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Full text of "Denkwürdiges aus meinem leben"

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DENKWÜRDIGES 
AUS MEINEM LEBEN 

VON 

J. C. BLÜNT8CHLI. 



I. BAND. 

ZÜRICH. 

(1808—1848). 



■ NÖBDLINGEN 1884. 

VERLAG DER C. H. BECK'SCHEN BUCHHANDLUNG. 



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DENKWUßüIGES 



AUS MEINEM LEBEN 



VON 



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J; C: BLUNTSCHLL 



AUF VERANLASSUNG DER FAMILIE DURCHGESEHEN UND VERÖFFENTLICHT 

VON 

Dg, RUDOLF SEYERLEN. 
ERSTER TEIL. 

DIE SCHWEIZERISCHE PERIODE. 






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NÖRDLINÖEN 1884. 

VERLAG DER C. H. BECK'SCHEN BUCHHANDLUNG. 



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ECHTE VORBEHALTEN. 









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DBUCK VON C. H. BECK IN NÖBDLINGEN. 



Vorwort des Herausgebers. 



Indem ich hiermit Bluntschli's Selbst-Bio- 
graphie im Auftrag seiner Familie im Druck er- 
scheinen lasse, genügen wir der Pfliclit, sein letztes 
Vermächtnis an die Mit- und Nachwelt zu vollziehen. 
Er legte Hand an seine Lebensbeschreibung im Herbst 
des Jahres 1872 und hat sie noch bis zum Schluss 
des Jahres 1870 selbst niedergeschrieben. Das letzte 
Jahrzehnt seines Lebens habe ich auf Grund seiner sehr 
genau geführten Tagebücher , jjnd . der. üli^rAu« .• reich- 
haltigen Correspondenz in : &x - Wbise • scinli> •Nieder- 
Schrift zur Darstellung zu brirtgön-je^^su^ht. 

Mit der Niederschrift rdiesen'rDß.iü^/digkeiten 
aus seinem Leben fügt der Voireli&ete* Itiöht nur sei- 
nem Lebenswerk, dem Tod zum Trotz, der ihn so 
rasch und unvorhergesehen hinwegrief, den Schluss- 
stein ein, so dass dasselbe jetzt als ein harmonisch in 



VI VOKWOBT. 



sich Yoll('ii(lct(\s Ganze vor dem Auge des Beschauers 
steht, sondern er leistet damit zugleicli der Welt einen 
l(»tzten grossen Dienst. 

Aus der durchaus oLjectiv gehaltenen Darstel- 
lung tritt uns in plastisclier Euhe und Klarheit sein 
WesensLild entgegen als eines Menschen von selten- 
ster Universalität neben entschieden ausgesprochener 
Originalität. Er war Statsmann und Wissenschafter, 
philosophischer Denker und religiöser Charakter, eifri- 
ger Patriot und wanner Freund der gesamten Mensch- 
heit, Mitglied des Maurerbundes und Mann der Kirche, 
in der ausgebreitetsten Beziehung zu Männern fast aller 
Gesellscliaftskreise, in Verbindung mit Angehörigen fast 
aller civilisierten Nationen, daneben aber für das stille 
Glück des Familienlebens, wie nicht minder auch für 
das hohe Gut der Freundschaft ebenso empfänglich, 
wie derselben bedürftig, ausgezeichnet gleichermaassen 
durch emen olfenen Sinn für die Natur wie durch 
feinen Kunstsinn; — aber bei all dieser Vielseitigkeit 
keine .Sgiir .yqn. ^eff^llivppheit, entfernt nichts Streber- 
haftes/ rsJohäöVir ehShr iärXJefühl ihres Vollwertes fest 

auf sich bejrhheriSö Jitiid in sich ffesammelte Persön- 
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lichkeit, iJie«göist«ßkc^ftig und starkrautig überall und 
immer niff*'gn)sse nrnd-edle Ziele verfolgte, man darf 
wohl sagen, dem Höchsten zugewandt war. 

In dem Bilde dieses reichen, nach so vielen Sei- 
ten hin sich verzweigenden Einzelnlcbens, von welchem[ 



J-^ 



Vorwort. yn 



wenn von irgend einem das Wort gilt: „nichts Mensch- 
liches ist ihm fremd geblieben", spiegelt sich nun aber 
die Geschichte von acht Jahrzehnten. Die vollen vier 
ersten Fünftel unseres Jahrhunderts erscheinen so zu 
sagen in conccntriertcm Auszug innerhalb seines Eah- 
mens, und immer stehen wir im Mittelpunct der Zeit- 
bewegung. Denn es ist vor Allem das politische und 
kirchliche Leben, zunächst allerdings der Schweiz und 
Deutschlands, aber weiterhin auch des gesamten Welt- 
teils, von dessen Wellenschlag dieses Einzelnleben in 
erster Linie bewegt wird. Daneben erhalten wir aber 
aus Anlass der Schilderung seiner fachmännischen Thä- 
tigkeit als Rechtsgelehrter den Einblick in den Ent- 
wickelungsgang der Rechtswissenschaft des 19. Jahr- 
hunderts und namentlich des Völkerrechts, dessen 
wissenschaftliche Fortbildung, und zwar ganz wesent- 
lich durch Bluntschli's Einwirkung, einen internatio- 
nalen Charakter an sich nimmt. 

Endlich deckt Bluntschli hier eine Seite seines 
Lebens auf, welche den meisten seiner Freunde und 
Verehrer bisher unverständlich geblieben ist, weil er 
selbst darüber mehr nur gelegentlich und andeutungs- 
weise sich zu äussern pflegte, nämlich seine Beziehung 
zu Friedrich Rehmer, zu dessen Person wie zu 
dessen Wissenschaft. Wie tief diese Persönlichkeit in 
Bluntschli's Leben eingegriffen hat, und in welchem 
Grade bestimmend die Rohmer'sche Wissenschaft für 



VIII Vorwort. 



Bluntschli's innerstes Denken geworden ist, das liegt 
nunmelir offen zu Tage. 

Ich habe in dieser Hinsicht nur ein Zweifaches 
zu bemerken, einmal dass die Skizze der Eohmer'schen 
Gotteslehre, welclie Bluntschli in seinen Denkwürdig- 
keiten gibt, von ilim selbst ausgeführt worden ist in 
dem Werke: „Friedricli Eohmer's Wissenschaft und 
Leben. Erster Band: Die Wissenschaft von Gott." 
Nördlingcn, 0. H. Beck, 1871. In Betreff sodann des 
leicht misszuverstehenden Gerippes der Eohmer'schen 
Psychologie, welches Bluntschli hier (in den Denk- 
würdigkeiten) entwirft, verweise ich auf meine dem- 
nächst in demselben Verlag erscheinende eingehende 
Bearbeitung und ausführliche Darstellung von „Fried- 
rich Kohmer's Wissenschaft vom Menschen". 

Jena, im Mai 1884. 



Dr. Rudolf Seyerlen. 



Erster Teil. 



Die Schweizerische Periode. 



1808 bis 1848. 



Bluntschli, Dr., J. C, Aus meinem Leben. I, 1 



1. 

Geburt. Vaterhaus. Die Eltern. Das Geschlecht. 

Stadt Zürich. 

Ich wurde am 7. März 1808 in der Stadt Zürich 
geboren, als erstes Kind meiner Eltern. Das Haus zum 
Steinböckli war kurze Zeit vor meiner Geburt von meinem 
Vater gekauft worden. Es wurde nun das Stammhaus der 
Familie, die öfters die Bluntschli zum Steinböckli genannt 
wurden. Ich und meine Geschwister wurden in diesem 
Hause geboren und erzogen. Die Steinbockhörner, die als 
Helmschmuck mein Wappen zieren, erinnern an diess Be- 
sitztum. 

Das Haus liegt am linken Ufer der Limmat, welche 
die Stadt durchschneidet, an der „hinteren Schipfi", einer 
engen im Mittelalter von Schiffern bewohnten Gasse, zu der 
von drei Seiten her steile Wege hinabführen. Von dem 
Flusse, der in scharfem Laufe abwärts strömt, ist es durch 
ein niedriges Fabrikgebäude getrennt. Es ist schmal, aber 
hoch gebaut, für zwei Familien berechnet. Die Häuser der 
Schipfi sind die Anhöhe hinein und hinauf gebaut, welche 
sich schroff über den Fluss erhebt und in dem „Linden- 
liofe** gipfelt, einem der schönen Höhepunkte der Stadt, . 
den schon die alten Römer befestigt hatten, als noch die 

1* 



Vaterhaus. [cap. 1. 



keltischen Helvetier da hausten. In der späteren aleman- 
nischen Zeit der Reichsstadt Zürich wurde dieser Lindenhof 
oft zu bürgerlichen Festen benutzt. Man genoss daselbst 
eine schöne Aussicht über die Stadt, die Limmat, den See 
und die Berge. 

In meiner Jugend war dieser freie Platz mit herr- 
lichen alten Lindenbäumen geschmückt. In den laubreichen 
Ästen und Kronen nisteten zahlreiche Singvögel. Als Kind 
schon lauschte ich oft mit Entzücken ihren Morgen- und 
Abendliedern und freute mich über die prächtige Baum- 
gruppe, welche stolz über die Häuser der Stadt emporragte. 

Zu den Schipfihäusern gehörten Gärten, die hinter 
den Häusern, aber hoch über der Strasse allmälich gegen 
den Lindenhof aufstiegen. Wir mussten bis über das dritte 
Stockwerk unsers Hauses die Treppen hinaufsteigen, um 
dann in den Garten zu gelangen. 

Zu Oberst ist das Haus mit einem schlanken Türm- 
chen geziert, dessen Windfahne den trotzigen Spruch ver- 
kündete: „Besser Neid als Mitleid." Von dem Turmzim- 
mer aus hat man eine schöne Rundsicht, ähnlich der vom 
Lindenhof, mit dem man hier auf ziemlich gleicher Höhe 
steht. Man übersieht da einen grossen Teil der Stadt, 
auf beiden Seiten der Limmat, mit ihren Kirchen und dem 
Rathause, nach Osten den freundlichen Zürichberg, im 
Norden das Limmatthal, gegen Süden den Seespiegel, ein- 
gerahmt von grünen Hügelreihen, in der Feme die Glarner 
Schneeberge mit ihren weissen Häuptern. Ich war als Knabe 
oft in diesem Turmzimmer und erfreute mich an sonnigen 
Tagen dieser reichen Aussicht. Insbesondere betrachtete 
ich den breiten Glärnisch und den schneidigen Tödi mit 
grossem Wohlgefallen. Der Vorsatz, so fest und stark, so 



cap. 1.] Gkossmütter üi«d Taüfname. 



gross und rein zu werden, wie diese Berge, spannte öfters 
die Brust des Knaben und reizte seine Kräfte. 

Die Familie meines Vaters bewohnte die drei oberen 
schöneren und helleren Stockwerke des Hauses. Mit Be- 
hagen gedenke ich unsers Wohnzimmers, einer grossen 
Stube, welche die ganze vordere Front des Hauses ein- 
nahm. Ihre Wände und die Decke waren mit polii'tem 
Nussbaumholze getäfelt. Ganze Reihen von Wandschränken, 
grossen und kleinen, dienten zur Aufbewahrung und zum 
Verschluss der mannigfaltigen Fahrhabe. Gegen die Limmat 
hin waren zwei Erker angebracht, die wie zwei Augen 
umherschauten. Mit der Wohnstube war ein Alkoven ver- 
bunden, der als Schlafzimmer benützt wurde und zu einem 
andern Hinterzimmer führte. 

Die beiden unteren Stockwerke waren meiner väter- 
lichen Grossmutter, Regula Bluntschli, geborenen Stein- 
brüchel, zu ihrem Wittwensitze überlassen, Sie war eine 
Geschlechtsverwandte des gelehrten Chorherrn Joh. Jakob 
Steinbrüchel, welcher sich um die antike klassische Litte- 
ratur und das Schulwesen Verdienste erworben hatte. Die 
alte schlichte Frau liebte ihren erstgeborenen Enkel zärtr 
lieh, und dieser liebte die Grossmutter. Ich erinnere mich 
nicht mehr ihrer Züge, aber wohl noch dieser Liebe. Ich 
war täglich bei ihr. Der Segen, den sie mir sterbend zu- 
rückliess, war ihr letztes Wort. 

Ich wurde am 9. März in der Peterskirche getauft. 
Mein Taufname, Johann Caspar, war, wie in manchen 
Zürcherfamilien, so auch in der meinigen herkömmlich. 
Mein Vater und mein Grossvater Messen Hans Caspar. 
Mir selber gefiel er niemals, obwohl mir zuweilen die be- 
rühmten Züricher Hans Caspar Lavater und Hans Caspar 



6 Die Eltern. [cap. 1. 

Orelli vorgehalten und versichert wurde, dass einer der 
„heiligen drei Könige** Caspar geheissen habe. 

Ein Ölbild, welches von dem Portraitmaler Oeri mit 
Liebe gemalt wurde, stellte meine Mutter dar, wie sie 
mich als ungefähr einjähriges Kind auf dem Arme trägt. 
Die hellblonden Haare und die glänzenden blau -grauen 
Augen weisen auf den germanischen Ursprung hin, das 
Stumpfnäschen aber auf den Bluntschlischen Familientypus. 
Auch bei meinen Enkeln zeigte sich anfangs öfters dieses 
charakteristische Naschen, das sich freilich im späteren 
Leben aüswächst. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der 
alte Geschlechtsname sich daraus erklärt.* 

Mein Vater, geboren den 18. Februar 1774, war ein 
Mann ohne höhere Schulbildung, aber von gesundem und 
scharfem Verstand, und durch das Leben zur Selbständig- 
keit erzogen. Er hatte nicht ohne Erfolg versucht, die 
Mängel seines Schulunterrichtes durch Lesen von Büchern 
zu ergänzen. Mit Vorliebe las er Geschichtsbücher und er 
machte sich Notizen und Auszüge aus denselben. Die Augs- 
burger Allgemeine Zeitung bot seinem geistigen Bedürfnisse 
die tägliche Nahrung. 

Da sein Vater, der Zunftschreiber Hans Caspar Blunt- 
schli, frühzeitig gestorben war, so war er als der älteste und 
tüchtigste Sohn der Familie genötigt, für die Mutter und 
die Geschwister zu sorgen. Er hatte eine ehehafte Metzg- 
gerechtigkeit ererbt, die eine Zeit lang durch Knechte be- 



* Jakob Grimm citirt im deutschen Wörterbuch zu dem Worte 
„bluntsch** eine Stelle von Hans Sachs: „mein nas ist breit, bluntsch, 
munk und kurz", und Stolder (I. 191) erklfirt blunschi als eine ^ dicke, 
feste Person**, 



cap. 1.] Die Eltern. 



trieben und später verkauft ward. Er selber gründete eine 
Kerzen- und Seifenfabrik, welche der Familie ein gutes 
Auskommen verschaffte und auch die allmähliche Ansamm- 
lung von Kapitalvermögen ermöglichte. Unter seinen Mit- 
bürgern war er geachtet. Für gemeinnützige Unternehm- 
ungen und wohlthätige Werke war er immer bereit, nach 
seinen Kräften Beiträge zu geben. 

Meine Mutter Katharina, geborene Koller, Tochter 
des Freihauptmanns Koller auf der grossen Hofstatt (ge- 
tauft 7. September 1785), war eine stattliche Bürgers- 
frau, von echt-weiblichem Gemüte und voll Liebe zu ih- 
ren Kindern. Sie gebar in ihrer Ehe drei Söhne und drei 
Töchter. 

Während mein Vater dem Geiste der Aufklärung hul- 
digte, welcher die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhun- 
derts erhellte und belebte, war meine Mutter der herge- 
brachten frommen Sitte treu geblieben. In ihrem Glauben 
fand sie Kühe und Trost für ihr Gemüt, viel zu denken 
liebte sie nicht. Sie war nicht frei von mancherlei Aber- 
glauben, den sie freilich vor dem spottenden Manne mög- 
lichst zu verbergen suchte. Ihre Kinder hielt sie zu täg- 
lichem Gebete und regelmässigem Kirchenbesuche an. Als 
sie später zu bemerken glaubte, dass ihr ältester Knabe, wie 
sie es nannte, zum „Freigeist" heranwachse, war sie nicht 
ohne Besorgnis für sein Seelenheil. Aber die Mutterliebe 
war mächtiger in ihr, als die anerzogene enge Kirchlich- 
keit. Sie hatte trotzdem ihre Freude an den geistigen 
Fortschritten des Kindes und vertraute der guten Anlage 
desselben. Auch vor dem überlegenen Verstände ihres 
Mannes hatte sie grossen Respekt und plagte ihn niemals 
mit kirchlichen Zumutungen. 



8 Das Geschlecht der Bluktschli. [cap. 1. 

Das Geschlecht der Bluntschli gehört zu den älteren 
Bürgergeschlechtern der Stadt. Schon im Jahr 1401 
wurde der erste Bluntschli, der von ZoUikon eingewandert 
war, in das städtische Bürgerrecht aufgenommen. Der 
Name findet sich schon im dreizehnten Jahrhunderte ur- 
kundlich auf dem Lande.* 

Die Bürger der freien und im Mittelalter souverain 
gewordenen Stadt hatten sich während Jahrhunderten den 
Bewohnern der Landschaft gegenüber als „herrschenden 
Stand" gefühlt. Jedes Geschlecht hatte auch sein beson- 
deres Wappen. Die Bluntschli führten im fünfzehnten Jahr- 
hunderte ein altes Hauszeichen 7Ä im Wappen, dann seit 

dem sechszehnten Jahrhunderte zwei stehende Rüden an 
der Kette, der eine schwarz in gelbem Felde und der an- 
dere gelb in schwarzem Felde. Wenn J. Egli in seinem 
Wappenbuch der Stadt Zürich das Geschlecht zu den pa- 
tricischen Geschlechtem zählt, so ist diese Bezeichnung nur 
in dem Sinne richtig, als er alle die Geschlechter Patricier 
nennt, welche schon vor der Revolution von 1798 in den 
höchsten Räten der Stadt vertreten waren. Aber einen 
eigentlichen patricischen Stand gab es in Zürich überhaupt 
in den letzten Jahrhunderten nicht mehr. Die drei grossen 
reformatorischen Bewegungen unter dem ersten Bürger- 
meister Brun (1336), dem gewaltigen Bürgermeister Wald- 
mann (zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts) und der 
Zwinglischen Reform in der ersten Hälfte des sechszehnten 



* Altes Jahrzeitbuch der Insel Ufenau aus dem XIII. Jahrhun- 
dert: „ülricus Stapfer de Urikon, qui constituit annuatim dari plebano 
hujus ecclesiae in anniversario suo et suorum unum quartale tritici de 
bonis suis sitis in Alikon vulgo dictis ^des pluntzlis Gut*,** 



cap. 1.] Alte Zürcher Stadtverfassukg. 9 

Jahrhunderts hatten den Grundsatz der Gleichberechtigung 
und insbesondere auch der Ratsfahigkeit aller Stadtbürger 
durchgesetzt und die ältere privilegirte Stellung der alten 
Geschlechter längst beseitigt. 

Wohl aber bestand in Zürich auch damals noch ein 
tliatsächlicher Gegensatz zwischen zwei Klassen der Stadt- 
bürger, der eine grosse sociale Bedeutung hatte und zu- 
weilen auch politisch wirkte, nämlich der Unterschied der 
sogenannten „Herren" und der sogenannten „Burger". Zu 
den Herren wurden gerechnet hauptsächlich die Gelehrten 
(Geistlichen, Professoren, Arzte, Advokaten), die Grosshänd- 
ler und die Kapitalisten, welche von ihren Renten lebten, 
zu den Bürgern vorzugsweise die Handwerker, Krämer, 
kleinen Gewerbsleute. 

Die ganze Bürgerschaft war seit Jahrhunderten in 
dreizehn Zünfte geteilt (anfanglich die Konstabier und 
zwölf Zünfte), welche durch ihre Wahlen auch den grossen 
Rat noch teilweise besetzten. Die verschiedenen Berufs- 
klassen der Handwerker teilten sich in diese Zünfte und 
gaben denselben grossenteils den Namen. Aber eine gute 
Sitte mischte durchweg Herren und Burger in denselben 
Zünften. Dadurch wurden auch thatsächlich die beiden 
Klassen einander nahe gebracht, und den gebildeteren Ele- 
menten ward ein erhöhter Einfluss gesichert. Oft auch 
hatten dieselben Familien sowohl Herren als Burger zu An- 
gehörigen. Wenn der Sohn eines Handwerkers studierte, 
so kam er unter die Herren. Die Zunft zum Widder, zu 
der mein Vater gehörte, und der ich später auch beitrat, 
hielt besonders zähe an der Gewohnheit fest, bei Wahlen 
in den Grossen Rat immer gleich viel Herren und Burger 
zu wählen. Mein Vater hielt sich entschieden zu den 



10 Bluntschli'bche Gesculeoutsoenossen. [cap. 1. 

Burgern und wurde auch als Burger in den Dreissiger- 
jahren in den Grossen Rat gewählt. Die alte Sitte wurde 
zuerst durchbrochen, als die Zunft später mich anstatt 
meines ausscheidenden Vaters erwählte. 

Im fünfzehnten und im sechszehnten Jahrhunderte 
waren die Bluntschli angesehener als im siebenzehenten und 
achtzehnten Jahrhunderte. Einige Geschlechtsgenossen hat- 
ten sich in der Zürcherischen Geschichte einen Namen er- 
worben. 

Ich erwähne folgende Personen: 

Johann Bluntschli, der zur Zeit des alten Zürich- 
krieges Mitglied des regierenden Rates war und 1444 als 
Gesandter der Stadt nach Baden geschickt wurde, um mit 
den Eidgenossen über den Frieden zu verhandeln. Während 
die Botschaft in Baden war, siegte in der Stadt die öster- 
reichische Partei über die eidgenössische und drängte zur 
Fortsetzung des Krieges gegen die „Schwyzer". Bluntschli 
wurde bei der Rückkehr nebst seinen Mitgesandten, Hans 
Meiss und Ulmen Trinkler, in Folge eines Auflaufes der 
österreichischen Partei gefangen gesetzt und angeklagt, die 
Interessen der Stadt den Feinden preisgegeben zu haben. 
Obwohl nur eine Minderheit der Urteiler eine todeswürdige 
Schuld aussprach, eine andere Minderheit beharrlich für 
Freisprechung stimmte und eine dritte vermittelnde Min- 
derheit auf eine Geldbusse antrug, so wurde trotzdem der 
Angeklagte auf Befehl des österreichisch gesinnten „Reichs- 
vogts" unter dem Beifall der tobenden Menge auf dem 
Fischmarkte vor dem Rathause enthauptet. Die spätere 
gerechtere Nachwelt hat dieselben als Märtyrer der Schwei- 
zerfreiheit geehrt. 

Heinrich Bluntschli, welcher gleichzeitig als 



Cap. 1.] Ge8CHL£C1IT»0£N088EN. |] 

Freund der Eidgenossen derselben aufgeregten Parteiwut 
zum Opfer fiel und ebenfalls hingerichtet wurde. 

Friedrieh Bluntschli, des Rats seits 1482, ein 
Freund des Bürgermeisters Waldmann, und nach dessen 
Sturz in dem Aufruhr von 1489 ebenfalls aus dem Rate 
gestossen. 

Hauptmann Nikiaus Bluntschli, welcher mit seiner 
Schar im Schwabenkriege bei Ermatingen von überlegenen 
schwäbischen Truppen überfallen und nach tapferer Gegen- 
wehr erschlagen ward. Von ihm war das geflügelte Wort: 
„Wer sich fürchtet, der ziehe einen Panzer an." 

Die beiden Glasmaler Nikolaus und Rudolf Blunt- 
schli., zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, in der 
besten Zeit der schweizerischen Glasmalerei. 

Fridli (Friedrich) Bluntschli, Ratsherr zur Zeit der 
Kirchenreform. Er fiel in der Schlacht zu Cappel 1531 
als Verteidiger des gereinigten Glaubens. 

Der Fähnrich Hans Georg Bluntschli, welcher in 
dem Kriege wider die Liga 1587 den Heldentod starb. Er 
nahm den angebotenen Pardon nicht an, sondern vertei- 
digte seine Regiment^ahne bis zum Tode aufs äusserste. 
Man fand noch ein Stück der Fahne in dem Munde seiner 
Leiche. 

Hans Heinrich Bluntschli, Büchsenschmied und 
Artilleriehauptmann, zwang im Jahre 1712 an der Spitze 
der Konstabier die Stadt Baden zur Übergabe und erhielt mit 
Hauptmann Füssli „hundert Duplonen als Glockenlosung." 
Er ist der Verfasser des Buches: „Memorabilia Tigurina", 
einer topographisch-statistischen Beschreibung der Stadt 
und Landschaft Zürich mit historischen Erinnerungen, ge- 
druckt 1721, 



12 Zürich ükter Napoleon. [cap. 1. 

Heinrich Bluntschli, der früh verblichene Jugend- 
freund von Heinrich Pestalozzi, welcher auf des letzteren 
geistige Befreiung und Entwicklung einen starken Einfluss 
geübt hat. 

Im achtzehenten Jahrhunderte und zu Anfang des 
neunzehnten gab es wohl einige Geistliche, ein paar Archi- 
tekten, mehrere Offiziere in fremden Diensten von meinem 
Geschlechte; aber die meisten waren ehrsame Handwerker 
und einfache „Burger". In den Räten erschienen sie da- 
mals nur noch selten und keineswegs in hervorragender 
Stellung. 

Meine Geburt und die erste Kindheit fiel in die Zeit, 
in welcher der Kaiser Napoleon auf dem Gipfel seiner 
Macht stand, Europa mit seiner Universalherrschaft be- 
drohte, dann aber bald in jähem Sturze von seiner Höhe 
herab fiel. Die Stadt und der Kanton Zürich waren seit 
1803 durch die sogenannte Mediationsverfassung neu ge- 
ordnet worden. Diese war ein Werk des ersten Konsuls. 
Napoleon hatte, nicht ohne persönliches Wohlwollen für 
die Schweiz, es unternommen, als Vermittler die ge- 
schichtlichen Erinnerungen und Ansprüche der schweizeri- 
schen Städte und Länder mit den modernen Stats- und 
Rechtsbegriflfen zu versöhnen und die so befriedete Schweiz 
der Schutzhoheit des französischen Reiches unterzuordnen. 

Die Stadt Zürich hatte ihre mittelalterliche Landes- 
hoheit, welche sie über die anderen kleineren Städte und 
über die zahlreichen Herrschaften des Kantons Zürich mei- 
stens in der Form des Kaufes und des Pfandrechts schon 
vor Jahrhunderten erworben hatte, in der helvetischen Re- 
volution von 1798 für immer verloren. Ihre Souveränetät 
var nun auf den Kanton Zürich ausgebreitet und die vor- 



X 



i 



cap. 1.] Zürich ukd die Schweiz kach Napoleon's Stubzä. 13 

mals unterthänigen Landleute waren nun den Stadtbürgern 
rechtlich gleichgestellt worden. 

Die thatsächlichen Zustände, die Sitten, die Meinungen 
und die Vorurteile änderten sich aber nicht so plötzlich 
und nicht so durchgreifend wie die Staatsverfassung und 
die Gesetze. Ahnlich wie unter dem deutschen Reichsadel 
erhielt sich unter den Stadtbürgern eine Zeit lang noch 
das hochmütige Gefühl der vornehmeren Rasse und der 
höheren Fähigkeit, den Staat zu regieren. Dies souveräne 
Selbstgefühl der Stadtbürger reizte hinwieder das Miss- 
trauen und den Hass der Landbürger. Gesellschaftlich 
blieben die beiden Stände noch lange getrennt, auch nach- 
dem sie rechtlich und politisch geeinigt waren. 

Die Erhebung Europas wider Napoleon und der Sturz 
des französischen Kaisertums hatte auch den Untergang 
der schweizerischen Mediationsverfassung zur Folge. Für 
die deutsche Nation bedeutete der grosse Krieg jener Tage 
Befreiung von einer unwürdigen und verhassten Fremd- 
herrschaft. Für die Schweiz aber bedeutete die damalige 
Wandelung einen politischen Rückschritt in vergangene 
Zustände. Die damalige Züricher Regierung, an deren 
Spitze die Bürgermeister von Reinhard und von Wyss 
standen, verhütete besonnen den vollen Sieg der Reaktion, 
indem sie sowohl den Fortbestand der neuen Kantone (der 
vormaligen gemeinen Heri'schaft) zu schützen, als die po- 
litische Befreiung der Landschaft von der Unterthänigkeit 
unter die Stadt im Prinzip zu bewahren suchte. 

Die neue Bundesverfassung der Schweiz vom 
17. August 1815, welche endlich unter der Vermittlung 
der europäischen Mächte zu Stande gekommen war, be- 
stätigte die Gleichberechtigung der neuen mit den alten 



\4: Zürcher Kaktoksverfasbvno von 1814. [cap. 1. 

Kantonen und verwarf jede Erbunterthänigkeit für die 
Schweiz, aber sie zerstörte wieder das bescheidene Mass 
von politisclier Einigung der Kantone, welches die Media- 
tionsverfassung gewährt hatte, und begünstigte so den Par- 
tikularismus der „souveränen Kantone** und damit den 
„Kantönligeist** im Gegensatze zu dem nationalen Gemein- 
geiste. 

Auch die Zürcherische Kantonsverfassung vom 
11. Juni 1814 war im Vergleich mit der Mediationsver- 
fassung von 1803 eher ein Rückschritt aus der neuen Zeit 
in die Vergangenheit. Zwar erkannte sie die Souveränetät 
des Kantons an und ebenso die Berechtigung der Land- 
bürger, aber sie begünstigte doch wieder möglichst die that- 
sächliche Herrschaft der Hauptstadt und die Vorrechte der 
Stadtbürger. 

In den Grossen Rat von 212 Mitgliedern, das oberste 
souveräne Organ für die Gesetzgebung und die Oberaufsicht 
über die Regierung und die Gerichte, wurden 26 Mitglieder 
von den 13 Zünften der Stadt, 5 von Winterthur, 51 von 
den 51 Zünften der Landschaft gewählt. Zu den so ge- 
wählten traten dann 130 von dem Grossen Rate selber 
gewählte Mitglieder hinzu. Diese indirekte Wahl wurde 
aber so eingerichtet, dass von 5 Mitgliedern nur eines vom 
Lande, die übrigen vier aus den Stadtbürgern gewählt 
wurden. Die Stadtbürger erhielten so im Grossen Rate 
das entschiedene Übergewicht. 

Ebenso bestand die grosse Mehrheit der Ratsherren 
in dem Kleinen Rate (der Regierung) und in dem Ober- 
gerichte aus Stadtbürgern. Die meisten Oberämter auf 
dem Lande wurden wieder thatsächlich mit Stadtbürgern 
besetzt. Fast alle Offizieisst eilen in der Miliz und die 



\ 



cap. 1.] Erste Kindheitsebiknerunoek. 15 

meisten Pfarrämter wurden ebenso von Stadtbürgern ver- 
waltet. Es war daher begreiflich, dass trotz der Verfas- 
sungsvorschrift, dass es keine ausschliesslich privilegierten 
Klassen geben dürfe, die Stadtbürger sich vorzugsweise 
für berufen ansahen, die öffentlichen Amter zu besetzen. 

Politische Ereignisse spielten in einzelnen gehobenen 
Momenten auch in das Leben des Kindes hinein. Ich .er- 
innere mich, dass uns Kindern «loch manche haarsträubende 
Geschichte erzählt wurde von den Kämpfen der Franzosen 
nüt den Bussen und Österreichern, zumal von der Schlacht 
bei Zürich (25. September 1799), in welcher der franzö- 
sische General Massena den russischen General Korsakow 
zurück warf. Auch die Beschiessung der Stadt durch den 
helvetischen General Andermett (13. September 1802) leuch- 
tete mit ihren glühenden Kugeln noch in die Bilder hinein, 
Avelche mein Kindesleben umgaben. 

Die vorherrschende Strömung in der Stadt war wäh- 
rend der Revolutionskämpfe auf Seite der AUierten Oster- 
reich und Russland, welche die Revolution bekämpften. 
Auf dem Lande dagegen waren die Sympathien meistens 
für Frankreich. Die Landbürger verdankten ihre Befrei- 
ung von der Stadthen^schaft und ihre politische Erhebung 
grossenteils den Impulsen der französischen Revolution. 
Indessen gab es auch in der Stadt einzelne frei denkende 
Männer, welche die Umgestaltung der öffentlichen Zustände 
begriffen und billigten ; und auf dem Lande gab es manche 
treue Anhänger der Stadt, welche der Verdienste dieser 
um die gemeine Wohlfahrt und die Bildung gerne und 
dankbar gedachten. 

Aus der Zeit der Befreiungskriege erinnere ich mich 
noch, zuweilen österreiche und russische Truppen auf dem 



16 Schulzeit. [cap. 2. 

Durchmarsche geßehen und bewundert zu haben. Ganz 
vorzüglich aber hinterliess mir die Illumination der Stadt 
zu Ehren der drei verbündeten Monarchen von Osterreich, 
Preussen und Russland, als dieselben auf ihrer Rückreise 
von Paris durch Zürich kamen, einen unauslöschlichen Ein- 
druck. Die glänzende Stadtbeleuchtung strahlte in den 
Augen des siebenjährigen Knaben um so heller, als ich 
mir einbildete, im Verein mit den Nachbarskindern selber 
vieles unter der Leitung meines Vaters zu dem Erfolge 
beigetragen zu haben, denn wir Kinder hatten geholfen die 
Lämpchen zu bereiten. Auch das Türmchen des Steinböckli 
prangte damals durch einen hellen Stern, der über dem 
transparenten Doppeladler sich leuchtend erhob. 



2. 

Die Schulzeit. Elementaxscliule. Schochisches Instittit. Gelehrte 
Schule. Der Aufstand der Griechen. Die Konfirmation. 

In der städtischen Elementarschule, gewöhnlich die 
A.B.C.schule genannt, lernten die Kinder, Knaben und 
Mädchen gemischt, die Anfangsgründe im Lesen, Schrei- 
ben und Rechnen. Damals war noch die alte Methode 
in Übung, welche die Rute nicht entbehren zu können 
meinte. Auch mit dem Lineal wurde noch tüchtig auf die 
Finger geklopft. Seitdem sind diese hölzernen Lehr- und 
Zuchtmittel aus der Volksschule verbannt worden, und die 
Kinder lernen mehr als zuvor, und ihre Sitten sind besser 
geworden. 

Ich wurde schon als dreijähriger Knabe nach dem 
Tode der Grossmutter in diese Schule geschickt. Man 



cap. 2.] Schoch'sches Institü*. 17 

wusste zu Hause das lebhafte Kind nicht hinreichend zu 
beschäftigen und benutzte daher die offene Gelegenheit, 
dasselbe zum Stillsitzen und Lernen anzuhalten. Der kleine 
Geist war frühzeitig aufgewacht. Die Eltern versicherten 
mich, dass ich schon als einjähriges Kind mancherlei Worte 
gesprochen habe. 

Aus der ersten Schulzeit ist mir nur sehr weniges im 
Gedächtnis geblieben; nur erinnere ich mich deutlich, dass 
ich damals einer ernsten Lebensgefahr glücklich entgangen 
bin. Unvorsichtig stürzte ich, von der Schule kommend, 
von der zur Limmat führenden Treppe in den Fluss, wel- 
cher dort, oberhalb der untern Brücke, ein starkes Gefalle 
hat. In dem aufgeregten Instinkt der Lebenserhaltung 
erfasste ich rasch im Fallen die Kette, mit welcher ein 
Schiff am Ufer befestigt war. Indem ich mich krampfhaft 
daran festhielt, schwebten die Beine und der Unterleib in 
dem strömenden Fluss. In der höchsten Not erschien 
die Rettung. Als meine Kräfte nahezu aufgezehrt waren 
und die Furcht über mich kam, dass ich die Kette nicht 
länger zu halten vermöge, eilte eine befreundete Dame 
herbei und zog mich aus dem Wasser. 

Die städtische Lateinschule besuchte ich nicht. Es 
bestand damals in Zürich eine Privatschule das sogenannte 
Institut des Pfarrers Schoch, dessen Unterricht für vor- 
züglicher galt als der in der öffentlichen Schule. Mein 
Vater scheute die hohem Kosten nicht, mich diesem In- 
stitut anzuvertrauen. Es gab da einige gute Lehrer. Ausser 
dem Latein wurde auch die deutsche Sprache gelehrt. Ich 
kann über das Einzelne keine Rechenschaft geben; aber 
im Ganzen habe ich den Eindruck behalten, dass ich in 
diesem Institut ziemlich viel gelernt habe. 

Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 2 



18 Knabentbeibek. [cap. 2. 

Ich war gutmütig und lernbegierig, aber wenn ich 
gereizt ward, ein wilder unbändiger Bube. So verteidigte 
ich einmal ein Mädchen, welches von andern Knaben des 
Instituts arg gehänselt und geplagt wurde, mit einer Ber- 
serkerwut, welche mir bei den Mitschülern den Spott- 
namen der Hyäne eintrug. Aber ich war stolz auf meinen 
Sieg, und das Mädchen blieb mir lange dankbar. 

Ein ander Mal hatte ich mit einem von Natur hef- 
tigen Lehrer einen Streit. Derselbe wollte mich mit Ge- 
walt und nach meinem Gefühl ungerecht züchtigen. Wü- 
tend lief ich fort nach Hause und erklärte meinem Vater, 
ich könne solche Misshandlung nicht ertragen. Die Sache 
wurde durch Rücksprache mit dem Vorstand des Instituts 
beigelegt, und ich hatte mich niemals wieder über rohe 
Gewalt zu beklagen. 

Die Stadt Zürich war damals noch befestigt. Die 
grünen Schanzen mit ihren Wällen, Gräben und Vor- 
sprüngen waren ein prächtiger Tummelplatz für die Spiele 
der Jugend. Auch die dunkeln unterirdischen Casematten 
wurden vielfaltig benutzt. In jener Zeit der Restauration 
gährten auch in der deutschen Litteratur romantische 
Triebe. Das Ritterleben des Mittelalters schimmerte in 
poetischem Glänze. Auch die Knaben lasen begierig und 
heimlich die Räuber- und Ritterromane, die damals er- 
schienen. Das abenteuerliche Wesen gefiel uns. Es wurde 
unter uns ein Ritterorden gestiftet, und wir verbanden uns 
feierlich, Löwenritter zu spielen. Unsere Panzer, Helme, 
Schilde waren freilich nur von Pappendeckel, die Schwer- 
ter nur von Holz geschnitzt; aber der Überzug mit Silber- 
papier und die goldpapierenen Bilder darauf regten den- 
noch die ritterlichen Gefühle in uns auf und reizten zur 



cap. 2.] Gymnasium. 19 

Hoffahrt. In den Schanzen waren unsere Burgen, die Ca- 
sematten waren unsere Burgverliesse und Verstecke. Auch 
an Kämpfen mit andern fehlte es nicht. 

Ich habe im reiferen Lebensalter grosse Gelehrte, 
angesehene Künstler und mächtige Fürsten kennen gelernt, 
welche mit ungleich grösserem Aufwände von Geist und 
Geld als erwachsene Männer noch an denselben mittelalter- 
lichen Phantasiespielen ihre Freude hatten, die uns einst 
als Kinder beglückt hatten. Uns haben diese Spiele nur 
einige Jahre lang in unserer Kindheit angezogen. Der Ein- 
blick in das reale Leben der Gegenwart führte uns bald 
über diese Stufe hinweg. 

Im Jahr 1819, dem Jubeljahre der Zwinglischen Kir- 
chenreform, wurde ich als eilfjähriger Knabe in die „Ge- 
lehrte Schule" aufgenommen. So wurde das Zürcher Gym- 
nasium benannt, welches von dem Chorherrnstift zum 
Grossen Münster geleitet und unterhalten ward. Die Schule 
hiess auch schola Carolina, zu Ehren des Kaisers Karl des 
Grossen, welcher als Stifter der Propstei Grossmünster 
fortwährend hochgefeiert ward. 

Das Andenken an den Kaiser Karl war in der Zür- 
cher Jugend noch lebendig. Wir blickten mit Verehrung 
zu dem Bilde des Kaisers auf, welches an der Aussenseite 
eines Münsterturmes in Stein gemeisselt war. Da sass 
er majestätisch, das blanke Schwert auf dem Schosse, die 
Krone auf dem Haupt, als richtender König auf dem Throne. 

Unter den Schulkindern wurde die neckische Rede 
noch immer von Mund zu Mund überliefert: 

De Kaiser Karli häd en Hund 
Rat wie heisst Kaiser Karlis Hund. 

Der Name „Ratwie" und die Frage „Rat' wie" verwirr- 

2* 



^0 Kaiser Karls-Sage. [cap. 2. 

ten die Neulinge, und die Frage und die Antwort suchten 
sich wechselnd zu täuschen. 

Einen tieferen Eindruck machte auf mich die alte 
Sage von der Gerechtigkeit des Kaisers, die uns Knaben 
oft erzählt wurde. Man versicherte uns, der Kaiser habe 
in dem Hause zum „Loch", welches zu unserer Schule ge- 
hörte, und wo der Chorherr Bremi, unser Professor im 
Griechischen wohnte, seinen Hof gehalten. Am Thor war 
ein Glockenstrang angebracht, an welchem die Rechtsbe- 
dürftigen zogen, um Gehör zu erhalten. Eines Tages nun 
schellte die Glocke ; aber der Diener, der nachsehen sollte, 
wer da sei, sah Niemanden vor dem Thor. Dann schellte 
es wieder, zum zweiten und zum dritten Male. Endlich 
entdeckte der Diener eine Schlange, welche die Glocke an- 
gezogen hatte, und meldete das dem Kaiser. Dieser be- 
fahl die Schlange einzuführen. Da neigte sie sich vor dem 
Kaiser und brachte ihre Klage vor wider eine grosse 
Kröte, welche sich ihres Nestes bemächtigt habe und ihre 
Brut bedrohe. Der Kaiser folgte nun der Schlange, um 
an Ort und Stelle einen Augenschein zu nehmen, und fand 
die Klage begründet. Dann liess er die Kröte wegnehmen 
und in die Limmat werfen. Als er später bei Tische sass 
in seiner Pfalz, erschien die Schlange nochmals, um sich 
für den Richterspruch zu bedanken, und überbrachte dem 
Kaiser als Gabe einen Edelstein, welcher die Zauberkraft 
besass, die Liebe des Kaisers anzuziehen und festzuhalten. 
Der Kaiser liess den Stein in Gold fassen und schenkte 
ihn seiner Gemahlin, welche das Kleinod beständig am 
Leibe trug. Als sie starb, wollte der Kaiser sich nicht 
von der Leiche trennen, weil diese mit dem Steine ge- 
schmückt blieb. Endlich gelang es den Hofleuten, den 



(Jap. 2.] Lehb£b der schola cabolina. 21 

Stein zu entfernen und die Leiche zu begraben. Sie warfen 
denselben in eine Quelle bei Aachen. Von da an wendete 
sich die Gunst des Kaisers dauernd der Aachener Quelle zu. 

Die Gelehrtenschule war in drei Classen getheilt, jede 
Classe wurde von einem Hauptlehrer geleitet. Der Unter- 
richt war vorzugsweise auf die alten Sprachen gebaut, das 
Lateinische und später das Griechische. Die Zürcherischen 
Gelehrten waren seit alter Zeit berühmt durch ihi^e philo- 
logischen Leistungen, und die Bekanntschaft mit der antiken 
Litteratur war in der Stadt ziemlich verbreitet, bis in die 
höher gebildeten kaufmännischen Kreise hinein. Die beiden 
ersten und untern Classen waren für gute Schüler auf ein 
Jahr berechnet. Die oberste dritte Classe dagegen umfasste 
zwei Jahrgänge. Die Schüler des zweiten Jahres, die so- 
genannten „Alten", machten dann ihre Überlegenheit in 
Alter und Erfahrung über die Schüler des ersten Jahres, 
die „Jungen", in der Weise geltend, dass jeder Alte aus 
den Jungen sich einen Leibfuchs erwählte, der sich zu ihm 
halten und gelegentlich ihm kleine Dienste leisten musste 
und dagegen den hohen Schutz und die Gunst des Patrons 
erwarb. 

Die Lehrer waren durchweg Genossen der reformirten 
Geistlichkeit, aber ohne kirchliche Engherzigkeit und ohne 
pietistische Süssigkeit. Sie führten uns in das antike heid- 
nische Wesen und Leben mit philologischer Unbefangenheit 
ein. Aber an Talenten und Wirkung waren sie sehr ver- 
schieden. Mit strammem Ernste regierte in der ersten 
Classe mein Nachbar aus der Schipfi, der Pfarrer Hafner, 
und hielt uns zum Fleisse an. Der Oberlehrer der zweiten 
Classe aber, der Provisor Wolf, war ein gutmütiger 
schwacher Herr, der die übermütigen Jungen nicht zu be- 



22 Pfarrer Weiss. Griechenaufstand. [cap. 2. 

herrschen wusste, und dem gelegentlich arg mitgespielt 
wurde. Ein Beispiel mag dafür zeugen. An einem heissen 
Sommertage nahmen wir aus Spass kleine Schachteln mit 
Mehl in die Schule mit, fingen dann Fliegen, benetzten 
dieselben mit Speichel und schüttelten sie in den Schach- 
teln. Darauf Hessen wir die weissen Dinger während des 
Unterrichts fliegen, zum Erstaunen des Lehrers, der nicht 
wusste, was das für seltsame Insekten seien. Er forderte 
dann einige Schüler auf, ihm ein Exemplar einzufangen, 
was natürlich zu allgemeiner Erheiterung der Classe, aber 
zur Beschämung des Lehrers gelang. 

In dieser Zeit fing mein früherer Lerneifer an nach- 
zulassen. Im Vertrauen auf meine Begabung verfiel ich 
in lässige Bummelei. Vielleicht wäre ich trotz der guten 
Anlage doch versunken, wenn ich nicht in der dritten 
Classe einen Lehrer gefunden hätte, der mich anzuregen 
verstand. Als Oberlehrer in der dritten Classe fungirte 
damals der Pfarrer Weiss, ein tüchtiger Schulmann. Er 
hatte es bemerkt, dass meine Arbeiten hinter meinen Fähig- 
keiten zurückblieben. Eines Tages Hess er mich zu sich 
auf sein Studierzimmer kommen und redete mir da mit 
Wärme und Ernst in's Gewissen. Von diesem Tag an 
vollzog sich eine Wendung in mir. Ich entschloss mich, 
meine Kräfte anzustrengen und wurde dann leicht der erste 
Schüler in meiner Classe. Dem trefflichen Manne, welcher 
später als Präsident des Zürcherischen Erziehungsrats das 
ganze Schulwesen des Cantons leitete, bin ich für die da- 
malige aufrüttelnde Mahnung stets dankbar geblieben. 

In den Schluss dieser Schulzeit fallt meine erste Be- 
teiligung an dem politischen Leben der Gegenwart. Der 
Aufstand der Griechen wider die Türken fand in den 



Cap. 2.] . CONFIBMATION. 23 

Herzen der studierenden Schuljugend ein lebhaftes Mitge- 
fühl. Es waren weniger die religiösen Motive, weniger 
die Befreiung des Kreuzes von der Herrschaft des Halb- 
mondes, die uns aufregten, als die romantische Verehrung 
für die alten Griechen, unsere Lehrer und Vorbilder. Wir 
glaubten in den aufständischen Hellenen die Nachkommen 
von Themistokles und Perikles, von Sophokles und Piaton 
ehren zu sollen. An der Spitze des Zürcher Hülfs-Comites 
stand unser Lehrer im Griechischen, der Chorherr Bremi. 

Nach dem Herkommen sammelten die Schüler der 
obersten Classe während des Schuljahrs einiges Geld, um 
den Austritt aus der Schule und den Übergang in die 
höhere Schule, das sogenannte CoUegium humanitatis, wür- 
diger feiern zu können. Das so gesammelte Geld (sechs 
und zwanzig Zürcher Gulden)* opferten wir nun der grie- 
chischen Sache und behalfen uns für die Abgangsfeier mit 
unsern übrigen Mitteln. Ich habe den dankenden Em- 
pfangsschein (vom 12. Dec. 1822) des Chorherrn Bremi 
sorgfältig aufbewahrt, als ein teures Andenken aus früher 
Jugend. 

Den Confirmations-UnteiTicht erhielt ich von dem 
Helfer (Diacon) Breitinger zu Sanct Peter, einem zwar 
streng gläubigen, aber zugleich woh^oUenden und freund- 
lichen Manne. Am meisten zog mich in diesem Unter- 
richte die geschichtliche Vergleichung des Christentums 
mit andern Religionen an. Gegen die dogmatische Darstel- 
lung der christlichen Lehre hatte ich starke Zweifel, welche 
der Geistliche nicht zu beseitigen vermochte. Ich hatte 
zuvor Becker's Weltgeschichte gelesen, und es war durch 



* 1 Zürcher Gulden = neun Schweizer Franken. 



24 COLLEOIÜM HUMAUITATIS. [cap, 3. 

dieses Buch mein naiver Glaube an die tiberlieferte Kirchen- 
lehre erschüttert worden. Es kostete mich einen schweren 
Seelenkampf, um die Frage zu entscheiden: Soll ich das 
kirchlich vorgeschriebene Gelübde leisten oder ablehnen? 
Die volle Aufrichtigkeit drängte zum Nein; die bisher un- 
verbrüchlich beachtete Sitte forderte das Ja. Zuletzt ent- 
schied die Scheu des Knaben, einen öffentlichen Scandal 
zu wagen, während er doch des eigenen Urteils noch 
nicht sicher war. Die liebevolle und milde Weise des 
Lehrers, der auch abweichende Auslegungen zuliess, er- 
leichterte den Entschluss. Ich unterzog mich den Beding- 
ungen der Confirmation, 



3. 

GoUegium humanitatis. Philologische Glasse. Wissenschaftliche 

Übungen und Aufsätze. Eine Erscheinung. Der Zofingerverein. 

Übergang zur Rechtswissenschaft. Das politische Institut. 

Der Übergang aus der Gelehrtenschule in das CoUe- 
gium humanitatis war ein grosser Fortschritt im Jugend- 
leben. Die Gelehrtenschüler wurden noch mit Du ange- 
sprochen, im GoUegium humanitatis aber trat das „Ihr" 
an die Stelle des Du. Es war das eine Zwischenstufe zum 
„Sie", welches den erwachsenen Fachstudenten der späteren 
Jahre nicht mehr vorenthalten werden durfte. Nach Zür- 
chersitte wurden die Dienstboten, aber auch die Bauern, 
und in der Familie oft die Eltern von den Kindern mit 
der älteren Form „Ihr" angeredet, femer und höher stehende 
Personen aber mit „Sie". 

Das Collegium humanitatis, im vulgären Sprachge- 
brauch auch die „Siebente" genannt, war wieder auf einen 






cap. 3.] Philologische Clabsf, 25 

zweijährigen Cursus berechnet. Der Unterricht in den alten 
Sprachen und in der Litteratur der Römer und Griechen 
blieb das Hauptstudium. Auch die darauf folgende soge- 
nannte philologische Classe, die „erste Achte** genannt, be- 
hielt denselben Grundcharakter. Die erstere Schule wurde 
in den Räumen des vormaligen Frauenklosters zum Frau- 
münster gehalten, die letztere in dem Gebäude der Propstei 
Grossmünster. 

An tüchtigen Philologen war in Zürich kein Mangel. 
Auch wir hatten damals einige ausgezeichnete Philologen 
zu Lehrern. Ich nenne vorzüglich den Professor Ochsner, 
einen feinen Kenner des Ciceronianischen Latein, Professor 
Ulrich Fäsi, einen wohlgeschulten und treiflichen Lehrer 
im Griechischen. Am anregendsten aber wirkte der Pro- 
fessor Johann Caspar Orelli, der Herausgeber des Cicero, 
ein Mann von jugendlichem Feuer auch in höherem Alter 
und mit einem Anflug von Genialität, welche begeisterte. 
Es schadete seinem Ansehen gar nicht, dass man in seiner 
Stube sich kaum bewegen konnte, ohne über die massen- 
haft umher liegenden Bücher zu stolpern. Er war von der 
Liebe zu den alten Classikern erfüllt und wusste diese 
Liebe auch in den Schülern anzufachen. Zuweilen blitzte 
auch ein freier reformatorischer Gedanke in seinen Vor- 
trägen auf und zündete in den Köpfen der Zuhörer. 

Aber es gab auch andere Lehrer, die nicht so günstig 
wirkten. Der Chorherr Ulrich war ein wohlwollender und 
gründlicher Lehrer im Griechischen, aber pedantisch und 
langweilig. Indem er den Homer erklärte, blieb er in den 
grammatischen Formen stecken und entleidete uns den 
grossen Dichter durch die kleinliche Betrachtung der ein- 
zelnen Wörter. Erst als ich zu Hause die Ilias und Odyssee 



26 Studien in der deutschen Litteratur. [cap. B. 

rascher durchlas, bekam ich ein besseres Bild von dem 
herrlichen Werke. Unter uns Schülern war aber damals 
der reformatorische Geist so stark, dass er auch den alten 
ängstlichen Lehrer mit fortriss. Wir opponirten uns näm- 
lich in der griechischen Stunde der bisherigen Zürcher- 
Methode, das rj als i zu lesen, und lasen es, wie in Deutsch- 
land, als e. Es blieb dem Lehrer schliesslich nichts übrig, 
als den Schülern nachzugeben, welche beharrlich der Au- 
torität der alten Gewohnheit die der fortschreitenden Wis- 
senschaft entgegen setzten. 

Weit schlimmer war es in dem hebräischen Unter- 
richte bei Chorherr Usteri bestellt. Der gutmütige und 
wunderliche Herr hatte gar keine Autorität über die Schüler. 
Seine Schwächen wurden arg missbraucht. Einmal sagte 
er, er wünsche, dass ihm die Schüler mit Liebe entgegen 
kommen. Darauf ging ihm die ganze Classe am folgenden 
Tag bis zur oberen Brücke entgegen und gab ihm das Ge- 
leite bis zur Schule. Er hatte die Gewohnheit, hart an 
den Schulbänken durch das Zimmer zu gehn. Nun wurden 
diese am Bande mit weisser Kreide beschmiert, die sich 
an dem langen schwarzen Rocke abdrückte. Neues wurde 
bei diesem Lehrer nicht gelernt, eher das Alte vergessen. 

Es gab noch einige ungeeignete Lehrer, in deren 
Stunden Allotria getrieben wurden. Meine Liebhaberei war 
es damals, wenn mir der Unterricht langweilig wurde, die 
Schriften der deutschen Classiker zu lesen. Auch Klop- 
stocks Messiade habe ich so in der Schule durchgelesen. 

Überhaupt beschäftigte ich mich damals viel mit der 
deutschen Litteratur, sowohl der des Mittelalters als der 
neueren Zeit. Mit grossem Interesse las ich die Nibelungen 
in der alten Sprache und ebenso die Gedichte der Minne- 



cap. 3.] Philosophische Studien. 27 

Sänger. Ich übersetzte den älteren Siegesgesang auf König 
Ludwig aus dem neunten Jahrhundert und das Loblied auf 
den Erzbischof Hanno von Cöln aus dem eilften Jahrhun- 
dert. Mehr aber zog mich die neuere Litteratur unserer 
Klassiker an. Eines Tages fragte Professor Orelli den etwa 
siebenzehnjährigen Jüngling: Wie stellen Sie sich zu Schiller 
und Goethe? Ich erwiderte: Schiller packt mich tiefer und 
begeistert mich mehr. Darauf bemerkte Orelli: Das passt 
zu Ihrem Alter. Die Zeit wird schon kommen, in der Sie 
bei Goethe einen höheren Genuss finden werden. Er hatte 
richtig gesehen. Es kam eine Zeit, in welcher die Vorliebe 
für Schiller in den Hintergrund trat, und das sonnige Bild 
Goethes mir heller erschien. Aber noch später kam wieder 
eine Zeit, in der ich die grosse veredelnde und befreiende 
Wirkung Schillers auf die deutsche Nation wieder voller 
schätzte und der Wirkung Goethes auf die höher Gebildeten 
und Denkenden als ebenbürtig an die Seite stellte. Die 
öifentliche Schule kümmerte sich wenig oder nichts um 
die deutsche Litteratur. Es wurde das dem Privatstudium 
überlassen. 

Bei Chorherrn Hirzel, einem eleganten Schriftsteller 
mit sarkastischen Neigungen, erhielten wir Unterricht in 
der deutschen Philosophie. Es herrschte damals, wie in 
Deutschland, so auch in Zürich die Kantische Philosophie. 
Ausserdem erhielt ich noch Privatstunden bei Professor 
Conrad Orelli, einem Bruder des Philologen, in der Ge- 
schichte der griechischen Philosophie. In Verbindung mit 
einigen Schulgenossen las ich zu Hause in den Schriften 
von Piaton. 

Diese philosophischen Studien interessierten mich wohl; 
aber ich sah darin nur ein geistreiches Gedankenspiel und 



28 Wissenschaftliches Leben, [cap, 3, 

fand doch keine volle Befriedigung darin. Die Ergebnisse 
erschienen mir bald zu unsicher, bald zu inhaltsleer. Zu 
blosser abstracter Speculation fühlte ich keine Neigung und 
hatte ich kein Talent. 

Die mathematischen und die Naturwissenschaften wur- 
den fast gänzlich vernachlässigt. Ich suchte im Gefühl 
dieses Mangels Einiges nachzuholen, indem ich bei einem 
Mathematiker Privatstunden nahm. Dieses Nebenstudium 
war aber, obwohl der Lehrer recht tüchtig und ich fleissig 
war, doch nicht genügend, um die Lücke in der wissen- 
schaftlichen Vorbildung auszufüllen. Ich habe dieselbe später 
oft schmerzlich empfunden. 

Unter uns Studierenden war damals ein reges wissen- 
schaftliches Leben. Ich nahm an mehreren VerbiL düngen 
teil, welche in verschiedenen Richtungen das studentische 
Leben förderten. Des griechischen Kränzchens, in dem wir 
vorzüglich Piatons Schriften lasen, habe ich bereits erwähnt. 
Eine andere Gesellschaft war der Übung in deutschen Auf- 
sätzen gewidmet. Wir baten einen älteren Studenten, die 
Arbeiten zu leiten. 

Einige Aufsätze, die ich verfasst hatte, haben sich 
in meinen Papieren erhalten. So schon ein Aufsatz über 
den Kaiser Trajan vom Jahr 1823. Ich wagte darin, über 
die beste Statsverfassung meine Ansicht auszusprechen, die 
freilich noch kindisch war, aber trotzdem die Keime der 
spätem Entwicklung erkennbar darstellte. Ich meinte, die 
Demokratie passe eher für höhere Wesen als die Menschen, 
weil die wahre Freiheit nur in Verbindung mit der Tugend 
und d«r Einsicht bestehen könne, diese beiden aber in den 
Massen nicht hinreichend gesichert seien. Von der Aristo- 
kratie bemerkte ich, wenn sie in Wahrheit wäre, was ihr 



cap. 3.] Aufsatze. 29 

Name besagt, so wäre nichts gegen diese Statsform ein- 
zuwenden; aber die Erfahrung lehre, dass die Vornehmsten 
nicht immer die Besten seien, und dass sie die Menge ge- 
wöhnlich in der Unwissenheit und llohheit erhalten, um 
dieselbe leichter beherrschen zu können. Ich erklärte, die 
eingeschränkte, repräsentative Monarchie sei zwar auch 
nicht ohne innere Kämpfe und nicht ohne Gefahren, aber 
jedenfalls der absoluten Monarchie vorzuziehen und dann 
am besten, wenn die monarchische Regierung im Einver- 
ständniss mit der frei gewählten Volksvertretung die An- 
gelegenheiten leite. Es zeugt für die Unbefangenheit und 
Freiheit unserer Beratung, dass in der Republik und unter 
lauter Republikanern der constitutionellen Monarchie sol- 
ches Lob gespendet werden durfte. 

Ein anderer Aufsatz aus dem Jahr 1825 behandelte 
das Thema über den Selbstmord. Das Motto aus Plutarch : 
„Der freiwillige Tod darf nicht eine Flucht aus dem Leben, 
er darf nur eine Lebensthat sein" bezeichnet meine Auf- 
fassung. In der Regel ist der Selbstmord verwerflich, zu- 
weilen entschuldbar, in seltenen Ausnahmsfallen eine rühm- 
liche That. 

In demselben Jahre wurde ich berufen, zum ersten 
Mal eine öffentliche Rede zu halten, und zwar als Studiosus 
Classis Philologicae eine lateinische Rede vor den Profes- 
soren, Honoratioren und den Studenten der Stadt. Ich 
wählte als Thema die Vorteile und Nachteile der Armut 
und des Reichtums für das wissenschaftliche Studium. 
(De commodis atque incommodis vel paupertatis vel divi- 
tiarum ad operam litteris dandam.) 

Im Jahr darauf (9. Juli 1826) veranstalteten wir eine 
öffentliche Festfeier im Freien zur Erinnerung an die Schlacht 



30 Erste Reden. [cap. 3. 

von Tätwyl (26. Dec. 1351). Es war das ein für die Züricher 
rühmlicher Tag gewesen, indem sie, von einer österreichisch- 
aargauischen Übermacht überfallen und umschlossen, sieg- 
reich den Durchbruch erstritten. In frühem Zeiten war 
der Sieg alljährlich durch eine Wallfahrt nach Einsiedeln 
gefeiert worden. Seit Jahrhunderten war das gefährliche, 
aber unbedeutende Treffen in Vergessenheit geraten. In- 
dem wir das Andenken daran als Zürcher Studenten wieder 
auffrischten, folgten wir mehr dem jugendlichen Drang, ein 
vaterländisches Volksfest zu feiern, als der Einsicht in den 
Wert der gefeierten That. Von den Studiengenossen wur- 
den der Studiosus theologiae Hans Meyer und ich zu 
Festrednern erwählt. Wir entledigten uns des Auftrags 
auf dem Schlachtfelde zur Zufriedenheit der Anwesenden. 
Die gährenden Gedanken und Triebe der Jünglings- 
zeit sind am klarsten ausgesprochen in einem Aufsatze, 
eine Erscheinung betitelt, vom Jahr 1827, den ich auch 
in späteren Jahre gerne wieder gelesen habe, und der mir 
wie eine Vorahnung des künftigen Lebens erschien. Das 
schöne Wort von Goethe war als Motto gewählt worden: 

„War' nicht das Auge sonnenhaft, 
Die Sonne könnt' es nie erblicken; 
Lag' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, 
Wie könnt' uns Göttliches entzücken.** 

Ich schilderte darin meine Lieblingsaussicht von der 
Höhe des Zürichberges auf die geschäftige Stadt, den blauen 
See mit seinen prangenden Ufern und das Schneegebirge. 
Ich meinte „die Entwicklung der gewiss mit Unrecht tot 
genannten Natur" zu schauen. Aber vor allem „zog mich 
das tiefe, unendliche himmlische Blau des Äthers liebend 
zu sich empor". In der That kannte ich in meiner Jugend 



cap. 3.] Eine Erscheinung. 31 

keinen reineren und höheren Genuss, als auf dem Berge 
im Grase liegend in den wolkenlosen, sonnenbeglänzten 
Lufthimmel hinauf zu schauen und mich in dem Gedanken 
des Unendlichen zu verlieren. 

Dann kommt die Erscheinung wie ein Traum über 
mich. Es wird dunkel um mich und nur in der Ferne 
gewahre ich einen dichten Rauch, der von einer mächtigen 
Flamme Zeugnis gibt. Ich sehe zwar nur den Rauch, 
nicht die Flamme, dennoch werde ich von der Rauchsäule 
unwiderstehlich angezogen. Aber der Weg dahin ist durch 
Gestrüppe, Mauern, Gräben verlegt und durch wilde böse 
Tiere, insbesondere auch durch Schlangen gefährdet. Ich 
drang aber mutig vorwärts und hieb mit einer scharfen 
Rute, die ich unterwegs gebrochen, tapfer auf die Natter- 
brut ein, welche sich vor mir zurückzog und in Pflanzen 
verwandelte. Schon sah ich die Flamme deutlicher und 
näher. Aber nun waren auch meine Kräfte erschlaift. Die 
behagliche Ruhe gefiel mir und der heitere Lebensgenuss. 
Da warfen sich wieder und noch gefahrlichere Raubtiere 
zwischen die Flamme und mich; im Hintergrunde lauerte 
ein Drache, dessen ungeheurer Leib wie ein Meer sich ins 
Unendl^ ^ auszudehnen schien, und in dessen Schuppen 
sich ' mme widerspiegelte. Die kleinen Augen des 

U'^ ^chossen vergiftete Pfeile aus, und aus dem 

\en drohte die ewige Finsternis. 

te myjh vor dem Untier und wendete 
\|ich lockenden Thale zu, das sich mir 
öffnete, x.^^^^.^a war von einem schimmernden Lichte er- 
hellt von gelblichem Glänze, und es sprudelte darin eine 
Quelle, deren Genuss den Durst eher aufregte als stillte. 
Rings um mich spielten Flämmchen, wie Irrlichter. Der 



32 Eine EIbscheinuko. [cap. 3. 

Boden unter mir wurde weicher, und ich sank tiefer in den 
Sumpf. Da hüpften die Frösche, Kröten und Heuschrecken 
um mich her und verhöhnten mich. Da entbrannte mein 
Zorn, und wieder schlug ich mit meiner Zaubergerte unter 
das Gesindel und auf den Boden, der von der Rute ge- 
troffen fester wurde. Die Sehnsucht nach der einst ge- 
suchten Flamme, die ich nur in der Rauchsäule noch er- 
kannte, erwachte wieder mächtig in mir. Ich gelobte, sie 
nicht mehr aus den Augen zu verlieren und zu ihr durch- 
zudringen, trotz aller Gefahr. Diesen Entschluss vollführte 
ich, durch keinen Unfall entmutigt und durch keine Leiden 
abgeschreckt. 

Endlich gelangte ich auf die Höhe, wo die Flamme 
dem Boden zu entquellen schien und frei von jeglichem 
Rauche in unendlicher Klarheit strahlte. Ich musste hin 
zu ihr. Die von ihr erleuchtete Seele war von Liebe zu 
ihr erfüllt. Ich wollte die Flamme umarmen und lag nun 
an dem Busen eines riesigen Mannes, auf dessen Stirn die 
Weisheit thronte und dessen Erkenntniss die Dinge in ihrer 
wahren Natur erschaute. Wie ein liebender Vater hielt er 
mich in seinem Arme und zeigte mir die Welt. 

„Und ich sah der Menschen mannigfaches Treiben ent- 
wirrt; ich sah, wie sich die Einzelnen mühten, bald sich, 
bald die Welt, oder vielmehr beide zugleich bildeten. Auf- 
gethan war mir der Völker Entwicklungsgang; ich er- 
kannte, wie sie zur Vollendung reiften; und was mir früher 
Rückschritt geschienen, das ward mir nun als notwendige 
Bedingung der höchsten Entwickelung offenbar. Ich erfasste, 
wie alles Unentfaltete keimte und wuchs und sich zur Voll- 
endung gestaltete. Der Sonnen, Erde und Monde Bahnen wa- 
ren mir enthüllt; das Böse selbst war mir keinRäthsel mehr." 



\ 

\ 



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cap. 3.] Eine Ebscheinukg. 33 

„Jetzt erscheint dir das Höchste, sagte die Gestalt. 
Da durchwallte plötzlich liebender Glanz das All und durch- 
glühte es. Das All und die Liebe schmolzen ineinander. 
Kaum konnte ich die Wonne, die auch mein Innerstes er- 
fasste, ertragen. Ich wollte liebend an den Busen der Ge- 
stalt mich enger anschmiegen. Doch auch sie hatte sich 
aufgelöst in den Glanz der Liebe und des Alls. Schon 
war mir's, als löste sich mein Wesen auf in die Unend- 
lichkeit, gleich der Perle, die im Meere von Nektar sich 
auflöst. Doch diesen Gedanken vermochte der Sterbliche 
nicht zu fassen. Ich fühlte mich noch, stutzte und er- 
wachte.** 

Die energische Liebe zur Wissenschaft und das Ver- 
trauen in ihre beseligende Macht, welche die Seele des 
Jünglings erfüllten, die Einsicht, dass die leuchtende Flamme 
der Erkenntniss etwas anderes sei als der Rauch der Ge- 
lehrsamkeit, das Vorgefühl der ernsten Kämpfe, welche 
dem bevorstehn, der nach Höchstem strebt, aber auch die 
Besorgnis, dass unterwegs die Kräfte ermüden und beque- 
mer Lebensgenuss von dem Ziele ablenken könnten, sind 
in diesem Aufsatze in deutlichen Bildern- ausgeprägt. Als 
höchstes Ziel der Erkenntnis treten die psychologische Er- 
gründung des IndividuaJ- und des Völkerlebens und eine 
Gotteswissenschaft hervor, welche die Natur mit dem un- 
endlichen Geiste in Eins verbindet. Wenn gleich noch ein 
pantheistischer Zug das Ganze durchweht, so erweist sich 
doch daneben das mikrokosmische Selbstgefühl stark genug, 
um sich gegen die Auflösung im All zu sträuben. Aus 
diesen Ahnungen und Träumen des Jünglings wird auch 
die eigentümliche Befriedigung verständlich, welche die 
Wissenschaft Friedrich Rehmers auf den erwachsenen 

Bl untsc hl i, Dr. J. C, Alis meinem Leben. I. 3 



34 ^E» ZOFINOEBVEKEIN. [CEp. 3. 

Mann im Verfolge seines Lebens machen musste. Er er- 
kannte darin die Erfüllung der Sehnsucht seiner Jugend. 

Unter den schweizerischen Studierenden der verschie- 
denen höheren Schulen bestand damals als einzige Ver- 
bindung der im Jahr 1819 gestiftete Zof in gerverein. 
Alljährlich kamen die Mitglieder in der freundlichen Stadt 
Zofingen im Aargau zusammen. Der Vorort wechselte jedes 
Jahr unter den Schweizerstädten. Als die Leitung nach 
Zürich kam, wurde ich mit zwei theologischen Freunden 
in den Centralausschuss gewählt. 

In diesem Verein trat damals ein lebhafter Kampf 
zweier Meinungen und Richtungen hervor. An der Spitze 
der einen Partei standen unsere Baslerfreunde, wir Züricher 
führten die andere Partei. Ich schrieb einen „historischen 
Versuch" unter dem Titel „Der Basler Zofinger-Verein", 
welcher den Gegensatz erörtert. 

Der Basler Verein hatte einen strenger wissenschaft- 
lichen Charakter. Es kostete sogar schwere Kämpfe, bis 
die Versammlung aus einer trockenen Schulstube in das 
Schützenhaus verlegt und hier Erfrischungen erlaubt wur- 
den. In Zürich dagegen wurden die wissenschaftlichen Ar- 
beiten anderen kleineren Gesellschaften zugewiesen, und die 
Vorträge im Zofingerverein nahmen neben der geselligen 
Unterhaltung einen bescheideneren Platz ein. 

Der Hauptunterschied aber bestand darin, dass die 
Basler als Zweck des Zofingervereins die Wohlfahrt des 
schweizerischen Vaterlandes bezeichneten und eine Teil- 
nahme an dem politischen Leben verlangten. Dem wider- 
setzten sich die Züricher. 

Obwohl meine Natur auf politisches Leben angelegt 
war, so vertrat ich doch mit Entschiedenheit die Meinung, 



cap. 3.] Die Zürcher höhere Schule. 35 

■ ' — t 

dass das eine Verirrung sei. Ich bemerkte darüber: „Jene 
Idee der Basler, die einzig auf des Vaterlandes Wohl blickt, 
scheint mir aus einer Begeisterung entstanden zu sein, die 
sie ihrer Jugend vergessen Hess. Dachten sie dabei an ihre 
Kräfte? Erwogen sie ihr jugendliches Alter? Träumten sie 
nicht Männer zu sein, da sie doch nur Jünglinge waren? 
Der Jüngling soll sich vorbereiten, um einst als Mann 
wirken zu können. Er soll selber erst erzogen sein, bevor 
er Völker erziehen will. Die Jugend ist die Zeit der Vor- 
bereitung, das männliche Alter die Zeit des Wirkens. Dem 
Jüngling ist Zweck, was- dem Manne zum Mittel wird.** 

Im Übrigen empfahl ich, dass jede der beiden Aka- 
demien sich in ihrer eigentümlichen Weise fortbilde und 
nur sich vor Extremen hüte. In dem Gesammt-Zofinger- 
verein überwog die Zürcherische Ansicht, dass der Verein 
vorzüglich die Freundschaftsbande unter den schweizeri- 
schen Studierenden erhalte und befestige, edle Sitte pflege, 
gesellige Freuden geniesse und an der gemeinsamen Aus- 
bildung arbeite. 

Die damalige höhere Schule in Zürich war für die 
Zürcherische reformirte Kirche angelegt. Studieren und 
Geistlicher werden galt in der Meinung der Städter und 
der Landleute noch für dasselbe. Fast alle meine Freunde 
folgten diesem Studiengang und gingen aus der „ersten 
Achten" in die „zweite" und „dritte Achte" d. h. zu dem 
eigentlichen theologischen Fachstudium über. 

Ich machte zwar das entscheidende Examen, das so- 
genannte „Rigidum", noch mit, aber nur damit man nicht 
meine, ich fürchte dessen Strenge. Nachdem dasselbe glück- 
lich bestanden war, erklärte ich den Professoren, dass ich 

nicht Theologie studieren wolle, sondern zur Rechtswissen- 

3* 



3(5 Übkrgakg zur Rechts wissbkschaft. [cap. 3. 

Schaft fortzuschreiten gedenke. Ich besuchte nun das neu 
gegründete „Politische Institut^, eine höhere, aber nur 
dürftig eingerichtete Schule für Juristen und Statsmänner. 

An diesem Entschluss hatte wohl der individuelle In- 
stinct, der mich zum State hinzog, den entscheidenden An- 
teil. Aber auch meine Zweifel gegen den hergebrachten 
Kirchenglauben halfen dazu, mir den Übertritt willkom- 
men zu machen. Charakteristisch für meine damaligen Er- 
wägungen ist, dass ich eine Äusserung des Pontifex Cotta 
bei Cicero (De natura Deorum I. 22) mir notirte, der in 
der Volksversammlung mit heiliger Strenge die öffentliche 
Verehrung der Götter forderte, aber unter philosophisch 
gebildeten Freunden unbedenklich seine Zweifel gegen ihre 
Existenz aussprach. Ich bemerkte dazu: „Lässt sich das 
auch auf uns anwenden? Darf ein christlicher Pfarrer, 
der die Göttlichkeit Jesu und der Bibel verwirft, dieselbe 
dem unphilosophischen, sinnlichen Volke lehren, und soll 
er sich frei aussprechen nach seiner Überzeugung nur unter 
gebildeten Freunden?" Für die individuelle Glaubens- und 
Denkfreiheit war ich begeistert; der Zwang in diesen Dingen 
kam mir als unmöglich vor. „Auch wenn ich den Andern 
zu Gefallen dasselbe glauben wollte, was sie glauben, so 
kann ich es nicht mit dem besten Willen." 

In meinen Briefen an einen Theologie studierenden 
Freund (Heinrich Rahn) vom 23. Dec. 1825 sprach ich 
mich über meinen Entschluss näher aus: „Ich kann nicht 
christlicher Pfarrer werden. Für's erste muss ein solcher 
ein Christ sein, er muss folglich eine Offenbarung Gottes 
in der Bibel, er muss mehrere Dogmen von der Gottheit 
des Sohnes, der Erlösung u. s. w. annehmen, die ich nicht 
glauben kann, ich mag wollen oder nicht, weil sie meiner 



cap. 3.] Das politische Institut. 37 

Vernunft widersprechen. Für*s zweite muss er christlich 
lehren und predigen. Man sage mir, was man wolle, es 
sei für den Pfarrer hinlänglich, Liebe und Moral den Leuten 
beizubringen. Das ist allerdings weitaus das Wichtigste, 
aber das Volk will sinnliche Anschauung, es will ein für 
göttlich gehaltenes Muster. — Man muss also, wenn man 
gleich selbst nicht glaubt, doch thun, als ob man glaube. 
Verträgt sich das mit der Liebe zur Wahrheit? Darf man 
lügen, wo es sich um das Heiligste, das Höchste handelt? 
Der Hirt einer Schafherde braucht weder ein Schaf zu sein, 
noch Schafspeise zu geniessen. Zum guten Glück muss er 
aber auch nicht dergleichen thun, als ob er ein Schaf wäre. 
Das rettet mich, denke ich, aus dem Garne. Kann ich 
dagegen als Statsmann nicht laut verfechten, was ich für 
wahr und gut halte? Ich kann es wenigstens in den meisten 
Fällen.** 

Mochten die damaligen Bedenken und Ansichten des 
siebzehnjährigen Jünglings noch unreif sein, die Wahrhaftig- 
keit desselben führte ihn auf die seiner Natur zusagende 
Laufbahn. 

An dem Politischen Institut wirkten damals vorzüg- 
lich zwei jüngere Docenten, an die ich mich verehrend an- 
schloss, und von denen ich in meinen Studien trefflich 
gefördert wurde. Am meisten lernte ich bei Friedrich 
Ludwig Keller, dem ausgezeichneten Schüler und spätem 
Nachfolger Savignys. Er führte mich in das Studium 
des römischen Rechtes ein. Dieses Recht hatte in Zürich 
nicht, wie in Deutschland, die Geltung eines subsidiären 
gemeinen Rechts. Das Zürcherische Recht hatte seinen 
acht deutschen Charakter bewahrt. Die Eidgenossen hatten 
von Bartolus und Baldus nichts wissen wollen und küra- 



38 F. L. Keller ukd Febd. Meteb. [cap. 3. 

merten sich nichts um die Autorität der alt-römischen 
Kaiser. Daher behandelte Keller das römische Recht nicht 
wie ein Gesetzbuch, sondern beachtete mehr den wissen- 
schaftlichen Wert desselben und machte seine Schüler 
mit dem Geiste der classischen Juristen Roms vertraut. 
Die deutsche Rechtswissenschaft der Zukunft wird dieselbe 
Richtung und Methode einführen müssen, wenn erst die 
moderne deutsche Civilgesetzgebung das Privatrecht durch- 
gearbeitet und neu formulirt haben wird. 

Ich hörte bei Keller Institutionen und Pandekten, las 
unter seiner Leitung den Gajus durch und übte mich in 
der Erklärung von Stellen aus den Schriften der Classiker. 
Vorzüglich spannte den Scharfsinn die prägnante Aus- 
drucksweise Papinians. Auch die Reden des Cicero wur- 
den mit juristischem Verständnis durchgearbeitet. Die 
reiche Bibliothek Kellers stand dem Schüler offen, der die 
Gunst des Lehrers besass. 

Der zweite Lehrer, dessen Unteri'icht und Umgang 
mir teuer war, der Ratsschreiber Ferdinand Meyer, 
wirkte mehr in patriotischer Richtung. Er führte mich in 
die Statengeschichte der Schweiz ein und regte zu ge- 
schichtlichen Studien an. Auch er gewann den Schüler 
lieb und wurde ihm ein treuer Freund. 

Die juristischen Studien mit ihrer scharf verständigen 
Prosa führten mich auch bald über eine Selbsttäuschung 
hinaus, welche mich einige Zeit gefangen gehalten hatte. 
Es ging mir, wie manchem begabten Jüngling von sechs- 
zehn oder siebenzehn Jahren, ich wähnte ein Dichter zu 
sein, weil ich die dichterischen Werke liebte und selber 
Verse machte. Mit achtzehn Jahren sah ich die glänzende 
Seifenblase zerplatzen. Ich wurde gewahr, da^s ich gar 



Cap. 4.] FBEUia)SCHAFTSBÜNDISSE. 39 

keine dichterische Anlage besitze, sondern eher ein Mann 
der Prosa werde. 



4. 

Frenndschaftsbünde. Johannes Zeller. Bernhard Hirzel. Ernst 

Müller. Schleiermachers Monologen. 

Das erste Jünglingsalter ist offenbar die günstigste 
Zeit zur Bildung persönlicher Freundschaften. Die Seele des 
Jünglings ist noch weich und gleichsam flüssig. In der 
Entfaltung begriffen hat sie ein Verlangen, sich verwand- 
ten Jünglingen aufzuschliessen. Der eine nimmt einen In- 
nern Anteil an dem Leben des Andern. 

Unter uns Studierenden gab es damals viele Freund- 
schaftsbündnisse, deren jedes seine besondere Geschichte, 
die alle einen gemeinsamen Charakter hatten. Wohl hatten 
wir ein jeder mehrere Freunde, aber vorzugsweise schlössen 
sich doch je zwei aufs innigste zusammen. Der Freund 
suchte den Freund, und hinwieder in vertrautem Verkehr 
mit diesem, sich selber zu erkennen, ihn und sich auszu- 
bilden. Der Freund wurde von dem Geschicke seines 
Freundes mitbetroffen und nahm den wärmsten Anteil an 
seinen Kämpfen, an seinen Freuden und Leiden. Zuweilen 
gab es auch eine Verstimmung unter ihnen, und das Band 
der ewigen Treue und Liebe, welche sie sich gelobt hatten, 
drohte zu zerreissen. Für beide war diese Gefahr ein 
schwerstes Unglück, und nicht selten kostete solche Be- 
drängniss bittere Thränen und andauernde Sorgen. 

In einem solchen engsten Freundschaftsbunde stand 
ich mit Johannes Zeller. Schon als Knaben in der Ge- 
lehrtenschule waren wir, noch unbewusst, einander freund- 



I 



40 Tagebuch-Auszüge. [eap. 4« 

lieh nahe gekommen. Wir arbeiteten, spazierten, spielten 
gerne zusammen. Als wir Jünglinge geworden, eröffneten 
wir einander unsere geheimsten Gedanken, und die Blüte 
der Freundesliebe ging auf. Es lebte einer in und mit 
dem andern; wir suchten uns wechselseitig zu heben und 
zu veredeln. Ich hatte einen Vorsprung im Wissen ge- 
macht, unfl bemühte mich nun den Freund nach zu ziehen. 
Er arbeitete mehr an seinem Innern, und wirkte hinwieder 
auf den Charakter seines Freundes wohlthätig ein. 

Auch uns wurden die Kämpfe nicht erspart. Von 
den wogenden Gefühlen und Gedanken jener Jahre gibt das 
Tagebuch einen unmittelbaren Aufschluss, das ich im 
Juni 1827 zu schreiben begann, eben in der Absicht, die 
eigene Seelenstimmung und die der Freunde darin auszu- 
sprechen. Ich setzte dasselbe bis 1836 fort, und es dient 
mir nun, die Erinnerung an die Erlebnisse meiner Jugend 
zu erneuern. Auszüge aus diesem Tagebuch mögen den 
Blick eröfl&ien in dieses jugendliche Freundesleben. 

23. Juni. Zeller entdeckte mir die Zweifel, die ihn 
quälten. Er meinte, er könne mir nicht genügen, er könne 
mir nicht wiedergeben, was ich ihm gegeben; er habe mir 
zuviel, ich ihm zu wenig zu verdanken, ich steige immer 
höher, und er könne mir nicht folgen. Er äusserte seine 
Furcht, dass wir uns trennen müssen. Ich entgegnete ihm, 
Charakter, Geist und Gemüt und nicht gelehrte Kennt- 
nisse seien es, worauf sich unsere Freundschaft gründe. 
In jener ersten Beziehung aber sei kein grosser Unterschied 
zwischen uns, in manchen Stücken sei er mir überlegen. 
Wir gelobten uns gegenseitig festen Glauben und die in- 
nigste Freundschaft. 

30. Juni, Diesen Morgen schrieb ich im CoUegiuni 



cap. 4.] JoHAimES Zeller. 41 

ein Billet an Zeller und fragte ihn, was ihm auf dem 
Herzen liege; denn ich merkte, er war nicht glücklich. Er 
gestand mir das. Nach dem CoUeg ging ich zu ihm. 
Ich fand ihn im furchtbarsten Kampf mit sich selbst. Nicht 
wie sonst verzweifelnd, sondern kalt empfing er mich. Er 
sagte, er wolle mir Alles, sich selbst entdecken, er werde 
es aber niederschreiben. Nun erhielt ich folgenden Brief 
von ihm: 

„Glaube mir nur, ich weiss wohl wie geisttötend 
es ist, ein schönes Gefühl, eine schöne Idee aufgeben 
zu müssen, wegen der Unempfindlichkeit und Unfähig- 
keit des Gegenstandes, auf den sie sich bezogen. Aber 
ich weiss auch, dass ein plötzlicher, doch noch zu rech- 
ter Zeit geschehender Umstoss besser ist, als eine 
immerwährende, öder vielleicht später nur desto herber 
sich oifenbarende Täuschung. Diese, die Ungewissheit 
ist das Quälendste ; diese will ich Dir nehmen, aber auf 
grausame Weise; durch das Oeflfrien Deiner Augen. 
Wahrscheinlich erfolgt Trennung* daraus, und — es sei 
ausgesprochen — ich wünsche sie; denn ich sehe sie 
Dir und mir heilsamer. Ich weiss. Du liebst mich feurig, 
aber eben so feurig hassest, verachtest Du mich nach- 
her vielleicht. Nun hasse mich, aber hasse, verachte 
die übrige Menschheit nicht; in ihr wirst Du wieder 
Trost finden; in ihr suche auch ich ihn. 

„Gleichsam uns selbst unbewusst, näherten wir 
uns schon als Knaben in Liebe zu einander, einer fand 
in dem andern, was er suchte, und was er in keinem 
Andern fand; und wenn auch diese Liebe viele Unter- 
brechungen erlitt, so blieb doch immer die Zuneigung. 
Wir traten nun in die Epoche der Entwicklung unserer 



42 Tagebuch- Auszüge. [cap. 4. 

jugendlichen Geister, ich blieb zurück; Du flogest vor- 
aus, doch rissest Du mich mit, und stelltest mich nun 
dahin, wo ich stehe. Das Gefühl der Dankbarkeit durch- 
drang mich, aber zugleich entstand das der Abhängig- 
keit von Dir. Ich suchte mir eigene, innere Selbstän- 
digkeit zu geben und glaube nun bald diesem Punkte 
nahe zu sein. Je mehr aber meine Achtung gegen Dich 
stieg, und je mehr ich mich entwickelte, desto offen- 
barer wurde mir eine unausgefüllte Lücke in meinem 
Herzen; es war der herzliche, gemütliche Teil der 
Liebe, ohne den diese nicht sein kann. Ich empfand 
Achtung gegen Dich, aber keine Liebe; jene allein willst 
Du nicht, und diese konnte ich Dir nicht geben. Viel- 
leicht denkst Du, ich sei, wenn es sich so verhalte, 
nicht fähig, warm zu fühlen, zu lieben; aber wisse: 
früher war ich es gewesen, jetzt bin ich es vielleicht 
nicht; einst aber, glaube ich, könne ich es wieder wer- 
den. — Sobald ich jene Lücke fühlte, suchte ich mich 
immer Dir mehr anzuschliessen; denn ich glaubte, die 
Schuld sei an mir; allmählich kam ich auf den Gedanken, 
sie sei an Dir, denn ich wusste, dass Du sonst tief 
empfinden könnest; dass ich Dich einst liebte und doch 
keine völlige Harmonie zwischen uns war. Sobald die- 
ser Gedanke in mir aufstieg, so waren jene Zweifel da 
an Deiner Achtung gegen mich, an der herzlichen Liebe, 
und an der Dauer der erstem, wie ich Dir früher sagte. 
Ich zweifelte stark, und schon war ich dahin gekommen, 
diese Zweifel, den Gedanken an eine Trennung ertragen 
zu können, ja diese zu wünschen. Ich fand also nicht 
genug feurige Gefühlsliebe bei Dir, und zu grosses Ge- 
fühl der Überlegenheit des Verstandes! Ich wollte mich 



cap. 4.] JoHAKVEs Zeller. 43 

mm prüfen und bei Gelegenheit entscheiden. Mitten in 
diese Zeit fielen jene Abende der letztvergangenen 
Wochen; ja in diesen schwur ich Dir wieder Liebe, ja 
ich schwur sie Dir: denn ich sah, dass Du mich feurig 
liebest; ich war überrascht und liebte Dich. Hernach 
prüfte ich mich schärfer, fand also, dass die Schuld an 
mir sei, und kam zu den harten, Dich und mich schmer- 
zenden Worten: „Ich kann Dich nur ehren, nur wie 
einen Wohlthäter lieben, aber nicht wie einen Herzens- 
freund." 

Ich antwortete ihm so: 

Liebster Freund! 

„Ich sagte Dir diesen Morgen, ich sei und bleibe 
ruhig, denn ich habe Gewissheit. Ich las Deinen 
Brief, der nichts Unerwartetes für mich enthielt; ich 
las ihn und blieb ruhig. Nichts drückt, nichts quält 
mich, als dass Du es nicht auch bist. Ich sagte 
Dir diesen Morgen, Du werdest wieder ruhig, noch 
bin ich derselben Meinung. — Eines bedaure ich, 
dass Du Schleiermachers Prüfungen nicht genauer 
durchgelesen hast. Du bist noch gar nicht auf der 
Tiefe, Du hast Dein Selbst noch nicht durchschaut. 
Du wolltest der Täuschung entgehen und sankst tiefer 
hinein. — Ein Beweis liegt schon darin, dass Du mich 
der Verachtung, des Hasses gegen Dich auch nur fähig 
hieltest. — Durch Schleiermachers Prüfungen bekam 
ich einen bedeutenden Aufschluss über Deinen Charak- 
ter und seitdem liebe ich Dich mehr als je. Denn 
Hauptbedingung der Liebe ist Erkennen. — Lies in 
jenen Monologen S. 37 — 66 und Du wirst hier, scheue 
Pich nicht, es zu denken, Deinen eigenen Charakter 



44 TA&EBucH-ÄrszüGE. [cap. 4« 

vollständig gezeichnet finden. Ich gestehe es, diese 
Entdeckung, die mir immer klarer ward, entlockte mir 
Freudenthranen. — In diese zwei Klassen teilen sich 
alle Mensehen, die wissen, was sie wollen. Keine ist 
edler, keine steht höher als die andere. Du gehörst 
zur ersten, deren Prinzip die Liebe, ich zur zweiten, 
deren Urgrund der Sinn ist. An diesem bin ich reicher 
als Du, an jener Du tiefer und voller als ich. Ich 
teilte Dir von meinem Sinn mit, und das allein ist es, 
was Du so hoch anrechnest. Du gabst mir Liebe und 
Gefühle. Gewöhnlich prangen die Menschen der zwei- 
ten Klasse mehr als die der ersten ; ihre Vorzüge wer- 
den von Allen anerkannt und angestaunt. Die Welt 
kennt sie, denn ihr gehören sie ja an. Ganz anders 
ist es mit denen der ersten Klasse. Stiller wirken sie, 
nicht auf die Welt, auf sich selbst, und das sieht nur 
der Freund und sie selbst, nicht aber die Welt. — Du 
verkanntest Deine Stellung, die ganz der meinigen gleich 
ist, nur anders. Du sähest meine Übermacht im Sinn 
und wetteifertest mit mir, und scheutest Dich, als Du 
meine Überlegenheit hierin sähest. Wohl ahndetest Du 
zuweilen, dass etwas anderes Dich emporhebe, so dass 
Du dort mich ebenso übertreffest, wie ich Dich hier. 
Aber noch ward es nicht ganz zum deutlichen Bewusst- 
sein. — Denke ruhig und ernst, und Du wirst Deine 
Rettung erkennen, Dein Wesen erfahren; und dann ist 
alle Scheu zugleich weg; denn Du wirst nicht mehr 
mit mir zu wetteifern suchen in der Wissenschaft, son- 
dern Dich in Deinem Innern mehr ausbilden und so 
mir reichlich und ganz sein auf der subjectiven, was 
ich Dir auf der objectiven Seite bin. Ich bin nicht un- 



cap. 4.] Johannes Zbller. 4 



K 



empfänglich für die Liebe; das ist Dein Werk, jetzt 
erst sehe ich es ganz ein; Du eben so wenig für den 
Sinn, denn Du schrittest mächtig vorwärts, mehr als 
Du je glaubtest. So erkannte ich, dass wir ganz für 
einander geschaifen seien ; denn jeder, der blosse Liebe, 
jeder der blossen Sinn hat, ist einseitig. Wir ersetzen 
einander gegenseitig und teilen ein jeder dem andern 
von seinem Vorrate mit, und bilden uns durch uns. 
So nur können wir vollendet werden, Du wahrhaft nach 
Innen, ich wahrhaft nach Aussen. — An jenem Samstage 
hatte ich einmal den unseligen Gedanken: vielleicht stehe 
ich allein. Er zerschnitt mein Innerstes und drohte es 
wie ein Blitz zu versengen. Seitdem ist es mir rein 
unmöglich, diesen Gedanken nur wieder zu denken." 
4. Juli. Am Sonntag früh ging ich mit dem Briefe 
zu Zeller. Mit einem Gesicht, in welchem sich der Schmerz 
deutlich aussprach, öflFnete er mir die Thüre und bewill- 
kommte mich. Ich gab ihm den Brief und er las. Schon 
vorher war in ihm das Gefühl lebhaft rege geworden, dass 
er nicht aufhören könne mich zu lieben. Mein Brief be- 
ruhigte ihn sehr, und namentlich stärkte ihn das Vertrauen, 
das ich auf ihn gesetzt, ungemein. Die Unmöglichkeit der 
Trennung hatte er selber zuvor schon eingesehen. Später 
am Abend ging ich mit Zeller ins Seefeld. Er verzwei- 
felte beinahe an sich und behauptete, er habe weder Ver- 
stand noch Gemüt in einem bedeutenden Grade. Ich gab 
mir alle Mühe, ihn aus diesen finstern Gedanken aufzu- 
wecken. Aber ich vermochte nicht den Nebel vor seiner 
Seele zu beseitigen. Seine Ermattung von den früheren 
Kämpfen drückte ihn nieder. Als er meinen Schmerz 
darüber wahrnahm, sagte er ganz verzweifelnd zu mir; 



46 Tagebuch- Auszüge. [cap. 4. 

„Auch Du zweifelst an mir, und nur Dein Vertrauen hält 
mich noch aufrecht/ Ich versicherte ihn, dass ich keinen 
Augenblick an ihm gezweifelt habe. Ich beschwor ihn, alle 
seine Kraft aufzubieten und vor allem sich selbst zu er- 
gründen. 

Am folgenden Tag kam er viel beruhigter zu mir. 
Er hatte schon bedeutende Schritte zur Selbsterkenntnis 
gethan. Er kam durch sich selbst zu der Erkenntnis; 
ich gab bloss den Anstoss dazu. Dennoch meinte er, auch 
jetzt wieder habe er mir Alles zu verdanken, seine Schuld 
werde immer grösser, ich sei der Bildner, er der Gebildete. 
Ich entgegnete ihm, mein Bilden daure nur, bis er seinen 
Standpunkt erreicht habe, dann wandle sich das Verhältniss. 
Ich bilde ihn hauptsächlich im Wissen, er mich im Fühlen. 

12. Juli. Immer mehr erkenne ich, was mir Zeller 
selbst sagte, dass ihn nur meine Entfernung ganz heilen 
kann. — Am Montag Abend sprach ich mit Zeller auf 
dem See wieder über unser Verhältnis. Er versicherte 
mich, dass er mich noch liebe; nur könne er die Scheu 
vor mir nicht überwinden. Erst wenn ich durch weite 
Entfernung körperlich von ihm getrennt sei, könne er seine 
Selbständigkeit wieder gewinnen und dann mich ganz lieben. 
Da erkannte ich, dass allein Trennung ihm helfen werde. 
Ich habe bisher zum Teil unbewusst, zum Teil wider 
Willen zu sehr in sein eigenstes Selbst eingegriffen; er 
wurde zu abhängig von meinem Ich, als dass er das länger 
ertragen konnte bei seinem starken Gefühl für Selbständig- 
keit. Nur durch sich selber kann er auf die wahre Höhe 
gelangen. Da fasste ich den für ihn und mich heilsamen 
Entschluss, im Herbst auf die Universität zu gehen. Ich 
finde doch keine Ruhe mehr hier.** 



\ 



cap. 4.] Johannes Zelles. 47 

In der That fand Zeller erst nach meiner Abreise 
sein inneres Gleichgewicht wieder. Er schrieb am 29. Dec. 
an mich: 

„Freue Dich, noch nie fühlte ich mich so meiner 
selbst würdig, noch nie so frei, darum auch: noch nie 
liebte ich Dich so. — Dank sei diesem Jahre; es schenkte 
mir Freunde, es schenkte mich mir selber. wie 
möchte ich Dir jetzt erzählen, wie ich glaube, dass 
mein Herz edler sei, mein Gefühl tiefer und heiliger, 
mein Verstand klarer, sogar mein wissenschaftlicher 
Sinn reger, umfassender; und wie ich so stolz darauf 
bin und doch wieder kleinmütig." 
Die Lebenswege, auf denen wir gingen, entfernten 
sich später sehr voneinander; aber die Jugendfreundschaft 
ging uns nicht verloren. Zuerst in Zürich rationalistisch 
erzogen, vertiefte sich Zeller in Berlin ganz in die Auffas- 
sung Schleiermachers. In Bonn aber ergriff ihn eine ent- 
schiedener gläubige Richtung, die seinem Wesen besser 
zusagte. Doch hielt er sich fern von liebloser Verdam- 
mungssucht. Er schrieb darüber an mich aus Bonn am 
8. /März 1832: 

„Darin muss ich Dir völlig beistimmen, dass mit 
toter Orthodoxie die Sitten der Menschen nicht gebes- 
sert werden, dass sogar durch eine starre, lieblose Or- 
thodoxie manches Gemüt vom Glauben abgeschreckt 
wird, und dass in unserer Zeit wohl hie und da zu 
starkes Gewicht auf das Bekenntnis und Festhalten 
kirchlicher Formen gelegt wird. Davon aber glaubte 
ich immer frei zu sein." 
Er verheiratete sich mit einer geistreichen und from- 
men Dame aus Norddeutschland, wurde Pfarrer in dem 



48 Bernhard Hirzel. — Ernst Müller. [cap. 4. 

Dorfe Stäfa am Zürchersee, und starb während der Zürcher 
Kämpfe über die Berufung von David Strauss an die theo- 
logische Fakultät, an d^nen er, auch durch eine Druck- 
schrift, den lebhaftesten Anteil nahm, hochgeehrt und ge- 
liebt von seiner Gemeinde und den Freunden, am 6. Juli 
1839. 

Am nächsten nach Zeller stand mir damals als Freund 
Bernhard Hirzel, von dessen tragischem Geschick ich 
später berichten werde. Hirzel war auch in der Jugend 
nicht glücklich. Er besass mehr Talent für die Wissen- 
schaft, als die meisten Altersgenossen, und einen regen 
Fleiss; frühzeitig warf er sich mit Eifer auf die orientali- 
schen Studien; er hatte eine lebhafte Phantasie und Liebe 
zu den Ideen. Aber sein Verlangen nach einem Freunde 
und einer Geliebten fand keine Befriedigung, keine volle 
Gegenliebe. Seine Familienverhältnisse schienen glücklich, 
aber waren es nicht. Seine freie liberale Gesinnung kam 
mit den stadtbürgerlichen Vorurteilen und den materiel- 
len Neigungen und Leidenschaften seiner Eltern in öftern 
Conflict. Indem er über die Menschen nachdachte, war er 
geneigt, sie im Durchschnitt für schlecht zu halten. Nach 
und nach arbeitete er sich mit Leidenschaft in einen finstern 
Gedankenkreis hinein. Seine Ansichten von Gott und der 
Welt hatten einen düstern Charakter. Er meinte, die Ent- 
artung und den Untergang der Rassen in der Geschichte 
seiner Familie deutlich zu erblicken. Ich hatte gehofft, 
dass sein Lieblingsdichter Jean Paul ihm eine freudigere 
Weltansicht eröffnen werde. Aber er traute dem Dichter 
nicht ganz; er musste einen schärferen Denker zum Führer 
haben. Da empfahl ich ihm Schleiermachers Monologen. 
Er las dieselben mit Gewinn, aber der dunkle Zug in seiner 



Cap. 4.] ScHLElEBMACHER^S MoNOLOOEK. 49 

Seele entschwand nicht. Am meisten zog ihn die Philo- 
sophie der Inder an, besonders die Buddhistische Versen- 
kung in das Nichts. 

Der Vierte im Bunde, Ernst Müller von Frauenfeld, 
ebenfalls Studierender der Theologie, hatte eine bilderreiche 
Phantasie und Jean-Paursche Sprechweise ; seine Gedanken 
waren eher original und seltsam, als logisch begründet; 
sein Geist hatte etwas Sprudelndes und Fahriges : sein Herz 
war treu und gut, aber er wankte zwischen heiterer Lust 
und melancholischer Verzagtheit hin und her. Für mich 
hatte er eine starke Zuneiguhg. Sein späteres Leben als 
Pfarrer war nicht so glücklich, als seine Freunde ihm 
wünschten. 

In diesem Freundeskreise übten Schleiermachers 
Monologen den stärksten Einfluss. Die kleine Schrift 
zündete in die jugendlichen Geister hinein, weckte die 
Selbstprüfung und die psychologische Beobachtung und er- 
hellte das keimende Selbstbewusstsein. Das Büchlein war 
mein steter Begleiter auf einsamen Spaziergängen und das 
tägliche Gespräch der Freunde. Die einzelnen Betrach- 
tungen derselben wurden durch die eigene Erfahrung und 
die Kämpfe unter den Freunden erst recht lebendig. An 
die Monologen wurde geglaubt, wie an eine göttliche Offen- 
barung, und Schleiermacher wurde mit wahrer Inbrunst 
verehrt. Auch andere Werke wurden gern gelesen, manche 
gemeinsam. An Piaton erfreuten sich die Jünglinge; Schiller 
begeisterte sie ; sie wurden durch Klopstock gehoben, durch 
Wieland anmutig gereizt, durch Goethe und Shakespeare, 
die ihnen noch ferner standen, zur Bewunderung angeregt. 
Mit der Bibel war ich weniger vertraut, von ihr nicht er- 
griffen. Auch Schleiermachers christliche Schriften lagen 

Bluut8chli, Dr. J. C. Aus meinem Leben. I. 4 



50 Geselliges Leben in Zukich. cap. 5.] 

noch unaufgeschlagen zur Seite. Seinen Reden über die 
Religion folgte ich mühsam in der Ferne nach. Die Mono- 
logen aber waren der leuchtende Mittelpunkt des ganzen 
jugendlichen Daseins. Alle psychologische Erkenntnis, der 
bestimmende Antrieb zur Selbstbildung, das stolze Frei- 
heitsgefühl, der Glaube an die Menschheit und an die in- 
wohnende Kraft der Geister erhielten durch sie Licht und 
Wärme. 



5. 

Verhältnis der beiden Qeschlechter. Zürichdeutsch und Hoch- 

deutsch. Emilie Vogel. Reise nach Genf. Die Eltern. 

Die Hindernisse der Verlobung. 

Die Freundschaft war das höchste Interesse der jugend- 
lichen Lebensgemeinschaft; aber bald regten sich in mir 
auch die ersten Keime der Liebe, welche dem Freunde 
offenbar gemacht und von demselben redlich gepflegt wurden. 

Jünglinge und Mädchen kamen damals nicht leicht 
zusammen. Wie in der Kirche die Männer in ihren Stühlen 
von den Bänken der Frauen getrennt waren, so war auch im 
Privatleben die Scheidung der beiden Geschlechter die Regel. 
Die Knaben schon hatten an Sonntagen Abends ihre Ka- 
meradschaften, die Mädchen ebenso ihre Gespielenverbände. 
Ein geselliges Leben, welches die beiden Geschlechter zu- 
sammen führte, gab es fast nur innerhalb einer Familie 
unter Verwandten. Offene Privathäuser, welche die Gesell- 
schaft empfingen, gab es nicht, und höchst selten wurden 
ausser den Familiengenossen Freunde und Bekannte einge- 
laden. Das gesellige Leben war gebunden und dürftig, in 
Folge dessen aber auch die feinere Cultur gehemmt. Die 



Cap. 5.] ZÜBICHDErTSCH UWD HoCHDEUTäCB. 51 

deutsche Bildung war damals noch etwas unbekanntes und 
fremdes. 

* 

Auch der alemannische Dialekt, der in Zürich in den 
Familien und in dem ganzen Verkehr noch unbestritten 
allein herrschte, war ein Hinderniss der Cultur. Unsere 
Litteratur und Wissenschaft waren deutsch, wir lasen und 
schrieben deutsch, aber unsere Umgangssprache war ale- 
mannisch. In der That das „Züridütsch'* hatte neben sei- 
nen Härten und Rauheiten auch etwas Naives, Ursprüng- 
liches, Frisches und Gemütliches. Für das Familienleben 
reichte es aus. Aber für wissenschaftliche Gespräche und 
für einen höher gebildeten Gesellschaftsverkelir war es 
durchaus ungenügend. Die deutsche Sprache war das ge- 
meinsame Werk einer grossen Nation und ihrer hervor- 
ragenden Geister, Dem alemannischen Dialekte waren diese 
Arbeiten nicht zu Statten gekommen und fehlte der gross- 
ai*tige Hintergrund. Er hatte sich über eine bäurische und 
kleinbürgerliche Culturstufe nicht erheben können. Zürcher 
und Zürcherinnen kamen fast immer in Verlegenheit, wenn 
sie einem gebildeten Deutschen im Leben begegneten. Sie 
waren unbeholfen und ungewandt im Ausdrucke, und em- 
pfanden mit Missbehagen die Überlegenheit der formgeüb- 
ten Deutschen, besonders der Norddeutschen. Näher stand 
ihnen der Süddeutsche, mit dessen dialektischer Aussprache 
sich der Alemanne verwandter fühlte. Die Züricher Damen 
wagten es sogar leichter, in guter Gesellschaft mit Fremden 
französisch, als gut deutsch zu sprechen. 

Indessen gab es doch in Zürich eine Vermittlung der 
beiden jugendlichen Geschlechter. Die Jünglinge hatten 
Schwestern und die Jungfrauen Brüder, welche gelegent- 
lich eine Zusammenkunft mit Freunden und Freundinnen 



52 Geselliger Verkehr der beiden (ieschlechter. [cap. 5. 

möglich machten. So begegneten sie sich zuweilen an den 
öffentlichen Vergnügungsorten in der Nähe der Stadt: auf 
dem stillen Höckler, einem schönen Landgute am Fusse des 
Ütlibergs, wo unter den Obstbäumen Bänke und Tische zu 
geselligen Geiiüssen einluden und auf den Wiesen heitere 
Spiele unternommen wurden; oder im Seefeld, in einer 
Gartenwirtscaft am rechten Ufer des Zürichsees, wohin 
man auch zu Schifife gelangen konnte. Ich besass ein 
kleines Kielboot, eine sogenannte Schaluppe, die oft zu 
diesem Zwecke benutzt wurde. Oder auf der Weide, einer 
Höhe des Wipkingerberges, mit herrlicher Aussicht über 
das Limmatthal, den See und die Berge. Indem ich dieser 
Orte gedenke, steigen anmutige Erinnerungen auf an 
viele schöne Stunden, die ich da verlebt habe. 

Die öfteren Begegnungen der Art reizten zu einer 
besseren und regelmässigen Organisation. Wir Studenten 
gründeten damals mit Hülfe unserer Schwestern die sogenann- 
ten „Weggenbälle". In dem Zunfthause der Bäcker, dem 
„Weggen", kamen da eine Anzahl studierender Jünglinge 
mit anverwandten oder befreundeten Töchtern aus guten 
Familien des Mittelstandes von Zeit zu Zeit zum Tanze 
und zu geselliger Freude zusammen. Die Einrichtung war 
für Zürich eine Neuerung; aber die Eltern vertrauten der 
Jugend, die ganz und gar ohne Aufsicht sich selber über- 
lassen wurde, und dieses Vertrauen wurde nicht getäuscht. 
Die Studentenbälle im Weggen wurden von Andern viel 
bewundert und beneidet. Die Teilnehmer erfreuten sich 
derselben als einer idealen Geselligkeit. Der Ton war na- 
türlich und heiter, niemals ausgelassen, nicht steif und nicht 
frech. Die Damen wurden gewöhnlich in Sänften herge- 
tragen und abgeholt ; Droschken gab es damals noch nicht. 



cap. 5.] Emilie VogbIi. 53 

Die Herren kamen und gingen zu Fusse. Zuweilen wurde 
der Ball durch ein Lustspiel eröffnet oder ergänzt. In der 
Weihnachtszeit fehlte auch der Weihnachtsbaum nicht mit 
seinen Lichtern und kleinen Gaben. 

Ich hatte wohl vorher schon mit Wohlgefallen manches 
Mädchen betrachtet und konnte mich wohl auch einiger 
stillen Gunst befreundeter Mädchen rühmen. Aber allmäh- 
lich zog mich Eine derselben lebhafter und dauernder an. 
Es erwachte in meinem Herzen die Liebe und trieb die 
ersten Knospen hervor, die dann freilich von einem kalten 
Luftzug wieder zurück gescheucht wurden. 

Wie wenig die Liebe auch der Männer von dem Kate 
des Verstandes oder gar von der kalten Berechnung be- 
stimmt wird, wie sehr sie einem unbewussten magnetischen 
Zuge der Seele folgt, das habe ich an mir selber erfahren. 
Ich fragte mich oft, wesshalb mir denn Emilie Vogel, 
die Freundin meines Herzens, so sehr und vor allen an- 
dern gefalle, und ich wusste dem prüfenden Verstand keine 
befriedigende Antwort zu geben. Es gab in unserm Kreise 
hübschere und stattlichere Mädchen als sie, aber keine 
schien mir so anmutig und reizend, wie meine kleine 
Freundin. Wenn ich ihr in^die klaren Augen hineinschaute, 
dann leuchtete mir der Ausdruck eines tiefen und ernsten 
Gemütes, eines herzlichen Wohlwollens und eines offenen 
für die Wahrheit empfänglichen Sinns strahlend entgegen, 
und ich empfand einen geheimnisvollen Zauber. Sie war 
durchaus nicht redegewandt; nur mühsam konnte sie ihre 
wirklichen Gedanken und Gefühle aussprechen ; man musste 
Verschwiegenes erraten. Ihre Bildung entsprach den ge- 
wöhnlichen Anforderungen der herkömmlichen bürgerlichen 
Erziehung und genügte meinen gesteigerten Ansprüchen 



54 Erste Liebe. [cap. 5. 

nicht. Aber mein Instinkt spürte und ahnte Vorzüge in 
ihrem Wesen, welche der kalten Kritik nicht klar waren. 
Ich fühlte, dass dieses Mädchen zu mir passe, dass ich in 
ihr die richtige Ergänzung und die treue Lebensgefährtin 
gefunden habe. Das Vermögen ihrer Eltern konnte mich 
nicht locken, es war geringer als das der meinigen: ihre 
Familie stand der meinigen ungefähr gleich. Rücksichten 
der Art hatten bei mir überhaupt wenig zu bedeuten. Ich 
lachte hell auf, als einst Jemand die Meinung äusserte, ich 
mache der Fräulein — oder wie man in Zürich sagte 
Jungfer — Vogel desshalb den Hof, weil ihr Onkel Rats- 
herr sei, und ich durch sein Patronat auf eine Anstellung 
hoffe. 

Ich verwarf jeden Gedanken einer blossen Convenienz- 
ehe als meiner unwürdig. Nur die persönliche Liebe, nichts 
Anderes sollte mich leiten. Ich wusste nicht recht zu sagen, 
wesshalb ich Emilie liebe; aber es war mir gewiss, dass 
ich sie von ganzem Herzen liebte, feurig, stark, voll Ver- 
ehrung und treu, wie deutsche Jünglinge zu lieben pflegen. 

Auch sie schien ipir gewogen. Wir sprachen und 
tanzten gerne mit einander. Wenn ich über die untere 
Brücke gegen die Marktstrasse ging, an der sie wohnte, 
so schaute ich immer mit Sehnsucht nach dem Spiegel- 
fenster, das von dem Wohnzimmer in die Gasse hinaus 
ragte, ob ich nicht das liebe Köpfchen erblicke, und zu- 
weilen wurde das Verlangen durch einen freundlichen Gegen- 
blick belohnt. Auch von dem Türmchen im Steinböckli 
spähte ich oft, das Auge mit dem Fernrohr bewaffnet, nach 
ihrem heimatlichen Hause hinüber und war glücklich, ihre 
Spur zu entdecken. Ich sang mit Inbnmst, wenn sie mir 
zuhörte, und dichtete zuweilen ein Liedchen zu ihrem Preise, 



Cap. 5.] LiEBESERKLÄETJNO. 55 



00 



Aber von einer Erklärung meiner Liebe hielt mich lange 
Zeit die Scheu ab, ihren Frieden zu stören. Ich war doch 
nicht sicher, wie sie mein Bekenntnis aufnehmen würde. 
Nur mit meinem Freunde Zeller und mit seiner Schwester, 
einer Freundin meiner Geliebten, sprach ich rückhaltlos 
von dem Geheimnis meiner Liebe. 

Im Februar 1827 ward Emilie nach Zürchersitte von 
ihren Eltern in eine Pension nach Genf geschickt. Da sollte 
sie französisch sprechen lernen und den Schliff der fran- 
zösischen Bildung erhalten. War auch diese Abwesenheit 
nur kurz bemessen, auf ein halbes Jahr, so empfand ich 
dieselbe doch schmerzlich. Ich vermisste sie überall und 
fasste nun den Entschluss, die öde Lücke in meinem Da- 
sein womöglich durch brieflichen Verkehr auszufüllen. Ich 
schrieb ihr nach Genf und bekannte ihr meine Liebe. Kei- 
neswegs verlangte ich von ihr jetzt schon die Erklärung 
der Gegenliebe. Ich war glücklich, wenn sie mich einst- 
weilen als Freund betrachte und mir Vertrauen zeige, dass 
ich ihre Freundschaft nicht missbrauchen werde. Ich teilte 
ihr mit, dass ich nächstens nach Deutschland, vorerst nach 
Berlin, zur Universität abgehen und einige Jahre zur Voll- 
endung meiner Studien iiri Auslande zubringen wolle, und 
eröffnete ihr auch meinen Vorsatz, als Privatdocent an 
einer deutschen Universität den academischen Beruf zu be- 
ginnen. Ich wünschte, nach ihrer Heimkehr von Genf und 
vor meiner Abreise nach Deutschland unser Verhältnis zu 
einem klaren Abschluss zu bringen, und wenn sie dann 
einverstanden sei, mit Zustimmung der beiderseitigen Eltern 
mich zu verloben. 

Zögernd und nicht ohne Bedenken gegen die unge- 
wöhnliche Zumutung ging sie auf meine Wünsche ein. 



56 Reise nach Genf. fcap. 5. 

Sie war sofort entschlossen, mir eine Freundin zu sein; 
sie deutete sogar in einem folgenden Briefe, der mich ent- 
zückte, ihre Liebe zu mir an; aber sie behielt die Zustim- 
mung ihrer Eltern vor, an die sie sich wenden wolle. 

Während der Sommerferien zog es mich nach Genf. 
Ich wollte ihr wieder einmal, und mm sicherer ihrer Liebe, 
ins Auge sehn. Nicht die majestätische Riesenjungfrau des 
Berner Oberlandes, zu der ich von der Wengernalp mit 
Bewunderung emporschaute, sondern die kleine, aber ge- 
liebte Jungfrau in Genf war das Hauptziel meiner Schweizer- 
reise. Wie klopfte mir das Herz, als ich in die düstere 
Rue des chanoines einbog, wo die Damen Feisier ihr In- 
stitut hatten. Auf meine Anmeldung erschien die Demoi- 
selle Voguel im Begleite einer ältlichen Dame, welche den 
Besuch eines Zürcher Studenten mit unverholenem Miss- 
trauen überwachte. Diese erste Begegnung war nicht er- 
quicklich. Ich war verlegen und ungeschickt, und Emilie 
nicht minder. Sie warf mir vor, dass ich nicht bei ihren 
Eltern vorgesprochen und Aufträge an sie mitgenommen 
habe. Ich erwiderte, dass ich auch meinen Eltern nichts 
von meiner Absicht entdeckt habe. Günstiger waren die 
folgenden Besuche, obwohl ich sie niemals allein traf. In 
einer Soiree konnte ich doch eine Stunde lang neben ihr 
sitzen und ungenirt mit ihr sprechen. Bei dem Abschiede 
gab sie mir eine Blüte — ein Denkelein (pensee) — von 
ihrem Busen und schüttelte mir warm die Hand. Ich habe 
diese Blume lange in Goethe's Gedichten verwahrt. 

Glücklich in meiner Liebe und voll von Hoffnungen 
kehrte ich von der schönen Reise in das Vaterhaus zurück. 
Ich entdeckte nun ohne Verzug meine Wünsche den Eltern 
und bat um ihre Zustimmung. Die Mutter war schon vor- 



cap. 5.] Die Eltern der Geliebten. 57 

her Emilien wohlgeneigt und war gerne bereit, sie als 
Schwiegertochter zu begrüssen. Nicht so rasch sagte der 
Vater Ja. Er prüfte mich strenger, ob ich auch ihren 
Charakter recht erforscht und die mancherlei Schwierig- 
keiten wohl erwogen habe, die eine Verlobung mit so ferner 
und unsicherer Aussicht auf die künftige Eheschliessung 
habe. Als er aber sah, dass ich nicht leichtsinnig, sondern 
mit klarem Bewusstsein und Vorbedacht handle, war auch 
er es zufrieden. 

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf mich aber 
die unerwartete Nachricht, dass Emiliens Eltern sehr un- 
gehalten seien über die, wie sie es nannten, leichtsinnige 
Verbindung und ihrer Tochter auf das strengste jeden wei- 
teren persönlichen Verkehr mit mir untersagt haben. 

Ihr Vater, der Freihauptmann Jakob Vogel, war 
ein gutmütiger und wohlwollender, aber nicht gerade ener- 
gischer alter Herr, welcher das Regiment im Hause und in 
seinem Berufe — er besass die beliebteste Zuckerbäckerei 
der Stadt — seiner Frau überliess. Diese, eine Tochter 
des Zunftmeisters Wegmann, der zur Zeit der helvetischen 
Revolution eine Rolle gespielt hatte, war eine kluge und 
geschäftsgewandte Frau mit herrischem Willen, aber in den 
engen Begriffen des städtischen Altbürgertums befangen. 
Für meine Natur und für mein Streben hatte sie kein Ver- 
ständnis. Ich mochte ihr als ein thörichter, vielleicht so- 
gar gefahrlicher Idealist vorkommen. 

Um so nötiger schien es mir, auf die Erziehung und 
Bildung der Tochter einen Einfluss zu gewinnen. Gerade 
desshalb legte ich auf den persönlichen Verkehr der Ge- 
liebten mit mir den höchsten Wert. Sie sollte, dachte 
ich, an meinem Geistesleben teilnehmen und mit mir 



58 Scheitern der Verlobung. [cap. 5. 

zugleich aus den Niederungen des eng- und kleinbürger- 
lichen Wesens, wie es in Zürich gebräuchlich und mir als 
durchaus philisterhaft zuwider war, auf eine höhere Stufe 
emporsteigen. 

Am tiefsten schmerzte mich aber die vermeintliche 
Wahrnehmung, dass Emilie selber in dem unvermeidlichen 
Kampfe mit der Familie sich schwach gezeigt und sich 
dem Willen der Eltern kleinmütig unterworfen hatte. Ich 
zweifelte nun auch an ihrer Liebe. Mein Stolz und meine 
Liebe waren beide tötlich verwundet. 

In einem traurigen Abschiedsbriefe teilte ich ihr 
meinen Schmerz und zugleich den Entschluss mit, den ich 
nach hartem Ringen mit mir selber gefasst hatte, auf ihre 
Hand zu verzichten. Ich bat sie aber, mir ihre Freund- 
schaft zu erhalten. 

Dieser Brief kam nicht in ihre Hände. Die Mutter 
nahm denselben in Empfang und antwortete mir statt der 
Tochter. Sie suchte den völligen Bruch zu vermeiden und 
für die Zukunft eine Hoffnung offen zu lassen. Sie wollte 
ihre Tochter nur jetzt noch nicht gebunden wissen und 
meinte, wenn ich nach Jahren mit derselben Gesinnung 
wiederkehren und Emilie noch frei finden werde, so werde 
dann die Neigung erreichen, was die Umstände jetzt ver- 
hindern. 

Schon damals begriff ich, trotz meiner Aufregung, den 
Standpunkt und die Sorge der Eltern. Nur ein ungewöhn- 
liches persönliches Vertrauen, wie ich es von Emilie, aber 
nicht von ihren Eltern erwarten durfte, konnte über die 
erheblichen Bedenken hinweg helfen, die einer so frühen 
Verlobung eines neunzehnjährigen Jünglings mit der da- 
mals achtzehnjährigen Jungfrau — Emilie war am 31. Oc- 



cap. 6.] Auf der ükivebsitXt Beklin. 59 

tober 1808 geboren — im Wege standen. Aber die schroffe 
und unmotivirte Weise, wie die Eltern ihrer Tochter unter- 
sagten, mit dem fernen Freunde brieflich Verkehr zu pflegen, 
war ein arger MissgrifF und ein schwerer Schaden für ihre 
Tochter. Wie viel glücklicher und reicher wäre sie in den 
nächsten Jahren geworden, wenn sie an meinem Leben in 
Berlin, Bonn und Paris fortwährend einen Anteil gehabt 
hätte. Ich hätte dann ebenso für sie gelebt und ihre Bil- 
dung zugleich mit der meinigen gefördert. Die stete Rück- 
sicht auf die Geliebte hätte mich veredelt und gehoben 
und wäre auch für sie von grossem Vorteil gewesen. 

Ich sah Emilie vor meiner Abreise nicht mehr, ob- 
wohl sie wieder in Zürich war. Mein,. von Hitz gemaltes 
Porträt, das für sie bestimmt war, kam nun zu Zeller. 
Ich erhielt es erst später wieder zurück für meine Familie. 

Etwas von dem farbigen Schmelz jugendlicher Freude 
und Zuversicht war durch den winterlichen Frost zerstört 
worden, der auch die Blüten meiner Liebe geknickt hatte. 



G. 

Auf der Universität Berlin. Die Reise nach Berlin. Savigny. 
Die historische Rechtsschnle. Schleiermacher. Religiöse An- 
sichten. Freunde. Gekrönte Preisaufgabe. Pläne für die 

Zukunft. Berliner Gelehrte. 

Zu Anfang October 1827 reiste ich von Zürich ab 
zum Besuch der Universität Berlin. Am Morgen der Ab- 
reise bestieg ich noch das Türmchen im Steinböckli und 
nahm Abschied von den lieben Bergen und dem See, welche 
von der Sonne glänzend beleuchtet waren. Ich gelobte mir, 
so zu werden, wie diese schneebedeckten Berge. Der Ab- 



60 Reise nach Berlin. [cap. 6. 

schied von den Verwandten und Freunden war für sie 
rührender als für mich; mein Herz war voll Hoffnung und 
Erwartung und mein Mut voll Zuversicht. Bis Bülach 
gaben mir die Commilitonen das feierliche Geleite. Sie 
priesen noch laut meine Verdienste um das Zürcher Stu- 
dentenleben, zu meiner Beschämung; denn ich war mir 
bewusst, das Meiste nur aus innerem Drang der Natur ge- 
than zu haben, welche das Bedürfnis empfand, sich andern 
mitzuteilen. 

Die Reise ging damals noch sehr langsam von Statten; 
erst mit der Postkutsche, die bei jeder Station anderthalb 
Stunden ausruhte; dann mit Hauderern, die genötigt wa- 
ren, noch längere Ruhepausen zu machen; in der Nähe 
von Leipzig und Berlin erst mit Eilwagen und Schnell- 
posten, welche öfter die Pferde wechselten. Die Langweile 
der Fahrt wurde dadurch unterbrochen, dass wir Gelegen- 
heit hatten, die Städte Stuttgart, Heidelberg, Darmstadt, 
Frankfurt, Leipzig und Halle zu besehen. 

In Stuttgart gefiel mir das Königsschloss; aber die 
Stadt erschien mir ohne Leben. 

In Heidelberg entzückte mich die Schönheit der Schloss- 
ruine und der Natur, und interessierte mich das Studenten- 
leben. Die Sitte des „Pauckens" schien mir berechtigt, um 
die unbändige Freiheit zu nötigen, sich selber zu be- 
schränken und Andern anständig zu begegnen. Nur die 
Übertreibung der Studentenduelle hielt ich für tadelnswert. 
Nicht ohne stille Wehmut dachte ich daran, dass Emilie 
auch hier gewesen sei und sich der schönen Gegend erfreut 
habe. Aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung davon, 
dass dereinst Heidelberg für uns beide zur Heimat wer- 
den könnte. 



cap. 6.] Reise nach Berlin. 61 

Darmstadt machte mir den Eindruck der schönsten 
Stadt, die ich bis dahin gesehen hatte. In Frankfurt gefiel 
mir das reiche, wogende Leben: „Wo der Strom des Le- 
bens mächtig wogt, da ist mir wohl. Andere werden davon 
erschreckt und ziehen sich scheu zurück." In Frankfurt 
wurde ich auch zum ersten Mal im Leben der vollen Frei- 
heit bewusst, welche dem jungen, aus dem elterlichen Hause 
entlassenen, von der heimischen Sitte nicht mehr einge- 
engten Mann in fremdem Lande unter fremden Menschen 
eröifnet wird. Ich schrieb in mein Tagebuch: „Nun bin 
ich völlig frei und kann nach Willkür mein Leben ein- 
richten. Jetzt erst sehe ich ein, dass es mit den Ver- 
führungen doch nicht so ganz leeres Geschwätz ist. Aber 
das ist gewiss:* zuerst verführt man sich selbst und erst 
dann unterliegt man der Verführung Anderer, wenige Fälle 
ausgenommen. Darum hüte Dich, dass Du nicht leicht- 
sinnig Dich selbst zuerst wegwerfest, denn hitzig wallt 
Dein Blut und ist zur Lust geneigt. — Bewahre Dich 
rein für die Reine, deren Arme Dich einst umfangen, dass 
kräftig und schön ein neu Geschlecht Dir entsprösse.** 

In Leipzig hörte ich zum ersten Mal den Don Juan. 
Die Musik entzückte mich durch den Reichtum ihrer Har- 
monien und Melodien^ und ganz besonders auch durch die 
Wahrheit, mit welcher die verschiedensten Empfindungen 
des Menschenlebens in Tönen ausgedrückt waren. Der Don 
Juan ist meine Lieblingsoper geblieben. Von der Mozarti- 
schen Musik fühlte ich mich immer besonders angezogen. 
Sie schien mir von himmlischer Heiterkeit durchleuchtet, 
ein Hochgenuss für Götter und Menschen. 

Endlich nach eilf Tagen erreichte ich Berlin. In Ge- 
meinschaft mit einem Freunde aus Zürich, welcher Natur- 



62 Künstgenüsse in Beblin. [cap. 6. 

Wissenschaft studierte, Arnold Escher von der Linth, 
mietete ich eine gute Studentenwohnung. Wir hatten zu- 
sammen drei Zimmer in der Mittelstrasse (Nr. 52). Der 
Aufenthalt in Berlin gefiel mir von Anfang an sehr. Die 
volle persönliche Freiheit, die geistige Arbeit und die gei- 
stigen Genüsse befriedigten mich. Das Gefühl, mit Männern 
ersten Ranges in dem Reiche der Wissenschaft in persön- 
liche Beziehung zu kommen, war erhebend. Unter ihnen 
verehrte ich Savigny und Schleiermacher am meisten. 
Daneben freute ich mich, das Theater zu gemessen. Für 
den genialen Ludwig Devrient und die Stich — nun 
Frau Crelinger — war ich begeistert. Ich habe auch 
später niemals Schauspieler gesehen, die mir einen tieferen 
Eindruck gemacht hätten. Auch die Oper, in welcher da- 
mals die liebliche Henriette Sonntag, die classische 
Milder und der kräftige B 1 u h m e sich auszeichneten , 
wurde fleissig besucht. 

Ich studierte vorzugsweise römisches Recht. Unter 
Kellers Führung hatte ich mich gewöhnt, aus den alten 
Quellen zu schöpfen, und war mit dem Corpus juris wohl 
vertraut. Die Methode Savignys, durch die Interpretation 
der überlieferten Fragmente aus der juristischen Litteratur 
und Gesetzgebung des römischen Altertums seine Zuhörer 
in das juristische Denken einzuführen, hatte meinen voll- 
sten Beifall. Die entgegengesetzte Methode, der ich in dem 
Unterrichte auf Universitäten auch oft begegnete, die Stu- 
direnden lediglich mit einer Masse sogenannter positiver 
Wahrheiten und Kenntnisse anzufüllen, ohne sie im Denken 
und im Aufsuchen und Erkennen der Wahrheit zu üben, 
war mir allezeit verhasst; ich verglich dieselbe mit dem 
Stopfen der Gänse. Savigny war damals unbestritten der 



cap. 6.] Saviony. 63 

erste Romanist in Deutschland oder, wenn man will, in 
der Welt. Seine Vorträge waren Von einer bewunderungs- 
würdigen Klarheit und Sicherheit des Ausdrucks, in der 
Form so schön durchgebildet, dass man die Rede unbe- 
denklich wortgetreu drucken könnt«, und doch so frei, dass 
der Vortrag den Eindruck der unmittelbaren frischen Geistes- 
arbeit machte und weder aus einem Manuscript abgelesen 
sein, noch als Dictat zum Nachschreiben aufgefasst werden 
konnte. Die Zuhörer sahen auf ihn als das vollkommene 
Vorbild des juristischen Denkers, und indem sie das wesent- 
liche des Vortrags in gekürzter Fassung rasch zu Papier 
brachten, nahmen sie teil an seiner Arbeit und bildeten 
dieselbe nach. Die Erscheinung von Savigny auf dem 
Katheder hatte etwas Feierliches und Würdevolles. Die 
Zuversicht eines Mannes, der seinen Stoff als Meister be- 
herrscht, thronte sichtbar auf der hellen Stirne. Das grosse, 
klare Auge leuchtete, wenn er die juristischen Begriffe in 
ihrer Entstehung schilderte und in ihre Bestandteile zer- 
legte. Um den feinen Mund spielte gelegentlich ein iro- 
nisches Lächeln oder auch ein liebenswürdiges Wohlwollen. 
Nur die etwas zur Seite geneigte Haltung des Kopfes und 
der gerade Scheitel, der die Haare in zwei gleichmässig 
herabsinkende Hälften trennte, erinnerte an einen pietisti- 
schen Anhauch, der über die klare Seele wie ein Schleier 
hingegossen war. 

Savigny war das anerkannte Haupt der geschicht- 
lichen Schule unter den deutschen Juristen. Er hatte ihre 
Grundgedanken am klarsten ausgesprochen und am besten 
verteidigt. Im Gegensatz zu der früher herrschenden 
Meinung, dass das Recht lediglich das Erzeugnis der Ge- 
setze sei, und dass diese aus der Willkür des Gesetzgebers 



(34 Die historische RECHTssCHtTLE. [cap. G. 

hervorgehen, hatte er das Recht in einen organischen Zu- 
sammenhang gebracht mit der besonderen Volksindividualität. 
Er hatte gezeigt, dass das Recht wie die Sprache eine Seite 
des Volkslebens sei und eine naturgemässe Entwicklung, 
eine Geschichte habe. Wie die Völker selber in ihren ver- 
schiedenen Lebensaltern einen verschiedenen Ausdruck haben, 
so habe auch ihr Recht einen andern Charakter in der 
Jugend, als in dem reiferen oder höheren Alter eines Vol- 
kes. Das Gewohnheitsrecht, welches sich in den Sitten und 
Übungen der Menschen offenbart, bekam so ein neues Licht 
und durfte sich dem Gesetzesrecht ebenbürtig zur Seite 
stellen. Vieles, was man zuvor als zufallig und willkür- 
lich betrachtet hatte, erschien nun als notwendig und na- 
turgemäss. Die Bedeutung des abstracten Vernunftrechtes 
sank, die des positiven geschichtlichen Rechts stieg in der 
Wertschätzung. Das Studium der nationalen Rechtsge- 
schichte erklärte manche rätselhafte Erscheinung in den 
geltenden Rechten. Indem man die Vergangenheit kennen 
lernte, gewann man eine gründlichere Einsicht in die Be^ 
dingungen, auf welchen die gegenwärtigen Rechtsinstitutio- 
nen ruhten. 

Die historische Rechtsschule hatte so einen mächtigen 
Impuls gegeben zur geschichtlichen Erforschung des römi- 
schen und des deutschen Rechts. Die Rechtswissenschaft 
verdankte ihr die sorgfältigere Aufdeckung und Benutzung 
der älteren Rechtsquellen. Ich war ein eifriger Anhänger 
der Schule, für welche mich in Zürich schon Keller ge- 
wonnen hatte, und ich blieb derselben während meiner 
ganzen Universitätszeit zugethan. Erst in reiferen Jahren 
wurden mir die Mängel einer einseitig geschichtlichen Be- 
trachtungsweise und die Gefahren offenbar, in' welche der 



cap. 6.] Frau von Asnim-Bbentano. 65 

vorzugsweise der Vergangenheit zugewendete Sinn sich ver- 
wickelt. 

In Berlin vertrat damals unter den juristischen Pro- 
fessoren nur Eduard Gans die philosophische Richtung. 
Ich las wohl seine Schriften, ich hospitirte in seinem Colleg ; 
aber der Mann missfiel mir, obwohl ich zugab, dass er 
Scharfsinn und gewandten Geist habe. Die kecke und rück- 
sichtslose Art, wie er gegen Savigny Opposition machte, 
verletzte meine Verehrung für den grossen Lehrer, und der 
prahlerische Selbstruhm des eiteln Professors ärgerte mich. 
Es ging mir wie dem treuen Kent bei Shakespeare, als 
er den Hofmeister sah: „Seine Miene war mir zuwider." 

Ich war von Savigny, obwohl er in jenem Winter 
leidend war und oft über unerträgliche Kopfschmerzen 
klagte, vortrefflich aufgenommen worden, nachdem ich ihm 
eine Empfehlung von Keller überbracht hatte. Ich durfte 
sogar in seiner reichen Bibliothek bequem arbeiten. Auch 
die Familie des Meisters lernte ich kennen. Ein Sohn 
Savigny's studirte zugleich mit mir die Pandekten. 

In dem Savigny'schen Hause, das an dem Pariser- 
Platze diesseits des Brandenburger Thors gelegen war und 
stattliche Räume hatte, sah ich öfter seine Schwägerin, die 
Frau von Arnim, eine geborene Brentano. Die berühmte, 
noch schöne, obwohl nicht mehr junge Frau interessirte 
mich lebhaft. Sie war allen andern Frauen, die ich bisher 
kennen gelernt hatte, durch blendenden Verstand, geist- 
reichen Witz und gewandte Sprache überlegen. Gerade 
weil sie dieser Überlegenheit bewusst war, konnte auch 
das scheinbar naive Sichgehenlassen und die rücksichtslose 
Ungenirtheit, mit der sie sich über Alles aussprach, leicht 
Anstoss erregen und verletzen. Indessen hatte sie ein 

Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 5 



QQ SCHLEIEKKACHEB. [cap. 6. 

gutes Herz, und die innere Menschenfreundlichkeit, die 
dem scharfen Auge nicht verborgen blieb, versöhnte wieder 
mit der originellen Erscheinung. Deutschland kennt und 
ehrt das Andenken an Bettina, „das Kind**, das einst zu 
Goethe liebreich aufgeschaut hatte. Ich habe später andere 
Briefe der Bettina gesehen, die nicht veröffentlicht wurden, 
aber nicht weniger merkwürdig sind, als ihre Briefe an 
Goethe. Sie hatte einen jungen Schweizer aus Graubündten, 
Namens Hösli, einen echten Sohn des Hochgebirgs voll 
männlicher Stärke und Naturschönheit in ähnlicher Weise 
idealisiii, wie zuvor den alten Goethe. Ihre Briefe an jenen 
sind warm empfunden und mit den Farben eines dichteri- 
schen Gemütes reich geschmückt. Mit meiner blöden 
Schüchternheit und Unerfahrenheit hat sie zuweilen ihr 
Spiel getrieben; aber ich hatte ihr doch zugleich manche 
Anregung und manche Freundlichkeit, insbesondere auch 
die Einladung zu Schleiermacher, zu verdanken. 

Nächst Savigny zog mich vorzüglich Schleiermacher 
an. Ich hörte bei ihm Dialektik und besuchte regelmässig 
seine Predigten. Der Eindruck, den der Professor auf dem 
Katheder machte, war sehr verschieden von dem Eindrucke 
des Predigers Schleiermacher auf der Kanzel. Dort erschien 
er kalt, schneidig, die Begriffe zerlegend, hin und her prü- 
fend, kritisch. Hier war er oft warm, begeistert, erbauend. 
Dort zeigte sich der Mann der Wissenschaft, hier der Ver- 
kündiger der Religion. Der Philosoph Schleiermacher war 
ein anderer Mann als der Christ Schleiermacher. Als Phi- 
losoph hatte er die Monologen geschrieben und darin 
die Ideale seiner eigenen Individualität und seine persön- 
lichen Gedanken über die Menschen und ihr Streben aus- 
gesprochen, in seinen Predigten gab er sich dem christ- 



cap. 6.] Religiöse Ansichten. 67 

liehen Geiste hin und Hess sich von ihm erfüllen und 
bewegen. 

Ich hielt mich zu keiner philosophischen Schule. 
Hegel, der damals lehrte, war mir zu abstract, zu künst- 
lich und zu unverständlich. Es fehlte mir der Glaube 
nicht bloss an die Wahrheit, sondern sogar an die Wahr- 
haftigkeit seiner Philosophie. Sie kam mir vor wie ein 
geistreiches Spiel mit Phrasen, um die Menschen mit wis- 
senschaftlichem Scheine zu täuschen und zu beherrschen. 
Schleiermacher hatte weder ein System geschaffen noch eine 
philosophische Schule gegründet. Er wirkte lediglich durch 
seine Eigentümlichkeit. 

Da ich unter den Schweizern, die damals in Berlin 
studirten, manche guten Freunde hatte, die meistens der 
theologischen Facultät zugehörten, so hatte ich viele Ge- 
legenheiten, auch über die religiösen Fragen mit ihnen zu 
sprechen. Die rationalistische Auffassung, wie sie in Zürich 
herkömmlich gewesen, genügte mir nicht mehr. Sie er- 
schien mir zu oberflächlich und zu dürftig. Aber die ortho- 
doxe Ansicht missfiel mir ebenfalls als unnatürlich und da- 
her unwahr. Ich fing an, es besser als früher zu verstehen, 
dass viele Protestanten in Christus, und dass viele Ka- 
tholiken selbst in der Maria die Gottheit gleichsam ver- 
körpert zu sehen glaubten und ihre Gebete zu diesen rich- 
teten. Ich hatte eine sehr hohe Meinung von der welt- 
geschichtlichen Grösse von Jesus. Ich verehrte ihn als den 
„Gotterfüllten Menschen", aber es widerstrebte meinem 
Wahrheitssinn und meinem religiösen Gefühle entschieden, 
ihn als Gott zu denken. Er war für mich ein Mensch, 
mit menschlichen Eltern und von menschlicher Art; aber 
allerdings ein Mensch, in welchem der göttliche Geist in 

5* 



C)S SCHLEIEBXACHEBS FaMTLIEKLEBEK. [cap. G. 

seltener, vielleicht in einziger Weise, vollkommener und 
mächtiger als in allen andern lebte. Nur in diesem Sinne, 
nicht in dem gewöhnlichen, konnte ich Jesus als den Sohn 
Gottes verstehen. 

Aber auch meine Vorstellung von Gott hatte eine 
Änderung erfahren. Die pantheistische Ansicht, dass er 
ohne persönliche Eigenschaften nur die innere Notwendig- 
keit des Weltalls sei, befriedigte mich nicht mehr. Dieser 
Gott war mir zu kalt, zu leblos. Ich bedurfte einen Gott, 
der von der Liebe bewegt war, d. h. einen persönlichen 
Gott, und ich glaubte wieder an einen Gott, der Bewusst- 
sein und Willen habe. Freilich war mir auch dieser Gott 
noch zu fern, zu unendlich. Ich fand die Brücke nicht, 
die das beschränkte, schwache Menschenkind zu ihm führe. 

Schleiermachers Reden über die Religion eröffneten 
mir den Weg in das Gebiet des religiösen Geistes. Seine 
Predigten erwärmten mein Gemüt und schlössen mir die 
christliche Gedankenwelt auf. Ich war überzeugt, dass in 
der Tiefe und auf der Höhe des Geisteslebens harmonische 
Einheit sei von Religion, Kunst und Wissenschaft, die nur 
auf den Zwischenstufen, zur Zeit ihrer besonderen Ent- 
wicklung auseinandergehen. Da Gemüt, Phantasie und 
Verstand alle Eigenschaften und Ausflüsse desselben Einen 
Geistes sind, so können sie einander nicht im Wege sein, 
noch sich bekämpfen. Sie würden ja den Geist zerstören, 
der in ihnen lebt und webt. Ich betrachtete daher die 
Kämpfe zwischen Glauben und Wissen in unserer Zeit nur 
als Entwicklungsmomente und war überzeugt, dass schliess- 
lich eine Versöhnung komuien werde. 

In Schleiermacher verehrte ich ein lebendiges Bild 
dieser Harmonie. Eines Abends glückte es mir, durch die 



cap. 6.] Freunde in Beblin. 69 

Gunst der Frau von Arnim, einen Einblick in das Familien- 
leben Schleiermachers zu erwerben. Ich war mit jener und 
Dr. Rudorff in den engen Familienkreis eingeladen wor- 
den. Schleiermacher war an diesem Abende sehr belebt 
und freundlich. Er zeigte uns auch seine Manuscripte. 
Die Schrift war klein und enge in einander geschoben, 
mit wenig Correcturen. „Ich kann nicht feilen und cor- 
rigiren", bemerkte er, „meine Sprache mag daher zuweilen 
barbarisch erscheinen, ich bin kein classischer Schriftsteller, 
ich weiss es wohl." 

Das ganze Hauswesen machte einen wohlthuenden 
Eindruck. Es war Alles schön und reich, aber keine Spur 
von Prunk und Schein, Alles acht. Seine Frau war sehr 
liebenswürdig, die Töchter natürlich und anmutig. Dieser 
Abend war der Glanzpunkt meines Berliner Aufenthaltes. 
Mit Rudorff spazierte ich auf dem Heimwege noch lange 
in der mondhellen Sommernacht. Wir sprachen über 
Schleiermacher begeistert. Noch im Traume sah ich ihn 
mit den Seinigen, wie ein Bild eines beseligten Weisen. 

Als Student verkehrte ich anfangs fast nur mit meinen 
schweizerischen Landsleuten , meistens tüchtigen jungen 
Männern, die ich schon früher im Zofingerverein kennen 
gelernt, insbesondere Hans Meyer, Spöndli, Zimmer- 
mann, Vögeli aus Zürich, Abel Burckhard und Her- 
zog aus Basel, Tschocke aus Aarau. Später machte ich 
Bekanntschaft mit deutschen Studirenden, vorzüglich mit 
dem jüngeren Rudorff, mit den beiden Brüdern Wacker- 
nagel, Philipp und Wilhelm, mit Buchholz. Mit den 
letzteren wurde eine Gesellschaft gebildet, „die Namen- 
losen" benannt, die sich mit der neueren Litteratur be- 
schäftigte. Wir machten uns durch eine Polemik bemerk- 



70 Gekrönte Preisschbift. [cap. 6. 

lieh, die wir gegen die Witzblätter Saphirs eröffneten. Im 
Verkehr mit W. Wackernagel änderte ich auch, dem Vor- 
bilde der Germanisten folgend, meine Schrift und vertauschte 
die sogenannte deutsche Cursivschrift mit der runden und 
gediegenen lateinischen Schrift, welche zu jener Zeit ver- 
dorben worden war. 

Auf den Rat des altern Rudorflf bearbeitete ich die 
Preisaufgabe der juristischen Facultät über das römische 
Noterbenrecht nach der Novelle 115. Gegen meine Er- 
wartung wurde die Arbeit gekrönt, und ich erhielt die 
goldene Medaille mit dem Bilde des Königs Friedrich Wil- 
helms DI. Ich war bei der Eröffnung des Urteils der 
Facultät an dem Geburtsfeste des Königs, am 3. August, 
nicht in der Aula, sondern sass bei Tische, als einer meiner 
Freunde die frohe Nachricht überbrachte. Meine Eltern 
und Freunde in Zürich hatten eine grosse Freude, als ihnen 
die unverhoffte Kunde über meine Auszeichnung zukam. 
Ich arbeitete die lateinische Dissertation nachher zu einem 
deutschen Buche, meinem Erstlingswerke aus, welches 1829 
in Bonn gedruckt wurde. Die ganze Frage, die darin be- 
handelt wurde, interessirte mich später wenig mehr. Aber 
während der Arbeit hatte ich doch den Anlass gerne er- 
griffen, mich in den Quellen und in der Litteratur des rö- 
mischen Rechtes genauer umzusehen. 

Der Gedanke, mich dem akademischen Berufe zu 
widmen und auf einer deutschen Universität als Privat- 
docent aufzutreten, wurde damals oft erwogen. Es lockten 
mich vorzüglich die Bilder von Heidelberg und Bonn. Dort 
konnte ich als Vertreter der geschichtlichen Rechtsschule 
die ungeschichtliche Methode von Thibaut ergänzen und 
berichtigen. Auch nordische Pläne reizten mich. Professor 



cap. 6.] PlXke für die Zukunft. 71 

Klenze empfahl mir, nach Upsala zu gehen und da das 
schwedische Recht in seiner Entwicklung zu studieren. Er 
meinte, in dem scandinavischen Norden seien so reichliche 
Quellen zu entdecken, dass man noch ,,mit Eimern aus dem 
Vollen schöpfen könne". 

So bedeutend die geistigen Eindrücke waren, die ich 
in Berlin empfing, so wenig befriedigte mich die kahle und 
öde Natur der Stadt und ihrer Umgebung. Die Stadt 
zählte damals kaum den vierten Teil der Bevölkerung, 
welche sie gegenwärtig bewohnt. Reich und gross in ihr 
erschien nur die Residenz des Königs und was mit dem 
höheren Beamtentume, der Generalität und der Universität 
zusammenhing. Die Bürgerschaft ernährte sich nur müh- 
sam durch grossen Fleiss und zähe Sparsamkeit. Die 
Industrie und der Handel waren noch wenig fruchtbar. 
Der Gegensatz zwischen der schönen Lage meiner Vater- 
stadt und der Sandfläche von Berlin war zu empfindlich für 
mich. Auf die Dauer in Berlin leben zu müssen, kam mir 
entsetzlich vor. Wenn ich damals ernstlich daran dachte, 
mich in Deutschland, wenigstens für den Anfang, nieder- 
zulassen, so war ich doch entschlossen von Berlin abzu- 
sehen. 

Von Gelehrten Berlins, die ich sah und hörte, sind 
noch zu erwähnen: der Geograph Carl Ritter, welcher 
die Geographie durch ihre Beziehungen zu der Menschen- 
welt zu beleben verstand; der Philologe Böckh, bei dem 
ich gerne die Vorträge über Griechische Altertümer be- 
suchte; der Jurist Phillips, der die deutsche Rechts- 
geschichte, nicht ohne Geist vortrug, aber selber in dem 
verschlingenden Gestrüppe des Mittelalters sich verwickelte 
und gefangen blieb. Auch die berühmt gewordenen Vor- 



72 Berlikes Gelberte. [cap. 6. 

lesungen Alexanders von Humboldt über den Kosmos 
hörte ich mit lebhaftem Interesse, aber wenig eigenem 
Verständnis. Diesen Vorträgen wohnten manche ergi'aute 
Statsmänner und Generäle bei, auf denselben Bänken wie 
wir jungen Studenten. Das hat mir damals sehr imponirt 
und eine hohe Meinung von der Bildung der höchsten 
Kreise Berlins gegeben. Besondei's interessirte mich die 
Erscheinung des vormaligen Ministers und grossen Sprach- 
gelehrten Wilhelms von Humboldt unter den Zuhörern, 
mit der ungewöhnlich weit aufstehenden Stirne, Von letz- 
terem hörte ich in der Akademie ebenfalls einen öffent- 
lichen Vortrag über vergleichende Sprachwissenschaft. Eö 
war an demselben Tage, als Schleiermacher eine Rede 
hielt zur Erinnerung an Friedrich den Grossen. Diese 
Rede gab Zeugniss von der Geistesfreiheit, welche damals 
in Berlin heimisch war. Ich schrieb darüber nach Zürich; 
,Die ganze Rede war so frei, wie ich noch nichts der- 
gleichen gehört hatte. Aber diese Freiheit fiel niemandem 
auf, als uns Schweizern. Ein Zeichen der Zeit."" Über- 
haupt machte ich damals oft die Bemerkung, dass in der 
Schweiz ganz falsche Vorurteile über die deutschen Staten 
und die „deutschen FUrstenknechte" verbreitet seien, wie 
hinwieder auch in Deutschland wunderliche Meinungen über 
die schweizerischen Republik 



cap. 7.] Habzbeisk. 73 

7. 

Universität Bonn. Die HarzreiBe. Bei Hvgo in G^kttiBgeB. 
Freunde in Bonn. Professor Hasse. FvggL Beli^ifiee AiwichteB. 
Niebnhr. Ideale. Politische Ansichten. Prenssen. Befermen in 
Zürich. Wnnsch einer üniYersit&t in Zftrich. Poet arprom otion. 

; Im September 1828 bezog ich die Universität Bonn, 

hauptsächlich durch Hasse und Niebuhr angezogen. 

Auf der Reise dahin lernte ich in Halle Bluhme 
kennen, an den mich Savigny empfohlen hatte. In seinem 
gastlichen Hause sah ich den munteren Pernice, und den 
Historiker Leo, der sich von der Hegel'schen Umstrickung 
abzulösen schien. In Halle traf ich meinen Freund Möller 
wieder, welcher bereit war, mit mir, Vögeli und dem 
Holsteiner Christiansen eine Fussreise durch den Harz 
zu unternehmen. Wir waren sammtlich schlechte Fuss- 
gänger und machten nur kleine Tagemärsche von wenig 
Stunden. Der Weg auf den Brocken wurde durch die 
Erinnerung an Goethe s Faust anmutig verschönert. Die 
weite, aber wenig Manichfaltigkeit bietende Aussicht von 
der Bergeskuppe wurde durch zwei Gewitter, die von ver- 
schiedenen Seiten her zusammenstiessen, interessant ge- 
macht. Wir genossen bei einigen Flaschen Rheinwein in 
GeseDschaft mit anderen Studenten aus Göttingen und Berlin 
da oben einen fröhlichen Abend. 

Während dieser Harzreise machte ich meinen ersten 

Versuch in juristischer Praxis. In einem zu Preussen ge- 

^kk^en Orte wurde einer von uns, der ruhig im Gehen 

J^Hker Pfeife rauchte, von einem Dorfwächter in brüsker 

gepackt und unter der Androhung, die Pfeife zu 

i genötigt, wegen unerlaubten Rauchens zwei 

J .oi?- ^., ^^zahlen. Empört über dieses Vorgehen 



J 



74 Bei Hugo in Göttingen. [cap. 7. 

schrieb ich an den Preussischen Regierungspräsidenten in 
Wernigerode eine Beschwerde, in der ich das grobe Ver- 
fahren schilderte und bemerkte, wir Studenten seien von 
Berlin her an höfliche Begegnung gewohnt. Zugleich er- 
klärte ich, dass ich nach Bonn reise und dort zu finden 
sei. Ich hatte die Geschichte bald wieder vergessen und 
zweifelte überhaupt, in Erinnerung an die heimatlichen Er- 
fahrungen, ob die Beschwerde irgend eine Folge habe. Da 
erhielt ich in Bonn die amtliche Nachricht, meine Be- 
schwerde sei untersucht und gegründet erfunden worden. 
Der Polizeidiener habe daher einen Verweis erhalten, und 
die Hälfte der Busse, die ihm zugefallen wäre, folge anmit 
zurück. Mit Jubel empfingen wir den Thaler und leerten 
manches Glas zu Ehren der Preussischen Justiz. 

In Göttingen besuchte ich, mit einem Briefe von 
Bluhme versehen, den alten Ritter Hugo, den Veteranen 
unter den Führern der geschichtlichen Schule. Er hatte 
einen Hof von Studenten um sich, die er in seiner halb 
humoristischen halb pedantischen Manier examinirte. Ich 
hatte Glück, indem ich zufällig den Namen des Philosophen 
Friedrich Heinrich Jacobi auf seine Frage zu nennen wusste, 
während alle andern schwiegen. Abends fuhr er mit mir 
und einem jungen Doctor spazieren. Nachdem er uns er- 
zählt hatte, dass er selber keinen Wein trinke, darin un- 
gleich dem grossen Romanisten Cujaz, liess er den Wagen 
im Walde halten und bot uns den Wein an, den er in 
einem Flaschenmantel mitgeführt hatte, sammt Kuchen. 
Wir Hessen uns die Gabe schmecken und freuten uns der 
schnurrigen Geschichten, die er uns überdem schenkte. 
Sehr gut gefiel mir seine hübsche Tochter, die Gattin Ott- 
fried Müllers, die wir nachher in seinem Hause trafen. 



cap. 7.] Auf der Universität Bonn. 75 

Mit der Post fuhren wir über Cassel, wo ich die prächtige 
Wilhelmshöhe bewunderte, Düsseldorf und Elberfeld nach 
Cöln. Der Anblick des Rheins und des Domes, der damals 
auch im Innern noch einer Ruine glich, entzückte mich. 
Die Lage von Bonn gefiel mir sehr. Da konnte ich mich 
wieder, was ich so lange entbehrt hatte, der schönen Natur 
erfreuen. 

In Bonn wohnte ich mit Christiansen zusammen in 
der Hundsgasse Nr. 1052. Wir betrieben dieselben Stu- 
dien und unterstützten uns wechselseitig. Der Dritte im 
Bunde war Gustav Hasse, der Sohn des Professors. 
Christiansen war ein junger Mann mit riesiger Körper- 
kraft begabt — er besiegte einmal einen reisenden Her- 
kules — , von leicht erregbarer lebhafter Sinnlichkeit, aber 
gutmütig und wohlwollend, dabei gewandt in jeder Hand- 
tierung und von grossem, scharfem Verstände. Der junge 
Hasse war äusserlich kälter, innerlich leidenschaftlicher, 
von schneidigem Scharfsinn, darin dem Vater ähnlich. 
Christiansen wurde im Verfolg Professor in Kiel und schrieb 
ein Buch über römische Rechtsgeschichte mit der Färbung 
der Hegerschen Philosophie. Ich machte dabei eine selt- 
same Erfahrung. Wir drei, besonders aber Christiansen 
und ich, hatten uns in Bonn aus Scherz ganz in die Sprech- 
weise der Hegelianer eingelebt. Wenn wir einem solchen 
begegneten, so fingen wir an hellen Unsinn, aber in He- 
gerschen Phrasen, zu sprechen und hatten dabei regel- 
mässig das Vergnügen, dass die Hegelianer das als höchste 
Weisheit verehrten. Als aber Christiansen nach Berlin 
kam, wurde er doch von der Hegel'schen Philosophie ge- 
packt, und er trieb nun mit Ernst, was wir zuvor zu un- 
serm Spasse verhöhnt hatten. Er war übrigens eher ein 



76 Fbeundb in Bonk. [cap. 7. 

praktischer, als ein spekulativer Kopf und fand sich später 
doch wieder in einer verständigen Betrachtung der Dinge 
zurecht. 

Der junge Hasse ist früh gestorben. Mir hatte er 
noch die Freude gemacht, seine lateinisch geschriebene 
Doktordissertation de operis novi nunciatione zu de- 
diciren. 

Meine Gesellschaft in Bonn bestand fast nur aus 
Deutschen, meistens vom Norden, vorzüglich aus Bremen, 
Hamburg und Holstein. Von Schweizern waren ausser mir 
nur Wilhelm Vischer aus Basel, später Professor der 
Geschichte, und der wackere Zofinger Siegfried, später 
Landammann in Aargau, in unserm Kreise. Unter den 
Süddeutschen war mir der Bayer Helmes vorzüglich zu- 
gethan. Von Norddeutschen erwähne ich v. Jeetze aus 
Potsdam, zu dem ich lebhafte Zuneigung empfand, Ul- 
richs und Garlichs aus Bremen, Perthes, später Pro- 
fessor in Bonn, Bätke und Palm aus Hamburg, Nico- 
lovius, den Liebling des alten Goethe. Wir fanden uns 
regelmässig, aber in freier Weise, ohne Statuten und ohne 
Senioren in einer Kneipe zusammen. 

An Hasses Vorlesungen über Erbrecht, Pandekten, 
Deutsches Privatrecht hatte ich grosses Interesse. Hasse 
hatte nicht die Gelehrsamkeit Savignys und zeichnete sich 
keineswegs durch philosophischen Blick aus; aber er war 
ein geborener Jurist, ähnlich den alten Römern. Bis ins 
Einzelne und Feine hinein zergliederte er jedes thatsäch- 
liche Verhältniss von der juristischen Betrachtung aus mit 
dem auf die Anwendbarkeit gerichteten praktischen Scharf- 
blick. Wissenschaftlich war er eher Dogmatiker als Hi- 
storiker, aber durchaus kein scholastischer Pedant, sondern 



cap. 7.] Die Professoren Hasse ukd Pugge. 77 

ein schöpferischer Denker. Für mich hatte er freund- 
liches Wohlwollen. 

Zu seinem Schwiegersohn, Professor Pugge, kam ich 
in nähere Beziehung. Ich harmonirte in mancher Hinsicht 
mit dem geistreichen, aber unglücklichen Manne. Auch 
über religiöse Dinge unterhielt ich mich gerne mit ihm, 
obwohl da unsere Ansichten weit auseinander gingen. Er 
war Katholik, aber sein Katholicismus war durch die Schel- 
ling'sche Philosophie beleuchtet und freier als der gewöhn- 
liche. Oft hob ich im Gespräch mit den protestantischen 
Freunden die nüchterne Kahlheit des protestantischen Cultus 
als einen Mangel hervor und rühmte dagegen den sinnlichen 
Formenschatz des katholischen Cultus. Wann sie aber 
dann Verdacht schöpften, dass ich geneigt sei, katholisch 
zu werden, so reizte mich dieser Verdacht zu heiterem 
Lachen. Ich fand, dass unter den jungen Männern, die 
nicht Theologie studirten, gleichviel aus welcher Gegend 
von Deutschland sie herstammten, so ziemlich dieselbe 
Grundansicht über das Christentum verbreitet war. Die 
alte dogmatische Vorstellung, dass Christus ein Gott sei, 
war von allen als veraltet und undenkbar aufgegeben, 
aber willig verehrten wir in Christus den gottbegeisterten 
Menschen und achteten in dem Christentum die Religion 
der Gottes- und Menschenliebe. 

In mein Tagebuch schrieb ich damals: „Paulus' Brief 
an die Kolosser ist das Schönste, was ich bis jetzt von 
christlichen Ideen kenne. Er ist so ganz durchglüht von 
der Hoheit des Christenthums und voll tiefer Begeisterung 
für das Heil, welches durch Jesus der Welt zu Teil ward. 
Aber gerade hier sehe ich, dass ich kein Christ bin. Der 
Glaube an Versöhnung im christlichen Sinne ist mir völlig 



78 Religiöse Ansichten. [cap. 7. 

fremd, ebenso wie der Glaube an die Gottheit Jesu. Und 
noch immer begreife ich nicht, wie so viele geistreiche 
Männer behaupten mögen, dass der Mensch eines Vermitt- 
lers bedürfe, um an Gott zu denken. Ich und Viele mit 
mir glauben an Gott und verehren Gott ohne Mittler." 

Aber so eingenommen von der geschichtlichen Be- 
trachtung der Dinge war ich in dieser Periode, dass mir 
der bald zweitausendjährige innere geschichtliche Zusam- 
menhang, dessen sich die katholische Kirche mit der Stif- 
tung und Entwicklung des Christentums rühmte, ein grosser 
Vorzug zu sein schien vor dem Charakter der protestan- 
tischen Kirche, welche genötigt war, über das ganze 
Mittelalter hinweg zu springen, um an den ersten, frühesten 
Bildungen der christlichen Gemeinde anzuknüpfen. Um 
deswillen schien mir jene befestigter in ihrer Macht und 
sicherer ihres Besitzes. Das Alter der katholischen Kirche 
imponirte mir ebenso, wie ihre weltgeschichtliche Grösse 
und Einheit, wenn gleich ich sie von aussen her betrachtete 
und keine Lust verspürte, in dieselbe einzutreten. Ich 
teilte hierin die Erfahrung, welche Johannes Müller vor- 
her gemacht hatte. Zwar tadelte ich ihren Stillstand und 
die Starrheit der Formen, welche die freie Bewegung 
hemmte, und sah in der protestantischen Geistesfreiheit die 
nötige Correktur und den Fortschritt der Zeit. Aber weil 
damals unter den Gebildeten Deutschen der Katholicismus 
mild und menschenfreundlich sich erwies, hielt ich ein ver- 
söhnliches und freundliches Zusammenwirken und die wech- 
selseitige Ergänzung der beiden Confessionen für das Ge- 
bot und Streben der Zeit. 

Eine neue Reformation der Kirche in unserer Zeit 
hielt ich für unmöglich gegenüber der Macht der deutschen 



Cap. 7.] NiEBUHB. . 79 

Wissenschaft und der Mannigfaltigkeit der Meinungen. Es 
müsste, meinte ich, ein Eroberer die Universitäten vorher 
zerstören und den deutschen Geist in Ketten schlagen, be- 
vor ihm das gelänge. Aber das war eben meines Erach- 
tens unmöglich. Eher noch hielt ich eine zweite Revolu- 
tion für möglich, welche die Kirche zerschlage, als eine 
Reform, welche sie erneuere. „Wenn Luther und Zwingli 
wiederkämen und zusammen hielten, sie würden doch nur 
eine Sekte bilden, keine Kirche in unserer Zeit gründen 
können." So wenig schien mir die Gegenwart religiös 
angelegt. 

Meine liebsten Collegien waren in Bonn die Vorträge 
Niebuhrs im Wintersemester über die römische Geschichte 
und im Sommersemester über die französische Revolution. 
Niebuhr war nicht Professor der Universität, er hielt seine 
Vorlesungen als freies Mitglied der Akademie der Wissen- 
schaften. Seine Sprache war nicht abgerundet und sicher, 
wie die von Savigny, nicht so flüssig, wie die von Schleier- 
macher. Oft fing er eine Periode an, deren Schluss erst 
in einem folgenden Satze zu entdecken war. Die Fülle 
des Stoffes und der Reichtum der Gedanken waren zu 
gross; er konnte sie nicht sofort in der Rede bewältigen. 
Das schadete jedoch dem Eindruck nicht; vielmehr wurde 
die Aufmerksamkeit der Hörer mehr noch gespannt, weil sie 
gewisser Massen mithelfen mussten, den passenden Aus- 
druck zu finden, der niedergeschrieben werden konnte. 

Bisher kannte ich Niebuhr nur als Geschichtsforscher, 
welcher die mythische Vorzeit Roms durch kühne und 
gelehrte Hypothesen beleuchtet hatte. Nun genoss ich das 
Glück, täglich zu sehen, wie meisterhaft er die geschicht- 
lich klaren Ereignisse der römischen Republik darzustelle^ 



80 NiEBUHR. [cap. 7. 

wusste. Es gab wohl Niemanden, der belesener war in 
der antiken Litteratur als Niebuhr, und doch war er völlig 
frei von toter Büchergelehrtheit. Sein Princip: ,,man 
muss die Geschichte so erkennen, wie sie geschehen ist", 
blieb mir ein Leitstern für mein Leben. Die bloss einge- 
bildete gemachte Geschichte kam mir verächtlich vor. Was 
Niebuhr erfasste, das nahm von seinem Geiste bestrahlt 
die Gestalt des Wirklichen an. Er sah die Römer lebend 
im Innern ihrer Häuser, im Senat, auf dem Forum, in der 
Schlacht. Er verstand es, sich in die verschiedenen Lagen 
und in die leibhaften Personen hinein zu denken. In seinen 
Charakterzeichnungen war Wahrheit. 

Niebuhr war nicht geschaffen für die praktische Po- 
litik, wenigstens nicht in leidenschaftlichen Kämpfen. Er 
hatte zu empfindliche Nerven und ein allzu reizbares Tem- 
perament. Es war, wie wir es oft bei Künstlern und Ge- 
lehrten finden, etwas Weibliches in seiner Natur, was die 
männliche Thatkraft nicht aufkommen Hess. Aber er hatte 
ein seltenes Verständnis für politische Motive und einen 
bewunderungswürdigen Scharfblick für das Leben der Völ- 
ker und ihrer Führer. Man merkte es wohl durch, dass 
er auch als Statsmann an dem politischen Leben einen 
Anteil gehabt und sich gewöhnt hatte, in der grossen 
Welt Erfahrungen zu machen. 

Auf meine Denkweise und mein Wesen übte Niebuhr 
einen sehr bedeutenden Einfluss aus. Der Statsgeist der 
alten Römer trat mir nun durch ihn nahe vor die Seele, 
und die zur Politik hintreibende Anlage meines Geistes 
wurde durch ihn wach gerufen und mächtig angeregt. 

Wie tief ergriff mich seine Charakteristik von Julius 
Cäsar, dem Liebling meiner Jugend, zu dessen Ehren ich 



cap. 7.] Ideale. 81 

auch in reiferen Jahren manchen Strauss bestand. Obwohl 
es mir nicht einfiel, mich dem grossen Römer irgendwie 
gleich zu stellen, und obwohl ich mich geneigt fühlte, mich 
dem überlegenen Geiste in williger Unterordnung und von 
Herzen anzuschliessen, so meinte ich doch, in meiner Natur 
ähnliche Züge wahrzunehmen. Ich merkte damals folgen- 
des an: „Auch ich pflege vor dem Entschluss zur That 
lange Zeit hin und her zu schwanken, und Alles von ver- 
schiedenen Standpunkten aus zu überlegen. Dann aber 
kommt plötzlich ein rascher Entschluss. Nun werden alle 
Kräfte aufgeboten, um die That durchzusetzen. Gegen den 
geschlagenen Feind bin ich ebenfalls grossmütig. Ich 
suche ihn zu versöhnen. Den Neid kenne ich nicht; gern 
erkenne ich die Vorzüge Anderer und schätze Jeden nach 
seiner Eigenart. Ich verlange nicht, dass Andere seien 
wie ich, und messe sie nicht nach meinem Massstab. Gegen 
die Menschen fühle ich Wohlwollen und Liebe; aber es 
wird mir schwer, in dem Kreise, in dem ich bin, einen 
Andern über mir zu ertragen. Auch ich strebe nach einem 
hohen, idealen Endziel, dem das ganze Leben zugewendet 
ist. Das ist freilich nicht das cäsarische, nicht die römische 
Weltherrschaft und Weltbeglückung, sondern das beschei- 
denere eines völlig entwickelten Menschen, Bürgers, Weisea. 
Das moderne Ideal der Menschheit gilt mir mehr, als das 
stolze Ideal Cäsars, dem Rom noch das Grösste war. 
Diesen Vorzug verdanke ich dem Fortschritte der Welt- 
geschichte." 

Über meine Erfahrungen in Preussen merkte ich Fol- 
gendes an: „Preussen ist zwar geographisch zerrissen, aber 
trotzdem ein sehr kräftiger Stat. Seine Militärorganisation 
ist überaus vortrefflich. Die Regierung gleicht einem strengen 

Bluntschli, Dr. J. C, Alis meinem Leben. I. a 



82 Politische Ansichten. [cap. 7. 

Vater, der es wohl mit seiner Familie meint, aber sie für 
unmündig hält. Dabei mischt sie sich ins Einzelne und 
Kleine, oft zu sehr; sie belehrt, gibt Vorschriften, Winke, 
um das Wohl der Unterthanen zu fördern. Die Schulen 
sind gut. Die Pressfreiheit aber ist verpönt, damit die 
unmündigen nicht die Ehrfurcht und das unbedingte Ver- 
trauen verlieren zu ihrer Regierung. Im Ganzen fühlt sich 
das Volk glücklich, und in Sachsen bedauern es Manche, 
dass sie nicht Preussen geworden seien. Preussen wird 
sich übrigens auf jeden Fall über das nördliche Deutsch- 
land ausbreiten und dann um vieles mächtiger, reicher und 
grösser werden, als es heute ist. Eine ordentliche Ver- 
fassung haben die Preussen noch nicht. Die Provinzial- 
stände bedeuten nichts. Es ist aber sehr die Frage, ob 
die Preussen im Norden und Osten der Monarchie schon 
für eine Verfassung reif sind. Ihre Verehrung für das 
Königshaus ist noch unbegrenzt, und sie sind an blinden 
Gehorsam gewöhnt. Aber Preussen zieht gute Köpfe an. 
Die meisten grossen Gelehrten sind von auswärts nach 
Preussen gekommen. Und doch steht das Volk auf einer 
hohen Culturstufe. Wenn die Entwicklung weiter gediehen 
sein wird, so wird auch die Verfassung nicht ausbleiben." 

Meine politische Aufmerksamkeit war aber vorzugs- 
weise der Heimat zugewendet. Ich fing an zu überlegen, 
ob es nicht besser sei, meine Wirksamkeit von Anfang an 
in Zürich zu beginnen, als mich auf einer deutschen Uni- 
versität zu habilitiren. Ich correspondirte darüber mit 
meinem vormaligen Lehrer Ferdinand Meyer. 

In Zürich hatte das herkömmUche Famüienregiment 
durch das Falliment des Hauses Finsler, bei dem auch der 
Statsrat Finsler, ein aristocratisch gesinnter und sehr an- 



cap. 7.] Refobhen in Zübich. 83 

gesehener Herr, betheiligt war, einen schweren Stoss er- 
litten. Die innere Fäulnis der öffentlichen Zustände hatte 
die Luft mit Modergeruch erfüllt. Jüngere talentvolle 
Männer wagten es, trotz der Censur die Schäden und 
Übel, an denen der Stat litt, aufzudecken und Besserung 
zu fordern. Es wurde den regierenden Herren vom kleinen 
Bat ängstlich zu Mute. Der grosse Rat wurde aufgeregt 
und ungeduldig. Er wollte sich nicht länger die strenge 
Vormundschaft des kleinen Rates gefallen lassen: er ver- 
langte freiere Bewegung und grössere Selbständigkeit, als 
der souveräne Körper, dem die Gesetzgebung gebühre. Er 
änderte in diesem Sinn seine Geschäftsordnung, das soge- 
nannte Reglement. Er beschloss sogar, die Pressfreiheit 
einzuführen. Das Eis der Restaurationsregierung war ge- 
brochen. Die Atmosphäre war wärmer geworden, und die 
Hoffnungen auf fiischeres Leben und fruchtbares Wachs- 
tum blühten auf. 

Die jüngeren, auf deutschen Universitäten gebildeten 
Juristen, von Meiss, Keller, Hirzel, Finsler, zwei 
Ulrich, Meyer, Gessner, hatten zu diesen Erfolgen kräf- 
tig mitgewirkt. Nüscheler hatte ihnen sein journalisti- 
sches Talent als Alliirter zur Verfügung gestellt. Der 
Statsrat Usteri, selber ein Zeitungsredaktor, galt als der 
Hauptführer der aufstrebenden Partei, ein Mann von hu- 
maner Gesinnung und freiem Weltblick. Mit lebhafter 
Teilnahme folgte ich diesen Kämpfen und freute ich mich 
der Siege meiner Freunde. 

In meinen Briefen an Ferdinand Meyer brachte ich 
mit besonderem Nachdruck die nöthige Reform der höheren 
Lehranstalten zur Sprache. Die gegenwärtige Organisation 
sei grundschlecht, aber es seien alle Elemente vorhanden, 

6* 



84 Wunsch eineb Universität in Zürich. [cap. 7. 

um ein besser geordnetes Ganzes herzustellen. Ich sprach 
den Wunsch aus, dass in Zürich eine deutsch-schweizerische 
Universität gestiftet werde, welche den Zusammenhang 
unter den verschiedenen Wissenschaften darstelle und vor 
einseitiger Fachbildung schütze, welche das Ansehen und 
die Würde der Wissenschaft hebe, welche den studierenden 
Jünglingen die Wahl des wissenschaftlichen Berufes er- 
leichtere und die höhere Ausbildung gewähre. Die Züricher 
Universität sollte nach der Art der deutschen Universitäten 
gestaltet, aber zugleich darauf Bedacht genommen werden, 
dass zwischen Lehrern und Schülern ein lebendigerer Wech- 
selverkehr gepflegt werde, als das auf den deutschen Uni- 
versitäten geschehe. Für die neue Universität forderte ich 
vollste Freiheit, ohne welche die Wissenschaft nicht zu 
fröhlicher Blüte komme. Auch die Studierenden sollen diese 
Freiheit geniessen; es sei besser, die Fehlgriffe Einzelner 
zu ertragen, als die Liebe Aller zu trüben. Eines Regie- 
rungscommissars bedürfe es in der Schweiz nicht, noch 
weniger der Demagogenriecher. — 

Am Schlüsse des Sommersemesters machte ich mein 
Doctor-Examen. Es hatten bisher nur wenige Juristen in 
Bonn promovirt. Die Prüfung war strenge. Sie bestand 
in schriftlichen Beantwortungen gestellter Fragen und in 
einem mündlichen Examen vor der versammelten Facultät, 
Alles in lateinischer Sprache. Nur über deutsches Recht 
wurde deutsch gefragt und geantwortet. Es ging mir gut. 
Ich hatte die Prüfung „egregia cum laude" bestanden. 
Doch erlebte ich dabei einen charakteristischen Zug. Wir 
hatten in Bonn zwei Professoren, die Kirchenrecht lasen, 
Ferdinand Walter, welcher der hierarchischen Richtung 
freundlich war, und von Droste, welcher im Rufe eines 



Cap. 7.] DOCTORPROMOTION. 85 

freisinnigen Katholiken stand. Zufallig hatte ich bei er- 
sterem Kirchenrecht gehört. Die Vorträge waren gewandt 
und angenehm zu hören ; gab man den katholischen Grund- 
gedanken von der göttlichen Weihe und der höheren Er- 
leuchtung der Priester zu, dann war gegen die logische 
Folgerichtigkeit der klerikalen Herrschaft nichts zu sagen. 
Mir leuchtete der Vordersatz nicht ein, daher hatte ich 
auch vor den Folgesätzen keine Furcht. In dem schriftlichen 
Examen machte sich v. Droste den boshaften Scherz, den 
Schüler Walters nach den Freiheiten der gallikanischen 
Kirche zu fragen. Davon hatte Walter natürlich Nichts 
gesagt, und ich hatte davon lediglich Nichts gehört. Ich 
war daher genötigt, die Frage ohne Antwort zu lassen. 
In der Zwischenzeit aber bis zur mündlichen Prüfung zog ich 
die Universitätsbibliothek zu Rate und wusste dann, wieder 
nach jenen Freiheiten gefragt, sehr gut Bescheid darüber. 
Die Stelle der Dissertation wurde mit der Zustimmung der 
Facultät durch die gekrönte und nun in deutscher Sprache 
umgearbeitete Schrift „Entwicklung der Erbfolge gegen den 
letzten Willen, nach römischem Recht, mit besonderer Rück- 
sicht auf die Novelle 115" (Bonn bei A. Marcus 1829) 
eingenommen. Ich hatte dieses Erstlingsbuch meinem ver- 
ehrten Lehrer F. L. Keller gewidmet. 

Die feierliche Promotion in der Aula der Universität, 
nach vorheriger öffentlicher Disputation ebenfalls in la- 
teinischer Sprache, fand am 29. August 1829 statt. Chri- 
stiansen, Gustav Hasse und Dr. Seckendorf opponir- 
ten. Mackeldey promovirte mich zum Doctor utriusque 
juris. Heffter war Rector. Die Promotion geschah nach 
Bonner .Sitte in feierlicher Form. Dem Promovenden wurde 
der rothe Mantel mit Goldstreifen umgehängt, das rote 



86 Aufenthalt in Pabis. [cap. 8. 

Barret aufgesetzt, der goldene Ring an den Finger gesteckt, 
das Buch tibergeben und der Zutritt auf das höhere Ka- 
theder eröfl&iet. 

So war ich nun in die gelehrte Ritterschaft einge- 
treten und hatte einen Titel für das übrige Leben gewon- 
nen, den kein Volk und kein Fürst weder zu geben noch 
zu nehmen vermochte. ' 



8. 

Aufenthalt in Paris. SinneBeindrücke. Abspannung. Pariser 
Bekanntschaften. Rechtsansicht. Politisches. Die keimende 

Liebe zu Clementine von L. 

Den Abschluss meiner Studienzeit sollte Paris bringen. 
So war es von Anfang an beschlossen, und so wurde es 
ausgeführt. Ich dachte dabei nicht an die Universität 
Paris, welche für den Doctor Juris, der auf deutschen 
Universitäten gebildet war, keinen Reiz hatte, sondern an 
das grosse Leben der französischen Hauptstadt und seinen 
Einfluss auf die feinere Bildung der Gesellschaft. Ich wollte 
da auch französisch sprechen lernen. 

Der Weg nach Paris ging über Trier, wo ich die 
alt-römischen Denkmäler, voraus die majestätische Porta 
nigra bewunderte, Luxemburg und Metz. In den beiden 
Festungen hatte ich Gelegenheit, die strenge Mannszucht 
der dortigen preussischen Besatzung mit den liederlichen 
Sitten der Schweizer in fremden Kriegsdiensten und der 
französischen Soldaten, die ich hier traf, zu vergleichen. 

Die schöne Stadt und das wogende Leben in ihr ge- 
fielen mir sehr. Obwohl Paris damals nur zwischen 700,000 
und 800,000 Einwohner zählte, also nur ungefähr 2/5 der 



Cap. 8.] SiNNESEINDBÜCKE. g7 

heutigen Bevölkerung, so machte es doch einen grossartigen 
Eindruck, der durch die nahe Erinnerung an eine gewaltige 
Geschichte gehoben wurde. Alle gedenkbaren Interessen 
der Wissenschaft, der Kunst, des geselligen Verkehrs waren 
hier durch hervorragende Personen und Anstalten reich 
vertreten. Wenn man Erholung suchte von der Arbeit, 
so boten sich unzählige Gelegenheiten dar zu jeglichem 
Genüsse. Man brauchte nur in den Strassen mit ihren 
glänzenden Magazinen oder im Palais Royal zu schlendern, 
oder sich in einem Cafehaus an eines der vielen Tischchen 
zu setzen und die Menschen zu beobachten, und man war 
sicher, manche interessante Erscheinung wahrzunehmen. 

Für einen jungen Mann hatte Paris auch verführeri- 
sche Reize. Meine besorgte Mutter warnte mich ernstlich 
vor den Gefahren der Sinnlichkeit und bat mich, fest zu 
bleiben. Auch mein Freund Zeller beschwor mich, meinen 
alten Vorsätzen treu zu sein und das Vertrauen nicht zu 
täuschen, das viele Freunde auf mich setzten, und das sie 
in ihren eigenen Kämpfen stärke. Ich hatte mir die hohe 
Idee von der Ehe, die ich schon in der Heimat erfasst 
hatte, wohl bewahrt. Die Ehe erschien mir als die voll- 
kommenste Darstellung der Menschennatur. In der Ehe 
erkannte ich die persönliche Einigung der in die beiden 
Geschlechter gespaltenen Menschheit und daher die Er- 
gänzung und Verbindung der einseitigen Mannes- und der 
einseitigen Frauennatur zu Einem zweiseitigen Menschen- 
leben. Die Ehe galt mir heilig als die höchste Entfaltung 
der individuellen Liebe von Mann und Frau und als die 
sittliche Quelle der Familie und der Nachkommenschaft. 

Aber die puritanische Strenge meiner früheren An- 
sichten über die geschlechtlichen Beziehungen hatte sich im 






88 Ekthaltsamkbit. [cap. 8. 

Umgang mit andern jungen Leuten und nun vollends in 
der Pariser Atmosphäre spürbar gelockert. Der bloss sinn- 
liche Genuss kam mir zwar noch niedrig, aber nicht mehr 
verächtlich vor. Ich beurteilte Andere, die sich dem- 
selben mit Mässigung hingaben, viel milder als früher. 
Obwohl die weibliche Natur auf meine Neigungen einen 
starken Reiz ausübte, und ich in meinen Gedanken und 
Vorsätzen wohl schwankte, so bewahrte ich dennoch das 
frühere Gelöbnis und enthielt mich des entscheidenden 
Bruchs. Ich verdankte dieses weniger den Mahnungen, die 
ich erhalten hatte, und weniger den eigenen Vorsätzen, 
als vorzüglich dem Instinkte meiner guten Natur. Ich 
habe diese Kraft öfters auch in späteren Jahren erfahren, 
sowohl bei dem Genüsse des Weines und geistiger Ge- 
tränke, als im Verkehr mit Frauen. Wohl konnte ich mit 
guten Freunden auch tüchtig zechen, und kannte ich wohl 
die aufgeregte Stimmung einer gemütlichen Weinseligkeit. 
Aber trotz dem deutschen Sprüchwort, dass wer niemals 
einen Rausch gehabt, kein braver Mann sei, habe ich es 
nie zu einem wirklichen Rausche gebracht, und zwar nur 
desshalb, weil in dem gefährlichen Momente, in dem die 
Grenze der Weinlust überschritten wird, mein Körper kein 
Verlangen mehr zuliess, sondern sich sträubte, neuen Trunk 
aufzunehmen. Ebenso widerstrebte meine Natur heftig 
jedem Versuch meiner aufgeregten Sinneslust, mich dem 
VoUgenuss eines fremden Weibes hinzugeben, und jene 
Lust erlosch plötzlich wie ein Strohfeuer, dem keine Nah- 
rung zugeführt wird. Die Enthaltsamkeit war daher nicht 
das Verdienst meiner Einsicht, sondern die unbewusste 
Tugend meiner Rasse. 

Ich war ermüdet von den Arbeiten im vorigen Som- 



cap. 8.] Abstavvvvo. 89 

mersemester nach Paris gekommen. Auch mein Geist fühlte 
sich matt und geschwächt. Der Reichtum von Gedanken 
und die Fülle von Ideen, die in Berlin und Bonn mich 
beseligt hatten, schien grossenteils ausgeleert, der Mut 
und die Thatenlust, die in mir gegohren hatten, dem Er- 
löschen nahe. Ich kam mir selber öde, schwerfallig, lang- 
weilig vor. Zuweilen beschlich mich die Angst, es möchte 
auch mir ergehen, wie so manchen meiner Bekannten, 
welche als Studenten beflügelten Schmetterlingen und als 
Männer philisterhaften am Boden kriechenden Raupen 
glichen. Indessen erholte ich mich bald wieder, und jene 
Besorgnis verschwand. An ihre Stelle traten neue Hoff- 
nung und Lebensfrische. 

Ich verkehrte in Paris vorzüglich mit einigen Lands- 
leuten, teils jüngeren Gelehrten und Studierenden, teils 
Kaufleuten und Militairs, so mit dem Berner Professor 
von Sinner, der den Stephan'schen Thesaurus linguae 
Graecae herausgab, mit Ryffel aus Stäfa, der in einer Er- 
ziehungsanstalt des Herrn von Reuse als Lehrer wirkte, 
mit den Zürchem Eschmann und Sprüngli, der Chemie 
studierte, mit den beiden Officieren Meyer aus Zürich, 
mit zwei alten Kameraden Hub er und Siber. 

Sodann lernte ich den gelehrten Strassburger Stahl 
kennen, den belesensten Kenner der verschiedenen Rechts- 
bücher aller Culturvölker der Welt. Mit einem deutschen 
Gelehrten, E. H. Kausler aus Stuttgart, arbeitete ich in 
Gemeinschaft an der Vergleichung und Abschrift eines alten 
Manuscripts: „Les Assises de Jerusalem", welche wir zu- 
sammen herausgeben wollten. Die Handschrift gehörte dem 
französischen Akademiker Champollion, welcher uns in 
liebenswürdiger Weise in seiner Wohnung ein wohl ge- 



90 Pabiser BsKAirirrscHAFTEN. [cap. 8. 

heiztes Zimmer einräumte, um da unsere Arbeit vorzu- 
nehmen, was in dem ungewöhnlich kalten Winter von 1829 
auf 1830 doppelt angenehm war. Kausler hat dann später 
1839 den Text allein herausgegeben unter dem Titel: „Les 
livres des Assises et des Usages du Reaume de Jerusa- 
lem (Stuttgart bei Krabbe). Für die mittelalterliche Rechts- 
bildung hat das Rechtsbuch um so mehr Interesse, als 
dasselbe in dem gemeinsam von der westeuropäischen 
Christenheit eroberten fremden Lande durch ein Zusammen- 
wirken der Ritterschaft aus verschiedenen romanischen und 
germanischen Reichen, wenn auch allerdings vorzugsweise 
unter dem Einflüsse der französischen Rechtscultur ent- 
standen ist. Dasselbe ist heute noch nicht nach Verdienst 
beachtet und gewürdigt. 

Ein fein gebildeter Deutscher, der sich vielleicht in 
der Absicht, den wahren Namen zu verbergen. Anders 
nannte, interessirte mich durch den geheimnisvollen Hin- 
tergrund seines früheren, wie es schien, sehr vornehmen 
Lebens, durch den melancholischen Zug in seiner Erscheinung 
und durch seine grosse musikalische Begabung. Orelli hatte 
mir den Satyriker Dr. F. Hauthal zugeschickt, dessen 
heitere Lebensansicht sich öfter in launigen Mahnungen 
entlud. Rasch hatte mein Herz ein junger Schottländer 
aus dem berühmten Geschlechte der Murray gewonnen. 
Ich sah und sprach ihn nur ein paar Mal, aber wir fühlten 
uns sofort wechselseitig lebhaft angezogen. Er kehrte 
nach Beendigung seiner Universitätsstudien in Göttingen 
über Paris in seine Gebirgsheimat zurück, wie ich in die 
meinige. Ich habe später nichts mehr von ihm gehört. 

Von französischen Bekannten erwähne ich noch die 
Advocaten Foelix, der als Schriftsteller sich einen ange- 



cap. 8.] Die französische Rechtspflege. 91 

1 — ■ — . — . — __ 

sehenen Namen erwarb, und Plongoulm, der leider zu 
früh wegstarb. Ich besuchte gern die öffentlichen Gerichte 
und nahm an den gewandten Plaidoyers der Anwälte, 
wie an der präcisen und kurzen Begründung der Urteile 
durch die Richter grosses Interesse. Auch das Journal 
des Tribunaux las ich fleissig und schätzte es weit höher 
als die meisten politischen Zeitungen, deren leidenschaft- 
liche Kämpfe mich kalt liessen. 

Bei dem Besuche der französischen Gerichte wurde 
es mir recht deutlich, wie sehr die Entwicklung des Rechtes 
etwas Lebendiges sei, und welch grossen Anteil daran 
der Stand der Juristen habe. Der angeborene Rechtssinn 
wird in den Juristen zu einem feinfühligen Takte und einem 
scharfen Blicke ausgebildet, durch welche sie sich so durch- 
aus von denen unterscheiden, die nur ein gutmütiges und 
weiches Billigkeitsgefühl kennen. Offenbar haben die Fran- 
zosen ein besonderes Geschick in der juristischen Praxis und 
zeichnen sich aus durch feine und klare Darstellung des 
Rechtes im Einzelnen. Manche Mängel der Gesetze werden 
durch ihre Jurisprudenz gehoben und verbessert. 

Meine eigene Rechtsansicht hatte sich wenig fortge- 
bildet. Ich war noch völlig in den Anschauungen der ge- 
schichtlichen Rechtsschule befangen und in jener conser- 
vativen Richtung, welche Savigny und Niebuhr empfohlen 
hatten. Es war mir als geschichtliche Erscheinung un- 
zweifelhaft, dass auch aus ursprünglicher Usurpation mit 
der Zeit eine berechtigte Herrschaft werden, und dass an- 
fangliches Unrecht sich allmähljg in Recht verwandeln 
könne; aber ich verzweifelte daran, dass man den Zeit- 
punkt des Übergangs genau bestimmen könne, und der 
Grund der Wandlung war mir nicht klar geworden. Ich 



92 Rbchtsansicht. [cap. 8. 

beruhigte mich bei der äusseren Erscheinung und meinte: 
Wie in dem Wachstum eines Baumes auch die Übergänge 
der Knospe zur Blüt-e und dieser zur Frucht unmerklich 
sind, und doch es Jedem gewiss ist, wenn wirklich der 
Baum voll Laub, Blüten und Früchten prangt, so wird 
es dem unbefangenen Rechtssinn auch klar, ob ein vor- 
handener Zustand, dessen Begründung zweifelhaft oder so- 
gar widerrechtlich war, zu festem, anerkanntem Rechte 
geworden sei. 

Insofern betrachtete ich aber das Recht doch philo- 
sophisch, als ich seine tiefere Begründung lediglich in der 
Menschennatur erkannte. „Es gibt kein Recht der Sachen 
und es gibt kein Recht Gottes im eigentlichen Sinne. 
Wohl ist die Idee des Rechtes etwas göttliches, aber Gott 
selber bedarf nicht des Rechts. Für ihn gibt es so wenig 
Recht und Unrecht, als Gutes und Böses. Erst in den 
Menschen und für die Menschen beginnt das Recht. Indem 
der Mensch kraft seiner Freiheit seinen Willen durch die 
That zur Erscheinung bringt, aus seinem Ich auf die Welt, 
das Nichtich, einwirkt, muss er auch die Naturnotwendig- 
keit der Welt beachten und fällt er in den Bereich ihrer 
Macht und ihrer Herrschaft. Der Wille ist ein rechtlicher, 
welcher die Gesetze der Naturnotwendigkeit, die Gesetze 
der Welt achtet und beachtet." 

Die politischen Gegensätze waren damals in Paris 
sehr gespannt. Allerdings fiel die Heftigkeit des Kampfes 
mehr auf, wenn man die Zeitungen las, als wenn man die 
Leute in der Gesellschaft beobachtete. Es regierte damals 
noch Karl X. als König. Die grosse Mehrheit derer, welche 
über politische Dinge schrieben oder sprachen, das mehr 
oder weniger gebildete Bürgertum, war liberal gesinnt und 



cap. 8.] Politisches. 93 

verhielt sich oppositionell gegen die absolutistische Re- 
gierung. Es gab freilich unter ihnen wieder verschiedene 
Stufen und Richtungen. Die drei gelesensten Zeitungen, 
die Debats, der Constitutionel und der National, waren die 
Vertreter und Führer dieser Innern Unterschiede. Die 
Debats sprachen mehr in dem gemässigten, aber selbst- 
bewussten Sinne der feiner und höher gebildeten Classen. 
Der Constitutionel repräsentierte den schlichten Kleinbürger. 
Durch principielle Schärfe und radicalen Eifer machte sich 
der National gefürchtet. 

Die royalistische Partei hatte den Vorteil der Stats- 
macht. Ihre Stützen waren ausserdem der Hof, ein grosser 
Theil des Adels und der Geistlichkeit. Den Volksklassen 
war sie fremd und, soweit dieselben sich nicht willenlos 
leiten Hessen, sogar verhasst. Es fiel mir aber sehr auf, 
dass der Adel, im Gegensatze zu Deutschland, als Stand 
keine Macht in der Gesellschaft mehr besass. Die Gleich- 
heit, welche die Revolution mit der Guillotine eingeschärft 
hatte, war in den Sitten seither befestigt worden. Sogar 
sehr vornehme Herren durften es nicht wagen, in der Ge- 
sellschaft irgend einen Vorrang anzusprechen oder gar die 
Bürger mit verächtlichem Hochmute zu behandeln. Viel- 
leicht auf den Schlössern des Landes konnte noch ein 
„Marquis von Carabas" ungestraft über die „Vilains" hin- 
wegsehen und mit den ererbten Eitelkeiten und Vorur- 
teilen fortspielen. In dem Pariser Salon war das unmög- 
lich. Er wäre von dem heiteren Spotte sofort weggeblasen 
worden. 

Im Allgemeinen machten mir die Franzosen den Ein- 
druck einer hochcivilisirten Nation. Mochten ihre Gelehrten 
auch an gründlichem Wissen hinter den Deutschen zurück- 



94 Politisches. [cap. 8. 

stehen, so war doch eine gewisse Bildung, und nicht bloss 
ein äusserlicher Schliff der Erscheinung, sondern auch die 
Fähigkeit, logisch zu denken und sich richtig auszusprechen, 
mehr, als ich es in Deutschland gesehen, über die untern 
Volksklassen ausgebreitet. Auch ein höher gebildeter Mann 
konnte sich bequem und auf dem Fusse einer behaglichen 
Gleichheit mit dem kleinen Handwerker, dem Arbeiter und 
selbst dem Dienstboten unterhalten, und das Gespräch floss 
ruhig hin und her. Ein freier und leichter Anstand und 
Ton war nicht das Privilegium der Vornehmen und Reichen, 
sondern ein Gemeingut Aller. 

Es fiel mir auf, dass Alle, welche die Revolution 
handelnd durchgemacht hatten, von derselben ein festes 
Gepräge erhalten hatten, gleichsam versteinert worden 
waren. Wer damals für die Republik geschwärmt hatte, 
der war auch jetzt noch entschiedener Republikaner. 
Wer an dem Schreckenssystem teil genommen, war dem- 
selben noch zugethan. Ein Beispiel war der alte Terrorist 
Levasseur, der als ruhiger Greis noch mit Entzücken 
von der Tugend Robespierre's sprach. Ich lernte den Bi- 
schof Gregoire kennen, der zu den sogenannten „Regi- 
cides** gehört hatte, indem auch er für die Hinrichtung 
Ludwigs XVI. gestimmt; er erschien mir als ein wohl- 
wollender alter Herr, und doch würde er unter ähnlichen 
Umständen auch heute wieder seine Stimme für den Tod 
des Königs abgeben. Er hat mir ein seltenes schottisches 
Rechtsbuch geschenkt. 

Anzeichen eines neuen baldigen Ausbruchs der Revo- 
lution bemerkte ich übrigens damals keine. Ich erinnere 
mich nur eines Erlebnisses, welches ein halbes Jahr später 
durch die Juli-Revolution von 1830 das richtige Licht em- 



cap. 8.] BouBBOKs und Orleans. 95 

pfing. In einem Salon nämlich, in welchem einige liberale 
Politiker sich einfanden, hörte ich eines Abends im Winter 
vorher ganz oifen behaupten, dass der Enkel Karls des X. 
nicht auf den französischen Thron kommen werde, indem 
die Familie Orleans gegen die Echtheit des Prinzen Protest 
erheben werde und Belege in der Hand habe, welche sein 
Thronfolgerecht verneinen. Der Plan, die Orleans zu Nach- 
folgern der Bourbonen älterer Linie zu machen, bestand 
also damals schon; nur rechnete man nicht auf eine Ver- 
treibung des alten Königs, sondern auf den nicht mehr 
fernen Tod desselben, um den Übergang zu vollziehen. 

Drei und vierzig Jahre später habe ich dann wieder 
erlebt, dass der Enkel und Erbe des Königs Louis Philippe 
von Orleans, der Graf von Paris, seine Huldigungen jenem 
Enkel Karls X., als dem Haupte der Bourbonischen Familie 
und dem alleinigen Repräsentanten der legitimen Monarchie 
in Frankreich darbrachte, obwohl Heinrich V. nur eine 
Puppe war in der Hand der Jesuiten und ein Don Quichotte, 
der in einer eingebildeten Welt, nicht in der wirklichen 
Welt lebte. 

Zum Schlüsse meiner Erinnerungen an Paris muss 
ich noch einer jungen Dame erwähnen, deren Lebens- 
schicksal sich einige Zeit dem meinigen zu nähern schien, 
dann aber, nicht ohne Schmerzen für beide, eine andere 
Richtung nahm und sich für immer von meiner Bahn ent- 
fernte. Sie war eine deutsche Rheinländerin, die aber 
schon lange in Paris gewohnt hatte, wohin ihr Vater als 
französischer Beamter unter Napoleon L gekommen war. 
Clementine von L. 

Das Verlangen nach einem weiblichen Wesen und 
die Sehnsucht nach Liebe, welche in der ersten Jugend- 



96 ^lE KEIMEKDE LiEBE [cap. 8. 

liebe zu Emilie Vogel befriedigt worden war, dann aber 
durch den erzwungenen Abbruch jeden persönlichen Ver- 
kehrs einen herben Schlag erfahren hatte, kam auch wäh- 
rend der Universitätszeit nicht zur Ruhe. Zwar fühlte ich 
mich frei von jeder Verpflichtung, aber das anmutige 
Bild des teuren Mädchens begleitete trotzdem meine Ge- 
danken, die unsicher zwischen dem Verzichte für immer 
und der gehoflften Erneuerung der gestörten Liebe hin und 
her schwankten. Von Zürich hörte ich, dass Emilie leidend 
gewesen sei, und dass in ihr noch das Vertrauen und die 
Hoffnung auf Wiedervereinigung fortlebe. Ich erfuhr ebenso, 
dass ihre Mutter einen andern als Freier begünstige, dass 
sie selber aber sich mir erhalten wolle. Meine Mutter 
hatte sie lieb gewonnen und nahm für sie Partei, sogar 
mein kälterer Vater schrieb mir gegen meine Erwartung, 
es sei nicht recht, ihre Hoffnung zu zerstören. Die Freunde 
hinwieder widerlegten nicht, sondern bestärkten eher meine 
Zweifel. Ich hatte nicht mehr den Glauben an eine starke 
Liebe in ihr. Ich hätte es zuweilen nicht ungern gesehen, 
wenn sie einen andern tüchtigen Freund gefunden und ihm 
die Hand gereicht hätte. 

In solcher schwankenden Stimmung lernte ich Clemen- 
tine kennen und fühlte mich von ihr angezogen. Einige 
Auszüge aus meinem Tagebuche werden am besten und 
wahrsten die Gefühle schildern, welche in mir auf- und 
niederwogten: 

Im Pecember 1829. „Schon oft dachte ich: Sollte 
ich kein Mädchen mehr finden, das ich tief und feurig 
lieben kann? Sollte für mich diese Liebe mit meiner 
Jugendliebe untergegangen sein und keine neuen Blüten 
mehr treiben? Heute fühlte ich, dass noch Frühlingskraft 



cap. 8.] ZV Clementtne v. L. 97 

in meinen Gefühlen sei. Ich spürte eine Anwandlung von 
Liebe. Ich, wie sie sagen, der kalte Verstand, weinte und 
lachte, war entzückt und traurig, mir war wohl und weh 
zugleich. Und doch war es nur ein fernes Bild der Phan- 
tasie, das mich lockte. Noch habe ich keine Geliebte. 
Hüte dich, mein Herz, dass du nicht neuen Schmerz be- 
reitest, bevor der alte verschwunden ist. Jetzt gilt es alle 
Kraft des Geistes zusammen zu halten, damit nicht eine 
vergebliche Liebe angefacht werde, die nicht zum Leben 
gelangen kann. Mit Sorgen bedenke jeden Schritt, der 
vielleicht zu weit führt. Aber wenn ich wirklich die ge- 
funden haben sollte, die für mich bestimmt ist, dann lasse 
Grott die Liebe in unsern Herzen treiben und Wurzeln 
schlagen, damit ein schönes neues Doppelleben mir erstehe." 
„Als ich Clementine zuerst sah, bewunderte ich ihren 
hellen Verstand. Aber gerade dieser scharfe, blendende 
Verstand machte mich stutzig, da ich diese Kraft sonst 
nur bei Männern liebe. So gerne ich mit gescheiten 
Frauen spreche und den Umgang mit solchen hoch schätze, 
so wenig war ich geneigt, bei meiner Geliebten vorzüglich 
hervorragenden und herrschenden Verstand zu suchen. 
Jüngst hatte ich unter jungen Männern geäussert: ich 
möchte um keinen Preis eine Frau, die mich an Verstand 
überträfe. Aber sehr wahr bemerkte darauf ein junger 
Deutscher, halb errötend über seine scheinbare Unbe- 
scheidenheit: „Die Sorge plagt mich nicht, ich bin über- 
zeugt, dass ich keine Frau fände, die gescheiter wäre als 
ich.** In der That, die Schärfe und Stärke des Verstandes 
bleibt auf ewig der Vorzug der Männer. Frauen können 
sich nur von ferne annähern. Es bleibt in ihrem Verstand 
immer eine gewisse Schwäche zurück. Dagegen werden 

Bluntschli, Dr, J. C, Aus meinem Leben. I. «^ 



98 Clementine. [cap. 8. 

uns ebenso die Frauen immer durch zarten Sinn und feines 
Gefühl übertreffen/ — 

„Bald erkannte ich auch diese wohlthätige Schwäche, 
die ich zarte Scheu nennen möchte, in ihrem Verstände. 
Was mich aber vollends versöhnte und zu Clementinen 
hinzog, das war, dass ich in ihr ein sanftes Gemüt und 
tiefes Gefühl zu entdecken glaubte. Es sprach sich aus 
in ihrem ganzen Äussern, nicht bloss in hingeworfenen 
Worten. Eine Schönheit ist sie nicht, aber sie hat feste, 
ausgezeichneten Frauen eigentümliche Züge. Sie ist eine 
Deutsche, das französische Wesen und Treiben ist ihr völlig 
fremd und zuwider. Ihr Herz hängt an Deutschland, und 
sie sehnt sich dahin zurück. Das Hauswesen versteht sie 
zu führen. In der Litteratur ist sie trefflich bewandert 
und spricht mit Geschmack von den Werken der Dichter. 
Sie ist auch eine tüchtige Klavierspielerin. Sie weiss die 
Gesellschaft mit sicherem Takte zu lenken. In all' diesen 
Beziehungen würde sie meine Wünsche erfüllen. Ich be- 
darf einer Frau mit dem Grade von Bildung, der auf der 
Frauenseite der Stufe entspricht, auf der ich als Mann 
stehe. Es muss zwischen uns ein Austausch der Gedanken 
möglich sein. In dieser Beziehung hat sie wohl vor Emilie 
einen bedeutenden Vorzug.** 

17. Januar 1830. „Gestern wurde mir ziemlich klar, 
dass Clementine keine Liebe für mich fühlt. Ich glaubte 
das aus ihrem erklärten Widerwillen gegen die Schweiz 
schliessen zu müssen, welcher indessen, wie sie selbst sagte, 
nur auf einem dunkeln Gefühle und Vorurteil beruhe." 

28. Januar. „Clementine gefiel mir wieder sehr gut. 
Befreundet sind wir doch, wenn auch die Liebe sich nicht 
entwickeln sollte. Mit gescheiten Menschen wird man viel 



cap. 8.] Widerstreitende Gefühle. 00 

bälder vertraut, als mit gewöhnlichen Menschenkindern. 
So ist es mir auch bei ihrer Mutter recht heimlich, und 
ich bin offener als sonst. Ich lege sogar meine Felüer 
und Schwächen ungescheut vor ihr zur Schau, was ich 
sonst vor Anderen nicht thue in dem Bewusstsein, dass 
sie es nicht richtig verständen." 

2. Februar. „Das Bild Clementinens verlässt mich 
selten und erscheint mir oft liebenswürdig im Traum. Ich 
bin nicht mehr ruhig, wenn ich an sie denke. Meine Ge- 
fühle wogen erregt in ihrer Nähe. Aber ein melancholi- 
sches Gefühl der Unmöglichkeit schleicht hinter dem freu- 
digen Gedanken her und scheint diesen zu erkälten und 
das Aufkeimen zu wehren. Bald werde ich abreisen. Bis 
dahin komme ich zu keiner Entscheidung. Ist sie aber 
für mich verloren, wenn ich ohne Erklärung abreise? Ich 
weiss das nicht, aber ich fürchte es. Meine Einsicht sagt 
mir, sie wäre für mich geschaffen, es würde ein schönes 
und reiches Leben werden, wenn wir uns fänden. Aber 
dann ist's mir wieder, wie wenn ein anderes Wesen zwi- 
schen sie und mich träte und uns von einander risse. Ich 
vermute, dass sie meine nicht ausgesprochene Neigung 
bemerkt hat. Ich betrachtete gestern ihr Bild im Spiegel 
und dachte an Einigung und Trennung. Ich war traurig. 
Da traf mich ihr Blick ebenfalls im Spiegel, und ich spürte 
es wohl, da war auf meinem Gesichte Verwirrung und 
Verlegenheit, Bangigkeit und Schmerz zu lesen und die 
Glut zu sehen." 

2. März. „Ich glaube jetzt deutliche Zeichen gesehen 
zu haben von Clementinens Liebe zu mir. Ihre erröten- 
den Wangen und ihre süssen, liebeglühenden Blicke reden 
deutlich. Vor allem muss ich jetzt nach Hause und mich 

7* 



100 Ein Traum. [cap. 9. 

umsehen, ob mir die Mittel geboten werden, sie in ein 
selbständiges Hauswesen einführen zu können. Dann erst 
kann ich mich erklären/ — 

Ich hatte einmal gegen Ende meines Aufenthaltes in 
Paris einen seltsamen Traum: Ich sah Clementine und ge- 
lobte ihr Liebe und Treue. Dann verlor ich sie aus den 
Augen. Nun erschien mir eine Fürstin, reich gekleidet, 
schön und voll Würde. Ich wurde von ihr bezaubert und 
versprach auch ihr meine Liebe. Dann erinnerte ich mich 
wieder an Clementine, und mein Gefühl war zerspalten und 
schwankte zwischen beiden. Ich liebte beide und wusste nicht 
zu wählen. Wohl empfand ich, dass nur eine von beiden 
die meine werden könne. Dann verschwand das Bild der 
Fürstin, und Clementine blieb allein zurück. Ich freute 
mich dieser Wendung meines Schicksals, und meine Liebe 
zu ihr erstarkte und blieb unwandelbar fürs Leben. Sonder- 
barer Weise war aber die Clementine des Traumes meine 
erste Liebe, zu der ich zurückkehrte. 



9. 

Rückkehr in die Vaterstadt. Emilie Vogel. Erneuerte Liebe 

und Verlobung. 

Ende März reiste ich von Paris ab. Der rasche 
Courierwagen der königlichen Post brachte mich nach der 
Schweiz. Meine Vaterstadt Zürich war mir noch nie in 
so freundlichem Lichte erschienen wie jetzt, als ich sie 
nach dritthalbjähriger Abwesenheit wieder sah. 

Am gespanntesten war ich darauf, meine frühere Ge- 
liebte Emilie Vogel wieder zu sehen. Ich fühlte, dass ich 
einer bedenklichen Alternative gegenüber stand. Ich musste 



cap. 9.] Rück!^ehb nach Zübich. l(jl 

nun wählen zwischen der neuen und der alten Zuneigung, 
zwischen Clementine und Emilie. Wie immer der Ent- 
scheid fiel, so war derselbe peinlich für mein Herz und 
für eine Freundin. Die formelle Freiheit der Wahl, zu 
welcher mich der frühere Abbruch der Verbindung mit 
Emilie und der Aufschub jeder Liebeserklärung an Clemen- 
tine berechtigten, mochte das Rechtsgefühl beschwichtigen; 
eine moralische Verantwortung aber für die zwiespältige 
Lage konnte ich vor meinem Gewissen nicht ablehnen. 
Ohne persönliche Verschuldung war ich doch nicht in diese 
Lage geraten. 

Die Auszüge aus meinem Tagebuch schildern die Er- 
neuerung meiner ersten Liebe und ihre Beseligung. 

„Zu Ehren meiner Heimkehr gab meine Mutter eine 
Gesellschaft. Da sah ich Emilie zum ersten Male wieder 
(31. März 1830). Sie gefiel mir sehr, besser vielleicht als 
jemals vorher. Das ist mein Verstandesurteil. Noch trübt 
nicht blinde Liebe dieses Urteil. Wohl aber fühle ich, 
dass die Liebe wieder in alter Stärke erwachen kann. 
Sie ist stiller und ernster geworden als früher. Eine weh- 
mütige Milde scheint sich über sie ausgebreitet zu haben. 
Anfangs war sie an jenem Abend ängstlich in sich gekehrt, 
halb trauernd. Nachher wurde dieses drückende Gefühl 
durch die Freude verdrängt, welche ich bei ihrer Begeg- 
nung nicht verhehlte, und durch meine Aufmerksamkeit für 
sie. Noch habe ich mich nicht entschieden. Ich muss noch 
Alles überlegen. Aber sicher ist, dass Emilie meinem prü- 
fenden Verstand wohl gefallt, und dass sie mir sanfter und 
weiblicher erscheint als früher. Ihr Verstand ist durchaus 
gesund und frisch, obgleich nicht glänzend noch blitzend. 
Als Hausmutter ist sie gewiss vortrefflich. Die Haupt- 



102 Emilie Vogkl. [cap. 9. 

frage ist nur noch: „Passt sie in geistiger Beziehung zu 
meiner Individualität?** 

15. April. „Gestern traf ich Emilie wieder in Gesell- 
schaft und war selig in ihrer Nähe. Mein Gefühl liebt sie. 
Clementine liebte ich mehr mit dem Verstand. An Geistes- 
kräften überragt diese jene; aber Emilie ist dagegen auch 
frei von dem Stolz und der Anmassung geistreicher Frauen, 
die ich in Clementine erst hätte beugen müssen. Wohl er- 
kannte ich in Clementinens Verstand die weiblichen Schwä- 
chen, aber sie wollte nichts davon wissen und gab nicht 
nach, wenn sie etwas verfocht, wenngleich ihre Gründe 
schwach und widerlegt waren. Auch bezweifle ich, ob 
unser kleines Statswesen und das bescheidene Privatleben 
ihr behagt hätten, da sie lange in einem grossen Stat und 
in einer reicheren Gesellschaft gelebt hat. Mein Herz spricht 
entschieden für Emilie. Ich will sie morgen um eine Unter- 
redung bitten.** 

17. April. „Heute besuchte ich Emilie in ihrer Woh- 
nung. Sie lud mich ein, mit ihr den Thee zu trinken. 
Wir waren allein. — Zuerst sprachen wir von gleichgülti- 
gen Dingen, dann von der alten Lust und der Frühlings- 
zeit der Liebe. Sie war mir immer treu geblieben, selbst 
in jener Zeit des scheinbaren Bruchs, in welcher die. Eltern 
und Verwandten sie durch Zureden eingeschüchtert hatten. 
Sie liebte mich noch, auch nachdem ihr eine Äusserung 
von mir hinterbracht worden, dass ich sie gänzlich auf- 
gegeben habe. Die kalte Äusserung wurde härter und 
unfreundlicher mitgeteilt, als sie geschehen war. Ich hatte 
den Glauben an ihre Liebe verloren. Desshalb hatte ich 
in Bonn einmal geäussert, ich wolle ihrem Glücke nicht 
im Wege stehen, wenn sie sich mit einem andern Freunde 



cap. 9.] Erneuerte Liebe. 103 

verbinde. Diese Nachricht kam ihr zu und schnitt ihr in 
das zarte Herz. Oft weinte sie die Nächte durch und litt 
auch körperlich schwer unter den Wirkungen ihres Seelen- 
schmerzes und meiner grausamen Kälte. Sie gestand mir 
das oflfen. Auch ich sprach von der alten Liebe und der 
jungen, frischen, die sich neu bilde und wie ein Phönix 
aus der Asche emporsteige. Mächtig wogte das Gefühl in 
mir und suchte hervorzubrechen aus dem Verschluss des 
Schweigens. Endlich wagte ich's und sprach das entschei- 
dende Wort. Dann ergriff ich ihre Hand, und auf ihren 
Lippen bebte mein Kuss. Ich hielt sie in festem Arm und 
schwur ihr ewige Liebe zu. Ja die Liebe selbst ist von 
ewiger Natur. Noch nie hatte ich dieses selige Gefühl ge- 
nossen. Ihr Leben war in mir und mein Leben in ihr. 
Das gute Mädchen gab sich mir liebevoll hin. Sie ist er- 
probt und sie bleibt die meine. Ich will versuchen, ihre 
Leiden wieder zu versüssen und meine Schuld zu tilgen. 
Ich will dich lieben herzinniglich, du sanftes Mädchen!" 

Den 30. April. „Seit dem 19. April ist Emilie meine 
erklärte Braut. Um in das Gottesreich einzugehen, muss 
man nach Christi Ausspruch wiederum werden wie die 
Kinder. Jetzt erst verstehe ich die Weisheit dieser Worte. 
Die erste Jugend erneuert sich, man wird von neuem wie- 
der von kindlichem Geiste beselt; nur ist diese Kindschaft 
höher, geistiger, bewusster als zuvor. Man spielt auch 
wieder mit heiterem, leichtem und zartem Kindessinn. Aber 
die Spiele sind feiner, ergreifender, bedeutungsvoller." 

„Erst jetzt lerne ich Emilie ganz kennen. Von Natur 
zurückhaltend, öffnet sie mir jetzt ihr feinfühlendes Herz. 
Das arme Mädchen hat schwer gelitten. Ihr Leben drohte 
zu verwelken, wenn nicllt die Sonne der Liebe die Blume 



104 Veblobung mit Emilie. [cap. 9. 

ihres Geistes wieder erwärmt und durchglüht hätte. Sie 
erzählte mir, wie sie erst stumm das Leid in sich ge- 
tragen habe, gedrückt von den äusseren Anforderungen 
und Hemmnissen und vor ihnen weichend, wie sie dann, 
von der Verzweiflung getrieben, nach Freuden aller Art 
gehascht und Zerstreuung gesucht habe, dass sie aber den 
Frieden der Seele so nicht wiedergefunden habe und in 
Wehmut und Trauer versunken sei. Sie habe voll Sehn- 
sucht, fast ohne Hoffnung meiner geharrt. Fürwahr, ihr 

Frauen liebt tiefer als wir. Aber hätte ich dieses Alles 

« 

gewusst, hätte ich ihre treue Seele so erkannt, dann wäre 
ich auch nie von ihr gewichen.** 

„Ihre treffliche Gesinnung liegt nun ganz klar vor 
meinen Augen und ich liebe sie eben darum immer mehr. 
Ihr gesunder Sinn, das richtige Urteil, ihre Ansichten 
und ihre ganze Lebensweise harmonieren wundervoll mit 
meiner Art und meinen Eigenschaften. Ihre Liebe ist nicht 
stürmisch, nicht leidenschaftlich, aber fürwahr, wenn irgend 
eine, tief und dauernd. Ruhig sieht sie die Verhältnisse 
an und lässt sich nicht von wildem Taumel hinreissen. 
Daher verzehrt sich auch das Feuer nicht, sondern die 
reine Flamme leuchtet stetig fort. Ihre Einsicht ist klar, 
frisch und echt, durchdringender als die der meisten Frauen, 
die ich kenne. Sie bedarf noch der Ausbildung durch Lee- 
türe. Auch dafür fehlt die Anlage nicht. Ich fordere nicht 
und wünsche nicht gelehrte Kenntnisse. Das rechte Mass 
von Wissen wird sich von selbst finden. Auch sie liebt, 
wie ich, ein schönes, reiches Leben und kann sich nicht 
begnügen mit philisterhafter Eingezogenheit oder ländlicher 
Naivität. Sie hasst aber, wie ich, eitlen Prunk und über- 
triebene, innerlich hohle Pracht. ' Mit Einem Wort, wir 



cap. 9.] Verzicht auf CLEMEifTiNE. 105 

gehören zusammen. Ich verehre dankbar das Geschick, das 
uns zusammenführte und 'für immer verband/ 

Mein Freund R. hatte den Brief, den ich ihm so- 
fort nach meiner Ankunft in Zürich nach Paris geschrieben 
und in dem ich ihm angezeigt hatte, dass ich auf Clemen- 
tine Verzicht leiste, nicht erhalten und unbesonnen ihr die 
Aussicht meiner Liebe eröffnet und dadurch eine schmerz- 
liche Täuschung bereitet. Die Nachricht von meiner Ver- 
lobung brachte ihn ausser sich, und er schrieb einen hefti- 
gen Brief entrüstet an mich. Dieser unangenehme Vorfall 
nötigte mich, jetzt schon mein ganzes Verhältniss zu Cle- 
mentine meiner Braut zu entdecken. Das arme, treue Kind 
litt sehr durch mein Bekenntnis. Sie hatte mir, freilich 
ohne dass ich es wusste, die Treue bewahrt; ich hatte mit 
Bewusstsein diese Treue gebrochen. Erschüttert zweifelte 
sie einige Stunden an der Dauer meiner Liebe und fürchtete 
neuen Wandel meiner Gesinnung. Durch meine Erzählung 
wurde noch eine andere Saite ihres Herzens berührt, die 
wehmütig erklang. Sie fürchtete nämlich, meinem Geiste 
nicht zu genügen und mich nicht befriedigen zu können. 
Diese oft wiederkehrende Besorgnis wurde geschärft durch 
die Vergleichung mit Clementine, die ich als eine ausge- 
zeichnete Dame voll Verstand und Bildung zeichnete. Aber 
allmälich kehrte das volle Vertrauen wieder, und die Be- 
sorgnis wurde durch die Zuversicht der Liebe verscheucht. 
Wie vortrefflich ihr Herz sei, erfuhr ich eben damals, als 
ich sie wider Willen verwundete. Sie versicherte mich, 
auch wenn ich sie nicht mehr lieben würde, so würde sie 
dennoch mit ihrem ganzen Herzen an mir hängen. 

Im Juli wurde Emilie zur Kur in das Heinrichsbad 
bei Herisau im Appenzellerland geschickt. Ihre Gesundheit 



106 Briefwechsel mit der Braut. [cap. 9. 

hatte unter der langen Ungunst der Verhältnisse schwer 
gelitten. Sie bedurfte sehr der Stärkung und der Pflege. 
Der Aufenthalt in der reinen Gebirgsluft übte eine wohl- 
thätige Wirkung aus. Auch ich besuchte damals das Bad 
Stachelberg im Lintthal, um die dortige Quelle zu gemessen. 

In jener Zeit schrieb ich an Emilie; 

13. Juli: „Es ist eine sonderbare Lust, sich immer 
dasselbe zu sagen und es jedes Mal wieder gerne anzu- 
hören. Nie verleidet das süsse Wort der Liebe. Das Wort 
hat einen unerschöpflichen, reichen Inhalt, und aus diesem 
nie versiegenden Brunnen quellen immer neue Lust und 
neuer Segen empor. Ninun den glänzendsten Gedanken 
und wiederhole ihn hundertmal, er wird Dir am Ende 
schal, fade, langweilig vorkommen. Aber das Gefühl der 
Liebe wird nie alt und langweilig, durch keine Wieder- 
holung. Es bleibt frisch und jung. Das Gefühl der Liebe 
kennt nicht die Schranken der Zeit und des Raumes. Un- 
begrenzt ist es in seiner Fülle, ewig und frei, wie Gott." 

Aus einem Brief vom 25. Juli: „Es gibt auch ein 
Schweigen, das aus Überfülle des Lebens entspringt, wenn 
der Kraft des Gefühls die Worte zu schwach, zu beengend 
erscheinen, wenn es nur noch in ungeregelten Lauten her- 
vorbricht und nicht Worte, nur Töne herausbringt in „des 
Liebestammeins Raserei", wie Goethe es nennt. Ahnliches 
kennen auch wir, mein Liebchen. Zuweilen schwebt auch 
süsses Schweigen um uns her, und es ergötzt uns kein 
Gespräch; nur Laute der Lust stösst zuweilen das mäch- 
tige Gefühl aus.** 

Von Stachelberg 2. August: „Im ganzen Hause herrscht 
Trauer und Bestürzung. Der kalte Tod erfasste plötzlich, 
während wir am heiteren Mahle sassen, den würdigen alten 



cap. 9.] Gedanken über den Tod, 107 

Geistlichen, Decan Trümpi von Glarus. Oft dachte ich in 
diesen Tagen an den Tod, und er erschien mir grausenhaft. 
Mir genügte nicht mehr die irdische Unsterblichkeit, welche 
wir uns selber schaffen in unseren Gedanken und durch 
unsere Thaten. Mir genügt auch nicht das Gefühl der 
Ewigkeit, wovon in heiligen Momenten der Liebe unser 
Herz voll ist und sich erhaben denkt über alle Zeit. Mein 
Geist sehnt sich nach einer anderen Unsterblichkeit. Er 
kann nicht sein eigenes Ich aufgeben, nicht sich selber 
vernichten. Er verlangt, mit Bewusstsein fort zu denken 
und fort zu leben, und wäre es in Gott. Wenn das Be- 
wusstsein meines Geistes mit dem irdischen Tode gänzlich 
aufhörte, was wäre dann für meinen nichtigen Geist Gott, 
die Welt, das All? Für mich wären sie Nichts, in Ewig- 
keit Nichts, kein Gott, keine Welt, ein hohles leeres Nichts. 
Mein Geist kann nicht diesen Gedanken der Hölle fassen; 
entsetzt vor dem Wahne der Vernichtung alles Lebens 
beugt er sich zurück und sucht einen Halt für das Leben.** 
Den 8. August. Aus einem Briefe an Zeller: „Gar 
schön sprichst Du von den Idealen, in denen Du jetzt 
lebst. Bewahre mich Gott davor, sie herabzuwürdigen. 
Ideenlosigkeit halte ich für die erbärmlichste* Philisterei. 
Vor allen Ideen aber leuchtet die Liebe, an deren Sonnen- 
licht mein Herz sich labt. Aber ein anderes ist die Idee 
und ein anderes die Wirklichkeit. Verkörperte Ideen gibt 
es eben nicht. Nur in Gedanken können die Ideen herr- 
schen. Es ist eine merkwürdige Eigenschaft unseres Gei- 
stes, dass er den Leib verleugnen und frei von den Banden 
des Leibes sich in dem Reiche des Geistes bewegen kann. 
Es war ein Frevel mancher Philosophen, diese unsterbliche 
Kraft des Geistes zu leugnen. Aber ganz verschieden da- 



108 Wesen der Liebe. [cap. 9. 

von ist die Liebe nicht einer Idee, sondern eines bestimm- 
ten lebendigen Wesens, der Frau. Hier muss der ganze 
Mensch in Seele und Leib lieben, denn voll und ganz 
müssen die beiden Wesen, Mann und Weib, sich vereinen 
und zusammen einen höheren Leib bilden, die Erscheinung 
des Menschen vollenden. Die Sinnlichkeit in dieser Liebe 
ist daher etwas durchaus Sittliches, und gar wohl hat die 
Natur dafür gesorgt, indem ihre Macht Triebe schuf, welche 
die unvollkommene Einsicht der Menschen ersetzen sollten. 
Nirgends hört das Sinnliche so auf, sinnlich zu sei, wie in 
der Liebe. So enge ist hier das Sinnliche mit dem Geisti- 
gen verschmolzen, dass keines von dem andern zu unter- 
scheiden und zu trennen ist. Wo die Liebe vorhanden ist, 
da werden die sinnlichen Triebe von selbst vergeistigt, es 
braucht keine Vorbereitung, keine Obhut der Seele. Die 
Natur wirkt allgewaltig selbst." 

„Unser Freund Bernhard scheint nur für seine Braut 
und in ihr zu leben. Diese Liebe ist mir fremd, ich ge- 
stehe Dir das offen. So kann ich unmöglich lieben. Mein 
ganzes Wesen sträubt sich bei diesem Gedanken. So lieben 
auch meistens nur Frauen, so liebt auch meine Emilie. 
Aber meine Lebenskreise sind weiter gemessen, meine 
Thätigkeit hat ein grösseres Feld, das sie nicht für die 
Geliebte baut. Es gibt ein Wirken, dem ich in der Not 
sogar die Geliebte, freilich nicht die Liebe opfern könnte, 
aber nicht umgekehrt könnte ich um der Geliebten willen 
auf jenes Wirken verzichten. Ich male ihr keine Täuschung 
vor. Sie weiss diess. Und dennoch liebe ich sie fürwahr 
ganz und innig, mehr als irgend einen andern Sterblichen. 
Ich fühle es, sie gehört mir an und immer mehr lebt sie 
in mir, wie ich in ihr." 



cap. 10.] Liebes-Seliokeit. 109 

18. Okt. „Vorgestern waren wir bei den schönen 
Bäumen nahe der Weid. Die heilige Schönheit der Natur, 
der glänzende See, die glühenden Berge, die grünen Thäler 
und die vielfarbigen Wälder stimmen wunderbar zusammen 
mit zwei liebenden Herzen. Das Gefühl der Liebe wird 
lebendiger, gehobener, reiner und heiliger im Anblick die- 
ser Natur. Man schwebt in süsser Seligkeit und ruht im 
Unendlichen, in der Allliebe, in Gott." 

„Wie edel sie denkt, erfuhr ich gestern, als sie zu 
mir sagte: „Es ist ein furchtbarer Gedanke, dass wir durch 
den Tod getrennt werden. Aber sollte ich früher sterben, 
so würde ich mich vorher noch umsehen unter den Frauen 
und Jungfrauen, um die zu finden, welche dann deine 
künftige Gattin werden könnte und werden sollte, und ich 
spräche sterbend: Nimm diese und erneuere durch eine 
zweite schöne Ehe die erste. Auch ich würde dann fort- 
leben in deiner zweiten Gattin, die ich dir zugeführt hätte; 
meine Liebe und meine Sorgfalt würden nicht untergehen. 
Der Tod würde mich nicht von dir trennen. Du würdest 
in der zweiten Gattin beide vereinigt finden und beide 
lieben.** 



10. 

Statsdienst. Das alte Regiment. Politische Freunde. Die Juli- 
revolntion in Paris nnd ihre Wirkungen. Heine Schrift über 
die Verfassung von Zürich. Die Kämpfe über die Repräsentation 
im grossen Rat und die Verfassungsrevision. Anfänglicher Sieg 
der Jungen. Die Volksversammlung in üster und die Versamm- 
lung in Zürich. Sieg der Revolution. 

Der frühere Plan, auf einer deutschen Universität 
als Privatdocent meine akademische Laufbahn zu beginnen, 



110 Statsdiekst. — Das alte Regiment. [cap. 10. 

wurde nun aufgegeben. Statt dessen eröffnete sich mir die 
Aussicht, vorerst an dem „politischen Institut" Vorträge 
zu übernehmen. Um die Praxis kennen zu lernen, erbat 
ich die Erlaubnis, in dem Amtsgerichte Zürich, dem Haupt- 
sitze der wissenschaftlichen Rechtspflege, als Auditor den 
Verhandlungen beizuwohnen. Da wurde ich gewahr, wie 
wenig die juristische Universitätsbildung genügte, um das 
einheimische Recht in seiner Anwendung richtig zu er- 
kennen und zu handhaben. Aber ich erfuhr ebenfalls an 
mir selber, dass die allgemeine Vorbereitung der XJniver- 
sitätsstudien doch den Blick geschärft hatte, und dass in 
verhältnismässig kurzer Zeit das Verständnis des ein- 
heimischen Rechtes und die Einsicht in die practischen 
Bedürfnisse sich erschlossen. 

Ebenso erhielt ich den Zutritt zu den Verhandlungen 
der Regierungskommission des Innern, welche von Stats- 
rath Usteri präsidirt wurde, und ihrer selbständigen 
Unterabteilung, der Kommission für administrative Strei- 
tigkeiten, welche von Ratsherr Rahn geleitet wurde. 
Diese Commission beurteilte die verwaltungsrechtlichen 
Streitsachen in oberster Instanz. Ich wurde daher auch 
mit dem Verwaltungsrechte einigermassen vertraut, das 
freilich damals noch wenig grundsätzlich durchgebildet war. 
Bald darauf wurde ich bei diesen Commissionen als Regie- 
rungssecretär angestellt und hatte insbesondere die Kanzlei- 
geschäfte der letzteren Commission. zu besorgen. So ward 
ich in den Züricherischen Statsdienst eingeführt, noch zur 
Zeit der Restaiirationsverfassung vom 11. Juni 1814. 

Die Verwaltung war, soweit ich sie beobachten konnte, 
durchweg wohlwollend, mit einem Zug väterlicher Sorge, 
aber wenig principiell, zuweilen auch launisch und herrisch. 



cap. 10.] Politische Freunde. Hl 

Das Beste war, dass sie in der Regel die Leute sich selber 
helfen liess und nicht übemiässig viel regieren wollte. In- 
dessen machte doch damals die hergebrachte Zunftordnung 
oft ein Einschreiten der Regierung nötig, wo später die 
Gewerbefreiheit dasselbe entbehrlich machte. Als Secretär 
hatte ich keine beratende Stimme in den Sitzungen; da 
ich aber manchen Beschluss vorzubereiten und zur Aus- 
führung zu redigiren hatte, so lernte ich den mittel- 
baren und stillen Einfluss des Bureaus wohl kennen und 
benützen. 

Unter den jüngeren Gelehrten und Beamten zog mich 
am meisten der Statsschreiber Ferdinand Meyer an durch 
den edlen Patriotismus, die Reinheit und Wahrheit seines 
Wesens und durch seine mir sympathischen Grundansichten. 
Auch seine liebenswürdige und geistreiche Frau gefiel mir 
ausnehmend. Die beiden Ehegatten hatten etwas fast jung- 
fräulich Zartes und Feines. Meyer war ein echter Repu- 
blikaner, schlicht und verständig, ein Kenner der vater- 
ländischen Geschichte und ein kluger Beobachter der Men- 
schen. Er hatte auch bereits seine statsmännische Begabung 
bewährt. Er hatte das Grossrats-Reglement ausgearbeitet 
und durchgesetzt, welches den Grossen Rat von den her- 
kömmlichen Banden befreite. Aber er war mehr dazu ge- 
macht, in Zeiten des ruhigen Fortschrittes zu führen; in 
den Zeiten der Revolution war seine Natur zu feinfühlig 
und sein Charakter zu wenig hart und energisch, um durch- 
zugreifen. 

Keller hatte einen schärferen und schneidigeren Geist 
und war kühner und gewandter. Er scheute sich nicht, 
mit Menschen und Verhältnissen zu spielen. Auch Keller 
hatte Ideen und Ideale; insbesondere war eine Wissenschaft- 



112 Pariseb Juli-Revolution. [cap. 10. 

liehe und unabhängige Rechtspflege das Ziel seiner Arbeiten 
und seiner Kämpfe. Aber iph konnte die Wahrnehmung 
nicht abweisen, dass er zuweilen auch der kalten Selbst- 
sucht die Zügel schiessen lasse. 

Etwas ferner war mir der Oberamtmann Melchior 
Hirzel. Aber wenn gleich ich in seiner geschichtlichen 
und juristischen Bildung manche Lücken entdeckte, so ge- 
fielen mir doch der ideale Zug in ihm, die Liebe, die aus 
ihm hervorleuchtete, zum Vaterland und zum Volk, die 
Anregung, die er gab zur Verbesserung der Zustände, die 
Zuneigung der Bevölkerung, welche er in seinem Amts- 
bezirke zu wecken wusste. 

Die ruhige Entwickelung unseres Statswesens wurde 
aber schon wenige Monate nach meiner Heimkehr durch 
die Erschütterung der Revolution unterbrochen. Ich war 
im Stachelberger Bade, als die erste Kunde von der Pa- 
riser Julirevol^ition die Badegäste aufregte. Je weniger 
wir auf dieses Ereignis vorbereitet waren, desto mäch- 
tiger war der Eindruck. Die Restaurationszuversicht war 
nun gebrochen. Es wehte ein frischer Wind über die 
stagnirenden Gewässer hin. Ich freute mich des gestei- 
gerten Lebens und glaubte nicht an eine Wiederkehr der 
Schreckenszeit der Neunzigerjahre; aber ich war auch miss- 
trauisch gegen radicale Überspannung der Reformanträge. 
In einem Briefe, schon vom 4. August, an die Braut sprach 
ich den Grundton meiner politischen Gesinnung scharf aus: 
„Anarchie und Pöbelherrschaft ist mir so zuwider wie 
Tyrannei. Wenige sollen herrschen, nicht das Volk; aber 
die Wenigen sollen die Verständigsten sein und das 
Zutrauen des Volks besitzen." 

Auch unsere Züricher Verfassung musste den Stoss 



cap. 10.] Denkschrift ijber die Züricher Verfassung. 113 

empfinden, und unsere Restaurationsregierung spürte den 
Boden unter sich wanken. Ich hoffte ein frischeres Tempo 
in der begonnenen Reform und reichere Früchte unserer 
Arbeit, aber ich fürchtete die Überstürzung der Revolution. 
Mit jugendlichem Eifer nahm ich nun teil an der Politik, 
Es bildete sich ein vertrauter, enger Kreis von Gelehrten 
und Beamten, der sich die Aufgabe stellte, den Gang der 
Dinge zu beobachten und die Interessen des Tages frei- 
mütig zu besprechen. Ich wurde in denselben aufge- 
nommen. 

Ich schrieb damals im Einverständnis mit F. Meyer 
und Keller (September 1830) eine Denkschrift „über die 
Verfassung des Standes Zürich" und beleuchtete darin 
die Reformen, die mir notwendig schienen, insbesondere 
eine Änderung der Repräsentation im Grossen Rat. Nach 
der Verfassung von 1814 bestand der Grosse Rat aus 82 
directe gewählten Mitgliedern (26 von den 13 Zünften der 
Stadt, 51 von den Landbezirken, den sogenannten Land- 
zünften, und 5 von der Stadt Winterthur gewählt) und 
130 indirecte von einem Wahlcollegium aus Grossen und 
Kleinen Räten ernannt, wovon 26 Landbürger sein muss- 
ten, die übrigen 114 Stadtbürger sein konnten und that- 
sächlich waren. Die Hauptstädter hatten also ungefähr 
zwei Drittel aller Stellen inne. Ich führte aus, dass ein so 
grosser Vorzug der vormals souveränen Stadt nicht mehr 
zu der anerkannten Freiheit und der Cultur der Landschaft 
passe, und dass auch den indirecten Wahlen ein zu grosses 
Übergewicht über die directen verliehen sei, während jene 
Wahlform hauptsächlich die Aufgabe habe, die directen 
Wahlen durch Beachtung intelligenter, aber übergangener 
Kräfte zu ergänzen. Ich schlug vor, dass Stadt und Land 

Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. g 



114 Geschichte der Züricher Revolution. [cap. 10. 

in gleicher Anzahl vertreten werden, so dass jeder Teil 
vor Unterdrückung oder Missachtung seiner Interessen ge- 
sichert sei, und ebenso dass die directen Wahlen, voraus 
der Landschaft, erheblich vermehrt, die indirecten dem 
Grossen Rate selber überlassen werden, vorzüglich im 
Interesse der Intelligenz und des ganzen Gemeinwesens. 

Überdem empfahl ich schärfere Sonderung des Ober- 
gerichts von dem Kleinen Rate, der Regierung, eine un- 
abhängige Stellung der Justiz, Aufhebung des halb-geist- 
lichen Ehegerichts, dagegen Beibehaltung der Oberämter. 
Voraus wünschte ich, dass die bestehenden Behörden sel- 
ber die Reformen in gesetzlicher Weise festsetzen und 
durchführen, und warnte vor den Gefahren der Revolution. 

Die Vorschläge wurden von der Reformpartei, den 
sogenannten „Jungen" günstig aufgenommen, auch von 
Nüscheler im Beobachter wacker unterstützt, aber erreg- 
ten den Missmut der „Alten", welche überhaupt keine 
Verfassungsrevision wollten, und genügten, was schlimmer 
war, der wachsenden Unzufriedenheit vieler Landbewohner 
und der leidenschaftlicheren Bewegung der radicalen Partei, 
welche in C. Snell einen doctrinären, aber gewandten und 
eifrigen Vertreter in der Presse fand, bald nicht mehr. 
Die Reform wurde verschoben und gehemmt. Dann ent- 
lud sich unwiderstehlich die Revolution. 

Ich habe die Geschichte der „Zürcherischen Re- 
volution" in einem Aufsatze dargestellt, welcher in Leo- 
pold Rankes historisch-politischer Zeitschrift (Hamburg 
1832 Bd. I. S. 593 f.) erschienen und auch in Müller 
Friedbergs Annalen abgedruckt worden ist. 

Die Biographie soll zeigen, wie sich die grossen Er- 
eignisse in den persönlichen Eindrücken und Erlebnissen 



cap. 10.] Gespaitnte Lao^. 115 

des jungen politisch erregten Mannes abspiegelten. Die 
weiterblickende politische Geschichte erkennt den innern 
Zusammenhang in seinen grossen Zügen und urteilt ge- 
rechter; aber der schäumende Anprall der mächtigen Meeres- 
welle an den kleinen Nachen eines bescheidenen Einzel- 
lebens hat auch seinen Reiz und sein Recht. Ich merke 
daher einige Notizen an: 

22. Oktober: „Der Zweck meiner Schrift war: 1) den 
Gegensatz und das Misstrauen von Stadt und Land dadurch 
zu mildern, dass von der Stadt aus das Recht des Landes 
anerkannt werde; 2) durch Aufdeckung noch anderer Män- 
gel der Verfassung ausser dem Repräsentationsverhältnis 
dem Streit die schroife Einseitigkeit zu benehmen; 3) die 
Punkte, worauf es ankommt, zu fixiren und dem bösartigen 
Raisonniren ins Blaue hinein Schranken zu setzen; 4) end- 
lich zu einer wesentlichen Verbesserung der Verfassung 
beizutragen.*' 

„Die Macht der alten Optimaten ist morsch; sie wird 
leicht gebrochen. Die Wissenschaft gelangt zu Ansehen. 
Die junge Generation, die nichts mehr weiss von der alten 
Stadtherrschaft, wird siegen. Aber auch Ungeziefer fliegt 
mit. In den Schenken wird schändlich raisonnirt. Der 
Kern des Volkes ist gut; die Notabein des Landes können 
keine Unordnung dulden. Gefahrlich sind nur die Fabrik- 
gegenden, wo der Verdienst stockt.** 

29. Oktober: „Ich* besuchte meinen Badefreund Major 
Zuppinger in Männedorf, einen kerntüchtigen Mann, und 
mit ihm den Quartierhauptmann Wunderli in Meilen, 
einen der 32 Landgrossräte, die in Uster zusammenge- 
treten sind. Ich fand im Ganzen die Stimmung des Vol- 
kes äusserst gespannt. Der gemeine Mann hebt den Kopf 

8* 



WQ FOBDERÜNGEN DES LaKDES. [cap. 10. 

und droht, ohne recht zu wissen wem und wozu. Die 
Seegegenden werden sich mit der Hälfte Mitglieder für 
das Land im Grossen Rat nicht mehr zufrieden geben. 
Viele sprechen nun von zwei Dritteilen für das Land. Der 
nächste Montag, an dem der Grosse Rat zusammentritt, 
wird von Vielen gefürchtet. Es heisst allgemein, die Bauern 
wollen in die Stadt kommen. Indessen das Wetter ist 
schlecht, und wenn es so bleibt, werden der Gäste nicht 
allzu viele sein. Kommt Niemand, so wächst der Mut der 
Aristocratenpartei. Kommen Viele, so können die gähren- 
den Elemente zusammenstossen. Ich besorge indessen we- 
nig Schlimmes. 

Vor 8 Tagen noch wäre die Hälfte der Repräsen- 
tation dem Lande völlig hinreichend erschienen. Jetzt 
befriedigt das nicht mehr. Die Stadt geht aber ungern 
darüber hinaus. Keller sagte, wenn nichts geändert werde, 
als die Repräsentation, so wolle er lieber die Revolution. 
Umgekehrt will ein Teil des Statsrats, unter der Führung 
der Bürgermeister von Reinhard und von Wyss, nur 
die Veränderung in der Repräsentation zugestehen, aber 
keine weitere Reform. Das sagte mir Altbürgermeister 
von Escher, welcher eine allgemeine Revision der Ver- 
fassung für nötig hält. Das Land aber wird, wie ich hoffe, 
in dieser Hinsicht zu den , Jungen in der Stadt* halten." 

„Der öffentliche Ankläger Ulrich belächelt Alles, 
ohne Interesse für irgend eine Idefe. F. Meyer und Kel- 
ler bearbeiten Verfassungsentwürfe. Oberamtmann Hirzel 
zeigt eine sanguinische Lust am Gesetzmachen. Rasch vor- 
wärts zu schreiten ist die einzig mögliche Taktik. Man 
muss alles Verzögernde auf organische Gesetze versparen, 
die man später ruhig machen kann. Die Verfassungs- 



Cap. 10.] RÜSTUNOEN IN DER StADT. 117 

Urkunde braucht nicht ein vollständiges Compendium des 
Statsrechts zu sein. Sind wir nur erst fertig im eigenen 
Lande, dann können wir für die Schweiz entscheidend auf- 
treten. Schon hat in Thurgau die Schrift des Pfarrers 
Bomhauser die Flamme der Revolution entzündet.** 

31. Oktober. „Die Stimmung wird etwas ruhiger, je 
näher der Grosse Rat rückt; aber es steigt auch der Kamm 
der Optimaten. Ich brachte heute den Stadtschreiber F. 
Meyer dazu, eine verstärkte Commission für die Verfas- 
sungsberatung vorzuschlagen: 6 vom Kleinen Rat, 6 Stadt- 
bürger vom Grossen Rat und 6 Landbürger vom Grossen 
Rat. Je zahlreicher die Commission sein wird, um so mehr 
werden die Jungen durch ihre Intelligenz wirken. Ich rechne 
auf Meyer, Keller, Hirzel." 

Abends 10 ühr: „Die Gefahr scheint wieder zu wachsen. 
Es ist eine Compagnie Schweizer aus französischen Diensten 
angelangt. Die Ratsherren scheinen etwas im Sinn zu ha- 
ben, so wenigstens sprach einer von ihnen heute Abend 
in abgebrochenen drohenden Worten. Auch nach mir hat 
ein verdächtiger Mensch gefragt. Nun gilt es. Wenn der 
Grosse Rat die Verfassungsrevision versagen sollte, dann 
bleibt nichts übrig als Auflösung desselben und die Er- 
wählung eines neuen.** 

Montag den 1. November: „Vergebens hatte sich un- 
sere Bürgerschaft heimlich gerüstet und vergebens wurde 
in den Zeughäusern gearbeitet. Der Feind erschien nicht. 
Vor dem Rathaus fanden sich viele Bürger ein; es war 
auch einiges Gesindel in der Stadt. Im Grossen Rat sel- 
ber schwankte die Meinung und der Sieg. Der Kleine 
Rat wollte durchaus keine Verfassungsänderung, ausser 
dem Repräsentationsverhältnis, die nur von den verhassten 



Hg AnfXkglicheb Sieg der Jungen. [cap. 10. 

„Jungen" gefordert werde. ,Lieber Bauern und Ochsen, 
als die Jungen*, das ist das Stichwort der Optimaten. 
Hätte man heute abgestimmt, so hätten die Jungen die 
Schlacht verloren; denn manche Führer vom Lande waren 
der Meinung, vorerst nur die Änderung der Repräsenta- 
tion zu verlangen und das Übrige dem neu zu wählenden 
Grossen Rate vorzubehalten. Diese Falle merken endlich 
die Herren vom Kleinen Rate. Hoffentlich lassen sie sich 
nun für die Gesamtrevision gewinnen. Haben wir erst 
die neue Verfassung, so mag sich der jetzige Grosse Rat 
auflösen. Es schadet dann nicht mehr. Wenn er dagegen 
jetzt nur die Repräsentation ändert und alles Andere einem 
künftigen Grossen Rate anheimstellt, dann haben wir in- 
zwischen gar keine Verfassung; denn die Autorität der 
alten ist gebrochen und die neue noch nicht da, und in 
solcher Anarchie würden die beiden entgegengesetzten Ex- 
treme, die Demagogen und die Optimaten, ihr frevelhaftes 
Spiel treiben. — Wie sehr wünsche ich, an der Discussion 
teilnehmen zu dürfen; es fehlen mir nicht Mut und Kraft, 
aber meine Jugend schliesst mich vom Grossen Rate aus." 
25. November: „Die Schlacht war am 3. November 
doch für die Jungen gewonnen. Der Oberamtmann Hirzel 
hatte den Sieg entschieden. Ihm glückte es, einige Rats- 
herrn, insbesondere von Muralt und die Führer der Land- 
leute Stapfer, Brändli, Künzli zu gewinnen. Diesen 
versprach er die Majorität in dem neuen Grossen Rate, 
wenn sie zu den Jungen halten. Das wirkte, und dadurch 
wurde die innerlich unnatürliche Allianz der Alten mit den 
Landleuten gesprengt. Zugleich erklärte Hirzel, wenn die 
Totalrevision abgelehnt werde, so werde er in die nächste 
Sitzung auch eine Petition von 31 Stadtbürgern bringen, 



cap. 10.] Yebgebliche Ausgleichungsafbeit. 119 

welche Garantien für die bürgerliche Freiheit und Tren- 
nung der Gewalten verlangen, und er denke, dieselbe werde 
ebensogut Gehör finden, wie das Begehren der 31 von der 
Landschaft, welche Garantien für die Landschaft verlangen. 
Der Landammann Reinhard versuchte noch seine Listen, 
aber Hirzel hielt ihn, nach dem Ausdruck des Oberamt- 
manns Meiss, bei dem Fuchsschwanz und schüttelte ihn.** 

Ich speiste nach der Verhandlung bei F. Meyer mit 
Hirzel. Wir freuten uns königlich über den Sieg. Ich 
eilte nacher zu dem greisen Obmann Füssli, um ihm Nach- 
richt zu bringen. Er küsste mir vor Freude die Hand. 

Inzwischen nahmen die Dinge wieder eine schlim- 
mere Wendung. Eine Commission arbeitete an der Aus- 
gleichung. Mit 11 gegen 10 Stimmen wurde eine genaue 
Ausscheidung in festen Zahlen beschlossen. Dann zankte 
man sich lange darüber, ob die Hauptstadt 90 oder 92 
Stellen erhalten solle. Schliesslich bestimmte man, die bei- 
den Städte Zürich und Winterthur sollten die eine Hälfte 
der Mitglieder, die Landschaft die andere Hälfte erhalten. 
Aber anstatt den Vorschlag sofort dem Grossen Rate vor- 
zulegen, wurde die Sitzung aufgeschoben. Sie war am 
22. November möglich und wurde auf den 25. vertagt. 
Reinhard hatte noch einen Tag Aufschub durchgesetzt* 
Damit war das Friedenswerk vernichtet und die ganze 
Ausgleichungsarbeit vergeblich. 

Die Zwischenzeit wurde von den Demagogen fleissig 
benutzt, um das Land aufzuregen. Im Thurgau und Aar- 
gau, auf beiden Seiten des Cantons Zürich, war helle Anar- 
chie. Die Appenzeller Zeitung blies in die Flammen. Es 
wurden aufrührerische Schriften in Umlauf gesetzt. Viel 
alter Groll gegen die Stadt kam auf einmal ans Licht. 



120 VOLKSVERSAMMLÜKG IN ÜSTER. [cap 10. 

Der Ausgleichungsvorschlag konnte sehr leicht als eine 
böse List der Stadt Zürich ausgedeutet werden, Winter- 
thur, wo die Opposition der Landschaft tüchtige Führer 
gefunden hatte, von dieser zu trennen und das Land seiner 
intelligentesten Vertreter zu berauben. 

Entscheidend wurde die Volksversammlung, die in 
TJster am 22. November zusammentrat. Es sollen 6000 
bis 10000 Personen daran teilgenommen haben. Als Red- 
ner traten drei Männer auf, mit denen ich später befreundet 
wurde, gegen die ich aber damals misstrauisch war, der 
Dr. Hegetschweiler von Stäfa, ein wissenschaftlich ge- 
bildeter Mann und ein guter Patriot, in dessen Familie 
aber die Erinnerung an die schwere Unbill, welche sein 
Schwiegei'vater, der alte Vater Bodmer, in den Neun- 
zigerjahren von dem alten Regimente der Stadt erduldet 
hatte, zu Rachegedanken reizen mochte; der jugendliche 
Müller Gujer von Bauma, ein Mann von idealen Neigun- 
gen in der Politik und in der Religion, der sich durch 
Privatstudien ausgebildet hatte, und Steffan von Waedi- 
schwyl, eine derbe, kräftige Natur, wie sie unter den 
„Seebuben" gedeihen konnte; dabei leidenschaftlich erreg- 
bar. In TJster wurde eine Petition beschlossen, welche wie 
ein Befehl an den Grossen Rat betrachtet wurde. Die 
Ausgleichung war darin verworfen und ein Repräsentations- 
verhältnis von zwei Dritteil Stimmen für das Land, mit 
Winterthur, gefordert. 

Die Versammlung in Uster erfüllte die Stadt mit Be- 
sorgnissen. Ich brachte den Gedanken zur Sprache, in der 
Stadt eine Versammlung zu berufen, um für die Unab- 
hängigkeit des Grossen Rates einzustehen. Andere ver- 
langten sofortige Bewaffnung der Stadtbewohner. Manche 



cap. 10.} Versammlung in ZCkich. 121 

erregte junge Bürger wollten sich auf den bevorstehenden 
Kampf mit der Revolution rüsten und in diesem Sinne 
einen kriegerischen Stab bilden. Dem widersetzten wir 
uns mit allen Kräften: wir wollten um keinen Preis den 
Bürgerkrieg zwischen Stadt und Land einleiten lassen. In 
den weiteren Kreisen der Bürgerschaft fand der kriege- 
rische Gedanke keinen Beifall. Nur im Interesse der Sicher- 
heit und Ordnung wollte man sich bewaffnen, nicht um die 
fallende Aristokratie zu halten. 

Im Schützenhause fand die Versammlung statt. Es 
waren etwa 400 bis 500 Personen anwesend, auch einige 
Landbürger. Es gab ein heftiges Ringen zwischen den 
beiden Parteien, den kriegerischen Aristokraten und den 
liberalen „Jungen**. Unsere Gesellschaft gewann den Sieg 
schon bei der Bestellung des Vorstandes: Professor Escher 
wurde zum Präsidenten, ich zum Secretär ernannt; sodann 
in der Discussion, in der besonders Keller sich auszeich- 
nete, und in den Beschlüssen und Ausschusswahlen. Es 
wurde entschieden ausgesprochen, dass wir die Verständi- 
gung und nicht den Krieg mit der Landschaft wollen. Die 
Bewaffnung sollte lediglich zum Schutz der Personen und 
des Eigentums gegen Gewaltthat dienen. Der alte General 
Ziegler übernahm, nicht ohne Widerstreben, das Commando. 
Unsere Beschlüsse wurden ohne Verzug gedruckt und über- 
all verbreitet. 

Im Auftrag des Ausschusses reiste ich am Tage 
nachher nach Knonau, wo die Gemeindeammänner und 
Friedensrichter des Bezirks versammelt waren, und sprach 
zu ihnen. Ich fand ihre Stimmung freundlicher und jedem 
revolutionären Vorgehen abgeneigt. Mit dem Oberamt- 
mann Hirzel fuhr ich nach Zürich zurück* Noch war er 



122 Sturz des Grossen Rats. [cap. 10. 

voll Hoffnung, es werde ihm gelingen, den Strom zu be- 
meistern. Aber die Freunde in Zürich waren grossenteils 
entmutigt. Ich machte damals die Erfahrung, dass die 
Meisten mutlos und schwach werden, sobald sie aufgeregte 
Massen sich gegenüber sehen. Auch mein Freund F. Meyer 
erlag der natürlichen Scheu vor den wilderen Volkskräften 
und wurde in der Gefahr geneigt, Güter wegzuwerfen, 
deren Wert er zuvor wohl erkannt und die zu verteidigen 
er sich vorgenommen hatte. Keller behält mehr die ruhige 
Klarheit seines Verstandes und bleibt fester. Ich selbst 
werde um so energischer und entschiedener, je mehr die 
Krisis steigt. Aber ich mache den Fehler, dass ich dann 
zu hitzig vorgehe. 

Am Donnerstag war Versammlung des Grossen Rates. 
Er bewiess durch seine schwache Haltung, dass er nicht 
länger wert war, den Stat zu regieren. Nur Hirzel gab 
ein ehrenhaftes Votum ab, und Keller sprach gut, konnte 
aber keinen Gegenantrag machen, da offenbar ein pani- 
scher Schrecken alle Gemüter gebeugt hatte. Wäre ich 
im Grossen Rate gewesen, so hätte ich auch zu der ver- 
langten Repräsentation zu zwei Dritteilen für das Land 
und einem Dritteil für die Stadt gestimmti aber nicht ohne 
zugleich mich sowohl gegen die Demagogen, als gegen die 
schwache und unverständige Regierung auszusprechen. Die 
Mitglieder vom Lande erklärten sämtlich, sie dürften nicht 
nach Hause, ohne die beruhigende Nachricht von der ge- 
änderten Repräsentation mitzubringen. Da bemerkte ihnen 
der alte Oberrichter Hegnauer von Elgg, der schon 
manche Revolution erlebt hatte, mit Lachen: Wenn sie 
sich fürchteten, so wolle er „allenfalls" mit ihnen nach 
Hause gehen. Die Zweidrittelsmajorität für die Landbürger 



cap. 11.] Politische Srnnumo. 123 

wurde beschlossen und die indirecten Wahlen durch den 
Grossen Rat auf ein Sechsteil vermindert. Der jetzige 
Grosse Rat aber hatte sein Ansehen gänzlich verloren. 
Die Mitglieder vom Lande hatten gedroht, wenn nicht ent- 
sprochen werde, auszutreten. Dann würde in den See- 
gemeinden die Sturmglocke ertönen. Nur vor der Drohung, 
nicht vor den Gründen, wichen die Aristokraten zurück, 
haltlos und zaghaft. 

Damit war der Sieg der Revolution entschieden. Es 
begann nun auch die Zersetzung der bisherigen liberalen 
Partei der Jungen und der Zwiespalt der bis dahin ver- 
bundenen Freunde. 



11. 

Politische Stimmung. Die Yerfassniigscommission. Eine Äusser- 
ung Niebuhrs. Meine Ansichten und Besorgnisse. Wahlspruch 
der Schrift: Das Volk und der Souverän. 

Der, wenn auch verdiente, Sturz des Grossen Rates 
machte auf mich einen tiefen und schmerzlichen Eindruck. 
Ich litt unter den Fortschritten der Revolution gemütlich 
und geistig; gemütlich, weil mein Gefühl für statliche 
Autorität und Ordnung verletzt und meine Besorgnis vor 
den ungezügelten Leidenschaften der Menge gereizt war, 
und geistig, weil mir, dem Jünger und Verehrer der ge- 
schichtlichen Schule, der gewaltsame Bruch der bestehen- 
den Verfassung und der plötzliche Wechsel aller Organe 
der Statsgewalt verderblich schienen, und ich mit Miss- 
behagen bemerkte, wie sehr die verachteten naturrecht- 
lichen Ideen auch in der Schweiz volkstümlich und wirk- 
sam waren. Es kränkte mich, dass die gewünschte Reform 



124 I^iE Verfassüngs-Commissiok. [cap. 11. 

in die verhasste Revolution umgeschlagen habe, und der 
Wein zu Essig geworden sei. 

Es mischten sich so in meine Auffassung ehrenwerte 
Gefühle mit unreifen Urteilen. Meine Stimmung und auf 
Jahre hin auch meine politische Stellung in der Schweiz 
erhielt durch dieselbe ihren Charakter und ihre Signatur. 

Der neue Grosse Rat hatte, soweit ich von aussen 
und in Commissionen sehen konnte, zu denen ich als Se- 
kretär zugezogen wurde, einen bessern Ausdruck, als der 
alte. Die Landleute sahen frischer, kräftiger und freier 
aus, als viele ältliche und philisterhafte Städter, welche 
von jenen nun verdrängt waren. Bald bemächtigten sich 
Hirzel und Keller, jener durch ideale Wärme, dieser durch 
juristische Kälte, der Führung des jugendlichen Körpers. 

Zur Ausarbeitung der neuen Verfassung wurde eine 
Grossrats-Commission gewählt. Statsrat TJsteri, das libe- 
ralste Mitglied der früheren Regierung und der erstge- 
wählte Bürgermeister des neuen Regierungsrats, war Prä- 
sident derselben. Die aristokratische Partei war darin nur 
schwach vertreten, vornehmlich durch den Ratsherrn Rahn. 
Dagegen war die Reformpartei aus der Stadt in Zahl und 
mehr noch der persönlichen Bedeutung nach sehr gut ver- 
treten. M. Hirzel, Keller, v. Meiss, F. Meyer, Ulrich, 
Hess waren Mitglieder. Von Winterthur waren zwei Sul- 
zer darin. Das Land war durch gewichtige Männer reprä- 
sentiert, unter denen Stapf er von Borgen, Brändli von 
Staefa, Gujer von Bauma, Pfenninger von Staefa her- 
vorragten. Als Actuar fungierte F. Meyer. Ihm wurde 
ich als Gehülfe beigeordnet. Noch besitze ich die Notizen 
über die einzelnen Voten der Mitglieder, die ich damals 
niederschrieb, und ebenso das Register über die Masse von 



cap. 11.] Organisation der Gemeinde- Verfassung. 125 

Petitionen, welche von allen Seiten her einliefen. Diese 
Petitionen erinnerten mich an die französischen Cahiers wäh- 
rend des Zusammentritts der Nationalversammlung im Jahre 
1789. Die Wünsche bezogen sich auf alles Mögliche, und 
einer widersprach dem andern. In der Masse Spreu war 
nur wenig Korn zu finden. 

Den grössten Einfluss hatten auch hier Hirzel und 
Keller. Jenem vorzüglich ist die Organisation der Bezirke 
und die Gemeindeverfassung zuzuschreiben, welche sidi 
beide bewährt haben. In den örtlichen Organen des Ge- 
meindelebens lernt der Schweizer zuerst sich in der Selbst- 
verwaltung üben. Da macht er gewissermassen die poli- 
tische Volksschule praktisch durch, und gewöhnt sich an 
die öffentlichen Geschäfte und an die Beachtung gemein- 
samer Interessen. Da jeder Bürger Teil hat an der Ge- 
meindeversammlung, und diese alljährlich mindestens zwei- 
mal berufen wird, um Beschlüsse zu fassen und den Haus- 
halt der Gemeinde zu controlieren, so wird der schlichte 
Bauer und Bürger in der freien Meinungsäusserung geübt, 
und die zahlreichen Gemeindeämter, welche von gewählten 
Bürgern verwaltet werden, regen das Pflichtgefühl an, für 
das Wohl der Gemeinde zu arbeiten. Durch die Trennung 
des Gemeinderats, als des örtlichen Verwaltungsorgans der 
Bürgerschaft, und der Stelle des Gemeindeammanns, als 
eines Statsbeamten in der Gemeinde, wurde die Selbstän- 
digkeit der Gemeinde gefördert. Es blieb aber noch die 
hergebrachte Bürgergemeinde erhalten, welche wie eine er- 
weiterte Familie die bürgerlichen Familien umschloss und 
wesentlich auf der Fortpflanzung des Geschlechts und dem 
Blutsverbande beruhte, im Unterschied von der Einwohner- 
gemeinde, die sich aus der Beweglichkeit des modernen 



126 I^iE NEUE Bezikks-Vebpassüng. [cap. 11. 

Verkehrs und der entscheidenden Wirksamkeit des Wohn- 
orts allmählich neu zu entwickeln begann. In der Bezirks- 
verfassung wurde die Trennung der Verwaltungs- und der 
Gerichtsämter schärfer durchgeführt, als unsere früheren 
Vorschläge wollten. Für jene wurden die Statthalter der 
Bezirke bestellt sammt den Bezirksräten, welche für die 
Vormundschaftspflege und die verwaltungsrechtlichen Strei- 
tigkeiten ihnen beigeordnet wurden; für diese wurden die 
Bezirksgerichte eingerichtet. 

Keller kämpfte fast ausschliesslich für die Unabhän- 
gigkeit der Gerichte und die Hoheit des Obergerichts, als 
dessen künftigen Präsidenten er sich mit gutem Grunde 
erkannte. Er wollte auch grössere Gerichtsbezirke und 
besser besoldete Richter, vermochte aber den Widerspruch 
der populären Meinung, welche umgekehrt eine möglichst 
nahe und wohlfeile Rechtspflege wünschte, nicht zu über- 
winden. Dagegen glückte es ihm, Garantien für die richter- 
liche Selbständigkeit zu erwerben. Für die collegiale Be- 
ratung erwiess er sich als äusserst gewandter Debatter. 
Ich abstrahierte mir damals aus der Beobachtung dieser 
Verhandlungen folgende Regel: „Es ist nicht geraten, eine 
völlig ausgebildete neue Ansicht sofort auszusprechen und 
anzutragen. Die Neuheit regt alle Bedenken auf, und 
leicht wird der Vorschlag von den Einwendungen, die von 
allen Seiten auf denselben einstürmen oder sich an ihn 
anhängen, erdrückt. Besser ist es, an bereits Erörtertes 
anzuknüpfen und nur vorläufig und unbestimmt Neues an- 
zudeuten. So gewöhnen sich die Anderen nach und nach 
an das Neue, das sie zuerst erschreckt. Sie werden ver- 
trauter damit und merken eher auf, wenn sie sich in den 
Bedenken gegen frühere Vorschläge verwirrt haben und 



cap. 11.] Beratungen der Verfassungs-Commission. 127 

einen Ausweg suchen. Dann ist die Zeit da, den neuen 
Gedanken in seinem Zusammenhang aufzudecken, die Gründe 
dafür auszuführen und die Gegengründe zu widerlegen/ 
Nach meinem politischen Gefühl betrachtete aber Keller 
den Stat zu sehr durch die gefärbte Brille eines Civil- 
richters. Es war doch eine Verkennung der organischen 
Natur des States und der auf zweckmässige Förderung 
des öffentlichen Wohls gerichteten Bedürfnisse, wenn er 
den Schwerpunkt aus der Regierung in das Obergericht 
verlegen und von da aus im Grossen Rate den Stat leiten 
wollte. Ich sah damals schon diesen Irrtum wohl ein und 
beklagte es, dass F. Meyer, welcher sich der Regierung 
annahm, die Kraft nicht hatte, seine richtigeren Ansichten 
durchzusetzen. Keller war ihm in der Debatte überlegen 
und wusste auch das Misstrauen der Landleute gegen die 
alte Regierung zur Schwächung der Regierungsinstitution 
auszubeuten. 

Der Winterthurer Professor Eduard Sulzer lavierte 
vortrefflich zwischen Keller und Meyer und unterhandelte 
fein mit jenem. Oft gelang ihm eine Vermittlung; aber 
es überwog doch die Energie Kellers bei dem Compromiss 
über die schüchterne Gediegenheit Meyers. Eduard Sulzer 
äusserte einmal zu mir: „Die Gerichte sollen sou verain wer- 
den, das ist die Tendenz Kellers;" und ich fügte bei: „Aller- 
dings, und KeUer will der Souverain des Souverains werden.** 

Der andere Sulz er, Amtsrichter von Winterthur, 
hielt im Herzen zu den Alten und war absolutistisch ge- 
sinnt, wenngleich mit einem Zuge von traditioneller Ab- 
neigung gegen die Stadt Zürich; aber er besass einen guten 
hausbackenen Verstand und hüllte seine oft kernhafte Mei- 
nung in einen Schwall von leeren Worten ein. 



128 Tavts: Äüssebunq Niebuhrs. [cap. 11. 

Der Ratsherr Rahn bekannte nun liberale Grundsätze, 
die er innerlich verabscheute, und gab leicht der Tages- 
strömung allgemeine Prinzipien preis, wie wenn sie doch 
nichts zu bedeuten hätten; machte aber im Einzelnen und 
Kleinen eine wenig fruchtbare Opposition. 

Von den Landleuten gefiel mir besonders Gujer durch 
seinen redlichen Eifer und seine Lernbegierde, durch sei- 
nen raschen Verstand und durch sein glänzendes Auge. 
Stapf er war der echte Vertreter des verständigen und 
biedern Mittelstandes. 

Der Präsident Usteri beschränkte sich auf die for- 
melle Leitung der Revision. Er dachte offenbar im Stillen 
an die Reform der schweizerischen Bundesverfassung, die 
folgen müsse, und bemühte sich mehr, die Bewegung zu 
fördern als zu zügeln. 

Mit gemischten Empfindungen und kühler Kritik be- 
trachtete ich das neue Verfassungswerk. Wenngleich es 
mir persönlich günstige Aussichten darbot, hatte ich doch 
keine volle Freude daran. Ohne Zweifel hatte der Ab- 
scheu, welcher mir von meinen deutschen Lehrern gegen 
alle Revolution eingepflanzt worden war, einen erheblichen 
Anteil an meiner Stimmung. Niebuhr, dem ich meine 
Schrift über die Züricher Verfassung zugeschickt hatte, 
äusserte mir in einem Briefe seine düstere Meinung von 
der Zukunft, welche ihn nach der Julirevolution und vor 
geinem Tode mit Schmerz erfüllte, in den stärksten Wor- 
ten: „Meine ganz entschiedene Überzeugung, dass uns Ver- 
wilderung nach äusserstem Elend bevorsteht, ist in der 
Vorrede des zweiten Bandes der Geschichte ausgesprochen. 
Bei Ihnen wird es ein trübseliges Wesen werden, da die 
Rohheit, unschädlich in grossen Landsgemeinden, in den 



cap. 11.] Ansichten und Besoronissb. 129 

Räten überwältigend herrschen wird. Dabei kann den 
Leuten doch nicht wohl werden, und so muss Revolution 
auf Revolution gegen die Personen folgen." 

Ganz so finster erschien mir die Aussicht in die Zu- 
kunft doch nicht; der junge Mann konnte nicht ebenso alle 
Hoffnung fallen lassen, wie der lebensmüde Greis, der sich 
zum Sterben neigte. Aber dass auch mich damals zuweilen 
sehr trübe Gedanken beschlichen, zeigen die folgenden Aus- 
züge aus meinem Tagebuch. 

Januar 1831. 

„Die meisten Menschen haben keine Grundsätze, son- 
dern blosse Manieren. Die Angewöhnung, nicht die Er- 
ziehung hat sie gebildet.'' 

„Es ist mir unbegreiflich, wie der edle H. schwärmen 
kann in süssen Träumen von Wahrheit, Weisheit, Geist, 
die immer mehr im Volke und durch das Volk zur Herr- 
schaft gelangen. Unter Volk verstehen sie die unwissende 
Menge, die im Geld allein ihr Heil erblickt und sich nichts 
um die Ideen kümmert. Diese Menge ist noch lange nicht 
reif, um selber zu regieren ; sie muss regiert werden durch 
die Einsicht." 

„Die Volkswünsche für die neue Verfassung sind 
grossenteils gierige Bettlerwünsche. Die guten Petitionen 
sind selten und dann nur von Einem unterzeichnet, die 
schlechten haben hundert Unterschriften. Die besten Pe- 
titionen sind kurz, die schlechten lang. Jene enthalten 
einen einzigen oder nur wenige Artikel, diese häufen alle 
möglichen Wünsche." 

„Unsere Demagogen zeigen eine wahre Zerstörungs- 
wut. Wer weiss, ob nicht Manche von ihnen während 
des wilden Taumels gezeugt worden sind, welchen die 

Bluutschli, Dr. J. C, Aus raeinom Lebern. I. q 



130 Ansichten und BESOROKisdE. [cap. 11. 

französische Revolution der Neunzigerjahre in den erhitzten 
Gemütern aufgeregt hatte, so dass ihr Geist da schon den 
Impuls empfing zu dieser Zerstörungslust." 

„Der kalte Verstand ist revolutionär. Er sondert, 
schneidet, spielt mit der Welt und mit Gott, baut auf und 
reisst wieder nieder." 

„Halbtalente sind oft hündisch frech. Da wedeln sie 
hinter dem Herrn her und bellen jeden Fremden an, den 
sie nicht verstehen. Dafür gibt ihnen der Herr die Ab- 
falle seiner Tafel." 

Februar 1831. 

„Ich fühle in der trüben Zeit, wie sehr mein Sinn und 
meine Liebe an den schönen Erzeugnissen des menschlichen 
Geistes, an den Formen des States und an der Ordnung 
der Freiheit hängt, wie unglücklich mich die wilde Zer- 
störung und das Zertreten alles Bestehenden machen. Jahre 
lang kann man die edlen Pflanzen freisinniger Institutio- 
nen sorgsam pflegen und die edelsten Geisteskräfte ihrer 
Entwickelung weihen. Dann kommt auf einmal das wü- 
tende Heer der Begierden und Leidenschaften, zertritt die 
zarten Pflanzen und säet Unkraut, welches keiner Pflege 
bedürfe, sondern sich selber genüge in wilder Freiheit und 
üppig gedeihe." 

„Wenn Staten in Krankheit fallen und untergehen, 
dann mag auch den Einzelnen die Neigung anwandeln, 
mit ihnen unterzugehen." 

„Das Schicksal der Schweiz wird durch den Krieg 
der europäischen Mächte und nicht durch unsere Kämpfe 
entschieden werden. Sollte man nicht bei solcher Über- 
zeugung das Unabwendbare ruhig erwarten können? Den- 
noch nagt die Erfahrung der Gegenwart an der heitern 



cap. 11.] Ansichten und Besorgnisse. 131 

Frische meiner Jugend und umdüstert mir zuweilen den 
Geist mit finsterm Grame.** 

März 1831. 

„Um die Burgen der Ritter sammelten sich Dörfer, 
Flecken, Städte und fanden anfangs Sicherheit unter ihrem 
Schutz. Aber der Sohn verdrängte mit der Zeit den altern- 
den Vater. Die Städter brannten die Burgen ab, die nun 
ihren Verkehr bedrohten, und lebten fröhlich fort unbe- 
kümmert um die verfallenden Trümmer." 

„Die erste Geisteskraft, die in dem jungen Leben des 
Kindes erblüht, ist die Phantasie. So ist es auch in dem 
ersten Leben der Völker. Ihre Phantasie freut sich der 
bunten Bilder, der wundersamen Mährchen und Sagen, der 
tiefen Mythen. Mit den Menschen leben die Götter in ver- 
trautem, freundlichem Verkehr." 

Mai. 

„In grossen Staten hat jede Thätigkeit ihren eigenen 
Träger, jedes Organ seine eigene Gliederung. In der be- 
lebten Maschine des kleinen States dagegen muss dasselbe 
Rad vielerlei Kräfte in Bewegung setzen und Eine Feder 
Verschiedenes leisten." 

„Ein zürcherischer Statsmann äusserte jüngst: „Zu- 
erst Freiheit, dann Gerechtigkeit." In diesem inhaltschwe- 
ren Wort liegt die ganze Lehre des Radikalismus. Voran 
muss die Freiheit, nachfolgen mag dann die Gerechtigkeit. 
Was ist aber eine Freiheit, die vorher der Gerechtigkeit 
nicht bedarf, sich um das Recht nicht kümmert, was an- 
ders als die Willkühr der Selbstsucht und die zügellose 
Leidenschaft? Diese Freiheit verzehrt sich am Ende selbst 
in wilder Gier, nachdem sie alle anderen Rechte zerstört 
hat." Den Gegensatz zu dieser radicalen Meinung sprach 

9* 



132 ^^^ STATSBECHTLlCHE ScHKIFT: [cap. 11. 

ich später deutlicher durch den Wahlspruch aus, den ich für 
mein Leben als Richtstern erkor: „Gerecht und frei." 

Juni. 

„Ein grosser Kunstgriff Kellers, der selten die Wir- 
kung verfehlt, besteht darin, dass er, um seine Vielen 
missfällige oder allzu gefährlich scheinende Meinung durch- 
zusetzen, vorerst noch eine verhasstere oder noch mehr 
gefürchtete Meinung zur Sprache bringt, vor der er ein- 
dringlich warnt, als könnte sie wider seinen Willen den 
Sieg erringen. Dann glauben die Leute, indem sie ihm 
beistimmen, sie ziehen das kleinere Übel dem grösseren vor." 

„Unsere Revolution unterscheidet sich von den an- 
deren wesentlich durch den wissenschaftlichen Geist, wel- 
cher in die verworrene Volksrichtung gebracht wurde. Sie 
wurde, ohne dass die Gefährten es merkten, eine juristische. 
Die Macht der Bildung unterwarf die rohe Materie. Das 
ist unbestreitbar das Verdienst Kellers." 

„Ich hoffe von Preussen eine neue, volksgemässe 
Statenbildung. Preussen entwickelte sich allmählich von 
Innen heraus, geleitet von dem Licht der Wissenschaft. 
Seine Beamtung ist die gebildetste und seine Armee die 
bestorganisierte und volkstümlichste." 

Ich hatte die Überzeugung gewonnen, dass die Massen, 
von dem Dünkel der Souveräne tat berauscht, sich einbil- 
den, sie haben die Macht und das Recht, Alles, was sie 
wünschen und verlangen, kraft souveräner Willensäusser- 
ung zum Gesetz und zu Recht zu machen. In diesem 
Souveränetäts-Schwindel der Menge glaubte ich die Haupt- 
ursache der politischen Missgriffe und Unsicherheit zu er- 
kennen, und ich entschloss mich zu dem Wagnis, den- 
selben zu bekämpfen. Um diesem gefährlichen Wahn ent- 



cap. 11.] Das Volk und der Souverän. 133 

gegenzutreten und zunächst die Gebildeten aufzuklären, 
verfasste ich in jener Zeit die statsrechtliche Schrift: „Das 
Volk und der Souverän im Allgemeinen betrachtet und 
mit besonderer Rücksicht auf die schweizerischen Ver- 
hältnisse" (Zürich bei Orell, Füssli und Comp. 1831). 

Ich versuchte vorerst einige statliche Grundbegriffe 
zu beleuchten. Voraus den Begriff des Volkes, im Gegen- 
satze zu der blossen Gesellschaft von Einzelnen. Volk 
heisst nicht eine beliebige Menge von Individuen, die sich 
irgendwie an einander anreihen, sondern Volk ist ein natur- 
gemässes Ganzes, ein Gesamtwesen mit einem bestimmten 
Charakter und Geist und einer Lebensgeschichte, die nach 
Jahrhunderten, nicht, wie das Leben der Einzelnen, nach 
Jahren zu bemessen ist. Das Volk ist die Gesamtperson, 
welche im State sich ihren Körper gebildet hat. Volk und 
Stat gehören zusammen; sie sind Eine Person. Das Volk 
ist die Substanz, gleichsam der beseelte Stoff des States; 
der Stat ist die Form, die Organisation des Volkes. Die 
Regierung und die Regierten zusammen bilden das Volk. 
Nur uneigentlich und in secundärem Sinne wird auch der 
eine Teil, die Gesamtheit der Regierten, Volk genannt und 
dem Statshaupte, das doch nicht ausserhalb des Volkes, 
sondern nur an der Spitze des Volkskörpers ist, entgegen- 
gestellt. 

Wenn ich sodann der unstatlichen Menge, der Ge- 
sellschaft, jede Souveränetät absprach, und ebenso es für 
eine Thorheit erklärte, der Masse der Regierten im Gegen- 
satze zur Regierung souveräne Gewalt zuzuschreiben, so 
waren das unwiderlegliche Wahrheiten, welche die land- 
läufigen Vorstellungen von Volkssouveränetät verscheuchten. 
Aber indem ich die souveräne Gewalt ausschliesslich dem 



134 ^^^ Souverän in den Demokratien. [cap. 11. 

obersten Organ im State, dem Statshaupte, als dem Offen- 
barer des Statswillens zuschrieb, war ich doch noch in der 
damals herrschenden Theorie der deutschen Rechtswissen- 
schaft befangen, welche nur die Souveränetät des Monar- 
chen kannte, und kam mit den republikanischen Vorstel- 
lungen und Sitten in*s Gedränge, welche die Regierungs- 
gewalt als abgeleitet von der Gesetzgebung dachten und 
daher jener keine souveräne Stellung und Würde zu- 
schrieben. In den schweizerischen Demokratien erklärte 
ich die Landsgemeinde für den Souverän, in den reprä- 
sentativen Cantonen den Grossen Rat, als den Gesetzgeber 
des Landes und der auch die Oberaufsicht habe über die 
Regierungsbehörde. Die demokratische Statsform, wie sie 
in den kleinen Bergeantonen in Übung war, hielt ich 
für eine kleine einfach lebende Völkerschaft, deren Sitten 
und Anschauungen gleichartig seien, als ganz geeignet, 
aber verglichen mit der Repräsentativverfassung, welche 
für grössere Völkerschaften mit reicheren Culturgegensätzen 
und höherer Bildung unentbehrlich sei, für eine untere, 
noch rohe Stufe in der Statenbildung, und nicht, wie Viele 
wähnen, für das höchste Statsideal. Weil in der Lands- 
gemeinde alle Landleute beisammen sind und abstimmen, 
wird es ihnen oft schwer, ihre Privatwünsche dem Stats- 
bedürfnis unterzuordnen, und werden sie leicht verleitet, 
ihre persönliche Willkür als Statswillen auszusprechen. 
Daher schwanken sie oft zwischen Anarchie und Despotis- 
mus hin und her. Ich verglich die Demokratie mit den 
niederen Bildungen der Tiergattungen, die noch keinen 
ausgebildeten Kopf von dem Rumpf unterscheiden und die 
Functionen des Kopfes über den ganzen Leib ausbreiten. 
Mit Wärme sprach ich mich, im Gegensatze zu Rousseau, 



cap. 11.] Die repbäsentativen Statsformen. 135 

für die repräsentativen Statsformen aus. Ich sehe 
darin einen grossen Fortschritt der modernen StatenbiK 
düng im Gegensatz zum Mittelalter wie zu den antiken 
Staten, einen Fortschritt, welcher vorzüglich der germani- 
schen Liebe zur Freiheit und den germanischen — zuerst 
von den Engländern ausgebildeten — Sitten zu verdanken 
sei. Die repräsentative Monarchie, welche den Stat 
zu einem echten Freistat macht, ohne ihn seiner Einheit, 
des Königs, zu berauben, und die repräsentative Re- 
publik erklärte ich für die beiden vorzugsweise für civi- 
lisierte Völker passenden, zugleich Freiheit und Ordnung 
schützenden Statsformen der Neuzeit. Die Zeit der schwei- 
zerischen Patricier- und Stadtbürger- Aristokratien war vor- 
über; es konnte nur die Repräsentativverfassung die heu- 
tige Bevölkerung befriedigen. 

Der Grosse Rat besass unzweifelhaft souveräne Be- 
fugnisse. Er war der Stellvertreter des Volks und das 
höchste Organ des Statswillens. Nichts hinderte, ihn eine 
souveräne Behörde zu nennen. Aber auch der Grosse Rat 
leitete doch seine Autorität ab von dem Volke, dessen Ver- 
treter er war. Im Namen des Volkes sprach er den Stats- 
willen und das Gesetz aus, nicht kraft eigenen Rechts. Ich 
gab zu, dass seine Souveränetät von dem Volke komme, 
dass sie in der Idee auf dem Volke ruhe. Aber ich 
bestritt, dass man deshalb das Volk Souverän nennen 
dürfe; ich bestritt das, weil ich die Ausdrücke Souverän 
und Statshaupt für gleichbedeutend hielt, und in der re- 
präsentativen Republik das Volk nicht selber Haupt war, 
sondern in dem Gesetzgeber ein höchstes Organ des Stats- 
willens, ein Haupt hervorgebracht hatte. 

Wenn mir schon damals klar gewesen wäre, dass 



136 Reformatorische Gedanken. [cap. 11. 

man nicht bloss dem Statshaupte, sondern auch dem State 
als einem ganzen Körper, als einer lebendigen mit Willen 
und Rechtsmacht begabten Person Souveränetät zuschreiben 
muss, so hätte ich mich leichter mit den besseren Köpfen 
unter den Gegnern verständigen können und weniger An- 
stoss und Widerspruch erregt. In meiner Schrift waren 
manche beherzigenswerte Wahrheiten verfochten, aber in- 
dem ich als Greis auf die Jugendarbeit zurückblicke, ist 
mir doch begreiflich geworden, dass die noch unreife Stats- 
lehre in einer Zeit, welche mit Nachdruck eine Verbreitung 
und Stärkung der Volksfreiheit und der Volksrechte an- 
strebte, die Geister nicht überzeugen und nicht befriedigen 
konnte. Mein politischer Mut war grösser als die poli- 
tische Einsicht. 

Die Schrift brachte überdem auch einige reforma- 
torische Gedanken zur Sprache. Sie verlangte die Fort- 
bildung der schweizerischen Bundesverfassung, nicht im 
Sinne eines Einheitsstates, dem die ganze Geschichte der 
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Gegensatz der 
deutschen und französischen Nationalität widerstreben, wohl 
aber im Sinne eines Bundesstates, welcher die auswär- 
tigen Beziehungen, das Militärwesen, den Handel und Ver- 
kehr zwischen den Cantonen und mit dem Auslande durch 
gemeinsame Gesetze und Institutionen ordne und verwalte. 
Ich sprach auch das Verlangen aus nach schweizerischen 
Anstalten für die Wissenschaft — einer schweizerischen Aka- 
demie und einer schweizerischen Universität, und wünschte, 
dass wenigstens einzelne Gruppen von Cantonen sich zu- 
sammenschlössen zur Herstellung gemeinsamer Strafanstal- 
ten und eines gemeinsamen Cassationshofes. 

Die schweizerische Kritik wurde durch die Schrift 



cap. 12.] Aufnahme der Schrift. 137 

lebhaft angeregt. Es erschienen mehrere ausführliche Ke- 
censionen, auch eine besondere Brochüre als Gegenschrift, 
welche für die alte Theorie des Contrat Social eintrat. Ein 
Mitglied der neuen Regierung, Eduard Sulzer, hielt sich 
für berufen, mich zurechtzuweisen. Ich entgegnete ihm in 
einem scharfen, öffentlichen Sendschreiben. Im Allgemeinen 
wurde die Schrift von den höher Gebildeten günstig be- 
urteilt; aber die Farben der Parteien übten doch auch 
einen erheblichen Einfluss auf das Urteil. Den Anhängern 
der alten Aristokratie und den Verehrern der fi'üheren Zu- 
stände war die Schrift viel zu liberal und reformatorisch. 
Den Radikalen umgekehrt kam dieselbe, wenigstens zum 
Teil, aristokratisch und reactionär vor. Mich erfreute die 
Wahrnehmung, dass vorzüglich von den Extremen die 
Schrift getadelt, von den Gemässigten und Liberalen ge- 
lobt werde. Aber bezeichnend für die deutschen Press- 
zustände jener Zeit war es, dass das Königlich Preussische 
Ober-Censur-Collegium durch Erlass vom 3. Sept. 1831 
zwar den stillen Debit der Schrift der Nicolai*schen Buch- 
handlung gestattete, aber die öffentliche Ankündigung der- 
selben „aus Gründen" versagte. 



12. 

Heirat. Das Amt des Gerichtsschreibers und Notars. Spaltnng 
Tinter den Jüngeren. Die Partei der Gemässigten oder Frei- 
sinnigen. Im grossen Stadtrat. Städtische Reformen. Ange- 
merkte Gedanken und Eindrücke. 

Am 7. März 1831, an meinem vierundzwanzigsten 
Geburtstage, ward ich mit Emilie in der Kirche zu Bülach 
getraut. Mein Freund Müller hielt die sinnige Traurede 



138 Heirat. [cap. 12. 

und segnete die junge Ehe. Ich hatte diesen Tag er- 
sehnt, an dem für mich ein neues Leben begann. Den- 
noch wechselten die Gefühle zwischen heiterer Freude und 
schmerzlichem Ernste, wie die Witterung des Tages zwi- 
schen Regen am Morgen und Sonnenschein während der 
kirchlichen Feier. Wie das Schiflf, das in dem erstrebten Ha- 

m 

fen anlandet, einen Stoss empfindet, so erfahrt der Mensch, 
der eine frühere Lebensperiode abschliesst und eine neue 
anfangt, einen Schmerz, der jedoch bald wieder verschwindet. 

Ich fühlte mich glücklich in der Ehe. Sie war mir die 
verklärte und geweihte Liebe, das Heiligtum eines Doppel- 
lebens. Ich erfuhr es nun noch mehr als zuvor, um wie 
vieles inniger die Verbindung des Mannes mit der Frau 
ist, als die Liebe des Freundes zum Freunde. 

Infolge der neuen Statsverfassung vom 31. März 1831, 
welche durch Abstimmung der gesamten Statsbürgerschaft 
des Cantons mit einer Majorität von 40,503 Stimmen gegen 
1721 genehmigt worden war, gab es grosse Änderungen 
in den neugewählten obersten Behörden. Mein Freund 
F. Meyer und M. Hirzel wurden Mitglieder der neuen 
Regierung, der Amtsrichter Keller und der bisherige Ober- 
amtmann V. Meiss Präsidenten des neuen Obergerichts, 
der Amtsgerichtsschreiber Dr. Finsler Präsident des neuen 
Bezirksgerichtes Zürich. Ich wurde nun zu seinem Nach- 
folger gewählt. So wurde ich als Gerichtsschreiber und 
als beratendes Mitglied dieses Gerichts und zugleich als 
Notar der Stadt und Führer der Grundprotokolle in die 
juristische Praxis eingeführt. 

Diese Stelle interessierte mich anfangs sehr. Sie er- 
öflftiete, wie kaum eine andere, den Einblick in das mannig- 
faltige Rechtsleben der Menschen. Ich sah nun alle die 



cap. 12.] Das Amt des Gerichtsschkeibebs und Notabs. 139 

feinen Verzweigungen der lebendigen Rechtsverhältnisse. 
Was zuvor der Theorie wie ein kalter, lebloser Begriif sich 
dargestellt hatte, das gewann nun durch die lebensvolle 
That eine practische Anschaulichkeit und Bedeutung. Nun 
erst lernte ich das Zürcherische Recht allmählich besser 
kennen und begreifen. Noch war dasselbe wissenschaft- 
lich nur wenig bearbeitet, geschichtlich gar nicht erforscht. 
Einige Vorarbeiten waren wohl vorhanden, aber nur in den 
Anfangen. Hier war noch das Meiste neu zu thun. Es 
war mir eine lockende Aufgabe, wissenschaftliche Studien 
über dieses Recht zu machen. Das noch wilde, unbebaute 
Feld verhiess dem jungen Ansiedler reichliche Früchte. 

Auch die eigentümliche, vorzüglich durch Keller ein- 
geführte Form der Urteile reizte mich. Ein gutes Urteil 
kam mir wie ein kleines Kunstwerk vor. Wie nicht leicht 
eine andere Form der Rede oder Dichtung bildete es ein 
wohlgegliedertes einheitliches Ganzes, dessen Teile, die 
Rechtsfrage und das entscheidende Urteil darüber, die 
thatsächliche Grundlage des Streitfalls und die juristische 
Erwägung sich auf einander bezogen. Der Ausdruck musste 
scharf und bestimmt sein, er durfte -nichts überflüssiges, 
nichts zweideutiges zulassen. Die ursprüngliche Verwirrung 
der factischen Verhältnisse musste sich lösen in verständig 
gesonderte Gruppen und klare Linien. Dann kam das 
Licht des juristischen Gedankens und erhellte die dunklen 
Beziehungen und schloss das fragende Rätsel auf. Es er- 
gab sich die Antwort auf die ursprüngliche Frage mit 
logischer Notwendigkeit. Als Gerichtsschreiber hatte ich 
viele solche Urteile zu redigieren. War die Arbeit ge- 
lungen und zugleich den wissenschaftlichen Juristen ge- 
nügend und für das grosse Publikum verständlich und 



140 Spaltung üntfb den Jüngeben. [cap. 12. 

< 

plausibel, so genoss ich ein ähnliches Vergnügen, wie der 
Dichter, dem ein untadelhaftes Sonett geglückt war. 

Die Stelle eines Gerichtsschreibers und Notars war 
auch ökonomisch gut ausgestattet, besser sogar als die 
des Gerichtspräsidenten. Auf der Gerichtskanzlei arbeitete 
auch eine Anzahl Freiwilliger. Dieselbe diente als eine 
practische Übungsschule für juristische Anfänger. Man- 
cher spätere Oberrichter erhielt da seine Ausbildung. Ich 
kam nun auch mit manchen tüchtigen Juristen vom Lande 
in nähere und freundliche Berührung, so mit dem Gerichts- 
schreiber von Regensberg, Rüttimann, der mit ungewöhn- 
lichem Eifer sich als Autodidakt der Rechtswissenschaft 
weihte, mit Gerichtsschreiber Huber von Stäfa^, mit dem 
jungen UUmer und anderen. 

Dennoch war ich von Anfang an nicht gesonnen, sehr 
lange in diesem Amte zu verharren. Meine Natur ver- 
langte nach grösserer Freiheit und nach mehr Bewegung, 
und vor allen Dingen genügte diese oft kleinliche und ein- 
förmige Praxis meinem wissenschaftlichen Streben nicht. 
Sie gewährte keine Müsse zu weiteren Studien, und ich 
wollte nicht auf letztere verzichten. Daher betrachtete ich 
diese Berufsthätigkeit als eine Durchgangsstufe, nicht als 
Ziel meines Strebens. 

In der früher einigen Reformpartei der sogenannten 
Jüngeren war infolge der Revolution eine Spaltung einge- 
treten. Einige der ersten Führer, M. Hirzel und Keller, 
hatten sich an die Spitze der Bewegung gestellt, jener 
mehr seiner idealen Begeisterung vertrauend, dieser eher 
mit kühler Berechnung. Sie wurden von der Gunst des 
Landes emporgehoben und gelangten in den Besitz der 
öffentlichen Gewalt. Am meisten kränkte es mich, dass 



cap. 12.] Verbitterung der Parteien in Basel. 141 

Keller, der geistig den gewöhnlichen Radicalismus ver- 
achtete, sich nun zum Haupt der radicalen Pai'tei erheben 
liess. Er spielte mit den Menschen, und dieses Spiel schien 
mir unwürdig. Es trat zwischen ihm und mir eine Span- 
nung ein. Den Bruch aber suchten wir beide zu ver- 
meiden. 

Der andere Teil der Jüngeren, wie vorzüglich F. Meyer, 
Dr. Finsler, Oberrichter Ulrich, kamen nach und nach aus 
Widerwillen gegen die roheren und radikaleren Elemente 
in der herrschenden Bewegungspartei in eine oppositionelle 
Stellung. Die früheren Freunde wurden so in ein radikales 
und ein conservatives Lager geschieden. Die Einen hatten 
die Mehrheit der Landbevölkerung und daher des Grossen 
Rates für sich. Auch in der Regierung und im Obergericht 
hatten sie eine herrschende Autorität. Die Anderen stützten 
sich vornehmlich auf die Gesinnung der Hauptstadt und 
fanden in der Stadtgemeinde und den städtischen Räten 
einen Halt. Die Ersteren waren zuweilen genötigt, der 
misstrauischen Stimmung des Landes gegen die Stadt und 
den Launen und Leidenschaften ihrer Parteigenossen Zu- 
geständnisse zu machen. Die Letzteren konnten der über- 
lieferten Vorurteile und der absolutistischen Neigungen, die 
in der Stadt noch eine Macht hatten, nicht immer Meister 
werden. 

Die Revolutionskämpfe in dem Canton Basel zwischen 
der Stadt und der Landschaft, die schliesslich zu einer 
Trennung beider in zwei Halbcantone führten, trugen sehr 
viel bei zu der gegenseitigen Entzweiung und Verbitterung 
der Zürcherischen Parteien. Da zeigte sich*s handgreiflich, 
wie gefährlich für den Stat die Leidenschaft zweier Par- 
teien sei, welche sich zugleich als Stadt und Land örtlich 



142 I^i^ Partei deb Gemässigten in Zürich. [cap. 12. 

unterscheiden, und daher sich auch statlich trennen konnten. 
So schroff waren die Zürcherischen Parteien nicht gegen 
einander. Es war nun doch ein Glück, dass die Zürche- 
rische Landschaft ihre ersten Führer unter den Stadtbür- 
gern fand, und dass in der Stadt Zürich die junge Schule 
der Reformfreunde an der Verbindung von Stadt und Land 
grundsätzlich festhielt. In Basel waren weit mehr die ex- 
tremen Richtungen zur Herrschaft gelangt. Aber die Sym- 
pathie mit den Einen und die Antipathie gegen die An- 
deren fanden doch auch im Canton Zürich einen lebhaften 
Anklang. 

Ich litt sehr unter dem Gebahren der beiden mir 
verhassten Extreme und klagte viel über die rohe Ver- 
wilderung der Radicalen und die starre Beschränktheit und 
den thörichten Hochmut der „Zöpfe". In Zürich hielt ich 
mich entschieden zu der conservativen Gruppe der früheren 
Reformfreunde; aber ich wusste und verhehlte es nicht, 
dass meine Herzensneigung liberal sei. 

In Nachbildung der von Casimir Perier in Frankreich 
begründeten Partei des Juste milien nannte sich diese 
Zürcherische Partei „die Gemässigten". Mir missfielen 
beide Namen, weil sie keinen eigenen Gedanken ausspra- 
chen, sondern sich von den extremen Parteien nur durch 
ihre Scheu unterschieden, zum Äussersten consequent vor- 
zugehen. Ich hätte den Namen „die Freisinnigen" vor- 
gezogen, und versuchte es in einem politischen Aufsatze, 
den Charakter dieser Partei positiv zu bestimmen. Sie 
sollte sowohl der radikalen Partei entgegentreten, welche 
nach Umwälzung und Neuerung gierig durch einseitige 
Bewegung den sichern Bestand des States gefährde, als 
auch der aristokratischen, welche einseitig das Bestehende 



Cap. 12.] SiEBENEK CONCORDAT UND SaRNER BuND. 143 

erhalten wolle und den Fortschritt des States hemme. Wie 
im State beide Elemente vorhanden und nötig seien, so 
sollte diese dritte mittlere Partei „eine zeitgemässe, dem 
Culturzustande des Volkes angemessene, organische und 
allmähliche Entwickelung des Statslebens anstreben." 
Es war damit ein principieller Standpunkt gewonnen, der 
nicht von den Extremen abhängig wai\ Aber die verfüg- 
baren Kräfte waren zu schwach für die grosse Aufgabe. 
Die Zeit begünstigte mehr die Extreme. 

Die Partei hatte ein eigenes Blatt gegründet, den 
„Vaterlands freund", bei dessen Redaction ich mich be- 
teiligte. Aber wenn gleich Männer von Geist und Ansehen 
Mitarbeiter waren, wie die Professoren Orelli, H. Escher, 
Hot tinger, so konnte die Zeitung doch nicht dem radi- 
kalen „Republikaner", der von Snell geschickt redigiert 
war, die Wage halten. Sie fand auf dem Lande wenig Ver- 
breitung und ging schon im Jahr 1832 wieder ein. Der 
Charakter des Blattes war redlich, wahrheitsliebend, pa- 
triotisch, aber auch beschränkt, ängstlich, ohne Schwung 
und dürftig in den Ideen. 

Das Jahr 1832 trieb die Gegensätze schärfer her- 
aus und war dem Radikalismus günstig. In der Schweiz 
schlössen sich die Cantone, welche eine Bundesreform an- 
strebten, in dem sogenannten Siebener Concordat enger 
zusammen, ein liberal-radikaler Sonderbund innerhalb der 
eidgenössischen Bundesverfassung. Auch der Canton Zürich 
trat demselben bei. Diesem Bündnis entgegen entstand der 
Sarner Bund, in welchem die Anhänger des alten Bun- 
des zusammenstanden. Beide Teile dachten an Gewalt und 
rüsteten sich. An Macht waren die Siebener den Sarnern 
überlegen, diese konnten sich eher auf das geschichtliche 



144 ^^ GROSSEN Stadtrat. [cap. 12. 

Recht stützen. Die Zeit war jenen günstig, aber nicht in 
dem Grade, um die Bundesreform im Frieden durchzu- 
setzen. Für den Canton Zürich hatten diese eidgenössi- 
schen Parteibildungen die Folge, dass die conservativ ge- 
sinnten Mitglieder der Regierung austraten und durch Li- 
berale und Radikale ersetzt wurden. 

Da ich durch mein jugendliches Alter von dem Grossen 
Rate ausgeschlossen war, so konnte ich diesen Kämpfen 
nur aus der Ferne zuschauen. Dagegen erölftiete mir die 
Stadtverfassung einen engern Bereich politischer Thätig- 
keit. Ich wurde in den Grossen Stadtrat gewählt und 
nahm nun Teil an den städtischen Angelegenheiten. Hier 
konnte ich eher meiner liberalen Natur gemäss für Re- 
formen wirken, ohne Furcht, dass dieselben in die Revo- 
lution ausarteten. In der Stadt hatte man nicht, wie in den 
cantonalen Angelegenheiten, mit den Radikalen zu kämpfen 
— diese hatten da wenig Anhang und keine Autorität — , 
sondern eher mit den absolutistisch gesinnten Verehrern 
des Alten und mit der philisterhaften Beschränktheit. 

Ich wollte dahin wirken, dass die Stadt durch Stei- 
gerung ihres inneren Lebens, durch Hebung der Industrie 
und der Gewerbe, durch höhere Ausbildung und sorgfaltige 
Benutzung der geistigen Kräfte wieder die erlittenen Ver- 
luste an äusserer Machtstellung ersetze. Die Stadt sollte 
grösser, ihre Bürger reicher, ihre öffentlichen Anstalten 
sollten vollkommener werden: das war mein Bestreben. 
Zu diesem Zwecke sollte auch die Aufnahme neuer Bürger 
erleichtert werden. Ich wünschte, dass das Bürgerrecht 
tüchtigen Männern geschenkt und angesehene Landleute 
dadurch geehrt werden. Indessen schon diese Bemühun- 
gen sliessen auf unüberwindliche Schwierigkeiten, und nur 



cap. 12.] Antrage auf städtische Reformen. 145 

wenige Anträge der Art fanden einigen Beifall Meinem 
Hauptplan, den Stadtbann auf die ringsum anstossenden 
Gemeinden auszudehnen und mindestens das alte Weich- 
bild der Stadt dieser einzuverleiben, standen sowohl die 
altbürgerlichen Vorurteile der Stadtbürger, als das Miss- 
trauen der Radikalen entgegen, welche das Wachstum der 
Stadt für eine Gefährdung ihrer Herrschaft hielten und 
überall das Gespenst der Reaction zu sehen meinten. Mei- 
ner Meinung nach war die Reaction nirgends weniger zu 
fürchten als in Zürich. Es fehlte ihr beides, die Führer 
und das Gefolge. Die Bürger waren allerdings den Per- 
sonen der neuen Regierung nichts weniger als zugethan 
und übten gerne eine unfreundliche Kritik über die Hand- 
lungen derselben. Aber sie waren zufrieden damit, ihrer 
Stimmung durch stechende, spitze Worte Ausdruck zu ge- 
ben, und dachten nicht entfernt daran, die früheren Zu- 
stände zurück zu erobern, oder den haimlosen Tadel durcl^ 
feindliche Thaten zu bekräftigen. 

In meinem Tagebuch merkte ich in dieser Zeit unter 
Anderem Folgendes an: 

Im November 1832: „Alle Kräfte des Friedens wer- 
den aufgeboten, diesen zu erhalten, die Furcht vor dem 
Kriege allein kann uns vor demselben retten. Die Diplo- 
matie entwickelt alle ihre Talente, um durch den Schein 
des Krieges diesen zu beseitigen." (Belagerung von Ant- 
werpen.) 

„Die romanischen Staten sind in der Auflösung be- 
griffen. Das grosse Leben der Staten wird zersplittert in 
eine Masse von Einzelleben, die alle nur sich und ihre 
Interessen, nicht das Ganze vor Augen haben. Die ger- 
manischen Staten dagegen haben eine eigentümliche, frische 

Bluntschli, Dr. J. C, Ans meinem Leben. I. ]^Q 



1^46 Anoemebkte OtedakkeN" [cap. 12. 

und unverbrauchte Lebenskraft. Ihr Mark ist noch ge- 
sund/ 

„Das französische Juste-milieu hat uns um allen Cre- 
dit gebracht. Organische Entwickelung wäre das rich- 
tige Wort.** 

„Die Radikalen und die Stockphilister taugen beide 
wenig, aber jene sind doch gescheit und diese dumm. Ich 
ziehe den klugen Teufel dem dummen Teufel vor." 

,Das politische Kannegiessen ist doch ein wunder- 
liches Geschwätz. Da halten sich die einfältigsten Men- 
schen, die nie einen eigenen Gedanken erzeugt haben, für 
witzig genug, um die feinsten politischen Köpfe zu beur- 
tfeilen und ihre geheimsten Pläne und Absichten zu durch- 
schauen. Je weniger sie von den Sachen verstehen, desto 
rascher sind sie im Klaren.** 

1833. „Die Schweiz ist gegenwärtig in demselben 
Zustande der Revolution, wie der Canton Zürich zu Ende 
1830. Die Massen sind ebenso aufgeregt. Aber die Kraft 
des Widerstandes ist hier grösser. Die Bundesverfassung 
stürzt nicht ebenso leicht zusammen, wie die alten Cantons- 
verfassungen, wenn eine Volksversammlung es fordert oder 
die Zeitungen lärmen. Die verschiedenen Interessen sind 
zu mächtig und in einzelnen Teilen der Schweiz zu fest 
begründet. Die Schweiz ist zu gross und zu mannigfaltig 
geartet, um auf so vereinzelte Stösse zu fallen, wie die 
Cantone.** 

„Ich begreife den Ehrgeiz derer nicht, welche genau 
so regieren wollen, wie es die Menge wünscht. Sie jagen 
dem Scheine des Herrschens nach, während sie in Wahr- 
heit regiert werden, und zwar von Leuten, die tief unter 
ihnen stehen. Wohl begreife ich den Ehrgeiz eines Mannes, 



cap. 12.] UND Eindrucke. 147 

der herrschen will als der Träger des Volksgeistes, aber 
dann muss der Geist in ihm seiner Höhe bewusst sein, er 
muss sicher sein, nicht den Launen der thörichten Menge 
zu fröhnen, sondern das Rechte und das Gute zu wollen." 

„Vor Kurzem traf ich H^i4H4eh Börne im Seefeld. 
Der Knabe des Grafen Benzel war ebenfalls anwesend. 
Professor Oken sagte zu diesem, er thue besser, sich den 
Naturwissenschaften zu widmen, als der Politik. Da fiel 
Börne rasch ein: „Nein, nein, der soll ein Regieide wer- 
den. Er muss den letzten König morden." — Solche Wahn- 
sinnige wollen die Jugend erziehen-.** 

„Um die Parteien gerecht zu beurteilen, muss man 
sich in sie hineindenken. Man muss gewissermassen für 
einige Augenblicke zu ihnen übergehen. Dann schwindet 
manche Täuschung. Überall tritt einem die menschliche 
Natur entgegen, mit ihren Kräften und mit ihren Schwä- 
chen. Nur die sind gefährlich, die von der Leidenschaft 
wie von einem Wahnsinn getrieben werden, ihrer selbst 
nicht mehr mächtig." 

„Dummheit ist in der Politik auch ein Verbrechen. 
Die Baseler haben sich nie gegen das hergebrachte Recht 
verfehlt, aber gegen die Klugheit hundertfaltig. Das war 
ihr Unglück. Die trotzige Rechthaberei des reichen Kauf- 
manns ist keine politische Tugend." 

„Ich wollte, es möchte eine grosse Volksversammlung 
versuchen, die Tagsatzung zu sprengen. Das brächte uns 
ins Gleichgewicht. Sie könnte dann auf. der einen Seite 
die Samer schlagen und auf der andern die Wühler." 

„Alles vergisst sich in der Politik. Die Parteien zer- 
fallen und sterben. Nur das ungerecht vergossene Blut 
schreit wieder nach Blut. Schon hört man das Verlangen 

10* 



148 Angemerkte Gedanken und Eindrücke. [cap. 12. 

nach der Guillotine. Es wird nicht dazu kommen. Der 
gesunde Volkssinn weist dies Verlangen mit Abscheu zu- 
rück." 

„Niemals darf sich der Politiker abschliessen. Sonst 
verliert er den Blick in die Menschen und über die Er- 
eignisse. Auch von den Gegnern darf er sich nicht ab- 
sondern. Er muss sie in der Nähe prüfen und ihre Stel- 
lung wahrnehmen.« 

„Oh, messt doch nicht den grossen Geist mit dem 
Massstabe des kleinen! Wie viel grösser ist Cäsar als 
Cato. Wenn jener die Republik in die Monarchie umge- 
staltete, so war das nicht ein Verbrechen, wenngleich es 
einem beschränkten Republikaner so erscheinen konnte, 
sondern eine notwendige Fortbildung, welche von der 
Weltgeschichte bestätigt ward." 

„Es gibt im Leben des Statsmanns Momente, in 
denen er über die offene Bahn des wohlgeordneten Rech- 
tes hinausschreiten muss. Nur darf er das nie leicht- 
sinnig thun. Er darf es nur thun, wenn er gewisser- 
massen sein Haupt auf den Block legt und dem Scharf- 
richter zuruft: „Schlag* zu, wenn der Erfolg mich nicht 
rechtfertigt." 

„Was man gewöhnlich Moral nennt, ist oft nur die 
nötige Schranke der Mittelmässigkeit. Nur wer Grosses 
in sich fühlt und die Kraft hat, seine eigenen Grenzen 
ausserhalb der allgemeinen zu erkennen, darf sich über 
diese hinauswagen." 

„Jeder wandert auf geföhrlicher Bahn, der von der 
Landstrasse abgeht, auch in der Geisteswelt. Wohl dem, 
dem es glückt, den eigenen Weg zu finden." 

»Was ist bedeutend im menschlichen Leben, wenn 



cap. 13.] Stiftung der Universität Zürich. 149 

nicht das Ungemeine, Hervorragende, das sich seine eigene 
Regel bildet? Oder vielmehr, es schafft die That, die An- 
deren finden dann die Regel hinterdrein." 



13. 

Stiftung der Universität Zürich. Anstellung als ausserordent- 
licher Professor. Studium der Zürcherischen Rechtsgeschichte. 
Bechtsconsulent der Stadt Zürich und der Kaufmannschaft. 
Geburt von zwei Kindern. Tod einer Schwester. Eine Freundin. 
Freundeskreis. Gesellschaftliche Genüsse. Reise nach München. 

Zu Ostern 1833 wurde die neu gegründete Univer- 
sität Zürich eröffnet. Das Schulwesen überhaupt hatte 
unter dem neuen Regiment eine kräftige Förderung er- 
fahren. Darin bewährte sich der lebhafte Bildungstrieb 
des Zürichervolks. Die höchste Blüte der öffentlichen 
Bildungsanstalten aber wurde durch die Stiftung der Uni- 
versität erreicht. Es war das vorzüglich dem politischen 
Einflüsse von M. Hirzel und F. L. Keller zu verdanken. 
Im Einzelnen halfen voraus die Professoren Orelli, H. 
Escher, Hottinger bei der Ausführung des hohen Werkes. 

Dadurch wurde eine Hoffnung meiner Jugend erfüllt, 
und mir die erwünschte Aussicht zur Ergreifung des aka- 
demischen Berufes eröffnet. Die Geldmittel, welche der 
Canton Zürich für die Hochschule verwenden konnte, wa- 
ren freilich sehr bescheiden. Das Stiftungsgut der Probstei 
zum Grossen Münster reichte dafür nicht aus. Die Auf- 
gabe war nur durch Anspannung auch freiwilliger Kräfte 
und durch geschickte Combination teils mit dem Gymna- 
sium, teils mit anderen öffentlichen Ämtern zu erfüllen. 
An die besser dotierten Professuren wurden durchweg 



150 Anstellung als ausserordentlicher Professor. [cap. 13. 

deutsche Gelehrte berufen, meistens jugendlich aufstrebende 
Docenten, überdem einige wenige berühmte reifere Männer, 
denen die reactionäre Richtung der deutschen Bundespolitik 
den Aufenthalt in der Heimat verleidet hatte, wie z. B. 
Oken und Schönlein. Für die Schweizer wurden nur 
die Amter der sogenannten ausserordentlichen Pro- 
fessuren vorbehalten, die sich von den ordentlichen Pro- 
fessuren aber nur teils durch die geringere Besoldung, 
teils durch die Befugnis unterschieden, dass der ausser- 
ordentliche Professor zugleich ein anderes Statsamt be- 
kleiden durfte. Im Übrigen hatte er gleich dem ordent- 
lichen Professor Sitz und Stimme in der Fakultät und im 
Senat und war zu allen Universitäts-Amtem wählbar. So- 
gar Keller erhielt nur eine ausserordentliche Professur. Er 
blieb aber Präsident des Obergerichts. Auch ich erhielt 
von Anfang an eine ausserordentliche Professur, mit einer 
Besoldung von 800 alten Schweizerfranken. 

Mein Amt als Bezirksgerichtsschreiber und Notar der 
Stadt gab ich nun auf, um dem wissenschaftlichen Beruf 
mich ungehemmt hingeben zu können. Aber da die Pro- 
fessur keine Familie ernährte, so nahm ich daneben das 
Amt eines Rechtsconsulenten der Stadt an, welches in 
diesem Jahre gegründet wurde. 

Vorerst docierte ich als Mitglied der „stats wissenschaft- 
lichen Facultät " römischesRecht. Ich las Institutionen, 
Rechtsgeschichte, Pandekten und leitete auch Interpretations- 
übungen der Studierenden. In allen diesen Dingen folgte 
ich dem Vorbilde meiner früheren Lehrer Keller, Savigny, 
Hasse und Pugge. Nach Schweizerart kümmerte ich mich 
weniger um die römischen Kaisergesetze, als um die Schrif- 
ten der römischen Klassiker, weniger um die mittelalter- 



cap. IBJ Studiuh beb Zübicheb Rechtsgeschichte. 151 

liehe Glosse und dfe Scholastik der gemeinrechtlichen Doc- 
trin, als um die wissenschaftliche Erkenntnis der grossen 
römischen Juristen. Die wahre Aufgabe des juristischen 
Professors erblickte ich nicht in der Anhäufung von posi- 
tiven Gesetzen und nicht in dem Vollstopfen von gelehrtem 
Wust, sondern in der Anleitung zu juristischer Betrachtung 
der lebendigen Verhältnisse und in der Übung im juristi- 
schen Denken und Urteilen. 

Aber allmählich nahmen meine Studien eine andere 
Richtung, die mich von dem römischen Rechte weg und 
der Bearbeitung des nationaldeutschen Rechtes zu- 
führte. Die nähere, Bekanntschaft mit dem Zürcherischen 
Rechte, welche ich in der gerichtlichen Praxis gewonnen 
hatte, überzeugte mich, dass dasselbe nicht aus dem römi- 
schen, sondern in allen seinen Grundbegriffen nur aus dem 
deutschen Rechte zu erklären sei. In der Schweiz war 
das alte deutsche Recht dem neuen Bedürfnisse gemäss 
volkstümlich fortgebildet und diese Entwickelung war nicht, 
wie in Deutschland, durch die Reception des römischen 
Rechtes durchbrochen und gestört worden. Die schweize- 
rischen Gerichtshöfe waren niemals von bloss gelehrten, 
auf den Universitäten zum Gehorsam gegen das kaiserlich 
römische Gesetzbuch erzogenen Berufsrichtern besetzt wor- 
den. Es blieben in den Gerichten auch unstudierte Män- 
ner aus dem Volke sitzen, und sie sprachen und ent- 
schieden mit bei dem Urteil. Es konnte daher nie die 
lateinische Rechts- und Gelehrtensprache die gemeinver- 
ständliche deutsche Volkssprache verdrängen, wie das in 
Deutschland allerdings geschehen ist. Auch das Reichs- 
kammergericht, dessen hohe gelehrte Autorität in den 
deutschen Landen einen vorbildlichen Einfluss übte auf 



152 Rechtsconsülent der Stadt ZCrich. [cap. 13. 

die zahlreichen Hof-, Landes-, Stadt- und Heirschafts- 
gerichte, hatte in der Schweiz kein Ansehen, und erschien 
dem Schweizer nicht als ein nachahmungswürdiges Muster. 
Um desswülen erhielt sich der deutsche Grundcharakter 
in den schweizerischen Rechten reiner und vollständiger, 
als in Deutschland. Gerade dieser nationale Grundzug ge- 
fiel mir sehr. So grossen Respect ich vor dem juristischen 
Scharfblick der römischen Juristen hatte, und obwohl ich 
den wissenschaftlichen Wert der römisch-rechtlichen Be- 
griffe anerkannte, so war mir doch die formale Gesetzes- 
autorität des Corpus Juris von Justinian, wie man sie in 
Deutschland lehrte, als eine unnatürlixjhe und unleidliche 
Fremdherrschaft verhasst. Ich habe oft in meinem Leben 
an dem eisernen Gitter dieses römischen Käfigs gerüttelt, 
ohne viel Erfolg. 

Ich fing nun an, die Geschichte des Zürcheri- 
schen Rechts, die damals noch ganz dunkel war, zu 
untersuchen, und sammelte dafür in den Archiven, und 
wo ich sonst noch Aufschlüsse zu finden hoffte, mancherlei 
Notizen, welche ich später in meiner Zürcherischen Rechts- 
geschichte verwendete. 

Als Rechtsconsülent der Stadt wurde ich zu den 
Sitzungen des Stadtrates in allen Geschäften, für welche 
die Kenntnis des Rechts erforderlich schien, mit beraten- 
der Stimme zugezogen. Sodann hatte ich die Stadt in 
ihren Processen vor Gericht zu vertreten. Die politische 
Umgestaltung hatte auch manche Rechtsstreitigkeiten zwi- 
schen der Stadt und dem State zur Folge. Solang die 
Stadt die Landesherrschaft über den Canton besessen hatte, 
waren das Statsvermögen und das Stadtvermögen ununter- 
schieden beisammen gewesen. Als dann durch die Re- 



cap. 13.] Rat der Obervormündsohaft. 153 

volution die Souveränetät der Stadt entzogen und von dem 
ganzen Volke des Cantons als sein natürliches Recht in 
Besitz genommen wurde, bedurfte es einer Auseinander- 
setzung zwischen dem Statsgut, das nur dem Canton zu- 
kam, und dem Stadtvermögen, welches der Stadtgemeinde 
allein verblieb. Diese Ausscheidung und die Ausstattung 
der Stadt wurde unter der Autorität des Consuls Napoleon 
Bonaparte, als Vermittlers der Schweizerischen Eidgenossen- 
schaft, in Form einer sogenannten Liquidations- und Aus- 
steuerungsurkunde der Stadt im Jahr 1803 festgesetzt. Der 
Stadt wurden dabei auch mancherlei Gefälle und Binnen- 
zölle und ebenso einzelne obligatorische Anstalten, welche 
eine Einnahme abwarfen, zugewiesen und angerechnet. In- 
dem die neuere Gesetzgebung diese Einkünfte aus Gründen 
der öffentlichen Wohlfahrt, der Verkehrsfreiheit und einer 
richtigeren Wirtschaft beseitigte, erhob sich die Streitfrage, 
ob nun der Fiscus der Stadt gegenüber zur Entschädigung 
verpflichtet sei, und in welchem Masse. Mir kam es zu, 
im Namen der Stadt den Process zu führen. Es gereicht 
sicher den damaligen Gerichten zur Ehre, dass sie das 
Recht der Stadt schützten, obwohl diesem Schutze die 
Autorität der Regierung und die Meinung und Neigung 
der herrschenden Partei widerstrebten. 

Ich hatte als Rechtsconsulent der Stadt auch die 
Pflicht, dem Schirmvogteiamte d. Ji. der Commission des 
Stadtrates, welche die Obervormundschaft der Gemeinde 
ausübte, mit meinem Rate beizustehen. Dadurch wurde 
ich in die Verwaltung der Vormundschaft eingeweiht. 
Desshalb wurde mir später die Redaction des neuen Vor- 
mundschaftsgesetzes anvertraut. 

Während einiger Zeit wurde ich auch als Rechts- 



154 Rechtskonsulent der Kaufmannschaft. [cap. 13. 

consulent von der Zürcherischen Kaufmannschaft beige- 
zogen und kam dadurch in nähere Beziehung zu ange- 
sehenen Kaufleuten. Unter der Verwaltung und Aufeicht 
nämlich eines Directoriums der Kaufmannschaft war ein 
bedeutendes Stiftungsgut, der ,,Directorialfond" , angesam- 
melt worden. Auch darüber entspann sich ein Rechts- 
streit, indem einerseits der Stat, anderseits die Kaufmann- 
Schaft sich als Eigentümer des Fonds betrachteten. Zu 
einem Process kam es indessen nicht, indem sich schliess- 
lich beide Parteien in einem Vergleich verständigten. Ein 
Teil der Summe wurde den Zürcherischen Kaufleuten mit 
der Auflage überlassen, denselben zu öffentlichen gemein- 
nützigen Werken zu verwenden. Der übrige grössere Teil 
des Fonds wurde dem State zugeschieden. Aus dem erstem 
Teile wurden sodann von den Kaufleuten die steinerne 
Münsterbrücke gebaut, ein Hafen angelegt, Quais herge- 
stellt, ein neues Kernhaus errichtet. Diese schöpferische 
Verwendung aufgesparter Stiftungsgelder sagte meinen Nei- 
gungen zu, und ich hatte ein lebhaftes Interesse an den 
Werken, welche auf diesem Wege zustandekamen. Die 
Sorgen und Mühen dieser Arbeiten führten mich oft mit 
dem Präsidenten der Kaufmannschaft, Director Martin 
Escher, meinem Nachbar in der Schipfi, und mit dem 
Ingenieur Negrelli zusammen, welcher aus Österreich 
zur Leitung technische^ Arbeit berufen worden war. 

In meiner Familie lernte ich nun auch die Vater- 
freuden kennen. Am 9. Juli 1832 wurde meine erste 
Tochter Emilie Luise und am 31. Juli 1834 mein ältester 
Sohn Friedrich Carl geboren. Die erste Thräne und das 
erste Lächeln des neugeborenen Kindes machten mir einen 
tiefen Eindruck. Ich schrieb in mein Tagebuch: 



cap. 13.] Geburt zweier Kinder. Tod einer Schwester. 155 

»Die erste Thräne des Kindes. Als die kleine Engels- 
seele herunterstieg auf die Erde und in den neugeborenen 
Körper des Kindes eintrat, da erschrak sie über das Feste, 
Dichte, Unbehilfliche ihres Leibes und weinte laut auf. 
Als aber die Mutterliebe den Körper wärmte und ihn sorg- 
sam wartete, als das Mutterauge in das Auge des Kindes 
liebend hineinblickte und sein Seelchen ihre Seele fühlte, 
da lächelte das Kind der Mutter und der Welt zum ersten 
Male zu." 

Zum ersten Male trat mir auch das Angesicht des 
Todes im eigenen Familienkreise entgegen, unerwartet und 
in grauser Gestalt. Meine zwölfjährige Schwester Caroline 
hatte in dem elterlichen Garten hinter dem Hause mit einem 
andern Mädchen nach Kinderart Haushaltung gespielt. Sie 
hatte einen kleinen eisernen Feuerherd, ein Spielzeug, her- 
beigeschleppt und zündete nun ein Feuer an. Da kam ihr 
leichtes Sommerkleid der züngelnden Flamme zu nahe und 
würde von derselben entzündet. Zufallig war Niemand in 
der Nähe, um dem schreienden Kinde zu helfen. Das Kleid 
verbrannte ihr an dem Leibe, und der junge kräftige Kör- 
per wurde von dem grimmigen Elemente so schwer ver- 
letzt, dass sie in der folgenden Nacht unter heftigen 
Schmerzen starb. Dieser furchtbare Feuertod wirkte er- 
schütternd auf meine Eltern, aber auch reinigend. Die 
natürliche Herzensgüte meiner Mutter kam nun mehr zum 
Vorschein, und sie wurde zugleich milder und gehaltener. 
Auch der Vater wachte sorgfältiger über dem Frieden der 
Familie. Für meine Schwester selber war der grausame 
Tod vielleicht ein Glück; denn ihre leidenschaftliche und 
unzufriedene Anlage verhiess keine günstige Entwickelung. 

Meine Frau und ich verkehrten damals oft mit meinem 



156 EiN^ Freundin. [cap. 13. 

früheren Lehrer und damaligen Freunde Ferdinand Meyer 
und seiner Frau, einer geborenen Ulrich, für die ich eine 
verehrungsvolle Freundschaft empfand. Sie erschien mir 
wie das lebendig gewordene Ideal der Weiblichkeit. Geist- 
reiche Frauen, die mit den Männern wetteiferten, waren 
mir unangenehm. In ihr aber fand ich die edelsten Eigen- 
schaften des Geistes, schnellen und klaren Verstand, tiefen 
Durchblick, feines sittliches Gefühl mit lieblichster Anmut, 
Sanftheit und Milde gemischt. Sie war eine treue, sorgende 
Gattin, eine gute Mutter, eine aufopferungsfahige Freundin 
der Armen, eine anspruchslose Hausfrau und eine freund- 
liche und heitere Wirtin. In ihrer Gegenwart fühlte ich 
mich wie gehoben und reiner als sonst. Sie war tief re- 
ligiös, aber nicht unduldsam und nicht kopfhängerisch. Die 
Religion gab ihr einen Halt, dessen sie um so mehr be- 
durfte, als ihr beweglicher und entzündlicher Geist sie 
leicht hätte ins Masslose und ins Weite fortreissen können. 
Es war etwas Ungewöhnliches und daher Unberechenbares 
in ihr. Dadurch war sie ihrem Manne, so hochgebildet er 
war, doch geistig überlegen. Seine Tugend war schul- 
gerechter als die ihrige. Sie konnte wagen, wozu ihm der 
Mut schwankte. Für mich hatte sie das Gefühl einer altern 
Freundin und inniges Wohlwollen. Aber auch ihr Geist 
wurde in meiner Gegenwart belebter und heller. Eine 
innere, niemals in Worten ausgesprochene Sympathie ver- 
band uns. Am Ende ihres schweren Lebens und am Schlüsse 
eines langen Wittwenstandes wurde sie noch ein Opfer ihrer 
kranken Stimmung und ihrer leidenden Nerven. Zur Hei- 
lung in eine Anstalt für Gemütskranke gebracht, fand sie 
Kühlung und Tod in den Fluten. 

Mein Verhältnis zu den Freunden erlitt auch einige 



cap. 13.] Freundeskreis. 157 

Änderungen. Zwar hielt ich noch das Band der Freund- 
schaft fest, das mich mit Zeller verband, aber das Leben 
hatte ihn doch von mir weiter entfernt. Er hatte sich 
während seines Aufenthaltes in Norddeutschland einer pie- 
tistischen Schwärmerei hingegeben, die mir durchaus fremd 
war, und ich empfand mein Unvermögen, ihn von dieser 
Krankheit zu heilen. Wäre dieser Pietismus geistreich, so 
wollte ich denselben noch achten. Aber die engbeschränkte, 
von Salbung triefende, hoch-demütige Art der Pietisten war 
mir ein Gräuel. Ein eiserner Glaube an die heiligen Bücher 
ohne alle Kritik, ein völliges Absehen von Allem, was vor- 
her und nachher gewesen und geworden war, eine mass- 
lose Überschätzung des engen Ideenkreises, in dem sie wie 
in einem Gefängnis eingeschlossen waren, die Unkenntnis 
und Geringschätzung aller weiteren Gedankenkreise, ein 
schreckliches Verläugnen aller menschlichen Kraft und 
Freiheit, eine unwürdige Geistessclaverei, eine frömmelnde 
Verehrung des eigenen Systems in den Personen, anstatt 
der Liebe zu den Menschen, alle diese Eigenschaften und 
Merkmale machten mir den Pietismus geradezu verhasst. 
Im Verfolge hat auch Zeller wieder die ungesunde Schwär- 
merei abgestreift, er ist später als Pfarrer von Stäfa dem 
realen Volksleben wieder verständlicher geworden. Er er- 
trug meine freiere Weltanschauung mit alter Freundschaft. 
Aber die Bahnen unserer Entwickelung waren doch von 
einander abgewichen und berührten sich nicht mehr so 
nahe wie in uüserer Studienzeit. 

Dagegen kam mir nun Bernhard Hirzel näher, in 
dem ein gewaltiges inneres Leben gährte. Er hatte sich 
nun ganz in die Indischen Studien vertieft und machte 
auch mich zwar nicht mit dem Sanskrit, aber mit Indischer 



158 Bbrnhabd Hirzbl. [cap. 1^. 

Weisheit vertraut. Er hatte schon in Paris das liebliche 
Drama von Kalidasa, die Sakuntala, übersetzt und über- 
setzte nun ein philosophisches Drama Upanishad, dessen 
Ideen mich höchlich interessierten. Durch ihn wurde ich 
auch auf das merkwürdige alte Gesetzbuch Manu's auf- 
merksam gemacht, das mich auch im spätem Leben oft 
beschäftigte. 

Hirzel war in der Ehe nicht glüqklich. Leidenschaft- 
lich und reizbar, wie er war, bedurfte er der liebenden 
Hingebung des Weibes und stiess oft auf kalten, abweisen- 
den Stolz und statt der anmutigen Weiche weiblicher Em- 
pfindung auf harten mit dem Manne um die Herrschaft 
ringenden Trotz. Er war tief unglücklich über dieses 
Missverhältnis und wurde dann auch im Unmut über den 
häuslichen Zwiespalt gereizt, ausser der Ehe Genüsse zu 
suchen, die er zu Hause nicht fand. Zuletzt zog es ihn 
auf das Land. Er nahm die Stelle eines Pfarrers von 
Pfafifikon an. In religiöser Hinsicht war Hirzel sehr frei, 
und er heuchelte auch keinen Glauben, den er nicht hatte. 
Aber er hasste den Radikalismus in der Politik und in der 
Religion, und nahm in seiner Predigt und in seinem Unter- 
richt Rücksicht auf die Fassungskraft seiner Zuhörer und 
Schüler. Er suchte ihnen die christlichen Heilswahrheiten 
so vergeistigt, wie er sie erfasste, und doch so volkstüm- 
lich, wie er sie darstellen konnte, befruchtend einzuprägen. 

Im Jahr 1834 verlor ich zwei meiner liebsten Freunde 
und Universitätsgenossen durch den Tod, beide Theologen, 
zuerst Hans Meyer, der an der Schwindsucht hinstarb und 
eine trauernder Braut hinterliess, -dann Rudolf Spöndli, 
der als jugendlicher Pfarrer von Dübendorf starb. Dieser 
war der entschiedenste und kräftigste Verfechter des ortho- 



cap. 13.] Alexander Schweizer. 159 

doxen, aber von der Wissenschaft getränkten Christentums. 
Ihm war Hans Meyer in der Lehre nachgefolgt, im Tode 
vorausgegangen. Ich bekam durch diese beiden Todesfalle 
den Eindruck, dass diese theologische Richtung nicht mehr 
für die Gegenwart, wenigstens für unser Land nicht mehr 
geeignet sei. Wenn die Zeit einer Pflanze vorüber ist, so 
sprach ich zu mir, dann fallen die Blätter ab als dürres 
Laub, und der Wind bricht die saftlosen Äste. Aber die 
tiefe Trauer der Gemeinde bei dem Begräbnis ihres treff- 
lichen Geistlichen rührte mich, obwohl ich an dem Gottes- 
dienste, soweit er die orthodoxe Form hatte, nur wie ein 
Fremder teilnahm und nur durch die allgemein-mensch- 
lichen Gedanken und Gefühle persönlich ergriffen wurde. 
Ich konnte es verstehen, dass sich meine Freunde in ihrem 
Christenglauben befriedigt fühlten, aber ich verglich sie 
mit Leuten, die ihr Leben lang in einer grossen Stadt 
wohnend, mit allem ihrem Sinnen und Denken sich nur 
an das Leben der Stadt hielten und nur davon wussten, 
aber nie fremde Länder besucht, nie die Berge betrachtet, 
nie das weite Meer geschaut hatten. 

Besser verständigte ich mich mit einem andern Alters- 
und Studiengenossen und nun meinem CoUegen bei der 
UmVersität, dem Professor Alexander Schweizer, einem 
Schüler und Nachfolger Schleiermachers. Er erkannte das 
Recht der Kritik an und verlangte für die Wissenschaft 
volle Freiheit der Forschung. Er hatte einen scharfen Ver- 
stand und handhabte gelegentlich die Kratzbürste kalter 
Ironie. Mit seinem Meister hatte er die Neigung und das 
Geschick der dialektischen Betrachtung von entgegenge- 
setzten Standpunkten aus gemein und geriet infolge dessen 
ebenfalls in den Verdacht des Schaukeins, das nicht vorwärts 



160 August v. Gonzenbach. [cap. 13. 

bringt, sondern nur bald in die Höhe schnellt, bald in die 
Tiefe zieht, ohne den Standpunkt zu ändern. An Energie 
des Willens und der That war ihm der berühmte nord- 
deutsche Theologe freilich überlegen. Alexander Schwei- 
zer war ein ausgezeichneter Prediger, zumal für ein gebil- 
detes Publikum. Mit Rücksicht auf diesen Vorzug wurde 
ihm eine Pfarrstelle an dem Grossmünster verliehen d. h. 
an der ersten Hauptkirche der Stadt, deren Kanzel vor- 
mals der Reformator der Zürcherischen Kirche, Ulrich 
Zwingli, inne gehabt hatte. 

Die meisten früheren Studiengenossen hatten sich der 
Kirche gewidmet. Einige andere aber dienten, wie ich, 
dem State. Voraus erwähne ich eines Freundes, den ich 
in dem Zofingerverein kennen gelernt hatte, und der nun 
an der eidgenössischen Politik einen bedeutenden Anteil 
nahm, August v. Gonzenbach aus St. Gallen, welcher 
zum zweiten Statsschreiber der Eidgenossenschaft erwählt 
ward."^r war eine Zeit lang täglich in meinem Hause und 
speiste regelmässig an meinem Tische zu Mittag. Gonzen- 
bach ist ein Mann von vielseitiger Bildung und ungewöhn- 
lichen Gaben. Aber es wurde ihm, trotz aller Gewandt- 
heit seines Geistes, schwer, sich in die neue Zeit hinein- 
zufinden. Seine innerste Neigung gehörte einer vergangenen 
Weltepoche an. Ich sagte ihm oft, es komme mir vor, 
als habe sein Geist während mehrerer Jahrhunderte ver- 
geblich auf eine Gelegenheit gewartet, in einen Menschen- 
körper einzufahren, und sei nun verspätet zur Welt ge- 
kommen, ein lebendiger Anachronismus. Es war ein ritter- 
liches Wesen in ihm, mit allen Vorzügen des Edelmutes, 
des aristokratischen Wohlwollens gegen Untergebene, der 
Tapferkeit, des Feingefühls für vornehme Formen und 



cap. 13.] Gesellschaftliche Genüsse. 151 

höfische Sitte; aber auch von den Schwächen und Mängeln 
des mittelalterlichen Junkertums war er nicht frei. Sein 
kluger Verstand zwang ihn oft, modern zu denken und zu 
handeln, aber sein Gemüt empfand einen innerlichen Schau- 
der vor der Kühnheit und der Kälte der modernen Wissen- 
schaft. An einem Fürstenhofe hätte er noch eine glänzende 
Rolle spielen können, in der bürgerlichen Demokratie wurde 
er fast wie ein Fremder mit Misstrauen betrachtet. Auch 
für die Gegner war er eine interessante Erscheinung. Er 
belebte jedes Gespräch durch seine Fülle von feinen Be- 
obachtungen, durch Lebhaftigkeit des Ausdrucks und durch 
originelle Gedanken. Ich unterhielt mich sehr gern mit 
ihm, wenngleich wir selten übereinstimmten. 

Die in der Schweiz vorherrschende Gesinnung war 
überall den vormaligen Hauptstädten ungünstig. Trotzdem 
diente die Missgunst der Radikalen dazu, die schlummern- 
den Kräfte in den Städten aufzuwecken und das Wachs- 
tum der Städte zu fördern. Die behagliche Ruhe, welcher 
früher unsere Gelehrten und Kaufleute sich bequem hin- 
gegeben hatten, war nun durch die täglichen Kämpfe ge- 
stört. Aber bald wurden beide Classen durch die reicheren 
Erfolge getröstet, welche ihre Anstrengungen belohnten. 
Das Leben in Zürich wurde geistig . und wirtschaftlich 
interessanter. 

Ich beteiligte mich an drei wissenschaftlichen Ver- 
einen und Gesellschaften, der historischen, welche schon 
seit langem bestand, gelegentlich nun neue Anregung em- 
pfing, der antiquarischen, die neu gestiftet und von 
meinem Freunde Ferdinand Keller mit ebenso viel Um- 
sicht als Thatkraft geleitet wurde, und einer juristischen, 
in welcher sich mehrere befreundete Richter, Professoren 

]31uDtschli, Dr., J. C, Aus meinem Lebea. I. ]1 



162 Ruf an die Universität Brüssel. [cap. 13. 

und Advokaten sowohl zum Austausch ihrer Erfahrungen 
und Ansichten, als zu heiterer Geselligkeit wöchentlich ein- 
mal zusammenfanden. Mit den alten Studiengenossen kam 
ich in der Montagsgesellschaft zusammen, im Winter 
in einem der Zunfthäuser, welche Wirtschaft trieben, im 
Sommer auf der herrlichen Terrasse des Baugartens mit 
ihrem freien Blick über den See und die Berge. 

Auch ein gemischtes Lesekränzchen wurde ge- 
stiftet, in welchem unsere Frauen mit den edlen Früchten 
der schönen Litteratur vertraut gemacht wurden, und wel- 
ches wie eine erweiterte Familie das Leben aller Genossen 
verschönte. 

Mit meinen CoUegen an der Universität, den schwei- 
zerischen und den deutschen, war ich ebenfalls in freund- 
licher und fruchtbarer Verbindung. Von Deutschen nenne 
ich den Germanisten Freiherrn v. Low und den Romani- 
sten Seil, die mit mir zu derselben Facultät gehörten, 
dann den Philologen Sauppe, den Historiker Mittler, 
den Theologen Hitzig, den Philosophen Oken und den 
Mediciner Schönlein. Zuweilen klopfte aber in mir die 
Neigung an, auf eine deutsche Universität zu gehen, um 
da einen grösseren Wirkungskreis zu suchen, als in Zürich 
möglich war, wo nur etwa dreissig jm'istischiß Studierende 
zu finden waren. Indessen that ich keine Schritte, um 
den Gedanken zu verwirklichen. Ich vertraute nur ein- 
mal Savigny den Gedanken, der mir aber von der Aus- 
führung abriet. Und als ich einen Ruf an die neugestif- 
tete Universität Brüssel erhielt, lehnte ich denselben trotz 
der günstigen ökonomischen Bedingungen ab. Ich konnte 
mich nicht entschliessen, in französischer Sprache zu do- 
cieren. 



cap. 14.] Reise nach München. 1(]3 

Mit meiner Frau machte ich im October 1834 eine 
Reise nach München, ohne eine Ahnung, dass wir dereinst 
in reiferen Jahren dort eine neue Heimat finden würden. 
Uns interessierten mehr die reichen Blüten der Kunst, wel- 
che, von König Ludwig gepflegt, in jugendlichem Schmucke 
prangten. In München war für die deutsche Kunst ein 
neues Leben aufgegangen, und wir erfreuten uns des idealen 
Strebens und der schönen Werke unbefangenen Sinnes. Um 
die vernachlässigte Universität kümmerten wir uns nur wenig. 



14. 

Persönliche Beziehnng zu Keller. Wechselseitige Erklärung. 
Erneuerter Verkehr. Auszüge aus dem Tagebuch über Wissen- 
schaft, Gott und Christus, Unsterblichkeit, Politik, Recht, Psy- 
chologie. 

Wenn frühere Freunde sich trennen, indem sie sich 
zu verschiedenen Parteien halten, so entsteht leicht eine 
gereizte Stimmung beider wider einander. Die gesell- 
schaftlichen Verbände werden dann zerrissen, und geschäf- 
tige Zungen steigern die wechselseitige Verbitterung durch 
ihren Klatsch. Besonders schlimm wirkt solcher Zwiespalt 
in einer kleinen Stadt, wo Jedermann alle Einwohner von 
Bedeutung kennt und Keiner dem Anderen völlig auswei- 
chen kann. 

Auch in Zürich waren diese schädlichen Wirkungen 
eingetreten. Zwar versuchte man, einige neutrale Ver- 
sammlungsorte herzustellen, wo der Parteihader schweigen 
sollte. In solcher Absicht wurde das stattlich ausgerüstete 
Lesecabinet, das Museum, gestiftet, zu welchem alle Parteien 
beitrugen, und wo alle Parteien in der Zeitungspresse und 

11* 



1(54 Pebsönliche Beziehuno zu Kelleb. [cap. 14. 

in den Zeitschriften und Streitschriften reichlich vertreten 
waren. Aber dieser Friede war doch nur durch das Gebot 
des. Schweigens und stiller Leetüre zu behaupten. Zu ge- 
selligen Zusammenkünften verbanden sich die Parteien 
höchstens ausnahmsweise. 

Mir war dieses Missverhältnis besonders Keller gegen- 
über peinlich, für den ich trotz aller Gegensätze doch eine 
fortdauernde Zuneigung empfand. In wissenschaftlicher Hin- 
sicht stand ich Keller noch nahe und war ihm als meinem 
früheren Lehrer dankbar. Als College an der Universität 
und in der juristischen Facultät verständigte ich mich 
jederzeit leicht und gerne mit ihm. Aber die politischen 
Parteien trennten uns und hinderten jeden engern Verkehr. 
Keller war damals das wahre Haupt der radikalen Partei 
und der mächtigste Mann im Canton Zürich. Im Grossen 
Rate war er der Mehrheit ziemlich sicher, die auf ihn als 
den leitenden Kopf mit Ergebung hinblickte. Als Präsi- 
dent des Obergerichtes war er an der Spitze der Rechts- 
pflege. Auch in dem Regierungsrate hatte er einen folg- 
samen Anhang. Die geistige Überlegenheit Kellers reizte 
aber auch den Neid und die Missgunst sogar mancher 
Parteigenossen, mehr noch den Hass der Gegner wider ihn. 

Meine Stellung in der städtischen und constitutionellen 
Partei, wie sie damals genannt wurde, war nicht ebenso 
herrschend, wie die Kellers in der radikalen Partei. Aber 
ich galt doch, ungeachtet meiner Jugend, als einer der 
anerkannten Führer jener Partei. Ich empfand nun ein 
moralisches Bedürfnis, mich offen Keller gegenüber auszu- 
sprechen und mich mit ihm ins Klare zu setzen. In dieser 
Absicht schrieb ich an ihn (29, Mai 1834) und schlug ihm 
eine vertrauensvolle und wechselseitige Aussprache der 



cap. 14.] Wechselseitige Erkläeuno. 165 



ö 



persönlichen Meinungen und Beschwerden vor, in die sich 
kein Dritter störend mischen dürfe, und die vielleicht zu 
einem besseren Verständnis führe und doch die verschie- 
dene Eigenart in ihrer vollen Freiheit gewähren lasse. 

Keller ging mit herzlicher Freude auf den Vorschlag 
ein. Seine Antwort vom 31. Mai zeigt, dass auch er, dem 
eine verbreitete Meinung eine kalte, herzlose, aber gescheite 
Selbstsucht vorwarf, ein warmes Gefühl für Freundschaft 
in seiner Brust verschloss. Er erwiderte: „Äussern Sie 
sich also wie Sie das Herz treibt, schriftlich, mündlich, 
wie Sie wollen. Ich werde es ebenso halten; es soll, wenn 
Sie das nicht stösst, auf meine Stimmung ankommen, ob 
ich Ihnen schriftlich oder mündlich antworte. Ich kann 
jetzt nicht mehr schreiben, seien Sie überzeugt, dass ich 
Ihren Schritt gegen mich nicht gering anschlage, und dass 
er mich mächtig verpflichtet. Ich hoffe, den Glauben an 
die Menschheit, den Glauben an Ehre und Treue wieder 
zu finden." 

In einem noch sehr jugendlich gedachten und gehal- 
tenen Briefe vom 8. Juni 1834 suchte ich die spätere Ent- 
fremdung zu erklären, welche eingetreten sei, obwohl die 
innere Zuneigung fortgedauert habe, und es für .beide In- 
dividualitäten viele gemeinsame Berührungspunkte gebe. 
Ich hob drei Ursachen der Entfernung hervor. Zuerst die 
Politik. Ich erklärte ihm offen, dass ich ihn niemals für 
einen Radikalen habe halten können, wenn gleich er Füh- 
rer und Haupt der radikalen Partei geworden sei. Schon 
seine wissenschaftliche Bedeutung, mehr aber noch seine 
Fähigkeit, die Menschen zu durchschauen und zu beherr- 
schen, sei mit jener Annahme unvereinbar. Zwar halte 
ich den Radikalismus nicht für etwas absolut Böses. Als 



166 Wechselseitige Erkläruno. [cap. 14, 

untergeordnetes Element wirke er sogar wohlthätig auf 
das öffentliche Leben. Aber wenn er den ganzen Stat 
durchdringe und allein herrschen wolle, dann werde er 
verderblich. Da sei es mir denn schmerzlich gewesen zu 
sehen, dass er mit seinem Geiste die Alleinherrschaft des 
Radikalismus erst ermögliche und befestige. Ich sei über- 
dem durch die Wahrnehmung verletzt worden, dass er im 
Siege die Gegner mit schneidender Kälte und grausamer 
Härte verhöhne, oder wenigstens geduldet habe, dass unter- 
geordnete Wortführer der Partei die besiegten, aber ehren- 
werten Gegner durch ungerechte und heftige Angriffe be- 
leidigen. 

Sodann der persönliche Character. Ich habe mich 
vorzüglich durch Blicke in sein Familienleben überzeugt, 
dass ihm nicht, wie die Meisten glauben, jede gemütliche 
Kraft fehle. Aber im gewöhnlichen Leben zeige er vor- 
züglich die Kälte des Verstandes und lasse dem herben 
Spott die Zügel schiessen, wodurch er auch befreundete 
Naturen von sich verscheuche. 

Endlich den Mangel an gegenseitigem Verkehr. In- 
folge der Parteieinflüsse entstehen notwendig Missverständ- 
nisse, welche dann unberichtigt bleiben und wuchernd um 
sich greifen. Dem könne man nur begegnen, indem man 
sich über die Parteien stelle und unmittelbar aus der Quelle 
schöpfe. 

Ich schlug ihm nun einen erneuerten freimdlichen 
Verkehr auf der Grundlage voller Aufrichtigkeit und mit 
Beseitigung von störenden Zwischenpersonen vor und lud 
ihn ein, auch mir seine Vorwürfe rückhaltlos zu eröffnen. 

Die Antwort Kellers (vom 3. Juli 1834) ist nicht min- 
der offen, aber eine reifere Frucht statsmännischer Über- 



cap. 14.] Ebneüebter Vebkehb. 167 

legung. Meine Behauptung, dass er von Natur kein Ra- 
dikaler sei, übertrumpfte er durch die andere Behauptung, 
dass ich „von Geburt ein Radikaler" sei und daher auch 
nicht zu der Stadtpartei passe, der ich mich angeschlossen 
habe. In diesem Vorwurf war das allerdings richtig, dass 
meine entschieden liberale Natur in der Parteiverbindung 
mit zahlreichen mehr oder weniger illiberalen und absolu- 
tistischen Elementen nicht zu rechter Entwickelung komme 
und in verkehrte Richtungen hingedrängt werde. Radikal 
in dem Sinne, wie ich das Wort verstand, war ich nie. 
Den eigenen Radikalismus stellte Keller als durchgreifende 
Verbesserung der Verfassung, Gesetzgebung und Verwal- 
tung d. h. als Liberalismus dar. Er bezeichnete es als 
seinen reformatorischen (allerdings radikal formulierten) 
Grundgedanken, das alte väterliche, auf Gnade und Un- 
gnade, oder vielmehr auf den individuellen Willen und die 
individuelle Güte der Regenten basierte Regiment abzu- 
schaffen und statt dessen die Herrschaft des Grundsatzes, 
des Gesetzes, der Wissenschaft einzuführen. Er habe ver- 
meiden wollen, dass die Revolution wieder wie früher mit 
ein paar unwirksamen Grundsätzen und mit Personalände- 
rung ablaufe. Die allgemeinen Grundsätze, die in der Ver- 
fassung stehen, beissen Niemanden, aber wenn man sie an- 
wende und durchführe, dann schreien die Leute. Deshalb 
haben sie auch gegen ihn geschrieen, weil er Ernst ge- 
macht habe mit der grundsätzlichen Durchführung. 

Er bestritt nicht, dass auch er gelegentlich hart ge- 
worden und schroff erschienen sei; aber er erklärte das 
aus seinen Erfahrungen und meinte, wenn ich früher ge- 
kommen wäre und den „alten Mist" gesehen hätte, würde 
ich weniger Anstoss an seinem Verhalten genommen haben. 



1(58 Ebkeüebtee Vebkehb. [cap. 14. 

Seinen früheren Freunden innerhalb der gemässigten Partei 
warf er vor, dass sie die politischen Gegensätze nicht mit 
dem Verstand zurecht gelegt und eine gemütliche Ent- 
fremdung verschuldet haben. Keiner habe sich offen gegen 
ihn ausgesprochen, keiner ihn ehrlich vor einem Wege ge- 
warnt, der zur Trennung führte. Dieses Verhalten seiner 
nächsten Freunde habe ihn am tiefsten verwundet. Mich 
traf dieser Vorwurf nicht, sondern die Altersgenossen. Da- 
gegen warf er auch mir vor, und nicht ohne Grund, dass 
ich den Verdächtigungen, denen er von Angehörigen mei- 
ner Partei in der Presse zuweilen ausgesetzt worden, zu 
wenig entschieden entgegengetreten sei und entgegengewirkt 
habe. Ganz denselben Vorwurf aber konnte ich auch ihm 
entgegnen. . Das ist der Fluch des Parteiwesens, dass die 
Parteiführer zu mancher Unbill, welche die Parteianhänger 
wider ihre Gegner verüben, die Augen zudrücken und die- 
selbe gewähren lassen. 

Auch über den Schein der Gemütlosigkeit sprach 
sich Keller offen aus. Er gab zu, dass mancher verstän- 
dige Beurteiler sich in ihm deshalb irren könne, weil sein 
Gemüt nicht auf der Obei'fläche liege, sondern in der Tiefe 
verborgen sei. Aber er berichtete von heftigen Gemüts- 
kämpfen, in denen er mit sich selber gerungen habe, wäh- 
rend Andere meinten, sein Herz sei ein Eiszapfen. 

Zum Schluss sprach er sich gegen die kindische Gleich- 
stellung aus, welche dem gewöhnlichen Radikalismus vor- 
geworfen werde. Die reine Demokratie und alles Nivel- 
lieren seien ihm gründlich zuwider. Er halte die Menschen 
der Menge nach für dümmer und schlechter, als ich ihm 
vielleicht gelten Hesse. Aber das verlange er, dass, wenn 
der Wettlauf des Lebens beginne. Alle auf Einer Linie 



cap. 14.] Die Schbift: £bii;kebu>'0 an F. L. Kelleb. 169 

stehen, und man Keinem eine Springkette anlege. Nach 
seiner Meinung soll das Volk durch seine Agenten d. h. 
Behörden und Beamten so strenge regieren, wie ein König. 
Der nächste Kampf werde sich zwischen den höheren ide- 
ellen Interessen auf der einen Seite und dem kurzsichtigen 
und niederen Rusticismus auf der andern Seite entwickeln, 
und in diesem Kampfe werden wir zusammen auf derselben 
Seite stehen. 

Ich habe nach Kellers Tod diese Briefe in der „Er- 
innerung an Friedrich Ludwig Keller** abdrucken lassen 
(München 1861, in der kritischen Vierteljahrsschrift und 
in besonderer Auflage). Sie geben einen tiefen Blick in 
sein inneres Wesen und in das meinige. Die damalige 
Correspondenz war die Einleitung des erneuten persön- 
lichen Verkehrs, an welchem auch die beiden Frauen, beide 
Jugendfreundinnen, einen wohlthätigen Anteil hatten. Die 
Parteistellung änderte sich nicht; aber wir sprachen uns 
offen auch über die Parteibestrebungen aus, und die freund- 
liche Beziehung der beiden Männer wirkte doch oft er- 
mässigend und versöhnlich auf die Haltung der Parteien. 

Erst nach mehreren Jahren hörte der intime Verkehr 
wieder auf aus Gründen, die nicht dem öffentlichen Leben 
angehören, und die zu bezeichnen ich weder die Pflicht 
noch die Neigung habe. Sie berühren mein eigenes Leben 
nur durch den Eindruck, den ich von dem Einfluss bekom- 
men habe, welchen unter Umständen die Leidenschaften 
Kellers auf sein Leben und auf Andere übten. Nachdem 
KeUers Macht durch die Revolution von 1839 gebrochen 
worden war und er die Schweiz verlassen hatte, um als 
Professor des römischen Rechts erst an der Universität 
Halle (1843), später in Berlin zu wirken, habe ich ihn 



170 Tagebuch- Auszüge aus den Jahben 1833 — 1837. fcap. 14. 

nur Einmal noch in Berlin gesehen, wo er als Nachfolger 
Savigny's den Lehrstuhl des römischen Rechts inne hatte 
und nun als ein Vertreter der conservativen Partei und 
als „Reactionär" wider die „Revolution" kämpfte. Gegen 
mich war er bei diesem Anlass persönlich liebenswürdig. 
Wir konnten uns aber politisch noch weniger einigen, als 
früher in der Schweiz, obwohl nun die beiden Rollen in 
Deutschland umgetauscht zu sein schienen. 

Das Tagebuch, dessen Aufzeichnungen mir die Dar- 
stellung meines Lebens sehr erleichtert haben, hört im 
Jahr 1837 auf. Erst vom Jahr 1842 an, seit der Be- 
kanntschaft mit Friedrich Rehmer, beginnen dann neue 
Vormerkungen von Erlebnissen und Gedanken, die mich 
beschäftigten. Es fallt mir aber auf, indem ich das Tage- 
buch der Jahre 1833 — 1837 durchsehe, dass mich damals 
schon die religiösen Grundfragen zugleich mit den politi- 
schen am tiefsten beschäftigt haben, und dass meine An- 
sichten von Gott und Unsterblichkeit schon in jener Zeit 
mit denen nahe verwandt waren, welche mir später durch 
die Rohmer'sche Wissenschaft in neuer Gestalt und mit 
vollständiger Begründung zugeführt worden sind. 

Einige Auszüge, die ich je nach dem Inhalte über- 
sichtlich ordne, mögen hier Platz finden. 

Wissenschaft. 

„Der Geist, der sich in der Geschichte als Geist der 
Völker und Staten geoflfenbart hat, hat einen reicheren In- 
halt als der Geist einzelner Menschen." 

„Wie thöricht sind jene Weisen, die sich einbilden, 
Gott und Welt entstehen erst durch sie und ihre Gedanken. 
Sie gleichen den Kindern, welche die Bilder ihrer Phantasie 
höher schätzen, als die riesige Wirklichkeit. Gegenüber 



cap. 14.] Über Wissenschaft. 171 

dem von Ewigkeit her lebendigen Gott sind sie doch nur 
wie unscheinbare Stäubchen, die im Lichte glänzen." 

„Die Weltgeschichte ist die Offenbarung Gottes auf 
Erden." (In so absoluter Fassung ist der Satz doch nicht 
wahr. Nur wenn er ergänzt wird durch die Anerkennung, 
dass die Menschennatur und die menschliche Freiheit eben- 
falls ihren wesentlichen Anteil an der Weltgeschichte haben, 
wird derselbe richtig. Mein damaliger Fehler war, dass ich 
noch immer der geschichtlichen Macht zu viel und der per- 
sönlichen Freiheit zu wenig Wert beilegte.) 

„Jetzt ist die Zeit der positiven Wissenschaften. Wir 
müssen nun arbeiten und im Einzelnen thatsächliche Er- 
gebnisse gewinnen. Dann mag später wieder eine Periode 
der Speculation kommen, welche die Masse der verarbei- 
teten Stoffe tiberschaut und das Wesen einheitlich heraus- 
findet." 

„Poesie und die philosophischen Wissenschaften schei- 
nen für die Jugendzeit der Völker, die realen Wissenschaften 
eher für die reifere Mannesperiode zu passen. Wie in dem 
Jüngling Phantasie, Gefühl, Schwung des Geistes, ideale 
Begeisterung besonders wirksam sind, so fangt der Mann, 
dem die Sorge für das Haus obliegt, an zu zählen, zu 
messen, zu rechnen. Die Franzosen sind in der kälteren 
Lebensperiode angelangt. In der Poesie haben die Deutschen 
ihre Aufgabe bereits gelöst." 

„Die Amerikaner aber sind ein junges Volk und 
rechnen doch wie die Alten. Wie erklärt sich das? Kin- 
der, die von bejahrten Eltern erzeugt werden, haben in 
ihrer Jugend schon recht alte Gesichter. So sind die 
Amerikaner die Kinder der alten Europa mit ältlicher 
Anlage." 



172 Über Gott und Meksch, Chkistus. [cap. 14. 

Gott und Mensch, Christus. 

„Gottes Leib ist die Welt." 

„Auch in der Menschheit äussert sich das Wesen 
Gottes. Aber es ist Thorheit zu glauben, der ganze, un- 
begrenzte Gott könne in der beschränkten Gestalt eines 
Menschen dargestellt werden, selbst wenn dieser Mensch 
das verwirklichte Ideal der Menschheit wäre; und es ist 
Vermessenheit zu wähnen, irgend ein Sterblicher habe 
Gott völlig erfasst. Auch der beste und grösste Mensch, 
selbst Christus, konnte doch nur eine mangelhafte An- 
schauung Gottes haben.** 

„Das Gefühl des unmittelbaren Zusammenhangs des 
menschlichen Geistes mit dem göttlichen Geiste war nie- 
mals in einem Sterblichen lebendiger und klarer ausgebil- 
det, als in Christus. Der Glaube an Gott war in Christus 
vollkommener und wirksamer geworden, als in irgend einem 
andern Menschen. Aber die Erkenntnis Gottes kann und 
muss noch wachsen.« 

„Sokrates fasste Gott mehr vom Standpunkte des Er- 
kennens und Wissens auf, Christus mehr von dem Stand- 
punkte des Glaubens und Lebens. Eben deshalb eignete 
sich Christus mehr als Sokrates zum Religionsstifter." 

„Sokrates war vielleicht weiser als Christus; aber 
Christus war sicher religiöser als Sokrates." 

„Wer Christus für einen Schwärmer hält, muss Ra- 
phael für einen Pfuscher halten." 

„An die Göttlichkeit von Christus glaube ich, aber 
die Gottheit Christi erscheint mir wie Blasphemie." 

Unsterblichkeit. 

„Meine Ansicht von der Unsterblichkeit ist kurz aus- 
gedrückt folgende. Der Geist, der in dem Menschen lebt, 



cap. 14.] Übek Unsterblichkeit. 173 

ist ein Individuum. Er war schon vor der Geburt vor- 
handen, gleichsam eine Idee des göttlichen, ewigen Geistes. 
Desshalb lebt er auch nach dem Tode fort. So weit die 
geistigen Eigenschaften in dem menschlichen Körper ihren 
Ursprung oder ihre notwendigen Bedingungen der Existenz 
haben (später wurde dieser Teil Seele und ßasse genannt), 
so weit gehen sie mit dem Körper unter. Wie der mensch- 
liche Körper sterblich ist, so auch aller menschliche Geist, 
der an die Bedingung des Körpers gebunden ist. Daher 
gehen unter mit dem Tode das eheliche Verhältnis, das 
Wissen irdischer Dinge, das menschliche Vermögen. Der 
individuelle Geist aber, der nicht von der Erde stammt, 
geht nicht mit dem Körper unter, den er als Mensch be- 
wohnt hat. Je nachdem er während des Menschenlebens 
seine Kräfte entwickelt, sei es erhöht, sei es erniedrigt 
hat, geht er kräftiger oder schwächer, reiner oder befleckter 
von dannen. Die Tugend, die Arbeit des Denkens, die 
That wirken daher nach, über den Tod hinaus. Der zu- 
künftige Zustand wird der innern Kraft entsprechen. Der 
gehobene und veredelte -Geist wird eine vollkommenere 
heue Gestalt erhalten, der verdorbene und geschwächte 
Geist wird eine niedrige Gestalt annehmen. Wo und wie 
das geschehe, das wissen wir nicht. Aber wir können 
den Fortschritt ahnen.** 

„So lange der Mensch auf der Erde weilt, muss er 
seine irdische Bestimmung erfüllen. Er soll auf der Erde 
leben und wirken und auch da die Spuren seines Lebens 
zurücklassen. Indem er das thut, wird er auch mittelbar 
der höheren Bestimmung zureifen." 

„Mein Freund Hirzel machte mich aufmerksam, dass 
die alten Indier im Grund dieselbe Ansicht hatten. Die 



174 Übeb Unsterblichkeit. [cap. 14. 

indischen Weisen besassen in hohem Grade die Kraft, 
durch Vertiefung in das innere Geistesleben sich von den 
Einflüssen des Körpers frei zu machen und sich den Ein- 
wirkungen der Welt zu entziehen. Dadurch erwarben sie 
eine reine Anschauung des innersten Geisteslebens imd der 
höchsten Ideen. Wir müssen den entgegengesetzten Weg 
wandeln. Zu viel der Welt hingegeben, die seither fort- 
geschritten ist, vermögen wir zu den höchsten Ideen nur 
dadurch empor zu steigen, dass wir die reiche Erfahrung 
der Welt von hohem Standpunkte aus überschauen." 

„Der innerste Kern unseres Geistes ist nicht durch 
unseren Körper bedingt, nicht von menschlicher Abkunft 
und Art. Zu diesem Geiste, der vorher war und nacliher 
sein wird, gehören die Ideen der Gottheit und des Ewigen, 
welche der körperlich beschränkte Menschengeist nicht be- 
greifen kann, sondern seiner irdischen Anlage nach be- 
zweifelt und sogar läugnet. Dieses innerste Bewusstsein 
einer überirdischen Geisteskraft ist das höchste und selbst 
das gewisseste. In allen anderen Dingen denken wir nur, 
wie irdische Wesen denken müssen, in diesen höchsten 
Dingen werden wir unserer höheren Geistesnatur inne und 
denken wir wie überirdische Geister." 

„Das Bild des Schmetterlings ist ein gutes Bild der 
Unsterblichkeit. Wie die Raupe, die als Wurm an der 
Erde kriecht, durch den Scheintod der Puppe hindurch 
sich zum Schmetterlinge entfaltet und nun frei von Blume 
zu Blume fliegt, so kann auch der Geist im Menschen, 
vorerst durch seinen Körper an die Erde gefesselt, sich 
zu einem höheren Wesen entwickeln, welches der Erde 
entrückt wird." 

„Dem Menschen ist es gegeben, mit seinem geistigen 



cap. 14.] Über Unsterblichkeit. 175 

Auge über den Erdkreis hinaus und in das unermessliche 
Weltall hinein zu schauen und die Ewigkeit zu ahnen. 
Darin liegt die sicherste Bürgschaft, dass die Bestimmung 
unseres Geistes nicht auf der Erde ihr Ende findet.** 

„Wer in seinem Lebenskreise die Verhältnisse der 
Erde durchgelebt und ihre Erscheinungen verarbeitet hat, 
der mag nach vollbrachtem Tagwerk ruhig dahin gehen, 
wo seiner neue Verhältnisse und neue Erscheinungen 
warten.** 

„Auch das Wissen ist nicht bloss um der Erde willen 
da. Der wissende Geist ist höher als der unwissende. Er 
wird sich auch auf einem andern Sterne rascher zurecht 
finden, als der im Denken ungeübte Geist. Die irdische 
Wissenschaft mag vergessen werden, aber die Ausbildung 
der Geisteskraft wirkt fort.** 

„Die meisten Menschen stellen sich vor, Gott werde 
über sie richten und alle guten und bösen Thaten unter- 
suchen und abwägen, recht wie unsere amtlichen Stats- 
richter, nur scharfsichtiger und gründlicher. Aber die 
Schöpfung Gottes ist nicht nach solchen Gesetzen einge- 
richtet. Das Gericht hat Jeder in sich.** 

„Die schlechte That brennt auf der guten Seele, aber 
diese kann wieder gereinigt werden durch den Brand.** 

„Wären im Himmel alle gleich, so möchte ich nicht 
hinein. Die ganze Natur weist auf Mannigfaltigkeit hin. 
Es kann Jeder in seiner Weise in vollem Rechte und 
glücklich sein. Aber gleich sind die verschiedenen Na- 
turen nicht. Der Doctor Faust ist doch ein höherer Geist 
als sein Famulus Wagner.** 

Politik. 

„Die Staten und Statsformen. fallen, wie im Herbste 



176 Übeb Politik. [cap. 14. 

die welken Blätter. Ganze Völker verdorren,, wie alte faule 
Bäume. Auch Frankreich scheint mir sich dem Verfall zu- 
zuneigen. Seine Jugend ist schon lange vorüber, auch sein 
Mannesalter ist zurückgelegt. Weniger vorgerückt ist Eng- 
land; aber mir kommt es vor, als wäre England gegen- 
wärtig ungeföhr in derselben Altersentwickelung, in wel- 
cher die Römer zur Zeit der Gracchen waren.** 

„Was wird aus Europa werden, wenn dereinst auch 
die germanischen Staten absterben werden? Wird sich 
die slavische Rasse auch positiv entwickeln, während sie 
bisher nur receptive, nicht schöpferische Kräfte gezeigt 
hat? Kennen wir schon den Umfang ihrer inneren Kraft? 
Vielleicht entsteht später eine Mischung von germanischem 
und slavischem Wesen und darum ein neues germano- 
slavisches Leben, nachdem das romanogermanische unter- 
gegangen sein wird." 

„Es bereitet sich mehr und mehr ein grosser Kampf 
vor der germanischen Völker mit dem romanischen Wesen. 
England steht in der Mitte, halb germanisch, halb roma- 
nisch." (Dieser Gedanke war in seiner Ausdehnung auf 
ganze Völkerfamilien unrichtig, in seiher Beschränkung 
auf den Kampf zwischen Frankreich und Deutschland zu- 
treflFend.) 

„Deutschland muss durch sich selber gross und frei 
werden. Darum sehe ich eine Vermehrung der Bundes- 
gewalt, wenn sie sich auch manchmal drückend darstellt, 
ganz gerne. Dadurch werden die Massen einander näher 
gebracht, und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit 
wird erweckt. Steht Deutschland einmal als grosser Stats- 
körper selbständig da, als Macht gegen Aussen, so wird sich 
die Freiheitim Innern von selber naturgemäss entwickeln." 



cap. 14.] Übek Politik. ]77 

„Die Hegemonie in Deutschland gehört Preussen. 
Durch den Zollverein hat es sich den Weg zu diesem 
Ziele gebahnt." 

„Nur dem gebührt Freiheit, welcher die Kraft hat, 
sie zu erfassen und sich in ihrem Besitze zu erhalten.** 

„Der Stein, der sich in senkrechter Fläche dem reis- 
senden Strom entgegenstellt, wird schliesslich von der Macht 
des Stromes fortgerissen. An dem Damme aber, der in 
schräger Richtung der Strömung mit sanftem Widerstände 
begegnet, weicht die Woge aus, und er bleibt unversehrt. 
So ist es oft in der Politik." 

„Eine Landschaft ohne Berge hat für mich keinen 
Reiz. Sie erscheint mir öde und langweilig. Auch in der 
Politik ist mir die ebene' Flachheit zuwider, und ich ver- 
lange nach grösseren Menschen, welche über die Menge 
emporragen, wie die Berge über die Ebene." 

„In jedem einzelnen Augenblick die Richtung des 
Weltganges zu erkennen, das Entwickelungsfahige heraus- 
zufühlen und zu fordern, und die Abwege zu vermeiden, 
das ist die Hauptaufgabe des Politikers." 

„Er darf sich nicht täuschen lassen durch die Lob- 
preisung besserer Zustände und schönerer Erscheinungen 
in vergangenen Zeiten. Auch das Schönste stirbt ab, wenn 
seine Zeit vorüber ist, und lässt nur die Erinnerung zurück." 

„Das Lebendige, Erzeugende, Wachsende, das ist das 
wahre Element des Politikers." 

„Wie sich die Menschen in vulkanischen Gegenden 
an die täglichen Erschütterungen der Erde gewöhnen und 
sich dadurch nicht in ihrer Ruhe stören lassen, so werden 
wir Schweizer an die häufigen Erschütterungen der Staten 
gewöhnt und bleiben ruhig." 

Bliintsehli, Dr. J. 0., Ans inMupra Lebon. T. J2 



178 Über Politik. [cap 14- 

„Das Wesen der schweizerischen Eigentümlichkeit liegt 
in ihrer Mannigfaltigkeit. Drei grosse Nationen stossen da 
zusammen, und ihre Fluten brechen sich an unseren Bergen. 
Die beiden Religionen durchkreuzen sich da ebenfalls und 
bekämpfen sich. Von Aussen drücken verschiedene politi- 
sche Mächte und Richtungen auf uns ein. Im Innern sind 
die Unterschiede des Cultus, der Lebensart und der Verfas- 
sung noch grösser. Die Parteien sind in heftigem Wider- 
streit. Aber aus alle dem entwickelt sich doch ein frisches 
und reiches Leben. Jeder muss für sich selber einstehen. 
Das hält die Sinne wachsam und schärft die Gedanken 
des Kopfes und nötigt zu rasch entschlossenem Handeln." 

„Die Neutralität ist für die Schweiz unentbehrlich. 
Ohne sie würden die grösseren Mächte die schweizerischen 
Gemeinwesen anziehen und verschlingen, wenn sie nicht 
mit ihnen spielen würden, wie die Katze mit den Mäusen.** 

„Der geistlose Adelige ist ein Planet, der sein Licht 
von einer Sonne empfangt, der geistvolle Nichtadelige hat 
das Licht in sich." 

„Vor der intellectuellen Grösse und Macht kann ich 
mich willig beugen, aber nicht vor der Nichtigkeit, die 
nur durch grössere Ahnen gehoben wird. Die Anmassung 
solcher hochmütiger Strohköpfe ist mir verhasst aus tief- 
ster Seele." 

„Wer in dem State nur eine Vogelscheuche sieht 
gegen Diebe und Strolche, der kennt weder die Menschen 
noch den Stat." 

„Wer wird sagen, die Bäume, Sträucher und Blumen 
seien nur für den Garten da, in dem sie gepflegt werden? 
Aber ebensowenig lässt sich behaupten, dass der Garten 
um der Pflanzen willen eingerichtet sei, die darin wachsen. 



cap. 15.] Über Recht und Psychologie. 179 

So sind auch die einzelnen Menschen nicht ausschliesslich 
für den Stat und der Stat nicht bloss für die einzelnen 
Bürger da. Jedes wahrhafte Wesen hat eine Bedeutung 
für sich und für die übrige Welt." 

Recht. 

„Die Kraft ist die Quelle des Rechtes, der Same, aus 
dem das Recht herauswächst." 

„Erzwingbarkeit gehört nur darum zu den Eigen- 
schaften des Rechtes, weil das sittliche Gefühl nicht stark 
genug und die Einsicht der Menschen nicht klar genug ist, 
um das Recht allezeit ohne Zwang anzuerkennen." 

„Das Recht ist schon vor der Verletzung vorhanden, 
welche den Zwang herbeiruft. Der Zwang ist nur eine 
Wehr des Rechtes und ein Heilmittel wider das Unrecht." 

Psychologie. 

„Der Mann beschränkt sich durch die Liebe. Das 
Weib erweitert sein Wesen durch die Aufnahme eines 
höheren. Die Weiber lieben ganzer und hingebender, als 
die Männer. Sie sind sittsamer und tugendhafter, als diese. 
Aber ihre Tugend ist geringer, als die männliche, weil jene 
dem unbewussten Instinkte näher, diese von freiem und 
bewusstem Willen bestimmt ist." 



15. 

Reise Über Venedig nach Triest und Wien. Armin's Qebart und 

Tod. Freiwilliger Tod von Theodor Fröhlich und Jacob Vogel. 

Verlobung W. Wackernagels mit meiner Schwester Luise. 

Mein jüngster Bruder Karl war als Lehrling in einem 
Handelshause zu Triest untergebracht worden und dort am 
Typhus erkrankt. Während der Gefahr für sein Leben 

12* 



180 Reise nach Triest. [cap. 15. 

reiste ich im Auftrag meines Vaters nach Triest. Auf 
dieser Reise, im März und April 1836, bekam ich man- 
cherlei neue Eindrücke. Zum ersten Male betrat ich nun 
den österreichischen Stat. 

Es fiel mir auf, dass die Strassen im Vorarlberg besser 
gepflegt waren, als in dem schweizerischen Thurgau. Hier 
vernachlässigten die Gemeinden, denen die Unterhaltung 
oblag, ihre Pflicht; dort sorgte das Statsamt durch seine 
Strassenwärter für die Herstellung der Strassen. Dagegen 
gab mir eine Äusserung eines österreichischen Beamten 
eine wunderliche Vorstellung von den öffentlichen Zustän- 
den in dem Kaiserreich. Er erklärte mir, ohne eine Spur 
von Ironie, in vollem Ernste: „Wir Beamte haben es gut; 
wir brauchen uns nicht mit Denken abzumühen; der Metter- 
nich denkt für uns." Der Mann war wirklich glücklich in 
dem Gefühl, nicht selber denken zu müssen. 

Die Fahrt über den Arlberg war nicht gefahrlich, 
aber ziemlich beschwerlich. Noch lag viel Schnee, und 
der Schnee war auf der Nordseite des Berges gefroren. 
Das Gebirge schien mir viel wilder und rauher als in der 
Schweiz, die Thäler enger, die Klüfte tiefer, die Höhen 
steiler. Die deutschen Dörfer waren freundlicher und 
hübscher, als die Dörfer auf der welschen Seite des Ge- 
birges. Ich begegnete ganzen Scharen von Tirolern, welche 
auf die jährliche Wanderung zogen, die einen als Maurer 
in die Schweiz und nach Frankreich, die anderen als Hirten 
nach Schwaben : Männer, Weiber und Buben, doch vorzugs- 
weise Männer. Wenn die ersten Strahlen der Frühlings- 
sonne in ihre winterlichen Bergthäler hinein scheinen, dann 
verlassen sie die kalte Heimat und wenden sich milderen 
Gegenden zu ; aber im Winter sind sie daheim und wärmen 



cap. 15.] Venedig. 181 

und nähren sich mit dem im Auslande gewonnenen und 
ersparten Lohn. So kommt alljährlich viel Geld in das 
arme Ländchen. Die Leute sind gut gekleidet, und ihre 
stolze, trotzige Haltung beweist, dass sie sich nicht arm 
fühlen. Nur der Kirche gegenüber sind sie demütig, mit 
dem Statsbeamten verkehren sie in vertraulich-patriarcha- 
lischer Weise. 

In Venedig musste ich die Abfahrt des Dampfbootes 
erwarten und hatte daher zwei Tage Zeit, mich in der 
wunderbaren Meeresstadt umzusehen. Venedig ist eine 
wahrhaft unglaubliche Stadt. An der Meeresküste und 
auf Inseln gibt es hunderte von Seestädten; aber Venedig 
ist nicht an einer Küste und nicht auf einer Insel gebaut. 
Die Stadt erhebt sich mitten aus dem Meere, ohne alles 
Land. Die Häuser steigen unmittelbar aus dem Wasser 
senkrecht in die Höhe. Die eine Hausthüre öifnet sich 
auf den Canal, der das Haus bespült und auf dem die 
dunkeln Gondeln leise hin und her schwimmen. Diese 
mit schwarzen Tüchern behangenen Gondeln gleichen ganz 
den Trauer- und Leichenwagen. Es war mir unverständ- 
lich, dass sich diese ernste, unfreundliche Sitte fortwährend 
erhalten konnte und nicht einmal den Kampf mit farbigeren 
und heiteren Fahrzeugen zu bestehen hatte. 

Der herrliche Marcusplatz und der damit verbundene 
Molo waren an dem Sonntage und in der Camevalszeit 
sehr belebt. Nachdem ich das sich hier entwickelnde 
Treiben mir betrachtet, betrat ich die erleuchteten Räume 
einer Kirche, angelockt von dem schönen Gesang. Hier 
wird man recht inne, wie sehr die katholische Religion 
auf die Sinne zu wirken weiss. Der Cultus ist sinnlich 
durch und durch, aber die Sinnlichkeit erscheint in ihm 



182 • Venedig. [cap. 15. 

veredelt und vergeistigt. Es ist eine erhebende Erschei- 
nung, in diesen prachtvollen, reich geschmückten Hallen 
auf dem buntfarbigen Marmorboden vornehme und geringe 
Leute, Hohe und Niedere beisammen zu sehen, wie sie in 
gemeinsamem Gebete sich dem Priester zuwenden und ne- 
ben einander ihre Knie vor dem Heiligen beugen. 

Es gefiel mir an dem katholischen Cultus, dass er 
den verschiedenen Stimmungen und Bedürfnissen des Ein- 
zelnen eine mannigfaltige Befriedigung darbietet. Bei uns 
gehen Alle zur selben Stunde in die Kirche und aus der 
Kirche; und Alle erwarten von der Einen Predigt ihre 
Erbauung. Aber in die katholische Kirche geht Jeder, 
wenn ihn das Verlangen treibt, zu jeder beliebigen Tages- 
stunde. Jeder findet auch leicht eine Stelle, die ihn an- 
spricht. Während sich eine Gruppe Leute einem Seiten- 
altar zuwendet, wo ein Priester die Messe liest, suchen 
Andere eine einsame Stelle auf, wo sie für sich beten und 
den eigenen Gedanken nachsinnen. Wer gesättigt ist von 
dem Cultus, der entfernt sich inihig und kümmert sich so 
wenig um die Bleibenden, als diese um den Gehenden. 
Jeder denkt und fühlt, wie es ihm zu Mute ist; Niemand 
führt das Commando, wie er denken und fühlen soll. 

In dem Dogenpalaste bewunderte ich das Denkmal 
der entschwundenen Herrlichkeit der früheren Republik. 
Allenthalben wird man an die vormalige Grösse der Re- 
publik gemahnt. Di^ Säle des Senats, der Dogenwahl, 
des Grossen Rats sind heute noch mit den prachtvollen 
Gemälden geschmückt, welche die Thaten der alten Aristo- 
kratie verherrlichen. In dem Saale des Grossen Rates sah 
ich noch die Rednerbühne und die Bilder von Demosthenes 
und Cicero, die den venetianischen Redner ermunterten, dass 



cap. 15.] Venedig. 183 

er es den grossen Rednern des Altertums gleich zu thun 
versuche. Diese Erinnerungen bilden freilich einen schroiFen 
Contrast zu den österreichischen Soldaten, welche das vor- 
malige Rathaus bewachen und die vormaligen Republikaner 
zum Gehorsam zwingen. Überhaupt fiel mir der Gegensatz 
in den Physiognomien der Venetianer und der österreichi- 
schen Truppen sehr auf. Die Gesichter der Venetianer 
hatten durchweg scharf ausgeprägte Züge, auf denen die 
Erlebnisse von Jahrhunderten ihre Furchen eingegraben 
hatten. Keiner sah dem andern gleich, jeder erschien als 
eine eigenartige Individualität. Manche Gesichter kamen 
mir vor, wie Ruinen eines ausgebrannten innem Lebens. 
Die österreichischen Soldaten dagegen hatten weichere, kind- 
lichere Züge; es waren wohl meistens slavische Truppen. 
Diese Rasse hat noch wenig erfahren, die Geschichte hat ihre 
Anlage noch nicht entwickelt, die Unterschiede noch nicht 
herausgetrieben. Einer sah dem andern gleich. Wie son- 
derbar! Mit diesen geistig noch unreifen, aber leiblich fri- 
scheren Kräften werden die klugen Venetianer beherrscht. 
Mein Führer versicherte mich, die Herrschaft der 
Österreicher sei viel milder, als die der Franzosen. Diese 
haben die Köpfe abgeschlagen, jene sehen durch die Finger. 
Ob das wahr ist, konnte ich nicht so rasch erkennen. Aber 
ich wunderte mich, dass die Beamten der Österreicher kein 
Deutsch verstehen, und meinte, das sei ein Zeichen der 
Schwäche des Kaiserstates. Die Römer hätten das anders 
gemacht. Schöner freilich wäre, wie ich meinte, die an- 
dere, nationale Politik, die aber Österreich auch nicht be- 
greife. Ein ausgezeichneter Fürst, der es verstünde, den 
schlummernden Lebensgeist des italienischen Nordens auf- 
zuwecken und zu leiten, würde ein italienisches Königreich 



184 Triebt. [cap. 15. 

stiften können, und es würden ihm nach und nach alle 
getrennten Glieder zufallen. Es war mir nicht klar, wes- 
halb die österreichischen Statsmänner weder den einen 
noch den andern Weg einschlagen. Ich wusste damals 
noch nicht, wie wenig Verständnis in der Wiener Hofburg 
für die moderne nationale Statsidee zu finden sei. Aber 
es freute mich in meinem spätem Leben zu sehen, dass 
eine italienische Dynastie und italienische Statsmänner den 
politischen Gedanken ergriffen und verwirklichten, der mir 
damals in Venedig klar geworden war. 

Zum ersten Male sah ich das Meer, als ich auf dem 
Dampfboote von Venedig nach Triest hinüberfuhr. Aber 
doch nur ungenügend; denn so lange ich auf dem Verdeck 
mich umsah, waren das Ufer und die Berge sichtbar ge- 
blieben, und als die Nacht den Blick hemmte, schlief ich 
ruhig fort in der engen Kajüte. 

Triest gewährte den Eindruck einer noch jungen, aber 
kräftig wachsenden Handelsstadt, die sich an dem Meer- 
busen hinzieht, um die Waren, die ihr von der See aus 
zugeführt werden, aufzunehmen und in*s Innere des Lan- 
des zu versenden. Die zahlreichen Schiffe, die vor Anker 
lagen, waren Kauffahrer meistens von mittlerer Grösse, 
sogenannte Briggs, nur wenige Dreimaster darunter, aber 
von allen seefahrenden Nationen. Auf der 'Börse pulsierte 
das Handelsleben am heftigsten. Die öffentlichen Gebäude 
zeichneten sich nicht, wie in Venedig, durch Schönheit 
aus. Auch das Theater stand in jeder Beziehung weit 
hinter der Fenice in Venedig zurück. Die litterarischen 
Kräfte und die geistige Nahrung kamen kaum in Betracht 
neben der reichen Fülle der Waren und der guten Küche 
in den Kaufmannshäusern, Das Lesezimmer in dem Casino 



cap. 15.] Wien. 185 

war sehr dürftig ausgestattet, weit besser die Spielsäle. 
Die meisten fremden Zeitungen waren verboten. Von den 
Schweizern in Triest wurde ich sehr freundlich aufgenom- 
men. Ich hatte unter denselben auch alte Freunde und 
Bekannte. 

Meine Rückreise führte mich nach Wien,, wo ich einen 
Teil der Charwoche zubrachte und die Osterfeier genoss. 
Aus meinen Berichten an meine Frau hebe ich folgende 
Stellen hervor: 

„Kaiser Joseph IL hat, seitdem ich Wien gesehen, 
sehr in meiner Schätzung gewonnen. Er hat eine Menge 
neuer Anstalten gegründet und einen Geist erweckt, der 
heute noch in der Bevölkerung fortlebt. Wenn er nichts 
anderes gethan hätte, als dass er den Prater aller Welt 
eröflfhet hat, so hätte er Grosses gethan. Vor ihm durfte 
nur der hoffähige Adel den Prater besuchen. Aber was 
wäre Wien ohne seinen freien Prater? Indem der Kaiser 
den Bürger dem Edelmann gleichstellte, hat er eine Wand- 
lung der Sitte und der Denkweise eingeleitet, welche aus 
dem Mittelalter herausführen musste. Die Inschrift auf 
seinem Denkmal hat er verdient: , Josephe II. Augusto, 
qui saluti publicae vixit, non diu sed totus.* (Joseph IL, 
dem Kaiser, der nicht lange, aber ganz dem öffentlichen 
Wohle gelebt hat.) Auf einem der Medaillons, welche die 
Pilaster zieren, stehen die Worte: Gloria saeculi novi. 
Mich wunderte, dass die Wiener Censur nicht die gefahr- 
liche Lobpreisung des neuen Zeitgeistes gestrichen hat. 
Zum Glück ist die Inschrift lateinisch, sonst könnte sie 
dem State grosse Gefahren bereiten." 

„In dem Burgtheater habe ich etwas gefunden, was 
ich vorher nicht in solcher Vollendung gesehen hatte, auch 



186 Wien. [cap. 15. 

in Berlin nicht, ein Zusammenspiel, in welchem alle Rollen 
ohne Ausnahme vortrefflich besetzt waren. Einmal sah 
ich einige Lustspiele. Ein ander Mal die Braut von Mes- 
sina. Ich war um so begieriger darauf, als ich das Stück 
noch nicht gesehen hatte und auch den Eindruck der Chöre 
nicht kannte. Ich kann nicht sagen, dass mich die Chöre 
unbedingt befriedigt haben. Vorzüglich ergreifend schien mir 
die Sprache des altem Chorführers; den Jüngern wünschte 
ich weg. Vielleicht liegt in dem Zwiespalt der Chöre ein 
Fehler. Das besonnen überlegende Urteil der Weisen aus 
der Menge scheint mir allein für den Chor zu passen; und 
das teilt sich nicht fortwährend in zwei Paii:eimeinungen, 
sondern ist in der Regel nur Eines. Die alte Schröder 
gab die Königin von Messina vortrefflich. Ich habe sie 
in noch günstigerem Lichte in der Merope von Voltaire 
gesehen." 

Nach weiteren zwanzig Jahren habe ich die greise 
Schröder in München öfter wieder gesehen in dem Kaul- 
bach'schen Hause. Selbst dann noch las sie einzelne dra- 
matische Scenen mit gewaltiger Kraft der Empfindung. 

„Um das Leben in Wien recht und innig zu geniessen, 
muss man nicht allein sein, wie ich es bin. Das Familien- 
leben ist hier sehr ausgebildet. Der Mann lebt überall mit 
seiner Frau: zu Hause, in Gesellschaft, im Theater, bei 
Dommayer und im Sperl. Herrenclubs sind fast gar nicht 
vorhanden. Für litterarische Unterhaltung ist nicht ge- 
sorgt. Hier fühle ich lebhaft, dass es nicht gut ist, allein 
zu sein. Du und die Kinder gehören mir an, wie Glie- 
der meines Leibes. Ihr habt tiefe Wurzeln geschlagen in 
meinem Wesen, und ich bin an euch gebunden, wie ihr 
an mich. Auch fangt das müssige Leben an, mir zu eut' 



cap. 15.] Armin. 187 

leiden, und ich sehne mich nach Arbeit. — Auch politisch 
bin ich hier inne geworden, dass eine Republik, trotz ihrer 
Rohheiten, mir persönlich besser behagt, als diese Monar- 
chie, in welcher der Adel und die Priester herrschen. Ich 
gehöre meinem ganzen innern Streben nach einer gründ- 
lichen Reform der alten Zustände an. Wenn die Schweiz 
die sittliche Kraft besässe, sich selber zu beherrschen, der 
Zügellosigkeit zu entsagen und diese grosse Aufgabe zu 
erfüllen, so könnte sie ein bedeutsames Vorbild werden 
für die europäische Welt." 

Angeregt von den neuen Lebensbildern kehrte ich in 
die Heimat zurück. 

Im Jahre 1836 gebar meine Frau noch einen Kna- 
ben (22. Mai), der Ferdinand Armin getauft wurde. Der- 
selbe starb aber schon als jähriges Kind ((3. Juni 1837). 
Schon vorher drängte sich den Eltern der Gedanke auf: 
dieses Kind passt nicht für dieses irdische Leben; es ist 
zu fein und zu gut für dasselbe. Ich habe nie ein schö- 
neres Kindesauge gesehen, als das seinige. Aus den tief- 
blauen glänzenden Augensternen leuchtete eine seelenvolle 
Liebe und eine unbeschreibliche Güte heraus, die ihrer 
selbst naiv bewusst zu sein schien. Einigermassen erin- 
nerten mich die Engelsköpfchen, welche zu der Sixtinischen 
Madonna von Rafael hinaufschauen, an das Bild dieses Kna- 
ben, welcher nach Lessings Ausdruck gescheit genug war, 
diesen zweifelhaften, irdischen Wohnort bald wieder zu ver- 
lassen. Er starb an Krämpfen des Herzens. Bis zum Tode 
behielt er sein Bewusstsein und selbst in dem letzten Rin- 
gen des gehemmten Atems mit dem kranken Körper blickte 
er mit seinen freundlichen Augen ruhig und liebend um- 
her, so oft die Leiden momentan pausierten. Plötzlich 



188 Wilhelm Wackernagel. [cap. 15. 

wurde der Blick sterr, der langsamö Atemzug erlosch. 
So sah ich dem Tode in der Gestalt des kleinen Lieblings 
in*s Antlitz. Ich war durchdrungen von dem Gefühle, dass 
es ihm wohl und er Gott näher sei, als die zurückgeblie- 
benen Eltern. 

Im Jahre vorher hatten mich zwei gewaltsame Todes- 
falle schwer betroffen. Mein musikalischer Freund Theo- 
dor Fröhlich, dessen seelenvollem Spiel ich in Berlin so 
gern zugehört hatte, war seines Lebens überdrüssig ge- 
worden. Er war nicht glücklich in seiner Ehe und hatte 
wohl auch andere Sorgen, die ihn quälten. Er suchte und 
fand den Tod in den Fluten der reissenden Aare. 

Ebenso machte mein Schwager Jacob Vogel seinem 
Leben durch einen Pistolenschuss ein unerwartetes Ende. 
Er war mit sich selbst und mit den Seinen unzufrieden. 
Das Leben erschien ihm reizlos und widerwärtig. In einem 
Anfall von Melancholie griff er zu der tödlichen Waffe* 

Den traurigen Erlebnissen trat nun auch ein freudiges 
Familienereignis gegenüber und bewahrte das Gleichgewicht 
in dem Wechsel des Schicksals. Mein alter Studienfreund 
von Berlin, der Germanist Wilhelm Wackernagel, der 
als Professor der deutschen Sprache und Litteratur an das 
Gymnasium und die Universität zu Basel berufen worden 
war, verlobte sich mit meiner jungem Schwester Luise und 
kam nun auch in nähere verwandtschaftliche Beziehung zu 
meiner Familie. Ich war mit demselben fortwährend in 
freundschaftlichem und in wissenschaftlichem Verkehr ge- 
blieben. Für meine Familie war der Beitritt einer so be- 
deutenden geistigen Kraft selbstverständlich von hohem 
Werte. 



cap. 16.] Schulsynode von 1886. 189 

16. 

Schulsynode 1836. Wahl in den Grossen Rat. Meine Stellung 
in dieser Behörde. Änderung der Repräsentationsverhältnisse. 
Anteil an Zeitungen. Correspondenz in die Augsburger Allge- 
meine Zeitung. Mein Streit mit J. Th. Scherr. Ernennung zum 
ordentlichen Professor. Wissenschaftliche Arbeiten und Werke. 
Zürcherische Rechtsgeschichte 1838/39. Die neueren Rechts- 
schulen der deutschen Juristen 1839. Anregung für das öffent- 
liche Recht und der Streit der Germanisten mit den Romanisten. 

Zum ersten Male hatte ich im Jahre 1836 Gelegen- 
heit, eine grosse Versammlung zu präsidieren, ein Geschäft, 
das ich in späteren Jahren oft zu betreiben hatte, und in 
dem ich infolge dieser Praxis einige Sicherheit gewann. 
Ich war auf der Schulsynode des Jahres 1835 zu Winter- 
thur durch eine wunderliche Verkettung von zuföUigen 
Umständen zum Präsidenten dieser repräsentativen Ver- 
sammlung für das nächste Jahr gewählt worden. Es war 
das eine Vertretung des ganzen Lehrerstandes nach Ana- 
logie der Kirchensynode, in welcher die Geistlichkeit des 
Cantons vertreten war. Die Masse der Mitglieder wurde 
durch die Volksschullehrer gebildet. Die Versammlung fand 
in dem Saale des Grossen Rats in Zürich statt. (August 
1836.) Es nahmen ungefähr 350 Mitglieder daran teil. 

Als Präsident erlaubte ich mir, in der Eröffnungs- 
rede einige Worte über das Verhältnis der Volksschule zur 
Kirche zu sprechen. Ich wies auf den weltgeschichtlichen 
Gegensatz hin zwischen dem Mittelalter und der neuen 
Zeit. Dort Herrschaft der Kirche über die Wissenschaft, 
hier Befreiung der Wissenschaft von der kirchlichen Auto- 
rität und selbstbewusste Entwicklung jener. Später erst, 
aber ebenfalls mit geschichtlicher Notwendigkeit, wurde 



190 Wahl in den Grossen Rat. [cap. 16. 

die Volksschule abgelöst von der kirchlichen Vormund- 
schaft, nicht in der verderblichen Absicht, die Religion 
aus der Erziehung der Jugend zu beseitigen, aber in dem 
Gedanken, das selbständige Leben der Schule zu heben 
und zu entfalten. Wie die Architektur den weiten Räu- 
men der Kirche, welche die ganze Gemeinde religiös zu 
einigen und zu erheben berufen ist, die freundlichen Schul- 
häuser für die Kinder in gesonderten, eigens für den Schul- 
zweck gebauten Räumen gegenüberstellt und nicht etwa in 
dem Kirch- und Pfarrhofe unterbringt, so soll auch die 
Schule als Anstalt der Gemeinde und des States einen selb- 
ständigen Bereich ihrer Wirksamkeit haben. 

Nachdem ich am 7. März 1837 mein dreissigstes Lebens- 
jahr angetreten und dadurch das erforderliche Alter erreicht 
hatte, welches den Eintritt in den Grossen Rat bedingte, 
wurde ich von der Zunft zum Widder, welche vorher mei- 
nen Vater zu ihrem Abgeordneten gewählt hatte, zum Mit- 
glied dieser obersten Landesbehörde ernannt. Damit war 
mir ein politischer Wirkungskreis eröffnet, zu welchem 
mich Natur und Neigung hinzogen. Ich blieb Mitglied des 
Grossen Rates bis zu meiner Übersiedlung nach München 
d. h. bis Frühjahr 1848. Es war das eine kampfreiche 
und wechselvolle Zeit, welche Geist und Gemüt aufregte 
und anspannte. 

Im Anfang gehörte ich zu der Minderheit der soge- 
nannten Gemässigten oder Constitutionellen, die vorzugs- 
weise in der Hauptstadt ihren Anhalt fand. Die Sturmflut 
von 1839, welche das radikale Regiment wegschwemmte, 
trieb meine politischen Freunde in die Höhe, und ich wurde 
einer der Führer der Majorität, wie das Land sie gewählt 
hatte. Dann kam diese Majorität wieder ins Schwanken, 



cap. 16.] Meine Stelluko in dieser Behörde. 191 

und die alten Führer des Landes gewannen erneutes An- 
sehen. Seit den Maiwahlen von 1842 standen sich die 
beiden Hauptparteien in dem neugewählten Grossen Rate 
fast in gleicher Stärke gegenüber. Damals gelang es mir, 
durch Gründung der liberal-conservativen Partei dieser nach 
und nach ein wachsendes Übergewicht zu verschaffen, bis 
endlich dieser Versuch, mit Hilfe eines neuen politischen 
Princips die liberalen und conservativen Elemente zu ver- 
binden und gemeinsam die Extreme niederzuhalten, an den 
Folgen der Luzerner Jesuitenberufung scheiterte, welche den 
entschiedenen Sieg der liberal-radikalen Partei verschaffte. 

Im Jahr 1845 war ich mit dem Amte eines Präsi- 
denten des Grossen Rates betraut worden. 

An den gesetzgeberischen Arbeiten dieser Periode 
nahm ich fortwährend einen regen Anteil, der auch nicht 
durch die Parteigegensätze geschmälert oder gehindert 
wurde. Sogar nach meiner Entfernung von Zürich wurde 
der frühere Auftrag, das privatrechtliche Gesetz- 
buch für den Canton Zürich zu redigieren, nicht zurück- 
genommen, sondern bestätigt. Ich werde davon später zu 
berichten haben. Es bewährte sich so die gute Sitte der 
Republik, die gesetzgeberische Thätigkeit nicht der herr- 
schenden Partei allein wie ein Monopol vorzubehalten, son- 
dern die Einsicht und Fähigkeit auch der Opposition für 
das gemeinsame Werk zu benützen. Ich habe in meinem 
spätem Leben zuweilen die unerfreuliche Erfahrung ge- 
macht, dass die Praxis sowohl der Regierungen, als der 
Kammern im Deutschen State gelegentlich ängstlicher und 
befangener sei, als ich in Zürich gewöhnt worden war. 

Die parlamentarische Debatte fiel mir nicht schwer. 
Ich war rasch entschlossen und schlagfertig. Für die po- 



192 Ändebüno der Repräsentation. [csl^. 16. 

litische Rede fehlte mir nicht der innere Antrieb, und die 
Übung bildete die natürliche Anlage aus. Es war mir aber 
niemals möglich, eine Rede zum voraus genau auszuarbeiten 
und niederzuschreiben. Dazu fehlte mir vor allem das 
Interesse. Ich überdachte wohl öfter vorher die Argumente 
für und gegen eine Sache und notierte auch einzelne Ge- 
danken mit einigen bezeichnenden Worten. Aber ich ver- 
traute für die Ausführung der Rede der Anregung des 
Moments. Nur sehr ungern und ohne Wärme sprach ich 
bei Beginn einer Beratung. Erst wenn der Kampf ent- 
brannt war und schon mehrere Redner ihren Vorrat von 
Gründen verschossen hatten, wurde ich wärmer, und dann 
griff ich gerne in die Discussion ein. Wenn daher zum voraus 
die Reihenfolge der Redner verabredet wurde, so behielt 
ich gewöhnlich das Schlussvotum der Partei für mich vor. 
Als nach der Revolution des Jahres 1830 die neue 
Verfassung beraten wurde, erregte vorzüglich der Streit 
um das Repräsentationsverhältnis der Stadt und der Land- 
schaft am heftigsten die Gemüter. Nach wenig Jahren hatte 
das Princip der Rechtsgleichheit aller Cantonsbürger eine 
so grosse Macht gewonnen, und die demokratischen Grund- 
sätze waren in dem Mase in der Schweiz herrschend ge- 
worden, dass der 1830 stark beschnittene Vorzug der städti- 
schen Repräsentation bald wieder ungerecht und unhaltbar 
erschien. In der Stadt selber befreundete man sich mit 
einer Repräsentation, die ohne BTücksicht auf die Gegen- 
sätze der Bildung, des Vermögens und der geschichtlichen 
Stellung einfach auf die Seelenzahl der Wahlkreise gegrün- 
det ward. Obwohl ich gar nicht begeistert war für diese 
demokratische Auffassung der Repräsentation, so sah ich doch 
ein, dass die öffentliche Meinung diese Änderung verlange. 



cap. 16.] Anteil an Zeitungen. J93 

und stellte daher im Grossen Rat im Einverständnis mit 
meinen Freunden den Antrag, dass das Vorzugsrecht der 
Stadt beseitigt und die Repräsentation nach der Volks- 
zahl geordnet werde. Die städtischen Zünfte wurden nun 
als Wahlkörper aufgelöst, und die Wahlen in der Stadt, 
wie auf dem Lande, der gesamten Gemeinde der berech- 
tigten Urwähler zugewiesen. Wie wenig damals diese 
Verfassungsänderung die Stadt aufregte, welche durch die- 
selbe auf ungefähr einen Ftinfteil ihrer bisherigen Reprä- 
sentation herabgesetzt ward, ergibt sich schon daraus, dass 
mir bei der nächsten Wahl der Stadt von den zwölf ihr 
verbliebenen Stellen eine ohne erheblichen Widerstreit mit 
grosser Majorität zugeteilt wurde. 

An der Diskussion der Zeitungen nahm ich, seitdem 
der Vaterlandsfreund aufgehört hatte, in den Dreissiger- 
jahren nur einen geringen Anteil. Ich schrieb gelegentlich 
einige Artikel in den „Constitutionellen", den erst Regier- 
ungsrat Eduard Sulzer und später mein Freund Stadtrat 
Gysi redigierte. Vom Jahre 1834 an war ich regelmässiger 
Correspondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung 
geworden. Ich war über manche geheime Intriguen der 
französischen Diplomatie in der Schweiz gut unterrichtet 
und konnte zuweilen durch solche Artikel auch den fremden 
Einflüssen entgegenwirken. Aber dafür fehlte den Ver- 
tretern des vulgären Radikalismus jedes Verständnis. Ich 
wurde gerade jener Briefe an die Allgemeine Zeitung wegen 
hart angegriffen und persönlich verdächtigt. 

Da benutzte ich einen Ausfall des Seminardirektors 
Ignaz Theodor Scherr gegen mich, um mich öffentlich 
über meine Handlungsweise zu rechtfertigen und die un- 
würdige Verdächtigung zurückzuweisen. Ich schrieb gegen 

Bluntschli, Dr. J. C, Ans meinem Leben. I, ]^;^ 



194 Ernennung zum ordentlichen Professor. [cap. 16. 

Scherr eine Streitschrift, welche rasch vergrififen war und 
in zweiter Auflage erschien (1837, Frauenfeld bei Ch. 
Beyel). Nun hatte ich wieder für einige Zeit Ruhe ge- 
wonnen vor persönlicher Anfeindung. 

Meine Hauptthätigkeit in diesen Jahren war dem aka- 
demischen Beruf und den rechtswissenschaftlichen Studien 
zugewendet. Durch Dekret des Erziehungsrates vom 
15. Oktober 1836 wurden mir Rang, Titel und Befugnisse 
eines ordentlichen Professors an der Hochschule über- 
tragen, mit einer Besoldung von 1200 alten Schweizer- 
franken. 

Allmählich entstand so das Werk „Stats- und 
Rechtsgeschichte der Stadt und Landschaft Zürich**, 
das in zwei Bänden erschien, die erste Auflage in den 
Jahren 1838 und 1839, die zweite Auflage im Jahr 1856, 
beide bei Orell, Füssli & Comp, in Zürich. Der erste Band, 
welcher die ältere, mittelalterliche Entwicklung der alten 
alemannischen Reichsstadt und ihrer Herrschaften darstellte, 
hatte vorzugsweise einen geschichtlichen Charakter. Der 
zweite Band, der mit der befestigten Zürcherischen Refor- 
mation seit 1531 beginnt und bis auf die Gegenwart reicht, 
bekam, weil es sich hier um die Darstellung des bestehen- 
den Rechts handelte, eher ein dogmatisches Gepräge. Das 
ganze Buch war ein erster Versuch, ein schweizerisches 
Rechtssystem nach den Grundsätzen und der Methode der 
deutchen Rechtswissenschaft in seinem geschichtlichen 
Werden und in seinem innern Zusammenhang zu beleuch- 
ten. Dieser Versuch wurde in Deutschland günstig beur- 
teilt. In der Schweiz regte er zu andern ähnlichen Ar- 
beiten an. Ich erinnere in dieser Hinsicht an die Rechts- 
geschichte der demokratischen Cantone von Blumer, des 



cap. 16.] ZuBicHEB St ATS- UND Rechtsgbschichte. 195 

Cantons Luzern von Segesser, des Cantons Zug von Re- 
naud, an die rechtsgeschichtlichen Arbeiten von Fried- 
rich von Wyss, König u. a. 

Über den deutschen Charakter des Zürcherischen 
Eechts sprach ich mich folgendermassen aus (Vorrede zum 
zweiten Band 1839): 

„Mit Vorliebe, ich gestehe es, habe ich den echt- 
deutschen Charakter unserer Jnstitute hervorgehoben. Wer 
unsere bestehende Rechtsordnung überschaut, wie sie, wenn 
auch nicht im Einzelnen vollständig, doch in ihrem innern 
Zusammenhang als ganzer Rechtskörper in diesem Buche 
dargestellt ist, der wird sich sofort überzeugen, dass das 
romanische Element darin bei weitem weniger bedeutend 
ist als das germanische, und dass unser Recht viel deutscher 
ist, als das Recht in Deutschland selbst zur Zeit noch. 
Es ist meine feste Überzeugung: die direkte Herrschaft 
des römischen Rechtes ist in der Neige begriffen. Das 
deutsche Recht wird wieder an Einfluss und Bildung wach- 
sen. Der grosse, Jahrhunderte hindurch fortgesetzte Kampf 
der Anhänger des römischen Rechtes mit den Verehrern 
des deutschen Rechts wird von neuem eröffnet werden, 
oder ist es vielmehr schon. Aber jetzt wird mit anderen 
Waffen und in anderer Weise gestritten. Auch der Erfolg 
wird ein anderer sein, als das erste Mal. Die deutschen 
Juristen mussten erst bei den Römern in die Schule gehen 
und von der Cultur des römischen Rechts erfüllt sein, be- 
vor sie dem nationalen angestammten Rechte zu geistiger 
Befreiung und weiterer Fortbildung verhelfen konnten. Für 
diese Erkenntnis des deutschen Rechtes schien mir eine 
wissenschaftliche Bearbeitung des Zürcherischen Rechtes 
von keiner geringen Bedeutung, eben um der freieren Stel- 
la* 



196 I^iE Schrift: Die neuerek deutschen Rechtsschttlen. [cap. 16. 

lung willen, in welcher wir deutschen Schweizer jenem 
Kampfe zusehen können, und um der deutschen Eigen- 
tümlichkeit willen, in der sich unser Particularrecht er- 
halten hat/ 

Während dieser germanistischen Studien über die 
Zürcherische Rechtsgeschichte und das Zürcherische Recht 
erweiterten sich meine Ansichten über die Natur des Rechts 
und die Aufgaben der Rechtswissenschaft. Bis dahin war 
ich ein eifriger Anhänger der geschichtlichen Rechtsschule 
gewesen und hatte, wie die meisten Freunde derselben, 
die philosophische Methode und die philosophischen Begriffs- 
bestimmungen nur wenig beachtet und gering geschätzt. 
Über diese Einseitigkeit kam ich nun hinaus. Ich lernte 
den Wert der Rechtsphilosophie besser erkennen und höher 
schätzen. Es übten in dieser Richtung die Schriften von 
Göschen und Stahl einen Einfiuss aus; jener unternahm 
es, von den Gedanken der Hegerschen Philosophie aus das 
positive Recht in ein neues Licht zu setzen, dieser suchte 
die Schelling'sche Philosophie mit der geschichtlichen Be- 
trachtung zu verbinden. 

Ich überzeugte mich, dass der alte Streit zwischen 
der historischen und der philosophischen Rechtsschule 
den früheren Sinn verloren habe und die dermalige Ent- 
wickelung der Rechtswissenschaft nicht mehr bestimmen 
könne. Unter dem Titel: Die neueren Rechtsschulen 
der deutschen Juristen sprach ich mich in einer Reihe 
von Aufsätzen näher über die Richtungen und Aufgaben 
der deutschen Rechtswissenschaft aus. Diese Aufsätze er- 
schienen zuerst im October 1839 in den Hallischen Jahr- 
büchern von Arnold Rüge und wurden dann zweimal noch 
als besondere Schrift aufgelegt, 1841 (Zürich und Frauen- 



Cap. 16.] H18TORI8CHB VHD PHILOSOPHISCHE RiCHTUKG. JQJ 

feld bei Chr. Beyel) und 1862 mit neuen Reform vorschla- 
gen erweitert (Zürich). 

Ich schilderte darin den Streit, der 1814 zwischen 
Thibaut und Savigny zunächst über das Bedürfnis und 
die Arbeit eines allgemeinen deutschen Gesetzbuchs, dann 
über die Natur des Rechts und die Aufgaben der Rechts- 
wissenschaft entstanden war. Als das Wesentliche der 
historischen Schule bezeichnete ich die erneute Erkenntnis 
der nationalen und lebendigen Natur des Rechts, das nicht 
eine willkürliche, von Oben her gebo'tene, sondern eine 
aus dem Geist der Nation herausgewachsene, nicht, eine 
zufällige und beliebig wechselnde, sondern eine innerlich 
bestimmte, dauerhafte Ordnung sei, in welcher die Gegen- 
wart mit der Vergangenheit und der Zukunft verbunden sei. 

Für das Privatrecht war aber die geschichtliche Be- 
trachtung nun so allgemein in der Wissenschaft durchge- 
drungen, dass was vorher das charakteristische Merkmal 
einer Schule gewesen, nun zum Gemeingut der Wissen- 
schaft überhaupt geworden war. Deshalb „gibt es auf 
diesem Gebiete keine historische Schule mehr" ; denn wenn 
es auch noch Juristen gibt, die nicht selbst lebendig er- 
füllt sind von dem historischen Geiste, so gibt es doch 
keine mehr, die ihn zu läugnen und zu bestreiten wagen. 

Aber ebenso liess unzweifelhaft die einseitige histo- 
rische Richtung die philosophischen Köpfe unbefriedigt. 
Hatte die geschichtliche Schule eine Zeit lang die Philoso- 
phie vernachlässigt, so war es an der Zeit, dass diese sich 
selber wieder zu ihrem Recht verhalf. „Dieser Gegensatz, 
der sich schon im Altertum von Zeit zu Zeit wahrnehmen 
lässt und in der Statslehre von Piaton und der Politik von 
Aristoteles deutlich hervortritt, charakterisiert die ganze 



198 Ihre Bedeutung für das Pbivatrecht [cap. 16. 

neuere Wissenschaft. Die Einen nämlich haben vorzugs- 
weise den Sinn und die Gabe empfangen, die höhere Ein- 
heit im menschlichen Wissen zu entdecken und festzuhal- 
ten, die Ideen zum Bewusstsein zu bringen und das Ewige, 
Sichgleichbleibende, Seiende zu begreifen und darzustellen. 
Die Anderen dagegen halten sich zunächst an die äussere 
Erscheinung des realen Lebens, an das Endliche, sich Be- 
wegende, Werdende. Die Anschauung der positiven Ge- 
staltungen, die aufmerksame Prüfung und Betrachtung der 
Geschichte erweitern ihr Wissen und erhellen ihre Ge- 
danken." 

„Jede der beiden Richtungen hat ihre eigentümlichen 
Gefahren und ihre eigentümlichen Vorzüge. Die grosse 
Gefahr der philosophischen Richtung ist, dass sich 
manche Köpfe leicht durch scheinbar consequente Schlüsse 
verleiten lassen, leere, alles realen Kernes entbehrende 
Formeln zu producieren, oder gar ein zwar regelmässiges, 
aber unhaltbares und unbrauchbares Phrasengewebe auszu- 
spinnen. Die Gefahr der andern, historischen Richtung 
ist, dass unbedachte Verehrer derselben bloss dürre No- 
tizen aufspeichern und ein Beinhaus mit antiquarischen 
Gerippen füllen, ohne Geist und Leben." 

„Der Gegensatz selbst aber ist ein fliessender. Denn 
auch der speculative Denker bedarf der äussern Anregung 
durch Erfahrung und Geschichte, um das Ideale zu er- 
kennen, und der historische Forscher hinwieder kann auch 
die Geschichte nicht erfassen, wenn er nicht ihre höhere 
Bedeutung und den geistig dauernden Gehalt in ihr wahr- 
nimmt. Darum darf Keiner auf keiner Seite aus- 
schliessend werden. Es darf der Philosoph nicht 
den Historiker, noch dieser jenen verachten. Eben 



Cap. 16.] ÜHD FÜB DAS ÖFFENTLICHE ReCHT. 199 

dai'um darf es aber auch in der Rechtswissenschaft nicht 
eine philosophische Schule geben, welche das Dasein der 
historischen Richtung in der Wissenschaft verneint, noch 
eine historische Schule, welche die Philosophie bestreitet." 

„Wenn die Einen gewissenhaft und mit offenem Sinne 
für die Wahrheit mehr die philosophische Richtung ver- 
folgen, die Anderen ebenso der historischen Forschung ob- 
liegen, so werden sie Beide Resultate zu Tage fördern, 
welche statt sich zu widersprechen und auszuschliessen, 
vielmehr sich gegenseitig bestätigen und ergänzen. Denn 
die Wahrheit kennt keine Schulen, und die Wissenschaft 
lässt die Schulen nur zu als einzelne vorübergehende Mo- 
mente ihrer Ehtwickelung." 

Für das Privatrecht, wobei dieser Schulstreit zuerst 
entstanden war, erklärte ich denselben für erledigt. Aber 
nicht ebenso für das öffentliche Recht. Da war die 
speculative und philosophische Methode in so unbestritte- 
nem Alleinbesitz der Doctrin und so einseitig geworden, 
dass ich für die Wissenschaft des Statsrechts und der Po- 
litik „eine totale Umarbeitung im Sinne der historischen 
Schule" für ein dringendes Bedürfnis der Zeit erklärte. 
Da kommt es darauf an, „den Stat nicht als eine tote 
Maschine, deren Räderwerk sich nach mechanischen Ge- 
setzen gleichmässig bewegt, sondern als ein lebendiges 
Wesen zu erfassen, als einen Organismus, in dem ein 
Geist wohnt." Das aber soll geschehen, indem die Staten- 
bildung in dem Zusammenhang der Weltgeschichte be- 
trachtet und mit dem Lichte der Ideen beleuchtet wird, 
welche den Gang der Weltgeschichte bestimmen. 

„Wie sehr aber practisch es im höchsten Interesse 
der Gegenwart liegt, mehr, als es früher geschah, die 



200 Meine Stellung zum Streit [cap. 16. 

historische Seite des politischen Wissens zu pflegen, ist 
Jedem einleuchtend, d^r auch nur einigermassen die be- 
stehenden Zustände kennt. — Von jeher haben sich sowohl 
Revolutionäre als Despoten am liebsten angeschlossen an 
naturrechtliche Theorien, die einen in diesem, die anderen 
in entgegengesetztem Sinne; und eben deshalb haben beide 
das bestehende Recht, die einen der Obrigkeit, die anderen 
der Unterthanen wenig geachtet. Der historischen Wissen- 
schaft kommt es zu, das Bewusstsein des positiven Rechtes 
von Neuem zu beleben." 

In dieser Schrift ist der Keim meines spätem Werkes 
über das „Allgemeine Statsrecht** deutlich zu erkennen. 
Ich wollte erfüllen, was ich zuvor als Verlangen für die zu- 
künftige Fortbildung der Statswissenschaft bezeichnet hatte. 

Für die nächste Zeit hielt ich im Privatrecht einen 
anderen Streit für unerlässlich, den der Germanisten mit 
den Romanisten, nicht in dem Sinne, dass die ganze 
Bedeutung des römischen Rechtes für die wissenschaftliche 
Vorbildung der Juristen und sein fortdauernder Einfluss 
auf die moderne Rechtsbildung bestritten werde, aber in 
dem Sinne, dass die Jahrhunderte lang fortgesetzte Ver- 
achtung und Unterdrückung des nationalen deutschen Rech- 
tes aufhören und den einheimischen Rechtsinstituten und 
Rechtsideen Beachtung und Geltung erstritten werden 
sollen. In dieser Hinsicht freute ich mich der modernen 
Gesetzgebung, welche die formelle Autorität des Corpus 
juris von Justinian aufhebe und dem neuen Leben Luft 
und Licht verschaffe. Mit Wärme hob ich hervor, dass 
das deutsche Recht ebensosehr durch Anerkennung „der 
Persönlichkeit und Freiheit** der Individuen und der Ge- 
nossenschaften sich auszeichne, wie das römische Recht 



cap. 16.] DER Germamsten und Romanisten. 201 

von dem herrschsüchtigen Gedanken der absoluten Gewalt 
erfüllt und bestimmt sei. 

In der That, der Streit zwischen denen, welche dem 
deutschen Recht zur Befreiung und zu gebührender Aner- 
kennung verhelfen wollten, und denen, welche das ganze 
von dem römischen Rechte eroberte Gebiet verteidigten, 
wurde in den beiden nächsten Jahrzehnten ziemlich lebhaft 
geführt. Es wurde die Zeitschrift für deutsches Recht von 
Reyscher und Wilda eigens für diesen Kampf gegründet 
und unterhalten. Endlich hörte derselbe auf. Wenn ich 
das Ergebnis dieses Kampfes nach dem Abschluss über- 
schaue, so constatiere ich zwei Haupteindrücke: 

Erstens. In der akademischen Wissenschaft und der 
Doktrin bewährte sich die formale Überlegenheit der römi- 
schen Jurisprudenz ; aber die neueren Romanisten, wie ins- 
besondere Wächter, Jhering, Bruns und Windscheid, 
haben doch einen freieren Blick auch in das fleische Wachs- 
tum des nationalen Rechts erworben. Sie sind nicht mehr so 
befangen, wie die Romanisten der altern Zeit, in die scho- 
lastischen Doctrinen der Legaljurisprudenz. Die Germani- 
sten der Universitäten haben zwar den Romanisten grosse, 
vielleicht zu grosse Zugeständnisse gemacht, aber sie haben 
im Ganzen doch ihre Ebenbürtigkeit mit jenen erwiesen 
und ihrer Wissenschaft Achtung verschafft. 

Zweitens. Der mächtige Fortschritt der Gesetzgebung, 
welche nun auch gemeinsame nationale Organe erhalten hat, 
hat die zeitgemässe, dem modernen Bedürfnisse zusagende 
Fortbildung des nationalen Rechtes in viel durch- 
greifenderer Weise und ausgiebiger gefördert, als man zu 
Ende der Dreissigerjahre irgend zu hoffen wagte. 



202 Bebüfükg von Db. Strauss nach Zürich. [cap. 17. 

17. 

Berufung des Dr. Strauss als Professor der Dogmatik. Aufregung. 
Ausserordentliche Versammlung des Grossen Rates. Hotion des 
Antistes Füssli gegen die Berufung. Der Kampf im Grossen 
Bat. Meine Bede. Der Widerstand des Volks in den Gemeinden. 
Widerruf des Grossen Rates. Bedrohung der Hochschule. Meine 

Rede für dieselbe im Grossen Rat. 

Schon im Jahre 1836 war in dem Zürcherischen Er- 
ziehungsrate der Antrag gestellt worden, den Dr. David 
Strauss von Ludwigsburg als Professor der Dogmatik an 
die theologische Facultät zu berufen. Der Antrag blieb 
aber in der Minderheit. Der Bürgermeister M. Hirzel, 
Präsident des Erziehungsrates, schrieb damals an einen 
Freund: „Sie hatten Recht, über den Sturm wegen Strauss 
ungehalten zu sein. Der Gedanke, den wissenschaftlichen 
Forschungen, und wären sie auf einem Irrwege, eine Frei- 
statt zu eröffnen, hat einige Männer hingerissen, dass sie 
unbeachtet Hessen, warum es zu thun sei: der Landes- 
kirche tüchtige Lehrer zu verschaffen; und dazu kann 
Strauss unmöglich dienen." 

Einige Jahre später (am 29. Januar 1839) wurde 
jener Antrag erneuert, und nun gab Hirzel, bei gleich 
geteilten Stimmen der Behörde, den Stichentscheid für die 
Berufung des Dr. Strauss. Er hatte inzwischen diesen 
persönlich kennen gelernt und war für ihn, als den Re- 
formator unserer Zeit, begeistert worden. Diese Berufung 
wurde zum Anstoss für eine mächtige Volksbewegung, die 
schliesslich zu einer politischen Umwälzung führte. 

Um die tiefe Wirkung dieser Berufung auf das Zür- 
chervolk zu begreifen, muss man sich daran erinnern, dass 
im sechszehnten Jahrhundert die schweizerische Reformation 



cap. 17.] Aufregung. 203 

von Zürich ausgegangen war, und dass die reformiei-ten 
Überlieferungen in der Zürcher Geschichte feste Wurzeln 
hatten. Man muss aber zugleich bedenken, dass die Liebe 
zur Wissenschaft und zur Geistesfreiheit in Zürich jeder- 
zeit warme Verteidiger fand. Die Frage, welche dem Zür- 
chervolk gestellt wurde, lautete: Wollt Ihr nochmals in 
der heutigen Reform des Christentums vorausgehen? Wollt 
Ihr den Dr. Strauss zum Führer aus der alten in die neue 
Religion erwählen? Einige enthusiastische Männer, wie 
Hirzel, bejahten beide Fragen energisch; ein grosser Teil 
der radikalen Partei und ihrer Häupter hatten zwar keine 
Neigung zu neuen Reformen, aber sie hatten ihre Lust 
an der Bestürzung der Geistlichkeit und freuten sich der 
negativen Ergebnisse der Straussischen Kritik. Sie be- 
günstigten die Berufung wie einen Sieg der Wissenschaft 
über die Religion und als einen Fortschritt in der Auf- 
klärung, aber sie waren keineswegs gesonnen, weder für 
die Reform viel zu opfern, noch dem Theologen Strauss 
als ihrem geistigen Führer zu folgen. 

Die grosse Mehrheit des Volkes aber verneinte, grossen 
Teils aus Instinkt^ beide Fragen entschieden, die zweite 
aber mit mehr Nachdruck als die erste. Wäre Dr. Strauss 
als Professor der Philosophie berufen worden, so hätte sich 
keine Hand gerührt gegen einen solchen Ruf, oder wenn 
einige Eiferer sich dagegen erklärt hätten, so würden sie 
bei der Masse keine Unterstützung gefunden haben. Die 
Berufung desselben aber auf den Lehrstuhl Zwingli's, da- 
mit er die Kirche umbilde oder zerstöre, entfesselte einen 
Sturm, der die ganze Regierung und den Grossen Rat 
wegfegte. 

Dr. Strauss hatte durch das Werk: „Das Leben Jesu, 



204 Ausserordentliche Versammlukg des Grossen Rats. [cap. 17. 

kritisch bearbeitet*" (1835), nicht bloss in der theologisch 
gebildeten Welt, sondern in weiteren Kreisen einen un- 
gewöhnlichen Namen erworben. Galt es schon für ein 
seltenes Wagnis, die Geschichte Jesu, dem die christliche 
Kirche göttliche Ehre zuerkannt hatte, einer scharfen kri- 
tischen Prüfung zu unterwerfen, welche natürlich dem her- 
gebrachten Dogma vielfaltig widersprechen musste, so 
machte die Straussische Kritik, die eher dialektisch als 
quellenmässig, eher philosophisch als historisch verfuhr, 
den Eindruck eines Angriffs auf die christliche Religion 
selber, deren Begründer und Haupt Jesus Christus als ge- 
schichtliche Person beinahe verschwand und nur noch als 
Mythus, als ein Gebilde der religiös erregten Phantasie 
dargestellt wurde. 

Die theologische Fakultät hatte selber mit Mehrheit 
— nur Eine Stimme vertrat eine andere Meinung — gegen 
die Berufung sich ausgesprochen. Der Antistes der Zürcheri- 
schen Kirche und der Kirchenrat machten bei dem Re- 
gierungsrate Vorstellungen dagegen. Fast die gesamte 
Geistlichkeit des Cantons, die Rationalisten wie die Ortho- 
doxen, waren entrüstet über die Zumutung, dass in Zukunft 
die Studierenden der Theologie durch einen Theologen in 
die christliche Lehre eingeführt werden sollten, welchem 
die Person Christus wie eine alte Fabel vorkomme. Aus 
allen Capiteln kamen Bittschriften an die Regierung, sie 
möge der Wahl des Erziehungsrates die Bestätigung ver- 
sagen. 

Da im Januar der Grosse Rat versammelt war, so 
brachte der Antistes Füssli hier die Frage in Form einer 
Motion auf Grund des Art. 4 der Statsverfassung („Schutz 
der Landeskirche nach dem evangelisch-reformierten Lehr- 



cap. 17.] Motion des Antistes Füsslt. 205 

begriff") zur Sprache (31. Januar). Er verlangte, dass 
der Kirche gesetzlich ein Einfluss auf die Wahl der Pro- 
fessoren der Theologie eingeräumt werde, wenn auch nur 
indem man ihr gestatte, dieselbe zu begutachten. Die Form 
der Motion war übrigens nur ein Anlass, die Berufung von 
Strauss öffentlich zur Sprache zu bringen. 

Die Diskussion war ernst und würdig, aber erregt. 
In einer glänzenden Rede verteidigte Bürgermeister Hirzel 
die Berufung; aber er enthüllte auch die volle Tragweite 
derselben. „Die Kirche bedarf der Reform. Sie reformiert 
sich aber nicht selber. Strauss ist ein echter (?) Christ. 
Er ist ein Reformer. Es handelt sich um den Entscheid, 
ob unsere Kirche die Richtung nehmen werde zum Buch- 
stabenglauben oder zum Denkglauben. Es gilt die höchste 
Befreiung, die Befreiung des Geistes von den Banden des 
Aberglaubens." Er erinnerte an den 29. Januar 1523, als 
der Rat der Stadt Zürich erkannte, „Meister Ulrich Zwingli 
soll fürfahren, das Evangelium nach dem Geist Gottes zu 
verkünden", und sprach die Hoffnung aus, der aus dem 
Volke gewählte Grosse Rat werde nun nicht sagen : „Nein, 
stellt ihn nicht an, den Strauss." 

Ihm ei^widerte Professor Alexander Schweizer: 
„Allerdings ist die Versöhnung von Glauben und Wissen 
das Bedürfnis und das Streben unserer Zeit. In der Idee 
von Christus, als des von göttlichem Geiste durchdrungenen 
Menschen, liegt diese Versöhnung. Aber bis jetzt hat Strauss 
noch nicht dafür gewirkt; denn die ersten Schriften ent- 
halten fast nur negative Resultate, und die positive Idee, 
welche er in dem Anhang der dritten Auflage von der 
Person Jesu andeutet, ist noch nicht entwickelt. Wenn 
Strauss diese positive Seite ausbildet, dann wird er ein 



206 Kampf im Grossen Rat. [cap. 17. 

Segen für die Kirche, dann aber auch seine Kritik ermäs- 
sigt. Wenn er in der negativen Richtung verbleibt, dann 
wird er der Kirche nur dadurch nützen, dass er sie zwingt, 
sich kräftiger aufzuraffeur Dann wird er kein Reformer 
der Kirche sein. Keinenfalls aber kommt es dem Er- 
ziehungsrate zu, die Reform der Kirche zu beschliessen 
und zu leiten. Man berufe eine Synode von Geistlichen 
und Laien. Dieser käme das zu." 

Gegen die Motion sprachen noch im Sinne Hirzels 
die Regierungsräte Zehn der und Weiss, dann kälter, 
formeller, zuweilen nicht ohne Hohn die Juristen Am- 
mann, Keller, Statsanwalt Ulrich, Oberrichter Füssli 
und Fürsprech Furrer. Für die Motion erklärten sich, 
ausser dem Antragsteller und Schweizer, Bürgermeister von 
Muralt, Decan Vögeli: „Andere Lehrer, die ähnliche An- 
sichten aussprachen, behandeln doch das Heilige in heiliger 
Weise; — Strauss aber geht unheilig um mit dem Heiligen," 
Regierungsrat Ferdinand Meyer u. a. 

Ich teile meine Rede hier wörtlich mit. Ich brauche 
mich derselben nicht zu schämen. Ich habe darin weder 
einen Glauben geheuchelt, den ich nicht hatte, noch die 
Freiheit der wissenschaftlichen Forschung irgend preisge- 
geben. Die Rede gibt ein klares Zeugnis von meiner po- 
litischen und religiösen Denkweise zu jener Zeit. Ich habe 
später das Gebiet des Wissens in noch weiterem Um- 
fange kennen gelernt, der dem Umfang des Glaubens 
gleichkommt, und ich habe im Verfolg meines Lebens 
das Bedürfnis einer Reform auch der Kirche entschiedener 
als damals vertreten. Aber die Überzeugung, die ich da- 
mals aussprach, dass Dr. Strauss schwerlich zu einem Re- 
formator der christlichen Kirche geeignet und für diesen 



cap. 17.] Meine Rede im (trossen Rat. 207 

Beruf allzu kritisch angelegt sei, ist durch die spätere Ent- 
wickelung durchaus bestätigt worden, indem der „neue 
Glaube" von Strauss vom Christentum überhaupt als dem 
veralteten Glauben nichts mehr wissen will. Seine Be- 
iiifung nach Zürich zum christlichen Reformator war daher 
jedenfalls ein arger Missgriflf. 

Unmittelbar nach Keller, welcher mit den Worten 
geschlossen hatte: „Wen es also freut, dass das Christen- 
tum und die Reformation (trotz der damaligen Gegner) 
aufgekommen ist, der soll auch einem solchen Manne die 
Bahn brechen helfen, in dem wichtigsten Gebiete die Wahr- 
heit zu fördern," sprach ich Folgendes: „Auch ich fühle mich 
gediningen, als Mitglied des Grossen Rates, meine Über- 
zeugung in dieser Sache offen auszusprechen. Dabei kann 
ich gleich von vorne herein das Bekenntnis ablegen, dass 
ich, wie immer auch der Entscheid fallen werde, eine 
doppelte Beruhigung aus diesem Säle mit nach Hause 
nehme. Ich fand eine Beruhigung darin, dass ich gesehen 
habe, wie alle Mitglieder, auch die, deren Voten am ent- 
schiedensten für die Berufung des Dr. Strauss lauteten, 
genötigt waren, das religiöse Moment hervorzuheben und 
auf religiösen Glauben zu fussen. Eine andere Beruhigung 
finde ich darin, dass Dr. Strauss nach allem, was ich von 
ihm weiss, nicht blos ein wissenschaftlicher, sondern 
auch ein sittlicher Mann ist. 

„Meine Bedenken, die ich noch habe gegen die Be- 
rufung, sind auch nicht hergenommen von dem wissen- 
schaftlichen Gebiete. So lange die Gegner sich auf dem 
Felde der Wissenschaft bewegen, haben sie völlig Recht. 
Ich gehöre wahrlich nicht zu denen, welche der freien 
wissenschaftlichen Forschung in irgend einem Gebiete in 



208 Meine Rede [cap. 17. 

den Weg treten, welche das Licht der Wissenschaft ver- 
dunkeln wollen. Wie ich mir selbst das Recht vindiciere, 
frei zu denken, so gönne ich dasselbe Recht auch jedem 
Andern. 

„Aber die Frage hat noch eine andere Seite, und auf 
dieser liegen meine Bedenken gegen die Berufung. Um 
dieselben Ihnen klar zu machen, muss ich etwas tiefer 
gehen. Ich habe mich überzeugt, dass es neben dem Ge- 
biete des Wissens noch ein anderes, ein höheres Gebiet 
gibt, das des Glaubens. Ich habe Männer kennen ge- 
lernt, deren Verstand, deren Wissenschaft grösser ist als 
der Verstand und die Wissenschaft irgend eines unter uns, 
Männer, die zugleich in sich einen Glauben als das höchste 
geistige Gut pflegen, welcher nicht der meinige ist, welcher 
weit stärker ist, als der meinige, welchen viele, vielleicht 
die meisten unter Ihnen für Überglauben oder für Aber- 
glauben halten würden. Diese Beobachtung schon hat mir 
eine gewisse heilige Scheu eingeflösst für das Gebiet des 
Glaubens. Zugleich habe ich schlichte Leute kennen ge- 
lernt, ohne alle wissenschaftliche Bildung und Einsicht, aber 
die in ihrem Glauben einen geistigen Halt finden, der ihnen 
mehr ist, als ihnen das Wissen jemals zu bieten vermöchte. 
Und auch diesen bin ich die nämliche heilige Scheu schuldig. 

„Ich habe noch weitere Erfahrungen gemacht, freilich 
nicht durch Selbstanschauung, aber durch die Beachtung 
der Geschichte. So habe ich insbesondere gefunden, dass 
das wesentliche Element der ganzen europäischen Staten- 
entwickelung, die Seele der ganzen modernen Gultur das 
Christentum ist. Sehen Sie auf die Völker und ihr Leben. 
Sie werden sich überzeugen, dass je die kräftigsten, inner- 
lich gesundesten den christlichen Glauben in sich tragen; 



cap. 17.] IM Grossen Rat. 209 

Sie werden zugeben müssen, dass je mehr sich ein Volk 
von dem Christentum abwendet, es in einen desto tieferen 
Verfall, in desto grösseres Unglück gerät. Ein Volk hat 
schon einmal das Christentum abgeschafft; aber als dieses 
Volk die Göttin der Vernunft vereinte, war es zugleich 
wie das unvernünftigste, so auch das unglücklichste. 

Ich halte auch zur Zeit das Christentum nicht für 
einen abgedorrten Baum, welcher seinen Zweck erfüllt hat 
und nunmehr umgehauen werden muss. Vielmehr traue 
ich demselben jetzt noch innere Lebenskraft zu. Ich traue 
ihm namentlich auch die Kraft zu, die Krankheiten, welchen 
ein Volk erliegt, zu heilen, das Böse, Verwerfliche, was 
sich in's Völkerleben verwoben hat, zu überwinden. 

Nun aber, H. H., ist der Grund dieses Christentums 
nicht im Wissen, sondern er ist im Glauben zu suchen. 
Das Höchste, was der menschliche Geist anstreben kann, 
ist gewiss, sein Verhältnis zu G(^tt inne zu werden. 
Jeder fühlt dieses Bedürfiiis tief in sich. Jeder dürstet 
nach einer Befriedigung desselben. Und hier nun glaube 
ich, dass die Wissenschaft, dass das blosse noch so folge- 
richtige Denken nimmermehr diese Befriedigung gewähren 
wird, dass diese Aufgabe der Wissenschaft zu hoch liegt. 
Hier, wo das Wissen aufhört, beginnt die Sphäre des Glau- 
bens, des Glaubens, der tief im innersten Kerne des Gefühles, 
des Gemütes wurzelt. Ich weiss gar wohl, die philosophi- 
schen Systeme haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses 
Verhältnis des Menschen zu Gott und Gottes zu den Men- 
schen zu construieren; das eine in dieser, das andere in 
jener Weise. Und jedesmal, wenn ein bedeutender Kopf, 
ein grosser Denker erstanden ist, hat er um sich eine An- 
zahl Schüler für seine Theorie eingenommen. Jedesmal hat 

Sluntschli, Dr. J. C, Alis meinem Leben. I. 24 



210 Meine Rede [cap. 17. 

er bei Vielen, zumal wenn die Neuheit der Erscheinung 
blendend wirkte, Teilnahme und Bewunderung gefunden. 
Aber ein System verdrängte das andere. Der Nachfolger 
wies dem Vorgänger Fehlschlüsse nach. Und nicht Eines 
hat auf die Dauer jenes Bedürfnis nicht einmal der Den- 
ker, geschweige denn der Völker befriedigt. Hier also 
reicht das Wissen nicht aus. Es muss der Glaube hinzu- 
treten. 

Und nun hat man Ihnen gesagt: „Wir verwerfen 
den Glauben nicht, wir verwerfen nur den Autoritäts- 
glauben. Allen Autoritätsglauben zu brechen, ist vor 
Allem die Aufgabe des Dr. Strauss." Hier kann ich nun 
nicht beistimmen. So lange es sich nur darum handelt, 
mythische Bestandteile auch in dem neuen Testamente 
nachzuweisen, so lange die Frage nur die ist, ob einige 
Wunder zu beseitigen seien, so halte ich dieses für un- 
wesentlich. Aber Eine Autorität muss bestehen blei- 
ben, diese darf nicht gebrochen werden, die Autorität, auf 
welcher das ganze Christentum ruht, mit welcher es steht 
und fallt, die Autorität von Christus selbst, des Stif- 
ters dieser Religion. Auch ich glaube, wie das schon in 
einem früheren Votum auseinandergesetzt worden ist, dass 
Christus voraus dazu geboren und berufen war, das reli- 
giöse Moment in seiner höchsten Potenz zu verwirklichen. 
Ihm war das Verhältnis zwischen Gott und Menschen kla- 
rer, als es seither je Einem geworden. Und was er so 
aus seiner eigenen von göttlichem Geiste durchdrungenen 
Seele schöpfte und äusserte, hat eine höhere Glaubwürdig- 
keit anzusprechen, als die kühnsten Philosopheme. Diese 
Wahrheit, welche das Denken allein auch des grössten 
Denkers nicht zu geben im stände ist, geht ein in das 



cap. 17.] IM Grossen Rat. 211 

Gemüt auch derer, welche nie dazu gelangen werden, in 
der Wissenschaft Belehrung zu schöpfen. Diese Autorität 
darf auch der grösste Denker verehren, ohne sich herab- 
zuwürdigen. 

Dr. Strauss nun, dessen Schriften ich allerdings nur 
unvollständig kenne, hat, so viel ich weiss, seine Grund- 
ansichten in der Hegerschen Philosophie geholt. Diese 
Philosophie hat den ehrenwerten Versuch gemacht, von 
dem Denken aus auch das religiöse Bewusstsein zu con- 
struieren. Aber so viel ich davon verstehe, ist dieser 
Versuch verunglückt. Ich habe vernommen, dass wer in 
diese Philosophie eintreten wolle, vorerst den gemeinen 
Menschenverstand fallen lassen müsse. Ich weiss auch, 
dass sie sagen, nur wer sich zu dieser Philosophie bekenne, 
könne darüber urteilen. Da ich weder Lust hatte, meinen 
gemeinen Menschenverstand abzustreifen, noch mich zu 
dieser Philosophie bekenne, sie grossenteils auch nicht ver- 
stehe, so kann ich freilich darüber nur in sehr unvollkom- 
mener Weise reden. Aber wenn Hegel gesagt hat, Gott 
komme durch das Denken der Menschen zum Selbstbewusst- 
sein, so hat mir das immer für Blasphemie gegolten. Und 
wenn Hegel sich selbst mit Christus verglichen und sich 
sogar über diesen gestellt hat, so ist mir das immer als 
ein widerwärtiger Übermut vorgekommen. Der Gott, von 
dem diese Schule redet, ist nach meinem Glauben auch 
kein Gott. Denn ein Gott, der nur das Bewegen des Den- 
kens ist, gilt mir für ein abstruses Nichts, mit dem ich 
mich nicht befreunden kann. Wie diese Schule überhaupt, 
so weit ich deren Lehren kenne, geneigt ist, den Menschen 
und sein Denken über Gebühr hoch zu stellen, und Gott, 
der in keiner Denkformel begriffen werden kann, viel zu 

14* 



212 Meine Rede [cap. 17^ 

tief herabzuziehen von seiner in Wahrheit dem mensch- 
lichen Geiste unerfasslichen Höhe, so habe ich diese näm- 
lichen mir anstössigen Lehren auch in einer Schrift von 
Strauss wiedergefunden (Leben Jesu, erste Aufl. § 729, 
730). Wie soll nun aber unser Volk im stände sein, daran 
seinen Glauben zu prüfen? Wie soll es nur jene Lehren 
verstehen können, von welchen aus man gedenkt, seinen 
Glauben zu reformieren? Ich höre zwar, und ich glaube 
es gerne, Dr. Strauss gehöre zu den tüchtigsten Individuen. 
Dann, denke ich, wird er auch bald genug den formellen 
Hegelianismus wieder fahren lassen. Aber ich hätte es lie- 
ber gesehen, wenn wir den weiteren Entwickelungsprocess 
ruhig abgewartet hätten, als dass wir uns selbst mitten 
in den Kampf hineinstürzen und den Kampfplatz vorzüg- 
lich hieher nach Zürich versetzen. 

Auf diesen Grundgedanken beruhen nun meine practi- 
schen Bedenken, welche ich noch kurz Ihnen vorführen 
werde. Da nach meiner innigsten Überzeugung der Glaube 
nicht durch das Denken gemacht werden kann, und über- 
dem Dr. Strauss, wie Alle einverstanden sind, bisher seine 
geistige Kraft mehr negativ gezeigt hat, insofern er den 
bisherigen Glauben bekämpft, als positiv, insofern er den 
christlichen Glauben auferbaut: so besorge ich, alle die, 
welche in dem Glauben ihr Heil finden, werden sich von 
ihm wegwenden. Ja, ich besorge noch weit mehr: sie 
werden sich von dem Denken selbst wegwenden, das ihnen 
nur Unheil zu bringen scheint, sie werden noch starrer, 
einseitiger werden und sich mehr und mehr auf dem Ge- 
biete des Glaubens abschliessen. Dieses aus aller Verbin- 
dung mit dem Denken gebrachte Gebiet kann dann leicht 
ein Gebiet des Aberglaubens werden. Andere dagegen, 



cap. 17.] IM Grossen Rat. 213 

welche weniger stark im Glauben sind, aber sich des Den- 
kens und Wissens vornehmlich freuen, werden umgekehrt 
den Rest des Glaubens verlieren, und da sie der Masse 
nach die Gedanken, besonders die aufbauenden, des Dr. 
Strauss doch nicht verstehen werden, auf das entgegen- 
gesetzte Gebiet eines scheinbar denkfreien, aber an der 
höchsten Wahrheit armen Unglaubens hinüber geraten. 
Gerade die Versöhnung zwischen Glauben und Wis- 
sen scheint mir nun aber die Hauptaufgabe unserer Zeit. 
Nun will ich durchaus nicht behaupten, dass nicht gerade 
Dr. Strauss auch diese Vermittlung wünsche, dass er nicht 
dazu mitwirken werde, dieselbe herzustellen. Aber ich 
weiss dies noch nicht mit Sicherheit. Bis jetzt scheint er 
mir ganz auf das eine Gebiet, das des Wissens, überge- 
treten zu sein. Und nie lässt sich eine wahre Vermitt- 
lung denken, wenn man nur von dem einen aus das an- 
dere überwinden will. Hier würde ich nun eben lieber 
warten, wie sich alle diese Bewegung weiter entwickelt. 
Der Kampf, der auf wissenschaftlicher Seite begonnen ist, 
wird auch zunächst da durchzukämpfen sein. Dieser Kampf 
aber wird durchgekämpft, auch wenn Dr. Strauss nicht 
nach Zürich kommt. 

Man hat freilich gesagt, Dr. Strauss finde in Deutsch- 
land keine Anstellung, weil dort Monarchien seien, und 
diese ein Interesse haben, die Wissenschaft und das 
Licht zu unterdrücken. Deshalb müssen wir ihm einen 
theologischen Lehrstuhl in unserem Freistate anweisen, 
damit er von da aus kämpfe. Um dieses zu sagen, muss 
man das wissenschaftliche Leben in Deutschland wenig 
kennen. Wir Schweizer gehen hier wahrlich nicht vor- 
aus, wir stehen vielmehr zurück. Die Heroen der Wissen- 



1 



214 Meike Rede [cap. 17. 

Schaft, von denen gerade in diesem Zusammenhange die 
Rede ist, wie Hegel, Schleiermacher, Dr. Strauss selbst, 
sind Deutsche und haben ihre Wissenschaft in Deutsch- 
land erworben. Sie haben sie auch dort gelehrt, die bei- 
den ersteren bis an ihr Lebensende. Also rede man doch 
nicht mehr davon, dass in den deutschen Monarchien die 
Wissenschaft nicht gedeihen könne. Es liegt in dem Ge- 
sagten aber noch ein zweiter Irrtum, der nämlich, als 
würde jener theologische Kampf vorzüglich von einem 
zürcherischen Katheder aus geführt werden. Das Kathe- 
der in Zürich wird in diesem Kampfe eine sehr unterge- 
ordnete Rolle spielen. Dr. Strauss ist ein Mann, der der 
Sprache mächtig dem grösseren Publikum seine Ansichten 
durch die Schrift zu verkünden weiss. Darin liegt seine 
HauptwaflFe, und diese kann er in Deutschland so gut fuh- 
ren, als bei uns in der Schweiz. Das haben wir ja bereits 
gesehen. Wenn dann aus dem Hin- und Widerschreiben 
der Gelehrten sich allmählich dort die Wahrheit mehr 
herausarbeitet, und das wird geradeso geschehen, mag 
nun Dr. Strauss in Stuttgart oder in Zürich wohnen, dann 
werden die Resultate zum Gemeingute auch der anderen 
Lehrer werden. Was Gutes auch in seinen Werken sich 
findet, wird aufgenommen werden auch von den bisherigen 
Professoren der Theologie. Was sich Schiefes, Irriges darin 
zeigen sollte, wird dann leicht beseitigt werden. Glauben 
Sie nur nicht, dass die bisherigen Professoren der Theo- 
logie in Zürich verschlossene Ohren haben, glauben Sie 
nicht, dass sie Pietisten seien. Fragen Sie darüber unsere 
Pietisten oder auch nur die Orthodoxen. Sie werden bei 
diesen vielmehr Klagen hören, dass unsere Lehrstühle zu 
einseitig besetzt seien, dass zu sehr schon dem Rationalis- 



cap. 17.] IM Gbossbn Rat. 215 

mus Vorschub gethan sei. Und nun will man jenen zu- 
wider noch viel weiter gehen, noch einseitiger verfahren. 
Aus allem dem folgt doch wohl, dass jener Kampf, den 
Sie so sehr wünschen, auch geführt wird, ohne dass Dr. 
Strauss bei uns ist. Der wahre Kampfplatz ist und bleibt 
doch immer das wissenschaftliche Deutschland. Was wollen 
wir nun neue innere Störungen, innere Kämpfe in unserem 
Volke hervorrufen, in stärkerem Masse als nötig und heil- 
sam ist, Kämpfe, deren Resultate noch nicht abzusehen 
sind? Ich mache Sie darauf aufmerksam, wie gerade jetzt 
überall in Europa die Fragen der Religion wieder lebhafter 
erörtert werden, wie namentlich auch das Volk an diesen 
Kämpfen teilnimmt, wie wenig sich hier zum Voraus be- 
rechnen lässt, wie weit der Glaube und der Aberglaube füh- 
ren kann. Hier sind Gefahren, die man nicht leichtsinnig, 
nicht ohne Not eingehen darf. Und eine solche Not scheint 
uns nicht vorhanden. 

Man spricht freilich von einer Reformation, deren wir 
bedürfen. Aber ich halte diese für einen Traum. Zwar 
gebe ich zu, und die ganze heutige Discussion beweisst 
dafür: es besteht eine Differenz zwischen den Ansichten 
einer grossen Zahl von mehr oder weniger Gebildeten in 
unserem Kanton auf der einen Seite und der Lehre der 
Geistlichen auf der andern Seite. Diese nehmen vielleicht 
nicht genug Rücksicht auf die Bedürftrisse derer, in welchen 
der Verstand aufgewacht ist. Das wird sich aber allmälig 
schon ändern, wenn man nur die Hochschule ruhig ge- 
währen lässt. Sie macht ohnehin schon die jungen Leute 
aufmerksam auf den gegenwärtigen Standpunkt der Wissen- 
schaft. Und von diesen her wird die Wirkung schon all- 
mälich ins Leben übergehen. Man sieht dann ferner in der 



216 Meike Rede im Gbossen Rat. [cap. 17. 

Berufung des Dr. Strauss einen grossen Gewinn für die 
Hochschule. Insofern man in ihm eine wissenschaftliche 
Potenz erkennt und darin den Gewinn sucht, hat man 
recht. Insofern man für die übrigen Professoren einen 
geistreichen und, wie ich höre, auch liebenswürdigen Col- 
legen herbeirufen will, so bin ich auch damit sehr gerne 
zufrieden. Aber wenn man meint, die Zahl der Theologie- 
Studierenden dürfte durch ihn vermehrt werden, so könnt« 
man sich hierin leicht irren. Eine Vermehrung im Grossen 
ist überall nicht möglich, so lange das Interdict der deutschen 
Staten in Kraft bleibt. Dass dieses nun desto eher beseitigt 
werde, werden Sie nicht glauben. Aber selbst für die ein- 
heimische Frequenz habe ich Zweifel. Wer studiert Theo- 
logie? Grossenteils Söhne von Geistlichen, die von Hause 
her schon eine religiöse Erziehung mitbringen, oder sonst 
junge Leute, die den Sinn haben für einen der Religion 
geweihten Beruf. Andere haben kaum Lust in unseren 
Tagen, sich zu Pfarrern zu bilden. Diese werden aber 
eher verletzt werden in ihrem Sinn als erbaut durch die 
Straussische Theorie, wie sie jetzt noch dasteht. Und 
auch da werden die Einen leicht den Glauben verlieren 
und von dem gewählten Berufe zurücktreten. Andere da- 
gegen sich auf ihr Gefühl zurückziehen und dem Denken 
feind werden. 

Endlich, H. H., mein letztes Bedenken. Es ist nicht 
das kleinste. In unserem Volk, besonders in den unteren 
und mittleren Klassen desselben, ist noch viel positiver 
Glaube. Dieser Glaube knüpft sich an historische Momente 
an in dem Leben Jesu. Wenn hier die Form zerbrochen 
wird, welche den Geist einschliesst, so fürchte ich, dieser 
wird sich von dem Volke weder halten noch erkennen 



cap. 17.] Bestätigung der Berufung von Dr. Straüss. 217 

lassen. Daran aber schliesst sich zugleich auch das sitt- 
liche Gefühl an. Der Glaube ist die Grundlage, auf welcher 
im Volke auch die Sittlichkeit ruht. Die Leute scheuen 
das Böse und lieben das Gute grossenteils darum, weil sie 
durch ein göttliches Gebot, das ihnen zum Herzen noch 
mehr als zum Kopfe redet, zum Guten hingezogen, von 
dem Bösen zurückgewiesen werden. Stürzen Sie jenen 
positiven, an äusserliche Dinge sich lehnenden Glauben 
ein, so wird auch das darauf ruhende sittliche Gefühl er- 
schüttert. Und diese Erschütterung kann grosses Verder- 
ben nach sich ziehen. Das sind die Gründe, aus denen 
ich gegen die Berufung des Dr. Strauss und für die Mo- 
tion, deren formelle Verteidigung ich anderen Mitgliedern 
überlassen will, stimmen werde. Es sind das Gründe mehr 
objectiver Art, hergenommen von allgemein menschlichen 
Verhältnissen und Zuständen unseres Volkes und unserer 
Kirche. Werden diese Gründe widerlegt, so werde ich 
meine Meinung ändern, aber auch nur, wenn sie wider- 
legt werden.** 

Mit 98 gegen 49 Stimmen wurde die Motion von 
dem Grossen Rate verworfen und dadurch der Absicht 
und Wirkung nach die Berufung des Dr. Strauss gebilligt. 
Mit 15 gegen 3 Stimmen bestätigte der Regierungsrat am 
2. Februar dieselbe. Die verfassungsmässige Vertretung 
und Regierung des Volkes hatten sich nun erklärt. Aber 
bald zeigte sich*s, dass das Volk selber, dass insbesondere 
die grosse Mehrheit der Bürger mit diesem Entscheide 
nicht einverstanden und zum Widerspruch und Widerstand 
entschlossen war. 

Die Bewegung ging von den Bewohnern des linken 
Seeufers aus und verbreitete sich rasch. Unter dem Vor- 



218 ^^^ Widerstand des Volks in den Gemeinden. [cap. 17. 

sitze von Hürlimann-Landis, einem angesehenen Fabri- 
kanten von Richterschwyl, traten am 13. Februar Vertreter 
von 29 Gemeinden in Wädischwyl zusammen und be- 
schlossen, die Berufung von Dr. Strauss auf den dogmati- 
schen Lehrstuhl durch Bildung einer Vereinigung aller 
Kirchgemeinden, welche Ausschüsse wählen sollen, zu be- 
kämpfen. Zugleich wurde ein Central-Comite für den gan- 
zen Canton gegründet. 

In der That, fast alle Gemeinden des Cantons folg- 
ten der Einladung sich auszusprechen und wählten Aus- 
schüsse, die mit dem Central-Comite von 22 Mitgliedern 
in Verbindung traten. Am 10. März wurde über die Pe- 
tition in den Gemeinden abgestimmt, welche von dem 
Condte entworfen war und nun entschieden die Zurück- 
nahme der Berufung von Strauss, eine neue Repräsen- 
tation der Kirche mit Zuzug von Laien und eine sorgfälti- 
gere Beachtung des religiösen Elements in der Volksschule 
und in dem Schullehrer-Seminar forderte. Die ganze Masse 
der stimmberechtigten Bürger nahm an der Abstimmung 
teil. 39,225 Stimmen erklärten sich für, nur 1048 gegen 
die Petition, d. h. nahezu die Gesamtheit der Wähler. Das 
formelle Recht der Massen zu entscheiden, konnte wohl 
in Zweifel gezogen, die thatsächliche Willensmeinung des 
Zürcherischen Volkes aber nicht geläugnet werden. 

Der Regierungsrat erschreckt suchte einen Ausweg; 
die Mehrheit des Erziehungsrates blieb fest. Wieder kam 
die Frage an den Grossen Rat, der am 18. März versam- 
melt ward. Der Grosse Rat war in einer peinlichen Lage. 
Dieselbe Regierung, die wenige Wochen früher die Be- 
rufung von Strauss empfohlen hatte, trug nun um der 
öffentlichen Meinung willen auf Pensionierung des von ihr 



cap. 17.] WiDEBBüF DES Gbossbn Rats. 219 

berufenen Professors an, ohne dass dieser inzwischen irgend 
einen Anlass dazu gegeben hatte, in Wahrheit nur, weil 
die Volksm einung unzweideutig verlangt hatte: „Strauss 
soll und darf nicht kommen." Derselbe Grosse Rat, der 
kurze Zeit vorher die Wahl gebilligt und eine Reform der 
Kirche angekündigt hatte, bekannte nun seine Schwäche 
und beschloss mit 149 Stimmen gegen 38 den Widerruf. 
In der Minderheit stimmten der Bürgermeistei' Hirzel, die 
radikalen Juristen und ihre Getreuen. Die grosse Mehr- 
heit der Landbürger wurde durch die Stimmung ihrer Hei- 
mat zum Übergang in das Lager der früheren Minderheit 
getrieben, welche dadurch zur Mehrheit der Behörde wurde. 

Die Verhandlung im Grossen Rate wurde nicht ohne 
bittere Ausfalle gegen die Personen geführt. Keller nannte 
die Bewegung unrein in ihrer Quelle, in ihrer Entwickelung 
und in ihren Resultaten und erklärte, das. sei die Meinung 
des Volkes, welche sich durch seine Vertretung ausgespro- 
chen habe, und nicht was siebenhundert giltige oder un- 
giltige Gemeinden wollen. Ohne jene Annahme habe die 
Repräsentativ Verfassung keinen Sinn und keine Geltung. 

Ihm erwiderten Alexander Schweizer und ich. 
Jener bezog sich auf eine frühere Voraussagung von mir aus 
dem Jahr 1831 (Geschichte der Revolution im Canton Zürich), 
dass der Radikalismus in seinen Fortschritten zum Angriff 
auf die Religion des Volkes vorgehen und dann den Geist 
des Zürchervolkes zu offenem Widerstände reizen werde. 
Der statsrechtlichen Beweisführung Kellers entgegnete ich 
folgendes: „Allerdings ist der Grosse Rat der Repräsentant 
des Volks, aber nicht das Volk. Das Volk vereinigt alle 
Bürger des ganzen Cantons in sich. Der Grosse Rat ist 
das Organ des Volkes, um den bindenden VolkswiUen zu 



220 Vebhandlunoen dabübeb im Gbos8en Rat. [cap. 17. 

äussern. Aber damit ist nicht gesagt, dass Alles, was der 
Grosse Rat als Volkswillen ausspreche, auch wirklicher 
Volkswille sei. — Wenn der wahre echte Volkswille und 
der vom Grossen Rate ausgesprochene Volkswille im Con- 
flicte sind, dann fehlt es eben dem Volke an einem guten, 
gesunden Organe. Es mögen manche Mitglieder das letzte 
Mal um der Form willen gegen die Motion des Herrn An- 
tistes Füssli gestimmt haben. Andere haben aber dagegen 
gestimmt, um die Berufung von Strauss und den darin 
liegenden Gedanken einer Reformation zu billigen. Ich 
frage Sie auf Ihr Gewissen: Haben damals sich die Mit- 
glieder recht deutlich gemacht, dass sie nicht für sich, 
sondern für das Volk zu stimmen, dass sie die allgemeinen 
Volksinteressen und nicht ihre besonderen Wünsche zu be- 
rücksichtigen haben? Ich will Niemanden einen Vorwurf 
machen. . Wir Alle haben, sei es dieses oder jenes Mal, 
diesen Fehler gemacht und zuweilen das eigene Ich dem 
Wohl des Ganzen vorgezogen. Viele Gebildete wünschten 
Strauss, weil sie in seiner Lehre etwas zu finden hofften, 
das ihnen besser zusage als die hergebrachte Lehre der 
Kirche. Aber abgesehen davon, dass sie sich in dem Mittel 
irrten, vergassen sie die Volksbedürfnisse und den Volks- 
glauben. Wir haben ein grossenteils industrielles und 
schwer mit Arbeit geplagtes Volk. Die grosse Masse der 
Einwohner ist zwar nicht gerade arm, aber mit Sorgen und 
Mühen vielfach gedrückt. Für ein solches Volk ist die 
Religion vom höchsten Werte. Sie allein richtet die Leute 
auf, sie allein macht ihnen das Leben erträglich. Nun 
war für diese Religion, in welcher das Volk Ruhe und 
Glück findet, welche ihm die höchste Wahrheit eröffnet, 
wirklich Gefahr vorhanden. Dr. Strauss steht, wie wir 



cap. 17,] Pbnsioniebüno von Dr. Strauss. 221 

aus den Schriften über Strauss und von Strauss gesehen 
haben, nicht auf dem Boden des historischen Christentums. 
Seine grossenteils Hegersche Lehre wollte man dem Volke 
aufdringen. Es hatte daher nicht Unrecht, nach seiner 
Auffassung zu erklären: „Nicht Strauss, sondern Christus." 
Man spricht so viel von dem Fanatismus der Menge. 
Aber diese fanatische Menge blieb ruhig in den gesetz- 
lichen Schranken, Astährend ihre Gegner mit Waffengewalt 
und Krieg drohten. Wären nicht 40,000 Bürger auf der 
einen Seite und eine winzige Minderheit auf der anderen, 
so hätten wir nach diesen Äusserungen den Bürgerkrieg 
bekommen. Damit so leichtfertig zu spielen, wie es ge- 
schehen ist, verrät weder grosse politische Einsicht, noch 
grosse politische Sorge für die Wohlfahrt des Ijandes." 

Die legale Form, die Berufung von Strauss unwirksam 
zu machen, war nun gefunden. Schon am Morgen nach 
dieser denkwürdigen Sitzung beschlossen der Erziehungs- 
und der Regierungsrat die in Ruhestand-Versetzung des 
Professor Strauss mit einer Pension von 1000 alten Schwei- 
zerfranken. 

Nach einer so tiefen Demütigung der Regierung und 
des Grossen Rates wäre eine Erneuerung der gewählten 
Behörde wohl gerechtfertigt gewesen. Aber die radikale 
Mehrheit wollte sich keinen Neuwahlen in dem Augenblick 
aussetzen, in dem sie das Vertrauen der Wähler verloren 
hatte; und die conservative Minderheit scheute sich, dieses 
Begehren zu stellen, welches sie in den Verdacht ehrgeizigen 
Stellenbewerbes gebracht hätte. 

Schon am folgenden Tage wurde der Kampf im 
Grossen Rate wieder aufgenommen und fortgeführt. Der 
Regierungsrat Bürgi, ein Mann ohne wissenschaftliche 



222 Bedbohükg deb Hochschule. [cap. 17. 

Bildung, aber nicht ohne praktisches Talent, hatte den 
brutalen Antrag gestellt auf Aufhebung der Hochschule 
und wurde nun, wenigstens scheinbar, auch von einigen 
radikalen Juristen — freilich nicht von Keller, der sich 
dessen geschämt hatte — unterstützt. Sie dachten sich für 
die Niederlage in der Strauss'schen Sache zu rächen. Der 
Bürgermeister Hirzel blieb auch hier seiner idealen Natur 
treu. Mit Entrüstung bekämpfte er diesen rohen Angriff 
auf die höchste wissenschaftliche Anstalt des Cantons. Es 
war auffallend, dass im Übrigen fast nur Stadtbürger, und 
mehr Conservative als Liberale der Erheblichkeitserklärung 
des Antrags entgegentraten, voraus Oberrichter Ulrich, 
Bürgermeister Hess, Altbürgermeister v. Muralt, Ferd. 
Meyer, Gysi-Schinz, Alex. Schweizer. Am tiefsten 
schnitt meine Bede ein, welche die politische Verwerflich- 
keit der Motion beleuchtete. Die Hauptstelle mag auch 
hier noch einen Platz finden. 

„Darüber kann kein Zweifel sein, die Hochschule, 
wie sie gegenwärtig ist, steht höher als unsere wissen- 
schaftlichen Anstalten vor ihrer Gründung. Ich kann mir 
nun keine Veränderung als möglich denken, welche uns 
zurückführen würde in einen Zustand, der nicht bloss 
schlechter ist als der gegenwältige, sondern tiefer steht 
als der frühere: und ein solcher Zustand würde durch die 
Motion herbeigeführt. Man spricht heute von Volk und 
Volkswillen in ganz anderem Sinne, als gestern; ich habe 
mich gestern auch darüber ausgesprochen, und zwar so, 
wie ich es heute thue und wie ich es vor 9 Jahren bereits 
schriftlich gethan habe. Um den Volkswillen zu erkennen, 
muss man das Volk mit seinen Bedürfnissen und seinem 
Charakter auffassen. Das Volk ist nicht von gestern, auch 



cap. 17.] Meine Rebe füb die Hochschule. 223 

unser Volk wie andere Völker hat ein Leben nicht von 
Jahren bloss, sondern von Jahrhunderten. Ich habe es für 
eine Sünde gehalten, dass man die religiöse Seite in unserem 
Volkscharakter tief gekränkt hat. Begehen sie nicht eine 
neue Sünde gegen eine andere Seite unseres Volkslebens; 
jede solche Sünde rächt sich früher oder später und findet 
ihre Strafe. 

Schon seit Jahrhunderten, nicht erst seit gestern, hat 
sich Zürich in zwei Richtungen besonders ausgezeichnet. 
Die industrielle ist die eine, die wissenschaftliche die an- 
dere. Beide Richtungen waren ursprünglich in der Stadt 
Zürich vereint, beide waren eingeschlossen in die Stadt, 
während einer gewissen Zeit schloss sich die Stadt in beiden 
Richtungen ab von der Landschaft. Das hat sich aber 
seitdem geändert und hat sich ändern müssen. Die Indu- 
strie hat sich ausgedehnt auch über die Landschaft, sie hat 
auch dort feste und schöne Wohnsitze aufgeschlagen, die 
Verbindung aber mit der Industrie der Stadt ist geblieben, 
und in dieser Verbindung liegt .zum Teil ihre Kraft. Auch 
die Wissenschaft hat angefangen sich auszudehnen von der 
Stadt über die Landschaft, auch sie hat Wohnsitze erlangt, 
wenn schon jetzt noch geringe und spärliche, sie bedarf noch 
weit mehr der inneren Verbindung uiid eines Brennpunktes, 
wie er sich hier findet; denn darüber kann kein Zweifel 
sein, dass die Hochschule in dieser Richtung die be- 
deutendste Stelle einnimmt, und dass die Hochschule eine 
grosse Masse von Intelligenz und Geist vereinigt. Eine 
Zerstörung der Hochschule heisst daher Zerstörung dieser 
wissienschaftlichen Richtung. Man sage nicht, die Land- 
schaft sei dabei nicht beteiligt. Was wird die Wirkung 
auf die Stadt zunächst sein? Die Unbemittelteren werden 



^ 



224 Meine Rede nc Gbossen Rat [cap. 17. 

nicht mehr studieren, weil sie keine bequeme Gelegenheit 
dazu finden, aber das wissenschaftliche Bedürfnis, das seit 
Jahrhunderten in der Stadt bekannt ist, wird nicht ganz 
beseitigt werden, die Söhne der Reichen werden dennoch 
studieren und dadurch ein neues geistiges Übergewicht vor- 
bereiten. 

Was werden die Wirkungen zunächst für die Land- 
schaft sein? Hier wird die wissenschaftliche Richtung, die 
erst anfängt Wurzeln zu schlagen, im Keime erstickt wer- 
den. Jetzt schon hat die Zahl der Landbürger, die stu- 
dieren, ziemlich zugenommen. Um ein Beispiel zu erwähnen, 
so habe ich gerade in diesem Semester in einem CoUegium 
9 Landbürger und 3 Stadtbürger als Zuhörer gehabt. 
Glauben Sie, wenn Sie die Hochschule aufheben, so nehmen 
Sie vorzüglich den Landbürgern die Lust, sich wissenschaft- 
lich auszubilden. Stellen Sie sich dieses klar in seinen 
Folgen vor. Man hat mir und meinen Freunden schon oft 
vorgeworfen, wir haben eine politische Reaction im Sinne. 
Es ist dieses eine schmähliche Verläumdung. Hätten wir 
das wirklich im Sinne, so würden wir mit Herrn Bürgi 
stimmen und die Hochschule zerstören helfen. Zerstören 
Sie diesen Geist, so wird sich eine neue und falsche Stadt- 
herrschaft bilden! eine Herrschaft der Reichen, gehalten 
durch wenige geistig ausgebildete Bürger. Die Frage hat 
aber noch andere Seiten von der höchsten politischen Wich- 
tigkeit. Der Stand Zürich hat in der Eidgenossenschaft, 
auch nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrhunderten, 
eine der ersten Stimmen gehabt; er ist von jeher als ein 
vorzugsweise intelligenter Stand betrachtet worden. Hüten 
Sie sich wohl, diese Stellung des Standes Zürich zu ver- 
kehren. Sie zerstören gleichzeitig damit das Ansehen und 



cap. 17.] FÜB Erhaltung der Hochschule. 225 

den Einfluss des Standes Zürich. Der Canton Zürich würde 
hinuntersteigen von seiner gegenwärtigen Höhe und tief 
herabsinken in den Augen seiner Miteidgenossen. Aber 
nicht bloss vor der Eidgenossenschaft würde die Ehre des 
Cantons Zürich geschändet, sondern vor der ganzen civili- 
siertenWelt; denn unsere Ehre ist eng verbunden mit der 
wissenschaftlichen Richtung. Aber auch da, gegenüber dem 
Auslande sogar, handelt es sich nicht bloss um die Ehre: 
die Ansichten, die über einen Stat verbreitet sind, sind auch 
von Einfluss auf seine Beziehungen zu andern Staten. Es 
ist im höchsten Interesse dieser Beziehungen, dass man 
nicht sagen könne: die Barbarei hat im Canton Zürich 
gesiegt. 

Betrachten Sie den Antrag gegenüber unserer politi- 
schen Entwickelung. Man wird sagen müssen: so lange 
die Stadt geherrscht hat, war der Stand Zürich geehrt, 
höhere wissenschaftliche Anstalten blühten in ihr. Dann 
veränderten sich die Verhältnisse; die Souveränetät, welche 
früher der Stadt zugehört hatte, dehnte sich aus über die 
ganze Landschaft. Diese, begeistert von der neuen Richtung, 
erkannte, dass sie nicht zurückbleiben dürfe hinter der 
früheren Stadtherrschaft. Eine Hochschule wurde begründet, 
um die wissenschaftliche Richtung zu erheben. Wenige Jahre 
später wurde ein neuer Grosser Rat von Stadt- und Land- 
bürgern ohne Unterschied bloss nach der Kopfzahl gewählt, 
und kaum war dieser Rat da, so« gefiel es einem Mitgliede 
des Regierungsrates, ohne vorherige Untersuchung, ohne 
gehörige Sachkenntnis, in Bausch und Bogen darauf anzu- 
tragen: die Hochschule ist aufgehoben, und einen solchen 
Antrag hat jener Grosse Rat für erheblich gefunden. Glauben 
Sie nicht, dass die ganze gebildete Welt urteilen würde, 

Blttntschli, Dr. J. C, Aas meinem Leben. I. -^^ 



226 Meine Rede im Gbossen Rat [cap. 17. 

der Canton Zürich sei durch seine politischen Veränderungen 
nicht gehoben, sondern erniedrigt worden? Und was die 
gebildete Welt urteilt, ist von £influss auf das Leben, es 
können sich von daher Gefahren erheben der schlimmsten 
Art, und es laden sich die, welche zu einem solchen An- 
trage raten, eine ungeheure Verantwortlichkeit auf. Werfen 
Sie nun alle diese politischen Gründe in die eine Wag- 
schale, und die Ausgaben des Stats in die andere, so wird 
Niemand von Ihnen zweifeln, welche von beiden sinkt. 
Nach officiellen Berechnungen betragen diese Ausgaben 
34,000 Frcs. Diese Ausgabe wird aber nur zum kleineren 
Teile vom State bezahlt, zu einem grösseren von dem 
Stiftsgute und der Stadt Zürich. Wenn Sie dann nach 
Hause kommen und sich etwa Einer beklagt, die Hoch- 
schule koste zu viel Geld, so können Sie ihm mit Beruhig- 
ung antworten: es gibt zwei ehrenwerte Bürger im Canton 
Zürich, von denen jeder einzelne an demselben Tage, wo 
die Hochschule aufgehoben wird, 10,000 Frcs. gewinnt. 
Diese beiden Bürger haben im Grossen Rat gesessen, als 
der Antrag gestellt wurde auf Aufhebung der Hochschule. 
Diese beiden Bürger haben aber für die Hochschule und 
gegen die Erheblichkeit der Motion gestimmt. Sagen Sie 
den Leuten dieses, und sie werden sich schämen, sich länger 
zu beklagen. Ich stelle daher den Antrag, dass die Motion 
für unerheblich erklärt werde. Wenn es sich um blosse 
Verbesserungen handelte oder nur eine blosse Untersuchung 
der Sache, so könnte ich auch dazu stimmen. Aber wie 
die Motion gegenwärtig eingebracht wurde, so scheint sie 
mir der Erguss zu sein eines persönlich beleidigten Ge- 
fühls. Ich wünsche, dass die Untersuchung geführt werde 
in ruhiger Stimmung, veranlasst durch die Schritte der 



cap. 17.] PUB Erhaltung der Hochschule. 227 

Behörden, und nicht durch eine feindselige Motion. Unter 
den gegenwärtigen Zeitverhältnissen hat die Motion nicht 

m 

allein den Erfolg, wenn sie erheblich erklärt wird, dass 
der Hochschule ein Stoss versetzt wird, sondern man will 
zugleich der religiösen Volksbewegung das Siegel der Bar- 
barei aufdrücken. Man hat gestern der Bewegung Unrein- 
heit vorgeworfen: sie wäre unrein, wenn dieser Antrag 
aus der Volksgesinnung hervorgegangen wäre. Die Gegner 
der religiösen Bewegung haben den Leuten gesagt: petitio- 
niert doch für Aufhebung der Hochschule. Das Volk hat 
aber nicht auf ihre Stimmen gehört, und ich hoffe, auch der 
Gr. Rat wird nicht auf sie hören.** 

Trotz aller Gründen dagegen wurde die Motion doch 
für erheblich erklärt, und sogar in einer für die Existenz 
der Hochschule bedrohlichen Form. Die Radikalen wollten 
sich für die Niederlage an dem Tage zuvor rächen und 
fanden bei denselben Mitgliedern Unterstützung, welche 
aus Furcht vor ihren Wählern die Führer verlassen hatten. 
Mit 120 Stimmen wurde eine Commission zur Prüfung der 
Verhältnisse der Hochschule niedergesetzt. Es war aber 
kein rechter Ernst in dem scheinbaren Vorgehen gegen 
die Hochschule. Man wollte drohen, aber Keiner wollte die 
Drohung vollziehen. Der ganze Angriff hatte sein Pulver 
schon am ersten Tage verpufft, und die Commission be- 
deutete in Wahrheit friedlichen Rückzug. Aber er hatte 
das Misstrauen gegen die Radikalen und gegen die Re- 
gierung erhöht und die Meinung derer bestärkt, welche 
beiden die Absicht zuschrieben, die Zugeständnisse an die 
Volksbewegung möglichst bald zurückzunehmen und die 
frühere Richtung zu erneuem. 



15' 






228 I^^s Centrax-Comite ukd die Regierung. [cap. 18. 

18. 

Das Gentral-Comit^ und die Regierung. Reizungen nnd Anfreg- 
nngen. Yolksyersammlnng zn Eloten am 2. September. HirzeFs 
Zng nach Zürich am 5. September. Die Revolution vom 6. Sep- 
tember. Meine Stellung in derselben. Briefwechsel mit Hirzel. 
Die Auflösung der obersten Landesbehörden. Ein neuer Grosser 
Rat. Meine Ernennung zum Regierungs- und Statsrat. 

Der politische Anstand und die Rücksicht auf die 
öfifentliche Meinung forderten, wenn nicht den Rücktritt 
der Mitglieder der Regierung, doch mindestens eine solche 
Änderung der Personen, welche das Vertrauen des Volkes 
in die Regierung herzustellen und von neuem zu befestigen 
geeignet war. Aber den radikalen Mitgliedern fiel es nicht 
ein, auf ihre Stellen zu verzichten. Der Grosse Rat war 
auch nicht gesonnen, jene politische Rücksicht zu beachten. 
Zufallig kamen schon in Ser nächsten Sitzung des Grossen 
Rates sechs Mitglieder des Regierungsrates in die Er- 
neuerungswahl, von denen fünf als entschiedene Gegner 
der Volksbewegung bekannt waren. Sie wurden sämtlich 
von der Mehrheit wieder gewählt. 

Ebenso wenig dienten die Verhandlungen des Grossen 
Rates in seiner Aprilsitzung über die Volkspetition dazu, die 
Kluft zwischen Volk und Volksvertretung zu überbrücken. 
Dieselbe wurde von hervorragenden Führern der Mehrheit 
mit offenem Hohne, mit Verachtung besprochen, und nur mit 
Mühe wurde der Antrag durchgesetzt, dieselbe den bestehen- 
den Grossrats-Commissionen zur Prüfung zu überweisen. 

Das Central-Comite (Glaubens-Comite) hatte bereits 
seine Auflösung beschlossen, als diese und ähnliche Er- 
fahrungen von neuem zur Vorsicht mahnten und die Mit- 
glieder bestimmten, noch eine Weile thätig zu bleiben. 



cap. 18.] Reizükoen und Aüpbbgüwgen. 229 

Der Grosse Rat erledigte endlich in der Augustsitzung 
die Anträge der Volkspetition und seiner Commissionen. 
Das religiöse Element in der Volksbildung erhielt nach 
dem Wunsche des Volks einige verstärkte Garantien; da- 
gegen wurde, mit Recht, dem Kirchenrate eine Mitleitung 
der Schule verweigert. Dem Antrag der Aufhebung der 
Hochschule wurde keine weitere Folge gegeben; der An- 
trag auf eine aus Weltlichen und Geistlichen gemischte 
Kirchensynode wurde abgelehnt, und der Forderung einer 
Revision des Schullehrerseminars ausgewichen. 

Diese Beschlüsse, obwohl sie die Volkswünsche nur 
wenig befriedigten, hätten doch nicht einen neuen Aus- 
bruch des Kampfes bewirkt, wenn nicht das Misstrauen 
gegen die Aufrichtigkeit selbst der geringen Zugeständ- 
nisse immer von neuem heftig gereizt und der Widerwille 
gegen die entsittlichende Einwirkung des Radikalismus 
durch das Verhalten einiger Führer bis zur Wut ange- 
stachelt worden wäre. 

Ich war niemals Mitglied weder des Central-Comite's, 
noch eines Bezirks-Comite's gewesen und hatte mich von 
der Leitung der Bewegung fem gehalten; aber ich hatte 
Freunde darin und wurde von den wichtigen Vorgängen 
in demselben unterrichtet. Auch mit einigen Mitgliedern 
der Regierung, welche den Radikalen widerstrebten, ins- 
besondere mit Statsrat Hegetschweiler trat ich in Ver- 
bindung. Ich arbeitete an einer gründlichen Reform; weil 
diese verhindert wurde, so kam die Revolution. 

Wieder erliess das Central-Comite eine Einladung zu 
einer Versammlung sämtlicher Bezirksausschüsse nach Klo- 
ten, um gemeinsame Schritte zu beraten. Die Regierung 
dagegen liess die Gemeinden verwarnen, im Auftrage des 



230 Volksversammlung zu Kloten. [cap. 18. 

Central-Comite sich zu versammeln, und rief ein Bataillon 
Truppen in die Stadt. Der Statsanwalt erhob eine Klage 
gegen die Mitglieder des Central-Comite's wegen Versuchs 
zum Aufruhr und versuchte die Presse durch Beschlag- 
nahmen einzuschüchtern. In einem Lande, welches die 
Gemeindefreiheit, das Vereinsrecht und die Pressfreiheit in 
weitestem Umfang zu üben gewohnt war, mussten diese 
Massregeln eher erbittern und den Widerstand reizen, als 
abschrecken. 

Als die Regierung diesen Eindruck bemerkte, suchte 
sie wieder die erregte Stimmung des Volkes zu beschwich- 
tigen und entliess die Truppen. Am 2. September fand 
die Versammlung in Kloten statt. Die Ausschüsse der 
Comites wurden von zahlreichen Scharen der Bürger be- 
gleitet. Die Versammlung wuchs trotz des regnerischen 
Wetters zu einer grossen Volksversammlung von ungefähr 
15,000 Mann heran und fasste Beschlüsse über neue Pe- 
titionen an den Regierungsrat und an den Grossen Rat. 

Auch bei dieser Volksversammlung war ich nicht be- 
teiligt. Bis dahin waren die gesetzlichen Schranken nicht 
überschritten. Ich hatte damals noch die Hoffnung, dass 
der Grosse Rat, der auf den 9. September einberufen ward, 
wenn er den entschlossenen Ernst des aufgeregten Volkes 
sehe, endlich das Nötige verfügen werde, um den innem 
Frieden herzustellen. 

Allein die Spannung dieser Tage war zu heftig und 
die Frist vom 2. bis zum 9. September schien zu lange. 
In der Zwischenzeit wurden von den Führern der Radi- 
kalen mit dem Schultheiss Neuhaus von Bern und an- 
deren Häuptern der Cantone des Siebener-Concordates Ver- 
abredungen gepflogen über eine bewaffiiete Intervention 



cap. 18.] HntzEL's Zuo nach Zürich. 231 

dieser Cantone. Truppen aus Bern und Baselland sollten 
ausrücken und die Züricher Regierung gegen ihr Volk 
schützen. Der Zorn über diese drohende Intervention und 
das beleidigte Ehrgefühl der Züricher entzündeten die vor- 
handene Gährung zur Revolution. 

Dr. Rahn-Escher, der Stellvertreter des Präsidenten 
des Central-Comite*s, machte auf die Gefahr aufmerksam 
und forderte die Bürger auf, „wenn die Glocken gehen, 
zum Sturme bereit zu sein" (5. Sept.). An demselben 
Tage liess der Pfarrer Bernhard Hirzel, überzeugt, dass 
ein Entscheid nicht länger aufgeschoben werden dürfe, die 
Sturmglocke in Pfäflfikon läuten. Bald setzten sich grosse 
Massen von Bauern der östlichen Bezirke in Bewegung, 
die meisten unbewaffnet, in feierlicher Stimmung, Choräle 
singend. Vergebens suchte sie Dr. Rahn-Escher zurück- 
zuhalten. Die Einwohner der Stadt Zürich bewaffneten 
sich, um die Ordnung zu sichern und das Eigentum zu 
schützen. Die Regierung liess durch die Militärschule das 
Zeughaus besetzen und einzelne Zugänge absperren. 

Als der Landsturm singend in die Stadt einzog, kam 
es, worauf derselbe nicht gefasst war, zu einem Zusammen- 
stoss mit den Truppen. Es fielen Schüsse hinüber und 
herüber. Es gab einige Tote und mehrere Verwundete. 
Der Statsrat Hegetschweiler, der vergeblich auch da 
noch versöhnend wirkte, wurde von einem Bewaffneten 
der Regierung, vielleicht aus Versehen, erschossen. Die 
Bauern flohen grossenteils erschreckt und verwirrt, war- 
teten dann aber auf bewaffneten Zuzug vom Land. Aber 
auch die wenig zahlreiche Regierungsmannschaft wurde 
entlassen und löste sich auf. Die Bürgerschaft der Stadt 
besetzte das Zeughaus. Überall erschollen die Sturmglocken. 



232 ^^^ Rbvolution VOM 6. September. [cap. 18. 

Von allen Seiten kamen neue Maseen herbei. Die Regie- 
rung erkannte zu spät, wie wenig sie der Krisis gewachsen 
sei, und dankte ab. Eine neue provisorische Regierung 
wurde gebildet, in welcher die gemässigten Mitglieder der 
früheren Regierung eintraten und sich mit einigen anderen 
Männern von Ansehen verstärkten. 

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich dem 
Ausbruch einer Revolution in's Angesicht geschaut. Ich 
hatte nun selber erfahren, wie mächtig die natürlichen 
Leidenschaften aufwallen, wie schwer diese Kräfte zu be- 
rechnen und zu leiten sind, wie vielfältig abenteuerliche 
Gerüchte und unsichere Nachrichten durch die Luft schwir- 
ren, wie der Boden unter den Füssen erzittert und Alles 
wankt und schwankt, wie rasch Furcht und Hofl&iung auch 
bei den Führern wechseln. Ich verschweige nicht, dass 
meine von der geschichtlichen Rechtsschule anerzogene Ab- 
neigung gegen Revolutionen eher bestätigt als entkräftet 
wurde. 

Ich kam in diesen Tagen und Nächten vom 5. bis 
7. September nicht nach Hause, sondern war meistens in 
dem Hauptquartier der Stadt thätig, welches vorerst für 
die Sicherheit der Personen und des Eigentums zu sorgen 
bemüht war. Mein Freund Hirzel hatte mich am 5. noch 
wissen lassen, dass er mit seinen Volksscharen heranziehen 
werde, aber ich hatte auf seinen Entschluss keinen Ein- 
fluss und konnte ihm nicht mehr abraten. Ich Hess dann 
in der Nacht noch Dr. Keller sagen, wenn er gefährdet 
werden sollte, so möge er in meiner Wohnung ein Asyl 
suchen. Er zog es vor, am 6. morgens nach Baden zu 
fliehen. An dem entscheidenden Tage bekam ich einen 
unauslöschlichen Eindruck der furchtbaren Wut, die aus 



cap. 18.] Meine Stellung in desselben. 233 

dem Volk aufloderte. Ich ging mit einer Schar kräfti- 
ger Männer der Seegemeinden über den Platz vor dem 
Hotel Baur, in der Nähe des Zeughauses. Als dieselben 
hier die Blutlachen am Boden gewahrten, da machten sich 
der wilde Schmerz und der grimme Zorn in einem ent- 
setzlichen Qebrülle Luft, das mir die Nerven erschütterte. 
Aber trotz der Aufregung wurde doch Niemand misshan- 
delt, und ohne Gefahr wurden die Geldsäcke auf die Bank 
in der Nähe getragen oder dort geholt. Ich hörte nichts 
von rohem Unfug, noch von Verletzung des Privatrechts. 
Man sah keine Betrunkene. Das öffentliche Verfassungs- 
recht nur war gewaltsam durchbrochen. Aber auch in 
dieser Hinsicht war der Wunsch allgemein, die bestehende 
Verfassung zu erhalten und möglichst bald auch die nö- 
tigen Behörden herzustellen. 

Die Nacht vom 6. auf den 7. brachte ich in der Ca- 
seme zu. Ich hatte den Auftrag des Commandanten der 
Bürgerwehr, Oberst Ziegler, übernommen, dort die Ord- 
nung aufrecht zu erhalten, und wurde von den bewaffneten 
Volksscharen, die hier einquartiert waren, ohne Patent und 
ohne Vorstellung frischweg als „Herr Oberst" begrüsst. 
Die Leute liessen sich willig leiten und hielten auch dann 
fest, als sie mit den falschen Nachrichten allarmiert wur- 
den, es seien von Baden her feindliche Truppen im Anzug. 
Am Morgen darauf gab ich gerne die improvisierte mili- 
tärische Stellung an wirkliche Militärs ab. 

Die Revolution war, da Zürich in diesem Jahre eid- 
genössischer Vorort und die Tagsatzung in Zürich ver- 
sammelt war, vor den Augen der eidgenössischen und der 
fremden Gesandten vollzogen worden. Sie war erschienen 
wie ein plötzlich entladenes Gewitter, wie ein Windblast. 



234 Neuwahl des Grossen Rats. [cap. 18. 

Eine grosse, aus allen Teilen des Landes beschickte Volks- 
versammlung in Zürich wurde von dem Geschehenen unter- 
richtet, von jeder Rache abgemahnt und aufgefordert, zur 
Heilung des Gemeinwesens zusammenzuwirken. 

Nochmals wurde der alte Grosse Rat, wie die Re- 
gierung es vorher bestimmt hatte, am 9. September ver- 
sammelt, aber nicht in dem gewöhnlichen Sitzungssaale, 
sondern in der Kirche zum Grossmünster, damit die Ge- 
sandten und das Volk zuschauen könnten. Es fehlten un- 
gefähr ein Dritteil der Mitglieder, fast alle radikalen Füh- 
rer, welche sich nach Baden geflüchtet hatten. Die Ver- 
sammlung wurde von dem Amtsbürgermeister Hess geleitet, 
der als Präsident des Vorortes seine Amtsstellung bewahrt 
und dadurch vieles zu einem glimpflichen Übergange aus 
dem früheren in das neue Regiment beigetragen hatte. 
Nachher zog er sich aus den Geschäften zurück und nahm 
nur noch an gemeinnützlichem Wirken und an dem Grossen 
Rate teil. Er war ein Vetter meiner Frau (sie waren Ge- 
schwisterkinder); ich war aber nie mit ihm in ein intimes 
Verhältnis gekommen. Der Grosse Rat beschloss, die pro- 
visorische Regierung anzuerkennen und ihr Vollmacht zu 
geben, sich selber aber aufzulösen und neue Volkswahlen 
anzuordnen. 

Die Neuwahlen in den Grossen Rat wurden unter 
ungewöhnlich zahlreicher Beteiligung der Bürger vorge- 
nommen. Es stimmten 29,489 Urwähler ab. Die Phy- 
siognomie des neuen Grossen Rates war eine ganz andere, 
als der aufgelösten Volksvertretung. Die Wahlen in der 
Hauptstadt blieben wohl dieselben; aber auf dem Lande 
zeigte sich der Umschwung der öffentlichen Meinung in 
schroffer Weise. Es wurden fast keine Radikalen gewählt, 



cap. 18.] Briefwechsel mit Hirzel. 235 

dagegen viele conservative Bauern. Die liberalen Inter- 
essen waren weit schwächer vertreten als früher, die kirch- 
liche Gesinnung wurde bevorzugt. Dennoch wurden ganz 
wenige Geistliche gewählt, unter diesen Pfarrer Hirzel. 

Hirzel war durchaus nicht der fanatische Pfaflfe, als 
der er verschrieen wurde. Er war im Gegenteil eine geistig 
freie, aber auch eine leidenschaftliche, zu gewaltsamer That 
geneigte Natur. Wie ich schon früher auf einen tragischen 
Zug selbst in der glücklichen Jugendperiode hingewiesen 
habe, so werde ich auch später über sein tragisches Ende 
berichten. Mir war er stets ein zuverlässiger Freund ge- 
blieben. Ich besitze aus dem Jahre 1839 einige Briefe, 
die zwischen uns gewechselt wurden. Dieselben geben 
den besten Aufschluss über unsere damaligen Ansichten 
und Stimmungen. Ich teile daher an dieser Stelle einige 
Auszüge mit: 

Hirzel an Bluntschli, Pfaflfikon den 14. Februar 1839. 

„Mein Lieber. Ich muss mich äussern und gegen wen 
sonst als dich? Oder ich zerplatze vor Ärger. So dumm 
hatte ich unsere Radikalen nicht geglaubt, all' ihr Werk 
aufs Spiel zu setzen wegen einer Chimäre! In und um 
meine Gemeinde gährt es gewaltig. Vorigen Sonntag hatten 
die Leute nicht Raum in der Kirche. Sie erwarteten, dass 
ich in ihr Hörn blase, dass ich mit revoluzioniere. Aber 
meine Grundsätze werde ich nie verläugnen. Ich beschwich- 
tigte das Wetter für einmal; doch vergeblich; nun bricht 
es von anderen Gemeinden auch in die meinige herein. 
Eine Landsgemeinde scheint unausweichlich, die Folgen 
kann Niemand voraus wissen. — Zweierlei scheint mir 
durch die Dummheit der Radikalen unausweichlich gewor- 
den: Sturz der Universität und Rückfall in die Orthodoxie. 



236 Bbiefwechsel mit Hibzel. [cap. 

— Ich bin mit Niemanden zufrieden, als mit dir; auch mit 
mir nicht. Ich könnte jetzt wirken und darf nicht. Ich 
bin nicljt an meiner Stelle. Das Einzige, was mich an 
mir freut, ist, dass ich den Mut habe, durch Treue an 
meiner Überzeugung ein Schwächling zu scheinen.** 

Bluntschli aii Hirzel. Zürich 15. Februar 1839. 

„Wohl hast du Recht: die dummen Radikalen. Ihre 
Schlangenklugheit wird zur Dummheit, wo es sich um 
höhere Dinge handelt. Die Aufregung hat ihre gefahr- 
lichen Seiten, aber auch ihre schönen. Erhaltet ihren 
Grundton: religiöse Gesinnung. Durch positives Hervor- 
heben dieses Elementes werden allein die verderblichen 
Neigungen beschwichtigt. Entgegentreten ist Thorheit, 
Leitung Pflicht. Ich hätte gewünscht, Gujer, der in mei- 
nen Augen allein den Typus eines echten, sittlichen Volks- 
mannes hat, würde leiten. Wenn recht geleitet wird, so 
erlangen wir einen besseren Zustand. Mir war das hier 
in Zürich furchtbar wuchernde Sittenverderbnis der ärgste 
Gräuel. In dieser Tiefe kam ich auf einen Punkt, der 
mich von K. für immer trennte. — In derselben Tiefe des 
Gemüts ist nun auch das Volk angegriffen worden, und 
entschieden spricht es das aus. 

„Den Sturz der Hochschule fürchte ich nicht, vor- 
ausgesetzt, a) dass bald den wesentlichen Begehren ent-^ 
sprochen werde, b) dass rechte Leiter hervortreten. Einen 
Rückfall in die Orthodoxie besorge ich darum wenig, weil 
ich sehe, dass das Volk noch mitten darin ist. Es ist 
vielmehr nur Feststellung, allerdings sehr positive Fest- 
stellung des kirchlichen Glaubens. Aber nur auf die- 
ser Basis können auch wir Gebildete dann eine gerei- 
nigte religiöse Befriedigung erhalten, nicht aber, wenn 



cap. 18.] Briefwechsel mit Hibzel. 237 

wir schroff entgegentreten und von dem Unglauben aus 
den Glauben erbauen wollen/ 

Hirzel an Bluntschli. 11. März 1839. 

„Meine kirchlichen Ansichten kennst Du; weisst, dass 
ich Rationalist bin, nicht in dem wässerigen, negativen Sinne, 
der seine Lust hat, den Himmel in den Erdenschlamm 
herabzuziehen, sondern in dem positiven, das Irdische so 
viel als möglich zum Himmlischen zu läutern und zu er- 
heben durch Anwendung unseres inneren Lichtes. Noch 
ehe Strauss kommen sollte, war ich mit mir im Klaren. 
Li Anerkennung einzelner Mythen stimme ich ihm bei, 
fühle aber durch und durch die Notwendigkeit eines Auto- 
ritätsglaubens nicht an einen schwachen Sterblichen, son- 
dern an ein Urbild, Vorbild der Menschheit, einen Jesus, 
der Christus war, was Strauss offenbar läugnet. So weit 
Alles subjectiv. Nun aber beginnt es zu gähren in meiner 
Gemeinde. Dir gehöre ich noch mehr an, als mir; daher 
forderte ich die Meinigen auf zur Treue am Glauben, der 
siegen werde, auch ohne Stangen und Schwerter, wenn 
und weil er wahr sei. Aber dennoch vermehrt sich der 
Sturm unglaublich. Etwa 10 Individuen, einige rechtliche 
Halbgebildete, die anderen gemeine, verbildete Subjecte, 
wagen es, verführt durch den „Republikaner", sich öffent- 
lich für Strauss zu erklären. Alles in Brandung. Mein 
Stillstand (Presbyterium) fordert eine Gemeinde, als selber 
bedroht von der Masse. Weil ich nicht wusste, wohin, 
hielt ich zurück. Immer mehr Unreines mischt sich dem 
Reinen bei. Das Volk ist nicht mehr aufgeregt, es ist 
wütend. Einen willkommenen Ausweg bietet mir das 
Richterschwyler Comite dar. Nur keine Revolution! Da- 
rum Anschluss. Diesen beschliesst meine Gemeinde in 



238 Briefwechsel mit Hibzel. [cap. 18. 

einer Versammlung von über 700 fanatisierten Männern, 
die ich formell frei, aber unter geistigem Zwang ordnete. 
Inzwischen wird es mir immer klarer, dass es sich nun 
nicht mehr handle um die Berufung von Dr. Strauss, son- 
dern um den Sieg zwischen Reformern und Radikalen, der 
wahren Bildung und der Aufklärerei. — Wie ich früher 
mich passiv verhielt, so leitete ich nun, mit Vorwissen 
von Gujer, meinen ganzen Bezirk. — Ein Beweis davon 
liegt darin, dass von 4220 Zustimmenden, welche früher 
die Hochschule weg haben wollten, nur noch Eine Ge- 
meinde solches verlangt." 

Bluntschli an Hirzel, 12. März 1839. 

„Wenn du mitwirken kannst, dass das giftige Ele- 
ment in unserm State, welches ihn am Ende zerfressen 
hätte, gereinigt und die Harmonie der politischen Freiheit 
mit einer sittlichen und religiösen Gesinnung hergestellt 
werde, so wirst Du*s thun, das weiss ich. Eben deshalb 
aber bitte ich dich, trage dazu bei, dass nicht durch eine un- 
vorsichtige Handlung die Bewegung compromittiert werde. 
Nichts könnte ihr einen äi-gern Stoss versetzen, als die 
Aufhebung der Hochschule. Sprich doch darüber auch 
mit Gujer. Er kann unmöglich etwas Anderes als die Er- 
haltung derselben wollen. Und wenn er recht will, so er- 
hält er sie." 

Man hat Hirzel hauptsächlich den vernichtenden Vor- 
wurf gemacht, er habe am 6. September seinen Leuten zu- 
gerufen: „In Gottes Namen schiesst." Er hat aber sofort 
dieser Angabe als einer unwahren widersprochen und nur 
das Wort anerkannt: „In Gottes Namen vorwärts!" Jeden- 
falls aber hat er durch seinen Anmarsch die Krisis zur 
Entladung gebracht. Die Verantwortlichkeit dafür kann 



cap. 18.] Bbiepwechsel mit Zbller. 239 

er vor der Geschichte nicht ablehnen. Die That war sein 
eigner, freier und stundenlang in ernstem Nachdenken er- 
wogener Entschluss. 

Dass mein anderer Jugendfreund Zell er (Pfarrer von 
Stäfa) ebenfalls einen eifrigen Anteil nahm an der damali- 
gen Volksbewegung, wird Niemanden befremden, der seine 
theologische Bildung kennt. Er schrieb ein Buch gegen 
Strauss, das freilich dem scharfen Kritiker manche Blosse 
darbot, aber für seine Glaubenstreue warmes Zeugnis ab- 
legte. Wenn ich mich recht entsinne, so war er Mitglied 
des Central-Comite's; jedenfalls galt er an den Ufern des 
Zürichersees als eine hochachtbare Autorität. 

Auch an ihn schrieb ich am 24. März 1839: 

„Die Bewegung hat einen Flecken bekommen durch 
den Angriff auf die Hochschule. Wenn er schon von ra- 
dikaler Seite hergekommen ist, so schreibt man ihn doch 
jener zu; und insofern nicht genug gethan worden ist, um 
die Radikalen am zweiten, wie am ersten und dritten Tage 
(der Grossratssitzung) zu schlagen, haben die Leute nicht 
ganz unrecht. — Mit dem Aufheben ist es übrigens nur 
Wenigen ernst. Sie wollen nur die Aufhebung der Hoch- 
schule gegen die Veränderung im Volksschulwesen setzen 
und mit jener drohend diese hindern. — Immerhin ver- 
trägt die Hochschule solche Stösse nicht. Sie ist hin, 
wenn man nicht mehr als je sucht, sie fester zu begrün- 
den, als sie es war.** 

Zeller erlebte die Revolution des September nicht. 
Er starb am 6. Juli 1839. Vermutlich haben die Auf- 
regungen jener Zeit die entzündliche Krankheit, die ihn 
befiel, tötlich gemacht. 

Der neue Grosse Rat, durch die Umstände genötigt, 



240 Meine Eräennuug zum Regiebunos- xjnd Statsrat. [cap. 18. 

die obersten Landesbehörden neu zu besetzen, wählte mich 
nun in den neuen Regierungsrat (2. Oktober 1839). Mit 
schwerem Herzen nahm ich die Wahl an. Ich wusste, wie 
schwierig die Amtsführung nach einer Revolution und wie 
gross die Verantwortlichkeit sei, die man mir auflade. Meine 
Stelle als Rechtsconsulent der Stadt gab ich nun auf; da- 
gegen behielt ich auf den Wunsch des Erziehungsrats meine 
Professur an der Universität bei. Nur die mir früher ge- 
gebene Zulage zu meiner Besoldung hörte nun mit Rück- 
sicht auf die verminderte Leistungspfiicht auf. 

Bei der Verteilung der Geschäfte wurde mir der Vor- 
sitz in dem Rate des Innern übertragen. Auch wurde ich 
zum Mitgliede des vorörtlichen Statsrats ernannt und so in 
die damalige Leitung der eidgenössischen Politik eingeführt. 

Da auch die Zürcherische Gesandtschaft bei der Tag- 
satzung einer Erneuerung bedurfte, so wm-den Statsrat Mel- 
chior Sulzer und ich dem Amtsbürgermeister Hess als 
Gesandte beigegeben. Die Tagsatzung, deren Sitzungen 
durch die Septemberrevolution eine Unterbrechung erlitten 
hatten, erkannte doch die Neugestaltung der Zürcherischen 
Behörden an, indem sie dem unzweideutig ausgesprochenen 
Volkswillen Gehör gab, und trat demgemäss auch sowohl 
mit dem neugebildeten Statsrate, als mit der neuen Ver- 
tretung des Standes Zürich in amtlichen Verkehr. Diese 
Anerkennung durch die Eidgenossenschaft war natürlich für 
die neue Regierung von grossem Werte. Die rasche Zu- 
stimmung war vorzüglich dem Gesandten des Cantons Waadt, 
Statsrat Druey, ^u verdanken, einem aufrichtigen Volks- 
freunde. Die Gesandten von Bern und anderen Cantonen 
des Siebener-Concordates hatten anfangs Bedenken gegen 
die Zulassung erhoben. 



cap. 19.] Die neue Regierung und ihre Aufgaben. 241 

19. 

Die neue Regierung nnd ihre Aufgaben in Kirche und Schule. 
Professor Lange. Seminardirector Bruch. Verschiedene Frac- 
tionen innerhalb der Regierung. Aufenthalt in Teuffen zur Er- 
holung. Redaction des Zürcherischen Vormundschaftsgesetzes. 
Austritt Zürichs aus dem Siebener Goncordat. Versuche zur 
Bundesreform. Verkehr mit J. Grimm, Savigny, Bunsen, Laboulaye. 

Die Septemberrevolution, der sogenannte „Zürich- 
putsch", bedeutete den schroffen Bruch mit dem Radika- 
lismus in Bezug auf die Religion, die Kirche und die 
Schule. Da galt es nun die religiöse Richtung, wie das 
Volk sie hochschätzte und für nötig hielt, zu befestigen 
und zu stärken, aber zugleich die geistige Freiheit vor 
Unterdrückung zu bewahren und den wissenschaftlichen 
Fortschritt zu schützen. Ich war nicht Mitglied des Kir- 
chen- noch des Erziehungsrates und hatte daher weder die 
Aufgabe noch die Möglichkeit, im Einzelnen diese Sorge zu 
üben. Aber im Regierungsrate und im Grossen Rate ver- 
trat ich diese Auffassung, so gut ich es vermochte. In- 
dem ich dem Volksglauben Achtung erwies, verhehlte ich 
nie, dass ich persönlich in vielen Hinsichten anders und 
freier denke, und trat immer ein auch für die Freiheit der 
Andersgläubigen. Die kirchlichen Zeloten fanden bei jeder 
Gelegenheit in mir einen entschiedenen Gegner. Dennoch 
gelang es mir, auch bei manchen Eng- und Strenggläubi- 
gen persönliches Vertrauen zu erwecken. So konnte ich 
mittelbar manche schroffe Massregel hindern. 

Mein Wunsch, dass die Kirchensynode umgestaltet, 
und durch die Beiordnung von Laien zu den Geistlichen 
die Repräsentation der Kirche vielseitiger und freier dar- 
gestellt werde, ging nicht in Erfüllung. Die, welche den 

Bluutschli, Dr. J. C, Aus meiuem Leben. I. \Q 



242 Professor Joh. Peter Lakge. [cap. 19. 

Einfluss der Pfarrer durch diese Reform für bedroht hiel- 
ten, und die, welche fürchteten, eine gemischte Synode 
könnte leicht dem Grossen Rate an Autorität die Wage 
halten, endlich die, welche besorgten, dass die Laien nur 
die bäuerliche Orthodoxie verstärken würden, widersetzten 
sich gemeinsam, wenn gleich in ganz entgegengesetzten 
Tendenzen, dem Antrag. Derselbe blieb in der Minderheit, 
und heute noch steht die reformierte Kirche von Zürich 
in dieser Hinsicht hinter manchen anderen deutschen und 
schweizerischen Kirchen zurück, welche seither das Recht 
der Laien, mitzustimmen und an der Selbstverwaltung der 
Kirche mit den Geistlichen gleichen Anteil zu nehmen, zur 
Geltung gebracht haben. 

An die theologische Facultät wurde nun Joh. Peter 
Lange von Duisburg berufen, später Professor in Bonn, ein 
Mann, der für die christliche Religion begeistert, von idea- 
lem Streben und mit romantischen Neigungen erfüllt, aber 
nicht ebenso geeignet war, die hergebrachten Dogmen und 
die geschichtliche Überlieferung kritisch zu beleuchten. Er 
vertrat neben Alexander Schweizer und Hitzig, den 
Repräsentanten der dialectischen und philologischen Wis- 
senschaft, weniger die formell orthodoxe, als die glaubens- 
eifrige, pietistische Richtung in der Theologie. 

An die Spitze des Seminars für Schullehrer wurde 
nach der Entfernung Scherr's, den die Flutwelle der 
Revolution weggespült hatte, Pfarrer Bruch von Wädi- 
schwyl gesetzt, ein warmer Freund der Lehrer und der 
lernbegierigen Jugend, ein Kenner der Bedürfnisse der 
Volksschule und, wenn gleich von religiöser Gesinnung, 
doch kein Kopfhänger und kein Zelote, vielmehr ein Mann 
von humanen Sitten und mildem Wohlwollen. Er hielt 



\ 



cap. 19.] Fbactionen innerhalb der Regierung. 243 

Übrigens die Anstrengung in seiner neuen, von den Radi- 
kalen angefochtenen Stellung nicht lange aus und starb 
schon nach einigen Jahren. 

Mit beiden Männern wurde ich persönlich bekannt 
und trat ich in freundliche Beziehungen. 

Die neue Regierung, deren Mitglied und nicht, wie 
Manche der aussen Stehenden meinten, deren Haupt ich 
geworden war, hatte sehr verschiedene Elemente in sich 
vereinigt. Ein Teil derselben, wie der Bürgermeister Hess, 
Eduard Sulzer, Melchior Sulzer und Hüni hatten 
schon der früheren liberal-radikalen Regierung angehört 
und hielten die Tradition der Grundsätze und der Ge- 
schäfte fest. M. Sulzer repräsentierte dabei die alte Eifer- 
sucht der reichen und strebenden Landstadt Winterthur 
gegen die alte Hauptstadt Zürich. Hüni war nicht frei 
von den Parteianschauungen der grossen Ortschaften an 
dem linken Seeufer und misstraute den Städtern. Mit be- 
weglicher Klugheit wusste sich Eduard Sulzer zwischen den 
Parteien und den widerstreitenden Verhältnissen durchzu- 
winden. Er leitete die Finanzen mit Umsicht. Hess wollte 
nur noch den Übergang aus der früheren in die neuere 
Periode versöhnlich vermitteln; bald nach der Umwälzung 
zog er sich in das Privatleben zurück. 

Eine andere Gruppe von Mitgliedern der Regierung 
repräsentierte die religiöse Richtung der Volksbewegung. 
Ich rechne dahin voraus Herrn v. Sulzer-Wardt, einen 
strenggläubigen, aber vornehmen Gutsbesitzer, und einige 
schlichte Landleute, die jedoch nur kurze Zeit im Amte 
blieben. 

Als Vertreter des alten Regiments vor der Revolution 
von 1830 mag der Ratsherr, nun Regierungsrat Spöndli 

16* 



244 Fractionen innerhalb der Regierung. [cap 19. 

gelten, ein guter Rechner, der aber den modernen Ideen 
überhaupt abhold war. In gewissem Sinne gehörte auch 
der Bürgermeister von Muralt der früheren Periode des 
politischen Lebens an; aber sein natürliches Wohlwollen, 
die weitschauende kaufmännische und die feine gesellschaft- 
liche Bildung, die er besass, und sein aufopferungsfahiger 
Patriotismus machten ihn doch vorzugsweise geeignet, an 
der Spitze des Regierungsrates zu stehen und sowohl im 
Innern die widerstrebenden Elemente zu verbinden, als 
den Canton in der Eidgenossenschaft würdig zu vertreten. 

Die Gruppe, in der ich Stellung nahm, bestand aus 
meinem vormaligen Lehrer und älteren Freunde Ferdi- 
nand Meyer, der, früher Statsschreiber, nun die Leitung 
des Erziehungsrates übernahm, aber auch in dem Rate des 
Innern als Mitglied arbeitete, dem Sohne des eidgenössi- 
schen Kanzlers Mousson, Heinrich Mousson, einem 
Manne von gediegenem Charakter und wissenschaftlicher 
Bildung, ebenfalls im Rate des Innern thätig und nach 
dem Rücktritte von Hess zum Bürgermeister gewählt, und 
mir. Es war das ein wissenschaftliches Element in der 
neuen Regierung, in welchem die conservativen Neigungen 
mit liberalen Ideen noch in ungeklärter Mischung verbunden 
waren. Mousson vertrat dabei mehr die conservative, ich 
mehr die liberale Ansicht. An uns schlössen sich bei man- 
chem Anlass der Regierungsrat Wild von Waedischwyl 
an, und der vormalige Stadtpräsident, Oberst Zie-gler, 
welcher die. Oberaufsicht und Oberleitung der Polizei über- 
nahm. 

Durchaus gegen meinen und meiner engeren Freunde 
Wunsch waren von dem Grossen Rate des Frühjahrs 1840 
die Neuwahlen in die Regierung auf Stadtbürger gefallen. 



cap. 19.] Aufenthalt in Teuffen. 245 

Ich betrachtete das als einen politischen Missgriff, indem 
das unter der Asche glimmende Misstrauen der Land- 
bürger wider die Stadtherrschaft durch eine unbesonnene 
Zurücksetzung ihrer Genossen leicht neu angefacht wer- 
den konnte. Ich war aber in der entscheidenden Sitzung 
abwesend, und die reactionäre Partei siegte damals. Da- 
gegen hatten wir einen Erfolg darin, dass wir eine Ver- 
besserung der Verfassung durchsetzten, indem die Mit- 
gliederzahl des Regierungsrates von 19 auf 13 und die 
des Obergerichts von 11 auf 9 beschränkt wurde. Infolge 
dessen wurden die Anforderungen und die Bürgschaften für 
eine gute Besetzung dieser Behörden erhöht, die schwere 
Breite der Beratung ermässigt, und die Verantwortlichkeit 
gesteigert. 

Die Aufregungen und der mancherlei Arger der letzten 
Zeit hatten doch meinen sonst gesunden und kräftigen Kör- 
per angegriffen. Meine Leber war in ihren Functionen ge- 
stört, meine Galle erregt, und die Gelbsucht schwächte 
meinen Körper und machte meine Nerven äusserst reiz- 
bar und empfindlich. In solcher Not suchte und fand ich 
Hilfe bei meinem Freunde Roth in Teuffen. Sein gast- 
freundliches Haus war mir offen, und in der engbefreun- 
deten Familie erholte ich mich bald wieder. Die Stille 
des Landlebens, die frische Appenzeller Luft, die Bewegung 
im Freien, gute den Umständen angepasste Nahrung und 
ein ansprechender geistiger Verkehr mit dem hochgebil- 
deten feinfühlenden Manne, dem auch der bekannte Mutter- 
witz der Appenzeller heimisch war, stellten mich in kurzer 
Zeit wieder her. 

Ich erhielt und übernahm nun den Auftrag, ein neues 
Vormundschaftsgesetz für den Canton Zürich auszu- 



246 Meine Redaction des neuen Vormundschaftsgesetzes. [cap. 19. 

arbeiten. Es war dies meine erste gesetzgeberische Arbeit 
von grösserem Umfange. Das Gesetz wurde von dem 
Grossen Rate durchberaten und am 21. Juni 1841 ge- 
nehmigt. Es erfreute sich allgemeiner Billigung auch in 
der Praxis und wurde später unverändert in das bürger- 
liche Gesetzbuch aufgenommen, dessen Redaction mir eben- 
falls anvertraut ward. Ich schrieb dazu Erläuterungen und 
veröffentlichte so das erklärte Werk. 

Die Grundlagen des Zürcherischen Vormundschafts- 
rechtes waren gegeben. Sie wurden durch das Gesetz 
nicht wesentlich geändert. Aber der Bau und die Form 
des Gesetzes waren neu geworden und wurden den Be- 
dürfnissen der Zeit und dem wissenschaftlichen Fortschritte 
angepasst. Wenn in Zürich die Obervormundschaft nicht 
wie in Deutschland durch die Gerichte geübt wird, sondern 
in erster Instanz durch die Gemeinderäte, in zweiter durch 
die Bezirksräte und in oberster durch den Regierungsrat, 
beziehungsweise den Rat des Innern, so hat sich diese 
Einrichtung im Leben vortrefflich bewährt. Es kommt in 
der That bei der Ausübung der Vormundschaft wesentlich 
darauf an, den Mangel der Familiensorge und der Wirt- 
schaft des Hausvaters zu ergänzen. Das Vermögen der 
Bevormundeten soll verständig und zweckmässig verwaltet, 
und für die Erziehung der Waisen gut gesorgt werden. 
Das aber sind nicht juristische, sondern wirtschaftliche 
und moralische Aufgaben, deren richtige Erfüllung eher 
von den Verwaltungsbehörden, als von den Richtern er- 
wartet werden darf, welche durch ihre Denkweise und 
ihren Lebensberuf eher die Rechtsform, als die Wirkung 
ihrer Handlungen zu berücksichtigen gewohnt sind, und 
denen es naher liegt, der juristischen Verantwortlichkeit 



cap. 19.] Austritt Zübich's aus dem Sibbeneb Concobdat. 247 

auszuweichen, als für die Interessen dritter Personen zu 
sorgen. 

In der Haltung des Cantons Zürich als Vorortes war 
ebenfalls eine Änderung eingetreten. Bis dahin war Zürich 
ein hervorragendes Glied des sogenannten Siebener-Concor- 
dates gewesen, in welchem sich die liberal-radikalen Re- 
gierungen enger mit einander verbunden hatten. Die ge- 
stürzte Züricher Regierung hatte in der letzten Zeit noch 
auf Hilfe der Siebener wider das eigene Volk gerechnet. 
Es war daher für die neue Regierung angezeigt, sich von 
diesem Bunde im Bunde loszusagen. Das geschah auch und 
erhielt die Billigung des Grossen Rates. Aber sie verzich- 
tete nicht auf Reform der Bundesverfassung und suchte im 
Gegenteil ihren Einfluss auf die innere Schweiz und die 
Anhänger der alten Eidgenossenschaft dazu zu benutzen, 
dass sie denselben dringend ein Eingehen auf die nötige 
Reform empfahl. Ich nahm als Zürcherischer Gesandter an 
gemeinsamen Besprechungen darüber mit den Gesandten der 
übrigen Stände teil, die aber nur einen vorbereitenden, nicht 
einen schliessenden Charakter und Erfolg hatten. Der zähe 
Widerstand der kleinen Cantone des vormaligen Sarner- 
bundes war noch schwerer zu einer Vorwärtsbewegung zu 
bestimmen, als das heftige Verlangen der radikalen Can- 
tone nach Veränderung der Repräsentation und Umgestal- 
tung auf erreichbare Ziele zu ermöglichen war. 

Durch die Teilnahme an der Tagsatzung erweiterte 
sich der Kreis von schweizerischen Politikern, zu denen 
ich in persönliche Beziehung kam. Überdem blieb ich mit 
einigen auswärtigen Gelehrten und Statsmännern in reger 
Verbindung und machte neue Bekanntschaften. 

Für Jacob Grimm hatte ich schweizerische Weis- 



248 Verkehk mit J. Grimm, Savigny, Bussen. [cap. 19. 

tümer gesammelt. Dieselben wurden in dem mehrbändi- 
gen Werke des berühmten Germanisten grossenteils abge- 
druckt. 

Die Correspondenz mit Savigny wurde durch das 
warme Interesse belebt, welches er an der religiösen Be- 
wegung nahm. Damals fragte mich Savigny, ob ich ge- 
neigt wäre, an einer deutschen Universität eine Lehrstelle 
anzunehmen. Ich war allerdings dazu geneigt, aber in 
diesem Augenblicke durfte ich nicht die politische Stellung 
und Wirksamkeit aufgeben, welche mir das Schicksal und 
meine Beteiligung an den Ereignissen angewiesen hatten. 

Mit dem Preussischen Gesandten in der Schweiz, Bun- 
sen, wurde ich persönlich befreundet. Als ich ihn zuerst 
nach der Überreichung seiner Creditive sprach, erlaubte 
ich mir die naive Bemerkung zu machen, dass nach meiner 
Ansicht die bisherige Verbindung des Fürstentums Neuen- 
burg mit der Krone Preussen nicht auf die Dauer haltbar 
sei, und dass man suchen sollte, die volle und ausschliess- 
liche Verbindung des Cantons Neuenburg mit der Schweiz 
im Einverständnisse mit der Preussischen Regierung her- 
zustellen. Bunsen war über die kecke Äusserung erstaunt, 
aber sie hinderte ihn nicht, das Gespräch ruhig fortzusetzen. 
Auch in diesem Falle war es leichter, die nötige Reform 
zu bezeichnen, als dieselbe zu verwirklichen. Es bedurfte 
der stärkeren und rücksichtsloseren Leidenschaften der Re- 
volution, um das Band zu zerreissen, welches Neuchatel 
mit Berlin, einen französisch-schweizerischen Canton mit 
dem deutschen Königreich Preussen verknüpft hatte. Im 
Jahre 1848 erschien diese Revolution und vollzog die 
Scheidung. 

Bunsen hatte seine Wohnung in einem schön gelegenen 



cap. 20.] Verkehr mit Ed. Laboulaye. 249 

Landhause in der Nähe von Bern, auf dem sogenannten 
Hubel. Ich besuchte ihn dort und lernte auch die Familie 
kennen, die aus deutscher und englischer Art gemischt war. 
In dieser Zeit, kam ich auch mit meinem Freunde 
Eduard Laboulaye aus Paris in persönliche Beziehung. 
Er hatte mir, angezogen von meiner Zürcherischen Rechts- 
geschichte, sein Buch „Histoire du Droit de propriete fon- 
ciere en Occident" zugeschickt und mich nachher in Zürich 
besucht. Damals war er noch nicht der berühmte Aka- 
demiker. In seinem Buche bezeichnete er sich noch als 
„fondeur en Caracteres**. Es verbanden uns aber die ge- 
schichts - philosophischen Studien, die Liebe zur Wissen- 
schaft, ein Zug zu dem Idealen auch in der Politik, und 
das ziemlich gleiche Alter übte seine Anziehungskraft 
mächtig aus, so dass die Gegensätze der Nation und des 
Vaterlandes und des Wohnortes uns eher wechselseitig zu 
freundlichem Umtausche der Gedanken anregten, als von 
einander trennten. 



20. 

Aufstand im Aargan und Aufhebung der Klöster 1841. Vermit- 
telnde Stellung der Züricher Regierung. Auf der Tagsatzung 
in Bern. Eine Lebensgefahr. Berner Patrizier und Bemer Re- 
gierung. Gefahren eines confessionellen Krieges und der Inter«- 

vention. Schönlein. 

Die Volksbewegung im Canton Zürich litt an zwei 
schweren Gebrechen. Obwohl die Gesinnung und das Stre- 
ben des Volkes, den herrschenden Radikalismus abzuweh- 
ren, antirevolutionär war, so entlud sie sich dennoch in 
revolutionärer Form. Sie führte zu einem Rechtsbruch, 



250 AuFSTASD IM Aabgau. [cap. 20. 

der ihrem Principe widersprach. Sodann waren in ihr re- 
ligiöse und politische Tendenzen und Leidenschaften ge- 
mischt, und diese Mischung, welche dem tiefen Bedürfnis 
unserer Zeit, Stat und Kirche zu sondern und Religion 
und Politik zu unterscheiden, widerstrebte, wirkte ver- 
wirrend auf die öffentliche Meinung und erschien den vor- 
handenen Instincten feindlich. 

Diese Mängel wurden Vielen dadurch offenbar ge- 
macht, dass nun die katholische Kirche ermutigt wurde, 
nach dem Vorbilde der Züricher die gläubige Bevölkerung 
aufzuregen und ebenfalls in revolutionärer Form die radi- 
kalen Statsgewalten anzugreifen. 

Der Canton Aargau war zur Zeit der Mediation Na- 
poleon's aus dem früheren Bernischen und reformierten 
Aargau und den vormals gemeinen Herrschaften, aus de- 
nen der katholische Canton Baden in der helvetischen Pe- 
riode gebildet worden war, und dem ebenfalls katholischen 
Frickthal zusammengefügt worden. Eine Zeit lang wirkten 
die verschiedenartigen Elemente friedlich zusammen. Sie 
erfreuten sich gemeinsam der vorher versagten Unabhän- 
gigkeit und republikanischen Freiheit. Aber seit dem Jahre 
1830 schieden sich die Parteien von einander, und es misch- 
ten sich auch da Confession und Politik. Der reformierte 
Teil des Aargau folgte mit Eifer der liberal-radikalen Strö- 
mung, der katholische Teil, auf welchen der Klerus einen 
grossen Einfluss übte, sympathisierte in seiner Mehrheit 
mit den katholischen Cantonen der innern Schweiz. Die 
Parteikämpfe über die Revision der Aargauischen Verfas- 
sung hatten zu einem Aufstande der „freien Amter" ge- 
führt, der mit Hilfe der Nachbarstände rasch unterdrückt 
wurde. Nun wurde im Grossen Rate zu Aarau der Antrag 



cap. 20.] Aufhebung dbb Klösteb im Aargaü. 251 

gestellt und angenommen, die Aargauischen Klöster, deren 
Intriguen hauptsächlich der Aufruhr zur Last geschrieben 
wurde, aufzuheben. 

So entstand die Aargauische Klosterfrage, welche 
während mehrerer Jahre die eidgenössische Politik leiden- 
schaftlich aufregte und dem Parteihader eine confessionelle 
Färbung verlieh. Die grosse Schwierigkeit lag in der 
Bundesverfassung von 1815, welche in Artikel XII aus- 
drücklich die Klöster unter die Garantie der Eidgenossen- 
schaft gestellt hatte. Der Conflict zwischen dem bestehen- 
den — wenn auch innerlich ungesunden — Verfassungs- 
recht und dem Streben der Zeit, welche das Institut der 
Klöster als ein mittelalterliches und culturschädliches zu 
beseitigen wünschte, entzweite die Parteien in der Eidge- 
nossenschaft. Die katholischen Cantone beschwerten sich, 
dass man sie in ihrem klaren Verfassungsrechte verletze 
und missachte. Die radikalen Regierungen wiesen dagegen 
auf die statsfeindlichen Umtriebe der Mönche und auf die 
Gefahren hin, welche dem Frieden der Confessionen und 
der Volksbildung von Seite der Hierarchie drohen. 

Die Zürcherische Regierung nahm eine vermittelnde 
Stellung ein. Wir hatten dazu geholfen, den Aufstand im 
freien Amte zu unterdrücken. Wir waren ferner der Mei- 
nung, dass die Klöster, welche denselben angestiftet oder 
doch begünstigt hatten, die Aufhebung verdienen. Aber 
wir verlangten, dass die Schuld nachgewiesen und nicht 
auch den Klöstern aufgeladen werde, welche sich nicht 
bei dem Aufstande beteiligt hatten. Wir verlangten zu 
Ehren des bestehenden Eidgenössischen Rechtes und zur 
Beruhigung der katholischen Stände die Herstellung der 
nicht schuldigen, insbesondere der Frauenklöster, und ge- 



252 Vermittelnde Stellung deb Zübicher Reoibbuno. [cap. 20. 

standen unter dieser Voraussetzung den Wünschen und 
Interessen der modernen Schweiz und des Aargaus die 
Aufhebung der schuldigen Männerklöster, vorzüglich von 
Muri und Wettingen zu. Schliesslich wurde auf der Tag- 
satzung die Klosterfrage im Jahr 1844 so ausgeglichen, 
dass alle Männerklöster aufgehoben blieben, die Frauen- 
klöster dagegen hergestellt wurden. Erst die Bundes- 
reform von 1848 beseitigte dann mit Recht die unglück- 
selige Bundesgarantie für die bestehenden Klöster. 

Die radikale Partei benutzte diese Klosterfrage ge- 
schickt, nun auch im Canton Zürich die reformierten Ge- 
fühle und Neigungen in dem Volke mit Misstrauen gegen 
die Regierung zu erfüllen und wider die Klöster und die 
katholische Partei zu erbittern. Sie stellte sich als den 
wfthren Vertreter und Vorkämpfer des Protestantismus und 
des statlichen Fortschrittes dar. Wenn wir Gerechtigkeit 
den verschiedenen Parteien gegenüber zu üben uns be- 
mühten, so wurde das bald als schwächliches Schaukeln 
zwischen Recht und Unrecht, bald als ein unwürdiges 
Buhlen um die Gunst der Reaction und als heimliche Be- 
günstigung der pfaflBschen Verschwörung ausgelegt. Das 
Volk wurde in der That wankend in seinem Vertrauen 
und unsicher in seinem Urteile. Eine von radikaler Seite 
in Schwamendingen abgehaltene Volksversammlung war von 
vielen Tausenden besucht worden und verlangte von dem 
Grossen Rate eine Instruction an die Tagsatzung, welche 
den Wünschen der Aargauer Regierung entsprach. 

Die Verhandlungen auf der ausserordentlichen Tag- 
satzung, die nun in Bern unter dem Vorsitze des Schult- 
heiss Neuhaus, eines Mannes von scharfen, schneidigen 
Gedanken und energischem Herrschergeiste, damals das 



cap. 20.] Auf der Taosatzüno in Bebn. 253 

gepriesene Haupt der radikalen Partei, gehalten wurde, 
(März 1841) waren oft gereizt, zuweilen stürmisch. Im 
Jahre vorher hatte der Zürcherische Bürgermeister von 
Muralt durch wohlwollende und versöhnliche Milde den 
Widerstreit der Parteien eimässigt. Nun verschärfte der 
herrische und herausfordernde „avoyer de Beme** — Neu- 
haus sprach als Bieler französisch — die Gegensätze. Um 
so schwerer wurde es, eine Verständigung zu erzielen oder 
eine Mehrheit zu bilden. Dass die Klosteraufhebung im 
Canton Aargau den Artikel XU der Bundesverfassung ver- 
letze, wurde wohl von der Mehrheit erkannt und ausge- 
sprochen; aber welche Sühne nötig sei, um diesen Rechts- 
Uruch zu heilen, und wie viele Frauenklöster oder sogar 
Männerklöster herzustellen seien, über diese practisch ent- 
scheidenden Fragen stritten sich die Gesandten heftig. Scharfe 
Worte flogen wie Pfeile hin und her, und wenn die Redner 
wider einander losschlugen, gab es leuchtende Funken. 
Ausser dem Schultheiss Neuhaus kämpfte für die Mass- 
regel der Aargauischen Regierung mit Mut und Talent 
der Vertreter des Aargaus Augustin Keller und der 
energische Munzinger von Solothurn. Ihnen entgegen 
stritten tapfer der Urner Schmidt und der feine Neu- 
chateler Calame. Ähnlich wie Zürich arbeitete der Ge- 
sandte von Waadt, Statsrat Druey, in vermittelndem 
Geiste, aber vorerst trotz der glänzenden Beredsamkeit 
mit eben so geringem Erfolg. 

Ich war Mitglied der beiden Tagsatzungen, der ausser- 
ordentlichen und der ordentlichen, als zweiter Gesandter, 
wohnte aber diesen Kämpfen, in denen gewöhnlich der 
erste Gesandte das Wort führte, mehr mit dem Anteil 
eines Zuhörers bei, als dem eines Mitwirkenden. Zu der 



254 Eine Lebensgepahb. [cap. 20. 

beabsichtigten Vermittlung war ich auch weniger geeignet 
und sogar weniger geneigt, als Herr von Muralt, unser 
erster Gesandter. Statthalter Gujer war als dritter Ge- 
sandter beigeordnet. 

Während dieser Tagsatzungsperiode entging ich eines 
Tages glücklich einer nahen Lebensgefahr. Ich war mit 
einigen befreundeten CoUegen zu Wagen in's Berner Ober- 
land gefahren, um die herrliche Gebirgsnatur zu schauen 
und zu geniessen. Wir besuchten die schönen Wasserfälle 
des Giessbachs am Brienzersee, die damals noch nicht so 
wohl verwahrt und durch Anlagen cultiviert waren, wie 
heute seit der Herstellung eines prächtigen und zugleich 
behaglichen Gasthofs. Da wagte ich mich auf dem durch- 
weichten Boden zu weit hinaus, um besser von oben her 
in den schäumenden und tobenden Wasserfall hinein zu 
schauen. Aber die Erde rutschte unter dem Gewicht mei- 
nes Körpers nach der Tiefe hin, und ich rutschte mit. 
Stürzte ich in den Fall, so war eine Rettung nicht mög- 
lich. In dem gespannten Gefühl der unmittelbar drohenden 
Gefahr überlegte ich rasch, ob es noch ein Mittel gebe, 
ihr auszuweichen. Ich entdeckte kein anderes, als das 
Wagnis eines kecken Sprunges auf das andere Ufer, das 
freilich ohne einen Arm- und Beinbruch kaum auszuführen 
war. Aber ich entschloss mich, wenn das Rutschen noch 
weiterschreite, den Sprung zu unternehmen. In diesem 
Augenblick blieb der Boden unter meinen Füssen ruhen. 
Ich stand wieder fest und konnte nun behutsam wieder 
aufwärts klettern, bis ich den sichern Fusspfad erreichte. 
Bis dahin hatte ich in der Anspannung aller Geistes- und 
Körperkräfte keine Schwäche empfunden; aber jetzt, als 
ich die Gefahr hinter mir wusste, fühlte ich meine Kniee 



cap. 20.] Bebkeb Regierükö. 255 

zittern. Mit besorgter Angst hatten meine Freunde dem 
Ringen zugesehen, ohne mir helfen zu können. 

In Bern kam ich gelegentlich auch in patricische 
Kreise. Die Bemer Regierung war damals mit Radikalen, 
vornehmlich aus den kleineren Landstädten Burgdorf und 
Biel besetzt. Die alte patricische Aristokratie, die wäh- 
rend Jahrhunderten die Republik einer Dynastie ähnlich 
regiert hatte, war von der Teilnahme an dem Regiment 
thatsächlich ausgeschlossen, nicht ohne ihre Schuld. Sie 
hatte sich nach der Revolution von 1830 missmutig von 
den Geschäften zurückgezogen und gemeint, das Volk 
werde bald merken, dass sie allein das Regieren verstehe, 
und reumütig die alte Herrschaft zurückrufen. Aber auch 
andere Parteien und Männer lernen zuweilen die Kunst zu 
regieren schnell und leicht; und die heutigen Völker er- 
tragen eher einige Unbequemlichkeit und selbst manche 
Leiden, als dass sie vor den hochmütigen Herren im Büsser- 
hemde niederknieen. .Nur einige wenige Patricier hatten 
sich bewegen lassen, in der neuen Ordnung ein Amt zu 
übernehmen, so der bernische Geschichtschreiber Herr von 
Tillier, ein gemütlicher und fein gebildeter alter Herr, 
von epikureischen Neigungen und immer lächelnd, und mein 
Freund Manuel, auf den das satyrische Talent seines be- 
rühmten Ahnen sich vererbt hatte, ein Mann von weitem 
und scharfem Geiste und seltener Bildung. 

Ich war der Meinung, dass die damalige Berner Re- 
gierung von ihren patricischen Gegnern nicht viel zu be- 
fürchten habe, und dass die Periode eines privilegierten 
Patriciates für immer vorbei sei. Aber ich empfahl den 
Patriciem von meiner Bekanntschaft, dass sie sich wieder 
mehr dem State zuwenden, aber zugleich die hervorragenden 



256 Berneb Patbiciek. [cap. 20. 

plebejischen Persönlichkeiten als Gleiche in ihre Gesellschaft 
aufnehmen sollten. Letzteres fanden jene höchst schwierig, 
schon weil die Frauen, von Natur exclusiver als die Män- 
ner, das nicht zugeben würden. Sie nannten das männ- 
liche Zomgefühl tüchtiger Männer, welche ein Recht darauf 
haben, unter den Ersten der Gesellschaft ihre Plätze ein- 
zunehmen, und von dem trägen und hochmütigen Adel zu- 
rückgewiesen werden, „verletzte Eitelkeit und Eigenliebe". 
Ich erwiderte, das sei nicht das rechte Wort; es handle 
sich hier um eine Verletzung der Persönlichkeit, welche 
in das feinste Seelenleben einschneide, deren Wunden heftig 
bluten und schwer heilen. Manche klügere Patricier sahen 
ein, woran es ihnen fehlte. Aber es war das eher eine 
Einsicht ihres prüfenden Verstandes, nicht eine Überzeu- 
gung ihres Gemütes. Sie handelten doch nicht in dem 
Geiste jener Erkenntnis. 

In Bern fand ich ausser Gonzenbach noch einen an- 
dern früheren Universitätsfreund, mit dem ich gerne ver- 
kehrte, den Statsschreiber Hünerwadel. Die Gegner 
nannten ihn Täme damnee de Monsieur Neuhaus, weil er 
dem verhassten Schultheissen, aber auch seinem Vaterlande, 
gute Dienste leistete als Chef der Kanzlei. Aber er war 
durchaus nicht radikal, weder seiner Natur, noch seiner 
Bildung nach, und vertrat mit Vorliebe gemässigte und 
friedliche Massregeln. 

Zuweilen stimmten mich ernste Besorgnisse um die 
Schweiz herab. Man hörte damals in Bern und unter Stats- 
männem der verschiedenen Parteien die doppelte Furcht 
aussprechen eines confessienellen Bürgerkrieges im Innern 
und einer drohenden Intervention von aussen. Mir waren 
beide verhasst. Aber ich sah die Statsmänner nicht, welche 



cap. 20.] Schönlein. 257 

diese Gefahren vermeiden, und hatte auch zu dem Volke 
nicht das Vertrauen, dass es dieselben tiberwältige. Für 
die nötige Bundesreform fand ich kein Verständnis und 
bemerkte zu meinem Arger, dass das Volk in der Masse 
die politischen Fragen mit confessionellem Eifer auffasse 
und durch religiöse Leidenschaften oder Vorurteile verderbe. 

Eine solche Erfahrung machte ich nun auch in mei- 
ner Vaterstadt Zürich. Einige meiner Mitbürger hatten 
mit mir bei den Stadtbehörden den Antrag eingebracht, 
dem Professor Schönlein, dem genialen Mediciner an un- 
serer Universität, das Bürgerrecht der Stadt zu schenken. 
Die beiden Räte der Stadt, der Engere und der Weitere, 
nahmen den Antrag wohlwollend auf und empfahlen die 
Annahme der Gemeindeversammlung. Aber da erhob sich 
innerhalb der Bürgerschaft das confessionelle Bedenken. 
Schönlein, aus Würzburg nach Zürich gekommen, war ka- 
tholisch, und die Bürgerschaft von Zürich durchweg refor- 
miert. Das confessionelle Vorurteil wurde von den Aristo- 
kraten oder vielmehr von den Reactionären geschürt, und 
den Leuten mit den Bedrängnissen und der Zwietracht 
confessionell gemischter Bürgerschaften bange gemacht. 
Ich reiste eigens nach Zürich, um in der Gemeinde für 
die Bürgerrechtsschenkung zu sprechen. Vergebens: die 
Masse war schon gegen > den Antrag eingenommen. Der- 
selbe wurde mit grosser Mehrheit abgelehnt. 

Der Boden unter unseren Füssen war unsicher ge- 
worden. Neue Erschütterungen standen bevor. Auf der 
Landschaft erhoben die im Jahr 1839 verdrängten Führer 
wieder stolzer das Haupt; sie fanden als Vertreter des 
Protestantismus wider den Katholicismus, des Landes wider 
die Stadt, des Fortschrittes wider die Reaction wiederum 

Bluntschli, Dr., J. C, Aus meiDem LebcD. I, 2'^ 



258 ^^^ ZüBicHER Pbesse. [cap. 20. 

geneigtes Gehör. In der Stadt war seit 1839 ebenfalls eine 
erhebliche Veränderung eingetreten. Einige der früheren 
Führer waren nun aus den städtischen in die Regierungs- 
behörden übergetreten und konnten sich um deswillen nicht 
mehr, wie früher, mit den städtischen Angelegenheiten be- 
schäftigen. Im Ganzen zwar verblieb die Stadt in der 
früheren Richtung, und nur ausnahmsweise Hess sie sich 
von den absolutistisch gesinnten Verehrern der alten Zu- 
stände leiten. Aber jeder Missgrifif der Art wirkte lähmend 
und störend ein auf das Vertrauen, dessen die Regierung 
bedurfte, um wirksam handeln zu können. 

Im nächsten Mai des Jahres 1842 soUten die neuen 
Wahlen in den Grossen Rat vorgenommen werden. Auf 
diese entscheidende Wahlschlacht mussten sich beide Par- 
teien rüsten. Die radikale Partei war in der Presse besser 
vertreten als die conservative. Insbesondere hatte jene 
in dem Publicisten Ludwig Snell aus Nassau einen sehr 
gewandten Redacteur für den schweizerischen Republikaner 
gefunden, das geistige Hauptblatt der Partei, welches durch 
den Landboten von Winterthur in volkstümlicher Weise 
unterstützt wurde. Dem Landboten konnte wohl die Zür- 
cherische Freitagszeitung von Bürkli das Gegengewicht 
halten, als ein verbreitetes, dem RadikaUsmus abgeneigtes 
Volksblatt, welches den traditionellen Ansichten der fried- 
fertigen Bürger und Bauern zum Organe diente. Nur sehr 
mühsam und unvollkommen versuchte es der Beobachter 
aus der östlichen Schweiz, der von Frauenfeld nach Zürich 
verpflanzt wurde, eine ähnliche Stellung innerhalb der herr- 
schenden Partei einzunehmen, wie sie dem Republikaner 
von Seite der Opposition willig zugestanden wurde. Die 
Neue Züricher-Zeitung, von Ott redigiert, nahm eine Mittel- 



cap. 21.] Friedrich Rohher in Zürich. 259 

Stellung ein, wie sie dem Durchschnitt der gebildeten Clas- 
sen eher zusagte als jede entschiedenere Parteinahme; aber 
auch sie neigte sich immer entschiedener den liberalen und 
radikalen Bestrebungen zu. Augenscheinlich war der Zeit- 
geist damals dieser Richtung günstig, und ein frischer 
Morgenwind schwellte ihre Segel. 

Wenn aber bei den Wahlen, wie es wahrscheinlich 
war, die radikale Partei siegte, dann war die ganze Be- 
wegung von 1839 verurteilt und die ganze Existenz der 
Regierung verloren. Dann waren alle seitherigen An- 
strengungen der herrschenden Partei und ihrer Führer 
fruchtlos geworden. Dann demütigte auch das Züricher 
Volk sich selber vor denen, welche es in der Aufwallung 
eines launischen Zornes vor fünf Jah1*en aus dem Regi- 
mente verdrängt hatte. 



21. 

Friedrich Böhmer in Zürich. Die Schrift Dentschlands Beruf. 
Bekanntschaft erst mit Theodor Böhmer und Adolf Widmann, 
dann Besprechungen mit Friedrich Böhmer. Die Natur des 
Bechts. Abschluss der Allianz mit Friedrich Böhmer. Die 

Freunde und die Gegner. 

In dieser Zeit voll Spannung und Erwartung machte 
ich zuerst Bekanntschaft mit einem jüngeren Manne von 
aussergewöhnlichen Eigenschaften, der einen entscheiden- 
den Einfluss auf meine geistige Entwicklung und einen 
vielfach bestimmenden Einfluss auch auf mein Lebensschick- 
sal geübt hat. Ich werde auch über diese Beziehungen treu 
berichten, obwohl ich weiss, dass dieselben selbst bei Be- 

17* 



250 Aufstand im Aabgau. [cap. 20. 

der ihrem Principe widersprach. Sodann waren in ihr re- 
ligiöse und politische Tendenzen und Leidenschaften ge- 
mischt, und diese Mischung, welche dem tiefen Bedürfnis 
unserer Zeit, Stat und Kirche zu sondern und Religion 
und Politik zu unterscheiden, widerstrebte, wirkte ver- 
wirrend auf die öffentliche Meinung und erschien den vor- 
handenen Instincten feindlich. 

Diese Mängel wurden Vielen dadurch offenbar ge- 
macht, dass nun die katholische Kirche ermutigt wurde, 
nach dem Vorbilde der Züricher die gläubige Bevölkerung 
aufzuregen und ebenfalls in revolutionärer Form die radi- 
kalen Statsgewalten anzugreifen. 

Der Canton Aargau war zur Zeit der Mediation Na- 
poleon's aus dem fiüheren Bernischen und reformierten 
Aargau und den vormals gemeinen Herrschaften, aus de- 
nen der katholische Canton Baden in der helvetischen Pe- 
riode gebildet worden war, und dem ebenfalls katholischen 
Frickthal zusammengefügt worden. Eine Zeit lang wirkten 
die verschiedenartigen Elemente friedlich zusammen. Sie 
erfreuten sich gemeinsam der vorher versagten Unabhän- 
gigkeit und republikanischen Freiheit. Aber seit dem Jahre 
1830 schieden sich die Parteien von einander, und es misch- 
ten sich auch da Confession und Politik. Der reformierte 
Teil des Aargau folgte mit Eifer der liberal-radikalen Strö- 
mung, der katholische Teil, auf welchen der Klerus einen 
grossen Einfluss übte, sympathisierte in seiner Mehrheit 
mit den katholischen Cantonen der innern Schweiz. Die 
Parteikämpfe über die Revision der Aargauischen Verfas- 
sung hatten zu einem Aufstande der „freien Amter" ge- 
führt, der mit Hilfe der Nachbarstände rasch unterdrückt 
wurde. Nun wurde im Grossen Rate zu Aarau der Antrag 



cap. 20.] Aufhebung der Klöster im Aargaü. 251 

gestellt und angenommen, die Aargauischen Klöster, deren 
Intriguen hauptsächlich der Aufruhr zur Last geschrieben 
wurde, aufzuheben. 

So entstand die Aargauische Klosterfrage, welche 
während mehrerer Jahre die eidgenössische Politik leiden- 
schaftlich aufregte und dem Parteihader eine confessionelle 
Färbung verlieh. Die grosse Schwierigkeit lag in der 
Bundesverfassung von 1815, welche in Artikel XII aus- 
drücklich die Klöster unter die Garantie der Eidgenossen- 
schaft gestellt hatte. Der Conflict zwischen dem bestehen- 
den — wenn auch innerlich ungesunden — Verfassungs- 
recht und dem Streben der Zeit, welche das Institut der 
Klöster als ein mittelalterliches und culturschädliches zu 
beseitigen wünschte, entzweite die Parteien in der Eidge- 
nossenschaft. Die katholischen Cantone beschwerten sich, 
dass man sie in ihrem klaren Verfassungsrechte verletze 
und missachte. Die radikalen Regierungen wiesen dagegen 
auf die statsfeindlichen Umtriebe der Mönche und auf die 
Gefahren hin, welche dem Frieden der Confessionen und 
der Volksbildung von Seite der Hierarchie drohen. 

Die Zürcherische Regierung nahm eine vermittelnde 
Stellung ein. Wir hatten dazu geholfen, den Aufstand im 
freien Amte zu unterdrücken. Wir waren ferner der Mei- 
nung, dass die Klöster, welche denselben angestiftet oder 
doch begünstigt hatten, die Aufhebung verdienen. Aber 
wir verlangten, dass die Schuld nachgewiesen und nicht 
auch den Klöstern aufgeladen werde, welche sich nicht 
bei dem Aufstande beteiligt hatten. Wir verlangten zu 
Ehren des bestehenden Eidgenössischen Rechtes und zur 
Beruhigung der katholischen Stände die Herstellung der 
nicht schuldigen, insbesondere der Frauenklöster, und ge- 



262 Friedbich Rohmeb's [cap. 21. 

eindruck war bedeutend. Es zeigte sich hier eine durch- 
aus ungewöhnliche Geisteskraft, welche grosser Ziele be- 
wusst war und die Mittel scharf überdachte, welche zu 
diesen Zielen führten. 

Um dieser geistigen Bedeutung willen erfüllte ich 
auch das Ansuchen Theodor Rohmer's, seinem Bruder in 
einer momentanen Verlegenheit beizustehen, und stellte 
ihm eine für meine ökonomischen Verhältnisse nicht un- 
bedeutende Summe zur Verfügung. Ich erwähne diese bis- 
her unbekannte Thatsache in der Absicht, um die falsche 
Meinung zu widerlegen, dass eine selbstsüchtige Specula- 
tion den Grund gelegt habe zu der näheren Verbindung 
mit Friedrich Rehmer. Ich kannte ihn damals persönlich 
noch gar nicht. 

Erst um Weihnachten 1841 lernte ich Friedrich Böh- 
mer persönlich kenpen. Er war damals ein Mann von 27 
Jahren. Seine äussere Erscheinung hatte für den ersten 
Blick nichts Auffälliges; erst der längern Beobachtung fiel 
der heftige Wechsel auf zwischen heiteren und düsteren 
Zügen, zwischen Licht und Schatten. Er war von mitt- 
lerer Grösse; sein Körper war sehr harmonisch gebaut. 
Als ich einmal mit ihm im Vierwaldstätter See badete, 
musste ich das schöne Ebenmass seiner Glieder bewundern, 
obwohl der Körper nicht einen jugendlich-schönen, sondern 
eher einen durchgebildeten ältlichen Eindruck machte. Er 
hatte offenbar schwache, sogar schlaffe Muskeln, aber sehr 
starke Nerven. Seine Stimme war in der Regel fein und 
scharf, nicht voll und rund; aber in einzelnen aufgeregten 
Momenten konnte dieselbe einen ehernen, die Nerven An- 
derer erschütternden Klang annehmen. 

Sehr bedeutend war das Antlitz. Das bräunlich- 



cap. 21.] Febsönlichkeit. 263 

schwarze dichte Haupthaar schützte das unruhige Gehirn. 
Auf der schönen Stirne spielten glänzende Lichter mit 
feinen Linien und deuteten auf geistreiche Gedanken. Aus 
der Tiefe der Augenwölhung schauten ein paar graue Augen 
hervor. Zuweilen war der Blick wie mit einem Schleier 
verhüllt; er schien dann eher nach Innen, als nach Aussen 
gewendet. Zuweilen aber leuchteten die Augen und schössen 
scharfe Pfeile. Die gebogene Adlernase hatte etwas Aristo- 
kratisches, und der scharfgeschnittene Mund deutete auf 
eine schneidige Logik und ein herrisches Wesen. Nur die 
gelegentlich schlaffe und zuckende Unterlippe verriet auch 
die Reizbarkeit sinnlicher Begierden. Um die Mundwinkel 
zeigten sich bewegte Linien, welche oft zu spöttischem 
Lächeln und ironischer Verhöhnung sich zuspitzten. 

Das Gesamtbild aber wechselte sehr in seiner Er- 
scheinung. Meistens war ein trüber Schatten über dasselbe 
ausgebreitet. Man meinte oft ein träumerisches Brüten und 
Sinnen und eine missmutige Verachtung wahrzunehmen. 
Dann konnte das düstere Bild aber plötzlich sich beleben. 
Je nach den Umständen und den Motiven nahm es dann 
bald einen geistig gehobenen, bald einen leidenschaftlich 
erregten Ausdruck an. In den einen Momenten konnte 
seine Erscheinung einen unheimlichen, dämonischen Aus- 
druck bekommen, vor dem sich die Menschen scheu und 
erschreckt zurückzogen, oder der sie auch zum Hass und 
zur Wut reizte. In anderen Momenten, und vorzüglich in 
den glücklichen Stunden, in denen sein Geist zu freier 
Äusserung des verborgenen Wesens gelangte, war sein 
Antlitz wie von göttlichem Lichte umstrahlt, und er wirkte 
dann bezaubernd und beseligend ein auf die, welche ihm 
nahe standen. Allerdings nur selten und fast nur in dem 



264 Besprbchuwgen mit [cap. 21. 

Kreise vertrauter Freunde, denen er die Ergebnisse seiner 
Gedankenarbeit mitteilte, erschien er in solchem hellen 
Glänze. Öfter, und meistens vor Fremden, war er in sich 
gekehrt, und sein Gesicht erschien beschattet und träume- 
risch. Zuweilen war er wie eine dunkle Gewitterwolke, 
schreckhaft auch für die Seinigen; und nicht selten entlud 
sich dann die gesammelte Elektricität im Donner und Blitz. 

Es war sehr schwer, lange mit ihm zusammenzuleben. 
Ich habe Niemand gekannt, der nicht von Zeit zu Zeit 
gänzlich ermüiet und erschöpft worden wäre durch einen 
fortgesetzten Verkehr mit dieser seltsamen Persönlichkeit. 
Selbst sein innig ergebener und sehr ruhiger Bruder Theo- 
dor war genötigt, zuweilen Ruhe und Erholung zu suchen 
von den aufregenden Arbeiten und Verhandlungen mit 
Friedrich. Selbstverständlich war es einer solchen Natur 
schwer, mit den Menschen zu leben. Die Meisten zogen 
sich bald von ihm scheu zurück, wenn sie einige Zeit mit 
ihm verkehrt hatten. Viele betrachteten ihn mit Miss- 
trauen und sogar mit entschiedener Abneigung und Hass. 
Einige Wenige verehrten und liebten ihn als einen Geist 
ersten Ranges. 

Ich habe meine eigenen ersten Eindrücke über die 
Begegnung mit Friedrich Rohmer damals niedergeschrieben. 
Indem ich diese Aufzeichnung im Auszuge mitteile, gebe 
ich den besten Aufschluss über die Entstehungsgeschichte 
unserer Verbindung. 

31. December 1841. „Gestern sah ich Friedrich Roh- 
mer zum zweiten Mal, und diesmal allein; das erste Mal 
war er von Theodor Rohmer und Widmann begleitet. Die 
ungewöhnliche Energie seines Wesens wirkt imponierend, 
aber ich bin noch nicht im Klaren über ihn. Er ist offenbar 



cap. 21.] Friedbich I^Iohmeb. 265 

krank und reizbar und wird heftig; Dann spricht er rasch 
und rascher und hält plötzlich wieder an sich, um auszu- 
ruhen. Gedanken zucken wie Blitze hin und her. Seine 
Philosophie kenne ich nicht und kann darüber nicht ur- 
teilen. Ich äusserte ihm meine Zweifel, dass die Wissen- 
schaft durch Einen geistvollen Menschen eine ähnliche 
Offenbarung erhalten werde, wie die Religion durch Chri- 
stus. Ich bemerkte, die bisherige Erfahrung kenne wohl 
Stifter neuer Religionen, aber nicht ebenso Gründer einer 
neuen Wissenschaft. Darauf erwiderte er: „„Als Christus 
kam, waren alle Religionen in Verwirrung geraten. Überall 
Anfange, nirgends Vollendung, überall Widersprüche, nir- 
gends Sicherheit. So ist es aber gegenwärtig auch bei 
uns besteDt mit dem Wissen über die höchsten Dinge. 
Die Verwirrung ist aufs höchste gesteigert. Da muss 
Einer kommen, der in das Chaos Licht bringt."" 

„Er liess dann das Gespräch über die Wissenschaft 
rasch fallen und ging auf das Thema über, das mich da- 
mals mehr interessierte, den Stat und die Politik. Da 
sprach er: „„Ich will Ihnen ein stolzes Wort sagen; ich 
bin ein Statsmann von Geburt. Aber niemals werde ich 
ein Amt, nie einen Titel annehmen. Wenn mir die Kö- 
nigs- oder Kaiserkrone angeboten würde, ich schlüge sie 
aus. Ich will ein einfacher Mensch bleiben. Aber ich 
nehme einen Anteil an dem Schicksale der Welt und will 
darauf einwirken. Ich bin vor allen Dingen Mensch. Meine 
Bestimmung ist die Welt. Ich werde zuerst Deutschland 
meine Dienste anbieten, ich liebe die deutsche Nation, aber 
ich bin nicht an Deutschland gebunden. Der Radikalismus 
ist innerlich nichtig. In der Schweiz ist er am meisten 
verbreitet. Daher muss er da zuerst bekämpft werden. 



266 Besprechungen mit [cap. 21. 

Der Radikalismus darf nicht siegen. Würde er siegen, so 
käme Blut, Blut, Blut. Das darf nicht sein. Die Radi- 
kalen kennen den Menschen nicht. Sie wollen die Ehe 
vernichten und wissen nicht, wie tief dieselbe in der gött- 
lichen Ordnung ruht, und wie lieb sie dem Volke ist. Ich 
lebe für die Welt. Ihr Wohl ist mit mir verbunden. Aber 
ich verlange von der Welt nur eine sichere Lebensstellung. 
Darauf habe ich ein Recht. Ich wünsche, das Sie mich 
näher kennen lernen. Stosse ich Sie nicht ab? Viele Leute 
halten mich für einen Schwärmer. Halten Sie mich für ver- 
rückt? Ich schlage Ihnen vor, wir woDen für die Schweiz 
zusammen wirken, wir beide allein. Kein Dritter soll darum 
wissen. Auch mein Bruder und Widmann nicht. Was sie 
erraten, mögen sie behalten, mehr nicht. Der Canton Zü- 
rich soD voraus pacificiert werden. Die Schweiz muss frei 
bleiben. Diese besonderen Republiken sollen sich selber 
regieren. Halten Sie auch zu den kleinen Cantonen Sorge. 
Die Schweiz weiss nicht, was sie an ihnen hat. In diesen 
Bergen wohnt Gott.**" 

1. Januar 1842. „Ich besuchte gestern Friedrich 
Rehmer wiederum. Der Eindruck war diesmal günstiger, 
als der frühere. Das Schroffe und Stolze in seinem Wesen 
trat weniger hervor. Er erzählte niir Vieles von seinem 
früheren Leben. Unter anderem sagte er: „„Auf der Uni- 
versität lernte ich viel bei Schelling, indem ich ihm auf 
allen seinen Schlichen folgte. Zuweilen stellte ich Fragen 
an ihn, die er mir aber nie beantwortete. Damals über- 
dachte ich die Philosophie Spinoza's. Er lässt Gott und 
die Welt aus Nichts herauswachsen. Ich war damals sel- 
ber radikal, und consequenter, gründlicher radikal als die 
Meisten es sind. Ich meinte, das Ende sei die Gleichheit 



cap. 21.] FuiEDBicH Rohheb. 267 

aller Menschen. Freilich wollte ich als Übergang die Herr- 
schaft und Führung der geistigen Menschen über die 
Massen. Als ob dieser Übergang jemals zu dem Ziele der 
Gleichheit führen könnte. Gegen das System Spinoza's und 
die Auflösung aller Individualitäten in dem Air bäumte sich 
mein Selbstbewusstsein. Dennoch war ich damals Atheist. 
— Später sprach ich meine Gedanken über die Entstehung 
und das Werden der Welt in der kleinen Schrift aus: An- 
fang und Ende der Speculation. Es wurden fünfzehn Exem- 
plare davon abgesetzt.' Niemand achtete darauf. Ich erwarb 
einen Freund Namens Guido Fuchs; sein Geist war stark, 
sein Körper schwach. Das Missverhältnis (seiner Abstam- 
mung von nervösen Eltern zuzuschreiben) drückte ihn nie- 
der. Er endigte durch Selbstmord. Als ich in ernsten 
Gesprächen mit ihm sah, wie entsetzlich elend die geist- 
reichsten und begabtesten Leute seien, fasste ich den Ent- 
schluss, die Wissenschaft der Welt zu entdecken. — Es 
fällt mir schwer, mit den Menschen zu verkehren. Sie 
scheuen und hassen mich meistens, weil sie mich nicht 
kennen. Ich kann nicht anders als wahr sein, und die 
Wahrheit ertragen sie nicht. Viel besser kann mein Bru- 
der Theodor mit den Leuten umgehen. Er dient mir da- 
her vortrefflich zur Vermittlung. Theodor ist für den Stat 
bestimmt, Widmann für die Kirche. Dieser fasst leichter, 
rascher; aber jener ist, tiefer und verlässiger."" 

„Über die schweizerische Politik sagt er: „„Bern hat 
oft grössere Statsmänner gehabt als Zürich. Aber Zürich 
muss durch seine Intelligenz auf die Schweiz wirken. Ihm 
kommt die Aufgabe zu, den Radikalismus durch die In- 
telligenz zu besiegen. Der Schultheiss Neuhaus von Bern 
wird curiose Augen machen, wenn er sieht, wie Zürich 



268 Besprechitnoen mit [cap. 21. 

mit Bewusstsein stark und ruhig vorwärts geht. Die frem- 
den Mächte müssen Sie sich sorgfaltig vom Leibe halten, 
aber mit feiner Sicherheit. Auch sie werden auf Zürich 
sehen, und wenn sie gewahren, dass Zürich durch eigene 
Geisteskraft den Radikalismus überwindet und die Freiheit 
rettet, so werden die Mächte die Schweiz in Ruhe lassen."" 

„Die Personen und die Zustände kannte er nicht hin- 
reichend und urteilte oft unrichtig, er liess. sich aber die 
Berichtigung seiner Irrtümer leicht gefallen. Dann kam 
aber wieder etwas von jener seltsamen Wut heraus, die 
sich wie ein wildes Gewitter entlud. So meinte er, es 
werde noch ein grosser Krieg kommen zwischen den 
Deutschen und den Franzosen. „„Wenn es dazu kommt, 
dann muss Paris von Grund aus zerstört werden. Es 
muss wieder ein grosser Schrecken über die Welt kom- 
men. Nachher erst soll die grösste Milde eintreten. Auch 
die Franzosen sollen dann Ruhe und Frieden finden."" 

„Am Sylvesterabend hatte ich auch mit dem alten 
Professor Hottinger ein merkwürdiges Gespräch. Es 
frappierte mich, dass auch er mir seine Überzeugung mit- 
teüte, dass wir einer grossen Zeit entgegengehen, einer 
grösseren noch, als die der Reformation im sechszehnten 
Jahrhundert. Auch er meinte, es komme Alles darauf an, 
das Verhältnis von Geist und Körper richtig zu erkennen. 
Das ist ja der Rohmer'sche Grundgedanke, in der Psy- 
chologie das Gesetz und die Erklärung des menschlichen 
Lebens aufzufinden." 

Vom 4. Januar 1842. „Das Bild Rohmer's wächst in 
mir grösser. Gestern sagte ich ihm, ich habe schliesslich 
zwischen drei Auffassungen wählen müssen. Ich sagte mir: 
Entweder Sie sind ein Narr oder ein Betrüger oder ein 



cap. 21.] Fbiedbioh Rohmeb. 269 

grosser Mann, ein Genie. Ich konnte Sie nicht für einen 
Narren halten, weil Sie offenbar gescheit sind; ich musste 
auch den Verdacht eines Betrügers von mir weisen, denn 
das Werk Ihres Bruders und Ihre eigenen Äusserungen 
zeugen unwiderleglich für eine tiefe Moral Ihrer Grund- 
ansichten und Ihres Strebens. Es blieb mir also nur die 
dritte Annahme übrig." 

„Ich kenne ihn noch nicht näher, von seiner Wissen- 
schaft weiss ich nur sehr wenig. Aber indem ioh ihm 
näher trete, fühle ich mich geistig gehoben und erftischt. 
Ich komme mir allerdings sehr klein vor im Vergleich 
mit seinem eminenten Geiste, aber ich werde den Anderen 
gegenüber grösser und stärker als vorher." 

„Er sagte mir, er wolle das Christentum restaurieren 
und durch die Psychologie auch die wichtigsten Dogmen in 
ein neues, dem gemeinen Verstand fassbares Licht setzen. 
Dieses Versprechen kommt mir freilich noch fabelhaft vor. 
Hätte mir Einer das vor Jahren gesagt, so hätte ich mich 
mit souveräner Verachtung von ihm weggewendet. Heute 
bin ich im Verkehr mit Rehmer empfänglicher geworden 
für die Lösung rätselhafter Probleme." 

„Neulich sagte er ein treffliches Wort über die Po- 
litik. Das wahre Recept für den Statsmann lautet: „Re- 
cipe Vitam." 

In der Absicht, die Wissenschaft Friedrich Rohmer*s 
an einem mir vertrauteren Stoff zu prüfen, brachte ich 
das Gespräch auf die Natur des Rechts. Meine damalige 
Aufzeichnung ist verloren und die vorhandenen Notizen 
geben nur einige Anhaltspunkte. Die Hauptzüge dieser 
Besprechung haben sich aber in meiner Erinnerung wohl 
erhalten. 



270 Seine Äusserung über [cap. 21. 

Friedrich sprach ungefähr so: „Um die Natur des 
Rechts in der Tiefe zu fassen, muss man Gott denken. 
Gott ist die ewige Quelle des Rechts. Das Recht ist 
die Existenz. Was existiert, hat ein Recht zu sein, wie 
es ist. Je höher die Existenz, um so höher das Recht. 
Der Mensch als die höchste Existenz unter den Geschöpfen 
Gottes hat daher auch das höchste Recht. Aber auch der 
Teufel hat nach dem Sprichwort sein Recht, auch dem 
Teufel muss man, so weit er existiert, sein Recht lassen. 
Man darf daher schlechte und böse Menschen nicht des- 
halb vernichten, weil sie schlecht und böse sind. Auch 
der Böse hat ein Recht zu sein, wie er ist. Nur darf er 
nicht die Existenz der Anderen aus Bosheit angreifen und 
verletzen. Die höhere Existenz behauptet auch ihm gegen- 
über ihr höheres Recht. Die Völker, die Familien, die In- 
dividuen haben eine verschiedene Existenz; deshalb haben 
sie auch verschiedenes Recht." 

„Die Rechtsgleichheit, wie die Radikalen sich die- 
selbe vorstellen, ist ein Unsinn, weil sie im Widerspruch 
ist mit den natürlichen Verschiedenheiten der Existenzen. 
Sie würde zu gleicher Teilung des Erdbodens und seiner 
Früchte führen, und sie würde gleiche Fähigkeiten zur 
Arbeit und zum Genüsse voraussetzen. Das ist aber Un- 
natur und daher Unsinn. Nur soweit die menschliche 
Natur in allen Menschen dieselbe ist, hat die Rechts- 
gleichheit einen Sinn.** 

J)aB Recht ist nicht bloss ein Erdachtes und Ge- 
machtes. Es ist mit den Existenzen schon von Natur 
im Princip gegeben. Es ist auch nicht das willkürliche 
Werk des States, kein Statsprodukt. Es lässt sich eher 
jioch behaupten, der Stat sei eine Rechtsinstitution, als 



cap. 21.] DIE Natur des Rechts. • 271 

umgekehrt, das Recht sei eine blosse Statserfindung und 
Statseinrichtung. ** 

„Das Recht wird, wie die Existenzen werden. Es 
wächst in demselben Verhältnis, in dem die Existenzen 
wachsen. Es geht unter, inwiefern die Existenzen unter- 
gehen. Auch die Tiere haben vor Gott ein Recht, und 
der Mensch hat die Pflicht, es zu achten. Sogar der Baum 
hat ein Recht zu blühen und Früchte zu treiben. Die 
Menschen sollen das respectieren und nach Kräften nach- 
bilden und schützen." 

„Der Moment, in dem sich 

Quantität und Qualität 
sondern, ist der Entstehungsmoment des States. Die Quan- 
tität ist das Volk, die Qualität ist der Herrscher. Das 
Volk ist die Basis, der Herrscher ist die Spitze. ^ Das Volk 
ist die Unterlage, der Herrscher ist die Eigenschaft. Beide 
zusammen, nicht der eine oder der andere Teil für sich, 
bilden den Stat. Die Constructionen im Einzelnen sind 
äusserst mannigfaltig. Das Grundverhältnis ist immer das- 
selbe." 

„Im Kindesalter wiederholen sich immer wieder die 
Anfänge der Statenbildung. Erst prügeln sich die Buben, 
bis der Stärkere bei den Schwächeren Anerkennung findet. 
Dann folgen diese jenem. Sind mehrere Parteien, so raufen 
sie sich unter einander, bis wieder die überlegene Kraft 
die Führung erwirbt." 

Diese Grundansicht machte auf mich im Ganzen einen 
sehr befriedigenden Eindruck. Sie liess freilich noch viele 
unerledigte Fragen zurück. Insbesondere waren die wesent 
heben Unterschiede von 

göttlichem Recht und menschlichem Recht^ 



272 Abschluss der Allianz [cap. 21. 

Moral und Recht, 

natürlichem Recht und formuliertem, vom State aner- 
kanntem Recht 
kaum in den ersten Keimen angedeutet. Aber die Rechts- 
idee erschien nun doch in ihrer vollen Lebenskraft und 
hatte einen Inhalt gewonnen, den die gewöhnlichen, bloss 
äusserlichen und formalen Begrififsbestimmungen der Juri- 
sten nicht besassen. Das Recht hatte in Gott und in der 
Natur der Menschen und der Geschöpfe eiijen sichern Grund 
und Halt bekommen. 

Die so geistig vorbereitete Allianz mit Friedrich Reh- 
mer wurde nun abgeschlossen und durch Handschlag be- 
kräftigt. Dieselbe hatte zunächst einen politischen Cha- 
rakter und Zweck. Als Ziele wurden vorläufig in*s Auge 
gefasst 

in cantonaler Beziehung: Beseitigung der inneren 
Zerwürfnisse durch Reinigung der conservativen Partei 
von absolutistischen und reactionären Neigungen und 
Strebungen, Versöhnung mit den liberalen Elementen 
innerhalb der radikalen Partei, unerbittlicher Kampf 
mit der ultraradikalen Presse und Zurückweisung des 
deutschen Radikalismus; 

in eidgenössischer Beziehung: Vorschläge zur 
Schlichtung der eidgenössischen Streitfragen, Anbahnung 
einer eidgenössischen, aus Liberalen und Conservativen 
bestehenden Mittelpartei und Vorbereitung zu einer zeit- 
gemässen Bundesreform; 

im Allgemeinen: Wiederherstellung eines orga- 
nischen Verhältnisses und einer freundlichen Wechsel- 
wirkung zwischen dem deutschen und dem schweizeri- 
schen Geiste, Wiederbelebung der gesunkenen Achtung 



cap. 21.] MIT Friedrich Rohmer. 273 

• der Gebildeten vor dem Christentum, Entwickelung des 
psychologisch erkannten Princips der Parteien und Er- 
satz der radikalen Anschauungen durch lebensvolle und 
fruchtbare Ideen. 
Indem ich diese Verbindung einging, trat ich nicht in den 
bisherigen Kreis der Jünger und Verehrer Friedrich Roh- 
mer's ein. Ich behielt mir meine persönliche Selbstän- 
digkeit ausdrücklich vor. Aber der fortgesetzte, tägliche 
Verkehr mit Friedrich Rohmer und seinen Anhängern 
machte mich mit ihrem Wesen und Streben allmälich ver- 
trauter und brachte mich ihnen näher. Je mehr ich in 
dem Verständnis der Rohmer'schen Psychologie fortschritt, 
um so tiefer wurzelte auch mein inneres Interesse an der 
neuen Wissenschaft, die mir das Leben in seinen ver- 
borgensten und feinsten Bewegungen zu erklären schien. 
Ich erkannte die geistige Überlegenheit Friedrich Rohmer's 
willig an, und es keimte eine lebhafte Zuneigung zu dem 
seltenen Manne in meinem Gemüte in hoffnungsvollen Trie- 
ben und Blüten. 

Meine Züricher Freunde betrachteten dieses Wachs- 
tum des Rohmer'schen Einflusses mit sehr gemischten Em- 
pfindungen. Die geistige Unterstützung mit Ideen und 
publicistischen Talenten war ihnen ganz erwünscht, aber 
die Personen waren ihnen unheimlich und verdächtig. Mit 
Theodor Rohmer und mit Dr. Widmann mochten Einige 
wohl noch freundlich verkehren, aber Friedrich Rohmer 
schreckte sie ab. Nicht ungern hätte die Partei die pu- 
bKcistische Hilfe litterarischer Landsknechte in ihrem Dienste 
bezahlt, aber meine auf persönlicher Achtung und Harmonie 
der Gesinnung beruhende Allianz mit einem bisher unbe- 
kannten Deutschen^ der wie ein unverständliches Sekten- 

Blnntschli, Dr. J. C, Alis mciuem Leben. I. 28 



274 I^iE FsEuinjE [cap. 21. 

haupt betrachtet wurde, kam den Meisten höchst gewagt 
und abenteuerlich vor. Nur einige wenige jüngere Züricher 
von höherer Bildung wurden von den Rohmer*schen Ideen 
und Personen so stark angezogen, dass sie bereit waren, 
sich dem Rohmer'schen Kreise 'beizugesellen. Zwei der- 
selben, Heinrich Schulthess und Heinrich v. Orelli, 
traten auch mit Friedrich Rehmer in näheren Verkehr. 
Orelli, der selber etwas Geniales und Excentrisches hatte, 
gewann überdem auf Widmann Einfluss. Der ruhigere 
und von Natur conservative Schulthess schloss sich enger 
an den ebenfalls conservativen Theodor Rehmer an. Die- 
sem trat auch der Statsschreiber Heinrich Hottinger 
näher, dessen gemütliche Noblesse durch den Geist Theo- 
dor's angeregt und befriedigt wurde. Mit Friedrich Reh- 
mer kam Hottinger zuerst mehr nur ausnahmsweise und 
von ferne in persönliche Beziehung. Schulthess und Hot- 
tinger waren überdem bereit, für die Rehmer auch grosse 
ökonomische Opfer zu bringen. Von meinen anderen Freun- 
den hatten fast nur noch Roth in Teuflfen, Heinrich 
Spöndli und Heinrich Grob in Zürich einiges nähere 
Interesse für diese Verbindung, die beiden letzteren nicht 
ohne ängstliche Vorbehalte. 

Im Allgemeinen arbeiteten das Misstrauen der eigenen 
Partei und der steigende Hass der Radikalen gemeinsam 
daran, meine Allianz mit Rehmer zu lösen und zu zer- 
stören. Es war schwer, jenes Misstrauen zu entkräften. 
Teils fehlte es an dem Verständnis für so aussergewöhn- 
liche Personen und Ideen, teils reizte die rätselhafte Er- 
scheinung zu Zweifeln. Es geschah auch zu wenig, um 
den Hass der Radikalen zu ermässigen und zu versöhnen. 
Im Gegenteil, die Leidenschaft des Kampfes steigerte den- 



cap. 22.] UND DIE Gegner. 275 



selben in's Masslose. Es war das ein verderblicher Fehler 
auch unserer Presse, welche die allerdings heftigen An- 
griffe der radikalen Presse mit schneidender Verachtung 
zurückwies und die Erbitterung bis zur Wut entflammte. 
Im persönlichen und amtlichen Verkehr, auch mit den ra- 
dikalen Führern, kam ich wohl zurecht und stand mit 
ihnen zwar nicht auf vertraulichem Fusse, aber ich be- 
achtete die anständigen geselligen Umgangsformen nicht 
ohne Glück. Die Zeitungen dagegen Hessen ungehemmt 
ihre schweren Geschütze und ihre befiederten Pfeile wider 
einander spielen und verwundeten manchen patriotischen 
Gegner empfindlich. Es war das ein Fehler, den ich und 
den auch die Rohmerianer begingen, der sich bitter rächte. 
Dazu kam der unselige Klatsch, der gefährliche Geheim- 
nisse auch des Frauenlebens nicht schonte und mit seinen 
grellen Schlaglichtem und seinen falschen Bildern auch den 
häuslichen Frieden störte. 



22. 

Der Kampf des Beobachters ans der östlichen Schweiz mit dem 
schweizerischen Republikaner. Ludwig Snell tritt zurück. Die 
Bohmer'sche Speculation und Psychologie. Die sechzehn Grund- 
kräfte der menschlichen Seele. Die Bewegung derselben und 
die Altersstufen. Die Lehre von den vier politischen Parteien. 
Liberal-conservative Politik und Partei. Wirkungen in England, 
Frankreich, der Schweiz und Deutschland. Die Augsburger All- 
gemeine Zeitung. 

Auf den „Beobachter aus der östlichen Schweiz" hatte 
ich kraft meiner politischen Stellung und infolge meiner 
gesellschaftlichen Verbindung mit dem Verleger Christian 

18* 



276 ^^^ Beobachter aus deb östlichen Schweiz [cap. 22. 

Beyel einen entscheidenden Einfluss. Ich eröflfhete nun 
das Blatt den neuen Verbündeten. Die unmittelbare und 
thätige Teilnahme Friedrich Bohmer*s und seiner deutschen 
Freunde Theodor Böhmer, Dr. Widmann und Alexander 
Bruckmann dauerte nur wenige Monate vom Januar bis 
Mitte April 1842, aber diese kurze Zeit machte einen 
grossen Eindruck und bewirkte eine nachhaltige Änderung 
in der schweizerischen Journalistik und Politik. 

Dem festgestellten Programm gemäss wurden in den 
ersten einleitenden Artikeln die Verdienste der Badikalen 
um die öfiFentlichen Zustände offen anerkannt, aber zu- 
gleich ihre Mängel und Fehler ohne Schonung blossgelegt. 
Ebenso wurden die Gebrechen der conservativen Partei 
zugestanden und hinwieder ihre Vorzüge beleuchtet. Aus 
der Einsicht in die Natur der beiden Parteien wurde auf 
das Bedürfnis und die Möglichkeit einer inneren Reinigung 
und Berichtigung beider geschlossen, und eine Verständi- 
gung beider angebahnt. Die Sprache dieser Artikel hatte 
einen idealen Schwung und war trotzdem gemeinverständ- 
lich. Die rücksichtslose Offenheit machte ein ungewöhn- 
liches Aufsehen. 

Der von Ludwig Snell redigierte »Schweizerische 
Republikaner" wurde durch den »Beobachter" in seiner 
Zuversicht auf den nahen Wahlsieg unangenehm gestört. 
Dr. Ludwig Snell, aus dem Herzogtum Nassau gebürtig, 
später Director des Gymnasiums von Wetzlar, Republi- 
kaner aus Neigung und Princip, war nach der Schweiz ge- 
kommen, nachdem er das bittere Unrecht der preussischen 
Demagogenverfolgung gründlich erfahren hatte. Er war 
ein gut geschulter und sehr gewandter Publicist und galt 
als eine hervorragende Autorität in seiner Partei, auf die 



cap. 22.] IM Kampfe mit Ludwig Snell. 277 

er einen mächtigen Einfluss übte. Er war von der Wahr- 
heit seiner Ideen und der Güte seines Strebens überzeugt, 
aber er war ein doctrinärer Eiferer für dieselbe und ge- 
neigt, den Gegnern verwerfliche Gesinnung zuzuschreiben. 
Durch den „Republikaner" hatte er der Partei wieder Mut 
und Selbstvertrauen eingeflösst. Die ungewohnte Energie 
des „Beobachters", dem er geistig doch nicht gewachsen 
war, brachte ihn ausser Rand und Band. Seine Entgeg- 
nung suchte die Schwäche der sachlichen Gründe durch 
bittern Hohn und persönliche Schelte zu verdecken. 

Früher war diese Taktik oft geglückt, und er hatte 
wohl die Gegner dadurch zum Schweigen gebracht. Aber 
jetzt half diese Kampfweise Nichts. Die Publicisten des 
Beobachters liessen sich dadurch nicht einschüchtern. Sie 
gingen ihrem Gegner nur um so entschiedener zu Leibe 
und packten und schüttelten ihn unsanft. Auf allen seinen 
Schlichen folgten sie ihm und liessen keine Finte unbe- 
achtet und keine Schmährede unerwidert. 

Manche Artikel des Beobachters waren weniger noch 
für das Publicum, als für die Seele der Republikaner ge- 
schrieben. Was viele Parteigenossen zuvor für ganz un- 
möglich erklärt hatten, geschah dennoch. Das Selbstver- 
trauen Ludwig Snell's wurde gebrochen. Schon zu Anfang 
Februar Hess er sich von seiner Partei die Ermächtigung 
ausstellen, in Zukunft über die Polemik des Beobachters 
„mit Stillschweigen und verdienter Verachtung hinweg 
zu gehen.** Damit war die publicistische Insolvenzerklä- 
rung des gefürchteten radikalen Journalisten ausgesprochen, 
und bald nacher erfolgte auch der Rücktritt desselben von 
dem schweizerischen Republikaner. 

Die Polemik wider den Republikaner war indessen 



278 I^iE Rohmeb'sche Pabteienlehbe. [cap. 22. 

nur ein Vorspiel, welches die allgemeine Ergründung der 
Natur der verschiedenen politischen Parteien vorbereitete. 
Während des Kampfes untersuchte Friedrich Rohmer, 
auch im Gespräch mit den Freunden, den psychologischen 
Charakter der Parteien und fand in seiner psychologischen 
Wissenschaft überraschende Aufschlüsse. Die Parteien er- 
schienen nicht mehr als wiDkürliche Verbindungen je nach 
Interessen, Launen und Meinungen, sondern sie hatten in 
der menschlichen Natur selber und in den verschie- 
denen Entwickelungsstufen der Menschen einen not- 
wendigen Grund. Es gab Radikale und Conservative, 
Liberale und Absolutisten von Natur. Es war daher 
eine Aufgabe der Psychologie, diese Gegensätze zu erklären 
und zu bestimmen. 

So entstand die Rohmer'sche Parteienlehre, die zu- 
nächst im März 1842 in dem Beobachter in einer Reihe 
von Artikeln dargestellt, sodann im Jahr 1844 in einem 
besonderen Buche von Theodor Rohmer wissenschaftlich 
begründet und nochmals 1869 von mir in der Schrift 
„Charakter und Geist der politischen Parteien" beleuchtet 
wurde. 

Es war für die Lehre selbst und für ihre imbefangene 
Aufiiahme nachteilig, dass ihre erste DarsteDung und Be- 
gründung mit den erregten Zürcherischen Parteikämpfen 
verflochten war. Die Schilderung des Radikalismus und 
des Absolutismus bekam infolge dessen eine übertriebene 
Bitterkeit und Gehässigkeit, und der Irrtum, dass die Lehre 
nur erfunden sei, um der herrschenden Partei in Zürich 
einen Dienst zu leisten, konnte sich in weiten Kreisen 
festsetzen. 

Der Grundgedanke aber war völlig unabhängig von 



cap. 22.] Die Rohmer'sche Spekulation. 279 

den damaligen, heute fast vergessenen Streitigkeiten. Die 
ganze Lehre war eine unabweisbare Consequenz der Roh- 
mer'schen Psychologie, und sie war zugleich eine merk- 
würdige Bewährung ihrer Wahrheit in der fruchtbaren 
Erkenntnis des wirklichen Lebens. Die Psychologie gibt 
den wissenschaftlichen Schlüssel zu dieser Parteienlehre. 
Ohne Kenntnis der Psychologie konnte sie nur als eine 
zutreffende Analogie verstanden, nicht aber gründlich be- 
griffen werden. Indessen hat sie doch in ihrer mehr oder 
minder populären Darstellung eine merkwürdige Verbrei- 
tung bei verschiedenen Nationen gefunden und sehr vielen 
Politikern, welche für eine psychologische Betrachtung Sinn 
und Verständnis hatten, ein Licht aufgesteckt, welches 
manchen dunklen Punkt aufzuhellen vermochte. Ich selber 
habe ihre Wahrheit im Grossen tausendfaltig erfahren und 
mit ihrer Hilfe manche Personen durchschaut, welche von 
den Meisten lange Zeit ganz falsch beurteilt wurden. 

Die Rohmer'sche Spekulation blieb mir damals fremd. 
Ich hatte für die reine Spekulation und ihre Abstractionen 
wenig Talent und wenig Neigung. Sie kam mir vor wie 
ein geistreiches Spiel mit Worten und Formeln ohne realen 
Inhalt. Erst viele Jahre später und erst als Friedrich 
Rohmer selbst sich endlich zu einem lebensvolleren 
Gottesbegriffe durchgerungen und seine ursprüngliche 
Spekulation und Logik wesentlich berichtigt hatte, ging mir 
auch für diese Seite seiner Wissenschaft das Verständnis auf. 

Nur die Definition des Seins als der Verbindung 
von Unterlage und Eigenschaft, obwohl auch sie zu- 
nächst nur eine formal-logische war, leuchtete mir schon 
früh ein. Ich fand dieselbe in der Betrachtung der ver- 
schiedenen Existenzen bestätigt und übte mich darin, in 



280 Meine Stellung zu per Rohmer'schen Spekulation, [cap. 22. 

jedem Sein, das ich prüfte, die Unterlage von der Eigen- 
schaft zu unterscheiden. Ich überzeugte mich, dass diese 
Unterscheidung notwendig und für die Erklärung der Dinge 
ungemein fruchtbar sei. 

Dagegen befriedigte mich die damalige Ansicht Fried- 
rich Rohmer's von Gott durchaus nicht. Er nannte die 
ewige Unterlage von Allem was ist, Gott, freilich nicht 
ohne in seinem Geiste fortwährend einen Stachel zu em- 
pfinden, der ihn zu immer neuen Zweifeln und Prüfungen 
reizte. Er war noch nicht Herr geworden über die pan- 
theistische Denkweise der Philosophie. Gott als Unterlage, 
der Mensch als Eigenschaft gedacht, das war Pantheis- 
mus, wie ihn die indischen Brahmanen und Buddha gelehrt 
hatten. Dieser Vorstellung gegenüber erschien mir der 
persönliche, in sich lebendige Gott, der Vater der Men- 
schen, wie ihn Christus verkündet hatte, wahrhafter und 
befriedigender. Auf einem Spaziergange nach dem Hökler 
besprach ich mit Friedrich meine Bedenken. Ich erklärte 
ihm, dass mir der Glaube an einen bewussten, die Welt- 
geschichte leitenden Gott ein Bedürfnis meines Geistes sei, 
und dass ich diesen Glauben unter allen Umständen wie 
eine Gewissheit meines eigenen Seins festhalte. Da- 
her sei mir ein Gott, der nur Unterlage sei, undenkbar. 
Die Einwendung berührte den wunden Fleck in der Spe- 
culation, der später Heilung fand. 

Ich notierte mir damals noch eine andere Bemerkung 
über das Verhältnis zu Gott, wie ich es verstand: „der 
Statsmann verhält sich zu Gott, wie ein reifer Sohn zum 
Vater. Er wird zunächst selbständig handeln und nur 
selten in der Not des Vaters Hilfe in Anspruch nehmen. 
Der Kirchenmann dagegen verhält sich eher wie ein minder- 



eap. 22.] Die Rohmeb'schb Psychologie. 281 

• 

jähriger Sohn, der in dem Haushalte des Vaters zurück- 
geblieben ist, oder wie eine Frau, die sich anlehnt/ 

Auch gegen den Wahlspruch Friedrich Rohmer's: 
„Ich lass* mich gehen" äusserte ich ihm meine Bedenken. 
Ich meinte, der Satz möge auf die Periode passen,* in wel- 
cher er lediglich mit der Findung der Wissenschaft be- 
schäftigt sei; ich begriff, dass er da der eigenen Natur 
folgen musste. Aber für die politische Praxis sei der Satz 
nicht anwendbar, denn die Ereignisse und die Menschen 
warten da nicht auf die persönliche Stimmung. Zwar gab 
Fritz das gelegentlich zu; aber seine Natur war stärker 
als sein Vorsatz und trieb ihn doch immer wieder dazu, 
sich gehen zu lassen. Alle Vemunftgründe und alle Er- 
fahrungen halfen nichts dagegen. Er war eine exceptio- 
nelle Natur, die sich nicht bestimmen und nicht warnen 
liess, die aber gerade deshalb auch nicht fähig war, einen 
politischen Beruf zu erfüllen. Nur allmälich wurde mir 
das klar. 

Mit grossem Eifer und mit steigendem Interesse stu- 
dierte ich nun die Rohmer'sche Psychologie, in welche 
mich Theodor Rehmer im systematischen Zusammenhang 
theoretisch, Friedrich Rehmer durch einzelne, aus dem 
Leben gegriffene Beobachtungen und Bemerkungen eher 
practisch einführte. Das streng-logische und überaus reiche 
Systei^i der XVI Grundkräfte der menschlichen Seele, die 
auch in der Natur überhaupt wieder zu finden waren, im- 
ponierte mir durch seine organische Gliederung und den 
einheitlichen Zusammenhang. Die nähere Darstellung die- 
ser sechzehn seelischen Kräfte in dem Organismus des 
menschlichen Körpers war freilich noch sehr unvollkommen; 
sie war im Einzelnen wohl der näheren Ausführung, auch 



282 I>iK XVI Gbundkrafte [cap. 22* 

vielfaltig der Berichtigung noch bedürftig; aber im Grossen 
überzeugte mich die Betrachtung des Menschen doch von 
der Wahrheit der ganzen harmonischen Gruppierung. Selbst 
die äusserliche Anordnung und Einreihung der verschie- 
denen geistigen und gemütlichen Seelenkräfte machte mir 
den Eindruck eines symmetrischen Kunstwerks und mehr 
noch eines lebendigen Organismus. 

Dem Kopf kommen so acht Geisteskräfte, dem Leib 
acht Gemütskräfte zu. Diese wie jene unterscheiden sich 
je in vier äussere Kräfte, welche in den äusseren d. h. in 
den Sinnes-Organen des Körpers ihren Sitz haben, und in 
die entsprechenden vier inneren Kräfte, welche im Innern 
des Kopfes und Leibes wirken. Es ergeben sich so 

4 innere Geisteskräfte: Phantasie, Combination, Ge- 
dächtnis, Verstand, 

4 äussere Geisteskräfte: Aug, Ohr, Geruch, Sprache; 

4 innere Gemütskräfte: Sentimentalität, passive Sinn- 
lichkeit, Noblesse, active Sinnlichkeit, 

4 äussere Gemütskräfte: Brust, Extremitäten, Nabel, 
Geschlechtssinn.*) 



*) Anmerkung des Herausgebers. 

Zum Verständnis der hier in Frage kommenden psychologischen 
Verhältnisse, respective ihrer sprachlichen Bezeichnungen möge Folgen- 
des dienen. 

Phantasie und Gedächtnis sind im gewöhnlichen Sinn zu 
nehmen; unter Combination wird die Fassungskraft verstanden, unter 
Verstand die Denkkraft, aus welcher die Logik hervorgeht. Senti- 
mentalität ist das active, aber weiblich geartete Gefühl, welches 
Gefühle (Sentiments) erzeugt, schafft. Passive Sinnlichkeit be- 
zeichnet die passive Reizempfänglichkeit, die Afficirbarkeit, welche die 
äusseren Eindrücke nachgestaltend in sich auftiimmt. Noblesse ist 
das Gemüt im Unterschied vom Gefühl, das tiefere sittliche Empfindungs- 



Cap. 22.] DEB MENSCHLICHEN SeELE. 283 

Dazu kommt, und zwar ebenso wieder auf Seiten des 
Geistes, wie auf Seiten des Gemüts, der weitere Unter- 
schied zwischen männlich- und zwischen weiblich-ge- 
arteten Kräften. Es sind näraUch 

die männlichen Geisteskräfte: Gedächtnis — Geruch, 
Verstand — Sprache; 

die weiblichen Geisteskräfte: Combination — Ohr, 
Phantasie — Aug; 



vermögen, der passive männlich geartete Wille, die sittliche Wider- 
standskraft;. Active Sinnlichkeit bezeichnet die active männlich 
geartete Entschlusskraft, den sittlichen Willen angreifender Art. — 
Was sodann die äusseren Kräfte betrifft, so ist 

Aug im geistigen Sinn = Anschauungskraft: ihr Organ der 

Gesichtssinn. 
Ohr im geistigen Sinn = Au ffassungs kraft: ihr Organ der 

Ohrensinn. 
Geruch im geistigen Sinn = Spür kraft: ihr Organ der Nasen- 
sinn. 
Geschmack im geistigen Sinn = Sprachkraft: ihr Organ der 
Mnndsinn. 

Desgleichen 
Brust im seelischen Sinn = Gefühligkeit: ihr Organ der 

Ftihlsinn der Haut und speciell der Brüste. 
Extremität im seelischen Sinn = Leidenschaft (das sinnlich 
geartete Leidenschaftsvermogen, welches den empfangenen 
Reiz ausgestaltet in Begierde, den empfangenen Impuls 
umsetzt in Handlung): ihr Organ der Tast- und Greif- 
sinn der Extremitäten. 
Nabel im seelischen Sinn -= Ahnungsvermögen: Organ der 
sympathische Sinn des Bauches (der Eingeweide und 
des Nabels). 
Geschlechtssinn im seelischen Sinn = Thatkraft: Organ 
die physischen Zeugungs Werkzeuge. 



284 ^^^ ^Vf Gbündkbaftb [cap. 22. 

die männlichen Gemütskräfte: Noblesse — Nabel, 
act. Sinnlichkeit — Geschlechtssinn; 

die weiblichen Gemütskräfte: pass. Sinnlichkeit — 
Extremitäten, Sentimentalität — Brust. 

Endlich lässt jede der 4 Klassen in sich selbst wie- 
der den Gegensatz erkennen einer receptiven oder passiven 
und einer spontanen oder activen Thätigkeitsseite: Ge- 
dächtnis und Geruch, Combination und Ohr, Noblesse und 
Nabel, pass. Sinnlichkeit und Extremität sind passive, 
Verstand und Sprache, Phantasie und Aug, act. Sinnlich- 
keit und Geschlechtssinn, Sentimentalität und Brust sind 
active Kräfte. 

Was mir hier vor Allem einleuchtete, war der Pa- 
rallelismus der Leibes- und Gemütssinne mit den Kopfes- 
und Geistessinnen. Jene entsprachen so genau diesen, dass 
je wieder die eine Hälfte in zweifach gegliederten, die an- 
dere Hälfte in einfach gegliederten Organen körperlich sich 
darstellte. Denn es heben sich am Körper, äusserlich be- 
trachtet, Augen und Ohren — Brüste und Extremitäten 
als Doppelorgane, Mund und Nase — Geschlechtsteil und 
Nabel als einfache Organe ab. Die herkömmliche Theorie 
hatte meistens nur vier bis fünf Sinne gekannt; es war 
aber offenbar richtiger, die dunkleren, aber wirksamen 
Sinne des Leibes zu vervollständigen. 

Ebenso richtig schien mir die Unterscheidung der 
männlichen oder höheren Geistes- und Gemütskräfte von 
den weiblichen oder niederen; desgleichen der in jeder 
der beiden Gruppen sich wiederholende Gegensatz von pas- 
siven und activen Potenzen; endlich die fortwährende 
Gegenüberstellung der inneren und der äusseren Kräfte, 
überall kehrte so das Verhältnis von Unterlage und Eigen- 



cap. 22.] 



DEB MENSCHLICHEN SeELE. 



285 



Schaft wieder; in mannigfacher Weise standen sich die 
Kräfte, die einen unterläglich, die anderen eigenschaftlich 
gegenüber, alle in vollkommener harmonischer Ordnung der 
Glieder zum Ganzen. So kam folgendes Grundschema der 
XVI Kräfte zu stände: 



Männliche 




Pass. 
Sinnlich- 
keit 



Sentimen- 
talität 

Weibliche 




Männliche 



286 ^'^ Bewegung derselben und die Altersstufen. [cap. 22. 

Die Bewegung des Lebens und demgemäss die 
Altersentwickelung beruhten nun darauf, dass eine 
der sechszehn Grundkräfte nach der andern, in geordneter 
Reihenfolge und in geregeltem Wechsel von Geistes- und 
Gemütseigenschaften, gleichsam sich an die Spitze stellte 
und die Führung übernahm. So ergab sich folgende Auf- 
einanderfolge der Kräfte: 

^^ ^"S . ) Kindheit. 

2) Phantasie { t o x. 

' . ,., / Iniantia et 

3) Sentmientalität l 

' _ 1 pueritia. 

4) Brust ' ^ 

5) Geschlechtssinn j 

6) Active Sinnlichkeit f Jugend. 

7) Verstand ( Adolescentia. 

8) Sprache ' 

9) Geruch | 

10) Gedächtnis i Gereiftes Alter. 

11) Noblesse ( Juventus. 

12) Ahnung ' 

13) Extremitäten ] 

14) Passive Sinnlichkeit ( Höheres Alter. 

15) Combination ( Senectus. 

16) Gehör ' 

Diese Anordnung erhielt später nur noch die Be- 
richtigung, dass bei den Gemütskräften der unterläglichen 
Kraft, der auf das Innere gewendeten Natur derselben 
gemäss, der Vorzug vor der nach Aussen gerichteten ge- 
geben wurde, anders als bei den Geisteskräften. Daher 
wurden die Organe 3 — 6 und ebenso 11 — 14 dann so um- 
gestellt: 



cap. 22.] Die Urliste. 287 

3) Brust 11) Ahnung 

4) Sentimentalität 12) Noblesse 

5) Active Sinnlichkeit 13) Passive Sinnlichkeit 

6) Geschlechtssinn 14) Extremitäten. 
Endlich stellte die sogenannte „Urliste*', welche 1841 

gedruckt wurde, die verschiedenen individuellen Pre- 
mierungen in derselben Weise nach organischen Typen 
dar. Sie ging von der Annahme aus, dass zwar jeder 
Mensch als Mensch die XVI Seelenkräfte in der normalen 
Ordnung in seinem Körper trage, dass aber in jedem Men- 
schen ein von dieser körperlichen Seele verschiedener In- 
dividualgeist wohne und lebe. Diesem eignen nun 
zwar im Allgemeinen dieselben Kräfte, welche in dem 
menschlichen Gattungswesen ausgesprochen sind. Aber 
die Individualgeister sind sehr verschiedenartig orga- 
nisiert, je nachdem sie mehr oder weniger vollständig, 
mehr oder weniger harmonisch begabt sind und den Cha- 
rakter einer bestimmten Geistes- oder Gemütsart in sich 
tragen. Wie es hiemach Geistes- und Gemütsmenschen 
gab, so gab es auch Phantasiemenschen, Combinationsmen- 
schen, Verstandesmenschen, Ahnungsmenschen u. s. f., je 
nach dem entscheidenden Kern ihrer individuellen Geistes- 
art, d. h. je nachdem die allgemein-menschliche, in Allen 
identische seelische Unterlage individuell geprägt 
oder ausgeprägt, geeigenschaftet war. 

Auf diesen psychologischen Grundlagen nun, die bis 
in's Einzelne und Feine durchgedacht und besprochen wur- 
den, beruhte die Erklärung der politischen Parteien 
aus den Altersstufen und aus den verschiedenen Grund- 
kräften, welche die mancherlei Menschen bestimmen. 

Der Radikalismus wurde so mit der Altersstufe 



288 Die Lehbe von den vier [cap. 22. 

der Kindheit und des Knabenalters verglichen, weil in 
ihm dieselben im Grunde eher weiblichen als männlichen 
Seelenkräfte leitend und bestimmend hervortreten, welche 
die erste Lebensperiode bestimmen: das Auge, die Phan- 
tasie, die Sentimentalität und die Brust. 

Der Liberalismus wurde aus der bewussteren und 
gehobeneren Periode des jungenMannes erklärt, weil in 
ihm die jugendlichen männlichen Kräfte, Geschlechtssinn, 
active Sinnlichkeit (Mut), Verstand, Sprache die gei- 
stige Leitung übernehmen und den Charakter bestimmen. 

Der Conservatismus trug ebenso die Züge des 
reiferen Mannes an sich, der auszubilden und treu zu be- 
wahren versteht, was der Jüngling errungen und geschaffen 
hat. In den Conservativen von echtem Schrot und Korn 
zeigt sich jene durchdringende Fähigkeit des Spür- und 
Scharfsinns, der auch die verborgenen Verhältnisse richtig 
ergründet, von der Psychologie Geruch genannt, ebenso 
das Vermögen, die Dinge zu merken und im Gedächtnis 
festzuhalten, weiter die rücksichtsvolle, edle Noblesse und 
die tiefe Ahnung, welche unter den männlichen Gemüts- 
kräften dieselbe Stellung einnimmt, wie der Geruch unter 
den männlichen Geisteskräften. 

Endlich der Absolutismus zeigte die Herrschaft der 
Grundkräfte, welche in dem höheren Lebensalter hervor- 
treten und den alten Mann charakterisieren, den Wechsel 
zwischen einem nach Aussen leidenschaftlich um sich gi'ei- 
f enden Sinnesleben, den Extremitäten, und der jedem 
Eindruck nachgiebigen passiven Sinnlichkeit, wie zwi- 
schen berechnender Schlauheit der Combination und der 
feinen Gewandtheit in den Formen, welche als Gehör be- 
zeichnet wurde. 



cap. 22.] POLITISCHEN Pabtbien. 289 

Diese Parteienlehre brachte eine völlige Umwälzung 
hervor in den herkömmlichen Anschauungen. Man hatte 
sich gewöhnt, die Radikalen als die „consequenten Li- 
beralen" zu betrachten, welchen die ideale Führung zu- 
komme, und die Liberalen als schwächliche Leute an- 
zusehen, die auf halbem Wege stehen bleiben und nicht 
mutig zum Ziele eilen. Die Radikalen rühmten sich, die 
„Ganzen Männer" zu sein, und behandelten die Liberalen 
geringschätzig als die „Halben". Nun drehte sich das Ver- 
hältnis gänzlich um. Das liberale Princip erhob sich als 
das höhere, fruchtbarere, bewusstere, männlichere; 
der Radikalismus erschien als unreif, kindlich, erfahrungs- 
los, knabenhaft. Die geistige Leitung kam nun den Li- 
beralen zu, die Radikalen wurden von der geträumten 
Höhe gestürzt, sie mussten der Führung der Liberalen 
folgen. 

Ebenso erging es dem entgegengesetzten Extreme der 
Absolutisten und Reactionäre, welche sich gebrüstet hatten, 
die durchgreifenden „energischen Conservativen" zu 
sein. Sie wurden nicht ohne Bedauern über die innere 
Schwäche und Haltlosigkeit ihres Princips auf die Seite ge- 
schoben. Die männlichen Conservativen gelangten zur 
Führerschaft und wurden inne, dass sie den echten Li- 
beralen viel näher stehen, als sie zuvor gedacht hatten. 

Zurückweisung der Extreme und Verbindung 
der Liberalen und Conservativen zu gemeinsamem 
Wirken, das galt nun als die wahre Politik, als die Lö- 
sung der Probleme, als die Befriedigung des Stats. Es 
wurde so das Princip der liberal-conservativen oder 
der conservativ-liberalen Politik proclamiert. 

Verglichen mit dieser principiellen Erkenntnis erschie- 

Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 29 



290 Leshral-consebvative Politik und Partei. [cap. 22. 

nen der Versuch Casimir Perier's in Paris 1830, eine 
,,Juste-Milieu** -Regierung herzustellen und mit ihr die Ex- 
treme niederzuhalten, ebenso wie mein Vorschlag in dem- 
selben Jahr, eine Partei der gemässigten Freisinnigen 
zu gründen, als schwache, unklare Vorläufer und Ahnungen 
des wahren Princips. Bedeutender war es, dass bald nach- 
her Sir Robert Peel in England und auch Guizot in 
Frankreich die liberal-conservative Politik als die ihrige 
proclamierten, freilich ohne psychologisch im Klaren zu 
sein über den Sinn und die Tragweite des Princips, mehr 
einem practischen Bedürfnisse und dem Instinkte folgend. 

In Zürich wurde nun eine bewusste liberal-con- 
servativß Partei gegründet, die sich allmälich über an- 
dere Cantone der Schweiz ausbreitete. Es war weder für 
die Partei noch für mich selber und meine nächsten Freunde 
ein Geheimnis, dass meine individuelle Natur nicht con- 
servativ, sondern liberal sei. Dennoch erkannte mich die 
Partei als einen ihrer Hauptführer willig an. 

Das schweizerische Grundgebrechen dieser Partei aber 
war, dass das liberale Element in ihr zu wenig vertreten 
war, und dass die gewünschte Scheidung innerhalb der 
liberal-radikalen Partei nur sehr wenig gelang. Die Hef- 
tigkeit des Kampfes verhinderte die Verständigung. Trotz 
dieser Mängel, und obwohl auch die liberal-conservative 
Presse und Partei manchen Fehler beging, fand dennoch 
in der Schweiz ihr Princip während mehrerer Jahre eine 
wachsende Anerkennung, und viele Ideen gingen später 
a.uch auf die liberal-radikale Partei über und wurden von 
dieser aufgenommen. 

Das neue psychologische Princip war das Werk eines 
deutschen Denkers. Es wurde aber gerade in Deutschland 



cap. 22.] Die Augsbubgeb Allgemeine Zeituno. 291 

nur wenig beachtet. Drohte in der Schweiz die Herrschaft 
des Radikalismus, so herrschte damals in Deutschland der 
Absolutismus ziemlich unangefochten. In der deutschen 
Nation freilich waren radikale und liberale Ideen in bunter 
Mischung, ohne scharfe Unterscheidung, bei den Gebildeten 
bekannt und beliebt; aber im deutschen Bunde herrschten 
Österreich und Preussen in alter absolutistischer Weise, 
und in den einzelnen Ländern hatten die Regierungen alle 
Statsgewalt im Besitz und verwalteten dieselbe wesentlich 
in derselben Richtung. Für ein freies politisches Partei- 
leben war kein Raum und wenig Verständnis. Die psycho- 
logische Betrachtung der Menschen und ihrer Verhältnisse 
war den Meisten völlig fremd. Die ganze philosophische 
Schulbildung bewegte sich in durchaus entgegengesetzter 
speculativer Richtung, und die historische Richtung zog 
eine kritische Prüfung geschriebener Quellen der intuitiven 
Erforschung des Lebens entschieden vor. Die Regierungen 
liebten die politische Wissenschaft überhaupt nicht und 
misstrauten ihr. Die Gelehrten hatten keine politische Er- 
fahrung. Das Publikum kümmerte sich Nichts um diese 
Dinge. 

Vielleicht wäre es doch gelungen, die deutsche Na- 
tion aufmerksam zu machen auf die merkwürdigen Vor- 
gänge in Zürich, wenn die Augsburger AUgemeine Zeitung, 
das wichtigste deutsche Organ der politischen Presse in 
jener Zeit, darüber mit Sorgfalt und Wohlwollen berichtet 
hätte. Aber auch da standen persönliche Verstimmungen 
störend im Wege. Theodor Rehmer hatte wohl früher 
Artikel für die Allgemeine Zeitung geschrieben. Aber der 
Hauptredacteur E»lb hatte sich mit Friedrich Rehmer 
entzweit. Die beiden Naturen waren antipathisch gestimmt. 

19* 



292 Persönlicher Hass. [cap. 23. 

Jener betrachtete diesen als einen höchst gefahrlichen Aben- 
teurer; dieser verachtete jenen als einen nichtigen, eher 
für Ästhetik als für Politik befähigten Literaten. Beide 
machten kein Hehl aus ihrer Feindschaft. Die Folge war, 
dass die Allgemeine Zeitung ihre Spalten eher dem Hasse 
der Feinde, als der Stimme der Freunde Rohmer's er- 
öflfhete. Auch meine Bemühungen, Frieden zu stiften, blie- 
ben erfolglos. Obwohl ich früher mit Dr. Kolb ganz gut 
gestanden war, wurde infolge dieser Zerwürfnisse auch 
unser Verhältnis kühler und gespannter. Die Allgemeine 
Zeitung wurde vorzugsweise von unseren Gegnern bear- 
beitet. 

Indem ich jetzt nach dreissig Jahren diese Kämpfe 
ruhig überschaue, ist mir klar, dass auch von unserer Seite 
Fehler gemacht worden sind, und dass insbesondere die 
leidenschaftliche Heftigkeit von Friedrich Rehmer schäd- 
lich gewirkt hat. 



23. 

Persönlicher Hass. Julius Fröbel. Georg Herwegh. Heirat Fried- 
rich Bohmer's. Die Angriffe des Republikaners auf Frau Böhmer. 
Meine Erwiderung. Processe und Strafen. Folgen des Scandals. 
Bücktritt der Böhmer von dem Beobachter. Mathilde in Stutt- 
gart. Meine Aufregung. Erholung auf der üfenau. Meine Frau. 
Geburt eines Sohnes Alfred Friedrich. Die Wahlen vom 1. Mai 

und ihre Folgen. 

Nur mit Widerwillen und ungern, nur so weit es 
unerlässlich ist, um die Pflicht der Aufrichtigkeit zu üben 
und die nötigen Aufschlüsse über meine damaligen Er- 
fahrungen zu geben, berichte ich über die persönlichen 
ärgerlichen Kämpfe jener Tage. Die Schweizer hielten 



cap. 23.] Julius Pböbbl. 293 

sich mehr zurück, die Deutschen traten in den Vorder- 
grund und bestritten sich auf Leben und Tod. 

Ganz besonders trug der Bruch Friedrich Rohmer's 
mit Professor Julius Fröbel, dem Eigentümer des littera- 
rischen Comptoirs, dazu bei, die persönlichen Leidenschaften 
in's Masslose zu steigern. Fröbel glaubte sich von Rehmer 
betrogen und hielt sich nun für berufen, „das unlautere 
Treiben desselben öffentlich zu entlarven." Als die Fahne 
des Radikalismus dem verwundeten Arme Ludw. SnelVs ent- 
sank, griff Fröbel sie auf und schwang sie, oft zum Schrecken 
der massigen Schweizer, nun mit principieller Entschieden- 
heit hoch in den Lüften. Er hatte unter dem Titel des 
„deutschen Boten*' ein doctrinäres Blatt herausgegeben, in 
welchem die radikalen Theorien mit Eifer gelehrt wur- 
den. Nun erwarb er für sich und seine Freunde während 
einiger Zeit die Leitung des schweizerischen Republikaners. 

In seinem späteren Leben hat Julius Fröbel noch man- 
che Wandlung durchgemacht. Als Mitglied der deutschen 
Nationalversammlung im Jahr 1848 gehörte er noch zu der 
radikalen Partei und entging mit Mühe dem Schicksal, das 
in Wien Robert Blum betraf, von der siegreichen Reaction 
als Aufrührer hingerichtet zu werden. Nach Amerika ge- 
flüchtet, reifte seine Lebenserfahrung. Eine Zeit lang kam 
er nach seiner Rückkehr als Grossdeutscher in nahe Be- 
ziehungen zu der österreichischen Regierung. Dann wurde 
er bayerischer Publicist. Zuletzt erhielt er eine Anstellung 
als Consul des deutschen Reiches, und schrieb ein beson- 
nenes Buch über Politik. Aus dem gährenden Moste ward 
so ein guter Wein. Damals aber in der Schweiz war er 
ein Fanatiker des doctrinären Radikalismus. 

Die grundsätzliche und sachliche Polemik wurde nun 



294 Gbobo Herwege. [cap. 23. 

ganz durch die persönlichen Angriffe verdrängt und ersetzt. 
Verdächtigungen, Beschimpfungen, Verläumdungen wurden 
massenhaft ausgestreut; der Klatsch schoss über Nacht in 
Dutzenden von schweizerischen und deutschen Journalen 
wie Pilze auf. Es war ein leidenschaftliches, gereiztes, 
wütendes Treiben. Eine einzige Probe mag genügen, um 
eine Vorstellung von der unerhörten Heftigkeit jener Kämpfe 
zu geben. 

Der deutsche Dichter Georg Herwegh, der als 
Flüchtling in Zürich lebte und mit Fröbel befreundet war, 
hatte auch die Bekanntschaft Friedrich Rohmer's gemacht 
und demselben im Sommer 1841 die „Gedichte eines Le- 
bendigen** mit folgender Widmung überreicht: 
Ich bin ein Geist, der stets verneint. 
Doch insgeheim mit dir vereint, 
Lass' mich in Fluss die starren Seelen bringen. 
Der neue Guss der Welt wird besser dir gelingen. 
Nun schrieb derselbe Herwegh im Winter 1842 in 
den Republikaner folgenden karikierenden Schmähartikel 
gegen Rehmer: 

„Da kam ein Deutscher hieher, abgegriffen wie 
eine alte Münze und durch aller Herren Hände ge- 
gangen, immer der Erste unter den Kötern, wenn es 
wo ein litterarisches Treibjagen gibt, von einem eigenen 
Haut-goüt, wie verlegenes Wildpret, und darum für 
manche Gaumen pikant, ursprünglich vielleicht ein gut- 
mütiger Schwindler, später, um uns des mildesten Aus- 
drucks zu bedienen, ein bewusster, berechnender Char- 
latan. — ** 

„Herr Fr. Rehmer ward in seiner tiefen Not er- 
hört und von Herrn Statsrat Bluntschli zum Handkuss 



cap. 23.] Heirat Fbiedbich Rohmeb's. 295 

zugelassen. Da Herr Fr. Rohmer bekanntlich jeden 
Kelch mit Ergebung in den Willen des Herrn trinkt, 
so waren die Septembermänner frivol genug, ihm noch 
ein anderes messianisches Talent zuzutrauen, das Ta- 
lent, Tote zum Leben zu erwecken." 
In diesem Pasquillantenstyl ging es fort. Die Par- 
teienlehre, deren Begi-iflfe nun von dem allgemeinen Be- 
wusstsein der Völker grösstenteils anerkannt sind, wurde 
eine „Gaunersprache" gescholten. Der Pöbel wurde ver- 
hetzt, und es kam nicht selten bis zu offenen Insulten auf 
der Strasse. Ich habe später noch einige Male in den 
Krisen der Revolution und des Krieges ähnliche Aufreg- 
ungen erlebt, aber keine heftigere als damals. Mehr als 
einmal wurden Steine nach Rohmer geworfen, wenn er 
mit seinen Freunden sich im Freien erholen wollte. Es 
erschienen Flugblätter, Karikaturen, Brochüren wider ihn. 
Trotz alledem schienen sich seine Verhältnisse zu 
consolidieren. Die Macht der Ideen und der Mut, mit dem 
er dieselben aussprach und verfocht, hatten ihm doch unter 
den Schweizern einzelne Gönner und Freunde gewonnen. 
Er konnte in Notfällen auf kräftige Unterstützung rechnen. 
Es waren wohlhabende und opferbereite Männer darunter. 
Auch ein süddeutscher Fürst stellte ihm grossmütig eine 
bedeutende Summe zur Verfügung. Durch meine Vermitt- 
lung schloss er mit der Beyerschen Buchhandlung einen 
Vertrag ab, welcher ihm für die Herausgabe seiner Wissen- 
schaft ein ansehnliches Honorar zusicherte. 

So wagte er es, seiner Braut, Mathilde Wolf, die 
ihm nach Zürich gefolgt war, die schon lange ersehnte 
Ehe anzubieten und einen eigenen Hausstand zu gründen. 
Am 7. März, meinem Geburts- und Hochzeitstage, fand 



296 Angbipf DBS Republikakebs auf Fbau Kohheb. [cap. 23. 

die Trauung statt. Auch Mathilde war eine ungewöhn- 
liche Natur, die ein tragisches Schicksal verfolgt hatte. 
Ihr vermeintlicher Vater, ein württemhergischer Officier, 
war schon lange tot. Die Mutter hatte ihre Erziehung 
vernachlässigt. Friedrich Rehmer, jünger als sie, hatte 
sie aus kläglichen Zuständen gerettet und die Mängel der 
Bildung zu ergänzen gesucht. Er liebte ihr Wesen, das 
dem seinigen innerlich verwandt war, tief und unerschüt- 
terlich. Sie war nicht schön, nicht geistreich, nicht form- 
gewandt; ihre Sprache war meistens schwerfallig, unbe- 
holfen: aber sie war eine bedeutende Frau. In einzelnen 
gehobenen Momenten belebte eine gemütliche Schönheit die 
voUen Züge ihres mächtigen Körpers, sie war voll Mut 
wie eine Löwin in der Gefahr und mit einem scharfen 
Blick in das Menschenleben begabt, dessen Schattenseiten 
sie nur zu sehr kennen gelernt hatte. Später bekannte 
ihre Mutter auf dem Totenbette, dass sie die natürliche 
Tochter eines süddeutschen Prinzen sei. Damals wusste 
das Niemand, aber die herrischen Neigungen ihrer Natur 
und die leichte sichere Manier, sich in grosse Verhältnisse 
hineinzudenken, fanden in ihrer Rasse eine psychologische 
Erklärung. 

Die nun gesicherte Stellung einer Ehefrau schien ihr 
die Seelenruhe zu gewähren, nach welcher sie sich seit 
Jahren so sehr gesehnt hatte. Vor der Heiligkeit der 
Ehe mussten die trüben Erinnerungen an eine unglückliche 
Jugend wie die Erinnyen vor dem geweihten Asyle zurück- 
weichen und verstummen. 

Diese Erwartung wurde entsetzlich getäuscht. Der 
persönliche Hass und die blinde Parteileidenschaft durch- 
brachen diese Schranken. Da Friedrich Rehmer in dem 



X 



cap. 23.] Meine Erwideruno. 297 

Kampfe der Meinungen von den publicistischen Talenten 
der Radikalen nicht besiegt werden konnte, so sollte er 
in seiner Liebe tötlich verwundet werden. In die Männer- 
schlaeht wurde die Frau an den Haaren herbeigezerrt. Mit 
veraltetem Scandal sollte das ehrbare Zürich aufgeschreckt 
werden. In Stuttgart wurden die Polizeiacten der früheren 
Jahre durchstöbert und in geschäftigster Weise, mit Ver- 
letzung der Amtspflicht wie jedes Anstandes, Auszüge im 
schweizerischen Republikaner veröffentlicht» Das geschah 
unmittelbar vor den Wahlen. Mit solchen Mordklöpfen 
sollten die Reihen der liberal-conservativen Wähler ge- 
schreckt und zersprengt werden. 

Die Wirkung dieses Schlags war furchtbar. Die 
öffentliche Meinung empfand denselben- wie eine tiefe Er- 
schütterung, auf welche sie in keiner Weise gefasst war. 
Nur langsam erholte sie sich von der Betäubung. Es 
blieb aber ein Stachel in der Wunde zurück. 

Ich erUess damals eine geharnischte Erklärung gegen 
diesen „Friedensbruch an der Ehe und gegen den ruch- 
losen Angriff auf das Familienleben.'* Es hiess darin: 
„Viele unter Euch kennen mein Familienleben, die einen 
näher, die anderen femer. Getrosten Mutes berufe ich 
mich auf Euch; ich darf Euer Zeugnis nicht fürchten. Und 
nun sage ich euch: Ich bin nicht sicher in meiner Ehe vor 
den Giftpfeilen der radikalen Presse. Meine Frau ist nicht 
sicher. Wer von euch Allen ist noch sicher? Welche von 
euren Frauen darf sich gesichert fühlen? Mitbürger, seid 
ihr gesonnen, solche Angriffe zu dulden?" 

Eine Anzahl ehrbarer Bürger ermannte sich. Sie 
sprachen ihre Entrüstung öffentlich mit Namensunterschrift 
aus. Auch' die Gerichte wurden um Schutz angerufen. Eine 



298 Rücktritt der Rohheb vom Beobachter. [cap. 23. 

Reihe Beschimpfungs- und Verläumdungsklagen wurden an- 
hängig gemacht. Bis in den Herbst hinein verzog sich die 
Verhandlung der ersten Instanz. Auch ich stellte eine 
Klage an und vertrat dieselbe persönlich an dem Bezirks- 
gerichte mit Erfolg. Im Januar 1843 wurde das letzt- 
instanzielle Urteil durch das Obergericht gesprochen. Die 
Publicisten des Republikaners, die Brüder Fröbel, Herwegh, 
Folien und der vormalige Statsanwalt Ulrich wurden teils 
wegen Verleumdung, teils wegen Beschimpfung verurteilt; 
aber auch Friedrich und Theodor Rohmer entgingen der 
Bestrafung nicht, jener, weil er den Verfasser eines Schmäh- 
ai*tikels einen „Schurken" genannt, dieser, weil er in einer 
Brochtire gegen J. Fröbel die Ehre desselben in unerlaub- 
ter Weise angegriffen hätte. Soweit das Gericht blosse 
Beschimpfung annahm, strafte es mit Geldbusse, die Ver- 
leumdung dagegen wurde mit Gefängnis bestraft. 

Auf die persönlichen Verhältnisse wirkte der Scandal 
in seinen Folgen sehr schädlich ein. Für Frau Rohmer 
war der fernere Aufenthalt iu Zürich unerträglich gewor- 
den. Sie kehrte vorläufig in ihre Heimat nach Stuttgart 
zurück und fand später in München wieder eine gesicherte 
Familie. Damit war auch für Friedrich Rohmer die Nieder- 
lassung in Zürich unmöglich geworden. Durch ein offenes 
Sendschreiben an die Partei kündigte er zu Anfang Juni 
seinen und seiner näheren deutschen Freunde Rücktritt 
an von der Redaction des Beobachters und von der Teil- 
nahme an den schweizerischen Parteikämpfen. Die ideale 
Aufgabe seines Wirkens war vollzogen, und die Ideen 
konnten nun fortwirken. 

Die gesellschaftlichen Beziehungen wurden durch diese 
persönlichen Schmähungen und Verwickelungen noch schwie- 



\ 



cap. 23.] Meine Aufbegung. 299 

riger gemacht, als. sie vorher schon waren. Nur mit we- 
nigen treuen Freunden wurde der Umgang ungestört fort- 
gesetzt. Es kam sogar innerhalb des engsten Rohiiier*- 
schen Kreises zu einer Spaltung. Orelli und Widmann 
trennten sich von Friedrich Rehmer und gingen ihre eige- 
nen Wege. War es die natürliche Lebensaufgabe der Frau 
eines so bedeutenden und seltsamen Mannes, ihm Ruhe zu 
verschaffen, die Freunde zusammenzuhalten, die Gegner zu 
massigen und zu versöhnen, so war es der Frau Rehmer, ob- 
wohl sie es zuweilen versuchte, nicht möglich, diese Aufgabe 
zu erfüllen. Sowohl ihr Schicksal als ihre Eigenart reizten 
zum Gegenteil. Es war das ein tragisches Verhängnis auch 
für Friedrich Rehmer. Es wurde seinem zarten Körper eine 
Last aufgebürdet, die ihn trotz aller Energie seines Geistes 
dennoch nicht zu freier Bewegung und wirksamer Entfal- 
tung seiner Kräfte im äusseren Leben kommen liess. 

Obwohl ich von Natur starke Nerven besass, so wurde 
doch in dieser Zeit, wo von allen Seiten her Freunde, Ver- 
wandte und Feinde auf mich einstürmten, auch mein Ner- 
vensystem erschüttert. Es ist auch für einen kräftigen 
Mann ein peinliches Gefühl, ganz allein zu stehen 
gegen alle Welt, von fast Allen verkannt, von fast 
Niemandem verstanden und unterstützt zu werden. Auch 
meine Nerven wurden zuletzt so gereizt, dass eine leise 
Anspielung und eine wohlmeinende Warnung mich zu wil- 
dem Zorne reizten. Eine tiefe Verachtung der Menschen, 
die mir geistig beschränkt und gemütlich feige vorkamen, 
bemächtigte sich meiner. Ich wies sie von mir. Ich war 
krank und fürchtete ein Nervenfieber. In diesem Zustande 
erfuhr ich die Güte meiner körperlichen Natur. Ich ent- 
schloss mich, rasch Zürich zu verlassen und in der schö- 



300 Erholung auf der üfbnau. [cap. 23. 

nen Gebirgsnatur Heilung zu suchen. Ich fuhr auf die 
Insel Ufenau im oberen Zürichersee, wo einst Ulrich von 
Hütten die bleibende Ruhe gefunden hatte nach seinem 
unstäten, abenteueriichen Leben. Da sah ich Niemanden, 
der mich ärgerte, und genoss mit vollen Zügen die Schön- 
heit der Natur. Ich legte mich in's Gras und schaute 
über den Spiegel des Sees zu dem Hochgebirge hin und 
aufwärts in den blauen Äther. Wie ein Kind spielte ich, 
in einem Kahne schwimmend. Ich fing Muscheln mit einem 
Grashalm, den ich in die geöffnete Schale steckte. Dann 
klappte die Muschel zu und klemmte den Halm fest, an 
dem ich sie aus dem Wasser emporzog. Am zweiten Tage 
schon war ich vollständig geheilt. Meine Nerven hatten 
die normale Stimmung wieder gewonnen. Erfrischt und 
gesund kehrte ich, von meiner Frau abgeholt, in die Stadt 
zurück. 

Während der raschen Genesung auf der schönen Insel 
erging sich meine Phantasie in dem Plane einer Hutten- 
stiftung, zu deren Ausführung mir freilich die Kräfte 
fehlten. Ich dachte mir, die Insel würde dem Kloster Ein- 
siedeln, dem sie gehörte, abgekauft und zur Grundlage 
und zum Wohnsitze für die Stiftung gemacht. Es soUten 
Xn bis XVI Stiftsherren hier ein Asyl finden von den 
Mühen und Leiden des politischen Lebens. Verdiente, aber 
auch verkannte und verfolgte Veteranen sollten hier eine 
Pfründe erhalten. Die einen mochten dann in dem neuen 
Genossenhause beisammen wohnen, die anderen auswärts 
bei ihren Familien. Aber alle sollten jährlich sich ver- 
sammeln und die Verpflichtung haben, das Amt von Schieds- 
richtern zu übernehmen und auf Befragen ihren Rat als 
Gutachten zu geben. Die Insel liess sich vergrössem, ver- 



cap. 23.] Meine Fraf. 301 

1 

schönem, ausbauen. Es war eine ehrenvolle Friedens- 
und Ruhestätte für die Statsmänner, deren Wirksamkeit 
im öffentlichen Leben zu Ende war. 

Wer weiss, ob nicht in der Folge ein reicher und 
humaner Mann den Gedanken ausführen wird, der mich 
damals wie ein kurzlebiger, in der Sonne glänzender 
Schmetterling erfreute, aber rasch wegflog und verschwand? 

Es war für mich ein grosses Glück und ein Segen, 
dass ich allezeit meiner Frau sicher war und daher in der 
eigenen Familie immer den Frieden wiederfand, der ausser- 
halb derselben durch leidenschaftliche Kämpfe gestört war. 
Auch meine Frau hatte manche Zweifel und Bedenken; es 
war ihr Manches unverständlich und unbehaglich in meiner 
Verbindung mit den Rehmer. Aber sie ging doch den 
Dingen mit dem Instinkte einer tieferen Natur auf den 
Grund, und was sie einmal als wahr und gerecht erkannt 
hatte, das hielt sie fest, unbekümmert um allen Schein und 
alle Vorurteile. Sie hatte erlebt, dass ihr die Rohmer'sche 
Psychologie auch über ihre eigene Natur und ihr Verhält- 
nis zu mir befriedigende Aufschlüsse gegeben. Sie hatte 
erfahren, dass ich sie besser als früher zu erkennen und 
zu würdigen wisse. Sie war dankbar für diese geistige 
Erleuchtung. Ohne zu wanken, hielt sie treu und fest zu 
mir mitten in der wilden Hetzjagd, auf jede Gefahr hin, 
und ohne vor irgend einem Opfer zu erschrecken. Als 
nächste Freunde und Verwandte zu zweifeln begannen, 
fand ich bei ihr die Ruhe, deren ich bedurfte. Dieser ge- 
mütliche Hausfrieden und der gute Schlaf, in dem sich der 
müde Körper in jeder Nacht wieder von der Aufregung des 
Tages erholte, machten mir es möglich, den Geist frisch und 
den Körper gesund zu erhalten trotz aller Anfechtungen.. 



302 Geburt eines Sohnes. — Die Wahlen [cap. 23. 

In diesem leidenschaftlich erregten Jahre hatte mir 
meine Frau wieder einen Knaben geboren, Alfred Fried- 
rich (29. Januar). Frühe schon zeigte sich seine unge- 
wöhnliche künstlerische Begabung. Er fand später die 
Befriedigung seines idealen Strebens in dem glücklichen 
Berufe eines Architekten. 

Am 1. Mai 1842 fanden die entscheidenden Wahlen 
zum Grossen Rate statt. Die beiden Hauptparteien waren 
in der neu gewählten Behörde in fast gleicher Zahl ver- 
treten. Keine von beiden war des Sieges sicher. Ein 
paar schwankende Stimmen in der Mitte gaben Jen Aus- 
schlag bei den Abstimmungen des gesetzgebenden Körpers. 
Dem Canton Zürich war eine neue radikale Umwälzung 
erspart, das bestehende Regiment war aber auch nicht be- 
festigt worden. Nur die äussersten Extreme hatten keine 
Aussicht mehr, die mittleren und gemässigteren Elemente 
fortzureissen. 

Von radikalen Häuptern waren F. L. Keller und 
M. Hirzel wieder gewählt worden. Aber Keller lehnte 
die Wahl ab. Er wollte sich nicht mehr an der schwei- 
zerischen Politik beteiligen und bereitete sich vor, nach 
Preussen überzugehen. Savigny, damals Minister unter 
König Friedrich Wilhelm IV., fragte mich vertraulich über 
meine Meinung an. Er hatte keine wissenschaftlichen, wohl 
aber Bedenken über den Privatcharakter. Ohne dieselben 
völlig zu bestreiten, suchte ich doch ihr Gewicht zu ver- 
mindern und empfahl nur einige Vorsicht in politischer 
Hinsicht. Das war freilich, wie die Folge zeigte, nicht 
nötig. Keller wurde nach Halle und bald darauf nach 
Berlin berufen als Professor des römischen Rechts. In 
Preussen hielt er sich von den Liberalen fem. Er trat 



cap. 23.] VOM 1. Mai und ihbb Folgen. 303 

nun für die Regierungspolitik ein und stellte selbst dem 
absolutistischen Ministerium seine Erfahrungen und seine 
Talente zur Verfügung. M. Hirzel aber überlebte die neue 
Wendung der Dinge nur noch kurze Zeit. Er starb 1843. 

Die Leitung der liberal -radikalen Partei ging vor- 
nehmlich auf Dr. Furrer und Alt-Regierungsrat Weiss 
über, zwei Männer, welche keineswegs geneigt waren, ex- 
treme Doctrinen zu verwirklichen. Mit Furrer stand ich 
persönlich, wenn auch nicht auf vertrautem Fusse, so doch 
in guter Beziehung. Die Parteistellung und auch manche 
Ansichten waren wohl verschieden, aber die Achtung war 
wechselseitig. Als Juristen und als Freimaurer verstän- 
digten wir uns über Manches. 

Bald gelang es, im Grossen Rate das Gewicht der 
liberal-conservativen Partei zu verstärken. Nach und nach 
bildete sich doch eine schwache, aber stätige und wachsende 
Mehrheit, welche unserer Leitung sich vertraute. 

Der heftigen Spannung vor den Wahlen folgte eine 
sichtbare Ermattung. Es war wieder ein normaler Rechts- 
zustand gewonnen. Es hatte den Anschein, dass nun doch 
schliesslich eine Verbindung der liberalen und der conser- 
vativen Elemente sich vorbereite. Dann konnte, ohne Be- 
sorgnis vor Revolution und Überstürzung, ein besonnener 
Fortschritt eingeleitet und die nötige Reform durchgeführt 
werden. Das war der Grundgedanke und die Hoffnung 
meiner damaligen Politik. 



304 Psychologische Studien. [cap. 24. 

24. 

Psychologische Studien. Die Qeschichte der Völker und der 
Menschheit. Radikale Anfönge des modernen liberalen Welt- 
alters der Sprache. Die Altersstufen in dem Zeitalter der Re- 
volution. Die Entwickelung der deutschen Nation nach der fran- 
zösischen. Hoffnungen auf Auferstehung des deutschen Reiches. 
Natur Ton Friedrich Rehmer. Anfänge der Selbstbiographie. 
Meine Findung der XYI Grundorgane des Statskörpers. Stats- 
wissenschaftliche Studien. Die Herausgabe derselben. Wenig 

Verständnis der gelehrten Kreise. 

Die politischen Kämpfe hinderten nicht meine Studien 
der Psychologie, denen ich mich mit grosser Lust und Be- 
friedigung widmete. Diese Wissenschaft war zwar in den 
Hauptzügen durch die Urliste festgestellt; aber es fehlte 
noch eine jede nähere Darstellung und Erklärung. Über- 
dem waren ihre Anwendungen auf das Leben und die Ge- 
schichte grösstenteils noch unsicher und in den ersten An- 
fangen begriffen. Diese Anwendung war die Probe ihrer 
Wahrheit und Fruchtbarkeit. 

Das Verständnis der sechszehn Grundkräfte war mir 
verhältnismässig rasch aufgegangen. Auch die Alters- 
entwickelung war mir im Grossen sofort klar geworden. 
Schwieriger wurde es, die Bedeutung der individuellen 
Premierungen zu verstehen, wie sie in der Urliste ver- 
zeichnet waren. Manches wurde mir im Gespräch mit 
den Freunden klar, manchen Aufschluss fand ich selbst. 
Der Charakter und Geist nicht bloss der verschiedenen 
Parteien, auch der Völker und teils geschichtlicher Mäuner 
von hoher Bedeutung, teils der mitlebenden Bekannten 
wurde nach dem Massstabe der Rohmer'schen Psychologie 
zu bestimmen gesucht. Nicht selten waren die Ergebnisse 



cap. 24.] Die Geschichte deb Völkeb. 305 

solcher Prüfung von überraschender Klarheit. Daneben 
blieb aber Vieles noch dunkel und unsicher. Erst eine 
längere Übung und erst die von der Zukunft erwartete 
Durchbildung der Lehre konnten das Urteil schärfer und 
zuversichtlicher machen. 

Die Geschichte grosser Völker wurde ferner erwogen 
und nach der psychologischen Altersentwickelung bemessen. 
Der alte Florus hatte schon die römische Geschichte ganz 
ahnlich betrachtet und ein Zeitalter der Kindheit, dann 
eines des Jünglingslebens, später eines des gereiften Man- 
nes und endlich des hohen Alters unterschieden. Wenn 
er recht gesehen hatte, so war das eine wichtige Bestä- 
tigung der ganzen psychologischen Grundansicht. In der 
That schien die römische Geschichte vorzüglich geeignet, 
den Charakter der Altersstufen deutlich darzustellen. 

Ebenso wurden auch die französische, die englische 
und die deutsche Geschichte im Grossen betrachtet und 
die Aufeinanderfolge der sechzehn Grundkräfte damit ver- 
glichen. Die Gefahr, dass hier ebenso willkürlich die That- 
sachen durch psychologische Vorurteile und Fictionen ent- 
stellt werden, wie in der Hegerschen Betrachtungsweise 
der Geschichte das wirkliche Leben durch die Bewegung 
des dialektischen Gesetzes missdeutet wurde, blieb uns 
nicht verborgen. Aber das war doch sicher, dass das 
psychologische Gesetz der wechselnden Seelenkräfte un- 
endlich viel reicher und lebensvoller war, als das dia- 
lektische Gesetz der Hegerschen Logik. Und wenn auch 
noch dichte Scharen des Zweifels umherschwirrten, so hatte 
die Psychologie doch die Kraft, sehr Vieles zu erklären 
und zu beleuchten, was ohne sie dunkel war. 

Am meisten beschäftigte uns aber die Betrachtung 

Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 20 



306 ^^B Gbbchichte deb Menschheit. [cap 24. 

der Weltgeschichte, Diese Frage hatte auch eine emi- 
nent practische Seite. Die Erkenntnis der Zeit, in der die 
Menschheit lebt, ist ja die Grundbedingung jeder tieferen 
Einsicht in ihr Streben und in ihre Entwickelung. 

Seit Jahren hatte Friedrich Eohmer viel darüber 
nachgedacht. Aber er war noch nicht zu einem Abschluss 
gekommen, der ihn beruhigte. Als ich mit seiner Psycho- 
logie bekannt wurde, galten einige Sätze als fest, vor allem 
der, dass die Menschheit eine Gesamtentwickelung habe, 
wie der einzelne Mensch, dass auch die Menschheit die- 
selben Altersstufen im Grossen durchzumachen habe, wie 
der Einzelnmensch im Kleinen. Die Kindheitsperiode wurde 
in den Orient nach Asien und in das Niltal (Ägypten) 
verlegt. Die männliche Jugendzeit (adolescentia) begann 
mit den Griechen und Römern und entfaltete ihre höheren 
Geisteskräfte vorzüglich in dem europäischen Statenieben. 

Diese Ansichten waren für mich nicht neu. Ich war 
schon zuvor geneigt, die Menschheit, wie die einzelnen 
Völker, als eine Gesamtperson zu betrachten, und nahm 
daher keinen Anstoss an der Behauptung, dass sie dem 
Gesetze der Altersentwickelung sich nicht entziehen könne. 
Aber neu war die genauere Zeitbestimmung der einzelnen 
Weltalter, welche, je durch das Vortreten Einer der XVI 
bestimmt, auf je 800 Jahre angenommen wurden. Neu 
war mir femer die scharfe Aufeinanderfolge der XVI 
Grundkräfte, welche innerhalb eines jeden der 16 Welt- 
alter aufs Neue durchlaufen werden sollten, und zwar so, 
dass jede eine Periode von 50 Jahren in Anspruch nahm. 
Und noch auffallender schien es, dass innerhalb jeder Pe- 
riode dieselbe Reihenfolge sich im Kleinen wiederholen 
solle, wie sie innerhalb eines jeden Weltalters sich im 



cap. 24.] Das MODEBini Weltalteb deb Spbachkbaft. 307 

Grossen wiederholt hatte, so dass dann je in Zeitphasen 
von etwas über 3 Jahren das psychologische Rad sich 
wieder drehte. 

Nur die Erfahrung konnte die Richtigkeit oder den 
Irrtum der ganzen Lehre zeigen; aber dazu waren viele 
und unbefangene Studien nicht zu entbehren. In solcher 
Absicht der Prüfung wurden nun die chronologischen Ta- 
bellen der Weltgeschichte fleissig durchgesehen und an 
den psychologischen Begriffen geprüft. Es war das eine 
äusserst interessante Beschäftigung des Geistes. Wiederum 
wurden fruchtbare Wahrheiten erkannt, aber auch manche 
Zweifel blieben unerledigt. 

Ich bezweifelte nicht die tröstliche Wahrheit, dass die 
Menschheit noch in der aufsteigenden Linie ihres Lebens 
begriffen, dass ihr Geist noch ein jugendlich aufstrebender 
sei. Auch liess ich mich ohne Widerstreben bereden, dass 
das moderne Weltalter von der höchsten männlichen Geistes- 
kraft, der Sprache, bestimmt w^erde. Die bewusste mo- 
derne Statenbildung schien mir dafür ein unwiderlegliches 
Zeugnis zu geben. Ebenso war mir klar, dass dieses 
höchste Weltalter der Weltgeschichte noch in den ersten 
Versuchen und Experimenten, noch in seiner radikalen 
Entwickelungsperiode begriffen sei und erst viel später 
die Höhe erreichen werde, nach der die Menschheit hin- 
strebt. 

Aber es war doch zweifelhaft, von wann an die neue 
Zeit beginne, wo der Wendepunkt zu suchen sei, in wel- 
chem sich das Mittelalter und die moderne Welt scheiden. 
Eine Zeit lang hatte auch Friedrich Rehmer die in 
Deutschland verbreitete Meinung geteilt, dass die Refor- 
mation des sechzehnten Jahrhundeiiis den Anfang der 

20* 



308 ^^^ Zeitpunkt seines Beginns. [cap. 24. 

Neuzeit bilde. Er hatte aber damals bereits diese Mei- 
nung als irrig aufgegeben. Je mehr ich den politischen 
Charakter und die Ideen der Zeit überdachte, um so klarer 
wurde mir der absolutistische Grundzug, welcher schon die 
zweite Hälfte des sechzehnten und das ganze siebenzehnte 
Jahrhundert kennzeichnet. Ich erkannte darin die Alters- 
periode des untergehenden Mittelalters, nicht den kind- 
lichen Aufschwung des modernen Weltalters. 

Aber Friedrich Rehmer war damals noch geneigt, 
den Anfang der neuen Zeit mit der französischen Re- 
volution zu datieren. Das war die von Frankreich her in 
der Welt verbreitete Meinung. Gewiss trug das Zeitalter 
der Revolution alle Züge der Neuzeit deutlich an sich. Aber 
es war doch ein Irrtum, den Anfang etwa mit dem Jahr 
1789 zu beginnen. Auch der Stat und die Ideen Fried- 
richs des Grossen waren durchaus modern. Auch die 
Gründung der nordamerikanischen Union war eine mo- 
derne Statenbildung. Die Gedanken der Weltlitteratur in 
der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts waren 
modern. Das ganze Zeitalter der Aufklärung war modern. 
So kam auch Friedrich Rehmer schliesslich dazu, den 
Beginn der Neuzeit im Jahr 1740 festzustellen. Es ge- 
schah das freilich nicht mehr im Jahr 1842, sondern erst 
1845. Auch andere Forscher, wie insbesondere Buckle, 
sind später selbständig zu demselben Resultate gekommen. 
War diese Zeitbestimmung und zugleich die Annahme 
der fünfzigjährigen Zeitalter richtig, dann war die Periode 
von 1740 — 1790, innerhalb der männlichen liberalen Neuzeit 
die erste noch radikale Entwickelungsstufe, in welcher die 
speculative weibliche Geisteskraft des Auges dominierte, 
in der That die Zeit der Aufklärung. Das zweite Zeitalter 



cap. 24.] Seine radikalen Anfange. 309 

der Phantasie war dann ebenfalls bereits abgespielt. Es 
war von 1790 — 1840 zu rechnen. Wir waren nun in die 
Anfange des dritten Zeitalters eingetreten, in welchem nicht 
mehr der radikale Geist, wohl aber die radikale Gemüts- 
kraft der Sentimentalität, wie man damals wenigstens 
annahm, die Führung hatte. Es ergab sich daraus die An- 
nahme, dass in unserm Zeitalter die religiösen Strömungen 
mächtiger werden, als in dem geistiger bewegten Jahr- 
hundert vorher. 

Alle diese Betrachtungen sprachen für die Wahrheit 
der psychologischen Begriffe. Aber noch mehr frappierte 
mich die offenbare Harmonie der geschichtlichen Entwicke- 
lung innerhalb des Zeitalters der Revolution, das uns am 
besten bekannt war, mit der Aufeinanderfolge der Alters- 
stufen. 

Ist der Charakter des Weltalters geistig genial-schö- 
pferisch, wie die Sprache, so war das Zeitalter der Re- 
volution, die Periode von fünfzig Jahren, noch von dem 
kindlichen Geiste der Phantasie bestimmt. Innerhalb dieser 
Periode drehte sich das Rad der wechselnden Seelenkräfte 
wieder in derselben Weise, so dass sich eine radikale, eine 
liberale, eine konservative und eine absolutistische Ent- 
wickelung je von 12 ^'2 Jahren unterscheiden Hessen. Im 
Einzelnen zeigte sich das in folgendem Gang der Er- 
eignisse. 

Ich will die Zeitrechnung dieses Zeitalters, nach der 
später berichtigten Bestimmung des Anfangsmoments vom 
21. December 1790 hersetzen: 



310 



Die Altebsstufen ik deh 



[cap. 24. 



I. Radikales Kindheitsalter. 

1) Auge. Dec. 1790—1794. Principien und 
Verfassungen der Revolution. Gironde 
und Jacobiner. 

2) Phantasie bis 1797. Ausbreitung der 
Revolution in Europa. Italienischer 
Feldzug Bonaparte's. 

3) Sentimentalität bis 1800. Ägyptischer 
Feldzug. Consulat. 

4) Brust bis 1803, 20. Juni. Friede von 
Lüneville und Amiens. Napoleon's 
Consulat auf Lebenszeit. Mediation 
Deutschlands und der Schweiz. 



Revolutio- 
näre und 
republika- 
nische 
Staten- 
bildung. 



U. Liberale Jugend. 

5) Geschlechtssinn bis 1806. Napoleon 
Kaiser. Besiegung der europäischen 
Coalition. 

6) Active Sinnlichkeit bis 1809. Rhein- 
bund. Fall Preussens. Secularisation 
des Kirchenstates. 

7) Verstand bis 1812. Napoleonische Va- 
sallenkönige. 

8) Sprache bis 1815, 20. Dec. Erhebung 
Europa's wider Napoleon. Sturz des- 
selben. Wiener Congress. Neugestal- 
tung Europa's. Französische Charte. 



Neue 
Monarchie 
Napoleon's. 



Erhebung 
Europa's. 



cap. 24.] 



Zeitalter deb Revolution. 



311 



III. Conservatives Mannesalter. 

9) Geruch bis 1819. Historische Rechts- 
schule. Deutsche Bundesversammlung. 
Europäische Pentarchie. 

10) Gedächtnis bis 1822. Carlsbader und 
Wiener Conferenzen. Preussisches Zoll- 
system. Freiheitskampf der Griechen. 
Interventions- und Legitimitätspolitik. 

11) Noblesse bis 1825. Emancipation der 
südamerikanischen Staten. Monroeprin- 
cip. 

12) Ahnung bis 1828, 20. Juni. Anerken- 
nung Griechenlands. 



Restaura- 
tions- 
periode. 



IV. Absolutistisches höheres Alter. 

13) Extremitäten bis 1831. Franz. Julirevo- 
lution. Belgische Revolution. Schwei- 
zerische. Polnische. 



14) Passive Sinnlichkeit bis 1834. Deutsche 
Reaction. Deutscher Zollverein. 

15) Combination bis 1837. Ministerium 
Thiers. Höhe der Politik Ludwig Phi- 
lipps. 

16) Gehör bis 20. Dec. 1840. Kirchliche 
Kämpfe in den Rheinlanden. Aufstand 
in Zürich. Die IV europäischen Mächte 
wider Mehemed Ali und Frankreich. 



Abge- 
schwächte 
Revolutio- 
nen und 
Reactio- 
nen. 



312 Hoffnungen auf Deutschlands Aüpebstbhen. [cap. 24. 

Ich hatte auch früher schon bemerkt, dass die Ent- 
wickelung der deutschen Nation ungefähr ein halbes Jahr- 
hundert (also ein Zeitalter) später komme, als die der fran- 
zösischen Nation. So folgten den französischen Städte- 
revolutionen der Communes des dreizehnten Jahrhunderts 
die deutschen Städtereformen im vierzehnten Jahrhundert; 
so der classischen Litteratur der Franzosen in der ersten 
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die grosse Litteratür- 
epoche der Deutschen in der zweiten Hälfte desselben Jahr- 
hunderts. In dem Zeitalter der Revolution hatte die fran- 
zösische Nation die Führung. Es war mir daher wahr- 
scheinlich, dass in dem neuen Zeitalter, in das wir 
eingetreten waren, die deutsche Nation nun entschei- 
dend eingreifen werde. Die Psychologie bestärkte diese 
Vermutung, zumal nun die Gemütskräfte, durch welche 
die Deutschen überlegen waren, in den Vordergrund treten 
sollten. Unsere Erwartungen von der nahen Erhebung des 
deutschen Volkes aus dem politischen Elend der letzten 
Jahrhunderte waren daher hoch gespannt. Das Rohmer'- 
sche Buch „Deutschlands Beruf** hatte dieser Erwartung 
einen grossartigen, wenn gleich mit phantastischen Zügen 
seltsam gemischten Ausdruck gegeben. 

Ein gütiges Geschick, für das ich Gott dankbar bin, 
hat mir vergönnt, in höherem Alter die Wiedergeburt des 
deutschen Volkes und Reiches zu erleben, viele Jahre nach- 
her, als Friedrich und Theodor Rehmer das müde Haupt 
im Tode geneigt hatten. Sie haben diese grosse Zeit der 
Erhebung des deutschen Volkes nicht mehr gesehen, für 
die auch sie vorgearbeitet hatten. Sie waren von der 
deutschen Nation fast gar nicht gekannt und kaum be- 
achtet worden. Damals aber wendeten sich unsere HoflF- 



cap. 24.] Natub von Fbiedbich Rohmeb. 313 

nungen noch vorzugsweise dem genialen Manne zu, dessen 
Ideen und dessen Wissenschaft uns den Eindruck wie einer 
neuen Geistesoflfenbarung machten. Von Friedrich Rehmer 
erwarteten wir damals ein befreiendes, rettendes, gestalten- 
des Eingreifen auch in der deutschen Politik. Die Züricher 
Kämpfe erschienen uns wie ein geistig bedeutsames, aber 
äusserlich kleines Vorspiel der grösseren Entwickelung in 
Deutschland. Die Bilder der Phantasie verliehen jenen 
Hoffnungen einen zauberhaften Glanz und eine prächtige 
Färbung. Er selber hatte diese Zuversicht; noch war er 
sich nicht bewusst geworden, dass seine Mission nur eine 
geistige, nicht eine unmittelbare politische war. Er 
hatte das Verlangen nach praktischem Wirken, ohne die 
Fähigkeit dazu, ohne von dem Schicksal auf die Praxis 
angewiesen zu sein, ohne ein Verständnis bei den Mit- 
lebenden zu finden. Seine Ideen waren in hohem Grade 
auf das Leben angelegt, wie dem Leben entsprungen. Aber 
erst eine viel spätere Zeit konnte dieselben fassen und an- 
wenden. Darin lag ein hochtragisches Moment in seinem 
rätselhaften Wesen. Er gehörte nicht in das Zeitalter, in 
das er hineingesetzt war wie ein Fremdling. 

Manche Äusserung, die halb wahr und halb entstellt, 
oft auch missverstanden ausserhalb des engeren Freundes- 
kreises, in das Publikum kam, erschien dann abenteuerlich , 
renommistisch, lächerlich. Indem die Radikalen ihren Hohn 
über den eingebildeten „Messias" ergossen, fanden sie zahl- 
reichen Beifall. 

Zuweilen waren auch meine Empfindungen zweifel- 
haft. Von Natur nüchtern, verständig geartet, konnte ich 
manche Illusion auch der Rohmer'schen Freunde nicht 
gutheissen. Aber das war mir ganz sicher: Ich hatte 



314 Natüb von Friedrich Rohmeb. [cap. 24. 

niemals noch einen ähnlich genialen Menschen und keinen 
Mann kennen gelernt, der reicher an Gedanken und ener- 
gischer von Gemüt war, als Friedrich Rohmer. Ich muss 
jetzt am Schluss eines bewegten Lebens, das mich mit 
vielen Menschen in Berührung brachte, und nachdem ich 
auch ihm gegenüber sehr wechselvolle Erfahrungen ge- 
macht habe, hinzufügen: Ich habe auch später Niemanden 
gesehen, der mir den persönlichen Eindruck des einzigen 
Genies so entschieden gemacht hätte, wie er. Ich nehme 
nicht einmal den Fürsten Bismarck aus, der an Genialität 
etwas Verwandtes mit ihm hat, in der Praxis ihn weit 
übertrifft, aber als Denker doch sehr hinter ihm zurück- 
steht. Am wenigsten habe ich einen Gelehrten kennen ge- 
lernt, den ich mit ihm vergleichen möchte, obwohl ich auch 
unter diesen einzelne sehr bedeutende Männer hoch schätze. 

Das den Menschen eigentümliche Schwanken zwischen 
Urbild und Zerrbild zeigte sich in ihm ungewöhnlich heftig. 
Er sagte einmal in Zürich: „Ich mache den Menschen 
einen dämonischen Eindruck, weil Gott und Teufel in mir 
ist." Er war der freieste Geist, den es geben konnte, und 
hinwieder ein Sclave seiner Natur. Er konnte sich nicht, 
oder fast nicht nach den Umständen richten. Er konnte 
nur das thun, wozu ihn die innere Natur trieb. Alles 
Andere stiess er rücksichtslos von sich. Schon darum 
taugte er zu keinem Amt, zu keinem geordneten Berufe 
und überhaupt nicht zur Praxis. 

Seine Existenz, das Vertrauen der Freunde, die Ruhe 
seiner Familie schienen davon abzuhängen, dass er endlich 
die Grundzüge seiner Wissenschaft in der Schrift fixiere. 
Es war ihm nicht möglich. So oft er sich daran machte, 
immer kehrte der logische Stachel, den seine speculativen 



cap. 24.] AsrlyQE seineb Seibstbiogbafhie. 315 

Arbeiten zurückgelassen hatten, störend wieder. Dann war 
es aus mit allem Niederschreiben seiner Psychologie. Die 
Sisyphusarbeit ging wieder an. Der Stein musste wieder 
mit Hilfe des Hebels von Unterlage und Eigenschaft auf 
die Höhe geschleift werden; und wenn derselbe oben war, 
stürzte er in den gähnenden Abgrund des Nichts zurück, 
aus dem er gekommen war. Fritz — so nannten wir ihn 
— täuschte sich selber hundertmal über die vermeintliche 
Lösung des Welträtsels von Gott und Welt. Die Illusion, 
welche durch irgend einen Fortechritt in seiner Wissen- 
Schaft, eine „Findung**, oder zuweilen auch einen neuen 
Irrweg hervorgerufen wurde: „nun ist Allea fertig**, be- 
friedigte ihn vielleicht ein paar Tage. Dann erblasste sie 
wieder, und die logische Arbeit ging von neuem an. Es 
war zum Verzweifeln, dieses unablässige und scheinbar 
fruchtlose Ringen zu beobachten. Alle Anderen verwünsch- 
ten die infame Logik, die ihn so fürchterlich quälte. Er 
allein verzweifelte nie. Er zweifelte wohl oft an sich, fast 
täglich in der Ermüdung. Dann löste er, wie einst Pene- 
lope, das Gespinnst des Tages am Abend selber wieder 
auf. Aber am Morgen darauf, wenn der Geist wieder 
durch den Schlaf erfrischt war, ging die Arbeit von neuem 
los, voll Zuversicht und voll Hoffnung, es werde ihm doch 
noch glücken, den Stachel auszureissen, der ihm keine 
Ruhe gönnte. 

Die Wissenschaft war das Werk seines Lebens. Er 
konnte und wollte sie nicht wie ein Lehrsystem schreiben. 
Er gedachte, indem er sein Leben schreibe, damit zugleich 
die Entwickelung und den Inhalt seiner Wissenschaft dar- 
zulegen. Er ging nun ernstlich an die Selbstbiographie. 
Zu diesem Zwecke zog er sich in die Ruhe des lieblich- 



316 Anweivdükg der Kohveb'schen [cap. 24. 

schönen Zug zurück. Da arbeitete er an der Geschichte 
seiner Kindheit, welche für Freunde gedruckt ward. Diese 
Geschichte hat einen merkwürdigen Styl und einen reichen 
Inhalt. Die Erinnerung und die Phantasie wirkten in ihr 
zusammen. Aber über die Kindheit kam er nicht hinaus. 
Die Selbstbiographie blieb ein kleines Bruchstück. Leider 
hat auch Theodor zu wenig aufgezeichnet, worauf sich die 
Biographie von Friedrich Rehmer stützen kann. Ich habe 
viel später den schwierigen Versuch gewagt, einigermassen 
diese Lücke auszufüllen. Es konnte aber natürlich nur 
unvollständig geschehen, da das AUerwichtigste, das innere 
Geistesleben .und sein Ringen, sich mir doch nur in seltenen 
Momenten deutlicher enthüllte, und die ganze Entwickelung 
in wesentlichen Teilen mir verborgen blieb. 

Im Sommer bezog ich zu meiner Erholung mit meiner 
Familie ein Landhaus bei Stanz in TJnterwalden, das ich 
gemietet hatte, und lebte da mehrere Wochen im Vollge- 
nuss einer herrlichen Natur. Der Vierwaldstättersee war 
immer mein Lieblingssee. Der Flecken Stanz liegt etwas 
entfernt zwischen zwei Buchten desselben, aber um so be- 
haglicher und reizender. Von da aus waren See und Berge 
leicht an schönen Tagen zu besuchen. 

In der Stille der ländlichen Einsamkeit und angeregt 
von einer herrlichen Gebirgsnatur wollte ich nun die Probe 
machen, ob mit Hilfe der Rohmer'schen Psychologie die 
Natur des States tiefer zu erkennen sei. In der Stats- 
wissenschaft war ich vertrauter als in der Philosophie. 
Meine Neigung, meine Studien und, wie ich überzeugt 
war, auch meine Geistes- und Charakteranlage zogen mich 
zum State hin und zur Erkenntnis des States. Die Vor- 
stellung Rousseau's, dass der Stat nur ein gesellschaftlicher 



cap. 24.] Psychologie auf die Statslehbe. 317 

Verein von Individuen sei, hatte ich schon als Student 
verworfen. Sie erschien mir unwahr und kindisch. Aber 
auch die andere Vorstellung vieler Statsgelehrten und Po- 
litiker, dass der Stat eine künstliche Maschine sei, für 
gewisse gemeinsame Zwecke der Sicherheit oder der Wohl- 
fahrt, genügte mir gar nicht. Die erste Ansicht hatte die 
Einheit des States und die Persönlichkeit des Volkes nicht 
erkannt und das Ganze in seine Teile aufgelöst. Die letz- 
tere Meinung aber hatte dem State sogar das Leben ab- 
gesprochen und an die Stelle des Geistes tote mechanische 
Werkzeuge gesetzt. 

Ich war überzeugt, dass der Stat ein lebendiger Or- 
ganismus und dass das Volk eine Person sei; allerdings 
nicht ein unmittelbares Geschöpf Gottes, wie der einzelne 
Mensch, sondern ein mittelbares Werk des menschlichen 
Geistes und der menschlichen Geschichte, aber auch nicht 
bloss eine fingierte, von den Juristen eingebildete Person, 
sondern eine lebendige Culturperson, mit natürlicher Basis 
in dem Gemeincharakter und dem Gemeingeiste der Nation. 
Ich fand die Meinung der alten griechischen Philosophen 
Piaton und Aristoteles wohlbegründet, welche das höchste 
Ideal des States in der Menschheit erkannten und den Stat 
„den Menschen" im Grossen nannten. Ich ging noch einen 
Schritt weiter und nahm an, das Ideal des States sei der 
„Mann" im Grossen. „L'etat c'est Thomme." Wie die Na- 
tur die Menschheit in zwei Geschlechter geteilt hatte und 
nur in einzelnen Männern und Weibern darstellte, so sollte 
die Menschheit sich selber ebenso in einer Doppelform le- 
bendig darstellen, einmal in der selbstbewussten männlichen 
Gestalt des States und zweitens in der weiblichen sich an- 
lehnenden Gestalt der Kirche. 



318 Meine Finduko der XVI [cap. 24. 

Indem ich von diesen Gedanken ausging und ihre 
notwendigen Consequenzen verfolgte, sagte ich mir: Wenn 
der Grund des States in der menschlichen Natur zu finden 
und der Mensch ein „statliches Wesen* ist, so kann der 
Schlüssel zur Erkenntnis des States nur in der Ordnung 
der menschlichen Seele entdeckt werden, welche die Psy- 
chologie aufdeckt, und die den menschlichen Körper be- 
herrscht. Dann haben die Menschen, indem sie den Stat 
nach sich bildeten, sei es bewusst, sei es unbewusst und 
instinktiv, in der Ordnung der Statsgewalten die Ordnung 
ihrer Seelenkräfte nachgebildet, und hat der Statskörper 
sein natürliches Vorbild in dem menschlichen Körper. 

Demgemäss mussten sich die vier Gruppen der geisti- 
gen und gemütlichen Seelenkräfte, der höheren männlichen 
und der niederen weiblichen, ebenso in dem Statskörper 
wiederfinden, dann mussten sich die XVI Grundkräfte ana- 
log in den Organen der Statsgewalt zeigen lassen. Frei- 
lich hatte die bisherige Statswissenschaft davon kaum eine 
Ahnung. Indessen in der Sprache der Völker, welche von 
Statskörper, Statshaupt, Statswillen, Statsgewissen spre- 
chen, waren doch einige Anhaltspunkte gegeben, welche 
zeigten, dass dem natürlichen Verstände der Völker solche 
Gedanken nicht unbekannt seien. Zugleich diente mir die 
Untersuchung, um mir selber die sechzehn Grundkräfte 
der Seele klarer zu machen. 

Anfangs arbeitete ich in völligem Dunkel, in das 
ich mit dem Lichte der Psychologie hineinleuchtete. Es 
war eine schwere Arbeit, aber der Mut verliess mich nicht, 
und allmälich wurde es heller um mich her, bis zuletzt 
ein klares Bild vor meine Seele trat, und die Seligkeit 
einer neu gefundenen Wahrheit mein Herz erquickte. Die 



cap. 24.] OBuimOROANE des Statsköbpebs. 319 

entscheidende Klärung vollzog sich auf der Höhe des 
Stanzerhoms, das ich an einem sonnigen Tage bestiegen 
hatte, im Angesicht der gewaltigen Berge, deren schneeige 
Häupter sich majestätisch von dem hellen Blau des Him- 
mels abhoben, und des wunderbar verschlungenen tief- 
blauen Sees, der den Fuss der Vorberge benetzte. In 
der grossartigen Herrlichkeit der Gebirgsnatur nahmen die 
Schwingen meines Geistes einen kühneren Flug. Es war 
mir zu Mute, wie wenn die Nebeldecke, welche die Thäler 
verschleiert, durch einen frischen Luftstrom weggeblasen 
wird, und nun die sonnenbeglänzten Wälder und Felder, 
Städte und Dörfer, Hügel und Flüsse sichtbar würden. 

Seit Montesquieu war die Lehre der drei Statsgewal- 
ten: Gesetzgebende, Executive, Richterliche Gewalt, die 
herrschende geworden in Europa, wie in Amerika. Die 
Trennung ihrer Amter galt als ein Grundsatz ihrer Frei- 
heit und der richtigen Beschränkung. Über das Verhält- 
nis der verschiedenen Gewalten stritt man sich. Manche 
Philosophen fassten es auf wie die Teile eines logischen 
Schlusses. Die Executive war die Ausübung und Aus- 
führung der Gesetze durch die That, das Gericht hand- 
habte urteilend die Regel des Rechts. Im Grunde war 
alles das Subsumtion unter ein Gesetz. In alledem war 
keine Spur zu finden einer organischen Einsicht, keine 
Ahnung einer psychologischen Erkenntnis. Eben darum 
genügte mir diese Betrachtung nicht. Ich hielt viele Sätze 
derselben für falsch und verderblich. 

Nun wurde mir zuerst das klar, dass der gesetz- 
gebende Körper den natürlichen Beruf habe, das ganze 
Volk in Haupt und Gliedern darzustellen, und daher in 
ihm alle Potenzen des States zum Ausdruck und zur Ver-» 



320 Stelluno der Legislative inmitten der Statsgewalten. [cap. 24. 

tretung gelangen müssen. Das Gesetz war demgemäss 
nicht der Wille der Obrigkeit allein, nicht der Wille der 
Regierten, der Volksvertretung allein, sondern der voll- 
ständige Statswille, zu dem sich Regierung und Volks- 
vertretung geeinigt haben. Die Streitfrage, ob der König 
und seine Regierung einen Anteil an der gesetzgebenden 
Gewalt habe, war damit in bejahendem Sinne erledigt. 

Aus derselben organischen und psychologischen Auf- 
fassung ergab sich ferner die wichtige Wahrheit, dass die 
gesetzgebende Gewalt nicht eine Gewalt sei auf gleichem 
Boden und von gleicher Art mit der Regierungs-, der Ge- 
richtsgewalt und anderen Teilgewalten, welche noch sich 
zeigen mögen, eben weil in ihr der ganze Statskörper 
gleichsam in veredeltem Auszuge und Bilde erscheine, alle 
anderen Statsgewalten dagegen nur die Functionen einzel- 
ner Organe im State zu vollziehen haben. Damit war das 
Verhältnis der Gesetzgebung zur Regierung richtig begriflfen, 
welches durch die ältere Theorie ganz verschoben war. 

Wollte ich die XVI Grundkräfte der Seele im State 
finden, so musste ich also vorläufig von der Organisation 
des „Königs im Parlament" d. h. der Gesetzgebung ab- 
sehen und lediglich die besonderen Statscjrgane, die not- 
wendigen Grundämter betrachten. Auch da eröffnete sich 
der organisch-psychologischen Betrachtung sofort eine über- 
raschende Aussicht. Die Organe des Regiments ent- 
sprachen selbstverständlich den männlichen Geistes- 
organen des Kopfes und kamen infolge dessen in die 
oberste leitende Stellung des Hauptes im Statskörper. 
Das war aber nicht blosse Executive, das war Regierung, 
welche die Politik des States leitet, die etwas ganz anderes 
bedeutet, als Execution von Gesetzen. Sogar im Einzelnen 



cap. 24.] Organe des Regiments und des Gerichts. 321 

war es nicht schwer, die einzelnen Organe dieser höchsten, 
geistig leitenden, schöpferisch wirkenden Gruppe von Or- 
ganen mit den Geisteskräften des Kopfes zu vergleichen 
und zu ordnen. Die höchste Eigenschaft der Sprache fand 
ich wieder in dem Amte des Königs in der Monarchie, des 
Präsidenten oder der Consuln in der Republik, von denen das 
entscheidende Wort (der Befehl, die Ernennung, das Ver- 
bot u. s. f.) ausging. Unterläglich, der Bedeutung und Lage 
des Verstandes entsprechend, verhielt sich der Rat (Stats- 
rat). Zur Seite standen hilfreich die beiden Hauptministerien 
des Innern und des Äussern, ähnlich wie unter den Geistes- 
kräften Gedächtnis (Merkkraft) und Geruch (Spürkraft). 

Am leichtesten war es, die Organe des Regiments 
zu erkennen. Schwieriger war es, die zweite obrigkeit- 
liche Gruppe, das Gericht, zu bestimmen. Dass hier 
ebenso naturgemäss die männlichen Gemütskräfte vor- 
walten, wie im Regiment die männlichen Geisteskräfte, war 
mir freilich bald klar geworden. Aber ofifenbar gehörte in 
diese Gruppe nicht bloss die bürgerliche Rechtspflege und 
die Strafrechtspflege, die ich den beiden Kräften der fein 
empfindenden, im Herzen wohnenden Noblesse und der von 
heftigen Schmerzen bewegten, energischeren, in den Einge- 
weiden wohnenden Ahnungs- und Ahndungskraft, damals 
unglücklicherweise Nabel genannt, verglich, sondern auch 
die fort und fort thätige, gewaltsam wirkende Polizei, 
welche in den meisten modernen Staten mit dem Regi- 
mente verbunden war und nur in wenigen in Gerichtsform 
gehandhabt wurde. Für die Zukunft bedurfte dieses Or- 
gan dann einer gründlichen Reform. Aber ich überzeugte 
mich, dass gerade diese Reform notwendig sei, und dass 
die fehlerhafte Behandlung der Polizei eines der Haupt- 

Bluntschli, Dr. J. C, Aas meinem Leben. I. 21 



322 OeGAKE des CtJLTÜR- UKD WiRTSCHAFTSPFLEGE. [cap. 24. 

gebrechen der heutigen Staten sei. Ich wies der Polizei 
daher die bedeutende Stellung der activen Sinnlichkeit 
oder des Mutes an, und verglich die gewaltigste Form der 
Rechtspflege, den Krieg, mit der mächtigen Gemütseigen- 
schaft des Geschlechtssinnes. So war auch die zweite 
Gruppe, die der Rechtspflege (Jurisdictio), der höchsten, 
der der Regierung (Imperium), würdig angereiht. 

Aber damit war die Übersicht der statlichen Organe 
nicht vollständig. Das waren die herrschenden, mit einer 
zwingenden Autorität ausgerüsteten Organe der Regierung 
und der Rechtspflege. Es gab aber auch noch eine grosse 
Zahl von anderen Organen des Statskörpers, die nicht einen 
so machtvollen autoritativen Charakter, sondern eher den 
der Pflege und Sorge an sich hatten, d. h. eher den weib- 
lichen Geistes- und Gemütskräften vergleichbar waren. 
Ich schied dieselben in zwei Gruppen, die eine, geistige 
Gruppe der Culturpflege, die andere, eher den weib- 
lichen mehr materiell oder sinnlich gearteten Gemüts- 
kräften vergleichbare Gruppe der Wirtschaftspflege. 

Die bisherige Statslehre hatte diese Cultur- und Wirt- 
schaftsämter gewöhnlich wie einen untergeordneten Anhäng- 
sel der Regierungsämter betrachtet. Das hatte aber zwei 
Nachteile zur Folge: einmal erlangten diese Amter nicht die 
ihnen nötige relative Selbständigkeit und Freiheit; sodann 
wurden sie hinwieder verleitet, die autoritative Machtfülle 
der Regierung auch für ihre Functionen in Anspruch zu 
nehmen, wohin sie nicht gehörte, und welche auf die Frei- 
heit der Bürger drückte. Die psychologische Anordnung 
machte den überaus fruchtbaren Unterschied zwischen Re- 
gierungsämtern, Pflege- und Wirtschaftsämtern anschaulich 
und beseitigte im Princip jene Gefahren. 



cap. 24.] 



Die Gliederung des Statskörpebs. 



323 



So gewann ich folgendes, den XVI Grundkräften der 
menschlichen Seele entsprechendes Bild der XVI Grund- 
organe des Statskörpers. 

Das Regiment. 




Statsculturpflege. 



Wirtschaft. 



Schule 

Öffentl.' , , ^ ... 

Anstalten \ / ^r^dit- 
(Museen, Y anstauen 
Biblio- / \^(Banken) 
theken) / Cultus 

(Kirchliche 
Beziehungen) 




Rechtspflege. 




Krieg: 

Völker. 

rechts- 

pflege 



21 



324 HeBAUSOABE DEK 8TATSWI8SENSCHAFTLICHEN StüDIBN. [cap. 24. 

Bei dieser Anwendung der psychologischen Grund- 
begriffe auf den Stat blieb ich nicht stehen. Ich nahm 
nun die einzelnen statlichen Organe vor und zerlegte die- 
selben von neuem in ihrer naturgemässen Organisation mit 
Hilfe der Urliste. Auch da gewann ich zuweilen neue 
Gesichtspunkte und Aufschlüsse, aber im Einzelnen waren 
dieselben doch weniger sicher. Es war ein erster Versuch 
der psychologischen Orientierung, der in der Folge manche 
Berichtigung und neue Erwägung forderte. Die letzteren 
Arbeiten behielt ich dann auch für mich. Die XVI aber 
veröflfentlichte ich in meinen „Psychologischen Studien 
über Stat und Kirche% Zürich 1844. 

Ich meinte, was mir klar geworden sei, müsse auch 
Anderen klar werden, und meine innere Befriedigung über 
die neu gewonnenen Resultate müsse auch Anderen Be- 
friedigung gewähren. Darin täuschte ich mich. Das Buch 
fand hier und dort einzelne Freunde. Einige Studien, wie 
z. B. die über das Verhältnis von Stat und Kirche, welche 
den Stat als den Mann, die Kirche als die Frau im Grossen 
darstellte, und insbesondere auch die über die Statsgewal- 
ten wurden von einigen Kritikern und Gelehrten als eine 
Bereicherung der Wissenschaft anerkannt. Es wurde auch 
bemerkt, dass in' diesen Studien positive Ideen zu finden 
seien im Gegensatze zu den oft leeren Abstractionen der 
Schule. Aber die organisch-psychologische Darstellung der 
XVI Statsorgane war den Meisten gänzlich unverständlich 
und galt daher auch als unverständig. Dass ich aber in 
der Vorrede Friedrich Rehmer als ein wissenschaftliches 
Genie proclamiert hatte, erregte den meisten Anstoss und 
wurde als ein Zeichen eines schwärmerischen Enthusiasten 
betrachtet. Hätte ich die XVI verschwiegen und Rehmer 



cap. 24.] Wenig VBRSTiNDNis der gelehrten Kreise. 325 

nicht erwähnt, so wären die Studien jedenfalls mit mehr 
Beifall aufgenommen worden. 

Ich habe auch später die Erfahrung gemacht, dass 
Menschen, welche organisch-psychologisch denken können, 
in unserer Zeit sehr selten sind. Der ganzen Schulbildung 
ist diese Denkweise fremd. Wohl haben manche grosse 
Dichter und einige grosse Statsmänner, auch eine Anzahl 
Mystiker unter den Theologen und Philosophen im letzten 
Jahrhundert noch so gedacht. Aber die grosse Masse der 
richtigen Gelehrten hatte und hat dafür gar kein Verständ- 
nis. Es fehlt dieser das Organ dafür oder die Übung darin. 
Mein Irrtum war, eine Fähigkeit zu erwarten, die nicht 
vorhanden war. Nun erfuhr ich, dass Schwachsichtige sehr 
geringschätzig von dem Gemälde sprachen, dessen Linien 
und Farben sie nicht deutlich erkannten, und dass Taube 
die Musik verachteten, welche sie nicht hörten. Ich ge- 
wöhnte mich nach und nach an diese Erfahrung und lernte 
sie ertragen. Aber ich fühlte mich zuweilen doch recht 
einsam, auch mitten unter denen, die mir sonst im Leben 
nahe standen. Das Bild des Steinbocks, der nur im Hoch- 
gebirge auf unzugänglichen Felsenklippen einige Kühe fin- 
det, schien mir ein Bild meines eigensten Lebens zu sein. 
Die Steinbockhömer über meinem Wappen, freilich zu- 
nächst von dem Stammhause meiner Familie hergenommen, 
bekamen so für mich eine erhöhte Bedeutung. Es war 
mir eine grosse Freude, als mir mein Freund Hottinger 
ein paar echte gewaltige Steinbockhömer schenkte, die er 
im Wallis entdeckt und erworben hatte. Sie schmücken 
den Eingang meines Studierzimmers. 



326 Mission nach Wien in Postsachen. [cap. 25. 

25. 

MiBsion nach Wien in Postsachen. Politische Wahmehmnngen. 

Zwei Audienzen bei Fürst Mettemich. Hofrat Jarcke. Bückreise 

über München. Die zwanglose Oesellschaft. König Ludwig I. 

Für das Postwesen interessierte ich mich damals leb- 
haft. Als Präsident der Zürcherischen Post-Commission 
arbeitete ich, dem englischen Vorbilde nachstrebend, auf 
Befreiung des Verkehrs von herkömmlichen Hemmnissen 
und auf Herabsetzung und Vereiiifachung der Briefporti hin. 

Gegen Ende des Jahres 1842 erhielt ich den Auftrag, 
in Postangelegenheiten nach Wien zu reisen, um da mit 
den höchsten Reichsbehörden zu unterhandeln. Auf dieser 
zweiten Wiener Reise bekam ich manche neue Eindrücke. 
Die amtliche Empfehlung eröflfhete mir den Zutritt zu den 
höheren Staffeln des Wiener Lebens. 

Die Leitung des States, oder vielmehr des aus ver- 
schiedenen Staten zusammengefügten Reiches hatte eine 
sehr ältliche Physiognomie. Überall waren an der Spitze 
ganz alte Herren, und ich konnte nicht bemerken, dass in 
den alten Körpern jugendliche Geister wohnten. 

Ich sah in einer Gesellschaft einen achtzigjährigen 
Feldmarschalllieutenant, der nicht mehr hörte und in den 
Gliedern zitterte, und! trotzdem noch eine höchste Kriegs- 
behörde präsidierte. Als der strebsame Oberst Zitta einen 
Plan zur Verteidigung Wiens entworfen hatte und denselben 
dem Erzherzog Johann, Präsidenten des Hofkriegsrates, 
einreichte, gab ihm dieser den Plan mit den Worten zu- 
rück: „Behalten Sie denselben für sich, es könnte Ihnen 
nur in dem Avancement schaden, wenn man erführe, dass 
Sie solche Arbeiten ohne Auftrag aus eigenem Wissens- 
trieb unternehmen. Es gibt unter uns so viele alte Herren, 



cap. 25.] Politische WAHBNEHMuifGEN. 327 

die einen Abscheu haben vor aufstrebenden Geistern und, 
^wo sie einen wittern, ihm nur Schwierigkeiten und Plagen 
bereiten." 

Indem die Leute allen geistigen Fortschritt fürchten 
und hemmen, verlieren sie die Fähigkeit, die Bewegung 
der Geister au verstehen. Sie hassen den Radikalismus 
und treiben ihm unaufhaltsam zu. Sie werden es erst 
merken, wenn der Strudel sie erfasst haben wird. 

Nur Sechszehnender (Adelige mit sechszehn Ahnen) 
dürfen zu Hofe gehen und Geheimräte, nicht aber deren 
Frauen, wenn sie nicht von Adel sind. So ist es auch bei 
dem Fürsten von Metternich und dem Grafen Kollowrath. 
In diesem Dunstkreise lebt der Hof und leben die leiten- 
den Statsmänner. Wie sollen sie da das Volk kennen, 
dessen Schicksal sie bestimmen? Wohl mag der Fürst 
Metternich über der Nebelwolke stehen und sein Haupt 
in freier Luft sonnen auf der Spitze des Berges. Aber er 
kann doch nicht durch die trübe Nebelschicht in die Tiefe 
der Thäler hinabschauen. Dazu genügen weder die Be- 
richte der Polizeibeamten, noch die Anschwärzungen der 
Priester. 

Es fehlt dem österreichischen Adel an politischer 
Bildung und grossartiger Übung des politischen Berufs. 
Er besetzt die höheren Stellen in der Diplomatie, der Re- 
gierung, der Armee. Aber die parlamentarische und jede 
freie Thätigkeit ist ihm versagt. Er ist voll von Vor- 
urteilen der Rasse und der mittelalterlichen Privilegien 
und verletzt oft durch seinen Hochmut bessere Köpfe. Es 
schien mir, als wäre eher noch unter den Frauen, als unter 
den Männern, Geist zu finden. Man flüsterte in Wien von 
Politik, man sprach nicht über Politik. 






328 



Politische WAHBNEHüuifGBN. [cap. 25. 



Mit derbem und bitterem Spott rächen sich gelegent- 
lich die Wiener. Ich hörte damals folgende für die Stim- 
mung bezeichnenden Äusserungen. Ein Wiener fragte den 
anderen: Warum ist der neue Adler auf dem Stephans- 
turme grösser geworden, seitdem man die Turmspitze um 
einige Fuss erhöht hat? Antwort: „Je höher hinauf, desto 
grösser das Viech.** 

In einem Gasthause schimpften die Bürger weidlich 

über den Kaiser. Als sich aber ein Preusse einmischte 

und die Vorzüge seiner Regierung hervorhob, wurden die 

^ifelfe^r ärgerlich und verbaten sich das: „Wissen's, unser 

KaiserisflS^^l* ein Ochs für uns, aber nicht für Sie.** — 

Im OegeSM^^^^^ ^^ ^®^ altersschwachen Statsinstitu- 

tionen war vor K^te^ i^ Wien eine lebensfrische neue 

Schöpfung entstanden, der „^Sh^^Huristische Leseverem«. 

Ich wurde in denselben eingeführt^T"^ '^^''^^ ^^""^^ ^""^ 
erst die Bekanntschaft des FreiherraN^^^" Sommaruga, 

des Secretärs der Gesellschaft, eines Majur^**" ^^^ 
senden wissenschaftlichen Kenntnissen und libera 
nung. In diesem Verein, der einen raschen Aufschwung 
nahm, zeigten sich die Keime eines frischeren, jugend- 
licheren Geistes. 

Am meisten interessierte mich die Bekanntschaft mit 
dem Fürsten Metternich. Ich hatte zwei Audienzen bei ihm, 
in denen gar nicht von den Postsachen gesprochen wurde, 
und welche dennoch für die Erledigung meines Auftrages 
nützlich waren. Ich hatte das Gefühl, dass ihm das Detail 
der Verabredungen ganz gleichgiltig, däss aber seine per- 
sönliche Gunst von entscheidender Wichtigkeit sei. Fürst 
Metternich war damals schon ein alter Herr; aber noch 
ging er aufrecht, eine hohe aristokratische Gestalt. Er 




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cap. 25.] Fürst Mbttebkich. 329 

hatte offenbar das Bewusstsein, dass die österreichische 
Monarchie wesentlich von ihm regiert und durch ihn po- 
litisch repräsentiert werde. Der Kaiser Ferdinand küm- 
merte sich nichts um die Statsgeschäfte und verstand 
nichts davon. 

Fürst Mettemich sprach gerne und gut, mit feier- 
lichem Tone und Nachdruck. Die Art seiner Sprache er- 
innerte mich an einen docierenden Professor. Über die 
beiden Gespräche habe ich mir Einiges damals aufgezeich- 
net, das ich nun wiedergebe. 

Ich war einige Male in der „Salle des pas perdus** 
hin und hergegangen, als der Fürst aus seinem Cabinet 
heraustrat, den Prinzen von Salemo verabschiedend. Neben 
mir hatte auch der preussische Gesandte gewartet, Depe- 
schen in der Hand. Der Fürst grüsste mich und wandte 
sich dann an den preussischen Gesandten mit der Frage, 
ob es nicht genügen würde, wenn er ihm die Depeschen 
zur Einsicht zurückliesse. Als jener erwiderte, er müsse 
sich eine Viertelstunde zu mündlicher Besprechung aus- 
bitten, ersuchte der Fürst denselben, etwas später wieder 
kommen, und lud mich ein, mit ihm in sein Cabinet 
jizutreten. 

Er sprach ungefähr Folgendes: „Was macht denn 

^ armes Vaterland? Ich kenne die Schweiz. Ich kenne 

juch Sie genau. Ihr Canton hätte keine bessere Wahl 

Reffen können zu der Abordnung hieher. Ich habe Sie 

bereits dem Baron Kübeck empfohlen. Verlassen Sie sich 

panz auf ihn; er hat den besten Willen. Sie dürfen auch 

tiuf seine Einsicht und Tüchtigkeit rechnen. Sehen Sie, 

|ch bin der nüchternste Mensch. Ich sehe die Dinge, wie 

j^ie sind. Sie können mich betrachten als den Bepräsen- 

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330 Zwei Audienzen bei [cap. 25. 

tanten der österreichischen Monarchie. Ich bin kein Ultra- 
cist, wofür mich Viele halten. Ich stehe ruhig in der 
Mitte der Dinge. Allerdings nicht in jener Mitte, welche 
1830 in Frankreich als Juste-milieu aufkam. Diese Mitte 
ist ein Nichts, eine Faselei. Sondern in der wahren Mitte, 
welche zwischen böse und gut wohl unterscheidet." 

„Sie haben Recht. Die Halbgebildeten sind gegen- 
wärtig alle radikal gesinnt. Ich weiss das wohl." 

„Zürich nimmt in der Schweiz in äusserer Hinsicht 
die zweite Stelle ein. Aber ich bin vollständig überzeugt, 
dass es berufen ist, in intellectueller Beziehung die erste 
Stelle zu haben. Zürich sollte und könnte die Schweiz 
geistig leiten. Aber mir scheint, die Leute dort sind für 
die Höhe ihrer Aufgabe etwas zu kurz gewachsen. Die 
innere Lage von Zürich ist gross. Es ist gut, dass das 
Directorium (der Vorort) nun aus dem Canton Bern nach 
Luzern kommt. Ich betrachte das als einen Übergang 
nach Zürich. Es wäre nicht gut, wenn der Vorort jetzt 
schon nach Zürich käme. Sie wären noch nicht vorbe- 
reitet, um die Leitung zu übernehmen. Benutzen Sie die 
nächsten zwei Jahre gut, damit Sie im Jahr 1845 ein star- 
kes Directorium in Zürich bilden können. Darauf kommt 
es nun an. Glauben Sie mir, Österreich wird Luzern von 
allen extremen Schritten abraten. Die Politik Österreichs 
ist erhaltend, nicht umstürzend. Luzern hat Recht, wenn 
es für die Rechte der katholischen Schweiz sich wehrt; 
aber ich halte es nicht für gut, wenn Luzern weiter gehen 
und angriflfsweise verfahren wollte. (NB. Die Jesuiten- 
berufung wurde damit angedeutet.) Frankreich ist in einer 
schiefen Lage. Das jetzige Ministerium ist seinen Prin- 
cipien nach und sonst das beste, das Frankreich seit 1830 



cap. 25.] Fürst Mettbbnich. 331 

gehabt hat. Guizot ist ein ehrlicher Mann. Seine Prin- 
cipien sind gut, aber seine Lage ist schief. Sie können 
und dürfen nicht, wie sie wollen. Das zeigt sich auch 
gegenüber der Schweiz. Daneben wünscht Frankreich im- 
mer noch etwas Besonderes, irgend einen Vorteil für sich. 
Österreich hat, glauben Sie mir, kein anderes Interesse 
als das seiner moralischen Principien. Es sucht nichts für 
sich, wenn es seinen Rat erteilt. Niemand denkt an eine 
bewaffnete Intervention in die schweizerischen Angelegen- 
heiten. Eine moralische Einwirkung kann Niemand tadeln. 
Wären nun Osterreich und Frankreich in der moralischen 
Auffassung immer einig, so wäre es besser und wirksamer." 

Ich hob hauptsächlich hervor: Die Schweiz müsse von 
Innen heraus, kraft ihrer guten Natur, gesunden, von aussen 
her sei ihr nicht zu helfen, und sprach mein Vertrauen 
aus, dass Zürich die schwersten Kämpfe hinter sich habe, 
und das geistige Übergewicht bei der liberal-conservativen 
Partei sei. 

Bei meinem zweiten Besuche fand ich den Fürsten 
nicht so frisch, wie bei dem ersten. Damals hatte er mit 
Eifer gesprochen, in der Absicht, mich zu überzeugen und 
zu belehren, in der That ähnlich einem Docenten, welcher 
auf seine Zuhörer durch eindringlichen Vortrag wirken 
will. Diesmal lag auf seinen Zügen die Ermüdung des 
Alters sichtbar ausgebreitet. „Ich könnte nur wieder- 
holen," sagte er, „was ich Ihnen das vorige Mal gesagt 
habe." Dann aber fing ich an, ihn durch einige Bemer- 
kungen aufzuregen. Endlich belebten sich die Züge, und 
er sprach wiederum mit Eifer. 

Ich hatte ihm meine Wahrnehmung ausgesprochen, 
dass die öffentliche Meinung in Wien, so viel ich sehe. 



332 Zwei Audienzen bei [cap. 25. 

ganz von der Allgemeinen Augsburger Zeitung beherrscht 
werde, dem einzigen grösseren Blatte, das einen weiten 
Leserkreis habe, und zugleich mein Bedauern, dass diese 
wichtige Zeitung, welche den deutschen Cabineten gegen- 
über sehr gefügig sei, in der Schweiz für den Radikalis- 
mus eifrig Partei nehme. 

Er erwiderte darauf im Wesentlichen Folgendes: 
„Allerdings ist die Allgemeine Zeitung gegenwärtig ra- 
dikal. Aber wir haben in unserem Interesse bestimmte 
Schranken gezogen, die sie nicht überschreiten darf. Sie 
werden über Österreich sehr wenig Artikel darin finden. 
Die hiesige Bevölkerung hat eine gutmütige Trägheit des 
Geistes, daneben Sinn für Anstand und gute Sitte. Sie 
kümmert sich wenig um die auswärtigen Zustände, aber 
sie will doch erfahren, was in der Welt vorgeht. Sie be- 
trachtet aber die Dinge, wie man einen Roman liest zur 
Unterhaltung oder in's Theater geht. Sie nimmt keinen 
ernsten Anteil daran. Sie ist innerlich zufrieden und ver- 
gnügt; es ist ihr rundum wohl. Es fehlt ihr auch Nichts. 
Von der Revolution hat sie nur die eine Seite kennen ge- 
lernt, die Leiden und Plagen des Kriegs. So hat sie die 
Apostel der Freiheit erfahren und weiss, was dieselben 
bringen. (Ich dachte, die Jugend habe doch auch die an- 
dere Seite kennen gelernt und daran Geschmack gefunden.) 
Vom Westen her kommt das radikale Wesen zu uns heran. 
Aber wenige Stunden von Wien im Osten haben wir das 
ungarische Wesen vor uns. Die Wiener betrachten beides 
aus der Feme, als ob es sie nicht näher anginge. Es ist 
schwer, die ungarischen Zustände zu verstehen. Die Un- 
garn verstehen sie selber nicht. Der Charakter ist der 
einer vollständigen Confusion. Man möchte meinen, aus 



cap. 25.] Fürst Metternich. 333 

all' dem wilden Treiben und Jagen werde eine Revolu- 
tion hervorgehen. Gewiss nicht. Das Ende wird eine 
Reform sein, und die ist ganz gut und nötig. Ich ver- 
stehe unter Reform eine Verbesserung der Zustände auf 
der Grundlage des Bestehenden. Sehr schwierig sind die 
preussischen Zustände, seitdem man, ich erlaube mir das 
zu sagen, eine Reihe von Fehlgriffen gemacht hat. Der 
König von Preussen (Friedrich Wilhelm IV.) ist ein sehr 
schätzenswerter und edler Mann. Seine Gesinnungen sind 
gut, und nicht so, wie sie jetzt scheinen. (!) Ich weiss, 
dass er sehr ernstlich daran denkt, auch die Presse wieder 
zu zügeln. Aber die Dinge sind schon sehr weit gekom- 
men. Er kann nicht, wie er will. Wir — und dabei 
klopfte er mit dem Zeigfinger energisch auf den Tisch — 
werden die Censur sicher nicht aufgeben. Auf die aus- 
wärtigen Zeitungen kann man nur auf der Post pränume- 
rieren, wenn wir es zugeben. Deshalb haben wir auch 
die Allgemeine Zeitung noch einigermassen unter der Fuch- 
tel (! ?). Macht sie es zu arg, so verbieten wir der Post, 
Bestellungen anzunehmen." 

Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass in der 
Schweiz den radikalen Blättern doch conservative gegen- 
übertreten, während es in Deutschland auch nicht Ein 
tüchtiges conservatives Blatt gebe. 

Darauf bemerkte er: „Ich habe über diese schwie- 
rige Sache seit 25 Jahren viel nachgedacht. Schon das 
Wo? ist nicht leicht zu bestimmen. In Osterreich könnte 
das nicht geschehen. Unsere Verhältnisse gestatten es 
nicht. Frankfurt wäre ein ausgezeichneter Ort dafür. Es 
ist der centralste Punkt in Deutschland. Alle Nachrichten 
laufen da zusammen. Wenn die Zeitung vorwiegend po- 



334 Fürst Metternich. [cap. 25 

lemisch wäre, so würde sie nicht gelesen. Sie muss vor 
Allem neue Nachrichten bringen/ 

Als ich bemerkte, ein conservatives Blatt, welches 
auf die öffentliche Meinung Einfluss gewinnen wollte, müsste 
eine sehr freie Sprache führen und auch wahrhaft frei 
sein, erwiderte der Fürst: „Versteht sich; aber gerade des- 
halb müsste das Blatt ausserhalb Osterreich's erscheinen. 
Wir würdan dasselbe dann hereinlassen, wie jede fremde 
Zeitung. Ich würde ein solches Unternehmen auf's äusserste 
unterstützen, wenn ich nur den Mann wüsste, der sich 
eignete, es zu redigieren. Ein solcher Redacteur müsste 
die politischen Verhältnisse genau und aus Erfahrung ken- 
nen, er müsste ein Statsmann sein. Ich selbst habe wohl 
zwanzigmal gesagt: Wäre ich nicht im Cabinet, sondern 
ausgetreten aus dem Statsdienste, so hätte ich mich wohl 
geeignet, und auch die Lust dazu gehabt, ein solches Blatt 
zu dirigieren. Ich wollte ein gutes Blatt geliefert haben. 
So aber kann ich es nicht machen; und habe nie Jemand 
gefunden, der es übernehmen könnte. Es ist eine äusserst 
schwierige Sache." 

Im Allgemeinen hatte ich den Eindruck bekommen, 
dass der Fürst jeden geistigen Kampf zu vermeiden und 
fem zu halten wünschte und vorzugsweise auf die phy- 
sische Statsmacht in seiner Hand vertraue. Es kam mir 
vor, als denke er: „Mich halten die Dinge noch aus. Wenn 
ich sterbe, so mögen die Nachkommen zusehen, wie sie 
mit den gährenden Kräften fertig werden. Apres moi le 
deluge." 

Das Schicksal hat durch diese Rechnung einen bösen 
Strich gezogen. Es hat ihm den Schmerz nicht erspart, 
den Zusammensturz seiner Herrschaft noch im Greisenalter 



cap. 25.] Hofrat Jarcke. 335 

ZU erleben. Fünf Jahre und einige Monate später, als dieses 
vertrauliche Gespräch gehalten worden, waren die „geistes- 
trägen, gemütlichen Wiener*" in heller Empörung aufge- 
flammt wider das Metternich'sche Regiment. Ich sah den 
Fürsten im Jahre 1848 noch einmal, aber nur aus der 
Ferne und zufallig in dem Bahnhofe zu Bamberg, als er, 
ein politischer Flüchtling, Wien verlassen hatte und am 
Rhein ein ruhiges Asyl aufsuchte. Der furchtbare Wechsel 
der Macht erregte meine innere Teilnahme lebhaft, aber 
ich hatte keine Gelegenheit, dieselbe zu äussern. 

In Wien sah ich auch zuweilen den Hofrat Jarcke, 
der in der Statskanzlei angestellt war. Jarcke war Con- 
vertit. Er erzählte mir über seine Bekehrung Folgendes: 
„Den ersten Anstoss, katholisch zu werden, erhielt ich in 
Bonn. Ich hatte so wenig, als die meisten anderen Pro- 
testanten eine religiöse Erziehung empfangen. Ich war 
bereits Privatdocent in Bonn, als eines Tages ein Student 
mir die Kunde brachte, Neander habe im CoUeg zu Berlin 
gesagt, die Menschen bedürften von Zeit zu Zeit einer un- 
mittelbaren Erweckung durch die göttliche Gnade, weil sie 
in sich selber nicht die eigene Kraft finden, um auf der 
rechten Bahn zu verharren. Die höchste Einwirkung der 
unmittelbaren göttlichen Gnade sei die Sendung Christi 
auf Erden. Die göttliche Natur habe sich selbst in Men- 
schengestalt in Christus geoffenbart. Der Student bemerkte 
dazu, wenn das wahr ist, dann sind wir mit unserem Un- 
glauben auf dem Holzwege. Diese Mitteilung machte auf 
mich den stärksten Eindruck. Plötzlich ergriff der Ge- 
danke mein ganzes Wesen: Dann haben die Katholiken 
doch Recht mit ihrer Verehrung der „Mutter Gottes". 
Daraufhin studierte ich die Augsburger Confession und die 



336 Hofrat Jabcke. [cap. 25. 

Tridentiner Concilienbeschlüsse und beschäftigte mich mit 
der Geschichte der Reformation. Es blieb mir zuletzt nur 
die Wahl übrig zwischen der Autorität der katholischen 
Kirche und der Autorität der protestantischen Kirche. Jene 
erschien mir sicherer und grösser. Ich ward Katholik." 

Jarcke sieht finster in die Welt. Er hält Deutsch- 
land, wenn nicht für verloren, doch für sehr krank. In 
Frankreich habe sich die Revolution als hitziges Fieber 
erwiesen, in Deutschland könnte sie als schleichendes Fie- 
ber die Kräfte aufzehren. Er ist überzeugt, wenn es zu 
einem Kriege käme, so würde Preussen dem Radikalismus 
die Schlüssel des Hauses übergeben und sagen: „Macht 
was Dir wollt." 

Von Thatkraft bemerkte ich da noch weniger als bei 
dem Lenker der österreichischen Monarchie. Jarcke sagte 
mir einmal: „Wenn Sie mir heute demonstrieren, ich müsse 
um eines politischen Zweckes willen die Salons besuchen, 
und wenn ich mich überzeuge, dass Sie Recht haben, so 
thue ich's doch nicht. Ich bin nun 41 Jahre alt und das 
Salonleben ist mir zuwider. Ich mag nicht hinein. Gerade 
so ist*s mit der grossen Politik. Die Antecedentien hängen 
sich an. An diesen hat man zu schleppen; man kommt 
nicht aus den alten Gewohnheiten heraus. Wollen Sie, 
dass der Bär auf einmal hüpfe wie ein Eichhörnchen? Er 
wird's bleiben lassen. Hier kann man recht sehen, wie 
wenig die Menschen und wie sehr die Ereignisse die Po- 
litik machen. Die Frage ist gewöhnlich nicht die: „Was 
werden wir nun in diesem FaUe thun?", sondern die: „Was 
werden diese Personen mit ihrer Natur und ihren Ante- 
cedentien in diesem Falle thun oder lassen?" 

In der That, man konnte den Verzicht auf eigenes 



cap. 25.] Hofrat Jabcke. 337 

Handeln nicht weiter treiben. In dieser Resignation war 
die Verzweiflung. Jarcke teilte mir auch eine Probe mit 
von der Weisheit der österreichischen Censur, die nicht 
einmal den „Österreichischen Beobachter", den Presslakaien 
der Statskanzlei, verschonte. Der Beobachter hatte nach 
englischen Zeitungen berichtet, Lord Aberdeen habe den 
Don Miguel ein Ungeheuer genannt. Der Censor strich 
nun das Wort Ungeheuer und machte einen Gewalthaber 
daraus. Tags darauf aber erschien die nicht in Osterreich 
censierte Allgemeine Zeitung in Wien und brachte das 
richtige Ungeheuer zu Markte, zum hellen Gelächter der 
Wiener, die man mit dem Gewalthaber hatte abspeisen 
wollen. 

Jarcke hatte eine grosse Verehrung für den Jesuiten- 
orden und den Jesuitengeneral Rootenhaan aus Amsterdam. 
Er findet indessen ihre Seelsorge vorzüglicher als die Er- 
ziehung. Übrigens versicherte er mir, es werde von Wien 
bei den Jesuiten selber entschieden eingewirkt, dass sie 
nicht nach Luzern gehen. Die späteren Ereignisse be- 
wiesen aber, wie wenig der furchtsame Rat der öster- 
reichischen Regierung dem fanatischen Eifer des Ordens 
das Gegengewicht zu halten vermochte. 

Ergötzlicher war es mir, von Jarcke zu hören, dass 
auf der Universität das Naturrecht ex officio ganz im 
Sinne des Contrat Social von Rousseau gelehrt werde, und 
Haller's Restauration der Statswissenschaft, das Hauptwerk 
der legitimistischen Reaction, verboten sei. Jarcke meinte, 
glücklicherweise werde in Wien sehr wenig studiert, so 
dass jene radikalen Theorien doch nicht tief sitzen und 
bald wieder vergessen werden. 

Wie abergläubisch Jarcke bereits geworden war, davon 

BlnntRchli, Dr. J. C, Aiifl racinom Loben. I, 22 



338 Beziehungen Österreichs zu Rüssland. [cap. 25. 

bekam ich zum Abschied noch eine Probe. Er erzählte 
mir da die wunderbare Bekehrungsgeschichte, ich weiss 
nicht mehr welches Juden in Rom vor einem Gnadenbilde 
der „Mutter Gottes". Dann übergab er mir eine geweihte 
Medaille mit dem Stempel dieser Mutter Gottes zum An- 
denken und im Glauben, dieses Bild werde mich bekehren. 
Vergebens erklärte ich ihm, solcher Zauber wirke gar nicht 
auf meine Natur. Er meinte schlau, das werde sich fin- 
den, und um ihn zu beschwichtigen, steckte ich das Zauber- 
metall lächelnd in die Tasche. Ich habe niemals eine an- 
dere Wirkung davon verspürt, als die des Bedauerns über 
die Dummheit der Menschen. 

Am deutlichsten trat mir in Wien die völlige Im- 
potenz vor Augen in den Beziehungen Österreichs zu Russ- 
land in den serbischen und montenegrinischen Angelegen- 
heiten. Russland hatte sich augenscheinlich beider be- 
mächtigt. Darüber war man in Wien sehr unzufrieden. Alle 
Welt verlangte ein energisches Auftreten der österreichi- 
schen Regierung, und alle Welt beruhigte sich erst mit 
den stillen HofiEnungen, es werde etwas geschehen, und 
sodann bei der vollendeten Thatsache, dass Russland mit 
Vorwissen und Zulassung Österreichs vertragsmässig eine 
Schutzhoheit über Serbien erlangt habe. Man machte dem 
Arger durch schlechte Witze Luft und duselte ruhig 
weiter. 

Der Patriarch von Konstantinopel ist gegenwärtig 
eine Creatur von Russland. Auch das hat man ruhig ge- 
schehen lassen. An diesem Faden zieht der Czar die grie- 
chischen Popen in der Türkei, und deren Einfluss auf das 
unwissende Volk ist gross. So lässt man die Birne sich 
ulem Norden zuwenden und reif werden, in der Hoffnung, 



cap. 25.] HücKREisE über München. 339 

sie werde dereinst von selber Russland in den Schoos 
fallen. Und doch wird Europa schwerlich das gestatten. 

Auf der Rückreise kam ich durch München. Ich 
hatte keine Ahnung davon, dass München für mich eine 
neue Heimat werde. Ich besuchte Thiersch, der schon 
ein alter Herr war, aber voll Freundlichkeit und gesprächig. 
Er machte mir den Eindruck eines politisierenden Gelehrten, 
nicht eines handelnden Statsmannes. In die zwanglose 
Gesellschaft wurde ich als Gast eingeführt. Sechs Jahre 
später wurde ich Mitglied derselben und bin noch dankbar 
für die vielen geistigen und geselligen Genüsse, welche die 
Gesellschaft darbot. Damals sah ich da Professor Mass- 
mann, einen Germanen mit gescheiteltem Haar und ehr- 
lichem Herzen, den Baron Rotenhahn, Vicepräsident der 
zweiten Kammer, einen Mann von wohlbehäbigem, mild- 
ernstem Aussehen und liberaler Gesinnung, den bayerischen 
Dichter Franz Kobell, der, obwohl in der Pfalz geboren, 
dennoch es liebte, in der altbayerischen Mundart zu spre- 
chen, Professor Neumann, den China-Reisenden. 

Ich besuchte auch den damals leitenden Minister Abel, 
der ganz der katholischen Richtung angehört und offenbar 
ein Gemüts-, nicht ein Verstandesmensch ist. Er sprach 
die Worte: „Es ist wohl wahr" mit jenem gezogenen, das 
Erbarmen des Himmels herbeirufenden, feierlichen Tone 
der Frommen, der mich immer zum Lächeln reizt. 

Dem König Ludwig I. machte ich meine Aufwartung. 
Beim Empfang und beim Abschied hob er meine Jugend 
hervor: „Sehr erfreut, sehr erfreut, noch so jung; sehr 
gut." Ich kam mir selber gar nicht mehr so jung vor, 
mit meinen 34 Jahren. Den Eindruck, den mir der König 
machte, fasste ich in folgender Aufzeichnung zusammen: 

00* 



340 König Ludwig I. [cap. 26. 

„Offenbar ist eine merkwürdige Verbindung entgegengesetz- 
ter Eigenschaften in dem König. Es ist ein grosser Zug 
und sogar etwas Liberales in ihm. Seine Kunstschöpfungen 
und seine Schriften zeugen dafür. Daneben aber zeigt sich 
unverkennbar etwa^ ältlich Absolutistisches, das gegen- 
wärtig das Übergewicht erlangt haben mag.'* 

Als ich ihn 1848 wieder sah, war eben die Revolu- 
tion in München ausgebrochen. 



26. 

Fortschritte der liberal-conservativen Partei im Grossen Rat. 
Der «Republikaner" Fröbel's. Herwegh. Bruno Bauer. An- 
näherung der Parteien. Schneider Weitling. Der Communisten- 
bericht. Schweizerische Postconferenz in Zürich. Redaction des 
privatrechtlichen Gesetzbuchs für Zürich. Meine Ansichten und 
Vorsätze. Die Sterblichkeit der geschichtlichen Familien. Psy- 
chologisches. Gegensatz der Menschen mit Geistesströmung und 
mit Gemütsströmung. Besuch bei Friedrich Rehmer in München. 

Als der neue Grosse Rat nach den Maiwahlen 1842 
zusammentrat, standen sich die beiden Hauptparteien so 
ziemlich in gleicher Stärke gegenüber. Die Besorgnis lag 
daher nahe, dass sie sich wechselseitig hemmen, und schliess- 
lich der Grosse Rat nach der Formel 1 — 1 = zur Ohn- 
macht verurteilt sei. Indessen bald gewann die liberal- 
conservative Partei in den Verhandlungen und Abstim- 
mungen ein allmälich wachsendes Übergewicht. Es kam 
ihr freilich zu gute, dass sie in der Regierung die ent- 
schiedenie Mehrheit besass. Aber mehr noch wirkte der 
Unterschied der geistigen Mittel und Kräfte. 

Die liberal-radikale Partei lebte, soweit sie einheimisch 



cap. 26.] Die DErtscHEN Radikalen in Zürich. 341 

war, vorzüglich von den Erinnerungen der Dreissigeijalire. 
Ihre beiden bedeutendsten Führer, Keller und M. Hirzel, 
waren geschieden. Die Partei hatte die Redaction des 
schweizerischen Republikaners Julius Fröbel überlassen, 
aber dieser verfolgte im Verein mit seinen deutschen Partei- 
genossen damals eine so extreme doctrinär-radikale Politik, 
dass sie für die schweizerische Partei völlig ungeniessbar 
ward. In dem Verlage des litterarischen Comptoirs von 
Fröbel erschienen die „Ein und zwanzig Bogen aus der 
Schweiz" von G. Herwegh, welche ganz unverhüllt das 
Christentum und die Monarchie als „himmlische und irdi- 
sche Tyrannei" dem Hasse der Völker zur Beseitigung 
empfahlen und von einer Allianz des deutschen philoso- 
phischen Geistes, welcher die Religion ausrotte, und des 
französischen politischen Geistes, welcher mit der Gleich- 
heit Ernst mache und den Communismus herstelle, die Ver- 
besserung der Welt erwarteten. Ebenso erschien damals in 
derselben Verlagshandlung die Schrift von Bruno Bauer: 
„Das entdeckte Christentum." Darin wird das religiöse 
Bewusstsein als eine Zusammensetzung „aus Neid und 
Bosheit" erklärt und gesagt, die christliche Religion über- 
treffe alle anderen an Bosheit und Grausamkeit. Es steht 
darin der grauenhafte Satz: „Selbst der Name Gott, der 
nur erwähnt zu werden braucht, um wenigstens das Ge- 
fühl einer öden Langeweile zu erregen, muss zum Besten 
der menschlichen Heiterkeit und des Frohsinns gemieden 
werden." Der Republikaner äusserte sich mit weniger 
Offenheit, aber es bedurfte keines besonderen Scharfblicks, 
um durch die dünne Verhüllung die Züge desselben tollen 
Wesens zu erkennen, das sich in jenen Schriften austobte. 
Der liberal-conservative Beobachter aus der östlichen Schweiz 



342 AknXhebung der schweizerischen Parteien. [cap. 26. 

benutzte diese Auswüchse der Käserei, um den schweize- 
rischen Radikalen die Abgründe aufzudecken, in welche 
die Lenker ihrer Presse sie hinunter zu reissen sich be- 
mühten. Der Grosse Rat billigte es mit grosser Majorität, 
dass die Regierung dem politischen Flüchtling Herwegh 
nicht gestattete, das neutrale Asyl Zürich's zu revolutio- 
nären Angriffen auf die deutschen Staten auszubeuten. 
Noch entscheidender war es, dass die Führer der liberal- 
radikalen Partei im Grossen Rat sich öffentlich von jeder 
Gemeinschaft mit jenen Gedanken lossagten und erklärten, 
die gegenwärtige Redaction des Republikaners verfolge 
Tendenzen, welche sie nicht billigten. Fröbel trat darauf- 
hin von der Redaction zurück. 

Die liberal-conservative Partei dagegen hatte durch 
die Rohmer'sche Parteienlehre ein Princip gewonnen, mit 
dem sich höchst wirksam operieren und kämpfen liess. 
Sie war erfrischt und belebt durch neue Ideen. Die Über- 
legenheit ihrer Führer an Geist, Gewandtheit und Energie 
wurde auch von den Gegnern anerkannt. 

Allerdings war diese Partei für sich zu schwach, um 
allein die Politik zu leiten. Eine gründliche Befriedigung 
forderte eine Verstärkung der liberalen Elemente, welche 
nur durch eine Verbindung mit den Liberal-Radikalen zu 
gewinnen war. Indessen war dieses Ziel, das ich nie aus 
den Augen verlor, offenbar näher gerückt, seitdem die re- 
formatorischen Absichten der Regierungspartei deutlicher 
hervortraten, und die Oppositionspartei die communistischen 
und atheistischen Extreme von sich stiess. 

Im Sommer war der deutsche Schneider W. Weit- 
ling, aus Magdeburg gebürtig, ein Agitator für den Com- 
munismus, nach Zürich gekommen in der Absicht, hier 



f 



cap. 26.] Schneider Weitung. 343 

eine neue communistische Schrift „das Evangelium des 
armen Sünders" herauszugeben und einen communistischen 
Verein zu gründen. Schon vorher hatte er in Lausanne 
eine Brochüre veröffentlicht „Garantien der Harmonie und 
Freiheit**, in welcher er die communistischen Ideen und 
Plane verkündete. Als das Heil der Welt wird die durch- 
geführte Gleichheit Aller betrachtet, und demgemäss die 
Abschaffung des States, mit seiner die Ungleichheit vor- 
aussetzenden Unterordnung, des Geldes, des Eigentums, 
überhaupt der Umsturz aller bestehenden Ordnung em- 
pfohlen, und die Neubegründung einer neuen gleichen Ge- 
sellschaft ohne Stat, ohne Kirche, ohne Vaterland in voller 
gleicher Lebensgemeinschaft aller Menschen gepriesen. 

Dass eine solche Umwälzung nicht durch geistige 
Mittel zu bewirken, sondern nur durch gewaltsame Auf- 
stände der vermögenslosen fanatisierten Massen zu voll- 
ziehen sei, gestand Weitling offen zu. Als neues Gesetz 
verkündete er: „In jedem Dorf, in jeder Stadt und in jedem 
District, wo drei Viertel der Einwohner dafür stimmen, 
ihre Güter in Gemeinschaft zu geben, muss sich das letzte 
Viertel fügen." Wenn der Widerstand der Regierungen 
fortdaure, so droht er, einen fürchterlichen „Brander" los- 
zulassen und „eine Moral zu predigen, die noch Niemand 
zu predigen wagte, welche seiner Partei Streiter zuführen 
werde, deren Mitwirkung sie bis jetzt noch verabscheue." 
Die Brandstiftung der Pariser Petroleusen hat im Jahr 
1871 eine schauerliche Illustration zu dieser Äusserung 
von 1843 geliefert. 

Die Schweiz war für die Wühlerei deutscher Com- 
munisten deshalb als Versuchsfeld ausersehen worden, weil 
die Führer hofften, hier leicht unter den zahlreichen, von 



344 I^EB CoMMtlNiaTENBERICHT. [CRp. 26. 

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der Heimat und der Familie abgelösten deutschen Gesellen 
einen Anhang zu finden, und in dem freien Lande auch 
weniger Hindemisse für ihr Treiben erwarteten. Im Übri- 
gen war die Schweiz für den Communismus kein günstiger 
Boden. Die grosse Masse der Bürger war keineswegs ver- 
mögenslos, und jeder Hausvater war geneigt, wie für seine 
Familie einzustehen, so auch sein Vermögen gegen die 
Raubgier zu verteidigen. Auch die arbeitenden Classen, 
ohne Grund- und Capitalbesitz, fanden doch ausreichenden 
Lohn und hatten keinen Grund zur Verzweiflung. 

Die Regierung hielt es für notwendig, ohne Verzug 
dieser drohenden Gefahr einer verbrecherischen, commu- 
nistischen Wühlerei entgegenzuwirken. Weitling wurde 
verhaftet und dem Gerichte zur Bestrafung zugewiesen, 
das ihn schliesslich zu einer mehrwöchentlichen Haft ver- 
urteilte* Das Hauptmittel aber, welches gegen die Com- 
munisten ergriffen wurde, bestand in der Enthüllung ihrer 
Absichten und in der Veröffentlichung der bei Weitling 
vorgefundenen Correspondenz. Der Bericht der Regierungs- 
commission „über die Communisten in der Schweiz", den 
ich verfasst habe, erkennt an, dass in den gegenwärtigen 
wirtschaftlichen Zuständen manche Übel sich zeigen, die 
einer Heilung bedürfen; aber er warnt zugleich davor, die 
Heilung von den Communisten zu erwarten, welche die 
Welt mit viel grösseren Übeln bedrohen. 

Der Bericht weisst darauf hin, dass das Princip der 
Gleichheit aller Menschen, einseitig gefasst, notwendig in 
seinen logischen Folgerungen zum Communismus führe, und 
stellt der Wahrheit, dass alle Menschen als Menschen 
gleich seien und Alle ein Recht auf eine menschliche 
Existenz haben, die ergänzende Wahrheit gegenüber, dass 



Cap. 26.] ScffWEIZEBISCHE POSTCONFEBENZ IN ZÜRICH. 345 

ebenso alle Menschen als Individuen ungleich seien, 
und dass daher neben jener natürlichen Gleichheit auch 
diese ebenfalls natürliche Verschiedenheit zu beachten sei. 
Damit ist in der That die Frage principiell in das rechte 
Licht gesetzt. 

Diese Zurückweisung des communistischen Wahnsinns 
rief eine Menge von Schriften und Gegenschriften wach. 
Der Kampf des Stats gegen den Communismus wurde noch 
einige Jahre fortgesetzt, auch in anderen Cantonen der 
Schweiz. Die eigentliche communistische Schule konnte 
nirgends recht gedeihen; auch die radikalsten Schweizer 
bewährten doch den nationalen Charakterzug des Schwei- 
zers, welcher bekanntlich das Geld und den Vermögens- 
erwerb hoch schätzt. 

Eine Folge meiner Verhandlung in Wien über die 
Fostverhältnisse zu Osterreich war die Versammlung einer 
schweizerischen Postconferenz in Zürich im August 
1843. Das Postwesen war damals noch nicht Sache des 
Bundes, sondern gehörte den Cantonen an. Eine allge- 
meine Reform war daher nur schwer möglich auf dem 
Wege der Verträge unter den Cantonen, der sogenannten 
Concordate. Zu diesem Behuf wurden die Vertreter der 
anderen Cantone nach Zürich eingeladen. Mir wurde die 
Ehre zu teil, die Conferenz zu präsidieren, welcher es 
wirklich gelang, den Transit zu erleichtern, die Taxen für 
Briefe zu ermässigen und zu vereinfachen und so der spä- 
teren durchgreifenderen Reform des Bundes vorzuarbeiten. 

Meine besten Kräfte waren aber damals einer wich- 
tigeren Reformbestrebung gewidmet, der Redaction des 
neuen privatrechtlichen Gesetzbuches für den Can- 
ton Zürich, die mir übertragen war. Auch der neue Grosse 



346 Redaction des ZCricheb privatrechtl. Gesetzbuchs, [cap. 26. 

Rat bestätigte den Auftrag. Der Parteihader, der sonst 
bei jeder Frage leicht entflammte, verstummte hier. Das 
Werk wurde von beiden Hauptparteien mit Vertrauen und 
Zuneigung betrachtet. In der Gesetzes-Commission sassen 
Conservative, Liberale, Absolutisten und Radikale friedlich 
beisammen, und niemals wurden die Abstimmungen nach 
den Stichwörtern und dem Commando der Parteiführer 
entschieden; jeder prüfte und erwog die Gründe und Mei- 
nungen der Anderen möglichst frei und unbefangen. Jeder 
wollte das Recht, Keiner einen Parteisieg. Die Meinung 
des Redacteurs fiel zwar bei den Anderen schwer in's Ge- 
wicht; aber auch der Redacteur liess sich willig belehren. 
In dem Beobachter aus der östlichen Schweiz (Ar- 
tikel vom 9. und 19. Januar und 2. und 6. Februar 1844) 
sprach ich mich aus: 

1) Über die Aufgabe der neuen Gesetzbücher. 
Das Bedürfnis privatrechtlicher Gesetzbücher in der Schweiz, 
wie in Deutschland, wird darin durch den Hinweis auf die 
Verwirrung begründet, in welche die Rechtsbildung durch 
den Widerstreit römisch-rechtlicher, deutsch-rechtlicher und 
moderner Elemente geraten sei, welche nicht durch die 
Wissenschaft und die Schule, sondern nur durch die Ge- 
setzgebung zu überwinden sei. Dem Gesetzgeber wird die 
liberale Aufgabe gestellt, unbekümmert um den Streit der 
Gelehrten in dem Quell des lebendigen Geistes zu schöpfen 
und von dem Bewusstsein der heutigen Menschheit aus 
das, was als notwendig mit Sicherheit erkannt ist, soweit 
es klar ist und zu dem ganzen Rechtssystem passt, soweit 
es wirklich volks- und zeitgemäss ist, als Gesetz neu aus- 
zusprechen und zur Anerkennung zu bringen. 

2) Über die bisherigen neuen Gesetzbücher, das Preus- 



cap. 26.] Meine Ansichten und Vorsätze. 347 

sische Landrecht, das Osterreichische Gesetzbuch 
und den Code Napoleon. Die Charakteristik und Wert- 
schätzung dieser Werke weicht erheblich ab von der Sa- 
vigny's. Insbesondere wird der Code civil der Franzosen 
viel günstiger beurteilt. 

3) Über die bisherigen schweizerischen Gesetz- 
bücher, die sich in der französischen Schweiz an den 
Code Napoleon, in der deutschen Schweiz an das Oster- 
reichische Gesetzbuch anlehnen, wenn auch im Einzelnen 
mit Beachtung der einheimischen Rechtsbildung und der 
neueren Wissenschaft. 

4) In dem vierten Artikel wird der Vorsatz und die 
Aufgabe der Zürcherischen Redaction besprochen. Es 
soll ein neuer Vei*such gemacht werden, den Widerstreit 
der römischen und deutschen Institutionen und Rechtssätze 
harmonisch auszugleichen und auf der Grundlage der ge- 
schichtlichen Entwickelung die Bedürfnisse der modernen 
Gesellschaft zu befriedigen. 

Aus meinen damaligen Aufzeichnungen erwähne ich 
einen Gedanken, der mich oft beschäftigt hat, die 
„Sterblichkeit der geschichtlichen Familien". 

„Wenn man nach dem Ursprung der gegenwärtig 
lebenden Geschlechter und Familien fragt, so überzeugt 
man sich sofort, dass sich derselbe im Dunkel der Vorzeit 
verliert. Wir wissen innerhalb der uns bekannten Ge- 
schichte der Menschheit von keinen neuen Schöpfungen 
von Menschen. Die heutigen Menschen sind mit den er- 
sten Menschen durch eine lange, niemals abgebrochene 
Kette von Zeugungen verbunden. Sie sind die Nach- 
kommen jener, nach dem semitischen Sprachgebrauch von 



348 ^^^ Sterbjlichkeit deb geschichtlichen [cap. 26. 

Adam und Eva.« Insofern also sind alle vorhandenen Fa- 
milien von gleichem Alter. Alle haben vieltausendjährige 
Ahnen. 

„Aber zu einem ganz andern Ergebnis gelangt man, 
wenn man die gegenwärtigen Geschlechter und Familien 
nach ihrem geschichtlich bekannten Alter prüft und 
bemisst. Da bemerkt man, dass die enorme Mehrzahl der- 
selben nur ein kurzes Alter geschichtlich nachzuweisen 
vermag, dass nur eine kleine Minderzalil sich auf ein ge- 
schichtliches Leben von mehreren Jahrhunderten berufen 
kann, dass Familien von über fünf hundertjähriger Geschichte 
schon sehr selten sind. In Zürich z. B. gibt es nur ganz 
wenige Familien, welche schon im dreizehnten Jahrhundert 
bekannt waren. In der Schweiz kenne ich einzig die Fa- 
milie Tschudi, welche eine tausendjährige Geschichte hat, 
und keine Familie, welche in die Römerzeit hinaufreichte. 
Auch die berühmten Adels- und Fürstengeschlechter kön- 
nen sich nur ganz selten auf eine tausendjährige Geschichte 
berufen. Was will das heissen gegenüber jener unbezwei- 
felten Voraussetzung eines vieltausendjährigen Zusammen- 
hanges aller Familien mit den ursprünglichen Stammes- 
eltern des Menschengeschlechts? 

„Es besteht folglich ein Gegensatz der bekannten 
und der unbekannten Familien. Diese pflanzen sich durch 
die Jahrtausende ohne Ende im Stillen fort. Aber jene, 
die gewissermassen in das Licht der Geschichte eintreten 
und bekannt werden, verfallen dem Gesetze einer nach we- 
nigen Jahrhunderten bemessenen Sterblichkeit. Die Kräfte 
der geschichtlichen Familien werden von der Geschichte 
aufgezehrt; und wenn sie ihre Eigentümlichkeit zu Tage 
gefördert und den Vorrat ihrer besonderen Familienanlage 



cap. 26.] Familien. — Psychologisches. 349 

im Leben erschöpft haben, gehen sie unter. Die Zeit ver- 
schlingt so ohne Erbarmen ihre Kinder. 

„Dieses Gesetz der geschichtlichen raschen Sterblich- 
keit gilt unzweifelhaft für die höchsten geschichtlichen, für 
die europäisch-arischen Völker. Es gibt in Europa keine 
Familie, welche nachweisbar von den alten berühmten Hel- 
lenen, Römern, Kelten, Germanen abstammt. Ob es ebenso 
wirke bei den Semiten und bei den Chinesen und Indiern, 
bedarf der näheren Prüfung. 

„Es scheint, dass die Völker und die Staten dem- 
selben Gesetze unterliegen. 

„Wenn die Menschheit in ihre höhere Altersperiode 
eingetreten sein wird, — was freilich erst nach vielen 
Jahrtausenden geschehen sein wird — , dann werden die 
Familien, welche bis dahin fortwährend im Dunkel ge- 
blieben sind, endlich auch zu geschichtlichem Leben ge- 
langen und ihre Eigenart entfalten. Die Unterlage geht 
dann in die Eigenschaft über und wird von deren Leben 
aufgezehrt. Das Alter der Menschheit wird demokratisch 
sein, indem es auch die tieferen Schichten der Bevölkerung 
zu geschichtlicher Bedeutung emporhebt. Ist das gesche- 
hen, dann sind auch die Kräfte ausgeschöpft und ver- 
braucht, welche der Anlage der Menschheit eingepflanzt 
sind. Dann ist auch die Geschichte der Menschheit zum 
Ende gekommen." — 

Mit Theodor Rehmer, der noch eine Weile in 
Zürich zurückgeblieben war, dann aber seinem Bruder nach 
München nachfolgte, wurden psychologische Studien getrie- 
ben und Anwendungen der XVI Grundkräfte auf mensch- 
liche Erscheinungen und Werke versucht. Aus den Mit- 
teilungen von Friedrich Rehmer ergab sich, dass er 



350 Unterschied von Geistes- und Gemütsströmung. [cap. 2G. 

immer noch den Stein des Sisyphus, die „Logik", den Berg 
hinaufwälze, ohne zur Ruhe zu kommen. Der Grundfehler 
der Speculation (Anfang und Ende), Gott als Unterlage zu 
fassen, so dass dann der Mensch und die Natur als Eigen- 
schaft daraus hervorging, war noch nicht erkannt. Ver- 
gebens mühte er sich ab, um auf dieser Basis den Bau 
der logischen Erkenntnis aufzuführen. Was er immer für 
künstliche Mittel erfand, um dem Bau festen Halt zu ver- 
schaffen, es half Nichts. Das Gezimmer versank in dem 
weichen Boden, wie in einem Sumpf. 

Dagegen wurde die Psychologie mit neuen Findungen 
bereichert. Insbesondere trat der Gegensatz der Menschen 
mit Geistesströmung und der Menschen mit Ge- 
mütsströmung nun bedeutsam hervor und bewirkte 
sogar eine Änderung in der Urliste. Dieser Gegensatz 
beruht nicht auf der individuellen Begabung mit höheren 
oder niederen Geistes- oder Gemütseigenschaften. Es kön- 
nen zwei Menschen individuell gleich begabt und dennoch 
verschieden sein, indem in dem einen die Bewegung seiner 
geistigen und gemütlichen Kräfte entweder von oben nach 
unten (vom Kopf zum Leib), oder von unten nach oben 
(vom Leib zum Kopf) geht. In der Sprache zeigt sich 
der Gegensatz äusserlich in den Brusttönen und Kopftönen; 
jene weisen eher auf Gemüts-, diese auf Geistesströmung 
hin. Menschen mit Geistesströmung zeigen anfangs eine 
überlegene Kälte, ein scharfes Wissen, eine sichere Herr- 
schaft über sich und Andere. Ihre Gemütskräfte bleiben 
zunächst verborgen und kommen erst zum Vorschein, wenn 
sie auf ernsten Widerstand stossen. Friedrich der 
Grosse, Lessing, Goethe, Voltaire waren offenbar 
Mensclien mit solcher Geistesströmung. . 



cap. 26.] Psychologische Bestimmwo der Natüb Christi. 351 

Bei den Menschen mit Gemütsströmung dagegen geht 
die Bewegung der Kräfte von der Gruppe der aufnehmen- 
den Geisteskräfte des inneren Kopfes (Aug, Phantasie, 
Combination, Gehör) in der Richtung nach den männlichen 
Gemütskräften vorw^^rts und empfangt von diesen ihre 
entscheidende Macht. Tief religiöse Individuen, aber auch 
manche Feldherren und viele grosse Redner haben offen- 
bar Gemütsströmung z. B. Mohammed, Gregor VIL, 
Luther, Gustav Adolf. Bei den Frauen überwiegt die 
Gemüts-, bei den Männern die Geistesströmung; aber sehr 
oft zeigt sich bei Neigungsehen, dass der Mann mit Geistes- 
strömung eine Frau liebt mit Gemütsströmung, oder um- 
gekehrt ein Mann mit Gemütsströmung eine Frau mit 
Geistesströmung. Wer die Menschen in ihrem Gebahren 
und Handeln beobachtet, wird sich hier bald zurechtfinden. 

Diese Findung hatte, was mich besonders interessierte, 
einen bedeutenden Einfluss auf die psychologische Bestim- 
mung der Natur von Christus. 

Früher schon wurden viele psychologische Unter- 
suchungen gemacht, um die individuelle Art, insbesondere 
der grossen Weltgenies zu ergründen. Man nahm an, dass 
diese Individuen, im Gegensatze zu den gewöhnlichen Men- 
schen, durchweg durch eine vollständige und organisch 
richtige Premirung die höchst-mögliche Personification je 
einer Entwickelungsstufe (d. i. eines Weltalters) darstellen. 
Die Typen der Urliste erhielten so eine weltgeschichtliche 
Repräsentation. Auch Jesus Christus wurde so eingereiht. 
Da er als Religionsstifter und vorzugsweise durch seine 
Liebe und Selbstaufopferung die Welt bewegt hatte, so 
wurde er aufgefasst als Personification der höchsten Ge- 
mütskraft, welche in der Urliste Geschlechtssinn genannt 



352 I^iE Natur Chbi8ti psychologisch angesehen. [cap. 26. 

wurde. Er hatte gegen Ende des Weltalters gelebt, in 
welchem ebenfalls der Geschlechtssinn als die herrschende 
Kraft wirkte. Seine Bedeutung schien somit erklärt, in- 
dem man annahm, er habe in organisch vollkommener 
Weise Geschlechtssinn in der Sprache. 

Aber damit war die alte Kirchenlehre in offenbarem 
Widerspruch, welche vielmehr Christus als den Logos, 
das lebendige Wort Gottes verehrte, ähnlich wie die 
alten Brahmanen sich selber als aus dem Munde Gottes 
entstanden, als Geistessöhne Gottes betrachtet hatten. In 
der Rehmer 'sehen Psychologie bedeutete das Sprache in 
der Sprache d. h. die denkbar höchste, göttlichste Offen- 
barung des Geistes. 

Nach der Findung des Unterschiedes von Geistes- 
und Gemütsströmung gelangte Friedrich Rehmer nun 
zu der Vorstellung, Christus sei wirklich Sprache in der 
Sprache, aber mit Gemütsströmung, und deshalb höchster 
religiöser (nicht wissenschaftlicher) Geist. 

War er Sprache in der Sprache, dann war er nach 
der Urliste zugleich Geschlechtssinn im Geschlechtssinn, 
und es war zugleich erklärt, dass sein Tod als höchstes 
Selbstopfer die unermessliche Bedeutung für die Ent- 
wickelung des Christentums bekommen hatte. 

Als wirkliche Repräsentanten des dem Zeitalter ent- 
sprechenden Typus Geschlechtssinn in der Sprache moch- 
ten dann eher Alexander der Grosse und in zweiter Linie 
Julius Cäsar gelten. 

Das Ergebnis dieser Prüfung erforderte noch weitere 
Überlegung. Aber vorerst wirkte dasselbe doch beruhigend. 

Auch das Verhältnis von Stat und Kirche empfing 
von dieser Unterscheidung ein neues Licht. Der Stat ist 



cap. 26.] St AT und Kerche. 353 

offenbar, seiner Idee nach, das Reich mit Geistes- 
strömung, die Kirche das Reich mit Gemüts- 
strömung. Deshalb isj; die Kirche mit logischen und 
wissenschaftlichen Mitteln nicht zu überwinden. Sie 
lässt sich von ihrem gemütlichen Drang bestimmen. 

Über diese und verwandte Dinge wurde viel auch 
mit Fritz gesprochen, den ich am Jahresschluss 1843 in 
München besuchte. Ich erhielt damals in München die 
günstigsten Eindrücke von seiner Person. Er schien mir 
einfacher, natürlicher, menschlicher geworden zu sein. Er 
schien das Überspannte und Überreizte in seiner Erschei- 
nung abgelegt zu haben. Offenbar hatte er nun den Höhe- 
punkt seiner Entwickelung erreicht. Dabei strahlte sein 
Geist im hellsten Glänze. Er sprach das Bewusstsein aus, 
dass er den Beruf habe, die Wissenschaft zu be- 
freien. Er wollte eine Stiftung gründen für die „frei 
gewordene Wissenschaft", die ihn überleben und die er- 
rungene Geistesfreiheit für die künftigen Geschlechter si- 
chern sollte. Ich kam ganz erfrischt und wie verjüngt 
nach Hause zurück. 

Auch Frau Mathilde Rehmer erschien mir bei 
diesem Besuche bedeutender als früher. Ihr Hauswesen 
machte einen im Ganzen wohlthuenden Eindruck, obwohl 
das richtige Verhältnis des grossen Regimentes, das dem 
Manne zukommt, und des kleinen Regimentes, das der 
Frau gebührt, noch nicht zu völlig klarer Ausscheidung 
gelangt war. 



Bluutschli, t)r. 3. C., Aus memom Leben. I, 23 



354 Politische Aufgaben und Hindernisse. [cap. 27. 

27. 

Politische Aufgaben und Hindemisse. Versuch der Schulreform 
zur Pacification gescheitert. Die eidgenössische Lage. Bern und 
Luzern. Vortreten der Extreme. Die Jesuitenberufung Lnzems 
und der Antrag Aargaus auf Verbot des Jesuitenordens. Haltung 
Zürichs. Meine Auffassung. Der erste Freischarenputsch. Stär- 
kung des Radikalismus. Die 3ürgermeisterwahl in Zürich. Meine 
und die Niederlage der Liberal-Conservativen. 

Im Jahr 1845 ging die vorörtliche Leitung der Schweiz 
an die Regierung des Cantons Zürich über. Für diese ent- 
scheidende Periode sollte dieselbe alle vorhandenen Kräfte 
des Geistes und Charakters sammeln und anstrengen. Das 
war freilich nur möglich, wenn eine Verständigung der 
beiden Hauptparteien erreichbar war. Dann verwandelte 
sich die anfangliche Formel +1 — 1 = in die active 
Formel 1 + 1 = 2. 

In solcher Absicht fasste ich den Entschluss, mit 
den Führern der liberal-radikalen Partei im Grossen Rat, 
Dr. Furrer und alt Regierungsrat Weiss, zu unterhan- 
deln. Die Leitung des Volksschulwesens war offenbar der 
Hauptstreit der beiden Parteien. Konnte hier eine grund- 
sätzliche Vermittlung erreicht werden, so war es nicht 
mehr schwer, die Pacification des Cantons zu vollenden. 

An diesem schwierigen Punkte versuchte ich die Hei- 
lung. Ich schlug eine neue Organisation des Erziehungs- 
rates vor in dem Sinne, dass eine engere Behörde von 7 
Mitgliedern mit Rücksicht sowohl auf die höheren Schulen 
(Universität und Gymnasien), als auf die Volksschule ge- 
wählt werde zur eigentlichen Geschäftsleitung und zum 
Behuf des persönlichen Verkehrs der Erziehungsräte als 
Schulaufsicht mit den Lehrern, und dass sodann eine con- 



cap. 27.] Mein Antbao auf eine Schulrefobm. 355 

trolierende und in wichtigen Sachen mitwirkende weitere 
Behörde aus Vertretern der Geistlichkeit, der Lehrerschaft 
und des Landes dem engeren Rate beigeordnet werde. 
Wissenschaftliche und geistige Freiheit und zugleich Be- 
wahrung der christlichen Religion sollten als Grundprinci- 
pien der Volksschule anerkannt bleiben. Wurde diese Än- 
derung beschlossen, so konnte bei der Neubesetzung volle 
Rücksicht auf die beiden Parteien genommen und ein fried- 
liches Zusammenwirken derselben erreicht werden. 

Die beiden Führer der liberal-radikalen Partei hatten 
sich nicht abgeneigt gezeigt, zu einer solchen Vermittlung 
auch ihrerseits die Hand zu bieten, aber sie konnten ohne 
Anfrage bei ihren Parteifreunden keine bindende Zusage 
geben. 

In der Herbstsitzung des Jahres 1844 brachte ich den 
Antrag durch eine persönliche Motion in den Grossen Rat. 
Aber als ich in einer Parteiversammlung der Liberal-Con- 
servativen meine Ansichten entwickelte, erklärten viele 
Mitglieder der Partei, sie würden dem Antrag nur dann 
beistimmen, wenn ich gleichzeitig die Beseitigung der 
Schulsynode beantrage. Ich beging den politischen Feh- 
ler, diesem Begehren zu willfahren, statt einfach auf dem 
ursprünglichen Antrag zu beharren. Ich selber legte auf 
die Existenz der Schulsynode keinen hohen Wert und gab 
dieselbe daher allzu leicht den Beschwerden der Erziehungs- 
räte und den Angriffen der Befreundeten preis. Ich be- 
dachte zu wenig, dass dadurch die Motion für die liberal- 
radikale Partei einen gehässigen Ausdruck erhalte und 
unannehmbar werde. Hätte ich den ursprünglichen Plan 
trotz des Widerspruchs meiner Partei rein durchgeführt, 
so hätte ich wahrscheinlich einen vielleicht entscheidenden 

23* 



356 Meine Pacific ationsplane. [cap. 27_ 

Erfolg erzielt. Ein grosser Teil der Liberal-Conservativen 
hätte mir doch zugestimmt, und sicher wäre ebenfalls ein 
grosser Teil der Liberal-Radikalen beigetreten. Gerade 
diese Verbindung der mittleren Parteien entgegen den Ex- 
tremen hätte meinem Herzenswunsch entsprochen. Nun 
aber widersetzte sich die ganze liberal-radikale Partei der 
Motion, und jene wurde überdem von einer Anzahl Stim- 
men unterstützt, die überhaupt keine Änderung wollten. 
So fiel die Motion mit 94 gegen 90 Stimmen durch, und, 
was wichtiger war, mein Versuch einer innern Vermitt- 
lung der Parteien war gescheitert. 

Wäre der Plan, wie er ursprünglich gedacht war, 
durchgeführt worden, so war der entscheidende feste Bo- 
den gefunden, auf welchem ein friedliches und freundliches 
Zusammenwirken der Conservativen und der Liberalen fort- 
bauen konnte. Die Richtung der Vermittlung und Einigung 
der besseren Elemente in beiden Parteien wäre unaufhalt- 
sam und unwiderstehlich vorwäi4;s geschritten. Die ganze 
zürcherische und vielleicht die eidgenössische Politik hätte 
eine andere Wendung bekommen. Alle diese Aussichten 
verdunkelten sich infolge jenes Fehlers, dessen Grösse und 
Tragweite mir zu spät klar geworden ist. 

Immerhin blieb die Pacification des Cantons Zürich 
das nächste Ziel meiner Politik. Sie sollte eine Station 
sein auf dem Wege der Pacification der Schweiz. Gelang 
es dort, die Liberalen und die Conservativen zu versöhnen 
und zu verbinden und die radikalen und absolutistischen 
Extreme unterzuordnen, so schien es möglich, denselben 
Erfolg mit denselben Mitteln in der Schweiz zu erreichen. 
Dann war Zürich berufen, als Vorort diese Politik durch- 
zuführen. 



cap. 27.] Bern und Luzbbit. 357 

Die beiden anderen Vororte Bern und Luzern stan- 
den sich zur Zeit schroflf gegenüber. Obwohl der Volks- 
charakter der Berner nach dem Zeugnis einer mehrhundert- 
jährigen Geschichte, welches durch die nähere Bekanntschaft 
mit Bernischen Stats- und Volksmännem bestätigt ward, 
eher conservativ als liberal ist, und mehr durch männ- 
lichen Charakter als durch geistige Anlage sich auszeichnet, 
so stand damals noch der Schultheiss Neuhaus an der 
Spitze der Republik, dessen Ideen der revolutionären Doc- 
trin der Franzosen entnommen waren. Er war entschlossen, 
den Radikalismus nötigenfalls mit den Bajonetten Berns zu 
stützen. Es drohte im Jahr 1844 in der That ein Gewalt- 
act Berns gegen Luzern, der denn auch zu Ende des Jah- 
res, zwar nicht mehr als Statsaction Berns, aber als ge- 
waltsamer Freischarenzug sich entlud. 

Dem Schultheissen von Bern stand der neugewählte 
Schultheiss von Luzern, Constantin Siegwart Müller 
entgegen, das Haupt der katholischen Partei in der 
Schweiz — freilich nur das äusserlich- sichtbare Haupt, 
hinter welchem der Jesuitenorden als lenkende Macht sich 
verbarg. Siegwart, ein geborner Urner, hatte sich durch 
seine Geschäftsgewandtheit und durch seine ungewöhnliche 
Begabung in der damals noch die katholische, später die 
ultramontane genannten Partei, in der es sehr wenig wissen- 
schaftlich gebildete Männer gab, rasch emporgeschwungen 
und nun die höchste Stellung in der Schweiz als vorört- 
licher Bundespräsident erreicht. 

Die Tagsatzung des Jahres 1844 hatte sich in der 
Aargauischen Klosterfrage durch die Wiederherstellung der 
Frauenklöster als befriedigt und den ganzen Klosterstreit 
als erledigt erklärt. Indessen waren die katholischen Can- 



358 YOBTBETEN DER ExTREME. [cap. 27. 

- - - T - - I - — - - ■ — — 

tone Luzern, XJri, Schwyz, Unterwaiden, Zug und Freyburg, 
denen sich später Wallis anschloss, durch diesen Spruch 
nicht zufrieden gestellt. Sie fühlten sich in ihren durch 
die Bundesverfassung garantierten Rechten noch schwer 
verletzt und forderten w^eiter noch die Herstellung auch 
der Männerklöster im Aargau. Ein gemeinsames Kreis- 
schreiben dieser Stände begründete die Forderung. 

Der Canton Aargau begegnete dieser Drohung durch 
einen kühnen neuen Angriff gegen die katholische Partei. 
Im Mai 1844 stellte der Seminardirector Keller in dem 
Grossen Rat zu Aarau die Motion, an sämtliche eidgenös- 
sische Stände das Begehren zu richten, dass der Jesuiten- 
orden in der Schweiz von Bundeswegen aufgeho- 
ben und ausgewiesen werde. Die Motion wurde mit 
grosser Mehrheit gutgeheissen. Der Feldzug wider die 
Jesuiten war eröffnet. 

Man konnte rechtlich einwenden, dass dieser Antrag 
in dem bestehenden Bundesrechte keine Begründung habe 
und eine Verletzung der anerkannten Cantonalsouveränetät 
sei. Es konnte in moralischer Hinsicht anstössig erschei- 
nen, dass derselbe Canton, der schon einmal den confes- 
sionellen Frieden der Schweiz ernstlich gefährdet hatte, 
neuerdings durch einen zweiten Angriff den confessionellen 
Hader entzündete. Aber man konnte die politische Wahr- 
nehmung nicht bestreiten, dass der Schachzug geschickt 
und überaus wirksam war. Die Besorgnis vor den Um- 
trieben des unheimlichen Ordens konnte leicht geweckt 
und gereizt, und die Instincte des Volks, welche in den 
Jesuiten die geborenen Feinde jeder geistigen und politi- 
schen Freiheit und der ganzen modernen Cultur witterten/ 
aufgeregt werden. Diese Stimmungen und Neigungen kamen 



cap. 27.] Haltung Zübichs. 359 

der radikalen Partei sehr zu statten, welcher man die ent- 
schiedenste Energie in der Bekämpfung der Jesuiten zu- 
traute. 

Zürich, obwohl seines reformierten Charakters und 
seines reformatorischen Geistes wohl bewusst, verhielt 
sich damals noch sehr kühl dem Aargauischen Antrage 
gegenüber. Die Regierung trug dem Grossen Rate eine 
Instruction für die Zürcherischen Tagsatzungsgesandten an, 
welche anerkannte, dass der Jesuitenorden die friedliche 
Stimmung der beiden Confessionen verbittere und die freie 
Entwickelung einer nationalen Politik störe. Sie spricht 
den Wunsch aus, dass die eidgenössischen Stände, welche 
die Jesuiten aufgenommen haben, sich dem Einfluss der- 
selben entziehen, und dass einem weiteren Umsichgreifen 
des Ordens gewehrt werde. Aber zu zwingenden Beschlüssen 
der Tagsatzung könne Zürich die Hand nicht bieten, da 
die Bundesverfassung einen solchen Eingriff in die Sou- 
veränetät der Cantone nicht gestatte. 

Diese Instruction wurde von dem Grossen Rate gut- 
geheissen mit 97 gegen 78 Stimmen. Auch die liberal- 
radikale Partei wagte damals noch nicht, dem Aargauischen 
Antrage zuzustimmen. Sie begnügte sich, für die Zukunft 
dem Bunde ein Einschreiten vorzubehalten, wenn die Stände, 
welche Jesuiten haben, dieselben nicht überwachen und sie 
nicht verhindern, den inneren Frieden zu stören. 

Auf Antrag Zürichs beschloss die Tagsatzung mit 
17 (und zwei halben) Stimmen, auf den Antrag von Aar- 
gau, der nur von Baselland unterstützt ward, nicht ein- 
zutreten. 

Damit war die gefahrliche Streitfrage vorerst zur 
Seite geschoben. Aber es gab eine entzündliche Stelle, 



Meine Auffassukg der Stheitfraoe [cap. 27- 

Iflicht neuerdings und weit gefährlicher als bisher 
, erneuern konnte. Es wurde damals die Be- 
ler Jesuiten für die theologische Abteilung des 
und für das Priesterseminar im Canton Luzern 
Als Agitator diente den Jesuiten der einfluss- 
ler Leu von Ebersol, Mitglied des Grossen Rates, 
eich nun Siegwart Müller verband. Die Missionen 
;en entflammten den kirchliehen Eifer der Land- 
ese hofften von den Jesuiten die Rettung vor den 
der Irreligiosität und des Unglaubens. Eine Zeit 
eii auch in der Regierung und in dem Grossen 
erns ülo Meinungen stark geteilt und der Partei- 
)gte hin und her. 
machte damals tA>er diesen Kampf folgende Be- 

e Berufung der Jesuiten naeh Luzern ist der ent- 
etzte Pol und das Widerspiel der Berufung des 
ISS nach Zürich. 

)rt wie hier handelt es sich nicht um eii 
en, nicht um eine theologische Farbe oder Methoi 
Zürich handelte es sich um den Triumph eines 
mit welchem der Fortbestand der christlichen 
und die Existenz der reformierten Kirche unver- 
schien. Der Instinct des Zürichervolks erkannte 
■e Gefahr, welche den Protestantismus bedrohte, 
1 mit Macht gegen jene Berufung auf. 
Luzern handelt es sich um den Triimiph eines 
welches in seinen Folgen mit der Unabhängigkeit 
und mit dem politischen Frieden der Eidgenossen- 
iverträglich ist. Der Instinct "des Schweizervolks 
iiese Gefahr. 



cap. 27.] IN Betreff der Jesuitenberufung. 361 

„So wenig Zürich, aus dem die Reformation hervor- 
gegangen ist, dem Straussentum und dem Nihilismus ver- 
fallen durfte, so wenig darf der katholische Vorort Luzern 
dem Jesuitismus verfallen. 

„Beide Extreme müssen überwunden werden. Das 
eine ist überwunden, das andere muss erst überwunden 
werden. Würde die katholische Schweiz die Gefahr ebenso 
deutlich einsehen, wie die protestantische die ihrige, und 
sich in Masse erheben, wie die Züricher das gethan haben, 
so wäre Alles gut und sogar ein rascher Aufstand nicht 
das grösste Unglück. Die Schwierigkeit ist, dass die Re- 
formierten die neue Gefahr sehr heftig verspüren, aber die 
Masse der Katholiken sie nicht bemerkt. Würden die Re- 
formierten allein vorgehen, so würde das naheliegende Miss- 
verständnis entstehen, es wollen die Reformierten den Ka- 
tholiken in einer katholischen Sache Zwang anthun." 

Während mich die radikale Presse als heimlichen 
Jesuitenfreund verdächtigte, arbeitete ich im Stillen, soweit 
mein Einfluss reichte, dahin, den katholischen Führern klar 
zu machen, dass nur der Verzicht auf die Jesuitenberufung 
den confessionellen Frieden erhalten könne. 

Inzwischen siegte in Luzern die Allianz der Jesuiten 
i mit der glaubenseifrigen Demokratie. Vergeblich hatten 
t zuletzt noch die Gegner der Jesuitenberufung gehofft, der 
r Orden werde die von dem Grossen Rate gestellte Bedingung, 
j dass sich die Jesuiten den Gesetzen des Cantons und der 
I Statsverfassung gleich allen anderen Ordens- und Welt- 
\ geistlichen unterwerfen, nicht annehmen. Auf eine vor- 
\ läufige Anfrage hatte der Jesuitengeneral Rootenhaan 
l erklärt, der Orden müsse jede Statsaufsicht ablehnen. Trotz- 
■ dem ging er nun auf jene Bedingung ein. Im October 1844 



362 I^K» ERSTE FrEISCHABENPüTSCH. [csp. 27. 

genehmigte der Grosse Rat von Luzern den Vertrag mit 
den Jesuiten. Der Vetosturm, den die Liberalen gegen 
das Gesetz in Bewegung brachten, war zu schwach. Zu 
einer Verwerfung des Gesetzes waren 13,116 Stimmen er- 
forderlich. Die Gegner desselben brachten es vorerst nur 
zu 7,985 Stimmen. 

Damit war für Luzern die verhängnisvolle Frage ent- 
schieden, nicht für die Schweiz. 

Die radikale Verschwörung und der erste Putsch der 
Freischaren, welche in der Nacht vom 7. auf den 8. De- 
cember noch während der Volksabstimmung losbrachen, 
waren kopflos geplant und schlecht ausgeführt. Sie en- 
digten mit einer kläglichen Niederlage und vermochten 
nicht das Resultat der Abstimmung zu ändern. 

Aber der Sieg des kirchlich-jesuitischen Absolutismus 
in Luzern empörte die protestantischen Schweizer und er- 
neuerte die Macht und das Ansehen der Radikalen, von 
denen man die entschlossenste Bekämpfung jener verderb- 
lichen Richtung erwartete. Der Rückschlag wurde sofort 
in Zürich empfunden. 

Schon zur Zeit des Aufstandes der Freischaren war 
der Ausbruch des schweizerischen Bürgerkrieges nahe. Die 
Regierungen von Bern und Aargau hatten, in Erwartung 
der bevorstehenden Ereignisse, bereits einen Teil ihrer Mi- 
lizen aufgeboten. Auch Luzern rüstete, um in Verbindung 
mit den Urcantonen sich zu verteidigen. Im Angesicht 
dieser Rüstungen bot auch die liberal-conservative Züricher- 
regierung einige Bataillone Truppen auf und suchte die 
östlichen Cantone der Schweiz zu gemeinsamer Machtent- 
faltung zu veranlassen, in der ausgesprochenen Absicht, 



cap. 27.] Die Bübgebmeistebwahl in Zubich. 363 

den Frieden der Schweiz zu sichern und die inneren Fra- 
gen auf bundesmässigen Wegen zu erledigen. 

Als Berichterstatter im Grossen Rate hatte ich diese 
Massregeln zu vertreten. Dieselben wurden einstimmig ge- 
billigt. Die rasche Auflösung und Flucht der Freischaren 
verhinderte jedes Vorgehen, Bern und Aargau entliessen 
ihre Truppen. Auch Zürich rüstete wieder ab. 

Aber der Unwille über den Sieg der Ultramontanen 
in Luzern war stärker, als die Entrüstung über den frevel- 
haften Friedensbruch. Die liberal-radikale Partei erkannte 
die Gunst des Moments. Sie bemächtigte sich der Führung 
in dem erneuten Kampfe, der nun begann. Auch in dem 
Zürcherischen Grossen Rate traten nun die schwankenden 
Schaukelmänner zu ihr über. 

In diesen Moment fiel die neue Bürgermeisterwahl. 
Da der bisherige erste Bürgermeister von Muralt zurück- 
trat, so musste eine neue Besetzung des höchsten Amtes 
vorgenommen werden. Ich war der Candidat der Liberal- 
Conservativen, die bisher die Mehrheit besessen hatten. 
Vor dem Luzernerbeschluss wäre meine Wahl schwerlich 
bestritten worden, die Mehrheit jedenfalls sicher gewesen. 
Aber jetzt verlangte die liberal-radikale Partei einen Bürger- 
meister aus ihrer Mitte, und sie setzte diesen Willen durch. 
Mit 99 Stimmen wurde der Regierungsrat Dr. Zehnder, 
nachdem 5 Wahlgänge ohne Resultat geblieben waren, 
weil die absolute Mehrheit nicht zu stände kam, endlich 
im sechsten Scrutinium gewählt. Für mich traten nur 97 
Stimmen ein. Die lebhafte Teilnahme und das zweifel- 
hafte Schwanken des heftigen Wahlkampfes bewiesen für 
die grosse politische Bedeutung, welche dem Ausgange zu- 
geschrieben wurde. 



364 Niederlage der Liberal-Conservativen. [cap. 27. 

Es war die Wendung in dem Verhältnis der Parteien 
vollzogen. Die liberal-conservative Partei, bisher noch in 
der Herrschaft, war von der liberal-radikalen geschlagen 
worden. Die Macht der ersten war im Sinken, die der 
letzten im Aufsteigen begriffen. 

Alle meine Plane, welche ich im Stillen vorbereitet 
hatte, auf Befriedigung des Cantons und Reform des Bun- 
des waren aussichtslos geworden. Sie waren nur durchzu- 
führen, wenn ich anerkannt war als der verfassungsmässige 
Leiter der inneren Politik und als der erste vorortliche 
Magistrat der Eidgenossenschaft. Ich war mir der ent- 
scheidenden Niederlage wohl bewusst, und ich empfand 
den Schmerz dieses Missgeschicks um so tiefer, je ernster 
ich mich für die Ziele vorbereitet hatte, die ich in der er- 
höhten Stellung für Zürich und die Schweiz zu erreichen 
gehofft hatte. 

Der persönliche Trost, der mir in derselben Sitzung 
des Grossen Rates zu Teil wurde, indem ich unmittelbar 
nachher zum Präsidenten des Grossen Rats für 1845 mit 
101 Stimmen gewählt wurde gegen Dr. Furrer, das geistige 
Haupt der Liberal-Radikalen, konnte an der Hauptsache 
nichts ändern. 



28. 

Rücktrittsfrage, ursprüngliche Ansichten nnd Vorsätze mit Be- 
zug auf die Bürgermeisterwahl. Erneute Agitation. Der Vorort 
Zürich. Sein Ereisschreiben. Eine Abordnung Berns in Zürich. 
Heine Unterhandlung in Luzem. Leu. Kampf im Grossen Rate. 
Sieg des radikalen Antrags. Auch in Bern und Waadt Um- 
schwung zu Gunsten des Radikalismus. Die ausserordentliche 



cap. 28.] Die Rücktkittsfkage. 365 

Tagsatzung in Zürich. Ohnmacht derselben. Der zweite Frei- 

scharenzng gegen Lnzem. Die Niederlage der Freischaren führt 

zn Siegen der Radikalen. Mein Austritt aus der Regierung. 

Der Austritt aus der Regierung, für deren Politik 
vorzugsweise ich in der öffentlichen Meinung verantwort- 
lich gemacht wurde — nicht immer mit Recht, da mein 
persönlicher Einfluss doch vielfältig bestritten oder gehemmt 
ward — , war nach der Niederlage bei der Bürgermeister- 
wahl aus politischen und persönlichen Gründen die richtige 
Folge. Meine Einsicht und meine Neigung rieten mir das. 
Dennoch Hess ich mich durch die drängenden Bitten der 
Partei und infolge der Wahl zum Präsidenten des Grossen 
Rats noch bewegen, eine Weile auszuharren. Die Besorg- 
nis, dass der Austritt in diesem Augenblicke von den Einen 
als Desertion missdeutet, von den Anderen aus gekränktem 
Ehrgeiz oder gar Eitelkeit erklärt werde, mochte dabei 
mitwirken, vielleicht unbewusst. Aber nie sollte ein Stats- 
mann durch solche Rücksichten sich bestimmen lassen. Die 
Gelegenheit des Austritts liess indessen nicht lange auf 
sich warten. Wie ich darüber dachte, zeigt ein Eintrag, 
den ich noch vor dem Luzemer Putsche in mein Tage- 
buch schrieb: 

28. Nov. 1844: „Die Gegenwart erinnert mich an 
die letzten Zeiten der helvetischen Periode. Die Grund- 
frage ist die: Ist die Mediation, die wiederum nötig und 
reif geworden ist, von Innen heraus möglich, oder kommt 
sie nochmals von Aussen herein? Diese Frage muss durch 
die That beantwortet werden. Die Mediation muss von 
Innen heraus ernst und vorsichtig versucht werden. Wäre 
sie nicht möglich, so würde die Mediation von Aussen un- 
vermeidlich, und dann wehe der Schweiz!** 



366 Meine übsfrüngliche Stellukg zu derselben. [cap. 28. 

„Soll die Mediation von Zürich aus beginnen, so muss 
Zürich selber vorher pacificiert werden. Gelingt das hier, 
dann ist das ein wichtiges Vorspiel und eine grosse För- 
derung der schweizerischen Vermittlung." 

„Die Wahlen im December werden entscheidend sein. 

„Entweder 1) ich falle durch (bei der Bürger- 
meisterwahl). Dann muss ich vorderhand auf diesen Ge- 
danken verzichten. Ich trete aus der Regierung aus und 
werde Haupt der conser\'ativen Opposition im Grossen 
Rate, führe diese ganz ruhig, aber sehr stark und nobel, 
und warte auf Ereignisse. 

2) Oder ich werde gewählt mit einem kräftigen 
Mehr. Dann eröflhe ich lediglich meinen Entschluss, dass 
ich die Stelle eines Parteiführers nun niederlege 
und als Bürgermeister den Frieden der Parteien anstrebe 
und denselben Vorschläge machen werde. 

3) Oder ich werde gewählt, aber nur mit ein paar 
Stimmen oder Einer Stimme Mehrheit. Dann werde ich 
dem Grossen Rate Eröffnungen machen über meine Ab- 
sicht, den Frieden durchzusetzen. Ich frage denselben, 
ob er d. h. ob beide Parteien darauf eingehen wollen 
oder nicht. Im ersten Fall nehme ich die Stelle an; im 
zweiten Fall schlage ich sie aus und ziehe mich in die 
bisherige Parteistellung zurück. 

„An dem Tage meiner Wahl soll die Bürgermeister- 
würde auch in dem Falle wachsen, wenn ich ausschlagen 
muss." 

Ich hatte damals ausser den politischen Reformen 
auch noch andere Projecte erwogen. Insbesondere wollte 
ich die Gründung einer schweizerischen Akademie 
der Wissenschaften anregen. Diese sollte aus dreizehn 



cap. 28.] Pboject einer Schweizerischen Academie. 367 

ordentlichen Mitgliedern und einer unbestimmten Zahl von 
Ehrenmitgliedern bestehen. Die Akademie hat die Auf- 
gabe, das wissenschaftliche Leben zu fördern, den Bundes- 
und den Cantonalbehörden als wissenschaftlicher Rat zu 
dienen und die höheren Lehranstalten der Schweiz unter 
einander zu verbinden. Die Mitglieder versammeln sich 
jährlich zur Zeit der Versammlung der Tagsatzung in der 
vorörtlichen Stadt. Die Akademiker erhalten keine Be- 
soldung, aber Entschädigung der Reisekosten und Tag- 
gelder. Die Ehrenmitglieder haben beratende, aber nicht 
entscheidende Stimme in den Sitzungen. Ausserdem wer- 
den noch Correspondenten erwählt. Die Wahlen werden 
der Akademie selbst überlassen, mit Genehmigung der 
Tagsatzung. Die Akademie teilt sich in drei oder vier 
Sectionen: a) für politische und historische Wissenschaften, 
b) für mathematische und Naturwissenschaften, c) für schöne 
Litteratur, vielleicht auch d) für pädagogische, philosophi- 
sche und theologische Wissenschaften. 

Die Krisis, in welche die Schweiz geraten war, nö- 
tigte dazu, diese und ähnliche Projecte zu vertagen. 

Der verunglückte Freischarenputsch schreckte von 
neuen ähnlichen Unternehmungen nicht ab. Der leichte 
Sieg der Luzemer Regierung reizte vielmehr zur Erneue- 
rung des Kampfes. Die Gährung in den umliegenden Can- 
tonen Aargau, Bern, Zürich wurde heftiger. Überall wur- 
den Volksversammlungen gehalten und die Massen durch 
radikale Redner aufgeregt. Ein Volksverein zur Vertrei- 
bung der Jesuiten aus der Schweiz wurde organisiert und 
verbreitete sich rasch über einen grossen Teil der Schweiz. 
Da von der Tagsatzung und den Cantonen keine Hilfe ge- 
hofft ward, so wollte die erregte Menge zur Selbsthilfe 



368 Erneute Agitation. — Der Vorort Zürich. [cap. 28. 

greifen. Neuerdings wurden im Stillen Freiwillige ge- 
worben, welche, zu Freischaren geordnet, bestimmt waren, 
den Angriff auf Luzem zu erneuern. 

In dieser gefahrlichen Zeit war zu Neujahr 1845 
die vorörtliche Leitung auf Zürich übergegangen. In der 
zürcherischen Regierung und in dem eidgenössischen Stats- 
rate, deren Mitglied ich war, hatte die liberal-conservative 
Partei, trotz der Dezemberwahlen, noch die Mehrheit, da- 
her auch die Verantwortlichkeit für die Regierungs- und 
Vorortspolitik zu übernehmen. 

Die beiden Hauptfragen bezogen sich auf die Frei- 
scharen und die Jesuiten. Man einigte sich damals 
noch verhältnismässig leicht und rasch, dass der Vorort 
verpflichtet sei, jeden gewaltsamen Einbruch von bewaff- 
neten Volkshaufen in einen eidgenössischen Canton zu unter- 
sagen und nötigenfalls zu hindern. Die Haltung der frem- 
den Mächte mahnte auch die zur Vorsicht, welche mit 
einer gewaltsamen Volksbewegung sympathisierten. Für 
den Fall eines revolutionären Bürgerkrieges stand die Inter- 
vention der Grossmächte in naher Aussicht. Die Äusser- 
ungen der fremden Gesandten Hessen darüber kaum einen 
Zweifel bestehen. Aber wenn die vorörtliche Regierung 
zu energischen Massregeln greifen wollte, um das Bundes- 
recht gegen Friedensbruch zu sichern, so stiess sie doch 
immer auf einen offenen Widerspruch oder auf geheimen 
Widerstand der Radikalen. Da die Autorität dieser in den 
Massen während der Krisis fortwährend im Wachsen be- 
giiflfen war, so wurde dadurch die Thatkraft der Regierung 
erheblich geschwächt. 

Das Unglück war, dass in der Jesuitenfrage eine Ver- 
ßtändigimg nicht möglich war. Beide Parteien waren wohl 



cap. 28.] Seik Ebeissohbeibek. 3g9 

darüber einig, dass der Jesuitenorden ein fremdartiges, den 
Stat und den kirchlichen Frieden bedrohendes Element, 
und dass die Berufung der Jesuiten an die theologischen 
Schulen Luzems ein Übel sei, welches die Eidgenossen- 
schaft um so schwerer empfinde, weil Luzem der katho- 
lische Vorort und als solcher zu freundlichen Rücksichten 
gegen die schweizerische Bevölkerung verpflichtet sei. 

Aber ich konnte mich nicht davon überzeugen, dass 
die Eidgenossenschaft berechtigt sei, einen zwingenden, die 
Souveränetät der Cantone beugenden Ausweisungsbeschluss 
zu fassen. Ich betrachtete einen solchen Beschluss als eine 
schwere Verletzung der seit Jahrhunderten in der Schweiz 
anerkannten Grundbedingung des confessionellen Friedens, 
wonach jeder Stand in Glaubenssachen frei sei, und nie 
eine Mehrheit der Minderheit in solchen Dingen Vorschriften 
geben dürfe. Derselbe schien mir ebenso unvereinbar mit 
dem geltenden Verfassungsrecht. Ich besorgte, dass ein 
Bruch dieses Rechtes zu einem Bürgerkriege führen müsste 
und wahrscheinlich dann eine fremde Intervention im Ge- 
folge hätte. Diesen Gefahren wollte ich nach Kräften vor- 
beugen. 

Ich schrieb damals in mein Tagebuch: 
„Ich bin kein Legist. So sehr ich die Wichtigkeit 
auch des Buchstabens des eidgenössischen Bundesvertrags 
anerkenne, er allein würde mich in einem grossen kriti- 
schen Momente, wo der Eidgenossenschaft wirklich Ge- 
fahren drohen, nicht bestimmen. In solchen Zeiten ist es 
die Aufgabe des Statsmannes, mehr noch auf das innere 
Recht zu achten, welches nach Leben ringt, und ihm zur 
Geburt, zu vollem Dasein nun auch als äusseres Recht 
zu verhelfen. Aber auch das innere Recht der Eidgenossen- 

J^luntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 24 



370 KiNK Abobdnung Bern's in Zürich. [cap. 28. 

Schaft verurteilt jede Gewalt, welche die Tagsatzung gegen 
die einzelnen Cantone üben wollte, als widerrechtlich und 
uneidgenössisch. ** 

In diesem Sinne wurde dann auch das Kreisschreiben 
vom 22. Januar 1845 erlassen, in welchem der Vorort sich 
über seine Auffassung aussprach und eine ausserordentliche 
Tagsatzung zusammenrief. 

Iti der Jesuitenfrage ging der Antrag dahin, auszu- 
sprechen, „dass die Beschlüsse über Aufnahme oder Weg- 
weisung von geistlichen Orden einer Landeskirche in das 
Gebiet der Cantonalsouveränetät fallen, dass aber das Recht 
des Bundes dadurch nicht ausgeschlossen werde, gegen 
solche Orden einzuschreiten, welche die Unabhängigkeit 
oder den Frieden der Schweiz verletzen. Es werde an- 
erkannt, dass gegenwärtig solche Gründe, gegen den Je- 
suitenorden in den Cantonen vorzugehen, wo dieselben schon 
längere Zeit aufgenonunen seien, nicht vorliegen. Wohl 
aber sei die Tagsatzung veranlasst, an den Stand Luzem 
die freundeidgenössische und dringende Einladung zu rich- 
ten, dass derselbe mit Rücksicht auf seine hohe eidgenös- 
sische Stellung auf die Berufung der Jesuiten Verzicht 
leiste.* 

Der Antrag genügte, wie die Ereignisse zeigten, den 
damaligen Verhältnissen nicht. Die katholische Partei wider- 
setzte sich demselben, weil er ihren confessionellen Leiden- 
schaften Schranken zog. Die radikale Partei stimmte gegen 
denselben, weil er den Zwang ausschloss, und sie nur von 
einem zwingenden Ausweisungsbeschluss einen Erfolg er- 
wartete. 

Vielleicht hätte sich die Gefahr eines neuen gewalt- 
samen Ausbruchs noch beschwichtigen lassen, wenn wir 



cap. 28.] Meine Unterhandlung in Luzern. 371 

auf den Vorschlag der Bernerregierung eingegangen wären, 
welchen der Schultheiss von Tavel und Regierungsrat 
Weber von Bern in Zürich gemacht hatten, d. h. wenn 
Zürich und Bern gemeinsam angetragen hätten, die Auf- 
nahme der Jesuiten in Luzern zu untersagen, dagegen den 
anderen Cantonen keine weitere Zumutung zu machen, ihre 
Jesuiten fortzuweisen. Mir schien auch in diesem Falle der 
Bürgerkrieg unausweichlich; deshalb hauptsächlich konnte 
ich jenem Vorschlag nicht zustimmen, auch wenn ich mich 
über die bundesrechtlichen Bedenken hinweg gesetzt hätte. 
Mit Regierungsrat Wild ging ich nach Luzern, um 
womöglich die Luzerner zu bestimmen, den vorörtlichen 
Antrag anzunehmen und dadurch der Agitation den ge- 
fährlichen Stachel zu entziehen. Käst und Bernhard Meyer 
waren dazu bereit. Hartnäckiger zeigten sich Leu und 
Siegwart. Bei diesem Anlasse lernte ich auch den Luzer- 
ner Leu persönlich kennen. Er war eine kräftige Bauern- 
natur, ein grosser, etwas beleibter Mann. Die Mundwinkel 
und die kleinen, scharfen Augen und die Falten um die- 
selben her verrieten die bäurische Schlauheit und einen 
lauernden Sinn im Hintergrunde. Der Kern des Mannes 
aber schien mir ernst, volkstümlich, verständig, soweit 
nicht die fromme Hingebung an die Kirche seinen Geist 
beschränkte und in Abhängigkeit versetzte. Er wusste 
wohl, dass er der mächtigste Mann im Canton Luzern sei, 
aber er jnachte durchaus nicht den Eindruck eines hoch- 
mütigen oder eiteln Mannes. Im Gegenteil sein Äusseres 
hatte etwas Schlichtes und Bescheidenes. Er unterschied 
doch zwischen Politik und Religion und bemerkte mir: 
„Wenn die Jesuiten sich in unsere politischen Dinge mi- 
schen wollten, so wäre ich der Erste, der sie nicht leiden 

24* 



372 I^ER LüZERNER Leu. [cap 28. 

würde. Wir wollen sie nicht regieren lassen. Wenn sie 
nicht recht thun, so schicken wir sie fort.** Sein beständig 
wiederholter Satz war: „Concessionen helfen nichts gegen 
die Radikalen. Sie werden durch jede Concession nur un- 
verschämter. Wir greifen nicht an, aber wir haben das 
Recht, uns zu wehren, wenn wir angegriffen werden. Konamt 
es zum Aussersten, so haben die mehr Mut, die das Gefühl 
des Rechts in sich haben. Wenn wir Alles thun, was un- 
sere Pflicht ist, so wird Gott uns nicht fallen lassen. Das 
vorige Mal hat er uns geholfen, obwohl wir nicht vorbe- 
reitet waren. Ich kenne die Bauern. Auch Eure Bauern 
sind ruhig. Nur die Radikalen und die Straussen machen 
das Geschrei. Die Bauern schweigen, bis es gilt. Dann 
aber haben sie mehr Mut als die Schreier. Unsere Bauern 
begreifen, dass wir das Recht haben, die Jesuiten zu haben 
oder sie fortzuschicken, und dass die anderen Cantone kein 
Recht haben, uns in dieser Hinsicht zu befehlen. Weshalb 
sollten Eure Bauern das nicht begreifen?" 

Es war dem Manne nicht klar, dass es in einem 
Bundeskörper höhere Pflichten gebe, als die starre auf die 
Competenz pochende Rechtspflicht. 

Nach dieser Recognoscierung hatte ich wenig Hoff- 
nung mehr, dass die vorörtliche Politik Erfolg haben werde. 
Als der Züricher Grosse Rat am 4. Februar zusammentrat, 
um über die Instruction an den Tagsatzungsgesandten zu 
entscheiden, fürchtete man sogar in Zürich, dass es zu 
einem Aufstand kommen könnte. Wir trafen Vorsichts- 
massregeln, um unter allen Umständen die öffentliche Ord- 
nung zu schützen. 

Ich benutzte die Sitte der Eröffnungsrede des Präsi- 
denten, um noch ein letztes Mal meine Ansicht dem Grossen 



_j 



cap. 28.] Fortschritte der radikalen Bewegung. 373 

Rate und vor der öffentlichen Meinung näher zu begründen. 
Auch ain Schluss der zweitägigen ernsten Beratung sprach 
ich nochmals meine Meinung aus. Die beiden Parteien 
kämpften mit dem vollen Bewusstsein, dass diese Schlacht 
für die Stellung Zürichs entscheidend sei. Die allgemeine 
Strömung war der liberal-radikalen Partei entschieden gün- 
stiger. Vergeblich bot die liberal-conservative Partei alle 
ihre Kräfte auf, um wider den Sturm Stand zu halten. 
Sie blieb mit 95 Stimmen gegen 103 Stimmen in der 
Minderheit. Die vorörtljche Politik erhielt in dem vor- 
örtlichen Canton eine Niederlage. Die Instruction, welche 
die Mehrheit beschloss, hiess: Wegweisung der Jesuiten 
aus allen Cantonen von Bundeswegen. Wenige Monate 
vorher hatte dieser Antrag im Zürcherischen Grossen Rat 
selbst bei der liberal-radikalen Partei keine Unterstützung 
gefunden. Jetzt wurde er von der Mehrheit gutgeheissen. 
So grosse Fortschritte hatte die radikale Bewegung in- 
zwischen gemacht. 

Auch in anderen Cantonen brachte der Kampf wider 
die Jesuiten ähnliche Wirkungen hervor. Im Canton Bern 
hatte zuvor eine Partei der Gemässigten, welche mit der 
liberal-conservativen Partei in Zürich nahe befreundet war, 
grosse Fortschritte gemacht. Es gehörten zu derselben 
höchst angesehene und einflussreiche Männer, wie der Land- 
ammann Blösch, der Burgdorfer Führer Hans Schnell, 
der Professor Stettier, der Gerichtspräsident Manuel, 
Dr. Müller und andere. Seit der Jesuitenhetze verlor 
dieselbe wieder das errungene Ansehen, und je die radi- 
kalsten Führer gewannen an Einfluss. 

Im Canton Waadt kam es zu einer radikalen Revolu- 
tion, durch welche die Conservativ-Liberalen, welche bisher 



374 AUSSEBOBDEKTLICHE TaGSATZUNO IN ZÜRICH. [cap. 28. 

in dem Statsrat und in dem Grossen Rat zwar nicht die 
Mehrheit der Stimmen besassen, aber den Liberal-Radikalen 
so ziemlich die Wage hielten, gestürzt wurden. Es wurde 
nun ebenfalls die Ausweisung der Jesuiten beschlossen. Zu 
jener Partei gehörten der Präsident Frossard, die Ge- 
schichtschreiber Monnard und Vulliemin, der Theologe 
Vinet. An der Spitze der zweiten Partei stand Statsrat 
Druey. Noch auf der letzten Tagsatzung hatte er den 
Aargauischen Antrag als bundeswidrig bekämpft. Nun 
nahm er denselben auf, der Volksgtimme gehorsam. 

Dennoch kam es auf der ausserordentlichen Tag- 
satzung, welche am 24. Februar in Zürich zusammentrat, 
noch zu keiner Mehrheit. Für Nichteintreten in die Je- 
suitenfrage stimmten acht Stände, für Eintreten elf Stände. 
Für Ausweisung der Jesuiten aus der ganzen Schweiz fan- 
den sich nur sieben Stimmen. Der Antrag, Luzern zu 
untersagen, dass es die Jesuiten aufnehme, hatte nur acht 
Stimmen. Die nötige Mehrheit waren aber zwölf Stimmen. 
„Douze voix fönt loi" war der Lieblingssatz des Schultheiss 
Neuhaus von Bern. Die radikalen Cantone waren in der 
Not nun bereit, sich mit einer freundeidgenössischen Ein- 
ladung an Luzern zu begnügen, d. h. den ursprünglichen 
Antrag des Vororts, der in den Grossen Räten so sehr 
bekämpft worden war, nun doch eventuell anzunehmen. 
Aber das damals noch liberal-conservative Genf scheute 
sich, die Mehrheit voll zu machen, und fürchtete, es sei 
das der erste Schritt zu einem Zwangsbeschluss d. h. zum 
Bürgerkrieg. 

Wohl fand sich eine Mehrheit zusammen für Miss- 
billigung des Freischarenunwesens. Aber Bern, Aargau, 
Solothurn, Waadt und andere Stände stimmten auch diesem 



cap. 28.] Der zweite Fbeischarenzuo. 375 



Beschlüsse nicht bei. Die Organisation der Freischaren 
wurde dadurch nicht gehemmt. 

Die Ohnmacht der Tagsatzung war nun aller Welt 
offenbar geworden. Um so rücksichtsloser gingen die Par- 
teien vorwärts. 

Ein neuer Freischarenzug wurde in's Werk gesetzt, 
diesmal besser ausgerüstet. Den Kern bildeten etwa 400 
Luzerner Flüchtlinge. Die Masse der Freischaren war vor- 
züglich aus den Cantonen Luzem, Aargau, Bern, Solothum, 
Baselland und Schaflfhausen zusammengeströmt, nur wenige 
Freiwillige waren aus der östlichen Schweiz, aus den Can- 
tonen Zürich, Thurgau, Appenzell ausser Rhoden, St. Gallen 
hinzugekommen. Sie wurden von höheren Officieren ge- 
leitet. Der Bernische Hauptmann Ochsenbein übernahm 
den Oberbefehl. Der Aargauische Milizinspector Roth- 
pletz hatte die Bataillone geordnet. Es fehlten diesmal 
auch nicht die Kanonen. Luzem hatte zu seiner Verteidi- 
gung ebenfalls Truppen aufgeboten und erhielt Zuzug aus 
den Urcantonen. In Luzern commandierte der General 
Sonnenberg. Als die Gefahr eines neuen Kampfes sicht- 
bar wurde, hatte auch der Vorort zum Schutz des Land- 
friedens eidgenössische Truppen zu sammeln versucht. 

Diesmal war der Kampf grösser, ernster und blutiger 
(31. März und 1. April). Aber wiederum wurden die Frei- 
scharen von den Regierungstruppen geschlagen. Viele Frei- 
schärler wurden von den Truppen, viele andere von dem 
Landsturm gefangen genommen, unter ihnen manche an- 
gesehene Officiere und Beamte. 

Wiederum hatte die Niederlage der Freischaren und 
der Sieg der Luzemer Regierung sowohl in Zürich, als in 
den anderen reformierten Cantonen der äusseren Schweiz 



376 Mein Austritt aus der Regierung. [cap. 28. 

die Stärkung des Radikalismus zur Folge. Je grösser der 
neue Sieg der verhassten Jesuitenpartei war, um so hef- 
tiger war der radikale Rückschlag. In den ersten Tagen 
des Aprils erfuhr Zürich die Umwandlung der Regierung. 
Der Grosse Rat war eben damals versammelt. In 
der Eröffnungsrede ermahnte ich den Grossen Rat, dass 
er die Regierung in ihrem Bestreben, der Anarchie zu 
wehren, stärke. Die Gefahr einer fremden Einmischung, 
wenn die Volksherrschaft in brutale Anarchie übergehe, 
lag nahe. Aber die Gemüter waren zu leidenschaftlich er- 
hitzt, um diesen Rat zu beachten. Es wurde ganz im 
Gegenteil von der Mehrheit zwar nicht das Misstrauen in 
deutlichem Beschluss, wohl aber durch die Wahlen so aus- 
gesprochen, dass die bisherigen conservativen Mitglieder 
der Regierung durch radikale ersetzt wurden. Wenngleich 
die Massregeln der Regierung formal gutgeheissen wurden, 
so war es nun doch klar geworden, dass auch von der 
Regierung eine radikale Politik gefordert werde. Meinem 
Vorsatze gemäss erbat ich nun meine Entlassung aus der 
Regierung und erhielt dieselbe in ehrenvoller Form (3. April 
1845). Auch der Bürgermeister Mousson, obwohl wieder 
gewählt, lehnte nun die Emeuerungswahl ab. An seine 
Stelle trat, nicht ohne Bedenken und nicht ohne Sträuben, 
Dr. Furrer. 



29. 

Nach Teufifen nnd München. Roth, Senfft-Pilsach. Eindrücke 
von München. Entschluss, gegen den Ultramontanismns vorzu- 
gehen. Die Artikel: „Die Urcantone nnd die ultramontane Partei." 
Dr. Steiger. Einzug der Jesuiten in Luzem. Die Ermordung Len's. 

Ich hatte nun die Regierungssorgen abgeschüttelt und 



cap. 29.] Nach Tbüffen uwd München. 377 

fühlte mich frei. Zur Erholung von den Kämpfen der 
letzten Tage reiste ich zuerst nach Teuffen, dann nach 
München. Ein Brief vom 7. April an meine Frau gibt 
ein deutliches Bild von der damaligen Stimmung: 

„In Wyl und in St. Gallen umstanden noch Haufen 
Neugieriger den Postwagen, mit dem ich reiste. Mein 
Name wurde unter ihnen genannt, und ich auch ange- 
glotzt. Sottisen sind mir nicht widerfahren. — Von St. 
Gallen ging ich allein den Fussweg nach Teuffen. Als 
ich in das dazwischen liegende Tobel hinabstieg, hörte ich 
einen Mann mit starken, aufgeregten Schritten hinter mir 
her nacheilen. Ich ging langsamer und ruhig vorwärts, 
ihn erwartend, sah mich indessen doch ein wenig nach 
Steinen um, die auf dem Wege lagen. Als er an mir 
vorüberkam, blickte ich ihn scharfprüfend an, und er mich 
ebenso. Es war ein junger kräftiger Bursche mit schwar- 
zem struppigem Haar, wie ich nachher erfuhr, von Gais. 
Erst ging er noch rasch einige Schritte vorwärts. Dann 
stand er still, und ich fing ein Gespräch mit ihm an, na- 
türlich erst über den Weg und den Schnee, der noch 
herumliege. Aber bald drängte er selber auf Politik. Da- 
bei war er ganz fieberhaft und wild aufgeregt. Wahr- 
scheinlich erkannte er mich sogleich; vielleicht war er mir 
aus St. Gallen nachgestürmt. Den Luzemer Flüchtlingen 
warf er ihre „Menschlichkeit" und „Milde" vor; sie hätten 
den Krieg ohne Schonung führen und Luzern sofort bom- 
bardieren sollen; dann wäre es anders geworden. Der 
Mann bedachte in seinem Eifer nicht einmal, dass viele 
dieser Flüchtlinge von Luzern waren, und dass die Stadt 
ihnen freundlich gesinnt war. Dagegen beklagte er sich 
heftig über die Behandlung der Gefangenen in Luzern und 



378 I^R- Roth in Teuffen. [cap. 29. 

behauptete, er habe von Augenzeugen gehört, wie schänd- 
lich in Luzem verfahren werde. Die Jesuitengefahr er- 
schien ihm fürchterlich; sogar in Ausser-Rhoden gebe es 
heimliche Jesuiten. Die Bartholomäusnacht und die nieder- 
ländischen Ketzerhinrichtungen erhitzten seine Phantasie, 
wie wenn sie von gestern wären. Ich opponierte ihm fort- 
während scharf, aber sehr ruhig, ohne ihn weiter zu reizen. 
Das machte ihn doch wieder vernünftiger, obwohl er sich 
dann wieder in einzelnen Momenten zu schämen schien, 
dass er vernünftig werde, und von Neuem die glühende 
Kohle des Fanatismus zu erhitzen suchte. In Teufifen reichte 
ich ihm die Hand zum Abschied, die er nicht ausschlug. 
Ich war aber doch froh, den Gesellen los zu werden, der 
übrigens ein wackerer Bursche sein mag und ein ganz 
tüchtiger Mann werden kann. Aber jetzt raubt das Fieber 
diesen Leuten alle Besinnung. Da droben ist also das Fieber 
auch schon verbreitet. Roth bestätigte mir diesen Eindruck." 
Mein Besuch in Teuifen warf einen Schatten auf die 
helle Volksgunst, welche mein Freund Roth in seinem 
Heimatlande bisher genossen, und die er reichlich ver- 
dient hatte. Auch er kam in den lächerlichen Verdacht, 
ein heimlicher Freund der Jesuiten zu sein. Die Landsge- 
meinde des Frühjahrs wählte ihn nicht wieder zu dem Amte 
eines Landesstatthalters, das ihm übertragen war. Bald 
nachher schämten sich die Appenzeller aber des thörichten 
Missgrififs. Sofort nach der Landsgemeinde wählte ihn die 
Gemeinde Teuffen zu ihrem Hauptmann, und der Landrat 
übertrug ihm alle Aufträge, die er in seiner früheren Stel- 
lung bekommen hatte. Sie wählten ihn später mit jubeln- 
dem Mehr zum Landammann und blieben ihm treu bis zu 
seinem Tode 1871. 



cap. 29.] Graf von Sbnfft-Pilsach. 379 

In München traf ich Friedrich Rehmer in nahen 
Beziehungen sowohl zu dem bayerischen Ministerium, als 
zu dem österreichischen Gesandten, Grafen von Senfft- 
Pilsach. Da beide entschieden katholische Sympathien 
hatten, so war es begreiflich, dass dieser Verkehr auch 
ihn in den Verdacht brachte, der ultramontanen Partei zu 
dienen. Unter der Hand wurde sogar, zum Teil von Per- 
sonen, denen man eine genauere Kenntnis zuschrieb, die Sage 
verbreitet, er stehe im Solde des österreichischen Cabinets. 
Ich wusste wohl besser, wie grundlos dieser Verdacht "sei. 
Die Kosten seines Haushalts wurden von seinen Freunden, 
vornehmlich von zwei ihm und seinen Ideen persönlich 
ergebenen Schweizern, Seh. und H., nicht ohne schwere 
Opfer und starke Anspannung aller Kräfte bestritten. Oster- 
reich hatte nichts damit zu thun. Die politische Meinung 
aber von Rehmer war nichts weniger als ultramontan ge- 
färbt. In dem Verkehr mit den Ministern bewahrte er 
stets seine volle Freiheit. 

Ich sprach mich bei Graf Senflft, den ich besuchte, 
sehr entschieden gegen die verderbliche Politik von Sieg- 
wart aus und gegen die Berufung der Jesuiten und hob 
den Gegensatz unserer Politik scharf hervor. Ich sagte 
ihm, dass die Politik der Luzerner Regierung die gesamte 
protestantische Schweiz auf's Ausserste erbittere und einen 
Kampf hervorrufe, in dem Luzern und die Urcantone, wenn 
sie sich an Luzern anschliessen, notwendig erliegen müssen. 

Bei einem Diner, welches Senfift mir zu Ehren gab, 
und zu dem er ausser den beiden Rehmer auch die geisti- 
gen Führer der Münchener Ultramontanen einlud, Rings- 
eis. Höfler, ^hilip^, Aretin, Fürst Carl Waller- 
stein und andere, bekam ich einen sehr ungünstigen Ein- 



38Ö Theodor Rohmeb gegen den Ultramontanismus. [cap. 29. 

druck von dieser Gesellschaft. Sie war voll Übermut, in 
dem Gefühl des grossen Sieges der Luzerner über die 
Freischaren. Auch Fritz war über einzelne Äusserungen 
empört. 

Als wir zu Hause Alles überlegten, wurde der Ent- 
schluss gefasst, offener und energischer als bisher den 
Ultramontanismus anzugreifen, der alle Cultur und allen 
geistigen Fortschritt bedrohe und die Welt, wenn er zur 
Herrschaft gelangte, in die Unwissenheit und die Barbarei 
des Mittelalters zurücktreiben würde. 

Es war nicht leicht, den conservativen Freunden in 
Zürich diesen Entschluss annehmbar zu machen. Manche 
erwiderten mir: „Wenn wir gegen den Radikalismus und 
gegen den Ultramontanismus zugleich Front machen, so 
kommen wir zwischen zwei Stühle zu sitzen." Diesen ent- 
gegnete ich: „Wir sitzen gegenwärtig überhaupt nicht; 
hier sitzen die Radikalen, dort die Ultramontanen auf den 
Stühlen. Wir stehen und gehen frei umher. Das aber ist 
weit besser, als wie Bediente hinter die einen oder die 
anderen Stühle sich zu stellen." 

In München wurde nun durch Theodor Rehmer die 
Schrift: „Meinungsäusserung eines Conservativen 
über den Ultramontanismus" vorbereitet, die 1846 im 
Druck zuerst als Manuscript erschien und das Wesen die- 
ser Richtung mit einschneidender Kritik und überzeugender 
Klarheit blosstellte. 

In Zürich wurden Versuche gemacht, die Urcantone 
von der Luzernischen Führung loszureissen, und die Schei- 
dung zwischen einem friedfertigen Katholicismus und der 
confessionellen Politik der Ultramontanen einzuleiten. Als 
Organ in der Presse diente die Eidgenössische Zeitung, 



cap. 29.] Meine Aetikel gegen die Ultramontanen. 381 

die von Heinrich Schulthess, einem liberal-conservativ 
gerichteten Rohmerianer redigiert wurde. 

Die Artikel: „Die XJrcantone und die ultramon- 
tane Partei", die ich im April 1845 in der Eidgenössi- 
schen Zeitung veröffentlichte, waren das Ergebnis jenes 
Vorsatzes. Ich teile einige charakteristische Stellen mit, 
weil sie die Gegensätze der Meinungen klar schildern und 
durch die frühe Kennzeichnung der ultramontanen Partei 
einen Wert haben. 

25. April. „Wir haben bisher mit Absicht eine Seite 
in diesen schwierigen Kämpfen, wir haben die Natur und 
Bedeutung der ultramontanen Partei nur sehr wenig, fast 
nur im Vorbeigehen und nur mit der resigniertesten Scho- 
nung berührt. Die Urcantone sind als ultramontan ver- 
schrieen worden; sie waren es nie, und sind es nicht. Wir 
haben uns dem Verdacht ausgesetzt, wir Züricher, denen 
das Princip der Geistesfreiheit so bestimmt eingeprägt ist 
schon mit der Geburt, dass eine Verläugnung derselben 
ein Verrat wäre an dem edelsten Zuge unserer Geschichte, 
wir, die Verfechter des liberal-conservativen Princips in 
der Schweiz, haben uns dem Verdachte ausgesetzt, die 
ultramontanen Tendenzen zu fördern und mit der ultra- 
montanen Partei heimlich verbündet zu sein; wir haben 
alle Folgen dieses Verdachtes, so nachteilig sie momentan 
für uns waren, auf uns genommen und ertragen; wir ha- 
ben, so lange es noch möglich war, ohne die politische 
Ehre einzubüssen, ausgehalten trotz jenes Misstrauens und 
unter den ungünstigsten Verhältnissen, und im Wesent- 
lichen darüber geschwiegen. Seit dem Siege in der Emmen- 
schlucht sind die Rücksichten, welche uns Schweigen zur 
Pflicht gemacht, verschwunden, und nunmehr gebietet um- 



382 Meine Zeitungsartikel [cap. 29. 

gekehrt die Pflicht, offen auch diese Seite so zu besprechen, 
wie sie es verdient/ 

26. April. „Die ultramontane Partei hat sich in un- 
seren Tagen zum Vorkämpfer der katholisch-kirchlichen 
Interessen aufgeworfen. Ist sie aber eine bloss religiöse, 
kirchliche Partei? Wäre sie das, wir Hessen sie gewähren, 
da es nicht unser Beruf ist, uns einzumischen in die ver- 
schiedenen Nuancen des katholischen Glaubens und der 
katholischen Kirche. Obwohl wir Protestanten sind, so 
wissen wir doch recht gut, dass die katholische Kirche 
welthistorisch mit Rom und dem Papsttum verbunden ist; 
und ob die Katholiken dem Papste und der römischen Curie 
eine absolute oder beschränkte Autorität in Glaubensver- 
hältnissen zuschreiben, geht uns zunächst und wenigstens 
auf dem politischen Gebiete, auf dem wir stehen, nichts 
an. So weit demnach die ultramontane Partei nur eine 
der römisch-katholischen Kirche angehörige Kirchen- oder 
Glaubenspartei ist, so weit fühlen wir keine Lust und ha- 
ben wir keinen Beruf, uns gegen sie zu erklären. 

„Aber seit einiger Zeit ist die ultramontane Partei 
zu einer politischen Partei geworden und hat angefangen, 
eine bedeutende politische Rolle zu spielen; auf diesem 
Boden treten wir ihr entgegen als entschiedene Gegner, 
und hier mit voller Befugnis. 

„Der wahre Sitz dieser Partei, die absolutistisch in 
ihren Tendenzen und radikal in ihren Mitteln ist, ist nicht 
in, sondern ausserhalb der Schweiz. Sie ist eine wesent- 
lich fremde Partei. Ihr wahrer Sitz ist ganz und gar 
nicht in den Urcantonen, die, wir wiederholen es, zwar 
entschieden römisch-katholisch, aber keineswegs ultramon- 
tan gesinnt sind, selbst nicht in Luzern, obwohl sie daselbst 



Cap. 29.] GEGEN DIE ULTR AMONTANE PaRTEI. 383 

einzelne Anhaltspunkte sich erworben hat, sondern zum 
Teil in Rom, zum Teil in Paris, vorzüglich aber in Mün- 
chen. Diese Partei hat kein Herz für die Schweiz und 
kein Verständnis für die Schweiz. Sie gedenkt die Schweiz 
als einen bequemen Tummelplatz ihrer Leidenschaften zu 
benutzen und zu missbrauchen. Sie will in der Schweiz 
probieren, wie weit es in unserer Zeit möglich sei, ihre 
Tendenzen zu verwirklichen. Ob bei diesem Versuch die 
Schweiz leide, ob sie darüber zu Grunde gehe, das küm- 
mert sie wenig. 

„Die Urcantone, wisst es ihr fremden IJltramontanen, 
sind für ihre politische Freiheit und Unabhängigkeit, für 
ihre hergebrachten Rechte auch in confessionellen Dingen 
gegen die anstürmende Anarchie in*s Feld gezogen, nicht, 
für Euch und Eure Zwecke, noch für Eure Jesuiten. Geht 
und redet mit diesem Volke, und Ihr werdet es erfahren, 
dass Eure Tendenzen demselben fremd sind. Wagt es 
nur, Ihr, die Ihr kein statliches Leben und keine politische 
Freiheit kennt noch ehrt. Eure innersten Gedanken diesem 
Volke zu enthüllen, und Ihr werdet es erfahren, wie ver- 
ächtlich und stolz es Euch die Thüre weisen wird. Dieses 
Volk will sein eigener Herr sein in seinem Lande; und 
pflegt es in politischen Dingen sogar sich der Kirche gegen- 
über, die es gläubig verehrt, für die es, würde sie ange- 
griffen, sein Herzblut freudig opferte, frei und selbständig 
zu erweisen, so würde es mit Euch, wolltet gar Ihr die- 
ses Volk regieren, kurzen Process machen. Dieses Volk 
ist ein wahrhaft eidgenössisches Volk, und Ihr, die Ihr 
weder Eidgenossen seid, noch Freunde der Eidgenossen- 
schaft, die Dir bloss ultramontane Weltbürger seid und 
im Interesse Eurer Tendenzen unbedenklich die Schweiz 



384 Meine Zeitungsartikel [cap. 29. 

zerstückeln und vernichten würdet, seid und bleibt ihm 
fremd. 

„Wenn Ihr daher den Sieg an der Emme gefeiert 
habt als einen Sieg der Jesuiten und als Euren Sieg, so 
seid Ihr in einem gewaltigen Irrtum befangen, aus dem 
wir Euch aufzuscheuchen gesonnen sind." 

27. April. „Wir haben gesagt, die ultramontane Pai'tei 
sei absolutistisch in ihren Tendenzen und radikal in ihren 
Mitteln. Ist die Allmacht eines Statsidols das höchste 
Ziel des Radikalismus, so ist umgekehrt die Allmacht der 
Hierarchie das letzte Ziel des Ultramontanismus. Der Radi- 
kalismus, würde er zu unbeschränkter Herrschaft kommen, 
müsste consequent das Christentum vernichten; vor dem 
Ultramontanismus, wäre er im Besitz der Macht, müsste 
consequenterweise alles wahrhaft politische Leben ersterben. 
Der Radikalismus will eine ganz neue Zeit im Widerspruch 
mit der Vergangenheit erzwingen; der Ultramontanismus 
strebt nach der Erneuerung einer untergegangenen Zeit 
im Widerspruch mit der Zukunft. Der Radikalismus ver- 
achtet die Vergangenheit und die grosse Geschichte, von 
der wir getragen sind, der Ultramontanismus spricht dem 
Drange der Zukunft nach neuen Gestaltungen, er spricht 
einer werdenden grossen Zeit jede Berechtigung ab. Wenn 
jener wesentlich revolutionär ist, so ist dieser wesentlich 
reactionär." 

„Aber die ultramontane Partei selber ist gegenwärtig 
von dem radikalen Zuge des Zeitgeistes erfasst, und unter 
ihren Führern gibt es Viele, und zwar je die rührigsten 
unter ihnen, welche von Natur aus Radikale sind, Radi- 
kale unter ultramontaner Fahne. Die Gegenfüssler sehen 
sich daher oft so ähnlich wie Zwillingsbrüder.** 



Cap. 29.] OEOEN DIE ULTBAMONTANE PABTEI. 385 

„Daher auch die radikalen Mittel, deren sich die 
ultramontane Partei so häufig bedient. In Frankreich be- 
gehrt sie „absolute Lehrfreiheit", sie, die im nämlichen 
Momente, wo sie Meister wäre, alle Lehrfreiheit auf- 
heben müsste; in Frankreich kokettiert sie mit den anti- 
kirchlichen Principien der Revolution und bestreitet dem 
durch die Revolution hindurchgegangenen State das her- 
gebrachte Recht. In Deutschland gebärdet sie sich zwar 
noch, als wäre sie die festeste Stütze der Monarchie gegen 
die Revolution, als hinge der Bestand der regierenden 
Dynastien von der Adoption ihres Princips ab, aber sie 
macht sich jetzt schon kein Gewissen daraus, die ganze 
protestantische Bevölkerung Deutschlands mit den katho- 
lischen Herrscherfamilien zu entzweien und die katholischen 
Unterthanen gegen die protestantischen Dynastien aufzu- 
wiegeln. In der Schweiz verbündet sie sich leicht sogar 
mit ochlokratischen Neigungen und Elementen. Ihr liegt 
nichts an der wahren Monarchie in Deutschland, nichts an 
der wahren Republik in der Schweiz." 

Diese Charakteristik des Ultramontanismus ist später 
in unzähligen Schriften und in den mannigfaltigsten Schil- 
derungen zum Gemeingut der gebildeten Welt geworden. 
Damals machte sie in der Schweiz den Eindruck einer neu 
entdeckten Wahrheit. Viele meiner zürcherischen Partei- 
genossen schüttelten bedenklich die Köpfe, als die Eid- 
genössische Zeitung so offen dem Ultramontanismus nun 
den Fehdehandschuh in's Gesicht warf. 

Ich hatte noch einen anderen Plan gefasst, um den 
Ultramontanen persönlich zu zeigen, dass das Tischtuch 
zwischen ihnen und uns zerschnitten sei. Schon auf der 
Reise nach München kam mir der Gedanke, ich wolle mich 

Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem LcbcD. I. 25 



386 ^»- Steiges. — Einzug deb Jesuiten [cap. 29. 

dem in Luzern gefangenen Dr. Robert Steiger zum Ver- 
teidiger anbieten in dem Hochverratsprocess, der ihn am 
Leben bedrohte. Steiger galt als der intellectuelle Führer 
des Luzemerputsches. Siegwart hasste ihn als seinen ge- 
fährlichsten Gegner. Die berechtigte Besorgnis vor dem 
Unheil, das die Jesuiten seinem Vaterlande verursachten, 
hatte ihn zu der Gewaltthat verleitet. Er hatte im übri- 
gen den Ruf eines guten Patrioten. Ich betrachtete es als 
eine würdige Aufgabe, ihn zu retten. 

Von München aus hatte ich in einem Briefe an Dr. 
Casimir Pf y ff er meinen Vorsatz geschrieben. Der Brief 
war aber in Zürich von meinen Freunden, die mit dem 
Schritte nicht zufrieden waren, einstweilen zurückbehalten 
worden. Die Ausführung meines Plans wurde dann durch 
die inzwischen gelungene Flucht Dr. Steiger's aus dem Ge- 
fängnis unnötig und unmöglich gemacht. Mein Vorsatz 
selbst blieb ein Geheimnis, das Wenige kannten. Keiner 
ausplauderte. 

Die Luzerner TJltramontanen, Schultheiss Siegwart 
an der Spitze, verfolgten ihren Sieg, unbekümmert um 
die Warnungen und Mahnungen der Besonneneren. Die 
Jesuiten hielten triumphierend ihren Einzug in Luzern 
(Juli 1845). 

Mir war es klar, dass dadurch die Gegner der Ultra- 
montanen nur gereizt, nicht geschlagen würden. Mit Be- 
stimmtheit sah ich voraus, dass der Kampf nun noch 
erbitterter werde, und erklärte in der Eidgenössischen Zei- 
tung, die Luzerner haben ihre Lage durch jenen Einzug 
der Jesuiten nicht befestigt, sondern verschlimmert. 

Wie heftig die Leidenschaften dadurch erregt wur- 
den, das erfuhr zu ihrem Schrecken die überraschte Welt, 



Cdp. 29.] • IN LUZERN. — ERMOBDimO Leu's. 387 

als sie die Kunde erhielt, der Ratsherr Leu in Ebersol sei 
um Mittemacht des 19. Juli meuchlings erschossen worden. 
Bisher hatte in den schweizerischen Parteikämpfen, trotz 
aller Erhitzung der Gemüter, nie der Mord sich gezeigt. 
Nun war ein politischer Mord an einem persönlich geach- 
teten, wenn auch politisch engen und fanatisierten Volks- 
manne verübt worden. Viele suchten sogar das Verbrechen 
zu entschuldigen und zu beschönigen. 

Meine offene Erklärung wider den Ultramontanismus 
wurde zwar in Zürich und in der Schweiz wohl beachtet. 
Aber das Misstrauen gegen die liberal-conservativen Führer 
war zu eifrig geschürt und zu lange schon emsig gepflegt 
worden, um sofort wieder zu verschwinden. Wäre die 
Bekämpfung des Ultramontanismus einige Jahre früher 
ebenso klar und ebenso entschieden unternommen worden, 
so wäre uns wahrscheinlich die Leitung aller liberalen 
Elemente anvertraut worden. Jetzt aber hatten sich die 
liberalen Instincte von der liberal-conservativen Partei ab- 
gewendet. Die Massen vertrauten nun eher der liberal- 
radikalen Partei. Sie erwarteten von ihr eine mutigere 
und rücksichtslosere Kampfesführung wider die Jesuiten. 

In dieser Richtung war im Canton Waadt 1845 eine 
radikale Revolution vollzogen worden. Auch die neuen 
Grossratswahlen im Canton Zürich (Mai 1846) fielen mit 
grosser Mehrheit zu Gunsten der liberal-radikalen Partei 
aus. Die liberal-conservative, bisher ziemlich gleich stark, 
geriet nun in eine unzweifelhafte Minderheit. 

Als Präsident des Grossen Rates hatte ich die bei- 
den Gefahren, die mich bekümmerten, den unvermeidlichen 
Bürgerkrieg und die, wie mir schien, ebenfalls unvermeid- 
liche Intervention der fremden Mächte, dem Lande deutlich 

25* 



388 Meine Reden oeoek die WaadtlÄndeb Reoibbüno. [cap. 29. 

bezeichnet. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, auf die 
Ereignisse in nächster Zeit eine bedeutende Einwirkung 
zu üben. Ich begnügte mich, meinen Standpunkt klar zu 
stellen und meine Meinung auszusprechen. Im Übrigen 
erwartete ich, nicht ohne schwere Sorge, den schweren 
Schritt des Schicksals und wendete mich wieder mehr den 
wissenschaftlichen und gesetzgeberischen Arbeiten zu. 

Nur eines erheiternden Zwischenfalls dieser Zeit ge- 
denke ich noch. Ich hatte in einer Eröffnungsrede im 
Grossen Rat die Unterdrückung der reformierten National- 
kirche im Canton Waadt durch die neue, von der Revolu- 
tion auf die Stühle gehobene Regierung scharf getadelt. 
Darüber beklagte sich nun die Waadtländer Regierung bei 
dem Zürcherischen Grossen Rate und verlangte Genug- 
thuung. 

Im März 1846 wurde diese Beschwerde vor dem Gros- 
sen Rate verhandelt. Anfangs war der Referent, Bürger- 
meister Zehn der, geneigt, dem Begehren des Statsrats 
von Waadt wenigstens in so weit zu entsprechen, als er 
zwar die Freiheit der Rede wahren, aber einen leisen Ta- 
del über die harten Worte des Redners aussprechen wollte. 
Umgekehrt verlangten einige Conservative, man solle die 
Beschwerde als formell unzulässig und sachlich unbegrün- 
det zurückweisen und meinen Tadel der Waadtländer Zu- 
stände ausdrücklich billigen. Ich selbst verteidigte mein 
Verfahren und schilderte die Rohheit der in Lausanne pro- 
clamierten „Souveränetät der Ga^se" d. h. jeder beliebig 
zusammengetrommelten Volksmenge und die eines freien 
Volkes unwürdige Missachtung des grossen Princips re- 
ligiöser Freiheit zwar mit massigen Worten, aber sachlich 
so lebhaft, dass diese zweite Rede viel schärfer einschnitt, 



cap. 29.] Beb Ehbgeiz des STATSMAinrs. 389 

als die erste Präsidialrede, gegen welche Beschwerde er- 
hoben war. Der allgemeine Eindruck war für mich so 
günstig, dass jeder Versuch, einen Tadel auszusprechen, 
aufgegeben wurde, und der Grosse Rat einstimmig das 
Satisfactionsbegehren der Waadtländer Regierung abwies 
und so die persönliche Redefreiheit seiner Mitglieder voll- 
kommen schützte. 

Unser Sieg wurde damals durch heitere Bilder künst- 
lerisch gefeiert. 

Solche Lichtblicke in trüber Zeit erfreuen den Sinn 
und stärken zu weiteren Anstrengungen. Ich hatte zu 
Anfang des Jahres 1847 eine Bemerkung in mein Tage- 
buch über ähnliche Eindrücke geschrieben, die hier eine 
Stelle finden mag. 

„Was mag sich doch der Philister unter dem „Ehr- 
geiz" für ein schreckliches Phantom denken? Ein Phi- 
lister weiss sich frei von diesem entsetzlichen Laster, dem 
er die grössten Dinge zuschreibt, und das er fürchtet und 
hasst wie den Teufel. Davon, dass ein Statsmann die 
Leiden und das Verderben seiner Nation klarer erkennt 
und lebhafter mitempfindet, dass der Seelenschmerz für 
die Nation in seinem Herzen vorzüglich getragen wird 
und wie die Leber des Prometheus, so auch seine Leber 
täglich von Geiern zerbissen wird, davon hat der Philister 
keine Ahnung. Wenn dann der Statsmann darauf sinnt, 
die Übel zu lindem und das Verderben abzuwenden und 
die Nation ihrem Ideale .und ihrer Bestimmung zuzuführen, 
dann missgönnen sie ihm das bischen Ehre, womit wie 
mit einem Labetrank an schwülen Tagen voll Mühe und 
Arbeit der Arbeiter erfrischt werden kann, und tadeln sei- 
nen Ehrgeiz. Sie bilden sich ein, das bischen äussere Ehre, 



390 Züricher Gesetzbuch. [cap. 80. 

welche sie bieten können, werde sein Leben und Streben 
bestimmen. Ja, sie glauben mit dem Einen Wort: „Der 
Mann ist ehrgeizig** ihn zu sich und unter sich herabziehen 
zu können. Wisst ihr denn nicht, was der Göttlichste der 
Menschen sprach, als ihn die Freundin mit köstlicher Salbe 
ehrte und philisterhaft deshalb getadelt wurde?" 

„Es gibt keinen Statsmann, der nicht die Schwächen 
der Menschen, mit denen er lebt, in höherem Grade er- 
fahren hat und kennt, als sie es wissen. Wie könnte er 
denn gerade in dem, was ihm das Höchste ist, und worin 
er sich ihnen überlegen weiss, sich durch ihr ehrendes 
Urteil bestimmen lassen und für diese Ehre sich opfern? 
Nein, die Ehre, die ihr ihm bietet, ist nur ein Labetrunk 
auf dem Wege, ist nicht das Ziel. Die Ehre, die ihm 
widerfährt, ist ein Sinnbild, eine Bürgschaft der Ehre vor 
der Geschichte und der Ehre vor Gott. Nach dieser 
dürstet der Statsmann allerdings. Diese Ehre ist das Ziel 
seines Stolzes und seiner Demut zugleich." 



30. 

Züricher Gesetzbuch. Die Beform des Erbrechts. Geschichte 
des schweizerischen Bundesrechts. Die Länder XJri, Schwyz und 
XJnterwalden. Gelehrte Gesellschaft. Freimaurer. Gründung der 

Alpina. 

An dem Entwurf des privatrechtlichen Gesetzbuchs 
arbeitete ich rüstig fort. Die Reform des Erbrechts wurde 
in einigen Grundzügen in der Commission besprochen. Die 
Meinung, dass das Erbrecht ein willkürliches Werk der 
Gesetzgebung sei, war noch sehr verbreitet. Ich teilte sie 



1^ 



eap. 80.] Die Reform des Ebbrechts. 391 

keineswegs. Die tiefere Begründung des Erbrechts erkannte 
ich in der Natur, insbesondere in der Erblichkeit der Rasse. 
Die Kinder ererben ihre Rasse von den Eltern. Wie durch 
Zeugung, Geburt und Erziehung in der Familie die Rasse 
von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt wird, in der- 
selben Weise geht auch das Vermögen von den älteren 
Geschlechteni auf die Nachkommen über. Der Grundge- 
danke der germanischen Rechte, dass das Gut dem Gange 
des Blutes folge, und die darauf begründete Parentelord- 
nung, die in Zürich anerkannt war, erschienen mir als 
richtige Rechtsgrundsätze. 

Die Erbfolge, welche durch die letztwillige Anordnung 
des Erblassers, Testament oder Erbvertrag geregelt wird, 
war nach diesem System nur eine Ausnahme von der Fa- 
milienerbfolge, nicht, wie bei den Römern das Testament, 
die Regel. Ich sah darin nur eine künstliche Nachbildung 
und Modification des natürlichen Familienerbrechts, durch 
die mannigfaltigeren Culturverhältnisse veranlasst, und 
durch die bewusste, schöpferische Freilieit des Menschen 
hinzugekommen, ähnlich der Adoption, welche die natür- 
liche Familie durch freie Wahl ergänzt. Immerhin aber 
betrachtete ich die sehr eingeschränkte Testierfreiheit des 
Züricher Rechts als nicht mehr den heutigen Bedürfnissen 
entsprechend, welche eine freiere Bewegung verlangen. 

Obwohl der Canton Zürich nur ungefähr 250,000 Ein- 
wohner zählte, so gab es doch damals noch viele sehr ver- 
schiedene Erbrechte in den einzelnen Städten und Herr- 
schaften, aus denen der Canton zusammengesetzt war. 
Einstimmig billigte die Commission meinen Antrag, alle 
diese statutarischen Verschiedenheiten, als nicht mehr zu 
den heutigen Verhältnissen passend, aufzuheben und ein 



392 ^iK Reform des £!bbbechts. [cap. 30. 

einheitliches Erbrecht durchzuführen, entsprechend der heu- 
tigen gemeinsamen Cultur. 

Dagegen bekämpften sich noch zwei Meinungen in 
der Commission über das Grundprincip der Familienerb- 
folge. Die Minderheit wollte das in der Stadt Zürich und 
in einem grossen Teile der Landschaft herkömmliche Sy- 
stem beibehalten, nach welchem nur die väterlichen Ver- 
wandten erbberechtigt waren, alle Verwandten von der 
Mutterseite ausgeschlossen blieben. Die Mehrheit erklärte 
sich aber für meinen Vorschlag, der Mutter neben dem 
Vater, und den mütterlichen Blutsverwandten ebenso wie 
den väterlichen Geschlechtsverwandten das Erbrecht zu- 
zugestehen. Der Vorzug der Vaterseite schien uns anti- 
quiert, und der natürliche Blutverband diese Reform zu 
fordern. Der Grosse Rat, dem die Frage vorgelegt wurde, 
sprach sich mit grosser Majorität für die Reform aus. 

Dagegen gelang es mir nicht, eine andere, noch ein- 
greifendere Reform des Erbrechts durchzusetzen, die ich 
beantragt hatte. Ich wollte neben dem Erbrecht der 
Familie ein ebenfalls auf der Rassegemeinschaft ruhendes 
Erbrecht der Gemeinde und des States einführen, 
welches zwar noch nicht zur Anwendung komme, wenn 
Nachkommen des Erblassers vorhanden seien, wohl aber 
in steigendem Verhältnisse mit dem Erbrecht der ferneren 
Parentelen concurriere. Der Verband der Einzelnen mit 
der Gemeinde und dem State und die Pflicht jener gegen 
diese sollten so zur erhöhten Wirkung gelangen, und da- 
für gesorgt werden, dass aus solchem Erbgute neue Fa- 
milien ausgestattet, und sowohl der Anhäufung über- 
mässigen Reichtumes, als der zunehmenden Verar- 
mung grosser Classen entgegengewirkt werde. 



cap. 30.] Geschichte des Schweizerischen Bundesbechts. 393 

Die Comiriission verwarf den Gedanken nicht, aber 
sie traute sich nicht, denselben in einem allgemeinen Ge- 
setzbuche zu verwirklichen. Sie meinte, es könnte das 
später durch ein besonderes Gesetz geschehen. 

An dem Parentelensystem hielten wir alle fest. Das- 
selbe wurde nun reicher und consequenter durchgeführt. 

Daneben beschäftigten mich die Studien über die Ent- 
stehung der eidgenössischen Bünde und die Geschichte des 
schweizerischen Bundesrechts, welche allmälich in 
einzelnen Heften veröffentlicht wurde, der erste Abschnitt 
noch 1845, das Ganze 1849. Seither ist 1875 eine zweite 
Auflage erschienen. 

Damals gab ich eine Untersuchung über die drei 
Länder Uri, Schwyz und Unterwaiden und ihre ersten 
ewigen Bünde heraus. Die urkundlichen Forschungen von 
Professor E. Kopp in Luzern hatten die sagenhafte Über- 
lieferung der früheren Geschichtsschreiber, dass in den 
Bergthälem um den Vierwaldstättersee von Alters her ein 
eigentümliches freies Völklein gewohnt und im Streit mit 
der Habsburgischen Herrschaft, welche dasselbe ihrer Lan- 
deshoheit unterwerfen wollte, die alte Selbständigkeit be- 
hauptet und erweitert habe, von Grund aus erschüttert. 
Es war nicht mehr möglich zu bestreiten, dass die Grafen 
von Habsburg in manchen Thälem anerkannte Herrschafts- 
rechte und überall daselbst gräfliche Amtsrechte besessen 
hatten. Nun zeigte sich die entgegengesetzte Gefahr. Die 
Meinung, dass die schweizerische Eidgenossenschaft ur- 
sprünglich aus einer Empörung der Unterthanen wider 
den rechtmässigen Landesherrn entstanden sei, fand viele 
und gelehrte Vertreter. 

Ich prüfte nun die Frage, die auch für die Ehre der 



394 Züricher Gelehrte Gesellschaft. [cap. 80. 

Länder und der Schweiz wichtig war, von dem Standpunkte 
der deutschen Rechtsgeschichte aus. Es war mir klar, dass 
die drei Länder ursprünglich blosse Teile, vermutlich Zen- 
ten (Huntari) des alemannischen Zürichgaus gewesen seien 
und daher zu der Grafschaft Zürich in dem alten Herzog- 
tum Alemannien gehört hatten. Damit war eine sichere 
Grundlage gewonnen für das Verständnis der ersten eid- 
genössischen Statenbildimg. Die Zenten strebten wie die 
Städte nach Selbständigkeit, im Anschluss an das alte 
Reichsrecht und mit Benutzung kaiserlicher Privilegien, 
aber im Kampfe mit der mächtigen Dynastie, welche ihrer- 
seits das gräfliche Reichsamt in eigene erbliche Landesherr- 
schaft umzubilden suchte. Fast allenthalben im deutschen 
Reich ist den Fürsten und Grafen, den späteren Landes- 
herren, der Sieg verblieben. In der innem Schweiz haben 
ausnahmsweise die Bauern gesiegt und dann freie Gemein- 
wesen gegründet. 

Ich widmete die Arbeit den Regierungen der drei 
Länder und wurde von denselben durch eine Medaille ge- 
ehrt, die aus dortigem Reussgold geprägt war. 

Um dem wissenschaftlichen Leben Zürichs mehr Zu- 
sammenhang, festeren Halt und eine erhöhte Wirksamkeit 
zu verschaffen, hatte ich das Project, die alte „Gelehrte Ge- 
sellschaft" zu einer wissenschaftlichen Akademie umzubilden 
mit vier Sectionen, die sich den Facultäten der Universität 
ähnlich gruppierten: 1) für die Theologie, 2) für Statswissen- 
schaften und Geschichte, 3) für Natui'wissenschaften und Me- 
dicin, 4) für Philosophie, Philologie und schöne Litteratur. 
Es wurden erste Schritte in der Richtung durch Aufnahme 
neuer Mitglieder versucht. Aber die folgenden Kriegsereig- 
nisse zerstörten wieder den Keim solcher Fortbildung. 



cap. 80.] FBEnrAüBER. 395 

Neben den politischen und wissenschaftlichen Inter- 
essen nahmen auch die freimaurerischen, wenngleich erst 
in dritter Linie, damals meine Kräfte in Anspruch. Ich 
war im März 1838 als dreissigjähriger Mann von der Zür- 
cher Loge „Modestia cum libertate** in den Bund aufge- 
nommen. Die humanen Ideen desselben, wie ich sie vor- 
züglich aus Lessing's Schrift „Ernst und Falk" kennen ge- 
lernt hatte, waren mir schon vorher lieb und teuer. Ich 
hoffte für die Verwirklichung dieser Ideen wenigstens einige 
Hilfe von der brüderlichen Verbindung der gleichgesinnten 
Männer. Vorzüglich aber zogen mich einige Jugendfreunde 
an, wie insbesondere die Doctoren Conrad Meyer und Leon- 
hard von Muralt, sodann mein Freund und Parteigenosse 
Heinrich Gysi, die alle schon lange Freimaurer waren. 
Ich bemerkte auch, dass in dem Bunde manche Personen 
zusammenwirkten, die im äusseren Leben sehr verschieden 
gestellt waren und auch verschiedene Richtungen befolgten. 
Auch diese Einigung mannigfaltiger Elemente gefiel mir. 
Die Zürcher Loge hatte überhaupt einen guten Ruf und 
wurde in der Bürgerschaft mit scheuer Achtung angesehen. 
An der Spitze standen der Professor Hottinger, der Fort- 
setzer von MüUer's Schweizergeschichte, der Stadtpräsident 
Escher, mein Freund Gysi. 

Über der sogenannten blauen, symbolischen Loge der 
drei Grade (Lehrlinge, Gesellen, Meister) erhob sich eine 
schottische Grossloge mit höheren Graden und ein schotti- 
sches Directorium. Allmälich wurde ich in diese Dinge 
eingeweiht. Ich fand manche ideale Anregung im per- 
sönlichen Verkehr, zuweilen auch Förderung des humanen 
Strebens, moralische Festigung und Stärkung, viel Liebe 
und Freundschaft, und sowohl heitere Genüsse als ernste 



396 GBÜin)UNG DEB Schweizerischen [cap. 30. 

Eindrücke. Aber ich verhielt mich zu manchen herge- 
brachten Formen und überlieferten Fabeln kritisch und 
abweisend. Es wurden für meinen Geschmack zuweilen 
zu viel Schönrederei und Gefühlsschwärmerei vergeudet. 
Die schwache That blieb oft weit hinter den begeisterten 
Vorsätzen zurück. Ich nahm an den maurerischen Arbeiten 
teil, aber mein Eifer war kühl. 

Die Stiftung der schweizerischen Grossloge Alpina, 
die im Jahr 1844 vollzogen wurde, war ein Werk des er- 
wachten Nationalgefühls. Wenngleich der Grundgedanke 
des Freimaurerbundes nicht national, sondern allgemein- 
menschlich ist, so nahm die Vaterlandsliebe, welche die 
Freimaurer heilig halten, doch Anstoss an der Unterord- 
nung schweizerischer Logen unter fremde Grossoriente, sei 
es nun ein englisches oder schottisches oder französisches 
Directorium, und mahnte zu einem engeren Verband der 
sämtlichen Schweizerlogen. In diesem Geiste wurde die 
Gründung eines schweizerischen Logenbundes betrieben. 

Im Juni 1844 wurde die Alpina in Zürich gestiftet. 
Die schweizerischen Logen der verschiedenen Systeme wa- 
ren dabei vertreten. Hottinger, der erste Grossmeister, 
Dr. Furrer und ich waren aufgefordert, die Reden zu halten. 
Ich besprach „das Verhältnis der Freimaurerei zu 
Stat und Kirche". Ich bestritt, dass der Freimaurer- 
bund ein ihm eigenes Lebensprincip habe, welches den 
Stat oder die Kirche zu ersetzen, oder auch nur neben 
diesen grossen Gesamtheiten als Drittes eine selbständige 
Stellung zu verlangen berufen sei. Aber ich sprach der 
Freimaurerei die Aufgabe zu, die Ideen und Interessen der 
Humanität auch gegenüber den noch oft engen und aus- 
schliesslichen Tendenzen der nationalen Staten und der 



cap. 30.] Gbossloge Alpina. 397 

confessionellen Kirchen zu vertreten und dadurch auf Er- 
mässigung leidenschaftlicher und feindlicher Gegensätze und 
auf Veredlung der menschlichen Zustände hinzuwirken. 
Wenn erst Stat und Kirche vollkommen seien und ihrer- 
seits die Humanität, deren Gesetze auch ihre Pflichten er- 
füllen, vollständig verwirklichen, dann bedarf es keines 
Freimaurerbundes mehr. 

Dr. Furrer beleuchtete die Bedeutung des damaligen 
Johannisfestes für die vaterländische Freimaurerei. Hot- 
tinger zeichnete die Aufgabe der Freimaurerei in der gegen- 
wärtigen Zeit. Die drei Reden wurden in deutscher Sprache 
und in französischer Übersetzung gedruckt. 

Nach einem Gespräch mit Dr. Meyer über den psy- 
chologischen Charakter der Freimaurerei notierte ich die 
gewonnene Ansicht in mein Tagebuch: 

„Alle anderen Vereine beruhen auf der Freund- 
schaft, der Freimaurerbund allein erkennt seinen Grund 
in der Brüderschaft. Die Freundschaft verbindet die In- 
dividuen, welche sich wechselseitig ergänzen. Die Brüder- 
lichkeit setzt die Gemeinschaft der Abstammung voraus, 
hier die gemeinsame Ableitung der Menschennatur von der 
göttlichen Schöpfung. Der Sitz der Freundschaft ist in 
den Nerven, die Quelle der Brüderlichkeit im Blut. Um 
deswillen erträgt die Freimaurerei auch starke Gegensätze 
und grosse individuelle Verschiedenheit, während andere 
Vereine solche Gegensätze nicht ertragen, sondern durch 
dieselben gesprengt werden. Brüder können möglicher- 
weise im Leben weit auseinandergehen und sind vielleicht 
keine Freunde. Dennoch werden sie durch die Gemein- 
schaft des Bluts zusammengehalten und helfen sich in der 
Not entschiedener oft als die intimsten Freunde. Um des- 



398 Freihauiiebisches. [cap. BO. 

willen darf die Freimaurerei sich nicht in einen politischen 
Verein umgestalten lassen. Sie würde dadurch ihr Wesen 
aufgeben und ihre Festigkeit einbüssen. Auf dieser ge- 
mütlichen Unterlage der menschlichen Brüderlichkeit er- 
hebt sich das geistige Princip der Humanität naturgemäss 
und sicher." 

Der Verwaltungsrat der Alpina machte 1847 die 
»Grundsätze des schweizerischen Freimaurerver- 
eins** bekannt, die von mir verfasst sind. Als Zweck des 
Bundes wird die »Beförderung und Wahrung der Huma- 
nität in allen Lebensverhältnissen** angegeben, das Princip 
der Glaubens- und Gewissensfreiheit proclamiert, und er- 
klärt, dass der Freimaurerbund als solcher kein besonderes 
Glaubensbekenntnis habe und Brüder von verschiedenen 
Glaubensbekenntnissen einige. „Auch in politischen Dingen 
anerkennt der Freimaurer die volle Freiheit des Urteils 
und achtet jede redliche Überzeugung. Aus den Logen- 
zusammenkünften und Verhandlungen soll alles das fernge- 
halten werden, was zu politischem Zwiespalt führen kann.** 

Noch später habe ich in dem Artikel »Freimaurer** 
des deutschen Statswörterbuchs die wesentlichen Merkmale 
und Eigenschaften des Bundes geschildert. Dieser Artikel 
ist öfter nachgedruckt und zur Instruction der Brüder be- 
nützt worden. 



31. 

Eine traurige Episode. Ans dem Leben meines Freundes Bern- 
hard Hirzel. Sein Tod. 

Indem ich das Wesen und Leben meines Jugend- 
freundes, Bernhard Hirzel, und das tragische Ende des- 



cap. 81.] Eine tbaurige Episode. 399 

selben schildere, muss ich Dinge mitteilen, die ich seit 
mehr als dreissig Jahren verschwiegen habe, und deren Er- 
innerung mich noch heute schmerzlich aufregt. Ich habe 
wohl überlegt und in seinem Geiste überlegt, was ich sagen 
darf, und was ich auch jetzt noch verschweigen soll. Aber 
der Mann war zu bedeutend und zu unglücklich, als dass 
ich nicht die Pflicht hätte, seine Ehre, die von den Mit- 
lebenden sehr verkannt und missachtet worden war, in 
dem Andenken der billig urteilenden Nachwelt zu wahren, 
ohne seine Fehler zu leugnen. 

Als er den Entschluss fasste, seinem Leben ein Ende 
zu machen, hinterliess er mir noch ein umfassendes Ge- 
ständnis und Bekenntnis auch seiner Verschuldung. Trotz 
seltener Geistesgaben und ungewöhnlicher Energie ist er 
dennoch in dem Kampfe mit den Rassefehlem seiner Na- 
tur, mit der Ungunst seiner elterlichen und seiner persön- 
lichen Familienverhältnisse untergegangen. 

Die Familie Hirzel gehörte nicht zu den reichsten, 
aber zu den angesehensten der Stadt Zürich. Aber von 
Jugend an hatte Bernhard das Gefühl, dass dieselbe in 
unaufhaltsamer Entartung und im Niedergange begriffen 
sei, und zwar deshalb, weil sie unvorsichtige Ehen mit 
Frauen von niederem Stande und ungenügender Bildung 
nicht zu vermeiden verstanden habe. Bei dem Zweig, dem er 
angehörte, waren diese Befürchtungen allerdings nicht ohne 
thatsächlichen Grund. Sein Grossvater, Ratsherr Hirzel, hei- 
ratete die ungebildete Tochter eines reichen Handwerkers, 
um seine Vermögensverhältnisse zu verbessern. Der zweite 
Sohn desselben, der Vater Bernhardts, ward für den frem- 
den Militärdienst bestimmt. Seine Erziehung wurde gänz- 
lich vernachlässigt. Nachdem die französische Revolution 



400 ^^^ ^^^ Leben meines [cap. 31. 

die Schweizerregimenter entlassen hatte, wurde derselbe 
dem industriellen Berufe eines Tuchscherers zugewiesen. 
Er war ein roher Mann ohne Bildung, der nichts schätzte 
als das Geld und doch nicht einmal ein guter Wirtschafter 
war. Für ideale Güter hatte er gar kein Verständnis. Er 
arbeitete fleissig den Tag über mit seinen Gesellen und 
Knechten, ging dann Abends in die Kneipe, um sich da- 
selbst an rohen Spässen, im Trunk imd Spiel zu ergötzen, 
und kam um Mittemacht nicht selten betrunken, polternd 
und scheltend nach Hause. Das ererbte und von seiner 
Frau zugebrachte Vermögen hielt er mit harter Hand fest. 
Die Sorge um seine Kinder kümmerte ihn wenig. Im Ge- 
schäftsverkehr war er redlich und zuverlässig ; im Übrigen 
war nichts Edles in ihm. 

Die Mutter hatte manche Talente und besass eine 
angeborene Herzensgüte. Sie war schön und wohlhabend. 
Hätte sie einen gebildeten Mann bekommen, so wäre sie 
wohl eine treffliche Frau und Mutter geworden. Die Ver- 
bindung mit einem rohen Manne, welcher alle Keime einer 
feineren Bildung mit höhnischem Spotte und mit brutaler 
Gewalt zerstörte, zog auch ihr Leben in die Tiefe nieder. 
Nun schössen auch die sinnlichen Triebe ihrer Natur üppig 
auf. Die frivolen Sitten, welche in der Zeit der helveti- 
schen Revolution und der fremden Heereszüge die alte 
philisterhafte Strenge des Züricher Lebens als unbequeme 
Schranken vielföltig durchbrochen hatten, reizten ihre 
Lebenslust. Musste sie gelegentlich die Misshandlung ihres 
Mannes ertragen, so entschädigte sie sich, indem sie An- 
deren ihre Gunst zuwendete. 

Schon als kleiner Knabe hatte Bernhard tiefe Blicke 
in die Untugenden seiner Eltern gethan. Diese Erlebnisse 



cap. 31.] Freiindes Bernhard Hirzel. 401 

warfen einen dunkeln Schatten auf sein Gemüt. Er konnte 
sich nicht so unbefangen wie andere Knaben der jugend- 
lichen Lebenslust hingeben. Die Wehmut über seine Eltern 
verdüsterte seinen Sinn, und der Vorsatz, „anders zu wer- 
den als die Eltern," stachelte seinen Ehrgeiz. 

Von den Fehlern des Vaters fühlte er sich frei; nur 
reizten ihn dessen Habsucht und Geldgier zu einer über- 
triebenen Verachtung des Geldes. Von der Mutter ererbte 
er die reizbare und heftige Sinnlichkeit, die er als Jüng- 
ling noch beherrschte, welcher aber der Mann zuweilen 
übermütig die Zügel schiessen liess. 

Die religiöse Seite seiner Erziehung war ebenso 
mangelhaft, wie die sittliche. Der Knabe liebte und ehrte 
Gott nach dem Instinkte seiner Natur. Das Christentum 
verwarf er als ein Märchen. Er hatte in der Offenbarung 
einige Unrichtigkeiten zu entdecken geglaubt, und indem 
er fortwährend die Flecken in der Sonne aufsuchte, er- 
blindeten seine Augen und sahen das Licht nicht mehr. 

Es gab nur zwei geistige Mächte, welche ihn zu ern- 
stem Ringen antrieben und aus der Versunkenheit seiner 
Umgebung emporhoben, der jugendliche Ehrgeiz und die 
Liebe zur Wissenschaft. Vorzüglich zog ihn das Studium 
der orientalischen Sprachen an. Schon im Alter von 17 
Jahren las er den hebräischen Pentateuch ohne Vocale und 
die leichteren Stücke des arabischen Korans ohne Anstoss. 
Später begeisterte ihn das Sanskrit. Er verehrte in dem- 
selben die vollkommenste Sprache des Altertums und die 
Mutter der arischen Sprachen. Indische Weisheit und in- 
discher Pantheismus sagten seiner Denkweise zu. Auf der 
Universität Berlin und später in Paris bildete er sich zu 

Bluntschli, Dr. J. 0., Aus meinem Leben. I. 2ß 



402 Aus DEM Leben [cap. 31 

einem Orientalisten aus, welcher mit Aussicht auf Erfolg 
die akademische Laufbahn betreten konnte. 

Zu seinem Unglück hatte er sich noch als Studieren- 
der in Zürich mit einem Mädchen verlobt, dessen stolze 
Schönheit ihn mächtig angezogen hatte. Er hatte ihr frei- 
lich in Paris, von der lockeren Sitte der Pariser Studenten 
missleitet, die Treue nicht bewahrt. Aber er hielt sich 
für verpflichtet, die Braut zu heiraten, da inzwischen der 
Vater derselben, ein Kaufmann, genötigt worden war, seine 
Insolvenz zu erklären. Es schien ihm unwürdig, die ver- 
mögenslose Tochter nun zu verlassen. Er eilte nach Hause 
und vollzog die Ehe, obwohl seine Neigung unsicher ge- 
worden und ihm Zweifel aufgestiegen waren, ob die Cha- 
raktere zu einander passen. 

Die erhoffte Professur an der neugegründeten Uni- 
versität Zürich zerfloss wie ein Traumbild. Er erhielt nur 
eine geringe Anstellung als Inspector mit 500 Gulden Zür- 
cher Währung (ungefähr 1000 Mark) Gehalt. Sein Vater 
gab ihm die Wohnung, aber kein Geld. Seine Frau be- 
sass nichts. Das dürftige Einkommen genügte nicht. Er 
war schon in den ersten Jahren genötigt, sein Spargeld 
aufzuzehren und kleine Schulden zu machen. 

Schlimmer war es, dass das persönliche Verhältnis 
zu seiner Frau ein unglückliches war. Die Gatten passten 
nicht zu einander. Er hatte ein liebebedürftiges Herz und 
traf auf eine gehaltene eisige Kälte. Er liess sich gehen 
und brachte manches in Unordnung. Sie hielt mit pein- 
licher Sorge auf strengste Ordnung. Sie war im Verkehr 
mit Fremden gefallig, aufmerksam, liebenswürdig, zu Hause 
oft kritlich, verletzend, jähzornig, voller Launen. Die Dienst- 
boten hielten es nicht bei ihr aus. Sie konnte wochenlang. 



cap. 31.] Bernhabd Hibzel*s. 403 

monatelang ihrem Manne mit einer gesuchten Gleichgiltig- 
keit begegnen und jeden Gruss, jedes ifreundliche Wort 
vermeiden. So erkältete sie die kaum wieder erwärmte 
Liebe des Mannes durch beharrliche Peinigung. Zuweilen 
entlud sich der Groll der Frau in heftigen Scenen. Hirzel 
dachte damals schon an eine Scheidung und leitete die 
Klage ein. Dieses Ausserste suchte sie aber zu verhin- 
dern, und er liess sich doch wieder durch eine scheinbare 
Versöhnung bestimmen, davon abzustehen. 

In dieser Zeit eines arg zerrütteten Familienlebens 
hatte Bernhard die Bekanntschaft einer jungen Wittwe 
gemacht, welcher er seine häuslichen Leiden anvertraute, 
und die ihm ein inniges Mitgefühl zeigte. Solche Ver- 
traulichkeit war für beide nicht ohne ernste Gefahr. In 
der That entwickelte sich in den befreundeten Seelen eine 
warme Zuneigung, die leicht zur Leidenschaft sich ent- 
zünden konnte. Indessen kämpfte er die eigene Leiden- 
schaft und die der Freundin mit aller Energie seines Cha- 
rakters nieder. Hirzel wusste, dass einer seiner Freunde 
um die Wittwe freien wollte, und war entschlossen, den 
Wunsch seines Freundes zu fördern und demselben eine 
tugendhafte Gattin zuzuführen. 

Der moralische Sieg über die gefahrliche Leidenschaft 
gelang ihm, und er trennte sich von der Freundin im Frie- 
den. Sie dankte ihm in einem Briefe für die rettende That 
und fügte gerührt bei, dass der Abschiedskuss ihr unver- 
gesslich sein werde. Diesen Brief fand seine Frau, welche 
die Gewohnheit hatte, in seiner Abwesenheit seinen Schreib- 
tisch und seine Briefe zu durchstöbern, und sie erhob nun 
ein lautes Klagegeschrei über die Untreue ihres Mannes. 
Sie zeigte denselben ihrem Anwalte und ihren Bekannten. 

26* 



404 ^^^ ^^^ Lebbn [cap. 31. 

Man kann sich denken, dass ein solcher Missbrauch des 
Vertrauens und diese ungerechte Entstellung einer in Wahr- 
heit schuldlosen Freundschaft ihn aufs tiefste kränkte und 
erbitterte. 

Bis dahin war sein Leben von keiner schweren Schuld 
belastet. Von da an ging es aber abwärts, dem Unter- 
gange zu. 

Gegen Ende des Jahres 1837 meldete er sich zu der 
Pfarrstelle in Pfaffikon und wurde gewählt. Die unerquick- 
lichen Verhältnisse in dem väterlichen Hause und seine 
ökonomisch gedrückte Lage stellten ihm diese Wahl eines 
neuen Berufs wie eine Rettung aus dem Elend dar. Später 
betrachtete er sie als eine schwere Sünde, als einen Ver- 
rat an der Wissenschaft, der sein Leben geweiht war, als 
eine Profanation des Heiligen. 

Rasch erwarb er das Vertrauen und die Liebe seiner 
Gemeinde. Unverdrossen und eifrig arbeitete er an ihrem 
Wohle. Er nahm sich der Dorf jugend getreulich an, wurde 
der Freund und Lehrer der Volksschullehrer, forderte jede 
gemeinnützige Thätigkeit, regte das geistige Leben mächtig 
an und übte durch Predigt und Seelsorge einen wohlthäti- 
gen Einfluss aus. Er heuchelte keinen Glauben, den er 
nicht hatte, aber er vergeistigte nach seiner Auffassung 
das christliche Dogma und passte seine Lehre dem Ver- 
ständnis der Gemeinde an. In seinem Bekenntnisse spricht 
er sich über seinen Glauben so aus: 

„Der Pantheismus ist die einzige religiöse und phi- 
losophische Wahrheit in den sogenannten überirdischen 
Dingen und ganz übereinstimmend mit der heiligen Schrift, 
sobald man dem Pan (dem All) selbstbewusste, sich 
selbst und die Teile leitende Kraft zuschreibt. Unser 



cap. 31.] Bebnhabd Hibzel's. 405 

alleiniger Richter vor Gott ist der Glaube d. h. unsere 
Überzeugung. Den Menschen auf Erden richtet nichts 
als das Gesetz, inbegriffen die Sitte. Die Strafe geht 
unter in sich selber, sobald der Schuldige sie anerkennt 
und will.*' 

Der Beruf eines Landpfarrers passte doch nicht zu 
seiner Natur und konnte ihn nicht befriedigen. Die schiefe 
Stellung, in die er aus Nahrungssorgen sich hineinbegeben 
hatte, wurde aber heftig verschlimmert durch persönliche 
Verschuldung. 

Das unglückliche eheliche Verhältnis, in welchem er 
lebte, und seine sinnliche Schwäche verleiteten ihn, sich 
ausserhalb der Ehe das eine und andere Mal in Verkehr 
einzulassen mit Frauen zweideutigen Rufs oder doch nied- 
riger Bildung. Er wollte vom Schicksal, was es ihm ver-. 
sagte, erzwingen und der öffentlichen Meinung trotzen, 
deren Ungerechtigkeit er sattsam erfahren hatte. 

Allein der Widerspruch zwischen seinem Berufe und 
der idealen Lebensaufgabe auf der einen, und zwischen 
der sinnlichen Verschuldung und den daraus sich für ihn 
ergebenden finanziellen Schwierigkeiten auf der anderen 
Seite, bedrückte ihn innerlich schwer und führte ihn an 
den Rand der Verzweiflung. Von aussen her aber stürmten 
die um ihn her schwirrenden bösen Gerüchte und der wider- 
liche Klatsch, der ihn verfolgte, wie Dämonen auf ihn ein. 
Im Gefühle des Widerspruchs, in welchen er mit der öffent- 
lichen Meinung geraten war, schrieb er: „Die öffentliche 
Meinung ist die niederträchtigste Hure. Ehre wie Schande 
der Menschen gleichen dem Resultate der souveränen Volks- 
versammlung, welche bei den Wahlen ihr Urteil ausspricht. 
Was sich dieser öffentlichen Meinung widersetzt, bei den 



406 Aus DEu Leben [cap. 31. 

Heiden und Muhamedanern, wie bei den Christen, muss 
zu Grunde gehen." — 

Als er im Jahr 1 839 in die Geschichte seines Vater- 
landes gewaltsam eingriff und die Bauern der östlichen 
Bezirke nach Zürich führte, hatte die eigene Verzweiflung, 
ohne dass er sich derselben völlig bewusst geworden; auch 
einen Anteil an dem gefährlichen Wagnis. Er hoffte im 
Stillen, ein Opfer des bevorstehenden Kampfes zu werden 
und durch seinen Tod zugleich die Schuld zu sühnen und 
seinem Volke einen grossen Dienst zu leisten. So frei er 
in religiösen Dingen dachte, so wenig er ein orthodoxer 
Fanatiker war, so war er doch lebhaft von der Überzeu- 
gung durchdrungen, dass das Volk nur in dem positiven 
Christentum den Seelenfrieden und das Heil finden könne, 
nach denen es verlange. Er bedachte nicht, dass er nicht 
der richtige Helfer und Retter, und die von ihm gewählte 
Gewaltthat und Empörung nicht das richtige Mittel sei, 
um dem Volke jene Güfcjr zu sichern. 

Das Schicksal verschonte ihn diesmal. Es hob ihn 
sogar empor. Er wurde in den Grossen Rat gewählt und 
ward Mitglied des Erziehungsrates. In beiden Behörden 
arbeitete er mit Eifer und Geschick. Aber die verwegene 
That hatte ihm auch zahlreiche und eifrige Feinde erweckt, 
die auf seinen Untergang sannen. 

In glücklicheren Zeiten hatte er das Indische Drama 
von Kalisada, die Sakuntala, übersetzt und herausge- 
geben. Die formlose, aber innige Herzensliebe, welche in 
dem reizenden Gedichte verherrlicht wurde, sagte seinem 
Charakter zu. In der ernsteren und wechselvollen Zeit 
beschäftigte ihn die Übersetzung des sogenannten Hohen- 
liedes, das herkömmlicherweise als ein frommes Lied 



cap. 31.] Bebnhabd Hibzel's. 407 

religiöser Liebe und Hingebung aufgefasst wurde, das aber 
in Wahrheit der Ausdruck begeisterter Geschlechtsliebe ist. 
Seine Übersetzung ist diesem letztern Geiste treu geblieben. 
Den trüben Gedanken, die ihn bewegten, verlieh er in 
einem hebräischen Gedichte im alten Prophetenstyl einen 
Ausdruck. Er gab dasselbe 1844 umter dem Titel: „Ge- 
richt des Todesboten über den Erdkreis" hebräisch 
und deutsch heraus. Eine Stelle, die sich auf Zürich be- 
zieht, mag den Geist des finstem Gedichtes andeuten. 

„Ach warum bist du gefallen 

In die Hand der Kinder des Truges, 

Oder acb 

Der Kinder des Übermutes?! 

Siehe, des Todes sterben 

Musst auch du: 

Deim nach Sünde 

Folgt Tod 

Von Ewigkeit zu Ewigkeit." 

So ging ein Jahr vorüber. Da kam zu der ersten 
Verwickelung eine neue hinzu. Und nunmehr brach das 
Unwetter der öffentlichen Meinung los. Hirzel konnte un- 
möglich länger Pfarrer in Pfäffikon bleiben. Er nahm und 
erhielt seine Entlassung und kehrte nach Zürich zurück. 
Noch Einmal wollte er ein Zeugnis seiner wissenschaft- 
lichen Befähigung ablegen und dann sterben. Das Leben 
war ihm zum Eckel geworden. Seine Frau hatte ihn ver- 
lassen. Sein Vater drohte mit Enterbung. Die Gesell- 
schaft verstiess ihn. Geächtet von der Welt, erwiderte 
er ihren Hass mit Hass und Verachtung. 

Damals übersetzte er aus dem Sanskrit ein philoso- 
phisches Drama von Krischnamisra, den „Mondaufgang 
der Erkenntnis". Der Kampf der philosophischen Sy- 



408 -^^^ ^^^ Leben [cap. 31. 

steme ist darin vortrefflich geschildert, und der Sieg der 
Wahrheitserkenntnis über den täuschenden Schein ver- 
kündet. Mich interessierte das gedankenreiche Gedicht 
damals um so mehr, als ich manche Anklänge darin fand 
an die Rohmerische Philosophie, die ich studierte. 

Im Übrigen war mir klar: Wenn Hirzel noch zu retten 
war, so musste er aus Zürich fort in eine neue Umgebung, 
in welcher sein Geist wieder sich freier fühlen konnte, und 
die Hoffnung, sich emporzuarbeiten, die Schwingen kräftigte. 
Entweder Tod oder ein wiedergeborenes Leben, das war 
die Alternative. Ich suchte ihn zu dem letzteren Wagnis 
zu bestimmen. Noch Einmal wollte er es versuchen, wenn- 
gleich er kein rechtes Vertrauen zu sich selber fand und 
den Gedanken nicht los ward, dass er zum Untergang be- 
stimmt sei. Die Hilfe unserer Freunde machte es möghch, 
dass er nach Paris ging und dort sich eine neue Laufbahn 
eröffnete. 

Liebe und Poesie erhellten noch einmal vor dem 
Tode sein unglückliches Leben mit einem grellen, selt- 
samen Blendlicht. 

Er hatte nach seinem Weggang von Pfaffikon in 
Zürich ein junges hübsches Mädchen gefunden, das ihn 
sofort gewann. Hier will ich sein eigenes Geständnis spre- 
chen lassen: 

„Erinnerst du dich noch, als ich einst dich fragte, 
woher es doch komme, dass Friedrich Rehmer eine solche 
Macht über Dich, den Bedächtigen, errungen habe, deiner 
Erwiderung: „Der Blitz schlägt eben plötzlich ein und 
zündet, wo er soll."? Sieh, ein ähnlicher Blitz traf auch 
mich und äollte eben zünden. Du magst lächeln oder 
grollen, es ist doch wahr. Noch bevor ich mit ihr ge- 



cap. 31.] Bernhabd Hibzel's. 409 

sprochen habe, fühlte ich bei ihrem Anblick mehr Poesie 
in mir aufleuchten als jemals in meiner Jtinglingszeit. Eine 
unaussprechliche Sehnsucht nach ihr liess mir keine Ruhe 
weder bei Tag noch bei Nacht. Alle früheren Liebschaf- 
ten erschienen mir wie eitler Traum und Schaum. Ich 
wusste, dass ich endlich die Ergänzung meines Lebens ge- 
funden habe. Sie musste mein werden, und galt es Leben, 
Ehre und Seligkeit. Wer hat sie mir vor die Augen ge- 
führt? Wer den Blitz gesendet? Und wozu? Es war 
oifenbar wieder mein Schicksal. Es musste so sein." 

„Ich traf mit ihr zusammen, und ihr geistig reg- 
sames, kindliches Wesen, verbunden mit einer unbedingten 
Hingebung, der offensten Aufrichtigkeit und einer mächti- 
gen Opferkraft, mit Einem Worte, mein weibliches Ideal, 
wiewohl noch nicht poliert, fesselte mich unwiderstehlich 
auf Tod und Leben. Auch sie fühlte sich von mir, wie 
sie sich ausdrückte, von meinen Augen gebannt. Wir 
wurden Eins, und Eins werden wir bleiben, so lange wir 
leben!" 

„Und wer ist eigentlich diese Marie? Sie ist eine 
vor wenig Jahren in die Gemeinde Zollikon aufgenommene 
Heimatlose, deren Voreltern, obwohl Heimatlose im Canton 
Zürich fortwährend geduldet wurden, laut der Tradition 
aus Waedischwil stammten, aber zur Zeit der Reformation 
ihr Bürgerrecht verloren hatten, weil sie dem katholischen 
Glauben treu blieben. Auch sie ist katholisch." 

Marie Welti übte in der That einen guten Einfluss 
auf ihn aus. Sie befreite ihn von allen anderen unwürdi- 
gen Verbindungen, sie bewahrte ihn vor einer schweren 
Schuld, die er in der Verzweiflung und im Zorn über die 
feindlichen Intriguen bereit war sich aufzuladen, sie regte 



410 Bernhard Hirzel's Tod. [cap. 31. 

seine Thatkraft an. Sie war wirklich sein guter Engel. 
Aber sie war entschlossen, mit ihm zu leben und zu sterben. 
Als er nach Paris abgereist war, besuchte sie mich. Ich 
stellte ihr die Gefahren vor, die in Paris sie bedrohen, 
und die Schwierigkeiten, welche der einzigen günstigen 
Lösung aller Verwicklungen, der Ehe mit ihrem Freunde, 
im Wege stehen. Dazu war die vorausgehende Scheidung 
unerlässlich. Frau Hirzel hatte wohl Rechtsgründe genug, 
um auf Scheidung zu klagen. Aber sie wollte weder mit 
ihrem Manne leben, noch wollte sie sich von ihm scheiden 
lassen. Das harte kalte Recht und die flüssige glühende 
Liebe kämpften wider einander. Auch er konnte auf Schei- 
dung diingen, aber seine Klage konnte nur sehr langsam 
zum Ziele führen. 

Als ich der Welti von seinem Vorsatz zu sterben 
sprach, erklärte sie mir: „Wenn er geht, so gehe ich mit. 
Ich muss ihm vor Gott beistehen, wenn er Rechenschaft 
geben muss." Sie bot mir noch zum Abschied ein von 
Maler Ori gemaltes Porträt des Freundes an. Ich war zu 
unwillig über ihn und lehnte die Gabe ab. „Gut denn,*' 
sagte sie, „ich werde das Porträt vernichten, wenn Sie es 
nicht wollen. Kein Anderer darf es bekommen."* 

Sie reiste ihm nach Paris nach. 

Dort glückte es ihm mit Hilfe besonders seines Freun- 
des, des Orientalisten Henschel, vorerst eine kleine An- 
stellung in einem Privathause zu erhalten. Indessen war 
die Hoffnung zu schwach, dass er die Schwierigkeiten des 
Lebens überwinden könnte. Wieder erfasste ihn die Ver- 
zweiflung, und er vollzog den lange gehegten Vorsatz. 

Eines Tages erhielt ich die Nachricht, Hirzel und 
seine Geliebte haben gemeinsam ihrem Leben ein Ende 



cap. 32.] Die politische Lage der Schweiz. 411 

gemacht. Ähnlich wie der Dichter Kleist mit seiner Freun- 
din den Tod in der Nähe von Berlin gesucht, begab auch 
er sich mit seiner treuen Marie in der Nähe von Paris 
an einen stillen Ort. Da lebten sie noch ein paar Tage 
geeint und bereiteten sich auf den Tod vor. Sie starben 
freiwillig an dem geraeinsam genossenen Gift. 

Mich schmerzte dieser Tod, und doch konnte ich dem 
Freunde, den ich sehr geliebt und sehr bedauert hatte, 
darüber nicht gram sein. Er war ein tragisches Opfer 
mehr noch eines unseligen Geschicks, als der eigenen Ver- 
schuldung. Diese war freilich gross und schwer, aber gross 
und achtungswert waren auch die Liebe in ihm, die Auf- 
opferungsfähigkeit für ideale Güter und ein Seelenadel, der 
befleckt, aber nicht zerstört war. Gott wird ihm gnädig 
sein. — 



32. 

Parteimanifest der Hittelpartei. Gespräche mit dem österreichi- 

sclien und dem französischen Gesandten. Versuch, den Papst 

Pius IX. zur Zurückrufung der Jesuiten zu bewegen. 

Die schweizerische Krisis näherte sich der gewalt- 
samen Entladung. Ich war zu der Überzeugung gekom- 
men, dass weder meine Partei, noch ich in der nächsten 
Zeit etwas Erhebliches leisten könne. Immer entschiede- 
ner gewannen je die extremen Parteien, entweder Radikale 
oder ültramontane, in den verschiedenen Cantonen das 
Übergewicht. Aber ich war ebenso überzeugt, dass auf 
die schweizerische Revolution die deutsche folgen werde, 
und dass in den grossen europäischen Verhältnissen es 
eher möglich werde, die Extreme zu überwinden und 



412 Manifest [cap. 32. 

dann einen dauernden Fortschritt zu machen. Seit 1846 
dachte ich daTier ernstlich daran, die Schweiz zu verlassen. 

Vorerst wollte ich noch einmal im Grossen Rat un- 
sere eidgenössische Politik deutlich gleichsam in einem 
Manifest aussprechen, die liberal-conservative Partei scharf 
trennen von den beiden feindlichen Heerlagern und für die 
Zukunft eine möglichst gesicherte Mittelstellung einnehmen. 
So kam im Sommer 1846 mein Antrag einer Tagsatzungs- 
instruction zu Stande, dem natürlich nur eine Minderheit, 
aber die zuverlässigsten Parteigenossen zustimmten. Eini- 
gen juristisch gebildeten Freunden war derselbe zu poli- 
tisch-frei; sie wollten in der Jesuitenfrage nicht so weit 
vorgehen. Dem Bürgermeister von Muralt war derselbe 
zu wenig nachgiebig in der Klosterfrage, die er als er- 
ledigt ansah. Abgesehen von diesen wenigen Führern 
stimmte die Partei mir zu. Hinterdrein ist es klar ge- 
worden, dass der Hauptfehler des Antrags nicht darin zu 
finden war, dass er zu wenig, sondern dass er zu viel 
Rücksicht auf das formelle Bundesrecht nahm und 
nicht entschieden genug die liberalen Tendenzen der 
Zeit beachtete. 

Aber den Eindruck' einer gerechten und wohlwollen- 
den Erwägung und Abwägung der IV Streitfragen macht 
der Antrag doch, den ich daher wörtlich in diese Denk- 
würdigkeiten aufnehme. 

Antrag. 

Die zürcherische Gesandtschaft wird angewiesen, auf 
der bevorstehenden eidgenössischen Tagsatzung im Sinne 
der nachfolgenden Betrachtungen auf Herstellung eines ge- 
sicherten Rechtszustandes und eines soliden Friedens in 
der Schweiz hinzuwirken. 



cap. 32.] DER Mittelpartei. 413 

In Anbetracht: 

1) dass unser gemeinsames Vaterland immer mehr sich 
nach zwei einander entgegengesetzten extremen Rich- 
tungen zu spalten droht; 

2) dass diese Spaltung und die Bildung zweier feind- 
licher Lager den inneren Frieden der Schweiz ernst- 
lich gefährdet, ihre Ruhe und Sicherheit im Ver- 
hältnis zu dem Auslande blosstellt und jeden wah- 
ren Fortschritt in eidgenössischen Dingen unmöglich 
macht; 

3) dass der Stand Zürich durch seine Stellung in der 
Eidgenossenschaft als leitender Vorort eine erhöhte 
Veranlassung hat, nichts zu unterlassen, was zur 
Beseitigung dieser unglückseligen Spaltung und zu 
einer wahren Befriedigung der Schweiz führen kann; 

4) dass für eine solche vermittelnde Aufgabe nur dann- 
zumal Aussicht auf Erfolg vorhanden ist, wenn alle 
bloss cantonalen oder confessionellen Sympathien oder 
Antipathien vor der Liebe zu dem Gesamtvaterlande 
in den Hintergrund treten und die Streitfragen, wel- 
che sich in neuerer Zeit erhoben haben, im Geiste 
einer wahrhaft eidgenössischen Politik und mit Be- 
achtung des Bundesrechts erledigt werden; 

erhält die Gesandtschaft den Auftrag, alle hieher gehörigen 
Fragen in ihrem inneren Zusammenhange aufzufas- 
sen und auf gleichzeitige, gemeinsame und gerechte 
Schlichtung derselben hinzuarbeiten. 

Die drei Hauptereignisse, an die sich eine Reihe 
untergeordneter Streitfragen anknüpfen, sind: 

I. die Aufhebung der Klöster durch den Stand Aar- 
gau im Jahr 1841; 



414 Manifest [cap. 32. 

IL die Berufung der Jesuiten von Seite des vor- 
örtlichen Standes Luzern im Jahr 1844; 
m. die in den Freischarenzügen vom 8. Dezember 
1844 und 31. März 1845 zu Tage getretenen anar- 
chischen Angriffe auf Luzern. 
Zu diesen drei Hauptpunkten tritt nun hinzu: 
IV. die Bildung eines neuen Sonderbundes von 7 ka- 
tholischen Ständen im Jahr 1846. 

Zu I. Klosteraufhebung*. 
Durch die Aufhebung der Klöster von Seite des Stan- 
des Aargau wurde 

a) das Wort und der Geist des Bundesvertrags von 1815 
verletzt; 

b) und tiberdem, da diese Rechtsverletzung von einer 
Mehrheit protestantischer Mitglieder mit Bezug auf 
ein katholisches Institut beschlossen und durchgesetzt 
wurde, die katholische Bevölkerung nicht bloss im 
Aargau, sondern auch in der übrigen Schweiz in ihrer 
confessionellen Ruhe gestört und in ihren confessio- 
nellen Rechten gekränkt. 

Die Sühne für das begangene ührecht, zu welcher die 
Tagsatzung nachher den Stand Aargau angehalten hat, hat 
sich, wie die seitherige Geschichte beweist, hauptsächlich 
aus zwei Gründen als ungenügend erwiesen: 

a) weil die in den Augen des katholischen Volkes weit 
wichtigeren und reichen Abteien samt ihrem Ver- 
mögen aufgehoben blieben, und nur die weniger be- 
deutenden und ärmeren Frauenklöster hergestellt wur- 
den, somit das Unrecht in der Hauptsache fortdauert; 

b) weil auch der Beschluss der Tagsatzung, durch den 
sie sich mit jener Sühne für befriedigt erklärt hat, 



Cap. 32.] DEB MiTTELPABTEI. 415 

von einer hauptsächlich aus protestantischen Ständen 
gebildeten Mehrheit gegenüber einer grossen, vorzugs- 
weise aus katholischen Ständen gebildeten Minderheit 
gefasst wurde. 

Zu IL Jesuitenberufung. 
Der Stand Luzern hat zwar durch die Berufung der 
Jesuiten keine ausdrückliche Bestimmung des Bundes ver- 
letzt. Aber er hat durch die rücksichtslose Art, wie er ent- 
gegen den einmütigen Vorstellungen der ganzen protestanti- 
schen Bevölkerung der Schweiz und entgegen den Abmah- 
nungen sehr vieler redlich gesinnter und einsichtiger katho- 
lischer Schweizer von seinem cantonalen Rechte Gebrauch 
gemacht und die Berufung der Jesuiten betrieben und 
durchgeführt hat, in einem grossen Teile der Schweiz eine 
mächtige Gährung hervorgerufen und dem Frieden der 
Gemüter eine tiefe Wunde versetzt. Das diesfällige mo- 
ralische Unrecht ist, auch wenn die in der aargauischen 
Klosteraufhebung liegende Anreizung in Anschlag gebracht 
wird, doch um so weniger zu entschuldigen, als Luzern, 
als einer der Vororte, in besonderem Maasse angewiesen 
war, auf die paritätische Natur' der Schweiz billige Rück- 
sicht zu nehmen, und auf die dem confessionellen und po- 
litischen Frieden der Schweiz von daher drohenden Ge- 
fahren in wohlwollender und unzweideutiger Weise ernst- 
lich aufmerksam gemacht war. 

Der Stand Luzern kann die darin liegende, vom eid- 
genössischen Standpunkte nicht zu billigende Politik auch 
nicht damit rechtfertigen, dass die Berufung jenes Ordens 
ein notwendiges Bedürftiis des Cantons gewesen sei zur 
Erhaltung seines katholischen Glaubens; denn es ist er- 
wiesen und durch die neuesten Verhandlungen zwischen 



416 Manifest [cap. 32. 

der Krone Frankreich und dem päpstlichem Stuhle von 
dem Papste selbst thatsächlich anerkannt worden, dass 
auch die orthodoxe römisch-katholische Kirche des Je- 
suitenordens entbehren und auch ohne denselben blühen 
kann. 

Auch dieses moralische Unrecht ist 3ur Stunde noch 
nicht gesühnt, und eö ist begreiflich, dass ein sehr grosser 
Teil der Schweiz gegen den Vorort Luzem mit entschie- 
denem Misstrauen erfüllt ist. 

Zu in. Freischarenzügre« 

Die wiederholten Freischarenzüge gegen Luzem und 
die Stimmung in mehreren der wichtigsten Cantone über 
dieselben beweisen unwiderleglich die Verbreitung und 
Starke anarchischer Tendenzen in einem grossen Teile 
der Schweiz, und den Mangel an Vertrauen gewährenden 
Garantien des bestehenden Rechtszustandes und Land- 
friedens. 

Die ausserordentliche Tagsatzung im Februar 1845 
hatte sich im Angesicht des bevorstehenden Sturmes auf- 
gelöst, ohne auch nur einen energischen Versuch zu unter- 
nehmen, um den Frieden gegenüber bewafl&ieten Freischaren 
aufrecht zu erhalten. Mehrere Cantone hatten mittelbar 
und unmittelbar dem Zuge Vorschub geleistet. Der Canton 
Zürich war im Moment der That gelähmt, und die eidge- 
nössische Armee, die er aufrief, konnte im Wesentlichen 
nur dazu verwendet werden, um dem Umsichgreifen des 
Bürgerkrieges zu wehren; das Gebiet Luzem zu schützen, 
kam sie zu spät. 

Zwar hat der Stand Zürich stets das Freischaren- 
wesen getadelt und nachträglich mit Strafe bedroht. Aber 
indem er wenige Monate nach jenen Ereignissen dem 



Cap. 32.] DEB MiTTELPABTEI. 417 

intellectuellen Führer der Freischaren sein Bürgerrecht 
geschenkt hat, hat er gegen seine Aufrichtigkeit in Be- 
kämpfung jener Tendenzen und gegen seine Entschieden- 
heit, für den Landfrieden einzustehen, bei einem grossen 
Teil der schweizerischen Bevölkerung erhebliche Zweifel 
erweckt und auch seinerseits die eidgenössischen Rück- 
sichten nicht hinreichend gewahrt. 

In weit höherem Maasse aber geeignet, das Misstrauen 
und die Spannung zu steigern und einen Teil der schwei- 
zerischen Stände mit lebhaften Besorgnissen vor neuen 
feindlichen Angriffen zu erfüllen, sind die neuesten Ereig- 
nisse in dem vorörtlichen Stande Bern, wo durch eine in- 
nere Revolution diejenigen Männer, welche den Volksbund 
geleitet und die Freischaren angeführt hatten, zur Leitung 
dieses so wichtigen Standes sich emporgeschwungen haben. 
Es ist so weit gekommen, dass man gezwungen ist, sich 
die Möglichkeit nahe zu denken, dass die Wahrung des 
eidgenössischen Bundesrechts und des Landfriedens von 
dem Stande Bern als vorörtlichem Stande vorzüglich den 
Männern in die Hände gelegt werde, welche vor Kurzem 
offenkundigerweise an dem Stande Luzern das Bundesrecht 
und den Landfrieden gebrochen haben. 

Besteht schon gegen den Vorort Luzern bei manchen 
Ständen ein grosses Misstrauen, weil derselbe in der Je- 
suitensache eine uneidgenössische Politik an den Tag ge- 
legt habe, so ist es erklärlich, wenn manche andere Stände 
zu dem Vororte Bern noch weniger Vertrauen hegen kön- 
nen, insofern dieser seine und somit beziehungsweise die 
eidgenössische Politik den Führern der Freischaren anver- 
trauen sollte. 

Bluntschli, Dr. J. C, Aas meinem Leben. I. 27 



418 Manifest [cap. 32. 

Zu lY. Katholischer Sonderbund. 

Wenn sich auch die enge und militärisch organisierte 
Verbindung der 7 katholischen Stände zunächst als ein 
Bund der Verteidigung gegen unrechtmässigen Angriff dar- 
stellt und eine teilweise Entschuldigung in der grossen 
Unsicherheit der gegenwärtigen Rechtszustände findet, so 
ist derselbe doch hinwieder geeignet, die verderbliche Kluft 
zwischen den verschiedenen eidgenössischen Ständen zu er- 
weitem und nicht bloss die Gefahren eines Bürgerkrieges 
bedeutend zu vergrössem, sondern auch einem solchen 
Bürgerkrieg, so viel an ihm liegt, zugleich den Charakter 
eines Religionskrieges beizulegen. 

Denn es liegt in diesem Sonderbund: 

a) eine Verletzung des bestehenden schweizerischen Bun- 
desrechts, welches keinen zweiten von dem gemein- 
samen eidgenössischen Bunde unabhängigen und unter 
Umständen diesem feindlich gegenüberstehenden or- 
ganisierten Bund einzelner Stände zulässt; 

b) indem er sich zu einem ausschliesslich katholischen 
Bunde stempelt und das Andenken an den sogenann- 
ten Borromäerbund von 1586 auffrischt, zugleich eine 
Berufung auf die confessionellen Leidenschaften. 

Diesen unheilvollen Zuständen entgegenzuwirken, deren 
schwere Folgen wo immer möglich von dem Vaterlande 
abwenden zu helfen und auf Herstellung eines wahren 
confessionellen und politischen Friedens hinzuarbeiten, soll 
sich die zürcherische Gesandtschaft keine Mühe verdriessen 
lassen. Als leitenden Gesichtspunkt hat sie ausser den 
obigen Betrachtungen noch Folgendes zu beachten: 

Sie soll die gleichzeitige und gerechte Erledi- 
gung dieser IV Hauptpunkte anstreben, und zu keiner 



cap. 32.] DER Mittelpartei. 419 

einseitigen Behandlung einzelner Hauptpunkte, die als 
blosser Parteisieg eines Extrems gedeutet werden könnte, 
Hand bieten. 

Namentlich soll sie berücksichtigen: 

1) dass die Herstellung der aargauischen Klöster 
und zugleich die Beibehaltung der Jesuiten 
einen absoluten Triumph der ultramontanen 
Richtung in sich schlösse, welches der Natur der 
Schweiz als eines paritätischen Landes entschieden 
widerspricht; 

2) dass umgekehrt das Beharren auf der Kloster- 
aufhebung und zugleich die Verweisung der 
Jesuiten einer Unterdrückung der katholi- 
schen Stände gleichkäme und eine Missachtung der 
paritätischen Natur der Schweiz von entgegengesetzter 
Seite wäre; 

3) dass ein gleichzeitiges Fallenlassen der Klo- 
sterfrage und der Jesuitenfrage zwar nicht so 
einseitig und jedenfalls vorzüglicher als die beiden 
vorher bezeichneten Behandlungsweisen wäre, dass 
auch dafür sowohl das formelle Recht als der gegen- 
wärtige factische Zustand der Dinge spräche, dass 
aber dieser Vorschlag doch nur als Notbehelf be- 
trachtet werden muss, in Wahrheit nur Waffen- 
stillstand, nicht Friede ist, — die bestehende 
Spaltung nicht hebt, sondern nur für einige Zeit 
verhärtet; 

4) dass ein aufrichtiger, confessioneller Friede die gleich- 
zeitige und gerechte Erledigung der Kloster- 
und der Jesuitenfrage voraussetzt. Zu diesem Be- 
huf muss durch die That der katholischen Bevölkerung 

27* 



420 Manifest der Mittelpabtei. [cap. 32. 

bewiesen werden, dass auch die protestantischen Stände 
ihr auch mit Bezug auf die katholischen Klöster volles 
und unverkümmertes Bundesrecht halten, und ebenso 
muss gleichzeitig wieder durch die That der prote- 
stantischen Bevölkerung anschaulich gemacht werden, 
dass auch die katholischen Stände voraus eidgenössi- 
sche Stände seien und sich nicht im Gegensatze zu 
den Eidgenössischen von einer ausschliesslich katho- 
lischen Politik leiten lassen. Würde in der Kloster- 
frage das Recht der katholischen Stände und 
zugleich in der Jesuitenfrage die gebührende 
Rücksicht auf die protestantische Bevölke- 
rung zur Anerkennung gebracht, so wäre allem Volk 
klar, dass der confessionelle Friede wiederge- 
kehrt sei; 
5) dass hinwieder die politische Beruhigung der 
katholischen Stände vor gewaltthätigen und wider- 
rechthchen Angriffen, sei es durch Freischaren oder 
durch Stände, die im Sinne der Freischaren regiert 
werden, und die Beseitigung des katholischen 
Sonderbundes in innerer Verbindung stehen, und 
dass die Eidgenossenschaft für beides zugleich zu 
sorgen Veranlassung und Pflicht hat. 
In diesem Sinne wird der Gesandtschaft Vollmacht 
erteilt, zu handeln und zu stimmen. 

Die bewusste und friedliche Haltung der liberal-con- 
servativen Partei, welche in mehreren Cantonen bedeutende 
Verbindungen hatte, veranlasste manche fremde Diplomaten 
in der Schweiz, mich zu besuchen. Der österreichische Ge- 
sandte bemühte sich vergeblich, mich zu einem freund- 
licheren Verhalten gegenüber dem Sonderbund zu bewegen. 



cap. 32.] Gespräch mit dem östebbeichtschbn Gesaitoten. 421 

Er war ein Zögling und Anhänger der Jesuiten. Aus dem 
Gespräch teile ich Einiges mit: 

Er: „Reden Sie mir nicht von der Grösse des sech- 
zehnten Jahrhunderts." 

Ich: „Und doch hat das sechzehnte Jahrhundert et- 
was Grosses erzeugt, voraus das Princip der geistigen 
Freiheit und der Hoheit des States." 

Er: „Der Stat war vorher schon unabhängig von der 
Kirche, vor allem in England. Überdem will die Kirche 
nicht übergreifen in den Stat." 

Ich: „Allerdings gab es schon früher eine teilweise 
Freiheit des Stats. Aber erst das sechzehnte Jahrhundert 
hat der mittelalterlichen Oberhoheit des Papstes über den 
Kaiser definitiv und principiell ein Ende gemacht. Dieses 
Resultat bleibt, und selbst Osterreich würde sich dasselbe 
nicht mehr nehmen lassen." 

Er: „Die Kirche will nur das Recht schützen, mehr 
nicht." 

Ich: „Die Kirche ist nicht dafür da, das Recht zu 
schützen. Ihr kommt das wettliche Schwert, welches das 
Recht schützt, nicht zu." 

Er: „Es ist doch gut, wenn die Kirche da, wo rohe 
Gewalt geübt wird, davon abmahnt." 

Ich: „Allerdings. Das ist aber nur eine moralische 
Aufgabe. Zum Schwerte greifen darf sie nicht." 

Er: „Zürich wird nicht voran sein in den nächsten 
Kämpfen. Wer weiss, ob nicht Manche von denen, welche 
gegenwärtig leiten, im Momente der ICrisis das radikale 
Lager verlassen und zu den Anderen übergehen werden?" 

Ich: „Es gibt Manche unter uns, die einen Krieg 
nicht wünschen. Wenn es trotzdem dazu kommt, so 



_j 



422 Gespbache inr dem östebbeichischen [cap. 82. 

müssen sie dem radikalen Impulse folgen oder würden 
weggeworfen. Zürich wird nicht leiten. Dennoch wäre 
es irrig zu glauben, dass Zürich unter allen Umständen 
in dem radikalen Schlepptau bleiben werde.*" 

Er: „Wohl; aber wenn die Lage eine andere wird, 
an wen werden Sie sich dann anschKessen?** 

Ich: „Nicht an die Radikalen." 

Er: „Einverstanden.** 

Ich: „Nicht an die katholische Partei." 

Er: „Nun ja, aber Sie werden das Recht schützen.** 

Ich: „Ja, das Recht, aber keineswegs das bloss for- 
melle Recht.** 

Er: „Es gibt kein anderes, als formelles Recht.** 

Ich: „Dann streichen Sie die schönsten und grössten 
Entwickelungen disr Weltgeschichte.** 

Er: „Wenn man das formelle Recht verlässt, dann 
hat man keinen Halt mehr.** 

Ich: „Es gibt Fälle, wo starres Festhalten am for- 
mellen Recht Untergang heisst. Wie steht es in Galizien? 
Ist es wahr, dass die Leibeigenschaft aufgehoben wird?** 

Er: „Sie besteht schon nicht mehr.** 

Ich: „Gut, dann hat sie Kaiser Joseph 11. schon auf- 
gehoben, und das formelle alte Recht durch ein besseres 
neues verdrängt.** 

Er: „Die Bauern daselbst sind glebae adscripti. Das 
ist dort Recht.** 

Ich: „Das ist ja noch Leibeigenschaft. Der Bauer ist 
ohnehin mit seinem Gute verbunden. Aber ein absolutes 
Recht der Gebundenheit an die Scholle darf doch nicht 
gelten. Wenigstens Ausnahmen müssen zugestanden wer- 
den.** 



Cap. 32.] UND DEM FRANZÖSISCHEN GESANDTEN. 423 

Er: „Ich sehe nicht ein, wie solche Ausnahmen ohne 
Rechtsverletzung zugelassen werden könnten." 

Ich: „Sagen Sie mir, wenn Christus in einer Gali- 
zischen Bauemfamilie geboren worden wäre, hätte auch 
er darauf verzichten müssen, herumzuziehen und das Evan- 
gelium zu verkünden?** 

Er suchte auszuweichen, ich wiederholte die Frage, 

Er: „Ja, er hätte als glebae adscriptus darauf ver- 
zichten müssen. Die Schranken sind für Alle gezogen.** 

Ich: „So, und das nennen Sie Recht? ein Recht, 
welches das natürliche Recht des grössten Individuums 
verneint!** 

Viel verständiger äusserte sich der französische Ge- 
sandte. Auch davon habe ich Einiges niedergeschrieben. 

Er bemerkte: „Ich habe mich überzeugt, dass die 
Elemente der Ordnung in der Schweiz stärker sind, als 
man gewöhnlich meint. Das Nötigste ist, die Leiden- 
schaften zu ermässigen. Man kann die eidgenössischen 
Fragen nicht lösen; deshalb muss man sie fallen lassen. 
Hätte man bei uns die Jesuitenfrage vor die Kammern 
gebracht, wir würden auch in grosse Aufregung gekom- 
men sein und noch darin stecken. Aber man hat sie fallen 
lassen, und nun ist sie vergessen. Ich habe oft von Schwei- 
zern sagen hören, Frankreich hätte in Rom auf Entfernung 
der Jesuiten aus Luzem wirken sollen. Auch solche haben 
das gesagt, die jede fremde Einmischung in schweizerische 
Händel verwerfen; als ob das keine Einmischung wäre. 
Bevor die Jesuiten nach Luzern berufen wurden, hat Frank- 
reich in Rom dagegen gewirkt. Schon glaubte unser Ge- 
sandter Rössi, er habe das erreicht. Damals war die Frage 
noch, offen, heute ist sie es nicht mehr. Nun können wir 



424 Gespräch mit dem [cap. 32. 

Nichts machen, ohne in eine falsche Stellung zu geraten. 
Luzern hat von seinem Rechte Gebrauch gemacht. Wir 
sind mit diesem Gebrauche nicht einverstanden, aber wir 
können in Rom nicht das Recht Luzerns bestreiten. Über- 
dem würde es Nichts helfen. Die Päpste lieben es, ihre 
Infallibilität auch in die Politik hineinspielen zu lassen. 
Da der vorige Papst den Luzemern die Jesuiten empfohlen 
hat, so wird der jetzige Papst nicht wenige Jahre nachher 
seinen Vorgänger desavouieren.** 

Da ich ihm bemerkte, ich fürchte die Jesuiten nicht, 
wohl aber den Geist der Politik, die sich ihnen zu Füssen 
geworfen habe, denn das sei der Geist der Reaction, die 
jeden Fortschritt hindere, so kam das Gespräch auf die 
Bundesverfassung und die Notwendigkeit einer Bundes- 
reform. Er fragte mich über meine Ansicht betreffend 
das Project Rossi und über meine Ideen betreffend eine 
neue Organisation der Bundesgewalt, und äusserte sich 
sehr befriedigt über meine Mitteilung. Sodann sagte er: 
„Als ich in die Schweiz kam, hörte ich immer, die einen 
Schweizer warnen vor Osterreich und die anderen vor 
Frankreich. Der Glaube, dass Frankreich und Osterreich 
sich in der Schweiz bekämpfen, war sehr verbreitet. Dann 
wurde ich gewahr, dass die Schweizer sich um Frankreich 
und Osterreich sehr wenig kümmern und sich über beide 
moquieren. Das hat viel zu der gegenwärtigen Situation bei- 
getragen und die extremen Gegensätze verstärkt. Es war 
auch früher wirklich so, aber es ist nicht mehr so. Frank- 
reich und Österreich wollen und brauchen keinen politi- 
schen Einfluss mehr in der Schweiz. Sie sind in der Haupt- 
sache in der Auffassung der schweizerischen Angelegen- 
heiten einig. Sie kümmern sich mehr um die socialen 



Cap. 32.] FRANZÖSISCHBN GESANDTEN. 425 

Zustände der Schweiz als um die politischen. Nur in den 
äusserlichen Formen unterscheiden wir uns von Österreich. 
Ich mache sogar Herrn Ochsenbein meinen Besuch, weil 
er einmal als Chef der Regierung gewählt ist. Es ist 
allerdings nicht zu leugnen, dass die Ideen und das Schick- 
sal von Frankreich auf die Schweiz von jeher einen grossen 
Einfluss geübt hat. Auf unsere Revolution folgte die hel- 
vetische Republik, dann auf das Consulat und das Kaiser- 
tum die Periode der Mediationsverfassung, auf die Re- 
stauration in Frankreich die Restaurationsverfassung der 
Schweiz. Die Pariser Julirevolution ging den schweizeri- 
schen Revolutionen der dreissiger Jahre voraus. Von da 
an gehen aber die beiden Länder auseinander. Bei uns 
ist der Radikalismus gebändigt worden, in der Schweiz 
hat der Liberalismus in den Radikalismus umgeschlagen. 
Das ist das Bedenkliche." 

Ich machte darauf aufmerksam, dass die Schweiz, 
wie sie geographisch zwischen Frankreich und Deutsch- 
land liege, so auch den Übergang bilde in den politischen 
Schicksalen. Die deutsche Bewegung folge immer, schon 
seit dem Mittelalter, um ungefähr 50 Jahre nach der fran- 
zösischen. So sei Deutschland gegenwärtig in einer ähn- 
lichen geistigen Krise, wie Frankreich zu Anfang der fran- 
zösischen Revolution. Unsere erste helvetische Revolution 
sei nur ein Nachhall der französischen Revolution gewesen, 
ohne ein eigenes Bewusstsein. Wie ein Traum sei sie vor- 
übergegangen. Die gegenwärtige schweizerische Revolution 
sei eine nationale Krankheit und müsse durchgemacht 
werden. Wenn auch die Julirevolution von 1830 einen An- 
stoss gegeben habe, so sei das wesentlich Neue bei uns 
nur aus der Beziehung zu der kommenden deutschen Re- 



426 Versuch, den Papst Pius IX. zur [cap. 32. 

volutionsperiode zu erklären. Frankreich habe seine Re- 
volution hinter sich, Deutschland die seinige vor sich. Wir 
ringen einstweilen noch mit unserer Revolution. Dieselbe 
wird aber nicht so gefahrlich werden, wie die französische 
der Neunzigerjahre gewesen war. Die Wahrheit dieser Be- 
merkung schien ihm einzuleuchten. 

Über Zürich bemerkte er: „Die politischen Ideen gehen 
vornehmlich von Zürich aus. Darauf beruht Ihr Einfluss. 
Es ist gut, dass Zürich beschwichtigend und ermässigend 
wirkt. Der »legale Radikalismus", der jetzt in Zürich 
herrscht, hat Manches gelernt und bildet den Übergang 
zum Liberalismus.** 

Der bösartigste und giftigste Stachel in den schwei- 
zerischen Parteikämpfen war offenbar die Jesuitenberufung 
nach Luzem. Gelang es, diesen Dorn aus dem eidgenössi- 
schen Körper herauszuziehen, so war noch eine Genesung 
möglich ohne Bürgerkrieg. Die Stimmung wurde dann 
gemässigter, die Erhitzung des Fiebers legte sich. Es gab 
nur Eine, freilich unsichere Möglichkeit. Rom, der Papst 
konnten den Frieden geben, wenn sie die Jesuiten ab- 
riefen. — 

Ich versuchte auch diesen Ausweg, den letzten mög- 
lichen, mit geringer Hoffnung. In der Schweiz suchte ich 
Freunde, besonders unter den Katholiken, zu gewinnen, 
welche die Bitte an den Papst unterstützten, dass er um 
des Friedens willen die Jesuiten wegrufe. Manche billigten 
den Gedanken lebhaft und scheuten sich doch vor dem nö- 
tigen Schritte. Leichter war es, die Unterschriften von 
Protestanten zu erhalten; aber diese fielen in Rom weniger 
in's Gewicht. Die ängstlichen Seelen meinten, sie entgehen 
durch Nichtsthun am besten der VerantwortlicUieit. 



Cap. 32.] ZuRUCKBERUFirNG DEB JbSUITEN ZT BEWEGEN. 427 

Einer unserer jüngeren Freunde und Parteigenossen, 
ein begeisterter Rohmerianer, Otto Schulthess, befand 
sich damals in Rom. Mit dem Eifer der Jugend und mit 
gewandter Kühnheit betrieb er dort diese patriotische Ange- 
legenheit an dem päpstlichen Hofe. In seinen überaus inter- 
essanten Briefen an seinen Bruder Heinrich Schulthess 
berichtete er über alle seine Schritte. Die Briefe beleuchten 
die Personen, Stimmungen und Meinungen in den dem 
Papste nahe stehenden Kreisen von Klerikern und Diplo- 
maten. Hätte der französische Gesandte Graf Rossi den 
Auftrag seines Hofes ebenso entschieden vollzogen, es wäre 
ihm wohl der Erfolg nicht entgangen. Für einen schlichten 
Privatmann ohne amtliche Stellung war die Aufgabe hun- 
dertmal schwieriger. Dennoch kam er dem Ziele sehr 
nahe. Der Papst war damals noch nicht ein Werkzeug in 
der Hand des Jesuitenordens. Er hatte damals noch ein 
Verständnis für die nationalen und selbst einigermassen 
für die liberalen Ideen und Bestrebungen der Zeit, wenn- 
gleich er in kirchlicher Hinsicht an den Überlieferungen 
der alten päpstlichen Politik fester hielt, als die Welt 
wusste und glaubte. 

Der Pater Theiner, Consultore del' Indice, nahm 
den jungen Mann freundlich auf und eröfifhete ihm den 
Zutritt zu anderen einflussreichen Personen, zunächst zu 
dem Cardinal Castracane, dann zu dem Abbe Bonne- 
cho se, der sich unseres Freundes und seiner Sache mit 
innerlichem Interesse annahm. Auf der französischen Bot- 
schaft sprach er den Prinzen von Broglie, und später 
den Gesandten Rossi. Er besuchte den Monsignore Car- 
boli, der das Referat in den Schweizersachen hatte, und 
den Cardinal Ghizzi, früheren Nuntius in der Schweiz, der 



428 Mbinb Denkschrift [cap. 32. 

einmal erklärt hatte: „die Schweiz ist meine Jugendliebe". 
Mit dem Marchese d'Azeglio fand er sich sofort als Po- 
litiker auf gemeinsamem Boden. Auch der Beichtvater 
des Papstes, der Cardinal Orioli, zeigte anfangs ein un- 
erwari;etes Verständnis für seine Aufgabe und schien ge- 
neigt, dieselbe bei dem Papste zu unterstützen. 

Später aber hielt er einen Erfolg für nicht mehr mög- 
lich. In dem letzten Momente, als unser Vertreter bereits 
an der Möglichkeit eines Erfolges verzweifelte, eröffnete sich 
ihm noch ein freundlicher Hoffnungsstrahl. Der Vertraute 
des Papstes, Pater Ventura, sagte ihm: „Es ist nicht 
unmöglich. Die Schwierigkeit liegt nur noch in der Form. 
Der Papst wünscht, dass ihm ein schicklicher Anlass ge- 
boten werde, die Jesuiten von Luzern abzurufen. Er würde 
den Widerstand der Jesuiten durchbrechen. Aber er be- 
darf einer genügenden Veranlassung.** 

Eben daran fehlte es. Die schweizerischen Katho- 
liken, die in Rom ein Ansehen hatten — ich nenne unter 
anderen den Abt von Einsiedeln — wagten es nicht, ihre 
Herzensmeinung auszusprechen. Wir konnten nur einige 
wenige katholische Unterschriften zu der Denkschrift er- 
langen, welche dem Papst vorgelegt werden sollte und 
auch wirklich vorgelegt wurde. 

Die von mir verfasste Denkschrift erinnerte vorerst 
daran, dass der Friede der Schweiz seit Jahrhunderten auf 
einer paritätischen Politik beruhe, welche die Rechte 
beider Confessionen achte. Sie erkannte an, dass von der 
radikalen Partei in der Schweiz in neuerer Zeit, die Rechte 
der Katholiken verletzt worden seien, hob aber den Unter- 
schied hervor zwischen Radikalismus und Protestantismus 
und führte aus, dass noch im Sommer 1844 eine Mehrheit 



cap. 32.] AN Papst Pius IX. 429 

von 17 Ständen auf Antrag des protestantischen Cantons 
und Vororts Zürich den Aargauischen Antrag auf Aus- 
weisung der Jesuiten aus der Schweiz verworfen habe. 
Erst seitdem der Vorort Luzern die Jesuiten berufen, da- 
durch den paritätischen Charakter der Schweiz missachtet 
und die Leidenschaften auf's Ausserste gereizt habe, sei 
der Badikalismus in der Schweiz zu steigender Macht ge- 
langt und sei nun eine radikale Mehrheit auf der nächsten 
Tagsatzung in Aussicht, welche selbst vor dem Bürgerkrieg 
nicht zurückschrecke, um die Ausweisung der Jesuiten aus 
der Schweiz mit Gewalt durchzusetzen. Es wurden sodann 
die Aussichten über den Gang des Krieges erörtert und 
die Gefahren geschildert, welche in beiden Fällen den con- 
fessionellen Frieden, die Freiheit der Schweizer, die Selb- 
ständigkeit der Cantone, die Sicherheit der Schweiz vor 
fremder Einmischung bedrohten, möchten nun die Radi- 
kalen oder der Sonderbund siegen. Der Sieg des Radika- 
lismus wird als wahrscheinlich, der des Sonderbundes als 
unwahrscheinlich und auf die Dauer als geradezu unmöglich 
bezeichnet. Als das einzige und letzte Mittel, den Bürger- 
krieg und seine Gefahren abzuwenden, wird die Rück- 
berufung der Jesuiten aus Luzern in Vorschlag gebracht, 
und es werden die Bedenken dagegen scharf hervorge- 
hoben und widerlegt. Diese Stelle lautet so: 

„Es werden hauptsächlich folgende Einwendungen er- 
hoben: 

1) Es würde durch diese Rückberufung ein Rechtsprincip 
verletzt und der falsche Grundsatz zugestanden, dass 
Luzern, obwohl ein katholischer Stand, nicht mehr 
frei sei, einen katholischen Orden nach seinem Be- 
lieben aufzunehmen; 



430 Meine Dekkschbift [cap. 32. 

2) es würde durch dieselbe die Anmassung der radikalen 
Partei, von Bundeswegen über die Existenz katholi- 
scher Institute in den einzelnen katholischen Orten 
nach Willkür zu entscheiden, teilweise anerkannt, 
und zwar von dem Oberhaupte der Kirche selbst, 
gegen welche der widerrechtliche Angriff gerichtet sei; 

3) die Verteidiger des Rechts würden dadurch entmutigt 
und geschwächt und die Partei der Revolution nur 
zu neuen Freveln angefeuert werden; 

4) insbesondere würde das gegenwärtige Regiment von 
Luzem, welches mit den Jesuiten verwachsen sei, 
durch die Abberufung erschüttert und gestürzt, und 
die Jesuiten nur um so eher dann auch aus den- 
jenigen Cantonen der Schweiz vertrieben werden, in 
denen sie seit längerer Zeit schon Aufnahme und 
Schutz gefunden haben. 

„Die einen dieser Einwendungen beruhen auf Missver- 
ständnissen, die anderen müssen eher berücksichtigt und 
dadurch beseitigt, als widerlegt werden. — So ist es klar: 

1) dass der Papst als das sichtbare Oberhaupt der ka- 
tholischen Kirche vollkommen berechtigt ist, um Blut- 
vergiessen zu hemmen und eine ganze Nation vor 
grossem Unheil zu bewahren, einen ihm dienenden 
katholischen Orden aus einem State abzurufen, selbst 
wenn dessen Bürger bereit wären, für die Beibehal- 
tung dieses Ordens ihr Blut zu verspritzen; 

2) dass somit der Papst, wenn er die Jesuiten von Lu- 
zern abruft, dadurch an sich weder die Rechte des 
Standes Luzern beeinträchtigt und preisgibt, noch 
die Anmassung der radikalen Partei irgend weder 
direct noch indirect gutheisst; 



cap. 32.] AN Papst Pius IX. 431 

3) ergibt sich aus der ganzen Geschichte der letzten 
Jahre mit Sicherheit, dass der schweizerische Radi- 
kalismus durch die Berufung der Jesuiten nach Lu- 
zem den für ihn günstigsten Vorwand erhalten und 
einen Hebel bekommen hat, mit dessen Hilfe er sich 
in dem grössten Teil der Schweiz neuerdings zur 
Herrschaft aufgeschwungen hat, woraus doch wohl 
folgt, dass umgekehrt die Zurückberufung der Je- 
suiten dem Radikalismus den für ihn günstigsten Vor- 
wand und die beste Stütze seiner Herrschaft von den 
Händen nehmen, somit denselben wesentlich schwächen 
würde; 

4) endlich würden durch diese Abberufung der Jesuiten 
die gemässigteren und gesunderen Elemente in der 
ganzen Schweiz, die nun zurückgedrängt sind, an 
Kraft wieder zunehmen, und die friedliche und recht- 
liche Gesinnung in der ganzen Nation, namentlich 
auch in der protestantischen Bevölkerung der Schweiz, 
ohne deren Beihilfe die katholischen radikalen Minder- 
heiten viel zu schwach sind, um gefahrlich zu sein, 
würde dadurch verstärkt werden, somit allerdings 
nicht eine blosse reactionäre Tendenz, wohl aber der 
confessionelle Friede in der Schweiz eine weit grössere 
Verbreitung, Unterstützung und Verteidigung finden, 
als in der letzten Zeit." 

Die Hauptstelle der Denkschrift ist folgender Schluss 
derselben: 

„Allerdings könnte die Zurückberufung der Jesuiten, 
würde sie bloss aus Furcht vor den Drohungen des Radi- 
kalismus und lediglich in dem Sinne geschehen, diesen 
durch eine Concession zu beschwichtigen, ein ebenso grosser 



432 ScuEiTEBN DES Vebsuches. [cap. 32. 

Fehler und mit schlimmen Täuschmigen verbunden sein, 
als sie, in der rechten Weise gedacht und vollzogen, eine 
heilbringende Massregel ist.** 

„Die äussere Form, welche der heilige Stuhl wählen 
mag, wird nur dann einen grossen Eindruck machen, wenn 
sie weniger für die Regierungen als vielmehr für die Na- 
tion berechnet ist und dieser mit voller Klarheit und mit 
der Kraft einer erhabenen Gesinnung die Gründe eröffiiet. 
Wir denken uns den Act als ein Wort aus der Fülle des 
edelsten christlichen Herzens im Namen Dessen gesprochen, 
der zu dem eifrigen Petrus gesagt hat: „Stecke dein Schwert 
in die Scheide", als eine Botschaft des Friedens, als ein 
christliches: „Friede sei mit Euch**, geredet zu einer braven, 
aber irre geleiteten Nation/ 

In einem Schreiben an den Nuntius in Luzem vom 
1. Juli 1847, das infolge von jesuitischer Einwirkung nicht 
rechtzeitig anlangte, sprach Pius IX. seine Geneigtheit aus, 
vermittelnd zu wirken, wenn das von einer erheblichen 
Anzahl von Katholiken gewünscht werde. 

Schliesslich überwogen in der Seele des Papstes doch 
nach einigem Schwanken die Bedenken gegen das gewagte 
Eingreifen. Der letzte Versuch einer friedlichen Wendung 
war gescheitert. 

Das Schicksal hatte auch an den Papst eine Frage 
gestellt. Hätte er nach unseren Wünschen entschieden, so 
wäre der Sonderbundskrieg vermieden worden, und auch 
der Papst selber hätte den extremen Parteien und dem 
Jesuitenorden gegenüber eine Stellung errungen, in welcher 
ihm die Fortdauer seiner Regierung im Kirchenstat und die 
Versöhnung mit dem Liberalismus leichter geworden wäre. 



cap. 33.] Eine geistig unkbenbürtige Ehe. 433 

33. 

1847. Anna S. Geistig unebenbürtige Ehe. Der Tod des Kindes. 
Scheidung. Rigifahrt. Ein Gebet. Studien zur Bundesreform 
und über eine neue Zürcher Verfassung. Der Sonderbundskrieg. 
Eindrücke und Entschlüsse. Vorschlag des Grossen Bats der 
Schweiz. Ende der schweizerischen Periode. 

In Zürich wohnte damals eine junge liebenswürdige 
Dame mit ihrem Knaben, eine Nichte meiner Frau und 
vertraute Freundin meines Hauses, Anna S. in ihrem elter- 
lichen Hause. Sie hatte in einer unglücklichen Ehe gelebt. 
Als junges unerfahrenes Mädchen hatte sie der enthusiasti- 
schen und stürmischen Werbung eines Bremer Kaufmanns 
von angenehmem Äussern ihr Jawort gegeben und ihre 
Zweifel gegen diese Verbindung, die ihr bald kamen, Nie- 
mandem anvertraut. So wurde die Ehe geschlossen, welche 
bald offenbarte, dass die Naturen der beiden Gatten nicht 
zu einander passten. Sie war ihrem Manne an Geist, Bil- 
dung und feinem Gefühl sehr überlegen und empfand es 
als ein unwürdiges, zuletzt unerträgliches Leiden, einem 
Manne anzugehören, der ihr geistig nicht ebenbürtig sei. 
Sie hatte etwas Vornehmes in ihrer Art, er war ein ge- 
wöhnlicher Bürger ohne Verständnis für die Bedürfnisse 
einer edleren Natur. Zwar liebte er seine Frau, aber er 
konnte ihr nicht genügen. Nun geriet er überdem in öko- 
nomische Verlegenheiten und war genötigt^ seine Zahlungen 
einzustellen. Die Frau kehrte nach Zürich zu ihrer Fa- 
milie zurück. 

Wenn die älteren deutschen Gesetze die Ungenossen- 
ehe untersagten, so wollten sie die Wahrheit schützen, dass 
die echte Ehe ein Bündnis zweier auf dem Fusse der Gleich- 
heit stehenden, zu einander passenden Individuen sei, und dass 

Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. < 28 



434 Unebenbübtige Ehe. [cap. 33. 

jede allzu grosse Verschiedenheit der Rasse ein schwer zu 
tiberwindendes Hindernis des innigsten Zusammenlebens sei. 
Der Fehler jener älteren Gesetze war der, dass sie die Un- 
ebenbörtigkeit lediglich nach den äusserlichen und sicht- 
baren Gegensätzen der Abkunft bemassen und die andere 
Wahrheit verkannten, dass zuweilen in einem Manne von 
vornehmerem Geschlecht ein gemeiner Charakter und Geist 
wohne, und in einer Frau von niederer Abkunft eine hohe 
adelige Seele leben könne. Die Ebenbürtigkeit oder Unge- 
nossenschaft der Individuen ist für die Ehe noch wichtiger 
als die der Rasse, und sie konnte von den Gesetzen nicht von 
Anfang an beachtet werden, weil sie nicht wie die Rasse von 
Anfang an klar ist, sondern erst im Leben sichtbar wird. 
Dieser Gegensatz kann daher unmöglich als ein Ehehindemis, 
er kann nur als ein Scheidungsgrund berücksichtigt werden. 

Eine im Charakter ungleiche Ehe zieht, je nach der 
Art des individuellen Wesens, zuweilen mit Notwendigkeit 
das edlere Individuum durch das Schwergewicht des an- 
dern Teiles abwärts in die Tiefe. Scheidung ist Rettung 
der individuellen Ehre und Eigenart, und daher berechtigt. 
Das wurde mir in diesem Beispiele, das ich genauer kennen 
lernte, völlig klar. 

Nun kam noch Qin Unglück hinzu, welches die Lösung 
dieser Ehe beförderte. Der Knabe Willy, das einzige Kind 
dieser Ehe, war plötzlich verschwunden. Man suchte ihn 
vergeblich. Zuletzt hatte man ihn auf dem Platze vor 
dem grosselterlichen Hause spielen sehen und bemerkt, 
dass er sich am Ufer der Limmat, die dort aus dem See 
abfliesst, bei den Schiffen aufgehalten hatte. VermutUch 
war er in's Wasser gestürzt und ertrunken. Aber sichere 
Kunde war lange nicht zu erhalten. — 



Cap. 33.] RiGIPAHBT. 435 

In diesen Tagen und Nächten der Seelenangst um 
das vermisste Kind waren meine Frau und ich bei der 
fieberhaft aufgeregten Mutter. Der Adel ihrer Seele trat 
sichtbar in ihren Zügen hervor. Sie war tragisch-schön 
in dem entsetzlichen Leiden. Ich hatte sie auf den Albis 
begleitet, damit sie in der reineren Bergluft und in dem 
Hochwalde einige Linderung finde. Dort kam die zuver- 
sichtliche Ahnung über sie, dass die Leiche des Kindes 
gefunden sei. Als wir in die Stadt zurückkehrten, wurde 
diese Ahnung bestätigt. Die Fischer hatten, einige Tage 
nach dem Sturze des Knaben, seine Leiche in dem Limmat- 
bett gefunden, ein paar Stunden unterhalb der Stadt. 

Auch der Vater des Knaben war erschienen. Er 
gedachte in Amerika sich niederzulassen, wohin ihm die 
Frau nicht folgen wollte. Auch er Hess sich nun geneigt 
finden, die Scheidung zu vollziehen. Dadurch wurde sie 
innerlich befreit; aber es dauerte doch noch lange, bis die 
gerichtliche Scheidung in Amerika ausgesprochen ward. 

Eine Erholungsreise, die ich mit meiner Frau und 
Anna S. auf den Rigi machte (12—14. September 1847), 
ist mir wegen der starken Eindrücke, die ich psychologisch 
und politisch durch diese Rigifahrt erhielt, in lebhafter Er- 
innerung geblieben. Seltsamerweise entsprach das Wetter 
völlig den Stimmungen, die uns bewegten. Die grossartige 
Gebirgsnatur in dem glänzenden Sonnenlicht und dann 
wieder von wildem Gewittersturm durchschauert, weckte 
in mir ein wunderbares Gefühl von der Nähe und Er- 
habenheit Gottes. 

Die bevorstehenden Kämpfe bekümmerten meine Seele. 
Ich gab meiner Sorge und Stimmung Ausdruck in einem 
Liede, das wie ein Gebet klang: 

28* 



436 Ein Gebet. [cap. 33. 

Ehre sei Grott in den Höhen 
Und Friede in den Thälem, 
1. 

Die Berge preisen Dich in hoher Pracht, 

Die Thäler grünen in des Friedens Lust, 

Und sel'ge Ruhe strahlet aus den Seen wieder. 

Des Himmels Bläue ist erfüllt von deinem Hauche. 

2. 
In diesen Gottesfrieden schreien Menschenstimmen 
Nach Krieg und Brudermord und Tyrannei, 
löse dieses Missgetöne trüber Leidenschafken 
In Harmonie mit Deiner Lieblingswohnung auf. 

3. 
Und wenn es nötig wird, dass Krieg die Schweiz zerreisse, 
Dann Herr, fahr' von den Bergen her in des Gewitters Griff 
Und wirf den Blitz und Donner wider Deine Spötter, 
Und rette Deine Schweiz vor Barbarei. 

4. 
Dann führe Du das Schwert des Rechts* 
Und schirme Du des Geistes echte Freiheit. 
Dann lass' befreit von allzu schwarzen langen Schatten 
Das £idgenöss'sche Kreuz ersteh'n in der Lichter frischem 

Glanz. — 

Zu den politischen Erregungen gesellten sich persön- 
liche. Sonderbarerweise verflochten sich die inneren Kämpfe, 
die unvermeidlich waren, um das nahe Verhältnis der Ehe- 
gatten zu der Freundin zu regulieren, mit den politischen 
Gedanken jener Tage. Ich nannte wohl im Scherz meine 
Frau die „alte Schweiz" und Anna die Repräsentantin der 
„jungen Schweiz". 

Während dieser ernsten und in die Tiefe des Wesens 
eingreifenden inneren Kämpfe lernte ich meine Frau erst 
ganz kennen. In der Regel verhüllte sie ihre eigensten 



cap. 33] Vefhaltnis zu^heineb Frau. 437 

Gedanken und konnte nur schwer das treffende Wort fin- 
den. Nun im Innersten angeregt, fand sie ihre Sprache 
und konnte nun ihre volle Meinung mit aller Entschieden- 
heit eines selbstbewussten Geistes in grossartiger Form offen- 
baren. Ich stand verwundert und sogar beschämt vor ihr. 
So gross, so edel und zugleich so bedeutend und ihres 
Rechtes voll bewusst, hatte ich sie bisher nie gesehen. 
Ich habe diesen Moment nie mehr vergessen können. Es 
war wie ein reinigendes Gottesgericht. Ich musste meine 
ganze Kraft aufwenden, um ihr ebenbürtig und ihrer wür- 
dig zu erscheinen. Wir wurden uns klarer als zuvor, wie 
sehr wir zusammen gehörten. — 

Auch die Hoffnung auf eine innere Vermittlung der 
Schweiz gab ich noch nicht auf. Wenn der Sieg der äusse- 
ren über die innere Schweiz nicht rasch und entschieden 
gelang, wenn die letztere einige Widerstandskraft besass, 
und der Krieg sich in die Länge zog, so gab es einen 
Moment, in welchem die Mittelpartei vortreten und die 
Versöhnung mit Aussicht auf Erfolg versuchen konnte. 

Für diese Eventualität bereitete ich das Nötige vor. 
Zu diesem Behuf machte ich Studien sowohl über eine 
schweizerische Vermittlung und Bundesreform, als über 
eine neue Verfassung des Cantons Zürich. 

Das Hauptgebrechen der schweizerischen Verfassung, 
deren Grundzüge der Natur der Schweiz, als einem Bunde 
selbständiger Republiken, entsprachen, schien mir nicht 
darin zu liegen, dass auf der Tagsatzung alle Cantone, die 
grossen und die kleinen, gleiches Stimmrecht ausübten, 
sondern darin, dass die geschäftsleitende Spitze eher can- 
tonal als föderal organisiert war. Die Erneuerung des 
föderalen Amtes eines schweizerischen Landammanns, der 



438 Studien zvb Buin)B8BEF0B]c. [cap. 33. 

alljährlich von der Tagsatzung gewählt werden sollte, und 
eine Zusammensetzung des vorörtlichen Statsrates, welche 
für vielseitige Erwägung und Berücksichtigung der ver- 
schiedenen Gruppen von Cantonen Bürgschaft gewährte, 
schienen mir die hauptsächlichsten Reformen, deren die 
Schweiz zur Ausbildung ihrer föderalen Verfassung als 
Statenbund bedurfte. Für die vorörtliche Bundesregierung 
schlug ich folgende Zusammensetzung vor: 

1) der Landammann der Schweiz als Vorsitzender; 

2) zwei Mitglieder von der Regierung des vorörtlichen 
Standes auf zwei Jahre gewählt, welcher ' der Sitz 
der Bundesregierung sei; 

3) zwei Mitglieder, von den beiden anderen Vororten 
gewählt; 

4) sechs Mitglieder von den übrigen, in 6 Gruppen zu 
ordnenden Cantonen ernannt. Diese Gruppen teilte 
ich so ein: 1) üri, Schwyz, ünterwalden, 2) Zug, 
Glarus, Freyburg und Solothum, 3) Basel, Schaflf- 
hausen und Neuenburg, 4) Appenzell, St. Gallen und 
Thurgau, 5) Graubündten, Wallis und Tessin, 6) Aar- 
gau, Waadt und Genf. Der vorörtliche Statsrat sollte 
ein Ausschuss der föderalen Eidgenossenschaft sein, 
wie die Tagsatzung ihre Vertretung im Grossen. 
Der Entwurf einer neuen Zürcher Verfassung schlug 

viel tiefer greifende Änderungen vor und war eigentümlich 
gedacht. Er beruhte auf dem Gedanken der repräsentati- 
ven Demokratie und unternahm es, diesen Gedanken ener- 
gischer als bisher durchzuführen und überall die moderne 
Verbindung einer starken Autorität mit breiten uni kräf- 
tigen Volksrechten zu verwirklichen. Obwohl der Entwurf 
nicht realisiert wurde, und auch keine Aussicht ist, dass 



cap. 33.] Mein Verfassungsplan füb Zübich. 439 

er realisiert werde, so rechtfertigt es doch die Rücksicht 
auf meine Lebensgeschichte, dass ich einige Mitteilungen 
über meine damalige politische Denkweise mache. 

Die höchste Statsgewalt, insbesondere die gesetz- 
gebende Gewalt, sollte ausgeübt werden durch ein Zu- 
sammenwirken: 

1) der Regierung, deren geschäftsleitende Mit- 
glieder (Bürgermeister und Statsräte) den Sitz- 
ungen des Grossen Rates und- des Landrates mit be- 
ratender Stimme beiwohnen, aber nicht selber als 
Mitglieder dieser Behörden handeln dürfen, und deren 
Beiräte (Regierungsräte) zu Mitgliedern des Gros- 
sen Rates, nicht aber des Landrates gewählt werden 
mögen; 

2) des Grossen Rates, in welchem die verschiedenen 
Interessenclassen vertreten sein sollten, die gewesenen 
Bürgermeister, Statsräte, die früheren und die gegen- 
wärtigen Vorsitzenden des Obergerichts, die Reprä- 
sentanten der Landeskirche, die Waflfencommandanten 
der Miliz, die Abgeordneten sowohl der Cantonallehr- 
anstalten als der Volksschule, Vertreter der Anwälte 
und der Notare, der Kaufleute und Fabrikanten, der 
Handwerker und sämtlicher Bezirke, ergänzt durch 
zwölf von dem Landrat frei gewählte Mitglieder und 
sechs von dem Grossen Rat selbst Cooptierte; 

3) des Landrates, der aus gewählten Ausschüssen 
sämtlicher politischen Gemeinden, im Verhältnis von 
einem Mitglied auf je 250 Seelen gebildet ward. Der 
Landrat war somit eine repräsentative Landsgemeinde 
von ungefähr 1000 Mitgliedern. 

Die eigentliche Beratung und Amendierung der 6q- 



440 Mein Yerfassungsplan für Zürich. [cap. 33. 

setze, in der Regel auf Vorschlag der Regierung, war bei 
dem Grossen Rate. Aber über das Ganze stimmte der 
Landrat ab, ohne dessen Zustimmung das Gesetz nicht zu 
Stande kam. Ebenso bedurften Bündnisse, Steuern, Stats- 
anleihen der Genehmigung des Landrates. Ich denke, die 
Institution eines solchen Landrats war nicht weniger volks- 
tümlich und für den Fortschritt der Gesetzgebung weniger 
gefahrlich, als das später in Zürich eingeführte Referendum. 
In dem Landrate liess sich eine verständige Beratung pfle- 
gen, und sowohl die Regierung als der Grosse Rat konnten 
durch ihre Botschaften vor demselben die Anträge vertei- 
digen. Sein Urteil war überlegt und geordnet. 

4) Der in den Gemeinden versammelten gesamten Bür- 
gerschaft, ohne deren Zustimmung Verfassungs- 
änderungen nicht eingeführt werden konnten. 
Die Regierung sollte bestehen: 

1) aus zwei Bürgermeistern, auf Vorschlag des Gros- 
sen Rates von dem Landrate frei gewählt; 

2) aus fünf Statsräten, auf Vorschlag der Bürger- 
meister durch den Grossen Rat gewählt; 

3) aus achtzehn Beisitzern, Regierungsräten, auf 
Vorschlag der Regierung im engeren Sinne (Bürger- 
meister und Statsräte) von dem Landrate gewählt. 

Sämtliche Bezirke des Landes müssen darin ver- 
treten sein. 
Die eigentliche Geschäftsbesorgung und Verwaltung 
ist der Regierung im engeren Sinne anvertraut. Wichti- 
gere Geschäfte gelangen an die durch Regierungsräte ver- 
stärkte und erweiterte Regierung. 

Für die Rechtspflege trug ich auf Einführung der 
Ceschworenen bei Criminalverbrechen und politischen 



cap. 38.] Der Sondebbundskbieo. 441 

Vergehen an. Die Geschworenen sollten durch das Loos 
ans den Mitgliedern des Landrates bezeichnet werden. 

Auch in der Organisation der Kirchensynode nahm 
ich die Änderung vor, dass dieselbe durch eine grössere 
Zahl weltlicher Mitglieder ergänzt werden sollte. 

Inzwischen näherten sich die schweizerischen Kämpfe 
der unvermeidlichen Katastrophe. Nachdem auch St. Gallen 
und nach einer cantonalen Revolution Genf in das radikale 
Lager übergegangen waren, kam auf der Tagsatzung des 
Jahres 1847 endlich die Zwölfstimmenmehrheit zu Stande, 
welche die Auflösung des Sonderbundes und die Ausweisung 
der Jesuiten aus der Schweiz von Bundeswegen beschloss. 
Damit war der Bürgerkrieg entschieden. Für die äussere 
Schweiz war es aber sehr nützlich, dass nun die Rechts- 
form eines Tagsatzungsbeschlusses gewahrt blieb. Der 
Krieg bekam dadurch den Anschein einer legalen Bundes- 
execution. 

Der General Dufour, welchem das Obercommando 
der Bundestruppen übertragen ward, hatte den glücklichen 
Gedanken, die weit überlegene Macht der grossen Cantone, 
welche die Tagsatzungsmehrheit zu Stande gebracht hatten, 
zu massenhafter Geltung zu bringen und mit dem offen- 
baren grossen Übergewicht seiner Armee den Widerstand 
der schwachen und kleinen Sonderbundscantone, womöglich 
ohne ernsten Kampf zu erdrücken. In der That verlief 
der Sonderbundskrieg sehr rasch und unblutig. Die innere 
katholische Schweiz zeigte sich viel schwächer und mut- 
loser, als allgemein erwartet worden war. 

Noch einmal, unmittelbar vor dem Ausbruch des Krie- 
ges, flackerte in Zürich die radikale Leidenschaft auf. Es 
wurde, um die Opposition zu schrecken, der ordentliche 

28** 



442 EnrDBÜcKE rin> Ektschlüssb. [cap. 83. 

Gang der Justiz durchbrochen und ein politischer Stats- 
anwalt eigens für die Verfolgung der politischen Gegner 
ernannt. Einige meiner Freunde wurden verhaftet, mir 
selber mit einer Verfolgung gedroht. Der Windblast ver- 
zog sich freilich bald wieder. Man schämte sich der Er- 
hitzung und deckte mit einer Amnestie die momentane 
Leidenschaftlichkeit. 

Über meine Stimmungen während der Krisis teile ich 
einige Äusserungen mit: 

5. November. »Das Schicksal der Schweiz absorbiert 
mich so, dass ich in diesen Tagen gar nichts zu thun im 
Stande bin. Mein ganzes Wesen ist erschüttert. Die Stim- 
mung ist ähnlich wie vor einem Gewitter, aber dauernder 
gedrückt und gespannt, der Kopf dumpf, der Leib unruhig ; 
und dabei diese gebundenen Hände und die jämmerliche 
Nichtigkeit rings umher." 

13. November. „Seitdem die Ereignisse beginnen, 
wird mein Kopf heUer. Und doch bin ich wie ein ge- 
fangenes Wild, das hinter dem Gitter immer hin und her 
läuft und keine Ruhe, aber auch keine Freiheit findet." 

1. December. „Die Art, wie die innere Schweiz ge- 
fallen, war mir doch unerwartet. Die alte Schweiz und 
die alte Zeit sind definitiv hinter uns. „Lasset die Toten 
ihre Toten begraben!" Nun bleibt mir nur der Weg offen, 
mich der neuen Zeit hinzugeben und durch Schöpfung zu 
retten, was zu retten ist. Nur wenn aus der Sündflut eine 
neue Welt hervorgeht, hat das Dasein noch einen Wert." 

„In der Schweiz kann ich nur als Unbekannter 
noch handeln. Der . Liberalste von allen muss sich ver- 
bergen, um liberal wirken zu können. Bis jetzt habe ich 
die Revolution aufzuhalten versucht, immer in der Hoflf- 






cap. 33.] VoBscHLAG EiKES Gbossev Rats deb ScirwEiz. 443 

nung, wenn der Radikalismus zurückgewiesen sei, dann 
reformierend und organisierend eingreifen zu können. 
Der Absolutismus der sogenannten Conservativen hat das 
unmöglich gemacht. Nun muss aus dem Radikalismus 
heraus der Liberalismus erstehen." 

Es war mir klar geworden: „Die frühere Bundes- 
reform, wie ich sie auf föderaler Grundlage im Anschluss 
an das Bestehende vorschlug, konnte nicht mehr genügen. 
Die Erlebnisse der letzten Woche haben zwei folgenreiche 
Erfahrungen ausser Zweifel gestellt. Die erste: Das Ge- 
fühl und das Bewusstsein der Gemeinschaft der Schwei- 
zer, der schweizerischen Nationalität, des Gesamt- 
vaterlandes ist lebendiger und mächtiger, als es vorher 
je erschienen ist. Die zweite: Das Gefühl der Cantonal- 
souveränetät, der Besonderheit, der Particularität 
erwies sich in diesem Kriege schwächer, machtloser, ab- 
gestorbener, als die vorausgegangenen Anstrengungen des 
Sonderbundes hatten erwarten lassen. ** Diese Erfahrungen 
mussten die Bundesreform leiten. Die Tagsatzung als Con- 
gress der Gesandten der Stände, als Organ des Fö- 
deralismus mochte bleiben, weil doch die Cantone als Staten 
fortdauerten. Aber es musste derselben eine Vertretung 
der schweizerischen Nation an die Seite treten. Zu 
diesem Zweck schlug ich die Bildung eines Grossen Rates 
der Schweiz als Volksvertretung vor. 

Der neue Gedanke wurde von mir in einer Schrift 
dargestellt, die ohne meinen Namen gedruckt wurde unter 
dem Titel: „Stimme eines Schweizers für und über 
die Bundesreform." Zürich und Frauenfeld 1847. 

Der Gedanke fand allgemeinen Beifall. Aber er wurde 
bei der Beratung seiner schweizerischen Fassung entkleidet 



444 Ende der Schweizerischen Periode. [cap. 33. 

und in die Nachahmung der amerikanischen Union umge- 
bildet. Aus der Tagsatzung wurde der Ständerat, aus dem 
Grossen Rate der Schweiz der schweizerische Nationalrat. 
Mein Entschluss, die Teilnahme an der schweizeri- 
schen Politik als abgeschlossen zu betrachten und eine neue 
Wirksamkeit auf neuem Boden und in grösseren Verhält- 
nissen mir zu schaffen, stand zu Ende des Jahres fest. Ich 
bereitete den Übergang nach Deutschland vor. 



r 



Personen-Verzeichnis 



zum I. Band. 

Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten. 



A. 



V. A b e 1 , bayerischer Minister 


339 


Aberdeen, Lord .... 


337 


Ammann, Züricher Jurist . 


206 


Andermatt, helvetischer 




General 


16 


Anders, Deutscher in Paris 


90 


A r e t i n , Freiherr Carl Maria 




von, in München . . . 


379 


Arnim, Frau Bettina v., 




geb. Brentano .... 


65 


Azeglio, Marchese d' . . 


428 


B. 

Bätke aus Hamburg . . 


76 


Bauer, Bnino 


341 


Beyel, Christian, Verleger 




des n Beobachters aus der 




östlichen Schweiz** . . 


275 


B lösch, Landammann in 




Bern 


373 


Bluhme, Professor in Halle 


73 


Bluhrrie, Sänger in Berlin 


62 


B 1 u m e r , Verfasser d. Rechts- 




geschichte der demokrati- 




schen Cantone .... 


194 


Bluntschli, Hans Caspar 


6 



Bluntschli, Regula, geb. 

Steinbrüchel 5 

Bluntschli, Hans Caspar, 

Sohn 6 

Bluntschli, Katharina, geb. 

Koller 7 

Bluntschli, Caroline . . 155 
Bluntschli, Carl . . . 179. 
Bluntschli, Emilie, geb. 
Vogel, Bluntschli's Frau 

137. 301. 436. 437 
Bluntschli*sche Ge- 
schlechtsgenossen . . 8 — 12 
Böckh, der PhUolog . . . 71 
Bodmer, der alte . . . 120 
Bomhauser, Pfarrer im 

Thurgau 117 

Bonechose, franz. Abbö . 427 
Börne, Ludwig .... 147 
Brändli von Staefa . 118. 124 
Breitinger, Helfer zu St. 

Peter 23 

B r e m i , Züricher Chorherr 

und Professor . . . 20—23 
Bruch, Pfarrer v. Wädischwyl 242 
B r u c k m a n n , Alexander, Hi- 
storienmaler . . . 261. 276 



Bluntschli, Dr. J. C, Aus meinem Leben. I. 



29 



446 



Personen - Verzeichnis. 



Bruns, Professor des römi- 
schen Rechts . . . . 201 

Buchholz 69 

Bunsen, Carl Josias, Ritter 

.von 248 

Burckhardt aus Basel . 69 
B ü r g i , Züricherischer Regie- 
rungsrat 222 

B ü r k 1 i , Redacteur der Züri- 
cher Freitagszeitung . 258 

C. 

Calame, aus Neuchätel . 253 
Carholi, römischer Mon- 

signore 427 

Castracane, Cardinal . . 427 

Champollion 89 

Christiansen, aus Holstein 73 

75. 85 
Clementine v. L. . 95. 101 
Crelinger, Frau, Sängerin 

in Berlin 62 

D. 

Devrient, Ludwig ... 62 

V. D roste , Bonner Kirchen- 
rechtslehrer 84 

Druey, Waadtländischer 

Statsrat . . . 240. 253. 374 

Dufour, schweizerischer Ge- 
neral 441 

Duttenhof er, Professor Dr. 

F. M 261 

E. 

Es eher von der Linth, Ar- 
nold 62 

E s c h e r , Züricher Altbürger- 
meister 116 

Escher, H., Professor 121. 

143. 149 



Es eher, Martin, Vorstand 
der Kaufmannschaft und 

Stadtpräsident . . 154. 395 

Eschmann, Züricher in Paris 89 

F. 

Fäsi, übich, Züricher Pro- 
fessor , 25 

Finsler, Züricher Amtsge- 
richtsschreiber 83. 138. 141 
Foelix, Pariser Advocat . 90 

Folien . 298 

Friedrich Wilhelm IV. 

von Preussen .... 333 

Fröhlich, Theodor ... 188 

Fröbel, Julius 261. 293. 298 

341. 342 
Frossard, Waadtländischer 

Präsident 374 

IVurrer, Dr. Fürsprech 206. 303 

354. 364. 376. 396 

Füssli, Obmann in Zürich 119 

Füssli, Antistes .... 204 

Füssli, Oberrichter ... 206 

G. 

Gans, Professor in Berlin . 65 

Garlichs, aus Bremen . . 76 

G essner, Züricher Jurist . 83 

Ghizzi, Cardinal .... 427 
Gonzenbach, August v. aus 

St. Gallen . . . 160, 256 
Göschen, Dr. Otto, Profes- 
sor der Rechte in Halle 196 
Grögoire, französ. Bischof 94 

Grimm, Jacob 247 

Grob, Heinrich, von Zürich 274 

Gujer, vonBauma 120.124. 128 

254 

Guizot 290. 231 



Pebsonkn- Verzeichnis. 



417 



Gysi, Heinrich , Züricher 
Rat ... . 193. 222. 395 

H. 

Hafner, Züricher Pfarrer . 21 
Haller, Ludwig v., . . . 337 
Hasse, Professor in Bonn 76 
Hasse, Gustav, Sohn 75. 76. 85 
Hauthal, Dr. F., in Paris 90 
Heffter, Professor in Bonn 85 
Hegel, der Phüosoph 67. 196 

211 
Hegetschweiler, Dr., von 
Staefa, Züricher Statsrat 120 

229. 231 
Hegnauer, Oberrichter von 

Elgg 122 

Helmes, aus Bayern . . 76 
Henri V., französ. Kronprä- 
tendent 95 

Henschel, Orientalist in 

Paris ....... 410 

Herwegh, Georg 294. 298. 341 

342 
Herzog, aus Basel ... 69 
Hess, Züricher Ratsmitglied, 

Amtsbürgermeister 124. 222 

234. 240. 243 

Hirzel, Züricher Chorrherr 27 

Hirzel, Melchior, Oberamt- 

mann und später Bürger- / ^^ 

meister 83, 112. 116. 118. 121 

124. 125. 138. 140. 149. 202 

203. 205. 222. 302. 303. 341 

Hirzel, Bernhard, Pfarrer 157 

173. 231. 232. 235—238. 398 

—411 
Hitz, Züricher Maler . . 59 
Hitzig, Professor der Theo- 
logie 162. 242 



H ö f 1 e r , Carl Adolf Constan- 
tin, Ritter von, Profes- 
sor an der Universität 

München 379 

Hösli aus Graubündten, Bet- 

tina's Ideal 66 

Hottinger, Professor 143. 149 

268. 395. 396 
Hottinger, Heinrich, Züri- 
cher Ratsschreiber . . . 274 
Hub er, aus Zürich ... 89 
Hugo, Professor in Göttingen 74 
Humboldt, Alex. v. . . 72 
Humboldt, Wilh. v. . . 72 
Hünerwadel, Bemer Stats- 

schreiber 256 

Hüni, Züricher Regierungs- 
rat 243 

I. 

J a r c k e , Hofrat in Wien 335—338 

V. Jeetze, aus Potsdam . 76 

Ihering 201 

Institut, das Züricher Po- 

Htische 37 

Johann, Erzherzog von 

Österreich 226 

Joseph IL, Kaiser von Öster- 
reich 185 

K. 

Kaiser Karl der Grosse . 19 
Karl X., König von Frank- 
reich 92 

Käst, Luzemer Regierungs- 
rat 371 

Kaulbach, W. v 186 

K aus 1er, E. H., aus Stutt- 
gart 89 

Keller, Fr. Ludw. 37. 83. 85. 111 

29* 



448 



Personen -Vebzeichnis. 



116. 121. 122. 124. 125. 132 

139. 140. 149. 164—170. 206 

207. 219. 232. 302, 303. 341 

Keller, Ferdinand . 138. 161 
Keller, Augstin, aus dem 

Aargau 253 

Keller, Seminardirektor in 

Aarau 358 

Klenze, Professor d. Rechte 

in Berlin 71 

Kobell, Franz 339 

K 1 b , Hauptredacteur der 

Augsb. Allg. Zeitung 291 

Koller, Freihauptmann . . 7 
König, schweizerischer 

Rechtslehrer .... 195 

K p p , £., Professor in Luzem 393 

Kübeck, Baron v. . . . 329 

K ü n z 1 i , Züricher Y olksmann 118 

L. 

Laboulaye, Eduard v., in 
Paris 249 

Lange, Johann Peter, Pro- 
fessor in Zürich, später in 
Bonn 242 

Leo, der Historiker ... 73 

Leu, Bauer von Ebersol, 
Mitglied des Grossen Rats 
von Luzem . 360. 371. 387 

Levasseur, alter Pariser 

Terrorist 94 

Louis Philippe, König der 
Franzosen 95 

Louis Philippe, Graf von 
Paris 95 

Low, Freiherr v., Germa- 
nist 162 

Ludwig XVL, König von 

Frankreich 94 



Ludwig L, König von 

Bayern .... 163. 339 

M. 

Mackeldey, Professor der 

Rechte in Bonn ... 85 
Manuel, Bemer Patrizier 255 

273 
Mass^na, franz.' General . 15 
Massmann, Professor in 

München 339 

V. Meiss, Züricherischer 

Oberamfemann 83. 119. 124 

138 
Metternich, Fürst von, 328.335 
Meyer, Hans, Züricher Theo- 
log 30. 69. 158 

Meyer, Ferdinand , Rats- 
schreiber und Professor 
der Rechte in Zürich 38. 83 
111. 116. 122. 124. 138. 141 

206. 222. 244 
Meyer, Frau Ferdinand, geb. 

Ukich 156 

Meyer, Züricher Offizier . 89 
Meyer, Bernhard, in Luzem 371 
Meyer, Dr. Conrad, in Zü- 
rich 395. 397 

Milder, Sängerin in Berlin 12 
Mittler, Historiker in Zü- 
rich 162 

Monnard, WaadÜänder . 374 
Mousson . Heinrich, Züricher 

Bürgermeister . . 244. 376 
Müller, Ernst, von Frauen- 
feld 49. 73. 137 

Müller, Ottfried .... 74 
Müller, Dr. in Bern. . . 373 
Munzinger, von Solothum 253 



Personen-Yekzeighnis. 



44 



V. Mural t, Züricher Ratsherr 

und Bürgermeister . . 118 
206. 222. 244. 253. 254. 363. 412 

V. M uralt, Dr. Leonhardt, 

in Zürich 395 

Murray, der Schotte ... 90 

N. 

Napoleon 1 12. 153 

N e a n d e r , Professor in Berlin 335 
Negrelli, Ingenieur . . . 154 
Neuhaus, Schultheiss von 

Bern . . 230. 252. 357. 374 
N e u m a n n , Professor in Mün- 
chen 339 

Nicolovius, Goethe's Lieb- 
ling 76 

Niebuhr 79. 128 

Nüscheler, Züricher Jurist 
und Politiker . . . 83. 114 

0. 

Ochsenbein, bemerischer 
Hauptmann und Freischaa- 

renführer 375 

Ochsner, Züricher Professor 25 
Oeri, Porträtmaler ... 6 
Oken, Dr. Lorenz, Professor 

147. 150. 162 
Orelli, Johann Caspar, Züri- 
cher Professor .... 25 
Orelli, Conrad, Züricher Pro- 
fessor .... 27. 143. 149 
Orelli, Heinrich v., . . . 274 
Orioli, Cardinal in Rom . 428 
Ott, Redacteur der Neuen 

Züricher Zeitung . . . 258 



P. 

Palm, aus Hamburg . 



76 



Peel, Sir Robert .... 290 

Parier, Casimir . . 142. 290 

Pernice 73 

Perthes, Clem., Professor in 

Bonn 76 

Pfenninger von Stäfa . 124 

Pfyffer, Casimir .... 386 
Phillips, Dr. Georg, Pro- 
fessor des deutschen und 
des Kirchen-Rechts in Ber- 
lin 1827, München 1833, 

Wien 1851, Convertit 71. 379 

Pius IX 432 

PI ongoulm, Pariser Ad vocat 91 

Pugg6, Professor in Bonn . 77 

B. 

Rahn, Heinrich, Züricher 
Theolog 36 

Rahn, Züricher Ratsherr 

110. 124. 128 

Rahn-Escher, Dr. . . . 231 

Reinhard, v., Züricher Bür- 
germeister . . . . 13. 116 

Reinhard, Landammann . 119 

R e n a u d , Verfasser der Rechts- 
geschichte von Zug . . 195 

Reyscher, Professor Dr. 

Ludwig 201 

Rings eis, Prof., in München 379 

Ritter, Carl, der Geograph 71 

Rohmer, Friedrich 33. 170. 260 
262—273. 278. 279—288. 292 
—299. 304—316. 349—353. 379 

Rohmer, Theodor . . 261. 273 
276. 278. 281. 349. 380 

Rohmer, Frau Mathilde, geb. 
Wolf .... 295. 298. 353 

Rootenhaan, Jesuitengene- 
ral 361 



450 



Personek-Vebzeichnis. 



Rossi, französischer Ge- 
sandter in Rom . . 424. 427 

Rotenhahn, Baron y., in 

München 339 

Roth, Dr., in Teuflfen 245. 274. 378 

Rothpletz, aargauischer Mi- 

lizinspector 375 

Rudorff, der ältere und jün- 
gere 69 

Rüge, Arnold, Herausgeher 

der Halle'schen Jahrbücher 196 

Ryffel aus Stäfa .... 89 

S. 

S a u p p e , Professor der Philo- 
logie 162 

Savigny , Friedrich Carl von, 

63. 197. 248. 302 

Schelling, der Philosoph . 196 

Scherr, Ignaz Theodor, Se- 
minardirektor in Zürich 193. 242 

Schleiermacher . . . 66. 69 

Schmidt aus Uri .... 253 

Schnell, Hans, von Burg- 
dorf 373 

Seh och, Züricher Pfarrer . 17 

Schönlein, Professor der 
Medicin . . . 150. 162. 257 

Schröder, Sophie .... 186 

Schulthess, Heinrich 

274. 381. 427 

Schulthess, Otto .... 427 

Schweizer, Alexander 

159. 205. 219. 222 

Seckendorf, Dr. jur. . . 85 

Segesser, Verf. der Rechts- 
geschichte von Luzem . 195 

Seil, Professor der Rechte 
in Zürich 162 

Senfft-Pilsach, Graf,öster- 



reichischer Gesandter in 

München 379 

Siber, aus Zürich .... 89 
Siegfried, Aargauer Land- 
ammann 76 

Siegwart, Constantin, Mül- 
ler, Schultheiss von Lu- 
zem . . 357. 360. 371. 386 
Sinn er, Professor in Bern . 89 

Snell, Cari 114 

S n e 1 1 , Ludwig, Redacteur des 
„Schweizerischen Repub- 
likaners'* . . 143. 258. 276 
Sommaruga, Freiherr von, 

in Wien 328 

Sonnenberg, Luzem'scher 

General 374 

Sonntag, Henriette ... 62 
Spöndli, Rudolf ... 69. 158 
Spöndli, Heinrich, Ratsherr 

und Regierungsrat . 243. 274 
Sprüngli, Chemiker aus Zü- 
rich 89 

Stahl, Strassburger Rechts- 
kenner 89 

Stahl, Friedrich Julius . . 196 
Stapfer, vonHorgen 118.124.128 
Steffan, von Wädischwyl . 120 
Steiger, Dr. Robert . . . 386 
Steinbrüchel, Joh. Jacob, 

Züricher Chorherr ... 5 
Stettier, Professor in Bern 373 
Strauss, Dr. David . . 202 ff. 
S u 1 z e r , Eduard , Professor 
von Winterthur 

124. 127. 137. 193. 243 
S u 1 z e r , Melchior, Amtsrichter 
und Züricherischer Statsrat 
von Winterthur 124. 127. 240. 243 
Sulzer-Wardt, v., . . . 243 



Personen- Verzeichnis. 



451 



T. 

Tavel, V., Schultheiss von 

Bern ....... 371 

Theiner, Pater .... 427 

Thibaut, Professor in Hei- 
delberg 70. 197 

Thiersch in München . . 339 
Tillier, v., Beraer Patri- 
zier 255 

Trümpi, Decan in Glarus . 107 

Tschocke, aus Aarau . . 69 

U. 

Ulrich, Züricher Chorherr 

und Professor .... 25 
Ulrich, Züricher Statsanwalt 

83. 116. 124. 206. 298 
Ulrich, Züricher Oberrichter 

83. 141. 222 
Ulrichs, aus Bremen . . 76 
U s t e r i , Züricher Chorherr 

und Professor .... 25 
Usteri, Züricher Statsrat 

83. 110. 124. 128 

V. 

Ventura, Pater .... 428 

Vinet 374 

Vischer, Wilhelm, aus Basel 76 
Vogel, Emilie . . 53. 101. 137 

Vogel, Jacob 188 

Vögel i, aus Zürich . . 69. 73 
Vögeli, Decan in Zürich . 206 
Vulliemin, Waadtländer . 374 

W. 

Wächter, Carl Georg von, 201 

Wackernagel, Philipp . . 69 

Wackernagel, Wilhehn 69. 188 

Wallerstein, Fürst Cari v., 379 



Walter, Ferdinand, Kirchen- 
rechtslehrer in Bonn . . 84 
Weber, Bemer Regierungs- 
rat 371 

Weiss, Züricher Pfarrer . 22 
Weiss, Züricherischer Re- 
gierungsrat. . 206. 303. 354 
Weitling, deutscher Com- 

munist 342. 343 

Welti, Maria 409 

Widenmann, Dr. Gustav . 261 
Widma nn, Dr. Adolf 261. 273. 276 
Wild, Regierungsrat aus Wä- 

dischwyl .... 244. 371 
W i 1 d a , Professor der Rechte 

in Halle und Breslau . 201 

Windscheid 201 

Wolf, Züricher Provisor . 21 
W u n d e r 1 i , Quartierhaupt- 
mann in Meilen . . . 115 
Wyss, V., Züricher Bür- 
germeister . . . . 13. 116 
Wyss, Friedrich v., Rechts- 
historiker 195 

Z. 

Zehnder, Züricherischer Re- 
gierungsrat. . 206. 363. 388 
Zell er, Johannes, Pfarrer ■ 

39. 107. 157. 239 
Ziegler, eidgenössischer Ge- 
neral 121 

Z i e g 1 e r , Züricherischer Oberst 

233. 244 
Zimmermann, aus Zürich. 69 
Z i 1 1 a , österreichischer Oberst 326 
Zofinger-Verein ... 34 
Zuppinger, Major in Män- 
nedorf 115 



Yerbesseruiigen. 

S. 147 Z. 5 V. o. ist statt Heinrich Börne zu lesen: Ludwig Börne. 
S. 379 Z. 2 V. u. ist statt Philipps zu lesen: Phillipo. 



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