbürger verdankten ihre Befrei-
ung von der Stadthen^schaft und ihre politische Erhebung
grossenteils den Impulsen der französischen Revolution.
Indessen gab es auch in der Stadt einzelne frei denkende
Männer, welche die Umgestaltung der öffentlichen Zustände
begriffen und billigten ; und auf dem Lande gab es manche
treue Anhänger der Stadt, welche der Verdienste dieser
um die gemeine Wohlfahrt und die Bildung gerne und
dankbar gedachten.
Aus der Zeit der Befreiungskriege erinnere ich mich
noch, zuweilen österreiche und russische Truppen auf dem
16 Schulzeit. [cap. 2.
Durchmarsche geßehen und bewundert zu haben. Ganz
vorzüglich aber hinterliess mir die Illumination der Stadt
zu Ehren der drei verbündeten Monarchen von Osterreich,
Preussen und Russland, als dieselben auf ihrer Rückreise
von Paris durch Zürich kamen, einen unauslöschlichen Ein-
druck. Die glänzende Stadtbeleuchtung strahlte in den
Augen des siebenjährigen Knaben um so heller, als ich
mir einbildete, im Verein mit den Nachbarskindern selber
vieles unter der Leitung meines Vaters zu dem Erfolge
beigetragen zu haben, denn wir Kinder hatten geholfen die
Lämpchen zu bereiten. Auch das Türmchen des Steinböckli
prangte damals durch einen hellen Stern, der über dem
transparenten Doppeladler sich leuchtend erhob.
2.
Die Schulzeit. Elementaxscliule. Schochisches Instittit. Gelehrte
Schule. Der Aufstand der Griechen. Die Konfirmation.
In der städtischen Elementarschule, gewöhnlich die
A.B.C.schule genannt, lernten die Kinder, Knaben und
Mädchen gemischt, die Anfangsgründe im Lesen, Schrei-
ben und Rechnen. Damals war noch die alte Methode
in Übung, welche die Rute nicht entbehren zu können
meinte. Auch mit dem Lineal wurde noch tüchtig auf die
Finger geklopft. Seitdem sind diese hölzernen Lehr- und
Zuchtmittel aus der Volksschule verbannt worden, und die
Kinder lernen mehr als zuvor, und ihre Sitten sind besser
geworden.
Ich wurde schon als dreijähriger Knabe nach dem
Tode der Grossmutter in diese Schule geschickt. Man
cap. 2.] Schoch'sches Institü*. 17
wusste zu Hause das lebhafte Kind nicht hinreichend zu
beschäftigen und benutzte daher die offene Gelegenheit,
dasselbe zum Stillsitzen und Lernen anzuhalten. Der kleine
Geist war frühzeitig aufgewacht. Die Eltern versicherten
mich, dass ich schon als einjähriges Kind mancherlei Worte
gesprochen habe.
Aus der ersten Schulzeit ist mir nur sehr weniges im
Gedächtnis geblieben; nur erinnere ich mich deutlich, dass
ich damals einer ernsten Lebensgefahr glücklich entgangen
bin. Unvorsichtig stürzte ich, von der Schule kommend,
von der zur Limmat führenden Treppe in den Fluss, wel-
cher dort, oberhalb der untern Brücke, ein starkes Gefalle
hat. In dem aufgeregten Instinkt der Lebenserhaltung
erfasste ich rasch im Fallen die Kette, mit welcher ein
Schiff am Ufer befestigt war. Indem ich mich krampfhaft
daran festhielt, schwebten die Beine und der Unterleib in
dem strömenden Fluss. In der höchsten Not erschien
die Rettung. Als meine Kräfte nahezu aufgezehrt waren
und die Furcht über mich kam, dass ich die Kette nicht
länger zu halten vermöge, eilte eine befreundete Dame
herbei und zog mich aus dem Wasser.
Die städtische Lateinschule besuchte ich nicht. Es
bestand damals in Zürich eine Privatschule das sogenannte
Institut des Pfarrers Schoch, dessen Unterricht für vor-
züglicher galt als der in der öffentlichen Schule. Mein
Vater scheute die hohem Kosten nicht, mich diesem In-
stitut anzuvertrauen. Es gab da einige gute Lehrer. Ausser
dem Latein wurde auch die deutsche Sprache gelehrt. Ich
kann über das Einzelne keine Rechenschaft geben; aber
im Ganzen habe ich den Eindruck behalten, dass ich in
diesem Institut ziemlich viel gelernt habe.
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 2
18 Knabentbeibek. [cap. 2.
Ich war gutmütig und lernbegierig, aber wenn ich
gereizt ward, ein wilder unbändiger Bube. So verteidigte
ich einmal ein Mädchen, welches von andern Knaben des
Instituts arg gehänselt und geplagt wurde, mit einer Ber-
serkerwut, welche mir bei den Mitschülern den Spott-
namen der Hyäne eintrug. Aber ich war stolz auf meinen
Sieg, und das Mädchen blieb mir lange dankbar.
Ein ander Mal hatte ich mit einem von Natur hef-
tigen Lehrer einen Streit. Derselbe wollte mich mit Ge-
walt und nach meinem Gefühl ungerecht züchtigen. Wü-
tend lief ich fort nach Hause und erklärte meinem Vater,
ich könne solche Misshandlung nicht ertragen. Die Sache
wurde durch Rücksprache mit dem Vorstand des Instituts
beigelegt, und ich hatte mich niemals wieder über rohe
Gewalt zu beklagen.
Die Stadt Zürich war damals noch befestigt. Die
grünen Schanzen mit ihren Wällen, Gräben und Vor-
sprüngen waren ein prächtiger Tummelplatz für die Spiele
der Jugend. Auch die dunkeln unterirdischen Casematten
wurden vielfaltig benutzt. In jener Zeit der Restauration
gährten auch in der deutschen Litteratur romantische
Triebe. Das Ritterleben des Mittelalters schimmerte in
poetischem Glänze. Auch die Knaben lasen begierig und
heimlich die Räuber- und Ritterromane, die damals er-
schienen. Das abenteuerliche Wesen gefiel uns. Es wurde
unter uns ein Ritterorden gestiftet, und wir verbanden uns
feierlich, Löwenritter zu spielen. Unsere Panzer, Helme,
Schilde waren freilich nur von Pappendeckel, die Schwer-
ter nur von Holz geschnitzt; aber der Überzug mit Silber-
papier und die goldpapierenen Bilder darauf regten den-
noch die ritterlichen Gefühle in uns auf und reizten zur
cap. 2.] Gymnasium. 19
Hoffahrt. In den Schanzen waren unsere Burgen, die Ca-
sematten waren unsere Burgverliesse und Verstecke. Auch
an Kämpfen mit andern fehlte es nicht.
Ich habe im reiferen Lebensalter grosse Gelehrte,
angesehene Künstler und mächtige Fürsten kennen gelernt,
welche mit ungleich grösserem Aufwände von Geist und
Geld als erwachsene Männer noch an denselben mittelalter-
lichen Phantasiespielen ihre Freude hatten, die uns einst
als Kinder beglückt hatten. Uns haben diese Spiele nur
einige Jahre lang in unserer Kindheit angezogen. Der Ein-
blick in das reale Leben der Gegenwart führte uns bald
über diese Stufe hinweg.
Im Jahr 1819, dem Jubeljahre der Zwinglischen Kir-
chenreform, wurde ich als eilfjähriger Knabe in die „Ge-
lehrte Schule" aufgenommen. So wurde das Zürcher Gym-
nasium benannt, welches von dem Chorherrnstift zum
Grossen Münster geleitet und unterhalten ward. Die Schule
hiess auch schola Carolina, zu Ehren des Kaisers Karl des
Grossen, welcher als Stifter der Propstei Grossmünster
fortwährend hochgefeiert ward.
Das Andenken an den Kaiser Karl war in der Zür-
cher Jugend noch lebendig. Wir blickten mit Verehrung
zu dem Bilde des Kaisers auf, welches an der Aussenseite
eines Münsterturmes in Stein gemeisselt war. Da sass
er majestätisch, das blanke Schwert auf dem Schosse, die
Krone auf dem Haupt, als richtender König auf dem Throne.
Unter den Schulkindern wurde die neckische Rede
noch immer von Mund zu Mund überliefert:
De Kaiser Karli häd en Hund
Rat wie heisst Kaiser Karlis Hund.
Der Name „Ratwie" und die Frage „Rat' wie" verwirr-
2*
^0 Kaiser Karls-Sage. [cap. 2.
ten die Neulinge, und die Frage und die Antwort suchten
sich wechselnd zu täuschen.
Einen tieferen Eindruck machte auf mich die alte
Sage von der Gerechtigkeit des Kaisers, die uns Knaben
oft erzählt wurde. Man versicherte uns, der Kaiser habe
in dem Hause zum „Loch", welches zu unserer Schule ge-
hörte, und wo der Chorherr Bremi, unser Professor im
Griechischen wohnte, seinen Hof gehalten. Am Thor war
ein Glockenstrang angebracht, an welchem die Rechtsbe-
dürftigen zogen, um Gehör zu erhalten. Eines Tages nun
schellte die Glocke ; aber der Diener, der nachsehen sollte,
wer da sei, sah Niemanden vor dem Thor. Dann schellte
es wieder, zum zweiten und zum dritten Male. Endlich
entdeckte der Diener eine Schlange, welche die Glocke an-
gezogen hatte, und meldete das dem Kaiser. Dieser be-
fahl die Schlange einzuführen. Da neigte sie sich vor dem
Kaiser und brachte ihre Klage vor wider eine grosse
Kröte, welche sich ihres Nestes bemächtigt habe und ihre
Brut bedrohe. Der Kaiser folgte nun der Schlange, um
an Ort und Stelle einen Augenschein zu nehmen, und fand
die Klage begründet. Dann liess er die Kröte wegnehmen
und in die Limmat werfen. Als er später bei Tische sass
in seiner Pfalz, erschien die Schlange nochmals, um sich
für den Richterspruch zu bedanken, und überbrachte dem
Kaiser als Gabe einen Edelstein, welcher die Zauberkraft
besass, die Liebe des Kaisers anzuziehen und festzuhalten.
Der Kaiser liess den Stein in Gold fassen und schenkte
ihn seiner Gemahlin, welche das Kleinod beständig am
Leibe trug. Als sie starb, wollte der Kaiser sich nicht
von der Leiche trennen, weil diese mit dem Steine ge-
schmückt blieb. Endlich gelang es den Hofleuten, den
(Jap. 2.] Lehb£b der schola cabolina. 21
Stein zu entfernen und die Leiche zu begraben. Sie warfen
denselben in eine Quelle bei Aachen. Von da an wendete
sich die Gunst des Kaisers dauernd der Aachener Quelle zu.
Die Gelehrtenschule war in drei Classen getheilt, jede
Classe wurde von einem Hauptlehrer geleitet. Der Unter-
richt war vorzugsweise auf die alten Sprachen gebaut, das
Lateinische und später das Griechische. Die Zürcherischen
Gelehrten waren seit alter Zeit berühmt durch ihi^e philo-
logischen Leistungen, und die Bekanntschaft mit der antiken
Litteratur war in der Stadt ziemlich verbreitet, bis in die
höher gebildeten kaufmännischen Kreise hinein. Die beiden
ersten und untern Classen waren für gute Schüler auf ein
Jahr berechnet. Die oberste dritte Classe dagegen umfasste
zwei Jahrgänge. Die Schüler des zweiten Jahres, die so-
genannten „Alten", machten dann ihre Überlegenheit in
Alter und Erfahrung über die Schüler des ersten Jahres,
die „Jungen", in der Weise geltend, dass jeder Alte aus
den Jungen sich einen Leibfuchs erwählte, der sich zu ihm
halten und gelegentlich ihm kleine Dienste leisten musste
und dagegen den hohen Schutz und die Gunst des Patrons
erwarb.
Die Lehrer waren durchweg Genossen der reformirten
Geistlichkeit, aber ohne kirchliche Engherzigkeit und ohne
pietistische Süssigkeit. Sie führten uns in das antike heid-
nische Wesen und Leben mit philologischer Unbefangenheit
ein. Aber an Talenten und Wirkung waren sie sehr ver-
schieden. Mit strammem Ernste regierte in der ersten
Classe mein Nachbar aus der Schipfi, der Pfarrer Hafner,
und hielt uns zum Fleisse an. Der Oberlehrer der zweiten
Classe aber, der Provisor Wolf, war ein gutmütiger
schwacher Herr, der die übermütigen Jungen nicht zu be-
22 Pfarrer Weiss. Griechenaufstand. [cap. 2.
herrschen wusste, und dem gelegentlich arg mitgespielt
wurde. Ein Beispiel mag dafür zeugen. An einem heissen
Sommertage nahmen wir aus Spass kleine Schachteln mit
Mehl in die Schule mit, fingen dann Fliegen, benetzten
dieselben mit Speichel und schüttelten sie in den Schach-
teln. Darauf Hessen wir die weissen Dinger während des
Unterrichts fliegen, zum Erstaunen des Lehrers, der nicht
wusste, was das für seltsame Insekten seien. Er forderte
dann einige Schüler auf, ihm ein Exemplar einzufangen,
was natürlich zu allgemeiner Erheiterung der Classe, aber
zur Beschämung des Lehrers gelang.
In dieser Zeit fing mein früherer Lerneifer an nach-
zulassen. Im Vertrauen auf meine Begabung verfiel ich
in lässige Bummelei. Vielleicht wäre ich trotz der guten
Anlage doch versunken, wenn ich nicht in der dritten
Classe einen Lehrer gefunden hätte, der mich anzuregen
verstand. Als Oberlehrer in der dritten Classe fungirte
damals der Pfarrer Weiss, ein tüchtiger Schulmann. Er
hatte es bemerkt, dass meine Arbeiten hinter meinen Fähig-
keiten zurückblieben. Eines Tages Hess er mich zu sich
auf sein Studierzimmer kommen und redete mir da mit
Wärme und Ernst in's Gewissen. Von diesem Tag an
vollzog sich eine Wendung in mir. Ich entschloss mich,
meine Kräfte anzustrengen und wurde dann leicht der erste
Schüler in meiner Classe. Dem trefflichen Manne, welcher
später als Präsident des Zürcherischen Erziehungsrats das
ganze Schulwesen des Cantons leitete, bin ich für die da-
malige aufrüttelnde Mahnung stets dankbar geblieben.
In den Schluss dieser Schulzeit fallt meine erste Be-
teiligung an dem politischen Leben der Gegenwart. Der
Aufstand der Griechen wider die Türken fand in den
Cap. 2.] . CONFIBMATION. 23
Herzen der studierenden Schuljugend ein lebhaftes Mitge-
fühl. Es waren weniger die religiösen Motive, weniger
die Befreiung des Kreuzes von der Herrschaft des Halb-
mondes, die uns aufregten, als die romantische Verehrung
für die alten Griechen, unsere Lehrer und Vorbilder. Wir
glaubten in den aufständischen Hellenen die Nachkommen
von Themistokles und Perikles, von Sophokles und Piaton
ehren zu sollen. An der Spitze des Zürcher Hülfs-Comites
stand unser Lehrer im Griechischen, der Chorherr Bremi.
Nach dem Herkommen sammelten die Schüler der
obersten Classe während des Schuljahrs einiges Geld, um
den Austritt aus der Schule und den Übergang in die
höhere Schule, das sogenannte CoUegium humanitatis, wür-
diger feiern zu können. Das so gesammelte Geld (sechs
und zwanzig Zürcher Gulden)* opferten wir nun der grie-
chischen Sache und behalfen uns für die Abgangsfeier mit
unsern übrigen Mitteln. Ich habe den dankenden Em-
pfangsschein (vom 12. Dec. 1822) des Chorherrn Bremi
sorgfältig aufbewahrt, als ein teures Andenken aus früher
Jugend.
Den Confirmations-UnteiTicht erhielt ich von dem
Helfer (Diacon) Breitinger zu Sanct Peter, einem zwar
streng gläubigen, aber zugleich woh^oUenden und freund-
lichen Manne. Am meisten zog mich in diesem Unter-
richte die geschichtliche Vergleichung des Christentums
mit andern Religionen an. Gegen die dogmatische Darstel-
lung der christlichen Lehre hatte ich starke Zweifel, welche
der Geistliche nicht zu beseitigen vermochte. Ich hatte
zuvor Becker's Weltgeschichte gelesen, und es war durch
* 1 Zürcher Gulden = neun Schweizer Franken.
24 COLLEOIÜM HUMAUITATIS. [cap, 3.
dieses Buch mein naiver Glaube an die tiberlieferte Kirchen-
lehre erschüttert worden. Es kostete mich einen schweren
Seelenkampf, um die Frage zu entscheiden: Soll ich das
kirchlich vorgeschriebene Gelübde leisten oder ablehnen?
Die volle Aufrichtigkeit drängte zum Nein; die bisher un-
verbrüchlich beachtete Sitte forderte das Ja. Zuletzt ent-
schied die Scheu des Knaben, einen öffentlichen Scandal
zu wagen, während er doch des eigenen Urteils noch
nicht sicher war. Die liebevolle und milde Weise des
Lehrers, der auch abweichende Auslegungen zuliess, er-
leichterte den Entschluss. Ich unterzog mich den Beding-
ungen der Confirmation,
3.
GoUegium humanitatis. Philologische Glasse. Wissenschaftliche
Übungen und Aufsätze. Eine Erscheinung. Der Zofingerverein.
Übergang zur Rechtswissenschaft. Das politische Institut.
Der Übergang aus der Gelehrtenschule in das CoUe-
gium humanitatis war ein grosser Fortschritt im Jugend-
leben. Die Gelehrtenschüler wurden noch mit Du ange-
sprochen, im GoUegium humanitatis aber trat das „Ihr"
an die Stelle des Du. Es war das eine Zwischenstufe zum
„Sie", welches den erwachsenen Fachstudenten der späteren
Jahre nicht mehr vorenthalten werden durfte. Nach Zür-
chersitte wurden die Dienstboten, aber auch die Bauern,
und in der Familie oft die Eltern von den Kindern mit
der älteren Form „Ihr" angeredet, femer und höher stehende
Personen aber mit „Sie".
Das Collegium humanitatis, im vulgären Sprachge-
brauch auch die „Siebente" genannt, war wieder auf einen
cap. 3.] Philologische Clabsf, 25
zweijährigen Cursus berechnet. Der Unterricht in den alten
Sprachen und in der Litteratur der Römer und Griechen
blieb das Hauptstudium. Auch die darauf folgende soge-
nannte philologische Classe, die „erste Achte** genannt, be-
hielt denselben Grundcharakter. Die erstere Schule wurde
in den Räumen des vormaligen Frauenklosters zum Frau-
münster gehalten, die letztere in dem Gebäude der Propstei
Grossmünster.
An tüchtigen Philologen war in Zürich kein Mangel.
Auch wir hatten damals einige ausgezeichnete Philologen
zu Lehrern. Ich nenne vorzüglich den Professor Ochsner,
einen feinen Kenner des Ciceronianischen Latein, Professor
Ulrich Fäsi, einen wohlgeschulten und treiflichen Lehrer
im Griechischen. Am anregendsten aber wirkte der Pro-
fessor Johann Caspar Orelli, der Herausgeber des Cicero,
ein Mann von jugendlichem Feuer auch in höherem Alter
und mit einem Anflug von Genialität, welche begeisterte.
Es schadete seinem Ansehen gar nicht, dass man in seiner
Stube sich kaum bewegen konnte, ohne über die massen-
haft umher liegenden Bücher zu stolpern. Er war von der
Liebe zu den alten Classikern erfüllt und wusste diese
Liebe auch in den Schülern anzufachen. Zuweilen blitzte
auch ein freier reformatorischer Gedanke in seinen Vor-
trägen auf und zündete in den Köpfen der Zuhörer.
Aber es gab auch andere Lehrer, die nicht so günstig
wirkten. Der Chorherr Ulrich war ein wohlwollender und
gründlicher Lehrer im Griechischen, aber pedantisch und
langweilig. Indem er den Homer erklärte, blieb er in den
grammatischen Formen stecken und entleidete uns den
grossen Dichter durch die kleinliche Betrachtung der ein-
zelnen Wörter. Erst als ich zu Hause die Ilias und Odyssee
26 Studien in der deutschen Litteratur. [cap. B.
rascher durchlas, bekam ich ein besseres Bild von dem
herrlichen Werke. Unter uns Schülern war aber damals
der reformatorische Geist so stark, dass er auch den alten
ängstlichen Lehrer mit fortriss. Wir opponirten uns näm-
lich in der griechischen Stunde der bisherigen Zürcher-
Methode, das rj als i zu lesen, und lasen es, wie in Deutsch-
land, als e. Es blieb dem Lehrer schliesslich nichts übrig,
als den Schülern nachzugeben, welche beharrlich der Au-
torität der alten Gewohnheit die der fortschreitenden Wis-
senschaft entgegen setzten.
Weit schlimmer war es in dem hebräischen Unter-
richte bei Chorherr Usteri bestellt. Der gutmütige und
wunderliche Herr hatte gar keine Autorität über die Schüler.
Seine Schwächen wurden arg missbraucht. Einmal sagte
er, er wünsche, dass ihm die Schüler mit Liebe entgegen
kommen. Darauf ging ihm die ganze Classe am folgenden
Tag bis zur oberen Brücke entgegen und gab ihm das Ge-
leite bis zur Schule. Er hatte die Gewohnheit, hart an
den Schulbänken durch das Zimmer zu gehn. Nun wurden
diese am Bande mit weisser Kreide beschmiert, die sich
an dem langen schwarzen Rocke abdrückte. Neues wurde
bei diesem Lehrer nicht gelernt, eher das Alte vergessen.
Es gab noch einige ungeeignete Lehrer, in deren
Stunden Allotria getrieben wurden. Meine Liebhaberei war
es damals, wenn mir der Unterricht langweilig wurde, die
Schriften der deutschen Classiker zu lesen. Auch Klop-
stocks Messiade habe ich so in der Schule durchgelesen.
Überhaupt beschäftigte ich mich damals viel mit der
deutschen Litteratur, sowohl der des Mittelalters als der
neueren Zeit. Mit grossem Interesse las ich die Nibelungen
in der alten Sprache und ebenso die Gedichte der Minne-
cap. 3.] Philosophische Studien. 27
Sänger. Ich übersetzte den älteren Siegesgesang auf König
Ludwig aus dem neunten Jahrhundert und das Loblied auf
den Erzbischof Hanno von Cöln aus dem eilften Jahrhun-
dert. Mehr aber zog mich die neuere Litteratur unserer
Klassiker an. Eines Tages fragte Professor Orelli den etwa
siebenzehnjährigen Jüngling: Wie stellen Sie sich zu Schiller
und Goethe? Ich erwiderte: Schiller packt mich tiefer und
begeistert mich mehr. Darauf bemerkte Orelli: Das passt
zu Ihrem Alter. Die Zeit wird schon kommen, in der Sie
bei Goethe einen höheren Genuss finden werden. Er hatte
richtig gesehen. Es kam eine Zeit, in welcher die Vorliebe
für Schiller in den Hintergrund trat, und das sonnige Bild
Goethes mir heller erschien. Aber noch später kam wieder
eine Zeit, in der ich die grosse veredelnde und befreiende
Wirkung Schillers auf die deutsche Nation wieder voller
schätzte und der Wirkung Goethes auf die höher Gebildeten
und Denkenden als ebenbürtig an die Seite stellte. Die
öifentliche Schule kümmerte sich wenig oder nichts um
die deutsche Litteratur. Es wurde das dem Privatstudium
überlassen.
Bei Chorherrn Hirzel, einem eleganten Schriftsteller
mit sarkastischen Neigungen, erhielten wir Unterricht in
der deutschen Philosophie. Es herrschte damals, wie in
Deutschland, so auch in Zürich die Kantische Philosophie.
Ausserdem erhielt ich noch Privatstunden bei Professor
Conrad Orelli, einem Bruder des Philologen, in der Ge-
schichte der griechischen Philosophie. In Verbindung mit
einigen Schulgenossen las ich zu Hause in den Schriften
von Piaton.
Diese philosophischen Studien interessierten mich wohl;
aber ich sah darin nur ein geistreiches Gedankenspiel und
28 Wissenschaftliches Leben, [cap, 3,
fand doch keine volle Befriedigung darin. Die Ergebnisse
erschienen mir bald zu unsicher, bald zu inhaltsleer. Zu
blosser abstracter Speculation fühlte ich keine Neigung und
hatte ich kein Talent.
Die mathematischen und die Naturwissenschaften wur-
den fast gänzlich vernachlässigt. Ich suchte im Gefühl
dieses Mangels Einiges nachzuholen, indem ich bei einem
Mathematiker Privatstunden nahm. Dieses Nebenstudium
war aber, obwohl der Lehrer recht tüchtig und ich fleissig
war, doch nicht genügend, um die Lücke in der wissen-
schaftlichen Vorbildung auszufüllen. Ich habe dieselbe später
oft schmerzlich empfunden.
Unter uns Studierenden war damals ein reges wissen-
schaftliches Leben. Ich nahm an mehreren VerbiL düngen
teil, welche in verschiedenen Richtungen das studentische
Leben förderten. Des griechischen Kränzchens, in dem wir
vorzüglich Piatons Schriften lasen, habe ich bereits erwähnt.
Eine andere Gesellschaft war der Übung in deutschen Auf-
sätzen gewidmet. Wir baten einen älteren Studenten, die
Arbeiten zu leiten.
Einige Aufsätze, die ich verfasst hatte, haben sich
in meinen Papieren erhalten. So schon ein Aufsatz über
den Kaiser Trajan vom Jahr 1823. Ich wagte darin, über
die beste Statsverfassung meine Ansicht auszusprechen, die
freilich noch kindisch war, aber trotzdem die Keime der
spätem Entwicklung erkennbar darstellte. Ich meinte, die
Demokratie passe eher für höhere Wesen als die Menschen,
weil die wahre Freiheit nur in Verbindung mit der Tugend
und d«r Einsicht bestehen könne, diese beiden aber in den
Massen nicht hinreichend gesichert seien. Von der Aristo-
kratie bemerkte ich, wenn sie in Wahrheit wäre, was ihr
cap. 3.] Aufsatze. 29
Name besagt, so wäre nichts gegen diese Statsform ein-
zuwenden; aber die Erfahrung lehre, dass die Vornehmsten
nicht immer die Besten seien, und dass sie die Menge ge-
wöhnlich in der Unwissenheit und llohheit erhalten, um
dieselbe leichter beherrschen zu können. Ich erklärte, die
eingeschränkte, repräsentative Monarchie sei zwar auch
nicht ohne innere Kämpfe und nicht ohne Gefahren, aber
jedenfalls der absoluten Monarchie vorzuziehen und dann
am besten, wenn die monarchische Regierung im Einver-
ständniss mit der frei gewählten Volksvertretung die An-
gelegenheiten leite. Es zeugt für die Unbefangenheit und
Freiheit unserer Beratung, dass in der Republik und unter
lauter Republikanern der constitutionellen Monarchie sol-
ches Lob gespendet werden durfte.
Ein anderer Aufsatz aus dem Jahr 1825 behandelte
das Thema über den Selbstmord. Das Motto aus Plutarch :
„Der freiwillige Tod darf nicht eine Flucht aus dem Leben,
er darf nur eine Lebensthat sein" bezeichnet meine Auf-
fassung. In der Regel ist der Selbstmord verwerflich, zu-
weilen entschuldbar, in seltenen Ausnahmsfallen eine rühm-
liche That.
In demselben Jahre wurde ich berufen, zum ersten
Mal eine öffentliche Rede zu halten, und zwar als Studiosus
Classis Philologicae eine lateinische Rede vor den Profes-
soren, Honoratioren und den Studenten der Stadt. Ich
wählte als Thema die Vorteile und Nachteile der Armut
und des Reichtums für das wissenschaftliche Studium.
(De commodis atque incommodis vel paupertatis vel divi-
tiarum ad operam litteris dandam.)
Im Jahr darauf (9. Juli 1826) veranstalteten wir eine
öffentliche Festfeier im Freien zur Erinnerung an die Schlacht
30 Erste Reden. [cap. 3.
von Tätwyl (26. Dec. 1351). Es war das ein für die Züricher
rühmlicher Tag gewesen, indem sie, von einer österreichisch-
aargauischen Übermacht überfallen und umschlossen, sieg-
reich den Durchbruch erstritten. In frühem Zeiten war
der Sieg alljährlich durch eine Wallfahrt nach Einsiedeln
gefeiert worden. Seit Jahrhunderten war das gefährliche,
aber unbedeutende Treffen in Vergessenheit geraten. In-
dem wir das Andenken daran als Zürcher Studenten wieder
auffrischten, folgten wir mehr dem jugendlichen Drang, ein
vaterländisches Volksfest zu feiern, als der Einsicht in den
Wert der gefeierten That. Von den Studiengenossen wur-
den der Studiosus theologiae Hans Meyer und ich zu
Festrednern erwählt. Wir entledigten uns des Auftrags
auf dem Schlachtfelde zur Zufriedenheit der Anwesenden.
Die gährenden Gedanken und Triebe der Jünglings-
zeit sind am klarsten ausgesprochen in einem Aufsatze,
eine Erscheinung betitelt, vom Jahr 1827, den ich auch
in späteren Jahre gerne wieder gelesen habe, und der mir
wie eine Vorahnung des künftigen Lebens erschien. Das
schöne Wort von Goethe war als Motto gewählt worden:
„War' nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt' es nie erblicken;
Lag' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken.**
Ich schilderte darin meine Lieblingsaussicht von der
Höhe des Zürichberges auf die geschäftige Stadt, den blauen
See mit seinen prangenden Ufern und das Schneegebirge.
Ich meinte „die Entwicklung der gewiss mit Unrecht tot
genannten Natur" zu schauen. Aber vor allem „zog mich
das tiefe, unendliche himmlische Blau des Äthers liebend
zu sich empor". In der That kannte ich in meiner Jugend
cap. 3.] Eine Erscheinung. 31
keinen reineren und höheren Genuss, als auf dem Berge
im Grase liegend in den wolkenlosen, sonnenbeglänzten
Lufthimmel hinauf zu schauen und mich in dem Gedanken
des Unendlichen zu verlieren.
Dann kommt die Erscheinung wie ein Traum über
mich. Es wird dunkel um mich und nur in der Ferne
gewahre ich einen dichten Rauch, der von einer mächtigen
Flamme Zeugnis gibt. Ich sehe zwar nur den Rauch,
nicht die Flamme, dennoch werde ich von der Rauchsäule
unwiderstehlich angezogen. Aber der Weg dahin ist durch
Gestrüppe, Mauern, Gräben verlegt und durch wilde böse
Tiere, insbesondere auch durch Schlangen gefährdet. Ich
drang aber mutig vorwärts und hieb mit einer scharfen
Rute, die ich unterwegs gebrochen, tapfer auf die Natter-
brut ein, welche sich vor mir zurückzog und in Pflanzen
verwandelte. Schon sah ich die Flamme deutlicher und
näher. Aber nun waren auch meine Kräfte erschlaift. Die
behagliche Ruhe gefiel mir und der heitere Lebensgenuss.
Da warfen sich wieder und noch gefahrlichere Raubtiere
zwischen die Flamme und mich; im Hintergrunde lauerte
ein Drache, dessen ungeheurer Leib wie ein Meer sich ins
Unendl^ ^ auszudehnen schien, und in dessen Schuppen
sich ' mme widerspiegelte. Die kleinen Augen des
U'^ ^chossen vergiftete Pfeile aus, und aus dem
\en drohte die ewige Finsternis.
te myjh vor dem Untier und wendete
\|ich lockenden Thale zu, das sich mir
öffnete, x.^^^^.^a war von einem schimmernden Lichte er-
hellt von gelblichem Glänze, und es sprudelte darin eine
Quelle, deren Genuss den Durst eher aufregte als stillte.
Rings um mich spielten Flämmchen, wie Irrlichter. Der
32 Eine EIbscheinuko. [cap. 3.
Boden unter mir wurde weicher, und ich sank tiefer in den
Sumpf. Da hüpften die Frösche, Kröten und Heuschrecken
um mich her und verhöhnten mich. Da entbrannte mein
Zorn, und wieder schlug ich mit meiner Zaubergerte unter
das Gesindel und auf den Boden, der von der Rute ge-
troffen fester wurde. Die Sehnsucht nach der einst ge-
suchten Flamme, die ich nur in der Rauchsäule noch er-
kannte, erwachte wieder mächtig in mir. Ich gelobte, sie
nicht mehr aus den Augen zu verlieren und zu ihr durch-
zudringen, trotz aller Gefahr. Diesen Entschluss vollführte
ich, durch keinen Unfall entmutigt und durch keine Leiden
abgeschreckt.
Endlich gelangte ich auf die Höhe, wo die Flamme
dem Boden zu entquellen schien und frei von jeglichem
Rauche in unendlicher Klarheit strahlte. Ich musste hin
zu ihr. Die von ihr erleuchtete Seele war von Liebe zu
ihr erfüllt. Ich wollte die Flamme umarmen und lag nun
an dem Busen eines riesigen Mannes, auf dessen Stirn die
Weisheit thronte und dessen Erkenntniss die Dinge in ihrer
wahren Natur erschaute. Wie ein liebender Vater hielt er
mich in seinem Arme und zeigte mir die Welt.
„Und ich sah der Menschen mannigfaches Treiben ent-
wirrt; ich sah, wie sich die Einzelnen mühten, bald sich,
bald die Welt, oder vielmehr beide zugleich bildeten. Auf-
gethan war mir der Völker Entwicklungsgang; ich er-
kannte, wie sie zur Vollendung reiften; und was mir früher
Rückschritt geschienen, das ward mir nun als notwendige
Bedingung der höchsten Entwickelung offenbar. Ich erfasste,
wie alles Unentfaltete keimte und wuchs und sich zur Voll-
endung gestaltete. Der Sonnen, Erde und Monde Bahnen wa-
ren mir enthüllt; das Böse selbst war mir keinRäthsel mehr."
\
\
\
cap. 3.] Eine Ebscheinukg. 33
„Jetzt erscheint dir das Höchste, sagte die Gestalt.
Da durchwallte plötzlich liebender Glanz das All und durch-
glühte es. Das All und die Liebe schmolzen ineinander.
Kaum konnte ich die Wonne, die auch mein Innerstes er-
fasste, ertragen. Ich wollte liebend an den Busen der Ge-
stalt mich enger anschmiegen. Doch auch sie hatte sich
aufgelöst in den Glanz der Liebe und des Alls. Schon
war mir's, als löste sich mein Wesen auf in die Unend-
lichkeit, gleich der Perle, die im Meere von Nektar sich
auflöst. Doch diesen Gedanken vermochte der Sterbliche
nicht zu fassen. Ich fühlte mich noch, stutzte und er-
wachte.**
Die energische Liebe zur Wissenschaft und das Ver-
trauen in ihre beseligende Macht, welche die Seele des
Jünglings erfüllten, die Einsicht, dass die leuchtende Flamme
der Erkenntniss etwas anderes sei als der Rauch der Ge-
lehrsamkeit, das Vorgefühl der ernsten Kämpfe, welche
dem bevorstehn, der nach Höchstem strebt, aber auch die
Besorgnis, dass unterwegs die Kräfte ermüden und beque-
mer Lebensgenuss von dem Ziele ablenken könnten, sind
in diesem Aufsatze in deutlichen Bildern- ausgeprägt. Als
höchstes Ziel der Erkenntnis treten die psychologische Er-
gründung des IndividuaJ- und des Völkerlebens und eine
Gotteswissenschaft hervor, welche die Natur mit dem un-
endlichen Geiste in Eins verbindet. Wenn gleich noch ein
pantheistischer Zug das Ganze durchweht, so erweist sich
doch daneben das mikrokosmische Selbstgefühl stark genug,
um sich gegen die Auflösung im All zu sträuben. Aus
diesen Ahnungen und Träumen des Jünglings wird auch
die eigentümliche Befriedigung verständlich, welche die
Wissenschaft Friedrich Rehmers auf den erwachsenen
Bl untsc hl i, Dr. J. C, Alis meinem Leben. I. 3
34 ^E» ZOFINOEBVEKEIN. [CEp. 3.
Mann im Verfolge seines Lebens machen musste. Er er-
kannte darin die Erfüllung der Sehnsucht seiner Jugend.
Unter den schweizerischen Studierenden der verschie-
denen höheren Schulen bestand damals als einzige Ver-
bindung der im Jahr 1819 gestiftete Zof in gerverein.
Alljährlich kamen die Mitglieder in der freundlichen Stadt
Zofingen im Aargau zusammen. Der Vorort wechselte jedes
Jahr unter den Schweizerstädten. Als die Leitung nach
Zürich kam, wurde ich mit zwei theologischen Freunden
in den Centralausschuss gewählt.
In diesem Verein trat damals ein lebhafter Kampf
zweier Meinungen und Richtungen hervor. An der Spitze
der einen Partei standen unsere Baslerfreunde, wir Züricher
führten die andere Partei. Ich schrieb einen „historischen
Versuch" unter dem Titel „Der Basler Zofinger-Verein",
welcher den Gegensatz erörtert.
Der Basler Verein hatte einen strenger wissenschaft-
lichen Charakter. Es kostete sogar schwere Kämpfe, bis
die Versammlung aus einer trockenen Schulstube in das
Schützenhaus verlegt und hier Erfrischungen erlaubt wur-
den. In Zürich dagegen wurden die wissenschaftlichen Ar-
beiten anderen kleineren Gesellschaften zugewiesen, und die
Vorträge im Zofingerverein nahmen neben der geselligen
Unterhaltung einen bescheideneren Platz ein.
Der Hauptunterschied aber bestand darin, dass die
Basler als Zweck des Zofingervereins die Wohlfahrt des
schweizerischen Vaterlandes bezeichneten und eine Teil-
nahme an dem politischen Leben verlangten. Dem wider-
setzten sich die Züricher.
Obwohl meine Natur auf politisches Leben angelegt
war, so vertrat ich doch mit Entschiedenheit die Meinung,
cap. 3.] Die Zürcher höhere Schule. 35
■ ' — t
dass das eine Verirrung sei. Ich bemerkte darüber: „Jene
Idee der Basler, die einzig auf des Vaterlandes Wohl blickt,
scheint mir aus einer Begeisterung entstanden zu sein, die
sie ihrer Jugend vergessen Hess. Dachten sie dabei an ihre
Kräfte? Erwogen sie ihr jugendliches Alter? Träumten sie
nicht Männer zu sein, da sie doch nur Jünglinge waren?
Der Jüngling soll sich vorbereiten, um einst als Mann
wirken zu können. Er soll selber erst erzogen sein, bevor
er Völker erziehen will. Die Jugend ist die Zeit der Vor-
bereitung, das männliche Alter die Zeit des Wirkens. Dem
Jüngling ist Zweck, was- dem Manne zum Mittel wird.**
Im Übrigen empfahl ich, dass jede der beiden Aka-
demien sich in ihrer eigentümlichen Weise fortbilde und
nur sich vor Extremen hüte. In dem Gesammt-Zofinger-
verein überwog die Zürcherische Ansicht, dass der Verein
vorzüglich die Freundschaftsbande unter den schweizeri-
schen Studierenden erhalte und befestige, edle Sitte pflege,
gesellige Freuden geniesse und an der gemeinsamen Aus-
bildung arbeite.
Die damalige höhere Schule in Zürich war für die
Zürcherische reformirte Kirche angelegt. Studieren und
Geistlicher werden galt in der Meinung der Städter und
der Landleute noch für dasselbe. Fast alle meine Freunde
folgten diesem Studiengang und gingen aus der „ersten
Achten" in die „zweite" und „dritte Achte" d. h. zu dem
eigentlichen theologischen Fachstudium über.
Ich machte zwar das entscheidende Examen, das so-
genannte „Rigidum", noch mit, aber nur damit man nicht
meine, ich fürchte dessen Strenge. Nachdem dasselbe glück-
lich bestanden war, erklärte ich den Professoren, dass ich
nicht Theologie studieren wolle, sondern zur Rechtswissen-
3*
3(5 Übkrgakg zur Rechts wissbkschaft. [cap. 3.
Schaft fortzuschreiten gedenke. Ich besuchte nun das neu
gegründete „Politische Institut^, eine höhere, aber nur
dürftig eingerichtete Schule für Juristen und Statsmänner.
An diesem Entschluss hatte wohl der individuelle In-
stinct, der mich zum State hinzog, den entscheidenden An-
teil. Aber auch meine Zweifel gegen den hergebrachten
Kirchenglauben halfen dazu, mir den Übertritt willkom-
men zu machen. Charakteristisch für meine damaligen Er-
wägungen ist, dass ich eine Äusserung des Pontifex Cotta
bei Cicero (De natura Deorum I. 22) mir notirte, der in
der Volksversammlung mit heiliger Strenge die öffentliche
Verehrung der Götter forderte, aber unter philosophisch
gebildeten Freunden unbedenklich seine Zweifel gegen ihre
Existenz aussprach. Ich bemerkte dazu: „Lässt sich das
auch auf uns anwenden? Darf ein christlicher Pfarrer,
der die Göttlichkeit Jesu und der Bibel verwirft, dieselbe
dem unphilosophischen, sinnlichen Volke lehren, und soll
er sich frei aussprechen nach seiner Überzeugung nur unter
gebildeten Freunden?" Für die individuelle Glaubens- und
Denkfreiheit war ich begeistert; der Zwang in diesen Dingen
kam mir als unmöglich vor. „Auch wenn ich den Andern
zu Gefallen dasselbe glauben wollte, was sie glauben, so
kann ich es nicht mit dem besten Willen."
In meinen Briefen an einen Theologie studierenden
Freund (Heinrich Rahn) vom 23. Dec. 1825 sprach ich
mich über meinen Entschluss näher aus: „Ich kann nicht
christlicher Pfarrer werden. Für's erste muss ein solcher
ein Christ sein, er muss folglich eine Offenbarung Gottes
in der Bibel, er muss mehrere Dogmen von der Gottheit
des Sohnes, der Erlösung u. s. w. annehmen, die ich nicht
glauben kann, ich mag wollen oder nicht, weil sie meiner
cap. 3.] Das politische Institut. 37
Vernunft widersprechen. Für*s zweite muss er christlich
lehren und predigen. Man sage mir, was man wolle, es
sei für den Pfarrer hinlänglich, Liebe und Moral den Leuten
beizubringen. Das ist allerdings weitaus das Wichtigste,
aber das Volk will sinnliche Anschauung, es will ein für
göttlich gehaltenes Muster. — Man muss also, wenn man
gleich selbst nicht glaubt, doch thun, als ob man glaube.
Verträgt sich das mit der Liebe zur Wahrheit? Darf man
lügen, wo es sich um das Heiligste, das Höchste handelt?
Der Hirt einer Schafherde braucht weder ein Schaf zu sein,
noch Schafspeise zu geniessen. Zum guten Glück muss er
aber auch nicht dergleichen thun, als ob er ein Schaf wäre.
Das rettet mich, denke ich, aus dem Garne. Kann ich
dagegen als Statsmann nicht laut verfechten, was ich für
wahr und gut halte? Ich kann es wenigstens in den meisten
Fällen.**
Mochten die damaligen Bedenken und Ansichten des
siebzehnjährigen Jünglings noch unreif sein, die Wahrhaftig-
keit desselben führte ihn auf die seiner Natur zusagende
Laufbahn.
An dem Politischen Institut wirkten damals vorzüg-
lich zwei jüngere Docenten, an die ich mich verehrend an-
schloss, und von denen ich in meinen Studien trefflich
gefördert wurde. Am meisten lernte ich bei Friedrich
Ludwig Keller, dem ausgezeichneten Schüler und spätem
Nachfolger Savignys. Er führte mich in das Studium
des römischen Rechtes ein. Dieses Recht hatte in Zürich
nicht, wie in Deutschland, die Geltung eines subsidiären
gemeinen Rechts. Das Zürcherische Recht hatte seinen
acht deutschen Charakter bewahrt. Die Eidgenossen hatten
von Bartolus und Baldus nichts wissen wollen und küra-
38 F. L. Keller ukd Febd. Meteb. [cap. 3.
merten sich nichts um die Autorität der alt-römischen
Kaiser. Daher behandelte Keller das römische Recht nicht
wie ein Gesetzbuch, sondern beachtete mehr den wissen-
schaftlichen Wert desselben und machte seine Schüler
mit dem Geiste der classischen Juristen Roms vertraut.
Die deutsche Rechtswissenschaft der Zukunft wird dieselbe
Richtung und Methode einführen müssen, wenn erst die
moderne deutsche Civilgesetzgebung das Privatrecht durch-
gearbeitet und neu formulirt haben wird.
Ich hörte bei Keller Institutionen und Pandekten, las
unter seiner Leitung den Gajus durch und übte mich in
der Erklärung von Stellen aus den Schriften der Classiker.
Vorzüglich spannte den Scharfsinn die prägnante Aus-
drucksweise Papinians. Auch die Reden des Cicero wur-
den mit juristischem Verständnis durchgearbeitet. Die
reiche Bibliothek Kellers stand dem Schüler offen, der die
Gunst des Lehrers besass.
Der zweite Lehrer, dessen Unteri'icht und Umgang
mir teuer war, der Ratsschreiber Ferdinand Meyer,
wirkte mehr in patriotischer Richtung. Er führte mich in
die Statengeschichte der Schweiz ein und regte zu ge-
schichtlichen Studien an. Auch er gewann den Schüler
lieb und wurde ihm ein treuer Freund.
Die juristischen Studien mit ihrer scharf verständigen
Prosa führten mich auch bald über eine Selbsttäuschung
hinaus, welche mich einige Zeit gefangen gehalten hatte.
Es ging mir, wie manchem begabten Jüngling von sechs-
zehn oder siebenzehn Jahren, ich wähnte ein Dichter zu
sein, weil ich die dichterischen Werke liebte und selber
Verse machte. Mit achtzehn Jahren sah ich die glänzende
Seifenblase zerplatzen. Ich wurde gewahr, da^s ich gar
Cap. 4.] FBEUia)SCHAFTSBÜNDISSE. 39
keine dichterische Anlage besitze, sondern eher ein Mann
der Prosa werde.
4.
Frenndschaftsbünde. Johannes Zeller. Bernhard Hirzel. Ernst
Müller. Schleiermachers Monologen.
Das erste Jünglingsalter ist offenbar die günstigste
Zeit zur Bildung persönlicher Freundschaften. Die Seele des
Jünglings ist noch weich und gleichsam flüssig. In der
Entfaltung begriffen hat sie ein Verlangen, sich verwand-
ten Jünglingen aufzuschliessen. Der eine nimmt einen In-
nern Anteil an dem Leben des Andern.
Unter uns Studierenden gab es damals viele Freund-
schaftsbündnisse, deren jedes seine besondere Geschichte,
die alle einen gemeinsamen Charakter hatten. Wohl hatten
wir ein jeder mehrere Freunde, aber vorzugsweise schlössen
sich doch je zwei aufs innigste zusammen. Der Freund
suchte den Freund, und hinwieder in vertrautem Verkehr
mit diesem, sich selber zu erkennen, ihn und sich auszu-
bilden. Der Freund wurde von dem Geschicke seines
Freundes mitbetroffen und nahm den wärmsten Anteil an
seinen Kämpfen, an seinen Freuden und Leiden. Zuweilen
gab es auch eine Verstimmung unter ihnen, und das Band
der ewigen Treue und Liebe, welche sie sich gelobt hatten,
drohte zu zerreissen. Für beide war diese Gefahr ein
schwerstes Unglück, und nicht selten kostete solche Be-
drängniss bittere Thränen und andauernde Sorgen.
In einem solchen engsten Freundschaftsbunde stand
ich mit Johannes Zeller. Schon als Knaben in der Ge-
lehrtenschule waren wir, noch unbewusst, einander freund-
I
40 Tagebuch-Auszüge. [eap. 4«
lieh nahe gekommen. Wir arbeiteten, spazierten, spielten
gerne zusammen. Als wir Jünglinge geworden, eröffneten
wir einander unsere geheimsten Gedanken, und die Blüte
der Freundesliebe ging auf. Es lebte einer in und mit
dem andern; wir suchten uns wechselseitig zu heben und
zu veredeln. Ich hatte einen Vorsprung im Wissen ge-
macht, unfl bemühte mich nun den Freund nach zu ziehen.
Er arbeitete mehr an seinem Innern, und wirkte hinwieder
auf den Charakter seines Freundes wohlthätig ein.
Auch uns wurden die Kämpfe nicht erspart. Von
den wogenden Gefühlen und Gedanken jener Jahre gibt das
Tagebuch einen unmittelbaren Aufschluss, das ich im
Juni 1827 zu schreiben begann, eben in der Absicht, die
eigene Seelenstimmung und die der Freunde darin auszu-
sprechen. Ich setzte dasselbe bis 1836 fort, und es dient
mir nun, die Erinnerung an die Erlebnisse meiner Jugend
zu erneuern. Auszüge aus diesem Tagebuch mögen den
Blick eröfl&ien in dieses jugendliche Freundesleben.
23. Juni. Zeller entdeckte mir die Zweifel, die ihn
quälten. Er meinte, er könne mir nicht genügen, er könne
mir nicht wiedergeben, was ich ihm gegeben; er habe mir
zuviel, ich ihm zu wenig zu verdanken, ich steige immer
höher, und er könne mir nicht folgen. Er äusserte seine
Furcht, dass wir uns trennen müssen. Ich entgegnete ihm,
Charakter, Geist und Gemüt und nicht gelehrte Kennt-
nisse seien es, worauf sich unsere Freundschaft gründe.
In jener ersten Beziehung aber sei kein grosser Unterschied
zwischen uns, in manchen Stücken sei er mir überlegen.
Wir gelobten uns gegenseitig festen Glauben und die in-
nigste Freundschaft.
30. Juni, Diesen Morgen schrieb ich im CoUegiuni
cap. 4.] JoHAimES Zeller. 41
ein Billet an Zeller und fragte ihn, was ihm auf dem
Herzen liege; denn ich merkte, er war nicht glücklich. Er
gestand mir das. Nach dem CoUeg ging ich zu ihm.
Ich fand ihn im furchtbarsten Kampf mit sich selbst. Nicht
wie sonst verzweifelnd, sondern kalt empfing er mich. Er
sagte, er wolle mir Alles, sich selbst entdecken, er werde
es aber niederschreiben. Nun erhielt ich folgenden Brief
von ihm:
„Glaube mir nur, ich weiss wohl wie geisttötend
es ist, ein schönes Gefühl, eine schöne Idee aufgeben
zu müssen, wegen der Unempfindlichkeit und Unfähig-
keit des Gegenstandes, auf den sie sich bezogen. Aber
ich weiss auch, dass ein plötzlicher, doch noch zu rech-
ter Zeit geschehender Umstoss besser ist, als eine
immerwährende, öder vielleicht später nur desto herber
sich oifenbarende Täuschung. Diese, die Ungewissheit
ist das Quälendste ; diese will ich Dir nehmen, aber auf
grausame Weise; durch das Oeflfrien Deiner Augen.
Wahrscheinlich erfolgt Trennung* daraus, und — es sei
ausgesprochen — ich wünsche sie; denn ich sehe sie
Dir und mir heilsamer. Ich weiss. Du liebst mich feurig,
aber eben so feurig hassest, verachtest Du mich nach-
her vielleicht. Nun hasse mich, aber hasse, verachte
die übrige Menschheit nicht; in ihr wirst Du wieder
Trost finden; in ihr suche auch ich ihn.
„Gleichsam uns selbst unbewusst, näherten wir
uns schon als Knaben in Liebe zu einander, einer fand
in dem andern, was er suchte, und was er in keinem
Andern fand; und wenn auch diese Liebe viele Unter-
brechungen erlitt, so blieb doch immer die Zuneigung.
Wir traten nun in die Epoche der Entwicklung unserer
42 Tagebuch- Auszüge. [cap. 4.
jugendlichen Geister, ich blieb zurück; Du flogest vor-
aus, doch rissest Du mich mit, und stelltest mich nun
dahin, wo ich stehe. Das Gefühl der Dankbarkeit durch-
drang mich, aber zugleich entstand das der Abhängig-
keit von Dir. Ich suchte mir eigene, innere Selbstän-
digkeit zu geben und glaube nun bald diesem Punkte
nahe zu sein. Je mehr aber meine Achtung gegen Dich
stieg, und je mehr ich mich entwickelte, desto offen-
barer wurde mir eine unausgefüllte Lücke in meinem
Herzen; es war der herzliche, gemütliche Teil der
Liebe, ohne den diese nicht sein kann. Ich empfand
Achtung gegen Dich, aber keine Liebe; jene allein willst
Du nicht, und diese konnte ich Dir nicht geben. Viel-
leicht denkst Du, ich sei, wenn es sich so verhalte,
nicht fähig, warm zu fühlen, zu lieben; aber wisse:
früher war ich es gewesen, jetzt bin ich es vielleicht
nicht; einst aber, glaube ich, könne ich es wieder wer-
den. — Sobald ich jene Lücke fühlte, suchte ich mich
immer Dir mehr anzuschliessen; denn ich glaubte, die
Schuld sei an mir; allmählich kam ich auf den Gedanken,
sie sei an Dir, denn ich wusste, dass Du sonst tief
empfinden könnest; dass ich Dich einst liebte und doch
keine völlige Harmonie zwischen uns war. Sobald die-
ser Gedanke in mir aufstieg, so waren jene Zweifel da
an Deiner Achtung gegen mich, an der herzlichen Liebe,
und an der Dauer der erstem, wie ich Dir früher sagte.
Ich zweifelte stark, und schon war ich dahin gekommen,
diese Zweifel, den Gedanken an eine Trennung ertragen
zu können, ja diese zu wünschen. Ich fand also nicht
genug feurige Gefühlsliebe bei Dir, und zu grosses Ge-
fühl der Überlegenheit des Verstandes! Ich wollte mich
cap. 4.] JoHAKVEs Zeller. 43
mm prüfen und bei Gelegenheit entscheiden. Mitten in
diese Zeit fielen jene Abende der letztvergangenen
Wochen; ja in diesen schwur ich Dir wieder Liebe, ja
ich schwur sie Dir: denn ich sah, dass Du mich feurig
liebest; ich war überrascht und liebte Dich. Hernach
prüfte ich mich schärfer, fand also, dass die Schuld an
mir sei, und kam zu den harten, Dich und mich schmer-
zenden Worten: „Ich kann Dich nur ehren, nur wie
einen Wohlthäter lieben, aber nicht wie einen Herzens-
freund."
Ich antwortete ihm so:
Liebster Freund!
„Ich sagte Dir diesen Morgen, ich sei und bleibe
ruhig, denn ich habe Gewissheit. Ich las Deinen
Brief, der nichts Unerwartetes für mich enthielt; ich
las ihn und blieb ruhig. Nichts drückt, nichts quält
mich, als dass Du es nicht auch bist. Ich sagte
Dir diesen Morgen, Du werdest wieder ruhig, noch
bin ich derselben Meinung. — Eines bedaure ich,
dass Du Schleiermachers Prüfungen nicht genauer
durchgelesen hast. Du bist noch gar nicht auf der
Tiefe, Du hast Dein Selbst noch nicht durchschaut.
Du wolltest der Täuschung entgehen und sankst tiefer
hinein. — Ein Beweis liegt schon darin, dass Du mich
der Verachtung, des Hasses gegen Dich auch nur fähig
hieltest. — Durch Schleiermachers Prüfungen bekam
ich einen bedeutenden Aufschluss über Deinen Charak-
ter und seitdem liebe ich Dich mehr als je. Denn
Hauptbedingung der Liebe ist Erkennen. — Lies in
jenen Monologen S. 37 — 66 und Du wirst hier, scheue
Pich nicht, es zu denken, Deinen eigenen Charakter
44 TA&EBucH-ÄrszüGE. [cap. 4«
vollständig gezeichnet finden. Ich gestehe es, diese
Entdeckung, die mir immer klarer ward, entlockte mir
Freudenthranen. — In diese zwei Klassen teilen sich
alle Mensehen, die wissen, was sie wollen. Keine ist
edler, keine steht höher als die andere. Du gehörst
zur ersten, deren Prinzip die Liebe, ich zur zweiten,
deren Urgrund der Sinn ist. An diesem bin ich reicher
als Du, an jener Du tiefer und voller als ich. Ich
teilte Dir von meinem Sinn mit, und das allein ist es,
was Du so hoch anrechnest. Du gabst mir Liebe und
Gefühle. Gewöhnlich prangen die Menschen der zwei-
ten Klasse mehr als die der ersten ; ihre Vorzüge wer-
den von Allen anerkannt und angestaunt. Die Welt
kennt sie, denn ihr gehören sie ja an. Ganz anders
ist es mit denen der ersten Klasse. Stiller wirken sie,
nicht auf die Welt, auf sich selbst, und das sieht nur
der Freund und sie selbst, nicht aber die Welt. — Du
verkanntest Deine Stellung, die ganz der meinigen gleich
ist, nur anders. Du sähest meine Übermacht im Sinn
und wetteifertest mit mir, und scheutest Dich, als Du
meine Überlegenheit hierin sähest. Wohl ahndetest Du
zuweilen, dass etwas anderes Dich emporhebe, so dass
Du dort mich ebenso übertreffest, wie ich Dich hier.
Aber noch ward es nicht ganz zum deutlichen Bewusst-
sein. — Denke ruhig und ernst, und Du wirst Deine
Rettung erkennen, Dein Wesen erfahren; und dann ist
alle Scheu zugleich weg; denn Du wirst nicht mehr
mit mir zu wetteifern suchen in der Wissenschaft, son-
dern Dich in Deinem Innern mehr ausbilden und so
mir reichlich und ganz sein auf der subjectiven, was
ich Dir auf der objectiven Seite bin. Ich bin nicht un-
cap. 4.] Johannes Zbller. 4
K
empfänglich für die Liebe; das ist Dein Werk, jetzt
erst sehe ich es ganz ein; Du eben so wenig für den
Sinn, denn Du schrittest mächtig vorwärts, mehr als
Du je glaubtest. So erkannte ich, dass wir ganz für
einander geschaifen seien ; denn jeder, der blosse Liebe,
jeder der blossen Sinn hat, ist einseitig. Wir ersetzen
einander gegenseitig und teilen ein jeder dem andern
von seinem Vorrate mit, und bilden uns durch uns.
So nur können wir vollendet werden, Du wahrhaft nach
Innen, ich wahrhaft nach Aussen. — An jenem Samstage
hatte ich einmal den unseligen Gedanken: vielleicht stehe
ich allein. Er zerschnitt mein Innerstes und drohte es
wie ein Blitz zu versengen. Seitdem ist es mir rein
unmöglich, diesen Gedanken nur wieder zu denken."
4. Juli. Am Sonntag früh ging ich mit dem Briefe
zu Zeller. Mit einem Gesicht, in welchem sich der Schmerz
deutlich aussprach, öflFnete er mir die Thüre und bewill-
kommte mich. Ich gab ihm den Brief und er las. Schon
vorher war in ihm das Gefühl lebhaft rege geworden, dass
er nicht aufhören könne mich zu lieben. Mein Brief be-
ruhigte ihn sehr, und namentlich stärkte ihn das Vertrauen,
das ich auf ihn gesetzt, ungemein. Die Unmöglichkeit der
Trennung hatte er selber zuvor schon eingesehen. Später
am Abend ging ich mit Zeller ins Seefeld. Er verzwei-
felte beinahe an sich und behauptete, er habe weder Ver-
stand noch Gemüt in einem bedeutenden Grade. Ich gab
mir alle Mühe, ihn aus diesen finstern Gedanken aufzu-
wecken. Aber ich vermochte nicht den Nebel vor seiner
Seele zu beseitigen. Seine Ermattung von den früheren
Kämpfen drückte ihn nieder. Als er meinen Schmerz
darüber wahrnahm, sagte er ganz verzweifelnd zu mir;
46 Tagebuch- Auszüge. [cap. 4.
„Auch Du zweifelst an mir, und nur Dein Vertrauen hält
mich noch aufrecht/ Ich versicherte ihn, dass ich keinen
Augenblick an ihm gezweifelt habe. Ich beschwor ihn, alle
seine Kraft aufzubieten und vor allem sich selbst zu er-
gründen.
Am folgenden Tag kam er viel beruhigter zu mir.
Er hatte schon bedeutende Schritte zur Selbsterkenntnis
gethan. Er kam durch sich selbst zu der Erkenntnis;
ich gab bloss den Anstoss dazu. Dennoch meinte er, auch
jetzt wieder habe er mir Alles zu verdanken, seine Schuld
werde immer grösser, ich sei der Bildner, er der Gebildete.
Ich entgegnete ihm, mein Bilden daure nur, bis er seinen
Standpunkt erreicht habe, dann wandle sich das Verhältniss.
Ich bilde ihn hauptsächlich im Wissen, er mich im Fühlen.
12. Juli. Immer mehr erkenne ich, was mir Zeller
selbst sagte, dass ihn nur meine Entfernung ganz heilen
kann. — Am Montag Abend sprach ich mit Zeller auf
dem See wieder über unser Verhältnis. Er versicherte
mich, dass er mich noch liebe; nur könne er die Scheu
vor mir nicht überwinden. Erst wenn ich durch weite
Entfernung körperlich von ihm getrennt sei, könne er seine
Selbständigkeit wieder gewinnen und dann mich ganz lieben.
Da erkannte ich, dass allein Trennung ihm helfen werde.
Ich habe bisher zum Teil unbewusst, zum Teil wider
Willen zu sehr in sein eigenstes Selbst eingegriffen; er
wurde zu abhängig von meinem Ich, als dass er das länger
ertragen konnte bei seinem starken Gefühl für Selbständig-
keit. Nur durch sich selber kann er auf die wahre Höhe
gelangen. Da fasste ich den für ihn und mich heilsamen
Entschluss, im Herbst auf die Universität zu gehen. Ich
finde doch keine Ruhe mehr hier.**
\
cap. 4.] Johannes Zelles. 47
In der That fand Zeller erst nach meiner Abreise
sein inneres Gleichgewicht wieder. Er schrieb am 29. Dec.
an mich:
„Freue Dich, noch nie fühlte ich mich so meiner
selbst würdig, noch nie so frei, darum auch: noch nie
liebte ich Dich so. — Dank sei diesem Jahre; es schenkte
mir Freunde, es schenkte mich mir selber. wie
möchte ich Dir jetzt erzählen, wie ich glaube, dass
mein Herz edler sei, mein Gefühl tiefer und heiliger,
mein Verstand klarer, sogar mein wissenschaftlicher
Sinn reger, umfassender; und wie ich so stolz darauf
bin und doch wieder kleinmütig."
Die Lebenswege, auf denen wir gingen, entfernten
sich später sehr voneinander; aber die Jugendfreundschaft
ging uns nicht verloren. Zuerst in Zürich rationalistisch
erzogen, vertiefte sich Zeller in Berlin ganz in die Auffas-
sung Schleiermachers. In Bonn aber ergriff ihn eine ent-
schiedener gläubige Richtung, die seinem Wesen besser
zusagte. Doch hielt er sich fern von liebloser Verdam-
mungssucht. Er schrieb darüber an mich aus Bonn am
8. /März 1832:
„Darin muss ich Dir völlig beistimmen, dass mit
toter Orthodoxie die Sitten der Menschen nicht gebes-
sert werden, dass sogar durch eine starre, lieblose Or-
thodoxie manches Gemüt vom Glauben abgeschreckt
wird, und dass in unserer Zeit wohl hie und da zu
starkes Gewicht auf das Bekenntnis und Festhalten
kirchlicher Formen gelegt wird. Davon aber glaubte
ich immer frei zu sein."
Er verheiratete sich mit einer geistreichen und from-
men Dame aus Norddeutschland, wurde Pfarrer in dem
48 Bernhard Hirzel. — Ernst Müller. [cap. 4.
Dorfe Stäfa am Zürchersee, und starb während der Zürcher
Kämpfe über die Berufung von David Strauss an die theo-
logische Fakultät, an d^nen er, auch durch eine Druck-
schrift, den lebhaftesten Anteil nahm, hochgeehrt und ge-
liebt von seiner Gemeinde und den Freunden, am 6. Juli
1839.
Am nächsten nach Zeller stand mir damals als Freund
Bernhard Hirzel, von dessen tragischem Geschick ich
später berichten werde. Hirzel war auch in der Jugend
nicht glücklich. Er besass mehr Talent für die Wissen-
schaft, als die meisten Altersgenossen, und einen regen
Fleiss; frühzeitig warf er sich mit Eifer auf die orientali-
schen Studien; er hatte eine lebhafte Phantasie und Liebe
zu den Ideen. Aber sein Verlangen nach einem Freunde
und einer Geliebten fand keine Befriedigung, keine volle
Gegenliebe. Seine Familienverhältnisse schienen glücklich,
aber waren es nicht. Seine freie liberale Gesinnung kam
mit den stadtbürgerlichen Vorurteilen und den materiel-
len Neigungen und Leidenschaften seiner Eltern in öftern
Conflict. Indem er über die Menschen nachdachte, war er
geneigt, sie im Durchschnitt für schlecht zu halten. Nach
und nach arbeitete er sich mit Leidenschaft in einen finstern
Gedankenkreis hinein. Seine Ansichten von Gott und der
Welt hatten einen düstern Charakter. Er meinte, die Ent-
artung und den Untergang der Rassen in der Geschichte
seiner Familie deutlich zu erblicken. Ich hatte gehofft,
dass sein Lieblingsdichter Jean Paul ihm eine freudigere
Weltansicht eröffnen werde. Aber er traute dem Dichter
nicht ganz; er musste einen schärferen Denker zum Führer
haben. Da empfahl ich ihm Schleiermachers Monologen.
Er las dieselben mit Gewinn, aber der dunkle Zug in seiner
Cap. 4.] ScHLElEBMACHER^S MoNOLOOEK. 49
Seele entschwand nicht. Am meisten zog ihn die Philo-
sophie der Inder an, besonders die Buddhistische Versen-
kung in das Nichts.
Der Vierte im Bunde, Ernst Müller von Frauenfeld,
ebenfalls Studierender der Theologie, hatte eine bilderreiche
Phantasie und Jean-Paursche Sprechweise ; seine Gedanken
waren eher original und seltsam, als logisch begründet;
sein Geist hatte etwas Sprudelndes und Fahriges : sein Herz
war treu und gut, aber er wankte zwischen heiterer Lust
und melancholischer Verzagtheit hin und her. Für mich
hatte er eine starke Zuneiguhg. Sein späteres Leben als
Pfarrer war nicht so glücklich, als seine Freunde ihm
wünschten.
In diesem Freundeskreise übten Schleiermachers
Monologen den stärksten Einfluss. Die kleine Schrift
zündete in die jugendlichen Geister hinein, weckte die
Selbstprüfung und die psychologische Beobachtung und er-
hellte das keimende Selbstbewusstsein. Das Büchlein war
mein steter Begleiter auf einsamen Spaziergängen und das
tägliche Gespräch der Freunde. Die einzelnen Betrach-
tungen derselben wurden durch die eigene Erfahrung und
die Kämpfe unter den Freunden erst recht lebendig. An
die Monologen wurde geglaubt, wie an eine göttliche Offen-
barung, und Schleiermacher wurde mit wahrer Inbrunst
verehrt. Auch andere Werke wurden gern gelesen, manche
gemeinsam. An Piaton erfreuten sich die Jünglinge; Schiller
begeisterte sie ; sie wurden durch Klopstock gehoben, durch
Wieland anmutig gereizt, durch Goethe und Shakespeare,
die ihnen noch ferner standen, zur Bewunderung angeregt.
Mit der Bibel war ich weniger vertraut, von ihr nicht er-
griffen. Auch Schleiermachers christliche Schriften lagen
Bluut8chli, Dr. J. C. Aus meinem Leben. I. 4
50 Geselliges Leben in Zukich. cap. 5.]
noch unaufgeschlagen zur Seite. Seinen Reden über die
Religion folgte ich mühsam in der Ferne nach. Die Mono-
logen aber waren der leuchtende Mittelpunkt des ganzen
jugendlichen Daseins. Alle psychologische Erkenntnis, der
bestimmende Antrieb zur Selbstbildung, das stolze Frei-
heitsgefühl, der Glaube an die Menschheit und an die in-
wohnende Kraft der Geister erhielten durch sie Licht und
Wärme.
5.
Verhältnis der beiden Qeschlechter. Zürichdeutsch und Hoch-
deutsch. Emilie Vogel. Reise nach Genf. Die Eltern.
Die Hindernisse der Verlobung.
Die Freundschaft war das höchste Interesse der jugend-
lichen Lebensgemeinschaft; aber bald regten sich in mir
auch die ersten Keime der Liebe, welche dem Freunde
offenbar gemacht und von demselben redlich gepflegt wurden.
Jünglinge und Mädchen kamen damals nicht leicht
zusammen. Wie in der Kirche die Männer in ihren Stühlen
von den Bänken der Frauen getrennt waren, so war auch im
Privatleben die Scheidung der beiden Geschlechter die Regel.
Die Knaben schon hatten an Sonntagen Abends ihre Ka-
meradschaften, die Mädchen ebenso ihre Gespielenverbände.
Ein geselliges Leben, welches die beiden Geschlechter zu-
sammen führte, gab es fast nur innerhalb einer Familie
unter Verwandten. Offene Privathäuser, welche die Gesell-
schaft empfingen, gab es nicht, und höchst selten wurden
ausser den Familiengenossen Freunde und Bekannte einge-
laden. Das gesellige Leben war gebunden und dürftig, in
Folge dessen aber auch die feinere Cultur gehemmt. Die
Cap. 5.] ZÜBICHDErTSCH UWD HoCHDEUTäCB. 51
deutsche Bildung war damals noch etwas unbekanntes und
fremdes.
*
Auch der alemannische Dialekt, der in Zürich in den
Familien und in dem ganzen Verkehr noch unbestritten
allein herrschte, war ein Hinderniss der Cultur. Unsere
Litteratur und Wissenschaft waren deutsch, wir lasen und
schrieben deutsch, aber unsere Umgangssprache war ale-
mannisch. In der That das „Züridütsch'* hatte neben sei-
nen Härten und Rauheiten auch etwas Naives, Ursprüng-
liches, Frisches und Gemütliches. Für das Familienleben
reichte es aus. Aber für wissenschaftliche Gespräche und
für einen höher gebildeten Gesellschaftsverkelir war es
durchaus ungenügend. Die deutsche Sprache war das ge-
meinsame Werk einer grossen Nation und ihrer hervor-
ragenden Geister, Dem alemannischen Dialekte waren diese
Arbeiten nicht zu Statten gekommen und fehlte der gross-
ai*tige Hintergrund. Er hatte sich über eine bäurische und
kleinbürgerliche Culturstufe nicht erheben können. Zürcher
und Zürcherinnen kamen fast immer in Verlegenheit, wenn
sie einem gebildeten Deutschen im Leben begegneten. Sie
waren unbeholfen und ungewandt im Ausdrucke, und em-
pfanden mit Missbehagen die Überlegenheit der formgeüb-
ten Deutschen, besonders der Norddeutschen. Näher stand
ihnen der Süddeutsche, mit dessen dialektischer Aussprache
sich der Alemanne verwandter fühlte. Die Züricher Damen
wagten es sogar leichter, in guter Gesellschaft mit Fremden
französisch, als gut deutsch zu sprechen.
Indessen gab es doch in Zürich eine Vermittlung der
beiden jugendlichen Geschlechter. Die Jünglinge hatten
Schwestern und die Jungfrauen Brüder, welche gelegent-
lich eine Zusammenkunft mit Freunden und Freundinnen
52 Geselliger Verkehr der beiden (ieschlechter. [cap. 5.
möglich machten. So begegneten sie sich zuweilen an den
öffentlichen Vergnügungsorten in der Nähe der Stadt: auf
dem stillen Höckler, einem schönen Landgute am Fusse des
Ütlibergs, wo unter den Obstbäumen Bänke und Tische zu
geselligen Geiiüssen einluden und auf den Wiesen heitere
Spiele unternommen wurden; oder im Seefeld, in einer
Gartenwirtscaft am rechten Ufer des Zürichsees, wohin
man auch zu Schifife gelangen konnte. Ich besass ein
kleines Kielboot, eine sogenannte Schaluppe, die oft zu
diesem Zwecke benutzt wurde. Oder auf der Weide, einer
Höhe des Wipkingerberges, mit herrlicher Aussicht über
das Limmatthal, den See und die Berge. Indem ich dieser
Orte gedenke, steigen anmutige Erinnerungen auf an
viele schöne Stunden, die ich da verlebt habe.
Die öfteren Begegnungen der Art reizten zu einer
besseren und regelmässigen Organisation. Wir Studenten
gründeten damals mit Hülfe unserer Schwestern die sogenann-
ten „Weggenbälle". In dem Zunfthause der Bäcker, dem
„Weggen", kamen da eine Anzahl studierender Jünglinge
mit anverwandten oder befreundeten Töchtern aus guten
Familien des Mittelstandes von Zeit zu Zeit zum Tanze
und zu geselliger Freude zusammen. Die Einrichtung war
für Zürich eine Neuerung; aber die Eltern vertrauten der
Jugend, die ganz und gar ohne Aufsicht sich selber über-
lassen wurde, und dieses Vertrauen wurde nicht getäuscht.
Die Studentenbälle im Weggen wurden von Andern viel
bewundert und beneidet. Die Teilnehmer erfreuten sich
derselben als einer idealen Geselligkeit. Der Ton war na-
türlich und heiter, niemals ausgelassen, nicht steif und nicht
frech. Die Damen wurden gewöhnlich in Sänften herge-
tragen und abgeholt ; Droschken gab es damals noch nicht.
cap. 5.] Emilie VogbIi. 53
Die Herren kamen und gingen zu Fusse. Zuweilen wurde
der Ball durch ein Lustspiel eröffnet oder ergänzt. In der
Weihnachtszeit fehlte auch der Weihnachtsbaum nicht mit
seinen Lichtern und kleinen Gaben.
Ich hatte wohl vorher schon mit Wohlgefallen manches
Mädchen betrachtet und konnte mich wohl auch einiger
stillen Gunst befreundeter Mädchen rühmen. Aber allmäh-
lich zog mich Eine derselben lebhafter und dauernder an.
Es erwachte in meinem Herzen die Liebe und trieb die
ersten Knospen hervor, die dann freilich von einem kalten
Luftzug wieder zurück gescheucht wurden.
Wie wenig die Liebe auch der Männer von dem Kate
des Verstandes oder gar von der kalten Berechnung be-
stimmt wird, wie sehr sie einem unbewussten magnetischen
Zuge der Seele folgt, das habe ich an mir selber erfahren.
Ich fragte mich oft, wesshalb mir denn Emilie Vogel,
die Freundin meines Herzens, so sehr und vor allen an-
dern gefalle, und ich wusste dem prüfenden Verstand keine
befriedigende Antwort zu geben. Es gab in unserm Kreise
hübschere und stattlichere Mädchen als sie, aber keine
schien mir so anmutig und reizend, wie meine kleine
Freundin. Wenn ich ihr in^die klaren Augen hineinschaute,
dann leuchtete mir der Ausdruck eines tiefen und ernsten
Gemütes, eines herzlichen Wohlwollens und eines offenen
für die Wahrheit empfänglichen Sinns strahlend entgegen,
und ich empfand einen geheimnisvollen Zauber. Sie war
durchaus nicht redegewandt; nur mühsam konnte sie ihre
wirklichen Gedanken und Gefühle aussprechen ; man musste
Verschwiegenes erraten. Ihre Bildung entsprach den ge-
wöhnlichen Anforderungen der herkömmlichen bürgerlichen
Erziehung und genügte meinen gesteigerten Ansprüchen
54 Erste Liebe. [cap. 5.
nicht. Aber mein Instinkt spürte und ahnte Vorzüge in
ihrem Wesen, welche der kalten Kritik nicht klar waren.
Ich fühlte, dass dieses Mädchen zu mir passe, dass ich in
ihr die richtige Ergänzung und die treue Lebensgefährtin
gefunden habe. Das Vermögen ihrer Eltern konnte mich
nicht locken, es war geringer als das der meinigen: ihre
Familie stand der meinigen ungefähr gleich. Rücksichten
der Art hatten bei mir überhaupt wenig zu bedeuten. Ich
lachte hell auf, als einst Jemand die Meinung äusserte, ich
mache der Fräulein — oder wie man in Zürich sagte
Jungfer — Vogel desshalb den Hof, weil ihr Onkel Rats-
herr sei, und ich durch sein Patronat auf eine Anstellung
hoffe.
Ich verwarf jeden Gedanken einer blossen Convenienz-
ehe als meiner unwürdig. Nur die persönliche Liebe, nichts
Anderes sollte mich leiten. Ich wusste nicht recht zu sagen,
wesshalb ich Emilie liebe; aber es war mir gewiss, dass
ich sie von ganzem Herzen liebte, feurig, stark, voll Ver-
ehrung und treu, wie deutsche Jünglinge zu lieben pflegen.
Auch sie schien ipir gewogen. Wir sprachen und
tanzten gerne mit einander. Wenn ich über die untere
Brücke gegen die Marktstrasse ging, an der sie wohnte,
so schaute ich immer mit Sehnsucht nach dem Spiegel-
fenster, das von dem Wohnzimmer in die Gasse hinaus
ragte, ob ich nicht das liebe Köpfchen erblicke, und zu-
weilen wurde das Verlangen durch einen freundlichen Gegen-
blick belohnt. Auch von dem Türmchen im Steinböckli
spähte ich oft, das Auge mit dem Fernrohr bewaffnet, nach
ihrem heimatlichen Hause hinüber und war glücklich, ihre
Spur zu entdecken. Ich sang mit Inbnmst, wenn sie mir
zuhörte, und dichtete zuweilen ein Liedchen zu ihrem Preise,
Cap. 5.] LiEBESERKLÄETJNO. 55
00
Aber von einer Erklärung meiner Liebe hielt mich lange
Zeit die Scheu ab, ihren Frieden zu stören. Ich war doch
nicht sicher, wie sie mein Bekenntnis aufnehmen würde.
Nur mit meinem Freunde Zeller und mit seiner Schwester,
einer Freundin meiner Geliebten, sprach ich rückhaltlos
von dem Geheimnis meiner Liebe.
Im Februar 1827 ward Emilie nach Zürchersitte von
ihren Eltern in eine Pension nach Genf geschickt. Da sollte
sie französisch sprechen lernen und den Schliff der fran-
zösischen Bildung erhalten. War auch diese Abwesenheit
nur kurz bemessen, auf ein halbes Jahr, so empfand ich
dieselbe doch schmerzlich. Ich vermisste sie überall und
fasste nun den Entschluss, die öde Lücke in meinem Da-
sein womöglich durch brieflichen Verkehr auszufüllen. Ich
schrieb ihr nach Genf und bekannte ihr meine Liebe. Kei-
neswegs verlangte ich von ihr jetzt schon die Erklärung
der Gegenliebe. Ich war glücklich, wenn sie mich einst-
weilen als Freund betrachte und mir Vertrauen zeige, dass
ich ihre Freundschaft nicht missbrauchen werde. Ich teilte
ihr mit, dass ich nächstens nach Deutschland, vorerst nach
Berlin, zur Universität abgehen und einige Jahre zur Voll-
endung meiner Studien iiri Auslande zubringen wolle, und
eröffnete ihr auch meinen Vorsatz, als Privatdocent an
einer deutschen Universität den academischen Beruf zu be-
ginnen. Ich wünschte, nach ihrer Heimkehr von Genf und
vor meiner Abreise nach Deutschland unser Verhältnis zu
einem klaren Abschluss zu bringen, und wenn sie dann
einverstanden sei, mit Zustimmung der beiderseitigen Eltern
mich zu verloben.
Zögernd und nicht ohne Bedenken gegen die unge-
wöhnliche Zumutung ging sie auf meine Wünsche ein.
56 Reise nach Genf. fcap. 5.
Sie war sofort entschlossen, mir eine Freundin zu sein;
sie deutete sogar in einem folgenden Briefe, der mich ent-
zückte, ihre Liebe zu mir an; aber sie behielt die Zustim-
mung ihrer Eltern vor, an die sie sich wenden wolle.
Während der Sommerferien zog es mich nach Genf.
Ich wollte ihr wieder einmal, und mm sicherer ihrer Liebe,
ins Auge sehn. Nicht die majestätische Riesenjungfrau des
Berner Oberlandes, zu der ich von der Wengernalp mit
Bewunderung emporschaute, sondern die kleine, aber ge-
liebte Jungfrau in Genf war das Hauptziel meiner Schweizer-
reise. Wie klopfte mir das Herz, als ich in die düstere
Rue des chanoines einbog, wo die Damen Feisier ihr In-
stitut hatten. Auf meine Anmeldung erschien die Demoi-
selle Voguel im Begleite einer ältlichen Dame, welche den
Besuch eines Zürcher Studenten mit unverholenem Miss-
trauen überwachte. Diese erste Begegnung war nicht er-
quicklich. Ich war verlegen und ungeschickt, und Emilie
nicht minder. Sie warf mir vor, dass ich nicht bei ihren
Eltern vorgesprochen und Aufträge an sie mitgenommen
habe. Ich erwiderte, dass ich auch meinen Eltern nichts
von meiner Absicht entdeckt habe. Günstiger waren die
folgenden Besuche, obwohl ich sie niemals allein traf. In
einer Soiree konnte ich doch eine Stunde lang neben ihr
sitzen und ungenirt mit ihr sprechen. Bei dem Abschiede
gab sie mir eine Blüte — ein Denkelein (pensee) — von
ihrem Busen und schüttelte mir warm die Hand. Ich habe
diese Blume lange in Goethe's Gedichten verwahrt.
Glücklich in meiner Liebe und voll von Hoffnungen
kehrte ich von der schönen Reise in das Vaterhaus zurück.
Ich entdeckte nun ohne Verzug meine Wünsche den Eltern
und bat um ihre Zustimmung. Die Mutter war schon vor-
cap. 5.] Die Eltern der Geliebten. 57
her Emilien wohlgeneigt und war gerne bereit, sie als
Schwiegertochter zu begrüssen. Nicht so rasch sagte der
Vater Ja. Er prüfte mich strenger, ob ich auch ihren
Charakter recht erforscht und die mancherlei Schwierig-
keiten wohl erwogen habe, die eine Verlobung mit so ferner
und unsicherer Aussicht auf die künftige Eheschliessung
habe. Als er aber sah, dass ich nicht leichtsinnig, sondern
mit klarem Bewusstsein und Vorbedacht handle, war auch
er es zufrieden.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf mich aber
die unerwartete Nachricht, dass Emiliens Eltern sehr un-
gehalten seien über die, wie sie es nannten, leichtsinnige
Verbindung und ihrer Tochter auf das strengste jeden wei-
teren persönlichen Verkehr mit mir untersagt haben.
Ihr Vater, der Freihauptmann Jakob Vogel, war
ein gutmütiger und wohlwollender, aber nicht gerade ener-
gischer alter Herr, welcher das Regiment im Hause und in
seinem Berufe — er besass die beliebteste Zuckerbäckerei
der Stadt — seiner Frau überliess. Diese, eine Tochter
des Zunftmeisters Wegmann, der zur Zeit der helvetischen
Revolution eine Rolle gespielt hatte, war eine kluge und
geschäftsgewandte Frau mit herrischem Willen, aber in den
engen Begriffen des städtischen Altbürgertums befangen.
Für meine Natur und für mein Streben hatte sie kein Ver-
ständnis. Ich mochte ihr als ein thörichter, vielleicht so-
gar gefahrlicher Idealist vorkommen.
Um so nötiger schien es mir, auf die Erziehung und
Bildung der Tochter einen Einfluss zu gewinnen. Gerade
desshalb legte ich auf den persönlichen Verkehr der Ge-
liebten mit mir den höchsten Wert. Sie sollte, dachte
ich, an meinem Geistesleben teilnehmen und mit mir
58 Scheitern der Verlobung. [cap. 5.
zugleich aus den Niederungen des eng- und kleinbürger-
lichen Wesens, wie es in Zürich gebräuchlich und mir als
durchaus philisterhaft zuwider war, auf eine höhere Stufe
emporsteigen.
Am tiefsten schmerzte mich aber die vermeintliche
Wahrnehmung, dass Emilie selber in dem unvermeidlichen
Kampfe mit der Familie sich schwach gezeigt und sich
dem Willen der Eltern kleinmütig unterworfen hatte. Ich
zweifelte nun auch an ihrer Liebe. Mein Stolz und meine
Liebe waren beide tötlich verwundet.
In einem traurigen Abschiedsbriefe teilte ich ihr
meinen Schmerz und zugleich den Entschluss mit, den ich
nach hartem Ringen mit mir selber gefasst hatte, auf ihre
Hand zu verzichten. Ich bat sie aber, mir ihre Freund-
schaft zu erhalten.
Dieser Brief kam nicht in ihre Hände. Die Mutter
nahm denselben in Empfang und antwortete mir statt der
Tochter. Sie suchte den völligen Bruch zu vermeiden und
für die Zukunft eine Hoffnung offen zu lassen. Sie wollte
ihre Tochter nur jetzt noch nicht gebunden wissen und
meinte, wenn ich nach Jahren mit derselben Gesinnung
wiederkehren und Emilie noch frei finden werde, so werde
dann die Neigung erreichen, was die Umstände jetzt ver-
hindern.
Schon damals begriff ich, trotz meiner Aufregung, den
Standpunkt und die Sorge der Eltern. Nur ein ungewöhn-
liches persönliches Vertrauen, wie ich es von Emilie, aber
nicht von ihren Eltern erwarten durfte, konnte über die
erheblichen Bedenken hinweg helfen, die einer so frühen
Verlobung eines neunzehnjährigen Jünglings mit der da-
mals achtzehnjährigen Jungfrau — Emilie war am 31. Oc-
cap. 6.] Auf der ükivebsitXt Beklin. 59
tober 1808 geboren — im Wege standen. Aber die schroffe
und unmotivirte Weise, wie die Eltern ihrer Tochter unter-
sagten, mit dem fernen Freunde brieflich Verkehr zu pflegen,
war ein arger MissgrifF und ein schwerer Schaden für ihre
Tochter. Wie viel glücklicher und reicher wäre sie in den
nächsten Jahren geworden, wenn sie an meinem Leben in
Berlin, Bonn und Paris fortwährend einen Anteil gehabt
hätte. Ich hätte dann ebenso für sie gelebt und ihre Bil-
dung zugleich mit der meinigen gefördert. Die stete Rück-
sicht auf die Geliebte hätte mich veredelt und gehoben
und wäre auch für sie von grossem Vorteil gewesen.
Ich sah Emilie vor meiner Abreise nicht mehr, ob-
wohl sie wieder in Zürich war. Mein,. von Hitz gemaltes
Porträt, das für sie bestimmt war, kam nun zu Zeller.
Ich erhielt es erst später wieder zurück für meine Familie.
Etwas von dem farbigen Schmelz jugendlicher Freude
und Zuversicht war durch den winterlichen Frost zerstört
worden, der auch die Blüten meiner Liebe geknickt hatte.
G.
Auf der Universität Berlin. Die Reise nach Berlin. Savigny.
Die historische Rechtsschnle. Schleiermacher. Religiöse An-
sichten. Freunde. Gekrönte Preisaufgabe. Pläne für die
Zukunft. Berliner Gelehrte.
Zu Anfang October 1827 reiste ich von Zürich ab
zum Besuch der Universität Berlin. Am Morgen der Ab-
reise bestieg ich noch das Türmchen im Steinböckli und
nahm Abschied von den lieben Bergen und dem See, welche
von der Sonne glänzend beleuchtet waren. Ich gelobte mir,
so zu werden, wie diese schneebedeckten Berge. Der Ab-
60 Reise nach Berlin. [cap. 6.
schied von den Verwandten und Freunden war für sie
rührender als für mich; mein Herz war voll Hoffnung und
Erwartung und mein Mut voll Zuversicht. Bis Bülach
gaben mir die Commilitonen das feierliche Geleite. Sie
priesen noch laut meine Verdienste um das Zürcher Stu-
dentenleben, zu meiner Beschämung; denn ich war mir
bewusst, das Meiste nur aus innerem Drang der Natur ge-
than zu haben, welche das Bedürfnis empfand, sich andern
mitzuteilen.
Die Reise ging damals noch sehr langsam von Statten;
erst mit der Postkutsche, die bei jeder Station anderthalb
Stunden ausruhte; dann mit Hauderern, die genötigt wa-
ren, noch längere Ruhepausen zu machen; in der Nähe
von Leipzig und Berlin erst mit Eilwagen und Schnell-
posten, welche öfter die Pferde wechselten. Die Langweile
der Fahrt wurde dadurch unterbrochen, dass wir Gelegen-
heit hatten, die Städte Stuttgart, Heidelberg, Darmstadt,
Frankfurt, Leipzig und Halle zu besehen.
In Stuttgart gefiel mir das Königsschloss; aber die
Stadt erschien mir ohne Leben.
In Heidelberg entzückte mich die Schönheit der Schloss-
ruine und der Natur, und interessierte mich das Studenten-
leben. Die Sitte des „Pauckens" schien mir berechtigt, um
die unbändige Freiheit zu nötigen, sich selber zu be-
schränken und Andern anständig zu begegnen. Nur die
Übertreibung der Studentenduelle hielt ich für tadelnswert.
Nicht ohne stille Wehmut dachte ich daran, dass Emilie
auch hier gewesen sei und sich der schönen Gegend erfreut
habe. Aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung davon,
dass dereinst Heidelberg für uns beide zur Heimat wer-
den könnte.
cap. 6.] Reise nach Berlin. 61
Darmstadt machte mir den Eindruck der schönsten
Stadt, die ich bis dahin gesehen hatte. In Frankfurt gefiel
mir das reiche, wogende Leben: „Wo der Strom des Le-
bens mächtig wogt, da ist mir wohl. Andere werden davon
erschreckt und ziehen sich scheu zurück." In Frankfurt
wurde ich auch zum ersten Mal im Leben der vollen Frei-
heit bewusst, welche dem jungen, aus dem elterlichen Hause
entlassenen, von der heimischen Sitte nicht mehr einge-
engten Mann in fremdem Lande unter fremden Menschen
eröifnet wird. Ich schrieb in mein Tagebuch: „Nun bin
ich völlig frei und kann nach Willkür mein Leben ein-
richten. Jetzt erst sehe ich ein, dass es mit den Ver-
führungen doch nicht so ganz leeres Geschwätz ist. Aber
das ist gewiss:* zuerst verführt man sich selbst und erst
dann unterliegt man der Verführung Anderer, wenige Fälle
ausgenommen. Darum hüte Dich, dass Du nicht leicht-
sinnig Dich selbst zuerst wegwerfest, denn hitzig wallt
Dein Blut und ist zur Lust geneigt. — Bewahre Dich
rein für die Reine, deren Arme Dich einst umfangen, dass
kräftig und schön ein neu Geschlecht Dir entsprösse.**
In Leipzig hörte ich zum ersten Mal den Don Juan.
Die Musik entzückte mich durch den Reichtum ihrer Har-
monien und Melodien^ und ganz besonders auch durch die
Wahrheit, mit welcher die verschiedensten Empfindungen
des Menschenlebens in Tönen ausgedrückt waren. Der Don
Juan ist meine Lieblingsoper geblieben. Von der Mozarti-
schen Musik fühlte ich mich immer besonders angezogen.
Sie schien mir von himmlischer Heiterkeit durchleuchtet,
ein Hochgenuss für Götter und Menschen.
Endlich nach eilf Tagen erreichte ich Berlin. In Ge-
meinschaft mit einem Freunde aus Zürich, welcher Natur-
62 Künstgenüsse in Beblin. [cap. 6.
Wissenschaft studierte, Arnold Escher von der Linth,
mietete ich eine gute Studentenwohnung. Wir hatten zu-
sammen drei Zimmer in der Mittelstrasse (Nr. 52). Der
Aufenthalt in Berlin gefiel mir von Anfang an sehr. Die
volle persönliche Freiheit, die geistige Arbeit und die gei-
stigen Genüsse befriedigten mich. Das Gefühl, mit Männern
ersten Ranges in dem Reiche der Wissenschaft in persön-
liche Beziehung zu kommen, war erhebend. Unter ihnen
verehrte ich Savigny und Schleiermacher am meisten.
Daneben freute ich mich, das Theater zu gemessen. Für
den genialen Ludwig Devrient und die Stich — nun
Frau Crelinger — war ich begeistert. Ich habe auch
später niemals Schauspieler gesehen, die mir einen tieferen
Eindruck gemacht hätten. Auch die Oper, in welcher da-
mals die liebliche Henriette Sonntag, die classische
Milder und der kräftige B 1 u h m e sich auszeichneten ,
wurde fleissig besucht.
Ich studierte vorzugsweise römisches Recht. Unter
Kellers Führung hatte ich mich gewöhnt, aus den alten
Quellen zu schöpfen, und war mit dem Corpus juris wohl
vertraut. Die Methode Savignys, durch die Interpretation
der überlieferten Fragmente aus der juristischen Litteratur
und Gesetzgebung des römischen Altertums seine Zuhörer
in das juristische Denken einzuführen, hatte meinen voll-
sten Beifall. Die entgegengesetzte Methode, der ich in dem
Unterrichte auf Universitäten auch oft begegnete, die Stu-
direnden lediglich mit einer Masse sogenannter positiver
Wahrheiten und Kenntnisse anzufüllen, ohne sie im Denken
und im Aufsuchen und Erkennen der Wahrheit zu üben,
war mir allezeit verhasst; ich verglich dieselbe mit dem
Stopfen der Gänse. Savigny war damals unbestritten der
cap. 6.] Saviony. 63
erste Romanist in Deutschland oder, wenn man will, in
der Welt. Seine Vorträge waren Von einer bewunderungs-
würdigen Klarheit und Sicherheit des Ausdrucks, in der
Form so schön durchgebildet, dass man die Rede unbe-
denklich wortgetreu drucken könnt«, und doch so frei, dass
der Vortrag den Eindruck der unmittelbaren frischen Geistes-
arbeit machte und weder aus einem Manuscript abgelesen
sein, noch als Dictat zum Nachschreiben aufgefasst werden
konnte. Die Zuhörer sahen auf ihn als das vollkommene
Vorbild des juristischen Denkers, und indem sie das wesent-
liche des Vortrags in gekürzter Fassung rasch zu Papier
brachten, nahmen sie teil an seiner Arbeit und bildeten
dieselbe nach. Die Erscheinung von Savigny auf dem
Katheder hatte etwas Feierliches und Würdevolles. Die
Zuversicht eines Mannes, der seinen Stoff als Meister be-
herrscht, thronte sichtbar auf der hellen Stirne. Das grosse,
klare Auge leuchtete, wenn er die juristischen Begriffe in
ihrer Entstehung schilderte und in ihre Bestandteile zer-
legte. Um den feinen Mund spielte gelegentlich ein iro-
nisches Lächeln oder auch ein liebenswürdiges Wohlwollen.
Nur die etwas zur Seite geneigte Haltung des Kopfes und
der gerade Scheitel, der die Haare in zwei gleichmässig
herabsinkende Hälften trennte, erinnerte an einen pietisti-
schen Anhauch, der über die klare Seele wie ein Schleier
hingegossen war.
Savigny war das anerkannte Haupt der geschicht-
lichen Schule unter den deutschen Juristen. Er hatte ihre
Grundgedanken am klarsten ausgesprochen und am besten
verteidigt. Im Gegensatz zu der früher herrschenden
Meinung, dass das Recht lediglich das Erzeugnis der Ge-
setze sei, und dass diese aus der Willkür des Gesetzgebers
(34 Die historische RECHTssCHtTLE. [cap. G.
hervorgehen, hatte er das Recht in einen organischen Zu-
sammenhang gebracht mit der besonderen Volksindividualität.
Er hatte gezeigt, dass das Recht wie die Sprache eine Seite
des Volkslebens sei und eine naturgemässe Entwicklung,
eine Geschichte habe. Wie die Völker selber in ihren ver-
schiedenen Lebensaltern einen verschiedenen Ausdruck haben,
so habe auch ihr Recht einen andern Charakter in der
Jugend, als in dem reiferen oder höheren Alter eines Vol-
kes. Das Gewohnheitsrecht, welches sich in den Sitten und
Übungen der Menschen offenbart, bekam so ein neues Licht
und durfte sich dem Gesetzesrecht ebenbürtig zur Seite
stellen. Vieles, was man zuvor als zufallig und willkür-
lich betrachtet hatte, erschien nun als notwendig und na-
turgemäss. Die Bedeutung des abstracten Vernunftrechtes
sank, die des positiven geschichtlichen Rechts stieg in der
Wertschätzung. Das Studium der nationalen Rechtsge-
schichte erklärte manche rätselhafte Erscheinung in den
geltenden Rechten. Indem man die Vergangenheit kennen
lernte, gewann man eine gründlichere Einsicht in die Be^
dingungen, auf welchen die gegenwärtigen Rechtsinstitutio-
nen ruhten.
Die historische Rechtsschule hatte so einen mächtigen
Impuls gegeben zur geschichtlichen Erforschung des römi-
schen und des deutschen Rechts. Die Rechtswissenschaft
verdankte ihr die sorgfältigere Aufdeckung und Benutzung
der älteren Rechtsquellen. Ich war ein eifriger Anhänger
der Schule, für welche mich in Zürich schon Keller ge-
wonnen hatte, und ich blieb derselben während meiner
ganzen Universitätszeit zugethan. Erst in reiferen Jahren
wurden mir die Mängel einer einseitig geschichtlichen Be-
trachtungsweise und die Gefahren offenbar, in' welche der
cap. 6.] Frau von Asnim-Bbentano. 65
vorzugsweise der Vergangenheit zugewendete Sinn sich ver-
wickelt.
In Berlin vertrat damals unter den juristischen Pro-
fessoren nur Eduard Gans die philosophische Richtung.
Ich las wohl seine Schriften, ich hospitirte in seinem Colleg ;
aber der Mann missfiel mir, obwohl ich zugab, dass er
Scharfsinn und gewandten Geist habe. Die kecke und rück-
sichtslose Art, wie er gegen Savigny Opposition machte,
verletzte meine Verehrung für den grossen Lehrer, und der
prahlerische Selbstruhm des eiteln Professors ärgerte mich.
Es ging mir wie dem treuen Kent bei Shakespeare, als
er den Hofmeister sah: „Seine Miene war mir zuwider."
Ich war von Savigny, obwohl er in jenem Winter
leidend war und oft über unerträgliche Kopfschmerzen
klagte, vortrefflich aufgenommen worden, nachdem ich ihm
eine Empfehlung von Keller überbracht hatte. Ich durfte
sogar in seiner reichen Bibliothek bequem arbeiten. Auch
die Familie des Meisters lernte ich kennen. Ein Sohn
Savigny's studirte zugleich mit mir die Pandekten.
In dem Savigny'schen Hause, das an dem Pariser-
Platze diesseits des Brandenburger Thors gelegen war und
stattliche Räume hatte, sah ich öfter seine Schwägerin, die
Frau von Arnim, eine geborene Brentano. Die berühmte,
noch schöne, obwohl nicht mehr junge Frau interessirte
mich lebhaft. Sie war allen andern Frauen, die ich bisher
kennen gelernt hatte, durch blendenden Verstand, geist-
reichen Witz und gewandte Sprache überlegen. Gerade
weil sie dieser Überlegenheit bewusst war, konnte auch
das scheinbar naive Sichgehenlassen und die rücksichtslose
Ungenirtheit, mit der sie sich über Alles aussprach, leicht
Anstoss erregen und verletzen. Indessen hatte sie ein
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 5
QQ SCHLEIEKKACHEB. [cap. 6.
gutes Herz, und die innere Menschenfreundlichkeit, die
dem scharfen Auge nicht verborgen blieb, versöhnte wieder
mit der originellen Erscheinung. Deutschland kennt und
ehrt das Andenken an Bettina, „das Kind**, das einst zu
Goethe liebreich aufgeschaut hatte. Ich habe später andere
Briefe der Bettina gesehen, die nicht veröffentlicht wurden,
aber nicht weniger merkwürdig sind, als ihre Briefe an
Goethe. Sie hatte einen jungen Schweizer aus Graubündten,
Namens Hösli, einen echten Sohn des Hochgebirgs voll
männlicher Stärke und Naturschönheit in ähnlicher Weise
idealisiii, wie zuvor den alten Goethe. Ihre Briefe an jenen
sind warm empfunden und mit den Farben eines dichteri-
schen Gemütes reich geschmückt. Mit meiner blöden
Schüchternheit und Unerfahrenheit hat sie zuweilen ihr
Spiel getrieben; aber ich hatte ihr doch zugleich manche
Anregung und manche Freundlichkeit, insbesondere auch
die Einladung zu Schleiermacher, zu verdanken.
Nächst Savigny zog mich vorzüglich Schleiermacher
an. Ich hörte bei ihm Dialektik und besuchte regelmässig
seine Predigten. Der Eindruck, den der Professor auf dem
Katheder machte, war sehr verschieden von dem Eindrucke
des Predigers Schleiermacher auf der Kanzel. Dort erschien
er kalt, schneidig, die Begriffe zerlegend, hin und her prü-
fend, kritisch. Hier war er oft warm, begeistert, erbauend.
Dort zeigte sich der Mann der Wissenschaft, hier der Ver-
kündiger der Religion. Der Philosoph Schleiermacher war
ein anderer Mann als der Christ Schleiermacher. Als Phi-
losoph hatte er die Monologen geschrieben und darin
die Ideale seiner eigenen Individualität und seine persön-
lichen Gedanken über die Menschen und ihr Streben aus-
gesprochen, in seinen Predigten gab er sich dem christ-
cap. 6.] Religiöse Ansichten. 67
liehen Geiste hin und Hess sich von ihm erfüllen und
bewegen.
Ich hielt mich zu keiner philosophischen Schule.
Hegel, der damals lehrte, war mir zu abstract, zu künst-
lich und zu unverständlich. Es fehlte mir der Glaube
nicht bloss an die Wahrheit, sondern sogar an die Wahr-
haftigkeit seiner Philosophie. Sie kam mir vor wie ein
geistreiches Spiel mit Phrasen, um die Menschen mit wis-
senschaftlichem Scheine zu täuschen und zu beherrschen.
Schleiermacher hatte weder ein System geschaffen noch eine
philosophische Schule gegründet. Er wirkte lediglich durch
seine Eigentümlichkeit.
Da ich unter den Schweizern, die damals in Berlin
studirten, manche guten Freunde hatte, die meistens der
theologischen Facultät zugehörten, so hatte ich viele Ge-
legenheiten, auch über die religiösen Fragen mit ihnen zu
sprechen. Die rationalistische Auffassung, wie sie in Zürich
herkömmlich gewesen, genügte mir nicht mehr. Sie er-
schien mir zu oberflächlich und zu dürftig. Aber die ortho-
doxe Ansicht missfiel mir ebenfalls als unnatürlich und da-
her unwahr. Ich fing an, es besser als früher zu verstehen,
dass viele Protestanten in Christus, und dass viele Ka-
tholiken selbst in der Maria die Gottheit gleichsam ver-
körpert zu sehen glaubten und ihre Gebete zu diesen rich-
teten. Ich hatte eine sehr hohe Meinung von der welt-
geschichtlichen Grösse von Jesus. Ich verehrte ihn als den
„Gotterfüllten Menschen", aber es widerstrebte meinem
Wahrheitssinn und meinem religiösen Gefühle entschieden,
ihn als Gott zu denken. Er war für mich ein Mensch,
mit menschlichen Eltern und von menschlicher Art; aber
allerdings ein Mensch, in welchem der göttliche Geist in
5*
C)S SCHLEIEBXACHEBS FaMTLIEKLEBEK. [cap. G.
seltener, vielleicht in einziger Weise, vollkommener und
mächtiger als in allen andern lebte. Nur in diesem Sinne,
nicht in dem gewöhnlichen, konnte ich Jesus als den Sohn
Gottes verstehen.
Aber auch meine Vorstellung von Gott hatte eine
Änderung erfahren. Die pantheistische Ansicht, dass er
ohne persönliche Eigenschaften nur die innere Notwendig-
keit des Weltalls sei, befriedigte mich nicht mehr. Dieser
Gott war mir zu kalt, zu leblos. Ich bedurfte einen Gott,
der von der Liebe bewegt war, d. h. einen persönlichen
Gott, und ich glaubte wieder an einen Gott, der Bewusst-
sein und Willen habe. Freilich war mir auch dieser Gott
noch zu fern, zu unendlich. Ich fand die Brücke nicht,
die das beschränkte, schwache Menschenkind zu ihm führe.
Schleiermachers Reden über die Religion eröffneten
mir den Weg in das Gebiet des religiösen Geistes. Seine
Predigten erwärmten mein Gemüt und schlössen mir die
christliche Gedankenwelt auf. Ich war überzeugt, dass in
der Tiefe und auf der Höhe des Geisteslebens harmonische
Einheit sei von Religion, Kunst und Wissenschaft, die nur
auf den Zwischenstufen, zur Zeit ihrer besonderen Ent-
wicklung auseinandergehen. Da Gemüt, Phantasie und
Verstand alle Eigenschaften und Ausflüsse desselben Einen
Geistes sind, so können sie einander nicht im Wege sein,
noch sich bekämpfen. Sie würden ja den Geist zerstören,
der in ihnen lebt und webt. Ich betrachtete daher die
Kämpfe zwischen Glauben und Wissen in unserer Zeit nur
als Entwicklungsmomente und war überzeugt, dass schliess-
lich eine Versöhnung komuien werde.
In Schleiermacher verehrte ich ein lebendiges Bild
dieser Harmonie. Eines Abends glückte es mir, durch die
cap. 6.] Freunde in Beblin. 69
Gunst der Frau von Arnim, einen Einblick in das Familien-
leben Schleiermachers zu erwerben. Ich war mit jener und
Dr. Rudorff in den engen Familienkreis eingeladen wor-
den. Schleiermacher war an diesem Abende sehr belebt
und freundlich. Er zeigte uns auch seine Manuscripte.
Die Schrift war klein und enge in einander geschoben,
mit wenig Correcturen. „Ich kann nicht feilen und cor-
rigiren", bemerkte er, „meine Sprache mag daher zuweilen
barbarisch erscheinen, ich bin kein classischer Schriftsteller,
ich weiss es wohl."
Das ganze Hauswesen machte einen wohlthuenden
Eindruck. Es war Alles schön und reich, aber keine Spur
von Prunk und Schein, Alles acht. Seine Frau war sehr
liebenswürdig, die Töchter natürlich und anmutig. Dieser
Abend war der Glanzpunkt meines Berliner Aufenthaltes.
Mit Rudorff spazierte ich auf dem Heimwege noch lange
in der mondhellen Sommernacht. Wir sprachen über
Schleiermacher begeistert. Noch im Traume sah ich ihn
mit den Seinigen, wie ein Bild eines beseligten Weisen.
Als Student verkehrte ich anfangs fast nur mit meinen
schweizerischen Landsleuten , meistens tüchtigen jungen
Männern, die ich schon früher im Zofingerverein kennen
gelernt, insbesondere Hans Meyer, Spöndli, Zimmer-
mann, Vögeli aus Zürich, Abel Burckhard und Her-
zog aus Basel, Tschocke aus Aarau. Später machte ich
Bekanntschaft mit deutschen Studirenden, vorzüglich mit
dem jüngeren Rudorff, mit den beiden Brüdern Wacker-
nagel, Philipp und Wilhelm, mit Buchholz. Mit den
letzteren wurde eine Gesellschaft gebildet, „die Namen-
losen" benannt, die sich mit der neueren Litteratur be-
schäftigte. Wir machten uns durch eine Polemik bemerk-
70 Gekrönte Preisschbift. [cap. 6.
lieh, die wir gegen die Witzblätter Saphirs eröffneten. Im
Verkehr mit W. Wackernagel änderte ich auch, dem Vor-
bilde der Germanisten folgend, meine Schrift und vertauschte
die sogenannte deutsche Cursivschrift mit der runden und
gediegenen lateinischen Schrift, welche zu jener Zeit ver-
dorben worden war.
Auf den Rat des altern Rudorflf bearbeitete ich die
Preisaufgabe der juristischen Facultät über das römische
Noterbenrecht nach der Novelle 115. Gegen meine Er-
wartung wurde die Arbeit gekrönt, und ich erhielt die
goldene Medaille mit dem Bilde des Königs Friedrich Wil-
helms DI. Ich war bei der Eröffnung des Urteils der
Facultät an dem Geburtsfeste des Königs, am 3. August,
nicht in der Aula, sondern sass bei Tische, als einer meiner
Freunde die frohe Nachricht überbrachte. Meine Eltern
und Freunde in Zürich hatten eine grosse Freude, als ihnen
die unverhoffte Kunde über meine Auszeichnung zukam.
Ich arbeitete die lateinische Dissertation nachher zu einem
deutschen Buche, meinem Erstlingswerke aus, welches 1829
in Bonn gedruckt wurde. Die ganze Frage, die darin be-
handelt wurde, interessirte mich später wenig mehr. Aber
während der Arbeit hatte ich doch den Anlass gerne er-
griffen, mich in den Quellen und in der Litteratur des rö-
mischen Rechtes genauer umzusehen.
Der Gedanke, mich dem akademischen Berufe zu
widmen und auf einer deutschen Universität als Privat-
docent aufzutreten, wurde damals oft erwogen. Es lockten
mich vorzüglich die Bilder von Heidelberg und Bonn. Dort
konnte ich als Vertreter der geschichtlichen Rechtsschule
die ungeschichtliche Methode von Thibaut ergänzen und
berichtigen. Auch nordische Pläne reizten mich. Professor
cap. 6.] PlXke für die Zukunft. 71
Klenze empfahl mir, nach Upsala zu gehen und da das
schwedische Recht in seiner Entwicklung zu studieren. Er
meinte, in dem scandinavischen Norden seien so reichliche
Quellen zu entdecken, dass man noch ,,mit Eimern aus dem
Vollen schöpfen könne".
So bedeutend die geistigen Eindrücke waren, die ich
in Berlin empfing, so wenig befriedigte mich die kahle und
öde Natur der Stadt und ihrer Umgebung. Die Stadt
zählte damals kaum den vierten Teil der Bevölkerung,
welche sie gegenwärtig bewohnt. Reich und gross in ihr
erschien nur die Residenz des Königs und was mit dem
höheren Beamtentume, der Generalität und der Universität
zusammenhing. Die Bürgerschaft ernährte sich nur müh-
sam durch grossen Fleiss und zähe Sparsamkeit. Die
Industrie und der Handel waren noch wenig fruchtbar.
Der Gegensatz zwischen der schönen Lage meiner Vater-
stadt und der Sandfläche von Berlin war zu empfindlich für
mich. Auf die Dauer in Berlin leben zu müssen, kam mir
entsetzlich vor. Wenn ich damals ernstlich daran dachte,
mich in Deutschland, wenigstens für den Anfang, nieder-
zulassen, so war ich doch entschlossen von Berlin abzu-
sehen.
Von Gelehrten Berlins, die ich sah und hörte, sind
noch zu erwähnen: der Geograph Carl Ritter, welcher
die Geographie durch ihre Beziehungen zu der Menschen-
welt zu beleben verstand; der Philologe Böckh, bei dem
ich gerne die Vorträge über Griechische Altertümer be-
suchte; der Jurist Phillips, der die deutsche Rechts-
geschichte, nicht ohne Geist vortrug, aber selber in dem
verschlingenden Gestrüppe des Mittelalters sich verwickelte
und gefangen blieb. Auch die berühmt gewordenen Vor-
72 Berlikes Gelberte. [cap. 6.
lesungen Alexanders von Humboldt über den Kosmos
hörte ich mit lebhaftem Interesse, aber wenig eigenem
Verständnis. Diesen Vorträgen wohnten manche ergi'aute
Statsmänner und Generäle bei, auf denselben Bänken wie
wir jungen Studenten. Das hat mir damals sehr imponirt
und eine hohe Meinung von der Bildung der höchsten
Kreise Berlins gegeben. Besondei's interessirte mich die
Erscheinung des vormaligen Ministers und grossen Sprach-
gelehrten Wilhelms von Humboldt unter den Zuhörern,
mit der ungewöhnlich weit aufstehenden Stirne, Von letz-
terem hörte ich in der Akademie ebenfalls einen öffent-
lichen Vortrag über vergleichende Sprachwissenschaft. Eö
war an demselben Tage, als Schleiermacher eine Rede
hielt zur Erinnerung an Friedrich den Grossen. Diese
Rede gab Zeugniss von der Geistesfreiheit, welche damals
in Berlin heimisch war. Ich schrieb darüber nach Zürich;
,Die ganze Rede war so frei, wie ich noch nichts der-
gleichen gehört hatte. Aber diese Freiheit fiel niemandem
auf, als uns Schweizern. Ein Zeichen der Zeit."" Über-
haupt machte ich damals oft die Bemerkung, dass in der
Schweiz ganz falsche Vorurteile über die deutschen Staten
und die „deutschen FUrstenknechte" verbreitet seien, wie
hinwieder auch in Deutschland wunderliche Meinungen über
die schweizerischen Republik
cap. 7.] Habzbeisk. 73
7.
Universität Bonn. Die HarzreiBe. Bei Hvgo in G^kttiBgeB.
Freunde in Bonn. Professor Hasse. FvggL Beli^ifiee AiwichteB.
Niebnhr. Ideale. Politische Ansichten. Prenssen. Befermen in
Zürich. Wnnsch einer üniYersit&t in Zftrich. Poet arprom otion.
; Im September 1828 bezog ich die Universität Bonn,
hauptsächlich durch Hasse und Niebuhr angezogen.
Auf der Reise dahin lernte ich in Halle Bluhme
kennen, an den mich Savigny empfohlen hatte. In seinem
gastlichen Hause sah ich den munteren Pernice, und den
Historiker Leo, der sich von der Hegel'schen Umstrickung
abzulösen schien. In Halle traf ich meinen Freund Möller
wieder, welcher bereit war, mit mir, Vögeli und dem
Holsteiner Christiansen eine Fussreise durch den Harz
zu unternehmen. Wir waren sammtlich schlechte Fuss-
gänger und machten nur kleine Tagemärsche von wenig
Stunden. Der Weg auf den Brocken wurde durch die
Erinnerung an Goethe s Faust anmutig verschönert. Die
weite, aber wenig Manichfaltigkeit bietende Aussicht von
der Bergeskuppe wurde durch zwei Gewitter, die von ver-
schiedenen Seiten her zusammenstiessen, interessant ge-
macht. Wir genossen bei einigen Flaschen Rheinwein in
GeseDschaft mit anderen Studenten aus Göttingen und Berlin
da oben einen fröhlichen Abend.
Während dieser Harzreise machte ich meinen ersten
Versuch in juristischer Praxis. In einem zu Preussen ge-
^kk^en Orte wurde einer von uns, der ruhig im Gehen
J^Hker Pfeife rauchte, von einem Dorfwächter in brüsker
gepackt und unter der Androhung, die Pfeife zu
i genötigt, wegen unerlaubten Rauchens zwei
J .oi?- ^., ^^zahlen. Empört über dieses Vorgehen
J
74 Bei Hugo in Göttingen. [cap. 7.
schrieb ich an den Preussischen Regierungspräsidenten in
Wernigerode eine Beschwerde, in der ich das grobe Ver-
fahren schilderte und bemerkte, wir Studenten seien von
Berlin her an höfliche Begegnung gewohnt. Zugleich er-
klärte ich, dass ich nach Bonn reise und dort zu finden
sei. Ich hatte die Geschichte bald wieder vergessen und
zweifelte überhaupt, in Erinnerung an die heimatlichen Er-
fahrungen, ob die Beschwerde irgend eine Folge habe. Da
erhielt ich in Bonn die amtliche Nachricht, meine Be-
schwerde sei untersucht und gegründet erfunden worden.
Der Polizeidiener habe daher einen Verweis erhalten, und
die Hälfte der Busse, die ihm zugefallen wäre, folge anmit
zurück. Mit Jubel empfingen wir den Thaler und leerten
manches Glas zu Ehren der Preussischen Justiz.
In Göttingen besuchte ich, mit einem Briefe von
Bluhme versehen, den alten Ritter Hugo, den Veteranen
unter den Führern der geschichtlichen Schule. Er hatte
einen Hof von Studenten um sich, die er in seiner halb
humoristischen halb pedantischen Manier examinirte. Ich
hatte Glück, indem ich zufällig den Namen des Philosophen
Friedrich Heinrich Jacobi auf seine Frage zu nennen wusste,
während alle andern schwiegen. Abends fuhr er mit mir
und einem jungen Doctor spazieren. Nachdem er uns er-
zählt hatte, dass er selber keinen Wein trinke, darin un-
gleich dem grossen Romanisten Cujaz, liess er den Wagen
im Walde halten und bot uns den Wein an, den er in
einem Flaschenmantel mitgeführt hatte, sammt Kuchen.
Wir Hessen uns die Gabe schmecken und freuten uns der
schnurrigen Geschichten, die er uns überdem schenkte.
Sehr gut gefiel mir seine hübsche Tochter, die Gattin Ott-
fried Müllers, die wir nachher in seinem Hause trafen.
cap. 7.] Auf der Universität Bonn. 75
Mit der Post fuhren wir über Cassel, wo ich die prächtige
Wilhelmshöhe bewunderte, Düsseldorf und Elberfeld nach
Cöln. Der Anblick des Rheins und des Domes, der damals
auch im Innern noch einer Ruine glich, entzückte mich.
Die Lage von Bonn gefiel mir sehr. Da konnte ich mich
wieder, was ich so lange entbehrt hatte, der schönen Natur
erfreuen.
In Bonn wohnte ich mit Christiansen zusammen in
der Hundsgasse Nr. 1052. Wir betrieben dieselben Stu-
dien und unterstützten uns wechselseitig. Der Dritte im
Bunde war Gustav Hasse, der Sohn des Professors.
Christiansen war ein junger Mann mit riesiger Körper-
kraft begabt — er besiegte einmal einen reisenden Her-
kules — , von leicht erregbarer lebhafter Sinnlichkeit, aber
gutmütig und wohlwollend, dabei gewandt in jeder Hand-
tierung und von grossem, scharfem Verstände. Der junge
Hasse war äusserlich kälter, innerlich leidenschaftlicher,
von schneidigem Scharfsinn, darin dem Vater ähnlich.
Christiansen wurde im Verfolg Professor in Kiel und schrieb
ein Buch über römische Rechtsgeschichte mit der Färbung
der Hegerschen Philosophie. Ich machte dabei eine selt-
same Erfahrung. Wir drei, besonders aber Christiansen
und ich, hatten uns in Bonn aus Scherz ganz in die Sprech-
weise der Hegelianer eingelebt. Wenn wir einem solchen
begegneten, so fingen wir an hellen Unsinn, aber in He-
gerschen Phrasen, zu sprechen und hatten dabei regel-
mässig das Vergnügen, dass die Hegelianer das als höchste
Weisheit verehrten. Als aber Christiansen nach Berlin
kam, wurde er doch von der Hegel'schen Philosophie ge-
packt, und er trieb nun mit Ernst, was wir zuvor zu un-
serm Spasse verhöhnt hatten. Er war übrigens eher ein
76 Fbeundb in Bonk. [cap. 7.
praktischer, als ein spekulativer Kopf und fand sich später
doch wieder in einer verständigen Betrachtung der Dinge
zurecht.
Der junge Hasse ist früh gestorben. Mir hatte er
noch die Freude gemacht, seine lateinisch geschriebene
Doktordissertation de operis novi nunciatione zu de-
diciren.
Meine Gesellschaft in Bonn bestand fast nur aus
Deutschen, meistens vom Norden, vorzüglich aus Bremen,
Hamburg und Holstein. Von Schweizern waren ausser mir
nur Wilhelm Vischer aus Basel, später Professor der
Geschichte, und der wackere Zofinger Siegfried, später
Landammann in Aargau, in unserm Kreise. Unter den
Süddeutschen war mir der Bayer Helmes vorzüglich zu-
gethan. Von Norddeutschen erwähne ich v. Jeetze aus
Potsdam, zu dem ich lebhafte Zuneigung empfand, Ul-
richs und Garlichs aus Bremen, Perthes, später Pro-
fessor in Bonn, Bätke und Palm aus Hamburg, Nico-
lovius, den Liebling des alten Goethe. Wir fanden uns
regelmässig, aber in freier Weise, ohne Statuten und ohne
Senioren in einer Kneipe zusammen.
An Hasses Vorlesungen über Erbrecht, Pandekten,
Deutsches Privatrecht hatte ich grosses Interesse. Hasse
hatte nicht die Gelehrsamkeit Savignys und zeichnete sich
keineswegs durch philosophischen Blick aus; aber er war
ein geborener Jurist, ähnlich den alten Römern. Bis ins
Einzelne und Feine hinein zergliederte er jedes thatsäch-
liche Verhältniss von der juristischen Betrachtung aus mit
dem auf die Anwendbarkeit gerichteten praktischen Scharf-
blick. Wissenschaftlich war er eher Dogmatiker als Hi-
storiker, aber durchaus kein scholastischer Pedant, sondern
cap. 7.] Die Professoren Hasse ukd Pugge. 77
ein schöpferischer Denker. Für mich hatte er freund-
liches Wohlwollen.
Zu seinem Schwiegersohn, Professor Pugge, kam ich
in nähere Beziehung. Ich harmonirte in mancher Hinsicht
mit dem geistreichen, aber unglücklichen Manne. Auch
über religiöse Dinge unterhielt ich mich gerne mit ihm,
obwohl da unsere Ansichten weit auseinander gingen. Er
war Katholik, aber sein Katholicismus war durch die Schel-
ling'sche Philosophie beleuchtet und freier als der gewöhn-
liche. Oft hob ich im Gespräch mit den protestantischen
Freunden die nüchterne Kahlheit des protestantischen Cultus
als einen Mangel hervor und rühmte dagegen den sinnlichen
Formenschatz des katholischen Cultus. Wann sie aber
dann Verdacht schöpften, dass ich geneigt sei, katholisch
zu werden, so reizte mich dieser Verdacht zu heiterem
Lachen. Ich fand, dass unter den jungen Männern, die
nicht Theologie studirten, gleichviel aus welcher Gegend
von Deutschland sie herstammten, so ziemlich dieselbe
Grundansicht über das Christentum verbreitet war. Die
alte dogmatische Vorstellung, dass Christus ein Gott sei,
war von allen als veraltet und undenkbar aufgegeben,
aber willig verehrten wir in Christus den gottbegeisterten
Menschen und achteten in dem Christentum die Religion
der Gottes- und Menschenliebe.
In mein Tagebuch schrieb ich damals: „Paulus' Brief
an die Kolosser ist das Schönste, was ich bis jetzt von
christlichen Ideen kenne. Er ist so ganz durchglüht von
der Hoheit des Christenthums und voll tiefer Begeisterung
für das Heil, welches durch Jesus der Welt zu Teil ward.
Aber gerade hier sehe ich, dass ich kein Christ bin. Der
Glaube an Versöhnung im christlichen Sinne ist mir völlig
78 Religiöse Ansichten. [cap. 7.
fremd, ebenso wie der Glaube an die Gottheit Jesu. Und
noch immer begreife ich nicht, wie so viele geistreiche
Männer behaupten mögen, dass der Mensch eines Vermitt-
lers bedürfe, um an Gott zu denken. Ich und Viele mit
mir glauben an Gott und verehren Gott ohne Mittler."
Aber so eingenommen von der geschichtlichen Be-
trachtung der Dinge war ich in dieser Periode, dass mir
der bald zweitausendjährige innere geschichtliche Zusam-
menhang, dessen sich die katholische Kirche mit der Stif-
tung und Entwicklung des Christentums rühmte, ein grosser
Vorzug zu sein schien vor dem Charakter der protestan-
tischen Kirche, welche genötigt war, über das ganze
Mittelalter hinweg zu springen, um an den ersten, frühesten
Bildungen der christlichen Gemeinde anzuknüpfen. Um
deswillen schien mir jene befestigter in ihrer Macht und
sicherer ihres Besitzes. Das Alter der katholischen Kirche
imponirte mir ebenso, wie ihre weltgeschichtliche Grösse
und Einheit, wenn gleich ich sie von aussen her betrachtete
und keine Lust verspürte, in dieselbe einzutreten. Ich
teilte hierin die Erfahrung, welche Johannes Müller vor-
her gemacht hatte. Zwar tadelte ich ihren Stillstand und
die Starrheit der Formen, welche die freie Bewegung
hemmte, und sah in der protestantischen Geistesfreiheit die
nötige Correktur und den Fortschritt der Zeit. Aber weil
damals unter den Gebildeten Deutschen der Katholicismus
mild und menschenfreundlich sich erwies, hielt ich ein ver-
söhnliches und freundliches Zusammenwirken und die wech-
selseitige Ergänzung der beiden Confessionen für das Ge-
bot und Streben der Zeit.
Eine neue Reformation der Kirche in unserer Zeit
hielt ich für unmöglich gegenüber der Macht der deutschen
Cap. 7.] NiEBUHB. . 79
Wissenschaft und der Mannigfaltigkeit der Meinungen. Es
müsste, meinte ich, ein Eroberer die Universitäten vorher
zerstören und den deutschen Geist in Ketten schlagen, be-
vor ihm das gelänge. Aber das war eben meines Erach-
tens unmöglich. Eher noch hielt ich eine zweite Revolu-
tion für möglich, welche die Kirche zerschlage, als eine
Reform, welche sie erneuere. „Wenn Luther und Zwingli
wiederkämen und zusammen hielten, sie würden doch nur
eine Sekte bilden, keine Kirche in unserer Zeit gründen
können." So wenig schien mir die Gegenwart religiös
angelegt.
Meine liebsten Collegien waren in Bonn die Vorträge
Niebuhrs im Wintersemester über die römische Geschichte
und im Sommersemester über die französische Revolution.
Niebuhr war nicht Professor der Universität, er hielt seine
Vorlesungen als freies Mitglied der Akademie der Wissen-
schaften. Seine Sprache war nicht abgerundet und sicher,
wie die von Savigny, nicht so flüssig, wie die von Schleier-
macher. Oft fing er eine Periode an, deren Schluss erst
in einem folgenden Satze zu entdecken war. Die Fülle
des Stoffes und der Reichtum der Gedanken waren zu
gross; er konnte sie nicht sofort in der Rede bewältigen.
Das schadete jedoch dem Eindruck nicht; vielmehr wurde
die Aufmerksamkeit der Hörer mehr noch gespannt, weil sie
gewisser Massen mithelfen mussten, den passenden Aus-
druck zu finden, der niedergeschrieben werden konnte.
Bisher kannte ich Niebuhr nur als Geschichtsforscher,
welcher die mythische Vorzeit Roms durch kühne und
gelehrte Hypothesen beleuchtet hatte. Nun genoss ich das
Glück, täglich zu sehen, wie meisterhaft er die geschicht-
lich klaren Ereignisse der römischen Republik darzustelle^
80 NiEBUHR. [cap. 7.
wusste. Es gab wohl Niemanden, der belesener war in
der antiken Litteratur als Niebuhr, und doch war er völlig
frei von toter Büchergelehrtheit. Sein Princip: ,,man
muss die Geschichte so erkennen, wie sie geschehen ist",
blieb mir ein Leitstern für mein Leben. Die bloss einge-
bildete gemachte Geschichte kam mir verächtlich vor. Was
Niebuhr erfasste, das nahm von seinem Geiste bestrahlt
die Gestalt des Wirklichen an. Er sah die Römer lebend
im Innern ihrer Häuser, im Senat, auf dem Forum, in der
Schlacht. Er verstand es, sich in die verschiedenen Lagen
und in die leibhaften Personen hinein zu denken. In seinen
Charakterzeichnungen war Wahrheit.
Niebuhr war nicht geschaffen für die praktische Po-
litik, wenigstens nicht in leidenschaftlichen Kämpfen. Er
hatte zu empfindliche Nerven und ein allzu reizbares Tem-
perament. Es war, wie wir es oft bei Künstlern und Ge-
lehrten finden, etwas Weibliches in seiner Natur, was die
männliche Thatkraft nicht aufkommen Hess. Aber er hatte
ein seltenes Verständnis für politische Motive und einen
bewunderungswürdigen Scharfblick für das Leben der Völ-
ker und ihrer Führer. Man merkte es wohl durch, dass
er auch als Statsmann an dem politischen Leben einen
Anteil gehabt und sich gewöhnt hatte, in der grossen
Welt Erfahrungen zu machen.
Auf meine Denkweise und mein Wesen übte Niebuhr
einen sehr bedeutenden Einfluss aus. Der Statsgeist der
alten Römer trat mir nun durch ihn nahe vor die Seele,
und die zur Politik hintreibende Anlage meines Geistes
wurde durch ihn wach gerufen und mächtig angeregt.
Wie tief ergriff mich seine Charakteristik von Julius
Cäsar, dem Liebling meiner Jugend, zu dessen Ehren ich
cap. 7.] Ideale. 81
auch in reiferen Jahren manchen Strauss bestand. Obwohl
es mir nicht einfiel, mich dem grossen Römer irgendwie
gleich zu stellen, und obwohl ich mich geneigt fühlte, mich
dem überlegenen Geiste in williger Unterordnung und von
Herzen anzuschliessen, so meinte ich doch, in meiner Natur
ähnliche Züge wahrzunehmen. Ich merkte damals folgen-
des an: „Auch ich pflege vor dem Entschluss zur That
lange Zeit hin und her zu schwanken, und Alles von ver-
schiedenen Standpunkten aus zu überlegen. Dann aber
kommt plötzlich ein rascher Entschluss. Nun werden alle
Kräfte aufgeboten, um die That durchzusetzen. Gegen den
geschlagenen Feind bin ich ebenfalls grossmütig. Ich
suche ihn zu versöhnen. Den Neid kenne ich nicht; gern
erkenne ich die Vorzüge Anderer und schätze Jeden nach
seiner Eigenart. Ich verlange nicht, dass Andere seien
wie ich, und messe sie nicht nach meinem Massstab. Gegen
die Menschen fühle ich Wohlwollen und Liebe; aber es
wird mir schwer, in dem Kreise, in dem ich bin, einen
Andern über mir zu ertragen. Auch ich strebe nach einem
hohen, idealen Endziel, dem das ganze Leben zugewendet
ist. Das ist freilich nicht das cäsarische, nicht die römische
Weltherrschaft und Weltbeglückung, sondern das beschei-
denere eines völlig entwickelten Menschen, Bürgers, Weisea.
Das moderne Ideal der Menschheit gilt mir mehr, als das
stolze Ideal Cäsars, dem Rom noch das Grösste war.
Diesen Vorzug verdanke ich dem Fortschritte der Welt-
geschichte."
Über meine Erfahrungen in Preussen merkte ich Fol-
gendes an: „Preussen ist zwar geographisch zerrissen, aber
trotzdem ein sehr kräftiger Stat. Seine Militärorganisation
ist überaus vortrefflich. Die Regierung gleicht einem strengen
Bluntschli, Dr. J. C, Alis meinem Leben. I. a
82 Politische Ansichten. [cap. 7.
Vater, der es wohl mit seiner Familie meint, aber sie für
unmündig hält. Dabei mischt sie sich ins Einzelne und
Kleine, oft zu sehr; sie belehrt, gibt Vorschriften, Winke,
um das Wohl der Unterthanen zu fördern. Die Schulen
sind gut. Die Pressfreiheit aber ist verpönt, damit die
unmündigen nicht die Ehrfurcht und das unbedingte Ver-
trauen verlieren zu ihrer Regierung. Im Ganzen fühlt sich
das Volk glücklich, und in Sachsen bedauern es Manche,
dass sie nicht Preussen geworden seien. Preussen wird
sich übrigens auf jeden Fall über das nördliche Deutsch-
land ausbreiten und dann um vieles mächtiger, reicher und
grösser werden, als es heute ist. Eine ordentliche Ver-
fassung haben die Preussen noch nicht. Die Provinzial-
stände bedeuten nichts. Es ist aber sehr die Frage, ob
die Preussen im Norden und Osten der Monarchie schon
für eine Verfassung reif sind. Ihre Verehrung für das
Königshaus ist noch unbegrenzt, und sie sind an blinden
Gehorsam gewöhnt. Aber Preussen zieht gute Köpfe an.
Die meisten grossen Gelehrten sind von auswärts nach
Preussen gekommen. Und doch steht das Volk auf einer
hohen Culturstufe. Wenn die Entwicklung weiter gediehen
sein wird, so wird auch die Verfassung nicht ausbleiben."
Meine politische Aufmerksamkeit war aber vorzugs-
weise der Heimat zugewendet. Ich fing an zu überlegen,
ob es nicht besser sei, meine Wirksamkeit von Anfang an
in Zürich zu beginnen, als mich auf einer deutschen Uni-
versität zu habilitiren. Ich correspondirte darüber mit
meinem vormaligen Lehrer Ferdinand Meyer.
In Zürich hatte das herkömmUche Famüienregiment
durch das Falliment des Hauses Finsler, bei dem auch der
Statsrat Finsler, ein aristocratisch gesinnter und sehr an-
cap. 7.] Refobhen in Zübich. 83
gesehener Herr, betheiligt war, einen schweren Stoss er-
litten. Die innere Fäulnis der öffentlichen Zustände hatte
die Luft mit Modergeruch erfüllt. Jüngere talentvolle
Männer wagten es, trotz der Censur die Schäden und
Übel, an denen der Stat litt, aufzudecken und Besserung
zu fordern. Es wurde den regierenden Herren vom kleinen
Bat ängstlich zu Mute. Der grosse Rat wurde aufgeregt
und ungeduldig. Er wollte sich nicht länger die strenge
Vormundschaft des kleinen Rates gefallen lassen: er ver-
langte freiere Bewegung und grössere Selbständigkeit, als
der souveräne Körper, dem die Gesetzgebung gebühre. Er
änderte in diesem Sinn seine Geschäftsordnung, das soge-
nannte Reglement. Er beschloss sogar, die Pressfreiheit
einzuführen. Das Eis der Restaurationsregierung war ge-
brochen. Die Atmosphäre war wärmer geworden, und die
Hoffnungen auf fiischeres Leben und fruchtbares Wachs-
tum blühten auf.
Die jüngeren, auf deutschen Universitäten gebildeten
Juristen, von Meiss, Keller, Hirzel, Finsler, zwei
Ulrich, Meyer, Gessner, hatten zu diesen Erfolgen kräf-
tig mitgewirkt. Nüscheler hatte ihnen sein journalisti-
sches Talent als Alliirter zur Verfügung gestellt. Der
Statsrat Usteri, selber ein Zeitungsredaktor, galt als der
Hauptführer der aufstrebenden Partei, ein Mann von hu-
maner Gesinnung und freiem Weltblick. Mit lebhafter
Teilnahme folgte ich diesen Kämpfen und freute ich mich
der Siege meiner Freunde.
In meinen Briefen an Ferdinand Meyer brachte ich
mit besonderem Nachdruck die nöthige Reform der höheren
Lehranstalten zur Sprache. Die gegenwärtige Organisation
sei grundschlecht, aber es seien alle Elemente vorhanden,
6*
84 Wunsch eineb Universität in Zürich. [cap. 7.
um ein besser geordnetes Ganzes herzustellen. Ich sprach
den Wunsch aus, dass in Zürich eine deutsch-schweizerische
Universität gestiftet werde, welche den Zusammenhang
unter den verschiedenen Wissenschaften darstelle und vor
einseitiger Fachbildung schütze, welche das Ansehen und
die Würde der Wissenschaft hebe, welche den studierenden
Jünglingen die Wahl des wissenschaftlichen Berufes er-
leichtere und die höhere Ausbildung gewähre. Die Züricher
Universität sollte nach der Art der deutschen Universitäten
gestaltet, aber zugleich darauf Bedacht genommen werden,
dass zwischen Lehrern und Schülern ein lebendigerer Wech-
selverkehr gepflegt werde, als das auf den deutschen Uni-
versitäten geschehe. Für die neue Universität forderte ich
vollste Freiheit, ohne welche die Wissenschaft nicht zu
fröhlicher Blüte komme. Auch die Studierenden sollen diese
Freiheit geniessen; es sei besser, die Fehlgriffe Einzelner
zu ertragen, als die Liebe Aller zu trüben. Eines Regie-
rungscommissars bedürfe es in der Schweiz nicht, noch
weniger der Demagogenriecher. —
Am Schlüsse des Sommersemesters machte ich mein
Doctor-Examen. Es hatten bisher nur wenige Juristen in
Bonn promovirt. Die Prüfung war strenge. Sie bestand
in schriftlichen Beantwortungen gestellter Fragen und in
einem mündlichen Examen vor der versammelten Facultät,
Alles in lateinischer Sprache. Nur über deutsches Recht
wurde deutsch gefragt und geantwortet. Es ging mir gut.
Ich hatte die Prüfung „egregia cum laude" bestanden.
Doch erlebte ich dabei einen charakteristischen Zug. Wir
hatten in Bonn zwei Professoren, die Kirchenrecht lasen,
Ferdinand Walter, welcher der hierarchischen Richtung
freundlich war, und von Droste, welcher im Rufe eines
Cap. 7.] DOCTORPROMOTION. 85
freisinnigen Katholiken stand. Zufallig hatte ich bei er-
sterem Kirchenrecht gehört. Die Vorträge waren gewandt
und angenehm zu hören ; gab man den katholischen Grund-
gedanken von der göttlichen Weihe und der höheren Er-
leuchtung der Priester zu, dann war gegen die logische
Folgerichtigkeit der klerikalen Herrschaft nichts zu sagen.
Mir leuchtete der Vordersatz nicht ein, daher hatte ich
auch vor den Folgesätzen keine Furcht. In dem schriftlichen
Examen machte sich v. Droste den boshaften Scherz, den
Schüler Walters nach den Freiheiten der gallikanischen
Kirche zu fragen. Davon hatte Walter natürlich Nichts
gesagt, und ich hatte davon lediglich Nichts gehört. Ich
war daher genötigt, die Frage ohne Antwort zu lassen.
In der Zwischenzeit aber bis zur mündlichen Prüfung zog ich
die Universitätsbibliothek zu Rate und wusste dann, wieder
nach jenen Freiheiten gefragt, sehr gut Bescheid darüber.
Die Stelle der Dissertation wurde mit der Zustimmung der
Facultät durch die gekrönte und nun in deutscher Sprache
umgearbeitete Schrift „Entwicklung der Erbfolge gegen den
letzten Willen, nach römischem Recht, mit besonderer Rück-
sicht auf die Novelle 115" (Bonn bei A. Marcus 1829)
eingenommen. Ich hatte dieses Erstlingsbuch meinem ver-
ehrten Lehrer F. L. Keller gewidmet.
Die feierliche Promotion in der Aula der Universität,
nach vorheriger öffentlicher Disputation ebenfalls in la-
teinischer Sprache, fand am 29. August 1829 statt. Chri-
stiansen, Gustav Hasse und Dr. Seckendorf opponir-
ten. Mackeldey promovirte mich zum Doctor utriusque
juris. Heffter war Rector. Die Promotion geschah nach
Bonner .Sitte in feierlicher Form. Dem Promovenden wurde
der rothe Mantel mit Goldstreifen umgehängt, das rote
86 Aufenthalt in Pabis. [cap. 8.
Barret aufgesetzt, der goldene Ring an den Finger gesteckt,
das Buch tibergeben und der Zutritt auf das höhere Ka-
theder eröfl&iet.
So war ich nun in die gelehrte Ritterschaft einge-
treten und hatte einen Titel für das übrige Leben gewon-
nen, den kein Volk und kein Fürst weder zu geben noch
zu nehmen vermochte. '
8.
Aufenthalt in Paris. SinneBeindrücke. Abspannung. Pariser
Bekanntschaften. Rechtsansicht. Politisches. Die keimende
Liebe zu Clementine von L.
Den Abschluss meiner Studienzeit sollte Paris bringen.
So war es von Anfang an beschlossen, und so wurde es
ausgeführt. Ich dachte dabei nicht an die Universität
Paris, welche für den Doctor Juris, der auf deutschen
Universitäten gebildet war, keinen Reiz hatte, sondern an
das grosse Leben der französischen Hauptstadt und seinen
Einfluss auf die feinere Bildung der Gesellschaft. Ich wollte
da auch französisch sprechen lernen.
Der Weg nach Paris ging über Trier, wo ich die
alt-römischen Denkmäler, voraus die majestätische Porta
nigra bewunderte, Luxemburg und Metz. In den beiden
Festungen hatte ich Gelegenheit, die strenge Mannszucht
der dortigen preussischen Besatzung mit den liederlichen
Sitten der Schweizer in fremden Kriegsdiensten und der
französischen Soldaten, die ich hier traf, zu vergleichen.
Die schöne Stadt und das wogende Leben in ihr ge-
fielen mir sehr. Obwohl Paris damals nur zwischen 700,000
und 800,000 Einwohner zählte, also nur ungefähr 2/5 der
Cap. 8.] SiNNESEINDBÜCKE. g7
heutigen Bevölkerung, so machte es doch einen grossartigen
Eindruck, der durch die nahe Erinnerung an eine gewaltige
Geschichte gehoben wurde. Alle gedenkbaren Interessen
der Wissenschaft, der Kunst, des geselligen Verkehrs waren
hier durch hervorragende Personen und Anstalten reich
vertreten. Wenn man Erholung suchte von der Arbeit,
so boten sich unzählige Gelegenheiten dar zu jeglichem
Genüsse. Man brauchte nur in den Strassen mit ihren
glänzenden Magazinen oder im Palais Royal zu schlendern,
oder sich in einem Cafehaus an eines der vielen Tischchen
zu setzen und die Menschen zu beobachten, und man war
sicher, manche interessante Erscheinung wahrzunehmen.
Für einen jungen Mann hatte Paris auch verführeri-
sche Reize. Meine besorgte Mutter warnte mich ernstlich
vor den Gefahren der Sinnlichkeit und bat mich, fest zu
bleiben. Auch mein Freund Zeller beschwor mich, meinen
alten Vorsätzen treu zu sein und das Vertrauen nicht zu
täuschen, das viele Freunde auf mich setzten, und das sie
in ihren eigenen Kämpfen stärke. Ich hatte mir die hohe
Idee von der Ehe, die ich schon in der Heimat erfasst
hatte, wohl bewahrt. Die Ehe erschien mir als die voll-
kommenste Darstellung der Menschennatur. In der Ehe
erkannte ich die persönliche Einigung der in die beiden
Geschlechter gespaltenen Menschheit und daher die Er-
gänzung und Verbindung der einseitigen Mannes- und der
einseitigen Frauennatur zu Einem zweiseitigen Menschen-
leben. Die Ehe galt mir heilig als die höchste Entfaltung
der individuellen Liebe von Mann und Frau und als die
sittliche Quelle der Familie und der Nachkommenschaft.
Aber die puritanische Strenge meiner früheren An-
sichten über die geschlechtlichen Beziehungen hatte sich im
88 Ekthaltsamkbit. [cap. 8.
Umgang mit andern jungen Leuten und nun vollends in
der Pariser Atmosphäre spürbar gelockert. Der bloss sinn-
liche Genuss kam mir zwar noch niedrig, aber nicht mehr
verächtlich vor. Ich beurteilte Andere, die sich dem-
selben mit Mässigung hingaben, viel milder als früher.
Obwohl die weibliche Natur auf meine Neigungen einen
starken Reiz ausübte, und ich in meinen Gedanken und
Vorsätzen wohl schwankte, so bewahrte ich dennoch das
frühere Gelöbnis und enthielt mich des entscheidenden
Bruchs. Ich verdankte dieses weniger den Mahnungen, die
ich erhalten hatte, und weniger den eigenen Vorsätzen,
als vorzüglich dem Instinkte meiner guten Natur. Ich
habe diese Kraft öfters auch in späteren Jahren erfahren,
sowohl bei dem Genüsse des Weines und geistiger Ge-
tränke, als im Verkehr mit Frauen. Wohl konnte ich mit
guten Freunden auch tüchtig zechen, und kannte ich wohl
die aufgeregte Stimmung einer gemütlichen Weinseligkeit.
Aber trotz dem deutschen Sprüchwort, dass wer niemals
einen Rausch gehabt, kein braver Mann sei, habe ich es
nie zu einem wirklichen Rausche gebracht, und zwar nur
desshalb, weil in dem gefährlichen Momente, in dem die
Grenze der Weinlust überschritten wird, mein Körper kein
Verlangen mehr zuliess, sondern sich sträubte, neuen Trunk
aufzunehmen. Ebenso widerstrebte meine Natur heftig
jedem Versuch meiner aufgeregten Sinneslust, mich dem
VoUgenuss eines fremden Weibes hinzugeben, und jene
Lust erlosch plötzlich wie ein Strohfeuer, dem keine Nah-
rung zugeführt wird. Die Enthaltsamkeit war daher nicht
das Verdienst meiner Einsicht, sondern die unbewusste
Tugend meiner Rasse.
Ich war ermüdet von den Arbeiten im vorigen Som-
cap. 8.] Abstavvvvo. 89
mersemester nach Paris gekommen. Auch mein Geist fühlte
sich matt und geschwächt. Der Reichtum von Gedanken
und die Fülle von Ideen, die in Berlin und Bonn mich
beseligt hatten, schien grossenteils ausgeleert, der Mut
und die Thatenlust, die in mir gegohren hatten, dem Er-
löschen nahe. Ich kam mir selber öde, schwerfallig, lang-
weilig vor. Zuweilen beschlich mich die Angst, es möchte
auch mir ergehen, wie so manchen meiner Bekannten,
welche als Studenten beflügelten Schmetterlingen und als
Männer philisterhaften am Boden kriechenden Raupen
glichen. Indessen erholte ich mich bald wieder, und jene
Besorgnis verschwand. An ihre Stelle traten neue Hoff-
nung und Lebensfrische.
Ich verkehrte in Paris vorzüglich mit einigen Lands-
leuten, teils jüngeren Gelehrten und Studierenden, teils
Kaufleuten und Militairs, so mit dem Berner Professor
von Sinner, der den Stephan'schen Thesaurus linguae
Graecae herausgab, mit Ryffel aus Stäfa, der in einer Er-
ziehungsanstalt des Herrn von Reuse als Lehrer wirkte,
mit den Zürchem Eschmann und Sprüngli, der Chemie
studierte, mit den beiden Officieren Meyer aus Zürich,
mit zwei alten Kameraden Hub er und Siber.
Sodann lernte ich den gelehrten Strassburger Stahl
kennen, den belesensten Kenner der verschiedenen Rechts-
bücher aller Culturvölker der Welt. Mit einem deutschen
Gelehrten, E. H. Kausler aus Stuttgart, arbeitete ich in
Gemeinschaft an der Vergleichung und Abschrift eines alten
Manuscripts: „Les Assises de Jerusalem", welche wir zu-
sammen herausgeben wollten. Die Handschrift gehörte dem
französischen Akademiker Champollion, welcher uns in
liebenswürdiger Weise in seiner Wohnung ein wohl ge-
90 Pabiser BsKAirirrscHAFTEN. [cap. 8.
heiztes Zimmer einräumte, um da unsere Arbeit vorzu-
nehmen, was in dem ungewöhnlich kalten Winter von 1829
auf 1830 doppelt angenehm war. Kausler hat dann später
1839 den Text allein herausgegeben unter dem Titel: „Les
livres des Assises et des Usages du Reaume de Jerusa-
lem (Stuttgart bei Krabbe). Für die mittelalterliche Rechts-
bildung hat das Rechtsbuch um so mehr Interesse, als
dasselbe in dem gemeinsam von der westeuropäischen
Christenheit eroberten fremden Lande durch ein Zusammen-
wirken der Ritterschaft aus verschiedenen romanischen und
germanischen Reichen, wenn auch allerdings vorzugsweise
unter dem Einflüsse der französischen Rechtscultur ent-
standen ist. Dasselbe ist heute noch nicht nach Verdienst
beachtet und gewürdigt.
Ein fein gebildeter Deutscher, der sich vielleicht in
der Absicht, den wahren Namen zu verbergen. Anders
nannte, interessirte mich durch den geheimnisvollen Hin-
tergrund seines früheren, wie es schien, sehr vornehmen
Lebens, durch den melancholischen Zug in seiner Erscheinung
und durch seine grosse musikalische Begabung. Orelli hatte
mir den Satyriker Dr. F. Hauthal zugeschickt, dessen
heitere Lebensansicht sich öfter in launigen Mahnungen
entlud. Rasch hatte mein Herz ein junger Schottländer
aus dem berühmten Geschlechte der Murray gewonnen.
Ich sah und sprach ihn nur ein paar Mal, aber wir fühlten
uns sofort wechselseitig lebhaft angezogen. Er kehrte
nach Beendigung seiner Universitätsstudien in Göttingen
über Paris in seine Gebirgsheimat zurück, wie ich in die
meinige. Ich habe später nichts mehr von ihm gehört.
Von französischen Bekannten erwähne ich noch die
Advocaten Foelix, der als Schriftsteller sich einen ange-
cap. 8.] Die französische Rechtspflege. 91
1 — ■ — . — . — __
sehenen Namen erwarb, und Plongoulm, der leider zu
früh wegstarb. Ich besuchte gern die öffentlichen Gerichte
und nahm an den gewandten Plaidoyers der Anwälte,
wie an der präcisen und kurzen Begründung der Urteile
durch die Richter grosses Interesse. Auch das Journal
des Tribunaux las ich fleissig und schätzte es weit höher
als die meisten politischen Zeitungen, deren leidenschaft-
liche Kämpfe mich kalt liessen.
Bei dem Besuche der französischen Gerichte wurde
es mir recht deutlich, wie sehr die Entwicklung des Rechtes
etwas Lebendiges sei, und welch grossen Anteil daran
der Stand der Juristen habe. Der angeborene Rechtssinn
wird in den Juristen zu einem feinfühligen Takte und einem
scharfen Blicke ausgebildet, durch welche sie sich so durch-
aus von denen unterscheiden, die nur ein gutmütiges und
weiches Billigkeitsgefühl kennen. Offenbar haben die Fran-
zosen ein besonderes Geschick in der juristischen Praxis und
zeichnen sich aus durch feine und klare Darstellung des
Rechtes im Einzelnen. Manche Mängel der Gesetze werden
durch ihre Jurisprudenz gehoben und verbessert.
Meine eigene Rechtsansicht hatte sich wenig fortge-
bildet. Ich war noch völlig in den Anschauungen der ge-
schichtlichen Rechtsschule befangen und in jener conser-
vativen Richtung, welche Savigny und Niebuhr empfohlen
hatten. Es war mir als geschichtliche Erscheinung un-
zweifelhaft, dass auch aus ursprünglicher Usurpation mit
der Zeit eine berechtigte Herrschaft werden, und dass an-
fangliches Unrecht sich allmähljg in Recht verwandeln
könne; aber ich verzweifelte daran, dass man den Zeit-
punkt des Übergangs genau bestimmen könne, und der
Grund der Wandlung war mir nicht klar geworden. Ich
92 Rbchtsansicht. [cap. 8.
beruhigte mich bei der äusseren Erscheinung und meinte:
Wie in dem Wachstum eines Baumes auch die Übergänge
der Knospe zur Blüt-e und dieser zur Frucht unmerklich
sind, und doch es Jedem gewiss ist, wenn wirklich der
Baum voll Laub, Blüten und Früchten prangt, so wird
es dem unbefangenen Rechtssinn auch klar, ob ein vor-
handener Zustand, dessen Begründung zweifelhaft oder so-
gar widerrechtlich war, zu festem, anerkanntem Rechte
geworden sei.
Insofern betrachtete ich aber das Recht doch philo-
sophisch, als ich seine tiefere Begründung lediglich in der
Menschennatur erkannte. „Es gibt kein Recht der Sachen
und es gibt kein Recht Gottes im eigentlichen Sinne.
Wohl ist die Idee des Rechtes etwas göttliches, aber Gott
selber bedarf nicht des Rechts. Für ihn gibt es so wenig
Recht und Unrecht, als Gutes und Böses. Erst in den
Menschen und für die Menschen beginnt das Recht. Indem
der Mensch kraft seiner Freiheit seinen Willen durch die
That zur Erscheinung bringt, aus seinem Ich auf die Welt,
das Nichtich, einwirkt, muss er auch die Naturnotwendig-
keit der Welt beachten und fällt er in den Bereich ihrer
Macht und ihrer Herrschaft. Der Wille ist ein rechtlicher,
welcher die Gesetze der Naturnotwendigkeit, die Gesetze
der Welt achtet und beachtet."
Die politischen Gegensätze waren damals in Paris
sehr gespannt. Allerdings fiel die Heftigkeit des Kampfes
mehr auf, wenn man die Zeitungen las, als wenn man die
Leute in der Gesellschaft beobachtete. Es regierte damals
noch Karl X. als König. Die grosse Mehrheit derer, welche
über politische Dinge schrieben oder sprachen, das mehr
oder weniger gebildete Bürgertum, war liberal gesinnt und
cap. 8.] Politisches. 93
verhielt sich oppositionell gegen die absolutistische Re-
gierung. Es gab freilich unter ihnen wieder verschiedene
Stufen und Richtungen. Die drei gelesensten Zeitungen,
die Debats, der Constitutionel und der National, waren die
Vertreter und Führer dieser Innern Unterschiede. Die
Debats sprachen mehr in dem gemässigten, aber selbst-
bewussten Sinne der feiner und höher gebildeten Classen.
Der Constitutionel repräsentierte den schlichten Kleinbürger.
Durch principielle Schärfe und radicalen Eifer machte sich
der National gefürchtet.
Die royalistische Partei hatte den Vorteil der Stats-
macht. Ihre Stützen waren ausserdem der Hof, ein grosser
Theil des Adels und der Geistlichkeit. Den Volksklassen
war sie fremd und, soweit dieselben sich nicht willenlos
leiten Hessen, sogar verhasst. Es fiel mir aber sehr auf,
dass der Adel, im Gegensatze zu Deutschland, als Stand
keine Macht in der Gesellschaft mehr besass. Die Gleich-
heit, welche die Revolution mit der Guillotine eingeschärft
hatte, war in den Sitten seither befestigt worden. Sogar
sehr vornehme Herren durften es nicht wagen, in der Ge-
sellschaft irgend einen Vorrang anzusprechen oder gar die
Bürger mit verächtlichem Hochmute zu behandeln. Viel-
leicht auf den Schlössern des Landes konnte noch ein
„Marquis von Carabas" ungestraft über die „Vilains" hin-
wegsehen und mit den ererbten Eitelkeiten und Vorur-
teilen fortspielen. In dem Pariser Salon war das unmög-
lich. Er wäre von dem heiteren Spotte sofort weggeblasen
worden.
Im Allgemeinen machten mir die Franzosen den Ein-
druck einer hochcivilisirten Nation. Mochten ihre Gelehrten
auch an gründlichem Wissen hinter den Deutschen zurück-
94 Politisches. [cap. 8.
stehen, so war doch eine gewisse Bildung, und nicht bloss
ein äusserlicher Schliff der Erscheinung, sondern auch die
Fähigkeit, logisch zu denken und sich richtig auszusprechen,
mehr, als ich es in Deutschland gesehen, über die untern
Volksklassen ausgebreitet. Auch ein höher gebildeter Mann
konnte sich bequem und auf dem Fusse einer behaglichen
Gleichheit mit dem kleinen Handwerker, dem Arbeiter und
selbst dem Dienstboten unterhalten, und das Gespräch floss
ruhig hin und her. Ein freier und leichter Anstand und
Ton war nicht das Privilegium der Vornehmen und Reichen,
sondern ein Gemeingut Aller.
Es fiel mir auf, dass Alle, welche die Revolution
handelnd durchgemacht hatten, von derselben ein festes
Gepräge erhalten hatten, gleichsam versteinert worden
waren. Wer damals für die Republik geschwärmt hatte,
der war auch jetzt noch entschiedener Republikaner.
Wer an dem Schreckenssystem teil genommen, war dem-
selben noch zugethan. Ein Beispiel war der alte Terrorist
Levasseur, der als ruhiger Greis noch mit Entzücken
von der Tugend Robespierre's sprach. Ich lernte den Bi-
schof Gregoire kennen, der zu den sogenannten „Regi-
cides** gehört hatte, indem auch er für die Hinrichtung
Ludwigs XVI. gestimmt; er erschien mir als ein wohl-
wollender alter Herr, und doch würde er unter ähnlichen
Umständen auch heute wieder seine Stimme für den Tod
des Königs abgeben. Er hat mir ein seltenes schottisches
Rechtsbuch geschenkt.
Anzeichen eines neuen baldigen Ausbruchs der Revo-
lution bemerkte ich übrigens damals keine. Ich erinnere
mich nur eines Erlebnisses, welches ein halbes Jahr später
durch die Juli-Revolution von 1830 das richtige Licht em-
cap. 8.] BouBBOKs und Orleans. 95
pfing. In einem Salon nämlich, in welchem einige liberale
Politiker sich einfanden, hörte ich eines Abends im Winter
vorher ganz oifen behaupten, dass der Enkel Karls des X.
nicht auf den französischen Thron kommen werde, indem
die Familie Orleans gegen die Echtheit des Prinzen Protest
erheben werde und Belege in der Hand habe, welche sein
Thronfolgerecht verneinen. Der Plan, die Orleans zu Nach-
folgern der Bourbonen älterer Linie zu machen, bestand
also damals schon; nur rechnete man nicht auf eine Ver-
treibung des alten Königs, sondern auf den nicht mehr
fernen Tod desselben, um den Übergang zu vollziehen.
Drei und vierzig Jahre später habe ich dann wieder
erlebt, dass der Enkel und Erbe des Königs Louis Philippe
von Orleans, der Graf von Paris, seine Huldigungen jenem
Enkel Karls X., als dem Haupte der Bourbonischen Familie
und dem alleinigen Repräsentanten der legitimen Monarchie
in Frankreich darbrachte, obwohl Heinrich V. nur eine
Puppe war in der Hand der Jesuiten und ein Don Quichotte,
der in einer eingebildeten Welt, nicht in der wirklichen
Welt lebte.
Zum Schlüsse meiner Erinnerungen an Paris muss
ich noch einer jungen Dame erwähnen, deren Lebens-
schicksal sich einige Zeit dem meinigen zu nähern schien,
dann aber, nicht ohne Schmerzen für beide, eine andere
Richtung nahm und sich für immer von meiner Bahn ent-
fernte. Sie war eine deutsche Rheinländerin, die aber
schon lange in Paris gewohnt hatte, wohin ihr Vater als
französischer Beamter unter Napoleon L gekommen war.
Clementine von L.
Das Verlangen nach einem weiblichen Wesen und
die Sehnsucht nach Liebe, welche in der ersten Jugend-
96 ^lE KEIMEKDE LiEBE [cap. 8.
liebe zu Emilie Vogel befriedigt worden war, dann aber
durch den erzwungenen Abbruch jeden persönlichen Ver-
kehrs einen herben Schlag erfahren hatte, kam auch wäh-
rend der Universitätszeit nicht zur Ruhe. Zwar fühlte ich
mich frei von jeder Verpflichtung, aber das anmutige
Bild des teuren Mädchens begleitete trotzdem meine Ge-
danken, die unsicher zwischen dem Verzichte für immer
und der gehoflften Erneuerung der gestörten Liebe hin und
her schwankten. Von Zürich hörte ich, dass Emilie leidend
gewesen sei, und dass in ihr noch das Vertrauen und die
Hoffnung auf Wiedervereinigung fortlebe. Ich erfuhr ebenso,
dass ihre Mutter einen andern als Freier begünstige, dass
sie selber aber sich mir erhalten wolle. Meine Mutter
hatte sie lieb gewonnen und nahm für sie Partei, sogar
mein kälterer Vater schrieb mir gegen meine Erwartung,
es sei nicht recht, ihre Hoffnung zu zerstören. Die Freunde
hinwieder widerlegten nicht, sondern bestärkten eher meine
Zweifel. Ich hatte nicht mehr den Glauben an eine starke
Liebe in ihr. Ich hätte es zuweilen nicht ungern gesehen,
wenn sie einen andern tüchtigen Freund gefunden und ihm
die Hand gereicht hätte.
In solcher schwankenden Stimmung lernte ich Clemen-
tine kennen und fühlte mich von ihr angezogen. Einige
Auszüge aus meinem Tagebuche werden am besten und
wahrsten die Gefühle schildern, welche in mir auf- und
niederwogten:
Im Pecember 1829. „Schon oft dachte ich: Sollte
ich kein Mädchen mehr finden, das ich tief und feurig
lieben kann? Sollte für mich diese Liebe mit meiner
Jugendliebe untergegangen sein und keine neuen Blüten
mehr treiben? Heute fühlte ich, dass noch Frühlingskraft
cap. 8.] ZV Clementtne v. L. 97
in meinen Gefühlen sei. Ich spürte eine Anwandlung von
Liebe. Ich, wie sie sagen, der kalte Verstand, weinte und
lachte, war entzückt und traurig, mir war wohl und weh
zugleich. Und doch war es nur ein fernes Bild der Phan-
tasie, das mich lockte. Noch habe ich keine Geliebte.
Hüte dich, mein Herz, dass du nicht neuen Schmerz be-
reitest, bevor der alte verschwunden ist. Jetzt gilt es alle
Kraft des Geistes zusammen zu halten, damit nicht eine
vergebliche Liebe angefacht werde, die nicht zum Leben
gelangen kann. Mit Sorgen bedenke jeden Schritt, der
vielleicht zu weit führt. Aber wenn ich wirklich die ge-
funden haben sollte, die für mich bestimmt ist, dann lasse
Grott die Liebe in unsern Herzen treiben und Wurzeln
schlagen, damit ein schönes neues Doppelleben mir erstehe."
„Als ich Clementine zuerst sah, bewunderte ich ihren
hellen Verstand. Aber gerade dieser scharfe, blendende
Verstand machte mich stutzig, da ich diese Kraft sonst
nur bei Männern liebe. So gerne ich mit gescheiten
Frauen spreche und den Umgang mit solchen hoch schätze,
so wenig war ich geneigt, bei meiner Geliebten vorzüglich
hervorragenden und herrschenden Verstand zu suchen.
Jüngst hatte ich unter jungen Männern geäussert: ich
möchte um keinen Preis eine Frau, die mich an Verstand
überträfe. Aber sehr wahr bemerkte darauf ein junger
Deutscher, halb errötend über seine scheinbare Unbe-
scheidenheit: „Die Sorge plagt mich nicht, ich bin über-
zeugt, dass ich keine Frau fände, die gescheiter wäre als
ich.** In der That, die Schärfe und Stärke des Verstandes
bleibt auf ewig der Vorzug der Männer. Frauen können
sich nur von ferne annähern. Es bleibt in ihrem Verstand
immer eine gewisse Schwäche zurück. Dagegen werden
Bluntschli, Dr, J. C, Aus meinem Leben. I. «^
98 Clementine. [cap. 8.
uns ebenso die Frauen immer durch zarten Sinn und feines
Gefühl übertreffen/ —
„Bald erkannte ich auch diese wohlthätige Schwäche,
die ich zarte Scheu nennen möchte, in ihrem Verstände.
Was mich aber vollends versöhnte und zu Clementinen
hinzog, das war, dass ich in ihr ein sanftes Gemüt und
tiefes Gefühl zu entdecken glaubte. Es sprach sich aus
in ihrem ganzen Äussern, nicht bloss in hingeworfenen
Worten. Eine Schönheit ist sie nicht, aber sie hat feste,
ausgezeichneten Frauen eigentümliche Züge. Sie ist eine
Deutsche, das französische Wesen und Treiben ist ihr völlig
fremd und zuwider. Ihr Herz hängt an Deutschland, und
sie sehnt sich dahin zurück. Das Hauswesen versteht sie
zu führen. In der Litteratur ist sie trefflich bewandert
und spricht mit Geschmack von den Werken der Dichter.
Sie ist auch eine tüchtige Klavierspielerin. Sie weiss die
Gesellschaft mit sicherem Takte zu lenken. In all' diesen
Beziehungen würde sie meine Wünsche erfüllen. Ich be-
darf einer Frau mit dem Grade von Bildung, der auf der
Frauenseite der Stufe entspricht, auf der ich als Mann
stehe. Es muss zwischen uns ein Austausch der Gedanken
möglich sein. In dieser Beziehung hat sie wohl vor Emilie
einen bedeutenden Vorzug.**
17. Januar 1830. „Gestern wurde mir ziemlich klar,
dass Clementine keine Liebe für mich fühlt. Ich glaubte
das aus ihrem erklärten Widerwillen gegen die Schweiz
schliessen zu müssen, welcher indessen, wie sie selbst sagte,
nur auf einem dunkeln Gefühle und Vorurteil beruhe."
28. Januar. „Clementine gefiel mir wieder sehr gut.
Befreundet sind wir doch, wenn auch die Liebe sich nicht
entwickeln sollte. Mit gescheiten Menschen wird man viel
cap. 8.] Widerstreitende Gefühle. 00
bälder vertraut, als mit gewöhnlichen Menschenkindern.
So ist es mir auch bei ihrer Mutter recht heimlich, und
ich bin offener als sonst. Ich lege sogar meine Felüer
und Schwächen ungescheut vor ihr zur Schau, was ich
sonst vor Anderen nicht thue in dem Bewusstsein, dass
sie es nicht richtig verständen."
2. Februar. „Das Bild Clementinens verlässt mich
selten und erscheint mir oft liebenswürdig im Traum. Ich
bin nicht mehr ruhig, wenn ich an sie denke. Meine Ge-
fühle wogen erregt in ihrer Nähe. Aber ein melancholi-
sches Gefühl der Unmöglichkeit schleicht hinter dem freu-
digen Gedanken her und scheint diesen zu erkälten und
das Aufkeimen zu wehren. Bald werde ich abreisen. Bis
dahin komme ich zu keiner Entscheidung. Ist sie aber
für mich verloren, wenn ich ohne Erklärung abreise? Ich
weiss das nicht, aber ich fürchte es. Meine Einsicht sagt
mir, sie wäre für mich geschaffen, es würde ein schönes
und reiches Leben werden, wenn wir uns fänden. Aber
dann ist's mir wieder, wie wenn ein anderes Wesen zwi-
schen sie und mich träte und uns von einander risse. Ich
vermute, dass sie meine nicht ausgesprochene Neigung
bemerkt hat. Ich betrachtete gestern ihr Bild im Spiegel
und dachte an Einigung und Trennung. Ich war traurig.
Da traf mich ihr Blick ebenfalls im Spiegel, und ich spürte
es wohl, da war auf meinem Gesichte Verwirrung und
Verlegenheit, Bangigkeit und Schmerz zu lesen und die
Glut zu sehen."
2. März. „Ich glaube jetzt deutliche Zeichen gesehen
zu haben von Clementinens Liebe zu mir. Ihre erröten-
den Wangen und ihre süssen, liebeglühenden Blicke reden
deutlich. Vor allem muss ich jetzt nach Hause und mich
7*
100 Ein Traum. [cap. 9.
umsehen, ob mir die Mittel geboten werden, sie in ein
selbständiges Hauswesen einführen zu können. Dann erst
kann ich mich erklären/ —
Ich hatte einmal gegen Ende meines Aufenthaltes in
Paris einen seltsamen Traum: Ich sah Clementine und ge-
lobte ihr Liebe und Treue. Dann verlor ich sie aus den
Augen. Nun erschien mir eine Fürstin, reich gekleidet,
schön und voll Würde. Ich wurde von ihr bezaubert und
versprach auch ihr meine Liebe. Dann erinnerte ich mich
wieder an Clementine, und mein Gefühl war zerspalten und
schwankte zwischen beiden. Ich liebte beide und wusste nicht
zu wählen. Wohl empfand ich, dass nur eine von beiden
die meine werden könne. Dann verschwand das Bild der
Fürstin, und Clementine blieb allein zurück. Ich freute
mich dieser Wendung meines Schicksals, und meine Liebe
zu ihr erstarkte und blieb unwandelbar fürs Leben. Sonder-
barer Weise war aber die Clementine des Traumes meine
erste Liebe, zu der ich zurückkehrte.
9.
Rückkehr in die Vaterstadt. Emilie Vogel. Erneuerte Liebe
und Verlobung.
Ende März reiste ich von Paris ab. Der rasche
Courierwagen der königlichen Post brachte mich nach der
Schweiz. Meine Vaterstadt Zürich war mir noch nie in
so freundlichem Lichte erschienen wie jetzt, als ich sie
nach dritthalbjähriger Abwesenheit wieder sah.
Am gespanntesten war ich darauf, meine frühere Ge-
liebte Emilie Vogel wieder zu sehen. Ich fühlte, dass ich
einer bedenklichen Alternative gegenüber stand. Ich musste
cap. 9.] Rück!^ehb nach Zübich. l(jl
nun wählen zwischen der neuen und der alten Zuneigung,
zwischen Clementine und Emilie. Wie immer der Ent-
scheid fiel, so war derselbe peinlich für mein Herz und
für eine Freundin. Die formelle Freiheit der Wahl, zu
welcher mich der frühere Abbruch der Verbindung mit
Emilie und der Aufschub jeder Liebeserklärung an Clemen-
tine berechtigten, mochte das Rechtsgefühl beschwichtigen;
eine moralische Verantwortung aber für die zwiespältige
Lage konnte ich vor meinem Gewissen nicht ablehnen.
Ohne persönliche Verschuldung war ich doch nicht in diese
Lage geraten.
Die Auszüge aus meinem Tagebuch schildern die Er-
neuerung meiner ersten Liebe und ihre Beseligung.
„Zu Ehren meiner Heimkehr gab meine Mutter eine
Gesellschaft. Da sah ich Emilie zum ersten Male wieder
(31. März 1830). Sie gefiel mir sehr, besser vielleicht als
jemals vorher. Das ist mein Verstandesurteil. Noch trübt
nicht blinde Liebe dieses Urteil. Wohl aber fühle ich,
dass die Liebe wieder in alter Stärke erwachen kann.
Sie ist stiller und ernster geworden als früher. Eine weh-
mütige Milde scheint sich über sie ausgebreitet zu haben.
Anfangs war sie an jenem Abend ängstlich in sich gekehrt,
halb trauernd. Nachher wurde dieses drückende Gefühl
durch die Freude verdrängt, welche ich bei ihrer Begeg-
nung nicht verhehlte, und durch meine Aufmerksamkeit für
sie. Noch habe ich mich nicht entschieden. Ich muss noch
Alles überlegen. Aber sicher ist, dass Emilie meinem prü-
fenden Verstand wohl gefallt, und dass sie mir sanfter und
weiblicher erscheint als früher. Ihr Verstand ist durchaus
gesund und frisch, obgleich nicht glänzend noch blitzend.
Als Hausmutter ist sie gewiss vortrefflich. Die Haupt-
102 Emilie Vogkl. [cap. 9.
frage ist nur noch: „Passt sie in geistiger Beziehung zu
meiner Individualität?**
15. April. „Gestern traf ich Emilie wieder in Gesell-
schaft und war selig in ihrer Nähe. Mein Gefühl liebt sie.
Clementine liebte ich mehr mit dem Verstand. An Geistes-
kräften überragt diese jene; aber Emilie ist dagegen auch
frei von dem Stolz und der Anmassung geistreicher Frauen,
die ich in Clementine erst hätte beugen müssen. Wohl er-
kannte ich in Clementinens Verstand die weiblichen Schwä-
chen, aber sie wollte nichts davon wissen und gab nicht
nach, wenn sie etwas verfocht, wenngleich ihre Gründe
schwach und widerlegt waren. Auch bezweifle ich, ob
unser kleines Statswesen und das bescheidene Privatleben
ihr behagt hätten, da sie lange in einem grossen Stat und
in einer reicheren Gesellschaft gelebt hat. Mein Herz spricht
entschieden für Emilie. Ich will sie morgen um eine Unter-
redung bitten.**
17. April. „Heute besuchte ich Emilie in ihrer Woh-
nung. Sie lud mich ein, mit ihr den Thee zu trinken.
Wir waren allein. — Zuerst sprachen wir von gleichgülti-
gen Dingen, dann von der alten Lust und der Frühlings-
zeit der Liebe. Sie war mir immer treu geblieben, selbst
in jener Zeit des scheinbaren Bruchs, in welcher die. Eltern
und Verwandten sie durch Zureden eingeschüchtert hatten.
Sie liebte mich noch, auch nachdem ihr eine Äusserung
von mir hinterbracht worden, dass ich sie gänzlich auf-
gegeben habe. Die kalte Äusserung wurde härter und
unfreundlicher mitgeteilt, als sie geschehen war. Ich hatte
den Glauben an ihre Liebe verloren. Desshalb hatte ich
in Bonn einmal geäussert, ich wolle ihrem Glücke nicht
im Wege stehen, wenn sie sich mit einem andern Freunde
cap. 9.] Erneuerte Liebe. 103
verbinde. Diese Nachricht kam ihr zu und schnitt ihr in
das zarte Herz. Oft weinte sie die Nächte durch und litt
auch körperlich schwer unter den Wirkungen ihres Seelen-
schmerzes und meiner grausamen Kälte. Sie gestand mir
das oflfen. Auch ich sprach von der alten Liebe und der
jungen, frischen, die sich neu bilde und wie ein Phönix
aus der Asche emporsteige. Mächtig wogte das Gefühl in
mir und suchte hervorzubrechen aus dem Verschluss des
Schweigens. Endlich wagte ich's und sprach das entschei-
dende Wort. Dann ergriff ich ihre Hand, und auf ihren
Lippen bebte mein Kuss. Ich hielt sie in festem Arm und
schwur ihr ewige Liebe zu. Ja die Liebe selbst ist von
ewiger Natur. Noch nie hatte ich dieses selige Gefühl ge-
nossen. Ihr Leben war in mir und mein Leben in ihr.
Das gute Mädchen gab sich mir liebevoll hin. Sie ist er-
probt und sie bleibt die meine. Ich will versuchen, ihre
Leiden wieder zu versüssen und meine Schuld zu tilgen.
Ich will dich lieben herzinniglich, du sanftes Mädchen!"
Den 30. April. „Seit dem 19. April ist Emilie meine
erklärte Braut. Um in das Gottesreich einzugehen, muss
man nach Christi Ausspruch wiederum werden wie die
Kinder. Jetzt erst verstehe ich die Weisheit dieser Worte.
Die erste Jugend erneuert sich, man wird von neuem wie-
der von kindlichem Geiste beselt; nur ist diese Kindschaft
höher, geistiger, bewusster als zuvor. Man spielt auch
wieder mit heiterem, leichtem und zartem Kindessinn. Aber
die Spiele sind feiner, ergreifender, bedeutungsvoller."
„Erst jetzt lerne ich Emilie ganz kennen. Von Natur
zurückhaltend, öffnet sie mir jetzt ihr feinfühlendes Herz.
Das arme Mädchen hat schwer gelitten. Ihr Leben drohte
zu verwelken, wenn nicllt die Sonne der Liebe die Blume
104 Veblobung mit Emilie. [cap. 9.
ihres Geistes wieder erwärmt und durchglüht hätte. Sie
erzählte mir, wie sie erst stumm das Leid in sich ge-
tragen habe, gedrückt von den äusseren Anforderungen
und Hemmnissen und vor ihnen weichend, wie sie dann,
von der Verzweiflung getrieben, nach Freuden aller Art
gehascht und Zerstreuung gesucht habe, dass sie aber den
Frieden der Seele so nicht wiedergefunden habe und in
Wehmut und Trauer versunken sei. Sie habe voll Sehn-
sucht, fast ohne Hoffnung meiner geharrt. Fürwahr, ihr
Frauen liebt tiefer als wir. Aber hätte ich dieses Alles
«
gewusst, hätte ich ihre treue Seele so erkannt, dann wäre
ich auch nie von ihr gewichen.**
„Ihre treffliche Gesinnung liegt nun ganz klar vor
meinen Augen und ich liebe sie eben darum immer mehr.
Ihr gesunder Sinn, das richtige Urteil, ihre Ansichten
und ihre ganze Lebensweise harmonieren wundervoll mit
meiner Art und meinen Eigenschaften. Ihre Liebe ist nicht
stürmisch, nicht leidenschaftlich, aber fürwahr, wenn irgend
eine, tief und dauernd. Ruhig sieht sie die Verhältnisse
an und lässt sich nicht von wildem Taumel hinreissen.
Daher verzehrt sich auch das Feuer nicht, sondern die
reine Flamme leuchtet stetig fort. Ihre Einsicht ist klar,
frisch und echt, durchdringender als die der meisten Frauen,
die ich kenne. Sie bedarf noch der Ausbildung durch Lee-
türe. Auch dafür fehlt die Anlage nicht. Ich fordere nicht
und wünsche nicht gelehrte Kenntnisse. Das rechte Mass
von Wissen wird sich von selbst finden. Auch sie liebt,
wie ich, ein schönes, reiches Leben und kann sich nicht
begnügen mit philisterhafter Eingezogenheit oder ländlicher
Naivität. Sie hasst aber, wie ich, eitlen Prunk und über-
triebene, innerlich hohle Pracht. ' Mit Einem Wort, wir
cap. 9.] Verzicht auf CLEMEifTiNE. 105
gehören zusammen. Ich verehre dankbar das Geschick, das
uns zusammenführte und 'für immer verband/
Mein Freund R. hatte den Brief, den ich ihm so-
fort nach meiner Ankunft in Zürich nach Paris geschrieben
und in dem ich ihm angezeigt hatte, dass ich auf Clemen-
tine Verzicht leiste, nicht erhalten und unbesonnen ihr die
Aussicht meiner Liebe eröffnet und dadurch eine schmerz-
liche Täuschung bereitet. Die Nachricht von meiner Ver-
lobung brachte ihn ausser sich, und er schrieb einen hefti-
gen Brief entrüstet an mich. Dieser unangenehme Vorfall
nötigte mich, jetzt schon mein ganzes Verhältniss zu Cle-
mentine meiner Braut zu entdecken. Das arme, treue Kind
litt sehr durch mein Bekenntnis. Sie hatte mir, freilich
ohne dass ich es wusste, die Treue bewahrt; ich hatte mit
Bewusstsein diese Treue gebrochen. Erschüttert zweifelte
sie einige Stunden an der Dauer meiner Liebe und fürchtete
neuen Wandel meiner Gesinnung. Durch meine Erzählung
wurde noch eine andere Saite ihres Herzens berührt, die
wehmütig erklang. Sie fürchtete nämlich, meinem Geiste
nicht zu genügen und mich nicht befriedigen zu können.
Diese oft wiederkehrende Besorgnis wurde geschärft durch
die Vergleichung mit Clementine, die ich als eine ausge-
zeichnete Dame voll Verstand und Bildung zeichnete. Aber
allmälich kehrte das volle Vertrauen wieder, und die Be-
sorgnis wurde durch die Zuversicht der Liebe verscheucht.
Wie vortrefflich ihr Herz sei, erfuhr ich eben damals, als
ich sie wider Willen verwundete. Sie versicherte mich,
auch wenn ich sie nicht mehr lieben würde, so würde sie
dennoch mit ihrem ganzen Herzen an mir hängen.
Im Juli wurde Emilie zur Kur in das Heinrichsbad
bei Herisau im Appenzellerland geschickt. Ihre Gesundheit
106 Briefwechsel mit der Braut. [cap. 9.
hatte unter der langen Ungunst der Verhältnisse schwer
gelitten. Sie bedurfte sehr der Stärkung und der Pflege.
Der Aufenthalt in der reinen Gebirgsluft übte eine wohl-
thätige Wirkung aus. Auch ich besuchte damals das Bad
Stachelberg im Lintthal, um die dortige Quelle zu gemessen.
In jener Zeit schrieb ich an Emilie;
13. Juli: „Es ist eine sonderbare Lust, sich immer
dasselbe zu sagen und es jedes Mal wieder gerne anzu-
hören. Nie verleidet das süsse Wort der Liebe. Das Wort
hat einen unerschöpflichen, reichen Inhalt, und aus diesem
nie versiegenden Brunnen quellen immer neue Lust und
neuer Segen empor. Ninun den glänzendsten Gedanken
und wiederhole ihn hundertmal, er wird Dir am Ende
schal, fade, langweilig vorkommen. Aber das Gefühl der
Liebe wird nie alt und langweilig, durch keine Wieder-
holung. Es bleibt frisch und jung. Das Gefühl der Liebe
kennt nicht die Schranken der Zeit und des Raumes. Un-
begrenzt ist es in seiner Fülle, ewig und frei, wie Gott."
Aus einem Brief vom 25. Juli: „Es gibt auch ein
Schweigen, das aus Überfülle des Lebens entspringt, wenn
der Kraft des Gefühls die Worte zu schwach, zu beengend
erscheinen, wenn es nur noch in ungeregelten Lauten her-
vorbricht und nicht Worte, nur Töne herausbringt in „des
Liebestammeins Raserei", wie Goethe es nennt. Ahnliches
kennen auch wir, mein Liebchen. Zuweilen schwebt auch
süsses Schweigen um uns her, und es ergötzt uns kein
Gespräch; nur Laute der Lust stösst zuweilen das mäch-
tige Gefühl aus.**
Von Stachelberg 2. August: „Im ganzen Hause herrscht
Trauer und Bestürzung. Der kalte Tod erfasste plötzlich,
während wir am heiteren Mahle sassen, den würdigen alten
cap. 9.] Gedanken über den Tod, 107
Geistlichen, Decan Trümpi von Glarus. Oft dachte ich in
diesen Tagen an den Tod, und er erschien mir grausenhaft.
Mir genügte nicht mehr die irdische Unsterblichkeit, welche
wir uns selber schaffen in unseren Gedanken und durch
unsere Thaten. Mir genügt auch nicht das Gefühl der
Ewigkeit, wovon in heiligen Momenten der Liebe unser
Herz voll ist und sich erhaben denkt über alle Zeit. Mein
Geist sehnt sich nach einer anderen Unsterblichkeit. Er
kann nicht sein eigenes Ich aufgeben, nicht sich selber
vernichten. Er verlangt, mit Bewusstsein fort zu denken
und fort zu leben, und wäre es in Gott. Wenn das Be-
wusstsein meines Geistes mit dem irdischen Tode gänzlich
aufhörte, was wäre dann für meinen nichtigen Geist Gott,
die Welt, das All? Für mich wären sie Nichts, in Ewig-
keit Nichts, kein Gott, keine Welt, ein hohles leeres Nichts.
Mein Geist kann nicht diesen Gedanken der Hölle fassen;
entsetzt vor dem Wahne der Vernichtung alles Lebens
beugt er sich zurück und sucht einen Halt für das Leben.**
Den 8. August. Aus einem Briefe an Zeller: „Gar
schön sprichst Du von den Idealen, in denen Du jetzt
lebst. Bewahre mich Gott davor, sie herabzuwürdigen.
Ideenlosigkeit halte ich für die erbärmlichste* Philisterei.
Vor allen Ideen aber leuchtet die Liebe, an deren Sonnen-
licht mein Herz sich labt. Aber ein anderes ist die Idee
und ein anderes die Wirklichkeit. Verkörperte Ideen gibt
es eben nicht. Nur in Gedanken können die Ideen herr-
schen. Es ist eine merkwürdige Eigenschaft unseres Gei-
stes, dass er den Leib verleugnen und frei von den Banden
des Leibes sich in dem Reiche des Geistes bewegen kann.
Es war ein Frevel mancher Philosophen, diese unsterbliche
Kraft des Geistes zu leugnen. Aber ganz verschieden da-
108 Wesen der Liebe. [cap. 9.
von ist die Liebe nicht einer Idee, sondern eines bestimm-
ten lebendigen Wesens, der Frau. Hier muss der ganze
Mensch in Seele und Leib lieben, denn voll und ganz
müssen die beiden Wesen, Mann und Weib, sich vereinen
und zusammen einen höheren Leib bilden, die Erscheinung
des Menschen vollenden. Die Sinnlichkeit in dieser Liebe
ist daher etwas durchaus Sittliches, und gar wohl hat die
Natur dafür gesorgt, indem ihre Macht Triebe schuf, welche
die unvollkommene Einsicht der Menschen ersetzen sollten.
Nirgends hört das Sinnliche so auf, sinnlich zu sei, wie in
der Liebe. So enge ist hier das Sinnliche mit dem Geisti-
gen verschmolzen, dass keines von dem andern zu unter-
scheiden und zu trennen ist. Wo die Liebe vorhanden ist,
da werden die sinnlichen Triebe von selbst vergeistigt, es
braucht keine Vorbereitung, keine Obhut der Seele. Die
Natur wirkt allgewaltig selbst."
„Unser Freund Bernhard scheint nur für seine Braut
und in ihr zu leben. Diese Liebe ist mir fremd, ich ge-
stehe Dir das offen. So kann ich unmöglich lieben. Mein
ganzes Wesen sträubt sich bei diesem Gedanken. So lieben
auch meistens nur Frauen, so liebt auch meine Emilie.
Aber meine Lebenskreise sind weiter gemessen, meine
Thätigkeit hat ein grösseres Feld, das sie nicht für die
Geliebte baut. Es gibt ein Wirken, dem ich in der Not
sogar die Geliebte, freilich nicht die Liebe opfern könnte,
aber nicht umgekehrt könnte ich um der Geliebten willen
auf jenes Wirken verzichten. Ich male ihr keine Täuschung
vor. Sie weiss diess. Und dennoch liebe ich sie fürwahr
ganz und innig, mehr als irgend einen andern Sterblichen.
Ich fühle es, sie gehört mir an und immer mehr lebt sie
in mir, wie ich in ihr."
cap. 10.] Liebes-Seliokeit. 109
18. Okt. „Vorgestern waren wir bei den schönen
Bäumen nahe der Weid. Die heilige Schönheit der Natur,
der glänzende See, die glühenden Berge, die grünen Thäler
und die vielfarbigen Wälder stimmen wunderbar zusammen
mit zwei liebenden Herzen. Das Gefühl der Liebe wird
lebendiger, gehobener, reiner und heiliger im Anblick die-
ser Natur. Man schwebt in süsser Seligkeit und ruht im
Unendlichen, in der Allliebe, in Gott."
„Wie edel sie denkt, erfuhr ich gestern, als sie zu
mir sagte: „Es ist ein furchtbarer Gedanke, dass wir durch
den Tod getrennt werden. Aber sollte ich früher sterben,
so würde ich mich vorher noch umsehen unter den Frauen
und Jungfrauen, um die zu finden, welche dann deine
künftige Gattin werden könnte und werden sollte, und ich
spräche sterbend: Nimm diese und erneuere durch eine
zweite schöne Ehe die erste. Auch ich würde dann fort-
leben in deiner zweiten Gattin, die ich dir zugeführt hätte;
meine Liebe und meine Sorgfalt würden nicht untergehen.
Der Tod würde mich nicht von dir trennen. Du würdest
in der zweiten Gattin beide vereinigt finden und beide
lieben.**
10.
Statsdienst. Das alte Regiment. Politische Freunde. Die Juli-
revolntion in Paris nnd ihre Wirkungen. Heine Schrift über
die Verfassung von Zürich. Die Kämpfe über die Repräsentation
im grossen Rat und die Verfassungsrevision. Anfänglicher Sieg
der Jungen. Die Volksversammlung in üster und die Versamm-
lung in Zürich. Sieg der Revolution.
Der frühere Plan, auf einer deutschen Universität
als Privatdocent meine akademische Laufbahn zu beginnen,
110 Statsdiekst. — Das alte Regiment. [cap. 10.
wurde nun aufgegeben. Statt dessen eröffnete sich mir die
Aussicht, vorerst an dem „politischen Institut" Vorträge
zu übernehmen. Um die Praxis kennen zu lernen, erbat
ich die Erlaubnis, in dem Amtsgerichte Zürich, dem Haupt-
sitze der wissenschaftlichen Rechtspflege, als Auditor den
Verhandlungen beizuwohnen. Da wurde ich gewahr, wie
wenig die juristische Universitätsbildung genügte, um das
einheimische Recht in seiner Anwendung richtig zu er-
kennen und zu handhaben. Aber ich erfuhr ebenfalls an
mir selber, dass die allgemeine Vorbereitung der XJniver-
sitätsstudien doch den Blick geschärft hatte, und dass in
verhältnismässig kurzer Zeit das Verständnis des ein-
heimischen Rechtes und die Einsicht in die practischen
Bedürfnisse sich erschlossen.
Ebenso erhielt ich den Zutritt zu den Verhandlungen
der Regierungskommission des Innern, welche von Stats-
rath Usteri präsidirt wurde, und ihrer selbständigen
Unterabteilung, der Kommission für administrative Strei-
tigkeiten, welche von Ratsherr Rahn geleitet wurde.
Diese Commission beurteilte die verwaltungsrechtlichen
Streitsachen in oberster Instanz. Ich wurde daher auch
mit dem Verwaltungsrechte einigermassen vertraut, das
freilich damals noch wenig grundsätzlich durchgebildet war.
Bald darauf wurde ich bei diesen Commissionen als Regie-
rungssecretär angestellt und hatte insbesondere die Kanzlei-
geschäfte der letzteren Commission. zu besorgen. So ward
ich in den Züricherischen Statsdienst eingeführt, noch zur
Zeit der Restaiirationsverfassung vom 11. Juni 1814.
Die Verwaltung war, soweit ich sie beobachten konnte,
durchweg wohlwollend, mit einem Zug väterlicher Sorge,
aber wenig principiell, zuweilen auch launisch und herrisch.
cap. 10.] Politische Freunde. Hl
Das Beste war, dass sie in der Regel die Leute sich selber
helfen liess und nicht übemiässig viel regieren wollte. In-
dessen machte doch damals die hergebrachte Zunftordnung
oft ein Einschreiten der Regierung nötig, wo später die
Gewerbefreiheit dasselbe entbehrlich machte. Als Secretär
hatte ich keine beratende Stimme in den Sitzungen; da
ich aber manchen Beschluss vorzubereiten und zur Aus-
führung zu redigiren hatte, so lernte ich den mittel-
baren und stillen Einfluss des Bureaus wohl kennen und
benützen.
Unter den jüngeren Gelehrten und Beamten zog mich
am meisten der Statsschreiber Ferdinand Meyer an durch
den edlen Patriotismus, die Reinheit und Wahrheit seines
Wesens und durch seine mir sympathischen Grundansichten.
Auch seine liebenswürdige und geistreiche Frau gefiel mir
ausnehmend. Die beiden Ehegatten hatten etwas fast jung-
fräulich Zartes und Feines. Meyer war ein echter Repu-
blikaner, schlicht und verständig, ein Kenner der vater-
ländischen Geschichte und ein kluger Beobachter der Men-
schen. Er hatte auch bereits seine statsmännische Begabung
bewährt. Er hatte das Grossrats-Reglement ausgearbeitet
und durchgesetzt, welches den Grossen Rat von den her-
kömmlichen Banden befreite. Aber er war mehr dazu ge-
macht, in Zeiten des ruhigen Fortschrittes zu führen; in
den Zeiten der Revolution war seine Natur zu feinfühlig
und sein Charakter zu wenig hart und energisch, um durch-
zugreifen.
Keller hatte einen schärferen und schneidigeren Geist
und war kühner und gewandter. Er scheute sich nicht,
mit Menschen und Verhältnissen zu spielen. Auch Keller
hatte Ideen und Ideale; insbesondere war eine Wissenschaft-
112 Pariseb Juli-Revolution. [cap. 10.
liehe und unabhängige Rechtspflege das Ziel seiner Arbeiten
und seiner Kämpfe. Aber iph konnte die Wahrnehmung
nicht abweisen, dass er zuweilen auch der kalten Selbst-
sucht die Zügel schiessen lasse.
Etwas ferner war mir der Oberamtmann Melchior
Hirzel. Aber wenn gleich ich in seiner geschichtlichen
und juristischen Bildung manche Lücken entdeckte, so ge-
fielen mir doch der ideale Zug in ihm, die Liebe, die aus
ihm hervorleuchtete, zum Vaterland und zum Volk, die
Anregung, die er gab zur Verbesserung der Zustände, die
Zuneigung der Bevölkerung, welche er in seinem Amts-
bezirke zu wecken wusste.
Die ruhige Entwickelung unseres Statswesens wurde
aber schon wenige Monate nach meiner Heimkehr durch
die Erschütterung der Revolution unterbrochen. Ich war
im Stachelberger Bade, als die erste Kunde von der Pa-
riser Julirevol^ition die Badegäste aufregte. Je weniger
wir auf dieses Ereignis vorbereitet waren, desto mäch-
tiger war der Eindruck. Die Restaurationszuversicht war
nun gebrochen. Es wehte ein frischer Wind über die
stagnirenden Gewässer hin. Ich freute mich des gestei-
gerten Lebens und glaubte nicht an eine Wiederkehr der
Schreckenszeit der Neunzigerjahre; aber ich war auch miss-
trauisch gegen radicale Überspannung der Reformanträge.
In einem Briefe, schon vom 4. August, an die Braut sprach
ich den Grundton meiner politischen Gesinnung scharf aus:
„Anarchie und Pöbelherrschaft ist mir so zuwider wie
Tyrannei. Wenige sollen herrschen, nicht das Volk; aber
die Wenigen sollen die Verständigsten sein und das
Zutrauen des Volks besitzen."
Auch unsere Züricher Verfassung musste den Stoss
cap. 10.] Denkschrift ijber die Züricher Verfassung. 113
empfinden, und unsere Restaurationsregierung spürte den
Boden unter sich wanken. Ich hoffte ein frischeres Tempo
in der begonnenen Reform und reichere Früchte unserer
Arbeit, aber ich fürchtete die Überstürzung der Revolution.
Mit jugendlichem Eifer nahm ich nun teil an der Politik,
Es bildete sich ein vertrauter, enger Kreis von Gelehrten
und Beamten, der sich die Aufgabe stellte, den Gang der
Dinge zu beobachten und die Interessen des Tages frei-
mütig zu besprechen. Ich wurde in denselben aufge-
nommen.
Ich schrieb damals im Einverständnis mit F. Meyer
und Keller (September 1830) eine Denkschrift „über die
Verfassung des Standes Zürich" und beleuchtete darin
die Reformen, die mir notwendig schienen, insbesondere
eine Änderung der Repräsentation im Grossen Rat. Nach
der Verfassung von 1814 bestand der Grosse Rat aus 82
directe gewählten Mitgliedern (26 von den 13 Zünften der
Stadt, 51 von den Landbezirken, den sogenannten Land-
zünften, und 5 von der Stadt Winterthur gewählt) und
130 indirecte von einem Wahlcollegium aus Grossen und
Kleinen Räten ernannt, wovon 26 Landbürger sein muss-
ten, die übrigen 114 Stadtbürger sein konnten und that-
sächlich waren. Die Hauptstädter hatten also ungefähr
zwei Drittel aller Stellen inne. Ich führte aus, dass ein so
grosser Vorzug der vormals souveränen Stadt nicht mehr
zu der anerkannten Freiheit und der Cultur der Landschaft
passe, und dass auch den indirecten Wahlen ein zu grosses
Übergewicht über die directen verliehen sei, während jene
Wahlform hauptsächlich die Aufgabe habe, die directen
Wahlen durch Beachtung intelligenter, aber übergangener
Kräfte zu ergänzen. Ich schlug vor, dass Stadt und Land
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. g
114 Geschichte der Züricher Revolution. [cap. 10.
in gleicher Anzahl vertreten werden, so dass jeder Teil
vor Unterdrückung oder Missachtung seiner Interessen ge-
sichert sei, und ebenso dass die directen Wahlen, voraus
der Landschaft, erheblich vermehrt, die indirecten dem
Grossen Rate selber überlassen werden, vorzüglich im
Interesse der Intelligenz und des ganzen Gemeinwesens.
Überdem empfahl ich schärfere Sonderung des Ober-
gerichts von dem Kleinen Rate, der Regierung, eine un-
abhängige Stellung der Justiz, Aufhebung des halb-geist-
lichen Ehegerichts, dagegen Beibehaltung der Oberämter.
Voraus wünschte ich, dass die bestehenden Behörden sel-
ber die Reformen in gesetzlicher Weise festsetzen und
durchführen, und warnte vor den Gefahren der Revolution.
Die Vorschläge wurden von der Reformpartei, den
sogenannten „Jungen" günstig aufgenommen, auch von
Nüscheler im Beobachter wacker unterstützt, aber erreg-
ten den Missmut der „Alten", welche überhaupt keine
Verfassungsrevision wollten, und genügten, was schlimmer
war, der wachsenden Unzufriedenheit vieler Landbewohner
und der leidenschaftlicheren Bewegung der radicalen Partei,
welche in C. Snell einen doctrinären, aber gewandten und
eifrigen Vertreter in der Presse fand, bald nicht mehr.
Die Reform wurde verschoben und gehemmt. Dann ent-
lud sich unwiderstehlich die Revolution.
Ich habe die Geschichte der „Zürcherischen Re-
volution" in einem Aufsatze dargestellt, welcher in Leo-
pold Rankes historisch-politischer Zeitschrift (Hamburg
1832 Bd. I. S. 593 f.) erschienen und auch in Müller
Friedbergs Annalen abgedruckt worden ist.
Die Biographie soll zeigen, wie sich die grossen Er-
eignisse in den persönlichen Eindrücken und Erlebnissen
cap. 10.] Gespaitnte Lao^. 115
des jungen politisch erregten Mannes abspiegelten. Die
weiterblickende politische Geschichte erkennt den innern
Zusammenhang in seinen grossen Zügen und urteilt ge-
rechter; aber der schäumende Anprall der mächtigen Meeres-
welle an den kleinen Nachen eines bescheidenen Einzel-
lebens hat auch seinen Reiz und sein Recht. Ich merke
daher einige Notizen an:
22. Oktober: „Der Zweck meiner Schrift war: 1) den
Gegensatz und das Misstrauen von Stadt und Land dadurch
zu mildern, dass von der Stadt aus das Recht des Landes
anerkannt werde; 2) durch Aufdeckung noch anderer Män-
gel der Verfassung ausser dem Repräsentationsverhältnis
dem Streit die schroife Einseitigkeit zu benehmen; 3) die
Punkte, worauf es ankommt, zu fixiren und dem bösartigen
Raisonniren ins Blaue hinein Schranken zu setzen; 4) end-
lich zu einer wesentlichen Verbesserung der Verfassung
beizutragen.*'
„Die Macht der alten Optimaten ist morsch; sie wird
leicht gebrochen. Die Wissenschaft gelangt zu Ansehen.
Die junge Generation, die nichts mehr weiss von der alten
Stadtherrschaft, wird siegen. Aber auch Ungeziefer fliegt
mit. In den Schenken wird schändlich raisonnirt. Der
Kern des Volkes ist gut; die Notabein des Landes können
keine Unordnung dulden. Gefahrlich sind nur die Fabrik-
gegenden, wo der Verdienst stockt.**
29. Oktober: „Ich* besuchte meinen Badefreund Major
Zuppinger in Männedorf, einen kerntüchtigen Mann, und
mit ihm den Quartierhauptmann Wunderli in Meilen,
einen der 32 Landgrossräte, die in Uster zusammenge-
treten sind. Ich fand im Ganzen die Stimmung des Vol-
kes äusserst gespannt. Der gemeine Mann hebt den Kopf
8*
WQ FOBDERÜNGEN DES LaKDES. [cap. 10.
und droht, ohne recht zu wissen wem und wozu. Die
Seegegenden werden sich mit der Hälfte Mitglieder für
das Land im Grossen Rat nicht mehr zufrieden geben.
Viele sprechen nun von zwei Dritteilen für das Land. Der
nächste Montag, an dem der Grosse Rat zusammentritt,
wird von Vielen gefürchtet. Es heisst allgemein, die Bauern
wollen in die Stadt kommen. Indessen das Wetter ist
schlecht, und wenn es so bleibt, werden der Gäste nicht
allzu viele sein. Kommt Niemand, so wächst der Mut der
Aristocratenpartei. Kommen Viele, so können die gähren-
den Elemente zusammenstossen. Ich besorge indessen we-
nig Schlimmes.
Vor 8 Tagen noch wäre die Hälfte der Repräsen-
tation dem Lande völlig hinreichend erschienen. Jetzt
befriedigt das nicht mehr. Die Stadt geht aber ungern
darüber hinaus. Keller sagte, wenn nichts geändert werde,
als die Repräsentation, so wolle er lieber die Revolution.
Umgekehrt will ein Teil des Statsrats, unter der Führung
der Bürgermeister von Reinhard und von Wyss, nur
die Veränderung in der Repräsentation zugestehen, aber
keine weitere Reform. Das sagte mir Altbürgermeister
von Escher, welcher eine allgemeine Revision der Ver-
fassung für nötig hält. Das Land aber wird, wie ich hoffe,
in dieser Hinsicht zu den , Jungen in der Stadt* halten."
„Der öffentliche Ankläger Ulrich belächelt Alles,
ohne Interesse für irgend eine Idefe. F. Meyer und Kel-
ler bearbeiten Verfassungsentwürfe. Oberamtmann Hirzel
zeigt eine sanguinische Lust am Gesetzmachen. Rasch vor-
wärts zu schreiten ist die einzig mögliche Taktik. Man
muss alles Verzögernde auf organische Gesetze versparen,
die man später ruhig machen kann. Die Verfassungs-
Cap. 10.] RÜSTUNOEN IN DER StADT. 117
Urkunde braucht nicht ein vollständiges Compendium des
Statsrechts zu sein. Sind wir nur erst fertig im eigenen
Lande, dann können wir für die Schweiz entscheidend auf-
treten. Schon hat in Thurgau die Schrift des Pfarrers
Bomhauser die Flamme der Revolution entzündet.**
31. Oktober. „Die Stimmung wird etwas ruhiger, je
näher der Grosse Rat rückt; aber es steigt auch der Kamm
der Optimaten. Ich brachte heute den Stadtschreiber F.
Meyer dazu, eine verstärkte Commission für die Verfas-
sungsberatung vorzuschlagen: 6 vom Kleinen Rat, 6 Stadt-
bürger vom Grossen Rat und 6 Landbürger vom Grossen
Rat. Je zahlreicher die Commission sein wird, um so mehr
werden die Jungen durch ihre Intelligenz wirken. Ich rechne
auf Meyer, Keller, Hirzel."
Abends 10 ühr: „Die Gefahr scheint wieder zu wachsen.
Es ist eine Compagnie Schweizer aus französischen Diensten
angelangt. Die Ratsherren scheinen etwas im Sinn zu ha-
ben, so wenigstens sprach einer von ihnen heute Abend
in abgebrochenen drohenden Worten. Auch nach mir hat
ein verdächtiger Mensch gefragt. Nun gilt es. Wenn der
Grosse Rat die Verfassungsrevision versagen sollte, dann
bleibt nichts übrig als Auflösung desselben und die Er-
wählung eines neuen.**
Montag den 1. November: „Vergebens hatte sich un-
sere Bürgerschaft heimlich gerüstet und vergebens wurde
in den Zeughäusern gearbeitet. Der Feind erschien nicht.
Vor dem Rathaus fanden sich viele Bürger ein; es war
auch einiges Gesindel in der Stadt. Im Grossen Rat sel-
ber schwankte die Meinung und der Sieg. Der Kleine
Rat wollte durchaus keine Verfassungsänderung, ausser
dem Repräsentationsverhältnis, die nur von den verhassten
Hg AnfXkglicheb Sieg der Jungen. [cap. 10.
„Jungen" gefordert werde. ,Lieber Bauern und Ochsen,
als die Jungen*, das ist das Stichwort der Optimaten.
Hätte man heute abgestimmt, so hätten die Jungen die
Schlacht verloren; denn manche Führer vom Lande waren
der Meinung, vorerst nur die Änderung der Repräsenta-
tion zu verlangen und das Übrige dem neu zu wählenden
Grossen Rate vorzubehalten. Diese Falle merken endlich
die Herren vom Kleinen Rate. Hoffentlich lassen sie sich
nun für die Gesamtrevision gewinnen. Haben wir erst
die neue Verfassung, so mag sich der jetzige Grosse Rat
auflösen. Es schadet dann nicht mehr. Wenn er dagegen
jetzt nur die Repräsentation ändert und alles Andere einem
künftigen Grossen Rate anheimstellt, dann haben wir in-
zwischen gar keine Verfassung; denn die Autorität der
alten ist gebrochen und die neue noch nicht da, und in
solcher Anarchie würden die beiden entgegengesetzten Ex-
treme, die Demagogen und die Optimaten, ihr frevelhaftes
Spiel treiben. — Wie sehr wünsche ich, an der Discussion
teilnehmen zu dürfen; es fehlen mir nicht Mut und Kraft,
aber meine Jugend schliesst mich vom Grossen Rate aus."
25. November: „Die Schlacht war am 3. November
doch für die Jungen gewonnen. Der Oberamtmann Hirzel
hatte den Sieg entschieden. Ihm glückte es, einige Rats-
herrn, insbesondere von Muralt und die Führer der Land-
leute Stapfer, Brändli, Künzli zu gewinnen. Diesen
versprach er die Majorität in dem neuen Grossen Rate,
wenn sie zu den Jungen halten. Das wirkte, und dadurch
wurde die innerlich unnatürliche Allianz der Alten mit den
Landleuten gesprengt. Zugleich erklärte Hirzel, wenn die
Totalrevision abgelehnt werde, so werde er in die nächste
Sitzung auch eine Petition von 31 Stadtbürgern bringen,
cap. 10.] Yebgebliche Ausgleichungsafbeit. 119
welche Garantien für die bürgerliche Freiheit und Tren-
nung der Gewalten verlangen, und er denke, dieselbe werde
ebensogut Gehör finden, wie das Begehren der 31 von der
Landschaft, welche Garantien für die Landschaft verlangen.
Der Landammann Reinhard versuchte noch seine Listen,
aber Hirzel hielt ihn, nach dem Ausdruck des Oberamt-
manns Meiss, bei dem Fuchsschwanz und schüttelte ihn.**
Ich speiste nach der Verhandlung bei F. Meyer mit
Hirzel. Wir freuten uns königlich über den Sieg. Ich
eilte nacher zu dem greisen Obmann Füssli, um ihm Nach-
richt zu bringen. Er küsste mir vor Freude die Hand.
Inzwischen nahmen die Dinge wieder eine schlim-
mere Wendung. Eine Commission arbeitete an der Aus-
gleichung. Mit 11 gegen 10 Stimmen wurde eine genaue
Ausscheidung in festen Zahlen beschlossen. Dann zankte
man sich lange darüber, ob die Hauptstadt 90 oder 92
Stellen erhalten solle. Schliesslich bestimmte man, die bei-
den Städte Zürich und Winterthur sollten die eine Hälfte
der Mitglieder, die Landschaft die andere Hälfte erhalten.
Aber anstatt den Vorschlag sofort dem Grossen Rate vor-
zulegen, wurde die Sitzung aufgeschoben. Sie war am
22. November möglich und wurde auf den 25. vertagt.
Reinhard hatte noch einen Tag Aufschub durchgesetzt*
Damit war das Friedenswerk vernichtet und die ganze
Ausgleichungsarbeit vergeblich.
Die Zwischenzeit wurde von den Demagogen fleissig
benutzt, um das Land aufzuregen. Im Thurgau und Aar-
gau, auf beiden Seiten des Cantons Zürich, war helle Anar-
chie. Die Appenzeller Zeitung blies in die Flammen. Es
wurden aufrührerische Schriften in Umlauf gesetzt. Viel
alter Groll gegen die Stadt kam auf einmal ans Licht.
120 VOLKSVERSAMMLÜKG IN ÜSTER. [cap 10.
Der Ausgleichungsvorschlag konnte sehr leicht als eine
böse List der Stadt Zürich ausgedeutet werden, Winter-
thur, wo die Opposition der Landschaft tüchtige Führer
gefunden hatte, von dieser zu trennen und das Land seiner
intelligentesten Vertreter zu berauben.
Entscheidend wurde die Volksversammlung, die in
TJster am 22. November zusammentrat. Es sollen 6000
bis 10000 Personen daran teilgenommen haben. Als Red-
ner traten drei Männer auf, mit denen ich später befreundet
wurde, gegen die ich aber damals misstrauisch war, der
Dr. Hegetschweiler von Stäfa, ein wissenschaftlich ge-
bildeter Mann und ein guter Patriot, in dessen Familie
aber die Erinnerung an die schwere Unbill, welche sein
Schwiegei'vater, der alte Vater Bodmer, in den Neun-
zigerjahren von dem alten Regimente der Stadt erduldet
hatte, zu Rachegedanken reizen mochte; der jugendliche
Müller Gujer von Bauma, ein Mann von idealen Neigun-
gen in der Politik und in der Religion, der sich durch
Privatstudien ausgebildet hatte, und Steffan von Waedi-
schwyl, eine derbe, kräftige Natur, wie sie unter den
„Seebuben" gedeihen konnte; dabei leidenschaftlich erreg-
bar. In TJster wurde eine Petition beschlossen, welche wie
ein Befehl an den Grossen Rat betrachtet wurde. Die
Ausgleichung war darin verworfen und ein Repräsentations-
verhältnis von zwei Dritteil Stimmen für das Land, mit
Winterthur, gefordert.
Die Versammlung in Uster erfüllte die Stadt mit Be-
sorgnissen. Ich brachte den Gedanken zur Sprache, in der
Stadt eine Versammlung zu berufen, um für die Unab-
hängigkeit des Grossen Rates einzustehen. Andere ver-
langten sofortige Bewaffnung der Stadtbewohner. Manche
cap. 10.} Versammlung in ZCkich. 121
erregte junge Bürger wollten sich auf den bevorstehenden
Kampf mit der Revolution rüsten und in diesem Sinne
einen kriegerischen Stab bilden. Dem widersetzten wir
uns mit allen Kräften: wir wollten um keinen Preis den
Bürgerkrieg zwischen Stadt und Land einleiten lassen. In
den weiteren Kreisen der Bürgerschaft fand der kriege-
rische Gedanke keinen Beifall. Nur im Interesse der Sicher-
heit und Ordnung wollte man sich bewaffnen, nicht um die
fallende Aristokratie zu halten.
Im Schützenhause fand die Versammlung statt. Es
waren etwa 400 bis 500 Personen anwesend, auch einige
Landbürger. Es gab ein heftiges Ringen zwischen den
beiden Parteien, den kriegerischen Aristokraten und den
liberalen „Jungen**. Unsere Gesellschaft gewann den Sieg
schon bei der Bestellung des Vorstandes: Professor Escher
wurde zum Präsidenten, ich zum Secretär ernannt; sodann
in der Discussion, in der besonders Keller sich auszeich-
nete, und in den Beschlüssen und Ausschusswahlen. Es
wurde entschieden ausgesprochen, dass wir die Verständi-
gung und nicht den Krieg mit der Landschaft wollen. Die
Bewaffnung sollte lediglich zum Schutz der Personen und
des Eigentums gegen Gewaltthat dienen. Der alte General
Ziegler übernahm, nicht ohne Widerstreben, das Commando.
Unsere Beschlüsse wurden ohne Verzug gedruckt und über-
all verbreitet.
Im Auftrag des Ausschusses reiste ich am Tage
nachher nach Knonau, wo die Gemeindeammänner und
Friedensrichter des Bezirks versammelt waren, und sprach
zu ihnen. Ich fand ihre Stimmung freundlicher und jedem
revolutionären Vorgehen abgeneigt. Mit dem Oberamt-
mann Hirzel fuhr ich nach Zürich zurück* Noch war er
122 Sturz des Grossen Rats. [cap. 10.
voll Hoffnung, es werde ihm gelingen, den Strom zu be-
meistern. Aber die Freunde in Zürich waren grossenteils
entmutigt. Ich machte damals die Erfahrung, dass die
Meisten mutlos und schwach werden, sobald sie aufgeregte
Massen sich gegenüber sehen. Auch mein Freund F. Meyer
erlag der natürlichen Scheu vor den wilderen Volkskräften
und wurde in der Gefahr geneigt, Güter wegzuwerfen,
deren Wert er zuvor wohl erkannt und die zu verteidigen
er sich vorgenommen hatte. Keller behält mehr die ruhige
Klarheit seines Verstandes und bleibt fester. Ich selbst
werde um so energischer und entschiedener, je mehr die
Krisis steigt. Aber ich mache den Fehler, dass ich dann
zu hitzig vorgehe.
Am Donnerstag war Versammlung des Grossen Rates.
Er bewiess durch seine schwache Haltung, dass er nicht
länger wert war, den Stat zu regieren. Nur Hirzel gab
ein ehrenhaftes Votum ab, und Keller sprach gut, konnte
aber keinen Gegenantrag machen, da offenbar ein pani-
scher Schrecken alle Gemüter gebeugt hatte. Wäre ich
im Grossen Rate gewesen, so hätte ich auch zu der ver-
langten Repräsentation zu zwei Dritteilen für das Land
und einem Dritteil für die Stadt gestimmti aber nicht ohne
zugleich mich sowohl gegen die Demagogen, als gegen die
schwache und unverständige Regierung auszusprechen. Die
Mitglieder vom Lande erklärten sämtlich, sie dürften nicht
nach Hause, ohne die beruhigende Nachricht von der ge-
änderten Repräsentation mitzubringen. Da bemerkte ihnen
der alte Oberrichter Hegnauer von Elgg, der schon
manche Revolution erlebt hatte, mit Lachen: Wenn sie
sich fürchteten, so wolle er „allenfalls" mit ihnen nach
Hause gehen. Die Zweidrittelsmajorität für die Landbürger
cap. 11.] Politische Srnnumo. 123
wurde beschlossen und die indirecten Wahlen durch den
Grossen Rat auf ein Sechsteil vermindert. Der jetzige
Grosse Rat aber hatte sein Ansehen gänzlich verloren.
Die Mitglieder vom Lande hatten gedroht, wenn nicht ent-
sprochen werde, auszutreten. Dann würde in den See-
gemeinden die Sturmglocke ertönen. Nur vor der Drohung,
nicht vor den Gründen, wichen die Aristokraten zurück,
haltlos und zaghaft.
Damit war der Sieg der Revolution entschieden. Es
begann nun auch die Zersetzung der bisherigen liberalen
Partei der Jungen und der Zwiespalt der bis dahin ver-
bundenen Freunde.
11.
Politische Stimmung. Die Yerfassniigscommission. Eine Äusser-
ung Niebuhrs. Meine Ansichten und Besorgnisse. Wahlspruch
der Schrift: Das Volk und der Souverän.
Der, wenn auch verdiente, Sturz des Grossen Rates
machte auf mich einen tiefen und schmerzlichen Eindruck.
Ich litt unter den Fortschritten der Revolution gemütlich
und geistig; gemütlich, weil mein Gefühl für statliche
Autorität und Ordnung verletzt und meine Besorgnis vor
den ungezügelten Leidenschaften der Menge gereizt war,
und geistig, weil mir, dem Jünger und Verehrer der ge-
schichtlichen Schule, der gewaltsame Bruch der bestehen-
den Verfassung und der plötzliche Wechsel aller Organe
der Statsgewalt verderblich schienen, und ich mit Miss-
behagen bemerkte, wie sehr die verachteten naturrecht-
lichen Ideen auch in der Schweiz volkstümlich und wirk-
sam waren. Es kränkte mich, dass die gewünschte Reform
124 I^iE Verfassüngs-Commissiok. [cap. 11.
in die verhasste Revolution umgeschlagen habe, und der
Wein zu Essig geworden sei.
Es mischten sich so in meine Auffassung ehrenwerte
Gefühle mit unreifen Urteilen. Meine Stimmung und auf
Jahre hin auch meine politische Stellung in der Schweiz
erhielt durch dieselbe ihren Charakter und ihre Signatur.
Der neue Grosse Rat hatte, soweit ich von aussen
und in Commissionen sehen konnte, zu denen ich als Se-
kretär zugezogen wurde, einen bessern Ausdruck, als der
alte. Die Landleute sahen frischer, kräftiger und freier
aus, als viele ältliche und philisterhafte Städter, welche
von jenen nun verdrängt waren. Bald bemächtigten sich
Hirzel und Keller, jener durch ideale Wärme, dieser durch
juristische Kälte, der Führung des jugendlichen Körpers.
Zur Ausarbeitung der neuen Verfassung wurde eine
Grossrats-Commission gewählt. Statsrat TJsteri, das libe-
ralste Mitglied der früheren Regierung und der erstge-
wählte Bürgermeister des neuen Regierungsrats, war Prä-
sident derselben. Die aristokratische Partei war darin nur
schwach vertreten, vornehmlich durch den Ratsherrn Rahn.
Dagegen war die Reformpartei aus der Stadt in Zahl und
mehr noch der persönlichen Bedeutung nach sehr gut ver-
treten. M. Hirzel, Keller, v. Meiss, F. Meyer, Ulrich,
Hess waren Mitglieder. Von Winterthur waren zwei Sul-
zer darin. Das Land war durch gewichtige Männer reprä-
sentiert, unter denen Stapf er von Borgen, Brändli von
Staefa, Gujer von Bauma, Pfenninger von Staefa her-
vorragten. Als Actuar fungierte F. Meyer. Ihm wurde
ich als Gehülfe beigeordnet. Noch besitze ich die Notizen
über die einzelnen Voten der Mitglieder, die ich damals
niederschrieb, und ebenso das Register über die Masse von
cap. 11.] Organisation der Gemeinde- Verfassung. 125
Petitionen, welche von allen Seiten her einliefen. Diese
Petitionen erinnerten mich an die französischen Cahiers wäh-
rend des Zusammentritts der Nationalversammlung im Jahre
1789. Die Wünsche bezogen sich auf alles Mögliche, und
einer widersprach dem andern. In der Masse Spreu war
nur wenig Korn zu finden.
Den grössten Einfluss hatten auch hier Hirzel und
Keller. Jenem vorzüglich ist die Organisation der Bezirke
und die Gemeindeverfassung zuzuschreiben, welche sidi
beide bewährt haben. In den örtlichen Organen des Ge-
meindelebens lernt der Schweizer zuerst sich in der Selbst-
verwaltung üben. Da macht er gewissermassen die poli-
tische Volksschule praktisch durch, und gewöhnt sich an
die öffentlichen Geschäfte und an die Beachtung gemein-
samer Interessen. Da jeder Bürger Teil hat an der Ge-
meindeversammlung, und diese alljährlich mindestens zwei-
mal berufen wird, um Beschlüsse zu fassen und den Haus-
halt der Gemeinde zu controlieren, so wird der schlichte
Bauer und Bürger in der freien Meinungsäusserung geübt,
und die zahlreichen Gemeindeämter, welche von gewählten
Bürgern verwaltet werden, regen das Pflichtgefühl an, für
das Wohl der Gemeinde zu arbeiten. Durch die Trennung
des Gemeinderats, als des örtlichen Verwaltungsorgans der
Bürgerschaft, und der Stelle des Gemeindeammanns, als
eines Statsbeamten in der Gemeinde, wurde die Selbstän-
digkeit der Gemeinde gefördert. Es blieb aber noch die
hergebrachte Bürgergemeinde erhalten, welche wie eine er-
weiterte Familie die bürgerlichen Familien umschloss und
wesentlich auf der Fortpflanzung des Geschlechts und dem
Blutsverbande beruhte, im Unterschied von der Einwohner-
gemeinde, die sich aus der Beweglichkeit des modernen
126 I^iE NEUE Bezikks-Vebpassüng. [cap. 11.
Verkehrs und der entscheidenden Wirksamkeit des Wohn-
orts allmählich neu zu entwickeln begann. In der Bezirks-
verfassung wurde die Trennung der Verwaltungs- und der
Gerichtsämter schärfer durchgeführt, als unsere früheren
Vorschläge wollten. Für jene wurden die Statthalter der
Bezirke bestellt sammt den Bezirksräten, welche für die
Vormundschaftspflege und die verwaltungsrechtlichen Strei-
tigkeiten ihnen beigeordnet wurden; für diese wurden die
Bezirksgerichte eingerichtet.
Keller kämpfte fast ausschliesslich für die Unabhän-
gigkeit der Gerichte und die Hoheit des Obergerichts, als
dessen künftigen Präsidenten er sich mit gutem Grunde
erkannte. Er wollte auch grössere Gerichtsbezirke und
besser besoldete Richter, vermochte aber den Widerspruch
der populären Meinung, welche umgekehrt eine möglichst
nahe und wohlfeile Rechtspflege wünschte, nicht zu über-
winden. Dagegen glückte es ihm, Garantien für die richter-
liche Selbständigkeit zu erwerben. Für die collegiale Be-
ratung erwiess er sich als äusserst gewandter Debatter.
Ich abstrahierte mir damals aus der Beobachtung dieser
Verhandlungen folgende Regel: „Es ist nicht geraten, eine
völlig ausgebildete neue Ansicht sofort auszusprechen und
anzutragen. Die Neuheit regt alle Bedenken auf, und
leicht wird der Vorschlag von den Einwendungen, die von
allen Seiten auf denselben einstürmen oder sich an ihn
anhängen, erdrückt. Besser ist es, an bereits Erörtertes
anzuknüpfen und nur vorläufig und unbestimmt Neues an-
zudeuten. So gewöhnen sich die Anderen nach und nach
an das Neue, das sie zuerst erschreckt. Sie werden ver-
trauter damit und merken eher auf, wenn sie sich in den
Bedenken gegen frühere Vorschläge verwirrt haben und
cap. 11.] Beratungen der Verfassungs-Commission. 127
einen Ausweg suchen. Dann ist die Zeit da, den neuen
Gedanken in seinem Zusammenhang aufzudecken, die Gründe
dafür auszuführen und die Gegengründe zu widerlegen/
Nach meinem politischen Gefühl betrachtete aber Keller
den Stat zu sehr durch die gefärbte Brille eines Civil-
richters. Es war doch eine Verkennung der organischen
Natur des States und der auf zweckmässige Förderung
des öffentlichen Wohls gerichteten Bedürfnisse, wenn er
den Schwerpunkt aus der Regierung in das Obergericht
verlegen und von da aus im Grossen Rate den Stat leiten
wollte. Ich sah damals schon diesen Irrtum wohl ein und
beklagte es, dass F. Meyer, welcher sich der Regierung
annahm, die Kraft nicht hatte, seine richtigeren Ansichten
durchzusetzen. Keller war ihm in der Debatte überlegen
und wusste auch das Misstrauen der Landleute gegen die
alte Regierung zur Schwächung der Regierungsinstitution
auszubeuten.
Der Winterthurer Professor Eduard Sulzer lavierte
vortrefflich zwischen Keller und Meyer und unterhandelte
fein mit jenem. Oft gelang ihm eine Vermittlung; aber
es überwog doch die Energie Kellers bei dem Compromiss
über die schüchterne Gediegenheit Meyers. Eduard Sulzer
äusserte einmal zu mir: „Die Gerichte sollen sou verain wer-
den, das ist die Tendenz Kellers;" und ich fügte bei: „Aller-
dings, und KeUer will der Souverain des Souverains werden.**
Der andere Sulz er, Amtsrichter von Winterthur,
hielt im Herzen zu den Alten und war absolutistisch ge-
sinnt, wenngleich mit einem Zuge von traditioneller Ab-
neigung gegen die Stadt Zürich; aber er besass einen guten
hausbackenen Verstand und hüllte seine oft kernhafte Mei-
nung in einen Schwall von leeren Worten ein.
128 Tavts: Äüssebunq Niebuhrs. [cap. 11.
Der Ratsherr Rahn bekannte nun liberale Grundsätze,
die er innerlich verabscheute, und gab leicht der Tages-
strömung allgemeine Prinzipien preis, wie wenn sie doch
nichts zu bedeuten hätten; machte aber im Einzelnen und
Kleinen eine wenig fruchtbare Opposition.
Von den Landleuten gefiel mir besonders Gujer durch
seinen redlichen Eifer und seine Lernbegierde, durch sei-
nen raschen Verstand und durch sein glänzendes Auge.
Stapf er war der echte Vertreter des verständigen und
biedern Mittelstandes.
Der Präsident Usteri beschränkte sich auf die for-
melle Leitung der Revision. Er dachte offenbar im Stillen
an die Reform der schweizerischen Bundesverfassung, die
folgen müsse, und bemühte sich mehr, die Bewegung zu
fördern als zu zügeln.
Mit gemischten Empfindungen und kühler Kritik be-
trachtete ich das neue Verfassungswerk. Wenngleich es
mir persönlich günstige Aussichten darbot, hatte ich doch
keine volle Freude daran. Ohne Zweifel hatte der Ab-
scheu, welcher mir von meinen deutschen Lehrern gegen
alle Revolution eingepflanzt worden war, einen erheblichen
Anteil an meiner Stimmung. Niebuhr, dem ich meine
Schrift über die Züricher Verfassung zugeschickt hatte,
äusserte mir in einem Briefe seine düstere Meinung von
der Zukunft, welche ihn nach der Julirevolution und vor
geinem Tode mit Schmerz erfüllte, in den stärksten Wor-
ten: „Meine ganz entschiedene Überzeugung, dass uns Ver-
wilderung nach äusserstem Elend bevorsteht, ist in der
Vorrede des zweiten Bandes der Geschichte ausgesprochen.
Bei Ihnen wird es ein trübseliges Wesen werden, da die
Rohheit, unschädlich in grossen Landsgemeinden, in den
cap. 11.] Ansichten und Besoronissb. 129
Räten überwältigend herrschen wird. Dabei kann den
Leuten doch nicht wohl werden, und so muss Revolution
auf Revolution gegen die Personen folgen."
Ganz so finster erschien mir die Aussicht in die Zu-
kunft doch nicht; der junge Mann konnte nicht ebenso alle
Hoffnung fallen lassen, wie der lebensmüde Greis, der sich
zum Sterben neigte. Aber dass auch mich damals zuweilen
sehr trübe Gedanken beschlichen, zeigen die folgenden Aus-
züge aus meinem Tagebuch.
Januar 1831.
„Die meisten Menschen haben keine Grundsätze, son-
dern blosse Manieren. Die Angewöhnung, nicht die Er-
ziehung hat sie gebildet.''
„Es ist mir unbegreiflich, wie der edle H. schwärmen
kann in süssen Träumen von Wahrheit, Weisheit, Geist,
die immer mehr im Volke und durch das Volk zur Herr-
schaft gelangen. Unter Volk verstehen sie die unwissende
Menge, die im Geld allein ihr Heil erblickt und sich nichts
um die Ideen kümmert. Diese Menge ist noch lange nicht
reif, um selber zu regieren ; sie muss regiert werden durch
die Einsicht."
„Die Volkswünsche für die neue Verfassung sind
grossenteils gierige Bettlerwünsche. Die guten Petitionen
sind selten und dann nur von Einem unterzeichnet, die
schlechten haben hundert Unterschriften. Die besten Pe-
titionen sind kurz, die schlechten lang. Jene enthalten
einen einzigen oder nur wenige Artikel, diese häufen alle
möglichen Wünsche."
„Unsere Demagogen zeigen eine wahre Zerstörungs-
wut. Wer weiss, ob nicht Manche von ihnen während
des wilden Taumels gezeugt worden sind, welchen die
Bluutschli, Dr. J. C, Aus raeinom Lebern. I. q
130 Ansichten und BESOROKisdE. [cap. 11.
französische Revolution der Neunzigerjahre in den erhitzten
Gemütern aufgeregt hatte, so dass ihr Geist da schon den
Impuls empfing zu dieser Zerstörungslust."
„Der kalte Verstand ist revolutionär. Er sondert,
schneidet, spielt mit der Welt und mit Gott, baut auf und
reisst wieder nieder."
„Halbtalente sind oft hündisch frech. Da wedeln sie
hinter dem Herrn her und bellen jeden Fremden an, den
sie nicht verstehen. Dafür gibt ihnen der Herr die Ab-
falle seiner Tafel."
Februar 1831.
„Ich fühle in der trüben Zeit, wie sehr mein Sinn und
meine Liebe an den schönen Erzeugnissen des menschlichen
Geistes, an den Formen des States und an der Ordnung
der Freiheit hängt, wie unglücklich mich die wilde Zer-
störung und das Zertreten alles Bestehenden machen. Jahre
lang kann man die edlen Pflanzen freisinniger Institutio-
nen sorgsam pflegen und die edelsten Geisteskräfte ihrer
Entwickelung weihen. Dann kommt auf einmal das wü-
tende Heer der Begierden und Leidenschaften, zertritt die
zarten Pflanzen und säet Unkraut, welches keiner Pflege
bedürfe, sondern sich selber genüge in wilder Freiheit und
üppig gedeihe."
„Wenn Staten in Krankheit fallen und untergehen,
dann mag auch den Einzelnen die Neigung anwandeln,
mit ihnen unterzugehen."
„Das Schicksal der Schweiz wird durch den Krieg
der europäischen Mächte und nicht durch unsere Kämpfe
entschieden werden. Sollte man nicht bei solcher Über-
zeugung das Unabwendbare ruhig erwarten können? Den-
noch nagt die Erfahrung der Gegenwart an der heitern
cap. 11.] Ansichten und Besorgnisse. 131
Frische meiner Jugend und umdüstert mir zuweilen den
Geist mit finsterm Grame.**
März 1831.
„Um die Burgen der Ritter sammelten sich Dörfer,
Flecken, Städte und fanden anfangs Sicherheit unter ihrem
Schutz. Aber der Sohn verdrängte mit der Zeit den altern-
den Vater. Die Städter brannten die Burgen ab, die nun
ihren Verkehr bedrohten, und lebten fröhlich fort unbe-
kümmert um die verfallenden Trümmer."
„Die erste Geisteskraft, die in dem jungen Leben des
Kindes erblüht, ist die Phantasie. So ist es auch in dem
ersten Leben der Völker. Ihre Phantasie freut sich der
bunten Bilder, der wundersamen Mährchen und Sagen, der
tiefen Mythen. Mit den Menschen leben die Götter in ver-
trautem, freundlichem Verkehr."
Mai.
„In grossen Staten hat jede Thätigkeit ihren eigenen
Träger, jedes Organ seine eigene Gliederung. In der be-
lebten Maschine des kleinen States dagegen muss dasselbe
Rad vielerlei Kräfte in Bewegung setzen und Eine Feder
Verschiedenes leisten."
„Ein zürcherischer Statsmann äusserte jüngst: „Zu-
erst Freiheit, dann Gerechtigkeit." In diesem inhaltschwe-
ren Wort liegt die ganze Lehre des Radikalismus. Voran
muss die Freiheit, nachfolgen mag dann die Gerechtigkeit.
Was ist aber eine Freiheit, die vorher der Gerechtigkeit
nicht bedarf, sich um das Recht nicht kümmert, was an-
ders als die Willkühr der Selbstsucht und die zügellose
Leidenschaft? Diese Freiheit verzehrt sich am Ende selbst
in wilder Gier, nachdem sie alle anderen Rechte zerstört
hat." Den Gegensatz zu dieser radicalen Meinung sprach
9*
132 ^^^ STATSBECHTLlCHE ScHKIFT: [cap. 11.
ich später deutlicher durch den Wahlspruch aus, den ich für
mein Leben als Richtstern erkor: „Gerecht und frei."
Juni.
„Ein grosser Kunstgriff Kellers, der selten die Wir-
kung verfehlt, besteht darin, dass er, um seine Vielen
missfällige oder allzu gefährlich scheinende Meinung durch-
zusetzen, vorerst noch eine verhasstere oder noch mehr
gefürchtete Meinung zur Sprache bringt, vor der er ein-
dringlich warnt, als könnte sie wider seinen Willen den
Sieg erringen. Dann glauben die Leute, indem sie ihm
beistimmen, sie ziehen das kleinere Übel dem grösseren vor."
„Unsere Revolution unterscheidet sich von den an-
deren wesentlich durch den wissenschaftlichen Geist, wel-
cher in die verworrene Volksrichtung gebracht wurde. Sie
wurde, ohne dass die Gefährten es merkten, eine juristische.
Die Macht der Bildung unterwarf die rohe Materie. Das
ist unbestreitbar das Verdienst Kellers."
„Ich hoffe von Preussen eine neue, volksgemässe
Statenbildung. Preussen entwickelte sich allmählich von
Innen heraus, geleitet von dem Licht der Wissenschaft.
Seine Beamtung ist die gebildetste und seine Armee die
bestorganisierte und volkstümlichste."
Ich hatte die Überzeugung gewonnen, dass die Massen,
von dem Dünkel der Souveräne tat berauscht, sich einbil-
den, sie haben die Macht und das Recht, Alles, was sie
wünschen und verlangen, kraft souveräner Willensäusser-
ung zum Gesetz und zu Recht zu machen. In diesem
Souveränetäts-Schwindel der Menge glaubte ich die Haupt-
ursache der politischen Missgriffe und Unsicherheit zu er-
kennen, und ich entschloss mich zu dem Wagnis, den-
selben zu bekämpfen. Um diesem gefährlichen Wahn ent-
cap. 11.] Das Volk und der Souverän. 133
gegenzutreten und zunächst die Gebildeten aufzuklären,
verfasste ich in jener Zeit die statsrechtliche Schrift: „Das
Volk und der Souverän im Allgemeinen betrachtet und
mit besonderer Rücksicht auf die schweizerischen Ver-
hältnisse" (Zürich bei Orell, Füssli und Comp. 1831).
Ich versuchte vorerst einige statliche Grundbegriffe
zu beleuchten. Voraus den Begriff des Volkes, im Gegen-
satze zu der blossen Gesellschaft von Einzelnen. Volk
heisst nicht eine beliebige Menge von Individuen, die sich
irgendwie an einander anreihen, sondern Volk ist ein natur-
gemässes Ganzes, ein Gesamtwesen mit einem bestimmten
Charakter und Geist und einer Lebensgeschichte, die nach
Jahrhunderten, nicht, wie das Leben der Einzelnen, nach
Jahren zu bemessen ist. Das Volk ist die Gesamtperson,
welche im State sich ihren Körper gebildet hat. Volk und
Stat gehören zusammen; sie sind Eine Person. Das Volk
ist die Substanz, gleichsam der beseelte Stoff des States;
der Stat ist die Form, die Organisation des Volkes. Die
Regierung und die Regierten zusammen bilden das Volk.
Nur uneigentlich und in secundärem Sinne wird auch der
eine Teil, die Gesamtheit der Regierten, Volk genannt und
dem Statshaupte, das doch nicht ausserhalb des Volkes,
sondern nur an der Spitze des Volkskörpers ist, entgegen-
gestellt.
Wenn ich sodann der unstatlichen Menge, der Ge-
sellschaft, jede Souveränetät absprach, und ebenso es für
eine Thorheit erklärte, der Masse der Regierten im Gegen-
satze zur Regierung souveräne Gewalt zuzuschreiben, so
waren das unwiderlegliche Wahrheiten, welche die land-
läufigen Vorstellungen von Volkssouveränetät verscheuchten.
Aber indem ich die souveräne Gewalt ausschliesslich dem
134 ^^^ Souverän in den Demokratien. [cap. 11.
obersten Organ im State, dem Statshaupte, als dem Offen-
barer des Statswillens zuschrieb, war ich doch noch in der
damals herrschenden Theorie der deutschen Rechtswissen-
schaft befangen, welche nur die Souveränetät des Monar-
chen kannte, und kam mit den republikanischen Vorstel-
lungen und Sitten in*s Gedränge, welche die Regierungs-
gewalt als abgeleitet von der Gesetzgebung dachten und
daher jener keine souveräne Stellung und Würde zu-
schrieben. In den schweizerischen Demokratien erklärte
ich die Landsgemeinde für den Souverän, in den reprä-
sentativen Cantonen den Grossen Rat, als den Gesetzgeber
des Landes und der auch die Oberaufsicht habe über die
Regierungsbehörde. Die demokratische Statsform, wie sie
in den kleinen Bergeantonen in Übung war, hielt ich
für eine kleine einfach lebende Völkerschaft, deren Sitten
und Anschauungen gleichartig seien, als ganz geeignet,
aber verglichen mit der Repräsentativverfassung, welche
für grössere Völkerschaften mit reicheren Culturgegensätzen
und höherer Bildung unentbehrlich sei, für eine untere,
noch rohe Stufe in der Statenbildung, und nicht, wie Viele
wähnen, für das höchste Statsideal. Weil in der Lands-
gemeinde alle Landleute beisammen sind und abstimmen,
wird es ihnen oft schwer, ihre Privatwünsche dem Stats-
bedürfnis unterzuordnen, und werden sie leicht verleitet,
ihre persönliche Willkür als Statswillen auszusprechen.
Daher schwanken sie oft zwischen Anarchie und Despotis-
mus hin und her. Ich verglich die Demokratie mit den
niederen Bildungen der Tiergattungen, die noch keinen
ausgebildeten Kopf von dem Rumpf unterscheiden und die
Functionen des Kopfes über den ganzen Leib ausbreiten.
Mit Wärme sprach ich mich, im Gegensatze zu Rousseau,
cap. 11.] Die repbäsentativen Statsformen. 135
für die repräsentativen Statsformen aus. Ich sehe
darin einen grossen Fortschritt der modernen StatenbiK
düng im Gegensatz zum Mittelalter wie zu den antiken
Staten, einen Fortschritt, welcher vorzüglich der germani-
schen Liebe zur Freiheit und den germanischen — zuerst
von den Engländern ausgebildeten — Sitten zu verdanken
sei. Die repräsentative Monarchie, welche den Stat
zu einem echten Freistat macht, ohne ihn seiner Einheit,
des Königs, zu berauben, und die repräsentative Re-
publik erklärte ich für die beiden vorzugsweise für civi-
lisierte Völker passenden, zugleich Freiheit und Ordnung
schützenden Statsformen der Neuzeit. Die Zeit der schwei-
zerischen Patricier- und Stadtbürger- Aristokratien war vor-
über; es konnte nur die Repräsentativverfassung die heu-
tige Bevölkerung befriedigen.
Der Grosse Rat besass unzweifelhaft souveräne Be-
fugnisse. Er war der Stellvertreter des Volks und das
höchste Organ des Statswillens. Nichts hinderte, ihn eine
souveräne Behörde zu nennen. Aber auch der Grosse Rat
leitete doch seine Autorität ab von dem Volke, dessen Ver-
treter er war. Im Namen des Volkes sprach er den Stats-
willen und das Gesetz aus, nicht kraft eigenen Rechts. Ich
gab zu, dass seine Souveränetät von dem Volke komme,
dass sie in der Idee auf dem Volke ruhe. Aber ich
bestritt, dass man deshalb das Volk Souverän nennen
dürfe; ich bestritt das, weil ich die Ausdrücke Souverän
und Statshaupt für gleichbedeutend hielt, und in der re-
präsentativen Republik das Volk nicht selber Haupt war,
sondern in dem Gesetzgeber ein höchstes Organ des Stats-
willens, ein Haupt hervorgebracht hatte.
Wenn mir schon damals klar gewesen wäre, dass
136 Reformatorische Gedanken. [cap. 11.
man nicht bloss dem Statshaupte, sondern auch dem State
als einem ganzen Körper, als einer lebendigen mit Willen
und Rechtsmacht begabten Person Souveränetät zuschreiben
muss, so hätte ich mich leichter mit den besseren Köpfen
unter den Gegnern verständigen können und weniger An-
stoss und Widerspruch erregt. In meiner Schrift waren
manche beherzigenswerte Wahrheiten verfochten, aber in-
dem ich als Greis auf die Jugendarbeit zurückblicke, ist
mir doch begreiflich geworden, dass die noch unreife Stats-
lehre in einer Zeit, welche mit Nachdruck eine Verbreitung
und Stärkung der Volksfreiheit und der Volksrechte an-
strebte, die Geister nicht überzeugen und nicht befriedigen
konnte. Mein politischer Mut war grösser als die poli-
tische Einsicht.
Die Schrift brachte überdem auch einige reforma-
torische Gedanken zur Sprache. Sie verlangte die Fort-
bildung der schweizerischen Bundesverfassung, nicht im
Sinne eines Einheitsstates, dem die ganze Geschichte der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Gegensatz der
deutschen und französischen Nationalität widerstreben, wohl
aber im Sinne eines Bundesstates, welcher die auswär-
tigen Beziehungen, das Militärwesen, den Handel und Ver-
kehr zwischen den Cantonen und mit dem Auslande durch
gemeinsame Gesetze und Institutionen ordne und verwalte.
Ich sprach auch das Verlangen aus nach schweizerischen
Anstalten für die Wissenschaft — einer schweizerischen Aka-
demie und einer schweizerischen Universität, und wünschte,
dass wenigstens einzelne Gruppen von Cantonen sich zu-
sammenschlössen zur Herstellung gemeinsamer Strafanstal-
ten und eines gemeinsamen Cassationshofes.
Die schweizerische Kritik wurde durch die Schrift
cap. 12.] Aufnahme der Schrift. 137
lebhaft angeregt. Es erschienen mehrere ausführliche Ke-
censionen, auch eine besondere Brochüre als Gegenschrift,
welche für die alte Theorie des Contrat Social eintrat. Ein
Mitglied der neuen Regierung, Eduard Sulzer, hielt sich
für berufen, mich zurechtzuweisen. Ich entgegnete ihm in
einem scharfen, öffentlichen Sendschreiben. Im Allgemeinen
wurde die Schrift von den höher Gebildeten günstig be-
urteilt; aber die Farben der Parteien übten doch auch
einen erheblichen Einfluss auf das Urteil. Den Anhängern
der alten Aristokratie und den Verehrern der fi'üheren Zu-
stände war die Schrift viel zu liberal und reformatorisch.
Den Radikalen umgekehrt kam dieselbe, wenigstens zum
Teil, aristokratisch und reactionär vor. Mich erfreute die
Wahrnehmung, dass vorzüglich von den Extremen die
Schrift getadelt, von den Gemässigten und Liberalen ge-
lobt werde. Aber bezeichnend für die deutschen Press-
zustände jener Zeit war es, dass das Königlich Preussische
Ober-Censur-Collegium durch Erlass vom 3. Sept. 1831
zwar den stillen Debit der Schrift der Nicolai*schen Buch-
handlung gestattete, aber die öffentliche Ankündigung der-
selben „aus Gründen" versagte.
12.
Heirat. Das Amt des Gerichtsschreibers und Notars. Spaltnng
Tinter den Jüngeren. Die Partei der Gemässigten oder Frei-
sinnigen. Im grossen Stadtrat. Städtische Reformen. Ange-
merkte Gedanken und Eindrücke.
Am 7. März 1831, an meinem vierundzwanzigsten
Geburtstage, ward ich mit Emilie in der Kirche zu Bülach
getraut. Mein Freund Müller hielt die sinnige Traurede
138 Heirat. [cap. 12.
und segnete die junge Ehe. Ich hatte diesen Tag er-
sehnt, an dem für mich ein neues Leben begann. Den-
noch wechselten die Gefühle zwischen heiterer Freude und
schmerzlichem Ernste, wie die Witterung des Tages zwi-
schen Regen am Morgen und Sonnenschein während der
kirchlichen Feier. Wie das Schiflf, das in dem erstrebten Ha-
m
fen anlandet, einen Stoss empfindet, so erfahrt der Mensch,
der eine frühere Lebensperiode abschliesst und eine neue
anfangt, einen Schmerz, der jedoch bald wieder verschwindet.
Ich fühlte mich glücklich in der Ehe. Sie war mir die
verklärte und geweihte Liebe, das Heiligtum eines Doppel-
lebens. Ich erfuhr es nun noch mehr als zuvor, um wie
vieles inniger die Verbindung des Mannes mit der Frau
ist, als die Liebe des Freundes zum Freunde.
Infolge der neuen Statsverfassung vom 31. März 1831,
welche durch Abstimmung der gesamten Statsbürgerschaft
des Cantons mit einer Majorität von 40,503 Stimmen gegen
1721 genehmigt worden war, gab es grosse Änderungen
in den neugewählten obersten Behörden. Mein Freund
F. Meyer und M. Hirzel wurden Mitglieder der neuen
Regierung, der Amtsrichter Keller und der bisherige Ober-
amtmann V. Meiss Präsidenten des neuen Obergerichts,
der Amtsgerichtsschreiber Dr. Finsler Präsident des neuen
Bezirksgerichtes Zürich. Ich wurde nun zu seinem Nach-
folger gewählt. So wurde ich als Gerichtsschreiber und
als beratendes Mitglied dieses Gerichts und zugleich als
Notar der Stadt und Führer der Grundprotokolle in die
juristische Praxis eingeführt.
Diese Stelle interessierte mich anfangs sehr. Sie er-
öflftiete, wie kaum eine andere, den Einblick in das mannig-
faltige Rechtsleben der Menschen. Ich sah nun alle die
cap. 12.] Das Amt des Gerichtsschkeibebs und Notabs. 139
feinen Verzweigungen der lebendigen Rechtsverhältnisse.
Was zuvor der Theorie wie ein kalter, lebloser Begriif sich
dargestellt hatte, das gewann nun durch die lebensvolle
That eine practische Anschaulichkeit und Bedeutung. Nun
erst lernte ich das Zürcherische Recht allmählich besser
kennen und begreifen. Noch war dasselbe wissenschaft-
lich nur wenig bearbeitet, geschichtlich gar nicht erforscht.
Einige Vorarbeiten waren wohl vorhanden, aber nur in den
Anfangen. Hier war noch das Meiste neu zu thun. Es
war mir eine lockende Aufgabe, wissenschaftliche Studien
über dieses Recht zu machen. Das noch wilde, unbebaute
Feld verhiess dem jungen Ansiedler reichliche Früchte.
Auch die eigentümliche, vorzüglich durch Keller ein-
geführte Form der Urteile reizte mich. Ein gutes Urteil
kam mir wie ein kleines Kunstwerk vor. Wie nicht leicht
eine andere Form der Rede oder Dichtung bildete es ein
wohlgegliedertes einheitliches Ganzes, dessen Teile, die
Rechtsfrage und das entscheidende Urteil darüber, die
thatsächliche Grundlage des Streitfalls und die juristische
Erwägung sich auf einander bezogen. Der Ausdruck musste
scharf und bestimmt sein, er durfte -nichts überflüssiges,
nichts zweideutiges zulassen. Die ursprüngliche Verwirrung
der factischen Verhältnisse musste sich lösen in verständig
gesonderte Gruppen und klare Linien. Dann kam das
Licht des juristischen Gedankens und erhellte die dunklen
Beziehungen und schloss das fragende Rätsel auf. Es er-
gab sich die Antwort auf die ursprüngliche Frage mit
logischer Notwendigkeit. Als Gerichtsschreiber hatte ich
viele solche Urteile zu redigieren. War die Arbeit ge-
lungen und zugleich den wissenschaftlichen Juristen ge-
nügend und für das grosse Publikum verständlich und
140 Spaltung üntfb den Jüngeben. [cap. 12.
<
plausibel, so genoss ich ein ähnliches Vergnügen, wie der
Dichter, dem ein untadelhaftes Sonett geglückt war.
Die Stelle eines Gerichtsschreibers und Notars war
auch ökonomisch gut ausgestattet, besser sogar als die
des Gerichtspräsidenten. Auf der Gerichtskanzlei arbeitete
auch eine Anzahl Freiwilliger. Dieselbe diente als eine
practische Übungsschule für juristische Anfänger. Man-
cher spätere Oberrichter erhielt da seine Ausbildung. Ich
kam nun auch mit manchen tüchtigen Juristen vom Lande
in nähere und freundliche Berührung, so mit dem Gerichts-
schreiber von Regensberg, Rüttimann, der mit ungewöhn-
lichem Eifer sich als Autodidakt der Rechtswissenschaft
weihte, mit Gerichtsschreiber Huber von Stäfa^, mit dem
jungen UUmer und anderen.
Dennoch war ich von Anfang an nicht gesonnen, sehr
lange in diesem Amte zu verharren. Meine Natur ver-
langte nach grösserer Freiheit und nach mehr Bewegung,
und vor allen Dingen genügte diese oft kleinliche und ein-
förmige Praxis meinem wissenschaftlichen Streben nicht.
Sie gewährte keine Müsse zu weiteren Studien, und ich
wollte nicht auf letztere verzichten. Daher betrachtete ich
diese Berufsthätigkeit als eine Durchgangsstufe, nicht als
Ziel meines Strebens.
In der früher einigen Reformpartei der sogenannten
Jüngeren war infolge der Revolution eine Spaltung einge-
treten. Einige der ersten Führer, M. Hirzel und Keller,
hatten sich an die Spitze der Bewegung gestellt, jener
mehr seiner idealen Begeisterung vertrauend, dieser eher
mit kühler Berechnung. Sie wurden von der Gunst des
Landes emporgehoben und gelangten in den Besitz der
öffentlichen Gewalt. Am meisten kränkte es mich, dass
cap. 12.] Verbitterung der Parteien in Basel. 141
Keller, der geistig den gewöhnlichen Radicalismus ver-
achtete, sich nun zum Haupt der radicalen Pai'tei erheben
liess. Er spielte mit den Menschen, und dieses Spiel schien
mir unwürdig. Es trat zwischen ihm und mir eine Span-
nung ein. Den Bruch aber suchten wir beide zu ver-
meiden.
Der andere Teil der Jüngeren, wie vorzüglich F. Meyer,
Dr. Finsler, Oberrichter Ulrich, kamen nach und nach aus
Widerwillen gegen die roheren und radikaleren Elemente
in der herrschenden Bewegungspartei in eine oppositionelle
Stellung. Die früheren Freunde wurden so in ein radikales
und ein conservatives Lager geschieden. Die Einen hatten
die Mehrheit der Landbevölkerung und daher des Grossen
Rates für sich. Auch in der Regierung und im Obergericht
hatten sie eine herrschende Autorität. Die Anderen stützten
sich vornehmlich auf die Gesinnung der Hauptstadt und
fanden in der Stadtgemeinde und den städtischen Räten
einen Halt. Die Ersteren waren zuweilen genötigt, der
misstrauischen Stimmung des Landes gegen die Stadt und
den Launen und Leidenschaften ihrer Parteigenossen Zu-
geständnisse zu machen. Die Letzteren konnten der über-
lieferten Vorurteile und der absolutistischen Neigungen, die
in der Stadt noch eine Macht hatten, nicht immer Meister
werden.
Die Revolutionskämpfe in dem Canton Basel zwischen
der Stadt und der Landschaft, die schliesslich zu einer
Trennung beider in zwei Halbcantone führten, trugen sehr
viel bei zu der gegenseitigen Entzweiung und Verbitterung
der Zürcherischen Parteien. Da zeigte sich*s handgreiflich,
wie gefährlich für den Stat die Leidenschaft zweier Par-
teien sei, welche sich zugleich als Stadt und Land örtlich
142 I^i^ Partei deb Gemässigten in Zürich. [cap. 12.
unterscheiden, und daher sich auch statlich trennen konnten.
So schroff waren die Zürcherischen Parteien nicht gegen
einander. Es war nun doch ein Glück, dass die Zürche-
rische Landschaft ihre ersten Führer unter den Stadtbür-
gern fand, und dass in der Stadt Zürich die junge Schule
der Reformfreunde an der Verbindung von Stadt und Land
grundsätzlich festhielt. In Basel waren weit mehr die ex-
tremen Richtungen zur Herrschaft gelangt. Aber die Sym-
pathie mit den Einen und die Antipathie gegen die An-
deren fanden doch auch im Canton Zürich einen lebhaften
Anklang.
Ich litt sehr unter dem Gebahren der beiden mir
verhassten Extreme und klagte viel über die rohe Ver-
wilderung der Radicalen und die starre Beschränktheit und
den thörichten Hochmut der „Zöpfe". In Zürich hielt ich
mich entschieden zu der conservativen Gruppe der früheren
Reformfreunde; aber ich wusste und verhehlte es nicht,
dass meine Herzensneigung liberal sei.
In Nachbildung der von Casimir Perier in Frankreich
begründeten Partei des Juste milien nannte sich diese
Zürcherische Partei „die Gemässigten". Mir missfielen
beide Namen, weil sie keinen eigenen Gedanken ausspra-
chen, sondern sich von den extremen Parteien nur durch
ihre Scheu unterschieden, zum Äussersten consequent vor-
zugehen. Ich hätte den Namen „die Freisinnigen" vor-
gezogen, und versuchte es in einem politischen Aufsatze,
den Charakter dieser Partei positiv zu bestimmen. Sie
sollte sowohl der radikalen Partei entgegentreten, welche
nach Umwälzung und Neuerung gierig durch einseitige
Bewegung den sichern Bestand des States gefährde, als
auch der aristokratischen, welche einseitig das Bestehende
Cap. 12.] SiEBENEK CONCORDAT UND SaRNER BuND. 143
erhalten wolle und den Fortschritt des States hemme. Wie
im State beide Elemente vorhanden und nötig seien, so
sollte diese dritte mittlere Partei „eine zeitgemässe, dem
Culturzustande des Volkes angemessene, organische und
allmähliche Entwickelung des Statslebens anstreben."
Es war damit ein principieller Standpunkt gewonnen, der
nicht von den Extremen abhängig wai\ Aber die verfüg-
baren Kräfte waren zu schwach für die grosse Aufgabe.
Die Zeit begünstigte mehr die Extreme.
Die Partei hatte ein eigenes Blatt gegründet, den
„Vaterlands freund", bei dessen Redaction ich mich be-
teiligte. Aber wenn gleich Männer von Geist und Ansehen
Mitarbeiter waren, wie die Professoren Orelli, H. Escher,
Hot tinger, so konnte die Zeitung doch nicht dem radi-
kalen „Republikaner", der von Snell geschickt redigiert
war, die Wage halten. Sie fand auf dem Lande wenig Ver-
breitung und ging schon im Jahr 1832 wieder ein. Der
Charakter des Blattes war redlich, wahrheitsliebend, pa-
triotisch, aber auch beschränkt, ängstlich, ohne Schwung
und dürftig in den Ideen.
Das Jahr 1832 trieb die Gegensätze schärfer her-
aus und war dem Radikalismus günstig. In der Schweiz
schlössen sich die Cantone, welche eine Bundesreform an-
strebten, in dem sogenannten Siebener Concordat enger
zusammen, ein liberal-radikaler Sonderbund innerhalb der
eidgenössischen Bundesverfassung. Auch der Canton Zürich
trat demselben bei. Diesem Bündnis entgegen entstand der
Sarner Bund, in welchem die Anhänger des alten Bun-
des zusammenstanden. Beide Teile dachten an Gewalt und
rüsteten sich. An Macht waren die Siebener den Sarnern
überlegen, diese konnten sich eher auf das geschichtliche
144 ^^ GROSSEN Stadtrat. [cap. 12.
Recht stützen. Die Zeit war jenen günstig, aber nicht in
dem Grade, um die Bundesreform im Frieden durchzu-
setzen. Für den Canton Zürich hatten diese eidgenössi-
schen Parteibildungen die Folge, dass die conservativ ge-
sinnten Mitglieder der Regierung austraten und durch Li-
berale und Radikale ersetzt wurden.
Da ich durch mein jugendliches Alter von dem Grossen
Rate ausgeschlossen war, so konnte ich diesen Kämpfen
nur aus der Ferne zuschauen. Dagegen erölftiete mir die
Stadtverfassung einen engern Bereich politischer Thätig-
keit. Ich wurde in den Grossen Stadtrat gewählt und
nahm nun Teil an den städtischen Angelegenheiten. Hier
konnte ich eher meiner liberalen Natur gemäss für Re-
formen wirken, ohne Furcht, dass dieselben in die Revo-
lution ausarteten. In der Stadt hatte man nicht, wie in den
cantonalen Angelegenheiten, mit den Radikalen zu kämpfen
— diese hatten da wenig Anhang und keine Autorität — ,
sondern eher mit den absolutistisch gesinnten Verehrern
des Alten und mit der philisterhaften Beschränktheit.
Ich wollte dahin wirken, dass die Stadt durch Stei-
gerung ihres inneren Lebens, durch Hebung der Industrie
und der Gewerbe, durch höhere Ausbildung und sorgfaltige
Benutzung der geistigen Kräfte wieder die erlittenen Ver-
luste an äusserer Machtstellung ersetze. Die Stadt sollte
grösser, ihre Bürger reicher, ihre öffentlichen Anstalten
sollten vollkommener werden: das war mein Bestreben.
Zu diesem Zwecke sollte auch die Aufnahme neuer Bürger
erleichtert werden. Ich wünschte, dass das Bürgerrecht
tüchtigen Männern geschenkt und angesehene Landleute
dadurch geehrt werden. Indessen schon diese Bemühun-
gen sliessen auf unüberwindliche Schwierigkeiten, und nur
cap. 12.] Antrage auf städtische Reformen. 145
wenige Anträge der Art fanden einigen Beifall Meinem
Hauptplan, den Stadtbann auf die ringsum anstossenden
Gemeinden auszudehnen und mindestens das alte Weich-
bild der Stadt dieser einzuverleiben, standen sowohl die
altbürgerlichen Vorurteile der Stadtbürger, als das Miss-
trauen der Radikalen entgegen, welche das Wachstum der
Stadt für eine Gefährdung ihrer Herrschaft hielten und
überall das Gespenst der Reaction zu sehen meinten. Mei-
ner Meinung nach war die Reaction nirgends weniger zu
fürchten als in Zürich. Es fehlte ihr beides, die Führer
und das Gefolge. Die Bürger waren allerdings den Per-
sonen der neuen Regierung nichts weniger als zugethan
und übten gerne eine unfreundliche Kritik über die Hand-
lungen derselben. Aber sie waren zufrieden damit, ihrer
Stimmung durch stechende, spitze Worte Ausdruck zu ge-
ben, und dachten nicht entfernt daran, die früheren Zu-
stände zurück zu erobern, oder den haimlosen Tadel durcl^
feindliche Thaten zu bekräftigen.
In meinem Tagebuch merkte ich in dieser Zeit unter
Anderem Folgendes an:
Im November 1832: „Alle Kräfte des Friedens wer-
den aufgeboten, diesen zu erhalten, die Furcht vor dem
Kriege allein kann uns vor demselben retten. Die Diplo-
matie entwickelt alle ihre Talente, um durch den Schein
des Krieges diesen zu beseitigen." (Belagerung von Ant-
werpen.)
„Die romanischen Staten sind in der Auflösung be-
griffen. Das grosse Leben der Staten wird zersplittert in
eine Masse von Einzelleben, die alle nur sich und ihre
Interessen, nicht das Ganze vor Augen haben. Die ger-
manischen Staten dagegen haben eine eigentümliche, frische
Bluntschli, Dr. J. C, Ans meinem Leben. I. ]^Q
1^46 Anoemebkte OtedakkeN" [cap. 12.
und unverbrauchte Lebenskraft. Ihr Mark ist noch ge-
sund/
„Das französische Juste-milieu hat uns um allen Cre-
dit gebracht. Organische Entwickelung wäre das rich-
tige Wort.**
„Die Radikalen und die Stockphilister taugen beide
wenig, aber jene sind doch gescheit und diese dumm. Ich
ziehe den klugen Teufel dem dummen Teufel vor."
,Das politische Kannegiessen ist doch ein wunder-
liches Geschwätz. Da halten sich die einfältigsten Men-
schen, die nie einen eigenen Gedanken erzeugt haben, für
witzig genug, um die feinsten politischen Köpfe zu beur-
tfeilen und ihre geheimsten Pläne und Absichten zu durch-
schauen. Je weniger sie von den Sachen verstehen, desto
rascher sind sie im Klaren.**
1833. „Die Schweiz ist gegenwärtig in demselben
Zustande der Revolution, wie der Canton Zürich zu Ende
1830. Die Massen sind ebenso aufgeregt. Aber die Kraft
des Widerstandes ist hier grösser. Die Bundesverfassung
stürzt nicht ebenso leicht zusammen, wie die alten Cantons-
verfassungen, wenn eine Volksversammlung es fordert oder
die Zeitungen lärmen. Die verschiedenen Interessen sind
zu mächtig und in einzelnen Teilen der Schweiz zu fest
begründet. Die Schweiz ist zu gross und zu mannigfaltig
geartet, um auf so vereinzelte Stösse zu fallen, wie die
Cantone.**
„Ich begreife den Ehrgeiz derer nicht, welche genau
so regieren wollen, wie es die Menge wünscht. Sie jagen
dem Scheine des Herrschens nach, während sie in Wahr-
heit regiert werden, und zwar von Leuten, die tief unter
ihnen stehen. Wohl begreife ich den Ehrgeiz eines Mannes,
cap. 12.] UND Eindrucke. 147
der herrschen will als der Träger des Volksgeistes, aber
dann muss der Geist in ihm seiner Höhe bewusst sein, er
muss sicher sein, nicht den Launen der thörichten Menge
zu fröhnen, sondern das Rechte und das Gute zu wollen."
„Vor Kurzem traf ich H^i4H4eh Börne im Seefeld.
Der Knabe des Grafen Benzel war ebenfalls anwesend.
Professor Oken sagte zu diesem, er thue besser, sich den
Naturwissenschaften zu widmen, als der Politik. Da fiel
Börne rasch ein: „Nein, nein, der soll ein Regieide wer-
den. Er muss den letzten König morden." — Solche Wahn-
sinnige wollen die Jugend erziehen-.**
„Um die Parteien gerecht zu beurteilen, muss man
sich in sie hineindenken. Man muss gewissermassen für
einige Augenblicke zu ihnen übergehen. Dann schwindet
manche Täuschung. Überall tritt einem die menschliche
Natur entgegen, mit ihren Kräften und mit ihren Schwä-
chen. Nur die sind gefährlich, die von der Leidenschaft
wie von einem Wahnsinn getrieben werden, ihrer selbst
nicht mehr mächtig."
„Dummheit ist in der Politik auch ein Verbrechen.
Die Baseler haben sich nie gegen das hergebrachte Recht
verfehlt, aber gegen die Klugheit hundertfaltig. Das war
ihr Unglück. Die trotzige Rechthaberei des reichen Kauf-
manns ist keine politische Tugend."
„Ich wollte, es möchte eine grosse Volksversammlung
versuchen, die Tagsatzung zu sprengen. Das brächte uns
ins Gleichgewicht. Sie könnte dann auf. der einen Seite
die Samer schlagen und auf der andern die Wühler."
„Alles vergisst sich in der Politik. Die Parteien zer-
fallen und sterben. Nur das ungerecht vergossene Blut
schreit wieder nach Blut. Schon hört man das Verlangen
10*
148 Angemerkte Gedanken und Eindrücke. [cap. 12.
nach der Guillotine. Es wird nicht dazu kommen. Der
gesunde Volkssinn weist dies Verlangen mit Abscheu zu-
rück."
„Niemals darf sich der Politiker abschliessen. Sonst
verliert er den Blick in die Menschen und über die Er-
eignisse. Auch von den Gegnern darf er sich nicht ab-
sondern. Er muss sie in der Nähe prüfen und ihre Stel-
lung wahrnehmen.«
„Oh, messt doch nicht den grossen Geist mit dem
Massstabe des kleinen! Wie viel grösser ist Cäsar als
Cato. Wenn jener die Republik in die Monarchie umge-
staltete, so war das nicht ein Verbrechen, wenngleich es
einem beschränkten Republikaner so erscheinen konnte,
sondern eine notwendige Fortbildung, welche von der
Weltgeschichte bestätigt ward."
„Es gibt im Leben des Statsmanns Momente, in
denen er über die offene Bahn des wohlgeordneten Rech-
tes hinausschreiten muss. Nur darf er das nie leicht-
sinnig thun. Er darf es nur thun, wenn er gewisser-
massen sein Haupt auf den Block legt und dem Scharf-
richter zuruft: „Schlag* zu, wenn der Erfolg mich nicht
rechtfertigt."
„Was man gewöhnlich Moral nennt, ist oft nur die
nötige Schranke der Mittelmässigkeit. Nur wer Grosses
in sich fühlt und die Kraft hat, seine eigenen Grenzen
ausserhalb der allgemeinen zu erkennen, darf sich über
diese hinauswagen."
„Jeder wandert auf geföhrlicher Bahn, der von der
Landstrasse abgeht, auch in der Geisteswelt. Wohl dem,
dem es glückt, den eigenen Weg zu finden."
»Was ist bedeutend im menschlichen Leben, wenn
cap. 13.] Stiftung der Universität Zürich. 149
nicht das Ungemeine, Hervorragende, das sich seine eigene
Regel bildet? Oder vielmehr, es schafft die That, die An-
deren finden dann die Regel hinterdrein."
13.
Stiftung der Universität Zürich. Anstellung als ausserordent-
licher Professor. Studium der Zürcherischen Rechtsgeschichte.
Bechtsconsulent der Stadt Zürich und der Kaufmannschaft.
Geburt von zwei Kindern. Tod einer Schwester. Eine Freundin.
Freundeskreis. Gesellschaftliche Genüsse. Reise nach München.
Zu Ostern 1833 wurde die neu gegründete Univer-
sität Zürich eröffnet. Das Schulwesen überhaupt hatte
unter dem neuen Regiment eine kräftige Förderung er-
fahren. Darin bewährte sich der lebhafte Bildungstrieb
des Zürichervolks. Die höchste Blüte der öffentlichen
Bildungsanstalten aber wurde durch die Stiftung der Uni-
versität erreicht. Es war das vorzüglich dem politischen
Einflüsse von M. Hirzel und F. L. Keller zu verdanken.
Im Einzelnen halfen voraus die Professoren Orelli, H.
Escher, Hottinger bei der Ausführung des hohen Werkes.
Dadurch wurde eine Hoffnung meiner Jugend erfüllt,
und mir die erwünschte Aussicht zur Ergreifung des aka-
demischen Berufes eröffnet. Die Geldmittel, welche der
Canton Zürich für die Hochschule verwenden konnte, wa-
ren freilich sehr bescheiden. Das Stiftungsgut der Probstei
zum Grossen Münster reichte dafür nicht aus. Die Auf-
gabe war nur durch Anspannung auch freiwilliger Kräfte
und durch geschickte Combination teils mit dem Gymna-
sium, teils mit anderen öffentlichen Ämtern zu erfüllen.
An die besser dotierten Professuren wurden durchweg
150 Anstellung als ausserordentlicher Professor. [cap. 13.
deutsche Gelehrte berufen, meistens jugendlich aufstrebende
Docenten, überdem einige wenige berühmte reifere Männer,
denen die reactionäre Richtung der deutschen Bundespolitik
den Aufenthalt in der Heimat verleidet hatte, wie z. B.
Oken und Schönlein. Für die Schweizer wurden nur
die Amter der sogenannten ausserordentlichen Pro-
fessuren vorbehalten, die sich von den ordentlichen Pro-
fessuren aber nur teils durch die geringere Besoldung,
teils durch die Befugnis unterschieden, dass der ausser-
ordentliche Professor zugleich ein anderes Statsamt be-
kleiden durfte. Im Übrigen hatte er gleich dem ordent-
lichen Professor Sitz und Stimme in der Fakultät und im
Senat und war zu allen Universitäts-Amtem wählbar. So-
gar Keller erhielt nur eine ausserordentliche Professur. Er
blieb aber Präsident des Obergerichts. Auch ich erhielt
von Anfang an eine ausserordentliche Professur, mit einer
Besoldung von 800 alten Schweizerfranken.
Mein Amt als Bezirksgerichtsschreiber und Notar der
Stadt gab ich nun auf, um dem wissenschaftlichen Beruf
mich ungehemmt hingeben zu können. Aber da die Pro-
fessur keine Familie ernährte, so nahm ich daneben das
Amt eines Rechtsconsulenten der Stadt an, welches in
diesem Jahre gegründet wurde.
Vorerst docierte ich als Mitglied der „stats wissenschaft-
lichen Facultät " römischesRecht. Ich las Institutionen,
Rechtsgeschichte, Pandekten und leitete auch Interpretations-
übungen der Studierenden. In allen diesen Dingen folgte
ich dem Vorbilde meiner früheren Lehrer Keller, Savigny,
Hasse und Pugge. Nach Schweizerart kümmerte ich mich
weniger um die römischen Kaisergesetze, als um die Schrif-
ten der römischen Klassiker, weniger um die mittelalter-
cap. IBJ Studiuh beb Zübicheb Rechtsgeschichte. 151
liehe Glosse und dfe Scholastik der gemeinrechtlichen Doc-
trin, als um die wissenschaftliche Erkenntnis der grossen
römischen Juristen. Die wahre Aufgabe des juristischen
Professors erblickte ich nicht in der Anhäufung von posi-
tiven Gesetzen und nicht in dem Vollstopfen von gelehrtem
Wust, sondern in der Anleitung zu juristischer Betrachtung
der lebendigen Verhältnisse und in der Übung im juristi-
schen Denken und Urteilen.
Aber allmählich nahmen meine Studien eine andere
Richtung, die mich von dem römischen Rechte weg und
der Bearbeitung des nationaldeutschen Rechtes zu-
führte. Die nähere, Bekanntschaft mit dem Zürcherischen
Rechte, welche ich in der gerichtlichen Praxis gewonnen
hatte, überzeugte mich, dass dasselbe nicht aus dem römi-
schen, sondern in allen seinen Grundbegriffen nur aus dem
deutschen Rechte zu erklären sei. In der Schweiz war
das alte deutsche Recht dem neuen Bedürfnisse gemäss
volkstümlich fortgebildet und diese Entwickelung war nicht,
wie in Deutschland, durch die Reception des römischen
Rechtes durchbrochen und gestört worden. Die schweize-
rischen Gerichtshöfe waren niemals von bloss gelehrten,
auf den Universitäten zum Gehorsam gegen das kaiserlich
römische Gesetzbuch erzogenen Berufsrichtern besetzt wor-
den. Es blieben in den Gerichten auch unstudierte Män-
ner aus dem Volke sitzen, und sie sprachen und ent-
schieden mit bei dem Urteil. Es konnte daher nie die
lateinische Rechts- und Gelehrtensprache die gemeinver-
ständliche deutsche Volkssprache verdrängen, wie das in
Deutschland allerdings geschehen ist. Auch das Reichs-
kammergericht, dessen hohe gelehrte Autorität in den
deutschen Landen einen vorbildlichen Einfluss übte auf
152 Rechtsconsülent der Stadt ZCrich. [cap. 13.
die zahlreichen Hof-, Landes-, Stadt- und Heirschafts-
gerichte, hatte in der Schweiz kein Ansehen, und erschien
dem Schweizer nicht als ein nachahmungswürdiges Muster.
Um desswülen erhielt sich der deutsche Grundcharakter
in den schweizerischen Rechten reiner und vollständiger,
als in Deutschland. Gerade dieser nationale Grundzug ge-
fiel mir sehr. So grossen Respect ich vor dem juristischen
Scharfblick der römischen Juristen hatte, und obwohl ich
den wissenschaftlichen Wert der römisch-rechtlichen Be-
griffe anerkannte, so war mir doch die formale Gesetzes-
autorität des Corpus Juris von Justinian, wie man sie in
Deutschland lehrte, als eine unnatürlixjhe und unleidliche
Fremdherrschaft verhasst. Ich habe oft in meinem Leben
an dem eisernen Gitter dieses römischen Käfigs gerüttelt,
ohne viel Erfolg.
Ich fing nun an, die Geschichte des Zürcheri-
schen Rechts, die damals noch ganz dunkel war, zu
untersuchen, und sammelte dafür in den Archiven, und
wo ich sonst noch Aufschlüsse zu finden hoffte, mancherlei
Notizen, welche ich später in meiner Zürcherischen Rechts-
geschichte verwendete.
Als Rechtsconsülent der Stadt wurde ich zu den
Sitzungen des Stadtrates in allen Geschäften, für welche
die Kenntnis des Rechts erforderlich schien, mit beraten-
der Stimme zugezogen. Sodann hatte ich die Stadt in
ihren Processen vor Gericht zu vertreten. Die politische
Umgestaltung hatte auch manche Rechtsstreitigkeiten zwi-
schen der Stadt und dem State zur Folge. Solang die
Stadt die Landesherrschaft über den Canton besessen hatte,
waren das Statsvermögen und das Stadtvermögen ununter-
schieden beisammen gewesen. Als dann durch die Re-
cap. 13.] Rat der Obervormündsohaft. 153
volution die Souveränetät der Stadt entzogen und von dem
ganzen Volke des Cantons als sein natürliches Recht in
Besitz genommen wurde, bedurfte es einer Auseinander-
setzung zwischen dem Statsgut, das nur dem Canton zu-
kam, und dem Stadtvermögen, welches der Stadtgemeinde
allein verblieb. Diese Ausscheidung und die Ausstattung
der Stadt wurde unter der Autorität des Consuls Napoleon
Bonaparte, als Vermittlers der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft, in Form einer sogenannten Liquidations- und Aus-
steuerungsurkunde der Stadt im Jahr 1803 festgesetzt. Der
Stadt wurden dabei auch mancherlei Gefälle und Binnen-
zölle und ebenso einzelne obligatorische Anstalten, welche
eine Einnahme abwarfen, zugewiesen und angerechnet. In-
dem die neuere Gesetzgebung diese Einkünfte aus Gründen
der öffentlichen Wohlfahrt, der Verkehrsfreiheit und einer
richtigeren Wirtschaft beseitigte, erhob sich die Streitfrage,
ob nun der Fiscus der Stadt gegenüber zur Entschädigung
verpflichtet sei, und in welchem Masse. Mir kam es zu,
im Namen der Stadt den Process zu führen. Es gereicht
sicher den damaligen Gerichten zur Ehre, dass sie das
Recht der Stadt schützten, obwohl diesem Schutze die
Autorität der Regierung und die Meinung und Neigung
der herrschenden Partei widerstrebten.
Ich hatte als Rechtsconsulent der Stadt auch die
Pflicht, dem Schirmvogteiamte d. Ji. der Commission des
Stadtrates, welche die Obervormundschaft der Gemeinde
ausübte, mit meinem Rate beizustehen. Dadurch wurde
ich in die Verwaltung der Vormundschaft eingeweiht.
Desshalb wurde mir später die Redaction des neuen Vor-
mundschaftsgesetzes anvertraut.
Während einiger Zeit wurde ich auch als Rechts-
154 Rechtskonsulent der Kaufmannschaft. [cap. 13.
consulent von der Zürcherischen Kaufmannschaft beige-
zogen und kam dadurch in nähere Beziehung zu ange-
sehenen Kaufleuten. Unter der Verwaltung und Aufeicht
nämlich eines Directoriums der Kaufmannschaft war ein
bedeutendes Stiftungsgut, der ,,Directorialfond" , angesam-
melt worden. Auch darüber entspann sich ein Rechts-
streit, indem einerseits der Stat, anderseits die Kaufmann-
Schaft sich als Eigentümer des Fonds betrachteten. Zu
einem Process kam es indessen nicht, indem sich schliess-
lich beide Parteien in einem Vergleich verständigten. Ein
Teil der Summe wurde den Zürcherischen Kaufleuten mit
der Auflage überlassen, denselben zu öffentlichen gemein-
nützigen Werken zu verwenden. Der übrige grössere Teil
des Fonds wurde dem State zugeschieden. Aus dem erstem
Teile wurden sodann von den Kaufleuten die steinerne
Münsterbrücke gebaut, ein Hafen angelegt, Quais herge-
stellt, ein neues Kernhaus errichtet. Diese schöpferische
Verwendung aufgesparter Stiftungsgelder sagte meinen Nei-
gungen zu, und ich hatte ein lebhaftes Interesse an den
Werken, welche auf diesem Wege zustandekamen. Die
Sorgen und Mühen dieser Arbeiten führten mich oft mit
dem Präsidenten der Kaufmannschaft, Director Martin
Escher, meinem Nachbar in der Schipfi, und mit dem
Ingenieur Negrelli zusammen, welcher aus Österreich
zur Leitung technische^ Arbeit berufen worden war.
In meiner Familie lernte ich nun auch die Vater-
freuden kennen. Am 9. Juli 1832 wurde meine erste
Tochter Emilie Luise und am 31. Juli 1834 mein ältester
Sohn Friedrich Carl geboren. Die erste Thräne und das
erste Lächeln des neugeborenen Kindes machten mir einen
tiefen Eindruck. Ich schrieb in mein Tagebuch:
cap. 13.] Geburt zweier Kinder. Tod einer Schwester. 155
»Die erste Thräne des Kindes. Als die kleine Engels-
seele herunterstieg auf die Erde und in den neugeborenen
Körper des Kindes eintrat, da erschrak sie über das Feste,
Dichte, Unbehilfliche ihres Leibes und weinte laut auf.
Als aber die Mutterliebe den Körper wärmte und ihn sorg-
sam wartete, als das Mutterauge in das Auge des Kindes
liebend hineinblickte und sein Seelchen ihre Seele fühlte,
da lächelte das Kind der Mutter und der Welt zum ersten
Male zu."
Zum ersten Male trat mir auch das Angesicht des
Todes im eigenen Familienkreise entgegen, unerwartet und
in grauser Gestalt. Meine zwölfjährige Schwester Caroline
hatte in dem elterlichen Garten hinter dem Hause mit einem
andern Mädchen nach Kinderart Haushaltung gespielt. Sie
hatte einen kleinen eisernen Feuerherd, ein Spielzeug, her-
beigeschleppt und zündete nun ein Feuer an. Da kam ihr
leichtes Sommerkleid der züngelnden Flamme zu nahe und
würde von derselben entzündet. Zufallig war Niemand in
der Nähe, um dem schreienden Kinde zu helfen. Das Kleid
verbrannte ihr an dem Leibe, und der junge kräftige Kör-
per wurde von dem grimmigen Elemente so schwer ver-
letzt, dass sie in der folgenden Nacht unter heftigen
Schmerzen starb. Dieser furchtbare Feuertod wirkte er-
schütternd auf meine Eltern, aber auch reinigend. Die
natürliche Herzensgüte meiner Mutter kam nun mehr zum
Vorschein, und sie wurde zugleich milder und gehaltener.
Auch der Vater wachte sorgfältiger über dem Frieden der
Familie. Für meine Schwester selber war der grausame
Tod vielleicht ein Glück; denn ihre leidenschaftliche und
unzufriedene Anlage verhiess keine günstige Entwickelung.
Meine Frau und ich verkehrten damals oft mit meinem
156 EiN^ Freundin. [cap. 13.
früheren Lehrer und damaligen Freunde Ferdinand Meyer
und seiner Frau, einer geborenen Ulrich, für die ich eine
verehrungsvolle Freundschaft empfand. Sie erschien mir
wie das lebendig gewordene Ideal der Weiblichkeit. Geist-
reiche Frauen, die mit den Männern wetteiferten, waren
mir unangenehm. In ihr aber fand ich die edelsten Eigen-
schaften des Geistes, schnellen und klaren Verstand, tiefen
Durchblick, feines sittliches Gefühl mit lieblichster Anmut,
Sanftheit und Milde gemischt. Sie war eine treue, sorgende
Gattin, eine gute Mutter, eine aufopferungsfahige Freundin
der Armen, eine anspruchslose Hausfrau und eine freund-
liche und heitere Wirtin. In ihrer Gegenwart fühlte ich
mich wie gehoben und reiner als sonst. Sie war tief re-
ligiös, aber nicht unduldsam und nicht kopfhängerisch. Die
Religion gab ihr einen Halt, dessen sie um so mehr be-
durfte, als ihr beweglicher und entzündlicher Geist sie
leicht hätte ins Masslose und ins Weite fortreissen können.
Es war etwas Ungewöhnliches und daher Unberechenbares
in ihr. Dadurch war sie ihrem Manne, so hochgebildet er
war, doch geistig überlegen. Seine Tugend war schul-
gerechter als die ihrige. Sie konnte wagen, wozu ihm der
Mut schwankte. Für mich hatte sie das Gefühl einer altern
Freundin und inniges Wohlwollen. Aber auch ihr Geist
wurde in meiner Gegenwart belebter und heller. Eine
innere, niemals in Worten ausgesprochene Sympathie ver-
band uns. Am Ende ihres schweren Lebens und am Schlüsse
eines langen Wittwenstandes wurde sie noch ein Opfer ihrer
kranken Stimmung und ihrer leidenden Nerven. Zur Hei-
lung in eine Anstalt für Gemütskranke gebracht, fand sie
Kühlung und Tod in den Fluten.
Mein Verhältnis zu den Freunden erlitt auch einige
cap. 13.] Freundeskreis. 157
Änderungen. Zwar hielt ich noch das Band der Freund-
schaft fest, das mich mit Zeller verband, aber das Leben
hatte ihn doch von mir weiter entfernt. Er hatte sich
während seines Aufenthaltes in Norddeutschland einer pie-
tistischen Schwärmerei hingegeben, die mir durchaus fremd
war, und ich empfand mein Unvermögen, ihn von dieser
Krankheit zu heilen. Wäre dieser Pietismus geistreich, so
wollte ich denselben noch achten. Aber die engbeschränkte,
von Salbung triefende, hoch-demütige Art der Pietisten war
mir ein Gräuel. Ein eiserner Glaube an die heiligen Bücher
ohne alle Kritik, ein völliges Absehen von Allem, was vor-
her und nachher gewesen und geworden war, eine mass-
lose Überschätzung des engen Ideenkreises, in dem sie wie
in einem Gefängnis eingeschlossen waren, die Unkenntnis
und Geringschätzung aller weiteren Gedankenkreise, ein
schreckliches Verläugnen aller menschlichen Kraft und
Freiheit, eine unwürdige Geistessclaverei, eine frömmelnde
Verehrung des eigenen Systems in den Personen, anstatt
der Liebe zu den Menschen, alle diese Eigenschaften und
Merkmale machten mir den Pietismus geradezu verhasst.
Im Verfolge hat auch Zeller wieder die ungesunde Schwär-
merei abgestreift, er ist später als Pfarrer von Stäfa dem
realen Volksleben wieder verständlicher geworden. Er er-
trug meine freiere Weltanschauung mit alter Freundschaft.
Aber die Bahnen unserer Entwickelung waren doch von
einander abgewichen und berührten sich nicht mehr so
nahe wie in uüserer Studienzeit.
Dagegen kam mir nun Bernhard Hirzel näher, in
dem ein gewaltiges inneres Leben gährte. Er hatte sich
nun ganz in die Indischen Studien vertieft und machte
auch mich zwar nicht mit dem Sanskrit, aber mit Indischer
158 Bbrnhabd Hirzbl. [cap. 1^.
Weisheit vertraut. Er hatte schon in Paris das liebliche
Drama von Kalidasa, die Sakuntala, übersetzt und über-
setzte nun ein philosophisches Drama Upanishad, dessen
Ideen mich höchlich interessierten. Durch ihn wurde ich
auch auf das merkwürdige alte Gesetzbuch Manu's auf-
merksam gemacht, das mich auch im spätem Leben oft
beschäftigte.
Hirzel war in der Ehe nicht glüqklich. Leidenschaft-
lich und reizbar, wie er war, bedurfte er der liebenden
Hingebung des Weibes und stiess oft auf kalten, abweisen-
den Stolz und statt der anmutigen Weiche weiblicher Em-
pfindung auf harten mit dem Manne um die Herrschaft
ringenden Trotz. Er war tief unglücklich über dieses
Missverhältnis und wurde dann auch im Unmut über den
häuslichen Zwiespalt gereizt, ausser der Ehe Genüsse zu
suchen, die er zu Hause nicht fand. Zuletzt zog es ihn
auf das Land. Er nahm die Stelle eines Pfarrers von
Pfafifikon an. In religiöser Hinsicht war Hirzel sehr frei,
und er heuchelte auch keinen Glauben, den er nicht hatte.
Aber er hasste den Radikalismus in der Politik und in der
Religion, und nahm in seiner Predigt und in seinem Unter-
richt Rücksicht auf die Fassungskraft seiner Zuhörer und
Schüler. Er suchte ihnen die christlichen Heilswahrheiten
so vergeistigt, wie er sie erfasste, und doch so volkstüm-
lich, wie er sie darstellen konnte, befruchtend einzuprägen.
Im Jahr 1834 verlor ich zwei meiner liebsten Freunde
und Universitätsgenossen durch den Tod, beide Theologen,
zuerst Hans Meyer, der an der Schwindsucht hinstarb und
eine trauernder Braut hinterliess, -dann Rudolf Spöndli,
der als jugendlicher Pfarrer von Dübendorf starb. Dieser
war der entschiedenste und kräftigste Verfechter des ortho-
cap. 13.] Alexander Schweizer. 159
doxen, aber von der Wissenschaft getränkten Christentums.
Ihm war Hans Meyer in der Lehre nachgefolgt, im Tode
vorausgegangen. Ich bekam durch diese beiden Todesfalle
den Eindruck, dass diese theologische Richtung nicht mehr
für die Gegenwart, wenigstens für unser Land nicht mehr
geeignet sei. Wenn die Zeit einer Pflanze vorüber ist, so
sprach ich zu mir, dann fallen die Blätter ab als dürres
Laub, und der Wind bricht die saftlosen Äste. Aber die
tiefe Trauer der Gemeinde bei dem Begräbnis ihres treff-
lichen Geistlichen rührte mich, obwohl ich an dem Gottes-
dienste, soweit er die orthodoxe Form hatte, nur wie ein
Fremder teilnahm und nur durch die allgemein-mensch-
lichen Gedanken und Gefühle persönlich ergriffen wurde.
Ich konnte es verstehen, dass sich meine Freunde in ihrem
Christenglauben befriedigt fühlten, aber ich verglich sie
mit Leuten, die ihr Leben lang in einer grossen Stadt
wohnend, mit allem ihrem Sinnen und Denken sich nur
an das Leben der Stadt hielten und nur davon wussten,
aber nie fremde Länder besucht, nie die Berge betrachtet,
nie das weite Meer geschaut hatten.
Besser verständigte ich mich mit einem andern Alters-
und Studiengenossen und nun meinem CoUegen bei der
UmVersität, dem Professor Alexander Schweizer, einem
Schüler und Nachfolger Schleiermachers. Er erkannte das
Recht der Kritik an und verlangte für die Wissenschaft
volle Freiheit der Forschung. Er hatte einen scharfen Ver-
stand und handhabte gelegentlich die Kratzbürste kalter
Ironie. Mit seinem Meister hatte er die Neigung und das
Geschick der dialektischen Betrachtung von entgegenge-
setzten Standpunkten aus gemein und geriet infolge dessen
ebenfalls in den Verdacht des Schaukeins, das nicht vorwärts
160 August v. Gonzenbach. [cap. 13.
bringt, sondern nur bald in die Höhe schnellt, bald in die
Tiefe zieht, ohne den Standpunkt zu ändern. An Energie
des Willens und der That war ihm der berühmte nord-
deutsche Theologe freilich überlegen. Alexander Schwei-
zer war ein ausgezeichneter Prediger, zumal für ein gebil-
detes Publikum. Mit Rücksicht auf diesen Vorzug wurde
ihm eine Pfarrstelle an dem Grossmünster verliehen d. h.
an der ersten Hauptkirche der Stadt, deren Kanzel vor-
mals der Reformator der Zürcherischen Kirche, Ulrich
Zwingli, inne gehabt hatte.
Die meisten früheren Studiengenossen hatten sich der
Kirche gewidmet. Einige andere aber dienten, wie ich,
dem State. Voraus erwähne ich eines Freundes, den ich
in dem Zofingerverein kennen gelernt hatte, und der nun
an der eidgenössischen Politik einen bedeutenden Anteil
nahm, August v. Gonzenbach aus St. Gallen, welcher
zum zweiten Statsschreiber der Eidgenossenschaft erwählt
ward."^r war eine Zeit lang täglich in meinem Hause und
speiste regelmässig an meinem Tische zu Mittag. Gonzen-
bach ist ein Mann von vielseitiger Bildung und ungewöhn-
lichen Gaben. Aber es wurde ihm, trotz aller Gewandt-
heit seines Geistes, schwer, sich in die neue Zeit hinein-
zufinden. Seine innerste Neigung gehörte einer vergangenen
Weltepoche an. Ich sagte ihm oft, es komme mir vor,
als habe sein Geist während mehrerer Jahrhunderte ver-
geblich auf eine Gelegenheit gewartet, in einen Menschen-
körper einzufahren, und sei nun verspätet zur Welt ge-
kommen, ein lebendiger Anachronismus. Es war ein ritter-
liches Wesen in ihm, mit allen Vorzügen des Edelmutes,
des aristokratischen Wohlwollens gegen Untergebene, der
Tapferkeit, des Feingefühls für vornehme Formen und
cap. 13.] Gesellschaftliche Genüsse. 151
höfische Sitte; aber auch von den Schwächen und Mängeln
des mittelalterlichen Junkertums war er nicht frei. Sein
kluger Verstand zwang ihn oft, modern zu denken und zu
handeln, aber sein Gemüt empfand einen innerlichen Schau-
der vor der Kühnheit und der Kälte der modernen Wissen-
schaft. An einem Fürstenhofe hätte er noch eine glänzende
Rolle spielen können, in der bürgerlichen Demokratie wurde
er fast wie ein Fremder mit Misstrauen betrachtet. Auch
für die Gegner war er eine interessante Erscheinung. Er
belebte jedes Gespräch durch seine Fülle von feinen Be-
obachtungen, durch Lebhaftigkeit des Ausdrucks und durch
originelle Gedanken. Ich unterhielt mich sehr gern mit
ihm, wenngleich wir selten übereinstimmten.
Die in der Schweiz vorherrschende Gesinnung war
überall den vormaligen Hauptstädten ungünstig. Trotzdem
diente die Missgunst der Radikalen dazu, die schlummern-
den Kräfte in den Städten aufzuwecken und das Wachs-
tum der Städte zu fördern. Die behagliche Ruhe, welcher
früher unsere Gelehrten und Kaufleute sich bequem hin-
gegeben hatten, war nun durch die täglichen Kämpfe ge-
stört. Aber bald wurden beide Classen durch die reicheren
Erfolge getröstet, welche ihre Anstrengungen belohnten.
Das Leben in Zürich wurde geistig . und wirtschaftlich
interessanter.
Ich beteiligte mich an drei wissenschaftlichen Ver-
einen und Gesellschaften, der historischen, welche schon
seit langem bestand, gelegentlich nun neue Anregung em-
pfing, der antiquarischen, die neu gestiftet und von
meinem Freunde Ferdinand Keller mit ebenso viel Um-
sicht als Thatkraft geleitet wurde, und einer juristischen,
in welcher sich mehrere befreundete Richter, Professoren
]31uDtschli, Dr., J. C, Aus meinem Lebea. I. ]1
162 Ruf an die Universität Brüssel. [cap. 13.
und Advokaten sowohl zum Austausch ihrer Erfahrungen
und Ansichten, als zu heiterer Geselligkeit wöchentlich ein-
mal zusammenfanden. Mit den alten Studiengenossen kam
ich in der Montagsgesellschaft zusammen, im Winter
in einem der Zunfthäuser, welche Wirtschaft trieben, im
Sommer auf der herrlichen Terrasse des Baugartens mit
ihrem freien Blick über den See und die Berge.
Auch ein gemischtes Lesekränzchen wurde ge-
stiftet, in welchem unsere Frauen mit den edlen Früchten
der schönen Litteratur vertraut gemacht wurden, und wel-
ches wie eine erweiterte Familie das Leben aller Genossen
verschönte.
Mit meinen CoUegen an der Universität, den schwei-
zerischen und den deutschen, war ich ebenfalls in freund-
licher und fruchtbarer Verbindung. Von Deutschen nenne
ich den Germanisten Freiherrn v. Low und den Romani-
sten Seil, die mit mir zu derselben Facultät gehörten,
dann den Philologen Sauppe, den Historiker Mittler,
den Theologen Hitzig, den Philosophen Oken und den
Mediciner Schönlein. Zuweilen klopfte aber in mir die
Neigung an, auf eine deutsche Universität zu gehen, um
da einen grösseren Wirkungskreis zu suchen, als in Zürich
möglich war, wo nur etwa dreissig jm'istischiß Studierende
zu finden waren. Indessen that ich keine Schritte, um
den Gedanken zu verwirklichen. Ich vertraute nur ein-
mal Savigny den Gedanken, der mir aber von der Aus-
führung abriet. Und als ich einen Ruf an die neugestif-
tete Universität Brüssel erhielt, lehnte ich denselben trotz
der günstigen ökonomischen Bedingungen ab. Ich konnte
mich nicht entschliessen, in französischer Sprache zu do-
cieren.
cap. 14.] Reise nach München. 1(]3
Mit meiner Frau machte ich im October 1834 eine
Reise nach München, ohne eine Ahnung, dass wir dereinst
in reiferen Jahren dort eine neue Heimat finden würden.
Uns interessierten mehr die reichen Blüten der Kunst, wel-
che, von König Ludwig gepflegt, in jugendlichem Schmucke
prangten. In München war für die deutsche Kunst ein
neues Leben aufgegangen, und wir erfreuten uns des idealen
Strebens und der schönen Werke unbefangenen Sinnes. Um
die vernachlässigte Universität kümmerten wir uns nur wenig.
14.
Persönliche Beziehnng zu Keller. Wechselseitige Erklärung.
Erneuerter Verkehr. Auszüge aus dem Tagebuch über Wissen-
schaft, Gott und Christus, Unsterblichkeit, Politik, Recht, Psy-
chologie.
Wenn frühere Freunde sich trennen, indem sie sich
zu verschiedenen Parteien halten, so entsteht leicht eine
gereizte Stimmung beider wider einander. Die gesell-
schaftlichen Verbände werden dann zerrissen, und geschäf-
tige Zungen steigern die wechselseitige Verbitterung durch
ihren Klatsch. Besonders schlimm wirkt solcher Zwiespalt
in einer kleinen Stadt, wo Jedermann alle Einwohner von
Bedeutung kennt und Keiner dem Anderen völlig auswei-
chen kann.
Auch in Zürich waren diese schädlichen Wirkungen
eingetreten. Zwar versuchte man, einige neutrale Ver-
sammlungsorte herzustellen, wo der Parteihader schweigen
sollte. In solcher Absicht wurde das stattlich ausgerüstete
Lesecabinet, das Museum, gestiftet, zu welchem alle Parteien
beitrugen, und wo alle Parteien in der Zeitungspresse und
11*
1(54 Pebsönliche Beziehuno zu Kelleb. [cap. 14.
in den Zeitschriften und Streitschriften reichlich vertreten
waren. Aber dieser Friede war doch nur durch das Gebot
des. Schweigens und stiller Leetüre zu behaupten. Zu ge-
selligen Zusammenkünften verbanden sich die Parteien
höchstens ausnahmsweise.
Mir war dieses Missverhältnis besonders Keller gegen-
über peinlich, für den ich trotz aller Gegensätze doch eine
fortdauernde Zuneigung empfand. In wissenschaftlicher Hin-
sicht stand ich Keller noch nahe und war ihm als meinem
früheren Lehrer dankbar. Als College an der Universität
und in der juristischen Facultät verständigte ich mich
jederzeit leicht und gerne mit ihm. Aber die politischen
Parteien trennten uns und hinderten jeden engern Verkehr.
Keller war damals das wahre Haupt der radikalen Partei
und der mächtigste Mann im Canton Zürich. Im Grossen
Rate war er der Mehrheit ziemlich sicher, die auf ihn als
den leitenden Kopf mit Ergebung hinblickte. Als Präsi-
dent des Obergerichtes war er an der Spitze der Rechts-
pflege. Auch in dem Regierungsrate hatte er einen folg-
samen Anhang. Die geistige Überlegenheit Kellers reizte
aber auch den Neid und die Missgunst sogar mancher
Parteigenossen, mehr noch den Hass der Gegner wider ihn.
Meine Stellung in der städtischen und constitutionellen
Partei, wie sie damals genannt wurde, war nicht ebenso
herrschend, wie die Kellers in der radikalen Partei. Aber
ich galt doch, ungeachtet meiner Jugend, als einer der
anerkannten Führer jener Partei. Ich empfand nun ein
moralisches Bedürfnis, mich offen Keller gegenüber auszu-
sprechen und mich mit ihm ins Klare zu setzen. In dieser
Absicht schrieb ich an ihn (29, Mai 1834) und schlug ihm
eine vertrauensvolle und wechselseitige Aussprache der
cap. 14.] Wechselseitige Erkläeuno. 165
ö
persönlichen Meinungen und Beschwerden vor, in die sich
kein Dritter störend mischen dürfe, und die vielleicht zu
einem besseren Verständnis führe und doch die verschie-
dene Eigenart in ihrer vollen Freiheit gewähren lasse.
Keller ging mit herzlicher Freude auf den Vorschlag
ein. Seine Antwort vom 31. Mai zeigt, dass auch er, dem
eine verbreitete Meinung eine kalte, herzlose, aber gescheite
Selbstsucht vorwarf, ein warmes Gefühl für Freundschaft
in seiner Brust verschloss. Er erwiderte: „Äussern Sie
sich also wie Sie das Herz treibt, schriftlich, mündlich,
wie Sie wollen. Ich werde es ebenso halten; es soll, wenn
Sie das nicht stösst, auf meine Stimmung ankommen, ob
ich Ihnen schriftlich oder mündlich antworte. Ich kann
jetzt nicht mehr schreiben, seien Sie überzeugt, dass ich
Ihren Schritt gegen mich nicht gering anschlage, und dass
er mich mächtig verpflichtet. Ich hoffe, den Glauben an
die Menschheit, den Glauben an Ehre und Treue wieder
zu finden."
In einem noch sehr jugendlich gedachten und gehal-
tenen Briefe vom 8. Juni 1834 suchte ich die spätere Ent-
fremdung zu erklären, welche eingetreten sei, obwohl die
innere Zuneigung fortgedauert habe, und es für .beide In-
dividualitäten viele gemeinsame Berührungspunkte gebe.
Ich hob drei Ursachen der Entfernung hervor. Zuerst die
Politik. Ich erklärte ihm offen, dass ich ihn niemals für
einen Radikalen habe halten können, wenn gleich er Füh-
rer und Haupt der radikalen Partei geworden sei. Schon
seine wissenschaftliche Bedeutung, mehr aber noch seine
Fähigkeit, die Menschen zu durchschauen und zu beherr-
schen, sei mit jener Annahme unvereinbar. Zwar halte
ich den Radikalismus nicht für etwas absolut Böses. Als
166 Wechselseitige Erkläruno. [cap. 14,
untergeordnetes Element wirke er sogar wohlthätig auf
das öffentliche Leben. Aber wenn er den ganzen Stat
durchdringe und allein herrschen wolle, dann werde er
verderblich. Da sei es mir denn schmerzlich gewesen zu
sehen, dass er mit seinem Geiste die Alleinherrschaft des
Radikalismus erst ermögliche und befestige. Ich sei über-
dem durch die Wahrnehmung verletzt worden, dass er im
Siege die Gegner mit schneidender Kälte und grausamer
Härte verhöhne, oder wenigstens geduldet habe, dass unter-
geordnete Wortführer der Partei die besiegten, aber ehren-
werten Gegner durch ungerechte und heftige Angriffe be-
leidigen.
Sodann der persönliche Character. Ich habe mich
vorzüglich durch Blicke in sein Familienleben überzeugt,
dass ihm nicht, wie die Meisten glauben, jede gemütliche
Kraft fehle. Aber im gewöhnlichen Leben zeige er vor-
züglich die Kälte des Verstandes und lasse dem herben
Spott die Zügel schiessen, wodurch er auch befreundete
Naturen von sich verscheuche.
Endlich den Mangel an gegenseitigem Verkehr. In-
folge der Parteieinflüsse entstehen notwendig Missverständ-
nisse, welche dann unberichtigt bleiben und wuchernd um
sich greifen. Dem könne man nur begegnen, indem man
sich über die Parteien stelle und unmittelbar aus der Quelle
schöpfe.
Ich schlug ihm nun einen erneuerten freimdlichen
Verkehr auf der Grundlage voller Aufrichtigkeit und mit
Beseitigung von störenden Zwischenpersonen vor und lud
ihn ein, auch mir seine Vorwürfe rückhaltlos zu eröffnen.
Die Antwort Kellers (vom 3. Juli 1834) ist nicht min-
der offen, aber eine reifere Frucht statsmännischer Über-
cap. 14.] Ebneüebter Vebkehb. 167
legung. Meine Behauptung, dass er von Natur kein Ra-
dikaler sei, übertrumpfte er durch die andere Behauptung,
dass ich „von Geburt ein Radikaler" sei und daher auch
nicht zu der Stadtpartei passe, der ich mich angeschlossen
habe. In diesem Vorwurf war das allerdings richtig, dass
meine entschieden liberale Natur in der Parteiverbindung
mit zahlreichen mehr oder weniger illiberalen und absolu-
tistischen Elementen nicht zu rechter Entwickelung komme
und in verkehrte Richtungen hingedrängt werde. Radikal
in dem Sinne, wie ich das Wort verstand, war ich nie.
Den eigenen Radikalismus stellte Keller als durchgreifende
Verbesserung der Verfassung, Gesetzgebung und Verwal-
tung d. h. als Liberalismus dar. Er bezeichnete es als
seinen reformatorischen (allerdings radikal formulierten)
Grundgedanken, das alte väterliche, auf Gnade und Un-
gnade, oder vielmehr auf den individuellen Willen und die
individuelle Güte der Regenten basierte Regiment abzu-
schaffen und statt dessen die Herrschaft des Grundsatzes,
des Gesetzes, der Wissenschaft einzuführen. Er habe ver-
meiden wollen, dass die Revolution wieder wie früher mit
ein paar unwirksamen Grundsätzen und mit Personalände-
rung ablaufe. Die allgemeinen Grundsätze, die in der Ver-
fassung stehen, beissen Niemanden, aber wenn man sie an-
wende und durchführe, dann schreien die Leute. Deshalb
haben sie auch gegen ihn geschrieen, weil er Ernst ge-
macht habe mit der grundsätzlichen Durchführung.
Er bestritt nicht, dass auch er gelegentlich hart ge-
worden und schroff erschienen sei; aber er erklärte das
aus seinen Erfahrungen und meinte, wenn ich früher ge-
kommen wäre und den „alten Mist" gesehen hätte, würde
ich weniger Anstoss an seinem Verhalten genommen haben.
1(58 Ebkeüebtee Vebkehb. [cap. 14.
Seinen früheren Freunden innerhalb der gemässigten Partei
warf er vor, dass sie die politischen Gegensätze nicht mit
dem Verstand zurecht gelegt und eine gemütliche Ent-
fremdung verschuldet haben. Keiner habe sich offen gegen
ihn ausgesprochen, keiner ihn ehrlich vor einem Wege ge-
warnt, der zur Trennung führte. Dieses Verhalten seiner
nächsten Freunde habe ihn am tiefsten verwundet. Mich
traf dieser Vorwurf nicht, sondern die Altersgenossen. Da-
gegen warf er auch mir vor, und nicht ohne Grund, dass
ich den Verdächtigungen, denen er von Angehörigen mei-
ner Partei in der Presse zuweilen ausgesetzt worden, zu
wenig entschieden entgegengetreten sei und entgegengewirkt
habe. Ganz denselben Vorwurf aber konnte ich auch ihm
entgegnen. . Das ist der Fluch des Parteiwesens, dass die
Parteiführer zu mancher Unbill, welche die Parteianhänger
wider ihre Gegner verüben, die Augen zudrücken und die-
selbe gewähren lassen.
Auch über den Schein der Gemütlosigkeit sprach
sich Keller offen aus. Er gab zu, dass mancher verstän-
dige Beurteiler sich in ihm deshalb irren könne, weil sein
Gemüt nicht auf der Obei'fläche liege, sondern in der Tiefe
verborgen sei. Aber er berichtete von heftigen Gemüts-
kämpfen, in denen er mit sich selber gerungen habe, wäh-
rend Andere meinten, sein Herz sei ein Eiszapfen.
Zum Schluss sprach er sich gegen die kindische Gleich-
stellung aus, welche dem gewöhnlichen Radikalismus vor-
geworfen werde. Die reine Demokratie und alles Nivel-
lieren seien ihm gründlich zuwider. Er halte die Menschen
der Menge nach für dümmer und schlechter, als ich ihm
vielleicht gelten Hesse. Aber das verlange er, dass, wenn
der Wettlauf des Lebens beginne. Alle auf Einer Linie
cap. 14.] Die Schbift: £bii;kebu>'0 an F. L. Kelleb. 169
stehen, und man Keinem eine Springkette anlege. Nach
seiner Meinung soll das Volk durch seine Agenten d. h.
Behörden und Beamten so strenge regieren, wie ein König.
Der nächste Kampf werde sich zwischen den höheren ide-
ellen Interessen auf der einen Seite und dem kurzsichtigen
und niederen Rusticismus auf der andern Seite entwickeln,
und in diesem Kampfe werden wir zusammen auf derselben
Seite stehen.
Ich habe nach Kellers Tod diese Briefe in der „Er-
innerung an Friedrich Ludwig Keller** abdrucken lassen
(München 1861, in der kritischen Vierteljahrsschrift und
in besonderer Auflage). Sie geben einen tiefen Blick in
sein inneres Wesen und in das meinige. Die damalige
Correspondenz war die Einleitung des erneuten persön-
lichen Verkehrs, an welchem auch die beiden Frauen, beide
Jugendfreundinnen, einen wohlthätigen Anteil hatten. Die
Parteistellung änderte sich nicht; aber wir sprachen uns
offen auch über die Parteibestrebungen aus, und die freund-
liche Beziehung der beiden Männer wirkte doch oft er-
mässigend und versöhnlich auf die Haltung der Parteien.
Erst nach mehreren Jahren hörte der intime Verkehr
wieder auf aus Gründen, die nicht dem öffentlichen Leben
angehören, und die zu bezeichnen ich weder die Pflicht
noch die Neigung habe. Sie berühren mein eigenes Leben
nur durch den Eindruck, den ich von dem Einfluss bekom-
men habe, welchen unter Umständen die Leidenschaften
Kellers auf sein Leben und auf Andere übten. Nachdem
KeUers Macht durch die Revolution von 1839 gebrochen
worden war und er die Schweiz verlassen hatte, um als
Professor des römischen Rechts erst an der Universität
Halle (1843), später in Berlin zu wirken, habe ich ihn
170 Tagebuch- Auszüge aus den Jahben 1833 — 1837. fcap. 14.
nur Einmal noch in Berlin gesehen, wo er als Nachfolger
Savigny's den Lehrstuhl des römischen Rechts inne hatte
und nun als ein Vertreter der conservativen Partei und
als „Reactionär" wider die „Revolution" kämpfte. Gegen
mich war er bei diesem Anlass persönlich liebenswürdig.
Wir konnten uns aber politisch noch weniger einigen, als
früher in der Schweiz, obwohl nun die beiden Rollen in
Deutschland umgetauscht zu sein schienen.
Das Tagebuch, dessen Aufzeichnungen mir die Dar-
stellung meines Lebens sehr erleichtert haben, hört im
Jahr 1837 auf. Erst vom Jahr 1842 an, seit der Be-
kanntschaft mit Friedrich Rehmer, beginnen dann neue
Vormerkungen von Erlebnissen und Gedanken, die mich
beschäftigten. Es fallt mir aber auf, indem ich das Tage-
buch der Jahre 1833 — 1837 durchsehe, dass mich damals
schon die religiösen Grundfragen zugleich mit den politi-
schen am tiefsten beschäftigt haben, und dass meine An-
sichten von Gott und Unsterblichkeit schon in jener Zeit
mit denen nahe verwandt waren, welche mir später durch
die Rohmer'sche Wissenschaft in neuer Gestalt und mit
vollständiger Begründung zugeführt worden sind.
Einige Auszüge, die ich je nach dem Inhalte über-
sichtlich ordne, mögen hier Platz finden.
Wissenschaft.
„Der Geist, der sich in der Geschichte als Geist der
Völker und Staten geoflfenbart hat, hat einen reicheren In-
halt als der Geist einzelner Menschen."
„Wie thöricht sind jene Weisen, die sich einbilden,
Gott und Welt entstehen erst durch sie und ihre Gedanken.
Sie gleichen den Kindern, welche die Bilder ihrer Phantasie
höher schätzen, als die riesige Wirklichkeit. Gegenüber
cap. 14.] Über Wissenschaft. 171
dem von Ewigkeit her lebendigen Gott sind sie doch nur
wie unscheinbare Stäubchen, die im Lichte glänzen."
„Die Weltgeschichte ist die Offenbarung Gottes auf
Erden." (In so absoluter Fassung ist der Satz doch nicht
wahr. Nur wenn er ergänzt wird durch die Anerkennung,
dass die Menschennatur und die menschliche Freiheit eben-
falls ihren wesentlichen Anteil an der Weltgeschichte haben,
wird derselbe richtig. Mein damaliger Fehler war, dass ich
noch immer der geschichtlichen Macht zu viel und der per-
sönlichen Freiheit zu wenig Wert beilegte.)
„Jetzt ist die Zeit der positiven Wissenschaften. Wir
müssen nun arbeiten und im Einzelnen thatsächliche Er-
gebnisse gewinnen. Dann mag später wieder eine Periode
der Speculation kommen, welche die Masse der verarbei-
teten Stoffe tiberschaut und das Wesen einheitlich heraus-
findet."
„Poesie und die philosophischen Wissenschaften schei-
nen für die Jugendzeit der Völker, die realen Wissenschaften
eher für die reifere Mannesperiode zu passen. Wie in dem
Jüngling Phantasie, Gefühl, Schwung des Geistes, ideale
Begeisterung besonders wirksam sind, so fangt der Mann,
dem die Sorge für das Haus obliegt, an zu zählen, zu
messen, zu rechnen. Die Franzosen sind in der kälteren
Lebensperiode angelangt. In der Poesie haben die Deutschen
ihre Aufgabe bereits gelöst."
„Die Amerikaner aber sind ein junges Volk und
rechnen doch wie die Alten. Wie erklärt sich das? Kin-
der, die von bejahrten Eltern erzeugt werden, haben in
ihrer Jugend schon recht alte Gesichter. So sind die
Amerikaner die Kinder der alten Europa mit ältlicher
Anlage."
172 Über Gott und Meksch, Chkistus. [cap. 14.
Gott und Mensch, Christus.
„Gottes Leib ist die Welt."
„Auch in der Menschheit äussert sich das Wesen
Gottes. Aber es ist Thorheit zu glauben, der ganze, un-
begrenzte Gott könne in der beschränkten Gestalt eines
Menschen dargestellt werden, selbst wenn dieser Mensch
das verwirklichte Ideal der Menschheit wäre; und es ist
Vermessenheit zu wähnen, irgend ein Sterblicher habe
Gott völlig erfasst. Auch der beste und grösste Mensch,
selbst Christus, konnte doch nur eine mangelhafte An-
schauung Gottes haben.**
„Das Gefühl des unmittelbaren Zusammenhangs des
menschlichen Geistes mit dem göttlichen Geiste war nie-
mals in einem Sterblichen lebendiger und klarer ausgebil-
det, als in Christus. Der Glaube an Gott war in Christus
vollkommener und wirksamer geworden, als in irgend einem
andern Menschen. Aber die Erkenntnis Gottes kann und
muss noch wachsen.«
„Sokrates fasste Gott mehr vom Standpunkte des Er-
kennens und Wissens auf, Christus mehr von dem Stand-
punkte des Glaubens und Lebens. Eben deshalb eignete
sich Christus mehr als Sokrates zum Religionsstifter."
„Sokrates war vielleicht weiser als Christus; aber
Christus war sicher religiöser als Sokrates."
„Wer Christus für einen Schwärmer hält, muss Ra-
phael für einen Pfuscher halten."
„An die Göttlichkeit von Christus glaube ich, aber
die Gottheit Christi erscheint mir wie Blasphemie."
Unsterblichkeit.
„Meine Ansicht von der Unsterblichkeit ist kurz aus-
gedrückt folgende. Der Geist, der in dem Menschen lebt,
cap. 14.] Übek Unsterblichkeit. 173
ist ein Individuum. Er war schon vor der Geburt vor-
handen, gleichsam eine Idee des göttlichen, ewigen Geistes.
Desshalb lebt er auch nach dem Tode fort. So weit die
geistigen Eigenschaften in dem menschlichen Körper ihren
Ursprung oder ihre notwendigen Bedingungen der Existenz
haben (später wurde dieser Teil Seele und ßasse genannt),
so weit gehen sie mit dem Körper unter. Wie der mensch-
liche Körper sterblich ist, so auch aller menschliche Geist,
der an die Bedingung des Körpers gebunden ist. Daher
gehen unter mit dem Tode das eheliche Verhältnis, das
Wissen irdischer Dinge, das menschliche Vermögen. Der
individuelle Geist aber, der nicht von der Erde stammt,
geht nicht mit dem Körper unter, den er als Mensch be-
wohnt hat. Je nachdem er während des Menschenlebens
seine Kräfte entwickelt, sei es erhöht, sei es erniedrigt
hat, geht er kräftiger oder schwächer, reiner oder befleckter
von dannen. Die Tugend, die Arbeit des Denkens, die
That wirken daher nach, über den Tod hinaus. Der zu-
künftige Zustand wird der innern Kraft entsprechen. Der
gehobene und veredelte -Geist wird eine vollkommenere
heue Gestalt erhalten, der verdorbene und geschwächte
Geist wird eine niedrige Gestalt annehmen. Wo und wie
das geschehe, das wissen wir nicht. Aber wir können
den Fortschritt ahnen.**
„So lange der Mensch auf der Erde weilt, muss er
seine irdische Bestimmung erfüllen. Er soll auf der Erde
leben und wirken und auch da die Spuren seines Lebens
zurücklassen. Indem er das thut, wird er auch mittelbar
der höheren Bestimmung zureifen."
„Mein Freund Hirzel machte mich aufmerksam, dass
die alten Indier im Grund dieselbe Ansicht hatten. Die
174 Übeb Unsterblichkeit. [cap. 14.
indischen Weisen besassen in hohem Grade die Kraft,
durch Vertiefung in das innere Geistesleben sich von den
Einflüssen des Körpers frei zu machen und sich den Ein-
wirkungen der Welt zu entziehen. Dadurch erwarben sie
eine reine Anschauung des innersten Geisteslebens imd der
höchsten Ideen. Wir müssen den entgegengesetzten Weg
wandeln. Zu viel der Welt hingegeben, die seither fort-
geschritten ist, vermögen wir zu den höchsten Ideen nur
dadurch empor zu steigen, dass wir die reiche Erfahrung
der Welt von hohem Standpunkte aus überschauen."
„Der innerste Kern unseres Geistes ist nicht durch
unseren Körper bedingt, nicht von menschlicher Abkunft
und Art. Zu diesem Geiste, der vorher war und nacliher
sein wird, gehören die Ideen der Gottheit und des Ewigen,
welche der körperlich beschränkte Menschengeist nicht be-
greifen kann, sondern seiner irdischen Anlage nach be-
zweifelt und sogar läugnet. Dieses innerste Bewusstsein
einer überirdischen Geisteskraft ist das höchste und selbst
das gewisseste. In allen anderen Dingen denken wir nur,
wie irdische Wesen denken müssen, in diesen höchsten
Dingen werden wir unserer höheren Geistesnatur inne und
denken wir wie überirdische Geister."
„Das Bild des Schmetterlings ist ein gutes Bild der
Unsterblichkeit. Wie die Raupe, die als Wurm an der
Erde kriecht, durch den Scheintod der Puppe hindurch
sich zum Schmetterlinge entfaltet und nun frei von Blume
zu Blume fliegt, so kann auch der Geist im Menschen,
vorerst durch seinen Körper an die Erde gefesselt, sich
zu einem höheren Wesen entwickeln, welches der Erde
entrückt wird."
„Dem Menschen ist es gegeben, mit seinem geistigen
cap. 14.] Über Unsterblichkeit. 175
Auge über den Erdkreis hinaus und in das unermessliche
Weltall hinein zu schauen und die Ewigkeit zu ahnen.
Darin liegt die sicherste Bürgschaft, dass die Bestimmung
unseres Geistes nicht auf der Erde ihr Ende findet.**
„Wer in seinem Lebenskreise die Verhältnisse der
Erde durchgelebt und ihre Erscheinungen verarbeitet hat,
der mag nach vollbrachtem Tagwerk ruhig dahin gehen,
wo seiner neue Verhältnisse und neue Erscheinungen
warten.**
„Auch das Wissen ist nicht bloss um der Erde willen
da. Der wissende Geist ist höher als der unwissende. Er
wird sich auch auf einem andern Sterne rascher zurecht
finden, als der im Denken ungeübte Geist. Die irdische
Wissenschaft mag vergessen werden, aber die Ausbildung
der Geisteskraft wirkt fort.**
„Die meisten Menschen stellen sich vor, Gott werde
über sie richten und alle guten und bösen Thaten unter-
suchen und abwägen, recht wie unsere amtlichen Stats-
richter, nur scharfsichtiger und gründlicher. Aber die
Schöpfung Gottes ist nicht nach solchen Gesetzen einge-
richtet. Das Gericht hat Jeder in sich.**
„Die schlechte That brennt auf der guten Seele, aber
diese kann wieder gereinigt werden durch den Brand.**
„Wären im Himmel alle gleich, so möchte ich nicht
hinein. Die ganze Natur weist auf Mannigfaltigkeit hin.
Es kann Jeder in seiner Weise in vollem Rechte und
glücklich sein. Aber gleich sind die verschiedenen Na-
turen nicht. Der Doctor Faust ist doch ein höherer Geist
als sein Famulus Wagner.**
Politik.
„Die Staten und Statsformen. fallen, wie im Herbste
176 Übeb Politik. [cap. 14.
die welken Blätter. Ganze Völker verdorren,, wie alte faule
Bäume. Auch Frankreich scheint mir sich dem Verfall zu-
zuneigen. Seine Jugend ist schon lange vorüber, auch sein
Mannesalter ist zurückgelegt. Weniger vorgerückt ist Eng-
land; aber mir kommt es vor, als wäre England gegen-
wärtig ungeföhr in derselben Altersentwickelung, in wel-
cher die Römer zur Zeit der Gracchen waren.**
„Was wird aus Europa werden, wenn dereinst auch
die germanischen Staten absterben werden? Wird sich
die slavische Rasse auch positiv entwickeln, während sie
bisher nur receptive, nicht schöpferische Kräfte gezeigt
hat? Kennen wir schon den Umfang ihrer inneren Kraft?
Vielleicht entsteht später eine Mischung von germanischem
und slavischem Wesen und darum ein neues germano-
slavisches Leben, nachdem das romanogermanische unter-
gegangen sein wird."
„Es bereitet sich mehr und mehr ein grosser Kampf
vor der germanischen Völker mit dem romanischen Wesen.
England steht in der Mitte, halb germanisch, halb roma-
nisch." (Dieser Gedanke war in seiner Ausdehnung auf
ganze Völkerfamilien unrichtig, in seiher Beschränkung
auf den Kampf zwischen Frankreich und Deutschland zu-
treflFend.)
„Deutschland muss durch sich selber gross und frei
werden. Darum sehe ich eine Vermehrung der Bundes-
gewalt, wenn sie sich auch manchmal drückend darstellt,
ganz gerne. Dadurch werden die Massen einander näher
gebracht, und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit
wird erweckt. Steht Deutschland einmal als grosser Stats-
körper selbständig da, als Macht gegen Aussen, so wird sich
die Freiheitim Innern von selber naturgemäss entwickeln."
cap. 14.] Übek Politik. ]77
„Die Hegemonie in Deutschland gehört Preussen.
Durch den Zollverein hat es sich den Weg zu diesem
Ziele gebahnt."
„Nur dem gebührt Freiheit, welcher die Kraft hat,
sie zu erfassen und sich in ihrem Besitze zu erhalten.**
„Der Stein, der sich in senkrechter Fläche dem reis-
senden Strom entgegenstellt, wird schliesslich von der Macht
des Stromes fortgerissen. An dem Damme aber, der in
schräger Richtung der Strömung mit sanftem Widerstände
begegnet, weicht die Woge aus, und er bleibt unversehrt.
So ist es oft in der Politik."
„Eine Landschaft ohne Berge hat für mich keinen
Reiz. Sie erscheint mir öde und langweilig. Auch in der
Politik ist mir die ebene' Flachheit zuwider, und ich ver-
lange nach grösseren Menschen, welche über die Menge
emporragen, wie die Berge über die Ebene."
„In jedem einzelnen Augenblick die Richtung des
Weltganges zu erkennen, das Entwickelungsfahige heraus-
zufühlen und zu fordern, und die Abwege zu vermeiden,
das ist die Hauptaufgabe des Politikers."
„Er darf sich nicht täuschen lassen durch die Lob-
preisung besserer Zustände und schönerer Erscheinungen
in vergangenen Zeiten. Auch das Schönste stirbt ab, wenn
seine Zeit vorüber ist, und lässt nur die Erinnerung zurück."
„Das Lebendige, Erzeugende, Wachsende, das ist das
wahre Element des Politikers."
„Wie sich die Menschen in vulkanischen Gegenden
an die täglichen Erschütterungen der Erde gewöhnen und
sich dadurch nicht in ihrer Ruhe stören lassen, so werden
wir Schweizer an die häufigen Erschütterungen der Staten
gewöhnt und bleiben ruhig."
Bliintsehli, Dr. J. 0., Ans inMupra Lebon. T. J2
178 Über Politik. [cap 14-
„Das Wesen der schweizerischen Eigentümlichkeit liegt
in ihrer Mannigfaltigkeit. Drei grosse Nationen stossen da
zusammen, und ihre Fluten brechen sich an unseren Bergen.
Die beiden Religionen durchkreuzen sich da ebenfalls und
bekämpfen sich. Von Aussen drücken verschiedene politi-
sche Mächte und Richtungen auf uns ein. Im Innern sind
die Unterschiede des Cultus, der Lebensart und der Verfas-
sung noch grösser. Die Parteien sind in heftigem Wider-
streit. Aber aus alle dem entwickelt sich doch ein frisches
und reiches Leben. Jeder muss für sich selber einstehen.
Das hält die Sinne wachsam und schärft die Gedanken
des Kopfes und nötigt zu rasch entschlossenem Handeln."
„Die Neutralität ist für die Schweiz unentbehrlich.
Ohne sie würden die grösseren Mächte die schweizerischen
Gemeinwesen anziehen und verschlingen, wenn sie nicht
mit ihnen spielen würden, wie die Katze mit den Mäusen.**
„Der geistlose Adelige ist ein Planet, der sein Licht
von einer Sonne empfangt, der geistvolle Nichtadelige hat
das Licht in sich."
„Vor der intellectuellen Grösse und Macht kann ich
mich willig beugen, aber nicht vor der Nichtigkeit, die
nur durch grössere Ahnen gehoben wird. Die Anmassung
solcher hochmütiger Strohköpfe ist mir verhasst aus tief-
ster Seele."
„Wer in dem State nur eine Vogelscheuche sieht
gegen Diebe und Strolche, der kennt weder die Menschen
noch den Stat."
„Wer wird sagen, die Bäume, Sträucher und Blumen
seien nur für den Garten da, in dem sie gepflegt werden?
Aber ebensowenig lässt sich behaupten, dass der Garten
um der Pflanzen willen eingerichtet sei, die darin wachsen.
cap. 15.] Über Recht und Psychologie. 179
So sind auch die einzelnen Menschen nicht ausschliesslich
für den Stat und der Stat nicht bloss für die einzelnen
Bürger da. Jedes wahrhafte Wesen hat eine Bedeutung
für sich und für die übrige Welt."
Recht.
„Die Kraft ist die Quelle des Rechtes, der Same, aus
dem das Recht herauswächst."
„Erzwingbarkeit gehört nur darum zu den Eigen-
schaften des Rechtes, weil das sittliche Gefühl nicht stark
genug und die Einsicht der Menschen nicht klar genug ist,
um das Recht allezeit ohne Zwang anzuerkennen."
„Das Recht ist schon vor der Verletzung vorhanden,
welche den Zwang herbeiruft. Der Zwang ist nur eine
Wehr des Rechtes und ein Heilmittel wider das Unrecht."
Psychologie.
„Der Mann beschränkt sich durch die Liebe. Das
Weib erweitert sein Wesen durch die Aufnahme eines
höheren. Die Weiber lieben ganzer und hingebender, als
die Männer. Sie sind sittsamer und tugendhafter, als diese.
Aber ihre Tugend ist geringer, als die männliche, weil jene
dem unbewussten Instinkte näher, diese von freiem und
bewusstem Willen bestimmt ist."
15.
Reise Über Venedig nach Triest und Wien. Armin's Qebart und
Tod. Freiwilliger Tod von Theodor Fröhlich und Jacob Vogel.
Verlobung W. Wackernagels mit meiner Schwester Luise.
Mein jüngster Bruder Karl war als Lehrling in einem
Handelshause zu Triest untergebracht worden und dort am
Typhus erkrankt. Während der Gefahr für sein Leben
12*
180 Reise nach Triest. [cap. 15.
reiste ich im Auftrag meines Vaters nach Triest. Auf
dieser Reise, im März und April 1836, bekam ich man-
cherlei neue Eindrücke. Zum ersten Male betrat ich nun
den österreichischen Stat.
Es fiel mir auf, dass die Strassen im Vorarlberg besser
gepflegt waren, als in dem schweizerischen Thurgau. Hier
vernachlässigten die Gemeinden, denen die Unterhaltung
oblag, ihre Pflicht; dort sorgte das Statsamt durch seine
Strassenwärter für die Herstellung der Strassen. Dagegen
gab mir eine Äusserung eines österreichischen Beamten
eine wunderliche Vorstellung von den öffentlichen Zustän-
den in dem Kaiserreich. Er erklärte mir, ohne eine Spur
von Ironie, in vollem Ernste: „Wir Beamte haben es gut;
wir brauchen uns nicht mit Denken abzumühen; der Metter-
nich denkt für uns." Der Mann war wirklich glücklich in
dem Gefühl, nicht selber denken zu müssen.
Die Fahrt über den Arlberg war nicht gefahrlich,
aber ziemlich beschwerlich. Noch lag viel Schnee, und
der Schnee war auf der Nordseite des Berges gefroren.
Das Gebirge schien mir viel wilder und rauher als in der
Schweiz, die Thäler enger, die Klüfte tiefer, die Höhen
steiler. Die deutschen Dörfer waren freundlicher und
hübscher, als die Dörfer auf der welschen Seite des Ge-
birges. Ich begegnete ganzen Scharen von Tirolern, welche
auf die jährliche Wanderung zogen, die einen als Maurer
in die Schweiz und nach Frankreich, die anderen als Hirten
nach Schwaben : Männer, Weiber und Buben, doch vorzugs-
weise Männer. Wenn die ersten Strahlen der Frühlings-
sonne in ihre winterlichen Bergthäler hinein scheinen, dann
verlassen sie die kalte Heimat und wenden sich milderen
Gegenden zu ; aber im Winter sind sie daheim und wärmen
cap. 15.] Venedig. 181
und nähren sich mit dem im Auslande gewonnenen und
ersparten Lohn. So kommt alljährlich viel Geld in das
arme Ländchen. Die Leute sind gut gekleidet, und ihre
stolze, trotzige Haltung beweist, dass sie sich nicht arm
fühlen. Nur der Kirche gegenüber sind sie demütig, mit
dem Statsbeamten verkehren sie in vertraulich-patriarcha-
lischer Weise.
In Venedig musste ich die Abfahrt des Dampfbootes
erwarten und hatte daher zwei Tage Zeit, mich in der
wunderbaren Meeresstadt umzusehen. Venedig ist eine
wahrhaft unglaubliche Stadt. An der Meeresküste und
auf Inseln gibt es hunderte von Seestädten; aber Venedig
ist nicht an einer Küste und nicht auf einer Insel gebaut.
Die Stadt erhebt sich mitten aus dem Meere, ohne alles
Land. Die Häuser steigen unmittelbar aus dem Wasser
senkrecht in die Höhe. Die eine Hausthüre öifnet sich
auf den Canal, der das Haus bespült und auf dem die
dunkeln Gondeln leise hin und her schwimmen. Diese
mit schwarzen Tüchern behangenen Gondeln gleichen ganz
den Trauer- und Leichenwagen. Es war mir unverständ-
lich, dass sich diese ernste, unfreundliche Sitte fortwährend
erhalten konnte und nicht einmal den Kampf mit farbigeren
und heiteren Fahrzeugen zu bestehen hatte.
Der herrliche Marcusplatz und der damit verbundene
Molo waren an dem Sonntage und in der Camevalszeit
sehr belebt. Nachdem ich das sich hier entwickelnde
Treiben mir betrachtet, betrat ich die erleuchteten Räume
einer Kirche, angelockt von dem schönen Gesang. Hier
wird man recht inne, wie sehr die katholische Religion
auf die Sinne zu wirken weiss. Der Cultus ist sinnlich
durch und durch, aber die Sinnlichkeit erscheint in ihm
182 • Venedig. [cap. 15.
veredelt und vergeistigt. Es ist eine erhebende Erschei-
nung, in diesen prachtvollen, reich geschmückten Hallen
auf dem buntfarbigen Marmorboden vornehme und geringe
Leute, Hohe und Niedere beisammen zu sehen, wie sie in
gemeinsamem Gebete sich dem Priester zuwenden und ne-
ben einander ihre Knie vor dem Heiligen beugen.
Es gefiel mir an dem katholischen Cultus, dass er
den verschiedenen Stimmungen und Bedürfnissen des Ein-
zelnen eine mannigfaltige Befriedigung darbietet. Bei uns
gehen Alle zur selben Stunde in die Kirche und aus der
Kirche; und Alle erwarten von der Einen Predigt ihre
Erbauung. Aber in die katholische Kirche geht Jeder,
wenn ihn das Verlangen treibt, zu jeder beliebigen Tages-
stunde. Jeder findet auch leicht eine Stelle, die ihn an-
spricht. Während sich eine Gruppe Leute einem Seiten-
altar zuwendet, wo ein Priester die Messe liest, suchen
Andere eine einsame Stelle auf, wo sie für sich beten und
den eigenen Gedanken nachsinnen. Wer gesättigt ist von
dem Cultus, der entfernt sich inihig und kümmert sich so
wenig um die Bleibenden, als diese um den Gehenden.
Jeder denkt und fühlt, wie es ihm zu Mute ist; Niemand
führt das Commando, wie er denken und fühlen soll.
In dem Dogenpalaste bewunderte ich das Denkmal
der entschwundenen Herrlichkeit der früheren Republik.
Allenthalben wird man an die vormalige Grösse der Re-
publik gemahnt. Di^ Säle des Senats, der Dogenwahl,
des Grossen Rats sind heute noch mit den prachtvollen
Gemälden geschmückt, welche die Thaten der alten Aristo-
kratie verherrlichen. In dem Saale des Grossen Rates sah
ich noch die Rednerbühne und die Bilder von Demosthenes
und Cicero, die den venetianischen Redner ermunterten, dass
cap. 15.] Venedig. 183
er es den grossen Rednern des Altertums gleich zu thun
versuche. Diese Erinnerungen bilden freilich einen schroiFen
Contrast zu den österreichischen Soldaten, welche das vor-
malige Rathaus bewachen und die vormaligen Republikaner
zum Gehorsam zwingen. Überhaupt fiel mir der Gegensatz
in den Physiognomien der Venetianer und der österreichi-
schen Truppen sehr auf. Die Gesichter der Venetianer
hatten durchweg scharf ausgeprägte Züge, auf denen die
Erlebnisse von Jahrhunderten ihre Furchen eingegraben
hatten. Keiner sah dem andern gleich, jeder erschien als
eine eigenartige Individualität. Manche Gesichter kamen
mir vor, wie Ruinen eines ausgebrannten innem Lebens.
Die österreichischen Soldaten dagegen hatten weichere, kind-
lichere Züge; es waren wohl meistens slavische Truppen.
Diese Rasse hat noch wenig erfahren, die Geschichte hat ihre
Anlage noch nicht entwickelt, die Unterschiede noch nicht
herausgetrieben. Einer sah dem andern gleich. Wie son-
derbar! Mit diesen geistig noch unreifen, aber leiblich fri-
scheren Kräften werden die klugen Venetianer beherrscht.
Mein Führer versicherte mich, die Herrschaft der
Österreicher sei viel milder, als die der Franzosen. Diese
haben die Köpfe abgeschlagen, jene sehen durch die Finger.
Ob das wahr ist, konnte ich nicht so rasch erkennen. Aber
ich wunderte mich, dass die Beamten der Österreicher kein
Deutsch verstehen, und meinte, das sei ein Zeichen der
Schwäche des Kaiserstates. Die Römer hätten das anders
gemacht. Schöner freilich wäre, wie ich meinte, die an-
dere, nationale Politik, die aber Österreich auch nicht be-
greife. Ein ausgezeichneter Fürst, der es verstünde, den
schlummernden Lebensgeist des italienischen Nordens auf-
zuwecken und zu leiten, würde ein italienisches Königreich
184 Triebt. [cap. 15.
stiften können, und es würden ihm nach und nach alle
getrennten Glieder zufallen. Es war mir nicht klar, wes-
halb die österreichischen Statsmänner weder den einen
noch den andern Weg einschlagen. Ich wusste damals
noch nicht, wie wenig Verständnis in der Wiener Hofburg
für die moderne nationale Statsidee zu finden sei. Aber
es freute mich in meinem spätem Leben zu sehen, dass
eine italienische Dynastie und italienische Statsmänner den
politischen Gedanken ergriffen und verwirklichten, der mir
damals in Venedig klar geworden war.
Zum ersten Male sah ich das Meer, als ich auf dem
Dampfboote von Venedig nach Triest hinüberfuhr. Aber
doch nur ungenügend; denn so lange ich auf dem Verdeck
mich umsah, waren das Ufer und die Berge sichtbar ge-
blieben, und als die Nacht den Blick hemmte, schlief ich
ruhig fort in der engen Kajüte.
Triest gewährte den Eindruck einer noch jungen, aber
kräftig wachsenden Handelsstadt, die sich an dem Meer-
busen hinzieht, um die Waren, die ihr von der See aus
zugeführt werden, aufzunehmen und in*s Innere des Lan-
des zu versenden. Die zahlreichen Schiffe, die vor Anker
lagen, waren Kauffahrer meistens von mittlerer Grösse,
sogenannte Briggs, nur wenige Dreimaster darunter, aber
von allen seefahrenden Nationen. Auf der 'Börse pulsierte
das Handelsleben am heftigsten. Die öffentlichen Gebäude
zeichneten sich nicht, wie in Venedig, durch Schönheit
aus. Auch das Theater stand in jeder Beziehung weit
hinter der Fenice in Venedig zurück. Die litterarischen
Kräfte und die geistige Nahrung kamen kaum in Betracht
neben der reichen Fülle der Waren und der guten Küche
in den Kaufmannshäusern, Das Lesezimmer in dem Casino
cap. 15.] Wien. 185
war sehr dürftig ausgestattet, weit besser die Spielsäle.
Die meisten fremden Zeitungen waren verboten. Von den
Schweizern in Triest wurde ich sehr freundlich aufgenom-
men. Ich hatte unter denselben auch alte Freunde und
Bekannte.
Meine Rückreise führte mich nach Wien,, wo ich einen
Teil der Charwoche zubrachte und die Osterfeier genoss.
Aus meinen Berichten an meine Frau hebe ich folgende
Stellen hervor:
„Kaiser Joseph IL hat, seitdem ich Wien gesehen,
sehr in meiner Schätzung gewonnen. Er hat eine Menge
neuer Anstalten gegründet und einen Geist erweckt, der
heute noch in der Bevölkerung fortlebt. Wenn er nichts
anderes gethan hätte, als dass er den Prater aller Welt
eröflfhet hat, so hätte er Grosses gethan. Vor ihm durfte
nur der hoffähige Adel den Prater besuchen. Aber was
wäre Wien ohne seinen freien Prater? Indem der Kaiser
den Bürger dem Edelmann gleichstellte, hat er eine Wand-
lung der Sitte und der Denkweise eingeleitet, welche aus
dem Mittelalter herausführen musste. Die Inschrift auf
seinem Denkmal hat er verdient: , Josephe II. Augusto,
qui saluti publicae vixit, non diu sed totus.* (Joseph IL,
dem Kaiser, der nicht lange, aber ganz dem öffentlichen
Wohle gelebt hat.) Auf einem der Medaillons, welche die
Pilaster zieren, stehen die Worte: Gloria saeculi novi.
Mich wunderte, dass die Wiener Censur nicht die gefahr-
liche Lobpreisung des neuen Zeitgeistes gestrichen hat.
Zum Glück ist die Inschrift lateinisch, sonst könnte sie
dem State grosse Gefahren bereiten."
„In dem Burgtheater habe ich etwas gefunden, was
ich vorher nicht in solcher Vollendung gesehen hatte, auch
186 Wien. [cap. 15.
in Berlin nicht, ein Zusammenspiel, in welchem alle Rollen
ohne Ausnahme vortrefflich besetzt waren. Einmal sah
ich einige Lustspiele. Ein ander Mal die Braut von Mes-
sina. Ich war um so begieriger darauf, als ich das Stück
noch nicht gesehen hatte und auch den Eindruck der Chöre
nicht kannte. Ich kann nicht sagen, dass mich die Chöre
unbedingt befriedigt haben. Vorzüglich ergreifend schien mir
die Sprache des altem Chorführers; den Jüngern wünschte
ich weg. Vielleicht liegt in dem Zwiespalt der Chöre ein
Fehler. Das besonnen überlegende Urteil der Weisen aus
der Menge scheint mir allein für den Chor zu passen; und
das teilt sich nicht fortwährend in zwei Paii:eimeinungen,
sondern ist in der Regel nur Eines. Die alte Schröder
gab die Königin von Messina vortrefflich. Ich habe sie
in noch günstigerem Lichte in der Merope von Voltaire
gesehen."
Nach weiteren zwanzig Jahren habe ich die greise
Schröder in München öfter wieder gesehen in dem Kaul-
bach'schen Hause. Selbst dann noch las sie einzelne dra-
matische Scenen mit gewaltiger Kraft der Empfindung.
„Um das Leben in Wien recht und innig zu geniessen,
muss man nicht allein sein, wie ich es bin. Das Familien-
leben ist hier sehr ausgebildet. Der Mann lebt überall mit
seiner Frau: zu Hause, in Gesellschaft, im Theater, bei
Dommayer und im Sperl. Herrenclubs sind fast gar nicht
vorhanden. Für litterarische Unterhaltung ist nicht ge-
sorgt. Hier fühle ich lebhaft, dass es nicht gut ist, allein
zu sein. Du und die Kinder gehören mir an, wie Glie-
der meines Leibes. Ihr habt tiefe Wurzeln geschlagen in
meinem Wesen, und ich bin an euch gebunden, wie ihr
an mich. Auch fangt das müssige Leben an, mir zu eut'
cap. 15.] Armin. 187
leiden, und ich sehne mich nach Arbeit. — Auch politisch
bin ich hier inne geworden, dass eine Republik, trotz ihrer
Rohheiten, mir persönlich besser behagt, als diese Monar-
chie, in welcher der Adel und die Priester herrschen. Ich
gehöre meinem ganzen innern Streben nach einer gründ-
lichen Reform der alten Zustände an. Wenn die Schweiz
die sittliche Kraft besässe, sich selber zu beherrschen, der
Zügellosigkeit zu entsagen und diese grosse Aufgabe zu
erfüllen, so könnte sie ein bedeutsames Vorbild werden
für die europäische Welt."
Angeregt von den neuen Lebensbildern kehrte ich in
die Heimat zurück.
Im Jahre 1836 gebar meine Frau noch einen Kna-
ben (22. Mai), der Ferdinand Armin getauft wurde. Der-
selbe starb aber schon als jähriges Kind ((3. Juni 1837).
Schon vorher drängte sich den Eltern der Gedanke auf:
dieses Kind passt nicht für dieses irdische Leben; es ist
zu fein und zu gut für dasselbe. Ich habe nie ein schö-
neres Kindesauge gesehen, als das seinige. Aus den tief-
blauen glänzenden Augensternen leuchtete eine seelenvolle
Liebe und eine unbeschreibliche Güte heraus, die ihrer
selbst naiv bewusst zu sein schien. Einigermassen erin-
nerten mich die Engelsköpfchen, welche zu der Sixtinischen
Madonna von Rafael hinaufschauen, an das Bild dieses Kna-
ben, welcher nach Lessings Ausdruck gescheit genug war,
diesen zweifelhaften, irdischen Wohnort bald wieder zu ver-
lassen. Er starb an Krämpfen des Herzens. Bis zum Tode
behielt er sein Bewusstsein und selbst in dem letzten Rin-
gen des gehemmten Atems mit dem kranken Körper blickte
er mit seinen freundlichen Augen ruhig und liebend um-
her, so oft die Leiden momentan pausierten. Plötzlich
188 Wilhelm Wackernagel. [cap. 15.
wurde der Blick sterr, der langsamö Atemzug erlosch.
So sah ich dem Tode in der Gestalt des kleinen Lieblings
in*s Antlitz. Ich war durchdrungen von dem Gefühle, dass
es ihm wohl und er Gott näher sei, als die zurückgeblie-
benen Eltern.
Im Jahre vorher hatten mich zwei gewaltsame Todes-
falle schwer betroffen. Mein musikalischer Freund Theo-
dor Fröhlich, dessen seelenvollem Spiel ich in Berlin so
gern zugehört hatte, war seines Lebens überdrüssig ge-
worden. Er war nicht glücklich in seiner Ehe und hatte
wohl auch andere Sorgen, die ihn quälten. Er suchte und
fand den Tod in den Fluten der reissenden Aare.
Ebenso machte mein Schwager Jacob Vogel seinem
Leben durch einen Pistolenschuss ein unerwartetes Ende.
Er war mit sich selbst und mit den Seinen unzufrieden.
Das Leben erschien ihm reizlos und widerwärtig. In einem
Anfall von Melancholie griff er zu der tödlichen Waffe*
Den traurigen Erlebnissen trat nun auch ein freudiges
Familienereignis gegenüber und bewahrte das Gleichgewicht
in dem Wechsel des Schicksals. Mein alter Studienfreund
von Berlin, der Germanist Wilhelm Wackernagel, der
als Professor der deutschen Sprache und Litteratur an das
Gymnasium und die Universität zu Basel berufen worden
war, verlobte sich mit meiner jungem Schwester Luise und
kam nun auch in nähere verwandtschaftliche Beziehung zu
meiner Familie. Ich war mit demselben fortwährend in
freundschaftlichem und in wissenschaftlichem Verkehr ge-
blieben. Für meine Familie war der Beitritt einer so be-
deutenden geistigen Kraft selbstverständlich von hohem
Werte.
cap. 16.] Schulsynode von 1886. 189
16.
Schulsynode 1836. Wahl in den Grossen Rat. Meine Stellung
in dieser Behörde. Änderung der Repräsentationsverhältnisse.
Anteil an Zeitungen. Correspondenz in die Augsburger Allge-
meine Zeitung. Mein Streit mit J. Th. Scherr. Ernennung zum
ordentlichen Professor. Wissenschaftliche Arbeiten und Werke.
Zürcherische Rechtsgeschichte 1838/39. Die neueren Rechts-
schulen der deutschen Juristen 1839. Anregung für das öffent-
liche Recht und der Streit der Germanisten mit den Romanisten.
Zum ersten Male hatte ich im Jahre 1836 Gelegen-
heit, eine grosse Versammlung zu präsidieren, ein Geschäft,
das ich in späteren Jahren oft zu betreiben hatte, und in
dem ich infolge dieser Praxis einige Sicherheit gewann.
Ich war auf der Schulsynode des Jahres 1835 zu Winter-
thur durch eine wunderliche Verkettung von zuföUigen
Umständen zum Präsidenten dieser repräsentativen Ver-
sammlung für das nächste Jahr gewählt worden. Es war
das eine Vertretung des ganzen Lehrerstandes nach Ana-
logie der Kirchensynode, in welcher die Geistlichkeit des
Cantons vertreten war. Die Masse der Mitglieder wurde
durch die Volksschullehrer gebildet. Die Versammlung fand
in dem Saale des Grossen Rats in Zürich statt. (August
1836.) Es nahmen ungefähr 350 Mitglieder daran teil.
Als Präsident erlaubte ich mir, in der Eröffnungs-
rede einige Worte über das Verhältnis der Volksschule zur
Kirche zu sprechen. Ich wies auf den weltgeschichtlichen
Gegensatz hin zwischen dem Mittelalter und der neuen
Zeit. Dort Herrschaft der Kirche über die Wissenschaft,
hier Befreiung der Wissenschaft von der kirchlichen Auto-
rität und selbstbewusste Entwicklung jener. Später erst,
aber ebenfalls mit geschichtlicher Notwendigkeit, wurde
190 Wahl in den Grossen Rat. [cap. 16.
die Volksschule abgelöst von der kirchlichen Vormund-
schaft, nicht in der verderblichen Absicht, die Religion
aus der Erziehung der Jugend zu beseitigen, aber in dem
Gedanken, das selbständige Leben der Schule zu heben
und zu entfalten. Wie die Architektur den weiten Räu-
men der Kirche, welche die ganze Gemeinde religiös zu
einigen und zu erheben berufen ist, die freundlichen Schul-
häuser für die Kinder in gesonderten, eigens für den Schul-
zweck gebauten Räumen gegenüberstellt und nicht etwa in
dem Kirch- und Pfarrhofe unterbringt, so soll auch die
Schule als Anstalt der Gemeinde und des States einen selb-
ständigen Bereich ihrer Wirksamkeit haben.
Nachdem ich am 7. März 1837 mein dreissigstes Lebens-
jahr angetreten und dadurch das erforderliche Alter erreicht
hatte, welches den Eintritt in den Grossen Rat bedingte,
wurde ich von der Zunft zum Widder, welche vorher mei-
nen Vater zu ihrem Abgeordneten gewählt hatte, zum Mit-
glied dieser obersten Landesbehörde ernannt. Damit war
mir ein politischer Wirkungskreis eröffnet, zu welchem
mich Natur und Neigung hinzogen. Ich blieb Mitglied des
Grossen Rates bis zu meiner Übersiedlung nach München
d. h. bis Frühjahr 1848. Es war das eine kampfreiche
und wechselvolle Zeit, welche Geist und Gemüt aufregte
und anspannte.
Im Anfang gehörte ich zu der Minderheit der soge-
nannten Gemässigten oder Constitutionellen, die vorzugs-
weise in der Hauptstadt ihren Anhalt fand. Die Sturmflut
von 1839, welche das radikale Regiment wegschwemmte,
trieb meine politischen Freunde in die Höhe, und ich wurde
einer der Führer der Majorität, wie das Land sie gewählt
hatte. Dann kam diese Majorität wieder ins Schwanken,
cap. 16.] Meine Stelluko in dieser Behörde. 191
und die alten Führer des Landes gewannen erneutes An-
sehen. Seit den Maiwahlen von 1842 standen sich die
beiden Hauptparteien in dem neugewählten Grossen Rate
fast in gleicher Stärke gegenüber. Damals gelang es mir,
durch Gründung der liberal-conservativen Partei dieser nach
und nach ein wachsendes Übergewicht zu verschaffen, bis
endlich dieser Versuch, mit Hilfe eines neuen politischen
Princips die liberalen und conservativen Elemente zu ver-
binden und gemeinsam die Extreme niederzuhalten, an den
Folgen der Luzerner Jesuitenberufung scheiterte, welche den
entschiedenen Sieg der liberal-radikalen Partei verschaffte.
Im Jahr 1845 war ich mit dem Amte eines Präsi-
denten des Grossen Rates betraut worden.
An den gesetzgeberischen Arbeiten dieser Periode
nahm ich fortwährend einen regen Anteil, der auch nicht
durch die Parteigegensätze geschmälert oder gehindert
wurde. Sogar nach meiner Entfernung von Zürich wurde
der frühere Auftrag, das privatrechtliche Gesetz-
buch für den Canton Zürich zu redigieren, nicht zurück-
genommen, sondern bestätigt. Ich werde davon später zu
berichten haben. Es bewährte sich so die gute Sitte der
Republik, die gesetzgeberische Thätigkeit nicht der herr-
schenden Partei allein wie ein Monopol vorzubehalten, son-
dern die Einsicht und Fähigkeit auch der Opposition für
das gemeinsame Werk zu benützen. Ich habe in meinem
spätem Leben zuweilen die unerfreuliche Erfahrung ge-
macht, dass die Praxis sowohl der Regierungen, als der
Kammern im Deutschen State gelegentlich ängstlicher und
befangener sei, als ich in Zürich gewöhnt worden war.
Die parlamentarische Debatte fiel mir nicht schwer.
Ich war rasch entschlossen und schlagfertig. Für die po-
192 Ändebüno der Repräsentation. [csl^. 16.
litische Rede fehlte mir nicht der innere Antrieb, und die
Übung bildete die natürliche Anlage aus. Es war mir aber
niemals möglich, eine Rede zum voraus genau auszuarbeiten
und niederzuschreiben. Dazu fehlte mir vor allem das
Interesse. Ich überdachte wohl öfter vorher die Argumente
für und gegen eine Sache und notierte auch einzelne Ge-
danken mit einigen bezeichnenden Worten. Aber ich ver-
traute für die Ausführung der Rede der Anregung des
Moments. Nur sehr ungern und ohne Wärme sprach ich
bei Beginn einer Beratung. Erst wenn der Kampf ent-
brannt war und schon mehrere Redner ihren Vorrat von
Gründen verschossen hatten, wurde ich wärmer, und dann
griff ich gerne in die Discussion ein. Wenn daher zum voraus
die Reihenfolge der Redner verabredet wurde, so behielt
ich gewöhnlich das Schlussvotum der Partei für mich vor.
Als nach der Revolution des Jahres 1830 die neue
Verfassung beraten wurde, erregte vorzüglich der Streit
um das Repräsentationsverhältnis der Stadt und der Land-
schaft am heftigsten die Gemüter. Nach wenig Jahren hatte
das Princip der Rechtsgleichheit aller Cantonsbürger eine
so grosse Macht gewonnen, und die demokratischen Grund-
sätze waren in dem Mase in der Schweiz herrschend ge-
worden, dass der 1830 stark beschnittene Vorzug der städti-
schen Repräsentation bald wieder ungerecht und unhaltbar
erschien. In der Stadt selber befreundete man sich mit
einer Repräsentation, die ohne BTücksicht auf die Gegen-
sätze der Bildung, des Vermögens und der geschichtlichen
Stellung einfach auf die Seelenzahl der Wahlkreise gegrün-
det ward. Obwohl ich gar nicht begeistert war für diese
demokratische Auffassung der Repräsentation, so sah ich doch
ein, dass die öffentliche Meinung diese Änderung verlange.
cap. 16.] Anteil an Zeitungen. J93
und stellte daher im Grossen Rat im Einverständnis mit
meinen Freunden den Antrag, dass das Vorzugsrecht der
Stadt beseitigt und die Repräsentation nach der Volks-
zahl geordnet werde. Die städtischen Zünfte wurden nun
als Wahlkörper aufgelöst, und die Wahlen in der Stadt,
wie auf dem Lande, der gesamten Gemeinde der berech-
tigten Urwähler zugewiesen. Wie wenig damals diese
Verfassungsänderung die Stadt aufregte, welche durch die-
selbe auf ungefähr einen Ftinfteil ihrer bisherigen Reprä-
sentation herabgesetzt ward, ergibt sich schon daraus, dass
mir bei der nächsten Wahl der Stadt von den zwölf ihr
verbliebenen Stellen eine ohne erheblichen Widerstreit mit
grosser Majorität zugeteilt wurde.
An der Diskussion der Zeitungen nahm ich, seitdem
der Vaterlandsfreund aufgehört hatte, in den Dreissiger-
jahren nur einen geringen Anteil. Ich schrieb gelegentlich
einige Artikel in den „Constitutionellen", den erst Regier-
ungsrat Eduard Sulzer und später mein Freund Stadtrat
Gysi redigierte. Vom Jahre 1834 an war ich regelmässiger
Correspondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung
geworden. Ich war über manche geheime Intriguen der
französischen Diplomatie in der Schweiz gut unterrichtet
und konnte zuweilen durch solche Artikel auch den fremden
Einflüssen entgegenwirken. Aber dafür fehlte den Ver-
tretern des vulgären Radikalismus jedes Verständnis. Ich
wurde gerade jener Briefe an die Allgemeine Zeitung wegen
hart angegriffen und persönlich verdächtigt.
Da benutzte ich einen Ausfall des Seminardirektors
Ignaz Theodor Scherr gegen mich, um mich öffentlich
über meine Handlungsweise zu rechtfertigen und die un-
würdige Verdächtigung zurückzuweisen. Ich schrieb gegen
Bluntschli, Dr. J. C, Ans meinem Leben. I, ]^;^
194 Ernennung zum ordentlichen Professor. [cap. 16.
Scherr eine Streitschrift, welche rasch vergrififen war und
in zweiter Auflage erschien (1837, Frauenfeld bei Ch.
Beyel). Nun hatte ich wieder für einige Zeit Ruhe ge-
wonnen vor persönlicher Anfeindung.
Meine Hauptthätigkeit in diesen Jahren war dem aka-
demischen Beruf und den rechtswissenschaftlichen Studien
zugewendet. Durch Dekret des Erziehungsrates vom
15. Oktober 1836 wurden mir Rang, Titel und Befugnisse
eines ordentlichen Professors an der Hochschule über-
tragen, mit einer Besoldung von 1200 alten Schweizer-
franken.
Allmählich entstand so das Werk „Stats- und
Rechtsgeschichte der Stadt und Landschaft Zürich**,
das in zwei Bänden erschien, die erste Auflage in den
Jahren 1838 und 1839, die zweite Auflage im Jahr 1856,
beide bei Orell, Füssli & Comp, in Zürich. Der erste Band,
welcher die ältere, mittelalterliche Entwicklung der alten
alemannischen Reichsstadt und ihrer Herrschaften darstellte,
hatte vorzugsweise einen geschichtlichen Charakter. Der
zweite Band, der mit der befestigten Zürcherischen Refor-
mation seit 1531 beginnt und bis auf die Gegenwart reicht,
bekam, weil es sich hier um die Darstellung des bestehen-
den Rechts handelte, eher ein dogmatisches Gepräge. Das
ganze Buch war ein erster Versuch, ein schweizerisches
Rechtssystem nach den Grundsätzen und der Methode der
deutchen Rechtswissenschaft in seinem geschichtlichen
Werden und in seinem innern Zusammenhang zu beleuch-
ten. Dieser Versuch wurde in Deutschland günstig beur-
teilt. In der Schweiz regte er zu andern ähnlichen Ar-
beiten an. Ich erinnere in dieser Hinsicht an die Rechts-
geschichte der demokratischen Cantone von Blumer, des
cap. 16.] ZuBicHEB St ATS- UND Rechtsgbschichte. 195
Cantons Luzern von Segesser, des Cantons Zug von Re-
naud, an die rechtsgeschichtlichen Arbeiten von Fried-
rich von Wyss, König u. a.
Über den deutschen Charakter des Zürcherischen
Eechts sprach ich mich folgendermassen aus (Vorrede zum
zweiten Band 1839):
„Mit Vorliebe, ich gestehe es, habe ich den echt-
deutschen Charakter unserer Jnstitute hervorgehoben. Wer
unsere bestehende Rechtsordnung überschaut, wie sie, wenn
auch nicht im Einzelnen vollständig, doch in ihrem innern
Zusammenhang als ganzer Rechtskörper in diesem Buche
dargestellt ist, der wird sich sofort überzeugen, dass das
romanische Element darin bei weitem weniger bedeutend
ist als das germanische, und dass unser Recht viel deutscher
ist, als das Recht in Deutschland selbst zur Zeit noch.
Es ist meine feste Überzeugung: die direkte Herrschaft
des römischen Rechtes ist in der Neige begriffen. Das
deutsche Recht wird wieder an Einfluss und Bildung wach-
sen. Der grosse, Jahrhunderte hindurch fortgesetzte Kampf
der Anhänger des römischen Rechtes mit den Verehrern
des deutschen Rechts wird von neuem eröffnet werden,
oder ist es vielmehr schon. Aber jetzt wird mit anderen
Waffen und in anderer Weise gestritten. Auch der Erfolg
wird ein anderer sein, als das erste Mal. Die deutschen
Juristen mussten erst bei den Römern in die Schule gehen
und von der Cultur des römischen Rechts erfüllt sein, be-
vor sie dem nationalen angestammten Rechte zu geistiger
Befreiung und weiterer Fortbildung verhelfen konnten. Für
diese Erkenntnis des deutschen Rechtes schien mir eine
wissenschaftliche Bearbeitung des Zürcherischen Rechtes
von keiner geringen Bedeutung, eben um der freieren Stel-
la*
196 I^iE Schrift: Die neuerek deutschen Rechtsschttlen. [cap. 16.
lung willen, in welcher wir deutschen Schweizer jenem
Kampfe zusehen können, und um der deutschen Eigen-
tümlichkeit willen, in der sich unser Particularrecht er-
halten hat/
Während dieser germanistischen Studien über die
Zürcherische Rechtsgeschichte und das Zürcherische Recht
erweiterten sich meine Ansichten über die Natur des Rechts
und die Aufgaben der Rechtswissenschaft. Bis dahin war
ich ein eifriger Anhänger der geschichtlichen Rechtsschule
gewesen und hatte, wie die meisten Freunde derselben,
die philosophische Methode und die philosophischen Begriffs-
bestimmungen nur wenig beachtet und gering geschätzt.
Über diese Einseitigkeit kam ich nun hinaus. Ich lernte
den Wert der Rechtsphilosophie besser erkennen und höher
schätzen. Es übten in dieser Richtung die Schriften von
Göschen und Stahl einen Einfiuss aus; jener unternahm
es, von den Gedanken der Hegerschen Philosophie aus das
positive Recht in ein neues Licht zu setzen, dieser suchte
die Schelling'sche Philosophie mit der geschichtlichen Be-
trachtung zu verbinden.
Ich überzeugte mich, dass der alte Streit zwischen
der historischen und der philosophischen Rechtsschule
den früheren Sinn verloren habe und die dermalige Ent-
wickelung der Rechtswissenschaft nicht mehr bestimmen
könne. Unter dem Titel: Die neueren Rechtsschulen
der deutschen Juristen sprach ich mich in einer Reihe
von Aufsätzen näher über die Richtungen und Aufgaben
der deutschen Rechtswissenschaft aus. Diese Aufsätze er-
schienen zuerst im October 1839 in den Hallischen Jahr-
büchern von Arnold Rüge und wurden dann zweimal noch
als besondere Schrift aufgelegt, 1841 (Zürich und Frauen-
Cap. 16.] H18TORI8CHB VHD PHILOSOPHISCHE RiCHTUKG. JQJ
feld bei Chr. Beyel) und 1862 mit neuen Reform vorschla-
gen erweitert (Zürich).
Ich schilderte darin den Streit, der 1814 zwischen
Thibaut und Savigny zunächst über das Bedürfnis und
die Arbeit eines allgemeinen deutschen Gesetzbuchs, dann
über die Natur des Rechts und die Aufgaben der Rechts-
wissenschaft entstanden war. Als das Wesentliche der
historischen Schule bezeichnete ich die erneute Erkenntnis
der nationalen und lebendigen Natur des Rechts, das nicht
eine willkürliche, von Oben her gebo'tene, sondern eine
aus dem Geist der Nation herausgewachsene, nicht, eine
zufällige und beliebig wechselnde, sondern eine innerlich
bestimmte, dauerhafte Ordnung sei, in welcher die Gegen-
wart mit der Vergangenheit und der Zukunft verbunden sei.
Für das Privatrecht war aber die geschichtliche Be-
trachtung nun so allgemein in der Wissenschaft durchge-
drungen, dass was vorher das charakteristische Merkmal
einer Schule gewesen, nun zum Gemeingut der Wissen-
schaft überhaupt geworden war. Deshalb „gibt es auf
diesem Gebiete keine historische Schule mehr" ; denn wenn
es auch noch Juristen gibt, die nicht selbst lebendig er-
füllt sind von dem historischen Geiste, so gibt es doch
keine mehr, die ihn zu läugnen und zu bestreiten wagen.
Aber ebenso liess unzweifelhaft die einseitige histo-
rische Richtung die philosophischen Köpfe unbefriedigt.
Hatte die geschichtliche Schule eine Zeit lang die Philoso-
phie vernachlässigt, so war es an der Zeit, dass diese sich
selber wieder zu ihrem Recht verhalf. „Dieser Gegensatz,
der sich schon im Altertum von Zeit zu Zeit wahrnehmen
lässt und in der Statslehre von Piaton und der Politik von
Aristoteles deutlich hervortritt, charakterisiert die ganze
198 Ihre Bedeutung für das Pbivatrecht [cap. 16.
neuere Wissenschaft. Die Einen nämlich haben vorzugs-
weise den Sinn und die Gabe empfangen, die höhere Ein-
heit im menschlichen Wissen zu entdecken und festzuhal-
ten, die Ideen zum Bewusstsein zu bringen und das Ewige,
Sichgleichbleibende, Seiende zu begreifen und darzustellen.
Die Anderen dagegen halten sich zunächst an die äussere
Erscheinung des realen Lebens, an das Endliche, sich Be-
wegende, Werdende. Die Anschauung der positiven Ge-
staltungen, die aufmerksame Prüfung und Betrachtung der
Geschichte erweitern ihr Wissen und erhellen ihre Ge-
danken."
„Jede der beiden Richtungen hat ihre eigentümlichen
Gefahren und ihre eigentümlichen Vorzüge. Die grosse
Gefahr der philosophischen Richtung ist, dass sich
manche Köpfe leicht durch scheinbar consequente Schlüsse
verleiten lassen, leere, alles realen Kernes entbehrende
Formeln zu producieren, oder gar ein zwar regelmässiges,
aber unhaltbares und unbrauchbares Phrasengewebe auszu-
spinnen. Die Gefahr der andern, historischen Richtung
ist, dass unbedachte Verehrer derselben bloss dürre No-
tizen aufspeichern und ein Beinhaus mit antiquarischen
Gerippen füllen, ohne Geist und Leben."
„Der Gegensatz selbst aber ist ein fliessender. Denn
auch der speculative Denker bedarf der äussern Anregung
durch Erfahrung und Geschichte, um das Ideale zu er-
kennen, und der historische Forscher hinwieder kann auch
die Geschichte nicht erfassen, wenn er nicht ihre höhere
Bedeutung und den geistig dauernden Gehalt in ihr wahr-
nimmt. Darum darf Keiner auf keiner Seite aus-
schliessend werden. Es darf der Philosoph nicht
den Historiker, noch dieser jenen verachten. Eben
Cap. 16.] ÜHD FÜB DAS ÖFFENTLICHE ReCHT. 199
dai'um darf es aber auch in der Rechtswissenschaft nicht
eine philosophische Schule geben, welche das Dasein der
historischen Richtung in der Wissenschaft verneint, noch
eine historische Schule, welche die Philosophie bestreitet."
„Wenn die Einen gewissenhaft und mit offenem Sinne
für die Wahrheit mehr die philosophische Richtung ver-
folgen, die Anderen ebenso der historischen Forschung ob-
liegen, so werden sie Beide Resultate zu Tage fördern,
welche statt sich zu widersprechen und auszuschliessen,
vielmehr sich gegenseitig bestätigen und ergänzen. Denn
die Wahrheit kennt keine Schulen, und die Wissenschaft
lässt die Schulen nur zu als einzelne vorübergehende Mo-
mente ihrer Ehtwickelung."
Für das Privatrecht, wobei dieser Schulstreit zuerst
entstanden war, erklärte ich denselben für erledigt. Aber
nicht ebenso für das öffentliche Recht. Da war die
speculative und philosophische Methode in so unbestritte-
nem Alleinbesitz der Doctrin und so einseitig geworden,
dass ich für die Wissenschaft des Statsrechts und der Po-
litik „eine totale Umarbeitung im Sinne der historischen
Schule" für ein dringendes Bedürfnis der Zeit erklärte.
Da kommt es darauf an, „den Stat nicht als eine tote
Maschine, deren Räderwerk sich nach mechanischen Ge-
setzen gleichmässig bewegt, sondern als ein lebendiges
Wesen zu erfassen, als einen Organismus, in dem ein
Geist wohnt." Das aber soll geschehen, indem die Staten-
bildung in dem Zusammenhang der Weltgeschichte be-
trachtet und mit dem Lichte der Ideen beleuchtet wird,
welche den Gang der Weltgeschichte bestimmen.
„Wie sehr aber practisch es im höchsten Interesse
der Gegenwart liegt, mehr, als es früher geschah, die
200 Meine Stellung zum Streit [cap. 16.
historische Seite des politischen Wissens zu pflegen, ist
Jedem einleuchtend, d^r auch nur einigermassen die be-
stehenden Zustände kennt. — Von jeher haben sich sowohl
Revolutionäre als Despoten am liebsten angeschlossen an
naturrechtliche Theorien, die einen in diesem, die anderen
in entgegengesetztem Sinne; und eben deshalb haben beide
das bestehende Recht, die einen der Obrigkeit, die anderen
der Unterthanen wenig geachtet. Der historischen Wissen-
schaft kommt es zu, das Bewusstsein des positiven Rechtes
von Neuem zu beleben."
In dieser Schrift ist der Keim meines spätem Werkes
über das „Allgemeine Statsrecht** deutlich zu erkennen.
Ich wollte erfüllen, was ich zuvor als Verlangen für die zu-
künftige Fortbildung der Statswissenschaft bezeichnet hatte.
Für die nächste Zeit hielt ich im Privatrecht einen
anderen Streit für unerlässlich, den der Germanisten mit
den Romanisten, nicht in dem Sinne, dass die ganze
Bedeutung des römischen Rechtes für die wissenschaftliche
Vorbildung der Juristen und sein fortdauernder Einfluss
auf die moderne Rechtsbildung bestritten werde, aber in
dem Sinne, dass die Jahrhunderte lang fortgesetzte Ver-
achtung und Unterdrückung des nationalen deutschen Rech-
tes aufhören und den einheimischen Rechtsinstituten und
Rechtsideen Beachtung und Geltung erstritten werden
sollen. In dieser Hinsicht freute ich mich der modernen
Gesetzgebung, welche die formelle Autorität des Corpus
juris von Justinian aufhebe und dem neuen Leben Luft
und Licht verschaffe. Mit Wärme hob ich hervor, dass
das deutsche Recht ebensosehr durch Anerkennung „der
Persönlichkeit und Freiheit** der Individuen und der Ge-
nossenschaften sich auszeichne, wie das römische Recht
cap. 16.] DER Germamsten und Romanisten. 201
von dem herrschsüchtigen Gedanken der absoluten Gewalt
erfüllt und bestimmt sei.
In der That, der Streit zwischen denen, welche dem
deutschen Recht zur Befreiung und zu gebührender Aner-
kennung verhelfen wollten, und denen, welche das ganze
von dem römischen Rechte eroberte Gebiet verteidigten,
wurde in den beiden nächsten Jahrzehnten ziemlich lebhaft
geführt. Es wurde die Zeitschrift für deutsches Recht von
Reyscher und Wilda eigens für diesen Kampf gegründet
und unterhalten. Endlich hörte derselbe auf. Wenn ich
das Ergebnis dieses Kampfes nach dem Abschluss über-
schaue, so constatiere ich zwei Haupteindrücke:
Erstens. In der akademischen Wissenschaft und der
Doktrin bewährte sich die formale Überlegenheit der römi-
schen Jurisprudenz ; aber die neueren Romanisten, wie ins-
besondere Wächter, Jhering, Bruns und Windscheid,
haben doch einen freieren Blick auch in das fleische Wachs-
tum des nationalen Rechts erworben. Sie sind nicht mehr so
befangen, wie die Romanisten der altern Zeit, in die scho-
lastischen Doctrinen der Legaljurisprudenz. Die Germani-
sten der Universitäten haben zwar den Romanisten grosse,
vielleicht zu grosse Zugeständnisse gemacht, aber sie haben
im Ganzen doch ihre Ebenbürtigkeit mit jenen erwiesen
und ihrer Wissenschaft Achtung verschafft.
Zweitens. Der mächtige Fortschritt der Gesetzgebung,
welche nun auch gemeinsame nationale Organe erhalten hat,
hat die zeitgemässe, dem modernen Bedürfnisse zusagende
Fortbildung des nationalen Rechtes in viel durch-
greifenderer Weise und ausgiebiger gefördert, als man zu
Ende der Dreissigerjahre irgend zu hoffen wagte.
202 Bebüfükg von Db. Strauss nach Zürich. [cap. 17.
17.
Berufung des Dr. Strauss als Professor der Dogmatik. Aufregung.
Ausserordentliche Versammlung des Grossen Rates. Hotion des
Antistes Füssli gegen die Berufung. Der Kampf im Grossen
Bat. Meine Bede. Der Widerstand des Volks in den Gemeinden.
Widerruf des Grossen Rates. Bedrohung der Hochschule. Meine
Rede für dieselbe im Grossen Rat.
Schon im Jahre 1836 war in dem Zürcherischen Er-
ziehungsrate der Antrag gestellt worden, den Dr. David
Strauss von Ludwigsburg als Professor der Dogmatik an
die theologische Facultät zu berufen. Der Antrag blieb
aber in der Minderheit. Der Bürgermeister M. Hirzel,
Präsident des Erziehungsrates, schrieb damals an einen
Freund: „Sie hatten Recht, über den Sturm wegen Strauss
ungehalten zu sein. Der Gedanke, den wissenschaftlichen
Forschungen, und wären sie auf einem Irrwege, eine Frei-
statt zu eröffnen, hat einige Männer hingerissen, dass sie
unbeachtet Hessen, warum es zu thun sei: der Landes-
kirche tüchtige Lehrer zu verschaffen; und dazu kann
Strauss unmöglich dienen."
Einige Jahre später (am 29. Januar 1839) wurde
jener Antrag erneuert, und nun gab Hirzel, bei gleich
geteilten Stimmen der Behörde, den Stichentscheid für die
Berufung des Dr. Strauss. Er hatte inzwischen diesen
persönlich kennen gelernt und war für ihn, als den Re-
formator unserer Zeit, begeistert worden. Diese Berufung
wurde zum Anstoss für eine mächtige Volksbewegung, die
schliesslich zu einer politischen Umwälzung führte.
Um die tiefe Wirkung dieser Berufung auf das Zür-
chervolk zu begreifen, muss man sich daran erinnern, dass
im sechszehnten Jahrhundert die schweizerische Reformation
cap. 17.] Aufregung. 203
von Zürich ausgegangen war, und dass die reformiei-ten
Überlieferungen in der Zürcher Geschichte feste Wurzeln
hatten. Man muss aber zugleich bedenken, dass die Liebe
zur Wissenschaft und zur Geistesfreiheit in Zürich jeder-
zeit warme Verteidiger fand. Die Frage, welche dem Zür-
chervolk gestellt wurde, lautete: Wollt Ihr nochmals in
der heutigen Reform des Christentums vorausgehen? Wollt
Ihr den Dr. Strauss zum Führer aus der alten in die neue
Religion erwählen? Einige enthusiastische Männer, wie
Hirzel, bejahten beide Fragen energisch; ein grosser Teil
der radikalen Partei und ihrer Häupter hatten zwar keine
Neigung zu neuen Reformen, aber sie hatten ihre Lust
an der Bestürzung der Geistlichkeit und freuten sich der
negativen Ergebnisse der Straussischen Kritik. Sie be-
günstigten die Berufung wie einen Sieg der Wissenschaft
über die Religion und als einen Fortschritt in der Auf-
klärung, aber sie waren keineswegs gesonnen, weder für
die Reform viel zu opfern, noch dem Theologen Strauss
als ihrem geistigen Führer zu folgen.
Die grosse Mehrheit des Volkes aber verneinte, grossen
Teils aus Instinkt^ beide Fragen entschieden, die zweite
aber mit mehr Nachdruck als die erste. Wäre Dr. Strauss
als Professor der Philosophie berufen worden, so hätte sich
keine Hand gerührt gegen einen solchen Ruf, oder wenn
einige Eiferer sich dagegen erklärt hätten, so würden sie
bei der Masse keine Unterstützung gefunden haben. Die
Berufung desselben aber auf den Lehrstuhl Zwingli's, da-
mit er die Kirche umbilde oder zerstöre, entfesselte einen
Sturm, der die ganze Regierung und den Grossen Rat
wegfegte.
Dr. Strauss hatte durch das Werk: „Das Leben Jesu,
204 Ausserordentliche Versammlukg des Grossen Rats. [cap. 17.
kritisch bearbeitet*" (1835), nicht bloss in der theologisch
gebildeten Welt, sondern in weiteren Kreisen einen un-
gewöhnlichen Namen erworben. Galt es schon für ein
seltenes Wagnis, die Geschichte Jesu, dem die christliche
Kirche göttliche Ehre zuerkannt hatte, einer scharfen kri-
tischen Prüfung zu unterwerfen, welche natürlich dem her-
gebrachten Dogma vielfaltig widersprechen musste, so
machte die Straussische Kritik, die eher dialektisch als
quellenmässig, eher philosophisch als historisch verfuhr,
den Eindruck eines Angriffs auf die christliche Religion
selber, deren Begründer und Haupt Jesus Christus als ge-
schichtliche Person beinahe verschwand und nur noch als
Mythus, als ein Gebilde der religiös erregten Phantasie
dargestellt wurde.
Die theologische Fakultät hatte selber mit Mehrheit
— nur Eine Stimme vertrat eine andere Meinung — gegen
die Berufung sich ausgesprochen. Der Antistes der Zürcheri-
schen Kirche und der Kirchenrat machten bei dem Re-
gierungsrate Vorstellungen dagegen. Fast die gesamte
Geistlichkeit des Cantons, die Rationalisten wie die Ortho-
doxen, waren entrüstet über die Zumutung, dass in Zukunft
die Studierenden der Theologie durch einen Theologen in
die christliche Lehre eingeführt werden sollten, welchem
die Person Christus wie eine alte Fabel vorkomme. Aus
allen Capiteln kamen Bittschriften an die Regierung, sie
möge der Wahl des Erziehungsrates die Bestätigung ver-
sagen.
Da im Januar der Grosse Rat versammelt war, so
brachte der Antistes Füssli hier die Frage in Form einer
Motion auf Grund des Art. 4 der Statsverfassung („Schutz
der Landeskirche nach dem evangelisch-reformierten Lehr-
cap. 17.] Motion des Antistes Füsslt. 205
begriff") zur Sprache (31. Januar). Er verlangte, dass
der Kirche gesetzlich ein Einfluss auf die Wahl der Pro-
fessoren der Theologie eingeräumt werde, wenn auch nur
indem man ihr gestatte, dieselbe zu begutachten. Die Form
der Motion war übrigens nur ein Anlass, die Berufung von
Strauss öffentlich zur Sprache zu bringen.
Die Diskussion war ernst und würdig, aber erregt.
In einer glänzenden Rede verteidigte Bürgermeister Hirzel
die Berufung; aber er enthüllte auch die volle Tragweite
derselben. „Die Kirche bedarf der Reform. Sie reformiert
sich aber nicht selber. Strauss ist ein echter (?) Christ.
Er ist ein Reformer. Es handelt sich um den Entscheid,
ob unsere Kirche die Richtung nehmen werde zum Buch-
stabenglauben oder zum Denkglauben. Es gilt die höchste
Befreiung, die Befreiung des Geistes von den Banden des
Aberglaubens." Er erinnerte an den 29. Januar 1523, als
der Rat der Stadt Zürich erkannte, „Meister Ulrich Zwingli
soll fürfahren, das Evangelium nach dem Geist Gottes zu
verkünden", und sprach die Hoffnung aus, der aus dem
Volke gewählte Grosse Rat werde nun nicht sagen : „Nein,
stellt ihn nicht an, den Strauss."
Ihm ei^widerte Professor Alexander Schweizer:
„Allerdings ist die Versöhnung von Glauben und Wissen
das Bedürfnis und das Streben unserer Zeit. In der Idee
von Christus, als des von göttlichem Geiste durchdrungenen
Menschen, liegt diese Versöhnung. Aber bis jetzt hat Strauss
noch nicht dafür gewirkt; denn die ersten Schriften ent-
halten fast nur negative Resultate, und die positive Idee,
welche er in dem Anhang der dritten Auflage von der
Person Jesu andeutet, ist noch nicht entwickelt. Wenn
Strauss diese positive Seite ausbildet, dann wird er ein
206 Kampf im Grossen Rat. [cap. 17.
Segen für die Kirche, dann aber auch seine Kritik ermäs-
sigt. Wenn er in der negativen Richtung verbleibt, dann
wird er der Kirche nur dadurch nützen, dass er sie zwingt,
sich kräftiger aufzuraffeur Dann wird er kein Reformer
der Kirche sein. Keinenfalls aber kommt es dem Er-
ziehungsrate zu, die Reform der Kirche zu beschliessen
und zu leiten. Man berufe eine Synode von Geistlichen
und Laien. Dieser käme das zu."
Gegen die Motion sprachen noch im Sinne Hirzels
die Regierungsräte Zehn der und Weiss, dann kälter,
formeller, zuweilen nicht ohne Hohn die Juristen Am-
mann, Keller, Statsanwalt Ulrich, Oberrichter Füssli
und Fürsprech Furrer. Für die Motion erklärten sich,
ausser dem Antragsteller und Schweizer, Bürgermeister von
Muralt, Decan Vögeli: „Andere Lehrer, die ähnliche An-
sichten aussprachen, behandeln doch das Heilige in heiliger
Weise; — Strauss aber geht unheilig um mit dem Heiligen,"
Regierungsrat Ferdinand Meyer u. a.
Ich teile meine Rede hier wörtlich mit. Ich brauche
mich derselben nicht zu schämen. Ich habe darin weder
einen Glauben geheuchelt, den ich nicht hatte, noch die
Freiheit der wissenschaftlichen Forschung irgend preisge-
geben. Die Rede gibt ein klares Zeugnis von meiner po-
litischen und religiösen Denkweise zu jener Zeit. Ich habe
später das Gebiet des Wissens in noch weiterem Um-
fange kennen gelernt, der dem Umfang des Glaubens
gleichkommt, und ich habe im Verfolg meines Lebens
das Bedürfnis einer Reform auch der Kirche entschiedener
als damals vertreten. Aber die Überzeugung, die ich da-
mals aussprach, dass Dr. Strauss schwerlich zu einem Re-
formator der christlichen Kirche geeignet und für diesen
cap. 17.] Meine Rede im (trossen Rat. 207
Beruf allzu kritisch angelegt sei, ist durch die spätere Ent-
wickelung durchaus bestätigt worden, indem der „neue
Glaube" von Strauss vom Christentum überhaupt als dem
veralteten Glauben nichts mehr wissen will. Seine Be-
iiifung nach Zürich zum christlichen Reformator war daher
jedenfalls ein arger Missgriflf.
Unmittelbar nach Keller, welcher mit den Worten
geschlossen hatte: „Wen es also freut, dass das Christen-
tum und die Reformation (trotz der damaligen Gegner)
aufgekommen ist, der soll auch einem solchen Manne die
Bahn brechen helfen, in dem wichtigsten Gebiete die Wahr-
heit zu fördern," sprach ich Folgendes: „Auch ich fühle mich
gediningen, als Mitglied des Grossen Rates, meine Über-
zeugung in dieser Sache offen auszusprechen. Dabei kann
ich gleich von vorne herein das Bekenntnis ablegen, dass
ich, wie immer auch der Entscheid fallen werde, eine
doppelte Beruhigung aus diesem Säle mit nach Hause
nehme. Ich fand eine Beruhigung darin, dass ich gesehen
habe, wie alle Mitglieder, auch die, deren Voten am ent-
schiedensten für die Berufung des Dr. Strauss lauteten,
genötigt waren, das religiöse Moment hervorzuheben und
auf religiösen Glauben zu fussen. Eine andere Beruhigung
finde ich darin, dass Dr. Strauss nach allem, was ich von
ihm weiss, nicht blos ein wissenschaftlicher, sondern
auch ein sittlicher Mann ist.
„Meine Bedenken, die ich noch habe gegen die Be-
rufung, sind auch nicht hergenommen von dem wissen-
schaftlichen Gebiete. So lange die Gegner sich auf dem
Felde der Wissenschaft bewegen, haben sie völlig Recht.
Ich gehöre wahrlich nicht zu denen, welche der freien
wissenschaftlichen Forschung in irgend einem Gebiete in
208 Meine Rede [cap. 17.
den Weg treten, welche das Licht der Wissenschaft ver-
dunkeln wollen. Wie ich mir selbst das Recht vindiciere,
frei zu denken, so gönne ich dasselbe Recht auch jedem
Andern.
„Aber die Frage hat noch eine andere Seite, und auf
dieser liegen meine Bedenken gegen die Berufung. Um
dieselben Ihnen klar zu machen, muss ich etwas tiefer
gehen. Ich habe mich überzeugt, dass es neben dem Ge-
biete des Wissens noch ein anderes, ein höheres Gebiet
gibt, das des Glaubens. Ich habe Männer kennen ge-
lernt, deren Verstand, deren Wissenschaft grösser ist als
der Verstand und die Wissenschaft irgend eines unter uns,
Männer, die zugleich in sich einen Glauben als das höchste
geistige Gut pflegen, welcher nicht der meinige ist, welcher
weit stärker ist, als der meinige, welchen viele, vielleicht
die meisten unter Ihnen für Überglauben oder für Aber-
glauben halten würden. Diese Beobachtung schon hat mir
eine gewisse heilige Scheu eingeflösst für das Gebiet des
Glaubens. Zugleich habe ich schlichte Leute kennen ge-
lernt, ohne alle wissenschaftliche Bildung und Einsicht, aber
die in ihrem Glauben einen geistigen Halt finden, der ihnen
mehr ist, als ihnen das Wissen jemals zu bieten vermöchte.
Und auch diesen bin ich die nämliche heilige Scheu schuldig.
„Ich habe noch weitere Erfahrungen gemacht, freilich
nicht durch Selbstanschauung, aber durch die Beachtung
der Geschichte. So habe ich insbesondere gefunden, dass
das wesentliche Element der ganzen europäischen Staten-
entwickelung, die Seele der ganzen modernen Gultur das
Christentum ist. Sehen Sie auf die Völker und ihr Leben.
Sie werden sich überzeugen, dass je die kräftigsten, inner-
lich gesundesten den christlichen Glauben in sich tragen;
cap. 17.] IM Grossen Rat. 209
Sie werden zugeben müssen, dass je mehr sich ein Volk
von dem Christentum abwendet, es in einen desto tieferen
Verfall, in desto grösseres Unglück gerät. Ein Volk hat
schon einmal das Christentum abgeschafft; aber als dieses
Volk die Göttin der Vernunft vereinte, war es zugleich
wie das unvernünftigste, so auch das unglücklichste.
Ich halte auch zur Zeit das Christentum nicht für
einen abgedorrten Baum, welcher seinen Zweck erfüllt hat
und nunmehr umgehauen werden muss. Vielmehr traue
ich demselben jetzt noch innere Lebenskraft zu. Ich traue
ihm namentlich auch die Kraft zu, die Krankheiten, welchen
ein Volk erliegt, zu heilen, das Böse, Verwerfliche, was
sich in's Völkerleben verwoben hat, zu überwinden.
Nun aber, H. H., ist der Grund dieses Christentums
nicht im Wissen, sondern er ist im Glauben zu suchen.
Das Höchste, was der menschliche Geist anstreben kann,
ist gewiss, sein Verhältnis zu G(^tt inne zu werden.
Jeder fühlt dieses Bedürfiiis tief in sich. Jeder dürstet
nach einer Befriedigung desselben. Und hier nun glaube
ich, dass die Wissenschaft, dass das blosse noch so folge-
richtige Denken nimmermehr diese Befriedigung gewähren
wird, dass diese Aufgabe der Wissenschaft zu hoch liegt.
Hier, wo das Wissen aufhört, beginnt die Sphäre des Glau-
bens, des Glaubens, der tief im innersten Kerne des Gefühles,
des Gemütes wurzelt. Ich weiss gar wohl, die philosophi-
schen Systeme haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses
Verhältnis des Menschen zu Gott und Gottes zu den Men-
schen zu construieren; das eine in dieser, das andere in
jener Weise. Und jedesmal, wenn ein bedeutender Kopf,
ein grosser Denker erstanden ist, hat er um sich eine An-
zahl Schüler für seine Theorie eingenommen. Jedesmal hat
Sluntschli, Dr. J. C, Alis meinem Leben. I. 24
210 Meine Rede [cap. 17.
er bei Vielen, zumal wenn die Neuheit der Erscheinung
blendend wirkte, Teilnahme und Bewunderung gefunden.
Aber ein System verdrängte das andere. Der Nachfolger
wies dem Vorgänger Fehlschlüsse nach. Und nicht Eines
hat auf die Dauer jenes Bedürfnis nicht einmal der Den-
ker, geschweige denn der Völker befriedigt. Hier also
reicht das Wissen nicht aus. Es muss der Glaube hinzu-
treten.
Und nun hat man Ihnen gesagt: „Wir verwerfen
den Glauben nicht, wir verwerfen nur den Autoritäts-
glauben. Allen Autoritätsglauben zu brechen, ist vor
Allem die Aufgabe des Dr. Strauss." Hier kann ich nun
nicht beistimmen. So lange es sich nur darum handelt,
mythische Bestandteile auch in dem neuen Testamente
nachzuweisen, so lange die Frage nur die ist, ob einige
Wunder zu beseitigen seien, so halte ich dieses für un-
wesentlich. Aber Eine Autorität muss bestehen blei-
ben, diese darf nicht gebrochen werden, die Autorität, auf
welcher das ganze Christentum ruht, mit welcher es steht
und fallt, die Autorität von Christus selbst, des Stif-
ters dieser Religion. Auch ich glaube, wie das schon in
einem früheren Votum auseinandergesetzt worden ist, dass
Christus voraus dazu geboren und berufen war, das reli-
giöse Moment in seiner höchsten Potenz zu verwirklichen.
Ihm war das Verhältnis zwischen Gott und Menschen kla-
rer, als es seither je Einem geworden. Und was er so
aus seiner eigenen von göttlichem Geiste durchdrungenen
Seele schöpfte und äusserte, hat eine höhere Glaubwürdig-
keit anzusprechen, als die kühnsten Philosopheme. Diese
Wahrheit, welche das Denken allein auch des grössten
Denkers nicht zu geben im stände ist, geht ein in das
cap. 17.] IM Grossen Rat. 211
Gemüt auch derer, welche nie dazu gelangen werden, in
der Wissenschaft Belehrung zu schöpfen. Diese Autorität
darf auch der grösste Denker verehren, ohne sich herab-
zuwürdigen.
Dr. Strauss nun, dessen Schriften ich allerdings nur
unvollständig kenne, hat, so viel ich weiss, seine Grund-
ansichten in der Hegerschen Philosophie geholt. Diese
Philosophie hat den ehrenwerten Versuch gemacht, von
dem Denken aus auch das religiöse Bewusstsein zu con-
struieren. Aber so viel ich davon verstehe, ist dieser
Versuch verunglückt. Ich habe vernommen, dass wer in
diese Philosophie eintreten wolle, vorerst den gemeinen
Menschenverstand fallen lassen müsse. Ich weiss auch,
dass sie sagen, nur wer sich zu dieser Philosophie bekenne,
könne darüber urteilen. Da ich weder Lust hatte, meinen
gemeinen Menschenverstand abzustreifen, noch mich zu
dieser Philosophie bekenne, sie grossenteils auch nicht ver-
stehe, so kann ich freilich darüber nur in sehr unvollkom-
mener Weise reden. Aber wenn Hegel gesagt hat, Gott
komme durch das Denken der Menschen zum Selbstbewusst-
sein, so hat mir das immer für Blasphemie gegolten. Und
wenn Hegel sich selbst mit Christus verglichen und sich
sogar über diesen gestellt hat, so ist mir das immer als
ein widerwärtiger Übermut vorgekommen. Der Gott, von
dem diese Schule redet, ist nach meinem Glauben auch
kein Gott. Denn ein Gott, der nur das Bewegen des Den-
kens ist, gilt mir für ein abstruses Nichts, mit dem ich
mich nicht befreunden kann. Wie diese Schule überhaupt,
so weit ich deren Lehren kenne, geneigt ist, den Menschen
und sein Denken über Gebühr hoch zu stellen, und Gott,
der in keiner Denkformel begriffen werden kann, viel zu
14*
212 Meine Rede [cap. 17^
tief herabzuziehen von seiner in Wahrheit dem mensch-
lichen Geiste unerfasslichen Höhe, so habe ich diese näm-
lichen mir anstössigen Lehren auch in einer Schrift von
Strauss wiedergefunden (Leben Jesu, erste Aufl. § 729,
730). Wie soll nun aber unser Volk im stände sein, daran
seinen Glauben zu prüfen? Wie soll es nur jene Lehren
verstehen können, von welchen aus man gedenkt, seinen
Glauben zu reformieren? Ich höre zwar, und ich glaube
es gerne, Dr. Strauss gehöre zu den tüchtigsten Individuen.
Dann, denke ich, wird er auch bald genug den formellen
Hegelianismus wieder fahren lassen. Aber ich hätte es lie-
ber gesehen, wenn wir den weiteren Entwickelungsprocess
ruhig abgewartet hätten, als dass wir uns selbst mitten
in den Kampf hineinstürzen und den Kampfplatz vorzüg-
lich hieher nach Zürich versetzen.
Auf diesen Grundgedanken beruhen nun meine practi-
schen Bedenken, welche ich noch kurz Ihnen vorführen
werde. Da nach meiner innigsten Überzeugung der Glaube
nicht durch das Denken gemacht werden kann, und über-
dem Dr. Strauss, wie Alle einverstanden sind, bisher seine
geistige Kraft mehr negativ gezeigt hat, insofern er den
bisherigen Glauben bekämpft, als positiv, insofern er den
christlichen Glauben auferbaut: so besorge ich, alle die,
welche in dem Glauben ihr Heil finden, werden sich von
ihm wegwenden. Ja, ich besorge noch weit mehr: sie
werden sich von dem Denken selbst wegwenden, das ihnen
nur Unheil zu bringen scheint, sie werden noch starrer,
einseitiger werden und sich mehr und mehr auf dem Ge-
biete des Glaubens abschliessen. Dieses aus aller Verbin-
dung mit dem Denken gebrachte Gebiet kann dann leicht
ein Gebiet des Aberglaubens werden. Andere dagegen,
cap. 17.] IM Grossen Rat. 213
welche weniger stark im Glauben sind, aber sich des Den-
kens und Wissens vornehmlich freuen, werden umgekehrt
den Rest des Glaubens verlieren, und da sie der Masse
nach die Gedanken, besonders die aufbauenden, des Dr.
Strauss doch nicht verstehen werden, auf das entgegen-
gesetzte Gebiet eines scheinbar denkfreien, aber an der
höchsten Wahrheit armen Unglaubens hinüber geraten.
Gerade die Versöhnung zwischen Glauben und Wis-
sen scheint mir nun aber die Hauptaufgabe unserer Zeit.
Nun will ich durchaus nicht behaupten, dass nicht gerade
Dr. Strauss auch diese Vermittlung wünsche, dass er nicht
dazu mitwirken werde, dieselbe herzustellen. Aber ich
weiss dies noch nicht mit Sicherheit. Bis jetzt scheint er
mir ganz auf das eine Gebiet, das des Wissens, überge-
treten zu sein. Und nie lässt sich eine wahre Vermitt-
lung denken, wenn man nur von dem einen aus das an-
dere überwinden will. Hier würde ich nun eben lieber
warten, wie sich alle diese Bewegung weiter entwickelt.
Der Kampf, der auf wissenschaftlicher Seite begonnen ist,
wird auch zunächst da durchzukämpfen sein. Dieser Kampf
aber wird durchgekämpft, auch wenn Dr. Strauss nicht
nach Zürich kommt.
Man hat freilich gesagt, Dr. Strauss finde in Deutsch-
land keine Anstellung, weil dort Monarchien seien, und
diese ein Interesse haben, die Wissenschaft und das
Licht zu unterdrücken. Deshalb müssen wir ihm einen
theologischen Lehrstuhl in unserem Freistate anweisen,
damit er von da aus kämpfe. Um dieses zu sagen, muss
man das wissenschaftliche Leben in Deutschland wenig
kennen. Wir Schweizer gehen hier wahrlich nicht vor-
aus, wir stehen vielmehr zurück. Die Heroen der Wissen-
1
214 Meike Rede [cap. 17.
Schaft, von denen gerade in diesem Zusammenhange die
Rede ist, wie Hegel, Schleiermacher, Dr. Strauss selbst,
sind Deutsche und haben ihre Wissenschaft in Deutsch-
land erworben. Sie haben sie auch dort gelehrt, die bei-
den ersteren bis an ihr Lebensende. Also rede man doch
nicht mehr davon, dass in den deutschen Monarchien die
Wissenschaft nicht gedeihen könne. Es liegt in dem Ge-
sagten aber noch ein zweiter Irrtum, der nämlich, als
würde jener theologische Kampf vorzüglich von einem
zürcherischen Katheder aus geführt werden. Das Kathe-
der in Zürich wird in diesem Kampfe eine sehr unterge-
ordnete Rolle spielen. Dr. Strauss ist ein Mann, der der
Sprache mächtig dem grösseren Publikum seine Ansichten
durch die Schrift zu verkünden weiss. Darin liegt seine
HauptwaflFe, und diese kann er in Deutschland so gut fuh-
ren, als bei uns in der Schweiz. Das haben wir ja bereits
gesehen. Wenn dann aus dem Hin- und Widerschreiben
der Gelehrten sich allmählich dort die Wahrheit mehr
herausarbeitet, und das wird geradeso geschehen, mag
nun Dr. Strauss in Stuttgart oder in Zürich wohnen, dann
werden die Resultate zum Gemeingute auch der anderen
Lehrer werden. Was Gutes auch in seinen Werken sich
findet, wird aufgenommen werden auch von den bisherigen
Professoren der Theologie. Was sich Schiefes, Irriges darin
zeigen sollte, wird dann leicht beseitigt werden. Glauben
Sie nur nicht, dass die bisherigen Professoren der Theo-
logie in Zürich verschlossene Ohren haben, glauben Sie
nicht, dass sie Pietisten seien. Fragen Sie darüber unsere
Pietisten oder auch nur die Orthodoxen. Sie werden bei
diesen vielmehr Klagen hören, dass unsere Lehrstühle zu
einseitig besetzt seien, dass zu sehr schon dem Rationalis-
cap. 17.] IM Gbossbn Rat. 215
mus Vorschub gethan sei. Und nun will man jenen zu-
wider noch viel weiter gehen, noch einseitiger verfahren.
Aus allem dem folgt doch wohl, dass jener Kampf, den
Sie so sehr wünschen, auch geführt wird, ohne dass Dr.
Strauss bei uns ist. Der wahre Kampfplatz ist und bleibt
doch immer das wissenschaftliche Deutschland. Was wollen
wir nun neue innere Störungen, innere Kämpfe in unserem
Volke hervorrufen, in stärkerem Masse als nötig und heil-
sam ist, Kämpfe, deren Resultate noch nicht abzusehen
sind? Ich mache Sie darauf aufmerksam, wie gerade jetzt
überall in Europa die Fragen der Religion wieder lebhafter
erörtert werden, wie namentlich auch das Volk an diesen
Kämpfen teilnimmt, wie wenig sich hier zum Voraus be-
rechnen lässt, wie weit der Glaube und der Aberglaube füh-
ren kann. Hier sind Gefahren, die man nicht leichtsinnig,
nicht ohne Not eingehen darf. Und eine solche Not scheint
uns nicht vorhanden.
Man spricht freilich von einer Reformation, deren wir
bedürfen. Aber ich halte diese für einen Traum. Zwar
gebe ich zu, und die ganze heutige Discussion beweisst
dafür: es besteht eine Differenz zwischen den Ansichten
einer grossen Zahl von mehr oder weniger Gebildeten in
unserem Kanton auf der einen Seite und der Lehre der
Geistlichen auf der andern Seite. Diese nehmen vielleicht
nicht genug Rücksicht auf die Bedürftrisse derer, in welchen
der Verstand aufgewacht ist. Das wird sich aber allmälig
schon ändern, wenn man nur die Hochschule ruhig ge-
währen lässt. Sie macht ohnehin schon die jungen Leute
aufmerksam auf den gegenwärtigen Standpunkt der Wissen-
schaft. Und von diesen her wird die Wirkung schon all-
mälich ins Leben übergehen. Man sieht dann ferner in der
216 Meike Rede im Gbossen Rat. [cap. 17.
Berufung des Dr. Strauss einen grossen Gewinn für die
Hochschule. Insofern man in ihm eine wissenschaftliche
Potenz erkennt und darin den Gewinn sucht, hat man
recht. Insofern man für die übrigen Professoren einen
geistreichen und, wie ich höre, auch liebenswürdigen Col-
legen herbeirufen will, so bin ich auch damit sehr gerne
zufrieden. Aber wenn man meint, die Zahl der Theologie-
Studierenden dürfte durch ihn vermehrt werden, so könnt«
man sich hierin leicht irren. Eine Vermehrung im Grossen
ist überall nicht möglich, so lange das Interdict der deutschen
Staten in Kraft bleibt. Dass dieses nun desto eher beseitigt
werde, werden Sie nicht glauben. Aber selbst für die ein-
heimische Frequenz habe ich Zweifel. Wer studiert Theo-
logie? Grossenteils Söhne von Geistlichen, die von Hause
her schon eine religiöse Erziehung mitbringen, oder sonst
junge Leute, die den Sinn haben für einen der Religion
geweihten Beruf. Andere haben kaum Lust in unseren
Tagen, sich zu Pfarrern zu bilden. Diese werden aber
eher verletzt werden in ihrem Sinn als erbaut durch die
Straussische Theorie, wie sie jetzt noch dasteht. Und
auch da werden die Einen leicht den Glauben verlieren
und von dem gewählten Berufe zurücktreten. Andere da-
gegen sich auf ihr Gefühl zurückziehen und dem Denken
feind werden.
Endlich, H. H., mein letztes Bedenken. Es ist nicht
das kleinste. In unserem Volk, besonders in den unteren
und mittleren Klassen desselben, ist noch viel positiver
Glaube. Dieser Glaube knüpft sich an historische Momente
an in dem Leben Jesu. Wenn hier die Form zerbrochen
wird, welche den Geist einschliesst, so fürchte ich, dieser
wird sich von dem Volke weder halten noch erkennen
cap. 17.] Bestätigung der Berufung von Dr. Straüss. 217
lassen. Daran aber schliesst sich zugleich auch das sitt-
liche Gefühl an. Der Glaube ist die Grundlage, auf welcher
im Volke auch die Sittlichkeit ruht. Die Leute scheuen
das Böse und lieben das Gute grossenteils darum, weil sie
durch ein göttliches Gebot, das ihnen zum Herzen noch
mehr als zum Kopfe redet, zum Guten hingezogen, von
dem Bösen zurückgewiesen werden. Stürzen Sie jenen
positiven, an äusserliche Dinge sich lehnenden Glauben
ein, so wird auch das darauf ruhende sittliche Gefühl er-
schüttert. Und diese Erschütterung kann grosses Verder-
ben nach sich ziehen. Das sind die Gründe, aus denen
ich gegen die Berufung des Dr. Strauss und für die Mo-
tion, deren formelle Verteidigung ich anderen Mitgliedern
überlassen will, stimmen werde. Es sind das Gründe mehr
objectiver Art, hergenommen von allgemein menschlichen
Verhältnissen und Zuständen unseres Volkes und unserer
Kirche. Werden diese Gründe widerlegt, so werde ich
meine Meinung ändern, aber auch nur, wenn sie wider-
legt werden.**
Mit 98 gegen 49 Stimmen wurde die Motion von
dem Grossen Rate verworfen und dadurch der Absicht
und Wirkung nach die Berufung des Dr. Strauss gebilligt.
Mit 15 gegen 3 Stimmen bestätigte der Regierungsrat am
2. Februar dieselbe. Die verfassungsmässige Vertretung
und Regierung des Volkes hatten sich nun erklärt. Aber
bald zeigte sich*s, dass das Volk selber, dass insbesondere
die grosse Mehrheit der Bürger mit diesem Entscheide
nicht einverstanden und zum Widerspruch und Widerstand
entschlossen war.
Die Bewegung ging von den Bewohnern des linken
Seeufers aus und verbreitete sich rasch. Unter dem Vor-
218 ^^^ Widerstand des Volks in den Gemeinden. [cap. 17.
sitze von Hürlimann-Landis, einem angesehenen Fabri-
kanten von Richterschwyl, traten am 13. Februar Vertreter
von 29 Gemeinden in Wädischwyl zusammen und be-
schlossen, die Berufung von Dr. Strauss auf den dogmati-
schen Lehrstuhl durch Bildung einer Vereinigung aller
Kirchgemeinden, welche Ausschüsse wählen sollen, zu be-
kämpfen. Zugleich wurde ein Central-Comite für den gan-
zen Canton gegründet.
In der That, fast alle Gemeinden des Cantons folg-
ten der Einladung sich auszusprechen und wählten Aus-
schüsse, die mit dem Central-Comite von 22 Mitgliedern
in Verbindung traten. Am 10. März wurde über die Pe-
tition in den Gemeinden abgestimmt, welche von dem
Condte entworfen war und nun entschieden die Zurück-
nahme der Berufung von Strauss, eine neue Repräsen-
tation der Kirche mit Zuzug von Laien und eine sorgfälti-
gere Beachtung des religiösen Elements in der Volksschule
und in dem Schullehrer-Seminar forderte. Die ganze Masse
der stimmberechtigten Bürger nahm an der Abstimmung
teil. 39,225 Stimmen erklärten sich für, nur 1048 gegen
die Petition, d. h. nahezu die Gesamtheit der Wähler. Das
formelle Recht der Massen zu entscheiden, konnte wohl
in Zweifel gezogen, die thatsächliche Willensmeinung des
Zürcherischen Volkes aber nicht geläugnet werden.
Der Regierungsrat erschreckt suchte einen Ausweg;
die Mehrheit des Erziehungsrates blieb fest. Wieder kam
die Frage an den Grossen Rat, der am 18. März versam-
melt ward. Der Grosse Rat war in einer peinlichen Lage.
Dieselbe Regierung, die wenige Wochen früher die Be-
rufung von Strauss empfohlen hatte, trug nun um der
öffentlichen Meinung willen auf Pensionierung des von ihr
cap. 17.] WiDEBBüF DES Gbossbn Rats. 219
berufenen Professors an, ohne dass dieser inzwischen irgend
einen Anlass dazu gegeben hatte, in Wahrheit nur, weil
die Volksm einung unzweideutig verlangt hatte: „Strauss
soll und darf nicht kommen." Derselbe Grosse Rat, der
kurze Zeit vorher die Wahl gebilligt und eine Reform der
Kirche angekündigt hatte, bekannte nun seine Schwäche
und beschloss mit 149 Stimmen gegen 38 den Widerruf.
In der Minderheit stimmten der Bürgermeistei' Hirzel, die
radikalen Juristen und ihre Getreuen. Die grosse Mehr-
heit der Landbürger wurde durch die Stimmung ihrer Hei-
mat zum Übergang in das Lager der früheren Minderheit
getrieben, welche dadurch zur Mehrheit der Behörde wurde.
Die Verhandlung im Grossen Rate wurde nicht ohne
bittere Ausfalle gegen die Personen geführt. Keller nannte
die Bewegung unrein in ihrer Quelle, in ihrer Entwickelung
und in ihren Resultaten und erklärte, das. sei die Meinung
des Volkes, welche sich durch seine Vertretung ausgespro-
chen habe, und nicht was siebenhundert giltige oder un-
giltige Gemeinden wollen. Ohne jene Annahme habe die
Repräsentativ Verfassung keinen Sinn und keine Geltung.
Ihm erwiderten Alexander Schweizer und ich.
Jener bezog sich auf eine frühere Voraussagung von mir aus
dem Jahr 1831 (Geschichte der Revolution im Canton Zürich),
dass der Radikalismus in seinen Fortschritten zum Angriff
auf die Religion des Volkes vorgehen und dann den Geist
des Zürchervolkes zu offenem Widerstände reizen werde.
Der statsrechtlichen Beweisführung Kellers entgegnete ich
folgendes: „Allerdings ist der Grosse Rat der Repräsentant
des Volks, aber nicht das Volk. Das Volk vereinigt alle
Bürger des ganzen Cantons in sich. Der Grosse Rat ist
das Organ des Volkes, um den bindenden VolkswiUen zu
220 Vebhandlunoen dabübeb im Gbos8en Rat. [cap. 17.
äussern. Aber damit ist nicht gesagt, dass Alles, was der
Grosse Rat als Volkswillen ausspreche, auch wirklicher
Volkswille sei. — Wenn der wahre echte Volkswille und
der vom Grossen Rate ausgesprochene Volkswille im Con-
flicte sind, dann fehlt es eben dem Volke an einem guten,
gesunden Organe. Es mögen manche Mitglieder das letzte
Mal um der Form willen gegen die Motion des Herrn An-
tistes Füssli gestimmt haben. Andere haben aber dagegen
gestimmt, um die Berufung von Strauss und den darin
liegenden Gedanken einer Reformation zu billigen. Ich
frage Sie auf Ihr Gewissen: Haben damals sich die Mit-
glieder recht deutlich gemacht, dass sie nicht für sich,
sondern für das Volk zu stimmen, dass sie die allgemeinen
Volksinteressen und nicht ihre besonderen Wünsche zu be-
rücksichtigen haben? Ich will Niemanden einen Vorwurf
machen. . Wir Alle haben, sei es dieses oder jenes Mal,
diesen Fehler gemacht und zuweilen das eigene Ich dem
Wohl des Ganzen vorgezogen. Viele Gebildete wünschten
Strauss, weil sie in seiner Lehre etwas zu finden hofften,
das ihnen besser zusage als die hergebrachte Lehre der
Kirche. Aber abgesehen davon, dass sie sich in dem Mittel
irrten, vergassen sie die Volksbedürfnisse und den Volks-
glauben. Wir haben ein grossenteils industrielles und
schwer mit Arbeit geplagtes Volk. Die grosse Masse der
Einwohner ist zwar nicht gerade arm, aber mit Sorgen und
Mühen vielfach gedrückt. Für ein solches Volk ist die
Religion vom höchsten Werte. Sie allein richtet die Leute
auf, sie allein macht ihnen das Leben erträglich. Nun
war für diese Religion, in welcher das Volk Ruhe und
Glück findet, welche ihm die höchste Wahrheit eröffnet,
wirklich Gefahr vorhanden. Dr. Strauss steht, wie wir
cap. 17,] Pbnsioniebüno von Dr. Strauss. 221
aus den Schriften über Strauss und von Strauss gesehen
haben, nicht auf dem Boden des historischen Christentums.
Seine grossenteils Hegersche Lehre wollte man dem Volke
aufdringen. Es hatte daher nicht Unrecht, nach seiner
Auffassung zu erklären: „Nicht Strauss, sondern Christus."
Man spricht so viel von dem Fanatismus der Menge.
Aber diese fanatische Menge blieb ruhig in den gesetz-
lichen Schranken, Astährend ihre Gegner mit Waffengewalt
und Krieg drohten. Wären nicht 40,000 Bürger auf der
einen Seite und eine winzige Minderheit auf der anderen,
so hätten wir nach diesen Äusserungen den Bürgerkrieg
bekommen. Damit so leichtfertig zu spielen, wie es ge-
schehen ist, verrät weder grosse politische Einsicht, noch
grosse politische Sorge für die Wohlfahrt des Ijandes."
Die legale Form, die Berufung von Strauss unwirksam
zu machen, war nun gefunden. Schon am Morgen nach
dieser denkwürdigen Sitzung beschlossen der Erziehungs-
und der Regierungsrat die in Ruhestand-Versetzung des
Professor Strauss mit einer Pension von 1000 alten Schwei-
zerfranken.
Nach einer so tiefen Demütigung der Regierung und
des Grossen Rates wäre eine Erneuerung der gewählten
Behörde wohl gerechtfertigt gewesen. Aber die radikale
Mehrheit wollte sich keinen Neuwahlen in dem Augenblick
aussetzen, in dem sie das Vertrauen der Wähler verloren
hatte; und die conservative Minderheit scheute sich, dieses
Begehren zu stellen, welches sie in den Verdacht ehrgeizigen
Stellenbewerbes gebracht hätte.
Schon am folgenden Tage wurde der Kampf im
Grossen Rate wieder aufgenommen und fortgeführt. Der
Regierungsrat Bürgi, ein Mann ohne wissenschaftliche
222 Bedbohükg deb Hochschule. [cap. 17.
Bildung, aber nicht ohne praktisches Talent, hatte den
brutalen Antrag gestellt auf Aufhebung der Hochschule
und wurde nun, wenigstens scheinbar, auch von einigen
radikalen Juristen — freilich nicht von Keller, der sich
dessen geschämt hatte — unterstützt. Sie dachten sich für
die Niederlage in der Strauss'schen Sache zu rächen. Der
Bürgermeister Hirzel blieb auch hier seiner idealen Natur
treu. Mit Entrüstung bekämpfte er diesen rohen Angriff
auf die höchste wissenschaftliche Anstalt des Cantons. Es
war auffallend, dass im Übrigen fast nur Stadtbürger, und
mehr Conservative als Liberale der Erheblichkeitserklärung
des Antrags entgegentraten, voraus Oberrichter Ulrich,
Bürgermeister Hess, Altbürgermeister v. Muralt, Ferd.
Meyer, Gysi-Schinz, Alex. Schweizer. Am tiefsten
schnitt meine Bede ein, welche die politische Verwerflich-
keit der Motion beleuchtete. Die Hauptstelle mag auch
hier noch einen Platz finden.
„Darüber kann kein Zweifel sein, die Hochschule,
wie sie gegenwärtig ist, steht höher als unsere wissen-
schaftlichen Anstalten vor ihrer Gründung. Ich kann mir
nun keine Veränderung als möglich denken, welche uns
zurückführen würde in einen Zustand, der nicht bloss
schlechter ist als der gegenwältige, sondern tiefer steht
als der frühere: und ein solcher Zustand würde durch die
Motion herbeigeführt. Man spricht heute von Volk und
Volkswillen in ganz anderem Sinne, als gestern; ich habe
mich gestern auch darüber ausgesprochen, und zwar so,
wie ich es heute thue und wie ich es vor 9 Jahren bereits
schriftlich gethan habe. Um den Volkswillen zu erkennen,
muss man das Volk mit seinen Bedürfnissen und seinem
Charakter auffassen. Das Volk ist nicht von gestern, auch
cap. 17.] Meine Rebe füb die Hochschule. 223
unser Volk wie andere Völker hat ein Leben nicht von
Jahren bloss, sondern von Jahrhunderten. Ich habe es für
eine Sünde gehalten, dass man die religiöse Seite in unserem
Volkscharakter tief gekränkt hat. Begehen sie nicht eine
neue Sünde gegen eine andere Seite unseres Volkslebens;
jede solche Sünde rächt sich früher oder später und findet
ihre Strafe.
Schon seit Jahrhunderten, nicht erst seit gestern, hat
sich Zürich in zwei Richtungen besonders ausgezeichnet.
Die industrielle ist die eine, die wissenschaftliche die an-
dere. Beide Richtungen waren ursprünglich in der Stadt
Zürich vereint, beide waren eingeschlossen in die Stadt,
während einer gewissen Zeit schloss sich die Stadt in beiden
Richtungen ab von der Landschaft. Das hat sich aber
seitdem geändert und hat sich ändern müssen. Die Indu-
strie hat sich ausgedehnt auch über die Landschaft, sie hat
auch dort feste und schöne Wohnsitze aufgeschlagen, die
Verbindung aber mit der Industrie der Stadt ist geblieben,
und in dieser Verbindung liegt .zum Teil ihre Kraft. Auch
die Wissenschaft hat angefangen sich auszudehnen von der
Stadt über die Landschaft, auch sie hat Wohnsitze erlangt,
wenn schon jetzt noch geringe und spärliche, sie bedarf noch
weit mehr der inneren Verbindung uiid eines Brennpunktes,
wie er sich hier findet; denn darüber kann kein Zweifel
sein, dass die Hochschule in dieser Richtung die be-
deutendste Stelle einnimmt, und dass die Hochschule eine
grosse Masse von Intelligenz und Geist vereinigt. Eine
Zerstörung der Hochschule heisst daher Zerstörung dieser
wissienschaftlichen Richtung. Man sage nicht, die Land-
schaft sei dabei nicht beteiligt. Was wird die Wirkung
auf die Stadt zunächst sein? Die Unbemittelteren werden
^
224 Meine Rede nc Gbossen Rat [cap. 17.
nicht mehr studieren, weil sie keine bequeme Gelegenheit
dazu finden, aber das wissenschaftliche Bedürfnis, das seit
Jahrhunderten in der Stadt bekannt ist, wird nicht ganz
beseitigt werden, die Söhne der Reichen werden dennoch
studieren und dadurch ein neues geistiges Übergewicht vor-
bereiten.
Was werden die Wirkungen zunächst für die Land-
schaft sein? Hier wird die wissenschaftliche Richtung, die
erst anfängt Wurzeln zu schlagen, im Keime erstickt wer-
den. Jetzt schon hat die Zahl der Landbürger, die stu-
dieren, ziemlich zugenommen. Um ein Beispiel zu erwähnen,
so habe ich gerade in diesem Semester in einem CoUegium
9 Landbürger und 3 Stadtbürger als Zuhörer gehabt.
Glauben Sie, wenn Sie die Hochschule aufheben, so nehmen
Sie vorzüglich den Landbürgern die Lust, sich wissenschaft-
lich auszubilden. Stellen Sie sich dieses klar in seinen
Folgen vor. Man hat mir und meinen Freunden schon oft
vorgeworfen, wir haben eine politische Reaction im Sinne.
Es ist dieses eine schmähliche Verläumdung. Hätten wir
das wirklich im Sinne, so würden wir mit Herrn Bürgi
stimmen und die Hochschule zerstören helfen. Zerstören
Sie diesen Geist, so wird sich eine neue und falsche Stadt-
herrschaft bilden! eine Herrschaft der Reichen, gehalten
durch wenige geistig ausgebildete Bürger. Die Frage hat
aber noch andere Seiten von der höchsten politischen Wich-
tigkeit. Der Stand Zürich hat in der Eidgenossenschaft,
auch nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrhunderten,
eine der ersten Stimmen gehabt; er ist von jeher als ein
vorzugsweise intelligenter Stand betrachtet worden. Hüten
Sie sich wohl, diese Stellung des Standes Zürich zu ver-
kehren. Sie zerstören gleichzeitig damit das Ansehen und
cap. 17.] FÜB Erhaltung der Hochschule. 225
den Einfluss des Standes Zürich. Der Canton Zürich würde
hinuntersteigen von seiner gegenwärtigen Höhe und tief
herabsinken in den Augen seiner Miteidgenossen. Aber
nicht bloss vor der Eidgenossenschaft würde die Ehre des
Cantons Zürich geschändet, sondern vor der ganzen civili-
siertenWelt; denn unsere Ehre ist eng verbunden mit der
wissenschaftlichen Richtung. Aber auch da, gegenüber dem
Auslande sogar, handelt es sich nicht bloss um die Ehre:
die Ansichten, die über einen Stat verbreitet sind, sind auch
von Einfluss auf seine Beziehungen zu andern Staten. Es
ist im höchsten Interesse dieser Beziehungen, dass man
nicht sagen könne: die Barbarei hat im Canton Zürich
gesiegt.
Betrachten Sie den Antrag gegenüber unserer politi-
schen Entwickelung. Man wird sagen müssen: so lange
die Stadt geherrscht hat, war der Stand Zürich geehrt,
höhere wissenschaftliche Anstalten blühten in ihr. Dann
veränderten sich die Verhältnisse; die Souveränetät, welche
früher der Stadt zugehört hatte, dehnte sich aus über die
ganze Landschaft. Diese, begeistert von der neuen Richtung,
erkannte, dass sie nicht zurückbleiben dürfe hinter der
früheren Stadtherrschaft. Eine Hochschule wurde begründet,
um die wissenschaftliche Richtung zu erheben. Wenige Jahre
später wurde ein neuer Grosser Rat von Stadt- und Land-
bürgern ohne Unterschied bloss nach der Kopfzahl gewählt,
und kaum war dieser Rat da, so« gefiel es einem Mitgliede
des Regierungsrates, ohne vorherige Untersuchung, ohne
gehörige Sachkenntnis, in Bausch und Bogen darauf anzu-
tragen: die Hochschule ist aufgehoben, und einen solchen
Antrag hat jener Grosse Rat für erheblich gefunden. Glauben
Sie nicht, dass die ganze gebildete Welt urteilen würde,
Blttntschli, Dr. J. C, Aas meinem Leben. I. -^^
226 Meine Rede im Gbossen Rat [cap. 17.
der Canton Zürich sei durch seine politischen Veränderungen
nicht gehoben, sondern erniedrigt worden? Und was die
gebildete Welt urteilt, ist von £influss auf das Leben, es
können sich von daher Gefahren erheben der schlimmsten
Art, und es laden sich die, welche zu einem solchen An-
trage raten, eine ungeheure Verantwortlichkeit auf. Werfen
Sie nun alle diese politischen Gründe in die eine Wag-
schale, und die Ausgaben des Stats in die andere, so wird
Niemand von Ihnen zweifeln, welche von beiden sinkt.
Nach officiellen Berechnungen betragen diese Ausgaben
34,000 Frcs. Diese Ausgabe wird aber nur zum kleineren
Teile vom State bezahlt, zu einem grösseren von dem
Stiftsgute und der Stadt Zürich. Wenn Sie dann nach
Hause kommen und sich etwa Einer beklagt, die Hoch-
schule koste zu viel Geld, so können Sie ihm mit Beruhig-
ung antworten: es gibt zwei ehrenwerte Bürger im Canton
Zürich, von denen jeder einzelne an demselben Tage, wo
die Hochschule aufgehoben wird, 10,000 Frcs. gewinnt.
Diese beiden Bürger haben im Grossen Rat gesessen, als
der Antrag gestellt wurde auf Aufhebung der Hochschule.
Diese beiden Bürger haben aber für die Hochschule und
gegen die Erheblichkeit der Motion gestimmt. Sagen Sie
den Leuten dieses, und sie werden sich schämen, sich länger
zu beklagen. Ich stelle daher den Antrag, dass die Motion
für unerheblich erklärt werde. Wenn es sich um blosse
Verbesserungen handelte oder nur eine blosse Untersuchung
der Sache, so könnte ich auch dazu stimmen. Aber wie
die Motion gegenwärtig eingebracht wurde, so scheint sie
mir der Erguss zu sein eines persönlich beleidigten Ge-
fühls. Ich wünsche, dass die Untersuchung geführt werde
in ruhiger Stimmung, veranlasst durch die Schritte der
cap. 17.] PUB Erhaltung der Hochschule. 227
Behörden, und nicht durch eine feindselige Motion. Unter
den gegenwärtigen Zeitverhältnissen hat die Motion nicht
m
allein den Erfolg, wenn sie erheblich erklärt wird, dass
der Hochschule ein Stoss versetzt wird, sondern man will
zugleich der religiösen Volksbewegung das Siegel der Bar-
barei aufdrücken. Man hat gestern der Bewegung Unrein-
heit vorgeworfen: sie wäre unrein, wenn dieser Antrag
aus der Volksgesinnung hervorgegangen wäre. Die Gegner
der religiösen Bewegung haben den Leuten gesagt: petitio-
niert doch für Aufhebung der Hochschule. Das Volk hat
aber nicht auf ihre Stimmen gehört, und ich hoffe, auch der
Gr. Rat wird nicht auf sie hören.**
Trotz aller Gründen dagegen wurde die Motion doch
für erheblich erklärt, und sogar in einer für die Existenz
der Hochschule bedrohlichen Form. Die Radikalen wollten
sich für die Niederlage an dem Tage zuvor rächen und
fanden bei denselben Mitgliedern Unterstützung, welche
aus Furcht vor ihren Wählern die Führer verlassen hatten.
Mit 120 Stimmen wurde eine Commission zur Prüfung der
Verhältnisse der Hochschule niedergesetzt. Es war aber
kein rechter Ernst in dem scheinbaren Vorgehen gegen
die Hochschule. Man wollte drohen, aber Keiner wollte die
Drohung vollziehen. Der ganze Angriff hatte sein Pulver
schon am ersten Tage verpufft, und die Commission be-
deutete in Wahrheit friedlichen Rückzug. Aber er hatte
das Misstrauen gegen die Radikalen und gegen die Re-
gierung erhöht und die Meinung derer bestärkt, welche
beiden die Absicht zuschrieben, die Zugeständnisse an die
Volksbewegung möglichst bald zurückzunehmen und die
frühere Richtung zu erneuem.
15'
228 I^^s Centrax-Comite ukd die Regierung. [cap. 18.
18.
Das Gentral-Comit^ und die Regierung. Reizungen nnd Anfreg-
nngen. Yolksyersammlnng zn Eloten am 2. September. HirzeFs
Zng nach Zürich am 5. September. Die Revolution vom 6. Sep-
tember. Meine Stellung in derselben. Briefwechsel mit Hirzel.
Die Auflösung der obersten Landesbehörden. Ein neuer Grosser
Rat. Meine Ernennung zum Regierungs- und Statsrat.
Der politische Anstand und die Rücksicht auf die
öfifentliche Meinung forderten, wenn nicht den Rücktritt
der Mitglieder der Regierung, doch mindestens eine solche
Änderung der Personen, welche das Vertrauen des Volkes
in die Regierung herzustellen und von neuem zu befestigen
geeignet war. Aber den radikalen Mitgliedern fiel es nicht
ein, auf ihre Stellen zu verzichten. Der Grosse Rat war
auch nicht gesonnen, jene politische Rücksicht zu beachten.
Zufallig kamen schon in Ser nächsten Sitzung des Grossen
Rates sechs Mitglieder des Regierungsrates in die Er-
neuerungswahl, von denen fünf als entschiedene Gegner
der Volksbewegung bekannt waren. Sie wurden sämtlich
von der Mehrheit wieder gewählt.
Ebenso wenig dienten die Verhandlungen des Grossen
Rates in seiner Aprilsitzung über die Volkspetition dazu, die
Kluft zwischen Volk und Volksvertretung zu überbrücken.
Dieselbe wurde von hervorragenden Führern der Mehrheit
mit offenem Hohne, mit Verachtung besprochen, und nur mit
Mühe wurde der Antrag durchgesetzt, dieselbe den bestehen-
den Grossrats-Commissionen zur Prüfung zu überweisen.
Das Central-Comite (Glaubens-Comite) hatte bereits
seine Auflösung beschlossen, als diese und ähnliche Er-
fahrungen von neuem zur Vorsicht mahnten und die Mit-
glieder bestimmten, noch eine Weile thätig zu bleiben.
cap. 18.] Reizükoen und Aüpbbgüwgen. 229
Der Grosse Rat erledigte endlich in der Augustsitzung
die Anträge der Volkspetition und seiner Commissionen.
Das religiöse Element in der Volksbildung erhielt nach
dem Wunsche des Volks einige verstärkte Garantien; da-
gegen wurde, mit Recht, dem Kirchenrate eine Mitleitung
der Schule verweigert. Dem Antrag der Aufhebung der
Hochschule wurde keine weitere Folge gegeben; der An-
trag auf eine aus Weltlichen und Geistlichen gemischte
Kirchensynode wurde abgelehnt, und der Forderung einer
Revision des Schullehrerseminars ausgewichen.
Diese Beschlüsse, obwohl sie die Volkswünsche nur
wenig befriedigten, hätten doch nicht einen neuen Aus-
bruch des Kampfes bewirkt, wenn nicht das Misstrauen
gegen die Aufrichtigkeit selbst der geringen Zugeständ-
nisse immer von neuem heftig gereizt und der Widerwille
gegen die entsittlichende Einwirkung des Radikalismus
durch das Verhalten einiger Führer bis zur Wut ange-
stachelt worden wäre.
Ich war niemals Mitglied weder des Central-Comite's,
noch eines Bezirks-Comite's gewesen und hatte mich von
der Leitung der Bewegung fem gehalten; aber ich hatte
Freunde darin und wurde von den wichtigen Vorgängen
in demselben unterrichtet. Auch mit einigen Mitgliedern
der Regierung, welche den Radikalen widerstrebten, ins-
besondere mit Statsrat Hegetschweiler trat ich in Ver-
bindung. Ich arbeitete an einer gründlichen Reform; weil
diese verhindert wurde, so kam die Revolution.
Wieder erliess das Central-Comite eine Einladung zu
einer Versammlung sämtlicher Bezirksausschüsse nach Klo-
ten, um gemeinsame Schritte zu beraten. Die Regierung
dagegen liess die Gemeinden verwarnen, im Auftrage des
230 Volksversammlung zu Kloten. [cap. 18.
Central-Comite sich zu versammeln, und rief ein Bataillon
Truppen in die Stadt. Der Statsanwalt erhob eine Klage
gegen die Mitglieder des Central-Comite's wegen Versuchs
zum Aufruhr und versuchte die Presse durch Beschlag-
nahmen einzuschüchtern. In einem Lande, welches die
Gemeindefreiheit, das Vereinsrecht und die Pressfreiheit in
weitestem Umfang zu üben gewohnt war, mussten diese
Massregeln eher erbittern und den Widerstand reizen, als
abschrecken.
Als die Regierung diesen Eindruck bemerkte, suchte
sie wieder die erregte Stimmung des Volkes zu beschwich-
tigen und entliess die Truppen. Am 2. September fand
die Versammlung in Kloten statt. Die Ausschüsse der
Comites wurden von zahlreichen Scharen der Bürger be-
gleitet. Die Versammlung wuchs trotz des regnerischen
Wetters zu einer grossen Volksversammlung von ungefähr
15,000 Mann heran und fasste Beschlüsse über neue Pe-
titionen an den Regierungsrat und an den Grossen Rat.
Auch bei dieser Volksversammlung war ich nicht be-
teiligt. Bis dahin waren die gesetzlichen Schranken nicht
überschritten. Ich hatte damals noch die Hoffnung, dass
der Grosse Rat, der auf den 9. September einberufen ward,
wenn er den entschlossenen Ernst des aufgeregten Volkes
sehe, endlich das Nötige verfügen werde, um den innem
Frieden herzustellen.
Allein die Spannung dieser Tage war zu heftig und
die Frist vom 2. bis zum 9. September schien zu lange.
In der Zwischenzeit wurden von den Führern der Radi-
kalen mit dem Schultheiss Neuhaus von Bern und an-
deren Häuptern der Cantone des Siebener-Concordates Ver-
abredungen gepflogen über eine bewaffiiete Intervention
cap. 18.] HntzEL's Zuo nach Zürich. 231
dieser Cantone. Truppen aus Bern und Baselland sollten
ausrücken und die Züricher Regierung gegen ihr Volk
schützen. Der Zorn über diese drohende Intervention und
das beleidigte Ehrgefühl der Züricher entzündeten die vor-
handene Gährung zur Revolution.
Dr. Rahn-Escher, der Stellvertreter des Präsidenten
des Central-Comite*s, machte auf die Gefahr aufmerksam
und forderte die Bürger auf, „wenn die Glocken gehen,
zum Sturme bereit zu sein" (5. Sept.). An demselben
Tage liess der Pfarrer Bernhard Hirzel, überzeugt, dass
ein Entscheid nicht länger aufgeschoben werden dürfe, die
Sturmglocke in Pfäflfikon läuten. Bald setzten sich grosse
Massen von Bauern der östlichen Bezirke in Bewegung,
die meisten unbewaffnet, in feierlicher Stimmung, Choräle
singend. Vergebens suchte sie Dr. Rahn-Escher zurück-
zuhalten. Die Einwohner der Stadt Zürich bewaffneten
sich, um die Ordnung zu sichern und das Eigentum zu
schützen. Die Regierung liess durch die Militärschule das
Zeughaus besetzen und einzelne Zugänge absperren.
Als der Landsturm singend in die Stadt einzog, kam
es, worauf derselbe nicht gefasst war, zu einem Zusammen-
stoss mit den Truppen. Es fielen Schüsse hinüber und
herüber. Es gab einige Tote und mehrere Verwundete.
Der Statsrat Hegetschweiler, der vergeblich auch da
noch versöhnend wirkte, wurde von einem Bewaffneten
der Regierung, vielleicht aus Versehen, erschossen. Die
Bauern flohen grossenteils erschreckt und verwirrt, war-
teten dann aber auf bewaffneten Zuzug vom Land. Aber
auch die wenig zahlreiche Regierungsmannschaft wurde
entlassen und löste sich auf. Die Bürgerschaft der Stadt
besetzte das Zeughaus. Überall erschollen die Sturmglocken.
232 ^^^ Rbvolution VOM 6. September. [cap. 18.
Von allen Seiten kamen neue Maseen herbei. Die Regie-
rung erkannte zu spät, wie wenig sie der Krisis gewachsen
sei, und dankte ab. Eine neue provisorische Regierung
wurde gebildet, in welcher die gemässigten Mitglieder der
früheren Regierung eintraten und sich mit einigen anderen
Männern von Ansehen verstärkten.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich dem
Ausbruch einer Revolution in's Angesicht geschaut. Ich
hatte nun selber erfahren, wie mächtig die natürlichen
Leidenschaften aufwallen, wie schwer diese Kräfte zu be-
rechnen und zu leiten sind, wie vielfältig abenteuerliche
Gerüchte und unsichere Nachrichten durch die Luft schwir-
ren, wie der Boden unter den Füssen erzittert und Alles
wankt und schwankt, wie rasch Furcht und Hofl&iung auch
bei den Führern wechseln. Ich verschweige nicht, dass
meine von der geschichtlichen Rechtsschule anerzogene Ab-
neigung gegen Revolutionen eher bestätigt als entkräftet
wurde.
Ich kam in diesen Tagen und Nächten vom 5. bis
7. September nicht nach Hause, sondern war meistens in
dem Hauptquartier der Stadt thätig, welches vorerst für
die Sicherheit der Personen und des Eigentums zu sorgen
bemüht war. Mein Freund Hirzel hatte mich am 5. noch
wissen lassen, dass er mit seinen Volksscharen heranziehen
werde, aber ich hatte auf seinen Entschluss keinen Ein-
fluss und konnte ihm nicht mehr abraten. Ich Hess dann
in der Nacht noch Dr. Keller sagen, wenn er gefährdet
werden sollte, so möge er in meiner Wohnung ein Asyl
suchen. Er zog es vor, am 6. morgens nach Baden zu
fliehen. An dem entscheidenden Tage bekam ich einen
unauslöschlichen Eindruck der furchtbaren Wut, die aus
cap. 18.] Meine Stellung in desselben. 233
dem Volk aufloderte. Ich ging mit einer Schar kräfti-
ger Männer der Seegemeinden über den Platz vor dem
Hotel Baur, in der Nähe des Zeughauses. Als dieselben
hier die Blutlachen am Boden gewahrten, da machten sich
der wilde Schmerz und der grimme Zorn in einem ent-
setzlichen Qebrülle Luft, das mir die Nerven erschütterte.
Aber trotz der Aufregung wurde doch Niemand misshan-
delt, und ohne Gefahr wurden die Geldsäcke auf die Bank
in der Nähe getragen oder dort geholt. Ich hörte nichts
von rohem Unfug, noch von Verletzung des Privatrechts.
Man sah keine Betrunkene. Das öffentliche Verfassungs-
recht nur war gewaltsam durchbrochen. Aber auch in
dieser Hinsicht war der Wunsch allgemein, die bestehende
Verfassung zu erhalten und möglichst bald auch die nö-
tigen Behörden herzustellen.
Die Nacht vom 6. auf den 7. brachte ich in der Ca-
seme zu. Ich hatte den Auftrag des Commandanten der
Bürgerwehr, Oberst Ziegler, übernommen, dort die Ord-
nung aufrecht zu erhalten, und wurde von den bewaffneten
Volksscharen, die hier einquartiert waren, ohne Patent und
ohne Vorstellung frischweg als „Herr Oberst" begrüsst.
Die Leute liessen sich willig leiten und hielten auch dann
fest, als sie mit den falschen Nachrichten allarmiert wur-
den, es seien von Baden her feindliche Truppen im Anzug.
Am Morgen darauf gab ich gerne die improvisierte mili-
tärische Stellung an wirkliche Militärs ab.
Die Revolution war, da Zürich in diesem Jahre eid-
genössischer Vorort und die Tagsatzung in Zürich ver-
sammelt war, vor den Augen der eidgenössischen und der
fremden Gesandten vollzogen worden. Sie war erschienen
wie ein plötzlich entladenes Gewitter, wie ein Windblast.
234 Neuwahl des Grossen Rats. [cap. 18.
Eine grosse, aus allen Teilen des Landes beschickte Volks-
versammlung in Zürich wurde von dem Geschehenen unter-
richtet, von jeder Rache abgemahnt und aufgefordert, zur
Heilung des Gemeinwesens zusammenzuwirken.
Nochmals wurde der alte Grosse Rat, wie die Re-
gierung es vorher bestimmt hatte, am 9. September ver-
sammelt, aber nicht in dem gewöhnlichen Sitzungssaale,
sondern in der Kirche zum Grossmünster, damit die Ge-
sandten und das Volk zuschauen könnten. Es fehlten un-
gefähr ein Dritteil der Mitglieder, fast alle radikalen Füh-
rer, welche sich nach Baden geflüchtet hatten. Die Ver-
sammlung wurde von dem Amtsbürgermeister Hess geleitet,
der als Präsident des Vorortes seine Amtsstellung bewahrt
und dadurch vieles zu einem glimpflichen Übergange aus
dem früheren in das neue Regiment beigetragen hatte.
Nachher zog er sich aus den Geschäften zurück und nahm
nur noch an gemeinnützlichem Wirken und an dem Grossen
Rate teil. Er war ein Vetter meiner Frau (sie waren Ge-
schwisterkinder); ich war aber nie mit ihm in ein intimes
Verhältnis gekommen. Der Grosse Rat beschloss, die pro-
visorische Regierung anzuerkennen und ihr Vollmacht zu
geben, sich selber aber aufzulösen und neue Volkswahlen
anzuordnen.
Die Neuwahlen in den Grossen Rat wurden unter
ungewöhnlich zahlreicher Beteiligung der Bürger vorge-
nommen. Es stimmten 29,489 Urwähler ab. Die Phy-
siognomie des neuen Grossen Rates war eine ganz andere,
als der aufgelösten Volksvertretung. Die Wahlen in der
Hauptstadt blieben wohl dieselben; aber auf dem Lande
zeigte sich der Umschwung der öffentlichen Meinung in
schroffer Weise. Es wurden fast keine Radikalen gewählt,
cap. 18.] Briefwechsel mit Hirzel. 235
dagegen viele conservative Bauern. Die liberalen Inter-
essen waren weit schwächer vertreten als früher, die kirch-
liche Gesinnung wurde bevorzugt. Dennoch wurden ganz
wenige Geistliche gewählt, unter diesen Pfarrer Hirzel.
Hirzel war durchaus nicht der fanatische Pfaflfe, als
der er verschrieen wurde. Er war im Gegenteil eine geistig
freie, aber auch eine leidenschaftliche, zu gewaltsamer That
geneigte Natur. Wie ich schon früher auf einen tragischen
Zug selbst in der glücklichen Jugendperiode hingewiesen
habe, so werde ich auch später über sein tragisches Ende
berichten. Mir war er stets ein zuverlässiger Freund ge-
blieben. Ich besitze aus dem Jahre 1839 einige Briefe,
die zwischen uns gewechselt wurden. Dieselben geben
den besten Aufschluss über unsere damaligen Ansichten
und Stimmungen. Ich teile daher an dieser Stelle einige
Auszüge mit:
Hirzel an Bluntschli, Pfaflfikon den 14. Februar 1839.
„Mein Lieber. Ich muss mich äussern und gegen wen
sonst als dich? Oder ich zerplatze vor Ärger. So dumm
hatte ich unsere Radikalen nicht geglaubt, all' ihr Werk
aufs Spiel zu setzen wegen einer Chimäre! In und um
meine Gemeinde gährt es gewaltig. Vorigen Sonntag hatten
die Leute nicht Raum in der Kirche. Sie erwarteten, dass
ich in ihr Hörn blase, dass ich mit revoluzioniere. Aber
meine Grundsätze werde ich nie verläugnen. Ich beschwich-
tigte das Wetter für einmal; doch vergeblich; nun bricht
es von anderen Gemeinden auch in die meinige herein.
Eine Landsgemeinde scheint unausweichlich, die Folgen
kann Niemand voraus wissen. — Zweierlei scheint mir
durch die Dummheit der Radikalen unausweichlich gewor-
den: Sturz der Universität und Rückfall in die Orthodoxie.
236 Bbiefwechsel mit Hibzel. [cap.
— Ich bin mit Niemanden zufrieden, als mit dir; auch mit
mir nicht. Ich könnte jetzt wirken und darf nicht. Ich
bin nicljt an meiner Stelle. Das Einzige, was mich an
mir freut, ist, dass ich den Mut habe, durch Treue an
meiner Überzeugung ein Schwächling zu scheinen.**
Bluntschli aii Hirzel. Zürich 15. Februar 1839.
„Wohl hast du Recht: die dummen Radikalen. Ihre
Schlangenklugheit wird zur Dummheit, wo es sich um
höhere Dinge handelt. Die Aufregung hat ihre gefahr-
lichen Seiten, aber auch ihre schönen. Erhaltet ihren
Grundton: religiöse Gesinnung. Durch positives Hervor-
heben dieses Elementes werden allein die verderblichen
Neigungen beschwichtigt. Entgegentreten ist Thorheit,
Leitung Pflicht. Ich hätte gewünscht, Gujer, der in mei-
nen Augen allein den Typus eines echten, sittlichen Volks-
mannes hat, würde leiten. Wenn recht geleitet wird, so
erlangen wir einen besseren Zustand. Mir war das hier
in Zürich furchtbar wuchernde Sittenverderbnis der ärgste
Gräuel. In dieser Tiefe kam ich auf einen Punkt, der
mich von K. für immer trennte. — In derselben Tiefe des
Gemüts ist nun auch das Volk angegriffen worden, und
entschieden spricht es das aus.
„Den Sturz der Hochschule fürchte ich nicht, vor-
ausgesetzt, a) dass bald den wesentlichen Begehren ent-^
sprochen werde, b) dass rechte Leiter hervortreten. Einen
Rückfall in die Orthodoxie besorge ich darum wenig, weil
ich sehe, dass das Volk noch mitten darin ist. Es ist
vielmehr nur Feststellung, allerdings sehr positive Fest-
stellung des kirchlichen Glaubens. Aber nur auf die-
ser Basis können auch wir Gebildete dann eine gerei-
nigte religiöse Befriedigung erhalten, nicht aber, wenn
cap. 18.] Briefwechsel mit Hibzel. 237
wir schroff entgegentreten und von dem Unglauben aus
den Glauben erbauen wollen/
Hirzel an Bluntschli. 11. März 1839.
„Meine kirchlichen Ansichten kennst Du; weisst, dass
ich Rationalist bin, nicht in dem wässerigen, negativen Sinne,
der seine Lust hat, den Himmel in den Erdenschlamm
herabzuziehen, sondern in dem positiven, das Irdische so
viel als möglich zum Himmlischen zu läutern und zu er-
heben durch Anwendung unseres inneren Lichtes. Noch
ehe Strauss kommen sollte, war ich mit mir im Klaren.
Li Anerkennung einzelner Mythen stimme ich ihm bei,
fühle aber durch und durch die Notwendigkeit eines Auto-
ritätsglaubens nicht an einen schwachen Sterblichen, son-
dern an ein Urbild, Vorbild der Menschheit, einen Jesus,
der Christus war, was Strauss offenbar läugnet. So weit
Alles subjectiv. Nun aber beginnt es zu gähren in meiner
Gemeinde. Dir gehöre ich noch mehr an, als mir; daher
forderte ich die Meinigen auf zur Treue am Glauben, der
siegen werde, auch ohne Stangen und Schwerter, wenn
und weil er wahr sei. Aber dennoch vermehrt sich der
Sturm unglaublich. Etwa 10 Individuen, einige rechtliche
Halbgebildete, die anderen gemeine, verbildete Subjecte,
wagen es, verführt durch den „Republikaner", sich öffent-
lich für Strauss zu erklären. Alles in Brandung. Mein
Stillstand (Presbyterium) fordert eine Gemeinde, als selber
bedroht von der Masse. Weil ich nicht wusste, wohin,
hielt ich zurück. Immer mehr Unreines mischt sich dem
Reinen bei. Das Volk ist nicht mehr aufgeregt, es ist
wütend. Einen willkommenen Ausweg bietet mir das
Richterschwyler Comite dar. Nur keine Revolution! Da-
rum Anschluss. Diesen beschliesst meine Gemeinde in
238 Briefwechsel mit Hibzel. [cap. 18.
einer Versammlung von über 700 fanatisierten Männern,
die ich formell frei, aber unter geistigem Zwang ordnete.
Inzwischen wird es mir immer klarer, dass es sich nun
nicht mehr handle um die Berufung von Dr. Strauss, son-
dern um den Sieg zwischen Reformern und Radikalen, der
wahren Bildung und der Aufklärerei. — Wie ich früher
mich passiv verhielt, so leitete ich nun, mit Vorwissen
von Gujer, meinen ganzen Bezirk. — Ein Beweis davon
liegt darin, dass von 4220 Zustimmenden, welche früher
die Hochschule weg haben wollten, nur noch Eine Ge-
meinde solches verlangt."
Bluntschli an Hirzel, 12. März 1839.
„Wenn du mitwirken kannst, dass das giftige Ele-
ment in unserm State, welches ihn am Ende zerfressen
hätte, gereinigt und die Harmonie der politischen Freiheit
mit einer sittlichen und religiösen Gesinnung hergestellt
werde, so wirst Du*s thun, das weiss ich. Eben deshalb
aber bitte ich dich, trage dazu bei, dass nicht durch eine un-
vorsichtige Handlung die Bewegung compromittiert werde.
Nichts könnte ihr einen äi-gern Stoss versetzen, als die
Aufhebung der Hochschule. Sprich doch darüber auch
mit Gujer. Er kann unmöglich etwas Anderes als die Er-
haltung derselben wollen. Und wenn er recht will, so er-
hält er sie."
Man hat Hirzel hauptsächlich den vernichtenden Vor-
wurf gemacht, er habe am 6. September seinen Leuten zu-
gerufen: „In Gottes Namen schiesst." Er hat aber sofort
dieser Angabe als einer unwahren widersprochen und nur
das Wort anerkannt: „In Gottes Namen vorwärts!" Jeden-
falls aber hat er durch seinen Anmarsch die Krisis zur
Entladung gebracht. Die Verantwortlichkeit dafür kann
cap. 18.] Bbiepwechsel mit Zbller. 239
er vor der Geschichte nicht ablehnen. Die That war sein
eigner, freier und stundenlang in ernstem Nachdenken er-
wogener Entschluss.
Dass mein anderer Jugendfreund Zell er (Pfarrer von
Stäfa) ebenfalls einen eifrigen Anteil nahm an der damali-
gen Volksbewegung, wird Niemanden befremden, der seine
theologische Bildung kennt. Er schrieb ein Buch gegen
Strauss, das freilich dem scharfen Kritiker manche Blosse
darbot, aber für seine Glaubenstreue warmes Zeugnis ab-
legte. Wenn ich mich recht entsinne, so war er Mitglied
des Central-Comite's; jedenfalls galt er an den Ufern des
Zürichersees als eine hochachtbare Autorität.
Auch an ihn schrieb ich am 24. März 1839:
„Die Bewegung hat einen Flecken bekommen durch
den Angriff auf die Hochschule. Wenn er schon von ra-
dikaler Seite hergekommen ist, so schreibt man ihn doch
jener zu; und insofern nicht genug gethan worden ist, um
die Radikalen am zweiten, wie am ersten und dritten Tage
(der Grossratssitzung) zu schlagen, haben die Leute nicht
ganz unrecht. — Mit dem Aufheben ist es übrigens nur
Wenigen ernst. Sie wollen nur die Aufhebung der Hoch-
schule gegen die Veränderung im Volksschulwesen setzen
und mit jener drohend diese hindern. — Immerhin ver-
trägt die Hochschule solche Stösse nicht. Sie ist hin,
wenn man nicht mehr als je sucht, sie fester zu begrün-
den, als sie es war.**
Zeller erlebte die Revolution des September nicht.
Er starb am 6. Juli 1839. Vermutlich haben die Auf-
regungen jener Zeit die entzündliche Krankheit, die ihn
befiel, tötlich gemacht.
Der neue Grosse Rat, durch die Umstände genötigt,
240 Meine Eräennuug zum Regiebunos- xjnd Statsrat. [cap. 18.
die obersten Landesbehörden neu zu besetzen, wählte mich
nun in den neuen Regierungsrat (2. Oktober 1839). Mit
schwerem Herzen nahm ich die Wahl an. Ich wusste, wie
schwierig die Amtsführung nach einer Revolution und wie
gross die Verantwortlichkeit sei, die man mir auflade. Meine
Stelle als Rechtsconsulent der Stadt gab ich nun auf; da-
gegen behielt ich auf den Wunsch des Erziehungsrats meine
Professur an der Universität bei. Nur die mir früher ge-
gebene Zulage zu meiner Besoldung hörte nun mit Rück-
sicht auf die verminderte Leistungspfiicht auf.
Bei der Verteilung der Geschäfte wurde mir der Vor-
sitz in dem Rate des Innern übertragen. Auch wurde ich
zum Mitgliede des vorörtlichen Statsrats ernannt und so in
die damalige Leitung der eidgenössischen Politik eingeführt.
Da auch die Zürcherische Gesandtschaft bei der Tag-
satzung einer Erneuerung bedurfte, so wm-den Statsrat Mel-
chior Sulzer und ich dem Amtsbürgermeister Hess als
Gesandte beigegeben. Die Tagsatzung, deren Sitzungen
durch die Septemberrevolution eine Unterbrechung erlitten
hatten, erkannte doch die Neugestaltung der Zürcherischen
Behörden an, indem sie dem unzweideutig ausgesprochenen
Volkswillen Gehör gab, und trat demgemäss auch sowohl
mit dem neugebildeten Statsrate, als mit der neuen Ver-
tretung des Standes Zürich in amtlichen Verkehr. Diese
Anerkennung durch die Eidgenossenschaft war natürlich für
die neue Regierung von grossem Werte. Die rasche Zu-
stimmung war vorzüglich dem Gesandten des Cantons Waadt,
Statsrat Druey, ^u verdanken, einem aufrichtigen Volks-
freunde. Die Gesandten von Bern und anderen Cantonen
des Siebener-Concordates hatten anfangs Bedenken gegen
die Zulassung erhoben.
cap. 19.] Die neue Regierung und ihre Aufgaben. 241
19.
Die neue Regierung nnd ihre Aufgaben in Kirche und Schule.
Professor Lange. Seminardirector Bruch. Verschiedene Frac-
tionen innerhalb der Regierung. Aufenthalt in Teuffen zur Er-
holung. Redaction des Zürcherischen Vormundschaftsgesetzes.
Austritt Zürichs aus dem Siebener Goncordat. Versuche zur
Bundesreform. Verkehr mit J. Grimm, Savigny, Bunsen, Laboulaye.
Die Septemberrevolution, der sogenannte „Zürich-
putsch", bedeutete den schroffen Bruch mit dem Radika-
lismus in Bezug auf die Religion, die Kirche und die
Schule. Da galt es nun die religiöse Richtung, wie das
Volk sie hochschätzte und für nötig hielt, zu befestigen
und zu stärken, aber zugleich die geistige Freiheit vor
Unterdrückung zu bewahren und den wissenschaftlichen
Fortschritt zu schützen. Ich war nicht Mitglied des Kir-
chen- noch des Erziehungsrates und hatte daher weder die
Aufgabe noch die Möglichkeit, im Einzelnen diese Sorge zu
üben. Aber im Regierungsrate und im Grossen Rate ver-
trat ich diese Auffassung, so gut ich es vermochte. In-
dem ich dem Volksglauben Achtung erwies, verhehlte ich
nie, dass ich persönlich in vielen Hinsichten anders und
freier denke, und trat immer ein auch für die Freiheit der
Andersgläubigen. Die kirchlichen Zeloten fanden bei jeder
Gelegenheit in mir einen entschiedenen Gegner. Dennoch
gelang es mir, auch bei manchen Eng- und Strenggläubi-
gen persönliches Vertrauen zu erwecken. So konnte ich
mittelbar manche schroffe Massregel hindern.
Mein Wunsch, dass die Kirchensynode umgestaltet,
und durch die Beiordnung von Laien zu den Geistlichen
die Repräsentation der Kirche vielseitiger und freier dar-
gestellt werde, ging nicht in Erfüllung. Die, welche den
Bluutschli, Dr. J. C, Aus meiuem Leben. I. \Q
242 Professor Joh. Peter Lakge. [cap. 19.
Einfluss der Pfarrer durch diese Reform für bedroht hiel-
ten, und die, welche fürchteten, eine gemischte Synode
könnte leicht dem Grossen Rate an Autorität die Wage
halten, endlich die, welche besorgten, dass die Laien nur
die bäuerliche Orthodoxie verstärken würden, widersetzten
sich gemeinsam, wenn gleich in ganz entgegengesetzten
Tendenzen, dem Antrag. Derselbe blieb in der Minderheit,
und heute noch steht die reformierte Kirche von Zürich
in dieser Hinsicht hinter manchen anderen deutschen und
schweizerischen Kirchen zurück, welche seither das Recht
der Laien, mitzustimmen und an der Selbstverwaltung der
Kirche mit den Geistlichen gleichen Anteil zu nehmen, zur
Geltung gebracht haben.
An die theologische Facultät wurde nun Joh. Peter
Lange von Duisburg berufen, später Professor in Bonn, ein
Mann, der für die christliche Religion begeistert, von idea-
lem Streben und mit romantischen Neigungen erfüllt, aber
nicht ebenso geeignet war, die hergebrachten Dogmen und
die geschichtliche Überlieferung kritisch zu beleuchten. Er
vertrat neben Alexander Schweizer und Hitzig, den
Repräsentanten der dialectischen und philologischen Wis-
senschaft, weniger die formell orthodoxe, als die glaubens-
eifrige, pietistische Richtung in der Theologie.
An die Spitze des Seminars für Schullehrer wurde
nach der Entfernung Scherr's, den die Flutwelle der
Revolution weggespült hatte, Pfarrer Bruch von Wädi-
schwyl gesetzt, ein warmer Freund der Lehrer und der
lernbegierigen Jugend, ein Kenner der Bedürfnisse der
Volksschule und, wenn gleich von religiöser Gesinnung,
doch kein Kopfhänger und kein Zelote, vielmehr ein Mann
von humanen Sitten und mildem Wohlwollen. Er hielt
\
cap. 19.] Fbactionen innerhalb der Regierung. 243
Übrigens die Anstrengung in seiner neuen, von den Radi-
kalen angefochtenen Stellung nicht lange aus und starb
schon nach einigen Jahren.
Mit beiden Männern wurde ich persönlich bekannt
und trat ich in freundliche Beziehungen.
Die neue Regierung, deren Mitglied und nicht, wie
Manche der aussen Stehenden meinten, deren Haupt ich
geworden war, hatte sehr verschiedene Elemente in sich
vereinigt. Ein Teil derselben, wie der Bürgermeister Hess,
Eduard Sulzer, Melchior Sulzer und Hüni hatten
schon der früheren liberal-radikalen Regierung angehört
und hielten die Tradition der Grundsätze und der Ge-
schäfte fest. M. Sulzer repräsentierte dabei die alte Eifer-
sucht der reichen und strebenden Landstadt Winterthur
gegen die alte Hauptstadt Zürich. Hüni war nicht frei
von den Parteianschauungen der grossen Ortschaften an
dem linken Seeufer und misstraute den Städtern. Mit be-
weglicher Klugheit wusste sich Eduard Sulzer zwischen den
Parteien und den widerstreitenden Verhältnissen durchzu-
winden. Er leitete die Finanzen mit Umsicht. Hess wollte
nur noch den Übergang aus der früheren in die neuere
Periode versöhnlich vermitteln; bald nach der Umwälzung
zog er sich in das Privatleben zurück.
Eine andere Gruppe von Mitgliedern der Regierung
repräsentierte die religiöse Richtung der Volksbewegung.
Ich rechne dahin voraus Herrn v. Sulzer-Wardt, einen
strenggläubigen, aber vornehmen Gutsbesitzer, und einige
schlichte Landleute, die jedoch nur kurze Zeit im Amte
blieben.
Als Vertreter des alten Regiments vor der Revolution
von 1830 mag der Ratsherr, nun Regierungsrat Spöndli
16*
244 Fractionen innerhalb der Regierung. [cap 19.
gelten, ein guter Rechner, der aber den modernen Ideen
überhaupt abhold war. In gewissem Sinne gehörte auch
der Bürgermeister von Muralt der früheren Periode des
politischen Lebens an; aber sein natürliches Wohlwollen,
die weitschauende kaufmännische und die feine gesellschaft-
liche Bildung, die er besass, und sein aufopferungsfahiger
Patriotismus machten ihn doch vorzugsweise geeignet, an
der Spitze des Regierungsrates zu stehen und sowohl im
Innern die widerstrebenden Elemente zu verbinden, als
den Canton in der Eidgenossenschaft würdig zu vertreten.
Die Gruppe, in der ich Stellung nahm, bestand aus
meinem vormaligen Lehrer und älteren Freunde Ferdi-
nand Meyer, der, früher Statsschreiber, nun die Leitung
des Erziehungsrates übernahm, aber auch in dem Rate des
Innern als Mitglied arbeitete, dem Sohne des eidgenössi-
schen Kanzlers Mousson, Heinrich Mousson, einem
Manne von gediegenem Charakter und wissenschaftlicher
Bildung, ebenfalls im Rate des Innern thätig und nach
dem Rücktritte von Hess zum Bürgermeister gewählt, und
mir. Es war das ein wissenschaftliches Element in der
neuen Regierung, in welchem die conservativen Neigungen
mit liberalen Ideen noch in ungeklärter Mischung verbunden
waren. Mousson vertrat dabei mehr die conservative, ich
mehr die liberale Ansicht. An uns schlössen sich bei man-
chem Anlass der Regierungsrat Wild von Waedischwyl
an, und der vormalige Stadtpräsident, Oberst Zie-gler,
welcher die. Oberaufsicht und Oberleitung der Polizei über-
nahm.
Durchaus gegen meinen und meiner engeren Freunde
Wunsch waren von dem Grossen Rate des Frühjahrs 1840
die Neuwahlen in die Regierung auf Stadtbürger gefallen.
cap. 19.] Aufenthalt in Teuffen. 245
Ich betrachtete das als einen politischen Missgriff, indem
das unter der Asche glimmende Misstrauen der Land-
bürger wider die Stadtherrschaft durch eine unbesonnene
Zurücksetzung ihrer Genossen leicht neu angefacht wer-
den konnte. Ich war aber in der entscheidenden Sitzung
abwesend, und die reactionäre Partei siegte damals. Da-
gegen hatten wir einen Erfolg darin, dass wir eine Ver-
besserung der Verfassung durchsetzten, indem die Mit-
gliederzahl des Regierungsrates von 19 auf 13 und die
des Obergerichts von 11 auf 9 beschränkt wurde. Infolge
dessen wurden die Anforderungen und die Bürgschaften für
eine gute Besetzung dieser Behörden erhöht, die schwere
Breite der Beratung ermässigt, und die Verantwortlichkeit
gesteigert.
Die Aufregungen und der mancherlei Arger der letzten
Zeit hatten doch meinen sonst gesunden und kräftigen Kör-
per angegriffen. Meine Leber war in ihren Functionen ge-
stört, meine Galle erregt, und die Gelbsucht schwächte
meinen Körper und machte meine Nerven äusserst reiz-
bar und empfindlich. In solcher Not suchte und fand ich
Hilfe bei meinem Freunde Roth in Teuffen. Sein gast-
freundliches Haus war mir offen, und in der engbefreun-
deten Familie erholte ich mich bald wieder. Die Stille
des Landlebens, die frische Appenzeller Luft, die Bewegung
im Freien, gute den Umständen angepasste Nahrung und
ein ansprechender geistiger Verkehr mit dem hochgebil-
deten feinfühlenden Manne, dem auch der bekannte Mutter-
witz der Appenzeller heimisch war, stellten mich in kurzer
Zeit wieder her.
Ich erhielt und übernahm nun den Auftrag, ein neues
Vormundschaftsgesetz für den Canton Zürich auszu-
246 Meine Redaction des neuen Vormundschaftsgesetzes. [cap. 19.
arbeiten. Es war dies meine erste gesetzgeberische Arbeit
von grösserem Umfange. Das Gesetz wurde von dem
Grossen Rate durchberaten und am 21. Juni 1841 ge-
nehmigt. Es erfreute sich allgemeiner Billigung auch in
der Praxis und wurde später unverändert in das bürger-
liche Gesetzbuch aufgenommen, dessen Redaction mir eben-
falls anvertraut ward. Ich schrieb dazu Erläuterungen und
veröffentlichte so das erklärte Werk.
Die Grundlagen des Zürcherischen Vormundschafts-
rechtes waren gegeben. Sie wurden durch das Gesetz
nicht wesentlich geändert. Aber der Bau und die Form
des Gesetzes waren neu geworden und wurden den Be-
dürfnissen der Zeit und dem wissenschaftlichen Fortschritte
angepasst. Wenn in Zürich die Obervormundschaft nicht
wie in Deutschland durch die Gerichte geübt wird, sondern
in erster Instanz durch die Gemeinderäte, in zweiter durch
die Bezirksräte und in oberster durch den Regierungsrat,
beziehungsweise den Rat des Innern, so hat sich diese
Einrichtung im Leben vortrefflich bewährt. Es kommt in
der That bei der Ausübung der Vormundschaft wesentlich
darauf an, den Mangel der Familiensorge und der Wirt-
schaft des Hausvaters zu ergänzen. Das Vermögen der
Bevormundeten soll verständig und zweckmässig verwaltet,
und für die Erziehung der Waisen gut gesorgt werden.
Das aber sind nicht juristische, sondern wirtschaftliche
und moralische Aufgaben, deren richtige Erfüllung eher
von den Verwaltungsbehörden, als von den Richtern er-
wartet werden darf, welche durch ihre Denkweise und
ihren Lebensberuf eher die Rechtsform, als die Wirkung
ihrer Handlungen zu berücksichtigen gewohnt sind, und
denen es naher liegt, der juristischen Verantwortlichkeit
cap. 19.] Austritt Zübich's aus dem Sibbeneb Concobdat. 247
auszuweichen, als für die Interessen dritter Personen zu
sorgen.
In der Haltung des Cantons Zürich als Vorortes war
ebenfalls eine Änderung eingetreten. Bis dahin war Zürich
ein hervorragendes Glied des sogenannten Siebener-Concor-
dates gewesen, in welchem sich die liberal-radikalen Re-
gierungen enger mit einander verbunden hatten. Die ge-
stürzte Züricher Regierung hatte in der letzten Zeit noch
auf Hilfe der Siebener wider das eigene Volk gerechnet.
Es war daher für die neue Regierung angezeigt, sich von
diesem Bunde im Bunde loszusagen. Das geschah auch und
erhielt die Billigung des Grossen Rates. Aber sie verzich-
tete nicht auf Reform der Bundesverfassung und suchte im
Gegenteil ihren Einfluss auf die innere Schweiz und die
Anhänger der alten Eidgenossenschaft dazu zu benutzen,
dass sie denselben dringend ein Eingehen auf die nötige
Reform empfahl. Ich nahm als Zürcherischer Gesandter an
gemeinsamen Besprechungen darüber mit den Gesandten der
übrigen Stände teil, die aber nur einen vorbereitenden, nicht
einen schliessenden Charakter und Erfolg hatten. Der zähe
Widerstand der kleinen Cantone des vormaligen Sarner-
bundes war noch schwerer zu einer Vorwärtsbewegung zu
bestimmen, als das heftige Verlangen der radikalen Can-
tone nach Veränderung der Repräsentation und Umgestal-
tung auf erreichbare Ziele zu ermöglichen war.
Durch die Teilnahme an der Tagsatzung erweiterte
sich der Kreis von schweizerischen Politikern, zu denen
ich in persönliche Beziehung kam. Überdem blieb ich mit
einigen auswärtigen Gelehrten und Statsmännern in reger
Verbindung und machte neue Bekanntschaften.
Für Jacob Grimm hatte ich schweizerische Weis-
248 Verkehk mit J. Grimm, Savigny, Bussen. [cap. 19.
tümer gesammelt. Dieselben wurden in dem mehrbändi-
gen Werke des berühmten Germanisten grossenteils abge-
druckt.
Die Correspondenz mit Savigny wurde durch das
warme Interesse belebt, welches er an der religiösen Be-
wegung nahm. Damals fragte mich Savigny, ob ich ge-
neigt wäre, an einer deutschen Universität eine Lehrstelle
anzunehmen. Ich war allerdings dazu geneigt, aber in
diesem Augenblicke durfte ich nicht die politische Stellung
und Wirksamkeit aufgeben, welche mir das Schicksal und
meine Beteiligung an den Ereignissen angewiesen hatten.
Mit dem Preussischen Gesandten in der Schweiz, Bun-
sen, wurde ich persönlich befreundet. Als ich ihn zuerst
nach der Überreichung seiner Creditive sprach, erlaubte
ich mir die naive Bemerkung zu machen, dass nach meiner
Ansicht die bisherige Verbindung des Fürstentums Neuen-
burg mit der Krone Preussen nicht auf die Dauer haltbar
sei, und dass man suchen sollte, die volle und ausschliess-
liche Verbindung des Cantons Neuenburg mit der Schweiz
im Einverständnisse mit der Preussischen Regierung her-
zustellen. Bunsen war über die kecke Äusserung erstaunt,
aber sie hinderte ihn nicht, das Gespräch ruhig fortzusetzen.
Auch in diesem Falle war es leichter, die nötige Reform
zu bezeichnen, als dieselbe zu verwirklichen. Es bedurfte
der stärkeren und rücksichtsloseren Leidenschaften der Re-
volution, um das Band zu zerreissen, welches Neuchatel
mit Berlin, einen französisch-schweizerischen Canton mit
dem deutschen Königreich Preussen verknüpft hatte. Im
Jahre 1848 erschien diese Revolution und vollzog die
Scheidung.
Bunsen hatte seine Wohnung in einem schön gelegenen
cap. 20.] Verkehr mit Ed. Laboulaye. 249
Landhause in der Nähe von Bern, auf dem sogenannten
Hubel. Ich besuchte ihn dort und lernte auch die Familie
kennen, die aus deutscher und englischer Art gemischt war.
In dieser Zeit, kam ich auch mit meinem Freunde
Eduard Laboulaye aus Paris in persönliche Beziehung.
Er hatte mir, angezogen von meiner Zürcherischen Rechts-
geschichte, sein Buch „Histoire du Droit de propriete fon-
ciere en Occident" zugeschickt und mich nachher in Zürich
besucht. Damals war er noch nicht der berühmte Aka-
demiker. In seinem Buche bezeichnete er sich noch als
„fondeur en Caracteres**. Es verbanden uns aber die ge-
schichts - philosophischen Studien, die Liebe zur Wissen-
schaft, ein Zug zu dem Idealen auch in der Politik, und
das ziemlich gleiche Alter übte seine Anziehungskraft
mächtig aus, so dass die Gegensätze der Nation und des
Vaterlandes und des Wohnortes uns eher wechselseitig zu
freundlichem Umtausche der Gedanken anregten, als von
einander trennten.
20.
Aufstand im Aargan und Aufhebung der Klöster 1841. Vermit-
telnde Stellung der Züricher Regierung. Auf der Tagsatzung
in Bern. Eine Lebensgefahr. Berner Patrizier und Bemer Re-
gierung. Gefahren eines confessionellen Krieges und der Inter«-
vention. Schönlein.
Die Volksbewegung im Canton Zürich litt an zwei
schweren Gebrechen. Obwohl die Gesinnung und das Stre-
ben des Volkes, den herrschenden Radikalismus abzuweh-
ren, antirevolutionär war, so entlud sie sich dennoch in
revolutionärer Form. Sie führte zu einem Rechtsbruch,
250 AuFSTASD IM Aabgau. [cap. 20.
der ihrem Principe widersprach. Sodann waren in ihr re-
ligiöse und politische Tendenzen und Leidenschaften ge-
mischt, und diese Mischung, welche dem tiefen Bedürfnis
unserer Zeit, Stat und Kirche zu sondern und Religion
und Politik zu unterscheiden, widerstrebte, wirkte ver-
wirrend auf die öffentliche Meinung und erschien den vor-
handenen Instincten feindlich.
Diese Mängel wurden Vielen dadurch offenbar ge-
macht, dass nun die katholische Kirche ermutigt wurde,
nach dem Vorbilde der Züricher die gläubige Bevölkerung
aufzuregen und ebenfalls in revolutionärer Form die radi-
kalen Statsgewalten anzugreifen.
Der Canton Aargau war zur Zeit der Mediation Na-
poleon's aus dem früheren Bernischen und reformierten
Aargau und den vormals gemeinen Herrschaften, aus de-
nen der katholische Canton Baden in der helvetischen Pe-
riode gebildet worden war, und dem ebenfalls katholischen
Frickthal zusammengefügt worden. Eine Zeit lang wirkten
die verschiedenartigen Elemente friedlich zusammen. Sie
erfreuten sich gemeinsam der vorher versagten Unabhän-
gigkeit und republikanischen Freiheit. Aber seit dem Jahre
1830 schieden sich die Parteien von einander, und es misch-
ten sich auch da Confession und Politik. Der reformierte
Teil des Aargau folgte mit Eifer der liberal-radikalen Strö-
mung, der katholische Teil, auf welchen der Klerus einen
grossen Einfluss übte, sympathisierte in seiner Mehrheit
mit den katholischen Cantonen der innern Schweiz. Die
Parteikämpfe über die Revision der Aargauischen Verfas-
sung hatten zu einem Aufstande der „freien Amter" ge-
führt, der mit Hilfe der Nachbarstände rasch unterdrückt
wurde. Nun wurde im Grossen Rate zu Aarau der Antrag
cap. 20.] Aufhebung dbb Klösteb im Aargaü. 251
gestellt und angenommen, die Aargauischen Klöster, deren
Intriguen hauptsächlich der Aufruhr zur Last geschrieben
wurde, aufzuheben.
So entstand die Aargauische Klosterfrage, welche
während mehrerer Jahre die eidgenössische Politik leiden-
schaftlich aufregte und dem Parteihader eine confessionelle
Färbung verlieh. Die grosse Schwierigkeit lag in der
Bundesverfassung von 1815, welche in Artikel XII aus-
drücklich die Klöster unter die Garantie der Eidgenossen-
schaft gestellt hatte. Der Conflict zwischen dem bestehen-
den — wenn auch innerlich ungesunden — Verfassungs-
recht und dem Streben der Zeit, welche das Institut der
Klöster als ein mittelalterliches und culturschädliches zu
beseitigen wünschte, entzweite die Parteien in der Eidge-
nossenschaft. Die katholischen Cantone beschwerten sich,
dass man sie in ihrem klaren Verfassungsrechte verletze
und missachte. Die radikalen Regierungen wiesen dagegen
auf die statsfeindlichen Umtriebe der Mönche und auf die
Gefahren hin, welche dem Frieden der Confessionen und
der Volksbildung von Seite der Hierarchie drohen.
Die Zürcherische Regierung nahm eine vermittelnde
Stellung ein. Wir hatten dazu geholfen, den Aufstand im
freien Amte zu unterdrücken. Wir waren ferner der Mei-
nung, dass die Klöster, welche denselben angestiftet oder
doch begünstigt hatten, die Aufhebung verdienen. Aber
wir verlangten, dass die Schuld nachgewiesen und nicht
auch den Klöstern aufgeladen werde, welche sich nicht
bei dem Aufstande beteiligt hatten. Wir verlangten zu
Ehren des bestehenden Eidgenössischen Rechtes und zur
Beruhigung der katholischen Stände die Herstellung der
nicht schuldigen, insbesondere der Frauenklöster, und ge-
252 Vermittelnde Stellung deb Zübicher Reoibbuno. [cap. 20.
standen unter dieser Voraussetzung den Wünschen und
Interessen der modernen Schweiz und des Aargaus die
Aufhebung der schuldigen Männerklöster, vorzüglich von
Muri und Wettingen zu. Schliesslich wurde auf der Tag-
satzung die Klosterfrage im Jahr 1844 so ausgeglichen,
dass alle Männerklöster aufgehoben blieben, die Frauen-
klöster dagegen hergestellt wurden. Erst die Bundes-
reform von 1848 beseitigte dann mit Recht die unglück-
selige Bundesgarantie für die bestehenden Klöster.
Die radikale Partei benutzte diese Klosterfrage ge-
schickt, nun auch im Canton Zürich die reformierten Ge-
fühle und Neigungen in dem Volke mit Misstrauen gegen
die Regierung zu erfüllen und wider die Klöster und die
katholische Partei zu erbittern. Sie stellte sich als den
wfthren Vertreter und Vorkämpfer des Protestantismus und
des statlichen Fortschrittes dar. Wenn wir Gerechtigkeit
den verschiedenen Parteien gegenüber zu üben uns be-
mühten, so wurde das bald als schwächliches Schaukeln
zwischen Recht und Unrecht, bald als ein unwürdiges
Buhlen um die Gunst der Reaction und als heimliche Be-
günstigung der pfaflBschen Verschwörung ausgelegt. Das
Volk wurde in der That wankend in seinem Vertrauen
und unsicher in seinem Urteile. Eine von radikaler Seite
in Schwamendingen abgehaltene Volksversammlung war von
vielen Tausenden besucht worden und verlangte von dem
Grossen Rate eine Instruction an die Tagsatzung, welche
den Wünschen der Aargauer Regierung entsprach.
Die Verhandlungen auf der ausserordentlichen Tag-
satzung, die nun in Bern unter dem Vorsitze des Schult-
heiss Neuhaus, eines Mannes von scharfen, schneidigen
Gedanken und energischem Herrschergeiste, damals das
cap. 20.] Auf der Taosatzüno in Bebn. 253
gepriesene Haupt der radikalen Partei, gehalten wurde,
(März 1841) waren oft gereizt, zuweilen stürmisch. Im
Jahre vorher hatte der Zürcherische Bürgermeister von
Muralt durch wohlwollende und versöhnliche Milde den
Widerstreit der Parteien eimässigt. Nun verschärfte der
herrische und herausfordernde „avoyer de Beme** — Neu-
haus sprach als Bieler französisch — die Gegensätze. Um
so schwerer wurde es, eine Verständigung zu erzielen oder
eine Mehrheit zu bilden. Dass die Klosteraufhebung im
Canton Aargau den Artikel XU der Bundesverfassung ver-
letze, wurde wohl von der Mehrheit erkannt und ausge-
sprochen; aber welche Sühne nötig sei, um diesen Rechts-
Uruch zu heilen, und wie viele Frauenklöster oder sogar
Männerklöster herzustellen seien, über diese practisch ent-
scheidenden Fragen stritten sich die Gesandten heftig. Scharfe
Worte flogen wie Pfeile hin und her, und wenn die Redner
wider einander losschlugen, gab es leuchtende Funken.
Ausser dem Schultheiss Neuhaus kämpfte für die Mass-
regel der Aargauischen Regierung mit Mut und Talent
der Vertreter des Aargaus Augustin Keller und der
energische Munzinger von Solothurn. Ihnen entgegen
stritten tapfer der Urner Schmidt und der feine Neu-
chateler Calame. Ähnlich wie Zürich arbeitete der Ge-
sandte von Waadt, Statsrat Druey, in vermittelndem
Geiste, aber vorerst trotz der glänzenden Beredsamkeit
mit eben so geringem Erfolg.
Ich war Mitglied der beiden Tagsatzungen, der ausser-
ordentlichen und der ordentlichen, als zweiter Gesandter,
wohnte aber diesen Kämpfen, in denen gewöhnlich der
erste Gesandte das Wort führte, mehr mit dem Anteil
eines Zuhörers bei, als dem eines Mitwirkenden. Zu der
254 Eine Lebensgepahb. [cap. 20.
beabsichtigten Vermittlung war ich auch weniger geeignet
und sogar weniger geneigt, als Herr von Muralt, unser
erster Gesandter. Statthalter Gujer war als dritter Ge-
sandter beigeordnet.
Während dieser Tagsatzungsperiode entging ich eines
Tages glücklich einer nahen Lebensgefahr. Ich war mit
einigen befreundeten CoUegen zu Wagen in's Berner Ober-
land gefahren, um die herrliche Gebirgsnatur zu schauen
und zu geniessen. Wir besuchten die schönen Wasserfälle
des Giessbachs am Brienzersee, die damals noch nicht so
wohl verwahrt und durch Anlagen cultiviert waren, wie
heute seit der Herstellung eines prächtigen und zugleich
behaglichen Gasthofs. Da wagte ich mich auf dem durch-
weichten Boden zu weit hinaus, um besser von oben her
in den schäumenden und tobenden Wasserfall hinein zu
schauen. Aber die Erde rutschte unter dem Gewicht mei-
nes Körpers nach der Tiefe hin, und ich rutschte mit.
Stürzte ich in den Fall, so war eine Rettung nicht mög-
lich. In dem gespannten Gefühl der unmittelbar drohenden
Gefahr überlegte ich rasch, ob es noch ein Mittel gebe,
ihr auszuweichen. Ich entdeckte kein anderes, als das
Wagnis eines kecken Sprunges auf das andere Ufer, das
freilich ohne einen Arm- und Beinbruch kaum auszuführen
war. Aber ich entschloss mich, wenn das Rutschen noch
weiterschreite, den Sprung zu unternehmen. In diesem
Augenblick blieb der Boden unter meinen Füssen ruhen.
Ich stand wieder fest und konnte nun behutsam wieder
aufwärts klettern, bis ich den sichern Fusspfad erreichte.
Bis dahin hatte ich in der Anspannung aller Geistes- und
Körperkräfte keine Schwäche empfunden; aber jetzt, als
ich die Gefahr hinter mir wusste, fühlte ich meine Kniee
cap. 20.] Bebkeb Regierükö. 255
zittern. Mit besorgter Angst hatten meine Freunde dem
Ringen zugesehen, ohne mir helfen zu können.
In Bern kam ich gelegentlich auch in patricische
Kreise. Die Bemer Regierung war damals mit Radikalen,
vornehmlich aus den kleineren Landstädten Burgdorf und
Biel besetzt. Die alte patricische Aristokratie, die wäh-
rend Jahrhunderten die Republik einer Dynastie ähnlich
regiert hatte, war von der Teilnahme an dem Regiment
thatsächlich ausgeschlossen, nicht ohne ihre Schuld. Sie
hatte sich nach der Revolution von 1830 missmutig von
den Geschäften zurückgezogen und gemeint, das Volk
werde bald merken, dass sie allein das Regieren verstehe,
und reumütig die alte Herrschaft zurückrufen. Aber auch
andere Parteien und Männer lernen zuweilen die Kunst zu
regieren schnell und leicht; und die heutigen Völker er-
tragen eher einige Unbequemlichkeit und selbst manche
Leiden, als dass sie vor den hochmütigen Herren im Büsser-
hemde niederknieen. .Nur einige wenige Patricier hatten
sich bewegen lassen, in der neuen Ordnung ein Amt zu
übernehmen, so der bernische Geschichtschreiber Herr von
Tillier, ein gemütlicher und fein gebildeter alter Herr,
von epikureischen Neigungen und immer lächelnd, und mein
Freund Manuel, auf den das satyrische Talent seines be-
rühmten Ahnen sich vererbt hatte, ein Mann von weitem
und scharfem Geiste und seltener Bildung.
Ich war der Meinung, dass die damalige Berner Re-
gierung von ihren patricischen Gegnern nicht viel zu be-
fürchten habe, und dass die Periode eines privilegierten
Patriciates für immer vorbei sei. Aber ich empfahl den
Patriciem von meiner Bekanntschaft, dass sie sich wieder
mehr dem State zuwenden, aber zugleich die hervorragenden
256 Berneb Patbiciek. [cap. 20.
plebejischen Persönlichkeiten als Gleiche in ihre Gesellschaft
aufnehmen sollten. Letzteres fanden jene höchst schwierig,
schon weil die Frauen, von Natur exclusiver als die Män-
ner, das nicht zugeben würden. Sie nannten das männ-
liche Zomgefühl tüchtiger Männer, welche ein Recht darauf
haben, unter den Ersten der Gesellschaft ihre Plätze ein-
zunehmen, und von dem trägen und hochmütigen Adel zu-
rückgewiesen werden, „verletzte Eitelkeit und Eigenliebe".
Ich erwiderte, das sei nicht das rechte Wort; es handle
sich hier um eine Verletzung der Persönlichkeit, welche
in das feinste Seelenleben einschneide, deren Wunden heftig
bluten und schwer heilen. Manche klügere Patricier sahen
ein, woran es ihnen fehlte. Aber es war das eher eine
Einsicht ihres prüfenden Verstandes, nicht eine Überzeu-
gung ihres Gemütes. Sie handelten doch nicht in dem
Geiste jener Erkenntnis.
In Bern fand ich ausser Gonzenbach noch einen an-
dern früheren Universitätsfreund, mit dem ich gerne ver-
kehrte, den Statsschreiber Hünerwadel. Die Gegner
nannten ihn Täme damnee de Monsieur Neuhaus, weil er
dem verhassten Schultheissen, aber auch seinem Vaterlande,
gute Dienste leistete als Chef der Kanzlei. Aber er war
durchaus nicht radikal, weder seiner Natur, noch seiner
Bildung nach, und vertrat mit Vorliebe gemässigte und
friedliche Massregeln.
Zuweilen stimmten mich ernste Besorgnisse um die
Schweiz herab. Man hörte damals in Bern und unter Stats-
männem der verschiedenen Parteien die doppelte Furcht
aussprechen eines confessienellen Bürgerkrieges im Innern
und einer drohenden Intervention von aussen. Mir waren
beide verhasst. Aber ich sah die Statsmänner nicht, welche
cap. 20.] Schönlein. 257
diese Gefahren vermeiden, und hatte auch zu dem Volke
nicht das Vertrauen, dass es dieselben tiberwältige. Für
die nötige Bundesreform fand ich kein Verständnis und
bemerkte zu meinem Arger, dass das Volk in der Masse
die politischen Fragen mit confessionellem Eifer auffasse
und durch religiöse Leidenschaften oder Vorurteile verderbe.
Eine solche Erfahrung machte ich nun auch in mei-
ner Vaterstadt Zürich. Einige meiner Mitbürger hatten
mit mir bei den Stadtbehörden den Antrag eingebracht,
dem Professor Schönlein, dem genialen Mediciner an un-
serer Universität, das Bürgerrecht der Stadt zu schenken.
Die beiden Räte der Stadt, der Engere und der Weitere,
nahmen den Antrag wohlwollend auf und empfahlen die
Annahme der Gemeindeversammlung. Aber da erhob sich
innerhalb der Bürgerschaft das confessionelle Bedenken.
Schönlein, aus Würzburg nach Zürich gekommen, war ka-
tholisch, und die Bürgerschaft von Zürich durchweg refor-
miert. Das confessionelle Vorurteil wurde von den Aristo-
kraten oder vielmehr von den Reactionären geschürt, und
den Leuten mit den Bedrängnissen und der Zwietracht
confessionell gemischter Bürgerschaften bange gemacht.
Ich reiste eigens nach Zürich, um in der Gemeinde für
die Bürgerrechtsschenkung zu sprechen. Vergebens: die
Masse war schon gegen > den Antrag eingenommen. Der-
selbe wurde mit grosser Mehrheit abgelehnt.
Der Boden unter unseren Füssen war unsicher ge-
worden. Neue Erschütterungen standen bevor. Auf der
Landschaft erhoben die im Jahr 1839 verdrängten Führer
wieder stolzer das Haupt; sie fanden als Vertreter des
Protestantismus wider den Katholicismus, des Landes wider
die Stadt, des Fortschrittes wider die Reaction wiederum
Bluntschli, Dr., J. C, Aus meiDem LebcD. I, 2'^
258 ^^^ ZüBicHER Pbesse. [cap. 20.
geneigtes Gehör. In der Stadt war seit 1839 ebenfalls eine
erhebliche Veränderung eingetreten. Einige der früheren
Führer waren nun aus den städtischen in die Regierungs-
behörden übergetreten und konnten sich um deswillen nicht
mehr, wie früher, mit den städtischen Angelegenheiten be-
schäftigen. Im Ganzen zwar verblieb die Stadt in der
früheren Richtung, und nur ausnahmsweise Hess sie sich
von den absolutistisch gesinnten Verehrern der alten Zu-
stände leiten. Aber jeder Missgrifif der Art wirkte lähmend
und störend ein auf das Vertrauen, dessen die Regierung
bedurfte, um wirksam handeln zu können.
Im nächsten Mai des Jahres 1842 soUten die neuen
Wahlen in den Grossen Rat vorgenommen werden. Auf
diese entscheidende Wahlschlacht mussten sich beide Par-
teien rüsten. Die radikale Partei war in der Presse besser
vertreten als die conservative. Insbesondere hatte jene
in dem Publicisten Ludwig Snell aus Nassau einen sehr
gewandten Redacteur für den schweizerischen Republikaner
gefunden, das geistige Hauptblatt der Partei, welches durch
den Landboten von Winterthur in volkstümlicher Weise
unterstützt wurde. Dem Landboten konnte wohl die Zür-
cherische Freitagszeitung von Bürkli das Gegengewicht
halten, als ein verbreitetes, dem RadikaUsmus abgeneigtes
Volksblatt, welches den traditionellen Ansichten der fried-
fertigen Bürger und Bauern zum Organe diente. Nur sehr
mühsam und unvollkommen versuchte es der Beobachter
aus der östlichen Schweiz, der von Frauenfeld nach Zürich
verpflanzt wurde, eine ähnliche Stellung innerhalb der herr-
schenden Partei einzunehmen, wie sie dem Republikaner
von Seite der Opposition willig zugestanden wurde. Die
Neue Züricher-Zeitung, von Ott redigiert, nahm eine Mittel-
cap. 21.] Friedrich Rohher in Zürich. 259
Stellung ein, wie sie dem Durchschnitt der gebildeten Clas-
sen eher zusagte als jede entschiedenere Parteinahme; aber
auch sie neigte sich immer entschiedener den liberalen und
radikalen Bestrebungen zu. Augenscheinlich war der Zeit-
geist damals dieser Richtung günstig, und ein frischer
Morgenwind schwellte ihre Segel.
Wenn aber bei den Wahlen, wie es wahrscheinlich
war, die radikale Partei siegte, dann war die ganze Be-
wegung von 1839 verurteilt und die ganze Existenz der
Regierung verloren. Dann waren alle seitherigen An-
strengungen der herrschenden Partei und ihrer Führer
fruchtlos geworden. Dann demütigte auch das Züricher
Volk sich selber vor denen, welche es in der Aufwallung
eines launischen Zornes vor fünf Jah1*en aus dem Regi-
mente verdrängt hatte.
21.
Friedrich Böhmer in Zürich. Die Schrift Dentschlands Beruf.
Bekanntschaft erst mit Theodor Böhmer und Adolf Widmann,
dann Besprechungen mit Friedrich Böhmer. Die Natur des
Bechts. Abschluss der Allianz mit Friedrich Böhmer. Die
Freunde und die Gegner.
In dieser Zeit voll Spannung und Erwartung machte
ich zuerst Bekanntschaft mit einem jüngeren Manne von
aussergewöhnlichen Eigenschaften, der einen entscheiden-
den Einfluss auf meine geistige Entwicklung und einen
vielfach bestimmenden Einfluss auch auf mein Lebensschick-
sal geübt hat. Ich werde auch über diese Beziehungen treu
berichten, obwohl ich weiss, dass dieselben selbst bei Be-
17*
250 Aufstand im Aabgau. [cap. 20.
der ihrem Principe widersprach. Sodann waren in ihr re-
ligiöse und politische Tendenzen und Leidenschaften ge-
mischt, und diese Mischung, welche dem tiefen Bedürfnis
unserer Zeit, Stat und Kirche zu sondern und Religion
und Politik zu unterscheiden, widerstrebte, wirkte ver-
wirrend auf die öffentliche Meinung und erschien den vor-
handenen Instincten feindlich.
Diese Mängel wurden Vielen dadurch offenbar ge-
macht, dass nun die katholische Kirche ermutigt wurde,
nach dem Vorbilde der Züricher die gläubige Bevölkerung
aufzuregen und ebenfalls in revolutionärer Form die radi-
kalen Statsgewalten anzugreifen.
Der Canton Aargau war zur Zeit der Mediation Na-
poleon's aus dem fiüheren Bernischen und reformierten
Aargau und den vormals gemeinen Herrschaften, aus de-
nen der katholische Canton Baden in der helvetischen Pe-
riode gebildet worden war, und dem ebenfalls katholischen
Frickthal zusammengefügt worden. Eine Zeit lang wirkten
die verschiedenartigen Elemente friedlich zusammen. Sie
erfreuten sich gemeinsam der vorher versagten Unabhän-
gigkeit und republikanischen Freiheit. Aber seit dem Jahre
1830 schieden sich die Parteien von einander, und es misch-
ten sich auch da Confession und Politik. Der reformierte
Teil des Aargau folgte mit Eifer der liberal-radikalen Strö-
mung, der katholische Teil, auf welchen der Klerus einen
grossen Einfluss übte, sympathisierte in seiner Mehrheit
mit den katholischen Cantonen der innern Schweiz. Die
Parteikämpfe über die Revision der Aargauischen Verfas-
sung hatten zu einem Aufstande der „freien Amter" ge-
führt, der mit Hilfe der Nachbarstände rasch unterdrückt
wurde. Nun wurde im Grossen Rate zu Aarau der Antrag
cap. 20.] Aufhebung der Klöster im Aargaü. 251
gestellt und angenommen, die Aargauischen Klöster, deren
Intriguen hauptsächlich der Aufruhr zur Last geschrieben
wurde, aufzuheben.
So entstand die Aargauische Klosterfrage, welche
während mehrerer Jahre die eidgenössische Politik leiden-
schaftlich aufregte und dem Parteihader eine confessionelle
Färbung verlieh. Die grosse Schwierigkeit lag in der
Bundesverfassung von 1815, welche in Artikel XII aus-
drücklich die Klöster unter die Garantie der Eidgenossen-
schaft gestellt hatte. Der Conflict zwischen dem bestehen-
den — wenn auch innerlich ungesunden — Verfassungs-
recht und dem Streben der Zeit, welche das Institut der
Klöster als ein mittelalterliches und culturschädliches zu
beseitigen wünschte, entzweite die Parteien in der Eidge-
nossenschaft. Die katholischen Cantone beschwerten sich,
dass man sie in ihrem klaren Verfassungsrechte verletze
und missachte. Die radikalen Regierungen wiesen dagegen
auf die statsfeindlichen Umtriebe der Mönche und auf die
Gefahren hin, welche dem Frieden der Confessionen und
der Volksbildung von Seite der Hierarchie drohen.
Die Zürcherische Regierung nahm eine vermittelnde
Stellung ein. Wir hatten dazu geholfen, den Aufstand im
freien Amte zu unterdrücken. Wir waren ferner der Mei-
nung, dass die Klöster, welche denselben angestiftet oder
doch begünstigt hatten, die Aufhebung verdienen. Aber
wir verlangten, dass die Schuld nachgewiesen und nicht
auch den Klöstern aufgeladen werde, welche sich nicht
bei dem Aufstande beteiligt hatten. Wir verlangten zu
Ehren des bestehenden Eidgenössischen Rechtes und zur
Beruhigung der katholischen Stände die Herstellung der
nicht schuldigen, insbesondere der Frauenklöster, und ge-
262 Friedbich Rohmeb's [cap. 21.
eindruck war bedeutend. Es zeigte sich hier eine durch-
aus ungewöhnliche Geisteskraft, welche grosser Ziele be-
wusst war und die Mittel scharf überdachte, welche zu
diesen Zielen führten.
Um dieser geistigen Bedeutung willen erfüllte ich
auch das Ansuchen Theodor Rohmer's, seinem Bruder in
einer momentanen Verlegenheit beizustehen, und stellte
ihm eine für meine ökonomischen Verhältnisse nicht un-
bedeutende Summe zur Verfügung. Ich erwähne diese bis-
her unbekannte Thatsache in der Absicht, um die falsche
Meinung zu widerlegen, dass eine selbstsüchtige Specula-
tion den Grund gelegt habe zu der näheren Verbindung
mit Friedrich Rehmer. Ich kannte ihn damals persönlich
noch gar nicht.
Erst um Weihnachten 1841 lernte ich Friedrich Böh-
mer persönlich kenpen. Er war damals ein Mann von 27
Jahren. Seine äussere Erscheinung hatte für den ersten
Blick nichts Auffälliges; erst der längern Beobachtung fiel
der heftige Wechsel auf zwischen heiteren und düsteren
Zügen, zwischen Licht und Schatten. Er war von mitt-
lerer Grösse; sein Körper war sehr harmonisch gebaut.
Als ich einmal mit ihm im Vierwaldstätter See badete,
musste ich das schöne Ebenmass seiner Glieder bewundern,
obwohl der Körper nicht einen jugendlich-schönen, sondern
eher einen durchgebildeten ältlichen Eindruck machte. Er
hatte offenbar schwache, sogar schlaffe Muskeln, aber sehr
starke Nerven. Seine Stimme war in der Regel fein und
scharf, nicht voll und rund; aber in einzelnen aufgeregten
Momenten konnte dieselbe einen ehernen, die Nerven An-
derer erschütternden Klang annehmen.
Sehr bedeutend war das Antlitz. Das bräunlich-
cap. 21.] Febsönlichkeit. 263
schwarze dichte Haupthaar schützte das unruhige Gehirn.
Auf der schönen Stirne spielten glänzende Lichter mit
feinen Linien und deuteten auf geistreiche Gedanken. Aus
der Tiefe der Augenwölhung schauten ein paar graue Augen
hervor. Zuweilen war der Blick wie mit einem Schleier
verhüllt; er schien dann eher nach Innen, als nach Aussen
gewendet. Zuweilen aber leuchteten die Augen und schössen
scharfe Pfeile. Die gebogene Adlernase hatte etwas Aristo-
kratisches, und der scharfgeschnittene Mund deutete auf
eine schneidige Logik und ein herrisches Wesen. Nur die
gelegentlich schlaffe und zuckende Unterlippe verriet auch
die Reizbarkeit sinnlicher Begierden. Um die Mundwinkel
zeigten sich bewegte Linien, welche oft zu spöttischem
Lächeln und ironischer Verhöhnung sich zuspitzten.
Das Gesamtbild aber wechselte sehr in seiner Er-
scheinung. Meistens war ein trüber Schatten über dasselbe
ausgebreitet. Man meinte oft ein träumerisches Brüten und
Sinnen und eine missmutige Verachtung wahrzunehmen.
Dann konnte das düstere Bild aber plötzlich sich beleben.
Je nach den Umständen und den Motiven nahm es dann
bald einen geistig gehobenen, bald einen leidenschaftlich
erregten Ausdruck an. In den einen Momenten konnte
seine Erscheinung einen unheimlichen, dämonischen Aus-
druck bekommen, vor dem sich die Menschen scheu und
erschreckt zurückzogen, oder der sie auch zum Hass und
zur Wut reizte. In anderen Momenten, und vorzüglich in
den glücklichen Stunden, in denen sein Geist zu freier
Äusserung des verborgenen Wesens gelangte, war sein
Antlitz wie von göttlichem Lichte umstrahlt, und er wirkte
dann bezaubernd und beseligend ein auf die, welche ihm
nahe standen. Allerdings nur selten und fast nur in dem
264 Besprbchuwgen mit [cap. 21.
Kreise vertrauter Freunde, denen er die Ergebnisse seiner
Gedankenarbeit mitteilte, erschien er in solchem hellen
Glänze. Öfter, und meistens vor Fremden, war er in sich
gekehrt, und sein Gesicht erschien beschattet und träume-
risch. Zuweilen war er wie eine dunkle Gewitterwolke,
schreckhaft auch für die Seinigen; und nicht selten entlud
sich dann die gesammelte Elektricität im Donner und Blitz.
Es war sehr schwer, lange mit ihm zusammenzuleben.
Ich habe Niemand gekannt, der nicht von Zeit zu Zeit
gänzlich ermüiet und erschöpft worden wäre durch einen
fortgesetzten Verkehr mit dieser seltsamen Persönlichkeit.
Selbst sein innig ergebener und sehr ruhiger Bruder Theo-
dor war genötigt, zuweilen Ruhe und Erholung zu suchen
von den aufregenden Arbeiten und Verhandlungen mit
Friedrich. Selbstverständlich war es einer solchen Natur
schwer, mit den Menschen zu leben. Die Meisten zogen
sich bald von ihm scheu zurück, wenn sie einige Zeit mit
ihm verkehrt hatten. Viele betrachteten ihn mit Miss-
trauen und sogar mit entschiedener Abneigung und Hass.
Einige Wenige verehrten und liebten ihn als einen Geist
ersten Ranges.
Ich habe meine eigenen ersten Eindrücke über die
Begegnung mit Friedrich Rohmer damals niedergeschrieben.
Indem ich diese Aufzeichnung im Auszuge mitteile, gebe
ich den besten Aufschluss über die Entstehungsgeschichte
unserer Verbindung.
31. December 1841. „Gestern sah ich Friedrich Roh-
mer zum zweiten Mal, und diesmal allein; das erste Mal
war er von Theodor Rohmer und Widmann begleitet. Die
ungewöhnliche Energie seines Wesens wirkt imponierend,
aber ich bin noch nicht im Klaren über ihn. Er ist offenbar
cap. 21.] Friedbich I^Iohmeb. 265
krank und reizbar und wird heftig; Dann spricht er rasch
und rascher und hält plötzlich wieder an sich, um auszu-
ruhen. Gedanken zucken wie Blitze hin und her. Seine
Philosophie kenne ich nicht und kann darüber nicht ur-
teilen. Ich äusserte ihm meine Zweifel, dass die Wissen-
schaft durch Einen geistvollen Menschen eine ähnliche
Offenbarung erhalten werde, wie die Religion durch Chri-
stus. Ich bemerkte, die bisherige Erfahrung kenne wohl
Stifter neuer Religionen, aber nicht ebenso Gründer einer
neuen Wissenschaft. Darauf erwiderte er: „„Als Christus
kam, waren alle Religionen in Verwirrung geraten. Überall
Anfange, nirgends Vollendung, überall Widersprüche, nir-
gends Sicherheit. So ist es aber gegenwärtig auch bei
uns besteDt mit dem Wissen über die höchsten Dinge.
Die Verwirrung ist aufs höchste gesteigert. Da muss
Einer kommen, der in das Chaos Licht bringt.""
„Er liess dann das Gespräch über die Wissenschaft
rasch fallen und ging auf das Thema über, das mich da-
mals mehr interessierte, den Stat und die Politik. Da
sprach er: „„Ich will Ihnen ein stolzes Wort sagen; ich
bin ein Statsmann von Geburt. Aber niemals werde ich
ein Amt, nie einen Titel annehmen. Wenn mir die Kö-
nigs- oder Kaiserkrone angeboten würde, ich schlüge sie
aus. Ich will ein einfacher Mensch bleiben. Aber ich
nehme einen Anteil an dem Schicksale der Welt und will
darauf einwirken. Ich bin vor allen Dingen Mensch. Meine
Bestimmung ist die Welt. Ich werde zuerst Deutschland
meine Dienste anbieten, ich liebe die deutsche Nation, aber
ich bin nicht an Deutschland gebunden. Der Radikalismus
ist innerlich nichtig. In der Schweiz ist er am meisten
verbreitet. Daher muss er da zuerst bekämpft werden.
266 Besprechungen mit [cap. 21.
Der Radikalismus darf nicht siegen. Würde er siegen, so
käme Blut, Blut, Blut. Das darf nicht sein. Die Radi-
kalen kennen den Menschen nicht. Sie wollen die Ehe
vernichten und wissen nicht, wie tief dieselbe in der gött-
lichen Ordnung ruht, und wie lieb sie dem Volke ist. Ich
lebe für die Welt. Ihr Wohl ist mit mir verbunden. Aber
ich verlange von der Welt nur eine sichere Lebensstellung.
Darauf habe ich ein Recht. Ich wünsche, das Sie mich
näher kennen lernen. Stosse ich Sie nicht ab? Viele Leute
halten mich für einen Schwärmer. Halten Sie mich für ver-
rückt? Ich schlage Ihnen vor, wir woDen für die Schweiz
zusammen wirken, wir beide allein. Kein Dritter soll darum
wissen. Auch mein Bruder und Widmann nicht. Was sie
erraten, mögen sie behalten, mehr nicht. Der Canton Zü-
rich soD voraus pacificiert werden. Die Schweiz muss frei
bleiben. Diese besonderen Republiken sollen sich selber
regieren. Halten Sie auch zu den kleinen Cantonen Sorge.
Die Schweiz weiss nicht, was sie an ihnen hat. In diesen
Bergen wohnt Gott.**"
1. Januar 1842. „Ich besuchte gestern Friedrich
Rehmer wiederum. Der Eindruck war diesmal günstiger,
als der frühere. Das Schroffe und Stolze in seinem Wesen
trat weniger hervor. Er erzählte niir Vieles von seinem
früheren Leben. Unter anderem sagte er: „„Auf der Uni-
versität lernte ich viel bei Schelling, indem ich ihm auf
allen seinen Schlichen folgte. Zuweilen stellte ich Fragen
an ihn, die er mir aber nie beantwortete. Damals über-
dachte ich die Philosophie Spinoza's. Er lässt Gott und
die Welt aus Nichts herauswachsen. Ich war damals sel-
ber radikal, und consequenter, gründlicher radikal als die
Meisten es sind. Ich meinte, das Ende sei die Gleichheit
cap. 21.] FuiEDBicH Rohheb. 267
aller Menschen. Freilich wollte ich als Übergang die Herr-
schaft und Führung der geistigen Menschen über die
Massen. Als ob dieser Übergang jemals zu dem Ziele der
Gleichheit führen könnte. Gegen das System Spinoza's und
die Auflösung aller Individualitäten in dem Air bäumte sich
mein Selbstbewusstsein. Dennoch war ich damals Atheist.
— Später sprach ich meine Gedanken über die Entstehung
und das Werden der Welt in der kleinen Schrift aus: An-
fang und Ende der Speculation. Es wurden fünfzehn Exem-
plare davon abgesetzt.' Niemand achtete darauf. Ich erwarb
einen Freund Namens Guido Fuchs; sein Geist war stark,
sein Körper schwach. Das Missverhältnis (seiner Abstam-
mung von nervösen Eltern zuzuschreiben) drückte ihn nie-
der. Er endigte durch Selbstmord. Als ich in ernsten
Gesprächen mit ihm sah, wie entsetzlich elend die geist-
reichsten und begabtesten Leute seien, fasste ich den Ent-
schluss, die Wissenschaft der Welt zu entdecken. — Es
fällt mir schwer, mit den Menschen zu verkehren. Sie
scheuen und hassen mich meistens, weil sie mich nicht
kennen. Ich kann nicht anders als wahr sein, und die
Wahrheit ertragen sie nicht. Viel besser kann mein Bru-
der Theodor mit den Leuten umgehen. Er dient mir da-
her vortrefflich zur Vermittlung. Theodor ist für den Stat
bestimmt, Widmann für die Kirche. Dieser fasst leichter,
rascher; aber jener ist, tiefer und verlässiger.""
„Über die schweizerische Politik sagt er: „„Bern hat
oft grössere Statsmänner gehabt als Zürich. Aber Zürich
muss durch seine Intelligenz auf die Schweiz wirken. Ihm
kommt die Aufgabe zu, den Radikalismus durch die In-
telligenz zu besiegen. Der Schultheiss Neuhaus von Bern
wird curiose Augen machen, wenn er sieht, wie Zürich
268 Besprechitnoen mit [cap. 21.
mit Bewusstsein stark und ruhig vorwärts geht. Die frem-
den Mächte müssen Sie sich sorgfaltig vom Leibe halten,
aber mit feiner Sicherheit. Auch sie werden auf Zürich
sehen, und wenn sie gewahren, dass Zürich durch eigene
Geisteskraft den Radikalismus überwindet und die Freiheit
rettet, so werden die Mächte die Schweiz in Ruhe lassen.""
„Die Personen und die Zustände kannte er nicht hin-
reichend und urteilte oft unrichtig, er liess. sich aber die
Berichtigung seiner Irrtümer leicht gefallen. Dann kam
aber wieder etwas von jener seltsamen Wut heraus, die
sich wie ein wildes Gewitter entlud. So meinte er, es
werde noch ein grosser Krieg kommen zwischen den
Deutschen und den Franzosen. „„Wenn es dazu kommt,
dann muss Paris von Grund aus zerstört werden. Es
muss wieder ein grosser Schrecken über die Welt kom-
men. Nachher erst soll die grösste Milde eintreten. Auch
die Franzosen sollen dann Ruhe und Frieden finden.""
„Am Sylvesterabend hatte ich auch mit dem alten
Professor Hottinger ein merkwürdiges Gespräch. Es
frappierte mich, dass auch er mir seine Überzeugung mit-
teüte, dass wir einer grossen Zeit entgegengehen, einer
grösseren noch, als die der Reformation im sechszehnten
Jahrhundert. Auch er meinte, es komme Alles darauf an,
das Verhältnis von Geist und Körper richtig zu erkennen.
Das ist ja der Rohmer'sche Grundgedanke, in der Psy-
chologie das Gesetz und die Erklärung des menschlichen
Lebens aufzufinden."
Vom 4. Januar 1842. „Das Bild Rohmer's wächst in
mir grösser. Gestern sagte ich ihm, ich habe schliesslich
zwischen drei Auffassungen wählen müssen. Ich sagte mir:
Entweder Sie sind ein Narr oder ein Betrüger oder ein
cap. 21.] Fbiedbioh Rohmeb. 269
grosser Mann, ein Genie. Ich konnte Sie nicht für einen
Narren halten, weil Sie offenbar gescheit sind; ich musste
auch den Verdacht eines Betrügers von mir weisen, denn
das Werk Ihres Bruders und Ihre eigenen Äusserungen
zeugen unwiderleglich für eine tiefe Moral Ihrer Grund-
ansichten und Ihres Strebens. Es blieb mir also nur die
dritte Annahme übrig."
„Ich kenne ihn noch nicht näher, von seiner Wissen-
schaft weiss ich nur sehr wenig. Aber indem ioh ihm
näher trete, fühle ich mich geistig gehoben und erftischt.
Ich komme mir allerdings sehr klein vor im Vergleich
mit seinem eminenten Geiste, aber ich werde den Anderen
gegenüber grösser und stärker als vorher."
„Er sagte mir, er wolle das Christentum restaurieren
und durch die Psychologie auch die wichtigsten Dogmen in
ein neues, dem gemeinen Verstand fassbares Licht setzen.
Dieses Versprechen kommt mir freilich noch fabelhaft vor.
Hätte mir Einer das vor Jahren gesagt, so hätte ich mich
mit souveräner Verachtung von ihm weggewendet. Heute
bin ich im Verkehr mit Rehmer empfänglicher geworden
für die Lösung rätselhafter Probleme."
„Neulich sagte er ein treffliches Wort über die Po-
litik. Das wahre Recept für den Statsmann lautet: „Re-
cipe Vitam."
In der Absicht, die Wissenschaft Friedrich Rohmer*s
an einem mir vertrauteren Stoff zu prüfen, brachte ich
das Gespräch auf die Natur des Rechts. Meine damalige
Aufzeichnung ist verloren und die vorhandenen Notizen
geben nur einige Anhaltspunkte. Die Hauptzüge dieser
Besprechung haben sich aber in meiner Erinnerung wohl
erhalten.
270 Seine Äusserung über [cap. 21.
Friedrich sprach ungefähr so: „Um die Natur des
Rechts in der Tiefe zu fassen, muss man Gott denken.
Gott ist die ewige Quelle des Rechts. Das Recht ist
die Existenz. Was existiert, hat ein Recht zu sein, wie
es ist. Je höher die Existenz, um so höher das Recht.
Der Mensch als die höchste Existenz unter den Geschöpfen
Gottes hat daher auch das höchste Recht. Aber auch der
Teufel hat nach dem Sprichwort sein Recht, auch dem
Teufel muss man, so weit er existiert, sein Recht lassen.
Man darf daher schlechte und böse Menschen nicht des-
halb vernichten, weil sie schlecht und böse sind. Auch
der Böse hat ein Recht zu sein, wie er ist. Nur darf er
nicht die Existenz der Anderen aus Bosheit angreifen und
verletzen. Die höhere Existenz behauptet auch ihm gegen-
über ihr höheres Recht. Die Völker, die Familien, die In-
dividuen haben eine verschiedene Existenz; deshalb haben
sie auch verschiedenes Recht."
„Die Rechtsgleichheit, wie die Radikalen sich die-
selbe vorstellen, ist ein Unsinn, weil sie im Widerspruch
ist mit den natürlichen Verschiedenheiten der Existenzen.
Sie würde zu gleicher Teilung des Erdbodens und seiner
Früchte führen, und sie würde gleiche Fähigkeiten zur
Arbeit und zum Genüsse voraussetzen. Das ist aber Un-
natur und daher Unsinn. Nur soweit die menschliche
Natur in allen Menschen dieselbe ist, hat die Rechts-
gleichheit einen Sinn.**
J)aB Recht ist nicht bloss ein Erdachtes und Ge-
machtes. Es ist mit den Existenzen schon von Natur
im Princip gegeben. Es ist auch nicht das willkürliche
Werk des States, kein Statsprodukt. Es lässt sich eher
jioch behaupten, der Stat sei eine Rechtsinstitution, als
cap. 21.] DIE Natur des Rechts. • 271
umgekehrt, das Recht sei eine blosse Statserfindung und
Statseinrichtung. **
„Das Recht wird, wie die Existenzen werden. Es
wächst in demselben Verhältnis, in dem die Existenzen
wachsen. Es geht unter, inwiefern die Existenzen unter-
gehen. Auch die Tiere haben vor Gott ein Recht, und
der Mensch hat die Pflicht, es zu achten. Sogar der Baum
hat ein Recht zu blühen und Früchte zu treiben. Die
Menschen sollen das respectieren und nach Kräften nach-
bilden und schützen."
„Der Moment, in dem sich
Quantität und Qualität
sondern, ist der Entstehungsmoment des States. Die Quan-
tität ist das Volk, die Qualität ist der Herrscher. Das
Volk ist die Basis, der Herrscher ist die Spitze. ^ Das Volk
ist die Unterlage, der Herrscher ist die Eigenschaft. Beide
zusammen, nicht der eine oder der andere Teil für sich,
bilden den Stat. Die Constructionen im Einzelnen sind
äusserst mannigfaltig. Das Grundverhältnis ist immer das-
selbe."
„Im Kindesalter wiederholen sich immer wieder die
Anfänge der Statenbildung. Erst prügeln sich die Buben,
bis der Stärkere bei den Schwächeren Anerkennung findet.
Dann folgen diese jenem. Sind mehrere Parteien, so raufen
sie sich unter einander, bis wieder die überlegene Kraft
die Führung erwirbt."
Diese Grundansicht machte auf mich im Ganzen einen
sehr befriedigenden Eindruck. Sie liess freilich noch viele
unerledigte Fragen zurück. Insbesondere waren die wesent
heben Unterschiede von
göttlichem Recht und menschlichem Recht^
272 Abschluss der Allianz [cap. 21.
Moral und Recht,
natürlichem Recht und formuliertem, vom State aner-
kanntem Recht
kaum in den ersten Keimen angedeutet. Aber die Rechts-
idee erschien nun doch in ihrer vollen Lebenskraft und
hatte einen Inhalt gewonnen, den die gewöhnlichen, bloss
äusserlichen und formalen Begrififsbestimmungen der Juri-
sten nicht besassen. Das Recht hatte in Gott und in der
Natur der Menschen und der Geschöpfe eiijen sichern Grund
und Halt bekommen.
Die so geistig vorbereitete Allianz mit Friedrich Reh-
mer wurde nun abgeschlossen und durch Handschlag be-
kräftigt. Dieselbe hatte zunächst einen politischen Cha-
rakter und Zweck. Als Ziele wurden vorläufig in*s Auge
gefasst
in cantonaler Beziehung: Beseitigung der inneren
Zerwürfnisse durch Reinigung der conservativen Partei
von absolutistischen und reactionären Neigungen und
Strebungen, Versöhnung mit den liberalen Elementen
innerhalb der radikalen Partei, unerbittlicher Kampf
mit der ultraradikalen Presse und Zurückweisung des
deutschen Radikalismus;
in eidgenössischer Beziehung: Vorschläge zur
Schlichtung der eidgenössischen Streitfragen, Anbahnung
einer eidgenössischen, aus Liberalen und Conservativen
bestehenden Mittelpartei und Vorbereitung zu einer zeit-
gemässen Bundesreform;
im Allgemeinen: Wiederherstellung eines orga-
nischen Verhältnisses und einer freundlichen Wechsel-
wirkung zwischen dem deutschen und dem schweizeri-
schen Geiste, Wiederbelebung der gesunkenen Achtung
cap. 21.] MIT Friedrich Rohmer. 273
• der Gebildeten vor dem Christentum, Entwickelung des
psychologisch erkannten Princips der Parteien und Er-
satz der radikalen Anschauungen durch lebensvolle und
fruchtbare Ideen.
Indem ich diese Verbindung einging, trat ich nicht in den
bisherigen Kreis der Jünger und Verehrer Friedrich Roh-
mer's ein. Ich behielt mir meine persönliche Selbstän-
digkeit ausdrücklich vor. Aber der fortgesetzte, tägliche
Verkehr mit Friedrich Rohmer und seinen Anhängern
machte mich mit ihrem Wesen und Streben allmälich ver-
trauter und brachte mich ihnen näher. Je mehr ich in
dem Verständnis der Rohmer'schen Psychologie fortschritt,
um so tiefer wurzelte auch mein inneres Interesse an der
neuen Wissenschaft, die mir das Leben in seinen ver-
borgensten und feinsten Bewegungen zu erklären schien.
Ich erkannte die geistige Überlegenheit Friedrich Rohmer's
willig an, und es keimte eine lebhafte Zuneigung zu dem
seltenen Manne in meinem Gemüte in hoffnungsvollen Trie-
ben und Blüten.
Meine Züricher Freunde betrachteten dieses Wachs-
tum des Rohmer'schen Einflusses mit sehr gemischten Em-
pfindungen. Die geistige Unterstützung mit Ideen und
publicistischen Talenten war ihnen ganz erwünscht, aber
die Personen waren ihnen unheimlich und verdächtig. Mit
Theodor Rohmer und mit Dr. Widmann mochten Einige
wohl noch freundlich verkehren, aber Friedrich Rohmer
schreckte sie ab. Nicht ungern hätte die Partei die pu-
bKcistische Hilfe litterarischer Landsknechte in ihrem Dienste
bezahlt, aber meine auf persönlicher Achtung und Harmonie
der Gesinnung beruhende Allianz mit einem bisher unbe-
kannten Deutschen^ der wie ein unverständliches Sekten-
Blnntschli, Dr. J. C, Alis mciuem Leben. I. 28
274 I^iE FsEuinjE [cap. 21.
haupt betrachtet wurde, kam den Meisten höchst gewagt
und abenteuerlich vor. Nur einige wenige jüngere Züricher
von höherer Bildung wurden von den Rohmer*schen Ideen
und Personen so stark angezogen, dass sie bereit waren,
sich dem Rohmer'schen Kreise 'beizugesellen. Zwei der-
selben, Heinrich Schulthess und Heinrich v. Orelli,
traten auch mit Friedrich Rehmer in näheren Verkehr.
Orelli, der selber etwas Geniales und Excentrisches hatte,
gewann überdem auf Widmann Einfluss. Der ruhigere
und von Natur conservative Schulthess schloss sich enger
an den ebenfalls conservativen Theodor Rehmer an. Die-
sem trat auch der Statsschreiber Heinrich Hottinger
näher, dessen gemütliche Noblesse durch den Geist Theo-
dor's angeregt und befriedigt wurde. Mit Friedrich Reh-
mer kam Hottinger zuerst mehr nur ausnahmsweise und
von ferne in persönliche Beziehung. Schulthess und Hot-
tinger waren überdem bereit, für die Rehmer auch grosse
ökonomische Opfer zu bringen. Von meinen anderen Freun-
den hatten fast nur noch Roth in Teuflfen, Heinrich
Spöndli und Heinrich Grob in Zürich einiges nähere
Interesse für diese Verbindung, die beiden letzteren nicht
ohne ängstliche Vorbehalte.
Im Allgemeinen arbeiteten das Misstrauen der eigenen
Partei und der steigende Hass der Radikalen gemeinsam
daran, meine Allianz mit Rehmer zu lösen und zu zer-
stören. Es war schwer, jenes Misstrauen zu entkräften.
Teils fehlte es an dem Verständnis für so aussergewöhn-
liche Personen und Ideen, teils reizte die rätselhafte Er-
scheinung zu Zweifeln. Es geschah auch zu wenig, um
den Hass der Radikalen zu ermässigen und zu versöhnen.
Im Gegenteil, die Leidenschaft des Kampfes steigerte den-
cap. 22.] UND DIE Gegner. 275
selben in's Masslose. Es war das ein verderblicher Fehler
auch unserer Presse, welche die allerdings heftigen An-
griffe der radikalen Presse mit schneidender Verachtung
zurückwies und die Erbitterung bis zur Wut entflammte.
Im persönlichen und amtlichen Verkehr, auch mit den ra-
dikalen Führern, kam ich wohl zurecht und stand mit
ihnen zwar nicht auf vertraulichem Fusse, aber ich be-
achtete die anständigen geselligen Umgangsformen nicht
ohne Glück. Die Zeitungen dagegen Hessen ungehemmt
ihre schweren Geschütze und ihre befiederten Pfeile wider
einander spielen und verwundeten manchen patriotischen
Gegner empfindlich. Es war das ein Fehler, den ich und
den auch die Rohmerianer begingen, der sich bitter rächte.
Dazu kam der unselige Klatsch, der gefährliche Geheim-
nisse auch des Frauenlebens nicht schonte und mit seinen
grellen Schlaglichtem und seinen falschen Bildern auch den
häuslichen Frieden störte.
22.
Der Kampf des Beobachters ans der östlichen Schweiz mit dem
schweizerischen Republikaner. Ludwig Snell tritt zurück. Die
Bohmer'sche Speculation und Psychologie. Die sechzehn Grund-
kräfte der menschlichen Seele. Die Bewegung derselben und
die Altersstufen. Die Lehre von den vier politischen Parteien.
Liberal-conservative Politik und Partei. Wirkungen in England,
Frankreich, der Schweiz und Deutschland. Die Augsburger All-
gemeine Zeitung.
Auf den „Beobachter aus der östlichen Schweiz" hatte
ich kraft meiner politischen Stellung und infolge meiner
gesellschaftlichen Verbindung mit dem Verleger Christian
18*
276 ^^^ Beobachter aus deb östlichen Schweiz [cap. 22.
Beyel einen entscheidenden Einfluss. Ich eröflfhete nun
das Blatt den neuen Verbündeten. Die unmittelbare und
thätige Teilnahme Friedrich Bohmer*s und seiner deutschen
Freunde Theodor Böhmer, Dr. Widmann und Alexander
Bruckmann dauerte nur wenige Monate vom Januar bis
Mitte April 1842, aber diese kurze Zeit machte einen
grossen Eindruck und bewirkte eine nachhaltige Änderung
in der schweizerischen Journalistik und Politik.
Dem festgestellten Programm gemäss wurden in den
ersten einleitenden Artikeln die Verdienste der Badikalen
um die öfiFentlichen Zustände offen anerkannt, aber zu-
gleich ihre Mängel und Fehler ohne Schonung blossgelegt.
Ebenso wurden die Gebrechen der conservativen Partei
zugestanden und hinwieder ihre Vorzüge beleuchtet. Aus
der Einsicht in die Natur der beiden Parteien wurde auf
das Bedürfnis und die Möglichkeit einer inneren Reinigung
und Berichtigung beider geschlossen, und eine Verständi-
gung beider angebahnt. Die Sprache dieser Artikel hatte
einen idealen Schwung und war trotzdem gemeinverständ-
lich. Die rücksichtslose Offenheit machte ein ungewöhn-
liches Aufsehen.
Der von Ludwig Snell redigierte »Schweizerische
Republikaner" wurde durch den »Beobachter" in seiner
Zuversicht auf den nahen Wahlsieg unangenehm gestört.
Dr. Ludwig Snell, aus dem Herzogtum Nassau gebürtig,
später Director des Gymnasiums von Wetzlar, Republi-
kaner aus Neigung und Princip, war nach der Schweiz ge-
kommen, nachdem er das bittere Unrecht der preussischen
Demagogenverfolgung gründlich erfahren hatte. Er war
ein gut geschulter und sehr gewandter Publicist und galt
als eine hervorragende Autorität in seiner Partei, auf die
cap. 22.] IM Kampfe mit Ludwig Snell. 277
er einen mächtigen Einfluss übte. Er war von der Wahr-
heit seiner Ideen und der Güte seines Strebens überzeugt,
aber er war ein doctrinärer Eiferer für dieselbe und ge-
neigt, den Gegnern verwerfliche Gesinnung zuzuschreiben.
Durch den „Republikaner" hatte er der Partei wieder Mut
und Selbstvertrauen eingeflösst. Die ungewohnte Energie
des „Beobachters", dem er geistig doch nicht gewachsen
war, brachte ihn ausser Rand und Band. Seine Entgeg-
nung suchte die Schwäche der sachlichen Gründe durch
bittern Hohn und persönliche Schelte zu verdecken.
Früher war diese Taktik oft geglückt, und er hatte
wohl die Gegner dadurch zum Schweigen gebracht. Aber
jetzt half diese Kampfweise Nichts. Die Publicisten des
Beobachters liessen sich dadurch nicht einschüchtern. Sie
gingen ihrem Gegner nur um so entschiedener zu Leibe
und packten und schüttelten ihn unsanft. Auf allen seinen
Schlichen folgten sie ihm und liessen keine Finte unbe-
achtet und keine Schmährede unerwidert.
Manche Artikel des Beobachters waren weniger noch
für das Publicum, als für die Seele der Republikaner ge-
schrieben. Was viele Parteigenossen zuvor für ganz un-
möglich erklärt hatten, geschah dennoch. Das Selbstver-
trauen Ludwig Snell's wurde gebrochen. Schon zu Anfang
Februar Hess er sich von seiner Partei die Ermächtigung
ausstellen, in Zukunft über die Polemik des Beobachters
„mit Stillschweigen und verdienter Verachtung hinweg
zu gehen.** Damit war die publicistische Insolvenzerklä-
rung des gefürchteten radikalen Journalisten ausgesprochen,
und bald nacher erfolgte auch der Rücktritt desselben von
dem schweizerischen Republikaner.
Die Polemik wider den Republikaner war indessen
278 I^iE Rohmeb'sche Pabteienlehbe. [cap. 22.
nur ein Vorspiel, welches die allgemeine Ergründung der
Natur der verschiedenen politischen Parteien vorbereitete.
Während des Kampfes untersuchte Friedrich Rohmer,
auch im Gespräch mit den Freunden, den psychologischen
Charakter der Parteien und fand in seiner psychologischen
Wissenschaft überraschende Aufschlüsse. Die Parteien er-
schienen nicht mehr als wiDkürliche Verbindungen je nach
Interessen, Launen und Meinungen, sondern sie hatten in
der menschlichen Natur selber und in den verschie-
denen Entwickelungsstufen der Menschen einen not-
wendigen Grund. Es gab Radikale und Conservative,
Liberale und Absolutisten von Natur. Es war daher
eine Aufgabe der Psychologie, diese Gegensätze zu erklären
und zu bestimmen.
So entstand die Rohmer'sche Parteienlehre, die zu-
nächst im März 1842 in dem Beobachter in einer Reihe
von Artikeln dargestellt, sodann im Jahr 1844 in einem
besonderen Buche von Theodor Rohmer wissenschaftlich
begründet und nochmals 1869 von mir in der Schrift
„Charakter und Geist der politischen Parteien" beleuchtet
wurde.
Es war für die Lehre selbst und für ihre imbefangene
Aufiiahme nachteilig, dass ihre erste DarsteDung und Be-
gründung mit den erregten Zürcherischen Parteikämpfen
verflochten war. Die Schilderung des Radikalismus und
des Absolutismus bekam infolge dessen eine übertriebene
Bitterkeit und Gehässigkeit, und der Irrtum, dass die Lehre
nur erfunden sei, um der herrschenden Partei in Zürich
einen Dienst zu leisten, konnte sich in weiten Kreisen
festsetzen.
Der Grundgedanke aber war völlig unabhängig von
cap. 22.] Die Rohmer'sche Spekulation. 279
den damaligen, heute fast vergessenen Streitigkeiten. Die
ganze Lehre war eine unabweisbare Consequenz der Roh-
mer'schen Psychologie, und sie war zugleich eine merk-
würdige Bewährung ihrer Wahrheit in der fruchtbaren
Erkenntnis des wirklichen Lebens. Die Psychologie gibt
den wissenschaftlichen Schlüssel zu dieser Parteienlehre.
Ohne Kenntnis der Psychologie konnte sie nur als eine
zutreffende Analogie verstanden, nicht aber gründlich be-
griffen werden. Indessen hat sie doch in ihrer mehr oder
minder populären Darstellung eine merkwürdige Verbrei-
tung bei verschiedenen Nationen gefunden und sehr vielen
Politikern, welche für eine psychologische Betrachtung Sinn
und Verständnis hatten, ein Licht aufgesteckt, welches
manchen dunklen Punkt aufzuhellen vermochte. Ich selber
habe ihre Wahrheit im Grossen tausendfaltig erfahren und
mit ihrer Hilfe manche Personen durchschaut, welche von
den Meisten lange Zeit ganz falsch beurteilt wurden.
Die Rohmer'sche Spekulation blieb mir damals fremd.
Ich hatte für die reine Spekulation und ihre Abstractionen
wenig Talent und wenig Neigung. Sie kam mir vor wie
ein geistreiches Spiel mit Worten und Formeln ohne realen
Inhalt. Erst viele Jahre später und erst als Friedrich
Rohmer selbst sich endlich zu einem lebensvolleren
Gottesbegriffe durchgerungen und seine ursprüngliche
Spekulation und Logik wesentlich berichtigt hatte, ging mir
auch für diese Seite seiner Wissenschaft das Verständnis auf.
Nur die Definition des Seins als der Verbindung
von Unterlage und Eigenschaft, obwohl auch sie zu-
nächst nur eine formal-logische war, leuchtete mir schon
früh ein. Ich fand dieselbe in der Betrachtung der ver-
schiedenen Existenzen bestätigt und übte mich darin, in
280 Meine Stellung zu per Rohmer'schen Spekulation, [cap. 22.
jedem Sein, das ich prüfte, die Unterlage von der Eigen-
schaft zu unterscheiden. Ich überzeugte mich, dass diese
Unterscheidung notwendig und für die Erklärung der Dinge
ungemein fruchtbar sei.
Dagegen befriedigte mich die damalige Ansicht Fried-
rich Rohmer's von Gott durchaus nicht. Er nannte die
ewige Unterlage von Allem was ist, Gott, freilich nicht
ohne in seinem Geiste fortwährend einen Stachel zu em-
pfinden, der ihn zu immer neuen Zweifeln und Prüfungen
reizte. Er war noch nicht Herr geworden über die pan-
theistische Denkweise der Philosophie. Gott als Unterlage,
der Mensch als Eigenschaft gedacht, das war Pantheis-
mus, wie ihn die indischen Brahmanen und Buddha gelehrt
hatten. Dieser Vorstellung gegenüber erschien mir der
persönliche, in sich lebendige Gott, der Vater der Men-
schen, wie ihn Christus verkündet hatte, wahrhafter und
befriedigender. Auf einem Spaziergange nach dem Hökler
besprach ich mit Friedrich meine Bedenken. Ich erklärte
ihm, dass mir der Glaube an einen bewussten, die Welt-
geschichte leitenden Gott ein Bedürfnis meines Geistes sei,
und dass ich diesen Glauben unter allen Umständen wie
eine Gewissheit meines eigenen Seins festhalte. Da-
her sei mir ein Gott, der nur Unterlage sei, undenkbar.
Die Einwendung berührte den wunden Fleck in der Spe-
culation, der später Heilung fand.
Ich notierte mir damals noch eine andere Bemerkung
über das Verhältnis zu Gott, wie ich es verstand: „der
Statsmann verhält sich zu Gott, wie ein reifer Sohn zum
Vater. Er wird zunächst selbständig handeln und nur
selten in der Not des Vaters Hilfe in Anspruch nehmen.
Der Kirchenmann dagegen verhält sich eher wie ein minder-
eap. 22.] Die Rohmeb'schb Psychologie. 281
•
jähriger Sohn, der in dem Haushalte des Vaters zurück-
geblieben ist, oder wie eine Frau, die sich anlehnt/
Auch gegen den Wahlspruch Friedrich Rohmer's:
„Ich lass* mich gehen" äusserte ich ihm meine Bedenken.
Ich meinte, der Satz möge auf die Periode passen,* in wel-
cher er lediglich mit der Findung der Wissenschaft be-
schäftigt sei; ich begriff, dass er da der eigenen Natur
folgen musste. Aber für die politische Praxis sei der Satz
nicht anwendbar, denn die Ereignisse und die Menschen
warten da nicht auf die persönliche Stimmung. Zwar gab
Fritz das gelegentlich zu; aber seine Natur war stärker
als sein Vorsatz und trieb ihn doch immer wieder dazu,
sich gehen zu lassen. Alle Vemunftgründe und alle Er-
fahrungen halfen nichts dagegen. Er war eine exceptio-
nelle Natur, die sich nicht bestimmen und nicht warnen
liess, die aber gerade deshalb auch nicht fähig war, einen
politischen Beruf zu erfüllen. Nur allmälich wurde mir
das klar.
Mit grossem Eifer und mit steigendem Interesse stu-
dierte ich nun die Rohmer'sche Psychologie, in welche
mich Theodor Rehmer im systematischen Zusammenhang
theoretisch, Friedrich Rehmer durch einzelne, aus dem
Leben gegriffene Beobachtungen und Bemerkungen eher
practisch einführte. Das streng-logische und überaus reiche
Systei^i der XVI Grundkräfte der menschlichen Seele, die
auch in der Natur überhaupt wieder zu finden waren, im-
ponierte mir durch seine organische Gliederung und den
einheitlichen Zusammenhang. Die nähere Darstellung die-
ser sechzehn seelischen Kräfte in dem Organismus des
menschlichen Körpers war freilich noch sehr unvollkommen;
sie war im Einzelnen wohl der näheren Ausführung, auch
282 I>iK XVI Gbundkrafte [cap. 22*
vielfaltig der Berichtigung noch bedürftig; aber im Grossen
überzeugte mich die Betrachtung des Menschen doch von
der Wahrheit der ganzen harmonischen Gruppierung. Selbst
die äusserliche Anordnung und Einreihung der verschie-
denen geistigen und gemütlichen Seelenkräfte machte mir
den Eindruck eines symmetrischen Kunstwerks und mehr
noch eines lebendigen Organismus.
Dem Kopf kommen so acht Geisteskräfte, dem Leib
acht Gemütskräfte zu. Diese wie jene unterscheiden sich
je in vier äussere Kräfte, welche in den äusseren d. h. in
den Sinnes-Organen des Körpers ihren Sitz haben, und in
die entsprechenden vier inneren Kräfte, welche im Innern
des Kopfes und Leibes wirken. Es ergeben sich so
4 innere Geisteskräfte: Phantasie, Combination, Ge-
dächtnis, Verstand,
4 äussere Geisteskräfte: Aug, Ohr, Geruch, Sprache;
4 innere Gemütskräfte: Sentimentalität, passive Sinn-
lichkeit, Noblesse, active Sinnlichkeit,
4 äussere Gemütskräfte: Brust, Extremitäten, Nabel,
Geschlechtssinn.*)
*) Anmerkung des Herausgebers.
Zum Verständnis der hier in Frage kommenden psychologischen
Verhältnisse, respective ihrer sprachlichen Bezeichnungen möge Folgen-
des dienen.
Phantasie und Gedächtnis sind im gewöhnlichen Sinn zu
nehmen; unter Combination wird die Fassungskraft verstanden, unter
Verstand die Denkkraft, aus welcher die Logik hervorgeht. Senti-
mentalität ist das active, aber weiblich geartete Gefühl, welches
Gefühle (Sentiments) erzeugt, schafft. Passive Sinnlichkeit be-
zeichnet die passive Reizempfänglichkeit, die Afficirbarkeit, welche die
äusseren Eindrücke nachgestaltend in sich auftiimmt. Noblesse ist
das Gemüt im Unterschied vom Gefühl, das tiefere sittliche Empfindungs-
Cap. 22.] DEB MENSCHLICHEN SeELE. 283
Dazu kommt, und zwar ebenso wieder auf Seiten des
Geistes, wie auf Seiten des Gemüts, der weitere Unter-
schied zwischen männlich- und zwischen weiblich-ge-
arteten Kräften. Es sind näraUch
die männlichen Geisteskräfte: Gedächtnis — Geruch,
Verstand — Sprache;
die weiblichen Geisteskräfte: Combination — Ohr,
Phantasie — Aug;
vermögen, der passive männlich geartete Wille, die sittliche Wider-
standskraft;. Active Sinnlichkeit bezeichnet die active männlich
geartete Entschlusskraft, den sittlichen Willen angreifender Art. —
Was sodann die äusseren Kräfte betrifft, so ist
Aug im geistigen Sinn = Anschauungskraft: ihr Organ der
Gesichtssinn.
Ohr im geistigen Sinn = Au ffassungs kraft: ihr Organ der
Ohrensinn.
Geruch im geistigen Sinn = Spür kraft: ihr Organ der Nasen-
sinn.
Geschmack im geistigen Sinn = Sprachkraft: ihr Organ der
Mnndsinn.
Desgleichen
Brust im seelischen Sinn = Gefühligkeit: ihr Organ der
Ftihlsinn der Haut und speciell der Brüste.
Extremität im seelischen Sinn = Leidenschaft (das sinnlich
geartete Leidenschaftsvermogen, welches den empfangenen
Reiz ausgestaltet in Begierde, den empfangenen Impuls
umsetzt in Handlung): ihr Organ der Tast- und Greif-
sinn der Extremitäten.
Nabel im seelischen Sinn -= Ahnungsvermögen: Organ der
sympathische Sinn des Bauches (der Eingeweide und
des Nabels).
Geschlechtssinn im seelischen Sinn = Thatkraft: Organ
die physischen Zeugungs Werkzeuge.
284 ^^^ ^Vf Gbündkbaftb [cap. 22.
die männlichen Gemütskräfte: Noblesse — Nabel,
act. Sinnlichkeit — Geschlechtssinn;
die weiblichen Gemütskräfte: pass. Sinnlichkeit —
Extremitäten, Sentimentalität — Brust.
Endlich lässt jede der 4 Klassen in sich selbst wie-
der den Gegensatz erkennen einer receptiven oder passiven
und einer spontanen oder activen Thätigkeitsseite: Ge-
dächtnis und Geruch, Combination und Ohr, Noblesse und
Nabel, pass. Sinnlichkeit und Extremität sind passive,
Verstand und Sprache, Phantasie und Aug, act. Sinnlich-
keit und Geschlechtssinn, Sentimentalität und Brust sind
active Kräfte.
Was mir hier vor Allem einleuchtete, war der Pa-
rallelismus der Leibes- und Gemütssinne mit den Kopfes-
und Geistessinnen. Jene entsprachen so genau diesen, dass
je wieder die eine Hälfte in zweifach gegliederten, die an-
dere Hälfte in einfach gegliederten Organen körperlich sich
darstellte. Denn es heben sich am Körper, äusserlich be-
trachtet, Augen und Ohren — Brüste und Extremitäten
als Doppelorgane, Mund und Nase — Geschlechtsteil und
Nabel als einfache Organe ab. Die herkömmliche Theorie
hatte meistens nur vier bis fünf Sinne gekannt; es war
aber offenbar richtiger, die dunkleren, aber wirksamen
Sinne des Leibes zu vervollständigen.
Ebenso richtig schien mir die Unterscheidung der
männlichen oder höheren Geistes- und Gemütskräfte von
den weiblichen oder niederen; desgleichen der in jeder
der beiden Gruppen sich wiederholende Gegensatz von pas-
siven und activen Potenzen; endlich die fortwährende
Gegenüberstellung der inneren und der äusseren Kräfte,
überall kehrte so das Verhältnis von Unterlage und Eigen-
cap. 22.]
DEB MENSCHLICHEN SeELE.
285
Schaft wieder; in mannigfacher Weise standen sich die
Kräfte, die einen unterläglich, die anderen eigenschaftlich
gegenüber, alle in vollkommener harmonischer Ordnung der
Glieder zum Ganzen. So kam folgendes Grundschema der
XVI Kräfte zu stände:
Männliche
Pass.
Sinnlich-
keit
Sentimen-
talität
Weibliche
Männliche
286 ^'^ Bewegung derselben und die Altersstufen. [cap. 22.
Die Bewegung des Lebens und demgemäss die
Altersentwickelung beruhten nun darauf, dass eine
der sechszehn Grundkräfte nach der andern, in geordneter
Reihenfolge und in geregeltem Wechsel von Geistes- und
Gemütseigenschaften, gleichsam sich an die Spitze stellte
und die Führung übernahm. So ergab sich folgende Auf-
einanderfolge der Kräfte:
^^ ^"S . ) Kindheit.
2) Phantasie { t o x.
' . ,., / Iniantia et
3) Sentmientalität l
' _ 1 pueritia.
4) Brust ' ^
5) Geschlechtssinn j
6) Active Sinnlichkeit f Jugend.
7) Verstand ( Adolescentia.
8) Sprache '
9) Geruch |
10) Gedächtnis i Gereiftes Alter.
11) Noblesse ( Juventus.
12) Ahnung '
13) Extremitäten ]
14) Passive Sinnlichkeit ( Höheres Alter.
15) Combination ( Senectus.
16) Gehör '
Diese Anordnung erhielt später nur noch die Be-
richtigung, dass bei den Gemütskräften der unterläglichen
Kraft, der auf das Innere gewendeten Natur derselben
gemäss, der Vorzug vor der nach Aussen gerichteten ge-
geben wurde, anders als bei den Geisteskräften. Daher
wurden die Organe 3 — 6 und ebenso 11 — 14 dann so um-
gestellt:
cap. 22.] Die Urliste. 287
3) Brust 11) Ahnung
4) Sentimentalität 12) Noblesse
5) Active Sinnlichkeit 13) Passive Sinnlichkeit
6) Geschlechtssinn 14) Extremitäten.
Endlich stellte die sogenannte „Urliste*', welche 1841
gedruckt wurde, die verschiedenen individuellen Pre-
mierungen in derselben Weise nach organischen Typen
dar. Sie ging von der Annahme aus, dass zwar jeder
Mensch als Mensch die XVI Seelenkräfte in der normalen
Ordnung in seinem Körper trage, dass aber in jedem Men-
schen ein von dieser körperlichen Seele verschiedener In-
dividualgeist wohne und lebe. Diesem eignen nun
zwar im Allgemeinen dieselben Kräfte, welche in dem
menschlichen Gattungswesen ausgesprochen sind. Aber
die Individualgeister sind sehr verschiedenartig orga-
nisiert, je nachdem sie mehr oder weniger vollständig,
mehr oder weniger harmonisch begabt sind und den Cha-
rakter einer bestimmten Geistes- oder Gemütsart in sich
tragen. Wie es hiemach Geistes- und Gemütsmenschen
gab, so gab es auch Phantasiemenschen, Combinationsmen-
schen, Verstandesmenschen, Ahnungsmenschen u. s. f., je
nach dem entscheidenden Kern ihrer individuellen Geistes-
art, d. h. je nachdem die allgemein-menschliche, in Allen
identische seelische Unterlage individuell geprägt
oder ausgeprägt, geeigenschaftet war.
Auf diesen psychologischen Grundlagen nun, die bis
in's Einzelne und Feine durchgedacht und besprochen wur-
den, beruhte die Erklärung der politischen Parteien
aus den Altersstufen und aus den verschiedenen Grund-
kräften, welche die mancherlei Menschen bestimmen.
Der Radikalismus wurde so mit der Altersstufe
288 Die Lehbe von den vier [cap. 22.
der Kindheit und des Knabenalters verglichen, weil in
ihm dieselben im Grunde eher weiblichen als männlichen
Seelenkräfte leitend und bestimmend hervortreten, welche
die erste Lebensperiode bestimmen: das Auge, die Phan-
tasie, die Sentimentalität und die Brust.
Der Liberalismus wurde aus der bewussteren und
gehobeneren Periode des jungenMannes erklärt, weil in
ihm die jugendlichen männlichen Kräfte, Geschlechtssinn,
active Sinnlichkeit (Mut), Verstand, Sprache die gei-
stige Leitung übernehmen und den Charakter bestimmen.
Der Conservatismus trug ebenso die Züge des
reiferen Mannes an sich, der auszubilden und treu zu be-
wahren versteht, was der Jüngling errungen und geschaffen
hat. In den Conservativen von echtem Schrot und Korn
zeigt sich jene durchdringende Fähigkeit des Spür- und
Scharfsinns, der auch die verborgenen Verhältnisse richtig
ergründet, von der Psychologie Geruch genannt, ebenso
das Vermögen, die Dinge zu merken und im Gedächtnis
festzuhalten, weiter die rücksichtsvolle, edle Noblesse und
die tiefe Ahnung, welche unter den männlichen Gemüts-
kräften dieselbe Stellung einnimmt, wie der Geruch unter
den männlichen Geisteskräften.
Endlich der Absolutismus zeigte die Herrschaft der
Grundkräfte, welche in dem höheren Lebensalter hervor-
treten und den alten Mann charakterisieren, den Wechsel
zwischen einem nach Aussen leidenschaftlich um sich gi'ei-
f enden Sinnesleben, den Extremitäten, und der jedem
Eindruck nachgiebigen passiven Sinnlichkeit, wie zwi-
schen berechnender Schlauheit der Combination und der
feinen Gewandtheit in den Formen, welche als Gehör be-
zeichnet wurde.
cap. 22.] POLITISCHEN Pabtbien. 289
Diese Parteienlehre brachte eine völlige Umwälzung
hervor in den herkömmlichen Anschauungen. Man hatte
sich gewöhnt, die Radikalen als die „consequenten Li-
beralen" zu betrachten, welchen die ideale Führung zu-
komme, und die Liberalen als schwächliche Leute an-
zusehen, die auf halbem Wege stehen bleiben und nicht
mutig zum Ziele eilen. Die Radikalen rühmten sich, die
„Ganzen Männer" zu sein, und behandelten die Liberalen
geringschätzig als die „Halben". Nun drehte sich das Ver-
hältnis gänzlich um. Das liberale Princip erhob sich als
das höhere, fruchtbarere, bewusstere, männlichere;
der Radikalismus erschien als unreif, kindlich, erfahrungs-
los, knabenhaft. Die geistige Leitung kam nun den Li-
beralen zu, die Radikalen wurden von der geträumten
Höhe gestürzt, sie mussten der Führung der Liberalen
folgen.
Ebenso erging es dem entgegengesetzten Extreme der
Absolutisten und Reactionäre, welche sich gebrüstet hatten,
die durchgreifenden „energischen Conservativen" zu
sein. Sie wurden nicht ohne Bedauern über die innere
Schwäche und Haltlosigkeit ihres Princips auf die Seite ge-
schoben. Die männlichen Conservativen gelangten zur
Führerschaft und wurden inne, dass sie den echten Li-
beralen viel näher stehen, als sie zuvor gedacht hatten.
Zurückweisung der Extreme und Verbindung
der Liberalen und Conservativen zu gemeinsamem
Wirken, das galt nun als die wahre Politik, als die Lö-
sung der Probleme, als die Befriedigung des Stats. Es
wurde so das Princip der liberal-conservativen oder
der conservativ-liberalen Politik proclamiert.
Verglichen mit dieser principiellen Erkenntnis erschie-
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 29
290 Leshral-consebvative Politik und Partei. [cap. 22.
nen der Versuch Casimir Perier's in Paris 1830, eine
,,Juste-Milieu** -Regierung herzustellen und mit ihr die Ex-
treme niederzuhalten, ebenso wie mein Vorschlag in dem-
selben Jahr, eine Partei der gemässigten Freisinnigen
zu gründen, als schwache, unklare Vorläufer und Ahnungen
des wahren Princips. Bedeutender war es, dass bald nach-
her Sir Robert Peel in England und auch Guizot in
Frankreich die liberal-conservative Politik als die ihrige
proclamierten, freilich ohne psychologisch im Klaren zu
sein über den Sinn und die Tragweite des Princips, mehr
einem practischen Bedürfnisse und dem Instinkte folgend.
In Zürich wurde nun eine bewusste liberal-con-
servativß Partei gegründet, die sich allmälich über an-
dere Cantone der Schweiz ausbreitete. Es war weder für
die Partei noch für mich selber und meine nächsten Freunde
ein Geheimnis, dass meine individuelle Natur nicht con-
servativ, sondern liberal sei. Dennoch erkannte mich die
Partei als einen ihrer Hauptführer willig an.
Das schweizerische Grundgebrechen dieser Partei aber
war, dass das liberale Element in ihr zu wenig vertreten
war, und dass die gewünschte Scheidung innerhalb der
liberal-radikalen Partei nur sehr wenig gelang. Die Hef-
tigkeit des Kampfes verhinderte die Verständigung. Trotz
dieser Mängel, und obwohl auch die liberal-conservative
Presse und Partei manchen Fehler beging, fand dennoch
in der Schweiz ihr Princip während mehrerer Jahre eine
wachsende Anerkennung, und viele Ideen gingen später
a.uch auf die liberal-radikale Partei über und wurden von
dieser aufgenommen.
Das neue psychologische Princip war das Werk eines
deutschen Denkers. Es wurde aber gerade in Deutschland
cap. 22.] Die Augsbubgeb Allgemeine Zeituno. 291
nur wenig beachtet. Drohte in der Schweiz die Herrschaft
des Radikalismus, so herrschte damals in Deutschland der
Absolutismus ziemlich unangefochten. In der deutschen
Nation freilich waren radikale und liberale Ideen in bunter
Mischung, ohne scharfe Unterscheidung, bei den Gebildeten
bekannt und beliebt; aber im deutschen Bunde herrschten
Österreich und Preussen in alter absolutistischer Weise,
und in den einzelnen Ländern hatten die Regierungen alle
Statsgewalt im Besitz und verwalteten dieselbe wesentlich
in derselben Richtung. Für ein freies politisches Partei-
leben war kein Raum und wenig Verständnis. Die psycho-
logische Betrachtung der Menschen und ihrer Verhältnisse
war den Meisten völlig fremd. Die ganze philosophische
Schulbildung bewegte sich in durchaus entgegengesetzter
speculativer Richtung, und die historische Richtung zog
eine kritische Prüfung geschriebener Quellen der intuitiven
Erforschung des Lebens entschieden vor. Die Regierungen
liebten die politische Wissenschaft überhaupt nicht und
misstrauten ihr. Die Gelehrten hatten keine politische Er-
fahrung. Das Publikum kümmerte sich Nichts um diese
Dinge.
Vielleicht wäre es doch gelungen, die deutsche Na-
tion aufmerksam zu machen auf die merkwürdigen Vor-
gänge in Zürich, wenn die Augsburger AUgemeine Zeitung,
das wichtigste deutsche Organ der politischen Presse in
jener Zeit, darüber mit Sorgfalt und Wohlwollen berichtet
hätte. Aber auch da standen persönliche Verstimmungen
störend im Wege. Theodor Rehmer hatte wohl früher
Artikel für die Allgemeine Zeitung geschrieben. Aber der
Hauptredacteur E»lb hatte sich mit Friedrich Rehmer
entzweit. Die beiden Naturen waren antipathisch gestimmt.
19*
292 Persönlicher Hass. [cap. 23.
Jener betrachtete diesen als einen höchst gefahrlichen Aben-
teurer; dieser verachtete jenen als einen nichtigen, eher
für Ästhetik als für Politik befähigten Literaten. Beide
machten kein Hehl aus ihrer Feindschaft. Die Folge war,
dass die Allgemeine Zeitung ihre Spalten eher dem Hasse
der Feinde, als der Stimme der Freunde Rohmer's er-
öflfhete. Auch meine Bemühungen, Frieden zu stiften, blie-
ben erfolglos. Obwohl ich früher mit Dr. Kolb ganz gut
gestanden war, wurde infolge dieser Zerwürfnisse auch
unser Verhältnis kühler und gespannter. Die Allgemeine
Zeitung wurde vorzugsweise von unseren Gegnern bear-
beitet.
Indem ich jetzt nach dreissig Jahren diese Kämpfe
ruhig überschaue, ist mir klar, dass auch von unserer Seite
Fehler gemacht worden sind, und dass insbesondere die
leidenschaftliche Heftigkeit von Friedrich Rehmer schäd-
lich gewirkt hat.
23.
Persönlicher Hass. Julius Fröbel. Georg Herwegh. Heirat Fried-
rich Bohmer's. Die Angriffe des Republikaners auf Frau Böhmer.
Meine Erwiderung. Processe und Strafen. Folgen des Scandals.
Bücktritt der Böhmer von dem Beobachter. Mathilde in Stutt-
gart. Meine Aufregung. Erholung auf der üfenau. Meine Frau.
Geburt eines Sohnes Alfred Friedrich. Die Wahlen vom 1. Mai
und ihre Folgen.
Nur mit Widerwillen und ungern, nur so weit es
unerlässlich ist, um die Pflicht der Aufrichtigkeit zu üben
und die nötigen Aufschlüsse über meine damaligen Er-
fahrungen zu geben, berichte ich über die persönlichen
ärgerlichen Kämpfe jener Tage. Die Schweizer hielten
cap. 23.] Julius Pböbbl. 293
sich mehr zurück, die Deutschen traten in den Vorder-
grund und bestritten sich auf Leben und Tod.
Ganz besonders trug der Bruch Friedrich Rohmer's
mit Professor Julius Fröbel, dem Eigentümer des littera-
rischen Comptoirs, dazu bei, die persönlichen Leidenschaften
in's Masslose zu steigern. Fröbel glaubte sich von Rehmer
betrogen und hielt sich nun für berufen, „das unlautere
Treiben desselben öffentlich zu entlarven." Als die Fahne
des Radikalismus dem verwundeten Arme Ludw. SnelVs ent-
sank, griff Fröbel sie auf und schwang sie, oft zum Schrecken
der massigen Schweizer, nun mit principieller Entschieden-
heit hoch in den Lüften. Er hatte unter dem Titel des
„deutschen Boten*' ein doctrinäres Blatt herausgegeben, in
welchem die radikalen Theorien mit Eifer gelehrt wur-
den. Nun erwarb er für sich und seine Freunde während
einiger Zeit die Leitung des schweizerischen Republikaners.
In seinem späteren Leben hat Julius Fröbel noch man-
che Wandlung durchgemacht. Als Mitglied der deutschen
Nationalversammlung im Jahr 1848 gehörte er noch zu der
radikalen Partei und entging mit Mühe dem Schicksal, das
in Wien Robert Blum betraf, von der siegreichen Reaction
als Aufrührer hingerichtet zu werden. Nach Amerika ge-
flüchtet, reifte seine Lebenserfahrung. Eine Zeit lang kam
er nach seiner Rückkehr als Grossdeutscher in nahe Be-
ziehungen zu der österreichischen Regierung. Dann wurde
er bayerischer Publicist. Zuletzt erhielt er eine Anstellung
als Consul des deutschen Reiches, und schrieb ein beson-
nenes Buch über Politik. Aus dem gährenden Moste ward
so ein guter Wein. Damals aber in der Schweiz war er
ein Fanatiker des doctrinären Radikalismus.
Die grundsätzliche und sachliche Polemik wurde nun
294 Gbobo Herwege. [cap. 23.
ganz durch die persönlichen Angriffe verdrängt und ersetzt.
Verdächtigungen, Beschimpfungen, Verläumdungen wurden
massenhaft ausgestreut; der Klatsch schoss über Nacht in
Dutzenden von schweizerischen und deutschen Journalen
wie Pilze auf. Es war ein leidenschaftliches, gereiztes,
wütendes Treiben. Eine einzige Probe mag genügen, um
eine Vorstellung von der unerhörten Heftigkeit jener Kämpfe
zu geben.
Der deutsche Dichter Georg Herwegh, der als
Flüchtling in Zürich lebte und mit Fröbel befreundet war,
hatte auch die Bekanntschaft Friedrich Rohmer's gemacht
und demselben im Sommer 1841 die „Gedichte eines Le-
bendigen** mit folgender Widmung überreicht:
Ich bin ein Geist, der stets verneint.
Doch insgeheim mit dir vereint,
Lass' mich in Fluss die starren Seelen bringen.
Der neue Guss der Welt wird besser dir gelingen.
Nun schrieb derselbe Herwegh im Winter 1842 in
den Republikaner folgenden karikierenden Schmähartikel
gegen Rehmer:
„Da kam ein Deutscher hieher, abgegriffen wie
eine alte Münze und durch aller Herren Hände ge-
gangen, immer der Erste unter den Kötern, wenn es
wo ein litterarisches Treibjagen gibt, von einem eigenen
Haut-goüt, wie verlegenes Wildpret, und darum für
manche Gaumen pikant, ursprünglich vielleicht ein gut-
mütiger Schwindler, später, um uns des mildesten Aus-
drucks zu bedienen, ein bewusster, berechnender Char-
latan. — **
„Herr Fr. Rehmer ward in seiner tiefen Not er-
hört und von Herrn Statsrat Bluntschli zum Handkuss
cap. 23.] Heirat Fbiedbich Rohmeb's. 295
zugelassen. Da Herr Fr. Rohmer bekanntlich jeden
Kelch mit Ergebung in den Willen des Herrn trinkt,
so waren die Septembermänner frivol genug, ihm noch
ein anderes messianisches Talent zuzutrauen, das Ta-
lent, Tote zum Leben zu erwecken."
In diesem Pasquillantenstyl ging es fort. Die Par-
teienlehre, deren Begi-iflfe nun von dem allgemeinen Be-
wusstsein der Völker grösstenteils anerkannt sind, wurde
eine „Gaunersprache" gescholten. Der Pöbel wurde ver-
hetzt, und es kam nicht selten bis zu offenen Insulten auf
der Strasse. Ich habe später noch einige Male in den
Krisen der Revolution und des Krieges ähnliche Aufreg-
ungen erlebt, aber keine heftigere als damals. Mehr als
einmal wurden Steine nach Rohmer geworfen, wenn er
mit seinen Freunden sich im Freien erholen wollte. Es
erschienen Flugblätter, Karikaturen, Brochüren wider ihn.
Trotz alledem schienen sich seine Verhältnisse zu
consolidieren. Die Macht der Ideen und der Mut, mit dem
er dieselben aussprach und verfocht, hatten ihm doch unter
den Schweizern einzelne Gönner und Freunde gewonnen.
Er konnte in Notfällen auf kräftige Unterstützung rechnen.
Es waren wohlhabende und opferbereite Männer darunter.
Auch ein süddeutscher Fürst stellte ihm grossmütig eine
bedeutende Summe zur Verfügung. Durch meine Vermitt-
lung schloss er mit der Beyerschen Buchhandlung einen
Vertrag ab, welcher ihm für die Herausgabe seiner Wissen-
schaft ein ansehnliches Honorar zusicherte.
So wagte er es, seiner Braut, Mathilde Wolf, die
ihm nach Zürich gefolgt war, die schon lange ersehnte
Ehe anzubieten und einen eigenen Hausstand zu gründen.
Am 7. März, meinem Geburts- und Hochzeitstage, fand
296 Angbipf DBS Republikakebs auf Fbau Kohheb. [cap. 23.
die Trauung statt. Auch Mathilde war eine ungewöhn-
liche Natur, die ein tragisches Schicksal verfolgt hatte.
Ihr vermeintlicher Vater, ein württemhergischer Officier,
war schon lange tot. Die Mutter hatte ihre Erziehung
vernachlässigt. Friedrich Rehmer, jünger als sie, hatte
sie aus kläglichen Zuständen gerettet und die Mängel der
Bildung zu ergänzen gesucht. Er liebte ihr Wesen, das
dem seinigen innerlich verwandt war, tief und unerschüt-
terlich. Sie war nicht schön, nicht geistreich, nicht form-
gewandt; ihre Sprache war meistens schwerfallig, unbe-
holfen: aber sie war eine bedeutende Frau. In einzelnen
gehobenen Momenten belebte eine gemütliche Schönheit die
voUen Züge ihres mächtigen Körpers, sie war voll Mut
wie eine Löwin in der Gefahr und mit einem scharfen
Blick in das Menschenleben begabt, dessen Schattenseiten
sie nur zu sehr kennen gelernt hatte. Später bekannte
ihre Mutter auf dem Totenbette, dass sie die natürliche
Tochter eines süddeutschen Prinzen sei. Damals wusste
das Niemand, aber die herrischen Neigungen ihrer Natur
und die leichte sichere Manier, sich in grosse Verhältnisse
hineinzudenken, fanden in ihrer Rasse eine psychologische
Erklärung.
Die nun gesicherte Stellung einer Ehefrau schien ihr
die Seelenruhe zu gewähren, nach welcher sie sich seit
Jahren so sehr gesehnt hatte. Vor der Heiligkeit der
Ehe mussten die trüben Erinnerungen an eine unglückliche
Jugend wie die Erinnyen vor dem geweihten Asyle zurück-
weichen und verstummen.
Diese Erwartung wurde entsetzlich getäuscht. Der
persönliche Hass und die blinde Parteileidenschaft durch-
brachen diese Schranken. Da Friedrich Rehmer in dem
X
cap. 23.] Meine Erwideruno. 297
Kampfe der Meinungen von den publicistischen Talenten
der Radikalen nicht besiegt werden konnte, so sollte er
in seiner Liebe tötlich verwundet werden. In die Männer-
schlaeht wurde die Frau an den Haaren herbeigezerrt. Mit
veraltetem Scandal sollte das ehrbare Zürich aufgeschreckt
werden. In Stuttgart wurden die Polizeiacten der früheren
Jahre durchstöbert und in geschäftigster Weise, mit Ver-
letzung der Amtspflicht wie jedes Anstandes, Auszüge im
schweizerischen Republikaner veröffentlicht» Das geschah
unmittelbar vor den Wahlen. Mit solchen Mordklöpfen
sollten die Reihen der liberal-conservativen Wähler ge-
schreckt und zersprengt werden.
Die Wirkung dieses Schlags war furchtbar. Die
öffentliche Meinung empfand denselben- wie eine tiefe Er-
schütterung, auf welche sie in keiner Weise gefasst war.
Nur langsam erholte sie sich von der Betäubung. Es
blieb aber ein Stachel in der Wunde zurück.
Ich erUess damals eine geharnischte Erklärung gegen
diesen „Friedensbruch an der Ehe und gegen den ruch-
losen Angriff auf das Familienleben.'* Es hiess darin:
„Viele unter Euch kennen mein Familienleben, die einen
näher, die anderen femer. Getrosten Mutes berufe ich
mich auf Euch; ich darf Euer Zeugnis nicht fürchten. Und
nun sage ich euch: Ich bin nicht sicher in meiner Ehe vor
den Giftpfeilen der radikalen Presse. Meine Frau ist nicht
sicher. Wer von euch Allen ist noch sicher? Welche von
euren Frauen darf sich gesichert fühlen? Mitbürger, seid
ihr gesonnen, solche Angriffe zu dulden?"
Eine Anzahl ehrbarer Bürger ermannte sich. Sie
sprachen ihre Entrüstung öffentlich mit Namensunterschrift
aus. Auch' die Gerichte wurden um Schutz angerufen. Eine
298 Rücktritt der Rohheb vom Beobachter. [cap. 23.
Reihe Beschimpfungs- und Verläumdungsklagen wurden an-
hängig gemacht. Bis in den Herbst hinein verzog sich die
Verhandlung der ersten Instanz. Auch ich stellte eine
Klage an und vertrat dieselbe persönlich an dem Bezirks-
gerichte mit Erfolg. Im Januar 1843 wurde das letzt-
instanzielle Urteil durch das Obergericht gesprochen. Die
Publicisten des Republikaners, die Brüder Fröbel, Herwegh,
Folien und der vormalige Statsanwalt Ulrich wurden teils
wegen Verleumdung, teils wegen Beschimpfung verurteilt;
aber auch Friedrich und Theodor Rohmer entgingen der
Bestrafung nicht, jener, weil er den Verfasser eines Schmäh-
ai*tikels einen „Schurken" genannt, dieser, weil er in einer
Brochtire gegen J. Fröbel die Ehre desselben in unerlaub-
ter Weise angegriffen hätte. Soweit das Gericht blosse
Beschimpfung annahm, strafte es mit Geldbusse, die Ver-
leumdung dagegen wurde mit Gefängnis bestraft.
Auf die persönlichen Verhältnisse wirkte der Scandal
in seinen Folgen sehr schädlich ein. Für Frau Rohmer
war der fernere Aufenthalt iu Zürich unerträglich gewor-
den. Sie kehrte vorläufig in ihre Heimat nach Stuttgart
zurück und fand später in München wieder eine gesicherte
Familie. Damit war auch für Friedrich Rohmer die Nieder-
lassung in Zürich unmöglich geworden. Durch ein offenes
Sendschreiben an die Partei kündigte er zu Anfang Juni
seinen und seiner näheren deutschen Freunde Rücktritt
an von der Redaction des Beobachters und von der Teil-
nahme an den schweizerischen Parteikämpfen. Die ideale
Aufgabe seines Wirkens war vollzogen, und die Ideen
konnten nun fortwirken.
Die gesellschaftlichen Beziehungen wurden durch diese
persönlichen Schmähungen und Verwickelungen noch schwie-
\
cap. 23.] Meine Aufbegung. 299
riger gemacht, als. sie vorher schon waren. Nur mit we-
nigen treuen Freunden wurde der Umgang ungestört fort-
gesetzt. Es kam sogar innerhalb des engsten Rohiiier*-
schen Kreises zu einer Spaltung. Orelli und Widmann
trennten sich von Friedrich Rehmer und gingen ihre eige-
nen Wege. War es die natürliche Lebensaufgabe der Frau
eines so bedeutenden und seltsamen Mannes, ihm Ruhe zu
verschaffen, die Freunde zusammenzuhalten, die Gegner zu
massigen und zu versöhnen, so war es der Frau Rehmer, ob-
wohl sie es zuweilen versuchte, nicht möglich, diese Aufgabe
zu erfüllen. Sowohl ihr Schicksal als ihre Eigenart reizten
zum Gegenteil. Es war das ein tragisches Verhängnis auch
für Friedrich Rehmer. Es wurde seinem zarten Körper eine
Last aufgebürdet, die ihn trotz aller Energie seines Geistes
dennoch nicht zu freier Bewegung und wirksamer Entfal-
tung seiner Kräfte im äusseren Leben kommen liess.
Obwohl ich von Natur starke Nerven besass, so wurde
doch in dieser Zeit, wo von allen Seiten her Freunde, Ver-
wandte und Feinde auf mich einstürmten, auch mein Ner-
vensystem erschüttert. Es ist auch für einen kräftigen
Mann ein peinliches Gefühl, ganz allein zu stehen
gegen alle Welt, von fast Allen verkannt, von fast
Niemandem verstanden und unterstützt zu werden. Auch
meine Nerven wurden zuletzt so gereizt, dass eine leise
Anspielung und eine wohlmeinende Warnung mich zu wil-
dem Zorne reizten. Eine tiefe Verachtung der Menschen,
die mir geistig beschränkt und gemütlich feige vorkamen,
bemächtigte sich meiner. Ich wies sie von mir. Ich war
krank und fürchtete ein Nervenfieber. In diesem Zustande
erfuhr ich die Güte meiner körperlichen Natur. Ich ent-
schloss mich, rasch Zürich zu verlassen und in der schö-
300 Erholung auf der üfbnau. [cap. 23.
nen Gebirgsnatur Heilung zu suchen. Ich fuhr auf die
Insel Ufenau im oberen Zürichersee, wo einst Ulrich von
Hütten die bleibende Ruhe gefunden hatte nach seinem
unstäten, abenteueriichen Leben. Da sah ich Niemanden,
der mich ärgerte, und genoss mit vollen Zügen die Schön-
heit der Natur. Ich legte mich in's Gras und schaute
über den Spiegel des Sees zu dem Hochgebirge hin und
aufwärts in den blauen Äther. Wie ein Kind spielte ich,
in einem Kahne schwimmend. Ich fing Muscheln mit einem
Grashalm, den ich in die geöffnete Schale steckte. Dann
klappte die Muschel zu und klemmte den Halm fest, an
dem ich sie aus dem Wasser emporzog. Am zweiten Tage
schon war ich vollständig geheilt. Meine Nerven hatten
die normale Stimmung wieder gewonnen. Erfrischt und
gesund kehrte ich, von meiner Frau abgeholt, in die Stadt
zurück.
Während der raschen Genesung auf der schönen Insel
erging sich meine Phantasie in dem Plane einer Hutten-
stiftung, zu deren Ausführung mir freilich die Kräfte
fehlten. Ich dachte mir, die Insel würde dem Kloster Ein-
siedeln, dem sie gehörte, abgekauft und zur Grundlage
und zum Wohnsitze für die Stiftung gemacht. Es soUten
Xn bis XVI Stiftsherren hier ein Asyl finden von den
Mühen und Leiden des politischen Lebens. Verdiente, aber
auch verkannte und verfolgte Veteranen sollten hier eine
Pfründe erhalten. Die einen mochten dann in dem neuen
Genossenhause beisammen wohnen, die anderen auswärts
bei ihren Familien. Aber alle sollten jährlich sich ver-
sammeln und die Verpflichtung haben, das Amt von Schieds-
richtern zu übernehmen und auf Befragen ihren Rat als
Gutachten zu geben. Die Insel liess sich vergrössem, ver-
cap. 23.] Meine Fraf. 301
1
schönem, ausbauen. Es war eine ehrenvolle Friedens-
und Ruhestätte für die Statsmänner, deren Wirksamkeit
im öffentlichen Leben zu Ende war.
Wer weiss, ob nicht in der Folge ein reicher und
humaner Mann den Gedanken ausführen wird, der mich
damals wie ein kurzlebiger, in der Sonne glänzender
Schmetterling erfreute, aber rasch wegflog und verschwand?
Es war für mich ein grosses Glück und ein Segen,
dass ich allezeit meiner Frau sicher war und daher in der
eigenen Familie immer den Frieden wiederfand, der ausser-
halb derselben durch leidenschaftliche Kämpfe gestört war.
Auch meine Frau hatte manche Zweifel und Bedenken; es
war ihr Manches unverständlich und unbehaglich in meiner
Verbindung mit den Rehmer. Aber sie ging doch den
Dingen mit dem Instinkte einer tieferen Natur auf den
Grund, und was sie einmal als wahr und gerecht erkannt
hatte, das hielt sie fest, unbekümmert um allen Schein und
alle Vorurteile. Sie hatte erlebt, dass ihr die Rohmer'sche
Psychologie auch über ihre eigene Natur und ihr Verhält-
nis zu mir befriedigende Aufschlüsse gegeben. Sie hatte
erfahren, dass ich sie besser als früher zu erkennen und
zu würdigen wisse. Sie war dankbar für diese geistige
Erleuchtung. Ohne zu wanken, hielt sie treu und fest zu
mir mitten in der wilden Hetzjagd, auf jede Gefahr hin,
und ohne vor irgend einem Opfer zu erschrecken. Als
nächste Freunde und Verwandte zu zweifeln begannen,
fand ich bei ihr die Ruhe, deren ich bedurfte. Dieser ge-
mütliche Hausfrieden und der gute Schlaf, in dem sich der
müde Körper in jeder Nacht wieder von der Aufregung des
Tages erholte, machten mir es möglich, den Geist frisch und
den Körper gesund zu erhalten trotz aller Anfechtungen..
302 Geburt eines Sohnes. — Die Wahlen [cap. 23.
In diesem leidenschaftlich erregten Jahre hatte mir
meine Frau wieder einen Knaben geboren, Alfred Fried-
rich (29. Januar). Frühe schon zeigte sich seine unge-
wöhnliche künstlerische Begabung. Er fand später die
Befriedigung seines idealen Strebens in dem glücklichen
Berufe eines Architekten.
Am 1. Mai 1842 fanden die entscheidenden Wahlen
zum Grossen Rate statt. Die beiden Hauptparteien waren
in der neu gewählten Behörde in fast gleicher Zahl ver-
treten. Keine von beiden war des Sieges sicher. Ein
paar schwankende Stimmen in der Mitte gaben Jen Aus-
schlag bei den Abstimmungen des gesetzgebenden Körpers.
Dem Canton Zürich war eine neue radikale Umwälzung
erspart, das bestehende Regiment war aber auch nicht be-
festigt worden. Nur die äussersten Extreme hatten keine
Aussicht mehr, die mittleren und gemässigteren Elemente
fortzureissen.
Von radikalen Häuptern waren F. L. Keller und
M. Hirzel wieder gewählt worden. Aber Keller lehnte
die Wahl ab. Er wollte sich nicht mehr an der schwei-
zerischen Politik beteiligen und bereitete sich vor, nach
Preussen überzugehen. Savigny, damals Minister unter
König Friedrich Wilhelm IV., fragte mich vertraulich über
meine Meinung an. Er hatte keine wissenschaftlichen, wohl
aber Bedenken über den Privatcharakter. Ohne dieselben
völlig zu bestreiten, suchte ich doch ihr Gewicht zu ver-
mindern und empfahl nur einige Vorsicht in politischer
Hinsicht. Das war freilich, wie die Folge zeigte, nicht
nötig. Keller wurde nach Halle und bald darauf nach
Berlin berufen als Professor des römischen Rechts. In
Preussen hielt er sich von den Liberalen fem. Er trat
cap. 23.] VOM 1. Mai und ihbb Folgen. 303
nun für die Regierungspolitik ein und stellte selbst dem
absolutistischen Ministerium seine Erfahrungen und seine
Talente zur Verfügung. M. Hirzel aber überlebte die neue
Wendung der Dinge nur noch kurze Zeit. Er starb 1843.
Die Leitung der liberal -radikalen Partei ging vor-
nehmlich auf Dr. Furrer und Alt-Regierungsrat Weiss
über, zwei Männer, welche keineswegs geneigt waren, ex-
treme Doctrinen zu verwirklichen. Mit Furrer stand ich
persönlich, wenn auch nicht auf vertrautem Fusse, so doch
in guter Beziehung. Die Parteistellung und auch manche
Ansichten waren wohl verschieden, aber die Achtung war
wechselseitig. Als Juristen und als Freimaurer verstän-
digten wir uns über Manches.
Bald gelang es, im Grossen Rate das Gewicht der
liberal-conservativen Partei zu verstärken. Nach und nach
bildete sich doch eine schwache, aber stätige und wachsende
Mehrheit, welche unserer Leitung sich vertraute.
Der heftigen Spannung vor den Wahlen folgte eine
sichtbare Ermattung. Es war wieder ein normaler Rechts-
zustand gewonnen. Es hatte den Anschein, dass nun doch
schliesslich eine Verbindung der liberalen und der conser-
vativen Elemente sich vorbereite. Dann konnte, ohne Be-
sorgnis vor Revolution und Überstürzung, ein besonnener
Fortschritt eingeleitet und die nötige Reform durchgeführt
werden. Das war der Grundgedanke und die Hoffnung
meiner damaligen Politik.
304 Psychologische Studien. [cap. 24.
24.
Psychologische Studien. Die Qeschichte der Völker und der
Menschheit. Radikale Anfönge des modernen liberalen Welt-
alters der Sprache. Die Altersstufen in dem Zeitalter der Re-
volution. Die Entwickelung der deutschen Nation nach der fran-
zösischen. Hoffnungen auf Auferstehung des deutschen Reiches.
Natur Ton Friedrich Rehmer. Anfänge der Selbstbiographie.
Meine Findung der XYI Grundorgane des Statskörpers. Stats-
wissenschaftliche Studien. Die Herausgabe derselben. Wenig
Verständnis der gelehrten Kreise.
Die politischen Kämpfe hinderten nicht meine Studien
der Psychologie, denen ich mich mit grosser Lust und Be-
friedigung widmete. Diese Wissenschaft war zwar in den
Hauptzügen durch die Urliste festgestellt; aber es fehlte
noch eine jede nähere Darstellung und Erklärung. Über-
dem waren ihre Anwendungen auf das Leben und die Ge-
schichte grösstenteils noch unsicher und in den ersten An-
fangen begriffen. Diese Anwendung war die Probe ihrer
Wahrheit und Fruchtbarkeit.
Das Verständnis der sechszehn Grundkräfte war mir
verhältnismässig rasch aufgegangen. Auch die Alters-
entwickelung war mir im Grossen sofort klar geworden.
Schwieriger wurde es, die Bedeutung der individuellen
Premierungen zu verstehen, wie sie in der Urliste ver-
zeichnet waren. Manches wurde mir im Gespräch mit
den Freunden klar, manchen Aufschluss fand ich selbst.
Der Charakter und Geist nicht bloss der verschiedenen
Parteien, auch der Völker und teils geschichtlicher Mäuner
von hoher Bedeutung, teils der mitlebenden Bekannten
wurde nach dem Massstabe der Rohmer'schen Psychologie
zu bestimmen gesucht. Nicht selten waren die Ergebnisse
cap. 24.] Die Geschichte deb Völkeb. 305
solcher Prüfung von überraschender Klarheit. Daneben
blieb aber Vieles noch dunkel und unsicher. Erst eine
längere Übung und erst die von der Zukunft erwartete
Durchbildung der Lehre konnten das Urteil schärfer und
zuversichtlicher machen.
Die Geschichte grosser Völker wurde ferner erwogen
und nach der psychologischen Altersentwickelung bemessen.
Der alte Florus hatte schon die römische Geschichte ganz
ahnlich betrachtet und ein Zeitalter der Kindheit, dann
eines des Jünglingslebens, später eines des gereiften Man-
nes und endlich des hohen Alters unterschieden. Wenn
er recht gesehen hatte, so war das eine wichtige Bestä-
tigung der ganzen psychologischen Grundansicht. In der
That schien die römische Geschichte vorzüglich geeignet,
den Charakter der Altersstufen deutlich darzustellen.
Ebenso wurden auch die französische, die englische
und die deutsche Geschichte im Grossen betrachtet und
die Aufeinanderfolge der sechzehn Grundkräfte damit ver-
glichen. Die Gefahr, dass hier ebenso willkürlich die That-
sachen durch psychologische Vorurteile und Fictionen ent-
stellt werden, wie in der Hegerschen Betrachtungsweise
der Geschichte das wirkliche Leben durch die Bewegung
des dialektischen Gesetzes missdeutet wurde, blieb uns
nicht verborgen. Aber das war doch sicher, dass das
psychologische Gesetz der wechselnden Seelenkräfte un-
endlich viel reicher und lebensvoller war, als das dia-
lektische Gesetz der Hegerschen Logik. Und wenn auch
noch dichte Scharen des Zweifels umherschwirrten, so hatte
die Psychologie doch die Kraft, sehr Vieles zu erklären
und zu beleuchten, was ohne sie dunkel war.
Am meisten beschäftigte uns aber die Betrachtung
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 20
306 ^^B Gbbchichte deb Menschheit. [cap 24.
der Weltgeschichte, Diese Frage hatte auch eine emi-
nent practische Seite. Die Erkenntnis der Zeit, in der die
Menschheit lebt, ist ja die Grundbedingung jeder tieferen
Einsicht in ihr Streben und in ihre Entwickelung.
Seit Jahren hatte Friedrich Eohmer viel darüber
nachgedacht. Aber er war noch nicht zu einem Abschluss
gekommen, der ihn beruhigte. Als ich mit seiner Psycho-
logie bekannt wurde, galten einige Sätze als fest, vor allem
der, dass die Menschheit eine Gesamtentwickelung habe,
wie der einzelne Mensch, dass auch die Menschheit die-
selben Altersstufen im Grossen durchzumachen habe, wie
der Einzelnmensch im Kleinen. Die Kindheitsperiode wurde
in den Orient nach Asien und in das Niltal (Ägypten)
verlegt. Die männliche Jugendzeit (adolescentia) begann
mit den Griechen und Römern und entfaltete ihre höheren
Geisteskräfte vorzüglich in dem europäischen Statenieben.
Diese Ansichten waren für mich nicht neu. Ich war
schon zuvor geneigt, die Menschheit, wie die einzelnen
Völker, als eine Gesamtperson zu betrachten, und nahm
daher keinen Anstoss an der Behauptung, dass sie dem
Gesetze der Altersentwickelung sich nicht entziehen könne.
Aber neu war die genauere Zeitbestimmung der einzelnen
Weltalter, welche, je durch das Vortreten Einer der XVI
bestimmt, auf je 800 Jahre angenommen wurden. Neu
war mir femer die scharfe Aufeinanderfolge der XVI
Grundkräfte, welche innerhalb eines jeden der 16 Welt-
alter aufs Neue durchlaufen werden sollten, und zwar so,
dass jede eine Periode von 50 Jahren in Anspruch nahm.
Und noch auffallender schien es, dass innerhalb jeder Pe-
riode dieselbe Reihenfolge sich im Kleinen wiederholen
solle, wie sie innerhalb eines jeden Weltalters sich im
cap. 24.] Das MODEBini Weltalteb deb Spbachkbaft. 307
Grossen wiederholt hatte, so dass dann je in Zeitphasen
von etwas über 3 Jahren das psychologische Rad sich
wieder drehte.
Nur die Erfahrung konnte die Richtigkeit oder den
Irrtum der ganzen Lehre zeigen; aber dazu waren viele
und unbefangene Studien nicht zu entbehren. In solcher
Absicht der Prüfung wurden nun die chronologischen Ta-
bellen der Weltgeschichte fleissig durchgesehen und an
den psychologischen Begriffen geprüft. Es war das eine
äusserst interessante Beschäftigung des Geistes. Wiederum
wurden fruchtbare Wahrheiten erkannt, aber auch manche
Zweifel blieben unerledigt.
Ich bezweifelte nicht die tröstliche Wahrheit, dass die
Menschheit noch in der aufsteigenden Linie ihres Lebens
begriffen, dass ihr Geist noch ein jugendlich aufstrebender
sei. Auch liess ich mich ohne Widerstreben bereden, dass
das moderne Weltalter von der höchsten männlichen Geistes-
kraft, der Sprache, bestimmt w^erde. Die bewusste mo-
derne Statenbildung schien mir dafür ein unwiderlegliches
Zeugnis zu geben. Ebenso war mir klar, dass dieses
höchste Weltalter der Weltgeschichte noch in den ersten
Versuchen und Experimenten, noch in seiner radikalen
Entwickelungsperiode begriffen sei und erst viel später
die Höhe erreichen werde, nach der die Menschheit hin-
strebt.
Aber es war doch zweifelhaft, von wann an die neue
Zeit beginne, wo der Wendepunkt zu suchen sei, in wel-
chem sich das Mittelalter und die moderne Welt scheiden.
Eine Zeit lang hatte auch Friedrich Rehmer die in
Deutschland verbreitete Meinung geteilt, dass die Refor-
mation des sechzehnten Jahrhundeiiis den Anfang der
20*
308 ^^^ Zeitpunkt seines Beginns. [cap. 24.
Neuzeit bilde. Er hatte aber damals bereits diese Mei-
nung als irrig aufgegeben. Je mehr ich den politischen
Charakter und die Ideen der Zeit überdachte, um so klarer
wurde mir der absolutistische Grundzug, welcher schon die
zweite Hälfte des sechzehnten und das ganze siebenzehnte
Jahrhundert kennzeichnet. Ich erkannte darin die Alters-
periode des untergehenden Mittelalters, nicht den kind-
lichen Aufschwung des modernen Weltalters.
Aber Friedrich Rehmer war damals noch geneigt,
den Anfang der neuen Zeit mit der französischen Re-
volution zu datieren. Das war die von Frankreich her in
der Welt verbreitete Meinung. Gewiss trug das Zeitalter
der Revolution alle Züge der Neuzeit deutlich an sich. Aber
es war doch ein Irrtum, den Anfang etwa mit dem Jahr
1789 zu beginnen. Auch der Stat und die Ideen Fried-
richs des Grossen waren durchaus modern. Auch die
Gründung der nordamerikanischen Union war eine mo-
derne Statenbildung. Die Gedanken der Weltlitteratur in
der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts waren
modern. Das ganze Zeitalter der Aufklärung war modern.
So kam auch Friedrich Rehmer schliesslich dazu, den
Beginn der Neuzeit im Jahr 1740 festzustellen. Es ge-
schah das freilich nicht mehr im Jahr 1842, sondern erst
1845. Auch andere Forscher, wie insbesondere Buckle,
sind später selbständig zu demselben Resultate gekommen.
War diese Zeitbestimmung und zugleich die Annahme
der fünfzigjährigen Zeitalter richtig, dann war die Periode
von 1740 — 1790, innerhalb der männlichen liberalen Neuzeit
die erste noch radikale Entwickelungsstufe, in welcher die
speculative weibliche Geisteskraft des Auges dominierte,
in der That die Zeit der Aufklärung. Das zweite Zeitalter
cap. 24.] Seine radikalen Anfange. 309
der Phantasie war dann ebenfalls bereits abgespielt. Es
war von 1790 — 1840 zu rechnen. Wir waren nun in die
Anfange des dritten Zeitalters eingetreten, in welchem nicht
mehr der radikale Geist, wohl aber die radikale Gemüts-
kraft der Sentimentalität, wie man damals wenigstens
annahm, die Führung hatte. Es ergab sich daraus die An-
nahme, dass in unserm Zeitalter die religiösen Strömungen
mächtiger werden, als in dem geistiger bewegten Jahr-
hundert vorher.
Alle diese Betrachtungen sprachen für die Wahrheit
der psychologischen Begriffe. Aber noch mehr frappierte
mich die offenbare Harmonie der geschichtlichen Entwicke-
lung innerhalb des Zeitalters der Revolution, das uns am
besten bekannt war, mit der Aufeinanderfolge der Alters-
stufen.
Ist der Charakter des Weltalters geistig genial-schö-
pferisch, wie die Sprache, so war das Zeitalter der Re-
volution, die Periode von fünfzig Jahren, noch von dem
kindlichen Geiste der Phantasie bestimmt. Innerhalb dieser
Periode drehte sich das Rad der wechselnden Seelenkräfte
wieder in derselben Weise, so dass sich eine radikale, eine
liberale, eine konservative und eine absolutistische Ent-
wickelung je von 12 ^'2 Jahren unterscheiden Hessen. Im
Einzelnen zeigte sich das in folgendem Gang der Er-
eignisse.
Ich will die Zeitrechnung dieses Zeitalters, nach der
später berichtigten Bestimmung des Anfangsmoments vom
21. December 1790 hersetzen:
310
Die Altebsstufen ik deh
[cap. 24.
I. Radikales Kindheitsalter.
1) Auge. Dec. 1790—1794. Principien und
Verfassungen der Revolution. Gironde
und Jacobiner.
2) Phantasie bis 1797. Ausbreitung der
Revolution in Europa. Italienischer
Feldzug Bonaparte's.
3) Sentimentalität bis 1800. Ägyptischer
Feldzug. Consulat.
4) Brust bis 1803, 20. Juni. Friede von
Lüneville und Amiens. Napoleon's
Consulat auf Lebenszeit. Mediation
Deutschlands und der Schweiz.
Revolutio-
näre und
republika-
nische
Staten-
bildung.
U. Liberale Jugend.
5) Geschlechtssinn bis 1806. Napoleon
Kaiser. Besiegung der europäischen
Coalition.
6) Active Sinnlichkeit bis 1809. Rhein-
bund. Fall Preussens. Secularisation
des Kirchenstates.
7) Verstand bis 1812. Napoleonische Va-
sallenkönige.
8) Sprache bis 1815, 20. Dec. Erhebung
Europa's wider Napoleon. Sturz des-
selben. Wiener Congress. Neugestal-
tung Europa's. Französische Charte.
Neue
Monarchie
Napoleon's.
Erhebung
Europa's.
cap. 24.]
Zeitalter deb Revolution.
311
III. Conservatives Mannesalter.
9) Geruch bis 1819. Historische Rechts-
schule. Deutsche Bundesversammlung.
Europäische Pentarchie.
10) Gedächtnis bis 1822. Carlsbader und
Wiener Conferenzen. Preussisches Zoll-
system. Freiheitskampf der Griechen.
Interventions- und Legitimitätspolitik.
11) Noblesse bis 1825. Emancipation der
südamerikanischen Staten. Monroeprin-
cip.
12) Ahnung bis 1828, 20. Juni. Anerken-
nung Griechenlands.
Restaura-
tions-
periode.
IV. Absolutistisches höheres Alter.
13) Extremitäten bis 1831. Franz. Julirevo-
lution. Belgische Revolution. Schwei-
zerische. Polnische.
14) Passive Sinnlichkeit bis 1834. Deutsche
Reaction. Deutscher Zollverein.
15) Combination bis 1837. Ministerium
Thiers. Höhe der Politik Ludwig Phi-
lipps.
16) Gehör bis 20. Dec. 1840. Kirchliche
Kämpfe in den Rheinlanden. Aufstand
in Zürich. Die IV europäischen Mächte
wider Mehemed Ali und Frankreich.
Abge-
schwächte
Revolutio-
nen und
Reactio-
nen.
312 Hoffnungen auf Deutschlands Aüpebstbhen. [cap. 24.
Ich hatte auch früher schon bemerkt, dass die Ent-
wickelung der deutschen Nation ungefähr ein halbes Jahr-
hundert (also ein Zeitalter) später komme, als die der fran-
zösischen Nation. So folgten den französischen Städte-
revolutionen der Communes des dreizehnten Jahrhunderts
die deutschen Städtereformen im vierzehnten Jahrhundert;
so der classischen Litteratur der Franzosen in der ersten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die grosse Litteratür-
epoche der Deutschen in der zweiten Hälfte desselben Jahr-
hunderts. In dem Zeitalter der Revolution hatte die fran-
zösische Nation die Führung. Es war mir daher wahr-
scheinlich, dass in dem neuen Zeitalter, in das wir
eingetreten waren, die deutsche Nation nun entschei-
dend eingreifen werde. Die Psychologie bestärkte diese
Vermutung, zumal nun die Gemütskräfte, durch welche
die Deutschen überlegen waren, in den Vordergrund treten
sollten. Unsere Erwartungen von der nahen Erhebung des
deutschen Volkes aus dem politischen Elend der letzten
Jahrhunderte waren daher hoch gespannt. Das Rohmer'-
sche Buch „Deutschlands Beruf** hatte dieser Erwartung
einen grossartigen, wenn gleich mit phantastischen Zügen
seltsam gemischten Ausdruck gegeben.
Ein gütiges Geschick, für das ich Gott dankbar bin,
hat mir vergönnt, in höherem Alter die Wiedergeburt des
deutschen Volkes und Reiches zu erleben, viele Jahre nach-
her, als Friedrich und Theodor Rehmer das müde Haupt
im Tode geneigt hatten. Sie haben diese grosse Zeit der
Erhebung des deutschen Volkes nicht mehr gesehen, für
die auch sie vorgearbeitet hatten. Sie waren von der
deutschen Nation fast gar nicht gekannt und kaum be-
achtet worden. Damals aber wendeten sich unsere HoflF-
cap. 24.] Natub von Fbiedbich Rohmeb. 313
nungen noch vorzugsweise dem genialen Manne zu, dessen
Ideen und dessen Wissenschaft uns den Eindruck wie einer
neuen Geistesoflfenbarung machten. Von Friedrich Rehmer
erwarteten wir damals ein befreiendes, rettendes, gestalten-
des Eingreifen auch in der deutschen Politik. Die Züricher
Kämpfe erschienen uns wie ein geistig bedeutsames, aber
äusserlich kleines Vorspiel der grösseren Entwickelung in
Deutschland. Die Bilder der Phantasie verliehen jenen
Hoffnungen einen zauberhaften Glanz und eine prächtige
Färbung. Er selber hatte diese Zuversicht; noch war er
sich nicht bewusst geworden, dass seine Mission nur eine
geistige, nicht eine unmittelbare politische war. Er
hatte das Verlangen nach praktischem Wirken, ohne die
Fähigkeit dazu, ohne von dem Schicksal auf die Praxis
angewiesen zu sein, ohne ein Verständnis bei den Mit-
lebenden zu finden. Seine Ideen waren in hohem Grade
auf das Leben angelegt, wie dem Leben entsprungen. Aber
erst eine viel spätere Zeit konnte dieselben fassen und an-
wenden. Darin lag ein hochtragisches Moment in seinem
rätselhaften Wesen. Er gehörte nicht in das Zeitalter, in
das er hineingesetzt war wie ein Fremdling.
Manche Äusserung, die halb wahr und halb entstellt,
oft auch missverstanden ausserhalb des engeren Freundes-
kreises, in das Publikum kam, erschien dann abenteuerlich ,
renommistisch, lächerlich. Indem die Radikalen ihren Hohn
über den eingebildeten „Messias" ergossen, fanden sie zahl-
reichen Beifall.
Zuweilen waren auch meine Empfindungen zweifel-
haft. Von Natur nüchtern, verständig geartet, konnte ich
manche Illusion auch der Rohmer'schen Freunde nicht
gutheissen. Aber das war mir ganz sicher: Ich hatte
314 Natüb von Friedrich Rohmeb. [cap. 24.
niemals noch einen ähnlich genialen Menschen und keinen
Mann kennen gelernt, der reicher an Gedanken und ener-
gischer von Gemüt war, als Friedrich Rohmer. Ich muss
jetzt am Schluss eines bewegten Lebens, das mich mit
vielen Menschen in Berührung brachte, und nachdem ich
auch ihm gegenüber sehr wechselvolle Erfahrungen ge-
macht habe, hinzufügen: Ich habe auch später Niemanden
gesehen, der mir den persönlichen Eindruck des einzigen
Genies so entschieden gemacht hätte, wie er. Ich nehme
nicht einmal den Fürsten Bismarck aus, der an Genialität
etwas Verwandtes mit ihm hat, in der Praxis ihn weit
übertrifft, aber als Denker doch sehr hinter ihm zurück-
steht. Am wenigsten habe ich einen Gelehrten kennen ge-
lernt, den ich mit ihm vergleichen möchte, obwohl ich auch
unter diesen einzelne sehr bedeutende Männer hoch schätze.
Das den Menschen eigentümliche Schwanken zwischen
Urbild und Zerrbild zeigte sich in ihm ungewöhnlich heftig.
Er sagte einmal in Zürich: „Ich mache den Menschen
einen dämonischen Eindruck, weil Gott und Teufel in mir
ist." Er war der freieste Geist, den es geben konnte, und
hinwieder ein Sclave seiner Natur. Er konnte sich nicht,
oder fast nicht nach den Umständen richten. Er konnte
nur das thun, wozu ihn die innere Natur trieb. Alles
Andere stiess er rücksichtslos von sich. Schon darum
taugte er zu keinem Amt, zu keinem geordneten Berufe
und überhaupt nicht zur Praxis.
Seine Existenz, das Vertrauen der Freunde, die Ruhe
seiner Familie schienen davon abzuhängen, dass er endlich
die Grundzüge seiner Wissenschaft in der Schrift fixiere.
Es war ihm nicht möglich. So oft er sich daran machte,
immer kehrte der logische Stachel, den seine speculativen
cap. 24.] AsrlyQE seineb Seibstbiogbafhie. 315
Arbeiten zurückgelassen hatten, störend wieder. Dann war
es aus mit allem Niederschreiben seiner Psychologie. Die
Sisyphusarbeit ging wieder an. Der Stein musste wieder
mit Hilfe des Hebels von Unterlage und Eigenschaft auf
die Höhe geschleift werden; und wenn derselbe oben war,
stürzte er in den gähnenden Abgrund des Nichts zurück,
aus dem er gekommen war. Fritz — so nannten wir ihn
— täuschte sich selber hundertmal über die vermeintliche
Lösung des Welträtsels von Gott und Welt. Die Illusion,
welche durch irgend einen Fortechritt in seiner Wissen-
Schaft, eine „Findung**, oder zuweilen auch einen neuen
Irrweg hervorgerufen wurde: „nun ist Allea fertig**, be-
friedigte ihn vielleicht ein paar Tage. Dann erblasste sie
wieder, und die logische Arbeit ging von neuem an. Es
war zum Verzweifeln, dieses unablässige und scheinbar
fruchtlose Ringen zu beobachten. Alle Anderen verwünsch-
ten die infame Logik, die ihn so fürchterlich quälte. Er
allein verzweifelte nie. Er zweifelte wohl oft an sich, fast
täglich in der Ermüdung. Dann löste er, wie einst Pene-
lope, das Gespinnst des Tages am Abend selber wieder
auf. Aber am Morgen darauf, wenn der Geist wieder
durch den Schlaf erfrischt war, ging die Arbeit von neuem
los, voll Zuversicht und voll Hoffnung, es werde ihm doch
noch glücken, den Stachel auszureissen, der ihm keine
Ruhe gönnte.
Die Wissenschaft war das Werk seines Lebens. Er
konnte und wollte sie nicht wie ein Lehrsystem schreiben.
Er gedachte, indem er sein Leben schreibe, damit zugleich
die Entwickelung und den Inhalt seiner Wissenschaft dar-
zulegen. Er ging nun ernstlich an die Selbstbiographie.
Zu diesem Zwecke zog er sich in die Ruhe des lieblich-
316 Anweivdükg der Kohveb'schen [cap. 24.
schönen Zug zurück. Da arbeitete er an der Geschichte
seiner Kindheit, welche für Freunde gedruckt ward. Diese
Geschichte hat einen merkwürdigen Styl und einen reichen
Inhalt. Die Erinnerung und die Phantasie wirkten in ihr
zusammen. Aber über die Kindheit kam er nicht hinaus.
Die Selbstbiographie blieb ein kleines Bruchstück. Leider
hat auch Theodor zu wenig aufgezeichnet, worauf sich die
Biographie von Friedrich Rehmer stützen kann. Ich habe
viel später den schwierigen Versuch gewagt, einigermassen
diese Lücke auszufüllen. Es konnte aber natürlich nur
unvollständig geschehen, da das AUerwichtigste, das innere
Geistesleben .und sein Ringen, sich mir doch nur in seltenen
Momenten deutlicher enthüllte, und die ganze Entwickelung
in wesentlichen Teilen mir verborgen blieb.
Im Sommer bezog ich zu meiner Erholung mit meiner
Familie ein Landhaus bei Stanz in TJnterwalden, das ich
gemietet hatte, und lebte da mehrere Wochen im Vollge-
nuss einer herrlichen Natur. Der Vierwaldstättersee war
immer mein Lieblingssee. Der Flecken Stanz liegt etwas
entfernt zwischen zwei Buchten desselben, aber um so be-
haglicher und reizender. Von da aus waren See und Berge
leicht an schönen Tagen zu besuchen.
In der Stille der ländlichen Einsamkeit und angeregt
von einer herrlichen Gebirgsnatur wollte ich nun die Probe
machen, ob mit Hilfe der Rohmer'schen Psychologie die
Natur des States tiefer zu erkennen sei. In der Stats-
wissenschaft war ich vertrauter als in der Philosophie.
Meine Neigung, meine Studien und, wie ich überzeugt
war, auch meine Geistes- und Charakteranlage zogen mich
zum State hin und zur Erkenntnis des States. Die Vor-
stellung Rousseau's, dass der Stat nur ein gesellschaftlicher
cap. 24.] Psychologie auf die Statslehbe. 317
Verein von Individuen sei, hatte ich schon als Student
verworfen. Sie erschien mir unwahr und kindisch. Aber
auch die andere Vorstellung vieler Statsgelehrten und Po-
litiker, dass der Stat eine künstliche Maschine sei, für
gewisse gemeinsame Zwecke der Sicherheit oder der Wohl-
fahrt, genügte mir gar nicht. Die erste Ansicht hatte die
Einheit des States und die Persönlichkeit des Volkes nicht
erkannt und das Ganze in seine Teile aufgelöst. Die letz-
tere Meinung aber hatte dem State sogar das Leben ab-
gesprochen und an die Stelle des Geistes tote mechanische
Werkzeuge gesetzt.
Ich war überzeugt, dass der Stat ein lebendiger Or-
ganismus und dass das Volk eine Person sei; allerdings
nicht ein unmittelbares Geschöpf Gottes, wie der einzelne
Mensch, sondern ein mittelbares Werk des menschlichen
Geistes und der menschlichen Geschichte, aber auch nicht
bloss eine fingierte, von den Juristen eingebildete Person,
sondern eine lebendige Culturperson, mit natürlicher Basis
in dem Gemeincharakter und dem Gemeingeiste der Nation.
Ich fand die Meinung der alten griechischen Philosophen
Piaton und Aristoteles wohlbegründet, welche das höchste
Ideal des States in der Menschheit erkannten und den Stat
„den Menschen" im Grossen nannten. Ich ging noch einen
Schritt weiter und nahm an, das Ideal des States sei der
„Mann" im Grossen. „L'etat c'est Thomme." Wie die Na-
tur die Menschheit in zwei Geschlechter geteilt hatte und
nur in einzelnen Männern und Weibern darstellte, so sollte
die Menschheit sich selber ebenso in einer Doppelform le-
bendig darstellen, einmal in der selbstbewussten männlichen
Gestalt des States und zweitens in der weiblichen sich an-
lehnenden Gestalt der Kirche.
318 Meine Finduko der XVI [cap. 24.
Indem ich von diesen Gedanken ausging und ihre
notwendigen Consequenzen verfolgte, sagte ich mir: Wenn
der Grund des States in der menschlichen Natur zu finden
und der Mensch ein „statliches Wesen* ist, so kann der
Schlüssel zur Erkenntnis des States nur in der Ordnung
der menschlichen Seele entdeckt werden, welche die Psy-
chologie aufdeckt, und die den menschlichen Körper be-
herrscht. Dann haben die Menschen, indem sie den Stat
nach sich bildeten, sei es bewusst, sei es unbewusst und
instinktiv, in der Ordnung der Statsgewalten die Ordnung
ihrer Seelenkräfte nachgebildet, und hat der Statskörper
sein natürliches Vorbild in dem menschlichen Körper.
Demgemäss mussten sich die vier Gruppen der geisti-
gen und gemütlichen Seelenkräfte, der höheren männlichen
und der niederen weiblichen, ebenso in dem Statskörper
wiederfinden, dann mussten sich die XVI Grundkräfte ana-
log in den Organen der Statsgewalt zeigen lassen. Frei-
lich hatte die bisherige Statswissenschaft davon kaum eine
Ahnung. Indessen in der Sprache der Völker, welche von
Statskörper, Statshaupt, Statswillen, Statsgewissen spre-
chen, waren doch einige Anhaltspunkte gegeben, welche
zeigten, dass dem natürlichen Verstände der Völker solche
Gedanken nicht unbekannt seien. Zugleich diente mir die
Untersuchung, um mir selber die sechzehn Grundkräfte
der Seele klarer zu machen.
Anfangs arbeitete ich in völligem Dunkel, in das
ich mit dem Lichte der Psychologie hineinleuchtete. Es
war eine schwere Arbeit, aber der Mut verliess mich nicht,
und allmälich wurde es heller um mich her, bis zuletzt
ein klares Bild vor meine Seele trat, und die Seligkeit
einer neu gefundenen Wahrheit mein Herz erquickte. Die
cap. 24.] OBuimOROANE des Statsköbpebs. 319
entscheidende Klärung vollzog sich auf der Höhe des
Stanzerhoms, das ich an einem sonnigen Tage bestiegen
hatte, im Angesicht der gewaltigen Berge, deren schneeige
Häupter sich majestätisch von dem hellen Blau des Him-
mels abhoben, und des wunderbar verschlungenen tief-
blauen Sees, der den Fuss der Vorberge benetzte. In
der grossartigen Herrlichkeit der Gebirgsnatur nahmen die
Schwingen meines Geistes einen kühneren Flug. Es war
mir zu Mute, wie wenn die Nebeldecke, welche die Thäler
verschleiert, durch einen frischen Luftstrom weggeblasen
wird, und nun die sonnenbeglänzten Wälder und Felder,
Städte und Dörfer, Hügel und Flüsse sichtbar würden.
Seit Montesquieu war die Lehre der drei Statsgewal-
ten: Gesetzgebende, Executive, Richterliche Gewalt, die
herrschende geworden in Europa, wie in Amerika. Die
Trennung ihrer Amter galt als ein Grundsatz ihrer Frei-
heit und der richtigen Beschränkung. Über das Verhält-
nis der verschiedenen Gewalten stritt man sich. Manche
Philosophen fassten es auf wie die Teile eines logischen
Schlusses. Die Executive war die Ausübung und Aus-
führung der Gesetze durch die That, das Gericht hand-
habte urteilend die Regel des Rechts. Im Grunde war
alles das Subsumtion unter ein Gesetz. In alledem war
keine Spur zu finden einer organischen Einsicht, keine
Ahnung einer psychologischen Erkenntnis. Eben darum
genügte mir diese Betrachtung nicht. Ich hielt viele Sätze
derselben für falsch und verderblich.
Nun wurde mir zuerst das klar, dass der gesetz-
gebende Körper den natürlichen Beruf habe, das ganze
Volk in Haupt und Gliedern darzustellen, und daher in
ihm alle Potenzen des States zum Ausdruck und zur Ver-»
320 Stelluno der Legislative inmitten der Statsgewalten. [cap. 24.
tretung gelangen müssen. Das Gesetz war demgemäss
nicht der Wille der Obrigkeit allein, nicht der Wille der
Regierten, der Volksvertretung allein, sondern der voll-
ständige Statswille, zu dem sich Regierung und Volks-
vertretung geeinigt haben. Die Streitfrage, ob der König
und seine Regierung einen Anteil an der gesetzgebenden
Gewalt habe, war damit in bejahendem Sinne erledigt.
Aus derselben organischen und psychologischen Auf-
fassung ergab sich ferner die wichtige Wahrheit, dass die
gesetzgebende Gewalt nicht eine Gewalt sei auf gleichem
Boden und von gleicher Art mit der Regierungs-, der Ge-
richtsgewalt und anderen Teilgewalten, welche noch sich
zeigen mögen, eben weil in ihr der ganze Statskörper
gleichsam in veredeltem Auszuge und Bilde erscheine, alle
anderen Statsgewalten dagegen nur die Functionen einzel-
ner Organe im State zu vollziehen haben. Damit war das
Verhältnis der Gesetzgebung zur Regierung richtig begriflfen,
welches durch die ältere Theorie ganz verschoben war.
Wollte ich die XVI Grundkräfte der Seele im State
finden, so musste ich also vorläufig von der Organisation
des „Königs im Parlament" d. h. der Gesetzgebung ab-
sehen und lediglich die besonderen Statscjrgane, die not-
wendigen Grundämter betrachten. Auch da eröffnete sich
der organisch-psychologischen Betrachtung sofort eine über-
raschende Aussicht. Die Organe des Regiments ent-
sprachen selbstverständlich den männlichen Geistes-
organen des Kopfes und kamen infolge dessen in die
oberste leitende Stellung des Hauptes im Statskörper.
Das war aber nicht blosse Executive, das war Regierung,
welche die Politik des States leitet, die etwas ganz anderes
bedeutet, als Execution von Gesetzen. Sogar im Einzelnen
cap. 24.] Organe des Regiments und des Gerichts. 321
war es nicht schwer, die einzelnen Organe dieser höchsten,
geistig leitenden, schöpferisch wirkenden Gruppe von Or-
ganen mit den Geisteskräften des Kopfes zu vergleichen
und zu ordnen. Die höchste Eigenschaft der Sprache fand
ich wieder in dem Amte des Königs in der Monarchie, des
Präsidenten oder der Consuln in der Republik, von denen das
entscheidende Wort (der Befehl, die Ernennung, das Ver-
bot u. s. f.) ausging. Unterläglich, der Bedeutung und Lage
des Verstandes entsprechend, verhielt sich der Rat (Stats-
rat). Zur Seite standen hilfreich die beiden Hauptministerien
des Innern und des Äussern, ähnlich wie unter den Geistes-
kräften Gedächtnis (Merkkraft) und Geruch (Spürkraft).
Am leichtesten war es, die Organe des Regiments
zu erkennen. Schwieriger war es, die zweite obrigkeit-
liche Gruppe, das Gericht, zu bestimmen. Dass hier
ebenso naturgemäss die männlichen Gemütskräfte vor-
walten, wie im Regiment die männlichen Geisteskräfte, war
mir freilich bald klar geworden. Aber ofifenbar gehörte in
diese Gruppe nicht bloss die bürgerliche Rechtspflege und
die Strafrechtspflege, die ich den beiden Kräften der fein
empfindenden, im Herzen wohnenden Noblesse und der von
heftigen Schmerzen bewegten, energischeren, in den Einge-
weiden wohnenden Ahnungs- und Ahndungskraft, damals
unglücklicherweise Nabel genannt, verglich, sondern auch
die fort und fort thätige, gewaltsam wirkende Polizei,
welche in den meisten modernen Staten mit dem Regi-
mente verbunden war und nur in wenigen in Gerichtsform
gehandhabt wurde. Für die Zukunft bedurfte dieses Or-
gan dann einer gründlichen Reform. Aber ich überzeugte
mich, dass gerade diese Reform notwendig sei, und dass
die fehlerhafte Behandlung der Polizei eines der Haupt-
Bluntschli, Dr. J. C, Aas meinem Leben. I. 21
322 OeGAKE des CtJLTÜR- UKD WiRTSCHAFTSPFLEGE. [cap. 24.
gebrechen der heutigen Staten sei. Ich wies der Polizei
daher die bedeutende Stellung der activen Sinnlichkeit
oder des Mutes an, und verglich die gewaltigste Form der
Rechtspflege, den Krieg, mit der mächtigen Gemütseigen-
schaft des Geschlechtssinnes. So war auch die zweite
Gruppe, die der Rechtspflege (Jurisdictio), der höchsten,
der der Regierung (Imperium), würdig angereiht.
Aber damit war die Übersicht der statlichen Organe
nicht vollständig. Das waren die herrschenden, mit einer
zwingenden Autorität ausgerüsteten Organe der Regierung
und der Rechtspflege. Es gab aber auch noch eine grosse
Zahl von anderen Organen des Statskörpers, die nicht einen
so machtvollen autoritativen Charakter, sondern eher den
der Pflege und Sorge an sich hatten, d. h. eher den weib-
lichen Geistes- und Gemütskräften vergleichbar waren.
Ich schied dieselben in zwei Gruppen, die eine, geistige
Gruppe der Culturpflege, die andere, eher den weib-
lichen mehr materiell oder sinnlich gearteten Gemüts-
kräften vergleichbare Gruppe der Wirtschaftspflege.
Die bisherige Statslehre hatte diese Cultur- und Wirt-
schaftsämter gewöhnlich wie einen untergeordneten Anhäng-
sel der Regierungsämter betrachtet. Das hatte aber zwei
Nachteile zur Folge: einmal erlangten diese Amter nicht die
ihnen nötige relative Selbständigkeit und Freiheit; sodann
wurden sie hinwieder verleitet, die autoritative Machtfülle
der Regierung auch für ihre Functionen in Anspruch zu
nehmen, wohin sie nicht gehörte, und welche auf die Frei-
heit der Bürger drückte. Die psychologische Anordnung
machte den überaus fruchtbaren Unterschied zwischen Re-
gierungsämtern, Pflege- und Wirtschaftsämtern anschaulich
und beseitigte im Princip jene Gefahren.
cap. 24.]
Die Gliederung des Statskörpebs.
323
So gewann ich folgendes, den XVI Grundkräften der
menschlichen Seele entsprechendes Bild der XVI Grund-
organe des Statskörpers.
Das Regiment.
Statsculturpflege.
Wirtschaft.
Schule
Öffentl.' , , ^ ...
Anstalten \ / ^r^dit-
(Museen, Y anstauen
Biblio- / \^(Banken)
theken) / Cultus
(Kirchliche
Beziehungen)
Rechtspflege.
Krieg:
Völker.
rechts-
pflege
21
324 HeBAUSOABE DEK 8TATSWI8SENSCHAFTLICHEN StüDIBN. [cap. 24.
Bei dieser Anwendung der psychologischen Grund-
begriffe auf den Stat blieb ich nicht stehen. Ich nahm
nun die einzelnen statlichen Organe vor und zerlegte die-
selben von neuem in ihrer naturgemässen Organisation mit
Hilfe der Urliste. Auch da gewann ich zuweilen neue
Gesichtspunkte und Aufschlüsse, aber im Einzelnen waren
dieselben doch weniger sicher. Es war ein erster Versuch
der psychologischen Orientierung, der in der Folge manche
Berichtigung und neue Erwägung forderte. Die letzteren
Arbeiten behielt ich dann auch für mich. Die XVI aber
veröflfentlichte ich in meinen „Psychologischen Studien
über Stat und Kirche% Zürich 1844.
Ich meinte, was mir klar geworden sei, müsse auch
Anderen klar werden, und meine innere Befriedigung über
die neu gewonnenen Resultate müsse auch Anderen Be-
friedigung gewähren. Darin täuschte ich mich. Das Buch
fand hier und dort einzelne Freunde. Einige Studien, wie
z. B. die über das Verhältnis von Stat und Kirche, welche
den Stat als den Mann, die Kirche als die Frau im Grossen
darstellte, und insbesondere auch die über die Statsgewal-
ten wurden von einigen Kritikern und Gelehrten als eine
Bereicherung der Wissenschaft anerkannt. Es wurde auch
bemerkt, dass in' diesen Studien positive Ideen zu finden
seien im Gegensatze zu den oft leeren Abstractionen der
Schule. Aber die organisch-psychologische Darstellung der
XVI Statsorgane war den Meisten gänzlich unverständlich
und galt daher auch als unverständig. Dass ich aber in
der Vorrede Friedrich Rehmer als ein wissenschaftliches
Genie proclamiert hatte, erregte den meisten Anstoss und
wurde als ein Zeichen eines schwärmerischen Enthusiasten
betrachtet. Hätte ich die XVI verschwiegen und Rehmer
cap. 24.] Wenig VBRSTiNDNis der gelehrten Kreise. 325
nicht erwähnt, so wären die Studien jedenfalls mit mehr
Beifall aufgenommen worden.
Ich habe auch später die Erfahrung gemacht, dass
Menschen, welche organisch-psychologisch denken können,
in unserer Zeit sehr selten sind. Der ganzen Schulbildung
ist diese Denkweise fremd. Wohl haben manche grosse
Dichter und einige grosse Statsmänner, auch eine Anzahl
Mystiker unter den Theologen und Philosophen im letzten
Jahrhundert noch so gedacht. Aber die grosse Masse der
richtigen Gelehrten hatte und hat dafür gar kein Verständ-
nis. Es fehlt dieser das Organ dafür oder die Übung darin.
Mein Irrtum war, eine Fähigkeit zu erwarten, die nicht
vorhanden war. Nun erfuhr ich, dass Schwachsichtige sehr
geringschätzig von dem Gemälde sprachen, dessen Linien
und Farben sie nicht deutlich erkannten, und dass Taube
die Musik verachteten, welche sie nicht hörten. Ich ge-
wöhnte mich nach und nach an diese Erfahrung und lernte
sie ertragen. Aber ich fühlte mich zuweilen doch recht
einsam, auch mitten unter denen, die mir sonst im Leben
nahe standen. Das Bild des Steinbocks, der nur im Hoch-
gebirge auf unzugänglichen Felsenklippen einige Kühe fin-
det, schien mir ein Bild meines eigensten Lebens zu sein.
Die Steinbockhömer über meinem Wappen, freilich zu-
nächst von dem Stammhause meiner Familie hergenommen,
bekamen so für mich eine erhöhte Bedeutung. Es war
mir eine grosse Freude, als mir mein Freund Hottinger
ein paar echte gewaltige Steinbockhömer schenkte, die er
im Wallis entdeckt und erworben hatte. Sie schmücken
den Eingang meines Studierzimmers.
326 Mission nach Wien in Postsachen. [cap. 25.
25.
MiBsion nach Wien in Postsachen. Politische Wahmehmnngen.
Zwei Audienzen bei Fürst Mettemich. Hofrat Jarcke. Bückreise
über München. Die zwanglose Oesellschaft. König Ludwig I.
Für das Postwesen interessierte ich mich damals leb-
haft. Als Präsident der Zürcherischen Post-Commission
arbeitete ich, dem englischen Vorbilde nachstrebend, auf
Befreiung des Verkehrs von herkömmlichen Hemmnissen
und auf Herabsetzung und Vereiiifachung der Briefporti hin.
Gegen Ende des Jahres 1842 erhielt ich den Auftrag,
in Postangelegenheiten nach Wien zu reisen, um da mit
den höchsten Reichsbehörden zu unterhandeln. Auf dieser
zweiten Wiener Reise bekam ich manche neue Eindrücke.
Die amtliche Empfehlung eröflfhete mir den Zutritt zu den
höheren Staffeln des Wiener Lebens.
Die Leitung des States, oder vielmehr des aus ver-
schiedenen Staten zusammengefügten Reiches hatte eine
sehr ältliche Physiognomie. Überall waren an der Spitze
ganz alte Herren, und ich konnte nicht bemerken, dass in
den alten Körpern jugendliche Geister wohnten.
Ich sah in einer Gesellschaft einen achtzigjährigen
Feldmarschalllieutenant, der nicht mehr hörte und in den
Gliedern zitterte, und! trotzdem noch eine höchste Kriegs-
behörde präsidierte. Als der strebsame Oberst Zitta einen
Plan zur Verteidigung Wiens entworfen hatte und denselben
dem Erzherzog Johann, Präsidenten des Hofkriegsrates,
einreichte, gab ihm dieser den Plan mit den Worten zu-
rück: „Behalten Sie denselben für sich, es könnte Ihnen
nur in dem Avancement schaden, wenn man erführe, dass
Sie solche Arbeiten ohne Auftrag aus eigenem Wissens-
trieb unternehmen. Es gibt unter uns so viele alte Herren,
cap. 25.] Politische WAHBNEHMuifGEN. 327
die einen Abscheu haben vor aufstrebenden Geistern und,
^wo sie einen wittern, ihm nur Schwierigkeiten und Plagen
bereiten."
Indem die Leute allen geistigen Fortschritt fürchten
und hemmen, verlieren sie die Fähigkeit, die Bewegung
der Geister au verstehen. Sie hassen den Radikalismus
und treiben ihm unaufhaltsam zu. Sie werden es erst
merken, wenn der Strudel sie erfasst haben wird.
Nur Sechszehnender (Adelige mit sechszehn Ahnen)
dürfen zu Hofe gehen und Geheimräte, nicht aber deren
Frauen, wenn sie nicht von Adel sind. So ist es auch bei
dem Fürsten von Metternich und dem Grafen Kollowrath.
In diesem Dunstkreise lebt der Hof und leben die leiten-
den Statsmänner. Wie sollen sie da das Volk kennen,
dessen Schicksal sie bestimmen? Wohl mag der Fürst
Metternich über der Nebelwolke stehen und sein Haupt
in freier Luft sonnen auf der Spitze des Berges. Aber er
kann doch nicht durch die trübe Nebelschicht in die Tiefe
der Thäler hinabschauen. Dazu genügen weder die Be-
richte der Polizeibeamten, noch die Anschwärzungen der
Priester.
Es fehlt dem österreichischen Adel an politischer
Bildung und grossartiger Übung des politischen Berufs.
Er besetzt die höheren Stellen in der Diplomatie, der Re-
gierung, der Armee. Aber die parlamentarische und jede
freie Thätigkeit ist ihm versagt. Er ist voll von Vor-
urteilen der Rasse und der mittelalterlichen Privilegien
und verletzt oft durch seinen Hochmut bessere Köpfe. Es
schien mir, als wäre eher noch unter den Frauen, als unter
den Männern, Geist zu finden. Man flüsterte in Wien von
Politik, man sprach nicht über Politik.
328
Politische WAHBNEHüuifGBN. [cap. 25.
Mit derbem und bitterem Spott rächen sich gelegent-
lich die Wiener. Ich hörte damals folgende für die Stim-
mung bezeichnenden Äusserungen. Ein Wiener fragte den
anderen: Warum ist der neue Adler auf dem Stephans-
turme grösser geworden, seitdem man die Turmspitze um
einige Fuss erhöht hat? Antwort: „Je höher hinauf, desto
grösser das Viech.**
In einem Gasthause schimpften die Bürger weidlich
über den Kaiser. Als sich aber ein Preusse einmischte
und die Vorzüge seiner Regierung hervorhob, wurden die
^ifelfe^r ärgerlich und verbaten sich das: „Wissen's, unser
KaiserisflS^^l* ein Ochs für uns, aber nicht für Sie.** —
Im OegeSM^^^^^ ^^ ^®^ altersschwachen Statsinstitu-
tionen war vor K^te^ i^ Wien eine lebensfrische neue
Schöpfung entstanden, der „^Sh^^Huristische Leseverem«.
Ich wurde in denselben eingeführt^T"^ '^^''^^ ^^""^^ ^""^
erst die Bekanntschaft des FreiherraN^^^" Sommaruga,
des Secretärs der Gesellschaft, eines Majur^**" ^^^
senden wissenschaftlichen Kenntnissen und libera
nung. In diesem Verein, der einen raschen Aufschwung
nahm, zeigten sich die Keime eines frischeren, jugend-
licheren Geistes.
Am meisten interessierte mich die Bekanntschaft mit
dem Fürsten Metternich. Ich hatte zwei Audienzen bei ihm,
in denen gar nicht von den Postsachen gesprochen wurde,
und welche dennoch für die Erledigung meines Auftrages
nützlich waren. Ich hatte das Gefühl, dass ihm das Detail
der Verabredungen ganz gleichgiltig, däss aber seine per-
sönliche Gunst von entscheidender Wichtigkeit sei. Fürst
Metternich war damals schon ein alter Herr; aber noch
ging er aufrecht, eine hohe aristokratische Gestalt. Er
'O
i
i-
It
cap. 25.] Fürst Mbttebkich. 329
hatte offenbar das Bewusstsein, dass die österreichische
Monarchie wesentlich von ihm regiert und durch ihn po-
litisch repräsentiert werde. Der Kaiser Ferdinand küm-
merte sich nichts um die Statsgeschäfte und verstand
nichts davon.
Fürst Mettemich sprach gerne und gut, mit feier-
lichem Tone und Nachdruck. Die Art seiner Sprache er-
innerte mich an einen docierenden Professor. Über die
beiden Gespräche habe ich mir Einiges damals aufgezeich-
net, das ich nun wiedergebe.
Ich war einige Male in der „Salle des pas perdus**
hin und hergegangen, als der Fürst aus seinem Cabinet
heraustrat, den Prinzen von Salemo verabschiedend. Neben
mir hatte auch der preussische Gesandte gewartet, Depe-
schen in der Hand. Der Fürst grüsste mich und wandte
sich dann an den preussischen Gesandten mit der Frage,
ob es nicht genügen würde, wenn er ihm die Depeschen
zur Einsicht zurückliesse. Als jener erwiderte, er müsse
sich eine Viertelstunde zu mündlicher Besprechung aus-
bitten, ersuchte der Fürst denselben, etwas später wieder
kommen, und lud mich ein, mit ihm in sein Cabinet
jizutreten.
Er sprach ungefähr Folgendes: „Was macht denn
^ armes Vaterland? Ich kenne die Schweiz. Ich kenne
juch Sie genau. Ihr Canton hätte keine bessere Wahl
Reffen können zu der Abordnung hieher. Ich habe Sie
bereits dem Baron Kübeck empfohlen. Verlassen Sie sich
panz auf ihn; er hat den besten Willen. Sie dürfen auch
tiuf seine Einsicht und Tüchtigkeit rechnen. Sehen Sie,
|ch bin der nüchternste Mensch. Ich sehe die Dinge, wie
j^ie sind. Sie können mich betrachten als den Bepräsen-
I
r
1
330 Zwei Audienzen bei [cap. 25.
tanten der österreichischen Monarchie. Ich bin kein Ultra-
cist, wofür mich Viele halten. Ich stehe ruhig in der
Mitte der Dinge. Allerdings nicht in jener Mitte, welche
1830 in Frankreich als Juste-milieu aufkam. Diese Mitte
ist ein Nichts, eine Faselei. Sondern in der wahren Mitte,
welche zwischen böse und gut wohl unterscheidet."
„Sie haben Recht. Die Halbgebildeten sind gegen-
wärtig alle radikal gesinnt. Ich weiss das wohl."
„Zürich nimmt in der Schweiz in äusserer Hinsicht
die zweite Stelle ein. Aber ich bin vollständig überzeugt,
dass es berufen ist, in intellectueller Beziehung die erste
Stelle zu haben. Zürich sollte und könnte die Schweiz
geistig leiten. Aber mir scheint, die Leute dort sind für
die Höhe ihrer Aufgabe etwas zu kurz gewachsen. Die
innere Lage von Zürich ist gross. Es ist gut, dass das
Directorium (der Vorort) nun aus dem Canton Bern nach
Luzern kommt. Ich betrachte das als einen Übergang
nach Zürich. Es wäre nicht gut, wenn der Vorort jetzt
schon nach Zürich käme. Sie wären noch nicht vorbe-
reitet, um die Leitung zu übernehmen. Benutzen Sie die
nächsten zwei Jahre gut, damit Sie im Jahr 1845 ein star-
kes Directorium in Zürich bilden können. Darauf kommt
es nun an. Glauben Sie mir, Österreich wird Luzern von
allen extremen Schritten abraten. Die Politik Österreichs
ist erhaltend, nicht umstürzend. Luzern hat Recht, wenn
es für die Rechte der katholischen Schweiz sich wehrt;
aber ich halte es nicht für gut, wenn Luzern weiter gehen
und angriflfsweise verfahren wollte. (NB. Die Jesuiten-
berufung wurde damit angedeutet.) Frankreich ist in einer
schiefen Lage. Das jetzige Ministerium ist seinen Prin-
cipien nach und sonst das beste, das Frankreich seit 1830
cap. 25.] Fürst Mettbbnich. 331
gehabt hat. Guizot ist ein ehrlicher Mann. Seine Prin-
cipien sind gut, aber seine Lage ist schief. Sie können
und dürfen nicht, wie sie wollen. Das zeigt sich auch
gegenüber der Schweiz. Daneben wünscht Frankreich im-
mer noch etwas Besonderes, irgend einen Vorteil für sich.
Österreich hat, glauben Sie mir, kein anderes Interesse
als das seiner moralischen Principien. Es sucht nichts für
sich, wenn es seinen Rat erteilt. Niemand denkt an eine
bewaffnete Intervention in die schweizerischen Angelegen-
heiten. Eine moralische Einwirkung kann Niemand tadeln.
Wären nun Osterreich und Frankreich in der moralischen
Auffassung immer einig, so wäre es besser und wirksamer."
Ich hob hauptsächlich hervor: Die Schweiz müsse von
Innen heraus, kraft ihrer guten Natur, gesunden, von aussen
her sei ihr nicht zu helfen, und sprach mein Vertrauen
aus, dass Zürich die schwersten Kämpfe hinter sich habe,
und das geistige Übergewicht bei der liberal-conservativen
Partei sei.
Bei meinem zweiten Besuche fand ich den Fürsten
nicht so frisch, wie bei dem ersten. Damals hatte er mit
Eifer gesprochen, in der Absicht, mich zu überzeugen und
zu belehren, in der That ähnlich einem Docenten, welcher
auf seine Zuhörer durch eindringlichen Vortrag wirken
will. Diesmal lag auf seinen Zügen die Ermüdung des
Alters sichtbar ausgebreitet. „Ich könnte nur wieder-
holen," sagte er, „was ich Ihnen das vorige Mal gesagt
habe." Dann aber fing ich an, ihn durch einige Bemer-
kungen aufzuregen. Endlich belebten sich die Züge, und
er sprach wiederum mit Eifer.
Ich hatte ihm meine Wahrnehmung ausgesprochen,
dass die öffentliche Meinung in Wien, so viel ich sehe.
332 Zwei Audienzen bei [cap. 25.
ganz von der Allgemeinen Augsburger Zeitung beherrscht
werde, dem einzigen grösseren Blatte, das einen weiten
Leserkreis habe, und zugleich mein Bedauern, dass diese
wichtige Zeitung, welche den deutschen Cabineten gegen-
über sehr gefügig sei, in der Schweiz für den Radikalis-
mus eifrig Partei nehme.
Er erwiderte darauf im Wesentlichen Folgendes:
„Allerdings ist die Allgemeine Zeitung gegenwärtig ra-
dikal. Aber wir haben in unserem Interesse bestimmte
Schranken gezogen, die sie nicht überschreiten darf. Sie
werden über Österreich sehr wenig Artikel darin finden.
Die hiesige Bevölkerung hat eine gutmütige Trägheit des
Geistes, daneben Sinn für Anstand und gute Sitte. Sie
kümmert sich wenig um die auswärtigen Zustände, aber
sie will doch erfahren, was in der Welt vorgeht. Sie be-
trachtet aber die Dinge, wie man einen Roman liest zur
Unterhaltung oder in's Theater geht. Sie nimmt keinen
ernsten Anteil daran. Sie ist innerlich zufrieden und ver-
gnügt; es ist ihr rundum wohl. Es fehlt ihr auch Nichts.
Von der Revolution hat sie nur die eine Seite kennen ge-
lernt, die Leiden und Plagen des Kriegs. So hat sie die
Apostel der Freiheit erfahren und weiss, was dieselben
bringen. (Ich dachte, die Jugend habe doch auch die an-
dere Seite kennen gelernt und daran Geschmack gefunden.)
Vom Westen her kommt das radikale Wesen zu uns heran.
Aber wenige Stunden von Wien im Osten haben wir das
ungarische Wesen vor uns. Die Wiener betrachten beides
aus der Feme, als ob es sie nicht näher anginge. Es ist
schwer, die ungarischen Zustände zu verstehen. Die Un-
garn verstehen sie selber nicht. Der Charakter ist der
einer vollständigen Confusion. Man möchte meinen, aus
cap. 25.] Fürst Metternich. 333
all' dem wilden Treiben und Jagen werde eine Revolu-
tion hervorgehen. Gewiss nicht. Das Ende wird eine
Reform sein, und die ist ganz gut und nötig. Ich ver-
stehe unter Reform eine Verbesserung der Zustände auf
der Grundlage des Bestehenden. Sehr schwierig sind die
preussischen Zustände, seitdem man, ich erlaube mir das
zu sagen, eine Reihe von Fehlgriffen gemacht hat. Der
König von Preussen (Friedrich Wilhelm IV.) ist ein sehr
schätzenswerter und edler Mann. Seine Gesinnungen sind
gut, und nicht so, wie sie jetzt scheinen. (!) Ich weiss,
dass er sehr ernstlich daran denkt, auch die Presse wieder
zu zügeln. Aber die Dinge sind schon sehr weit gekom-
men. Er kann nicht, wie er will. Wir — und dabei
klopfte er mit dem Zeigfinger energisch auf den Tisch —
werden die Censur sicher nicht aufgeben. Auf die aus-
wärtigen Zeitungen kann man nur auf der Post pränume-
rieren, wenn wir es zugeben. Deshalb haben wir auch
die Allgemeine Zeitung noch einigermassen unter der Fuch-
tel (! ?). Macht sie es zu arg, so verbieten wir der Post,
Bestellungen anzunehmen."
Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass in der
Schweiz den radikalen Blättern doch conservative gegen-
übertreten, während es in Deutschland auch nicht Ein
tüchtiges conservatives Blatt gebe.
Darauf bemerkte er: „Ich habe über diese schwie-
rige Sache seit 25 Jahren viel nachgedacht. Schon das
Wo? ist nicht leicht zu bestimmen. In Osterreich könnte
das nicht geschehen. Unsere Verhältnisse gestatten es
nicht. Frankfurt wäre ein ausgezeichneter Ort dafür. Es
ist der centralste Punkt in Deutschland. Alle Nachrichten
laufen da zusammen. Wenn die Zeitung vorwiegend po-
334 Fürst Metternich. [cap. 25
lemisch wäre, so würde sie nicht gelesen. Sie muss vor
Allem neue Nachrichten bringen/
Als ich bemerkte, ein conservatives Blatt, welches
auf die öffentliche Meinung Einfluss gewinnen wollte, müsste
eine sehr freie Sprache führen und auch wahrhaft frei
sein, erwiderte der Fürst: „Versteht sich; aber gerade des-
halb müsste das Blatt ausserhalb Osterreich's erscheinen.
Wir würdan dasselbe dann hereinlassen, wie jede fremde
Zeitung. Ich würde ein solches Unternehmen auf's äusserste
unterstützen, wenn ich nur den Mann wüsste, der sich
eignete, es zu redigieren. Ein solcher Redacteur müsste
die politischen Verhältnisse genau und aus Erfahrung ken-
nen, er müsste ein Statsmann sein. Ich selbst habe wohl
zwanzigmal gesagt: Wäre ich nicht im Cabinet, sondern
ausgetreten aus dem Statsdienste, so hätte ich mich wohl
geeignet, und auch die Lust dazu gehabt, ein solches Blatt
zu dirigieren. Ich wollte ein gutes Blatt geliefert haben.
So aber kann ich es nicht machen; und habe nie Jemand
gefunden, der es übernehmen könnte. Es ist eine äusserst
schwierige Sache."
Im Allgemeinen hatte ich den Eindruck bekommen,
dass der Fürst jeden geistigen Kampf zu vermeiden und
fem zu halten wünschte und vorzugsweise auf die phy-
sische Statsmacht in seiner Hand vertraue. Es kam mir
vor, als denke er: „Mich halten die Dinge noch aus. Wenn
ich sterbe, so mögen die Nachkommen zusehen, wie sie
mit den gährenden Kräften fertig werden. Apres moi le
deluge."
Das Schicksal hat durch diese Rechnung einen bösen
Strich gezogen. Es hat ihm den Schmerz nicht erspart,
den Zusammensturz seiner Herrschaft noch im Greisenalter
cap. 25.] Hofrat Jarcke. 335
ZU erleben. Fünf Jahre und einige Monate später, als dieses
vertrauliche Gespräch gehalten worden, waren die „geistes-
trägen, gemütlichen Wiener*" in heller Empörung aufge-
flammt wider das Metternich'sche Regiment. Ich sah den
Fürsten im Jahre 1848 noch einmal, aber nur aus der
Ferne und zufallig in dem Bahnhofe zu Bamberg, als er,
ein politischer Flüchtling, Wien verlassen hatte und am
Rhein ein ruhiges Asyl aufsuchte. Der furchtbare Wechsel
der Macht erregte meine innere Teilnahme lebhaft, aber
ich hatte keine Gelegenheit, dieselbe zu äussern.
In Wien sah ich auch zuweilen den Hofrat Jarcke,
der in der Statskanzlei angestellt war. Jarcke war Con-
vertit. Er erzählte mir über seine Bekehrung Folgendes:
„Den ersten Anstoss, katholisch zu werden, erhielt ich in
Bonn. Ich hatte so wenig, als die meisten anderen Pro-
testanten eine religiöse Erziehung empfangen. Ich war
bereits Privatdocent in Bonn, als eines Tages ein Student
mir die Kunde brachte, Neander habe im CoUeg zu Berlin
gesagt, die Menschen bedürften von Zeit zu Zeit einer un-
mittelbaren Erweckung durch die göttliche Gnade, weil sie
in sich selber nicht die eigene Kraft finden, um auf der
rechten Bahn zu verharren. Die höchste Einwirkung der
unmittelbaren göttlichen Gnade sei die Sendung Christi
auf Erden. Die göttliche Natur habe sich selbst in Men-
schengestalt in Christus geoffenbart. Der Student bemerkte
dazu, wenn das wahr ist, dann sind wir mit unserem Un-
glauben auf dem Holzwege. Diese Mitteilung machte auf
mich den stärksten Eindruck. Plötzlich ergriff der Ge-
danke mein ganzes Wesen: Dann haben die Katholiken
doch Recht mit ihrer Verehrung der „Mutter Gottes".
Daraufhin studierte ich die Augsburger Confession und die
336 Hofrat Jabcke. [cap. 25.
Tridentiner Concilienbeschlüsse und beschäftigte mich mit
der Geschichte der Reformation. Es blieb mir zuletzt nur
die Wahl übrig zwischen der Autorität der katholischen
Kirche und der Autorität der protestantischen Kirche. Jene
erschien mir sicherer und grösser. Ich ward Katholik."
Jarcke sieht finster in die Welt. Er hält Deutsch-
land, wenn nicht für verloren, doch für sehr krank. In
Frankreich habe sich die Revolution als hitziges Fieber
erwiesen, in Deutschland könnte sie als schleichendes Fie-
ber die Kräfte aufzehren. Er ist überzeugt, wenn es zu
einem Kriege käme, so würde Preussen dem Radikalismus
die Schlüssel des Hauses übergeben und sagen: „Macht
was Dir wollt."
Von Thatkraft bemerkte ich da noch weniger als bei
dem Lenker der österreichischen Monarchie. Jarcke sagte
mir einmal: „Wenn Sie mir heute demonstrieren, ich müsse
um eines politischen Zweckes willen die Salons besuchen,
und wenn ich mich überzeuge, dass Sie Recht haben, so
thue ich's doch nicht. Ich bin nun 41 Jahre alt und das
Salonleben ist mir zuwider. Ich mag nicht hinein. Gerade
so ist*s mit der grossen Politik. Die Antecedentien hängen
sich an. An diesen hat man zu schleppen; man kommt
nicht aus den alten Gewohnheiten heraus. Wollen Sie,
dass der Bär auf einmal hüpfe wie ein Eichhörnchen? Er
wird's bleiben lassen. Hier kann man recht sehen, wie
wenig die Menschen und wie sehr die Ereignisse die Po-
litik machen. Die Frage ist gewöhnlich nicht die: „Was
werden wir nun in diesem FaUe thun?", sondern die: „Was
werden diese Personen mit ihrer Natur und ihren Ante-
cedentien in diesem Falle thun oder lassen?"
In der That, man konnte den Verzicht auf eigenes
cap. 25.] Hofrat Jabcke. 337
Handeln nicht weiter treiben. In dieser Resignation war
die Verzweiflung. Jarcke teilte mir auch eine Probe mit
von der Weisheit der österreichischen Censur, die nicht
einmal den „Österreichischen Beobachter", den Presslakaien
der Statskanzlei, verschonte. Der Beobachter hatte nach
englischen Zeitungen berichtet, Lord Aberdeen habe den
Don Miguel ein Ungeheuer genannt. Der Censor strich
nun das Wort Ungeheuer und machte einen Gewalthaber
daraus. Tags darauf aber erschien die nicht in Osterreich
censierte Allgemeine Zeitung in Wien und brachte das
richtige Ungeheuer zu Markte, zum hellen Gelächter der
Wiener, die man mit dem Gewalthaber hatte abspeisen
wollen.
Jarcke hatte eine grosse Verehrung für den Jesuiten-
orden und den Jesuitengeneral Rootenhaan aus Amsterdam.
Er findet indessen ihre Seelsorge vorzüglicher als die Er-
ziehung. Übrigens versicherte er mir, es werde von Wien
bei den Jesuiten selber entschieden eingewirkt, dass sie
nicht nach Luzern gehen. Die späteren Ereignisse be-
wiesen aber, wie wenig der furchtsame Rat der öster-
reichischen Regierung dem fanatischen Eifer des Ordens
das Gegengewicht zu halten vermochte.
Ergötzlicher war es mir, von Jarcke zu hören, dass
auf der Universität das Naturrecht ex officio ganz im
Sinne des Contrat Social von Rousseau gelehrt werde, und
Haller's Restauration der Statswissenschaft, das Hauptwerk
der legitimistischen Reaction, verboten sei. Jarcke meinte,
glücklicherweise werde in Wien sehr wenig studiert, so
dass jene radikalen Theorien doch nicht tief sitzen und
bald wieder vergessen werden.
Wie abergläubisch Jarcke bereits geworden war, davon
BlnntRchli, Dr. J. C, Aiifl racinom Loben. I, 22
338 Beziehungen Österreichs zu Rüssland. [cap. 25.
bekam ich zum Abschied noch eine Probe. Er erzählte
mir da die wunderbare Bekehrungsgeschichte, ich weiss
nicht mehr welches Juden in Rom vor einem Gnadenbilde
der „Mutter Gottes". Dann übergab er mir eine geweihte
Medaille mit dem Stempel dieser Mutter Gottes zum An-
denken und im Glauben, dieses Bild werde mich bekehren.
Vergebens erklärte ich ihm, solcher Zauber wirke gar nicht
auf meine Natur. Er meinte schlau, das werde sich fin-
den, und um ihn zu beschwichtigen, steckte ich das Zauber-
metall lächelnd in die Tasche. Ich habe niemals eine an-
dere Wirkung davon verspürt, als die des Bedauerns über
die Dummheit der Menschen.
Am deutlichsten trat mir in Wien die völlige Im-
potenz vor Augen in den Beziehungen Österreichs zu Russ-
land in den serbischen und montenegrinischen Angelegen-
heiten. Russland hatte sich augenscheinlich beider be-
mächtigt. Darüber war man in Wien sehr unzufrieden. Alle
Welt verlangte ein energisches Auftreten der österreichi-
schen Regierung, und alle Welt beruhigte sich erst mit
den stillen HofiEnungen, es werde etwas geschehen, und
sodann bei der vollendeten Thatsache, dass Russland mit
Vorwissen und Zulassung Österreichs vertragsmässig eine
Schutzhoheit über Serbien erlangt habe. Man machte dem
Arger durch schlechte Witze Luft und duselte ruhig
weiter.
Der Patriarch von Konstantinopel ist gegenwärtig
eine Creatur von Russland. Auch das hat man ruhig ge-
schehen lassen. An diesem Faden zieht der Czar die grie-
chischen Popen in der Türkei, und deren Einfluss auf das
unwissende Volk ist gross. So lässt man die Birne sich
ulem Norden zuwenden und reif werden, in der Hoffnung,
cap. 25.] HücKREisE über München. 339
sie werde dereinst von selber Russland in den Schoos
fallen. Und doch wird Europa schwerlich das gestatten.
Auf der Rückreise kam ich durch München. Ich
hatte keine Ahnung davon, dass München für mich eine
neue Heimat werde. Ich besuchte Thiersch, der schon
ein alter Herr war, aber voll Freundlichkeit und gesprächig.
Er machte mir den Eindruck eines politisierenden Gelehrten,
nicht eines handelnden Statsmannes. In die zwanglose
Gesellschaft wurde ich als Gast eingeführt. Sechs Jahre
später wurde ich Mitglied derselben und bin noch dankbar
für die vielen geistigen und geselligen Genüsse, welche die
Gesellschaft darbot. Damals sah ich da Professor Mass-
mann, einen Germanen mit gescheiteltem Haar und ehr-
lichem Herzen, den Baron Rotenhahn, Vicepräsident der
zweiten Kammer, einen Mann von wohlbehäbigem, mild-
ernstem Aussehen und liberaler Gesinnung, den bayerischen
Dichter Franz Kobell, der, obwohl in der Pfalz geboren,
dennoch es liebte, in der altbayerischen Mundart zu spre-
chen, Professor Neumann, den China-Reisenden.
Ich besuchte auch den damals leitenden Minister Abel,
der ganz der katholischen Richtung angehört und offenbar
ein Gemüts-, nicht ein Verstandesmensch ist. Er sprach
die Worte: „Es ist wohl wahr" mit jenem gezogenen, das
Erbarmen des Himmels herbeirufenden, feierlichen Tone
der Frommen, der mich immer zum Lächeln reizt.
Dem König Ludwig I. machte ich meine Aufwartung.
Beim Empfang und beim Abschied hob er meine Jugend
hervor: „Sehr erfreut, sehr erfreut, noch so jung; sehr
gut." Ich kam mir selber gar nicht mehr so jung vor,
mit meinen 34 Jahren. Den Eindruck, den mir der König
machte, fasste ich in folgender Aufzeichnung zusammen:
00*
340 König Ludwig I. [cap. 26.
„Offenbar ist eine merkwürdige Verbindung entgegengesetz-
ter Eigenschaften in dem König. Es ist ein grosser Zug
und sogar etwas Liberales in ihm. Seine Kunstschöpfungen
und seine Schriften zeugen dafür. Daneben aber zeigt sich
unverkennbar etwa^ ältlich Absolutistisches, das gegen-
wärtig das Übergewicht erlangt haben mag.'*
Als ich ihn 1848 wieder sah, war eben die Revolu-
tion in München ausgebrochen.
26.
Fortschritte der liberal-conservativen Partei im Grossen Rat.
Der «Republikaner" Fröbel's. Herwegh. Bruno Bauer. An-
näherung der Parteien. Schneider Weitling. Der Communisten-
bericht. Schweizerische Postconferenz in Zürich. Redaction des
privatrechtlichen Gesetzbuchs für Zürich. Meine Ansichten und
Vorsätze. Die Sterblichkeit der geschichtlichen Familien. Psy-
chologisches. Gegensatz der Menschen mit Geistesströmung und
mit Gemütsströmung. Besuch bei Friedrich Rehmer in München.
Als der neue Grosse Rat nach den Maiwahlen 1842
zusammentrat, standen sich die beiden Hauptparteien so
ziemlich in gleicher Stärke gegenüber. Die Besorgnis lag
daher nahe, dass sie sich wechselseitig hemmen, und schliess-
lich der Grosse Rat nach der Formel 1 — 1 = zur Ohn-
macht verurteilt sei. Indessen bald gewann die liberal-
conservative Partei in den Verhandlungen und Abstim-
mungen ein allmälich wachsendes Übergewicht. Es kam
ihr freilich zu gute, dass sie in der Regierung die ent-
schiedenie Mehrheit besass. Aber mehr noch wirkte der
Unterschied der geistigen Mittel und Kräfte.
Die liberal-radikale Partei lebte, soweit sie einheimisch
cap. 26.] Die DErtscHEN Radikalen in Zürich. 341
war, vorzüglich von den Erinnerungen der Dreissigeijalire.
Ihre beiden bedeutendsten Führer, Keller und M. Hirzel,
waren geschieden. Die Partei hatte die Redaction des
schweizerischen Republikaners Julius Fröbel überlassen,
aber dieser verfolgte im Verein mit seinen deutschen Partei-
genossen damals eine so extreme doctrinär-radikale Politik,
dass sie für die schweizerische Partei völlig ungeniessbar
ward. In dem Verlage des litterarischen Comptoirs von
Fröbel erschienen die „Ein und zwanzig Bogen aus der
Schweiz" von G. Herwegh, welche ganz unverhüllt das
Christentum und die Monarchie als „himmlische und irdi-
sche Tyrannei" dem Hasse der Völker zur Beseitigung
empfahlen und von einer Allianz des deutschen philoso-
phischen Geistes, welcher die Religion ausrotte, und des
französischen politischen Geistes, welcher mit der Gleich-
heit Ernst mache und den Communismus herstelle, die Ver-
besserung der Welt erwarteten. Ebenso erschien damals in
derselben Verlagshandlung die Schrift von Bruno Bauer:
„Das entdeckte Christentum." Darin wird das religiöse
Bewusstsein als eine Zusammensetzung „aus Neid und
Bosheit" erklärt und gesagt, die christliche Religion über-
treffe alle anderen an Bosheit und Grausamkeit. Es steht
darin der grauenhafte Satz: „Selbst der Name Gott, der
nur erwähnt zu werden braucht, um wenigstens das Ge-
fühl einer öden Langeweile zu erregen, muss zum Besten
der menschlichen Heiterkeit und des Frohsinns gemieden
werden." Der Republikaner äusserte sich mit weniger
Offenheit, aber es bedurfte keines besonderen Scharfblicks,
um durch die dünne Verhüllung die Züge desselben tollen
Wesens zu erkennen, das sich in jenen Schriften austobte.
Der liberal-conservative Beobachter aus der östlichen Schweiz
342 AknXhebung der schweizerischen Parteien. [cap. 26.
benutzte diese Auswüchse der Käserei, um den schweize-
rischen Radikalen die Abgründe aufzudecken, in welche
die Lenker ihrer Presse sie hinunter zu reissen sich be-
mühten. Der Grosse Rat billigte es mit grosser Majorität,
dass die Regierung dem politischen Flüchtling Herwegh
nicht gestattete, das neutrale Asyl Zürich's zu revolutio-
nären Angriffen auf die deutschen Staten auszubeuten.
Noch entscheidender war es, dass die Führer der liberal-
radikalen Partei im Grossen Rat sich öffentlich von jeder
Gemeinschaft mit jenen Gedanken lossagten und erklärten,
die gegenwärtige Redaction des Republikaners verfolge
Tendenzen, welche sie nicht billigten. Fröbel trat darauf-
hin von der Redaction zurück.
Die liberal-conservative Partei dagegen hatte durch
die Rohmer'sche Parteienlehre ein Princip gewonnen, mit
dem sich höchst wirksam operieren und kämpfen liess.
Sie war erfrischt und belebt durch neue Ideen. Die Über-
legenheit ihrer Führer an Geist, Gewandtheit und Energie
wurde auch von den Gegnern anerkannt.
Allerdings war diese Partei für sich zu schwach, um
allein die Politik zu leiten. Eine gründliche Befriedigung
forderte eine Verstärkung der liberalen Elemente, welche
nur durch eine Verbindung mit den Liberal-Radikalen zu
gewinnen war. Indessen war dieses Ziel, das ich nie aus
den Augen verlor, offenbar näher gerückt, seitdem die re-
formatorischen Absichten der Regierungspartei deutlicher
hervortraten, und die Oppositionspartei die communistischen
und atheistischen Extreme von sich stiess.
Im Sommer war der deutsche Schneider W. Weit-
ling, aus Magdeburg gebürtig, ein Agitator für den Com-
munismus, nach Zürich gekommen in der Absicht, hier
f
cap. 26.] Schneider Weitung. 343
eine neue communistische Schrift „das Evangelium des
armen Sünders" herauszugeben und einen communistischen
Verein zu gründen. Schon vorher hatte er in Lausanne
eine Brochüre veröffentlicht „Garantien der Harmonie und
Freiheit**, in welcher er die communistischen Ideen und
Plane verkündete. Als das Heil der Welt wird die durch-
geführte Gleichheit Aller betrachtet, und demgemäss die
Abschaffung des States, mit seiner die Ungleichheit vor-
aussetzenden Unterordnung, des Geldes, des Eigentums,
überhaupt der Umsturz aller bestehenden Ordnung em-
pfohlen, und die Neubegründung einer neuen gleichen Ge-
sellschaft ohne Stat, ohne Kirche, ohne Vaterland in voller
gleicher Lebensgemeinschaft aller Menschen gepriesen.
Dass eine solche Umwälzung nicht durch geistige
Mittel zu bewirken, sondern nur durch gewaltsame Auf-
stände der vermögenslosen fanatisierten Massen zu voll-
ziehen sei, gestand Weitling offen zu. Als neues Gesetz
verkündete er: „In jedem Dorf, in jeder Stadt und in jedem
District, wo drei Viertel der Einwohner dafür stimmen,
ihre Güter in Gemeinschaft zu geben, muss sich das letzte
Viertel fügen." Wenn der Widerstand der Regierungen
fortdaure, so droht er, einen fürchterlichen „Brander" los-
zulassen und „eine Moral zu predigen, die noch Niemand
zu predigen wagte, welche seiner Partei Streiter zuführen
werde, deren Mitwirkung sie bis jetzt noch verabscheue."
Die Brandstiftung der Pariser Petroleusen hat im Jahr
1871 eine schauerliche Illustration zu dieser Äusserung
von 1843 geliefert.
Die Schweiz war für die Wühlerei deutscher Com-
munisten deshalb als Versuchsfeld ausersehen worden, weil
die Führer hofften, hier leicht unter den zahlreichen, von
344 I^EB CoMMtlNiaTENBERICHT. [CRp. 26.
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der Heimat und der Familie abgelösten deutschen Gesellen
einen Anhang zu finden, und in dem freien Lande auch
weniger Hindemisse für ihr Treiben erwarteten. Im Übri-
gen war die Schweiz für den Communismus kein günstiger
Boden. Die grosse Masse der Bürger war keineswegs ver-
mögenslos, und jeder Hausvater war geneigt, wie für seine
Familie einzustehen, so auch sein Vermögen gegen die
Raubgier zu verteidigen. Auch die arbeitenden Classen,
ohne Grund- und Capitalbesitz, fanden doch ausreichenden
Lohn und hatten keinen Grund zur Verzweiflung.
Die Regierung hielt es für notwendig, ohne Verzug
dieser drohenden Gefahr einer verbrecherischen, commu-
nistischen Wühlerei entgegenzuwirken. Weitling wurde
verhaftet und dem Gerichte zur Bestrafung zugewiesen,
das ihn schliesslich zu einer mehrwöchentlichen Haft ver-
urteilte* Das Hauptmittel aber, welches gegen die Com-
munisten ergriffen wurde, bestand in der Enthüllung ihrer
Absichten und in der Veröffentlichung der bei Weitling
vorgefundenen Correspondenz. Der Bericht der Regierungs-
commission „über die Communisten in der Schweiz", den
ich verfasst habe, erkennt an, dass in den gegenwärtigen
wirtschaftlichen Zuständen manche Übel sich zeigen, die
einer Heilung bedürfen; aber er warnt zugleich davor, die
Heilung von den Communisten zu erwarten, welche die
Welt mit viel grösseren Übeln bedrohen.
Der Bericht weisst darauf hin, dass das Princip der
Gleichheit aller Menschen, einseitig gefasst, notwendig in
seinen logischen Folgerungen zum Communismus führe, und
stellt der Wahrheit, dass alle Menschen als Menschen
gleich seien und Alle ein Recht auf eine menschliche
Existenz haben, die ergänzende Wahrheit gegenüber, dass
Cap. 26.] ScffWEIZEBISCHE POSTCONFEBENZ IN ZÜRICH. 345
ebenso alle Menschen als Individuen ungleich seien,
und dass daher neben jener natürlichen Gleichheit auch
diese ebenfalls natürliche Verschiedenheit zu beachten sei.
Damit ist in der That die Frage principiell in das rechte
Licht gesetzt.
Diese Zurückweisung des communistischen Wahnsinns
rief eine Menge von Schriften und Gegenschriften wach.
Der Kampf des Stats gegen den Communismus wurde noch
einige Jahre fortgesetzt, auch in anderen Cantonen der
Schweiz. Die eigentliche communistische Schule konnte
nirgends recht gedeihen; auch die radikalsten Schweizer
bewährten doch den nationalen Charakterzug des Schwei-
zers, welcher bekanntlich das Geld und den Vermögens-
erwerb hoch schätzt.
Eine Folge meiner Verhandlung in Wien über die
Fostverhältnisse zu Osterreich war die Versammlung einer
schweizerischen Postconferenz in Zürich im August
1843. Das Postwesen war damals noch nicht Sache des
Bundes, sondern gehörte den Cantonen an. Eine allge-
meine Reform war daher nur schwer möglich auf dem
Wege der Verträge unter den Cantonen, der sogenannten
Concordate. Zu diesem Behuf wurden die Vertreter der
anderen Cantone nach Zürich eingeladen. Mir wurde die
Ehre zu teil, die Conferenz zu präsidieren, welcher es
wirklich gelang, den Transit zu erleichtern, die Taxen für
Briefe zu ermässigen und zu vereinfachen und so der spä-
teren durchgreifenderen Reform des Bundes vorzuarbeiten.
Meine besten Kräfte waren aber damals einer wich-
tigeren Reformbestrebung gewidmet, der Redaction des
neuen privatrechtlichen Gesetzbuches für den Can-
ton Zürich, die mir übertragen war. Auch der neue Grosse
346 Redaction des ZCricheb privatrechtl. Gesetzbuchs, [cap. 26.
Rat bestätigte den Auftrag. Der Parteihader, der sonst
bei jeder Frage leicht entflammte, verstummte hier. Das
Werk wurde von beiden Hauptparteien mit Vertrauen und
Zuneigung betrachtet. In der Gesetzes-Commission sassen
Conservative, Liberale, Absolutisten und Radikale friedlich
beisammen, und niemals wurden die Abstimmungen nach
den Stichwörtern und dem Commando der Parteiführer
entschieden; jeder prüfte und erwog die Gründe und Mei-
nungen der Anderen möglichst frei und unbefangen. Jeder
wollte das Recht, Keiner einen Parteisieg. Die Meinung
des Redacteurs fiel zwar bei den Anderen schwer in's Ge-
wicht; aber auch der Redacteur liess sich willig belehren.
In dem Beobachter aus der östlichen Schweiz (Ar-
tikel vom 9. und 19. Januar und 2. und 6. Februar 1844)
sprach ich mich aus:
1) Über die Aufgabe der neuen Gesetzbücher.
Das Bedürfnis privatrechtlicher Gesetzbücher in der Schweiz,
wie in Deutschland, wird darin durch den Hinweis auf die
Verwirrung begründet, in welche die Rechtsbildung durch
den Widerstreit römisch-rechtlicher, deutsch-rechtlicher und
moderner Elemente geraten sei, welche nicht durch die
Wissenschaft und die Schule, sondern nur durch die Ge-
setzgebung zu überwinden sei. Dem Gesetzgeber wird die
liberale Aufgabe gestellt, unbekümmert um den Streit der
Gelehrten in dem Quell des lebendigen Geistes zu schöpfen
und von dem Bewusstsein der heutigen Menschheit aus
das, was als notwendig mit Sicherheit erkannt ist, soweit
es klar ist und zu dem ganzen Rechtssystem passt, soweit
es wirklich volks- und zeitgemäss ist, als Gesetz neu aus-
zusprechen und zur Anerkennung zu bringen.
2) Über die bisherigen neuen Gesetzbücher, das Preus-
cap. 26.] Meine Ansichten und Vorsätze. 347
sische Landrecht, das Osterreichische Gesetzbuch
und den Code Napoleon. Die Charakteristik und Wert-
schätzung dieser Werke weicht erheblich ab von der Sa-
vigny's. Insbesondere wird der Code civil der Franzosen
viel günstiger beurteilt.
3) Über die bisherigen schweizerischen Gesetz-
bücher, die sich in der französischen Schweiz an den
Code Napoleon, in der deutschen Schweiz an das Oster-
reichische Gesetzbuch anlehnen, wenn auch im Einzelnen
mit Beachtung der einheimischen Rechtsbildung und der
neueren Wissenschaft.
4) In dem vierten Artikel wird der Vorsatz und die
Aufgabe der Zürcherischen Redaction besprochen. Es
soll ein neuer Vei*such gemacht werden, den Widerstreit
der römischen und deutschen Institutionen und Rechtssätze
harmonisch auszugleichen und auf der Grundlage der ge-
schichtlichen Entwickelung die Bedürfnisse der modernen
Gesellschaft zu befriedigen.
Aus meinen damaligen Aufzeichnungen erwähne ich
einen Gedanken, der mich oft beschäftigt hat, die
„Sterblichkeit der geschichtlichen Familien".
„Wenn man nach dem Ursprung der gegenwärtig
lebenden Geschlechter und Familien fragt, so überzeugt
man sich sofort, dass sich derselbe im Dunkel der Vorzeit
verliert. Wir wissen innerhalb der uns bekannten Ge-
schichte der Menschheit von keinen neuen Schöpfungen
von Menschen. Die heutigen Menschen sind mit den er-
sten Menschen durch eine lange, niemals abgebrochene
Kette von Zeugungen verbunden. Sie sind die Nach-
kommen jener, nach dem semitischen Sprachgebrauch von
348 ^^^ Sterbjlichkeit deb geschichtlichen [cap. 26.
Adam und Eva.« Insofern also sind alle vorhandenen Fa-
milien von gleichem Alter. Alle haben vieltausendjährige
Ahnen.
„Aber zu einem ganz andern Ergebnis gelangt man,
wenn man die gegenwärtigen Geschlechter und Familien
nach ihrem geschichtlich bekannten Alter prüft und
bemisst. Da bemerkt man, dass die enorme Mehrzahl der-
selben nur ein kurzes Alter geschichtlich nachzuweisen
vermag, dass nur eine kleine Minderzalil sich auf ein ge-
schichtliches Leben von mehreren Jahrhunderten berufen
kann, dass Familien von über fünf hundertjähriger Geschichte
schon sehr selten sind. In Zürich z. B. gibt es nur ganz
wenige Familien, welche schon im dreizehnten Jahrhundert
bekannt waren. In der Schweiz kenne ich einzig die Fa-
milie Tschudi, welche eine tausendjährige Geschichte hat,
und keine Familie, welche in die Römerzeit hinaufreichte.
Auch die berühmten Adels- und Fürstengeschlechter kön-
nen sich nur ganz selten auf eine tausendjährige Geschichte
berufen. Was will das heissen gegenüber jener unbezwei-
felten Voraussetzung eines vieltausendjährigen Zusammen-
hanges aller Familien mit den ursprünglichen Stammes-
eltern des Menschengeschlechts?
„Es besteht folglich ein Gegensatz der bekannten
und der unbekannten Familien. Diese pflanzen sich durch
die Jahrtausende ohne Ende im Stillen fort. Aber jene,
die gewissermassen in das Licht der Geschichte eintreten
und bekannt werden, verfallen dem Gesetze einer nach we-
nigen Jahrhunderten bemessenen Sterblichkeit. Die Kräfte
der geschichtlichen Familien werden von der Geschichte
aufgezehrt; und wenn sie ihre Eigentümlichkeit zu Tage
gefördert und den Vorrat ihrer besonderen Familienanlage
cap. 26.] Familien. — Psychologisches. 349
im Leben erschöpft haben, gehen sie unter. Die Zeit ver-
schlingt so ohne Erbarmen ihre Kinder.
„Dieses Gesetz der geschichtlichen raschen Sterblich-
keit gilt unzweifelhaft für die höchsten geschichtlichen, für
die europäisch-arischen Völker. Es gibt in Europa keine
Familie, welche nachweisbar von den alten berühmten Hel-
lenen, Römern, Kelten, Germanen abstammt. Ob es ebenso
wirke bei den Semiten und bei den Chinesen und Indiern,
bedarf der näheren Prüfung.
„Es scheint, dass die Völker und die Staten dem-
selben Gesetze unterliegen.
„Wenn die Menschheit in ihre höhere Altersperiode
eingetreten sein wird, — was freilich erst nach vielen
Jahrtausenden geschehen sein wird — , dann werden die
Familien, welche bis dahin fortwährend im Dunkel ge-
blieben sind, endlich auch zu geschichtlichem Leben ge-
langen und ihre Eigenart entfalten. Die Unterlage geht
dann in die Eigenschaft über und wird von deren Leben
aufgezehrt. Das Alter der Menschheit wird demokratisch
sein, indem es auch die tieferen Schichten der Bevölkerung
zu geschichtlicher Bedeutung emporhebt. Ist das gesche-
hen, dann sind auch die Kräfte ausgeschöpft und ver-
braucht, welche der Anlage der Menschheit eingepflanzt
sind. Dann ist auch die Geschichte der Menschheit zum
Ende gekommen." —
Mit Theodor Rehmer, der noch eine Weile in
Zürich zurückgeblieben war, dann aber seinem Bruder nach
München nachfolgte, wurden psychologische Studien getrie-
ben und Anwendungen der XVI Grundkräfte auf mensch-
liche Erscheinungen und Werke versucht. Aus den Mit-
teilungen von Friedrich Rehmer ergab sich, dass er
350 Unterschied von Geistes- und Gemütsströmung. [cap. 2G.
immer noch den Stein des Sisyphus, die „Logik", den Berg
hinaufwälze, ohne zur Ruhe zu kommen. Der Grundfehler
der Speculation (Anfang und Ende), Gott als Unterlage zu
fassen, so dass dann der Mensch und die Natur als Eigen-
schaft daraus hervorging, war noch nicht erkannt. Ver-
gebens mühte er sich ab, um auf dieser Basis den Bau
der logischen Erkenntnis aufzuführen. Was er immer für
künstliche Mittel erfand, um dem Bau festen Halt zu ver-
schaffen, es half Nichts. Das Gezimmer versank in dem
weichen Boden, wie in einem Sumpf.
Dagegen wurde die Psychologie mit neuen Findungen
bereichert. Insbesondere trat der Gegensatz der Menschen
mit Geistesströmung und der Menschen mit Ge-
mütsströmung nun bedeutsam hervor und bewirkte
sogar eine Änderung in der Urliste. Dieser Gegensatz
beruht nicht auf der individuellen Begabung mit höheren
oder niederen Geistes- oder Gemütseigenschaften. Es kön-
nen zwei Menschen individuell gleich begabt und dennoch
verschieden sein, indem in dem einen die Bewegung seiner
geistigen und gemütlichen Kräfte entweder von oben nach
unten (vom Kopf zum Leib), oder von unten nach oben
(vom Leib zum Kopf) geht. In der Sprache zeigt sich
der Gegensatz äusserlich in den Brusttönen und Kopftönen;
jene weisen eher auf Gemüts-, diese auf Geistesströmung
hin. Menschen mit Geistesströmung zeigen anfangs eine
überlegene Kälte, ein scharfes Wissen, eine sichere Herr-
schaft über sich und Andere. Ihre Gemütskräfte bleiben
zunächst verborgen und kommen erst zum Vorschein, wenn
sie auf ernsten Widerstand stossen. Friedrich der
Grosse, Lessing, Goethe, Voltaire waren offenbar
Mensclien mit solcher Geistesströmung. .
cap. 26.] Psychologische Bestimmwo der Natüb Christi. 351
Bei den Menschen mit Gemütsströmung dagegen geht
die Bewegung der Kräfte von der Gruppe der aufnehmen-
den Geisteskräfte des inneren Kopfes (Aug, Phantasie,
Combination, Gehör) in der Richtung nach den männlichen
Gemütskräften vorw^^rts und empfangt von diesen ihre
entscheidende Macht. Tief religiöse Individuen, aber auch
manche Feldherren und viele grosse Redner haben offen-
bar Gemütsströmung z. B. Mohammed, Gregor VIL,
Luther, Gustav Adolf. Bei den Frauen überwiegt die
Gemüts-, bei den Männern die Geistesströmung; aber sehr
oft zeigt sich bei Neigungsehen, dass der Mann mit Geistes-
strömung eine Frau liebt mit Gemütsströmung, oder um-
gekehrt ein Mann mit Gemütsströmung eine Frau mit
Geistesströmung. Wer die Menschen in ihrem Gebahren
und Handeln beobachtet, wird sich hier bald zurechtfinden.
Diese Findung hatte, was mich besonders interessierte,
einen bedeutenden Einfluss auf die psychologische Bestim-
mung der Natur von Christus.
Früher schon wurden viele psychologische Unter-
suchungen gemacht, um die individuelle Art, insbesondere
der grossen Weltgenies zu ergründen. Man nahm an, dass
diese Individuen, im Gegensatze zu den gewöhnlichen Men-
schen, durchweg durch eine vollständige und organisch
richtige Premirung die höchst-mögliche Personification je
einer Entwickelungsstufe (d. i. eines Weltalters) darstellen.
Die Typen der Urliste erhielten so eine weltgeschichtliche
Repräsentation. Auch Jesus Christus wurde so eingereiht.
Da er als Religionsstifter und vorzugsweise durch seine
Liebe und Selbstaufopferung die Welt bewegt hatte, so
wurde er aufgefasst als Personification der höchsten Ge-
mütskraft, welche in der Urliste Geschlechtssinn genannt
352 I^iE Natur Chbi8ti psychologisch angesehen. [cap. 26.
wurde. Er hatte gegen Ende des Weltalters gelebt, in
welchem ebenfalls der Geschlechtssinn als die herrschende
Kraft wirkte. Seine Bedeutung schien somit erklärt, in-
dem man annahm, er habe in organisch vollkommener
Weise Geschlechtssinn in der Sprache.
Aber damit war die alte Kirchenlehre in offenbarem
Widerspruch, welche vielmehr Christus als den Logos,
das lebendige Wort Gottes verehrte, ähnlich wie die
alten Brahmanen sich selber als aus dem Munde Gottes
entstanden, als Geistessöhne Gottes betrachtet hatten. In
der Rehmer 'sehen Psychologie bedeutete das Sprache in
der Sprache d. h. die denkbar höchste, göttlichste Offen-
barung des Geistes.
Nach der Findung des Unterschiedes von Geistes-
und Gemütsströmung gelangte Friedrich Rehmer nun
zu der Vorstellung, Christus sei wirklich Sprache in der
Sprache, aber mit Gemütsströmung, und deshalb höchster
religiöser (nicht wissenschaftlicher) Geist.
War er Sprache in der Sprache, dann war er nach
der Urliste zugleich Geschlechtssinn im Geschlechtssinn,
und es war zugleich erklärt, dass sein Tod als höchstes
Selbstopfer die unermessliche Bedeutung für die Ent-
wickelung des Christentums bekommen hatte.
Als wirkliche Repräsentanten des dem Zeitalter ent-
sprechenden Typus Geschlechtssinn in der Sprache moch-
ten dann eher Alexander der Grosse und in zweiter Linie
Julius Cäsar gelten.
Das Ergebnis dieser Prüfung erforderte noch weitere
Überlegung. Aber vorerst wirkte dasselbe doch beruhigend.
Auch das Verhältnis von Stat und Kirche empfing
von dieser Unterscheidung ein neues Licht. Der Stat ist
cap. 26.] St AT und Kerche. 353
offenbar, seiner Idee nach, das Reich mit Geistes-
strömung, die Kirche das Reich mit Gemüts-
strömung. Deshalb isj; die Kirche mit logischen und
wissenschaftlichen Mitteln nicht zu überwinden. Sie
lässt sich von ihrem gemütlichen Drang bestimmen.
Über diese und verwandte Dinge wurde viel auch
mit Fritz gesprochen, den ich am Jahresschluss 1843 in
München besuchte. Ich erhielt damals in München die
günstigsten Eindrücke von seiner Person. Er schien mir
einfacher, natürlicher, menschlicher geworden zu sein. Er
schien das Überspannte und Überreizte in seiner Erschei-
nung abgelegt zu haben. Offenbar hatte er nun den Höhe-
punkt seiner Entwickelung erreicht. Dabei strahlte sein
Geist im hellsten Glänze. Er sprach das Bewusstsein aus,
dass er den Beruf habe, die Wissenschaft zu be-
freien. Er wollte eine Stiftung gründen für die „frei
gewordene Wissenschaft", die ihn überleben und die er-
rungene Geistesfreiheit für die künftigen Geschlechter si-
chern sollte. Ich kam ganz erfrischt und wie verjüngt
nach Hause zurück.
Auch Frau Mathilde Rehmer erschien mir bei
diesem Besuche bedeutender als früher. Ihr Hauswesen
machte einen im Ganzen wohlthuenden Eindruck, obwohl
das richtige Verhältnis des grossen Regimentes, das dem
Manne zukommt, und des kleinen Regimentes, das der
Frau gebührt, noch nicht zu völlig klarer Ausscheidung
gelangt war.
Bluutschli, t)r. 3. C., Aus memom Leben. I, 23
354 Politische Aufgaben und Hindernisse. [cap. 27.
27.
Politische Aufgaben und Hindemisse. Versuch der Schulreform
zur Pacification gescheitert. Die eidgenössische Lage. Bern und
Luzern. Vortreten der Extreme. Die Jesuitenberufung Lnzems
und der Antrag Aargaus auf Verbot des Jesuitenordens. Haltung
Zürichs. Meine Auffassung. Der erste Freischarenputsch. Stär-
kung des Radikalismus. Die 3ürgermeisterwahl in Zürich. Meine
und die Niederlage der Liberal-Conservativen.
Im Jahr 1845 ging die vorörtliche Leitung der Schweiz
an die Regierung des Cantons Zürich über. Für diese ent-
scheidende Periode sollte dieselbe alle vorhandenen Kräfte
des Geistes und Charakters sammeln und anstrengen. Das
war freilich nur möglich, wenn eine Verständigung der
beiden Hauptparteien erreichbar war. Dann verwandelte
sich die anfangliche Formel +1 — 1 = in die active
Formel 1 + 1 = 2.
In solcher Absicht fasste ich den Entschluss, mit
den Führern der liberal-radikalen Partei im Grossen Rat,
Dr. Furrer und alt Regierungsrat Weiss, zu unterhan-
deln. Die Leitung des Volksschulwesens war offenbar der
Hauptstreit der beiden Parteien. Konnte hier eine grund-
sätzliche Vermittlung erreicht werden, so war es nicht
mehr schwer, die Pacification des Cantons zu vollenden.
An diesem schwierigen Punkte versuchte ich die Hei-
lung. Ich schlug eine neue Organisation des Erziehungs-
rates vor in dem Sinne, dass eine engere Behörde von 7
Mitgliedern mit Rücksicht sowohl auf die höheren Schulen
(Universität und Gymnasien), als auf die Volksschule ge-
wählt werde zur eigentlichen Geschäftsleitung und zum
Behuf des persönlichen Verkehrs der Erziehungsräte als
Schulaufsicht mit den Lehrern, und dass sodann eine con-
cap. 27.] Mein Antbao auf eine Schulrefobm. 355
trolierende und in wichtigen Sachen mitwirkende weitere
Behörde aus Vertretern der Geistlichkeit, der Lehrerschaft
und des Landes dem engeren Rate beigeordnet werde.
Wissenschaftliche und geistige Freiheit und zugleich Be-
wahrung der christlichen Religion sollten als Grundprinci-
pien der Volksschule anerkannt bleiben. Wurde diese Än-
derung beschlossen, so konnte bei der Neubesetzung volle
Rücksicht auf die beiden Parteien genommen und ein fried-
liches Zusammenwirken derselben erreicht werden.
Die beiden Führer der liberal-radikalen Partei hatten
sich nicht abgeneigt gezeigt, zu einer solchen Vermittlung
auch ihrerseits die Hand zu bieten, aber sie konnten ohne
Anfrage bei ihren Parteifreunden keine bindende Zusage
geben.
In der Herbstsitzung des Jahres 1844 brachte ich den
Antrag durch eine persönliche Motion in den Grossen Rat.
Aber als ich in einer Parteiversammlung der Liberal-Con-
servativen meine Ansichten entwickelte, erklärten viele
Mitglieder der Partei, sie würden dem Antrag nur dann
beistimmen, wenn ich gleichzeitig die Beseitigung der
Schulsynode beantrage. Ich beging den politischen Feh-
ler, diesem Begehren zu willfahren, statt einfach auf dem
ursprünglichen Antrag zu beharren. Ich selber legte auf
die Existenz der Schulsynode keinen hohen Wert und gab
dieselbe daher allzu leicht den Beschwerden der Erziehungs-
räte und den Angriffen der Befreundeten preis. Ich be-
dachte zu wenig, dass dadurch die Motion für die liberal-
radikale Partei einen gehässigen Ausdruck erhalte und
unannehmbar werde. Hätte ich den ursprünglichen Plan
trotz des Widerspruchs meiner Partei rein durchgeführt,
so hätte ich wahrscheinlich einen vielleicht entscheidenden
23*
356 Meine Pacific ationsplane. [cap. 27_
Erfolg erzielt. Ein grosser Teil der Liberal-Conservativen
hätte mir doch zugestimmt, und sicher wäre ebenfalls ein
grosser Teil der Liberal-Radikalen beigetreten. Gerade
diese Verbindung der mittleren Parteien entgegen den Ex-
tremen hätte meinem Herzenswunsch entsprochen. Nun
aber widersetzte sich die ganze liberal-radikale Partei der
Motion, und jene wurde überdem von einer Anzahl Stim-
men unterstützt, die überhaupt keine Änderung wollten.
So fiel die Motion mit 94 gegen 90 Stimmen durch, und,
was wichtiger war, mein Versuch einer innern Vermitt-
lung der Parteien war gescheitert.
Wäre der Plan, wie er ursprünglich gedacht war,
durchgeführt worden, so war der entscheidende feste Bo-
den gefunden, auf welchem ein friedliches und freundliches
Zusammenwirken der Conservativen und der Liberalen fort-
bauen konnte. Die Richtung der Vermittlung und Einigung
der besseren Elemente in beiden Parteien wäre unaufhalt-
sam und unwiderstehlich vorwäi4;s geschritten. Die ganze
zürcherische und vielleicht die eidgenössische Politik hätte
eine andere Wendung bekommen. Alle diese Aussichten
verdunkelten sich infolge jenes Fehlers, dessen Grösse und
Tragweite mir zu spät klar geworden ist.
Immerhin blieb die Pacification des Cantons Zürich
das nächste Ziel meiner Politik. Sie sollte eine Station
sein auf dem Wege der Pacification der Schweiz. Gelang
es dort, die Liberalen und die Conservativen zu versöhnen
und zu verbinden und die radikalen und absolutistischen
Extreme unterzuordnen, so schien es möglich, denselben
Erfolg mit denselben Mitteln in der Schweiz zu erreichen.
Dann war Zürich berufen, als Vorort diese Politik durch-
zuführen.
cap. 27.] Bern und Luzbbit. 357
Die beiden anderen Vororte Bern und Luzern stan-
den sich zur Zeit schroflf gegenüber. Obwohl der Volks-
charakter der Berner nach dem Zeugnis einer mehrhundert-
jährigen Geschichte, welches durch die nähere Bekanntschaft
mit Bernischen Stats- und Volksmännem bestätigt ward,
eher conservativ als liberal ist, und mehr durch männ-
lichen Charakter als durch geistige Anlage sich auszeichnet,
so stand damals noch der Schultheiss Neuhaus an der
Spitze der Republik, dessen Ideen der revolutionären Doc-
trin der Franzosen entnommen waren. Er war entschlossen,
den Radikalismus nötigenfalls mit den Bajonetten Berns zu
stützen. Es drohte im Jahr 1844 in der That ein Gewalt-
act Berns gegen Luzern, der denn auch zu Ende des Jah-
res, zwar nicht mehr als Statsaction Berns, aber als ge-
waltsamer Freischarenzug sich entlud.
Dem Schultheissen von Bern stand der neugewählte
Schultheiss von Luzern, Constantin Siegwart Müller
entgegen, das Haupt der katholischen Partei in der
Schweiz — freilich nur das äusserlich- sichtbare Haupt,
hinter welchem der Jesuitenorden als lenkende Macht sich
verbarg. Siegwart, ein geborner Urner, hatte sich durch
seine Geschäftsgewandtheit und durch seine ungewöhnliche
Begabung in der damals noch die katholische, später die
ultramontane genannten Partei, in der es sehr wenig wissen-
schaftlich gebildete Männer gab, rasch emporgeschwungen
und nun die höchste Stellung in der Schweiz als vorört-
licher Bundespräsident erreicht.
Die Tagsatzung des Jahres 1844 hatte sich in der
Aargauischen Klosterfrage durch die Wiederherstellung der
Frauenklöster als befriedigt und den ganzen Klosterstreit
als erledigt erklärt. Indessen waren die katholischen Can-
358 YOBTBETEN DER ExTREME. [cap. 27.
- - - T - - I - — - - ■ — —
tone Luzern, XJri, Schwyz, Unterwaiden, Zug und Freyburg,
denen sich später Wallis anschloss, durch diesen Spruch
nicht zufrieden gestellt. Sie fühlten sich in ihren durch
die Bundesverfassung garantierten Rechten noch schwer
verletzt und forderten w^eiter noch die Herstellung auch
der Männerklöster im Aargau. Ein gemeinsames Kreis-
schreiben dieser Stände begründete die Forderung.
Der Canton Aargau begegnete dieser Drohung durch
einen kühnen neuen Angriff gegen die katholische Partei.
Im Mai 1844 stellte der Seminardirector Keller in dem
Grossen Rat zu Aarau die Motion, an sämtliche eidgenös-
sische Stände das Begehren zu richten, dass der Jesuiten-
orden in der Schweiz von Bundeswegen aufgeho-
ben und ausgewiesen werde. Die Motion wurde mit
grosser Mehrheit gutgeheissen. Der Feldzug wider die
Jesuiten war eröffnet.
Man konnte rechtlich einwenden, dass dieser Antrag
in dem bestehenden Bundesrechte keine Begründung habe
und eine Verletzung der anerkannten Cantonalsouveränetät
sei. Es konnte in moralischer Hinsicht anstössig erschei-
nen, dass derselbe Canton, der schon einmal den confes-
sionellen Frieden der Schweiz ernstlich gefährdet hatte,
neuerdings durch einen zweiten Angriff den confessionellen
Hader entzündete. Aber man konnte die politische Wahr-
nehmung nicht bestreiten, dass der Schachzug geschickt
und überaus wirksam war. Die Besorgnis vor den Um-
trieben des unheimlichen Ordens konnte leicht geweckt
und gereizt, und die Instincte des Volks, welche in den
Jesuiten die geborenen Feinde jeder geistigen und politi-
schen Freiheit und der ganzen modernen Cultur witterten/
aufgeregt werden. Diese Stimmungen und Neigungen kamen
cap. 27.] Haltung Zübichs. 359
der radikalen Partei sehr zu statten, welcher man die ent-
schiedenste Energie in der Bekämpfung der Jesuiten zu-
traute.
Zürich, obwohl seines reformierten Charakters und
seines reformatorischen Geistes wohl bewusst, verhielt
sich damals noch sehr kühl dem Aargauischen Antrage
gegenüber. Die Regierung trug dem Grossen Rate eine
Instruction für die Zürcherischen Tagsatzungsgesandten an,
welche anerkannte, dass der Jesuitenorden die friedliche
Stimmung der beiden Confessionen verbittere und die freie
Entwickelung einer nationalen Politik störe. Sie spricht
den Wunsch aus, dass die eidgenössischen Stände, welche
die Jesuiten aufgenommen haben, sich dem Einfluss der-
selben entziehen, und dass einem weiteren Umsichgreifen
des Ordens gewehrt werde. Aber zu zwingenden Beschlüssen
der Tagsatzung könne Zürich die Hand nicht bieten, da
die Bundesverfassung einen solchen Eingriff in die Sou-
veränetät der Cantone nicht gestatte.
Diese Instruction wurde von dem Grossen Rate gut-
geheissen mit 97 gegen 78 Stimmen. Auch die liberal-
radikale Partei wagte damals noch nicht, dem Aargauischen
Antrage zuzustimmen. Sie begnügte sich, für die Zukunft
dem Bunde ein Einschreiten vorzubehalten, wenn die Stände,
welche Jesuiten haben, dieselben nicht überwachen und sie
nicht verhindern, den inneren Frieden zu stören.
Auf Antrag Zürichs beschloss die Tagsatzung mit
17 (und zwei halben) Stimmen, auf den Antrag von Aar-
gau, der nur von Baselland unterstützt ward, nicht ein-
zutreten.
Damit war die gefahrliche Streitfrage vorerst zur
Seite geschoben. Aber es gab eine entzündliche Stelle,
Meine Auffassukg der Stheitfraoe [cap. 27-
Iflicht neuerdings und weit gefährlicher als bisher
, erneuern konnte. Es wurde damals die Be-
ler Jesuiten für die theologische Abteilung des
und für das Priesterseminar im Canton Luzern
Als Agitator diente den Jesuiten der einfluss-
ler Leu von Ebersol, Mitglied des Grossen Rates,
eich nun Siegwart Müller verband. Die Missionen
;en entflammten den kirchliehen Eifer der Land-
ese hofften von den Jesuiten die Rettung vor den
der Irreligiosität und des Unglaubens. Eine Zeit
eii auch in der Regierung und in dem Grossen
erns ülo Meinungen stark geteilt und der Partei-
)gte hin und her.
machte damals tA>er diesen Kampf folgende Be-
e Berufung der Jesuiten naeh Luzern ist der ent-
etzte Pol und das Widerspiel der Berufung des
ISS nach Zürich.
)rt wie hier handelt es sich nicht um eii
en, nicht um eine theologische Farbe oder Methoi
Zürich handelte es sich um den Triumph eines
mit welchem der Fortbestand der christlichen
und die Existenz der reformierten Kirche unver-
schien. Der Instinct des Zürichervolks erkannte
■e Gefahr, welche den Protestantismus bedrohte,
1 mit Macht gegen jene Berufung auf.
Luzern handelt es sich um den Triimiph eines
welches in seinen Folgen mit der Unabhängigkeit
und mit dem politischen Frieden der Eidgenossen-
iverträglich ist. Der Instinct "des Schweizervolks
iiese Gefahr.
cap. 27.] IN Betreff der Jesuitenberufung. 361
„So wenig Zürich, aus dem die Reformation hervor-
gegangen ist, dem Straussentum und dem Nihilismus ver-
fallen durfte, so wenig darf der katholische Vorort Luzern
dem Jesuitismus verfallen.
„Beide Extreme müssen überwunden werden. Das
eine ist überwunden, das andere muss erst überwunden
werden. Würde die katholische Schweiz die Gefahr ebenso
deutlich einsehen, wie die protestantische die ihrige, und
sich in Masse erheben, wie die Züricher das gethan haben,
so wäre Alles gut und sogar ein rascher Aufstand nicht
das grösste Unglück. Die Schwierigkeit ist, dass die Re-
formierten die neue Gefahr sehr heftig verspüren, aber die
Masse der Katholiken sie nicht bemerkt. Würden die Re-
formierten allein vorgehen, so würde das naheliegende Miss-
verständnis entstehen, es wollen die Reformierten den Ka-
tholiken in einer katholischen Sache Zwang anthun."
Während mich die radikale Presse als heimlichen
Jesuitenfreund verdächtigte, arbeitete ich im Stillen, soweit
mein Einfluss reichte, dahin, den katholischen Führern klar
zu machen, dass nur der Verzicht auf die Jesuitenberufung
den confessionellen Frieden erhalten könne.
Inzwischen siegte in Luzern die Allianz der Jesuiten
i mit der glaubenseifrigen Demokratie. Vergeblich hatten
t zuletzt noch die Gegner der Jesuitenberufung gehofft, der
r Orden werde die von dem Grossen Rate gestellte Bedingung,
j dass sich die Jesuiten den Gesetzen des Cantons und der
I Statsverfassung gleich allen anderen Ordens- und Welt-
\ geistlichen unterwerfen, nicht annehmen. Auf eine vor-
\ läufige Anfrage hatte der Jesuitengeneral Rootenhaan
l erklärt, der Orden müsse jede Statsaufsicht ablehnen. Trotz-
■ dem ging er nun auf jene Bedingung ein. Im October 1844
362 I^K» ERSTE FrEISCHABENPüTSCH. [csp. 27.
genehmigte der Grosse Rat von Luzern den Vertrag mit
den Jesuiten. Der Vetosturm, den die Liberalen gegen
das Gesetz in Bewegung brachten, war zu schwach. Zu
einer Verwerfung des Gesetzes waren 13,116 Stimmen er-
forderlich. Die Gegner desselben brachten es vorerst nur
zu 7,985 Stimmen.
Damit war für Luzern die verhängnisvolle Frage ent-
schieden, nicht für die Schweiz.
Die radikale Verschwörung und der erste Putsch der
Freischaren, welche in der Nacht vom 7. auf den 8. De-
cember noch während der Volksabstimmung losbrachen,
waren kopflos geplant und schlecht ausgeführt. Sie en-
digten mit einer kläglichen Niederlage und vermochten
nicht das Resultat der Abstimmung zu ändern.
Aber der Sieg des kirchlich-jesuitischen Absolutismus
in Luzern empörte die protestantischen Schweizer und er-
neuerte die Macht und das Ansehen der Radikalen, von
denen man die entschlossenste Bekämpfung jener verderb-
lichen Richtung erwartete. Der Rückschlag wurde sofort
in Zürich empfunden.
Schon zur Zeit des Aufstandes der Freischaren war
der Ausbruch des schweizerischen Bürgerkrieges nahe. Die
Regierungen von Bern und Aargau hatten, in Erwartung
der bevorstehenden Ereignisse, bereits einen Teil ihrer Mi-
lizen aufgeboten. Auch Luzern rüstete, um in Verbindung
mit den Urcantonen sich zu verteidigen. Im Angesicht
dieser Rüstungen bot auch die liberal-conservative Züricher-
regierung einige Bataillone Truppen auf und suchte die
östlichen Cantone der Schweiz zu gemeinsamer Machtent-
faltung zu veranlassen, in der ausgesprochenen Absicht,
cap. 27.] Die Bübgebmeistebwahl in Zubich. 363
den Frieden der Schweiz zu sichern und die inneren Fra-
gen auf bundesmässigen Wegen zu erledigen.
Als Berichterstatter im Grossen Rate hatte ich diese
Massregeln zu vertreten. Dieselben wurden einstimmig ge-
billigt. Die rasche Auflösung und Flucht der Freischaren
verhinderte jedes Vorgehen, Bern und Aargau entliessen
ihre Truppen. Auch Zürich rüstete wieder ab.
Aber der Unwille über den Sieg der Ultramontanen
in Luzern war stärker, als die Entrüstung über den frevel-
haften Friedensbruch. Die liberal-radikale Partei erkannte
die Gunst des Moments. Sie bemächtigte sich der Führung
in dem erneuten Kampfe, der nun begann. Auch in dem
Zürcherischen Grossen Rate traten nun die schwankenden
Schaukelmänner zu ihr über.
In diesen Moment fiel die neue Bürgermeisterwahl.
Da der bisherige erste Bürgermeister von Muralt zurück-
trat, so musste eine neue Besetzung des höchsten Amtes
vorgenommen werden. Ich war der Candidat der Liberal-
Conservativen, die bisher die Mehrheit besessen hatten.
Vor dem Luzernerbeschluss wäre meine Wahl schwerlich
bestritten worden, die Mehrheit jedenfalls sicher gewesen.
Aber jetzt verlangte die liberal-radikale Partei einen Bürger-
meister aus ihrer Mitte, und sie setzte diesen Willen durch.
Mit 99 Stimmen wurde der Regierungsrat Dr. Zehnder,
nachdem 5 Wahlgänge ohne Resultat geblieben waren,
weil die absolute Mehrheit nicht zu stände kam, endlich
im sechsten Scrutinium gewählt. Für mich traten nur 97
Stimmen ein. Die lebhafte Teilnahme und das zweifel-
hafte Schwanken des heftigen Wahlkampfes bewiesen für
die grosse politische Bedeutung, welche dem Ausgange zu-
geschrieben wurde.
364 Niederlage der Liberal-Conservativen. [cap. 27.
Es war die Wendung in dem Verhältnis der Parteien
vollzogen. Die liberal-conservative Partei, bisher noch in
der Herrschaft, war von der liberal-radikalen geschlagen
worden. Die Macht der ersten war im Sinken, die der
letzten im Aufsteigen begriffen.
Alle meine Plane, welche ich im Stillen vorbereitet
hatte, auf Befriedigung des Cantons und Reform des Bun-
des waren aussichtslos geworden. Sie waren nur durchzu-
führen, wenn ich anerkannt war als der verfassungsmässige
Leiter der inneren Politik und als der erste vorortliche
Magistrat der Eidgenossenschaft. Ich war mir der ent-
scheidenden Niederlage wohl bewusst, und ich empfand
den Schmerz dieses Missgeschicks um so tiefer, je ernster
ich mich für die Ziele vorbereitet hatte, die ich in der er-
höhten Stellung für Zürich und die Schweiz zu erreichen
gehofft hatte.
Der persönliche Trost, der mir in derselben Sitzung
des Grossen Rates zu Teil wurde, indem ich unmittelbar
nachher zum Präsidenten des Grossen Rats für 1845 mit
101 Stimmen gewählt wurde gegen Dr. Furrer, das geistige
Haupt der Liberal-Radikalen, konnte an der Hauptsache
nichts ändern.
28.
Rücktrittsfrage, ursprüngliche Ansichten nnd Vorsätze mit Be-
zug auf die Bürgermeisterwahl. Erneute Agitation. Der Vorort
Zürich. Sein Ereisschreiben. Eine Abordnung Berns in Zürich.
Heine Unterhandlung in Luzem. Leu. Kampf im Grossen Rate.
Sieg des radikalen Antrags. Auch in Bern und Waadt Um-
schwung zu Gunsten des Radikalismus. Die ausserordentliche
cap. 28.] Die Rücktkittsfkage. 365
Tagsatzung in Zürich. Ohnmacht derselben. Der zweite Frei-
scharenzng gegen Lnzem. Die Niederlage der Freischaren führt
zn Siegen der Radikalen. Mein Austritt aus der Regierung.
Der Austritt aus der Regierung, für deren Politik
vorzugsweise ich in der öffentlichen Meinung verantwort-
lich gemacht wurde — nicht immer mit Recht, da mein
persönlicher Einfluss doch vielfältig bestritten oder gehemmt
ward — , war nach der Niederlage bei der Bürgermeister-
wahl aus politischen und persönlichen Gründen die richtige
Folge. Meine Einsicht und meine Neigung rieten mir das.
Dennoch Hess ich mich durch die drängenden Bitten der
Partei und infolge der Wahl zum Präsidenten des Grossen
Rats noch bewegen, eine Weile auszuharren. Die Besorg-
nis, dass der Austritt in diesem Augenblicke von den Einen
als Desertion missdeutet, von den Anderen aus gekränktem
Ehrgeiz oder gar Eitelkeit erklärt werde, mochte dabei
mitwirken, vielleicht unbewusst. Aber nie sollte ein Stats-
mann durch solche Rücksichten sich bestimmen lassen. Die
Gelegenheit des Austritts liess indessen nicht lange auf
sich warten. Wie ich darüber dachte, zeigt ein Eintrag,
den ich noch vor dem Luzemer Putsche in mein Tage-
buch schrieb:
28. Nov. 1844: „Die Gegenwart erinnert mich an
die letzten Zeiten der helvetischen Periode. Die Grund-
frage ist die: Ist die Mediation, die wiederum nötig und
reif geworden ist, von Innen heraus möglich, oder kommt
sie nochmals von Aussen herein? Diese Frage muss durch
die That beantwortet werden. Die Mediation muss von
Innen heraus ernst und vorsichtig versucht werden. Wäre
sie nicht möglich, so würde die Mediation von Aussen un-
vermeidlich, und dann wehe der Schweiz!**
366 Meine übsfrüngliche Stellukg zu derselben. [cap. 28.
„Soll die Mediation von Zürich aus beginnen, so muss
Zürich selber vorher pacificiert werden. Gelingt das hier,
dann ist das ein wichtiges Vorspiel und eine grosse För-
derung der schweizerischen Vermittlung."
„Die Wahlen im December werden entscheidend sein.
„Entweder 1) ich falle durch (bei der Bürger-
meisterwahl). Dann muss ich vorderhand auf diesen Ge-
danken verzichten. Ich trete aus der Regierung aus und
werde Haupt der conser\'ativen Opposition im Grossen
Rate, führe diese ganz ruhig, aber sehr stark und nobel,
und warte auf Ereignisse.
2) Oder ich werde gewählt mit einem kräftigen
Mehr. Dann eröflhe ich lediglich meinen Entschluss, dass
ich die Stelle eines Parteiführers nun niederlege
und als Bürgermeister den Frieden der Parteien anstrebe
und denselben Vorschläge machen werde.
3) Oder ich werde gewählt, aber nur mit ein paar
Stimmen oder Einer Stimme Mehrheit. Dann werde ich
dem Grossen Rate Eröffnungen machen über meine Ab-
sicht, den Frieden durchzusetzen. Ich frage denselben,
ob er d. h. ob beide Parteien darauf eingehen wollen
oder nicht. Im ersten Fall nehme ich die Stelle an; im
zweiten Fall schlage ich sie aus und ziehe mich in die
bisherige Parteistellung zurück.
„An dem Tage meiner Wahl soll die Bürgermeister-
würde auch in dem Falle wachsen, wenn ich ausschlagen
muss."
Ich hatte damals ausser den politischen Reformen
auch noch andere Projecte erwogen. Insbesondere wollte
ich die Gründung einer schweizerischen Akademie
der Wissenschaften anregen. Diese sollte aus dreizehn
cap. 28.] Pboject einer Schweizerischen Academie. 367
ordentlichen Mitgliedern und einer unbestimmten Zahl von
Ehrenmitgliedern bestehen. Die Akademie hat die Auf-
gabe, das wissenschaftliche Leben zu fördern, den Bundes-
und den Cantonalbehörden als wissenschaftlicher Rat zu
dienen und die höheren Lehranstalten der Schweiz unter
einander zu verbinden. Die Mitglieder versammeln sich
jährlich zur Zeit der Versammlung der Tagsatzung in der
vorörtlichen Stadt. Die Akademiker erhalten keine Be-
soldung, aber Entschädigung der Reisekosten und Tag-
gelder. Die Ehrenmitglieder haben beratende, aber nicht
entscheidende Stimme in den Sitzungen. Ausserdem wer-
den noch Correspondenten erwählt. Die Wahlen werden
der Akademie selbst überlassen, mit Genehmigung der
Tagsatzung. Die Akademie teilt sich in drei oder vier
Sectionen: a) für politische und historische Wissenschaften,
b) für mathematische und Naturwissenschaften, c) für schöne
Litteratur, vielleicht auch d) für pädagogische, philosophi-
sche und theologische Wissenschaften.
Die Krisis, in welche die Schweiz geraten war, nö-
tigte dazu, diese und ähnliche Projecte zu vertagen.
Der verunglückte Freischarenputsch schreckte von
neuen ähnlichen Unternehmungen nicht ab. Der leichte
Sieg der Luzemer Regierung reizte vielmehr zur Erneue-
rung des Kampfes. Die Gährung in den umliegenden Can-
tonen Aargau, Bern, Zürich wurde heftiger. Überall wur-
den Volksversammlungen gehalten und die Massen durch
radikale Redner aufgeregt. Ein Volksverein zur Vertrei-
bung der Jesuiten aus der Schweiz wurde organisiert und
verbreitete sich rasch über einen grossen Teil der Schweiz.
Da von der Tagsatzung und den Cantonen keine Hilfe ge-
hofft ward, so wollte die erregte Menge zur Selbsthilfe
368 Erneute Agitation. — Der Vorort Zürich. [cap. 28.
greifen. Neuerdings wurden im Stillen Freiwillige ge-
worben, welche, zu Freischaren geordnet, bestimmt waren,
den Angriff auf Luzem zu erneuern.
In dieser gefahrlichen Zeit war zu Neujahr 1845
die vorörtliche Leitung auf Zürich übergegangen. In der
zürcherischen Regierung und in dem eidgenössischen Stats-
rate, deren Mitglied ich war, hatte die liberal-conservative
Partei, trotz der Dezemberwahlen, noch die Mehrheit, da-
her auch die Verantwortlichkeit für die Regierungs- und
Vorortspolitik zu übernehmen.
Die beiden Hauptfragen bezogen sich auf die Frei-
scharen und die Jesuiten. Man einigte sich damals
noch verhältnismässig leicht und rasch, dass der Vorort
verpflichtet sei, jeden gewaltsamen Einbruch von bewaff-
neten Volkshaufen in einen eidgenössischen Canton zu unter-
sagen und nötigenfalls zu hindern. Die Haltung der frem-
den Mächte mahnte auch die zur Vorsicht, welche mit
einer gewaltsamen Volksbewegung sympathisierten. Für
den Fall eines revolutionären Bürgerkrieges stand die Inter-
vention der Grossmächte in naher Aussicht. Die Äusser-
ungen der fremden Gesandten Hessen darüber kaum einen
Zweifel bestehen. Aber wenn die vorörtliche Regierung
zu energischen Massregeln greifen wollte, um das Bundes-
recht gegen Friedensbruch zu sichern, so stiess sie doch
immer auf einen offenen Widerspruch oder auf geheimen
Widerstand der Radikalen. Da die Autorität dieser in den
Massen während der Krisis fortwährend im Wachsen be-
giiflfen war, so wurde dadurch die Thatkraft der Regierung
erheblich geschwächt.
Das Unglück war, dass in der Jesuitenfrage eine Ver-
ßtändigimg nicht möglich war. Beide Parteien waren wohl
cap. 28.] Seik Ebeissohbeibek. 3g9
darüber einig, dass der Jesuitenorden ein fremdartiges, den
Stat und den kirchlichen Frieden bedrohendes Element,
und dass die Berufung der Jesuiten an die theologischen
Schulen Luzems ein Übel sei, welches die Eidgenossen-
schaft um so schwerer empfinde, weil Luzem der katho-
lische Vorort und als solcher zu freundlichen Rücksichten
gegen die schweizerische Bevölkerung verpflichtet sei.
Aber ich konnte mich nicht davon überzeugen, dass
die Eidgenossenschaft berechtigt sei, einen zwingenden, die
Souveränetät der Cantone beugenden Ausweisungsbeschluss
zu fassen. Ich betrachtete einen solchen Beschluss als eine
schwere Verletzung der seit Jahrhunderten in der Schweiz
anerkannten Grundbedingung des confessionellen Friedens,
wonach jeder Stand in Glaubenssachen frei sei, und nie
eine Mehrheit der Minderheit in solchen Dingen Vorschriften
geben dürfe. Derselbe schien mir ebenso unvereinbar mit
dem geltenden Verfassungsrecht. Ich besorgte, dass ein
Bruch dieses Rechtes zu einem Bürgerkriege führen müsste
und wahrscheinlich dann eine fremde Intervention im Ge-
folge hätte. Diesen Gefahren wollte ich nach Kräften vor-
beugen.
Ich schrieb damals in mein Tagebuch:
„Ich bin kein Legist. So sehr ich die Wichtigkeit
auch des Buchstabens des eidgenössischen Bundesvertrags
anerkenne, er allein würde mich in einem grossen kriti-
schen Momente, wo der Eidgenossenschaft wirklich Ge-
fahren drohen, nicht bestimmen. In solchen Zeiten ist es
die Aufgabe des Statsmannes, mehr noch auf das innere
Recht zu achten, welches nach Leben ringt, und ihm zur
Geburt, zu vollem Dasein nun auch als äusseres Recht
zu verhelfen. Aber auch das innere Recht der Eidgenossen-
J^luntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 24
370 KiNK Abobdnung Bern's in Zürich. [cap. 28.
Schaft verurteilt jede Gewalt, welche die Tagsatzung gegen
die einzelnen Cantone üben wollte, als widerrechtlich und
uneidgenössisch. **
In diesem Sinne wurde dann auch das Kreisschreiben
vom 22. Januar 1845 erlassen, in welchem der Vorort sich
über seine Auffassung aussprach und eine ausserordentliche
Tagsatzung zusammenrief.
Iti der Jesuitenfrage ging der Antrag dahin, auszu-
sprechen, „dass die Beschlüsse über Aufnahme oder Weg-
weisung von geistlichen Orden einer Landeskirche in das
Gebiet der Cantonalsouveränetät fallen, dass aber das Recht
des Bundes dadurch nicht ausgeschlossen werde, gegen
solche Orden einzuschreiten, welche die Unabhängigkeit
oder den Frieden der Schweiz verletzen. Es werde an-
erkannt, dass gegenwärtig solche Gründe, gegen den Je-
suitenorden in den Cantonen vorzugehen, wo dieselben schon
längere Zeit aufgenonunen seien, nicht vorliegen. Wohl
aber sei die Tagsatzung veranlasst, an den Stand Luzem
die freundeidgenössische und dringende Einladung zu rich-
ten, dass derselbe mit Rücksicht auf seine hohe eidgenös-
sische Stellung auf die Berufung der Jesuiten Verzicht
leiste.*
Der Antrag genügte, wie die Ereignisse zeigten, den
damaligen Verhältnissen nicht. Die katholische Partei wider-
setzte sich demselben, weil er ihren confessionellen Leiden-
schaften Schranken zog. Die radikale Partei stimmte gegen
denselben, weil er den Zwang ausschloss, und sie nur von
einem zwingenden Ausweisungsbeschluss einen Erfolg er-
wartete.
Vielleicht hätte sich die Gefahr eines neuen gewalt-
samen Ausbruchs noch beschwichtigen lassen, wenn wir
cap. 28.] Meine Unterhandlung in Luzern. 371
auf den Vorschlag der Bernerregierung eingegangen wären,
welchen der Schultheiss von Tavel und Regierungsrat
Weber von Bern in Zürich gemacht hatten, d. h. wenn
Zürich und Bern gemeinsam angetragen hätten, die Auf-
nahme der Jesuiten in Luzern zu untersagen, dagegen den
anderen Cantonen keine weitere Zumutung zu machen, ihre
Jesuiten fortzuweisen. Mir schien auch in diesem Falle der
Bürgerkrieg unausweichlich; deshalb hauptsächlich konnte
ich jenem Vorschlag nicht zustimmen, auch wenn ich mich
über die bundesrechtlichen Bedenken hinweg gesetzt hätte.
Mit Regierungsrat Wild ging ich nach Luzern, um
womöglich die Luzerner zu bestimmen, den vorörtlichen
Antrag anzunehmen und dadurch der Agitation den ge-
fährlichen Stachel zu entziehen. Käst und Bernhard Meyer
waren dazu bereit. Hartnäckiger zeigten sich Leu und
Siegwart. Bei diesem Anlasse lernte ich auch den Luzer-
ner Leu persönlich kennen. Er war eine kräftige Bauern-
natur, ein grosser, etwas beleibter Mann. Die Mundwinkel
und die kleinen, scharfen Augen und die Falten um die-
selben her verrieten die bäurische Schlauheit und einen
lauernden Sinn im Hintergrunde. Der Kern des Mannes
aber schien mir ernst, volkstümlich, verständig, soweit
nicht die fromme Hingebung an die Kirche seinen Geist
beschränkte und in Abhängigkeit versetzte. Er wusste
wohl, dass er der mächtigste Mann im Canton Luzern sei,
aber er jnachte durchaus nicht den Eindruck eines hoch-
mütigen oder eiteln Mannes. Im Gegenteil sein Äusseres
hatte etwas Schlichtes und Bescheidenes. Er unterschied
doch zwischen Politik und Religion und bemerkte mir:
„Wenn die Jesuiten sich in unsere politischen Dinge mi-
schen wollten, so wäre ich der Erste, der sie nicht leiden
24*
372 I^ER LüZERNER Leu. [cap 28.
würde. Wir wollen sie nicht regieren lassen. Wenn sie
nicht recht thun, so schicken wir sie fort.** Sein beständig
wiederholter Satz war: „Concessionen helfen nichts gegen
die Radikalen. Sie werden durch jede Concession nur un-
verschämter. Wir greifen nicht an, aber wir haben das
Recht, uns zu wehren, wenn wir angegriffen werden. Konamt
es zum Aussersten, so haben die mehr Mut, die das Gefühl
des Rechts in sich haben. Wenn wir Alles thun, was un-
sere Pflicht ist, so wird Gott uns nicht fallen lassen. Das
vorige Mal hat er uns geholfen, obwohl wir nicht vorbe-
reitet waren. Ich kenne die Bauern. Auch Eure Bauern
sind ruhig. Nur die Radikalen und die Straussen machen
das Geschrei. Die Bauern schweigen, bis es gilt. Dann
aber haben sie mehr Mut als die Schreier. Unsere Bauern
begreifen, dass wir das Recht haben, die Jesuiten zu haben
oder sie fortzuschicken, und dass die anderen Cantone kein
Recht haben, uns in dieser Hinsicht zu befehlen. Weshalb
sollten Eure Bauern das nicht begreifen?"
Es war dem Manne nicht klar, dass es in einem
Bundeskörper höhere Pflichten gebe, als die starre auf die
Competenz pochende Rechtspflicht.
Nach dieser Recognoscierung hatte ich wenig Hoff-
nung mehr, dass die vorörtliche Politik Erfolg haben werde.
Als der Züricher Grosse Rat am 4. Februar zusammentrat,
um über die Instruction an den Tagsatzungsgesandten zu
entscheiden, fürchtete man sogar in Zürich, dass es zu
einem Aufstand kommen könnte. Wir trafen Vorsichts-
massregeln, um unter allen Umständen die öffentliche Ord-
nung zu schützen.
Ich benutzte die Sitte der Eröffnungsrede des Präsi-
denten, um noch ein letztes Mal meine Ansicht dem Grossen
_j
cap. 28.] Fortschritte der radikalen Bewegung. 373
Rate und vor der öffentlichen Meinung näher zu begründen.
Auch ain Schluss der zweitägigen ernsten Beratung sprach
ich nochmals meine Meinung aus. Die beiden Parteien
kämpften mit dem vollen Bewusstsein, dass diese Schlacht
für die Stellung Zürichs entscheidend sei. Die allgemeine
Strömung war der liberal-radikalen Partei entschieden gün-
stiger. Vergeblich bot die liberal-conservative Partei alle
ihre Kräfte auf, um wider den Sturm Stand zu halten.
Sie blieb mit 95 Stimmen gegen 103 Stimmen in der
Minderheit. Die vorörtljche Politik erhielt in dem vor-
örtlichen Canton eine Niederlage. Die Instruction, welche
die Mehrheit beschloss, hiess: Wegweisung der Jesuiten
aus allen Cantonen von Bundeswegen. Wenige Monate
vorher hatte dieser Antrag im Zürcherischen Grossen Rat
selbst bei der liberal-radikalen Partei keine Unterstützung
gefunden. Jetzt wurde er von der Mehrheit gutgeheissen.
So grosse Fortschritte hatte die radikale Bewegung in-
zwischen gemacht.
Auch in anderen Cantonen brachte der Kampf wider
die Jesuiten ähnliche Wirkungen hervor. Im Canton Bern
hatte zuvor eine Partei der Gemässigten, welche mit der
liberal-conservativen Partei in Zürich nahe befreundet war,
grosse Fortschritte gemacht. Es gehörten zu derselben
höchst angesehene und einflussreiche Männer, wie der Land-
ammann Blösch, der Burgdorfer Führer Hans Schnell,
der Professor Stettier, der Gerichtspräsident Manuel,
Dr. Müller und andere. Seit der Jesuitenhetze verlor
dieselbe wieder das errungene Ansehen, und je die radi-
kalsten Führer gewannen an Einfluss.
Im Canton Waadt kam es zu einer radikalen Revolu-
tion, durch welche die Conservativ-Liberalen, welche bisher
374 AUSSEBOBDEKTLICHE TaGSATZUNO IN ZÜRICH. [cap. 28.
in dem Statsrat und in dem Grossen Rat zwar nicht die
Mehrheit der Stimmen besassen, aber den Liberal-Radikalen
so ziemlich die Wage hielten, gestürzt wurden. Es wurde
nun ebenfalls die Ausweisung der Jesuiten beschlossen. Zu
jener Partei gehörten der Präsident Frossard, die Ge-
schichtschreiber Monnard und Vulliemin, der Theologe
Vinet. An der Spitze der zweiten Partei stand Statsrat
Druey. Noch auf der letzten Tagsatzung hatte er den
Aargauischen Antrag als bundeswidrig bekämpft. Nun
nahm er denselben auf, der Volksgtimme gehorsam.
Dennoch kam es auf der ausserordentlichen Tag-
satzung, welche am 24. Februar in Zürich zusammentrat,
noch zu keiner Mehrheit. Für Nichteintreten in die Je-
suitenfrage stimmten acht Stände, für Eintreten elf Stände.
Für Ausweisung der Jesuiten aus der ganzen Schweiz fan-
den sich nur sieben Stimmen. Der Antrag, Luzern zu
untersagen, dass es die Jesuiten aufnehme, hatte nur acht
Stimmen. Die nötige Mehrheit waren aber zwölf Stimmen.
„Douze voix fönt loi" war der Lieblingssatz des Schultheiss
Neuhaus von Bern. Die radikalen Cantone waren in der
Not nun bereit, sich mit einer freundeidgenössischen Ein-
ladung an Luzern zu begnügen, d. h. den ursprünglichen
Antrag des Vororts, der in den Grossen Räten so sehr
bekämpft worden war, nun doch eventuell anzunehmen.
Aber das damals noch liberal-conservative Genf scheute
sich, die Mehrheit voll zu machen, und fürchtete, es sei
das der erste Schritt zu einem Zwangsbeschluss d. h. zum
Bürgerkrieg.
Wohl fand sich eine Mehrheit zusammen für Miss-
billigung des Freischarenunwesens. Aber Bern, Aargau,
Solothurn, Waadt und andere Stände stimmten auch diesem
cap. 28.] Der zweite Fbeischarenzuo. 375
Beschlüsse nicht bei. Die Organisation der Freischaren
wurde dadurch nicht gehemmt.
Die Ohnmacht der Tagsatzung war nun aller Welt
offenbar geworden. Um so rücksichtsloser gingen die Par-
teien vorwärts.
Ein neuer Freischarenzug wurde in's Werk gesetzt,
diesmal besser ausgerüstet. Den Kern bildeten etwa 400
Luzerner Flüchtlinge. Die Masse der Freischaren war vor-
züglich aus den Cantonen Luzem, Aargau, Bern, Solothum,
Baselland und Schaflfhausen zusammengeströmt, nur wenige
Freiwillige waren aus der östlichen Schweiz, aus den Can-
tonen Zürich, Thurgau, Appenzell ausser Rhoden, St. Gallen
hinzugekommen. Sie wurden von höheren Officieren ge-
leitet. Der Bernische Hauptmann Ochsenbein übernahm
den Oberbefehl. Der Aargauische Milizinspector Roth-
pletz hatte die Bataillone geordnet. Es fehlten diesmal
auch nicht die Kanonen. Luzem hatte zu seiner Verteidi-
gung ebenfalls Truppen aufgeboten und erhielt Zuzug aus
den Urcantonen. In Luzern commandierte der General
Sonnenberg. Als die Gefahr eines neuen Kampfes sicht-
bar wurde, hatte auch der Vorort zum Schutz des Land-
friedens eidgenössische Truppen zu sammeln versucht.
Diesmal war der Kampf grösser, ernster und blutiger
(31. März und 1. April). Aber wiederum wurden die Frei-
scharen von den Regierungstruppen geschlagen. Viele Frei-
schärler wurden von den Truppen, viele andere von dem
Landsturm gefangen genommen, unter ihnen manche an-
gesehene Officiere und Beamte.
Wiederum hatte die Niederlage der Freischaren und
der Sieg der Luzemer Regierung sowohl in Zürich, als in
den anderen reformierten Cantonen der äusseren Schweiz
376 Mein Austritt aus der Regierung. [cap. 28.
die Stärkung des Radikalismus zur Folge. Je grösser der
neue Sieg der verhassten Jesuitenpartei war, um so hef-
tiger war der radikale Rückschlag. In den ersten Tagen
des Aprils erfuhr Zürich die Umwandlung der Regierung.
Der Grosse Rat war eben damals versammelt. In
der Eröffnungsrede ermahnte ich den Grossen Rat, dass
er die Regierung in ihrem Bestreben, der Anarchie zu
wehren, stärke. Die Gefahr einer fremden Einmischung,
wenn die Volksherrschaft in brutale Anarchie übergehe,
lag nahe. Aber die Gemüter waren zu leidenschaftlich er-
hitzt, um diesen Rat zu beachten. Es wurde ganz im
Gegenteil von der Mehrheit zwar nicht das Misstrauen in
deutlichem Beschluss, wohl aber durch die Wahlen so aus-
gesprochen, dass die bisherigen conservativen Mitglieder
der Regierung durch radikale ersetzt wurden. Wenngleich
die Massregeln der Regierung formal gutgeheissen wurden,
so war es nun doch klar geworden, dass auch von der
Regierung eine radikale Politik gefordert werde. Meinem
Vorsatze gemäss erbat ich nun meine Entlassung aus der
Regierung und erhielt dieselbe in ehrenvoller Form (3. April
1845). Auch der Bürgermeister Mousson, obwohl wieder
gewählt, lehnte nun die Emeuerungswahl ab. An seine
Stelle trat, nicht ohne Bedenken und nicht ohne Sträuben,
Dr. Furrer.
29.
Nach Teufifen nnd München. Roth, Senfft-Pilsach. Eindrücke
von München. Entschluss, gegen den Ultramontanismns vorzu-
gehen. Die Artikel: „Die Urcantone nnd die ultramontane Partei."
Dr. Steiger. Einzug der Jesuiten in Luzem. Die Ermordung Len's.
Ich hatte nun die Regierungssorgen abgeschüttelt und
cap. 29.] Nach Tbüffen uwd München. 377
fühlte mich frei. Zur Erholung von den Kämpfen der
letzten Tage reiste ich zuerst nach Teuffen, dann nach
München. Ein Brief vom 7. April an meine Frau gibt
ein deutliches Bild von der damaligen Stimmung:
„In Wyl und in St. Gallen umstanden noch Haufen
Neugieriger den Postwagen, mit dem ich reiste. Mein
Name wurde unter ihnen genannt, und ich auch ange-
glotzt. Sottisen sind mir nicht widerfahren. — Von St.
Gallen ging ich allein den Fussweg nach Teuffen. Als
ich in das dazwischen liegende Tobel hinabstieg, hörte ich
einen Mann mit starken, aufgeregten Schritten hinter mir
her nacheilen. Ich ging langsamer und ruhig vorwärts,
ihn erwartend, sah mich indessen doch ein wenig nach
Steinen um, die auf dem Wege lagen. Als er an mir
vorüberkam, blickte ich ihn scharfprüfend an, und er mich
ebenso. Es war ein junger kräftiger Bursche mit schwar-
zem struppigem Haar, wie ich nachher erfuhr, von Gais.
Erst ging er noch rasch einige Schritte vorwärts. Dann
stand er still, und ich fing ein Gespräch mit ihm an, na-
türlich erst über den Weg und den Schnee, der noch
herumliege. Aber bald drängte er selber auf Politik. Da-
bei war er ganz fieberhaft und wild aufgeregt. Wahr-
scheinlich erkannte er mich sogleich; vielleicht war er mir
aus St. Gallen nachgestürmt. Den Luzemer Flüchtlingen
warf er ihre „Menschlichkeit" und „Milde" vor; sie hätten
den Krieg ohne Schonung führen und Luzern sofort bom-
bardieren sollen; dann wäre es anders geworden. Der
Mann bedachte in seinem Eifer nicht einmal, dass viele
dieser Flüchtlinge von Luzern waren, und dass die Stadt
ihnen freundlich gesinnt war. Dagegen beklagte er sich
heftig über die Behandlung der Gefangenen in Luzern und
378 I^R- Roth in Teuffen. [cap. 29.
behauptete, er habe von Augenzeugen gehört, wie schänd-
lich in Luzem verfahren werde. Die Jesuitengefahr er-
schien ihm fürchterlich; sogar in Ausser-Rhoden gebe es
heimliche Jesuiten. Die Bartholomäusnacht und die nieder-
ländischen Ketzerhinrichtungen erhitzten seine Phantasie,
wie wenn sie von gestern wären. Ich opponierte ihm fort-
während scharf, aber sehr ruhig, ohne ihn weiter zu reizen.
Das machte ihn doch wieder vernünftiger, obwohl er sich
dann wieder in einzelnen Momenten zu schämen schien,
dass er vernünftig werde, und von Neuem die glühende
Kohle des Fanatismus zu erhitzen suchte. In Teufifen reichte
ich ihm die Hand zum Abschied, die er nicht ausschlug.
Ich war aber doch froh, den Gesellen los zu werden, der
übrigens ein wackerer Bursche sein mag und ein ganz
tüchtiger Mann werden kann. Aber jetzt raubt das Fieber
diesen Leuten alle Besinnung. Da droben ist also das Fieber
auch schon verbreitet. Roth bestätigte mir diesen Eindruck."
Mein Besuch in Teuifen warf einen Schatten auf die
helle Volksgunst, welche mein Freund Roth in seinem
Heimatlande bisher genossen, und die er reichlich ver-
dient hatte. Auch er kam in den lächerlichen Verdacht,
ein heimlicher Freund der Jesuiten zu sein. Die Landsge-
meinde des Frühjahrs wählte ihn nicht wieder zu dem Amte
eines Landesstatthalters, das ihm übertragen war. Bald
nachher schämten sich die Appenzeller aber des thörichten
Missgrififs. Sofort nach der Landsgemeinde wählte ihn die
Gemeinde Teuffen zu ihrem Hauptmann, und der Landrat
übertrug ihm alle Aufträge, die er in seiner früheren Stel-
lung bekommen hatte. Sie wählten ihn später mit jubeln-
dem Mehr zum Landammann und blieben ihm treu bis zu
seinem Tode 1871.
cap. 29.] Graf von Sbnfft-Pilsach. 379
In München traf ich Friedrich Rehmer in nahen
Beziehungen sowohl zu dem bayerischen Ministerium, als
zu dem österreichischen Gesandten, Grafen von Senfft-
Pilsach. Da beide entschieden katholische Sympathien
hatten, so war es begreiflich, dass dieser Verkehr auch
ihn in den Verdacht brachte, der ultramontanen Partei zu
dienen. Unter der Hand wurde sogar, zum Teil von Per-
sonen, denen man eine genauere Kenntnis zuschrieb, die Sage
verbreitet, er stehe im Solde des österreichischen Cabinets.
Ich wusste wohl besser, wie grundlos dieser Verdacht "sei.
Die Kosten seines Haushalts wurden von seinen Freunden,
vornehmlich von zwei ihm und seinen Ideen persönlich
ergebenen Schweizern, Seh. und H., nicht ohne schwere
Opfer und starke Anspannung aller Kräfte bestritten. Oster-
reich hatte nichts damit zu thun. Die politische Meinung
aber von Rehmer war nichts weniger als ultramontan ge-
färbt. In dem Verkehr mit den Ministern bewahrte er
stets seine volle Freiheit.
Ich sprach mich bei Graf Senflft, den ich besuchte,
sehr entschieden gegen die verderbliche Politik von Sieg-
wart aus und gegen die Berufung der Jesuiten und hob
den Gegensatz unserer Politik scharf hervor. Ich sagte
ihm, dass die Politik der Luzerner Regierung die gesamte
protestantische Schweiz auf's Ausserste erbittere und einen
Kampf hervorrufe, in dem Luzern und die Urcantone, wenn
sie sich an Luzern anschliessen, notwendig erliegen müssen.
Bei einem Diner, welches Senfift mir zu Ehren gab,
und zu dem er ausser den beiden Rehmer auch die geisti-
gen Führer der Münchener Ultramontanen einlud, Rings-
eis. Höfler, ^hilip^, Aretin, Fürst Carl Waller-
stein und andere, bekam ich einen sehr ungünstigen Ein-
38Ö Theodor Rohmeb gegen den Ultramontanismus. [cap. 29.
druck von dieser Gesellschaft. Sie war voll Übermut, in
dem Gefühl des grossen Sieges der Luzerner über die
Freischaren. Auch Fritz war über einzelne Äusserungen
empört.
Als wir zu Hause Alles überlegten, wurde der Ent-
schluss gefasst, offener und energischer als bisher den
Ultramontanismus anzugreifen, der alle Cultur und allen
geistigen Fortschritt bedrohe und die Welt, wenn er zur
Herrschaft gelangte, in die Unwissenheit und die Barbarei
des Mittelalters zurücktreiben würde.
Es war nicht leicht, den conservativen Freunden in
Zürich diesen Entschluss annehmbar zu machen. Manche
erwiderten mir: „Wenn wir gegen den Radikalismus und
gegen den Ultramontanismus zugleich Front machen, so
kommen wir zwischen zwei Stühle zu sitzen." Diesen ent-
gegnete ich: „Wir sitzen gegenwärtig überhaupt nicht;
hier sitzen die Radikalen, dort die Ultramontanen auf den
Stühlen. Wir stehen und gehen frei umher. Das aber ist
weit besser, als wie Bediente hinter die einen oder die
anderen Stühle sich zu stellen."
In München wurde nun durch Theodor Rehmer die
Schrift: „Meinungsäusserung eines Conservativen
über den Ultramontanismus" vorbereitet, die 1846 im
Druck zuerst als Manuscript erschien und das Wesen die-
ser Richtung mit einschneidender Kritik und überzeugender
Klarheit blosstellte.
In Zürich wurden Versuche gemacht, die Urcantone
von der Luzernischen Führung loszureissen, und die Schei-
dung zwischen einem friedfertigen Katholicismus und der
confessionellen Politik der Ultramontanen einzuleiten. Als
Organ in der Presse diente die Eidgenössische Zeitung,
cap. 29.] Meine Aetikel gegen die Ultramontanen. 381
die von Heinrich Schulthess, einem liberal-conservativ
gerichteten Rohmerianer redigiert wurde.
Die Artikel: „Die XJrcantone und die ultramon-
tane Partei", die ich im April 1845 in der Eidgenössi-
schen Zeitung veröffentlichte, waren das Ergebnis jenes
Vorsatzes. Ich teile einige charakteristische Stellen mit,
weil sie die Gegensätze der Meinungen klar schildern und
durch die frühe Kennzeichnung der ultramontanen Partei
einen Wert haben.
25. April. „Wir haben bisher mit Absicht eine Seite
in diesen schwierigen Kämpfen, wir haben die Natur und
Bedeutung der ultramontanen Partei nur sehr wenig, fast
nur im Vorbeigehen und nur mit der resigniertesten Scho-
nung berührt. Die Urcantone sind als ultramontan ver-
schrieen worden; sie waren es nie, und sind es nicht. Wir
haben uns dem Verdacht ausgesetzt, wir Züricher, denen
das Princip der Geistesfreiheit so bestimmt eingeprägt ist
schon mit der Geburt, dass eine Verläugnung derselben
ein Verrat wäre an dem edelsten Zuge unserer Geschichte,
wir, die Verfechter des liberal-conservativen Princips in
der Schweiz, haben uns dem Verdachte ausgesetzt, die
ultramontanen Tendenzen zu fördern und mit der ultra-
montanen Partei heimlich verbündet zu sein; wir haben
alle Folgen dieses Verdachtes, so nachteilig sie momentan
für uns waren, auf uns genommen und ertragen; wir ha-
ben, so lange es noch möglich war, ohne die politische
Ehre einzubüssen, ausgehalten trotz jenes Misstrauens und
unter den ungünstigsten Verhältnissen, und im Wesent-
lichen darüber geschwiegen. Seit dem Siege in der Emmen-
schlucht sind die Rücksichten, welche uns Schweigen zur
Pflicht gemacht, verschwunden, und nunmehr gebietet um-
382 Meine Zeitungsartikel [cap. 29.
gekehrt die Pflicht, offen auch diese Seite so zu besprechen,
wie sie es verdient/
26. April. „Die ultramontane Partei hat sich in un-
seren Tagen zum Vorkämpfer der katholisch-kirchlichen
Interessen aufgeworfen. Ist sie aber eine bloss religiöse,
kirchliche Partei? Wäre sie das, wir Hessen sie gewähren,
da es nicht unser Beruf ist, uns einzumischen in die ver-
schiedenen Nuancen des katholischen Glaubens und der
katholischen Kirche. Obwohl wir Protestanten sind, so
wissen wir doch recht gut, dass die katholische Kirche
welthistorisch mit Rom und dem Papsttum verbunden ist;
und ob die Katholiken dem Papste und der römischen Curie
eine absolute oder beschränkte Autorität in Glaubensver-
hältnissen zuschreiben, geht uns zunächst und wenigstens
auf dem politischen Gebiete, auf dem wir stehen, nichts
an. So weit demnach die ultramontane Partei nur eine
der römisch-katholischen Kirche angehörige Kirchen- oder
Glaubenspartei ist, so weit fühlen wir keine Lust und ha-
ben wir keinen Beruf, uns gegen sie zu erklären.
„Aber seit einiger Zeit ist die ultramontane Partei
zu einer politischen Partei geworden und hat angefangen,
eine bedeutende politische Rolle zu spielen; auf diesem
Boden treten wir ihr entgegen als entschiedene Gegner,
und hier mit voller Befugnis.
„Der wahre Sitz dieser Partei, die absolutistisch in
ihren Tendenzen und radikal in ihren Mitteln ist, ist nicht
in, sondern ausserhalb der Schweiz. Sie ist eine wesent-
lich fremde Partei. Ihr wahrer Sitz ist ganz und gar
nicht in den Urcantonen, die, wir wiederholen es, zwar
entschieden römisch-katholisch, aber keineswegs ultramon-
tan gesinnt sind, selbst nicht in Luzern, obwohl sie daselbst
Cap. 29.] GEGEN DIE ULTR AMONTANE PaRTEI. 383
einzelne Anhaltspunkte sich erworben hat, sondern zum
Teil in Rom, zum Teil in Paris, vorzüglich aber in Mün-
chen. Diese Partei hat kein Herz für die Schweiz und
kein Verständnis für die Schweiz. Sie gedenkt die Schweiz
als einen bequemen Tummelplatz ihrer Leidenschaften zu
benutzen und zu missbrauchen. Sie will in der Schweiz
probieren, wie weit es in unserer Zeit möglich sei, ihre
Tendenzen zu verwirklichen. Ob bei diesem Versuch die
Schweiz leide, ob sie darüber zu Grunde gehe, das küm-
mert sie wenig.
„Die Urcantone, wisst es ihr fremden IJltramontanen,
sind für ihre politische Freiheit und Unabhängigkeit, für
ihre hergebrachten Rechte auch in confessionellen Dingen
gegen die anstürmende Anarchie in*s Feld gezogen, nicht,
für Euch und Eure Zwecke, noch für Eure Jesuiten. Geht
und redet mit diesem Volke, und Ihr werdet es erfahren,
dass Eure Tendenzen demselben fremd sind. Wagt es
nur, Ihr, die Ihr kein statliches Leben und keine politische
Freiheit kennt noch ehrt. Eure innersten Gedanken diesem
Volke zu enthüllen, und Ihr werdet es erfahren, wie ver-
ächtlich und stolz es Euch die Thüre weisen wird. Dieses
Volk will sein eigener Herr sein in seinem Lande; und
pflegt es in politischen Dingen sogar sich der Kirche gegen-
über, die es gläubig verehrt, für die es, würde sie ange-
griffen, sein Herzblut freudig opferte, frei und selbständig
zu erweisen, so würde es mit Euch, wolltet gar Ihr die-
ses Volk regieren, kurzen Process machen. Dieses Volk
ist ein wahrhaft eidgenössisches Volk, und Ihr, die Ihr
weder Eidgenossen seid, noch Freunde der Eidgenossen-
schaft, die Dir bloss ultramontane Weltbürger seid und
im Interesse Eurer Tendenzen unbedenklich die Schweiz
384 Meine Zeitungsartikel [cap. 29.
zerstückeln und vernichten würdet, seid und bleibt ihm
fremd.
„Wenn Ihr daher den Sieg an der Emme gefeiert
habt als einen Sieg der Jesuiten und als Euren Sieg, so
seid Ihr in einem gewaltigen Irrtum befangen, aus dem
wir Euch aufzuscheuchen gesonnen sind."
27. April. „Wir haben gesagt, die ultramontane Pai'tei
sei absolutistisch in ihren Tendenzen und radikal in ihren
Mitteln. Ist die Allmacht eines Statsidols das höchste
Ziel des Radikalismus, so ist umgekehrt die Allmacht der
Hierarchie das letzte Ziel des Ultramontanismus. Der Radi-
kalismus, würde er zu unbeschränkter Herrschaft kommen,
müsste consequent das Christentum vernichten; vor dem
Ultramontanismus, wäre er im Besitz der Macht, müsste
consequenterweise alles wahrhaft politische Leben ersterben.
Der Radikalismus will eine ganz neue Zeit im Widerspruch
mit der Vergangenheit erzwingen; der Ultramontanismus
strebt nach der Erneuerung einer untergegangenen Zeit
im Widerspruch mit der Zukunft. Der Radikalismus ver-
achtet die Vergangenheit und die grosse Geschichte, von
der wir getragen sind, der Ultramontanismus spricht dem
Drange der Zukunft nach neuen Gestaltungen, er spricht
einer werdenden grossen Zeit jede Berechtigung ab. Wenn
jener wesentlich revolutionär ist, so ist dieser wesentlich
reactionär."
„Aber die ultramontane Partei selber ist gegenwärtig
von dem radikalen Zuge des Zeitgeistes erfasst, und unter
ihren Führern gibt es Viele, und zwar je die rührigsten
unter ihnen, welche von Natur aus Radikale sind, Radi-
kale unter ultramontaner Fahne. Die Gegenfüssler sehen
sich daher oft so ähnlich wie Zwillingsbrüder.**
Cap. 29.] OEOEN DIE ULTBAMONTANE PABTEI. 385
„Daher auch die radikalen Mittel, deren sich die
ultramontane Partei so häufig bedient. In Frankreich be-
gehrt sie „absolute Lehrfreiheit", sie, die im nämlichen
Momente, wo sie Meister wäre, alle Lehrfreiheit auf-
heben müsste; in Frankreich kokettiert sie mit den anti-
kirchlichen Principien der Revolution und bestreitet dem
durch die Revolution hindurchgegangenen State das her-
gebrachte Recht. In Deutschland gebärdet sie sich zwar
noch, als wäre sie die festeste Stütze der Monarchie gegen
die Revolution, als hinge der Bestand der regierenden
Dynastien von der Adoption ihres Princips ab, aber sie
macht sich jetzt schon kein Gewissen daraus, die ganze
protestantische Bevölkerung Deutschlands mit den katho-
lischen Herrscherfamilien zu entzweien und die katholischen
Unterthanen gegen die protestantischen Dynastien aufzu-
wiegeln. In der Schweiz verbündet sie sich leicht sogar
mit ochlokratischen Neigungen und Elementen. Ihr liegt
nichts an der wahren Monarchie in Deutschland, nichts an
der wahren Republik in der Schweiz."
Diese Charakteristik des Ultramontanismus ist später
in unzähligen Schriften und in den mannigfaltigsten Schil-
derungen zum Gemeingut der gebildeten Welt geworden.
Damals machte sie in der Schweiz den Eindruck einer neu
entdeckten Wahrheit. Viele meiner zürcherischen Partei-
genossen schüttelten bedenklich die Köpfe, als die Eid-
genössische Zeitung so offen dem Ultramontanismus nun
den Fehdehandschuh in's Gesicht warf.
Ich hatte noch einen anderen Plan gefasst, um den
Ultramontanen persönlich zu zeigen, dass das Tischtuch
zwischen ihnen und uns zerschnitten sei. Schon auf der
Reise nach München kam mir der Gedanke, ich wolle mich
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem LcbcD. I. 25
386 ^»- Steiges. — Einzug deb Jesuiten [cap. 29.
dem in Luzern gefangenen Dr. Robert Steiger zum Ver-
teidiger anbieten in dem Hochverratsprocess, der ihn am
Leben bedrohte. Steiger galt als der intellectuelle Führer
des Luzemerputsches. Siegwart hasste ihn als seinen ge-
fährlichsten Gegner. Die berechtigte Besorgnis vor dem
Unheil, das die Jesuiten seinem Vaterlande verursachten,
hatte ihn zu der Gewaltthat verleitet. Er hatte im übri-
gen den Ruf eines guten Patrioten. Ich betrachtete es als
eine würdige Aufgabe, ihn zu retten.
Von München aus hatte ich in einem Briefe an Dr.
Casimir Pf y ff er meinen Vorsatz geschrieben. Der Brief
war aber in Zürich von meinen Freunden, die mit dem
Schritte nicht zufrieden waren, einstweilen zurückbehalten
worden. Die Ausführung meines Plans wurde dann durch
die inzwischen gelungene Flucht Dr. Steiger's aus dem Ge-
fängnis unnötig und unmöglich gemacht. Mein Vorsatz
selbst blieb ein Geheimnis, das Wenige kannten. Keiner
ausplauderte.
Die Luzerner TJltramontanen, Schultheiss Siegwart
an der Spitze, verfolgten ihren Sieg, unbekümmert um
die Warnungen und Mahnungen der Besonneneren. Die
Jesuiten hielten triumphierend ihren Einzug in Luzern
(Juli 1845).
Mir war es klar, dass dadurch die Gegner der Ultra-
montanen nur gereizt, nicht geschlagen würden. Mit Be-
stimmtheit sah ich voraus, dass der Kampf nun noch
erbitterter werde, und erklärte in der Eidgenössischen Zei-
tung, die Luzerner haben ihre Lage durch jenen Einzug
der Jesuiten nicht befestigt, sondern verschlimmert.
Wie heftig die Leidenschaften dadurch erregt wur-
den, das erfuhr zu ihrem Schrecken die überraschte Welt,
Cdp. 29.] • IN LUZERN. — ERMOBDimO Leu's. 387
als sie die Kunde erhielt, der Ratsherr Leu in Ebersol sei
um Mittemacht des 19. Juli meuchlings erschossen worden.
Bisher hatte in den schweizerischen Parteikämpfen, trotz
aller Erhitzung der Gemüter, nie der Mord sich gezeigt.
Nun war ein politischer Mord an einem persönlich geach-
teten, wenn auch politisch engen und fanatisierten Volks-
manne verübt worden. Viele suchten sogar das Verbrechen
zu entschuldigen und zu beschönigen.
Meine offene Erklärung wider den Ultramontanismus
wurde zwar in Zürich und in der Schweiz wohl beachtet.
Aber das Misstrauen gegen die liberal-conservativen Führer
war zu eifrig geschürt und zu lange schon emsig gepflegt
worden, um sofort wieder zu verschwinden. Wäre die
Bekämpfung des Ultramontanismus einige Jahre früher
ebenso klar und ebenso entschieden unternommen worden,
so wäre uns wahrscheinlich die Leitung aller liberalen
Elemente anvertraut worden. Jetzt aber hatten sich die
liberalen Instincte von der liberal-conservativen Partei ab-
gewendet. Die Massen vertrauten nun eher der liberal-
radikalen Partei. Sie erwarteten von ihr eine mutigere
und rücksichtslosere Kampfesführung wider die Jesuiten.
In dieser Richtung war im Canton Waadt 1845 eine
radikale Revolution vollzogen worden. Auch die neuen
Grossratswahlen im Canton Zürich (Mai 1846) fielen mit
grosser Mehrheit zu Gunsten der liberal-radikalen Partei
aus. Die liberal-conservative, bisher ziemlich gleich stark,
geriet nun in eine unzweifelhafte Minderheit.
Als Präsident des Grossen Rates hatte ich die bei-
den Gefahren, die mich bekümmerten, den unvermeidlichen
Bürgerkrieg und die, wie mir schien, ebenfalls unvermeid-
liche Intervention der fremden Mächte, dem Lande deutlich
25*
388 Meine Reden oeoek die WaadtlÄndeb Reoibbüno. [cap. 29.
bezeichnet. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, auf die
Ereignisse in nächster Zeit eine bedeutende Einwirkung
zu üben. Ich begnügte mich, meinen Standpunkt klar zu
stellen und meine Meinung auszusprechen. Im Übrigen
erwartete ich, nicht ohne schwere Sorge, den schweren
Schritt des Schicksals und wendete mich wieder mehr den
wissenschaftlichen und gesetzgeberischen Arbeiten zu.
Nur eines erheiternden Zwischenfalls dieser Zeit ge-
denke ich noch. Ich hatte in einer Eröffnungsrede im
Grossen Rat die Unterdrückung der reformierten National-
kirche im Canton Waadt durch die neue, von der Revolu-
tion auf die Stühle gehobene Regierung scharf getadelt.
Darüber beklagte sich nun die Waadtländer Regierung bei
dem Zürcherischen Grossen Rate und verlangte Genug-
thuung.
Im März 1846 wurde diese Beschwerde vor dem Gros-
sen Rate verhandelt. Anfangs war der Referent, Bürger-
meister Zehn der, geneigt, dem Begehren des Statsrats
von Waadt wenigstens in so weit zu entsprechen, als er
zwar die Freiheit der Rede wahren, aber einen leisen Ta-
del über die harten Worte des Redners aussprechen wollte.
Umgekehrt verlangten einige Conservative, man solle die
Beschwerde als formell unzulässig und sachlich unbegrün-
det zurückweisen und meinen Tadel der Waadtländer Zu-
stände ausdrücklich billigen. Ich selbst verteidigte mein
Verfahren und schilderte die Rohheit der in Lausanne pro-
clamierten „Souveränetät der Ga^se" d. h. jeder beliebig
zusammengetrommelten Volksmenge und die eines freien
Volkes unwürdige Missachtung des grossen Princips re-
ligiöser Freiheit zwar mit massigen Worten, aber sachlich
so lebhaft, dass diese zweite Rede viel schärfer einschnitt,
cap. 29.] Beb Ehbgeiz des STATSMAinrs. 389
als die erste Präsidialrede, gegen welche Beschwerde er-
hoben war. Der allgemeine Eindruck war für mich so
günstig, dass jeder Versuch, einen Tadel auszusprechen,
aufgegeben wurde, und der Grosse Rat einstimmig das
Satisfactionsbegehren der Waadtländer Regierung abwies
und so die persönliche Redefreiheit seiner Mitglieder voll-
kommen schützte.
Unser Sieg wurde damals durch heitere Bilder künst-
lerisch gefeiert.
Solche Lichtblicke in trüber Zeit erfreuen den Sinn
und stärken zu weiteren Anstrengungen. Ich hatte zu
Anfang des Jahres 1847 eine Bemerkung in mein Tage-
buch über ähnliche Eindrücke geschrieben, die hier eine
Stelle finden mag.
„Was mag sich doch der Philister unter dem „Ehr-
geiz" für ein schreckliches Phantom denken? Ein Phi-
lister weiss sich frei von diesem entsetzlichen Laster, dem
er die grössten Dinge zuschreibt, und das er fürchtet und
hasst wie den Teufel. Davon, dass ein Statsmann die
Leiden und das Verderben seiner Nation klarer erkennt
und lebhafter mitempfindet, dass der Seelenschmerz für
die Nation in seinem Herzen vorzüglich getragen wird
und wie die Leber des Prometheus, so auch seine Leber
täglich von Geiern zerbissen wird, davon hat der Philister
keine Ahnung. Wenn dann der Statsmann darauf sinnt,
die Übel zu lindem und das Verderben abzuwenden und
die Nation ihrem Ideale .und ihrer Bestimmung zuzuführen,
dann missgönnen sie ihm das bischen Ehre, womit wie
mit einem Labetrank an schwülen Tagen voll Mühe und
Arbeit der Arbeiter erfrischt werden kann, und tadeln sei-
nen Ehrgeiz. Sie bilden sich ein, das bischen äussere Ehre,
390 Züricher Gesetzbuch. [cap. 80.
welche sie bieten können, werde sein Leben und Streben
bestimmen. Ja, sie glauben mit dem Einen Wort: „Der
Mann ist ehrgeizig** ihn zu sich und unter sich herabziehen
zu können. Wisst ihr denn nicht, was der Göttlichste der
Menschen sprach, als ihn die Freundin mit köstlicher Salbe
ehrte und philisterhaft deshalb getadelt wurde?"
„Es gibt keinen Statsmann, der nicht die Schwächen
der Menschen, mit denen er lebt, in höherem Grade er-
fahren hat und kennt, als sie es wissen. Wie könnte er
denn gerade in dem, was ihm das Höchste ist, und worin
er sich ihnen überlegen weiss, sich durch ihr ehrendes
Urteil bestimmen lassen und für diese Ehre sich opfern?
Nein, die Ehre, die ihr ihm bietet, ist nur ein Labetrunk
auf dem Wege, ist nicht das Ziel. Die Ehre, die ihm
widerfährt, ist ein Sinnbild, eine Bürgschaft der Ehre vor
der Geschichte und der Ehre vor Gott. Nach dieser
dürstet der Statsmann allerdings. Diese Ehre ist das Ziel
seines Stolzes und seiner Demut zugleich."
30.
Züricher Gesetzbuch. Die Beform des Erbrechts. Geschichte
des schweizerischen Bundesrechts. Die Länder XJri, Schwyz und
XJnterwalden. Gelehrte Gesellschaft. Freimaurer. Gründung der
Alpina.
An dem Entwurf des privatrechtlichen Gesetzbuchs
arbeitete ich rüstig fort. Die Reform des Erbrechts wurde
in einigen Grundzügen in der Commission besprochen. Die
Meinung, dass das Erbrecht ein willkürliches Werk der
Gesetzgebung sei, war noch sehr verbreitet. Ich teilte sie
1^
eap. 80.] Die Reform des Ebbrechts. 391
keineswegs. Die tiefere Begründung des Erbrechts erkannte
ich in der Natur, insbesondere in der Erblichkeit der Rasse.
Die Kinder ererben ihre Rasse von den Eltern. Wie durch
Zeugung, Geburt und Erziehung in der Familie die Rasse
von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt wird, in der-
selben Weise geht auch das Vermögen von den älteren
Geschlechteni auf die Nachkommen über. Der Grundge-
danke der germanischen Rechte, dass das Gut dem Gange
des Blutes folge, und die darauf begründete Parentelord-
nung, die in Zürich anerkannt war, erschienen mir als
richtige Rechtsgrundsätze.
Die Erbfolge, welche durch die letztwillige Anordnung
des Erblassers, Testament oder Erbvertrag geregelt wird,
war nach diesem System nur eine Ausnahme von der Fa-
milienerbfolge, nicht, wie bei den Römern das Testament,
die Regel. Ich sah darin nur eine künstliche Nachbildung
und Modification des natürlichen Familienerbrechts, durch
die mannigfaltigeren Culturverhältnisse veranlasst, und
durch die bewusste, schöpferische Freilieit des Menschen
hinzugekommen, ähnlich der Adoption, welche die natür-
liche Familie durch freie Wahl ergänzt. Immerhin aber
betrachtete ich die sehr eingeschränkte Testierfreiheit des
Züricher Rechts als nicht mehr den heutigen Bedürfnissen
entsprechend, welche eine freiere Bewegung verlangen.
Obwohl der Canton Zürich nur ungefähr 250,000 Ein-
wohner zählte, so gab es doch damals noch viele sehr ver-
schiedene Erbrechte in den einzelnen Städten und Herr-
schaften, aus denen der Canton zusammengesetzt war.
Einstimmig billigte die Commission meinen Antrag, alle
diese statutarischen Verschiedenheiten, als nicht mehr zu
den heutigen Verhältnissen passend, aufzuheben und ein
392 ^iK Reform des £!bbbechts. [cap. 30.
einheitliches Erbrecht durchzuführen, entsprechend der heu-
tigen gemeinsamen Cultur.
Dagegen bekämpften sich noch zwei Meinungen in
der Commission über das Grundprincip der Familienerb-
folge. Die Minderheit wollte das in der Stadt Zürich und
in einem grossen Teile der Landschaft herkömmliche Sy-
stem beibehalten, nach welchem nur die väterlichen Ver-
wandten erbberechtigt waren, alle Verwandten von der
Mutterseite ausgeschlossen blieben. Die Mehrheit erklärte
sich aber für meinen Vorschlag, der Mutter neben dem
Vater, und den mütterlichen Blutsverwandten ebenso wie
den väterlichen Geschlechtsverwandten das Erbrecht zu-
zugestehen. Der Vorzug der Vaterseite schien uns anti-
quiert, und der natürliche Blutverband diese Reform zu
fordern. Der Grosse Rat, dem die Frage vorgelegt wurde,
sprach sich mit grosser Majorität für die Reform aus.
Dagegen gelang es mir nicht, eine andere, noch ein-
greifendere Reform des Erbrechts durchzusetzen, die ich
beantragt hatte. Ich wollte neben dem Erbrecht der
Familie ein ebenfalls auf der Rassegemeinschaft ruhendes
Erbrecht der Gemeinde und des States einführen,
welches zwar noch nicht zur Anwendung komme, wenn
Nachkommen des Erblassers vorhanden seien, wohl aber
in steigendem Verhältnisse mit dem Erbrecht der ferneren
Parentelen concurriere. Der Verband der Einzelnen mit
der Gemeinde und dem State und die Pflicht jener gegen
diese sollten so zur erhöhten Wirkung gelangen, und da-
für gesorgt werden, dass aus solchem Erbgute neue Fa-
milien ausgestattet, und sowohl der Anhäufung über-
mässigen Reichtumes, als der zunehmenden Verar-
mung grosser Classen entgegengewirkt werde.
cap. 30.] Geschichte des Schweizerischen Bundesbechts. 393
Die Comiriission verwarf den Gedanken nicht, aber
sie traute sich nicht, denselben in einem allgemeinen Ge-
setzbuche zu verwirklichen. Sie meinte, es könnte das
später durch ein besonderes Gesetz geschehen.
An dem Parentelensystem hielten wir alle fest. Das-
selbe wurde nun reicher und consequenter durchgeführt.
Daneben beschäftigten mich die Studien über die Ent-
stehung der eidgenössischen Bünde und die Geschichte des
schweizerischen Bundesrechts, welche allmälich in
einzelnen Heften veröffentlicht wurde, der erste Abschnitt
noch 1845, das Ganze 1849. Seither ist 1875 eine zweite
Auflage erschienen.
Damals gab ich eine Untersuchung über die drei
Länder Uri, Schwyz und Unterwaiden und ihre ersten
ewigen Bünde heraus. Die urkundlichen Forschungen von
Professor E. Kopp in Luzern hatten die sagenhafte Über-
lieferung der früheren Geschichtsschreiber, dass in den
Bergthälem um den Vierwaldstättersee von Alters her ein
eigentümliches freies Völklein gewohnt und im Streit mit
der Habsburgischen Herrschaft, welche dasselbe ihrer Lan-
deshoheit unterwerfen wollte, die alte Selbständigkeit be-
hauptet und erweitert habe, von Grund aus erschüttert.
Es war nicht mehr möglich zu bestreiten, dass die Grafen
von Habsburg in manchen Thälem anerkannte Herrschafts-
rechte und überall daselbst gräfliche Amtsrechte besessen
hatten. Nun zeigte sich die entgegengesetzte Gefahr. Die
Meinung, dass die schweizerische Eidgenossenschaft ur-
sprünglich aus einer Empörung der Unterthanen wider
den rechtmässigen Landesherrn entstanden sei, fand viele
und gelehrte Vertreter.
Ich prüfte nun die Frage, die auch für die Ehre der
394 Züricher Gelehrte Gesellschaft. [cap. 80.
Länder und der Schweiz wichtig war, von dem Standpunkte
der deutschen Rechtsgeschichte aus. Es war mir klar, dass
die drei Länder ursprünglich blosse Teile, vermutlich Zen-
ten (Huntari) des alemannischen Zürichgaus gewesen seien
und daher zu der Grafschaft Zürich in dem alten Herzog-
tum Alemannien gehört hatten. Damit war eine sichere
Grundlage gewonnen für das Verständnis der ersten eid-
genössischen Statenbildimg. Die Zenten strebten wie die
Städte nach Selbständigkeit, im Anschluss an das alte
Reichsrecht und mit Benutzung kaiserlicher Privilegien,
aber im Kampfe mit der mächtigen Dynastie, welche ihrer-
seits das gräfliche Reichsamt in eigene erbliche Landesherr-
schaft umzubilden suchte. Fast allenthalben im deutschen
Reich ist den Fürsten und Grafen, den späteren Landes-
herren, der Sieg verblieben. In der innem Schweiz haben
ausnahmsweise die Bauern gesiegt und dann freie Gemein-
wesen gegründet.
Ich widmete die Arbeit den Regierungen der drei
Länder und wurde von denselben durch eine Medaille ge-
ehrt, die aus dortigem Reussgold geprägt war.
Um dem wissenschaftlichen Leben Zürichs mehr Zu-
sammenhang, festeren Halt und eine erhöhte Wirksamkeit
zu verschaffen, hatte ich das Project, die alte „Gelehrte Ge-
sellschaft" zu einer wissenschaftlichen Akademie umzubilden
mit vier Sectionen, die sich den Facultäten der Universität
ähnlich gruppierten: 1) für die Theologie, 2) für Statswissen-
schaften und Geschichte, 3) für Natui'wissenschaften und Me-
dicin, 4) für Philosophie, Philologie und schöne Litteratur.
Es wurden erste Schritte in der Richtung durch Aufnahme
neuer Mitglieder versucht. Aber die folgenden Kriegsereig-
nisse zerstörten wieder den Keim solcher Fortbildung.
cap. 80.] FBEnrAüBER. 395
Neben den politischen und wissenschaftlichen Inter-
essen nahmen auch die freimaurerischen, wenngleich erst
in dritter Linie, damals meine Kräfte in Anspruch. Ich
war im März 1838 als dreissigjähriger Mann von der Zür-
cher Loge „Modestia cum libertate** in den Bund aufge-
nommen. Die humanen Ideen desselben, wie ich sie vor-
züglich aus Lessing's Schrift „Ernst und Falk" kennen ge-
lernt hatte, waren mir schon vorher lieb und teuer. Ich
hoffte für die Verwirklichung dieser Ideen wenigstens einige
Hilfe von der brüderlichen Verbindung der gleichgesinnten
Männer. Vorzüglich aber zogen mich einige Jugendfreunde
an, wie insbesondere die Doctoren Conrad Meyer und Leon-
hard von Muralt, sodann mein Freund und Parteigenosse
Heinrich Gysi, die alle schon lange Freimaurer waren.
Ich bemerkte auch, dass in dem Bunde manche Personen
zusammenwirkten, die im äusseren Leben sehr verschieden
gestellt waren und auch verschiedene Richtungen befolgten.
Auch diese Einigung mannigfaltiger Elemente gefiel mir.
Die Zürcher Loge hatte überhaupt einen guten Ruf und
wurde in der Bürgerschaft mit scheuer Achtung angesehen.
An der Spitze standen der Professor Hottinger, der Fort-
setzer von MüUer's Schweizergeschichte, der Stadtpräsident
Escher, mein Freund Gysi.
Über der sogenannten blauen, symbolischen Loge der
drei Grade (Lehrlinge, Gesellen, Meister) erhob sich eine
schottische Grossloge mit höheren Graden und ein schotti-
sches Directorium. Allmälich wurde ich in diese Dinge
eingeweiht. Ich fand manche ideale Anregung im per-
sönlichen Verkehr, zuweilen auch Förderung des humanen
Strebens, moralische Festigung und Stärkung, viel Liebe
und Freundschaft, und sowohl heitere Genüsse als ernste
396 GBÜin)UNG DEB Schweizerischen [cap. 30.
Eindrücke. Aber ich verhielt mich zu manchen herge-
brachten Formen und überlieferten Fabeln kritisch und
abweisend. Es wurden für meinen Geschmack zuweilen
zu viel Schönrederei und Gefühlsschwärmerei vergeudet.
Die schwache That blieb oft weit hinter den begeisterten
Vorsätzen zurück. Ich nahm an den maurerischen Arbeiten
teil, aber mein Eifer war kühl.
Die Stiftung der schweizerischen Grossloge Alpina,
die im Jahr 1844 vollzogen wurde, war ein Werk des er-
wachten Nationalgefühls. Wenngleich der Grundgedanke
des Freimaurerbundes nicht national, sondern allgemein-
menschlich ist, so nahm die Vaterlandsliebe, welche die
Freimaurer heilig halten, doch Anstoss an der Unterord-
nung schweizerischer Logen unter fremde Grossoriente, sei
es nun ein englisches oder schottisches oder französisches
Directorium, und mahnte zu einem engeren Verband der
sämtlichen Schweizerlogen. In diesem Geiste wurde die
Gründung eines schweizerischen Logenbundes betrieben.
Im Juni 1844 wurde die Alpina in Zürich gestiftet.
Die schweizerischen Logen der verschiedenen Systeme wa-
ren dabei vertreten. Hottinger, der erste Grossmeister,
Dr. Furrer und ich waren aufgefordert, die Reden zu halten.
Ich besprach „das Verhältnis der Freimaurerei zu
Stat und Kirche". Ich bestritt, dass der Freimaurer-
bund ein ihm eigenes Lebensprincip habe, welches den
Stat oder die Kirche zu ersetzen, oder auch nur neben
diesen grossen Gesamtheiten als Drittes eine selbständige
Stellung zu verlangen berufen sei. Aber ich sprach der
Freimaurerei die Aufgabe zu, die Ideen und Interessen der
Humanität auch gegenüber den noch oft engen und aus-
schliesslichen Tendenzen der nationalen Staten und der
cap. 30.] Gbossloge Alpina. 397
confessionellen Kirchen zu vertreten und dadurch auf Er-
mässigung leidenschaftlicher und feindlicher Gegensätze und
auf Veredlung der menschlichen Zustände hinzuwirken.
Wenn erst Stat und Kirche vollkommen seien und ihrer-
seits die Humanität, deren Gesetze auch ihre Pflichten er-
füllen, vollständig verwirklichen, dann bedarf es keines
Freimaurerbundes mehr.
Dr. Furrer beleuchtete die Bedeutung des damaligen
Johannisfestes für die vaterländische Freimaurerei. Hot-
tinger zeichnete die Aufgabe der Freimaurerei in der gegen-
wärtigen Zeit. Die drei Reden wurden in deutscher Sprache
und in französischer Übersetzung gedruckt.
Nach einem Gespräch mit Dr. Meyer über den psy-
chologischen Charakter der Freimaurerei notierte ich die
gewonnene Ansicht in mein Tagebuch:
„Alle anderen Vereine beruhen auf der Freund-
schaft, der Freimaurerbund allein erkennt seinen Grund
in der Brüderschaft. Die Freundschaft verbindet die In-
dividuen, welche sich wechselseitig ergänzen. Die Brüder-
lichkeit setzt die Gemeinschaft der Abstammung voraus,
hier die gemeinsame Ableitung der Menschennatur von der
göttlichen Schöpfung. Der Sitz der Freundschaft ist in
den Nerven, die Quelle der Brüderlichkeit im Blut. Um
deswillen erträgt die Freimaurerei auch starke Gegensätze
und grosse individuelle Verschiedenheit, während andere
Vereine solche Gegensätze nicht ertragen, sondern durch
dieselben gesprengt werden. Brüder können möglicher-
weise im Leben weit auseinandergehen und sind vielleicht
keine Freunde. Dennoch werden sie durch die Gemein-
schaft des Bluts zusammengehalten und helfen sich in der
Not entschiedener oft als die intimsten Freunde. Um des-
398 Freihauiiebisches. [cap. BO.
willen darf die Freimaurerei sich nicht in einen politischen
Verein umgestalten lassen. Sie würde dadurch ihr Wesen
aufgeben und ihre Festigkeit einbüssen. Auf dieser ge-
mütlichen Unterlage der menschlichen Brüderlichkeit er-
hebt sich das geistige Princip der Humanität naturgemäss
und sicher."
Der Verwaltungsrat der Alpina machte 1847 die
»Grundsätze des schweizerischen Freimaurerver-
eins** bekannt, die von mir verfasst sind. Als Zweck des
Bundes wird die »Beförderung und Wahrung der Huma-
nität in allen Lebensverhältnissen** angegeben, das Princip
der Glaubens- und Gewissensfreiheit proclamiert, und er-
klärt, dass der Freimaurerbund als solcher kein besonderes
Glaubensbekenntnis habe und Brüder von verschiedenen
Glaubensbekenntnissen einige. „Auch in politischen Dingen
anerkennt der Freimaurer die volle Freiheit des Urteils
und achtet jede redliche Überzeugung. Aus den Logen-
zusammenkünften und Verhandlungen soll alles das fernge-
halten werden, was zu politischem Zwiespalt führen kann.**
Noch später habe ich in dem Artikel »Freimaurer**
des deutschen Statswörterbuchs die wesentlichen Merkmale
und Eigenschaften des Bundes geschildert. Dieser Artikel
ist öfter nachgedruckt und zur Instruction der Brüder be-
nützt worden.
31.
Eine traurige Episode. Ans dem Leben meines Freundes Bern-
hard Hirzel. Sein Tod.
Indem ich das Wesen und Leben meines Jugend-
freundes, Bernhard Hirzel, und das tragische Ende des-
cap. 81.] Eine tbaurige Episode. 399
selben schildere, muss ich Dinge mitteilen, die ich seit
mehr als dreissig Jahren verschwiegen habe, und deren Er-
innerung mich noch heute schmerzlich aufregt. Ich habe
wohl überlegt und in seinem Geiste überlegt, was ich sagen
darf, und was ich auch jetzt noch verschweigen soll. Aber
der Mann war zu bedeutend und zu unglücklich, als dass
ich nicht die Pflicht hätte, seine Ehre, die von den Mit-
lebenden sehr verkannt und missachtet worden war, in
dem Andenken der billig urteilenden Nachwelt zu wahren,
ohne seine Fehler zu leugnen.
Als er den Entschluss fasste, seinem Leben ein Ende
zu machen, hinterliess er mir noch ein umfassendes Ge-
ständnis und Bekenntnis auch seiner Verschuldung. Trotz
seltener Geistesgaben und ungewöhnlicher Energie ist er
dennoch in dem Kampfe mit den Rassefehlem seiner Na-
tur, mit der Ungunst seiner elterlichen und seiner persön-
lichen Familienverhältnisse untergegangen.
Die Familie Hirzel gehörte nicht zu den reichsten,
aber zu den angesehensten der Stadt Zürich. Aber von
Jugend an hatte Bernhard das Gefühl, dass dieselbe in
unaufhaltsamer Entartung und im Niedergange begriffen
sei, und zwar deshalb, weil sie unvorsichtige Ehen mit
Frauen von niederem Stande und ungenügender Bildung
nicht zu vermeiden verstanden habe. Bei dem Zweig, dem er
angehörte, waren diese Befürchtungen allerdings nicht ohne
thatsächlichen Grund. Sein Grossvater, Ratsherr Hirzel, hei-
ratete die ungebildete Tochter eines reichen Handwerkers,
um seine Vermögensverhältnisse zu verbessern. Der zweite
Sohn desselben, der Vater Bernhardts, ward für den frem-
den Militärdienst bestimmt. Seine Erziehung wurde gänz-
lich vernachlässigt. Nachdem die französische Revolution
400 ^^^ ^^^ Leben meines [cap. 31.
die Schweizerregimenter entlassen hatte, wurde derselbe
dem industriellen Berufe eines Tuchscherers zugewiesen.
Er war ein roher Mann ohne Bildung, der nichts schätzte
als das Geld und doch nicht einmal ein guter Wirtschafter
war. Für ideale Güter hatte er gar kein Verständnis. Er
arbeitete fleissig den Tag über mit seinen Gesellen und
Knechten, ging dann Abends in die Kneipe, um sich da-
selbst an rohen Spässen, im Trunk imd Spiel zu ergötzen,
und kam um Mittemacht nicht selten betrunken, polternd
und scheltend nach Hause. Das ererbte und von seiner
Frau zugebrachte Vermögen hielt er mit harter Hand fest.
Die Sorge um seine Kinder kümmerte ihn wenig. Im Ge-
schäftsverkehr war er redlich und zuverlässig ; im Übrigen
war nichts Edles in ihm.
Die Mutter hatte manche Talente und besass eine
angeborene Herzensgüte. Sie war schön und wohlhabend.
Hätte sie einen gebildeten Mann bekommen, so wäre sie
wohl eine treffliche Frau und Mutter geworden. Die Ver-
bindung mit einem rohen Manne, welcher alle Keime einer
feineren Bildung mit höhnischem Spotte und mit brutaler
Gewalt zerstörte, zog auch ihr Leben in die Tiefe nieder.
Nun schössen auch die sinnlichen Triebe ihrer Natur üppig
auf. Die frivolen Sitten, welche in der Zeit der helveti-
schen Revolution und der fremden Heereszüge die alte
philisterhafte Strenge des Züricher Lebens als unbequeme
Schranken vielföltig durchbrochen hatten, reizten ihre
Lebenslust. Musste sie gelegentlich die Misshandlung ihres
Mannes ertragen, so entschädigte sie sich, indem sie An-
deren ihre Gunst zuwendete.
Schon als kleiner Knabe hatte Bernhard tiefe Blicke
in die Untugenden seiner Eltern gethan. Diese Erlebnisse
cap. 31.] Freiindes Bernhard Hirzel. 401
warfen einen dunkeln Schatten auf sein Gemüt. Er konnte
sich nicht so unbefangen wie andere Knaben der jugend-
lichen Lebenslust hingeben. Die Wehmut über seine Eltern
verdüsterte seinen Sinn, und der Vorsatz, „anders zu wer-
den als die Eltern," stachelte seinen Ehrgeiz.
Von den Fehlern des Vaters fühlte er sich frei; nur
reizten ihn dessen Habsucht und Geldgier zu einer über-
triebenen Verachtung des Geldes. Von der Mutter ererbte
er die reizbare und heftige Sinnlichkeit, die er als Jüng-
ling noch beherrschte, welcher aber der Mann zuweilen
übermütig die Zügel schiessen liess.
Die religiöse Seite seiner Erziehung war ebenso
mangelhaft, wie die sittliche. Der Knabe liebte und ehrte
Gott nach dem Instinkte seiner Natur. Das Christentum
verwarf er als ein Märchen. Er hatte in der Offenbarung
einige Unrichtigkeiten zu entdecken geglaubt, und indem
er fortwährend die Flecken in der Sonne aufsuchte, er-
blindeten seine Augen und sahen das Licht nicht mehr.
Es gab nur zwei geistige Mächte, welche ihn zu ern-
stem Ringen antrieben und aus der Versunkenheit seiner
Umgebung emporhoben, der jugendliche Ehrgeiz und die
Liebe zur Wissenschaft. Vorzüglich zog ihn das Studium
der orientalischen Sprachen an. Schon im Alter von 17
Jahren las er den hebräischen Pentateuch ohne Vocale und
die leichteren Stücke des arabischen Korans ohne Anstoss.
Später begeisterte ihn das Sanskrit. Er verehrte in dem-
selben die vollkommenste Sprache des Altertums und die
Mutter der arischen Sprachen. Indische Weisheit und in-
discher Pantheismus sagten seiner Denkweise zu. Auf der
Universität Berlin und später in Paris bildete er sich zu
Bluntschli, Dr. J. 0., Aus meinem Leben. I. 2ß
402 Aus DEM Leben [cap. 31
einem Orientalisten aus, welcher mit Aussicht auf Erfolg
die akademische Laufbahn betreten konnte.
Zu seinem Unglück hatte er sich noch als Studieren-
der in Zürich mit einem Mädchen verlobt, dessen stolze
Schönheit ihn mächtig angezogen hatte. Er hatte ihr frei-
lich in Paris, von der lockeren Sitte der Pariser Studenten
missleitet, die Treue nicht bewahrt. Aber er hielt sich
für verpflichtet, die Braut zu heiraten, da inzwischen der
Vater derselben, ein Kaufmann, genötigt worden war, seine
Insolvenz zu erklären. Es schien ihm unwürdig, die ver-
mögenslose Tochter nun zu verlassen. Er eilte nach Hause
und vollzog die Ehe, obwohl seine Neigung unsicher ge-
worden und ihm Zweifel aufgestiegen waren, ob die Cha-
raktere zu einander passen.
Die erhoffte Professur an der neugegründeten Uni-
versität Zürich zerfloss wie ein Traumbild. Er erhielt nur
eine geringe Anstellung als Inspector mit 500 Gulden Zür-
cher Währung (ungefähr 1000 Mark) Gehalt. Sein Vater
gab ihm die Wohnung, aber kein Geld. Seine Frau be-
sass nichts. Das dürftige Einkommen genügte nicht. Er
war schon in den ersten Jahren genötigt, sein Spargeld
aufzuzehren und kleine Schulden zu machen.
Schlimmer war es, dass das persönliche Verhältnis
zu seiner Frau ein unglückliches war. Die Gatten passten
nicht zu einander. Er hatte ein liebebedürftiges Herz und
traf auf eine gehaltene eisige Kälte. Er liess sich gehen
und brachte manches in Unordnung. Sie hielt mit pein-
licher Sorge auf strengste Ordnung. Sie war im Verkehr
mit Fremden gefallig, aufmerksam, liebenswürdig, zu Hause
oft kritlich, verletzend, jähzornig, voller Launen. Die Dienst-
boten hielten es nicht bei ihr aus. Sie konnte wochenlang.
cap. 31.] Bernhabd Hibzel*s. 403
monatelang ihrem Manne mit einer gesuchten Gleichgiltig-
keit begegnen und jeden Gruss, jedes ifreundliche Wort
vermeiden. So erkältete sie die kaum wieder erwärmte
Liebe des Mannes durch beharrliche Peinigung. Zuweilen
entlud sich der Groll der Frau in heftigen Scenen. Hirzel
dachte damals schon an eine Scheidung und leitete die
Klage ein. Dieses Ausserste suchte sie aber zu verhin-
dern, und er liess sich doch wieder durch eine scheinbare
Versöhnung bestimmen, davon abzustehen.
In dieser Zeit eines arg zerrütteten Familienlebens
hatte Bernhard die Bekanntschaft einer jungen Wittwe
gemacht, welcher er seine häuslichen Leiden anvertraute,
und die ihm ein inniges Mitgefühl zeigte. Solche Ver-
traulichkeit war für beide nicht ohne ernste Gefahr. In
der That entwickelte sich in den befreundeten Seelen eine
warme Zuneigung, die leicht zur Leidenschaft sich ent-
zünden konnte. Indessen kämpfte er die eigene Leiden-
schaft und die der Freundin mit aller Energie seines Cha-
rakters nieder. Hirzel wusste, dass einer seiner Freunde
um die Wittwe freien wollte, und war entschlossen, den
Wunsch seines Freundes zu fördern und demselben eine
tugendhafte Gattin zuzuführen.
Der moralische Sieg über die gefahrliche Leidenschaft
gelang ihm, und er trennte sich von der Freundin im Frie-
den. Sie dankte ihm in einem Briefe für die rettende That
und fügte gerührt bei, dass der Abschiedskuss ihr unver-
gesslich sein werde. Diesen Brief fand seine Frau, welche
die Gewohnheit hatte, in seiner Abwesenheit seinen Schreib-
tisch und seine Briefe zu durchstöbern, und sie erhob nun
ein lautes Klagegeschrei über die Untreue ihres Mannes.
Sie zeigte denselben ihrem Anwalte und ihren Bekannten.
26*
404 ^^^ ^^^ Lebbn [cap. 31.
Man kann sich denken, dass ein solcher Missbrauch des
Vertrauens und diese ungerechte Entstellung einer in Wahr-
heit schuldlosen Freundschaft ihn aufs tiefste kränkte und
erbitterte.
Bis dahin war sein Leben von keiner schweren Schuld
belastet. Von da an ging es aber abwärts, dem Unter-
gange zu.
Gegen Ende des Jahres 1837 meldete er sich zu der
Pfarrstelle in Pfaffikon und wurde gewählt. Die unerquick-
lichen Verhältnisse in dem väterlichen Hause und seine
ökonomisch gedrückte Lage stellten ihm diese Wahl eines
neuen Berufs wie eine Rettung aus dem Elend dar. Später
betrachtete er sie als eine schwere Sünde, als einen Ver-
rat an der Wissenschaft, der sein Leben geweiht war, als
eine Profanation des Heiligen.
Rasch erwarb er das Vertrauen und die Liebe seiner
Gemeinde. Unverdrossen und eifrig arbeitete er an ihrem
Wohle. Er nahm sich der Dorf jugend getreulich an, wurde
der Freund und Lehrer der Volksschullehrer, forderte jede
gemeinnützige Thätigkeit, regte das geistige Leben mächtig
an und übte durch Predigt und Seelsorge einen wohlthäti-
gen Einfluss aus. Er heuchelte keinen Glauben, den er
nicht hatte, aber er vergeistigte nach seiner Auffassung
das christliche Dogma und passte seine Lehre dem Ver-
ständnis der Gemeinde an. In seinem Bekenntnisse spricht
er sich über seinen Glauben so aus:
„Der Pantheismus ist die einzige religiöse und phi-
losophische Wahrheit in den sogenannten überirdischen
Dingen und ganz übereinstimmend mit der heiligen Schrift,
sobald man dem Pan (dem All) selbstbewusste, sich
selbst und die Teile leitende Kraft zuschreibt. Unser
cap. 31.] Bebnhabd Hibzel's. 405
alleiniger Richter vor Gott ist der Glaube d. h. unsere
Überzeugung. Den Menschen auf Erden richtet nichts
als das Gesetz, inbegriffen die Sitte. Die Strafe geht
unter in sich selber, sobald der Schuldige sie anerkennt
und will.*'
Der Beruf eines Landpfarrers passte doch nicht zu
seiner Natur und konnte ihn nicht befriedigen. Die schiefe
Stellung, in die er aus Nahrungssorgen sich hineinbegeben
hatte, wurde aber heftig verschlimmert durch persönliche
Verschuldung.
Das unglückliche eheliche Verhältnis, in welchem er
lebte, und seine sinnliche Schwäche verleiteten ihn, sich
ausserhalb der Ehe das eine und andere Mal in Verkehr
einzulassen mit Frauen zweideutigen Rufs oder doch nied-
riger Bildung. Er wollte vom Schicksal, was es ihm ver-.
sagte, erzwingen und der öffentlichen Meinung trotzen,
deren Ungerechtigkeit er sattsam erfahren hatte.
Allein der Widerspruch zwischen seinem Berufe und
der idealen Lebensaufgabe auf der einen, und zwischen
der sinnlichen Verschuldung und den daraus sich für ihn
ergebenden finanziellen Schwierigkeiten auf der anderen
Seite, bedrückte ihn innerlich schwer und führte ihn an
den Rand der Verzweiflung. Von aussen her aber stürmten
die um ihn her schwirrenden bösen Gerüchte und der wider-
liche Klatsch, der ihn verfolgte, wie Dämonen auf ihn ein.
Im Gefühle des Widerspruchs, in welchen er mit der öffent-
lichen Meinung geraten war, schrieb er: „Die öffentliche
Meinung ist die niederträchtigste Hure. Ehre wie Schande
der Menschen gleichen dem Resultate der souveränen Volks-
versammlung, welche bei den Wahlen ihr Urteil ausspricht.
Was sich dieser öffentlichen Meinung widersetzt, bei den
406 Aus DEu Leben [cap. 31.
Heiden und Muhamedanern, wie bei den Christen, muss
zu Grunde gehen." —
Als er im Jahr 1 839 in die Geschichte seines Vater-
landes gewaltsam eingriff und die Bauern der östlichen
Bezirke nach Zürich führte, hatte die eigene Verzweiflung,
ohne dass er sich derselben völlig bewusst geworden; auch
einen Anteil an dem gefährlichen Wagnis. Er hoffte im
Stillen, ein Opfer des bevorstehenden Kampfes zu werden
und durch seinen Tod zugleich die Schuld zu sühnen und
seinem Volke einen grossen Dienst zu leisten. So frei er
in religiösen Dingen dachte, so wenig er ein orthodoxer
Fanatiker war, so war er doch lebhaft von der Überzeu-
gung durchdrungen, dass das Volk nur in dem positiven
Christentum den Seelenfrieden und das Heil finden könne,
nach denen es verlange. Er bedachte nicht, dass er nicht
der richtige Helfer und Retter, und die von ihm gewählte
Gewaltthat und Empörung nicht das richtige Mittel sei,
um dem Volke jene Güfcjr zu sichern.
Das Schicksal verschonte ihn diesmal. Es hob ihn
sogar empor. Er wurde in den Grossen Rat gewählt und
ward Mitglied des Erziehungsrates. In beiden Behörden
arbeitete er mit Eifer und Geschick. Aber die verwegene
That hatte ihm auch zahlreiche und eifrige Feinde erweckt,
die auf seinen Untergang sannen.
In glücklicheren Zeiten hatte er das Indische Drama
von Kalisada, die Sakuntala, übersetzt und herausge-
geben. Die formlose, aber innige Herzensliebe, welche in
dem reizenden Gedichte verherrlicht wurde, sagte seinem
Charakter zu. In der ernsteren und wechselvollen Zeit
beschäftigte ihn die Übersetzung des sogenannten Hohen-
liedes, das herkömmlicherweise als ein frommes Lied
cap. 31.] Bebnhabd Hibzel's. 407
religiöser Liebe und Hingebung aufgefasst wurde, das aber
in Wahrheit der Ausdruck begeisterter Geschlechtsliebe ist.
Seine Übersetzung ist diesem letztern Geiste treu geblieben.
Den trüben Gedanken, die ihn bewegten, verlieh er in
einem hebräischen Gedichte im alten Prophetenstyl einen
Ausdruck. Er gab dasselbe 1844 umter dem Titel: „Ge-
richt des Todesboten über den Erdkreis" hebräisch
und deutsch heraus. Eine Stelle, die sich auf Zürich be-
zieht, mag den Geist des finstem Gedichtes andeuten.
„Ach warum bist du gefallen
In die Hand der Kinder des Truges,
Oder acb
Der Kinder des Übermutes?!
Siehe, des Todes sterben
Musst auch du:
Deim nach Sünde
Folgt Tod
Von Ewigkeit zu Ewigkeit."
So ging ein Jahr vorüber. Da kam zu der ersten
Verwickelung eine neue hinzu. Und nunmehr brach das
Unwetter der öffentlichen Meinung los. Hirzel konnte un-
möglich länger Pfarrer in Pfäffikon bleiben. Er nahm und
erhielt seine Entlassung und kehrte nach Zürich zurück.
Noch Einmal wollte er ein Zeugnis seiner wissenschaft-
lichen Befähigung ablegen und dann sterben. Das Leben
war ihm zum Eckel geworden. Seine Frau hatte ihn ver-
lassen. Sein Vater drohte mit Enterbung. Die Gesell-
schaft verstiess ihn. Geächtet von der Welt, erwiderte
er ihren Hass mit Hass und Verachtung.
Damals übersetzte er aus dem Sanskrit ein philoso-
phisches Drama von Krischnamisra, den „Mondaufgang
der Erkenntnis". Der Kampf der philosophischen Sy-
408 -^^^ ^^^ Leben [cap. 31.
steme ist darin vortrefflich geschildert, und der Sieg der
Wahrheitserkenntnis über den täuschenden Schein ver-
kündet. Mich interessierte das gedankenreiche Gedicht
damals um so mehr, als ich manche Anklänge darin fand
an die Rohmerische Philosophie, die ich studierte.
Im Übrigen war mir klar: Wenn Hirzel noch zu retten
war, so musste er aus Zürich fort in eine neue Umgebung,
in welcher sein Geist wieder sich freier fühlen konnte, und
die Hoffnung, sich emporzuarbeiten, die Schwingen kräftigte.
Entweder Tod oder ein wiedergeborenes Leben, das war
die Alternative. Ich suchte ihn zu dem letzteren Wagnis
zu bestimmen. Noch Einmal wollte er es versuchen, wenn-
gleich er kein rechtes Vertrauen zu sich selber fand und
den Gedanken nicht los ward, dass er zum Untergang be-
stimmt sei. Die Hilfe unserer Freunde machte es möghch,
dass er nach Paris ging und dort sich eine neue Laufbahn
eröffnete.
Liebe und Poesie erhellten noch einmal vor dem
Tode sein unglückliches Leben mit einem grellen, selt-
samen Blendlicht.
Er hatte nach seinem Weggang von Pfaffikon in
Zürich ein junges hübsches Mädchen gefunden, das ihn
sofort gewann. Hier will ich sein eigenes Geständnis spre-
chen lassen:
„Erinnerst du dich noch, als ich einst dich fragte,
woher es doch komme, dass Friedrich Rehmer eine solche
Macht über Dich, den Bedächtigen, errungen habe, deiner
Erwiderung: „Der Blitz schlägt eben plötzlich ein und
zündet, wo er soll."? Sieh, ein ähnlicher Blitz traf auch
mich und äollte eben zünden. Du magst lächeln oder
grollen, es ist doch wahr. Noch bevor ich mit ihr ge-
cap. 31.] Bernhabd Hibzel's. 409
sprochen habe, fühlte ich bei ihrem Anblick mehr Poesie
in mir aufleuchten als jemals in meiner Jtinglingszeit. Eine
unaussprechliche Sehnsucht nach ihr liess mir keine Ruhe
weder bei Tag noch bei Nacht. Alle früheren Liebschaf-
ten erschienen mir wie eitler Traum und Schaum. Ich
wusste, dass ich endlich die Ergänzung meines Lebens ge-
funden habe. Sie musste mein werden, und galt es Leben,
Ehre und Seligkeit. Wer hat sie mir vor die Augen ge-
führt? Wer den Blitz gesendet? Und wozu? Es war
oifenbar wieder mein Schicksal. Es musste so sein."
„Ich traf mit ihr zusammen, und ihr geistig reg-
sames, kindliches Wesen, verbunden mit einer unbedingten
Hingebung, der offensten Aufrichtigkeit und einer mächti-
gen Opferkraft, mit Einem Worte, mein weibliches Ideal,
wiewohl noch nicht poliert, fesselte mich unwiderstehlich
auf Tod und Leben. Auch sie fühlte sich von mir, wie
sie sich ausdrückte, von meinen Augen gebannt. Wir
wurden Eins, und Eins werden wir bleiben, so lange wir
leben!"
„Und wer ist eigentlich diese Marie? Sie ist eine
vor wenig Jahren in die Gemeinde Zollikon aufgenommene
Heimatlose, deren Voreltern, obwohl Heimatlose im Canton
Zürich fortwährend geduldet wurden, laut der Tradition
aus Waedischwil stammten, aber zur Zeit der Reformation
ihr Bürgerrecht verloren hatten, weil sie dem katholischen
Glauben treu blieben. Auch sie ist katholisch."
Marie Welti übte in der That einen guten Einfluss
auf ihn aus. Sie befreite ihn von allen anderen unwürdi-
gen Verbindungen, sie bewahrte ihn vor einer schweren
Schuld, die er in der Verzweiflung und im Zorn über die
feindlichen Intriguen bereit war sich aufzuladen, sie regte
410 Bernhard Hirzel's Tod. [cap. 31.
seine Thatkraft an. Sie war wirklich sein guter Engel.
Aber sie war entschlossen, mit ihm zu leben und zu sterben.
Als er nach Paris abgereist war, besuchte sie mich. Ich
stellte ihr die Gefahren vor, die in Paris sie bedrohen,
und die Schwierigkeiten, welche der einzigen günstigen
Lösung aller Verwicklungen, der Ehe mit ihrem Freunde,
im Wege stehen. Dazu war die vorausgehende Scheidung
unerlässlich. Frau Hirzel hatte wohl Rechtsgründe genug,
um auf Scheidung zu klagen. Aber sie wollte weder mit
ihrem Manne leben, noch wollte sie sich von ihm scheiden
lassen. Das harte kalte Recht und die flüssige glühende
Liebe kämpften wider einander. Auch er konnte auf Schei-
dung diingen, aber seine Klage konnte nur sehr langsam
zum Ziele führen.
Als ich der Welti von seinem Vorsatz zu sterben
sprach, erklärte sie mir: „Wenn er geht, so gehe ich mit.
Ich muss ihm vor Gott beistehen, wenn er Rechenschaft
geben muss." Sie bot mir noch zum Abschied ein von
Maler Ori gemaltes Porträt des Freundes an. Ich war zu
unwillig über ihn und lehnte die Gabe ab. „Gut denn,*'
sagte sie, „ich werde das Porträt vernichten, wenn Sie es
nicht wollen. Kein Anderer darf es bekommen."*
Sie reiste ihm nach Paris nach.
Dort glückte es ihm mit Hilfe besonders seines Freun-
des, des Orientalisten Henschel, vorerst eine kleine An-
stellung in einem Privathause zu erhalten. Indessen war
die Hoffnung zu schwach, dass er die Schwierigkeiten des
Lebens überwinden könnte. Wieder erfasste ihn die Ver-
zweiflung, und er vollzog den lange gehegten Vorsatz.
Eines Tages erhielt ich die Nachricht, Hirzel und
seine Geliebte haben gemeinsam ihrem Leben ein Ende
cap. 32.] Die politische Lage der Schweiz. 411
gemacht. Ähnlich wie der Dichter Kleist mit seiner Freun-
din den Tod in der Nähe von Berlin gesucht, begab auch
er sich mit seiner treuen Marie in der Nähe von Paris
an einen stillen Ort. Da lebten sie noch ein paar Tage
geeint und bereiteten sich auf den Tod vor. Sie starben
freiwillig an dem geraeinsam genossenen Gift.
Mich schmerzte dieser Tod, und doch konnte ich dem
Freunde, den ich sehr geliebt und sehr bedauert hatte,
darüber nicht gram sein. Er war ein tragisches Opfer
mehr noch eines unseligen Geschicks, als der eigenen Ver-
schuldung. Diese war freilich gross und schwer, aber gross
und achtungswert waren auch die Liebe in ihm, die Auf-
opferungsfähigkeit für ideale Güter und ein Seelenadel, der
befleckt, aber nicht zerstört war. Gott wird ihm gnädig
sein. —
32.
Parteimanifest der Hittelpartei. Gespräche mit dem österreichi-
sclien und dem französischen Gesandten. Versuch, den Papst
Pius IX. zur Zurückrufung der Jesuiten zu bewegen.
Die schweizerische Krisis näherte sich der gewalt-
samen Entladung. Ich war zu der Überzeugung gekom-
men, dass weder meine Partei, noch ich in der nächsten
Zeit etwas Erhebliches leisten könne. Immer entschiede-
ner gewannen je die extremen Parteien, entweder Radikale
oder ültramontane, in den verschiedenen Cantonen das
Übergewicht. Aber ich war ebenso überzeugt, dass auf
die schweizerische Revolution die deutsche folgen werde,
und dass in den grossen europäischen Verhältnissen es
eher möglich werde, die Extreme zu überwinden und
412 Manifest [cap. 32.
dann einen dauernden Fortschritt zu machen. Seit 1846
dachte ich daTier ernstlich daran, die Schweiz zu verlassen.
Vorerst wollte ich noch einmal im Grossen Rat un-
sere eidgenössische Politik deutlich gleichsam in einem
Manifest aussprechen, die liberal-conservative Partei scharf
trennen von den beiden feindlichen Heerlagern und für die
Zukunft eine möglichst gesicherte Mittelstellung einnehmen.
So kam im Sommer 1846 mein Antrag einer Tagsatzungs-
instruction zu Stande, dem natürlich nur eine Minderheit,
aber die zuverlässigsten Parteigenossen zustimmten. Eini-
gen juristisch gebildeten Freunden war derselbe zu poli-
tisch-frei; sie wollten in der Jesuitenfrage nicht so weit
vorgehen. Dem Bürgermeister von Muralt war derselbe
zu wenig nachgiebig in der Klosterfrage, die er als er-
ledigt ansah. Abgesehen von diesen wenigen Führern
stimmte die Partei mir zu. Hinterdrein ist es klar ge-
worden, dass der Hauptfehler des Antrags nicht darin zu
finden war, dass er zu wenig, sondern dass er zu viel
Rücksicht auf das formelle Bundesrecht nahm und
nicht entschieden genug die liberalen Tendenzen der
Zeit beachtete.
Aber den Eindruck' einer gerechten und wohlwollen-
den Erwägung und Abwägung der IV Streitfragen macht
der Antrag doch, den ich daher wörtlich in diese Denk-
würdigkeiten aufnehme.
Antrag.
Die zürcherische Gesandtschaft wird angewiesen, auf
der bevorstehenden eidgenössischen Tagsatzung im Sinne
der nachfolgenden Betrachtungen auf Herstellung eines ge-
sicherten Rechtszustandes und eines soliden Friedens in
der Schweiz hinzuwirken.
cap. 32.] DER Mittelpartei. 413
In Anbetracht:
1) dass unser gemeinsames Vaterland immer mehr sich
nach zwei einander entgegengesetzten extremen Rich-
tungen zu spalten droht;
2) dass diese Spaltung und die Bildung zweier feind-
licher Lager den inneren Frieden der Schweiz ernst-
lich gefährdet, ihre Ruhe und Sicherheit im Ver-
hältnis zu dem Auslande blosstellt und jeden wah-
ren Fortschritt in eidgenössischen Dingen unmöglich
macht;
3) dass der Stand Zürich durch seine Stellung in der
Eidgenossenschaft als leitender Vorort eine erhöhte
Veranlassung hat, nichts zu unterlassen, was zur
Beseitigung dieser unglückseligen Spaltung und zu
einer wahren Befriedigung der Schweiz führen kann;
4) dass für eine solche vermittelnde Aufgabe nur dann-
zumal Aussicht auf Erfolg vorhanden ist, wenn alle
bloss cantonalen oder confessionellen Sympathien oder
Antipathien vor der Liebe zu dem Gesamtvaterlande
in den Hintergrund treten und die Streitfragen, wel-
che sich in neuerer Zeit erhoben haben, im Geiste
einer wahrhaft eidgenössischen Politik und mit Be-
achtung des Bundesrechts erledigt werden;
erhält die Gesandtschaft den Auftrag, alle hieher gehörigen
Fragen in ihrem inneren Zusammenhange aufzufas-
sen und auf gleichzeitige, gemeinsame und gerechte
Schlichtung derselben hinzuarbeiten.
Die drei Hauptereignisse, an die sich eine Reihe
untergeordneter Streitfragen anknüpfen, sind:
I. die Aufhebung der Klöster durch den Stand Aar-
gau im Jahr 1841;
414 Manifest [cap. 32.
IL die Berufung der Jesuiten von Seite des vor-
örtlichen Standes Luzern im Jahr 1844;
m. die in den Freischarenzügen vom 8. Dezember
1844 und 31. März 1845 zu Tage getretenen anar-
chischen Angriffe auf Luzern.
Zu diesen drei Hauptpunkten tritt nun hinzu:
IV. die Bildung eines neuen Sonderbundes von 7 ka-
tholischen Ständen im Jahr 1846.
Zu I. Klosteraufhebung*.
Durch die Aufhebung der Klöster von Seite des Stan-
des Aargau wurde
a) das Wort und der Geist des Bundesvertrags von 1815
verletzt;
b) und tiberdem, da diese Rechtsverletzung von einer
Mehrheit protestantischer Mitglieder mit Bezug auf
ein katholisches Institut beschlossen und durchgesetzt
wurde, die katholische Bevölkerung nicht bloss im
Aargau, sondern auch in der übrigen Schweiz in ihrer
confessionellen Ruhe gestört und in ihren confessio-
nellen Rechten gekränkt.
Die Sühne für das begangene ührecht, zu welcher die
Tagsatzung nachher den Stand Aargau angehalten hat, hat
sich, wie die seitherige Geschichte beweist, hauptsächlich
aus zwei Gründen als ungenügend erwiesen:
a) weil die in den Augen des katholischen Volkes weit
wichtigeren und reichen Abteien samt ihrem Ver-
mögen aufgehoben blieben, und nur die weniger be-
deutenden und ärmeren Frauenklöster hergestellt wur-
den, somit das Unrecht in der Hauptsache fortdauert;
b) weil auch der Beschluss der Tagsatzung, durch den
sie sich mit jener Sühne für befriedigt erklärt hat,
Cap. 32.] DEB MiTTELPABTEI. 415
von einer hauptsächlich aus protestantischen Ständen
gebildeten Mehrheit gegenüber einer grossen, vorzugs-
weise aus katholischen Ständen gebildeten Minderheit
gefasst wurde.
Zu IL Jesuitenberufung.
Der Stand Luzern hat zwar durch die Berufung der
Jesuiten keine ausdrückliche Bestimmung des Bundes ver-
letzt. Aber er hat durch die rücksichtslose Art, wie er ent-
gegen den einmütigen Vorstellungen der ganzen protestanti-
schen Bevölkerung der Schweiz und entgegen den Abmah-
nungen sehr vieler redlich gesinnter und einsichtiger katho-
lischer Schweizer von seinem cantonalen Rechte Gebrauch
gemacht und die Berufung der Jesuiten betrieben und
durchgeführt hat, in einem grossen Teile der Schweiz eine
mächtige Gährung hervorgerufen und dem Frieden der
Gemüter eine tiefe Wunde versetzt. Das diesfällige mo-
ralische Unrecht ist, auch wenn die in der aargauischen
Klosteraufhebung liegende Anreizung in Anschlag gebracht
wird, doch um so weniger zu entschuldigen, als Luzern,
als einer der Vororte, in besonderem Maasse angewiesen
war, auf die paritätische Natur' der Schweiz billige Rück-
sicht zu nehmen, und auf die dem confessionellen und po-
litischen Frieden der Schweiz von daher drohenden Ge-
fahren in wohlwollender und unzweideutiger Weise ernst-
lich aufmerksam gemacht war.
Der Stand Luzern kann die darin liegende, vom eid-
genössischen Standpunkte nicht zu billigende Politik auch
nicht damit rechtfertigen, dass die Berufung jenes Ordens
ein notwendiges Bedürftiis des Cantons gewesen sei zur
Erhaltung seines katholischen Glaubens; denn es ist er-
wiesen und durch die neuesten Verhandlungen zwischen
416 Manifest [cap. 32.
der Krone Frankreich und dem päpstlichem Stuhle von
dem Papste selbst thatsächlich anerkannt worden, dass
auch die orthodoxe römisch-katholische Kirche des Je-
suitenordens entbehren und auch ohne denselben blühen
kann.
Auch dieses moralische Unrecht ist 3ur Stunde noch
nicht gesühnt, und eö ist begreiflich, dass ein sehr grosser
Teil der Schweiz gegen den Vorort Luzem mit entschie-
denem Misstrauen erfüllt ist.
Zu in. Freischarenzügre«
Die wiederholten Freischarenzüge gegen Luzem und
die Stimmung in mehreren der wichtigsten Cantone über
dieselben beweisen unwiderleglich die Verbreitung und
Starke anarchischer Tendenzen in einem grossen Teile
der Schweiz, und den Mangel an Vertrauen gewährenden
Garantien des bestehenden Rechtszustandes und Land-
friedens.
Die ausserordentliche Tagsatzung im Februar 1845
hatte sich im Angesicht des bevorstehenden Sturmes auf-
gelöst, ohne auch nur einen energischen Versuch zu unter-
nehmen, um den Frieden gegenüber bewafl&ieten Freischaren
aufrecht zu erhalten. Mehrere Cantone hatten mittelbar
und unmittelbar dem Zuge Vorschub geleistet. Der Canton
Zürich war im Moment der That gelähmt, und die eidge-
nössische Armee, die er aufrief, konnte im Wesentlichen
nur dazu verwendet werden, um dem Umsichgreifen des
Bürgerkrieges zu wehren; das Gebiet Luzem zu schützen,
kam sie zu spät.
Zwar hat der Stand Zürich stets das Freischaren-
wesen getadelt und nachträglich mit Strafe bedroht. Aber
indem er wenige Monate nach jenen Ereignissen dem
Cap. 32.] DEB MiTTELPABTEI. 417
intellectuellen Führer der Freischaren sein Bürgerrecht
geschenkt hat, hat er gegen seine Aufrichtigkeit in Be-
kämpfung jener Tendenzen und gegen seine Entschieden-
heit, für den Landfrieden einzustehen, bei einem grossen
Teil der schweizerischen Bevölkerung erhebliche Zweifel
erweckt und auch seinerseits die eidgenössischen Rück-
sichten nicht hinreichend gewahrt.
In weit höherem Maasse aber geeignet, das Misstrauen
und die Spannung zu steigern und einen Teil der schwei-
zerischen Stände mit lebhaften Besorgnissen vor neuen
feindlichen Angriffen zu erfüllen, sind die neuesten Ereig-
nisse in dem vorörtlichen Stande Bern, wo durch eine in-
nere Revolution diejenigen Männer, welche den Volksbund
geleitet und die Freischaren angeführt hatten, zur Leitung
dieses so wichtigen Standes sich emporgeschwungen haben.
Es ist so weit gekommen, dass man gezwungen ist, sich
die Möglichkeit nahe zu denken, dass die Wahrung des
eidgenössischen Bundesrechts und des Landfriedens von
dem Stande Bern als vorörtlichem Stande vorzüglich den
Männern in die Hände gelegt werde, welche vor Kurzem
offenkundigerweise an dem Stande Luzern das Bundesrecht
und den Landfrieden gebrochen haben.
Besteht schon gegen den Vorort Luzern bei manchen
Ständen ein grosses Misstrauen, weil derselbe in der Je-
suitensache eine uneidgenössische Politik an den Tag ge-
legt habe, so ist es erklärlich, wenn manche andere Stände
zu dem Vororte Bern noch weniger Vertrauen hegen kön-
nen, insofern dieser seine und somit beziehungsweise die
eidgenössische Politik den Führern der Freischaren anver-
trauen sollte.
Bluntschli, Dr. J. C, Aas meinem Leben. I. 27
418 Manifest [cap. 32.
Zu lY. Katholischer Sonderbund.
Wenn sich auch die enge und militärisch organisierte
Verbindung der 7 katholischen Stände zunächst als ein
Bund der Verteidigung gegen unrechtmässigen Angriff dar-
stellt und eine teilweise Entschuldigung in der grossen
Unsicherheit der gegenwärtigen Rechtszustände findet, so
ist derselbe doch hinwieder geeignet, die verderbliche Kluft
zwischen den verschiedenen eidgenössischen Ständen zu er-
weitem und nicht bloss die Gefahren eines Bürgerkrieges
bedeutend zu vergrössem, sondern auch einem solchen
Bürgerkrieg, so viel an ihm liegt, zugleich den Charakter
eines Religionskrieges beizulegen.
Denn es liegt in diesem Sonderbund:
a) eine Verletzung des bestehenden schweizerischen Bun-
desrechts, welches keinen zweiten von dem gemein-
samen eidgenössischen Bunde unabhängigen und unter
Umständen diesem feindlich gegenüberstehenden or-
ganisierten Bund einzelner Stände zulässt;
b) indem er sich zu einem ausschliesslich katholischen
Bunde stempelt und das Andenken an den sogenann-
ten Borromäerbund von 1586 auffrischt, zugleich eine
Berufung auf die confessionellen Leidenschaften.
Diesen unheilvollen Zuständen entgegenzuwirken, deren
schwere Folgen wo immer möglich von dem Vaterlande
abwenden zu helfen und auf Herstellung eines wahren
confessionellen und politischen Friedens hinzuarbeiten, soll
sich die zürcherische Gesandtschaft keine Mühe verdriessen
lassen. Als leitenden Gesichtspunkt hat sie ausser den
obigen Betrachtungen noch Folgendes zu beachten:
Sie soll die gleichzeitige und gerechte Erledi-
gung dieser IV Hauptpunkte anstreben, und zu keiner
cap. 32.] DER Mittelpartei. 419
einseitigen Behandlung einzelner Hauptpunkte, die als
blosser Parteisieg eines Extrems gedeutet werden könnte,
Hand bieten.
Namentlich soll sie berücksichtigen:
1) dass die Herstellung der aargauischen Klöster
und zugleich die Beibehaltung der Jesuiten
einen absoluten Triumph der ultramontanen
Richtung in sich schlösse, welches der Natur der
Schweiz als eines paritätischen Landes entschieden
widerspricht;
2) dass umgekehrt das Beharren auf der Kloster-
aufhebung und zugleich die Verweisung der
Jesuiten einer Unterdrückung der katholi-
schen Stände gleichkäme und eine Missachtung der
paritätischen Natur der Schweiz von entgegengesetzter
Seite wäre;
3) dass ein gleichzeitiges Fallenlassen der Klo-
sterfrage und der Jesuitenfrage zwar nicht so
einseitig und jedenfalls vorzüglicher als die beiden
vorher bezeichneten Behandlungsweisen wäre, dass
auch dafür sowohl das formelle Recht als der gegen-
wärtige factische Zustand der Dinge spräche, dass
aber dieser Vorschlag doch nur als Notbehelf be-
trachtet werden muss, in Wahrheit nur Waffen-
stillstand, nicht Friede ist, — die bestehende
Spaltung nicht hebt, sondern nur für einige Zeit
verhärtet;
4) dass ein aufrichtiger, confessioneller Friede die gleich-
zeitige und gerechte Erledigung der Kloster-
und der Jesuitenfrage voraussetzt. Zu diesem Be-
huf muss durch die That der katholischen Bevölkerung
27*
420 Manifest der Mittelpabtei. [cap. 32.
bewiesen werden, dass auch die protestantischen Stände
ihr auch mit Bezug auf die katholischen Klöster volles
und unverkümmertes Bundesrecht halten, und ebenso
muss gleichzeitig wieder durch die That der prote-
stantischen Bevölkerung anschaulich gemacht werden,
dass auch die katholischen Stände voraus eidgenössi-
sche Stände seien und sich nicht im Gegensatze zu
den Eidgenössischen von einer ausschliesslich katho-
lischen Politik leiten lassen. Würde in der Kloster-
frage das Recht der katholischen Stände und
zugleich in der Jesuitenfrage die gebührende
Rücksicht auf die protestantische Bevölke-
rung zur Anerkennung gebracht, so wäre allem Volk
klar, dass der confessionelle Friede wiederge-
kehrt sei;
5) dass hinwieder die politische Beruhigung der
katholischen Stände vor gewaltthätigen und wider-
rechthchen Angriffen, sei es durch Freischaren oder
durch Stände, die im Sinne der Freischaren regiert
werden, und die Beseitigung des katholischen
Sonderbundes in innerer Verbindung stehen, und
dass die Eidgenossenschaft für beides zugleich zu
sorgen Veranlassung und Pflicht hat.
In diesem Sinne wird der Gesandtschaft Vollmacht
erteilt, zu handeln und zu stimmen.
Die bewusste und friedliche Haltung der liberal-con-
servativen Partei, welche in mehreren Cantonen bedeutende
Verbindungen hatte, veranlasste manche fremde Diplomaten
in der Schweiz, mich zu besuchen. Der österreichische Ge-
sandte bemühte sich vergeblich, mich zu einem freund-
licheren Verhalten gegenüber dem Sonderbund zu bewegen.
cap. 32.] Gespräch mit dem östebbeichtschbn Gesaitoten. 421
Er war ein Zögling und Anhänger der Jesuiten. Aus dem
Gespräch teile ich Einiges mit:
Er: „Reden Sie mir nicht von der Grösse des sech-
zehnten Jahrhunderts."
Ich: „Und doch hat das sechzehnte Jahrhundert et-
was Grosses erzeugt, voraus das Princip der geistigen
Freiheit und der Hoheit des States."
Er: „Der Stat war vorher schon unabhängig von der
Kirche, vor allem in England. Überdem will die Kirche
nicht übergreifen in den Stat."
Ich: „Allerdings gab es schon früher eine teilweise
Freiheit des Stats. Aber erst das sechzehnte Jahrhundert
hat der mittelalterlichen Oberhoheit des Papstes über den
Kaiser definitiv und principiell ein Ende gemacht. Dieses
Resultat bleibt, und selbst Osterreich würde sich dasselbe
nicht mehr nehmen lassen."
Er: „Die Kirche will nur das Recht schützen, mehr
nicht."
Ich: „Die Kirche ist nicht dafür da, das Recht zu
schützen. Ihr kommt das wettliche Schwert, welches das
Recht schützt, nicht zu."
Er: „Es ist doch gut, wenn die Kirche da, wo rohe
Gewalt geübt wird, davon abmahnt."
Ich: „Allerdings. Das ist aber nur eine moralische
Aufgabe. Zum Schwerte greifen darf sie nicht."
Er: „Zürich wird nicht voran sein in den nächsten
Kämpfen. Wer weiss, ob nicht Manche von denen, welche
gegenwärtig leiten, im Momente der ICrisis das radikale
Lager verlassen und zu den Anderen übergehen werden?"
Ich: „Es gibt Manche unter uns, die einen Krieg
nicht wünschen. Wenn es trotzdem dazu kommt, so
_j
422 Gespbache inr dem östebbeichischen [cap. 82.
müssen sie dem radikalen Impulse folgen oder würden
weggeworfen. Zürich wird nicht leiten. Dennoch wäre
es irrig zu glauben, dass Zürich unter allen Umständen
in dem radikalen Schlepptau bleiben werde.*"
Er: „Wohl; aber wenn die Lage eine andere wird,
an wen werden Sie sich dann anschKessen?**
Ich: „Nicht an die Radikalen."
Er: „Einverstanden.**
Ich: „Nicht an die katholische Partei."
Er: „Nun ja, aber Sie werden das Recht schützen.**
Ich: „Ja, das Recht, aber keineswegs das bloss for-
melle Recht.**
Er: „Es gibt kein anderes, als formelles Recht.**
Ich: „Dann streichen Sie die schönsten und grössten
Entwickelungen disr Weltgeschichte.**
Er: „Wenn man das formelle Recht verlässt, dann
hat man keinen Halt mehr.**
Ich: „Es gibt Fälle, wo starres Festhalten am for-
mellen Recht Untergang heisst. Wie steht es in Galizien?
Ist es wahr, dass die Leibeigenschaft aufgehoben wird?**
Er: „Sie besteht schon nicht mehr.**
Ich: „Gut, dann hat sie Kaiser Joseph 11. schon auf-
gehoben, und das formelle alte Recht durch ein besseres
neues verdrängt.**
Er: „Die Bauern daselbst sind glebae adscripti. Das
ist dort Recht.**
Ich: „Das ist ja noch Leibeigenschaft. Der Bauer ist
ohnehin mit seinem Gute verbunden. Aber ein absolutes
Recht der Gebundenheit an die Scholle darf doch nicht
gelten. Wenigstens Ausnahmen müssen zugestanden wer-
den.**
Cap. 32.] UND DEM FRANZÖSISCHEN GESANDTEN. 423
Er: „Ich sehe nicht ein, wie solche Ausnahmen ohne
Rechtsverletzung zugelassen werden könnten."
Ich: „Sagen Sie mir, wenn Christus in einer Gali-
zischen Bauemfamilie geboren worden wäre, hätte auch
er darauf verzichten müssen, herumzuziehen und das Evan-
gelium zu verkünden?**
Er suchte auszuweichen, ich wiederholte die Frage,
Er: „Ja, er hätte als glebae adscriptus darauf ver-
zichten müssen. Die Schranken sind für Alle gezogen.**
Ich: „So, und das nennen Sie Recht? ein Recht,
welches das natürliche Recht des grössten Individuums
verneint!**
Viel verständiger äusserte sich der französische Ge-
sandte. Auch davon habe ich Einiges niedergeschrieben.
Er bemerkte: „Ich habe mich überzeugt, dass die
Elemente der Ordnung in der Schweiz stärker sind, als
man gewöhnlich meint. Das Nötigste ist, die Leiden-
schaften zu ermässigen. Man kann die eidgenössischen
Fragen nicht lösen; deshalb muss man sie fallen lassen.
Hätte man bei uns die Jesuitenfrage vor die Kammern
gebracht, wir würden auch in grosse Aufregung gekom-
men sein und noch darin stecken. Aber man hat sie fallen
lassen, und nun ist sie vergessen. Ich habe oft von Schwei-
zern sagen hören, Frankreich hätte in Rom auf Entfernung
der Jesuiten aus Luzem wirken sollen. Auch solche haben
das gesagt, die jede fremde Einmischung in schweizerische
Händel verwerfen; als ob das keine Einmischung wäre.
Bevor die Jesuiten nach Luzern berufen wurden, hat Frank-
reich in Rom dagegen gewirkt. Schon glaubte unser Ge-
sandter Rössi, er habe das erreicht. Damals war die Frage
noch, offen, heute ist sie es nicht mehr. Nun können wir
424 Gespräch mit dem [cap. 32.
Nichts machen, ohne in eine falsche Stellung zu geraten.
Luzern hat von seinem Rechte Gebrauch gemacht. Wir
sind mit diesem Gebrauche nicht einverstanden, aber wir
können in Rom nicht das Recht Luzerns bestreiten. Über-
dem würde es Nichts helfen. Die Päpste lieben es, ihre
Infallibilität auch in die Politik hineinspielen zu lassen.
Da der vorige Papst den Luzemern die Jesuiten empfohlen
hat, so wird der jetzige Papst nicht wenige Jahre nachher
seinen Vorgänger desavouieren.**
Da ich ihm bemerkte, ich fürchte die Jesuiten nicht,
wohl aber den Geist der Politik, die sich ihnen zu Füssen
geworfen habe, denn das sei der Geist der Reaction, die
jeden Fortschritt hindere, so kam das Gespräch auf die
Bundesverfassung und die Notwendigkeit einer Bundes-
reform. Er fragte mich über meine Ansicht betreffend
das Project Rossi und über meine Ideen betreffend eine
neue Organisation der Bundesgewalt, und äusserte sich
sehr befriedigt über meine Mitteilung. Sodann sagte er:
„Als ich in die Schweiz kam, hörte ich immer, die einen
Schweizer warnen vor Osterreich und die anderen vor
Frankreich. Der Glaube, dass Frankreich und Osterreich
sich in der Schweiz bekämpfen, war sehr verbreitet. Dann
wurde ich gewahr, dass die Schweizer sich um Frankreich
und Osterreich sehr wenig kümmern und sich über beide
moquieren. Das hat viel zu der gegenwärtigen Situation bei-
getragen und die extremen Gegensätze verstärkt. Es war
auch früher wirklich so, aber es ist nicht mehr so. Frank-
reich und Österreich wollen und brauchen keinen politi-
schen Einfluss mehr in der Schweiz. Sie sind in der Haupt-
sache in der Auffassung der schweizerischen Angelegen-
heiten einig. Sie kümmern sich mehr um die socialen
Cap. 32.] FRANZÖSISCHBN GESANDTEN. 425
Zustände der Schweiz als um die politischen. Nur in den
äusserlichen Formen unterscheiden wir uns von Österreich.
Ich mache sogar Herrn Ochsenbein meinen Besuch, weil
er einmal als Chef der Regierung gewählt ist. Es ist
allerdings nicht zu leugnen, dass die Ideen und das Schick-
sal von Frankreich auf die Schweiz von jeher einen grossen
Einfluss geübt hat. Auf unsere Revolution folgte die hel-
vetische Republik, dann auf das Consulat und das Kaiser-
tum die Periode der Mediationsverfassung, auf die Re-
stauration in Frankreich die Restaurationsverfassung der
Schweiz. Die Pariser Julirevolution ging den schweizeri-
schen Revolutionen der dreissiger Jahre voraus. Von da
an gehen aber die beiden Länder auseinander. Bei uns
ist der Radikalismus gebändigt worden, in der Schweiz
hat der Liberalismus in den Radikalismus umgeschlagen.
Das ist das Bedenkliche."
Ich machte darauf aufmerksam, dass die Schweiz,
wie sie geographisch zwischen Frankreich und Deutsch-
land liege, so auch den Übergang bilde in den politischen
Schicksalen. Die deutsche Bewegung folge immer, schon
seit dem Mittelalter, um ungefähr 50 Jahre nach der fran-
zösischen. So sei Deutschland gegenwärtig in einer ähn-
lichen geistigen Krise, wie Frankreich zu Anfang der fran-
zösischen Revolution. Unsere erste helvetische Revolution
sei nur ein Nachhall der französischen Revolution gewesen,
ohne ein eigenes Bewusstsein. Wie ein Traum sei sie vor-
übergegangen. Die gegenwärtige schweizerische Revolution
sei eine nationale Krankheit und müsse durchgemacht
werden. Wenn auch die Julirevolution von 1830 einen An-
stoss gegeben habe, so sei das wesentlich Neue bei uns
nur aus der Beziehung zu der kommenden deutschen Re-
426 Versuch, den Papst Pius IX. zur [cap. 32.
volutionsperiode zu erklären. Frankreich habe seine Re-
volution hinter sich, Deutschland die seinige vor sich. Wir
ringen einstweilen noch mit unserer Revolution. Dieselbe
wird aber nicht so gefahrlich werden, wie die französische
der Neunzigerjahre gewesen war. Die Wahrheit dieser Be-
merkung schien ihm einzuleuchten.
Über Zürich bemerkte er: „Die politischen Ideen gehen
vornehmlich von Zürich aus. Darauf beruht Ihr Einfluss.
Es ist gut, dass Zürich beschwichtigend und ermässigend
wirkt. Der »legale Radikalismus", der jetzt in Zürich
herrscht, hat Manches gelernt und bildet den Übergang
zum Liberalismus.**
Der bösartigste und giftigste Stachel in den schwei-
zerischen Parteikämpfen war offenbar die Jesuitenberufung
nach Luzem. Gelang es, diesen Dorn aus dem eidgenössi-
schen Körper herauszuziehen, so war noch eine Genesung
möglich ohne Bürgerkrieg. Die Stimmung wurde dann
gemässigter, die Erhitzung des Fiebers legte sich. Es gab
nur Eine, freilich unsichere Möglichkeit. Rom, der Papst
konnten den Frieden geben, wenn sie die Jesuiten ab-
riefen. —
Ich versuchte auch diesen Ausweg, den letzten mög-
lichen, mit geringer Hoffnung. In der Schweiz suchte ich
Freunde, besonders unter den Katholiken, zu gewinnen,
welche die Bitte an den Papst unterstützten, dass er um
des Friedens willen die Jesuiten wegrufe. Manche billigten
den Gedanken lebhaft und scheuten sich doch vor dem nö-
tigen Schritte. Leichter war es, die Unterschriften von
Protestanten zu erhalten; aber diese fielen in Rom weniger
in's Gewicht. Die ängstlichen Seelen meinten, sie entgehen
durch Nichtsthun am besten der VerantwortlicUieit.
Cap. 32.] ZuRUCKBERUFirNG DEB JbSUITEN ZT BEWEGEN. 427
Einer unserer jüngeren Freunde und Parteigenossen,
ein begeisterter Rohmerianer, Otto Schulthess, befand
sich damals in Rom. Mit dem Eifer der Jugend und mit
gewandter Kühnheit betrieb er dort diese patriotische Ange-
legenheit an dem päpstlichen Hofe. In seinen überaus inter-
essanten Briefen an seinen Bruder Heinrich Schulthess
berichtete er über alle seine Schritte. Die Briefe beleuchten
die Personen, Stimmungen und Meinungen in den dem
Papste nahe stehenden Kreisen von Klerikern und Diplo-
maten. Hätte der französische Gesandte Graf Rossi den
Auftrag seines Hofes ebenso entschieden vollzogen, es wäre
ihm wohl der Erfolg nicht entgangen. Für einen schlichten
Privatmann ohne amtliche Stellung war die Aufgabe hun-
dertmal schwieriger. Dennoch kam er dem Ziele sehr
nahe. Der Papst war damals noch nicht ein Werkzeug in
der Hand des Jesuitenordens. Er hatte damals noch ein
Verständnis für die nationalen und selbst einigermassen
für die liberalen Ideen und Bestrebungen der Zeit, wenn-
gleich er in kirchlicher Hinsicht an den Überlieferungen
der alten päpstlichen Politik fester hielt, als die Welt
wusste und glaubte.
Der Pater Theiner, Consultore del' Indice, nahm
den jungen Mann freundlich auf und eröfifhete ihm den
Zutritt zu anderen einflussreichen Personen, zunächst zu
dem Cardinal Castracane, dann zu dem Abbe Bonne-
cho se, der sich unseres Freundes und seiner Sache mit
innerlichem Interesse annahm. Auf der französischen Bot-
schaft sprach er den Prinzen von Broglie, und später
den Gesandten Rossi. Er besuchte den Monsignore Car-
boli, der das Referat in den Schweizersachen hatte, und
den Cardinal Ghizzi, früheren Nuntius in der Schweiz, der
428 Mbinb Denkschrift [cap. 32.
einmal erklärt hatte: „die Schweiz ist meine Jugendliebe".
Mit dem Marchese d'Azeglio fand er sich sofort als Po-
litiker auf gemeinsamem Boden. Auch der Beichtvater
des Papstes, der Cardinal Orioli, zeigte anfangs ein un-
erwari;etes Verständnis für seine Aufgabe und schien ge-
neigt, dieselbe bei dem Papste zu unterstützen.
Später aber hielt er einen Erfolg für nicht mehr mög-
lich. In dem letzten Momente, als unser Vertreter bereits
an der Möglichkeit eines Erfolges verzweifelte, eröffnete sich
ihm noch ein freundlicher Hoffnungsstrahl. Der Vertraute
des Papstes, Pater Ventura, sagte ihm: „Es ist nicht
unmöglich. Die Schwierigkeit liegt nur noch in der Form.
Der Papst wünscht, dass ihm ein schicklicher Anlass ge-
boten werde, die Jesuiten von Luzern abzurufen. Er würde
den Widerstand der Jesuiten durchbrechen. Aber er be-
darf einer genügenden Veranlassung.**
Eben daran fehlte es. Die schweizerischen Katho-
liken, die in Rom ein Ansehen hatten — ich nenne unter
anderen den Abt von Einsiedeln — wagten es nicht, ihre
Herzensmeinung auszusprechen. Wir konnten nur einige
wenige katholische Unterschriften zu der Denkschrift er-
langen, welche dem Papst vorgelegt werden sollte und
auch wirklich vorgelegt wurde.
Die von mir verfasste Denkschrift erinnerte vorerst
daran, dass der Friede der Schweiz seit Jahrhunderten auf
einer paritätischen Politik beruhe, welche die Rechte
beider Confessionen achte. Sie erkannte an, dass von der
radikalen Partei in der Schweiz in neuerer Zeit, die Rechte
der Katholiken verletzt worden seien, hob aber den Unter-
schied hervor zwischen Radikalismus und Protestantismus
und führte aus, dass noch im Sommer 1844 eine Mehrheit
cap. 32.] AN Papst Pius IX. 429
von 17 Ständen auf Antrag des protestantischen Cantons
und Vororts Zürich den Aargauischen Antrag auf Aus-
weisung der Jesuiten aus der Schweiz verworfen habe.
Erst seitdem der Vorort Luzern die Jesuiten berufen, da-
durch den paritätischen Charakter der Schweiz missachtet
und die Leidenschaften auf's Ausserste gereizt habe, sei
der Badikalismus in der Schweiz zu steigender Macht ge-
langt und sei nun eine radikale Mehrheit auf der nächsten
Tagsatzung in Aussicht, welche selbst vor dem Bürgerkrieg
nicht zurückschrecke, um die Ausweisung der Jesuiten aus
der Schweiz mit Gewalt durchzusetzen. Es wurden sodann
die Aussichten über den Gang des Krieges erörtert und
die Gefahren geschildert, welche in beiden Fällen den con-
fessionellen Frieden, die Freiheit der Schweizer, die Selb-
ständigkeit der Cantone, die Sicherheit der Schweiz vor
fremder Einmischung bedrohten, möchten nun die Radi-
kalen oder der Sonderbund siegen. Der Sieg des Radika-
lismus wird als wahrscheinlich, der des Sonderbundes als
unwahrscheinlich und auf die Dauer als geradezu unmöglich
bezeichnet. Als das einzige und letzte Mittel, den Bürger-
krieg und seine Gefahren abzuwenden, wird die Rück-
berufung der Jesuiten aus Luzern in Vorschlag gebracht,
und es werden die Bedenken dagegen scharf hervorge-
hoben und widerlegt. Diese Stelle lautet so:
„Es werden hauptsächlich folgende Einwendungen er-
hoben:
1) Es würde durch diese Rückberufung ein Rechtsprincip
verletzt und der falsche Grundsatz zugestanden, dass
Luzern, obwohl ein katholischer Stand, nicht mehr
frei sei, einen katholischen Orden nach seinem Be-
lieben aufzunehmen;
430 Meine Dekkschbift [cap. 32.
2) es würde durch dieselbe die Anmassung der radikalen
Partei, von Bundeswegen über die Existenz katholi-
scher Institute in den einzelnen katholischen Orten
nach Willkür zu entscheiden, teilweise anerkannt,
und zwar von dem Oberhaupte der Kirche selbst,
gegen welche der widerrechtliche Angriff gerichtet sei;
3) die Verteidiger des Rechts würden dadurch entmutigt
und geschwächt und die Partei der Revolution nur
zu neuen Freveln angefeuert werden;
4) insbesondere würde das gegenwärtige Regiment von
Luzem, welches mit den Jesuiten verwachsen sei,
durch die Abberufung erschüttert und gestürzt, und
die Jesuiten nur um so eher dann auch aus den-
jenigen Cantonen der Schweiz vertrieben werden, in
denen sie seit längerer Zeit schon Aufnahme und
Schutz gefunden haben.
„Die einen dieser Einwendungen beruhen auf Missver-
ständnissen, die anderen müssen eher berücksichtigt und
dadurch beseitigt, als widerlegt werden. — So ist es klar:
1) dass der Papst als das sichtbare Oberhaupt der ka-
tholischen Kirche vollkommen berechtigt ist, um Blut-
vergiessen zu hemmen und eine ganze Nation vor
grossem Unheil zu bewahren, einen ihm dienenden
katholischen Orden aus einem State abzurufen, selbst
wenn dessen Bürger bereit wären, für die Beibehal-
tung dieses Ordens ihr Blut zu verspritzen;
2) dass somit der Papst, wenn er die Jesuiten von Lu-
zern abruft, dadurch an sich weder die Rechte des
Standes Luzern beeinträchtigt und preisgibt, noch
die Anmassung der radikalen Partei irgend weder
direct noch indirect gutheisst;
cap. 32.] AN Papst Pius IX. 431
3) ergibt sich aus der ganzen Geschichte der letzten
Jahre mit Sicherheit, dass der schweizerische Radi-
kalismus durch die Berufung der Jesuiten nach Lu-
zem den für ihn günstigsten Vorwand erhalten und
einen Hebel bekommen hat, mit dessen Hilfe er sich
in dem grössten Teil der Schweiz neuerdings zur
Herrschaft aufgeschwungen hat, woraus doch wohl
folgt, dass umgekehrt die Zurückberufung der Je-
suiten dem Radikalismus den für ihn günstigsten Vor-
wand und die beste Stütze seiner Herrschaft von den
Händen nehmen, somit denselben wesentlich schwächen
würde;
4) endlich würden durch diese Abberufung der Jesuiten
die gemässigteren und gesunderen Elemente in der
ganzen Schweiz, die nun zurückgedrängt sind, an
Kraft wieder zunehmen, und die friedliche und recht-
liche Gesinnung in der ganzen Nation, namentlich
auch in der protestantischen Bevölkerung der Schweiz,
ohne deren Beihilfe die katholischen radikalen Minder-
heiten viel zu schwach sind, um gefahrlich zu sein,
würde dadurch verstärkt werden, somit allerdings
nicht eine blosse reactionäre Tendenz, wohl aber der
confessionelle Friede in der Schweiz eine weit grössere
Verbreitung, Unterstützung und Verteidigung finden,
als in der letzten Zeit."
Die Hauptstelle der Denkschrift ist folgender Schluss
derselben:
„Allerdings könnte die Zurückberufung der Jesuiten,
würde sie bloss aus Furcht vor den Drohungen des Radi-
kalismus und lediglich in dem Sinne geschehen, diesen
durch eine Concession zu beschwichtigen, ein ebenso grosser
432 ScuEiTEBN DES Vebsuches. [cap. 32.
Fehler und mit schlimmen Täuschmigen verbunden sein,
als sie, in der rechten Weise gedacht und vollzogen, eine
heilbringende Massregel ist.**
„Die äussere Form, welche der heilige Stuhl wählen
mag, wird nur dann einen grossen Eindruck machen, wenn
sie weniger für die Regierungen als vielmehr für die Na-
tion berechnet ist und dieser mit voller Klarheit und mit
der Kraft einer erhabenen Gesinnung die Gründe eröffiiet.
Wir denken uns den Act als ein Wort aus der Fülle des
edelsten christlichen Herzens im Namen Dessen gesprochen,
der zu dem eifrigen Petrus gesagt hat: „Stecke dein Schwert
in die Scheide", als eine Botschaft des Friedens, als ein
christliches: „Friede sei mit Euch**, geredet zu einer braven,
aber irre geleiteten Nation/
In einem Schreiben an den Nuntius in Luzem vom
1. Juli 1847, das infolge von jesuitischer Einwirkung nicht
rechtzeitig anlangte, sprach Pius IX. seine Geneigtheit aus,
vermittelnd zu wirken, wenn das von einer erheblichen
Anzahl von Katholiken gewünscht werde.
Schliesslich überwogen in der Seele des Papstes doch
nach einigem Schwanken die Bedenken gegen das gewagte
Eingreifen. Der letzte Versuch einer friedlichen Wendung
war gescheitert.
Das Schicksal hatte auch an den Papst eine Frage
gestellt. Hätte er nach unseren Wünschen entschieden, so
wäre der Sonderbundskrieg vermieden worden, und auch
der Papst selber hätte den extremen Parteien und dem
Jesuitenorden gegenüber eine Stellung errungen, in welcher
ihm die Fortdauer seiner Regierung im Kirchenstat und die
Versöhnung mit dem Liberalismus leichter geworden wäre.
cap. 33.] Eine geistig unkbenbürtige Ehe. 433
33.
1847. Anna S. Geistig unebenbürtige Ehe. Der Tod des Kindes.
Scheidung. Rigifahrt. Ein Gebet. Studien zur Bundesreform
und über eine neue Zürcher Verfassung. Der Sonderbundskrieg.
Eindrücke und Entschlüsse. Vorschlag des Grossen Bats der
Schweiz. Ende der schweizerischen Periode.
In Zürich wohnte damals eine junge liebenswürdige
Dame mit ihrem Knaben, eine Nichte meiner Frau und
vertraute Freundin meines Hauses, Anna S. in ihrem elter-
lichen Hause. Sie hatte in einer unglücklichen Ehe gelebt.
Als junges unerfahrenes Mädchen hatte sie der enthusiasti-
schen und stürmischen Werbung eines Bremer Kaufmanns
von angenehmem Äussern ihr Jawort gegeben und ihre
Zweifel gegen diese Verbindung, die ihr bald kamen, Nie-
mandem anvertraut. So wurde die Ehe geschlossen, welche
bald offenbarte, dass die Naturen der beiden Gatten nicht
zu einander passten. Sie war ihrem Manne an Geist, Bil-
dung und feinem Gefühl sehr überlegen und empfand es
als ein unwürdiges, zuletzt unerträgliches Leiden, einem
Manne anzugehören, der ihr geistig nicht ebenbürtig sei.
Sie hatte etwas Vornehmes in ihrer Art, er war ein ge-
wöhnlicher Bürger ohne Verständnis für die Bedürfnisse
einer edleren Natur. Zwar liebte er seine Frau, aber er
konnte ihr nicht genügen. Nun geriet er überdem in öko-
nomische Verlegenheiten und war genötigt^ seine Zahlungen
einzustellen. Die Frau kehrte nach Zürich zu ihrer Fa-
milie zurück.
Wenn die älteren deutschen Gesetze die Ungenossen-
ehe untersagten, so wollten sie die Wahrheit schützen, dass
die echte Ehe ein Bündnis zweier auf dem Fusse der Gleich-
heit stehenden, zu einander passenden Individuen sei, und dass
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. < 28
434 Unebenbübtige Ehe. [cap. 33.
jede allzu grosse Verschiedenheit der Rasse ein schwer zu
tiberwindendes Hindernis des innigsten Zusammenlebens sei.
Der Fehler jener älteren Gesetze war der, dass sie die Un-
ebenbörtigkeit lediglich nach den äusserlichen und sicht-
baren Gegensätzen der Abkunft bemassen und die andere
Wahrheit verkannten, dass zuweilen in einem Manne von
vornehmerem Geschlecht ein gemeiner Charakter und Geist
wohne, und in einer Frau von niederer Abkunft eine hohe
adelige Seele leben könne. Die Ebenbürtigkeit oder Unge-
nossenschaft der Individuen ist für die Ehe noch wichtiger
als die der Rasse, und sie konnte von den Gesetzen nicht von
Anfang an beachtet werden, weil sie nicht wie die Rasse von
Anfang an klar ist, sondern erst im Leben sichtbar wird.
Dieser Gegensatz kann daher unmöglich als ein Ehehindemis,
er kann nur als ein Scheidungsgrund berücksichtigt werden.
Eine im Charakter ungleiche Ehe zieht, je nach der
Art des individuellen Wesens, zuweilen mit Notwendigkeit
das edlere Individuum durch das Schwergewicht des an-
dern Teiles abwärts in die Tiefe. Scheidung ist Rettung
der individuellen Ehre und Eigenart, und daher berechtigt.
Das wurde mir in diesem Beispiele, das ich genauer kennen
lernte, völlig klar.
Nun kam noch Qin Unglück hinzu, welches die Lösung
dieser Ehe beförderte. Der Knabe Willy, das einzige Kind
dieser Ehe, war plötzlich verschwunden. Man suchte ihn
vergeblich. Zuletzt hatte man ihn auf dem Platze vor
dem grosselterlichen Hause spielen sehen und bemerkt,
dass er sich am Ufer der Limmat, die dort aus dem See
abfliesst, bei den Schiffen aufgehalten hatte. VermutUch
war er in's Wasser gestürzt und ertrunken. Aber sichere
Kunde war lange nicht zu erhalten. —
Cap. 33.] RiGIPAHBT. 435
In diesen Tagen und Nächten der Seelenangst um
das vermisste Kind waren meine Frau und ich bei der
fieberhaft aufgeregten Mutter. Der Adel ihrer Seele trat
sichtbar in ihren Zügen hervor. Sie war tragisch-schön
in dem entsetzlichen Leiden. Ich hatte sie auf den Albis
begleitet, damit sie in der reineren Bergluft und in dem
Hochwalde einige Linderung finde. Dort kam die zuver-
sichtliche Ahnung über sie, dass die Leiche des Kindes
gefunden sei. Als wir in die Stadt zurückkehrten, wurde
diese Ahnung bestätigt. Die Fischer hatten, einige Tage
nach dem Sturze des Knaben, seine Leiche in dem Limmat-
bett gefunden, ein paar Stunden unterhalb der Stadt.
Auch der Vater des Knaben war erschienen. Er
gedachte in Amerika sich niederzulassen, wohin ihm die
Frau nicht folgen wollte. Auch er Hess sich nun geneigt
finden, die Scheidung zu vollziehen. Dadurch wurde sie
innerlich befreit; aber es dauerte doch noch lange, bis die
gerichtliche Scheidung in Amerika ausgesprochen ward.
Eine Erholungsreise, die ich mit meiner Frau und
Anna S. auf den Rigi machte (12—14. September 1847),
ist mir wegen der starken Eindrücke, die ich psychologisch
und politisch durch diese Rigifahrt erhielt, in lebhafter Er-
innerung geblieben. Seltsamerweise entsprach das Wetter
völlig den Stimmungen, die uns bewegten. Die grossartige
Gebirgsnatur in dem glänzenden Sonnenlicht und dann
wieder von wildem Gewittersturm durchschauert, weckte
in mir ein wunderbares Gefühl von der Nähe und Er-
habenheit Gottes.
Die bevorstehenden Kämpfe bekümmerten meine Seele.
Ich gab meiner Sorge und Stimmung Ausdruck in einem
Liede, das wie ein Gebet klang:
28*
436 Ein Gebet. [cap. 33.
Ehre sei Grott in den Höhen
Und Friede in den Thälem,
1.
Die Berge preisen Dich in hoher Pracht,
Die Thäler grünen in des Friedens Lust,
Und sel'ge Ruhe strahlet aus den Seen wieder.
Des Himmels Bläue ist erfüllt von deinem Hauche.
2.
In diesen Gottesfrieden schreien Menschenstimmen
Nach Krieg und Brudermord und Tyrannei,
löse dieses Missgetöne trüber Leidenschafken
In Harmonie mit Deiner Lieblingswohnung auf.
3.
Und wenn es nötig wird, dass Krieg die Schweiz zerreisse,
Dann Herr, fahr' von den Bergen her in des Gewitters Griff
Und wirf den Blitz und Donner wider Deine Spötter,
Und rette Deine Schweiz vor Barbarei.
4.
Dann führe Du das Schwert des Rechts*
Und schirme Du des Geistes echte Freiheit.
Dann lass' befreit von allzu schwarzen langen Schatten
Das £idgenöss'sche Kreuz ersteh'n in der Lichter frischem
Glanz. —
Zu den politischen Erregungen gesellten sich persön-
liche. Sonderbarerweise verflochten sich die inneren Kämpfe,
die unvermeidlich waren, um das nahe Verhältnis der Ehe-
gatten zu der Freundin zu regulieren, mit den politischen
Gedanken jener Tage. Ich nannte wohl im Scherz meine
Frau die „alte Schweiz" und Anna die Repräsentantin der
„jungen Schweiz".
Während dieser ernsten und in die Tiefe des Wesens
eingreifenden inneren Kämpfe lernte ich meine Frau erst
ganz kennen. In der Regel verhüllte sie ihre eigensten
cap. 33] Vefhaltnis zu^heineb Frau. 437
Gedanken und konnte nur schwer das treffende Wort fin-
den. Nun im Innersten angeregt, fand sie ihre Sprache
und konnte nun ihre volle Meinung mit aller Entschieden-
heit eines selbstbewussten Geistes in grossartiger Form offen-
baren. Ich stand verwundert und sogar beschämt vor ihr.
So gross, so edel und zugleich so bedeutend und ihres
Rechtes voll bewusst, hatte ich sie bisher nie gesehen.
Ich habe diesen Moment nie mehr vergessen können. Es
war wie ein reinigendes Gottesgericht. Ich musste meine
ganze Kraft aufwenden, um ihr ebenbürtig und ihrer wür-
dig zu erscheinen. Wir wurden uns klarer als zuvor, wie
sehr wir zusammen gehörten. —
Auch die Hoffnung auf eine innere Vermittlung der
Schweiz gab ich noch nicht auf. Wenn der Sieg der äusse-
ren über die innere Schweiz nicht rasch und entschieden
gelang, wenn die letztere einige Widerstandskraft besass,
und der Krieg sich in die Länge zog, so gab es einen
Moment, in welchem die Mittelpartei vortreten und die
Versöhnung mit Aussicht auf Erfolg versuchen konnte.
Für diese Eventualität bereitete ich das Nötige vor.
Zu diesem Behuf machte ich Studien sowohl über eine
schweizerische Vermittlung und Bundesreform, als über
eine neue Verfassung des Cantons Zürich.
Das Hauptgebrechen der schweizerischen Verfassung,
deren Grundzüge der Natur der Schweiz, als einem Bunde
selbständiger Republiken, entsprachen, schien mir nicht
darin zu liegen, dass auf der Tagsatzung alle Cantone, die
grossen und die kleinen, gleiches Stimmrecht ausübten,
sondern darin, dass die geschäftsleitende Spitze eher can-
tonal als föderal organisiert war. Die Erneuerung des
föderalen Amtes eines schweizerischen Landammanns, der
438 Studien zvb Buin)B8BEF0B]c. [cap. 33.
alljährlich von der Tagsatzung gewählt werden sollte, und
eine Zusammensetzung des vorörtlichen Statsrates, welche
für vielseitige Erwägung und Berücksichtigung der ver-
schiedenen Gruppen von Cantonen Bürgschaft gewährte,
schienen mir die hauptsächlichsten Reformen, deren die
Schweiz zur Ausbildung ihrer föderalen Verfassung als
Statenbund bedurfte. Für die vorörtliche Bundesregierung
schlug ich folgende Zusammensetzung vor:
1) der Landammann der Schweiz als Vorsitzender;
2) zwei Mitglieder von der Regierung des vorörtlichen
Standes auf zwei Jahre gewählt, welcher ' der Sitz
der Bundesregierung sei;
3) zwei Mitglieder, von den beiden anderen Vororten
gewählt;
4) sechs Mitglieder von den übrigen, in 6 Gruppen zu
ordnenden Cantonen ernannt. Diese Gruppen teilte
ich so ein: 1) üri, Schwyz, ünterwalden, 2) Zug,
Glarus, Freyburg und Solothum, 3) Basel, Schaflf-
hausen und Neuenburg, 4) Appenzell, St. Gallen und
Thurgau, 5) Graubündten, Wallis und Tessin, 6) Aar-
gau, Waadt und Genf. Der vorörtliche Statsrat sollte
ein Ausschuss der föderalen Eidgenossenschaft sein,
wie die Tagsatzung ihre Vertretung im Grossen.
Der Entwurf einer neuen Zürcher Verfassung schlug
viel tiefer greifende Änderungen vor und war eigentümlich
gedacht. Er beruhte auf dem Gedanken der repräsentati-
ven Demokratie und unternahm es, diesen Gedanken ener-
gischer als bisher durchzuführen und überall die moderne
Verbindung einer starken Autorität mit breiten uni kräf-
tigen Volksrechten zu verwirklichen. Obwohl der Entwurf
nicht realisiert wurde, und auch keine Aussicht ist, dass
cap. 33.] Mein Verfassungsplan füb Zübich. 439
er realisiert werde, so rechtfertigt es doch die Rücksicht
auf meine Lebensgeschichte, dass ich einige Mitteilungen
über meine damalige politische Denkweise mache.
Die höchste Statsgewalt, insbesondere die gesetz-
gebende Gewalt, sollte ausgeübt werden durch ein Zu-
sammenwirken:
1) der Regierung, deren geschäftsleitende Mit-
glieder (Bürgermeister und Statsräte) den Sitz-
ungen des Grossen Rates und- des Landrates mit be-
ratender Stimme beiwohnen, aber nicht selber als
Mitglieder dieser Behörden handeln dürfen, und deren
Beiräte (Regierungsräte) zu Mitgliedern des Gros-
sen Rates, nicht aber des Landrates gewählt werden
mögen;
2) des Grossen Rates, in welchem die verschiedenen
Interessenclassen vertreten sein sollten, die gewesenen
Bürgermeister, Statsräte, die früheren und die gegen-
wärtigen Vorsitzenden des Obergerichts, die Reprä-
sentanten der Landeskirche, die Waflfencommandanten
der Miliz, die Abgeordneten sowohl der Cantonallehr-
anstalten als der Volksschule, Vertreter der Anwälte
und der Notare, der Kaufleute und Fabrikanten, der
Handwerker und sämtlicher Bezirke, ergänzt durch
zwölf von dem Landrat frei gewählte Mitglieder und
sechs von dem Grossen Rat selbst Cooptierte;
3) des Landrates, der aus gewählten Ausschüssen
sämtlicher politischen Gemeinden, im Verhältnis von
einem Mitglied auf je 250 Seelen gebildet ward. Der
Landrat war somit eine repräsentative Landsgemeinde
von ungefähr 1000 Mitgliedern.
Die eigentliche Beratung und Amendierung der 6q-
440 Mein Yerfassungsplan für Zürich. [cap. 33.
setze, in der Regel auf Vorschlag der Regierung, war bei
dem Grossen Rate. Aber über das Ganze stimmte der
Landrat ab, ohne dessen Zustimmung das Gesetz nicht zu
Stande kam. Ebenso bedurften Bündnisse, Steuern, Stats-
anleihen der Genehmigung des Landrates. Ich denke, die
Institution eines solchen Landrats war nicht weniger volks-
tümlich und für den Fortschritt der Gesetzgebung weniger
gefahrlich, als das später in Zürich eingeführte Referendum.
In dem Landrate liess sich eine verständige Beratung pfle-
gen, und sowohl die Regierung als der Grosse Rat konnten
durch ihre Botschaften vor demselben die Anträge vertei-
digen. Sein Urteil war überlegt und geordnet.
4) Der in den Gemeinden versammelten gesamten Bür-
gerschaft, ohne deren Zustimmung Verfassungs-
änderungen nicht eingeführt werden konnten.
Die Regierung sollte bestehen:
1) aus zwei Bürgermeistern, auf Vorschlag des Gros-
sen Rates von dem Landrate frei gewählt;
2) aus fünf Statsräten, auf Vorschlag der Bürger-
meister durch den Grossen Rat gewählt;
3) aus achtzehn Beisitzern, Regierungsräten, auf
Vorschlag der Regierung im engeren Sinne (Bürger-
meister und Statsräte) von dem Landrate gewählt.
Sämtliche Bezirke des Landes müssen darin ver-
treten sein.
Die eigentliche Geschäftsbesorgung und Verwaltung
ist der Regierung im engeren Sinne anvertraut. Wichti-
gere Geschäfte gelangen an die durch Regierungsräte ver-
stärkte und erweiterte Regierung.
Für die Rechtspflege trug ich auf Einführung der
Ceschworenen bei Criminalverbrechen und politischen
cap. 38.] Der Sondebbundskbieo. 441
Vergehen an. Die Geschworenen sollten durch das Loos
ans den Mitgliedern des Landrates bezeichnet werden.
Auch in der Organisation der Kirchensynode nahm
ich die Änderung vor, dass dieselbe durch eine grössere
Zahl weltlicher Mitglieder ergänzt werden sollte.
Inzwischen näherten sich die schweizerischen Kämpfe
der unvermeidlichen Katastrophe. Nachdem auch St. Gallen
und nach einer cantonalen Revolution Genf in das radikale
Lager übergegangen waren, kam auf der Tagsatzung des
Jahres 1847 endlich die Zwölfstimmenmehrheit zu Stande,
welche die Auflösung des Sonderbundes und die Ausweisung
der Jesuiten aus der Schweiz von Bundeswegen beschloss.
Damit war der Bürgerkrieg entschieden. Für die äussere
Schweiz war es aber sehr nützlich, dass nun die Rechts-
form eines Tagsatzungsbeschlusses gewahrt blieb. Der
Krieg bekam dadurch den Anschein einer legalen Bundes-
execution.
Der General Dufour, welchem das Obercommando
der Bundestruppen übertragen ward, hatte den glücklichen
Gedanken, die weit überlegene Macht der grossen Cantone,
welche die Tagsatzungsmehrheit zu Stande gebracht hatten,
zu massenhafter Geltung zu bringen und mit dem offen-
baren grossen Übergewicht seiner Armee den Widerstand
der schwachen und kleinen Sonderbundscantone, womöglich
ohne ernsten Kampf zu erdrücken. In der That verlief
der Sonderbundskrieg sehr rasch und unblutig. Die innere
katholische Schweiz zeigte sich viel schwächer und mut-
loser, als allgemein erwartet worden war.
Noch einmal, unmittelbar vor dem Ausbruch des Krie-
ges, flackerte in Zürich die radikale Leidenschaft auf. Es
wurde, um die Opposition zu schrecken, der ordentliche
28**
442 EnrDBÜcKE rin> Ektschlüssb. [cap. 83.
Gang der Justiz durchbrochen und ein politischer Stats-
anwalt eigens für die Verfolgung der politischen Gegner
ernannt. Einige meiner Freunde wurden verhaftet, mir
selber mit einer Verfolgung gedroht. Der Windblast ver-
zog sich freilich bald wieder. Man schämte sich der Er-
hitzung und deckte mit einer Amnestie die momentane
Leidenschaftlichkeit.
Über meine Stimmungen während der Krisis teile ich
einige Äusserungen mit:
5. November. »Das Schicksal der Schweiz absorbiert
mich so, dass ich in diesen Tagen gar nichts zu thun im
Stande bin. Mein ganzes Wesen ist erschüttert. Die Stim-
mung ist ähnlich wie vor einem Gewitter, aber dauernder
gedrückt und gespannt, der Kopf dumpf, der Leib unruhig ;
und dabei diese gebundenen Hände und die jämmerliche
Nichtigkeit rings umher."
13. November. „Seitdem die Ereignisse beginnen,
wird mein Kopf heUer. Und doch bin ich wie ein ge-
fangenes Wild, das hinter dem Gitter immer hin und her
läuft und keine Ruhe, aber auch keine Freiheit findet."
1. December. „Die Art, wie die innere Schweiz ge-
fallen, war mir doch unerwartet. Die alte Schweiz und
die alte Zeit sind definitiv hinter uns. „Lasset die Toten
ihre Toten begraben!" Nun bleibt mir nur der Weg offen,
mich der neuen Zeit hinzugeben und durch Schöpfung zu
retten, was zu retten ist. Nur wenn aus der Sündflut eine
neue Welt hervorgeht, hat das Dasein noch einen Wert."
„In der Schweiz kann ich nur als Unbekannter
noch handeln. Der . Liberalste von allen muss sich ver-
bergen, um liberal wirken zu können. Bis jetzt habe ich
die Revolution aufzuhalten versucht, immer in der Hoflf-
cap. 33.] VoBscHLAG EiKES Gbossev Rats deb ScirwEiz. 443
nung, wenn der Radikalismus zurückgewiesen sei, dann
reformierend und organisierend eingreifen zu können.
Der Absolutismus der sogenannten Conservativen hat das
unmöglich gemacht. Nun muss aus dem Radikalismus
heraus der Liberalismus erstehen."
Es war mir klar geworden: „Die frühere Bundes-
reform, wie ich sie auf föderaler Grundlage im Anschluss
an das Bestehende vorschlug, konnte nicht mehr genügen.
Die Erlebnisse der letzten Woche haben zwei folgenreiche
Erfahrungen ausser Zweifel gestellt. Die erste: Das Ge-
fühl und das Bewusstsein der Gemeinschaft der Schwei-
zer, der schweizerischen Nationalität, des Gesamt-
vaterlandes ist lebendiger und mächtiger, als es vorher
je erschienen ist. Die zweite: Das Gefühl der Cantonal-
souveränetät, der Besonderheit, der Particularität
erwies sich in diesem Kriege schwächer, machtloser, ab-
gestorbener, als die vorausgegangenen Anstrengungen des
Sonderbundes hatten erwarten lassen. ** Diese Erfahrungen
mussten die Bundesreform leiten. Die Tagsatzung als Con-
gress der Gesandten der Stände, als Organ des Fö-
deralismus mochte bleiben, weil doch die Cantone als Staten
fortdauerten. Aber es musste derselben eine Vertretung
der schweizerischen Nation an die Seite treten. Zu
diesem Zweck schlug ich die Bildung eines Grossen Rates
der Schweiz als Volksvertretung vor.
Der neue Gedanke wurde von mir in einer Schrift
dargestellt, die ohne meinen Namen gedruckt wurde unter
dem Titel: „Stimme eines Schweizers für und über
die Bundesreform." Zürich und Frauenfeld 1847.
Der Gedanke fand allgemeinen Beifall. Aber er wurde
bei der Beratung seiner schweizerischen Fassung entkleidet
444 Ende der Schweizerischen Periode. [cap. 33.
und in die Nachahmung der amerikanischen Union umge-
bildet. Aus der Tagsatzung wurde der Ständerat, aus dem
Grossen Rate der Schweiz der schweizerische Nationalrat.
Mein Entschluss, die Teilnahme an der schweizeri-
schen Politik als abgeschlossen zu betrachten und eine neue
Wirksamkeit auf neuem Boden und in grösseren Verhält-
nissen mir zu schaffen, stand zu Ende des Jahres fest. Ich
bereitete den Übergang nach Deutschland vor.
r
Personen-Verzeichnis
zum I. Band.
Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten.
A.
V. A b e 1 , bayerischer Minister
339
Aberdeen, Lord ....
337
Ammann, Züricher Jurist .
206
Andermatt, helvetischer
General
16
Anders, Deutscher in Paris
90
A r e t i n , Freiherr Carl Maria
von, in München . . .
379
Arnim, Frau Bettina v.,
geb. Brentano ....
65
Azeglio, Marchese d' . .
428
B.
Bätke aus Hamburg . .
76
Bauer, Bnino
341
Beyel, Christian, Verleger
des n Beobachters aus der
östlichen Schweiz** . .
275
B lösch, Landammann in
Bern
373
Bluhme, Professor in Halle
73
Bluhrrie, Sänger in Berlin
62
B 1 u m e r , Verfasser d. Rechts-
geschichte der demokrati-
schen Cantone ....
194
Bluntschli, Hans Caspar
6
Bluntschli, Regula, geb.
Steinbrüchel 5
Bluntschli, Hans Caspar,
Sohn 6
Bluntschli, Katharina, geb.
Koller 7
Bluntschli, Caroline . . 155
Bluntschli, Carl . . . 179.
Bluntschli, Emilie, geb.
Vogel, Bluntschli's Frau
137. 301. 436. 437
Bluntschli*sche Ge-
schlechtsgenossen . . 8 — 12
Böckh, der PhUolog . . . 71
Bodmer, der alte . . . 120
Bomhauser, Pfarrer im
Thurgau 117
Bonechose, franz. Abbö . 427
Börne, Ludwig .... 147
Brändli von Staefa . 118. 124
Breitinger, Helfer zu St.
Peter 23
B r e m i , Züricher Chorherr
und Professor . . . 20—23
Bruch, Pfarrer v. Wädischwyl 242
B r u c k m a n n , Alexander, Hi-
storienmaler . . . 261. 276
Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I.
29
446
Personen - Verzeichnis.
Bruns, Professor des römi-
schen Rechts . . . . 201
Buchholz 69
Bunsen, Carl Josias, Ritter
.von 248
Burckhardt aus Basel . 69
B ü r g i , Züricherischer Regie-
rungsrat 222
B ü r k 1 i , Redacteur der Züri-
cher Freitagszeitung . 258
C.
Calame, aus Neuchätel . 253
Carholi, römischer Mon-
signore 427
Castracane, Cardinal . . 427
Champollion 89
Christiansen, aus Holstein 73
75. 85
Clementine v. L. . 95. 101
Crelinger, Frau, Sängerin
in Berlin 62
D.
Devrient, Ludwig ... 62
V. D roste , Bonner Kirchen-
rechtslehrer 84
Druey, Waadtländischer
Statsrat . . . 240. 253. 374
Dufour, schweizerischer Ge-
neral 441
Duttenhof er, Professor Dr.
F. M 261
E.
Es eher von der Linth, Ar-
nold 62
E s c h e r , Züricher Altbürger-
meister 116
Escher, H., Professor 121.
143. 149
Es eher, Martin, Vorstand
der Kaufmannschaft und
Stadtpräsident . . 154. 395
Eschmann, Züricher in Paris 89
F.
Fäsi, übich, Züricher Pro-
fessor , 25
Finsler, Züricher Amtsge-
richtsschreiber 83. 138. 141
Foelix, Pariser Advocat . 90
Folien . 298
Friedrich Wilhelm IV.
von Preussen .... 333
Fröhlich, Theodor ... 188
Fröbel, Julius 261. 293. 298
341. 342
Frossard, Waadtländischer
Präsident 374
IVurrer, Dr. Fürsprech 206. 303
354. 364. 376. 396
Füssli, Obmann in Zürich 119
Füssli, Antistes .... 204
Füssli, Oberrichter ... 206
G.
Gans, Professor in Berlin . 65
Garlichs, aus Bremen . . 76
G essner, Züricher Jurist . 83
Ghizzi, Cardinal .... 427
Gonzenbach, August v. aus
St. Gallen . . . 160, 256
Göschen, Dr. Otto, Profes-
sor der Rechte in Halle 196
Grögoire, französ. Bischof 94
Grimm, Jacob 247
Grob, Heinrich, von Zürich 274
Gujer, vonBauma 120.124. 128
254
Guizot 290. 231
Pebsonkn- Verzeichnis.
417
Gysi, Heinrich , Züricher
Rat ... . 193. 222. 395
H.
Hafner, Züricher Pfarrer . 21
Haller, Ludwig v., . . . 337
Hasse, Professor in Bonn 76
Hasse, Gustav, Sohn 75. 76. 85
Hauthal, Dr. F., in Paris 90
Heffter, Professor in Bonn 85
Hegel, der Phüosoph 67. 196
211
Hegetschweiler, Dr., von
Staefa, Züricher Statsrat 120
229. 231
Hegnauer, Oberrichter von
Elgg 122
Helmes, aus Bayern . . 76
Henri V., französ. Kronprä-
tendent 95
Henschel, Orientalist in
Paris ....... 410
Herwegh, Georg 294. 298. 341
342
Herzog, aus Basel ... 69
Hess, Züricher Ratsmitglied,
Amtsbürgermeister 124. 222
234. 240. 243
Hirzel, Züricher Chorrherr 27
Hirzel, Melchior, Oberamt-
mann und später Bürger- / ^^
meister 83, 112. 116. 118. 121
124. 125. 138. 140. 149. 202
203. 205. 222. 302. 303. 341
Hirzel, Bernhard, Pfarrer 157
173. 231. 232. 235—238. 398
—411
Hitz, Züricher Maler . . 59
Hitzig, Professor der Theo-
logie 162. 242
H ö f 1 e r , Carl Adolf Constan-
tin, Ritter von, Profes-
sor an der Universität
München 379
Hösli aus Graubündten, Bet-
tina's Ideal 66
Hottinger, Professor 143. 149
268. 395. 396
Hottinger, Heinrich, Züri-
cher Ratsschreiber . . . 274
Hub er, aus Zürich ... 89
Hugo, Professor in Göttingen 74
Humboldt, Alex. v. . . 72
Humboldt, Wilh. v. . . 72
Hünerwadel, Bemer Stats-
schreiber 256
Hüni, Züricher Regierungs-
rat 243
I.
J a r c k e , Hofrat in Wien 335—338
V. Jeetze, aus Potsdam . 76
Ihering 201
Institut, das Züricher Po-
Htische 37
Johann, Erzherzog von
Österreich 226
Joseph IL, Kaiser von Öster-
reich 185
K.
Kaiser Karl der Grosse . 19
Karl X., König von Frank-
reich 92
Käst, Luzemer Regierungs-
rat 371
Kaulbach, W. v 186
K aus 1er, E. H., aus Stutt-
gart 89
Keller, Fr. Ludw. 37. 83. 85. 111
29*
448
Personen -Vebzeichnis.
116. 121. 122. 124. 125. 132
139. 140. 149. 164—170. 206
207. 219. 232. 302, 303. 341
Keller, Ferdinand . 138. 161
Keller, Augstin, aus dem
Aargau 253
Keller, Seminardirektor in
Aarau 358
Klenze, Professor d. Rechte
in Berlin 71
Kobell, Franz 339
K 1 b , Hauptredacteur der
Augsb. Allg. Zeitung 291
Koller, Freihauptmann . . 7
König, schweizerischer
Rechtslehrer .... 195
K p p , £., Professor in Luzem 393
Kübeck, Baron v. . . . 329
K ü n z 1 i , Züricher Y olksmann 118
L.
Laboulaye, Eduard v., in
Paris 249
Lange, Johann Peter, Pro-
fessor in Zürich, später in
Bonn 242
Leo, der Historiker ... 73
Leu, Bauer von Ebersol,
Mitglied des Grossen Rats
von Luzem . 360. 371. 387
Levasseur, alter Pariser
Terrorist 94
Louis Philippe, König der
Franzosen 95
Louis Philippe, Graf von
Paris 95
Low, Freiherr v., Germa-
nist 162
Ludwig XVL, König von
Frankreich 94
Ludwig L, König von
Bayern .... 163. 339
M.
Mackeldey, Professor der
Rechte in Bonn ... 85
Manuel, Bemer Patrizier 255
273
Mass^na, franz.' General . 15
Massmann, Professor in
München 339
V. Meiss, Züricherischer
Oberamfemann 83. 119. 124
138
Metternich, Fürst von, 328.335
Meyer, Hans, Züricher Theo-
log 30. 69. 158
Meyer, Ferdinand , Rats-
schreiber und Professor
der Rechte in Zürich 38. 83
111. 116. 122. 124. 138. 141
206. 222. 244
Meyer, Frau Ferdinand, geb.
Ukich 156
Meyer, Züricher Offizier . 89
Meyer, Bernhard, in Luzem 371
Meyer, Dr. Conrad, in Zü-
rich 395. 397
Milder, Sängerin in Berlin 12
Mittler, Historiker in Zü-
rich 162
Monnard, WaadÜänder . 374
Mousson . Heinrich, Züricher
Bürgermeister . . 244. 376
Müller, Ernst, von Frauen-
feld 49. 73. 137
Müller, Ottfried .... 74
Müller, Dr. in Bern. . . 373
Munzinger, von Solothum 253
Personen-Yekzeighnis.
44
V. Mural t, Züricher Ratsherr
und Bürgermeister . . 118
206. 222. 244. 253. 254. 363. 412
V. M uralt, Dr. Leonhardt,
in Zürich 395
Murray, der Schotte ... 90
N.
Napoleon 1 12. 153
N e a n d e r , Professor in Berlin 335
Negrelli, Ingenieur . . . 154
Neuhaus, Schultheiss von
Bern . . 230. 252. 357. 374
N e u m a n n , Professor in Mün-
chen 339
Nicolovius, Goethe's Lieb-
ling 76
Niebuhr 79. 128
Nüscheler, Züricher Jurist
und Politiker . . . 83. 114
0.
Ochsenbein, bemerischer
Hauptmann und Freischaa-
renführer 375
Ochsner, Züricher Professor 25
Oeri, Porträtmaler ... 6
Oken, Dr. Lorenz, Professor
147. 150. 162
Orelli, Johann Caspar, Züri-
cher Professor .... 25
Orelli, Conrad, Züricher Pro-
fessor .... 27. 143. 149
Orelli, Heinrich v., . . . 274
Orioli, Cardinal in Rom . 428
Ott, Redacteur der Neuen
Züricher Zeitung . . . 258
P.
Palm, aus Hamburg .
76
Peel, Sir Robert .... 290
Parier, Casimir . . 142. 290
Pernice 73
Perthes, Clem., Professor in
Bonn 76
Pfenninger von Stäfa . 124
Pfyffer, Casimir .... 386
Phillips, Dr. Georg, Pro-
fessor des deutschen und
des Kirchen-Rechts in Ber-
lin 1827, München 1833,
Wien 1851, Convertit 71. 379
Pius IX 432
PI ongoulm, Pariser Ad vocat 91
Pugg6, Professor in Bonn . 77
B.
Rahn, Heinrich, Züricher
Theolog 36
Rahn, Züricher Ratsherr
110. 124. 128
Rahn-Escher, Dr. . . . 231
Reinhard, v., Züricher Bür-
germeister . . . . 13. 116
Reinhard, Landammann . 119
R e n a u d , Verfasser der Rechts-
geschichte von Zug . . 195
Reyscher, Professor Dr.
Ludwig 201
Rings eis, Prof., in München 379
Ritter, Carl, der Geograph 71
Rohmer, Friedrich 33. 170. 260
262—273. 278. 279—288. 292
—299. 304—316. 349—353. 379
Rohmer, Theodor . . 261. 273
276. 278. 281. 349. 380
Rohmer, Frau Mathilde, geb.
Wolf .... 295. 298. 353
Rootenhaan, Jesuitengene-
ral 361
450
Personek-Vebzeichnis.
Rossi, französischer Ge-
sandter in Rom . . 424. 427
Rotenhahn, Baron y., in
München 339
Roth, Dr., in Teuflfen 245. 274. 378
Rothpletz, aargauischer Mi-
lizinspector 375
Rudorff, der ältere und jün-
gere 69
Rüge, Arnold, Herausgeher
der Halle'schen Jahrbücher 196
Ryffel aus Stäfa .... 89
S.
S a u p p e , Professor der Philo-
logie 162
Savigny , Friedrich Carl von,
63. 197. 248. 302
Schelling, der Philosoph . 196
Scherr, Ignaz Theodor, Se-
minardirektor in Zürich 193. 242
Schleiermacher . . . 66. 69
Schmidt aus Uri .... 253
Schnell, Hans, von Burg-
dorf 373
Seh och, Züricher Pfarrer . 17
Schönlein, Professor der
Medicin . . . 150. 162. 257
Schröder, Sophie .... 186
Schulthess, Heinrich
274. 381. 427
Schulthess, Otto .... 427
Schweizer, Alexander
159. 205. 219. 222
Seckendorf, Dr. jur. . . 85
Segesser, Verf. der Rechts-
geschichte von Luzem . 195
Seil, Professor der Rechte
in Zürich 162
Senfft-Pilsach, Graf,öster-
reichischer Gesandter in
München 379
Siber, aus Zürich .... 89
Siegfried, Aargauer Land-
ammann 76
Siegwart, Constantin, Mül-
ler, Schultheiss von Lu-
zem . . 357. 360. 371. 386
Sinn er, Professor in Bern . 89
Snell, Cari 114
S n e 1 1 , Ludwig, Redacteur des
„Schweizerischen Repub-
likaners'* . . 143. 258. 276
Sommaruga, Freiherr von,
in Wien 328
Sonnenberg, Luzem'scher
General 374
Sonntag, Henriette ... 62
Spöndli, Rudolf ... 69. 158
Spöndli, Heinrich, Ratsherr
und Regierungsrat . 243. 274
Sprüngli, Chemiker aus Zü-
rich 89
Stahl, Strassburger Rechts-
kenner 89
Stahl, Friedrich Julius . . 196
Stapfer, vonHorgen 118.124.128
Steffan, von Wädischwyl . 120
Steiger, Dr. Robert . . . 386
Steinbrüchel, Joh. Jacob,
Züricher Chorherr ... 5
Stettier, Professor in Bern 373
Strauss, Dr. David . . 202 ff.
S u 1 z e r , Eduard , Professor
von Winterthur
124. 127. 137. 193. 243
S u 1 z e r , Melchior, Amtsrichter
und Züricherischer Statsrat
von Winterthur 124. 127. 240. 243
Sulzer-Wardt, v., . . . 243
Personen- Verzeichnis.
451
T.
Tavel, V., Schultheiss von
Bern ....... 371
Theiner, Pater .... 427
Thibaut, Professor in Hei-
delberg 70. 197
Thiersch in München . . 339
Tillier, v., Beraer Patri-
zier 255
Trümpi, Decan in Glarus . 107
Tschocke, aus Aarau . . 69
U.
Ulrich, Züricher Chorherr
und Professor .... 25
Ulrich, Züricher Statsanwalt
83. 116. 124. 206. 298
Ulrich, Züricher Oberrichter
83. 141. 222
Ulrichs, aus Bremen . . 76
U s t e r i , Züricher Chorherr
und Professor .... 25
Usteri, Züricher Statsrat
83. 110. 124. 128
V.
Ventura, Pater .... 428
Vinet 374
Vischer, Wilhelm, aus Basel 76
Vogel, Emilie . . 53. 101. 137
Vogel, Jacob 188
Vögel i, aus Zürich . . 69. 73
Vögeli, Decan in Zürich . 206
Vulliemin, Waadtländer . 374
W.
Wächter, Carl Georg von, 201
Wackernagel, Philipp . . 69
Wackernagel, Wilhehn 69. 188
Wallerstein, Fürst Cari v., 379
Walter, Ferdinand, Kirchen-
rechtslehrer in Bonn . . 84
Weber, Bemer Regierungs-
rat 371
Weiss, Züricher Pfarrer . 22
Weiss, Züricherischer Re-
gierungsrat. . 206. 303. 354
Weitling, deutscher Com-
munist 342. 343
Welti, Maria 409
Widenmann, Dr. Gustav . 261
Widma nn, Dr. Adolf 261. 273. 276
Wild, Regierungsrat aus Wä-
dischwyl .... 244. 371
W i 1 d a , Professor der Rechte
in Halle und Breslau . 201
Windscheid 201
Wolf, Züricher Provisor . 21
W u n d e r 1 i , Quartierhaupt-
mann in Meilen . . . 115
Wyss, V., Züricher Bür-
germeister . . . . 13. 116
Wyss, Friedrich v., Rechts-
historiker 195
Z.
Zehnder, Züricherischer Re-
gierungsrat. . 206. 363. 388
Zell er, Johannes, Pfarrer ■
39. 107. 157. 239
Ziegler, eidgenössischer Ge-
neral 121
Z i e g 1 e r , Züricherischer Oberst
233. 244
Zimmermann, aus Zürich. 69
Z i 1 1 a , österreichischer Oberst 326
Zofinger-Verein ... 34
Zuppinger, Major in Män-
nedorf 115
Yerbesseruiigen.
S. 147 Z. 5 V. o. ist statt Heinrich Börne zu lesen: Ludwig Börne.
S. 379 Z. 2 V. u. ist statt Philipps zu lesen: Phillipo.
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B'DMARS 1915
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